der
Allgemeinen Volkswirtſchaftslehre.
Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Land, Leute und Technik.
Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Erſte bis dritte Auflage.
Verlag von Duncker \& Humblot.
1900.
[[II]]
Motto:
Wer nicht von dreitauſend Jahren
Sich weiß Rechenſchaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.
Weſt-öſtlicher Divan.
Alle Rechte vorbehalten.
[[III]]
Meiner teuren Frau
Lurie,
dem Stolze und dem Glücke meines Lebens, der treuen Gefährtin
meiner Arbeiten,
der Enkelin B. G. Qiebuhrs, der würdigen Tochter
der edlen Mutter Cornelie Rathgen.
[[IV]][[V]]
Vorrede.
Im folgenden übergebe ich der Öffentlichkeit den Verſuch, in grundrißartiger Form
zuſammenzufaſſen, was ich ſeit 36 Jahren in meinen Vorleſungen über allgemeine
Volkswirtſchaftslehre vorzutragen pflege; es iſt zunächſt eine erſte größere Hälfte, die
zweite iſt auch nahezu fertig; ſie wird, wie ich hoffe, im Umfang von etwa 15 bis
18 Bogen in kurzer Zeit folgen können. Die erſte Hälfte enthält die allgemeinen
Grundlagen, dann in zwei Büchern die Lehre von Land, Leuten und Technik, ſowie den
wichtigſten Teil der geſellſchaftlichen Verfaſſung der Volkswirtſchaft; die zweite wird in
zwei Büchern den geſellſchaftlichen Prozeß des Güterumlaufs und der Einkommens-
verteilung, ſowie die entwickelungsgeſchichtlichen Geſamtreſultate enthalten.
Da ich bei den Vorleſungen nie den Zweck verfolge, den Studierenden ein Hand-
buch zu erſetzen, auch mich ſeit Jahren auf 4 Wochenſtunden des Sommers beſchränke,
ſo muß ich ſtets eine engere Auswahl in dem Vorzutragenden treffen, wobei ich von
Jahr zu Jahr wechſele. Alle meine Vorleſungshefte enthalten den doppelten oder drei-
fachen Umfang deſſen, was ich vortragen kann. Hier in dem gedruckten Grundriſſe
mußte ich natürlich eine gewiſſe Vollſtändigkeit anſtreben.
Ich habe mich zu dieſer Veröffentlichung nicht leicht entſchloſſen, bin faſt durch
äußere Nötigungen zu ihr gedrängt worden. In meinen jüngeren Jahren beſeelte mich
die Überzeugung, daß die erſte Aufgabe der heutigen Nationalökonomen ſei, durch gelehrte
ſpecialiſierte Forſcherarbeit unſere Wiſſenſchaft den übrigen ebenbürtig zu machen, daß
erſt nach einem Menſchenalter ſolcher Arbeiten wieder die encyklopädiſche Zuſammen-
faſſung ſich lohnen werde. Längſt ehe Schönbergs Handbuch der politiſchen Ökonomie
erſchien, hatte mich mein verehrter Freund und Verleger, Carl Geibel, aufgefordert, an
die Spitze eines ſolchen Unternehmens zu treten. Ich hatte es damals rundweg ab-
gelehnt, weil erſt in 10—20 Jahren, nach einer intenſiven Gelehrtenarbeit, wie die von
1860—80 in Deutſchland auf den Plan tretenden meiſten wiſſenſchaftlichen National-
ökonomen ſie erſtrebten, etwas Derartiges nach meiner Meinung angezeigt ſei.
Als dann aber 1887 Duncker \& Humblot einen kürzeren Grundriß aus der Feder
mehrerer planten und die Leitung einem meiner Schüler übergeben hatten, da entſchloß
ich mich wenigſtens, einige Kapitel, die mir beſonders am Herzen lagen, zu übernehmen,
und begann mit ihrer Ausarbeitung. Die Schwierigkeiten, einem ſolchen Werke die
nötige Einheit zu geben, zeigten ſich auch hier; Verzögerungen verſchiedener Art kamen
dazwiſchen. Die Mitarbeiter einigten ſich zuletzt, die Geſamtunternehmung fallen zu
laſſen, und ich entſchloß mich, meine Bruchſtücke zu einem Ganzen zu vervollſtändigen.
Der größere Teil meiner freien Zeit war in den letzten 13 Jahren ſo dieſer Arbeit
gewidmet. Viele Kapitel haben eine zwei- und mehrfache Umarbeitung erfahren. Einzelne
derſelben habe ich in ihrer erſten Faſſung in meinem Jahrbuch veröffentlicht, ebenſo die
umfaſſenderen Vorarbeiten über die ältere Geſchichte der Unternehmungen.
Mein inneres Verhältnis zu der mir anfangs viel zu groß und zu ſchwierig, ja
unmöglich erſcheinenden Arbeit wurde mehr und mehr doch das der höchſten Befriedigung.
Ich blieb mir zwar ſtets klar, daß eine vollendete ſolche Zuſammenfaſſung die denkbar
ſchwierigſte Aufgabe ſei, daß mein Verſuch nach den verſchiedenſten Seiten hinter dem
Ideal, das mir vorgeſchwebt hatte, zurückbleiben müſſe, daß er in vielen ſeiner Er-
gebniſſe nie die Sicherheit empiriſcher Detailforſchung erreichen, daß der einzelne nie
alle die Gebiete, über die er ſpreche, gleichmäßig beherrſchen könne. Aber ich war 1887
doch ſchon an die paar übernommenen, principiell wichtigen Kapitel deshalb gern
gegangen, weil mich nach 17 Jahren, die ich überwiegend angeſtrengter archivaliſcher
Arbeit gewidmet hatte, eine gewiſſe Übermüdung in Bezug auf dieſe Thätigkeit und
eine Sehnſucht nach der Beſchäftigung mit den großen allgemeinen Fragen unſerer
[VI]Vorrede.
Wiſſenſchaft überfallen hatte. Ich ſpürte, daß ich mir Klarheit in dieſen verſchaffen
mußte, gerade auch um das Detail der archivaliſchen Forſchung zum höchſten Ertrag
zu bringen.
Meine alte Liebe zu philoſophiſchen und pſychologiſchen Studien war mit neuer
Kraft erwacht. Ich fühlte mehr und mehr, daß die Aufgabe nach Charakter, Studien-
gang und Neigungen doch eine mir angemeſſene ſei, daß vor allem meine Vorleſungen
dadurch ſehr gewönnen, daß die ſtärkſte Anſpannung der geiſtigen Kräfte doch bei der
Vorbereitung auf die Vorleſung ſtattfinde, daß meine beſten allgemeinen Gedanken mir
dabei kämen, und daß deshalb auch der Verſuch, das zu fixieren, was ich den
Studierenden ſage, berechtigt und heilſam ſei, obwohl er den Autor nötigt, die Bruch-
ſtücke ſeines Wiſſens unter dem Geſichtspunkte ſeiner geſchloſſenen Weltanſchauung zu
einem Ganzen zu vereinigen. Man könnte ſagen, gerade deswegen ſei der Verſuch
berechtigt, denn dieſe Art der Zuſammenfaſſung müſſe ſtets neben der empiriſchen Detail-
arbeit ihr Recht behaupten.
Die Geſichtspunkte, welche mich bei meinen Vorleſungen beſeelen, ſind immer die
geweſen: 1. ſo anſchaulich zu ſein, daß der, welcher die Dinge noch nicht kennt, ſie
einigermaßen ſehen und erfaſſen kann. Die ſogenannte Langeweile der juriſtiſchen und ſtaats-
wiſſenſchaftlichen Vorleſungen beruht meiſt darauf, daß eine Unſumme von Scharfſinn,
Definitionen, Detailwiſſen auf den Zuhörer eindringt, ohne daß er eine anſchauliche Vor-
ſtellung von dem hat, wovon geredet wird. 2. Den Studierenden neben den allgemeinen
geſicherten Wahrheiten den Gang beizubringen, auf dem ſie gefunden ſind, die Zweifel
darzulegen, welche ſie eingeben, die empiriſchen Grundlagen ſo im Detail darzulegen,
daß er ſie ſich ſelbſt ableiten kann. Ich weiß wohl, daß es auch eine andere Methode
giebt, daß ſie teilweiſe für den Anfänger vorzuziehen iſt. Auch in der Nationalökonomie,
und gerade auch in der hiſtoriſchen, wird eine konſtruierende Methode von mehreren
meiner geſchätzteſten Kollegen mit Virtuoſität gehandhabt: man geht von wenigen klaren
Sätzen und Formeln, von präciſen Definitionen aus und bringt damit Einfachheit und
Klarheit in alles, ich möchte ſagen, zu viel Einfachheit und oft nur eine ſcheinbare
Klarheit. Ich fand im Leben immer, daß der Hauptfehler in der praktiſchen Anwendung
ſtaatswiſſenſchaftlichen Wiſſens der ſei, daß die der Univerſität Entwachſenen die geſell-
ſchaftlichen Erſcheinungen für viel zu einfach halten; ſie glauben, dieſelben mit wenigen
Definitionen und Formeln bemeiſtern zu können. Meiner Auffaſſung und Anlage ent-
ſpricht es, den Anfänger ſtets auf die Kompliziertheit und Schwierigkeit der Erſcheinungen
und Probleme aufmerkſam zu machen, ihm die verſchiedenen Seiten des Gegenſtandes
zu zeigen. In den Vorleſungen hat dieſe Eigentümlichkeit mir den Erfolg nicht geraubt.
Ich laſſe die folgenden Blätter in die Welt mit der Hoffnung gehen, daß ſie auch den
Leſer nicht zu ſehr abſchrecken möge.
Über die äußere Anordnung und den Umfang füge ich nur die Bemerkung bei:
Das ganze Buch ſollte etwa 40 Bogen nicht überſteigen; es ſollte ein lesbarer, nicht allzu
teurer Grundriß bleiben. Dadurch waren Citate ausgeſchloſſen. Und ebenſo konnte von
der Litteratur nur das wichtigſte vor jedes Kapitel geſetzt werden, das, was in erſter
Linie dem zu empfehlen iſt, der ſich von dieſer Einführung aus weiter in das Studium
der Fragen vertiefen will.
Ich übergebe den Grundriß der Öffentlichkeit mit dem Gefühle glücklicher Dank-
barkeit, daß ich den Abſchluß erleben durfte. Denn in gewiſſer Beziehung ziehe ich hier
doch die Summe meiner wiſſenſchaftlichen und perſönlichen Überzeugungen. Meinem
Aſſiſtenten, Herrn A. Spiethoff, und meiner Frau danke ich für die treue Hülfe bei
der Korrektur und ſonſtiger Fertigſtellung; Herr Spiethoff hat das Regiſter gefertigt,
das bei Ausgabe der zweiten Hälfte vervollſtändigt fürs ganze Buch erſcheinen wird.
Daß ich das Bedürfnis hatte, das Buch meiner Frau zu widmen, wird der wenigſtens
verſtehen, der uns beide und unſer Verhältnis zu einander kennt.
Martinsbrunn bei Meran, Oſtern 1900.
Guſtav Schmoller.
[[VII]]
Inhaltsverzeichnis.
- Seite
- Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur
und Methode1 - I. Der Begriff der Volkswirtſchaft1
- 1. Vorbemerkung S. 1. — 2. Der Begriff des Wirtſchaftens S. 2. — 3. Der Begriff der
Wirtſchaften als geſellſchaftlicher Organe und der Volkswirtſchaft S. 3.
II. Die pſychiſchen, ſittlichen und rechtlichen Grundlagen der Volkswirtſchaft und der
Geſellſchaft überhaupt6 - 1. Die Zwecke und die Mittel des geſellſchaftlichen Zuſammenſchluſſes6
- 4. Der Geſchlechtszuſammenhang. Die Friedens- und Kriegsgemeinſchaft. Die Siedlungs-
und Wirtſchaftsgemeinſchaft S. 6.
2. Die pſychophyſiſchen Mittel menſchlicher Verſtändigung: Sprache und Schrift10 - 5. Die Sprache S. 10. — 6. Die Schrift S. 11. — 7. Die Verbreitung und Vervielfältigung
der Schrift S. 13. — 8. Die Folgen der heutigen geiſtigen Verſtändigungsmittel, die
Öffentlichkeit S. 14.
3. Die geiſtigen Bewutztſeinskreiſe und Kollektivkräfte15 - 9. Das allgemeine Weſen derſelben S. 15. — 10. Die einzelnen Bewußtſeinskreiſe S. 18.
4. Die individuellen Gefühle und die Bedürfniſſe20 - 11. Die Gefühle S. 20. — 12. Die Bedürfniſſe S. 22.
5. Die menſchlichen Triebe26 - 13. Allgemeines S. 26. — 14. Der Selbſterhaltungs- und der Geſchlechtstrieb S. 27. —
15. Der Thätigkeitstrieb S. 28. — 16. Der Anerkennungs- und Rivalitätstrieb S. 29.
6. Der Erwerbstrieb und die wirtſchaftlichen Tugenden32 - 17. Dogmengeſchichtliches S. 32. — 18. Entſtehung, Entartung, Verbreitung des Erwerbs-
triebes S. 33. — 19. Würdigung des Erwerbstriebes S. 36. — 20. Die Arbeit und die
Arbeitſamkeit S. 38. — 21. Die anderen wirtſchaftlichen Tugenden S. 39.
7. Das Weſen des Sittlichen41 - 22. Das ſittliche Urteil und das ſittliche Handeln S. 41. — 23. Die hiſtoriſche Entwickelung
des Sittlichen und ihre Ziele S. 43. — 24. Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher
Tadel, ſtaatliche Strafen, religiöſe Vorſtellungen S. 45.
8. Die ſittlichen Ordnungen des geſellſchaftlichen Lebens. Sitte, Recht und Moral48 - 25. Die Entſtehung und Bedeutung der Sitte S. 49. — 26. Die Entſtehung des Rechtes
und ſeine ältere Verbindung mit der Sitte S. 51. — 27. Die Scheidung des Rechtes von
der Sitte S. 53. — 28. Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht
S. 55. — 29. Die Bedeutung der Differenzierung von Sitte, Recht und Moral S. 57.
9. Der allgemeine Zuſammenhang zwiſchen volkswirtſchaftlichem und ſittlichem Leben59 - 30. Natürliche und ſittliche Kräfte S. 59. — 31. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und
Organe S. 61. — 32. Der Kampf ums Daſein S. 64. — 33. Die religiöſen und philo-
ſophiſchen Moralſyſteme S. 69.
III. Die geſchichtliche Entwickelung der Litteratur und die Methode der Volkswirtſchaftslehre75 - 1. Die Anfänge volkswirtſchaftlicher Lehren bis ins 16. Jahrhundert75
- 34. Einleitung. Definition der Volkswirtſchaftslehre S. 76. — 35. Die griechiſch-römiſchen
Lehren S. 77. — 36. Das Chriſtentum S. 79. - 2. Das Wiedererwachen der Wiſſenſchaft und das Naturrecht des 17. Jahrhunderts80
- 37. Die Anfänge der neueren Wiſſenſchaft überhaupt S. 81. — 38. Das Naturrecht S. 82.
- Seite
- 3. Die vorherrſchenden Syſteme des 18. und 19. Jahrhunderts84
- 39. Die merkantiliſtiſchen Schriften S. 84. — 40. Die individualiſtiſche Naturlehre der
Volkswirtſchaft S. 88. — 41. Die ſocialiſtiſche Litteratur S. 93.
4. Die Methode der Volkswirtſchaftslehre99 - 42. Einleitung S. 100. — 43. Beobachtung und Beſchreibung S. 100. — 44. Die Begriffs-
bildung S. 103. — 45. Die typiſchen Reihen und Formen, ihre Erklärung, die Urſachen
S. 105. — 46. Geſetze, induktive und deduktive Methode S. 108.
5. Die Ausreifung der Volkswirtſchaftslehre zur Wiſſenſchaft im 19. Jahrhundert111 - 47. Die älteren Anfänge einer empiriſchen Wiſſenſchaft und die Reaktion gegen die Natur-
lehre der Volkswirtſchaft S. 112. — 48. Die Statiſtik S. 114. — 49. Die hiſtoriſche und
ſonſtige realiſtiſche Forſchung S. 116. — 50. Das Ergebnis der neueren Forſchung, der
heutige Standpunkt der Wiſſenſchaft S. 122.
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik
als Maſſenerſcheinungen und Elemente der Volkswirtſchaft125 - 51. Die Stoffeinteilung des Ganzen in vier Bücher, des erſten Buches in vier Abſchnitte
S. 125.
1. Die Volkswirtſchaft in ihrer Abhängigkeit von den äußeren Naturverhältniſſen126 - 52. Der Gegenſatz von Natur- und Völkerleben. Blick auf die Litteratur S. 126. —
53. Die Erdoberfläche, die Kontinente und Länder S. 128. — 54. Das Klima S. 130. —
55. Die geologiſchen und Bodenverhältniſſe ſowie die Waſſerverteilung S. 132. — 56. Die
Pflanzen- und Tierwelt in ihrer Verteilung S. 135. — 57. Allgemeine Ergebniſſe S. 137.
2. Die Raſſen und Völker139 - 58. Überblick über den Gegenſtand und die zu Grunde liegenden Wiſſensgebiete S. 139. —
59. Die verſchiedenen Raſſen und Völker und das Princip der Vererbung S. 140. —
60. Die einzelnen Urſachen der Raſſen- und Völkerbildung. Klima, Lebensweiſe, Erziehung,
Raſſenmiſchung S. 144. — 61. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die niedrigſten Raſſen
S. 148. — 62. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Neger und verwandten Stämme
S. 149. — 63. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Mongolen S. 150. — 64. Ethno-
graphiſche Einzelbeſchreibung: die mittelländiſchen Raſſen; die Semiten S. 151. —
65. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Indogermanen; die Ruſſen, Italiener, Fran-
zoſen S. 152. — 66. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die germaniſchen Völker, die
Deutſchen S. 154. — 67. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Engländer und Nord-
amerikaner. Schlußergebnis S. 156.
3. Die Bevölkerung, ihre natürliche Gliederung und Bewegung158 - 68. Vorbemerkung S. 159. — 69. Die Altersverhältniſſe S. 159. — 70. Das Geſchlechts-
verhältnis und die Verehelichung S. 162. — 71. Die Geburten und die Todesfälle
S. 165. — 72. Die Zunahme und Abnahme der Bevölkerung, ihre abſolute Größe
S. 168. — 73. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung: a) die
Hemmungen S. 171. — 74. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung:
b) die Ausbreitung nach außen, Eroberungen, Koloniſationen, Wanderungen S. 176. —
75. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung: c) die Verdichtung. Schluß
S. 182.
4. Die Entwickelung der Technik in ihrer volkswirtſchaftlichen Bedeutung187 - 76. Aufgabe des Abſchnittes. Einteilung und allgemeinſte Urſachen der techniſchen Ent-
wickelung S. 189. — 77. Die erſten techniſchen Fortſchritte; die älteſten Waffen und
Werkzeuge, das Feuer und die Töpferei S. 192. — 78. Die älteſten Fortſchritte der
Ernährung bis zum Hackbau und der Viehzucht S. 194. — 79. Die mongoliſche
Nomadenwirtſchaft S. 197. — 80. Der Ackerbau S. 198. — 81. Die Waffen und
Werkzeuge aus Metall S. 201. — 82. Die Technik der alten, weſtaſiatiſchen Völker
S. 203. — 83. Die griechiſch-römiſche, die arabiſche und die mittelalterlich-abendländiſche
Technik bis in die letzten Jahrhunderte S. 205. — 84. Das moderne weſteuropäiſch-
amerikaniſche Maſchinenzeitalter: Beſchreibung S. 211. — 85. Würdigung des Maſchinen-
zeitalters S. 218. — 86. Schlußergebniſſe S. 225.
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft,
ihre wichtigſten Organe und deren Haupturſachen229 - 1. Die Familienwirtſchaft229
- 87. Vorbemerkung. Litteratur. Definitionen S. 230. — 88. Die älteſte Familien-
verfaſſung bis zum Mutterrecht S. 232. — 89. Die Sippen- oder Gentilverfaſſung
S. 236. — 90. Die ältere patriarchaliſche Großfamilie S. 239. — 91. Die neuere ver-
kleinerte Familie, ihre Wirtſchaft und deren Urſachen S. 244. — 92. Gegenwart und
Zukunft der Familie. Frauenfrage S. 250. - Seite
- 2. Die Siedlungs- und Wohnweiſe der geſellſchaftlichen Gruppen; Stadt und Land254
- 93. Vorbemerkung. Definitionen S. 254. — 94. Die älteſten Siedlungen, die der heutigen
Barbaren- und aſiatiſchen Halbkulturvölker S. 255. — 95. Die antike Städtebildung S. 257.
— 96. Die mitteleuropäiſche Siedlungsweiſe der neueren Völker auf dem platten Lande
S. 259. — 97. Die Entwickelung des Städteweſens vom Mittelalter bis gegen 1800
S. 263. — 98. Stadt und Land im 19. Jahrhundert S. 267. — 99. Zuſammenfaſſung
der Ergebniſſe S. 272. — 100. Die Folgen der verſchiedenen Siedlung S. 275.
3. Die Wirtſchaft der Gebietskörperſchaften: Staat und Gemeinde277 - 101. Vorbemerkung. Entſtehung und Weſen der Gebietskörperſchaft und ihrer Wirtſchaft
S. 278. — 102. Die Größe und die finanzielle Kraft der Gebietskörperſchaften S. 281. —
103. Die ältere Dorfwirtſchaft S. 287. — 104. Die Grundherrſchaft und ihre Wirtſchafts-
organiſation S. 290. — 105. Die ältere Stadtwirtſchaft S. 293. — 106. Die Ausbildung
der Territorial- und Volkswirtſchaft und des Staatshaushaltes S. 298. — 107. Die
Naturalabgaben- und Naturaldienſtverfaſſung und die Domänenwirtſchaft S. 303. —
108. Die Steuern und das Geldſteuerſyſtem S. 306. — 109. Der Staatsſchatz und der
Staatskredit S. 309. — 110. Die Finanzbehörden und die Schwierigkeit aller Finanz-
verwaltung und ſtaatlichen Wirtſchaft S. 310. — 111. Die heutige Einwohnergemeinde
und ihre Wirtſchaft S. 314. — 112. Geſamtergebniſſe. Das neuere Anwachſen der wirt-
ſchaftlichen Staats- und Gemeindethätigkeit, ihre Grenze und Verſchiedenheit S. 317.
4. Die geſellſchaftliche und wirtſchaftliche Arbeitsteilung324 - 113. Dogmengeſchichte. Weſen und Entſtehung der Arbeitsteilung. Stoffeinteilung
S. 325. — 114. Das Prieſter- und Kriegertum S. 329. — 115. Die Händler S. 333. —
116. Die Entſtehung eines Arbeiterſtandes. Sklaverei, Leibeigenſchaft S. 337. — 117. Die
Entſtehung des neueren freien Arbeiterſtandes S. 342. — 118. Die Scheidung von
Landbau und Gewerbe. Die landwirtſchaftliche und gewerbliche Arbeitsteilung S. 346. —
119. Die Arbeitsteilung der liberalen Berufe; die räumliche Arbeitsteilung S. 353. —
120. Die älteren Verſuche der Beurteilung und die neuere zahlenmäßige Erfaſſung der
Arbeitsteilung S. 356. — 121. Die Urſachen und Bedingungen der Arbeitsteilung
S. 359. — 122. Die geſellſchaftlichen und individuellen Folgen der Arbeitsteilung S. 364.
5. Das Weſen des Eigentums und die Grundzüge ſeiner Verteilung367 - 123. Begriff und Bedeutung. Das Eigentum primitiver Jäger- und Hackbauſtämme
S. 367. — 124. Das Sklaven- und Vieheigentum der älteren Ackerbauer und Hirten
S. 369. — 125. Die ältere Grundeigentumsverfaſſung der Ackerbau- und Hirtenvölker,
einſchließlich der antiken S. 371. — 126. Die Ausbildung des neuen kleinen und großen
Grundeigentums S. 373. — 127. Das heutige Grundeigentumsrecht und die Richtungen
der heutigen Landpolitik S. 377. — 128. Das ſtädtiſche Grund- und Hauseigentum
S. 379. — 129. Das bewegliche Eigentum der Kulturvölker S. 380. — 130. Das Erb-
recht S. 383. — 131. Die Ergebniſſe der geſchichtlichen Betrachtung S. 385. —
132. Eigentumsdefinitionen und Eigentumstheorien S. 388.
6. Die geſellſchaftliche Klaſſenbildung391 - 133. Begriff, Weſen und pſychologiſche Begründung der Klaſſenbildung S. 392. —
134. Die Haupturſachen der Klaſſenbildung: Raſſe, Berufs- und Arbeitsteilung, Ver-
mögens- und Einkommensverteilung S. 395. — 135. Die Kaſten- und Ständebildung
älterer Zeiten S. 399. — 136. Die neuere ſociale Gliederung nach Aufhebung der Erb-
lichkeit und der ſtändiſchen Rechtsſchranken der Berufe. Das Recht der Vereinsbildung
S. 404. — 137. Schlußbetrachtung über die ſociale Klaſſenbildung S. 409.
7. Die Unternehmung. Die Entwickelung der Geſchäfts- und Betriebsformen411 - 138. Begriff der Unternehmung. Ihre Ausgangspunkte: Handel, Arbeitsgenoſſenſchaft,
Familie. Die Ausbildung der landwirtſchaftlichen Unternehmung S. 413. — 139. Das
Handwerk S. 418. — 140. Die Anſätze zu größeren Betrieben und Organiſationen in
genoſſenſchaftlicher und korporativer Form bis gegen 1800 S. 421. — 141. Die Haus-
induſtrie (das Verlagsſyſtem) S. 424. — 142. Die moderne Unternehmung, hauptſächlich
der Großbetrieb. Die Fabrik S. 428. — 143. Das geſellſchaftliche Problem des Groß-
betriebes S. 434. — 144. Die offenen Handels- und die Aktiengeſellſchaften S. 440. —
145. Die neueren wirtſchaftlichen Genoſſenſchaften S. 444. — 146. Die Verbände der
Händler und Unternehmer, die Kartelle, Ringe und Truſts S. 448. — 147. Schluß-
ergebnis. Geſamtbild der geſellſchaftlichen Verfaſſung der Volkswirtſchaft, ſpeciell des
Unternehmungsweſens S. 453.
Regiſter458
[[X]]
Verzeichnis der gebrauchten Abkürzungen.
- A. f. ſoc. G. = Archiv für ſociale Geſetzgebung und Statiſtik. Herausgegeben von Dr. Heinrich
Braun. 1888 ff. - Bluntſchli, St.W. = J. C. Bluntſchli und K. Brater, Deutſches Staatswörterbuch. 11 Bde. 1856
bis 1870. - D. Z. f. Geſch.W. = Deutſche Zeitſchrift für Geſchichtswiſſenſchaft. Herausgegeben von L. Quidde.
1889 ff. - Hiſt. Zeitſch. = Hiſtoriſche Zeitſchrift. Begründet von H. von Sybel, herausgegeben von F. Meinecke.
1859 ff. - H.W. 1 ff. u. Sup. 1, 2 = Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften. Herausgegeben von J. Conrad,
L. Elſter, W. Lexis, Ed. Loening. 6 Bde. 1890—1894. 2 Supplemente, 1895 u. 1897. - J. f. G.V. 1877 ff. = Jahrbuch für Geſetzgebung, Verwaltung und Volkswirtſchaft im deutſchen
Reiche. Jahrgang 1—4, 1877—1880. Herausgegeben von F. von Holtzendorff und L. Brentano,
Jahrgang 5 ff. von 1881 an herausgegeben von G. Schmoller. - J. f. N. 1. F. 1, 1863 ff.; 2. F. 1, 1880 ff.; 3. F. 1, 1891 ff. = Jahrbücher für Nationalökonomie
und Statiſtik. 1. Folge, Bd. 1—34, 1863—1879; 2. Folge, Bd. 1—21, 1880—1890; 3. Folge,
Bd. 1, 1891 ff. Begründet von Bruno Hildebrand. Herausgegeben von J. Conrad, L. Elſter,
Ed. Loening, W. Lexis. - Roſcher, Anſichten d. V.W. = Wilhelm Roſcher, Anſichten der Volkswirtſchaft aus dem geſchichtlichen
Standpunkte. 3 Auflagen, 1861 und 1878. - Rümelin, R. A. 1, 2 u. 3 = Guſtav Rümelin, Reden und Aufſätze. 3 Bde. 1875, 1881, 1894.
- Schmoller, Grundfr. = Guſtav Schmoller, Über einige Grundfragen der Socialpolitik und der Volks-
wirtſchaftslehre. 1898. - Schmoller, Litt.Geſch. = Guſtav Schmoller, Zur Litteraturgeſchichte der Staats- und Socialwiſſen-
ſchaften. 1888. - Schmoller, U. U. = Guſtav Schmoller, Umriſſe und Unterſuchungen zur Verfaſſungs-, Verwaltungs-
und Wirtſchaftsgeſchichte beſonders des preußiſchen Staates im 17. und 18. Jahrhundert. 1898. - Schmoller, Soc. u. Gew.P. = Guſtav Schmoller, Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart. 1890.
- Schönberg, H. d. p. Ö. = Handbuch der politiſchen Ökonomie. Herausgegeben von G. v. Schönberg.
3 Bde. 4. Auflage, 1896—1898. - Stat. Monatsſchr. = Statiſtiſche Monatsſchrift. Herausgegeben von der k. k. ſtatiſtiſchen Central-
kommiſſion, Wien. 1875 ff. - S. V. f. S. = Schriften des Vereins für Socialpolitik. 88 Bde. 1873—1900.
- V.J.Sch. f. V.W. u. K.G. = Vierteljahrsſchrift für Volkswirtſchaft und Kulturgeſchichte. Heraus-
gegeben von Jul. Faucher u. a. 1866—1893. - W.V. 1 u. 2 = Wörterbuch der Volkswirtſchaft. Herausgegeben von L. Elſter. 2 Bde. 1898.
- Z. d. pr. ſt. B. = Zeitſchrift des königlich preußiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus. 1861 ff.
- Z. f. d. g. H. = Zeitſchrift für das geſamte Handelsrecht. Herausgegeben von L. Goldſchmidt u. a.
1858 ff. - Z. f. St.W. 1844 ff. = Zeitſchrift für die geſamte Staatswiſſenſchaft. Herausgegeben von
Dr. A. Schäffle. 1844 ff. - Z. f. Völkerpſych. = Zeitſchrift für Völkerpſychologie und Sprachwiſſenſchaft. Herausgegeben von
M. Lazarus und H. Steinthal. 20 Bde. 1860—1890.
[[1]]
Einleitung.
Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage.
Litteratur und Methode.
I. Der Begriff der Volkswirtſchaft.
- v. Hermann, Staatswirtſchaftliche Unterſuchungen. 1832. 1870. —
- v. Mangoldt, Volks-
wirtſchaft, in Bluntſchli, St.W. — - Knies, Die politiſche Ökonomie vom Standpunkt der geſchichtlichen
Methode. 1853 u. 1883. — - Adolf Wagner, Grundlegung der allg. oder theor. Volkswirtſchafts-
lehre. 1876. 3. Aufl. 1892—94. — - Schäffle, Das geſellſchaftliche Syſtem der menſchlichen Wirt-
ſchaft. 1873. — - v. Schönberg, Handbuch der politiſchen Ökonomie. 1882 — 1896 (hauptſächlich die
einleitenden und allgemeinen Abſchnitte von v. Schönberg, v. Scheel und Neumann). — - Schmoller,
Städtiſche, territoriale und ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. J. f. G.V. 1884 und Schmoller U. U. — - Bücher, Entſtehung der Volkswirtſchaft. 1893 u. 1898. —
- v. Philippovich, Grundriß der
politiſchen Ökonomie. 1893 u. 1898.
Gerber, Grundzüge eines Syſtems des deutſchen Staatsrechts. 1865 u. 1869. — - van Krieken,
Über die ſog. organiſche Staatslehre. 1873. — - Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die
neueſten Staatsrechtstheorien. Z. f. St.W. 1874.
1. Vorbemerkung. Die Volkswirtſchaft, deren allgemeine wiſſenſchaftliche
Lehre in dem folgenden Grundriß dargelegt werden ſoll, iſt ein ſtaatswiſſenſchaftlicher
Kollektivbegriff, ähnlich wie Staat, Volk, Geſellſchaft, Kirche, ſocialer Körper. Solche
Begriffe haben wohl, ſeit es ein Stammes- und Staatsleben gab, nie ganz gefehlt.
Aber erſt mit der höheren Ausbildung des geſellſchaftlichen Lebens, mit dem ſelbſtändigen
Hervortreten einzelner Seiten und beſonderer Organe desſelben einerſeits, mit der Ent-
ſtehung einer nachdenkenden Beobachtung und wiſſenſchaftlichen Beſchreibung der ſocialen
Erſcheinungen andererſeits haben ſie eine feſte Umgrenzung und größere Deutlichkeit
erhalten. Die Begriffe der πολιτεία, der res publica, des Staates ſind ſchon alt, ſie
haben ſich mit der wiſſenſchaftlichen Erörterung der Griechen und Römer gebildet und
ſeither erhalten; freilich hat der moderne Staatsbegriff auch erſt ſeit dem 18. Jahrhundert
das heutige Gepräge erhalten; der Begriff der Volkswirtſchaft hat ſich erſt im Laufe
des 17.—18. Jahrhunderts gebildet.
Wir haben unſere Erörterungen mit einer vorläufigen Analyſe dieſes Begriffes
zu beginnen, um damit den Gegenſtand, der uns beſchäftigt, im allgemeinen feſtzuſtellen
und bei dem, der ihn noch nicht kennt, zunächſt ein ſummariſches Bild deſſen hervor-
zurufen, was wir dann im einzelnen unterſuchen.
Das, was der Engländer political economy, der Franzoſe économie politique
nennt, der Deutſche erſt Staatswirtſchaft, dann richtiger Volkswirtſchaft nannte, um-
ſchließt jedenfalls zwei Grundvorſtellungen. Es handelt ſich um eine Geſamterſcheinung,
die auf der menſchlichen wirtſchaftlichen Thätigkeit beruht und die zugleich von den
menſchlichen Gemeinſchaften ihren Stempel empfängt.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 1
[2]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
2. Der Begriff des Wirtſchaftens. Das Wort Ökonomie ſtammt von
οἶκος, Haus, her und bedeutet die Hauswirtſchaft. Der deutſche Wirt beſagt ähnliches,
wie wir aus ſeinen Zuſammenſetzungen, Hauswirt, Landwirt, Gaſtwirt, ſehen. Wir
denken bei dem Worte „Wirtſchaften“ zuerſt an die Thätigkeit für die äußeren körper-
lichen Bedürfniſſe, deren Befriedigung die Bedingung unſerer Exiſtenz iſt. Der Mutter
Natur durch Jagd und Viehzucht, durch Hacke und Pflug die Nahrung abringen, gegen
Kälte und Feinde uns in einer Wohnung von Holz und Stein ſchützen, aus Baſt,
Lein und Wolle uns Kleider herrichten, Geräte und Werkzeuge für all’ das ſchaffen,
das iſt Wirtſchaften. Aber auch das Sammeln der Vorräte für die Zukunft, das
Waſchen und Reinigen, die Ordnung im Hauſe, die Schaffung der Güter an den Ort,
wo ſie gebraucht werden, die letzte Herrichtung derſelben für den Verbrauch gehört
dazu; und bald ſucht der Wirt dieſes und jenes auf den Markt zu bringen, zu ver-
kaufen; er will dabei gewinnen, Geld und Vermögen ſammeln; bei vielen rückt ſo
das Verdienen, der Verkehr in das Centrum der wirtſchaftlichen Thätigkeit. Und in
all’ dem erſcheint uns als wirtſchaftlich nur die zweckmäßige, von gewiſſen techniſchen
Kenntniſſen, von vernünftiger Überlegung und moraliſchen Ideen geleitete Thätigkeit;
eine ſolche, welche durch Wertgefühle und Werturteile gelenkt iſt, d. h. durch vernünftige
Vorſtellungen über die wirtſchaftlichen Zwecke und Mittel, ihre Beziehungen aufeinander
und auf Nutzen und Schaden, auf Luſt und Leid für den Menſchen.
Mag der einzelne all’ ſolche Thätigkeit zunächſt und in erſter Linie für ſich ſelbſt
üben, ſchon in den früheſten Zeiten hat doch die Mutter für ihre Kinder geſorgt. Und
wie wir Ähnliches ſchon bei den höheren, klügeren Tieren ſehen, ſo treffen wir auch
keine Menſchen, die nicht gruppenweiſe, durch Bluts- oder andere Bande verknüpft,
ſich auf den Wanderzügen, bei der Jagd und dem kriegeriſchen Beuteerwerb gegenſeitig
wirtſchaftlich helfen. Die Stammes-, Gentil-, Familienverfaſſung wird ſchlechtweg bei
allen Menſchen zu einer Organiſation wirtſchaftlichen Zuſammenwirkens. Aus der ge-
meinſamen Siedlung entſteht der wirtſchaftliche Verband der Mark und des Dorfes.
Aus den Herrſchaftsverhältniſſen, der kriegeriſchen, der kirchlichen Organiſation entſtehen
feſte Verpflichtungen zu Dienſt und Arbeit, zu Natural- und Geldlieferungen. Es kann
keinen etwas entwickelteren ſocialen Körper geben, in dem nicht ſo ein Teil der wirt-
ſchaftlichen Thätigkeit mit den Geſamtzwecken, mit der Regierung, der Gemeinſchaft in
dauernde Verbindung gebracht wäre.
Erſcheint uns ſo die wirtſchaftliche Thätigkeit bei allen etwas höher ſtehenden
Stämmen und Völkern bereits geſpalten in die individuale und hauswirtſchaftliche einer-
ſeits, die geſamtwirtſchaftliche andererſeits, begreifen wir ſo, daß ſchon die Alten alle
wirtſchaftliche Erörterung an Haus und Gemeinde anknüpften, ſo kommt nun mit der
Raſſenmengung, der Klaſſendifferenzierung, dem Geld- und Kreditverkehr die Arbeits-
teilung zwiſchen den einzelnen und den Familien hinzu: neben die Hauswirtſchaft,
die nur für den eigenen Bedarf thätig iſt, ſtellt ſich die Tauſchwirtſchaft, die Produktion
für andere, für den Abſatz, für den Markt. Es entſteht die wirtſchaftliche Unternehmung,
die nicht wie die Familie zugleich für alle Zwecke des Lebens eine Anzahl Individuen
zuſammenfaßt, ſondern nur für die Marktproduktion die Kräfte verſchiedener Perſonen
vereinigt. Wenn die Familie und die Gemeinde im feſten, gebundenen Rahmen von
Sitte und Recht wirtſchaften, das Individuum zu Dienſt und Hülfe zwingen, ihm aber
auch ohne Entgelt Dienſte und Güter zukommen laſſen, ſo entſteht der Tauſch- und
Geldverkehr mehr als freies Spiel der Intereſſen mit der ſteten Abſicht auf Gegen-
leiſtung. Es entſteht — an tauſend einzelnen Punkten anſetzend und immer weiter
vordringend — in der bisher weſentlich für den Eigenbedarf des Hauſes thätigen Geſellſchaft
das tauſchwirtſchaftliche Syſtem, das die wirtſchaftliche Thätigkeit in die Güterproduktion,
den Verkehr und die Konſumtion als nebeneinander ſtehende Teile oder Stationen zer-
legt, das neben Haus, Gemeinde und Staat eine zunehmende Zahl geſellſchaftlicher
Organe, Anſtalten, Geſchäfte, die ſog. Unternehmungen ſtellt, welche Güter produzieren
und verkaufen, Handel treiben, Gewinn machen wollen. Die höhere, verbeſſerte Technik,
die Anwendung erſparter Gütervorräte durch ſie charakteriſiert nun dieſen wichtigſten
[3]Der Begriff des Wirtſchaftens.
Teil der wirtſchaftlichen Thätigkeit der Kulturvölker. Erſt wo das wirtſchaftliche Leben
dieſe Formen angenommen hatte, entſtand für gewiſſe Gruppen der Geſellſchaft ein ſo
großer Wohlſtand, daß der Gegenſatz von Reichen und Armen ſtärker empfunden wurde,
bildete ſich auch erſt in ausgeprägterer Weiſe die Unterſcheidung reicher und armer Stämme
und Völker.
Im Bereich dieſer rechnenden und auf Gewinn ſpekulierenden Unternehmungen
entſtand zuerſt die verſtandes- und zahlenmäßige Erfaſſung aller Vorgänge des Wirt-
ſchaftslebens, das Buchen und Rechnen mit Wertgrößen und in Geldpreiſen, die Ver-
gleichung von Einnahme und Ausgabe, von Aufwand und Erfolg, die Berechnung
des Rohertrages der für eine Produktion aufgewendeten Koſten und des nach Abzug
der Produktionskoſten erzielten Reinertrages. Und alle unter die Kontrolle ſolcher Über-
legungen und Rechnungen geſtellte menſchliche Thätigkeit wird nun als ſpecifiſch wirt-
ſchaftlich bezeichnet; die Tugend der Wirtſchaftlichkeit iſt die planvoll berechnende, klug
den höchſten Erfolg mit den kleinſten Mitteln erreichende menſchliche Thätigkeit, ob ſie
nun direkt auf Wirtſchafts- oder andere Zwecke gehe. Und jede andere nicht wirt-
ſchaftliche Thätigkeit, die im Syſtem der Arbeitsteilung ein Entgelt fordert, wie die
des Lehrers, Richters, Künſtlers, erhält durch dieſe Entgeltung, durch die Abſicht, mit
ihr ſich einen Lebensunterhalt zu ſchaffen, eine wirtſchaftliche Seite.
So hat das Wort „Wirtſchaften“ neben ſeiner urſprünglich konkreten Bedeutung
noch eine Reihe von verwandten Nebenvorſtellungen in ſich aufgenommen; aber der
Kern des Begriffs iſt derſelbe geblieben. Er umfaßt nicht alles „Arbeiten“, denn es
giebt ein Arbeiten für höhere, nicht wirtſchaftliche Zwecke; nicht alle Thätigkeit für
äußere Bedürfnisbefriedigung, denn dazu gehört auch das Turnen, das Spazierengehen,
die Geſundheitspflege. Die Verflechtung der Thätigkeit in einen entgeltlichen Austauſch
iſt nur einem freilich wachſenden Teil der wirtſchaftlichen Thätigkeit bei höherer Kultur
eigen. Was das Individuum für ſich, für ſeine Familie, für Gemeinde und Staat
wirtſchaftlich ſchafft, ohne direkt bezahlt zu werden, gehört dem Kreiſe nicht minder an,
als was für den Markt produziert wird. Die wirtſchaftliche Produktion von Gütern,
Vorräten, Waren iſt das Hauptgebiet der Wirtſchaftsthätigkeit; aber auch die Leiſtungen
von wirtſchaftlichen Dienſten, die Handelsthätigkeit gehören dazu.
Die wirtſchaftliche Produktion beſteht ſtets in einem aktiven Eingreifen des
Menſchen in den großen, nie ruhenden Naturprozeß; er ſoll ſo geſtaltet werden, daß
die Kräfte der Natur dem Menſchen am wenigſten ſchaden, ihm am meiſten nützen.
Die in unbegrenzter Menge von der Natur dem Menſchen ſo gebotenen Güter, daß er
ſie ohne weiteres genießen und nützen kann, nennen wir freie, die in begrenzter Menge
vorkommenden und daher in das Eigentum von einzelnen oder Korporationen gekomme-
nen, vom Menſchen umgeformten nennen wir wirtſchaftliche Güter oder Güter
ſchlechtweg. Die möglichſt reiche Verſorgung mit Gütern iſt der Hauptzweck des wirt-
ſchaftlichen Schaffens. Je reichlicher dieſe Verſorgung wird, deſto geſicherter iſt unſere
Exiſtenz, deſto mehr können Vorräte für die Zukunft zurückgelegt werden, deſto mehr
kann ſtatt der direkten Gütererzeugung die indirekte, techniſch und geſellſchaftlich kom-
plizierte angeſtrebt werden. Das geſchieht durch Schaffung komplizierterer techniſcher
Vorrichtungen, wie z. B. durch Bau einer Waſſerleitung ſtatt des Schöpfens an der
Quelle; jeder richtige Fortſchritt nach dieſer Seite ſetzt voraus, daß wir, mit wirtſchaft-
lichen Vorräten verſehen, auf den augenblicklichen Erfolg verzichten können, um einen
größeren künftigen Erfolg, eine Mehrerzeugung oder Kräfteerſparung in der Zukunft zu
erreichen. —
3. Der Begriff der Wirtſchaften als geſellſchaftlicher Organe
und der Volkswirtſchaft. All’ das geſchieht nun in der Form von einzelnen
„Wirtſchaften“. Wir verſtehen unter einer „Wirtſchaft“ einen kleineren oder größeren
Kreis zuſammengehöriger Perſonen, welche durch irgend welche pſychiſche, ſittliche und
rechtliche Bande verbunden, mit und teilweiſe auch für einander oder andere wirt-
ſchaften. Auch die einzelne Perſon kann unter Umſtänden eine Wirtſchaft für ſich führen
oder bilden; meiſt aber iſt ſie ein Glied innerhalb einer oder mehrerer größerer Wirt-
1*
[4]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſchaften, wenigſtens einer Familienwirtſchaft. Jede Wirtſchaft hat einen zeitweiligen
oder dauernden Standort, verfügt über wirtſchaftliche Mittel, über Güter und Kapi-
talien, über die Arbeit ihrer Mitglieder, hat den Zweck, alle oder beſtimmte wirtſchaft-
liche Zwecke ihrer Mitglieder zu befriedigen; ſie hat eine beſtimmte innere Organiſation,
ſie grenzt ſich nach außen gegen andere Wirtſchaften, deren Standort, Perſonal und
wirtſchaftliche Güter ab. Sie iſt ſtets ein Stück techniſch-zweckmäßiger Naturgeſtaltung
und ſittlich-rechtlicher ſocialer Ordnung. Alle Wirtſchaftsorganiſation knüpft ſich zunächſt
an die ſocialen Organe an, welche das Geſellſchaftsleben überhaupt für alle menſchlichen
Zwecke bildet: Familie, Sippe, Gemeinde, Stamm, Staat ſind daher auch die weſent-
lichen Wirtſchaftskörper der älteren Zeit; wo und wie überhaupt Herrſchafts- und
Genoſſenſchaftsverbände ſich bilden, da fungieren ſie auch mehr oder weniger für die
wirtſchaftlichen Zwecke.
Bei primitivſter wirtſchaftlicher Kultur, die noch kaum zur Sippen- oder Stammes-
bildung geführt, ſind die erwachſenen Männer und Frauen faſt nur für ſich und ihre
unerwachſenen Kinder wirtſchaftlich thätig. Wo etwas höhere wirtſchaftliche und politiſche
Kultur Platz gegriffen hat, da greift die Haus- und Familienwirtſchaft und die Stammes-
und Gemeindewirtſchaft ineinander. Der Schwerpunkt der wirtſchaftlichen Thätigkeit
liegt zunächſt in Haus und Familie, in der auf gemeinſamen Gefühlen und Einrichtungen
beruhenden Eigenproduktion für die Familie; der Tauſchverkehr fehlt oder iſt ganz un-
erheblich. Nur für gewiſſe Zwecke des Viehtriebs, der Siedlung, Acker-, Wald- und
Weidenutzung greift die Gemeinde- und Stammeswirtſchaft Platz. Die begabteren Raſſen
und Stämme bringen es freilich frühe zu wichtigen, ihr Wirtſchaftsleben beherrſchenden
Einrichtungen der Ackerverteilung und der Kriegs- und Dienſtverfaſſung, zu großen
gemeinſamen Schutzbauten und Vorratsſammlungen. Man hat geſchwankt, ob man die
Haus- oder die Stammes- und Dorfwirtſchaft als das weſentliche Merkmal
dieſer Epoche des Wirtſchaftslebens hervorheben ſoll.
Indem die einzelnen Haus- und Familienwirtſchaften ſich differenzieren, einzelne
zu größeren Herrſchaftsverbänden werden, indem ein gewiſſer Tauſchverkehr ſich ausbildet,
die ſocialen Körper größer und feſter organiſiert werden, in ihrem Mittelpunkt größere
Orte und Märkte ſich bilden, entſtehen wirtſchaftliche Zuſtände, welche ſich dadurch
charakteriſieren, daß wohl noch die Mehrzahl der Familien das meiſte ſelbſt produziert,
alſo auf dem Boden der Eigenwirtſchaft ſtehen bleibt, aber daneben doch in ſteigendem
Umfang am Tauſchverkehr teilnimmt. Dieſer beſchränkt ſich freilich zunächſt haupt-
ſächlich auf den ſtädtiſchen Markt, wo die Landleute ihre Rohprodukte, die Handwerker ihre
Gewerbsprodukte ohne Handelsvermittelung verkaufen. Die antiken kleinen Stadtſtaaten,
die meiſten mittelalterlichen Stadtgebiete und Kleinſtaaten ſind Gebilde dieſer Art. Da
eine beherrſchende Stadt meiſt den Mittelpunkt bildet, ihr Markt und deſſen Einrichtungen
das Charakteriſtiſche für ſolche Zuſtände ſind, ſo hat man ſie neuerdings durch den
Begriff der Stadtwirtſchaft bezeichnet.
Wo größere ſociale Körper ſich bilden mit einer Reihe von Städten und Land-
ſchaften, wo mit zunehmendem Tauſch- und Geldverkehr von der Familienwirtſchaft ſich
beſondere Unternehmungen, d. h. lokal und organiſatoriſch für ſich beſtehende Wirt-
ſchaften mit dem ausſchließlichen Zwecke des Handels und der Güterproduktion loslöſen,
der Marktverkehr und der Handel immer mehr alle Einzelwirtſchaften beeinfluſſen und
abhängig von ſich machen, wo zugleich die Staatsgewalt durch Münzweſen und Straßen-
bau, durch Agrar- und Gewerbegeſetze, durch Verkehrs- und Handelspolitik, durch ein
Geldſteuerſyſtem und die Heeresverfaſſung alle Wirtſchaften der Familien, Gemeinden
und Korporationen von ſich abhängig macht, da entſteht mit dem modernen Staats-
weſen das, was wir heute die Volkswirtſchaft nennen. Sie beruht ebenſo auf
der Verflechtung aller Einzelwirtſchaften in einen unlöslichen Zuſammenhang durch den
freien Tauſch- und Handelsverkehr, als auf den wachſenden einheitlichen Wirtſchafts-
einrichtungen von Gemeinde, Provinz und Staat. Der Begriff der Volkswirtſchaft will
eben das Ganze der nebeneinander und übereinander ſich aufbauenden Wirtſchaften eines
Landes, eines Volkes, eines Staates umfaſſen. Die Geſamtheit alles wirtſchaftlichen
[5]Der Begriff der Volkswirtſchaft.
Lebens der ganzen Erde ſtellen wir uns, nachdem wir dieſen Begriff gebildet, als eine
Summe geographiſch nebeneinander ſtehender und hiſtoriſch einander folgender Volks-
wirtſchaften vor. Die Summe der heute einander berührenden, in gegenſeitige Abhängig-
keit von einander gekommenen Volkswirtſchaften nennen wir die Weltwirtſchaft.
Man hat geſagt, der Begriff der Volkswirtſchaft ſei nur ein Sammelbegriff, eine
Abkürzung für eine gewiſſe Summe von Einzelwirtſchaften, es fehle ja die einheitliche,
centraliſtiſche Leitung, es ſeien immer die einzelnen Individuen, die wirtſchafteten. Als
ob im menſchlichen Körper nicht auch die einzelnen Zellen die aktiv thätigen Elemente
wären und unzählige Vorgänge in ihm ſich abſpielten, ohne daß ein Bewußtſein hiervon
im Centralorgan vorhanden wäre. Uns iſt die Volkswirtſchaft ein reales Ganzes, d. h.
eine verbundene Geſamtheit, in welcher die Teile in lebendiger Wechſelwirkung ſtehen
und in welchem das Ganze als ſolches nachweisbare Wirkungen hat; eine Geſamtheit,
welche trotz ewigen Wechſels in den Teilen, in ihrer Weſenheit, in ihren individuellen
Grundzügen für Jahre und Jahrzehnte dieſelbe bleibt, welche, ſoweit ſie ſich ändert,
ſich uns als ein ſich entwickelnder Körper darſtellt. Niemals werden tauſende von
Einzelwirtſchaften, die verſchiedenen Staaten angehören, als „eine Volkswirtſchaft“ vor-
geſtellt und zuſammengefaßt. Nur wo Menſchen derſelben Raſſe und derſelben Sprache,
verbunden durch einheitliche Gefühle und Ideen, Sitten und Rechtsregeln, zugleich ein-
heitliche nationale Wirtſchaftsinſtitutionen haben und durch ein einheitliches Verkehrs-
ſyſtem und einen lebendigen Tauſchverkehr verknüpft ſind, ſprechen wir von einer Volks-
wirtſchaft. Die älteren Zeiten kannten wohl größere Staaten, d. h. politiſch-militäriſche
Zuſammenfaſſungen von zahlreichen Stämmen und Stadtbezirken; erſt die neuere
Entwickelung hat Volkswirtſchaften in unſerm Sinne erzeugt, und deshalb konnte dieſer
Begriff erſt im Laufe der letzten drei Jahrhunderte ſich bilden.
Indem die Volkswirtſchaft ſich als ein relativ ſelbſtändiges Syſtem von Ein-
richtungen, Vorgängen und Strebungen entwickelte, indem die wirtſchaftlichen Intereſſen
zu ſelbſtändiger Vertretung in gewiſſen beſonderen geſellſchaftlichen Organen gelangten,
wurde das volkswirtſchaftliche Leben für die Vorſtellungen der Menſchen ein begrifflich
von Staat und Recht, Kirche und Familienleben, Kunſt und Technik getrenntes Gebiet.
Freilich vollzog ſich die Trennung mehr in den Gedanken der Menſchen als in der
Wirklichkeit. Denn die wirtſchaftenden Perſonen blieben nach wie vor Bürger und
Unterthanen des Staates, Glieder der Familien, der Kirchen, der ſocialen Klaſſen, ſie
handelten auch wirtſchaftlich nach wie vor in der Regel unter dem Impuls aller der
Gefühle und Triebe, der Vorſtellungen und Ideen, welche ihrer Zeit und Raſſe, ihrer
Geſittung und Bildung überhaupt entſprachen. Freilich konnte unter der Einwirkung
der entwickelteren volkswirtſchaftlichen Intereſſen das ganze Triebleben und die ganze
Moral, zumal in beſtimmten Kreiſen, ſich ändern. Aber immer blieben dieſe veränderten
pſychiſchen Elemente Teile des einheitlichen Volksgeiſtes, wie ein großer Teil der wirt-
ſchaftlichen Organe zugleich ſolche für andere Zwecke blieb, wie der Staat nicht auf-
hörte, das Centralorgan für die verſchiedenſten Zwecke zu ſein.
Die Volkswirtſchaft iſt ſo ein Teilinhalt des geſellſchaftlichen Lebens; auf natürlich-
techniſchem Boden erwachſen, iſt ihr eigentliches Princip die geſellſchaftliche Geſtaltung
der wirtſchaftlichen Vorgänge. Auch das Techniſche, die wirtſchaftlichen Bedürfniſſe, die
Gepflogenheiten des Ackerbaues, des Gewerbfleißes, des Handels erſcheinen der volks-
wirtſchaftlichen Betrachtung als Züge gewiſſer Klaſſen oder des gemeinſamen Volkstums
oder beſtimmter Völkergruppen. Die geſellſchaftlichen Beziehungen und Zuſammenhänge
des Wirtſchaftslebens wollen wir erfaſſen, wenn wir die Volkswirtſchaft ſtudieren. Daher
konnten zeitweiſe die Wert-, Preis-, Geld-, Kredit- und Handelserſcheinungen als der
Kern der volkswirtſchaftlichen Fragen erſcheinen. Daher fragen wir, wenn wir die
konkreten Züge einer einzelnen Volkswirtſchaft erkunden wollen, zwar zuerſt nach Größe,
Lage und Klima des Landes, nach ſeinen Naturſchätzen und ſeinen natürlichen Verkehrs-
mitteln, aber wichtiger iſt uns doch, gleich zu erfahren, wie das Volk dieſe natürlichen
Gaben nutze, durch Veranſtaltungen einträglich mache; wir wollen wiſſen, wie groß
und dicht die Bevölkerung und die vorhandene Kapitalmenge ſei, noch mehr, wie dieſe
[6]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Menſchen geiſtig und ſittlich beſchaffen, techniſch geſchult, wie ihre Sitten und Bedürf-
niſſe entwickelt, wie ſie in Familien, Höfen, Dörfern und Städten organiſiert ſeien, wie
Vermögen und Kapital verteilt, Arbeitsteilung und ſociale Klaſſenbildung geſtaltet, wie
das Marktweſen, der Handel, das Geldweſen geordnet ſeien, wie Finanzen und ſtaats-
wirtſchaftliche Inſtitutionen die Einzelwirtſchaften und den wirtſchaftlichen Fortſchritt
beeinfluſſen. Denn die Volkswirtſchaft iſt das als ein Ganzes gedachte und wirkende,
von dem einheitlichen Volksgeiſt und von einheitlichen materiellen Urſachen beherrſchte
Syſtem der wirtſchaftlich-geſellſchaftlichen Vorgänge und Veranſtaltungen des Volkes.
Zu dieſen Veranſtaltungen gehört auch der Staat. Ohne eine feſt organiſierte
Staatsgewalt mit großen wirtſchaftlichen Funktionen, ohne eine Staatswirtſchaft als
Centrum aller übrigen Wirtſchaften kann eine hochentwickelte Volkswirtſchaft nicht
gedacht werden. Dieſe Staatswirtſchaft mag, wie die befehlende und eingreifende Staats-
gewalt ſelbſt, eine viel größere Rolle in dieſer, eine viel kleinere in jener Volkswirtſchaft
ſpielen, vorhanden iſt ſie ſtets. Es war ein ſchiefes Phantaſiebild, ſich eine natürliche
Volkswirtſchaft außerhalb und getrennt von allem Staate und aller Staatseinwirkung
vorzuſtellen. Es führt auch leicht zu falſchen Schlüſſen, wenn man das ſtaatliche Leben
ſich ausſchließlich unter dem Bilde eines Syſtems centraliſierter Kräfte, das volkswirt-
ſchaftliche als unter dem eines Syſtems freier, ſich ſelbſt beſtimmender Einzelkräfte vor-
ſtellt. Beides ſind die verſchiedenen Seiten eines und desſelben ſocialen Körpers. Im
Staat wie in der Volkswirtſchaft iſt eine Einheit pſychiſcher Kräfte vorhanden, die
unabhängig von äußerer Organiſation wirken; im Staat und in der Volkswirtſchaft
vollziehen ſich zahlreiche Vorgänge auf der Peripherie ohne direkte und bewußte Leitung
von einem organiſierten Centralpunkt aus. Auch die Volkswirtſchaft hat centrale Organe,
wie z. B. große Banken, centrale Verkehrsinſtitute, Wirtſchaftsvertretungen, Handels-
und Ackerbauminiſterien. Nur ſind ſie nicht ſo zahlreich und ſo centraliſiert, wie die
Organe des Staates. Die politiſchen Funktionen bedürfen in umfaſſenderem Maße der
einheitlichen Zuſammenfaſſung. Die Volkswirtſchaft iſt ein halb natürlich-techniſches,
halb geiſtig-ſociales Syſtem von Kräften, welche zunächſt unabhängig vom Staat ihr
Daſein haben, verkümmern oder ſich entwickeln, die aber bei aller höheren und kompli-
zierteren Geſtaltung doch von Recht und Staat feſte Schranken geſetzt erhalten, nur
in Übereinſtimmung mit dieſen Mächten ihre vollendete Form empfangen, in ſteter
Wechſelwirkung mit ihnen bald die beſtimmenden, bald die beſtimmten ſind. —
Wenn wir ſo die Volkswirtſchaft als einen Teilinhalt des geſellſchaftlichen Lebens,
als die eine Seite des ſocialen Körpers bezeichnen, ſo liegt es auch nahe, daß ſie nur
im Zuſammenhang mit den übrigen geſellſchaftlichen Erſcheinungen zu verſtehen iſt.
Wir verſuchen daher einleitend zu einem Verſtändnis des geſellſchaftlichen Lebens über-
haupt und hauptſächlich der pſychiſchen, ſittlichen und rechtlichen Grundlagen desſelben
zu kommen. Dieſe Betrachtungen geben uns zugleich Gelegenheit, einige der principiellen
Fragen, welche auf dem Grenzgebiete zwiſchen Volkswirtſchaftslehre einerſeits und
Staatslehre, Pſychologie, Ethik und Rechtsphiloſophie andererſeits liegen, ſchon hier
zu erledigen. Daran knüpfen ſich dann am paſſendſten die nötigen Bemerkungen
über die Geſchichte der Litteratur und die Methode unſerer Wiſſenſchaft an.
II. Die pſychiſchen, ſittlichen und rechtlichen Grundlagen der
Volkswirtſchaft und der Geſellſchaft überhaupt.
1. Die Zwecke und die Mittel des geſellſchaftlichen Zuſammenſchluſſes.
- Herbert Spencer, Die Principien der Sociologie. 4 Bde. Deutſch 1877—97. —
- Schäffle,
Bau und Leben des ſocialen Körpers. 4 Bde. 1875—78. — - Tarde, Les lois de l’imitation.
1895. 2. Aufl.
4. Gehen wir, um zu einem erſten rohen Verſtändnis des geſellſchaftlichen Lebens
zu kommen, von der ſicherſten und allgemeinſten ſocialen Erfahrung aus, ſo iſt es
[7]Der Geſchlechtszuſammenhang. Die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft.
unzweifelhaft die, daß die Menſchen aller Raſſen, aller Zeiten, aller Erdteile, ſofern ſie
nur etwas über den roheſten Zuſtand ſich erhoben hatten, ſtets in Gruppen vereinigt
gefunden wurden. Die kleineren Gruppen, die Horden oder Stämmchen, beſtehen aus
einer Anzahl blutsverwandter Individuen verſchiedenen Alters und Geſchlechts; die
größeren, die Stämme und Völker, aus einer Summe zuſammenhaltender Untergruppen,
d. h. Familien und Sippen, Gemeinden, Gilden oder ſonſtwie Vereinten. Die kleineren
älteren wie die größeren ſpäteren Gemeinſchaften ſtehen ſich teils feindlich, teils freundlich
gegenüber; ſtets aber ſind die Mitglieder der Gruppen unter ſich enger verbunden als
mit den Gliedern anderer, häufig ihnen feindlicher Gruppen. Nirgends hat man in
hiſtoriſcher Zeit anders als ausnahmsweiſe ganz iſoliert lebende Menſchen getroffen,
die nachweislich plötzlich angefangen hätten, ſich zuſammen zu thun, ein Gemein-
weſen zu gründen. Der Menſch gehörte ſtets zu den Herdentieren. Aber er iſt kein
ζῶον πολιτικὸν in dem Sinne, daß ein unterſchiedsloſer Geſelligkeitstrieb ihn veranlaßte,
Anſchluß an jedes andere menſchliche Weſen zu ſuchen; er thut dies ſtets nur in der
Weiſe, daß der Anſchluß an die einen Abſonderung von den anderen bedeutet.
Was ſind nun aber die äußeren, jedem ſichtbaren Zwecke, wegen deren der Zuſammen-
ſchluß ſich vollzieht; erſt wenn wir auf ſie einen Blick geworfen, werden wir uns über
die Mittel verſtändigen können, durch welche aller Anſchluß, alle Verſtändigung erfolgt.
Hauptſächlich drei Zwecke treten uns da als die wichtigſten entgegen, deren Verfolgung
die Menſchen ſtets zur Gemeinſchaft und Gruppenbildung veranlaßt hat, welche ſtarke
Gemeingefühle in Zuſammenhang mit den betreffenden Intereſſen und Vorſtellungen
bei den Teilnehmenden erzeugen.
Die Geſchlechtsverbindung und der Blutszuſammenhang iſt das
ſtärkſte und älteſte Princip geſellſchaftlicher Gruppierung. Lange Zeiträume hindurch
haben nur die Blutsverwandten und ihre Nachkommen Stämmchen und Stämme gebildet.
Die einheitliche Abſtammung und das Zuſammenaufwachſen ergab ähnliche Eigen-
ſchaften und ſtarke ſympathiſche Gefühle; nur wer desſelben Blutes war oder künſtlich
als ſolcher durch äußerliche Blutmiſchung fingiert wurde, war Genoſſe, jeder andere war
Feind. Wenn im Stamme Untergruppen ſich bildeten, ſo waren ſie ſelbſt wieder durch
die Abſtammung beſtimmt, wie die Stellung jedes einzelnen in Untergruppe und
Stamm; das Verhältnis zu anderen Stämmen hing weſentlich von der Vorſtellung
ab, ob man ſich für verwandt hielt. Auch nachdem längſt andere Bande der Gemeinſam-
keit hinzugekommen und die Vorſtellungen über den Blutszuſammenhang gelockert, teil-
weiſe erſetzt hatten, blieb das Gefühl gemeinſamer Abſtammung für die Mehrzahl der
Menſchen der ſtärkſte Kitt, der die Gruppen, Stämme, Nationen, Völker und Raſſen
zuſammenhält, blieben die immer neu ſich knüpfenden Verwandtſchaftsbande in den
engeren Kreiſen der Geſellſchaft die ſtärkſte Quelle für ſympathiſche Gefühle und die
wichtigſte Veranlaſſung zu gemeinſamer auch wirtſchaftlicher Thätigkeit, zu Verträglich-
keit, zu Aufopferung, zur Entſtehung aller möglichen Tugenden. Wir kommen auf dieſe
Dinge unten in dem Abſchnitt über Familie und Geſchlechtsverfaſſung zurück.
Die Friedens- und Kriegsgemeinſchaft erwächſt naturgemäß aus dem
Blutszuſammenhang. Die Stämme und Völker ſind nach innen durch die ſtarken
ſympathiſchen Gefühle und tägliches Zuſammenſein auf den Frieden, nach außen auf
die gemeinſame Abwehr aller Gefahren und aller Feinde angewieſen; nur unter der
Doppelbedingung des Friedens nach innen, des gemeinſamen Kampfes nach außen können
ſie ſich erhalten, können ſie ſich fortpflanzen und können ſie wachſen. Zugleich iſt klar,
daß die Veranſtaltungen hiefür eine Menge neuer Vorſtellungen und Intereſſen wecken,
und daß hieran einerſeits ſtärkere Gefühle und Triebe des Haſſes, der Kampfluſt gegen-
über Außenſtehenden ſich knüpfen, und daß andererſeits damit der innere Zuſammenhalt
wächſt; nichts ſtärkt die Gemeingefühle mehr als gemeinſame Kämpfe und die Erinne-
rung daran; nichts dämpft innerhalb des Stammes die Ausbrüche der rohen Leidenſchaft
mehr als die Friedensveranſtaltungen. Mögen ſie noch ſo langſam erwachſen; ſchon
die geordnete Blutrache, dann das Kompoſitionenſyſtem ſind tiefgreifende Verſuche der
Streiteinengung, zuletzt ſiegt das Verbot jeder Selbſthülfe und die Erſetzung jeder
[8]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
privaten Rache durch den Richterſpruch der Älteſten, der Fürſten: das große Princip wird
proklamiert, daß im Staate nicht der Fauſtkampf, ſondern die Gerechtigkeit herrſchen ſolle,
daß alle Reibungen und Kämpfe im Inneren nur innerhalb enger Schranken ſich be-
thätigen dürfen. Und ſolches ſcheint da doppelt nötig, wo man aller Kräfte nach außen
bedarf. Die ſociale Zucht, die Unterordnung der einzelnen unter gemeinſame Zwecke,
die Zuſammenfaſſung der Kräfte gelingt in erſter Linie durch den Kampf und den Krieg
mit anderen Stämmen und Gemeinweſen. Die Stämme, deren Lebensweiſe körperliche
Kraft und Ausbildung des Mutes begünſtigte, in denen kühne Kriegshäuptlinge aus
den freiwilligen Beutezügen heraus ein allgemeines Zwangsprincip der kriegeriſchen
Organiſation herzuſtellen wußten, wurden fähig, die Mittelpunkte von Stammes-
bündniſſen zu werden, ſchwächere Nachbarn zu vernichten oder zu unterwerfen, Reſte
halb aufgeriebener Stämme ſich in verſchiedener Form einzuverleiben. Solches war nur
möglich durch Aufrichtung einer befehlenden Gewalt, durch Gehorſam, Disciplin, kriege-
riſche Übung, Vorratsſammlung, Schutzbauten, kurz durch eine geſellſchaftliche Einrichtung,
die eine königliche Gewalt überhaupt für alle Lebensgebiete ſchuf, in ihre Hand einen
Machtapparat legte, der fähig war, Recht zu ſprechen, Frieden zu ſtiften, gemeinſame
Zwecke aller Art zu verfolgen. „Daß ſich das politiſche Staatsweſen aus dem Kriegs-
weſen entwickelt hat“, ſagt Tylor, „unterliegt keinem Zweifel. Eine konſtitutionelle
Regierung iſt eine Einrichtung, durch welche eine Nation vermittelſt der Maſchinerie
eines Militärdespotismus ſich ſelbſt regiert.“ Jedenfalls iſt durch nichts ſo ſehr als
durch die militäriſche Organiſation der Einfluß der Autoritäten in der Geſellſchaft
geſteigert, das Princip einer einheitlich-befehlenden Gewalt über gehorchende Maſſen
ausgebildet worden, hat durch nichts ſo ſehr die rechtſprechende Gewalt die nötige
Macht und Exekutive erhalten, ſo daß wir heute, den Kernpunkt aller ſtaatlichen
Organiſation in der Kriegshoheit und Juſtizhoheit ſehend, nicht fehlgehen, wenn wir
ſagen: alle höhere Geſellſchaftsentwickelung geht aus von der Friedensgemeinſchaft nach
innen und von der Kampfesgemeinſchaft nach außen.
Die Siedlungs- und Wirtſchaftsgemeinſchaft ſchließt ſich direkt an
die primitiven Bluts-, Friedens- und Kriegsgemeinſchaften an. Auch ſo lange dieſe
noch unſtet von Ort zu Ort zogen, je nachdem die Möglichkeit der Ernährung, der
Sieg oder die Niederlage ſie weiter trieb, hatten ſie zeitweiſe gemeinſam beſtimmte
Gaue, Thäler, Ebenen inne. Aber die Beziehungen zum Boden wurden erſt dauernd
und tiefgreifend, als ſie den Acker-, Garten- und Waſſerbau, als ſie gegen Feinde durch
Wall und Graben ſich dauernd zu ſchützen, Häuſer zu bauen, den Boden zu teilen
gelernt hatten. Mit der feſten Siedlung, dieſem ſo überaus wichtigen wirtſchaftlichen,
ſtets urſprünglich durch die Gemeinſchaft vorgenommenen Akte entſtehen die dauernden
Nachbarſchaftsbeziehungen, das Heimatsgefühl, die Vaterlandsliebe. Die geſamten
Glieder eines Stammes ſehen ſich nun ſeltener, die am ſelben Orte wohnenden häufiger;
neben die Beziehungen der Bluts- treten die der Ortsgemeinſchaft; es bilden ſich für
wirtſchaftliche, für Schutz-, für Verkehrs- und andere Zwecke die Orts- und Nachbar-
verbände; die Gebietskörperſchaften umfaſſen bald Leute verſchiedenen Blutes; aus dem
Stamme wird der mit einem beſtimmten Lande verknüpfte Staat. Wir kommen unten
beim Siedlungsweſen und den Gebietskörperſchaften hierauf zurück.
Mit der feſten Siedlung und der erſten Bodenverteilung erwachſen innerhalb des
ſocialen Körpers eine Reihe kleinerer feſter gefügter Gemeinſchaften, die Familien mit
ihrer Haus- und Hofwirtſchaft, die Sippen, d. h. die Geſchlechtsverbände, die Grund-
herrſchaften, die Ortsgemeinden und Gaue, welche alle in ſich nun ſtärkere Gemeingefühle,
feſtere Ordnungen der Herrſchaft und Genoſſenſchaft ausbilden, wie umgekehrt beſtimmte
Gegenſätze und Spaltungen mit der Berufs- und Arbeitsteilung, mit der verſchiedenen
Stellung und dem verſchiedenen Beſitz ſich ergeben. Und wo vollends der Tauſch- und
Geldverkehr ſich entwickelt, die Arbeitsteilung weiter voranſchreitet, ſociale Klaſſen ent-
ſtehen, da bilden ſich in ſteigendem Umfang eine Menge vielverzweigter wirtſchaftlicher
Beziehungen, Abhängigkeits-, Dienſt- und Vertragsverhältniſſe, neue dauernde Gruppie-
rungen aller Art neben den tauſendfachen täglich erfolgenden vorübergehenden Geſchäfts-
[9]Siedlungs-, Wirtſchafts- und ſonſtige Gemeinſchaft.
berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienſte aller Art nach kompli-
zierten Maßſtäben: es bildet ſich das unendlich verzweigte Syſtem wirtſchaftlicher
Gemeinſchaft, das wir ſchon oben (S. 2—4) kurz zu ſchildern ſuchten, das in ſeinem
Schoße aber ebenſo ſehr die Gegenſätze ſteigert, die Individualitäten entwickelt, die
einzelnen durch die Luſt an der Herrſchaft, am Beſitz und am Mehrhaben in Gegenſatz
bringt, als es immer wieder über die Gegenſätze hinweg durch größere gemeinſame
Organiſationen und Schaffung ſtärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zuſammen-
faßt. —
Sind die Blutsbande, die Kriegs- und Friedensgemeinſchaft und die wirtſchaft-
lichen Beziehungen die elementarſten und wichtigſten Veranlaſſungen zu geſellſchaftlicher
Organiſation, ſo entſtehen mit der höheren Kultur daneben eine Reihe weiterer Zwecke,
wie Gottesdienſt, Erziehung, Kunſt, Geſundheitspflege und Ähnliches,
welche ſociale Beziehungen und Gemeinſchaften und damit neue Vorſtellungsreihen,
Gefühle und Ziele des Handelns erzeugen. Es bilden ſich jene höheren Funktionen und
Formen des geſellſchaftlichen Lebens, wie Sitte, Recht, Moral, Religion, deren Ent-
wickelung zuerſt als Mittel für die älteren nächſtliegenden Zwecke, dann aber als Selbſt-
zweck und beherrſchender Regulator alles Handelns erſcheint. Ihr eigenartiges Daſein
ſchafft wieder neue geſellſchaftliche Beziehungen und Gemeinſchaften, auf die wir weiterhin
zu kommen haben werden.
Hier waren ſie nur zu erwähnen, um eine Vorſtellung davon zu erwecken, wie
die geſellſchaftlichen Zuſammenhänge ſich anknüpfen an eine Reihe gemeinſam erſtrebter
Zwecke und Ziele. Jeder dieſer Zwecke erzeugt eigenartige Zuſammenhänge, Gemein-
ſchaften, Vorſtellungen und Gefühle; jeder muß aber dulden, daß die anderen neben ihm
verfolgt werden. So entſteht ein Syſtem, eine Hierarchie von ſocialen Zwecken und
Zielen, wobei die einen ſich teils als Mittel für die anderen, teils als Hindernis heraus-
ſtellen; es muß alſo eine Neben- und Unterordnung der Zwecke, eine Ineinanderfügung
und Anpaſſung, ein geordneter Zuſammenhang in den Gefühlen, Vorſtellungen und In-
ſtitutionen ſich herſtellen. Hier liegt gleichſam das Geheimnis der ſocialen Organiſation,
hier liegt der Punkt, von dem aus es zu verſtehen iſt, daß Familien-, Rechts-, Staats-
und Wirtſchaftsverfaſſung ſich ſtets gegenſeitig bedingen, nie getrennt verſtanden werden
können.
Mit all’ dieſen Thatſachen und ihrem Zuſammenhang iſt aber noch keineswegs
erklärt, wodurch die Menſchen in Stand geſetzt ſind, für alle möglichen Zwecke Ver-
bindungen anzuknüpfen. Man hat darauf hingewieſen, daß auch die höheren Tiere
herdenweiſe zu Verteidigungs- und Arbeitsgemeinſchaften zuſammentreten. Man hat
geſagt, der Menſch ſei ein kräftigeres und klügeres Raubtier, aber auch ein mit viel
ſtärkeren Gemütsimpulſen und Gemeinſchaftsgefühlen ausgeſtattetes Herdentier als die
anderen Lebeweſen; darauf beruhe ſeine Herrſchaft über die ganze Natur und die Ausbildung
ſeiner ſocialen Fähigkeiten. So viel ſcheint jedenfalls klar, daß die feinere Organiſation
unſeres Körpers, unſerer Nerven, unſeres ſeeliſchen Apparates eine leichtere Verſtändigung
der Menſchen als der Tiere untereinander herbeiführt. Die höhere Stellung des Menſchen
beruht darauf, daß er beſſere, reichere Verſtändigungsmittel für ſociales Zuſammenwirken
und damit ſtärkere Gemeingefühle, ein helleres Bewußtſein über Zwecke höherer und fern-
liegender Art, ihre Folgen, ihre gemeinſame Verfolgung ſich erwarb. Eine ſtarke Aus-
bildung der Mit- und Gleichgefühle ſtand an der Geburtsſtätte alles geſellſchaftlichen
Daſeins. Kein anderes Weſen ſteht ſo unter der anſteckenden Herrſchaft der Umgebung
von Seinesgleichen, kein anderes kann ſich ſchon durch Geſten ſo verſtändigen, Gefühle
und Vorſtellungen austauſchen. Wie der Menſch gähnt und lacht und tanzt, wenn
er gähnen, lachen und tanzen ſieht, wie die rauſchende Militärmuſik in hunderten von
Gaſſenjungen unwillkürlich Reflexbewegungen und Muskelgefühle erzeugt, die ſie fort-
reißt, im Takte mit zu marſchieren, ſo wirkt alles Menſchliche anſteckend. Wie der junge
Vogel ſingen lernt durch Nachahmung der alten, ſo und in noch viel höherem Grade
ahmt der Menſch nach; alle Erziehung der Kinder beſteht in unzähligen Anläufen und
Aufforderungen zur Nachahmung. Und ſo lange der Menſch friſch und bildungsfähig
[10]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
bleibt, ahmt er bewußt oder unbewußt täglich und ſtündlich Unzähliges nach. Wie
der Hypnotiſeur ſein Medium, ſo zwingen überall die führenden Menſchen die Maſſe
in ihren Bannkreis, und tauſchen alle ſich Berührenden ihre Gefühle und Gepflogenheiten
unwillkürlich aus. So konnte Tarde ſagen: eine Geſellſchaft iſt eine Gruppe von Weſen,
die ſich untereinander nachahmen, oder die ähnliche Nachkommen ſolcher Weſen ſind, die
ſich früher nachgeahmt haben.
Die ununterbrochene und unwiderſtehliche, pſychiſche Wechſelwirkung und Suggeſtion
aller ſich Berührenden ſtellt den verbindenden Strom dar, der gemeinſame Gefühle,
Verſtändigung, Ineinanderpaſſung, ſowie Abſchließung gegen außen herbeiführt. Aber
dieſer Strom wäre ewig ſchwach geblieben, wenn er nicht durch die Sprache, die Schrift,
die Vervielfältigung derſelben, ſowie durch die Methoden ihrer Verbreitung und Benutzung
eine Kraft erhalten hätte, welche ſich zu der wortloſen Verſtändigung und Wechſelwirkung
verhält, wie die heutigen ſtarken elektriſchen Induktionsſtröme zu den ſchwachen galva-
niſchen Strömen.
2. Die pſychophyſiſchen Mittel menſchlicher Verſtändigung: Sprache und Schrift.
- Herder, Über den Urſprung der Sprache. 1772. —
- Jakob Grimm, Über den Urſprung
der Sprache, Kleine Schriften 1, 1864. — - Lazarus, Geiſt und Sprache, Leben der Seele. 2, 1857. —
- Steinthal, Der Urſprung der Sprache im Zuſammenhang mit den letzten Fragen alles Wiſſens. 1877.
Steinthal, Die Entwickelung der Schrift. 1852. — - Wuttke, Geſchichte der Schrift und
des Schrifttums. 1872. — - Faulmann, Illuſtrierte Geſchichte der Schrift. 1880. —
- Kirchhoff,
Die Handſchriftenhändler des Mittelalters. 1853. — - Wattenbach, Das Schriftweſen des Mittel-
alters. 1871. — - Treutlin, Geſchichte unſerer Zahlzeichen. 1875.
Falkenſtein, Geſchichte der Buchdruckerei. 1840. — - Kirchhoff, Beiträge zur Geſchichte des
deutſchen Buchhandels. 1851—53. Archiv für Geſchichte des deutſchen Buchhandels. — - Buchner,
Beiträge zur Geſchichte des deutſchen Buchhandels. 1874. — - Jul. Duboc, Geſchichte der engliſchen
Preſſe. 1873. — - Wuttke, Die deutſchen Zeitſchriften und die Entſtehung der öffentlichen Meinung. 1875.
Karl v. Raumer, Geſchichte der Pädagogik ſeit dem Wiederaufblühen klaſſ. Studien bis auf
unſere Zeit. 5. Aufl. 1877 ff. — - Karl Schmidt, Geſchichte der Pädagogik. 3. Aufl. 1873—76. —
- Sander, Lexikon der Pädagogik. 1883.
Edwards, Memoris of libraries. 1859. 2. Bde. — - Derſ., Libraries and founders of
libraries. 1865.
5. Die Sprache. Die Sprachbildung iſt Geſellſchaftsbildung, die Sprachlaute
ſind Verſtändigungslaute. Man hat beobachtet, daß gewiſſe Tiere bis zu 10, 12, ja
20 verſchiedene Töne haben, deren jeder den Genoſſen eine andere Stimmung andeutet.
Der gemeine Mann ſoll ſelbſt mitten in der heutigen, aufgeklärten Geſellſchaft nicht über
300 Worte gebrauchen, während der Gebildete es bis zu 100000 und mehr bringt.
In dieſen Zahlen drückt ſich wenigſtens einigermaßen die ſteigende Fähigkeit zur Ver-
geſellſchaftung aus.
Die Entſtehung der Sprache iſt eine Seite an dem Vernünftigwerden des Menſchen.
Die Anſchauungen und Vorſtellungen werden erſt in wenigen, dann in mehreren Lauten
und Worten vergegenſtändlicht. Der Menſch will ſich dem Menſchen verſtändlich machen;
wie wir ſchon ſahen, wirken Gebärden, Gefühle und Leidenſchaften anſteckend; was
den einen erfüllt, klingt ſympathiſch beim anderen an. Das Fühlen, Vorſtellen und
Denken kommt durch das Zuſammenſein mit anderen in Fluß, und ſo entſtehen durch
die Geſellſchaft und durch die ſympathiſchen Gefühle die Verſtändigungslaute und mit
ihr die fixierten Vorſtellungen und Begriffe, das Denken ſelbſt. Alle Erweiterung feſter
Beobachtung, alle umfaſſende Klaſſifikation der Erſcheinungen, alle Anhäufung der
Erfahrung, alle Entſtehung allgemeiner Urteile und das Weiterſchließen daraus hängt
an der Ausbildung feſter Lautzeichen. Die Autorität des Vaters, des Häuptlings
wirkt mit, das loſe, eben erſt entſtehende Band, das im verſtandenen Worte liegt, etwas
feſter zu ziehen. Es entſteht mit der Sprache und dem Denken das geſellſchaftliche
Bewußtſein.
Freilich zunächſt nur in wenig feſter Form. Die Urſprachen umfaſſen kleine
Gruppen von Menſchen. Je niedriger die Kultur, deſto zahlreichere verſchiedene Sprachen
[11]Die Sprache als Vergeſellſchaftungsmittel.
giebt es, und deſto raſcher bilden ſie ſich ſelbſt um. Die unſtete Lebensweiſe wandernder
Jägerſtämme erlaubt nicht das ſtete und ſcharfe Feſthalten derſelben Lautzeichen. Die
Urenkel verſtehen die Urgroßväter nicht mehr; jeder ſich abſplitternde Teil hat bald eine
eigene Sprache. Wenn es jetzt gegen 3000 Sprachen auf der Erde geben ſoll, ſo
kommen davon auf das kultivierte Europa nur 53. Je größer die Gemeinweſen werden,
deſto größere Sprachgebiete mit um ſo ausgebildeterer Sprache entſtehen.
Der begabtere Stamm hält das Werkzeug der Gedanken feſter; die komplizierteren
Kulturvorgänge, die feſtere Gliederung der Geſellſchaft, die Vergrößerung des Stammes
und Staates befeſtigen die Sprache und breiten ſie aus. Das Bedürfnis, durch deut-
liche, klare Sprache ſich einem immer größeren Kreis Verſchiedenartiger deutlich zu
machen, wird von den Herrſchenden, wie von den Tauſchenden empfunden. Einzelne
größere Sprachen ſind weſentlich mit durch den Verkehr in den Grenzgebieten, wo aus-
gleichender Güteraustauſch herrſchte, entſtanden. Die Ausbildung der Sprache iſt ein
ſtündlich und täglich ſich erneuernder Vertrag aller mit allen, welche ſie reden. Im
Sprachſchatz ſammelt ſich das Anſchauen, Vorſtellen und Denken aller vorangegangenen
Geſchlechter. Sie iſt die ſymboliſche Kapitaliſierung der geiſtigen Arbeit eines Volkes.
Sie iſt das Inſtrument der geiſtigen Erziehung für die heranwachſende Generation.
Die Sprache — ſagt Herbart — iſt es, welche das eigentliche Band der menſch-
lichen Geſellſchaft knüpft. „Denn vermittelſt des Wortes, der Rede geht der Gedanke
und das Gefühl hinüber in den Geiſt des anderen. Dort wirkt er neue Gefühle und
Gedanken, welche ſogleich über die nämliche Brücke wandern, um die Vorſtellungen des
erſteren zu bereichern. Auf dieſe Weiſe geſchieht es, daß der allermindeſte Teil unſerer
Gedanken aus uns entſpringt, vielmehr wir alle gleichſam aus einem öffentlichen Vorrat
ſchöpfen und an einer allgemeinen Gedankenerzeugung teilnehmen, zu welcher jeder
einzelne nur einen verhältnismäßig geringen Beitrag liefern kann. Aber nicht bloß die
Summe des geiſtigen Lebens, ſofern ſie im Denken beſteht, iſt urſprünglich Gemeingut,
ſondern auch der Wille des Menſchen, der ſich nach Gedanken richtet. Die Ent-
ſchließungen, die wir faſſen, indem wir auf das, was andere wollen, Rückſicht nehmen,
geben deutlich zu erkennen, daß unſere geiſtige Exiſtenz urſprünglich geſellſchaftlicher
Natur iſt. Unſer Privatleben iſt nur aus dem allgemeinen Leben abgeſondert, in
welchem es ſeine Entſtehung, ſeine Hülfsmittel, ſeine Bedingungen, ſeine Richtſchnur
findet und immer wieder finden wird.“
Die hiſtoriſche Ausbildung der großen Kulturſprachen, ihre Fixierung durch die
Schrift, die ſiegreiche Herrſchaft eines Dialekts über die anderen, die räumliche Aus-
breitung der großen Sprachen ſtellt den Prozeß des geiſtigen Werdens der Volksſeele,
des Volkscharakters dar. Wie man das germaniſche Accentgeſetz, nach welchem im ein-
fachen Wort die Wurzelſilbe den Hauptton trägt, in Zuſammenhang brachte mit den
Charakterzügen unſeres Volkes, aus welchen auch ſein Heldengeſang, ſeine Heldenideale,
ſein geiſtiges Weſen bis auf unſere Tage entſprang, wie man aus den geſamten Sprach-
denkmälern unſeres Volkes ein Syſtem der nationalen Ethik hat aufbauen wollen
(W. Scherer), ſo giebt es auch für die anderen Kulturvölker und ihr innerſtes Weſen
keine anderen, beſſeren Schlüſſel der Erkenntnis als ihre Sprache und ihre Sprach-
denkmäler.
Die Berührung der Stämme und Völker untereinander aber von den erſten An-
fängen des Tauſchverkehrs bis zum heutigen Welthandelsſyſtem beruht auf der Mehr-
ſprachigkeit der Händler, der Gebildeten, der Regierenden, auf der Herrſchaft von Welt-
ſprachen, wie ſie einſt das Griechiſche und Lateiniſche waren, dann das Franzöſiſche und
Engliſche wurden. Die Wirkung der nationalen Kulturen aufeinander, die Überlieferung
der geiſtigen Schätze vergangener Völker auf die ſpäteren, die zunehmende Übereinſtimmung
aller geſellſchaftlichen Einrichtungen der verſchiedenen Völker ruhen auf derſelben Grund-
lage. Das Ideal einer letzten fernen Zukunft wäre die einheitliche Weltſprache.
6. Die Schrift iſt es, welche gleichſam als potenzierte Sprache erſt alle die
tiefergreifenden Wirkungen derſelben erzeugt hat.
[12]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Um Vorſtellungen und Gedanken zu fixieren, Mitteilungen in die Ferne zu machen
und ihnen eine längere Dauer zu ſichern, haben rohe Völker Kerbhölzer, Gürtel mit
Schnüren, an denen verſchiedenfarbige Muſcheln befeſtigt ſind, dann die Tätowierung
angewandt. Die Inkas in Peru hatten eine Knoten-, die Azteken und Chineſen eine
Bilderſchrift. Durch die Verkürzung der Bilder und ihre Verbindung mit Strichen
entſtand die Wortſchrift der Chineſen und Altägypter mit ihren Tauſenden von Zeichen.
Es war ein ungeheurer Fortſchritt, daß die Zeichen immer mehr den Charakter des
Bildlichen abſtreiften, zu Symbolen für Silben und Buchſtaben wurden; den Phönikern
gebührt das ungeheure Verdienſt, zuerſt mit 22 Lautzeichen alle Worte geſchrieben zu
haben. Alle Kulturvölker, mit Ausnahme der aſiatiſchen, führen den Stammbaum ihrer
Schriftzeichen auf das phönikiſche Alphabet zurück.
Dieſelben Alphabetzeichen dienten dann urſprünglich auch zum Schreiben der
Zahlen; erſt ſpäter wandelten ſich dieſe Zeichen zu beſonderen abweichenden Zügen um.
Unſere heutige Zahlenſchreibweiſe ſtammt aus Indien, iſt durch die Araber im 13. Jahr-
hundert nach Italien gekommen, hat von da im 16. Jahrhundert über Europa ſich
verbreitet.
Erſt wer leſen kann, iſt ein Menſch, ſagt ein armeniſches Sprichwort. Das ver-
nünftige Leben beruht auf dem Verſtändnis der Schrift, meint Diodor. Der Gedanke,
der mit dem geſprochenen Worte zündet, aber auch im nächſten Augenblicke verweht,
wird in der Schrift in ein totes Zeichen gebannt, das dem Auge für lange Zeiträume,
für Jahrhunderte und Jahrtauſende ſichtbar bleibt. Die Zahl der Zuhörer iſt immer
beſchränkt, die der Leſer unbeſchränkt. Und ſo ſtellt das geſchriebene Wort gleichſam
eine höhere Potenz der ſocialen Berührungsmöglichkeit dar, das Wort hat einen neuen
Leib angezogen, durch den es unabhängig von ſeinem Urheber eine lautloſe Sprache in
alle Fernen und in alle Zeiten erklingen läßt. Mit der Schrift wird die Sprache ſelbſt
erſt feſt und klar, der Gedanke ſchärfer; die Schriftſprache erzeugt erſt im Laufe der Zeit
einheitliche Kulturſprachen, welche autoritativ durch die Großthaten der geiſtigen Heroen
beherrſcht, gereinigt, gehoben werden; die deutſche Sprache iſt die Sprache Luthers,
Goethes und Rankes. Mit der Schrift entſteht erſt eine ſichere Erinnerung und Über-
lieferung, eine Verbindung von Ahnen und Enkeln. Schriftloſe Stämme und Völker
können nicht leicht voranſchreiten, weil die Thaten ihrer großen Männer nur ſchwer zu
dauernden Inſtitutionen führen. Die großen Fortſchritte in Kultus und Gottesverehrung,
Sitte, Recht und Verfaſſung knüpfen alle an heilige Bücher, an Geſetzestafeln, an
ſchriftliche Aufzeichnungen an. Aus Schrift- und Zahlzeichen heraus erſt konnte Maß und
Gewicht, Geld und Marktpreis ſich entwickeln. Dasſelbe Volk, dem wir unſer Alphabet
danken, vermittelte dieſe chaldäiſchen und ägyptiſchen Errungenſchaften dem Weſten.
Haben zuerſt nur die Könige und die Prieſter auf Stein und Erz geſchrieben, ſo
hat man ſpäter Leder und Pergament, Papyrusrollen und Wachstafeln auch in weiteren
Kreiſen benutzt. Das Rechtſprechen und Verwalten, Befehlen und Berichten wurde
damit ebenſo ſehr ein anderes als das Kaufen, Tauſchen und Geſchäfte-Abſchließen.
Die Benutzung der Schrift durch die einzelnen in Brief- und anderer Form hat dem
geſamten individuellen Leben einen anderen höheren Inhalt gegeben. Neben dem Schrift-
tum der Prieſter, Richter, Geſetzgeber und Beamten entſtanden die Aufzeichnungen der
Denker und Dichter, der Gelehrten und Journaliſten, der Kaufleute und Unternehmer.
Aus dem mythiſchen Heldengeſang und den Rhapſodien der fahrenden Sänger entſtand
die Litteratur mit all’ ihren Gattungen und tiefgreifenden Wirkungen.
Herder hat Recht, wenn er ſagt: „Die Sprache iſt das unweſenhafteſte, flüchtigſte
Gewebe, womit der Schöpfer unſer Geſchlecht verknüpfen wollte. Die Tradition der
Schrift iſt als die dauerhafteſte, ſtillſte, wirkſamſte Gottesanſtalt anzuſehen, dadurch
Nationen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken, und ſich das ganze
Menſchengeſchlecht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zuſammenfindet.“
Das Schrifttum iſt das große Behältnis alles geiſtigen Lebens der Menſchheit, ein
Schatz, der, ſo lange die Kultur ſteigt, nur zu- nicht abnehmen kann.
[13]Die Schrift und ihre geſellſchaftliche Wirkung.
7. Die Verbreitung und Vervielfältigung der Schrift bedeutet
eines der wichtigſten und tiefgreifendſten Mittel, das geſellſchaftliche Daſein auf höhere
Stufen zu erheben.
Während die Schrift zuerſt ein Geheimnis der Prieſter und der Herrſcher darſtellt
und ihr einflußreichſtes geiſtiges Machtmittel bildet, gewinnt ſchon das Bürgertum in
den Staaten des Orients teil daran. Es wird üblich, daß die Eltern und die Haus-
lehrer der Vornehmen den Kindern Unterricht im Leſen und Schreiben erteilen. Und
bald ſehen wir beſondere Anſtalten entſtehen, welche den Unterricht ſyſtematiſch für viele
erteilen. So hatten die Israeliten Knabenſchulen, um die Kenntnis der heiligen Sprache
und die Kunde des Geſetzes zu erhalten, die Athener hatten neben ihren Redner- und
Philoſophen- einfache Knabenſchulen; ein Geſetz, das auf Solon zurückgeführt wurde, ge-
ſtattete dem Sohne, den Vater zu belangen, der ihn nicht gehörig hatte unterrichten
laſſen. Das ältere Mittelalter kam über die Kirchen- und Kloſterſchulen für eine kleine
Minderheit nicht hinaus; erſt vom 13. und 14. Jahrhundert an kamen dazu die
deutſchen und lateiniſchen Stadtſchulen. Die Reformation erfaßte den Gedanken des
allgemeinen Volksunterrichts, aber bis in unſere Tage ſcheiterte er an der Schwierigkeit
der Koſten und der Schuleinrichtungen. Erſt die preußiſchen Edikte von 1717 und
1736 ſprachen den ſtaatlichen Schulzwang aus; die Gebildeten zweifelten noch das ganze
18. Jahrhundert, ob den unteren Klaſſen dadurch nicht mehr geſchadet als genützt
werde, ob die Mädchen dadurch nicht liederlich würden. Erſt das 19. Jahrhundert hat
die Volsſchule allen zugänglich gemacht, die Analphabeten in den meiſten Kulturſtaaten
faſt ganz beſeitigt. Und über der Volksſchule ſteht heute, ſeit lange vorbereitet, ein
geſchloſſenes Syſtem der mittleren und höheren Schulen, das nun zuſammen mit jener
einen der wichtigſten Zweige nationaler Organiſation und Verwaltung in jedem Staate
darſtellt. Für die Geſchichte der ſocialen Schichtung der Völker iſt es eines der wich-
tigſten Momente, wie die einzelnen Stände und Klaſſen zu jeder Zeit mit Schulen aus-
geſtattet waren, an dem Schrifttum teilnahmen oder von ihm ausgeſchloſſen waren.
Die älteſten Schriften- und Bücherſammlungen gehen auf Ägypten und Aſſyrien
zurück. In Griechenland hatten die großen Philoſophen ſolche; ſpäter war die Bibliothek
in Alexandrien berühmt. Die erſten öffentlichen Bibliotheken in Rom gründeten Aſinius
Pollio und Auguſtus. Die Aufgabe ging in chriſtlicher Zeit auf die Klöſter, in neuerer
auf die Fürſten über. Umfangreiche und zahlreiche Stadt- und Schulbibliotheken hat
erſt das 19. Jahrhundert geſehen, wie es auch erſt die großen Bibliotheken der Haupt-
ſtädte und Univerſitäten auf den Rang der Alexandriniſchen wieder erhob, den unteren
Klaſſen durch die Volksbibliotheken die entſprechende geiſtige Nahrung zuführte.
In Italien war zur Kaiſerzeit die Kunſt des Leſens und Schreibens wenigſtens
in den Großſtädten ſehr verbreitet: es gab ein billiges und bequemes Material, die
zubereiteten Blätter einer Pflanze, eine große Klaſſe von Lohn- und Sklavenſchreibern,
die von Unternehmern beſchäftigt waren, einen ausgebildeten Buchhandel. In den
Schreibſtuben der Unternehmer wurden Bücher abgeſchrieben, Urkunden ausgefertigt,
Briefe diktiert. Rom erhielt ſich ſtets als Büchermarkt. Aber im übrigen beſchränkte
ſich nach der Völkerwanderung die Schriftkunde während eines Jahrtauſends auf die
Kleriker, die eben damit die geiſtige Herrſchaft von Staat und Geſellſchaft in Händen
hatten. Erſt mit dem Aufkommen der Städte und des Bürgertums vom 13. Jahr-
hundert an entſteht wieder ein weltliches Schrifttum mit Lohnſchreibern, Handſchriften-
handel und Vervielfältigung. Die chineſiſche Erfindung der Papierverfertigung aus
Baumwolle verbreitete ſich ſeit den Kreuzzügen von den Arabern nach Europa. Die
deutſchen Papiermühlen entſtehen von 1347—1500. Mit dem ſteigenden Verkauf der
Bücher und Flugblätter auf den Meſſen ſann man auf mechaniſche Mittel der Verviel-
fältigung, ſchnitt erſt die gangbarſten Schriften auf Holzplatten; Guttenberg erfand
1440 die einzelnen Holzlettern und damit die Buchdruckerei. Ein leſendes Publikum
und billiges Papier kam der großen Erfindung entgegen. Die Buchdruckerei wird der
große Hebel einer neuen Epoche des geiſtigen Lebens, einer vertauſendfachten Wirkung
des Schrifttums. Es entſteht der moderne Bücherdruck und die Preſſe, eine ſtaatliche
[14]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Ordnung der Beaufſichtigung und Kontrolle derſelben, die Cenſur, die ſog. Preßfreiheit
und alles, was damit zuſammenhängt.
Die gazeta iſt das Leſegeld, für welches man im 16. Jahrhundert die geſchriebenen
Nachrichten über Kriegsereigniſſe in Venedig einſehen konnte. In Frankfurt kamen
Relationes semestrales halbjährlich deutſch und lateiniſch heraus, denen 1615 die erſte
wöchentlich gedruckte Zeitung folgte. In England verwandelte Nathaniel Butter ſeine
handſchriftlich verſandten News-Lettres 1622 in gedruckte. Das erſte Tageblatt Eng-
lands datiert aber erſt von 1709. In Deutſchland war der Hamburger Korreſpondent
im 18. Jahrhundert eigentlich die einzige Zeitung, welche die Weltbegebenheiten mit-
teilte. Das ganze heutige Zeitungsweſen entwickelte ſich ſtoßweiſe ſeit den politiſchen
Entſcheidungsjahren 1789, 1830, 1848. Die großen deutſchen politiſchen Zeitungen hatten
es bis vor kurzem über tägliche Auflagen von 10—70000 Exemplaren nur ausnahms-
weiſe gebracht, die engliſchen haben ſolche bis zu 80 und 200000, die amerikaniſchen bis
zu 3 und 400000. Die Gartenlaube ſetzte 1868 übrigens auch ſchon 250000 Exemplare
ab. Die deutſche amtliche Zeitungsliſte umfaßte Juli 1899 12365 Zeitungen und Zeit-
ſchriften, 8683 in deutſcher Sprache. Wenn wir bedenken, daß jedes einzelne Zeitungsblatt
in viele, einzelne in hunderte von Händen kommen, ſo können wir uns eine Vorſtellung
davon machen, wie dieſelben Nachrichten, Gefühle, Stimmungen heute täglich an
Millionen von Menſchen herantreten und einen geiſtig verbindenden Strom herſtellen,
der früher faſt gänzlich fehlte, außer für die in den großen Städten täglich auf dem Markte,
dem Theater, in den Bädern, in den öffentlichen Verſammlungen ſich Sehenden. Tele-
graphen, Poſten, Eiſenbahnen, Briefe, Bücher und Zeitungen vermitteln heute einen
Verkehr, der den mündlichen ſo überragt, wie die Zahlungen im Wechſel- und Bank-
verkehr den Kleinverkehr mit Scheidemünze.
8. Die Folgen der heutigen geiſtigen Verſtändigungsmittel, die
Öffentlichkeit. Unſer geſellſchaftliches und politiſches Leben, wie unſer Marktverkehr,
die Preisbildung, die Kursnotierungen, der Welthandel ruhen auf dieſem organiſierten
Nachrichtenweſen. Die Epochen der Ausbildung der Sprache, Schrift, Schule und Preſſe
ſind zugleich die Epochen des politiſchen und wirtſchaftlichen Fortſchrittes. Es iſt ein
langſam in Jahrtauſenden gebildeter großer pſychophyſiſcher Apparat, der in unſeren
heutigen Geſellſchaften gleichſam die Stelle der Nerven vertritt; alle geiſtige ſociale
Aktion hängt von der Summe, Art und Organiſation der in dieſen Dienſt geſtellten
Kräfte ab.
Die öffentliche Meinung iſt die Reaktion der zunächſt mehr paſſiv ſich verhaltenden
Teile der Geſellſchaft auf die Wirkungsweiſe des aktiven Teiles. Beſtimmte Nachrichten
erwecken beſtimmte Gefühle und Stimmungen. Regierung, Parteiführer, Journaliſten,
Kirchen- und andere Lehrer, Geſchäftshäuſer und Börſenleute ſuchen durch dieſen pſycho-
phyſiſchen Apparat heute auf das Publikum zu wirken, wie es früher nur Redner
konnten. Reklame und Marktſchreierei greifen ein, wie wahre Nachrichten und wirkliche
Überzeugungen. Die öffentliche Meinung iſt wie eine große Äolsharfe von Millionen
von Saiten, auf die die Winde von allen Richtungen heranſtürmen. Der Klang kann nicht
immer ein einfacher und harmoniſcher ſein; die verſchiedenſten Strömungen und
Melodien klingen durcheinander. Die öffentliche Meinung ſchlägt jäh um, fordert heute
dies und morgen jenes. Sie verzerrt die Nachrichten und bildet Mythen; ſie arbeitet
heute mit den Leidenſchaften des Gemütes wie morgen wieder mit ruhiger Überlegung.
Man hat geſagt, die Unabhängigkeit von ihr ſei die erſte Bedingung zu allem Großen
und Vernünftigen (Hegel). Und doch iſt ſie andererſeits die Trägerin der größten, be-
geiſtertſten Thaten und Leiſtungen der Völker und die Vorausſetzung der dauernden
Ausſtoßung alles Ungeſunden und Schlechten. Eine richtige Organiſation der Öffentlich-
keit, welche die Hervorzerrung des rein Privaten zu perſönlichem Angriff nicht duldet,
aber ebenſowenig die Verheimlichung deſſen, was alle oder größere Kreiſe wiſſen müſſen,
um nicht getäuſcht und betrogen zu werden, wird mit Recht heute als eine der erſten
Vorausſetzungen eines normalen geſellſchaftlichen Zuſtandes angeſehen.
[15]Die Öffentlichkeit und die geiſtigen Kollektivkräfte.
Und Hartenſtein ſagt: „Öffentlichkeit iſt eigentlich nur ein verſchiedener Ausdruck
für Geſellung. Der Grad der Öffentlichkeit, der in einer Geſellſchaft herrſcht, iſt ſo
ziemlich der direkte Maßſtab für den Grad ihrer innern Verbindung.“
3. Die geiſtigen Bewußtſeinskreiſe und Kollektivkräfte.
- Herbart, Sämtliche Werke, Ausgabe 1851 (die Schriften fallen in die Zeit von 1806—41),
hauptſächlich 4: Bruchſtücke der Statik des Staates, Bruchſtücke der Mechanik des Staates; 9: Über
einige Beziehungen zwiſchen Pſychologie und Staatswiſſenſchaft. — - Hartenſtein, Grundbegriffe
der ethiſchen Wiſſenſchaften. 1844. — - Lindner, Ideen zur Pſychologie der Geſellſchaft. 1871. —
- Lazarus und Steinthal, Zeitſchrift für Völkerpſychologie, daraus hauptſächlich 1: Lazarus,
Einleitende Gedanken über Völkerpſychologie; 2: derſ., Über das Verhältnis des Einzelnen zur Ge-
ſamtheit; 3: derſ., Einige ſynthetiſche Gedanken zur Völkerpſychologie; Rüdiger, Über Nationali-
tät ꝛc. — - Bagehot, Der Urſprung der Nationen. Deutſch 1874. —
- Guſtav Rümelin, Über den
Begriff des Volkes. R. A. 1. — - Tönnies, Gemeinſchaft und Geſellſchaft. 1887. —
- F. J. Neu-
mann, Volk und Nation. 1888. — - Manche der neueſten ſociologiſchen Schriften bewegen ſich in
ähnlichen Wegen wie meine Ausführungen, ohne daß ich ſie mehr im einzelnen benutzen konnte,
z. B. Novicow, Conscience et volonté sociales. 1897. — - Giddings, The principles of
sociology. 1896.
9. Das allgemeine Weſen derſelben. Man könnte die Sprache und die
Schrift als die Bindemittel der Geſellſchaft bezeichnen, weil durch ſie die Gefühle und
Vorſtellungen, die Triebe und Willenskräfte der einzelnen Menſchen in Verbindung
und Übereinſtimmung gebracht werden, und ſo die kollektiven geiſtigen Vorgänge und
die pſychiſchen Maſſenerſcheinungen entſtehen. Nur mit einer Theorie dieſer Art ge-
langen wir zu einer verſtändigen Vorſtellung von dem, was man die geiſtigen Kollektiv-
kräfte nennen kann, und damit zu einer richtigen Auffaſſung der Wechſelwirkung von
Individuum und Geſellſchaft.
Natürlich entſteht jedes Gefühl, jede Vorſtellung, jeder Willensakt im einzelnen
Menſchen; ſeine Sinne, ſein Gehirn, ſein Geiſtesleben ſind das Inſtrument, an das ſie
geknüpft ſind. Dieſes Inſtrument hat ſich im Laufe der Kultur ſehr vervollkommnet;
es erreicht in einzelnen Individuen jene wunderbare Kraft und Wirkſamkeit, die wir
mit dem Namen des Genius bezeichnen. Es war begreiflich, daß mit den großen
hiſtoriſchen Tendenzen, welche vor allem ſeit dem 15. Jahrhundert auf größere An-
erkennung der einzelnen Individualität hinarbeiteten, in der praktiſchen Behandlung
und wiſſenſchaftlichen Betrachtung der einzelne Menſch für ſich als das letzte und
höchſte, als iſolierte, ſelbſtändige Kraft erſchien. Heute kommen wir von dieſer Auf-
faſſung zurück: wir mögen die Wirkung der großen Männer noch ſo ſehr anerkennen,
ſie erſcheinen uns doch nicht mehr als iſolierte Kräfte, die ganz allein von ſich aus
Neues ſchaffen; wir ſehen in ihnen nur führende Spitzen, in denen die Gefühle und
Willensimpulſe beſtimmter Kreiſe und Zeiten wie in einem Brennpunkt ſich geſammelt
haben, und die von dieſem Brennpunkt aus eine ſehr verſtärkte Wirkung ausüben. Wir
geben heute zu, daß, um das Seelenleben der Völker zu verſtehen, wir immer wieder von
der Unterſuchung des gewöhnlichen, individuellen Seelenlebens ausgehen müſſen, wie wir
es in dem folgenden Abſchnitte thun; aber wir betonen zugleich auch, daß das einzelne
Individuum ein Lämpchen oder eine Lampe ſei, auf das Familie und Umgebung, Nation
und Kirche, Kultur und Wiſſenſchaft das Öl gieße, welches die Leuchtkraft ganz oder
teilweiſe beſtimme. Natürlich kann das Lämpchen an ſich vollkommener oder ſchlechter
ſein; aber das Wichtigere iſt doch meiſt, in welcher Verbindung es ſtehe mit dem un-
geheuren Behältnis der überlieferten geiſtigen Arbeit. Wir ſagen heute, mit dem nicht
gerade geſchmackvollen Ausdruck, jeder Menſch ſei beherrſcht und bedingt von ſeinem
Milieu, d. h. von den ihn umgebenden Menſchen und Bedingungen der Exiſtenz, unter
welchen die geiſtigen Elemente die wichtigſten ſind.
Wenn dem ſo iſt, ſo werden die unter denſelben Bedingungen lebenden, derſelben
Raſſe, demſelben Volke, demſelben Orte und damit denſelben Urſachen und Einflüſſen
unterliegenden Menſchen, trotz vieler kleiner Abweichungen im einzelnen in den Grund-
[16]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
zügen ähnliche körperliche und ſeeliſche Eigenſchaften haben. Je niedriger die Kultur
eines Stammes und Volkes, je weniger Klaſſen-, Bildungs- und andere Gegenſätze in
ihm ſind, je gleichere Lebensbedingungen alle beherrſchen, deſto homogener, unterſchieds-
loſer pflegen die Glieder einer Gemeinſchaft in ihren Gefühlen, Intereſſen, Vorſtellungen
und Sitten zu ſein. Und wenn mit höherer Kultur, mit Klaſſen- und Bildungsgegen-
ſätzen, mit Raſſenunterſchieden im ſelben Staate die perſönliche Verſchiedenheit wächſt,
ſo bleiben doch gewiſſe weſentlich beſtimmende Einflüſſe für alle oder die meiſten Menſchen
einer ſocialen Gemeinſchaft dieſelben, und es wächſt mit Sprache, Schrift und Litteratur,
mit dem ganzen geiſtigen Leben der einheitliche Strom der pſychiſchen Beeinfluſſung,
der immer wieder, was ſocial ſo wichtig iſt, die zunehmende pſychologiſche Raſſen- und
die wirtſchaftliche Vermögensverſchiedenheit zu überwinden ſucht. Und gerade damit
entſtehen die für alles geſellſchaftliche Leben ſo wichtigen einheitlichen Stimmungs- und
Bewußtſeinskreiſe, welche wir als geiſtige Kollektivkräfte bezeichnen. Sie reichen ſo weit,
als die Einheit der Urſachen und der geiſtigen Strömungen und Kontakte.
Es müſſen ſich in der einfachſten und kleinſten, wie in der größten und kompli-
zierteſten Geſellſchaft, je nach der Übereinſtimmung der körperlichen und geiſtigen Eigen-
ſchaften, je nach Berührung und Verbindung und je nach der Stärke des pſychophyſiſchen
Apparates, der das geiſtige Leben vermittelt, kleinere und größere Kreiſe bilden, welche
durch ähnliche oder gleiche Gefühle, Intereſſen, Vorſtellungen und Willensimpulſe ver-
einigt ſind, trotz aller Verſchiedenheit im einzelnen. Die Kreiſe liegen teils in konzentriſchen
Ringen übereinander, teils in excentriſchen, ſich ſchneidenden und berührenden neben-
einander. Sie ſind in ſteter Bewegung und Umbildung begriffen, ſtellen Kollektiv-
kräfte dar, welche das ſociale, wirtſchaftliche, politiſche, litterariſche, religiöſe Leben be-
herrſchen. Nicht einen objektiven, unabhängig von den einzelnen und über ihnen
waltenden, ſie myſtiſch beherrſchenden Volksgeiſt giebt es, wie die hiſtoriſche Rechtsſchule
lehrte; ebenſo wenig einen allgemeinen Willen, der in allem übereinſtimmte, wie
Rouſſeau träumte. Aber es giebt in jedem Volke eine Reihe zuſammengehöriger,
einander bedingender und nach einer gewiſſen Einheit drängender Bewußtſeinskreiſe, die
man als Volksgeiſt bezeichnen kann. Auch mit dem Namen des objektiven Geiſtes
können wir die Geſamtheit dieſer geiſtigen Maſſenzuſammenhänge, die von den kleinſten
Kreiſen der Familie und der Freundſchaft hinaufreicht bis zur Menſchheit, bildlich und
im Gegenſatz zur Pſyche der einzelnen benennen. Man muß ihn nur richtig verſtehen,
ſich erinnern, daß er nicht außerhalb der Individuen, ſondern in ihnen lebt, daß jedes
Individuum mit einem größeren oder kleineren Teil ſeines Selbſt Beſtandteil mehrerer
oder vieler ſolcher Kreiſe, ſolcher Teile des objektiven Geiſtes iſt.
Sie äußern ſich nun als Gefühls-, Vorſtellungs- und Willensübereinſtimmung
und werden dadurch zu Kräften eigentümlicher Art. Ihre Wirkſamkeit iſt deshalb eine
ſo große, weil das Gefühl oder das Bewußtſein der Gemeinſamkeit jeden geiſtigen
Vorgang merkwürdig verſtärkt und befeſtigt. Jedes Gefühl wird lebendiger durch das
Bewußtſein der Teilnahme anderer; jede Vorſtellung im iſolierten Individuum fühlt
ſich ſchwach und kümmerlich; jeder Mut des Willens wächſt durch den Erwerb von
einem oder wenigen Genoſſen. Je roher, je weniger kulturell entwickelt ein Menſch noch
iſt, deſto weniger kann er ertragen, allein mit einer Idee oder einem Plan zu ſtehen.
Was zehn glauben, nehmen leicht weitere hundert an. Was Hunderte glauben, wird
leicht ohne Prüfung das Loſungswort für Tauſende und Millionen. Die rechte
Autorität und die rechte Empfänglichkeit vorausgeſetzt, ballen ſich die geiſtigen Kollektiv-
kräfte lawinenartig zuſammen. Die Übereinſtimmung erzeugt Kräfte, welche die bloße
Summierung unendlich übertreffen. Die Mehrzahl der Menſchen ſchließt ſich, ohne
im einzelnen prüfen zu können, den Bewußtſeinskreiſen an, die für ſie durch Abſtammung,
Eltern, Freunde oder andere Autoritäten die gegebenen ſind. Die Macht der Ideen
hängt wohl auf die Dauer von ihrer Wahrheit und Brauchbarkeit, vorübergehend ſtets
nur von der Zahl ihrer Bekenner ab.
Man hat den Vorgang auch durch einen Vergleich aus dem individuellen Seelen-
leben verdeutlicht. In der Seele jedes Menſchen ſchlummern unzählige Vorſtellungen,
[17]Die Bildung und Wirkung einheitlicher Bewußtſeinskreiſe.
nur die jeweilig ſtärkſten erheben ſich aus dieſem pſychiſchen Untergrunde und treten
zeitweilig über die Schwelle des Bewußtſeins. So, hat man geſagt, beſitzt auch jede
menſchliche Gemeinſchaft eine Bewußtſeinsſchwelle. Nur einzelnes, das Bedeutendere
erhebt ſich über dieſe gemeinſame Schwelle und verbindet nun die betreffenden Individuen.
Mancherlei, was in den einzelnen vorgeht, ſtrebt nach Erhebung über die gemeinſame
Schwelle. Aber nur das Erhebliche vermag, in dem Wettkampf der um die Schwelle
ſich drängenden Vorſtellungen, meiſt nach langem Ringen und Streben, emporzukommen,
nur das Bedeutſame und Große kann ſich dauernd da erhalten.
Aus dem Kampfe und der Reibung der Geiſter gehen ſo die Bewußtſeinskreiſe
und geiſtigen Kollektivkräfte ſtets neu hervor. Es kann keinen ſolchen Kreis geben ohne
Autoritäten, ohne einen mehr aktiven, führenden und beſtimmenden Teil und einen mehr
paſſiv aufnehmenden, folgenden und geleiteten. Nirgends iſt die demokratiſche Fiktion
von der Gleichheit aller unwahrer als in dieſem freieſten Spiel geiſtiger Accomodation.
Wenn nichts anderes, beſtimmt in ſtabilen Verhältniſſen das Alter die geiſtige Autorität:
die über 40—50 Jahre alten Männer mit ihren nicht mehr ſchwankenden befeſtigten
Überzeugungen beherrſchen die Frauen und die jüngeren Männer. So haben ſchon
hiedurch in der Regel die geiſtigen Kollektivkräfte ein gewiſſes befeſtigtes, nicht allzu
ſchwankendes Daſein. Aber ſtets ſind ſie auch durch den Wechſel der Generationen,
durch das Empordringen jüngerer Kräfte und neuer Ideen, einer Umbildung und
Regeneration unterworfen. Auf der Wechſelwirkung zwiſchen den Alten und den Jungen,
zwiſchen abſterbenden und neu ſich bildenden Bewußtſeinskreiſen, zwiſchen führenden
Geiſtern und geführten Maſſen beruht alles geſchichtliche Leben, alle Änderung der
Sitten, ſowie der rechtlichen und volkswirtſchaftlichen Inſtitutionen. Nur wenn man
ſich über dieſes nie ruhende Spiel der geiſtigen Maſſenbewegungen klar iſt, begreift
man, wie die großen Ideen langſam emporkommen, dann aber für Jahre, oft für
Jahrhunderte und Jahrtauſende die Herrſchaft behaupten, wie die ſcheinbar vielköpfigen
Mengen von Tauſenden und Millionen Menſchen nicht das Schauſpiel eines krauſen
Chaos’ und Wirrwarrs aufführen, ſondern als Glieder großer geiſtiger Einheiten zu
Tauſenden geſchart in einheitlichen klar zu überblickenden Richtungen ſich bewegen.
In jedem ſocialen Körper wird man die vorhandenen Elemente zu ſolchen
Kollektivkräften geſchart nicht unſchwer erkennen können. Sie erſcheinen als Mittel-
urſachen zwiſchen den Individuen und den großen Einrichtungen der Geſellſchaft, wie
Staat, Kirche und Volkswirtſchaft. Nur ein Teil dieſer Kräfte kryſtalliſiert ſich in feſten
Inſtitutionen, ein anderer behauptet ein gleichſam formloſes Daſein, dokumentiert ſich
aber doch in Erſcheinungen, wie die ſociale Klaſſenbildung, die geſelligen Kreiſe, die
politiſchen und andere Parteien, die Schulrichtungen in Kunſt und Wiſſenſchaft, die
Beziehungen des Marktes, der Kundſchaft, der Klientel. Ein jeder einheitliche Be-
wußtſeinskreis wird ſich in übereinſtimmenden Werturteilen äußern, die leicht zu feſt-
ſtehenden Wertmaßſtäben ſich verdichten und ſo längere Zeit das Urteil auf dem Markte,
in der Politik, in der Geſellſchaft beherrſchen. Dieſer Art iſt vor allem neben dem
wirtſchaftlichen das ſociale Werturteil beſtimmter Kreiſe, das ſich in der Ehre ausdrückt.
Die Ehre iſt objektiv das ſociale Geſchätztwerden durch größere oder kleinere geſellſchaft-
liche Kreiſe; ſie äußert ſich ſubjektiv in dem Bedürfnis des einzelnen, geſchätzt ſein zu
wollen; die Ehre wird ſo zu einer der ſtärkſten maſſenpſychologiſchen Kräfte.
Natürlich unterſcheiden ſich diejenigen geiſtigen Kollektivkräfte, die nur einen loſen,
unorganiſierten Maſſenzuſammenhang darſtellen, von denen, welche aus ſich heraus eine
organiſierte Spitze, eine korporative Verfaſſung erzeugt haben und durch dieſe Ein-
richtungen nun Stärkung und Nahrung erhalten. Aber andererſeits darf man auch
nicht überſehen, daß die freieſten und loſeſten geſellſchaftlichen Maſſenerſcheinungen und
die feſteſten Einrichtungen des Rechtes und des Staates zu ihrer letzten Vorausſetzung
dieſelben geiſtigen Maſſenprozeſſe haben. Die freieſte Sekte und die katholiſche Kirche,
die freieſte Republik und der centraliſierteſte Despotismus, die Volkswirtſchaft mit
freieſtem Tauſchverkehr und die mit ſocialiſtiſcher Leitung und Verteilung, — ſie ſetzen
alle gleichmäßig geiſtige Kollektivkräfte, einheitliche Bewußtſeinskreiſe, führende Autoritäten,
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 2
[18]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
folgende Maſſen voraus; der Unterſchied liegt nur in der verſchiedenen Art der Be-
feſtigung und Stellung der Autoritäten, in der verſchiedenen Kryſtalliſierung und Organi-
ſierung der Kräfte, in der loſeren oder gebundeneren Wechſelwirkung zwiſchen Spitze
und Peripherie.
10. Die einzelnen Bewußtſeinskreiſe. Haben wir bisher die geiſtigen
Kollektivkräfte im allgemeinen kurz zu charakteriſieren geſucht, ſo iſt jetzt noch ein
Wort über ihre Erſcheinung im einzelnen beizufügen. Es kann freilich dabei nicht
die Abſicht ſein, ſie erſchöpfend aufzählen oder darſtellen zu wollen. Nur das Aller-
wichtigſte kann berührt, einiges mit unſerem Zwecke enger Zuſammenhängende er-
wähnt werden.
Die Bewußtſeinskreiſe, die auf täglicher oder häufiger perſönlicher Berührung
und Ausſprache beruhen, haben eine andere Farbe, erzeugen einen anderen Kitt des Zu-
ſammenhangs, als die auf ſchriftlichem Gedankenaustauſch, auf Vermittelung durch
zahlreiche perſönliche Mittelglieder beruhenden. Wo aller Zuſammenhang der Menſchen
untereinander auf bloßem Sehen und Sprechen beruht, der ſchriftliche Verkehr und die
feſte Überlieferung noch fehlt, da werden zwar nur kleine, oft auch wenig feſt gefügte
Gemeinweſen entſtehen können, aber es werden doch je nach den Menſchen und ihren
Gefühlen zwiſchen den Nächſtſtehenden innerhalb Stamm, Sippe und Familie um ſo
feſtere ſympathiſche Bande ſich ſchließen können. Wo das Stammesleben größere
Menſchenzahlen umfaßt, ſich ſtärker und feſter entwickelt, müſſen beſtimmte Einrichtungen
das tägliche oder öftere Sehen herbeiführen, es müſſen Verſammlungen, Feſte, Kriegs-
übungen einen immer ſich erneuernden Kontakt ſchaffen. Die antiken Städteſtaaten und
die mittelalterlichen Städte erzeugten ſo in ſich einen Gemeingeiſt, den große Staaten
trotz Preſſe und Litteratur niemals haben können. Größere ſociale Gebilde kommen
dann durch Stammesbündniſſe oder Unterwerfung zuſtande, welche aber meiſt Sprach-
verwandtſchaft oder Sprachverſchmelzung und die Entſtehung gemeinſamer Regierungen,
Heiligtümer und Gottesverehrung vorausſetzen oder im Gefolge haben. Im übrigen
ſetzt die Entſtehung größerer Bewußtſeinskreiſe von zerſtreut, in weiten Gebieten lebenden
Menſchen und damit die Entſtehung größerer Staaten ſtets den ſchriftlichen Verkehr
voraus. Derſelbe kann freilich zunächſt auf eine herrſchende Klaſſe beſchränkt ſein, welche
in ſich feſt zuſammenhängend weit zerſtreut wohnt, überall mit den lokalen Kreiſen
Fühlung hat, ſie zu behandeln verſteht. So hat die römiſche Ariſtokratie den orbis
terrarum, ſpäter der katholiſche Klerus halb Europa mit der Lateinſprache umſpannt
und regiert. So hat das moderne Beamtentum die meiſten europäiſchen Staaten zu
einer Zeit einheitlich zu verwalten angefangen, ehe noch der Lokal- und Provinzial-
geiſt vom nationalen beherrſcht war. Doch hat der letztere nach und nach ſich zu
einem immer mächtigeren und ſtärkeren Bewußtſeinskreis entwickelt; die großen euro-
päiſchen Nationalſprachen und -Litteraturen, das nationale Recht und die nationalen
Staatseinrichtungen, eine große gemeinſame Geſchichte knüpften die Bande des Blutes
und der Heimat für Millionen ſo feſt, daß das Volkstum als ſolches zum erſten Princip
geſellſchaftlicher Gruppierung in der neueren Geſchichte nach und nach werden konnte.
Und eben deshalb ſprechen wir heute von einem Volksgeiſt und meinen damit die ſtarken,
einheitlichen Gefühle, Vorſtellungen und Willensimpulſe, welche alle anderen im Volke
enthaltenen kleineren Kreiſe und Gegenſätze, alle Mitglieder eines Volkes einſchließen
und beherrſchen. Wir ſagen, ein Volk ſei geſund, ſo lange dieſe centralen Kräfte ſtärker
ſeien als die trennenden Gefühle und Strebungen. Ein Volk in jenem ſtolzen Sinne,
in welchem Fichte ſeine Reden an die deutſche Nation hielt, iſt nur ein ſolches, das
von der Erinnerung an eine große Vergangenheit beherrſcht iſt, in dem ſehr ſtarke ein-
heitliche Gefühle und Geiſtesſtrömungen vom letzten Bauer und Proletarier bis zur Spitze
hinaufreichen, in dem alle oder die Mehrzahl bereit iſt, das Äußerſte, ſelbſt das Leben
für das Vaterland und ſeine Zukunft zu opfern.
Wenn das deutſche Wort „Volk“ gerade in dieſem Sinne mit Vorliebe gebraucht
wird, wenn auch in den Begriff der Volkswirtſchaft davon etwas übergegangen iſt, ſo
ſchließt das doch nicht aus, daß im Volke wie in jedem großen Bewußtſeinskreiſe viele
[19]Das Volkstum, die kirchlichen und wirtſchaftlichen Bewußtſeinskreiſe.
Individuen mit abweichender Stimmung, viele kleinere Bewußtſeinskreiſe mit unter ſich
verſchiedenen und teilweiſe dem einheitlichen Volksgeiſt abgewendeten oder gar feindlichen
geiſtigen Strömungen vorhanden ſeien. Jedes Dorf, jede Stadt, jede Provinz hat ihren
beſonderen Lokalgeiſt, die ſocialen Klaſſen fühlen ſich bald in ſtärkerem, bald in
ſchwächerem Gegenſatz zum nationalen Geiſt; beſtimmte, ſich ausſondernde Bewußtſeins-
kreiſe beginnen in der Gegenwart in ſteigendem Maße mit den entſprechenden Kreiſen
des Auslandes Fühlung zu ſuchen und zu erhalten: ſo die Ariſtokratie des Grundbeſitzes
und des Geldes, die Wiſſenſchaft, die Arbeiterkreiſe. Jeder Verein, jede Genoſſenſchaft
wird durch einheitliche Intereſſen und Überzeugungen zuſammengehalten, welche nach
innen ſympathiſch, nach außen abgrenzend oder antipathiſch wirken; jede Compagnie
Soldaten, jedes Regiment hat durch den Corpsgeiſt einen feſten Kitt und eine beſtimmte
pſycho-moraliſche Färbung. Keine Familie, keine Werkſtatt, keine große Unter-
nehmung, kein Markt kann exiſtieren, ohne auf einem eigentümlichen, einheitlichen
Bewußtſeinskreis, auf gewiſſen Gefühlen der Sympathie, des Gemeinintereſſes, der Ver-
träglichkeit und Übereinſtimmung zu ruhen.
Unter den beſonderen Bewußtſeinskreiſen zeichnen ſich die religiös-kirchlichen
durch ungewöhnliche Stärke zumal in den älteren Epochen der Geſchichte aus; die religiöſen
Gefühle erfaſſen das Gemüt leicht in ſo tiefer Weiſe, weil der einfache, natürliche
Menſch gegenüber den unverſtandenen Naturgewalten und dem ſcheinbar blind über ihm
waltenden, Schmerz und Tod bringenden Schickſal meiſt nur im Glauben an eine höhere
göttliche Macht Ruhe und inneres Glück findet, und ein ſolcher Glaube nur in der
Gemeinſamkeit großer Kreiſe ſeine volle Kraft gewinnt. Die älteſte Religion iſt Ahnen-
kultus, die ältere Gottesverehrung iſt ſtets an das Stammesleben geknüpft, verſtärkt den
Stammesgeiſt, das nationale Sonderdaſein. Nachdem die großen Weltreligionen dieſe
Begrenzung beſeitigt, mit ihren Glaubenswahrheiten an alle Menſchen und Raſſen ſich
gewandt hatten, wurde die Glaubens- und Religionsgemeinſchaft neben Raſſe, Sprache
und Volkstum eines der wichtigſten Bindemittel, um verſchiedene Elemente zuſammen-
zufaſſen, große einheitliche Bewußtſeins- und Geſittungskreiſe zu erzeugen. Ganze
Staaten und Staatenwelten bauten ſich auf dieſer Grundlage auf, und alle anderen
Lebensgebiete wurden von den Gefühlen und Vorſtellungen dieſer Kreiſe mehr oder
weniger berührt und beeinflußt. Erſt die neuere Geſchichte hat mit dem Zurücktreten
des religiöſen Geiſtes Staaten entſtehen laſſen, die verſchiedene Religionen nebeneinander
dulden. Es können in freien Staaten nur ſolche ſein, die in den Grundzügen des
Glaubens und der Sittenlehre ſich ſehr nahe ſtehen, ſonſt zerreißt der verſchiedene Glaube
die unentbehrliche Einheitlichkeit des Volkstums, ähnlich wie große Raſſen- und Natio-
nalitätsgegenſätze, ſowie verſchärfte Klaſſenunterſchiede unter Umſtänden das Leben einer
Nation, eines Staates, einer Volkswirtſchaft tödlich bedrohen.
Die wirtſchaftlichen Bewußtſeinskreiſe ſind urſprünglich mit denen der
Blutsverwandtſchaft, der Nachbarſchaft, des Stammes identiſch. Die gemeinſamen
gleichen Bedürfniſſe, die gleichen techniſchen Kenntniſſe und Fertigkeiten bilden den
Grundſtock des Gemeinbewußtſeins; daneben aber auch die auf ſympathiſchen Gefühlen
beruhenden Familien-, Sippen- und Stammeseinrichtungen wirtſchaftlicher Art. Alle
weitere genoſſenſchaftliche oder herrſchaftliche Ordnung des Wirtſchaftslebens kann nur
Hand in Hand mit der Ausbildung ähnlicher Gefühle und Intereſſen Leben und Geſtalt
gewinnen, muß ſtets auf gemeinſamen Bewußtſeinskreiſen ſich aufbauen oder ſolche er-
zeugen. Im Gegenſatz hiezu entwickelt ſich der Tauſch, der Handel, der Geldverkehr
und alles hiemit in der modernen Volkswirtſchaft Zuſammenhängende an der Hand
individualiſtiſcher und egoiſtiſcher Triebe, aber doch ſtets ſo, daß die Tauſchenden, ihren
Sondergewinn ſuchenden Perſonen in ſtärkerer oder ſchwächerer Weiſe einen Bewußtſeins-
kreis bilden. Gewiſſe Vorſtellungen über die Bedürfniſſe, die Brauchbarkeit des zu
Tauſchenden, den Wert der Waren und Leiſtungen, gewiſſe Regeln, wie man tauſcht,
bezahlt, ſich während der Geſchäfte der Gewaltthaten enthält, müſſen ein gemeinſames
Band geſchlungen haben, ehe der Verkehr ſich entwickeln kann. Wir werden öfter darauf
zurückzukommen haben, wie in dieſer Weiſe die Tauſchgeſellſchaft zwar die Individuen
2*
[20]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
einander in einer Art gleichgültiger Ferne gegenüberſtellt, manche Rückſichten in den
Hintergrund drängt, die man in der Familie, im Stamm bisher gehabt, wie aber in
ihr doch weder große und immer größere Bewußtſeinskreiſe und Kollektivkräfte, noch
ein gewiſſes Maß ſympathiſcher Gefühle und Gemeinſchaftsordnungen fehlen können.
4. Die individuellen Gefühle und die Bedürfniſſe.
- Über Gefühle und Triebe: Lotze, Mediziniſche Pſychologie 1852 u. 1880. —
- Derſ., Mikro-
kosmus. 3 Bde. 1864—69. — - Wundt, Grundzüge der phyſiologiſchen Pſychologie. 1874. —
- Volk-
mann, Lehrbuch der Pſychologie vom Standpunkt des Realismus. 1875. — - Horwicz, Pſychologiſche
Analyſen auf phyſiologiſcher Grundlage, hauptſächl. 2. Abt., 2: Analyſe der qualitativen Gefühle.
1878. — - Herbert Spencer, Principien der Pſychologie. Deutſch 1882. —
- Höffding, Pſychologie
in Umriſſen. 1887. — - Theobald Ziegler, Das Gefühl. 1893. —
- Fechner, Über das höchſte
Gut. 1846.
Über Bedürfniſſe: Miſchler, Grundſätze der Nationalökonomie. 1, 1856. — - A. Wagner,
Grundlegung der allg. oder theoret. Volkswirtſchaftslehre. 1876. §§ 94—105; 1892. §§ 268 ff. — - Cohn, Grundlegung der Nationalökonomie. 1885. §§ 187—212. —
- Wilhelm Böhmert,
Stanley Jevons und ſeine Bedeutung für die Theorie der Volkswirtſchaftsl. J. f. G. V. 1891. — - Roſcher, Über den Luxus, Anſichten der Volkswirtſchaſt. 1, 1878. 3. Aufl. —
- Baudrillart,
Histoire du luxe privé et public. 1880. 4 Bde.
11. Die Gefühle. Die Grundlage alles individuellen Bewußtſeins wie der
letzte Ausgangspunkt alles Handelns ſind die Luſt- und die Schmerzgefühle; die neuere
Pſychologie hat ihre Bedeutung und ihren innigen Zuſammenhang mit den Vorſtellungen
einerſeits, mit den aus ihnen entſtehenden Trieben, Intereſſen, Willensanſtößen und
Handlungen andererſeits in ein richtigeres Licht geſetzt, als dies früher üblich war.
Lotze ſagt: „Fragen wir nicht nach den Idealen, welche das Handeln beſtimmen ſollen,
ſondern nach den Kräften, die es allenthalben wirklich in Bewegung ſetzen, ſo können
wir nicht leugnen, daß das Trachten nach Feſthaltung und Wiedergewinnung der Luſt
und nach Vermeidung des Wehe die einzigen Triebfedern aller praktiſchen Regſamkeit
ſind.“ Zahlreiche Moralſyſteme ſind auf der Luſt aufgebaut, andere haben ſie aus-
ſchließen oder in ein Jenſeits verlegen wollen; aber die Lehre von der Glückſeligkeit und
vom höchſten Gute hat auch in der ſpiritualiſtiſchen Ethik wieder auf das Glück zurück-
geführt. Die Sehnſucht nach dem Glücke, das doch zuletzt aus der Abweſenheit der
Unluſt und Anweſenheit der Luſt entſpringt, iſt der unvertilgbarſte Zug des menſchlichen
Bewußtſeins. Er iſt identiſch mit dem Leben überhaupt.
Was iſt aber Luſt und Schmerz? Was bedeuten ſie? Sind alle dieſe Gefühle
etwas Einheitliches? Können wir die Luſt der Appetitbefriedigung ohne weiteres gleich-
ſetzen mit der Freude an einem muſikaliſchen Genuß und der idealen Stimmung, in
welche eine heroiſche That oder die Tröſtung der Religion uns verſetzt? Wir können
nur ſagen: alle Luſt und alles Glück befriedigt und erhebt uns, aller Schmerz drückt
und bekümmert uns. Und der Nervenphyſiologe ſagt uns, daß dieſe Gefühle mit Er-
regungen, mit Veränderungen in den Nervenzellen verbunden ſeien. Es finde, lehrt er
uns, in jeder Nervenzelle jederzeit ein Umſatz, eine Thätigkeit ſtatt; es werden zeitweiſe,
beſonders im Schlafe, kompliziertere Produkte geſchaffen, in denen Kraft ſich anſammelt;
bei der Auslöſung der Kraft, bei der Thätigkeit gehen die komplizierteren Produkte
wieder in einfachere über. Hiebei, bei jeder Erregung der Nerven, entſtehen Empfindungen,
welche bei einer gewiſſen Stärke als Luſt und Schmerz wahrgenommen werden. Die
Luſtempfindung iſt bei gewiſſer Thätigkeit ausſchließlich die Folge einer mittelſtarken
Erregung, die beim Übermaß und beim Mangel ins Gegenteil ſich verkehrt; bei anderer
Thätigkeit wächſt die Freude entſprechend der Steigerung der Reizung.
Die ganzen Vorgänge ſind außerordentlich kompliziert, ſind auch heute noch keines-
wegs voll aufgehellt; was wir als Theſe aufſtellen können, iſt von zahlreichen Ausnahmen
ſcheinbar durchbrochen. Aber das haben doch alle großen Denker der Vergangenheit und
der Gegenwart vermutet und behauptet, daß in den Veränderungen der Nerven und den
daran ſich knüpfenden Empfindungen das Bewußtſein von Vorteilen und Nachteilen,
[21]Die Bedeutung der Luſt- und Schmerzgefühle.
von Förderung und Schaden erwache, daß im ganzen die Zunahme an Kraft und Leben
uns angenehm, die Abnahme unangenehm berühre, daß die Luſt als Wegweiſer des
Lebens, der Schmerz als Warner vor Gefahr uns gegeben ſei. „Im Gefühl nimmt die
Seele das Maß der Übereinſtimmung oder des Streites zwiſchen den Wirkungen der
Reize und den Bedingungen des Lebens wahr“ (Lotze). Eine Welt, in welcher über-
wiegend und regelmäßig das, was das Leben zerſtört, Luſt bereitete, in der Schmerz
entſtünde durch das, was das Leben fördert, müßte ſich raſch zu Grunde richten. Die
poſitiven und negativen Gefühle dienen als elementarer Steuerungsapparat in dem
ewigen Kampf der Selbſterhaltung und Erneuerung des Menſchengeſchlechts. Nur aus
dem poſitiven und negativen Empfinden kann das richtige ſich Beſtimmen und Handeln
hervorgehen.
Man kann hiegegen ſcheinbar nun mancherlei einwenden: beſtimmte Arten über-
mäßiger Luſt können leicht Schmerz, Krankheit und Tod bringen; alle Erziehung des
Menſchen beruht auf der augenblicklichen Luſtvermeidung; nichts muß der Jugend mehr
eingeprägt werden als: lerne Schmerz ertragen und auf Genuß verzichten; das Gift
kann zuerſt Luſt bereiten, nachher töten. Es iſt auf ſolche Einwürfe zu antworten:
ſchon der einzelne Menſch iſt ein unendlich kompliziertes Weſen, in welchem zahlloſe
Nervenzellen in jedem Augenblick poſitiv und negativ angeregt ſein können, in welchem
aber jede dauernde Schmerzvermeidung und Luſtbereitung auf einem harmoniſchen Gleich-
gewicht aller Nervenzellen beruht. Dieſes Gleichgewicht kann nur erreicht werden durch
Erziehung und Lebenserfahrung. Im Kinde, beim Unerfahrenen, beim Menſchen ohne
Selbſtbeherrſchung, bei dem mit ungeſunder Gefühlsentwickelung kommen einzelne Gefühle
zeitweiſe zu einer falſchen Herrſchaft über die anderen. Ebenſo lernt der Menſch nur
langſam die Einfügung und Eingewöhnung in die Geſellſchaft; er ſieht nicht ſofort
ein, daß ihm dieſe momentane Luſtverluſte, aber dauernde Glücksgewinne bringe. Die
Gefühle des Menſchen ſind in ſteter Entwickelung, die höheren erlangen erſt nach und
nach das Übergewicht. Die einzelnen und die Völker haben zunächſt die Gefühls-
ausbildung, welche ihrem bisherigen Zuſtand, ihren bisherigen Lebensbedingungen
entſprechen. Werden ſie in andere verſetzt, ſo reagieren ihre Gefühle doch zunächſt noch
in alter Weiſe, können ſich erſt langſam den anderen Zuſtänden anpaſſen. Aus allen
dieſen Gründen müſſen einzelne Gefühle und zumal ſolche von anormaler Entwickelung
immer zeitweiſe den Menſchen irreführen, der nicht verſtändig genug iſt, die Zuſammen-
hänge zu überſehen, der nicht durch ſociale Zucht und Erziehung, durch Umbildung und
Anpaſſung auf den rechten Weg geführt wird. Die Gefühle ſind nicht blinde, ſondern
vom Intellekt zu regulierende Wegzeiger. Der Menſch muß erſt lernen, daß Arbeit und
Zucht, wenn im erſten Stadium auch unbequem, auf die Dauer glücklich mache, daß die
verſchiedenen Gefühle einen verſchiedenen Rang haben, daß die elementarſten ſinnlichen
Gefühle zwar die ſtärkſten ſeien, aber auch die kürzeſten Freuden geben, daß ſie ein
Übermaß der Reize ſo wenig ertragen wie Unterdrückung, daß hier die regulierte mittlere
Reizung allein das Leben fördere, daß ſchon die zu häufige Wiederholung ſchade, daß
mehr und mehr für den Kulturmenſchen das dauernde Glück nur durch die Ausbildung
und Befriedigung der höheren Gefühle erreichbar ſei.
Die Luſtgefühle des Eſſens und der Begattung ſind die ſtärkſten, elementarſten;
durch ſie wird es bewirkt, daß das Individuum und die Gattung ſich erhält. Je
niedriger die Kultur ſteht, deſto mehr ſtehen ſie im Vordergrund, beherrſchen überwiegend
oder gar allein die Menſchen. Aber auch der rohe Menſch lernt nach und nach daneben
die Freuden kennen, die ſich an die höheren Sinne des Auges und des Ohres knüpfen.
Es entſtehen die äſthetiſchen Gefühle, das Wohlgefallen an der Harmonie der Töne und
der Farben, die Gefühle des Rhythmus, des Taktes, der Symmetrie. Aus ihnen ent-
wickeln ſich die intellektuellen Gefühle, die Freude an der Löſung jedes praktiſchen oder
theoretiſchen Problems, am Begreifen und Verſtehen irgend einer Erſcheinung. Ebenſo
entſtehen aber mit dem Gattungsleben und mit der eigenen Thätigkeit die moraliſchen
Gefühle. Der Menſch kann nicht bloß eſſen und lieben, er muß ſeine Zeit und ſeine
Seele mit anderem erfüllen. Er nimmt gewahr, daß unterhaltende Geſelligkeit, glück-
[22]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
liches Familienleben, Erziehung der Kinder, die Übung der eigenen Kraft und Gewandtheit
gleichmäßigere und dauerndere Luſt gewährt. So erwachſen das Kraft- und das Selbſt-
gefühl, das Mitgefühl und die Liebe, die Verbands- und Gemeinſchaftsgefühle aller
Art, zuletzt die moraliſchen und Pflichtgefühle nach und nach unter der Einwirkung der
Erfahrung, der Geſellſchaft, der Ideenwelt. Erſt eine pſychologiſche Geſchichte der Menſch-
heit, vor allem eine Geſchichte der Entwickelung der Gefühle, wie ſie andeutungsweiſe
Horwicz giebt, würde uns eine richtige Grundlage für alle Staats- und Geſellſchafts-
wiſſenſchaft bieten.
An alle die einzelnen, nach und nach ſich ausbildenden Gebiete des Empfindungs-
lebens knüpfen ſich nun Luſt- und Schmerzgefühle, und dieſelben wirken als Wegweiſer
für den menſchlichen Willen und das Handeln. Und wenn wir zweifeln, ob wir das
beglückende Gefühl des Heldentodes für das Vaterland mit dem gleichen Namen bezeichnen
ſollen wie die Luſt am Becher ſchäumenden Weines, ſo iſt das Gleiche und Verbindende
ja nur die Naturſeite des Zuſtandekommens eines Glücks- oder Luſtgefühls. Wie auf
den wilden Stamm der Roſe die verſchiedenſten Blütenarten gepfropft werden, ſo ſind
unſere Nervenreize der phyſiologiſche Untergrund für das Verſchiedenſte, was Menſchen-
ſeelen bewegt. Und alle höheren, reineren Freuden können voll nur aus unſerem geiſtigen
und ſocialen Leben erklärt werden, wie die natürlichen aus unſeren animaliſchen Prozeſſen.
Mit der Erfahrung, daß die verſchiedenen Gefühle ſtärkere oder ſchwächere, einfache
oder mannigfache, vorübergehende oder dauernde, kurz nach den verſchiedenſten Seiten
dem Grad und der Art nach unterſchiedene Freuden gewähren, verbindet ſich die denkende
Ordnung, welche alle die verſchiedenen Gefühle nach ihrer Bedeutung für das Leben
gliedert und in Reihen bringt. Es entſteht eine Skala der Luſt- und Glücksgefühle.
Eine tiefere und edlere Lebensauffaſſung kommt zu dem Ergebnis, daß die Luſtgefühle
um ſo höher ſtehen, einem je höheren geiſtigen Gebiete ſie angehören, oder an je höhere
Verknüpfungen und Verhältniſſe ſie ſich anheften (Fechner). Das Gefühl ſteht höher,
das nicht an einen einzelnen, ſondern an mehrere Sinne ſich anknüpft, das nicht den
Körper, ſondern die Seele, nicht die Lage des Moments, ſondern die dauernde des
Individuums, nicht das Individuum allein, ſondern die Genoſſen, die Familie, die
Mitbürger betrifft oder mitbetrifft. Allen ſittlichen Fortſchritt kann man von dieſem
Standpunkt aus betrachten als den zunehmenden Sieg der höheren über die niedrigen
Gefühle. Aller Fortſchritt der Intelligenz und der Technik, der Mehrproduktion und
der komplizierteren Geſellſchaftseinrichtungen führt nur dann die Völker ſicher und dauernd
aufwärts, wenn die Gefühle, welche das Handeln beſtimmen, ſich in dieſer Richtung
entwickelt haben.
Es iſt klar, daß bei dem Sieg der höheren über die niedrigen Gefühle die letzteren
ſelbſt etwas anderes werden. Auch die elementaren, natürlichen Luſtgefühle verfeinern
und veredeln ſich oder verknüpfen ſich immer enger mit höheren Gefühlen. Die Luſt
der Sättigung verknüpft ſich beim Kulturmenſchen mit den Freuden des Familien-
lebens und der angeregten Geſelligkeit, mit gewiſſen äſthetiſchen Gefühlen. Aus dem
Behagen, in Höhle und Hütte ſich gegen Kälte und Wetter zu ſchützen, wird mit der
beſſeren Wohnung die Freude am eigenen Herd, an ſeiner Ordnung und anmutenden
ſauberen Geſtaltung. So wird die Verknüpfung der verſchiedenen Gefühle miteinander
zugleich zu ihrer richtigen Ordnung. Auch die ſinnlichen verſchwinden nicht, aber ſie
werden an ihre rechte Stelle geſetzt und durch ihre Einkleidung in höhere gezügelt und
reguliert.
Die weſentlichen habituellen Gefühle erſcheinen in ihrer Beziehung zur Außenwelt
als Bedürfniſſe, in ihrer aktiven auf beſtimmtes Wollen und Handeln hinzielenden Rolle
als Triebe.
12. Die Bedürfniſſe. Die Luſt- und Unluſtgefühle weiſen den Menſchen über ſich
hinaus; ſie nötigen ihn, taſtend, ſuchend, überlegend das aufzuſuchen, zu benutzen, ſich zu
aſſimilieren, was ihn von Schmerz befreit, was ihm Befriedigung, Luſt und Glück verſchafft.
Die ihn umgebende Außenwelt mit ihren Schätzen, die ſie nach Klima und Boden, nach
Flora und Fauna bietet, die eigene Arbeit und die der Mitmenſchen, die ganzen geſell-
[23]Die Ordnung der Gefühle. Die Bedürfniſſe.
ſchaftlichen Einrichtungen reichen die Mittel dar, die hiſtoriſch, ethnographiſch und
individuell verſchieden gearteten Gefühlsreize immer wieder abzuſtumpfen. Als Bedürfnis
bezeichnen wir jede mit einer gewiſſen Regelmäßigkeit und Dringlichkeit auftretende
gewohnheitsmäßige, aus unſerem Seelen- und Körperleben entſpringende Notwendigkeit,
durch irgend eine Berührung mit der Außenwelt unſere Unluſt zu bannen, unſere Luſt
zu mehren. Die materiellen oder ideellen Objekte, die wir benützen, ge- oder verbrauchen,
die Verhältniſſe, die ein beſtimmtes Verhalten oder Thun ermöglichen, nennen wir
ebenfalls Bedürfnis. Der Wein, der Mittagsſchlaf, das Rauchen, der Opernbeſuch ſind
mir oder anderen Bedürfnis, heißt ſo viel, wie ich bedarf ihrer, um einem Unbehagen
auszuweichen. Der ganze Umkreis menſchlicher Gefühle, der niedrigen wie der höheren,
erzeugt ſo Bedürfniſſe. Der Menſch hat ſinnliche, äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche
Bedürfniſſe. Aber mit Vorliebe gebraucht unſere Sprache das Wort für die Notwendig-
keit, durch den wirtſchaftlichen Apparat von Gütern und Dienſten den niedrigen wie den
höheren Gefühlen die gewohnte Funktion zu verſchaffen. Die Bedürfnisbefriedigung, hat
man darum geſagt, iſt das Ziel aller Wirtſchaft; die Bedürfniſſe hat man als den
Ausgangspunkt alles wirtſchaftlichen Handelns und aller wirtſchaftlichen Produktion
hingeſtellt, was ganz richtig iſt, wenn man das Wort Bedürfnis in dieſem engeren
Sinne nimmt. Denn im weiteren Sinne iſt Bedürfnisbefriedigung der Zweck alles
menſchlichen Handelns, nicht bloß des wirtſchaftlichen, denn zu allem Handeln geben
Luſt- und Unluſtgefühle und die Erinnerung an ſie den Anſtoß.
Man hat in der bisherigen Nationalökonomie die Bedürfniſſe in leibliche und
geiſtige, in Natur-, Anſtands- und Luxusbedürfniſſe, in Exiſtenz- und Kulturbedürfniſſe,
in individuelle und Gemein- oder Kollektivbedürfniſſe eingeteilt. Man hat ihre Erörte-
rung in der Regel an die Spitze aller theoretiſchen Betrachtung geſtellt, oft auch bei
der Erörterung der Nachfrage, der Haushaltungsbudgets, der Konſumtion, der ſocialen
Fragen das Weſentliche über ſie geſagt.
Es will mir ſcheinen, daß mit der bloßen Einteilung der Bedürfniſſe in einige
Kategorien nicht viel gewonnen geweſen ſei; die Scheidung von individuellen und
Gemeinbedürfniſſen, wie ſie Sax und A. Wagner vornahmen, hatte den theoretiſchen
Zweck, gleichſam ein Fundament der wirtſchaftlichen Gemeinde- und Staatsthätigkeit zu
ſchaffen. Aber es iſt für ſie doch wenig gewonnen und bewieſen, wenn man der Armee
oder dem Eiſenbahnbau die Etikette des Gemeinbedürfniſſes aufklebt; es handelt ſich
doch um den Nachweis, daß die Tauſende und Millionen das Bedürfnis des militäriſchen
Schutzes und des Verkehrs erſt individuell fühlen, daß dann hieraus eine Kollektivſtrömung
erwachſe, und die rechten Staatsorgane hiefür vorhanden ſeien, welche die Sache in die Hand
nehmen, die Widerſtrebenden überzeugen oder zwingen, daß ſo große hiſtoriſch-politiſche
Prozeſſe gewiſſe wirtſchaftliche Funktionen in die Hand öffentlicher Organe legen. Am meiſten
ſcheint mir die Lehre von den Bedürfniſſen durch die hiſtoriſche Unterſuchung des Luxus,
wie ſie Roſcher und Baudrillart anſtellen, und ähnliche kulturgeſchichtliche Unterſuchungen
gefördert worden zu ſein, während die Verſuche von Bentham, Jevons und anderen,
von mathematiſch-mechaniſchem Standpunkte aus die Luſt- und Schmerzgefühle einer
Meſſung zu unterwerfen, die Bedürfniſſe zu begründen auf ein Rechenexempel des Maxi-
mums an Luſt und des Minimums an Unluſt, uns wohl in einzelnen Punkten, ſo weit
ſie auf empiriſch-hiſtoriſcher Grundlage, auf Beobachtung des praktiſchen Seelenlebens
beruhen, gefördert, aber doch überwiegend zu Gemeinplätzen geführt haben. Nur für
die Wertlehre haben ſich die Unterſcheidungen von Jevons und der öſterreichiſchen Schule
teilweiſe als fruchtbar erwieſen, weil es ſich nicht ſowohl um die Bemeſſung der Gefühle
und Bedürfniſſe, als um die Bemeſſung der Brauchbarkeit der Güter nach verſchiedenen
Geſichtspunkten hin in dieſen Unterſuchungen handelte. Wir kommen bei der Wertlehre
und der Nachfrage darauf zurück.
Da wir auch auf andere ſpecielle Ergebniſſe der Bedürfnisentwickelung beſſer im
Zuſammenhang der einzelnen volkswirtſchaftlichen Fragen eingehen, ſo handelt es ſich
hier nur um ein allgemeines Wort der Erklärung der Bedürfniſſe; wir müſſen ver-
ſuchen, ſie als pſychologiſche, individuelle und Maſſenerſcheinung, als wirtſchaftliche
[24]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Urſache, als hiſtoriſche Entwickelungsreiche, als Ergebniſſe unſeres geiſtig-ſittlichen Lebens
zu begreifen.
Die Bedürfniſſe ſind ein Reſultat des Aufeinanderwirkens der vorhandenen Nerven-
gewohnheiten und ſeeliſchen Eigenſchaften einerſeits, der natürlichen und geſellſchaftlichen
Umgebung des Menſchen andererſeits. Sie ſind bei jedem Individuum das Reſultat
ſeiner Raſſe, ſeiner Erziehung, ſeiner Lebensſchickſale. Sie zeigen bei höherer Kultur
nach Individuum, Klaſſe und Einkommen an jedem Orte und in jedem Volke erhebliche
Abweichungen; auch beruht der Ausbreitungsprozeß der höheren Bedürfniſſe natürlich
darauf, daß die an einem Punkte von einzelnen gemachten Fortſchritte langſam von
Perſon zu Perſon, von Klaſſe zu Klaſſe, von Land zu Land übergehen. Aber wir
können davon zunächſt hier abſehen; für alle geſellſchaftliche und volkswirtſchaftliche
Betrachtung können wir hier zunächſt davon ausgehen, daß kleine oder größere geſell-
ſchaftliche Kreiſe, die unter ähnlichen Lebensbedingungen ſtehen, durchſchnittlich ähnliche
Bedürfniſſe haben; wir können daran erinnern, daß nirgends ſo ſehr als bei den
Bedürfniſſen der Menſch als Herdentier ſich zeigt und vom Nachahmungstrieb be-
herrſcht wird.
Der urſprüngliche Grundſtock der menſchlichen wirtſchaftlichen Bedürfniſſe iſt nun
durch die tieriſche Natur des Menſchen gegeben: ein gewiſſes Maß von Nahrung, Wärme,
Schutz gegen Feinde muß auch der roheſte Menſch ſich verſchaffen. Man hat häufig dieſes
Maß das Naturbedürfnis genannt. Aber es iſt heute nirgends zu finden. Selbſt die
wildeſten Stämme ſind darüber hinaus. Und die Frage, wie, warum der Menſch über
dieſe roheſten Naturbedürfniſſe hinausgekommen ſei, iſt eben das hier zu erklärende
Problem.
Bleibt man beim Äußerlichen ſtehen, ſo wird man ſagen können, die Bedürfniſſe
hätten ſich verfeinert und vermehrt in dem Maße, wie der Menſch die Schätze der Natur
direkt oder durch den Handel kennen lernte, wie die fortſchreitende Technik, die Bau-,
die Kochkunſt, die Kunſt der Weberei und andere Fertigkeiten ihm immer kompliziertere,
ſchönere, beſſere Wohnungen, Werkzeuge, Kleider, Geräte, Schmuckmittel zur Verfügung
ſtellten. Die Zufälligkeiten der äußeren Kulturgeſchichte und die Geſchichte der Ent-
deckungen, des Handels, der Technik, die Berührungen der jüngeren mit den älteren
Völkern beſtimmten dieſen ganzen Entwickelungsprozeß, auf deſſen wichtigſten Teil wir
bei der Geſchichte der Technik zurückkommen. Natürlich erklären nun aber dieſe äußeren
Ereigniſſe entfernt nicht ihren inneren Zuſammenhang; ſie ſind ſelbſt das Produkt der
Raſſen- und pſychologiſchen, der geiſtig-moraliſchen, äſthetiſchen und geſellſchaftlichen
Entwickelung der Menſchheit, ſo ſehr die einzelnen erwähnten Ereigniſſe von Zufällen mit
beſtimmt ſind und ſo da und dort hin Bedürfniſſe bringen, für welche die Betreffenden
nicht reif ſind, die ihnen mehr ſchaden als nützen. Dies gilt vor allem von der Ein-
führung der verfeinerten Kulturbedürfniſſe in der Sphäre der Naturvölker.
Die innere Erklärung der zunehmenden, höheren, feineren, der ſämtlichen Kultur-
bedürfniſſe liegt in der zuſammenhängenden Kette der Ausbildung der Gefühle, des
Intellekts, der Moral, der Geſellſchaft. Indem neben die ſinnlichen die höheren Gefühle
des Auges, des Ohres, des Intellekts, die Sympathie traten, entſtand das Bedürfnis
des Schmuckes, der Kleidung, der Wohnung, entſtanden die ſchönen Formen, die ver-
beſſerten Hülfsmittel, die Werkzeuge, entſtanden die Hallen und Kirchen, die Wege und
die Schiffe, die Muſik und die Schrift, entſtand jener große, ſtets wachſende äußere
wirtſchaftliche Apparat, der ſchon vor Jahrtauſenden dem Kulturmenſchen unentbehrlich
wurde, heute für die Mehrzahl aller Menſchen Lebensbedürfnis iſt. Das Unnötige, ſagt
der Dichter, wurde der beſte Teil der menſchlichen Freude. Eine Welt der Formen, der
Konvention, des ſchönen Scheins umgab alle urſprünglich einfachen Naturbedürfniſſe.
Nicht die Stillung des Hungers zu jeder beliebigen Zeit, in jeder Form, an jedem
Orte, der Sicherheit vor Raub und Neid gewährte, genügte dem Menſchen mehr; er
wollte in Geſellſchaft, zu beſtimmter Stunde, mit beſtimmten Gefäßen und Ceremonien,
mit einer gewiſſen Abwechslung und unter Zuſammenſtellung verſchiedener Speiſen eſſen und
ſo durch dieſe Ordnung das einzelne Bedürfnis einfügen in den rechten Zuſammenhang
[25]Die hiſtoriſche Entwickelung der Bedürfniſſe.
ſeiner Lebensführung. Alles, was geſchah, ſollte durch ſolche verfeinerte Formen als
ein Glied in dem Plane des Lebens erkannt und geſtempelt werden. Immer neue Be-
dürfniſſe kamen zu den alten, und die alten verfeinerten ſich, komplizierten ſich, wurden
vielgeſtaltiger, wechſelvoller, anſpruchsvoller. Und wir können verſtehen, daß dieſer
Prozeß, ſo viel er zugleich Falſches, Häßliches, Bizarres erzeugt, doch zugleich das not-
wendige Inſtrument iſt, uns auszubilden, unſere innere Kultur zu fördern. Ohne die
beſſere Wohnung, ohne die Trennung von Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer kein
edleres, höheres Familienleben, ohne Trennung von Werkſtätte und Wohnung keine
große maſchinelle Produktion. Ja wir können ſogar ſagen, ohne eine gewiſſe Verfeine-
rung unſerer Tafel kein hochgeſpanntes geiſtiges Leben, keine funkenſprühende Geiſtes-
thätigkeit.
Der Stoiker mag klagen, daß wir Sklaven unſerer Bedürfniſſe ſind, der laudator
temporis acti, daß wir die alte Einfachheit verloren haben und ein immer ſchwerfälligeres
Kulturgepäck mit uns ſchleppen. Wir mögen mit Recht immer wieder bemüht ſein,
unſeren Körper ſo zu ſtählen, daß er mal Mangel und Entbehrung erträgt. Im ganzen
liegt doch ein Fortſchritt gerade darin, wenn ſelbſt die unteren Klaſſen Fleiſch, gute Kleidung,
ſaubere Wohnung und Anteil an der geiſtigen Kultur fordern; wenn alle Klaſſen um jeden
Preis an ihrem Bedürfnisniveau feſthalten, es ſteigern wollen. Die dauernde feſte Anpaſſung
unſerer Nerven an einen immer komplizierteren Apparat der Bedürfnisbefriedigung iſt
der Sperrhaken, der die Menſchen vor dem Zurückſinken in die Barbarei bewahrt. Auch
wer an falſche, übermäßige Genüſſe jahrelang gewöhnt iſt, kann ſich ihnen nicht plötzlich
entziehen. Die Nerven halten jeden mit ſtarker Feſſel an dem gewohnten Lebensgeleiſe
von Bedürfniſſen feſt. Soweit die Bedürfniſſe aber normale ſind, iſt das ein Glück;
es entſteht dadurch die Kraft, auf dem erreichten Kulturniveau ſich zu behaupten, wie
die Zunahme der Bedürfniſſe den Fleiß, die Thatkraft, die Arbeitſamkeit immer wieder
angeſpornt und gefördert hat, die höhere Kultur bedeutet.
Betonen wir ſo die Berechtigung der wirtſchaftlichen Bedürfnisſteigerung im ganzen
und ihren Zuſammenhang mit aller höheren Kultur, aus der ſie zuletzt entſpringt,
ſehen wir in dem großen wirtſchaftlichen Mechanismus, der unſeren Bedürfniſſen dient,
die in die Außenwelt verlegte Projektion innerer Vorgänge, eine komplementäre Er-
ſcheinung unſerer höheren Gefühlsentwickelung, ſo ſoll damit doch entfernt nicht geſagt
ſein, daß ſchlechthin jede Bedürfnisſteigerung ein Segen ſei, daß keine Gefahren mit ihr
ſich verbinden.
Große und lange Epochen der Menſchheit haben einen faſt ſtabilen Zuſtand der
Bedürfniſſe gehabt; ſolche wechſeln naturgemäß mit Zeiten, in welchen eine verbeſſerte
Technik und wachſender Wohlſtand eine große Bedürfnisſteigerung erzeugten und erlaubten.
In den erſtgenannten Epochen wird das Streben, alle Bedürfniſſe mit einander und
mit einer guten Geſellſchaftsverfaſſung in Harmonie zu bringen, ſogar leichter gelingen;
und deshalb wird eine feſt gewordene, eingewurzelte, von ſittlichen Ideen beherrſchte
Geſtaltung der Bedürfniſſe dann von allen konſervativen Elementen und von den Moral-
predigern als ein Ideal verteidigt werden, an dem nicht gerüttelt werden dürfe. Neue
Bedürfniſſe erſcheinen ſo leicht an ſich als Unrecht, als Überhebung, als Mißbrauch;
und ſie führen häufig auch zunächſt zu häßlichen Erſcheinungen, zu unſittlichen Aus-
ſchreitungen, die man durch Verbote, Luxusgeſetze, Moralpredigten mit Recht bekämpft.
Jedes Bedürfnis erſcheint als Luxus, ſofern es neu iſt, über das Hergebrachte
hinausgeht. Sehr häufig iſt in der Folgezeit berechtigtes Bedürfnis, was zuerſt als
verderblicher Luxus erſchien. Aber der ſteigende Luxus kann auch ein Zeichen wirtſchaft-
licher und ſittlicher Auflöſung im ganzen oder gewiſſer höherer Kreiſe ſein.
Die Bedürfniſſe jedes Volkes und jedes Standes ſind ein Ganzes, das dem Ein-
kommen und Wohlſtand ebenſo entſprechen ſoll, wie der richtigen Wertung der Lebens-
zwecke untereinander. Und zumal in einer Zeit großer wirtſchaftlicher Fortſchritte,
großer Änderung und Steigerung der Bedürfniſſe wird es immer zuerſt ſehr ſchwer
ſein, das richtige Maß im ganzen zu halten und im einzelnen jedem Lebenszwecke ſein
gebührendes Maß von Mitteln zuzuführen. Rohe Zeiten haben durch ein Übermaß
[26]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
von Freſſen und Saufen, civiliſierte durch Kleider- und Feſtluxus gefehlt; verſchwende-
riſche Fürſten und Völker haben, ſtatt ſparſam die Mittel zuſammen zu halten, durch
Bauten und Vergnügungen ſich erſchöpft; die ſinkende Kultur des Altertums und der
Despotismus der neueren Zeit zeigen genug ſolcher Beiſpiele. Die Verbreitung der
Trunkenheit und des Alkoholgenuſſes der neueren Zeit beweiſt, wie wenig wir noch
über ſolche Irrwege hinaus ſind.
Jede Bedürfnisſteigerung, zumal die raſch möglich werdende und eintretende, iſt
für jede Klaſſe und jedes Volk eine Prüfung, die nur beſtanden wird, wenn die ſittlichen
Kräfte geſund ſind, wenn Beſonnenheit und richtiges Urteil den Umbildungsprozeß
beherrſchen, wenn die Mehrproduktion und die Sparſamkeit gleichen Schritt mit den
vermehrten und richtig regulierten Bedürfniſſen hält. Jede ſtarke Bedürfnisſteigerung
erzeugt die Gefahr, daß das Genußleben an ſich für einzelne oder weite Kreiſe zu ſehr
an Bedeutung gewinne gegenüber der Arbeit und dem Ernſt des Lebens. Es entſteht
die Möglichkeit, daß die erſten Schritte auf dieſer Bahn die Thatkraft ſteigern, die
ſpäteren ſie lähmen. Vor allem aber handelt es ſich um die Art der Bedürfnisſteigerung
und ihre Rückwirkung auf die ſittlichen Eigenſchaften. Es dürfen nicht die gemeinen,
ſinnlichen Bedürfniſſe auf Koſten der höheren geſteigert werden. Es dürfen mancherlei
zweiſchneidige Genußmittel nicht in die Hände halb kultivierter, ſittlich ſchwacher Ele-
mente fallen: ſie werden bei höchſter Selbſtbeherrſchung vielleicht Gutes wirken, wenigſtens
nicht ſchaden, ſonſt aber nur zerſtören. Allein die Bedürfnisſteigerung iſt die normale,
welche die geiſtigen und körperlichen Kräfte, vor allem die Fähigkeit zur Arbeit erhöht,
welche das innere Leben ebenſo bereichert wie das äußere, welche den ſocialen Tugenden
keinen Eintrag thut.
Die Gefahr jeder Bedürfnisſteigerung liegt im Egoismus, in der Genußſucht, im
ſybaritiſchen Kultus der Eitelkeit, die ſie bei falſcher Geſtaltung herbeiführen kann. Es
war kriechende Schmeichelei der früheren Jahrhunderte, jeden Wahnſinn fürſtlicher Ver-
ſchwendung zu preiſen; es war knabenhafte Demagogie, dem Arbeiter von der Sparſamkeit
abzuraten, weil die Bedürfnisſteigerung ſtets wichtiger ſei. So redete Laſſalle von einer
verdammten Bedürfnisloſigkeit der unteren Klaſſen, die ein Hindernis der Kultur und
der Entwickelung ſei.
5. Die menſchlichen Triebe.
- Über die Litteratur ſiehe den vorigen Abſchnitt.
13. Allgemeines. Die Luſt- und Schmerzgefühle, die zur Bedürfnisbefriedigung
Anlaß geben, erſcheinen als Triebe, ſofern ſie bleibende Dispoſitionen des Menſchen zu
einem der Art, aber nicht dem Gegenſtande nach beſtimmten Begehren darſtellen. Was
der Inſtinkt im Tier, iſt der Trieb im Menſchen. Er giebt die Anſtöße zum Handeln,
die immer wieder in gleicher Richtung von der Thätigkeit unſeres Nervenlebens, haupt-
ſächlich von den elementaren Gefühlen ausgehen. Aber die heute vorhandenen, in
beſtimmter Art auftretenden Triebe dürfen wir deshalb doch nicht als etwas ganz Un-
veränderliches, mit der Menſchennatur von jeher an ſich Gegebenes betrachten, ſo wenig
wie unſer Gehirn und unſere Nerven ſtets ganz dieſelben waren. Die Natur hat dem
Menſchen nicht etwa einen Eſſenstrieb mitgegeben, ſondern Hunger und Durſt haben als
qualvolle Gefühle, welche die Nerven aufregen, Menſchen und Tiere veranlaßt, nach
dieſem und jenem Gegenſtand zu beißen und ihn zu verſchlingen; und aus den Er-
fahrungen, Erinnerungen und Erlebniſſen von Jahrtauſenden, aus den körperlichen und
geiſtigen damit verknüpften Umbildungen iſt der heutige Trieb, Nahrung aufzunehmen,
entſtanden, der in gewiſſem Sinne freilich als elementare, konſtante Kraft, auf der anderen
Seite aber in ſeinen Äußerungen doch als etwas hiſtoriſch Gewordenes erſcheint. Jeder ſo
mit der Entwickelungsgeſchichte gewordene, auf beſtimmten Gefühlscentren beruhende Trieb
regt den körperlichen Mechanismus wie unſer Seelenleben an, mit einer Art mechaniſcher
Abfolge in beſtimmter Weiſe zu handeln. Wir ſprechen wenigſtens mit Vorliebe da
von einem Trieb, wo wir glauben, das Handeln auf ein „Getriebenſein“ zurückführen
[27]Das Weſen der Triebe.
zu können, wo wir große Menſchengruppen oder alle Menſchen in ähnlicher Weiſe glauben,
durch beſtimmte ſeeliſche Grundkräfte in ihren Willensaktionen beherrſcht zu ſehen. Wir
bezeichnen die Handlungen als Triebhandlungen, welche uns unter der unmittelbaren
Wirkung einer ſolchen Grundkraft zu ſtande zu kommen ſcheinen.
Die Vorſtellung, daß es möglich ſei, eine beſtimmte Anzahl ſich immer gleich
bleibender Triebe bei allen Menſchen aller Zeiten nachzuweiſen, müſſen wir dabei freilich
fallen laſſen. Das Triebleben iſt, wie wir ſchon bemerkt, ein Ergebnis der hiſtoriſchen
Entwickelung unſerer Nerven und unſerer ganzen geiſtig-ſittlichen Natur. Alle ſtarken
Gefühle geben Impulſe zum Handeln; je niedriger die menſchliche Kultur, deſto unwillkür-
licher folgt dieſes Handeln, deſto näher ſteht es unbewußten Reflexbewegungen, deſto
mehr handelt es ſich um ein wirkliches „Getriebenſein“. Je mehr die Reflexion und
das geiſtige Leben ſich ausbilden, deſto mehr ſchieben ſich zwiſchen den Gefühlsimpuls
und das Handeln Vorſtellungen über die Folgen, Überlegungen ſittlicher Art, deſto mehr
geht das impulſive Handeln in ein überlegtes, durchdachtes, durch die Erziehung modifi-
ziertes über. Die Triebe verſchwinden damit nicht, aber die reinen und bloßen Trieb-
handlungen. Unſere Handlungen werden etwas anderes, Komplizierteres, den ſittlichen
Lebensplänen Angepaßtes; die Triebe ſelbſt ändern ſich in ihren Wirkungen. Der
Erwerbstrieb des rohen Indianers, des Bauern, des Gelehrten, des Börſenſpekulanten
ſind qualitativ und quantitativ ebenſo verſchieden wie der Geſchlechtstrieb einer Südſee-
inſulanerin und einer gut erzogenen engliſchen Lady.
Der Trieb iſt der organiſche, von unſerm Gefühlsleben und beſtimmten Vor-
ſtellungen ausgehende Reiz zum Handeln. Er iſt der natürliche Untergrund deſſen, was
durch Zucht und Gewöhnung, durch Übung und Zähmung zur civiliſierten Gewohnheit
wird. Alle menſchliche Erziehung will die Triebe ethiſieren und in gewiſſem Sinne zu
Tugenden erheben; aber die Triebe der heutigen Generation ſind immer ſchon das Er-
gebnis einer ſittlichen Erziehungsarbeit von Jahrtauſenden.
Die neuere Pſychologie, weſentlich auf andere Fragen gerichtet, hat in der Trieb-
lehre noch keine großen Fortſchritte gemacht; man iſt noch zu keiner einheitlichen Klaſſifi-
kation der Phänomene und zu keinen feſten Begriffen gelangt. Nichtsdeſtoweniger drängt
ſich das Bedürfnis, eine Reihe von Trieben zu unterſcheiden, immer wieder auf. Und
wenn die Verſuche, ganze Wiſſenſchaften aus einem oder ein paar Trieben zu erklären —
ich erinnere an den geſelligen Trieb des Ariſtoteles und Hugo Grotius, an die Trieb-
lehre der Socialiſten, an den Erwerbstrieb der Nationalökonomen, an die Heirats- und
Verbrechenstriebe der Statiſtiker —, noch unvollkommener ſind als die Trieblehren der
Pſychologen, ſo wird eine ſociologiſche Betrachtung, welche nicht um ſyſtematiſcher Ein-
heit willen alles aus einer Urſache ableiten will, doch immer am beſten thun, in An-
lehnung an die heutige Pſychologie die weſentlichſten der gewöhnlichen Triebe einfach
nebeneinander zu ſtellen und auf ihren Zuſammenhang mit den Erſcheinungen des
geſellſchaftlichen Lebens zu prüfen, ohne damit die Prätenſion zu erheben, eine neue
Trieblehre zu geben oder gar auf ſie ein ganzes Syſtem zu bauen.
Wir kommen dabei freilich auf eine Wiederholung deſſen, was wir über die Ge-
fühle geſagt; wir müſſen uns andererſeits mit wenigen aphoriſtiſchen Bemerkungen über
den Selbſterhaltungs-, Geſchlechts-, Thätigkeits-, Anerkennungs- und Rivalitätstrieb
beſchränken; aber dieſe, ſowie die Hinweiſung auf ihre hiſtoriſche Entwickelungsfähigkeit
werden immer nicht wertlos ſein und uns für die Erörterung des Erwerbstriebes vor-
bereiten.
14. Der Selbſterhaltungs- und der Geſchlechtstrieb werden in allen
Trieblehren vorangeſtellt; ſie entſprechen den ſtärkſten Luſtgefühlen, wie wir bereits
erwähnt. Sie können auch, viel eher als der Egoismus oder der Erwerbstrieb, als
der pſychologiſche Ausgangspunkt des Wirtſchaftslebens, ja der ganzen geſellſchaftlichen
Organiſation angeſehen werden: Durch Hunger und durch Liebe, ſagt ein bekanntes
Sprüchlein, erhält ſich das Getriebe. Und Goethe meint in den venetianiſchen Epi-
grammen:
[28]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
‘Warum treibt ſich das Volk ſo und ſchreit? Es will ſich ernähren,
Kinder zeugen und die nähren, ſo gut es vermag.
Merke dir, Reiſender, das und thue zu Hauſe desgleichen —
Weiter bringt es kein Menſch, ſtell’ er ſich wie er auch will.’ ()
Der Selbſterhaltungstrieb umfaßt nicht bloß das Eſſen und Trinken; wir führen
auf ihn alle menſchliche Thätigkeit zurück, die auf Erhaltung des eigenen Ich direkt
gerichtet iſt; der Mann, der ſich gegen ſeine Feinde oder wilde Tiere verteidigt, der ſich
gegen Kälte oder Gefahren ſchützt, wird ebenſo von ihm geleitet wie der, welcher Waffen
und Werkzeuge zu künftigem Thun bereitet. Aus dem Selbſterhaltungstrieb entwickeln
ſich bei höherer, komplizierterer Kultur alle möglichen Anſtrengungen, die indirekt das
Individuum erhalten und fördern wollen; aller Kampf mit der Natur, alle Anſtrengung
und Arbeit hängt mit demſelben zuſammen, ſofern ſie das eigene Ich im Auge haben;
auch Liſt und Betrug, Gewaltthat und Diebſtahl, Raub und Mord entſpringt aus ihm,
wie der heftige, rückſichtsloſe Konkurrenzkampf der Gegenwart. Damit iſt aber ſchon
geſagt, daß der Trieb kein einfacher ſei, mit höherer Kultur immer kompliziertere Ge-
biete, indirekte Ziele umfaſſe und in ſeiner Bethätigung ſich bei den meiſten Menſchen
nur in den Schranken der Sitte und des Rechtes äußere. Die Ziele, die ihm geſteckt
ſind, wechſeln ebenſo wie die Kraft und Nachhaltigkeit, mit der er auftritt. Er äußert
ſich beim Wilden als Veranlaſſung zur Jagd und Fiſchfang, beim Ackerbauer zur Pflug-
führung und Ernte. Faulheit und Arbeitsſcheu, gedankenloſe Verſchwendung ſind hier mit
dieſem Triebe verbunden, dort Sparſamkeit und Fleiß. Erſt eine durch die Jahrtauſende
fortgeſetzte Zucht und die Inſtitute der ſocialen Ordnung haben ihn zu dem gemacht,
was wir heute als Selbſterhaltungstrieb in der civiliſierten Geſellſchaft bezeichnen. Von
der Sorge für die eigene Brut und Familie iſt er heute ſchwer zu trennen. Vermöge
jenes Princips der Aſſociation der Vorſtellungen, welches zuerſt Hartley in die pſycho-
logiſchen Unterſuchungen des Sittlichen eingeführt hat, vereinigen ſich die Vorſtellungen
der Menſchen nach beiden Richtungen mehr oder weniger ſtets. Nur bei gänzlich
ſchlechten, verwahrloſten Menſchen oder im Moment der Todesgefahr hat der Selbſt-
erhaltungstrieb nur das eigene Ich im Auge.
Auch der Geſchlechtstrieb iſt — zumal in der civiliſierten Geſellſchaft —
kein einfaches Phänomen, keine blinde Triebkraft mehr. Gewiß tritt er auch heute noch
mit einer gewiſſen elementaren Kraft auf, er kann einzelne im Moment blind beherrſchen,
er iſt für die meiſten erwachſenen, noch nicht gealterten Menſchen einer der wichtigſten
Faktoren ihres Trieblebens; aber der ſittliche und ſociale Erziehungsprozeß hat ihn bei
der Mehrzahl der Menſchen gemildert, geformt, mit Schranken umgeben, ihn mit allen
möglichen anderen Zielen in Verbindung gebracht. Er tritt vor allem als Trieb auf,
eine Familie zu gründen; er verbindet ſich ſo unauflöslich mit all’ den Hoffnungen auf
Glück und Behagen, welche die Ehe und die Familie bietet. Aus und mit den Luſt-
empfindungen der Begattung ſind ſo ſeit Millionen Jahren ſympathiſche Erregungen,
Güte, Leutſeligkeit, Aufopferungsfähigkeit erwachſen, die Freude vor allem an dem Daſein
der Kinder und Enkel, der Gattin und der Verwandten, ja das ganze Stammesgefühl.
Und wenn der Satz wahr iſt, daß für die große Maſſe der Menſchen noch heute nach
ſo vielen Jahrtauſenden der Geſchichte der natürliche Zuſammenhang des Blutes immer
noch der weitaus wichtigſte, wo nicht der einzige Hebel milderer Sinnesart im Gegenſatz
zum rohen Ich ſei (Cohn), daß erſt langſam und nach und nach die Familiengefühle
auf weitere Kreiſe ſich ausdehnen, ſo iſt damit zugegeben, daß auf dem natürlichen
Boden des Geſchlechtstriebes höhere und reinere geſellige Triebe erwachſen ſind, welche,
einmal feſt gewurzelt und zu ſelbſtändigem Streben nach beſtimmten Zielen ausgebildet,
ſich dem Geſchlechtstrieb als etwas Eigenartiges und Höheres gegenüberſtellen.
15. Der Thätigkeitstrieb iſt teilweiſe verwandt mit dem Selbſterhaltungs-
trieb, aber doch wieder von ihm weſentlich verſchieden. Er geht zunächſt hervor aus
einem der allgemeinſten menſchlichen Gefühle, dem Kraftgefühl der Nerven und Muskeln,
die ihre überſchüſſige Energie irgendwie verbrauchen müſſen. Alle phyſiognomiſche und
mimiſche Bewegung hängt damit zuſammen, wie die Sprache, welche nach ihrer anima-
[29]Der Selbſterhaltungs-, Geſchlechts- und Thätigkeitstrieb.
liſchen Seite nichts iſt als die unwillkürliche lautliche Entladung gewiſſer Nerven- und
Muskelkräfte. Der Thätigkeitstrieb nötigt uns aber nicht bloß Muskeln und Nerven
zu beſchäftigen, unter dem Einfluß ordnender, mit dem Zweckleben ſich ergebender Vor-
ſtellungen und Luſtgefühle will er ſie ſachgemäß beſchäftigen, er will die Kräfte üben,
die Grenzen der eigenen Macht erproben; er geht ſo dem erwachenden Selbſtgefühl
parallel; urſprünglich ein Ergebnis rein animaliſchen Daſeins nimmt er alle höheren
menſchlichen Zwecke, ſofern wir unſere Kraft an ihnen verſuchen, in ſich auf; die ihm
eigentümlichen Luft- und Schmerzgefühle verbinden ſich auf jeder Kulturſtufe mit Gefühlen
höherer Ordnung.
Äußert er ſich beim Kannibalen nur in der Befriedigung, einen Feind getötet oder
ſkalpiert zu haben, beim rohen Jäger in der Spannung und dem Genuß, welchen die
Erlegung des Elchs und des Hirſches gewähren, ſo werden die Ziele desſelben beim
Kulturmenſchen unendlich mannigfaltige, die Luſt aber bleibt immer dieſelbe. Es iſt
die Freude, die eigene Kraft richtig eingeſetzt und verwertet zu haben. Wir beobachten
den Trieb ſchon beim Kinde, das mit Bauklötzchen ein Haus baut, das ſägen und leimen,
pappen und malen will, das in tauſenderlei Formen die kleine Welt der Hauswirtſchaft
wie die große der Technik in ſeinen Spielereien nachahmt und entzückt in die Händchen
ſchlägt, wenn ihm die kleinen Kraft- und Kunſtproben gelungen ſind. Und was der
Jugend das Spiel, iſt dem Alter die Wirklichkeit. Den Schmied, welchem der rechte
Schlag mit dem Hammer gelungen iſt, die Köchin, welche den duftenden Sonntagsbraten
anrichtet, den Maler, welcher vor dem fertigen Bilde den Pinſel weglegt, den Maſchinen-
fabrikanten, der die tauſendſte Lokomotive auf die Ausſtellung ſchickt, durchglüht dasſelbe
Innervationsgefühl gelungener eigener Thätigkeit wie den hungernden Prediger, welcher
mit dem Bewußtſein von der Kanzel ſteigt, wieder einmal als Wecker der Gewiſſen die
Herzen und Nieren ſeiner Gemeindeglieder erſchüttert zu haben. Es giebt keine größere
Freude für den Menſchen als die Luſt thätigen Schaffens und Wirkens, und ſie iſt
bis auf einen gewiſſen Grad unabhängig von dem ökonomiſchen Erfolg, der Bezahlung
des Produktes, dem Lohn oder Gehalt. Millionen von Menſchen arbeiten in der Familie
und in Staat und Kirche ohne direkte Bezahlung, bei anderen Millionen iſt Belohnung
und Arbeit nicht in ſo nahe Beziehung und oft nicht ſo in Proportion gebracht, daß
die Belohnung das allein ausſchlaggebende Motiv wäre. Aber ſie arbeiten um des
Erfolges willen. Ihr Vorſtellungsvermögen und ihre Nervenerregung läßt ihnen keine
Ruhe, es treibt ſie unwiderſtehlich zur Thätigkeit; die weſentlichſten wirtſchaftlichen
Tugenden, die Ausdauer, der Mut des kühnen Unternehmers, die friſche Erfindungsgabe
des Zeichners und Modelleurs entſpringen hier. Der reiche Mann will noch mehr
gewinnen, nicht ſo ſehr weil ihn der Mehrbeſitz als weil ihn das Kraftgefühl der Erwerbs-
fähigkeit erfreut. In dieſem Thätigkeitstrieb hat der ſittliche Segen der Arbeit ſeine
natürliche Wurzel. Die Thätigkeit, welche ſich ganz in den Gegenſtand verſenkt, darüber
das eigene Ich und ſeine Kümmerniſſe vergißt, iſt das einzige, was auf die Dauer für
die Mehrzahl der Menſchen jenes harmoniſche Gleichgewicht zwiſchen Luſt- und Unluſt-
gefühlen herſtellt, das wir als dauernde Zufriedenheit bezeichnen.
Aus dieſem Trieb entſpringt nebenbei auch das Selbſtgefühl und Selbſtbewußt-
ſein; freilich nicht aus ihm allein; es iſt ein kompliziertes Ergebnis individueller
und geſellſchaftlicher Vorgänge; die Anerkennung in der Geſellſchaft ſtärkt es, wie das
Bewußtſein des Beſitzes, das die Furcht, von der Gnade anderer leben zu müſſen, ver-
bannt. Vor allem aber erzeugt das Bewußtſein, auf beſtimmtem Gebiet etwas Vollendetes
leiſten zu können, die beſtimmte Sicherheit des Auftretens, die zu unſerem inneren Glück
ebenſo notwendig iſt wie zu jedem äußeren Erfolg. Und das Kolorit des Selbſtgefühls
entſteht durch die beſtimmte Art der Arbeit. Der Maſchinenarbeiter ſchlägt mit Leiden-
ſchaft auf den Tiſch, der Schneider ſtreichelt ſanft den Freund über Achſel und Arm,
zugleich den Stoff befühlend; der Soldat erinnert an die Feldzüge, die er mitgemacht,
der Kaufmann erzählt von den Spekulationen, die ihm gelungen.
16. Der Anerkennungs- und der Rivalitätstrieb. Gehen wir nach
dieſen elementaren Trieben, die in ihrer Wurzel alle an beſtimmte phyſiſche Luſtgefühle
[30]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
anknüpfen, zu dem über, was man ſonſt noch als Trieb zu bezeichnen pflegt, ſo wird
die Unterſuchung ſehr viel ſchwieriger. In gewiſſem Sinne entſpricht auch allen höheren
ausgebildeten Gefühlen ein Triebleben: der Menſch hat äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche,
geſellige Triebe. Aber es handelt ſich hier um viel kompliziertere Vorgänge, um Nerven-
reize, die keineswegs mit gleicher Dringlichkeit den Menſchen zu beſtimmten Richtungen
des Handelns antreiben. Es handelt ſich da um ein Handeln, auf das ſittliche und
andere Vorſtellungen und Erfahrungen ſoviel ſtärker einwirken als der an ſich vor-
handene Nervenreiz, ſodaß wir hier mit der Annahme eines Triebes viel weniger
erklärt haben. Ja an einzelnen Stellen erſcheint uns die Annahme eines Triebes nur
als Mäntelchen, unſere Unwiſſenheit zu verdecken. So müſſen wir uns entſchieden gegen
die Annahme eines allgemeinen ſocialen Triebes erklären, obgleich wir zugeben, daß es
auch auf geſellſchaftlichem und geſelligem Boden Triebreize giebt. Aber dieſe Triebreize
löſen ſich uns auf in eine Reihe von Gefühlen, die wir wieder unterſcheiden können
als Gefühle der Blutsverwandtſchaft, der Sprach-, der Kulturgemeinſchaft, als Freude
der Geſelligkeit und was ſonſt noch dazu gehört. Und deshalb möchten wir das ſo
klar zu Unterſcheidende nicht mit einem Sammelnamen bezeichnen, der uns die Unter-
ſchiede zudeckt.
Dagegen ſcheint es uns viel eher berechtigt, von einem allgemeinen Triebe der
Menſchen nach Anerkennung im Kreiſe von ihresgleichen zu ſprechen. Wir haben ſchon
oben (S. 9, 15—16) darauf hingewieſen, wie ſehr das geiſtige Leben überall nach
Zuſammenſchluß hindrängt. Ad. Smith leitet aus der ſtets und überall wirkſamen
Sympathie der Menſchen miteinander alle ſittlichen Urteile und alle geſellſchaftlichen
Einrichtungen ab.
Kein Menſch kann ohne die Billigung eines gewiſſen Kreiſes leben; und je niedriger
er ſteht, deſto mehr iſt er in jedem Schritt, den er thut, von dem Urteil ſeiner Um-
gebung abhängig. Der Menſch ißt und trinkt, er kleidet ſich und richtet ſeine Wohnung
ſo ein, wie es ſeine Freunde, ſeine Standesgenoſſen für paſſend halten. Jeder fürchtet
ſich in erſter Linie vor dem, was man von ihm ſagen werde; er fürchtet die Sticheleien,
er fürchtet, ſich lächerlich zu machen. Viele geben Feſte über ihre Mittel, weil ſie
fürchten, ſonſt getadelt zu werden. Die arme Witwe ruiniert ſich und ihre Kinder, um
dem Mann ein anſtändiges Begräbnis zu verſchaffen, d. h. ein ſolches, wie ſie glaubt,
daß es die Nachbarn erwarten.
Wir beherrſchen unſere Leidenſchaften, weil wir fürchten, ſonſt ungünſtig beurteilt
zu werden; die Mäßigung, die Selbſtbeherrſchung entſpringt ſo zuerſt weſentlich aus
Rückſicht auf andere. Mag der einzelne Menſch im Herzen ſich noch ſo ſehr allen anderen
vorziehen, er darf es, ſagt Ad. Smith in der Theorie der ſittlichen Gefühle, doch nie
eingeſtehen, ohne ſich verächtlich zu machen, er muß die Anmaßungen des Egoismus zu
dem herabſtimmen, was andere nachempfinden können. Es giebt keine Lage des Lebens,
in welcher der Menſch ganz auf Anerkennung der Menſchen verzichten könnte, die er ſelbſt
achtet und hoch hält.
Der Kreis derer, auf die man dabei achtet, deren Anerkennung, Billigung oder
Liebe man wünſcht, kann je nach der Kultur, der Geſellſchaft, der Lebenslage, der Hand-
lung, die in Frage ſteht, ein ſehr verſchiedener ſein. Aber dieſe Anerkennung oder
Billigung iſt für die Mehrzahl der Menſchen eine Hauptquelle ihres Glückes, ihrer
Zufriedenheit. Selbſt der Auswurf der Menſchheit kann nicht ohne ſolche Billigung
leben. Es iſt ohne Zweifel eine der Haupturſachen der größeren Moralität in kleineren
Orten, wo jeder jeden kennt, daß hier Nachbarn, Freunde, Verwandte von jedem
die gewöhnlichen Tugenden des ehrbaren Mannes, des guten Familienvaters, des
ſparſamen Hauswirts fordern. In der großen Stadt, vollends in der Weltſtadt,
entzieht ſich das Privatleben der allgemeinen Kenntnis. Der ſchneidige Offizier, der
pünktliche Beamte, der gewandte Commis wird von den Perſonen, die ſein Schickſal
beſtimmen, nur nach Bruchſtücken ſeines Weſens gekannt und beurteilt. Vollends der
betrügeriſche Börſenſpieler, der wucheriſche Kreditgeber, der Hehler und der Dieb wiſſen
ihre Thätigkeit vielen, mit denen ſie in Berührung kommen, zu verbergen, ſind anderer-
[31]Der Anerkennungs- und der Rivalitätstrieb.
ſeits in den Kreiſen derer, die mit ihnen ein gleiches Gewerbe treiben, vielleicht als die
Geriebenſten geachtet und darum ſtolz auf dieſen Ruf. Er erſetzt ihnen, was ſie an
Anerkennung im übrigen entbehren.
Die beſtändige Rückſicht, ſagt Lotze, auf das, was andere, für uns die Vertreter
des Allgemeinen gegenüber unſerer Individualität, von uns denken werden, vertritt
ſowohl in den erſten hiſtoriſchen Zeiten der Menſchheit als in den Anfängen der perſön-
lichen Entwickelung, endlich auf jenen niedrigen Bildungsſtufen, auf denen ein Teil
unſeres Geſchlechts beſtändig verharrt, mit mehr oder weniger Glück und Vollſtändigkeit
das eigene moraliſche Gewiſſen. Lazarus nennt dieſes ſich Fühlen in einem größeren
Ganzen eine Erweiterung des Selbſtgefühls. Und unzweifelhaft vertritt für alle weniger
entwickelten Individuen dieſes Teilhaben an dem Selbſt- und Ehrgefühl eines geſell-
ſchaftlichen Kreiſes das Selbſtgefühl.
In ſeinem älteren Werke führt Ad. Smith ſogar in übertreibender Weiſe alles
Streben nach Reichtum auf die Anerkennung durch andere zurück. Dieſes Streben erſcheint
ihm nach den idealiſtiſchen Rouſſeauſchen Empfindungen ſeiner Zeit überhaupt ziemlich
thöricht. Der Tagelöhner iſt ihm ſo glücklich wie der Millionär; die Bedürfniſſe der
Natur könne auch der erſtere befriedigen. Was alſo, ſagt er, treibt uns darüber hinaus?
Wir wollen, antwortet er, bemerkt, mit Sympathie, mit Beifall umfangen werden. Der
Arme ſchämt ſich ſeiner Armut; der Beſitz wird nur erſtrebt, um bemerkt zu werden.
Smith berührt hier denſelben Gedanken, den neuerdings die Kulturhiſtoriker ganz richtig
betont haben, welche alle Kleidung aus dem Schmuck und allen Schmuck aus der Abſicht
hergeleitet haben, ſich durch die Abzeichen, Federn, Farben, durch die Tätowierung,
durch die Gürtel und Ringe auszuzeichnen, von anderen ſofort erkannt und als höher
Geſtellte, als Mitglieder einer Sippe, eines Stammes ſich anerkannt zu ſehen.
Wir ſind damit gewiſſermaßen ſchon zu einem anderen menſchlichen Triebe oder
zu einer Abart des Anerkennungstriebes gekommen, zu dem Trieb der Rivalität.
Beruht auf dem Anerkennungstrieb der Beſtand und die Gruppierung der geſellſchaft-
lichen Kreiſe, ſo beruht auf dem Rivalitätstrieb die Bewegung der Geſellſchaft.
Es iſt gewiß das Urſprünglichere, daß der Menſch als Gleicher unter Gleichen,
als Glied eines Ganzen, einer Sippe, eines Stammes, eines Standes, einer Körperſchaft
ſich fühlen will; alle urſprüngliche Geſellſchaftsverbindung und noch heute alle einfacheren
geſellſchaftlichen Beziehungen beruhen darauf. Die feinere Geſelligkeit lebt heute noch
von der Fiktion, die ſich in einem Salon Verſammelnden ſeien gleich und erkennten ſich
als ſolche an. Aber alle Ausbildung der Individualität wie alle kompliziertere Geſellſchafts-
verfaſſung hängt mit dem Triebe, der zunächſt bei den Stärkſten, Begabteſten ſich zeigt,
zuſammen, über dieſe Anerkennung als Gleicher unter Gleichen hinauszukommen.
Indem der Menſch ſeine Gefühle und Vorſtellungen zum Selbſtgefühl zuſammen-
faßt, ſein eigenes Ich der übrigen Welt, den Gliedern ſeiner Familie, ſeinen Genoſſen
entgegenſetzt, entſteht notwendig in ihm die Neigung, dieſen Schnitt zwiſchen ſich und
den übrigen zu benutzen zu einer Erhebung über ſie. Es entſtehen die ſelbſtiſchen Ge-
fühle, die Eigenliebe, die Schadenfreude, der Hochmut, das Beſſerſein- und Beſſerwiſſen-
wollen. Der Knabe freut ſich der ſtärkſte, der Jüngling der tapferſte zu ſein. Die
primitivſten Anfänge einer komplizierteren Geſellſchaftsverfaſſung ſchaffen Häuptlings-,
Führer-, Richter-, Prieſterſtellen, auf Grund deren ſich einzelne über die anderen erheben;
die geſchlechtlichen Beziehungen bringen eine Auswahl der ſchönſten Weiber für die
angeſehenen Männer; die wachſende Habe, der Herdenbeſitz, ſpäter das Grundeigentum
ſchaffen Abſtufungen in der ſocialen und wirtſchaftlichen Lage, die mit den Abſtufungen
der ſocialen Ehre erſt parallel gehen, ſpäter auch getrennt von ihnen als Ziel die
Kraftvolleren locken. Kurz es entſteht nach und nach der Kampf um höhere Ehre,
größeren Beſitz, ſchönere Weiber, das Ringen um höheres geſellſchaftliches oder irgendwie
ſpecialiſiertes Anſehen. Die Rivalitätskämpfe ſowohl der einzelnen als der Gruppen
der einzelnen ſpielen bald eine größere, bald eine geringere Rolle; ganz fehlen ſie in
keiner menſchlichen Geſellſchaft; ſie ſind das Schwungrad des Fortſchritts, erzeugen den
Kampf ums Daſein in ſeinen verſchiedenen Formen.
[32]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Der Erwerbstrieb in den mit ausgebildetem Eigentum wirtſchaftenden Völkern
iſt eine Unterart dieſes allgemeinen Rivalitätstriebes. Wir gehen auf ihn nun noch
etwas genauer ein.
6. Der Erwerbstrieb und die wirtſchaftlichen Tugenden.
- Mandeville, Fable of the bees or private vices public benefits. 1713. —
- Helvetius,
De l’esprit 1758, de l’homme, Oeuvres 1792. — - Bentham, Works 1843. Über Bentham und
die Benthamiten: Held, Sociale Geſchichte Englands 1881, S. 246—287. — - Lotz, Handbuch der
Staatswirtſchaftslehre 1, S. 6—7. 1821. — - Rau, Grundſätze der Volkswirtſchaftslehre. 6. Aufl.
§§ 7 u. 11. 1855. — - Derſ., Bemerkungen über die Volkswirtſchaftslehre und ihr Verhältnis zur
Sittenlehre. Z. f. St. W. 1870.
Schütz, Das ſittliche Moment in der Volkswirtſchaft. Z. f. St. W. 1844. — - Knies, Politiſche
Ökonomie vom Standpunkt der geſchichtlichen Methode. S. 147—168. 1853. 2. Aufl. S. 227—253.
1883. — - Vorländer, Über das ſittliche Princip der Volkswirtſchaft in Rückſicht auf das ſociale
Problem. Z. f. St. W. 1857. — - Schmoller, Grundfr. S. 50 ff. —
- H. Dietzel, Selbſtintereſſe. H. W.
Riehl, Die deutſche Arbeit. 1861, — G. Jäger, Die menſchliche Arbeitskraft. 1878. — - Cohn, Grundlegung der Nationalökonomie. 1885. §§ 217—232. —
- Bücher, Arbeit und Rhyth-
mus. 1896. — - Smiles, Die Sparſamkeit. 1876. —
- Über die wirtſchaftlichen Tugenden iſt die
ganze ethiſche Litteratur zu vergleichen.
17. Dogmengeſchichtliches. So oft über die Urſachen menſchlichen Handelns
ernſthafter nachgedacht worden iſt, haben ſich Denker gefunden, welche alles Handeln,
auch die Tugenden der Menſchen auf die Selbſtliebe zurückführten. Die Sophiſten und
Epikur gingen voraus; ihnen folgte der engliſche Senſualismus, Hobbes und Mandeville,
der mit brutalerer Offenheit als alle anderen die Ableitung des menſchlichen Thuns
aus der Selbſtliebe in ſeiner Bienenfabel vornahm, endlich die franzöſiſchen Materialiſten
des 18. Jahrhunderts, voran Helvetius, der mit ſeltenem Scharfſinn den Wandlungen
des Egoismus im menſchlichen Herzen nachgehend, die Luſt und Unluſt mehr nur in
ihren niedrigeren Sphären verfolgend, der glänzendſte Theoretiker des Egoismus geworden
iſt und auf die ganze geiſtige Atmoſphäre ſeiner Zeit einen erheblichen Einfluß geübt hat.
Die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war an ſich dem Kultus des Individuums
gewidmet, das die einen als boshaftes, nur durch die Geſetze in Zaum gehaltenes Tier,
die anderen als edles herrliches Weſen ſich konſtruierten, das vom Schutt der Über-
lieferung befreit und ſich ſelbſt überlaſſen, nur Gutes vollbringe. Die Beſchäftigung
mit den wirtſchaftlichen Fragen legte eine Betonung der Selbſtliebe überdies be-
ſonders nahe.
Ein ſo feiner Pſychologe und Ethiker, wie Ad. Smith, der im übrigen ein Gegner
dieſer materialiſtiſchen Theorien war, brauchte nun nur in ſeinen volkswirtſchaftlichen
Erörterungen von der natürlichen Neigung jedes Menſchen, ſein eigenes Intereſſe zu
verfolgen, zu ſprechen und optimiſtiſch die guten durchſchnittlichen Folgen dieſer Neigung
zu rühmen, und ein Geſchlecht von Epigonen, voran die engliſchen Empiriſten unter
Benthams Leitung und die etwas ſteifleinenen unphiloſophiſchen deutſchen Kameraliſten
wie Rau und Lotz kamen nun zu einer allgemeinen Theorie, die dahin lautete, daß der
Egoismus, der Eigennutz, das Selbſtintereſſe, der Erwerbstrieb (dieſe keineswegs identiſchen,
aber verwandten Begriffe wurden häufig zuſammengeworfen) die ausſchließliche Grund-
lage der Volkswirtſchaft ſei, daß wenigſtens in unſerer Wiſſenſchaft nur die Folgen
dieſes Triebes zu unterſuchen ſeien. Bentham zieht aus einer Unterſuchung der ver-
ſchiedenen Arten des menſchlichen Glückes die Folgerung, daß die Freude am Reichtum
eine centrale Stellung einnehme, da er die Mittel für alle anderen Freuden darbiete.
Für Senior iſt der Satz, daß jeder Menſch ein Mehr von Wohlſtand mit ſo wenig
Opfern als möglich erreichen will, der Eckſtein der politiſchen Ökonomie, die letzte
Thatſache, über welche nicht zurückgegangen werden könne. Rau erklärt das Verhältnis
der Menſchen zu den ſachlichen Gütern für ein unwandelbares, die Selbſtſucht als
fortdauernde Triebkraft iſt ihm die Vorausſetzung, ohne welche kein einziges volkswirt-
ſchaftliches Geſetz aufgeſtellt werden könne.
[33]Der Erwerbstrieb. Dogmengeſchichte. Entſtehung.
Die Tragweite dieſer Sätze iſt teilweiſe von Rau ſelbſt ſchon etwas eingeſchränkt
worden; andere haben ſie in anderer Art zu modifizieren geſucht. Man hat die Selbſt-
ſucht in die Selbſtliebe oder in das ſog. geläuterte Selbſtintereſſe umgedeutet, das bei
edlen Menſchen alle höheren Lebensziele mitumfaſſe. Man hat den Gemeinſinn, das
Recht und die Billigkeit oder den ſog. Altruismus (die Liebe zu anderen im Gegenſatz
zum Egoismus) als gleichwertige Triebe neben den Erwerbstrieb geſtellt, um alle wirt-
ſchaftlichen Handlungen zu erklären (Hermann, Roſcher, Knies, Sax). Man hat aus
dem Erwerbstriebe einen allgemeinen wirtſchaftlichen Sinn gemacht, der Kraftaufwand
und Erfolg ſtets vergleiche (Dietzel). Oder man hat zugegeben, daß die ſocialen
Erſcheinungen von dem Ganzen der Eigenſchaften der menſchlichen Natur beeinflußt
werden, aber daneben das Verlangen nach Reichtum als ausſchließliche Urſache der
Volkswirtſchaft dadurch zu retten geſucht, daß man die Wiſſenſchaft für eine hypothetiſche
erklärt hat (J. St. Mill), die nur die Folgen dieſes Verlangens zu unterſuchen habe
und deren Ergebniſſe von der Wirklichkeit ſich ebenſo weit entfernten, wie die hypothetiſche
Urſache von der Geſamtheit der Urſachen entfernt ſei.
In all’ dieſen Abweichungen zeigt ſich die Erſchütterung und Unſicherheit der
alten Lehre, ohne daß eine neue, ebenſo anerkannte an die Stelle getreten wäre. Nach
wie vor wird hier das ſog. privatwirtſchaftliche Syſtem auf den Erwerbstrieb zurück-
geführt, dort die ganze Preisunterſuchung an die Vorausſetzung des Eigennutzes geknüpft.
Wir müſſen auch zugeben, daß unſer heutiges und wohl alles Erwerbsleben mit dem
Eigennutz in einer innigeren Verbindung ſteht, als etwa unſer Staats- und Kirchen-
leben. Es wird ſich alſo, um das Wahre zu finden, darum handeln, einfach noch einen
Schritt weiter zurückzugehen, als dies Hermann, Roſcher und Knies gethan, ſich nicht
mit zwei Abſtraktionen, Erwerbstrieb und Gemeinſinn, zu begnügen, ſondern, wie wir
dies bereits begonnen, pſychologiſch und hiſtoriſch zu unterſuchen, was die Triebfedern
des wirtſchaftlichen Handelns überhaupt ſeien, wie der ſog. Erwerbstrieb neben anderen
Trieben ſich ausnehme, wie die bloßen wirtſchaftlichen Triebe ſich verhalten zu den
Eigenſchaften, die wir als wirtſchaftliche Tugenden bezeichnen, wie neben dem Erwerbs-
trieb die Arbeitſamkeit, die Sparſamkeit, der Unternehmungsgeiſt entſtehe.
18. Entſtehung, Entartung, Verbreitung des Erwerbstriebes.
Wir beginnen mit der Frage, hat der Menſch von Haus aus einen egoiſtiſchen Erwerbs-
trieb in dem Sinne, daß er größere Vorräte ſachlicher Güter für ſich anzuhäufen, zu
ſammeln ſtrebt; iſt ein Trieb dieſer Art die primäre Verurſachung alles wirtſchaftlichen
Handelns, d. h. des Handelns, das die Unterwerfung der materiellen Außenwelt
unter die Zwecke des Menſchen erſtrebt, die wirtſchaftliche Bedürfnisbefriedigung im
Auge hat?
Darauf iſt zu antworten, daß die elementaren ſinnlichen Luſt- und Schmerz-
gefühle und das an ſie ſich knüpfende Triebleben, daß ferner die Freude am Glanz und
Schmuck, an Waffen und Werkzeugen, am Erfolg der eigenen gelungenen Thätigkeit un-
zweifelhaft die erſten und dauerhafteſten Veranlaſſungen wirtſchaftlichen Handelns ſind.
Miſcht ſich auch in die früheſte Bethätigung dieſer Gefühle ſchon die Neigung, dieſes
und jenes ausſchließlich dem eigenen Gebrauch vorzubehalten, wie wir es beim Kind
und beim Wilden ſehen, ein eigentlicher Erwerbstrieb iſt weder beim Kind und Jüng-
ling, noch bei all’ den primitiven Stämmen vorhanden, die noch zu keinem größeren
Herden- oder ſonſtigen Vermögen, zu keinem Handel gekommen ſind. Die wirtſchaftliche
Anſtrengung wird urſprünglich weſentlich durch den Hunger veranlaßt, träge Faulheit und
verſchwendender Genuß wechſeln; der unbedeutende Beſitz an Werkzeugen und Waffen
wird als Inſtrument der Selbſterhaltung geſchätzt; aber nicht ſowohl der Vorrat an
ſich, der Beſitz an ſich erfreut, zumal ein größerer kaum nutzbar zu machen wäre, ſondern
der Mann freut ſich ſeines Schmuckes, ſeiner Werkzeuge, ſeiner Waffen, weil ſie ihm
Anſehen und Gelegenheit zu gelungeneren Kraftproben und beſſerem Jagderfolg geben. Mit
der Zunahme der Bedürfniſſe und des Beſitzes, mit der Ausbildung des Thätigkeits-
triebes, mit der wachſenden Geſchicklichkeit fängt eine gewiſſe Gewöhnung an Anſtrengung
und Arbeit an. Der Anerkennungs- und Rivalitätstrieb miſcht ſich ein; der Mann
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 3
[34]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
will nicht als ſchlechter Kämpfer und Jäger verachtet ſein. Die Frauen, die Greife,
die Sklaven widmen ſich wirtſchaftlicher Thätigkeit für andere teils aus Sympathie für
die Ihrigen, teils aus Furcht vor Mißhandlung, nicht aus Erwerbstrieb. Der natür-
liche Trieb jedes rohen Menſchen, die eigenen Intereſſen denen anderer vorzuziehen,
zeigt ſich auf dieſer Kulturſtufe, ſoweit er nicht durch geſellſchaftliche Einrichtungen
unterdrückt iſt, eher noch in dem Streben nach größeren und beſſeren Portionen der
Nahrung und des Trankes, nach ſchöneren Schmuckgegenſtänden, nach dem Ehrenplatz bei
Feſten, als in dem nach einem angehäuften Gütervorrat.
Erſt mit dem Herdenbeſitz, dem Beſitz mehrerer Weiber und Sklaven, noch mehr
ſpäter mit dem Handel und dem Edelmetallbeſitz, mit dem Leihgeſchäft entſteht eine
intenſivere Richtung der menſchlichen Selbſtſucht auf Beſitzanhäufung. Der Vornehme
rühmt ſich ſeiner Rinder und ſeiner Goldringe; ein gewaltiges Kämpfen und Ringen
um die in den Truhen anzuſammelnden Metallſchätze beginnt; die Poeſie der Germanen
iſt nach ihrer Berührung mit der ſüdeuropäiſchen Kultur jahrhundertelang erfüllt von
dem Schatze der Nibelungen. Mord und Gewalt, blutige That und verräteriſche Liſt
wird geprieſen und geehrt, wenn ſie nur Schätze bringt. Erſt ſehr langſam geht der
gewaltthätige Kampf, den der geſteigerte Beſitz unter den einzelnen wie unter den
Stämmen anfangs erzeugt, in das über, was dann innerhalb einer gefeſteten Rechts-
ordnung und unerbittlich ſtrenger Religionsſatzungen und Sittenregeln eine beruhigtere
Zeit als erlaubtes Streben nach Geld und Gut anerkennt. So entſteht der Erwerbs-
trieb bei den Kulturvölkern; er geht Hand in Hand mit der Ausbildung des Selbſt-
gefühls und des Selbſtbewußtſeins, mit der Entſtehung der modernen Individualität.
Die Selbſterhaltung und Selbſtbehauptung, früher viel mehr auf anderes gerichtet,
konzentriert ſich jetzt bei vielen Menſchen auf Erwerb, Gewinn, Vermögensbeſitz. Das
Emporſteigen über andere, die Thätigkeit für die Familie und die Zukunft, der Ehrgeiz
und die Freude an der Macht, der Lebensgenuß und der Kunſtſinn, — alle dieſe Ziele
fordern nun Vermögenserwerb.
Die Ausbildung des Erwerbstriebes iſt eines der wichtigſten Mittel, welche die
Menſchen nach und nach der Barbarei, der Faulheit, dem Leben in den Tag hinein
entziehen. Indem der Sinn ſich mehr darauf richtet, ſtatt augenblicklichen Suchens von
Genüſſen, ſtatt Eſſens und Spielens, überhaupt wirtſchaftliche Mittel zu ſammeln,
wird das Leben zerlegt in die zwei großen einander ſtetig ablöſenden Teile: Arbeit und
Genuß. Die erſte Erziehung zum Fleiß mag durch den Stock erfolgen, die dauernde,
intenſive, innerlich umwandelnde erfolgt durch den Gewinn, welchen erſt der Raub und
die Gewalt, ſpäter aber der Fleiß und die Anſtrengung bringt. Mit der Richtung des
Willens auf erlaubten, rechtlichen Gewinn iſt die Unterdrückung der augenblicklichen
Luſt, die Überwindung des Unbehagens der Arbeit gegeben; es iſt der Anfang des ſitt-
lichen Lebens, den Moment unter die Herrſchaft künftigen Gewinns, künftiger Luſt zu
ſtellen. Der Erwerbstrieb wird ſo zur Schule der Arbeit, der Anſtrengung, er erhebt das
Individuum auf eine ganz andere Stufe des Daſeins, des Denkens, des Sich-Be-
herrſchens; er giebt durch ſeine Erfolge dem Individuum erſt die wahre Selbſtändigkeit
und Unabhängigkeit, die Würde und die Freiheit, zeitweiſe Höherem zu leben. Alle
Kulturvölker haben ſo einen Erwerbstrieb, der dem Wilden, dem Barbaren fehlt. Der
Indianer, welchen ein Rechts- und Ehrgefühl, ein Mut im Ertragen, ein Selbſtgefühl
auszeichnet, das jeden Europäer beſchämt, teilt mit jedem Hungrigen ſein Mahl, und
verachtet nicht bloß den Beſitz überhaupt, ſondern noch mehr die europäiſche Unruhe
und Sorge um den Beſitz: jeder Europäer kommt ihm geizig und habſüchtig vor. Wie
könnt ihr, fragt er, ſo große feſte Häuſer bauen, da das Menſchenleben doch ſo
kurz iſt? Die vollendete Ausbildung aber erhält der Erwerbstrieb erſt da, wo die wirt-
ſchaftliche Eigenproduktion zurücktritt hinter die für den Markt, wo die Mehrzahl der
Menſchen aus einem komplizierten Tauſchmechanismus den größeren Teil ihres Einkommens
empfangen und wo die Beeinfluſſung dieſer Einkommensverteilung durch den Stärkeren,
Klügeren, Fleißigeren dieſem leicht größere Anteile bringt. Es iſt zugleich die Zeit,
in welcher viele der alten, kleinen ſocialen Gemeinſchaften mit ihrer Gemütlichkeit, ihrer
[35]Die Ausbildung und Verbreitung des Erwerbstriebes.
gegenſeitigen perſönlichen Rückſichtnahme ſich auflöſen; ein ſteigender Teil der Wirt-
ſchaftenden ſteht ſich jetzt auf dem Waren- und Arbeitsmarkt in einer gewiſſen abſtrakten
Gleichgültigkeit ſchon deshalb gegenüber, weil man ſich, abgeſehen von den Geſchäfts-
beziehungen, nicht kennt. Es entſteht in dieſen wirtſchaftlichen Kreiſen die moraliſche,
teilweiſe durch das Recht geſchützte Lehre, jeder dürfe ohne Rückſicht auf den Schaden
anderer ſein wirtſchaftliches Intereſſe verfolgen. Es entſteht für die an den Konkurrenz-
kämpfen Teilnehmenden der Erwerbstrieb, wie er in Handelsſtädten die Kaufleute,
Großunternehmer, Spekulanten beherrſcht, wie er auf der Börſe als berechtigt, heilſam
und notwendig angeſehen wird.
Der hiſtoriſchen Entwickelung des Erwerbstriebes entſpricht ſeine geographiſche
Verbreitung. Die ſüdlichen und öſtlichen Völker Europas kennen ihn nicht ſo wie die
nordöſtlichen; am ſtärkſten iſt er in England und Nordfrankreich ausgebildet; in
Deutſchland kennt ihn der Norden mehr, als der Süden. Daß er in den Vereinigten
Staaten, wie in allen Kolonialländern mit klugen, energiſchen Einwohnern hochentwickelter
Raſſe beſonders ſtark zu Hauſe iſt, kommt weſentlich mit daher, daß man dort andere
höhere Lebensziele weniger kennt, als in den Ländern alter Kultur.
Nirgends iſt dieſer Erwerbstrieb über alle Klaſſen der Geſellſchaft gleichmäßig
verbreitet. Händler, Bankier, Großunternehmer haben ihn mehr als die rationellſten
Landwirte; dem Offizier, Geiſtlichen, Beamten fehlt er vielfach nur zu ſehr; der Hand-
werker und Kleinbauer hat erſt langſam und ſporadiſch, je nachdem er rechnen, buch-
führen, ſpekulieren lernt, Teil daran. Die Arbeiter und die unteren Klaſſen überhaupt
haben faſt allerwärts noch eher einen zu geringen Erwerbstrieb. Das ſinnliche Trieb-
leben des Augenblickes iſt noch ſtärker als der Sinn für die Zukunft, als die Selbſt-
beherrſchung, die ſich für die Kinder, für künftige Genüſſe anſtrengt. Wir hatten bis
vor kurzer Zeit ländliche Arbeiter, die nach einer guten Kartoffelernte einige Tage in
der Woche faulenzten. Man mag dieſe ſtumpfe Trägheit teilweiſe auf die erſchöpfende
mechaniſche Arbeit zurückführen, wie ſie die moderne Volkswirtſchaft geſchaffen, mehr iſt
ſie doch bei den ländlichen, als bei den induſtriellen Arbeitern zu Hauſe, die in ihrer
oberen Hälfte heute mit höheren Bedürfniſſen, mit ihrem Eintritt in harte Lohnkämpfe
auch einen kräftigen Erwerbstrieb zu entwickeln beginnen. So roh er da und dort
auftreten mag, ſo liegt darin doch ein unzweifelhafter Fortſchritt.
Der Erwerbstrieb ruht ſo in ſeiner ſucceſſiven Ausbildung 1. auf beſtimmten techniſch-
geſellſchaftlichen Vorausſetzungen, 2. auf beſtimmten moraliſchen Anſchauungen, Sitten und
Rechtsſchranken, und 3. auf den urſprünglichen Trieben und Luſtgefühlen, die in jedem
Individuum thätig, aber bei den verſchiedenen Menſchen einen ſehr verſchiedenen Grad
von egoiſtiſcher Leidenſchaft erreichen. Dieſe Luſtgefühle, der Wunſch nach Lebensgenuß,
Macht und Anſehen ſtehen ſtets mehr oder weniger im Hintergrund. In Zeiten, wo die
Genüſſe des Lebens, der Luxus, der Ehrgeiz wächſt, und an Orten, wo dies geſchieht,
wie in den modernen Großſtädten, nimmt auch der Erwerbstrieb ſtark zu. Aber doch
ſpielen bei vielen, überwiegend vom Erwerbstrieb Geleiteten dieſe Motive keine ausſchlag-
gebende Rolle. Der Reichtum, urſprünglich nur ein Mittel für höhere Lebensgenüſſe, iſt
für ſie zum Selbſtzweck geworden; ſie freuen ſich nicht ſowohl des Beſitzes als des guten
jährlichen Geſchäftsabſchluſſes, ihrer Fähigkeit, anderen im Beſitz zuvorzukommen und
etwa noch der ſocialen Macht, die ihnen der Beſitz giebt, der ſteigenden Abhängigkeit
anderer von ihnen, unter Umſtänden der Möglichkeit, Gutes im großen Stil zu thun.
In den Zeiten der höchſten wirtſchaftlichen Blüte der Völker, welche in der Regel
mit einem hochentwickelten Waren-, Geld- und Kredithandel zuſammenfallen, in welcher
zahlreiche überkommene Schranken der Sitte und des Rechtes fallen, wird leicht der an
ſich berechtigte Erwerbstrieb zu jener fieberhaften Sucht des Erwerbes, die nicht ſowohl
durch eigene Anſtrengung und tüchtige Leiſtung, als durch Ausnutzung anderer, durch
Druck und Überliſtung, durch Schamloſigkeit und Betrug raſch möglichſt viel verdienen
will. Es ſind die Zeiten, in welchen die Millionäre ſcherzen, daß ſie mit den Armeln
das Zuchthaus geſtreift, und die radikalen Arbeiterführer jeden Unternehmer der
3*
[36]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
räuberiſchen Profitwut anklagen. Da herrſcht jene ruheloſe Habſucht, von der Plinius
ſagt, daß ſie alles vernichtet habe, was dem Leben wahren Wert gegeben habe, jene
ungerechte Pleonexie, von der Ariſtoteles ſagt, daß ſie keine Grenzen kenne und die
größten Ungerechtigkeiten begehe, nur um mehr zu haben als andere. Wenn ein naiver
Materialismus in unſeren Tagen jede Art des rückſichtsloſen Erwerbstriebes als das
Schwungrad des Fortſchrittes preiſt, ſo iſt zwar zuzugeben, daß die großen wirtſchaft-
lichen Anſtrengungen und Leiſtungen unſerer Kulturnationen nicht ohne einen ſtarken, ja
rückſichtsloſen Erwerbstrieb möglich wären. Aber ebenſo ſicher ſcheint uns zu ſein, daß
die uberſpannung des Erwerbstriebes bis zur Hartherzigkeit die ſocialen Beziehungen
vergiften, den Frieden in der Geſellſchaft vernichten und durch die erzeugte Gehäſſigkeit
und ſittliche Roheit, durch die entſtehenden Kämpfe den vorhandenen Wohlſtand unter-
graben und verſchütten kann. Es iſt daher die große Frage unſerer Zeit, durch welche
ſittliche Mittel und durch welche ſociale Einrichtungen einerſeits das Maß geſunden
Erwerbstriebes zu erhalten iſt, ohne welches das wirtſchaftliche Streben großer Gemein-
ſchaften (die berechtigte Selbſtbehauptung), die Freiheit der Perſon und die Entwickelung
der Individualität nicht zu denken iſt, und andererſeits doch jene Habſucht und ſociale
Ungerechtigkeit zu bannen wäre, die unſere ſittliche wie unſere wirtſchaftliche Exiſtenz
bedrohen. Die Socialdemokratie glaubt, es ſei nur zu helfen durch Ausrottung aller
Profitmacherei, ſie hofft auf ein goldenes Zeitalter mit Menſchen ohne Egoismus. Der
Hiſtoriker und Geograph wird daran erinnern, daß es mancherlei Volkstypen gebe,
wie z. B. die Madagaſſen, bei denen der Erwerbstrieb viel ſchamloſer, ohne die bei
uns meiſt damit verbundene Energie und wirtſchaftliche Thatkraft, rein als Geiz, als
Habgier, als bloßes Laſter auftrete. Er wird daran erinnern, daß auch der Erwerbs-
trieb im ſpäteren Rom und Athen ſchlimmer war, als bei uns, daß der germaniſche
Erwerbstrieb in Grenzen bleibt, den andere Raſſen nicht kennen, daß manche Kultur-
nationen einen reellen anſtändigen Kaufmannsgeiſt, eine Kaufmannsehre kennen, die in
einer eigentümlichen Verknüpfung des Erwerbstriebes mit höheren Eigenſchaften der Seele
und mit mancherlei Tugenden beſteht. Er wird es alſo für möglich halten, daß der
Erwerbstrieb immer gereinigter auftrete, in einer komplizierteren Weiſe mit anderen
ſittlichen Kräften ſich verbinde, durch höhere Formen des geſellſchaftlichen Lebens nicht
vernichtet, ſondern richtig reguliert werde.
19. Würdigung des Erwerbstriebes. Wir haben im bisherigen nur
vom Erwerbstrieb geſprochen: denn er iſt in der Hauptſache auch von denen gemeint,
welche vorgeben, aus dem Egoismus, der Selbſtſucht, dem Selbſtintereſſe die Volks-
wirtſchaft abzuleiten. All’ das ſind weitere Begriffe, die ſich nicht auf das wirtſchaft-
liche Leben beſchränken, ſich nicht mit dem Erwerbstrieb decken. Der Egoismus und
ſeine Potenzierung, die Selbſtſucht bezieht alles auf das Individuum, hat nur ſich im
Auge, vernachläſſigt alles übrige; es giebt Leute mit ſtarkem Erwerbstrieb, die aber
keine Egoiſten ſind. Das Selbſtintereſſe des Menſchen ſteht im Gegenſatz zum Intereſſe
für andere; das geläuterte Selbſtintereſſe hat aber auch alle höheren Gefühle, beſonders
die für naheſtehende Perſonen, das Vaterland und ähnliches in ſich aufgenommen.
Wir brauchen dabei nicht zu verweilen. Wir haben nur den wirtſchaftlichen Erwerbs-
trieb zu würdigen.
Er iſt, wie wir ſahen, kein urſprünglicher und fundamentaler Trieb, wie etwa
der Selbſterhaltungstrieb; er kann nicht mit einigen anderen klar von ihm geſchiedenen
Trieben den Anſpruch erheben, die Reihe der menſchlichen Triebe zu erſchöpfen. Er iſt
ein ſpätes Ergebnis der höheren Entwickelung des Selbſterhaltungs- und Thätigkeits-
triebes ſowie des individuellen Egoismus, die auf gewiſſer wirtſchaftlicher Kulturſtufe
ihn erzeugen; er wächſt hervor aus den ſinnlichen Bedürfniſſen und dem rechnenden
Sinn für die Zukunft, aus Selbſtbeherrſchung und kluger Anſtrengung. Es hat Jahr-
tauſende wirtſchaftlichen Handelns gegeben ohne ihn. Auch wo er heute ausgebildet
iſt, erhält er ſeine Färbung bei den einzelnen durch eine verſchiedene Verbindung mit
anderen Gefühlen und Trieben; er verknüpft ſich beim einen mit ſtarken ſinnlichen Be-
gierden, beim anderen mit aufopferndem Familienſinn, beim dritten mit Ehrgeiz und
[37]Wirtſchaftliche und ſittliche Würdigung des Erwerbstriebes.
Machtgelüſten; derſelbe Erwerbstrieb iſt hier mit Verſchwendung, dort mit Geiz, hier
mit Energie und Thatkraft, dort nur mit Schlauheit verbunden.
Der Erwerbstrieb iſt keine überall gleiche Naturkraft, er iſt ſtets gebunden und
gebändigt durch gewiſſe ſittliche Einflüſſe, Rechtsſatzungen und Inſtitutionen. Aber
dieſe können zu einer gewiſſen Zeit, in einem beſtimmten Volke, bei einer ſocialen
Klaſſe im Durchſchnitte ſo einheitliche ſein, daß allerdings geſagt werden kann, auf dem
Markte und im Geſchäftsleben werden beſtimmte Menſchengruppen regelmäßig durch ihn,
durch den Trieb, mit möglichſt wenig Opfern viel zu erwerben, beſtimmt. Und darauf
beruht die Möglichkeit, die Preisbildung, die Einkommensverteilung, die Zinsbildung
und ähnliche volkswirtſchaftliche Erſcheinungen unſerer Kulturſtaaten auf den vorher
beſtimmt geſchilderten oder den allgemein angenommenen Erwerbstrieb zurückzuführen.
Man darf nur dabei nie überſehen, daß ſelbſt unter den Kaufleuten derſelben Stadt
dieſer Erwerbstrieb nicht ſtets derſelbe iſt; vollends hat der ſchamloſe Wucherer oder
der harte Faktor einer Hausinduſtrie nicht denſelben Erwerbstrieb, wie der vornehme
reelle Unternehmer, der jeden unrechten und unbilligen Gewinn verſchmäht, ſeinen Kunden
ſtets mit kleinen Dienſten und Gefälligkeiten entgegen kommt, ſich mit ihnen auf dem-
ſelben ſittlich-ſympathiſchen Boden weiß, ſeine Leute gut behandelt.
Auch wenn heute das Feilſchen, Kaufen und Verkaufen und ähnliche Handlungen
auf den Erwerbstrieb zurückgeführt werden können, ſo iſt damit nicht alles wirtſchaft-
liche Handeln, ſo ſind damit nicht alle volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen erklärt. Iſt
etwa die Haus- und Familienwirtſchaft, ſind die Unternehmungsformen, die ſtaatliche
Finanz auf den Erwerbstrieb zurückzuführen? Noch weniger läßt ſich behaupten, daß
das Maß des zunehmenden Erwerbstriebes zugleich das Maß des ſteigenden Reichtums
der Völker ſei. Nur das iſt richtig, daß die zunehmende Ausbildung der Tauſchwirt-
ſchaft und Tauſchgeſellſchaft die ſtärkere Ausbildung des Erwerbstriebes vorausſetzte,
und daß die Steigerung individueller wirtſchaftlicher Energie und Thatkraft in den
letzten Jahrhunderten ohne ihn nicht denkbar wäre.
Darin liegt auch der Maßſtab für ſeine ſittliche Beurteilung. Der wachſende
Erwerbstrieb hat eine ſteigende Zahl von Menſchen erzeugt, die vor allem Vermögen
gewinnen wollen: die Leute mit kräftigem Willen, klugem Unternehmungsgeiſt, harter
Energie, welche oft von Ehrgeiz und Eitelkeit, oft von ſtarken animaliſchen Trieben
beherrſcht, häufig ohne höhere Intereſſen und ohne ſtärkere ſympathiſche Gefühle ſind,
ſpielten eine erhebliche Rolle, wurden vor anderen reich. Gewiß ſind das häufig keine
anziehenden, edlen Perſönlichkeiten; ebenſowenig iſt zu wünſchen, daß ſie ausſchließlich
die Geſellſchaft beherrſchen; aber ſo lange ihre Thatkraft und Energie ſehr viel größer
iſt als ihr Erwerbstrieb, ihre Härte gegen ihre Konkurrenten, Kunden und Arbeiter,
fragt es ſich ſtets, ob ſie der Wohlfahrt des Ganzen nicht mehr dienen, als wenn
an ihrer Stelle edle Schwächlinge und unkluge, geſchäftsunkundige Unternehmer ſtünden.
Überhaupt iſt für alle Klaſſen die Ausbildung des Erwerbstriebes ſo lange ein Fort-
ſchritt, als er die Thätigkeit im ganzen ſteigert, ohne zur Ungerechtigkeit, zur Herzloſigkeit
und Freude an der Mißhandlung der Schwachen zu führen, wie wir ſie als Laſter des
Geizhalſes, des Arbeiterſchinders, des Wucherers kennen.
Es gilt ſo vom Erwerbstrieb, was von allen ſelbſtiſchen Neigungen gilt: ſie haben
ihr Recht im Syſtem des menſchlichen Handelns, wenn ſie einerſeits die Individuen in
ihrer Selbſtbehauptung, in ihrer Geſundheit, ihrer Kraft und Leiſtungsfähigkeit ſtärken
und andererſeits die Grenzen inne halten, die durch die Wohlfahrt des Ganzen geſteckt
ſind, wenn ſie als Teilinhalte des menſchlichen Willens ſich den höheren Zwecken richtig
eingliedern. Der bloße nackte Erwerbstrieb iſt böſe und iſt auch wirtſchaftlich zerſtörend,
ſofern alles höhere wirtſchaftliche Leben in Verbänden ſich vollzieht, die nicht ohne
ſympathiſche Gefühle und ſittliche Einrichtungen exiſtieren können. Die Familienwirtſchaft,
die Unternehmung, das wirtſchaftliche Vereins- und Korporationsweſen, ja ſelbſt der
einfache Markt- und Tauſchverkehr ruhen auf dem Gefühl eines gewiſſen Verbundenſeins,
eines wechſelſeitigen Vertrauens; ſie ſind ohne eine Summe moraliſcher Eigenſchaften,
wie Billigkeit und Gerechtigkeit, nicht möglich. Mindeſtens all’ das, was man als wirt-
[38]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſchaftliche Tugenden bezeichnet, muß ebenſo wie der Erwerbstrieb in einem wirtſchaftlich
voranſchreitenden Volke vorhanden ſein. Und man könnte aus dieſen Tugenden viel
eher verſuchen, pſychologiſch die ganze Volkswirtſchaft abzuleiten, als aus dem Erwerbs-
trieb, zumal aus der centralen und wichtigſten wirtſchaftlichen Tugend, aus der Arbeit-
ſamkeit. Wenn wir im folgenden von ihr ſprechen, dürfen wir nicht vergeſſen, daß die
Betrachtung dieſer wie der anderen individuellen wirtſchaftlichen Tugenden im ganzen
denſelben pſychologiſchen und hiſtoriſchen Prozeß im Auge hat, wie die Unterſuchung des
Erwerbstriebes, nur von einem anderen Geſichtspunkte aus. Auf die weſentlich individuellen
beſchränken wir uns hier, da wir die ſympathiſchen Gefühle und die an ſie ſich knüpfenden
Eigenſchaften teils ſchon erwähnt haben, teils im Zuſammenhange mit den ſocialen Ein-
richtungen, an die ſie ſich knüpfen, erörtern werden.
20. Die Arbeit und die Arbeitſamkeit. Wenn wir unter Arbeit jede
menſchliche Thätigkeit verſtehen, welche mit dauernder Anſtrengung ſittlich-vernünftige
Zwecke verfolgt, ſo können wir zweifeln, ob wir die einzelnen Anläufe des Barbaren, das
Wild zu erlegen oder ſonſtwie Nahrung zu ſuchen, ſchon ganz als Arbeit bezeichnen
ſollen. Von den Tieren legen wir nur denen Arbeitſamkeit bei, welche, wie die Bienen,
ſcheinbar planvoll und andauernd für ihre Lebenszwecke thätig ſind. Der Menſch muß
erſt langſam die Arbeit lernen. In geiſtvoller Weiſe hat Bücher nachzuweiſen verſucht,
daß hiebei in älteſter Zeit der Rhythmus, Muſik und Geſang, vielfach erziehend ein-
gewirkt, dem Menſchen über Ermüdung und Trägheit weggeholfen, ihm die gemeinſame
Arbeit mehrerer erleichtert habe. Er hat damit die alte Wahrheit geſtützt, daß die Aus-
bildung der äſthetiſchen und der ethiſchen Gefühle und Eigenſchaften aufs engſte zuſammen-
hängt. Mit der Seßhaftigkeit, dem Acker- und Gartenbau, welche eben deshalb der
Wilde verabſcheut, beginnt jene größere Mühſal, die das deutſche Wort Arbeit bezeichnet,
beginnt die Notwendigkeit, in feſt geregelten Perioden thätig zu ſein. Aus ſolcher Zeit
ſtammt der Fluch: „Im Schweiße deines Angeſichts ſollſt du dein Brot eſſen“ und die
Regel der ſechstägigen Arbeit auf einen Ruhetag, welche ſeitdem die ganze Welt beherrſcht.
Lange waren bei vielen Völkern überwiegend die Schwächeren gezwungen, die harte
Arbeit des Ackerns, Schleppens, Hüttenbauens zu vollführen: die Weiber und die Knechte.
Es iſt ein großer Fortſchritt, wenn auch die freien Männer hinter dem Pfluge zu gehen
beginnen. Auch thun es nicht ſofort alle Volksgenoſſen; die eigentlich wirtſchaftliche
Arbeit bleibt lange für die Ariſtokraten eine Schande. Und noch heute haben wir
thörichte Parvenüs, verzogene Mutterſöhnchen und eitle Weiber genug, die Faulenzen
für vornehm halten, die nicht einſehen wollen, daß die Faulheit aller Laſter Anfang
und alles Glückes Grab ſei. Die gewöhnliche Ackerbeſtellung in unſeren Klimaten läßt
für die Arbeit noch lange Pauſen zu. Der Bauer alten Schlages kann träge einige
Monate hinterm Ofen ſitzen, er arbeitet nicht nach der Uhr, ſondern nach der Sonne
und der Jahreszeit. Die Hauswirtſchaft aber und das gewöhnliche Gewerbe führen zu
einer Thätigkeit, die Tag für Tag, von früh bis ſpät gethan ſein will. Im Hauſe, in
der Werkſtatt lernt der Menſch intenſiver, gleichmäßiger arbeiten, weil das eine ſich ſtets an
das andere anknüpft, weil Vorräte an künftigen Gebrauchsmitteln hier geſchaffen werden
können, die Freude am häuslichen Herd und am techniſchen Erfolg der Arbeit neue
Reize giebt. Hauptſächlich aber lockt, wie wir ſahen, die Möglichkeit des Verkaufes zur
Arbeit. Die Handelsthätigkeit wird ausſchließlich durch den Gewinn veranlaßt. Die
Arbeit des Kriegers, des Prieſters hat zuerſt auch Beute und allerlei Gewinn neben
der Ehre und der Macht in Ausſicht. In komplizierter Weiſe verbinden ſich die ver-
ſchiedenſten Motive für die Entſtehung und Ausbildung aller höheren Arbeitsthätig-
keit, während für die mechaniſchen Arbeiten, wie ſie mit der Arbeitsteilung das Los
der unteren Klaſſen bleiben, bisher überwiegend entweder der äußere Zwang oder
der Hunger das weſentliche Motiv blieb. Doch darf, wenn man heute ſo vielfach
und mit Recht über eintönige mechaniſche Arbeit und Überarbeit klagt, wenn man
betont, wie viele Menſchen heute gezwungen ſind, eine ihnen innerlich fremde, un-
verſtändliche Arbeit zu verrichten, nicht überſehen werden, daß es ohne ſolche Opfer,
ſeit es eine höhere Kultur mit Arbeitsteilung gab, nicht abging. Es muß nur das
[39]Die Arbeitſamkeit, der Fleiß, die Wirtſchaftlichkeit.
Ziel ſein, dieſe Opfer zu vermindern, möglichſt alle Arbeit ſo zu geſtalten, daß ſie mit
Teilnahme und Verſtändnis, nicht bloß aus Hunger und Not geſchieht.
Der Erziehungsprozeß der einzelnen, der Völker und der ganzen Menſchheit zur
Arbeit iſt trotz der modernen Kehrſeiten einer mechaniſchen Überarbeit ein Weg nach
oben; alles was zur Arbeit zwingt und veranlaßt, iſt beſſer als das Gegenteil, als
Faulheit und Indolenz, enthält Elemente der wirtſchaftlichen und der ſittlichen, der
körperlichen und geiſtigen Schulung. Arbeit iſt planvolle Thätigkeit, ſie beſteht in der
Beherrſchung der wechſelnden Einfälle und Triebreize; ſie iſt ſtets ein Dienſt für Zwecke,
die nicht im ſelben Augenblick, ſondern erſt künftig Gewinn, Lohn, Genuß verheißen.
Jede Arbeit ſetzt Überwindung der Trägheit und der Zerſtreutheit voraus. Der Arbeitende
muß ſich ſelbſt vergeſſen und ſich verſenken in ſein Objekt; die Natur einer Arbeit, nicht
ſeine Luſt ſchreibt ihm Gebote vor. Der Arbeitende muß ſich Zwecken unterordnen, die
er in der Schule, in der Werkſtatt, im vielgliedrigen Arbeitsorganismus oft gar nicht,
oftmals nicht ſofort als heilſam und notwendig einſieht, er muß zunächſt gehorchen und
ſich anſtrengen lernen. Er wird freilich ein um ſo tüchtigerer Arbeiter, je mehr er die
Zwecke begreift, billigt, je mehr es direkt oder indirekt — durch den Lohn und durch
das Gefühl, einem großen Ganzen zu dienen — ſeine eigenen Zwecke ſind, je mehr ſein
Körper und ſein Geiſt durch Vererbung und Schulung für die beſtimmte Art der Arbeit
geſchickt gemacht ſind.
Jede mechaniſche Arbeit hat geiſtige Elemente, kann, wie die des Holzhackers,
Mähers, Steinträgers, geſchickt, klug, überlegt gethan werden; je künſtlicher Werkzeuge
und Maſchinen werden, deſto mehr Umſicht und Verſtändnis erfordert auch die mechaniſche
Lohnarbeit. Auch die rein geiſtige Arbeit hat ihre mechaniſchen Teile, wie der Schrift-
ſteller, der Klavierſpieler oft die Muskeln und Nerven der Arme ruiniert. Die einſeitige
körperliche wie die einſeitige geiſtige Arbeit darf nicht zu viele Stunden des Tages fort-
geſetzt werden, muß mit Erholung, Schlaf und anderer Thätigkeit richtig abwechſeln.
Aber im rechten Maße, von den rechten Schutzmitteln gegen Gefahren umgeben, iſt die
Arbeit in der Regel eine Stärkung des Körpers und des Geiſtes. Die Arbeit giebt, wie
uns die neuere Phyſiologie gezeigt hat, den geübten Körperteilen eine beſſere phyſiſche
Zuſammenſetzung, macht ſie feſter, gegen Ermüdung widerſtandsfähiger, in der Bewegung
unabhängiger, erregbarer. Der arbeitende Menſch, zumal der ſeit Generationen arbeitende,
iſt flinker, rühriger, entſchloſſener, weil er über brauchbarere Knochen, Muskeln und Nerven
verfügt als der träge. Die Nervenerregbarkeit iſt die weſentliche Urſache, daß dem Kultur-
menſchen die ſtete Arbeit Bedürfnis und Freude iſt. In der Arbeit lernt der Menſch
beobachten und gehorchen, er lernt Ordnung und Selbſtbeherrſchung. Nicht umſonſt
verknüpft der Volksmund: Beten und Arbeiten. Nur durch die Arbeit giebt der Menſch
ſeinem Leben einen Inhalt, der ſonſt — bei Hingabe an die elementaren Triebreize —
fehlt. Nur durch die Arbeit lernt der Menſch ſeine Kräfte kennen, ſeine Zeit einteilen,
einen Lebensplan entwerfen. Mit der Übung wachſen die Kräfte, mit den Kräften die
Arbeitsfreude und das menſchliche Glück. In der Arbeit wurzelt alle ſittliche Thatkraft.
Nur die Individuen, Familien, Klaſſen und Völker, die arbeiten gelernt, erhalten ſich;
die, welche ſich der Arbeit entwöhnen, in Arbeitseifer und Geſchicklichkeit zurückgehen,
verfallen. Otium et reges et beatas perdidit urbes.
21. Die anderen wirtſchaftlichen Tugenden. Während wir unter dem
Fleiß die habituelle Richtung des Willens auf eine emſige Arbeitsthätigkeit verſtehen,
bezeichnen wir mit der ſchon oben (S. 3) berührten Wirtſchaftlichkeit jene Eigenſchaft,
die ſich zuerſt in der Hauswirtſchaft entwickelt, dann auf alle wirtſchaftliche, ja überhaupt
in abgeleitetem Sinne auf alle äußere menſchliche Thätigkeit ausgedehnt hat, jenen Sinn,
der ſorgſam die Mittel für einen beſtimmten Zweck zu Rate hält, mit Umſicht an Kräften
und Verbrauch ſpart, ſtets daran denkt, mit den kleinſten Mitteln den größten Erfolg
zu erzielen. Sie iſt eine Eigenſchaft, welche ebenſo ſehr auf genauer Kenntnis und Be-
herrſchung der techniſchen Mittel für einen Erfolg, als auf ſteter Aufmerkſamkeit beruht.
Sie iſt ein Ergebnis der Erfahrung, der Nachahmung des guten Beiſpiels, ſie hängt mit
der ſittlichen Selbſtbeherrſchung wie mit der Verſtandesausbildung zuſammen. Das
[40]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Rechnen und Buchführen, die Vergleichung des Aufwandes mit dem Erfolg in Geldwerten,
die Aufzeichnung jeder Ausgabe und jeder Einnahme iſt nötig, wo ſie ſich einſtellen und
ausbilden ſoll. Die ſittliche Zucht, welche das Leben als ein geordnetes Ganzes auffaßt,
niemals aus dem Stegreif, nach Launen handelt, unverhältnismäßigen Genüſſen nach-
geht, den Verſuchungen der Verſchwendung, der Putzſucht, der Eitelkeit widerſteht, iſt für
die Ausbildung dieſes wirtſchaftlichen Sinnes das wichtigſte. Er iſt die wirtſchaftliche
Tugend der großen Maſſe des Volkes, vor allem des Mittelſtandes. Daß die Wirtſchaft-
lichkeit in den unterſten Klaſſen noch ſo vielfach fehlt, iſt ein wichtiger Umſtand für ihre
wirtſchaftliche Lage. Die Frauen müſſen ſie vor allem haben, weil, mit haushälteriſchem
Sinne ausgegeben, der Thaler doppelt und dreifach ſo weit reicht. Mit dem Erwerbs-
triebe verwandt, fällt ſie doch nicht ganz mit ihm zuſammen, noch iſt ſie nur eine Folge
desſelben. Tauſende, die gar keinen Erwerbsſinn haben, zeichnen ſich durch große Wirt-
ſchaftlichkeit aus. Der Erwerbstrieb iſt mehr die Eigenſchaft einzelner, die Wirtſchaft-
lichkeit iſt oder ſollte die aller ſein.
Die Wirtſchaftlichkeit ſchließt den Fleiß, die Ordnungsliebe, die Geduld, die Be-
harrlichkeit, vor allem aber die Sparſamkeit ein. Die Sparſamkeit beginnt in der
Haushaltung, im Verbrauch; ſie iſt dem Wilden fremd; er iſt immer der größte Ver-
ſchwender, der den Baum fällt, um eine einzige Frucht zu ergreifen, der an einem Tag
verzehrt und verjubelt, was ihn wochenlang ernähren könnte. Die Erziehung zur
Mäßigung, die ſteigende Herrſchaft höherer Gefühle über die niedrigen, der Sieg der
Vorſtellungen über künftige Genüſſe und Erfolge über die des Momentes ſind not-
wendig, damit die Sparſamkeit beginne. Alle Sparſamkeit iſt momentane Selbſt-
verleugnung. Wer ſie üben ſoll, muß die Ausſicht auf einen künftigen Vorteil haben.
Dieſer künftige Vorteil erſcheint fraglich, wenn das erſparte Gut durch Willkürherrſchaft
oder Gewalt bedroht iſt, wenn es dem Sparenden keine anderen Freuden bringt, als ſie
der nicht Sparende ebenfalls genießt, wenn erſparte Vorräte, z. B. ſolche von Lebens-
mitteln, doch raſch verderben. Die Geldwirtſchaft iſt daher eines der wichtigſten Beförderungs-
mittel der Sparſamkeit; die Freude, einen Schatz an Geldſtücken zu ſammeln, wird bald
ein Beweggrund für viele; ſolche Schätze ſind am leichteſten zu verbergen, ſie behalten
für Jahre und Jahrzehnte ihren Wert. Es kann nun auch der ſparen, der das Er-
ſparte nicht in ſeinem Hauſe, im vergrößerten Viehſtand, in Geräten und Linnenzeug
anlegen kann. Noch wichtiger aber war die Ausbildung der Kreditwirtſchaft, haupt-
ſächlich derjenigen Formen des Kapitalanlegens und Zinſengebens, welche dem kleinen
Mann zugänglich ſind, wie die Einrichtung der Sparkaſſen, Genoſſenſchaften, der Ver-
ſicherungskaſſen, der Baugeſellſchaften. Wo derartige Inſtitutionen zumal in Ländern
mit vollſtändiger Rechtsſicherheit allgemein werden, da kann erſt die Sparſamkeit aus
einer Tugend der höheren Klaſſen eine allgemeine Eigenſchaft werden. Immer aber muß
ſie wieder jedem einzelnen Kinde anerzogen werden, immer arbeiten Leichtſinn, Gedanken-
loſigkeit, Genußſucht ihr entgegen. In dem Alter von 15—30 Jahren, wo unverheiratete
Arbeiter am meiſten ſparen könnten, oft das doppelte verdienen, was ſie brauchen, geben
ſie für Getränke und Feſte, für Kleider und andere Genüſſe allzuviel aus. Auch ſpäter
unterliegen ſie zu leicht der Verſuchung unnützer Ausgaben, wenn ſie nicht von einer
tüchtigen Hausfrau beeinflußt werden, wenn ihre Lohnzahlung zu Stunden und an
Orten erfolgt, welche Gelegenheit zu unnötigen Ausgaben bieten.
Die Sparſamkeit wächſt mit der Wirtſchaftlichkeit, mit dem guten Familienleben,
mit dem Sinn für Beſitz, für Sicherung der Zukunft, mit dem Wunſch des geſellſchaft-
lichen Aufſteigens; ſie iſt vor allem aber ein Ergebnis ſittlicher Energie und Spannkraft
und intellektueller Weitſichtigkeit.
Wie die Wirtſchaftlichkeit und Sparſamkeit, der Fleiß und die Arbeitſamkeit mit
dem Erwerbstriebe zuſammenhängen, ohne ſich mit ihm zu decken, ohne eine bloße Folge
desſelben zu ſein, ſo verhält es ſich auch ähnlich mit dem Handels- und Unter-
nehmungsgeiſt, auf den wir zuletzt einen Blick werfen.
Er entſpringt mit den Möglichkeiten des Tauſch- und Handelsgewinnes, nimmt in
dem Maße zu, als in beſtimmten Klaſſen infolge der Arbeitsteilung und des Markt-
[41]Die Sparſamkeit, der Unternehmungsgeiſt.
verkehrs wachſende Chancen ſich bilden, durch kluge Kombinationen einen Erwerb zu
gewinnen. Die bisher erörterten wirtſchaftlichen Tugenden ſind zumal für den kleinen
Unternehmer weſentliche Stützen des Unternehmungsgeiſtes; aber der pſychologiſche
Schwerpunkt liegt anderswo. Der Händler und Unternehmer muß einerſeits eine um-
faſſende Kenntnis des Bedarfes, des Geſchmackes, der Abſatzwege und eine techniſche
Beherrſchung der möglichen und üblichen Produktionsmethoden, andererſeits Organiſations-
talent, Menſchenkenntnis, Kombinationsgabe, eine gewiſſe geſchäftliche Phantaſie, die ſich
ein Bild von der Zukunft machen kann, vor allem aber Mut, Energie, Thatkraft und
Rückſichtsloſigkeit beſitzen. Es ſind nicht die höchſten ſittlichen Eigenſchaften, aber Quali-
täten, welche nur in beſtimmter geſellſchaftlicher Umgebung und Schulung erlernt werden.
Es ſind zu einem Teil dieſelben Eigenſchaften, die für einen Truppenführer, einen
Bürgermeiſter, einen Landrat oder Miniſter nötig ſind. Die Unternehmer ſind die
Offiziere und der Generalſtab der Volkswirtſchaft. Je komplizierter dieſelbe wird, deſto
größer ſind die Anforderungen an ſie. Und zwar ſteigen ſie faſt nicht ſo ſehr in Bezug auf
Kenntniſſe und Geſchicklichkeit, als auf den Charakter. Und wenn es auch nur beſtimmte
Seiten desſelben ſind, die in erſter Linie gefordert werden, wenn andere weiche und
edlere Seiten des ſittlichen Charakters in einer Zeit harten Konkurrenzkampfes ſogar
dem Unternehmer ſchädlich ſein können, ſo ſind doch der energiſche, wagende Mut, die
Fähigkeit, Hunderten zu befehlen und ſie mit Gerechtigkeit in Ordnung zu halten, die
findige Entſchloſſenheit, neue Abſatzwege zu eröffnen, ſittliche und männliche Charakterzüge.
Ohne dieſe hat es bis jetzt keine höher entwickelte Volkswirtſchaft gegeben und
wird auch in Zukunft die Leitung der wirtſchaftlichen Geſchäfte nicht möglich ſein.
7. Das Weſen des Sittlichen.
- Jodl, Geſchichte der Ethik in der neueren Philoſophie. 1, 1882. 2, 1889. —
- Adam
Smith, Theory of moral Sentiments. 1759. Deutſch 1770 u. 1791. — - Hegel, Grundlinien der
Philoſophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswiſſenſchaft im Grundriß. 1821. 3. Aufl. 1854. — - Schleiermacher, Syſtem der Sittenlehre. 1835. —
- Herbart, Allg. praktiſche Philoſophie, Werke
Bd. 8. — - Hartenſtein, Die Grundbegriffe der ethiſchen Wiſſenſchaften. 1844. —
- Herbert Spencer,
Die Thatſachen der Ethik. Deutſch von Vetter. 1879. — - Steinthal, Allgem. Ethik. 1885. —
- Wundt, Ethik. 1886. —
- Paulſen, Syſtem der Ethik. 2. Aufl. 1891. 2 Bde. —
- G. Simmel,
Einleitung in die Moralwiſſenſchaft. 1892—93.
Lippert, Die Religionen der europäiſchen Kulturvölker. 1881. — - Pfleiderer, Die Religion,
ihr Weſen und ihre Geſchichte. 1869.
Wir haben das Weſen des Sittlichen ſchon in unſeren bisherigen Betrachtungen
wiederholt berührt. Wir haben die Sprache als das Inſtrument kennen gelernt, das
die Menſchen denken lehrte und ſie zu geſellſchaftlichem Daſein erhob. Wir ſahen, daß
mit dem unterſcheidenden Denken eine Wertung, Ordnung und Hierarchie der Gefühle
und der Triebe entſteht, daß die Triebe, und beſonders die höheren, durch ihre Regu-
lierung und richtige Einfügung in das Syſtem des menſchlichen Handelns zu Tugenden
werden. Von da iſt es nur ein Schritt bis zur Erkenntnis, daß die Rückwirkung der
reflektierenden Werturteile auf unſere Gefühle und Handlungen uns zu ſittlichen Weſen
mache, uns jenen Adelsbrief gebe, durch den wir gleichſam zu Gliedern einer höheren
Welt werden.
Aber wir haben hier doch noch etwas näher das Weſen des ſittlichen Urteils und
des ſittlichen Handelns zu unterſuchen, über die ſittliche Entwickelung und ihre Zucht-
mittel uns zu verſtändigen und uns klar zu machen, inwiefern das Sittliche die Grund-
lage und die Vorausſetzung aller geſellſchaftlichen Organiſation, alſo auch der volks-
wirtſchaftlichen ſei.
22. Das ſittliche Urteil und das ſittliche Handeln. Das ſittliche
Denken beſteht ſtets in einem Urteil, daß etwas gut oder böſe ſei; das ſittliche Handeln
in einer thatſächlichen Bevorzugung deſſen, was wir für das Gute halten. Die letzte
Erklärung des Sittlichen kann immer nur eine pſychologiſche ſein: wie kommen wir zu
ſittlichen Urteilen und ſittlichem Handeln? Dabei kann die Rückwirkung anderer Menſchen
[42]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
und der Welt auf uns eine noch ſo große Rolle ſpielen, verſtanden haben wir das
Sittliche nur, wenn wir es als das notwendige Ergebnis unſeres inneren Seelenlebens
begreifen.
Die körperliche Ausſtattung des Menſchen, ſeine Hand, ſein Auge, ſeine feineren
Muskeln haben ihm ermöglicht, ſein Triebleben zu anderen Ergebniſſen, als das Tier
es vermag, zu verwerten. Durch feinere Wahrnehmung und ſehr viel zahlreichere Vor-
ſtellungen lenkt er ſeine Thätigkeit auf höhere Ziele; ſchon indem er ſich Nahrung und
Kleidung mit weiterem Blick, mit Schonung, mit Selbſtbeherrſchung bereitet, lernt er
Beſonnenheit, d. h. er hemmt, auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet, momentane Triebe, er
beherrſcht Gefühle, die im Augenblick hinderlich wären. Er lernt ſo durch die Arbeit
ſich ſelbſt beherrſchen, er läßt reflektoriſche Bewegungen nicht zum Ausbruch kommen;
er ſammelt ſeine Aufmerkſamkeit auf beſtimmte Vorſtellungsreihen, die er zuſammenwirken
läßt, und erreicht ſo mit relativ einfachen Mitteln außerordentlich viel. Auf derſelben
Leiter ſteigt der Menſch ſo zum Werkzeug, zur Arbeit wie zur Sittlichkeit empor. Alles
ſittliche Handeln iſt zweckmäßiges Handeln. Aber ſobald neben die niederen ſinnlichen
die höheren und ſocialen Ziele getreten ſind, ſo begreifen wir mehr und mehr nur das
Handeln im Sinne der letzteren unter dem Sittlichen und ſetzen das zweckmäßige Handeln
auf dem erſteren Gebiete als das Nützliche dem Sittlichen entgegen. Die Zweckmäßigkeit
der Natur erhebt ſich ſo im nützlichen und ſittlichen Handeln auf ſeine höheren Stufen.
Indem der Menſch die niedrigen Zwecke den höheren unterordnet, die Wohlfahrt in jenem
höheren Sinne anſtrebt, die auf das Ganze gerichtet iſt, handelt er gut.
Wie gelingt ihm aber die Unterſcheidung von gut und böſe, wenn er vor der
Wahl ſteht, wenn er in jedem Momente von verſchiedenen Möglichkeiten die richtige, von
verſchiedenen Zwecken den guten wählen ſoll? Die Erkenntnis, die Weisheit, ſagt
Sokrates muß ihm den Weg weiſen. Und gewiß giebt es keinen ſittlichen Fortſchritt,
keine Möglichkeit, das Gute zu wählen, ohne zunehmende Erkenntnis der Zuſammen-
hänge, der Kauſalverbindungen, der Zwecke und der ihnen dienenden Mittel, ohne Vor-
ſtellung von den Folgen des guten Handelns in der Zukunft. Aber die Erkenntnis
giebt nicht an ſich die Kraft der richtigen Entſcheidung, des guten Handelns. Das
höhere Gefühl, das den Wert des Guten und des Beſſeren findet, mit impulſiver Kraft
dafür entſcheidet, giebt den Ausſchlag. Die Freude, unter den möglichen Handlungen
nicht die ſchlechte, ſondern die gute zu thun, hebt uns über Zweifel und Verſuchung
hinweg, ſie durchglüht und elektriſiert uns, ſie befeſtigt die Kraft, in ähnlichen Fällen
wieder gut zu handeln. Aber dieſes Gefühl erwächſt und ſtärkt ſich erſt im Zuſammen-
hang mit unſerer Beobachtung der Handlungen dritter Perſonen.
Es wird, je weniger unſer ſittliches Gefühl und Urteil noch entwickelt iſt, uns
viel leichter, beim Anblick der Handlungen dritter zu ſagen, das iſt gut, das iſt böſe.
Der Menſch fällt bei der Beobachtung der Fehltritte eines anderen viel ſicherer als bei
ſeinen eigenen das Urteil: du thuſt Unrecht, verdienſt Strafe. Wir haben bei ſolchem
Anblick von der mißbilligten Handlung keinen augenblicklichen Vorteil, wie in dem Fall,
in welchem wir ſelbſt der Verſuchung ausgeſetzt ſind. Wir haben von der gebilligten
Handlung die reine Freude des Mitempfindens, von der gemißbilligten die volle Unluſt
der Entrüſtung. Auf dieſem Mitklingen und Anklingen der Thaten und der Motive
dritter in unſerer eigenen Bruſt, auf dieſen ſympathiſchen, zu Freude und Vergeltung
anregenden Gefühlen beruht weſentlich die Ausbildung der ſittlichen Gefühle, des ſitt-
lichen Urteils und der Fähigkeit, ſittlich zu handeln. Je energiſcher und je regelmäßiger
wir die Handlungen anderer der ſittlichen Beurteilung unterwerfen, deſto mehr wird
ſich uns durch die notwendige Einheit alles Denkens die Frage aufdrängen: ſollen wir
nicht denſelben Maßſtab, wie auf andere, auf uns anwenden? Wir werden uns daran
erinnern, daß andere uns ſo meſſen werden, wie wir ſie. Wir werden ſelbſt bei geheimen
Handlungen uns fragen, was die Welt, die Freunde, die Nachbarn dazu ſagen würden.
Der Menſch lernt ſo im Spiegel der Mitmenſchen ſich ſelbſt erſt richtig beurteilen. Er
wendet notwendig die Reflexionen, mit denen er die Handlungen und Motive anderer
begleitet, auf ſich an; dieſelben Gefühle der Billigung und Mißbilligung ſtellen ſich
[43]Weſen und hiſtoriſche Bedingtheit des Sittlichen.
bezüglich des eigenen Handelns und Empfindens ein. Nur indem der Menſch das Gute,
was er von anderen fordert, auch von ſich verlangt, befriedigt er ſein Denken, gewinnt
er Achtung vor ſich ſelbſt. So erwächſt nach und nach in der eigenen Bruſt jener
unparteiiſche und ſtets völlig unterrichtete Zuſchauer, der auf all’ unſere Motive, auf
all’ unſer Handeln reagiert, das Gewiſſen, das mit unnachſichtiger Strenge und mit im-
perativem Charakter uns ermahnt, nach dem Guten und Edeln, nach Ehre und Würde
des Charakters zu ſtreben. Es entſtehen ſo durch den Widerſtreit zwiſchen Gewiſſen
und augenblicklichen Triebreizen die zwei Seelen in jeder Bruſt, von denen Plato wie
Goethe reden, jene zwei Gruppen von Antrieben, die im ewigen Kampf den Inhalt alles
Menſchenlebens und aller Geſchichte ausmachen. Der Kampf kommt niemals ganz zur
Ruhe; in ewiger Oscillation bewegen ſich niedrige elementare Vorſtellungen und Impulſe
neben den höheren, ſittlich mehr gebilligten auf und ab in unſerer Seele. Aber die höheren
werden doch nach und nach in dem Maße zur vorherrſchenden und überwiegenden, ja
ausſchließlich bewegenden Kraft in uns, als ſie durch Vererbung und Anlage, durch
Erziehung und Übung geſtärkt werden, als der Gedankenzug und die Gedankenverbindungen
immer wieder nach dieſer Seite geführt, durch verſtandesmäßige Ausbildung geklärt, zur
Gefühlsmacht geworden ſind, als durch Gewohnheit, Fertigkeit und Sicherheit im Wollen
ein ſittlicher Charakter ſich gebildet hat.
23. Die hiſtoriſche Entwickelung des Sittlichen und ihre Ziele.
Das Sittliche iſt ſo ſtets ein Werdendes; die ſittliche Entwickelung der Individuen, der
Völker, der Menſchheit ſteht nie ſtill. Die Wahrnehmung alſo, die ſchon die Sophiſten,
dann Hobbes und Locke machten, daß das Sittliche bei verſchiedenen Völkern und zu
verſchiedener Zeit ein verſchiedenes geweſen, die Wahrnehmung, welche uns die heutige
geographiſche Aufſchließung der Erde noch nachdrücklicher beſtätigt hat, wird uns nicht
überraſchen. Nur das wäre auffallend, wenn es, wie Lubbock meint, Stämme ohne
ſittliches Urteil gäbe. Das iſt aber nicht der Fall. Denn die Vorſtellungen von gut
und böſe, von zu billigenden und zu mißbilligenden Handlungen fehlen nirgends ganz.
Sie haben nur notwendig einen verſchiedenen materiellen Inhalt, je nach den geſellſchaft-
lichen und kulturellen Vorausſetzungen, unter welchen die Menſchen leben, je nach der
Ausbildung der ſittlichen Gefühle und des Denkens. Beim Übergang zu anderen Lebens-
bedingungen muß den einen noch für gut gelten, was den anderen ſchlecht und ver-
werflich ſcheint. Wer den wahren Kauſalzuſammenhang von Handlung und Wirkung,
von komplizierten geſellſchaftlichen Einrichtungen nicht kennt, wird ſittlich anders urteilen,
als wer ihn durchſchaut. Das rohe ſittliche Gefühl nimmt keinen Anſtoß an dem, vor
was das verfeinerte ſchaudert. So muß das ſittliche Urteil ſtets ſich ändern; aber da
immer neben dem Wechſel der äußeren Verhältniſſe die Vervollkommnung unſerer Kennt-
niſſe und Vorſtellungen und die Veredelung unſerer Gefühle an der Umbildung arbeitet,
ſo werden wir einen Fortſchritt auf dieſer Bahn annehmen können, ſo werden wir hoffen
können, daß das ſittliche Urteil die Zwecke immer richtiger werte.
Wenn der Buſchmann es als gute That preiſt, daß er das Weib eines anderen
ſich gewaltſam angeeignet, als böſe That verurteilt, wenn ein anderer ihm ſeine Frau
raubt, ſo beweiſt das ſo wenig einen gänzlichen Mangel ſittlichen Urteils, als wenn
man in Sparta die Jünglinge hungern ließ und ſie zum Stehlen anleitete, das un-
beſtraft blieb, wenn ſie ſich nur nicht ertappen ließen. Es hat einſt für berechtigt ja
notwendig gegolten, einen erheblichen Teil der neugeborenen Kinder und die Greiſe zu
töten, einem Baumfrevler die Gedärme aus dem Leibe zu winden, um den Baum ein-
zuwickeln, dem angeſehenen fremden Gaſtfreund Frau und Tochter zum Gebrauch anzu-
bieten, Scharen von Sklaven und Weibern beim Tode des Häuptlings zu verbrennen.
Heute erſcheint uns dasſelbe unſittlich und barbariſch. Aber die Not des Lebens, der
Glaube, nur ſo den Geiſtern und Göttern zu gefallen, ließen meiſt ſolche Bräuche als
gut und zweckmäßig erſcheinen. Nur wenn wir die geſamten äußeren Lebensbedingungen
und die geſamten Kauſalvorſtellungen und religiöſen Ideen eines Stammes und Volkes
kennen, werden wir verſtehen, wie das nie ruhende ſittliche Werturteil beſtimmte Ge-
[44]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
pflogenheiten und Sitten billigte, für lebensförderlich, zweckmäßig und gut hielt. Auch
zur Zeit, als es Sitte war, daß die Mutter einen Teil ihrer Kinder erwürgte, gab es
Mutterliebe und Anfänge reinerer Empfindungen; aber ſie waren zunächſt von anderen
Gefühlen zurückgedrängt; religiöſe Vorſtellungen von der Notwendigkeit, die Erſtgeburt
den Göttern zu opfern, mag da, Hunger und Not, die Lebensfürſorge auf flüchtiger
Wanderung, das Intereſſe der Familie und des Stammes mag dort überwogen haben,
eine ſolche Sitte zu erzeugen, welche dann als das Gute, das Gebilligte im Stamme
galt. Es entſpricht einem rohen Zeitalter, zunächſt nur Tapferkeit, Liſt, Verwegenheit
als Tugenden anzuerkennen, ſpätere Epochen ſetzen andere Eigenſchaften daneben. Auch
die ſprachliche Thatſache, daß die für gut und böſe gebrauchten Worte bei den meiſten
Völkern urſprünglich ſinnliche und phyſiſche Vorzüge, erſt ſpäter moraliſche und geiſtige
bezeichneten, daß die virtus des Römers in älteſter Zeit nicht Tugend, ſondern Kriegs-
tüchtigkeit bedeutete, beweiſt nur, daß das ſittliche Urteil ein werdendes iſt, nicht daß
es irgendwo ganz fehlte.
Jede Zeit und jedes Volk lebt unter beſtimmten äußeren Bedingungen, die eine
Reihe von Zwecken und von Handlungen als die für Individuen und Geſamtheit not-
wendigſten beſtimmen; ſie müſſen bevorzugt werden, wenn das Individuum und die
Gattung beſtehen ſoll; ſie müſſen an andere Stelle rücken, ſobald die äußeren Lebens-
bedingungen andere werden. Auch jeder wirtſchaftliche Zuſtand ſteht unter dieſer Voraus-
ſetzung: die wirtſchaftlichen Eigenſchaften und Handlungen gelten als gut, welche nach
Lage der Dinge die dauernde Wohlfahrt der einzelnen und der Geſellſchaft am meiſten
fördern. Dabei mögen Aberglaube, falſche Kauſalitätsvorſtellungen, die Intereſſen der
Machthaber in die konventionelle Feſtſtellung deſſen, was für gut gilt, noch ſo ſehr
eingreifen, das ſittliche Werturteil im ganzen wird doch ſtets die wichtigeren und höheren
Zwecke voranſtellen, es wird fordern, daß die Luſt des Augenblickes dem Glücke des
folgenden Tages hintangeſtellt werde, daß das Individuum nie ſich als einzigen Selbſt-
zweck, ſondern als Glied der Sippe, der Familie, des Stammes betrachte. Wenn das
reflektierende Denken und die höheren Gefühle ſich ſtärker entwickeln, ſo beginnt man das
Leben des Individuums als ein Ganzes aufzufaſſen, die Jugend als Vorſchule des
Mannesalters zu betrachten, ſie durch ſtrenge Übung und Zucht zu bändigen; was dem
Leben im ganzen Bedeutung, Inhalt und Glück verleiht, gilt nun als das Gute. In
dem Maße, als etwas größere geſellſchaftliche Verbindungen entſtehen, erſcheint als das
ſittlich Gute nunmehr das, was den ſocialen Körper und ſeine Wohlfahrt fördert. Ent-
ſteht endlich im Menſchen die Ahnung eines Zuſammenhanges aller menſchlichen Geſchicke
mit einer höheren Weltordnung, das demütige Gefühl der Abhängigkeit unſeres armen
Menſchenlebens von einer göttlichen Weltregierung, ſo wird dadurch notwendig auch
das ſittliche Werturteil wieder ein anderes als früher. Nun erſcheint dem Menſchen als
gut, was die Gottheit gebietet, was ihn in das richtige Verhältnis zu ihr bringt. Kurz,
jedes Princip ſittlicher Wertſchätzung von Handlungen baut ſich auf beſtimmten materiell-
techniſchen, geſellſchaftlichen und pſychologiſch-geſchichtlichen Vorausſetzungen auf. Die
ethiſche Vorſtellungswelt erſtreckt ſich von der ſinnlichen Luſt des individuellen Lebens
durch zahlloſe Glieder hindurch bis zur Menſchheit, zum Weltganzen, zur Ewigkeit.
Das Gute hat kein ruhendes, ſondern ein ſich ſtetig vervollkommnendes Daſein. Der
nie ruhende Sieg des Höheren über das Niedrige, des Ganzen über das Partielle macht
das Weſen des Guten aus.
Jede Zeit hat ſo ihre Pflichten, ihre Tugenden, ihre ſittlichen Zwecke. Die all-
gemein anerkannten ſittlichen Gebote, mit welchen das ſittliche Werturteil einer Zeit dem
einzelnen gegenübertritt, ſind die Pflichten; die durch ſittliche Übung erlangten Fertig-
keiten, im Sinne der Pflicht zu handeln, ſind die Tugenden; die Zwecke, auf die das
ſittliche Streben gerichtet iſt, ſind die ſittlichen Güter. Und jede Zeit und jedes religiöſe
und philoſophiſche Moralſyſtem beſtimmt ſie nicht nur an ſich, grenzt ſie vom natür-
lichen Handeln und Geſchehen, vom reinen Triebleben, vom ſittlich gleichgültigen Handeln
ab, ſondern ſtellt eine Wertordnung der Zwecke, der Tugenden, der Pflichten her. Einem
Zeitalter gilt die Tapferkeit, einem anderen die Gerechtigkeit, einem dritten die Abtötung
[45]Die wachſenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen.
der Sinnenwelt als höchſte Tugend. Dem einen gilt Schmerzloſigkeit, dem anderen
Thätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinweſen als das höchſte Gut.
Trotz aller dieſer Abweichungen hat die gleiche Menſchennatur, die gleiche geſell-
ſchaftliche Entwickelung und die gleiche Ausbildung der Ideenwelt bei allen höher
ſtehenden Völkern eine merkwürdige Übereinſtimmung der geforderten Pflichten, Tugenden
und Güter erzeugt. Eine Erfahrung von Jahrtauſenden hat immer mehr dieſelben
Handlungen, dieſelben Gefühle als die notwendigen Bedingungen des Glückes der ein-
zelnen, wie der Wohlfahrt der Geſellſchaft aufgedeckt. Bei allen Völkern arbeiten ſich
nach langen Irrwegen dieſelben Ideale durch, die in relativ wenigen und einfachen
Sätzen und Ideen ſich zuſammenfaſſen laſſen. Sie ſind ebenſo ſehr ein Ergebnis unſerer
ſteigenden Erkenntnis der Welt und der Menſchen, als ein Produkt der ſittlichen Zucht,
der Veredelung unſeres Gemütslebens. Behaupte und vervollkommne dich ſelbſt; liebe
deinen Nächſten als dich ſelbſt; gebe jedem das Seine; fühle dich als Glied des Ganzen,
dem du angehörſt; ſei demütig vor Gott, ſelbſtbewußt aber beſcheiden vor den Menſchen.
Derartiges wird heute in allen Weltteilen und von allen Religionen gelehrt. Und
überall ruht der Beſtand der Geſellſchaft darauf, daß dieſe ſchlichten und kurzen Sätze
zur höchſten geiſtigen Macht auf Erden geworden ſind.
24. Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher Tadel, ſtaatliche
Strafen, religiöſe Vorſtellungen. Wie kam es aber, daß dieſe Sätze zur
höchſten Macht auf Erden wurden? Die ſittlichen Urteile entſtanden und entſtehen immer
wieder auf Grund der geſchilderten pſychiſchen Vorgänge; aber wie wir dabei ſchon der
Mitwirkung der Geſellſchaft gedenken mußten, ſo tragen geſellſchaftliche Einrichtungen
und pſychiſche Preſſionsmittel, die aus den geſellſchaftlichen Zuſammenhängen ihre Kraft
ſchöpfen, dazu bei, die Wirkung dieſer Urteile zu ſtärken, im Gemütsleben der Menſchen
jene ſtarken Emotionen hervorzurufen, die zunächſt viel mehr als kluges Überlegen und
Einſicht in den geſellſchaftlichen Nutzen oder den künftigen eigenen Vorteil die Menſchen
auf der Bahn des Sittlichen vorangebracht haben.
Die ſocialen Preſſions- und Zuchtmittel, die wir meinen, ſind einfach und bekannt:
ſie entſpringen der Furcht vor Tadel und Rache der Genoſſen, der Furcht vor der
Strafgewalt der Mächtigen und Fürſten, der Furcht vor den Göttern. Es iſt, wie
H. Spencer ſagt, eine dreifache Kontrolle, unter welcher die menſchlichen Handlungen
ſtehen, ſo weit wir die Geſchichte zurück verfolgen können. Wir haben ſchon im bisherigen
Gelegenheit gehabt, ſie teilweiſe zu berühren, hauptſächlich bei Erörterung des An-
erkennungstriebes (S. 30) die Furcht vor der tadelnden Umgebung erwähnt.
Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entſteht, die Führung im
Kriege übernimmt, die Feigen beſtraft, die Tapferen belohnt, beſteht in der primitivſten
Geſellſchaft die Furcht vor Nichtanerkennung und Ausſchluß aus der Sippe und
dem Stamm, die Gefahr der rächenden Nemeſis von Verwandten, wenn ein Frevler
einen Stammesgenoſſen aus anderem Geſchlecht erſchlagen hat. Nicht im Widerſpruch
mit dem ſittlichen Werturteil, den Gefühlen der Sympathie und Vergeltung, ſondern
eben aus ihnen heraus wachſen die entſprechenden Übungen und Gepflogenheiten der
Blutrache, der Ausſtoßung, die dann wieder mit großer Macht auf die Einbildung und
die Gefühle zurückwirken. Vorſtellungen künftiger Schmerzen und künftiger Freude
werden ſo mit größtem Nachdruck vor die Seele geführt, daß ſie dauernd die einzelnen
und die Geſellſchaft beherrſchen.
Neben dieſe niemals verſchwindende, nur ſpäter in milderen Formen auftretende
Kontrolle der Nachbarn und Genoſſen tritt nun mit der Ausbildung einer öffentlichen
Gewalt, eines Häuptlings- und Königtums, eines kriegeriſchen Führertums die Macht
der Staatsgewalt. Es iſt zuerſt ein roher Despotismus, zuletzt eine feſt durch das Recht
umgrenzte oberſte, vielleicht ganz unperſönliche Befehlsbefugnis, die Vorſchriften erläßt
und ſtraft; immer ruht ſie auf Machtmitteln aller Art, kann den Widerſtrebenden
zwingen, einſperren, töten; der einzelne muß ſich ihr und ihren Geboten unterwerfen;
die ſtaatliche Zwangsgewalt mit ihrem Syſtem von Strafen und Zwangsmitteln, von
Auszeichnungen und Ehren wird gleichſam das feſte Rückgrat der Geſellſchaft; die Bürger
[46]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
wiſſen es nicht anders, als daß ſie unter dieſer zumal in alten Zeiten barbariſch ſtrafenden
Gewalt ſtehen, und auch heute iſt die Strafgewalt die ultima ratio, welche das Gute
und damit die Geſellſchaft aufrecht erhält.
Der äußere Zwang zu ſittlichem Verhalten, der mit der Rute des Vaters und
Lehrers beginnt und durch alle Zwangsveranſtaltungen der Geſellſchaft und des Staates
hindurch mit der Zwangspflicht endigt, eventuell ſein Leben fürs Vaterland zu laſſen,
bringt zunächſt nur ein äußerlich legales Verhalten in der Mehrzahl der Fälle zuwege,
keine innere Sittlichkeit, aber er beſeitigt die direkten Störungen der ſittlichen Ordnung,
er gewöhnt die Menge daran, das Unſittliche zu meiden, er erzieht durch Gewöhnung
und Vorbild, er bringt einen äußeren Schein der Anſtändigkeit und Tugend hervor, der
nicht ohne Rückwirkung auf das Innere bleiben kann, in Verbindung mit der Furcht
vor geſellſchaftlichem Tadel auch innerlich die Gefühle veredelt.
Noch mehr aber vollzieht ſich die innerliche ſittliche Umbildung durch die religiöſen
Vorſtellungen, ſo grob ſinnlich ſie anfangs ſind, ſo ſehr ſie lange ſich äußerer ſtaatlicher
Zwangsmittel bedienen. Das letzte Ziel des religiöſen Kontrollapparates iſt doch, die
Menſchen in ihrer innerſten Geſinnung zu ändern. Die Religionsſyſteme waren das
wichtigſte Mittel, das ſinnlich-individuelle Triebleben zu bändigen. Die religiöſen Vor-
ſtellungen ergriffen das menſchliche Gemüt mit noch ganz anderer Gewalt als die beiden
anderen Zuchtmittel. Die zitternde Furcht des naiven Urmenſchen vor dem Überſinnlichen
iſt einer der ſtärkſten, wenn nicht der ſtärkſte Hebel zur Befeſtigung der ſittlichen Kräfte
und der geſellſchaftlichen Einrichtungen geweſen.
Die älteſten religiöſen Gefühle und Satzungen entſprangen den Vorſtellungen über
die Seele, ihre Wanderungen im Traume, ihr Fortleben nach dem Tode; die Seele des
Toten könne, ſo glaubte man, ihren Sitz im Stein, im Baum, im Tiere wie im Leichnam
ſelbſt nehmen; der Totenkultus, die Sitte des Begrabens, das Opfern für die Toten
entſprang aus dieſen Vorſtellungen; die toten Könige und Häuptlinge erſchienen, wie
die ganze mit Geiſtern erfüllte Natur, als Mächte der Finſternis oder des Lichtes, denen
man dienen, opfern, ſich willenlos unterordnen müſſe, deren Willen die Zauberer und
Prieſter erkundeten und mitteilten. So entſtanden prieſterliche, angeblich von den Geiſtern
und Göttern diktierte Regeln, meiſt urſprünglich Regeln der geſellſchaftlichen Zucht, der
Unterordnung des Individuums unter allgemeine Zwecke, welche Millionen und Milliarden
von Menſchen veranlaßten, dem irdiſchen Genuſſe zu entſagen, die unmittelbaren, nächſt-
liegenden individuellen Vorteile den Göttern oder einer fernen Zukunft zu opfern. Nicht
aus Überlegung des eigenen oder geſellſchaftlichen Nutzens handelten ſie ſo, ſondern weil
ein überwältigendes Gefühl der Demut und der Furcht vor der Hölle und ihren Strafen
ſie nötigte, die Gebote der Götter höher zu achten als ſinnliche Luſt oder eigenen Willen,
weil ſie ſich ſelbſt für beſſer hielten, wenn ſie ſo handelten, wie es die Vorſchriften der
Religion forderten.
Die religiöſe Stimmung iſt urſprünglich bei den roheſten Menſchen nichts als ein
unausſprechliches Bangen vor körperlichem Leid, ein Gefühl der eigenen Schwäche, eine
Furcht vor den unverſtandenen Gewalten, die den Menſchen allmächtig umgeben. Die
Phantaſie ſucht nach Kräften, nach Urſachen, die das Geſchehene erklären, die man als
handelnde, ſtrafende, zürnende Weſen ſich denkt, die als Kräfte vorgeſtellt werden, welche
in das menſchliche Leben eingreifen können, nach deren Wunſch man das häusliche wie
das öffentliche Leben einrichten müſſe, deren Zorn man abwenden müſſe durch Gebet,
durch Folgſamkeit gegen ihre Diener und Willensüberbringer, durch ſchlechthinige Er-
gebung in ihre Befehle. Unendlich lange hat es gedauert, bis die unklaren und rohen
Vorſtellungen über böſe Geiſter und ihr vielfach tückiſches Verhalten gegen die Menſchen
ſich abklärte zu einem edleren religiöſen Glauben, der in den Göttern Vorbilder und
Träger einer idealen, über der ſinnlichen erhabenen Weltordnung ſah. Dieſe ſetzte an
die Stelle der Vorſtellungen vom Zorn und der Leidenſchaft der Götter den Glauben
an eine alles Gute belohnende, alles Böſe ſtrafende göttliche Gewalt. Die Vergeltung,
die den menſchlichen Einrichtungen in der Gegenwart immer nur unvollkommen gelingen
konnte, wurde den Göttern zugetraut; man rechnete bald auf eine Vergeltung auf Erden
[47]Geſellſchaftlicher, ſtaatlicher und religiöſer Zwang.
wie bei den Semiten, auf Lohn und Heimſuchung am dritten und vierten Gliede des
eigenen Geſchlechts; bald, mit dem Erwachen des Unſterblichkeitsgedankens, auf eine
Vergeltung in einem anderen Leben. Das irdiſche Leben ſchrumpfte zu einer Vorbereitung
für ein jenſeitiges zuſammen; alle Freuden dieſer Welt erſchienen nun vergänglich und
nichtsſagend gegen die Hoffnung einer ewigen Seligkeit, die als Lohn guter Thaten und
Geſinnungen erwartet wurde. Damit entſtand eine ſociale Zucht und eine ſociale Kraft,
eine Fähigkeit der Unterordnung unter, der Hingabe an geſellſchaftliche und ideale
Zwecke, welche die betreffenden Völker allen anderen überlegen machte, ihnen die herrſchende,
führende Rolle übertrug. Die höchſte Ausbildung des religiöſen Lebens erfolgte unter
der Führung von hiſtoriſchen Idealgeſtalten, die durch ihr Beiſpiel und ihre Lehre nicht
bloß gute Handlungen, ſondern gute Geſinnung verlangten. Die Furcht vor der Hölle
und die Hoffnung auf den Himmel verwandelten ſich in die edelſten Affekte, in die Liebe
zu Gott, in die Hingabe an das Ideale. Die ſittliche Geſinnung wurde zur Hauptſache
vor dem Herrn, der die Herzen und die Nieren prüft. Es genügte jetzt nicht mehr, um
der bloßen Belohnung willen äußerlich gut zu handeln; man kann nicht aus verwerflichen
Motiven gut, edel, chriſtlich geſinnt ſein.
Die großen ethiſchen Religionsſyſteme, hauptſächlich das chriſtliche, ſind es ſo,
welche die äußere Zwangskontrolle und die rohere innere Kontrolle, die auf Lohn und
Strafe rechnet, mehr und mehr in jene höhere innere Kontrolle umwandeln, die mit
der vorherrſchenden Vorſtellung eines ſittlichen Lebensideals all’ unſer Thun beleuchtet
und reguliert. Das Gute wird nunmehr als die wahre und innere Natur des Menſchen
erklärt und befolgt, es wird um ſeiner ſelbſt willen geliebt, weil es allein dauernde,
ungetrübte, über alles menſchliche Leid erhebende Befriedigung, das höchſte Glück, die
reinſte und dauerndſte Luſt gewährt. Aber auch wo die innere Umwandlung nicht ſo
weit geht, erheben die geläuterten religiöſen Vorſtellungen der ethiſchen Kulturreligionen
alles Empfinden und Handeln der Menſchen auf eine andere Stufe. Die Selbſtſucht
wird gezähmt, das Mitleid und alle ſympathiſchen Gefühle werden ausgebildet. Die
Wahrheit, daß der einzelne nicht für ſich ſelbſt lebt, daß er mit ſeinem Thun und Laſſen
großen geiſtigen Gemeinſchaften angehört, daß er mit den endlichen Zwecken, die er
verfolgt, unendlichen Zwecken dient, dieſe Wahrheit predigt die Religion jedem, ſelbſt
dem einfachſten Gemüt; ſie verknüpft für die große Menge aller Menſchen auf dieſe
Weiſe das alltägliche Treiben des beſchränkteſten Geſichtskreiſes mit den höchſten geiſtigen
Intereſſen. Durch die Religion bildet ſich jenes abſtrakte Pflichtgefühl aus, das als
kräftig wirkender Impuls überall den niedrigen Trieben entgegentritt. Es entſteht durch
ſie jene allgemeine ſittliche Lebenshaltung, welche nicht bloß die große Mehrzahl in den
Bahnen der Anſtändigkeit und Rechtſchaffenheit, ſondern auch einen erheblichen, und
gerade den führenden Teil der Völker in den Bahnen einer bewußten und beabſichtigten
Sittlichkeit feſthält.
Zu jener unbedingten ſittlichen Freiheit des Willens allerdings, für welchen die
Imperative des Zwanges ganz gleichgültig geworden ſind, für welchen die Vorſtellungen
von einer Vergeltung nach dem Tode wegfallen können, ohne zu ſittlichen Gefahren zu
führen, haben zu allen Zeiten und auch heute nur wenige der edelſten und beſten Menſchen
ſich erhoben. Und wenn dem ſo iſt, ſo dürfte es klar ſein, daß die Auflöſung und
Verblaſſung unſerer religiöſen Vorſtellungen in breiten Schichten der Geſellſchaft nicht
bloß eine ſittliche, ſondern auch eine geſellſchaftliche und politiſche Bedeutung haben.
Bis ins vorige Jahrhundert hat es kein großes Kulturvolk gegeben, in dem nicht
das ganze äußere und innere Leben von der einheitlichen Herrſchaft eines ethiſchen
Religionsſyſtems getragen war. Seine Autorität und ſeine Regeln beherrſchten Staat,
Volkswirtſchaft, Klaſſenbildung, Recht, Familie, Tauſchverkehr, Geſelligkeit gleichmäßig.
Jetzt machen wir nicht bloß Verſuche, in demſelben Staate verſchiedene, allerdings meiſt
verwandte, in ihren Grundlehren übereinſtimmende und darum wohl neben einander
zu duldende Religionsſyſteme zuzulaſſen. Nein, in breiten Schichten erſt der höheren
Geſellſchaft, teilweiſe aber auch ſchon der unteren Klaſſen iſt das religiöſe Empfinden
zurückgetreten oder verſchwunden; weltliche Ideale und naturwiſſenſchaftliche Betrachtungen
[48]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſind an die Stelle getreten, deren ſittlicher Kern und Wert teilweiſe noch recht zweifelhaft
iſt. Es wird die große Frage ſein, ob die Ausbildung philoſophiſcher, ethiſcher Syſteme
und das Anwachſen anderer ſittlicher Lebensmächte, des Staates, der Schule, der öffent
lichen Meinung heute ſchon, ob ſie jemals ſtark genug iſt und ſein wird, um für die
Menge der gewöhnlichen Menſchen die religiöſen Stützen und Normen zu entbehren, ob
nicht eine religionsloſe Geſellſchaft einem Schiffchen gleicht, das, in gefährlicher Lage
zwiſchen tauſend Klippen, in der Hoffnung auf eine gute Briſe neuen materialiſtiſchen
Windes das Ankertau gekappt hat, das es bisher feſthielt, das es bisher im wilden
Spiel roher Naturmächte und Leidenſchaften vor dem Zerſchellen an dem Felſen menſch-
licher Gemeinheit bewahrte.
Die Läuterung unſerer religiöſen Vorſtellungen bis zu dem Grade, daß ſie mit
unſeren wiſſenſchaftlichen und ſittlichen Überzeugungen wieder in Übereinſtimmung kommen
und ſo von neuem die volle alte religiöſe Kraft auf unſer Gemütsleben erhalten, ſcheint
den Ausweg zu bieten, den in analogen Fällen die Geſchichte ſchon öfters geſucht und
gefunden hat.
8. Die ſittlichen Ordnungen des geſellſchaftlichen Lebens. Sitte, Recht und
Moral.
- Lazarus, Über den Urſprung der Sitten. Berlin 1867. —
- Schmoller, Grundfragen des
Rechts und der Volkswirtſchaft. 1875. S. 31—52: Wirtſchaft, Sitte und Recht; jetzt Grundfr.
S. 43—69. — - Rümelin, R.A. 2. S. 149—175: Über das Weſen der Gewohnheit.
v. Ihering, Geiſt des römiſchen Rechts auf den verſchiedenen Stufen ſeiner Entwickelung
4 Bde. 1852—84. — - Derſ., Der Zweck im Recht. 2 Bde. 1877—84. —
- Maine, Ancient
law. 1861. 3. Aufl. 1874. — - Derſ., Early history of institutions. 1875. —
- Arnold, Kultur
und Rechtsleben. 1865. — - Derſ., Kultur und Recht der Römer. 1868. —
- Trendelenburg,
Naturrecht auf Grund der Ethik. 1868. 2. Aufl. — - v. Kirchmann, Die Grundbegriffe des
Rechts und der Moral. 1869. — - Jellinek, Die ſocialethiſche Bedeutung von Recht, Unrecht und
Strafe. 1878. — - Baſtian, Rechtsverhältniſſe bei verſchiedenen Völkern der Erde. 1872. —
- A. H.
Poſt, Bauſteine für eine allgemeine Rechtswiſſenſchaft. 2 Bde. 1880—81. — - Schmoller, Die
Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft. J. f. G.V. 1881, jetzt auch Soc. u. Gew.P. — - A. Merkel,
Recht und Macht. J. f. G.V. 1881. — - Derſ., Juriſtiſche Encyklopädie. 1885. —
- A. Wagner,
Grundlegung. 2. Teil. Volkswirtſchaft und Recht. 1896. — - Stammler, Wirtſchaft und Recht
nach materialiſtiſcher Geſchichtsauffaſſung. 1896. — - Henry C. Adams, Volkswirtſchaft und Rechts-
ordnung. J. f. G.V. 1898.
Alles ſittliche Leben einſchließlich des religiöſen iſt ein nie ruhender pſychiſcher
Prozeß, eine ſtete Umſetzung von Vorſtellungen und Urteilen in Gefühle, von Gefühlen,
die als Impulſe wirken, in Handlungen. Auf Grund der natürlichen und hiſtoriſchen
Bedingungen dieſes Prozeſſes muß ſich durch die Wiederholung gleicher Fälle und gleicher
Beurteilung immer wieder in beſtimmten Kreiſen ein feſter Maßſtab der Beurteilung
bilden, der praktiſch zur Durchſchnittsregel, zur Norm des Handelns wird.
Es hieße Übermenſchliches vom gewöhnlichen Individuum verlangen, wenn es ohne
ſolche Durchſchnittsmaßſtäbe und Durchſchnittsregeln, die dem gewöhnlichen Lauf des
Lebens und den realen Bedingungen und Thatſachen desſelben einerſeits, den ſittlichen
Idealen andererſeits angepaßt ſind, ſich jeden Augenblick zurecht finden ſollte. Dieſe
Regeln erhalten durch die oben geſchilderten Kontroll- und Strafapparate ihren autori-
tativen Charakter. Sie ſchärfen täglich und ſtündlich das Sittliche ein; ſie ſind gleichſam
die geprägte Münze des Sittlichen, die ſtets umlaufend, ſtets gebietend und verbietend
jede Handlung, jeden Schritt begleitet. Für die Mehrzahl der gewöhnlichen Menſchen
faßt ſich ſo das Sittliche zuſammen in dieſen Normen, die den niedrigen Trieben ent-
gegentreten, den Menſchen in genereller und einfacher Weiſe ſagen, welche Handlung die
zu billigende, vorzuziehende, ſittliche ſei. Ob ſie im einzelnen immer ganz genau paſſen,
iſt nicht ſo wichtig, als daß ſie überhaupt beſtehen, daß ſie als Macht über den einzelnen
und ihrem Triebleben anerkannt werden. Sie erſparen dem gewöhnlichen Menſchen Prüfung
und Wahl, zu der er bei den ewig ſich wiederholenden inneren Konflikten und ihrer
[49]Die Sitte, ihre Entſtehung, ihr Weſen.
ſchwierigen Entſcheidung nicht fähig wäre. Indem die Regel, welche Sitte und Recht,
königliche oder prieſterliche Macht aufgeſtellt hat, ſagt, das ſollſt du thun und jenes laſſen,
greift in das unfertige Werden und Drängen der Triebe, in den Kampf der Leiden-
ſchaften und Inſtinkte doch überhaupt eine ordnende ſittliche Gewalt ein; die Gewöhnung,
ihr ſich zu beugen, iſt an ſich eines der weſentlichſten Mittel der Erziehung.
Das Entſtehen dieſer Regeln, welche alles geſellſchaftliche, auch alles wirtſchaftliche
Leben beherrſchen, welche in der Art ihrer formalen Geſtaltung zugleich weſentlich die
Epochen dieſes Lebens beſtimmen, haben wir nun darzuſtellen. Wir haben zu zeigen,
wie ſie in der älteſten Zeit als einheitliche Sitte entſtehen und ſpäter ſich ſpalten in
Recht, Sitte und Moral, welche Folgen dieſe Spaltung hat.
25. Die Entſtehung und Bedeutung der Sitte. „Es giebt“, ſagt Lubbock,
„keinen größeren Irrtum, als den Wilden den Vorzug einer größeren perſönlichen Freiheit
zuzuſchreiben; jede ihrer Lebensäußerungen wird durch zahlloſe Regeln beſchränkt, die
freilich ungeſchrieben, aber darum nicht minder bedeutend ſind.“ Lange ehe es einen
eigentlichen Staat, ein Gerichtsverfahren, ein ausgebildetes Recht giebt, beherrſchen feſte
Normen, welche vielfach in rhythmiſcher Rede überliefert, durch Ceremonien und Symbole
aller Art in ihrer Ausübung geſichert ſind, alles äußere Leben der primitiven Stämme.
Es handelt ſich um die Sitte und die Gewohnheiten, die aus den geiſtigen Kollektivkräften
hervorgehen. Alles bei einer Geſamtheit von Menſchen Geübte, Gewohnte, Gebräuchliche,
das nicht als eine Äußerung der Naturtriebe ſich darſtellt, und andererſeits von der
Willkür der einzelnen unabhängig als gut und ſchicklich, als angemeſſen, als würdig
angenommen wird, ſagt Lazarus, bezeichnen wir als Sitte. Die Gewohnheit, ſagt
Marheineke, iſt eine zweite durch den Geiſt geſetzte Natur. Die gemeinſame Gewohnheit
mehrerer, die als Verpflichtung gefühlt wird, die übertreten, verletzt werden kann, wird
zur Sitte.
Die Gewohnheit entſteht mit und durch die Geſellſchaft; aber ſie zeigt ſich auch
ſchon im Leben des einzelnen, muß ſchon hier ſich bilden. Sie ergiebt ſich aus der
Wiederkehr des Gleichen im menſchlichen Leben. Ohne Wiederkehr eines Gleichen gäbe
es keine Erinnerung, keine Erkenntnis, kein Vergleichen und Unterſcheiden. Der Kreislauf
des tieriſchen Daſeins, Wachen und Schlafen, periodiſches Eſſen, Arbeit und Erholung,
dann der Kreislauf der Natur, Sommer und Winter, der Auf- und Niedergang von
Sonne, Mond und Sternen prägen allem menſchlichen Leben den Stempel ewiger Wieder-
holung des Gleichen auf. Das Kind ſchon, das täglich zu gleicher Zeit ſeine Milch
erhält, verlangt ſtürmiſch die Einhaltung der Regel, wie die gemeinſamen Mahlzeiten
den Ausgangspunkt für eine regelmäßige Zeiteinteilung des Tages bildeten. Auch die
höheren Tiere haben ihre Inſtinkte unter demſelben Drucke der ſich gleichmäßig wieder-
holenden Bedürfniſſe zu feſten Gewohnheiten ausgebildet, wie die Bienen im Bienenſtaat.
Bei dem Menſchen kommt hinzu, daß es ſein Denkgeſetz und ſeinen Ordnungsſinn
befriedigt, wenn im gleichen Falle gleich gehandelt wird. Aus dem Wirrwarr der Reize
und Triebe, der Einfälle und Leidenſchaften entwickelt ſo ſtets Erfahrung und Erinnerung
gewohnheitsmäßiges gleiches Handeln.
Es wird zur Sitte durch die gemeinſamen Vorſtellungen und Gefühle mehrerer,
durch die gemeinſamen ſittlichen Urteile und Erinnerungen; aus gleicher Lage entſpringen
gleiche Willensanläufe und Handlungen, gleiche Ceremonien, gleiche Formen des Handelns.
Das ſittliche Urteil ſagt, dieſe beſtimmte Form ſei die zu billigende. Es entſteht daraus
das Gefühl der Verpflichtung, das ſofort durch Mißachtung der Genoſſen, Strafe, religiöſe
Furcht verſtärkt wird. Die Formen des religiöſen Kultus waren überall die wichtigſte
Veranlaſſung zur Entſtehung feſter Sitten überhaupt.
Jede Sitte giebt irgend einer ſich wiederholenden Handlung ein beſtimmtes, ſtets
wieder erkennbares Gepräge. Von den einfachen Bewegungen des Körpers bis zu den
verwickeltſten Lebenseinrichtungen ſucht der Menſch an die Stelle des natürlichen Ablaufes
der Ereigniſſe eine ceremoniöſe Ordnung zu ſetzen, mit dem Anſpruch, daß nur das ſo
Gethane richtig geſchehen ſei. Alle menſchlichen Handlungen werden ſo geſtempelt, in
konventionelle Form umgeprägt. Sie erhalten zu ihrem natürlichen materiellen Inhalt
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 4
[50]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ein hinzukommendes geiſtig-ſittliches, formendes, auf ihren Zuſammenhang mit dem
übrigen Leben hindeutendes Element.
Die Gegenſtände, welche die ältere Sitte formt, umfaſſen das ganze äußere Leben,
aber auch nur dieſes, niemals zunächſt die Geſinnung. Die Nahrung, die Kleidung,
die Wohnung, das Zuſammenleben und der Verkehr der Menſchen ſind überall die Haupt-
objekte der Sitte. Aus Hunger und Inſtinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung
findet; das Eſſen zu feſt beſtimmter Zeit, in beſtimmter Form wird durch die Sitte
geſchaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Menſchen,
ſich zu bemalen, zu ſchmücken; daraus geht der Kriegsſchmuck, die Kleidung als Sitte
hervor. Die Begattung erfolgt aus tieriſchem Antriebe; die Sitte ſchafft feſte Regeln
für dieſelbe. Geburt und Tod ſind natürliche Ereigniſſe, die Teilnahme der Familie
und Freunde, die Rückſicht auf abgeſchiedene Ahnen und auf die Götter ſchafft feierliche
Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten- und
Opfermahle, die Leichenbegängniſſe, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereigniſſe
in ihrer Bedeutung gewürdigt werden ſollen. Aus Bedürfnis tauſcht der eine Stamm
einzelne Waffen und Schmuckgegenſtände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch
die feſte Anordnung einer gefriedeten Malſtatt, wo zu beſtimmter Zeit die Tauſchenden
zuſammenkommen.
Mag die religiöſe Färbung der meiſten älteren Sitten, die Verbindung faſt aller
regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran ſchuld ſein, oder der
Umſtand, daß der Menſch an ſich den geiſtigen Stempel, den er einer Handlung giebt,
höher ſtellt als ihren materiellen Inhalt, ſo viel iſt ſicher, daß dieſe Formen, an die
ſich eine Geſellſchaft gewöhnt hat, teilweiſe ein zäheres konſervativeres Leben haben als
ihr Inhalt ſelbſt. Das heranwachſende Geſchlecht findet die Sitte als ein Überliefertes
vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußtſeins an als heilig betrachtet.
An herkömmlich beſtimmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der
Götter. Die Sitte wird zur unbeugſamſten, überwältigenden Macht. Mit der zäheſten
Ängſtlichkeit hält das Gemüt oft an ihr feſt, auch wenn die materielle Handlung, die
in der Sitte ſteckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke ſchieben ſich unter,
die Form ſucht ſich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen-
ſchmäuſe, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu-
trinkens. In faſt aller Sitte ſtecken ſo Nachklänge von Jahrtauſenden; es ſind oftmals
Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und geſellſchaftlichen Verhält-
niſſen entſtanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten.
Die einzelne Form der Sitte iſt ſo immer ſchwer kulturgeſchichtlich zu erklären;
ſie iſt ein kompliziertes Ergebnis, zu dem ſich ſehr verſchiedene Vorſtellungsreihen
und Urſachen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfniſſe und
Zwecke, uralte Formeln, religiöſer Wahn, ſchiefe Vorſtellungen und richtige Kauſal-
erkenntnis in Bezug auf individuellen und ſocialen Nutzen wirken zuſammen. Die Sitte
der Kleidung iſt urſprünglich zu einer Zeit, wo der Menſch nicht bemerkte, daß er nackt
ſei, und wo die Nacktheit noch keine Summe ſexueller Vorſtellungen und Erinnerungen
aufreizen konnte, entſtanden aus der Neigung, ſich zu ſchmücken, ſich durch Schmuck aus-
zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei
welchen es Sitte iſt, daß der Mann ſich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits-
teilung und ſociale Klaſſenbildung haben ſpäter, wie die Kälte und die Bewaffnungs-
zwecke, in die Entwickelung dieſer Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten iſt die
Bekleidung dann allgemein als ein ſociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel
der ſexualen Prophylaxe und der ſocialen Anweiſung, dem Trauernden richtig zu begegnen
wie dem Feſtgeſchmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an ſeine Stellung
zu erinnern, dem Geiſtlichen und Richter ſeine Wirkſamkeit auf andere durch die Amts-
tracht zu erleichtern. Nur ein unhiſtoriſcher Rationalismus kann deshalb ausſchließlich
alle Sitte auf Überlegungen des geſellſchaftlichen Nutzens zurückführen.
Dieſer hat freilich überall inſtinktiv oder klar erkannt mitgeſpielt. Dasjenige wird
Sitte, was den Menſchen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, ſpäter dem
[51]Die Sitte und die Entſtehung des Rechtes.
Stamme, zuletzt dem Volke und der Menſchheit Förderliche erſcheint. Aber die erſte Er-
faſſung geſchieht unmittelbar mit dem Gefühle und die letzte Urſache der Entſtehung iſt
immer das ſittliche Urteil, ein pſychologiſcher, einem gewiſſen Kreiſe gemeinſamer Vorgang.
Die Sitte iſt die grundlegende äußere Lebensordnung der menſchlichen Geſellſchaft,
ſie erſtreckt ſich auf alle äußeren Lebensgebiete, vor allem auch auf das wirtſchaft-
liche. Es iſt deshalb angezeigt, gleich hier auf die auch für alle ſpätere Zeit ähnlich
bleibende volkswirtſchaftliche Bedeutung der Sitte hinzuweiſen. Wir ſahen ſchon bei
der Beſprechung der Bedürfniſſe, wie ihre ganze Entwickelung auf der Sitte ruht; dem-
entſprechend iſt alle Unterſuchung der Nachfrage eine Unterſuchung von Sitten und
Konſumtionsgewohnheiten. Die Geſtaltung der Hauswirtſchaft iſt durch die Sitte
beherrſcht; alle Arbeitsteilung kann nur an der Hand beſtimmter Sitten zur Ausführung
kommen. Alle Unternehmungsformen vom Handwerk bis zum Großbetrieb, der Aktien-
geſellſchaft, dem Kartell ruhen auf Gewohnheiten und Sitten; aller Handel und Markt-
verkehr, Geld und Kredit ſind ein Ergebnis langſam ſich bildender Sitten. Jede volks-
wirtſchaftliche und ſociale Beſchreibung iſt ein Stück Sittengeſchichte. Die großen Fragen
der ſocialen und wirtſchaftlichen Reform hängen mit der Möglichkeit und Schwierigkeit
der Umbildung der Sitten zuſammen. Alles neue Recht iſt in ſeinem Erfolge davon
abhängig, wie es zu den beſtehenden Sitten, ihrer Zähigkeit oder Bildſamkeit paßt.
Wer das wirtſchaftliche Leben ohne die Sitte begreifen, nur materiell, techniſch, zahlen-
mäßig faſſen will, wird immer leicht irren, er ergreift von dem wirtſchaftlichen Vorgang
eben das nicht, was ihm Farbe und beſtimmtes Geſicht giebt. Wie z. B. beim Arbeits-
verhältnis unter Umſtänden eine kleine Erhöhung oder Erniedrigung des Lohnes nicht
ſo bedeutſam iſt als die Sitte, wie, wo, wann, mit welchem Gelde gezahlt wird.
Die Sitte iſt nicht das Sittliche, aber ſie iſt der äußere und geſellſchaftliche Anfang
desſelben; ſie iſt und bleibt eine Offenbarung deſſen, was den Menſchen über das Tier
erhebt; ſie iſt aus dem geiſtig-ſittlichen Schatze des Volkes geboren; ſie ſtellt dem ein-
zelnen eine äußere Norm des Guten, des Schicklichen, des Wohlanſtändigen vor Augen,
ſie bändigt die Willkür, den Egoismus; ſie ſetzt den ungezügelten Reizen der momentanen
Luſt feſte Schranken, ſie ſchlingt ein gemeinſames äußeres Band um die Stammesgenoſſen
und um die wechſelnden Geſchlechter, ſie verknüpft die abrollenden Geſchicke des materiellen
Lebens durch ihre Formen zu einem höheren geiſtigen Ganzen. Sie baut in die natür-
liche Welt die Welt der Konvention, aber auch die der Kultur hinein. Jede Sitte iſt
hiſtoriſch geworden, kann zur Unſitte werden; aber ſie iſt in ihren geſamten Äußerungen
ein weſentlicher Gradmeſſer der geiſtigen und moraliſchen Kultur. In den Anfängen
des geſellſchaftlichen Lebens iſt es die Sitte, die vor Entſtehung einer ſtaatlichen Gewalt
und eines geordneten Strafrechts den Frieden aufrecht erhält, die rohen Ausbrüche der
Leidenſchaft zurückhält und ſühnt.
26. Die Entſtehung des Rechtes und ſeine ältere Verbindung mit
der Sitte. In dem Maße, als die Stämme etwas größer werden, als Ungleichheit
des Berufes, des Beſitzes und Ranges eintritt, als eine Häuptlingsariſtokratie ſich bildet,
die patriarchaliſche Familienverfaſſung einzelne weit über die anderen emporhebt, fängt
die bloße Sitte an, nicht mehr auszureichen, um den Frieden in der Geſellſchaft aufrecht
zu erhalten. Die Macht einzelner wird zur Gewalt und Gewaltthat; der Verletzte kann
ſich nur helfen, indem er der Macht des Gegners eine größere entgegenſtellt, indem er
die Angeſehenen, die Häuptlinge zu Schiedsrichtern, oder indem er den ganzen Stamm
zu ſeiner Hülfe herbeiruft. Und indem dieſe beiden Elemente beginnen, die Ausführung
der geſellſchaftlichen Regeln in ihre Hand zu nehmen, wird das Recht geboren.
Alles Recht erwächſt aus der Sitte; wo es entſteht, giebt es bereits Regeln und
den Glauben an eine ſittliche Regelung; aber ſie iſt vom Streit bedroht; die ver-
ſchiedenen Intereſſen ſind aufeinander geplatzt oder drohen, ſich nicht der Regel zu fügen.
Die vom Streit Geſchädigten, die Verletzten, oft einzelne, oft wachſende Teile des ganzen
Stammes, ſuchen eine überlegene Gewalt zu ſchaffen, eine vorhandene zu veranlaſſen, daß
ſie zwangsweiſe ausführe, was den Frieden ſichert, was im Geſamtintereſſe unerläßlich
iſt. Vollends dauernde Kämpfe gegen andere Stämme ſind nur durchzuführen, wenn
4*
[52]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
im Inneren der Kampf, der Widerſpruch ruht, wenn alle einzelnen dem Führer gehorchen,
wenn jeder Ungehorſam beſtraft wird. Die kriegeriſchen Sitten befeſtigen am meiſten
eine königliche Gewalt (ſiehe oben S. 7—8); und einmal aufgerichtet, wird ſie zur rich-
tenden und ſtrafenden Gewalt überhaupt, ſucht Selbſthülfe und Eigenmacht zu beſchränken,
verlangt, daß der Eigentümer den Dieb, der Gläubiger den Schuldner nur faſſe unter
Teilnahme und Kontrolle der neuen, öffentlichen Gewalt. Wenn es dieſer Gewalt, wie
in Rom, relativ früh gelingt, jeden Mord aus einer nach der Sitte zu begleichenden
Privatſache der Gentes und der einzelnen zu einer Angelegenheit zu machen, die das
ganze Gemeinweſen angeht und ſtraft, ſo giebt ſie damit demſelben eine viel höhere
Friedensſicherheit, eine viel größere Möglichkeit inneren wirtſchaftlichen Fortſchrittes und
größerer Kraftentwickelung gegen andere Stämme. Der Keim zum Rechtsſtaat iſt gelegt.
Wie im Körper des Kindes aus einem Teile der weichen Knorpeln nach und nach
feſte und harte Knochen ſich bilden, ſo entſteht alles Recht in der Weiſe, daß ein Teil
der althergebrachten Regeln der Sitte zu feſten, durch die Macht geſicherten Ordnungen
werden. Was als beſonders wichtig, als beſonders bedeutungsvoll für die Lebens-
intereſſen der Geſamtheit, für die Streitbeſeitigung und Friedenserhaltung gilt, das wird
aus der übrigen Menge der ſocialen Lebensregeln durch Stammes- und Häuptlings-
beſchlüſſe, durch Gebote der Könige und Älteſten oder auch durch bloße ſtrengere Übung
als Recht ausgeſondert, mit höherer Kraft und Weihe ausgeſtattet, mit Straf- oder
Ächtungsklauſeln verſehen.
So ſehr dieſe im Anfang nicht allzu zahlreichen Rechtsregeln nur unter dem
Schutze der Macht, der Gewalt entſtehen und wachſen und durch dieſe größere Sicherung
ihrer Ausführung ſich von der Sitte, der Gewohnheit zu unterſcheiden anfangen, ſo
ſchwankend bleibt Jahrhunderte lang die Grenze zwiſchen Sitte und Recht; die Brücke
des Gewohnheitsrechtes verbindet beide; die Furcht vor der Strafe der Götter wirkt auch
beim Recht lange Zeit mehr, als der ſtrafende Arm des Königs. So lange ſo Sitte
und Recht ohne ſtrenge Scheidung nebeneinander ſtehen und ineinander übergehen, iſt
die ſociale Zucht, die ſie üben, außerordentlich ſtark. Die meiſten älteren eigentlichen
Kulturſtaaten zeigen ein ſolches Bild. Die Völker, die unter dem Impulſe ſtarker
religiöſer Vorſtellungen die alte Kraft der Sitte auf allen Lebensgebieten noch bewahrt
und daneben doch auch ſchon den ſtarken Apparat eines ſtaatlichen Rechtes ausgebildet
haben, machten nach allen Seiten, vor allem auch nach der wirtſchaftlichen, größere
Fortſchritte als die Stämme, welchen dies weniger gelang.
Kirche und Staat, Recht und Sitte, religiöſer und rechtlicher Zwang fallen auf
dieſer Kulturſtufe noch mehr oder weniger zuſammen; Ihering hat in geiſtreicher Weiſe
darauf aufmerkſam gemacht, wie das indiſche Wort dharma, das hebräiſche mischpat
und das griechiſche δίκη Sitte, Sittlichkeit, Recht und Ritus zugleich bezeichnen. In
gleichem Zuſammenhang der Gedanken hat Peſchel daran erinnert, daß eine der
reinſten der älteren Religionen, nämlich die eraniſche Lehre Zarathuſtras und ſeiner
Nachfolger, jeden Verſtoß gegen ſchamaniſtiſche und Ritualvorſchriften ebenſo als Sünde
bezeichne, wie Lüge und Diebſtahl. Die Prieſter und die Richter ſind noch ein und
dieſelben Perſonen, wie bei den meiſten indogermaniſchen Völkern, vor allem im älteren
Rom. Rechtliche, cenſoriſche und kirchliche Straf- und Zuchtmittel ſind noch nicht recht
getrennt. Die Ägypter und die Römer hatten mit am früheſten einen ſtaatlich geordneten
Apparat des Rechtes, aber zugleich die unerbittlichſte Herrſchaft einer ſtrengen Sitte auf
allen Lebensgebieten. In dem Satz: Moribus plus quam legibus stat res Romana lag
eine tiefe Wahrheit. Das geſamte Leben der Ägypter, hat man geſagt, war geordnet wie
ein Gottesdienſt. Sie haben, ſagt Herodot, einen harten und ſtrengen Dienſt und viele
heilige Gebräuche. Unzählig waren die Vorſchriften über Reinheit des Körpers, über
Kleidung und Eſſen, über Klyſtiere und Ceremonien. Hoben ſich dagegen die Geſetze
Moſes als einfache ab, ſo gingen doch die ſpäteren Satzungen der israelitiſchen Prieſter
auch auf alle Einzelheiten des Lebens ein. Und wenn wir die Bußordnungen der
abendländiſchen Kirche aus dem 8.—10. Jahrhundert nachleſen oder die Kapitularien
der Karolinger, ſo verſetzen ſie uns auch in eine Zeit, in welcher Sitte und Recht der
[53]Die Scheidung von Sitte und Recht.
vordringenden chriſtlichen Kultur die Mahlzeiten ebenſo wie die Ehe, das Faſten und
das Beten ebenſo wie den Staat ordnen wollte. Auch in ſpäteren Epochen, im kalvi-
niſtiſchen Genf, in manchen lutheriſchen Kleinſtaaten, in dem von einem demokratiſchen
Klerus ganz beherrſchten Schottland des 17. Jahrhunderts wiederholen ſich Analogien
dieſer älteren Kulturzuſtände; neben einer längſt vorhandenen ſtaatlichen Rechtsordnung
hat ſich die unbedingte Herrſchaft einer ſtrengen kirchlichen, alles beherrſchenden ſtarren
Sitte erhalten. Das Weſen aller älteren theokratiſchen Geſellſchaftsverfaſſung ſcheint darin
zu liegen, daß Recht und Sitte hoch ausgebildet, ungetrennt von einer einheitlichen,
halb geiſtlichen, halb weltlichen Gewalt überwacht und ſtreng ausgeführt wird. Das
Reſultat kann ein glänzendes in Bezug auf Macht und wirtſchaftliche Erfolge, Zucht
und Ordnung ſein, ſo lange Recht und Sitte den realen Menſchen und Verhältniſſen
richtig angepaßt ſind. Die Anpaſſungsfähigkeit geht aber durch die Starrheit von Recht
und Sitte ſtets mit der Zeit verloren.
Die Vorausſetzungen einer ſolchen Geſellſchaftsverfaſſung waren: kleine, einheitliche
Gemeinweſen, unveränderte geiſtige, wirtſchaftliche und ſociale Verhältniſſe, keine großen
intellektuellen und wiſſenſchaftlichen Fortſchritte. In größeren Staaten mit verſchiedenen
Volkstypen und Lebensbedingungen kann die einheitliche Sitte weder entſtehen, noch
erhalten ſich da leicht dieſelben Vorſtellungskreiſe und religiöſen Satzungen durch viele
Generationen hindurch. Aus der Wechſelwirkung der verſchiedenen Elemente entſpringt
Reibung und Fortſchritt. Auch in den kleinen Gemeinweſen entſteht mit fortſchreitender
Technik, mit Verkehr und Handel das wiſſenſchaftliche Denken, die Kritik, der Zweifel. Die
veränderte Schichtung der Geſellſchaft verlangt andere Satzungen, erzeugt andere Ideale
und Ziele. Die alte Sitte, die alte Kirchenſatzung, das alte Recht kommt da und dort
ins Wanken; in den verſchiedenen Schichten der Geſellſchaft, an den verſchiedenen Orten
entſtehen verſchiedene Regeln der Sitte. Während aber ſo das ſittliche Urteil und die
Sitte ſich differenziert, muß das Recht oder wenigſtens der wichtigſte Teil desſelben in
den Händen einer ſtarken Staatsgewalt ein einheitliches bleiben. Es ſcheidet ſich ſo
nach und nach Sitte und Recht (mores und jus), prieſterliche und ſtaatliche Satzung
(ϑέμις und νόμος, fas und jus). Prieſter und weltliche Richter ſind nicht mehr eins.
Neben den alten Lehren und Kosmogonien der überlieferten Religion entſtehen neue
religiöſe oder philoſophiſche Theorien und Syſteme. In ſchwerem, erſchütterndem Kampfe
ringt das Alte mit dem Neuen. Edle konſervative Charaktere kämpfen, wie Cato, für die
Erhaltung des Beſtehenden, weil ſie fürchten, daß mit ſeiner Auflöſung alle ſittliche
Zucht und Ordnung verſchwinde; größere Geiſter, wie Sokrates, Chriſtus, Luther, ſtehen
auf der Seite der Neuerer und ſchaffen den Boden für eine neue Kulturwelt, wenn ſie
mit dem kühnen Mut des Reformators den Adel des ſittlichen Genius verbinden.
Zugleich knüpft an dieſe Epochen der großen Geiſteskämpfe ſich die definitive
Scheidung von Sitte, Recht und Moral an.
27. Die Scheidung des Rechtes von der Sitte. In unſeren modernen
Kulturſtaaten ſtehen ſich Sitte und Recht als zwei ſcheinbar ganz getrennte Lebens-
ordnungen gegenüber. Nur zu oft ſcheint man zu vergeſſen, daß ſie Kinder derſelben
Mutter ſind, daß ſie eigentlich mit verſchiedenen Mitteln dasſelbe wollen. Freilich äußern
ſie ſich zunächſt recht verſchieden, haben einen verſchieden formalen Charakter.
Dieſer tritt allerdings erſt zu Tage, wenn das Recht aufgezeichnet und beſonderen
Organen zur Handhabung übergeben wird. So lange das Recht nicht aufgezeichnet iſt,
bleibt die Grenze zwiſchen Sitte und Recht eine fließende. Auch die älteren Aufzeich-
nungen, wie z. B. die Weistümer der bäuerlichen Gemeinden, die Zunftſtatute, die
Hofordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts enthalten noch neben dem Recht mancherlei
Regeln der Sitte. Aber mehr und mehr muß die Trennung Platz greifen. Die ſchriftliche
Fixierung der Sitte iſt nicht Bedürfnis, iſt oft ſehr ſchwierig oder gar nicht möglich;
ſie muß in freiem Fluſſe ſich überall verſchieden geſtalten können, während das Recht
die wichtigſten Regeln für weitere Kreiſe, ganze Städte und Staaten immer mehr
klar, genau, für jeden verſtändlich verzeichnen ſoll; es entſtehen die Rechtsbücher und
Geſetze, es bildet ſich jenes poſitive Recht, das nach geographiſcher Ausdehnung, nach
[54]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Einheit im Staate, nach logiſcher Durchbildung, nach der Herrſchaft allgemeiner Ge-
danken ſtrebt. Die Entſtehung einer abſichtlichen Geſetzgebung durch Volksbeſchlüſſe,
Königsbefehle, zuletzt durch einen beſonderen komplizierten ſtaatlichen Apparat, der auf
genau beſtimmtem Zuſammenwirken verſchiedener Organe beruht, iſt der wichtigſte Schritt
in der Loslöſung des Rechtes von der Sitte, in der Erhebung beſtimmter Regeln des
ſocialen Zuſammenlebens zu einer höheren Würde, Bedeutung und Wirkſamkeit. Mit
dem Geſetzesrecht beginnt die abſichtliche Regulierung des ſocialen Lebens durch das ſeiner
Kraft und ſeiner ſittlichen Macht bewußt gewordene Recht. Freilich will auch das Geſetz
oft nur Beſtehendes genauer fixieren und durchführen, aber ebenſo oft will es Neues
anordnen, will es für die Mehrzahl einführen, was nur wenige bisher gethan. Erſt
das bewußte Geſetzesrecht kann die reale geſellſchaftliche Welt als Willensmacht nach
gewiſſen Idealen geſtalten. Je kühner es freilich vordringt, deſto zweifelhafter iſt es,
ob die neue Regel ſich behauptet, in die Sitten übergeht, ob die hinter dem Recht
ſtehende Macht allen Widerſtand brechen kann.
Das Recht auf dieſer Kulturſtufe können wir definieren als denjenigen Teil der
auf das äußere ſociale Leben gerichteten ſittlichen Lebensordnung, welcher zur Macht
geworden, auf die politiſche Gewalt des Staates geſtützt, durch Feſtſtellung der Grenz-
verhältniſſe des geſellſchaftlichen Lebens und durch Vorſchriften über das Zuſammen-
wirken zu gemeinſamem Zwecke die wichtigſte Vorbedingung für einen friedlichen und
geſitteten, fortſchreitenden Kulturzuſtand ſchaffen will. Dieſes Recht muß die älteren
Formen, die Symbole, die poetiſche Sprache abgeſtreift haben; ſein Zweck iſt, daß ſtets
der gleiche Satz auf den gleichen Fall angewandt werde. Dazu bedarf es der verſtandes-
mäßigen, logiſchen Durchbildung, der Ordnung, der ſprachlichen Präciſierung, der
geſicherten Überlieferung, der wiſſenſchaftlichen Behandlung, der Zurückführung auf
oberſte Principien. Es muß die Anwendung des beſtehenden Rechtes durch Richter und
Behörden ſich trennen von der Neuſchaffung des Rechtes durch die Staatsgewalt. Es
muß alles Willkürliche aus den Rechtsentſcheidungen weichen. Der Einfluß der Mäch-
tigen und der oberen Klaſſen ſoll durch Gerichtsorganiſation und Öffentlichkeit möglichſt
beſchränkt werden. Die Sicherheit der gerechten, gleichförmigen Anwendung des Rechtes
bleibt das oberſte Ziel. Deshalb ſind für alles feſte, klare, formale Vorſchriften nötig.
Feſte Termine über Friſten, Verjährung, Altersgrenzen werden notwendig, auch wenn
ſie im einzelnen Fall oft nicht paſſen, weil ſie allein gerechte, immer gleiche Anwendung
garantieren. Die feſte Form des Rechtes muß oft über die Sache, über die materielle
Gerechtigkeit geſtellt werden, weil ſie allein die gleiche Durchführung garantiert. Und
ſo ſehr man ſich bemüht hat, die Maßſtäbe, die das Recht anwendet, zu verfeinern, es
Zwecken und Verhältniſſen anzupaſſen, auf die es ſich früher nicht erſtreckte, wie z. B.
auf die Gewalthandlungen der Staatsbehörden, es muß ſeiner Natur nach ein ſprödes,
ſtarres Syſtem von Lebensregeln bleiben, die, auf den Durchſchnitt gegründet, immer
nach rechts und links hin leicht unpaſſend werden; das formale Recht muß dem
Leben oft Zwang anthun, es kann nicht alle Forderungen der Sittlichkeit durch-
führen, es muß, auf falſche Gebiete angewandt, ein Prokruſtesbett bilden, das Wunden
ſchlägt. Der zu komplizierte Rechtsſatz wird leicht, weil er Gefahr leidet, ungleich
angewandt zu werden, zur harten Ungerechtigkeit. Auch dadurch, daß das poſitive Recht
dem Fluſſe ſteter Umbildung und Anpaſſung an neue reale Verhältniſſe mehr entzogen
iſt als Sitte und Moral, muß die Anwendung oft als Härte erſcheinen. Geſchaffen als
Grenzwälle, um Streit zu vermeiden, geben die Rechtsſätze Individuen und Gemein-
ſchaften hinter ihrem Wall einen freieren Spielraum des Handelns und Wirkens in dem
Maße, als ſie die Übergriffe über die Grenze verbieten und hindern; eben dadurch aber
liegt es in ihrer Natur, daß ſie einerſeits die individuelle Ausbildung, die perſönliche
Freiheit, die freie Bewegung des einzelnen auf dem Boden ſeines Eigentums, ſeiner
Sonderrechte fördern, andererſeits aber auch zu moraliſchem Unrecht Anlaß geben; ſie
erteilen in der Hauptſache immer mehr Befugniſſe, als daß ſie Pflichten auferlegen.
Die Moral betont die Pflicht in erſter Linie, das Recht kann ſeiner Natur nach nur
die gröbſten Pflichten erzwingen, im übrigen betont es die freie Thätigkeit des einzelnen,
[55]Die formale Natur des Rechtes und ſeine Grenzen.
der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt ſo dem Egoismus und der
Gemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten ſinkender Moral und Sitte
freieren Spielraum.
Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und ſchwankend, ſie iſt unter
Umſtänden leicht im Fluß begriffen, oft aber auch äußerſt zähe und konſervativ; ſie
iſt leicht an jedem Orte, in jedem Stande wieder eine andere; unaufgezeichnet hat ſie
keinen ſtrengen Exekutor hinter ſich, wie das Recht. Die älteren Preſſionsmittel der Sitte,
cenſoriſche, kirchliche und ſociale Ächtungen kommen eher ab, werden teilweiſe verboten.
Die Sitte verliert ſo an Kraft und Erzwingbarkeit in eben dem Maße, als das Recht
dieſe Eigenſchaften immer mehr gewinnt. Aber dafür greift ſie in alle Gebiete ein, wo
das Recht mit ſeinem ſchwerfälligen Apparate nicht hindringen kann. Sitte und Recht
ſind beide Regeln für das äußere Leben; ſie ſtehen beide als ein Äußerliches der Moral
und der Sittlichkeit als einem Inneren gegenüber. Aber beide haben, wie jene, ihre
letzten Wurzeln im ſittlichen Urteil und bezwecken beide, wie jene, die gute, die normale
Ordnung der Geſellſchaft. Sie können aber beide mit der Moral und unter ſich in
Widerſpruch kommen, weil ſie noch am Alten kleben, während das feinere ſittliche Urteil
ſchon ein anderes geworden, weil ſie je mit eigenen Organen verſchieden raſch, verſchieden
konſequent ſich ausbilden. Daher kann die Sitte und das Recht mit den ſittlichen
Gefühlen und Urteilen einzelner Kreiſe, ja der Beſten eines Volkes zeitweiſe in Wider-
ſpruch kommen.
Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächſt;
oft will die kühnſte Reformgeſetzgebung nur erzwingen, was in den Kreiſen einer Elite
ſchon Sitte geworden. Die deutſchen Genoſſenſchaften waren längſt durch Übung und
Sitte eingelebt, als ein Geſetz ihnen den Stempel des Rechtes aufdrückte. Aber aus den
angeführten formellen Gründen kann doch entfernt nicht alle Sitte in Recht umgewandelt
werden. Daher iſt das Gebiet der Sitte ein unendlich viel umfangreicheres als das
des Rechtes. Auf die meiſten Gebiete materiellen Handelns erſtreckt ſich ſowohl Sitte
als Recht: Ehe, Familienleben, Geſchäftsverkehr, Wirtſchaftsorganiſation, Geſelligkeit,
politiſches Leben haben ihre Sitten und ihr Recht. Aber das Recht ordnet dabei nur
das Wichtigſte, das für Staat und Geſellſchaft Unentbehrliche, die Sitte erfaßt das
Ganze aber in loſerer Weiſe. Die Sitte ordnet z. B. alle unſere Kleidung, die des
Richters, des Geiſtlichen, des Offiziers iſt durch rechtliche Vorſchriften beſtimmt. Die
Sitte beherrſcht alles Familienleben, aber das Recht beſtimmt, daß der Vater ſeine
Kinder zur Schule ſchicke, daß die Frau ihm gehorche, daß die Kinder unter beſtimmten
Bedingungen die alten Eltern ernähren müſſen. Die Sitte entſteht überall von ſelbſt,
wo eine Regel Bedürfnis iſt, das Recht nur da, wo häufige Streitigkeiten und das
ſchwierigere Zuſammenwirken vieler zu höheren ſocialen und ſtaatlichen Zwecken eine
feſtere, klare Regel fordern, wo es lohnt, ſeinen viel ſchwerfälligeren Apparat anzuwenden
und es iſt daher natürlich, daß alle kleineren, unerheblicheren Vorkommniſſe des indivi-
duellen Alltagslebens, des geſellſchaftlichen Verkehrs, die meiſten Teile des gewöhnlichen
wirtſchaftlichen Lebens nur von der Sitte geregelt ſind.
Je vollendeter Sitte und Recht ſind, deſto mehr ſtimmen ſie mit den ſittlichen
Idealen überein, deſto mehr machen ſie die Forderungen der Gerechtigkeit wahr. Aber
nie iſt zu vergeſſen, daß ſeiner Natur nach das poſitive Recht ſich dieſem Ziele nur
langſam nähern, daß es auch entartet, veraltet, gefälſcht ſein kann. Dann gilt das
Wort des heiligen Auguſtin: quid civitates remota justitia quam magna latrocinia.
28. Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht.
Indem man begann, die in Spruch und Lied, in gereimter und ungereimter Form
überlieferten ſocialen Normen zu ſammeln, zu vergleichen, zu interpretieren, ergab ſich
das Bedürfnis, ſie gewiſſen oberſten Vorſtellungen von der Welt, von den Göttern,
vom Menſchenſchickſal unterzuordnen; die Regeln erſchienen nun als Gebote der Gottheit,
verbunden durch kosmogoniſche Vorſtellungen, die man erklärte, ausdeutete. Es ergaben
ſich ſo einheitliche religiöſe Lehrſyſteme, die die erſten Verſuche rationaler Erklärung
alles Seienden ebenſo enthalten, wie ſie die Lenkung alles Handelns zum Guten bezwecken;
[56]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
es handelt ſich um einen Glauben, der die Zweifel beruhigt, das Gemüt beherrſcht,
der das Gute finden lehrt, der ein klares und deutliches Sollen vorſchreibt. Alle ältere
Moral wird ſo als das logiſche Reſultat eines religiöſen Glaubensſyſtems erfaßt; ſie
fällt mit Sitte und Recht noch ganz oder teilweiſe zuſammen. Man iſt ſich, wie wir
oben ſahen, lange über den Gegenſatz von Sünde, Ritualvorſchrift, Sitte und Recht
nicht klar. Aber immer zielt die prieſterliche Moral ſchon auf etwas anderes als Sitte
und Recht. Die äußeren Satzungen der Prieſter mögen noch auf Befeſtigung der geſell-
ſchaftlichen Verfaſſung gerichtet ſein; die Spekulation über den Willen der Gottheit
führt zur Erörterung des inneren Seelenlebens der Menſchen. Zumal die höheren
Religionsſyſteme erkennen mehr und mehr die Bedeutung der ſittlichen Geſinnung für
das Leben und die Handlungen. Das zuſammenhängende einheitliche Nachdenken über
die Urſachen, warum wir gut handeln ſollen, über die ſittlichen Gefühle, Urteile, Hand-
lungen erzeugt die Moral, d. h. einheitliche Lehrgebäude, welche das Gute begreifen,
darſtellen und lehren wollen, welche aus einheitlichen Grundgedanken und Principien
die ſittlichen Pflichten, Tugenden und Güter ableiten wollen. Die Moral, das Moral-
ſyſtem iſt ſo ſtets im Gegenſatz zu Sitte und Recht ein theoretiſches und praktiſches
Ganzes; ſie will Regeln und Gebote für alles Leben geben, aber ſie formuliert ſie nicht
feſt und klar, wie Sitte und Recht. Und ſie will nicht bloß das äußere Leben regu-
lieren, ſondern auch das innere in die rechte Verfaſſung ſetzen. Sie will das Gute an
ſich lehren, ſie will überreden, überzeugen, ſie will die ſittlichen Kräfte ſchaffen, aus
denen Sitte und Recht ſelbſt als abgeleitete Erſcheinungen hervorſprießen.
So lange in einem ſocialen Körper Kirche und Staat zuſammenfallen, eine ein-
heitliche Kirchenlehre alles innere und äußere Leben beherrſcht, giebt es nur die eine
kirchliche Moral, die eventuell mit Zwang und Gewalt ihre Gebote durchſetzt, ihren
Glauben und ihre Lehrſätze jedem aufdringt. So iſt es in den muhamedaniſchen Staaten
noch heute; wie es dort noch kein weltliches Recht neben dem Koran giebt, ſo giebt es
auch noch keine ſelbſtändige weltliche Moral. Das Chriſtentum hat einen fertigen Staat
vorgefunden, ihn der Kirche zeitweiſe untergeordnet, ihn mit ſeinen Säften und An-
ſchauungen ganz erfüllt, aber die beiden Organiſationen Staat und Kirche blieben doch
ſtets getrennt. Neben der kirchlichen erhielt ſich die philoſophiſche Tradition des Alter-
tums. Das Recht und die Sitte der germaniſchen Völker waren niemals bloß kirchlich;
ein weltliches Recht blieb neben dem kirchlichen beſtehen. Eine philoſophiſche Moral-
ſpekulation verknüpfte ſich im Mittelalter mit der kirchlichen, machte ſich aber mit der
Renaiſſance der Wiſſenſchaften vom 16.—18. Jahrhundert an von ihr los. Die Kämpfe
innerhalb der Kirche erzeugten eine katholiſche, eine proteſtantiſche, eine Sektenmoral.
Neben ihnen bildeten ſich ſeit dem 17. Jahrhundert die weltlichen philoſophiſchen Moral-
ſyſteme. Und ſo können wir heute ſagen, jede Kirche habe heute ihre Moral, wie jede
philoſophiſche Schule; wir können beifügen, die Moral jedes Volkes, jedes Standes habe
ihre eigenen Züge. Ein kräftiges, ſelbſtändiges Leben hat jedes Moralſyſtem in dem
Maße, als es eine Litteratur und Preſſe erzeugt, in Wiſſenſchaft, Kunſt und Schule
beſonderen Ausdruck gewinnt, in Geiſtlichen, Philoſophen, Dichtern und Schriftſtellern
beſondere Träger erhält.
Die ſelbſtändige Entwickelung der Moral gegenüber Sitte und Recht hat einerſeits
in den verſchiedenen perſönlichen Trägern, in den verſchiedenen Spitzen der betreffenden
Bewußtſeinskreiſe, andererſeits in verſchiedener formaler Beſchaffenheit, in den verſchiedenen
Zwecken ihren Grund. Sitte und Recht ſind Regeln des äußeren Lebens, die Moral
umfaßt äußeres und inneres Leben, alles menſchliche Handeln und alle Geſinnung.
Sitte und Recht ſind in beſtimmten Geboten und Verboten fixiert; die Moral wendet
ſich ohne feſte Formeln und Sätze an die Wurzel des Handelns, ſie will die Seele zum
richtigen Handeln fähig machen, das Gewiſſen ſchärfen. Ihr Höhepunkt iſt die freie
Sittlichkeit, die ohne Bindung an ſchablonenhafte Regeln ſicher iſt, aus ſich heraus
überall das Gute und Edle zu thun. Die Moral leuchtet als führende Fackel der Sitte
und dem Recht, die ihr gar oft nur zögernd folgen, voran; ſie fordert Geſinnungen
und Thaten, denen oftmals nur die Sitte der Beſten entſpricht, die zu einem großen
[57]Die Moral im Verhältnis zu Sitte und Recht.
Teil vom Rechte nicht verlangt werden können. Die Sitte hat in der öffentlichen Mei-
nung, in der Ehre, im Klatſch der Nachbarn, das Recht in der Staatsgewalt, die Moral
hauptſächlich im Gewiſſen ihren Exekutor. Die Moral iſt ein unendlich feineres, ver-
zweigteres Gewebe als Sitte und Recht; aber ſie hat keine anderen Mittel, zur Geltung
zu kommen, als Überredung und Überzeugung.
Die jeweilig in einem Volke herrſchenden und zu Tage tretenden theoretiſchen und
praktiſchen Moralſyſteme ſind der prägnanteſte Ausdruck der in ihm herrſchenden ſitt-
lichen Kräfte; Sitte und Recht ſind nur ein Ausdruck von Teilen derſelben, und zwar
oft mehr ein Ausdruck für die Beſchaffenheit dieſer Kräfte in vergangener Zeit. Niemals
aber können Moral, Sitte und Recht eines Volkes in zu ſchroffen, zu weiten Gegenſatz
untereinander treten, weil alle drei ein Ergebnis der herrſchenden ſittlichen Gefühle und
Urteile ſind. Die Moral beherrſcht Sitte und Recht oder ſucht ſie zu beherrſchen; jene
iſt das Allgemeine, dieſe ſind das Beſondere. Wo die Moral des Volkes eine geſunde iſt,
da iſt auf eine Beſſerung von Sitte und Recht auch ſtets noch zu hoffen. Wo auch die
Moral vergiftet iſt, da ſteht es ſchlimm. Nur darf man nicht verzagen, wenn in ein-
zelnen Klaſſen eine einſeitige und falſche Klaſſenmoral ſich breit macht, wenn in einzelnen
philoſophiſchen Schriftſtellern und Künſtlern eine verkehrte Moral zu Tage tritt. Die
freie geiſtig-ſittliche Entwickelung kann nicht ohne ſolche Symptome, zumal in den Zeiten
großer Gärung und Umbildung, ſich vollziehen.
29. Die Bedeutung der Differenzierung von Sitte, Recht und
Moral. Indem die höheren Kulturvölker dieſe Scheidung der ſittlichen Lebensordnung
in drei Gebiete vollzogen haben, die, unter ſich aufs engſte verwandt, doch ſelbſtändig
nebeneinander ſtehen, aufeinander wirken, ſich korrigieren, verſchiedene Teile des geſell-
ſchaftlichen Lebens verſchieden binden und ordnen, haben ſie einen der größten Fort-
ſchritte der Geſchichte vollzogen. Nur die Trennung der ſittlichen Regeln in Moral,
Sitte und Recht erklärt die moderne Freiheit der Individuen einerſeits und die Feſtig-
keit unſerer heutigen Kulturſtaaten andererſeits. Es iſt eine Arbeitsteilung, welche den
Zweck zu verfolgen ſcheint, einen Teil der ſocialen Lebensordnung immer feſter, härter,
unerbittlicher, einen anderen immer elaſtiſcher, freier, entwickelungsfähiger zu machen.
Nur das Recht verbindet ſich mit der Macht und dem ſtaatlichen Zwang; es wird
das feſte Rückgrat des ſocialen Körpers; durch die Sicherheit und Kraft ſeiner Wirkung
allein werden große Staaten und große Wirkungen in ihnen möglich. Bis zur Härte
ſteigert ſich ſeine Kraft; der einzelne wird unbarmherzig von dieſer ſtarren Maſchine
auf die Seite geworfen, zermalmt, wenn er widerſtrebt und ſich mit dem Gange derſelben
nicht eins weiß oder ſich nicht fügt. Aber dieſer ungeheuere Zuwachs an Kraft und Wirk-
ſamkeit, an einheitlichen Reſultaten iſt nur möglich durch Beſchränkung auf das Wichtigſte.
Man hat das Recht ein ethiſches Minimum genannt (Jellinek); das iſt es, verglichen
mit dem materiellen Umfang der ſittlichen Lebensordnung überhaupt; aber es iſt
andererſeits ein ethiſches Maximum, nämlich an Kraft, an Wirkſamkeit, an Reſultaten.
In der Beſchränkung der ſtets ſtarren Rechtsregeln auf das geſellſchaftlich Not-
wendigſte liegt die Möglichkeit aller individuellen Entwickelung, aller perſönlichen Frei-
heit. Beide fehlen in den älteren Staaten mit ungeſchiedenen, unerbittlichen Sitten und
Rechtsregeln. Indem bei höherer Kultur die Sittenregel elaſtiſcher, ihre Exekution ſchwächer
wird, die Moralregel nur noch den Exekutor des eigenen Gewiſſens hat, entſteht erſt
die Möglichkeit vielgeſtaltiger, eigenartiger Entwickelung, die Möglichkeit, daß neue
Ideen raſcher zur Wirkſamkeit gelangen, daß die Kritik das Veraltete tadelt, daß Neues
in größerem Umfange verſucht wird. Dem Princip der fortſchreitenden Entwickelung iſt
damit die Bahn eröffnet, und doch iſt für die Menge nirgends die Regelloſigkeit und
die Willkür ſtatuiert. Es ſind nur gewiſſe Teile der Lebensordnung weicher, bildſamer
gemacht, es ſind die Thüren aufgemacht für Ausnahmen und Beſonderheiten. Es iſt
durch die höhere und feinere Ausbildung von Sitte und Moral eine unendliche Viel-
geſtaltigkeit zugelaſſen, die, für das Recht ſtatuiert, den ſocialen Körper erdrücken würde.
Auf niedriger Kulturſtufe ſtraft und tötet, verbrennt und rädert man die Menſchen
wegen verſchiedener Anſichten, man peinigt ſie bis aufs Blut wegen Übertretung kirch-
[58]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
licher Ritualvorſchriften, man ſtraft den, welcher auf den polyneſiſchen Inſeln die dem
Fürſten vorbehaltenen Speiſen berührt, aufs unerbittlichſte. Und derartiges war und iſt
notwendig, ſo lange Recht, Moral und Sitte nicht geſchieden ſind. Erſt unſere feſt-
gefügte ſtaatliche Juſtiz einerſeits, die große geiſtige Kraft unſerer Sitte wie unſerer
ausgebildeten Religions- und Moralſyſteme andererſeits haben es geſtattet, den Rechts-
und Strafapparat von Kirche und innerer Überzeugung ſo weit zu entfernen, daß wir
uns darauf beſchränken, nur einzelne ganz beſondere Ausſchreitungen auf dieſen Gebieten
durch Preß- und Strafrecht zu verbieten. Nur dieſe Entwickelung ermöglicht es uns,
eine Freiheit der Wiſſenſchaft, der Preſſe, des häuslichen Lebens, der Geſelligkeit, des
Konſums, der Wirtſchaft zu geſtatten, die früher undenkbar war.
Damit iſt eine Reihe ſchiefer Vorſtellungen widerlegt, die bis in die neuere Zeit
in den Staatswiſſenſchaften, zumal in der Nationalökonomie, ihr Weſen trieben.
Die ſchiefe Theorie von einer natürlichen Geſellſchaft und einer natürlichen Volks-
wirtſchaft, wie ſie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entſtand, beruhte
auf einer Verkennung oder Ignorierung der Thatſache, daß alle unſere Handlungen von
Moral, Sitte und Recht beeinflußt ſind. Man leitete das geſellſchaftliche und wirtſchaft-
liche Leben aus ſog. freien, natürlichen Trieben ab; man nahm an, dieſen ſei nur auf
einigen beſtimmten und beſchränkten Punkten durch das Recht ein Zügel angelegt. Im
übrigen erſchien das möglichſt freie Spiel dieſer Triebe als das geſellſchaftliche Ideal;
ſie ſollten ſich in möglichſt freiem Kampfe bethätigen. Daß ſie doch ein glückliches Geſamt-
ergcbnis herbeiführen, leitete man aus einer präſtabilierten Harmonie ab. Die unbedingte,
uneingeſchränkte politiſche, wirtſchaftliche und ſonſtige individuelle Freiheit erſchien als
der Ausdruck dieſer Lehre. Je unbeſchränkter der Erwerbstrieb walte, deſto geſünder
ſei die Volkswirtſchaft. Die Satire aller Moral, eine brutale Ellbogenmoral der
Starken, blieb bei dieſer Auffaſſung vom Sittlichen übrig.
Wir können in einer ſolchen Auffaſſung nur eine Summe von Irrtümern und
Übertreibungen ſehen, die freilich wohl hiſtoriſch erklärbar ſind. Man hatte 1750—1850,
in einer Zeit der größten techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Umbildungen, vor
allem das Bedürfnis, veraltete ſittliche Lebensordnungen zu beſeitigen, veraltete Sitten
und Rechtsinſtitutionen über Bord zu werfen. Man ſah in dieſem Kampfe eine Rückkehr
zum Natürlichen und Gerechten und mußte dabei dem freien Triebleben zeitweiſe ſehr
großen Spielraum gönnen. Aber der ganze Umſchwung vollzog ſich doch unter Leitung
ſittlicher Ideen, neuer Moralſyſteme, und das letzte Reſultat waren überall neue Sitten
und neue Rechtsinſtitutionen. Die Frage der wirtſchaftlichen und politiſchen Freiheit
war hier und iſt ſtets nur die Frage der richtigen Grenzregulierung zwiſchen Sitte,
Recht und Moral. Wenn ich im Krämerladen zuſehe, wie ein armes, altes Mütterchen
durch ſchlechten, gefärbten Kaffee betrogen wird, während vielleicht die vornehme Dame
gute Ware zu ſolidem Preiſe erhält, dann frage ich, iſt unſere heutige Moral ſo
geſunken? iſt die Sitte der anſtändigen Geſchäftsleute durch eine Übermacht der Konkurrenz
ins Wanken geraten? Ich frage weiter, iſt nicht eine Strafklauſel in einem Lebens-
mittelfälſchungsgeſetz vorhanden oder zu ſchaffen, die ſolches hindert? iſt es wahr-
ſcheinlich, daß ſie Beſſerung ſchafft, daß ſie gerecht und allgemein durchgeführt wird?
Der Vernünftige, der heute für freie Konkurrenz, für Beſeitigung dieſer oder jener
Rechtsſchranken eintritt, der daraus eine Belebung des Selbſtbewußtſeins, eine Stärkung
der Selbſtverantwortlichkeit, ſowie aller individuellen Kräſte ableitet, rechtfertigt dies
in der Regel nicht damit, daß die Willkür, der Egoismus, das ſchrankenloſe Triebleben
herrſchen ſoll, ſondern damit, daß er nachweiſt, die Moral und die gute Sitte werde
von ſelbſt vordringen, die Rechtsregel ſei zu ſchablonenhaft, ſchade da und dort, die
freie Umbildung reiche aus, ſei vorzuziehen, weil die inneren ſittlichen Kräfte genügten.
Der hiſtoriſche Entwickelungsprozeß in Bezug auf dieſe Fragen wird ſich weder
in dem Schlagwort des älteren Liberalismus zuſammenfaſſen laſſen, die Freiheit erringe
ſich notwendig ein ſtets zunehmendes Gebiet, noch in die Formel von Laſſalle und
Rodbertus, alle höhere Kultur ſei fortſchreitende Rechtsregulierung und Einſchränkung
der perſönlichen Freiheit.
[59]Das Weſen der wirtſchaftlichen Freiheit.
Die Geſamtheit der Regulative von Moral, Sitte und Recht muß in gewiſſem
Sinne zunehmen, ſofern die geſellſchaftlichen Körper komplizierter werden, die Menſchen
dichter wohnen, die Intereſſenkonflikte wachſen. Aber je mehr die Menſchen ſich innerlich
vervollkommnen, deſto weniger empfinden ſie auch die normalen Regulative als Hemmnis
und Schranke. In der großen Scheidung zwiſchen dem harten Zwang des Rechtes und
der leiſen Nötigung durch Sitte und Moral liegt der wichtigſte Schlüſſel für das Ver-
ſtändnis des Fortſchrittes. Das Recht kann ſich vom inneren geiſtigen Leben, auch von
vielen wirtſchaftlichen Vorgängen in dem Maße zurückziehen, als jene kräftiger wirken.
Es muß ſich bald ausdehnen, bald wieder einſchränken. Es thut das erſtere aber nicht
bloß in Zeiten der ſinkenden Kultur und der Auflöſung, welche die geſetzgeberiſche
Maſchinerie übermäßig in Anſpruch zu nehmen pflegen. Auch alle Epochen großer und
fortſchreitender Neubildung ſind regelmäßig zugleich Zeiten umfangreicher, ſpecialiſierter
Geſetzgebung und Ausdehnung des Rechtes und des ſtaatlichen Zwanges auf mancherlei
Gebiete. Oft kann man denſelben freilich nach einigen Jahrzehnten wieder fallen laſſen,
weil nun in der Hauptſache von ſelbſt geſchieht, was man früher erzwingen mußte.
Diejenigen, welche im zeitweiſen Vordringen oder Zurückweichen des Rechtes und des
ſtaatlichen Zwanges das weſentliche Symptom des Auf- und Niederganges der Völker
oder ihrer Wirtſchaft ſehen, beweiſen ein geringes Maß hiſtoriſcher Kenntniſſe, ſie haften
an formalen Äußerlichkeiten. Der Fortſchritt der Völker liegt darin, daß die Geſamtheit
ihrer Regulative ſich formell und materiell beſſere, und daß mit deren Hülfe die Menſchen
beſſer erzogen, geiſtig und körperlich auf höhere Stufen gehoben werden. Ob dabei
zeitweiſe das poſitive Recht eine größere oder kleinere Rolle ſpiele, ob zeitweiſe die
Aktion der ſtaatlichen Zwangsgewalt eine ſtärkere ſei oder die freie Bewegung der Volks-
kräfte, das hängt von den jeweilig im Vordergrunde ſtehenden Aufgaben und davon ab,
wo im Augenblicke mehr Verſtand, Kenntniſſe und ſittliche Kraft ſei, — im Centrum
des Staates, in der Regierung, oder in der Peripherie, in den freien geſellſchaftlichen
Kräften.
9. Der allgemeine Zuſammenhang zwiſchen volkswirtſchaftlichem und ſittlichem
Leben.
- Zu 30, 31 u. 33 ſiehe die Litteratur der letzten Abſchnitte. Außerdem: J. St. Mill, Ge-
ſammelte Werke. Deutſch 1869 ff.; hauptſächlich das Nützlichkeitsprincip in Bd. 1. Aug. Comte und
der Poſitivismus Bd. 9. — - Krohn, Beiträge zur Kenntnis und Würdigung der Sociologie. J. f.
St. 1880 u. 81.
R. v. Mohl, Die Staatswiſſenſchaften und die Geſellſchaftswiſſenſchaften in: Geſch. u. Litt.
der Staatswiſſ. 1, 1855, S. 67—110. — - v. Treitſchke, Die Geſellſchaftswiſſenſchaft. 1859.
Schmoller, Die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft. J. f. G.V. 1880 u. Soc.- u. Gew.-P. — - Rümelin, Über die Idee der Gerechtigkeit. R. A. Bd. 2. 1881.
Zu 32: Darwin, Die Abſtammung des Menſchen. Deutſch 1871. — - Knapp, Darwin und
die Socialwiſſenſchaften. J. f. N. 1. F. 18, 1872. — - Fick, Einfluß der Naturwiſſenſchaft auf
das Recht. Daſelbſt. — - Schäffle, Der kollektive Kampf ums Taſein; zum Darwinismus vom
Standpunkt der Geſellſchaftslehre. Z. f. St.W. 1876 u. 79. — - Derſ., Bau und Leben des ſocialen
Körpers. Bd. 2, 1878. — - Haeckel, Freie Wiſſenſchaft und freie Lehre. 1878. —
- O. Schmidt,
Darwinismus und Socialdemokratie. 1878. — - Gumplowicz, Der Raſſenkampf. 1883. —
- Ammon, Der Darwinismus gegen die Socialdemokratie. 1891. —
- Derſ., Die Geſellſchafts-
ordnung und ihre natürlichen Grundlagen. 1895. — - H. E. Ziegler, Die Naturwiſſenſchaft und
die ſocialdemokratiſche Theorie. 1894. — - B. Kidd, Sociale Evolution. Deutſche Überſ. 1895. —
- Plötz, Die Tüchtigkeit unſerer Raſſe und der Schutz der Schwachen. 1895. —
- Thomas H. Huxley,
Sociale Eſſays. Deutſch 1899.
30. Natürliche und ſittliche Kräfte. Man kann die Volkswirtſchaft als
ein Syſtem natürlicher, wie als ein Syſtem ſittlicher Kräfte betrachten; ſie iſt beides
zugleich, je nach dem Standpunkte der Betrachtung.
Blicke ich auf die handelnden Menſchen, ihre Triebe, ihre Zahl, auf die Schätze
des Bodens, die Kapital- und Warenvorräte, die techniſchen Fertigkeiten, die Wirkung
von Angebot und Nachfrage, den Austauſch der in beſtimmter Menge vorhandenen Dienſte
und Waren, ſo ſehe ich einen Prozeß ineinander greifender natürlich-techniſcher Kräfte,
[60]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ich ſehe Kraftwirkungen, die von Größenverhältniſſen abhängig ſind, die ich teilweiſe
meſſen kann; ich ſehe Reſultate, die das Ergebnis von Kraftproben und Machtkämpfen
ſind, die bis auf einen gewiſſen Grad wenigſtens mechaniſcher Betrachtung unterliegen
können. Ich ſehe natürlich-techniſche und phyſiologiſche Vorgänge, die, jeder für ſich
iſoliert betrachtet, gar nicht als ſittlich oder unſittlich, ſondern nur als nützlich, geſchickt,
zweckmäßig, normal oder als das Gegenteil bezeichnet werden können. Wir werden im
folgenden Grundriſſe die natürlichen Kräfte und Größenverhältniſſe der Volkswirtſchaft,
den Einfluß von Natur und Technik, das Spiel von Angebot und Nachfrage, die mecha-
niſche Wirkſamkeit der Kräfte, ſoweit ſie irgend faßbar iſt, darzuſtellen ſuchen.
Alle oder die meiſten dieſer Kraftäußerungen, ſoweit ſie menſchliches Handeln
betreffen, gehen nun aber zurück auf nicht bloß natürliche, ſondern durch die geiſtige und
moraliſche Entwickelung umgeſtaltete Gefühle, auf ethiſierte Triebe, auf ein geordnetes
Zuſammenwirken natürlicher und höherer, d. h. weſentlich auch ſittlicher Gefühle, auf
Tugenden und Gewohnheiten, welche aus dem ſittlichen Gemeinſchaftsleben entſpringen.
Alle dieſe Kräfte ſind bedingt durch die pſychiſchen Maſſenzuſammenhänge, durch ſittliche
Urteile und ihre Rückwirkung auf alle Vorſtellungen und Willensimpulſe, durch Moral,
Sitte und Recht, durch Religion und ſittliche Leitideen oder Ideale. Das wirtſchaftliche
Handeln iſt alſo zwar nach ſeiner Naturſeite ein techniſch zweckmäßiges oder unzweck-
mäßiges und deshalb ſittlich indifferentes, aber nach ſeinem Zuſammenhang mit den
ganzen ſeeliſchen Kräften und der Geſellſchaft ein ſittlich normales oder anormales,
d. h. ein dem ſittlichen Urteil unterliegendes und dadurch beeinflußtes. Natürliche
techniſche und ſittliche Zweckmäßigkeit können ſich unter Umſtänden in der einzelnen
Handlung wohl trennen, im Zuſammenhang des menſchlichen Handelns überhaupt ſind
ſie immer in loſerer oder engerer Wechſelwirkung; ſie ſind nur die unteren und oberen
Sproſſen derſelben Leiter. Das Weſen des Sittlichen beſteht eben, wie wir ſchon ſahen,
in dem nie ruhenden Prozeß, der die niedrigen Gefühle den höheren unterordnet, der
die Körper- und Geiſteskräfte in einheitliche Harmonie bringen, die menſchlichen Lebens-
zwecke in die richtige Über- und Unterordnung, die einzelnen Menſchen den Zwecken
und Einrichtungen der Geſellſchaft einfügen und immer das Niedrige in den Dienſt des
Höheren bringen will. In jedem zuſammenhängenden Ganzen (und das iſt jeder Menſch
und jede Geſellſchaft) haben die Teile nie ein ganz ſelbſtändiges Leben; jeder hängt vom
anderen ab, kann nur richtig funktionieren, wenn die Nachbarn und das Ganze geſund
ſind, wenn alle Teile richtig ineinander greifen, in richtiger Neben-, Unter- und Über-
ordnung ſind. Das Sittliche will dieſe Ordnung im Individuum und in der Geſellſchaft
herbeiführen, die einzelnen erziehen, die ſympathiſchen Gefühle ausbilden, das rechte
geſellſchaftliche Zuſammenwirken herbeiführen. Und die Kräfte, welche im Individuum
und der Geſellſchaft dahin wirken, nennen wir die ſittlichen, obwohl ſie ihre natürliche
Unterlage haben, mit natürlich-techniſchen Mitteln wirken, durch den natürlich-techniſchen
Mechanismus der Volkswirtſchaft bedingt ſind. Sie ſind es, welche die Triebe zu
Tugenden, die Menſchen zu Charakteren, die Geſellſchaften zu harmoniſch und geordnet
wirkenden Geſamtkräften machen. Und die Volkswirtſchaft ſollte dieſer Kräfte entraten
können?
Schäffle führt aus, das Ideal ſocialer Mechanik ſei die Zuſammenordnung zahl-
reicher menſchlicher Kräfte in der Art, daß die Bewegungen jeder einzelnen mit einem
Minimum von Verluſt an eigener Kraft und unter minimaler Störung aller anderen
Bewegungen ſtattfinde; es müſſe eben durch Moral, Sitte und Recht eine Koordination
der Kräfte eintreten; das Gaußſche Grundprincip der Mechanik gelte ſo auch für die
Geſellſchaft. Durch die Sprache, die Nachahmung, die Erziehung, die gegenſeitige An-
paſſung, die Herrſchaft der ſittlichen Ideen und Einrichtungen entſteht eben die Möglich-
keit geſellſchaftlich-harmoniſchen Zuſammenwirkens; alle ſittlichen Kräfte ſind auf dieſes
Ziel hingerichtet; auch das wirtſchaftliche Zuſammenwirken der Menſchen in jeder Familie,
jeder Unternehmung, auf jedem Markte, in jeder Gemeinde iſt ſo von dieſer koordi-
nierenden ſittlichen Arbeit abhängig. Und ebenſo das Zuſammenwirken von heute
auf morgen, von verſchiedenen Generationen, die ſich folgen.
[61]Natürliche und ſittliche Kräfte; Inſtitutionen und Organe.
Indem der Niederſchlag aller ſittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn-
heit und Erziehung, durch die beſtehenden Inſtitutionen von Generation zu Generation
überliefert wird, kommen alle natürlichen Kräfte der Volkswirtſchaft nur innerhalb dieſes
Rahmens zur Geltung; beſtimmen ſie die etwaige Umbildung dieſes geſellſchaftlichen
Rahmens mit, wirkt z. B. eine neue Technik auch ſicher auf eine neue ſociale und
ſittliche Ordnung der Volkswirtſchaft, ſo wirken ebenſo ſicher die allgemeinen gefeſtigten
ethiſchen Gedanken und Ideale der Sittlichkeit auf die Art, wie die neue Technik ſich
zu Gewohnheiten und Inſtitutionen ausprägt. Jede Generation ruht auf dem geiſtig-
ſittlichen Schatze der Vergangenheit. Die Überlieferung dieſes Beſitzes, wie die Erziehung
jeder jungen Generation und ihre Einſchulung in die Sitten und Gepflogenheiten der
Geſellſchaft bilden eine der wichtigſten Funktionen der ſittlichen Kräfte. Auch die ganze
Volkswirtſchaft iſt nicht denkbar ohne dieſen Erziehungs- und Einübungsprozeß. Die
Kinder und jungen Leute werden im Intereſſe ihrer Zukunft und der Geſellſchaft durch
Vorbild, Unterricht, Gewöhnung, Strafe und Belohnung angeleitet, ihre natürlichen
Triebe in geſellſchaftliche umzuwandeln; ſie müſſen das ihnen zunächſt Unangenehme
mit Mühe erlernen, ſich ihm durch Wiederholung anpaſſen; ſie müſſen gehorchen und
arbeiten lernen, an Verträglichkeit, Zucht und Ordnung ſich gewöhnen, ſie müſſen Kennt-
niſſe und Fertigkeiten erwerben; ſie können es, weil die Jugend bildſamer iſt als das
Alter, weil jede Handlung Spuren in Geiſt und Körper zurückläßt, welche die Rückkehr
ins ſelbe Geleiſe erleichtern. Ohne dieſen Prozeß gäbe es keinen Fortſchritt, auch keinen
wirtſchaftlichen. Er macht aus dem rohen Spiele natürlicher Kräfte den geordneten
Gang ſittlich harmoniſierter, zu geſellſchaftlichem Zuſammenwirken brauchbarer Kräfte.
Wir verſuchen dieſe Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte
über die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe, über den Kampf ums Daſein,
endlich über die Moralſyſteme und die ſittlichen Leitideen ſagen.
31. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe treten uns als
das wichtigſte Ergebnis des ſittlichen Lebens entgegen. Es ſind die Kryſtalliſationen
desſelben. Aus den oben geſchilderten pſychiſchen Maſſenzuſammenhängen, aus Sitte,
Recht und Moral, aus den täglich ſich ergebenden Berührungen, Anziehungen und Ab-
ſtoßungen, aus den Verträgen und vorübergehenden Ineinanderpaſſungen ergeben ſich
dauernde Formen des geſellſchaftlichen Lebens, welche den verſchiedenen Zwecken der
Geſellſchaft, vielleicht am meiſten den wirtſchaftlichen dienen.
Wir verſtehen unter einer politiſchen, rechtlichen, wirtſchaftlichen Inſtitution
eine partielle, beſtimmten Zwecken dienende, zu einer ſelbſtändigen Entwickelung gelangte
Ordnung des Gemeinſchaftslebens, welche das feſte Gefäß für das Handeln von Gene-
rationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtauſenden abgiebt: das Eigentum, die Sklaverei,
die Leibeigenſchaft, die Ehe, die Vormundſchaft, das Marktweſen, das Münzweſen, die
Gewerbefreiheit, das ſind Beiſpiele von Inſtitutionen. Es handelt ſich bei jeder In-
ſtitution um eine Summe von Gewohnheiten und Regeln der Moral, der Sitte und
des Rechtes, die einen gemeinſamen Mittelpunkt oder Zweck haben, unter ſich zuſammen-
hängen, ein Syſtem bilden, eine gemeinſame praktiſche und theoretiſche Ausbildung
empfangen haben, feſtgewurzelt im Gemeinſchaftsleben, als typiſche Form die lebendigen
Kräfte immer wieder in ihren Bannkreis ziehen. Wir verſtehen unter einer Organbildung
die perſönliche Seite der Inſtitution; die Ehe iſt die Inſtitution, die Familie iſt das
Organ. Die ſocialen Organe ſind die dauernden Formen der Verknüpfung von Perſonen
und Gütern für beſtimmte Zwecke: die Gens, die Familie, die Vereine, die Korporationen,
die Genoſſenſchaften, die Gemeinden, die Unternehmungen, der Staat, das ſind die weſent-
lichen Organe des ſocialen Lebens.
Alle ältere Organbildung geht aus der Geſchlechts- und Blutsgemeinſchaft hervor:
der Stamm, die Sippe, die Familie ſind Organe, die urſprünglich alle Zwecke umfaſſen,
aus denen durch Scheidung, Ablöſung und Differenzierung ein großer Teil auch aller
ſpäteren Organe hervorgehen. Die dauernden gemeinſamen Zwecke ſchaffen die Organe.
Je höher die Kultur ſteigt, deſto mannigfaltiger wird ihre Zahl und ihre Geſtaltung,
deſto häufiger treten neben die gewordenen die gewillkürten Organe; aus taſtenden Ver-
[62]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſuchen gehen dauernde Bildungen hervor. „Zufällige Berührungen und gegenſeitige
Hülfeleiſtungen führen zum Gefühl von Vorteil und Nachteil; nach vielen Wandlungen
ſtellen ſich haltbare Formen des Zuſammenlebens feſt, in denen, wie in jedem Orga-
nismus, die Bedürfniſſe der Teile in Einklang mit den Daſeinsbedingungen des Ganzen
geſetzt ſind“ (Lotze). Je komplizierter die Geſellſchaft wird, deſto mehr kann der Menſch
Mitglied einer Reihe der verſchiedenſten ſocialen Organe ſein, denen er teils auf immer,
teils vorübergehend, teils mit ganzer Hingabe, teils nur mit kleinen Bruchteilen ſeines
Intereſſes angehört. Alle dieſe Organe ſind entweder mehr Herrſchafts- und Abhängigkeits-
verhältniſſe, oder mehr genoſſenſchaftliche Bildungen. In jedem Organe oder Verband
bleibt jedem Individuum eine gewiſſe Freiheitsſphäre. Es handelt ſich ſtets um eine
dauernde, auf einen Zweckzuſammenhang gegründete Willensmehrheit mehrerer Perſonen,
die eine gewiſſe Struktur und Verfaſſung hat; die Willen ſind in einer beſtimmten
Form zum Zuſammenwirken verbunden (Dilthey), während ſie nach anderer Seite frei
ſind; der gemeinſame Zweck beſtimmt dieſe Form, dieſe Struktur, welche in einer
beſtimmten hiſtoriſchen Entwickelung nach und nach ihren typiſchen Charakter erhält.
Die größeren und feſteren Organe haben durch ihre rechtlich fixierte Verfaſſung, durch
die Herſtellung einer ſelbſtändigen, über den einzelnen ſtehenden leitenden Spitze ein
dauerndes Leben, wie der Staat und die Korporationen, die Aktiengeſellſchaften; ſie
erhalten ſich dadurch, daß ſie die im Laufe des Generationswechſels abſterbenden oder
ſonſt ausſcheidenden Glieder durch neue, in der verſchiedenſten Form herangezogene
erſetzen. Die heutigen Familien, auch die meiſten Privatunternehmungen, viele Vereine
und Geſellſchaften ſind Organbildungen, deren einzelne Exemplare im Laufe des Gene-
rationswechſels immer wieder mit Leben und Sterben, mit Ein- und Austritt der
Gründer und Mitglieder erlöſchen, um neuen gleichen Bildungen Platz zu machen. Jedes
Organ hat ſeine leitenden und ſeine ausführenden Kräfte. Faſt alle Menſchen befriedigen
einen erheblichen Teil ihrer Bedürfniſſe und erfüllen ihre meiſten Pflichten nicht als
Individuen, ſondern als Glieder beſtimmter ſocialer Organe. Selbſt das kleinſte Geſchäft
einer Wäſcherin, eines Packträgers iſt angelehnt an eine Familienwirtſchaft. Selbſt der
Haushalt des Junggeſellen iſt an eine Familienwohnung angehängt, hat Hülfskräfte
aus einer anderen Familie; ſein Eſſen enthält der Betreffende in einem Gaſthof, ſeine
Arbeit verrichtet er in irgend einem Geſchäftsbureau. Für die Geſamtheit, ihre Ord-
nungen, ihre Leitung kommen ſo ſtets ebenſo ſehr die ſocialen Organe als die Individuen
in Betracht.
Die verſchiedenen Organe unterſcheiden ſich vor allem durch die verſchiedene Art,
wie Sitte und Recht die einzelnen Individuen zuſammenbindet und das Vermögen
beſchafft, wie das ſociale Organ nach außen als Einheit, nach innen als gegliederte
Vielheit, mit beſtimmten Pflichten und Einſätzen, wie mit beſtimmtem Anteil an den
Erfolgen der Thätigkeit organiſiert iſt. Auf allen Lebensgebieten zeigt ſich eine unendliche
Verſchiedenheit der Organe und ein gegenſeitiges ſich Stützen und Helfen verſchiedenartiger
Organe von der loſeſten Privatverbindung bis zum geſchloſſenſten Korporationszwang.
Aber allerdings haben die einzelnen Lebensgebiete ihren Schwerpunkt in gewiſſen Arten
der Organbildung: das militäriſche Leben iſt heute überwiegend Staatsorganiſation,
während daneben einzelne Vereine für Zwecke der Verwundetenpflege und derartigem
beſtehen; das wirtſchaftliche Leben iſt heute teils Familien-, teils Unternehmungs-
organiſation, reicht aber in wichtigen Punkten in die Korporations- und Staats-
organiſation hinein und wird das künftig wahrſcheinlich noch mehr thun. Das
kirchliche Leben iſt teils Vereins-, teils Korporationsorganiſation, das wiſſenſchaftliche
und künſtleriſche iſt überwiegend individuell perſönlich, an Familie und kleine Unter-
nehmungen angelehnt. Jedes Lebensgebiet, das einheitliche Zwecke verfolgt, hat ſo ein
Syſtem von Organen, die ein Ganzes bilden, aber in innigſter Verbindung und teilweiſe
in Parallelentwickelung mit den Organen anderer Gebiete ſich ausbilden. Wo auf einem
Gebiete die Organe fehlen, treten die auf anderen Gebieten entſtandenen ſtellvertretend
in die Lücke. Die Sitten- und Rechtsbildung iſt eine einheitliche; dieſelben Perſonen
handeln auf den verſchiedenen Gebieten und übertragen die Anſchauungen von einem
[63]Die Inſtitutionen und Organe; ihre Beurteilung.
auf das andere. Ein Volk mit ausgebildetem Vereinsleben überträgt ſeine Gewohn-
heiten vom politiſchen auf das wirtſchaftliche Gebiet; ein Militärſtaat mit ſchärfſter
Centraliſation übernimmt auch auf wirtſchaftlichem Gebiete Funktionen, die anderswo
der Aktiengeſellſchaft, dem Vereine, der Kirche anheimfallen.
Es iſt das Verdienſt Schäffles, die Grundlinien einer allgemeinen Lehre von den
ſocialen Organen gezeichnet zu haben, nachdem die ganze Entwickelung der Wiſſenſchaften
von Staat und Recht, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft ſeit den letzten paar Jahr-
hunderten erwachſen war unter einem heftigen Schwanken der Über- und Unterſchätzung
der Inſtitutionen und der Organbildung. Die Anſichten in dieſer Beziehung gehen
freilich auch heute noch je nach den Partei- und Klaſſenintereſſen, je nach den geſchichts-
philoſophiſchen Standpunkten auseinander.
Der Merkantilismus und die Kameraliſtik überſchätzten die Möglichkeit, durch Staat,
Geſetz und Fürſtenwillen alles neu zu ordnen und zu ſchaffen; ſelbſt Moral und Recht
galten den erſten Denkern von Hobbes bis auf Friedrich den Großen als Produkte
ſtaatlicher Anordnung: die Inſtitutionen galten ihnen deshalb alles, das freie Spiel
der Individuen wenig. Die Aufklärung kehrte die Sätze um und die liberale Doktrin
hält heute noch an dieſem Vorſtellungskreis feſt: die individuellen Gefühle und Hand-
lungen, das freie Spiel der Verträge, das freie Vereinsweſen und der Voluntarismus
werden gegenüber Staat, ſtaatlichen Inſtitutionen, feſten und dauernden Organiſationen
gerühmt; man fürchtet auf dieſem liberalen Standpunkte, wie ihn z. B. Hartenſtein in
ſeiner Ethik vertritt, daß bei jeder dauernden, feſten Ausbildung von Inſtitutionen die
einſeitigen Intereſſen der Herrſchenden zu ſehr zu Worte kommen, daß jede Inſtitution,
auch die zufällig einmal gelungene, raſch veralte, zum Hindernis für weitere Fortſchritte
werde. Man beruft ſich (Sir S. Maine) darauf, daß die Entwickelung der Geſellſchaft
von Statusverhältniſſen zu Verträgen führe, d. h. daß in älterer Zeit das Individuum
allſeitig durch feſte Inſtitutionen gebunden, ſpäter durch ein Syſtem freier Verträge ſeine
Beziehungen zu anderen ordne.
Der ältere Socialismus iſt dann wieder zur Überſchätzung der Inſtitutionen und
abſichtlicher Organbildung zurückgekehrt; er glaubt durch äußerliche Anordnung des
geſellſchaftlichen Lebens ſogar die inneren Motive alles menſchlichen Handelns ändern
zu können. Die Hegelſche Philoſophie, die im Staate die höchſte Sittlichkeit ſucht, und
andere konſervative Strömungen haben, wie die neueſte europäiſche Staatspraxis, teils
alte Inſtitutionen, wie die Zünfte, wieder günſtiger angeſehen und behandelt, teils
energiſch für die Neubildung von Inſtitutionen und Organen gekämpft. Die neueſte
ſocialdemokratiſche Lehre verwirft ja den beſtehenden Staat mit allen ſeinen Inſtitutionen,
träumt entſprechend ihrem radikal-individualiſtiſchen Urſprung von einem freien Spiele
aller individuellen Kräfte; aber ſie kommt mit dem ungeheuren Sprung, den auch ſie
für das pſychiſch-ſittliche Leben erwartet, doch zur Vorſtellung einer abſorbierenden Herr-
ſchaft öffentlicher Inſtitutionen über alle private Willkür.
Der Streit iſt im ganzen derſelbe, wie der im letzten Abſchnitte erörterte über den
Fortſchritt von individueller Freiheit und poſitivem Rechte. Die liberalen Individualiſten
verwechſelten die Abſchaffung veralteter Inſtitutionen mit der Beſeitigung aller dauernden
Einrichtungen. Sie überſchätzten die Gefahr der Erſtarrung in alten Inſtitutionen für
unſere Zeit. Die öffentliche Diskuſſion, der Kampf der Parteien und Parlamente, die
geſetzgeberiſche Materialſammlung und Vorbereitung der Geſetze in den Miniſterien geben
heute wenigſtens eine gewiſſe Garantie für eine flüſſige und gute Neubildung. Und ſo
wahr es iſt, daß neuerdings vielfach der Vertrag an Stelle von Inſtitutionen getreten
iſt, neue Organbildungen und ſociale Einrichtungen ſehen wir doch in Maſſe daneben
entſtehen. Und wir freuen uns, wenn ſie der Entwickelung feſte, ſichere Bahnen weiſen.
Es iſt klar, daß die Inſtitutionen, wenn ſie ſegensreich wirken ſollen, eine gewiſſe
Starrheit und Feſtigkeit haben müſſen. Ihr Zweck iſt ja, dem Guten, dem Lebens-
förderlichen, Zweckmäßigen die feſte Form zu geben, die allein die Anwendung erleichtert,
die Erfahrungen der Vergangenheit fixiert, die Millionen abhält, die alten Mißgriffe
zu machen, ſich ewig von neuem um dasſelbe Ziel abzumühen. Offenbar liegt der
[64]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
vollendete ſociale Zuſtand darin, daß die geſunden pſychiſchen Kräfte des Volkslebens
durch die Inſtitutionen nicht gehemmt, ſondern gefördert werden, daß die feſten Ein-
richtungen und das freie Spiel der individuellen Kräfte in richtiger Wechſelwirkung
einander ergänzen, daß die Inſtitutionen die freie Bewegung nicht unnötig hemmen,
die erwünſchte Entwickelung aber befördern. Die Inſtitutionen ſind nicht ſubjektive
Anläufe, ſondern objektive verkörperte Methoden und Maxime deſſen, was die Erfahrung,
die Weisheit der Jahrhunderte in Bezug auf die vernünftige und richtige Behandlung
praktiſcher Verhältniſſe gefunden hat.
Das vergleichende Studium der Volkswirtſchaft verſchiedener Zeiten und Länder wird
auch die natürlichen und techniſchen Unterſchiede, die der Raſſe, der Kapitalmenge und Ähn-
liches in Rechnung ziehen; aber ſie wird vor allem die Inſtitutionen und Organe vergleichen,
die wirtſchaftliche, Familien-, Gemeinde- und Staatsverfaſſung, die agrariſchen und gewerb-
lichen Betriebs- und Unternehmungsformen, die Inſtitutionen des Markt- und Verkehrs-
weſens, des Geld- und Kreditweſens, die Art, wie Arbeitsteilung und Klaſſenbildung ſich in
Vereinen und Korporationen, Ständen und Inſtitutionen fixiert haben. Das Studium der
Organe und Inſtitutionen iſt für die Erkenntnis des ſocialen Körpers dasſelbe, was die
Anatomie für die des phyſiſchen; auch die Phyſiologie der Säfte und ihre Cirkulation
kann nur auf einer Kenntnis der Organe ſich aufbauen. Die alte Volkswirtſchaftslehre mit
ihrem Untergehen in Preisunterſuchungen und Cirkulationserſcheinungen ſtellte den Ver-
ſuch einer volkswirtſchaftlichen Säftephyſiologie ohne Anatomie des ſocialen Körpers dar.
Der hiſtoriſche Fortſchritt des wirtſchaftlichen Lebens wird gewiß zunächſt in
beſſerer Produktion und Verſorgung der Menſchen mit wirtſchaftlichen Gütern beſtehen;
aber er wird nur gelingen mit beſſeren Inſtitutionen, mit immer komplizierteren Organ-
bildungen. Das Gelingen derſelben wird immer ſchwieriger, aber auch immer erfolg-
reicher ſein. Wie die wahre Methode über dem wahren Gedanken, ſo ſteht, ſagt Lazarus,
die weiſe Konſtitution über dem weiſen Fürſten, die gerechte Geſetzgebung über dem
gerechten Richter; wir können hinzufügen, die vollendete Verfaſſung der Volkswirtſchaft
über dem wirren Spiele der ſich bekämpfenden wirtſchaftlichen Kräfte. Es ſind die großen
Fortſchrittsideen und die ſittlichen Ideale, die in den Inſtitutionen ſich fixieren. Alle
großen Epochen des Fortſchrittes, auch die des volkswirtſchaftlichen, knüpfen ſich an die
Reform der ſocialen Inſtitutionen, an neue Organbildungen, wie z. B. neuerdings an
die Genoſſenſchaften, Gewerkvereine, Aktiengeſellſchaften, Kartelle, an die Fabrik- und
Arbeitsgeſetzgebung, an die Verſicherungsorganiſationen an. Die großen Männer und
die großen Zeiten ſind die, welche neue ſociale, politiſche, wirtſchaftliche Inſtitutionen
geſchaffen haben.
32. Der Kampf ums Daſein. Wenn Sitte, Recht und Moral, wenn alle
geſellſchaftlichen Inſtitutionen den Zweck haben, den Frieden in der Geſellſchaft zu
ſichern, die widerſtrebenden Kräfte zu verſöhnen und zu bändigen, die ungeſchulten zu
erziehen und in übereinſtimmende Bahnen zu führen, die einzelnen Individuen zu
gewiſſen Kraftcentren zu vereinigen, ſo könnte es den Anſchein haben, als ob in der
menſchlichen Kulturgeſellſchaft kein Platz für den Kampf ums Daſein wäre. Und doch
hat man ſeit den tiefgreifenden Forſchungen Darwins wieder einmal, wie ſchon oft ſeit
den Tagen der Sophiſten, auch das ganze geſellſchaftliche und hiſtoriſche Leben auf dieſe
Formel zurückgeführt und uns mit darwiniſtiſchen Kulturgeſchichten, Sociologien, Volks-
wirtſchaftslehren beſchenkt. Was iſt das Richtige an dieſer Auffaſſung? Iſt der Frieden
oder iſt der Kampf das Princip der Geſellſchaft? Oder ſind es vielleicht beide, jedes
in ſeiner Art und an ſeiner Stelle?
Die Lehre Darwins läßt ſich kurz ſo zuſammenfaſſen: Die Tiere vererben ihre
Eigenſchaften einerſeits von Generation zu Generation in ſo ziemlich gleicher Weiſe,
aber andererſeits verändern ſich dieſe Eigenſchaften doch in einer gewiſſen beſchränkten
Art. Das Paſſendſte überlebt ſich im Kampfe ums Daſein, und die Veränderlichkeit
der Eigenſchaften von Generation zu Generation (die Variabilität) hängt hiemit zu-
ſammen; die für den Kampf am beſten Ausgeſtatteten erhalten und paaren ſich, ihre
Eigenſchaften ſummieren ſich in ihren Nachkommen. So erklärt Darwin die Entſtehung
[65]Der Kampf ums Daſein in Geſellſchaft und Volkswirtſchaft.
der Arten aus einer geringeren Zahl von Weſen: das Princip der Zuchtwahl. Daß
mit dieſer großen Perſpektive Darwins ein Fortſchritt epochemachender Art erzielt ſei,
darüber iſt heute kein Streit, wohl aber darüber, ob dieſe Vorgänge allein die Ent-
ſtehung der Arten erklären oder nur in Verbindung mit anderen Thatſachen. Und noch
mehr darüber, ob die Schlüſſe generaliſierender heißblütiger Schüler Darwins richtig
ſeien, die nun ohne weiteres die geſellſchaftlichen und volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen
einſeitig und allein aus dieſen Principien erklären wollen und ſich gar zu dem Ge-
danken verſteigen, es gebe keinen anderen Fortſchritt als den durch Kampf bedingten,
und jede Hinderung und Abſchwächung irgend eines Kampfes der Individuen und der
Völker ſei verfehlt, weil ſie die Unfähigen erhalte und den Fähigen erſchwere, den Erfolg
für ſich einzuheimſen, den Unfähigen zu knechten oder zu vernichten. Es wird ſo für
die Volkswirtſchaft und für die Geſellſchaft, für das Verhalten der Individuen, der
Klaſſen und der Völker das nackte Princip proklamiert, der Stärkere habe das Recht,
den Schwächeren niederzuwerfen.
Die mit dieſen Fragen ſich eröffnenden Zweifel und Kontroverſen ſind außer-
ordentlich zahlreich und kompliziert; ſie hängen mit den Vererbungsfragen zuſammen,
liegen teilweiſe auf mediziniſchem und phyſiologiſchem Gebiete; ſie ſind zu einem guten
Teile noch nicht ganz geklärt. Aber ein Gedankengang iſt einfach; er entſpringt den
Betrachtungen, die uns hier beſchäftigen, und beſeitigt die ſtärkſte Unklarheit, die in den
Übertreibungen der Darwinianer, in der ſummariſchen Zuſammenfaſſung heterogener
Verhältniſſe und Urſachen unter dem Schlagwort „Kampf ums Daſein“ liegt. Es iſt
der Gedanke, daß jede ſociale Gruppenbildung ſchon eine Negation gewiſſer, vor allem
der brutalen, der für unſittlich gehaltenen Reibungen und Kämpfe aller zu einer Gruppe
Gehörigen in ſich ſchließe, daß ſympathiſche Gefühle, Sitte, Moral und Recht gewiſſe
Kämpfe innerhalb der ſocialen Gruppen ſtets verhindert haben oder zu verhindern ſuchten.
Wir können, indem wir dieſe ethiſche Wahrheit verſuchen hiſtoriſch zu formulieren,
ſagen: die Organiſation der Stämme, Völker und Staaten beruhte in älterer Zeit ganz
überwiegend nach innen auf ſympathiſchen, nach außen auf antipathiſchen Gefühlen,
nach innen auf Frieden, gegenſeitiger Hülfe und Gemeinſchaft, nach außen auf Gegenſatz,
Spannung und jedenfalls zeitweiligem, bis zur Vernichtung gehendem Kampfe. Aber es
fehlte daneben doch auch nicht der Gegenſatz im Inneren der Stämme, die friedliche
Beziehung nach außen. Nur überwog, je roher die Kultur war, das Umgekehrte. Je
höher ſie ſtieg, je größer die Gruppen, Stämme und Völker wurden, deſto mehr milderte
ſich auch der gemeinſame Kampf nach außen, deſto häufiger trat auch in den Beziehungen
der Völker untereinander an die Stelle der Kämpfe und der Vernichtung die friedliche
Arbeitsteilung, die Anpaſſung, die gegenſeitige Förderung. Im Inneren aber der
gefeſtigten größeren Gemeinſchaften mußte den kleineren Gruppen und Individuen
nun ein etwas größerer Spielraum der freien Selbſtbethätigung und damit weiteren
Streites eingeräumt werden; es entſtand hier ein gewiſſer Kampf der Gemeinden, der
Familien, der Unternehmungen, der Individuen, der aber ſtets in den Grenzen ſich
bewegte, welche durch die überlieferten ſympathiſchen Gefühle, durch die gemeinſamen
Intereſſen, durch Religion, Sitte, Recht und Moral gezogen wurden. So handelt es
ſich um eine fortſchreitende hiſtoriſche Verſchiebung der Gruppierung und der Kampf-
und Friedensbeziehungen der einzelnen und der Gruppen untereinander, um eine wechſelnde
Normierung und Zulaſſung der Kampfpunkte, der Kampfarten und der Kampfmittel.
Niemals hat der Kampf ſchlechtweg geherrſcht; er hätte zum Kriege aller gegen alle,
zur auflöſenden Anarchie geführt, er hätte niemals größere ſociale Gemeinſchaften ent-
ſtehen laſſen; er hätte durch die Reibung der Elemente untereinander jede große menſch-
liche Kraftzuſammenfaſſung und damit die großen Siege über die Natur, die Siege der
höheren Raſſe über die niedrigere, der beſſer über die ſchlechter organiſierten Gemein-
weſen verhindert. Niemals hat aber auch der Friede allein geherrſcht; ohne Kampf
zwiſchen den Stämmen und Staaten wäre keine hiſtoriſche Entwickelung entſtanden, ohne
Reibung im Inneren der Staaten und Volkswirtſchaften wäre kein Wettſtreit, kein Eifer,
keine große Anſtrengung möglich geweſen.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 5
[66]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Die einzelnen und die ſocialen Gruppen ſtanden ſo ſtets zugleich zueinander in
einem Verhältnis der Attraktion und der Repulſion, des Friedens und des Streites.
Überall herrſchen zwiſchen denſelben Perſonen und Gruppen heute feindliche, morgen
freundliche Beziehungen; man liebt ſich heute, wirkt zuſammen, fördert ſich, und morgen
haßt und beneidet, bekämpft und vernichtet man ſich. Die zwei Seiten aller Menſchen-
natur konnten nur durch dieſes Doppelſpiel der egoiſtiſchen und der ſympathiſchen
Willensanſtöße entwickelt werden: die Thatkraft konnte nur durch die kraftvolle Selbſt-
behauptung, die geſellſchaftlichen Inſtinkte konnten nur durch Frieden und Streitvermeidung
ausgebildet werden. Und da der Kampf ſelbſt ſtets ein doppelter, ein individueller und
ein kollektiver war, ſo iſt es wohl verſtändlich, wie beides in den verſchiedenſten Kombi-
nationen nebeneinander ſich ausbildete. Der kollektive Kampf war ſtets nur durch die
Gemeinſchaft möglich; innerhalb der Stämme und Völker fanden ſich meiſt und über-
wiegend Menſchen ähnlicher Körper- und Geiſteskräfte zuſammen, die auch ohne heftige
innere Kämpfe eine tüchtige, unter Umſtänden eine durch Variation ſich vervollkommnende
Nachkommenſchaft haben konnten, die jedenfalls nur durch ihr friedliches Zuſammenleben
und Zuſammenwirken die großen Fortſchritte der Sprachbildung, der Ausbildung der
ſympathiſchen Gefühle, der Religion, des Rechtes vollziehen konnten, die nur unter der
Herrſchaft dieſer Friedenseinrichtungen zur Ausbildung der politiſchen Tugenden, des
Patriotismus, der Treue, des Gehorſams kommen konnten. Alle ſtaatliche, zumal alle
kriegeriſche Organiſation und Disciplin konnte nur durch ſtarke Verbote und Ein-
ſchränkungen des individuellen Daſeinskampfes entſtehen, welche gewiß oftmals den
Fähigeren und Stärkeren hinderten, den Schwächeren zu vernichten. Aber das that
nichts; denn die Kinderſterblichkeit, die Krankheiten, der Kampf mit den Tieren und
den fremden Stämmen, die wirtſchaftliche Konkurrenz ſchafften Ausleſe genug. Und nicht
aller menſchliche Fortſchritt beruht doch auf der Ausleſe. Darwin ſelbſt muß geſtehen,
daß die moraliſchen Eigenſchaften, auf denen die Geſellſchaft beruhe, mehr durch Ge-
wohnheit, vernünftige Überlegung, Unterricht und Religion gefördert wurden. Die Lebens-
bedingungen der menſchlichen Geſellſchaft laſſen ſich eben mit denen der Tiere und Pflanzen
nicht ganz direkt paralleliſieren, weder in Beziehung auf die Fortpflanzung und Ver-
erbung, noch in Beziehung auf die Kämpfe der Individuen untereinander, noch in Be-
ziehung auf die der Gruppen und Geſellſchaften. Es waren voreilige Analogieſchlüſſe,
durch welche man ſich der konkreten Unterſuchung der geſellſchaftlichen Verhältniſſe und
der ſpeciellen Natur der in der Geſellſchaft ſich abſpielenden Kämpfe und Kampfſchranken
überhoben glaubte.
Wir haben hier nun die einzelnen Anwendungen der Analogieſchlüſſe nicht erſchöpfend
zu erörtern, wollen nur noch kurz andeuten, welche Rolle der Kampfgedanke in der
Ausbildung der neueren Volkswirtſchaftslehre geſpielt hat, wie er zwar fruchtbar auf
der einen Seite wirkte, auf der anderen aber auch Irrtum erzeugte, weil man meiſt die
richtige Begrenzung des Gedankens nicht ſofort erkannte.
Die Merkantiliſten ſahen in allem Handel, in allen wirtſchaftlichen Beziehungen
der Staaten untereinander weſentlich nur einen Kampf, wobei der eine Teil gewinne,
was der andere verliere; ihre wirtſchaftliche Politik war Kampfpolitik in übertriebener
Weiſe; die Staaten ſollten ſich möglichſt gegenſeitig wehe thun; die Individuen im
Staate ſollten umgekehrt durch alle denkbaren Schranken und polizeilichen Vorſchriften
in freundlichen, förderlichen Kontakt und Tauſchverkehr geſetzt werden. Die liberale
Naturlehre der Volkswirtſchaft, feſtgefügte, wohlgeordnete Staaten vorfindend und von
idealiſtiſchen Harmonievorſtellungen ausgehend, glaubte, die Staaten und Völker könnten
ſich kaum wirtſchaftlich ſchaden, nützten ſich durch freien Verkehr immer; aber die
Individuen, ihren Erwerb und Gewinn, ihre Bemühung um den Markt und gute
Preiſe ſtellte man ſich um ſo mehr als einen Kampf vor, als einen Verdrängungs-
prozeß der ſchlechteren Produzenten durch die beſſeren: der rückſichtsloſe, freie, individuelle
Konkurrenzkampf erſchien als das einzige Ideal; ſeine Schranken durch Moral, Sitte und
Recht, die niemals in der Wirklichkeit verſchwanden, überſah man in der Theorie.
Malthus hat dann den Kampf der Individuen um den Nahrungsſpielraum für die
[67]Alle Geſellſchaft ein Kompromiß zwiſchen Frieden und Streit.
Erklärung der Bevölkerungserſcheinungen benutzt und aus Erſcheinungen, in denen ſein
deutſcher Vorgänger Süßmilch eine göttliche Ordnung ſah, Fauſtkämpfe gemacht, die
mit Recht den Armen, deſſen Arbeit die Geſellſchaft nicht bedürfe, wieder durch Hunger
und Krankheit entfernen. Die Socialiſten haben nur die Kämpfe der ſocialen Klaſſen
geſehen, das Recht der Schwachen auf Organiſation in Anſpruch genommen, um den
Mächtigen und den Ariſtokraten entgegen zu treten, während ſie in ähnlichem Optimismus
wie A. Smith die Kämpfe der Völker nicht kannten oder als bloßes Unrecht verurteilten.
Ihre ariſtokratiſchen Gegner und die Anwälte des Kapitals, die Reichen, die Starken
haben ebenſo einſeitig das Herrenrecht dieſer Kreiſe gepredigt und in jeder Armenunter-
ſtützung, jeder Arbeiterverſicherung, jedem Kampfe gegen Arbeitsloſigkeit eine falſche Er-
haltung der geringeren und ſchlechteren Elemente geſehen, nicht einmal eingedenk des
Darwinſchen Wortes, daß die heutigen Sieger im Kampf ums Geld keineswegs ſtets
die Beſten und die Tüchtigſten ſeien.
Wir ſehen, wie wechſelvoll der Kampfgedanke verwertet wurde, wie wenig Sicheres
dabei bisher herauskam, weil man ein Schlagwort ohne nähere Prüfung der konkreten
Verhältniſſe, Menſchen, Inſtitutionen und der Folgen des Kampfes im einzelnen an-
wandte. Wir kommen auf dieſe ſpeciellen Verhältniſſe unten. Hier iſt nur zu ſagen:
im internationalen Handelskampfe, im individuellen Kampfe auf dem Markte um den
Preis und den Abſatz, im ſocialen Kampfe der Klaſſen handelt es ſich um große pſycho-
logiſche, geſellſchaftliche und wirtſchaftliche Prozeſſe, wobei ſtets zugleich Gruppen zu
friedlichem Zuſammenwirken durch bindende Ordnungen des Rechtes, der Sitte und der
Moral zuſammen zu faſſen ſind, wobei dem egoiſtiſchen Intereſſe der einzelnen und der
Gruppen ein gewiſſer Spielraum zu gönnen, aber zugleich eine Grenze zu ſetzen iſt.
Teilweiſe reguliert der Egoismus ſich ſelbſt und hält durch Druck und Gegendruck den
Mißbrauch ab; ebenſo oft aber muß er gebändigt werden.
Man hat Sitte, Moral und Recht Streitordnungen genannt; das iſt bis
auf einen gewiſſen Grad richtig, nur muß man hinzufügen, daß die immer feinere
und gerechtere Ausbildung der Streitordnungen eine Hauptaufgabe der höheren ſittlichen
Kultur ſei, und daß der letzte Zweck der Streiteinengung nicht bloß die Schaffung des
Friedens, ſondern die immer größerer, harmoniſierter, komplizierterer und wirkungsvollerer
Kollektivkräfte ſei. Concordia parvae res crescunt. Je höher unſere ſittliche und ſtaat-
liche Entwickelung geht, deſto mehr müſſen auch die Leute mit ſtarker Fauſt und großem
Geldbeutel, mit verſchlagener Pfiffigkeit ſich den ſittlichen Lebensordnungen fügen, deſto
weniger werden brutale Vergewaltigungen, Ausbeutungen, harte Herrſchaftsverhältniſſe
mehr zugelaſſen. Mehr und mehr läßt man nur beſtimmte Arten des Sieges zu, den
Sieg der größeren Intelligenz und Fähigkeit, der ſich im Konkurrenzkampf vor der
Öffentlichkeit, im Kampf um die Ämter vor der Prüfungsbehörde ausgewieſen hat.
Man muß ſuchen die Siege der Klugen zugleich zu Siegen der Edlen und Guten zu
machen. Man wird im Kampfe der ſocialen Klaſſen nicht den unteren Handſchellen
anlegen, den oberen freie Bahn geben, — aber auch nicht die Ausſchreitungen der
unteren Klaſſen, ſoweit ſie zu maßloſer, vergiftender Leidenſchaft, zu Gewaltthätig-
keiten, zur Bedrohung des ganzen öffentlichen Friedenszuſtandes und der volkswirtſchaft-
lichen Blüte der Nation führen, dulden dürfen. Man wird mit allen Mitteln ſuchen
müſſen, an die Stelle roher, mit brutaler Gewalt durchgeführter Kraftproben, an Stelle
von Kämpfen mit zufälligem Ergebnis billig vernünftige Entſcheidungen von Schieds-
gerichten oder Behörden zu ſetzen. Man wird ſich ſtets erinnern, daß nur ein gewiſſes
Maß des Streites und Kampfes die Energie und Thatkraft fördert, ein weiteres dieſe
Eigenſchaften auch lähmen kann. Schutzmaßregeln, Erziehung, Wettkämpfe beſchränkter
Art können für viele Kreiſe richtiger ſein, auch die Energie mehr fördern als überharte,
erſchöpfende und tötende Kämpfe. In jeder civiliſierten Geſellſchaft findet eine fort-
währende Ethiſierung aller Kämpfe ſtatt. Selbſt die kriegführenden Truppen unterwerfen
ſich den Satzungen des Völkerrechts.
Der Kampf hört damit nicht auf und er ſoll nicht aufhören. Jedes Individuum
und jede Gruppe will ſich behaupten, will leben, ſich ausdehnen, an Macht zunehmen.
5*
[68]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Jede ſtarke, irgendwo ſich ſammelnde Macht kommt in Konflikt mit den überlieferten
Ordnungen, will ſie zu ihren Gunſten ändern. Das geht nicht ohne Streit, und
inſofern iſt dieſer der Ausdruck des Lebens, der Neubildung, des Fortſchrittes. Es iſt
das Recht des Kräftigeren und Beſſeren zu ſiegen; aber jeder ſolche Sieg ſoll nicht
bloß das Individuum, ſondern zugleich die Geſamtheit fördern. Iſt es für dieſe beſſer,
daß über dem Sieg einzelne zu Grunde gehen, ſo muß das in den Kauf genommen
werden. Wie in den großen Kämpfen der Geſchichte ganze Völker und ganze Klaſſen,
ſo müſſen zu ſchwache, zurückgebliebene Familien und Perſonen im wirtſchaftlichen und
ſocialen Kampfe des Lebens untergehen. Verkommene Ariſtokratien, verkümmerte Mittel-
ſtände, tief geſunkene Schichten des Proletariats ſind zeitweiſe ſo wenig zu retten, als
an gewiſſen Stellen körperlich und geiſtig ſchwache Individuen. Die Ausſtoßung des
Unvollkommenen iſt der Preis des Fortſchrittes in der Entwickelung. Aber ob im ein-
zelnen Fall das ſchwächere Volk, die bedrohte Klaſſe, die notleidenden Individuen nicht
mehr zu retten ſeien, ob ſie nicht neben Fehlern und Schwächen noch entwickelungs-
fähige Kräfte haben, ob ſie nicht durch Erziehung, Unterſtützung, Übergangsmaßregeln
zu retten ſeien, ob nicht der jeweilige Druck gerade neue Eigenſchaften zu Tage fördere
und ſie ſo wieder emporhebe, das iſt eine offene Frage, über die ſtets nur das Leben
entſcheiden kann. Jeder ſolche Kampf iſt ein unendlich komplizierter, von vielen ver-
ſchiedenen Eigenſchaften, Konjunkturen und Zufällen abhängiger. Die Regierungen,
Parteien und Klaſſen, die führenden Geiſter werden je nach ihrer Kenntnis der perſön-
lichen Kräfte und der Geſamtverhältniſſe, je nach ihrer Auffaſſung des Geſamtwohles
und der wünſchenswerten Entwickelung bald für Milderung und Einſchränkung des
Kampfes, für Unterſtützung der Schwachen, bald für ihre Preisgebung und Geſtattung
des Kampfes ſein. Nur darf das Loſungswort „freie Bahn für den Starken“ nicht
ſtets als ſelbſtverſtändlich gelten: es kommt unter Umſtänden nicht ſowohl der guten
und entwickelungsfähigen, ſondern auch der rohen und der gemeinen Kraft zu gute.
Der deutſche Bauernſtand iſt durch eine glückliche Politik vom 17.—19. Jahrhundert
gerettet worden, der engliſche iſt zu Grunde gegangen; wollen wir etwa darum England
preiſen?
So unzweifelhaft es immer Kämpfe wird geben müſſen, ſo ſicher iſt es oft die
Aufgabe der Politik, ſie zu mildern und das Entwickelungsfähige zu retten. Die
Hoffnung der Socialdemokratie, daß es je eine Zeit ohne Konkurrenz, ohne Kampf,
ohne Kriege geben werde, iſt ſo einſeitig und ſo falſch, als die Freude des cyniſchen
Ariſtokraten und Millionärs, der das Elend der Maſſen nur als die notwendige Folge
ihrer Schwäche und Fehler, ſeinen Beſitz als die Folge ſeiner Eigenſchaften anſieht. Wir
werden die Hoffnung nicht aufgeben, daß im Laufe der Geſchichte auf die Dauer die
Stärke ſiegt, die zugleich die ſittlich größere Kraft, die entwickelungsfähigſten Keime
in ſich birgt. Aber davon giebt es im einzelnen viele Ausnahmen, beſonders überall
da, wo Ehrlichkeit mit Unehrlichkeit, die Kraft der Vergangenheit mit der der Zukunft
ringt. Und daher iſt der Schutz hiegegen häufig eine ſittliche Pflicht der Geſellſchaft;
ſonſt müßten wir auch die Diebe, Räuber und Mörder walten laſſen.
Die Gefahr, daß wir durch Sitte, Moral und Recht, durch den Schutz der Schwachen
eine einſchläfernde Streitloſigkeit erzeugen, iſt zumal in unſerer Zeit ſehr gering. Die
heutige wirtſchaftliche Konkurrenz iſt gegen früher ſo enorm gewachſen, daß die weit-
gehendſten ſocialen Reformen und Schutzmaßregeln den ſchwächeren Elementen der Ge-
ſellſchaft den Schutz und die Hülfe nicht geben, die ſie früher hatten. Auch in der
humaniſierteſten Geſellſchaft wird mit immer dichterer Bevölkerung der Kampf um Ehre,
Beſitz, Einkommen, Macht nicht aufhören, ſo wenig als der Kampf zwiſchen den ſocialen
Gruppen und den Staaten aufhören wird, der in gewiſſem Sinne eben deshalb
berechtigter iſt, als er ſtets die einzelnen, die Glieder einer Klaſſe, die Bürger eines
Staates zuſammenfaßt, ſie nötigt, ihre kleinlichen egoiſtiſchen Leidenſchaften zurückzudrängen
und für Geſamtintereſſen materieller und idealer Art einzutreten. Damit wird der Streit
zurückgedrängt, der Patriotismus belebt, die ſittlichen Kräfte geſchult und gefördert.
Große Kriege — ſolche mit günſtigen und ſolche mit ungünſtigen Erfolgen — wurden
[69]Die Ethiſierung der geſellſchaftlichen Kämpfe. Die Moralſyſteme.
für die Völker oftmals die Ausgangspunkte innerer Reform und neuen wirtſchaftlichen
Aufſchwunges. —
33. Die religiöſen und philoſophiſchen Moralſyſteme. Wir haben
oben (S. 46—47) die Bedeutung der Religion für die Ausbildung der ſittlichen Urteile
und Handlungen zu charakteriſieren verſucht und weiterhin (S. 55—56) auf den hiſtoriſch-
pſychologiſchen Zuſammenhang hingewieſen, in welchem aus Sitte und Recht heraus
einheitliche Gedankenſyſteme der Moral ſich bildeten. Im Anſchluß an das dort Geſagte
haben wir hier auf dieſe Syſteme nochmal zurückzukommen. Wir haben einmal den
geiſtig-methodologiſchen Prozeß kurz zu charakteriſieren, die dieſe Syſteme geſchaffen hat;
es iſt im ganzen derſelbe, der auch politiſche, ſociale und volkswirtſchaftliche Syſteme
ſpäter erzeugt hat und immer wieder erzeugt; die volkswirtſchaftlichen Syſteme ſind
Ableger und Ausläufer der Moralſyſteme, hängen mit ihnen zuſammen; Moral- und
politiſche Syſteme wirken auf alles praktiſche, alſo auch auf alles volkswirtſchaftliche
Leben bei höherer Kultur tiefgreifend ein. Wir haben dann kurz auseinander zu ſetzen,
welche Hauptgattungen von Moralſyſtemen das geiſtige Leben der Kulturvölker erzeugte,
und wie gewiſſe große praktiſche Lebensideale und Leitideen aus ihnen hervorgingen,
welcher Natur dieſe verſchiedenen Ideen und Principien ſind; ſie haben in den letzten
Jahrhunderten eine führende, oft aber auch irreführende Rolle im volkswirtſchaftlichen
Leben geſpielt. —
a) Jede Religion wie jedes Moralſyſtem ruht auf einheitlichen Vorſtellungen
über Gott und die Welt, über ihr gegenſeitiges Verhältnis, über Natur und Geiſt, über
Leben und Sterben, über die letzten Zwecke der menſchlichen Exiſtenz. Nach den jeweiligen
Erkenntniſſen und Kauſalitätsvorſtellungen, nach den pſychologiſchen Anſchauungen und
ethiſchen Bedürfniſſen muß jedes Syſtem über dieſe Grundfragen zu einem einheitlichen
Ergebnis kommen, das, dem geiſtig-ſittlichen Niveau der betreffenden Menſchen angepaßt,
für Tauſende und Millionen überzeugende Kraft hat und oft Jahrhunderte lang behält.
Wie alles menſchliche Selbſtbewußtſein nur zu ſtande kommt durch Verbindung und
Konzentrierung alles Wahrgenommenen, Erlebten und Erſtrebten in der Syntheſe des
einheitlichen Ichs, ſo erzeugt auch in jeder menſchlichen Geſellſchaft der unwiderſtehliche
geiſtige Zug zur Einheit ein die beſtimmte Geſellſchaft verbindendes, mehr oder weniger
einheitliches Gedankenſyſtem. Die denkenden Menſchen fühlen ſich erſt glücklich, wenn
ſie zu einem ſolchen Punkte gekommen ſind, in dem ſie wie in einem Brennpunkte
alle theoretiſchen und praktiſchen Vorſtellungen zuſammenfaſſen, der ihr Denken wie ihr
Gewiſſen befriedigt, der mit einer plauſibeln Vorſtellung von der Welt zugleich den
richtigen Leitſtern für alles Handeln abgiebt. Das geſchieht in den Religions- und
Moralſyſtemen, wie ſie die Völker und Zeitalter im ganzen einheitlich beherrſchen.
Die Religionen ſind ſtets zugleich Verſuche einer Kosmogonie, einer rationalen
Erklärung des Seienden, wie ſie Syſteme der praktiſchen Lenkung alles Geſchehenden
darſtellen. Und wenn die philoſophiſchen Moralſyſteme dann wenigſtens teilweiſe auf
die Vorſtellung einer göttlichen Offenbarung und eines ſteten Neueingreifens der Gottheit
verzichten, eine beſtimmte Metaphyſik, eine beſtimmte Vorſtellung von der Welt und
Weltregierung, vom Leben nach dem Tode, den Zwecken alles Lebens liegt ihnen doch
ebenſo zu Grunde; ſie ruht auf fortſchreitender Natur- und Geſchichtserkenntnis; aber
ſie reicht nicht aus, ein abgerundetes Bild der Welt zu geben, wie es nötig iſt, um
als Hintergrund und Ausgangspunkt eines praktiſch wirkenden einheitlichen Verpflichtungs-
grundes und Syſtems zu dienen. Jedes Moralſyſtem repräſentiert eine beſtimmte einheit-
liche Weltanſchauung und ſtellt ein einheitliches Lebensideal auf, das auf Erkenntnis und
Glauben zugleich beruht; ein Sollen lehrt man, Ideale predigt man wirkſam nur, die Welt
und die Menſchen überwindet man nur von einem centralen Punkte aus, der das Ganze
aller Zuſammenhänge erfaſſen will. Der dabei ſtattfindende pſychiſche Prozeß iſt immer
ein ähnlicher, wie er in Bezug auf alle Religionsbildung und auf alle Herrſchaft
religiöſer Gefühle ſtattfindet. Es handelt ſich um eine Ergänzung unſerer wirklichen
Erkenntnis durch ein Hoffen und Glauben. Der menſchliche Geiſt ſucht ſich intuitiv,
ſynthetiſch, mit der Phantaſie ein Bild von der Welt, von den in ihr herrſchenden
[70]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Principien und Ideen, von ihrer Entwickelung, vom Zuſammenhang des Einzelſchickſals
mit Gott, mit der ganzen Menſchheit, mit Staat und Geſellſchaft, ein Bild von der
Zukunft nach dem Tode zu machen. Und von hier aus verſteht er die Welt und ſich
ſelbſt, ſeine Aufgaben und ſeine Pflichten. Der Chriſt des älteren Mittelalters, der das
baldige Herannahen des jüngſten Tages erwartete, in der Abtötung des Leibes die erſte
Pflicht, in dieſer Welt nur das Böſe ſah, mußte ſehr vieles anders beurteilen, ſein
Handeln anders einrichten als der Materialiſt, für den es nur ein Diesſeits und ſinn-
liche Freuden giebt. Wer die Anfänge des Menſchengeſchlechtes in tierartigen Zuſtänden
erblickt und aus ihnen heraus durch die Annahme großer Fortſchritte zum Bilde einer
nach und nach wachſenden Vervollkommnung der Individuen und der Geſellſchaft kommt,
muß über die meiſten Pflichten und ſocialen Einrichtungen anders denken, als wer, wie die
Kirchenväter, an den Beginn der Geſchichte ideale, vollkommene Menſchen ohne Sünde,
ohne Staat, ohne Eigentum ſetzt, die nur durch den Sündenfall der Schlechtigkeit ver-
fallen ſind. Aber auch wo die Gegenſätze nicht ſo groß ſind, bleibt immer für den
Optimismus und für den Peſſimismus, für antike und chriſtliche, idealiſtiſche und
materialiſtiſche Auffaſſung die Möglichkeit verſchiedener Weltanſchauung, verſchiedener
Lebensideale und Moralſyſteme, die nun bei den höheren Kulturvölkern nebeneinander
beſtehen, einander bekämpfen und ablöſen.
Die Syſteme nähern ſich einander, je mehr zu ihrem Aufbau eine ſteigende Summe
feſtſtehender Erfahrungserkenntnis verwendet iſt. Aber dieſe iſt ſtets unvollendet, bruch-
ſtückartig. Und das Weſen der Weltanſchauung, des Moralſyſtems iſt es, ein Ganzes
zu geben. So ſteckt in dieſen Syſtemen ſtets ein Stück Hypotheſe und Glauben; es
handelt ſich um ein teleologiſches Verfahren, das, ausgehend von einem Bilde des
Ganzen, von ſeinen Zwecken, das einzelne zu begreifen ſucht, durch reflektierende Urteile
alles Zuſammengehörige unter einen einheitlichen Geſichtspunkt ordnet. Kant hat in
der Kritik der Urteilskraft uns gezeigt, wie der menſchliche Geiſt notwendig auf ein
ſolches Verfahren angewieſen ſei, und die Philoſophie hat ſeither anerkannt, daß die
Teleologie mit Recht als ſymboliſierende Ergänzung in dieſen letzten Fragen der empi-
riſchen Wiſſenſchaft zur Seite trete. Es handelt ſich um die Verſuche der Ausdeutung
des Ganzen und ſeiner Zwecke, um ſo die Spannkraft des Willens zu erreichen, ohne die
nichts Großes zu leiſten, kein Fortſchritt zu machen iſt. Die Vorſtellung, daß die Welt
überhaupt eine einheitliche ſei, daß es ein einheitliches Stufenreich der Natur und der
Geſchichte, eine Vervollkommnung gebe, iſt, wie aller Gottesglaube, nur auf dieſem
Wege entſtanden. Die neuen, zündenden, praktiſchen Syſteme der Religion, der Moral
und der Politik erwachſen nur ſo; ihre Principien ſind ſtets bis auf einen gewiſſen
Grad einſeitig, aber ſie wirken weltbewegend; ſie löſen das Alte auf, erſchüttern alles
Beſtehende, ſind oft revolutionär; aber ſie bauen auch das Neue auf, beherrſchen mit
ihren Principien die Neugeſtaltung, ſo einſeitig dieſe zunächſt ausfallen möge.
Die Religions- und Moralſyſteme und alle an ſie ſich anknüpfenden ähnlichen
Syſteme und allgemeinen Theorien des Staates, des Rechtes, der Volkswirtſchaft, der
Socialpolitik ſind mehr praktiſche Lebensmächte, als Ergebniſſe der ſtrengen Wiſſenſchaft.
Während es ſtets nur ein richtiges, für alle überzeugendes Reſultat im Gebiete empiriſch-
methodiſcher Forſchung und Erkenntnis geben kann, wird es über die praktiſchen Ideale,
über Pflicht und zukünftige Entwickelung, über Bevorzugung des einen Lebens- und
Geſellſchaftszweckes vor dem anderen immer leicht verſchiedene Auffaſſungen und Lehren
geben. Auch in jenen älteren Tagen, als einheitliche kirchlich-religiöſe Überzeugungen
ganze Stämme und Völker beherrſchten, fehlten die Zweifel und die abweichenden Mei-
nungen einzelner nicht. Wo aber die höhere Entwickelung mit ihrer freien Kritik, ihrer
Litteratur, ihrem Unterricht ein offenes Feld des geiſtigen Kampfes eröffnet hat, da
müſſen noch viel mehr als früher die verſchiedenen möglichen Weltanſchauungen zu
entgegengeſetzten, ſich bekämpfenden Syſtemen und Lehrgebäuden führen. Ihr Aufeinander-
wirken, gefährlich für niedrig ſtehende Völker, bedingt gerade die Fortſchritte der höher
ſtehenden. Mit ihrer Einſeitigkeit werden die verſchiedenen Syſteme, welche die ver-
ſchiedenen Seiten des menſchlichen Lebens repräſentieren, periodiſch abwechſelnd die Führer
[71]Der Urſprung der Moralſyſteme, ihre Hauptarten.
des Menſchengeſchlechtes auf der nur durch taſtende Verſuche fortgebildeten Bahn beſſerer
Organiſation.
b) So ſind ſeit dem fünften Jahrhundert vor Chriſti in Griechenland und dann
ſeit dem Wiedererwachen wiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Studien gegen Ende
des Mittelalters hauptſächlich zwei Gruppen von Syſtemen der Moral miteinander
im Kampfe, die ſenſualiſtiſch-materialiſtiſchen und die metaphyſiſch-idealiſtiſchen. Die
erſteren, mehr von der nächſten Wirklichkeit ausgehend, ohne großen Überblick und tieferen
Sinn für das Überirdiſche und Ideale, waren das Ferment der Auflöſung der über-
lieferten Religionen, die Totengräber der überlebten Kultur, die Erzieher der Indivi-
dualität, die Begründer moderner Einrichtungen, teilweiſe auch die Vernichter der vor-
handenen ſittlichen Spannkräfte und der beſtehenden Geſellſchaftsinſtitutionen. Ihnen
ſtellten ſich immer wieder die idealiſtiſchen Syſteme gegenüber, teils verſuchend, das
Gute der Vergangenheit zu retten, teils Idealbilder einer beſſeren Zukunft vorzuführen.
Zu den erſteren gehören im Altertum die Sophiſten und Epikur, in neuerer Zeit
Gaſſendi, Hobbes, Locke, die franzöſiſchen Encyklopädiſten, Bentham, J. St. Mill,
Benecke, Feuerbach und ihre modernſten Nachfolger; zu den letzteren Plato, die Stoa,
der Neuplatonismus, Auguſtin, Thomas von Aquino, Hugo Grotius und die an die
Stoa ſich anſchließenden Naturrechtslehrer, dann Leibniz, Kant, Schelling, Hegel, in
gewiſſem Sinne auch Auguſte Comte. Die erſteren Schulen wollen eine Formel für das
Gute, für das richtige Handeln finden; ſie ſtellen die Luſt, das Nützliche, die Gemüts-
ruhe des Individuums, neuerdings das Glück der einzelnen oder der Geſellſchaft in den
Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Staat, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft laſſen ſie durch
äußeres Zuſammentreten der Individuen entſtehen, die ſie bald mehr als im Kampf,
bald als von Natur in friedlichen Beziehungen begriffen ſich denken. Das indivi-
dualiſtiſche Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts und die neuere Utilitätsethik ſind
ihre Höhepunkte; beide weſentlich beeinflußt von den antiken Lehren Epikurs, des flachen
Verteidigers der individuellen Glückslehre einer abſterbenden Kulturepoche. Die Syſteme
dieſer Richtung haben vieles einzelne richtig beobachtet, ſie haben in richtiger Weiſe
ſtets das Sittliche an das Natürliche angeknüpft, ſie haben darin Recht, daß das Streben
nach Glück im Centrum aller ethiſchen Betrachtung ſteht. Aber im ganzen iſt ihre
Beobachtung des ſittlichen Thatbeſtandes, der ſittlichen Kräfte und Güter doch eine ein-
ſeitige, das Leben nicht erſchöpfende; ſie überſchätzen die Reflexion und die Verſtandes-
thätigkeit, ſie ſtehen den großen geſellſchaftlichen Erſcheinungen und den großen Epochen
ſchöpferiſcher Leiſtungen teilweiſe ohne das rechte innere Verſtändnis gegenüber.
Die idealiſtiſchen Moralſyſteme gewinnen ihre Kraft durch großartige und tief-
gedachte Welt- und Geſchichtsbilder, durch religiös empfundene, künſtleriſch abgerundete
Vorſtellungsreihen über Gott, die Welt und die Menſchheit. Mit der Wucht idealiſtiſcher
Forderungen, mit der Autorität ſchlechthin über das Menſchliche erhabener ſittlicher
Gebote treten ſie den Menſchen entgegen, leiten die Pflichten aus angeborenen Vernunftideen
oder Erinnerungen der Menſchenſeele an ihren göttlichen Urſprung ab. Sie ſtellen das
Gute in ſchroffen Gegenſatz zum Natürlichen, verſchmähen häufig das Glück als Beweg-
grund des Sittlichen; ſie ſtellen Staat und Geſellſchaft ſtets als das Ganze, als das
Höhere und Gute, als einen Teil der ſittlichen Weltordnung dem Individuum und dem
Egoismus gegenüber. Sie haben Großes gewirkt für die Erziehung der ſittlichen Kräfte,
für die Heiligung eines ſtrengen Pflichtbegriffes, für das Verſtändnis und die Würde
der geſellſchaftlichen Inſtitutionen. Aber ſie ruhten vielfach mehr auf Hypotheſen und
idealiſtiſchen Annahmen, überſahen das empiriſche Detail der pſychologiſchen Vorgänge
und geſellſchaftlichen Einrichtungen. Sie hielten nicht Stand vor der fortſchreitenden
ſtrengeren Wiſſenſchaft.
Dieſe Wiſſenſchaft, welche nicht ſowohl ein Sollen lehren und Ideale aufſtellen,
als das ſittliche Leben empiriſch beſchreiben, aus den pſychologiſchen und geſellſchaft-
lichen Elementarthatſachen verſtehen und ableiten will, hat ſich ſo naturgemäß ſeit alter
Zeit neben beiden Arten von Syſtemen entwickelt. Wir können Ariſtoteles als den
großen Ethiker feiern, in dem zuerſt das wiſſenſchaftliche Intereſſe das Übergewicht über
[72]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
das praktiſche hatte. In der neueren geiſtigen Entwickelung iſt es die ältere pſychologiſch-
ethiſche Schule der Engländer Schaftesbury, Hutcheſon, Hume, A. Smith, in Deutſch-
land ſind es Herbart, Lotze, Horwicz, Wundt, Paulſen, die überwiegend hieher gerechnet
werden müſſen. Dieſe Richtung, welche eine empiriſche Ethik verſucht, ſchließt allgemein
an die Spitze des Syſtems geſtellte Konzeptionen über einheitliche Entwickelung und Ver-
vollkommnung nicht aus, wie wir an Herbert Spencer ſehen, der alles, auch das ſittliche
Leben, aus der Entwickelungstheorie ableitet. Aber das Metaphyſiſch-Idealiſtiſche tritt
doch mehr zurück. Und am deutlichſten tritt die Richtung mit ihren Grundtendenzen
dadurch hervor, daß man neben den ethiſchen Syſtemen, welche das Ganze der menſch-
lichen Handlungen darſtellen und lehren wollen, verſuchte ſog. Sociologien zu ſchreiben.
Dieſe neuere Geſellſchaftslehre will nicht bloß, wie ſeiner Zeit R. Mohl, ein Gefäß
ſein, um einige in Staatslehre, Statiſtik und Nationalökonomie nicht recht unter-
zubringende Erörterungen über die Geſellſchaft aufzunehmen, nein, ſie will die Geſamtheit
der geſellſchaftlichen Erſcheinungen, welche in der Ethik oft überſehen, oft ſtiefmütterlich
als ſittliche Güter behandelt, jedenfalls nur vom Standpunkte eines beſtimmten Moral-
ſyſtems betrachtet wurden, als ein zuſammenhängendes natürlich-geiſtiges, kauſales
Syſtem von Erſcheinungen ſchildern, begreifen und erklären. Gewiß eine Rieſenaufgabe,
an die man erſt denken konnte, nachdem in einer Reihe Specialwiſſenſchaften, wie in
der Staatslehre, Nationalökonomie, Finanz, Statiſtik wenigſtens für gewiſſe Teile der
Anfang einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Einzelerkenntnis begonnen. Es iſt daher auch
natürlich, daß die Einzelforſcher den Sociologen zurufen, laßt uns doch bei unſerer
Detailarbeit. Aber ebenſo notwendig hat die empiriſche Begründung der Ethik, wie
das Bedürfnis, für die geſellſchaftlichen Specialwiſſenſchaften eine allgemeinere Grundlage
zu gewinnen, zu jenen erwähnten Verſuchen geführt, deren wichtigſte wir in Aug. Comtes
Werken, in Spencers Sociologie, in Schäffles Bau und Leben des ſocialen Körpers vor
uns haben. Es ſind gewiß unvollkommene Verſuche, aber doch die wichtigſten Stützen
für eine empiriſche Ethik und unentbehrliche Hülfsmittel für die allgemeinen Fragen der
ſocialen Specialwiſſenſchaften. Mag man dabei den Nachdruck mehr auf die Zuſammen-
faſſung oder auf die Specialunterſuchung der allen dieſen Wiſſenſchaften gemeinſamen
Fragen legen, man wird dieſer Sociologie, die freilich nur eine Art ausgebildeter
empiriſcher Ethik iſt, ihr Bürgerrecht in dem Reiche der Wiſſenſchaften nicht mehr ab-
ſtreiten können.
c) Die praktiſche Wirkſamkeit der Moralſyſteme wie der ſpäter aus ihnen ab-
geleiteten Syſteme der Wirtſchafts- und ſonſtigen Politik wurde ſtets in dem Maße
erhöht, als es ihnen gelang, für die dauernd oder jeweilig bevorzugten Richtungen des
Handelns und der Reform möglichſt einheitliche Schlagworte und packende Gedanken,
ſog. ethiſche Principien und Ideale an die Spitze zu ſtellen. Zwar iſt es kaum je
gelungen, ein einziges Princip oder eine Formel ſo zu finden, daß mit vollſtändiger
logiſcher Folgerichtigkeit daraus alle anderen ſittlichen Ideale und Forderungen ab-
geleitet werden könnten; aber es hat doch jedes Syſtem verſuchen müſſen, die ſämtlichen
verſchiedenen gepredigten Pflichten, ſittlichen Forderungen und Ideale entweder in eine
gewiſſe Beziehung zu einem Grundgedanken zu bringen oder ſie auf eine kleine Anzahl
koordinierter Principien zu reduzieren. Dabei mußten dieſe Principien oder der Grund-
gedanke, um an die Spitze zu treten, möglichſt generell gefaßt werden; aber es ergab
ſich damit die Kehrſeite, daß ſie verſchiedener Anwendung und Deutung unterlagen;
auch konnte nie ausbleiben, daß auf die Formulierung die jeweiligen Kultur- und
Geſellſchaftsverhältniſſe, die geiſtigen Strömungen der Zeit Einfluß erhielten.
Wir haben nun hier nicht etwa den Verſuch zu machen, den großen Prozeß der
Entwickelung dieſer Leitideen, wie die Geſchichte der Religionen, der Moralſyſteme und
der ganzen menſchlichen Kultur ihn uns enthüllt, zu ſkizzieren und die einzelnen Syſteme
und ihre Ideale zu kritiſieren, ſondern wir haben nur kurz zu reſümieren, wie die
wichtigſten neueren dieſer Formeln und leitenden Ideen lauten und welche Bedeutung
ſie für das volkswirtſchaftliche Leben gehabt haben und noch haben.
[73]Die Leitideen und Ziele der verſchiedenen Moralſyſteme.
Die Moralſyſteme, welche den Egoismus überhaupt oder den verfeinerten Egoismus
als Grundprincip predigten, haben ſich in neuerer Zeit teils zu einer individuellen Glück-
ſeligkeitslehre, teils zu der Theorie erhoben, daß aller ſittliche Fortſchritt in dem Streben
beſtehe, die größte Summe von Glück oder Luſt für die größte Menſchenzahl her-
zuſtellen; dieſe Utilitätslehre, ſcheinbar von Chriſtentum und idealiſtiſcher Moral ſo
weit entfernt, will in den Händen edler und feinfühliger Ethiker und Politiker im ganzen
dasſelbe. Sagt doch ſelbſt Lotze: „alle moraliſchen Geſetze ſind Maximen der allgemeinen
Luſtökonomie“. Auch die idealiſtiſchen Syſteme ſchmuggeln indirekt eine Glückslehre ein.
Die Wirkſamkeit dieſer realiſtiſchen Schule iſt in der Gegenwart faſt noch im Wachſen;
der ganze engliſche Radikalismus mit ſeinen politiſchen und wirtſchaftlichen Idealen iſt
auf dieſem Boden erwachſen. Aber freilich kann dieſes Ideal der Glücksſteigerung je
nach der Klaſſifikation, nach der Einzeldarſtellung und Ausführung der Luſtarten ſehr
verſchieden ſich geſtalten und deshalb ebenſo leicht zu irreführenden ſocialen Ideen, zu
einer falſchen Ordnung der menſchlichen Zwecke als zu einer richtigen führen. Auch
dem feinſten Theoretiker des Utilitarismus, J. St. Mill, iſt es nicht gelungen zu
beweiſen, daß ſeine Behauptung, es ſei vorzuziehen, ein unbefriedigter Menſch, als ein
befriedigtes Schwein zu ſein, allgemein geteilt werde und als Princip den ſittlichen
Fortſchritt beherrſchen könne.
Die idealiſtiſchen Moralſyſteme haben ihre Formeln und idealiſtiſchen Zweck-
gedanken aus der ſittlichen und politiſchen Geſchichte der Menſchheit abſtrahiert; ich
nenne nur: die Hingabe des Menſchen an Gott und an die geſellſchaftlichen Gemein-
ſchaften ſowie die Ausbildung der Perſönlichkeit (mit der Selbſtbehauptung und Berufs-
ausbildung), die fortſchreitende Vervollkommnung des einzelnen und der Geſellſchaft, die
Ausbildung des Wohlwollens, des Mitleides, des ſog. Altruismus, die Ideen der
Gerechtigkeit, der Freiheit und der Gleichheit. Es ſind Ideale und Zweckideen, welche
ſeit Jahrtauſenden ausgebildet, auch in allen höheren Religionen im Mittelpunkte der
ethiſchen Betrachtung ſtehen, ja in allen Kulturmenſchen einen weſentlichen Beſtandteil
ihres höheren Gefühlslebens, ihrer Pflichtbegriffe, ihres geſellſchaftlichen Handelns bilden.
Ihre jeweilige Geſtaltung in den leitenden Geiſtern, in der herrſchenden Litteratur, in
den Strömungen der Zeit drückt dem praktiſchen Leben, vor allem auch dem volks-
wirtſchaftlichen und ſocialen, ſeinen Stempel auf; und zwar deshalb mehr als die noch
ſo feinen Überlegungen und Vorſtellungen der Luſtvermehrung, weil ſolche Ideale mit
dem Siege der höheren Gefühle ſtets an ſich an Kraft gewinnen und zumal in bewegten
Zeiten die Herzen der Maſſe ganz anders erfaſſen, elektriſieren können als jene.
Ihre jeweilige praktiſche Einzelgeſtaltung erhalten dieſe Leitideen und Zweckideale
durch die natürlichen, techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Zuſtände des betreffenden
Volkes; ihre innerſte Natur aber liegt im ſittlichen Weſen des Menſchen und ſeiner
geſellſchaftlich-hiſtoriſchen Entwickelung überhaupt; es ſind Ideale, die vor Jahrtauſenden
ſchon in derſelben Grundrichtung wirkten wie heute und wie ſie in ſpäteren Jahrtauſenden
wirken werden. Es wird keine Zeit kommen, in der man nicht Billigkeit und Gerechtig-
keit, Wohlwollen und Hingabe an die ſocialen Gemeinſchaften als Ideale anerkennen
wird. In ihrer allgemeinen Tendenz und Wirkſamkeit ſind dieſe Ideen das höchſte, was
im menſchlichen Geiſte exiſtiert. Sie ſtellen auch die höchſten Kräfte der Geſchichte und
der geſellſchaftlichen Entwickelung dar. Sie werden immer als die Führer auf dem
Pfade des Fortſchrittes dienen. Die großen Zeiten und Männer ſind es, welche im
Kampfe für ſie Reformen durchgeſetzt haben. Das gilt auch für alle wirtſchaftlichen
und ſocialen Reformen.
Aber das ſchließt nicht aus, daß daneben in ihrem Namen oft das Thörichtſte
gefordert wurde. Jedes einzelne dieſer Ideale drückt eine partielle Richtung der pſychiſch-
ſittlichen und geſellſchaftlichen Entwickelung aus, ohne Maß, Grenzen, Geſtaltung derſelben,
Möglichkeit der Durchführung anzugeben. Jedes hat ſich im praktiſchen Leben zu paaren
mit einem gewiſſermaßen entgegengeſetzten Ideal: die Ausbildung des Individuums muß
ſich der der Geſellſchaft anpaſſen und unterordnen; die Selbſtbehauptung muß ſich mit
den Forderungen des Staates, die Freiheit mit der Ordnung des Ganzen vertragen.
[74]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Der einſeitige, vom Klaſſen- und Parteigeiſt erfüllte Doktrinarismus, welcher ſtets gern
im Namen der großen idealen Principien redet und einſeitig nur die Freiheit oder die
Gleichheit oder die Gerechtigkeit auf die Fahne ſchreibt und aus einer möglichſt all-
gemeinen Formel des einzelnen Princips die weitgehendſten Folgerungen zieht, jeden
Verräter nennt, der nicht das Princip bis in ſein Extrem durchführen will, — er irrt
gar leicht, verlangt Wahres und Falſches nebeneinander, oft Unmögliches. Schlüſſe und
Theorien, die ſo einſeitig begründet ſind, werden häufig zu ideologiſchen Kartenhäuſern,
zu verheerenden revolutionären Fahnen, wenigſtens wenn ſie in der Hand von Dema-
gogen und Schaumgeiſtern liegen. Ich verſuche nur an einigen, in das Wirtſchaftsleben
eingreifenden Beiſpielen dies zu zeigen.
Es war ein großer, ſegensreicher Reformgedanke, als gegenüber unerhörtem Klaſſen-
mißbrauch und veralteten feudalen Rechtsinſtitutionen der moderne Staat die Rechts-
und Steuergleichheit, die Zugänglichkeit aller Berufe und Laufbahnen für alle Staats-
bürger proklamierte, als neuerdings die Socialreform gleiches Recht für Arbeitgeber und
-nehmer forderte. Aber das waren feſtumgrenzte partielle, den konkreten Zeitverhältniſſen
richtig angepaßte Forderungen, während die Fanatiker der Gleichheit alle Unterſchiede
der Menſchen leugnen oder mit Gewalt beſeitigen wollen, auch die Verſchiedenheit von
Alter und Geſchlecht ignorieren, die von Einkommen und Beſitz aufheben wollen und
ſo alle höhere Entwickelung, welche ſtets Differenzierung iſt, bedrohen.
Die Freiheit der Rede, der Wiſſenſchaft und des religiöſen Bekenntniſſes, die
politiſche Freiheit in dem feſtumgrenzten Sinne, daß die Regierten auf die Regierung
einen geſetzlichen Einfluß haben, und daß es für jede Regierung eine Grenze ihrer Macht
gegenüber der Freiheitsſphäre des Individuums gebe, die wirtſchaftliche Freiheit in dem
Sinne, daß die mittelalterlichen Zunft-, Markt- und Verkehrsſchranken fallen, — das ſind
für die Kulturſtaaten der Gegenwart große berechtigte Ideale. Aber wenn man ſchranken-
loſe Freiheit im wirtſchaftlichen Kampfe der Starken mit den Schwachen einführt, ſo
erzeugt man nur harten Druck und brutale Ausbeutung der unteren Klaſſen; wenn man
jeden Betrug und jeden Wucher mit dem Schlagwort der Freiheit verteidigt, ſo verkennt
man, wie wir ſchon ſahen, Moral, Sitte und Recht von Grund aus, wie man durch
die Lehre von der Volksſouveränität, d. h. die Lehre, daß die Summe der Regierten
die Regierung jeden Moment in Frage ſtellen dürfe, die politiſche Freiheit in ihr Gegen-
teil, in die Herrſchaft von Demagogen und zufälligen Majoritäten oder gar Minoritäten
über die Maſſe der vernünftigen und beſſeren Bürger verwandelt. —
Die Idee der Gerechtigkeit, ſchon von den Juden, Griechen und Römern, dann
von den neueren Kulturvölkern, von Religion, Philoſophie und poſitivem Rechte in langer
Entwickelung ausgebildet, an die edelſten Gefühle anknüpfend, ſpielt in allem geſellſchaft-
lichen Leben, vor allem auch in der Volkswirtſchaft eine maßgebende Rolle; ſie giebt
für alles geſellſchaftliche Leben die idealen Maßſtäbe, nach denen geprüft wird, wie weit
die Wirklichkeit dem „Gerechten“ entſpreche; ſie begleitet unſere wirtſchaftlichen und
ſocialen Handlungen und unterwirft ſie einer ſtets erneuten Kritik. Bei jedem Tauſch-
geſchäft, bei jedem gezahlten Lohn, bei jeder wirtſchaftlichen Inſtitution wird gefragt,
ob ſie gerecht ſeien. Und aus den Antworten entſpringen Gefühle, Urteile, Willens-
anläufe, die ſich wenigſtens teilweiſe in Reformtendenzen, Änderungen der Sitte, des
Rechtes, der ganzen volkswirtſchaftlichen Verfaſſung umſetzen. Wer weiß nicht, daß die
Gewerbefreiheit, die Handelsfreiheit, der freie Arbeitsvertrag im Namen der Gerechtigkeit
gefordert wurde und nur unter dieſer Fahne ſiegte? daß aber auch alle Forderungen
des Socialismus an Gefühle und Betrachtungen anknüpfen, welche den Betreffenden als
Gerechtigkeitsforderungen ſich darſtellen, daß jede Revolution und alle ihre Greuel ſich
mit dieſer Fahne decken zu können glaubten.
Daraus ergiebt ſich ſchon, daß das Princip der Gerechtigkeit kein einfaches iſt,
aus dem alle ihre Forderungen mit unfehlbarer Sicherheit, mit einer für alle Menſchen
gleichen Evidenz abzuleiten wären. Es iſt eine der ſtärkſten idealen Lebensmächte. Mit
immer gleicher pſychologiſcher Notwendigkeit vergleicht unſer Inneres ſtets die irgendwie
zuſammengehörigen Menſchen und ſtellt ſie in einer Ordnung, die ihren Eigenſchaften
[75]Das Weſen der ſog. ethiſchen Principien; die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft.
und Handlungen entſpricht, den Gütern, Ehren, ſocialen Vorzügen, Übeln und Strafen
gegenüber, welche zu verteilen in der Macht der Geſellſchaft liegt, findet es gerecht,
wenn in dieſen beiden Reihen eine Proportionalität ſtattfindet, ungerecht, wenn ſie fehlt,
bezeichnet es als ungerecht, wenn Individuum oder Gruppe gegenüber der Wertung, der ſie
unterliegen, zu viel von den Vorteilen, zu wenig von den Nachteilen oder Strafen erhalten.
Ich habe anderweitig verſucht, den hier vorliegenden pſychologiſch-ſocialen Prozeß,
ſoweit er das wirtſchaftliche Leben betrifft, genauer zu analyſieren und zu zeigen, wie
die ſucceſſive Ausbildung der komplizierteren wirtſchaftlichen Verhältniſſe einerſeits, der
feineren Gefühle und der geläuterten Urteile in Bezug auf das Gerechte andererſeits immer
wieder zu anderen praktiſchen Reſultaten führt, wie nur feſt kryſtalliſierte, in breiten
Schichten zur Herrſchaft gelangende Maßſtäbe des Gerechten nach und nach das poſitive
Recht und die Inſtitutionen beherrſchen können, wie die formale Grenze aller Rechts-
ſatzungen und das Eingreifen gleichberechtigter anderer oberſter ſittlicher Ideale die
Durchführbarkeit des Gerechten immer einengt; ich habe hauptſächlich zu zeigen geſucht,
daß die Idee der Gerechtigkeit, indem ſie jedem einzelnen das Seine zuteilen will, ſtets
mehr individualiſtiſch iſt, die Forderungen der Geſamtheit und ihrer Zwecke nicht ebenſo
in den Vordergrund rückt, daß alſo ſchon deshalb die idealen Forderungen der Gerech-
tigkeit nicht ſtets im poſitiven Recht praktiſch durchführbar ſind. Ich kann hier das
einzelne dieſer Unterſuchung nicht wiederholen, ebenſowenig den Nachweis, wie es kommt,
daß verſchiedene Menſchen, Klaſſen, Parteien das Gerechte immer leicht verſchieden
empfinden und beurteilen.
Das Angeführte genügt als Beweis dafür, daß die großen ſittlichen Ideale, ſo
berechtigt ſie im ganzen ſind, ſo heilſam ſie als Fermente des Fortſchrittes bei richtiger
Begrenzung und bei richtiger Verbindung untereinander wirken, doch vereinzelt leicht zu
falſchen Forderungen und zu falſcher Beurteilung des Beſtehenden führen. Sie ſtellen
ſtets begrenzte hiſtoriſche Richtungen des Geſchehens, partiell berechtigte Zwecke dar. Sie
haben ſich erſt im Leben, in der Ausführung, im Kampfe der Ideen zu bewähren und
zu geſtalten. Sie werden in der Theorie und im Kampfe der Parteien ſtets leicht miß-
verſtanden und überſpannt, weil die Grenzen nicht mit ihrer allgemeinen Formulierung
gegeben ſind. Wenn der Liberale heute ſagt: die moderne Volkswirtſchaft ruht auf
perſönlicher Freiheit und freiem Eigentum, ſo iſt das ſo wahr und ſo falſch, als
wenn der Socialiſt ſagt, ſie ruht auf zunehmender Vergeſellſchaftung des Produktions-
und des Verteilungsprozeſſes; in beiden Fällen iſt eine thatſächliche und berechtigte
Bewegungstendenz abſtrakt ohne ihre Grenzen in einem allgemeinen Satze ausgeſprochen
und daher leicht zu falſchen Schlüſſen zu brauchen.
Alle die vorſtehenden Ausführungen werden uns nun zugleich erleichtern, die Ge-
ſchichte der volkswirtſchaftlichen Theorien und Syſteme zu verſtehen, zu der wir uns
jetzt wenden. So weit ſie in älterer Zeit auseinander gehen, liegt es weſentlich daran,
daß einſeitig gewiſſe große ſittliche Ideale, die als berechtigte Zeitforderungen natur-
gemäß im Vordergrunde ſtanden, als Bewegungen und Forderungen aller Zeiten, als
einſeitige Grundlage der Wiſſenſchaft überhaupt hingeſtellt wurden. —
III. Die geſchichtliche Entwickelung der Litteratur und die
Methode der Volkswirtſchaftslehre.
1. Die Anfänge volkswirtſchaftlicher Lehren bis ins 16. Jahrhundert.
- Über Definition der Volkswirtſchaftslehre: Schmoller, Über einige Grundfragen der
Socialpolitik und Volkswirtſchaftslehre. 1898. — - Derſ., Art. Volkswirtſchaft und Volkswirtſchafts-
lehre und -Methode, im H.W. d. St.W.; die erſten Paragraphen der meiſten Lehrbücher.
Über die griechiſch-römiſche Litteratur: Bruno Hildebrand, Xenophontis et Aristotelis
doctrina de oeconomia publica. 1845. — - Stein, Die ſtaatswiſſenſchaftl. Theorie der Griechen von
Plato und Ariſtoteles. Z. f. St.W. 1853. — - Karl Hildebrand, Geſchichte und Syſteme der Rechts-
[76]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
und Staatsphiloſ. 1. Altertum. 1860. — - L. Schmidt, Ethik der alten Griechen. 2 Bde. 1882. —
- Zeller, Die Philoſophie der Griechen. Zuerſt 1844, jetzt 6 Bde., 1882—92, und derſ., Grundriß
der Geſchichte der griech. Philoſophie. 6. Aufl. 1882—98. — - Dümmler, Prolegomena zu Platos
Staat. 1891. — - Pöhlmann, Geſchichte des antiken Kommunismus und Socialismus. 1893. —
- Oertmann, Die Volkswirtſchaftslehre des Corpus juris civilis. 1891.
Über die chriſtliche Litteratur: v. Eicken, Geſchichte und Syſtem der mittelalterlichen Welt-
anſchauung. 1887. — - Adolf Harnack, Die evangeliſch-ſociale Aufgabe im Lichte der Geſchichte der
Kirche. Preuß. Jahrb. Bd. 76. 1894. — - Endemann, Die nationalökonomiſchen Grundſätze der
kanoniſtiſchen Lehre. J. f. N. 1. F. 1. 1863. — - Funk, Die ökonomiſchen Anſchauungen der mittel-
alterlichen Theologen. Z. f. St.W. 1869. — - Derſ., Zins und Wucher im chriſtlichen Altertum.
1875. — - Schmoller, Zur Geſchichte der nationalökonom. Anſichten in Deutſchland während der
Reformationsperiode. Z. f. St.W. 1861. — - Dilthey, Auffaſſung und Analyſe des Menſchen im
15. u. 16. Jahrh. Archiv f. Geſch. d. Philoſophie Bd. 4 u. 5. 1891—92.
34. Einleitung. Definition der Volkswirtſchaftslehre. Die Keime
aller Wiſſenſchaft liegen in der älteren Volkspoeſie, in welcher Glauben und Ideale der
Menſchen ihren erſten Ausdruck fanden, und in den Regelſammlungen, welche Prieſter
und Richter veranſtalteten und erklärten. In dieſen Regeln wurde Sitte, Ritual, Recht
und Verhalten in allen möglichen Lebenslagen verzeichnet; mit dem erwachenden Nach-
denken ſchloſſen ſich daran Überlegungen, Urteile, Änderungsvorſchläge. So wurde auch
die wirtſchaftliche Sitte und das wirtſchaftliche Verhalten nach und nach erörtert; zumal
als das volkswirtſchaftliche Leben in die neuen, komplizierten Bahnen der Geld- und
Kreditwirtſchaft, der Gewerbe- und Handelsentwickelung überging, die Formen der alt-
hergebrachten Naturalwirtſchaft ſich löſten, da traten neben die überlieferten Vorſtellungen
die Kritik, die neuen Vorſchläge über wirtſchaftliche Moral und wirtſchaftliche Geſetze,
über Geldweſen, Handelserwerb, Steuern und Kolonien; es entſtand eine lebendige,
praktiſche Erörterung und wir ſehen ihren Reflex in den ethiſchen und politiſchen
Schriften der Zeiten, welche volkswirtſchaftliche und ſociale Fragen zum erſtenmale
zuſammenhängend beſprachen. So haben zuerſt die Griechen im 5. und 4. Jahrhundert
vor Chriſti in ihren philoſophiſchen Schriften wiſſenſchaftlich-volkswirtſchaftliche Probleme
erörtert. Und ähnlich begann man ſeit der Renaiſſance den volkswirtſchaftlichen Er-
ſcheinungen eine größere Aufmerkſamkeit zu widmen. Die Fragen erlangten raſch in
den philoſophiſchen und ethiſchen Syſtemen, in den Staatstheorien des 16.—18. Jahr-
hunderts einen breiteren Raum. Im letzteren wurde eine beſondere Unterweiſung der
ſtudierenden Jugend in volkswirtſchaftlichen Fragen Bedürfnis. Und nun führte der
große Aufſchwung des wiſſenſchaftlichen Denkens überhaupt zu der beſonderen Wiſſen-
ſchaft der Nationalökonomie oder Volkswirtſchaftslehre; d. h. die volkswirtſchaftlichen
Sätze und Wahrheiten und die als Ideal empfohlenen volkswirtſchaftlichen Maßregeln
wurden aus der Moralphiloſophie, dem Naturrecht und der Staatslehre ausgelöſt und
zu einem ſelbſtändigen Syſteme durch gewiſſe Grundgedanken, wie ſtaatliche Wirtſchafts-
politik, Geldcirkulation, natürlicher Verkehr, Arbeit und Arbeitsteilung verbunden und
als ſelbſtändiges Wiſſensgebiet hingeſtellt. Seither giebt es in der Litteratur, im
Unterricht, im Volksbewußtſein die beſondere Wiſſenſchaft der Volkswirtſchaftslehre, welche
die volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen beſchreiben und definieren, ein zutreffendes Bild
von ihnen auf Grund wiſſenſchaftlicher Begriffe im ganzen und einzelnen entwerfen,
ſowie dieſe Erſcheinungen als ein zuſammenhängendes Ganzes und als Teil des geſamten
Volkslebens begreifen, das einzelne aus ſeinen Urſachen erklären, den volkswirtſchaftlichen
Entwickelungsgang verſtehen lehren, die Zukunft womöglich vorausſagen und ihr die
rechten Wege bahnen will.
Dieſer letzte praktiſche Geſichtspunkt iſt es, der neben dem erſt nach und nach ſich
ausbildenden rein theoretiſchen Intereſſe den Anſtoß zu allem Nachdenken und aller
wiſſenſchaftlichen Erörterung gegeben hat. Und daher iſt es begreiflich, daß die älteren
Anfänge des volkswirtſchaftlichen Nachdenkens hauptſächlich in den Moralſyſtemen und
dem an ſie anſchließenden Naturrecht enthalten ſind. Was wir bis ins 17. Jahr-
hundert über volkswirtſchaftliche Lehren berichten können, ſteht in der Hauptſache auf
dieſem Boden.
[77]Antike volkswirtſchaftliche Litteratur.
35. Die griechiſch-römiſchen Lehren von Staat, Geſellſchaft, Moral,
Recht und Volkswirtſchaft gehören der Epoche an, in welcher theoretiſch zum erſtenmale
ein gedankenmäßiger Zuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens gefunden und in
welcher praktiſch die älteren kleinen Städteſtaaten ſich erſt in das makedoniſche, dann in
das römiſche Weltreich auflöſten. In Griechenland iſt es das 5. bis 3. Jahrhundert
vor Chriſti, in Rom das Ende der Republik, der Anfang des Principats. Dort hatten
in raſcher Entwickelung die alten ariſtokratiſchen Verfaſſungen der äußerſten Demokratie
Platz gemacht: den doriſchen Ackerbauſtaaten ſtand die Blüte des Seehandels und der
Gewerbe bei den Joniern gegenüber; Geldwirtſchaft, Kredit, Spekulation, Luxus, ſcham-
loſe Erwerbsſucht hatten hier Platz gegriffen, die alten Zuſtände aufgelöſt; der Mittel-
ſtand verſchwand; die wenigen Reichen und die Maſſe der armen Bürger, die nicht
arbeiten, ſondern vom Staate leben wollten, ſtanden ſich aufs ſchroffſte gegenüber; ver-
nichtende ſociale Kämpfe und kommuniſtiſche Projekte waren an der Tagesordnung.
Unter dem Einfluß der großen Verfaſſungs- und Wirtſchaftskämpfe entſtand die uns
heute noch, wenigſtens bruchſtückweiſe, erkennbare Litteratur.
Während der Verächter der Demokratie, der große Heraklit († 475 v. Chr.) noch
alle Geſetze und alle Ordnung der Geſellſchaft auf die Gottheit zurückführt und zur
Eintracht im Staate mahnt, ſind es die Lehrer und Freunde der ſiegenden Demokratie,
die Sophiſten, welche das Individuum, ſeine Luſt und ſeinen Nutzen als Princip ihrer
Ethik, Recht und Geſetz als willkürliche Satzungen, als ein Machwerk der Starken hin-
ſtellen, die Geſellſchaft unter dem Bilde des Kampfes der Starken mit den Schwachen
begreifen, den Staat als durch Vertrag entſtanden betrachten. Ihnen ſtellt Plato
(† 347 v. Chr.) ſeine Lehre von der Objektivität des Guten und der Herrſchaft der
göttlichen Ideen in der Welt und das Ideal eines ariſtokratiſch-agrariſchen Staates
entgegen, in welchem eine philoſophiſche Beamtenklaſſe ohne Privatbeſitz regiert, in dem der
Grundbeſitz, der Erwerb, die Aus- und Einfuhr, die Erziehung durch ſtrenge Ordnungen
gebunden und reguliert ſind. Seine beiden Werke über den Staat und über die Geſetze
ſind die tiefernſten Mahnworte zur Umkehr und Beſſerung an die genuß- und herrſch-
ſüchtige Demokratie ſeiner Vaterſtadt Athen, an deren Zukunft er verzweifelt. Er iſt nicht
Kommuniſt, ſondern verlangt nur für die kleine herrſchende Ariſtokratie Verzicht auf
Sondereigen und Sonderkinder, um deren Egoismus und Habſucht zu bannen.
Dem großen Idealiſten treten teils gleichzeitig, teils direkt folgend die drei Realiſten
zur Seite: der Hiſtoriker Thukidides, der ſeine hiſtoriſche Erzählung aufbaut auf die
Beobachtung und Würdigung der wichtigſten ſtaatlichen und volkswirtſchaftlichen Er-
ſcheinungen ſeiner Zeit; der Feldherr Xenophon, der neben hiſtoriſchen ſtaatswiſſenſchaft-
liche und volkswirtſchaftliche Werke und darin über Staatseinnahmen, Hauswirtſchaft,
Geldweſen, Arbeitsteilung ſchreibt und den geſunkenen Republiken das Bild eines edlen
Königtums vorhält; endlich Ariſtteles (385—322 v. Chr.), dem die vollendetſte Ver-
bindung empiriſcher Beobachtung mit generaliſierender wiſſenſchaftlicher Betrachtung im
Altertum gelingt, der mit ſeiner Ethik, Politik und Ökonomik auch als der Ahnherr
aller eigentlichen Staatswiſſenſchaft gelten kann. Sein Hauptintereſſe iſt den politiſchen
Verfaſſungsformen zugewendet; aber auch über das wirtſchaftliche und ſociale Leben
hat er bedeutſame Wahrheiten ausgeſprochen.
Überall vom praktiſchen Leben ausgehend, knüpft Ariſtoteles das Gute und Sitt-
liche an das Natürliche, die Tugenden an die von der Vernunft regulierten Triebe an.
Staat und Geſellſchaft läßt er nicht aus dem Kampfe feindlicher Individuen, aus Not
und Vertrag, ſondern aus einem angeborenen geſellig-ſympathiſchen Triebe hervorgehen.
Der Staat iſt ihm nicht ein möglichſt einheitlich organiſierter Menſch im großen, wie
dem Plato, ſondern eine Vielheit von ſich ergänzenden Individuen, Familien und
Gemeinden; er betrachtet ihn als ein in der Natur begründetes Zweckſyſtem, in dem
die Teile ſich dem Ganzen unterzuordnen haben, deſſen Selbſtändigkeit und Harmonie
den Herrſchenden und Beherrſchten, den Klaſſen und den Individuen ihre Sphäre, ihre
Pflichten vorſchreibt. Er ſchildert, wie aus der Arbeitsteilung und Beſitzverteilung die
ſocialen Klaſſen und Berufsſtände ſich bilden. Er ſetzt die natürliche alte Haushalts-
[78]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
kunſt, die in der Urproduktion wurzelt, der neuen Gelderwerbskunſt, die mit dem Handel
entſteht, gegenüber; er unterſucht, welche pſychologiſchen und ſittlichen Folgen die ver-
ſchiedenen Erwerbsarten und Beſchäftigungen haben. Allen Erwerb, der ohne Schranken
gewinnen will, der über das Bedürfnis hinaus und mit dem Schaden anderer gemacht wird,
verurteilt er als verderblich. Das Geld betrachtet er als ein notwendiges Tauſchmittel
und Wertäquivalent, aber es ſoll keine Zinſen tragen, denn Geld gebiert kein Geld. Auf
Grund ſeiner Einſicht in die ſittliche und politiſche Entartung der griechiſchen Demo-
kratien und Handelsſtädte verlangt Ariſtoteles, daß die höher gebildeten und beſitzenden
Klaſſen im Staate herrſchen, die arme, taglöhnernde Volksklaſſe ohne politiſche Rechte
ſei. Doch ſcheint ihm die Geſellſchaft die beſte, wo der Mittelſtand überwiegt. In
Bezug auf die ſocialen Pflichten des Staates betont er vor allem ſeine Sorge für Er-
ziehung; denn alle Tugend iſt ihm Folge der Gewöhnung. Er giebt auch zu, daß
manches im Staate gemeinſam ſein ſoll; im übrigen aber verlangt er getrenntes Eigentum.
Als Mittel, den bleibenden Wohlſtand der unteren Klaſſen zu heben, verlangt er Koloni-
ſation und Landzuweiſungen. An der von manchen bereits als widernatürlich bezeichneten
Sklaverei will er nicht gerüttelt haben; die großen Unterſchiede der Raſſe, der Fähig-
keiten erkennend, meint er, wenigſtens die Sklaverei ſei gerechtfertigt, wo der Sklave ſo
verſchieden vom Herrn ſei, wie die Seele vom Leib. Die zahlreichen Projekte ſeiner
Zeit, die auf Güter- und Weibergemeinſchaft zielen, unterzieht er der ſchärfſten Kritik:
was vielen gemeinſam iſt, wird ohne Sorgfalt beſorgt und führt ſtets zu Händeln, wie
man bei jeder Reiſegeſellſchaft ſieht; gemeinſame Kinder werden ſchlecht erzogen; die
Bande der Liebe werden bis zur Wirkungsloſigkeit verwäſſert, wenn der Bürger tauſend
und mehr Söhne hat. Die Revolutionen, die aus den wirtſchaftlichen Mißſtänden und
den Fehlern der Regierenden entſpringen, erörtert er eingehend; aber er glaubt nicht,
daß hier ſocialiſtiſche Projekte helfen. Eine erzwungene Gleichheit des Beſitzes hält er
für weniger durchführbar, als eine ſtaatliche Regelung der Kindererzeugung, welcher er
nicht abgeneigt iſt.
Weder die idealiſtiſchen Lehren und Ideale Platos, noch die realiſtiſchen Ariſtoteles’
konnten die griechiſche Kultur in ihrem Werdegang aufhalten. Und in ähnlicher Weiſe
haben ſich einige Menſchenalter ſpäter die Dinge in Rom und Italien entwickelt. Aus
dem individualiſtiſchen Egoismus und der cyniſchen Genußſucht der Zeit, aus den
Klaſſenkämpfen und Bürgerkriegen, aus den Rivalitäten der Kleinſtaaten gab es keinen
anderen Ausweg als die eiſerne Militärdiktatur in geordneten bureaukratiſchen Welt-
reichen und den weltflüchtigen Idealismus der Philoſophie und des Chriſtentums, beides
eng zuſammengehörige, einander bedingende Erſcheinungen. Das Imperium der Cäſaren
war halb demokratiſchen Urſprunges und ſuchte durch ſtaatsſocialiſtiſche Brotſpenden und
ähnliche Maßregeln die unteren Klaſſen zu befriedigen; aber vor allem ſtellte es Ruhe,
Frieden und Ordnung wieder her. Eine Nachblüte geiſtiger und wirtſchaftlicher Kultur
trat ein; Landbauſchriftſteller, Juriſten, Hiſtoriker und Philoſophen erörterten nun im
Anſchluß an die griechiſchen Autoren auch mannigfach einzelne volkswirtſchaftliche Fragen.
Aber zu einer Wiſſenſchaft der Volkswirtſchaft kam es weder in Alexandria noch in Rom,
während eine ſolche des Rechtes, der Phyſik, der Medizin in jenen Tagen entſtand. Die
geiſtig vorherrſchenden philoſophiſchen Schulen des Epikur und der Stoa waren nicht
darauf gerichtet, ein tieferes Studium der geſellſchaftlichen Einrichtungen herbeizuführen.
Epikurs Atomiſtik erklärt, wie die Sophiſten, die Geſellſchaft aus dem Zuſammentreten
ſelbſtſüchtiger, ſich bekämpfender Individuen, die einen Staatsvertrag aus Nützlichkeits-
erwägungen eingehen; der epikureiſche Weiſe zieht ſich aus der Welt, aus der Ehe, dem
Familienleben, dem Staate zurück; ein vernünftiges, ſinnlich-geiſtiges Genußleben, das in
Gemütsruhe kulminiert, das Streben nach Ruhm und Reichtum ausſchließt, iſt ſein
Lebensideal; ein feſter monarchiſcher Staat, widerſtandsloſer Gehorſam ſind die politiſchen
Forderungen der paſſiv müden Lehre. Dieſen Individualiſten der genießenden ſtehen
die Stoiker als die Individualiſten der entſagenden Gemütsruhe gegenüber. Sie erheben
ſich mit ihrer tiefſinnigen pantheiſtiſchen Weltanſchauung zwar turmhoch über Epikur,
aber praktiſch kamen ſie doch zu ähnlichen Ergebniſſen. Die Natur iſt ihnen ein Syſtem
[79]Antike Philoſophie und Chriſtentum.
von Kräften, das von der göttlichen Centralkraft, der Vernunft, bewegt wird. Auch im
Menſchen lebt das göttliche Geſetz, die naturgeſetzliche Vernunft, die ihn zur Gemeinſchaft
führt, die das menſchliche Handeln und die Geſellſchaft regiert. Im Anfange beſtand
ein goldenes Zeitalter, das währte, ſo lange das reine Naturgeſetz herrſchte; aber auch
ſpäter iſt das Naturrecht neben den falſchen poſitiven Geſetzen vorhanden; die menſchlichen
Satzungen müſſen nur wieder in Übereinſtimmung mit dem Naturgeſetz gebracht werden:
das wird der Fall ſein, wenn alle Leidenſchaften von der Vernunft gezähmt ſind,
wenn alle Menſchen einen Staat ausmachen, in dem die Einzelſtaaten enthalten ſind,
wie die Häuſer in einer Stadt. Mag ein ſtoiſcher Kaiſer, wie Mark Aurel, den menſch-
lichen Trieb nach Gemeinſchaft und das Vernünftige der Staatseinrichtungen betont
haben, mögen die von der Stoa beherrſchten römiſchen Juriſten für das Verſtändnis
einer feſtgefügten herrſchaftlichen Staatsordnung energiſch gewirkt haben, das welt-
bürgerlich-quietiſtiſch-brüderliche, geſellſchaftliche Ideal der entſagenden, den Selbſtmord
verherrlichenden Stoiker blieb jene Weltgemeinſchaft Zenos „ohne Ehe, ohne Familie,
ohne Tempel, ohne Gerichtshöfe, ohne Gymnaſien, ohne Münze“, d. h. ein unrealiſier-
barer Traum, aus dem keine praktiſche Kraft des Schaffens und keine lebenskräftige
Theorie erwachſen konnte.
36. Das Chriſtentum. Der Neuplatonismus rückte die ſinnliche Welt noch
eine Stufe tiefer als die Stoa; er ſah im Körper das Gefängnis der Seele, im Tode
die Befreiung von Sünde und Zeitlichkeit. Die chriſtliche Erlöſungslehre liegt in der-
ſelben Richtung. Die Wiedervereinigung mit Gott, die Erlöſung von Sünde und Welt
iſt das Ziel, das alles irdiſche Thun als eine kurze Vorbereitungszeit fürs Jenſeits
erſcheinen läßt; je mehr der Menſch den irdiſchen Genüſſen und Gütern entſagt, deſto
beſſer hat er ſeine Tage benützt. Stoa, Neuplatonismus und Chriſtentum ſind Stufen
derſelben Leiter, ſind die notwendigen Endergebniſſe eines geiſtig-ſittlichen Prozeſſes, der
aus dem Zuſammenbruch der antiken Kultur zum Höhepunkt des religiös-ſittlichen
Lebens der Menſchheit führt. Nur aus der Stimmung der Verzweiflung an Welt und
irdiſchem Daſein heraus konnte jene chriſtliche Sehnſucht nach Gott und Erlöſung ent-
ſtehen, welche eine Anſpannung der ſittlichen Kräfte und ſympathiſchen Gefühle ohne
Gleichen für Jahrtauſende und damit für die ganze Zukunft eine neue moraliſche und
geſellſchaftliche Welt erzeugte.
Freilich war es nur in den langen Jahrhunderten des Niederganges der alten wirt-
ſchaftlichen Kultur und der vorherrſchenden Naturalwirtſchaft des älteren Mittelalters
möglich, daß Weltflucht faſt noch mehr als brüderliche Liebe, Ertötung der Sinne und
beſchaulicher Quietismus als höchſte Ideale galten, daß man Arbeit und Eigentum
weſentlich als Fluch der Sünde betrachtete, daß man den Gelderwerb überwiegend als
Wucher brandmarkte, ein Almoſengeben um jeden Preis, ohne Überlegung des Erfolges,
empfehlen konnte. Es iſt heute leicht, die Überſpanntheit und Unausführbarkeit vieler
praktiſcher Forderungen des mittelalterlich-asketiſchen Chriſtentums nachzuweiſen; noch
leichter zu zeigen, daß ein irdiſcher Gottesſtaat im Sinne Auguſtins auch der Welt-
herrſchaft und dem Millionenreichtume der römiſchen Kirche durchzuführen unmöglich war.
Die vollſtändige Weltflucht und die Indifferenz gegen alles Irdiſche artete in trägen
Quietismus, in falſches Urteil über Arbeit und Beſitz, in Zerſtörung der Geſundheit, die
Überſpannung der Brüderlichkeit in kommuniſtiſche Lehren, in Verurteilung aller höheren
Wirtſchaftsformen und Auflöſung der Geſellſchaft aus. Aber ebenſo ſicher iſt, daß dieſe
Einſeitigkeiten notwendige Begleiterſcheinungen jenes moraliſchen Idealismus waren, der
wie ein Sauerteig die Völker des Abendlandes ergriff und emporhob. Es entſtand mit
dieſer chriſtlichen Hingabe an Gott, mit dieſen Hoffnungen auf Unſterblichkeit und ewige
Seligkeit ein Gottvertrauen und eine Selbſtbeherrſchung, die bis zum moraliſchen
Heroismus ging; eine Seelenreinheit und Selbſtloſigkeit, ein ſich Opfern für ideale Zwecke
wurde möglich, wie man es früher nicht gekannt. Die Idee der brüderlichen Liebe,
der Nächſten- und Menſchenliebe begann alle Lebensverhältniſſe zu durchdringen und
erzeugte eine Erweichung des harten Eigentumsbegriffes, einen Sieg der geſellſchaftlichen
und Gattungsintereſſen über die egoiſtiſchen Individual-, Klaſſen- und Nationalintereſſen,
[80]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
eine Fürſorge für die Armen und Schwachen, die man im Altertum vergeblich ſucht.
Die Idee der Gleichheit vor Gott trat den beſtehenden harten Geſellſchaftsunterſchieden
verſöhnend, mildernd zur Seite; in jedem, ſelbſt dem Niedrigſten, wurde die Würde des
Menſchen anerkannt, wenn auch die ſpätere ariſtokratiſche Kirchenlehre den Ständeunter-
ſchied wieder als eine göttliche Fügung deutete.
Die ethiſche und die praktiſche Einſeitigkeit der mittelalterlich-chriſtlichen Ideale
fand ihre Auflöſung in der weltlichen Entartung der romaniſch-regimentalen, hierarchiſchen,
nach politiſcher Weltherrſchaft ſtatt nach religiös-ſittlicher Verbeſſerung ſtrebenden Kirche,
in den veränderten wirtſchaftlich-ſocialen Lebensbedingungen der abendländiſchen Völker
ſeit dem 13. Jahrhundert, in dem Wiederaufleben der antiken Studien und des wiſſen-
ſchaftlichen Betriebes. Schon Thomas von Aquino trägt im 13. Jahrhundert in vielem
wieder die nationalökonomiſchen Lehren von Ariſtoteles vor; und in der politiſchen und
ethiſchen Gedankenbewegung der folgenden Jahrhunderte wächſt der Einfluß des römiſchen
Rechtes, der Stoa und Epikurs neben der Macht der neuen wirtſchaftlichen Thatſachen.
In der italieniſchen Renaiſſance des 15. Jahrhunderts entdeckt das Individuum gleichſam
ſich ſelbſt und ſein Recht an eine lebensvolle Wirklichkeit. In der deutſchen Reformation
des 16. Jahrhunderts ſchüttelt die germaniſche Welt das geiſtige Joch der entarteten
römiſchen Kirche ab und findet eine neue, höhere Form der Frömmigkeit, welche nicht
mehr myſtiſchen Quietismus und Weltflucht fordert, welche jedem einzelnen den freien
Zugang zu Gott läßt, dieſen nicht mehr allein durch die Prieſterkirche vermittelt, welche
mit dem höchſten Gottvertrauen träftigſtes aktives Handeln in dieſer Welt verbinden
will. Eine Lehre, welche in der Arbeit jedes Hauſes, jeder Werkſtatt, jeder Gemeinde
ein Werk Gottes ſah, führte erſt recht die chriſtlichen Tugenden in das Leben ein und
gab den germaniſch-proteſtantiſchen Staaten jene aktiv ethiſchen Eigenſchaften, jene Ver-
tiefung des Volkscharakters, jene Stärkung der Familien- und Gemeingefühle, welche
ſie bis heute an die Spitze des geiſtigen, politiſchen und volkswirtſchaftlichen Fortſchrittes
ſtellte. Wie großes aber praktiſch ſo die Reformation leiſtete, wie ſehr ſie ſich bemühte,
aus ihren dogmatiſchen und philoſophiſchen Prämiſſen und Idealen heraus zu gewiſſen
Lehren über Staat, Geſellſchaft und ſociales Leben zu kommen, eine ſelbſtändige und
große Leiſtung auf dieſem Gebiete war ihr doch verſagt. Was die Reformatoren über
wirtſchaftliche und ſociale Dinge lehrten, knüpft halb an die Kirchenväter und das Ur-
chriſtentum, halb an die Stoa an; was ſie praktiſch vorſchlugen, war von den ver-
ſchiedenen realen Zuſtänden ihrer Umgebung bedingt und war ſo in Wittenberg etwas
anderes als in Zürich oder Genf. Es kam teilweiſe über theoretiſche Anläufe nicht hinaus;
die Wirtſchafts- und Socialpolitik Luthers war nicht frei von Fehlgriffen, mißverſtand
die Gärung der Bauern, wußte das brüderliche Gemeindeleben nicht zu beleben, wie es
den Reformierten gelang. Die Bedeutung der Reformatoren für die Staatswiſſenſchaft liegt
ſo nicht ſowohl in dem, was ſie etwa über Wucher, Geld, ſociale Klaſſen, Obrigkeit
ſagten, als in dem ſittlichen Ernſt ihrer dem Leben zugewendeten Moral, in dem Hauche
geiſtiger Freiheit, der von ihnen ausging, in dem Verſuche, die Überlieferung antiker
Wiſſenſchaft mit chriſtlicher Geſittung und Empfindung zu verbinden. Aus dieſen Ten-
denzen entſprang dann zu Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts jenes
Naturrecht, das zum erſtenmal ſeit den Alten den ſelbſtändigen wiſſenſchaftlichen Verſuch
einer Lehre von Staat, Recht, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft enthält.
2. Das Wiedererwachen der Wiſſenſchaft und das Naturrecht des 17. Jahr-
hunderts.
- Zur Litteraturgeſch. der Volkswirtſchaftslehre überhaupt: Kautz, Die geſchichtl. Entwickelung
der Nationalökonomik und ihrer Litteratur. 1860. — - Dühring, Kritiſche Geſchichte der National-
ökonomie und des Socialismus. 1871. 3. Aufl. 1879. — - Roſcher, Geſchichte der Nationalökonomik.
1881. 2. Aufl. 1891. — - Eiſenhart, Geſchichte der Nationalökonomik. 1881 u. 91. —
- Schmoller,
Zur Litteraturgeſchichte der Staats- und Socialwiſſenſchaften. 1888. — - Ingram, Geſchichte der
Volkswirtſchaftslehre. Deutſch 1890.
[81]Die Reformation und die neueren Wiſſenſchaften.
Zum Naturrecht: Stahl, Geſchichte der Rechtsphiloſophie. 1830. 5. Aufl. 1878. — - Hinrichs,
Geſchichte des Natur- und Völkerrechts. 1—3, 1848—52 (geht von der Reformation bis Wolf). — - Vorländer, Geſchichte der philoſophiſchen Moral, Rechts- und Staatslehre der Engländer und
Franzoſen. 1855. — - Bluntſchli, Geſchichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik. 1864. —
- Dilthey, Das natürliche Syſtem der Geiſteswiſſenſchaften im 17. Jahrhundert. Archiv f. Geſch. d.
Philoſ. 1892—93. — - v. Seydel und Rehm, Geſchichte der Staatsrechtswiſſenſchaft. 1896.
37. Die Anfänge der neueren Wiſſenſchaft überhaupt. Aus der
Wiederbelebung der antiken Studien, wie ſie ihren Ausdruck im Humanismus des 15.
und 16. Jahrhunderts fand, und aus der Reformation entſprang eine geiſtige Bewegung,
die mit Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton zur Begründung der Naturwiſſenſchaften,
mit Bacon, Descartes, Spinoza und Leibniz zu einer der antiken ebenbürtigen Philo-
ſophie und im Zuſammenhange mit den praktiſchen Bedürfniſſen der neuen Staats- und
Geſellſchaftsbildung in Bodinus, Hobbes, Hugo Grotius, Pufendorf, Shaftesbury, Adam
Smith erſt zu einer allgemeinen Staatslehre (dem ſog. Naturrecht), dann zur Nationalökonomie
führte. Alle dieſe wiſſenſchaftlichen Anläufe ſtehen auf demſelben Boden. Über die Kirchen-
lehre der Reformation hinausgehend, traut ſich die menſchliche Vernunft direkt die Gott-
heit, die Natur und das Menſchenleben zu begreifen; die Wiſſenſchaft ſucht ſich loszulöſen
von Offenbarung und kirchlicher Satzung; ſie traut ſich im ſtolzen Gefühle der erreichten
Mündigkeit den Flug nach oben, auch auf die Gefahr hin, daß er teilweiſe ein Ikarus-
flug werde. Das Bedürfnis, über Natur und Welt, Staat und Geſellſchaft gedanken-
mäßig Herr zu werden, iſt ſo groß und ſo dringlich, die Staatsmänner wie die Gelehrten
jener Tage haben einen ſo ſtarken poſitiven Zug, haben ſo feſten Glauben an ſich und
die Reſultate ihrer Überlegungen, daß Kritik und Zweifel immer wieder raſch in feſt
geſchloſſene Syſteme umſchlagen, welche beſtimmte Ideale enthalten, an welchen mit
Leidenſchaft gehangen, für welche praktiſch gekämpft wird. Wenigſtens für die wiſſen-
ſchaftlichen Verſuche der Ethik, der Staats- und Rechtslehre, der Volkswirtſchafts-
lehre gilt dies zunächſt und in abgeſchwächter Weiſe bis auf unſere Tage. Es entſtehen
Theorien, die, obwohl teilweiſe auf Erfahrung und Beobachtung ruhend, obwohl auf
Erkennen gerichtet, doch in erſter Linie praktiſchen Zwecken dienen. Aus den Bedürfniſſen
der Geſellſchaft und ihrer Neugeſtaltung heraus werden Ideale aufgeſtellt, werden Wege
gewieſen, Reformen gefordert, und dazu wird eine Lehre, eine Theorie als Stützpunkt auf-
geſtellt. Und die Möglichkeiten ſind ſo auseinandergehend, die Auffaſſung und Beurteilung
deſſen, was not thut, iſt nach philoſophiſchem und kirchlichem Standpunkte, nach Klaſſen-
intereſſe und Parteiloſung, nach Bildung und Weltanſchauung ſo verſchieden, daß in
verſtärktem Maße das Schauſpiel des ſpäteren Altertums und des Mittelalters ſich
wiederholt: eine Reihe entgegengeſetzter Theorien entwickelt ſich und erhält ſich neben-
einander, wie in der Moral, ſo auch in der Staatslehre, der Nationalökonomie, der
Socialpolitik. Die letzten Urſachen hievon ſind die von uns ſchon (S. 69—70) beſprochenen.
Aus den Bruchſtücken wirklicher Erkenntnis läßt ſich zunächſt nur durch Hypotheſen
und teleologiſche Konſtruktionen ein Ganzes machen. Aber ein ſolches iſt nötig, weil
der Einheitsdrang unſeres Selbſtbewußtſeins nur ſo zur Ruhe kommt, und weil nur
durch geſchloſſene, einheitliche Syſteme der menſchliche Wille praktiſch geleitet werden
kann. Der nie ruhende Kampf dieſer Syſteme und Theorien hat eine kaum zu über-
ſchätzende praktiſche und theoretiſche Bedeutung; die jeweilig zur Herrſchaft kommenden
Theorien übernehmen die Führung in der Politik und die Umgeſtaltung der Geſellſchaft,
und aus der immer wiederholten gegenſeitigen Kritik und Reibung entſteht der Anlaß
zum wirklichen Fortſchritte im Leben und in der Erkenntnis. Die ſpäteren Syſteme
und Theorien enthalten einen ſteigenden Anteil geſicherten Wiſſens neben ihren vergäng-
lichen Beſtandteilen.
Wir betrachten nacheinander das ſogenannte Naturrecht, den Kreis der merkantiliſtiſchen
Schriften, die Naturlehre der Volkswirtſchaft und die ſocialiſtiſchen Syſteme als die
am meiſten hervortretenden ſich folgenden Richtungen des volkswirtſchaftlichen Denkens,
ſofern es in beſtimmte Ideale und Syſteme der praktiſchen Politik auslief, um erſt
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 6
[82]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
nachher von der Methode der Volkswirtſchaft und den neueren Verſuchen zu reden, auf
Grund tieferer Forſchung ein wirklich wiſſenſchaftliches Gebäude derſelben zu errichten.
Es erklärt ſich aus der Natur dieſer Litteratur, daß ihre Träger nur teilweiſe
Gelehrte des Faches ſind; man findet unter ihnen Staatsmänner, Ärzte, Naturforſcher,
Praktiker aller Art, Tagespolitiker. Die Begründer der neuen Theorien ſind häufig
meſſiasartige Perſönlichkeiten, die nach Sektenart Gläubige um ſich ſammeln, die einen
halb myſtiſchen Glauben an beſtimmte Formeln und politiſche Rezepte haben. Es fehlen
unter ihnen nicht die marktſchreieriſchen und agitatoriſchen Elemente, ebenſowenig aber
die edelſten Idealiſten, die mehr intuitiv und mit dem Gemüte die Aufgaben der Zeit
erfaſſen als mit umfaſſender Gelehrſamkeit und nüchternem Scharfſinn die Erſcheinungen
unterſuchen. Große Kenner des Lebens ſind darunter wie Stubengelehrte, die kühne
Gebäude aus den unvollſtändigen Elementen unſeres Wiſſens zimmern. Immer aber ſind
die Führer der betreffenden Schulen Pfadfinder geweſen auf dem dornenvollen Wege
der Neugeſtaltung; ſie haben der Geſellſchaft eine praktiſche Leuchte vorangetragen, die,
wenn ſie nicht die ganze Zukunft, ſo doch partielle Wege derſelben aufhellte.
38. Das Naturrecht. Die ſogenannte natürliche Religionslehre, das Natur-
recht oder die natürliche Lehre vom Recht, Staat und Geſellſchaft, ſowie die natürliche
Pädagogik ſind Früchte desſelben Baumes, ſie gehören alle derſelben großen geiſtigen
Bewegung an, die im 16. Jahrhundert entſprang, im 17. und 18. als Aufklärung
vorherrſchte. Aus dem gehäſſigen Kampfe der Konfeſſionen und Sekten, der Religions-
kriege entſprang die Sehnſucht nach einem reinen Gottesglauben, der, aus dem Weſen
des natürlichen, von Gott mit gewiſſen Gaben ausgeſtatteten Menſchen abgeleitet, alle
Völker und Raſſen, alle chriſtlichen Konfeſſionen unter Zurückdrängung der Dogmen und
der mit der natürlichen Vernunft im Widerſpruch ſtehenden Glaubenselemente einigen
könnte. Geläuterte chriſtliche Empfindungen und ſtoiſche Traditionen verbanden ſich zu
jenem univerſal-religiöſen Theismus, zu jener Lehre von der Toleranz, zu jener
natürlichen Religion, welche die edelſten Geiſter jener Zeit einte: Erasmus,
Sebaſtian Frank, Thomas Morus, Coornhert, Bodinus, Hugo Grotius, Spinoza,
Pufendorf, die Socinianer und Arminianer. Auch Zwingli und Melanchthon hatten
ſich dieſem Gedankenkreiſe ſtark genähert; letzterer mit ſeiner Theorie, daß dem
Menſchen ein natürliches Licht mitgegeben ſei, in dem die wichtigſten theoretiſchen und
praktiſchen Wahrheiten enthalten ſeien; gewiſſe notitae, ſagt er, hauptſächlich die Grund-
lagen der Ethik, der Staats- und Rechtslehre ſeien dem Menſchen von Gott eingepflanzt,
ſtünden mit dem göttlichen Denken in Übereinſtimmung. Von da war es nur ein kleiner
Schritt zu der Annahme, die menſchliche Vernunft habe an ſich das Vermögen, die
religiös-moraliſchen Wahrheiten zu erkennen, wie ſie Herbert von Cherbury für die
Religion, Bacon unter Berufung auf das Naturgeſetz für die ſittlichen Ordnungen an-
nahm. In der Übereinſtimmung der Völker und in der Analyſe der menſchlichen Natur
findet Hugo Grotius die Wege, zu dieſen Wahrheiten zu kommen. Die Unterordnung der
neuen großartigen Naturerkenntnis unter oberſte logiſch-mathematiſche Principien ſteigerte
das ſtolze Bewußtſein der Autonomie des menſchlichen Intellektes, und man war raſch
bereit, in ähnlicher Weiſe oberſte Sätze als mit dem Weſen Gottes, der Vernunft und
der menſchlichen Natur, welche drei Begriffe man in ſtoiſcher Weiſe identifizierte, als
gegeben anzunehmen; ſie erſchienen nun tauglich zu einer Konſtruktion der natürlichen
Religion, des natürlichen Rechtes, der natürlichen Geſellſchaftsverfaſſung.
Das ſogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptſächlich in Bodinus
(De la république 1577), Joh. Althuſius (Politica 1603), Hugo Grotius (De jure belli et
pacis 1625), Hobbes (Leviathan 1651), Pufendorf (De jure naturae et gentium 1672),
Locke (Two treatises on government 1689), Chriſtian Wolf (Jus naturae 1740) entgegen-
tritt, will die geſamte ſtaatswiſſenſchaftliche, rechtliche und volkswirtſchaftliche Erkenntnis
der Zeit ſyſtematiſch darſtellen: Völkerrecht, Verfaſſungsformen, Strafrecht, Privatrecht,
Finanzen, Eigentum, Geldweſen, Verkehr, Wert, Verträge ſollen als überall wieder-
kehrende, gleichmäßige Lebnesformen dargelegt, aus der menſchlichen Natur abgeleitet werden.
Ein urſprünglicher Naturzuſtand, ein Übergang desſelben in die ſogenannte bürgerliche
[83]Das Naturrecht, ſeine Stellung und Bedeutung.
Geſellſchaft auf Grund beſtimmter Triebe und Verträge, ein geſellſchaftlicher Zuſtand
mit Regierung, Finanzen, Arbeitsteilung, Verkehr, Geldwirtſchaft, verſchiedenen ſocialen
Klaſſen, wie er dem 17. und 18. Jahrhundert entſprach, wird ohne weiteren Beweis
als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Es gilt, dieſen letzteren Zuſtand einerſeits rationa-
liſtiſch zu erklären, andererſeits ihn zu prüfen nach dem abſtrakten Ideal des natürlichen
Rechtes. Dieſes natürliche Recht wird teils gedacht als die Lebensordnung einer
idealen Urzeit, teils als das von Gott dem Menſchen eingepflanzte, beim vollendeten
Kulturmenſchen am meiſten ſichtbare Urmaß der ſittlich-rechtlichen Normen, teils als das
klug zum Nutzen der Geſellſchaft erſonnene und von der Staatsgewalt durchgeführte
Syſtem von Regeln des ſocialen Lebens. Selbſt bei denſelben Autoren ſchwankt das,
was als Natur, als natürliche Eigenſchaft, als natürliches Recht bezeichnet wird, ſehr
häufig bedeutend. Aber man bemerkt das nicht, im ſicheren Glauben, das Weſen des
natürlichen Menſchen durch Vergleichung, durch Beobachtung, auf Grund der Nachrichten der
Bibel und der Alten ſicher faſſen zu können. Der Gedanke einer hiſtoriſchen Entwickelung
der menſchlichen Eigenſchaften und der Inſtitutionen fehlt noch ganz. Um ſo ſicherer
glaubt man, aus der abſtrakten Menſchennatur, ihren Trieben und den ihr von Gott
eingepflanzten vernünftigen Eigenſchaften abſolut ſichere Lebensideale für das individuelle
und ſociale Leben aufſtellen, aus der Vernunft konſtruieren zu können.
Die praktiſchen Ideale für das geſellſchaftliche Leben gehen nun freilich weit aus-
einander: gemäß den zwei ſtets vorhandenen Polen des geſellſchaftlichen Lebens und den
verſchiedenen Bedürfniſſen der jeweiligen Politik erſcheint den einen eine kraftvolle, un-
beſchränkte ſtaatliche Centralgewalt, den anderen eine Sicherſtellung der ſtändiſchen und
individuellen Rechte als das aus dem Naturrechte in erſter Linie Folgende. Dem entſprechend
ſind ſchon die Ausgangspunkte ſehr verſchiedene; die einen gehen mit Epikur von den
ſelbſtiſchen Trieben, von einem Urzuſtand rohſter Barbarei, vom Kampfe der Individuen
untereinander aus; ſo Gaſſendi, Spinoza, Hobbes, bis auf einen gewiſſen Grad Pufen-
dorf; die anderen ſchließen ſich mehr der Stoa an und ſehen als die natürliche Eigen-
ſchaft des Menſchen, welche die Geſellſchaft erzeugt, die ſympathiſchen Triebe an. So
ſagt Bacon, die lex naturalis ſei ein ſocialer, auf das Wohl der Geſamtheit gerichteter
Trieb, der ſich mit dem der Selbſterhaltung auseinander zu ſetzen habe. So iſt der
ſociale Trieb des Hugo Grotius ein Streben nach einer ruhigen, geordneten Gemeinſchaft
des Menſchen mit ſeinesgleichen; Pufendorf ſucht beide Anſichten zu verbinden. Locke
leugnet den angeborenen ſocialen Trieb, läßt aber ſeine Menſchen im Naturzuſtande als
freie und gleiche, mit Ehe und Eigentum, ohne kriegeriſche Reibungen friedlich leben und die
damals ſchon innegehabten Naturrechte in der bürgerlichen Geſellſchaft beibehalten. Dem
Shaftesbury ſind die geſelligen Neigungen, Sympathie, Mitleid, Liebe, Wohlwollen die
natürlichen, die ſelbſtiſchen und egoiſtiſchen die unnatürlichen, während umgekehrt Spinoza
die Selbſtſucht natürlich findet, ſie im status civilis durch die Ordnungen des Staates
bändigen läßt, aber der Wirkungsſphäre des Individuums möglichſt breiten, dem Staate
möglichſt engen Raum gewähren will.
Das Naturrecht hat in Bodinus, Hobbes, Pufendorf, Wolf der monarchiſchen
Staatsallmacht ebenſo gedient, wie in Althuſius, Spinoza, Locke und ſeinen Nachfolgern
der freien Bewegung des aufſtrebenden Bürgertums, deren Ideal die Volksſouveränität
und der ſchwache Staat war. Die erſteren ſind die rechtsphiloſophiſchen Vorläufer und
Begründer der merkantiliſtiſchen Theorien, die letzteren die der individualiſtiſchen, wirt-
ſchaftlichen Freiheitslehren. Die ſämtlichen Syſteme der Folgezeit bis zum Socialismus
haben ſich methodologiſch an das Naturrecht angelehnt, haben in ihren wichtigſten Ver-
tretern Ideale und Argumente der naturrechtlichen Philoſophie entlehnt. Noch heute ſtehen
zahlreiche Mancheſterleute und Socialiſten im ganzen auf dieſem Boden.
Zur Zeit ſeiner Entſtehung hatte das Naturrecht ſeine Stärke und ſeine Berechtigung
darin, daß es die Wiſſenſchaft von Staat und Geſellſchaft loslöſte von der Methode der
Scholaſtik und der Bevormundung durch die Theologie, daß es verſuchte, Staat und
Wirtſchaft aus dem Weſen der Menſchen abzuleiten, daß es an der Hand der praktiſchen
Bedürfniſſe geſchloſſene Gedankenſyſteme als Ideal des Lebens aufzuſtellen ſuchte. Seine
6*
[84]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Schwäche aber lag von Anfang an darin, daß es auf Grund ganz abſtrakter Sätze und
fiktiver Annahmen ſeine Theorien aufbaute, daß es vermeinte, gar zu kurzer Hand das
innerſte Weſen der Natur, der Geſellſchaft, die Zwecke der Weltvernunft und der Gottheit
erfaſſen und daraus deduktiv ſchließend Staat und Volkswirtſchaft konſtruieren zu können.
Das Naturrecht war unhiſtoriſch und rationaliſtiſch. Ein mechaniſches Kräfteſpiel, ein
oder mehrere fiktive Staatsverträge ſollten genügen, das komplizierte ſociale Daſein zu
erklären. Man vergaß allzu raſch, durch welche Abſtraktionen man die oberſten Grund-
lagen gewonnen und wurde ſo im Weiterſchließen hohl, unwahr, teilweiſe phantaſtiſch.
Was an beſtimmter Stelle das berechtigtſte Ideal war, die ſtarke Staatsgewalt oder die
freie Bewegung der Perſon, wurde ſchablonenhaft generaliſiert; man kam nicht zur
Unterſuchung und zum vollen Verſtändnis, warum beſtimmte Urſachen hier das eine,
dort das andere als das dringlichere Ziel der Politik erſcheinen ließen.
Aber zunächſt war eine tiefere und beſſere wiſſenſchaftliche Behandlung nicht
möglich. Die Bodinus, Hobbes, Pufendorf waren im 16. und 17. Jahrhundert die
hellſten Köpfe und die aufgeklärteſten Beobachter, die Hugo Grotius, Locke, A. Smith
ſtanden mit gleichem Rechte in der folgenden Epoche an der Spitze des geiſtigen Lebens. Erſt
im 19. Jahrhundert wird die Berechtigung derer eine zweifelhafte, die noch nach der
alten Art der Naturrechtslehrer die Wiſſenſchaft von Staat und Geſellſchaft betreiben.
3. Die vorherrſchenden Syſteme des 18. und 19. Jahrhunderts.
- Zu 39: Roſcher, Zur Geſchichte der engliſchen Volkswirtſchaftslehre im 16. u. 17. Jahrh. Abh.
d. ſächſ. Ak. d. W. 3. 1851. — - Laspeyres, Geſchichte der volkswirtſchaftlichen Anſchauungen der Nieder-
länder und ihrer Litteratur zur Zeit der Republik. 1865. — - Bidermann, Über den Merkantilismus.
1871. — - Schmoller, Das Merkantilſyſtem in ſeiner hiſt. Bedeutung. J. f. G.V. 1884. u. Schmoller U. U.
Zu 40: Daire, Collection des principaux économistes. 3—4, 1844. — - Kellner, Zur
Geſchichte des Phyſiokratismus. 1847. — - v. Sivers, Turgots Stellung in d. Geſch. d. National-
ökonomie. J. f. N. 1. F. 22, 1874. — - Stephan Bauer, Zur Entſtehung der Phyſiokratie. Daſ.
2. F. 21, 1890. — - Oncken, Die Maxime laissez faire et laissez passer. 1886. —
- Hasbach,
Die allgem. philoſ. Grundlage der von F. Quesnay und A. Smith begründeten politiſchen Ökonomie.
1890. — - Feilbogen, Smith und Turgot. 1892. —
- Hasbach, Ünterſuchungen über A. Smith
und die Entwickelung der politiſchen Ökonomie. 1891. — - Zeyß, Adam Smith und der Eigennutz.
1889. — - Knies, Die Wiſſenſchaft der Nationalökonomie ſeit A. Smith bis auf die Gegenwart.
1852. Die übrige große Litteratur über A. Smith ſiehe H.W. 5.
Zu 41: Reybaud, Études sur les réformateurs contemporains ou socialistes modernes.
1840. — - Stein, Der Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs. 1842. 2. Aufl. 1848. —
- Mehring, Die deutſche Socialdemokratie, ihre Geſchichte und ihre Lehre. 1877. 3. Aufl. 1879. —
- Robert Meyer, Der Emancipationskampf des vierten Standes. 2 Bde. 1875 (1.: 2. Aufl. 1885.) —
Laveleye, Le socialisme contemporain. 1881. 5. Aufl. 1892. (Deutſch 1884: Die ſocialen
Parteien der Gegenwart.) — Raye, Contemporary socialism. 1884 u. 1891. — - Leroy-Beaulieu,
Le collectivisme, examen critique du nouveau socialisme. 1884 u. 1885. — - Anton Menger,
Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag. 1886 u. 1891. — - Warſchauer, Geſchichte des Socialismus
und Kommunismus (ſeit 1892 im Erſcheinen begriffen). — - Malon, Histoire du socialisme depuis
ses origines jusqu’à nos jours. 5 vol. 1880—85. — - Georg Adler, Socialismus und Kommu-
nismus. H.W. 5. — - Stammhammer, Bibliographie des Socialismus und Kommunismus.
1893, der Socialpolitik. 1896. — - Sombart, Socialismus und ſociale Bewegung im 19. Jahr-
hundert. 1896. — - Mehring, Geſchichte der deutſchen Socialdemokratie. 2 Bde. 1898.
Über die einzelnen Socialiſten: Brandes, Ferd. Laſſalle. 1877. — - Plener, Ferd. Laſſalle.
1884. — - Groß, Karl Marx. 1885. —
- v. Wenckſtern, Marx. 1896. —
- Adler, Rodbertus. 1884. —
- Dietzel, Karl Rodbertus. 1886—88. —
- Jentſch, Rodbertus. 1899.
39. Die merkantiliſtiſchen Schriften, welche die Staaten- und Volks-
wirtſchaftsbildung im 17.—18. Jahrhundert begleiten und fördern, enthalten zuerſt
mehr praktiſch-theoretiſche Erörterungen der einzelnen großen volkswirtſchaftlichen Zeit-
fragen, die ſich damals aufdrängten; die Gedanken gelangen erſt im 18. Jahrhundert
zu einer Art ſyſtematiſcher Zuſammenfaſſung, getrennt vom Naturrecht. Beherrſcht ſind
alle dieſe Schriften von dem Vorſtellungskreis, der mit der ſiegreich aufſtrebenden Staats-
gewalt und deren raſch wachſenden Aufgaben und Rechten gegeben war.
[85]Der Standpunkt des Merkantilismus.
Die Vorſtellung einer beſonderen, ſelbſtändig neben dem Staate ſtehenden Volks-
wirtſchaft iſt eigentlich noch nicht vorhanden. Finanzen, Arbeitsteilung, Verkehr ſind
den Denkern jener Tage integrierende Teile des angeblich durch den Staatsvertrag ent-
ſtandenen Gemeinweſens. Das ganze politiſche und wirtſchaftliche Leben iſt ein Mecha-
nismus, der durch klug erſonnene Geſetze und ſtaatliche Organe zu regulieren iſt; die
ſcharfſinnigſten Realiſten, von Macchiavelli bis auf James Steuart, ſehen darin in erſter
Linie eine Schöpfung des Staatsmannes. Und die meiſten damaligen Staaten waren
es auch in ihrer Gründung, wie in ihrer weiteren politiſchen und wirtſchaftlichen Ent-
wickelung. Vielfach wenigſtens mit Blut und Eiſen und mit allen Künſten der
Diplomatie waren aus den kleinen Gebieten, aus den ſelbſtändigen Städten und
Provinzen die größeren Staaten damals hergeſtellt worden. Überall ſtand die Herbei-
führung gleicher und einheitlicher wirtſchaftlicher Ordnungen innerhalb dieſer neugebildeten
Staaten im Vordergrunde der ſtaatlichen Aufgaben; ſelbſt Colbert hat unendlich mehr
für die innere Verwaltungseinheit Frankreichs als für deſſen Abſchluß nach außen
gethan. Innerhalb der neugebildeten Staaten mit ihrem vergrößerten inneren Markte
gilt es nun für die entſprechende Zahl Menſchen und ihre richtige Verteilung zu ſorgen;
das Verhältnis der Ackerbauer zu den Gewerbtreibenden nach Zahl und nach Art des
Austauſches beſchäftigt die Aufmerkſamkeit, ebenſo die Frage, ob in jedem einzelnen
Erwerbszweige die rechte Zahl von Menſchen ſei; es iſt Sache der Regierung, überall
das Zuviel und Zuwenig, das „Polypolium“ und das „Monopolium“ der Produzierenden
zu hindern. Die Vorſtellung von Angebot und Nachfrage begegnet uns bereits; als
das Mittel, ſie in regelmäßige Berührung zu bringen, erſcheint das Geld, die Münze;
die Geldcirkulation wird gefeiert als der große Motor des ſocialen Körpers; ſie ſoll
befördert werden; eine zunehmende Geldmenge wird ebenſo geprieſen wie eine raſchere,
gleichmäßigere Geldcirkulation. Aber abgeſehen von wenigen Großkaufleuten, die, ſchon
damals an den Sitzen des lebendigſten Verkehrs, teils an ſich der Freiheit der Geld-
cirkulation und aller Verkehrstransaktionen vertrauen, teils dieſe Freiheit in ihrem
Intereſſe finden (wie Pieter de la Court in Holland), erſcheint dieſe Cirkulation des
Geldes und der Waren, welche gerade damals ſich außerordentlich vermehrte und
ausdehnte, niemandem als ein Strom, der ſich ſelbſt überlaſſen werden könne. Man
fürchtete vom Handwerker die Lieferung ſchlechter Waren, von der natürlichen
Preisbildung eine Verteuerung, die den Abſatz vernichte; man lebte noch ganz in
den überlieferten Zuſtänden, welche mit ihren hergebrachten Stapelrechten, Binnenzöllen,
Marktrechten, ihrem Fremdenrechte leicht jede Änderung und Ausdehnung des Verkehrs
hemmten. Alles rief nach dem Staatsmanne, der jedem Angebote ſeinen Abſatz
verſchaffen, der allen Verkehr von Markt zu Markt, von Stadt zu Land, von Provinz
zu Provinz und vollends von Staat zu Staat regulieren, der ordnend, Waren-
ſchau haltend, preisſetzend eingreife. Nur ſo — fand man — könne dieſes künſtliche
Gewebe des Verkehrs gedeihen, vor falſcher, dem Staate ungünſtiger Entwickelung bewahrt
bleiben. Ein Heißhunger nach wirklicher oder fiktiver Statiſtik, welche als ſtaatlicher
Kontrollapparat allen Verkehrsvorgängen dienen ſollte, erfüllt die aufgeklärten, am beſten
regierten Staaten von den italieniſchen Tyrannen des Cinque Cento bis zu den großen
Regenten des 18. Jahrhunderts.
Nicht ſowohl das Geld als einziger Gegenſtand des Reichtums ſteht ſo im Mittel-
punkte der Betrachtung, als die Cirkulation desſelben, das Geld als Schwungrad des
Verkehrs. Da dieſes Geld aber obrigkeitliche Münze iſt, vom Fürſten geprägt wird,
da die Staatsgewalt für die genügende Menge verantwortlich iſt, ſo erſcheint, zumal
in den Staaten ohne Bergwerke, die Pflicht, durch Handelsmaßregeln für die ent-
ſprechenden Geldſummen zu ſorgen, als die wichtigſte volkswirtſchaftliche Aufgabe der
Regierung. Und da zugleich die neuen Geldſteuern für Heer und Beamtentum nur da
reichlich fließen, wo Verkehr und Induſtrie erblüht ſind, da man dieſe überall da ent-
ſtehen ſieht, wo der auswärtige Handel, vor allem der nach den Kolonien, und der
Handel, der inländiſche Induſtriewaren ausführt, gedeiht, ſo wird die Frage, wie durch
Kolonialhandel und Manufaktenausfuhr eine günſtige Handelsbilanz zu erzielen ſei, zum
Prüfſtein der richtigen ſtaatlichen Wirtſchaftspolitik.
[86]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Wie die mittelalterlichen Städte ſchon naturgemäß ihre Aus- und Einfuhr als
ein Ganzes angeſehen hatten, ſo geſchah dasſelbe nun für die Territorien und Staaten.
Es war ein großer Fortſchritt in der praktiſchen Verwaltung und in der theoretiſchen
Erkenntnis, daß man verſuchte, ſich ein einheitliches Bild von der Aus- und Einfuhr
ganzer Länder zu machen, daß man feſtſtellen wollte, ob man mehr aus- oder einführe,
ob man durch Mehrausfuhr ein Plus von Edelmetall gewinne. Und daß man den
Staat dabei als in einem feindlichen Spannungsverhältnis zu anderen Ländern begriffen
dachte, war natürlich. In dem ſchweren Kampfe um die Kolonien, um die Grenzen,
um die Abſatzgebiete ſtanden ſich die neugebildeten Staaten Jahrhunderte lang feindlich
gegenüber; die wichtigſten derſelben waren faſt häufiger in Handels- und Kolonialkrieg
miteinander begriffen als in Frieden; die kleineren und ſchwächeren wurden unbarmherzig
wirtſchaftlich von den größeren und ſtärkeren mißhandelt und ausgebeutet oder fürchteten,
es zu werden. Was Wunder, wenn die Frage in den Vordergrund rückte, was gewinnen
oder verlieren wir bei der Berührung mit dem anderen Staate? Verri drückt die
Wahrheit für einen großen Teil der damaligen internationalen Beziehungen aus, wenn
er ſagt: „Jeder Vorteil eines Volkes im Handel bringt einem anderen Volke Schaden,
das Studium des Handels iſt ein wahrer Krieg“. Nur wenn man durch Kriege, Kolonial-
erwerbung und beſonders durch kluge Verträge neue Märkte gewonnen, durch Sperren und
Schutzmaßregeln den eigenen Abſatz erweitert, durch Berechnung der Bilanz konſtatiert hatte,
daß man mehr aus- als einführe, was beſonders in günſtigen Jahren und bei raſch
emporblühender Induſtrie zutraf, glaubte man ſich gegen die Gefahr der Übervorteilung,
der Verarmung geſichert. Jedenfalls bewies eine wachſende Ausfuhr in der Regel, daß
das Ausland der Waren des Inlandes dringender bedürfe als umgekehrt, jedenfalls
verband ſich mit der genauen Beobachtung der Aus- und Einfuhr häufig die richtige
Pflege des inländiſchen Verkehrs und der inländiſchen Induſtrie. Und wenn alſo nicht
alle Sätze richtig waren, die man an die Bilanzlehre anknüpfte, wenn die Erwartungen,
durch Zollmaßregeln die Geldmenge im Lande ſteigern zu können, übertrieben waren,
die Beobachtung der Aus- und Einfuhr war ein Inſtrument des volkswirtſchaftlichen
Fortſchrittes; die durch Zollgrenzen erfolgende Abſchließung des Landes entſprach der
Beförderung eines freien inneren Verkehrs. Die Auffaſſung, die Staatsgewalt habe die
Pflicht, die Volkswirtſchaft des Landes als ein Ganzes in ihren Intereſſen zu fördern,
in den internationalen Rivalitätskämpfen zu ſtützen und zu vertreten, entſprach durchaus
den Verhältniſſen. Die Regierungen, welche raſch, ſelbſtbewußt und kühn die Macht
ihrer Flotten und Heere, den Apparat ihrer Zoll- und Schiffahrtsgeſetze in den Dienſt
der ſtaatlichen Wirtſchaftsintereſſen zu ſtellen verſtanden, erreichten damit den Vor-
ſprung im handelspolitiſchen Kampfe, in Reichtum und induſtrieller Blüte; und wenn
die Regierungen jener Tage oft zu weit gingen, von halbwahren theoretiſchen Sätzen
ſich leiten ließen, wenn Holland, England und Frankreich ebenſo durch Gewalt und
Kolonialausbeutung wie durch eigene innere Arbeit Reichtümer ſammelten, ſo gaben ſie
doch durch ihre volkswirtſchaftliche Politik dem inneren wirtſchaftlichen Leben der betreffenden
Nation die notwendige Unterlage der Macht, der wirtſchaftlichen Bewegung der Zeit
den rechten Schwung, dem nationalen Streben große Ziele. Die merkantiliſtiſchen Ideale
waren ſo für jene Jahrhunderte ein nicht nur berechtigtes, ſondern das einzig richtige
Ziel. Ganz iſt die Berechtigung ſolcher Ziele auch heute noch nicht verſchwunden, obwohl
das Völkerrecht und der Welthandel die internationalen Beziehungen ſo viel friedlicher
geſtaltet haben.
Die Schriften der verſchiedenen europäiſchen Nationen, welche an dieſer geiſtigen
Bewegung teil genommen haben, unterſcheiden ſich hauptſächlich dadurch, daß ſie je nach
der Lage und den nationalen Geſamtintereſſen verſchiedene ſtaatliche Verwaltungs-
maßregeln empfehlen. In Holland rühmt man ſtaatliche Admiralitäten, große monopo-
liſierte Handelsgeſellſchaften und alle die Maßregeln, die Amſterdam zum Mittelpunkte
des Welthandels machen. Außerhalb Hollands empfiehlt man allgemein die Nachahmung
dieſes kleinen, rührigen Handelsvolkes, aber man dringt in England in erſter Linie auf
nationale Schiffahrtsgeſetze, die gegen Holland gerichtet ſind, auf Pflege der Seefiſcherei,
[87]Die merkantiliſtiſche Litteratur der einzelnen Länder.
des oſtindiſchen Handels, auf eine ſtaatliche Herabdrückung des Zinsfußes und eine
Förderung der heimiſchen Induſtrie; in Deutſchland empfiehlt man vor allem Erſchwe-
rung und Verbot der fremden Manufakteneinfuhr, um das gewerbliche Leben der Heimat
nicht ganz durch die fremde Konkurrenz erdrücken zu laſſen. Die einzelnen Mittel ſind
verſchieden, die Ziele ſind überall dieſelben: die egoiſtiſche Förderung der eigenen Volks-
wirtſchaft mit allen Mitteln des Staates.
Während die viel bewunderten Holländer mehr das praktiſche Leben ausbildeten
und über wirtſchaftliche Einzelfragen ſchrieben, erzeugten in Italien die alte geiſtige Kultur
und die Münzgebrechen der Zeit Schriftſteller, die vom Geldweſen zum Handel und
zur allgemeinen Wirtſchaftspolitik vordringen: Antonio Serra (Breve trattato delle cause
che possono far abondare li regni d’oro e d’argento, dove non sono miniere, 1613)
iſt als einer der erſten und Antonio Genoveſi (Lezione di Commercio, osia di Eco-
nomia Civile, 1769, deutſch 1776) als einer der umfaſſendſten und maßvollſten Schrift-
ſteller der von uns bezeichneten Gedankenrichtung zu nennen. In England wirkte das
freie politiſche Leben, der ſonſtige wiſſenſchaftliche Geiſt, der zur Beobachtung beſonders
geſchickte Nationalcharakter und der handelspolitiſche Kampf mit Holland zuſammen, die
hervorragendſten Schriften des Merkantilismus ins Leben zu rufen. Thomas Mun
(A discourse of trade from England into the East Indies, 1609; Englands treasure by
foreign trade ect, 1664) iſt der erſte erhebliche Theoretiker der Handelsbilanz, der
Compagniedirektor Sir Joſiah Child (Brief observations concerning trade and the interest
of money, 1668; A new discourse of trade, 1690) tritt für Zinsfußerniedrigung,
Handelscompagnien, ſtrenge Abhängigkeit und Ausnutzung der Kolonien auf, Sir William
Petty, Autodidakt, Arzt, Chemiker, glücklicher Geſchäftsmann und Spekulant (A treatise
of taxes ect, 1662; Several essays in political arithmetic, 1682; The political anatomy
of Ireland, 1691; 1719), weiß volkswirtſchaftliche Zuſtände zu beobachten und zahlen-
mäßig zu ſchildern, ähnlich wie ſein Nachfolger auf dieſem Gebiete, Charles Davenant,
deſſen zahlreiche Schriften in die Zeit von 1695—1712 fallen (The political and com-
mercial works, 1771); dieſer erörtert in geläuterter Weiſe die Handelsbilanz, die Pro-
hibitivmaßregeln, den Kolonialhandel. Faſt alle engliſchen Schriftſteller dieſer Zeit
ſchließen ſich den neugebildeten Parteien der Tories und der Whigs an, ſtehen in deren
Dienſt, verherrlichen als Whigs die maßloſe Überſpannung des Schutzſyſtems, eifern
als Tories dagegen. Den theoretiſchen und ſyſtematiſchen Höhepunkt der engliſchen
Merkantiliſten bildet erſt der viel ſpätere, etwas breite und ungelenke James Steuart
(Inquiry into the principles of political economy being an essay on the science of
domestic policy in free nations, 1767, deutſch 1769), der Adam Smith an Eleganz
und Klarheit unzweifelhaft, aber kaum an hiſtoriſchem und pſychologiſchem Verſtändnis,
an praktiſcher Lebenskenntnis nachſteht.
Wenn in Deutſchland die erſten kameraliſtiſchen Profeſſuren auf den Univerſitäten
errichtet werden, um die Kammerbeamten für ihre Verwaltungsthätigkeit beſſer vor-
zubereiten, und wenn ſo in der deutſchen Litteratur jener Tage die landwirtſchaftliche
und gewerblich-techniſche Unterweiſung neben Finanz- und volkswirtſchaftlichen Fragen
eine beſonders große Rolle ſpielt, den Schriften einen erdig realiſtiſchen Beigeſchmack
im ganzen giebt, ſo hat andererſeits doch das deutſche Schulmeiſtertum am früheſten
ſyſtematiſche Werke geſchaffen. Wie die Engländer aus Pufendorfs Naturrecht einen
erheblichen Teil ihrer ſyſtematiſchen Betrachtungen nahmen, ſo hat Johann Joachim
Becher ſchon 1667 eine Art merkantiliſtiſch-kameraliſtiſchen Lehrbuches geſchrieben; er iſt
urſprünglich Arzt und Chemiker, ſpäter Kommerzienrat und Projektenmacher; ſein
„Politiſcher Diskurs von den eigentlichen Urſachen des Auf- und Abnehmens der Städte,
Länder und Republiken“ hat von 1667—1759 ſechs Auflagen erlebt, hat mit ſeiner
Lehre von der ſtaatlichen Regulierung alles Verkehrs, mit ſeiner Forderung von Com-
pagnien, Werk- und Kaufhäuſern, von Schutzzollmaßregeln gegen Frankreich die deutſche
Praxis faſt drei Menſchenalter beherrſcht. An ihn ſchließen ſich die meiſten der folgenden
Kameraliſten an: Hörnigk, Schröder, Gaſſer, Zinken bis zu dem glatt ſyſtematiſierenden
J. H. G. von Juſti und ſeinen zahlreichen Lehrbüchern (Grundſätze der Staatswirt-
[88]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſchaft, 1755; Polizeiwiſſenſchaft, 1756; Syſtem des Finanzweſens 1766 ꝛc.). Neben ihnen
vertreten die Staatsrechtslehrer und Philoſophen mit faſt noch größerer Energie die Pflicht
der Regierungen zu wirtſchafts-polizeilicher Thätigkeit. Chriſtian Wolf iſt der Lehrer
der Generation, die bis zu 1786 regiert hat; er preiſt aus vollſter Überzeugung China
mit ſeiner Vielregiererei und ſeinem Mandarinentum als Muſterſtaat. Der Regierung wird
in ſchrankenloſer Weiſe die Sorge für die allgemeine Glückſeligkeit zugewieſen; ſie ſoll
für richtigen Lohn und Beſchäftigung aller Menſchen, für mittleren Preis, für die rechte
Zahl Menſchen im ganzen und in jedem Berufszweige, für die Tugenden und guten
Sitten der Kinder, der Hausfrauen, der Bürger und der Beamten ſorgen.
Der Franzoſe Melon (Essai politique sur le commerce, 1734, deutſch 1756)
verlangt von der Regierung Sorge für Kornvorräte, Bevölkerungs- und Geldvermehrung.
Forbonnais (Éléments du commerce, 1754; Recherches et considérations sur les finances
de France, 1758 ꝛc.) ſteht ungefähr mit Steuart auf demſelben Boden. Die Schriften
beider haben die merkantiliſtiſchen Einſeitigkeiten und Übertreibungen ſo abgeſtreift, ſind
ſo reich an ſcharfer Beobachtung und guter Schlußfolgerung, daß ſie neben Smith,
Hume, Turgot zu den großen Leiſtungen der erſten Glanzzeit nationalökonomiſcher
Wiſſenſchaft (1750—90) zu rechnen ſind.
Die ganze hier aufgezählte Litteratur hat überwiegend einen politiſchen und ver-
waltungsrechtlichen Charakter; die allgemeine pſychologiſche Vorausſetzung iſt zumal bei
den deutſchen Kameraliſten die Dummheit des Pöbels, der Schlendrian ſelbſt der Kauf-
leute, die man mit Gewalt zu ihrem Vorteil hinziehen müſſe. Man fürchtet, daß alles
ſchlecht gehe, wenn man der Dummheit und Gewinnſucht freie Bahn gebe. Es iſt eher
eine peſſimiſtiſche als eine optimiſtiſche Lebensauffaſſung, die vorherrſcht; eine gewiſſe
Unbehülflichkeit bei viel praktiſcher Lebenskenntnis. Die volkswirtſchaftliche Theorie iſt
noch ganz verknüpft mit der Betrachtung des Staates, der Polizei, der Finanz, weil
die Staats- und die Volkswirtſchaftsbildung im 17. und 18. Jahrhundert zuſammenfiel,
weil nur in den eben gebildeten größeren Nationalſtaaten mit ſtarker Centralgewalt die
neue Volkswirtſchaft hatte entſtehen können. Nicht der Glanz generaliſierender, beſtechender
Syſteme wird in dieſer Litteratur erreicht, ſondern eklektiſch ſucht man das Brauchbare,
das Nächſtliegende, das Anwendbare. Die platten Köpfe werden dabei banauſiſch, die
feineren aber erreichen eine Lebenswahrheit, die von den abſtrakten Syſtemen ihrer
Nachfolger im Lager der volkswirtſchaftlichen Individualiſten und der Socialiſten vielfach
nicht wieder erreicht wurde.
40. Die individualiſtiſche Naturlehre der Volkswirtſchaft. So
ſehr vom 16.—18. Jahrhundert in den ſich konſolidierenden weſteuropäiſchen Staaten
das Bedürfnis einer feſten und ſtarken Centralgewalt ſich geltend gemacht hatte, ſo
wenig fehlten doch die entgegengeſetzten praktiſchen Tendenzen. Faſt überall dauerten
kräftige lokale Bildungen, Korporationen, Stände, ſelbſtändige kirchliche Gruppen fort.
Wie die katholiſche Kirche da und dort die Volksſouveränität gelehrt, ſo hatten die
bedrängten franzöſiſchen Hugenotten die ſtändiſchen Rechte und das Recht des Wider-
ſtandes gegen die Mißbräuche der Regierungsgewalt betont, den ſogenannten Staatsvertrag
in individualiſtiſchem Sinne ausgelegt, teilweiſe ſchon die Parole der Gleichheit aller
Menſchen ausgegeben. Boisguillebert (Le détail de la France, 1695) erging ſich in
hartem Tadel der beſtehenden franzöſiſchen Staats- und Finanzverwaltung, welche die
Getreideausfuhr zu Gunſten der ſtädtiſchen Induſtrie erſchwere, den Landbau lähme,
und der große franzöſiſche Marſchall Vauban (Dîme royal, 1707) kam auf Grund ſeiner
genauen Kenntniſſe der Not der Bauern zu nicht minder ſchweren Anklagen und zur
Forderung großer Ämter-, Steuer- und Socialreformen. Mächtig arbeitete der durch
die Renaiſſance und die Reformation geweckte, durch die Geldwirtſchaft beförderte Trieb
nach individueller Selbſtändigkeit weiter. In Holland und England hatte noch ſtärker
als anderwärts das aufkommende Bürgertum und die beginnende Handelsariſtokratie
freie Bewegung, für ſich hauptſächlich freien Handel gefordert, die merkantiliſtiſchen
Regierungsmaßregeln getadelt (z. B. North, Discourses upon trade, 1691). Der große
Philoſoph Locke, obwohl im ganzen noch whigiſtiſcher Merkantiliſt, eifert gegen polizei-
[89]Die individualiſtiſchen Tendenzen; die Phyſiokraten.
liche Preisbeſtimmungen, gegen ſtaatliche Zinsfußbeſchränkungen; er ſieht ein, daß der
Zinsfuß von der Geld- beziehungsweiſe Kapitalmenge abhänge, er ſucht in der Arbeit die
Urſache des Wertes und wird durch ſein individualiſtiſches Naturrecht, durch ſeine aus-
ſchließliche Betonung von Freiheit und Eigentum „der Vater des modernen Liberalismus“.
Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtſchaftlicher Polizei
lag nunmehr hinter der Generation, welche von 1750 an die Bühne betrat. Sie
betrachtete das Erreichte als ſelbſtverſtändlich, fühlte ſich gedrückt durch den träge
werdenden Polizeiſtaat und die von ihm noch nicht beſeitigten feudalen Geſellſchafts-
einrichtungen. Nach freier Bewegung des Individuums lechzend, konnte auf dieſem
Boden nun die Naturlehre der individualiſtiſchen Volkswirtſchaft entſtehen. Die Phyſio-
kraten in Frankreich, Hume und Adam Smith in England ſind die Begründer derſelben.
Es waren die erſten rein theoretiſchen und äußerlich vom Naturrecht, von den
übrigen Staatswiſſenſchaften losgelöſten volkswirtſchaftlichen Syſteme. Innerlich ſind
ſie freilich ganz abhängig von der damals vorherrſchenden Anſchauung eines Natur-
zuſtandes, aus dem durch Staatsvertrag die bürgerliche Geſellſchaft entſtanden ſei; die
Verfaſſer glauben als Theiſten an eine harmoniſche Einrichtung der Welt und der Ge-
ſellſchaft, an das Überwiegen guter, geſelliger Triebe, die, ſich ſelbſt überlaſſen, das
Richtige finden; die natürliche und die ſittliche Ordnung der Dinge fällt für ſie
zuſammen; Rückkehr zur Natur, Waltenlaſſen der Natur iſt ihnen das höchſte Ideal;
die meiſten beſtehenden volkswirtſchaftlichen Einrichtungen erſcheinen ihnen als künſtliche
und verkehrte Abweichungen von der Naturordnung, die ſie wiederherſtellen wollen.
Dabei unterſcheidet ſich freilich die etwas ältere franzöſiſche Schule doch noch weſentlich
von der engliſchen.
François Quesnay (1694—1774, Hauptſchriften 1756—58; Œuvres ed. A. Oncken,
1888) war Arzt und Naturforſcher, Autodidakt und Ideologe, ſchwärmte für Naturleben
und Landwirtſchaft, glaubte die Quadratur des Cirkels gefunden zu haben; er war wie
ſeine Schüler ein treuer Anhänger des abſoluten Königtums, dem er freilich einen ganz
anderen Charakter geben wollte; dasſelbe ſollte eine Geſetzgebung und Verwaltung ent-
ſprechend der vernünftigen Naturordnung durchführen, die durch Fron und Steuern
überlaſteten Bauern erleichtern, in erſter Linie perſönliche Freiheit und freies Eigentum
gewährleiſten, freien Verkehr und Handel durchführen. Aus der Vorſtellung, daß phyſiſch
alle Menſchen von den Produkten des Landbaues leben, aus der Beobachtung, daß
Grundherren und große Pächter erhebliche Überſchüſſe für andere Zwecke haben, und
aus der privatwirtſchaftlichen Unterſuchung des landwirtſchaftlichen Roh- und Reinertrages
folgerte er, daß alle übrigen Klaſſen der Geſellſchaft ſtets nur in ihren Einnahmen erſetzt
erhielten, was ſie verbrauchten, alſo ſteril ſeien, der Landbau allein einen disponibeln
Überſchuß gebe, alſo produktiv ſei; da alle Steuern auf dieſen Überſchuß zuletzt fallen,
ſoll lieber gleich eine einzige gerechte Grundſteuer alle anderen erſetzen. Alle bisherige
Politik war ihm eine falſche Beförderung der Induſtrie, der Städte, des Luxus. Vor
allem erſchien ihm die Hemmung der Getreideausfuhr in Frankreich falſch; höhere
Getreidepreiſe ſollen durch die Ausfuhrfreiheit geſchaffen werden. Die von Hume bereits
bekämpfte Handelsbilanztheorie iſt ihm eine Thorheit, „denn“, ſagt er, „ein gerechter
und guter Gott hat gewollt, daß der Handel immer nur die Frucht eines offenbar
gegenſeitigen Handelsvorteils ſei“. In dem ſogenannten tableau économique werden die
wirtſchaftlichen Klaſſen Frankreichs, ihr Einkommen und die Cirkulation der wirtſchaftlichen
Güter in einem willkürlichen Zahlenbeiſpiele dargeſtellt mit der faſt kindlichen Hoffnung,
damit eine arithmetiſch-geometriſche, feſte Methode in die Wiſſenſchaft eingeführt zu haben.
Es bezeichnet den überſpannten Sektenglauben, daß der ältere Mirabeau als Haupt-
ſchüler dieſe wunderliche Tafel mit ihren Zahlen, Strichen und Zickzackfiguren für die
dritte große Erfindung der Menſchheit — nach Schrift und Geld — bezeichnete.
Im Anſchluß an Quesnay und ſeine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der
allgemeinſten philoſophiſchen Bildung, mit Eleganz und Klarheit (Réflexions sur la
formation et la distribution des richesses, 1766) das Bild einer Tauſchgeſellſchaft ohne
die extremen phyſiokratiſchen Schrullen entwickelt. Tauſch, Verſchiedenheit der Menſchen
[90]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
und der Bodenverteilung, Eigentum, Geld, Kapital, Zins, Bodenwert ſind die Kategorien,
mit Hülfe deren er die wirtſchaftlichen Klaſſen, den Verkehr, die Einkommensverteilung,
die Wirkung des Kapitals abſtrakt erklärt und ähnliche liberale Forderungen aufſtellt
wie Quesnay. Als Provinzialintendant muſterhaft, hat er als Miniſter den über-
ſtürzenden Doktrinär hervorgekehrt. Seine Schriften ſind hingeworfene, geiſt- und
geſchmackvolle Skizzen, nicht ohne Übertreibungen und Gemeinplätze, geſchrieben ganz im
Fahrwaſſer der individualiſtiſchen Naturrechtsaufklärung und im blinden Glauben an
deren erlöſende Formeln; durch ſeine theoretiſierende Zuſammenfaſſung hat er aber auf
A. Smith und die Folgezeit wohl mehr gewirkt als die anderen Phyſiokraten. War
der Einfluß derſelben im ganzen in anderen Ländern auch entfernt nicht ſo groß wie
in Frankreich, ſo bilden ſie doch ein wichtiges Glied in der Geſamtentwickelung unſerer
Wiſſenſchaft. Sie ſind die erſten Theoretiker, die ein einfaches Syſtem der wirtſchaft-
lichen Geſellſchaftsverfaſſung auf Grund der ſtoiſch-naturrechtlichen Harmonieanſchauungen
aufbauten, damit eine Reihe von Begriffen, Kategorien und Anſchauungen ſchufen, die
ſeither als Gerüſt der Disciplin dienten, die mit ſchwungvoller Begeiſterung gegen die
Mißhandlung der unteren Klaſſen auftraten, damit überall, auch in den Salons der
Fürſten und Vornehmen, Beifall fanden. Sie bleiben ideologiſche Doktrinäre, aber
ihre Zeit beobachtend und in ihr wurzelnd, haben ſie doch verſtanden, ihr die Wege
zu weiſen.
Hatten die Phyſiokraten hauptſächlich die Überſchätzung der Induſtrie bekämpft,
ſo ſuchte David Hume, der auch als Moralphiloſoph und Erkenntnistheoretiker eine
führende Stellung einnimmt, durch ſcharfſinnige Zergliederung des Handels und des
Geldes die naiven Irrtümer älterer Zeit zu widerlegen, und an ihn ſchließt ſich nun
ſein etwas jüngerer Schüler A. Smith, der ſchon 1759 in ſeiner feinſinnigen und
liebenswürdigen Theorie der moraliſchen Gefühle ſich ebenbürtig in die Reihe der großen
pſychologiſchen engliſchen Gefühlsmoraliſten geſtellt hatte. Die Bedeutung ſeines großen
Werkes (Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations, 1776) liegt
darin, daß er, ähnlich wie James Steuart, aber von ſeinem individualiſtiſchen Stand-
punkte aus das Ganze der volks- und ſtaatswirtſchaftlichen Erſcheinungen in einem großen
Werke populär und doch mit wiſſenſchaftlichen Exkurſen vorführt und ähnlich wie Turgot
dieſes Ganze unter dem Bilde einer vom Staate losgelöſten Tauſchgeſellſchaft von freien
Individuen mit freiem Eigentum darſtellt. Aber er übertrifft dabei nun dieſe beiden
Vorgänger weit, den erſteren durch die zeitgemäßere liberale Tendenz und die wiſſen-
ſchaftliche Eleganz, den letzteren durch die Fülle und Breite der Ausführung und die
Freiheit von den phpſiokratiſchen Einſeitigkeiten. Der Standpunkt iſt jedoch im ganzen
derſelbe wie bei den Phyſiokraten, bei Locke oder Hume: ein idealer Naturzuſtand iſt
gleichſam in dem bürgerlichen enthalten, der Staat hat weſentlich nur die perſönliche
Freiheit und das Eigentum zu gewährleiſten; im übrigen ſind ſeine Lenker „liſtige,
verſchlagene Tiere“, deren Thätigkeit ſeit Jahrhunderten nur die natürliche Ordnung
geſtört hat. Unbedingt freie wirtſchaftliche Bewegung und freie Konkurrenz erſcheinen
als die nützlichen und gerechten Mittel, welche die Individuen am beſten erziehen, die
ſocialen Klaſſen verſöhnen, die Geſellſchaft von ſelbſt richtig organiſieren. Den pſycho-
logiſch moraliſchen Hintergrund bildet die Analyſe des natürlichen Menſchen, der halb
im Sinne von Shaftesbury als gut, tugendhaft, mit ſympathiſchen Gefühlen, halb in
dem von Hume und Helvetius als ſelbſtiſch gefaßt wird. Jedenfalls erſcheint das
individuelle Selbſtintereſſe, das nach ihm im ganzen in den Schranken der Gerechtigkeit
ſich bewegt, als die heilſame und nicht zu beſchränkende Sprungfeder des wirtſchaftlichen
Handelns wie des ſocialen Mechanismus. Aus ihm geht die Arbeit, der Tauſchtrieb,
der Spartrieb hervor. Die Einzelintereſſen kommen von ſelbſt zur Harmonie, nicht
durch Staat und Recht, wie bei den Phyſiokraten, nicht durch Kämpfe und Kompromiſſe,
ſondern durch die weiſe Einrichtung der Triebe, die ein allmächtiger, gütiger Gott ſo
geſchaffen, daß die geſellſchaftliche Welt wie ein Uhrwerk ſich abſpielt. Es handelt ſich
nur darum, die falſchen Eingriffe der Geſetzgeber, der unter ſich verſchworenen Kaufleute
und Unternehmer in dieſes Triebwerk zu beſeitigen, alle Privilegien, falſchen bisherigen
[91]Adam Smith.
Handels-, Zoll- und Zunfteinrichtungen, die falſche Begünſtigung der Städte aufzuheben,
dann kommt die Geſellſchaft zur Natur, zur Gerechtigkeit, zur Gleichheit zurück. Dabei
iſt ſehr vieles fein und wahrheitsgetreu beobachtet; in einſchmeichelnder, harmloſer Weiſe
werden die radikalen Gedanken vorgetragen; ſympathiſch iſt von den Arbeitern und ihrer
Hebung die Rede, während der Egoismus der Unternehmer als Urſache künſtlicher Geſetz-
gebung gebrandmarkt wird. Die geſchickte Voranſtellung der Arbeit und Arbeitsteilung,
die gleichmäßige Betonung, wie überall die Arbeit den Reichtum erzeuge, aller Tauſch
ein Tauſch von Arbeitsprodukten ſei, giebt den Ausführungen über Produktion, Verkehr
und Einkommensverteilung eine geſchloſſene Einheit, die gewinnen und beſtechen mußte.
Daher die ungeheure Wirkung des Buches trotz ſeiner Einſeitigkeit. Es gab den
liberalen Forderungen des wirtſchaftlichen Individualismus den vollendetſten Ausdruck;
es ſprach berechtigte Forderungen der praktiſchen Reform zur rechten Zeit aus. Es
ſchloß ſich den großen philoſophiſch-moraliſchen Idealen des Jahrhunderts rückhaltlos
an und trug doch den Stempel nüchterner Wiſſenſchaft und empiriſcher Forſchung an
ſich. Mochte es alſo fälſchlich an die natürliche Gleichheit der Menſchen glauben, die
beſtehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältniſſe zwiſchen den Staaten und den ſocialen
Klaſſen nicht gehörig würdigen, optimiſtiſch das Individuum und ſeine egoiſtiſchen Triebe
überſchätzen, die Bedeutung des Staates und der ſtaatlichen Einrichtungen verkennen,
mochte der Rationalismus des Aufklärungseiferers in ihm immer wieder Herr werden
über den hiſtoriſchen und pſychologiſchen Forſcher, mochte das ganze Beobachtungsfeld
ein recht beſchränktes ſein, das Buch war doch fähig, für hundert Jahre zur ſammelnden
Fahne der Staatsmänner und der Klaſſen zu werden, welche die bürgerlich-liberale
Tauſchgeſellſchaft mit Freiheit der Perſon und des Eigentums in Weſteuropa voll durch-
führen wollten.
Den verbreitetſten Lehrbüchern und Schriften der folgenden Generationen diente
A. Smith als Vorbild. In Frankreich haben J. B. Say (Traité d’écon omie politique,
1803 ꝛc.) und Charles Dunoyer (Liberté du travail, 1845), in Deutſchland Ch. J. Kraus
(Staatswirtſchaft, 1808—11), Euſebius Lotz (Reviſion der Grundbegriffe der National-
wirtſchaftslehre, 1811—14), Karl H. Rau (Lehrbuch der politiſchen Ökonomie, 1826—37,
neue Auflagen bis 1868/69), F. B. W. Hermann (Staatswirtſchaftliche Unterſuchungen,
1832 und 1870) die Smithſchen Gedanken populariſiert und ſyſtematiſiert, teilweiſe ſie
ſchärfer gefaßt, teilweiſe ſie mit anderen Gedankenrichtungen, wie hauptſächlich Rau mit
den realiſtiſchen Überlieferungen der deutſchen Kameraliſtik, geſchickt zu verbinden gewußt.
In England hat D. Ricardo (Principles of political economy and taxation, 1817,
deutſch 1837) den Verſuch gemacht, aus der Smithſchen, immerhin weitausgreifenden
Darſtellung das, was ihm als Bankier und Geldmann geläufig war, auszuſcheiden und
daraus ſowie aus den Erfahrungen ſeines Geſchäftslebens eine Einkommens-, Geld- und
Wertlehre zu machen, die in der Form allgemeiner Begriffe und abſtrakter Lehrſätze
mit einer gewiſſen Schärfe operierte, teils zu einer logiſcheren Formulierung der Smith-
ſchen Gedanken, teils zu ſchiefen und falſchen, nicht mehr auf empiriſcher Grundlage
ruhenden Schlüſſen führte. Nach ihm hat ſein Schüler und jüngerer Freund, John
Stuart Mill, die engliſche Nationalökonomie bis in die Gegenwart beherrſcht; auch er
bewegt ſich trotz ſeiner univerſellen Bildung in den Geleiſen des abſtrakt radikalen
individualiſtiſchen Naturrechts des 18. Jahrhunderts; er iſt der gläubige Schüler der
Benthamſchen Rützlichkeitsmoral, die zwar das größtmögliche Glück der größten Zahl
von Menſchen auf ihre Fahne ſchreibt und um eine empiriſch-pſychologiſche Moral-
forſchung weſentliche Verdienſte hat, aber zu einer tieferen Auffaſſung von Staat,
Geſellſchaft und Volkswirtſchaft nicht kam. Mill, der mit den Principles of political eco-
nomy with some of their applications to social philosophy (1847, deutſch 1852) gleichſam
eine neue Auflage Smiths geben will, führt, wie dieſer, eine abſtrakte Theorie ſelbſt-
ſüchtiger, tauſchender Individuen vor, in die er einzelne hiſtoriſche, rechtsgeſchichtliche
und ſocialpolitiſche Kapitel unvermittelt einſchiebt; beſonders im höheren Alter war ihm
die Unfähigkeit ſeiner Grundanſchauungen, die ſocialen Probleme einer neuen Zeit zu
löſen, wohl klar geworden. Aber ſo ſehr er ſich nun unter dem Einfluſſe ſeiner gefühl-
[92]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
vollen Frau ſocialiſtiſchen Anſchauungen näherte, in ſeinem weitverbreiteten Hauptwerke
ſind das Gerüſt und die weſentlichen Gedanken die alten an die Aufklärung, an Bentham
und Ricardo angelehnten. Die Nachtreter Smiths, Ricardos und Mills, die Macculloch,
Senior, Fawcett, Bagehot, Cairnes, Sidgwick haben keine eigentümliche Bedeutung;
aber ihr ſtets wiederholter Satz, daß die Nationalökonomie eine fertige Wiſſenſchaft ſei,
fand bis vor kurzer Zeit in England in der Maſſe der Bevölkerung Glauben. Die
freihändleriſche Agitation von 1840—80 ſtützte ſich recht eigentlich auf ihre Theorien,
und auch die engliſche Arbeiter- und Gewerkvereinsbewegung blieb in den entſcheidenden
Jahren 1860—80 im Fahrwaſſer derſelben. Immerhin bedeutete es innerlich bereits
den Niedergang der individualiſtiſchen Naturlehre der Volkswirtſchaft, daß ſie mit
Cobden, Bright und den im Cobdenklub ſich ſammelnden Freihändlern ganz in den
Dienſt einer Klaſſen- und Parteiagitation trat; die Theorie erhielt nach dem Sitze dieſer
Agitation den Spottnamen der Mancheſterſchule.
In Frankreich war die liberal freihändleriſche Theorie zwar in akademiſchen und
Gelehrtenkreiſen vorherrſchend, aber in der Praxis ohne allzu großen Einfluß, bis man
ſie als Hülfsmittel gegen den Socialismus glaubte gebrauchen zu können. F. Baſtiat
(Harmonies économiques, 1850, deutſch 1850) wurde der ſchwärmeriſche Apoſtel der
volkswirtſchaftlichen Harmonie, des radikal freien Verkehrs, der Verteidiger des
Privateigentums, das er ausſchließlich auf die Arbeit zurückführte. Napoleon III. näherte
ſich der Freihandelslehre. Und in faſt ganz Mitteleuropa, wo man 1850—75 beinahe
überall die Schutzzölle ermäßigte, die Gewerbefreiheit einführte, den bürgerlichen Mittel-
klaſſen das Übergewicht im Staate zu verſchaffen ſuchte, erlebten die populariſierten
Smith-Mill-Baſtiatſchen Ideen eine praktiſche Nachblüte, die in auffallendem Miß-
verhältniſſe zum dürren Gedankengehalt der Epigonen ſtand. Geſchickte Agitatoren, wie
in Deutſchland die beiden Ausländer Prince Smith und Faucher, traten in den Dienſt der
dem engliſchen Induſtrieexport ſo förderlichen Ideen. Der volkswirtſchaftliche Kongreß
wurde 1857 als Centrum dieſer Agitation in Deutſchland gegründet und hat, von
liberalen Journaliſten, Gegnern der Bureaukratie und Philanthropen mehr als von
Männern der Wiſſenſchaft geleitet, bis in die 70er Jahre in dieſem Sinne gewirkt.
In Italien und Oeſterreich, in Belgien und Skandinavien kam die liberale Lehre in
den Ruf, die Wiſſenſchaft als ſolche zu repräſentieren. In Deutſchland zeigte ſie ihre
Kraft noch bis auf unſere Tage dadurch, daß auch noch Lehrbücher, die weſentlich von
einem anderen Geiſte erfüllt ſind, wie z. B. das Roſcherſche (1854—94) und das
Sammelwerk von Schönberg, das Handbuch der politiſchen Ökonomie (1882), doch in
ihrem Aufbau und ihrer Syſtematik an dem von Rau geſchaffenen Rahmen feſthielten.
Man bezeichnet die Schule teilweiſe heute noch als die klaſſiſche. Nicht mit
Unrecht inſofern, als ſie eine Reihe formvollendeter Bücher geſchaffen, in denen große
wirkliche Fortſchritte der Wiſſenſchaft ſich verbinden mit der glücklichſten Formulierung
berechtigter, wenn auch einſeitiger Zeitideale. Aber es war ein kindlicher Glaube, die
Theorien Quesnays, Turgots, Smiths, Ricardos und J. St. Mills für mehr zu halten,
als für erſte vorläufige Verſuche einer ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft. Die ganze Theorie
der natürlichen Volkswirtſchaft ruht auf einer unvollkommenen Analyſe des Menſchen
und auf einer einſeitigen, optimiſtiſchen, naturrechtlichen Welt- und Geſellſchafts-
anſchauung, die auf Spikur und die Stoa, auf die rationaliſtiſche Aufklärungsphiloſophie
zurückgeht, die kindlich an die Identität der Geſellſchafts- und Individualintereſſen
glaubt, unhiſtoriſch die Urſachen des engliſchen Reichtums verkennt, ſie bloß im Erwerbs-
triebe anſtatt in den engliſchen Inſtitutionen ſieht. Die Volkswirtſchaft wird nur als eine
äußerliche Summierung der Privatwirtſchaften, das volkswirtſchaftliche Getriebe als ein
mechaniſches Spiel von Güterquantitäten aufgefaßt. Aus bloß natürlich-techniſchen
Betrachtungen und aus Wert- und Preisunterſuchungen ſoll die Struktur der Volks-
wirtſchaft erklärt werden. Es war gewiß ein Fortſchritt, daß man im Anſchluß an die
ſocialen Zuſtände des damaligen Englands die Klaſſen der Grundeigentümer, Kapita-
liſten (Unternehmer) und Arbeiter in ihren wirtſchaftlichen Beziehungen unterſuchte;
aber man mußte bei dieſem anderwärts nicht der Wirklichkeit entſprechenden Schema
[93]Kritik der individualiſtiſchen Volkswirtſchaftslehre. Der Socialismus.
nicht abſtrakt ſtehen bleiben; man mußte zu weiteren Unterſcheidungen, zu tieferen
pſychologiſchen Unterſuchungen kommen, Arbeitsteilung, Verkehr und Marktweſen beſſer
analyſieren, wieder im Zuſammenhange mit Sitte, Recht, Verwaltung und ſtaatlicher
Politik verſtehen lernen. Es fehlte der ganzen Schule die breite Kenntnis anderer
Zeiten und Länder, die hiſtoriſche Auffaſſung des ſocialen und volkswirtſchaftlichen
Entwickelungsprozeſſes. Je weiter eine hohle Theorie von der Beobachtung und den
Bedürfniſſen des praktiſchen Lebens ſich entfernte und in abſtrakten Begriffsſpielereien
und dilettantiſchen Konſtruktionen ſich erging, deſto wertloſer wurden die Erzeugniſſe
der Schule. Der praktiſche Idealismus war einſt ihr Rechtstitel. Sie endete als eine
mammoniſtiſche Klaſſenwaffe der Kapitaliſten und als ein gelehrtes Spielzeug welt-
flüchtiger Stubengelehrten. Der Beſtand echter Wiſſenſchaft, den ſie geſchaffen, lebt
umgeformt fort in den Schriften anderer Richtungen.
41. Die ſocialiſtiſche Litteratur. Seit in den hochentwickelten griechiſchen
Staaten arm und reich ſich ſchroff gegenübergetreten, und man in Theorie und Praxis ſich
darüber geſtritten, ob die beſtehende Produktion und Verteilung der Güter, das Privat-
eigentum, die Ehe, die Ständeunterſchiede nicht einer beſſeren und gerechteren Ordnung
der Dinge weichen könnten, ſind ſocialiſtiſche Gedanken, d. h. Vorſtellungen und Lehren
über eine gerechtere Verteilung des Einkommens und eine vollkommenere Organiſation der
Produktion und Güterverteilung zu Gunſten der Ärmeren durch Erziehung, Sitte und
Recht, durch geſellſchaftliche und ſtaatliche Reformen, nie wieder ganz verſchwunden.
Wie die Stoa, ſo lehrten die Kirchenväter, daß urſprünglich alles gemein geweſen; das
Eigentum und die Ungleichheit, hieß es, ſei nur durch den Sündenfall entſtanden; ja
einzelne Väter verſtiegen ſich zu dem Satze: jeder Reiche ſei ein Dieb oder eines Diebes
Erbe. Der Druck auf die unteren Klaſſen hatte auch im Mittelalter die Frage erzeugt:
als Adam grub und Eva ſpann, wer war denn da der Edelmann? Die Reformations-
zeit ſah in den Wiedertäufern und Sektierern praktiſche, in Thomas Morus (Utopia
1516) einen theoretiſchen Verſuch des Socialismus, der ſich demokratiſierend an Plato
anſchloß. Und das im 17. und 18. Jahrhundert aufkommende Naturrecht wie die
individualiſtiſche Nationalökonomie waren teilweiſe von ſo allgemeinen Vorſtellungen
der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von ſo ſtarken Zweifeln an dem Rechte aller über-
lieferten Inſtitutionen beherrſcht, daß dieſe Prämiſſen zu ſocialiſtiſchen Syſtemen führen
mußten, ſobald die optimiſtiſchen Harmonievorſtellungen zurücktraten.
Morelly, Mably, Briſſot (1755—80) ſind ſocialiſtiſche Zeitgenoſſen Turgots und
A. Smiths; Baboeuf vertritt in der franzöſiſchen Revolution die Idee einer nationalen,
von oben geleiteten Produktion, deren Güter allen gleichmäßig zugute kommen. Godwin
(Political justice, 1793), ein Schüler Lockes und Humes, ein weltunkundiger Diſſenter-
prediger, glaubt die Menſchen durch ſeine Tugendlehren ſo umwandeln zu können, daß
alle Staatsgewalt aufhören könne, daß jeder bei extremſter individueller Freiheit ſeinen
Überfluß anderen abgebe, und die vollendeten Menſchen Krankheit, Schlaf und Tod los
werden. Die deutſche Philoſophie konſtruierte in Fichte ein naturrechtliches Syſtem,
worin als Folge des Staatsvertrages für jeden die Garantie der Arbeit und des Unter-
haltes gefordert und dem geſchloſſenen Handelsſtaate die Pflicht auferlegt wird, dies durch
Regulierung alles Erwerbslebens zu gewährleiſten (Naturrecht 1796, geſchloſſener
Handelsſtaat 1800). Während aber derartige Lehren früher doch mehr als wunderliche
Einfälle einzelner galten, haben ſie mit der ſteigenden induſtriellen Entwickelung, mit
den zunehmenden Klaſſengegenſätzen des 19. Jahrhunderts eine ganz andere Bedeutung
und Ausbildung erhalten.
Die optimiſtiſche Verherrlichung des eigennützigen Strebens der Individuen nach
Erwerb und Reichtum mußte einer peſſimiſtiſchen Beurteilung weichen, als mit der
freien Konkurrenz, mit den Kriſen der modernen Weltwirtſchaft, den Fortſchritten
der Technik die Zahl der Armen, der Arbeitsloſen, wenigſtens zeitweiſe ſtark zunahm,
die Vermögensungleichheit ſtieg, die Macht der Reichen ſich vielfach von ungünſtiger
Seite zeigte. Edle Menſchenfreunde begannen die Nachtſeiten der neuen volkswirtſchaft-
lichen Organiſation, zumal der freien Konkurrenz zu ſchildern, wie Sismondi (Nouveaux
[94]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
principes d’économie politique, 1819). Das Mitgefühl für die Leiden der Schwächeren
erwachte in einem Maße, die Preſſe, die Litteratur, die Öffentlichkeit deckte ſie auf wie
niemals früher. Mochte das individualiſtiſch-liberale Naturrecht und die romantiſch-
dogmatiſche Philoſophie ſich ſonſt noch ſo feindlich gegenüberſtehen, im Zutrauen zur
eigenen Kraft, durch abſtrakte Spekulation die Wahrheit und das Ideal zu finden,
waren beide in der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts gleich und daher geeignet, zu
kühnen ſocialiſtiſchen Ideen hinüberzuführen. Viele der neuen ſocialiſtiſchen Apoſtel
waren Autodidakten, Geſchäftsleute, Männer ohne eigentlich wiſſenſchaftliche Bildung,
Phantaſten und wirre Ideologen, die urteilslos die Bildungselemente der Zeit in ſich
aufnahmen; bei allen überwog das Gemüt und die Phantaſie den nüchternen Ver-
ſtand; ſelbſt die philoſophiſch geſchulten unter ihnen ſind eigentlich keine gelehrten
Forſcher, ſondern Männer, die in erſter Linie praktiſch agitieren, die ſociale Revolution
zu Gunſten der unteren Klaſſen durchführen wollen. Der politiſch abſtrakte Radikalismus
der Zeit war bei den meiſten der Ausgangspunkt; das letzte Ziel ihrer Ideale war
teils und überwiegend die materialiſtiſche, andere Ideale und ein jenſeitiges Leben ver-
neinende Pflege des individuellen Lebensgenuſſes, teils die Herſtellung eines idealen
Staates, in dem aller Egoismus und Individualismus verſchwinde, das Individuum
ganz ſich dem Allgemeinen opfere.
Robert Owen (1771—1858; The new moral world, 1820) war der praktiſche,
William Thompſon (Principles of distribution of wealth, 1824) der theoretiſche Be-
gründer des engliſchen Socialismus. Erſterem war es als klugem und edlem Fabrikanten
gelungen, für Kindererziehung und Hebung ſeiner Arbeiter Außerordentliches zu erreichen;
das erfüllte ihn mit weitgehenden Hoffnungen in Bezug auf die Möglichkeit, durch
äußere Bedingungen und Geſellſchaftseinrichtungen ganz andere Menſchen zu erziehen;
ohne Gewinnſucht, unter Verzicht auf alles Profitmachen im Verkehr ſollte gerecht
getauſcht, durch Aſſociationen, die von genoſſenſchaftlichem, ſympathiſchem Geiſt erfüllt
ſind, ſollte produziert, das Konkurrenzſyſtem, der Kapitalgewinn beſeitigt werden. Sein
iriſcher Freund Thompſon, zugleich Schüler Benthams und Schwärmer für ſchrankenloſe
Freiheit der Arbeit und des Verkehrs, formulierte dann den theoretiſchen Gedanken
dahin: der Arbeiter hat allen Tauſchwert geſchaffen und ſollte daher den vollen Arbeitsertrag
erhalten, Kapital- und Grundrente ſind Unrecht. Die ſchiefe Idee, als ob die Hand-
arbeit allein oder hauptſächlich alle Produkte ſchaffe, die ſchon bei A. Smith und
Ricardo angeſetzt hatte, ging von Thompſon dann auf die ſpäteren Socialiſten, haupt-
ſächlich auch auf Marx und Rodbertus über.
In Frankreich hatten eine ausgezeichnete Erziehung und die großen Ereigniſſe von
1780—1820 den geiſtreichen und verſchwenderiſchen Abenteurer Grafen H. St. Simon
(1760—1825; Système industriel, 1821; Nouveau christianisme, 1825), welcher ſprung-
weiſe ſich Reiſen und Kriegsdienſten, Spekulationen und Studien gewidmet hatte, mit
philanthropiſch-myſtiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen Gedanken erfüllt; ſeine Perſönlichkeit
und ſeine Schriften ſammelten eine Schule talentvoller Jünger (1825—31): die zu
ſchaffende phyſiko-politiſche Wiſſenſchaft, welche zugleich die neue Religion der brüder-
lichen Liebe ſein ſollte, wird die Geſellſchaft umgeſtalten; an Stelle der feudal-kriege-
riſchen Elemente und der Juriſten, die bisher die Gewalt beſaßen, ſollen die Induſtriellen,
wobei an Unternehmer und Arbeiter zugleich gedacht iſt, zur Herrſchaft gelangen. Die
Ideen wurden dann von Bazard (Doctrine de St. Simon. Exposition, 1828—30)
weiter ausgebildet. Die Kritik der Konkurrenz als eines Krieges aller gegen alle, die
Hebung des beſitzloſen Arbeiterſtandes als der zahlreichſten Klaſſe, die Einſetzung des
Staates als Erben des Privatvermögens, die Zuführung der ſo gewonnenen Mittel
durch ein Staatsbankſyſtem in Kreditform an alle Fähigen ſind die weſentlichen Beſtand-
teile des Syſtems, das ſich an eine glückliche Einteilung der Geſchichte in aufbauende
und kritiſch-zerſetzende Perioden anſchließt, das praktiſch eine Verſittlichung der Arbeit
mit erhöhten Genüſſen erſtrebt und jedem eine Stellung nach ſeiner Fähigkeit und einen
Lohn nach ſeinen Werken verſchaffen will. Erſt Enfantin, der auch die Stellung der
Frauen im Sinne freier Liebe ändern will, hat Grundrente und Kapitalgewinn als
[95]Der engliſche und franzöſiſche Socialismus.
ungerechte Steuer verurteilt, welche die Arbeiter an die müßigen Rentner zahlen. Die
Schule machte in Paris 1828—32 Aufſehen; dann wurde ihr Einfluß durch den der
Fourierſchen abgelöſt. Fourier (1772—1837, Traité de l’association domestique
agricole, 1822; Œuvres, 1841) war ein von den Mißbräuchen des Handels erfüllter
melancholiſcher Handlungsgehülfe, bildete ſich als Autodidakt ein, die Newtonſche Theorie
durch ſeine phyſiſch-ſociale Attraktionslehre überholt zu haben. Während ihm in der
heutigen Geſellſchaft alles „gegen den Willen Gottes und naturwidrig“ erſcheint, glaubt
er den Schlüſſel gefunden zu haben, um ein gänzlich harmoniſches, Wunder wirkendes
Spiel der menſchlichen Triebe und der Attraktion der Menſchen untereinander herzu-
ſtellen: in Rieſenhotels (Phalanſterien) von je 2000 Seelen ſollen die Menſchen
zuſammen wohnen, ſich vergnügen, Landwirtſchaft und Gewerbe treiben; bei vollſter
Freiheit des Berufes und der Arbeit ſollen hier die einzelnen von ſelbſt und gelockt
durch richtige Bezahlung zu Gruppen und Serien ſich ſtundenweiſe zuſammenfinden
und genoſſenſchaftlich produzieren; das Kapital gehört den einzelnen in Aktienform;
der Reinertrag wird zu 4/12 dem Kapital, zu 5/12 der gewöhnlichen Arbeit, zu 3/12 den
leitenden Talenten zugeführt. Gewählte Vorſtände regieren das Phalanſterium wie die
größeren Gemeinſchaften, die in einem Weltregiment zu Konſtantinopel gipfeln. Victor
Conſidérant (Destinée sociale, 1834—35) wußte durch Ausſcheidung des Abſurden den
Kern der ſocialen Anklagen und Vorſchläge Fouriers bis 1848 im Vordergrunde des
Intereſſes der litterariſchen Kreiſe Frankreichs zu halten. Von den mancherlei prak-
tiſchen Verſuchen, das Phalanſterium ins Leben zu rufen, blüht heute noch das Haus
Godin mit ſeiner Fabrik und ſeinen 2000 Seelen.
Neben ihm machte ſich der Journaliſt Louis Blanc als Hiſtoriker des Bourgois-
regiments (Histoire des dix ans, 1841—44) und durch ſeine Vorſchläge, an Stelle der
anarchiſchen, Arbeiter wie Bürgertum vernichtenden Konkurrenz Arbeitergenoſſenſchaften
mit Staatskredit zu ſetzen (Organisation du travail, 1839), bekannt. Und der Schrift-
ſetzer Proudhon kritiſierte ideologiſch das Eigentum (Qu’est-ce que la propriété, 1840)
und den Socialismus (Système des contradictions économiques ou philosophie de la
misère, 1846); die nach ihm weſentlichen Urſachen der ſocialen Mißſtände, Geld und
Zins, wollte er durch ein Bankſyſtem beſeitigen, das für die produzierten Waren Tauſch-
bons und allen unentgeltlichen Kredit gäbe; als ein phantaſtiſcher, geiſtreich irrlich-
ternder Kopf hoffte er auf eine Erſetzung aller ſtaatlichen Gewalt durch freie Verträge
und Gruppenbildungen (Œuvres, 37 Bde.).
Von den erheblicheren deutſchen Socialiſten ſtehen wohl Marx und Engels unter
dem Eindrucke der ſich verſchärfenden Klaſſengegenſätze Weſteuropas; beide haben auch
Anläufe genommen, dieſe Wirklichkeit darzuſtellen und in parteiiſch gefärbten Bildern zu
ſchildern (Engels, Lage der arbeitenden Klaſſen in England, 1845; Marx in ſeinem
„Kapital“). Aber im ganzen ſind die Schriften von Rodbertus, Laſſalle und Marx
ſpekulative Ergebniſſe der Lektüre von Ricardo und den älteren Socialiſten, modifiziert
durch die deutſche Philoſophie und die Gedanken des politiſchen Radikalismus der 30er
und 40er Jahre. Die abſtrakten Formeln der Tauſch- und Wertlehre Ricardos
beherrſchen ſie in erſter Linie. Sie argumentierten ſo: Aller Wert iſt Produkt der
Arbeit (der Handarbeit), die Arbeit wird durch die Zeit gemeſſen; das Kapital erhält
bei der Teilung zu viel, die Arbeit zu wenig; wie iſt das zu erklären, wie dem abzu-
helfen? Rodbertus ſagt: die Inſtitution des Privateigentums iſt ſchuld, ſie muß fallen.
Laſſalle: das eherne Lohngeſetz iſt ſchuld, die Produktion muß Arbeitergenoſſenſchaften
mit Staatskredit übergeben, ſpäter verſtaatlicht werden. Marx meint, das magiſche, tech-
niſche Geheimnis, daß die Arbeit und nur die Arbeit mehr produziert, als ſie koſtet,
giebt dem Kapitaliſten die Gelegenheit, die Differenz, den ſogenannten Mehrwert einzuſtecken
und ſich ſo zu bereichern; die Kapitalanſammlung in immer weniger Händen wird endlich
zu der Expropriierung der Kapitalmagnaten durch das arbeitende Volk führen. Es
ſind drei ſchablonenhafte, abſtrakte Formeln, eine rechtsphiloſophiſche, eine politiſche und
eine techniſch-volkswirtſchaftliche, in denen Keime von Wahrheiten enthalten ſind; ſie ſind
aber auf das Kartenhaus Ricardoſcher falſcher Sätze aufgebaut, ſie werden ohne Unter-
[96]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſuchung der pſychologiſchen, organiſatoriſchen, verwaltungsmäßigen Urſachenreichen und
Mittelglieder, ohne erhebliche hiſtoriſche und empiriſche Specialunterſuchungen durch
einige oberflächliche halb wahre und halb falſche Geſchichtskonſtruktionen nicht haltbarer,
ſie ſind nur auf dem Boden einer materialiſtiſchen Weltanſchauung, einer Fiktion der
Gleichheit aller Menſchen, einer maßloſen Überſchätzung der mechaniſchen Handarbeit
verſtändlich. Die große Differenz der Syſteme unter ſich, die tiefe Verachtung, welche
jeder dieſer „wiſſenſchaftlichen Socialiſten“ für die Theorie des anderen hatte, zeigt,
wie wenig dieſe Gedankenreihen wirkliche feſtſtehende Wiſſenſchaft bedeuten, wie ſehr ſie
ins Gebiet der ideologiſchen Konſtruktionen und der Hypotheſen gehören.
Mögen die Marxianer Laſſalle (1825—64; Schriften ed. Bernſtein 1892—93)
nur als großen praktiſchen Agitator gelten laſſen, der wiſſenſchaftlich nicht in Betracht
komme: er war ein eitler von prahleriſchem Ehrgeize verzehrter Lebemann, aber dabei
ein philoſophiſcher Kopf und ein kenntnisreicher Juriſt; ſein Syſtem der erworbenen
Rechte (1861) ſteht mindeſtens ebenbürtig neben den Schriften der anderen, ſeine Reden
und Pamphlete ſind Meiſterſtücke ſocialpolitiſch demagogiſcher Beredſamkeit; ſein Blick
für das reale Leben, die Macht- und Verfaſſungsfragen, die inneren Triebfedern der
geſellſchaftlichen Bewegung war ſchärfer als der von Rodbertus und Marx; wenn er,
von L. v. Stein beeinflußt, groß vom Staate und vom ſocialen Königtum dachte, von einem
demokratiſchen Cäſarismus tiefgreifende ſociale Umwälzungen erwartete, zeigte er offneren
Sinn für die letzten geſchichtlichen Urſachen als die Marxiſchen Schwärmer für die
Abſchaffung des Staates. In der Beurteilung des Staates ſteht Rodbertus (1805—75;
Sociale Briefe an Kirchmann, 1850—84; Normalarbeitstag, 1871; Briefe und ſocial-
politiſche Aufſätze ed. R. Meyer, 2 Bde. 1882), der norddeutſche Gutsbeſitzer und einſame
radikale Denker, der Schüler Schellings und Hegels, Laſſalle ſehr nahe; er ſieht, freilich
in ſehr übertriebener Weiſe, in aller Geſchichte nur eine Zunahme der Staatsthätigkeit;
er haßt das Mancheſtertum wie die ſenſualiſtiſche Genußſucht der franzöſiſchen Socia-
liſten; nicht mehr genießen, ſondern der Allgemeinheit ſich opfern ſoll das Individuum.
Seine Geſchichtskonſtruktion iſt tiefſinniger als die von Laſſalle und Marx, ſie ruht auf
gewiſſen praktiſchen Kenntniſſen (Erklärung und Abhülfe der heutigen Kreditnot des
Grundbeſitzes, 1871) und gelehrten Studien (Unterſuchungen auf dem Gebiete der
Nationalökonomie des klaſſiſchen Altertums, J. f. N. 1. F. 2 ff.), ſie macht eine beſſere
ſociale Zukunft, in welcher nicht mehr das Menſchen-, das Grund- und das Kapital-
eigentum, ſondern das Eigentum des individuellen Verdienſtes vorherrſchen ſoll, in
anziehender Weiſe denkbar. Aber ſeine Einkommenslehre iſt ſchablonenhaft, ſeine
Erklärung der Kriſen durch zu geringen Konſum der Arbeiter trifft ſo wenig den weſent-
lichen Punkt, als Rodbertus ein Recht hat, die infolge techniſcher Fortſchritte zunehmende
Produktivität der Arbeit den mechaniſchen Handarbeitern als ihr Verdienſt anzurechnen;
ſein roh entworfenes Zukunftsgemälde mit Normalarbeitstag, Arbeitsgeld, Bezahlung
nach der Zeit iſt ein utopiſcher Traum ohne jede Begründung ſeiner Realiſierbarkeit.
Karl Marx (1818—83; Manifeſt der kommuniſtiſchen Partei, 1848; Zur Kritik
der politiſchen Ökonomie, 1859; Das Kapital, 1. 1867, 4. Aufl. 1890; 2. 1885;
3. 1894) übertraf ſeine Geſinnungsgenoſſen an ſtürmiſcher, revolutionärer Willens-
kraft, an Ernſt und Tiefe der Gedanken, an dialektiſcher, zerſetzender Schärfe, an Haßgefühl
gegen alle beſtehenden Gewalten. Aber es fehlte ſeinem mathematiſch ſpekulativem Kopfe
doch ganz der Sinn für die konkrete pſychologiſche und geſellſchaftliche Wirklichkeit und
für empiriſches Studium. Auf dem Boden der Hegelſchen Geſchichtskonſtruktion groß
geworden, ſuchte er unter Feuerbachs und Proudhons Einfluß dieſe realiſtiſch zu wenden,
verfuhr dabei aber nicht minder willkürlich als Hegel und verfügte über viel geringere
Geſchichtskenntnis als er. Immer bleibt die im Lapidarſtil des haßerfüllten Anklägers
verfaßte Schilderung der techniſch-ſocialen Entwickelung der engliſchen Großinduſtrie
von 1750—1850 ein Meiſterſtück trotz all’ ihrer Einſeitigkeit. Die Begründung des
ökonomiſchen Materialismus, d. h. der Lehre, welche den ſocialen, geiſtigen und poli-
tiſchen Lebensprozeß der Völker ausſchließlich auf die materielle Güterproduktion und
-Verteilung zurückführen will, war ein berechtigter Proteſt gegen die überſpannte
[97]Laſſalle, Rodbertus, Marx.
idealiſtiſche Geſchichtsſchreibung und darum ein Verdienſt, ſo ſehr Marx und noch mehr
ſeine Nachtreter den richtigen Gedanken übertrieben. Es iſt gegen die übertreibende
Formulierung des Gedankens zu bemerken, daß gewiß alle höheren Kulturgebiete durch die
materiellen ökonomiſchen Zuſtände bedingt und beeinflußt ſind, daß aber ebenſo ſicher das
geiſtig-moraliſche Leben eine ſelbſtändige, für ſich beſtehende Entwickelungsreihe darſtellt
und als ſolche das ökonomiſche Getriebe beherrſcht, umformt und geſtaltet. Das überſieht
Marx nicht bloß, ſondern er iſt auch infolge ſeiner einſeitig nationalökonomiſchen, ganz
an Ricardo angeſchloſſenen Vorſtellungswelt unfähig, eine pſychologiſche Analyſe des
wirtſchaftenden Menſchen vorzunehmen, die Bedeutung der ſittlichen, rechtlichen und
politiſchen Inſtitutionen zu würdigen. Es war ein Fortſchritt ſeiner Geſchichtsauf-
faſſung, daß er auf die Zeichnung utopiſtiſcher Zukunftspläne verzichtete, aber zugleich
verzichtete er ganz auf die Erklärung des pſychologiſchen Wunders, das ſeine Geſchichts-
und Socialphiloſophie vorausſetzt: die beſtehende von Marx als nichtswürdig geſchilderte
Welt ſetzt die ausſchließliche Herrſchaft des gemeinſten Beſitzegoismus und Erwerbs-
triebes bei allen Menſchen voraus; die zukünftige von ihm erwartete kennt dieſe Eigen-
ſchaft überhaupt nicht mehr, ohne zu erklären, wie ſie plötzlich verſchwinde.
Auch ſein nationalökonomiſches Syſtem, ſeine Mehrwertlehre, die Darſtellung der
kapitaliſtiſchen Produktion und ihrer Folgen iſt eine große abſtrakte Denkerleiſtung, voll
Scharfſinn und Gedankenreichtum; man kann ſie loslöſen von den überall eingeſtreuten
ſocialiſtiſchen Flüchen und pathetiſch-moraliſchen Verurteilungen der Kapitaliſten und
Ausbeuter. Aber doch ruht dieſes Syſtem ganz auf den Anſchauungen und Voraus-
ſetzungen Ricardos; es iſt in gewiſſem Sinne die letzte Konſequenz der einſeitigen
Naturlehre der Volkswirtſchaft. Ja Marx geht mit ſeinen mathematiſch-techniſchen und
ſpekulativ-abſtrakten Spitzfindigkeiten in gewiſſem Sinne hinter Ricardo und bis
Quesnay zurück, indem er alle Wertbildung einſeitig aus der Produktionsthätigkeit des
Arbeiters und alle ſociale Klaſſenbildung aus dem Kapital und ſeiner Verteilung
erklärt. Die Volkswirtſchaft iſt ſo nicht mal mehr Tauſchgeſellſchaft, ſondern ein techniſch-
natürlicher Vorgang, der an die Produktion, ihre Art und ihre Folgen ſich anſchließt,
der immer wieder als eine Art myſtiſchen Geheimniſſes, ſichtbar nur für Denker wie
Marx, behandelt wird. Ich komme auf ſeine Mehrwert- und Lohnlehre unten zurück.
Hier ſei nur kurz angedeutet, daß Marx das ſociale Grundproblem, wie es komme, daß
der Arbeiter bei der Güterverteilung ſo wenig, der Unternehmer ſo viel erhalte, objektiv,
durch ganz allgemeine Urſachen erklären will. Dabei geht er von der Fiktion, der
Arbeiter ſchaffe allein den Wert, als einem des Beweiſes nicht bedürftigen Axiome aus;
dem Arbeiter wird der angeblich nur durch Unrecht und Gewalt zu ſeinem Kapital
gekommene, nichtsthuende Kapitaliſt entgegengeſetzt. Und nun wird einfach geſchloſſen:
der Arbeiter erhält nach dem Preisgeſetze den niedrigen Lohn, von dem er notdürftig
leben kann, der den Produktionskoſten der Arbeit entſpricht; das Plus, was er ent-
ſprechend der myſtiſchen Produktivkraft der Arbeit erzeugt, iſt der Mehrwert, den der
Kapitaliſt in die Taſche ſteckt. In dieſer ſchablonenhaften Aufſtellung iſt das Eine
wahr, daß die Arbeitsteilung und Differenzierung der Geſellſchaft, die Geldwirtſchaft
und die komplizierte volkswirtſchaftliche Verfaſſung immer wieder an beſtimmten einzelnen
Punkten eine Güterverteilung ſchafft, welche als eine ungerechte zwiſchen leitenden und
ausführenden Kräften empfunden wird; ſo entſteht der Begriff der Ausbeutung (des un-
billigen Mehrwertes). Aber nicht das Kapital iſt daran ſchuld, ſondern die Differenzierung,
ohne die es keinen Fortſchritt gäbe; die techniſchen und kaufmänniſchen Überlegenheiten
der wenigen über die vielen, der Vorſprung der geiſtigen gegenüber der mechaniſchen
Arbeit und die ethiſch-rechtlichen Unvollkommenheiten unſerer Inſtitutionen ſind die
ſpringenden Punkte. Schon das ganze Operieren mit dem Begriff des „Kapitaliſten“
iſt eine Gedankenloſigkeit. Nicht der Kapitaliſt, ſondern der Marktkenner und Markt-
beherrſcher iſt der, welcher heute leicht mehr Werte als die übrigen Geſellſchaftsklaſſen
erwirbt. Und nicht eine Unterſuchung der Natur der Ware, des Kapitals und ähnliches
bringt uns weiter, ſondern eine ſolche der Urſachen menſchlicher Verſchiedenheit und der
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 7
[98]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Inſtitutionen, die dieſe ſteigern oder mildern, und die den Güterverteilungsprozeß
beherrſchen und beeinfluſſen.
Was der deutſche Socialismus teils ſelbſtändig neben den genannten noch ſchuf
(z. B. Marlo [Winkelblech], Organiſation der Arbeit, 1850; Dühring, Kurſus der
National- und Socialökonomie, 1873; Hertzka, Geſetze der ſocialen Entwickelung, 1886,
Freiland, 1890; Flürſcheim, Der einzige Rettungsweg, 1890), teils im engen Partei-
anſchluß an ſie erzeugte (wie die Schriften von Bebel, Liebknecht, Schippel), hat
keine ſo ſelbſtändige Bedeutung, daß hier näher darauf einzugehen wäre. Nur Engels
verdient als Freund und litterariſcher Genoſſe von Marx beſondere Erwähnung (haupt-
ſächlich durch ſein Buch: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wiſſenſchaft, 1877
und 1886). Und unter den Nachfolgern ſind K. Kautsky (Thomas Morus und ſeine
Utopie, 1887), F. Mehring (Die Leſſinglegende nebſt Anhang über den hiſtoriſchen
Materialismus, 1893; ſeine litterargeſchichtlichen Werke ſind oben genannt), Schönlank
(Sociale Kämpfe vor dreihundert Jahren, 1894; Arbeiten über Kartelle, Queckſilber-
induſtrie) und E. Bernſtein (Die Vorausſetzungen des Socialismus und die Aufgaben
der Socialdemokratie, 1899) wohl als die zu nennen, welche neben der ſocialiſtiſchen
Parteileidenſchaft erhebliches wiſſenſchaftliches Talent zeigen, wie ja auch in ihrer Zeit-
ſchrift (Neue Zeit ſeit 1882) manche ehrliche wiſſenſchaftliche Arbeit enthalten iſt. Freilich
in dem Maße als ſie hervortritt, verlaſſen dieſe Schriften auch den einſeitigen Partei-
und Klaſſenſtandpunkt, welcher ja an ſich echte objektive Wiſſenſchaft ausſchließt. In
den engliſch redenden Ländern hat der Amerikaner Henry George (Progress and poverty,
1879, deutſch 1881) durch ſeine Agitation gegen das Bodenmonopol, deſſen Rente er
durch Steuern einziehen will, Aufſehen gemacht; er iſt ein talentvoller leidenſchaft-
licher, aber autodidaktiſcher und phraſenhafter Schriftſteller, wird in ſeinen Grund-
gedanken von Ricardo einerſeits, von den Mißbräuchen der amerikaniſchen Boden-
ſpekulation andererſeits beherrſcht. In England ſpielt neuerdings eine ſocialiſtiſche
Litteratengeſellſchaft (Fabian society, fabian essays in socialism 1890) eine gewiſſe
Rolle, die ihr größtes Talent in Frau Sidney Webb zu haben ſcheint. Wenn in den
Eſſays noch der alte naturrechtliche Socialismus vorherrſcht, ſo tritt in anderen Erzeug-
niſſen der Schule der praktiſch und theoretiſch bedeutſame Gedanke in den Vordergrund,
daß ein Sieg ſocialiſtiſcher Geſellſchaftseinrichtungen abhänge von einer vorausgehenden
demokratiſchen Schulung, Erziehung und Organiſation der Arbeiter in Vereinen und
Genoſſenſchaften, in Gemeinde und Grafſchaft. Als die wichtigſten Erzeugniſſe dieſer
Richtung ſind zu nennen: Frau Sidney Webb, Die britiſche Genoſſenſchaftsbewegung,
1891, deutſch herausg. von Brentano 1893; Sidney und Beatrice Webb, The history
of trade unionism, 1894; dieſelben, Industrial democracy, 2 Bde., 1897. Das ſind
Leiſtungen, welche weit über denen von Marx ſtehen, aber auch nur in beſchränkter Weiſe
dem Socialismus zuzuzählen ſind.
Der Socialismus des 19. Jahrhunderts hat eine eminent praktiſche Bedeutung
erhalten, weil er zur Glaubenslehre, zum Ideal der zu politiſchen Rechten und zum
Selbſtbewußtſein gekommenen Arbeiter der Großinduſtrie wurde. Er wurde es, weil er
auf große ſociale und andere Mißſtände und Mißbräuche kühn hinwies und deren Ände-
rung forderte, an die radikalen und materialiſtiſchen Tagesſtrömungen ſich anſchloß, den
rohen Inſtinkten der Maſſe teils mit verführeriſchen Zukunftsplänen, teils mit blendenden
Geſchichtskonſtruktionen und philoſophiſchen Formeln ſchmeichelte. Seine volkswirtſchaft-
liche Bedeutung beſteht darin, daß er den unklaren Optimismus der Freihandelsſchule
zerſtörte, durch eine Analyſe der Klaſſengegenſätze und -Kämpfe, des politiſchen und
wirtſchaftlichen Machtmißbrauches, ſowie der unſicheren und kümmerlichen Lage der Arbeiter
wichtige Erſcheinungen und Gebiete der Volkswirtſchaft faſt neu entdeckte. Der Socialis-
mus hat ſich mit Energie dem großen Gedanken der Entwickelung zugewandt, hat den
Zuſammenhang zwiſchen Recht, Staat und Volkswirtſchaft wieder betont, hat die ganze
bisherige Wiſſenſchaft zu neuen Ideen, Frageſtellungen und Unterſuchungen angeregt.
Mögen alſo ſeine utopiſchen Ideale von einer Aufhebung aller Klaſſengegenſätze, einer
Beſeitigung aller Einkommens- und Vermögensungleichheit, von einem ſinnlichen Genuß-
[99]Würdigung der ſocialiſtiſchen Litteratur.
leben aller Individuen noch ſo falſch ſein, mag ſeine letzte Wurzel in einer Überſchätzung
des äußeren, irdiſchen Glückes, in einer Verkennung des wahren Weſens der menſchlichen
Natur, in einer rohen ſinnlichen Weltanſchauung liegen, es ſind Lehren, die einen natur-
gemäßen Rückſchlag gegen die Überſchätzung der freien Konkurrenz darſtellen; ſie haben
den Intereſſen des vierten Standes gedient, wie die liberalen Lehren dem Mittelſtande
förderlich waren; ſie haben große Bewegungen der Zeit, wie die fortſchreitende Technik,
den zunehmenden Großbetrieb, die ſich vervielfältigende wirtſchaftliche Kommunal- und
Staatsthätigkeit in ihre Theorie geſchickt aufgenommen, ſie freilich zugleich maßlos über-
trieben. In ihrer Ignorierung der Bevölkerungsfrage, in der Gleichgültigkeit gegenüber
den letzten pſychologiſchen und ethiſchen Fragen, wie in der Aufſtellung abſurder Trieb-
lehren, in ihren Hoffnungen auf eine gänzliche Veränderung des menſchlichen Seelenlebens
und der geſamten geſellſchaftlichen Einrichtungen zeigen ſie eine kindliche, von wahrer
Wiſſenſchaftlichkeit noch ganz unberührte Naivetät; die entſcheidenden Fragen, wie ein
kommuniſtiſcher Rieſenapparat ohne die furchtbarſten Mißbräuche der Verwaltung fun-
gieren ſoll, haben ſie ſich noch gar nicht recht vorgelegt; ihre Ignorierung der Not-
wendigkeit feſter großer Staatsgewalten läßt ſie auch auf wirtſchaftlich-ſocialem Gebiete
Fehlſchluß auf Fehlſchluß häufen; oberflächliche demokratiſche Vorſtellungen über Volks-
ſouveränität und ungeſchichtlicher Monarchenhaß täuſcht ſie über die politiſche Schwierigkeit
und Unmöglichkeit der Ausführung ihrer Pläne weg. Würden ihre utopiſchen Theorien
zur Herrſchaft in irgend einem Staate gelangen, vollends in der Hand von weltunkundigen
Schwärmern oder wüſten Demagogen, ſo ſtellten ſie eine unſagbare Gefahr dar; ſie würden
wahrſcheinlich mit der Zerſtörung der beſtehenden Geſellſchaftseinrichtungen die Kultur
überhaupt auf lange vernichten. Aber als treibende Elemente der ſocialen Entwickelung,
beherrſcht von den beſtehenden Gewalten, korrigiert von Wiſſenſchaft, Vernunft und Moral,
haben ſie eine nicht zu verkennende, berechtigte Aufgabe in der Entwickelung der Geſchichte
und des ſocialen Fortſchrittes. Es ſind Lehren, welche in wiſſenſchaftlichem Gewande
die einſeitigen praktiſchen Zeitideale der unteren Klaſſen darſtellen, mit den Idealen der
anderen Klaſſen ſich vertragen müſſen. Vom Ziele aller echten Wiſſenſchaft, alle Menſchen
gleichmäßig zu überzeugen, ſind ſie noch weiter entfernt als die ihnen gegenüberſtehenden
individualiſtiſchen Mancheſterlehren, weil ſie nackter auf einem Klaſſenſtandpunkt ſtehen,
mehr von Gefühlen und Intereſſen, als von Verſtand und ruhiger objektiver Überlegung
beherrſcht ſind.
4. Die Methode der Volkswirtſchaftslehre.
- Allgemeine Werke über Methode: John Stuart Mill, Syſtem der deduktiven und induk-
tiven Logik. Erſte engliſche Aufl. 1843, deutſche Überſetzung von J. Schiel nach der 5. Aufl. 2 Bde.
1862. — - Lotze, Logik, drei Bücher vom Denken, vom Unterſuchen und Erkennen. 1874. —
- Sigwart,
Logik. 2 Bde. 1873 u. 1878. — - Euken, Die Grundbegriffe der Gegenwart. 1878 u. 1893. —
- Wundt,
Erkenntnislehre. 1880; — Derſ., Methodenlehre. 1883 (2. Aufl. beider Bände, die zuſ. als Logik
bezeichnet ſind, 1893). — - Dilthey, Einleitung in die Geiſteswiſſenſchaften 1. 1883.
Specielle Litteratur. Engliſche: Jevons, Theory of pol. economy. 1871. The principles
of science. 2 Bde. 1874. Studies in deductive logic. 1880 (dazu W. Böhmert, Jevons
und ſeine Bedeutung für die Volkswirtſchaftslehre in England. J. f. G.V. 1891. — - Caineß, The
character and logical method of political economy. 1875 (dazu Weiß, Zur Logik der National-
ökonomie. Z. f. St.W. 1875). — - David Syme, Outlines of an industrial science. 1876. —
- John
Ingram, The present position and prospects of political economy. 1878 (deutſch von Scheel,
Die notwendige Reform der Volkswirtſchaftslehre. 1879). — - Cliffe Leslie, Essays in moral and
political philosophy. 1879 (neue Aufl. 1888 u. d. T.: Essays on pol. econ.). — - Aſhley, What is
political science? 1888. — - Keynes, The scope and method of political economy. 1891.
Deutſche: K. Menger, Unterſuchungen über die Methode der Socialwiſſenſchaften und der
politiſchen Ökonomie insbeſondere. 1883. — - Schmoller, Zur Methodologie der Staats- und Social-
wiſſenſchaften. J. f. G.V. 1883 (wieder abgedr. Litt.-Geſch.). — - Heinrich Dietzel, Der Ausgangs-
punkt der Socialwiſſenſchaftslehre und ihr Grundbegriff. Z. f. St.W. 1883; — Derſ., Beiträge zur
Methodik der Wirtſchaftswiſſenſchaft. J. f. N. 2. F. 9, 1884. — - Emil Sax, Das Weſen und die
Aufgaben der Nationalökonomie. 1884. — - Hasbach, Ein Beitrag zur Methodologie der National-
7*
[100]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ökonomie. J. f. G.V. 1885. — - Adolf Wagner, Syſtematiſche Nationalökonomie. J. f. N. 2. F.
12, 1886. — - v. Philippovich, Über Aufgabe und Methode der politiſchen Ökonomie. 1886 (dazu
Hasbach. J. f. G.V. 1886, 990). — - Brentano, Die klaſſiſche Nationalökonomie. 1888. —
- Sax,
Die neueſten Fortſchritte der nationalökonomiſchen Theorie. 1889. — - Kleinwächter, Weſen, Aufgabe
und Syſtem der Nationalökonomie. J. f. N. 2. F. 18, 1889. — - K. Menger, Grundzüge einer
Klaſſifikation der Wirtſchaftswiſſenſchaften. Daſ. 19, 1889. — - Neumann, Naturgeſetz und Wirt-
ſchaftsgeſetz. Z. f. St.W. 1892. — - A. Wagner, Grundlegung der politiſchen Ökonomie. 3. Aufl.
Erſter Teil, erſter Halbbd., §§ 54—107 (1892). — - v. Gans-Ludaſſy, Syſtem der ökonomiſtiſchen
Methodologie. 1893. — - H. Dietzel, Theoretiſche Socialökonomik. 1, 1895. —
- Hasbach, Zur
Geſchichte des Methodenſtreites in der politiſchen Ökonomie. J. f. G.V. 1895.
42. Einleitung. Wir haben die Entwickelung der vorherrſchenden volks-
wirtſchaftlichen Syſteme bisher unter dem Geſichtspunkte ihrer Entſtehung aus praktiſchen
Zeitſtrömungen heraus betrachtet. Wir geben zu, daß auch die anderen, weiterhin noch
zu erörternden Litteraturerſcheinungen nicht frei von ſolchen Tendenzen ſind. Aber im
ganzen ſteht doch die ſtrengere Wiſſenſchaft, wie ſie ſich im 19. Jahrhundert mehr und
mehr herausbildete, auf einem anderen Boden. Sie will nicht mehr in erſter Linie ein
„Sollen“ lehren und Anweiſungen fürs praktiſche Leben geben; ſie will begreifen und
zu unumſtößlichen Wahrheiten über den Zuſammenhang der Dinge kommen. Gewiß
haben auch die bisher vorgeführten Schriftſteller derartiges erſtrebt und teilweiſe auch
erreicht. Aber doch mit beſchränktem Erfolge, teilweiſe weil erſt neuerdings die ſtrengeren
Methoden der Erkenntnis ausgebildet wurden, teilweiſe eben deshalb, weil ihnen nicht
das Erkennen, ſondern die Aufſtellung von praktiſchen Idealen in erſter Linie ſtand.
Dieſe müſſen von heute auf morgen fertig werden, müſſen ſtets auf einem Glauben und
Hoffen, teilweiſe auf Hypotheſen und teleologiſchen Bildern ruhen. Und wenn auch die
Wiſſenſchaft derartiger Mittel nie ganz entraten kann, ſo muß ſie ſich doch bewußt
bleiben, daß ſie hier auf unſicherem Boden ſich bewegt. Sie muß mit viel Reſignation
und Beſcheidenheit ihre Lücken eingeſtehen. Sie muß, wenn ſie auch ſtets hofft, mit
ihren Ergebniſſen praktiſche Leuchten für die Zukunft aufzuſtellen, ſich doch zunächſt im
Sinne einer berechtigten Arbeitsteilung auf das Erkennen beſchränken, aber dieſes um
ſo feſter hinzuſtellen ſuchen, weil ſie eingeſehen hat, daß die Hoffnungen der Denker und
Gelehrten, durch beſtimmte Theorien irgend eine ſubjektive Auffaſſung des „Sollens“ zu
ſtützen, immer wieder die Objektivität des wiſſenſchaftlichen Verfahrens getrübt hat.
Die Fortſchritte des geſamten wiſſenſchaftlichen Verfahrens in den Natur- und
Geiſteswiſſenſchaften während der letzten Generationen mußten auch auf dem Gebiete der
Staatswiſſenſchaften und der Volkswirtſchaftslehre ihre Wirkung ausüben, zur Verfeine-
rung und Verbeſſerung des methodiſchen Verfahrens, zur ſtrengen Einhaltung von
Grundſätzen und Regeln bei aller Beobachtung und Erklärung der volkswirtſchaftlichen
Erſcheinungen führen. Die Wiſſenſchaft der Nationalökonomie will von der Volks-
wirtſchaft ein vollſtändiges Bild, einen Grundriß der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen
nach Raum und Zeit, nach Maß und hiſtoriſcher Folge entwerfen; ſie thut das, indem
ſie die Wahrnehmungen dem vergleichenden und unterſcheidenden Denken unterwirft, das
Wahrgenommene auf ſeine Gewißheit prüft, das richtig Beobachtete in ein Syſtem von
Begriffen nach Gleichartigkeit und Verſchiedenheit einordnet und endlich das ſo Geordnete
in der Form typiſcher Regelmäßigkeiten und eines durchgängigen Kauſalzuſammenhanges
zu begreifen ſucht. Die Hauptaufgaben ſtrenger Wiſſenſchaft ſind ſo 1. richtig beob-
achten, 2. gut definieren und klaſſifizieren, 3. typiſche Formen finden und kauſal erklären.
Je nach dem fortſchreitenden Stande der Wiſſenſchaft tritt dann bald das eine, bald das
andere mehr in den Vordergrund. Bald iſt das Zurückgreifen auf die Erfahrung, bald
die rationale Bemeiſterung der Erfahrungen durch Begriffe, Reihenbildung, Kauſal-
erklärung und Hypotheſen das wichtigere Geſchäft.
43. Beobachtung und Beſchreibung. Wir verſtehen unter der wiſſen-
ſchaftlichen Beobachtung einer Erſcheinung eine ſolche, die oftmals von demſelben oder
von verſchiedenen Beobachtern wiederholt immer dasſelbe Reſultat ergiebt, aus der die
Einflüſſe ſubjektiver Täuſchung und Meinung ſo weit als möglich entfernt ſind. Eine
ſolche Beobachtung deutet auf ein objektives Geſchehen. Die Beobachtung ſoll objektive
[101]Die wiſſenſchaftliche Beobachtung.
Gültigkeit, erſchöpfende Genauigkeit, extenſive Vollſtändigkeit beſitzen. Das einzelne ſoll
für ſich und als Teil des Ganzen in ſeinen wahrnehmbaren Beziehungen zu dieſem, im
Vergleich mit Ähnlichem und Verſchiedenem beobachtet werden. Die wiſſenſchaftliche
Fixierung der Beobachtung iſt die Beſchreibung; jede halbwegs brauchbare Beſchreibung
ſetzt aber ſchon ein geordnetes Syſtem von Begriffen und die Kenntnis der bekannten
und feſtgeſtellten Formen und Kauſalverhältniſſe voraus.
Die volkswirtſchaftliche Beobachtung hat es mit Handlungen der einzelnen und
der Gemeinſchaften, mit den Motiven dazu, mit den Ergebniſſen dieſer Handlungen,
mit den ſocialen Formen und Verknüpfungen, die daraus entſtehen, zu thun. Ihr dient
ſtets vereint innere und äußere Wahrnehmung. Die erſtere giebt uns unmittelbare
Gewißheit über uns ſelbſt und durch Vergleichung mit den Worten, Mienen und Hand-
lungen der anderen auch über dieſe. Die zweite führt uns von dem bunten Weltbilde
ein kleines Stückchen direkt vor, das durch die Kraft ſeiner Anſchaulichkeit uns ſo
beherrſcht, daß wir in all’ unſerem Denken davon abhängig bleiben, welches Stück der
Welt, hier der volkswirtſchaftlichen Welt, wir ſelbſt geſehen und erlebt. Die weitaus
größere Hälfte der Wahrnehmungen empfangen wir indirekt durch Erzählung, Lektüre,
Berichte aller Art. Das Maß von Phantaſie und Kraft der Vorſtellung, über welche
der einzelne verfügt, bedingt die Wirkſamkeit dieſer verblaßten, ſchemenhaften, indirekten
Bilder. Das Maß von Scharfſinn, Kritik, methodiſch hiezu angeleitetem Verſtande, das
dem einzelnen eigen iſt, bedingt den richtigen oder falſchen Gebrauch von dieſen ſekun-
dären Weltbildern. In der überlieferten Wiſſenſchaft empfängt der einzelne eine ſyſte-
matiſch angeordnete, nach gewiſſen richtigen oder ſchiefen Geſichtspunkten zurecht gemachte,
teilweiſe zu farbloſen Abſtraktionen verflüchtigte Summe von Beobachtungsreſultaten,
welche die große Menge gläubig hinnimmt, welche der Forſcher ſtets von neuem wieder
prüft und ordnet.
Alle Beobachtung iſoliert aus dem Chaos der Erſcheinungen einen einzelnen Vor-
gang, um ihn für ſich zu betrachten. Sie beruht ſtets auf Abſtraktion; ſie analyſiert
einen Teilinhalt. Je kleiner er iſt, je iſolierter er ſich darſtellt, deſto leichter iſt das
Geſchäft. Die relative Einfachheit der elementaren Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete
der Naturwiſſenſchaften die Beobachtung ſehr; es kommt dazu, daß der Naturforſcher es
in ſeiner Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Urſachen beliebig zu ändern
d. h. zu experimentieren und ſo den Gegenſtand von allen Seiten her leichter zu faſſen.
Nicht bloß iſt das bei volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen häufig nicht möglich, ſondern
dieſe ſind ſtets — auch in ihrer einfachſten Form — ſehr viel kompliziertere Gegenſtände,
abhängig von den verſchiedenſten Urſachen, beeinflußt durch eine Reihe mitwirkender
Bedingungen. Nehmen wir eine Steigerung des Getreidepreiſes, des Lohnes, eine Kurs-
veränderung oder gar eine Handelskriſis, einen Fortſchritt der Arbeitsteilung; faſt
jeder ſolche Vorgang beſteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen gewiſſer Gruppen
von Menſchen, dann aus Maſſenthatſachen der Natur (z. B. einer Ernte) oder des
techniſchen Lebens (z. B. der Maſchineneinführung), er iſt beeinflußt von Sitten und
Einrichtungen, deren Urſachen weit auseinander liegen. Es handelt ſich alſo ſtets oder
meiſt um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerſtreuten, aber in
ſich zuſammenhängenden Thatſachen. Und vollends wenn typiſche Formen des volks-
wirtſchaftlichen Lebens, wie die Familienwirtſchaft, die Unternehmung oder konkret eine
beſtimmte Volkswirtſchaft, ein Induſtriezweig beobachtet werden ſollen, ſo ſteigert ſich
die Schwierigkeit des Selbſt- und des Richtigſehens, des Zuſammenordnens von vielen
Beobachtungen außerordentlich. Die Möglichkeit von Fehlern liegt um ſo näher, je
größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erſcheinung iſt. Die an ſich berechtigte
Vorſchrift, einen zu unterſuchenden Vorgang in ſeine kleinſten Teile aufzulöſen, jeden
für ſich zu beobachten und aus dieſen Beobachtungen erſt ein Geſamtergebnis zuſammen-
zuſetzen, iſt nur unter beſonders günſtigen Umſtänden reſtlos durchzuführen. In der
Regel handelt es ſich darum, aus gewiſſen, an einem Vorgang feſtgeſtellten ſicheren
Daten die übrigen nicht oder nicht genügend beobachteten ſchließend zu ergänzen und
ſo ſich ein Bild von dem Ganzen desſelben zu machen; das geſchieht unter dem Einfluſſe
[102]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
gewiſſer Geſamteindrücke durch einen produktiven Akt der Phantaſie, der irren kann,
wenn nicht reiche Begabung und Schulung den Geiſt auf die rechte Bahn lenken. Die
Beſchreibung vollends greift immer gewiſſermaßen über die Beobachtung hinaus, indem
ſie feſtſtehende Begriffe gebraucht, an feſtſtehende Wahrheiten anknüpft, Folgerungen
aus dem Beobachteten ausſpricht, die einzelnen Beobachtungen zu einem Geſamtbilde
vereinigt, Vergleichungen zur Erläuterung heranzieht. Die Zuſammenfaſſung mehrerer
Beobachtungen und ihre Vergleichung, der Verſuch, ſo ausprobierend Geſamtvorſtellungen
über größere Gebiete des volkswirtſchaftlichen Lebens zu ſchaffen, iſt ein Hauptmittel,
in das Chaos zerſtreuter Einzelheiten Einheit zu bringen. Es liegt darin auch der
Anſatz zu induktiven Schlüſſen, wie alle Beſchreibung ihren Hauptzweck darin hat, die
Induktion, d. h. den Schluß vom einzelnen auf das zu Grunde liegende Geſetz vor-
zubereiten; aber ſie iſt an ſich noch nicht Induktion und dient ebenſo der Deduktion
und ihrer Verifikation.
Je mehr freilich die größer angelegten Beſchreibungen das analytiſch im einzelnen
Feſtgeſtellte zu Syntheſen zuſammenfaſſen, je mehr ſie von der elementaren Teilanalyſe
zur kauſalen, verknüpfenden Analyſe vordringen, deſto mehr werden wir vermuten, daß
nur der erfahrenſte Sachkenner, der zugleich ein vollendeter Künſtler iſt, der mit kurzen
Strichen alles Weſentliche hervorzuheben verſteht, Vollendetes leiſte. Die geiſtigen Ope-
rationen dieſer Art verlaſſen auch ſtets den Boden der bloßen Beobachtung und Be-
ſchreibung, ſie umfaſſen die ganze Wiſſenſchaft; — die vollendete Beſchreibung einer ganzen
Volkswirtſchaft, einer volkswirtſchaftlichen Inſtitution, welche zugleich Kauſalerklärung iſt,
wird häufig teilweiſe hypothetiſch und teleologiſch verfahren; ſie kann in Meiſterhänden
doch ſo ſtreng wiſſenſchaftlich bleiben, daß ſie wahrer Erkenntnis ſehr nahe kommt.
Die vollendete Beſchreibung wird in der Regel nicht vermeiden können, die im
Raum nebeneinander auftretenden, in der Zeit ſich folgenden gleichen und ähnlichen
Erſcheinungen heranzuziehen. Nur aus ſolcher Vergleichung ergiebt ſich das Charakte-
riſtiſche und Eigentümliche deſſen, was man beſchreibend klar machen will. Der Kurs
von heute iſt nur verſtändlich neben dem von geſtern, das Handwerk wird als typiſche
Erſcheinung viel klarer, wenn ich Haus- und Großinduſtrie daneben ſtelle, die deutſche
Arbeiterverſicherung wird erſt recht verſtändlich, wenn ich ſie mit der engliſchen vergleiche.
Die Beſchreibung bedient ſich ſo der vergleichenden Methode, welche neuerdings eine
ſteigende Bedeutung in den verſchiedenſten Wiſſenſchaften und ſo auch in der unſeren
erhalten hat. Das Verfahren führt natürlich in der Regel über die Beſchreibung
hinaus zu Schlußfolgerungen allgemeiner Art. Und hier liegen auch weſentlich die
Fehler, welche die vergleichende Methode teilweiſe in Verruf gebracht haben. Gar manche
Gelehrte waren geneigt, wenn keine guten Beobachtungen vorlagen, unvollkommene zu
benutzen. Oftmals wurde nicht das Nächſtliegende, aus nahen Zeiträumen und ähnlichen
Kulturverhältniſſen Stammende miteinander verglichen, ſondern Fanatiker der Ver-
gleichung ſtellten oberflächliche Notizen über eine ägyptiſche, eine römiſche, eine hotten-
tottiſche Einrichtung nebeneinander. Daraus konnten nur falſche Geſamtergebniſſe und
ſchiefe Schlußfolgerungen hervorgehen.
Einen je größeren Teil ihres rohen Stoffes die Nationalökonomie anderen metho-
diſch durchgebildeten Wiſſenſchaften entnehmen kann, wie z. B. der Pſychologie, Anthro-
pologie und Geographie, der Geſchichte und Statiſtik, der Rechtsgeſchichte, in deſto beſſerer
Lage iſt ſie. Aber ſo ſehr dies heute der Fall iſt, ſo ſehr damit die einzelnen Methoden
dieſer verwandten Wiſſenſchaften, zumal der Hülfswiſſenſchaft der Statiſtik, damit zu
Methoden der Nationalökonomie ſelbſt geworden ſind, ſo ſehr ſie in ihrem geſchichtlichen
Teile ſich der philologiſch-kritiſchen Methoden bedient, die dort ausgebildet wurden, ſo
wenig reicht doch häufig die den Stoff vorbereitende Thätigkeit der Nachbarwiſſenſchaften
aus. Die Geſchichte hat uns zahlreiche einzelne zuſammenhangsloſe Zunfturkunden
mitgeteilt, erſt der nationalökonomiſche Forſcher ſah, daß es nötig ſei, einmal von einer
einzigen Zunft einige hundert Urkunden nebeneinander zu ſtellen; die Geſchichte lieferte
uns manches Material über ältere Bevölkerungsbewegung; erſt bevölkerungsſtatiſtiſch und
nationalökomiſch geſchulte Leute, wie Hume und Dieterici früher, neuerdings K. Bücher
[103]Beſchreibung; vergleichende Methode; Begriffsbildung.
und Beloch, haben Methode und Zuſammenhang in dieſe Unterſuchungen gebracht, eine
vergleichende hiſtoriſche Bevölkerungsſtatiſtik geſchaffen. So wirken eben die aneinander
grenzenden Wiſſenſchaften immer gegenſeitig befruchtend aufeinander.
Eine einzige Methode nationalökonomiſcher Beobachtung kann es entſprechend der
Kompliziertheit des Stoffes natürlich nicht geben. Auf jeden Teil des Stoffes ſind die
Mittel zu verwenden, die uns am weiteſten führen, die uns das zutreffendſte, wahrſte,
vollſtändigſte Bild der Wirklichkeit, der volkswirtſchaftlichen Thatſachen geben.
Die Thatſachen kennen, ſagt Lotze, iſt nicht alles, aber ein Großes; dies gering
zu ſchätzen, weil man mehr verlangt, geziemt nur jenen heſiodiſchen Thoren, die nie
verſtehen, daß halb oft beſſer iſt als ganz. Und Laſſalle meint in ähnlichem Zuſammen-
hange: Der Stoff hat ohne den Gedanken immer noch einen relativen Wert, der Gedanke
ohne den Stoff aber nur die Bedeutung einer Chimäre.
44. Die Begriffsbildung. Richtig beſchreiben, von einem Gegenſtande
Merkmale ausſagen, die Urſachen aufdecken, die Folgen feſtſtellen kann nur, wer die
Erſcheinungen, ihre Merkmale, ihre Konſequenzen mit Worten feſten Inhalts bezeichnet.
Die Begriffsbildung hat die Aufgabe, die in der gewöhnlichen Sprache vorhandenen,
von der Wiſſenſchaft benutzten, weiter gebildeten, oft umgedeuteten Worte zu dieſem
Zwecke einer Erörterung, Deutung und Fixierung zu unterwerfen. Dieſe Begriffsbildung,
für jede Wiſſenſchaft eine ihrer weſentlichen Aufgaben, iſt zunächſt eine Fortſetzung oder
Potenzierung der natürlichen Sprachbildung. Jeder Sprachgebrauch geht vom anſchau-
lichen, ſinnlichen Bilde einer Erſcheinung aus, in dem eine Summe von Vorſtellungen
um eine herrſchende gruppiert iſt; das Wort iſt dieſer herrſchenden Vorſtellung entnommen,
bezeichnet das Bild mit allen ſeinen Vorſtellungen; das Wort wird zu einem abſtrakten,
konventionellen Zeichen, das bei allen Gebrauchenden die gleichen oder ähnlichen Vor-
ſtellungen hervorruft. Dieſe Vorſtellungen ſind aber nicht fixiert, es ſchieben ſich in
die Wortbedeutung jeder lebendigen Sprache neue, wechſelnde Vorſtellungen ein; die
herrſchende Vorſtellung wird von einer anderen verdrängt. Und je allgemeinere Vor-
ſtellungskreiſe ein Wort einheitlich zuſammenfaßt, deſto zweifelhafter iſt in der gewöhn-
lichen Sprache der damit verbundene Sinn. Die Wiſſenſchaft hat nun das Bedürfnis,
dieſe fließenden und ſchwankenden Vorſtellungskreiſe immer wieder für ihre Zwecke zu
fixieren; ſie verlangt möglichſte Konſtanz, durchgängige, feſte Beſtimmtheit, Sicherheit
und Allgemeingültigkeit der Wortbezeichnung. Die Definition iſt das wiſſenſchaftlich
begründete Urteil über die Bedeutung eines Wortes. Indem wir definieren, wollen
wir für alle an der Gedankenarbeit Teilnehmenden eine gleichmäßige Ordnung des Vor-
ſtellungsinhaltes und damit zugleich eine einheitliche Klaſſifikation der Erſcheinungen
eintreten laſſen. Das iſt aber immer nur bis zu einem gewiſſen Grade möglich. Die
Dinge ſelbſt und alle unſere Vorſtellungen über ſie ſind ſtets im Fluſſe begriffen; die
vollendete Klaſſifikation der Erſcheinungen iſt niemals ganz vorhanden; die Worte, mit
denen wir einen Begriff definieren, ſind ſelbſt nicht abſolut feſtſtehend; ſie wären es
nur, wenn es bereits ein vollendetes Begriffsſyſtem gäbe, was nicht der Fall iſt. Wir
müſſen uns alſo in allen Wiſſenſchaften mit vorläufigen Definitionen begnügen, dem
weiteren Fortſchritte der Wiſſenſchaft und des Lebens ihre weitere Richtigſtellung über-
laſſend.
Eine Wiſſenſchaft, die ſchon ein relativ feſtſtehendes Begriffsſyſtem hat, definiert
durch Angabe der nächſt höheren Gattung des Begriffes und durch den artbildenden
Unterſchied; die Nationalökonomie und das ganze Gebiet der Staatswiſſenſchaft iſt nur
an einzelnen Stellen ſo weit, in dieſer Weiſe definieren zu können: z. B. die Haus-
induſtrie iſt eine Unternehmungsform, bei welcher der kleine Produzent nicht direkt ans
Publikum verkauft, ſondern den Abſatz ſeiner Produkte nur durch anderweite kauf-
männiſche Vermittelung erreicht.
In der Regel muß ſie definieren, indem ſie den Begriff in ſeine Merkmale zerlegt,
die wichtigſten zur Charakteriſierung benutzt. Artet die Definition dadurch zu einer breiten
analytiſchen Beſchreibung aus, ſo hört ſie auf Definition zu ſein, und riskiert, nicht ein-
mal die herrſchende Vorſtellung in den Mittelpunkt zu ſtellen. Betont ſie in der Definition
[104]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ausſchließlich eines von verſchiedenen Merkmalen, ſo kommt die Gefahr, daß jedem für
ſeine wiſſenſchaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigſte erſcheint. Daher
faſt ſtets verſchiedene Definitionen möglich ſind, die nicht durch ihre Richtigkeit, ſondern
durch ihre Zweckmäßigkeit für beſtimmte wiſſenſchaftliche Zwecke ſich unterſcheiden. Die
Gefahr wächſt, je allgemeiner und abſtrakter die Begriffe ſind. Wie die Rechtswiſſen-
ſchaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinſtitute das vollendetſte Begriffsſyſtem
hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat ꝛc. noch in keiner Weiſe zu allgemein
anerkannten Begriffen kommen konnte, ſo iſt es begreiflich, daß auch die Volkswirtſchaft
ein ähnliches Schickſal teilt; jeder faſt definiert ihre allgemeinſten Begriffe, wie Wirt-
ſchaft oder Arbeit, wieder in anderer Weiſe.
Das hat nun nicht ſo ſehr viel zu ſagen für denjenigen, welcher nur Nominal-
definitionen, d. h. Urteile über den Sprachgebrauch geben will, dieſen treu bleibt, mit
ihnen vom gewöhnlichen Gebrauche ſich nicht allzuweit entfernt. Von ganz anderer Be-
deutung wird es für die, welche Realdefinitionen, d. h. Urteile über das Weſen der
Sache abgeben wollen. Der Realdefinition in ihrer älteren, von den Alten wie von Hegel
und Lorenz Stein gebrauchten Bedeutung liegt die unhaltbare Vorſtellung zu Grunde,
die Worte und Begriffe enthielten, gleichſam wie in einem vollendeten Spiegel, das
erſchöpfende Abbild der Welt in ſich. In Wirklichkeit beruhen die Worte oft auf einem
unklaren oder falſchen Vorſtellungsinhalt, jedenfalls ſtets auf einem von dem geiſtigen
Horizont der Gebraucher abhängigen. Daraus erklärt es ſich, daß die genialſten, mit
dem reichſten Vorſtellungsinhalt ausgeſtatteten Menſchen beim Gebrauch der Worte, vor
allem der allgemeinen Begriffe, ſich am meiſten denken können und dementſprechend aus
dem Begriff, d. h. aus ihrem verhältnismäßig reichen Vorſtellungsinhalt, mehr entwickeln
können. Es iſt ferner richtig, daß, je weiter eine Wiſſenſchaft bereits iſt, ſie deſto mehr
die von ihr gewonnenen Wahrheiten und Kauſalzuſammenhänge in die Definition
ihrer oberſten Begriffe hineinverlegen kann; denn dieſe gehören zu den weſentlichſten
Merkmalen, zu den für das Wort weſentlichſten Vorſtellungen. Für die gewöhnlichen
Menſchen aber gehören die allgemeinſten Begriffe zu den leerſten; und es iſt daher die
Meinung, daß mit dem rechten Begriffe der Wirtſchaft oder der Arbeit, mit der Aus-
einanderlegung dieſes Begriffes das Weſen der Volkswirtſchaft gegeben ſei, eine außer-
ordentlich gefährliche und irreführende. Sie verbindet ſich überdies häufig mit der
ſchiefen myſtiſchen Vorſtellung eines einheitlichen Begriffsſchematismus, der rein logiſch
eine Erſcheinung aus der anderen ohne Zuhülfenahme der Erfahrung entſtehen laſſen könne.
Nur das iſt richtig, daß alle Begriffe innerlich zuſammenhängen, weil wir jedes Wort
wieder mit anderen definieren, weil die Abgrenzung des einen Wortes immer zugleich
die der Nachbarbegriffe einſchließt.
Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klaſſifikation der Erſcheinungen,
die um ſo bedeutungsvoller wird, wenn man eine Summe in Zuſammenhang ſtehender
Erſcheinungen nach einem beſtimmten Geſichtspunkte oder Syſteme ſo einteilen will, daß
die einzelnen Klaſſen gleiche Glieder einer Reihe bilden und die Geſamtheit planvoll
erſchöpfen. Hier wird eine Anordnung und Verteilung erſtrebt, um eine Gruppe von
Erſcheinungen in unſerem Geiſte am beſten zu ordnen; es handelt ſich um einen Kunſt-
griff, welchen die Gewalt über unſer Wiſſen mehren ſoll, um eine höchſt wichtige wiſſen-
ſchaftliche Thätigkeit, die nur auf Grund genaueſter Kenntnis alles einzelnen und auf
Grund eines Überblickes über das Ganze, über alle Urſachen und Folgen gut aus-
zuführen iſt. Da dieſe Vorausſetzung aber nicht leicht vollſtändig zutrifft, ſo ver-
fährt auch die klaſſifikatoriſche Begriffsbildung hypothetiſch und proviſoriſch und iſt
immer wieder neuer Verbeſſerungen fähig. Unter den Klaſſifikationen kann man die
analytiſchen und genetiſchen unterſcheiden. Wenn A. Wagner die geſamten volkswirt-
ſchaftlichen Erſcheinungen in ein privatwirtſchaftliches, gemeinwirtſchaftliches und karita-
tives Syſtem einteilt, ſo iſt das eine analytiſche; wenn Hildebrand Natural-, Geld-
und Kreditwirtſchaft trennt, wenn ich ſelbſt Dorf-, Stadt-, Territorial-, Volkswirtſchaft
als hiſtoriſche Reihenfolge aufſtellte, ſo ſind das genetiſche, die hiſtoriſche Entwickelung
andeutende Klaſſifikationen. Die Grenzen bei ſolcher Reihenbildung werden ſtets etwas
[105]Nominal- und Realdefinition. Klaſſifikation. Wert der Begriffsbildung.
unſicher ſein, aber der Kern der Erſcheinung, den man in den einzelnen Begriffen zu
faſſen ſucht, entſpricht je einem eigenartigen Typus.
Richtige Begriffe und Klaſſifikationen ſind eines der wichtigſten Hülfsmittel der
Wiſſenſchaft, aber ſie machen nicht die Wiſſenſchaft als ſolche aus, ſind nicht die
erſte oder einzige Aufgabe derſelben. Gute Definitionen könnte man ſcharfen Klingen
vergleichen; man muß ſie immer wieder ſchärfen, aus neuem Metall neue Klingen
ſchmieden. Aber an alten Klingen immer nur herum zu hämmern, Klingen zu ſchmieden,
wo nichts zu ſchneiden und zu ſcheiden iſt, Worte definieren, die man in der Wiſſen-
ſchaft nicht weiter gebraucht, hat wenig Sinn. Zeitweiſe Begriffsreviſion iſt nötig, wenn
neuer Erfahrungsſtoff ſich angeſammelt hat und zu ordnen iſt, wenn neue große Ge-
danken andere Klaſſifikationen bedingen. Als die engliſche Naturlehre der Volkswirtſchaft
nach Deutſchland übertragen wurde, waren ſchon wegen der Inkongruenz der deutſchen
und engliſchen Worte ſcharfe Begriffsunterſuchungen, wie ſie Hufeland, Lotz und Hermann
anſtellten, wünſchenswert. Auch heute wieder haben ſolche Unterſuchungen ihren großen
Wert, und ein ſo ſcharfſinniger Gelehrter wie F. J. Neumann (Grundlagen der Volks-
wirtſchaftslehre, 1889; Schönbergs Handbuch, Wirtſchaftliche Grundbegriffe; Natur-
geſetz und Wirtſchaftsgeſetz. Z. f. St. 1892), der auch durch ausgezeichnete ſtatiſtiſche und
methodologiſche Arbeiten ſich auszeichnet, hat dieſe Teile unſerer Wiſſenſchaft erheblich
gefördert. Aber eine unheilvolle Verirrung iſt es, wenn man die Nationalökonomie
für eine Wiſſenſchaft erklärt, welche nur die Funktion weiterer Scheidung der Begriffe
oder des bloßen Schließens aus Axiomen und Begriffen habe. Dieſelbe Bedeutung wie
in der Jurisprudenz kann die Begriffsentwickelung in unſerer Wiſſenſchaft nie erhalten;
denn jene hat ihren praktiſchen Hauptzweck in der richtigen Anwendung feſt umgrenzter
Rechtsbegriffe, dieſe hat ihren weſentlichen Zweck in der Erklärung realer Vorgänge;
ſie will deren typiſche Erſcheinung beſchreiben und kauſale Verknüpfung aufhellen.
45. Die typiſchen Reihen und Formen, ihre Erklärung, die
Urſachen. Wie es überhaupt keine menſchliche Erkenntnis ohne die Wiederholung
des Gleichen oder Ähnlichen gibt, ſo knüpft auch alle eigentliche volkswirtſchaftliche
Theorie an die Erfaſſung der typiſchen Vorgänge, der Wiederholung gleicher Einzel-
erſcheinungen und Reihen von Erſcheinungen, gleicher oder ähnlicher Formen an.
Die typiſchen Erſcheinungen der Haus- und Gemeindewirtſchaft, der ſocialen
Klaſſen und der Arbeitsteilung fielen der denkenden Betrachtung zuerſt in die Augen;
dann der Geldverkehr, die Steuern, die ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. Es entſtand im
17. und 18. Jahrhundert das Bild einer tauſchenden Geſellſchaft mit Markt und Ver-
kehr, mit Stadt und Land, mit Grundbeſitzern, Kapitaliſten und Arbeitern. Dieſe
Grundformen wollte man als notwendige, ſtets ſich einſtellende begreifen, ſie aus gewiſſen
Prämiſſen ableiten, ihre wirkliche Geſtaltung im Einzelfalle an einem Ideale meſſen.
Auch als man begann, die hiſtoriſche und geographiſche Verſchiedenheit der volkswirt-
ſchaftlichen Geſtaltungen ins Auge zu faſſen, richtete man ſein Augenmerk zunächſt auf
das im Wechſel ſich Gleichbleibende, auf den typiſchen Rhythmus der Änderungen, auf
die regelmäßige Koexiſtenz gewiſſer Formen und Erſcheinungen. Und als es der Statiſtik
gelungen war, neben die qualitative die quantitative Beobachtung der geſellſchaftlichen
und volkswirtſchaftlichen Verhältniſſe zu ſtellen, war die typiſche Regelmäßigkeit der
Zahlenergebniſſe von Jahr zu Jahr, wie von Land zu Land ebenfalls das, was zuerſt
ins Auge fiel. Auch die Veränderungen, die man beobachten konnte, wieſen teilweiſe auf
einen typiſchen Gang hin, der bei verſchiedenen Völkern in verſchiedenen Epochen ſich
gleichmäßig wiederholt, wie z. B. die Übervölkerung. Es lag der erſte große Fortſchritt
der Wiſſenſchaft in dieſer Erfaſſung qualitativer Formen und quantitativer Maßbeſtimmung
derſelben; für einen erheblichen Teil unſeres volkswirtſchaftlichen Wiſſens ſind wir heute
noch nicht weiter. Die Vorſtellung ſolch’ ſchematiſcher Formenbilder und Reihen iſt
ſchon an ſich ein Element der Ordnung der Vorſtellungen, ein heuriſtiſches Hülfsmittel,
Vergangenheit und Zukunft zu verſtehen.
Aber natürlich weiſen ſolche Typen und Reihen, ſolche Formen und Regelmäßig-
keiten auf eine tiefere Erklärung hin. Und ſo ſehr man von Anfang an in ihnen die
[106]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Geſetzmäßigkeit kauſaler Verknüpfung erkannte oder ahnte, ſo ſehr man auf einzelne
Urſachen ſofort verfiel, wie die Naturrechtslehrer die allgemeine Menſchennatur, die
Merkantiliſten den Geldverkehr, A. Smith die Arbeit und den Erwerbstrieb in den
Vordergrund der Kauſalerklärung rückten, ſo wenig konnte ein ſolches ſummariſches
Hinweiſen auf eine Urſache oder Urſachengruppe genügen, noch weniger konnte eine Art
rohen Analogieverfahrens als das Hauptprincip der Erklärung befriedigen. So wenn
man Bevölkerung, Volkswirtſchaft und Geſellſchaft nach dem Vorbilde der Phyſik als ein
mechaniſches Syſtem von Kräften anſah, die ſich im Gleichgewicht halten, oder wenn
man glaubte, durch den bei Pflanzen und Tieren beobachteten Kampf ums Daſein den
ſocialen Entwickelungsprozeß analog erklären zu können. Gewiß können ſolche Analogien
manches anſchaulicher machen, können Zuſammenhänge finden helfen, aber ſie führen
ebenſo oft auf Irrwege und können die Erklärung aus den konkreten Einzelurſachen nie
erſetzen.
Seit die neuere Wiſſenſchaft zu dem freilich nicht beweisbaren, aber trotzdem
unerſchütterlichen Glauben von einem gleichmäßigen, in ſich ſtets lückenlos zuſammen-
hängenden, durch beſtimmte Kräfte beherrſchten Entwickelungsprozeß der Natur, der
Geſchichte und der menſchlichen Geſellſchaft gekommen iſt, erſcheint die Feſtſtellung der
ſpeciellen und zwar der ſämtlichen Urſachen jeder einzelnen Erſcheinung als die wichtigſte
Aufgabe des wiſſenſchaftlichen Verfahrens. Nur ſo kommt diejenige Einheit und Ord-
nung in die unendliche Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen, welche uns befriedigt. Von
den vielen verſchiedenen und nächſtliegenden Urſachen verſuchen wir dann aufzuſteigen
zu den wenigen und einfachen. So hoffen wir zu einer erſchöpfenden Erklärung der Welt,
der Koexiſtenz und Folge der Dinge zu kommen.
Aber die Aufgabe iſt eine unendlich ſchwierige. Was iſt Urſache? was iſt Folge?
Wenn wir antworten, A iſt die Urſache von B, wenn A das unbedingte und notwendige
Antecedens von B iſt, ſo fügen wir doch gleich bei, daß B nicht logiſch in A enthalten
ſei, daß B nur erfahrungsmäßig als ſtets integrierender Teil eines Ganzen ſich uns
darſtelle, in dem A den Vortritt vor B habe. Wir ſehen, daß ſelbſt bei einfachen
phyſiſchen oder biologiſchen Vorgängen der Eintritt einer Thatſache meiſt von einer
Summe von Zuſtänden und Vorbedingungen abhängt, deren nur eine zu fehlen braucht,
um den Eintritt, wenigſtens in dieſer Form, zu hindern. Es iſt nur eine Art ſprach-
licher Aushülfe, wenn man den zuletzt hinzutretenden Faktor als Urſache, die vorher
vorhandenen als Bedingungen bezeichnet. Vollends alle geſellſchaftlichen und volkswirt-
ſchaftlichen Erſcheinungen haben wir regelmäßig auf eine Reihe phyſiſcher und biologiſcher
Urſachen einerſeits, auf eine Reihe pſychiſcher und moraliſcher andererſeits zurückzuführen.
Und jede dieſer Einzelurſachen weiſt auf zeitlich weiter zurückliegende Urſachenketten und
-komplexe hin, die wir niemals ganz erfaſſen können. Das komplizierte Nebeneinander
des Seienden geht ſtets auf frühere Kombinationen, auf geſetzlich geordnete aber fern
liegende, uns unerforſchliche Zuſtände zurück, über die wir uns nur Vermutungen und
Hypotheſen erlauben, die wir nur durch teleologiſche Betrachtungen uns verſtändlich
machen können.
Schon die Doppelbedingtheit aller volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen durch ma-
terielle und geiſtige Urſachen erzeugt für die Unterſuchung beſondere Schwierigkeiten.
Der häufig gemachte Verſuch, die letzteren auf die erſteren zurückzuführen, wie es die
Materialiſten und Buckle gethan, der aus Klima, Boden und ähnlichen Faktoren die
geiſtige Entwickelung eines Volkes ableiten will, oder wie die Marxianer aus der öko-
nomiſchen Produktion alles höhere Kulturleben reſtlos glauben erklären zu können, muß
immer wieder ſcheitern. Denn ſo ſehr heute der Zuſammenhang alles geiſtigen Lebens
mit dem Nervenleben, der Parallelismus der pſychiſchen und biologiſchen Erſcheinungen
erkannt wird, aus rein materiellen Elementen iſt nie und wird wohl nie das Seelen-
leben erklärt werden. Gewiß finden heute auch die umgekehrten Sätze der Idealiſten
keinen Glauben mehr; ſo z. B. der Ausſpruch des engliſchen Hiſtorikers Froude: „Wenn
es einem Menſchen frei ſteht zu thun, was er will, ſo giebt es keine genaue Wiſſen-
ſchaft von ihm; wenn es eine Wiſſenſchaft von ihm giebt, ſo giebt es keine freie Wahl.“
[107]Weſen von Urſache und Folge. Mechaniſche und pſychiſche Kauſalität.
Wir wiſſen heute, daß die pſychiſche Kauſalität eine andere iſt als die mechaniſche, aber
wir betrachten ſie als eine gleich notwendige. Wenn wir einen Menſchen ganz durch-
ſchauen, wenn wir einen Volkscharakter vollſtändig kennen, ſo deduzieren wir mit voll-
ſtändiger Sicherheit aus ihm. Wir glauben nicht mit den materialiſtiſchen Statiſtikern,
daß ein blindes Schickſal jährlich ſo vielen Menſchen die Piſtole zum Selbſtmord in die
Hand drücke, aber wohl, daß bei der gleichmäßigen Fortdauer beſtimmter moraliſcher
und materieller Zuſtände in der gleichen Zahl von Selbſtmorden und Verbrechen ein
notwendiges Kauſalergebnis liege. Wir finden die Freiheit des ſittlichen Charakters
nicht in der Leugnung der pſychiſchen Kauſalität, ſondern in der Anerkennung der
individuellen Energie als des wichtigſten Faktors unſerer Entſchließungen, in der
Garantie, die der edle, durchgebildete Charakter giebt, nur gut handeln zu können.
Wir finden die Berechtigung der Strafe für den Verbrecher gerade darin, daß die Strafe
nicht bloß die Antwort auf eine einzelne That, ſondern auf eine lange innere Geſchichte
iſt, die bis zum Verbrechen mit Notwendigkeit führt.
Aber wir fragen, wie iſt es möglich, den Menſchen, die Menſchen und alle Menſchen
ſo zu kennen, daß wir Sicheres aus ihrer Pſyche ſchließen können. Die Pſychologie iſt
uns der Schlüſſel zu allen Geiſteswiſſenſchaften und alſo auch zur Nationalökonomie.
Wir wiſſen, daß das Einfachere in ihr ſeit Jahrtauſenden allen Denkern klar iſt, weil
es auf der inneren Wahrnehmung, der ſicherſten Quelle aller Erkenntnis, beruht. Daher
iſt es auch erklärlich, daß das Verſtändnis für gewiſſe elementare pſychologiſche Ver-
urſachungen ſehr alt iſt; und ſo mußte es auch für die Nationalökonomie, die ſich in
der Epoche des Tauſch- und Geldverkehrs ausbildete, nahe liegen, aus dem egoiſtiſchen
Erwerbstrieb deduktiv zahlreiche Sätze abzuleiten; jeder Menſchenkenner und jeder Poli-
tiker wendet jeden Moment weitere derartige generelle pſychologiſche Wahrheiten an, um
deduktiv aus ihnen vieles zu erklären. Aber von einer empiriſchen, wiſſenſchaftlich
vollendeten Pſychologie, von einer ausreichenden pſychologiſchen Völker- und Klaſſenkunde
können wir leider heute doch noch entfernt nicht reden. Und gerade ſie müßten wir an
Stelle der wenigen zu Gemeinplätzen gewordenen pſychologiſchen Wahrheiten, mit denen
wir jetzt haushalten, beſitzen, um beſſeren Boden in der Volkswirtſchafts- und Staats-
lehre unter den Füßen zu haben. Jeder Forſcher, der uns die Induſtrie eines Volkes,
der uns nur die Arbeiter eines Fabrikzweiges vorführt, beginnt mit einer pſychologiſchen
Zeichnung; bei jedem allgemeinen Schluß über die Wirkung einer Inſtitution, einer
Veränderung von Angebot und Nachfrage auf die Entſchließungen der Menſchen handelt
es ſich darum, die pſychologiſchen Zwiſchenglieder der Unterſuchung richtig zu beſtimmen.
Aber die Frage iſt immer, ob und in wie weit man dieſe pſychiſchen Faktoren genau
genug kenne, in ihrer unendlichen Kompliziertheit beherrſche, ob man ihr Zuſammen-
wirken mit den entſprechenden natürlichen Urſachen überhaupt ganz verfolgen könne.
Und es wird kein Zweifel ſein, daß wir in Bezug auf die komplizierteſten Zu-
ſammenhänge in den Geiſteswiſſenſchaften überhaupt die Strenge der Naturwiſſenſchaften
nicht leicht erreichen können. Zumal das wenige, was wir über die entferntere Ver-
gangenheit wiſſen, wird uns nie in den Stand ſetzen, den Gang der Geſchichte als
einen abſolut notwendigen zu verſtehen, wir werden zufrieden ſein, wenn wir ihn nur
im allgemeinen begreiflich und verſtändlich finden. Das Individuelle, das das Schickſal
jedes Volkes hat, liegt eben in der Kompliziertheit der Kauſalitätsbeziehungen. Nirgends
wiederholt ſich da ganz dasſelbe Schauſpiel, wie freilich auch kein einziger Baum auf
Erden ganz das Abbild eines anderen iſt. Wir werden in Bezug auf das Geſamtſchickſal
der Völker, auch in Bezug auf ihr wirtſchaftliches, niemals zu einer ganz ſicheren Vor-
ausſagung kommen, weil wir nie die geſamten Urſachen einheitlich überblicken, ſie quan-
titativ meſſen können.
Aber trotzdem werden wir uns nicht abſchrecken laſſen, immer wieder die Kauſalitäts-
verhältniſſe ſo genau als möglich zu erfaſſen, um ſo viel als möglich zu verſtehen und
vorausſagen zu können. Und vieles haben wir ſchon erreicht, noch mehr werden wir
erreichen. Wir ſtehen erſt am Anfange einer methodiſchen Erkenntnis der Zuſammen-
hänge. Zu ihr gehört es nun vor allem, daß wir uns für jede volkswirtſchaftliche
[108]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Unterſuchung bewußt ſind, nicht einheitlichen Urſachen, ſondern einer Reihe von Urſachen-
komplexen gegenüber zu ſtehen, deren jede ihre eigene Natur hat, beſondere wiſſenſchaft-
liche Behandlung verlangt.
Die Thatſachen der äußeren Natur, welche die Volkswirtſchaft beherrſchen und
beeinfluſſen, ſind nur durch die Methoden naturwiſſenſchaftlicher Forſchung zugänglich;
ſie geben für die Möglichkeiten der volkswirtſchaftlichen Entwickelung gewiſſe Minimal-
und Maximalgrenzen, ähnlich wie alle rein äußeren materiellen, wirtſchaftlichen Urſachen,
z. B. auch Bevölkerungsdichtigkeit, Kapitalreichtum, Stand der Technik notwendig eine
gewiſſe Geſtaltung der ganzen Volkswirtſchaft nach ſich ziehen, die aber in ihrem wich-
tigſten Detail doch ganz verſchieden ſein kann, je nach den pſychologiſchen und ſittlichen
Eigenſchaften der Menſchen.
Die Thatſachen der menſchlichen Raſſen- und Völkerkunde unterliegen naturwiſſen-
ſchaftlicher, hiſtoriſcher und pſychologiſcher Unterſuchung, die in ihrem Geſamtergebnis
weſentlich mit die abweichende wirtſchaftliche Kultur der einzelnen Nationen beſtimmen
und daher immer ergänzend heranzuziehen ſind zu den generellen pſychologiſchen Schlüſſen
aus der allgemeinen Menſchennatur.
Die Thatſachen der elementaren Bevölkerungsbewegung ſind biologiſchen und
pſychiſchen Charakters; bei einer gewiſſen Kultur und in beſtimmtem Klima muß ihr
gewöhnlicher Gang ein gleichmäßiger ſein; die Erklärung der Elementarerſcheinungen iſt
zunächſt phyſiologiſchen Charakters. Die Maſſenerſcheinungen der Bevölkerung wie die
Preiserſcheinungen des Marktes in relativ ruhig ſich entwickelnden Gemeinweſen ſind
ſtatiſtiſch erfaßt einer Art mechaniſch-mathematiſcher Behandlung zugänglich, wobei dann
eine Konſtanz der weſentlichen Urſachen vorausgeſetzt wird. Die Erklärung der Ab-
weichungen und Schwankungen der Bevölkerungsſtatiſtik wie der ganzen Moralſtatiſtik
erfordert eine pſychologiſche, hiſtoriſche, völkervergleichende und wirtſchaftliche Unter-
ſuchung.
Die allgemeinen pſychologiſchen Elemente, welche das volkswirtſchaftliche Leben
beeinfluſſen und beherrſchen, äußern ſich teils in elementarer, direkter Weiſe gleichſam
als Urſachen erſter Ordnung, wobei von einer pſychiſchen Trieblehre und einer Theorie
der ſittlichen Charakterbildung auszugehen iſt, dann aber als komplizierte Ergebniſſe
eines höheren Kulturlebens, als Sprache, Sitte, Recht, als Inſtitutionen wirtſchaftlicher
und rechtlicher Art. Das ergiebt ein Netz pſychiſcher Verurſachung höherer Ordnung.
Für erſteres kommt die individuelle und vergleichende Pſychologie, für dieſe hauptſächlich
die hiſtoriſche Unterſuchung, die vergleichende Sitten- und Rechtsgeſchichte in Betracht.
Es bildet einen der größten Fortſchritte der neueren Volkswirtſchaftslehre, daß ſie auf
die Erkenntnis dieſer geiſtigen Zwiſchenglieder zwiſchen Natur und Pſyche einerſeits und
volkswirtſchaftlichen und ſocialen Erſcheinungen andererſeits den rechten Nachdruck gelegt
hat, daß ſie nicht mehr verſucht, bloß aus Natur- und Größenverhältniſſen und den
rohſten pſychologiſchen Axiomen, ſondern vor allem aus der Geſchichte der volkswirt-
ſchaftlichen Inſtitutionen heraus zu argumentieren.
46. Geſetze, induktive und deduktive Methode. Das Ergebnis iſt ſo
das allerdings für den Anfänger erſchreckende: zu wiſſenſchaftlich allſeitigen Unterſuchungen
auf volkswirtſchaftlichem Gebiete gehören Methoden der verſchiedenſten Art, Kenntniſſe
aus den verſchiedenſten Wiſſensgebieten. Die Ergebniſſe ſind nirgends vollſtändige, ſie
liegen nach Methode und Gegenſtand oft ſo getrennt nebeneinander, daß ihre ſyn-
thetiſche Verbindung die größte Schwierigkeit bereitet und nur auf wenigen Gebieten
bis jetzt eine vollendete Erkenntnis gewährt. Und doch iſt ſchon unendlich viel gewonnen
gegen früher. Die einfacheren Vorgänge des Markt- und Verkehrsweſens, der Bevölke-
rung, den Hauptgang der volkswirtſchaftlichen Entwickelung überſehen wir ziemlich genau;
wir wiſſen, daß gewiſſe elementare volkswirtſchaftliche Vorgänge und ſociale Einrichtungen
ſo ziemlich überall gleichmäßig bei gewiſſer Kulturhöhe eintreten. Wir haben in den
unteren Etagen des Gebäudes die Fähigkeit einer gewiſſen Vorausſage erreicht, die nicht
zu verachten iſt. Wir ſprechen, während wir geſtehen, hiſtoriſche Geſetze nicht zu kennen,
von volkswirtſchaftlichen und ſtatiſtiſchen Geſetzen. Wir meinen damit freilich teilweiſe
[109]Volkswirtſchaftliche Geſetze. Weſen der Deduktion.
nur die regelmäßig und typiſch ſich wiederholenden Erſcheinungsreihen: das ſind die ſo-
genannten empiriſchen Geſetze, deren Kauſalverhältniſſe entweder noch gar nicht aufgedeckt oder
wenigſtens noch nicht quantitativ gemeſſen ſind. Wirkliche Geſetze, d. h. Kauſalverbin-
dungen, deren konſtante Wirkungsweiſe wir nicht bloß kennen, ſondern auch quantitativ
beſtimmt haben, kennt auch die Naturwiſſenſchaft erſt wenige. Die Erfaſſung pſychiſcher
Kräfte wird ſich quantitativer Meſſung wohl für immer entziehen. Es iſt aber jeden-
falls charakteriſtiſch, daß wir auch in der Volkswirtſchaftslehre diejenigen aufgedeckten
Kauſalzuſammenhänge mit Vorliebe Geſetze nennen, bei denen wenigſtens Verſuche vor-
liegen, die Maſſenwirkung der pſychiſch-ſocialen Kräfte in konſtanten oder in beſtimmter
Proportion ſich ändernden Zahlenergebniſſen zu meſſen: ich erinnere an die Ausdrücke
Bevölkerungsgeſetz, Lohngeſetz, Preisgeſetz, Geſetz der Grundrente.
Ein letztes einheitliches Geſetz volkswirtſchaftlicher Kräftebethätigung giebt es nicht
und kann es nicht geben; das Geſamtergebnis volkswirtſchaftlicher Urſachen einer Zeit
und eines Volkes iſt ſtets ein individuelles Bild, das wir aus Volkscharakter und Ge-
ſchichte heraus unter Zuhülfenahme allgemeiner volkswirtſchaftlicher, ſocialer und poli-
tiſcher Wahrheiten begreiflich machen, aber entfernt nicht reſtlos auf ſeine Urſachen
zurückführen können. Über die Geſamtentwickelung der menſchlichen Wirtſchaftsverhältniſſe
beſitzen wir nicht mehr als taſtende Verſuche, hypothetiſche Sätze und teleologiſche Be-
trachtungen. Aber wir haben feſten Boden unter den Füßen in Bezug auf zahlreiche
Elemente, aus denen ſich die Volkswirtſchaften der einzelnen Länder und Zeiten zuſammen-
ſetzen. Das Allgemeinſte bleibt als das Komplizierteſte ſtets das Unſicherſte, vom ein-
zelnen ausgehend dringen wir vor. Die einfacheren Verbindungen verſtehen wir, die
Entwickelung einzelner Seiten können wir kauſal ziemlich vollſtändig erklären, die Ge-
ſchichte einzelner Wirtſchaftsinſtitute überblicken wir.
Was wir erreicht haben, iſt ebenſo ſehr Folge deduktiver als induktiver Schlüſſe.
Wer ſich überhaupt über die zwei Arten des Schlußverfahrens, die man ſo nennt, ganz
klar iſt, wird nie behaupten, es gebe die Wirklichkeit erklärende Wiſſenſchaften, die
ausſchließlich auf der einen Art ruhen. Nur zeitweiſe, nach dem jeweiligen Stande der
Erkenntnis, kann das eine Verfahren etwas mehr in den Vordergrund der einzelnen
Wiſſenſchaft rücken.
Die Deduktion geht von feſtſtehenden analytiſchen oder ſynthetiſchen Wahrheiten
aus, ſucht aus ihnen durch Schlüſſe und Kombinationen neue zu gewinnen; verwickelte
Erſcheinungen verſucht ſie aus den bekannten Wahrheiten zu erklären; ihre Haupt-
bedeutung beſteht darin, daß der Unterſuchende neuen Problemen gegenüber eine möglichſt
große Zahl feſtſtehender Sätze in ihren Konſequenzen probierend, ſpielend, taſtend auf
die zu löſende Frage anwendet, ſo den Schlüſſel zu ihr ſuchend. Wir machen faſt keinen
Schritt unſeres wiſſenſchaftlichen Denkens ohne dieſe Operation. Je einfacheren Problemen
wir gegenüberſtehen, je weiter unſer Wiſſen auf einem Gebiete ſchon iſt, deſto mehr
werden wir damit ausreichen, deſto häufiger iſt das noch Unaufgeklärte nur ein kom-
plizierteres Ergebnis feſtſtehender Sätze. Daher die bekannte Thatſache, daß die einfacheren
Wiſſenſchaften ſchon ausſchließlich oder faſt ganz deduktive geworden ſind, wie die Mathematik,
die Mechanik, die Aſtronomie, daß die elementarſten Erſcheinungen der Volkswirtſchaft,
die Markterſcheinungen, der deduktiven Behandlung am zugänglichſten ſind; daher der
Drang aller Wiſſenſchaft, möglichſt deduktiv mit der Zeit zu werden.
Auch wo man noch weniger weit iſt, wo man noch viele Kauſalitätsverhältniſſe
gar nicht aufgehellt hat, wo die verwirrte Komplikation der Erſcheinungen gar nicht
vermuten läßt, daß man ſchon alle Wahrheiten kenne, die zur vollſtändigen Erklärung
nötig wären, wendet man doch, ſo weit es geht, bekannte Wahrheiten deduktiv an. Vor
allem die von anderen vorbereitenden Wiſſenſchaften gelieferten und feſtgeſtellten Sätze
verwendet man deduktiv, alſo in der Nationalökonomie und in allen Staatswiſſenſchaften
die pſychologiſchen Wahrheiten. Man ſchließt aus dem Egoismus, dem Ehrgeiz, dem
Triebe der Liebe, kurz aus allen richtig beſtimmten pſychiſchen Sätzen deduktiv weiter.
Es iſt nur irreführend, wenn man aus einer Kraft ſchließt, wo mehrere wirken, von
einem Triebe eine falſche oder eine immer konſtante Stärke annimmt.
[110]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Stimmt nun das Ergebnis unſerer deduktiven Schlüſſe mit der Wirklichkeit nicht
überein, oder ſind die bereits feſtſtehenden Wahrheiten nicht ausreichend, unſeren That-
beſtand zu erklären, dann ſchreiten wir zur Induktion; d. h. wir ſuchen aus dem vor-
liegenden, genau beobachteten und geprüften Fall auf eine allgemeine Regel, auf ein
bisher uns verſchloſſenes Kauſalverhältnis zu kommen. Aber die ſo gefundene neue
Wahrheit verwerten wir ſofort wieder deduktiv, wir prüfen, ob ſie auf analoge Fälle paßt.
In der Regel oder ſehr häufig pflegt man nun aber alle empiriſche Beobachtung
als Induktionsverfahren zu bezeichnen; alle ſtatiſtiſche und hiſtoriſche Forſchung, alles
ſynthetiſche Kombinieren von Reſultaten ſolcher Unterſuchungen gilt als induktiv. Wer
ein gegebenes volkswirtſchaftliches Verhältnis nicht aus dem Egoismus erklärt, ſondern
aus dem Volkscharakter, den Zeitverhältniſſen, wird als induktiver Nationalökonom
bezeichnet, wie der, welcher aus einer Reihe hausinduſtrieller Schilderungen allgemeine
Wahrheiten über das Vorkommen dieſer Betriebsform zu gewinnen ſucht. Und trotzdem
liegen hier wohl mehr deduktive als induktive Operationen vor.
Das aber iſt richtig, wer in erſter Linie auf dem Boden der Erfahrung ſteht, der
traut deduktiven Schlüſſen nie ſo ohne weiteres; er hat mindeſtens das Bedürfnis, ſie
ſtets wieder durch die Erfahrung zu verifizieren, durch neue Induktionen die Probe aufs
Exempel zu machen. Dieſe Rolle geſteht auch John Stuart Mill der Induktion in der
Volkswirtſchaftslehre zu, während er im übrigen ſie auf den deduktiven Weg verweiſt.
Die experimentelle Pſychologie und Ethnologie ſoll ihr die Oberſätze liefern, aus denen
ſie ſchließen ſoll; ſie ſelbſt könne keine brauchbare Induktion vornehmen, weil ſie kein
Experiment vornehmen könne. Erhalte ſie ſo nur annähernde Generaliſationen, ſo
genüge das.
Wir geben zu, daß wir uns oft mit ungefähren Generaliſationen genügen laſſen
müſſen; aber wir leugneten ſchon oben, daß der Mangel des Experimentes uns jede
Induktion aus guten Beobachtungen unmöglich mache. Wenn aus den verſchiedenſten
Schilderungen der Arbeits- und Induſtrie-, der Ackerverfaſſung immer wieder allgemeine
Reſultate zu ziehen verſucht werden, wenn immer zahlreichere Beobachtungen vergleichend
nebeneinander geſtellt werden, ſo mögen die Schlüſſe nicht immer bereits feſtſtehende
ſein; ein außerordentlicher Fortſchritt, den wir der Induktion danken, liegt doch darin.
Diejenigen, welche in der neueren deutſchen Nationalökonomie als Vertreter induktiver
Forſchung gelten, bekämpfen nicht die Deduktion überhaupt, ſondern nur die aus ober-
flächlichen, unzureichenden Prämiſſen, welche ſie glauben auf Grund beſſerer Beobachtung
durch genauere Oberſätze erſetzen zu können. Sie behaupten, daß die letzten Ausläufer
der engliſchen deduktiven Schule wie K. Menger und Dietzel das Gebiet unſerer Wiſſen-
ſchaft allzuſehr einengen, wenn ſie nur Deduktionen aus einem oder ein paar pſycho-
logiſchen Sätzen oder dem Princip der Wirtſchaftlichkeit als theoretiſche Nationalökonomie
anerkennen; ſie glauben, durch zahlreichere Induktionen und Zuhülfenahme anderweiter
Deduktion das Gebiet der bloß hypothetiſchen, mit der Wirklichkeit in immer ſtärkeren
Konflikt kommenden Schlüſſe mehr einengen zu können. Sie bekämpfen vor allem, wie
wir ſchon oben ausführten (S. 73—75), das einſeitige deduktive Schließen aus ſittlichen
Principien und ſocialen Idealen, wie z. B. aus dem Princip der Gleichheit, der Frei-
heit, der Gerechtigkeit. Sie betonen, man können nur aus feſt umgrenzten Ausſagen über
Kauſalverhältniſſe deduktiv ſchließen, nicht aus Poſtulaten und Zweckideen, die nur all-
gemeine Richtungen der wünſchenswerten Entwickelung andeuten, die ſtets durch koordinierte
andere Ideale begrenzt werden.
Was unſerer Wiſſenſchaft mehr genützt habe, induktives oder deduktives Verfahren,
iſt eine überhaupt nicht zu beantwortende Frage, zumal die größten Fortſchritte hier
wie überall mehr dem genialen Inſtinkt oder Takt gedankt werden, der blitzartig
Zuſammenhänge und Kauſalketten klar vor ſich ſieht, für die erſt langſam nachher die
Beweiſe gefunden werden.
Gerade aber um zu ſolchen Lichtblicken zu kommen, iſt in den Geiſteswiſſenſchaften
und mit am meiſten in den Staats- und Socialwiſſenſchaften eines nötig, was mehr
in das Gebiet des deduktiven Schließens hinüberführt: Überblick über weite Wiſſens-
[111]Das Weſen der Induktion. Die Teleologie als Reflexionsprincip.
gebiete, hauptſächlich über wiſſenſchaftliche Nachbargebiete. Die angeblich rein induktive
hiſtoriſche Richtung iſt es, die dies ſtets betont, die ſich deduktiv nennende iſt meiſt
ängſtlich bemüht, nur fein ſäuberlich die wiſſenſchaftlichen Grenzpfähle zu ſetzen und
niemals einen Haſen ins Nachbargebiet zu verfolgen, das ſie weder kennt noch kennen lernen
will. Wundt hat es neuerdings als den weſentlichſten Gegenſatz der Geiſtes- zu den
Naturwiſſenſchaften bezeichnet, daß bei dieſen eine ſtarke Abſtraktionskraft das mächtigſte
Werkzeug ſei, bei jenen der Erfolg vor allem von einem raſchen Überblicke und reicher
Kombinationsfähigkeit abhänge. Das iſt teils Sache der individuellen Begabung, ebenſo
aber Sache der wiſſenſchaftlichen Vorbildung. Je umfaſſender ſie iſt, deſto größer iſt
die Möglichkeit vielgliedriger kombinierter Schlüſſe aus vorher feſtſtehenden Wahrheiten.
Einzelner Hypotheſen und teleologiſcher Sätze zur Unterſtützung kauſaler Schlüſſe
bedienen ſich alle Wiſſenſchaften und alle Erkenntnisrichtungen. Wo unſer kauſales
Erkennen nicht ausreicht, und wir doch einen Zuſammenhang ſicher annehmen, da führt
die ausdeutende reflektierende Auffaſſung, wie wir mehrfach ſchon betont, zur Annahme
von Zwecken der Gottheit, der Geſchichte, der ſchaffenden Natur, und von dieſen ein-
heitlichen Gedanken aus ſuchen wir das empiriſch nicht zu Erklärende wenigſtens ungefähr
zu begreifen. Es iſt ein unentbehrliches Reflexionsprincip. Die Annahme einer Einheit
und eines Zuſammenhanges der Welt, die allgemeinen Gründe der Entwickelungstheorie
gründen ſich auf ſolche teleologiſche Betrachtungen, ganz ähnlich wie die Harmonielehre
der älteren Volkswirtſchaft oder der ſocialiſtiſche Glaube an eine dauernde Hebung der
unteren Klaſſen. An ſeiner Grenze mündet unſer ſicheres Wiſſen immer in unſeren Glauben
und in unſere Hoffnungen. Das Ganze der letzten und wichtigſten Dinge erfaſſen wir
allein ſo. Wir müſſen nur dahin ſtreben, daß dieſer Glaube auf immer beſſerer empiriſcher
Erkenntnis ſich aufbaue, immer mehr geſicherte Wiſſenſchaft in ſich ſchließe, niemals mit
ihr in Widerſpruch trete, daß er nicht beeinflußt ſei von Partei- und Klaſſenintereſſen,
von Vorurteilen und Leidenſchaften. Davon ſich frei zu machen, muß jeder Forſcher
ſtreben. Er wird dieſes Ziel ſchwer erreichen, wenn er ſelbſt zu aktiv an den Kämpfen
des Tages teilnimmt. Wenn man geglaubt hat, der, welcher das Wohl aller im Auge
habe, ſei als Gelehrter gefeit gegen die Täuſchungen des Klaſſenſtandpunktes, die Vor-
urteile des Tages, ſo liegt darin doch ein gewiſſer Irrtum. Jeder leidenſchaftliche Tages-
politiker glaubt heute das Wohl der Geſamtheit mit ſeinen einſeitigen Anſchauungen
und Vorſchlägen zu vertreten. Nicht die Formel des allgemeinen Wohles, ſondern die
univerſale Bildung, der geläuterte Charakter, die geiſtige Freiheit von allen Tages-
ſtrömungen führt zu jener Höhe, welche neben der geſicherten Einzelerkenntnis die ſtets
halb verſchwimmenden Linien der Geſamtentwickelung richtig zu erfaſſen geſtattet.
5. Die Ausreifung der Volkswirtſchaftslehre zur Wiſſenſchaft im 19. Jahr-
hundert.
- Über die ſtatiſtiſche Methode: Knies, Die Statiſtik als ſelbſtändige Wiſſenſchaft. 1850. —
- Guſtav Rümelin, Zur Theorie der Statiſtik. Z. f. St.W. 1863; dann in: R. A. 1, 1875,
mit einem Zuſatz. — - Adolf Wagner, Die Geſetzmäßigkeit in den ſcheinbar willkürlichen Hand-
lungen. 1864; — Derſ., Statiſtik in Bluntſchli, St.W. 1867. — - Drobiſch, Die moraliſche
Statiſtik und die Willensfreiheit. 1867. — - Knapp, Quetelet als Theoretiker. J. f. N. 1. F. 18,
1872. — - Jahn, Geſchichte der Statiſtik. 1, 1884. —
- Meitzen, Geſchichte, Theorie und Technik der
Statiſtik. 1886. — - Mayo-Smith, Statistics and economics. Publ. of the Americ. Econ.
Assoc. vol. III, no. 4 u. 5. 1888.
Über die geſchichtliche Methode: Joh. Guſtav Droyſen, Grundriß der Hiſtorik. 1868.
3. Aufl. 1882. — - v. Sybel, Geſetze des hiſtoriſchen Wiſſens. 1864 (jetzt in Vorträge und
Aufſätze. 1874). — - Guſtav Rümelin, Über Geſetze der Geſchichte. 1878. R. A. 2. —
- Lord
Acton, German schools of history. English hist. review. 1, 1856. — - Ottokar Lorenz, Die
Geſchichtswiſſenſchaft in Hauptrichtungen und Aufgaben. 1886. — - Bernheim, Lehrbuch der
hiſtoriſchen Methode. 1889. — - Gothein, Die Aufgaben der Kulturgeſchichte. 1889. —
- Schäfer,
Geſchichte und Kulturgeſchichte. 1891.
Roſcher, Grundriß zu Vorleſungen über die Staatswirtſchaft nach geſchichtlicher Methode.
1843; — Derſ., Der gegenwärtige Zuſtand der wiſſenſchaftlichen Nationalökonomie und die notwendige
[112]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Reform desſelben. Deutſche Vierteljahrsſchr. 1849, 1. Heft. — - Bruno Hildebrand, Die National-
ökonomie der Gegenwart und der Zukunft. 1848. — - Knies, Die politiſche Ökonomie vom Stand-
punkt der geſchichtl. Methode. 1853, 2. Aufl. 1883. — - Bruno Hildebrand, Die gegenwärtige
Aufgabe der Wiſſenſchaft der Nationalökonomie. J. f. N. 1. F. 1, 1862. — - W. J. Aſhley,
On the study of economic history. Harvard quarterly Journ. of Econ. vol. VII, 1893. — - Simmel, Die Probleme der Geſchichtsphiloſophie, J. f. G.V. 1892.
Cohn, Die heutige Nationalökonomie in England und Frankreich. J. f. G.V. 1889. — - Charles Gide, The economic schools and the teaching of political economy in France. Pol.
Sc. Quart. V, 4. 1890. — - Derſ., Quatre écoles d’économie sociale. 1890. —
- Derſ., Die
neuere volkswirtſchaftliche Litteratur Frankreichs. J. f. G.V. 1895. — - St. Marc, Étude sur
l’enseignement de l’économie politique dans les universités d’Allemagne et d’Autriche. 1892.
47. Die älteren Anfänge einer empiriſchen Wiſſenſchaft und die
Reaktion gegen die Naturlehre der Volkswirtſchaft. Wir haben im
letzten Abſchnitte erörtert, welche Forderungen die Methode ſtrenger Wiſſenſchaft heute
an die Volkswirtſchaftslehre ſtellt; wir haben nun noch kurz zu erzählen, inwieweit die
Litteratur dem genügte, wie aus der Kritik der älteren Syſteme heraus und mit der
fortſchreitenden Einzelerkenntnis immer mehr eine eigentliche Wiſſenſchaft der National-
ökonomie entſtand. Wir werden dabei nicht das aufgeblähte Selbſtlob eines Engländers
wiederholen, unſere Wiſſenſchaft ſei eine der jüngſten und doch eine der vollendetſten
unter ihren Schweſtern. Wir werden zugeben, daß wir auch heute noch recht vieles nicht
wiſſen, und daß jedes abgeſchloſſene Syſtem mit Wahrſcheinlichkeiten und Hypotheſen
operiert. Aber andererſeits ſind wir allerdings in die Epoche methodiſch gelehrter
Forſchung eingetreten, und das hat ſeine Früchte getragen. Wir glauben nicht mehr,
daß jeder Dilettant und jeder Journaliſt ebenſo gut volkswirtſchaftliche Abhandlungen
ſchreiben könne, wie der Sachkenner und der geſchulte Gelehrte. Wir haben uns ſeit
einigen Menſchenaltern dem großen Ziele, einen ſteigenden Beſtand von Wahrheiten zu
beſitzen, die alle anerkennen müſſen, erheblich genähert.
Allerdings in erſter Linie in den Gebieten unſeres Wiſſens, wobei es ſich um
Beobachtung, Beſchreibung, Feſtſtellung einfacherer Zuſammenhänge handelt. Und die
Anfänge hiefür liegen weit zurück. Schon die Merkantiliſten und Kameraliſten haben
eine emſige Thätigkeit in der Sammlung der Thatſachen entwickelt. Gute Schilderungen,
wie die Sir William Temples von Holland, Pettys von Irland, Bechers von Deutſch-
land entſtanden ſchon im 17. Jahrhundert. In großen Sammelwerken faßte man dann
im 18. Jahrhundert die Kenntniſſe zuſammen; es ſei nur an De la Marres Traité
de la police (4 Fol.-Bde., 1729), an Savarys Dictionnaire universel de commerce (5 Fol.-
Bde., 1759, 2. Aufl.), an die franzöſiſchen Encyklopädiſten oder an J. G. Krünitz,
Ökonomiſche Encyklopädie, erinnert, welche es von 1773—1828 auf 149 Bände kamera-
liſtiſcher Vielwiſſerei brachte. Den beſchreibenden Sammlungen von Staatsmerkwürdig-
keiten gab Achenwall (1719—72) den Namen Statiſtik. In periodiſch erſcheinenden
Sammelwerken faßten Büſching, Schlözer, Arthur Young derartiges Material zuſammen.
Letzterer ließ ausgezeichnete wirtſchaftliche Reiſebriefe über England, Frankreich, Spanien
und Italien (1768—95) erſcheinen. Ein wahrer Heißhunger nach Thatſachen und
Zahlen herrſchte damals; freilich war man noch nicht kritiſch genug, und von der um-
fangreichen damaligen Verwaltungsſtatiſtik drang wenig in die Öffentlichkeit. Höchſt
bedeutungsvoll aber war es, daß man mit den Reſultaten der kirchlichen Buchung der
Geburten, Todesfälle und Ehen ſich zu beſchäftigen begann. John Graunt verwertete
ſie zuerſt in ſeinen Observations (1661), Sir William Pettys Buch über die Totenliſten
der Stadt London (1702 deutſch, und Several essays on political arithmetic) ſetzte dieſe
Unterſuchung fort, ebenſo wie dann Halley (An estimate of the degrees of mortality of
mankind, drawn from curious tables of the birthes and funerals at the city of Breslau),
Kaspar Neumann, dem Halley ſein Breslauer Material lieferte, und Leibniz, während
der von dieſen Vorgängen angeregte preußiſche Feldprediger Johann Peter Süßmilch
(Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menſchlichen Geſchlechts, 1741—42,
1761, 1775) dann das ihm erreichbare Material über die Bevölkerungserſcheinungen
überſichtlich zuſammenſtellte und in einer Form bearbeitete, welche die Reſultate der
[113]Ältere empiriſche Forſchung. Reaktion gegen das Naturrecht.
Geburts-, Sterbe- und Heiratsliſten allgemein verſtändlich machte und in ihrer allgemeinen
ſtaats- und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Bedeutung erkennen ließ. Wenn er ſich dabei
als Schwärmer für Bevölkerungszunahme und als frommer Chriſt zeigte, der in der
Regelmäßigkeit ſeiner Zahlen den Beweis der göttlichen Vorſehung ſah, ſo ſteigerte er
damit den Einfluß ſeines zeitgemäßen Buches, ohne den wiſſenſchaftlichen Reſultaten
weſentlich Eintrag zu thun. Er bleibt einer der Hauptbegründer empiriſcher Forſchung
auf dem Gebiete der Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaften. Die ſpätere Ausbildung
der eigentlichen Statiſtik knüpft an ihn und ſeine Vorgänger an. —
Unter den Schriftſtellern des 18. Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrſchenden
Schulen gehörten, die, mehr dem praktiſchen Leben zugewandt, über einzelne Fragen mit
vollendeter Sachkenntnis ſchrieben und von den Doktrinären häufig als Eklektiker bezeichnet
wurden, können mehrere an Geiſt und Urteil den großen Syſtematikern ebenbürtig zur
Seite geſtellt werden und müſſen vom heutigen methodologiſchen Standpunkte als ihnen
überlegen, als vorſichtige und zuverläſſige Forſcher bezeichnet werden. So z. B. Galiani
mit ſeiner Schrift über den Getreidehandel (1769) und Necker mit ſeinen Arbeiten
(Oeuvres, 1820), in Deutſchland J. G. Büſch mit ſeinen Unterſuchungen über Handel
und Geldumlauf (Schriften über Staatswirtſchaft und Handlung, 3 Bde., 1780 und 1800;
Theoretiſch-praktiſche Darſtellung der Handlung, 2 Bde., 1792, Zuſätze dazu, 3 Bde., 1797;
Sämtliche Schriften über Banken und Münzweſen, 1801, ꝛc.) und Struenſee mit ſeinen
Abhandlungen (Über wichtige Gegenſtände der Staatswirtſchaft, 3 Bde., 1800). Juſtus
Möſers Proteſt gegen die flache individualiſtiſche Aufklärung, ſein hiſtoriſcher Sinn, ſein
Verſtändnis des Volkstümlichen und Praktiſchen, ſowie der älteren wirtſchaftlich-ſtändiſchen
Einrichtungen giebt ſeinen Schriften (hauptſächlich 1767—70, Geſ. Werke 1842) die Be-
deutung eines ſtarken Gegenſtoßes gegen die damals herrſchenden Schulmeinungen. Und
die Göttinger kulturhiſtoriſche Schule (1770—1840) von Spittler, Beckmann, Meiners,
Heeren, Hüllmann, Hegewiſch, Anton, Sartorius hat, obwohl ihre Vertreter teilweiſe
echte Smithianer waren, doch inſofern eine ähnliche Bedeutung, als ſie eine Reihe wirt-
ſchaftsgeſchichtlicher Monographien und Bauſteine für eine ſpätere hiſtoriſche Volks-
wirtſchaftslehre lieferten; an ſie knüpfte Roſcher direkt an.
Ebenſo wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich-
individualiſtiſchen Theorien und den naiven Optimismus der Liberalen zu einer hiſtoriſchen
Staats- und Geſellſchaftsauffaſſung führte, welche auch auf alle volkswirtſchaftlichen Er-
ſcheinungen ein anderes Licht warf, andere Punkte und Zuſammenhänge in den Vorder-
grund rückte. Burkes realiſtiſcher Sinn und ſeine Verurteilung der franzöſiſchen Revolution
machte in England ebenſo Eindruck, wie in Frankreich die romantiſch-katholiſierenden
Schriften J. de Maiſtres und L. G. de Bonalds; ſie hatten auf den franzöſiſchen
Socialismus und A. Comte, ſeine poſitiviſtiſche Sociologie, ſeine Angriffe auf die ſtehen
gebliebene abſtrakte Nationalökonomie erheblichen Einfluß; eine Art Nationalökonomie
auf chriſtlicher Grundlage entſtand in Frankreich, und ſie fand in den Halbſocialiſten,
wie Sismondi, und in den Schutzzöllnern, wie Ganilh, Louis Say, St. Chamans
Geſinnungsgenoſſen. In Deutſchland verherrlichte K. L. von Haller (Reſtauration der
Staatswiſſenſchaften, 6 Bde., 1816—1834) in ſeiner realiſtiſchen Gewalttheorie mittel-
alterliche Zuſtände, griff A. Müller (Elemente der Staatskunſt, 3 Bde., 1809; Theol.
Grundlage d. geſ. Staatsw., 1819) die international-kosmopolitiſchen Theorien Smiths
vom Standpunkt der Nationalität, der ſittlich-geiſtigen Zuſammenhänge an; die Volks-
wirtſchaft iſt ihm ein organiſches, durch Arbeitsteilung getrenntes, durch ſittliche Wechſel-
wirkung wieder zu verknüpfendes Ganzes. G. W. F. Hegel, der im Staate die Wirklichkeit
der ſittlichen Idee ſah, die bürgerliche Geſellſchaft dem Staate als das Unvollkommenere
gegenüberſetzte, mußte die Extreme der Handels- und Gewerbefreiheit bekämpfen. Seine
und Schellings Staats- und Geſchichtauffaſſung haben einen Teil der deutſchen Socialiſten
beherrſcht, wie die ganze deutſche Geſchichtſchreibung und Staatswiſſenſchaft beeinflußt.
Am direkteſten hängt L. v. Stein mit ihm zuſammen. Dieſer geht in allen ſeinen
Werken (Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs, 1842; Syſtem der
Staatswiſſenſchaft, 1852—54; Verwaltungslehre, 1868 ff.; Lehrbuch der Finanzwiſſen-
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 8
[114]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſchaft, 1860 ff.) von dem Verhältnis der Geſellſchaft zum Staate, von der Verſchiedenheit
dieſes Verhältniſſes zur Zeit des Geſchlechterſtaates, des Ständeſtaates und des modernen
ſtaatsbürgerlichen Staates aus; er ſieht ſein Ideal in einem ſocialen Königtum, das
ſeine Macht für Hebung der unteren Klaſſen einſetzt. Er begreift früher und viel richtiger
als die ſocialiſtiſchen Materialiſten den Zuſammenhang von Recht, Verfaſſung und Ver-
waltung mit den geſellſchaftlichen und wirtſchaftlichen Zuſtänden. Er iſt mehr Staats-
gelehrter als Nationalökonom, hat auch auf Laſſalle, Gneiſt, Treitſchke mehr Einfluß
geübt als auf die ſpäteren deutſchen Nationalökonomen. Sein encyklopädiſches Wiſſen
reicht oft nicht aus für die Größe ſeiner Aufgaben, ſeine Syſtematik und Geſchichts-
konſtruktion ſchwebt vielfach mit geiſtreichen und halbwahren Konſtruktionen in der
Luft, aber ſein großartiger, hiſtoriſcher Blick ſieht meiſt in die Tiefe der Dinge.
Waren ſo in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts mancherlei theoretiſch-ſtaats-
wiſſenſchaftliche und allgemeine Strömungen — neben dem Socialismus — vorhanden,
welche die Smithſche Nationalökonomie zumal in Deutſchland nach und nach überwanden,
ſo war doch das Wichtigſte, um ihre epigonenhafte Ausſpinnung zu immer inhalts-
loſeren, abſtrakteren Betrachtungen zu bekämpfen, eine energiſche Erfaſſung der empiriſchen
Wirklichkeit. Es mußte eine vollkommenere Analyſe der volkswirtſchaftlichen Verhältniſſe
in quantitativer und qualitativer Richtung eintreten. Das erſtere geſchah durch die
Statiſtik, das letztere durch die rechts- und wirtſchaftshiſtoriſche und ſonſtige realiſtiſche
volkswirtſchaftliche Forſchung.
48. Die Statiſtik iſt durch die Gründung der ſtaatlichen ſtatiſtiſchen
Ämter 1806—1875 ſowie der ſtädtiſchen von 1860 an, durch die regelmäßige Publi-
kation ihrer Ergebniſſe, durch die Ausbildung einer beſonderen Zählungs-, Erhebungs-
und Bearbeitungstechnik etwas ganz anderes als im vorigen Jahrhundert geworden.
Aus einer beſchreibenden Staatenkunde, die einige notdürftige Notizen der heimlichen,
bureaukratiſchen Erhebungen der Verwaltungs- und Finanzbehörden mit Ergebniſſen
der Kirchenbücher und privaten Schätzungen verband, iſt ein großartiger, in der Haupt-
ſache ſtaatlich geordneter Apparat der Maſſenbeobachtung entſtanden, der mit immer
größerer Anforderung an die Sicherheit der Erhebungen über große Gruppen von In-
dividuen ein Netz von Obſervatorien ausbreitet, um methodiſch nicht bloß die für die
Verwaltung, ſondern mehr und mehr auch die für die wiſſenſchaftliche Erfaſſung des
geſellſchaftlichen Lebens wichtigeren gleichartigen Erſcheinungen zu beobachten und zu
regiſtrieren. Es werden dabei gewiſſe Gruppen von Menſchen, von Handlungen, von
wirtſchaftlichen Gütern, Kapitalien, Grundſtücken ins Auge gefaßt, und die in der Gruppe
enthaltenen Einzelfälle nach beſtimmten natürlichen und rechtlichen Eigenſchaften gezählt.
Es handelt ſich um die Einführung der Meßkunſt in das Gebiet der Staats- und Social-
wiſſenſchaft. Auf Grund genereller, begrifflicher Klaſſifikationen wird innerhalb der Klaſſe
nach gewiſſen Merkmalen das Gleichartige oder Ungleichartige größenmäßig feſtgeſtellt.
Es werden dieſe Größenfeſtſtellungen periodiſch wiederholt. Aus der Vergleichung der
Zählungen, welche zu verſchiedener Zeit auf denſelben Gegenſtand gerichtet ſind oder mit
derſelben Frageſtellung in verſchiedenen Ländern die analogen Gruppen faſſen, ergeben ſich
Regelmäßigkeiten, Abweichungen und Veränderungen, die zunächſt an ſich ein Intereſſe
haben, Fortſchritt oder Rückſchritt andeuten, dann auf gewiſſe, bisher unbekannte Urſachen
hinweiſen, bekannte Urſachen in ihrer Wirkungsweiſe zu kontrollieren geſtatten.
So glänzend die Fortſchritte der Statiſtik, ſo groß die Anforderungen der heutigen
Statiſtik an die Thätigkeit der Behörden ſind, ſo verfeinert und kompliziert die Methoden
der Frageſtellung und Sammlung der Antworten z. B. in Bezug auf Sterblichkeits-,
Krankheits-, Handelsſtatiſtik ꝛc. iſt, ſo iſt doch klar, daß es ſich bei aller Statiſtik um
die Meſſung von Größenverhältniſſen der Bevölkerung, der Produktion, des Verkehrs
handelt, die über die Natur dieſer Dinge ſonſt nichts ausſagt; dieſe Natur muß möglichſt
vorher bei der Frageſtellung bekannt, muß durch anderweite Mittel wiſſenſchaftlicher
Unterſuchung feſtgeſtellt ſein oder werden. Vor allem auch die geſamten Urſachen werden
nicht durch die Statiſtik aufgedeckt, ſondern nur in ihrer Wirkung gemeſſen und
kontrolliert; die Statiſtik weiſt an beſtimmter Stelle auf mögliche Urſachen hin, ſie
[115]Die Bedeutung der Statiſtik.
erlaubt Hypotheſen, beſtätigt oder beſeitigt ſie. Aber nicht mehr. Und dann: es ſind
immer nur wenige äußerliche Fragen, die geſtellt und präcis beantwortet werden können.
Man kann das Vieh zählen, aber kaum das Gewicht jedes Ochſen feſtſtellen; man kann
die vor Gericht oder Polizei kommenden Verbrechen zählen, aber nicht die begangenen
noch weniger ihre innerliche Qualifikation; man kann feſtſtellen, zu welchem Preiſe an
einem Tage auf einem Markte nach dem Urteil eines Sachverſtändigen gehandelt wurde,
aber nie alle wirklich verabredeten und gezahlten Preiſe und alle zu ſolchen Preiſen
geſchloſſenen Verträge feſtſtellen. Jede Zahl ohne Kenntnis ihrer Entſtehungsgeſchichte
iſt problematiſch, ſchon weil die Gruppenabgrenzung des Gezählten ſo oft zweifelhaft iſt.
Die Statiſtik iſt und bleibt ein roher Apparat, in der Hand des Dilettanten ein Mittel
des Mißbrauches und des Irrtums, nur in der Hand des Kenners und Meiſters, des
nüchternen, wahrheitſuchenden Gelehrten ein Schlüſſel zu tieferer Erkenntnis.
Und doch, was hat ſie ſchon geleiſtet! Sie hat die Bevölkerungslehre und Moral-
ſtatiſtik erſt geſchaffen; ſie hat dem ganzen deſkriptiven Teil der Staats- und Social-
wiſſenſchaften erſt Präciſion und wiſſenſchaftlichen Charakter gegeben, ſie hat die abſtrakten
Schlüſſe aus den Quantitätsverhältniſſen in der Wert- und Preislehre auf ihr rechtes
Maß zurückgeführt, zahlloſe Irrtümer in der Geld- und Kreditlehre, in der Frage der
Getreidepreiſe, der Löhne, des Konſums, der Ernteergebniſſe beſeitigt. Sie hat das
naturaliſtiſche Wirtſchaften mit Phraſen und halbwahren Hypotheſen auf dem ganzen
Wiſſensgebiet eingeſchränkt; die Frageſtellungen überall verſchärft, ein gelehrtes ſyſtema-
tiſches Verfahren an die Stelle des Raiſonnierens aus dem Handgelenk geſetzt.
Die Männer, welche ſich um ihre Ausbildung in den ſtatiſtiſchen Ämtern haupt-
ſächlich verdient gemacht haben, ſind: J. G. Hoffmann in Preußen, der auch durch ſeine
realiſtiſchen Schriften (Lehre vom Geld, 1838; Lehre von den Steuern, 1840; Befugnis
zum Gewerbebetrieb, 1841) zu den vorzüglichen Darſtellern konkreter Wirtſchaftsverhält-
niſſe gehört; der Aſtronom und Naturforſcher L. A. J. Quetelet, der die belgiſche
Statiſtik zeitweiſe zur erſten in Europa machte und durch ſein Buch (Sur l’homme,
2 Bde., 1835, deutſch 1838) mit ſeinen freilich ſchiefen, mechaniſch-naturaliſtiſchen Ten-
denzen einen Jahrzehnte dauernden fruchtbaren wiſſenſchaftlichen Streit anregte; Moreau
de Jonnès, der von 1833 an die franzöſiſche Statiſtik leitete und eine Reihe wertvoller
ſtatiſtiſch-hiſtoriſcher Werke ſchrieb; Ernſt Engel, der mit einer naturwiſſenſchaftlich-techno-
logiſchen Bildung den Spuren Quetelets folgte und die ſächſiſche und preußiſche Statiſtik
nach dem Vorbilde der belgiſchen mit ſeltener Rührigkeit und Beweglichkeit ausbildete;
Georg v. Mayr, der nach dem Vorgang Hermanns die bayriſche Statiſtik für viele Jahre
mit zur angeſehenſten in Deutſchland erhob und allgemeine Werke über Statiſtik ſchrieb
(Geſetzmäßigkeit im Geſellſchaftsleben, 1877; Statiſtik und Geſellſchaftslehre, 2 Bde.,
1894—97), neuerdings ein ſtatiſtiſches Archiv als Zeitſchrift begründete (ſeit 1890);
endlich Guſtav Rümelin, der eine Reihe muſterhafter Arbeiten über die württembergiſche
Statiſtik und über die Theorie der Statiſtik (in ſeinen Reden und Aufſätzen, 3 Bde.)
lieferte. Neuerdings hat ſich hauptſächlich die italieniſche Statiſtik unter Luigi Bodio durch
umfangreiche und tüchtige Leiſtungen ausgezeichnet. Und in Frankreich ſteht jetzt
Erneſt Levaſſeur mit ſeinem großen hiſtoriſch-ſtatiſtiſchen Werke La population française
(3 Bde., 1889 ff.) an der Spitze.
Über das Weſen der Statiſtik als Wiſſenſchaft haben außer den Genannten ſich
in bemerkenswerter Weiſe ausgeſprochen: Karl Knies (Die Statiſtik als ſelbſtändige
Wiſſenſchaft, 1850), G. F. Knapp (Die neueren Anſichten über Moralſtatiſtik, J. f. N.
1. F. 16, 1871; über Quetelet, daſelbſt 18, 1873; Theorie des Bevölkerungswechſels,
1874), W. Lexis (Theorie der Maſſenerſcheinungen in der menſchlichen Geſellſchaft, 1877),
Maurice Block (Traité théorique et pratique de la statistique, 1878, deutſch 1879
von v. Scheel), Auguſt Meitzen (Geſchichte, Theorie und Technik der Statiſtik, 1886),
W. Weſtergaard (Grundzüge der Theorie der Statiſtik, 1890). Die Bevölkerungslehre
haben 1859 Wappäus, die Moralſtatiſtik 1868 von Oettingen, die Verwaltungsſtatiſtik
E. Miſchler (1 Bd.), 1892 in ihren weſentlichen Reſultaten zuſammengefaßt.
8*
[116]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
49. Die hiſtoriſche und ſonſtige realiſtiſche Forſchung hat neben
und mit der Statiſtik unſerer Wiſſenſchaft im 19. Jahrhundert einen ganz neuen Boden
gegeben. In Deutſchland hatte die Philologie und Altertumswiſſenſchaft in F. A. Wolf,
F. G. Welcker, A. Böckh und K. O. Müller, die Geſchichte in B. G. Niebuhr und
L. Ranke, die geſchichtliche Rechtswiſſenſchaft und die Verfaſſungsgeſchichte in Eichhorn,
Savigny, Waitz, Dahlmann, Mommſen, Gneiſt ihr goldenes Zeitalter erlebt. Nicht bloß
Methode, Kritik und Quellenkunde wurden damit für alle Geiſteswiſſenſchaften andere,
ſondern auch der allgemeine Sinn für kauſale Zuſammenhänge; wer durch dieſe Schule
gegangen war, konnte mit den kahlen und dürren rationaliſtiſchen Erwägungen und Schluß-
folgerungen des alten Naturrechts nicht mehr auskommen. Und Werke wie Böckhs Staats-
haushalt der Athener (1817; 3. Aufl. ed. Fränkel, 1886) wurden zugleich Perlen der
nationalökonomiſchen Litteratur; was Niebuhr, Nitzſch und Mommſen uns über ſociale
Klaſſenkämpfe lehrten, ſtand hoch über den luftigen Kartenhäuſern der Socialiſten. Die
Erdkunde wurde durch A. v. Humboldt und K. Ritter erſt eine Wiſſenſchaft, die Reiſe-
litteratur und Kenntnis der Naturvölker nahm raſch zu und lieferte auch volkswirtſchaftlichen
Stoff aller Art. Die anthropologiſche und urgeſchichtliche Forſchung erweiterte unſeren
ganzen Horizont unermeßlich. Tylor, Lubbock, H. Spencer, Baſtian, Th. Waitz (An-
thropologie der Naturvölker, 1859—72), Lewis H. Morgan (Ancient society, 1875,
deutſch Die Urgeſellſchaft, 1891), Pictet (Les origines indoeuropéennes, 1877, 2. Ausg.),
O. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeſchichte, 1883; Zur Handelsgeſchichte und
Warenkunde, 1886), Sumner H. Maine (Ancient law, 1861; Early history of institutions,
1875), F. Ratzel (Völkerkunde, 3 Bde., 1885; Anthropogeographie, 2 Bde., 1882 u. 91)
ſind heute neben zahlreichen ſpeciellen Reiſewerken und ethnographiſchen Monographien
unentbehrliche Hülfsmittel der volkswirtſchaftlichen Forſchung. Daneben konnte die
eigentlich nationalökonomiſche Beobachtung nicht zurückbleiben; man drang ganz anders
als früher in die Hütte des Arbeiters wie in die Werkſtatt und Fabrik, man ſchilderte
den Familienhaushalt und den Bauernhof. Die Vereinigung zahlreicher disciplinierter
Einzelkräfte zu wiſſenſchaftlicher Geſamtarbeit auf Kongreſſen, bei Enqueten, in Sammel-
werken und Zeitſchriften erlaubte Leiſtungen, wie ſie im Bereiche der Geſchichte früher
nur etwa aus den Benediktinerabteien hervorgegangen waren. Die Einſicht, daß
A. Smith, Ricardo und Marx doch alle von einem zu kleinen, begrenzten Erfahrungs-
feld ausgegangen waren, ſiegte definitiv. Es entſtand eine Richtung der wiſſenſchaftlichen
Arbeit, die vielleicht in mancher ihrer Hülfskräfte das Materialſammeln zu hoch, deſſen
rationale Bemeiſterung zu niedrig ſchätzte; aber ſie war nötig in einem Zeitalter, in
dem ſelbſt die Philoſophie zum Experiment griff, in dem jede Wiſſenſchaft komplizierter
Lebensvorgänge einen vollendeten deſkriptiven Teil als Vorarbeit forderte. Und auch
die einſeitigen Anhänger der alten Schulen bekundeten die Berechtigung des Umſchwungs,
indem ſie ihrerſeits an der realiſtiſchen Arbeit teilnahmen.
Das Ergebnis dieſer neuen Richtung der Studien war natürlich je nach Perſonen,
Ländern, Vorbildung und Zwecken ein ſehr verſchiedenes. Hier ſammelte man Material,
um die Sätze der alten Schuldogmatik oder die neuen ſocialiſtiſchen Ideale zu beweiſen,
dort ſchilderte man objektiv und unparteiiſch; die einen bauten aus einem Überſichts-
material raſch große hypothetiſche Gebäude, die anderen blieben bei einer minutiöſen
Detailſchilderung und ganz feſt begrenzten Schlüſſen. Der engſte Specialiſt und der
univerſalſte Geiſt konnte gleichmäßig in den Dienſt des Realismus treten. Aber die
raſch fertigen dogmatiſchen Lehrbücher, die in Rezeptform unterrichteten und raſche prak-
tiſche Anweiſung gaben, mußten in Mißkredit kommen. Die Monographie trat mehr
und mehr in den Vordergrund des wiſſenſchaftlichen Betriebes.
Der erſte Nationalökonom, der europäiſche mit amerikaniſchen Wirtſchaftserfahrungen,
hiſtoriſche Kenntniſſe mit praktiſcher Beobachtung des Lebens in großem Stile verband
und daraus eine bedeutſame Theorie der volkswirtſchaftlichen Entwickelung ableitete, war
der deutſche Profeſſor Friedrich Liſt (Das nationale Syſtem der politiſchen Ökonomie, 1841;
7. Aufl. ed. Eheberg, 1883; geſ. Werke ed. Häuſſer, 3 Bde., 1850). Hätte er mit ſeiner
genialen Begabung die nötige Nüchternheit und die Ruhe eines Gelehrtenlebens verbunden,
[117]Die neuere deutſche realiſtiſche Forſchung.
ſo wäre er der Überwinder der Smithſchen Schule geworden. Aber obwohl er mehr ein großer
geiſtvoller Agitator blieb, bildet ſein Auftreten doch einen Wendepunkt für unſere Wiſſen-
ſchaft. Indem er an die Stelle der Wert- und Quantitätstheorien A. Smiths eine Theorie
der produktiven Kräfte, d. h. der individuellen und geſellſchaftlichen Perſönlichkeiten ſetzte,
beſeitigte er die materialiſtiſche Vorſtellung eines mechaniſchen Naturverlaufes der Wirt-
ſchaftsprozeſſe; indem er für Schutzzölle wie für ein nationales Eiſenbahn- und Kanalſyſtem
kämpfte, führte er überhaupt zum richtigen Verſtändnis der ſocialen und politiſchen Organi-
ſationen zurück, auf denen das wirtſchaftliche Leben ruht; indem er den hiſtoriſchen Ent-
wickelungsgang der Volkswirtſchaft der Kulturvölker wohl einſeitig und umrißartig, aber
doch im ganzen richtig zeichnete, begrub er die ſchiefen Vorſtellungen von natürlichen,
überall durchzuführenden Wirtſchaftseinrichtungen und Idealen. Zu gleicher Zeit ſchuf
A. v. Thünen das Vorbild für ſtreng wiſſenſchaftliche Specialunterſuchungen aus der Gegen-
wart. Er verſtand es (Der iſolierte Staat in Beziehung auf Landwirtſchaft und National-
ökonomie, 1826—63), die Frage der Abhängigkeit des landwirtſchaftlichen Betriebes vom
Markt und den Transportkoſten erſchöpfend in der Wirklichkeit zu beobachten und zu
beſchreiben, das Weſentliche dieſes Verhältniſſes glücklich herauszugreifen, von Neben-
umſtänden zu ſondern und unter dem gedachten Bild eines einheitlichen, iſolierten Staates
mit einem ſtädtiſchen Centralmarkt vorzuführen und zu durchdenken. Er hat ſo einen
Kauſalzuſammenhang, auf den ihn die Beobachtung führte, erſt iſoliert, für ſich unter-
ſucht und dann wieder mit den realen Zuſtänden verglichen. Die Anwendung ſolch’
ſchematiſcher, iſolierter Betrachtung iſt eines der wichtigſten Hülfsmittel wiſſenſchaftlichen
Fortſchrittes, wenn der dasſelbe anwendende Forſcher die Hauptpunkte richtig von den
Nebenpunkten zu trennen vermag.
Und während dann der ausgezeichnete Agrarpolitiker G. Hanſſen (Aufhebung der
Leibeigenſchaft in Schleswig und Holſtein, 1861; Agrarhiſtoriſche Abhandlungen, 2 Bde.,
1880 geſammelt, ſeit 1832 erſchienen) auf Grund rechts- und wirtſchaftsgeſchichtlicher, wie
modernſter Reiſeſtudien die Fragen der hiſtoriſchen Entwickelung der landwirtſchaftlichen
Betriebsſyſteme und der Agrarverfaſſung überhaupt meiſterhaft anſchaulich erörterte und
in A. Meitzen (Urkunden ſchleſiſcher Dörfer, 1863; Boden und landw. Verhältniſſe des
preußiſchen Staates, 4 Bde., 1868; Siedelung und Agrarweſen der Deutſchen, Skandinavier,
Kelten ꝛc., 4 Bde., 1895) wie in A. v. Miaskowski (Verfaſſung der Land-, Alpen- und
Forſtwirtſchaft der deutſchen Schweiz, 1878; Erbrecht und Grundeigentumsverteilung im
Deutſchen Reiche, 2 Bde., 1884), in Conrad, Knapp und anderen würdige Nachfolger der
wiſſenſchaftlichen Agrarforſchung erhielt, hatten unterdeſſen Roſcher, Hildebrand und
Knies verſucht, ganz principiell der deutſchen Nationalökonomie den Stempel der hiſto-
riſchen Methode aufzudrücken.
Geiſtreich und viel beweglich hat Bruno Hildebrand (Die Nationalökonomie der
Gegenwart und der Zukunft, 1848; Jahrbücher für Nationalökonomie und Statiſtik, ſeit
1863 ff.) die hiſtoriſche Entwickelung der Volkswirtſchaft unter die Kategorien der Natural-,
Geld- und Kreditwirtſchaft geſtellt und durch ſeine litterargeſchichtlichen und hiſtoriſchen
Specialarbeiten außerordentlich anregend gewirkt. Karl Knies (Die politiſche Ökonomie
vom Standpunkte der geſchichtlichen Methode, 1853 u. 83) hat in ausgezeichneter Weiſe
die propädeutiſchen Fragen der geſchichtlichen Methode behandelt, iſt dann aber ſelbſt mehr
zu dogmatiſchen und theoretiſchen Arbeiten übergegangen (Geld und Kredit, 2 Bde.,
1873—79), welche ſcharfſinnig und faſt juriſtiſch gehalten die betreffenden Fragen durch
begriffliche Unterſuchung wie durch breite Sachkenntnis gefördert haben. Wilhelm
Roſcher aber überragt beide an Einfluß, an litterariſcher und akademiſcher Wirkſamkeit,
wie er ja auch durch ſeinen Grundriß zu Vorleſungen über die Staatswirtſchaft nach
geſchichtlicher Methode (1842) das erſte eigentliche Programm der hiſtoriſchen Schule
aufſtellte. Er hat dann in einem langen, ſegensreichen Gelehrtenleben die national-
ökonomiſche Litteraturgeſchichte (Zur Geſchichte der engliſchen Volkswirtſchaftslehre im
16. und 17. Jahrhundert, 1854; Geſchichte der Nationalökonomie in Deutſchland, 1874)
angebaut, eine Reihe der wichtigſten Specialfragen wirtſchaftsgeſchichtlich unterſucht
(Ideen zur Geſchichte und Statiſtik der Feldſyſteme im Archiv von Rau-Hanſſen, 7 u. 8;
[118]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Kolonien, 1856; Anſichten der Volkswirtſchaft, 1861 u. 78), endlich ſeine geſamten An-
ſchauungen in dem ſchon erwähnten Syſtem der Volkswirtſchaft (5 Bde., 1854—94)
zuſammengefaßt, das heute mit ſeinen zahlreichen Auflagen das weitaus verbreitetſte Lehr-
buch in Deutſchland iſt. Er hat außerdem in ſeiner geſchichtlichen Naturlehre der Monarchie,
Ariſtokratie und Demokratie (1892) ſeinen wirtſchaftsgeſchichtlichen Ideen den allgemeinen
politiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen Hintergrund gegeben.
Man mag Roſcher vorwerfen, daß er mehr polyhiſtoriſch geſammelt, als das ein-
zelne nach ſtrenger hiſtoriſcher Methode unterſucht habe, daß ſein Lehrbuch teilweiſe nur
die Gedanken der alten Schule mit hiſtoriſchen Anmerkungen verziere, daß die von ihm
beabſichtigte Vergleichung aller Zeiten und Völker heute noch kaum möglich ſei, daß
ſeine Paralleliſierung der Lebensſtufen des Individuums mit denen der Völker oft hinke,
ſeine Verdienſte bleiben immer groß und epochemachend, er ſchließt ſich würdig an die
großen ſonſtigen Hiſtoriker des 19. Jahrhunderts an. Er vor allem hat den Weg
gebahnt, auf dem die ganze jüngere deutſche Generation von Gelehrten überwiegend
wandelt und methodiſch forſcht. Sein wiſſenſchaftlicher Lebenszweck war, eine Vermittelung
zwiſchen der Smithſchen Theorie und den Ergebniſſen hiſtoriſcher Forſchung zu gewinnen,
Naturgeſetze des Wirtſchaftslebens zu finden, d. h. Regelmäßigkeiten, die von menſchlicher
Abſicht unabhängig ſeien; er geht vergleichend, oft mehr geſchichtsphiloſophiſch ſpekulie-
rend, als ſtreng forſchend den Entwickelungsphaſen der Volkswirtſchaft nach; die ältere
Methode verwirft er als idealiſtiſch (er hätte beſſer geſagt: rationaliſtiſch), er will eine
hiſtoriſch-phyſiologiſche an die Stelle ſetzen. Seine größte Leiſtung liegt in der gene-
tiſchen Erklärung der agrariſchen und gewerblichen Inſtitutionen, der Handels- und
Verkehrseinrichtungen.
Der Unterſchied der jüngeren hiſtoriſchen Schule von ihm iſt der, daß ſie weniger
raſch generaliſieren will, daß ſie ein viel ſtärkeres Bedürfnis empfindet, von der poly-
hiſtoriſchen Datenſammlung zur Specialunterſuchung der einzelnen Epochen, Völker und
Wirtſchaftszuſtände überzugehen. Sie verlangt zunächſt wirtſchaftsgeſchichtliche Mono-
graphien, Verknüpfung jeder modernen Specialunterſuchung mit ihren hiſtoriſchen
Wurzeln; ſie will lieber zunächſt den Werdegang der einzelnen Wirtſchaftsinſtitutionen,
als den der ganzen Volkswirtſchaft und der univerſellen Weltwirtſchaft erklären. Sie
knüpft an die ſtrenge Methode rechtsgeſchichtlicher Forſchung an, ſucht aber ebenſo durch
Reiſen und eigenes Befragen das Bücherwiſſen zu ergänzen, die philoſophiſche und
pſychologiſche Forſchung heranzuziehen.
Die deutſche Wirtſchaftsgeſchichte erhielt in K. W. Nitzſchs Geſchichte des deutſchen
Volkes (3 Bde., 1882), in W. Arnolds Arbeiten (Verfaſſungsgeſchichte der deutſchen
Freiſtädte, 1854; Anſiedlungen und Wanderungen der deutſchen Stämme, 1875),
in K. Th. v. Inama-Sterneggs deutſcher Wirtſchaftsgeſchichte (3 Bde., 1879—91), in
Lamprechts deutſchem Wirtſchaftsleben im Mittelalter (4 Bde., 1886) eine Fundamen-
tierung, wie ſie kaum ein anderes Volk beſitzt. Als die Hauptvertreter der mono-
graphiſchen deutſchen Wirtſchaftsgeſchichte in Bezug auf Gewerbe und Handel ſind zu
nennen: G. Schmoller (Geſchichte der deutſchen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert, 1870;
Straßburger Tucher- und Weberzunft, 1879; Wirtſchaftliche Politik Preußens im
18. Jahrhundert, J. f. G.V. 1884—87; Die Thatſachen der Arbeitsteilung, daſ. 1889;
Das Weſen der Arbeitsteilung und der ſocialen Klaſſenbildung, daſ. 1889; Die geſchichtliche
Entwickelung der Unternehmung, daſ. 1890—93; Zur Social- und Gewerbepolitik der
Gegenwart, 1890; Einige Grundfragen der Socialpolitik und Volkswirtſchaftslehre, 1898;
Umriſſe und Unterſuchungen zur Verfaſſungs-, Verwaltungs- und Wirtſchaftsgeſchichte,
1898; Acta Borussica, von 1892 an bis jetzt 6 Bde.; Staats- und ſocialwiſſenſchaftliche
Forſchungen, von 1878 an, 75 Hefte), G. v. Schönberg (Basler Finanzverhältniſſe im
14. und 15. Jahrh., 1879), K. Bücher (Aufſtände der unfreien Arbeiter 143—129 v. Chr.,
1874; Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im 14. und 15. Jahrh., 1886; Die Ent-
ſtehung der Volkswirtſchaft, 1893, 2. Aufl. 1898), W. Stieda (Entſtehung des deutſchen
Zunftweſens, 1874, und viele andere gewerbegeſch. Monographien), Tr. Geering (Handel
und Induſtrie der Stadt Baſel, 1886). In Bezug auf das Agrarweſen hat G. F. Knapp
[119]Die ältere und die jüngere deutſche hiſtoriſche Schule.
(Die Bauernbefreiung und der Urſprung der Landarbeiter, 2 Bde., 1887) mit ſeinen
tüchtigen Schülern Grünberg, Fuchs, Wittich eine ganz neue, zuverläſſige Erkenntnis
der deutſchen Entwickelung in den letzten Jahrhunderten geſchaffen und M. Sering (Innere
Koloniſation im öſtlichen Deutſchland, 1893), M. Weber und andere haben die ſchwebenden
Agrarfragen der Gegenwart durchforſcht und gefördert.
Nicht minder bedeutſam iſt, was deutſche Gelehrte in den letzten dreißig Jahren
über andere Länder, beſonders über England, wirtſchaftsgeſchichtlich geleiſtet haben.
Man könnte faſt ſagen, der Reichtum der engliſchen Archive, Blaubücher und Enqueten
ſei in erſter Linie durch deutſche Gelehrte aufgeſchloſſen worden, wozu freilich auch die
Socialiſten beigetragen haben. Voran ſteht — zugleich als der Führer einer ganzen
liberal-demokratiſch ſocialpolitiſchen Schule — Lujo Brentano; ſein Werk über die
Arbeitergilden der Gegenwart (2 Bde., 1871) iſt auch für die einſchlägige engliſche
Gewerkvereinslitteratur der Ausgangspunkt geworden; die Schriften über das Arbeits-
verhältnis nach dem heutigen Recht (1877), die Arbeitsverſicherung gemäß der heutigen
Wirtſchaftsordnung (1879) ſchließen ſich an ſein Hauptwerk an. Mit ſeinen geſammelten
Aufſätzen (1, 1899), und einer Agrarpolitik (1, 1897) hat er das agrariſche Gebiet betreten.
Sonſt nenne ich: G. Schanz (Die engliſche Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters,
2 Bde., 1881), A. Held (Die neuere ſociale Geſchichte Englands, 1881), G. Cohn (Über
die engliſche Eiſenbahnpolitik, 2 Bde., 1875), W. Hasbach (Über das engliſche Arbeiter-
verſicherungsweſen, 1883, und Die engliſchen Landarbeiter in den letzten 100 Jahren
und die Einhegungen, 1894). Als Kenner der franzöſiſchen Volkswirtſchaft hat ſich
Lexis bewährt (Die franzöſiſchen Ausfuhrprämien, 1870; Gewerkvereine und Unternehmer-
verbände in Frankreich, 1870), als ſolche der Vereinigten Staaten Sartorius von Walters-
hauſen, Sering, Fuchs, v. Halle, Schumacher.
Auch die längſt in England mit monographiſcher Specialunterſuchung bedachten
Gebiete der Preisgeſchichte, des Geld-, Bank- und Börſenweſens fanden in Deutſchland
ihre Specialforſcher; die Unterſuchungen J. v. Helferichs und Soetbeers, E. Naſſes und
A. Wagners, Lexis’ und Arendts, Cohns und Strucks ſtehen auf der Höhe der Wiſſen-
ſchaft und haben würdig vollendet, was einſt J. G. Büſch begonnen.
Und die ſcheinbar den meiſten deutſchen Forſchern entgegenſtehenden öſterreichiſchen
Gelehrten, unter welchen C. Menger (Grundſätze der Volkswirtſchaftslehre, 1871) und
E. v. Böhm-Bawerk (Kapital und Kapitalzins, 2 Bde., 1884—89; Theorie des wirt-
ſchaftlichen Güterwerts, J. f. N. 2. F. 13, 1886) in erſter Linie zu nennen ſind, haben
zwar zunächſt abſtrakt deduktive Erörterungen und Begriffsanalyſen im Anſchluß an die
ältere Schule geben wollen, aber zugleich haben ſie mit ihrer neuen Wertlehre, ähnlich
wie Jevons in England, gewiſſe pſychologiſche Wert- und Marktvorgänge empiriſch
ſchärfer erfaßt, das praktiſche Leben an beſtimmten Punkten richtiger analyſiert.
Das ſchon erwähnte Zuſammenwirken zahlreicher Kräfte fand ſeinen Ausdruck in
verſchiedener Form. Der Verein für Socialpolitk hat ſeit 1872 80—90 Bände Schriften
publiziert, meiſt Berichte und Gutachten verſchiedener über denſelben Gegenſtand und
darunter muſterhafte Sammlungen, wie z. B. die über das deutſche Handwerk, über das
Hauſiergewerbe, die ländlichen Arbeiter. Andere Vereine, wie der Armenpflegerkongreß,
ſind ebenſo vorgegangen. An die ſtatiſtiſchen Bureaus und an die ſtaatswiſſenſchaftlichen
Seminare der Univerſitäten haben ſich eine ganze Reihe von Serien wiſſenſchaftlicher
Publikationen angeknüpft, meiſt deſkriptiver Art; darunter vortreffliche Schriften, wie
die Induſtrie- und Arbeiterſchilderungen von Thun, Sering, Sax, Schnapper-Arndt,
Herkner, Francke. Die ſtattliche Reihe von Zeitſchriften, welche ſtaatswiſſenſchaftlichen
Zwecken dienen (Schäffle, Zeitſchrift für die geſamte Staatswiſſenſchaft, ſeit 1844;
Hildebrand-Conrad, Jahrbücher für Statiſtik und Nationalökonomie, ſeit 1863; Schmoller,
Jahrbuch für Geſetzgebung, Verwaltung und Volkswirtſchaft im Deutſchen Reich, ſeit 1881
beziehungsweiſe ſeit 1872; H. Braun, Archiv für ſociale Geſetzgebung und Statiſtik, ſeit 1888;
die öſterreichiſche Zeitſchrift für Volkswirtſchaft, Socialpolitik und Verwaltung, ſeit 1892;
Schanz, Finanzarchiv, ſeit 1884; Böhmert, Arbeiterfreund, ſeit 1859—62; Hirth, Annalen
[120]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
des norddeutſchen Bundes und des deutſchen Reiches, ſeit 1868), die verſchiedenen
ſtatiſtiſchen Zeitſchriften, die Specialorgane für auswärtigen Handel, Kolonialpolitik,
innere Koloniſation, Arbeiterverhältniſſe, Verſicherungsweſen ꝛc. zeigen den ungeheuren
Stoff, den es zu bewältigen gilt. In dem Handbuch der politiſchen Ökonomie von
Schönberg, 3, jetzt 5 Bde., 1882—95, 4. Aufl., ſowie in dem Handwörterbuch der
Staatswiſſenſchaften von Conrad, Elſter, Lexis und Loening, 5 Bde., 2 Suppl.-Bde.,
1890—97, ſowie in L. Elſters Wörterbuch der Volkswirtſchaft, 2 Bde., 1898, hat dieſes
Material eine geordnete Zuſammenfaſſung erhalten, wie ſie bisher in gleichem Maße
objektiv und vollſtändig nicht exiſtierte.
Die anderen Länder ſind dieſer Bewegung zögernd, aber doch im ganzen auch
gefolgt. In England hatten Th. Tooke mit W. Newmarch eine Geſchichte der
Preiſe (zuerſt 1838, dann fortgeſetzt bis 1856, deutſch 1858) geliefert, welche in ihren
Grundgedanken der alten Schule angehört, aber durch ihre ſorgfältige empiriſche Unter-
ſuchung der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen von 1750—1850 die alten Theorien
weſentlich berichtigte. Th. E. Rogers machte dann den Verſuch, eine engliſche Wirt-
ſchaftsgeſchichte vom Mittelalter an nur auf Grund von urkundlichen Preisnotizen zu
liefern (History of prices and agriculture, 1866, 1882, 1887, 6 Bde., zuſammengefaßt
in: Six centuries of work and wages, the history of english labour, 1884; endlich
The economic interpretation of history, 1888); aus dieſem Material konnte der man-
cheſterliche, aller rechts- und wirtſchaftsgeſchichtlichen Schulung entbehrende Gelehrte freilich
nur einzelne Erſcheinungen richtig aufhellen, vieles mußte bei ihm verzerrt und falſch
ſich darſtellen (vergl. meine Kritik J. f. G.V. 1888, 203 ff.), aber es war doch ein
großer, epochemachender Anlauf hiſtoriſcher Unterſuchung unternommen. Und wenn nun
Th. Carlyle (Socialpolitiſche Schriften, deutſch 1895) mit Keulenſchlägen von ſeinem
idealiſtiſch-religiöſen, tief innerlichen Standpunkt aus den materialiſtiſchen und individua-
liſtiſchen Mammonismus und harten Konkurrenzkampf ſeiner Zeit angriff, wenn Ruskin
ihn dabei mit ſeinem äſthetiſchen Idealismus unterſtützte, wenn die chriſtlichen Socialiſten
der vierziger Jahre mit ihrer Verherrlichung der Brüderlichkeit und des Genoſſenſchafts-
weſens folgten (Brentano, Chriſtlich-ſociale Bewegung in England, J. f. G.V. 1883),
wenn die Lehren A. Comtes eine ganze poſitiviſtiſche Schule in England erzeugten
(F. Harriſon, Beesly, H. Crompton, G. Howell, Th. Wright), welche vor allem das
Ungenügende der Ricardoſchen Theorie für die großen, immer dringlicher werdenden
ſocialen Probleme empfand, ſo waren das lauter Richtungen mit einem höheren Über-
blick und einer tieferen Erfaſſung der Probleme; und ſie leiteten alle mehr oder weniger
auf eine Rückkehr zur lebensvollen Beobachtung und Schilderung der Arbeiterverhältniſſe
hin. Thorntons Buch über die Arbeit (1868, deutſch 1870), J. M. Ludlows und
Lloyd Jones „Arbeitende Klaſſen Englands“ (1868, auch deutſch) waren die Vorläufer
einer großen derartigen ſocial-empiriſchen Litteratur, als deren Spitze man heute das
Werk von Booth über die Armen und die Arbeiter Londons (Labour and life of the
people, 1889 ff., vergl. J. f. G.V. 1897, 229) und die ſchon erwähnten Werke der
Eheleute Webb bezeichnen könnte. Daneben erörterten Th. E. Cliffe Leslie (Land
systems, 1870; Essays in moral and political philosophy, 1879 u. 88), D. Syme
(Outlines of an industrial science, 1876) und J. K. Ingram (History of political
economy, 1888, deutſch 1890) die principiellen, methodiſchen und litterargeſchichtlichen
Fragen in ähnlichem Sinne wie die deutſche hiſtoriſche Schule. Und in dem leider zu früh
verſtorbenen A. Toynbee (Lectures on the industrial revolution in England, 1884) tritt
uns ein Meiſter realiſtiſcher Analyſe und großen hiſtoriſch-philoſophiſchen Sinnes ent-
gegen; ihm ſchließen ſich in W. J. Aſhley, der direkt an die deutſche hiſtoriſche Schule
anknüpft (An introduction to economic history and theory, 2 Bde., 1888 und 1893,
auch deutſch) und W. Cunningham (The growth of english industry and commerce, 1881,
2. Aufl., 2 Bde., 1890—92) die erſten durchgebildeten Wirtſchaftshiſtoriker an, die,
auf das Ganze der volkswirtſchaftlichen und ſocialen Entwickelung gerichtet, entſchloſſen
ſind, von ihrem Standpunkt aus das brüchige alte dogmatiſche Lehrgebäude zu ſtürzen
oder umzubauen.
[121]Die neueren Fortſchritte in England und Frankreich.
In Paris und den dortigen akademiſchen Kreiſen, im Journal des Économistes
(ſeit 1842) und der Buchhandlung Guillaumin blieb die alte Sayſche Schulweisheit,
wie wir ſchon erwähnt, bis in die Gegenwart vorherrſchend. Aber neben ihr wirkten
nicht bloß Sismondi, die ſocialiſtiſchen, ſchutzzöllneriſchen und kirchlichen National-
ökonomen, ſondern ſtets auch eine Schule praktiſcher Kenner des wirklichen Lebens,
wie Léon Fauchen (Études sur l’Angleterre, 2 Bde., 1856) und Léon de la Vergne
(Économie rurale de la France depuis 1789, 1860). Die franzöſiſchen Arbeiter- und
Induſtrieverhältniſſe fanden eine Reihe von hervorragenden Bearbeitern in Gérando,
Villermée, E. Laurent, Audiganne, Reybaud, J. Barbaret. Niemand aber hat die Be-
obachtung und Beſchreibung der ſocialen Gegenwart ſo energiſch in die Hand genommen,
wie der große Ingenieur Le Play, der erſt auf Jahrzehnte langen Reiſen eine große
Zahl zutreffender Beſchreibungen der wirtſchaftlichen Lage der unteren Klaſſen ſammelte
(Les ouvriers européens, 6 Bde., 1877—79), ehe er, ähnlich wie der Belgier Ducpétiaux,
dieſes Material zu vergleichenden Haushaltungsbudgets zuſammenſtellte, damit einen
ganzen eigenen Zweig der Litteratur und Unterſuchung ſchuf; an dieſes Material lehnten
ſich auch ſeine konſervativ und chriſtlich gehaltenen Vorſchläge über Wiederherſtellung
eines patriarchaliſchen Familienverhältniſſes und patriarchaliſcher Arbeiterverhältniſſe an
(La réforme sociale en France, 1864). Er hat Schule gemacht in Frankreich; ſeine
Gedanken und Beſtrebungen werden von einer Zeitſchrift (La réforme sociale, ſeit 1881)
und einem Verein Gleichgeſinnter fortgeführt. Neuerdings hat Graf Marouſſem vor
allem derartige Beſchreibungen in ausgezeichneter Weiſe geliefert.
Die eigentliche Wirtſchaftsgeſchichte hatte in Frankreichs alten gelehrten Tra-
ditionen ebenſo einen Boden, wie ſie durch die neue Blüte hiſtoriſcher Studien unter
Guizot und Thierry angeregt wurde. Depping ſchrieb ſeine Geſchichte des Levantehandels
(1830) und gab das Livre des métiers aus dem 13. Jahrhundert heraus (1837). Guérard
veröffentlichte ſeine grundlegenden Unterſuchungen über die Wirtſchaftszuſtände unter Karl
dem Großen (Politique de l’abbé Irminon, 2 vol. 1836 u. 1844). Pierre Clément ließ
ſeinen beſchreibenden Werken über Colbert (1846, 1854) ſeine großen Archivpublikationen
über ihn folgen (1861—73), die bald weitere ähnliche Unternehmungen in Bezug auf
Mazarin, Richelieu, Ludwig XIV., ſowie in Bezug auf die Korreſpondenz der Intendanten
und Generalkontrolleure des alten Regimes nach ſich zogen. E. Levaſſeur ſchrieb ſeine
belehrende franzöſiſche Wirtſchaftsgeſchichte in vier Bänden unter dem Titel Histoire des
classes ouvrières en France (1859—67), H. Wallon ſeine Geſchichte der Sklaverei im
Altertum (3 Bde., 1847 u. 1879), H. Baudrillart ſeine Geſchichte des Luxus (4 Bde.,
1880). Und zahlreiche Monographien über die Agrar-, Handels- und Gewerbegeſchichte
einzelner Provinzen und Städte, über die Verwaltung im ganzen, den auswärtigen
Handel beſtimmter Epochen, die Geſchichte der Finanzen wie einzelner Verwaltungszweige
gehen dieſen umfaſſenderen Arbeiten parallel.
Von 1880 an erhob ſich unter den neuangeſtellten Profeſſoren der National-
ökonomie an den franzöſiſchen Rechtsfakultäten, deren Führung Cauwès in Paris und
Gide in Montpellier zufiel, ein ganz neuer Geiſt unabhängiger Forſchung, der mit dem
deutſchen nahe verwandt iſt, und der dazu führte, daß die betreffenden hauptſächlich in
Verbindung mit deutſchen Gelehrten die neue Zeitſchrift Revue d’économie politique
von 1887 an gründeten.
Es iſt hier nicht möglich, auch in Bezug auf die Vereinigten Staaten, Italien
und andere Länder den Umſchwung im wiſſenſchaftlichen Betriebe der ökonomiſchen und
ſocialen Studien zu ſchildern. Wir erwähnen nur noch, daß in Belgien Emil de Laveleye
durch eine Reihe von bemerkenswerten Werken, hauptſächlich durch ſeine Geſchichte des
älteren Gemeindeeigentums (Ureigentum, deutſch von Bücher, 1879) die Forſchung zur
Geſchichte und zur Beobachtung der Wirklichkeit zurückgelenkt hat. Im übrigen mag
die Bemerkung genügen, daß die alte abſtrakte, dogmatiſch-naturrechtliche Behandlung
überall in dem Maße noch ſtärker vorhält, wie die geiſtige und die ſociale Entwickelung
der betreffenden Länder eine langſamer voranſchreitende iſt.
[122]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
50. Das Ergebnis der neueren Forſchung, der heutige Stand-
punkt der Wiſſenſchaft. Wenn wir fragen, was mit allen dieſen großen Fort-
ſchritten der Einzelerkenntnis im Gebiete der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen erreicht
ſei, ſo können wir auf der einen Seite mit Hutten rufen, „es iſt eine Luſt zu leben“.
Unſer Wiſſen iſt außerordentlich gewachſen, in die Tiefe und in die Breite; wir haben
Methode und Sicherheit in unſere Forſchung gebracht. Wir wollen nicht mehr aus wenigen
abſtrakten Prämiſſen alle Erſcheinungen erklären und Ideale für alle Zeiten und Völker aus
ihnen ableiten. Wir ſind uns der Grenzen unſeres geſicherten Wiſſens, der Kompliziertheit
der Erſcheinungen, der Schwierigkeit der Fragen bewußt; wir ſtecken noch vielfach in
der Vorbereitung und Materialſammlung; aber trotzdem ſtehen wir mit anderer Klarheit
als vor 100 und vor 50 Jahren der Gegenwart und der Zukunft gegenüber, gerade
weil wir ſo viel Genaueres über die Vergangenheit heute wiſſen.
Freilich kommt von der anderen Seite der Einwurf: ja, ihr mögt mehr im
einzelnen wiſſen; aber es fehlt all’ dem die Einheit und die Wirkung aufs Leben.
Streiten nicht, ſagt man, die Parteien und die Klaſſen heute noch mehr auf wirtſchaft-
lichem und ſocialem Gebiete als in den Tagen A. Smiths und Raus? Erheben ſich
nicht wieder von vielen Seiten gegen die herrſchenden wiſſenſchaftlichen Autoritäten neue
Lehren und die alten Schulen in verjüngter Form: das Mancheſtertum iſt noch lange
nicht ausgeſtorben, gegen die Vertreter der ſocialen Reform erheben ſich mit Macht die
der Kapital- und Unternehmerintereſſen, wie z. B. Julius Wolf (Socialismus und
kapitaliſtiſche Geſellſchaftsordnung, 1892). Der Socialismus ſcheint vielen noch zu
wachſen. Unter den führenden Autoritäten der Wiſſenſchaft ſelbſt herrſcht über Methode
und Reſultate noch ſo viel Streit, daß es ſcheinen könnte, die Sicherheit unſeres Wiſſens
habe ſich kaum verbeſſert.
Wer aber nicht grämlich und verzagend die Dinge betrachtet, der wird hierauf
antworten, daß über die praktiſche Politik der Streit immer vorhanden war und nicht
aufhören kann, daß aber über eine ſteigende Zahl der wichtigſten Fragen doch zwiſchen
den verſchiedenſten Richtungen eine erfreuliche Einigkeit ſich bildet. Man wird daneben
zugeben, daß zahlreiche neue Elemente und Teile unſeres Wiſſens noch in Gärung ſich
befinden, daß es ſich noch darum handelt, aus der Summe neuer Einzelerkenntniſſe die
allgemeinen Reſultate zu ziehen, eine neue, einheitliche Wiſſenſchaft herzuſtellen. Aber
wir können behaupten, daß wir doch im ganzen dieſem wiſſenſchaftlichen Ziele uns
nähern; wir können hoffen, daß die mächtig fortſchreitende, geſicherte empiriſche Einzel-
erkenntnis mehr und mehr von Männern zu einem Ganzen verbunden werde, welche
zugleich durch univerſale Bildung, durch Charakter und ſittlichen Adel ſich auszeichnen;
geſchieht das, ſo werden auch die heutigen großen Fortſchritte der Volkswirtſchaftslehre
gute praktiſch-politiſche Früchte tragen.
Die allgemeinen Gedanken und Ziele aber, welche den beſten neueren volkswirt-
ſchaftlichen Werken in ihrer großen Mehrheit an die Stirne geſchrieben ſind, dürften
folgende ſein: 1. die Anerkennung des Entwickelungsgedankens, als der beherrſchenden
wiſſenſchaftlichen Idee unſeres Zeitalters; 2. eine pſychologiſch-ſittliche Betrachtung,
welche realiſtiſch von den Trieben und Gefühlen ausgeht, die ſittlichen Kräfte anerkennt,
alle Volkswirtſchaft als geſellſchaftliche Erſcheinung auf Grund von Sitte und Recht,
von Inſtitutionen und Organiſationen betrachtet; das wirtſchaftliche Leben wird ſo
wieder in Zuſammenhang mit Staat, Religion und Moral unterſucht; aus der Geſchäfts-
nationalökonomie iſt wieder eine moral-politiſche Wiſſenſchaft geworden; 3. ein kritiſches
Verhalten gegenüber der individualiſtiſchen Naturlehre, wie gegenüber dem Socialismus,
aus welchen beiden Schulen das Berechtigte ausgeſondert und anerkannt, das Verfehlte
ausgeſchieden wird; ebenſo die Zurückweiſung jedes Klaſſenſtandpunktes; ſtatt deſſen das
klare Streben, ſich ſtets auf den Standpunkt des Geſamtwohles und der geſunden Ent-
wickelung der Nation und der Menſchheit zu ſtellen; von hier aus Anerkennung a) daß
die moderne Freiheit des Individuums und des Eigentums nicht wieder verſchwinden
könne, aber doch zugleich eine ſteigende wirtſchaftliche Vergeſellſchaftung und Verknüpfung
ſtattfinde, die zu neuen Inſtitutionen und Formen der Einkommensverteilung führen
[123]Der heutige wiſſenſchaftliche Standpunkt der Volkswirtſchaftslehre.
müſſe, um die gerechten Anſprüche aller Teilnehmenden zu befriedigen; b) daß die zu
große Differenzierung der ſocialen Klaſſen mit ihren ſocialen Kämpfen unſere Gegenwart
bedrohe, daß nur große ſociale Reformen uns helfen können; c) daß in dem Verhältnis
der Staaten untereinander, ſo ſehr jeder für ſich ſein wirtſchaftliches Leben ausbilden,
unter Umſtänden ſeine Sonderintereſſen mit Energie verteidigen müſſe, doch eine ſteigende
Annäherung im Sinne der Weltwirtſchaft ſtattzufinden habe.
Bewegen ſich in dieſer Richtung die von uns ſchon charakteriſierten deutſchen Werke
von L. v. Stein und von Roſcher, ſo werden wir ſagen können, daß die erſten heutigen
franzöſiſchen Autoritäten, Paul Cauwès (Principes d’économie politique, 1884, ſeither
viele Auflagen) und Charles Gide (Précis du cours d’économie politique, 1878 und
ſeither öfter) ihr ebenfalls nahe ſtehen, und daß auch Marſhall (Principles of economics,
1890, ſeither öfter, auch eine abgekürzte Ausgabe), obwohl mit der J. St. Millſchen
Nationalökonomie noch verwandter, als die deutſchen Werke es durchſchnittlich ſind,
doch durch pſychologiſch-ſociologiſche Analyſe und durch ideale Geſichtspunkte ſich ihr
nähert. Von den deutſchen zuſammenfaſſenden Werken, in welchen ſich der heutige eben
im ganzen charakteriſierte Standpunkt unſerer Wiſſenſchaft am deutlichſten ſpiegelt, ſind
hauptſächlich folgende zu nennen:
Albert Schäffle (Geſellſch. Syſtem der menſchlichen Wirtſchaft, 1858, 67 u. 73;
Kapitalismus und Socialismus, 1870; Bau und Leben des ſocialen Körpers, 4 Bde.,
1875) iſt ein philoſophiſcher Politiker, Socialreformer und Tagesſchriftſteller großen
Stils, er hat ſich mit einigen Schwankungen dem Socialismus ziemlich ſtark genähert,
verbindet umfaſſende ſtaatswiſſenſchaftliche mit naturwiſſenſchaftlicher Bildung; er ver-
ſucht die Nationalökonomie auf ſociologiſchen Boden zu ſtellen, entwickelungsgeſchichtlich
darzuſtellen; doch haftet ſein Intereſſe an den Fragen der Tagespolitik, und ſeine Bücher
ſind mehr geiſt- und ideenreich als durchgearbeitet und zum Unterricht brauchbar. Adolf
Wagner ging von monographiſchen Arbeiten über Bank- und Geldweſen und einem
liberal-individualiſtiſchen Standpunkt urſprünglich aus, hat dann aber, von Schäffle,
Rodbertus und dem ganzen Socialismus angeregt, ganz andere Wege eingeſchlagen, ein
bedeutſames ſyſtematiſches Lehrbuch zu ſchreiben begonnen, zu deſſen Vollendung er auch
andere hervorragende Kräfte (Buchenberger, Bücher, Dietzel) heranzog. Er ſelbſt lieferte
bis jetzt mehrere Bände Finanzwiſſenſchaft und eine Grundlegung zur Volkswirtſchafts-
lehre (1875, 1879, 3. Aufl. in 2 Bdn., 1893—94), worin er die Grundbegriffe, die
Methodologie, die großen Principienfragen der wirtſchaftlichen Rechtsordnung und des
Socialismus und die Bevölkerungslehre in tiefgreifender Weiſe erörtert. Er will auch
heute noch methodologiſch mehr an der abſtrakt-deduktiven Art der wiſſenſchaftlichen
Behandlung als die meiſten anderen deutſchen Nationalökonomen feſthalten; praktiſch
wird ſein Standpunkt gewöhnlich als Staatsſocialismus bezeichnet, womit aber nur
gemeint iſt, daß er dem Geſetz und dem Staate einen größeren Teil der heutigen ſocialen
Reform zuweiſe, als die meiſten ſeiner wiſſenſchaftlichen Zeitgenoſſen. Guſtav Cohn hat
von einem Syſtem der Nationalökonomie bis jetzt einen erſten grundlegenden (1885),
einen finanzwiſſenſchaftlichen (1889) und einen Band über Handel und Verkeh sweſen
(1898) erſcheinen laſſen; in dieſen Bänden, deren erſterer freilich mehr einen eſſayiſtiſchen
als lehrbuchartigen Charakter hat, ſpiegeln ſich die Anſchauungen und Tendenzen der
heutigen deutſchen Nationalökonomie wohl am deutlichſten und in der anziehendſten
Form wieder. Daneben kommt E. v. Philippovich (Grundriß der politiſchen Ökonomie,
1. Bd. Allgem. Volkswirtſchaftslehre, 1893, 97 u. 99, 2. Bd. Volkswirtſchaftspolitik,
1. Teil 1899) in Betracht; er will principiell Menger und der öſterreichiſchen abſtrakten
Schule treu bleiben, praktiſch ſteht er aber durchaus auf dem neuen, vorhin charakte-
riſierten Boden.
In dem folgenden Grundriß wird ebenfalls der Verſuch gemacht, die allgemeinen
und im ganzen feſtſtehenden Reſultate unſeres nationalökonomiſchen Wiſſens einheitlich,
ſyſtematiſch von dem Standpunkte aus zuſammenzufaſſen, wie er im vorſtehenden dar-
gelegt iſt. Die Abgrenzung des Stoffes ſchließt ſich der in Deutſchland ſeit Rau her-
kömmlichen im ganzen an, aber doch mit anderer Abſicht, als ſie Rau vorſchwebte.
[124]Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Dieſer hat die Volkswirtſchaftspolitik und die Finanzwiſſenſchaft von der Volkswirtſchafts-
lehre getrennt, in der Volkswirtſchaftspolitik die Tagesfragen des Agrar-, Gewerbe- und
Handelsweſens unterſchieden; in der Volkswirtſchaftslehre betrachtete er im Anſchluß an
Smith die Kräfte als ein im ganzen von Staat, Verwaltung und Politik unabhängiges
Syſtem, hatte dabei in erſter Linie die Produktions- und die Verkehrserſcheinungen auf
Grund der freien Konkurrenz im Auge; ſeine Volkswirtſchaftspolitik war dazu die not-
wendige Ergänzung und Korrektur. Nach dem Standpunkt unſerer heutigen Erkenntnis
iſt der Staat und die Wirtſchaftspolitik auch in den allgemeinen Lehren der Volks-
wirtſchaft nicht zu ignorieren. Und eben deshalb hat man mit Recht andere Namen für
die zwei Teile gewählt, und hat mit den anderen Namen den Teilen auch eine andere
Bedeutung gegeben. Man ſcheidet heute überwiegend — von der Finanzwiſſenſchaft
abgeſehen — allgemeine und ſpecielle Volkswirtſchaftslehre und verſteht unter der
erſteren den Verſuch eines ſyſtematiſchen Überblickes über unſer geſamtes volkswirtſchaft-
liches Wiſſen, ohne Eintreten in die Specialfragen der Gegenwart, des eigenen Landes,
der einzelnen Hauptzweige der Volkswirtſchaft. Von den großen Zügen der Wirtſchafts-
politik muß in dieſer allgemeinen Volkswirtſchaftslehre ebenſo die Rede ſein, wie ihre Aus-
führung im einzelnen der ſpeciellen Volkswirtſchaftslehre überlaſſen bleibt. Die allgemeine
Lehre führt die typiſchen Organe und Einrichtungen, die weſentlichen Erſcheinungen und
Bewegungsvorgänge der Volkswirtſchaft nach ihrer Struktur bei den Hauptkulturvölkern,
ſowie nach ihrer hiſtoriſchen Entwickelung im ganzen vor. Sie will dem Anfänger einen
Umriß geben, für den Sachkenner das einzelne in ſeinen großen Zuſammenhang ſtellen.
Sie muß einen ſociologiſchen, ethiſchen, philoſophiſchen Hintergrund haben, während die
ſpecielle Volkswirtſchaftslehre, mit der Gegenwart und ihren ſocialen und volkswirt-
ſchaftlichen Tagesfragen beſchäftigt, den Blick auf die eigene Volkswirtſchaft und höchſtens
ihre Nachbarn konzentriert, praktiſch verwaltungsrechtlich vorgeht, empiriſch das einzelne
unterſucht. Die Nebeneinanderſtellung dieſer zwei Hälften hat ſich bewährt; ſie ergänzen
ſich nach Stoff und Methode. Unſer Grundriß will in zwei Hälften oder Bänden nur
die allgemeine Volkswirtſchaftslehre geben.
Die Syſtematik oder Stoffeinteilung, die ich dabei befolge, habe ich in meinen
Vorleſungen ſeit 35 Jahren ausgebildet; ſie geht von ähnlichen Geſichtspunkten aus
wie die Verſuche einer neuen Einteilung bei Stein, Schäffle, Cohn. Die alte Gliede-
rung des Stoffes nach Produktion, Verkehr, Konſumtion entſprach dem wiſſenſchaftlichen
Standpunkt und Bedürfnis des naturrechtlich-kameraliſtiſchen Vorſtellungskreiſes zu An-
fang unſeres Jahrhunderts. Heute ſcheint ſie mir überlebt und falſch; der philoſophiſch-
hiſtoriſche Standpunkt der Gegenwart mit ſeiner Anlehnung an die Ethik und Sociologie
einerſeits, an die Naturwiſſenſchaften andererſeits, mußte nach einer anderen Gliederung
ſuchen, und auch die neueren Anhänger der alten Einteilung haben dies nicht verkannt.
Ich komme auf die Stoffeinteilung gleich zurück. Ich möchte hier über die Syſtematik
nur ſagen: jede Einteilung iſt berechtigt, welche, der Methode und dem Stoffe angepaßt,
das Zuſammengehörige nebeneinander ſtellt, in der Reihenfolge der Abſchnitte eine
planvolle Leitung und Belehrung des Leſers beabſichtigt und erreicht.
[[125]]
Erſtes Buch.
Land, Leute und Technik
als Maſſenerſcheinungen und Elemente der Volkswirtſchaft.
51. Die Stoffeinteilung des Ganzen in vier Bücher, des erſten
Buches in vier Abſchnitte. Wir haben in der Einleitung den Begriff der Volks-
wirtſchaft, ihre allgemeinen pſychologiſchen Grundlagen und die geſchichtliche Entwickelung
ihrer Lehre und Methode kurz erörtert. Wir kommen nun zur Sache ſelbſt, zu dem
Verſuch, ein Bild der Volkswirtſchaft nach ihren verſchiedenen Seiten zu entwerfen, ihr
Weſen, ihre Struktur, ihre Formen, ihre Bewegungen, ihre Urſachen darzulegen. Dabei
werden zwei Gruppen von Erſcheinungen in den Mittelpunkt zu rücken ſein: 1. die
geſellſchaftliche Organiſation oder Struktur der Volkswirtſchaft und 2. die wichtigſten
Bewegungsvorgänge in ihr (Verkehr, Geld, Wert- und Preisbildung, Kredit, Einkommens-
verteilung). In dieſen beiden Hauptabſchnitten Handelt es ſich um die geſellſchaftliche
Seite der volkswirtſchaftlichen Vorgänge, um die volkswirtſchaftlichen Einzelfragen, auf
die ſeit hundert Jahren die eingehendſten Unterſuchungen unſerer Wiſſenſchaft gerichtet
ſind. Aber daneben kommen zwei andere Gruppen von Fragen in Betracht, die zum
großen Teil in viel weniger vorgeſchrittenem Zuſtande ſich befinden, die beide an der
Grenze der Volkswirtſchaftslehre ſtehen, teilweiſe oder ganz ihr Fundament in anderen
Wiſſenſchaften haben. Ich meine 1. gewiſſe große Maſſenerſcheinungen des volks-
wirtſchaftlichen Lebens, bei deren Unterſuchung man von der Struktur der Volkswirt-
ſchaft ebenſo abſieht wie von den Werterſcheinungen und 2. die entwickelungsgeſchicht-
lichen Geſamtergebniſſe, deren Feſtſtellung am allerſchwierigſten iſt, deren Erfaſſung
heute teilweiſe nur in Form geſchichtsphiloſophiſcher Betrachtung möglich erſcheint.
Die erſtere Gruppe behandelt unſer erſtes, die letztere unſer viertes Buch, während das
zweite und dritte der Organiſation der Volkswirtſchaft und ihren wichtigſten Bewegungs-
vorgängen, ihrer Anatomie und Phyſiologie gewidmet iſt.
Die Gebiete, denen wir im erſten Buche nahe treten, ſind weit auseinander
liegend; ſie befinden ſich in ſehr verſchiedenem Stadium der Ausbildung, müſſen mit
recht verſchiedenen Methoden angegriffen werden. Sie ſind bisher vielfach von den
Nationalökonomen vernachläſſigt worden, haben keinen rechten Platz im Syſteme gefunden.
Aber ſie nehmen doch eine gewichtige Stelle ein, wenn eine lebendige Anſchauung der
Volkswirtſchaft hergeſtellt, die Urſachenreihen derſelben vollſtändig dargeſtellt werden
ſollen. Es handelt ſich 1. um die Abhängigkeit der Volkswirtſchaft von den äußeren
Naturverhältniſſen, 2. von den anthropologiſchen und pſychologiſchen Einheiten, welche
wir Raſſen und Völker nennen, 3. um die Bevölkerung als quantitative geſellſchaftliche
[126]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Maſſenerſcheinung und 4. endlich um die Technik und ihre hiſtoriſch-geographiſche Ent-
wickelung als dem äußeren Mittel, mit dem alle wirtſchaftliche Thätigkeit operiert, und
das naturgemäß das volkswirtſchaftliche Leben teils beherrſcht, teils beeinflußt. Die
vier Gebiete haben das gemeinſam, daß es ſich in ihnen um die Erfaſſung von Maſſen-
thatſachen handelt, die auf natürlicher, phyſiologiſcher, techniſcher Grundlage erwachſen,
daß wir vom volkswirtſchaftlichen Standpunkte nicht das einzelne dieſer Gebiete, ſondern
nur ihre Umriſſe, die Geſamtreſultate in geographiſcher und hiſtoriſcher Zuſammenfaſſung
darzulegen haben. Es handelt ſich zum größeren Teile nur darum, die erheblicheren
Ergebniſſe von Nachbarwiſſenſchaften ſummariſch hier zuſammenzufaſſen.
1. Die Volkswirtſchaft in ihrer Abhängigkeit von den äußeren Natur-
verhältniſſen.
- Allgemeines: Montesquieu, Esprit des lois, livr. 14—18, 1748. —
- Hume, Essays I, 21
On national characters (deutſch, Verſuche 4, 324 ff. 1756). — - Herder, Ideen zur Geſchichte
der Menſchheit. 1784 ff. — - Heeren, Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vor-
nehmſten Völker der alten Welt. 4 Bde. 1805—12. — - E. M. Arndt, Einleitung zu hiſtoriſchen
Charakterſchilderungen. 1810. — - Ritter, Die Erdkunde im Verhältnis zur Natur und Geſchichte
der Menſchheit. 1822. — - Derſ., Über räumliche Anordnungen auf der Außenſeite des Erdballs und
ihre Funktionen im Entwickelungsgange der Geſchichte. 1850. — - E. Kapp, Philoſophiſche oder
vergleichende allgemeine Erdkunde. 1845. — - v. Baer, Über den Einfluß der äußeren Natur auf die
ſocialen Verhältniſſe der einzelnen Völker und die Geſchichte der Menſchheit überhaupt. 1848; jetzt
Studien aus dem Gebiete der Naturwiſſenſchaft. 1, 1876. — - Guyot, Géographie physique
comparée, considérée dans ses rapports avec l’histoire de l’humanité. 1888 (engliſche und
deutſche Ausgabe früher). — - Buckle, Geſchichte der Civiliſation in England. 1857—61. —
- Andree,
Geographie des Welthandels. 2 Bde. 1867. — - Peſchel, Neue Probleme der vergleichenden Erd-
kunde. 1869. — - Derſ., Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde. 3 Bde. 1877 ff. —
- Ratzel,
Anthropogeographie. 2 Bde. 1882 u. 91. — - Derſ., Politiſche Geographie. 1897. —
- W. Götz,
Wirtſchaftsgeographie. 1891.
Klima: G. W. Dove, Meteorologiſche Unterſuchungen, 1837, und viele andere Schriften. — - A. Mühry, Allgemeine geographiſche Meteorologie. 1860. —
- Hann, Handbuch der Klimatologie.
1883 u. 1898. — - Woeikoff, Die Klimate der Erde. 2 Bde. Deutſch 1887. —
- A. Supan, Die
Verteilung der Niederſchläge auf der feſten Erdoberfläche. Petermanns Mitt. 124, 1898.
Geologiſche und Bodenverhältniſſe: Mendelsſohn, Das germaniſche Europa. 1836. — - Kohl,
Der Verkehr und die Anſiedlungen der Menſchen in ihrer Abhängigkeit von der Geſtaltung der Erd-
oberfläche. 1841. — - Derſ., Die Lage der Hauptſtädte Europas. 1874. —
- Berghaus, Phyſikaliſcher
Atlas. 1852 ff., zweite Auflage 1890—92. — - Cotta, Deutſchlands Boden, ſein geologiſcher Bau
und deſſen Einwirkung auf das Leben der Menſchen. 2 Bde. 1854. — - Janſen, Die Bedingtheit
des Verkehrs und der Anſiedlungen der Menſchen. 1861. — - Zahlreiche Hefte der Forſchungen zur
deutſchen Landes- und Volkskunde ſeit 1885. — - A. Hettner, Die Lage der menſchlichen Anſiedlungen.
Zeitſchr. f. Geogr. 1, 1885.
Das Waſſer: Reuleaux, Über das Waſſer in ſeiner Bedeutung für die Völkerwohlfahrt.
1871. — - Kohl, Das fließende Waſſer und die Anſiedlungen der Menſchen. V.J.Sch. f. V.W. u.
K.G. 36, 1872. — - Schlichting, Die Aufgaben der Hydrotechnik. 1889. —
- Lehnert, Die Seehäfen
des Weltverkehrs. 1891.
Pflanzen- und Tierverbreitung: Griſebach, Die Vegetation der Erde. 2 Bde. 1871. — - Drude, Handbuch der Pflanzengeographie. 1890. —
- Engelbrecht, Die Landbauzone der außer-
tropiſchen Zonen. 3 Tle. 1899. — - Schmarda, Die geographiſche Verbreitung der Tiere. 1853. —
- A. Wallace, Die geographiſche Verbreitung der Tiere. 2 Bde. Deutſch 1876. —
- Volz, Der Ein-
fluß des Menſchen auf die Verbreitung der Haustiere und Kulturpflanzen. 1852. — - Hehn, Kultur-
pflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Aſien nach Europa. 1870 ff. — - Ed. Hahn, Die
Haustiere und ihre Beziehung zur Wirtſchaft des Menſchen. 1896.
52. Der Gegenſatz von Natur- und Völkerleben. Blick auf die
Litteratur. Der Menſch, die menſchliche Geſellſchaft und die Volkswirtſchaft ſind
ein Teil des organiſchen Lebens, das ſich auf der Erdoberfläche abſpielt. Alles volks-
wirtſchaftliche Geſchehen iſt unzweifelhafter und ſichtbarer als das politiſche und geiſtige
Leben ein Teil des großen Naturprozeſſes; die Geſetze der Natur beherrſchen es ebenſo
wie dasjenige phyſikaliſche, chemiſche und organiſche Leben, auf das der Menſch keinen
Einfluß hat. Aus der großen Ordnung der Natur heraus giebt es in der Volks-
wirtſchaft kein Entrinnen. Aber doch ſetzt der Menſch Natur und Kultur, Natur und
[127]Der Einfluß der Naturverhältniſſe in der bisherigen Litteratur.
Volksleben, Natur und Volkswirtſchaft einander entgegen. Er ſetzt ſich und das, was
er am direkteſten als Habe und Beſitz beherrſcht, was er durch ſeine Technik umgeſtaltet
hat, dem übrigen der äußeren Natur, ihren Kräften und Einflüſſen entgegen. Sie iſt
ihm ein fremdes, übermächtiges, unbeherrſchtes Gebilde; ſie tritt ihm als Erde und
Klima, als Boden und Gebirge, als Luft und Waſſer, als Pflanze und Tier gegenüber.
Sie iſt ihm eine fremde Macht, die ihn freilich hier fördert, aber dort hindert und
vernichtet, mit der er ringt, die ihn beherrſcht, die er beherrſchen möchte. Je nachdem
ihm ihre Unterwerfung gelingt, iſt er arm oder reich. Ihre Geſtaltung und Umformung
durch die Technik macht den Inhalt ſeiner wirtſchaftlichen Thätigkeit aus. Es iſt klar,
daß ihre verſchiedenen Kräfte, ihr verſchiedener Reichtum ihm es bald leichter, bald
ſchwerer machen, zum Ziele zu kommen. Das Band ſeiner Abhängigkeit von ihr iſt
bald ganz kurz, bald elaſtiſcher und loſer.
Es iſt die Frage, was wir über dieſes Band, über dieſen unzerreißbaren Zu-
ſammenhang, über die Wechſelwirkung zwiſchen Erde und Menſch, Natur und Volks-
wirtſchaft wiſſen.
Das in die Augen Fallendſte aus dieſen Zuſammenhängen war ſchon den Alten
klar, und Montesquieu hat es im 18. Buch des Geiſtes der Geſetze wieder in Erinne-
rung gebracht, indem er z. B. die freiheitliebenden Bergſtämme mit den bequemen
Ackerbauern der Tiefebene, die ſich despotiſcher Herrſchaft leicht unterwerfen, verglich.
Herder hat dann in ſeinen Ideen zur Geſchichte der Menſchheit dieſe Zuſammenhänge
weiter verfolgt, er ſucht zu zeigen, daß die Geſchichte der menſchlichen Kultur zu einem
erheblichen Teile zoologiſch und geographiſch ſei, daß die Menſchen jedes Klimas, jedes
Weltteils und Landes andere ſeien. Karl Ritter hat, auf dieſen Gedanken bauend, die
Vorſtellung, daß die natürliche Geſtaltung der Erde providentiell die Entwickelung der
menſchlichen Kultur vorgezeichnet habe, durch ſein reiches empiriſch-geographiſches Wiſſen
ebenſo wie durch ſeine philoſophiſchen Anſchauungen zu ſtützen geſucht. Und wenn die
Wege teleologiſch-geiſtvoller Ausdeutung des Zuſammenhanges zwiſchen Natur und
Geſchichte nur teilweiſe direkte Nachfolger in E. Kapp, J. G. Kohl, A. Guyot, E. Curtius,
H. Sivert fanden, gewiſſe Grundlinien dieſer Auffaſſung blieben den hiſtoriſchen, ſtaats-
wiſſenſchaftlichen und naturwiſſenſchaftlichen Studien doch als unverlierbares Erbe erhalten.
Es ſei nur an zwei freilich einſeitige Worte K. E. v. Baers erinnert: „Als die Erdachſe
ihre Neigung erhielt, als das feſte Land vom Waſſer ſich ſchied, als die Berge höher ſich
hoben und die Ländergebiete ſich begrenzten, war das Fatum des Menſchengeſchlechtes
in großen Umriſſen vorausbeſtimmt.“ Und: „Es giebt keinen Grund, anzunehmen,
daß die verſchiedenen Völker urſprünglich aus den Hand der Natur verſchieden hervor-
gegangen ſind; man hat vielmehr Grund, anzunehmen, daß ſie verſchieden geworden
ſind durch die verſchiedenen Einflüſſe des Klimas, der Nahrung, der ſocialen Zuſtände.
Der ſociale Zuſtand wird aber, zwar nicht allein, doch vorherrſchend durch die phyſiſche
Beſchaffenheit der Wohngebiete veranlaßt.“
Was neuerdings durch die fortſchreitende geographiſche Forſchung auf dieſem
Gebiete geleiſtet wurde, es ſei nur an die Arbeiten Peſchels und Ratzels erinnert, hat
die einſchlägigen Fragen im einzelnen weiter gefördert. Auch die Fortſchritte der
Meteorologie (Mühry, Dove), der Klimatologie (Hann, Woeikoff), der Pflanzen-
und Tiergeographie (Griſebach, Drude, A. Wallace), der Kulturgeſchichte der Pflanzen
und Tiere (Hehn, Hahn) ſchufen einen beſſeren Boden für die wirkliche Erkenntnis,
während die mechaniſchen Theorien und ſpielenden Analogien Buckles eher einen Rückfall
hinter Montesquieu bedeuten und die Nationalökonomen zwar in einzelnen Schilde-
rungen ſich der Methode der wiſſenſchaftlichen Geographie bedienten, in der allgemeinen
Theorie aber über einige halbwahre oder falſche Generaliſationen oder über einige
ſtatiſtiſch-technologiſche Notizen bezüglich Kohle und Dampfmaſchine, Regenmenge und
Durchſchnittswärme kaum hinaus kamen.
Verſuchen wir, aus den erwähnten Wiſſenſchaften und Vorarbeiten das Wichtigſte
anzuführen.
[128]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
53. Die Erdoberfläche, die Kontinente und Länder. Wenn wir die
Oberfläche der Erde, ihre verſchiedene Geſtaltung, Polhöhe und Erhebung, ihre geſamten
Kräfte und Schätze vom Standpunkte der wirtſchaftlichen Zwecke betrachten, ſo iſt
zunächſt klar, daß ſie eine begrenzte Raumfläche von 9,26 Mill. Quadratmeilen oder
509 Mill. qkm ausmacht, daß von dieſer Fläche 2,5 Teile auf das nur für Verkehr
und Fiſcherei benutzte Waſſer, 1 Teil auf das Land fällt, daß von dem Lande die
bewohn- und bebaubare Fläche auch nur einen Teil, ſelbſt in den Kulturſtaaten der
gemäßigten Zone teilweiſe nicht viel über die Hälfte ausmacht. Der ganze Norden
und der ganze Süden der Erde iſt wirtſchaftlicher Kultur faſt unzugänglich; die Gebirge
ſind es teilweiſe auch; Wüſten, wie die Sahara mit ihren 114000 Quadratmeilen oder
6,27 Mill. qkm und die Gobi mit 41800 Quadratmeilen oder 2,3 Mill. qkm, begrenzen
die Lebensmöglichkeit ganzer Erdteile ſehr. Und mag dieſe allgemeine Raumgrenze für
die kleine Zahl von Menſchen primitiver und älterer Kultur ſcheinbar nicht vorhanden
geweſen ſein, erſcheint ſie den Schwärmern für techniſchen und koloniſatoriſchen Fort-
ſchritt oft heute noch als in unbegrenzter Ferne, auf den Höhepunkten der geſchichtlichen
Entwickelung zeigte ſich doch immer raſch das Ergebnis, daß die bekannte Welt beſetzt
und geteilt war, und vollends die Gegenwart mit ihren Verkehrsmitteln und ihrem
geographiſchen Wiſſen, mit ihren Millionenvölkern kann ſich der Einſicht nicht ver-
ſchließen, daß die bewohn- und benutzbare Erde eine feſte und ſo ziemlich verteilte, nicht
ſtark vermehrbare Größe ſei. Die Stämme und Völker haben die Erdteile, die kleinen
Gruppen und Individuen die Länder unter ſich geteilt und müſſen ſtets dieſe Teile
völker- und privatrechtlich feſthalten, weil an Land, und zumal an gutem, entfernt nicht
ſo viel vorhanden iſt wie begehrt wird.
Die Erhebung der Erdoberfläche hat die Figur der Kontinente, d. h. der großen,
zuſammenhängenden Ländergruppen, wie ſie über das Meer emporragen, beſtimmt. Es
iſt eine Geſtaltung, die in älteren Erdepochen eine andere war, auch jetzt noch ſteten
kleinen Veränderungen ausgeſetzt iſt, für unſer geſchichtliches Bewußtſein aber doch ſeit
Jahrtauſenden eine feſte, kaum wandelbare Thatſache bildet. Aus den überwiegenden
Meeresflächen erheben ſich die drei zuſammenhängenden Weltteile Aſien, Europa und
Afrika und weit getrennt von ihnen Amerika und Auſtralien. Die nördliche Hälfte
der Erde hat faſt dreimal ſo viel Land und achtmal ſo viel Menſchen als die ſüdliche,
ſie iſt beſonders im aſiatiſch-europäiſchen Teile ſtets der Boden der höheren Kultur
geweſen.
Aſien umfaßt über ein Drittel des Bodens aller Kontinente; im Norden ſtellt es
eine ungeheure, vielfach unwirtliche Tiefebene, in der Mitte ein Syſtem höchſter Gebirge
und ausgedehnter Hochplateaus, die ſchroff nach Süden, in Stufen nach Norden abfallen,
im Süden eine Reihe von Halbinſeln und Inſeln dar, welche in die heiße Zone hinein-
reichen. Die Gebirge und Hochebenen der Mitte haben bisher den Verkehr zwiſchen
Nord und Süd, Oſt und Weſt faſt unmöglich gemacht und damit die ganze Geſchichte
Aſiens im Sinne eines Zurückbleibens der Kultur im ganzen bei reicher Entwickelung
des Südens und eigenartiger Raſſenbeeinfluſſung durch die Mitte beſtimmt; hier ent-
ſtanden jene Nomaden- und Bergſtämme, welche ſich die Welt unterwarfen. Der ganze
Erdteil iſt ſo vielgeſtaltig, daß die verſchiedenartigſten Völker und Wirtſchaftsformen
hier entſtanden: Jagd-, Räuber-, Hirten-, Ackerbau- und ſeefahrende Völker, deren
Reibung und Miſchung in Zuſammenhang mit Klima, Tier- und Pflanzenwelt Aſiens
die älteſte Kultur erzeugte.
Auf eine Meile Küſte hat Aſien 115, Afrika 156, Europa nur 40 Quadratmeilen
Landes. Afrika iſt alſo viel kompakter, Europa ſehr viel gegliederter als Aſien. Afrika
iſt ſtromarm, im Süden Hochplateau und vielfach waſſerlos, im Norden Wüſte; nur
zeitweiſe und ſporadiſch hat es an ſeinem von Natur begünſtigten Nordrand ein
reicheres wirtſchaftliches Leben erzeugt, während Europa durch ſeine Geſtaltung und ſein
Klima zum Mittelpunkte der neueren Kultur wurde. Faſt ohne Wüſte und Steppe,
faſt ohne jene Hochgebirge, die gänzlich trennen, ohne viel Hochplateaus, von großen
Strömen aufgeſchloſſen, ein Hügel- und Stufenland mit reichen Ebenen, am gleich-
[129]Die Erdteile und Länder in ihrer Eigentümlichkeit.
mäßigſten mit Regen verſehen und daher ein Wald- und Ackerbauland erſten Ranges
(Peſchel ſagt, ſeinem „ſchlechten“ Wetter dankt es ſeine hohe Kultur), mit Halbinſeln
und Inſeln aller Art, welche teilweiſe in die ſubtropiſche Zone reichen, auch im Norden
eine ganz andere wirtſchaftliche Entwickelung geſtatten als die anderen nördlichen Erd-
teile, mußte es in der Hand der ariſchen Stämme die Führung der Menſchheit an
ſich reißen.
Nord- und Südamerika ſind zwei Weltteile für ſich; geſtreckter als Aſien und
Afrika, kompakter als Europa, durch alle Zonen reichend, mit einem Drittel Gebirge,
zwei Dritteln tiefen Flachlandes, das durch große Ströme und Seen leicht zugänglich
iſt, hat es in der Hand der Kulturmenſchen die größte Zukunft. Das Miſſiſſippi-
becken hat vielleicht die Ausſicht, das dichtbevölkertſte, reichſte einheitliche Gebiet der
Erde zu werden.
Auſtralien iſt der am längſten abſeits gebliebene Erdteil; unaufgeſchloſſen, vielfach
Steppe oder Hochplateau, mit den polyneſiſchen Inſeln bis vor kurzem den Menſchen,
Mitteln und Tieren der Kultur faſt unzugänglich, hat es erſt jetzt eine gewiſſe, allerdings
raſch wachſende Kultur erhalten. Aber die Lage und die Bodengeſtaltung bleiben
erſchwerend, freilich nicht ſo wie für die Gebiete der weiter nach Süden reichenden Rand-
völker, welche noch mehr als die nordiſchen durch Kälte, Kargheit der Natur, iſoliertes
Leben und Entfernung von den Mittelpunkten der höheren Kultur wohl immer auf
niedriger Stufe der wirtſchaftlichen Entwickelung verharren werden.
Wie die Erdteile im großen, ſo können wir die Länder im kleinen als Individuen
erfaſſen. Sind ihre Grenzen auch oft mehr durch hiſtoriſches Schickſal beſtimmt geweſen
und immer wieder verrückt worden, im ganzen betraf das doch mehr die Geſtaltung im
einzelnen, nicht die wichtigeren Züge. Die Inſeln und Halbinſeln ſind am deutlichſten
geſchloſſene Einheiten. Aber auch auf die anderen Länder haben ſtets wieder die Gebirge,
die Seen und Flüſſe, die Moräſte und Wüſten, die Lage zum Meere grenzbildend eingewirkt
und ſo natürliche Einheiten des Gebietes geſchaffen. Wie ſchon die urſprünglichſten
Wanderungen der Pflanzen, der Tiere und der Menſchen durch dieſe natürlichen Grenz-
faktoren beſtimmt und die Ausbildung eigentümlicher Arten — nach Moritz Wagners
Migrationstheorie — ſo erzielt oder begünſtigt wurden, ſo waren auch ſpäter alle
Bewegungs- und Entwickelungsvorgänge des geſellſchaftlichen Lebens von dieſen grenz-
bildenden Urſachen beherrſcht: ſie haben die Länder zu natürlich geſchloſſenen, einheit-
lichen Schauplätzen des wirtſchaftlichen und politiſchen Lebens gemacht. Und die mehr
oder weniger vorhandene Einheitlichkeit des Schauplatzes, die Wirkung derſelben Urſachen
durch Jahrhunderte und Jahrtauſende erzeugte beſtimmte wirtſchaftliche Zuſtände und
Kulturergebniſſe. Die phöniciſche Kultur konnte nur in der Ecke des Mittelmeeres, die
ägyptiſche nur am Nil, Deutſchlands Ackerbauleben nur in der Mitte Europas, die
britiſche Welthandelsherrſchaft nur an den engliſchen Küſten entſtehen. Sagt doch ſelbſt
der idealiſtiſche Ranke: die ägyptiſche Religion iſt auf die Kultur des Nillandes, die
perſiſche auf den Anbau im Iran gegründet.
Alle ſolche natürliche Gebietsbildung iſt aber ſtets nur ſo zu verſtehen, daß die
Entwickelung der wirtſchaftlichen oder ſonſtigen Kultur durch ſie eine gewiſſe Richtung
erhält, daß gewiſſe Hemmungen und Möglichkeiten dadurch gegeben ſind. Wie ſie
überwunden oder benutzt werden, hängt von der Raſſe, dem Stande der Moral und
der Technik, der ſonſtigen wirtſchaftlichen, politiſchen und geiſtigen Erziehung und
Schulung der Menſchen ab. Wie oft hat man z. B. die Wirkung der Natur auf die
Größe der Staaten überſchätzend behauptet, die europäiſch-aſiatiſche Tiefebene erzeuge
direkt große, das weſteuropäiſche Stufenland kleine Staaten. Wahr iſt, daß die ver-
ſchiedene Natur derartiges begünſtigt hat, und wenn Rußland heute in Europa 5,4 (im
ganzen 22,4) Mill. qkm, Deutſchland 0,540, Frankreich 0,528, Großbritannien 0,313,
die Schweiz 0,041, Dänemark 0,038 Mill. qkm im Zuſammenhang beſitzt, ſo iſt das
immer ein Beweis für dieſe Begünſtigung. Aber auch das heutige Rußland hat Epochen
zahlreicher kleiner Staaten, und Weſteuropa hat zu verſchiedenen Zeiten ganz verſchieden
große politiſch-wirtſchaftliche Körper gehabt.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 9
[130]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Und Ähnliches gilt vom geographiſchen Nachbareinfluß, der wirtſchaftlich gewiß
die größte Bedeutung hat. Pflanzen und Tiere, Waren und Werkzeuge, gelernte Arbeiter
und Handelseinrichtungen, die ganze Struktur der Volkswirtſchaft ſind ebenſo wie
Konſumtionsſitten und Mode meiſt von einem Nachbarlande zum anderen übergegangen,
ſofern ſie direkt aneinander grenzten oder durch Verkehr, Krieg, Eroberung und Ein-
wanderung in Berührung kamen. Der ganze Wandergang der menſchlichen Kultur von
Indien, Meſopotamien und Ägypten nach Griechenland und Italien, dann nach Mittel-
und Nordeuropa, endlich nach Amerika wird nur verſtändlich durch die natürlich und
geographiſch gegebenen Nachbarbeziehungen. Aber im einzelnen iſt auch dieſer Zuſammen-
hang immer mehr ein möglicher als ein notwendiger. Je nach den Mitteln der Technik,
über die eine Zeit verfügt, ſind Meere, Flüſſe, Gebirge mehr Trennungs- oder mehr
Verbindungsmittel.
Aber das bleibt doch wahr, daß es natürliche Ländergebiete mit beſtimmtem
Charakter giebt, daß ihre Erhebung, ihr Klima, ihre Lage und Nachbarſchaft, ihr Boden
auf Menſchen, Pflanzen und Tiere einheitliche Wirkungen ausübt, daß daraus dauernde
Folgen für die Geſchicke der Völker ſich ergeben. —
Kann man ſo die Kontinente und Länder als individuelle und typiſche Einheiten
mit beſtimmtem Charakter und beſtimmten Folgen erfaſſen, ſo wird man noch beſſer die
Unterſuchung ſpecialiſieren und z. B. mit Ratzel folgende Fragen unterſcheiden können:
1. wie wirken die Naturverhältniſſe phyſiologiſch, 2. pſychologiſch auf den Menſchen,
3. welche Zeiträume und Bedingungen ſchaffen einen Raſſentypus, der auch in anderer
Natur ſich erhält? wir wollen darauf kurz im nächſten Abſchnitte über die Raſſen
kommen; 4. wie wirkt die Natur auf die Ausbreitung der Stämme und Völker, 5. auf
Sonderung und leichten Verkehr, 6. auf beſtimmte wirtſchaftliche Lebensweiſe. Die
vierte Frage liegt uns hier ferner; die Fragen 5 und 6 faſſen wir zuſammen, ſpalten
ſie jedoch weiter in folgende: wie wirken a) das Klima, b) die geologiſchen und
Bodenverhältniſſe ſowie die Waſſerverteilung, c) die Flora und Fauna der Kontinente
und Länder?
54. Das Klima. Man verſteht unter Klima wohl auch das Ganze der äußeren
Natureinflüſſe, richtiger aber die Wärme und Kälte, die Feuchtigkeit und Trockenheit
der Luft, ſowie die Luftbewegungen, die beides vermitteln und beeinfluſſen. Die Luft
dringt in alle organiſchen Weſen ein, bringt Wärme und Feuchtigkeit überall hin.
Daher die enorme Bedeutung der Luftſtrömungen und Winde. Wärme und Waſſer
bedingen alle organiſche, pflanzliche, tieriſche und menſchliche Entwickelung und zwar in
der Weiſe, daß ihr gänzlicher Mangel alles Leben ausſchließt, ihre zu intenſive Wirkung
es lähmt und gefährdet; das Mittelmaß von Wärme und Feuchtigkeit wirkt am günſtigſten.
Die Wärme iſt von der Sonne, dem ſenkrechten oder ſchiefen Einfall ihrer Strahlen, alſo
von der Stellung der Erdachſe, der Polhöhe der einzelnen Länder, dem damit gegebenen
Wechſel der Jahres- und Tageszeiten und der Erhebung über die Meeresfläche abhängig;
weiterhin aber von den Luft- und Waſſerſtrömungen und der periodiſchen Bewölkung.
Die Feuchtigkeit iſt in erſter Linie bedingt durch die Nähe der Meere und der großen
Waſſerflächen, welche im Zuſammenhang hauptſächlich mit den Luftſtrömungen und Ge-
birgen das abſolute Maß und die Verteilung des Regens im Jahre beſtimmen.
Die Einteilung der Erde in eine tropiſche, gemäßigte und kalte Zone, oder in
weitere Abteilungen, tropiſche und ſubtropiſche, ſüdlich und nördlich gemäßigte Zone ꝛc.
ſtellt den Verſuch dar, die genannten Wirkungen, in große Gruppen gegliedert, über-
ſichtlich zu machen; die Grenzen der Zonen werden teils einfach nach Breitengraden, teils
nach der Jahresdurchſchnittswärme, teils nach dem Fortkommen der Hauptpflanzen
gebildet und ſind deshalb da und dort in ihrer Flächengröße verſchieden angegeben. Wenn
wir die heiße Zone bis zum 23,5., die gemäßigte bis zum 66,5. Breitengrade rechnen, ſo
fallen auf die erſtere 40, die zweite 52, die kalte Zone 8 % der Erdoberfläche; ſcheiden
wir nach den Linien gleicher Jahreswärme, den Iſothermen bei 20° und 0° Celſius, ſo
fallen auf die heiße Zone 49,3, auf die gemäßigte 38,5, auf die kalte 12,2 % der
[131]Das Klima und ſeine wirtſchaftlichen Folgen.
Erdoberfläche. Die heiße Zone macht ſonach etwa die Hälfte der Erde aus, aber ſie
enthält nur ein Viertel Land, drei Viertel Meer.
Eine Einheitlichkeit des Klimas iſt natürlich auch in der tropiſchen oder ſub-
tropiſchen ſowie in der gemäßigten Zone nicht vorhanden: See- und Kontinentalklima
unterſcheiden ſich ebenſo in jeder Zone wie Höhen- und Niederungsklima. Nordamerika
iſt viel kälter als Nordeuropa, weil letzteres mehr den ſüdweſtlichen warmen Waſſer-
und Luftſtrömungen ausgeſetzt iſt; Rom und Newyork liegen unter demſelben Breiten-
grad, und erſtere Stadt iſt doch ſehr viel wärmer. Es giebt kühle Hochebenen in den
Tropen und milde Küſtenſtriche im Polarkreiſe. Die Erhebung iſt im Norden vielfach
mäßig, im Süden groß, was dort die Kälte, hier die Glühhitze mildert. Endlich iſt
gleiche Wärme und Feuchtigkeit von ſehr verſchiedener Wirkung bei regelmäßig ſtark
bewegter und bei toter Luft. Starke Luftbewegung regt alles Leben an. Aber wir
dürfen auf dieſe Ausnahmen hier nicht eingehen, müſſen uns begnügen, das Wichtigſte
über die klimatiſchen Unterſchiede der Hauptzonen zu ſagen, wobei wir die Wärme und
ihre Wirkung in den Mittelpunkt der Betrachtung ſtellen, jedoch zugleich auf die mittlere
Regenmenge blicken müſſen. „Die Wärmetabellen ſind eine Stufenleiter für die Haupt-
bedingungen der Volkswirtſchaft.“ Am 90.° nördlicher Breite iſt die Jahrestemperatur
— 20,0°, am 65. — 4,3, am 55. + 2,3, am 45. + 9,6, am 35. + 17,1, am 25. + 23,7,
am 15. und 5. + 26,3 und 26,1° Celſius. In Bezug auf die mittlere jährliche Regen-
menge unterſcheidet man die niederſchlagsarmen Gebiete, welche jährlich nur bis 250 mm
Regen haben, die mittleren Gebiete mit 250—1000 mm und die niederſchlagsreichen
mit über 1000, ja über 4000 mm. Zu den begünſtigten mittleren gehören Central-
und Weſteuropa, Oſtchina, die Oſthälfte der vereinigten Staaten; das niederſchlags-
arme und darum ſo vielfach unfruchtbare Gebiet iſt viel größer als die beiden anderen
Teile zuſammen. Dazu gehören Central- und Südafrika, Weſtamerika, Oſteuropa, ein
großer Teil Aſiens und Auſtraliens. Schon in Ungarn und Rußland, vollends in
Centralaſien ſinken die Niederſchläge bedenklich, hier wie in der Sahara bis auf Null.
Günſtige Wärme- und Feuchtigkeitsverhältniſſe fördern unter ſonſt gleichen Ver-
hältniſſen alles wirtſchaftliche Leben, ungünſtige hemmen oder vernichten es. Die
Produktion der wichtigſten wirtſchaftlichen Güter und aller Konſum iſt hievon abhängig.
Die Größe und Art der Ernten, die verfügbaren Pflanzen und Tiere, die Leichtigkeit
oder Schwierigkeit ihrer Gewinnung iſt vom Klima beherrſcht. Ein Bananenfeld der
warmen Zone, ſagt Ritter, ernährt 25-, Humboldt ſagt 133mal ſo viel Menſchen als
ein gleich großes Weizenfeld. Die Arbeit des Familienvaters während zweier Tage
ernährt am Fuße des mexikaniſchen Gebirges leicht die ganze Familie. Der Menſch
braucht im Süden weniger Fleiſch und Fett, keine Spirituoſen, wenig oder kein Heiz-
material; ſeine Wohnung iſt leicht herzuſtellen, ſeine Kleidung ſo viel billiger. Kurz,
die wirtſchaftliche Exiſtenz iſt ſehr viel leichter, es können auf derſelben Fläche mit
geringerer Technik mehr Menſchen leben. Selbſt in den europäiſchen Staaten zeigt
ſich meiſt ein erheblicher klimatiſcher Unterſchied zwiſchen Nord und Süd, der alle wirt-
ſchaftlichen Sitten beeinflußt. Man iſt im Norden etwas häuslicher, ſparſamer, meiſt
auch arbeitſamer; im Süden lebt man beſſer, läßt ſich mehr gehen. Damit tritt freilich
auch die Folge hervor, daß die Gunſt des Klimas ſich in ungünſtigere wirtſchaftliche
Eigenſchaften der Menſchen umſetzen kann und häufig umſetzen wird. Ratzel ſpricht in
ſolchem Zuſammenhange von einem Leben in den Tag hinein, von einem allgemeinen
proletarierhaften Zug, den die europäiſchen Völker des Südens hätten.
Unter den ſpeciellen Wirkungen des Klimas auf das wirtſchaftliche Leben möchte
ich noch die auf die Jahres- und Tageszeiten hervorheben, deren Verſchiedenheit nicht
bloß die Flora der einzelnen Länder und Zonen mit beeinflußt ſondern auch die ganze
Haus- und Landwirtſchaftsführung beſtimmt und bedingt. Nur in der gemäßigten Zone
haben wir die uns allbekannten vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbſt und
Winter nebſt den langen Sommer- und den kurzen Wintertagen mit all ihren Folgen;
hier iſt es nötig, im Sommer und Herbſt für den Winter zu ſorgen; aller landwirt-
ſchaftliche Betrieb, alle Einteilung der Arbeit iſt dadurch bedingt; der Menſch wird
9*
[132]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
damit ſtärker zur Vorausſicht erzogen. Der Winter iſt andererſeits im gemäßigten
Klima nicht ſo lang, die Tage ſind noch nicht ſo kurz wie an den Polen, wo Natur
und Menſchen zu einem viele Monate dauernden Winterſchlaf gleichſam durch eine
Nacht von Monaten gezwungen ſind, der im Sommer ein ebenſo langer Tag folgt.
Der große und ſtete Wechſel der Witterung erzeugt im gemäßigten Klima im ganzen
auch mehr Energie als die in den Tropen meiſt für Wochen und Monate gleich-
mäßige Witterung. Das gemäßigte Klima regt in ſeinem kälteren Teile mehr zur
Thätigkeit an, giebt in ſeinem wärmeren dem Menſchen die ſchönſte und leichteſte
Exiſtenz. Über die Verſchiedenheiten innerhalb des gemäßigten Klimas ſei hinzugefügt,
daß die Vegetationszeit der Pflanzen in Europa zwiſchen 3 und 9, die landwirtſchaft-
liche Arbeitszeit zwiſchen 4 und 11 (in Rußland 4, Oſtpreußen 5, Mitteldeutſch-
land 7, Südengland 11) Monaten ſchwankt. Die nötige Zahl der Arbeiter, der Ge-
ſpanne, das Wieſen- und Futterareal iſt davon abhängig. Der Reinertrag, die Koſten
aller Melioration ſchwanken entſprechend; von der Länge und Härte des Winters hängt
teilweiſe Verkehr und Abſatz ab. Haxthauſen meint, bei gleicher Kultur gebe ein ähn-
liches Gut in Mitteldeutſchland die doppelte Rente wie in Rußland.
Die heiße Zone hat nicht ſowohl viel heißere Tage als die gemäßigte, wie eine
viel größere Zahl gleichmäßig ſich folgender heißer Tage und eine Hitze, welche mit
ſtärkerer Feuchtigkeit verbunden iſt und deshalb auf alles organiſche Leben ganz
anders wirkt. Ein Winter in unſerem Sinne iſt nicht vorhanden; man hat nur zwei
oder drei Jahreszeiten; die Regenzeit wird als die kühle empfunden, die Zeit vorher
als die des Erſtickens und des Vertrocknens der Pflanzen. Der anregende Wechſel der
Witterung wie die Ungleichheit von Tag und Nacht fehlen oder ſind ſehr mäßig. In
Brittiſch-Indien pflegt man Oktober bis Februar als gemäßigte Jahreszeit zu bezeichnen;
unſere Halmfrüchte, Obſtarten und Gemüſe gedeihen da und werden im März geerntet;
dann folgt vom März bis Juli die heiße Zeit, welche die ſüdlichen Früchte, Reis, Indigo
und Mais zur Reife bringt; endlich die Regenzeit vom Juli an, welche Abkühlung
ſchafft, die Vegetation neu belebt. Das Pflanzen- und Tierleben zeigt in der ſüdlich
gemäßigten und ſubtropiſchen Zone ſeinen größten Reichtum und ſeine höchſte Ent-
faltung; aber der Menſch hat im eigentlichen Tropenklima faſt nur während der vier
Monate nach der Regenzeit ſeine Vollkraft; die Regenzeit und die heiße Zeit lähmt ihn,
bedroht ſeine Geſundheit und ſeine Energie.
Die Tropen, hat man geſagt, ſeien die Wiege der Menſchheit geweſen, weil ſie
das Leben leichter machten; die gemäßigte Zone aber die Wiege der Kultur, weil ſie
den Menſchen zu größter Entfaltung ſeiner Kräfte nötigte, ohne ihm das Leben ſo zu
erſchweren wie die kalte Zone mit ihrer Armut an Pflanzen und Tieren.
55. Die geologiſchen und Bodenverhältniſſe ſowie die Waſſer-
verteilung. Neben dem Klima ſind es die geologiſchen und Bodenverhältniſſe, von
denen die menſchliche Wirtſchaft in allem einzelnen bedingt iſt.
Die Erdoberfläche iſt das Ergebnis eines Umbildungs-, Schichtungs- und Ver-
witterungsprozeſſes, der in Millionen Jahren die Erhebung, Zuſammenſetzung und
vegetative Kraft, den Quellenreichtum und die Luftbeſchaffenheit, die Geſundheit und
Wohnlichkeit derſelben in allen ihren einzelnen Teilen beſtimmte. Eine Reihe von
geologiſchen Zeitaltern erzeugte die verſchiedenen Schichten, die ſich folgten und vom
Urgebirge bis zum heutigen Schwemmland in den einzelnen Gegenden zu Tage treten,
ihr Relief, ihre Erhebung und Beſchaffenheit beſtimmen. Ein Ergebnis hievon iſt
ſchon die Geſtalt der Länder und Kontinente, das ganze Verhältnis von Feſtland und
Meeren, das wir vorhin erörterten. Damit hängt weiter der auch innerhalb der Länder
hervortretende Gegenſatz von Hochgebirge und Hochplateau, Mittelgebirge und Stufen-
land, Tiefebene und Flachland zuſammen. Jederman weiß, daß der Hackbau, der
Acker- und Gartenbau in den reicheren Flußthälern und Tiefebenen warmer Länder
entſtanden, ſeit lange aber in die gemäßigte Zone, in die Stufen- und Hügelländer
vorgedrungen iſt. Welchen Teil eines Landes aber der landwirtſchaftliche Anbau erfaſſen
könne, das hängt neben dem Klima weſentlich von den geologiſchen und Bodenverhält-
[133]Die Bodenverhältniſſe und ihre wirtſchaftlichen Folgen.
niſſen ab: in Ägypten ſind es nur 2½, in Japan nur 16 %; in dem reichen Brittiſch-
Indien ſind von 427154 Quadratmeilen 190842 unbebaubar. In unſeren Breiten
ſind die Anteile meiſt größer: im Kanton Uri ſind freilich nur 28, in Finnland 37, in
Norwegen 47, in der Schweiz ſchon 69 und in den meiſten deutſchen Staaten 80—90 %
der land- und forſtwirtſchaftlichen Kultur zugänglich. Noch tieferen Einblick in die
Wirkung der Bodenverhältniſſe giebt die Statiſtik der landwirtſchaftlichen Kulturarten,
der Anbauflächen der einzelnen Früchte, der guten und ſchlechten Böden: die günſtigen
Lehmböden machen z. B. in Pommern 6, in Weſtfalen 41 % aus.
Die höhere, vielſeitige wirtſchaftliche Kultur, welche Ackerbau, Gewerbe und leben-
digen Verkehr verbindet, iſt meiſt nur in den Vorbergen und Stufenländern mit ihrer
Vielgeſtaltigkeit des Bodens zu Hauſe. Gewiſſe Hochplateaus ſind ſeit Jahrtauſenden auch
in den Händen der höheren Raſſen nicht über Nomadenwirtſchaft hinausgekommen. Die
Gebirge laſſen im Süden höher hinauf einen gewiſſen Anbau und einen gewiſſen Wohl-
ſtand zu; im ganzen aber haben ſie doch ſtets mit ihrer Weide- und Waldwirtſchaft
nur eine ſpärliche Bevölkerung kümmerlich ernährt. Bloß vereinzelt hat Haus- und
Fabrikinduſtrie in den Bergen Platz greifen können; vereinzelt haben wertvolle Erze
Wohlſtand ja Reichtum geſchaffen.
Eigentlich das Beſte, was die Wiſſenſchaft bisher über den Zuſammenhang der
Bodenverhältniſſe mit der wirtſchaftlichen Entwickelung geſchaffen, liegt in den Special-
unterſuchungen über einzelne Länder und Gegenden, wie ſie z. B. die von Cotta für
Sachſen, von Haxthauſen für Weſtpreußen, von Buckland für England, von Gothein
für Baden uns lieferten. Aber ebenſo bedeuteten die mehr allgemeinen Unterſuchungen
von Kohl über die Abhängigkeit der Verkehrslinien von der Erdoberfläche und über die
hiemit gegebenen Standorte der Städte einen erheblichen Fortſchritt im Sinne der Einzel-
erkenntnis. Ihnen ſchließen ſich neuerdings eine Reihe Monographien jüngerer Geographen
mit ähnlichen Tendenzen an. Ratzel und A. Hettner haben dieſe Studien ſehr lehrreich
zuſammengefaßt. Man wird als Ergebnis von all’ dieſen Unterſuchungen ſagen können:
Das einzelne der Lage von Städten, Dörfern und Höfen, das Alter ihrer Gründung
und Entwickelung, vielfach auch die Planlegung der Fluren, die Zeit und der Ort der
Waldrodung, die Wegelinien, das Entſtehen der verſchiedenen Hauptgewerbszweige da
und dort, die Verknüpfung der Siedelungen, Gewerbe und Verkehrslinien mit Quellen,
Waſſerlinien, Seen und Küſten — kurz all’ dieſes einzelne wird nur der voll verſtehen,
der außer den hiſtoriſch-geſellſchaftlichen Urſachen mit der geologiſchen und topographiſchen
Karte in der Hand die natürlichen Bedingungen der Volkswirtſchaft eines Landes ſtudiert.
Außerdem ergeben ſich hieraus eine Anzahl allgemeiner volkswirtſchaftlicher Wahrheiten,
z. B. daß die Dörfer und Landſtädte in ihrer Lage und Entwickelung mehr von der
topographiſchen Beſchaffenheit des Ortes ſelbſt und der allernächſten Umgebung, die
größeren Städte mehr von den natürlichen Bedingungen des Landes, den Strömen, den
Grenzen im ganzen bedingt ſind; daß alle Landwege, je weiter wir zurückgehen und
mit unvollkommener Technik rechnen, ſich dem Boden, der Erhebung, den Päſſen, den
Landrücken anſchmiegen, daß auch bei höherer Kultur alle Entwickelung des Wegeweſens
von dem Boden abhängig iſt, daß ſtets Siedelungen und Wege gegenſeitig ſich natürlich
bedingen; daß das Vorkommen von Gold und Silber, von Kupfer und Eiſen, von Zink
und Zinn, beſonders wenn es ſich um reiche Erze handelt, von Salz und Salzquellen
ſeit alten Zeiten, das von Stein- und Braunkohle, von Ölquellen und ähnlichen Stoffen
in der neueren Zeit den Anſtoß zu blühendem Bergbau, zu reichem gewerblichen
Leben geben konnte und kann. Aber alle derartigen Wahrheiten ſind ſo allgemeiner
und bekannter Natur, daß man ſie kaum als neue wiſſenſchaftliche Errungenſchaften
bezeichnen kann. Man muß ſie nur für das Einzelverſtändnis der wirtſchaftlichen,
hiſtoriſch oder geographiſch zu betrachtenden und zu vergleichenden Zuſtände im Auge
behalten. Hiefür erweiſen ſie ſich als ein fruchtbarer Schlüſſel der Erkenntnis.
Vielleicht am allermeiſten gilt dies bezüglich des Vorkommens von Waſſer, wie
es durch die Bodenkonfiguration ſich geſtaltet; ich meine die Verteilung der Ouellen,
Bäche, Flüſſe, Seen und Meeresküſten. Ich möchte hierüber noch ein Wort hinzufügen,
[134]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
denn der Ausſpruch Pindars, daß das Waſſer das Herrlichſte ſei, iſt vor allem auch
wirtſchaftlich wahr. Ohne Waſſer iſt nirgends ein wirtſchaftliches Gedeihen. Man
könnte faſt ſagen, die am Waſſer gelegenen Gebiete ſeien die reichen.
Die Regenmenge und das örtliche Vorkommen des Waſſers ſtehen in engſter
kauſaler Wechſelwirkung; aber im einzelnen iſt der Reichtum an Quellen, Flüſſen und
Küſten doch nicht durch die Regenmenge des Ortes bedingt, und jedenfalls wird das
Vorkommen fließenden Waſſers um ſo wichtiger, je mehr es an Regen in der
Gegend fehlt.
Wie ſchon die Tiere des Waldes und der Wüſte dem Waſſer nachgehen, ſo hat
es der primitive Menſch gethan; die Wanderungen und Siedelungen der Ureinwohner
ſind zwar von großen Waſſerläufen oft auch gehemmt worden, große Ströme bieten
lange eine faſt unüberbrückbare Völkerſcheide; aber umſomehr folgt der primitive Menſch
den Quellen und Flußrändern. Und mit der Seßhaftigkeit und der höheren Kultur
nimmt der Zug nach dem Waſſer nicht ab. Die Quellen haben überall die Wohnſitze
der Menſchen beſtimmt, weil Menſch und Vieh, Küche und Haus ohne Waſſer nicht
exiſtieren können. Wo die Feuchtigkeit durch Regen fehlt, beſtimmen Quellen, Bäche und
Flüſſe alle Vegetation; freilich erſt eine hohe geſellſchaftliche und techniſche Entwickelung
haben in trockenen Ländern wie in Ägypten, Indien, China, Meſopotamien, in Nord-
afrika, Spanien und Italien die Wunder jener bewäſſerten Ackerbau- und Gartendiſtrikte
geſchaffen, wobei nicht bloß die Zuführung der nötigen Feuchtigkeit, ſondern auch die
des düngenden Schlammes die reichen Ernten erzeugte. Ein großer Teil alles älteren
Gewerbebetriebes bedurfte der Nähe bedeutender Waſſermengen, mußte alſo den Bächen
und Flüſſen folgen: der Flachsbereiter und -Bleicher, der Gerber, Walker und Färber,
der Bierbrauer und Fleiſcher ſuchte das Waſſer auf. Als die Waſſermühlen erfunden
waren, war für die Mahl- und Sägemühlen, die Eiſenhämmer und alle Werkſtätten,
die mechaniſcher Kraft bedurften, der Standort am Waſſer gegeben; und wenn heute
Dampf und Elektricität teilweiſe die große Induſtrie von dieſer Bannung ans Waſſer
befreit haben, billiger bleibt ſtets die Waſſerkraft, und noch heute iſt die ganze Ver-
teilung unſerer Gewerbe doch überwiegend durch die Waſſerläufe beſtimmt.
Und wenn wir ſo Siedelungen, Ackerbau und Gewerbe dem Waſſer mit Vorliebe
folgen ſehen, wenn deshalb überall die dichte Bevölkerung in den mit Waſſer reichlich
verſehenen Thälern ſich zuſammendrängt, ſo iſt die Wirkung auf den Verkehr faſt eine
noch größere. Wie alle menſchliche Kultur von den Küſten und Flußmündungen die
Thäler aufwärts ging, ſo entſtanden alle größeren Orte und Städte hauptſächlich durch
den Verkehr, der von hier aus landeinwärts und ſtromaufwärts ging; in primitiven
Zeiten war der Waſſerverkehr, der Handel zu Schiff vielfach die einzige Art größeren
Warenaustauſches, lebendiger Berührung verſchiedener Stämme und Händler; nur am
Meere und an großen Strömen ſaßen alle bekannten reichen Handelsvölker. Freilich
hat nicht überall, ſondern nur an wenigen beſonders günſtigen Stellen das Waſſer
fähige Raſſen zu ſelbſtändiger Erfindung des Schiffsbaues und Handels angeleitet; an den
ungünſtigen Küſten hat die Nachahmung erſt langſam und nach und nach einen Waſſer-
verkehr geſchaffen. Nur an Punkten wie Tyrus, Alexandria, Karthago, Venedig, Genua,
Amſterdam, London, Hamburg, Newyork konnten die vorangeſchrittenſten Völker Mittelpunkte
des Welthandels und höchſten Reichtums ſchaffen. Und wenn heute die Eiſenbahnen teil-
weiſe dem Waſſer ſeine Verkehrsrolle abgenommen haben, wenn falſche geſellſchaftliche
und politiſche Einrichtungen, ſowie politiſche Schickſale die Kultur an großen Strömen,
die früher die Hauptlinien des Handels bildeten, verfallen ließen, die großen Fluß- und
Stromſyſteme ſind doch auch heute mehr als je die Hauptadern alles, auch des Eiſen-
bahnverkehrs: am Lorenzo- und Miſſiſſippiſtrom, an Rhein und Elbe, an Seine und
Themſe konzentriert ſich auch heute der Pulsſchlag des höchſten wirtſchaftlichen Lebens.
Das Ergebnis all’ ſolcher an die Erdoberfläche anknüpfender volkswirtſchaftlich-
geographiſcher Betrachtungen iſt immer wieder die Erkenntnis, wie engbegrenzt die Punkte
und Gebiete ſind, an welchen eine hohe und allſeitige, reiche wirtſchaftliche Entwickelung
möglich iſt, wie die an dieſen Punkten ſitzenden Menſchen und Geſellſchaften naturgemäß
[135]Die wirtſchaftliche Rolle des Waſſers. Die Pflanzenwelt.
die anderen überholen und beherrſchen müſſen, wie die Überlegenheit der begünſtigten
Orte und Menſchen dieſen wirtſchaftliche Vorteile verſchaffe, die nicht bloß zu ihrer
eigenen beſſeren Verſorgung, ſondern weſentlich auch dazu führen, daß ſie ihre ſeltenen
Güter und Vorteile den an ungünſtigeren Orten ſitzenden vorenthalten oder zu über-
großem Gewinn und Herrſchaft über ſie ausnützen können.
56. Die Pflanzen- und Tierwelt in ihrer Verteilung. Bis auf
einen gewiſſen Grad, aber doch viel ſchwächer, tritt uns ein ſolcher Eindruck entgegen,
wenn wir die Pflanzen- und Tierwelt betrachten, weil ihre Verteilung eine im ganzen
gleichmäßigere iſt. Die Flora und Fauna iſt weniger ein Reſultat örtlicher Boden-
verſchiedenheiten als ein Ergebnis der großen klimatiſchen und Erhebungsverhältniſſe
der Kontinente und Länder.
Die allgemeine volkswirtſchaftliche Bedeutung der Pflanzen- und Tierwelt iſt
ſelbſtverſtändlich eine außerordentlich große. Die menſchliche Ernährung, Bekleidung
und Erwärmung hängt von ihnen ab; der größere Teil aller wirtſchaftlichen Thätigkeit
iſt der Bemeiſterung der Tier- und Pflanzenwelt, der Unterordnung derſelben unter die
menſchlichen Zwecke gewidmet. Die Menſchen hängen von der Art und Zahl der vor-
kommenden Pflanzen und Tiere überall ab. Durch das dem Menſchen verwandte orga-
niſche Pflanzenleben iſt er mit der Erde verbunden, iſt ſein Leben erleichtert und allein
möglich. Die Pflanzenvegetation führt die ganze Erdoberfläche gleichſam in ſeinen
Dienſt. Der Reichtum der Länder an Pflanzen und Tieren iſt ein erhebliches Stück des
natürlichen Wohlſtandes der Geſellſchaften.
Wir können hier auf die hiſtoriſche Entſtehung der Pflanzen- und Tierarten, ihre
urſprüngliche und ſpätere Verbreitung im Zuſammenhange mit der geologiſchen Ent-
wickelung der Erde, der Veränderung der Klimate und Kontinente nicht eingehen.
Wir ſtellen nur feſt, daß die heutige Verbreitung der Pflanzen und Tiere eine ganz
andere iſt als früher. In Mitteleuropa könnte mit der urſprünglichen Ausſtattung nur
ein ſehr kleiner Teil der heutigen Bevölkerung leben. Die heutige Verteilung der
Pflanzen und Tiere iſt ein Ergebnis der Geſchichte. „Die Natur,“ ſagt Hehn, „gab
Polhöhe, Formation des Bodens, geographiſche Lage, das übrige iſt ein Werk der
bauenden, ſäenden, einführenden, ausrottenden, ordnenden, veredelnden Kultur.“ Ja,
die Haustiere und die Kulturpflanzen ſelbſt ſind uns eben deshalb ſo unendlich nützlich,
weil ſie unter der Hand des Menſchen etwas weſentlich anderes wurden, als ſie im
wilden Zuſtande waren. Aber deswegen bleiben große Epochen der wirtſchaftlichen
Entwickelung und bis auf einen gewiſſen Grad auch die Gegenwart doch in Zuſammen-
hang mit der älteſten uns bekannten Ausſtattung; und alle frühere wie die gegen-
wärtige Flora und Fauna ſind durch Klima und Boden in feſte Grenzen gewieſen.
Innerhalb dieſer Grenzen liegen die verſchiedenen Arten der Ernährungsmöglichkeit, der
Lebensweiſe, der Wirtſchaftsführung, wie ſie durch die beſtimmten Tier- und Pflanzen-
arten gegeben ſind. Nur einige Beiſpiele.
Die Wirtſchaft der heutigen Polarmenſchen hängt zum Teil von der Milch, dem
Fleiſch, den Häuten, den Geweihen und Knochen des Renntiers, in weiterer Linie alſo
von der Nahrung der Renntierherde, den Flechten, Mooſen und anderen Gliedern der
nordiſchen Heideflora ab. Daneben aber könnten dieſe Hyperboreer ohne die Robben
und Fiſche, ohne die unerſchöpfliche Fauna des Meeres und der Küſte nicht leben.
Gehen wir weiter nach dem Süden, ſo iſt alle menſchliche Wirtſchaft zunächſt
davon abhängig, ob die Erdoberfläche mit Wald oder nur mit niederen Pflanzen
oder gar nicht mit ſolchen bedeckt iſt. Die urſprüngliche und natürliche Verbreitung
des Waldes hängt vom Boden, vom Klima und den Niederſchlägen ab. Die ſüdlichen
Länder waren nie ſo waldreich wie unſere mitteleuropäiſchen, urſprünglich faſt ganz
mit Wald und Sumpf bedeckten Gebiete. Der Kampf mit dem Walde hat ganze Epochen
der menſchlichen Wirtſchaftsgeſchichte beherrſcht: mit den reißenden Tieren des Waldes
hat der Menſch gekämpft; viele der anderen Tiere haben ihn zur Jagd erzogen. Das
wirtſchaftliche Leben der Menſchen in den eigentlichen Waldgegenden iſt heute noch ein
beſtimmt geartetes; nur eine mäßige Bevölkerung kann von den Holz- und Waldgewerben
[136]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
leben. Wo heute noch, wie in den mitteleuropäiſchen Ländern, 10—40 % des Bodens
mit Wald beſtanden ſind, wo man ihn in dieſer Ausdehnung erhält, teilweiſe weil der
Boden keine größeren Erträge giebt, teilweiſe weil der Wald als Feuchtigkeitsregulator
unentbehrlich iſt, und weil das Holz für gewiſſe Zwecke ſonſt zu ſchwer zu beſchaffen
wäre, da iſt dieſer Wald und ſein Betrieb ein wichtiges Element der Volkswirtſchaft.
Die Pflanzen des Waldes wie die der Wieſe gehören in den Kulturländern auch heute
noch dem Kreiſe der urſprünglichen Ausſtattung an, während das Garten- und Acker-
land mehr eingeführte und acclimatiſierte als einheimiſche Pflanzen trägt.
Wo der Baumwuchs fehlt, aber das Waſſer nicht gänzlich mangelt, die Steppen-
gräſer der Landſchaft ihren Charakter geben, da iſt die Heimat der Nomadenwirtſchaft:
eine Reihe von Wurzeln und Beeren dienen neben der Jagd und der Nutzung der
gezähmten Tiere der menſchlichen Wirtſchaft. Wo die Steppe mit undurchdringlichen,
harten Geſträuchern beſtanden iſt, wie in Auſtralien, hört jede menſchliche Kultur auf.
In der gemäßigten und warmen Zone iſt der Pflanzenbau und die Tierzucht im
Anſchluß an ihre urſprüngliche Ausſtattung entſtanden. Daran ſchloß ſich der erſte Anbau
und die erſte Tierzähmung. Die mit der Wärme ſteigende Zahl der vorkommenden
Pflanzenarten iſt für die wirtſchaftliche Kultur viel weniger bedeutungsvoll geweſen als
die relativ kleine Zahl der zum Anbau brauchbaren Pflanzen und der Tiere, deren
Zucht man lernte.
Obſt, Beeren, Wurzeln aller Art ſpielten bei primitiver Kultur eine relativ
größere Rolle als ſpäter. Gewiſſe Bäume und Pflanzen ernähren in den heißen Ländern
den Menſchen faſt ohne Arbeit: ſo der Brotfruchtbaum, die Dattel-, die Palmyra- und
die Kokospalme ſowie die Banane; aber ihr Vorkommen blieb oft unbenutzt wie z. B.
die Kokospalme in Amerika bis 1500. Der Brotfruchtbaum, der die Südſeebewohner
hauptächlich ernährt, ihnen 9 Monate friſche Frucht liefert, für 3 Monate das Leben von
eingemachten Früchten erlaubt, hat wohl auch die Sorgloſigkeit dieſer Menſchen erzeugt.
An die Arbeit gewöhnte Neger, z. B. die in St. Vincent, ſind durch Einführung des
Brotfruchtbaumes in gänzliche Faulheit und Indolenz verfallen.
Die Gras- oder Getreidearten ſind die wichtigſten Kulturpflanzen für die Menſchheit
geworden; ihre heutige Verbreitung iſt ein Werk der Menſchen; aber die einzelnen
Arten ſind doch von Wärme und Klima abhängig, und die ältere Wirtſchaftsgeſchichte
war durch die urſprüngliche Ausſtattung und den Stand der Verbreitung und Accli-
matiſation bedingt. Im Gebiete der heutigen Vereinigten Staaten fehlten ſie, und das
erklärt, wie die kümmerlichere Ausrüſtung mit Pflanzen und Tieren überhaupt, die geringe
ältere wirtſchaftliche Entwickelung der Hauptteile Nord- und Südamerikas; in Central-
amerika hatten und benutzten die Ureinwohner den Mais und auf den Höhen die Quinoa-
hirſe; letztere ermöglichte es allein, daß am Titicacaſee, in der Höhe von 12000 Fuß,
eine dichte Bevölkerung zu relativem Wohlſtande kommen konnte. Wenn heute die Völker
Afrikas hauptſächlich von den Hirſegattungen (Negerhirſe, Durha, Kafferkorn), gegen
750 Millionen Mongolen und andere Völker Südaſiens, Südeuropas und Mittel-
amerikas überwiegend von Reis, etwa 4—450 Millionen Menſchen der ſüdlich
gemäßigten Zone ebenſo von Mais und Weizen, etwa 150 Millionen in der nördlich
gemäßigten Zone hauptſächlich von Roggen und die noch weiter nördlich ſitzenden
Völker von Hafer und Gerſte leben, ſo ſpringt in die Augen, daß, ſo wenig der heutige
Anbau dieſer Gramineen ihrem urſprünglichen Standorte entſpricht, doch das Klima die
Verteilung auch heute im ganzen beherrſcht, und daß die Ernten dieſer Früchte von
gleicher Fläche und Bodenbeſchaffenheit nach Norden hin immer geringer werden. Der
Weizen trägt bei uns das 5 ‒ 8fache der Ausſaat, im Süden das 12—25fache. Die
Maisernten ſteigen im Süden bis zum 70-, ja mehrhundertfachen. Der Roggen giebt
bei uns 8—1000 kg, der Reis in China 3840 kg pro Hektar. Auf der Quadratmeile
leben jenſeits der Gerſtegrenze faſt nie mehr als 50, jenſeits der Weizengrenze ſelten
mehr als 1000 Menſchen, weiter ſüdlich ernähren die Gramineen 2, 3, 5 ja mehr
Tauſend. Alſo große Verſchiedenheiten des natürlichen Wohlſtandes! Und ſie ſteigern
ſich noch ſehr, wenn wir neben dem Getreide die anderen Pflanzen in Betracht ziehen,
[137]Die Nährpflanzen und die Haustiere.
vor allem die, welche wegen mangelnder Durchſchnittswärme auch in mittleren Klimaten
nicht überall vorkommen, wie Tabak und Wein, feinere Gemüſe- und Obſtarten; in den
Pfälzer Weinbaudiſtrikten ſteigt die Bevölkerung auf 15000 Menſchen pro Quadratmeile.
Für die ſüdlicheren Gegenden handelt es ſich um die Gewürzpflanzen, dann um Thee,
Kaffee, Zuckerrohr, welche den Gegenden, wo ſie, und zumal in beſonderer Güte, gedeihen,
einen großen wirtſchaftlichen Vorſprung verleihen.
Wenn auch keinen ſo großen Einfluß wie die Pflanzen, ſo üben doch auch die
Tiere einen ſolchen auf die Volkswirtſchaft aus. Die wilden Tiere haben durch den
Kampf mit ihnen die Menſchen zu Kraft und Energie, auch die jagdbaren haben durch
ihre Verfolgung beſtimmte Raſſen und Völker ebenſo zur Anſtrengung und Abhärtung,
zu Schlauheit und ſcharfen Sinnen erzogen. Faſt überall war und iſt die Ernährung
des Menſchen mehr oder weniger von der Tierwelt abhängig; die Meere und Flüſſe
haben durch ihren Reichtum an Fiſchen und Schaltieren in dem Leben vieler Völker
eine ausſchlaggebende Rolle geſpielt. Neben dem Fleiſche, dem Blute, der Milch der
Tiere hat die Benutzung der Knochen zu Geräten, der Wolle und Häute, ſowie der
Pelze zur Bekleidung ſtets große Bedeutung gehabt. So hat naturgemäß das urſprüng-
liche Vorkommen oder Fehlen der einzelnen Tierarten, das ſich im ganzen auch nach
Klima, Wärme, Pflanzenwelt, Waſſer und Bodenverhältniſſen richtet, überall die wirt-
ſchaftliche Entwickelung mit beſtimmt. Auſtraliens weites Zurückbleiben hinter den
anderen Erdteilen hing mit ſeiner kümmerlichen, aus der Tertiärzeit ſtammenden Tierwelt
ebenſo zuſammen wie die älteren amerikaniſchen Zuſtände mit der Thatſache, daß Rind,
Pferd, Kamel und Schaf den Eingeborenen fehlten, daß ſie als gezähmte Arbeitstiere
nur Hund und Lama beſaßen, nirgends zur Milchwirtſchaft, zum Ackerbau mit Rind-
vieh, zu nomadiſcher oder halbnomadiſcher Lebensweiſe kamen. Noch heute ſind die oſt-
aſiatiſchen und afrikaniſchen Gebiete, welche ſpät unſere Haustiere kennen lernten, ſeit
Jahrtauſenden eine Landwirtſchaft ohne oder faſt ohne ſie trieben, weſentlich dadurch
wirtſchaftlich ärmer geblieben. Im übrigen aber hat gerade die kleine Zahl von Tieren,
die der Menſch zähmen, zu Laſttieren, zum Reiten, zum Pflügen erziehen lernte, die er
als Hauptfleiſch- und Milchtiere benutzte, eine ſehr weitgehende Acclimatiſation erfahren.
Einzelne, wie Hund, Schwein, Huhn, Kaninchen, kommen heute faſt überall vor; auch Rind,
Pferd, Eſel und Schaf ſind ſehr weit verbreitet. Wir ſehen ſo, daß Drude recht hat,
wenn er ſagt, die geographiſche Verbreitung der Tiere gehe im ganzen der der Pflanzen
parallel, aber ſei doch etwas unabhängiger und leichter. Es iſt ein analoger Gedanke,
den A. v. Humboldt im Kosmos ausſpricht, wenn er ſagt, der Menſch ſei in minderem
Grade als Pflanzen und Tiere von der Natur abhängig; er entgehe leichter als ſie den
Naturgewalten durch Geiſtesthätigkeit und ſtufenweiſe erhöhte Intelligenz wie durch
eine wunderbare, ſich allen Klimaten anpaſſende Biegſamkeit des Organismus.
57. Allgemeine Ergebniſſe. Wollen wir kurz verſuchen, die Summe deſſen
zu ziehen, was wir über den Zuſammenhang der Volkswirtſchaft mit der äußeren Natur
wiſſen, ſo weiſen wir mit Sicherheit heute die extremen Anſchauungen zurück, die auf
der einen Seite idealiſtiſch den Einfluß der Natur ganz oder faſt ganz negieren, auf der
anderen realiſtiſch alle wirtſchaftliche und ſonſtige Kultur auf Boden und Klima allein
zurückführen wollen. Den erſteren Standpunkt vertrat, freilich mehr in Bezug auf
menſchliche Eigenſchaften als auf die Volkswirtſchaft, Hume; ihm folgte z. B. Th. Waitz
(Anthropologie der Naturvölker) in gewiſſem Sinne, wenn er gegenüber den ausſchlag-
gebenden hiſtoriſchen Urſachen der Civiliſation die Naturverhältniſſe etwas geringſchätzig
als Gelegenheitsurſachen bezeichnete; in mancher Beziehung auch Peſchel in ſeiner Polemik
gegen Ritter; ebenſo übertreiben die Nationalökonomen, welche bei der Erklärung des
Reichtums von Holland oder England nur betonen, wie hier durch geiſtige Kräfte allein
die Kargheit der Natur überwunden ſei. Ähnlich wollten alle die wirtſchafts- und kultur-
geſchichtlichen Erinnerungen, daß zu verſchiedenen Zeiten, in der Hand verſchiedener Raſſen
und Völker dieſelbe Natur, dasſelbe Land bald wirtſchaftliche Verkümmerung und Not,
bald höchſten Wohlſtand und Civiliſation gezeigt, wollte der Hinweis, deſſen ſich ſchon
Hume bedient, daß oft in demſelben Lande, unter denſelben Naturverhältniſſen einzelne
[138]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Teile Wohlſtand, andere Armut aufwieſen, überwiegend für den idealiſtiſchen Stand-
punkt eintreten. Es ſchmeichelte dem menſchlichen Stolz und dem Kulturhochmute unſerer
Zeit, wenn man mit Emphaſe betonte: es komme nur auf die rechte Ausbildung des
Menſchen, ſeine Technik, ſeine Organiſation an, um überall auf der Erde das Höchſte
zu erreichen.
Die Realiſten von Montesquieu, Herder, Condorcet, Heeren, Comte an, die Natur-
forſcher, wie Bär, die Geographen und Anthropologen, welche nicht ſowohl die euro-
päiſchen Staaten der letzten Vergangenheit als die ganze Erde und ihre ganze Geſchichte,
überhaupt mehr die großen Unterſchiede im Auge hatten, betonten das Gegenteil mit
faſt gleichem Recht, teilweiſe freilich auch in einſeitiger Übertreibung, weil ihnen die
hiſtoriſchen Urſachen und die ganzen Entwickelungsprozeſſe des geiſtigen und politiſchen
Lebens ferner lagen.
Die methodiſche Wiſſenſchaft erkennt heute das Neben- und Durcheinanderwirken
der natürlichen und der geiſtig-hiſtoriſchen Urſachen vollſtändig an; ſie weiß, daß es
ſich um eine gegenſeitige, komplizierte Beeinfluſſung und Abhängigkeit der Volkswirtſchaft
von der Natur und der Naturverhältniſſe von der menſchlichen Kultur und Technik
handelt; ſie weiß, daß ſie bis heute das Maß dieſer Einflüſſe im einzelnen, die Trag-
weite der Detailurſachen nicht ganz genau beſtimmen kann. Aber gewiſſe grobe Um-
riſſe der Thatſachen ſtehen feſt: Wir wiſſen heute, daß die Ungunſt der Natur am Pol
und in der Sahara, in allen waſſerarmen Gegenden und in den Hochgebirgen nie durch
den Menſchen ganz oder in der Hauptſache zu überwinden ſei, ſo viel auch die Fort-
ſchritte der Technik leiſten mögen; wir wiſſen, daß die von Natur reichen Böden des
Südens leichter eine dichte Bevölkerung nähren und einen gewiſſen Wohlſtand erzeugen
als die kargeren des Nordens; wir wiſſen, daß faſt alle höhere Kultur ſich in der ſub-
tropiſchen und gemäßigten Zone und an gewiſſen begünſtigten Örtlichkeiten derſelben
abſpielte. Wir ſind uns andererſeits aber auch bewußt, daß das Vorhandenſein günſtiger
wirtſchaftlicher Naturbedingungen nie allein ihre Benutzung erklärt, daß die entſprechende
geiſtige, moraliſche und techniſche Ausbildung der Menſchen, die rechte ſociale und
politiſche Organiſation immer hinzukommen muß, wenn auf beſſerem oder ſchlechterem
Boden der Reichtum entſtehen ſoll. Die Geſchichte hat uns belehrt, daß zu große
Erleichterung des wirtſchaftlichen Lebens allzu raſch großen Wohlſtand ſchaffen und
unter Umſtänden die Kräfte raſch zur Erſchlaffung bringen, eine gewiſſe Kargheit der
Natur ſie ſtählen kann; aber wir leugnen deshalb die günſtige Lage Hollands und
Englands und ihre großen natürlichen Vorzüge vor anderen Ländern nicht. Wir ſehen
klar, daß die fortſchreitende Technik in ungünſtiger ausgeſtatteten Ländern einen gewiſſen
Wohlſtand herbeizuführen erlaubt, daß ſie gewiſſe Unterſchiede des Bodens und der
natürlichen Ausſtattung ausgleichen kann; wir erleben es immer mehr, daß die enormen
Fortſchritte des Verkehrs auch nach ſehr kalten und ſehr heißen Ländern die dort
mangelnden Güter bringen und ſo das wirtſchaftliche Leben erleichtern können. Ob
künftige Fortſchritte der Technik noch ganz anders als heute die Ungunſt der Natur
da und dort aufzuheben vermögen, wiſſen wir nicht. Es iſt wahrſcheinlich, daß noch
viel in dieſer Richtung erreicht wird, aber es iſt nicht denkbar, daß hierdurch die
gegebenen natürlichen Grenzen aufgehoben werden; ſie werden nur verſchoben werden,
aber doch ſtets das wirtſchaftliche Leben der Völker beherrſchen. Die reichen Völker ſaßen
bis heute ſtets in mehr oder weniger begünſtigter Naturlage, und ſo wird es auch künftig
bleiben. Aber ſie erreichten Großes und Epochemachendes ſtets nur, wenn und ſo lange
ſie zugleich die Träger des moraliſch-politiſchen und des techniſchen Fortſchrittes waren.
In dem Maße, als dieſer zunahm, konnten ſie über eine ungünſtigere Naturlage Herr
werden, und wirkte die größere Anſtrengung zugleich fördernd auf ihren Wohlſtand.
So wurde es möglich, daß die höchſte menſchliche Kultur vom reicheren Südoſten nach
dem kargeren Nordweſten im Laufe der Geſchichte rücken konnte.
Daß alles höhere Menſchenleben ein Sieg des Geiſtes über die Natur ſei, das
lehren uns alſo auch dieſe Ergebniſſe. Aber ſie zeigen uns ebenſo, daß der Menſch ſtets
ein Paraſit der Erde bleibt, daß er ſich nur an ſie anſchmiegen, ihre günſtigſten Stellen
[139]Ergebnis über die Abhängigkeit der Volkswirtſchaft von der Natur.
ſuchend emporſteigen kann. Der Menſch löſt ſich mit höherer Kultur und Technik nicht
von der Natur los, ſondern verbindet ſich inniger mit ihr, beherrſcht ſie, indem er ſie
verſteht, aber auch ihren Geſetzen, ihren Schranken ſich unterordnet.
2. Die Raſſen und Völker.
- Allgemeines: E. M. Arndt, Einleitung zu hiſtoriſchen Charakterſchilderungen. 1810. —
- Courtet de Lisle, La science politique fondée sur la science de l’homme ou études des
races humaines. 1838. — - Vollgraf, Begründung ſowohl der allgemeinen Ethnologie durch die
Anthropologie, wie auch der Staats- und Rechtsphiloſophie durch die Ethnologie oder Nationalität
der Völker. 1851—55 (1864 neu unter d. T.: Staats- und Rechtsphiloſophie auf Grundlage einer
wiſſenſchaftlichen Völkerkunde). — - Frankenheim, Völkerkunde, Charakteriſtik und Phyſiologie der
Völker. 1852. — - Knies, Die politiſche Ökonomie vom Standpunkte der geſchichtlichen Methode.
1853. S. 57—70: Der nationale Menſch. 2. Aufl. 1883, S. 67—84. — - de Gobineau, Verſuch
über die Ungleichheit der Menſchenraſſen. 4 Bde. 1853 u. 1883; deutſch 1899, bis jetzt 2 Bde. — - E. Baumſtark, Die Volkswirtſchaft nach Menſchenraſſen, Volksſtämmen. J. f. N. 1. F. 5, 1865. —
- J. G. Kohl, Bemerkungen über das Studium der Nationalitäten. V.J.Sch. f. V.W. u. Kult.-
Geſch. 12, 1865. — - van der Kindere, De la race et de sa part d’influence dans les diverses
manifestations de l’activité des peuples. 1868. — - Babington, Fallacies of race theories
as applied to national characteristics. 1895. — - Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker, ein
Beitrag zur Socialpſychologie. 1896.
Vererbung und Variabilität: H. Spencer, Die Principien der Biologie. 2 Bde. 1865, deutſch
1876. — - Francis Galton, Hereditary genius or inquiring into its laws and consequences.
1869 u. 1892; — Derſ., Natural inheritance. 1889. — - A. de Candolle, Histoire de la science
et des savants depuis deux siècles. 1869. — - Darwin, Die Abſtammung des Menſchen. 2 Bde.
1871, deutſch 1874. — - Ribot, Die Vererbung, pſychologiſche Unterſuchung ihrer Geſetze, ethiſchen und
ſocialen Konſequenzen. 1871 und öfter, deutſch 1895. — - Weismann, Aufſätze über Vererbung und
verwandte biologiſche Fragen. 1892; — Derſ., Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung.
1893. — - Plötz, Die Tüchtigkeit unſerer Raſſe und der Schutz der Schwachen. 1895.
Anthropologie und Ethnologie (Völkerkunde): G. Klemm, Allgemeine Kulturgeſchichte der
Menſchheit. 10 Bde. 1843—1852. — - Th. Waitz, Anthropologie der Naturvölker. 6 Bde. 1859
bis 1872. — - Fr. Müller, Allgemeine Ethnographie. 1873 u. 1879. —
- O. Peſchel, Völkerkunde.
1874 und öfter. — - Ratzel, Völkerkunde. 3 Bde. 1885—88. Anthropogeographie. 2 Bde. 1882,
1891. — - J. Ranke, Die heutigen und die vorgeſchichtlichen Menſchenraſſen. 1887. —
- Archiv für
Anthrop., Ethnogr. u. Urgeſchichte, ed. Ecker, Lindenſchmidt ꝛc. — - Zeitſchrift für Ethnologie, ed.
Baſtian, Hartmann ꝛc.
Aus der unendlichen Zahl von Einzelbeſchreibungen ſeien erwähnt: H. Spencer, Principien
der Sociologie. 1, 1877. — - Schneider, Die Naturvölker. 2 Bde. 1885. —
- Fritſch, Die Ein-
geborenen Südafrikas. 1872. — - Nachtigal, Sahara und der Sudan. 3 Bde. 1879—89. —
- Paſſarge, Adamaua. 1895. —
- Vámbéry, Die primitive Kultur des turkotatariſchen Volkes.
1879. — - Chwolſon, Die ſemitiſchen Völker. 1872. —
- Hehn, De moribus Ruthenorum. 1892. —
- Leo, Geſchichte der italieniſchen Staaten. 1, 1829. —
- Hillebrand, Frankreich und die Fran-
zoſen. 1874. — - H. Helferich, Engländer und Franzoſen. 1852. —
- G. Rümelin, Über den
ſchwäbiſchen Volkscharakter im Kgr. Württemberg. 1883. — - Schmoller, Über den nordamerika-
niſchen Volkscharakter. Prß. Jahrb. 1866. — - Riehl, Die Pfälzer. 1857.
Bog. Goltz, Der Menſch und die Leute. 1850. — - Kohl, Die Völker Europas. 1867 u.
1873. — - Löher, Land und Leute in der alten und der neuen Welt. 3 Bde. 1866.
58. Überblick über den Gegenſtand und die zu Grunde liegenden
Wiſſensgebiete. Während wir heute davon ausgehen, daß die Völker phyſiologiſche
und pſychologiſche, durch Bluts- und Geiſteszuſammenhang verbundene Einheiten ſind,
die einen beſtimmten Charakter durch viele Generationen und Jahrhunderte behaupten,
und während wir deshalb darnach ſtreben, die eigentümlichen Züge der einzelnen Raſſen
und Völker und ihre Urſachen aufzudecken und ſo ihr Weſen verſtehen wollen, ging die
Wiſſenſchaft von Staat, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft im 18. Jahrhundert von dem
Glauben an die natürliche Gleichheit der Menſchen aus. Sie ſuchte das Weſen der
allgemeinen, abſtrakten Menſchennatur demgemäß feſtzuſtellen und aus ihr heraus
die geſellſchaftlichen Einrichtungen zu erklären. Auch heute noch ruht ein großer Teil
der abſtrakteren Betrachtungen der Volkswirtſchaftslehre auf der wenigſtens innerhalb
gewiſſer Grenzen wahren und wohl verwendbaren Annahme eines ſo ziemlich überein-
ſtimmenden Charakters der abendländiſchen Kulturvölker. Und doch ſpricht ſelbſt
[140]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
J. St. Mill, der unſere Wiſſenſchaft im ganzen aus einem überall gleichen Erwerbs-
triebe ableiten will, den ſeinem nationalökonomiſchen Grundprincipe ins Geſicht ſchlagenden
Satz aus: es giebt keinen allgemein menſchlichen Charakter, eine von Engländern
abgeleitete Maxime kann nicht auf Franzoſen angewandt werden; wir müſſen allgemeine
Geſetze über die Bildung des Charakters ſuchen und finden: „die Geſetze des nationalen
Charakters ſind die wichtigſte Klaſſe von ſociologiſchen Geſetzen“.
Je realiſtiſcher die Staatswiſſenſchaften geworden ſind, deſto mehr machten ſich
Verſuche geltend, welche dies anerkennen wollten. Ich erinnere z. B. an Vollgrafs un-
glücklichen Verſuch, aus einer naturphiloſophiſch konſtruierten Raſſenlehre ein wirt-
ſchaftlich-politiſches Entwickelungsgeſetz der Völker abzuleiten, und an Graf Gobineaus
Raſſentheorien; dieſer geiſtvolle Schriftſteller hat das Verdienſt, die hiſtoriſche Bedeutung
der Raſſenunterſchiede erkannt und mit Gelehrſamkeit belegt zu haben; aber indem er
allen Fortſchritt auf ariſches Blut, allen Rückſchritt auf die zu ſtarke Miſchung der
höheren mit den niederen Raſſen zurückführt, überhaupt ſeiner ariſtokratiſchen und
peſſimiſtiſchen Tendenz die Zügel ſchießen läßt, nehmen ſeine Ausführungen teilweiſe
doch mehr den Charakter intuitiver Spekulation und dichteriſcher Phantaſie an. Im
ganzen iſt mit ſolchen Verſuchen für Staatslehre und Volkswirtſchaft bisher nicht viel
erreicht worden; es fehlte ihnen die geſicherte empiriſche Grundlage. Die Wiſſenſchaften
der Anthropologie und Ethnographie ſind noch gar jung. Und erſt nachdem ſie und
die vergleichende Sprachwiſſenſchaft ausgebildet waren, konnte auch die Geſchichts- und
Staatswiſſenſchaft beginnen, ihre Blicke auf die Raſſenfrage zu werfen.
Cooks Reiſen 1762—1779 begannen die Aufmerkſamkeit auf die ſogenannten
Naturvölker zu lenken. Herder verſuchte dann vom ſpekulativen, Blumenbach vom natur-
wiſſenſchaftlichen Standpunkte die Raſſen- und Völkerunterſchiede zu faſſen. Erſt in den
letzten zwei oder drei Menſchenaltern haben forſchende Reiſende ein halbwegs ausreichendes
deſkriptives Material geſammelt; die Biologen und Naturforſcher haben die körperlichen
Seiten desſelben, die Philoſophen, Geographen und Ethnologen die pſychologiſchen und
ſittengeſchichtlichen einer ſtrengeren Sichtung und Ordnung unterworfen. Urgeſchichte,
Sprachvergleichung, Völkerpſychologie und andere Wiſſenszweige kamen hinzu: die
Ethnographie oder Völkerkunde entſtand neben der etwas älteren, mehr naturwiſſenſchaft-
lichen Anthropologie. Und ſo iſt heute ein großes, teilweiſe ſchon bearbeitetes Material
aus dem Gebiete der Raſſen- und Völkerbeſchreibung und -Vergleichung vorhanden, das
der Verwertung für geſellſchaftswiſſenſchaftliche Reſultate harrt. Leicht wird ſie freilich
nicht ſein; Anthropologie und Ethnographie arbeiten noch weſentlich an den über-
wiegend naturwiſſenſchaftlichen Elementen ihrer Disciplin; die Grundprobleme ſind noch
beſtritten, teilweiſe unaufgeklärt; die Klaſſifizierung der Erſcheinungen und die daraus
ſich ergebenden Schlüſſe ſind noch wenig vollendet. Dennoch müſſen wir verſuchen,
einige der Grundfragen hier zu beſprechen, welche auf die wichtigſten volkswirtſchaft-
lichen und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Probleme einen beherrſchenden Einfluß haben;
daran ſchließen wir dann einen kurzen Überblick über die Reſultate der Völkerkunde,
um die anthropologiſchen und pſychologiſchen Ausgangspunkte für vergleichende Be-
trachtung der verſchiedenen Raſſen- und Völkertypen, für ihr verſchiedenes Handeln und
ihre verſchiedenen volkswirtſchaftlichen Einrichtungen zu gewinnen.
59. Die verſchiedenen Raſſen und Völker und das Princip der
Vererbung. Wir ſehen heute eine kleine Zahl von Raſſen, d. h. Gruppen von ver-
ſchiedenen Stämmen und Völkern, welche aber doch ſeit Jahrtauſenden einen im ganzen
einheitlichen körperlichen und geiſtigen Typus darſtellen, welche wir in ſich als bluts-
verwandt betrachten, auf einheitliche Abſtammung zurückführen; und daneben eine große
Zahl Unterraſſen, Stämme und Völker, welche wir als Teile der Raſſen anſehen, welche
je als Spielarten der Raſſen in ſich einen trotz aller Miſchung doch homogeneren
körperlichen und geiſtigen Charakter als die Raſſen zeigen. Wir können nur annehmen,
daß die vorhandene Übereinſtimmung innerhalb der Raſſen und der Völker auf dem
Princip der Vererbung beruhe, d. h. daß wie die Pflanzen und Tiere, ſo auch die
Menſchen in der Hauptſache ihre Eigenſchaften und Merkmale auf die Nachkommen ver-
[141]Die Raſſen; die Vererbung und Variabilität.
erben. Jeder Arzt, jeder Reiſende, jeder Menſchenkenner beſtätigt es, daß die Körper-
und Schädelbildung, die Hautfarbe und Haarart, die Sinnesorgane, die Inſtinkte, die
Geſten, die Gefühle und Charaktereigenſchaften, ſowie viele geiſtige Züge und Begabungen
ſich im ganzen vererben. Die primitivſten Völker gehen davon aus wie alle Geſellſchafts-
einrichtung ſeit Jahrtauſenden. Die Römer ſagten: Fortes creantur fortibus et bonis.
So unzweifelhaft nun aber die Thatſache der Vererbung gleicher Eigenſchaften im
ganzen iſt, im einzelnen kommen die verſchiedenſten Modifikationen vor und ſtellen ſich
Zweifel darüber ein, wie weit das Princip der Vererbung reiche. Vater und Mutter
ſind ſelbſt, auch wenn ſie demſelben Kreiſe oder Geſchlechte, demſelben Volke angehören,
verſchieden; das eine Kind gleicht dem Vater, das zweite der Mutter, das dritte irgend
einem Vorfahren, und ganz gleichen die Kinder nie den Eltern. Wir wiſſen, daß wie
der Typus der Haustiere, ſo auch der Habitus beſtimmter Völker ſich geändert hat;
ſchon die Differenzierung der Völker aus den Raſſen zeigt dies. Weder die Völker noch
die Raſſen ſind ganz konſtant; wir halten ja auch die Pflanzen und Tierarten heute
nach den Forſchungen Darwins, Wallaces und anderer nicht mehr für ganz konſtant.
Wir müſſen alſo annehmen, daß eine Reihe von Umſtänden in den folgenden Gene-
rationen kleine Abweichungen des im ganzen feſtſtehenden Typus erzeugen: das Princip
der Variabilität begrenzt das der Vererbung. Wenn die Vererbung immer
gleiche Weſen ſchaffen würde, ſo wäre die Entwickelung des heutigen Menſchen aus
ſeinen rohen Ahnen nicht denkbar. Würden die Variationen im Laufe der Entwickelung
ſich nicht vererben, ſo wäre es nicht möglich, daß wir neben lange ſtillſtehenden auf-
ſteigende und ſinkende Raſſen und Völker hätten.
Die Vorausſetzung der Vererbung körperlicher Eigenſchaften iſt klar, ſie liegt im
Weſen des phyſiologiſchen Abſtammungsprozeſſes; aber daß auch Inſtinkte, Gefühle,
Charaktereigenſchaften, Neigungen, Dispoſitionen, geiſtige Eigenſchaften ſich vererben, leugnet
heute kein Naturforſcher; die Vorausſetzung hiefür iſt, daß dieſe Eigenſchaften irgendwie
im Gehirn und Nervenſyſtem einen phyſiologiſchen Ausdruck gefunden haben und ſo auf
die Nachkommen übergehen. Je komplizierter die höheren menſchlichen Eigenſchaften
ſind, deſto mehr ſcheinen ſie allerdings körperlich und geiſtig individuell und nicht ver-
erbbar zu ſein. Die Grenze zwiſchen dem Vererblichen und Nichtvererblichen ſteht heute
noch keineswegs feſt. Aber auch die gegen das Princip der Vererblichkeit am meiſten
ſich kritiſch verhaltenden Forſcher geben doch zu, daß den heutigen Kulturvölkern eine
ererbte Geiſtes- und Gefühlsgeſchichte von Jahrtauſenden aufs Geſicht geſchrieben ſei.
Spencer führt die ſogenannten angeborenen Denkformen auf erblich gewordene Erfahrungen
zurück, die im Gehirn ungezählter Generationen erblich fixiert ſeien. Darwin ſagt: „Es
iſt nicht unwahrſcheinlich, daß die tugendhaften Neigungen nach langer Übung vererbt
werden.“ Man hat gemeint, die Erblichkeit ſei für die Art etwas Analoges wie das
Gedächtnis für die Individuen: ein großes Anhäufungs-, Sammel-, Kondenſierungs-
inſtrument.
Die Vorausſetzung der Variation liegt in dem einfachen Umſtand, daß zwar die
Raſſeneigenſchaften der beiden Eltern nebſt denen ihrer Voreltern die ausſchlaggebenden
Haupturſachen für die Art ihrer Nachkommen ſind, daß aber daneben Geſundheit, Alter,
Ernährung, zufällige Lebensverhältniſſe der Eltern, das Überwiegen des Einfluſſes von
Vater oder Mutter, in weiterer Linie alle Bedingungen, welche auf die Eltern und das
Kind vor, während und nach Empfängnis, Schwangerſchaft und Geburt wirken, wie
Klima, Lebensweiſe, Ernährung, Beruf, Staats- und Geſellſchaftsverfaſſung, Wohn- und
Geſundheitsverhältniſſe, leichte und ſchwere Exiſtenz, Kampf ums Daſein, Jugend-
behandlung und Erziehung, — daß alle dieſe Umſtände als modifizierende Nebenurſachen
auf jedes einzelne Individuum wirken. So ſtellt jeder Menſch im Augenblicke ſeiner Geburt
eine eigenartige Modifikation ſeiner Vorfahren dar und wird nun ſelbſt durch Umgebung,
Erziehung und Schickſal nach dieſer oder jener Seite hin weiter umgebildet. Wir
kommen gleich auf den Streit, inwieweit dieſe ſogenannten erworbenen Eigenſchaften ver-
erblich ſeien. Jedenfalls iſt klar, daß durch den Einfluß aller dieſer Nebenurſachen der
mittlere Raſſen- oder Volkstypus, der in jedem Menſchen vorhanden iſt, eine kleine
[142]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Abweichung erfährt oder erfahren kann. Dieſe Abweichung iſt unter Umſtänden eine
bloß individuelle, nicht ſich weiter vererbende; ſie kann aber, zumal wenn beide Eltern
unter denſelben Nebenurſachen ſtehen, wenn dieſe ſich durch Generationen fortſetzen, wenn
die Modifikation ſich mit dem vorherrſchenden Typus gut verträgt und deshalb mit
ihm verſchmilzt, zu einer erblichen werden. Und dies wird in dem Maße leichter und
ſtärker geſchehen, als dieſe Nebenurſachen ihre modifizierende Wirkung auf eine größere
und in ſich geſchloſſene Zahl von Menſchen, die unter ſich geſchlechtlichen Verkehr haben,
lange Zeiträume hindurch ausüben. Die Variation befeſtigt ſich dadurch, wird zu einem
neuen, beſonderen Typus, der nun, ſei es für immer, ſei es für ſehr lange Zeiten, ſich
gleichmäßig erhält.
Damit haben wir die Möglichkeit, die einheitliche Entſtehung der verſchiedenen
Raſſen und Völker zu verſtehen. Der Streit darüber, ob die heute lebenden 1500
Millionen Menſchen einheitlichen oder mehrfachen Urſprunges ſeien, iſt freilich noch nicht
geſchlichtet; manche Naturforſcher leugnen die Einheit, Darwin bejaht ſie. Die Wahr-
ſcheinlichkeit, daß die amerikaniſchen Ureinwohner mongoliſcher Abkunft ſeien, ſpricht für
ſie. Ebenſo die Thatſache, daß faſt alle Raſſen ſich gegenſeitig mit Erfolg begatten,
daß die Entwickelung der Sprache, der Gebräuche und Neigungen, der Werkzeuge und
Waffen, der ſittlichen Vorſtellungen und Geſellſchaftseinrichtungen doch bei allen eine
ähnliche iſt, daß alle Raſſen in eine gewiſſe Wechſelwirkung treten. Wenn daneben die
Natur- und die Kulturvölker, die paſſiven und die aktiven Raſſen außerordentlich große
Unterſchiede zeigen, wenn die plötzliche Übertragung der Einrichtungen und Sitten der
höheren auf die niederen letztere oft vernichtet, ſo beweiſt das nicht ſowohl gegen die
Einheit als für die große Verſchiedenheit und die unendlich langen Epochen der Ent-
wickelung, für den durch die Variabilität erzeugten Fortſchritt der höheren Raſſen. Die
niederen ſieht man heute allgemein als den Typus der älteſten Menſchenart an, welchen
wahrſcheinlich manche noch niedriger ſtehende ausgeſtorbene vorangingen.
Bei der Kompliziertheit des Entwickelungsprozeſſes der Raſſen und Völker, bei
dem großen Einfluß der unten noch zu beſprechenden Raſſenmiſchung iſt es naheliegend,
daß alle Verſuche, Klarheit über ihr Verhältnis zu ſchaffen durch eine Einteilung je
nach einem einzigen Merkmal, wie Hautfarbe, Schädelform und -Größe, Haarart und
-Farbe, Heimatland und Sprache ſcheitern mußten. Wir haben uns hier auch nicht
mit der Frage aufzuhalten, wie viele Haupt- und Nebenraſſen es gebe: die abend-
ländiſche, weiße (kaukaſiſche) und die mongoliſche, gelbe mit je etwa 550 Millionen, die
ſchwarze der Neger mit etwa 200 Millionen Menſchen ſind jedenfalls die wichtigſten.
Daß die verſchiedenen Raſſen ausſchließlich oder ganz überwiegend durch den natür-
lichen Daſeinskampf der Individuen und Gruppen und die geſchlechtliche Zuchtwahl,
durch welche jeweilig die höchſtſtehenden Männer und Weiber ſich begatteten und eine
höher ſtehende, ſich den Lebensbedingungen beſſer anpaſſende Nachkommenſchaft erzielten,
entſtanden ſeien, wie Darwin will, wird heute nicht mehr zuzugeben ſein. Darwin
ſelbſt hat ſeine Gedanken hierüber nicht näher ausgeführt. Der brutale Daſeinskampf
hat ſicher viele ſchwächere Stämme vernichtet; innerhalb derſelben hat er zumal früher
keine große Rolle geſpielt, wie wir ſchon ſahen; die geſchlechtliche Zuchtwahl hat inner-
halb der Völker wohl einzelne Familien und Klaſſen emporgehoben, die aber keineswegs
dann immer die kinderreichſten waren; ſie kann einzelne Raſſen verändert haben; wie
ſie die Raſſen- und Völkerſcheidung beherrſcht oder beeinflußt habe, iſt nicht recht
erſichtlich. Anſprechender ſcheint daher die Migrationstheorie von Moritz Wagner,
welche die Darwinſche nicht negiert, ſondern als Beſtandteil, aber von geringerer Be-
deutung, einſchließt. Dieſer große Reiſende und Naturforſcher verlegt mit vielen anderen
die Entſtehung des eigentlichen Menſchen in das Ende der Tertiärzeit, alſo in eine
Epoche der größten Veränderungen der Erdoberfläche und der Lebensbedingungen für
alle organiſchen Weſen. Er knüpft hieran und an die Wanderungen aller Lebeweſen und
ſpeciell der Menſchen an; er läßt die Menſchenraſſen, wie die Tier- und Pflanzenarten
durch Wanderung von Individuenpaaren oder kleinen Gruppen nach verſchiedenen Welt-
teilen mit verſchiedenem Klima, verſchiedenen Lebensbedingungen in eben dieſer Zeit
[143]Die Entſtehung der Raſſen und Völker.
großer geologiſcher Umwälzungen und größter Variabilität entſtehen. Lange dauernde
Iſolierung und Inzucht habe dann die heutigen Hauptraſſen in ihrer morphologiſchen
Eigentümlichkeit erzeugt und befeſtigt; die ſpäter eintretende definitive Geſtaltung der
Erdoberfläche und Meere habe zu ähnlich tiefeinſchneidenden Wanderungen und Art-
bildungen der Flora und Fauna, wie der Menſchen nicht mehr Anlaß geben können.
Die Scheidung der Raſſen in Stämme und Völker ſei nun unter anderen Bedingungen
erfolgt: nicht mehr ſo große räumliche Trennungen, ſo lange Inzucht, ſo verſchiedene
Klimate und Lebensbedingungen hätten hier gewirkt, ſondern nur eine Scheidung zwiſchen
bisher nahen, unter ähnlicher Lebensbedingung ſtehenden Menſchen. Die Scheidewände,
welche die Stammes- und Volksorganiſation, die Religion, die verſchiedene Kultur-
entwickelung in der prähiſtoriſchen und hiſtoriſchen Zeit erzeugt haben, könnten nicht ſo
große wie die einſt zur Zeit der Raſſenſcheidung vorhandenen Schranken geweſen ſein.
Die Hypotheſe Wagners hat jedenfalls viel Wahrſcheinlichkeit für ſich. Sie
erklärt, warum die Raſſenſcheidung eine viel ſtärkere war als die Völkerſcheidung, warum
in hiſtoriſcher Zeit keine neuen Raſſen entſtanden ſeien, was bei Darwins Annahme
von ſtets fortdauernden Urſachen ganz unklar bleibt. Indem Wagner an die geologiſche
Geſchichte der Erde und an die Wirkung ſehr großer Zeiträume für die Raſſenbildung,
kürzerer für die Völkerbildung anknüpft, wird die größere Konſtanz und die ſchärfere
Ausbildung der Raſſeneigentümlichkeiten verſtändlich. Durch die Heranziehung zahlreicher
anderer Urſachen, wie der geologiſchen Epochen und des Klimas, der Dauer der Inzucht
und der Geſchloſſenheit der Raſſenelemente, der Ernährung und Lebensweiſe neben der
Zuchtwahl und dem Kampf ums Daſein wird auch begreiflicher, warum einzelne Raſſen
und Völker unendlich lange Zeiträume hindurch ſtabil blieben, andere ſich zu höherer
Daſeinsform entwickelten oder zurückgingen. Vieles bleibt freilich auch bei ihm noch
dunkel: z. B. iſt die Annahme einer größeren Variabilität zur Zeit der Raſſenbildung
durch keine ſtrengen Beweiſe erhärtet. Das Maß, in welchem die verſchiedenen Einflüſſe
auf die Bildung von Raſſen und Völkertypen wirken, iſt noch ganz unaufgeklärt. Wir
werden nachher auf einiges derart, z. B. auf das Klima und die Erziehung ſowie auf
die Raſſenmiſchung zurückkommen.
Auf die heute zwiſchen den Darwinianern und Weismann geführte Kontroverſe, in
welchem Maße und durch welche phyſiologiſchen Prozeſſe einzelne von den Eltern erworbene
Eigenſchaften auf die Kinder übergehen und vererbt werden, können wir hier nicht näher
eingehen. Wir wollen nur ſagen, daß man wohl ſeit Lamarck und Darwin (durch
die Theorie der Pangeneſis) dieſe Vererbung etwas überſchätzte. Der Schwiegerſohn
Darwins, Francis Galton, hat ſelbſt 1889 ſeine weiter gehenden Anſichten von 1869
etwas beſchränkt. Nur daran iſt wohl doch feſtzuhalten, daß auch Weismann und
ſeine Schule die ſucceſſive Umbildung des Raſſen- und Völkertypus nicht leugnen;
ſie verlegen die Urſachen nur an andere Punkte, etwas weiter zurück, glauben an eine
definitive Umbildung des Typus im ganzen nur durch Einflüſſe, welche länger, Gene-
rationen hindurch, dauern.
Über das Maß der möglichen und wahrſcheinlichen Variabilität von Generation
zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert wiſſen wir heute auch noch recht wenig.
Galton führt als Beiſpiel, wie mit der ſteigenden Zahl von Ahnen der Anteil des
einzelnen an den Eigenſchaften der Nachkommen abnehme, folgende Zahlen, aber ganz
hypothetiſch an: Wenn ein Kind 9/10 von ſeinen Eltern hat, 1/10 ſeines Weſens als
individuelle Variation ſich darſtellt, ſo haben ſeine Eltern nur 9/10 von 9/10 = 81/100
von ihren Großeltern, 729/1000 von ihren Urgroßeltern; gehen wir über das 50. Glied
zurück, ſo hat das Kind nur 1/5000 von jedem ſeiner Ahnen. Es iſt aber einzuwerfen,
daß, wenn dieſe Ahnen ſich alle glichen oder, was wahrſcheinlicher, der größere Teil
derſelben viele Dutzend male in den genealogiſchen Linien ſich wiederholt, doch die Ver-
änderung keine große zu ſein braucht. Und weiter, daß die Kette rückwärts ſchon bei
geringer Zahl der Generationen ſehr große Epochen umfaßt. Rümelin erinnert daran,
daß der 11. unſerer Ahnen mit Luther, der 32. mit Karl d. Gr. lebte und der 60.
wahrſcheinlich auf den Steppen Hochaſiens dem Thor und dem Odin Pferde ſchlachtete.
[144]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Die Frage liegt nahe, ob der Blutszuſammenhang es nicht doch bewirkt, daß wir mit
ihm mehr Ähnlichkeit haben als mit einem Neger oder Indianer, ſelbſt wenn dieſer mit
uns aufgewachſen und ebenſo wie wir erzogen wäre.
Die äußerlich meßbaren Nachweiſe über Variabilität geben einen gewiſſen Anhalt;
aber im ganzen wollen ſie nicht viel ſagen, da ſie zu roh ſind, in das innere kompli-
zierte Weſen der phyſiologiſchen Umbildungen gar nicht eindringen. So wenn Ribot
meint, die Geſamtnervenmaſſe des Kulturmenſchen ſei der des Wilden um 30 % über-
legen. Oder wenn wir wiſſen, daß das Gehirn eines Buſchmannes 900, das eines
afrikaniſchen Negers 1300, das eines Europäers 1400 g durchſchnittlich wiege, daß bei
den höheren Raſſen die größeren Schädel bis 1900, bei den niedrigen nur bis 1500 g
kubiſchen Gehaltes gehen; wir werden bei ſolchen Angaben mindeſtens gleich hinzufügen
müſſen, daß neben der Größe andere Gehirneigenſchaften, z. B. das Maß der Windungen
des Gehirns ꝛc., ebenſo wichtig oder wichtiger ſind Über die anderen Körperteile und
ihre Ausbildung haben wir auch einzelne Meſſungen: nach der Beſtimmung mit dem
Dynamometer verhält ſich die Körperkraft des engliſchen Koloniſten zu der des Van-
diemenländers wie 71 zu 51. Aber mit all’ derartigem iſt über das eigentliche Problem,
die Größenkonſtatierung der Variabilität, der Möglichkeit des Fortſchrittes nicht allzu-
viel geſagt.
So bleibt, um die Völker zu ſchildern, weſentlich nur der Weg, aus ihrer Ge-
ſchichte und ihren geiſtigen Äußerungen ſie pſychologiſch zu faſſen, den wir unten
betreten.
60. Die einzelnen Urſachen der Raſſen- und Völkerbildung:
Klima, Lebensweiſe, Erziehung, Raſſenmiſchung. Die Einwirkung des
Klimas und der Naturverhältniſſe auf den Menſchen haben wir im vorigen Abſchnitte ſchon
berührt, auch erwähnt, daß ſeit Montesquieu, Herder, Condillac eine ſehr ſtarke Betonung
dieſes Einfluſſes von gewiſſen Seiten ſtattfand, daß die Einwirkung a) phyſiologiſch,
b) pſychologiſch (durch die Natureindrücke auf das Seelenleben) und c) indirekt durch
die Art der mit der Natur gegebenen Lebensweiſe ſein kann. Die Fragen ſind ſehr
kompliziert und noch wenig ſtreng methodiſch unterſucht. Nach dem Stande unſeres
heutigen Wiſſens, wie es z. B. Ratzel zuſammenfaßt, werden wir ſagen müſſen: Sicher
findet eine Einwirkung des Klimas und der Natur auf Körper und Geiſt des Menſchen
in gewiſſem Umfange ſtatt; aber ſie iſt weniger weitgehend, als man bisher oft annahm,
ſie iſt jedenfalls an ſehr lange Zeiträume geknüpft, iſt ſehr verſchieden ſtark je nach
Raſſen und Völkern. Je höher ſtehend und anpaſſungsfähiger die Raſſe iſt, deſto geringer
ſcheint der Einfluß zu ſein; die Wirkung iſt mehr indirekt als direkt, d. h. die Natur
und das Klima beeinfluſſen mehr die Art der Ernährung, Beſchäftigung, Lebens- und
Geſellſchaftsweiſe, als daß ſie direkt die menſchlichen Eigenſchaften umbildeten. Für die
Bejahung des Zuſammenhanges läßt ſich anführen, daß der Neger doch wohl ebenſo
der heißen wie der Kaukaſier der gemäßigten, der Hyperboreer der kalten Zone angehört,
daß dieſelbe Raſſe meiſt im Norden und Süden der Länder eine etwas andere Spielart
zeigt, daß der Angloſachſe in Nordamerika einen abweichenden Typus entwickelt, daß
der Volkscharakter im Gebirge und in der Tiefebene ſtets ziemlich verſchieden iſt. Immer
bleiben ſolche Schlüſſe etwas problematiſch, weil die ſonſt mitwirkenden Umſtände nicht
auszuſondern ſind. Und wenn Cotta gar die Menſchen nach den Gebirgsformationen
ſondern will, Luther, Mirabeau, O’Connell und Napoleon nur als Söhne des Urgebirges
begreifen, wenn Ed. Meyer die Züge der Semiten aus dem Bewohnen der Wüſte
ableiten will, ſelbſt wenn Ratzel meint, die Europäer würden in den ſüdamerikaniſchen
Ebenen faſt zu Steppenindianern, wenn Peſchel ſagt, auch die Indogermanen würden, an
der nordweſtlichen Durchfahrt ſitzend, mit der Harpune an Eislöchern auf das Wallroß
lauern, ſo möchte ich zu ſolchen Ausſprüchen doch einige Fragezeichen machen. Die
beiden letzten Thatſachen beweiſen mehr, daß die Natur zu beſtimmter Lebensweiſe und
Ernährung hinführt, als daß das Klima den Menſchen gänzlich umbildet. Die Kau-
kaſier leben heute in allen Zonen und werden niemals Neger, Indianer, Papuas oder
Mongolen werden; die Neger werden in Jahrhunderten nicht Indogermanen im
[145]Wirkung von Klima, Lebensweiſe und Erziehung auf den Raſſentypus.
gemäßigten Klima. Ein ſolcher Völkerkenner wie Livingſtone betont immer wieder, die
Raſſe ſei viel wichtiger als das Klima; ich möchte ſagen: was wir mit Raſſe bezeichnen,
ſind die innerſten, intimſten, ſeit Jahrtauſenden natürlich-phyſiologiſch fixierten, nur
ſehr ſchwer modifizierbaren Urſachen; um dieſe lagern ſich in weitem Umkreiſe, immer
weniger, immer indirekter wirkend, die äußeren Naturverhältniſſe. Der Zuſammenhang
und die Wechſelwirkung zwiſchen den centralen und peripheriſchen Urſachen bleibt; der
Menſch iſt nicht unabhängig von der äußeren Natur, aber die Abhängigkeit nimmt mit
der Kultur ab.
Niedrigſtehende Raſſen ſterben in ungewohntem Klima, höhere wiſſen durch geſchickte
Lebensführung ſich anzupaſſen, zu erhalten; ſie werden zwar durch Verpflanzung in
anderes Klima in einzelnen Beziehungen andere, aber nie werden ſie das, was die ſtets
dort lebenden Raſſen ſind.
Iſt es richtig, daß die Variabilität früher größer war, daß die phyſiologiſche
Umbildung des Raſſentypus zu gewiſſen, für immer feſtſtehenden Reſultaten führte, ſo
iſt es auch ſehr leicht verſtändlich, daß alle Umbildung durch äußere Einflüſſe heute
ihre feſten Grenzen hat, daß man ſagen konnte, jedenfalls nicht das Klima, in dem die
Kaukaſier in den letzten Jahrhunderten, ſondern das, in dem ſie früher viele Jahrtauſende
lebten, hätte ihnen ſeinen Stempel aufgedrückt. —
Zu den äußeren Einflüſſen, welche auf die körperliche und geiſtige Konſtitution
der Menſchengruppen wirken, gehören nun auch Lebensweiſe, Beſchäftigung, Ernährung
und Erziehung. Bleiben wir zunächſt bei den drei erſteren, ſo haben ſie ſicher einen
größeren Einfluß als das Klima; ſoweit das letztere wirkt, geſchieht es weſentlich
durch ſie. Wenn Ratzel ſagt, der Araber erhielt als Hirte, Nomade, Reiter, Räuber
mit der Zeit anders gebaute Gliedmaßen als der Ägypter, der ſeit Jahrtauſenden Laſten
trägt, hackt, pflügt, Waſſer ſchöpft, ſo hat er ſicher recht. Die auf ſolche Weiſe aus-
gebildete Verſchiedenheit der Völkertypen ſetzt ſich in der ſocialen Klaſſenbildung fort, wie
wir unten ſehen werden, hat aber innerhalb desſelben Volkes immer ein Gegengewicht
in der Blutsmiſchung der Klaſſen und der einheitlichen geiſtig-moraliſchen Atmoſphäre,
welche auf die Völker im ganzen wirkt. Dieſe Gegenwirkungen fehlen, ſoweit getrennt
wohnende Stämme und Völker durch verſchiedene Lebensweiſe und Beſchäftigung
differenziert werden.
Ob die Erziehung und aller Einfluß geiſtiger Faktoren, wie Sprache, Sitte,
Recht, all’ das, was wir oben (S. 15 ff.) unter dem Begriff der geiſtigen Kollektivkräfte
zuſammengefaßt haben, den Raſſen- und Völkertypus überhaupt beeinfluſſe und in
welchem Maße, iſt eine vielerörterte Frage. Locke, Hume, Helvetius, Lamarque und
ſeine Nachfolger, heute die Socialiſten und manche Sociologen, z. B. Babington, ſind
geneigt, auf dieſe Urſachen allein den Volkscharakter wie den der Individuen zurück-
zuführen. Die Theorie von der Wirkung des „Milien“ wird überſpannt: ſociale und
Erziehungseinrichtungen ſollen aus jedem Menſchen alles machen können. Es iſt die
der Überſchätzung des Natureinfluſſes entgegengeſetzte Übertreibung.
So viel iſt richtig, daß der einzelne, die Klaſſe, das Volk zwar einerſeits unter
der Herrſchaft ererbter Eigenſchaften, Inſtinkte, unbewußter Gefühle und Willens-
regungen, andererſeits aber unter dem Einfluß des großen geiſtigen Fluidums ſtehen,
das ſie umgiebt, das durch Nachahmung, Erziehung und geſellſchaftliche Berührung
wirkt. Die Abgrenzung dieſer zwei Urſachenreihen iſt um ſo ſchwieriger, als jede
dauernde Wirkung der letzteren Art zu Sitte und Gewohnheit wird, ſich nach und nach
auch phyſiologiſch im körperlichen Organismus ausprägt und ſo beginnt, in das Bereich
der vererblichen Faktoren überzugehen. Iſt ſo der Gegenſatz der erblichen und der durch
geiſtige Beeinfluſſung neu geſchaffenen Eigenſchaften kein ſchroffer ſondern nur ein gradueller,
ſo iſt damit auch zugegeben, daß die durch Erziehung oder ſonſtwie erfolgende
Abſtempelung der Individuen und weiterer Kreiſe eben in dem Maße Typen bildend ſei,
als es ſich um dauernde Einflüſſe handelt. Es iſt klar, daß die geiſtige Umgebung, die
dauernd in gewiſſer Richtung wirkt, zu einer Stütze und Vorausſetzung für gewiſſe Züge
des Volks- und Raſſencharakters wird. Zugleich aber werden wir betonen, daß jedes
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 10
[146]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Wegfallen dieſer Stützen, dieſes Erziehungsprozeſſes die Exiſtenz dieſer Züge des Cha-
rakters bedrohe. Wir werden annehmen, daß, um je feinere und individuellere Züge
es ſich handele, deſto weniger die Umbildung in erbliche Eigenſchaften gelinge, deſto
ausſchließlicher die Wirkung des Milieu ſei. Aber eine gewiſſe Grenze haben alle dieſe
Einflüſſe doch. Ribot ſagt: Die Erziehung geſtaltet um, aber ſie ſchafft nicht; ſie wirkt
mehr auf die mittleren, als auf die hoch- und die niedrigſtehenden Individuen; ſie bleibt
mehr ein Kleid, ein Firnis gegenüber dem Ererbten.
Alle Erziehung, aller Einfluß der Umgebung iſt eine neue, nur kurz dauernde
Wirkung; in den ererbten Raſſeeigenſchaften ſteckt eine angehäufte, befeſtigte Wirkung
von Jahrhunderten und Jahrtauſenden. Und deshalb iſt die Raſſenmiſchung ſo tief-
greifend, auf die wir nun noch einen Blick werfen. —
Wir verſtehen unter Raſſenmiſchung den geſchlechtlichen Verkehr, der zwiſchen
den Mitgliedern verſchiedener Raſſen und Völker ſtattfindet und die Erzeugung von
Miſchlingen zur Folge hat. Sie findet ſtatt, wo verſchiedene Raſſen und Völker infolge
von Eroberung und Unterwerfung, von Ein- und Auswanderung durcheinander wohnen,
wo durch Sklaveneinfuhr, durch Raub- und Kaufehe, wo an Grenz- und Handelsplätzen
eine gemiſchte Bevölkerung vorhanden iſt. Sie entfernt ſich, wo ganz nahe verwandte
Raſſenelemente ſich miſchen, von der gewöhnlichen Blutsmiſchung größerer Völker nicht;
denn dieſe haben ſtets etwas verſchiedene Elemente in ſich, wie es z. B. Engländer und
Schotten ſind. Wo es ſich um die Miſchung weit abſtehender Raſſen handelt wie
z. B. bei der von Kaukaſiern mit Negern, Auſtraliern und Indianern, muß ſie ganz
andere Folgen haben.
Es iſt damit ſchon ausgeſprochen, welche verſchiedenen thatſächlichen Verhältniſſe
mit dem Worte Raſſenkreuzung umfaßt werden. Und es iſt damit auch begreiflich,
wenn verſchiedene Gelehrte, welche das eine oder das andere Extrem dieſer thatſächlichen
Miſchungen im Auge haben, über die Folgen ſo ganz Verſchiedenes ausſagen. Stets aber
handelt es ſich um die Thatſache, daß Menſchen verſchiedener Raſſe oder Volkes, d. h.
alſo von erheblicher körperlicher und geiſtiger Verſchiedenheit, aus verſchiedenen Lebens-
bedingungen, aus verſchiedenem Klima urſprünglich ſtammend, mit ſehr verſchieden ver-
erblichen Anlagen Kinder zeugen; und es iſt klar, daß damit eine Möglichkeit ſo ſtarker
und raſcher Variation entſteht wie ſonſt niemals. Es werden Menſchen geboren, die in
ſich einen gemiſchten Typus darſtellen und einen neuen ſchaffen, wenn die Miſchung eine
umfangreiche und fortgeſetzte iſt. Zugleich iſt aber naheliegend, daß Menſchen entſtehen,
die zunächſt mehr oder weniger unausgeglichene körperliche und geiſtige Gegenſätze in
ſich vereinigen; und ſie ſollen nun in einer Geſellſchaft leben und wirken, welche
außer ihnen die zwei oder mehr verſchiedenen älteren Raſſentypen in ſich enthält, wo-
durch für alle geſellſchaftlichen und wirtſchaftlichen Einrichtungen die größten Schwierig-
keiten ſich ergeben; zu den heterogenen Raſſetypen kommen verſchiedene ſittliche und
geiſtige Atmoſphären. Stets handelt es ſich um einen ſchwierigen, meiſt lange dauernden
phyſiologiſch-körperlichen und geſellſchaftlich-geiſtigen Verſchmelzungsprozeß.
Für beide iſt es klar, daß ſie um ſo leichter gelingen, um ſo raſcher zu einem
tüchtigen neuen, ausgeglichenen Raſſentypus und Geſellſchaftszuſtand führen können,
wenn der Abſtand der gekreuzten Elemente ein geringer war. Die großen hiſtoriſchen
Beiſpiele günſtiger Raſſenkreuzung liegen hier: die Miſchung der olivenbraunen, mon-
goloiden Malayen mit den negerartigen, ſchwarzen Papuas hat die kräftigen melane-
ſiſchen Völker, die der Türken mit Tataren und Kaukaſiern den kriegstüchtigen Osmanen-
ſtamm, die von Negern und Arabern im nördlichen Afrika Völker geſchaffen, die weit
über den Negern ſtehen. Im Großruſſen iſt mongoliſches, im Norddeutſchen ſlaviſches,
im Nordfranzoſen deutſches Blut und nicht zu ihrem Schaden; im Engländer haben
keltiſche und nordgermaniſche Elemente eine Herrſchernation von ſeltener Kraft und
Fähigkeit erzeugt. — Immer darf auch für dieſe Miſchungen nicht überſehen werden,
daß der ausgeglichene neue Völkertypus erſt das Werk von vielen Generationen war,
daß lange große Schwierigkeiten, häßliche Zwittererſcheinungen, ſchwere Kämpfe den
günſtigen Folgen vorausgingen.
[147]Die Raſſenmiſchung.
Wo es ſich um ſehr verſchiedene Raſſenelemente handelte, hat eine naive Staats-
kunſt früher mit Recht geſucht, die Blutsmiſchung, teilweiſe auch das Zuſammenwohnen,
das Verkehren, Geſchäftemachen möglichſt zu erſchweren. So vor allem im indiſchen
Kaſtenweſen, dann in der holländiſchen Verwaltung Javas, in der ſpaniſchen Amerikas.
Auf die Dauer haben dieſe Schranken nie die Miſchung verhindert. Das ſpätere
römiſche Reich, die Völkerwanderung, noch mehr das neuere Kolonialleben zeigen die
wichtigſten Beiſpiele ſolcher Miſchung — teilweiſe auch mit den überwiegend ungünſtigen
Folgen für die Miſchlingsindividuen und für die geſellſchaftlichen Zuſtände. Daher die
bekannten ungünſtigen Urteile: ſtets ſiege der tieferſtehende Typus in den Miſchlingen;
ſie ſeien meiſt ſchwächer, hätten keine kräftige Nachkommenſchaft. Hehn will den Unter-
gang des römiſchen Reiches auf die Raſſenmiſchung zurückführen und erwartet beſtialiſche
Ausgeburten von den Kreuzungen in der heutigen Kolonialwelt. Es fragt ſich, ob
darin nicht eine ſtarke Übertreibung liege.
Wahr wird ſein, daß ſolche Kreuzung je nach den Elementen und ihrer Zahl,
ihrer ſtarken oder geringen Lebenskraft gute oder ſchlechte Folgen haben könne; jede
zu große Verſchiedenheit, jede Verbindung zu heterogener erblicher Eigenſchaften muß
Menſchen von einem ganz kulturfeindlichen Typus erzeugen. Aber ebenſo oft kann
auch die Miſchung der niederen Raſſe Elemente beſſerer Art, einer von der Kultur
erſchöpften Raſſe neue körperliche Lebenskraft zuführen, wie das in der untergehenden
römiſchen Welt durch die Germanen, vielfach auch ſonſt, z. B. bei ſchwächlichen Ackerbauern,
durch Nomaden geſchah. Häufig haben die Klagen über die ſchlechten Eigenſchaften der
Miſchlinge ihre Wurzel nicht ſowohl in ihrem Typus als in der Geſellſchaftsverfaſſung.
Ratzel ſetzt dies ſehr gut für die Miſchlinge Südafrikas auseinander: die Miſchlinge
von Europäern und Eingeborenen haben mehr Intellekt und Thatkraft als letztere, ſie
werden aber von den Europäern nicht als voll anerkannt, wachſen bei den Eingeborenen
auf, in deren Sitten ſie nicht mehr hineinpaſſen. So werden ſie leicht die kühnſten
Jäger, Schützen, Wüſtenwanderer, aber auch die größten Spitzbuben und Verbrecher.
Wir werden zuſammenfaſſend ſagen können, die Raſſenmiſchung ſei eines der wich-
tigſten Glieder in der Kette der vielgeſtaltigen Urſachen der Ausbildung eigentümlicher
Raſſen- und Völkertypen. Ihre Wirkung hängt ſtets von dem Umfange der Miſchung,
der Zahl der Miſchehen, der Verſchiedenheit der ſich miſchenden Elemente ab; weiterhin
von den ſocialen Klaſſen, in denen ſich die Miſchung vollzieht. Wie ſchon das Durch-
einanderwohnen verſchiedener Raſſen ſeine großen ſittlichen, ſocialen, wirtſchaftlichen
und politiſchen Schwierigkeiten bietet, ſo auch die Einfügung der Miſchungsprodukte in
die beſtehenden Zuſtände. Die Wirkung wird leicht zuerſt ungünſtig ſein, ſowohl was
die Individuen und ihre Eigenſchaften als was die ſociale und rechtliche Seite betrifft.
Aber die Schwierigkeiten und Schattenſeiten können überwunden und in günſtige Folgen
umgebildet werden, wenn durch eine Reihe von Generationen ein neuer ausgeglichener,
einheitlicher Volkstypus ſich gebildet hat. Ein ſolcher wird für alle höheren Formen
der Kultur, für freie politiſche Verfaſſungs- und Verwaltungsformen, für geſunde ſociale
Verhältniſſe, für alle Klaſſenbeziehungen immer das erſtrebenswerte Ziel ſein.
Und daher bleibt das Eindringen gewiſſer niedriger Raſſen, wie heute z. B. der
Chineſen in Amerika, der Slaven in Oſtdeutſchland, eine Gefahr für die höherſtehenden
Raſſen, ihre Lebenshaltung und Geſittung, ihren beſtehenden Raſſentypus, zumal wenn
der Blutszufluß ein zu ſtarker iſt. Die Frage, ob die jüdiſchen Raſſenelemente in unſeren
Kulturſtaaten günſtig wirken, hängt von ihrer Zahl und ihrer ſehr verſchiedenen Qua-
lität, ihrer ſocialen Stellung, ihrem Beruf und von den Elementen ab, mit denen ſie
geſchäftlich, geſchlechtlich und ſonſt in Kontakt kommen. Wichtiger faſt als die Raſſen-
miſchung iſt zunächſt ihr geſchäftliches Wirken: die Thatkraft und Konkurrenz der beſſeren
jüdiſchen Elemente iſt da von Segen, wo ſie neben kräftige und geſunde germaniſche zu
ſtehen kommen; wo aber ihre geringeren Handelsleute weſentlich auf verarmte Bauern,
Hausinduſtrielle und Proletarier drücken, da wird das Umgekehrte der Fall ſein. Auch
die maſſenhaften proletariſchen Juden und anderen fremden Elemente im Oſtende Londons
ſind ein ſocialer Mißſtand. Aber jede generelle Verurteilung der Raſſenmiſchung iſt verfehlt.
10*
[148]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
61. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die niedrigſten Raſſen.
Gehen wir nach dem vorſtehenden von der Annahme aus, es gebe verſchiedene Raſſen-
und Völkertypen, welche durch die Vererbung ihrer körperlichen und geiſtigen Eigen-
ſchaften wie durch die im ganzen vorhandene Überlieferung ihrer Vorſtellungen, Sitten
und Einrichtungen einen jedenfalls nur ſehr langſam ſich ändernden Charakter haben,
ſo muß der wiſſenſchaftliche Verſuch, dieſe Typen zu ſchildern, angezeigt ſein, ſo ſchwierig
die Aufgabe ſein mag, ſo ſehr ich geſtehe, daß mir viele Kenntniſſe und Eigenſchaften
dazu fehlen. Der Verſuch wird doppelt ſchwierig, wenn man, wie hier, ganz kurz ſein
muß. Aber ich wage ihn, weil auch der Anfänger volkswirtſchaftlicher Studien ein Bild
davon bekommen muß, wie der verſchiedene Volkscharakter auf die verſchiedenen Geſell-
ſchafts- und Wirtſchaftszuſtände wirkt. Die Mittel zu dem Verſuche liegen in der
heutigen Völkerkunde, der Geſchichte, der vergleichenden Pſychologie, den Reiſebeſchrei-
bungen, alſo in weit auseinander liegenden Wiſſensgebieten. Schon die Heterogenität
des Materials wird eine nachſichtige Beurteilung des billigen Leſers herbeiführen.
Ich beginne, hauptſächlich im Anſchluß an H. Spencer, mit einigen Strichen,
welche ſich auf die Auſtralier, Polyneſier, Buſchmänner, Hottentotten, die niedrigſt
ſtehenden Indianer ꝛc. beziehen; ſie gehören zwar verſchiedenen Raſſen an, aber ſie
gehören zuſammen, ſofern ſie die unentwickeltſten, älteſten Raſſentypen darſtellen oder
durch Ungunſt ihres Standortes, Trennung von den Kulturvölkern und andere Miß-
ſtände auf das niedrigſte Niveau menſchlichen Lebens herabgedrückt ſind.
Sie ſind von niedriger Statur, haben im allgemeinen als Folge der Wirkung
primitiver Lebensweiſe unentwickeltere Beine als Arme, eine übermäßige Entwickelung
der Verdauungsorgane, die der Ungleichmäßigkeit der Ernährung entſpricht. Die Buſch-
männer verfügen über einen Magen, welcher demjenigen der Raubtiere ſowohl hinſichtlich
der Gefräßigkeit als hinſichtlich des Ertragens von Hunger vergleichbar iſt. Damit
hängt die Unthätigkeit und Unfähigkeit zur Arbeit zuſammen; zeitweiſe Überfüllung
und zeitweiſer Mangel hemmen gleichmäßig die zur Arbeit notwendige Lebensenergie.
Die Körperkraft iſt mäßig, nicht ſowohl wegen mangelnder Muskel- als Nerven-
ausbildung; das kleinere Gehirn, die geringere Gefühlsthätigkeit laſſen es nicht zu
erheblichen Kraftanſammlungen kommen. Dagegen iſt die Anpaſſung an die Unbilden
des Klimas, der Witterung größer, ebenſo wie die Fähigkeit, Wunden und Krankheiten
zu überwinden. Unempfindlich gegen äußere Einwirkungen, bleiben ſolche Menſchen
auch paſſiv und ſtumpf; früh geſchlechtsreif, altern ſie auch früh. Arm an Vorſtellungen,
welche die nächſtliegenden Begierden überſchreiten, und unfähig, den unregelmäßigen Lauf
ſeiner Gefühle zu beherrſchen, zeigt der primitive Menſch eine außerordentliche Un-
beſtändigkeit, ein impulſives Weſen, ein unbedachtes Handeln, das ſich aus den Emo-
tionen faſt nach der Art inſtinktiver Reflexbewegungen entladet. Künftige Erfolge
werden nicht vorgeſtellt, bewegen das Gemüt nicht; daher gänzliche Sorgloſigkeit um
die Zukunft, kein Streben nach Beſitz und deſſen Erhaltung; Freigiebigkeit und Ver-
ſchwendung, Mitgabe der Waffen und Werkzeuge ins Grab. Lange andauernde Faulheit
wechſelt mit kurzen, großen Anſtrengungen des Spiels, des Tanzes, der Jagd und des
Kampfes; meiſt fehlt noch jede Gewöhnung an ſtete Arbeit. Die geſellſchaftliche Rückſicht-
nahme auf andere Menſchen wird durch die Leidenſchaften des Augenblickes ſtets wieder
zerſtört; ſie zeigt ſich faſt nur in der Eitelkeit und Putzſucht, in der Furcht vor Ver-
achtung und Hohn, vor Gewalt und Strafe. Die heterogenſten Gemütsbewegungen
ſtehen unvermittelt und unausgeglichen nebeneinander, zärtliche Liebe und Milde neben
härteſtem Egoismus und Grauſamkeit. Die geringe Entwickelung der geſellſchaftlichen
Inſtinkte hindert jedes Leben in größeren Gemeinſchaften; es fehlt das Wohlwollen,
das durch die Rückſichtnahme auf andere, ferner ſtehende Menſchen ſich bildet, der
Gerechtigkeitsſinn, der erſt eine Folge verwickelter Vorſtellungen ſein kann. Aber dieſe
Menſchen werden viel ſtärker und unerbittlicher, viel konſervativer von den äußeren
Gebräuchen des Lebens, von der Sitte beherrſcht, die ſie in der Jugend gelernt. Ihr
Nervenſyſtem verliert überfrüh jede Bildſamkeit, wie ſie zur Aufnahme der geringſten
Neuerung nötig iſt.
[149]Die niederſten Raſſen, die Neger.
Der Intellekt ſolcher Menſchen iſt bedingt durch die engen Grenzen ihrer Beob-
achtung; ſie faſſen das Nächſte lebendig und gut auf, haben Augen und Ohren von
unglaublicher Schärfe; ihre Anſchauungen ſind ſtark und haften feſt; Leute, welche nicht
fünf zählen können, bemerken unter einer großen Herde Rindvieh jedes fehlende Ochſen-
geſicht. Aber alle Beobachtung iſt auf das Sinnliche eingeſchränkt; allgemeine Thatſachen
faſſen ſie nicht; allgemeinere Ideen wie Urſache und Wirkung begreifen ſie nur dunkel;
das Gleichförmige im Vielfältigen können ſie nicht faſſen, mit ſchlechten Zeitmaßen aus-
geſtattet, Entferntes nicht klar vorausſehen; mangelnder Unterſcheidungsſinn läßt ſie
Nützliches und Unnützliches oft nicht richtig erfaſſen. Erinnerung, Scharfſinn, Auf-
faſſung haben ſie für Anekdoten und Fabeln, aber nicht für das Weſentliche der Dinge.
Bei großer Fähigkeit nachzuahmen, fehlt ihnen jede produktive Einbildungskraft, daher
ſie Jahrtauſende hindurch mit denſelben Werkzeugen arbeiten, dieſelben Hütten bauen.
Jedes fragende Geſpräch wie jedes Nachdenken ermüdet ſie.
Die pſychologiſchen und religiöſen Vorſtellungen der niedrigſten Raſſen hängen
mit der geringen Fähigkeit, Lebloſes vom Belebten, Wachen vom Traum, Leben vom
Tod zu unterſcheiden, zuſammen. Die Seele erſcheint als ein Schatten, der den Körper
zeitweiſe verlaſſe, in ihn zurückkehre, ſich aber auch, beſonders nach dem Tode, anderswo
feſtſetzen könne.
Im einzelnen weichen nun die verſchiedenen niederen Raſſen von dieſem Durch-
ſchnittsbild mannigfach ab. Der Malaye iſt ernſt, bedachtſam, verſchloſſen, während der
Papua heiter, geſchwätzig und ausgelaſſen erſcheint. Manche der Naturvölker zeigen
ſchon eine erhebliche Entwickelung über einen derartigen Zuſtand hinaus. Die Malayo-
Polyneſier haben Handel und Eigentum, ſie beſitzen Häuptlinge, deren Gewalt auf
Kraft und Kunſt der Rede beruht; ſie haben höhere religiöſe Vorſtellungen, feiern in
Liedern und Sagen ihre großen Männer. Höher als alle anderen Naturvölker ſtehen
einzelne der nordamerikaniſchen Indianerſtämme, die ja auch zu einer nicht unerheblichen
Geſittung gelangt ſind. Sie haben es zu einem erſtaunlichen Maß ſittlicher Selbſt-
beherrſchung durch kriegeriſche Zucht gebracht, ſo daß ſie alle Todesqualen und Martern
mit Hohnlächeln ertragen, ohne Streben nach individuellem Beſitz ihre ganze Kraft in
den Dienſt des Stammes oder der Stammesbündniſſe ſtellen.
62. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Neger und ver-
wandten Stämme. Die Negerſtämme Afrikas, die ihr Centrum im Sudan und in
den Bantuſtämmen haben, nach Nordoſten mit hamitiſch-ſemitiſchen Elementen gemiſcht
ſind, von daher auch die Elemente eines höheren Wirtſchaftslebens erhalten haben, wurden
früher vielfach unterſchätzt. Es iſt eine Raſſe, die allein neben den höherſtehenden es zu einer
Bevölkerung von gegen 200 Millionen in Afrika, 20 Millionen in Amerika gebracht hat,
die faſt durchgängig zu einem leidlich geordneten Bodenbau und Hirtenleben gekommen iſt.
Es fehlt ihnen der Sinn für das Ideale wie für die Wahrheit, ſie ſind arm an eigener
Erfindung; aber es ſind Stämme mit ſtarken Muskeln, naiv ſinnlicher, kräftiger
Empfindung; große Gutmütigkeit und natürliche Sanftmut ſtehen einer ungezügelten
Phantaſie und Roheit gegenüber; eitel, ausgelaſſen wie die Kinder in ihrer Freude,
freſſen ſie Menſchenfleiſch und töten in der Leidenſchaft ohne Gewiſſensbiſſe; ſie ſterben
vor Heimweh, aber jede Pfeife verführt ſie zum Tanz. Der Übergang von der leicht-
fertigſten Luſtigkeit zu düſterer Verzweiflung kommt kaum bei anderen Völkern ſo vor;
umſtändliche Geſchwätzigkeit liebt der Neger über alle Maßen; im Handel iſt er zudring-
lich, unermüdlich, bald ſchmeichelnd, bald jammernd, beſucht Märkte faſt mehr der Unter-
haltung als des Gewinnes wegen, überliſtet den Europäer dabei ſehr häufig. Die Kinder
lernen leicht bis zum 12. Jahre, haben ein erſtaunliches Gedächtnis, mit dem 14. bis
20. Jahre tritt vollſtändiger geiſtiger Stillſtand ein. Ihre Trägheit und Sorgloſigkeit
hat man oft übertrieben; ihre Kornſpeicher ſprechen für eine gewiſſe Sorglichkeit; ihre
phyſiſche Kraft und Gewandtheit iſt dem Europäer überlegen; der Neger und jedenfalls
die Negerin arbeiten, ſoweit die Bedürfniſſe ſie dazu nötigen; niemals freilich aus Freude
an der Arbeit. Sie arbeiten auch als freie Leute mit Energie, wenn ſie ein lockendes Ziel
vor ſich ſehen, ſo z. B. die die Unabhängigkeit liebenden Kaffern als Knechte oder Arbeiter,
[150]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
bis ſie ſo viel verdienen, ein Weib zu kaufen. Sie haben einen ſtark entwickelten Sinn
für Beſitz, man könnte ſie habgierig nennen; Raubzüge, hauptſächlich Viehraubzüge,
ſind im Innern ſehr verbreitet. Was die wirtſchaftliche Kultur ſo niederhält, iſt die
geringe Stetigkeit und Feſtigkeit aller Verhältniſſe, die Unfähigkeit faſt aller Neger, mit
Ausnahme der Kru, das Waſſer zur Schiffahrt, meiſt auch zum Fiſchfang zu nützen,
der Wege- und Brückenmangel, die Abgeſchloſſenheit der einzelnen kleinen Stämme unter-
einander. Zu einer Schrift haben es die Neger nirgends gebracht, den Pflug erſetzt die
Hacke, die Drehſcheibe iſt ſo unbekannt wie die eigentliche Gerberei, wohl aber iſt die
Kunſt des Eiſenſchmelzens und die Eiſenverarbeitung ziemlich allgemein. Die kriege-
riſchen Stämme unter ihnen ſind die mit hamitiſch-ſemitiſcher Blutmiſchung, obwohl
auch Kaffernſtämme, vornehmlich die Zulus und muhamedaniſche Stämme im Innern
es zu einer feſten militäriſchen Organiſation gebracht haben. Ihr Familienleben ſteht
faſt nirgends mehr auf dem tiefſten Standpunkte; die väterliche Gewalt iſt meiſt ſtark
entwickelt, das Mutterrecht beſeitigt. Die Mutterliebe iſt eine ſehr ſtarke, zahlreiche
Kinder ſind erwünſcht. Zu einem höher entwickelten Staatsleben und einer Baukunſt
wie die amerikaniſchen Halbkulturvölker in Pern und Mexiko hat es kein Negerſtamm
gebracht. In einem günſtigeren Erdteile würde wahrſcheinlich ihre geſamte Kultur eine
höhere ſein; die ſchwierigſten Anfänge des techniſchen und ſocialen Lebens hat dieſe
Raſſe immerhin überwunden.
63. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Mongolen. Die gelben,
ſchwarzhaarigen, rundköpfigen Menſchen der mongoloiden Raſſe gehören zu den kräftigſten
und leiſtungsfähigſten der ganzen Erde. Von den Finnen, Magyaren und Türken, welch’
letztere beide ſehr viel ariſches Blut in ſich aufgenommen haben, reichen ſie über die
mittelaſiatiſchen Nomadenſtämme der Turkmenen, Mongolen und Tibetaner bis zu den
alten Halbkulturvölkern der Chineſen und Japaner; wahrſcheinlich gehören auch die
ſämtlichen amerikaniſchen Stämme zu ihnen und die Malayen ſowie viele Elemente
Indiens und der indiſchen Inſelwelt; die Hyperboreer enthalten ebenfalls mongoliſches
Blut. Allein die Chineſen ſind auf gegen 400 Millionen zu beziffern; die mongoloiden
Völker zuſammen auf etwa 5—600 Millionen. Mit ihrem eingedrückten Naſenbein,
ihren vortretenden Backenknochen und geſchlitzten Augen ſind ſie trotz ihrer verſchiedenen
Entwickelung und weiten Verbreitung doch überall wiederzuerkennen; faſt überall zeigen
ſie auch dieſelbe Körperkraft, dieſelbe Unempfindlichkeit und die ſcharfen Sinne, denſelben
realiſtiſchen, zähen Nützlichkeitsſinn, den Mangel an Idealismus und Individualismus,
an geiſtigem Schwung und Tiefſinn, wie ihn die Indogermanen beſitzen. Ihre Kultur-
leiſtungen ſind aber nicht gering. Ihre abgehärteten mittelaſiatiſchen Nomadenſtämme
haben die kräftigſten und kühnſten Menſchen und Eroberer erzeugt. Auf den malayiſchen
Inſeln, in Oſtaſien und Centralamerika ſind von ihnen despotiſch-kriegeriſche und fried-
lichem Hackbau ergebene große Reiche mit patriarchaliſch-ſocialiſtiſcher Verfaſſung gebildet
worden; dieſe haben aus ſich einen Grad der wirtſchaftlichen Kultur geſchaffen, der
zeitweiſe der abendländiſchen überlegen war. Auch der Jeſuitenſtaat von Paraguay
gehört hieher. Hartes Kaſtenweſen und Vernichtung aller individuellen Freiheit der
großen Maſſe entſprach dem Raſſentypus, der in den warmen Flußniederungen bis zur
ſchlauen und weichlichen Friedfertigkeit herabſank, aber auch erſtaunliche Friedenswerke
von größerer Dauer ſchuf als die meiſten anderen Raſſen. Die Chineſen, vielleicht in
Urzeiten mit der indiſchen oder babyloniſch-aſſyriſchen Kultur in Berührung, haben
nicht mit Eroberung ſondern mit Koloniſation, freilich in einem faſt wie eine Feſtung
geſchützten und iſolierten Lande, eine binnenländiſche, in ſich geſchloſſene Volkswirtſchaft
geſchaffen, deren Erfolge die europäiſchen Philoſophen des 18. Jahrhunderts als Muſter
prieſen. Die Chineſen ſind das ſparſamſte, nüchternſte, geduldigſte, unermüdlichſte, bieg-
ſamſte, zäheſte und größte Volk der Erde; harmlos und gutmütig, ausdauernd und
ſcharfſinnig, im Familienleben und in Verbänden aller Art ganz aufgehend, ohne
moderne Unternehmung und ohne Lohnproletariat, haben ſie Landbau und Gartenkultur,
Straßen- und Brückenbau, Waſſerverkehr im Innern, Handel und Verkehr ſchon vor
Jahrhunderten und Jahrtauſenden entwickelt. Auf dem kleinſten Fleck Erde kommt der
[151]Die Mongolen, die Semiten.
Chineſe aus; in Kleinhandel und Hauſiererei iſt er pfiffiger als jede andere Raſſe.
Im kaufmänniſchen Geſchäft überwindet er teilweiſe den Europäer, wie er den meiſten
Raſſen Oſt- und Mittelaſiens überlegen iſt. Als Arbeiter iſt er weit herum in der
Welt begehrt, in den Vereinigten Staaten bereits gefürchtet. Ob ſeine Billigkeit und
Geſchicklichkeit in der Zukunft der europäiſchen Induſtrie gefährlich werde, zumal wenn
er unter die Leitung von weſtländiſchen Unternehmern komme, iſt die große Frage der
Zukunft. Zunächſt macht das Reich einen inneren Auflöſungsprozeß durch: wir tröſten
uns damit, daß der chineſiſche Scharfſinn über gewiſſe Grenzen nicht hinausgehe, daß
die Kunſt des Letterndruckes ohne Buchſtabenſchrift (ſeit 1040—50), die Kenntnis des
Pulvers ohne Feuerrohr, daß die höchſte manuelle Geſchicklichkeit und Arbeitſamkeit ohne
Maſchinen ihm bisher nicht ſo ſehr viel genützt haben. Sicher iſt, daß er im Hochmut der
Abgeſchloſſenheit erſtarrte, daß ihm der Kampf mit würdigen Gegnern fehlte, daß ihm
die 6000jährige Kontinuität ſeines Staatslebens ebenſo zum Fluche wurde, wie ſie ihn, in
der ſpießbürgerlichen Nützlichkeitsmoral Confutſes eingeſchloſſen, friedlich ſtagnieren ließ.
64. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die mittelländiſchen
Raſſen; die Semiten. Die Völker der mittelländiſchen Raſſe ſind die Träger der
höchſten menſchlichen Geſittung geworden; es muß das im engſten Zuſammenhange mit
ihren typiſchen Raſſeneigenſchaften ſtehen. Die Hamiten haben die ägyptiſche, die Semiten
die vorderaſiatiſche, die Indogermanen die indiſche, iraniſch-perſiſche und europäiſch-amerika-
niſche Kultur erzeugt. Eine gewiſſe Verwandtſchaft der Hamiten mit den Semiten und
dieſer mit den Indoeuropäern ſcheint feſtzuſtehen. Die drei Völkergruppen haben meiſt
in räumlicher Nähe, hauptſächlich um das Mittelmeer herum geſeſſen, haben einander
bekämpft und aufeinander gewirkt. Während wir aber von den Hamiten außer ihren
ägyptiſchen Leiſtungen wenig wiſſen, hauptſächlich auch die Miſchung der in Ägypten
zuſammengewachſenen Raſſenelemente noch keineswegs ganz klar iſt, ſteht die Entwickelung
der ſemitiſchen und indogermaniſchen Völker im hellen Lichte der Geſchichte. —
Die Semiten ſind der ältere Zweig; ſie haben, allerdings im Anſchluß an eine
ältere wohl mongoloide Kultur, an das akkadiſche oder ſumeriſche Reich im Mündungs-
gebiet des Euphrat die chaldäiſche, techniſche und wiſſenſchaftliche Kultur, die Grund-
lagen alles Maß- und Gewichtsſyſtems geſchaffen, ſie haben in ihrem phönikiſchen
Zweige, dem erſten großen Handelsvolke, die Formen des Handels und die Buchſtaben-
ſchrift, ſie haben die drei großen weltbeherrſchenden Religionen, den jüdiſchen Mono-
theismus, das Chriſtentum und den Islam geſchaffen; die Araber haben dann ebenſo
durch ihre Eroberungen wie durch ihren Handel, ihr Wiſſen und ihre Erfindungen
eine bedeutende Rolle im Mittelalter geſpielt. Die Semiten waren ſo mit ihrem leiden-
ſchaftlichen Gemüt, ihrem energiſchen Mut, ihrem hartnäckigen, zäh das Erworbene
feſthaltenden Willen, ihrem Glauben an ausſchließliche Berechtigung, ihrem harten
Egoismus, ihrer ſcharfen Abſtraktionskraft die Mauerbrecher für die höhere Kultur der
abendländiſchen Menſchheit; ſie wurden in Vielem die Lehrer der Indogermanen und
wirken durch die Juden auch heute noch überall mehr oder weniger als ein Leben und
Reibung erzeugendes, teils Fortſchritt, teils Auflöſung bringendes Element in den
indogermaniſchen Staaten fort. Wir wollen ſtatt der einſeitigen Verurteilung ihrer
Raſſeneigenſchaften durch einen ihrer Söhne, durch Ernſt Renan, lieber Chwolſon, der
auch ſelbſt Semite iſt, die Raſſe charakteriſieren laſſen. Er ſagt: Der praktiſche, nüch-
terne, mathematiſche, ja ſpitzfindige Verſtand hat bei den Semiten alle Mythologie, alle
Myſtik, alles Epos, alles Drama ausgeſchloſſen; er iſt in Religion und Wiſſenſchaft
relativ früh zu einfachen, großen Ergebniſſen, zu einer klaren Erfaſſung des empiriſchen
Lebens gekommen; die ſcharf ausgeprägte ſubjektive Individualität des Semiten erlaubt
innige Hingabe an Familie und Stamm, hat aber ſtets ſtaatlicher Unterordnung wider-
ſtrebt, trotz des weichen, faſt weichlichen Sinnes für Milde und Wohlthätigkeit und trotz
der raſchen Empfänglichkeit für allgemeine Ideen; das Ideal des Semiten war nie in
erſter Linie die Tapferkeit ſondern die weiſe Gerechtigkeit; geiſtige Eigenſchaften über-
ſchätzte beſonders das Judentum ſtets gegenüber körperlicher Kraft und Geſundheit; harte
Ausnützung der eigenen Klugheit, beſonders gegen unreife Stämme anderer Raſſe, ſpielende,
[152]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
witzelnde, ſarkaſtiſche Selbſtüberhebung, Habſucht und Sinnlichkeit ſind die nicht zu
leugnenden Schattenſeiten des im übrigen ſo reich begabten Raſſentypus.
Paßt dieſe Schilderung der Semiten im ganzen auch auf die ſeit 2000 Jahren
zerſtreut lebenden, überwiegend dem Handel ergebenen Juden, ſo fragt ſich freilich immer,
was hievon auf den ſemitiſchen Raſſentypus und was auf die Schickſale und die Berufs-
thätigkeit dieſes Zweiges zurückzuführen ſei. Sicher iſt, daß die Juden heute allerwärts
als Händler, Unternehmer, Bankiers und Journaliſten eine führende Rolle ſpielen, und
daß dies ebenſo mit ihrem Raſſentypus wie mit ihrer Internationalität zuſammen-
hängt; ihre große ſchriftſtelleriſche und politiſche Thätigkeit ſchließt nicht aus, daß der
ihnen ſonſt ſehr günſtige De Candolle recht hat, wenn er ſagt, die europäiſche Kultur
würde ſofort von Barbaren vernichtet werden, wenn die Staaten nach ihren Idealen
eingerichtet würden. Auch wer ſonſt ſie als Lehrmeiſter in geſchäftlichen Dingen an-
erkennt, wird Bismarck recht geben, wenn er ſagt, wo ihre Geſchäftsleute die politiſche
Leitung eines Staates beeinfluſſen, wie in Paris und Wien, ſei es vom Übel. Nicht
bloß das habſüchtige, auch das edle Judentum iſt meiſt unfähig, die ſtaatlichen Not-
wendigkeiten und Härten, den Mechanismus ſtaatlicher Inſtitutionen zu begreifen. Ein
ſchlagendes Beiſpiel hiefür ſind die ſocialen Theorien von Karl Marx. Vierkandt
charakteriſiert die Semiten mit dem Satze, der ſehr gut auf Marx paßt: ihre geiſtigen
Schöpfungen erreichen die Realität der Dinge nicht.
65. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Indogermanen; die
Ruſſen, Italiener, Franzoſen. Die Indogermanen ſtehen den Semiten als die
kräftigere, viel langſamer ſich entwickelnde, objektivere, geiſtig flüſſigere, gemütsreichere,
erfinderiſchere, naturfriſchere Raſſe gegenüber. Ihr Gemütsleben und ihre Phantaſie, ihre
träumeriſche Hingabe an die Natur und die Objekte ihrer Thätigkeit hätte ſie vielleicht an
großen, praktiſch-wirtſchaftlichen Leiſtungen gehindert, wenn ſie nicht überall die geiſtige
und techniſche Erbſchaft der Semiten übernommen hätten. Mit ihr gelangten ſie zu dem
ſie auszeichnenden harmoniſchen Gleichmaß der Körper- und Seelenkräfte, ſie erhoben ſich
viel leichter als jene über Subjektivität und Egoismus; ſie haben allein die Staats-
und Geſellſchaftsformen der heutigen Kulturwelt ausgebildet, welche auf der Fähigkeit
ruhen, mit weitem Blicke Vergangenheit und Zukunft, Nahes und Fernes zu umfaſſen,
die Individualität zu ihrem Rechte kommen zu laſſen, ihr Eigentum, perſönliche Frei-
heit und freie Bewegung und Ausbildung zu gewähren und doch mit ganzem Gemüte
einem großen Staatsverbande ſich hinzugeben, der Tauſende und Millionen umfaßt, in
dem Gerechtigkeit und Ordnung herrſcht, auch die unteren Klaſſen Schutz und Förde-
rung finden.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die wichtigſten der heutigen indogermaniſchen
Völker, wie ſie die neuere Geſchichte ausgebildet hat.
Im heutigen Rußland ſind verſchiedene ſlaviſche Stämme vereinigt mit finniſch-
uraliſchen und mongoliſchen Elementen. Zuerſt die organiſierende Kraft nordmänniſcher
Häuptlinge und die Annahme der griechiſchen Kirche, dann die zweihundertjährige Mon-
golenherrſchaft, in den letzten Jahrhunderten deutſcher Einfluß ſind die wichtigſten ein-
geſprengten und aufgepfropften Beimiſchungen. Ziemlich verſchiedenartig ſtehen ſich noch
heute der extravagante, verſchwenderiſche Pole, der nach dem Sprichwort auf der Jagd
einen Hahn erlegt, um beim Eſſen einen Ochſen zu verſpeiſen, der, ſtets elaſtiſch begeiſtert,
heiter und nachläſſig „polniſche Wirtſchaft“ treibt, dann der ackerbauende, ſtabile, alt-
väteriſche, um das heilige Kiew ſich gruppierende, ſentimentale, liederreiche Kleinruſſe
und endlich der moderne, mit Mongolen- und Tatarenblut viel mehr gemiſchte, dem
Handel und dem Gewerbe viel mehr zugeneigte, ſeit dem 16. Jahrhundert zur Herrſchaft
gelangte Großruſſe gegenüber. Und doch hat man geſagt, alle Ruſſen erſchienen wie
aus einem Troge gebacken, es ſei die größte Anzahl gleichartiger Menſchen, die es in
Europa gebe.
Aſiatiſches Nomadentum und ſlaviſcher Ackerbau, aſiatiſcher Despotismus und
europäiſche Kultur ſind im Ruſſentum verſchmolzen. Gewiſſe äußere und innere Züge
erinnern an die Chineſen: die Stirn, die Backenknochen, die Naſe, der Handels- und
[153]Die Indogermanen; Ruſſen, Italiener, Franzoſen.
Schachergeiſt, das vorwiegende Bauerntum, die Fähigkeit, zuerſt alle Schwierigkeit leicht
zu überwinden, dann ſtehen zu bleiben, die Anbequemung an jede Situation.
Der Ruſſe iſt weichen, zärtlichen Charakters und liebt die Muſik; er bleibt unter den
größten Entbehrungen munter; er iſt ein ausgezeichneter Bedienter, Handlanger, Soldat;
er geht als Bauer, als Krämer, als Hauſierer, als Arbeiter überall hin, wo der ruſſiſche
Doppeladler herrſcht, aber nicht über ihn hinaus. Der Ruſſe iſt überall zähe, ruhig,
geſchäftig, geſchmeidig und ſcharfſinnig im Geſchäft, das Ideal eines noch halb barba-
riſchen Handelsmenſchen; liſtig, zur Simulation geſchickt, dem Betrug nicht abgeneigt,
mit leidenſchaftlichem Triebe des Gelderwerbes, nach Trinkgeldern lüſtern bis zur Selbſt-
erniedrigung. Anhänglichkeit, Treue, maſchinenmäßige Ausdauer, Gehorſam zeichnen
ihn aus. Er liebt die Geſellſchaft, iſt von religiöſen Stimmungen beherrſcht, aber es
mangelt noch die Ehrlichkeit, das Zartgefühl, das Gewiſſen der höheren Kultur wie
die entſchiedene Energie, die höhere Intelligenz. Die Arbeit erſcheint der Maſſe faſt
noch als etwas Entehrendes. Der Ruſſe lebt vielfach noch in den Tag, verkauft ſein
Ehebette oder ſeine Silberſachen, wenn er eine Reiſe vorhat. Er iſt nicht ſo zuverläſſig
und pünktlich wie der Deutſche, aber auch nicht eigenſinnig wie dieſer. Er iſt Realiſt
in der guten und weniger guten Bedeutung des Wortes, wo der Deutſche Idealiſt iſt.
Die heutigen Italiener haben etruskiſches, italiſches, griechiſches, keltiſches,
phönikiſches, ſemitiſch-arabiſches, germaniſches Blut in ſich: eine einheitliche Nation ſind
ſie ſeit den Tagen der römiſchen Weltherrſchaft geworden; ſie waren es ſo früher als
alle anderen europäiſchen Nationen; dieſen Traditionen, der römiſchen Kirche und ihrer
Handelslage verdanken ſie ihre hohe mittelalterliche Kultur, die das Weſen des Volkes
bis heute beherrſcht. Die Italiener wurden damals die erſten rein individuellen Menſchen
der modernen Zeit.
Unter dem glücklichen Himmel werden die materiellen Bedürfniſſe leichter befriedigt
als im Norden; ſelbſt das Proletariat behält damit eine Freiheit, eine gewiſſe perſönliche
Würde, die, gepaart mit Anſtand und Schönheitsgefühl, mit einer Sprachfähigkeit ohne-
gleichen, die Nordländer überraſcht und beſchämt. Frugal, nüchtern, höflich und liebens-
würdig, geſchwätzig und muſikaliſch, aber auch naiv eigennützig und intrigant, klug
reflektierend zeigt der Italiener eine Einfachheit und Geſchicklichkeit im Denken und
Handeln, die vor allem auf der Abweſenheit von tieferen Gemütsbewegungen beruht.
Das Individuum iſt ein vollendeter Menſch, die Herrſchaft der Familie, der Geſellſchaft,
des Staates über ihn iſt gering; man findet ſich mit ihm, wie mit der Kirche, äußerlich
ab, geht klug ſeinen Plänen nach, erreicht dabei Großes in der Kunſt, in der Diplomatie,
auf vielen Gebieten; aber auch in der Intrigue, in der Pietätloſigkeit, der Falſchheit,
ja der Ruchloſigkeit. Gewiſſen und Scham ſpielen gegenüber der natürlichen Naivität,
der Phantaſie und der Leidenſchaft die geringere Rolle. Das Volk pfeift und ſingt,
ſchwatzt und geſtikuliert den ganzen Tag; es arbeitet zum großen Teil auch unermüdlich;
die unteren Klaſſen arbeiten ſich faſt zu Tode. Der italieniſche Arbeiter iſt dem deutſchen
vielfach überlegen. Dabei iſt der Gegenſatz der Stände geringer als irgendwo; der
Fürſt ſitzt in der Kneipe neben dem Spießbürger und neben ſeinem Pächter; alle Klaſſen
ſind ſtädtiſch angehaucht, haben ſtädtiſche Gewohnheiten, was freilich nicht hindert, daß
die Ärmſten der Armen auf dem Lande faſt ein Leben wie die Wilden führen. Heute
laſten über dem ſchönen Lande noch die Nachwirkungen jahrhundertelanger Mißregierung.
Wenn etwas das Volk wieder heben kann, ſo iſt es der geſunde, mit der Kirche ver-
ſöhnte nationale Staat, wenn ihm die Ausbildung gerechter Inſtitutionen und die Be-
ſeitigung der althergebrachten Korruption gelingt. Auch die volkswirtſchaftliche Hebung
des Landes hängt daran.
Die Franzoſen ſind als Romanen den Italienern verwandt. Aber den Kern
des Volkes bilden die galliſchen Kelten, welche die iberiſchen Ureinwohner ebenſo
abſorbierten wie die ſpäteren germaniſchen Einwanderer. Die 400jährige römiſche
Herrſchaft hat die dauerndſten Spuren im Volkscharakter hinterlaſſen; aber auch ſie
hat die reizbaren, ſchnell entſchloſſenen, geſprächigen, witzigen, eitlen und kampfluſtigen
Gallier aus Cäſars Zeit nicht ſowohl verändert als abgeſchliffen. Heute wie damals
[154]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
iſt es ein zierlicher, elaſtiſcher, unterſetzter Menſchenſchlag mit kleinem, ovalem Kopf
dunkeln, lebhaften Augen, ausdrucksvollen Geſichtern. Die Erſcheinung, die Form iſt
dem Franzoſen die Hauptſache; die Geſelligkeit iſt ihm ſein Lebenselement; von der
Mode beherrſcht, lebt er, um geſehen, bewundert, geehrt zu werden. Mit Anmut bewegt
er ſich in allen Lebenslagen; mit Geſchick und Geſchmack weiß er ſich das Haus und
das Leben einzurichten, nirgends anſtoßend, überall mit einem Witzwort ſich helfend.
Der ſcharfe, ſchematiſierende, ordnende Verſtand und die leichte, ſchwungvolle Erregbar-
keit, die glänzende und durchſichtige Sprache und der veredelte Kunſtſinn haben nach
den verſchiedenſten Seiten Großes geleiſtet; Frankreich war lange in Politik und Wiſſen-
ſchaft, Kunſt und Litteratur, Technik und Geſchmack an der Spitze der europäiſchen Kultur.
Heute iſt, wie das Hildebrand ſo ſcharfſinnig ausführt, der Grundzug des franzöſiſchen
Weſens rationelle Verſtändigkeit.
Wie die Ehe ſorgfältig ausgeklügelte Vernunftehe iſt, ſo iſt die Erziehung darauf
gerichtet, einen klugen, feinen Egoismus in wohlwollenden Formen zu erzeugen; die
Eltern wollen nicht charakterfeſte, geiſtesfreie Söhne haben, ſondern ihnen die Wege
ebnen, ſie davor bewahren, ſich lächerlich zu machen. Was man am höchſten ſchätzt,
iſt nicht feſter Wille, Mut, Arbeit um der Sache willen, ſondern Mäßigkeit, Beſonnen-
heit, Fügſamkeit gegenüber allen konventionellen Regeln. Nirgends iſt man ſo redlich
vom letzten Dienſtboten bis zum Millionär, ſo ordnungsliebend, ſolid und ſauber in
der Kleidung, ſo mäßig im Eſſen und Trinken, ſo wenig verſchwenderiſch, ſo klug
berechnend in der Sparſamkeit. Der Franzoſe iſt ſtets gefällig, nicht leicht generös; er
arbeitet in gewiſſen Jahren außerordentlich fleißig, aber um ſo früh als möglich ſich
zur Ruhe zu ſetzen oder um irgend ein Ordensbändchen, eine Auszeichnung zu erhalten;
uneigennütziges Arbeiten iſt ihm unverſtändlich. Auch in der Liebe, in der Religion
iſt er klug, vorſichtig, berechnend. Dieſe kluge Reflexion reicht für gewöhnliche Lebens-
lagen aus, verſagt aber leicht in den großen und beſonderen Augenblicken. Und daher iſt
das franzöſiſche Volk in ſolchen Lagen ſo kopf- und ratlos, von bleicher Panik, blinder
Leidenſchaft, ſelbſtſüchtiger Wildheit erfaßt. Es fehlen, ſagt Hildebrand, dem Franzoſen
jene ernſten männlichen Tugenden, die nur auf dem Boden des inneren individuellen
Lebens gedeihen. Es herrſchen wenigſtens bei einem erheblichen Teile die nüchternen
und rationaliſtiſchen Ideale der Mittelmäßigkeit und die Phraſen.
66. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: Die germaniſchen
Völker, die Deutſchen. Die romaniſchen und die germaniſchen Völker ſind die
Hauptelemente der europäiſchen Kultur, auf ihrem Zuſammenwirken und ihrer Wechſel-
wirkung beruht die europäiſche Geſchichte. Die Romanen ſind die älteren, die Germanen
die jüngeren Glieder derſelben Familie, jene ſitzen im Süden, dieſe im Norden, jene ſind
direkter von den Überlieferungen der Antike und der mittelalterlich-katholiſchen Kirche
beherrſcht als dieſe. Der Proteſtantismus und die geiſtigen, an ihn ſich knüpfenden,
ſittlichen und ſtaatlichen Reformbewegungen gehören der germaniſchen, nordeuropäiſchen
Welt an.
Die großen ſtattlichen Leiber, die blonden Haare und blauen Augen, die rückſichts-
loſe Härte, der unbeugſame Stolz, die hingebende Treue, das reine Familienleben der
Germanen bewunderten ſchon die Römer. Und dieſe Eigenſchaften finden ſich noch heute
bei manchen der germaniſchen Völker, zumal den ungemiſchteren nordgermaniſchen, wenn
auch ſo vieles ſeither da und dort unter anderen Verhältniſſen ſich wandelte, und
Schickſal, Klima, Raſſenmiſchung, Wirtſchaftsleben die einzelnen germaniſchen Stämme
und Völker weit auseinander führte.
Bleiben wir zunächſt bei den Deutſchen ſtehen, ſo werden wir ſagen können, daß
die Barbaren des Tacitus durch die Kämpfe mit Rom, die definitive Seßhaftigkeit, die
chriſtliche Kirche zwar ſchon etwas andere geworden ſeien, daß aber die lang dauernde
Naturalwirtſchaft und das Mißlingen eines eigenen centraliſtiſchen Staates, ſowie die Los-
löſung von Rom durch den Proteſtantismus doch auf längere Erhaltung ihrer älteren
Eigenſchaften hinwirkte, als ſonſt wohl geſchehen wäre. Noch iſt heute Deutſchland eine
Völkermutter wie einſtmals Iran; viele Jahrhunderte hat es alle Völker Europas mit
[155]Das deutſche Volk.
Soldaten verſehen, wie heute noch ſo viele Kolonien mit Auswanderern, Kaufleuten, Hand-
werkern und Bauern. Die abſtrömenden Glieder verlieren draußen ihre Nationalität, obwohl
es die kräftigſten und kühnſten Elemente ſind, während die zahmeren zu Hauſe bleiben. Noch
iſt heute beim Deutſchen die volle, oft unkluge Hingabe an die auf- und abwallenden
Gemütsbewegungen, der trotzige Kriegsmut vorhanden, noch heute iſt die Neigung zu
läſſigem Nichtsthun, zu übermäßigem Eſſen und Trinken in breiten Kreiſen nicht über-
wunden; noch heute zeichnet ſich der deutſche Arbeiter gegenüber dem franzöſiſchen nicht
durch größere Geſchicklichkeit und größeren Geſchmack, ſondern durch größere Zuverläſſig-
keit und allgemeinere Anſtelligkeit, weiteren Horizont aus. Der Deutſche lebt heute
noch gern in den Tag hinein, mit Gleichmut läßt er das Schickſal herankommen, ſtatt
es zu meiſtern. Er iſt heute noch mehr Weltbürger als nationaler Egoiſt. Er heiratet
nach der Stimmung des Gemüts, zeugt Kinder, lebt von der Hand in den Mund, wo
der Franzoſe überlegend berechnet. Trotz höherer Schulbildung iſt er ſchwerfällig, nicht
allzu ſparſam, läßt an Sonntagen draufgehen, was er in der Woche verdient, er hat
noch nicht ſo genau rechnen und handeln gelernt wie der Jude, der Romane, ja der
Slave und Chineſe. Freilich hat daran das ſpäte Durchdringen der Geldwirtſchaft und
der höheren Wirtſchaftsformen überhaupt ebenſoviel Anteil als der Volkscharakter. Und
die neueſte großartige Entwickelung der deutſchen Volkswirtſchaft hat manches daran
geändert. Außerdem ſtehen dieſen wirtſchaftlich ungünſtigen andere wertvolle Eigen-
ſchaften gegenüber: der unermüdliche Fleiß, die treue Hingabe an übernommene Auf-
gaben, die ſich anpaſſende Fügſamkeit. Das deutſche Heer und Beamtentum, die Reichspoſt
und die Staatsbahnen, unſere großen Aktien- und Privatunternehmungen waren und
ſind nur möglich durch ein Menſchenmaterial, das für ſolches Zuſammenwirken faſt
einzig in ſeiner Art iſt.
Im einzelnen iſt der deutſche Nationalcharakter bei den verſchiedenen Stämmen
ein ziemlich verſchiedener; ſie haben die verſchiedenſten Beimiſchungen fremden Blutes
in ſich, haben durch verſchiedene Geſchichte und verſchiedene Lage notwendig auch eine
verſchiedene Entwickelung erhalten. Die Ober- und die Niederdeutſchen ſind noch heute
in Sprache und Weſen getrennt. In den Oberdeutſchen ſteckt mehr keltiſches und roma-
niſches Weſen. Zu ihnen gehört der fröhliche, ſanguiniſche Öſterreicher, der derbe, ſchwer-
fällige Bayer, der regſame, gutmütige Thüringer, der ernſte und tiefe Schwabe, der
leichtlebige, halbromaniſierte Franke. Ein Wort über die beiden letzteren Typen nach
Rümelin und Riehl.
Der Schwabe will ſich in keine zwingende, nivellierende Form fügen; er ſtellt
Eigenartigkeit und Unbeugſamkeit des Charakters am höchſten, in ſpröder Subjektivität
will er lieber ſtocken, als ſich abgegriffener Modewendungen bedienen. Dabei in engem
Kreiſe, in dicht bevölkertem Lande überall anſtoßend, wird dem Schwaben leicht eine
in ſich gekehrte, bald nüchtern praktiſche, bald träumeriſche Lebensrichtung eigen, wenn
er nicht lieber in die Fremde zieht, um den Schranken zu Hauſe zu entfliehen. Der
gewandtere Fremde erſcheint ihm leicht als Schwätzer; er iſt gegen ihn zurückhaltend
und kritiſch. Neues eignet er ſich nicht ſo raſch an; aber er iſt unter dem Drucke der
Verhältniſſe ſparſam, betriebſam geworden; ſelbſt der Reiche verdeckt ſeinen Reichtum
eher, als daß er groß damit thäte.
Der fränkiſche Pfälzer hat wohl auch etwas vom allemanniſchen Demokratentrotz
in ſich, in erſter Linie aber zeigt er romaniſche Biegſamkeit und Geſchmeidigkeit; ſelbſt
der Bauer iſt rationaliſtiſch, dem Fortſchritt auf allen Gebieten ergeben; er iſt
gewürfelter, pfiffiger, geldgieriger als alle ſeine öſtlichen Nachbarn. Und dieſe Eigen-
ſchaften ſind auf alle Franken übergegangen. Nicht umſonſt ſagt ein rheinheſſiſcher
Dichter: „Mer is uff derre Welt (freilich auch Gott zu Ehren), Jo doch for ſunſcht nix
do, als for ze profederen.“ Man will gewinnen, nirgends verſtummen, überall das
letzte Wort haben, als geſcheit gelten. Der Unterſchied von Stadt und Land iſt ver-
wiſcht. Heiteres Kneipenleben, witzige, launige Geſelligkeit herrſcht. Viel Aufklärung,
Freude an der Arbeit und am Beſitz, individualiſtiſche Selbſtändigkeit ſtehen dicht neben
Eigendünkel, Materialismus, Habſucht, Verſchwendung und Bettelei.
[156]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Den Übergang zum Norden machen die ernſten, nüchternen, aber auf armem
Boden zurückgebliebenen, jedoch tüchtigen Heſſen, die geweckten, ruhigen, intelligenten
Sachſen, die den Thüringern verwandten Schleſier. Der Nordoſten Deutſchlands enthält
eine Miſchung ſlaviſcher Elemente mit allen anderen deutſchen Stämmen: es iſt auf
dieſem wiedereroberten Kolonialboden das kräftige, nüchtern verſtändige, unternehmungs-
luſtige Geſchlecht erwachſen, das den deutſchen Staat wieder aufgerichtet hat, auch in
den Fortſchritten der Technik und der großen Induſtrie jetzt in erſter Linie ſteht. In
Holſtein, Weſtfalen, Hannover und den Niederlanden ſitzt der niederſächſiſche Stamm,
jene gens robustissima, die reinſte deutſche Bauernraſſe; trotzig und ernſt, im ſchweren
Kampfe mit den Elementen hat ſich dieſer Menſchenſchlag zu dem beſten Material für
ein geſundes Staatsweſen und eine künſtlich gefügte Volkswirtſchaft entwickelt. Es ſind
die Nachbarn und nächſten Verwandten der Holländer, welche die Gunſt ihrer Lage und
der Heldenkampf gegen Spanien im 17. Jahrhunderte zu glänzender Höhe emporhob.
Von ihnen giebt E. M. Arndt eine gute Schilderung.
Ungeſchlachte, ſchlotterige Leiber, gemächlich und nachläſſig in der Erſcheinung,
freundlich gutmütige Geſichter; ſelbſt bedeutende Menſchen ſehen gewöhnlich, ſelbſt die
Feurigen ſchläfrig aus. Ohne Leidenſchaft, ohne Phantaſie, ohne alle Eitelkeit lebt
dieſer Menſchenſchlag nur dem Zweckmäßigen, Tüchtigen, Ordentlichen. Pedantiſch, klein-
meiſterlich, ſäuberlich im Hauſe, widmet ſich jeder mit raſtloſer Thätigkeit ſeinem Berufe,
bekämpft mit hartnäckigem Freiheitstrotz jede Tyrannei. Eigenſinnig, hartnäckig am
Alten klebend, verſtändig, zäh im Glauben, naiv, in der Kunſt das Kleinſte treu wieder-
gebend hat dieſes Volk in ſeinem Handel, in ſeinem Wohlſtand, in der Rechtswiſſen-
ſchaft, der Mathematik, den Naturwiſſenſchaften das Höchſte erreicht, was man mit
biederer Mühe und trockenem Ernſte allein erreichen kann.
67. Ethnographiſche Einzelſchilderung: Die Engländer und
Nordamerikaner. Schlußergebnis. Die Engländer ſind eine Miſchung von Kelten,
Niederſachſen und franzöſiſch-romaniſchen Normannen. Von den Kelten haben ſie Sprach-
klang und Beweglichkeit, von den Sachſen die ſtarken Leiber, den guten Magen, die
harten Nerven, die derbe Sinnlichkeit, den tapferen Mut, von den Normannen romaniſche
Staats- und Geſellſchaftseinrichtungen und vornehme ariſtokratiſche Lebenshaltung: ein
grobes derbes, feſtes, deutſches Gewebe mit franzöſiſcher Stickerei hat Kohl das engliſche
Weſen genannt. Beim Schotten hat keltiſche Geiſteskraft und norwegiſch-däniſches
Germanentum zuſammengewirkt, um ihn noch verſtändiger, nüchterner, aber auch pfiffiger,
erwerbsſüchtiger zu machen.
Die inſulare Lage und eine politiſche und wirtſchaftliche Entwickelung ohnegleichen
haben dem Engländer den feſten, in ſich geſchloſſenen Nationalcharakter gegeben. Sichere
Entſchloſſenheit, nüchterne Thatkraft, derbes Willensvermögen herrſchen vor. Stolz und
gleichgültig gegen andere verfolgt der Engländer ſeine Wege; ſchwerfällig, würdig, kurz
und kalt geht er der Arbeit, der Politik, dem Ernſt des Lebens nach; er läßt Welt und
Menſchen an ſich kommen, brutaliſiert und mißhandelt die ſchwächeren Raſſen und Klaſſen,
aber zu Hauſe iſt er in Familie und Gemeinde edel, pflichttreu, hochherzig. Mit
trotzigem Freiheitsſinn hat er eine Selbſtverwaltung, ein Vereins- und Aſſociationsweſen
geſchaffen, wie kein anderes Volk es hat. Peinlich folgt er der Sitte, die für ihn ſtets
einen ethiſchen Charakter hat, die zu verletzen er für Unrecht hält. Dieſe Strenge der
Sitte garantiert überall Solidität, innere Tüchtigkeit, gute Arbeit, brauchbare Werk-
zeuge und Maſchinen, Möbel und Zimmereinrichtungen, die tadellos ihren Dienſt thun.
Mit robuſten, gut genährten, viereckigen, ausdrucksvollen Körpern und Köpfen, mit
einer großen Portion geſunden Menſchenverſtandes, mit derben Vergnügungen, mit
kalter Gleichgültigkeit gegenüber Zurückbleibenden und Untergehenden, kämpfen ſie den
Kampf des Daſeins mit der Loſung: dem Mutigen gehört die Welt. Mit Organi-
ſationstalent, mit zähem Fleiß und techniſchem Geſchick arbeiten ſie unermüdlich an der
Verbeſſerung von Handel und Gewerbe und Ackerbau. Die Arbeit allein, ſagt J. St. Mill,
ſteht zwiſchen dem Engländer und der Langweile; die Mehrzahl fragt nicht viel nach
Vergnügungen und Erholungen; ſie kennen keinen anderen Zweck, als reich zu werden,
[157]Die Engländer und die Nordamerikaner.
es in der Welt zu etwas zu bringen. Die nationale Feſtigkeit und Ausdauer bei der
Arbeit erſtreckt ſich ſelbſt auf die unteren Klaſſen in England. Daher ſagt der engliſche
Werkführer von franzöſiſchen Arbeitern: it can not be called work, they do; it is looking
at it and wishing it done. Nicht umſonſt iſt der Engländer mit ſeinem freien Staats-
weſen, ſeiner perſönlichen Freiheit, ſeiner Familienzucht, ſeinem Rechtsbewußtſein, ſeiner
Gemeindeverfaſſung, ſeiner Fähigkeit, zu herrſchen und zu koloniſieren, der Erbe des
holländiſchen Welthandels und des holländiſchen Reichtums geworden.
Nur einer kommt John Bull in der wirtſchaftlichen Energie und Einſeitigkeit
gleich, das iſt ſein jüngerer Bruder Jonathan jenſeits des Ozeans. Das nord-
amerikaniſche Volk hat wohl ſchon erhebliche Bruchteile deutſchen, franzöſiſchen,
holländiſchen und iriſchen Blutes in ſich, aber in der Hauptſache iſt es engliſcher Ab-
ſtammung. Die jugendliche Kultur, das Unfertige der Zuſtände, die außerordentlichen
Gewinnchancen in dem bisher unerſchöpflich ſcheinenden Koloniallande ſtellen dort die
ſelfmade men, die mit nüchterner, rückſichtsloſer Thatkraft keinen anderen Lebenszweck
kennen als Geld zu verdienen, noch mehr in den Vordergrund als in England. Früh-
reife Kinder, halberwachſene Jungen ſtürzen ſich ſchon in die Dollarjagd. Wohl fehlen
daneben die ſittlichen Elemente nicht; in den alten Neuenglandſtaaten beſteht noch das
puritaniſche Quäkertum; in Newyork ſteckt noch etwas von holländiſcher Emſigkeit; in
Virginien und anderen ſüdlichen Staaten ſind die Traditionen der engliſchen Ariſtokratie
nicht erloſchen, in Boſton und Philadelphia iſt engliſche Gelehrſamkeit mit amerikaniſchem
Puritanertum gemiſcht. Überall herrſcht engliſche Sitte und Religioſität. Im Weſten
freilich iſt das Leben roher, die Sitten ſind jovialer. In Kentucky miſcht ſich der
ariſtokratiſche Geiſt des Südens mit der Arbeitsenergie des Yankee bis zur Tollkühnheit.
Im ganzen aber iſt der Charakter doch überall ähnlich. Es ſind tüchtige Menſchen,
aber ohne tiefere Bildung, ohne reiches Gemüt, ohne Liebenswürdigkeit; Bildung,
Wiſſenſchaft, Adel, Bureaukratie geben nicht die Ziele des Strebens. Alles arbeitet,
ſpekuliert, hetzt, gewinnt oder verliert. Selbſt die Farmer ſind Techniker, Kaufleute und
Spekulanten, ſo ſehr dieſe wetterverbräunten Bauerngeſtalten im Ringen mit Sumpf
und Urwald, mit Räubern und Diebsgeſellen allem ſtädtiſchen Leben fern ſtehen.
Begeiſterung iſt in den Vereinigten Staaten eine ſeltene Sache, kalte Verſtandes-
ruhe iſt nötig, um reich zu werden. Selbſt der Anblick des Niagarafalles ruft im
Yankee nur den Gedanken wach, wie viel unverbrauchte Waſſerkraft da ungenützt herab-
ſtürze. An Kenntnis und Erfahrung, wie ein Land groß und reich zu machen, wie die
Naturkräfte auszubeuten, die Haufen der Menſchen zu bewegen ſind, iſt wohl eine einzige
amerikaniſche Großſtadt reicher als manches europäiſche Land. Mit fieberhaft bewegter
Öffentlichkeit wird hier die Reklame betrieben, die Konkurrenz braucht jedes Mittel; die
europäiſche Menſchenklaſſe, welche in Unwiſſenheit, Schlendrian und demütiger Selbſt-
beſchränkung erſtarrt iſt, fehlt ganz oder geht ſofort zu Grunde. Jeder Bürger iſt von
demokratiſch-republikaniſchem Selbſtbewußtſein erfüllt; wer heute Stiefelputzer iſt, kann
morgen Krämer, in zehn Jahren Bankier, Advokat oder Senator ſein. Ein großartiges
Geſchäftsleben mit der Perſpektive von Newyork nach San Francisco ruft die Tauſende
von Ehrgeizigen und Waghalſigen in ſeine ungeheuren Bahnen. Man hat das Leben
des Amerikaners ſchon mit einer dahinbrauſenden Lokomotive verglichen. Der Europäer
nimmt ſich neben ihm allerdings nur wie ein ruhiger Spaziergänger aus.
Etwas von ſolchen Zügen hat überall das Kolonialleben, das auf reichem, über-
ſchüſſigem Boden mit der Technik und den Mitteln einer alten Kultur arbeitet. Auch
der Individualismus, die Abweſenheit jedes kräftigen Regierungsapparates ſind ähnlich
in anderen Kolonien zu finden. Manche der ſchroffen Züge werden in dem Maße zurück-
treten, als die Kultur älter wird, aber im ganzen wird der durch Raſſe, Klima, Ge-
ſchichte und Geſellſchaftseinrichtungen geſchaffene und in Fleiſch und Blut übergegangene
Volkscharakter doch dauernd derſelbe bleiben; im ganzen iſt nirgends in der Welt ein
Volk ſonſt zu finden, das ſo einſeitig alle körperlichen und geiſtigen Kräfte auf das
techniſche, kaufmänniſche, kurz wirtſchaftliche Vorwärtskommen konzentriert. Daß ein
ſolches Volk mit den europäiſchen Kulturvökern, vollends mit den Orientalen oder gar
[158]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
mit den Naturvölkern volkswirtſchaftlich gar nicht in eine Linie geſtellt werden kann,
verſteht ſich von ſelbſt. —
Es iſt nicht angezeigt, hier zum Schluß dieſer Einzelſchilderungen zu verſuchen,
ſie und die obigen allgemeinen Ausführungen zu abſchließenden Reſultaten zuſammen-
zufaſſen. Soweit derartiges bisher verſucht wurde, wie von Gobineau oder neuerdings
von Vierkandt, gehört es nicht hieher, ſondern etwa in unſere Schlußbetrachtung. Nur
ein Wort der Kritik möchte ich hier noch beifügen. Unſer Wiſſen auf dem vorſtehenden Ge-
biete, das allgemeinere in Bezug auf die Raſſen, ihre Entſtehung, Änderung und Spaltung,
auf Vererbung und Ähnliches, wie das ſpeciellere in Bezug auf die wichtigſten Raſſen-
und Völkertypen hat den Grad der Ausbildung ſicherlich nicht erreicht, der für ſeine
Benutzung zu volkswirtſchaftlichen Unterſuchungen wünſchenswert wäre. Den pſycho-
logiſchen Völkerbildern, die wir gaben, kann man vorwerfen, es ſei nicht deutlich zu
ſehen, was in ihnen Folge des erblichen Raſſentypus, was Folge des Landes, der
augenblicklichen geiſtigen Zuſtände und geſellſchaftlichen Einrichtungen ſei; man wird
ſagen müſſen, daß aus keinem derſelben ſich ohne weiteres die Geſchichte oder die Volks-
wirtſchaft des betreffenden Volkes ableiten laſſen könne. Aber doch iſt ſchon dieſes Wiſſen
nicht ohne Wert und wiſſenſchaftliche Bedeutung.
Jede gute volkswirtſchaftliche Schilderung von Ländern, Induſtrien, Agrarzuſtänden
geht heute von einem konkreten pſychologiſch-ethnographiſchen, einheitlichen Bilde der
handelnden Menſchen aus. Alles volkswirtſchaftliche Urteilen iſt ein ſichereres, wenn es
nicht bloß den abſtrakten Menſchen oder gar ſeinen Erwerbstrieb, ſondern die Spielarten
der Raſſentypen im Auge hat, wie wir ſchon in allen älteren Lehrbüchern ſehen, die
bei der Erörterung der Arbeitskraft von den Raſſen, Volkscharakteren, nationalen Arbeits-
ſitten, der verſchiedenen nationalen Auffaſſung der Arbeitsehre ſprachen. Alles Schließen
über volkswirtſchaftliche Inſtitutionen und ihre Umbildung, über die Verbreitung tech-
niſcher Künſte und ſocialer Einrichtungen von Volk zu Volk hat einen beſſeren Boden,
wenn wir die Raſſentypen, ihre Verwandtſchaft und Verſchiedenheit kennen, wenn wir
erwägen, wie das Eindringen höherſtehender Individuen auf beſtimmte Raſſen und die
Raſſenmiſchung wirke. Für alle dieſe wiſſenſchaftlichen Aufgaben iſt der beſſer aus-
gerüſtet, welcher wenigſtens die allgemeinen Reſultate der Völkerkunde kennt. Was Knies
ſchon vor faſt 50 Jahren in ſeinem Abſchnitte „Über den nationalen Menſchen“ ver-
langte, das ſollte hier wenigſtens im Umriſſe verſucht werden.
3. Die Bevölkerung, ihre natürliche Gliederung und Bewegung.
- Allgemeines. Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menſchlichen
Geſchlechtes. 1742. 4. Aufl. 1775, ed. Baumann. — - Malthus, Essay on the principle of
population. Anonym 1798, dann mit dem Namen öfter 1803—72; deutſch von Hegewiſch 1807, von
Stöpel 1879. — - Ch. Bernoulli, Handbuch der Populationiſtik. 1841. —
- v. Mohl, Geſchichte und
Litteratur der Bevölkerungslehre. (Geſch. u. Litt. d. Staatsw. 3, 409 ff.) 1858. — - Wappäus, All-
gemeine Bevölkerungsſtatiſtik. 2 Bde. 1859. — - Roſcher, Die Bevölkerung. (Grundlagen d. Nationalök.
Buch IV) 1854—97. — - Rümelin, R. A., 2 Bde., 1875 u. 1881, und die Bevölkerungslehre (in
Schönbergs Handbuch d. pol. Ökon. 1882—95, 1). — - v. Mayr, Die Geſetzmäßigkeit im Geſell-
ſchaftsleben. 1877; — derſ., Die Bevölkerungsſtatitik. 1897. — - Weſtergaard, Die Lehre von der
Mortalität und Morbilität. 1881. — - J. F. Neumann, Beiträge zur Geſchichte der Bevölkerung
in Deutſchland ſeit Anfang des 19. Jahrhunderts. 5 Bde. 1883—1894. — - Georg Hanſen, Die
drei Bevölkerungsſtufen. 1889. — - v. Fircks, Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. 1898.
v. Mayr, Allgemeines ſtatiſtiſches Archiv, ſeit 1890 5 Bde. — - Bulletin de l’institut inter-
national de Statistique, ſeit 1886 11 Bde. — - Journal of the statistical society of London, ſeit
1839 62 Bde. Außerdem die zahlreichen Zeitſchriften der einzelnen ſtatiſtiſchen Ämter. — - Die Be-
völkerung der Erde, von Behm, H. Wagner und Supan, im Geogr. Jahrb. 1866 und
wiederholt in Petermanns Mitteilungen aus J. Perthes’ geogr. Anſtalt 1871 bis 1893.
Bevölkerungsgeſchichte. Hume, Menge der Menſchen bei den alten Nationen. Vermiſchte
Schriften. 3; deutſch 1754. — - Zumpt, Über den Stand der Bevölkerung und die Volks-
vermehrung im Altertum. 1841. — - Dieterici, Über die Vermehrung der Bevölkerung ſeit dem
Ende oder der Mitte des 17. Jahrhunderts. Berl. Akad., phil.-hiſtor. Kl., 1850. — - v. Schönberg
[159]Die Bevölkerungslehre.
Finanzverhältniſſe der Stadt Baſel im 14. u. 15. Jahrhundert. 1879. — - Bücher, Die Bevölkerung
von Frankfurt a. M. im 14. u. 15. Jahrhundert. 1886. — - Jaſtrow, Die Volkszahl deutſcher
Städte zu Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit. 1886. — - Beloch, Die Bevölkerung
der griechiſch-römiſchen Welt. 1886. — - Die Artikel im H.W. über Geſchichte der Bevölkerung von
Ed. Meyer, Inama-Sternegg, Rauchberg.
Koloniſation und Wanderungen. Roſcher und Jannaſch, Kolonien, Kolonialpolitik und
Auswanderung. 1856 u. 1885. — - Leroy-Beaulieu, De la colonisation chez les peuples
modernes. 1874 u. öfter. — - Hübbe-Schleiden, Überſeeiſche Politik. 1883. —
- A. Zimmermann,
Die europäiſchen Kolonien. 1 u. 2, 1896—98.
Schriften des Ver. für Socialpol. 32 (von Schmoller, Thiel, Rimpler und Sombart,
1886) u. 56 (von Sering, 1893) über innere Koloniſation. — - Randow, Die Wanderbewegung der
centraleuropäiſchen Bevölkerung. Öſt. ſtat. Monatsſchr. 1884. — - Schumann, Die inneren Wanderungen
in Deutſchland. Stat. Archiv 1, 1890. — - Auswanderung und Auswanderungspolitik. Schriften d.
Ver. f. Socialpol, 52 von Philippovich, 1892; 72 von Rathgen, Mayo-Smith und Hehl,
1896. — - Die Artikel über Auswanderung im H.W. und W.V.
68. Vorbemerkung. Haben wir in den beiden letzten Abſchnitten Erſcheinungen
und Zuſammenhänge behandelt, die, an ſich unendlich kompliziert, in ihren Einzelheiten
weit auseinanderliegen, der wiſſenſchaftlichen Beherrſchung heute noch zu einem großen
Teile ſpröde gegenüber ſtehen, ſo kommen wir mit den Bevölkerungsverhältniſſen auf
einen feſteren, durch die Statiſtik geebneten Boden. Die Bevölkerungslehre faßt die durch
Raſſe, Gebiet und Geſchichte gegebenen menſchlichen Gemeinſchaften in der Weiſe, daß
ſie ihre biologiſchen Erſcheinungen, Geburt und Tod, ihre Gliederung nach Alter und
Geſchlecht, ihre Größenverhältniſſe, ihre Zu- und Abnahme unterſucht, dabei aber von
den übrigen Seiten des Volkslebens, der ſocialen Gliederung, der wirtſchaftlichen Organi-
ſation und derartigem abſieht, nur den generellen Zuſammenhang zwiſchen der Größe
und Bewegung der Bevölkerung und ihrem Wohlſtand erörtert.
Schon im Altertum hat man die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung als wichtige
ſociale und politiſche Thatſache erkannt; mit der Renaiſſance der Wiſſenſchaften und
der neueren Staaten- und Volkswirtſchaftsbildung kam man auf dieſe Probleme zurück,
fing man an, über die Größe der Bevölkerung zu verſchiedenen Zeiten (Hume) nach-
zudenken, den politiſchen Vorteil der Bevölkerungsdichtigkeit einzuſehen (die Populatio-
niſten des 17. und 18. Jahrhunderts). Aber erſt ſeit die Kirchenbücher die Geburten,
Eheſchließungen und Todesfälle verzeichneten, ſeit Süßmilch dieſes Material zum erſten
Verſuche einer Bevölkerungslehre verdichtet, Malthus energiſch auf die Schattenſeiten
einer zu raſchen Bevölkerungszunahme hingewieſen und die amtliche Statiſtik unſeres
Jahrhunderts ſich auszubilden angefangen hatte, konnte von Quételet, Bernoulli,
Wappäus an von einer wiſſenſchaftlichen Bevölkerungslehre geſprochen werden. Aus
ihren Reſultaten haben wir hier das mitzuteilen, was als Grundlage einer zuſammen-
hängenden volkswirtſchaftlichen Erkenntnis unentbehrlich iſt. Wir müſſen dabei verzichten,
auf die Technik der Zahlengewinnung einzugehen; wir müſſen neben den geſicherten da
und dort Schätzungszahlen zu Hülfe nehmen. Die ſtatiſtiſche Zahl iſt uns hier nur ein
Hülfsmittel der Darſtellung, nicht Selbſtzweck, wie in den ſtatiſtiſchen Werken.
69. Die Altersverhältniſſe. Aus dem natürlichen Ablauf des menſchlichen
Lebens ergiebt ſich die Thatſache, daß wir keinen Stamm und kein Volk treffen, die ſich
nicht aus älteren, erwachſenen und jüngeren Individuen zuſammenſetzten. Alle menſch-
liche Geſellſchaft iſt dem Generationswechſel unterworfen, zeigt, wie jeder Baum, eine
Summe von verſchiedenen Altersringen, iſt damit in jedem folgenden Jahre aus teil-
weiſe anderen Individuen zuſammengeſetzt. Schon Süßmilch erſchien dieſe Ordnung,
die er mit dem Vorbeimarſch eines Regiments Soldaten vor ſeinem Fürſten vergleicht,
als die größte Offenbarung der göttlichen Vorſehung. Der Ewige, ruft er, läſſet das
Heer des menſchlichen Geſchlechtes in feſt beſtimmten Abteilungen aus dem Nichts
erſcheinen; ſie folgen ſich, werden in jedem Stadium ausgemuſtert; die Abteilungen
werden immer kleiner, bis ſie nach Erreichung des einem jeden geſteckten Zieles wieder
verſchwinden.
Keine Erſcheinung der menſchlichen Geſellſchaft, des Staates und der Volkswirt-
ſchaft iſt verſtändlich ohne den Gedanken dieſes ſteten Generationswechſels. Auch alles
[160]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Verſtändnis der Inſtitutionen und der Entwickelung, des Fortſchrittes oder Rückſchrittes
der Geſellſchaften hängt an dieſem Punkte. In Familie und Familienrecht haben wir
die feſte Ordnung, welche die Erzeugung der Kinder regeln ſoll, in unſerem Erziehungs-
weſen, in unſeren Schulen, im Lehrlingsweſen, in den Anfangs- und Vorbereitungsſtellen
die geſellſchaftlichen Inſtitutionen, welche die heranwachſende Generation durch 5 bis
20 Jahre hindurch für die ſpätere definitive, oft nicht viel länger dauernde Lebens-
thätigkeit vorbereiten. Die ſtaatliche und wirtſchaftliche Organiſation ſtellt ſich vom
Standpunkte des Generationswechſels als eine Ordnung feſter Laufbahnen dar; das
Lebensglück aller Individuen hängt von der Art ab, wie ſie in dieſen Laufbahnen
vorankommen, wie ihr Einkommen in ihnen ſich abſtuft und anſteigt, wie die Zahl der
Anfangs-, Mittel- und Endſtellen ſich zu einander verhält. Die Frage, ob die Eltern
nur bis zum 10. oder 15. oder 25. Lebensjahre wirtſchaftlich für die Kinder ſorgen
können, iſt in jeder ſocialen Klaſſe eine der wichtigſten. Die Anſammlung des Vermögens
in den Händen der älteren Generation macht einen erheblichen Teil ihres Einfluſſes
aus; der Übergang desſelben von einer Generation zur anderen und das Erbrecht iſt
eines der wichtigſten Elemente der ſocialen Ordnung. Die notwendigen Abwandlungen
in den Gefühlen und Anſchauungen, in Erziehung und Geſittung von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt bedingen, daß in jeder Geſellſchaft die Jungen und die Alten ſich gegenüber-
ſtehen; die Alten, im Beſitze der wichtigſten Stellen, des Vermögens, der Erfahrung,
beherrſchen nüchtern konſervativ die Geſellſchaft; die Jungen, im Beſitze des idealiſtiſchen
Mutes, der friſchen Thatkraft, der optimiſtiſchen Hoffnungen, drängen voran, ſie wollen
ihre neuen Ideale zur Geltung bringen, ſie wollen die Stellen und den Einfluß erwerben,
den die Alten haben. Alle Feſtigkeit der Geſellſchaft und alle geordnete Überlieferung
iſt bedingt durch die Autorität der Alten, ihre Zahl und ihre Lebensdauer; aller Fort-
ſchritt durch die friſchere Kraft der Jungen.
Sind es derartige allgemeine Betrachtungen, von denen man bei der Würdigung
des Generationswechſels ausgehen muß, ſo erſchließen ſich uns die ſpeciellen wirtſchaft-
lichen Folgen des Altersaufbaues der Geſellſchaft beſſer an der Hand der ſtatiſtiſchen
Zahlen. Wir geben nach Mayr folgende Anteile der 10 jährigen Altersklaſſen an je
1000 Individuen der Bevölkerung:
Laſſen wir zunächſt die Unterſchiede dieſer Zahlenreihen ganz bei Seite und ſehen
nur auf das Übereinſtimmende. Es ſind überall die jüngſten Klaſſen, als die vom
Tode am wenigſten gelichteten, die beſetzteſten; faſt durchaus iſt jede ältere Altersklaſſe
ſchwächer als die vorhergehende, aber die Unterſchiede zwiſchen je zwei nächſtliegenden
Klaſſen ſind verhältnismäßig in der Jugend und im Alter ſtärker als zwiſchen dem
20. und 60. Jahre, weil die letzteren Klaſſen die von Krankheit und Tod am wenigſten
bedrohten ſind. Die jugendlichen Klaſſen bis zu 20 Jahren machen 34—50 % der
Bevölkerung, die über 60 jährigen 8—13 % aus; die kräftigen 20—60 jährigen
[161]Der Generationswechſel und die Altersklaſſen.
41—52 %; auf ihnen ruht überwiegend die wirtſchaftliche Laſt der Unterhaltung der
Familien, der Gemeinden, des Staates. Von den beiden anderen Altersgruppen, die
überwiegend nur verzehren, fällt die Heranziehung der künftigen Generation 4—6 mal
ſchwerer als die Pflege der abſterbenden. Sie iſt durch die viel ſtärkeren Triebe der
mütterlichen und elterlichen Liebe garantiert; aber dieſe haben oft nicht ausgereicht
und reichen ſelbſt heute vielfach noch nicht ganz aus; ein großer Teil der Kinder iſt
zu allen Zeiten der Schwierigkeit zum Opfer gefallen, welche durch ihre wirtſchaftliche
Pflege für die Eltern entſtand. Auch die viel leichtere Laſt, die alten Leute zu unter-
halten, hat immer ſchwer auf der Geſellſchaft geruht. Und wenn die roheſten Zeiten,
die doch viel weniger Greiſe hatten, die Alten töteten, ſo hat die höhere ſittliche Kultur
zwar ihre Lage gebeſſert, hat Jahrtauſende lang Ehrfurcht und Pflege für das Alter
verlangt, iſt aber nie voll zum Ziele gelangt; noch die neueſte Entwickelung zeigt, daß
die Liebe der Verwandten und Kinder nicht recht ausreichen will, daß alle möglichen
Verſicherungs-, Penſions- und ähnliche Einrichtungen über die Klippe hinweghelfen
müſſen.
Auch wenn man die Abgrenzungen der drei großen Altersgruppen etwas anders
faßt oder ihre Zahlenverhältniſſe weiter ins einzelne verfolgt, wird das Bild nicht viel
geändert. Die unter 15 jährigen machen durchſchnittlich etwa 35 %, die 15—70 jährigen
etwa 60 %, die über 70 jährigen etwa 5 % aus. Engel berechnet, daß die preußiſche
Bevölkerung 1855 444 Millionen Jahre durchlebt hatte, und daß von dieſen auf die
Zeit vom 15.—70. Jahre nur 230, auf die übrige, die ſogenannte „unproduktive“
Zeit 210 Millionen fielen. Die Säuglinge unter einem Jahre machen in Deutſchland
faſt 3 % der Bevölkerung, die ſchulpflichtigen Kinder 17—18 % aus; die wehrpflichtigen
männlichen Altersklaſſen (17—45 jährigen Männer) 19—20 %. Die ehemündigen, über
16 Jahre alten Frauen 32—33 %. An Gebrechlichen (Blinden, Taubſtummen, Irr-
ſinnigen) rechnet man etwa 0,4 %; an Kranken gehen von den ſonſt produktiv Thätigen
immer noch einige Prozente regelmäßig ab. So giebt der Altersaufbau durch alle wirt-
ſchaftlichen Lebensverhältniſſe hindurch den feſten zahlenmäßigen Rahmen für die Summe
der verwendbaren Kräfte und der daneben zu tragenden Laſten.
Natürlich iſt nun aber das Verhältnis von Kraft und Laſt je nach den Kultur-
verhältniſſen ein verſchiedenes. Schon die obige Tabelle zeigt es, und aus ihr ſind (da
ihre Zahlen alle der Gegenwart und mehr oder weniger geordneten Staaten angehören)
die Gegenſätze, die in der Geſchichte vorgekommen ſind, entfernt nicht in ihrer vollen
Schärfe zu entnehmen. Je weiter wir in der Geſchichte und Kultur der Menſchheit
zurückgehen, deſto weniger erwachſene und ältere Perſonen waren ohne Zweifel durch-
ſchnittlich in jeder Geſellſchaft.
Herbert Spencer hat durch eine Vergleichung aller Tierarten und dieſer mit den
Menſchen gezeigt, daß bei den niedrigſten Weſen die Erzeugung der Nachkommen Ver-
nichtung der Eltern bedeutet, daß, je höher die Weſen ſtehen, deſto mehr die Jugendzeit
und die Epoche nach der Geſchlechtsreife verlängert wird, Eltern und Kinder neben-
einander leben. Er ſieht in dem Verhältnis der Natur- zu den Kulturvölkern einen
ähnlichen Fortſchritt: dort frühe Geſchlechtsreife, frühes Altern und Sterben, erſchöpfende
Inanſpruchnahme der Frauen durch Kindererzeugung, größte Kinderſterblichkeit; hier,
zumal bei den nördlichen Raſſen, längere Jugend, ſpätere Geſchlechtsreife, Verringerung
der Geburtenzahl, höheres Alter; das menſchliche Leben iſt weniger durch die Fort-
pflanzung ausgefüllt, andere Zwecke können mehr verfolgt werden; es leben mehr
Menſchen, welche die Zeit der Kindererzeugung hinter ſich haben; und dabei ſorgen die
Eltern für die Kinder, dieſe für jene beſſer, die edelſten Freuden beider aneinander
wachſen; all’ dies ſetzt er in Zuſammenhang mit der Monogamie und ihrem Siege.
Und er hat wohl mit dieſem Gedanken vollſtändig recht: das planmäßige Leben der
hohen Kultur, die Herrſchaft der Überlieferung, die feſte Ordnung der Geſellſchaft hängt
mit einer ſteigenden Zahl erwachſener, älterer, für höhere Aufgaben zugänglicher Menſchen
zuſammen. Auch der Wohlſtand kann eher ſteigen, wenn nicht eine Überzahl von Ge-
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 11
[162]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
burten und von Menſchen mit kurzem Leben die Zahl der produktiven Jahre ein-
ſchränkt.
Hätten wir eine Statiſtik der Naturvölker und früherer Zeiten, ſo würden wir
hier ohne Zweifel einen weſentlich jugendlicheren Altersaufbau ſehen. In unſerer Tabelle
ſtehen Bulgarier und Ungarn in reicher Beſetzung der Jugend voran; dann folgen
England und Deutſchland, während die Schweiz und Frankreich die reichſte Beſetzung
der Klaſſen von 20—60 Jahren und der Überſechzigjährigen haben. Unſere ganze
Tabelle und ſpeciell dieſe Relationen zeigen uns nun aber, daß ſie nicht bloß von
dieſer Tendenz beherrſcht ſind, daß die Lebensverlängerung und ſtärkere Beſetzung der
höheren Altersklaſſen nur ſo weit als ein unbedingtes Zeichen des Fortſchrittes ſich darſtellt,
wie man Völker mit gleicher Zunahme vergleicht. In unſerer Tabelle ſtehen aber faſt
ſtabile Völker, wie Frankreich, und raſch zunehmende, wie England und Deutſchland.
Die erſteren müſſen mehr alte, die letzteren mehr junge Leute haben; in Kolonialländern
tritt die Jugend noch mehr hervor. In den Vereinigten Staaten machen die unter
15 jährigen 38, in Deutſchland 35 % aus.
In unſeren Zahlen ſprechen ſich alſo zwei Bewegungen aus, die in gewiſſem
Sinne einander korrigieren: die Lebensverlängerung und reichere Altersbeſetzung der
höheren Kultur und die Verjugendlichung des Altersaufbaues durch eine raſche Zunahme
der Geſamtzahl. Wo dieſe Zunahme aufhört, und wo zugleich individueller Lebensgenuß
und kluge Bequemlichkeit die friſche Thatkraft lähmt, die Kinderzahl ſehr einſchränkt,
da erhalten wir das Bild einer Altersgliederung mit abnehmender Kinder-, zunehmender
Altenzahl, welche nicht mehr Fortſchritt, ſondern Stillſtand oder gar Auflöſung der
Geſellſchaft bedeutet. Ganz zurückgehende, abſterbende Völker haben zuletzt faſt gar keine
Kinder mehr, nur noch ältere Leute.
Neben dieſen allgemeinen Tendenzen, die wir in dem Altersaufbau wahrnehmen,
können überall beſondere Umſtände, wie Kriege, große Krankheiten, ſtarke Aus- oder
Einwanderungszeiten auf beſtimmte Altersklaſſen eine Einwirkung ausüben. Die groß-
ſtädtiſche Bevölkerung erzeugt nicht nur meiſt weniger Kinder als die kleinſtädtiſche und
ländliche, ſie hat in der prozentualen Ausrechnung auch deshalb noch ſchmäler beſetzte
Klaſſen bis zu 15 Jahren, weil durch die höheren Schulen, die Lehrzeit, die große Zahl
von Dienſtboten und jungen Arbeitskräften die Prozentzahl der 15—30jährigen, meiſt
noch unverheirateten Altersklaſſen eine größere iſt als auf dem platten Lande. Wir
dürfen bei dieſen Einzelheiten nicht länger verweilen.
70. Das Geſchlechtsverhältnis und die Verehelichung. Die zweite
große natürliche Unterſcheidung für die Beobachtung der Bevölkerung liegt im Geſchlecht.
Die ſtatiſtiſche Erfahrung giebt ein ſcheinbar einfaches Ergebnis: das in der Hauptſache
überall annähernd vorhandene, wie es ſcheint nach Störungen ſich wiederherſtellende
Gleichgewicht der beiden Geſchlechter, das ſich uns als eine große Ordnung der Natur
und als eine Grundbedingung unſerer Geſittung, unſeres Familienlebens darſtellt; wir
ſind aber bis jetzt nicht fähig, die Urſachen und die beſtimmte Art, wie dieſes Gleichgewicht
ſich erhält, zu erkennen. Wir ſehen nur, daß das einfache Ergebnis vielen kleinen Ab-
weichungen unterworfen iſt und ſich aus verſchiedenen Elementen zuſammenſetzt.
Auf das Gleichgewicht des männlichen und weiblichen Geſchlechtes im ganzen wirkt
1. die Zahl der männlichen und weiblichen Geburten und 2. die verſchiedene Sterblich-
keit und Auswanderung der beiden Geſchlechter in verſchiedenem Alter. Die Statiſtik
unſerer Kulturvölker zeigt, daß auf 100 Mädchen durchſchnittlich etwa 104—106 Knaben
geboren werden, daß bei der etwas größeren Sterblichkeit der letzteren das Gleichgewicht
gegen die Zeit der Geſchlechtsreife in der Regel erreicht iſt, und daß in den Staaten
mit ſtarkem Seemannsberuf, ſtarker männlicher Auswanderung, überhaupt mit ſtärkerem
Männerverbrauche dann die Frauen jedenfalls in den älteren Altersklaſſen und auch im
Geſamtdurchſchnitt die Männer etwas übertreffen. In England kommen auf 1000 über
70 jährige Männer 1222 ſolche Weiber, in Deutſchland 1132; im Geſamtdurchſchnitt
aller Altersklaſſen dieſer zwei Länder auf 1000 Männer 1064 und 1040 Weiber, während
in Schleſien 1113, in Norwegen 1075, in Frankreich 1014 Frauen auf 1000 Männer
[163]Das Gleichgewicht der beiden Geſchlechter.
gezählt werden. Wo der Männerverbrauch nicht ſo ſtark oder gar der der Frauen durch
ſchlechte Behandlung, Überanſtrengung ꝛc. ebenſo groß iſt, da können die Männer im
Geſamtdurchſchnitt überwiegen: ſo kommen auf 1000 Männer in Italien 995, in
Griechenland 905, in Brittiſch Indien 958 Weiber. Wo ſtarke Männereinwanderung
in Rechnung kommt, wird die Differenz noch etwas größer: in Auſtralien kommen auf
1000 Männer 866, in den ganzen Vereinigten Staaten 953, in den Weſtſtaaten
698 Frauen. In ganz Europa iſt das Verhältnis jetzt 1000 zu 1024, was immer
4 Millionen Weiberüberſchuß giebt, in Brittiſch Indien ſoll es 1000 : 958 ſein, was
6 Millionen Weibermangel bedeutete.
Kommt ſo Männer- wie Weiberüberſchuß im Geſamtdurchſchnitt der Bevölkerung
vor, ſo hält er ſich doch meiſt in mäßigen Grenzen und iſt durch die ſpäteren Schickſale
des einen oder anderen Geſchlechtes bedingt. Aber er ſcheint doch auch da und dort
von einem abweichenden Verhältnis der Geburten verurſacht zu ſein. Bei rohen und
halbkultivierten Völkern ohne ausgebildete Statiſtik, von denen uns die ſtärkſten Ab-
weichungen im Geſamtgleichgewicht (z. B. von Ratzel, Weſtermarck ꝛc.) gemeldet werden,
da können wir freilich ſtets zweifeln, ob das Geburtenverhältnis oder die ſpäteren
Schickſale oder beides zuſammen in verſchiedenen Stärken die Abweichung erklären.
Sicher iſt auch hier vielfach das ſpätere Schickſal das eingreifende: z. B. die Tötung
der neugeborenen Mädchen, die ſtarke Mißhandlung der Frauen da und dort, das über-
frühe Mutterwerden. Wir finden rohe Stämme, wo auf 4—5 Männer nur eine Frau
kommt. Andererſeits, z. B. bei den Eskimos und Indianern, auf 100 Männer 130 bis
200 Frauen, was weſentlich auf die gefährlichen Jagden, Eisfahrten und derartiges der
Männer zurückzuführen ſein wird. Aber ſchon Humboldt meldete, daß in Neuſpanien
der Knabenüberſchuß bei den Geburten ein größerer ſei; andere Forſcher berichten für
Auſtralien einen ſtarken Überſchuß der Mädchengeburten; Ähnliches hören wir aus Syrien
und Meſopotamien, bis zu 2—3 Mädchen auf einen Knaben; Emin Paſcha behauptet
gleiches von Negerſtämmen. Auch in Europa kommen große Schwankungen vor: in Ruſſiſch-
Polen 100 : 101, in Rumänien und Griechenland 100 Mädchen : 111 Knaben. Wir
dürfen auf die vermuteten Urſachen dieſer Abweichungen nicht näher eingehen; die
Wiſſenſchaft ſteht noch vor den Vorfragen. Am eheſten ſcheint man heute ſagen zu
können: Raſſenverſchiedenheit der Eltern, überhaupt große Verſchiedenheit, alle Paarung,
die man unter dem Begriffe der Exogamie zuſammenfaßt, bewirke ein ſtarkes Anwachſen
der Mädchengeburten; Gleichheit der Eltern, wie alle Inzucht vermehre die männlichen
Geburten. Daß die Vielmännerei und Vielweiberei da und dort mit der anormalen
Zahl der vorhandenen Männer oder Frauen zuſammenhängt, iſt möglich; ſicher aber
ſcheint, daß weder die eine noch die andere anormale Geſtaltung des ehelichen Rechtes
regelmäßig und überall von der anormalen Zahl der Geſchlechter bedingt iſt. Die
Sitten und Inſtitutionen des Geſchlechtslebens haben ihre eigene Geſchichte und Ur-
ſachen; die Vielweiberei iſt überdies meiſt nur eine Einrichtung für die wenigen Reichen,
an der das übrige Volk nicht Teil hat; ſie kann auf Weibereinfuhr beruhen oder auf
Nichtverehelichung eines Teiles der Ärmeren; im ganzen kommt ſie in den reichen
Ländern des Südens am häufigſten vor, wie die Vielmännerei in ganz armen Ländern,
wo die Not zur Einſchränkung der Kinderzahl nötigt, und daher mehrere Brüder ſich
nur eine Frau halten können.
Von den verſchiedenen Formen der Ehe, ihrer hiſtoriſchen Entwickelung, der Größe
der Haushalte und ihrer wirtſchaftlichen Bedeutung wird unten in anderem Zuſammen-
hange geſprochen werden. Hier haben wir nur im Anſchluß an den natürlichen
Gegenſatz der Geſchlechter die überwiegend mit ſtatiſtiſchen Mitteln zu löſende Frage
ins Auge zu faſſen, welcher Teil der Bevölkerung das ebenſo natürliche wie durch Sitte
und Recht normierte Ziel der Eingehung einer Ehe erreiche, in welchem Alter das
geſchehe, welcher Teil der Erwachſenen unverehelicht bleibe, welche Zahl von Ehen
jährlich geſchloſſen werden, und mit welchen wirtſchaftlichen Urſachen das zuſammenhänge.
Bei den Naturvölkern, zumal den unter ſüdlichem Himmel lebenden, treten alle
15—20 jährigen, mit Ausnahme der Verkrüppelten und Gebrechlichen, in die Ehe.
11*
[164]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Machten alſo auch bei ihnen, wie bei den Kulturvölkern, die über 20jährigen 55 % der
Bevölkerung aus, ſo wären etwa 50 % verheiratet und verwitwet; es ſind in Europa
viel weniger. Wo, wie im Norden, die Geſchlechtsreife und das Heiratsalter ſpäter liegt,
und wo bei dichterer Bevölkerung die wirtſchaftliche Begründung eines Hausſtandes
ſchwieriger iſt, wird eine zunehmende Zahl Erwachſener teils nie, teils erſt ſpäter
zur Ehe ſchreiten. Von den über 50 jährigen ſind heute in Brittiſch Indien 1,9, in
Ungarn 3, in Deutſchland 9, in England 10, in Öſterreich 13, in der Schweiz 17 %
unverheiratet. Die Zahl der Verheirateten und Verwitweten unter den über 15 Jahre
alten ſchwankt (1886—90) in den verſchiedenen Staaten zwiſchen 56 (Belgien) und 76 %
(Ungarn); in England ſind es 60, in Deutſchland 61, in den Vereinigten Staaten 62,
in Frankreich 64 %. Zählt man bloß die Verheirateten ohne die Verwitweten, ſo ſind
es 8—10 % weniger. Vergleicht man die Verheirateten allein mit der ganzen Be-
völkerung, ſo ſind es 33—39 %, ſtatt der oben genannten 50 %.
Die beobachteten zeitlichen und geographiſchen Schwankungen in der Prozentzahl
der Verheirateten zeigen uns, daß ihre Abnahme im ganzen eine notwendige Folge der
höheren Kultur, der dichteren Bevölkerung ſei, daß im einzelnen aber Altersaufbau,
Wohlſtand und wirtſchaftlicher Fortſchritt, Sitte und Wirtſchaftseinrichtungen einen
großen Einfluß haben. Die Abnahme kann vorkommen, ohne daß ſie als Druck, Ent-
behrung und Mißſtand ſtark empfunden wird, auch ohne zu ſtarken ſexuellen Verirrungen,
zur Steigerung außerehelicher Geſchlechtsbeziehungen und unehelicher Geburten zu führen.
Spätere Geſchlechtsreife, das ſtärkere Erfaſſen höherer Lebenszwecke, das Zurücktreten des
ſexuellen Lebens bei einzelnen Perſonen läßt es denkbar erſcheinen, daß Eheloſigkeit oder
ſpäteres Heiraten ohne zu großen Druck und Schaden von manchem ertragen wird.
Aber es iſt ein kindiſch-optimiſtiſcher Standpunkt, anzunehmen, das treffe allgemein zu;
vielmehr liegen hier die ſchwerſten Konflikte des Menſchenlebens verborgen; jede Abnahme
der Verheirateten vollzieht ſich im ganzen doch in ſchwerem Kampfe und mit großen
ſittlichen Gefahren. Wie ſtark aber die Abnahme in den europäiſchen Kulturſtaaten ſei, ob
ſie in den letzten Generationen zugenommen habe, iſt vor allem deswegen ſchwer zu ſagen,
weil wir als Hülfsmittel der Meſſung meiſt nur die Vergleichung der Verheirateten mit
der Zahl der Lebenden haben, und letztere je nach dem Altersaufbau ſich aus einer
verſchiedenen Zahl Heiratsfähiger, Kinder und Greiſe zuſammenſetzen. Wenn in Deutſch-
land heute 34, in Frankreich 39 % der Lebenden verheiratet ſind, ſo iſt damit nicht
geſagt, daß dort 5 % weniger Erwachſene verheiratet ſeien; von den über 15 jährigen
waren in Deutſchland 61,4, in Frankreich 64,6 % verheiratet oder verwitwet; aber auch
das entſcheidet noch nicht, da die 15—22 jährigen in beiden Ländern auch eigentlich
noch nicht Heiratskandidaten und ſie in Deutſchland viel zahlreicher ſind als die unter
15 jährigen, deren es in Deutſchland 35, in Frankreich nur 26 % der Lebenden giebt.
Das Heiratsalter der Männer iſt heute in Weſteuropa 28—31, der Frauen 23 bis
28 Jahre, in Oſteuropa iſt es 25—26 und 21—22 Jahre. Daraus könnte man einen
Maßſtab für die Verſpätung der Ehen entnehmen.
Auch die Zahl der jährlichen Eheſchließungen im Vergleich zur Bevölkerung iſt
kein ganz richtiger Ausdruck der Heiratsmöglichkeit; man müßte die Zahl nur mit den
dem Alter nach Heiratsfähigen vergleichen. Wir haben aber größere Vergleichsreihen
nur in der Art, daß feſtgeſtellt iſt, wie viele Ehen jährlich auf 1000 Einwohner fallen;
wir müſſen davon abſehen, daß unter dieſen 1000 hier mehr Erwachſene, dort mehr
Kinder ſind. Die mir bekannten, aus der Zeit von 1620—1894 ſtammenden Angaben
ſchwanken zwiſchen jährlich 5—15 Ehen auf 1000 Einwohner, meiſt aber nur zwiſchen
6 und 10; Rümelin berechnet 8,3 ‰ jährlich als eine Art Normalzahl für unſere
Verhältniſſe, ſo daß 6—7 eine geringe, 8,5—10 eine große Ehezahl bedeutete.
Die kleinen Schwankungen von Jahr zu Jahr hängen mit den Preisverhältniſſen, den
Ernten, den Konjunkturen und wirtſchaftlichen Hoffnungen und Stimmungen zuſammen;
ſie betragen heute meiſt nur 0,1 ‰. Sie fallen erſt ins Gewicht, wenn ſie eine Reihe
von Jahren ſich fortſetzen und ſich bis zu 0,5—1,0 ‰ ſteigern. In dieſen großen
Änderungen treten die tiefgreifenden Verſchiedenheiten der Länder und Zeiten in Bezug
[165]Die Zahl der Verehelichten und der Eheſchließungen.
auf wirtſchaftliche Hoffnungen, auf Schwierigkeit und Leichtigkeit der Exiſtenzgründung
zu Tage.
Süßmilch führt für 1620—1755 Beiſpiele aus Holland mit 15 jährlichen Ehen,
aus deutſchen Städten mit 5,8 an; er zeigt die Abnahme der Ehefrequenz in verſchiedenen
Städten und Provinzen von 1680—1750 und bringt ſie in Zuſammenhang mit der
Thatſache, daß es 1650—1720 noch galt, Lücken aus den Kriegs- und Sterbejahren
des 17. Jahrhunderts auszufüllen; in den meiſten preußiſchen Provinzen war gegen
1700 die Ehezahl 11,7—10; gegen 1750 war ſie in Magdeburg, Halberſtadt, Minden,
Brandenburg auf 8—9 geſunken, während ſie in den öſtlichen menſchenleeren Teilen
Preußens dieſelbe blieb wie 1700. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und
der Zeit bis 1840, ja teilweiſe bis 1850 bleibt die Frequenz, ſoweit wir Zahlen haben,
meiſt auf 7—8, ja ſinkt z. B. in mehreren Schweizer Kantonen auf 5, in Württemberg
auf 6, in England und Frankreich auf 7,8. Dann folgt die große Zunahme von 1840
an, noch mehr von 1850—60. Der allgemeine Aufſchwung des wirtſchaftlichen Lebens
führt, wenigſtens in England, Deutſchland, Öſterreich-Ungarn, den Vereinigten Staaten,
für ein oder mehrere Jahrzehnte zu 8—10 Ehen, während neueſtens wieder ein Rückgang
auf 7—8, in Norwegen und Schweden auf 6,5 eingetreten iſt, und einige Länder, wie
Belgien, Frankreich, die Niederlande, Dänemark, ſtets bei 7—8 geblieben waren.
71. Die Geburten und die Todesfälle. Alter und Geſchlecht ſind die
elementaren natürlichen Unterſchiede, Geburt und Tod die elementaren natürlichen
Ereigniſſe, welche die Bevölkerung beherrſchen. Ihre Zahl bringt man für gewöhnlich
in der Art zur Anſchauung, daß man, wie bei den Eheſchließungen, berechnet, wie viel
Geburten und Todesfälle jährlich auf 1000 Lebende kommen. Die Zahlen, die man ſo
erhält, wären ſtreng genommen nur dann ganz vergleichbar, wenn alle Staaten und
Gebiete den gleichen Altersaufbau und die gleiche Stabilität oder Zunahme zeigten.
Da dies nicht überall zutrifft, ſo hat man neuerdings feinere Methoden der Vergleichung
ausgebildet. Wir müſſen uns aber des Raumes wegen mit dieſer roheren hier begnügen,
die für unſere Zwecke auch im ganzen ausreicht.
Die Zahl der Geburten und der Todesfälle iſt in erſter Linie von phyſiologiſch-
natürlichen Urſachen bedingt; aber dieſe geben nur äußerſte Grenzen der Möglichkeit,
innerhalb deren dann hauptſächlich die Kultururſachen beſtimmend ſind. Wenn alle
Menſchen 70 Jahre alt würden, ſo würde jährlich der 70., d. h. 14,3 auf 1000 oder
noch erheblich weniger ſterben, da hiemit eine ſtark zunehmende Zahl der Lebenden ver-
bunden wäre; aber nur ausnahmsweiſe kommt es vor, daß erſt der 40., 50. oder 60.
ſtirbt, meiſt ſterben viel mehr, heute 20—30 auf 1000. Auf 1000 Seelen gewöhnlicher
Alters- und Geſchlechtszuſammenſetzung könnten jährlich 150 Kinder geboren werden,
wenn es irgendwo denkbar wäre, daß alle Frauen fruchtbar wären und alle 22 Jahre
lang jährlich ein Kind erhielten; aber 25—50 Kinder ſind heute das Gewöhnliche auf
1000 Seelen. Das heißt, die wirklichen Zahlen der Geburten und Sterbefälle ſind ganz
andere als die phyſiologiſch unter idealen Kultur- und Wirtſchaftsverhältniſſen, unter
Wegdenkung aller übrigen Urſachen möglichen; die Menſchen haben ſtets einen ſchweren
Kampf ums Daſein geführt und führen ihn noch; Lebenserhaltung und Fortpflanzung
waren nie allein daſtehende und herrſchende Zwecke, ſondern ſolche, welche ſich als Teil-
zwecke ins Ganze der menſchlichen Bedingungen und Ziele einzufügen haben.
Bleiben wir zunächſt bei der Geburtenzahl, ſo wiſſen wir leider über ſie aus
älterer Zeit und von primitiven Völkern nichts Genaueres, erſt aus neueſter Zeit etwas
über einige außereuropäiſche Länder. Ich halte es für denkbar, daß in älteren Zeiten und
im Süden unter den günſtigſten Lebensbedingungen die Geburtenzahl (ſtets auf 1000 Ein-
wohner bezogen und die Totgeburten ausgeſchloſſen) jährlich 70’90 erreichen konnte,
da ſie heute noch in Indien 48—50, in Rußland 46—50, in Java 50—60, auch in
einzelnen deutſchen Kreiſen ſolche Höhe erreicht. In Frankreich, Irland, einigen Neu-
englandſtaaten iſt ſie neuerdings auf 20—23 geſunken. Im Durchſchnitt geben 2 Ge-
burten auf das Leben einer zeugungsfähigen Frau die Geburtenzahl 15, 4 die Zahl 30,
6 die Zahl 45, 8 die Zahl 60 auf 1000. Oſteuropa hat heute etwas höhere Zahlen
[166]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
als Weſteuropa, die Slaven höhere als die Germanen, dieſe höhere als die Romanen. Doch
ſcheinen Raſſe, Klima, Arbeits- und Klaſſenteilung, Vorwiegen von Ackerbau und Ge-
werbe, Stadt und Land, Bevölkerungsdichtigkeit nicht die erſten und weſentlichen Urſachen
der Verſchiedenheit zu ſein; alle dieſe Faktoren wirken nur im Zuſammenhang mit den
geſchlechtlichen Sitten und Gepflogenheiten und den wirtſchaftlichen Geſamtzuſtänden und
Ausſichten. Dieſe beiden Elemente ſtehen im Vordergrunde. Die Franzoſen z. B., deren
Geburtenziffer im 19. Jahrhundert von 32,9 auf 22,6 ſank, hatten im 18. Jahrhundert
36—39, ſie haben ſie noch in Canada und Algerien; es iſt die Zahl, welche heute
Preußen und die meiſten deutſchen Staaten haben. Alſo nicht die franzöſiſche Raſſe,
ſondern die Sitten und die wirtſchaftlichen Zuſtände bewirken die heutige niedrige Zahl.
Es giebt ſehr dichtbevölkerte Länder mit hoher Geburtenziffer (über 30), ſehr dünn-
bevölkerte mit geringer; das platte Land hat vielfach eine größere Zahl, da und dort
aber auch eine geringere als die Städte.
Die Schwankungen von Jahr zu Jahr ſind meiſt nicht unerheblich, weichen auch
in unſerer Zeit von den Mittelzahlen häufig um einige Prozente nach oben und unten
ab; aus dem vorigen Jahrhundert kenne ich noch größere Schwankungen; ſie werden
weiter zurück noch erheblicher geweſen ſein. Die Urſachen hiefür ſind überwiegend wirt-
ſchaftliche: Abnahme in und nach Hunger-, Kriegs-, Kriſenjahren, Steigerung in und
nach guten Erntejahren, Zeiten des Geſchäftsaufſchwunges, der ſteigenden Löhne. Von
ſolchen Gelegenheitsurſachen aus kann dann aber auch im Zuſammenhang mit dauernden
und großen Veränderungen des wirtſchaftlichen Lebens und der geſchlechtlichen Sitten
eine Jahrzehnte hindurch anhaltende Veränderung erfolgen. Die preußiſche Geburtenzahl
ſtand 1816—27 auf 42—44, ſank dann etwas, um 1834—46 auf 40 zu bleiben, ging
1840—60 auf 35 herab, um 1860—80 auf 37—39 zu ſtehen und nun wieder auf 37
herabzugehen. In Württemberg ſtieg die Zahl 1846—75 von 40 auf faſt 44 und ſank
dann auf 34; in England ging ſie in denſelben Epochen von 32 auf 35 und von 35
auf 30, während ſie in Rußland von 1801—75 von 41 auf 51 ſtieg, nun auf 46
ſteht. Das iſt weſentlich der Ausdruck großer wirtſchaftlicher Veränderungen der
betreffenden Staaten, während das Sinken in Frankreich mehr Folge des ſiegenden
Zweikinderſyſtems und des vorſichtig ausklügelnden Egoismus, aber auch der mehr
ſtabilen Volkswirtſchaft iſt.
Die größere Geburtenzahl in Indien, Java, Rußland, auch des öſtlichen und
mittleren Deutſchlands hängt neben den wirtſchaftlichen Verhältniſſen mit den Gepflogen-
heiten des geſchlechtlichen und Familienlebens zuſammen, die man ſo bezeichnen könnte:
man ſchreitet dort noch naiver zur Ehe, zeugt mehr Kinder, begräbt aber auch viel mehr.
Die Fruchtbarkeit iſt groß, weil man die Lücken der Kinderſterblichkeit wieder ausfüllen
will und die Sterblichkeit iſt groß, weil die große Kinderzahl die Sorgfalt der höheren
Kultur in der Kinderpflege nicht recht geſtattet. Gewiſſe Schriftſteller, wie Malthus,
gehen ſo weit, zu ſagen, meiſt ſei die Geburtenzunahme Folge größerer Sterblichkeit,
alſo ein ungünſtiges Zeichen. Das iſt ſie keineswegs immer; aber richtig iſt, daß ſie
der Ausdruck größeren Wohlſtandes wie größerer Sterblichkeit oder des Leichtſinns
ſein kann. —
Auch über die Zahl der jährlichen Todesfälle im Verhältnis zur Bevölkerung
wiſſen wir aus älteren Zeiten und aus Gebieten ohne Statiſtik nichts Sicheres. Daß
ſie in den Kulturſtaaten und in neuerer Zeit im allgemeinen abgenommen habe, iſt
ſicher; doch giebt Süßmilch für das vorige Jahrhundert im Durchſchnitt ganzer Länder
27,7 Todesfälle auf 1000 Lebende an, was von der Zahl für Deutſchland 1871—90
mit 26—24 nicht weit abſteht. Rawſon giebt als gegenwärtiges Mittel an: für Oſt-
europa 35,7, für Centraleuropa 28,3, für Südeuropa 25,6, für Nordweſteuropa 20,5.
Die größten heute beobachteten nationalen Gegenſätze ſind 17 in Norwegen, in Connecticut
und einigen ſüdamerikaniſchen Staaten, 33—35 für Rußland, dem Chile, Spanien,
Rumänien und Ungarn naheſtehen. Eine Sterblichkeit von 18—21 haben heute die
kultivierteren Staaten mit geringerer Geburtenzahl und Kinderſterblichkeit, eine ſolche
von 22—25 iſt das mittlere Ergebnis, während die Länder mit ſtarker Geburtenzahl
[167]Die Zahl der Geburten und der Todesfälle.
und großer Kinderſterblichkeit 25—35 Todesfälle haben. Eine Abnahme der Sterblichkeit
im 19. Jahrhundert iſt faſt überall zu beobachten: in Schweden war ſie 1751—70 27,6,
1816—40 23,4, 1884—93 17,2; in Deutſchland 1841—50 28,2, 1890—95 24,5;
dieſes Sinken fand aber nicht ohne mancherlei Schwankungen ſtatt; dieſelben müſſen von
Jahr zu Jahr unter Umſtänden größer ſein als etwa bei der Geburtenzahl; man hat
geſagt, die Sterbeziffer ſei um die Hälfte dehnbarer als die Geburtenziffer; Hunger-,
Kriſen-, Krankheitsjahre greifen hier jäher ein, als umgekehrt gute Jahre die Geburten
fördern: die Sterblichkeit war z. B. in Preußen 1816 27, 1819 31, 1825 27, 1831
36, 1840 28; in Deutſchland ſank ſie 1852—60 von 29 auf 24, ſtieg 1866 auf 32,
war dann 27—28, aber 1871 wieder 31, um endlich ſucceſſiv auf 27, 25, 23 herab-
zugehen. In einzelnen Städten und zeitweiſe, z. B. in Hamburg im Cholerajahre 1892,
iſt noch neuerdings die Sterblichkeit von vorher 22—24 auf 40 geſtiegen, um in den
folgenden Jahren wieder auf 20 und 18 zu ſinken.
Die allgemeine Deutung der Sterbeziffern iſt nicht ſehr ſchwer: Wohlfahrt, gute
Sitten und Staatseinrichtungen, geſunde hygieniſche Verhältniſſe vermindern die Sterb-
lichkeit, verlängern das Leben. Wenn man früher allgemein in den Städten größere
Sterblichkeit fand, ſo lag die Urſache teils in den ungeſunden Verhältniſſen, teils im
harten Daſeinskampf; jetzt haben manche Städte eine geringere Sterblichkeit als der
Landesdurchſchnitt. Daß in vielen Ländern die Sterblichkeit mit der größeren Dichtigkeit
der Bevölkerung wächſt, iſt nicht Folge dieſer an ſich, ſondern der häufig in ſolchen
Ländern vorhandenen Zahl vieler armer Leute und anderer ungünſtiger Verhältniſſe.
Die ſteigende Wohlhabenheit und die verbeſſerte Hygiene haben an der verminderten
Sterblichkeit von 1750—1890 ſicher den Hauptanteil; aber im Vergleich der verſchiedenen
heutigen Staaten werden wir nicht ſagen können, daß ihre Sterbeziffern allein dieſen
Urſachen entſprechen; Länder mit geringerem Wohlſtand und mäßiger Hygiene haben
geringe Sterblichkeit, z. B. Finnland 20, Griechenland 21, Bulgarien 21, Norwegen 16;
Deutſchland und Öſterreich haben höhere Sterblichkeit, 26—28, als Länder, die ihnen
an Wohlſtand gleichen, z. B. die Schweiz mit 21, Belgien und die Niederlande mit 20.
England hat jetzt 21, Irland 18, und wie viel reicher iſt das erſtere; Frankreich hat
22 und ſteht ſo England ſehr nahe, iſt aber doch nicht ſo wohlhabend und in ſeiner
Hygiene ſo entwickelt. Die Urſache dieſer Verſchiedenheiten liegt in dem Altersaufbau,
der Geburtenzahl und vor allem in der ſchon mehr erwähnten Kinderſterblichkeit. Wo
dieſe groß iſt, beeinflußt ſie ſehr ſtark die allgemeine Sterblichkeitsziffer, ohne daß in
dem betreffenden Lande notwendig die Sterblichkeit der Erwachſenen größer, der Wohl-
ſtand und die Hygiene entſprechend geringer wären.
Im allgemeinen wird man für frühere Zeiten und rohe Kulturen annehmen
können, daß ihre Kinderſterblichkeit meiſt eine noch viel größere war als heute in den
Kulturſtaaten, wo ſie am ſchlimmſten iſt. Die mittelalterliche Bevölkerungsſtatiſtik hat
uns belehrt, daß in den Städten die meiſten Ehepaare 6—12 und mehr Geburten, aber
meiſt nur 1—3 lebende Kinder hatten. Annähernd ähnlich ſind heute noch die Zuſtände
in Oſteuropa. Von 100 Geborenen ſterben im erſten Lebensjahre in Rußland 26, in
Deutſchland 20—26 (noch vor 40 Jahren in Bayern und Württemberg 30—35), in
Frankreich, der Schweiz und Belgien 16, in England 14, in Norwegen 9; in den erſten
fünf Lebensjahren ſchwanken die Ziffern zwiſchen 18 und 39 Prozent der Geborenen.
Die Urſachen der Verſchiedenheit liegen offenbar nicht bloß in den wirtſchaftlichen Ver-
hältniſſen, dem größeren oder geringeren Drucke der Not, ſondern ebenſo in Gewohnheiten
der künſtlichen und natürlichen Ernährung, im Koſtkinderweſen, vernünftiger und un-
vernünftiger Kinderbehandlung und Ähnlichem. Aber das bleibt doch, wie wir es
vorhin bei Beſprechung der Geburten ſchon andeuteten, die Hauptſache: große Kinder-
ſterblichkeit iſt ein Symptom ungünſtiger wirtſchaftlicher und ſonſtiger Verhältniſſe; ſie
ſtellt immer einen Anlauf von zu raſcher Bevölkerungszunahme dar; ſie umſchließt ver-
gebliche Ausgaben, vergebliche Kümmerniſſe und Sorgen aller Art. Das Ziel muß ſein,
nicht möglichſt viele, ſondern möglichſt lebensfähige Geburten zu erzielen, in der Geſamt-
ſterbeziffer möglichſt wenig Kinder zu haben, den Bevölkerungszuwachs zu erzielen mit
[168]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
möglichſt wenig vergeblichen Anläufen jungen Lebens. Wenn ein Volk jährlich 10 pro
Mille wächſt, ſo iſt dies möglich mit 45 Geburten und 35 Todesfällen, aber auch mit
25 Geburten und 15 Todesfällen; der letztere Fall iſt der weit vorzuziehende; es iſt
der Fall, wie wir ihn annähernd heute in Skandinavien und England vor uns haben,
während in Oſteuropa und auch teilweiſe noch in Deutſchland die gleiche Zunahme
durch den Molochdienſt großer Kinderſterblichkeit erkauft wird.
Wir kommen darauf zurück, wenden uns jetzt zur Bevölkerungszunahme, die wir
einerſeits im Anſchluß an die eben mitgeteilten Zahlen in ihrer jährlichen Bewegung,
andererſeits in ihren Geſamtreſultaten, den abſoluten Zahlen der Völker betrachten.
72. Die Zunahme und Abnahme der Bevölkerung, ihre abſolute
Größe. Wir haben geſehen, daß das Verhältnis der Geburten- zur Todeszahl in erſter
Linie die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung beſtimmt; es kommt überall die Zu- und
Abwanderung als zweiter, zeitweiſe viel ſtärkerer, gewöhnlich aber weniger eingreifender
Faktor hinzu. Wie beide Urſachen in früheren Zeiten nebeneinander im einzelnen
gewirkt haben, darüber fehlen uns zahlenmäßige Anhaltspunkte. Aus der Gegenwart
wiſſen wir, daß die Zunahme in Kolonialſtaaten, wie in den Vereinigten Staaten und
Auſtralien, dann aber auch in kleinen, ſehr ſtark wachſenden Gebieten, wie Hamburg
und Bremen, ebenſo ſehr oder noch mehr durch Wanderungen als durch Geburtenüberſchuß
ſtattfindet. In einigen der weſtlichen Teile der Vereinigten Staaten ſtieg neuerdings
die jährliche Zunahme bis 85,3 ‰, in Hamburg war ſie 1871—80 30,73 (wovon
19,72 auf Mehrzuwanderung fielen); in den ganzen Vereinigten Staaten 1800—60
30,89, 1860—80 23,62 ‰. Irland, das einzige bedeutend abnehmende Land Europas
in unſerer Zeit, dankt dies auch mehr den Wanderungen; es hatte jährlich, 1871—80
8,2 ‰ Geburtenüberſchuß und 12,6 ‰ Wanderverluſt. In einigen anderen Staaten hat
die Auswanderung wenigſtens den Zuwachs ſehr beſchränkt. Württemberg hatte 1824—80,
wie 1885—90 57 % ſeines Geburtenüberſchuſſes wieder durch Wanderungen verloren,
während in ganz Deutſchland die Zuwachsrate 1840—90 um 10—20 %, in Norwegen
zeitweiſe um 33—40 % durch Auswanderung ermäßigt wurde; in den meiſten anderen
raſch wachſenden Staaten Europas handelt es ſich nur um geringere Modifikation der
natürlichen Zunahme durch Auswanderung. Wir ſprechen im folgenden zunächſt von
der Zu- und Abnahme ohne Rückſicht auf dieſen doppelten Urſachenkomplex: für gewöhnliche
Verhältniſſe iſt die Relation der Todes- zur Geburtenziffer das Entſcheidende.
Unter ſolcher Vorausſetzung ſteht die Bevölkerung ſtill oder geht zurück, wo die
Todesziffer die Geburtenziffer erreicht oder übertrifft. Das muß früher oft und lange
der Fall geweſen ſein; noch im vorigen Jahrhundert treffen wir Provinzen und
Staaten dieſer Art, noch in unſerem zeigen lange faſt alle Städte dieſen Charakter. Das
ſinkende Altertum hat offenbar viel größere Sterbe- als Geburtenzahlen gehabt; heute wiſſen
wir von zahlreichen Naturvölkern, die, freilich in erſter Linie von dem Hauche des weißen
Mannes, der „killing race“, bedroht, unter einem Inbegriff von ungünſtigen Urſachen
eine immer kleinere Kinderzahl haben. Umgekehrt, wo die Geburten die Todesfälle
übertreffen, wie das heute in den Kulturſtaaten die Regel iſt. In früheren Jahrhunderten
war offenbar ſchon ein Geburtenüberſchuß oder eine Zunahme von 5—10 ‰ etwas
Außerordentliches, faſt nirgends auf die Dauer Vorkommendes. Wir ſehen das unter
anderem aus den ſtatiſtiſchen Berechnungen Lamprechts für das Trieriſche Gebiet und die
Zeit von 800—1237, eine Zeit, die durch die großartigſte Koloniſation ſich auszeichnete;
die jährliche Zunahme betrug 8—900 20 ‰, ſchwankte dann bis 1287 zwiſchen 1,4
und 3 ‰ in fünfzigjährigen Epochen, nicht wie er berechnet 10—35 ‰. Die Unmög-
lichkeit einer längeren und allgemeinen Zunahme dieſer Art ſehen wir vor allem aus
den Verdoppelungsberechnungen. Eine einzige Million Menſchen zur Zeit Chriſti lebend
würde ſchon 1842 mit 5 ‰ Zunahme auf über 8000 Millionen Seelen gekommen ſein
(J. G. Hoffmann). Eine Verdoppelung tritt nämlich ein: bei 2 pro Mille in 347, bei
5 in 139, bei 10 in 70, bei 28 in etwa 25 Jahren. Auch die heutige Menſchheit,
auch die begünſtigtſten, reichſten Staaten können ſo nicht fort wachſen; Deutſchland wird
in 70 Jahren nicht 106, jedenfalls in 140 nicht 212 Millionen Menſchen haben.
[169]Die Zunahme der Bevölkerung.
Aber immer erlebten wir in den letzten 150—200 Jahren zeitweiſe ſolche Zunahmen.
Von 1748—1800 haben die raſch wachſenden preußiſchen Provinzen, allerdings unter
Zuhülfenahme einer erheblichen Einwanderung, jährlich 12—15 ‰ zugenommen; die
meiſten anderen Staaten blieben damals noch weit dahinter zurück. Heute haben doch
mehrere dieſen Satz eingeholt. Die jährliche deutſche Zuwachsrate pro 1000 Seelen war
in fünfjährigen Epochen von 1816—95: 14,3, 13,4, 9,8, 9,4, 11,6, 9,6, 5,7, 4,0, 8,8,
9,9, 5,8, 9,1, 11,4, 7,0, 10,7, 11,2; ganz Europa hat 1800—1895 eine ſolche von 8,05;
man wird von unſeren heutigen Kulturſtaaten in ihrer großen Mehrheit ſagen können,
7 ‰ jährliche Zunahme ſei ihre mittlere Zuwachsrate, 10 und mehr eine ſtarke, 1—5
eine mäßige oder kleine. Zu den Ländern letzterer Art gehören Frankreich, Spanien,
neuerdings auch die Schweiz und Schweden, zu den ſtark wachſenden Deutſchland,
Großbritannien, Dänemark, Niederlande, Rußland. In den meiſten europäiſchen Staaten
hat die Zunahme in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etwas nachgelaſſen, nach-
dem ſie vielfach von 1850—70 noch weſentlich geſtiegen war. Ein ſtarker Wechſel des
Zuwachſes von Jahr zu Jahr und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat faſt nirgends
gefehlt; in Württemberg beobachten wir 1813—80 in fünfjährigen Epochen Wechſel
von 3 bis 13 ‰.
Wenn die höchſte in Kolonien beobachtete natürliche jährliche Zuwachsrate 20 bis
28 ‰ war, die heutige in den alten, großen, friedlichen Kulturſtaaten zwiſchen 1 und
15 ſchwankt, wenn die ſtärkere Zu- und Abnahme auf Wanderungen zurückgeht, wenn
in früheren Jahrhunderten und Jahrtauſenden ebenſo oft ein Stillſtand oder gar eine
Abnahme, wie eine mäßige natürliche Zunahme von 2—20 ‰ vorhanden war, ſo
werden wir überhaupt nicht, wie früher meiſt geſchah, von einer natürlichen normalen
Zuwachsrate von 10—30 ‰ reden können. Wir werden die Zunahme der Bevölkerung
ſtets als ein kompliziertes, ſchwankendes Ergebnis der natürlichen und pſychologiſchen
Triebe einerſeits, der geſellſchaftlichen Sitten und Einrichtungen, ſowie der wirtſchaftlichen
Zuſtände und Bedingungen andererſeits betrachten und nur das zugeben, daß bei ideal
vollendeter Geſellſchaftsverfaſſung und beſonders in wirtſchaftlich glücklichen Zeiten und
Gebieten die geſchlechtlichen Triebe, die Freuden des ehelichen Lebens und das Eltern-
glück eine Zunahme von 10—30, ja unter beſonderen Umſtänden auch von noch mehr
pro Mille erzeugen können und öfters erzeugt haben, und daß jede wirtſchaftliche und
geſellſchaftliche Verbeſſerung Tendenzen einer ſtärkeren Zunahme hervorruft.
Doch wollen wir hier auf das Bevölkerungsproblem noch nicht eingehen, ſondern
vorher noch ſehen, was die neuerdings ausgebildete hiſtoriſche Bevölkerungsſtatiſtik über
das Geſamtreſultat der Bewegung uns lehrt. Die Wiſſenſchaft kann auf dieſe Reſultate
um ſo ſtolzer ſein, als vor nicht gar langer Zeit alle Annahmen hierüber gänzlich falſch
waren; die antike Bevölkerung wurde früher bis zum 10fachen überſchätzt.
Wir fragen: wie groß waren früher und heute die ſocialen Gemeinſchaften, die
wir als Stämme, Völker, Völkerbünde, Reiche bezeichnen; und wir erinnern uns dabei,
daß die hiſtoriſche Entwickelung nicht etwa in gerader Linie die kleinen Stämme zu
großen Reichen ausbilden konnte; Jahrtauſende und Jahrhunderte lang waren Sitte
und Gewohnheit, Rechts- und Geſellſchaftsverfaſſung wie ſämtliche Lebensbedingungen
ſo, daß nur kleine Gemeinweſen exiſtieren konnten, daß ihr Anwachſen zu Spaltungen,
zu Eroberungszügen, zu Kämpfen aller Art führte, die erſt in langſamen Verſuchen zu
Völkerbünden, größeren Staaten und Weltreichen führen konnten.
Die Völkerkunde belehrt uns, daß noch heute die niederen Raſſen, z. B. auch
die meiſten Neger, in Stämmen von 1000—3000 Perſonen leben, daß aber allerdings
daneben die verſchiedenartigſten Verbindungen ſolcher Stämme zu Völkerſchaften und
Bünden vorkommen. Als das glänzendſte Reſultat ſolch’ bündiſch-völkerrechtlicher Ent-
wickelung der nordamerikaniſchen Indianer weiſt Morgan den Zuſammenſchluß von
5—6 Stämmen zu einem Bunde von 15000, ja vielleicht 20000 Seelen nach. Wenn
für die germaniſchen Völkerſchaften zu Cäſars und Tacitus’ Zeit jetzt H. Delbrück eine
durchſchnittliche Größe von 25000 Seelen annehmen zu können glaubt, ſo ſcheint mir
das eher zu viel als zu wenig. Die gezählten 80000 Vandalen, welche 484 von
[170]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Spanien nach Afrika überſetzten, umfaßten eine Reihe verbundener Völkerſchaften, ähnlich
wie die anderen Völkerkonglomerate der großen Wanderzeit, und die überlieferten Nach-
richten über ihre Zahl dürften ſo ziemlich alle ums Doppelte bis Mehrfache übertrieben
ſein. Noch bis ins 18. Jahrhundert zeigen ſich alle kritiſch zu prüfenden, runden über-
lieferten Volkszahlen als maßlos und ganz unzuverläſſig.
Die ſeßhafte Bevölkerung der kleinen Staaten des Altertumes und des Mittel-
alters bewegte ſich meiſt zwiſchen 50000 bis zu 1 Million Seelen. Attika hatte zur
Zeit der Perſerkriege 150000, unter Perikles 250000, nach dem peloponneſiſchen Kriege
ſank es auf 130000 Einwohner; Lakonien und Meſſenien zuſammen nie über 50—100000;
Rom 340 v. Chr. vor dem Sabinerkrieg 0,5 Mill., 240 v. Chr. etwa 1 Mill.; das
Perſerreich vor ſeiner Eroberung etwa 0,5 Mill. Sicilien hat wohl weder im Altertume,
noch unter den Sarazenen oder Friedrich II. 1 Mill. erreicht; Florenz (Stadt und
Gebiet) hatte im 16. Jahrhundert 0,5—0,6 Mill.; Venedig mit der terra ferma
1,3 Mill.; die größeren deutſchen Territorialſtaaten des 15.—18. Jahrhunderts höchſtens
0,1—0,7 Mill. (z. B. Brandenburg 1617 0,3, 1774 0,6, Oſtpreußen 1688 0,4, 1773
0,7 Mill.). England wird zu 1,2 Mill. um 1086, zu 2,5 im 14. und 16. Jahr-
hundert geſchätzt, die vereinigten Niederlande zur Zeit ihrer Blüte zu 2,2 Millionen.
Als etwas größere Völker treten uns ſchon die Ägypter und Karthager entgegen:
Diodor behauptet, das erſtere Land ſei von ſeinem einſtigen Volksreichtum von 7 Mill.
durch die Fremdherrſchaft zur Zeit der Eroberung durch Alexander auf 3 Mill. reduziert
geweſen; durch die griechiſche und römiſche Verwaltung ſtieg die Zahl wieder auf 5,
Joſephus behauptet auf 7½ Mill. Das karthagiſche Afrika berechnet Beloch 200 v. Chr.
auf 3—4 Mill. Die aſiatiſchen Eroberungsreiche Vorderaſiens können als die erſten
vielleicht auf 10—20 Millionen geſtiegen ſein; für die Tiefebene am unteren Euphrat
und Tigris nimmt Beloch zu Ende der Perſerherrſchaft allein 6—8 Mill. an, für
Syrien auch mehrere Millionen. Für China berechnet Sacharoff in der Zeit von
2275 v. Chr. bis 600 n. Chr. Zahlen, die zwiſchen 59 und 79 Millionen unregelmäßig
hin und her ſchwanken.
Suchen wir neben den älteren Klein- und Mittelſtaaten die durch einheitliche
Kultur, Völkerrecht und Bünde aller Art verknüpften Völkergemeinſchaften in ihrer
Größe zu erfaſſen, ſo ſteht das antike Griechenland und Italien in erſter Linie. Die
Griechen müſſen vom 10. bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. außerordentlich zugenommen
haben, ſchon ihre große Koloniſation beweiſt es. Beloch glaubt ſie zu Anfang des
peloponneſiſchen Krieges mit Makedonien und den nächſten Inſeln auf 2,5—3 Mill., die
ganze griechiſche Kolonialbevölkerung auf ebenſo viel ſchätzen zu ſollen; das eigentliche
Griechenland bei der Unterwerfung unter Philipp von Makedonien auf 4 Mill. Mit
dem alexandriniſchen Reiche und denen der Diadochen muß noch ein Jahrhundert der
ſtärkſten Zunahme der griechiſchen Völker gefolgt ſein. Wenn einzelne Staaten, wie
Athen, ſchon länger zurückgingen, ſo nahmen andere noch außerordentlich zu, wie z. B.
Rhodos. Erſt ſeit der römiſchen Herrſchaft geht das eigentliche Griechenland im ganzen
zurück, wohl in erſter Linie, weil ihm früher nur ſeine Eigenſchaft als gewerblicher und
Handelsmittelpunkt der Welt die große Menſchenzahl zu ernähren geſtattet hatte.
Italien, ohne das diesſeitige Gallien, war in Hannibals Tagen nach Beloch auf
3,5, mit ihm auf 4—4,5 Mill. gekommen; nach großer Abnahme während des zweiten
puniſchen Krieges nahm die Zahl bis 135 v. Chr. zu, dann durch Bürgerkriege ab;
unter Auguſtus iſt ganz Italien auf 5,5, unter Claudius auf 7 Mill. zu ſetzen. Von
da an tritt die Abnahme ein, während in den anderen Provinzen des Reiches in den
erſten beiden Jahrhunderten des Principats noch eine Zunahme ſtattfindet. Ganz Europa
iſt zu Anfang unſerer Zeitrechnung auf etwa 30 Mill., das ganze römiſche Reich auf
etwa 54 Mill. zu ſchätzen, wovon die größere Hälfte auf den damals viel dichter
bevölkerten Oſten fällt.
Von dem unter dem Principat erreichten Höhepunkte der Bevölkerung ſind faſt
alle Teile des römiſchen Reiches Jahrhunderte lang zurückgeſunken; eine lange Zeit der
Entvölkerung, des zerſtörenden Kampfes mit den Barbarenvölkern folgte; endlich kon-
[171]Geſchichte der Bevölkerungszahlen.
ſolidierten ſich die kinderreichen Germanenſtaaten, und teils gegen 1250, teils gegen
1500 n. Chr. war die alte Zahl nicht bloß erreicht, ſondern überſchritten. Spanien iſt
unter Auguſt auf 6, unter den Antoninen auf 9, 1500 auf 11 Mill. Seelen zu ſetzen;
dazwiſchen natürlich viel niedriger; für ſpäter ſei noch angeführt: 1787 10, 1887 17 Mill.
Italien hat unter Claudius 7 Mill., im älteren Mittelalter viel weniger; dann ſtarke
Zunahme; 1560 etwa 11, 1701 10 Mill., 1788 16, 1896 31 Mill.; Gallien unter
Auguſtus 5, unter den Antoninen wohl 8 Mill.; unter Karl d. Gr. hatte Frankreich
in ſeinem heutigen Umfange wahrſcheinlich weniger (nicht 8—10 Mill., wie Levaſſeur
will), Anfang des 14. Jahrhunderts wahrſcheinlich auch nicht ganz 20—22 Mill. (wie
Levaſſeur rechnet); dann kommt ein großer Rückgang; 1574 werden etwa 14, 1700
etwa 21, 1715 18, 1789 bis 26 Mill. geſchätzt; 1806 ſind es 29, 1861 34, 1896
38 Millionen.
Für Deutſchland möchte ich folgende Schätzung, welche der Vergleichbarkeit wegen
die Zahlen auf den Umfang des heutigen Deutſchen Reiches berechnet, wagen: zu Cäſars
Zeiten 2—3 Mill.; dann große Zunahme nach der Völkerwanderung in den Tagen der
inneren Koloniſation bis etwa 12 Mill. gegen 1250—1340; nun Stillſtand oder gar
Rückgang bis 1480 und nochmalige Zunahme bis 1620 auf etwa 15 Mill.; der 30-
jährige Krieg bringt große Verluſte, 1700 mögen wieder 14—15 Mill. vorhanden
geweſen ſein, 1800 22—24; 1824 zählte man 24, 1850 35 Mill., 1895 52 Millionen.
England und Wales ſtieg von 2,5 Mill. im 16. Jahrhundert auf 5 1690, auf
9,1 1801, auf 15,9 1841, auf 30,6 Mill. 1896. In den Jahren 1815—91 wuchſen
Belgien von 3,7 auf 6, die Niederlande von 2,4 auf 4,5, Schweden von 2,4 auf
4,7 Mill.; das Volk der Vereinigten Staaten von 8 auf 62 Mill. Das europäiſch-
ruſſiſche Volk ſchätzt man 1722 auf 14, 1805 auf 36, 1851 auf 65, 1897 auf 105 Mill.
(mit Finnland und Polen). China ſoll 1650 etwa 62, 1725 etwa 125, 1890 etwa
357 Mill. Seelen beſeſſen haben; Brittiſch-Indien ſchätzte man 1860 auf etwa 189 Mill.,
1891 zählte man 291. China, Indien, Vorderaſien und Europa ſind ſeit langer Zeit
die einzigen Herde großer Volksmaſſen; jetzt kommt Nordamerika, ſpäter vielleicht auch
Auſtralien dazu. Ganz Europa wird man zur Zeit von Chriſti Geburt auf 30, 1500
wohl auf 60—80, 1700 auf 110, 1800 auf 175 Mill. ſchätzen können, 1890 waren es
357 Mill. Die Verſuche, die Bevölkerung der ganzen Erde zu erfaſſen, datieren von
Iſaak Voſſius 1685 (500 Mill.); Süßmilch nahm 1000 an; erſt Behm, Wagner und
Supan ſind ſeit 1866 zu halbwegs ſicheren Zahlen gekommen: 1866 etwa 1350, 1890
1450—1500 Millionen.
Was lehren die Zahlen? Wohl ſicher, daß die menſchlichen Gemeinſchaften immer
größer wurden, daß die Zahl der Menſchen ſucceſſive mit der Kultur gewachſen iſt, daß
niemals früher das menſchliche Geſchlecht ſo zahlreich war, auch wohl dauernd nie ſo
zugenommen hat wie in den letzten 200 Jahren. Wir ſehen aber auch, daß die Zu-
nahme ſtets eine höchſt ungleiche war, daß Fortſchritt und Rückſchritt miteinander
wechſeln, daß die Bahn, je weiter wir ſie zurückverfolgen können, von deſto mehr Ge-
fahren und Hinderniſſen bedroht war, ja daß ſie bis in die neueren Zeiten oft zu
langem Stillſtand, ja Rückgang führte, ſo z. B. für viele europäiſche Staaten von 1400
bis 1700.
73. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung:
a) die Hemmungen. Auf Grund der vorſtehenden Mitteilungen über die That-
ſachen der Bevölkerungsbewegung können wir uns dem Bevölkerungsproblem zuwenden;
es ſpielt eine beherrſchende Rolle in allem volkswirtſchaftlichen Leben. Seit es menſch-
liche Gemeinweſen mit etwas größerer Menſchenzahl gab, ſtanden ſie vor der Frage, ob
auf dem innegehabten Boden, mit ihren techniſchen Mitteln eine erhebliche Zunahme
ihrer Zahl möglich ſei. Jedes geſunde Paar Menſchen kann die doppelte oder mehrfache
Zahl Kinder haben und freut ſich ihrer in normalen Verhältniſſen. Jeder Stamm,
jedes Volk, das nicht zu ſehr von Feinden bedrängt wird, das reichliche Nahrungsquellen
hat, vermehrt ſich und empfindet dieſe Vermehrung als Kraftzuwachs und Glück. Das
menſchliche Geſchlecht als Ganzes hat ſeit Millionen Jahren an Zahl zugenommen und
[172]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
verdankt ſeine höhere Kultur nur den Völkern, die es zu größeren Volkszahlen gebracht
haben. Aber ſo unzweifelhaft dieſe Wahrheit iſt, ſo klar iſt auch, daß alle Zunahme
von ſchwer zu erfüllenden Bedingungen abhängt, daß die Kämpfe der Stämme und
Völker untereinander und mit der Natur, die Schwierigkeit, größere Volkszahlen zu
ernähren, über Krankheiten und Mißjahre Herr zu werden, immer wieder hemmend
dazwiſchen getreten ſind, daß ebenſo viele oder mehr Raſſen, Stämme und Völker zurück-
gegangen ſind oder vernichtet wurden als vorwärts kamen.
Dem entſprechend ſehen wir die Völker und ihre Wünſche und Anſichten über die
Zunahme, ihre diesbezüglichen geſellſchaftlichen und geſchlechtlichen Einrichtungen, in den
letzten Jahrhunderten ihre Theorie über das Bevölkerungsproblem merkwürdig ſchwanken.
Wir werden dieſe Schwankungen am beſten verſtehen, wenn wir ſie nicht in ihrer
chronologiſchen Folge vorführen, ſondern gegliedert nach den drei möglichen Zielen,
welche die Völker verfolgten, ſeit ſie den engen Zuſammenhang zwiſchen der Bevölkerungs-
zahl und der Ernährungsmöglichkeit, wie er im Boden und den geſamten wirtſchaftlichen
Verhältniſſen liegt, inſtinktiv oder verſtandesmäßig begriffen hatten; auch die ſogenannten
Bevölkerungstheorien erhalten ſo am beſten ihr Licht und ihre Stelle.
Die Völker konnten 1. peſſimiſtiſch und unter dem Drucke ungünſtiger Verhältniſſe
ſich darauf verlaſſen, daß Krankheit, Kriege, Unglücksfälle aller Art den Überſchuß an
Menſchen beſeitigen werden, und ſie konnten, wenn dies nicht genügte, direkt verſuchen,
durch abſichtliche Hemmung ihre Zahl zu beſchränken. Sie konnten 2. im Gefühle ihrer
Kraft ſich ausdehnen, ihre Grenzen hinausſchieben, fremde Länder unterwerfen, durch
Wanderung, Eroberung, Koloniſierung, Auswanderung ſich Luft ſchaffen. Sie konnten
3. aber auch den jedenfalls von einem gewiſſen Punkte an ſchwierigſten Weg betreten
und die einheimiſche Bevölkerung verdichten, was in der Regel große techniſche und
wirtſchaftliche, ſittliche und rechtliche Fortſchritte vorausſetzte.
Wir betrachten zunächſt die unwillkürlichen und die willkürlichen Hemmungen.
Die erſteren waren offenbar viele Jahrtauſende lang ſo ſtark, daß die Empfindung
eines zu ſchnellen Bevölkerungszuwachſes in den primitiven Zeiten nur ausnahmsweiſe
eintreten konnte. Am unzweifelhafteſten gilt dies für die Jäger-, Fiſcher- und alle
wandernden Völker, deren Nahrung unſicher und ungleich iſt, deren Krankheiten nicht
aufhören, die, vom Aberglauben beherrſcht, mit kümmerlicher Technik ſchutzlos den
Elementen und allen Feinden preisgegeben ſind. Aber auch die Hirten- und primitiven
Ackerbauvölker ſind lange immer wieder von Hunger und Krankheiten furchtbar bedroht,
wenn auch bei ihnen durch Gunſt der Jahre und der geographiſchen Lage zeitweiſe die
Stabilität umſchlägt in ſtarke Zunahme; das geſchah beſonders, wenn große techniſche
Fortſchritte, wie die Viehzähmung und die Milchnahrung, ein beſſerer Ackerbau das
Leben erleichterte, wenn mal die Kämpfe mit den Nachbarn ruhten, durch glückliche
Zufälle die gewohnten Krankheiten ausblieben. Aber häufig kehrten auch bei ihnen die
gewaltigen Decimierungen natürlicher Art wieder, ſo daß dann die Geburten nur die
vorhandenen Lücken mehr oder weniger ausfüllten.
Wir haben die Beweiſe hiefür erſt durch die Reiſeberichte der letzten hundert Jahre
in Bezug auf die wilden und kulturarmen Raſſen näher kennen gelernt. Und in Bezug
auf die Kulturvölker hat die neuere Geſchichte der Medizin uns gezeigt, daß bis übers
Mittelalter hinaus auch ihre Sterblichkeit eine enorme, die Kinderſterblichkeit in Genf
z. B. im 16. Jahrhundert mehr als die doppelte von heute war. Ebenſo wichtig wie
die gewöhnliche war die zeitweiſe außerordentliche Sterblichkeit. Von 531 n. Chr. an
haben 50 Jahre lang Erdbeben und furchtbare Krankheiten ganze Städte und Länder
faſt entleert; am ſchwarzen Tod 1345—50 läßt Hecker 25 Mill. Menſchen in Europa
ſterben; vielleicht waren es nur 8—12 Mill., aber ſicher iſt, daß man bis Anfang
des 18. Jahrhunderts überall erſtaunt war, wenn nicht alle 10—20 Jahre „ein
groß Sterbede“ kam und aufräumte. Nach Macculloch ſtarben in London 1593 24,
1625 31, 1636 13, 1665 45 % der Volkszahl. In ſolchen Fällen tötete nicht bloß
die Krankheit — Ausſatz, Peſt, Pocken ꝛc. —, ſondern ebenſo die Stockung alles Ver-
kehrs und die Hungersnot. Der Schmutz in Wohnungen und Straßen, die Schlechtigkeit
[173]Die älteren Hemmungen des Bevölkerungszuwachſes.
des Trinkwaſſers, der Mangel aller hygieniſchen Einrichtungen, in den Städten der
Mangel an Sonne, Licht und Luft förderten die große Sterblichkeit. Die Hungerjahre
haben noch länger fortgedauert als die großen Krankheiten, wenigſtens da, wo kein
moderner Verkehr ſich entwickelt hat. In Bengalen ſollen 1771 gegen 10 Mill. Menſchen
verhungert ſein, ſeither haben 21 ſolcher Hungerplagen in Indien gewütet, die letzten
1866, 1868, 1874, 1876—77, 1891; 1876—79 ſtarben 6 Mill. an Hunger; der Ver-
waltungsdienſt gegen Hungersnöte iſt eine der glänzendſten Leiſtungen der engliſchen
Herrſchaft, hat ſie aber noch nicht beſeitigt. Auch in China ſind die Heuſchrecken-
plagen, Überſchwemmungen und Hungersnöte noch heute an der Tagesordnung wie bei
uns in früheren Zeiten.
Dazu kommt in den früheren barbariſchen Zeiten der Kannibalismus, die
Menſchenfreſſerei, die häufig üblichen maſſenhaften Menſchenopfer, welche den kriege-
riſchen Gottheiten dargebracht wurden; noch ſtärker aber mußten die aufreibenden Kämpfe
der Stämme und Völker untereinander wirken. In jenen Zeiten galt das Leben nichts;
der Tod durchs Schwert wurde dem auf dem Strohlager vorgezogen. Wenn noch in
unſeren Tagen der Zuluherrſcher Tſchaka eine Million Fremde, 50000 Stammesgenoſſen
getötet, 60 Nachbarſtämme vernichtet haben ſoll, ſo iſt das ein Bild der früheren
Lebensvernichtung überhaupt. Die Kriege der Kulturvölker im Altertum und Mittel-
alter mögen dagegen ſchon milde genannt werden, decimierend haben ſie bis auf den
30jährigen und die Napoleoniſchen Kriege gewirkt; die 1,8—2,5 Mill. Franzoſen, die
den Kriegen 1793—1813, die 0,25 Mill., die im Orientkriege 1853—56 erlagen, haben
freilich die Zunahme der Bevölkerung nicht aufgehalten, aber ſie fallen doch anders ins
Gewicht als die 46000 deutſchen (1 ‰) und die 139000 franzöſiſchen Toten von
1870—71.
Hängt die Menſchenfreſſerei und die Menſchenopferung teilweiſe mit Aberglauben
zuſammen, ſo iſt das ebenſo beim urſprünglich ſo verbreiteten Kindsmord; doch ſpielten
auch andere Motive bei ihm mit, z. B. die Annahme, daß das erſtgeborene Kind der
jugendlichen Mutter zu ſchwächlich ſei, oder die Abſicht, überhaupt die kümmerlichen
Kinder auszumerzen. Auch die Tötung der Witwen, teils allein, teils mit Kindern und
Sklaven, hängt mit Vorſtellungen religiöſer Art, mit Hoffnungen auf das Jenſeits
zuſammen. Aber der ſyſtematiſch geübte Kindsmord, der da und dort ſo weit ging,
zwei Drittel aller Geburten zu beſeitigen, wie die Tötung der Alten und Kranken war
doch bei den zunehmenden Völkern früher vielfach das Ergebnis wirtſchaftlicher Abſichten
und Nöte. Wo naive, primitive Menſchen in feſt gegebenen, beſchränkten Ernährungs-
verhältniſſen lebten, wo begrenzte Stammes-, Gentil-, Generationszahlen als Bedingung
der Exiſtenz klar erkannt waren, da haben die betreffenden roh und rückſichtslos Kinder
und Alte getötet, zumal auf der Wanderung und in Hungerjahren; da haben ſich auch
als Inſtitutionen jene derben Gepflogenheiten der Abtreibung, der Ausſchneidung der
Geſchlechtsteile, der Päderaſtie, der Vielmännerei, der Proſtitution ſowie des Cölibats
weiter Kreiſe ausgebildet, die wir nicht bloß bei vielen barbariſchen, ſondern vielfach
auch bei den älteren Halbkulturvölkern, vor allem im Orient finden. Noch die Vor-
ſchläge von Plato und Ariſtoteles über Kindsmord und ſtaatliche Regulierung der
Kinderzahl hängen wahrſcheinlich mit älteren ſolchen Sitten gewiſſer griechiſcher Stämme
zuſammen. „Die Freigebung der Kindererzeugung,“ ſagt Ariſtoteles, „wie ſie in den
meiſten Staaten beſteht, muß notwendig die Verarmung der Bürger zur Folge haben,
die Verarmung aber verurſacht Aufruhr und Verbrechen.“
Wie in jenen roheren Zeitaltern die Geſtattung des Kindsmordes, der Abtreibung,
der Proſtitution und alle ähnlichen bevölkerungshemmenden Sitten gewirkt haben, können
wir heute nicht mehr genau erkennen. Sie haben ſicher die Menſchenzahl, wenigſtens ihre
Zunahme ſehr eingeſchränkt, ſie haben wahrſcheinlich auch damals große ſittliche und
phyſiologiſche Überlſtände, ſociale und rechtliche Härten und Mißbildungen erzeugt, wenn
ſie vielleicht auch jene roheren Völker nicht ſo vergiftet, die Möglichkeit nachfolgender
Wiederzunahme der Bevölkerung nicht ſo vernichtet haben, wie ſpäter ähnliche Sitten
die höher kultivierten Völker in ihrem Kerne angriffen und decimierten. Wir denken
[174]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
dabei vor allem an das antike ſinkende Griechenland und Italien und ihre Bevölkerungs-
abnahme.
Immer bleibt es wahrſcheinlich, daß die ungünſtigen Folgen von einzelnen Völkern
früh erkannt wurden, und daß ſie in Verbindung mit den großen techniſchen Fortſchritten
der Hirten- und Ackerbauvölker, mit den geläuterten Religionsſyſtemen derſelben zu der
mit der höheren Kultur ſiegenden Auffaſſung führten, welche alle ſolche hemmenden Ein-
griffe für verwerflich und ſtrafbar, jede Bevölkerungszunahme für ein Glück erklärt. Die
Juden, das Chriſtentum, die chriſtlich-germaniſchen Völker ſtellten ſich auf dieſen Stand-
punkt. Letztere konnten ihn um ſo leichter feſthalten, als ſie Jahrhunderte lang eroberten,
koloniſierten, bei großem Verluſte durch Kriege und Krankheiten bis in die zweite Hälfte
des Mittelalters über einen unausgefüllten Nahrungsſpielraum verfügten. Seit ſie aber,
von 1200—1400 doch mehr und mehr zur Ruhe gekommen, den Ausbau in Stadt und
Land vollendet hatten und nun nicht mehr ebenſo leicht weiter wachſen konnten, da
haben ſie zwar nicht wieder ſo naiv zu Kindsmord, Abtreibung und Ähnlichem gegriffen
wie einſtmals die älteren Völker, aber ſie haben in Einrichtungen die Rettung geſucht,
welche mehr indirekt die Zunahme verlangſamen ſollten. Es ſind die, welche die euro-
päiſche Bevölkerungsbewegung in der Hauptſache von 1300—1800 beherrſchten.
Schon das Altertum hatte gewiſſe Inſtitutionen, welche indirekt die Zunahme
hemmten: vor allem die Sklaverei; ſie ſtellte den Geſchlechtsverkehr aller Sklaven unter
die Kontrolle des Herrn, verminderte die Zahl der Ehen bei den Sklaven außerordentlich,
ſchränkte auch die eheliche Fruchtbarkeit der Herren durch Laſter und Mißbrauch der
Sklavinnen ein. Im Mittelalter kam die Eheſchließung der Unfreien und Halbfreien
wieder unter die Kontrolle der Herren. Die patriarchaliſche Familienverfaſſung, ſowie
die ganze feudale Agrarverfaſſung mit der Bevorzugung eines Erben, der Geſchloſſenheit
der Güter, dem Geſindezwangsdienſt verſchob das Heiratsalter, zwang viele Erwachſene
zu eheloſem Leben, regulierte die Bevölkerung in beſchränkendem Sinne. Und in den
Städten wirkten erſchwerte Niederlaſſung, Zunft- und Realrechte ſeit 1400—1500 ähnlich.
Je ſtabiler die wirtſchaftlichen Zuſtände und je gebundener durch Sitte und Recht ſie
waren, deſto mehr näherte man ſich dem, was Malthus auf ſeinen Reiſen in Norwegen
und im Kanton Bern als ſein Ideal fand: vorſichtige Anpaſſung der Ehen und der
Kinderzahl an einen gegebenen engen Nahrungsſpielraum mit geringer oder faſt ver-
ſchwindender Zunahme.
Die zu ſtarke Wirkung ſolcher Einrichtungen hatte lange Zeit hindurch in Ver-
bindung mit den noch vorhandenen Krankheiten und Hungersnöten, mit den Kriegen
da und dort Stillſtand, ja Rückgang der Bevölkerung erzeugt. Daraus entſprangen die
populationiſtiſchen Theorien und die entſprechende Bevölkerungspolitik des aufgeklärten
Despotismus. Weil es in der That von 1600—1800 in vielen Staaten an Menſchen
fehlte, ſo konnten jene optimiſtiſchen Lehren von Sir William Temple, Vauban, dem
älteren Mirabeau und Rouſſeau, von J. J. Becher, Süßmilch, Juſti und Sonnenfels
bis zu Adam Smith entſtehen, daß die zunehmende Menſchenzahl an ſich ein Glück, mit
allen Mitteln zu fördern ſei, daß ſie den Reichtum der Staaten ausmache und erzeuge.
Und ſie hatten damit für ihre Zeit und die ihnen bekannten Länder im ganzen gar
nicht Unrecht; es handelte ſich darum, durch gute Verwaltung, Aufhebung aller mög-
lichen Schranken, durch Erleichterung der Ehen, Förderung der Einwanderung, Hemmung
der Auswanderung die zu geringe Menſchenzahl zu vermehren. Dieſe Theorien irrten nur
darin, daß ſie den beſtimmten ſtagnierenden Verhältniſſen entnommenen Satz: die
größere Menſchenzahl erzeugt größeren Wohlſtand, allzu ſehr generaliſierten, die zahl-
reichen Mittelurſachen und Nebenbedingungen der Kauſalkette überſahen.
Als die engliſche Bevölkerung von 1500—1800 aber von 2,5 auf 9 Mill. geſtiegen
war, erzeugte die Zunahme, welche von 3 ‰ jährlich 1700—1751 ſucceſſive auf 18 ‰
1811—21 gewachſen war, auch 1851—61 noch 12 ‰ betrug, immer häufiger ein
periodiſches Unbehagen. Schon die Puritaner, die 1620 nach Neuengland zogen, klagen,
daß der Menſch, das Wertvollſte auf der Welt, wegen der Überzahl in der Heimat
wertlos geworden ſei. Sir Walter Raleigh, Child, Sir James Steuart betonten dann
[175]Die Populationiſten, Malthus und ſeine theoretiſchen Gegner.
bereits, die Grenzen der Bevölkerung lägen in der Ernährungsmöglichkeit. T. R. Malthus
aber ſtellte ſich 1798 unter dem Eindrucke des zunehmenden Proletariats und der
erdrückenden Armenlaſt auf den peſſimiſtiſchen Standpunkt und kam zu den bekannten
Sätzen: die Bevölkerung hat die Tendenz, ſich unverhältnismäßig, wie alle natürlichen
Organismen, über die Grenzen der bereitliegenden Nahrung hinaus zu vermehren; da,
wo die Hemmniſſe gering ſind, verdoppelt ſie ſich in 25 Jahren, ſie wächſt alſo in
100 Jahren im Verhältnis von 1 : 16; in 25 Jahren kann unter den günſtigſten Ver-
hältniſſen der Ertrag der Erde ſich verdoppeln, alſo in 100 Jahren von 1 : 4 zunehmen;
aus dieſem Mißverhältnis ergiebt ſich, daß die Bevölkerung nur durch zuvorkommende
Hemmniſſe, wie moraliſche Enthaltung, oder durch Laſter, Krankheit, Elend aller Art
im Einklange mit der Ernährungsmöglichkeit erhalten werden kann. Dieſe Sätze fanden
unter den ſtockenden Erwerbsverhältniſſen 1800—1855 weiten Beifall bei den erſten
engliſchen, franzöſiſchen und deutſchen Staatsmännern und Nationalökonomen. J. St. Mill
vor allem predigte Enthaltſamkeit in der Ehe und die Bildung einer öffentlichen Meinung,
welche das Laſter der Trunkenheit und der größeren Kinderzahl gleichſtelle.
Das Verdienſt von Malthus iſt es, daß er mit Nachdruck und wiſſenſchaftlichen
Beweiſen den Zuſammenhang der Menſchenzahl mit der Ernährungsmöglichkeit betont
und die vorhandenen Grenzen der letzteren erläutert hat; aber ſeine Zahlenformeln ſind
falſch, und er ſtellt die ſicher vorhandene Vermehrungstendenz zu ſehr als natürliche,
abſolute, ſtets vorhandene hin, unterſcheidet nicht genug die verſchiedenen Wirtſchafts-
zuſtände und Möglichkeiten des Unterhaltes und des Ausweges; er ſieht, wie viele ſeiner
peſſimiſtiſchen Anhänger, auch Zuſtände als Übervölkerung an, die mehr Folge von
ſchlechter Einrichtung der Produktion und Verteilung der Güter, von techniſcher Rück-
ſtändigkeit als zu großer Menſchenzahl ſind.
Praktiſch hatte die Malthusſche Theorie die Folge, daß in vielen Staaten 1815
bis 1855 mancherlei die Zunahme hemmende Geſetze über Eheſchließung, Niederlaſſung,
Gewerbebetrieb, Schaffung neuer Ackerſtellen erlaſſen wurden. Aber ihr Erfolg war doch
im ganzen gering. Die Fortſchritte der Technik und des Verkehrs wirkten in entgegen-
geſetztem Sinne, und die längſt einſetzende liberale Geſetzgebung, welche nun von 1850
an überall definitiv die alten Schranken der Ehe, der Niederlaſſung, des Wanderns, der
Gewerbe beſeitigte, wirkte auf eine außerordentliche Beſchleunigung der Zunahme: der
Optimismus der Zeit ſetzte ſich in entſprechende gern geglaubte Theorien um.
Das liberale Mancheſtertum nahm an, daß zwiſchen Bevölkerungs- und Wirtſchafts-
fortſchritt wie überall an ſich Harmonie ſein müſſe oder erklärte es ohne Rückſicht auf
die irdiſchen Raum- und Güterſchranken, jeder Menſch mit geſunden Armen könne ſo
viel produzieren wie er brauche; oder es jubelte über die Kapitalanhäufung, die ſchneller
gehe als die Menſchenzunahme, als ob die oft ins Ausland gehende, oft für Kriege
verbrauchte Kapitalmenge allein ſtets ausreiche, für mehr Menſchen Nahrung, Abſatz,
richtige Organiſation zu ſchaffen. Phyſiologiſche Optimiſten von H. Spencer bis Bebel
ſtützten ſich auf die Abnahme der Zeugungskraft, welche der Zunahme der Geiſtesthätig-
keit entſpreche, ohne Beweiſe für die Gegenwart zu erbringen. Manche Socialiſten unter
der Führung von Sismondi fanden die Quelle alles Übels in der ungleichen Einkommens-
verteilung; und gewiß kann eine gleichmäßigere Verteilung zu einer anderen Richtung
aller Produktion Anlaß geben und eine vermehrte Möglichkeit des Lebens für etwas
mehr Menſchen ſchaffen; aber allzuviel macht das nicht aus; und Vorzugsportionen für
die höher Stehenden ſind nie ganz zu beſeitigen. Andere Socialiſten träumen von
techniſchen Fortſchritten, welche an das Schlaraffenland erinnern, oder erklären, ohne
geographiſche und landwirtſchaftliche Kenntniſſe, wie Engels, es gäbe keine Übervölkerung,
da erſt ein Drittel der Erde angebaut, und die Produktion auf das Sechsfache geſteigert
werden könne. Wieder andere, wie Marx, erklären, die heutige überraſche Bevölkerungs-
zunahme ſei der notwendige Ausdruck der kapitaliſtiſchen Epoche; für die Zeit des
ſocialiſtiſchen Staates hoffen ſie kindlich auf harmoniſche Selbſtregulierung.
Die empiriſche Wiſſenſchaft und die vernünftige Praxis tröſtete ſich zunächſt mit
der Aushülfe von Auswanderung und Koloniſation und der möglichen Verdichtung der
[176]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Bevölkerung auf Grund der techniſchen Fortſchritte. Aber beide mußten zugeben, daß die
Peſſimiſten nicht ganz Unrecht haben mit dem Hinweis auf dunkle Punkte, die mit unſerer
heutigen volkswirtſchaftlichen und ſocialen Organiſation zuſammenhängen: die ſteigende
Ehe- und Kinderloſigkeit der oberen Klaſſen unter ſtarker Zunahme des außerehelichen
Geſchlechtsverkehrs und der Proſtitution, die Verſpätung der Eheſchließung im Mittel-
ſtande, die proletariſch große Vermehrung der unteren Klaſſen mit überfrüher, leicht-
ſinniger Eheſchließung und erheblicher Kinderſterblichkeit ſind ſehr bedenkliche Symptome.
Und daß gegen ſie die bloße Empfehlung verſpäteter Ehe und die Enthaltung des Ge-
ſchlechtsverkehrs in der Ehe, vollends in der des Arbeiters, wie ſie von Malthus und
J. St. Mill ausgingen, nichts nützen, iſt klar. Andere Sitten der unteren und der
höheren Klaſſen in Bezug auf die Eheſchließung und Kinderzeugung können nur im
Zuſammenhang mit veränderter Lebensauffaſſung und -führung, mit veredelten Inſtitu-
tionen entſtehen, nicht durch billige Ratſchläge an die Armen herbeigeführt werden.
Das große Problem, die Bevölkerung ſtets wieder in Einklang zu ſtellen mit den
wirtſchaftlichen Lebensbedingungen, ſteht daher trotz der großen Auswege, die wir im
folgenden betrachten, auch heute noch, und jetzt wieder mehr als zur Zeit des unbedingten
Optimismus, vor uns. Wir werden ſehen, daß zuletzt nur die ſittliche Zucht und die
richtige Ausbildung unſerer Inſtitutionen uns helfen kann.
Es iſt eine neuere, halbpraktiſche, halbtheoretiſche Richtung von Ärzten, edlen
Schwärmern und klugen Genußmenſchen, welche glaubt, viel einfacher helfen zu können:
der ſeit 25 Jahren ausgebildete Neumalthuſianismus. Er verlangt frühe Ehen mit
beabſichtigter Beſchränkung der Kinderzeugung, ſoweit ſie 2—3 Kinder überſchreitet —
die Sitte des Zweikinderſyſtems, welche in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und
auch ſchon in manchen anderen Ländern die höheren Geſellſchaftskreiſe und die Bauern,
teilweiſe ſogar ſchon weitere Kreiſe ergriffen hat. Man hat früher ſolche Vorſchläge als
unſittlich und ſtrafbar angeſehen und ſie ſtrafrechtlich verfolgt, ſie als Eingriffe in die
göttliche Schickſalslenkung verurteilt. Das geht zu weit. Menſchliche Vorausſicht und
planmäßiges Handeln muß, wie überall, ſo auch hier erlaubt ſein; wo 20—40 % der
Neugeborenen in den erſten Jahren wieder ſterben, iſt die Verhinderung ihrer Geburt und
ihres Todes mindeſtens der geringere Fehler. Für beſtimmte Fälle muß aus mediziniſchen
und moraliſchen Gründen Derartiges erlaubt ſein. Aber die allgemeine Verbreitung der
hiefür nötigen Kenntniſſe und Praktiken hat zunächſt andere Schattenſeiten ernſteſter
Art. Sie erleichtert zugleich jede Art von geſchlechtlicher Unſittlichkeit, und ſie fördert
den Egoismus, die Bequemlichkeit, die Genußſucht der Eltern, ſie vermindert leicht
jene höchſte Elterntugend, die erſchöpfende Aufopferung für die Kinder, ſowie die größte
Anſtrengung der ganzen Nation für ihre Zukunft. Vielleicht iſt in künftigen Zeiten
höherer moraliſcher Ausbildung des Menſchengeſchlechtes es denkbar, daß dieſe Schäden
nicht oder in geringem Maße eintreten; vielleicht iſt, wenn die ganze Erde ſtatt 1500
6000—12000 Mill. Menſchen trägt, kein anderer Ausweg möglich; zunächſt betreten
ihn allgemeiner nur die alternden, abſterbenden Raſſen, Völker und Klaſſen; die jugendlich
kräftigen und aufwärtsſteigenden vermeiden in der Hauptſache noch mit Recht das Zwei-
kinderſyſtem, weil ſie noch an ihre eigene Ausbreitungsfähigkeit nach außen und an ihre
Verdichtung im Innern glauben.
74. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung:
b)die Ausbreitung nach außen, Eroberungen, Koloniſationen,
Wanderungen. Wir ſahen, daß die heutige Bevölkerungsbewegung durch die Wan-
derungen zeit- und ſtellenweiſe ſtark beeinflußt wird. Wir haben oben erwähnt, daß
die Entſtehung der Tier- und Pflanzenarten ſowie der Menſchenraſſen auf Wanderprozeſſe
zurückgeführt wird. Wir wiſſen, daß die Menſchheit größere Zeiträume der unſteten
Wanderung als der Seßhaftigkeit hinter ſich hat, daß ihre Ausbreitung wie die der
wichtigſten Kulturerrungenſchaften, Einrichtungen, Religionen und Sitten, die Aus-
breitung des Geldes, der Schrift, des Handels über die Erde auf Wanderungen beruht.
Moritz Wagner ſagt: die Migrationstheorie iſt die fundamentale Theorie der Welt-
geſchichte. —
[177]Der Neumalthuſianismus. Die älteren Wanderungen.
Die Wanderungen der Menſchen zerfallen in drei klar ſich ſcheidende Epochen:
α) die roheren Naturvölker haben meiſt zum Boden noch kein feſtes Verhältnis, ſie
wandern häufig und geſchloſſen in Stämmen; β) die ſeßhaft gewordenen Völker ver-
lieren die Wanderluſt und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilweiſe über ſie
ſie noch in der Form von Eroberung und Koloniſation aus; γ) die heutigen Kultur-
völker haben ſich erſt auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen
Völkerrechts zu einer ſteigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben
zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Koloniſatoren in großem Stile
aufgenommen.
α) Auch die roheſten Stämme haben da und dort unter günſtigen Bedingungen
an derſelben Stelle durch Generationen hindurch ſich aufgehalten. Aber ſo lange kein
Hausbeſitz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen-
einrichtungen ſie feſſeln, laſſen ſie ſich leicht von Feinden weiter drängen, verlaſſen ſie
erſchöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um beſſere zu ſuchen; ſie bedürfen
großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile derſelben weiter; Beute-
luſt, Abenteurerſinn, dunkle Hoffnungen auf beſſere Exiſtenz wirken mit. Auch der
Herdenbeſitz und der primitive Ackerbau haben Jahrtauſende lang die Wanderungen
wohl etwas erſchwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen ſind von Mittelaſien
über ganz Europa, die Mongolen über Europa, Aſien und Amerika, die Malaien von
Madagaskar über Südaſien bis in die fernſten Inſeln des ſtillen Ozeans gewandert.
Faſt alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande-
rungen der Kulturraſſen an. Auch die ſeit Jahrzehnten ſeßhaft gewordenen Völker
ſind leicht immer wieder ganz oder teilweiſe in Bewegung gekommen, wie wir in der
Völkerwanderung ſehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der Inſtitution
des ver sacrum der Römer nachzuweiſen ſucht, den an die Wanderſitte und Marſch-
organiſation der Halbnomaden ſich anſchließenden Brauch ausgebildet, zu beſtimmter
Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit
Führern, Waffen und Vieh vom Hauptſtamme ausgeſtattet, hinauszuſenden, um ſich
eine neue Exiſtenz zu gründen. Ein Nachklang dieſer älteſten Wanderungen der Stämme
oder Stammesteile iſt es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine
barbariſche Königsmacht ganze Stämme oder ihre Ariſtokratien und oberen Schichten zu
Tauſenden in ganz entfernte Landſchaften verſetzte, um ſo den nationalen Geiſt und
die Stammesorganiſation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt ſich ſpäter in den ver-
ſchiedenſten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikaniſchen Reiche
des 15.—16. Jahrhunderts.
Bei allen dieſen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und
Tauſende gemeinſam mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen
ſich kämpfend in Bewegung ſetzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder
geduldet in ſchon beſiedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten
oder vernichteten, handelte es ſich um halb- oder ganz kriegeriſche, von Häuptlingen
oder Königen geleitete Bewegungen, die ebenſo oft zum Untergang der Wanderer als
zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle dieſe Wanderungen haben durch Hunger,
Krankheit und Mißgeſchick aller Art ebenſo wie durch Kämpfe einen entſetzlichen Menſchen-
verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftigſten Völker zur Herrſchaft und zum
Gedeihen in den für ſie paſſendſten Gebieten gebracht.
β) Die ſeßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und
Expanſionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als
ſie einen im Werte ſteigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbeſitz haben, als ſtarke
Nachbarn ſie umgeben. Einzelne ſpinnen ſich raſch in philiſterhafte Ruhe und in ein
behagliches örtliches Wirtſchaftsleben ein; andere behalten wenigſtens die Kraft, die
ihnen zugefallenen leeren Räume zu beſiedeln, die Waldungen zu roden und ſo die
Möglichkeit der Exiſtenz für eine wachſende Nachkommenſchaft zu ſchaffen. Wo Schiff-
fahrt und Handel blühen, oder kriegeriſcher Eroberungsgeiſt im Volke oder in einer
herrſchenden Klaſſe ſich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 12
[178]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
gewordenen Völkern der Halb- oder Ganzkultur die Tendenz der Expanſion ſich erhalten;
da werden, wie durch die Phöniker, die Karthager, die Griechen Handelsfaktoreien und
bald auch Töchterſtädte und -Staaten gegründet, die teilweiſe die Mutterſtadt überflügeln,
einen großen Bevölkerungsabfluß ſchaffen. In Griechenland blühte ſolche Kolonie-
ausſendung und -Gründung vom 9. bis 6. Jahrhundert v. Chr.; ſie geſchah jedesmal
nach Befragung des delphiſchen Gottes auf Volksbeſchluß und Staatsgeſetz hin, mit
einer Landvermeſſung und unter Leitung durch die angeſehenſten, amtlich hiezu beſtellten
Bürger, die ſogenannten Oikiſten. Nochmals unter Alexander und ſeinen Nachfolgern
fand eine Maſſenauswanderung der Griechen ſtatt; 70 Städte hat allein Alexander
gegründet und gleichmäßig mit Griechen und Orientalen beſetzt; der ganze Orient wurde
helleniſiert, ähnlich wie ſpäter der Occident romaniſiert wurde. Auch die römiſche
Koloniegründung war Staatsſache; es handelte ſich zuerſt um Militärkolonien von je
300 Bürgern für italiſche Hafenſtädte, ſpäter um die Latiniſierung ganzer Gegenden,
z. B. Oberitaliens, ſeit der Zeit der Gracchen um Landzuteilungen an Bauernſöhne
und verarmte Stadtbürger, zuletzt um die Belohnung von Tauſenden von Veteranen
und dann auch um die Anſiedelung von Germanen in entvölkerten Grenzprovinzen.
Kolonien von 4—6000 Bürgern kommen vor; Cäſar will 80000 arme hauptſtädtiſche
Bürger in überſeeiſche Provinzen führen; 12000 Latiner wurden 187 v. Chr. auf einmal
aus der Stadt Rom verwieſen; nach der Schlacht von Philippi waren 170000 Mann
zu verſorgen. Das Söldnerweſen hat im ganzen Altertum wie ſpäter im Mittelalter
eine Rolle im Bevölkerungsabzug geſpielt, gewiſſen Gegenden den Überſchuß abgenommen,
anderen die fehlenden kräftigen Elemente zugeführt.
Die koloniſierende Eroberung der Germanenvölker in den erſten Jahrhunderten
nach Chriſti verwandelte ſich ſpäter in die innere Koloniſation vom 6.—13. Jahr-
hundert, in die Städte- und Dorfgründung, in das Vordringen nach Oſten ins Slaven-
land, in die Gründung der Handelsfaktoreien im Mittelmeere und in den nordiſchen
Gebieten. Auch die Kreuzzüge gehören in dieſen Zuſammenhang; ſie ſollen Millionen
Menſchen weggeführt haben. Aber teils ſchon vom 12.—13., teils vom 15. und
16. Jahrhundert an hörte dieſe Ausdehnungsbewegung auf. Die Entdeckung der neuen
Welt, ſo großartig ſie war, ſo raſch ſie zu Niederlaſſungen, Handelsfaktoreien und den
ſpaniſchen, portugieſiſchen und holländiſchen Reichen in Oſt- und Weſtindien führte,
erzeugte doch lange keinen größeren Menſchenabfluß aus Europa; ſie hob die faſt vor-
handene Unbeweglichkeit der europäiſchen Menſchheit von 1500—1700 gar nicht, von
1700—1800 nur wenig auf.
γ) In den größer gewordenen europäiſchen Staaten, die vom 15.—19. Jahr-
hundert eiferſüchtig, gedrängt nebeneinander lagen, verbot man meiſt die Auswanderung;
die Loslöſung aus der Heimat war ſchwierig; die Mehrzahl der Menſchen war an die
Scholle gefeſſelt; die Neugründung von Niederlaſſungen war kaum mehr irgendwo
möglich; nur vereinzelt trieb kirchliche Unduldſamkeit, wie in Spanien, Frankreich und
Öſterreich, Scharen der beſten Bürger weg. Die neuen Kolonien jenſeit der Meere ſah
man als einen Gegenſtand der kaufmänniſchen Ausbeutung, der politiſchen Herrſchaft
und der Chriſtianiſierung, nicht als zu beſiedelnde, den Menſchenüberſchuß aufnehmende
Gebiete an. Nur langſam begann im 17.—18. Jahrhundert in den Neuenglandſtaaten
eine europäiſche Ackerbaukoloniſation. Erſt in unſerem Jahrhundert hat die moderne
Technik, die Ausdehnung der europäiſchen Herrſchaft, die Umbildung des Völker- und
Staatsrechtes und das große Wachstum der europäiſchen Bevölkerung den Wanderungen
wieder eine lange Zeit hindurch ungekannte Bedeutung gegeben.
Das ſie von allen früheren Zeiten unterſcheidende Merkmal dieſer modernen Wande-
rungen iſt es, daß ſie zum großen Teile von den einzelnen Individuen und Familien
ausgehen, daß neben politiſchen und religiöſen Stimmungen in erſter Linie wirtſchaft-
liche Motive der Wandernden und Erwerbsabſichten derer, welche ſie befördern, welche
ihre Arbeit begehren, an ſie Grundſtücke verkaufen wollen, das ganze Getriebe derſelben
in Bewegung ſetzen. Große Compagnien und Handelsgeſellſchaften haben dabei ſtets
eine Rolle geſpielt. Die Regierungen ſelbſt aber, die Organe der Geſamtheit, haben ſich
[179]Die neueren Wanderungen.
teils paſſiv gehalten, teils nur durch Erwerb von Kolonien und Handelsſtationen und
ihre erſte Einrichtung, durch internationale Verträge und Ähnliches die Wanderungen
ermöglicht, jedenfalls nicht in dem Maße wie früher im Altertum, in der Völker-
wanderung, zur Zeit der deutſchen Koloniſation der Slavenlande, ſyſtematiſch einheitlich
dieſen ganzen Prozeß geleitet. Die älteren Wanderungen und Koloniſationen waren
Volks- und Staatsſache, die modernen ſind überwiegend Sache der Individuen. —
Die neueren Wanderungen können geſchieden werden in periodiſche und dauernde,
in innere und äußere. Die periodiſchen Wanderungen, welche die Wanderer ſtets wieder
zur alten Heimat zurückbringen, haben früher bei Nomaden und Jägern wohl noch
umfaſſender ſtattgefunden als heute. Aber auch jetzt ſind ſie in gebirgigen Ländern
vielfach für die Viehernährung nötig; ſie finden dann in umfaſſendem Maße von Seiten
land- und forſtwirtſchaftlicher, auch gewerblicher Arbeiter ſtatt; Hauſierer und Kauf-
leute, Schiffer und Matroſen ſind einen großen Teil des Jahres in Bewegung. An
all’ dieſe periodiſchen Wanderungen knüpft ſich häufig die dauernde Loslöſung. Die
außerordentliche Ausdehnung des heutigen Reiſeverkehrs, des Suchens von Stellen in
der Ferne, im Auslande hat eine große Zahl von Menſchen geſchaffen, die viele Jahre
nicht ſicher wiſſen, ob ſie dauernd an ihren neuen Wohnorten bleiben oder in die
Heimat zurückkehren werden.
Der Unterſchied zwiſchen den Wanderungen nach dem Auslande und im Inlande
iſt zunächſt ein rein formaler, vom jeweiligen Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht
bedingter. Je kleiner die Staatsgebiete ſind, deſto häufiger iſt ſchon die Überſiedelung
an einen Ort von 1—10 Meilen Entfernung Auswanderung, nicht Binnenwanderung.
Überall an den Grenzen der Staaten, wo lebendiger Austauſch der Kräfte ſtattfindet,
iſt auch die definitive Überſiedlung wirtſchaftlich kein ſo erheblicher Wanderſchritt, wie
wenn der rheiniſche Bauernſohn in Poſen ſich anſiedelt. Die vorübergehenden und
dauernden Binnenwanderungen ſind durch die heutige Niederlaſſungsfreiheit, die ins
Ausland durch die neueren internationalen Verträge außerordentlich erleichtert worden.
Die Rechtsſyſteme in Bezug auf die Entlaſſung aus den heimatlichen Rechtsverhältniſſen
ſind heute noch ſehr verſchieden; England hält auch die draußen Wohnenden rechtlich
anders feſt als Deutſchland. Der Wanderprozeß ſelbſt aber wird dadurch nicht viel
beeinflußt.
Die Ziele der Wanderung ſind teils im Inlande liegend, teils ſind es andere
kultivierte Länder unſerer Zone, teils unbeſiedelte fremde Länder und Kolonien. Der
große Strom unſerer inneren Wanderungen geht vom Lande nach den Mittelpunkten
der Induſtrie und des Handels; teilweiſe findet aber auch eine Bewegung nach bisher
weniger beſiedelten ländlichen Gebieten des Inlandes ſtatt; man ſpricht da von innerer
Koloniſation, wo noch Platz zu Neuanſiedlungen, zur Bildung kleinerer Güter, zu
Anlagen auf bisher unwirtlichem, nun melioriertem Boden vorhanden iſt. Reiche, die,
wie Nordamerika und Rußland, ſich neuerdings noch in unmittelbarer Nähe großartig
ausdehnen konnten, haben auch noch eine große innere Koloniſation, welche wirtſchaftlich
die Folgen der eigentlichen Auswanderung anderer Staaten übertrifft und den großen
Vorteil hat, die Neuanſiedler als Staatsbürger und im geographiſchen Zuſammenhang
mit der alten Heimat zu erhalten.
Die Staaten, welche ſich nicht ſo ausdehnen und auch in der Ferne keine neuen
Beſitzungen erwerben konnten, wie Deutſchland, Italien, die ſkandinaviſchen Reiche, haben
ihre Auswanderer meiſt nach den Vereinigten Staaten oder in engliſche Kolonien
geſchickt. Die Folge war faſt ſtets, daß die Auswanderer und ihre Nachkommen bald die
Sprache und Nationalität verloren, auch wirtſchaftlich von der alten Heimat ſich löſten.
Solche Auswanderung hat entfernt nicht den Vorteil fürs abgebende Land wie die in
eigene Kolonien.
Unter Kolonien im weiteren Sinne verſteht man vom Mutterlande getrennte, von
ihm in irgend welcher Rechtsform abhängige Gebiete, hauptſächlich ſolche, welche, in
erheblicher Entfernung, auf niedriger wirtſchaftlicher Kulturſtufe ſtehen, durch ihre Ab-
hängigkeit vom Mutterlande dieſem als wirtſchaftliche Glieder dienen. Volkswirtſchaftlich
12*
[180]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
unterſcheidet man hauptſächlich: Handelskolonien, Ackerbaukolonien und Pflanzungs-
kolonien, wobei je der in der Kolonie vorangeſtellte wirtſchaftliche Zweck den Namen
beſtimmt; die Handelskolonien ſind oft ſehr klein, beſtehen nur aus Faktoreien; die
Ackerbaukolonien der Europäer müſſen gemäßigtes Klima und Raum für Siedlungen
haben; die Pflanzungs-(Kultivations-)Kolonien liegen im heißen Klima, ſuchen mit
eingeborenen Arbeitskräften die Produkte des Südens zu erzeugen, dem Kapital und
den führenden Kräften des Mutterlandes Beſchäftigung und Gewinn zu verſchaffen.
Rechtlich pflegt man zu unterſcheiden: bloße Stationen (Marine-, Militär-); eigentliche,
ſtaatsrechtlich ganz abhängige Kolonien, wie die engliſchen, die deutſch-afrikaniſchen;
konföderierte Kolonien mit politiſcher Selbſtändigkeit nach innen, wie Kanada und
Auſtralien; ſogenannte Nationaldomänen, wie Indien für England, Java für Holland,
welche ohne Selbſtregierung vom Mutterlande abhängig, doch eine eigene Regierung
haben; Protektoratsländer oder Schutzländer, wie Tunis gegenüber Frankreich; endlich
Intereſſen- und Machtſphären, d. h. Gebiete, in welchen auf Grund wirtſchaftlicher und
politiſcher Einflüſſe der intereſſierte Staat den Einfluß anderer Mächte glaubt aus-
ſchließen zu dürfen.
Die Urſachen des Gedeihens oder Nichtgedeihens der neuen europäiſchen Kolonien,
die bedeutſame Rückwirkung derſelben auf die Macht- und Wirtſchaftsverhältniſſe der
Mutterlande, die Koſten derſelben und ihre Rentabilität, die politiſchen Verfaſſungs-
verhältniſſe und die wirtſchaftlichen und Handelseinrichtungen derſelben können wir hier
nicht verfolgen. Wir haben nur die Wirkung der neueren Koloniſation auf die Be-
völkerungsverhältniſſe hier ins Auge zu faſſen. Es handelt ſich dabei um zwei Reihen
von Erſcheinungen: um die Wirkung auf die einheimiſche Bevölkerung der Kolonien
und die auf die europäiſchen Mutterländer.
Die Herrſchaft der Europäer hat in vielen Kolonien die kleinen Stämme der
Jäger, Hirten und primitiven Ackerbauer durch falſche Behandlung, verkehrte oder zu
raſche Octroyierung europäiſcher Kulturformen, durch Einführung europäiſcher Genüſſe und
Laſter, durch Beſchränkung auf zu enge Gebiete und teilweiſe durch direkten Kampf,
Verdrängung und Tötung beſeitigt. Zu oft nur wurde der falſche Satz proklamiert, wer
nicht (d. h. nicht ſofort) zur höheren Kultur taugt, mag zu Grunde gehen. Die euro-
päiſche Herrſchaft hat aber daneben auch in weit größeren Gebieten, hauptſächlich Aſiens,
durch Herſtellung eines geordneten Friedenszuſtandes und einer leidlichen Verwaltung,
durch Erziehung zur Arbeit und zu verbeſſerter Produktion die eingeborenen Bevölkerungen
erhalten und vermehrt. Es gelang da, wo die Eingeborenen ſchon etwas höher ſtanden,
und wo die Verwaltung die überkommenen Inſtitutionen ſchonte, dem europäiſchen
Unternehmungsgeiſte Schranken ſetzte. Das engliſche Indien hat wahrſcheinlich nie eine
ſo große Bevölkerung geſehen wie heute. Die größte Muſterleiſtung der Kultivation
oder Erziehung zur Arbeit durch europäiſche Herrſchaft und Produktionsteilung, die
niederländiſche in Java und Madura hat 1816—86 aus 4,6 Mill. 22 Mill. Menſchen
gemacht. Auch in Afrika ſteht Ähnliches bevor: Ägypten hat wieder die Menſchenzahl
ſeiner alten Blüte erreicht. Nordafrika wird bald ein ähnliches Reſultat zeigen, und
Süd-, ja ſelbſt Centralafrika läßt Analoges hoffen.
So lange die Europäer nur als Regenten, Feudalherren, Prieſter und Krieger,
als Händler, Beamte der Compagnien, Vorſteher von Handelsſtationen nach den neuen
Weltteilen kamen, mußte ihre Zahl ſo gering bleiben, daß die Bevölkerung Europas
davon nichts ſpürte; im 17. Jahrhundert begannen die Ackerbaukolonien hauptſächlich
in Nordamerika; die Auswanderung blieb aber immer noch mäßig, überſtieg z. B. aus
Deutſchland im 18. Jahrhundert kaum 100000 Seelen. Immer lebten 1800 ſchon etwa
9 Mill. Menſchen europäiſcher Raſſe in den außereuropäiſchen Gebieten. Im 19. Jahr-
hundert ſtieg die europäiſche Auswanderung ſucceſſive; ſie erreichte allein nach den Ver-
einigten Staaten 1841—50 ſchon 1,7, 1881—90 5,1 Mill. Seelen; im ganzen betrug
die europäiſche Auswanderung bis 1891 ca. 26 Mill., wovon 11 aus Großbritannien,
6 aus Deutſchland, 1 aus Skandinavien ſtammen. In den Vereinigten Staaten waren
1840 1 Mill., heute faſt 3 Mill. in Deutſchland geborene Einwohner, faſt 7 Mill.,
[181]Kolonien. Größe und Politik der Auswanderung.
wenn man die zurechnet, deren beide Eltern Deutſche waren. Auch einzelne europäiſche
Länder haben noch in unſerem Jahrhundert eine erhebliche Zuwanderung: Frankreich
z. B. 1850—90 1,5 Mill.; es leben heute dort über 1 Mill. Fremde, 30 ‰ der
Bevölkerung, in der Schweiz 80 ‰, in Belgien 27 ‰. Daß die großen Binnen-
wanderungen der Vereinigten Staaten nach dem Weſten, Rußlands nach dem Oſten
eine ähnliche wirtſchaftliche Bedeutung haben, erwähnten wir ſchon.
Die Urſachen der Wanderungen des 18. und 19. Jahrhunderts ſind die mannig-
fachſten: religiöſer und politiſcher Druck, nationale Mißſtimmung (z. B. in Irland),
die jeweilige ſehr verſchiedene Aus- und Einwanderungspolitik in der Heimat und
Kolonialgebieten und die geſchäftliche Organiſation und rechtliche Ordnung der Aus-
wanderung, des Beförderungsweſens, der Neuanſiedlung wirkten mit; aber das Ent-
ſcheidende war doch ſtets die relative Übervölkerung in der Heimat, die wachſende
Schwierigkeit, für eine zunehmende Bevölkerung bei der vorhandenen Technik, Beſitz-
verteilung und volkswirtſchaftlichen Verfaſſung ſo leicht wie bisher eine Familie zu
gründen, für zahlreiche Kinder zu ſorgen. Solche Schwierigkeit konnte bei dichter wie
bei ſparſamer Bevölkerung, in induſtriellen wie in agrikolen Gegenden vorliegen. Die
deutſchen Auswanderer von 1750—1850 waren hauptſächlich ſüddeutſche Zwergbauern
und Handwerker mit ihren Söhnen, 1850—90 Tagelöhner und Bauern des Oſtens,
die keinen oder nicht genug Grundbeſitz fanden. Es waren nirgends die ganz armen
und die ganz wohlhabenden Elemente, ſondern tüchtige, energiſche, nicht ganz beſitzloſe
Leute. Was die ca. 6 Mill. deutſcher Auswanderer des 19. Jahrhunderts an Er-
ziehungskoſten, die ſie der Nation nicht vergütet haben, und an barem Kapital mit-
nahmen, kann man ſehr mäßig auf 6—8 Milliarden Mark veranſchlagen.
Die Beurteilung dieſes großen Wanderprozeſſes und die dem entſprechende Politik
war natürlich nach Zeit und Land ſehr verſchieden. Wo und ſo lange die Menſchen
mangelten, wie im vorigen Jahrhundert in Preußen, in dieſem lange in den Vereinigten
Staaten und anderen Kolonien, hat man die Einwanderung begünſtigt, ſie und die
Anſiedlung teilweiſe mit ſtaatlichen Mitteln unterſtützt. Wo man den Abzug fürchtete,
hat man die Auswanderung durch Verwaltung und Recht bis tief in unſer Jahrhundert
erſchwert; die Auswanderungsfreiheit als allgemeines Menſchenrecht iſt ſehr jungen
Datums (1820—50). Die Betrügung und Mißhandlung der Auswanderer durch
Agenten und Schiffsunternehmer, durch Wirte und Geſchäftsleute zu Hauſe und in der
Fremde hat zu ſo unerhörten Mißbräuchen geführt, daß Aus- und Einwanderungsſtaaten —
freilich recht langſam und ſchüchtern, um das einträgliche Geſchäft nicht zu verderben —
von 1803 bis zur Gegenwart zu einer ſchützenden und kontrollierenden Geſetzgebung
kamen. Zu einer Erſchwerung der Einwanderung unliebſamer Elemente (Chineſen,
Sträflingen, Mittelloſen ꝛc.) griffen ſeit 25 Jahren die Vereinigten Staaten, Kanada
und Auſtralien. Das Wichtigſte aber war in jedem Lande mit erheblicher Aus- oder
Einwanderung, ob die Staatsgewalt ſie in ſyſtematiſchen Zuſammenhang mit der ganzen
Wirtſchafts-, Handels- und Machtpolitik brachte oder ſie im Sinne der Mancheſterlehre
ſich ganz ſelbſt überließ als etwas, was den Staat nichts angehe. Die großen und
ſelbſtbewußten Staaten, wie England, Rußland, die Vereinigten Staaten, konnten ſich,
auch wenn im übrigen ſolche Theorien überwogen, nie ganz auf dieſen Nachtwächter-
ſtandpunkt ſtellen. Sie haben in unſerem Jahrhundert wieder mit Energie begonnen,
dieſen Wanderprozeß in ihrem nationalen Macht-, in ihrem Kolonial- und Handels-
intereſſe zu leiten. Deutſchland, unfähig, ſeine Söhne in eigene Kolonien zu bringen
und ſie in dauernder Verbindung mit dem Mutterlande zu erhalten, hat bis vor kurzem
all’ das verſäumt, höchſtens da und dort verarmte Auswanderer wegſchaffen helfen. Die
Arbeitgeber und Grundbeſitzer haben ſich auf kurzſichtiges Jammern beſchränkt, daß ihnen
die Arbeitskräfte weggehen, die internationalen Schwärmer und Mancheſterleute haben
ſich über den Verluſt an Menſchen und Kapital, über die Thatſache, daß Deutſchland
die Kinder- und Schulſtube für die übrige Welt ſei, damit getröſtet, daß es vielleicht
in Deutſchland noch ſchlimmer ausſähe, der Lohn noch gedrückter wäre, wenn die 6 Mill.
Auswanderer und ihre Kinder noch zu Hauſe wären. Erſt neueſtens iſt eine größere
[182]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Auffaſſung über die Pflicht des Staates, ſich darum zu kümmern, auch bei uns ein-
getreten. Aber dieſe beſſere Einſicht iſt noch nicht über die Kinderjahre hinaus.
Über die zahlenmäßige Bedeutung der Auswanderung hat man ſich oft deshalb
getäuſcht, weil man ſah, daß ſie für gewöhnlich nur die natürliche Zunahme von
8—14 ‰ auf 4—8 ‰ ermäßige; man hat dann auch betont, ſie habe nach ihren
Höhepunkten 1850—55 (100—162000 im Jahre) und 1880—90 (100—203000) raſch
wieder abgenommen; man hat auch geſagt, ſie entlaſte die heimiſche Bevölkerung nur,
wenn ſie vorübergehend in größtem Maßſtabe gelänge; wo ſie dauernd platzgreife,
erzeuge ſie eher eine weitere Zunahme der Bevölkerung. Das ſind lauter partielle Wahr-
heiten, die aber den Kern der Sache nicht treffen. Das Weſentliche liegt doch im folgenden.
Der große Wanderprozeß hat es in unſeren Tagen dahin gebracht, daß 1890
nicht 9, ſondern 90 Mill. Menſchen europäiſcher Raſſe außerhalb Europas leben; 1990
werden es mindeſtens 4—500 Mill. ſein. Die Nationen mit Auswanderung ſind die
kräftigen und geſunden, die aufwärts ſteigenden. Hübbe-Schleiden prophezeit, daß 1980
gegen 900 Mill. Angloſachſen (Engländer und Amerikaner), gegen 300 Mill. Ruſſen
und gegen 150 Mill. Deutſche die Erde bewohnen werden. Leroy-Beaulieu meint, in
einigen hundert Jahren würden Chineſen, Ruſſen und Angelſachſen je 3—500, die
Deutſchen 200 Mill. Menſchen ausmachen, alle anderen, mehr ſtillſtehenden, nicht
wandernden Völker zur Bedeutungsloſigkeit herabgedrückt ſein. Die Zukunft der Völker,
ihre Macht und ihr Wohlſtand hängt ſo nicht allein, aber mit von ihrer Wander-,
Koloniſations- und Kultivationsfähigkeit ab.
75. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung:
c)die Verdichtung. Schluß. Die Hemmungen und die Wanderungen greifen
bedeutungsvoll in die Bevölkerungszunahme und Bewegung ein. Aber die wichtigſte
Frage für ein raſch wachſendes Volk bleibt ſtets doch, ob und in wie weit, unter welchen
Bedingungen es im eigenen Gebiete wachſen könne. Die Verdichtung der Bevölkerung
iſt das natürliche Ergebnis geſunder Zuſtände, wie es die Vorausſetzung der höheren
Kultur iſt. Aber darin liegt nun eben die Eigentümlichkeit des Bevölkerungsproblems,
man möchte ſagen ſeine Tragik, daß einerſeits die ſtärkſten menſchlichen Triebe, das
Elternglück, die Staats-, Wirtſchafts- und Machtintereſſen, auf dieſe Verdichtung immer
hindrängen, und andererſeits die Erreichung des Zieles dasſelbe wieder bedroht, d. h.
die erheblich verdichtete Bevölkerung unter den hergebrachten Lebensbedingungen nicht
mehr exiſtieren kann, ohne zu Not, Mangel und Elend zu führen. Jedes Maß der
Dichtigkeit ſetzt eine beſtimmte Technik und Organiſation des Wirtſchaftslebens, beſtimmte
Sitten und Moralregeln, beſtimmte Geſellſchaftseinrichtungen voraus, welche für die
doppelt ſo große Bevölkerung unzureichend, unmöglich, ja tödlich ſind.
Bleiben wir aber zunächſt bei einer Prüfung der Statiſtik. Die Dichtigkeit der
Bevölkerung wird am beſten in der Weiſe gemeſſen, daß man die gezählte Volksmenge
mit der Fläche vergleicht, berechnet, wie viel Menſchen auf die Geviertmeile oder den
Geviertkilometer im Durchſchnitt eines Gebietes kommen. Die erſtere Berechnung war
früher allgemein üblich, die letztere iſt heute bei uns im Brauch und hier von uns
gemeint, wenn wir nichts beifügen; 1000 Seelen auf die Geviertmeile ſind gleich 17,7
auf den Geviertkilometer. Man muß zur Vergleichung analoge Gebietsabſchnitte von
einiger Größe auswählen: ganze Staaten, Provinzen, Bezirke, höchſtens Kreiſe; je kleiner
die gewählten Gebiete, deſto zufälliger iſt der Durchſchnitt. Alle Bevölkerung muß ſchon
durch Stadt und Land ſehr ungleich verteilt ſein; dieſen Unterſchied der Verteilung
beſprechen wir unten bei der Siedlung; die gewöhnliche Erörterung der Dichtigkeit ſieht
davon ab; es intereſſiert ſie nicht, daß im Centrum Berlins 32000—54000, in Branden-
burg ohne Berlin 64 Seelen auf den Geviertkilometer kommen; für ſie hat die ganze
Provinz heute durchſchnittlich 103 Seelen. Man muß ſich nur bewußt bleiben, daß auch
abgeſehen vom Gegenſatz von Stadt und Land die Dichtigkeit in jedem Lande nach natür-
lichen und kulturell-hiſtoriſchen Verhältniſſen ſehr verſchieden iſt, daß, je größere Gebiete
man zur Darſtellung wählt, deſto verſchiedenere Zuſtände im Durchſchnitt auf einen
mittleren Zahlenausdruck gebracht ſind, der vielleicht in Wahrheit nirgends oder nur an
[183]Die hiſtoriſche und geographiſche Bevölkerungsdichtigkeit.
wenigen Stellen thatſächlich zutrifft. Die deutſche Dichtigkeit iſt heute 91, aber die
Kreiſe ſchwanken zwiſchen 14 und 600; die großbritanniſch-irländiſche iſt 124, während
ſie in den Grafſchaften von wenigen Seelen bis 4400 ſteigt.
Am belehrendſten ſcheint es mir nun, die Mitteilung der Thatſachen mit einem
Schema zu beginnen, das die typiſche Dichtigkeit nach den Stufen der ökonomiſchen
Kultur und nach den gröbſten Naturunterſchieden auführt: ich ſchließe mich dabei der
Aufſtellung von Ratzel an. Die Dichtigkeit iſt für gewöhnlich bei und in:
Ich füge dieſen ſchematiſchen Schätzungen nun noch einige hiſtoriſche und eine
Anzahl neuerer feſtſtehender Zahlen bei:
- Frankreich
- zu Cäſars Zeit 7,6
- 1328 40
- 1574 27
- 1700 42
- 1800 50
- 1895 71
- Deutſchland
- zu Chriſti Geburt 5—6
- 1300 17—20
- 1620 25
- 1700 26—28
- 1800 40—45
- 1895 92.
- England und Wales
- 1100 8
- 1450—1600 17
- 1700 33
- 1800 58
- 1891 192
[184]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
In den Jahren 1890—95 zählte man:
- in ganzen Staaten
- Belgien 206
- Niederlande 139
- Großbritannien
und Irland 124 - Japan 106
- Italien 105
- Öſterreich 86
- Schweiz 71
- Dänemark 55
- Ungarn 54
- Spanien 35
- Europ. Rußland 17
- Schweden 10
- Ver. Staaten 7
- Norwegen 6
- in Teilen der nicht deutſchen
Reiche und Staaten - Schottland 51
- Irland 56
- Brittiſch-Indien 71
- Bengalen 182
- Ruſſiſch-Polen 65
- Finnland 7
- Ruſſiſch Central-
Aſien 1,6 - Niederöſterreich 133
- Bosnien, Herze-
gowina 26 - Campanien 190
- Sardinien 30
- in deutſchen Staaten und Provinzen
- Oſtpreußen 53
- Weſtpreußen 56
- Pommern 51
- Mecklenburg 45
- Schleswig-
Holſtein 65 - Hannover 59
- Weſtfalen 120
- Rheinland 173
- Schleſien 105
- Poſen 65
- Brandenburg 103
- Pr. Sachſen 102
- Kgr. Sachſen 233
- Thüringen 104
- Heſſen-Naſſau 63
- Bayern 74
- Württemberg 104
- Baden 110
- Gr. Heſſen 129
- Elſaß-
Lothringen 111.
Dieſe wenigen Zahlen vermögen immerhin ein volles Bild der hiſtoriſchen Ver-
dichtung und der geographiſch verſchiedenen Dichtigkeit, der Urſachen und Folgen des
ganzen Prozeſſes zu geben. Sie deuten an, daß dichtere Bevölkerung und höhere wirt-
ſchaftliche, politiſche und geiſtige Kultur bis auf einen gewiſſen Grad Hand in Hand
gehen, daß ohne eine gewiſſe Dichtigkeit Arbeitsteilung, lebendiger Verkehr, Marktweſen,
Gewerbe, ſtädtiſches Leben, geſteigerte geiſtige Berührung und Reibung der Menſchen,
Künſte und Wiſſenſchaften nicht exiſtieren können. Aber ſie zeigen doch auch, daß ent-
fernt nicht die dichteſtbevölkerten Gebiete und Staaten ſtets die reichſten, gebildetſten und
mächtigſten waren, daß hohe Kultur und großer Reichtum bei 20—40 wie bei 100—200
Seelen pro Geviertkilometer vorkommen, daß von der Natur begünſtigte halbbarbariſche
Gegenden unter Umſtänden die dichteſt beſiedelten ſind. Mit den modernen Verkehrsmitteln
iſt höchſter Wohlſtand bei ſparſamer Bevölkerung z. B. in den Kolonien, in den Ver-
einigten Staaten möglich. Man verfügt hier noch über Naturkräfte in Fülle, die in
dicht bevölkerten Gebieten nur noch in kleinſter Portion auf den einzelnen fallen.
Der hiſtoriſche Verdichtungsprozeß, wie er überall in Zuſammenhang mit der
Bevölkerungszunahme angeſtrebt wird, hat zunächſt ſeine natürlichen Bedingungen.
Wenn im kalten Norden bei primitiver Technik auf der Geviertmeile nur 0,1, ſo leben
im Süden, unter den Tropen unter ähnlichen Vorausſetzungen doch ſchon 10—500, bei
etwas höherer Technik Tauſende; derſelbe Ackerbau, der bei uns 2000, ernährt dort
10000 Seelen. Die Verſchiedenheit des Bodens, der Höhe über dem Meere, der Feuch-
tigkeit ſetzt der Menſchenzahl ganz verſchiedene Grenzen. Wenn in den Vereinigten
Staaten bei normaler Jahreswärme auf der Geviertmeile 22—31 Menſchen 1890
leben, ſo ſinkt die Zahl auf 3 und 4 herab, wo es zu kalt und zu warm iſt; im ſelben
Reiche erhebt ſich, wo die Regenmenge am günſtigſten, d. h. 30—50 Zoll iſt, die Zahl
pro Geviertmeile auf 40—60, da aber, wo ſie herabgeht auf 10—20 oder auf 70 Zoll
ſteigt, trifft man auf derſelben Fläche nur 1—4 Menſchen. Wo der Boden ſich über
eine gewiſſe Höhe erhebt, iſt die Menſchenzahl immer ſpärlich. In Baden trifft man
im Thale 227, auf den Hängen 300, bei 600 und 700 Meter Höhe noch 52, über
1100 Meter nur noch 1 Menſchen pro Geviertkilometer. Im Braunſchweigiſchen leben
in den reinen Waldgemeinden 44, in den halben Waldgemeinden 55, in den übrigen
Ortſchaften 84 Menſchen pro Geviertkilometer; wenn man die landwirtſchaftliche Fläche
dieſes Staates nach der Bodengüte in vier Klaſſen teilt, ſo findet man auf dem beſten
Boden 116, auf dem guten 107, dem mittleren 97, dem geringen 64 Menſchen pro
Geviertkilometer. Je jünger irgendwo die Kultur iſt, deſto mehr werden nur die Fluß-
thäler und günſtigen Seeküſten, die beſten Gegenden (abgeſehen von ſchwer bebaubaren
[185]Die natürlichen und wirtſchaftlichen Schranken der Bevölkerungsverdichtung.
Niederungen) bewohnt, und wenn auch ſpäter nun die Waldgebiete, die Höhen und Ge-
birge, die Sandflächen und geringen Böden bebaut werden, der Verdichtungsprozeß
bleibt hier ein beſchränkter, wie man ſchon daraus ſieht, daß noch heute nur 1 Prozent
des Feſtlandes der Erde über 8000 Seelen, nur 6 Prozent 2—8000 Seelen pro Geviert-
meile tragen, daß auf einem Siebentel der Erde drei Viertel aller Menſchen wohnen.
Mag vollkommenere Technik, Bewäſſerung und Verkehr daran noch vieles ändern, mag heute
teilweiſe noch Trägheit die Maſſen in den alten Mittelpunkten der dichten Bevölkerung
feſthalten, das deuten doch die erwähnten Thatſachen an, daß die der menſchlichen Kultur
zugänglichſten Gebiete längſt reichlich beſetzt ſind, daß der Troſt, erſt ein Drittel der
Erde ſei angebaut, nicht ſehr weit her iſt. Freilich kann in Amerika, Afrika, Auſtralien,
Aſien die Bevölkerung noch um hunderte von Millionen wachſen; Ravenſtein berechnet,
äußerſten Falles hätten 6000 Millionen ſtatt der jetzigen 1500 Millionen auf der Erde
Platz; es mögen ſogar 10—12000 Mill. ſein. Aber was ſetzte dieſe Dichtigkeit voraus?
Welche Hinderniſſe ſtänden im Wege, um die großen Menſchenmaſſen Europas etwa in
die zu bewäſſernde Sahara überzuführen? Außerdem wären bei 10 ‰ jährlicher Zu-
nahme 1500 Mill. in 140 Jahren ſchon bei 6000, in weiteren 70 Jahren bei 12000
angekommen.
Es iſt klar, daß der Verdichtungsprozeß überall da am leichteſten ſich vollzieht,
wo ein Volk über ein Gebiet verfügt, das teilweiſe noch ſparſam bebaut iſt oder gar
noch größere und fruchtbarere Gebiete als die beſetzten umſchließt. Da kann eine große
innere Zunahme und Koloniſation bei ſtabiler Technik faſt ohne Änderung der Sitten
und Inſtitutionen erfolgen. In dieſer Lage ſind heute Rußland, die Vereinigten Staaten,
einzelne Teile Indiens. Wo es ſich aber darum handelt, daß faſt aller gute und zugängliche
Boden bebaut iſt, daß große Gebiete nur etwa durch Bewäſſerungs- oder andere ſchwierige
Kulturarbeiten (in Deutſchland z. B. die 4—500 Geviertmeilen Moorland) gewonnen
werden können, da iſt die Verdichtung ſchon viel ſchwieriger. Und noch mehr iſt ſie es,
wo nur eine allgemeine Veränderung der Technik, eine Vervollkommnung aller wirt-
ſchaftlichen Kräfte und ihrer Organiſation die wachſende Zahl von Menſchen auf der-
ſelben Fläche zu ernähren geſtattet. Wir ſind damit beim Kern der Frage.
Nehmen wir zunächſt an, es handele ſich nur um techniſche Fortſchritte; auf die
übrigen ebenſo wichtigen Bedingungen kommen wir gleich. In erſter Linie ſteht die
landwirtſchaftliche Technik, die uns die Nahrungsmittel liefert. Ein Volk, das bisher
von der Jagd lebte, ſoll Viehzucht und Ackerbau lernen; ein nicht ſeßhaftes ſoll dem
Acker- und Gartenbau ſich zuwenden; es ſollen ſtatt der extenſiven die höheren intenſiven
landwirtſchaftlichen Betriebsſyſteme erlernt werden. Welche Summen von Schwierigkeiten
ſind da zu überwinden. Schon Klima und Boden ſetzen, wie bereits erwähnt, den Fortſchritten
verſchiedene, nirgends ganz überſteigbare Grenzen entgegen; ſelbſt die vollkommenſte Technik
kann im Norden nicht die Lebensmittel für 10—15000 Menſchen auf der Geviertmeile
erzeugen; die intenſivere Landwirtſchaft liefert bei höheren Koſten von einer gewiſſen Grenze
an abnehmende Erträge. Wenn wir die Geſchichte der Landwirtſchaft überblicken, ſo ſind
die eingreifenden landwirtſchaftlich-agrariſchen Fortſchritte die ſeltenſten, vielgefeierten
Ereigniſſe der Geſchichte; ſie haben ſich ſchwer und langſam verbreitet; ihr Sieg hängt
nicht bloß von Klima, Boden, Raſſe und glücklichen Schickſalen, ſondern auch von
Änderung der Sitten, des Rechts, ja aller geſellſchaftlichen Inſtitution ab. Der Übergang
von der Dreifelderwirtſchaft z. B. zum Fruchtwechſel und zur freien Wirtſchaft brauchte
einige Jahrhunderte in Europa; die ganze mittelalterliche feudale Agrarverfaſſung mit
ihrer Klaſſenbildung, ihrer Lokalverfaſſung, ihrem Eigentumsrecht, ihrer Grundeigentums-
verteilung mußte erſt fallen, ehe die höheren Betriebsformen für 3—8000 ſtatt für
1—3000 Menſchen Lebensmittel pro Geviertmeile erzeugen konnten.
Und doch iſt die wirtſchaftliche Veränderung vielleicht noch nicht die ſchwierigſte,
ſo lange es ſich nur darum handelt, in demſelben Gebiete für die einheimiſche Bevölke-
rung mehr Lebensmittel zu erzeugen. Handelt es ſich dann aber um die höhere gewerb-
liche, Handels- und Verkehrsentwickelung, zuerſt um die Entſtehung von kleinen Städten,
Handwerk und lokalen Märkten, ſpäter um die Haus- und Fabrikinduſtrie, um Kanäle
[186]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
und Eiſenbahnen, um die moderne Verkehrs-, Geld- und Kreditwirtſchaft, ſo ſind alle
Stationen auf dieſem Wege ſehr ſchwer zurückzulegen, weil nicht nur ein Teil, ſondern
das ganze Gefüge der Volkswirtſchaft ein anderes werden muß. Man könnte ſagen, jeder
Schritt auf dieſer Bahn hänge von ſchwer erfüllbaren Bedingungen ab, ſei nur den hoch-
ſtehenden Raſſen und Völkern auf den Höhepunkten ihrer Kultur gelungen, es ſei anderen
Völkern ſtets ſehr ſchwer gefallen, dieſe Vorbilder nachzuahmen. Noch mehr als jeder
agrariſche hing jeder dieſer Fortſchritte von den komplizierteſten pſychologiſchen, mora-
liſchen und politiſchen Vorbedingungen ab. Die Ausbreitung ſtädtiſcher Kultur, ſpäter
der Hausinduſtrie, vollends des Fabrikweſens war mit ſocialen und inſtitutionellen
Umwälzungen der tiefgreifendſten Art verknüpft. Wenn ein Land heute, um die doppelte
Zahl zu ernähren, ſeinen Export an Fabrikware ausdehnen, zum erheblichen Teile von
fremdem Getreide leben will, ſo muß die Staatsorganiſation, das Verhältnis zum
Auslande, die eigene und die Macht der anderen Staaten, kurz ſo vieles glücklich
zuſammenwirken, daß das Problem nur unter den günſtigſten Bedingungen wenigen
Staaten gelingt. Es wird damit ein Zuſtand geſchaffen, der nur unter beſtimmten
internationalen und weltwirtſchaftlichen Bedingungen ſich erhalten kann; werden nämlich
durch ihn im Fabrik- und Exportgebiete Bevölkerungen von 8—15000 Seelen pro
Geviertmeile unterhalten, ſo ſetzt das doch die politiſche und wirtſchaftliche Abhängig-
keit von oder die völkerrechtliche Befreundung mit 10—100 mal ſo großen Gebieten mit
1—3000 Seelen voraus; und der Zuſtand iſt bedroht, wenn in den abhängigen Ge-
bieten die Gewerbe ſich entwickeln, die dortige Rohſtoffexportfähigkeit abnimmt.
Es iſt alſo eine gänzliche Täuſchung, wenn die Optimiſten auf das eine Prozent
der Erdoberfläche mit 8000 Seelen und mehr hinweiſen und ſagen, die übrigen 99 Prozent
der Erde ſollten das nachmachen. Ein bedeutender Teil der Kulturländer läßt ſchon heute
keine Vermehrung der Bevölkerung um 100—200 % mehr zu, wenn nicht die Technik uns
lehrt, Brot und Fleiſch chemiſch, ſtatt auf dem Umwege durch die Landwirtſchaft herzuſtellen.
Für viele Gebiete iſt allerdings ohne ſolche Wunder eine erhebliche weitere Zunahme
möglich. Aber wir müſſen uns klar ſein, daß ſie, wie die meiſten alten Verdichtungen,
von komplizierten, ſelten vorhandenen Vorausſetzungen abhängig iſt. Sind doch hiſto-
riſch die Epochen und die Völker, denen das gelang, nicht ſehr zahlreich: die Zeit der
griechiſchen, römiſchen und germaniſchen inneren Koloniſation, die Epochen der großen,
gut regierten Reiche im Orient, die Zeit des Hellenismus, die Blütezeit der Romanen
und der Araber und endlich die der europäiſchen Staaten der letzten Jahrhunderte.
Nur den fähigſten Völkern unter den beſten Regierungen gelang ſo zeitweiſe eine große
Verdichtung: ſeltene intellektuelle und techniſche Fortſchritte, eine außerordentliche Steige-
rung der ſocialen Zucht, der Verträglichkeit und Moralität, ohne die das engere Zu-
ſammenrücken und Zuſammenwirken unmöglich war, eine große Vervollkommnung der
Geſellſchaftseinrichtungen mußten ſich die Hand reichen, um die Verdichtung gelingen
zu laſſen, ohne daß Armut und Mißbehagen, ſchwerer Druck auf die mittleren und
unteren Klaſſen, kurz alle Leiden der Übervölkerung daraus entſprangen.
Gelungene Verdichtung der Bevölkerung iſt das Reſultat vollendetſter Staatskunſt
und höchſter Kultur, und zwar nicht bloß techniſcher, ſondern ebenſo moraliſcher und
geiſtiger, und nicht bloß einer hohen Kultur der führenden Spitzen, ſondern ganzer
Völker. Die Menſchheit hat wahrſcheinlich Hunderttauſende von Jahren gebraucht, bis
ſie zur Zeit vor Chriſti Geburt 100—200, jetzt 1500 Millionen Menſchen zählte. Wer
will wagen zu ſagen, in kurzer Zeit müßte es ihr gelingen, 6000 und 12000 zu
umfaſſen und immer weiter ohne Schwierigkeiten zu wachſen? —
Wir werden auch nach dem vorſtehenden gerne zugeben können, daß es eine
abſolute Übervölkerung wohl weder früher gegeben hat, noch heute giebt, ſofern wir
darunter nur eine Bevölkerung verſtehen, die auch bei vollendetſter und raſch fortſchreitender
Technik, Verkehrsentwickelung, Koloniſation, Moral- und Geſellſchaftsverfaſſung nicht die
Möglichkeit hätte, auf ihrem Gebiete zu leben. Dieſe Vorausſetzungen waren faſt nie oder
nur ſehr ſelten vorhanden. Die praktiſche Frage iſt weſentlich die, ob eine relative
Übervölkerung vorhanden ſei oder drohe, d. h. eine ſolche Dichtigkeit, welche gegenüber den
[187]Abſolute und relative Übervölkerung. Ausblick in die Zukunft.
vorhandenen Lebensbedingungen und volkswirtſchaftlichen Ausſichten als Druck empfunden
werde. Daß eine ſolche in verſchiedenem Grade ſich immer wieder einſtellt, ſcheint eine
hiſtoriſche Notwendigkeit, ja eine Bedingung des Fortſchrittes. Wo die Menſchen ſich
halbwegs wohl fühlen, bei 1000 wie bei 8000 Menſchen pro Geviertmeile, da tritt
ein raſches Wachstum ein, und erſt wenn es eingetreten iſt, wenn überall das alte
Kleid der Geſellſchaftsverfaſſung zu eng wird, ſinnt man auf techniſchen und Verkehrs-
fortſchritt, entſtehen die Impulſe zu moraliſchen und geiſtigen Fortſchritten, die ver-
beſſerten Inſtitutionen. Die Völker, die dazu nicht imſtande ſind, ſtagnieren, altern,
gehen zu Grunde; die geſunden und kräftigen vollziehen die Fortſchritte, aber nicht ohne
weiteres, ſondern in einem Ringen und Kämpfen, in einem Taſten und Suchen, das
oft Generationen hindurch dauert. Immer ſchwieriger und komplizierter werden die
Aufgaben. Unlösbar ſind ſie auch heute noch lange nicht.
Die Wege der Löſung ſind für jedes Volk wieder andere. Für unſere deutſche
Gegenwart werden wir ſagen können: 1. müſſen wir für einen reichlichen Bevölkerungs-
abfluß womöglich nach eigenen Kolonien ſorgen, 2. müſſen wir, ohne das Zweikinder-
ſyſtem zu empfehlen und ohne Rückkehr zu polizeilichen Schranken der Niederlaſſung
und der Ehe, dahin ſtreben, daß die proletariſchen, überfrühen Ehen mit zu zahlreichen
ſchwächlichen Kindern und übergroßer Kinderſterblichkeit ſich mindern. Die unteren
Klaſſen müſſen die Sitten des Mittelſtandes in Bezug auf Ehe und Kinder annehmen, ſie
werden das in dem Maße thun, als man ſie durch die richtigen ſocialen Reformen geiſtig,
moraliſch und wirtſchaftlich hebt. Dadurch wird auch der größten Gefahr jeder Über-
völkerung vorgebeugt, welche darin liegt, daß die Lebenshaltung der unteren Hälfte des
Volkes ſtark herabgedrückt wird. In den mittleren und oberen Klaſſen iſt umgekehrt
der Eheloſigkeit, den Geldheiraten, der Proſtitution und allen ähnlichen Erſcheinungen,
die ſich als unmoraliſche Folge der Bevölkerungsverdichtung darſtellen, mit allen den
Mitteln entgegenzuwirken, die von innen heraus helfen. Das iſt freilich nicht leicht
in Zeiten, in welchen der Goldſegen wirtſchaftlicher Aufſchwungsperioden Luxus, Genuß-
ſucht und Liederlichkeit in weiten Kreiſen ſteigert. Aber es iſt nicht unmöglich, wenn
von oben herab ein gutes Beiſpiel gegeben, die Mißbräuche und Entartungen bekämpft
werden. Es gehört außerdem aber 3. dazu, daß nach allen Seiten eine richtige Wirt-
ſchafts- und Handelspolitik die innere Verdichtung und die Ausbreitung der Bevölkerung
nach außen, ſoweit ſie möglich iſt, befördere und erleichtere: innere Koloniſation, Par-
zellierung der ſchlecht verwalteten großen Güter, Pflege des techniſchen Fortſchrittes in
Landwirtſchaft und Gewerbe, Verbeſſerung aller Unterrichtsanſtalten, Hebung der Macht
und des Anſehens nach außen, Förderung unſeres Exportes wie unſerer landwirtſchaft-
lichen Eigenproduktion, Hinarbeiten auf eine gleichmäßigere Einkommensverteilung, das
ſind die Ziele, die man im Auge haben muß.
Das Bevölkerungsproblem greift in alle Lebensgebiete hinein, fordert überall Zucht
und Selbſtbeherrſchung, Weitſicht und thatkräftiges Handeln. Auch das tüchtigſte Volk
wird die zwei ſelbſtändigen Bewegungen der zunehmenden Menſchenzahl und des wirt-
ſchaftlichen Fortſchrittes nie ganz in Übereinſtimmung bringen können; aber es kann die
Diſſonanzen mildern in dem Maße, wie es moraliſch, geiſtig und techniſch ſich ver-
vollkommnet. —
4. Die Entwickelung der Technik in ihrer volkswirtſchaftlichen Bedeutung.
- Allgemeines: E. Kapp, Grundlinien einer Philoſophie der Technik. 1877. —
- Laz. Geiger,
Zur Entwickelungsgeſchichte der Menſchheit. 1878. — - Noiré, Das Werkzeug und ſeine Bedeutung
für die Entwickelungsgeſchichte der Menſchheit. 1880. — - Bourdeau, Les forces de l’industrie.
1884; — derſ., Histoire de l’alimentation. 1894. — - E. Hermann, Techniſche Fragen und Probleme
der modernen Volkswirtſchaft. 1891.
Die urgeſchichtlichen Epochen der Technik: G. Klemm, Allgemeine Kulturgeſchichte der Menſch-
heit. 1843. 7 Bde.; — Derſ., Allgemeine Kulturwiſſenſchaft. 2 Bde. 1854. — - Tylor, Forſchungen
über die Urgeſchichte der Menſchheit. Engl. 1865, deutſch o. J.; — Derſ., Anfänge der Kultur. 2 Bde.
Engl. 1871, deutſch 1873. — - Lubbock, Die vorgeſchichtliche Zeit. Engl. 1865, deutſch 1874; — Derſ.,
Die Entſtehung der Civiliſation. Engl. 1870, deutſch 1875. — - Rougemont, Die Bronzezeit. Franz. 1865,
[188]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
deutſch 1869. — - Wibel, Die Kultur der Bronzezeit Nord- und Mitteleuropas. 1865. —
- Caſpari,
Die Urgeſchichte der Menſchheit. 2 Bde. 1873. — - Lenormant, Die Anfänge der Kultur. 2 Bde.
Deutſch 1875. — - Gerland, Anthropologiſche Beiträge. 1875. —
- Morgan, Ancient society.
1877, deutſch 1891. — - Nowacki, Über die Entwickelung der Landwirtſchaft in der Urzeit. In
Thiel, Landw. Jahrb. 1880; — Derſ., Jagd oder Ackerbau. 1885. — - Schrader, Sprachvergleichung
und Urgeſchichte. 1885. — - Lippert, Kulturgeſchichte der Menſchheit. 2 Bde. 1886—87. —
- M. Wagner, Die Entſtehung der Arten durch räumliche Sonderung. 1889. —
- E. Hahn, Die
Haustiere in ihren Beziehungen zur Wirtſchaft des Menſchen. 1896. — - Bücher, Die Wirtſchaft
der Naturvölker. 1898. — - Die ganze Litteratur über Anthropologie, Ethnologie, Völkerkunde (ſ. oben
S. 139) kommt hier noch in Betracht.
Die Indogermanen: Pictet, Les origines indoeuropéennes. 1859 u. 1877. — - Schleicher,
Wirtſchaftlicher Kulturzuſtand des indogermaniſchen Urvolkes. J. f. N. 1. F. 1, 1863. — - Zimmer,
Altindiſches Leben, die Kultur der vhediſchen Arier. 1879. — - v. Ihering, Vorgeſchichte der Indo-
europäer. 1894.
Vorderaſiatiſche, griechiſche und römiſche Technik: Wilckinſon, Manners and customs of the
ancient Egyptians. 1842. 3 ed. 1878. 3 Bde. — - Thaer, Die altägyptiſche Landwirtſchaft. In
Thiel, Landw. Jahrb. 1881. — - W. Helbing, Die Italiker in der Poebene. 1879; — Derſ.,
Das homeriſche Epos aus den Denkmälern erläutert. 1884 u. 1887. — - Schliemann, Tiryns.
1886. — - Blümner, Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künſte bei Griechen und
Römern. 4 Bde. 1875—1887. — - H. Weiß, Koſtümkunde des Altertums. 1860 u. 1881. —
- J. v. Müller,
Die griechiſchen Privataltertümer. 1893. 2. Aufl.
Mittelalter und neuere Zeit bis 1770: Beckmann, Beiträge zur Geſchichte der Erfindungen.
5 Bde. 1786—1805. 2. Aufl. — - Anton, Geſchichte der teutſchen Landwirtſchaft. 3 Bde. 1799. —
- Rau, Geſchichte des Pfluges. 1845. —
- Poppe, Geſchichte aller Erfindungen und Entdeckungen. 1847
2. Aufl. — - Volz, Beiträge zur Kulturgeſchichte. 1852. —
- Langethal, Geſchichte der deutſchen
Landwirtſchaft. 2 Bde. 1854. — - Hoſtmann, Altgermaniſche Landwirtſchaft. 1859. —
- Weiß,
Koſtümkunde vom 4.—14. Jahrhundert. 2 Bde. 1864 ff., 1882 ff. — - Labarte, Histoire des arts
industriels au moyen âge et à l’époque de Renaissance. 4 Bde. 1865—66. — - v. Eye, Das
bürgerliche Wohnhaus in ſeiner weltgeſchichtlichen Wandlung. Hiſtor. Taſchenbuch 1868. — - Otte,
Geſchichte der deutſchen Baukunſt. 1, 1874. — - v. Inama Sternegg, Deutſche Wirtſchaftsgeſchichte.
3 Bde. 1879 ff. — - Beck, Geſchichte des Eiſens in techniſcher und kulturgeſchichtlicher Beziehung.
3 Bde. 1884 ff. (bis 1800 reichend). — - Lamprecht, Deutſches Wirtſchaftsleben im Mittelalter.
3 Bde. 1884—86. — - Götz, Die Verkehrswege im Dienſte des Welthandels. 1888.
Neuere Zeit, die Wiſſenſchaft der Technik: Fairbairn, Useful informations for engineers.
1856 ff. — - Karmarſch, Handbuch der mechaniſchen Technologie. 2 Bde. 1875. 5. Aufl. —
- Knapp,
Lehrbuch der chemiſchen Technologie. 2 Bde. 1865—1875. 3. Aufl. — - Geyer, Lehrbuch der ver-
gleichenden mechaniſchen Technologie. 1878. — - Reuleaux, Theoretiſche Kynematik. 1875. —
- Rühlmann, Allgem. Maſchinenlehre. 4 Bde. 1875; — Derſ., Vorträge über Geſchichte der tech-
niſchen Mechanik. 1885. — - Knoke, Die Kraftmaſchinen für das Kleingewerbe. 1887.
Das neue Buch der Erfindungen, Gewerbe und Induſtrie im Spamerſchen Verlag. 6 Bde.
1864 ff. 8. Aufl. 1884. — - Karmarſch, Geſchichte der Technologie ſeit Mitte des 18. Jahrhunderts.
1872. — - Bucher, Geſchichte der techniſchen Künſte. 1875. —
- Reuleaux, Kurzgefaßte Geſchichte
der Dampfmaſchine. 1891. — - Die Jahresberichte der chemiſchen Technologie von Wagner und
Fiſcher. — - Die ſämtliche Litteratur über die großen Ausſtellungen der letzten 50 Jahre. —
- Die Über-
ſichten der techniſchen Fortſchritte von Bredrow und anderen in der Beilage der Allgem. Zeitung.
Goltz, Handbuch der geſamten Landwirtſchaft. 3 Bde. 1889—90. — - Lorey, Handbuch der
Forſtwirtſchaft. 2 Bde. 1887—88. — - Gurlt, Die Bergbau- und Hüttenkunde. 1884. 3. Aufl.
Neuere Zeit, volkswirtſchaftliche Erörterung der modernen Technik: (Kunth), Über Nutzen und
Schaden der Fabriken. 1826. — - Babbage, On the economy of machinery and manufactures.
Deutſch 1833. — - Ure, Philosophy of manufactures. Deutſch 1835. —
- Baines, History of
the cotton manufacture in Great-Britain. 1835. — - Der Einfluß des Maſchinenweſens auf die
Quantität und Qualität der gewerblichen Produktion. Deutſche V.J.Sch. 1847, Heft 3. — - Roſcher,
Über die volkswirtſchaftliche Bedeutung der Maſchineninduſtrie. Zuerſt 1855. Anſichten d. V.W.
2 (1878). — - James, History of the worsted manufacture. 1857. —
- Fr. Paſſy, Les machines
et leur influence sur le développement de l’humanité. 1866. — - Felkin, History of the
machine wrought hosiery and laces manufactures. 1867. — - Marx, Das Kapital. 1, 1867. —
- Grothe, Bilder und Studien zur Geſchichte der Induſtrie und des Maſchinenweſens. 1870. —
- Emmanuel Hermann, Principien der Wirtſchaft. 1873; — Derſ., Miniaturbilder aus dem Gebiete
der Wirtſchaft. 1875. — - Wedding, Das Eiſenhüttengewerbe in den letzten 100 Jahren. Deutſches
Handelsblatt 6. Juli 1876. — - E. Engel, Die motoriſchen Kräfte und die Umtriebsmaſchinen der
preuß. Induſtrie am 1. Dez. 1875. Z. d. pr. ſtat. B. 1877; — Derſ., Die Arbeits- und Werkzeug-
maſchinen der preuß. Induſtrie. Daſ. 1878; — Derſ., Das Zeitalter des Dampfes. 1880. — - Nicholſon,
The effect of machinery on wages. 1877 u. 1892. — - Scherzer, Weltinduſtrien. 1880. —
- Cooke
Taylor, Introduction to a history of the factory system. 1886. — - Plaifair, The progress
of applied science in its effects upon trade. Contemp. Review. März 1888. — - Albrecht,
Die volkswirtſchaftliche Bedeutung der Kleinkraftmaſchinen. J. f. G.V. 1889. — - Hobſon, The
evolution of modern capitalisme: a study of machine production. 1894. — - Quandt, Die
[189]Weſen der Technik; ihre volkswirtſchaftliche Betrachtung.
Niederlauſitzer Schafwollinduſtrie in ihrer Entwickelung zum Großbetriebe und zur modernen Technik.
1895. — - Benſing, Der Einfluß der landwirtſchaftlichen Maſchinen auf Volks- und Privatwirtſchaft.
1897. — - E. von Halle, Grundriß zu Vorleſungen über die volkswirtſchaftliche Bedeutung der
Maſchine. 1898. — - Lux, Die wirtſchaftliche Bedeutung der Gas- und Elektricitätswerke in Deutſch-
land. 1898. — - Kautsky, Die Agrarfrage. 1899. —
- Sering, Die Agrarfrage und der Socia-
lismus. J. f. G.V. 1899. — - (Zahn) Gewerbe und Handel im deutſchen Reiche. Statiſtik des
Deutſchen Reiches, N. F. 119, 1899.
76. Aufgabe des Abſchnittes. Einteilung und allgemeinſte Ur-
ſachen der techniſchen Entwickelung. Haben wir in dem Abſchnitte über die
Raſſen und Völker die allgemeinen, typiſch-vererblichen Eigenſchaften derſelben, in dem
über Bevölkerung ihre Größenverhältniſſe erörtert, ſo bleibt uns jetzt übrig, ihr tech-
niſches Können ins Auge zu faſſen. Die jeweiligen techniſchen Eigenſchaften der Stämme
und Völker beſtimmen zu einem großen Teile den Grad des volkswirtſchaftlichen Wohl-
ſtandes, die Art und die Farbe der wirtſchaftlichen Zuſtände. Die Technik iſt das
ausführende Mittel aller wirtſchaftlichen, wir könnten faſt ſagen aller menſchlichen
Thätigkeit. Wie es eine Technik des Ackerbaues, der Gewerbe, des Verkehres giebt, ſo
ſprechen wir von einer Technik des Krieges, der Künſte, der Verwaltung, der Wiſſen-
ſchaft, des Schreibweſens. Wir verſtehen dabei unter der Technik ſtets die angewandten
Methoden und die herangezogenen äußeren Hülfsmittel, mit denen wir die verſchiedenen
Aufgaben bemeiſtern; wir denken, wenn wir von den techniſch-wirtſchaftlichen Eigen-
ſchaften reden, an das Maß von Geſchicklichkeit, Kenntniſſen und Fertigkeiten, womit
die Menſchen die äußere Natur ihren Zwecken dienſtbar machen. Die Stoffe und Kräfte
derſelben ſind ewig nach ihren eigenen Geſetzen thätig; ſie dienen zu einem erheblichen
Teile von ſelbſt dem Menſchen; ohne ſie hätten Menſchen, Tiere und Pflanzen nie
exiſtieren können; Wärme und Licht, die Hauptquellen alles Lebens, haben vor Millionen
Jahren wie heute dem Menſchen gedient, ihm durch ihre Bewegung Stoffe und Kräfte
geliefert. Aber ebenſo klar iſt, daß die ſich ſelbſt überlaſſenen Stoffe und Kräfte zu
einem erheblichen Teile das wirtſchaftliche Leben hindern, ſchädigen, ja zerſtören; hier
muß die menſchliche Technik eingreifen, die Hinderniſſe wegräumen, die ſchädlichen Kräfte
ablenken, die günſtigen durch Hand und Arm, durch Werkzeuge und Maſchinen ſo
ordnen und leiten, daß endlich eine immer weitergehende, zielbewußtere Beherrſchung
der Natur gelingt.
Unſer Wiſſen in Bezug auf die heutige wirtſchaftliche Technik iſt auf dem Boden
der fortſchreitenden Naturerkenntnis zu einem Syſteme praktiſcher Wiſſenſchaften (Land-
und Forſtwiſſenſchaft, chemiſche und mechaniſche Technologie, Maſchinenkunde, die Wiſſen-
ſchaften vom Bauweſen, vom Bergbau ꝛc.) geworden, die ihren Schwerpunkt in der
Unterweiſung fürs praktiſche Leben haben. Wir können nicht verſuchen, aus ihnen auch
nur auszugsweiſe das Wichtigſte mitzuteilen. Was uns hier intereſſiert, iſt der nach
Zeiten und Völkern verſchiedene allgemeine Stand der Technik und ſeine Wirkung auf
die Volkswirtſchaft. Wir müſſen uns eine Vorſtellung darüber verſchaffen, wie die
Technik und ihre Methoden, wie die Werkzeuge und Maſchinen ſich hiſtoriſch entwickelt
und geographiſch verbreitet und das wirtſchaftliche Leben beeinflußt haben. Es iſt das
nicht leicht, ſo vielerlei neuerdings an hiſtoriſchem und geographiſch-techniſchem Material
zu Tage getreten iſt. Unſere wiſſenſchaftlichen Techniker haben ſich meiſt um dieſe Zu-
ſammenhänge nicht viel gekümmert; unſere Geographen, Hiſtoriker und Nationalökonomen
ſind meiſt techniſch nicht genug geſchult. Immer muß hier ein Überblick unſerer Er-
kenntnis auf dieſem Gebiete verſucht werden. Es giebt kaum ein intereſſanteres und
wichtigeres Kapitel der Volkswirtſchaftslehre und dabei kein vernachläſſigteres und von
Dilettanten mißhandelteres.
Die Schwierigkeit einer Darlegung, und vollends einer kurzen, liegt auf der Hand.
Wir wollen eine Entwickelung von wahrſcheinlich über 100000 Jahren verſtehen, wenn Lyell
recht hat, daß die älteſten gefundenen Steinhämmer ſo weit zurückreichen. Über die erſten
90000 derſelben wiſſen wir ſehr wenig; wir ſchließen nur aus der Technik der heutigen
rohſten Stämme und aus einigen archäologiſchen Reſten auf ſie zurück; über die letzten
[190]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
10 ja 5000 Jahre iſt auch nur Vereinzeltes von den Hauptkulturvölkern bekannt; nur
über die letzten zwanzig Jahrhunderte haben wir umfangreichere Überlieferungen. Noch
ſind ſie aber nicht ganz erforſcht und dargeſtellt. Nur wenige Kapitel aus der Geſchichte
der Technik ſind gut bearbeitet. Und nun ſollen wir hier nicht ſowohl das unüberſehbare
Heer von techniſchen Einzelthatſachen, die wir kennen, vorführen, ſondern es zu Geſamt-
reſultaten nach Zeitaltern und Völkern zuſammenfaſſen und ſtets verſuchen, die Urſachen
und die Zuſammenhänge mit dem ganzen volkswirtſchaftlichen Leben darzulegen.
Man hat dieſe Aufgabe durch verſchiedene Einteilungen in techniſche Perioden zu
erleichtern geſucht. Man unterſchied: Jagd-, Hirten-, Ackerbau-, Gewerbe-, Handels-
völker; ein Stein-, Kupfer-, Bronze-, Eiſenzeitalter; die Perioden der Wildheit, Barbarei,
Halb- und Ganzkultur; die der Werkzeuge und der Maſchinen, die Epochen der An-
wendung von Menſchen-, Tier-, Wind-, Waſſer-, Dampfkraft und Elektricität. Aber die
meiſten dieſer Einteilungen ſind heute als zu einſeitig oder auch als ungenau und irre-
führend erkannt. Und doch wird eine vorläufige hiſtoriſch-geographiſche Einteilung nicht
zu entbehren ſein. Wir verſuchen in einigen erſten Paragraphen je geſondert die Ent-
wickelung der Werkzeuge und die der techniſchen Methoden der Ernährung bis zur
hiſtoriſch beglaubigten Zeit darzuſtellen, dann laſſen wir die Epochen der vorderaſiatiſchen,
der europäiſchen Werkzeugtechnik und der modernen Maſchinentechnik folgen.
Zum Schluſſe dieſer Vorbemerkung noch ein Wort über die allgemeinen menſch-
lichen und hiſtoriſchen Urſachen, die alle Entwickelung der Technik beherrſchen.
Wir haben (S. 42) die Entſtehung des Sittlichen in Zuſammenhang gebracht
mit der Thatſache, daß der Menſch Werkzeuge ſchuf und arbeiten lernte. Wir führten
beides auf die Beſonnenheit zurück. Nicht umſonſt ſagt Franklin, der Menſch ſei ein
Tier, das Werkzeuge mache; andere meinten, ein Tier, das kochen gelernt habe. Auch
einzelne höhere Tiere haben gewiſſe Methoden der Nahrungsfürſorge und das Vorrats-
ſammeln durch Inſtinkte ausgebildet, die auf gewiſſen Erfahrungen beruhen mußten.
Lotze ſagt, auf der Feinheit unſeres Taſtſinnes, der in den Fingerſpitzen liegt, der Be-
weglichkeit unſerer Arme, der Muskelkraft unſerer Arme, Beine und Zähne, aber ebenſo
auf unſerer Fähigkeit zu beobachten, Vorſtellungen zu aſſociieren, zu ſchließen, beruhe
alle techniſche Entwickelung des Menſchen. Er drückt damit richtiger das aus, was ſchon
die Alten meinten, wenn ſie die Kultur auf den Bau der menſchlichen Hand zurück-
führten, oder was ein Schriftſteller andeuten wollte, der im Daumen, als dem wichtigſten
Finger, den Kern der Weltgeſchichte fand. E. Hermann hat den menſchlichen Körper
neuerdings eine reichgegliederte Maſchine genannt, die ſelbſt das Ergebnis der Übung
und Verbeſſerungsarbeit von Hunderttauſenden von Generationen ſei. Dieſe Übung mag
zuerſt unter der Leitung von Inſtinkten erfolgt ſein, hauptſächlich aber iſt ſie, wie alle
ſpäteren techniſchen Fortſchritte, das Ergebnis der denkenden Überlegung, der Beobachtung,
der Selbſtbeherrſchung, der Zielſetzung.
Wenn der Menſch, wie der Affe, einen Stein zum Öffnen einer Frucht, einen
Stock zum Schlagen brauchte, ſo hatte er noch kein Werkzeug; erſt dann konnte man
davon ſprechen, wenn er dieſen Stein, dieſen Stock ſtetig bei ſich führte, wenn die
Erinnerung an den Nutzen dieſes Hülfsmittels die Unbequemlichkeit der Aufbewahrung,
des Mitſchleppens überwand. Damit der Urmenſch den Stein ſchärfte, mußte er beob-
achten und nachdenken. Wenn ihm dabei ſein Taſtſinn half, die Härte, die Beweglichkeit,
die Form der Stoffe herauszufühlen, wenn er in Hand und Arm das Vorbild der
Waffe und des Werkzeuges fand, ſo ändert das an dem geiſtigen Vorgange nichts.
Schon die Nachahmung ſetzt Nachdenken und Zweckſetzen voraus: die geballte Fauſt
wurde das Vorbild des Hammers, die Schneide desſelben ahmt Nägel und Zähne, die
Feile und Säge die Zahnreihe, die Beißzange und der Schraubſtock die greifende Hand
und das Doppelgebiß nach; der gekrümmte Finger wird zum Haken, der ſteife Finger
mit dem Nagel zum Bohrer, die hohle Hand zur Schale; die Lanze ſtellt den ver-
längerten Arm dar. Die Werkzeuge wie die ſpäter aus ihnen entwickelten Waffen,
Apparate und Maſchinen ſind — hat man geſagt — menſchliche Organprojektionen in
die Natur hinein; aber ſie entſtehen nur durch innere geiſtige Vorgänge, die bewußt
[191]Die Urſachen der Werkzeugſchaffung und aller Technik.
ins äußere Leben verlegt werden, um feinere, zweckmäßigere, konzentriertere Wirkungen
zu erzielen.
Und noch mehr gilt dies, wenn der Menſch beginnt, gemeinſam, zu mehreren
eine Arbeit zu verrichten, wenn er Tier-, Wind- und Waſſerkraft für ſich anſpannt,
durch Getriebe und Räder feſte, gleichmäßige Bewegungen herſtellt. Auch die Maſchinen,
ſagt Reuleaux, ſeien bewußte oder unbewußte Kopien des menſchlichen oder tieriſchen
Knochen- und Muskelgerüſtes, Projektionen des menſchlichen Denkens und des menſchlichen
Körpers in die Sinnenwelt hinaus.
Es iſt eine einzige einheitliche Entwickelungsreihe vom erſten Hammer und Stab
bis zur heutigen Dynamomaſchine, die durch immer beſſere Beobachtung, durch ſtets
wiederholtes Probieren, Taſten, Verſuchen, durch zahlloſe kleine Verbeſſerungen, durch
immer komplizierteres Zuſammenſetzen bekannter Mittel immer größere Erfolge erzielte.
Viele Entdeckungen und Fortſchritte ſind gewiß an verſchiedenen Orten unabhängig
von einander gemacht worden. Da die Zwecke und die Mittel, die Körperkräfte und die
Maße von Hand, Arm und Fuß immer die gleichen waren, ſo iſt es wohl begreiflich,
daß die Axt z. B. immer wieder dieſelbe Form und Größe erhielt, daß gleiche Methoden
des Haus-, Schiffs-, Ackerbaues ohne Nachahmung da und dort entſtanden. Aber da
jede Entdeckung ein Ergebnis beſonders glücklicher Umſtände und hervorragender geiſtiger
Eigenſchaften iſt, ſo wurde die Entwickelung durch die Berührung und Nachahmung
doch außerordentlich befördert. Und ſo weit wir dieſe im Anſchluß an die uns bekannten
oder wahrſcheinlich gemachten Wanderungen verfolgen können, ſo ſcheint es, als ob ſo
ziemlich alle höhere techniſche Kultur von Vorderaſien, vielleicht von jenen mongoliſch-
tatariſchen Völkern der Sumerier und Akkadier im Euphratthal ausgegangen ſei; von
hier können dieſe techniſchen Künſte durch oſtwärts wandernde Mongolen nach China
und Amerika, nördlich zu den Indogermanen, direkt zu den aſſyriſch-babyloniſch-ägyptiſchen
Völkern und endlich durch ſie wie durch die weſtlich wandernden Indogermanen zu der
abendländiſchen Welt gekommen ſein. Ebenſo zeigt das Fehlen mancher Werkzeuge und
Waffen bei Völkern und Raſſen, die früh in abgelegene Winkel der Erde gedrängt wurden,
daß ſie die techniſchen Erfindungen der höheren Kulturvölker nicht ſo leicht ſelbſtändig
nachholen konnten.
Eine klare und erſchöpfende Erkenntnis der Urſachen, warum gewiſſe techniſche
Fortſchritte zu beſtimmter Zeit, an beſtimmtem Orte, bei dem und jenem Volke ent-
ſtanden, durch Praktiker oder Gelehrte herbeigeführt worden ſeien, warum ſie ſich langſam
oder raſch verbreitet haben, beſitzen wir heute nicht, wenigſtens nicht für alle fernere
Vergangenheit. Wir müſſen zufrieden ſein, im folgenden einiges Licht in dieſes Dunkel
zu bringen.
So viel aber können wir ſagen: äußere Umſtände, Klima, Flora und Fauna, Lebens-
lage, Not, Bevölkerungszuwachs haben ſtets als Druck und Anſtoß gewirkt. Führt doch
z. B. M. Wagner die erſten großen techniſchen Fortſchritte auf die Not der Eiszeit
zurück; andere leiten das Lernen des Aufrechtgehens und Waffenbenutzens aus dem
Kampfe mit den wilden Tieren ab. Auch daß Jahrhunderte und Jahrtauſende lang
gewiſſe Stämme und Raſſen auf demſelben Standpunkte der Technik verharren, wird
häufig mit der Thatſache zuſammenhängen, daß ihre äußeren Lebensbedingungen die-
ſelben blieben, keine Einflüſſe höherſtehender Völker ſie erreichten. Aber der ſpringende
Punkt für die Fortſchritte wird doch immer in der geiſtigen Beſchaffenheit der Menſchen
liegen. Aller techniſche Fortſchritt kann nur das Ergebnis des Scharfſinnes, der Be-
obachtung, der beſonderen Findigkeit ſein; auch der einfachſte Arbeiter und der Prak-
tiker, welche neue Maſchinenteile und Methoden erfinden, ſind ausnahmsweiſe kluge
Menſchen, die mehr gelernt und mehr nachgedacht haben als andere. Kommt nun
dazu in gewiſſen Zeiten, bei gewiſſen begabten, auf höherer Kulturſtufe ſtehenden
Völkern oder Klaſſen eine durch mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Fortſchritte, durch
Unterricht geſteigerte Atmoſphäre, wie ſeinerzeit bei den älteſten Kulturvölkern des
Euphrat und des Nillandes, im ptolemäiſchen Zeitalter, in der Renaiſſancezeit, in den
letzten Jahrhunderten, ſo werden die großen Geiſter in der wiſſenſchaftlichen Natur-
[192]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
erkenntnis und die Talente der techniſchen Praxis ſich gegenſeitig in die Hände arbeiten,
ohne daß man ſicher ſcheiden kann, ob das größere Verdienſt um den techniſchen Fort-
ſchritt bei der Wiſſenſchaft oder bei der Praxis ſei.
77. Die erſten techniſchen Fortſchritte; die älteſten Waffen und
Werkzeuge, das Feuer und die Töpferei. Wir werden annehmen, daß es
Menſchen ohne Werkzeuge und Feuerbenutzung einſtens gegeben habe. Gefunden hat
man in hiſtoriſcher Zeit nie ſolche.
Waffen und Werkzeuge waren urſprünglich identiſch, haben erſt nach und nach
ſich differenziert. Wir haben ihre Entſtehung ſchon beſprochen. Wir verſtehen unter
einer Waffe und einem Werkzeuge ein dem Menſchen zum Kampf oder zur Arbeit
dienendes äußeres Hülfsmittel beſtimmter Geſtaltung aus Holz, Knochen, Stein oder
Metall, welches zufällig in paſſender Form gefunden, in der Regel vom Menſchen
abſichtlich hergeſtellt wurde, und nun durch die ein- für allemal gethane Arbeit der
Erfindung alle künftige Wirkſamkeit der menſchlichen Glieder verſtärkte, erleichterte,
konzentrierte. Die Herſtellung von ſolchen erſchöpft nicht die älteren techniſchen Fort-
ſchritte; allerlei Methoden z. B. der Nahrungsfürſorge, das Früchteſuchen und -Schonen,
die Feuerbewahrung und anderes bedurften zunächſt keines Werkzeuges zur Durchführung.
Aber auch dieſe Fortſchritte wurden, wie alle Bekämpfung der Feinde und alle Arbeit,
doch meiſt bald durch irgend welche äußere Veranſtaltung, wie die Feuerbenutzung durch
den Herdbau, die Vorratſammlung durch Töpfe und Tierbälge erleichtert.
Holzſtücke, beſonders in Stabform, gewiſſe Knochen größerer und kleinerer Tiere,
einzelne Schilfarten und Steine hat der Menſch zuerſt als Werkzeug benutzt. Der Stab
diente als Stütze beim Marſch, als Waffe gegen Tier und Feind, als Hebel, als Hülfe
zum Laſtentragen, als Gerüſt für die erſte Hütte, als Grabſtück zum Wurzelſuchen; am
Feuer geſpitzt wurde er zum Spieß, an einer Seite verſtärkt zur Keule, durch Einſetzung
von Fiſchzähnen zur Lanze. Der rohe Stein diente zum Werfen, ſpäter zur Schleuder-
waffe; in beſtimmter Form zum Öffnen von Schalen, zum Stoßen und Hämmern. In
der Bearbeitung paſſender Steine, Geweihe, Holzſtücke und Knochen und ihrer Ver-
bindung lag unendliche Zeiträume hindurch der techniſche Fortſchritt. Durch Schleifen,
Polieren, Meißeln, Durchbohren der Steine gelang es, ſchmälere und breitere, glatte
und dicke, kürzere und längere Steine herzuſtellen, ſie zu Meſſern, Beilen, Meißeln,
Hämmern, Schabinſtrumenten und Mahlſteinen, Lanzen- und Pfeilſpitzen zu geſtalten.
Die Unterſuchung dieſer Steinbearbeitung bildet einen Hauptteil der vorgeſchichtlichen
Forſchungen. Die Benutzung der Steinwerkzeuge und Waffen (neben den metalliſchen)
reicht bis tief in die hiſtoriſchen Zeiten hinein, zumal im Norden; nach Rougemont in
Deutſchland bis ins 6.—7., in Irland bis ins 8. und 9., in Schottland bis ins 13.,
in Böhmen bis ins 14. Jahrhundert. Die ungeſchiedenen Arier werden weſentlich nur
Stein- und Holzwerkzeuge neben wenigen Stücken aus Kupfer oder Erz beſeſſen haben.
Ähnlich die Pfahlbauer der Schweiz 8000—4000 v. Chr. Die niedrigſten Völker haben
ſie heute noch; Auſtralien, die Südſeeinſeln, ein großer Teil Amerikas beſaßen nichts
anderes bei ihrer Entdeckung. Die Afrikaner freilich ſind, ſeit wir ſie kennen, faſt alle
ſchon im Beſitze von Eiſen geweſen.
Mit verbeſſerten Steinwaffen und -Werkzeugen lernte der Menſch ſich beſſer gegen
Feinde und Tiere verteidigen und ſchützen; er fügte zu den Angriffs- die Schutzwaffen,
er baute Wälle und Hütten, richtete ſich in Höhlen ein, verſtand Tauſende von ſtarken
Pfählen ins Waſſer einzurammen, ſie zu geſchützten Pfahlbaudörfern zu benutzen. Indem
er die Jagdmethoden durch ſie verbeſſerte, kam er wenigſtens etwas mehr über die Gefahr
des Verhungerns hinweg. Vor allem haben die verbeſſerten Fiſchfangmethoden, die
erſten ausgehöhlten, als Schiffe dienenden Baumſtämme, die Netze und Harpunen ihm
das Leben am Waſſer erleichtert. Man hat geſagt, die Fiſchnahrung und das Feuer
hätten dem Menſchen erſt geſtattet, ſich etwas weiter über die Erde zu verbreiten. —
Ob der Menſch das Feuer erſt als Abbild der Lichtgottheiten verehrt (wie L. Geiger
meint) oder gleich ſeinen Nutzen erfaßt habe, wollen wir dahingeſtellt ſein laſſen.
Jedenfalls ſteht die Feuerverehrung, das Prieſtertum und die Magie bei vielen Raſſen
[193]Die Werkzeuge. Das Feuer.
in engem Zuſammenhange. Das Feuer gilt allerwärts als etwas Göttliches, das nur ein
Prometheus aus dem Himmel entwenden konnte. Auch die Frage, ob künſtliches Feuer-
machen durch Reibung von Holzſtücken, durch den Feuerbohrer der Feuerbenutzung vor-
ausgegangen ſei, können wir auf ſich beruhen laſſen. Alle neueren Unterſuchungen ſprechen
dafür, daß das Feuer durch Blitze, Lavaſtröme, Selbſtentzündung ſich von ſelbſt den
Menſchen dargeboten habe und dann von ihnen mit Sorgfalt gehütet wurde. Die Be-
wahrung des Feuers war ebenſo ſchwer zu erlernen wie ſeine Zügelung, ohne die es
jeden Moment Gefahr brachte. Nichts hüten die Menſchen auf dieſer Stufe der Technik
mit mehr Sorgfalt als ihr nie erlöſchendes Feuer; ſie tragen es in glimmender Form ſtets
bei ſich auf Jagd-, Kriegs- und Wanderzügen. Hauptſächlich der Narthexſtengel, ſpäter
der Holzſchwamm, eignete ſich dazu. Die Auſtralier und andere rohe Stämme laſſen
das Feuer trotz des heißen Klimas in keiner Hütte je ausgehen, decken es abends zu,
um es beim erſten Morgengrauen wieder anzublaſen. Aus den Tempeln, wo es ſpäter
bewahrt wird, darf jeder Feuer holen; kein Volksgenoſſe weigert es dem anderen; der
Ausſchluß von Waſſer und Feuer bedeutet Verſtoßung aus dem Stamme oder Volke.
Cicero verlangt noch, daß man auch dem Unbekannten das Feuer nicht weigere. Wo
das künſtliche Feuermachen Platz gegriffen, iſt es lange eine heilige Kulthandlung der
Prieſter geweſen. Wie die indiſchen ſo haben es die römiſchen zu beſtimmter Zeit (am
1. März) immer neu entzündet; noch heute löſcht der Prieſter in den Alpen am Char-
ſamſtag das Feuer aus und entzündet das neue am Oſterfeſt, worauf es dann der Bauer holt.
Schutz gegen Geiſter wie gegen wilde Tiere und Feinde erhoffte man vom Feuer
zuerſt, dann Schutz gegen Kälte; das Vordringen in kältere Gegenden war ohne Feuer
unmöglich; Lippert meint, die höhere Kultur der nördlichen Raſſen auf ihre beſſere Feuer-
pflege zurückführen zu ſollen. Alle Stein- und Holzbearbeitung wurde dadurch erleichtert;
die erſte Aushöhlung von Baumſtämmen zu Kähnen erfolgte ſo; vor allem aber wurde
die Ernährung eine beſſere. Man dörrte das Fleiſch, briet es auf heißen Steinen an,
ſpäter am Holzſpieß durch. Die Körner aus den Halmen zu löſen, wandte man früher
— und in Irland noch im 17. Jahrhundert — das Feuer an; ſie wurden ſchmackhafter
und genießbarer. Die Juden aßen geröſtete Gerſte, die Griechen und Römer geröſteten
Spelt. Das Schmoren und Kochen in Gruben mit glühenden Steinen gehört einer
alten Zeit, das in Töpfen erſt einer viel ſpäteren an. All’ dieſe Feuerverwendung
erleichtert die Ernährung ſehr: die Zellen der Nährmittel werden geſprengt, die Gewebe
erweicht, das Kauen und die Verdauung ſo ſehr erleichtert, daß geringere Mengen doch
beſſer nähren, energiſchere Menſchen machen. Nicht umſonſt haben ſchon die Griechen
die Rohes eſſenden Stämme verſpottet und verachtet.
Die tiefgreifende Wirkung des Feuers auf Steinſprengung, Erzſchmelzung, Me-
tallurgie und zahlloſe chemiſche Prozeſſe gehört im ganzen erſt der Epoche der Halb-
und Ganzkultur an. Schon in älteſter Zeit aber hat das Feuer die raſtloſe Beweglich-
keit des Menſchen etwas eingeſchränkt; das Wandern war mit dem Feuerbrand doch
beſchwerlicher; die Benutzung des Feuerbohrers freilich, ſpäter bei den Römern die des
Feuerſteins und Stahls, erleichterte wieder die Bewegung. Jedenfalls wurden die
Frauen, die das Feuer am Herde zu bewachen hatten, hiedurch mehr an die Wohnſtätte
gebunden; und wie ſie ihre Kinder mit dem Feuer beſſer ernähren konnten, ſo boten
ſie mit dem wärmenden Herde dem Manne mehr als bisher; um den Herd herum ent-
wickelte ſich das Haus und die Häuslichkeit. Die Erleuchtung der Nacht geſchah
undenkliche Zeiten hindurch nur durch Herd- oder anderes ähnliches Feuer; Fackeln
und Lampen gehören erſt den Kulturvölkern, z. B. den Ägyptern, Griechen und
Römern an. —
Die älteſten Gefäße wurden wohl nicht zum Kochen, ſondern als Waſſerbehälter
benutzt; zumal in Ländern mit Waſſermangel, wie in Afrika, ſchleppt der roheſte Buſch-
mann, der ſonſt jedes Gepäck ſcheut, mit Waſſer gefüllte Straußeneier bei ſich. Tierhörner,
Menſchenſchädel, Fruchtſchalen, Tierbälge haben als die älteſten Gefäße gedient; dann
hat man aus Geflechten Gefäße und Körbe hergeſtellt, die ſo dicht geflochten, geklopft,
im Waſſer gequollen waren, daß ſie Flüſſigkeit hielten. Solche ſind heute noch da
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 13
[194]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
und dort im Brauche. Wo man die Körbe dann mit Thon, Erdpech und derartigem
außen oder innen beſtrich und bemerkte, daß dieſe beſtrichenen Körbe im Feuer oder in
der Luft erhärteten, da war die Töpferei erfunden. Sie iſt wohl an verſchiedenen Orten
der Erde ſelbſtändig entſtanden. Aber ſie fehlte doch vielen amerikaniſchen, polyneſiſchen
und auſtraliſchen Stämmen. Sie bedeutet einen großen Fortſchritt für die Aufbewahrung
und Bereitung von Speiſen und Getränk; mit ihr wurde erſt das eigentliche Kochen
möglich. Morgan hält ſie für ſo wichtig, daß er mit ihrer Erfindung und Verbreitung
ſeine Epoche der „Wildheit“ abſchließt, während Ratzel ihre Verteilung bei den rohen
Stämmen für zu ungleich hält, um ſie als ſo epochemachend gelten zu laſſen. Die
Glasbereitung gehört einer viel ſpäteren Zeit an: bei den Ägyptern und Phönikern
iſt ſie vorhanden, wie die Glaſur der Thongefäße, die Töpferſcheibe und die Brennöfen
für die Thongefäße.
So groß überhaupt der Einfluß der hier kurz geſchilderten techniſchen Fortſchritte
iſt, ſo genügen ſie doch keineswegs, uns ein feſtes Bild der wirtſchaftlichen Verhältniſſe
der älteſten Zeiten und der roheſten Stämme zu geben. Dazu gehört ihre Verbindung
mit den älteren Methoden und Arten der Herbeiſchaffung und Erwerbung der Nahrungs-
mittel.
78. Die älteſten Fortſchritte der Ernährung bis zum Hackbau
und der Viehzucht. Wie wir uns die älteſten menſchlichen Zuſtände auch denken
mögen, darüber iſt heute die Wiſſenſchaft einig, daß die menſchliche Ernährung jener
Tage auf einer occupatoriſchen Thätigkeit beruhte, und daß der Menſch (ſein Gebiß ſchon
deutet es an) ebenſo animaliſche wie vegetabiliſche Nahrung ſuchte. Erſtere konnte natür-
lich bei dem Mangel an Waffen und anderen techniſchen Hülfsmitteln nur in Eiern,
Larven, Käfern und anderen kleinen Tieren beſtehen, die leicht zu greifen oder zu fangen
waren. Daneben ſammelte der Menſch Beeren, Wurzeln und Früchte aller Art; die
Körner wildwachſender Gräſer können da und dort ſchon eine Rolle geſpielt haben; von
einem Anbau derſelben aber war nicht die Rede. Man kann dieſe Stufe der Nahrungs-
gewinnung eigentlich nicht als Jagd und Fiſchfang bezeichnen. Dazu gehörten ſchon
verbeſſerte Methoden der Gewinnung.
Auch das bloße Sammeln wurde ein weſentlich anderes, wenn es mit Vorbedacht
geſchah und zu Vorratsbildung, zur Mitführung der Vorräte auf der Wanderung, zu
ihrer Konſervierung auf verſchiedene Art führte. Ein unſagbar wichtiger Schritt iſt es,
wenn der Menſch einzuſehen beginnt, daß er die Quellen ſeiner Ernährung ſchonen und
fördern muß, daß er die Fruchtbäume nicht fällen, die Vogelneſter nicht zerſtören darf, den
Bienen und anderen Tieren, wenn er ihnen ihre Vorräte raubt, einen Teil laſſen muß.
Gewiſſe Indianer laſſen in jedem beraubten Biberbau 12 Weibchen und 6 Männchen
am Leben. Ähnliches geſchieht bei der Büffeljagd. Der Auſtralier läßt von der Yamwurzel
einen Teil im Boden, damit ſie neue Knollen bilde; er hat bemerkt, daß er beim Aus-
graben der Knollen durch ſeinen feuergeſpitzten Stock zugleich den Boden etwas lockere
und dadurch die Neubildung der Knollen fördere. Von da iſt es nicht weit zum erſten
roheſten Anbau mit Hacke und Spaten. Man hat mit Recht die früheſten geſellſchaftlich
angeordneten Schongebote, Schonzeiten und Schoneinrichtungen mit der Entſtehung des
Eigentums in Zuſammenhang gebracht.
Um größere Jagdtiere zu erlangen oder zum Genuß von Menſchenfleiſch und -Blut
zu kommen, mußte man ſchon beſſere Waffen und Fangmethoden haben: Keule und
Speer, Pfeil und Bogen, Schleuder und Wurfbrett, Fanggräben, Fangleine und Blaſe-
röhren mit Giftbolzen gaben die größeren Erfolge. So lange der Jäger nur in der
Nähe wirkende Waffen hatte, mußte er tagelang lauern, ſtundenlang im heißen Sand
oder naſſen Moraſt liegen; die fernwirkenden, hauptſächlich Pfeil und Bogen, überhoben
ihn dieſer unendlichen Mühſal, verſorgten ihn ſehr viel leichter und reichlicher. Pfeil
und Bogen fehlten in Auſtralien, Polyneſien, Neuſeeland; ſie waren aber bei den älteſten
Pfahlbauern vorhanden, wie ſpäter bei den Aſſyrern, Ägyptern, den Skythen, Numidiern,
Thrakern, während ihn Griechen, Römer, Germanen ſchon nicht mehr benutzten. Es iſt
die Waffe und das Jagdwerkzeug der wichtigſten Jägervölker, die ſie teilweiſe auch bei
[195]Jagd, Fiſchfang. Abſichtliche Zucht von Pflanzen und Tieren.
höherer Kultur behalten, während die Viehzüchter und Ackerbauern mit ihren beſſeren
Ernährungsmethoden ſeiner nicht mehr ſo dringlich bedürfen.
Faſt noch mehr als die Jagd kann der Fiſchfang durch verbeſſerte Methoden
ergiebiger gemacht werden, wie wir bereits erwähnten. Und es iſt daher ganz begreiflich,
daß die geſamten techniſchen Fortſchritte in der occupatoriſchen Thätigkeit ſchon Stämme
mit einem gewiſſen Wohlſtand erzeugen konnten, wo großer Fiſch- oder Wildreichtum
vorhanden war. Wir wiſſen heute, daß es vereinzelt ſeßhafte Jäger- und Fiſchervölker
mit Dörfern, mit einer gewiſſen Technik des Transportes, Hundeſchlitten, Renntieren ꝛc.,
mit einer gewiſſen geſellſchaftlichen Organiſation der Jagd und des Fiſchfanges, mit
Schmuck und Sklaven, mit Wohlhabenden und Ärmeren giebt: ſo in Nordkalifornien,
in Nordaſien, in Kamtſchatka. Aber es ſind ſeltene Ausnahmen. Und unſicher bleibt
alle bloße Jagd und alle bloße Fiſcherei, alles Leben von Beeren und Früchten. Der
Menſch, ſo ſagt wohl Peſchel, bleibt ein Almoſenempfänger im großen Wurzelgarten
der Natur, bis er anfängt, neben die Sammelthätigkeit die abſichtliche und planmäßige
Zucht von Pflanzen und Tieren zu ſetzen. Das erſtere iſt offenbar das leichtere und
ältere, urſprünglich viel weiter verbreitete, die Tierzucht das viel ſchwierigere und ſpätere.
Dieſe Erkenntnis danken wir aber erſt den neueſten Unterſuchungen. Es iſt damit das
ſchon von den Alten herrührende Schema der hiſtoriſchen Entwickelung — Jagd, Vieh-
zucht, Ackerbau — in ſeiner Wurzel angegriffen. Obwohl ſeit langem bezweifelt, wurde
und wird es in den Lehrbüchern, z. B. in Schönbergs Handbuch, doch noch vorgetragen.
Wir müſſen dabei einen Augenblick verweilen.
Schon Roſcher hatte gemeint, nach der urſprünglich occupatoriſchen Wirtſchafts-
weiſe werde nach Klima, Boden und Menſchenart hier Jagd, dort Viehzucht, an dritter
Stelle Ackerbau entſtanden ſein. Gerland leitet die ganze phyſiologiſche Entſtehung des
Menſchen aus dem Getreidebau ab, ihm mußten Jagd und Hirtenleben als Entartungen
ſich darſtellen. A. Nowacki hat dann mit ausführlicher Begründung zu zeigen geſucht,
daß aus der urſprünglich occupatoriſchen Thätigkeit drei nebeneinander ſich entwickelnde
Typen entſtanden, 1. die überwiegende Viehzucht, 2. der überwiegende Ackerbau und
3. die Verbindung von beidem. Vor allem aber ſucht neueſtens Eduard Hahn nach-
zuweiſen, daß die Viehzucht nicht aus der Jagd hervorgegangen ſein könne, daß es
lange Zeiträume gegeben habe, in welchen ein einfacher Ackerbau — er nennt ihn Hack-
bau und wir folgen ihm darin — ohne Vieh und Pflug beſtand, daß ein großer Teil
der Menſchen noch heute ganz oder teilweiſe dieſen Hackbau hat, daß die Viehzähmung
wahrſcheinlich bei ſeßhaften Hackbauern entſtand und daraus einerſeits der Ackerbau mit
Vieh und Pflug, andererſeits, und wohl viel ſpäter, die Viehwirtſchaft der Nomaden,
d. h. der wandernden, und der Hirten, d. h. der ſeßhaften Viehzüchter, ſich entwickelte.
Ich muß aus ſeinen Reſultaten über den Hackbau und die Viehzähmung einiges anführen.
Wir haben oben ſchon erzählt, wie die Schonung gewiſſer Wurzel- und Knollen-
gewächſe nach und nach ſich leicht in Landbau verwandeln konnte. Ihr Anbau und der
von Gemüſe durch die Weiber von Fiſchern und Jägern war wohl der älteſte Hackbau;
dann kam in den warmen Ländern der von Durrha, Sorghum, Hirſe, in den feuchten
Niederungen der von Reis, im gemäßigten Klima der von Gerſte, in Amerika der von
Mais. Neben der Ernährung durch dieſe Früchte haben die Hackbauern einzelne kleine
Tiere nach und nach zu halten gelernt, wie Hund und Ziege, Huhn und Schwein.
Viele Neger, die etwas höher ſtehenden Indianer Amerikas, die Melaneſier, die Poly-
neſier, die Malaien und anderen Bewohner Indoneſiens, die Südchineſen ſind bis heute
nicht recht über dieſe niedrige Art der landwirtſchaftlichen Technik, über den Hackbau
hinausgekommen. Es giebt ſehr rohe, wandernde Stämme, die einen nur kurze Zeit
an die Scholle feſſelnden Hackbau haben. Daneben ſehen wir ſeßhafte Stämme, die
mit dem Hackbau, an welchem die Männer ſich beteiligen, ſchon zu guter Ernährung
und leidlicher wirtſchaftlicher Exiſtenz gekommen ſind. Wo er in günſtigem Klima
durch Bewäſſerung, Teraſſenbau, ſtarke Düngung und großen Fleiß bis zum Gartenbau
ſich erhob, wie in Vorderaſien und China, ſowie in Centralamerika, hat er ohne Pflug
und eigentliche Viehhaltung einen erheblichen Wohlſtand und eine Art Halbkultur
13*
[196]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
erzeugt. An einem dieſer Punkte, wahrſcheinlich in Vorderaſien, gelang nun wohl die
eigentliche Viehzähmung, die der größeren Tiere.
Von etwa 140 000 Tierarten, deren Zähmung und Nutzung möglich wäre, hat
der Menſch — nach Settegaſt — nur 47 dauernd zu ſeinen Hausgenoſſen gemacht und
für ſich als Haustiere zu nutzen gelernt. Es muß alſo ſehr ſchwierig geweſen ſein,
dieſen techniſchen Fortſchritt zu machen, der zu den allertiefgreifendſten des Menſchen-
geſchlechtes gehört; er hat den Raſſen, die ihn zuerſt recht ausnutzten, die hauptſächlich
die Milchnahrung erlernten, für immer einen Vorſprung verſchafft, nämlich den Hamiten,
Indogermanen und Semiten. Und doch iſt die Zähmung einzelner, beſonders kleiner
Tiere ziemlich leicht und ſicher früher weit verbreitet geweſen.
Die amerikaniſchen Indianer halten teilweiſe ganze Menagerien von Vögeln und
ſonſtigen kleinen Geſpielen. Der Hund hat ſchon in ſehr frühen Zeiten den Menſchen
umgeben. Von den Ägyptern und Aſſyrern wiſſen wir, daß ſie Marder, Meerkatzen
und Löwen ſich hielten, im Norden hat man Raben und Adler, Füchſe und Bären
gezähmt. Aber es waren, ſo weit es ſich um größere Tiere handelte, nur ſolche, die
jung gefangen wurden, die nicht in der Gefangenſchaft geboren waren. Es ſcheint, daß
man den größeren Teil dieſer individuell gezähmten und zumal der kleinen Tiere in
älteſter Zeit nicht des Nutzens, ſondern der Spielerei oder des Kultus wegen, aus
äſthetiſchen Gründen, aus Neigung zu lebendiger Umgebung hielt. Es giebt Stämme,
welche Hühnerzucht nur des Federſchmuckes wegen, welche Hundezucht haben, ohne die
Hunde zur Jagd zu verwenden.
Der entſcheidende Punkt für die Tierzähmung war, die größeren Tiere zur Zucht
in der Gefangenſchaft zu bringen. Wie das beim Elephanten in Indien noch nie
gelungen iſt, wie die Verſuche in unſeren Tiergärten mit wilden Tieren noch heute die
größten Schwierigkeiten zeigen, ſo haben ſtets die gefangenen Tiere eine geringe Brunſt
und eine ſo geringe Milchergiebigkeit gezeigt, daß ſie entweder keine Jungen bekamen,
oder die wenigen geborenen verhungerten. Der Erſatz durch Menſchenmilch, der ſelbſt
für Hunde und Schweine möglich war und oft vorkam, war bei ihnen ausgeſchloſſen.
Eduard Hahn ſtellt nun die anſprechende Hypotheſe auf, vorderaſiatiſche Stämme
ſeien durch die bekannte, weitverbreitete göttliche Verehrung der Rinder dazu gekommen,
dieſe nach und nach in der Weiſe zu zähmen, daß man ſie gleichſam über ihre Gefangen-
ſchaft täuſchte, ſie herdenweiſe in große Gehege zu treiben wußte. Hier hätten ſie ſich
fortgepflanzt und auch nach und nach an den Menſchen gewöhnt. Man habe hier die
zahmeren Tiere leicht herausfinden, dieſelben vor den heiligen Wagen ſpannen, einzelne
männliche Tiere — auch aus kultlichen Motiven — kaſtrieren können; die wilderen
Exemplare konnte man durch Schlachtopfer ausmerzen. Die Anſpannung des Ochſen
vor den Haken und Pflug ſieht Hahn ebenfalls als eine urſprünglich kultliche Hand-
lung, als das Symbol der Befruchtung der Mutter Erde durch ein heiliges Tier an.
Die Milch-, Fleiſch- und Zugnutzung glaubt er erſt als ſpäte Folgen dieſer rituellen
Haltung des Rindes betrachten zu dürfen. Die Zähmung des Pferdes, des Kameles,
des Schafes, des Eſels, der Ziege betrachtet er als ſpätere Nachahmungen der urſprünglich
allein vorhandenen Rindviehhaltung. Er nimmt auch an, daß ſo die Tierzähmung in
der Hauptſache von einem Punkte der Erde ausgegangen ſei.
Die Hypotheſe Hahns wird noch näherer Unterſuchung bedürfen. Jedenfalls giebt
ſie nach ihren pſychologiſchen Gründen und hiſtoriſchen Beweiſen eine ſehr wahrſcheinliche
Erklärung, welche der alten Annahme, die Viehzucht ſei der Jagd, der Ackerbau der
Viehzucht geſchichtlich und urſächlich gefolgt, ganz fehlt. Jäger ſind nirgends Vieh-
züchter geworden, wohl aber haben afrikaniſche und amerikaniſche Hackbauern die Haltung
des Rindviehes und anderer Tiere in hiſtoriſcher Zeit erlernt. Der Übergang der indo-
germaniſchen Völker, die halb Hirten, halb Ackerbauern waren, nach ihrer Wanderzeit
zum ſeßhaften Ackerbau beweiſt nicht, daß der wirkliche Nomade den Ackerbau mit Rind-
vieh und Pflug begründete. Die uns heute bekannten eigentlichen Nomaden, welche in
ganz anderer Weiſe Wandervölker ſind als die Indogermanen, die mongoliſchen Central-
aſiaten, haben nur ausnahmsweiſe Rindvieh, mit dem gar nicht ſo zu wandern iſt wie
[197]Die Tierzähmung. Die Nomadenwirtſchaft.
mit Ziegen und Schafen, den älteſten Nomadentieren, und mit Pferden, Eſeln, Maul-
tieren und Kamelen, welche für die ſpäteren Nomaden die wichtigſten Laſt- und Herden-
tiere wurden. Wie ſollen dieſe Nomaden das wenig bewegliche Rindvieh gezähmt haben,
das wahrſcheinlich viel früher als alle anderen größeren Nutztiere dem Menſchen diente?
Wenigſtens daß das Pferd erſt 2000—1700 unter den Hirtenkönigen nach Ägypten,
erſt in den Jahrhunderten nach Chriſti zu den Arabern, zu den Germanen erſt auf
ihren Wanderungen kam, ſteht feſt.
So ſpricht ſehr viel dafür, daß die Rindviehzucht vorderaſiatiſchen Stämmen in
ſehr früher Zeit gelang, daß ſie an ihrem Entſtehungsorte den eigentlichen Ackerbau im
Gegenſatze zum Hackbau erzeugte, daß die Tierzucht von da aus ſich verbreitete, teilweiſe
mit dem Ackerbau, teilweiſe ohne ihn, daß ſie je nach den benutzten und klimatiſch oder
ſonſt möglichen Tieren verſchiedene wirtſchaftliche Lebensformen nach und nach erzeugte.
Wir wollen, ehe wir den Ackerbau beſprechen, nur ein Wort vorausſchicken über die
mongoliſch-aſiatiſchen Nomadenvölker und deren Wirtſchafts- und Lebensweiſe; ſie erſcheinen
in den Lehrbüchern, z. B. bei Schönberg, Roſcher, Ratzel, als die eigentlich typiſchen
der wandernden Viehzüchter, der ſogenannten Nomaden. Die Rinderhirten Afrikas ſind
keine eigentlichen Nomaden, in Amerika iſt das Rind und das Pferd erſt mit den
Europäern eingezogen.
79. Die mongoliſche Nomadenwirtſchaft. Die nomadiſchen Mongolen-
ſtämme ſind Bewohner der Steppe, der Hochgebirge, der Hochebenen, der unwirtſchaft-
lichen Striche zwiſchen dem Ackerlande. Sie beſaßen urſprünglich, wie erwähnt, über-
wiegend die leichtbeweglichen Ziegen und Schafe, erſt ſpäter kam Pferd und Kamel dazu;
das Rind haben nur einzelne weniger bewegliche Stämme, und nicht in großer Zahl. Ihr
periodiſches Wandern in den ihnen eigenen Gebieten, wie ihr raſches, ſtoßartiges Vor-
dringen in neue Länder iſt die Folge des kargen Bodens, auf dem ſie ſitzen. Das Rind-
vieh iſt für dieſen Boden und dieſes häufige, raſche Wandern nicht recht brauchbar.
Den Uralaltaiern erſchienen die Indogermanen mit ihrem Rindvieh trotz ihrer zeitweiſen
Wanderungen als ſeßhafte Stämme. Dieſe wandernde Nomadenwirtſchaft konnte nur
entſtehen, nachdem die Viehzucht überhaupt in begünſtigteren Ländern, bei Ackerbauern,
ſich ausgebildet hatte; ſie kann heute nur beſtehen in der Nähe von Völkern höherer,
anderer Kultur, welche gegen tieriſche Produkte Mehl, Thee, Waffen, Werkzeuge liefern;
teilweiſe freilich treiben die Nomaden auch etwas Hack- oder Ackerbau.
Ganz überwiegend leben ſie von ihrer Viehwirtſchaft. Sie trinken die Milch und
das Blut, ſie eſſen das Fleiſch der Tiere; das Menſchenfleiſch iſt hierdurch verdrängt;
aus den Häuten fertigen ſie Kleider, Zelte, Sattel und Riemen, allerlei Hausgeräte.
Ihre Ernährung ſteht meiſt weit über der der Jäger, auch über der vieler Hackbauern,
nicht über der der viehzüchtenden Ackerbauern. Immer iſt ſie wechſelvoll; der Nomade
muß im Ertragen von Hunger und Durſt geübt ſein. Je nach Regen und Witterung,
Viehkrankheit und guten Jahren nehmen die Herden raſch ab und raſch zu. Die Be-
völkerung iſt meiſt ſtabil, oft künſtlich beſchränkt. Neben der Pflege und Wartung der
Tiere haben manche der Stämme allerlei häusliche und gewerbliche Künſte gelernt: die
Filzbereitung und der Zeltbau ſtehen teilweiſe auf hoher Stufe. Aber im ganzen wird ihr
Leben dadurch nicht beeinflußt; es iſt Jahrhunderte hindurch und länger ſtabil geblieben.
Fleiß und Arbeitſamkeit ſind wenig ausgebildet. Der Nomade, ſagt Ratzel, führt im
ganzen doch ſchlechte Wirtſchaft; „er verliert Zeit, opfert Kraft in nutzloſen Bewegungen
und verwüſtet nützliche Dinge“; das Weideland wird nicht verbeſſert, nicht geſchont,
nicht für die Zukunft gepflegt. Der Hirte iſt faul.
Aber er macht durch ſeinen Herdenbeſitz und ſeine Weide- und Wanderzüge gewiſſe
Fortſchritte in der geſellſchaftlichen Organiſation, ſowie im Handel, in der Kapital- und
Eigentumsausbildung.
Nicht alle Viehzüchter wandern, nicht alle Hirten ſind Nomaden. Aber die mon-
goliſchen ſind überwiegend in Bewegung, da ihre Weidereviere ohne ſolche Wanderungen
zu karg ſind. Immer haben die Stämme und die Geſchlechter zunächſt gewiſſe, im ganzen
abgegrenzte Gebiete, innerhalb deren ſie je nach ihrer Abweidung, je nach Sommer und
[198]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Winter, je nach Regen und Überſchwemmung hin und her wandern; aber gar leicht
ſind ſie genötigt, darüber hinaus zu greifen; die geſtiegene Menſchen- oder Viehzahl,
die Erſchöpfung des Bodens, die Viehraub- und Beutezüge treiben ſie zur Überſchreitung
ihrer Gebiete. Auf den Zügen bilden ſie eine kriegeriſche Wanderverfaſſung aus. Und
auch ihre Teile, die Geſchlechter und Genoſſenſchaften, löſen ſich des Schutzes und des
gemeinſamen Weidebetriebes wegen nie etwa ſo auf, wie es der erſchöpfte Boden an
ſich als wahrſcheinlich erſcheinen ließe. Die arabiſchen Stämme zerſtreuen ſich und ihre
Herden in dürrer Zeit ſo weit als möglich, aber vier Zelte bleiben mindeſtens zuſammen.
Das den einzelnen Familien oder Individuen gehörige Vieh wird ſtets in größern Herden
geweidet; das Jungvieh wird weiter weg getrieben, das Melkvieh in der Nähe der Zelte
und Hütten gelaſſen, die der Bewachung bedürfen. Auch die Kelten und Germanen lebten,
wie Meitzen wahrſcheinlich macht, zur Zeit ihrer überwiegenden Viehzucht in Viehweide-
genoſſenſchaften von 16 bis 100 Familien zu ſolchen Zwecken. So erwachſen gewiſſe
Bande des Stammes und der Genoſſenſchaft über der patriarchaliſch ausgebildeten
Familie, wenigſtens bei den ſtark wandernden und kämpfenden Nomaden.
Im Herdenbeſitz iſt ein wertvolles Kapital entſtanden, das durch Zufall, Beute,
Handel und gute Pflege ſich ſehr vermehren läßt, das andererſeits durch tauſend Gefahren
bedroht iſt. Alle Nomadenſtämme kennen ſchon den Gegenſatz von reich und arm; alle
neigen zu Handel und Verkehr, haben Rechentalent und Spekulationsſinn, haben Freie
und Knechte, wenn auch beide nicht durch ſehr verſchiedene Lebensweiſe getrennt ſind.
Die Wirtſchaftsweiſe giebt meiſt gute Ernährung, immer ſcharfe Sinne, perſönlichen
Mut, Entſchloſſenheit, körperliche Abhärtung; die ſeit undenklichen Zeiten vorhandene
Gleichförmigkeit des Lebens erzeugt eine gewiſſe Würde und Ruhe; ja die großen,
gleichmäßigen Eindrücke der Natur können religiös-fataliſtiſchen Sinn fördern. Doch iſt
es ganz falſch, alle höheren Religionen den Nomaden zuzuſchreiben. Wohl iſt Muhamed
ein halb kaufmänniſcher Hirte geweſen, der den Ackerbau verachtete und behauptete, mit
dem Pflugſchar komme die Schande ins Haus; und der Jahve der Juden am Sinai war
ein kriegeriſcher Hirtengott. Aber die indiſche Religion, der Gott der jüdiſchen Propheten,
das Chriſtentum ſind in Ackerbauländern mit ihrer höheren Kultur entſtanden. Die
pſychologiſch-ſittlichen Züge des Nomaden entſprechen ſeiner Lebensweiſe; er verachtet
den Dieb und verherrlicht den Räuber; er iſt gaſtfrei und grauſam, gerecht gegen den
Stammesgenoſſen, treulos, gewaltthätig und liſtig gegen Fremde; er iſt ein Frauen-
räuber, mißhandelt leicht die Frau, hat aber oft die patriarchaliſche Familienverfaſſung
ausbilden helfen; er iſt hochmütig auf ſeinen Beſitz, aber er behandelt ſeinen Knecht meiſt
nicht ſchlecht. Selbſtändigkeit des Charakters verbindet ſich oft mit geſellſchaftlicher Zucht
und Unterordnung. Alle Viehhaltung hat mehr die männlichen und kriegeriſchen Eigen-
ſchaften, Hack- und Ackerbau die weiblichen und friedlichen der Stämme befördert. Es
ſind den Nomaden Stammesbündniſſe, völkerrechtliche Verträge, Eroberungen und große
Staatsbildungen, ja die Bildung von Weltreichen — freilich mehr vorübergehend —
in der Regel früher und beſſer als den Hack- und Ackerbauern gelungen. Dieſe zerfallen
vor der Ausbildung komplizierter ſtaatlicher Verfaſſungen leicht in zahlreiche kleine
lokale ſociale Körper.
Doch darf nicht überſehen werden, daß auch überwiegende Ackerbauern oft kühne
Krieger und Staatsbildner waren. Noch mehr freilich haben die indogermaniſchen Völker,
welche wir nicht als Nomaden, höchſtens als Halbnomaden bezeichnen dürfen, wo ſie
ſich wegen Übervölkerung ſpalteten und Teile ihrer Stämme erobernd vorwärtsdrängten,
eine kräftige kriegeriſche Verfaſſung ausgebildet.
80. Der Ackerbau, den wir den niederen Formen des Bodenbaues, haupt-
ſächlich dem Hackbau, dem halbnomadiſchen und nomadiſchen wechſelnden Anbau einiger
Ackerſtellen mit Sommerfrüchten entgegenſetzen, begreift alſo, nach unſerer obigen Aus-
führung über ſeine Entſtehung, den im ganzen ſeßhaften Anbau von Gramineen und
anderen Früchten, der mit Haken und Pflug ausgeführt wird, mit Viehzucht verbunden
iſt. Es verſteht ſich, daß auch er verſchiedene Stadien der Entwickelung durchläuft,
vom Anbau einiger Prozente des Bodens bis zu 50, 80 und 100 Prozent, von der
[199]Die Nomaden. Die eigentlichen Ackerbauer.
mangelnden und vereinzelten bis zur ſtärkſten Düngung, von geringer zu ſtarker Vieh-
haltung, vom extenſiven Betrieb einer rohen Feldgraswirtſchaft bis zum intenſiven
Fruchtwechſel. Aber wir wollen zunächſt von dieſen Graden der Intenſivität, d. h. von
der Zunahme der Verwendung von Arbeit und Kapital auf dieſelbe Bodenfläche ab-
ſehen und im allgemeinen fragen, welche Bedeutung der Ackerbau überhaupt für die Ent-
wickelung der Technik und Kultur der Menſchen habe.
Wir ſehen es, wenn wir ihn und ſeine Folgen mit den Zuſtänden des Jägers, des
Nomaden und des Hackbauers vergleichen; der Hackbau hat freilich mancherlei Folgen mit
dem Ackerbau gemein, wie z. B. die Wirkung auf Fleiß und Anſtrengung, die Begünſtigung
des Seßhaftwerdens, der dichteren Bevölkerung, eines Anfanges der Arbeitsteilung und
der Feldgemeinſchaft. Aber er unterſcheidet ſich doch im weſentlichen von ihm: auch wenn
der hölzerne Haken, aus dem der Pflug entſtand, urſprünglich durch Mann und Frau
(conjux, conjugium) gezogen wurde, im ganzen wurde die tieriſche Kraft benützt und
damit der Boden ſehr viel leichter und tiefer gelockert. Die Benutzung der tieriſchen
Kräfte zum Anbau, zur Laſtenbeförderung, bald auch als Hülfsmittel für Göpel und
Triebrad bedeutet einen außerordentlichen Fortſchritt gegenüber der viel ſchwächeren
Menſchenkraft; ſie wurde gleichſam verdoppelt oder vervierfacht. Der Anbau wurde
aus einer bloßen Weiber- ziemlich allgemein Männerſache; größere Flächen wurden
beſtellt, ertragsreichere Früchte gebaut. Die bisherigen Gemüſe-, Knollen- und Wurzel-
eſſer erhielten mit Gerſte, Roggen und Weizen und den weiteren daran ſich ſchließenden
Früchten eine viel beſſere und ſicherere Ernährung. Die Erinnerung an den großen
Fortſchritt lebte im Altertum lebendig fort, wie z. B. Homer die älteſten Einwohner Ägyp-
tens, die ſich von Lotos und Bohnen nährten, vergleicht mit den ſtarken Männern,
welche die Früchte des Halmes genießen; jene hätten jedes Auftrags und jeder Pflicht
vergeſſen. Forſſac berechnete 1840, der Ackerbau nähre 20—30 mal ſo viel Menſchen
wie die Nomadie, dieſe 20 mal ſo viel wie die Jagd. Wir haben oben (S. 183) die
ſteigende Ernährungsmöglichkeit, welche der Ackerbau ſchafft, ſchon zahlenmäßig nach dem
Stande der heutigen Statiſtik belegt. Die Verbindung der Getreide-, Fleiſch- und
Milchnahrung erzeugt die kräftigſten Menſchen, iſt bis heute als die phyſiologiſch
günſtigſte angeſehen. Wenn auch Viehſterben und Mißernten noch lange große Gefahren
brachten, die Unſicherheit der Jäger-, Fiſcher- und Nomadenwirtſchaft war doch beſeitigt
und wich weiter in dem Maße, wie die Vielſeitigkeit des Anbaues verſchiedener Früchte
wuchs, die Vorratsſammlung ernſter genommen wurde.
Wie die erforderliche Arbeit ſich vermehrte, ſo ſteigerte ſich die Gewöhnung an
Arbeit, Umſicht, Beſonnenheit mit dem Ackerbau ſehr; das komplizierte Ineinandergreifen
der Viehhaltung und des Anbaues nötigten zu Plänen und Berechnungen aller Art,
zur Fürſorge für den Winter, für die Zukunft. Die Ackerwerkzeuge, der ganze Betrieb,
der Bau von Haus, Stall und Scheuer wurden komplizierter. Und all das ſteigerte
ſich noch ſehr, wenn der Anbau von Obſtbäumen, die Pflanzung des Wein- und
Olivenbaumes, die Terraſſierungsarbeiten, die Waſſerbenützung und die Waſſerbauten,
die Düngung hinzukamen. Die definitive Seßhaftigkeit war mit dem Hausbau, der
Bodenverteilung und -vermeſſung, dem beſſern Anbau für immer gegeben.
Aber nicht nur die Arbeit des einzelnen wurde eine ganz andere, nicht nur die
Hauswirtſchaft der Familie bildete ſich feiner als beim Hackbau aus, auch die gemein-
ſamen Arbeiten des Stammes, der Sippen, der zuſammen im Dorfe Wohnenden
ſteigerten ſich gegenüber den ähnlichen Einrichtungen beim Hackbau, teilweiſe auch gegen-
über denen der Nomaden. Da und dort entſtand gemeinſamer Anbau; oft wenigſtens
ſpannten zwei bis vier Familienväter ihre Ochſen bei ſchwerem Boden gemeinſam vor
den Pflug; die Dorfgenoſſen wohnten gemeinſam, bauten gemeinſam ihre Holzhäuſer,
hüteten gemeinſam ihr Vieh, legten ihre Ackerbeete und ihre Wege nach gemeinſamem Plane
an, verwalteten Wald und Weide gemeinſam: Flurzwang und Feldgemeinſchaft ſind die
weitverbreiteten genoſſenſchaftlichen Folgen erſt des Hack-, aber noch mehr des Ackerbaues.
Noch viel größer werden die gemeinſamen Arbeiten, wo die Waſſerzu- oder Ableitung eine
große Rolle ſpielt, wie in Ägypten und anderwärts; da wird der Ackerbau zu einer
[200]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
ganze Stämme und Staaten einheitlich verbindenden Einrichtung. Die Ausbildung
der Feldmeßkunſt, die Verſteinung der Felder wird bei jeder definitiven Landzuteilung
und allem geregelten Ackerbau eine wichtige genoſſenſchaftliche oder Staatsaufgabe.
Man hat geſagt, der Hackbau erzeuge Dörfer, der Ackerbau Städte. Jedenfalls
ging Ackerbau und Stadtbau vielfach im Altertum Hand in Hand, was wir in dem
Kapitel über Siedlung noch ſehen werden; die Ackerbauern der fruchtbaren Stromländer
ſchufen große Verteidigungswerke, in welche ganze Völkerſchaften ſich retten konnten.
Das Friedensbedürfnis der Ackerbauer iſt ein viel größeres als das der Hackbauern
und der Nomaden und wächſt mit dem Obſt- und Weinbau, mit dem ſteigenden Wert
aller Anlagen. Der Krieg mit den Nachbarn wurde ein anderer. Neben dem mög-
lichen Schutz durch Mauern, Waſſer, Kanäle ſucht der Ackerbauer durch Schutzwaffen,
Leder- und Metallkleidung, Schilde und Helme, aber auch durch beſſere und kompliziertere
Kriegsverfaſſung ſich gegen ſeine Feinde zu ſichern.
Das ganze geordnete geſellſchaftliche Leben der Kulturvölker ſteht mit dem Acker-
bau in Zuſammenhang. Die Alten, ſagt Roſcher, haben der Landbaugöttin Demeter
die Einführung der Ehe und der Geſetze beigelegt. Schäffle thut den Ausſpruch: „die
Einzel- und die Volksſeele kam erſt mit dem Übergang zum Ackerbau zu höherer Ver-
nunftsentwickelung.“
Man hat neuerdings darauf hingewieſen, daß man oft die wirtſchaftlichen, ſocialen
und geiſtigen Folgen des Ackerbaues überſchätzt habe, daß nur eine gewiſſe Entwickelung
des Ackerbaues, nämlich die mit Seßhaftigkeit, Hausbau ꝛc. verknüpfte, dieſe Folgen
habe. Das iſt richtig. Wir haben dem teilweiſe durch die Scheidung von Hackbau und
Ackerbau Rechnung getragen. Im übrigen könnten wir nur durch eine eingehende
wirtſchaftsgeſchichtliche Scheidung der verſchiedenen Stufen des Ackerbaues genauer feſt-
ſtellen, wann und wo dieſe günſtigen Folgen eintraten. Dazu iſt hier nicht der Raum.
Nur die wichtigſten Phaſen des agrariſchen Entwickelungsprozeſſes, wie er ſich in Europa
abſpielte, ſeien hier zum Schluſſe angedeutet.
Die Weidewirtſchaft oder wilde Feldgraswirtſchaft benutzt den Wald
und die Weiden nur zur Viehernährung, bricht an geeigneter Stelle kleine Stücke der
Weide zur Beackerung auf, baut da Buchweizen, Hirſe, Gerſte, Roggen zwei oder drei
Jahre hintereinander ohne Düngung, bis der Boden erſchöpft iſt; oft genügt als Saat,
was bei der Ernte ausfällt. Der erſchöpfte Boden wird verlaſſen, fliegt wieder als
Weide oder Wald an, anderer wird in Angriff genommen.
An eine ſolche Wirtſchaft haben wir auch für die ungetrennten Indogermanen zu
denken, die Gerſte bauten, Joch oder Pflug und feſte Holzhäuſer hatten. Auf der
Wanderung trat dann die Viehwirtſchaft mehr in den Vordergrund, aber der Ackerbau
hörte nicht auf; wir treffen ſogar bei dem europäiſchen Zweige der Indogermanen den
Weizen- und Spelzbau, bei den Germanen den Pflug mit eiſerner Schar, was nicht
ausſchließt, daß die Sueben zu Cäſars Zeit, in Vorwärtsbewegung begriffen, keine feſten
Wohnſitze hatten, erſt in den nun folgenden Jahrhunderten zur definitiven Seßhaftigkeit,
zu der Dorf-, Hufen- und Gewannenverfaſſung übergingen.
So entſtanden hier aus der wilden Feldgraswirtſchaft und Brennwirtſchaft nach und
nach die Feldſyſteme mit ewiger Weide. Unter der Brennwirtſchaft verſtehen
wir eine ſolche, welche einzelne Stücke Moor oder Wald zum Zwecke des Anbaues nieder-
brennt und eine Anzahl Jahre bebaut. Eine ſolche war in Deutſchland, Skandinavien,
Frankreich bis ins Mittelalter weit verbreitet, erforderte wegen der Brandgefahren Vorſicht
und geſellſchaftliche Ordnung und Überwachung. Im Gegenſatz zu dieſem Herumgehen
des Baulandes in der Flur, im Gut, in der Gegend ſteht die Ein-, Zwei-, Drei-
felderwirtſchaft, welche als ewiges Ackerland in der Nähe der Wohnungen urſprünglich
10—20 Prozente ausſondert, den Reſt als Wald und ewige Weide benutzt. Die Ein-
felderwirtſchaft bebaut jährlich mit Düngung dieſelben Flächen, die Zwei- und Dreifelder-
wirtſchaft bebaut abwechſelnd jährlich die Hälfte, ein oder zwei Drittel des Ackerlandes
und läßt das übrige als Brache ausruhen und als Viehweide dienen. Gedüngt wird
urſprünglich nur durch den Viehgang oder durch Überſchwemmung, wo Bewäſſerungs-
[201]Die Folgen des Ackerbaues, ſeine Stufen. Die Metallwerkzeuge.
anlagen ſind. Später wächſt dann das Ackerland auf Koſten des Waldes und der
Weide, aber die Einteilung des Ackerlandes in zwei oder drei Felder neben der Weide
erhält ſich in alter Weiſe. Das waren und blieben die vorherrſchenden ſüd- und
mitteleuropäiſchen Betriebsformen der Landwirtſchaft, die erſt im 18. und 19. Jahrhundert
den verbeſſerten, noch intenſiveren wichen, auf die wir unten kommen.
Wir haben damit weit vorgegriffen. Aber es entſprach das auch der ſo wichtigen
geſchichtlichen Thatſache, daß der Ausbildung des Ackerbaues, wie ſie nach der Vieh-
zähmung und der Pfluganwendung Jahrtauſende vor Chriſti in Vorderaſien gelang,
wohl bis in unſer Jahrhundert viele kleine Verbeſſerungen, aber keine ſie von Grund
aus ändernde techniſche Neuerung folgte, keine, welche die ganze Ernährung der Menſch-
heit weſentlich erleichtert, die Produktion ſehr vermehrt hätte. Konnte doch Ed. Hahn
deshalb noch neuerdings dieſe älteſten Fortſchritte des Landbaues verherrlichend ſagen:
„Wenn wir das Jahr in vier Jahreszeiten und zwölf Monate teilen, wenn wir das
Land pflügen und das Getreide hineinſäen, wenn wir Mehl mahlen und das Brot im
Ofen backen, wenn wir Milch und Wein trinken (wahrſcheinlich gehört auch das Bier
dazu) und Butter und Öl eſſen, ſo thun wir genau, was wir unſere geiſtigen Vor-
fahren im Unterlauf des Tigris und Euphrat thun ſehen, wenn das erſte blaſſe
Dämmerlicht der Geſchichte etwa 4000 v. Chr. auf ſie fällt. Alles was wir hinzu-
gefügt haben, betrifft doch nur das Ornament, die Grundlagen ſind dieſelben geblieben.“
Es mag dies übertrieben klingen, und iſt es auch in gewiſſem Sinne; es iſt nur für
die Ernährung wahr. Es iſt dabei von den Fortſchritten, welche die Metalltechnik
brachte, ſowie von den großen Verbeſſerungen ſeither im Verkehr und in den Gewerben
ganz abgeſehen.
81. Die Waffen und Werkzeuge aus Metall ſind jünger als Viehzucht
und Ackerbau. Pflug und Wagen, Kahn und Geſtell des Zeltes und der Hütte, Stiel
und Schaft der Steinwerkzeuge war ſehr lange nur von Holz. Und auch wo die
Metallbearbeitung begann oder Metallwerkzeuge und -Schmuckſtücke eindrangen, waren
ſie lange ſo ſelten und teuer, daß die Holz-, Stein- und Knochentechnik ſich nicht viel
änderte. Noch heute giebt es Gegenden in Europa, die faſt nur Holzverwendung kennen:
in der Herzegowina z. B. trafen die Öſterreicher 1878 Wagen ohne jeden Metallzuſatz.
Immer wollen wir nicht verſchweigen, daß der Ackerbau, wie er ſeit den Aſſyrern
und Ägyptern beſtand, und wie wir ihn eben betrachteten, von einer gewiſſen Metall-
technik meiſt ſchon gefördert war. Wenn wir jetzt dieſe beſprechen, ſchildern wir nicht etwa
eine Epoche, welche dem Ackerbau folgte, ſondern eine Entwickelung, die mit ſeinen
Anfängen beginnt und ihn begleitet und gefördert hat.
Mit Holz, Knochen und Stein haben gewiß einzelne Völker nicht Unbedeutendes
geleiſtet; aber die Metalltechnik bedeutet doch, wo ſie zur vollen Geltung kommt, einen
ungeheuren Fortſchritt, ähnlich dem Fortſchritt der Feuerverwendung; man hat ſie nicht
mit Unrecht dem heutigen Maſchinenfortſchritt gleichgeſtellt. Beck ſagt: erſt die Metall-
werkzeuge ſicherten die überlegene Herrſchaft der Menſchen auf Erden. Morgan meint:
die Eiſenproduktion iſt der Wendepunkt aller Wendepunkte in der menſchlichen Erfahrung;
nichts kommt ihm gleich. Schon für die älteſte Überlieferung der antiken Völker iſt
das Bekanntwerden der Metalle ein ungeheures, auf Götter oder Weltbrände zurück-
geführtes Ereignis.
Von den Metallen wurde wahrſcheinlich zuerſt das Gold gefunden und gebraucht;
es findet ſich in gediegenem Zuſtand an der Oberfläche und lockt durch ſeine Farbe;
aber es hat zuerſt, wie ſpäter, wohl nur zum Schmucke gedient. Es war zu Werkzeugen
zu weich und zu ſelten. Silber gehört einer viel ſpäteren Zeit an; es wird nicht als
reines Metall gefunden, iſt nur aus ſeinen Erzen herzuſtellen. Kupfer kommt da und
dort gediegen vor; es kann ohne Schmelzprozeß verarbeitet, gehämmert werden und hat
ſo bei einzelnen Stämmen, z. B. bei amerikaniſchen, wahrſcheinlich auch bei den
ungetrennten Indogermanen, die Rolle des erſten Metalls geſpielt. Viel wichtiger aber
wurde das Eiſen und die Legierung von Kupfer und Zinn, die echte oder antike Bronze.
[202]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Eiſen und Bronze ſind nur durch Schmelzprozeſſe aus den Erzen herzuſtellen. Die Erze
enthalten das Metall oxydiert, an Sauerſtoff gebunden und mit anderen Stoffen gemiſcht;
erſt der Schmelzprozeß ſtellt annähernd reines Metall her. Werkzeuge aus ſolchen ſetzen
alſo ſtets eine gewiſſe Naturkunde und größere Geſchicklichkeit voraus.
Darüber ob ein beſonderes Zeitalter der Bronzewaffen und -Werkzeuge anzunehmen,
das dem der eiſernen vorangegangen ſei, wird heute noch in einer ſehr umfangreichen
Litteratur eifrig geſtritten. Das Wahrſcheinlichſte iſt nach dem heutigen Stande der
archäologiſchen und techniſchen Forſchung (Beck, Blümner, Schrader), daß eine primitive
Herſtellung ſchlechter, roher Eiſenwerkzeuge ſo ziemlich überall das ältere war, weil die
Eiſenerze bei 700°C., die Kupfererze erſt bei 1100°C. ſchmelzen, und die Eiſenerze
überall verbreitet ſind, das zur Bronze nötige Zinn aber ſehr ſelten iſt; daß dann
aber einige der begabteſten Völker in Aſien, Europa und Amerika die vollkommene
Ausnützung der Kupfer- und Zinnlegierung erlernten und ſo unter Zurückdrängung der
ſchlechten und ſeltenen Eiſenwerkzeuge die bronzenen viele Jahrhunderte lang die vor-
herrſchende Rolle ſpielten. Die Bronze iſt ſchöner, leichter ſchmelzbar, hämmerbarer; ſie
roſtet nicht, jedes zerbrochene Stück iſt wieder brauchbar, ſie kann durch die verſchiedenen
Zinnzuſätze von 2 % bis zu 30 % beliebig hart oder weich gemacht werden; ihre Haupt-
verarbeitung bedarf keiner Heizvorrichtung. Und wenn die Bronzewerkzeuge zu den
großen Steinbauten der beginnenden Civiliſation nicht ausreichten, für die gewöhnlichen
Waffen, Werkzeuge, Schmuck- und Haushaltungsgegenſtände waren ſie gleich brauchbar,
ja teilweiſe brauchbarer als Eiſen. Der erſte Sitz einer großen Bronzeinduſtrie war
das ſemitiſche Weſtaſien; von da hat der Handel erſt die fertigen Produkte, ſpäter den
Rohſtoff und die Technik weit verbreitet. Die Griechen und die Etrusker waren die
Erben der phönikiſch-ſemitiſchen Bronzekunſt. Anderwärts hat die Bronzetechnik nicht
dieſelbe Rolle geſpielt. Die Eiſenbereitung hatte wahrſcheinlich bei den mongoliſch-
turaniſchen Stämmen, von welchen das erſte Eiſenvolk des Altertums, die Chalybäer
am ſchwarzen Meer ein Splitter ſind, zuerſt eine größere Bedeutung, kam von ihnen nach
China (2300 v. Chr. nachweisbar) wie zu den turaniſchen Iberern und Basken; die
Ägypter hatten ſie 3000 v. Chr. wahrſcheinlich mit dem Sitz in Äthiopien. Die
Kelten und Britannen ſind eiſenkundiger und -reicher als die Römer, welchen unter
Numa der Eiſenſchmied noch fehlt; die Kelten ſind die Begründer der noriſchen (ſteie-
riſchen) Eiſenbergwerke. Die germaniſchen Völker erſcheinen nach ihrer Trennung von den
anderen indogermaniſchen, nach Weſten ziehenden Völkern als ſchmiedekundig, aber erſt
die zwölf bis vierzehn Jahrhunderte nach Chr. dehnten die primitive Eiſengewinnung
bei ihnen nach und nach etwas weiter aus. Die großen Bauten Ägyptens, Aſſyriens
und ſpäter die Perus ſind ohne Eiſenwerkzeuge nicht denkbar. Im ganzen hat die
Mittelmeerkultur mehr durch die Bronze, haben die nordiſchen Völker mehr durch das
Eiſen die erſten Fortſchritte der Metalltechnik vollzogen, und inſofern geht eine ſüdliche
Epoche der Bronze der nördlichen des Eiſens hiſtoriſch voran.
Die älteſte, roheſte Eiſengewinnung aus zerkleinerten Erzen geſchah in offenen,
kleinen, mit Kohlen geheizten Öfen; das Ergebnis waren nur ſchwammige, unreine,
unſchmelzbare Eiſenſtücke, die Luppen, aus denen durch Rothämmern ganz ſchlechtes
Schmiedeeiſen entſtand. Das ſyſtematiſche Zerkleinern, Ausleſen und Unterſcheiden der
Erze, die Luftzuführung durch Blaſebälge (es waren urſprünglich zuſammengenähte
Ziegenfelle), die Zuſetzung von kieſelartigen Schmelzmitteln und das beſſere Hämmern
der niedergeſchmolzenen kleinen Luppen von ein oder ein paar Kilogramm waren die
großen Fortſchritte, die ſchon in der älteſten hiſtoriſchen Zeit ſich da erkennen laſſen, wo
beſonders günſtige Bedingungen das Eiſengewerbe förderten. Je nach der Auswahl der Erze,
der Hitze und der Luftzuführung und weiterer Behandlung erhielt man Stahl mit 0,6—1,5 %
oder Schmiedeeiſen mit 0,1—0,5 % Kohlenbeimiſchung, welche bei Griechen und Römern
ſchon unterſchieden werden. Immer war die Technik eine ſo unvollkommene und kleinliche,
daß man berechnet hat, mit ihr würde auch heute ein Centner Eiſen, der jetzt 3—5 Mark
koſtet, auf 170 zu ſtehen kommen. Vor dem 12.—13. Jahrhundert n. Chr. ſind erhebliche
weitere techniſche Fortſchritte nicht mehr erkennbar. Das Eiſen bleibt etwas Seltenes und
[203]Bronze- und Eiſengewinnung. Weſtaſiatiſche Technik.
Koſtbares: auf einem Gutshof Karls d. Gr. ſind zwei Äxte, zwei breite Hacken, zwei
Bohrer, ein Beil, ein Schnitzmeſſer.
Immer waren die Folgen ſchon ſehr große. Mit der Bronze- und Eiſenaxt, mit
der Säge und dem Bohrer war das Eindringen in den Urwald, die Rodung und
Baumfällung, der Haus-, Schiffs- und Brückenbau, mit dem eiſernen und ſtählernen
Meißel die Bearbeitung der Geſteine ganz anders möglich als früher. Die metallenen
Waffen erzeugten viel wirkſameren Angriff; das eiſerne Zeitalter der Stammes- und
Völkerkämpfe wird durch ſie herbeigeführt. Auch der beſſere Schmuck und die feinere
Verzierung der Kleidung und der Wohnung wird erſt mit feineren und mannigfaltigeren
Metallwerkzeugen möglich; die Metalle ſelbſt geben den Stoff für Nadeln, Ringe und
anderen Schmuck. Die Überlegenheit der Stämme und Familien, welche die Metall-
technik beſaßen, als Geheimnis bewahrten und überlieferten, mußte eine außerordentliche
werden. Der Urtypus des Gewerbsmannes entſteht: der Schmied; er tritt uns zuerſt
als Ariſtokrat und Zauberer, als Kenner aller Geheimniſſe der Natur, als Arzt, oft
auch als Muſiker, als Wirt, bei dem ſich alle verſammeln, als Händler, bei dem alle
tauſchen, entgegen. Aller Handel und Verkehr wurde mit der Metalltechnik, mit der
Verbreitung von Bronze-, Eiſen-, Gold- und Silberſtücken ein anderer. Metallſtücke
beſtimmter Form und Größe wurden das beliebteſte Tauſch- und Verkehrsmittel; Geld
und Münze iſt die Folge hiervon.
Im einzelnen iſt die Wirkung ſehr verſchieden, im ganzen iſt ſie kaum zu über-
ſchätzen; die ſämtlichen ſogenannten Halb- und Ganzkulturvölker von den Chineſen,
Sumeriern und Akkadiern, Ägyptern, Aſſyrern, Phönikern an ſind ohne Metalltechnik
nicht zu denken.
82. Die Technik der alten, weſtaſiatiſchen Völker. Mit der Vieh-
zucht, dem Ackerbau, ſowie mit den Metallwaffen und Werkzeugen waren für die
befähigtſten Raſſen unter günſtigen Naturbedingungen die Elemente des Wirtſchaftslebens
gegeben, welche in den zehntauſend Jahren v. Chr. zum erſtenmale ſeßhafte, wohl-
habende, teilweiſe ſchon nach Millionen zählende Völker und Staaten der Halbkultur
ſchufen. Es handelt ſich hauptſächlich um die Akkadier und Sumerier, die Aſſyrer und
Babylonier, die Ägypter und Phöniker, die Inder und Eranier (Perſer), deren wirtſchaft-
lich blühende Reiche in die Zeit von 5000 bis 500 v. Chr. fallen.
Drei große weitere techniſche Fortſchritte wurden von dieſen Völkern vollzogen:
1. beobachteten ihre Prieſter den Himmel und die Geſtirne, ſie teilten das Jahr in
Monate, ſchufen das Zahlenſyſtem und die Arithmetik, ein geordnetes Maß- und
Gewichtsſyſtem, die Schriftzeichen und die Schrift. Sie wurden damit die erſten
Begründer alles empiriſchen Wiſſens und aller Wiſſenſchaft, ſie führten damit zugleich
in alle Technik die Anfänge eines planvollen Entwerfens, einer mathematiſchen Genauig-
keit ein. 2. Eng verknüpft hiermit iſt der andere Fortſchritt der Technik, der dieſen
Völkern zu danken iſt: ſie begründeten alles eigentliche Bauweſen. Sie ſchufen die
erſten Steinbauten, die erſten großen Mauer- und Straßenbauten, die erſten großen
Waſſerbauten; ferner die erſten Wohnhäuſer und Tempel aus Stein, endlich die erſten
größeren Schiffe. Und im Zuſammenhang mit der Bronze- und Eiſentechnik und dem
Bauweſen ſchufen ſie 3., was damals mit in erſter Linie ſtand, eine hoch ſtehende
Kriegstechnik, komplizierte Kriegsmaſchinen, wie ſie vorher nicht exiſtiert hatten.
Wir können dieſe techniſchen Fortſchritte hier nicht alle im einzelnen ſchildern; nur
über den Hausbau und die hauswirtſchaftliche Technik einerſeits und die Technik großen
Stils, die in den Händen der ſocialen Gemeinſchaften lag, andererſeits möchten wir einige
Worte ſagen.
Jahrtauſende hindurch hatten die Menſchen Schutz gegen Witterung, Kälte und
Hitze, Regen und Wind wie gegen Feinde teils in bloßen Schutzdächern, teils in bienen-
korbartigen, mit Reiſig überdeckten Hütten, teils in Höhlen und überdeckten Erdlöchern
gefunden; das Wohnen in Zelten oder Wagen war dem gegenüber ſchon ein Fortſchritt.
Die erſten geſchloſſenen Räume waren ſehr klein, dunkel, ſchmutzig, oft von Menſchen
und Vieh gemeinſam benutzt; man mied ſie, ſoweit man konnte; das Leben ſpielte ſich
[204]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
noch faſt ganz im Freien ab; ſolche Wohnſtätten konnten keinen weſentlichen Einfluß
auf die Wirtſchaftsführung und Geſittung ausüben. Es waren meiſt Gebilde für einige
Tage oder Monate, ohne viel Wert, von den Frauen oder Knechten raſch hergeſtellt.
In unendlich vielen verſchiedenen Übergängen ging daraus in dem wald- und holzreichen
gemäßigten und nördlichen Klima das Holzhaus, das von der Axt des Mannes und
ſeiner Genoſſen hergeſtellt iſt, in den vorderaſiatiſchen Gebieten der Hamiten und
Semiten das Steinhaus hervor; beidesmal handelt es ſich um die Sicherung und
Umbauung des Herdes, um etwas größere Räume, um die Anordnung derſelben inner-
halb eines umſchloſſenen Gehöftes. Wir verfolgen hier zunächſt den nördlichen Holzbau
und ſeinen viel ſpäter erfolgten Übergang zum Steinbau nicht weiter, ebenſo wenig den
Einfluß der verſchiedenen Sippen- und Familienverfaſſung auf die Ausbildung des
Hauſes. Wir wollen nur hier ſchon das Wort Iherings, der Schritt vom Holz- zum
Steinbau ſei ein ungeheurer geweſen, nicht unwiderſprochen laſſen; Holzbau und Stein-
bau ſind zu einem großen Teil Folge verſchiedenen Bodens und Klimas; eine beſtimmte
Reihe der wichtigſten Wirkungen auf Wirtſchaft und Familie haben die Holz- wie die
Steinhäuſer gleichmäßig ausgeübt; reichere Gliederung der Räume iſt bei beiden mög-
lich. Auch Iherings Satz: das Brennen des erſten Ziegels ſei viel wichtiger geweſen
als der erſte Pflug, iſt wohl übertrieben, er enthält eine kaum anzuſtellende Vergleichung;
zwiſchen dem Holz- und Steinbau ſteht das Haus, das neben Holz, Lehm und Stroh
Fachwerk und getrocknete Luftziegel verwendet; ſchon deshalb iſt das Ziegelbrennen nicht
ſo epochemachend. Aber ſo viel iſt ſicher, daß der Bau mit gebrannten Ziegeln und
rohen, ſpäter behauenen Steinen den Haus- und allen anderen Bau zu etwas viel
Feſterem und Dauerhafterem, gegen Feuer beſſer Geſchütztem machte. Die Feſſelung an
den Boden wurde mit ihm eine andere, die Dauerhaftigkeit aller Zuſtände nahm zu,
die Teilung der Arbeit wurde nötiger, das techniſche Zuſammenwirken vieler wuchs,
die Befeſtigungskunſt, der Tempelbau, die Anwendung der Meßkunſt auf die Bauten
ſchloß ſich hauptſächlich an den Ziegel und den Stein an. Die Ausbildung der
techniſch vielſeitigen patriarchaliſchen Hauswirtſchaft mit Gartenbau, Obſt- und Wein-
bau knüpft noch mehr an den Stein- als an den Holzbau an. Die Verlegung einer
ſteigenden Zahl von techniſchen Vorgängen in geſchloſſene oder geſchützte Räume, die
Unterbringung des Viehes in Ställe, das Feuer auf dem Herd des Steinhauſes, der
geſicherte Schutz der Vorräte und der Werkzeuge, wie das Haus ſie gab, all’ das erhob
das wirtſchaftliche Familienleben zu beſſerer Ordnung, zu Nachhaltigkeit, zu Geſittung,
zur ausgiebigen Benutzung aller möglichen kleinen techniſchen Fortſchritte. Freilich war
das aſſyriſche Steinhaus in älteſter Zeit nicht viel mehr als eine kleine, lichtloſe Höhle,
ein Gewölbe von Backſtein oder Luftziegeln mit Asphaltüberzug über einem vertieften
Grunde; der Schutz gegen die Hitze war wohl der älteſte Zweck. Aber bald fügten ſich
mehrere ſolche Räume neben- und übereinander; flache Dächer zur Benützung der Abend-
kühle, offene Säulen gegen den innern Hof kamen hinzu; mit Licht und Luft wuchs
die innere Ausſtattung bei den Reichen. Neue große Aufgaben waren der Technik
geſtellt, als die Häuſer in Babylon, in Ägypten, in Tyrus und Sidon bereits drei-,
vier-, ja ſechsſtöckig wurden.
Können wir uns auch von der haus- und hofwirtſchaftlichen Technik, welche ſich
hier im Schoße der patriarchaliſchen, großen und kleinen Familien entwickelte, kaum
mehr ein ganz zutreffendes Bild machen, ſo viel ſteht doch wohl feſt, daß damals der
Typus der patriarchaliſchen Hauswirtſchaft entſtand, der als ſociale Lebensform ſich
drei Jahrtauſende erhielt, noch heute, wenn auch verändert und eingeſchränkt, beſteht.
Die Verbindung des Garten- und Ackerbaues mit der Hauswirtſchaft, die Vereinigung
des Mahlens, Kochens, Vorrathaltens mit der Wein-, Butter- und Käſebereitung mit der
Flachs-, Baumwolle- und Wolleverarbeitung, mit der Spinnerei, Weberei, Nähen im
Hauſe, die Ausgeſtaltung von Haus und Hof für die Unterkunft von Menſchen und
Vieh, von Vorräten aller Art, ihre Ausſtattung mit Schemeln, Stühlen, Schränken,
Betten, wie wir ſie ſchon in Ägypten treffen, all’ das erzeugte die hauswirtſchaftlichen
Tugenden, welche zuerſt die vorzugsweiſe im Hauſe thätigen Frauen beſaßen, und die
[205]Hausbau und Hauswirtſchaft. Älteſte Großtechnik.
Geſamttendenz der geſchloſſenen Hauswirtſchaft auf gute Verſorgung ihrer Glieder, auf
Eigenwirtſchaft, welche an andere Familien, an Gemeinde und Staat nur einige wenige
Überſchüſſe abgeben wollte und konnte.
Neben dieſer auf ſich geſtellten Hauswirtſchaft hat ſich freilich frühe in den
Mittelpunkten der aſiatiſchen Reiche, zumal in den Küſtenſtädten eine gewiſſe Berufs-
und Arbeitsteilung entwickelt. Wir treffen ſpecialiſierte Handwerker nicht bloß als
untere Glieder der Hauswirtſchaft, ſondern auch als zeitweiſe herangezogene Hülfsperſonen
derſelben und Warenverkäufer; wir wiſſen, daß Verkehr und Handel in Phönikien und
anderwärts ſich ausgebildet hatten. Wir hören von phönikiſchen Schiffen mit 20—50
Ruderern, mit Segeln, mit einer Faſſungskraft für 500 Menſchen, mit einer Bewegungs-
kraft von 24—30 Meilen in 24 Stunden. Die Griechen bewunderten die ſtrenge und
pünktliche Ordnung an Bord, die nur eine Folge hoher und vollendeter Technik ſein
konnte.
Aber doch nicht in Gewerbe und Handel tritt der größte techniſche Fortſchritt
jener vorderaſiatiſchen Reiche zu Tage, ſondern in den Gebieten, wo die Orts-, die
Stammes-, die Staatsgenoſſen zuſammenwirkten oder durch ſtarke Gewalten zum
Zuſammenwirken gezwungen wurden; hier erſt feierten die mathematiſchen und natur-
wiſſenſchaftlichen Fortſchritte jener Tage im Verteidigungs- und Kriegsweſen, im Mauer-,
Burgen-, Brücken-, Graben-, Gemeindehaus-, Markt-, Palaſt- und Tempelbau, in
Ciſternen, Brunnen und Waſſerleitungen, im Kanal-, Wege- und Hafenbau ihre größten
Triumphe. Hier ſpielte der Stein- und Gewölbebau ſowie die ausgebildete Metall-
technik eine ganz andere Rolle als in der Hauswirtſchaft. Was Gemeinden und engere
Verbände damals an Brunnenbau, Schutzbauten, gemeinſamem Ackerbau, Gemeindehäuſern,
Schiffsbau, der in älterer Zeit überall als Bezirks- und Genoſſenſchaftsſache erſcheint,
geleiſtet haben, können wir meiſt nicht mehr genau erkennen. Aber die Pyramiden und
die Nilregulierung, der Babyloniſche Mauerbau, die Tempelbauten aller dieſer Reiche,
ihre Schatzhäuſer, Arſenale und Königsbauten laſſen uns heute noch eine bis auf die
Neuzeit nach der Größe der Leiſtung kaum übertroffene Großtechnik erkennen, die um ſo
bewundernswerter erſcheint, je einfacher die techniſch angewandten Hülfsmittel waren.
Sie verdanken nicht privatem Unternehmungsgeiſt und Gewinnabſichten ihren Urſprung.
Kleine prieſterliche und kriegeriſche Ariſtokratien und despotiſche Königsgewalten haben
ſie geſchaffen, konnten ſie nur ſchaffen als die auserleſenen Träger und Führer des
techniſchen Fortſchrittes und als die uneingeſchränkten Gebieter über große beherrſchte
Maſſen von Sklaven, unterworfenen fremden Völkern und zu harter Fronarbeit gezwungenen
Volksgenoſſen. Kirchliche, militäriſche, techniſche Schulung durch lange Zeiträume
hindurch, ſtabile Geſellſchaftsordnungen für Jahrhunderte einerſeits, furchtbare Knechtung
und Mißhandlung der Menſchen andererſeits waren die Vorausſetzungen.
Wir werden ſo ſagen können: die Grundformen der Familien- und Hauswirtſchaft,
des kleinen Bauernbetriebes, auch die Anfänge des lokalen Kundenhandwerks, des
Handels, des Marktverkehrs ſeien im Zuſammenhange dieſer weſtaſiatiſchen Technik ebenſo
entſtanden, wie die erſten Ergebniſſe einer ſtaatlichen Großtechnik. Dieſe Formen hätten
ſich auf Grund ähnlicher techniſcher Vorbedingungen und nachbarlicher Berührung in
dieſen verſchiedenen aſiatiſchen Reichen ähnlich entwickelt. Aber daneben ſeien damals
wie ſpäter die Reſultate der volkswirtſchaftlichen Geſtaltung doch ſehr weit auseinander-
gegangen, weil Natur- und Raſſenverhältniſſe, geiſtige und moraliſche Geſittung und
ſociale Entwickelung die ähnlichen techniſchen Bauſteine zu verſchiedener Verwendung
brachten.
83. Die griechiſch-römiſche, die arabiſche und die mittelalterlich-
abendländiſche Technik bis in die letzten Jahrhunderte. Die relativ hoch
entwickelte kriegeriſche, adminiſtrative und wirtſchaftliche Technik der aſiatiſchen Völker,
einſchließlich Ägyptens, hat ebenſowenig als die vorangeſchrittene Verkehrs- und Handels-
technik der Phöniker und ihrer Tochterſtaaten verhindert, daß ihre teilweiſe Jahrtauſende,
teilweiſe Jahrhunderte währende Blüte zerfiel, und die Führung der Menſchheit auf
andere, in ihrer Technik zunächſt weit zurückgebliebene Raſſen und Völker überging.
[206]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Die Urſache kann doch wohl nur die ſein, daß die Höhe der Technik nicht allein die
Kraft der Völker beſtimmt, ja daß große techniſche Fortſchritte zwar zunächſt die Ver-
teidigungs- und Angriffsfähigkeit ſowie den Wohlſtand fördern, die äußern Mittel für
alle Kulturgebiete vermehren, aber zugleich ſehr viel höhere, oft nicht ſofort oder über-
haupt von den Betreffenden nicht erfüllbare politiſch-moraliſche und ſociale Aufgaben
ſtellen. Die führenden Kreiſe degenerieren leicht durch Habſucht und Genußſucht, die
geführten nehmen am Fortſchritt nicht teil, degenerieren durch Knechtung und harten
Druck; die Harmonie der Geſellſchaft und das innere Gleichgewicht der Individuen
leidet; erſt die höhern moraliſchen und geiſtigen, dann auch die ſocialen und politiſchen
Eigenſchaften, welche für die dauernde Behauptung und Steigerung der höheren Technik
nötig wären, fehlen; die Fortſchritte auf dem Gebiete der höheren, der ſittlichen Zweck-
mäßigkeit werden nicht gemacht, die rechten Inſtitutionen im Innern und nach außen
werden nicht gefunden. Innere und äußere Kämpfe zerſtören die Staaten und ihren
Wohlſtand trotz hoher Technik.
So wird es begreiflich, daß der erſten großen Blütezeit aſiatiſcher Technik eine
Epoche des überwiegenden techniſchen Stillſtandes von etwa 2500 Jahren folgte, in
welcher die Griechen und Römer, die Araber und die abendländiſchen Indogermanen
langſam die aſiatiſch-ägyptiſche Technik ſich aneigneten, ohne zunächſt ſchöpferiſch die
Mittel und Methoden derſelben weſentlich zu fördern. Und doch haben ſie in anderem
Klima, auf anderem Boden mit ihrer anderen Raſſen-, ihrer anderen geiſtig-moraliſchen
Entwickelung eine höhere Staaten- und Kulturwelt, andere und beſſere ſociale und
volkswirtſchaftliche Inſtitutionen geſchaffen, auch die Technik in ihrer Art in vielem
einzelnen und noch mehr ihre Vorausſetzungen, die Förderung der Naturerkenntnis
und die Steigerung und Verbreitung der techniſchen Fertigkeiten ſo weiter gebildet,
daß vom 14. und 15. Jahrhundert an ſchon ein gewiſſer Aufſchwung und vom
Ende des 18. eine neue große ſchöpferiſche Epoche des techniſchen Fortſchrittes ein-
treten konnte.
Ein gewiſſer Rückgang oder Stillſtand der Technik war ſchon mit den großen
Kriegen und Eroberungen, ihren Zerſtörungen, mit den großen Wanderungen und
Völkerverſchiebungen gegeben, welche jedesmal vorausgehen mußten, ehe die neue
griechiſche, helleniſtiſche, römiſche, arabiſche und abendländiſche Kulturwelt ſich konſolidieren
konnte. Ein halbes, ja ein ganzes Jahrtauſend brauchten die jugendlichen Völker, bis
ſie nur aus wandernden Halbnomaden ohne Städte zum ſeßhaften Ackerbau, zur ſtädti-
ſchen Kultur, zum Steinbau, zu den Anfängen des Handels und Verkehrs kamen. Sie
haben teils durch ihre Stammesart und Begabung, teils durch die Wirkung ihrer
Lehrmeiſter dieſe Fortſchritte vielfach in ſehr viel kürzerer Zeit gemacht als ihre
aſiatiſchen Vorgänger. Andererſeits hat der Volkscharakter und das Chriſtentum, haben
die großen mitteleuropäiſchen agrariſchen Flächen die techniſch-geldwirtſchaftliche Ent-
wickelung der nördlichen Völker gegenüber den Vorderaſiaten, den Griechen und Römern
verlangſamt. Jedenfalls iſt die Thatſache lehrreich, daß die ſämtlichen hier zuſammen-
gefaßten Kulturreiche die Erben der vorderaſiatiſchen Technik waren, daß ſie auf der
einen Seite in gewiſſen großen Zügen eine unter ſich und mit ihren Vorgängern
übereinſtimmende Technik haben und auf der andern Seite eine ſo verſchiedene Kultur
und ſo verſchiedene ſociale und volkswirtſchaftliche Inſtitutionen erzeugten.
Die Griechen empfingen von den Phönikern die Bronzewerkzeuge und gewerb-
lichen Künſte, die Schrift- und die Zahlenkunde, den Stein- und den Bergbau, die
Verkehrstechnik und den Schiffsbau. In ihren raſch ausgebildeten kleinen Republiken
ſchufen ſie eine Blüte der Kunſt, der Wiſſenſchaft, der freien Verfaſſungsform,
die weit über den Leiſtungen des Orients ſtand und für alle Folgezeit die Muſter-
bilder der Kultur und des geſellſchaftlichen Lebens wurden. In den großen helle-
niſtiſchen Reichen, die Alexander teils ſchuf teils vorbereitete, verſchmolz griechiſche
und aſiatiſche Kultur; erhebliche techniſche und wiſſenſchaftliche Fortſchritte knüpften
ſich daran an, aber doch keine eigentliche Neugeſtaltung des techniſch-wirtſchaftlichen
Lebens.
[207]Die europäiſchen Völker als Erben der weſtaſiatiſchen Technik.
Die Römer wurden durch die Etrusker die Erben der phönikiſchen, durch die
unteritaliſchen Kolonien die der griechiſchen Technik. Sie haben mit ihrem praktiſch-
verſtändigen Sinn auch techniſch Bedeutſames geleiſtet; ſie haben ſich teilweiſe zu
einer Großtechnik erhoben, welche die aſiatiſch-ägyptiſchen Leiſtungen übertraf; ſo im
Stein- und Gewölbebau, im Straßen- und Waſſerbau. Die Waſſerverſorgung Roms,
ſagte Reuleaux 1871, war im erſten Jahrhundert nach Chr. ſo, daß die Stadt täglich
60 Millionen Kubikfuß Waſſer erhielt, dreimal ſo viel wie heute das achtmal größere
London. Es war auch nicht bloß Gemeinde und Staat, die in der Technik ſo Großes
leiſteten, die privaten Unternehmer, die Handelsgeſellſchaften ſind im Handel, dem
Bergbau, der Landwirtſchaft, den Gewerben faſt ſchon ſo thätig geweſen, haben gerade
auch techniſch ähnliche Verdienſte gehabt wie die Leiter der heutigen Großinduſtrie.
Aber dieſe ſämtlichen techniſchen Leiſtungen beruhen doch weniger auf neuen techniſchen
Methoden, als auf der organiſatoriſch-adminiſtrativen und kriegeriſchen Fähigkeit des
Volkes, ſeinem rechts- und ſtaatsbildenden Sinne, ſeiner Kunſt, unterworfene Völker zu
regieren, zu nützen und doch zu erziehen, auf der Weltherrſchaft, die für Jahrhunderte
einen Frieden und eine ungeſtörte Handelsmöglichkeit von Cadix bis Indien, von der
Sahara bis Britannien ſchuf.
Die arabiſchen Reiche haben die ägyptiſch-helleniſtiſche, wie die perſiſche, die
babyloniſche und die römiſche Technik geerbt, ſie haben mit der Zähigkeit der Semiten
daneben ihre Eigenart bewahrt, auf Grund ihrer kriegeriſchen Eroberungen raſch eine
hohe Kultur erzeugt. Sie wurden, ſagt A. v. Humboldt, die Begründer der phyſikaliſchen
Wiſſenſchaften, ſie brachten es zu einem Erforſchen und Meſſen der Naturkräfte, haben
vor allem die Chemie gefördert, durch ihre Reiſen die Geographie begründet. Man ver-
dankt ihnen viele einzelne mathematiſche und techniſche Fortſchritte: die Bereitung des
Alkohols, den Kompaß, die Schnellwage, die Kunſt, Baumwollpapier zu machen; ebenſo
die Einbürgerung der Citrone, der Pomeranze, des Safran, der Baumwollſtaude, des
Zuckerrohres, der Seidenraupe an den Mittelmeergeſtaden. Aber ſie blieben doch mehr
ein Ausläufer der antiken Technik und Kultur, ihre Fortſchritte ſchufen keine neuen Formen
der Volkswirtſchaft, ſie vermittelten mehr dem Abendlande allerlei kleine Künſte, ſo z. B.
auch ihre Kaufmanns- und Hafenpraxis. Der Einbruch der Turkotataren vernichtete den
größeren Teil ihrer Kultur und damit vieles, was von den Reſten der großen aſiatiſchen
Vergangenheit bisher noch ſich im Oſten erhalten hatte.
Die Völkerwanderung in Weſteuropa hatte ſeiner Zeit ähnlich zerſtörend gewirkt,
aber die neuen Nationen der Italiener, Spanier, Franzoſen, Engländer
und Deutſchen, welche ſich von 500—1500 n. Chr. bildeten, waren gegenüber den
Turkotataren eine ſehr viel höher ſtehende Raſſe, ſie waren ganz anders fähig, Chriſten-
tum, antike Geſittung und überlieferte Inſtitutionen, auch raſch gewiſſe techniſche Fertig-
keiten ihrer ſüdlichen Nachbarn bei ſich heimiſch zu machen. Sie erwuchſen teils direkt
auf dem Boden der antiken Kultur, teils empfingen ſie in Krieg und Frieden Jahr-
hunderte lang die Anregungen von ihr, ſtanden dann ein Jahrtauſend unter der Herr-
ſchaft der römiſchen Kirche, welche römiſch-ſtädtiſche Technik repräſentierte und verbreitete.
Ammianus Marcellinus ſagt von den allemanniſchen Grenzdörfern des 4. Jahrhunderts
ſchon, ſie glichen den römiſchen. Schrift-, Geld- und Marktweſen, Handelsformen,
gewerbliche Technik erhielten ſich in den romaniſchen Ländern, drangen in die germa-
niſchen überall hin, wo die Kirche und die romaniſierten oberen Klaſſen größeren Einfluß
hatten. Aber Geiſt und Geſittung, Familienleben und bäuerliche Wirtſchaft blieben in der
Maſſe des Volkes germaniſch; letztere änderten ſich auch ſeit den Umwandlungen zur
Seßhaftigkeit und zur Dreifelderwirtſchaft doch nicht von Grund aus, — und zwar gilt
dies auch für die Zeit von 1400—1800. Die deutſchen Städte glichen noch im 12. und
13. Jahrhundert faſt großen Dörfern, die Häuſer waren damals noch zum großen Teil Lehm-,
Holz- und Fachwerksbaracken, die man zu der fahrenden Habe rechnete, zur Strafe nieder-
legte. Der Steinbau der Kirchen war bis ins 11. Jahrhundert Sache italieniſcher Arbeiter
(opus italicum) oder der Kleriker. Erſt im 15. und 16. Jahrhundert entſtehen, beſonders
an den Straßenecken, um die Brände aufzuhalten, und in Patricierhänden ſteinerne
[208]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Privathäuſer, werden Glasfenſter üblich, ſowie die Beheizung durch Öfen. Von Straßen-
bau war keine Rede; der Verkehr war auf das Waſſer, im übrigen auf die nächſte
Umgebung beſchränkt; nur wenige ſehr wertvolle Waren konnten größere Wege zurück-
legen. Immer aber hatte die handwerksmäßige Technik der Städte zuerſt in Italien, ſpäter
im Norden große Fortſchritte vom 11.—17. Jahrhundert gemacht. Es hatte ſich in dieſer
Kleintechnik eine teilweiſe direkt mit dem Altertum zuſammenhängende Virtuoſität und
Meiſterſchaft in den Bauhütten, den Seiden- und Tuchwebereien Italiens und Mittel-
europas, in den Glas- und Moſaikwerkſtätten Venedigs, bei den Holzſchnitz- und
Schmiedearbeiten Deutſchlands ausgebildet, die aber auf perſönlicher Erziehung und
Überlieferung in engen Kreiſen beruhte, hohe Kunſt-, aber keine durchſchlagenden und
großen wirtſchaftlichen Leiſtungen erzeugte.
So blieb die techniſche Signatur der europäiſchen Staaten vom 12.—18. Jahr-
hundert in vieler Beziehung hinter der antiken zurück; ſie hatten keine Großtechnik, keinen
Straßenbau, keine Großſtädte, keinen Großhandel wie jene; ſoweit ſie im einzelnen
techniſch höheres leiſteten, war es zu beſchränkt, um die ganze Volkswirtſchaft um-
zugeſtalten; wir kommen auf die wichtigſten dieſer Fortſchritte gleich. Der techniſche
Geſamtaufbau der Geſellſchaft war ein ähnlicher wie im Altertum: die Familienwirtſchaft,
der kleinbäuerliche und Kleinhandwerksbetrieb, der lokale Markt, der Gegenſatz von Stadt
und Land, die Arbeitsteilung und ſociale Gliederung zeigen ähnliche Grundzüge. Aber
freilich erhalten ſie durch den germaniſch-chriſtlichen Geiſt, durch die veränderten Sitten
und Lebensauffaſſung, durch die großen agrariſchen Flächenſtaaten Mitteleuropas im
Gegenſatze zu Vorderaſien und den Mittelmeerküſten, durch die höher ſtehenden Inſtitutionen
einen weſentlich anderen, geſünderen, ſittlich harmoniſcheren Charakter.
Der langſame techniſche Fortſchritt, den wir eben meinten, bezieht ſich 1. auf die
Benutzung der Waſſerkraft und das Mühlenweſen, 2. auf das Eiſengewerbe und die
Feuerbenutzung und 3. auf die Handelstechnik.
So lange der Menſch auf ſeine und ſeiner Haustiere Kraft für alle Bewegung
angewieſen war, mußte man entweder auf alle großen wirtſchaftlichen Leiſtungen ver-
zichten, oder für die Zuſammenbringung und -Wirkung großer Mengen von Menſchen
und Tieren mit enormen Koſten und Schwierigkeiten, wie beim Pyramidenbau und in
den antiken Bergwerken ſorgen; das ſchädliche Waſſer in dieſen z. B. wurde im Alter-
tume und bei den Chineſen mit Schöpfeimern herausgeſchafft. Schöpfräder, von Menſchen
und Tieren getreten, die in oben ſich entleerenden Käſtchen das Waſſer hoben, kannte
man ſchon in Babylon und Ägypten; Vitruv beſchreibt dann ſolche Heberäder, deren
Schaufeln zugleich durch das Waſſer getrieben wurden. Für das mühſelige Geſchäft
des Mahlens hatte das ganze Altertum und ein großer Teil des Mittelalters nur
die Handmühle; in Oſtpreußen war ſie im vorigen und noch im Anfange dieſes Jahr-
hunderts weit verbreitet. Man rechnete im ganzen, daß eine Perſon ſo täglich für 25
andere das Mehl bereiten könne; im Palaſt des Odyſſeus ſind zwölf Sklaven damit
beſchäftigt. Man hat dann zuerſt die Mühlſteine durch Eſel bewegt. Unter Mithridates
tritt die Waſſermühle uns zuerſt entgegen; unter Auguſtus iſt ſie für die großen
öffentlichen Mühlen in Anwendung, für das übrige Publikum erſt unter Honorius und
Arkadus. Im 4. Jahrhunderte werden Mahl- und Marmormühlen an der Moſel
erwähnt, im Fluſſe verankerte Schiffsmühlen unter Beliſar. Auch die Franken haben
zur Zeit ihrer Geſetzbücher ſchon einfache Waſſermühlen, die neben der Schmiede als
öffentliche Gebäude erwähnt werden. Die Ordnung des Waſſerlaufes, Damm,
Schleuſe, auch die koſtbaren Eiſenteile am Mühlſteine weiſen, ſagt Lamprecht, auf Er-
richtung durch die Dorfgenoſſenſchaft hin; erſt viel ſpäter begegnen uns grundherrliche
und ſonſt als privates Eigentum beſeſſene Waſſermühlen.
Immer ſcheint ein eigentlicher Fortſchritt, eine weite Verbreitung der Waſſer-
mühlen in Deutſchland erſt in die Zeit vom 13. Jahrhundert an zu fallen. Das
Walken der Tuche beſorgten im Altertume und im älteren Mittelalter noch die Füße
der Walker; große Walkerzünfte exiſtierten; tauſende von Walkern mußten mit der
Verbreitung der Walkmühle im 13.—14. Jahrhundert überflüſſig werden. Die Wind-
[209]Die Technik des 13.—17. Jahrhunderts. Mühlenweſen und Eiſenbereitung.
mühlen ſcheinen ebenfalls in dieſe Epochen zu fallen. Anſchaulich ſchildert uns W. Arnold,
wie Klöſter und Städte für den Waſſermühlenbau damals thätig waren. Die Erfindung
der Holzſägemühlen ſetzt Beck in den Anfang des 14. Jahrhunderts, ihre Verbreitung
ins folgende.
Ebenſo wichtig war aber die Verwendung der Waſſerkraft im 14. und
15. Jahrhundert für den Bergbau; ſie mußte ihn wie die ganze Metallurgie nach
und nach umgeſtalten. Die Entſtehung der durch Waſſer getriebenen Pochwerke zum
Zerkleinern der Erze an Stelle des Zerſtoßens in Mörſern, die Bewegung des Blaſe-
balges am Erzſchmelzherde, der nun eine ganz andere Hitze erzeugte, die Hebung des
überflüſſigen Waſſers im Bergwerke und die Bewegung der viel größer werdenden
Hämmer durch die Kraft des Waſſerrades, das waren die großen techniſchen Errungen-
ſchaften, welche hauptſächlich dem 15. und 16. Jahrhunderte und Deutſchland angehörten.
Die Blüte des deutſchen Bergbaues und der deutſchen Eiſengewerbe war ebenſo die
Folge wie die gleich zu beſprechende Arbeitsteilung und Betriebsvergrößerung der Berg-
und Hüttenwerke. Das Ausziehen des Drahtes an Stelle des Hämmerns gehört dem
14. Jahrhundert an und führt bald auch zur Benutzung der Waſſerkraft; die Papier-
und die Ölmühlen folgten demnächſt. Da mehr und mehr alle erheblichen gewerblichen
Anſtalten die Waſſerkraft benutzten, ſo konnte dann in England der Gebrauch entſtehen,
ſie alle als „Mühlen“ zu bezeichnen.
Die älteſte, unvollkommenſte Eiſenherſtellung durch Schmelzen der Erze,
welche je nach der Güte 20—75 % Eiſengehalt haben, und durch nachträgliches Häm-
mern und Ausſchweißen in weiteren Feuern haben wir oben kennen gelernt. Die Öfen
des Altertums und älteren Mittelalters haben wir uns als offene Herdfeuer, 1—2 Fuß
tief, 2—3 Fuß im Quadrat, zu denken; noch Ende des vorigen Jahrhunderts traf man
ſolche in Spanien, im Meiningſchen, in der Oberpfalz; ſie gaben je in ein paar Stunden
Eiſenluppen von einigen bis 15—20 Kilogramm. Dem gegenüber waren gemauerte
ſogenannte Stücköfen 6—8 Fuß hoch, welche in 8—10 Stunden Luppen von einigen
Centnern mit erheblicher Kohlenerſparung und einer viel höheren Ausbringung des Eiſen-
gehaltes aus den Erzen lieferten, ein erheblicher Fortſchritt. Sie ſollen in Steiermark ſchon
im frühen Mittelalter beſtanden haben, verbreiteten ſich im ſpäteren und erhielten ſich
bis über 1800 in manchen europäiſchen Kulturländern (z. B. in Schmalkalden bis
1847). Aus der Vergrößerung der Stücköfen gingen im 15. und 16. Jahrhundert in
Steiermark und anderen deutſchen Gegenden die erſten ſogenannten Hochöfen, 12—18 Fuß
hoch, am Boden 2½′, dann am ſogenannten Kohlenſack 4′ 2″ und oben an der Gicht
1½′ weit, hervor. Die nun ſtatt von Menſchen und Tieren mit Waſſer bewegten ver-
größerten Blaſebälge gaben eine größere Hitze, das feſtere Mauerwerk hielt ſie beſſer
zuſammen: man erhielt viel größere Luppen und daneben zum erſtenmale flüſſiges Roh-
eiſen, was bisher überhaupt nicht herzuſtellen war. Es iſt ſpröder und härter, hat mehr
Kohlenbeimiſchung (1,8—5 %) als das Schmiedeeiſen und der Stahl. Einzelne der
großen Öfen ſtellten bald nur noch Roheiſen her, das dann auf Löſch- und Friſchherden
entkohlt, d. h. in Stahl- und Schmiedeeiſen umgewandelt wurde; andere erzeugten ab-
laufendes Roheiſen und Luppen nebeneinander; die erſtere Methode führte ſchon im
16. Jahrhundert zu unterbrochenen Prozeſſen von 8—25 Wochen. Das indirekt aus
Gußeiſen durch den Friſchprozeß hergeſtellte Schmiedeeiſen war gleichmäßiger und beſſer
als das alte, aus den Luppen der Stücköfen erhämmerte. Andererſeits taugten für
beſtimmte Zwecke die Gußwaren beſſer: für Öfen, Amboſſe, Kugeln, Kanonen, Kochtöpfe
fand das Gußeiſen eine ſteigende Anwendung.
Die Eiſenverwendung nahm zu, und die Eiſenſchmelz- und Verarbeitungsgewerbe
veränderten ihren Standort, ihre Organiſation; die Teilung der Arbeitsprozeſſe wurde
eine andere. Die älteſte Einheit des kleinen, irgendwo im Walde angeſiedelten Eiſenerz-
ſchmelzers, der zugleich als Schmied ſein Rohprodukt verarbeitete, war zwar längſt auf-
gelöſt, aber noch waren die meiſten Schmelzhütten klein und im Walde — der Holz-
kohlen wegen — zerſtreut. Mit der Möglichkeit, durch Waſſerkraft mehr und billigeres
Eiſen herzuſtellen, entſtanden größere Schmelzen an den Waſſergefällen und Thalrändern.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 14
[210]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Mit ihren Waſſerrädern, Pochwerken, Gießeinrichtungen, Friſchöfen, vergrößerten
Hämmern wurden ſie da und dort, in Steiermark, am Rhein, in Sachſen, am Harz,
ſchon zu fabrikartigen Hüttenbetrieben. Deutſche Hüttenmeiſter brachten die neue, in
ihrer Familie wohlgehütete Technik und die entſprechenden Einrichtungen von 1600 bis
1700 auch nach Schweden und England. Vielfach löſte ſich bald ein Teil der techniſchen
Operationen los zu eigenen Geſchäften: der Friſchprozeß und das Aushämmern ging
auf beſondere Hammerwerke, Zain-, Reck-, Raffinierhämmer über, nahm teils den
Hütten ihre ſpäteren, teils den ſtädtiſchen Schmieden ihre erſten Prozeduren ab. Die
Loslöſung geſchah teils der Waſſerkraft wegen, teils um in die Nähe der Kunden zu
kommen. Der Stadt- und Klingenſchmied hatte vielfach bisher das eigentliche Aus-
hämmern und Schmieden beſorgen müſſen, ehe er aus dem ſchlechten Rohſtoff der Hütte
Panzerplatten, Senſen, Schwerter und Meſſer herſtellte. In Solingen erzeugte es im
17. Jahrhundert einen großen Aufſchwung, als die beſonderen Reckhämmer dem Klingen-
ſchmied einen beſſeren Stahl lieferten, wie er ihn bisher ſelbſt gemacht hatte. Auch die
Herſtellung des Eiſenguſſes löſte ſich mannigfach von den Hütten: ſtädtiſche und ſtaat-
liche Gießhäuſer entſtanden da und dort im 16. Jahrhundert.
Es waren mit dieſen Verbeſſerungen der Eiſentechnik erhebliche Erfolge erzielt:
die Draht-, die Blech-, die Nägelerzeugung gehört dieſer Epoche an; das Schmiede- und
Schloſſerhandwerk erblühte erſt in Italien, ſpäter in Deutſchland zu nie bisher erreichtem
Glanze; die Waffentechnik war zur Kunſt geworden. Und die Verbreitung des Pulvers
ſtellte neben Schild, Harniſch und Lanze die Büchſe und Kanone, deren Herſtellung
neue Gewerbe erzeugte. Die ganze Kriegstechnik und Militärverfaſſung begann ſich unter
dem Einfluſſe des Pulvers und der neuen Waffen zu ändern: das Fußvolk vertauſchte
freilich erſt 1600—1700 allgemein die Lanze mit der Flinte. Auch im Holz- und
Steinbau nahm die Eiſenverwendung zu; nie hatte das Altertum eine ſolche Verwendung
geſehen, obwohl ſie auch jetzt ſicher nirgends 0,5—2 kg jährlich pro Kopf überſtieg.
Neben den Hüttenwerken und Bergwerken vergrößerten ſich die Salinen. Die Anfänge
des Großbetriebes mit 20, 50 und mehr Arbeitern ſind zu beobachten. Aber in der
Hauptſache erhält ſich doch der handwerksmäßige Kleinbetrieb; ja er erhält in der Eiſen-
verarbeitung ſogar eine Hauptſtütze. Andere Urſachen kamen hinzu, die Entwickelung
der Eiſengewerbe zum Großbetriebe zu hemmen. Das gewerbliche Leben Italiens und
Deutſchlands ging aus politiſchen Gründen im 17. und 18. Jahrhundert zurück. Holland
und England hatten damals keine erhebliche Eiſenproduktion und Eiſenverarbeitung;
England bezog ſeinen Stahl faſt ganz vom Auslande, ſeine Eiſenöfen gingen damals
zurück, wurden in der Nähe Londons aus Furcht vor Holzmangel 1581 ganz ver-
boten. —
Von den Verkehrsmitteln können wir nicht ſagen, daß ſie 1300—1750 ſich
techniſch ſehr geändert hätten; nur der Schiffsbau und die Schiffstechnik machten gewiſſe
Fortſchritte, ſo daß in Mittelmeer, Nord- und Oſtſee und vom 15.—17. Jahrhundert
auch auf den Ozeanen der Handel wachſen, die neue Welt entdeckt werden, die Kolonien
in Oſt- und Weſtindien zu erheblicher Bedeutung gelangen konnten. Poſten und Kanäle
waren ſeit 1500 vorhanden, machten aber bis 1700 nur wenig Fortſchritte. Die Städte
ſind meiſt 1500—1700 ſtabil, nur einige Hauptſtädte wachſen aus politiſchen Gründen.
Aber das Münz- und Geldweſen, die Kredittechnik des Wechſels, der Meſſen,
der Staatsanleihen erfährt von 1400—1700 bedeutende Verbeſſerung. Es wächſt die
Bedeutung des Kapitals und des Handelsſtandes; die Anfänge des Bankweſens entſtehen:
die Haus- und Kleingewerbe werden durch die Handelsorganiſation für den Fernabſatz
zur Hausinduſtrie. Die Technik der Staatsverwaltung, der Steuern wird erſt in den
Kleinſtaaten, dann in den großen Nationalſtaaten eine ausgebildetere, wenn ſie auch
meiſt die antike Höhe noch nicht wieder erreicht. Das Wichtigſte bleibt wohl, daß der
Buchdruck und die Preſſe, welche ſich 1440—1800 entwickeln, auf ganz andere Verbindung
der Menſchen hinwirken.
Faſſen wir all’ dieſe techniſchen Verbeſſerungen bis gegen Mitte des 18. Jahr-
hunderts zuſammen, ſo können wir ſagen, die Familien-, die Landwirtſchaft, die große
[211]Die Technik des 16.—17. Jahrhunderts. Das Maſchinenzeitalter.
Mehrzahl der Gewerbe, der Austauſch von Stadt und Land bewegten ſich noch in den
alten Geleiſen. Aber die Eiſenproduktion, die kriegeriſche Technik, der Handel, die
zunehmende Geld- und Finanzwirtſchaft und die adminiſtrative Technik hatten ſchon
erheblich ſich geändert; ſie hatten zuſammen mit einer Reihe anderer Urſachen aus den
ſtadtwirtſchaftlichen die territorial- und volkswirtſchaftlichen Körper und Staaten machen
helfen, die ſtehenden Heere und das Beamtentum ermöglicht. Die Entdeckung der neuen
Welt und die neuen Seewege hatten die Gewürze und Perlen des Orients leichter und
billiger zu uns gebracht, hatten uns mit Thee, Kaffee, Tabak, Mais, Opium, mit einer
Reihe neuer Pflanzen und auch einigen neuen Tieren bekannt gemacht. Die Wirkung
hievon beginnt langſam von 1600, ſtärker von 1700 an. Es war ſo der Menſchheit ein
unermeßlicher Horizont nach außen eröffnet, wie ihn die Reformation und das Wieder-
erwachen der Geiſtes- und Naturwiſſenſchaft nach innen hin ſchufen.
Und doch wird man ſagen müſſen: die Mittelſtaaten des 14.—17., die größeren
Nationalſtaaten des 16.—18. Jahrhunderts ſeien nur in beſchränktem Sinne ein Er-
gebnis der neuen Technik, ſo wenig wie das römiſche Reich auf techniſche Urſachen
zurückzuführen ſei. In einem großen Teile Europas erhalten ſich trotz der damaligen
techniſchen Fortſchritte die kleinen ſtadt- und territorialwirtſchaftlichen Körper: Holland,
Deutſchland, die Schweiz, Italien ſind ein Beweis dafür. Und zu wirklich großen
Einheitsſtaaten mit ganz freiem inneren Markt haben auch England und Frankreich,
vollends Deutſchland, Öſterreich, Rußland, die Vereinigten Staaten ſich erſt im 19. Jahr-
hundert, jetzt allerdings weſentlich durch den Einfluß der neuen Technik, hauptſächlich
des neuen Verkehrs entwickelt.
84. Das moderne weſteuropäiſch-amerikaniſche Maſchinenzeit-
alter: Beſchreibung. Die ſeit den Tagen der Renaiſſance begonnene Umbildung
der Technik erhielt durch die Fortſchritte der Naturerkenntnis ihren wichtigſten Impuls:
Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton, Euler, Laplace, Lavoiſier, James Watt, Galvani
und Volta, Liebig und Wöhler, Faraday und Maxwell, Gauß und Weber, Stephenſon
und Beſſemer, Helmholtz und Siemens vollendeten ein Syſtem des realiſtiſchen
Wiſſens, wie es die Menſchheit bisher nicht gekannt, ſie ſchufen damit auch praktiſch
eine ganz neue Epoche des techniſch-wirtſchaftlichen Lebens. Das Zeitalter der perſön-
lichen techniſchen Routine und Meiſterſchaft ging in das der rationellen Bemeiſterung
der techniſchen Aufgaben durch vollendete Erkenntnis ihrer Urſachen über. Und an die
großen führenden Geiſter, die hauptſächlich 1770—1870 wirkten, ſchloß ſich von 1830—40
an eine ganz andere Art der Verbreitung der techniſchen Kenntniſſe durch die Univerſi-
täten, polytechniſchen und Gewerbeſchulen. Noch im 18. Jahrhundert ſpielen Barbiere
und Pfarrer, Tauſendkünſtler und gewöhnliche begabte Arbeiter eine große Rolle auf
dem Gebiete der techniſchen Neuerungen; heute ſind es nur die wiſſenſchaftlich ſpeciell
geſchulten Kräfte, die freilich auch bis in die Werkmeiſter- und Arbeiterwelt hineinreichen.
Suchen wir zunächſt mit wenigen Worten eine Anſchauung der techniſchen Revo-
lution hervorzurufen, welche mit der Spinn- und Dampfmaſchine und den Coakshochöfen
1768—1800 einſetzt, durch die Kriegszeit und ihre Folgen bis 1830 gehemmt wird, nun
mit dem Beginne des Eiſenbahnbaues 1840—60 energiſcher einſetzt, aber doch erſt mit
den wirtſchaftlichen Aufſchwungsperioden 1850—73 und 1880—1900 voll durchbricht.
Die ganz andere Anwendung der bewegenden Naturkräfte, die Ausbildung der Textil-,
Eiſen- und Maſchineninduſtrie ſind die Hauptpunkte, bei denen wir etwas verweilen.
Neben der intelligenteſten aber ſchwächſten wirtſchaftlichen Kraft, der des Menſchen,
hat man ſeit Jahrtauſenden die tieriſche, ſeit vielen Jahrhunderten die des Windes
und des Waſſers, aber bis in unſer Jahrhundert in techniſch ſehr unvollkommener
Weiſe, benutzt. Auch das Feuer hat erſt in unſeren Tagen als Kraftquelle ſeine volle
Bedeutung erhalten; es hat uns den Dampf geliefert, der in der Dampfmaſchine die
wichtigſte neuere mechaniſche Kraft wurde. Ihr geſellte ſich ſeit den letzten 20 Jahren
die Elektricität hinzu, welche vielleicht noch größere wirtſchaftliche Veränderungen als
der Dampf erzeugen wird. Um die verſchiedenen Kraftquellen vergleichbar zu machen,
hat man ſich gewöhnt, ſie auf ſogenannte Pferdekräfte, d. h. Einheiten, zurückzuführen,
14*
[212]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
welche in einer Sekunde 75 kg einen Meter hoch heben. Doch ſtellen die gewöhnlichen
Angaben über die Maſchinen nicht die praktiſch übliche, ſondern die mögliche Maximal-
leiſtung dar.
Der Wind iſt die billigſte, wenn er weht, die faſt überall faßbare und vorhandene
Kraft; aber die Windmühle hat nur 77 Normalarbeitstage im Jahre; der Wind ver-
ſagt auch dem Segelſchiffe immer wieder. Die alte, ſehr unvollkommene Bockmühle nahm
in Preußen bis 1861 zu, die verbeſſerte holländiſche hat ſie heute noch nicht verdrängt.
Die Ausnutzung des Windes im Segel haben erſt ſeit 1850—60 die Segelanweiſungen
des Kommodore F. Maury weſentlich verbeſſert; aber dieſe enorme Verbeſſerung hat die
Verdrängung des Segelſchiffes durch den Dampf nicht gehindert; 1875 zählte man in der
europäiſchen Handelsmarine noch 12 Mill. Segel- auf 3 Mill. Dampftonnen, 1893
waren es nur noch 9,2 Mill. Segel- auf 7,4 Dampftonnen. Künftig wird das hölzerne
Segelſchiff noch mehr gegen das eiſerne Dampfſchiff zurücktreten.
Die Waſſerkraft leidet, wie der Wind, an der großen Ungleichheit von Wetter
und Jahreszeit; ſie war bisher nur recht nutzbar, wo ſtarkes Gefälle zuſammentraf mit
den ſonſtigen Lebensbedingungen der Gewerbe; ſie nötigte dieſe zur Zerſtreuung in den
Thälern, am Rande der Gebirge; ſie iſt zu einem großen Teile an Orten vorhanden,
wo ſie für kein Gewerbe nutzbar zu machen war, im Hochgebirge. Sie konnte durch die
alten unterſchlächtigen Waſſerräder nur bis zu 15—20 % ihrer Kraft ausgenutzt werden.
Die verbeſſerten oberſchlächtigen Räder und die Turbinen, 1800—1850 erfunden, meiſt
erſt ſpäter angewandt, ſteigerten den Nutzeffekt auf 50—80 %. Deutſchland hatte 1816
wohl etwa 35000, 1882 53000 und 1895 46000 Hauptgewerbebetriebe mit Waſſer-
kraft; ſolche mit Dampf waren es 1882 34000, 1895 57000; die mit Waſſerkraft
hatten 1895 0,6, die mit Dampf ſchon 2,7 Mill. Pferdekräfte. Durch die neueſten Er-
findungen ſteht aber der Waſſerkraft ein neuer, ungeahnter Fortſchritt bevor. Durch
die Elektricität läßt die Kraft ſich aufſpeichern und auf 100—400 km an die paſſendſten
Stellen leiten; die Waſſerfälle der abgelegenen Gebirge, der Stromſchnellen werden
nutzbar und erzeugen in ihrer weiteren Umgebung jetzt große Fabrikdiſtrikte; ſo in
Schweden, Norwegen, Rußland, in den Alpen, der Schweiz, am Rheinfall. Außerdem
ſcheint es, daß man demnächſt die Waſſerkraft der Gezeiten und der Flußläufe durch neue
techniſche Methoden dem Menſchen dienſtbar machen kann; die deutſchen Ströme ſollen
allein 1,8 Mill. ungenützter Pferdekräfte enthalten.
Daß der Waſſerdampf durch ſeine Ausdehnung und ſeinen Druck als bewegende
Kraft dienen könne, wußte man ſeit dem Altertume; erſt Profeſſor Papin in Marburg
wandte ihn 1690 im Cylinder auf einen zu bewegenden Kolben an; ſeit 1702—12
wurde die Dampfmaſchine zur Waſſerhebung in den engliſchen Bergwerken benutzt.
James Watt konſtruierte dann 1768—92 in endloſen Verſuchen ſeine Dampfmaſchine,
die zuerſt bei der Waſſerhebung in Bergwerken, dann als bewegende Kraft in Spinne-
reien, Mühlen, Walzwerken Anwendung fand. Brachte ſeine Erfindung ſchon eine große
Erſparung an Heizmaterial, zu ſtärkerer, erſt recht wirkſamer Dampfſpannung überzugehen
hatte er wegen ihrer Gefahren nicht gewagt. Die Hochdruckmaſchinen (von 1802 an)
mit fünffachem Atmoſphärendruck ſparten ⅘ der Heizkraft und des Raumes. Weitere
Verbeſſerungen haben ſeither nicht aufgehört. Auf Räder geſtellte Dampfmaſchinen zum
Transporte auf Schienenwegen erfand Georg Stephenſon 1821—29, Dampfſchiffe Robert
Fulton 1806—7, Schraubendampfſchiffe Erikſon 1827. Bewegliche Dampfmaſchinen,
Lokomobilen, zu allerlei Verwendung, datieren von 1841. Immer beſſere, größere,
kohlenſparendere Maſchinen wurden konſtruiert; hatte man bis 1850 meiſt Dampf-
maſchinen von 2—30 Pferdekräften, ſo ſtiegen ſie ſpäter häufig auf 100—500, neueſtens
auf 1000 und mehr; die neueſten Seedampfer haben ſolche bis zu 8—15000 Pferde-
kräften und dieſe brauchen 1/36 der Kohlen gegen 1850.
Bis zum Jahre 1850 war die Verbreitung der Dampfmaſchine noch mäßig: in
Frankreich waren damals etwa 5000, in Deutſchland etwa 3600 ſtehende Maſchinen.
Im Jahre 1895 waren bei uns 58530 Dampfgewerbebetriebe (darunter 57245 Haupt-
betriebe) mit 2,7 Mill. Pferdekräften; die Geſamtzahl der Dampfpferdekräfte einſchließlich
[213]Die bewegenden Kräfte: Wind, Waſſer, Dampf, Elektricität.
des Verkehres iſt aber zwei- bis viermal ſo groß; man kann für 1895 auf das Groß-
britanniſche Reich etwa 12—13, auf die Vereinigten Staaten 10—11, auf Deutſchland
vielleicht noch mehr, auf Frankreich 6 Mill. Pferdekräfte im ganzen rechnen; auf die geſamten
Kulturſtaaten 1865 etwa 11—12, 1875 22, 1895 40—50 Mill. Pferdekräfte. Die Hälfte
bis zwei Drittel derſelben dient dem Verkehr, hauptſächlich den Eiſenbahnen; von den
ſtehenden Maſchinen wieder über die Hälfte der Berg-, Hütten- und Salineninduſtrie,
wo es die größten Maſſen zu ziehen, zu heben, zu bearbeiten gilt; der Reſt den übrigen
vorangeſchrittenſten Großgewerben. Je größer die Dampfmaſchinen ſind, deſto billiger
arbeiten ſie. Man rechnete in den achtziger Jahren die einſtündigen Koſten einer
Pferdekraft in der Maſchine von 100 Pferdekräften auf 7, in der von 2 auf 44—95 Pf.
Aber auch die beſten und größten haben einen enormen Wärmeverluſt, können die
höheren, wirkſamſten Dampfſpannungen nicht aushalten; ſie nützen die in der Kohle
enthaltenen Wärmeeinheiten daher nur bis zu 12 % aus, weshalb ſchon Redtenbacher
ihr Princip überhaupt als verfehlt betrachtete.
Und was hat die Dampfkraft doch geleiſtet! Ihre außerordentlichen wirtſchaft-
lichen Vorzüge ſind folgende: ſie hat gegen Waſſer und Wind den Vorteil, frei von
jeder anderen örtlichen Feſſel zu ſein, als von der Nähe und Billigkeit des Heizmaterials;
ſie läßt ſich, ſagt Engel, ebenſo ſchnell erzeugen wie abſtellen, iſt ebenſo leicht zu den
höchſten Stärken zu konzentrieren, wie im kleinſten Maße wirkſam zu machen. Sie iſt
in Maſchinen anwendbar, die ſelbſt mit außerordentlicher Raſchheit und Ausdauer den
Ort wechſeln, darin das beſte Pferd unendlich übertreffend. Sie ermüdet, verſagt, ver-
ſiegt nicht.
Der König Dampf hat die moderne Induſtrie und den modernen Verkehr geſchaffen;
aber er droht überfrüh unſere Kohlenſchätze aufzuzehren; er iſt nur mit teueren, gefähr-
lichen, für die Schiffe zu großen und zu ſchweren Keſſelanlagen wirkſam zu machen.
Er hat einſeitig die Großinduſtrie befördert. Kein Wunder, daß man nach anderen
Kräften und Kraftmaſchinen ſuchte, zumal nach ſolchen ohne ſchwere und teuere Keſſel-
anlagen. Petroleum, Benzin, heiße Luft, Waſſerdruck aus den Waſſerleitungen, Gas
bot ſich dazu an. Am meiſten Anwendung fand die Gasmaſchine (1895 in Deutſchland
in 14760 Gewerbebetrieben mit 53909 Pferdekräften); ſie nutzt mit ihren aus Gas
und atmoſphäriſcher Luft gemiſchten Dämpfen die Wärmeenergie zu 25 % aus, iſt jeden
Augenblick in Betrieb zu ſetzen und abzuſtellen, iſt bis 50 Pferdekräfte viel billiger als
Dampf; ihre Verbreitung nimmt reißend auch in mittleren und größeren Betrieben zu.
Noch weit ſcheint ſie von der neuen Dieſelſchen Wärmemaſchine übertroffen zu werden,
welche mit dem Drucke von 40 Atmoſphären arbeiten kann, in jeder Maſchinengröße
gleiche Koſten macht, die Wärmeenergie bis zu 40 % ausnutzt.
Der größte Konkurrent des Dampfes aber iſt die Elektricität in ihrer Verbindung
mit dem Magnetismus. Licht und Elektricität ſind Ätherſchwingungen: die erſteren ſind
elektriſche Strahlen von kurzer, die letzteren von großer Wellenlänge; auf ihnen ruhen
die Lebensprozeſſe; ſie ſtellen die höchſte und feinſte Art der Bewegung dar; die Wiſſen-
ſchaft entdeckte ſie in der Hauptſache 1789—1840, lernte dann 1833—60 die chemiſch
hergeſtellten ſchwachen galvaniſchen Ströme zum Telegraphieren zu verwenden; die prak-
tiſche Durchführung fällt aber weſentlich in die Zeit nach 1860; in Europa zählte man
- 1860 126140 km Telegraphenlinien mit 3502 Anſtalten und 8,9 Mill. Depeſchen,
- 1887 652000 - - - 50800 - - 148,2 - -.
Die ſtärkeren ſogenannten Induktionsſtröme, welche durch eine Antriebmaſchine,
durch Bewegung von Drahtwindungen in einem ſtarken Magnetfeld entſtehen, welche erſt
die elektriſche Beleuchtung und Kraftverwendung in großem Stile ſchufen, lernte man
erſt in den letzten 25 Jahren, hauptſächlich ſeit 1888 zu großer praktiſcher Anwendung
durch die Dynamomaſchine zu bringen. Ihre künftige Verbreitung und Wirkſamkeit
kann man heute mehr nur ahnen als genauer beſtimmen. Die Dynamomaſchine bedarf
einer Hülfskraft, aber ſie ſteigert die ſie erzeugende Kraft unendlich; ſie iſt viel billiger
als Dampf und Gas; die Kraft läßt ſich ohne zu viel Verluſt aufſpeichern und wieder
[214]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
auslöſen; daher iſt ihre zeitliche und örtliche richtige Verteilung viel leichter dem Be-
darfe anzupaſſen; ſie iſt durch billige, einfache Drahtleitungen weithin zu übertragen,
macht die teueren, ſchwerfälligen Transmiſſionen der Waſſer- und Dampfmaſchinenanlagen
überflüſſig. Am 1. Oktober 1895 waren in Deutſchland, ohne Bayern und Württemberg,
ſchon 1419 Starkſtromleitungen thätig. Nach Dr. Lux beſtanden Ende 1888 erſt 15
große elektriſche Werke, am 1. März 1897 aber 265 und weitere 82 waren im Bau.
Die Hauptverwendung iſt noch die für Beleuchtung, aber die Kraftverwendung für
Bahnen, Fabriken und Werkſtätten nimmt ſehr raſch zu: am 14. Juni 1895 verwendeten
ſchon 2259 deutſche Gewerbebetriebe elektriſche Kraft. Ganze Fabrik- und hausinduſtrielle
Bezirke ſtützen ſich ſchon auf dieſe centraliſierten Werken entnommene Kraft. Eine
decentraliſierende Wirkung tritt für den Gewerbebetrieb ein. In St. Etienne und ſeiner
Umgebung zahlt der hausinduſtrielle Weber im Monat für die Bewegung eines Stuhles
ſamt Inſtandhaltung 10 Francs. Andere Wirkungen kommen hinzu. Die größten Hütten-
und Eiſenwerke der Welt beſorgen heute ſchon alle Ortsveränderung im Inneren ihres
Betriebes elektriſch, wie dasſelbe auch auf den größeren Kriegsſchiffen geſchieht. Die ganze
chemiſche Induſtrie, die ganze Metallurgie iſt durch die Elektricität in Umwandlung
begriffen; ſie verdrängt das Gas und hat daneben das Acetylen geſchaffen, das 10- bis
15 mal leuchtender als Gas iſt. Ob ſie auf den Eiſenbahnen den Dampf erſetzen wird,
ſcheint noch zweifelhaft; den kleinen Schienenverkehr in Stadt und Land, der in kurzen
Zwiſchenräumen viele einzelne Wagen befördern muß, wird ſie in Kürze ganz an ſich
reißen. —
Giebt dieſer Überblick der Entwickelung der bewegenden wirtſchaftlichen Kräfte
ſchon ein ungefähres Bild der techniſchen Revolution der Gegenwart, ſo gehört doch zu
ſeiner Vervollſtändigung ein Einblick in die parallel gehende Veränderung der eigent-
lichen Arbeitsprozeſſe; ſie haben ſich wohl in der Textilinduſtrie am komplizierteſten
zerlegt und verfeinert, durch chemiſche und mechaniſche Fortſchritte vervollkommnet. Man
hat ſchon gemeint, an ihr und durch ſie ſei das ganze Maſchinenzeitalter erwachſen.
Spindel und Webſtuhl waren die ſeit mehreren Jahrtauſenden gebräuchlichen und
kaum verbeſſerten techniſchen Hülfsmittel. Freilich die Walkmühlen (1200—1400), das
Spinnen der Wolle mit dem Rade (ſeit 1298), das Spinnen des Flachſes mit Jürgens
Tretſpinnrad (ſeit 1530), welches mit dem Drehen der Spindel und dem Aufwickeln des
Fadens den Kern der ſpäteren Spinnmaſchine ſchon enthielt, waren wie die Band-
mühle (1570—1600) und die Strumpfwirkmaſchine (1590—1610) erhebliche Fortſchritte.
Waſſermühlen zur Zwirnerei und zum Seidenhaſpeln entſtanden 1580—1750. Aber
der allgemeine Charakter der ganzen Textilgewerbe blieb im ganzen doch der alte, zumal
da die wichtigſten Fortſchritte, z. B. die Bandmühle, die Strumpfwirkmaſchine, wie
ſpäter die Spinnmaſchine gar zu oft der zerſtörenden Wut der Arbeiter, zeitweiſe auch
dem zünftleriſch angehauchten Staatsverbot ausgeſetzt waren. Erſt als 1738 mit der
Erfindung der Schnellſchütze am Webſtuhl durch John Kay das Produkt des Web-
ſtuhles ſich verdoppelte und vervierfachte, nirgends genug Spinnerinnen, die doch ſtets
ſchlecht bezahlt waren, aufzutreiben waren, da entſtand in unendlich vielen kleinen Ab-
ſätzen durch L. Paul, Th. Highs, J. Hargreaves, R. Arkwright, S. Crompton,
R. Roberts (zugleich mit der Dampfmaſchine) die Baumwollſpinnmaſchine von 1730 bis
1825: der ſelbſtthätige mechaniſche Spinnſtuhl mit einigen hundert Spindeln nahm der
menſchlichen Hand das Spinnen, zuerſt der Baumwolle, ab, die eben damit der wichtigſte
Bekleidungsſtoff wurde; 1832 waren in Europa 11, 1875 etwa 58, 1895 etwa 75 Mill.
Baumwollſpindeln thätig (in Großbritannien 44—45, in Deutſchland 5—6 Mill.). Die
einzelnen Spinnereien hatten bis 1850 durchſchnittlich in Großbritannien 10000, auf
dem Kontinente 1—5000 Spindeln; jetzt ſind es etwa 15000 und 7500, in Lancaſhire
durchſchnittlich 65000 Spindeln, ja es giebt dort Rieſenſpinnereien mit 185000 Spindeln.
Die mechaniſche Wollſpinnerei iſt viel langſamer gefolgt; die preußiſchen Spinne-
reien, meiſt noch im Beſitze kleiner Gewerbetreibender, hatten 1861 noch durchſchnittlich
5—600 Spindeln. Die Kammgarnſpinnerei wurde erſt 1848—50 erfunden; 1895
hatte eine deutſche Wollweberei durchſchnittlich 14—1500 Spindeln. Der Sieg des
[215]Die heutige Technik der Textilgewerbe.
vollendeten Maſchinenſyſtems in dieſem Gewerbszweige gehört erſt den letzten 30 Jahren
an. Und ähnlich ging es in der mechaniſchen Leinenſpinnerei, die erſt 1824 ganz gelang.
Auch in Großbritannien und Irland waren 1850 nur etwas über 1 Mill., 1890
1,5 Mill. Leinenſpindeln thätig. Der Kampf der Maſchine mit der Leinenhandſpinnerei
dauerte in den meiſten Staaten bis 1860, ja bis 1880.
Hatten die Wolle und der Flachs dem mechaniſchen Spinnprozeſſe viel größere
natürliche Schwierigkeiten bereitet als die Baumwolle, ſo war die mechaniſche Weberei
überhaupt viel ſchwieriger als das Spinnen; der Schlag der Maſchine riß zu leicht die
Fäden ab. Ähnlich wie in der Spinnerei waren die anderen Geſpinſtfäden wieder
ſchwerer auf dem Maſchinenſtuhl zu verwenden als die von Baumwolle. Der Kraftſtuhl,
1787 von Cartwright erfunden, konnte erſt von 1810—15 an (nach Fairbairn) etwas
mehr angewandt werden. Man zählte in Großbritannien 1820 erſt 14000, 1835 aber
ſchon 116000, 1875 440000, 1890 615000 Kraftſtühle für Baumwollgewebe; die
anderen Staaten folgten viel langſamer; Preußen hatte 1861 erſt 7000 Kraftſtühle für
Baumwollgewebe, Deutſchland 1891 245000 (nach Juraſchek). In der geſamten Woll-
induſtrie ſiegte der Kraftſtuhl erſt 1860—1900; die Lauſitzer große Tuch- und Woll-
induſtrie hatte 1860 erſt 37, 1890 3000. Die mechaniſche Leinenweberei iſt noch jünger;
ſie erreichte in Großbritannien 1875 erſt 45000, 1890 65000 Kraftſtühle; im Handels-
kammerbezirke Schweidnitz, einem Hauptgebiete der deutſchen Leineninduſtrie, ſtieg ihre
Zahl 1871—98 von 1200 auf 8800. Die Seidenweberei iſt erſt jetzt in der Umwand-
lung zu mechaniſcher Kraft begriffen und zwar nur in den techniſch am höchſten ſtehen-
den Ländern.
Neben der Verbeſſerung der eigentlichen Spinnerei und Weberei haben die großen
Fortſchritte der Kunſtbleiche, der Färberei, der Druckerei und die Hülfsmaſchinen die
Textilinduſtrie gewaltig beeinflußt: ſo die Spul-, die Scher-, die Schlichtmaſchine, die
Waſch- und Spülmaſchinen, die Centrifugaltrockenmaſchinen und andere mehr. Wollte
man auch nur das Wichtigſte aus den ſonſtigen techniſchen Fortſchritten der Bekleidungs-
gewerbe anführen, ſo wären vor allem die verbeſſerten Wirkſtühle, die Strick-, die Näh-,
die Stick-, die Tüll- und Bobbinetmaſchinen zu nennen, die in ihrem Bereiche die
durchgreifendſten Umwälzungen hervorgebracht haben. Von den durch Elias Howe
hauptſächlich ſeit 1846 geſchaffenen, ſeit 1856 ſich verbreitenden Nähmaſchinen waren
ſchon 1875 in den Vereinigten Staaten eine halbe Million, auf der ganzen Erde 1877
über 4 Millionen im Gange. Die Zahl der Stiche wird durch ſie von 25 auf 2000 in
der Minute vermehrt.
Die Verbeſſerung und Verbilligung unſerer Kleidung, Wäſche und Hauseinrichtung
durch dieſe Fortſchritte in der Gewebeherſtellung und Bearbeitung iſt ganz außerordent-
lich. Schon 1842 rechnete man, daß mit der Hand erſt 17 Mill. Handſpinner das
hätten leiſten können, was die 448900 Maſchinenſpinner der Kulturſtaaten fertig brachten.
Immer darf man nicht überſehen, daß dieſe enorme Steigerung der produktiven Kraft
ſich auf ein Bedürfnis bezieht, das nur 14—20 % des Einkommens bei den Kultur-
völkern in Anſpruch nimmt; daß wenn wir uns heute durch die Bekleidung der Natur-
und Halbkulturvölker bereichern, dieſen vielfach ihre älteren techniſchen Künſte dafür ver-
loren gehen; und daß die konzentrierte arbeitsteilige Maſchinenarbeit erſtens Millionen
Familien der unteren Klaſſen einen Teil ihrer hauswirtſchaftlichen Thätigkeit und eine
Nebenarbeit des Spinnens, Webens, Strickens, Nähens raubte, die zwar mäßig bezahlt
aber zum Lebensunterhalt für ſie unentbehrlich war, durch ihr Verſiegen dieſe Millionen
teilweiſe proletariſierte; die ganz andere ſociale Schichtung und Umbildung der
Erwerbsverhältniſſe durch dieſen Prozeß macht ein wichtiges Stück der neueren ſocialen
Geſchichte aus. —
Der Bergwerks- und Hüttenbetrieb bewegte ſich im 18. Jahrhundert zunächſt in
den Geleiſen, welche der techniſche Fortſchritt des 16. ermöglicht hatte. Aber man ſuchte
dem ſteigenden Bedarf durch Vergrößerung der Hochöfen und durch Heizung mit Stein-
kohle und Coaks entgegen zu kommen. In Preußiſch-Schleſien beſtanden 1750 14 Holz-
kohlenhochöfen, 1800 45, neben 40 und 50 Friſchherden, die das Roheiſen in Schmiede-
[216]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
eiſen verwandelten. Die Eiſenproduktion in Preußen war etwa 1750 2850, 1800
15000 Tonnen (à 2000 Pfd. oder 1000 kg), alſo 1800 etwa 1,5 kg auf den Kopf; im
Zollverein 1834 110000 Tonnen, alſo 4—5 kg. In Großbritannien war die Produktion
1740 17000, 1784 40000 (bei 50000 Tonnen Einfuhr), 1800 aber 158000 und
1840 1396000 engl. Tonnen (à 2240 Pfd.), alſo 1800 auch erſt etwa 19 kg auf den
Kopf. Die älteren Holzkohlenöfen hatten einen Umfang von 6 Kubikmeter. Sie mit
Steinkohlen zu heizen hatte man im 17. Jahrhundert wegen des Holzmangels in
England wenig glückliche Verſuche gemacht; 1709 gelang die Feuerung mit Coaks, die
aber auch in England Jahrzehnte lang auf einen Ofen ſich beſchränkte; auf dem Kontinent
wurde der erſte Coaksofen in Schleſien 1796, in Belgien 1821 erblaſen. Der Sieg der
Coaks- über die Holzöfen auf dem Kontinent fällt erſt in die Mitte unſeres Jahrhunderts;
die engliſchen Hochöfen lieferten durchſchnittlich jährlich 1740 288, 1805 1785, 1840
3480 Tonnen Eiſen; ihre Höhe war von 18 auf 40 Fuß, ihre Faſſungskraft von 6
auf 250 Kubikmeter geſtiegen. Im übrigen waren die Verbeſſerung der Gebläſe, ihr
Betrieb mit Dampf und die Erhitzung der eingeblaſenen Luft die wichtigſten techniſchen
Verbeſſerungen (1760—1840); erſt ſeit Bunſen die dem Hochofen entſteigenden Gichtgaſe
zu analyſieren verſtanden und zu verwenden gelehrt hatte, konnte der Hochofen als
techniſch vollendet gelten. Und die Verbeſſerung des Friſchprozeſſes, ſeine Umwandlung
in den Puddelprozeß (d. h. die Entkohlung in geſchloſſenen Flammöfen mit mechaniſcher
Umrührung) beginnt wohl 1784, wird aber erſt 1824—36 recht durchführbar, vollzieht
ſich auf dem Kontinent erſt 1846—70. An den Fortſchritt des Puddelprozeſſes ſchloß
ſich der des Hämmerns durch den Dampfhammer, der 1842 durch Nasmyth erfunden
wurde, und des Walzens mit mechaniſcher Kraft, die ſich auch erſt 1840—70 recht
durchſetzten.
Der Eiſenbahnbau, die entſtehende Maſchineninduſtrie und die Ausrüſtung der
Bergwerke mit einem großen maſchinellen Apparate waren das Ergebnis der geſchilderten
Fortſchritte in Weſteuropa von 1840—70. Die Produktion ſtieg gewaltig; in Groß-
britannien von 1840—70 von 1,3 auf 6 Mill., in Deutſchland von 0,17 auf 1,3 Mill.,
auf der ganzen Erde von 2,9 auf 12 Mill. Tonnen. Aber das erreichte Ziel war
gegenüber den nun einſetzenden Verbeſſerungen doch noch ein unvollkommenes: aus
dem Eiſen- ſollte erſt das Stahlzeitalter werden; viel größere techniſche Erfindungen
wurden 1850—80 gemacht, geſtalteten die Eiſentechnik teilweiſe von 1860 an, noch mehr
von 1880 an wieder gänzlich um und erlaubten Produktionsſteigerungen, die man
1850—60 noch nicht geahnt hatte.
Es handelt ſich um die neuen Methoden, direkt Stahl herzuſtellen, um die Erſetzung
oder Zurückdrängung des im Puddelofen entkohlten und geſchweißten Schmiedeeiſens
durch das ſogenannte Flußeiſen, d. h. um die direkte Herſtellung von Stahl und
Eiſen aus dem Schmelzprozeß, wodurch ein viel beſſeres Material mit geringeren Koſten
erzielt wurde.
Stahl hatte man bis gegen 1800 weſentlich direkt in kleinen Quantitäten aus
den feinſten Erzen hergeſtellt; dann hatte man Schmiedeeiſen durch Kohlenzuſatz in Stahl
verwandelt (cementiert), endlich ihn auch durch Puddelverfahren hergeſtellt. Aber das Ziel
blieb, beſſere Methoden direkter und umfangreicher Stahlgewinnung zu finden, wie es
Siemens 1852, dann Beſſemer und endlich Martin 1858 gelang. Das bedeutete eine Um-
wälzung in der ganzen Eiſeninduſtrie und Eiſenverwendung. Die Stahlproduktion und
Stahlanwendung nahm ſchon 1860—75 einen enormen Aufſchwung, der Stahl erſetzte
in den zahlreichſten Verwendungen das viel weniger haltbare Schmiedeeiſen. Und nun
gelang es von 1879—80 an, phosphorhaltige Erze durch das Thomas-Gilchriſtſche Ver-
fahren direkt in Stahl und Flußeiſen zu verwandeln, was zumal für Länder mit
überwiegend derartigen Erzen, wie Deutſchland, einen ungeheuren Fortſchritt bedeutete.
Alle Eiſenwerke mußten freilich 1860—90 auf Grund dieſer neuen Technik umgebaut
werden. Die auf Roheiſen reduzierte Produktion der Erde (einſchließlich des Stahls)
ſtieg 1870—90 von 12 auf 27 Mill. Tonnen (Großbritannien 1890 8, 1897
8,7 Mill., Deutſchland 1890 4, 1898 7,4 Mill., die Vereinigten Staaten 1870
[217]Die neueren Fortſchritte der Eiſen- und Stahltechnik.
1,6, 1890 9,3, 1897 9,6 Mill. Tonnen). Die durchſchnittliche jährliche Produktion der
immer rieſenhafteren Hochöfen ſtieg 1889—90 in England auf 18408, in den Vereinigten
Staaten auf 27000 Tonnen; einzelne erhoben ſich auf 45000. Die Stahlproduktion
hatte ſich von 1867 bis 1890/91 in England von 0,1 auf 3,6, in Deutſchland von
nicht ganz 0,089 auf 2,3 Mill. Tonnen geſteigert, während die Schweißeiſenproduktion
in dieſen Ländern ſtabil geblieben oder zurückgegangen war. Der Verbrauch von Eiſen
und Stahl aller Art war in Deutſchland 1840—47 12,5, 1861—65 26, 1890 99,
1896—98 131 kg auf den Kopf, in Großbritannien 1861—65 134, 1891—95
176 kg, in den Vereinigten Staaten in dieſen Epochen 26 und 128,8 kg, während er
1890—95 in Frankreich noch auf 40, in Öſterreich auf 25, in Rußland auf 12, in
Oſtindien wahrſcheinlich auf 1—2 kg ſtand.
Der Eiſen- und Stahlverbrauch, der früher und noch jetzt in den ärmeren Ländern
auf wenige Werkzeuge und Waffen beſchränkt war, dient jetzt zu allem: wir belegen
die Straßen mit Eiſen, bauen unſere Schiffe, einen großen Teil unſerer Wohnungen
und Werkſtätten aus Stahl und Eiſen. Dabei iſt der Rohſtoff durch die verbeſſerte
Technik immer billiger geworden, während daneben die Veredelung und Verfeinerung
in immer komplizierteren Werkzeugen, Maſchinen und Gegenſtänden aller Art demſelben
einen immer größeren, teilweiſe hundert- und tauſendfachen Wert verleiht.
Die modernſten Hütten-, Eiſen- und Stahlwerke, wie die Kruppſchen in Deutſchland
mit ihren 44000 Arbeitern und Beamten, die Carnegie Steel-Company in Pennſylvanien
ſind wohl die techniſch vollendetſten der modernen Rieſenanſtalten, wo ein Stab wiſſen-
ſchaftlich-techniſcher Kräfte alle denkbaren Fortſchritte der Chemie, der Phyſik, der
Mechanik auf die wirtſchaftliche Produktion anwendet und zugleich bemüht iſt, ſie Tag
für Tag durch neue Verſuche zu verbeſſern.
Nur etwa die heutigen Maſchinen- und Werkzeugfabriken, die Eiſenbahnwagen-
und Schiffsbauanſtalten könnten techniſch noch über ſie geſtellt werden, weil ſie die
feinere Verarbeitung in Händen haben. Sie ſind freilich nicht ſo rieſenhaft wie jene
und im Detail ihres Arbeitsprozeſſes nicht ſo fein gegliedert wie die Textilinduſtrie. Ihre
Entwickelung aber iſt das ſicherſte Symptom eines wirtſchaftlich hoch entwickelten Landes
geworden. Sie verbreiten durch ihre Erzeugniſſe die Wirkung der Maſchinentechnik ſo
ziemlich auf alle Zweige wirtſchaftlicher Thätigkeit.
Während es im 18. Jahrhundert nur handwerksmäßige Schloſſer, Mühlen- und
Webſtuhlbauer gab, entſtand von 1790—1820 in England, 1815—40 in den kontinen-
talen Landen ihr Anfang. Auch in England gab es 1800—1810 nur — wie Fairbairn
erzählt — drei gute Maſchinenfabriken, die kleine Dampfmaſchinen von 3—50 Pferde-
kräften bauten; auch in Deutſchland traf man 1840—60 noch wenig große und ſpeciali-
ſierte Maſchinenfabriken; die heute mit 2—10000 Arbeitern thätigen Anſtalten hatten
damals 50—200. Viele unſerer größten und beſten gehören erſt den letzten 30 Jahren
an, wie auch unſere beſten Schiffswerften, Lokomotiv- und Wagenbauanſtalten.
Wir dürfen aber hierbei nicht verweilen, ebenſowenig auf die großen techniſchen
Fortſchritte in all den anderen Zweigen wirtſchaftlicher Thätigkeit eingehen, welche
nirgends ganz fehlen, in manchen den hier angeführten Fortſchritten der Textil- und
Eiſengewerbe gleich kommen, z. B. in der chemiſchen, der Papier-, der Nahrungs-, Be-
leuchtungsinduſtrie, in den polygraphiſchen Gewerben, der Buchdruckerei, um von den
geſamten Verkehrsgewerben zu ſchweigen, deren techniſche Fortſchritte jeder aus eigener
Erfahrung kennt. Nur über die älteſte und wichtigſte wirtſchaftliche Thätigkeit, die
Landwirtſchaft, ſei noch ein Wort erlaubt.
Auch ſie iſt natürlich von den Fortſchritten der Chemie und Mechanik nicht
unberührt geblieben. Die alte Dreifelderwirtſchaft, welche nur 20—40 % des Areals
bebaute, den Reſt als Brache und Weide nützte, hat ſeit 1770 an einzelnen Stellen,
ſeit 1850 allgemeiner in den dichtbevölkerten, wohlhabenden Gebieten dem Fruchtwechſel
Platz gemacht, der jährlich die ganze Flur beackert, die Viehnahrung durch Hack- und
Futterbau ermöglicht, die Bodenerſchöpfung durch den jährlichen Wechſel der Früchte
verhindert, der die zehnfache Kapitalmenge, die zwei- bis dreifache Arbeit auf dieſelbe
[218]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Fläche verwendet, wie die einfache Dreifelderwirtſchaft. Die künſtliche Düngung, die
Bodenmeliorationen aller Art, die Verbeſſerung der Ackerwerkzeuge, die Einführung von
landwirtſchaftlichen Maſchinen, die große Verbeſſerung der Viehzucht durch rationelle
Züchtung haben die Produktionskoſten an vielen Punkten vermindert, die Ernten ver-
doppelt, teilweiſe vervierfacht. Die Zuſammenlegung der Grundſtücke und der Wegebau
haben in gleicher Richtung gewirkt. Der Pflug iſt ſo verbeſſert, daß er bei halber
Zugkraft mehr leiſtet als früher. An einzelnen Stellen hat man den Dampfpflug,
neueſtens gar elektriſche Kraft angewendet. Die überall möglichen Verbeſſerungen haben
bei der zähen konſervativen Art des Landmannes noch lange nicht überall Eingang und
volle Wirkung erreicht, viele andere ſind nicht allerwärts anwendbar. Faſt überall aber
iſt der Betrieb mehr oder weniger rationaliſiert und verbeſſert worden. Daß er aber
faſt nirgends gänzlich geändert wurde, daß die Fortſchritte hier nicht wie im Verkehr
und ſo vielen Gewerben eine Revolution bedeuteten, darauf kommen wir gleich.
85. Würdigung des Maſchinenzeitalters. Wenn wir die neuere weſt-
europäiſche Volkswirtſchaft nach ihrer techniſchen Seite als Maſchinenzeitalter bezeichnen,
ſo iſt das ein Name, der von der wichtigſten, ſichtbarſten Erſcheinung genommen iſt,
das Weſen der Sache aber nicht erſchöpft. Dasſelbe liegt in der auf Naturerkenntnis
geſtützten Rationaliſierung aller Wirtſchaftsprozeſſe, in der Anwendung immer vollendeterer,
komplizierterer und doch in ihrem Erfolg billigerer Methoden und Arbeitsprozeſſe über-
haupt, welche bei gleicher oder geringerer Kraftaufwendung doch Größeres und Beſſeres
leiſten. Die Phyſiologie hat in die Raſſenverbeſſerung, die Chemie da und dort ebenſo
intenſiv eingegriffen, wie die Mechanik mit ihren verbeſſerten Werkzeugen und den
Maſchinen Zeit und Kraft erſpart, bisher nicht ausführbare Leiſtungen ermöglicht hat.
Aber daß man möglichſt überall menſchliche Arbeit zu ſparen, ſie durch mechaniſche
Kraft und die Kraftmaſchine zu erſetzen, daß man an Stelle des Werkzeugs die Arbeits-
maſchine zu ſetzen ſuchte, das bildet allerdings den ſpringenden Punkt der Entwickelung,
die wichtigſte Neuerung. Der Sprachgenius hat mit Recht Werkzeug und Maſchinen in
Gegenſatz geſtellt. Wir verſtehen unter erſterem ein techniſches Arbeitsmittel, das den
Arbeitsprozeß fördert und erleichtert, aber der Hand und dem Kopf des Arbeitenden
doch Sekunde für Sekunde die Ausführung überläßt, unter der Maſchine ein techniſches
Arbeitsmittel, das Naturkräfte und ein Syſtem zuſammengeſetzter feſter Körper, kombi-
nierter Werkzeuge nötigt, in mechaniſcher Abfolge Bewegungen auszuführen, ſo daß dem
Menſchen nur die Überwachung und allgemeine Leitung des Arbeitsprozeſſes, eine Summe
kleiner, mechaniſcher Handgriffe bleibt. Die Kraftmaſchine erzeugt und reguliert die
mechaniſche Kraft, die Arbeitsmaſchine läßt die ihr mitgeteilte Kraft auf den wirtſchaft-
lichen Arbeitsprozeß wirken; beide gehören zuſammen. Einzelne Maſchinen, wie der
Dampfhammer, ſind Kraft- und Arbeitsmaſchine zugleich. Einfachere Maſchinen gab es
ſeit Jahrtauſenden, wie das Schöpf- und Waſſerrad; auch den Wagen, die Töpferſcheibe,
den Pflug, die Kriegsmaſchinen der Alten, das Spinnrad hat man als Maſchinen
bezeichnet. Heute gehören die Nähmaſchine und viele andere hauswirtſchaftliche Maſchinen
in das Gebiet. Werkzeug und Maſchinen gehen da ineinander über, wo die Arbeit aus
einer direkt die Stoffe formenden eine mehr bloß leitende wird. Das Maſchinenzeitalter
beſteht darin, daß die Kraft- und Arbeitsmaſchinen eine früher nie gekannte Verbreitung
gefunden und einem ſteigenden Teil der Arbeitsprozeſſe ihren Stempel aufgedrückt haben.
Wir ſahen, wie zur Menſchenkraft zuerſt die lenkbare Tierkraft hinzukam, wie
dann ſpäter Wind und Waſſer als leicht faßbare mechaniſche Kräfte roh ausgenützt
wurden. Erſt ſeit hundert Jahren wurden ſie recht bemeiſtert und die ſchwer faßbaren
und lenkbaren, aber viel wirkſameren mechaniſchen Kräfte Dampf und Elektricität hinzu-
gefügt. Wir können uns durch ihre Summierung in der Einheit von Pferde- oder
Menſchenkräften eine rohe Vorſtellung davon machen, wie ſie das wirtſchaftliche Leben
gefördert haben. Wir benützen als Beiſpiel das heutige Deutſchland. Seinen 26 Mill.
arbeitskräftiger Menſchen wird eine Pferde- und Rindviehkraft von etwa gleicher
mechaniſcher Leiſtungsfähigkeit zur Seite ſtehen; ſeine Dampfkräfte werden (nach den
mittleren Reduktionszahlen Fairbairns eine Pferdekraft = 15 Menſchen) 114 Mill.
[219]Weſen und produktive Wirkung der Maſchine.
Menſchen, ſeine Waſſerkräfte 9,5, ſeine Gasmaſchinen 0,8 Mill. 1895 entſprechen; die
Elektricität wage ich nicht zu ſchätzen. Alſo ſteht der mechaniſchen Kraft der Menſchen
mindeſtens die etwa ſechsfache der Tier- und Naturkräfte (zuſammen 150 Mill.) zur
Seite, während im Jahre 1750 wohl höchſtens die gleich große an Tier-, Wind- und
Waſſerkräften die menſchlichen ergänzte. Und erinnern wir uns, daß die 124—
125 Mill. Einheiten mechaniſcher Kräfte (ohne die Tiere) hauptſächlich die 10—11
Mill. Menſchen unterſtützen, welche im Verkehr, Handel und Gewerbe thätig ſind, ſo
handelt es ſich ſtatt der ſechs- um eine zwölffache Steigerung der produktiven Kräfte.
Dazu kommt die Verbilligung der Kraft. Engel rechnet 1880, daß ein Tonnenkilometer
horizontal zu bewegen mit dem Dampf 0,4, mit dem Pferd 11,7, mit der Menſchen-
kraft 52,6 Pfennig koſte. Mag das nur für den Verkehr zutreffen, ſonſt nicht in dem
Maße, vielfach auch gar nicht, dafür wird heute jede Art der Kraft da angewendet, wo
ſie am paſſendſten iſt, am wohlfeilſten ſich ſtellt. Man hat gelernt, die eine Kraft aus
der andern zu entwickeln, aus Wärme Dampf, aus Waſſerkraft oder Dampf Elektricität
herzuſtellen. Man verſteht die Kräfte zu konzentrieren und zu kombinieren, ſie örtlich
und zeitlich mit genaueſter Maßbeſtimmung zu verteilen, die rotierende Bewegung in
hin und her gehende und ſonſt in der verſchiedenſten Weiſe zu verwandeln.
Auch bei der Arbeitsmaſchine handelt es ſich um Bewegungsvorgänge; ſie kann
nur da eintreten, wo gleichmäßig ſich wiederholende, mit höchſter Schnelligkeit ſich voll-
ziehende, in mehr, oft hundertfacher Nebeneinanderſtellung des angreifenden Maſchinenteils
(wie beim Spinnſtuhl) gemeinſam zu vollziehende Bewegungen in Frage ſtehen. Sie
iſt ausgeſchloſſen, wo die Kraft jede Sekunde nach den von Auge und Handgefühl
erfaßten Widerſtänden ſich richten, ſich dem Wechſel des Stoffes, der Formen, der
Angriffsart anpaſſen muß. Die Arbeitsmaſchine ſetzt voraus, daß der Prozeß ſich in
viele einzelne Teile zerlegen laſſe. Die Arbeitsteilung mit ſpecialiſierten Werkzeugen
geht daher hiſtoriſch und praktiſch häufig der Arbeitsmaſchine voraus. Wo dieſe
Bedingungen fehlen, da kann die Maſchine keine oder nur eine beſchränkte Rolle, eine
ſolche in Hülfsprozeſſen, in dem die Produkte bewegenden Verkehr ꝛc. ſpielen. Die
Uniformierung, Mechaniſierung, höchſte Beſchleunigung und vollendete Präciſion, welche
das Weſen des maſchinellen Arbeitsprozeſſes charakteriſiert, wird wohl die ganze Volks-
wirtſchaft indirekt beeinfluſſen; tiefgreifend umbilden wird ſie nur beſtimmte, freilich ſehr
erhebliche Teile. Suchen wir ſie zu ſcheiden.
Die weitaus größte Wirkung der modernen Maſchinen liegt in der Verkehrs-
erleichterung; im Verkehr handelt es ſich nur um Erleichterung, Beſchleunigung,
Mechaniſierung, Ordnung von Bewegungsvorgängen: die Menſchen, die Güter, die
Nachrichten bewegen ſich heute ſo leicht und ſo billig auf 1000 und 100000 Meilen
wie ehedem auf 5 und auf 100. Die menſchliche Verſorgung mit Nahrungsmitteln und
Gütern aller Art, die Berührung und Verknüpfung der Menſchen in geiſtiger, morali-
ſcher und wirtſchaftlicher Beziehung iſt unendlich geſtiegen. Die geographiſche Arbeits-
teilung, der Welthandel, die größern Märkte, die größern Staaten, ihre leichtere
Regierung, die ganze heutige Maſſenkriegführung, die Überziehung auch der kleinen Orte
und des platten Landes mit Poſt-, Eiſenbahn- und Telegraphenlinien ſind die Folge.
Der eigentliche Handel iſt mehr durch die Verkehrsfortſchritte als durch direkte
Maſchinenanwendung ein anderer geworden; gewiß benützen die großen Handelsgeſchäfte
eine ſteigende Zahl techniſcher Fortſchritte zum Heben, Sortieren, Packen ꝛc., aber der
viel größere Teil der Handelsthätigkeit iſt und bleibt individuell, der Maſchine und
Mechaniſierung unzugänglich.
Die zweite große Wirkung der modernen Technik liegt auf dem gewerblichen
Gebiete; zumal ſoweit es ſich um leicht verſendbare, mit mechaniſiertem Arbeitsprozeß
und in Maſſe herſtellbare, beliebig vermehrbare Produkte handelt, iſt die Steigerung
und Verbilligung der Produktion eine ganz außerordentliche. In der Textilinduſtrie
iſt die Maſchine am weiteſten vorgedrungen, hat die größten Wunder bewirkt, weil die
Ziehung, Schlichtung, Verſpinnung, Verwebung, Rauhung, Preſſung ꝛc. der Faſerſtoffe
ſo weitgehend in gleichmäßig mechaniſche Bewegungen ſich auflöſen läßt. Im Berg-
[220]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
werksbetrieb hat die Maſchine die Hebung, Schleppung und Sortierung übernommen,
nicht die Hauptarbeit, die des Häuers vor Ort, die ſtets eine individuelle bleiben wird.
In vielen andern Gewerben ſiegte die Maſchine mehr für die Zwiſchen- als für die
Endprodukte; der Stahl, das Gußeiſen, alle Metalle werden ausſchließlich maſchinell,
die feineren Metallprodukte vielfach noch durch die Hand hergeſtellt.
Viel geringer als im Verkehr und in der Induſtrie zeigt ſich die techniſche
Revolution auf allen übrigen wirtſchaftlichen Gebieten. Die Maſchine konnte nur
beſtimmte, eng begrenzte Teile des privaten Haushaltes, der Landwirtſchaft, der Forſt-
wirtſchaft übernehmen; noch weniger konnte ſie die Arbeit des Künſtlers, etwas mehr
ſchon die des Kunſthandwerkers ergreifen.
Der Landwirt und Gärtner kann den Arbeitsprozeß nicht konzentrieren, ihn in
Teile zerlegen, die nebeneinander ſich ausführen laſſen; er muß individualiſierend die
Arbeit dem Boden, der Witterung, der Jahreszeit anpaſſen. Er hat heute beſſere Werk-
zeuge, auch einzelne Maſchinen und Feldbahnen, er wendet chemiſche und phyſiologiſche
Verbeſſerungen an, aber nie kann hier die Technik alle Arbeit mechaniſieren, nie kann
ſie hier die Produktion auf das 10—1000 fache ſteigern wie in vielen Gewerben; ſie
hat Großes erreicht, wenn ſie ſie verdoppelt oder gar vervierfacht. Die Urſache iſt einfach
und bekannt; wie Liebig ſagt, kann die doppelte mechaniſche Arbeit, die doppelte
Düngung von einer bald erreichten Grenze an nicht mehr die doppelte Ernte geben.
Das größte Kapital und alle Technik der Welt vermögen auf einer Quadratmeile nicht
die Nahrungsmittel für Hunderttauſende und Millionen zu erzeugen. Das Geſetz „der
abnehmenden Bodenerträge“ hat ſeine Urſache in dem einfachen Umſtande, daß die
phyſiologiſchen Prozeſſe, die uns Brot und Fleiſch geben, Monate und Jahre brauchen,
daß die Pflanzenerzeugung an die begrenzte Ackerfläche gebunden iſt, und daß Sonne,
Wärme, Feuchtigkeit, Verwitterung, Pflügung in die Oberfläche nur bis zu geringer
Tiefe eindringen, begrenzte Stoffe löslich machen können. Alle ſehr dicht bevölkerten
Gegenden bedürfen daher der Zufuhr von weiterher, die, wenn auch ſehr verbilligt,
doch immer die Waren verteuert. Die verſchiedene Wirkung der Technik auf Gewerbs-
produkte und Nahrungsmittel zeigt die bekannte Wahrheit, daß jene im Laufe der
Kultur durchſchnittlich billiger, dieſe teurer werden. Der Nahrungsmittelerzeugung ſteht
eine Grenze entgegen, welche die Technik nicht überwinden kann. Man kann froh ſein,
wenn die Verbilligung der Maſchinenprodukte die Verteuerung der Lebensmittel aus-
gleicht oder ermäßigt. Es kommt hinzu, daß überall, wo in ähnlicher Weiſe begrenzte
Rohſtoffe, begrenzte Gebiete und Standorte der Vermehrung des Angebots entgegen-
ſtehen, ſo bei Kohlen und Erzen, Fiſchwaſſern und Stadtwohnungen, der techniſche
Fortſchritt die engen Schranken der Produktion und Monopolverteuerung mildern, nicht
aufheben oder überwinden kann.
Nach dieſen Bemerkungen iſt es klar, daß eine nüchterne Beobachtung nicht in
jene dithyrambiſchen Lobpreiſungen einſtimmen kann, als habe die Maſchine und die Technik
uns ſeit 100 Jahren ſo mit wirtſchaftlichen Gütern überſchüttet, daß wir bei richtiger
Einrichtung der Volkswirtſchaft alle herrlich und in Freuden ohne große Anſtrengung,
etwa täglich nur 2—4 Stunden arbeitend, leben könnten. Denn erſtens iſt überall
zweifelhaft, ob die Bevölkerung nicht noch ſtärker zunehme als die durchſchnittliche geſamte
Mehrproduktion. Und zweitens kommt in Frage, ob die Teile der Volkswirtſchaft
mit großem oder die mit mäßigem techniſchen Fortſchritte die bedeutungsvolleren ſeien.
Es ſei nur daran erinnert, daß wir für unſere Ernährung 50—60, für unſere Wohnung
10—20 % unſeres Einkommens ausgeben. Iſt es da ein Wunder, daß die Mehrzahl
der Menſchen heute trotz aller techniſchen Fortſchritte mehr und härter arbeiten muß als
früher, — daß man ſchon höhniſch gefragt hat, ob denn die beſſere und ſchönere Kleidung
und das ſchnellere Fahren, die Haupterrungenſchaften unſerer modernen Technik, uns ſo
viel glücklicher machen könnten? Selbſt ein ſo begeiſterter Technologe, wie Em. Hermann
ſpricht Zweifel aus, ob unſere Ernährung und Wohnung beſſer ſei als die der Griechen
und Römer; nur unſere Werkzeuge und chemiſche Verfahrungsweiſe, meint er, ſtänden
höher. Sicher iſt, daß die hundertfache Leiſtung der Spinn- und Dampfmaſchine gegen-
[221]Grenzen des techniſchen Fortſchrittes. Sociale Folgen.
über der Handarbeit nicht generell hundertfachen Reichtum bedeutet, noch weniger ihn
für beliebig vermehrte Menſchenmengen ſchafft. Und mögen wir uns noch ſo ſehr rühmen,
daß die Handarbeit der 1560 Mill. lebenden Menſchen nicht ausreichte, um je zu
ſpinnen, zu drucken, zu ſchleppen, was heute die Maſchine ſpinnt, druckt und ſchleppt,
von Geſpinſt, von gedruckten Nachrichten und vom geſteigerten Verkehr lebt der Menſch
nicht allein. Aus demſelben Grunde ſind auch alle Specialberechnungen der Steigerung
der produktiven Kraft des Menſchen in dieſem oder jenem Gewerbe, ſo richtig ſie im
einzelnen ſein mögen, als Beweis fürs Ganze irreführend, ſo z. B. wenn Michel
Chevalier für die Mehlbereitung ſeit Homer die Steigerung berechnet auf 1 : 144,
für die Eiſenbereitung ſeit 4—5 Jahrhunderten auf 1:30, für die Baumwollverarbeitung
1769—1855 auf 1:700. Die Menſchen in ihrer Geſamtheit ſind deshalb nicht 144
oder 30 oder 700 mal reicher. Man könnte bei aller Anerkennung der rieſenhaften
Leiſtungen der modernen Technik ſagen, die Ungleichmäßigkeit ihrer Fortſchritte ſei
zunächſt das Charakteriſtiſche. Könnten wir mit atmoſphäriſcher Luft heizen, und Mehl
und Fleiſch ſtatt durch die pflanzen- und tierphyſiologiſchen Prozeſſe durch die chemiſche
Retorte herſtellen, dann erſt wäre der ideale Zuſtand geſchaffen, den die techniſchen
Optimiſten oft heute ſchon gekommen glauben. —
Natürlich erſchöpft ſich nun die Beurteilung des heutigen Maſchinenzeitalters nicht
in der Frage nach der Vermehrung und Verbilligung der wirtſchaftlichen Produktion
und deren Grenzen. Daneben kommt die Veränderung in der ganzen Organiſation der
Volkswirtſchaft, in der Stellung der ſocialen Klaſſen, der Familie, der Unternehmung
und Ähnliches in Betracht. Hierüber endgültigen Aufſchluß zu geben iſt freilich heute
ſehr ſchwierig, weil wir, mitten in dem ungeheuren Umbildungsprozeß ſtehend, ſchwer
ſagen können, was vorübergehende, was dauernde Folge ſei. Und an dieſer Stelle
darüber zu reden iſt nur andeutungsweiſe möglich, weil wir die zu berührenden Fragen
erſt in den folgenden Büchern im einzelnen erörtern wollen.
Das erſte, was uns von ſolchen Folgen in die Augen ſpringt, iſt die Thatſache,
daß, wie jeder große Fortſchritt, ſo heute der techniſche, von einzelnen Individuen,
Klaſſen, Völkern ausging, dieſe an Einkommen und Reichtum, Einfluß und Macht außer-
ordentlich emporhob. Die Differenzierung der Geſellſchaft ſteigerte ſich; an dem Fort-
ſchritt und ſeinen erſten Folgen konnten nicht alle gleichen Anteil haben. Neue führende,
herrſchende, genießende, Macht und Reichtum teils richtig teils falſch brauchende Kreiſe
ſtiegen empor, die übrigen ſanken damit entſprechend, blieben zurück, wurden teilweiſe
gedrückt, verloren durch den Konkurrenzkampf mit den emporſteigenden. Wie für die
Maſchinenvölker, ſo gilt das für die führenden Unternehmer, Ingenieure und Kaufleute
innerhalb derſelben. Die Kaufleute kommen nicht ſowohl wegen der techniſchen Fort-
ſchritte des Handels in Betracht, als weil im Verkehr die wichtigſte Verbeſſerung liegt
und dieſe gewiſſermaßen erſt recht die fähigen Händler zu den Beherrſchern der Volks-
wirtſchaft machte, ihnen den größten Gewinn zuführte. Doch darf bei dieſem
Differenzierungsprozeß und ſeiner Wirkung auf das Einkommen und die Machtſtellung
nicht überſehen werden, daß an dieſe erſte Folge ſich bald Bewegungen im entgegen-
geſetzten Sinne ſchloſſen. Die andern Völker, bis nach Japan und Indien, begannen
raſch die Maſchinentechnik nachzuahmen, und ſie iſt lehrbarer, leichter zu übertragen, als
es die techniſchen Vorzüge der früheren Zeiten waren, weil ſie in Schriften und Modellen
fixiert iſt, in offenen Schulen jedem Fremden gelehrt wird, durch Maſchinenausfuhr
überall hindringt. Ebenſo gingen die höheren Kenntniſſe und Fertigkeiten in Weſt-
europa doch bald auf die übrigen Klaſſen der Geſellſchaft, wenigſtens teilweiſe, über.
Das äußerliche Hauptergebnis der Maſchinentechnik, ein ſteigender Kapitalüberfluß und
ſinkender Zinsfuß ſetzte einen erheblichen Teil des ganzen Volkes in die Lage, ſeiner-
ſeits zu Verbeſſerungen in der Produktion zu ſchreiten, einen andern, die geſamten
arbeitenden Klaſſen, höhere Löhne zu erkämpfen.
Die zweite große Folge der neueren Technik und des ſo ſehr verbeſſerten Verkehrs
iſt die räumliche Veränderung im Standort der landwirtſchaftlichen, gewerblichen und
händleriſchen Unternehmungen und der Menſchen überhaupt: die Bildung der Großſtädte,
[222]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
der Induſtrie- und Bergwerkscentren, die ſtillſtehende oder gar abnehmende Land-
bevölkerung, die Zunahme der Wanderungen, die wachſende geographiſche und ſonſtige
Arbeitsteilung erſcheinen als zuſammenhängende Ergebniſſe des Maſchinenzeitalters, auf
die wir anderwärts kommen. —
Als dritte Folge heben wir die Verſchiebung hervor, welche zwiſchen den Haupt-
organen des volkswirtſchaftlichen Lebens und ihren Funktionen ſtattfand, nämlich zwiſchen
Familie, Gebietskörperſchaft (Gemeinde, Provinz, Staat) und Unternehmung. Familie
und Unternehmung fiel früher noch meiſt zuſammen. Vor allem die neuere Technik
ſchied ſie, machte einen ſteigenden Teil der Unternehmungen zu ſelbſtändigen, techniſch-
geſchäftlichen Anſtalten, trennte Familienwirtſchaft und Werkſtatt. Und dieſelben Urſachen,
die ſteigende Kapital- und Maſchinenanwendung, der techniſche Vorteil, welchen größere
Anſtalten gaben, begünſtigten mehr und mehr den Großbetrieb.
Er lag zuerſt im 17. und 18. Jahrhundert vielfach in fürſtlichen Händen, dann
löſte er ſich von der bureaukratiſchen Schwerfälligkeit, die damit gegeben war, los. Der
private Großbetrieb, neuerdings der in Aktien- oder Kartellhänden, ſchien als der voll-
kommenſte, weil in der freien Hand hochſtehender kaufmänniſch-techniſcher Führer liegend.
Aber ſeit den letzten Jahrzehnten hat auch die Großtechnik der Gemeinden, Provinzen
und Staaten nicht bloß im Straßen- und Waſſerbau, in der modernen Kriegstechnik,
ſondern gerade auch in ſpecifiſch wirtſchaftlichen Funktionen, im Eiſenbahn-, Poſt- und
Telegraphenweſen, in öffentlichen Bauten aller Art erhebliche Triumphe gefeiert. Und
ſchon kann man hören: gerade die moderne Technik nötige zu einer Vergeſellſchaftung
ihrer Anwendung. Dem Vorwurf, daß unſere Städte aus einem Organismus verbundener
Wohnhäuſer ein anarchiſcher Haufen von Werkſtätten, Fabriken und Bahnhöfen geworden,
könnte man, optimiſtiſch übertreibend, heute ſchon den Satz entgegenſtellen: die moderne
Stadt werde eine techniſche Geſamtbauanlage werden, in welcher durch Straßen- und Bau-
polizei den Wohnungen und Werkſtätten, den Parks und den Schulen, den Markthallen
und Bahnhöfen ihr Platz angewieſen ſei, und alle dieſe Stätten durch einheitliche Waſſer-
und Abzugs-, Gas- und elektriſche Leitungen, durch den gemeinſamen Dienſt der Straßen,
der Verkehrsanſtalten, der Krankenhäuſer und Theater und all der weiteren, auf die
Kommune gehäuften Funktionen verbunden ſeien.
Man hat den techniſchen Fortſchritt ſchon danach einteilen wollen, ob er mehr
den Individuen und Familien oder mehr den größeren ſocialen Körpern zufalle oder
diene. Es iſt kein falſcher Gedanke. Der Pflug diente der Wirtſchaft der Familie, die
Bewäſſerungsanlage war ſtets Sache der Gemeinde; die Flinte kam in die Hand des
Individuums, die Kanone in die des Staates. Aber doch können viele techniſche Fort-
ſchritte je nach ihrer geſellſchaftlichen Ausgeſtaltung, je nach den Inſtitutionen von dem
Individuum wie von der Geſamtheit gehandhabt werden. Und es wäre ſchwer, von
den heutigen techniſchen Fortſchritten mehr zu ſagen als das, daß viele derſelben zu
einer Großtechnik hindrängen; vor allem gilt dies vom Dampf, der Elektricität, von
vielen Teilen unſeres Bauweſens. Aber ſpecifiſch techniſche Urſachen entſcheiden nicht,
ob die Gasanſtalt in Privat- oder Gemeindehänden zu liegen habe, ob die Eiſenbahn
dem Staate gehören ſolle oder nicht. Hobſons halb ſocialiſtiſcher Schluß, alle Großtechnik
gehöre in die Hände der öffentlichen Korporation, weil dieſe Technik, von der Maſchine
beherrſcht, Mechaniſierung der Arbeitsprozeſſe, Uniformierung der Bedürfniſſe und zur
Ausbeutung verführende Monopolbildung bedeute, ſchießt übers Ziel hinaus; er überſieht,
daß die Maſchineninduſtrie auch ſehr wechſelnden Bedürfniſſen dient und inſoweit alſo der
privaten kaufmänniſchen Leitung nicht wohl entraten kann. Die ſociale Ausgeſtaltung
der Großtechnik iſt je nach Raſſe, volkswirtſchaftlichen Traditionen, Staatseinrichtungen,
ſehr verſchiedenartig möglich. So viel aber iſt richtig, daß ſie unſerer heutigen Volks-
wirtſchaft gegenüber der früher überwiegenden Haus- und Kleinbetriebstechnik einen
ganz neuen Stempel aufgedrückt hat, freilich ohne die Hauswirtſchaft aufzuheben und
ohne den Klein- und Mittelbetrieb ganz zu beſeitigen; beſonders in der Landwirtſchaft
beſteht er techniſch umgebildet, aber ſocial unverändert fort. —
[223]Die Maſchine in ihrer Wirkung auf die Arbeiter.
Die wichtigſte ſociale Folge der Großtechnik iſt die Entſtehung eines breiten Lohn-
arbeiterſtandes: die Wirkung der Maſchine und der modernen Technik auf ihn iſt der
letzte ſpecielle, vielumſtrittene Punkt, den wir berühren. Wir faſſen zunächſt die Zu-
oder Abnahme der Arbeitsgelegenheit und ihre Regelmäßigkeit ins Auge.
Wenn aller Zweck der Maſchine Erſparung menſchlicher Arbeit iſt, ſo kann darüber
nicht wohl Zweifel ſein, daß die neuere Maſchinenentwickelung immer wieder Arbeitern ihre
hergebrachte Arbeitsgelegenheit und ihren Verdienſt nahm, den Lohn der mit der Maſchine
konkurrierenden Handarbeit aller Art drückte. Dieſer Prozeß wurde ermäßigt durch die
langſame Verbreitung der Maſchine und durch die raſche Ausdehnung vieler Gewerbszweige
in den aufblühenden Kulturſtaaten; aber die Hunderte von Maſchinenzerſtörungen und
tumultuariſchen Aufſtänden, die von 1700 bis über die Mitte unſeres Jahrhunderts
herein reichen, das chroniſche Handſpinner- und Handweberelend von Hunderttauſenden,
wie es zwiſchen 1770 und 1870 ganze Gegenden proletariſierte, reden eine ebenſo
lapidare Sprache über das erzeugte Arbeiterelend wie die neuere Arbeitsloſigkeit. In
den Vereinigten Staaten wurden nach Wells und anderen durch die neueſten techniſchen
Fortſchritte von 1870—90 Arbeiter überflüſſig: in der Möbelinduſtrie 25—30, in der
Tapeteninduſtrie 93, in der Metallinduſtrie 33, in der Waggonfabrikation 65, in der
Maſchineninduſtrie 40—70, in der Seidenmanufaktur 50 %. Die Verdrängung der
Männer- durch Frauen- und Kinderarbeit iſt auch nur ein Stück aus dieſem Prozeß
der Arbeitserſparung. Man ſagt nun, all’ die ſo für die entlaſſenen Arbeiter erzeugte
Not ſei nur eine vorübergehende geweſen, und das iſt in gewiſſer Beziehung wahr.
Wenigſtens die jüngeren Kräfte fanden ſtets anderweit Arbeit; die folgende Generation
ſah ſich in den blühenden exportierenden Staaten immer wieder einer durch die Geſamt-
entwickelung geſchaffenen größeren Arbeitsnachfrage in anderen Berufszweigen gegenüber.
Aber zwiſchen der beginnenden Not und der einſetzenden Hülfe lag oft entſetzliches Hunger-
elend. Der alte gewöhnliche Mancheſtertroſt, überall ſei ſofort durch die Maſchinen-
verbilligung die Nachfrage nach der entſprechenden Ware ſo geſtiegen, daß die Arbeits-
entziehung kaum zu ſpüren geweſen, iſt eine grobe Täuſchung. Auch in Zukunft wird
dieſer Prozeß fortdauern, nur in dem Maße weniger hervortreten, als ein techniſch
hochſtehender und beweglicher Arbeiterſtand ſich raſcher den Veränderungen anpaßt und
als eine allgemein hohe Blüte und verbeſſerte Organiſation der Volkswirtſchaft die
entlaſſenen Arbeiter in den Berufen unterzubringen weiß, die als weniger maſchinell
entwickelt noch zunehmender Arbeitskräfte bedürfen.
Die Regelmäßigkeit der Arbeitsbeſchäftigung war in älteren Zeiten, mit lokalem
Markte und patriarchaliſchen Zuſtänden, natürlich viel größer als heute. Sie nahm
mit der Ausdehnung der Märkte und unter den heutigen kurzen Arbeitsverträgen ab;
zunächſt am meiſten in der Hausinduſtrie, wo der Arbeitgeber ſich für die Heimarbeiter
nicht verantwortlich fühlt. Die maſchinelle Fabrikinduſtrie giebt wieder regelmäßigere
Arbeit, ſofern der Unternehmer die Maſchinen regelmäßig gehen zu laſſen ein Intereſſe
hat, — aber unregelmäßigere, ſofern die Konjunkturen der Weltwirtſchaft und die Moden
ſchwankender werden. Die unregelmäßigere Beſchäftigung wurde früher weniger em-
pfunden, ſo lange die meiſten Arbeiter ein Häuschen, ein Stück Allmende oder Acker-
land zu bebauen hatten, nicht allein vom Lohne lebten. Die ganze Frage der Regel-
mäßigkeit und Unregelmäßigkeit der Arbeit iſt in ihrem letzten Kerne aber nicht von
der Technik, ſondern von der ſocialen Ordnung der Volkswirtſchaft zu löſen.
Die Wirkung der Maſchine auf die Lebenshaltung, Geſundheit, Kraft und Bildung
der Arbeiter iſt in jedem Berufe, ja in jeder Abteilung einer Fabrik und je nach der
Länge der Arbeit und den ſonſt mitwirkenden ſocialen Umſtände ſo verſchieden, daß alle
allgemeinen optimiſtiſchen und peſſimiſtiſchen Urteile übers Ziel hinausſchießen. Näh-
maſchine und Lokomotive, Spinnſtuhl und Dampfhammer können nicht wohl überein-
ſtimmende Wirkungen ausüben. Man wird nur im allgemeinen ſagen können, daß die
ältere haus- und landwirtſchaftliche, ſowie die Arbeit in der alten Handwerksſtatt der
menſchlichen Natur ſchon wegen ihrer Abwechſelung angemeſſener war und ſei als die
Maſchinenarbeit. Aber lange vor allen Maſchinen, ſeit Jahrtauſenden, gab es eine
[224]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
erſchöpfende, ſchädliche Handarbeit in Bergwerken und Hausinduſtrien, auf Schiffen und
auf dem Ackerfelde; eine ausbeutende, geſundheitsſchädliche, verkümmernde Handarbeit von
Sklaven, Leibeigenen und Freien iſt faſt in allen älteren Kulturländern früher vorhanden
geweſen, wo nicht eine beſonders gute ſociale Ordnung die Handarbeiter dichtbevölkerter
Gebiete vor ſocialem Drucke ſchützte. Und ihnen eröffnete die Kraft- und Arbeits-
maſchine wenigſtens die Möglichkeit einer Abnahme der übermäßigen Muskelanſtrengung.
Ob ſie praktiſch gelang, hing freilich davon ab, ob die Maſchine nicht gleich mit einer
unnatürlichen Verlängerung des Arbeitstages, ſchlechten Räumen, ungeſunder Luft und
mit unvollkommenen ſocialen Inſtitutionen überhaupt ſich verband. Daran fehlte es.
Und deshalb ſind auch die ſekundären Folgen der Überarbeit, der ſchlechten Ernährung
und Wohnung, wie proletariſche Vermehrung, Trunkenheit, Schlaffheit, die längſt bei
vielen Handarbeitern vorhanden waren, nicht ſofort mit der Maſchine verſchwunden,
ſondern teilweiſe noch ſehr gewachſen.
Aber dieſe Begleitumſtände, mehr als die moderne Maſchine, erzeugten 1770 bis
1850 ſo vielfach einen entarteten Arbeitertypus. Daß heute unter veränderten und
verbeſſerten ſocialen Bedingungen zahlreiche geſunde, kräftige, geiſtig und ſittlich voran-
ſchreitende Maſchinenarbeitertypen ſich gebildet haben, kann kein Unbefangener leugnen.
Nur iſt die Frage, auf welche und wie große Teile der Maſchinenarbeiter ſich dieſe
günſtige Ausſage beſchränke oder ausdehne.
Daß manche Maſchinen und maſchinellen Arbeitsprozeſſe mit ihrer Zerlegung in
kleine Teiloperationen, auch wo ſie dem Menſchen Muskelanſtrengung abnahmen, ihn
zu mechaniſcher, geiſttötender, monotoner Thätigkeit des Fadenknüpfens, Rohſtoffauf-
gebens, Handgriffemachens nötigten, iſt bekannt. Ein Teil der neuen Technik hat ſofort
die Beteiligten gehoben, ein anderer hat ſie körperlich und geiſtig herabgedrückt; es
fragt ſich nur, wie weit man die letztere Wirkung durch ſociale Anordnungen einſchränken,
wie weit man durch noch größere techniſche Fortſchritte, durch ſich ſelbſt bedienende und
regulierende Maſchinen die rein mechaniſche Arbeit des Menſchen noch mehr als bisher
beſeitigen könne. Faſt alle Arbeit aber an der Maſchine hat neben der geiſttötenden
Wirkung des Mechaniſchen eine erziehende, anregende: ſie leitet zu Ordnung und Prä-
ciſion, zum Nachdenken und zum Erwerbe techniſcher Kenntniſſe an. Je komplizierter
der Maſchinenmechanismus wird, deſto mehr braucht man für die meiſten, nicht für
alle Arbeiten in ihm verantwortliche, kluge, kenntnisreiche, gut genährte und bezahlte
Arbeiter. Mögen wir alſo an meiſterhafter Handausbildung keine Arbeiter mehr haben
wie die Gehülfen des Praxiteles und die Geſellen in der Werkſtatt Peter Viſchers waren, in
einer großen Anzahl unſerer techniſch hochſtehenden Induſtrien haben wir Arbeiter, welche
techniſch, geiſtig, körperlich und moraliſch den Vergleich mit den beſſeren Arbeitern aller
Zeiten nicht nur aushalten, ſondern ſie übertreffen. Freilich nur da, wo die ſittliche
Ordnung unſerer modernen Betriebseinrichtungen ſchon die ſchlimmſten Mißbräuche der
erſten Geſtaltung überwunden hat, da, wo man einſah, daß der Betrieb nicht bloß
nach der Leiſtungsfähigkeit der Maſchine, ſondern ebenſo nach der des arbeitenden
Menſchen eingerichtet werden muß. Das hatten die Unternehmer, wie Cunningham ſagt,
zuerſt ganz vergeſſen! —
Faſſen wir unſer Urteil über das Maſchinenzeitalter zuſammen: Die einſeitigen
Optimiſten, wie Michel Chevalier, Paſſy, Reuleaux, auch einzelne Socialiſten, wie
Fourier und Bebel, ſehen nur das Licht, die einſeitigen Peſſimiſten, wie Sismondi,
Marx, überwiegend den Schatten; die wiſſenſchaftliche Betrachtung iſt mit Nicholſon,
Marſhall, Hobſon doch überwiegend zu einem gerechten, wohlabgewogenen Urteile
gekommen. Die moderne Technik und die Maſchine haben aus einer Volkswirtſchaft mit
mäßiger Bevölkerung, Kleinſtädten, durch die Waſſerkräfte zerſtreuten Gewerben, mit
feudaler, ſtabiler Agrarverfaſſung, lokalem Abſatz, geringem Außenverkehr eine ſolche
gemacht, die durch dichte Bevölkerung, Rieſenſtädte und Induſtriecentren, Großbetrieb,
großartigen Fernverkehr und weltwirtſchaftliche Arbeitsteilung ſich charakteriſiert. Dieſe
neue Volkswirtſchaft zeigt in Weſteuropa und den engliſchen Kolonien einſchließlich der
Vereinigten Staaten übereinſtimmende techniſche, aber daneben doch ſehr verſchiedene
[225]Allgemeine Würdigung des Maſchinenzeitalters.
ſociale Züge, je nach Raſſe, Geſchichte, Volksgeiſt, überlieferter Vermögens- und Ein-
kommensverteilung, je nach den verſchiedenen Inſtitutionen.
Wohlſtand und Lebenshaltung iſt allerwärts außerordentlich geſtiegen; aber in
den einzelnen Ländern nehmen daran die verſchiedenen Klaſſen ſehr verſchieden teil.
Auch iſt Vermehrung und Verbilligung der Produktion in den einzelnen wirtſchaftlichen
Zweigen eine ſehr verſchiedene; in Gewerbe und Verkehr liegen, wie wir ſahen, die
Glanzſeiten. Allgemeiner aber ſind die Wirkungen auf vermehrte Berührung aller
Menſchen, auf größere Kenntniſſe, geſtiegene Beweglichkeit. Die feineren Lebensgenüſſe
ſind allgemein gewachſen, das Leben iſt im ganzen verſchönert, äſthetiſch gehoben. Ebenſo
iſt alles Wirtſchaftsleben, auch das im Hauſe, auf dem Bauernhofe, rationaliſiert, iſt
von naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſen mehr beherrſcht, iſt rühriger, energiſcher geworden;
es iſt freilich auch unendlich komplizierter geworden, iſt durch die Verknüpfung mit an-
deren Wirtſchaften von Geſamturſachen abhängiger, leichter geſtört, von Kriſen leichter
heimgeſucht. Indem man immer mehr für die Zukunft, für die Ferne produziert, iſt
Irrtum leichter möglich. Aber dafür hat man größere Vorräte, welche beſſeren Aus-
gleich zwiſchen verſchiedenen Orten und Zeiten geſtatten. Man wird über Not, Kriſen,
Störungen im ganzen doch beſſer Herr als früher. Je höher die Technik ſteigt, deſto
mehr kann ſie den Zufall beherrſchen. Alle fortſchreitende Technik ſtellt Siege des Geiſtes
über die Natur dar.
Aber aller Fortſchritt in der Naturbeherrſchung iſt nur dauernd von Segen, wenn
der Menſch ſich ſelbſt beherrſcht, wenn die Geſellſchaft die neue revolutionierte Geſtaltung
des Wirtſchaftslebens nach den ewigen ſittlichen Idealen zu ordnen weiß. Daran fehlt
es noch. Unvermittelt ſteht das Alte und das Neue nebeneinander; alles gärt und
brodelt; die alten Ordnungen löſen ſich auf, die neuen ſind noch nicht gefunden. Der
Fleiß, die Arbeitſamkeit ſind außerordentlich geſtiegen, aber auch der Erwerbstrieb, die
Haſtigkeit, die Habſucht, die Genußſucht, die Neigung den Konkurrenten tot zu ſchlagen,
die Frivolität, das cyniſche, materialiſtiſche Leben in den Tag hinein. Vornehme Ge-
ſinnung, religiöſer Sinn, feines Empfinden iſt bei den führenden wirtſchaftlichen Kreiſen
nicht im Fortſchritt. Das innere Glück iſt weder bei den Reichen durch ihren maßloſen
Genuß, noch bei dem Mittelſtande und den Armen, die jenen ihren Luxus neiden,
entſprechend geſtiegen. Ein großer Techniker ſelbſt konnte vor einigen Jahren unſere
überſtolze Zeit mit den nicht unwahren Worten charakteriſieren: „Genußmenſchen ohne
Liebe und Fachmenſchen ohne Geiſt, dies Nichts bildet ſich ein, auf einer in der Geſchichte
unerreichten Höhe der Menſchheit zu ſtehen!“
Immer iſt ihm zu erwidern: alles wahre menſchliche Glück liegt in dem Gleich-
gewicht zwiſchen den Trieben und den Idealen, zwiſchen den Hoffnungen und der prak-
tiſchen Möglichkeit der Befriedigung. Eine gärende Zeit materiellen Aufſchwunges,
geſtiegenen Luxus’, zunehmender Bedürfniſſe, welche das Lebensideal beſcheidener Genüg-
ſamkeit und innerlicher Durchbildung hinter das thatkräftiger Selbſtbehauptung zurück-
geſtellt hat, muß eine geringere Zahl glücklicher und harmoniſcher Menſchen haben.
Aber es wird nicht ausſchließen, daß eine künftige beruhigtere Zeit auf Grund der
techniſchen Fortſchritte doch mehr ſubjektives Glücksgefühl erzeugen wird. Und in Bezug
auf die Geſellſchaft möchte ich ſagen: ſie baue ſich mit der neuen Technik ein neues,
unendlich beſſeres Wohnhaus, habe aber die neuen ſittlichen Lebensordnungen für die
richtige Benutzung desſelben noch nicht gefunden; das ſei die große Aufgabe der
Gegenwart. Und, möchte ich beifügen: wir müſſen heute neben den techniſchen Bau-
meiſtern den Männern danken und ihnen folgen, die uns lehren, den techniſchen Fort-
ſchritt richtig im ſittlichen Geiſte, im Geſamtintereſſe aller zu nützen!
86. Schlußergebniſſe. Liegt in der vorſtehenden Würdigung des Maſchinen-
zeitalters ſchon gewiſſermaßen eine ſolche der techniſchen Entwickelung im ganzen, ſo ſind
doch noch einige ergänzende Schlußworte über das Verhältnis von Technik und Volks-
wirtſchaft überhaupt und über ihre Beziehungen zum geiſtig-moraliſchen Leben, ſowie
zu den volkswirtſchaftlichen Inſtitutionen hinzuzufügen.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 15
[226]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Aller Fortſchritt der Technik bedeutet Umwege, größere Vorbereitung, Zeit und
Mühe koſtende Mittelglieder zwiſchen Abſicht und Erfolg, bedeutet Vermehrung des
äußeren wirtſchaftlichen Apparates, der Kapitalaufwendung. Es fragt ſich immer, ob der
Aufwand dem größeren und beſſeren Reſultate entſpricht, ob nicht die kompliziertere
Methode zu viel Reibung verurſacht, ein zu ſchwieriges, hemmendes Zuſammenwirken vieler
Perſonen zur ſelben Zeit oder nacheinander erfordert. Es muß immer die verbeſſerte
techniſche Methode mit ganz beſonderem Glück und Geſchick erfunden ſein, wenn ſie dieſe
Hemmniſſe überwinden, wenn der Erfolg dem Aufwande entſprechen ſoll. Auf jeder
Stufe der Kultur giebt es viele techniſche Verbeſſerungen, die wegen ihrer Koſten, ihres
Kapital- oder Perſonenerforderniſſes, ihres zu komplizierten ſocialen Mechanismus un-
ausführbar ſind. Überall wird ein Teil des wirtſchaftlichen Erfolges der höheren Technik
durch den ſteigend ſchwerfälligen Apparat aufgehoben. Freilich iſt dies in verſchiedenem
Maße je nach den Gebieten und Stufen der Technik der Fall. Jedenfalls, wo die
vermehrte oder verbeſſerte Produktion erheblichen natürlichen Widerſtänden begegnet,
durch phyſiologiſche, chemiſche, phyſikaliſche Grenzen eingeengt iſt, wie in der Landwirt-
ſchaft, iſt der Fortſchritt der Technik ein doppelt ſchwieriger, von beſtimmten Bedingungen
abhängiger. Die Erſetzung der wilden Feldgraswirtſchaft durch die Dreifelderwirtſchaft,
dieſer durch den Fruchtwechſel iſt nur möglich, wenn die erzeugten Früchte ſehr viel
teurer geworden ſind, Klima und Boden relativ günſtig ſich geſtalten, Kapital und
Arbeit relativ billig ſind. Aber in gewiſſem Maße iſt jeder techniſche Fortſchritt ſo
ökonomiſch bedingt durch die jeweiligen wirtſchaftlichen und geſellſchaftlichen Verhältniſſe.
Die einfache, primitive Wirtſchaft verträgt nur einfache, direkt wirkende techniſche Mittel.
Nur die höhere Kultur verträgt die Koſten, die komplizierten Mittel und den ſchweren
geſellſchaftlichen Apparat der höheren Technik.
Wegen des ſteigenden Kapitalerforderniſſes der höheren Technik identifiziert Böhm-
Bawerk kapitaliſtiſche und moderne Maſchinenproduktion. Und man iſt ihm darin
vielfach gefolgt. Ebenſo wichtig iſt die zeitliche Auseinanderlegung der wirtſchaftlichen
Prozeſſe durch alle höhere Technik. Die primitive Wirtſchaft kennt nur eine Thätigkeit
von heute auf morgen; die ältere Landwirtſchaft rechnet mit 2 — 4 Monaten von der
Saat bis zur Ernte, die neuere mit 9—10 Monaten. Die höhere gewerbliche Produktion
fertigt Vorräte für Monate und Jahre, ſie fügt immer mehr neben die Anſtalten, die
fertige Waren liefern, ſolche, welche Zwiſchenprodukte, Rohſtoffe, Werkzeuge und Maſchinen
herſtellen. Die Linien zwiſchen Produktion und Konſumtion werden zeitlich und geographiſch
immer länger und komplizierter, wie wir ſchon erwähnten. Daher aber auch die ſteigende
geſellſchaftliche Kompliziertheit jeder techniſch höher ſtehenden Volkswirtſchaft, die
zunehmende Vergeſellſchaftung, die Notwendigkeit gewiſſer centraler beherrſchender Mittel-
punkte und Direktionen. Ebenſo auch die unendliche Steigerung in der Schwierigkeit
der einheitlichen gleichmäßigen Vorwärtsbewegung, der Lenkung aller Wirtſchaftsprozeſſe.
Und endlich die leichte Möglichkeit der Störung, das häufige Vorkommen von Mangel
und Überfluß der Güter an einzelnen Stellen, zu beſtimmter Zeit; Mißſtände, welche nur
durch Fortſchritte der Organiſation und der Menſchen zu überwinden ſind, welche den
techniſchen Fortſchritten die Wage halten oder ſie übertreffen.
Nur klügere, umſichtigere Menſchen, ein ganz anderes gegenſeitiges Wiſſen um die
Zuſammenhänge, eine viel vollendetere ſociale Zucht, ganz anders ausgebildete ſociale
Inſtinkte und moraliſch-politiſche Inſtitutionen können die Reibungen und Schwierig-
keiten einer hohen Technik überwinden.
Von hier aus verſtehen wir aber auch erſt den ſcheinbaren Widerſpruch, daß einer-
ſeits die höhere Technik die Vorausſetzung aller höheren Kultur überhaupt iſt, und
andererſeits doch die höhere Technik weder ſtets mit höherer Kultur parallel geht,
noch ſtets geſunde volkswirtſchaftliche und moraliſch-politiſche Inſtitutionen erzeugt.
Vollendetere Technik, höheres Wirtſchaftsleben und höhere Kultur erſcheinen bis
auf einen gewiſſen Grad, vor allem bei einem großen Überblick über die Weltgeſchichte, als
ſich begleitende bedingende Erſcheinungen. Aber im einzelnen fällt doch entfernt nicht
jeder Schritt der einen Reihe mit jedem der anderen zuſammen. Es giebt Völker, die
[227]Die Epochen der Technik und der Volkswirtſchaft.
mit hoher Technik wirtſchaftlich zurückgingen, von techniſch tiefer ſtehenden überholt, ja
vernichtet wurden; Völker, die ohne gleich hohe Technik wie andere, ſie an geiſtiger,
ſittlicher und ſocialer Kultur übertrafen, Völker, die auch wirtſchaftlich durch größeren
Fleiß, beſſere ſociale und politiſche Organiſation vorankamen, ohne in der gleichen
Zeit erhebliche techniſche Fortſchritte zu machen.
Den Beweis für die zuerſt genannte allgemeine Wahrheit des Zuſammenhanges
haben wir in unſeren ganzen hiſtoriſch-techniſchen Ausführungen geliefert. Die Benützung
des Feuers, die Zähmung des Viehes, die Erfindung der Werkzeuge, der Bau von
Wohnungen, vollends die moderne Maſchine, die heutige Präciſionstechnik ſind Stationen
auf einer anſteigenden Erziehungsbahn, welche den Menſchen immer beſſer verſorgten,
ihn aber auch denken, beobachten, die Zukunft beherrſchen lehrten. Mit der höheren
Technik allein wurden zugleich die größeren, komplizierteren arbeitsgeteilten ſocialen
Körper möglich. Die Organiſation derſelben aber, die Pflichten der einzelnen in ihnen
waren immer ſchwer zu finden. Und deshalb die Möglichkeit der ſittlichen Ent-
artung bei jedem großen techniſchen Fortſchritt, deshalb die große Frage, ob ſofort oder
überhaupt allein mit der beſſeren Technik und dem größeren Wohlſtand die vollendetere
geſellſchaftliche Organiſation gelinge.
Im ganzen waren gewiß die Völker mit höherer Technik nicht bloß die reicheren,
ſondern auch die herrſchenden, die ſiegreich ſich ausbreitenden. Und zwar umſomehr, je
langſamer früher die Fortſchritte der einzelnen ſich auf andere übertrugen. Die heutige
Ausgleichung der Technik zwiſchen faſt allen Völkern und Raſſen wird ſchneller gehen
als je früher. Ob ſie einzelnen der heute in erſter Linie ſtehenden Völker ihren Primat
entreißt, ob bei der Konkurrenz und dem Ausgleichungsprozeſſe viele der unentwickelten
Raſſen und Völker durch die unvermittelte Berührung mit hoher Technik leiden oder gar
zu Grunde gehen, iſt ſchwer ſicher zu prophezeien. Die höhere Technik und der größere
Wohlſtand, die zunehmenden Genüſſe ſind etwas, was erſt in langer ſittlicher Schulung
an der Hand beſtimmter moraliſch-politiſcher Geſellſchaftseinrichtungen ohne Schaden
erträglich und ſegensreich wird.
Als alleinige Urſache der volkswirtſchaftlichen Organiſation, der jeweiligen wirt-
ſchaftlichen Zuſtände und Inſtitutionen wird kein geſchichtlich Unterrichteter die Technik
und ihren jeweiligen Stand hinſtellen wollen. Sie bildet nur ein ſehr wichtiges
Mittelglied zwiſchen den zwei Hauptreihen der volkswirtſchaftlichen Urſachen, den rein
natürlichen (Klima, phyſiologiſche Menſchennatur, Flora, Fauna ꝛc.) und den geiſtig-
moraliſchen. Die drei Gruppen von Urſachen beeinfluſſen ſich gegenſeitig, aber keine
beherrſcht ganz die andere. Es giebt kein höheres geiſtiges Leben ohne techniſche Ent-
wickelung, aber auch keine höhere Technik ohne geiſtige und moraliſche Fortſchritte,
größeres Nachdenken, beſſere Selbſtbeherrſchung.
Die volkswirtſchaftliche Organiſation in Familien, Gemeinden, Staaten, Unter-
nehmungen, die ſociale Klaſſenbildung und Arbeitsteilung iſt von der Technik in gewiſſen
groben Umriſſen der Struktur ſtets bedingt. Ackerbauer und Nomaden ſind notwendig
verſchieden organiſiert; die ältere Ackerbau- und Handwerkstechnik hat die Bauern- und
Handwerkswirtſchaft, die Maſchinenwirtſchaft den Großbetrieb, die heutige Verkehrs-
technik große Märkte und Staaten geſchaffen; aber keine dieſer techniſchen Urſachen hat
die Raſſeneigenſchaften der Menſchen, ihre ſittlichen Ideale, ihre Inſtitutionen allein
geordnet, beeinflußt, geſtaltet, ſondern nur in Verbindung mit ebenſo ſtarken, ſelbſtändig
daneben ſtehenden pſychiſchen Urſachen das einzelne der praktiſch hiſtoriſchen Aus-
geſtaltung beſtimmt. Wie könnte ſonſt dieſelbe oder eine ganz ähnliche Technik jederzeit
ſo verſchiedene Volkswirtſchaften erzeugt haben? Daß dem ſo ſei, haben wir an ver-
ſchiedenen Stellen gezeigt.
Darum wird aber auch der Stufengang der Technik nicht allein ausreichen, um
als das allein herrſchende Entwickelungsgeſetz des volkswirtſchaftlichen Lebens zu dienen,
obwohl in gewiſſem beſchränkten Sinne die Stufen der Technik zugleich gewiß Stufen
des volkswirtſchaftlichen Lebens ſind. Es kommt für unſer heutiges Urteil hinzu, daß
der Stufengang der techniſchen Entwickelung heute weder ſchon ganz klar wiſſenſchaftlich
15*
[228]Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
vor uns ſteht, noch daß bei der großen Kompliziertheit der techniſchen Vorgänge, bei
der Selbſtändigkeit der Entwickelung einzelner Teile der Technik ihre fortſchreitende
Geſamterſcheinung ganz übereinſtimmende Züge zeigt.
Wir haben einleitend die bisherigen Verſuche einer Einteilung des hiſtoriſchen
Entwickelungsganges der Technik erwähnt, ſie dann im einzelnen teilweiſe kritiſiert, teil-
weiſe werden wir darauf zurückkommen. Wir wollen hier nicht verſuchen, aus unſerem
Material nun ein neues hiſtoriſch-techniſches Schema der Entwickelung aufzuſtellen; wir
glauben mit unſerer hiſtoriſchen Erzählung und den von uns gebrauchten Bezeichnungen
der einzelnen Epochen dem wiſſenſchaftlichen Bedürfniſſe, ſoweit es heute erfüllbar iſt,
Genüge gethan zu haben. Ohne konſtruierende Gewaltthätigkeit iſt heute nichts mehr
zu geben.
Nur darüber möchten wir noch ein Wort ſagen, daß natürlich die einzelnen
Elemente der Technik einer Zeit zwar in Wechſelwirkung ſtehen, daß aber dieſe je nach
Verkehr und Intelligenz, Volkscharakter und Klaſſenordnung eine ſehr verſchiedene iſt.
Die Technik der Ernährung, des Hausbaues, der Waffen iſt überall von Klima und
Boden mit abhängig. Viele Völker machen einzelne techniſche Fortſchritte, ohne die
entſprechenden, anderwärts hiermit zuſammenhängenden zu vollziehen. Nicht alle Völker
mit Töpferei, mit Pfeil und Bogen, mit beſtimmtem Hack-, Acker- oder Hausbau haben
im übrigen die gleiche Technik. Die verſchiedenen Stufen des Ackerbau-, Hirten- und
Gewerbelebens haben häufig, aber keineswegs immer, die Kriegstechnik in gleicher Weiſe
beeinflußt. Die Technik des Geldverkehrs hat häufig beſtimmte Folgen durch die ganze
Volkswirtſchaft hindurch gehabt. Aber alle dieſe Zuſammenhänge ſind ſehr kompliziert,
in ihrer Wirkſamkeit ſo vielfach beſchränkt, daß die Aufſtellung ſchematiſcher Reihen
ſehr ſchwierig iſt. Aus einigen bekannten techniſchen Elementen einer Zeit und eines Volkes
die übrigen unbekannten abzuleiten, iſt immer nur in beſchränktem Maße möglich. Noch
viel weniger freilich iſt die Ableitung der geiſtig moraliſchen Eigenſchaften der Menſchen
und der geſamten Inſtitutionen eines Volkes aus ſeiner Technik allein angängig.
Und nun noch ein letztes Wort über die auch von uns, im Anſchluß an den
gewöhnlichen wiſſenſchaftlichen Sprachgebrauch benutzten Begriffe der Halb- und Ganz-
kulturvölker, welche in Gegenſatz zu den primitiven, den Naturvölkern, wilden und
Barbarenvölkern geſtellt werden.
Mit dem ſehr allgemeinen Worte „Kultur“ hat der Sprachgenius ſich einen Begriff
gebildet, der ganz abſichtlich halb techniſch und wirtſchaftlich, halb moraliſch und politiſch
iſt. Mit dem Wort „Kulturvolk“ wollen wir einerſeits eine Stufe der Technik und der
durch ſie bedingten Wirtſchaft, andererſeits eine gewiſſe Höhe des geiſtig-moraliſchen
Lebens und der politiſchen Inſtitutionen bezeichnen. Nur ſeßhaften Völkern von einer
gewiſſen Größe, mit Ackerbau, Städten und Gewerben, mit einer ausgebildeten Haus-
wirtſchaft und einer bereits ſelbſtändig gewordenen Gemeinde- oder Staatswirtſchaft,
geben wir das auszeichnende Prädikat der Kultur; aber auch nur, wenn ihnen die geiſtigen
Vorausſetzungen dieſer techniſchen Erfolge, die Anfänge der Schrift, der Zahlen, des Maß-
und Gewichtsweſens in Fleiſch und Blut übergegangen ſind, und wenn ſie zugleich durch
höhere Religionsſyſteme, durch Sitte und Recht, durch eine ausgebildete Regierung zu einem
geordneten komplizierten Geſellſchaftszuſtand gekommen ſind. Wir teilen ſie in Halb-
und Ganzkulturvölker ein und verſtehen unter den erſteren die kleineren, älteren Völker
dieſer Art, deren geiſtig-moraliſches Leben noch tiefer ſteht, die noch despotiſchen Gewalten
unterworfen ſind, keine feſte Sphäre perſönlicher Freiheit kennen. Die Griechen mit
ihren Werkzeugen, wie die heutigen Europäer mit ihren Maſchinen rechnen wir zu den
Kulturvölkern und im Gegenſatz hiezu die Völker des aſiatiſchen Altertums, die heutigen
Japaner, die Peruaner und Mexikaner des 16. Jahrhunderts zu den Halbkulturvölkern.
[[229]]
Zweites Buch.
Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volks-
wirtſchaft,
ihre wichtigſten Organe und deren Haupturſachen.
1. Die Familienwirtſchaft.
- Allgemeine Werke: Laboulaye, Recherches sur la condition civile et politique des
femmes depuis les Romains jusqu’à nos jours. 1843. — - Unger, Die Ehe in ihrer weltgeſchicht-
lichen Entwickelung. 1850. — - J. J. Roßbach, Vier Bücher Geſchichte der Familie. 1859. —
- Lippert, Die Geſchichte der Familie. 1884. —
- Devas, Studies of family life; deutſch 1887. —
- v. Hellwald, Die menſchliche Familie nach ihrer Entſtehung und natürlichen Entwickelung. 1889. —
- H. Spencer, Principien der Sociologie; deutſch von Vetter. 4 Bde. 1877 ff.
Älteſte Zeit, Mutterrecht und Gentilverfaſſung: Bachofen, Das Mutterrecht. 1861; —
Derſ., Antiquariſche Briefe. 2 Bde. 1880—86. — - Giraud-Teulonfils, La mère chez certains
peuples de l’antiquité. 1867; — Derſ., Les origines du mariage et de la famille. 1884. — - Lewis H. Morgan, Systems of consanguinity and affinity of the human family. 1870; —
Derſ., Ancient society. 1877, deutſch 1891. — - A. H. Poſt, Die Geſchlechtsgenoſſenſchaft der Urzeit
und die Entſtehung der Familie. 1875. — - L. Fiſon u. W. Howitt, Kamilaroi and Kunnai,
Group marriage and relationship and marriage by elopement ect. 1880. — - Dargun, Mutter-
recht und Raubehe, Gierkes Unterſ. z. d. St. u. R. G. Heft 16, 1883; — Derſ., Mutterrecht und
Vaterrecht. 1892. — - Kohler, Studien über Frauengemeinſchaft, Frauenraub und Frauenkauf.
Zeitſchr. f. vergl. Rechtsw. 5; — Derſ., Zur Urgeſchichte der Familie. 1897. — - Starke, Die
primitive Familie. 1888. — - Bernhöft, Verwandtſchaftsnormen und Eheformen der nordamerik.
Volksſtämme. 1889. — - Weſtermarck, Geſchichte der menſchlichen Ehe. Deutſch 1893. —
- Cunow,
Die Verwandtſchaftsorganiſationen der Auſtralneger. 1894; — Derſ., Die ökonomiſchen Grundlagen
der Mutterherrſchaft. Neue Zeit 1898. 1. — - Groſſe, Die Formen der Familie und die Formen der
Wirtſchaft. 1896. — - Steinmetz, Die neueren Forſchungen zur Geſchichte der menſchlichen Familie.
Zeitſchr. f. Soc. W. 2. 1899. — - Schmoller, Die Urgeſchichte der Familie, Mutterrecht und Gentil-
verfaſſung. J. f. G. V. 1899.
Patriarchaliſche Großfamilie: H. S. Maine, Ancient law. 1. ed. 1861, 5. 1874; — Derſ.,
Lectures of the early history of institutions. 1875. — - J. F. Mac Lennan, Primitive marriage.
1865; — Derſ., Studies in ancient history. 1876; — Derſ., The patriarchal theory. 1885. — - Kohler, Indiſches Erb- und Familienrecht. Zeitſchr. f. vergl. Rechtsw. 3. —
- Hermanns
Lehrbuch griechiſcher Antiquitäten. 3. Aufl. 4, 251 ff. 1882 u. 2. Aufl. 3, 63 ff. 1870. — - Aug.
Roßbach, Unterſuchungen über die römiſche Ehe. 1853. — - Laband, Die rechtliche Stellung der
Frauen im altrömiſchen und germaniſchen Recht. Zeitſchr. f. Völkerpſychol. 3, 137 ff.
Gemeinderſchaften und Hauskommunionen: Heusler, Inſtitutionen des deutſchen Privatrechts.
2 Bde. 1885. — - J. v. Keußler, Geſchichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebeſitzes in Rußland.
II, 1, 53 ff. 1882. — - de Laveleye (deutſch von Bücher), Das Ureigentum. 1879.
[230]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Germaniſch-mittelalterliche Zeit: J. Grimm, Deutſche Rechtsaltertümer. 3. Aufl. 1881. — - L. Königswarter, Histoire de l’organisation de la famille en France. 1851. —
- K. Weinhold,
Altnordiſches Leben. 1856; — Derſ., Die deutſchen Frauen im Mittelalter. 2 Bde. 1851. 2. Aufl.
1882. — - Charles de Ribbe, Les familles et les sociétés en France avant la Révolution.
1872. 4. Aufl. 1879. — - Bücher, Die Frauenfrage im Mittelalter. 1882.
Neuere Zeit: Riehl, Die Familie. 1854. — - J. Simon, L’ouvrière. 1861; — Derſ., L’ouvrier
à huit ans. 1867. — - Michelet, La femme. 1860. —
- Le Play, La réforme sociale en France,
déduite de l’observation comparée des peuples européennes. 3 Bde. 1864. 3. Aufl. 1874; —
Derſ., L’organisation de la famille. 1. Aufl. 1871, 3. 1884. — - Fr. v. Holtzendorff, Die Ver-
beſſerungen in der geſellſchaftlichen und wirtſchaftlichen Stellung der Frauen. 1867. — - J. St. Mill,
Subjection of women. 1869, deutſch 1881. — - Daubié, La femme pauvre au 19. siècle. 3 Bde.
1869—70. — - J. Butler, Womans work and womans culture. 1869. —
- M. Reichardt-
Stromberg, Frauenrecht und Frauenpflicht. 1870. — - v. Nathuſius, Zur Frauenfrage. 1871. —
- H. v. Scheel, Frauenfrage und Frauenſtudium. J. f. N. u. St. 1. F. 22, 1874. —
- L. v. Stein,
Die Frau auf dem Gebiete der Nationalökonomie. 1875; — Derſ., Die Frau auf dem ſocialen
Gebiete. 1880. — - Auguſt Bebel, Die Frau und der Socialismus. 1879, 9. Aufl. 1891. —
- Pierſtorff, Frauenarbeit und Frauenfrage. H.W. 3. Dort die neueſte Litteratur.
87. Vorbemerkung. Litteratur. Definitionen. Wir haben im bis-
herigen vielfach das individuelle wirtſchaftliche Handeln der Menſchen betrachtet und
werden im nächſten Buche, das die Wert- und Verkehrserſcheinungen, ſowie die Ein-
kommensverteilung behandelt, wieder auf dasſelbe zurückkommen. Die Individuen bleiben
ſtets die aktiven Atome des volkswirtſchaftlichen Körpers. Aber ihre Bethätigung erfolgt
doch ganz überwiegend in der Form einer Verknüpfung zu beſtimmten Organen, wie
wir oben (S. 61—64) ſahen. Die Struktur der Volkswirtſchaft wird nur verſtändlich,
wenn wir die Art und die Haupttypen ſolcher Verknüpfung ſtudieren. Die wirtſchaftliche
Thätigkeit und Stellung, der ſociale Rang, das Einkommen und die Verſorgung der
einzelnen wird weſentlich beſtimmt durch die Art, wie die Individuen in die ſocialen
Organe eingefügt ſind. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen, welche die Organbildung für
Jahrhunderte und Jahrtauſende beſtimmen und in gewiſſen gleichmäßigen Bahnen feſt-
halten, ſind das Ergebnis der menſchlichen Natur und der Technik einerſeits, der geiſtigen
Mächte andererſeits. Die Volkswirtſchaft nach ihrer geſellſchaftlichen Seite ſtellt ſich dar
als ein Mechanismus von Gruppen ſocialer Organe in beſtimmter Wechſelwirkung.
Es handelt ſich hauptſächlich um drei Gruppen von ſolchen Organen: 1. um die
Familie und die Geſchlechtsverbände, 2. um die Gebietskörperſchaften, von welchen Ge-
meinde und Staat die wichtigſten ſind, und 3. um die Unternehmungen. Die erſteren
zwei Formen der Organiſation ſind die älteren und die nicht bloß wirtſchaftlichen, ſon-
dern ebenſo ſehr anderen Zwecken dienenden; die Unternehmungen gehören den Zeiten
und Gebieten der höheren Kultur, hauptſächlich der letzten Generationen an, haben weſent-
lich nur wirtſchaftliche Funktionen. Jede dieſer Gruppen von Organen wird nur klar
verſtändlich durch eine hiſtoriſche Betrachtung, welche Herkommen, gegenwärtige Ver-
faſſung und Entwickelungstendenz aufzudecken ſucht. Die Urſachen der Organbildung,
ſoweit ſie nicht dem wirtſchaftlichen Leben angehören, werden wir nur ſo kurz wie
möglich anzudeuten ſuchen. Einige der wichtigſten aber, die zugleich dem wirtſchaftlichen
Leben angehören, müſſen wir beſonders beſprechen, teils um ihrer ſelbſt willen, teils
um durch ſie den Boden für die entſprechenden Organe zu gewinnen: die Anſiedlungs-
verhältniſſe bedingen das Verſtändnis der Gebietskorporationen; die Arbeitsteilung, die
ſociale Klaſſenbildung und die Eigentumsverhältniſſe ſind mit die wichtigſten ſocial-
wirtſchaftlichen Erſcheinungen überhaupt, aber es kann auch ohne ihre Erörterung das
Weſen der Unternehmung nicht dargeſtellt werden. Auf einige andere Organe der Volks-
wirtſchaft, die in zweiter Linie ſtehen, wie z. B. den Markt und die Börſe, die Arbeiter-
vereine, die Organe des Armen- und Verſicherungsweſens, die ſpeciellen Organe des Kredits,
kommen wir beſſer im folgenden Buche. Wir beginnen hier mit der Familienwirtſchaft. —
Seit den etwa 50 Jahren, da Gans das Erbrecht, Unger die Ehe in ihrer welt-
hiſtoriſchen Entwickelung zu ſchildern verſuchten, Laboulaye ſein glänzendes Buch über
die rechtliche und politiſche Stellung der Frauen ſchrieb, hat die Erkenntnis von dem
Weſen und der Geſchichte der Familie außerordentliche Fortſchritte gemacht. Die Kultur-
[231]Litteratur und Begriffe der Verwandtſchaftsgruppen.
und Rechtsgeſchichte der einzelnen Völker haben uns einen Bauſtein nach dem anderen
dazu gereicht. Für die Nationalökonomie forderte Robert v. Mohl eine Einfügung der
Familienwirtſchaft in ihr Syſtem; Stein, Schäffle und andere machten Verſuche dieſer
Art; die Socialpolitik bemächtigte ſich mit Riehl, Le Play, J. St. Mill der Frauen-
und Familien-, ſpäter der Wohnungsfrage. Die Kunſtgeſchichte und Archäologie machten
aus der Geſchichte der Architektur und Wohnweiſe eine ganz eigene Disciplin. Die
philologiſch-hiſtoriſchen Studien (Bachofen) und die Ethnologie und Sociologie ent-
deckten das Mutterrecht und kamen zu einem keimenden Verſtändnis desſelben und der
Gentilverfaſſung. Lewis H. Morgan hat zwar durch doktrinäre demokratiſche Ideale
und falſch generaliſierende Konſtruktionen mannigfach gefehlt, aber ſeine Unterſuchungen
über die älteſte Familienverfaſſung bilden doch den Wendepunkt in der neueren wiſſen-
ſchaftlichen Entwickelung dieſer Fragen, während neben ihm H. S. Maine als der Be-
gründer der wiſſenſchaftlichen Geſchichte der patriarchaliſchen Familienverfaſſung daſteht.
Starke, Weſtermarck und andere haben die Übertreibungen von Morgan nachgewieſen,
aber im übrigen mehr Einzelheiten als die großen Fragen gefördert. Dargun, Groſſe
und Cunow ſcheinen viel mehr als die eben Genannten das Dunkel in der Urgeſchichte
der Familie einigermaßen geklärt zu haben.
Die wiſſenſchaftlichen Kämpfe auf dieſem Gebiete ſind noch nicht abgeſchloſſen.
Ebenſowenig ſteht für die ſpätere Zeit der patriarchaliſchen und modernen Familie ſchon
alles ſo feſt, wie es wünſchenswert wäre. Aber das kann uns nicht abhalten, zu ver-
ſuchen, den Entwickelungsgang der Familie und Familienwirtſchaft kurz ſo zu zeichnen,
wie er ſich uns eben nach dem Stande unſeres heutigen Wiſſens darſtellt. Wir erkennen
wenigſtens im großen und ganzen heute, wie die Formen der Familie ſich entwickelt
haben, und wie ſie mit dem Gang der Technik und des ganzen volkswirtſchaftlichen Lebens
zuſammenhängen; wie ſie die Hauptphaſen des Familienrechtes beſtimmten und ſelbſt von
Religion, Sitte und geiſtigem Leben beeinflußt und geſtaltet wurden. Vieles einzelne
und Abweichende müſſen wir beiſeite laſſen; nur das Wichtigſte, volkswirtſchaftlich und
geſellſchaftlich Bedeutſamſte darf uns beſchäftigen.
Verſtändigen wir uns vorher noch über einige Begriffe und Namen. Wir wollen unter
einer Horde eine kleine Zahl von 20—100 Perſonen (Männer und Frauen, Kinder,
junge und alte Leute) verſtehen, die, gemeinſamen Blutes, in engſter örtlicher Verbindung
als geſchloſſene Einheit leben. Wo mehrere ſolcher Gruppen miteinander blutsverwandt,
in nächſter Nachbarſchaft weilen, untereinander ſich begatten, ein geſchloſſenes Ganze aus-
machen, da ſprechen wir von einem Stamm, deſſen Teile wir nun Sippen oder
Gentes nennen. Der Stamm kann durch Verbindung von Horden, wie durch eigenes
Anwachſen und Scheidung in Sippen entſtehen. Die Stämme gehen von einigen
hundert bis zu einigen tauſend Seelen; haben ſie ſchon eine kriegeriſche und politiſche,
kräftige Spitze, ſo können ſie neben den Blutsgenoſſen auch Blutsfremde, unterworfene
Elemente mit umfaſſen; ſie werden ſo nach und nach zu Völkern. In der Regel ſind
die ſpäter als Völker bezeichneten Einheiten durch Stammesbündniſſe oder kriegeriſche
Zuſammenſchweißung entſtanden. — Die geſchlechtliche Verbindung von Mann und Frau
innerhalb der Horde oder des Stammes, welche über die Fortpflanzungsthätigkeit hinaus
bis nach Geburt des Sprößlings dauert, nennt Weſtermarck bereits Ehe. Wir werden
beſſer thun, dieſen Begriff nur auf geſchlechtliche Verbindungen derſelben Perſonen, welche
in der Regel länger dauern, durch geſellſchaftliche Sitte und Satzung anerkannt und
geheiligt ſind, meiſt mehr als einem Kinde das Leben geben, die Kinder gemeinſam
erziehen wollen, anzuwenden. Unter Sippen oder Gentes verſtehen wir Teile eines
Stammes, meiſt von 50—500 Perſonen aller Altersklaſſen und beiderlei Geſchlechtes,
die ihre Abſtammung auf eine gemeinſame Stammmutter (Mutterſippen) oder einen
gemeinſamen Stammvater (Vaterſippen) zurückführen, meiſt innerhalb der Sippe ſich
nicht geſchlechtlich verbinden. Regel iſt, daß jedes Stammesmitglied einer, aber auch nur
einer Sippe angehört. Die Sippen können die verſchiedenſte Ausbildung haben; ſie
verfolgen teilweiſe nur den Zweck, gewiſſe Geſchlechtsverbindungen zu hindern; bei höherer
Ausbildung ſind ſie zu Kult-, Rechts- und Schutz-, zu Wirtſchafts- und Hausgenoſſen-
[232]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſchaften geworden. Überall im weſentlichen auf den Blutszuſammenhang gegründet,
haben ſie da, wo ihre feſte Größe Bedingung der militäriſchen, wirtſchaftlichen und
ſonſtigen Einrichtungen iſt, oftmals durch Teilung, Zuſammenſetzung, Ergänzung eine
abſichtliche und planmäßige Umbildung erfahren, womit die alte Kontroverſe, ob die
Sippe auf Blut oder abſichtlicher Einteilung beruhe, ſich erledigt. Bei vielen Stämmen
bilden je zwei oder mehr Sippen Obergruppen, die man heute meiſt mit dem griechiſchen
Worte Phratrie bezeichnet.
Das oskiſche Wort famel bedeutet Knecht; die familia iſt die auf Eigentum und
Herrſchaft gegründete Verbindung eines Mannes mit einer Frau, den Kindern, Mägden
und Knechten, die als abhängige Arbeitskräfte dienen. Dieſer römiſche Begriff, den die
Germanen nicht hatten — ſie kannten nur die Sippe und das Wort Ewa, Ehe, für
Bund überhaupt — ging dann in die europäiſchen Sprachen über und wird in ſeiner,
der patriarchaliſchen und modernen Haus- und Familienwirtſchaft entnommenen Be-
deutung jetzt auch rückwärts oft auf ältere Einrichtungen übertragen, die weſentlich andere
waren. Wir werden daher beſſer als Großfamilie nur die patriarchaliſche Familie
bezeichnen, nicht einen Verband von Sippengenoſſen und Muttergruppen, welche in
Langhäuſern zuſammen wohnen und in gewiſſer Beziehung zuſammen wirtſchaften. Unter
Muttergruppe verſtehen wir die Verbindung und das Zuſammenleben der Mutter
mit ihren Kindern, wie ſie da vorkommt, wo der Vater nicht oder nicht ganz in dieſer
örtlichen, häuslichen und wirtſchaftlichen Gemeinſchaft aufgeht. —
88. Die älteſte Familienverfaſſung bis zum Mutterrecht. So
roh wir uns ſicher die älteſten Menſchen zu denken haben, ſo müſſen wir ſie uns doch
wohl vorſtellen als durch die Blutsbande und ein gewiſſes Zuſammenleben verbunden, als
kleine Horden, wo die Ernährung eine örtliche Verbindung von 20—100 Menſchen geſtattete,
als bloße Gruppen von Mann, Frau und Kindern, wo die Ernährung die Zerſtreuung
nötig machte; aber mehrere benachbarte ſolcher Gruppen fanden ſich dann doch ſicher zu
gewiſſen Zwecken, z. B. zur Verteidigung zuſammen, weil ſie ſich als Blutsgenoſſen
fühlten. Ohne herdenartige Eigenſchaften, ohne gewiſſe Züge der Sympathie können wir
uns auch die roheſten Menſchen nicht denken. Sie werden auch mehr als heute die
tiefſt ſtehenden Stämme (z. B. die Feuerländer und die Buſchmänner) in einem Klima,
auf einem Boden gelebt haben, die das Zuſammenbleiben der Horden geſtatteten.
Wo die Zerſtreuung eine ſo weitgehende war, wie wir ſie heute bei den eben
Genannten treffen, muß damals wie heute in der Regel Frau und Mann nebſt den
unerwachſenen Kindern zuſammen gelebt haben, zuſammen gewandert ſein, muß ein
Gewaltverhältnis des Mannes gegenüber Weib und Kindern ſtattgefunden, ein gewiſſes
Zuſammenwirken, eine Art Arbeitsteilung zwiſchen Mann und Frau Platz gegriffen
haben: der Schutz, die Jagd, der Fiſchfang war mehr Männer-, das Beerenſammeln,
Schleppen der Habſeligkeiten mehr Weiberſache. Die furchtbare Not des Lebens drängte
damals wohl das Geſchlechtsleben, das vielleicht noch an periodiſche Brunſtzeit geknüpft,
das durch jahrelanges Säugen eingeſchränkt war, wie alle zarteren Empfindungen mehr
zurück als ſpäter. Gewaltthätigkeit und Gleichgültigkeit war und iſt heute noch vielfach
die Signatur ſolcher Gruppenverhältniſſe. Eine Ehe im Sinne des ſpäteren ſemitiſchen
oder indogermaniſchen Patriarchats iſt nicht vorhanden; die Kinder verlaſſen die Eltern,
ſobald ſie ſich ernähren können. Über die Ausſchließlichkeit und Dauer der Geſchlechts-
beziehungen zwiſchen demſelben Mann und derſelben Frau ſind wir nicht unterrichtet.
Wir werden ſie uns nicht nach heutigen Bildern zu denken haben.
Auch wo Horden von der erwähnten Größe zuſammenlebten, werden wir nach den
Zuſtänden der heutigen niederen Jäger- und Fiſcherſtämme annehmen können, daß in
ihnen die Verbindung von Mann und Frau eine ähnliche war: eine gewiſſe rohe Gewalt
des Mannes über Weib und Kind treffen wir da heute noch überwiegend; der Vater iſt
meiſt als Erzeuger bekannt. Aber die Kinder ſind früh ſelbſtändig. Das Gefühl der Zu-
gehörigkeit zur Horde iſt ſtärker oder ebenſo ſtark wie das zwiſchen Mann und Frau, Eltern
und Kindern; eine eigentliche Familienwirtſchaft iſt nicht vorhanden, wenn auch geſchlechts-
reife Paare in gewiſſer Weiſe zuſammenhalten. Die durch beſondere Namen hervor-
[233]Die Familienverfaſſung der Jägerſtämme.
tretende, durch Sitte und Recht einigermaßen geordnete Einteilung der Horde iſt nicht
die nach Ehegruppen, ſondern vielmehr die nach dem Alter. Die Gleichalterigen nennen
ſich alle mit Namen, die unſerm Bruder und Schweſter entſprechen, die Jüngern reden
alle Erwachſenen mit ſolchen an, die für uns Vater und Mutter bedeuten. Auch Spuren
einer Sippeneinteilung ſind oft vorhanden, und damit ſind gewiſſe Schranken des Ge-
ſchlechtsverkehrs verbunden, wie ſie heute auch den roheſten Stämmen nicht fehlen. Es
ſind die Schranken zwiſchen Eltern und Kindern, vor allem zwiſchen Mutter und Kind,
die zwiſchen Geſchwiſtern, d. h. zwiſchen den Kindern derſelben Mutter, teilweiſe auch
ſchon zwiſchen Vettern und Baſen erſten und zweiten Grades.
War hierdurch eine beliebige Geſchlechtsvermiſchung ſchon in früheſter Zeit aus-
geſchloſſen, ſo blieb allerdings häufig der Verkehr zwiſchen denen, welche nicht unter dem
Verbote ſtanden, um ſo freier. Aber die Auswahl konnte in kleinen Horden von 20
bis 100 Perſonen nicht groß ſein. Daher ſehr früh die Sitte, aus nahen, verwandten,
ſprachgleichen Nachbarhorden ſich ein Weib zu holen, was die Mannesherrſchaft in der
Geſchlechtsgruppe befeſtigte. Die Nachbarhorden wurden ſo verknüpft, konnten, wie
erwähnt, zu einem Stamme zuſammenwachſen. Und es konnte nun die Scheu vor
blutsnahen Geſchlechtsverbindungen leicht dahin führen und hat bei unzähligen Stämmen
dazu geführt, daß die bisher getrennten Horden ſich als Sippen eines einheitlichen
Stammes fühlten und jeden Geſchlechtsverkehr innerhalb der Horde oder Sippe verboten.
Das Princip der ſogenannten Exogamie, d. h. der Zwang für alle Stamm- oder Sippen-
genoſſen, die geſchlechtliche Verbindung in der Nachbarhorde, im Nachbarſtamme, beziehungs-
weiſe in den anderen zum Stamme gehörigen Sippen zu ſuchen, war damit entſtanden.
Es iſt das einer der wichtigſten Wendepunkte in der Geſchichte der Familienverfaſſung,
es iſt der Keim aller bis heute dauernden Verbote der Verwandtenheiraten; in tauſend-
fältiger Verſchiedenheit haben es alle nachfolgenden Generationen ausgeſtaltet. Ohne
ſolche Schranken hätte ein geſittetes Familienleben nie ſich bilden und erhalten können.
Wie die Furcht vor Inceſt (Begattung von Eltern und Kindern), vor der Ge-
ſchwiſterehe, vor der Blutsmiſchung zu naher Verwandter, vor der Endogamie oder Inzucht
überhaupt nach und nach entſtanden ſei, iſt eine der großen Kontroverſen der urgeſchicht-
lichen Forſchung. Wir können auf ſie nicht eingehen. Wir konſtatieren nur, daß ſolche
Schranken offenbar ſchon in früheſter Zeit ſich zu bilden begannen; wir müſſen annehmen,
daß ſie aus Inſtinkten und Gefühlen heraus entſtanden, vielleicht zuſammenhingen mit
der dämmernden Einſicht in die natürlichen und moraliſchen Folgen des Inceſts und der
blutsnahen Geſchlechtsverbindung; ſie waren das Mittel, den Geſchlechtstrieb im engſten
Kreiſe zu bändigen, die getrennten Sippen zu verbinden. —
Wo die Nahrungsgewinnung eine leichtere war, die Menſchen in etwas größerer
Zahl leichter beiſammen bleiben konnten, wie bei begünſtigten Fiſchervölkern und den
Raſſen, die in ſüdlichem Klima, auf gutem Boden den Hackbau erlernt hatten, da mußte
das Stammes- und Geſchlechtsleben ebenſo anders werden wie die Wohn- und Wirt-
ſchaftsweiſe. Da erwuchſen die Stämme und Völker, aus denen die ſpäteren Kultur-
völker hervorgingen, die alſo für die ganze Entwickelung der Menſchheit, ihrer Kultur
und ihrer geſellſchaftlichen Einrichtungen eine ganz andere Bedeutung haben, als die
zerſprengten, iſoliert lebenden Jäger, von denen wir bisher redeten. Die Betreffenden
ſind teilweiſe ſchon ſeßhaft, bilden Stämme von einigen hundert, ja tauſend Seelen, ſie
zerfallen faſt alle in Sippen, wohnen in Dörfern zuſammen, haben Sippen- und
Stammeshäuptlinge, kämpfen mit ihren Nachbarn. Sie haben in weiter Verbreitung
und ſtärkerer Ausbildung die eben geſchilderten Schranken gegenüber dem Inceſt, der
Geſchwiſterehe, der Endogamie. Ihre Familienverfaſſung muß aus der der primitiven
Jäger hervorgegangen ſein; aber ſie iſt bei vielen doch zu Einrichtungen und Gepflogen-
heiten gekommen, welche von den eben geſchilderten weſentlich abweichen. Sie ſind wegen
ihrer größeren Kompliziertheit ſchwerer zu verſtehen als die der primitiven Jäger und
haben deshalb und durch unvollkommene Beobachtung zu viel Irrtum Anlaß gegeben.
Näheres Zuſammenwohnen, beſſere Ernährung, ſociale Differenzierung, wirtſchaft-
liche und kulturelle Fortſchritte überhaupt werden ſtets zunächſt leicht zur Verſtärkung
[234]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
der ſexuellen Begierden und zu entſprechenden Verirrungen Anlaß gegeben haben. Wir
treffen bei vielen Stämmen und Völkern der eben geſchilderten Art ſexuelle Ungebunden-
heit bis zur Geburt des erſten Kindes, beſtimmte Feſte und Zeiten allgemeiner geſchlecht-
licher Ausgelaſſenheit und Vermiſchung, in Zuſammenhang mit der Sippeneinteilung
und Exogamie einen Geſchlechtsverkehr mehrerer Verwandter der einen Sippe mit ent-
ſprechenden Gliedern der anderen. Wo ſexuelle Laxheit und Ausſchweifung Platz griff,
konnte Ungewißheit über die Vaterſchaft eher Platz greifen als bei iſoliert lebenden
Paaren und ganz kleinen Horden. Derartige Erſcheinungen gaben für Bachofen, Lubock,
Mac Lennan, Morgan und andere Anlaß, an den Anfang der menſchlichen Entwickelung
eine angebliche allgemeine und regelloſe Geſchlechtsgemeinſchaft oder die Annahme all-
gemeiner Gruppenehen zu ſetzen. Es iſt denkbar, daß Derartiges da und dort vorkam,
aber nicht allgemein: die menſchliche Entwickelung drängte — von gewiſſen Ausnahmen
abgeſehen — wohl ſtets zu einer individuellen, gewiſſe Zeiten hindurch dauernden
Paarung; die Eiferſucht wie die einfachſten menſchlichen Gefühle wieſen immer auf
dieſen Weg; es war ſtets nur die Frage, wie lange eine ſolche Paarung dauerte, ob
die wirtſchaftlichen und Wohnverhältniſſe die Dauer und die Ausſchließlichkeit begünſtigten,
ob Sitte und Recht Inſtitutionen ſchaffen und feſthalten konnten, welche das den Ver-
hältniſſen und dem ſittlichen Fortſchritte Angemeſſene durchſetzten.
Machen wir uns die Verhältniſſe, um die es ſich handelte, klar. Wir haben es
mit etwas größeren Stämmen, die meiſt durch den Hackbau in beſſere Lage gekommen
ſind, zu thun. Der beſſere Anbau, die beſſere Ernährung iſt faſt überall den Frauen
zu danken; ſie haben die Mais- und anderen Felder angebaut; dieſe und die Hütten
ſind meiſt als ihr privates Eigentum angeſehen; erſt nach und nach entſteht mit dem
gemeinſamen Roden durch die Männer, durch die Sippen ein Sippeneigentum, durch
Stammesoccupation ein Stammeseigentum oder Obereigentum. Eine befeſtigte patri-
archaliſche Familienverfaſſung mit ausgebildeter Herrſchaft des Mannes über Frau und
Kinder (wie Weſtermarck und andere annehmen) gab es bei ihnen auch vor dieſem
Fortſchritte nicht, ſondern nur die Anſätze zu einer Ehe mit Vatergewalt und noch
ſtärkere Anſätze zu einer Sippeneinteilung des Stammes. Die Sippe konnte an die Ab-
ſtammung vom Vater wie an die von der Mutter anknüpfen; beides kommt vor; aber
das letztere überwiegt in der älteren Zeit, war das für jene Verhältniſſe Natürlichere,
Angemeſſenere. Die Benennung der Kinder nach der Mutter und die Zuweiſung aller
männlichen und weiblichen Nachkommen einer Stammmutter zur ſelben Sippe erleichterten
zunächſt die Durchführung der inſtinktiv gewünſchten Schranken des Geſchlechtsverkehrs
am leichteſten. Und das Verbot für Kinder und Kindeskinder derſelben Mutter erſchien
allen primitiven Völkern unendlich wichtiger als das für die Kinder eines Vaters. Und
da zugleich bei allen primitiven Völkern ein inſtinktives Verſtändnis und Gefühl für
die Blutseinheit zwiſchen Mutter und Kind, nicht aber für die zwiſchen Vater und Kind
vorhanden iſt, da der Geſchlechtsverkehr der Mutter mit ihrem Manne oder mehreren
Männern anderer Sippen, die in der Nähe wohnten, durch die beginnende Selb-
ſtändigkeit der Wirtſchaft von Mutter und Kindern nicht beeinträchtigt wurde, ſo
konnte aus der Benennung der Kinder nach der Mutter leicht das entſtehen, was wir
heute Mutterrecht nennen: ein Verhältnis, deſſen weite, faſt univerſale Verbreitung
zu einer gewiſſen Zeit der menſchlichen Entwickelung heute faſt nur die Unkenntnis
leugnen kann.
Das Weſentliche dieſer Verfaſſung iſt nicht, daß die Kinder ihren Vater nicht kannten
— das iſt doch wohl auch bei ihr nicht regelmäßig, ſondern ſtets nur ausnahmsweiſe der
Fall geweſen —, auch nicht, daß eine oder mehrere Frauen in der Sippe herrſchten;
eine ſolche Verfaſſung, das Matriarchat, die Mutterherrſchaft in Sippe und Stamm, kam
und kommt nur vereinzelt vor. Das Weſentliche iſt allein, daß die Ehegemeinſchaft von
Mann und Frau in Stamm und Sippe, in Wirtſchaft und Recht nicht die beherrſchende
Rolle ſpielt wie ſpäter in der patriarchaliſchen Familie, daß eine Reihe von Mutter-
und Geſchwiſtergruppen zu Sippen verbunden, daß dieſe Sippen die weſentlichen und
wichtigſten Träger des ſocialen Lebens ſind. Ich will nachher von ihnen beſonders reden.
[235]Mutterrecht und Muttergruppen.
Hier ſprechen wir zunächſt von den Muttergruppen, ihrer Wirtſchaft, ihrer Stellung,
ihrem Rechte.
Die Wohnweiſe der älteren Völker überhaupt haben wir uns ſo zu denken, daß
die Menſchen in ſo kleinen Hütten lebten, daß, auch wo Einehe mit Vatergewalt vor-
handen war, Mann und Frau häufig beſondere Hütten hatten, wie ſie auch vielfach
eine Art getrennter Wirtſchaft führten, nur in einzelnem ſich halfen. Derartiges iſt nun
auch zur Zeit des Mutterrechtes vorauszuſetzen; die Sippen wohnten zuſammen, meiſt
mindeſtens zwei, oft mehr Sippen in nächſter Nähe, im ſelben Dorfe. Wo nun die Hütten
etwas größer und beſſer wurden, da konnten leicht die Kinder, ja die Kindeskinder der
Mutter bei ihr in der Hütte bleiben, jedenfalls in Nachbarhütten untergebracht werden,
während die den anderen Sippen angehörigen Ehemänner bei ihrer Mutter, bei ihrer
Sippe wohnen blieben, ohne daß das den Geſchlechtsverkehr, das Helfen bei der Arbeit
hemmte, da auch dieſe Hütten nur wenig weiter entfernt waren. Als der große bauliche
Fortſchritt bei vielen dieſer Stämme eintrat, der Bau von Holzhäuſern, in denen 40,
60, 100 und mehr Perſonen Platz hatten, da war die Anordnung vielfach die, daß man die
jungen Männer oder alle Männer nach Sippen und Altersklaſſen in eines und daneben
die Weiber mit ihren Kindern in ein anderes verwies; oft aber auch ſo, daß die Sippen,
d. h. die von einer Stammmutter abſtammenden Männer und Frauen oder Teile der-
ſelben ſich ein ſogenanntes Langhaus mit Abteilungen für die einzelnen Mütter nebſt
ihren Kindern und mit ſolchen für die Männer herſtellten. Die Sitten konnten ſich dabei
ſehr verſchieden geſtalten: junge Ehemänner wohnten oft die erſten Jahre der Ehe oder
auch länger in der Hütte der Frau, im Langhaus ihrer Sippe. Oft wohnte auch die
Frau beim Manne, kehrte aber ſtets bei Krankheit und Kindbett, im Falle des Todes
des Mannes mit ihren Kindern zur Mutterſippe zurück. Oft durften auch die Ehe-
männer ihre Frauen nur regelmäßig in ihren Hütten, in ihrem Gemach des Langhauſes
beſuchen. Eine gewiſſe getrennte Wirtſchaft von Ehemann und Ehefrau erhielt ſich, wie
ſie ſchon vorher vielfach exiſtiert hatte. Die Frau gab dem Manne vom Erträgnis
ihrer Felder, er ihr von ſeiner Jagd etwas ab. Im übrigen lebten beide bei ihren
Geſchwiſtern, ihren Müttern, ihrer Sippe.
Die Frau führte mit ihren Kindern eine Art Sonderhaushalt, wobei ihre Brüder
einerſeits, ihr Ehemann andererſeits zu ihr in Beziehung ſtanden, ihr da und dort halfen
und von ihr unterſtützt wurden. Die Beziehungen der Frau zu ihrem Manne konnten
dauernde und ausſchließliche ſein; oft waren ſie es nicht; oft hatte der Mann Be-
ziehungen zu mehreren Frauen in verſchiedenen Sippen; die Dauer der Säugezeit war
meiſt noch eine viele Jahre lange; vielfach war in dieſer Zeit den Frauen der Geſchlechts-
verkehr unterſagt wie auch den Männern längere Zeit, ehe ſie auf den Kriegspfad ſich
begaben. Bei manchen Stämmen war den Kriegern jahrelang der, dieſer Thätigkeit,
wie man glaubte ungünſtige, Geſchlechtsverkehr verboten.
Eine Familie in unſerem Sinne gab es nicht. Mann und Frau lebten nicht
dauernd zuſammen; die Kinder ſahen nicht im Vater, ſondern in dem ſtets anweſenden
Mutterbruder die Reſpektsperſon, der ſie gehorchten, die ſie beerbten. Mann und Frau
erzogen ihre Kinder nicht gemeinſam; die ſittigenden Einflüſſe des Elternhauſes, des
Ahnenkultus, der patriarchaliſchen Familie fehlten, wie die Fortſetzung der Traditionen
durch Generationen hindurch. Der Vater ſparte und ſammelte nicht für ſeine Kinder.
Die Muttergruppe hatte eine mehr vorübergehende Exiſtenz: nur ſo lange die Kinder
klein waren, beſtand ſie, dann löſte ſie ſich wieder auf; ihre Glieder traten in die
Sippe zurück. Alle geiſtige und materielle Überlieferung mußte viel ſchwächer ſein.
Es war eine Familienverfaſſung, welche auf dem heiligſten und tiefſten Gefühle,
auf der Mutterliebe, aufgebaut war, dieſe Grundlage aller ſympathiſchen Gefühle aus-
bildete, verſtärkte, auch die Geſchwiſterliebe pflegte, die Blutseinheit der mütterlichen
Verwandten zu lebendigem Gefühl und Ausdruck brachte; in dem mütterlichen Haushalt,
ſeinem Herde, ſeiner Vorratsſammlung lag der Kern des ſpäteren Familienhaushaltes.
Aber es waren doch Zuſtände und Einrichtungen, welche eine höhere wirtſchaftliche,
politiſche, pſychiſche und religiöſe Entwickelung nicht förderten, weniger individuelle
[236]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Charaktere als herdenartige Menſchen erzeugten. Wir kommen darauf gleich zurück,
wenn wir die Sippenverfaſſung in ihrer älteren Geſtalt der Mutterſippen und in ihrer
Umbildung zu den Vaterſippen beſprechen.
Dieſe Verfaſſung konnte aus der Überlieferung älterer Zeit nicht klar erkannt
werden; aber daß ſie noch in den letzten hundert Jahren in Amerika, Afrika, Auſtralien,
Aſien, Polyneſien, bei den Malaien vielfach, oft freilich ſchon halb in Auflöſung, ſehr
verbreitet war, iſt heute durch Reiſende und Sprachforſcher ſicher erwieſen. Ebenſo daß
ſie da, wo die patriarchaliſche Familie einmal Fuß gefaßt hat, dieſe nie wieder ablöſte.
Die heute noch offene Kontroverſe iſt, ob ſie überall dieſer vorausgegangen ſei. Dies
als unbedingt anzunehmen, geht wohl zu weit. Die ältere Vatergewalt kann da und
dort direkt in die eigentlich patriarchaliſche übergegangen ſein. Aber wahrſcheinlich iſt,
daß die Völker, welche eine Epoche des Hackbaues durchmachten, faſt alle derartige,
freilich im einzelnen vielfach modifizierte Einrichtungen hatten.
89. Die Sippen- oder Gentilverfaſſung haben wir in ihrer Entſtehung
eben kennen gelernt. Ihre im ganzen ältere, uterine Form fällt mit dem Mutterrechte
zeitlich und örtlich zuſammen, ihre ſpätere Form, die Vaterſippe, iſt in derſelben Zeit
entſtanden wie das Patriarchat, das ſie aber überlebt und aufzulöſen geholfen hat. Wir
erwähnten ſchon, daß die ſelbſtändige Entſtehung von Vaterſippen denkbar ſei. Das
Wahrſcheinlichere bleibt mir, daß ſie hauptſächlich als Nachbildung der Mutterſippen
entſtanden, weil die Sippenverfaſſung aus Mutter- und Geſchwiſtergruppen viel leichter
erklärlich iſt. Stämme mit Vaterrecht, mit patriarchaliſcher Familienverfaſſung enthielten
in ſich größere Sonderintereſſen, größere Beſitzunterſchiede, waren differenzierter nach allen
Seiten; ſie konnten viel ſchwieriger von ſelbſt zu brüderlichen Genoſſenſchaften kommen;
die Söhne und Enkel der verſchiedenſten, oft blutsfremden Frauen konnten zur Zeit des
Vaterrechtes viel ſchwerer ſich als Brüder behandeln, auch wenn ihre Väter verwandt
waren, als die Söhne blutsverwandter Mütter zur Zeit des Mutterrechtes. Wo aber
die Sippenverfaſſung hergebracht und Vorausſetzung aller Stammeseinrichtungen war,
konnte leicht beim Übergang zum Vaterrecht teils von ſelbſt, teils durch Stammes-
anordnung die Vaterſippe, wenn auch von Anbeginn an in etwas abgeſchwächter Ge-
ſtalt, entſtehen.
Alle Sippenbildung iſt in erſter Linie das Ergebnis natürlicher Blutsverwandt-
ſchaft, geht aus den Gefühlen und Gewohnheiten des Blutszuſammenhanges hervor;
aber ſie iſt daneben eine Folge konventioneller Einrichtung: der Namengebung, der
Benennung gewiſſer Verwandter mit demſelben Namen, des Bedürfniſſes, die Verwandten
zu gruppieren, ein Verwandtſchaftsſyſtem aufzuſtellen; und daran wieder reiht ſich die
Tendenz, gewiſſe Verbote des Geſchlechtsverkehrs an dieſe Einteilung und dieſe Namen
anzuknüpfen. Die Auffaſſung der Verwandtſchaft mit ihren Namen und Einteilungen
wird unmittelbar zu einer Vorſtellung über Abſtammung von Göttern, Tieren oder
anderen Weſen, ſie führt zu gemeinſamen Kulthandlungen, Symbolen, Darbringungen,
Feſten und in weiterer Linie zu wirtſchaftlichen und rechtlichen Einrichtungen. Auf jeder
Stufe dieſer Ausbildung kann der Entwickelungsprozeß ſtehen bleiben. Die Sippe iſt,
je mehr ſie Aufgaben übernimmt, deſto mehr eine künſtlich oder hiſtoriſch gewordene
Inſtitution, keine Natureinrichtung. Sie iſt bei gewiſſen Raſſen kümmerlich, bei anderen
hoch ausgebildet. Sie erzeugt hier nur Verbote des Geſchlechtsverkehrs für verwandte
Perſonen, die zerſtreut wohnen, dort ein gemeinſames, geſchloſſenes Auftreten, Wohnen,
ja Wirtſchaften. Wo ſie blühte, ſpielte ſie eine große Rolle, war ſie lange das wichtigſte
Unterorgan des Stammes.
Die älteren Stämme mit Gentilverfaſſung zählen bis zu einigen tauſend Seelen;
aber auch in den ſpäteren Stammesbündniſſen und Völkerſchaften bis zu 10 und
20000 Seelen treffen wir Sippen; die antiken Völker der Griechen und Römer, auch
die Germanen beginnen ihre Geſchichte mit noch ſehr ſtarken Sippen nach Vaterrecht.
Die Mitglieder des Stammes zerfallen in eine Anzahl Sippen in der Weiſe, daß jedes
einer angehören muß, aber auch nur einer angehören darf, daß ohne Sippengenoſſen-
ſchaft keine Stammeszugehörigkeit denkbar iſt. Die Zahl der Sippen iſt oft ſcheinbar
[237]Die Sippenverbände und ihre Verfaſſung.
willkürlich, ungerade, durch hiſtoriſche Schickſale beſtimmt, meiſt aber eine gerade, häufig
trifft man 4, 8, 16, 32, 64 Gentes, ſo daß man an eine ſucceſſive Teilung bei der
Stammesvergrößerung denkt und begreift, warum je 2 oder 4 Gentes ſich beſonders
verwandt (als Phratrie) fühlen, gewiſſe Namen und Heiligtümer gemeinſam haben. Die
Glieder der Sippe ſind die Nachkommen einer Stammmutter (ſpäter eines Stammvaters)
oder betrachten ſich als ſolche; Tätowierung, Blutsbrüderſchaft und Ähnliches erſetzt bei
dieſer Kulturſtufe oft die Verwandtſchaft, zumal wenn die Betreffenden geiſtig und
körperlich ſich nahe ſtehen, durch Zuſammenwohnen ſich aſſimilieren. Die Zahl der einer
Sippe angehörigen erwachſenen und unerwachſenen Perſonen ſchwankt, ſoweit wir halb-
wegs brauchbare Zahlen haben feſtſtellen können, zwiſchen 50 und 500 Seelen; es würde
alſo eine Gens letzterer Art etwa 100 waffenfähige Männer, etwa 200—250 erwachſene
Männer und Frauen im Alter zwiſchen 16—45 Jahren gehabt haben. Je mehr Zwecke
die Sippe in den Rahmen ihrer Verfaſſung aufnahm, deſto mehr müſſen die praktiſchen
Bedürfniſſe der Vieh- oder Ackerwirtſchaft, der Veteidigung und Wanderung, der Kriegs-
führung und der Siedlung beſtimmend in die Größen- und Zahlenverhältniſſe ein-
gegriffen haben. Deſto mehr haben wir uns auch zu denken, daß abſichtliche, planmäßige
Einteilung die Geſchlechtsverbände ordnete, vergrößerte oder verkleinerte; ſie gingen dann
freilich mehr und mehr in gemeindliche und ſtaatliche Gebilde, gewillkürte Korporationen
über. Ich erinnere nur daran, daß über die Größe der germaniſchen Hundertſchaft wie
über die der Mark- und Dorfgenoſſenſchaft, deren Kern ſicher geſchlechterartig war, noch
immer der Streit hin- und herwogt. Meitzen ſieht in der Markgenoſſenſchaft eine
Viehweidegenoſſenſchaft von 120 Familien, etwa 1000 Seelen.
Die Gens bildet ein Mittelding zwiſchen dem, was wir heute eine große Familie
und was wir eine Genoſſenſchaft nennen; die uterine iſt in ſich nur in eine Anzahl
Muttergruppen nebſt den dieſen blutsverwandten Brüdern und Mutterbrüdern gegliedert,
die Vaterſippe in eine entſprechende Zahl Familien. Das Weſentliche iſt, daß alle
Gentilgenoſſen ſich im ganzen wie Brüder und Schweſtern behandeln, daß bei voll-
endeter Ausbildung der Inſtitution innerhalb der uterinen Gens jede Liebesbeziehung
und jeder Geſchlechtsverkehr teilweiſe bei den härteſten Strafen verboten war. Vielfach
ſteht die Todesſtrafe auf jedem geſchlechtlichen Verkehr innerhalb der Gens. Die Männer
einer uterinen Sippe haben ihre Geliebten oder Frauen in einer anderen Gens.
Die Gentilgenoſſen ſämtlicher uns näher bekannten Stämme mit ausgebildeter
Sippenverfaſſung hatten gemeinſame Kulte, Heiligtümer und Begräbnisplätze, gemeinſame
Stammzeichen und Namen, bald nach Tieren, bald nach Orten und Ahnen; ſie garan-
tierten ſich Schutz, Frieden, Hülfe gegen jede Not und Gewalt. Wer den Gentilgenoſſen
ſchmähte, ſchlug, verwundete oder tötete, griff damit die Sippe an, wie dieſe umgekehrt
für jedes Unrecht eines der Ihrigen haftete. Das Unrecht des einzelnen führte zu Ver-
handlungen zwiſchen den Gentes; wenn ſie ſich nicht in Güte vertrugen, erfolgte die
Blutsrache der Sippen untereinander. Die ſpätere Aufbringung des Wergeldes durch
die ſämtlichen Magen oder Genoſſen der germaniſchen Vaterſippe, die Verteilung des
empfangenen Wergeldes ganz oder teilweiſe an ſämtliche Magen, die ſpätere Eideshülfe
der Magen, das ſpätere Recht, den Genoſſen auszuſtoßen, für den die Sippe nicht haften
will, dies und vieles andere beweiſt, wie die Gens das Vorbild für alle Genoſſenſchaft
iſt, in welcher alle für einen und einer für alle ſtehen.
Die Gens hat gemeinſame Feſte, Spiele und Tänze; wie auf der Feſtverſammlung
des Stammes, bei den religiöſen Aufführungen, ſo treten auf dem Schlachtfelde die
Glieder derſelben geſchloſſen auf. Ihre kriegeriſche Kraft beruhte auf dem Schwure jedes
Genoſſen, dem anderen bis zum letzten Atemzuge beizuſtehen. Aber auch für wichtige
friedliche Geſchäfte und Arbeiten hat ſich da und dort eine Gemeinſamkeit oder ein
Reihedienſt der Genoſſen ausgebildet, ſo ſehr die Ernährung und Lebensfürſorge im
ganzen den einzelnen und den Muttergruppen überlaſſen bleibt. Wir finden Stämme,
in welchen die Sippengenoſſen Schiffe und Häuſer gemeinſam bauen; einzelne haben
große Gentilhäuſer für die Gens oder Teile derſelben, die 40 bis 500 Perſonen auf-
nehmen können; die Jagdgründe ſind häufig den Gentes zugeteilt; ſpäter haben ſie viel-
[238]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
fach die Zuweiſung von Ackerland in der Hand; ſie mußte Bedürfnis werden, wo nicht
viel überflüſſiges Bauland vorhanden war; ſie ergab ſich da von ſelbſt, wo die Sippen
gemeinſame Rodungsarbeiten vornahmen oder gemeinſam das Feld beſtellten. Hier liegt
der Kern aller Feldgemeinſchaft. Auch zu gewiſſen Jagdarten wirken alle oder einzelne
Genoſſen zuſammen. Die Plätze für Heiligtümer und Zuſammenkünfte, die Hallen für
ſolche und für Unterbringung der kriegeriſchen Jugend, der Fremden, der Schiffe ſind
Sippeneigentum; ebenſo die Vorratshäuſer und ihr Inhalt, die Schutzbauten; gemein-
ſame Speiſung beſonders der kriegeriſchen, kaſernierten Jugend kommt vor. Bei vielen
Stämmen ſind Einrichtungen, wie wir ſie von den Spartanern her kennen. Wo wir
ſie treffen, können wir ſicher ſein, daß ihr Urſprung in der Gentilverfaſſung liegt.
Wir ſehen die Sippen das Recht der Vormundſchaft der Minderjährigen und der
Verheiratung der mannbaren Töchter da und dort in Anſpruch nehmen; die Gens hat
teilweiſe ein Recht der Erbfolge an dem beweglichen Beſitz der Genoſſen, während daneben
auch ſchon die Kinder gegenüber Mutter und mütterlichem Onkel ein ſolches beanſpruchen.
Die Funktionen und Rechte der Gens ſind von denen der Muttergruppen und
Individuen, ſpäter von denen der Familie ſehr verſchieden abgegrenzt. Die Gemeinſam-
keit konnte eine ſehr beſchränkte und eine relativ weitgehende ſein. Wohl nur unter
günſtigen Umſtänden gelang den fähigſten Raſſen eine ſehr ſtarke Zuſammenfaſſung.
Aber je mehr ſie gelang, deſto kräftiger konnte der Stamm auftreten, ſeiner Feinde Herr
werden, wirtſchaftlich und kulturell vorankommen. Wo 50—100 erwachſene Männer
gewohnt waren, in der Schlacht und bei gewiſſen Arbeiten zuſammen zu ſtehen, einem
Befehle zu folgen, wo die Stammesvorſtände mit ihren Befehlen ſich nur an die wenigen
Gentilvorſtände zu wenden brauchten, da war ein Princip der Zucht, der Ordnung vor-
handen, eine Kraftzuſammenfaſſung gelungen, welche allein bei dem niedrigen Stande
der damaligen Technik große Erfolge garantierte.
Die Vorausſetzung für das Entſtehen und die Blüte dieſer genoſſenſchaftlichen
Gruppen war, daß noch keine ſehr erhebliche geiſtige und körperliche Differenzierung unter
den Genoſſen, noch kein bedeutender individueller Beſitz vorhanden war, noch weniger erheb-
liche Beſitzunterſchiede. Auch die innerhalb der Gens vorhandenen Muttergruppen durften
keine zu feſte individuelle Sonderorganiſation erreicht haben, noch durfte da, wo das
Vaterrecht mit Eigentum, Herdenbeſitz und Sklaven, mit Weiberkauf und ſtarker väter-
licher Gewalt über Söhne und Töchter ſich auszubilden anfing, dieſes ſich ſchon in
ſeinen ganzen Konſequenzen befeſtigt haben. Nur leiſe Anfänge einer Arbeitsteilung
innerhalb des Stammes, einer Bildung ariſtokratiſcher Kräfte, einer Umwandlung der
Häuptlingswürde in befeſtigte Königsgewalt durften die Gentilverfaſſung begleiten, ſo
lange ſie ihre volle Wirkſamkeit behaupten ſollte. In der Regel hatte jede Gens mehrere
gewählte Friedenshäuptlinge, nur für die Kriegszeit einen Kriegshäuptling; die Wahl
bedurfte der Beſtätigung durch Phratrie oder Stamm; die Abſetzung war in beſtimmten
Fällen üblich. Die Verſammlung der ſämtlichen Häuptlinge der Gentes regierte, in
beſtimmten Friſten als Keim der ſpäteren Senate zuſammentretend, den Stamm. Aber
im ganzen waren dieſe führenden Organe der Gentes und des Stammes noch meiſt
ohne zu viel Gewalt und Macht. Der wirkliche Zuſammenhalt des Stammes beruhte
auf dem durch Sitte und Kult geheiligten innigen brüderlich-genoſſenſchaftlichen Zu-
ſammenhang der Männer und Weiber jeder Gens in ſich und auf den Geſchlechts-
beziehungen der Glieder jeder einzelnen Gens in die andere hinüber, auf der Thatſache,
daß der ganze Stamm doch noch wie eine große Verwandtſchaftsgruppe ſich fühlte, in
der jeder jeden perſönlich kannte und mit ſeinem genauen Verwandtſchaftstitel anredete.
Gegenüber den Zuſtänden in den kleineren, älteren Horden von einigen Dutzenden
zuſammenlebender Menſchen bildet die Stammesverfaſſung mit Sippen den großen Fort-
ſchritt, daß ſie ſtatt einiger Dutzend ſchon Hunderte, ja mehrere Tauſende von Menſchen
einheitlich zuſammenfaßt, daß ſie durch das feſte Mittelglied der Sippe die einzelnen
und kleine Gruppen mit dem ganzen Stamme verbindet, daß ſie für einzelne große
militäriſche und wirtſchaftliche, Friedens- und politiſche Zwecke die Gentilgenoſſenſchaften
als geordnete, eingeſchulte, große Gruppen verwendet; die Sippenverfaſſung will mir
[239]Würdigung der Gentilverfaſſung. Entſtehung der patriarchaliſchen Familie.
als die Schule des brüderlich-genoſſenſchaftlichen Geiſtes erſcheinen. Aus dieſer Schule
erwuchs die pſychologiſche Möglichkeit verſchiedener ſpäterer lokaler, kirchlicher, kriegeriſcher,
ſtandes- und berufsmäßiger Bildungen, die nach und nach die Sippen erſetzten: die
Gilden und Zünfte, die Ortsgemeinden und kirchlichen Brüderſchaften ſind die Fort-
ſetzungen der Sippen.
Auf die Verfaſſung der ſpäteren Vaterſippen hier noch ausführlicher einzugehen,
iſt des Raumes wegen nicht möglich; es iſt bekannt, daß die iriſche Sept noch bis ins
12., die holſteiniſche Slacht bis ins 15., der ſchottiſche Klan bis ins 17. und 18. Jahr-
hundert ſich erhielt, daß bei den Römern der religiöſe Charakter der Gens bis in die
ſpätere Zeit der Republik ſich erhielt. Die Vaterſippen mußten überall in dem Maße
an Kraft und Einfluß verlieren, wie die patriarchaliſche Familie ſich ausbildete. Die
Kraft der Sippenverfaſſung hatte in der Schwäche der Muttergruppe, in dem loſen
Verhältnis des Vaters zu Frau und Kindern gelegen. Zur Zeit des Mutterrechtes
konnten die höchſten Familientugenden, wie ſie aus dem Zuſammenleben von Mann und
Frau, von Vater und Kindern entſpringen, ſich nicht entwickeln; als das Haus mit ſeiner
Hauswirtſchaft, ſeinem feſten Gefüge, ſeiner Disciplin, ſeiner Tradition entſtand, als
aus der kleinen Familie die Großfamilie mit 15, 30, 100 Gliedern ſich entwickelt hatte,
da mußte dieſe die im ganzen doch ſchwachen Sippenverbände, die keine ſo feſte Gewalt
über ſich hatten, die auf Sympathien, nicht auf Herrſchaft und Eigentum beruhten,
nach und nach ſprengen. Die Großfamilie ruhte auf ſich, ſie bedurfte der Hülfe und
Ergänzung durch die Sippe nicht mehr ſo notwendig. Soweit die differenzierte Geſellſchaft
noch ähnliche Verbände nötig hatte, entſtanden ſie neu auf Grund der örtlichen oder Be-
rufsgemeinſchaft, nicht mehr auf Grund der Blutsbande; und über all’ dem entſtand die
Staatsgewalt, welche mehr und mehr einen Teil der Funktionen auf ſich nahm, die ſo
lange auf den Sippen geruht: Kultus, Kriegsverfaſſung, Blutrache, Gericht, Boden-
verteilung, Schiffsbau, Vorratshaltung und Ähnliches.
90. Die ältere patriarchaliſche Großfamilie hat man bis vor kurzem
als den Anfang und Keim aller ſocialen Organiſation betrachtet, ſchon weil ſolche
patriarchaliſche Gruppen uns in den beglaubigten älteſten Nachrichten über die hiſtoriſchen
Völker, über Inder, Juden, Griechen und Römer, als klar erkennbare und wichtigſte
Einrichtung begegnen. Es wurde dabei nur überſehen, daß auch bei ihnen Spuren
und Reſte älterer Geſchlechtsverfaſſung erkennbar ſind, und daß eine Unveränderlichkeit
dieſer Einrichtung durch ungezählte Jahrtauſende doch wohl allen hiſtoriſchen Geſetzen
widerſpräche. Nach den vorſtehenden Ausführungen wiſſen wir heute, daß andere Familien-
verfaſſungen vorausgingen. Die patriarchaliſche Familie iſt das Ergebnis einer alten
Kulturentwickelung, beſtimmter wirtſchaftlicher und geſellſchaftlicher Zuſtände; ſie iſt eine
Phaſe der politiſchen, wirtſchaftlichen, geiſtigen und ſittlichen Entwickelung der Menſchheit.
Die Muttergruppe beſtand aus der Mutter mit ihren Kindern, denen loſe Ehe-
mann und Bruder der Mutter angegliedert waren; die Familie beſteht aus den nun
dauernd zuſammenwohnenden Eltern und Kindern, Knechten und Mägden. Das gemein-
ſame Haus und die gemeinſame Wirtſchaft unter der Leitung des Familienvaters iſt
das Weſentliche. Der Übergang zur patriarchaliſchen Familie, der ſogenannte Sieg des
Vaterrechtes, wird ſich verſchieden geſtaltet haben, je nachdem das Mutterrecht und die
uterine Sippe eine ſchärfere oder ſchwächere Ausprägung gehabt hatten. Jedenfalls ſehen
wir das Vaterrecht überall da ſich ausbilden, wo ein etwas größerer Beſitz ſich an-
geſammelt hat, wo mit ihm die Sitte des Frauenkaufes beginnt, wo Tierzucht, eigent-
licher Ackerbau, wo beſſerer Haus- und Zeltbau, wo Nomadenwirtſchaft Platz gegriffen
haben, wo die Männer am Ackerbau teilnehmen. Man hat daran erinnert, daß mit dem
größeren Beſitz der Vater wünſchen mußte, ſeinen Beſitz nicht den Kindern ſeiner
Schweſter, ſondern ſeinen eigenen zu hinterlaſſen. Man wird auch auf die Thatſache
hinweiſen können, daß der beſſere Hausbau mit der Axt, mit der Steinverwendung nur
Männerſache, daß die Viehzähmung und Viehwartung überall Aufgabe des Mannes
war, ihm einen Einfluß gab, wie ähnlich ſeiner Zeit der Frau der Hackbau; ebenſo
auf den Umſtand, daß die vergrößerte, einheitliche Hauswirtſchaft einer feſten leitenden
[240]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Hand bedurfte. Der Mann mußte die Zügel der Herrſchaft im Hauſe ergreifen, der
Frauen und Knechte gekauft hatte und mit ihnen wirtſchaftete. Man könnte auch an
den Sieg der monogamiſchen Beziehungen denken, welcher den Wunſch des dauernden
Zuſammenlebens von Mann und Frau geſteigert hätte. Aber vielfach verband die
patriarchaliſche Familie ſich zunächſt mit Polygamie. Ihre älteren Züge ſind hart und
roh. Es handelte ſich jedenfalls ebenſo um die Ausbildung von Herrſchaftsverhältniſſen
über Nichtverwandte, über Knechte und Sklaven, wie um die von Verwandtſchafts-
verhältniſſen. Paterfamilias, ſo definiert Ulpian, appellatur qui in domo dominium
habet. Maine ſagt, wo wir die väterliche Gewalt ausgebildet finden, können wir
ſtets zweifeln, ob der Zuſammenhalt mehr auf dem Blute oder der Gewalt beruhte.
Das Vaterrecht entſtand in den Zeiten, da Vieh- und Menſchenraub an der Tages-
ordnung, da Frauenraub nicht ſelten war. Die erbeutete Frau gehörte dem Manne,
ſie wohnte bei ihm, ſie hatte keine Gens, keine Brüder in der Nähe, die ſie ſchützten.
Eine Verſchlechterung in der Stellung der Frau begleitet die Entſtehung der patriarcha-
liſchen Familie und hat ſehr lange Zeit gedauert. Wer mehr Weiber raubte oder kaufte,
wollte nicht bloß den Genuß, ſondern die Mehrung der Arbeitskräfte. Der Weiberkauf
bildet ſich allgemein aus, weil die herangewachſenen Töchter dem Vater wertvolle Ar-
beiterinnen ſind, die er nicht ohne Entgelt hergiebt. Kann der Bräutigam nicht Vieh
oder anderen Geldeswert bieten, können nicht zwei Familien die Töchter tauſchen, ſo
muß der beſitzloſe Bräutigam als Knecht ins Haus des Schwiegervaters ziehen. Die
Kinder werden wie die Frau und die Knechte vom Vater als Beſitz geſchätzt; die Söhne
gelten als Segen Gottes. Wer mit 70 auftreten kann, wie Gideon in Israel, erſcheint
damit ſchon als ein mächtiger, gefürchteter Mann.
Iſt ſo die fortſchreitende wirtſchaftliche Entwickelung und Differenzierung der
Menſchen, das Bedürfnis feſterer Organiſation im kleinſten Kreiſe das Treibende in der
Entſtehung der patriarchaliſchen Familie, ſo waren doch die religiöſen und ſittlichen
Vorſtellungen nicht minder beteiligt, die neuen Verhältniſſe in Sitte und Recht zu
fixieren, ihnen den geiſtigen Stempel aufzudrücken. Aller Fortſchritt der Erziehung
beruhte auf einer ſtarken Vatergewalt. Die Ahnenverehrung, das Syſtem der Toten-
opfer, die nur der Sohn dem Vater darbringen darf, das Gefühl des Zuſammenhanges
mit den Ahnen, der Verantwortlichkeit vor ihnen konnte, wie alle höheren Religions-
ſyſteme, nur bei Völkern mit Vaterrecht entſtehen. Der Gottesbegriff entlehnt noch heute
ſeine Vorſtellungen vom Verhältnis des ſtrengen, gerechten Vaters zu ſeinen Kindern.
Nicht unwichtig iſt es anzumerken, daß, wo heute Islam und Chriſtentum eindringen,
ſie das Mutterrecht auflöſen, das Vaterrecht ſich ausbildet.
Die patriarchaliſche Familie iſt ein Inſtitut der Sitte und des Rechtes zur legi-
timen Kindererzeugung und zur gemeinſamen Wirtſchaftsführung; gemeinſames Arbeiten
und Produzieren unter der Herrſchaft des Vaters für die Familie, gemeinſames Eſſen
und Trinken, gemeinſame Geſelligkeit, das bindet die Weiber, die Kinder, die Knechte
und Mägde mit dem Patriarchen zuſammen. Je mehr bei der Arbeit zuſammenhielten,
und je dauernder ſie zuſammen wirkten, deſto angeſehener, reicher wurde der Patriarch.
Aber in der Natur der Familie und der Dauer der Generationen lagen doch enge, wenn
auch elaſtiſche Grenzen. Eine Mehrzahl von Weibern konnten immer nur die Vor-
nehmeren ſich rauben und kaufen; eine ſtarke Erwerbung und Benutzung von Sklaven
war nur kriegeriſchen Völkern zu beſtimmter Zeit möglich. So handelte es ſich für die
Mehrzahl aller Völker und Familien nur darum, ob und wie ſich die Kinder und
Kindeskinder im Stammfamilienhauſe zuſammenhalten laſſen, ob im Todesfalle des
Patriarchen die bisher Zuſammenlebenden auseinanderfallen oder zuſammenbleiben, ob
nun der älteſte Sohn oder ein gewählter Vorſtand, wie in Indien oder in der ſlaviſchen
Zadruga, an die Spitze trete. Und ſchon von 5 und 10 die Familie auszudehnen auf
20, 30 oder gar 50 und 100 Mitglieder, war immer ein Kunſtſtück ſocialer Ordnung
und Zucht, das nur den fähigeren Raſſen bei einer beſtimmten Höhe der Geſittung,
häufig auch nur den höheren Klaſſen, den mit einem gewiſſen Grundbeſitz ausgeſtatteten,
ganz gelang.
[241]Die Verfaſſung und Größe der patriarchaliſchen Familie.
Wie groß die Familien der Häuptlinge, der Fürſten, der Großen teilweiſe im
Altertume und im Mittelalter wurden, davon können wir uns wenigſtens eine Vor-
ſtellung machen, wenn z. B. Homer den Palaſt des Priamus ſchildert: fünfzig Gemächer,
nachbarlich aneinander gebaut, umgeben die Königshalle; es ruhten des Königs Söhne
allhier mit den anvermählten Weibern. Es entſtanden ſo Familien von Hunderten von
Gliedern; freilich meiſt nur, wo Polygamie und Sklaverei ſie ſo erweiterte. Wie umfang-
reich die gewöhnliche ältere Familie wurde, darüber wiſſen wir nichts. Wir können
aber annehmen, daß ſie eher größer war als in den Beiſpielen, die wir aus neuerer
Zeit aus den Gebieten anführen können, wo ſich die ältere Familienverfaſſung bis zur
Gegenwart erhalten hat. In China und Indien umfaßt die in aneinander gebauten
Hütten wohnende Familie heute noch faſt regelmäßig 16—40 Perſonen, die ſüdſlaviſche
Zadruga oder Hauskommunion, deren mehrere ein Dorf ausmachen, hat in der Regel
20—25 Mitglieder; ähnlich die ruſſiſche Bauernfamilie vor Aufhebung der Leibeigen-
ſchaft; Le Play fand noch neuerdings auf dem ſüdfranzöſiſchen pyrenäiſchen Bauernhofe
durchſchnittlich 18 Perſonen verſammelt; ebenſo oder noch größer haben wir uns die
deutſchen und franzöſiſchen bäuerlichen Gemeinderſchaften des Mittelalters zu denken, wie
ſie Heusler uns ſchildert. Der heutige iſolierte alpine Bauernhof vereint oft noch
12—18 Perſonen. Die Hälfte dieſer Zahlen haben wir uns im Durchſchnitt als Er-
wachſene, als mitarbeitend zu denken. Dabei iſt nicht zu vergeſſen, daß dieſe Beiſpiele
teilweiſe keine fremden Elemente, ſondern nur Verwandte umfaſſen. Wir erwähnten
ſchon, daß die patriarchaliſchen Familien in älterer Zeit nicht leicht ihre Töchter her-
geben wollten; der Sohn, der ſich nicht halten ließ und abgeſchichtet wurde, hatte ſo
wenig wie die in eine andere Familie verheiratete Tochter einen Erbanſpruch nach älterem
römiſchen Rechte. Auf die übrigen Mittel, die man anwandte, die Familie zuſammen-
zuhalten, können wir hier nicht eingehen; ſie ſind mannigfaltigſter Art; in Tibet hat
man die jüngeren Söhne im Hauſe feſtgehalten, indem man ihnen Teil an der Gattin
des älteſten gab; in Skandinavien und auf dem pyrenäiſchen und deutſchen Bauernhofe
zwingt man ſie noch heute zur Eheloſigkeit. So ging es nirgends ohne Zwang und Ent-
ſagung, ohne harte Unterordnung vieler unter den Patriarchen ab. Die Frau, die Kinder,
die Verwandten, die Knechte mußten gehorchen. Aber die Kraft der Familie war auch
um ſo größer, je unerbittlicher die Herrſchaft des paterfamilias aufgerichtet war. Nicht
umſonſt waren die Römer ſtolz darauf, daß nirgends ſo weit wie bei ihnen die Gewalt
des Hausvaters gereicht habe.
Der Hausvater iſt Regent, Richter, Prieſter, Lehrer und Wirtſchaftsvorſtand ſeines
Hauſes und ſeiner Familie, die nun in Sippe, Stamm und Staat als ein faſt ſelb-
ſtändiger, faſt unantaſtbarer, auf ſich ruhender Lebenskreis daſteht. Er vertritt die
Familie allein nach außen, kauft und verkauft für ſie, verteilt die Arbeit und die
gewonnenen Güter nach innen. Frauen und Kinder ſind urſprünglich rechtlos wie die
Sklaven; ſie werden gekauft und verkauft, ausgenützt und mißhandelt; aber es lag in
der Natur der engen, ſtets wieder edle, ſympathiſche Gefühle erzeugenden Hausgemeinſchaft
zwiſchen Mann und Frau, Eltern und Kindern, daß die Stellung von Frau und
Kindern trotz aller brutalen Gewalt des Mannes doch nach und nach eine beſſere, auch
rechtlich geſchützte wurde. Der Frauenkauf, die Polygamie, die geringe Rückſicht auf
individuelle Gefühle bei der Verheiratung, das Straf- und Tötungsrecht des Mannes
im Hauſe haben nicht gehindert, daß die patriarchaliſche Familienverfaſſung nach und
nach das wichtigſte Inſtrument nicht bloß für den wirtſchaftlichen, ſondern auch für
den ſittlichen Fortſchritt wurde; „die Zwingherrſchaft des Hauſes iſt der älteſte Adels-
brief der Menſchheit“ (Riehl).
Neben Raub und Kauf der Frau treten ſinnige Hochzeitsgebräuche und die religiöſe
Feier des Ehebündniſſes, um die erſteren Formen ſpäter ganz zu verdrängen; die
zuerſt heimgeführte Frau erhält ſchon wegen der Bevorzugung ihrer Söhne eine höhere
Stellung, wird Beherrſcherin im Hauſe. Der urſprünglich ihrem Vater gezahlte Kauf-
preis fällt ihr zu; ſie wird daneben mit einer Ausſtattung von den Ihrigen, mit der
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 16
[242]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Morgengabe vom Manne bedacht, ſteigt dadurch an Achtung und Selbſtändigkeit.
Ihre Verſtoßung wird erſchwert. Das urſprüngliche Gewaltverhältnis wandelt ſich in
ein ſittliches, fürs Leben geſchloſſenes Ehebündnis um. Die Monogamie wird ſchon
von Menu und Zoroaſter empfohlen, bei den Griechen iſt ſie die, freilich durch das
Hetärentum verunzierte, überwiegende Sitte, bei den Römern Geſetz; das Chriſtentum
verhilft ihr definitiv zum Siege.
Die Kinder, welche in älteſter Zeit in Liebe nur der Mutter anhingen, welche
der Mann behandelte wie junges, gezüchtetes Vieh, welche er töten und verkaufen konnte,
treten nun auch zum früher ihnen ferner ſtehenden Vater, als klar bewußte Fortſetzer ſeines
Blutes, in ein Verhältnis der Liebe und Sympathie, der Treue und der Verehrung.
Der Kindesmord verſchwindet, wird zuletzt geſetzlich verboten, der Kinderverkauf beſchränkt
ſich auf Notfälle, die Verheiratung der Tochter hört auf ein Geſchäft zu ſein; die harte
Ausnutzung der Kinder für die Wirtſchaft verwandelt ſich in jene harte, zu Zeiten des
Mutterrechtes noch faſt ganz fehlende Erziehung, welche Ehrfurcht vor dem Alter und
vor den Eltern predigt, welche das Fundament wird für die feſte Überlieferung aller
ſittlichen und praktiſchen Errungenſchaften der Menſchheit von Generation zu Generation.
Indem die alten Eltern nicht mehr totgeſchlagen, ſondern als ein Gegenſtand der
Ehrfurcht behandelt, als die Quelle aller Weisheit verehrt werden, indem in den
patriarchaliſchen Familien der Sinn für Genealogien entſteht, indem die Bilder der
Ahnen am Hausaltar aufgeſtellt werden, erhält das Leben in der Familie jene ideale
Weihe, entſteht jene Verſittlichung der Beziehungen der Gatten und Kinder unter-
einander, welche die patriarchaliſche Familienverfaſſung allen folgenden Jahrhunderten
überliefert hat.
Die Fürſorge der Eltern für die Kinder wird eine unendlich umfaſſendere, nicht
bloß einige Jahre andauernde, wie zur Zeit des Mutterrechtes; die Fürſorge der Kinder
für die alten Eltern entſteht jetzt erſt. Die maßloſe Kinderſterblichkeit nimmt nach und
nach ab; die Lebensdauer der Eltern über die Kindererzeugung hinaus wächſt, und damit
beginnt, wie H. Spencer zeigt, erſt die rechte Befähigung der Menſchen zu den höheren
Kulturleiſtungen. Die Summe ſympathiſcher Bande zwiſchen Eltern und Kindern und
zwiſchen Verwandten überhaupt, ſowie die daraus entſpringenden höchſten und dauer-
hafteſten Freuden nehmen in der patriarchaliſchen Familie gegenüber den älteren Zu-
ſtänden weſentlich zu. Die früher nur nach der Mutterſeite gepflegte Verwandtſchaft
wird jetzt nach Vater- und Mutterſeite hin gleichmäßig anerkannt, verknüpft deshalb in
ſympathiſcher Weiſe einen viel größeren Kreis von Stammesgenoſſen.
In wirtſchaftlicher Beziehung iſt die patriarchaliſche Familie ganz anders leiſtungs-
fähig als die Muttergruppe und als die Gens. Die Muttergruppe hatte keinen erheb-
lichen Beſitz, keine dauernde Exiſtenz gehabt. Die patriarchaliſche Familie iſt hierin ihr
Gegenteil; die väterliche Gewalt und der Beſitz geben ihr den feſten, für Generationen
ſich erhaltenden Mittelpunkt. Die Gens war eine Verknüpfung von Brüdern und
Schweſtern und Schweſterkindern zu einzelnen Zwecken; die Familie verknüpft eine kleine
Zahl Verwandter und Beherrſchter viel enger für alle Zwecke des Lebens; ſie erzeugt
eine ſehr viel intenſivere Gemeinwirtſchaft, ſie ſchafft die natürlichſte, ſyſtematiſch und
einheitlich geleitete Arbeitsteilung, die vorher überhaupt kaum vorhanden iſt; ſie
ermöglicht erſt die richtige Verwertung jeder Arbeitskraft an der rechten Stelle und
ſichert durch den für rohe Menſchen unentbehrlichen Arbeitszwang zum erſtenmale
die Überwindung der natürlichen Faulheit; ſie iſt zugleich die einfachſte Art, für
Kranke, Alte, Sieche, Gebrechliche zu ſorgen. Die Wirtſchaft der patriarchaliſchen Familie
umfaßt die ganze Produktion, die Sorge für Wohnung, für Kleidung, für Speiſe und
Trank, die Herrichtung für den Verbrauch, kurz den ganzen Wirtſchaftsprozeß von An-
fang bis zu Ende. In einer Zeit erheblicher techniſcher Fortſchritte entſtanden, die
aber noch keinen nennenswerten Verkehr, kein Geld, keinen bedeutenden Abſatz kennt,
wird die Wirtſchaft der Hirten- und Ackerbaufamilien wohl von Gentil-, Gemeinde- und
Stammesgenoſſen in dieſem und jenem noch unterſtützt, iſt von den Ordnungen der
Verbände abhängig, aber ſie iſt doch wirtſchaftlich in der Hauptſache ſelbſtändig, ſie
[243]Die Wirtſchaft der patriarchaliſchen Familie.
hängt nicht von Abſatz und Kredit ab; ihr Hauptzweck iſt die Eigenwirtſchaft. Die
ſämtlichen Familiengenoſſen ſind zugleich Wirtſchaftsgenoſſen und haben wirtſchaftlich
mit keinem Nichtfamiliengenoſſen viel zu thun. So hart ein Teil der Familienglieder
oft behandelt werden mochte, ihre Stellung als Hausgenoſſen und der enge Zweck der
Eigenwirtſchaft ſchützte ſie vor allzu hartem Drucke. Die leidliche Behandlung aller
Glieder hat in der patriarchaliſchen Familie ſo lange gedauert, als die Eigenverſorgung
ihr Lebensprincip blieb. Erſt als ſie anfing für den Markt zu arbeiten, dadurch große
Gewinne erzielte, als hiemit die Gewinn- und Habſucht neben dem Sinn für techniſchen
Fortſchritt entſtand, wuchs die Mißhandlung der unteren Glieder der Familie, des Ge-
ſindes, der Sklaven.
Die ältere Hütte, die Individuen oder Muttergruppen diente, hatte bei einzelnen
Stämmen ſchon zur Zeit des Mutterrechtes größeren Sippenhäuſern Platz gemacht, die
aber doch mehr eine Anhäufung zahlreicher ſchlechter Hütten unter einem Dache waren.
Nun wird das Zelt der Nomadenfamilie ein gegliederter Organismus mit einer Reihe
von Abteilungen, und das Haus des Ackerbauers erhält nach und nach ſeine feſte, teil-
weiſe noch vorhandene Geſtalt; um das Atrium, die Halle der patriarchaliſchen Familie
mit dem Ehebette des Hausvaters, fügen ſich die Schlafgemache der verheirateten Kinder
und der dienenden Kräfte; der Wirtſchaftshof gliedert ſich nach den Zwecken des Be-
triebes, er wird mit einer Umfriedigung umgeben; die Tiere, die Vorräte, die Gerät-
ſchaften erhalten ihre beſonderen Räume; die Holzhäuſer, die noch in Perikles’ Tagen
und noch im 12. und 13. Jahrhundert in den deutſchen Städten zu der beweglichen
Habe gerechnet werden, nehmen nun unter der Leitung der Familienväter feſtere Geſtalt
aus Holz, Stein und Mörtel an, werden für Generationen hergeſtellt (vergl. oben
S. 203—205). Die bauliche Einrichtung der patriarchaliſchen Wohnung ſchafft die
Gewohnheiten, die feſten Sitten, welche nun das Geſchäft und die Freuden, die Arbeit
und die Ruhe regeln. Nicht umſonſt hat man daher die Entſtehung der Hauswirtſchaft
als das Ende der Barbarei, als den Anfang der höheren Kultur bezeichnet; nicht um-
ſonſt benennen alle Kulturvölker noch heute alle Wirtſchaft mit dem griechiſchen Worte
„Haus“ οἴκος — als Ökonomie.
An das Haus und ſeine Einrichtungen ſchließt ſich die nunmehr vom Manne
ſyſtematiſch geleitete Arbeitsteilung der Familie an. Die Verſchiedenheit von Geſchlecht
und Kraft hatte von jeher den Mann auf die Jagd, den Kampf, die Tierzucht, die
Frau auf das Sammeln von Beeren, auf den Hack- und Ackerbau, das Vorräteſammeln,
die Unterhaltung des Feuers gewieſen; die Herrſchaft des Mannes bürdete ihr nach
dem Siege des Vaterrechtes wohl oft zunächſt noch mehr auf, machte ſie zur Sklavin.
Aber gerade bei den edleren Raſſen verſchafften der Gattin ihre hauswirtſchaftlichen
Künſte doch wohl bald eine beſſere Stellung in dem gemeinſamen Haushalt. Der vieh-
züchtende, jagende und in den Kampf ziehende Mann übernimmt neben der Rodung
nun auch die ſchwere Ackerarbeit, das Pflügen; das bedeutete eine große Veränderung
in den Funktionen der Frau; ihre Kräfte werden ſo für die Bereitung der Speiſen und
Kleidung, für die Erhaltung der Vorräte, für die innere Leitung der Hauswirtſchaft,
vor allem für die Erziehung der Kinder freier. Und an die Arbeitsteilung von Mann
und Frau ſchließt ſich die der Söhne und Töchter, der Knechte und Mägde, und es
entſtehen ſo im patriarchaliſchen Hauſe feſte Typen von hauswirtſchaftlichen Ämtern,
von arbeitsteiligen Handwerksarten als Keime ſpäterer ſelbſtändiger Organiſationen. —
Die geordnete Hauswirtſchaft der patriarchaliſchen Familie wird in dieſer Weiſe
für mehrere Tauſend Jahre, für die Epoche der älteren aſiatiſchen und griechiſch-römiſchen
Kultur bis über das Ende des Mittelalters hinaus, ſie iſt noch für viele Völker und
ſociale Klaſſen bis zur Gegenwart das einzige oder das wichtigſte geſellſchaftliche Organ,
um die Menſchen fortzupflanzen, zu erziehen und um ſie mit wirtſchaftlichen Gütern zu
verſorgen; es war das erſte, das dem Individuum als ſolchem planvoll und im ganzen
die wirtſchaftliche Fürſorge abnahm, um ſie einer feſt organiſierten Gruppe von Indi-
viduen zu übergeben; es war das Organ, welches die Menſchen eine geordnete Haus-
wirtſchaft zu führen, einen erheblichen Herden- und Landbeſitz, ſowie Vermögen überhaupt
16*
[244]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
zu verwalten, zu erhalten, zu mehren gelehrt hat, welches die wichtigſten wirtſchaft-
lichen Gewohnheiten der Kulturvölker bis zum Siege der neueren Konkurrenzwirtſchaft
erzeugte.
In der Zeit der ausſchließlichen Herrſchaft dieſer patriarchaliſchen Familie beſteht
die Geſellſchaft, hat man geſagt, aus einem völkerrechtlichen Bunde von Familienhäuptern;
alle ihnen untergeordneten Familienglieder haben nur durch ſie Beziehungen zum Ganzen
und zu den höheren ſocialen Organen; ſie wirtſchaften nicht für ſich, ſondern nur für
die Familienväter. Die Folgen dieſer Familienverfaſſung ſind nach allen Seiten hin
bedeutungsvoll.
Aus der patriarchaliſchen Familie gingen die Verwandtſchaftsſyſteme hervor, die
heute das Recht aller Kulturvölker beherrſchen; alles heute beſtehende Erbrecht iſt ein
Ergebnis dieſer Familienverfaſſung. Alle älteren Unternehmungsformen, heute noch die
des Handwerks, der Kleinbauern, ſowie die patriarchaliſche Fabrikverfaſſung ſind aus
der Familie ebenſo entſprungen wie die kriegeriſchen Gefolgſchaften, die Fronhofs-
verfaſſung, die Grund- und Gutsherrſchaft. Die Klöſter und andere kirchliche Inſtitutionen
ſind Nachahmungen der Familienverfaſſung; die Lehrlingſchaft und alle älteren Er-
ziehungsanſtalten knüpfen an die patriarchaliſche Familie an. Die Formen der heutigen
Handelsgeſellſchaften haben ihre eine Wurzel in der Familie; die offene Handelsgeſell-
ſchaft iſt heute noch meiſt an die Familie angelehnt. Das patriarchaliſche Königtum
wie das Aufkommen ariſtokratiſcher Kreiſe beruht auf dem Emporwachſen einzelner
patriarchaliſcher Familien; in China und Rußland gilt die höchſte Gewalt noch heute
als eine väterliche. — Die politiſche und kriegeriſche Verfaſſung der heroiſchen Zeitalter
und aller Staaten bis zu dem Punkte, da eine moderne Staatsgewalt ſich ausbildet,
beruht auf Elementen, die der patriarchaliſchen Familienverfaſſung angehören; die erb-
liche Monarchie iſt das in unſere Zeit hereinragende Ergebnis derſelben. Die ſociale
Klaſſenbildung entſpringt in einzelnen ihrer Keime der patriarchaliſchen Familien-
verfaſſung; bei der Sklaverei iſt das an ſich klar, aber auch die leibeigenſchaftlichen und
grundherrlichen Zuſtände gehen teilweiſe aus ihr hervor; wo die Familie übergroß
wurde, ſpaltete ſie ſich leicht in eine führende, grundherrſchaftlich befehlende, und in
eine Reihe abhängiger, dienender Familien.
In der Überlieferung der wichtigſten Kulturvölker, in ihrer Religion und Litte-
ratur, in ihren Sitten, ihrem Rechte nahm die patriarchaliſche Familie ſo ſehr den
beherrſchenden Mittelpunkt ein, daß ſie naturgemäß von ungezählten Generationen als
eine ewige Form des ſocialen Lebens, als eine unverrückbare göttliche Anordnung
betrachtet wurde.
Freilich hat ſie nie alle Kreiſe der Kulturvölker in gleicher Weiſe beherrſcht, ſie
kam frühe ins Wanken, wo die Geldwirtſchaft und Arbeitsteilung ſich energiſcher aus-
bildeten, wo moderne Staatsgewalten und Unternehmungsformen ſiegten, wo größere
Menſchenmengen in den Städten ſich ſammelten, ein individualiſtiſcher Geiſt mit ihrem
Zwang, ihren Überlieferungen in Widerſpruch kam. Es iſt ein Prozeß, der zur Blüte-
zeit Athens und Roms ebenſo einſetzte wie in dem Italien der Renaiſſancezeit und
bald nachher in den heutigen Kulturſtaaten.
Aber erhebliche Züge und Elemente der älteren Familienverfaſſung ſind auch heute
noch überall vorhanden; viele werden ſich dauernd erhalten, andere werden noch mehr
als bisher verſchwinden.
Wenn heute die meiſten konſervativen und kirchlichen Elemente ſich bemühen, von
der patriarchaliſchen Familienverfaſſung und ihren Ablegern ſo viel zu retten wie möglich,
ſo haben ſie darin Recht, daß alle Auflöſung dieſer alten Ordnungen leicht das Ver-
ſchwinden der Zucht, des Gehorſams, der Ordnung und Geſittung überhaupt bedeutet —
aber ſie haben Unrecht, wenn ſie glauben, es gäbe auch für die intellektuell und ſittlich
gehobenen, individuell ausgebildeten Menſchen kein anderes Erziehungsmittel als die
alte despotiſch-harte, oft brutale patriarchaliſche Familienzucht. —
91. Die neuere verkleinerte Familie, ihre Wirtſchaft und deren
Urſachen. Sie ſteht zur patriarchaliſchen Familie nicht in ſo ſchroffem Gegenſatze
[245]Die hiſtoriſche Bedeutung der patriarchaliſchen Familie. Die neuere Kleinfamilie.
wie dieſe zur Muttergruppe. Ihre allgemeine Struktur, eine gewiſſe vaterrechtliche
Gewalt, die Zuſammenſetzung aus Mann, Frau, Kindern und Dienſtboten bleibt; ebenſo
die Thatſache, daß die zuſammenlebenden Eltern und Kinder in freiem Geben und
Nehmen, in freier gegenſeitiger Unterſtützung im ganzen aus einer gemeinſamen Kaſſe
ohne Abrechnung und Bezahlung untereinander wirtſchaften; die Einſchränkung der
väterlichen Gewalt durch Staatsgeſetze, durch die freiere Stellung der Frau, der Kinder,
der Knechte, die Erſetzung des Frauenkaufes durch Verlobung, freie kirchliche oder
bürgerliche Eheſchließung, das ſind Neuerungen, die längſt in der Zeit der patriarcha-
liſchen Familienverfaſſung begannen, nun bloß vollendet werden. Aber die große Ver-
änderung iſt doch daneben nicht zu verkennen: die Familie wird kleiner, ihre wirtſchaft-
liche Aufgabe wird in der arbeitsteiligen Geſellſchaft eine eingeſchränktere; eine Reihe
von Funktionen der Familie gehen auf Gemeinde, Kreis, Verbände, Kirche und Schule,
Unternehmungen, den Staat über.
Die patriarchaliſche Familie war das allſeitige Organ für alle wirtſchaftlichen
Zwecke geweſen, ſie hatte, wenigſtens in ihren Spitzen, zugleich politiſchen, kriegeriſchen,
Verwaltungs- und anderen Aufgaben gedient; ſie war, ſo lange ſie blühte, das aus-
ſchließlich dominierende Unterorgan der Geſellſchaft und des Staates überhaupt geweſen.
In dem Maße, wie nun teils aus der Familie, teils unabhängig von ihr eine Reihe
anderer geſellſchaftlicher Organe mit ſpecialiſierten Zwecken entſtanden, mußte die Familie
in ihrer allſeitigen Thätigkeit eingeſchränkt, ſowie auf eine geringere Zahl von Perſonen
beſchränkt werden. Wenn die patriarchaliſche Familie mindeſtens aus 10, oft aus 20
und mehr Gliedern beſtand, ſo zählt die neuere, ſo weit man ſie ſtatiſtiſch verfolgen
kann, 6, 5, ja nur 4 und 3,2 im Durchſchnitt. Die verheirateten Kinder bleiben ſelten
bei den Eltern; erwachſene und verheiratete Geſchwiſter bilden nicht mehr eine ungeteilte
Hausgemeinſchaft wie einſtens; die heranwachſenden Söhne und Töchter verlaſſen früher
das elterliche Haus, um anderswo zu lernen, eine Stellung zu ſuchen; die Zahl der
Knechte und Mägde iſt um ſo geringer, je höher die wirtſchaftliche Arbeitsteilung ſteht.
Die Eltern, einige unerwachſene Kinder, in den höheren Klaſſen ein oder ein paar
Dienſtboten machen die Familie aus, ſie genügen für den Haushalt, der nicht mehr,
wie einſtens, möglichſt viel ſelbſt produzieren, ſondern, könnte man ſagen, möglichſt viel
fertig einkaufen will. Nicht mehr die Produktion, ſondern die Herrichtung für die
Konſumtion iſt ſeine Aufgabe: vieles, was vor 60 Jahren noch im Haushalt geſchah,
wie Spinnen, Weben, Kleidermachen, Backen, Schlachten, Waſchen, iſt ſelbſt auf dem
Lande teilweiſe aus der Familienthätigkeit ausgeſchaltet: nur das Kochen, Kleiderreinigen,
die Wohnung in Ordnung halten, die Kinder warten und erziehen, die kleinen Freuden
des Familienlebens ermöglichen und vorbereiten, das iſt der gegen früher ſo ſehr ein-
geſchränkte Zweck der Hauswirtſchaft, deren Leitung nun ausſchließlich oder überwiegend
der Frau zufällt. Wenn ſchon ein römiſcher Ehemann auf das Grabmal ſeiner Gattin
als höchſtes Lob ſchrieb: domum servavit, lanam fecit, ſo umſchrieb er damit den
weſentlichen Inhalt der hauswirtſchaftlichen Thätigkeit in den arbeitsteiligen Kultur-
ſtaaten überhaupt. Der Ehemann, oft auch erwachſene Söhne und andere Glieder der
Familie gehören der Familie nur noch als genießende, nicht als eigentlich arbeitende
Glieder an. Ihre Thätigkeit iſt hinaus verlegt in die anderweiten ſocialen Organi-
ſationen.
Der Anfang zu dieſer Ausſcheidung iſt alt. Wo die großen herrſchaftlich-patri-
archaliſchen Haushalte einen allzu großen Umfang erreichten, wo man nicht mehr alle
Diener, Sklaven, Hörige oder Gefolgsleute ſelbſt beköſtigen und bekleiden wollte, da
wies man dieſen dienenden Kräften beſondere Hütten, Grundſtücke, Natural- oder Geld-
einkünfte zu, und ſo entſtanden kleine Sonderhaushalte und Familienwirtſchaften, deren
Väter auf dem Herrenhofe dienten, deren übrige Glieder das zugewieſene Feld bebauten,
für Speiſe, Trank, Kleidung und die anderen kleinen Tagesbedürfniſſe ihrer Familie
ſelbſt ſorgten. Das in Naturalien, Bodennutzung oder Geld beſtehende, vom Vater
allein oder jedenfalls nur von 2—3 Familiengliedern verdiente Einkommen begann die
weſentliche Grundlage der wirtſchaftlichen Exiſtenz der Familie zu werden.
[246]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Und Ähnliches in verſtärktem Maße trat in den Städten mit der vordringenden
Geldwirtſchaft ein. Der Händler und der Handwerker, der Prieſter, der Arzt und der
Tagelöhner, ſie alle begannen einen ſelbſtändigen Geldverdienſt außer dem Hauſe zu
erwerben; damit konnte ergänzt werden, was die Familie etwa noch nicht auf ihrem
Ackerſtücke und in ihrem Hauſe ſchuf; und bald konnten von ſolchem Geldeinkommen zuerſt
einzelne Familien, dann viele ausſchließlich leben, auch wenn ſie kein Haus, keine Hufe
mehr eigen beſaßen, nicht ihre Lebensmittel, Kleider, Geräte, Wohnungen mehr ſelbſt
ſchufen. Freilich iſt dieſer Prozeß im Altertum ſehr langſam vorangeſchritten; nur die
unteren Klaſſen in den Städten hatten die eigene Produktion ganz aufgegeben; die
höheren Klaſſen, ſelbſt der Mittelſtand, wollten nicht darauf verzichten, ſelbſt das Brot
und das Wollgewebe, ſowie vieles andere in der eigenen Wirtſchaft zu erzeugen. Und
ähnlich war die Entwickelung vom Mittelalter bis ins 18. und 19. Jahrhundert.
Manche Patricier und Kaufleute der deutſchen Städte trieben noch in Goethes Jugend-
zeit Acker- und Viehwirtſchaft; in Italien ſuchen noch heute die ſtädtiſchen Honoratioren
ſich ihr Getreide und Gemüſe, ihre Trauben und Oliven mit Hülfe der auf dem Lande
ihren Beſitz verwaltenden Halbpächter zu ziehen, während die ſtädtiſchen Handwerker
und Tagelöhner, die Beamten und Lehrer auch dort darauf meiſt verzichtet haben, und
heute in Nordeuropa der Städter faſt jede Eigenproduktion von Lebensmitteln, meiſt
auch von Geweben aufgegeben hat. Der Bauer und Gutsbeſitzer freilich lebt vielfach
noch zur Hälfte oder zu zwei Drittel von ſeinen eigenen Produkten; ſeine Familien-
wirtſchaft iſt daher auch noch halb eine patriarchaliſche; und auch der Handwerker und
der Tagelöhner, der Beamte und der Fabrikarbeiter auf dem Lande baut ſich mit Recht
noch ſeine Kartoffeln, füttert Hühner und Schweine und erleichtert ſich ſo ſeine wirt-
ſchaftliche Exiſtenz, füllt ſo unbeſchäftigte Stunden aus. Aber auch auf dem Lande
nimmt das ab: in den deutſchen Berufszählungen von 1882 und 1895 ſinken die
ländlichen Tagelöhner, die einen eigenen oder gepachteten Landwirtſchaftsbetrieb haben,
von 866493 auf 382872.
Die wichtigſte Folge der ganzen, immerhin heute für einen großen Teil der Be-
völkerung vollzogenen Scheidung liegt darin, daß damit zwei ganz geſonderte und doch
innig miteinander verbundene, aufeinander angewieſene Syſteme der ſocialen und wirt-
ſchaftlichen Organiſation entſtanden ſind: das wirtſchaftliche Familienleben einerſeits,
die Welt der Gütererzeugung, des Verkehrs, des öffentlichen Dienſtes und was ſonſt
noch dazu gehört andererſeits. Dem erſteren Syſteme gehören ſo ziemlich alle Einwohner
eines Landes an: von 28,3 Mill. Preußen lebten 1. Dezember 1885 27,4 in Familien-
haushaltungen, nur 0,37 in Einzel- und 0,54 in Anſtaltshaushaltungen (d. h. Kaſernen,
Kranken- und Armenhäuſern, Erziehungsanſtalten, Hotels); von der am 14. Juni 1895
gezählten deutſchen Bevölkerung waren 22,9 Mill. Perſonen im Hauptberufe erwerbs-
thätig, d. h. übten einen erwerbenden Beruf aus; neben ihnen zählte man 1,3 Mill.
häusliche Dienſtboten und 27,5 Mill. Familienangehörige, die nicht erwerben, wirt-
ſchaftlich nicht oder nur in der Familie thätig ſind; die Erwerbsthätigen gehören ihr,
ſoweit nicht Familienwirtſchaft und Erwerb, wie beim Landwirt noch vielfach, zuſammen-
fallen, nur gleichſam mit ihrer halben Exiſtenz, mit der Zeit, da ſie nicht dem Erwerbe
nachgehen, an. Aber auch ſie müſſen ſo wohnen, ihre Zeit muß ſo eingeteilt ſein, ihr
Verdienſt muß ſo beſchaffen ſein, daß ſie ihrer Stellung als Familienhäupter und
Familienglieder ebenſo genügen können, wie ihrer Funktion in irgend einer Unternehmung
oder Arbeitsſtellung. Die beiden Syſteme der ſocialen Organiſation gewinnen ihr eigenes
Leben, verfolgen ihre ſpeciellen Zwecke und müſſen das thun. Von verſchiedenen Prin-
cipien regiert, können ſie in Kolliſion kommen, ſich gegenſeitig ſchädigen und hindern.
Die neue Sitte und das neue Recht für beide iſt nicht leicht zu finden. Die Familien-
wirtſchaft exiſtiert jetzt gleichſam nur als Hülfsorgan, häufig als ſchwächeres neben den
neuen, ſtärkeren, größeren Gebilden der Volkswirtſchaft. Sie kann und muß in loſerer
Form als früher ihre Rolle ſpielen, muß ihren Gliedern alle mögliche Freiheit geben.
Sie iſt teilweiſe ſogar mit vollſtändiger Auflöſung bedroht, wo die anderen Organe die
Kinder und die Erwachſenen ganz mit Beſchlag belegen, alle Zeit und alle Kraft für ſich
[247]Die wirtſchaftliche Funktion und Einordnung der Kleinfamilie in die Volkswirtſchaft.
in Anſpruch nehmen; das iſt der Fall, wo ſchon die Kinder verdienen ſollen, wo Frau
und Mann von morgens 6 Uhr bis ſpät abends in der oft weit entlegenen Fabrik
thätig ſein müſſen.
Wir kommen ſpecieller auf dieſe Gefahren und auf die ſocialiſtiſchen Pläne, welche
im Anſchluß an dieſe Tendenzen überhaupt die Familienwirtſchaft aus unſerer geſell-
ſchaftlichen Verfaſſung hinausweiſen wollen, im folgenden Paragraphen. Hier ſei nur
noch ein allgemeines Wort über das ſchwierige Problem beigefügt, die Anforderungen
der Familienwirtſchaft und der arbeitsteiligen Thätigkeit ihrer Glieder in die rechte zeit-
liche und räumliche Verbindung überhaupt zu bringen. Das Problem exiſtierte im
patriarchaliſchen Haushalt, wo Wohnung und Produktionsſtätte zuſammenfiel, eigentlich
noch gar nicht. Da war es leicht, anzuordnen, daß jeder zur rechten Zeit bei jeder
Arbeit, jedem Zuſammenwirken, auf dem Ackerfelde, beim Kirchgange, beim Eſſen, beim
Schlafen war; die Familienglieder ſahen ſich ſtets, kontrollierten ſich ſtets, lebten ſich
ganz ineinander ein. Die moderne Familie und ihre Wohnung iſt heute gleichſam
nicht mehr ein ſelbſtändiges Ganzes, ſondern ein untergeordneter Teil einer Stadt, eines
Dorfes, eines Bergwerkes, einer Großunternehmung; die Familie wohnt für ſich, oft
mit einigen Dutzend anderen Familien, oft mit allen möglichen Werkſtätten und
Läden, die ſie nicht angehen, in einem und demſelben großen Hauſe; ſie wohnt meiſt
an anderer Stelle, oft ſehr weit entfernt von den Berufsplätzen, wo ihre Glieder arbeiten.
Sie ſendet dieſelben in die Schule, in die Fabrik, ins Bureau, auf die Acker- und
Waldarbeit. Alle dieſe verſchiedenen Thätigkeiten liegen örtlich zerſtreut, oft weit aus-
einander; jede hat für ſich eine eigenartige Zeiteinteilung, kümmert ſich um die der
Familienwirtſchaft und der anderen Organe nicht. Jedes derſelben verfolgt einſeitig
ſeine Zwecke; und doch iſt das zu verwendende Perſonenmaterial allen gemeinſam; es
iſt oft unmöglich, daß es zugleich allen den widerſprechenden Aufgaben ohne Konflikte
und Reibungen nachkomme. Der Unternehmung wird oftmals Nacht- und Sonntags-
arbeit frommen, die Familie wird dadurch geſchädigt. Die ganze räumliche Anordnung
der Wohnungen, der Arbeitsſtätten, der Schulen ꝛc., die ganze Zeiteinteilung, die
geſamten Geſchäfts- und ſonſtigen Ordnungen, die ſich die einzelnen Organiſationen
geben, müſſen eigentlich ineinander gepaßt ſein, ein harmoniſches Ganze ausmachen, wenn
die Geſellſchaft gedeihen, die Unternehmungen und die Familien nicht geſchädigt werden
ſollen. Die Bautechnik, Verkehrs- und Wohnungsverfaſſung unſerer großen Städte und
Fabrikorte iſt dem freilich unendlich ſchwierigen Problem trotz der zahlreichſten Anläufe
noch entfernt nicht ganz gerecht geworden, alle Werkſtätten, alle Schulen, alle Woh-
nungen ſo zu legen, ihre Lebensordnungen ſo zu geſtalten, daß die Mitglieder derſelben
Familie ſich ſo oft als nötig zuſammenfinden können, daß die Unerwachſenen ſtets unter der
rechten Kontrolle ſtehen. Die rechten Kompromiſſe zwiſchen den Erziehungs-, Produktions-
und Familienintereſſen, die neuen Ordnungen des gemeinſamen Zuſammenwirkens können
erſt in langen Kämpfen und Erfahrungen gewonnen werden. Nur ſittlich und intellektuell
höher ſtehende Menſchen ſind den ſchwieriger gewordenen Aufgaben überhaupt gewachſen.
Daher die allgemeinen Klagen über ungeſunde, unglückliche Familienverhältniſſe, die im
Altertume wie in der Neuzeit überall ſich erheben, wo der große Scheidungsprozeß
zwiſchen der Familienwirtſchaft und den anderen neuen Organen einſetzte. Einer der
beredteſten Ankläger unſerer Zeit in dieſer Richtung iſt Le Play. Aber wenn er die
mangelnde Stabilität des heutigen Familienlebens beklagt, wenn er ſchildert, daß
die Kinder heute meiſt nicht werden, was die Eltern waren, deren Geſchäfte nicht
fortſetzen, wenn er die Schäden berechnet, die ſolches Abbrechen und Neugründen der
Familienwirtſchaft habe, ſo hat er mit ſeinen Klagen über die Auflöſung der alten
ſittlichen Zuſammenhänge gewiß nicht Unrecht, aber er vergißt, daß die heutige
kleine Familie nicht mehr ein ſo ſtabiles, ſo allſeitiges Produktionsorgan ſein kann,
wenn man unſere heutige Technik und Volkswirtſchaft überhaupt zuläßt, daß Schule,
Vereinsleben und anderes teilweiſe dem Individuum erſetzen, was die Familie nicht
mehr bieten kann, daß das tyranniſche Joch der älteren Hausgenoſſenſchaft nicht bloß
Liebe erzeugte, daß die Auflöſung ſympathiſcher Bande zwiſchen entfernteren Familien-
[248]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
gliedern nur dann unbedingt zu beklagen iſt, wenn auch zwiſchen Mann und Frau,
zwiſchen Eltern und Kindern die Sympathie und Aufopferungsfähigkeit aufhörte, und
wenn für die ſchwindenden Verwandtſchaftsbande nicht andere neue der Freundſchaft, der
Berufsgenoſſenſchaft, der Geſelligkeit, des geſchäftlichen Zuſammenwirkens träten.
Es iſt leider an dieſer Stelle nicht möglich, den großen familien- und rechts-
geſchichtlichen Prozeß der Umbildung des Familien-, Ehe-, Erb-, Eheſcheidungsrechtes,
der väterlichen Gewalt, der Rechtsſtellung der Frauen, der Kinder und der dienenden
Kräfte in der Familie zu ſchildern, in welchem der Übergang von der patriarchaliſchen zur
neuen Familie ſich vollzog. Er ſetzt ſchon in den ſpäteren Epochen der antiken Kultur-
ſtaaten und dann wieder in den letzten 5—6 Jahrhunderten ein, hat die verſchiedenſten
Schwankungen erfahren, iſt vom Chriſtentum, der Philoſophie, der Litteratur, allen
geiſtigen und ſittlichen Strömungen der Zeit beeinflußt worden. Das Reſultat war
damals und neuerdings wieder dasſelbe: die Familienglieder ſollen freier, unabhängiger
werden; aus dem Gewalt- ſoll ein ſittliches Genoſſenverhältnis werden; die freie Aus-
bildung der Individualität ſoll erleichtert, aber zugleich der Segen des Familienlebens,
die einheitliche Lenkung der Familie durch den Familienvater erhalten werden.
Das ſchönſte Blatt aus dieſer Geſchichte iſt die ſucceſſive Erhebung der Frauen-
ſtellung: ſchon bei den Römern verwandelt ſich die ſtarre Manusgewalt des Mannes
in das Verhältnis eines consortium omnis vitae. Bei den Germanen war die Gattin
bereits nach Tacitus die laborum periculorumque socia des Mannes. Der Sachſen-
ſpiegel ſagt: dat wip iſt des mannes genotinne. Aber erſt eigentlich in den letzten
hundert Jahren hat Sitte und Recht dieſem Ziele ſich ernſtlich genähert, es freilich
nach der radikalen Auffaſſung, die alle Gewalt des Familienvaters aufheben möchte,
auch heute noch nicht erreicht. In dem ganzen Umbildungsprozeſſe werden immer
wieder Rückſchritte gemacht, entſtehen Mißbildungen, Diſſonanzen zwiſchen den praktiſchen
Bedürfniſſen des Lebens, der notwendigen Ordnung der Familie und den individua-
liſtiſchen Tendenzen; der Fortſchritt im ganzen aber fehlt nicht. Daß er vorhanden,
daß er wenigſtens möglich ſei, daß vor allem die Loslöſung des nun nur noch der
Konſumtionswirtſchaft dienenden Familienhaushaltes von der Organiſation der techniſchen
Produktion eine berechtigte Differenzierung ſei, darüber möchte ich noch ein Wort ſagen.
Ich habe vorhin erwähnt, daß die Konflikte zwiſchen Familien- und Produktions-
intereſſe zur Zeit der patriarchaliſchen Familie leichter zu löſen waren als ſpäter. Sie
waren es aber vor allem auch, weil die Anſprüche des Familienlebens noch ſo gar
geringe, zumal bei der Menge der kleinen Leute, waren. Der Bauer lebte noch vielfach
mit ſeinem Vieh in einem Raume, wie er es heute noch teilweiſe in Rußland thut.
Die gewöhnlichen Wohnungen der Alten wie der mittelalterlichen Menſchen waren elende,
kleine, dunkle Räume; noch im Patricierhauſe des 14.—16. Jahrhunderts hatte man
kaum Zimmer, in denen aufrecht zu ſtehen, ein Feſt zu feiern war; das fand im Stadt-
oder Gildehauſe ſtatt. Erſt ſeit dem 16.—18. Jahrhundert erhielten zuerſt die oberen
Klaſſen und dann auch der Mittelſtand Zimmer mit Heizung, mit Licht, mit ſo viel
Raum, wie wir heute für nötig halten. Und das wurde doch weſentlich erleichtert durch
die Scheidung der Wohngelaſſe und der Produktionsſtätten. Erſt im 18. und 19. Jahr-
hundert entſtand mit Hülfe der fortſchreitenden Technik und Kunſt, unterſtützt durch
Feuer- und Baupolizei, aus den alten, höhlenartigen Schlupfwinkeln die neuere Kultur-
wohnung mit ihren Empfangs-, Wohn-, Eß- und Schlafzimmern, ihren Küchen, Kellern,
Badezimmern, Kloſets, Waſſer- und Gasleitung und all’ dem anderen Komfort. Die
Mehrzahl der Kulturmenſchen wohnt ſeit einigen Generationen beſſer als je zuvor. Und
wenn die großſtädtiſche Menſchenanhäufung für die unteren Klaſſen die Anſprüche teil-
weiſe wieder vermindert hat, wenn es als allgemeiner öffentlicher Mißſtand empfunden
wird, daß viele Familien nur einen oder zwei Räume haben, daß ſie in ihren Wohn-
räumen zugleich ihre Geſchäfte beſorgen und arbeiten müſſen, daß ihre Familienwohnungen
nicht iſoliert von denen anderer ſind, ſo beweiſt das nur, wie hoch die Anſprüche gegen
frühere Zeiten geſtiegen ſind, wo faſt alle Menſchen mit Vieh und Ungeziefer zuſammen
zu hauſen gewohnt waren.
[249]Der wirtſchaftliche und ſittliche Fortſchritt in der heutigen Familienverfaſſung.
Die große Verbeſſerung der Familienwohnung, welche in den letzten 200 Jahren
ſich bis in die Arbeiterkreiſe erſtreckte, war einerſeits die Vorausſetzung der beſſeren
Ordnung der Produktion, und ſie hat mit der Scheidung der Wohn- und Produktions-
ſtätten andererſeits die inneren Verhältniſſe des Familienlebens doch neben den vorhin
erwähnten Schädigungen nach anderer Seite hin außerordentlich gefördert, erleichtert,
ja dieſes Leben auf eine viel höhere Stufe gehoben oder ſtellt ſolches in Ausſicht, wo
dieſe Schädigungen überwunden werden.
Die Leitung der älteren Familienwirtſchaft mußte eine ſtrenge, harte ſein; die der
neuen iſt viel einfacher und daher milder. Die Zügel ſind im ganzen in die mildere
Hand der Frau und Mutter gegeben. Die Leitung von drei bis ſechs Menſchen iſt ja
an ſich leichter, ſie kommen eher friedlich miteinander aus als zehn bis fünfzig. Die
ältere Familie war zugleich Geſchäft, arbeitsteiliger Produktionsorganismus, war ein
Rechtsinſtitut, das harter Disciplin bedurfte, um ſeinen Zweck zu erreichen. Auch wenn
ſie zur Zeit der Eigenwirtſchaft nicht allzu viel zu verkaufen und wieder einzukaufen
hatte, ſo bedurfte ſie doch für die innere Produktionsleitung und für die Händel der
Knechte und Mägde, der zahlreichen Verwandten untereinander des männlichen, oft
gewaltthätigen Herrſchers ebenſo wie für ihre Vertretung in der Gemeinde, auf dem
Markte, im Staate. Die moderne kleine Familie iſt ein weſentlich nach innen gerichteter
Haushalt, ohne jene komplizierte Produktionsthätigkeit und Arbeitsgliederung; der
herrſchaftlichen Disciplinierung iſt ſie kaum mehr bedürftig; leicht verſtändigen ſich
Mann und Frau und, wenn ſie im richtigen Verhältnis ſtehen, auch Frau und Dienſt-
boten über das, was zu geſchehen hat. Die Dienſtbotenmiſere von heute wächſt mit der
Zunahme perſönlicher Individualiſierung, aber ſie iſt, glaube ich, doch im ganzen ver-
ſchwindend gegen die Schwierigkeiten und Härten, mit denen früher eine viel größere
Zahl in Ordnung zu halten war. Die wirtſchaftlichen Beziehungen der Familien-
wirtſchaft nach außen, ſo ſehr ſie wachſen, ſo ſehr man die Waren und Leiſtungen der
verſchiedenſten Geſchäfte und Handwerker heranziehen, Lehrer und andere Perſonen
beſchäftigen muß, erfordern doch kein feſtes, hartes Regiment, wie einſt das in der
patriarchaliſchen Familie war; dieſe Beziehungen ſpielen ſich in der Form täglich neu
zu knüpfender und leicht zu löſender Verträge ab, welche in der Hauptſache die Frau
abſchließt. So iſt die Härte und Gewalt, die Ausbeutung und der Arbeitszwang, die
früher in der Familie kaum zu vermeiden waren, hinausgewieſen in die Unternehmungen,
auf den Markt des Lebens und der Konkurrenz. Und in der Familie iſt nun Raum
für Friede und Behagen, für ein Wirtſchaften mit Liebe und ungeteiltem Intereſſe
geſchaffen, wie es früher in gleichem Maße nicht vorhanden ſein konnte.
Die Arbeitsteilung fehlt freilich auch in dieſer kleinen Familie nicht; die Mutter,
die Köchin, die erwachſene Tochter, die halb erwachſenen Kinder haben ihre beſonderen
Aufgaben; aber im ganzen geht dieſe Teilung nicht weit; jedes hilft wo es kann und
iſt ſtets mit ganzer Seele dabei, weil die ſtärkſten ſympathiſchen Gefühle zur intenſivſten
Thätigkeit anſpornen. Die Arbeitsteilung zwiſchen Mann und Frau aber vollzieht ſich
in der Hauptſache nicht innerhalb der Familie, ſondern eben zwiſchen der Familien-
wirtſchaft überhaupt und den weiteren ſocialen Organiſationen. Der Mann ſucht ſich
draußen eine Stellung, einen Erwerb, ein Vermögen; er kämpft da den harten Kampf
ums Daſein und findet die Kraft dazu, weil er in der Familie dafür die Ruhe, die
Harmonie, das friedliche Glück einer behaglichen Exiſtenz genießt. Die Frau aber, die
die Kinder unter dem Herzen getragen, pflegt und erzieht ſie; ſie ſtellt die Dienſtboten
an und entläßt ſie, ſie waltet in Küche, Keller und Kammer, ſie reinigt und flickt,
ſtellt überall im Hauſe wieder die Ordnung her, führt den kleinen Kampf gegen Staub
und Verderbnis und erhält ſo allen Beſitz, alle Geräte, alle Mobilien ſehr viel längere
Zeit; ſie kann mit demſelben Einkommen das Doppelte ſchaffen, wenn ſie ihr Budget
richtig einzuteilen, wenn ſie mit Waren- und Menſchenkenntnis einzukaufen verſteht,
wenn ſie die nötigen kleinen chemiſchen, techniſchen und Küchenkenntniſſe hat; von ihrem
hygieniſchen Verſtändnis, ihrer Erfahrung und Umſicht am Krankenbette hängen Geſund-
heit und Leben aller Familienglieder ab.
[250]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Wenn ſo die Thätigkeit von Mann und Frau in gewiſſem Sinne weiter als je
auseinandergeht, ſo ergänzen ſich beide doch beſſer als früher; beide Teile erreichen ſo
die Vollendung ihrer ſpecifiſchen Eigentümlichkeiten, leiſten mehr und erzeugen durch-
ſchnittlich mehr Glück für ſich und die anderen. Die Arbeit des Mannes in Staat
und Volkswirtſchaft mag dabei als die bedeutungsvollere erſcheinen; ſie iſt doch für
jeden einzelnen Mitarbeiter ein arbeitsteiliges Stückwerk, deſſen Reſultate das Individuum
oft gar nicht, oft erſt ſpät überſieht. Die Arbeit der Frauen im Hauſe umſchließt einen
kleineren, aber einen vollendeten, harmoniſchen Kreis; die Gattin, die dem Manne das
Mahl bereitet, ihm abends die Stirne glättet, die Kinder vorführt, wird dienend zur
Glück ſpendenden Herrſcherin ihres Hauſes; ſie ſieht jeden Tag und jede Stunde die
Früchte ihres Thuns vor ſich und weiß, daß in ihrem kleinen Reiche Anfang und Ende
alles menſchlichen Strebens liege. Die Kindererziehung der patriarchaliſchen Familie
verliert ihre Härte, ihre egoiſtiſchen Zwecke; muß jetzt die Mutter ſie mehr allein über-
nehmen, ſo tritt ihr dafür die Schule helfend zur Seite, und im Bunde mit ihr kann
ſie erreichen, was früher nie möglich war. Ihre ſocialen Pflichten außer dem Hauſe,
in Vereinen, in der Armenpflege, in der Erziehung und Beeinfluſſung der Kinder der
unteren Klaſſen kann die Frau heute leichter als früher erfüllen, weil ſie zu Hauſe ent-
laſtet iſt. Die hohen Aufgaben und Genüſſe der Kunſt und der Geſelligkeit haben heute
vielfach außerhalb des Hauſes Organiſationen erzeugt, welche mit der Familie zuſammen
wirken müſſen. Ich nenne das Theater- und Konzertweſen, die Vereine für Geſelligkeit
und alles Derartige. Aber die Beziehungen dieſer Kreiſe und Organe zur Familie ſind
nicht ſchwer zu ordnen. Und daneben umſchließt doch die heutige Häuslichkeit die beſte
und höchſte Art Geſelligkeit, den höchſten Muſik- und Litteraturgenuß. Die antike Welt
und das Mittelalter kannten in der Hauptſache nur öffentliche Feſte, das Tanzvergnügen
im Stadt- oder Zunfthauſe, den täglichen Wirtshausbeſuch der Männer, während nun
doch das Haus der Mittelpunkt der Geſelligkeit der Gebildeten wurde.
So zeigt die moderne Familienwirtſchaft neben ihren Schwierigkeiten doch auch
große Fortſchritte. Sind ſie freilich noch lange nicht überall eingetreten, ſo ſind ſie
doch bei den höheren Kulturvölkern in den höheren und mittleren, teilweiſe auch ſchon
in den unteren Klaſſen erkennbar. Das Weſentliche iſt, daß die Familie aus einem
Herrſchaftsverhältnis mehr und mehr eine ſittliche Genoſſenſchaft, daß ſie aus einem
Produktions- und Geſchäftsinſtitut mehr und mehr zu einem Inſtitut der ſittlichen
Lebensgemeinſchaft wurde, daß ſie durch die Beſchränkung ihrer wirtſchaftlichen die
edleren, idealen Zwecke mehr verfolgen, ein inhaltreicheres Gefäß für die Erzeugung
ſympathiſcher Gefühle werden konnte.
92. Gegenwart und Zukunft der Familie. Frauenfrage. Wenn
ich glaube, wahrſcheinlich gemacht zu haben, daß die eben erwähnten Lichtſeiten mehr im
Weſen der modernen Familienwirtſchaft begründet, die Schattenſeiten mehr überwindbare
Begleiterſcheinungen des Überganges ſeien, ſo läßt ſich hiefür ein ganz ſtrenger Beweis
nicht führen. Die Zukunft zu ſchätzen, bleibt problematiſch. Jedenfalls wird derjenige ein
abweichendes Urteil hierüber wie über die ganze neuere Familienentwickelung haben, der
annimmt, ſie werde und müſſe überhaupt in der Form verſchwinden, in welcher ſie heute noch
als wirtſchaftlicher Sonderhaushalt, baſiert auf freiem ſympathiſchem Austauſch, exiſtiert.
Dieſe Annahme geht davon aus, daß die Familienwirtſchaft in den heutigen
Groß- und Weltſtaaten mit ihrem leichten Verkehr, mit ihren Bildungsanſtalten, ihrer
Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Ehefreiheit, ihrer zunehmenden Arbeitsteilung, ihrer
kommunalen Armenpflege und ſtaatlichen Verſicherung wachſenden Einſchränkungen von
zwei Seiten ausgeſetzt ſei: der vordringende Individualismus wolle die einzelne Perſon
immer mehr auf ſich ſelbſt ſtellen, die zunehmenden geſellſchaftlichen Einrichtungen
nähmen thatſächlich der Familie eine Funktion nach der anderen, bis nichts mehr bleibe.
Und es iſt wahr, die ſelbſtändige Organiſation der Produktion hat dem Familien-
haushalte nicht bloß jene alten Aufgaben des Spinnens und Webens, des Nähens und
Waſchens, des Backens und Schlachtens entzogen; geſellſchaftliche Einrichtungen geben
uns auch ſchon Gas, Elektricität, Waſſer, vielleicht auch bald Wärme, ſie geben uns
[251]Die Gefahr einer Auflöſung der Familienwirtſchaft.
Unterricht, Bildung, Erziehung und was alles ſonſt noch. Nicht bloß die erwachſenen
Töchter ſind im Hauſe nicht mehr notwendig, ſelbſt Frau und Kinder gehen viel mehr
als früher nach Arbeit außer dem Hauſe; ſie thun es teils durch die Not, teils durch
den Selbſtändigkeitsdrang getrieben; die jungen Leute verdienen vom 12. oder 14. Jahre
an ſelbſtändig, ſie wollen ſich die elterliche Zucht nicht mehr gefallen laſſen, wohnen
für ſich in Schlafſtellen, wollen für ihr Geld auch ihr Leben genießen. Wo die modernſten
Verhältniſſe walten, da ſind die Kinder am frühreifſten, da heiraten einzelne junge Leute,
ohne Vater und Mutter zu fragen, da ſind die Familienbande am loſeſten. Die Schließung
der Ehe wird andererſeits immer ſchwieriger; die Zahl der Eheloſen nimmt zu; die Zahl
der Jahre, welche vom Verlaſſen des Elternhauſes bis zur eigenen Ehe verſtreichen, wird
größer, ſchon weil Lehr-, Bildungs-, Reiſezeit, das Herumſuchen nach einer Exiſtenz es
ſo mit ſich bringen; man gewöhnt ſich an Freiheiten aller Art, an Genüſſe, die in
der Familie nicht möglich ſind, an außerehelichen Verkehr; das Familienleben erſcheint
den ſo Gewöhnten oft nur noch als eine läſtige Feſſel, die man mindeſtens jederzeit
will wieder abſtreifen können; man fordert unbedingte Scheidungsfreiheit und beruft ſich
darauf, wie in allen Großſtädten die Eheſcheidungen zunehmen, wie in Nordamerika
heute teilweiſe jährlich ſchon auf 9—10 Eheſchließungen eine Eheſcheidung komme.
Indem man im Anſchluß an die Theorien des 18. Jahrhunderts die Gleichheit
von Mann und Frau predigt, fordert man die ganz gleiche Erziehung beider Geſchlechter,
die Zulaſſung der Frauen zu allen Berufen, betrachtet die Beſeitigung gewiſſer Arbeits-
ſchranken für die Frauen, wie ſie mit dem Zunftweſen fielen, nur als eine erſte dürftige
Abſchlagszahlung. Man erhofft die Beſeitigung der Geld-, Konventions- und Ver-
ſorgungsehen, wenn die Frauen alle Berufe erlernen und ergreifen dürfen; man hofft,
daß, wenn die Frau durch eigenen Erwerb auf ſich ſelbſt ſtehe, der ſtets kündbare Ehe-
bund erſt ein wirklich freier werde, und den bisher ſchon ſo eingeſchränkten Familien-
haushalt glaubt man als ein Rumpelſtück aus der Vorväter kümmerlicher Zeit bald
vollends ganz über Bord werfen zu können.
Wenigſtens der Socialismus träumt von einem Leben der durch die Ehe Ver-
bundenen in Hotels und Logierhäuſern; alle gebärenden Frauen will er in öffentliche
Gebärhäuſer, alle Kinder in Kinderbewahranſtalten, die Halberwachſenen in Lehrwerkſtätten,
Penſionate und öffentliche Schulen, die zugleich verpflegen, ſchicken; für alle Kranken
ſollen die Krankenhäuſer, für alle Alten die Invalidenhäuſer ſorgen. So brauchen die
arbeitenden Erwachſenen nichts als ein Wohn- und Schlafzimmer einerſeits, Klubs,
Speiſehäuſer, öffentliche Vergnügungsorte, Bibliotheken, Theater, Arbeits- und Pro-
duktionsräume andererſeits. Der Familienhaushalt iſt angeblich verſchwunden.
Daß einer oberflächlichen Betrachtung unſerer heutigen techniſchen und ſocialen
Entwickelung derartige Ziele als die notwendigen und heilſamen Endergebniſſe erſcheinen
können, wer wollte es leugnen? Und wer wollte, wenn er die großen Veränderungen
früherer Epochen, den ungeheuren Wandel der heutigen Technik und das chaotiſche
Ringen unſerer ſittlichen Vorſtellungen und ſocialen Einrichtungen betrachtet, ſicher ſagen,
Derartiges ſei unmöglich? Aber bei ruhiger, näherer Betrachtung erſcheinen uns doch
dieſe Ideale und Zukunftspläne als ſtarke Übertreibungen, ja Verirrungen, als einſeitig
logiſche Schlüſſe aus partiellen Bewegungstendenzen, die hiſtoriſch notwendig wieder
entgegengeſetzten Strömungen weichen oder vielmehr mit anderen notwendigen Tendenzen
ſich vertragen müſſen.
Die Familie ſoll verſchwinden zu Gunſten des Staates und des Individuums?
Glaubte man, als der Staat im 18. Jahrhunderte den alten Korporationen zu Leibe
ging, nicht dasſelbe von der Gemeinde und allen Genoſſenſchaften und Vereinen? II
n’y a que l’état et l’individu, dekretierte die franzöſiſche Revolution, und heute ſucht
überall eine entwickelte Geſetzgebung die Kreiſe, die Gemeinden, die Vereine, die Genoſſen-
ſchaften zu fördern. Die höhere Kultur ſchafft immer kompliziertere Formen und erhält
daneben doch an ihrer Stelle jede für beſtimmte Zwecke als brauchbar gefundene typiſche
Lebensform. Sollte ſie plötzlich die ſeit Jahrtauſenden ausgebildete wichtigſte, kräftigſte,
noch heute für 99 % aller Menſchen unentbehrliche ausſtoßen?
[252]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Je beweglicher heute das Leben wird, mit je mehr Menſchen heute jeder in Ver-
bindung kommt, je mehr jeder neben ſeinen Verwandten mit verſchiedenen Fach- und
Geſinnungsgenoſſen verkehrt, deſto notwendiger wird ein ſicherer, nach außen geſchloſſener
engſter Kreis der Liebe, des Vertrauens, des Behagens, wie ihn allein die Familie
giebt. Man frage die Reiſenden, die 2—10 Jahre im Gaſthofe lebten, nach was ſie
ſich am meiſten ſehnen. Wer jeden Hungrigen ins Wirtshaus, jede Gebärende ins
Gebärhaus, jedes Kind von ſeiner Geburt bis zu ſeiner Mannbarkeit in eine Reihe von
Erziehungshäuſern ſchickt, verwandelt die Geſellſchaft in eine Summe genußſüchtiger,
egoiſtiſcher Vagabunden, deren Nervenunruhe und Überreizung die Mehrzahl zu Kan-
didaten für die Irrenhäuſer macht.
Von 45 Mill. Deutſchen waren 1882 13,3 Mill. männliche und 4,2 Mill. weib-
liche erwerbsthätig, 8,1 Mill. männliche und 18,1 Mill. weibliche Perſonen lebten ohne
Erwerb oder als Dienſtboten in Familie und mit der Familienwirtſchaft beſchäftigt;
über 2 Mill. der weiblich Erwerbsthätigen gehörten dem Alter unter 30 Jahren an,
alſo einer Gruppe, von welcher die meiſten ſpäter in die Kategorie der nicht erwerbenden
Familienglieder übergehen. Was wäre nun nötig, wenn das ſocialiſtiſche Ideal ſich
verwirklichte: Erziehungsanſtalten für 15—16 Mill. Kinder und junge Leute, die heute
faſt alle noch bei ihren Eltern wohnen; das würde Koſten von Milliarden machen, die
bezahlten Lohn- und Erziehungskräfte ins zehn- und mehrfache ſteigern, die ganze ſo
wichtige geiſtig-ſittliche Wechſelwirkung zwiſchen Eltern und Kindern aufheben. Für die
17,6 Mill. männlicher und weiblicher bisher Erwerbsthätiger und die 10 Mill. bisher
nicht erwerbsthätiger Erwachſener, alſo zuſammen für etwa 27 Mill., wäre einerſeits
bezahlte Lohnarbeit, andererſeits Unterkommen in Hotels, zeitweiſe in Gebär-, Kranken-,
Invalidenhäuſern nötig, ſoweit ſie nicht als Beamte dauernd in Erziehungshäuſern oder
ſonſtigen Anſtalten leben müßten. Eine ungeheure Summe von heute unbezahlter
Arbeit in der Familie und gegenſeitiger liebevoller Fürſorge, die jetzt ſpielend, von
Leuten, die ſich kennen, ſich richtig behandeln, geſchieht, würde aufgehoben; alle Arbeit
würde in eine bezahlte, gebuchte, für Fremde mit Gleichgültigkeit verrichtete verwandelt.
Für einige Prozente der Kranken und Gebärenden wird es heute ein techniſcher Vorteil ſein,
in eine Anſtalt zu gehen; für die Mehrzahl iſt die Pflege zu Hauſe die unendlich beſſere
und billigere; ſie iſt zugleich die ſittlich erziehende. Die Koſten des Unterhaltes in den
Hotels wären gewiß in einzelnen Beziehungen geringere, aber vielfach auch höhere als
heute in den Familien; die Reibung, die Händel wären viel erheblicher, ein großer Teil
der heutigen individuellen Freiheit wäre vernichtet; eine Disciplin wäre nötig, gegen
welche die einſt in der patriarchaliſchen Familie vorhandene ein Kinderſpiel wäre; die
Sparſamkeit würde eine viel kleinere; in all’ den Hotels, Erziehungsanſtalten ꝛc. wirt-
ſchaftete ja jeder aus der allgemeinen Kaſſe; der mechaniſch-geſellſchaftliche Apparat, ſeine
Kontrollen, ſeine Koſten würden außerordentlich wachſen. Der optimiſtiſchen Hoffnung
der Socialiſten alſo, eine ſolche Organiſation ſei billiger und beſſer, produziere viel
mehr, ſtehen die gegründetſten Bedenken entgegen. Was macht die Arbeit, die heute
noch in der Familie geſchieht, billig und gut? Daß ſie mit Liebe für Mann und Kind,
für das eigenſte Intereſſe erfolgt, daß ſie nicht bezahlt und gebucht wird, daß dabei
nicht gerechnet wird. Nun ſoll, was bisher dieſe Millionen Menſchen in der Familie für
ſich und die Ihrigen gethan haben, in Lohnarbeit für Fremde verwandelt werden! Die
Pflege des kranken Kindes durch die Mutter kann kein Krankenhaus der Welt erſetzen.
Nur weniges von dem, was die Millionen Familienglieder heute zu Hauſe thun, läßt
ſich durch maſchinellen Großbetrieb beſſer ausführen; es ſind die tauſend kleinen Dienſte,
Beſorgungen, Einwirkungen auf Kinder und Verwandte, die in dem Maße, wie ſie auf
bezahlte Fremde übergehen, ſchlechter und teurer werden.
Außerdem aber: das durch Jahre dauernde Zuſammenſein von Mann und
Frau, von Eltern und Kindern iſt die Vorbedingung für die Erzeugung ſtarker Pflicht-
gefühle, heroiſcher Aufopferung, der wichtigſten ſympathiſchen Gefühle überhaupt und
für die Überlieferung aller ſeit Jahrtauſenden entſtandenen ſittlichen Errungenſchaften.
Die Familie wird dabei in immer kompliziertere Verbindung mit Schulen und anderen
[253]Die Vorzüge der Erhaltung der Familienwirtſchaft. Die Frauenfrage.
Inſtitutionen kommen; geſund bleibt der ſociale Körper nur, wenn die Kraft und Selb-
ſtändigkeit der Familie nach innen ebenſo wächſt, wie die Ausbildung der anderen Organe
in ihrer Art gelingt. —
Das ſchiefe Ideal der Gleichheit von Mann und Frau vergißt, daß alle höhere
Kultur größere Differenzierung und größere Abhängigkeit der differenzierten Teile von
einander, beſſere Verbindung der verſchiedenen unter einander bedeutet, vergißt den
Nachweis, wie es zu machen, daß das Kindergebären und das Waffentragen auch ab-
wechſelnd von Mann und Frau zu übernehmen ſei. Die Forderung, daß man heute
die Frau zum Lehrberufe, zum Heilberufe und ſonſt noch manchem zulaſſe, iſt ganz
richtig, aber ihre Erfüllung wird ſegensreicher wirken, wenn die Sitte, vielleicht auch
das Recht dafür an beſtimmten Stellen die Männer ausſchließt; denn bloß in die Arena
der atemloſen Männerkonkurrenz noch Tauſende von Weibern einführen und ſie unter
der Hetzpeitſche des Wettbewerbes um die Erwerbsſtellen kämpfen laſſen, heißt nur den
Lohn erniedrigen oder die Bevölkerung proletariſch vermehren. Die Kinder- und Frauen-
arbeit unſerer Tage iſt nicht ein Beweis, daß unſere Technik, unſer Familienleben,
unſere Produktion dieſe Kräfte hier am beſten verwenden, daß Ähnliches durch alle
Schichten der Geſellſchaft hindurch zu geſchehen habe, ſondern zeigt nur, daß man ſich
in der Zeit des Überganges zur Hausinduſtrie, zur Manufaktur- und Großinduſtrie,
zumal in den Gegenden dichter Bevölkerung, über die Tragweite der beginnenden
induſtriellen Frauen- und Kinderarbeit nicht klar war. Sind nicht die Bergdiſtrikte, in
denen man nie Frauen zur Bergarbeit zuließ, die glücklichſten? Man könnte behaupten,
es wäre ein großes Glück geweſen, wenn die Regel, daß die Frau ins Haus und nicht
in die Produktion für den Weltmarkt gehöre, aus der Zunft in die moderne Zeit her-
über ſich hätte erhalten laſſen: die Bevölkerung wäre langſamer gewachſen, furchtbares
Elend wäre erſpart geblieben. Und heute handelt es ſich darum, wenigſtens ſo weit
wie möglich und nach und nach wieder die verheiratete Frau und das Kind aus der
Mehrzahl der großen Induſtrien zu verdrängen und für die unverheirateten Mädchen,
die eines Erwerbes bedürfen, eine beſtimmte Zahl von Gebieten zu öffnen, für die ſie
beſſer als die Männer paſſen.
Alle Frauen bedürfen einer beſſeren Erziehung als heute; möglichſt viele mögen
ſo weit gebracht werden, daß ſie eine Reihe von Jahren oder dauernd auf ſich ſelbſt
ſtehen können; alle aber müſſen in erſter Linie ſo erzogen werden, daß ſie gute Mütter
und Hausfrauen werden; denn jede Frau, die das nicht wird, hat ihren eigentlichen
Beruf, den, in dem ſie das Höchſte, das Vollendetſte, das Segensreichſte leiſtet, verfehlt;
und jede Frau, die eine ſchlechte Mutter und Hausfrau wird, ſchädigt ſittlich und wirt-
ſchaftlich die Nation viel mehr als ſie ihr nützt, wenn ſie die trefflichſte Ärztin, Buch-
führerin, Geſchäftsfrau oder ſonſt was wird.
Nicht in der Vernichtung, ſondern in dem richtigen Wiederaufbau der Familien-
wohnung und der Familienwirtſchaft liegt die Zukunft der Völker und die wahre
Emancipation des Weibes. Man beobachte, was heute eine tüchtige Hausfrau des
Mittelſtandes durch vollendete hauswirtſchaftliche und hygieniſche Thätigkeit, durch
Kindererziehung, durch Kenntnis und Benutzung der hauswirtſchaftlichen Maſchinen
leiſten kann; man überſehe nicht, wie einſeitig die großen naturwiſſenſchaftlichen und
techniſchen Fortſchritte ſich bisher in den Dienſt der Großinduſtrie geſtellt haben, welche
ſegenſpendende Vervollkommnung noch möglich iſt, wenn ſie nun auch in den Dienſt
des Hauſes treten. Nur die rohe, barbariſche Hauswirtin der unteren Klaſſen kann
ſagen, ſie habe heute nichts mehr im Hauſe zu thun; vollends bei geſunder Wohnweiſe,
wenn zu jeder Wohnung ein Gärtchen gehört, iſt die Hausfrau, ja ſie mit ihren halb-
erwachſenen Kindern, auch heute voll beſchäftigt und wird es künftig noch mehr ſein,
trotz aller ſie unterſtützenden Schulen, Kaufläden und Gewerbe, trotzdem daß ſie in
ſteigendem Maße fertige Produkte, ja fertiges Eſſen einkauft. Und neben ihrer Haus-
wirtſchaft ſoll ſie Zeit für Lektüre, Bildung, Muſik, gemeinnützige und Vereinsthätigkeit
haben, gerade auch bis in die unterſten Klaſſen hinein. Ohne das giebt es keine ſociale
Rettung und Heilung! —
[254]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
2. Die Siedlungs- und Wohnweiſe der geſellſchaftlichen Gruppen; Stadt
und Land.
- Niedere Kultur und Altertum: Ratzel, Völkerkunde. 3 Bde. 1885 ff. und 1894 ff., und die
übrige ethnologiſche Litteratur. — - J. H. Krauſe, Deinokrates oder Hütte, Haus und Palaſt, Dorf,
Stadt und Reſidenz der alten Welt. 1863. — - Kühn, Die griechiſche Komenverfaſſung als Moment
der Entwickelung des Städteweſens im Altertum. Zeitſchr. f. Geſch. W. 4; — Derſ., Entſtehung der
Städte der Alten. 1878. — - Niſſen, Das Templum. 1869. —
- E. Curtius, Große und kleine
Städte (Altertum und Gegenwart). 1875. — - Marquardt, Römiſche Staatsverwaltung 1. 1881
2. Aufl. — - Mommſen, Römiſches Staatsrecht 3 a. 1888. —
- Pöhlmann, Die Übervölkerung der
antiken Großſtädte. 1884. — - Jung, Die romaniſchen Landſchaften des römiſchen Reiches. 1881.
Agrariſche Siedlung im Mittelalter und in neuerer Zeit: Gaupp, Die germaniſchen An-
ſiedlungen und Landteilungen. 1844. — - Landau, Die Territorien. 1854. —
- v. Maurer, Einleitung
zur Geſchichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfaſſung. 1854; — Derſ., Geſchichte der Dorfverfaſſung.
2 Bde. 1865—1866; — Derſ., Geſchichte der Fronhöfe. 4 Bde. 1862—1863. — - Arnold, Anſied-
lungen und Wanderungen deutſcher Stämme. 1875. — - v. Inama-Sternegg, Unterſuchungen
über das Hofſyſtem im Mittelalter. 1872; — Derſ., Die Entwickelung der deutſchen Alpendörfer.
Hiſtor. Taſchenbuch. 3. F. 4. Bd.; — Derſ., Deutſche Wirtſchaftsgeſchichte. 3 Bde. 1879 ff. — - Meitzen, Urkunden ſchleſiſcher Dörfer. Cod. dipl. Silesiae. 4. 1863; — Derſ., Siedlung und Agrar-
weſen der Weſtgermanen und Oſtgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slaven. 3 Bde. nebſt Atlas.
1895. — - H. Dietz, Geſchichte der Vereinödung im Hochſtift Kempten. 1865. —
- Sering, Die Land-
politik der Vereinigten Staaten von Nordamerika. J. f. G.V. 1884. — - Schlitte, Die Zuſammen-
legung der Grundſtücke. 3 Bde. 1886. — - Vergl. noch die Litteratur beim Abſchnitt „Eigentum“.
Mittelalterliches Städteweſen: Leo, Burgenbau und Burgeneinrichtung. Hiſtor. Taſchenbuch
1837. — - Arnold, Geſchichte der deutſchen Freiſtädte. 2 Bde. 1854. —
- Nitzſch, Miniſterialität
und Bürgertum. 1859; — Derſ., Geſchichte des deutſchen Volkes. 3 Bde. 1883—85. — - Maurer,
Geſchichte der deutſchen Stadtverfaſſung. 4 Bde. 1869—72. — - Schäffle, Zur Lehre von den ſocialen
Stützorganen. Z. f. St. 1878. — - Roſcher, Über die geogr. Lage der großen Städte. Anſicht. d.
V.W. 1 (3. Aufl.). 1878. — - Gengler, Deutſche Stadtrechtsaltertümer. 1882. —
- Sohm, Die
Entſtehung des deutſchen Städteweſens. 1890. — - Varges, Zur Entſtehung der deutſchen Stadt-
verfaſſung. J. f. N. 3. F. 6 ff. 1893 ff. — - Ratzel, Anthropogeographie. 2, 1898.
Über die neuere Verteilung der Bevölkerung: Dieterici, Über die Zunahme der Bevölkerung
im preuß. Staate in Bezug auf die Verteilung nach Stadt und Land. Abh. d. Berl. Ak. d. Wiſſ.
hiſt.-phil. Kl. 1857. — - Rümelin, Stadt und Land. In R. u. A. 1, 1875. —
- Jannaſch,
Wachstum und Konzentration der Bevölkerung des preuß. Staates. Z. d. pr. ſtat. B. 1878; —
Zur Eiſenbahn- und Bevölkerungsſtatiſtik der deutſchen Städte. Monatsh. z. Stat. d. deutſch. Reiches
1878, Okt. 1884, Mai. — - E. Miſchler, Die Anſiedlungs- und Wohnverhältniſſe in Öſterreich. Stat.
Monatsſchr. 9, 1883. — - G. Hanſen, Die drei Bevölkerungsſtufen. 1889; — Die Urſachen der
Verarmung mancher Kleinſtädte. Deutſche Gem.-Ztg. 1890 Nr. 1. — - Brückner, Die Entwickelung
der großſtädtiſchen Bevölkerung im Gebiete des deutſchen Reiches. Allg. ſtat. Arch. 1, 1890. — - Longſtaff, Rural depopulation. Journ. of the stat. society. Sept. 1893. —
- Bücher, Die
inneren Wanderungen und das Städteweſen in ihrer entwickelungsgeſchichtlichen Bedeutung. Entſtehung
der Volkswirtſchaft 1893 u. 1898. — - Wirminghaus, Stadt und Land unter dem Einfluß der
Binnenwanderung. J. f. N. 3. F. 9, 1895. — - Kuczynski, Der Zug nach der Stadt. 1897. —
- Ballod, Die Lebensfähigkeit der ſtädtiſchen und der ländlichen Bevölkerung. 1897; — Derſ., Die
mittlere Lebensdauer in Stadt und Land. 1899. — - G. v. Mayr, Bevölkerungsſtatiſtik 1897, § 26:
Das Anhäufungsverhältnis der Bevölkerung. — - Brentano und Kuczynski, Die heutige Grund-
lage der deutſchen Wehrkraft. 1900.
93. Vorbemerkung. Definitionen. Wie die Verwandten durch das Haus
und das gemeinſame Wirtſchaften in ihm, ſo werden die etwas größeren Menſchengruppen,
die Geſchlechter, die Stämme, die Völker, durch das Zuſammenſiedeln, die Nachbar-
beziehungen und ihre wirtſchaftlichen Folgen organiſiert, verknüpft, zu einer Reihe der
wichtigſten Einrichtungen und konventionellen Ordnungen des Wirtſchaftslebens ver-
anlaßt (vergl. oben S. 8). Die feſte, dauernde Niederlaſſung der Menſchen mit den
nun entſtehenden Wohnplätzen, Bauten, Wegen und Grenzen, mit dem Acker- und
Hausbau, mit der Grundeigentumsverteilung an Gruppen, Familien und einzelne
(vergl. S. 198 ff., 203 ff.) iſt einer der wichtigſten Wendepunkte des wirtſchaftlichen
Entwickelungsprozeſſes. Und vor allem die nun eintretende feſte Verteilung der Be-
völkerung im Raume, wie ſie in der Siedlung nach Höfen, Weilern, Dörfern, Städten
ſich darſtellt, auf Grund der wirtſchaftlichen und ſonſtigen Bedürfniſſe, der daran an-
knüpfenden Sitten, Rechtsſatzungen und Inſtitutionen ſich vollzieht, iſt eine volkswirt-
[255]Die Begriffe: Hof, Weiler, Dorf, Stadt.
ſchaftliche Erſcheinung, welche in ihrem Entwickelungsprozeß und gegenwärtigen Stande
unterſucht und dargeſtellt ſein will, die zugleich die Grundlage bildet für das Verſtändnis
der Wirtſchaften der Gebietskörperſchaften, hauptſächlich der Gemeinde und des Staates.
Wie dieſe Siedlung von den natürlichen Urſachen des Klimas, des Bodens, der
Waſſerverteilung ꝛc. abhängig ſei, haben wir ſchon oben (S. 126—139, hptſ. S. 133)
zu zeigen geſucht. Hier bleibt die Aufgabe, ſie von der hiſtoriſchen, geſellſchaftlichen,
volkswirtſchaftlichen Seite darzuſtellen. Das geſchichtliche und geographiſche Material
dazu iſt freilich ſehr lückenhaft, vielfach auch das vorhandene nicht genügend bearbeitet.
Der Gegenſtand iſt mit der ganzen Bau-, Gemeindeverfaſſungs- und Grundeigentums-
geſchichte verquickt und ſoll hier doch ohne dieſe dargelegt werden; die Darſtellung
und Schlußfolgerung muß unter dieſen Schwierigkeiten leiden. Ein großes Hülfsmittel
bietet für die neuere Zeit und die Kulturſtaaten die Statiſtik, obwohl auch ſie gerade
in dieſem Gebiete weniger vollendet iſt als auf anderen.
Die Begriffe, welche wir dabei anwenden, Hof, Weiler, Dorf, Stadt, ſind an-
ſcheinend ſo bekannt, daß ihre Definition kaum nötig ſcheinen könnte. Doch ſind einige
Worte nicht überflüſſig, weil in den Begriffen einerſeits rein techniſch-wirtſchaftliche,
andererſeits aber auch ſtets inſtitutionelle, ſitten- und rechtsgeſchichtliche Elemente ent-
halten ſind. Die iſoliert liegende Einzelwohnung des Förſters, Waldhüters, Eiſenbahn-
wärters wird noch nicht als Hof bezeichnet, ſondern nur die eines Ackerbauers mit Stall,
Scheune und Umzäunung, wenn dieſes Anweſen den Mittelpunkt eines landwirtſchaft-
lichen Betriebes bildet; eine Gegend mit Hofſyſtem iſt eine ſolche, wo eine große oder
überwiegende Zahl der wirtſchaftenden Familien ſo im Mittelpunkte ihrer Felder und
Weiden vereinzelt wohnt. Unter dem Dorfe verſtehen wir das engere Zuſammenwohnen
von einer Anzahl Ackerbauer, Fiſcher, ländlicher Tagelöhner ꝛc., die höchſtens einige
Handwerker und andere Elemente (Geiſtliche, Schullehrer, Krämer) unter ſich haben;
der Weilen iſt eine Zuſammenſiedlung von wenigen Höfen und Familien, die aber nicht,
wie die Dorfbauern, durch Gemeindeverfaſſung, Kirche und Ähnliches gleichſam eine
höhere Einheit und Verbindung erlangt haben. Die Stadt iſt ein größerer Wohnplatz
als das Dorf, aber zugleich ein ſolcher, wo Verkehr, Handel, Gewerbe und weitere
Arbeitsteilung Platz gegriffen hat, ein Ort, der auf ſeiner Gemarkung nicht mehr
genügende Lebensmittel für alle ſeine Bewohner baut, der den wirtſchaftlichen, ver-
waltungsmäßigen und geiſtigen Mittelpunkt ſeiner ländlichen Umgebung bildet. Man
denkt aber ebenſo ſehr daran, daß er mit Straßen und Brücken, mit Marktplatz, mit
Rat- und Kaufhaus und anderen größeren Bauten verſehen, daß er durch Wall, Graben
und Mauern beſſer als das Dorf geſchützt ſei, wofern ein ſolcher Schutz überhaupt noch
nötig iſt; endlich daran, daß er eine höhere politiſche und Gemeindeverfaſſung, gewiſſe
Rechtsvorzüge beſitze. So ſteigert ſich mit der Differenzierung der Wohnplätze ihr
techniſch-wirtſchaftlicher wie ihr inſtitutioneller Charakter. Die Wohnplätze organiſieren
ſich und werden organiſiert, ſie werden, je höher ſie ſtehen, konventionelle, in gewiſſem
Sinne immer künſtlicher geordnete ſociale und wirtſchaftliche Körper und Gemeinſchaften.
Je mehr das geſchieht, je älter ſie ſind, deſto mehr greifen neben den techniſch natür-
lichen Urſachen Sitte, Recht, Überlieferung, geſellſchaftliche Ordnungen in ihre Entwicke-
lung ein.
94. Die älteſten Siedlungen, die der heutigen Barbaren- und
aſiatiſchen Halbkulturvölker. Wir haben geſehen, daß wir uns die älteſten
Menſchen in Horden von 25 bis zu 100 Perſonen, ihre ſpäteren Nachkommen in
Stämmen und Sippenverbänden gegliedert zu denken haben. Auf den Wanderungen und
bei den erſt vorübergehenden, ſpäter dauernden Siedlungen werden ſie des Schutzes und
der Verteidigung, der Geſelligkeit und des Zuſammenwirkens wegen immer möglichſt
bei einander oder in der Nähe geblieben ſein; nur wo die Ernährung eine größere Zer-
ſtreuung nötig machte, werden ſie ſich in kleine Gruppen geteilt haben, die dann aber
doch in der Nähe blieben. Erſt die Verſprengung und Verdrängung in kalte, unwirt-
liche Gebiete und Klimate hat auf ſolcher Wirtſchaftsſtufe das Vorkommen vereinzelt
lebender Familiengruppen erzeugt.
[256]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Gruppen von zehn bis dreißig kleinen Hütten, von ein paar Langhäuſern trifft
man auch heute noch überwiegend bei den niedrigſtehenden Raſſen. Sie beherbergen
kleine Stämme oder Teile derſelben, je meiſt nicht mehr als 50—150 Menſchen. Bei
den Negern wohnt häufig noch ein ganzer Stamm gedrängt um ſeinen Häuptling oder
in einigen nahen Dörfern. Die Dörfer liegen in nahen Gruppen zuſammen, welche
dann wieder von größeren leeren Räumen umgeben ſind. Einzelhöfe kommen auf ſolcher
Stufe der Entwickelung in beſſerem Klima nur ſelten, im Gebirge, im Walde, am Rande
des kulturfähigen Bodens vor. Hirten und Nomaden haben häufig größere Ortſchaften als
die Hackbauern, weil ſie, leicht beweglich, ihre Weideplätze vorübergehend ohne zu große
Schwierigkeit erreichen, ſich periodiſch zerſtreuen und wieder verſammeln können. Ibn
Batutu erzählt im 14. Jahrhundert von ſehr großen, ſtadtartigen Zeltlagern der tata-
riſchen Sultanate in Südrußland. Größere Orte kommen im übrigen überhaupt ſehr
ſelten vor, und ſo weit wir ſie finden, haben ſie den Charakter vergrößerter Dörfer,
d. h. es leben da zuſammengedrängt die fünf- bis zehn- und mehrfache Zahl Hackbauern,
Hirten, primitiver Ackerbauern, weil der Boden und die ſonſtigen Lebensverhältniſſe die
Anhäufung geſtatteten oder zu ihr nötigten (wie z. B. der enge Raum der Oaſe, der
Küſtenrand ꝛc.). Dieſe Orte, aber auch meiſt die alten Dörfer ſind durch Erdwälle
oder Verhaue geſchützt; aber ſie erhalten damit keinen weſentlich anderen Charakter als
die offenen Dörfer. Der vorhandene Jahrmarktsverkehr findet nicht in ihnen, ſondern
etwa auf freien Grenzgebieten, an der Kreuzung von Karawanenſtraßen außerhalb der
Orte ſtatt. Etwaige Schutzbauten, ſtarke Wälle, in die ſich ganze Stämme auf einen
Berg, in Schluchten und Thäler zurückziehen können, fallen in ſolcher Zeit auch häufig
nicht mit den Dörfern zuſammen.
Faſt ganz Afrika, außer dem Nordrand und einigen ſüdafrikaniſchen Kolonien der
Europäer, iſt heute noch ſtadtlos. Wohl giebt es da und dort Großdörfer und Reſi-
denzen kriegeriſcher Häuptlinge von einigen Tauſend Seelen; aber ſie haben nicht Stadt-
charakter. Auch ein großer Teil Aſiens iſt darüber nicht viel hinaus gekommen, wenn
auch China, Japan, Indien ſchon Orte bis 100000 und mehr Seelen beſitzen. Die
Häuſer und Bauten, das Leben und die Wirtſchaftsweiſe hat ſich noch nicht ſtark diffe-
renziert. In Japan wohnen etwa 12 % der Menſchen in Orten mit über 10000 Ein-
wohnern, fünf derſelben ſind Städte mit über 100000. Aber, ſagt Rathgen, Japan
iſt kein Land der Städte; ſie ſind nicht zahlreich und unterſcheiden ſich von den Dörfern
nicht viel. Der brittiſch-indiſche Cenſus bezeichnet von 717549 Wohnplätzen wohl etwas
über 2000 als towns; in ihnen wohnen 9,48 % der Bevölkerung; von dem Reſt der
Wohnplätze haben 1891 343052 unter 200 Seelen, 222996 aber 2—500. Und bis
nach Rußland und Polen, Ungarn und die Balkanhalbinſel hinein hat ſich eine Wohn- und
Siedlungsweiſe erhalten, welche überwiegend dorfartig geblieben iſt. Es haben da freilich
beſondere hiſtoriſche und wirtſchaftliche Schickſale, Nachwirkungen kriegeriſcher Verfaſſung,
die Natur des Landes teilweiſe übergroße Dörfer wie in Ungarn, teilweiſe Städte geſchaffen
und erhalten; aber der übrige Teil des Landes iſt davon nicht weſentlich berührt. Von
China wird berichtet, daß dort neben großen Städten ſehr viele große ummauerte
Dörfer vorhanden ſeien; ein Land der Städte, wie Weſteuropa, iſt es doch nicht.
Man wird ſo nicht zu weit gehen, wenn man ſagt, für alle älteren und alle ein-
fachen wirtſchaftlichen Zuſtände ſei das Fehlen von Höfen und Städten das Vor-
herrſchende; beides komme mehr nur als Ausnahme vor; das Zuſammenwohnen in
kleinen Orten, in Menſchengruppen von 50—300 Seelen, ſei die Regel, habe viele Jahr-
tauſende hindurch vorgeherrſcht. Das Dorf giebt der Siedlung und Wohnweiſe dieſer
Stämme und Völker ſeinen Charakter. Das Dorf entſpricht dem vorwiegenden Leben vom
Hack- und Ackerbau; das zu bebauende Land iſt für 50—300 Menſchen meiſt in ſehr
leicht erreichbarer Nähe zu haben; vier Geviertkilometer geben Getreidenahrung für 150
bis 400 Menſchen; auch wo die Orte bis 1000 und mehr Seelen ſteigen, iſt die Acker-
wirtſchaft in Sommerhütten draußen leicht zu führen, wie das in Ungarn von den
großen Dörfern aus üblich iſt. Ob die einzelnen Wohnplätze etwas größer oder kleiner,
langgeſtreckt oder um einen runden Platz herum gebaut, offen oder geſchützt ſind, das
[257]Ausſchließliche Dorfſiedlung der älteren Zeit. Antike Städtebildung.
hängt von Natur- und hiſtoriſchen Verhältniſſen, von Frieden und Kampf, von Stammes-
organiſation und Schickſal, von Bautechnik und Baumaterialien, auch von den kleinen
Verſchiedenheiten des wirtſchaftlichen Lebens ab. Die einzelnen Dörfer zeigen unter ſich
keine erhebliche Verſchiedenheit, keine Eigentümlichkeit.
Auch die höchſtſtehenden Raſſen, vor allem die indogermaniſchen Völker, haben nach
allem, was wir von ihnen wiſſen, in ihrer älteren Zeit ein ſolch’ überwiegendes Wohnen
und Leben in kleinen Dörfern gehabt. Eine Anzahl Dörfer zuſammen bildeten Gaue, Hundert-
ſchaften oder wie die Gruppen hießen; mehrere ſolcher den Stamm, der ſich meiſt mit einem
breiten, unbebauten Grenzgebiete umgab, das ihn von anderen Stämmen und Völkern
trennte und ſchützte. Die Dörfer und Gaue lagen im ganzen nicht ſo weit auseinander,
daß man ſich nicht ſehen, die Volksverſammlung beſuchen konnte. Gallien hatte zur Zeit
Cäſars 300—400 „populi“, während das heutige Frankreich 87 Departements und
362 Arondiſſements zählt. Das letztere mit ſeinen 26 Geviertmeilen (1466 Geviert-
kilometern) dürfte alſo dem geographiſchen Gebiete eines damaligen „populus“ entſprechen.
Die Völkerſchaft würde (bei 500 Seelen pro Geviertmeile) alſo etwa 13000 Seelen
gezählt haben; ſie würde 130 Ortſchaften zu 100, 65 zu 200 Seelen umfaßt haben.
Gewiß eine rohe Schätzung, aber wenigſtens eine konkrete Vorſtellung!
95. Die antike Städtebildung haben wir in unſerer Anſchauung anzu-
knüpfen an Völker von 10000—200000 Seelen auf je etwa 1000—20000 Geviert-
kilometern, die beſonders begabt, techniſch und kriegeriſch vorangeſchritten, im ganzen
noch als einheitliche Volksgemeinden ſich fühlten; die lokalen dorf-, die ſippenſchaftlichen
Verbände hatten als Teile derſelben eben durch die zuſammenfaſſende Entwickelung der
Geſamtvolksgemeinde es noch nicht zu ausgebildetem Sonderleben gebracht. War die
Urſache einer ſolchen Volks- und Staatsverfaſſung weſentlich politiſch und kriegeriſch,
drückte ſie ſich in einer ſtarken Königsgewalt oder Ariſtokratie, in einer Prieſter- oder
Kriegerherrſchaft aus, ſo fand die Centraliſation und kriegeriſche Selbſtbehauptung baulich
und wirtſchaftlich hauptſächlich ihren Ausdruck in der Stadtgründung. In dem bunten
Kampfe der kleinen Völker und Kantone unter einander kamen nur die obenauf, die
es verſtanden, den längſt in der Regel als Zufluchtsort befeſtigten, als Verſammlungs-
ort, Marktplatz und Truppenaushebungsort, ſowie als Opfer- und Tempelſtätte dienenden
Mittelpunkt der Volksgemeinde zu einer ſtarken, belagerungsfähigen Feſtung, zu einem
größeren, die Regierung und Verteidigung erleichternden Wohnplatze zu erheben. Zuerſt
die Weſtaſiaten und Ägypter, dann die Griechen und Römer kamen ſo frühe zu einem
größeren ſtadtartigen, befeſtigten Mittelpunkte für jede Volksgemeinde, der bei günſtiger
Verkehrslage und in überreichen Tiefländern oft ſehr großen Umfang annahm; Babylon
hatte zu Nebukadnezars Zeit eine Ringmauer von 8 Meilen Umfang, faſt unüberſteig-
lich, 350′ hoch, 87′ dick; das gab einen ungeheuren Wohn- und Lagerplatz, Weiden
und Äcker für ein ganzes Volk einſchließend, größer als die Pariſer Enceinte, die 1830
bis 1840 gebaut wurde. Die Griechen haben ſchon zu Homers Zeit da Städte, wo
politiſche Macht ſich geſammelt. Und waren die meiſten helleniſchen Städte vor
Alexanders Zeiten nach unſeren Vorſtellungen klein, das Verlaſſen der alten Siedlung
in Komen, d. h. Dorfſchaften, das Zuſammenbauen, der ſogenannte Synoikismos galt
doch früh als das Zeichen der höheren griechiſchen gegenüber der barbariſchen Kultur.
Von Theſeus berichtet die Sage, er habe die Räte der übrigen Orte Attikas aufgehoben
und das ganze Gebiet unter den Rat Athens geſtellt. Alle Wohlhabenden, Einfluß-
reichen mußten, wo der Synoikismos ſich vollzogen, nun dauernd oder zeitweiſe in der
Hauptſtadt leben. Selbſt von den im Gebirge lebenden, der Stadtverfaſſung wider-
ſtrebenden Arkadern berichtet Pauſanias, man habe 40 Komen zu der Stadt Megalo-
polis vereinigt. Alle höhere politiſche und wirtſchaftliche Kultur erſchien eben den
Griechen nur möglich mit Hülfe einer einheitlichen, centraliſierten Stadtgemeinde, in
der alle Glieder der Volksgemeinde Bürger waren. Wo die Schöpfung gelang, barg
die Stadt vielfach mit der Zeit einen übermäßigen Teil des Volkes dauernd in ſich.
Die dem griechiſchen Heimatlande an Umfang und Bevölkerung gleichkommenden grie-
chiſchen Kolonialgebiete waren von Haus aus abſichtliche Städtegründungen mit mäßigem,
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 17
[258]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
zu der Stadt gehörigem Landgebiete. Wir haben uns die griechiſchen Städte vor der
helleniſtiſchen Zeit meiſt nicht über 2—10000 Seelen, aber auch die zugehörigen Gebiete
mit der Stadt meiſt nicht größer als 30—150000 Seelen zu denken; nur Athen und
Syrakus waren damals ſchon Städte von etwa 100000 Seelen. Kreta hatte zur Zeit
ſeiner Blüte auf 190 Geviertmeilen 100 Stadtbezirke, alſo hatte einer durchſchnittlich
nur 1,9. Die Stadtſtaaten waren Kantone, ihre Wirtſchaft war eine Stadtwirtſchaft;
das ganze Volk wurde als Stadtvolk bezeichnet; die Anlage und der Bau der Stadt
war das Wichtigſte für die ganze Volksgemeinde; die Burg, die Tempel, die Markt-
hallen, die Straßen, die Waſſerleitungen, die Häfen waren künſtleriſche und techniſche,
oft viel bewunderte Werke großer Meiſter.
Mit König Philipp und Alexander, ſowie unter ihren Nachfolgern breitet ſich
über Makedonien und den ganzen Orient eine helleniſtiſche, ſyſtematiſch geförderte
Städtegründung aus: in den weit ausgedehnten Reichen entſtehen zahlreichere, teilweiſe
die altgriechiſchen Städte weit übertreffende Großſtädte. Die konſulariſche Provinz Aſien
hatte zur Römerzeit 500 Städte oder Stadtbezirke. Alexandria ſtieg auf 5—700000,
Seleukia auf 600000, Antiochia, Pergamum und manche andere Städte auf über
100000 Seelen.
Die italiſche Entwickelung war der griechiſchen entſprechend. Die Italiker kamen
wahrſcheinlich ſchon aus der Poebene mit der Kunſt des Feldmeſſens, Lager- und Städte-
bauens nach Mittelitalien (Niſſen). Die Römer kennen eine hiſtoriſche Entwickelung
nur ab urbe condita. Die ſtädtiſch-kriegeriſche Konzentration ihres Gemeinweſens hat
ſie an die Spitze des Latinerbundes, dann der übrigen italiſchen Städtegebiete, endlich
des ganzen Erdkreiſes gebracht. Das römiſche Reich war von Anfang bis zu Ende nie
etwas weſentlich anderes als ein Städtebund mit führender Spitze; die verſchiedenen,
nach innen ſämtlich eine gewiſſe Selbſtändigkeit und eigene Verwaltung genießenden
Stadtbezirke waren nur je nach den verſchiedenen Klaſſen von ſtädtiſchen Rechten in
ihrer auswärtigen Politik, ihrem Gerichtsweſen, ihrem Heerweſen, ihrem Steuerweſen der
römiſchen Herrſchaft abgeſtuft unterthan. Nach der Eroberung Spaniens, Galliens, Afrikas,
Noricums, Illyriens, Daciens war es die Hauptaufgabe der römiſchen Politik, überall
an Stelle der alten ländlichen Stammesverfaſſung die höhere Stadtbezirksverfaſſung zu
ſetzen, eine Anzahl kleiner Stämme zu Stadtgebieten zuſammenzulegen, die höheren
Klaſſen für die Reize der ſtädtiſchen Kultur zu gewinnen, und ſo in den zu Städten
auswachſenden Lagern wie in den zu Städten und Bezirksmittelpunkten erhobenen
größeren befeſtigten Orten eine geordnete lokale Adminiſtration zu ſchaffen. Vor allem
die erſten zwei bis drei Jahrhunderte der Kaiſerzeit waren dieſer großen volkswirtſchaft-
lichen und adminiſtrativen Aufgabe gewidmet. In der ſpaniſchen Provinz Tarraconenſis
gab es in der älteren Kaiſerzeit neben 179 Städten und Stadtbezirken noch 114 länd-
liche Bezirke, als Ptolomäus im 2. Jahrhundert n. Chr. ſchrieb, 248 Stadt- auf
27 Landbezirke. Gallien hatte unter Auguſtus 64, ſpäter 125 Stadtbezirke; das kar-
thagiſche und das mauretaniſche Gebiet waren je auf 300 Städte gekommen.
Überall ſiegten dabei die helleniſch-italiſchen Sitten: alle großen Grundbeſitzer,
alle reichen Leute des Gebietes zogen nach der Stadt; alles platte Land, alle Dörfer
und Weiler gehörten zum Stadtbezirke, ſtanden unter den ſtädtiſchen Magiſtraten. Mögen
die ländlichen Gemeinden meiſt ein Gemeindevermögen, eigene Sakra, jährlich wechſelnde
Ortsvorſteher, eine gewiſſe adminiſtrative Bedeutung gehabt haben, in allem Wichtigen
unterſtand das platte Land den Stadtbeamten; die lokalen Allmenden ſind wahrſchein-
lich frühe in dem großen ſtaatlichen ager publicus verſchwunden.
Nachdem dieſer Prozeß der Ausbildung von Städten als Spitzen der Bezirks-
verwaltung ſich vollendet, nachdem in den großen Reichen der Diadochen und ſpäter
Roms ein Zuſtand der friedlichen, wirtſchaftlichen Entwickelung und des großen Ver-
kehrs ſich ausgebildet hatte, traten naturgemäß andere Urſachen für die Zunahme der
Städte mehr in den Vordergrund: Handel und Verkehr ſteigerten zumal an den Küſten
und Flüſſen, an den großen Landſtraßen und Straßenkreuzungen das Gedeihen; die
Gewerbe erblühten da und dort in den Städten; Kunſt und Litteratur, Theater und
[259]Stadt und Stadtbezirk im Altertum.
Spiele lockten. Aus der großen Zahl kleiner und mittlerer erwuchſen nun manche zu
Großſtädten, die einen reineren Städtetypus darſtellten als einſt die älteren aſiatiſchen
und griechiſchen Städte: es waren Mittelpunkte der politiſchen Herrſchaft großer Welt-
reiche, des damaligen Welthandels, der Adminiſtration großer Provinzen. Rom iſt zur
Zeit vor Chriſti Geburt nach Beloch auf etwa 800000, Karthago nach Jung in der
Kaiſerzeit auf 700000 zu ſchätzen; Mailand, Kapua, Tarent, Konſtantinopel waren
ebenfalls Großſtädte; das alte Trier wird auf 50—60000 Seelen geſchätzt.
Teilweiſe verödete das platte Land; die Dörfer waren mannigfach in größere Hof-
güter verwandelt; die Latifundien erzeugten aber keine allgemeine Großgutswirtſchaft,
ſondern einzelne Höfe (villae) mit etwa 80—100 ha. Der Ruin der Kleinbauern durch
politiſche Urſachen, durch den Kriegsdienſt, die Überſchuldung, die überſeeiſche Getreide-
konkurrenz trieb die Verarmten vielfach in die Städte. Und das iſt nun das Eigen-
tümliche der ſpätgriechiſchen und wohl noch mehr der ſpätrömiſchen Großſtädte, zumal
Roms, daß ihr Wachstum zwar nicht mehr ſo überwiegend auf dem kriegeriſchen und
adminiſtrativen Bedürfnis, aber auch nicht ſo, wie in der Neuzeit, auf wirtſchaftlicher
Zweckmäßigkeit beruhte; natürlich hatte der Verkehr und die Induſtrie, die der konzen-
trierten Arbeitskräfte bedürfen — und zwar damals noch mehr als heute, weil die
Maſchinen fehlten —, weſentlich mit zur Vergrößerung einzelner Städte, z. B. Alexan-
drias, gewirkt. Aber die Hunderttauſende, welche den Hauptteil der römiſchen Stadt-
bevölkerung ausmachten, waren doch hauptſächlich Sklaven und proletariſche Klienten
der Millionäre, verarmte Landleute, bettelhafte Abenteurer und Almoſenempfänger; alles
drängte nach Rom und Konſtantinopel, wo man Getreideſpenden erhalten (im Jahre
46 in Rom 320000 Köpfe) und glänzende Spiele umſonſt ſehen, Kurzweil und Zer-
ſtreuung aller Art haben konnte. Die verlumpten und verliederlichten Exiſtenzen machten
mit den Sklaven in dieſen Großſtädten ſicher zeitweiſe über die Hälfte, wenn nicht drei
Viertel der Volksmenge aus.
Es war eine ungeſunde ſtädtiſche Anhäufung, eine unglückliche, viel ſchlimmere
Landflucht als heute. Die Vorliebe aber für ſtädtiſches Leben und Wohnen iſt ſeither
in vielen Teilen der Mittelmeerlande gleichſam erblich geblieben. In Sicilien, das ſo
wenig Gewerbe hat, wohnen noch heute viel mehr Menſchen in Städten als in manchen
unſerer hochentwickelten Induſtrieſtaaten: 68 %, während 1875 in Belgien 67, in
Sachſen 52, in Frankreich 42 % darauf fielen.
Eine andere, beſſere Errungenſchaft der ſpätrömiſchen kaiſerlichen Verwaltung war
es, daß ſich endlich die Formen der Verfaſſung, der Verwaltung und des Rechts aus-
gebildet hatten, auf Grund deren ein geordnetes Zuſammenwirken einer ſtarken centra-
liſtiſchen Reichsgewalt mit zahlreichen relativ ſelbſtändigen Stadtbezirken möglich wurde.
An das Erbe dieſer Traditionen konnten die germaniſchen Staaten anknüpfen, ſie
brauchten eine Staatsgewalt nicht erſt wieder aus der Stadt- oder Kantonverwaltung
heraus zu entwickeln.
96. Die mitteleuropäiſche Siedlungsweiſe der neueren Völker
auf dem platten Lande. Die Siedlungs- und Wohnweiſe in den Staaten nach
der Völkerwanderung iſt teils (und zwar hauptſächlich in Südeuropa) bedingt durch die
Nachwirkungen der älteren Staats-, Kultur- und Wirtſchaftszuſtände, teils durch die
Lebens- und Wirtſchaftsweiſe der keltiſchen, germaniſchen und ſlaviſchen Völker, welche
in der Hauptſache dieſe Staaten begründeten oder beherrſchten. Die Kelten hatten ſchon
einen etwas entwickelteren Ackerbau, die Germanen und Slaven waren in kriegeriſchem
Vordringen begriffen, hatten nur vorübergehend feſte Wohnſitze, lebten mehr von ihrer
Viehwirtſchaft als ihrem Ackerbau. Bei allen drei Völkergruppen wird noch weſentlich
die alte indogermaniſche Gruppen- und Dorfſiedlung in der Zeit ihres Eindringens nach
Europa vorhanden geweſen ſein.
Eine Erörterung der Nachwirkung der älteren Siedlung in Italien, den Alpen,
in Gallien würde uns hier zu weit führen. Nach Meitzens neueſten Forſchungen iſt ſie
nördlich der Alpen geringer als man bisher oft annahm. Für Mitteleuropa bleibt die
Hauptfrage, wie die Seßhaftigkeit der Kelten und Germanen ſich vollzogen habe. Über
17*
[260]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
die erſteren ſind wir noch weniger unterrichtet als über die letzteren. Ehe wir darauf
eingehen, ſeien zwei Vorbemerkungen geſtattet, eine über die germaniſche Staatenbildung,
die andere über das Dorf- und Hofſyſtem.
Die kleinen germaniſchen Völkerſchaften, noch nach Sippen gegliedert, hauptſächlich
für Viehweide und kriegeriſche Zwecke nach Hundertſchaften geordnet, gingen aus dem
langen Kampfe mit Rom als große Völkerbünde mit einem bereits ſtarken Königtum
hervor. Es gelang ihnen ſo relativ raſch, große agrariſche Flächenſtaaten mit ſtarker
Kriegs- und einer der römiſchen nachgebildeten Staatsverfaſſung zu ſchaffen; die Ver-
waltung der römiſchen Kirche, der große Grundbeſitz des Königs und der weltlichen wie
geiſtlichen Ariſtokratie ſchufen in wenigen Jahrhunderten ein Rückgrat für die neuen
Staatsgebilde, ſo daß in den gegenüber den Mittelmeerländern ärmeren, kälteren, viel-
fach gebirgigen Landen auch ohne Städte ein geordneter, relativ befeſtigter Staats- und
Wirtſchaftszuſtand in der Zeit von 300 bis 1100 n. Chr. eingetreten iſt.
Für die Frage, ob, wie frühe, in welcher Art neben der Wohnweiſe im Dorfe die
Einzelſiedlung, die Hofverfaſſung, entſtanden ſei, ſcheint es nötig, neben der wirtſchaftlich-
techniſchen Seite der Frage weſentlich auf zwei wichtige mitwirkende Umſtände hinzu-
weiſen. Der Einzelhof, der inmitten ſeiner Grundſtücke wirtſchaftet, kürzt die Wege,
ſpart an Koſten, ſtellt einen geſchloſſeneren Wirtſchaftskörper dar als die Bauernwirt-
ſchaft im Dorfe. Aber das ſind Vorzüge, die nicht ſo leicht bei niedriger Kultur erkannt
werden und wirken können, und denen andere Nachteile für die verſchiedenſten Lebens-
zwecke entgegenſtehen. Das iſolierte Wohnen raubt primitiven Menſchen die gewohnte
geſellige Umgebung, oft auch den Schutz; ſie entſchließen ſich meiſt nur dazu, wo es
durch beſondere natürliche Umſtände oder durch die Not des Lebens geboten iſt. Aber
zweierlei kann den Übergang erleichtern. Einmal wenn es ſich nicht um eine einzelne
kleine Familie handelt, ſondern um eine große patriarchaliſche mit einigen Dutzend
Menſchen, wenn ein Herrenhof, ein Kloſter mit 12—24 Brüdern, kurz etwas ſtärkere,
geſchloſſenere ſociale Gebilde, die Einzelſiedlung vollziehen. Solche Organe haben auch
am früheſten Sinn für die wirtſchaftlichen Vorteile der Sonderſiedlung; ſie verfügen
über große Viehherden, die iſoliert leichter zu erhalten und zu nützen ſind. Und dann
ſcheint es uns denkbar, daß ein anderer Umſtand die Einzelſiedlung früher fördern kann,
wenn nämlich die Familien in feſt organiſierten herrſchaftlichen oder genoſſenſchaftlichen
Verbänden herkömmlich leben und an ihnen einen gewiſſen feſten Rückhalt auch auf dem
Hofe behalten. Unter dieſen Vorausſetzungen können einzelne Kreiſe und Völker früher
zum Hofſyſtem kommen als ſonſt.
Haben wir damit ſchon die Kompliziertheit des Problems berührt, ſo werden wir
auch begreifen, daß bis heute eine volle Klarheit und unbeſtrittene wiſſenſchaftliche
Überzeugung über den agrariſchen Siedlungsprozeß der neueren europäiſchen Völker nicht
beſteht. Wir haben die wichtigſten der von einander abweichenden Theorien kurz vor-
zuführen.
Möſer und Kindlinger hatten im Geiſte des 18. Jahrhunderts Einzelhöfe als das
Urſprüngliche hingeſtellt, aus denen erſt viel ſpäter im Intereſſe des Schutzes Dörfer
und Städte entſtanden ſeien. So ſehr dieſe Annahme allem widerſpricht, was wir heute
wiſſen, ſo iſt doch zuzugeben, daß aus römiſchen Villen, auf früher romaniſchem Boden,
auch aus Fronhöfen und vereinzelten grundherrlichen und freien Bauernhöfen in ſpäterer
Zeit mannigfach Dörfer hervorgingen, daß vom 11.—15. Jahrhundert oftmals Höfe,
Weiler und kleine Dörfer zu größeren Orten des Schutzes wegen zuſammengelegt wurden,
wie auch die Städtebildung da und dort mit ſolcher Vereinigung verbunden war.
Nachdem die neuere Forſchung die Feldgemeinſchaft und das Dorfſyſtem ziemlich
allgemein als primitive Form des agrariſchen Lebens der Kulturvölker aufgefunden hatte,
konnte Roſcher den Möſerſchen Satz umkehren: das Hofſyſtem iſt auf niederer Kultur-
ſtufe Ausnahme; wo man es fand, ſuchte man es weſentlich auf natürliche örtliche Ur-
ſachen zurückzuführen; im Gebirgsthal, wo für Dörfer kein Platz iſt, auf unfruchtbarem
Boden — ſo hieß es — entſtanden die Höfe und die Weiler in ſpäterer Zeit als die
[261]Hof- und Dorfſyſtem nach Möſer, Inama, Meitzen.
Dörfer. Es iſt das die bis heute vorherrſchende Meinung, die durch geographiſche
Siedlungsſtudien mannigfache Unterſtützung fand.
Nicht ſowohl ſie bekämpfen als etwas korrigieren wollte Inama mit ſeinen Unter-
ſuchungen über die Höfe und Dörfer der Alpen. Er will einzelne Urdörfer, die vor den
Höfen dageweſen ſind, nicht leugnen. Aber er will beweiſen, daß ſchon Tacitus Dorf
und Hof neben einander gekannt habe, daß die ältere Kulturausdehnung dann in den
Alpen mehr durch Höfe erfolgt ſei, daß die größeren Dörfer ihnen erſt als ſpäteres
Ergebnis hauptſächlich der Grundherrſchaft folgten. Die überwiegende Viehzucht und
Feldgraswirtſchaft des älteren Mittelalters in den Alpen und die Careyſche Vorſtellung,
daß die Beſiedlung von den Höfen und Berghängen ins Thal gegangen ſei, haben
weſentlich ſeine Gedanken beherrſcht, die er in ſeiner Wirtſchaftsgeſchichte aber dahin
modifiziert, daß in der älteſten Zeit die kleinen Dörfer, die einzelnen Ausbauten, die
ſogenannten Bifange im Walde, und die Höfe gar keinen feſten Gegenſatz gebildet hätten,
daß von der Karolinger Zeit an die Höfe zurückgetreten, die Dörfer größer geworden
ſeien. Dieſe Auffaſſung ſtimmt mit dem Reſultat der Unterſuchungen von Landau,
Arnold und Mone, daß im älteren Mittelalter die Zahl der kleinen Niederlaſſungen
außerordentlich groß geweſen, ſpäter durch Kriege, grundherrſchaftliche Tendenzen und
andere Urſachen ihre Zahl auf die Hälfte oder noch mehr zurückgegangen ſei.
Auguſt Meitzen führt in ſeinen feinſinnigen Unterſuchungen über die Siedlung
der Weſt- und Oſtgermanen, der Kelten, Romanen, Finnen und Slaven uns ein Bild
ganz Europas vor und bringt die verſchiedene Siedlung weſentlich in Zuſammenhang
mit dem verſchiedenen Volkscharakter; die größeren Gebiete des Hofſyſtems in Deutſch-
land (Weſtfalen), Frankreich, Belgien, Großbritannien und Irland ſieht er als ein
Ergebnis keltiſcher, die des Dorfſyſtems als ein ſolches germaniſcher Siedlung an. Er
läßt die indogermaniſchen Völker als Nomaden in Europa einwandern; die germaniſchen
Marken von etwa 2—8 Geviertmeilen (ca. 100—400 Geviertkilometer) ſtellt er ſich als
Sitze der Weidegenoſſenſchaften von 120 Familien oder 1000 Seelen vor, die durch
Übervölkerung etwa im Beginne unſerer Zeitrechnung genötigt ſind, für den größeren Teil
ihrer weniger Vieh beſitzenden Genoſſen zum Ackerbau und feſter Siedlung in Dörfern
überzugehen: Gruppen von 5—30 Familien erwerben durch Vertrag mit der Mark-
genoſſenſchaft feſte Dorffluren, legen die Dörfer an, teilen das zunächſt dem Dorfe liegende
Ackerland in Gewanne, d. h. längliche Quadrate nach der Bodengüte; jeder Hufner
erhält im Dorfe Hausſtätte und Gartenland, in jedem Ackergewann ſeinen Anteil von
je ½ bis 1 Morgen, außerdem die Nutzung in der gemeinſamen Dorfweide, event. auch
noch in der Mark. Die vorherrſchende Gleichheit der Germanen, ihr demokratiſch-
genoſſenſchaftlicher Geiſt ſoll ſo am leichteſten über jeden Streit weggekommen ſein, die
Dorfverfaſſung als eine feſte nationale Inſtitution erzeugt haben, die ſie nun überall
mit ſich brachten, wo ſie nach der Zeit ihrer Ausbildung eindrangen. Nur einzelne
früher in Bewegung gekommene Stämme, welche in ihrer nomadiſchen Verfaſſung
erobernd in das Keltengebiet ſich vorſchoben, ſollen da der keltiſchen Hofſiedlungsweiſe
ſich bequemt haben.
Daß die Kelten relativ früh zum vorherrſchenden Hofſyſtem gekommen ſeien, folgert
Meitzen in erſter Linie aus dem Studium der iriſchen Altertümer; hauptſächlich die
iriſchen Karten und hiſtoriſchen Nachrichten aus der Zeit nach 1600 zeigen ihm eine
Landaufteilung nach Hofſyſtem, deſſen Entſtehung er in die Zeit gegen 600 n. Chr. ver-
ſetzt. Die vorher beſtandenen Weidegenoſſenſchaften von je ſechzehn zuſammen wohnenden
und unter einem Häuptling zuſammen wirtſchaftenden Familien läßt er, auch infolge
von Übervölkerung, in ackerbauende, ſeparierte Hofbauern ſich verwandeln. Die große
Gewalt der Klanhäuptlinge läßt ihm den Vorgang, der die wirtſchaftliche Zweckmäßig-
keit für ſich gehabt habe, begreiflich erſcheinen. Und in ähnlicher Weiſe denkt er ſich
einige Jahrhunderte früher den Übergang der galliſchen Kelten zu Ackerbau und Hof-
ſyſtem; das wirtſchaftliche Leben derſelben erſcheint ihm demgemäß relativ hoch entwickelt.
Wir können hier auf die weiteren Stützen, welche Meitzen ſeiner Hypotheſe durch
Unterſuchung der Hausbauformen und der Wanderungen giebt, ſo wenig eingehen wie
[262]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
auf ſeine Studien über die Slaven und Finnen; auch eine kritiſche Würdigung iſt hier
nicht am Platze. Wir können nur ſagen: die Hypotheſe hat viele Anhänger, aber auch
erheblichen Widerſpruch gefunden; ſie erklärt geographiſche Verſchiedenheiten, für die
bisher kein rechter Schlüſſel da war; ſie trägt der Stammes- und Volkseigentümlichkeit
Rechnung, welche man bisher nicht ſehr berückſichtigte. Aber ſie überſpannt vielleicht
die Bedeutung der verſchiedenen Gemütsanlage und Rechtsanſchauung der Kelten und
Germanen, negiert wohl zu ſehr den Einfluß der Bodenbeſchaffenheit, der Bodengüte und
Ähnlichem. Sie führt überwiegend auf ariſtokratiſche und demokratiſche Gliederung der
Kelten und Germanen die verſchiedene Siedlung zurück, wobei Zweifel und Fragen aller
Art offen bleiben. Wir ſelbſt können nach unſeren obigen Ausführungen uns Kelten
und Germanen nicht vorher als reine Nomaden denken; ebenſowenig iſt es uns leicht
glaublich, daß die Kelten ſo früh und allgemein ein Hofſyſtem ſollten ausgebildet haben,
das doch ſonſt überwiegend ein Produkt höherer landwirtſchaftlicher Kultur oder natür-
licher Nötigung iſt. Die Zweifel, welche Henning und Knapp ausgeſprochen haben,
wird Meitzen wohl ſelbſt erneuter Prüfung unterziehen. Am meiſten begründet erſcheint
der Einwurf, daß der keltiſche wie der germaniſche Übergang von der Nomadenwirtſchaft
zum Hof- und zum Dorfſyſtem bei Meitzen zu ſehr als eine einmalige rationaliſtiſch
erſonnene Maßregel erſcheint, während es ſich doch wohl um einen Umbildungsprozeß
von vielen Jahrhunderten handelt.
Müſſen wir ſo die Darlegung der Siedlungstheorien mit einem „non liquet“
abſchließen, müſſen wir auch konſtatieren, daß alle Verſuche, aus Stellen von Tacitus
das Dorf- oder das Hofſyſtem herauszuleſen, vergeblich ſind (nur daß die Germanen ihre
Holzhäuſer nicht Mauer an Mauer, wie die Römer ihre Steinhäuſer, bauten, ſagt er),
müſſen wir zugeben, daß überhaupt über der älteren europäiſchen Siedlungsgeſchichte
bis ins 10. und 11. Jahrhundert zunächſt noch ein gewiſſer Schleier ruht, — ſo viel
ſcheint mir doch wahrſcheinlich, daß kleine Dörfer wohl das älteſte waren, daß dann
vielfach Hofbildungen entſtanden, vor allem durch Könige, Große, Klöſter und ihre Leute,
daß dann mit der Zeit der Grundherrſchaft, der Städtebildung, der höheren allgemeinen
Kultur die Dörfer ſich erheblich vergrößerten, die Höfe teilweiſe wieder verſchwanden,
und daß die eigentlich intenſive Ausbildung des Hofſyſtems erſt den letzten Jahr-
hunderten angehöre. Keußler hat auch für Rußland nachgewieſen, daß bis ins 16. Jahr-
hundert ganz kleine Dörfer und Höfe neben einander vorkommen, dann erſt ſich etwas
größere Dörfer bildeten.
Das Zuſammenleben im Dorfe iſt in dem Maße für die meiſten menſchlichen
Zwecke zuträglicher, als der Verkehr, die Preſſe und andere Verbindungen nach außen
fehlen, als die genoſſenſchaftliche Schulung wie das tägliche ſich Helfen und Fördern
erſtes Bedürfnis für die kleinen Ackerwirte iſt. Unter fremdem Volkstum bei ungeord-
neten politiſchen und rechtlichen Zuſtänden gelingt ja eine Koloniſation als Einzelſiedlung
überhaupt nicht leicht, wohl aber als genoſſenſchaftliche Dorfſiedlung. Die erſten agra-
riſchen Kolonien Neuenglands im 17. Jahrhundert konnten nur als geſchloſſene Dorf-
anlagen ſich halten. Und als im Anfange des 18. Jahrhunderts die preußiſche Regierung
ganz Littauen neu beſiedelte und die bäuerlichen Verhältniſſe dort neu ordnete, einigte
man ſich nach langer Debatte über Dorf- und Hofſyſtem doch für das erſtere, als un-
entbehrlich. Noch heute iſt vielfach im Oſten Deutſchlands der einzeln lebende Bauer
auf iſoliertem Hofe zu ſchwach; er kann ſich da nicht halten, wo das Dorf ganz gut
gedeiht. Die engliſche und die deutſche Landflucht in der Gegenwart geht nicht ſowohl
von den Dörfern als von den iſoliert oder in zu kleinen Gruppen wohnenden Tage-
löhnern aus. Einer gewiſſen Geſellſchaft bedarf der Menſch.
All’ dieſen Gründen ſteht nun freilich die größere wirtſchaftliche Zweckmäßigkeit
des Hofſyſtems für den landwirtſchaftlichen Betrieb gegenüber. Sie konnte aber, wie
wir ſchon bemerkten, doch erſt bei höherer Kultur voll und ganz erfaßt werden. Die
Vereinödung des Hochſtifts Kempten gehört dem vorigen Jahrhundert an, die Auflöſung
der engliſchen Dörfer in iſoliert liegende Pachthöfe der Zeit der Einhegung der Gemein-
heiten (1720—1860). Die iſoliert wohnenden Marſchbauern Deutſchlands ſtammen auch
[263]Die neuere Ausdehnung des Hofſyſtems. Ältere Dorfgröße.
weſentlich aus der ſpäteren Zeit, als neben den älteren Sommerdeichen die das ganze
Feld dauernd ſchützenden Winterdeiche entſtanden. Was die deutſche Separation und
Güterzuſammenlegung an ausgebauten Ritter- und Bauernhöfen geſchaffen, iſt ein Er-
gebnis unſeres Jahrhunderts. Und ein Vermeſſungsſyſtem wie das amerikaniſche, das
alles Land in Quadrate zerſchneidet, deren Grenzen zugleich Wege ſind, das überhaupt
keine Dörfer mehr kennt, ſondern nur viereckige Farmen mit dem Hofe in der Mitte
derſelben, iſt nur in einer Zeit hoher Technik und ausgebildeten Verkehrsweſens denkbar.
Wenn das ſpätrömiſche Syſtem der kaiſerlichen Agrimenſoren damit Ähnlichkeit hat, ſo
waren damals in Italien auch die Vorausſetzungen ähnlich. Heute fehlt das Hofſyſtem
hier wie in Spanien und allen Mittelmeerländern.
Der künftige volle Sieg dieſes Syſtems in den alten Gebieten des Dorfſyſtems iſt nicht
zu erwarten, ſo ſehr da und dort heute durch Ausbau an landwirtſchaftlichen Produktions-
koſten geſpart werden könnte. Es wird heute das iſolierte Wohnen durch Poſten, Eiſen-
bahnen und Telegraphen, durch verbeſſerte Polizei und Juſtiz erleichtert. Ein Teil der
in den Städten übermäßig neben und über einander gehäuften Menſchen drängt wohl
nach Licht, Luft und Raum in freierer Siedlung, aber nicht nach iſoliertem Wohnen.
Es wird ſich in dieſer Beziehung wohl noch manches verſchieben; aber die Dörfer der
alten Kulturländer werden nicht ganz verſchwinden, ſchon weil zu große Werte in ihnen
ſtecken, die durch Auflöſung zerſtört würden, weil die beſtehenden Sitten zu feſt ſitzen,
und auch zu viele andere wirtſchaftliche und menſchliche Motive dagegen ſind.
Auf die Größe der heutigen Dörfer kommen wir nachher. Über die Größe derſelben
im 15. Jahrhundert und ſpäter führe ich für 58 Pfälzer Orte nach Eulenburg an, daß
hatten. Ähnlich hat ſchon Mone nachgewieſen, daß die badiſchen Dörfer, welche jetzt
80—300 Familien beſitzen, im 15. Jahrhundert meiſt 10—30 hatten; von 30 badiſchen
Städten und Dörfern berechnet er 1530 eine durchſchnittliche Bevölkerung von 419,
1852 von 1310 Seelen. Von den ruſſiſchen Dörfern meldet uns Keußler, ſie hätten
im 16. Jahrhundert meiſt 15—120 Einwohner, ſelten ſchon die letztere Zahl gehabt,
während jetzt größere Dörfer die Regel ſeien.
97. Die Entwickelung des Städteweſens vom Mittelalter bis
gegen 1800. Weit vorgreifend haben wir ſo den Gang der Siedlung auf dem Lande
bis zur Gegenwart zu zeichnen geſucht. Ihr ſteht nun die Städtebildung gegenüber,
die von der antiken ſich dadurch unterſcheidet, daß ſie nicht ſo enge mit der Staats-
bildung zuſammenhängt, daß ſie, obwohl auch von militäriſch-adminiſtrativen und
kirchlichen Einflüſſen berührt, doch mehr wirtſchaftlichen Urſachen, hauptſächlich dem
Bedürfnis von Handel und Gewerbe entſpringt. Als der Übergang und die Vor-
bedingung für höhere Kultur erſcheint aber die Zeit der neueren Städtebildung ebenſo
wie die der antiken. Es iſt im Altertum wie in der neueren Zeit für alle Völker
Jahrhunderte lang die wichtigſte volkswirtſchaftliche Organiſationsfrage, wo und wie das
fehlende ſtädtiſche Leben zu erzeugen ſei.
Die 96 angeblichen Städte (πόλεις), welche der bekannte Geograph Ptolomäus
im 2. Jahrhundert n. Chr. für Deutſchland aufzählt, waren wohl Fürſtenſitze, Stammes-
befeſtigungen, Verſammlungsorte; daneben beſtanden vielleicht einige dichtere Siedlungen
an Salzquellen und Furten. Die erſten eigentlichen Städte, die die Germanen ſahen
und haßten, waren die 50 römiſchen Grenzkaſtelle und die befeſtigten Donau- und
Rheinſtädte. Unſere Vorfahren bezeichneten ſie als „Burgen“, wie bis ins 13. Jahr-
hundert jeder größere und befeſtigte Ort hieß. Die ſtädtiſchen Mauern erſchienen den
Germanen, ſagt Ammianus Marcellinus, als die Mauern eines Grabes; ſie zerſtörten
[264]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
die Städte, ſiedelten ſich auf dem Lande zerſtreut an. Auch in Gallien geſchah dies
zunächſt überwiegend. Nur die Burgundionen bequemten ſich früher zum Bewohnen
der „Burgen“, und in Italien haben Goten und Longobarden ſich wohl noch raſcher
in eine ſtädtiſche Ariſtokratie als Nachfolger der römiſchen Poſſeſſoren umgewandelt.
So konnte das karolingiſche Reich in Italien und ſüdlich der Loire manche Städte
zählen, die direkt an die antiken anſchließen; auch in England bricht die romaniſche
Stadtentwickelung nicht ganz ab; am Rhein erheben ſich bald wieder Köln, Mainz und
Straßburg, letzteres wird gegen 800 als civitas populosa bezeichnet. Aber im eigent-
lichen Deutſchland fehlte es noch gegen 900 vollſtändig an Städten. Was es giebt,
ſind ummauerte Pfalzen, Biſchofsſitze und Klöſter. Im 10. Jahrhundert wird König
Heinrich als Städtebauer geprieſen, d. h. er baute Grenzkaſtelle gegen die Magyaren.
Es wurde von da an die Umwallung der Biſchofsſitze ſyſtematiſch gefördert, und ebenſo
haben die energiſcheren Könige den Feſtungsbau überhaupt betrieben, da und dort ſogenannte
urbes regales mit Wall und Graben geſchaffen; ihre Einwohner wurden als milites
agrarii bezeichnet. Aber es blieben dieſe Orte doch mehr befeſtigte Dörfer als Städte,
und ſie waren nicht ſehr zahlreich. Sie verſahen für gewiſſe bedrohte Gebiete die Stelle
eines Zufluchtsortes, welche für die Stämme und Völker früher befeſtigte Berge und
Burgwälle, im Altertum die Städte geſpielt hatten. Daher findet man auch viele
Spuren, daß die ländlichen Umwohner am Bau helfen mußten.
Die Marktverleihungen an Biſchöfe und Klöſter vom 9.—11. Jahrhundert deuten
auf eine gewiſſe Hebung des Verkehrs an den periodiſch ſtattfindenden Jahrmärkten
hin; aber wie es heute noch im Orient Markt- und Meſſeplätze giebt, wo einmal im
Jahre ſich Tauſende verſammeln, ohne daß eine Stadt entſteht, ſo war es auch damals
noch lange mit den meiſten von der öffentlichen Gewalt oder der Kirche eingerichteten
Märkten.
Die Ausbildung einer kriegeriſch organiſierten Naturalverwaltung der großen
Grundherrſchaften führte im 10.—12. Jahrhundert vor allem zu einem planvollen
Burgenbau, zu einem Syſtem befeſtigter Fronhöfe, die aber ſchon ihrer Lage nach nur
zum kleineren Teil Mittelpunkte ſpäterer Städte werden konnten. Wie die Reichstage
auf freiem Felde vor den Thoren der Biſchofsſitze Augsburg, Worms ꝛc. gehalten wurden,
ſo konnte Tribur 2½ Jahrhunderte Mittelpunkt der deutſchen Reichsverwaltung ſein,
ohne zur Stadt zu werden. (Nitzſch.)
In Italien, Frankreich, Belgien, ja ſogar in England kam es durch die Reſte
antiker ſtädtiſcher Kultur und durch günſtige Verkehrslage mancher Orte ſchon im 11.
und 12. Jahrhunderte wieder zu einem lebendigen ſtädtiſchen Leben. Nach der Zu-
ſammenſtellung, welche Gneiſt auf Grund von Merewether macht, gehören von 275
engliſchen Städten der Zeit bis 1199 96, der von 1199—1307 101, der von 1307 bis
1399 47, der von 1399—1649 32 an. In Deutſchland wuchſen faſt nur die Rhein-
und Donauſtädte im Laufe des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts kräftig empor; die
Marktpolitik der Biſchöfe hob den Verkehr; Weinhandel und Schiffahrt, die Anfänge
des Handels und des Gewerbes förderten die Anſammlung etwas zahlreicherer Bevölke-
rung in und vor den Mauern. Aber neben Regensburg iſt nur Köln durch ſeinen
Verkehr den Rhein hinab und über See gegen 1200 ſchon eine erhebliche Stadt. Freilich
ſchon 900 Familien nannte man damals eine „ingens civitas“. Und der ganze Schwer-
punkt ſtädtiſcher Entwickelung liegt für Deutſchland doch erſt am Ende des 12. und im
13. Jahrhundert; nicht vor dieſer Zeit fällt der Begriff der Marktſtatt und der der
Stadt überhaupt zuſammen; es entſteht die bis heute gültige Bezeichnung: Stadt. Die
Städtebildung dauert im 14. Jahrhundert hauptſächlich im Oſten Deutſchlands fort und
klingt im 15. aus. Von da an ſind wenig neue deutſche Städte mehr, und dieſe erſt
vereinzelt im 18. Jahrhundert, häufiger mit der großen wirtſchaftlichen Entwickelung
der letzten Menſchenalter entſtanden. Als Beweis ſeien folgende Zahlen angeführt, die
nach Genglers Cod. jur. municipalis berechnet ſind: je nach der erſten Urkunde oder
erſten Erwähnung des die Buchſtaben A bis Du, d. h. 280 deutſche Städte umfaſſenden
Verzeichniſſes fallen in die Zeit vor 1000 12 Städte, ins 11. Jahrhundert 4, ins 12.
[265]Die deutſche Städtebildung bis ins 15. Jahrhundert, ihre Urſachen.
13, ins 13. 119, ins 14. 100, ins 15. 32. Dieſe 280 Städte dürften in der Zeit
ihres Aufkommens der Geſamtheit der deutſchen Städte ungefähr entſprechen. Die älteren
ſind die größeren, hauptſächlich durch Verkehr und Handel, Gewerbe und Marktweſen
emporgekommenen; die ſpäteren Städte ſind weſentlich die durch abſichtliche Städtegründung
ins Leben gerufenen Landſtädte, die den Marktmittelpunkt für einen ländlichen Bezirk
abgaben, dieſen dadurch heben ſollten. Vom 12.—15. Jahrhundert hat das Aufkommen
der deutſchen Städte eine große Wanderbewegung vom Lande dahin erzeugt. Vom 15.
bis 17. handelt es ſich um die letzten Stadien dieſes Prozeſſes, deſſen Endziel weniger
die Ausbildung großer als die zahlreicher Mittelpunkte der kleinen, ſelbſtändigen Wirt-
ſchaftsgebiete war. Wir werden im nächſten Kapitel die darauf fußende Stadtwirtſchafts-
politik kennen lernen.
Daß ſehr viele der Städte aus einem Dorfe oder aus mehreren zuſammengelegten oder
zuſammenziehenden Dörfern erwuchſen, iſt ebenſo ſicher, wie daß die meiſten Jahrhunderte
lang Ackerſtädte blieben. Aber das erklärt nicht ihre Entſtehung, nicht ihr Weſen.
Ebenſo unzweifelhaft iſt, daß die Umgebung mit Wall und Graben als Lebensbedingung
der Stadt damals und lange galt, daß das ſtädtiſche Leben einen ſolchen Schutz voraus-
ſetzte; aber unzählige Burgen ſind nicht zu Städten erwachſen; übrigens ſind auch Dörfer
ſo geſchützt worden. Jedenfalls könnte man außer der Umwallung auch den Bau größerer
Kirchen, Klöſter, Pfalzen, Kauf- und Rathäuſer, die baulichen Einrichtungen für Wage,
Münze, Handwerkerbänke und Ähnliches als Bedingung oder Folge des ſtädtiſchen
Lebens anführen. Und das wirtſchaftlich Entſcheidende für die Stadtentſtehung war doch
zuletzt, daß ſtatt Dörfern und iſolierten Fron- und Bauernhöfen mit 20—150 Seelen
Wohnplätze mit 1000—5000 Einwohnern entſtanden waren, daß ſie die wirtſchaftlichen
Mittelpunkte ihrer Umgebung und weiterer Gebiete wurden, daß ſie nicht bloß Biſchofs-
ſitze und Burgen, ſondern Marktplätze und Sitze von Gewerbe und Handel waren;
endlich daß ſie, durch eigentümliche Rechtsinſtitutionen gefördert, zu beſonderen vom
Lande getrennten Lebenskreiſen, Genoſſenſchaften, Korporationen erwuchſen.
Die Städte genoſſen, ſeit ſie befeſtigt waren, eines beſonderen königlichen Friedens;
ſie wurden beſondere Gerichtsbezirke; ſie wußten die Rechtsverfaſſung oder, wenn man
will, das große Privileg für ſich durchzuſetzen, daß ihre Einwohner das ausſchließ-
liche Recht des Handels und bald auch die perſönliche Freiheit im Gegenſatz zu den
meiſt unfreien Landbewohnern erhielten. Und weitere Privilegien kamen häufig hinzu:
z. B. die Zuſicherung, daß auf ſo viel Meilen kein anderer Markt errichtet werde, daß
die Straßen ſie nicht umgehen, die durchziehenden Handelsleute in ihnen raſten und
verkaufen müſſen (Stapel-Recht); daß die ländliche Umgebung auf ihren Markt kommen
müſſe; ferner die Verleihung von Zolleinnahmen und Zollfreiheiten und anderes mehr.
Die Summe von privat- und öffentlich-rechtlichen Satzungen, die ſo vom 12.—14. Jahr-
hundert als typiſch für die Stadt ſich herausbildeten, faßte man unter dem Begriff des
Stadtrechts zuſammen und übertrug ſie von Ort zu Ort.
Es iſt ein großer, mehrere Jahrhunderte umſpannender Prozeß, in welchen zuerſt
die Könige, die Biſchöfe, die Landesfürſten und großen Grundherren vielfach abſichtlich
fördernd eingegriffen haben. Sie thaten es durch den Mauer- und anderen Bau, durch
Vergrößerung der Gemarkung, durch Herbeirufung von Kauf- und Gewerbsleuten, durch
Privilegien und Vorrechte aller Art, durch Übertragung des Gründungsgeſchäftes an
kapitalkräftige Unternehmer, die dafür Gerichtseinkünfte und Schulzenrechte erhielten.
Die Gründung gelang aber doch nur, wenn die wirtſchaftlichen und pſychologiſchen
Vorbedingungen dafür vorhanden waren. Das heißt: es gehörten zum Aufblühen der
Städte Menſchen, die fähig waren, in genoſſenſchaftlichem Geiſte die komplizierte Ver-
waltung der größeren Gemeinweſen mehr und mehr ſelbſt in die Hand zu nehmen. Und
es gehörte eine Verdichtung der Bevölkerung, ein Bedürfnis nach Handwerk, Verkehr,
Marktweſen, eine gewiſſe Arbeitsteilung und Kapitalbildung, eine kaufkräftige Ariſto-
kratie dazu.
Die älteren Städte erwuchſen im Südweſten Deutſchlands gleichſam unter der
Vormundſchaft der Könige, der Biſchöfe, oft in Anlehnung an deren Fronhöfe und
[266]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ihre Einrichtungen, in Niederſachſen mehr im Anſchluß an die freie Initiative der Ein-
wohner. Von der Gründung Freiburgs und Hagenaus (1120 und 1164) an iſt auch
im Südweſten der Sinn für ſtädtiſche Selbſtändigkeit ſo geſtiegen, daß die örtliche
Scheidung des königlichen oder fürſtlichen Hofes von der Stadt als Bedingung der
Blüte gilt. Und indem ſo Autonomie und Städtefreiheit, d. h. eine größere rechtliche
und verwaltungsmäßige Unabhängigkeit der Stadtkorporation gegenüber dem Stadtherrn
ſich entwickelte (in Deutſchland mehr als anderwärts, aber ähnlich doch auch in Frank-
reich, England ꝛc.), vollendete ſich der tiefgreifende wirtſchaftspolitiſche und rechtliche
Gegenſatz von Stadt und Land, der erſt in neueſter Zeit dem Grundſatze der Rechts-
gleichheit wich.
Außer der ſtädtiſchen, meiſt die der Dörfer weſentlich übertreffenden Gemarkung
hatten die Städte urſprünglich kein Gebiet; wohl kauften die reicheren nach und nach
Dörfer, Zollrechte, kleine Städte und ganze Herrſchaften auf, nahmen Ritter als Aus-
bürger an, ſuchten überhaupt ihre Macht zu einer territorialen Herrſchaft auf einige,
oft 10—15 Geviertmeilen auszuweiten; aber während das den italieniſchen großen
Kommunen gelang, weil ſie viel mehr als die deutſchen den Adel in ihren Mauern
behielten, war dies in Frankreich und England unmöglich durch die frühe Aufrichtung
einer königlichen Centralgewalt, und ſcheiterte die Bemühung der deutſchen Städte in
den Städtekriegen an der feſten Organiſation der Ariſtokratie des platten Landes, an
der bereits vorhandenen Macht der Territorialherren.
Das wunderbar ſchnelle und glänzende Aufblühen der größeren deutſchen Städte
von 1200—1500 iſt teils dem Zuge der Welthandelsſtraße durch Deutſchland und
dem deutſchen Oſtſeehandel, teils der politiſchen Thatſache zu danken, daß nach dem
Untergange einer feſten deutſchen Centralgewalt die großen Städte faſt unabhängige
Republiken wurden, die auch ohne großes eigenes Landgebiet durch eine energiſche, kluge,
zugreifende lokale Wirtſchaftspolitik bis gegen 1450 den agrariſchen territorialen Fürſten-
tümern vielfach überlegen waren. Die Verlegung des Welthandels nach dem atlantiſchen
Ozean und der Sieg des Territorialfürſtentums von 1450 ab nahm den Städten die
Möglichkeit weiteren einſeitigen Wachstums; durch den dreißigjährigen Krieg war der
größere Teil der deutſchen ſtädtiſchen Kultur vernichtet. Vom 18. Jahrhundert an
konnten die deutſchen Städte, wie ſchon ſeit Jahrhunderten die franzöſiſchen und eng-
liſchen, nur noch als dem Fürſtentum untergeordnete Gemeinden emporkommen.
Die Größe der älteren Städte hat man bis vor kurzer Zeit außerordentlich über-
ſchätzt. Jetzt hat eine genaue, umfangreiche Forſchung uns belehrt, daß vor 1400 wohl
nur die durch den Waſſerverkehr begünſtigten Städte Köln und Lübeck etwa 30000 Seelen
überſchritten, gegen 1600 vielleicht noch einige andere Städte einer ſolchen Zahl nahe
kamen oder ſie übertrafen, daß die angeſehenſten und reichſten Städte ohne Waſſer-
verkehr ſich zwiſchen 5 und 25000 Seelen bewegten, daß ſelbſt viele relativ bedeutende
5000 Seelen nicht überſchritten und die Mehrzahl aller Städte zwiſchen 1000 und
5000 Seelen ſchwankte. Eine Parallele dazu iſt, daß Rogers fürs Jahr 1377 London
35000, fünf anderen engliſchen Städten 5—11000, allen anderen engliſchen Städten
weniger zuſchreibt. Burckhardt giebt Venedig 1422 190000, Florenz 1338 90000 Seelen.
Ob die Meinung Cibrarios und Levaſſeurs, Mailand und Paris hätten gegen 1300
ſchon 200000 Seelen gehabt, haltbar iſt, ſcheint zweifelhaft. Daß ſie, wie auch vielleicht
Brügge und Gent, 50—60000 überſchritten hatten, wenn Köln über 30000 beſaß, iſt
denkbar. Daß Antwerpen 1549—61 aber etwa 200000 Einwohner erreicht, iſt ſo
wahrſcheinlich, wie daß London 1580 ſchon 180000 Seelen gehabt habe.
Wie die Bevölkerung überhaupt im Mittelalter viel ſtärkeren Wechſeln ausgeſetzt
war als heute, ſo ſehen wir auch die einzelnen Städte je nach dem Wechſel ihrer
Lebensbedingungen raſch zunehmen und raſch ſinken. Eine allgemeine Stockung der
ſtädtiſchen Entwickelung tritt ziemlich allgemein vom 15.—17. Jahrhundert ein. Die
meiſten Städte hatten die Größe erreicht, welche ihnen als Marktmittelpunkt ihrer Um-
gebung möglich war; nur wenige konnten darüber hinauskommen. Vom 16.—18. Jahr-
hundert herrſcht Verknöcherung, Erſchwerung des Umzugs, der Wanderungen. Noch im
[267]Größe der älteren Städte. Stadtentwickelung anderwärts.
18. Jahrhundert galt es als ſelbſtverſtändliche Schranke — ſelbſt für einen Hamburger
wie Büſch —, daß die Koſten des Bezuges von Brennholz, Getreide und Ähnlichem
jeder Stadt ihre enge Grenze ziehen. Über den Rückgang der kleineren Märkte und
Landſtädte wird in Deutſchland ſchon im 16. Jahrhundert außerordentlich, auch in
England in dem Maße geklagt, wie dort der Bauernſtand, welcher kleine Städte in der
Nähe braucht und erhält, zurückgeht. Dieſer Rückgang beruhte daneben auf dem ſtärkeren
Wachſen der größeren Städte infolge des verbeſſerten Verkehrs und der beginnenden
lokalen Arbeitsteilung. In Preußen hat die monarchiſche Politik dann im 17.—18. Jahr-
hundert gerade auch dieſe kleinen Städte durch Garniſonen, Lieferungen, Verbote des
Landhandwerks wieder zu heben geſucht.
Welchen Teil der Geſamtbevölkerung die ſtädtiſche im Mittelalter ausgemacht habe,
darüber fehlen uns faſt alle Nachrichten. Rogers führt für das England von 1377
8 Prozent an. Im ganzen können wir annehmen, daß, von einigen ſtädte- und ver-
kehrsreichen Gegenden abgeſehen, in ganz Europa die ſtädtiſche Bevölkerung bis gegen
1800 10—20 Prozent der Geſamtzahl nicht leicht überſchritten habe.
Dafür, daß vorübergehend in Not- und Kriegszeiten die Stadtbevölkerung im
Mittelalter oft aufs Doppelte wuchs, haben wir mancherlei ſichere Anhaltspunkte; es
iſt der Reſt der alten Einrichtung, daß ganze Völkerſchaften ſich in den ſtädtiſchen
Mittelpunkt zurückzogen. Eine übergroße, flottierende Fremdenbevölkerung haben nach
den Reiſeberichten periodiſch heute noch die afrikaniſchen Handelsorte. —
Über die ſtädtiſche Entwickelung anderer Länder wiſſen wir wenig. Im Slaven-
gebiete hatten früher die Bezirke und kleinen Völkerſchaften von 2—10 Geviertmeilen
wenig oder nicht bewohnte Burgwalle als Rückzugsorte (Meitzen). Später waren es
hier und im Norden deutſche Kaufmanns- und Handwerkerkolonien, welche die Städte
nach deutſcher Art gegründet oder als korporativ begünſtigte Bevölkerungsgruppen den
Orten ihrer Niederlaſſung Bedeutung verſchafft haben. Für Rußland berichtet Keußler,
daß erſt 1648—1700 eine Anzahl größerer Orte zu wirklich ſtädtiſchem Leben
gekommen ſei. Wo im Norden und Oſten die Deutſchen als Städtegründer auftraten,
da hat man ihnen ſpäter ihre Vorrechte genommen, ſuchte den feſtgewurzelten Teil zu
nationaliſieren, den anderen zu vertreiben, die heimiſche Bevölkerung durch verſchiedene
Privilegien zum ſtädtiſchen Leben und Verkehr anzureizen; den Fremden wurde aller
Landhandel und Kleinhandel verboten, die einheimiſchen Marktorte erhielten die Vor-
rechte wie die deutſchen Städte und dergleichen mehr.
In den engliſch-amerikaniſchen Kolonien hat man, wo nur eine agrariſche Ent-
wickelung Platz griff, und es lange an allen Städten fehlte, zu ähnlichen ſtädtefördernden
Geſetzen und Einrichtungen gegriffen, wie die däniſchen und ſchwediſchen Könige ſie im
16. und 17. Jahrhundert erließen und geſchaffen hatten. Ein virginiſches Geſetz von
1655 wollte in jeder Grafſchaft eine Stadt mit dem Alleinrecht des Handels ins Leben
rufen. Ein Geſetz von 1705 hat denſelben Zweck, es befreit die Stadtbewohner vom
Militärdienſt, giebt jeder Stadt das Alleinrecht des Handels auf 5 Meilen.
98. Stadt und Land im 19. Jahrhundert. Die neuere Zeit hat, wie
für die ſtädtiſche Entwickelung, ſo für das ganze Siedlungsweſen andere Bedingungen
geſchaffen. Zunächſt haben die Verkehrsmittel ſich ausgebildet wie niemals früher: die
Poſt im 16. und 17. Jahrhundert, die Kanäle im 18., die Chauſſeen und Vicinalwege
in der erſten Hälfte, die Eiſenbahnen und Telegraphen in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts; dazu kam die Entwickelung der modernen Technik, welche zunächſt
gewiſſe gewerbetreibende Städte außerordentlich raſch hob. Ebenſo einflußreich war die
allenthalben erfolgende Aufrichtung feſterer ſtaatlicher Gewalten auf viel größeren Ge-
bieten, einer geordneten Polizei, eines freien Verkehrs innerhalb der Staaten. In unſerem
Jahrhundert fiel mit der Gewerbe- und Niederlaſſungsfreiheit meiſt der ganze ſeit Jahr-
hunderten beſtehende Vorzug der Städte für Gewerbe und Handel; Stadt und Land
wurden überall ſich rechtlich gleichgeſtellt; die ſtädtiſchen Mauern fielen, mit Ausnahme
einzelner Feſtungen, überall, in Preußen ſchon unter Friedrich Wilhelm I.; noch weniger
bedurften die Dörfer weiter ſolchen Schutzes: immer reiner und unbedingter konnten die
[268]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
natürlichen und die volkswirtſchaftlichen Urſachen die ganze Bevölkerungsverteilung im
Raume beherrſchen, zumal wo eine gute, moderne Gemeindegeſetzgebung und eine gute
Bau-, Geſundheits- und Niederlaſſungspolizei jeder geſunden lokalen Wirtſchaftsentwicke-
lung gleichmäßig Luft und Licht zum Gedeihen ſicherte, während im 18. Jahrhundert
zwar die von fürſtlicher Politik beſonders begünſtigten Reſidenzen, Handels- und Manu-
fakturſtädte ſich vergrößert hatten, aber in allen anderen Städten und auf dem platten
Lande das ſtarre Herkommen kaum eine Änderung geſtattet hatte.
Die Ausbildung der Statiſtik ſetzt uns in den Stand, die ſeit 100 Jahren
erfolgten Umbildungen und den ganzen heutigen Zuſtand des Siedlungsweſens anders
zu verfolgen als alle früheren Verhältniſſe. Doch ſei, wenn wir einige der wichtigſten
Zahlen in dieſer Beziehung nun anführen, vorher kurz auch der Schwierigkeiten und
Schranken unſerer diesbezüglichen Erkenntnis gedacht. Als Städte zählt man in Preußen
noch heute die Orte, die verwaltungsrechtlich unter der Städteordnung ſtehen, obwohl
gegen 1850 über ⅓ derſelben, 1890 ¼ nicht 2000 Einwohner hatten. Es wird oft-
mals in der Statiſtik Großſtadt und Landſtädtchen in einen Topf geworfen, obwohl ſie
mindeſtens ſo verſchieden ſind wie Stadt und Land überhaupt. Auch wenn man, wie
jetzt die Statiſtiker allgemein pflegen, alle Orte über 2000 Seelen als Städte ausſondert,
bleibt wirtſchaftlich und ſocialpolitiſch ſehr Verſchiedenes zuſammengeworfen. Dann geben
uns die Zählungen in den meiſten Ländern nur eine Statiſtik der Größe der politiſchen
Gemeinden, nicht der Wohnplätze: 500 auf 50 Höfen und 500 in einem Dorfe zuſammen
Wohnende ſind dabei oft ſtatiſtiſch nicht zu unterſcheiden, während ſie wirtſchaftlich und
ſocialpolitiſch mindeſtens ſo große Gegenſätze darſtellen wie Stadt und Land, Großſtadt
und Landſtädtchen. In Preußen werden umgekehrt die ſo vielfach örtlich ganz zuſammen
wohnenden Inſaſſen eines Dorfes und des dazu gehörigen Gutsbezirkes als zwei geſonderte
Kommunaleinheiten gezählt. Wo man verſuchte, die Nebenwohnplätze zu zählen, hat
man, wenigſtens in Preußen, doch nicht ihre Bevölkerung erhoben, und außerdem un-
ſichere Ergebniſſe erhalten: im Jahre 1864 hatten die 1000 preußiſchen Städte 4357,
die 30243 ländlichen Gemeinden 21990, die 15619 ſelbſtändigen Gutsbezirke 7027
Nebenwohnplätze; man erhielt über 80000 Wohnplätze, während man 1861 71742
gezählt hatte. Was iſt auch ein beſonderer Wohnplatz: jedes Bahnwärterhaus, jedes
einzeln ſtehende Wirtshaus? Von Württemberg wiſſen wir, daß man dort 1822 und
1880 folgende Wohnplätze zählte:
Aber wir wiſſen die zugehörige Bevölkerung nicht und müſſen zweifeln, ob die Zahl
der einzelnen Häuſer richtig iſt; einzig die Zunahme der Weiler, d. h. der Gemeinde-
parzellen von mehreren Wohnhäuſern, erſcheint als ein wahrſcheinliches Reſultat der
veränderten Verhältniſſe. Den Gegenſatz des Dorf- und Hofſyſtems können wir indirekt
zahlenmäßig durch geographiſche Vergleichung der württembergiſchen Ergebniſſe etwas
verfolgen. Die Höfe und Weiler liegen hauptſächlich in Oberſchwaben, d. h. im Donau-
kreiſe; im Unterland, d. h. im Neckarkreiſe, beſtehen faſt nur Dörfer; daher verteilen
ſich die 623000 Einwohner des Neckarkreiſes (1880) auf 1217, die 468000 des Donau-
kreiſes auf 4308 Wohnplätze. Welch’ großer Gegenſatz!
Für Bayern haben wir (1871) eine Berechnung der durchſchnittlichen Bevölkerung
der Gemeinden und der Ortſchaften, wobei mit Ausſchluß der unmittelbaren Städte
folgende Zahlen ſich ergeben, welche andeuten, wo Höfe und Weiler, wo größere Dörfer
vorherrſchen. Es lebten in den folgenden Regierungsbezirken Einwohner:
Kommen wir aber zur Sache und betrachten a) das Verhältnis der verſchiedenen
Wohnplätze zur Fläche und Bevölkerungsdichtigkeit und die Größe der Dörfer, b) die
abſolute und relative Verteilung der Bevölkerung nach Stadt und Land, ſowie ihre
verſchiedene Zunahme.
a) Die Länder mit dichter Bevölkerung ſind im ganzen auch die ſtädtereichen. In
Pommern kommt nach Franz auf 8, in Preußiſch Sachſen auf 3, im Königreiche Sachſen
auf 2 Geviertmeilen eine Stadt, eine ſolche von über 10000 Seelen kommt nach Viebahn
im öſtlichen Preußen auf 75, im weſtlichen auf 36, in Sachſen auf 27 Geviertmeilen.
Nach der Reichsſtatiſtik von 1875 kommt ein Ort von über 2000 Seelen in Oſtpreußen
auf 534, in Pommern, Brandenburg, Poſen auf 330, in Hannover auf 311, in Schleſien
auf 194, im Königreich Sachſen auf 97, am Rhein auf 78, in Bayern auf 466, in
Württemberg, Elſaß ꝛc. auf 146 Geviertkilometer. Die Rheinprovinz iſt dreimal ſo dicht
bevölkert wie Oſtpreußen; dort wohnen von 100 Einwohnern 60, hier 23 in Orten
von über 2000 Seelen. Aber dieſe Regel hat doch viele Ausnahmen, weil natürliche
und hiſtoriſche Urſachen eine erhebliche Bevölkerungsdichtigkeit auch ohne intenſive
Städteentwickelung erzeugen können. Horn berechnet für 1850, daß Preußen mit 28,
Belgien mit 25 % Städtebevölkerung 2213 und 8090 Seelen pro Geviertmeile hätten;
Schleſien und Sachſen haben etwa gleiche Bevölkerungsdichtigkeit, aber Sachſen erheblich
mehr Städte. Die wenig bevölkerten Gegenden haben vielfach das Hofſyſtem; die reich-
bevölkerten ſind die der großen Dörfer. Im Jahre 1849—50 hatte eine Landgemeinde
in Holland 1744, im preußiſchen Staate 302 Seelen; im Regierungsbezirk Gumbinnen
151, in Düſſeldorf 404 Seelen. Im Jahre 1875 zählte durchſchnittlich Seelen:
Von den 37026 Landgemeinden des preußiſchen Staates haben 1875 faſt 15000 unter
200 Seelen (darunter 3448 in Oſtpreußen), etwa 14000 haben 2—500, 6000 500 bis
1000, der kleine Reſt über 1000 Seelen gehabt.
b) Die wichtigſte Bewegung der neueren Zeit iſt die ſtärkere Zunahme der Städte,
wie ſie uns in den abſoluten und relativen Zahlen der Stadt- und Landbevölkerung
entgegentritt. Ich führe zunächſt einige wichtige Zahlen an; die Bevölkerung iſt in
Millionen ausgedrückt; als Städte ſind für Deutſchland und Frankreich die Orte über
2000, für die Vereinigten Staaten die über 8000 gezählt.
Wir ſehen, daß die abſolute ländliche Bevölkerung nur in Frankreich erheblich abnahm,
in den Vereinigten Staaten ſogar ſtark zunahm, wie auch die ſchottiſchen Dörfer wuchſen,
[270]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
nur die Einzelſiedlungen zurückgingen. Freilich zeigen ſolch’ ſummariſche Zahlen nicht
das einzelne. In England ging die Bevölkerung 1871—91 in 11 Grafſchaften um
10—16 %, in 23 um 5—8 % abſolut zurück; in den drei Getreidegrafſchaften Norfolk,
Suffolk, Eſſex 1851—91 um 13,8 %, in vier weſtlichen, jetzt überwiegend als Weide-
grafſchaften charakteriſierten 1841—91 um 22,3 %. Ebenſo zeigt ſich bei uns neuer-
dings in vielen der öſtlichen agrariſchen Diſtrikte, für Frankreich in zahlreichen Departe-
ments eine abſolute Abnahme; dort klagte man ſchon im 18. Jahrhundert über die
Landflucht.
Die abſolute oder relative Abnahme der Landbevölkerung iſt außerhalb Europas
kaum vorhanden, in Europa iſt ſie ſehr verſchieden, aber faſt überall zu konſtatieren;
am ſtärkſten in England und Frankreich. Der Eintritt der ganzen Veränderung iſt
nicht vor 1840—50 zu ſetzen, d. h. nicht vor die Zeit der modernen Verkehrsmittel.
Natürlich kam auch vor 1840 weſentlich in Betracht, ob und inwieweit eine Zunahme
der landwirtſchaftlichen Bevölkerung im einzelnen noch nach Boden, vorheriger ländlicher
Bevölkerung, Beſitz- und Pachtverhältniſſen, unbebautem Land möglich war. Daß eine
ſolche bis in die Mitte unſeres Jahrhunderts vielfach vorkam, beweiſen folgende An-
gaben. In der Kurmark hatte 1748—86 das platte Land jährlich um 1,23, die
Städte (ohne Berlin) um 0,48 % zugenommen; in dem Jahrhundert 1748—1846 ſtieg
das platte Land der Kurmark um 253 %, die Städte (ohne Berlin) um 261, alſo faſt
gleich. Bis in die vierziger Jahre nahmen von allen preußiſchen Provinzen die öſtlichen
(Pommern, Preußen), überwiegend ländlichen, am meiſten zu; von 1829—86 blieb in
Belgien das Verhältnis von Stadt und Land faſt gleich, in Holland nahm noch
1839—49 das platte Land etwas mehr zu.
Wie ſehr man neben der Frage der prozentualen Zu- und Abnahme von Stadt
und Land die abſoluten Zahlen der Landbevölkerung im Auge behalten muß, wenn man
die ſogenannte Landflucht, die gewiß in manchen Gegenden großen und bedenklichen
Umfang neuerdings angenommen hat, richtig ſchätzen will, lehren die folgenden Zahlen.
Sie geben die landwirtſchaftliche Bevölkerung auf je 100 Hektar landwirtſchaftliche Fläche:
Alſo überall eine Abnahme der abſoluten Zahlen; aber es bleibt jedenfalls in den
Gegenden des Kleinbeſitzes ein genügender Beſtand. Und man ſieht, daß in erſter Linie
die übermäßige Anhäufung des Grundbeſitzes in wenigen Händen die Landbevölkerung
im deutſchen Oſten abſolut zu klein macht.
Wie mäßig in der Zeit vor den Eiſenbahnen die Zunahme auch beſonders glücklich
gelegener, induſtriell oder durch Handel hervorragender Städte gegen ſpäter war, mögen
folgende Zahlen lehren:
Es hatten Seelen:
Von den engliſchen Städten freilich ſind viele ſchon im 18. und in der erſten
Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich gewachſen.
[271]Die Zunahme der ſtädtiſchen Bevölkerung.
Eine genauere Statiſtik, wie ſich die geſamte Bevölkerung nach der abgeſtuften
Größe der Wohnorte verteile, iſt nur vereinzelt, z. B. in Öſterreich 1880, erhoben. Ich
teile aus dieſer Statiſtik folgendes mit: Es lebten in Ortſchaften bis 500 Einwohner
von je 1000 Menſchen 322,7 (in Kärnten 767, in Oberöſterreich 690, in Niederöſter-
reich 238), in ſolchen von 500—1000 Einwohner 205,6, in ſolchen von 1000—2000
175,4, in ſolchen von 2000—5000 127,1, in ſolchen von 5000—10000 41,2, in ſolchen
von über 10000 128,0. In Deutſchland hat die Reichsſtatiſtik ſeit 1871 1. Großſtädte
mit über 100000, 2. Mittelſtädte mit 20—100000, 3. Kleinſtädte mit 5—20000,
4. Landſtädte mit 2—5000 und 5. plattes Land unter 2000 Seelen unterſchieden. Die
Ergebniſſe ſtellten ſich:
Man hat hauptſächlich die Wirkung der Eiſenbahnen 1867—80 auf dieſe Größenklaſſen
unterſucht und fand, daß die Groß- und Mittelſtädte alle ſolche Verbindung hatten und
um 2,9 und 2,4 %, von den Kleinſtädten die mit Bahn um 1,4—1,8 %, die ohne Bahn
um 2,8 %, die Landſtädte mit und ohne Bahn etwa gleich 1 % zunahmen. Eine ältere
preußiſche Berechnung für 1840—55 hatte ergeben, daß der Staat um 14,4, das Land
um 12,1, die Städte unter 30000 Seelen um 19,6, die darüber um 32,4 % zu-
genommen hatten.
Die Großſtädte mit über 100000 Seelen betrugen 1880 in den Vereinigten
Staaten 12,2, in Frankreich 10, in Deutſchland 7, in Italien 6, in Großbritannien
über 25 % der Bevölkerung. Es gab ſolche Städte 1890 129, in Deutſchland 26, in
Großbritannien und Irland 36, in Frankreich 12, in Rußland 16. Über eine Million
hatten 1890 5 Städte: London 4,2, Paris 2,4, Berlin 1,5, Wien 1,3, Petersburg 1,03.
Die Bevölkerung in Orten über 2000 Seelen war 1875 in Rußland 10, in Bayern 26,
in den meiſten deutſchen Staaten 33—42, in Frankreich 42, in Belgien 67, in Holland
29 %; in Preußen 1817 21, 1880 42 %. England und Wales hatte 1891 62 Städte
mit über 50000 Einwohnern, gleich 40,6 % der Bevölkerung, die geſamte ſtädtiſche
Bevölkerung war 71 %. Von 1000 Einwohnern lebten 1890 in Großſtädten von über
100000 Seelen in Großbritannien-Irland 285, in der europäiſchen Türkei 218, in
den Niederlanden und Belgien 179 und 169, in Deutſchland 135, in Frankreich 119,
in Italien 100.
Das prozentuale jährliche Wachstum war in Preußen 1885—90 in den Städten
21,35 ‰, in den Landgemeinden 5,94 ‰, in den Gutsbezirken 1,51 ‰; in 10 Jahren
(1881 und 1882 bis 1890 und 1891) nahmen zu Paris 8,3, London 10,4, Leipzig 20,5,
Berlin 40,2, Rom 45,2 %, alſo ſehr verſchieden. Auch zeitlich iſt das Anwachſen der
Städte ein ſehr ſchwankendes. Man konnte 1890 vielfach den Eindruck haben, ſie ſeien
jetzt geſättigt, aber teilweiſe ſtieg die Zunahme wieder 1895—1900.
Daß das große Wachstum weſentlich auf Zuwanderung beruht, nicht auf eigener
Vermehrung, iſt ſelbſtverſtändlich. Nicht ebenſo bekannt war lange, daß die Zuwande-
rung meiſt aus der Nähe ſtammt, und daß auch das platte Land einen ſo ſehr ſtarken
Bevölkerungsaustauſch, eine bedeutende zugewanderte Bevölkerung hat. In Bayern
waren 1871
- in den Städten.... 507381 Ortsgeborene, 519499 Zugewanderte,
- - Landgemeinden . 2467765 - 1357981 -.
Nur die große Zuwanderung nach den alexandriniſchen und ſpätrömiſchen Städten
kann dem Umfange nach mit der heutigen verglichen werden; die mittelalterliche war
nicht ſo groß. Geſunder als die antike iſt die heutige ſicher, weil ſie mehr auf
berechtigten wirtſchaftlichen Motiven beruht, auch das Land nicht ſo entvölkert wie
[272]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
damals. Ohne Bedenken und große Schattenſeiten, auf die wir zurückkommen, iſt ſie
auch heute nicht. Die Umbildung und die Wanderungen erzeugen Kämpfe und Schwierig-
keiten aller Art. Bücher ſagt mit Recht: der Zug nach der Stadt verſetze zahlreiche
Menſchen faſt plötzlich aus einer natural- in eine geld- und kreditwirtſchaftliche Lebens-
ſphäre, und die ſocialen Gewohnheiten ſeien dadurch in einer Weiſe bedroht, welche den
Menſchenfreund mit ſchweren Sorgen erfülle. Aber er fügt bei, man überſchätze heute
doch oft die Mobiliſierung der Geſellſchaft ſehr; der heutige Arbeiter wandere weniger als
früher der Geſelle; die Mehrzahl der Wanderungen ſuche ihr Ziel in der Nähe, oft
nur im nächſten Dorfe. Und im ganzen entſpreche die Wanderung eben der durch den
neuen Verkehr nötig gewordenen Verlegung aller Standorte der Induſtrie und der
Landwirtſchaft, der Umbildung aus den Zuſtänden der Stadt- und Territorial- in die
der National- und Weltwirtſchaft.
Das iſt alles richtig im ganzen; aber ob im einzelnen die Wogen nicht zu weit
gehen, nach falſchen Zielen hinfluten, ob nicht neben berechtigten wirtſchaftlichen Motiven
andere nicht wirtſchaftliche, ſittlich zweifelhafte mitſpielen, ungünſtige Nebenfolgen ein-
treten, das ſind offene Fragen, die freilich nicht generell zu beantworten ſind.
99. Eine Zuſammenfaſſung der Ergebniſſe unſerer vorſtehenden hiſto-
riſchen Ausführungen wird etwa dahin lauten:
a) Die Menſchen haben nicht bloß das notwendige Bedürfnis, in Familiengruppen
von 4—10, ſondern auch in größeren Gruppen von 20, 50, 100, 1000 und mehr Menſchen
ſo zuſammen zu leben, daß die Nachbarn zum Verſchiedenſten zuſammenwirken, ſich täglich
ſehen können. Für gewiſſe Zwecke reicht es freilich, wenn die aufeinander Angewieſenen ſich
jährlich ein- oder ein paar Mal oder auch monatlich oder wöchentlich ſehen oder verſammeln
können: ſo z. B. für Gerichts- und Verwaltungs-, Markt- und einzelne Kulturzwecke. Aber
das ſind die beſchränkteren Aufgaben, und ſie leiden, je größer die Wege werden. Im
übrigen liegt die Notwendigkeit des nachbarlichen Wohnens in den geſamten Zwecken, welche
die Menſchen aus irgend welchen Urſachen beſſer gemeinſam, in nachbarlichem Austauſch
und Kontakt verfolgen. Es kommt das Verſchiedenartigſte da in Betracht; ſcheiden wir
mal die nicht wirtſchaftlichen und die wirtſchaftlichen Zwecke; von den nicht wirtſchaft-
lichen ſtehen voran: das Bedürfnis der Geſelligkeit, der Unterhaltung, des gegenſeitigen
Schutzes gegen Feinde, bei höherer Kultur das der Schule, des Kirchbeſuches. Von den
wirtſchaftlichen Zwecken können die primitivſten auch von einzelnen iſoliert wohnenden
Familien bis auf einen gewiſſen Grad verfolgt werden: z. B. die Fiſcherei, die Jagd,
der Hack- und Ackerbau. Aber wir ſahen ſchon, daß die Viehzucht, die Feldgemeinſchaft,
der Hausbau und Schiffsbau ſelbſt auf niedriger Stufe doch beſſer von Genoſſenſchaften
in die Hand genommen wird. Vollends jede Arbeitsteilung, die gewerbliche Thätigkeit,
der Handel iſt bei dem zerſtreuten Wohnen zwar nicht unmöglich — man denke an den
Hauſierer, den gewerblichen Wanderarbeiter auf der Stör —, aber ſehr erſchwert. Jede
höhere Entwickelung der Staatsverwaltung, der Kirche, gewiſſer ariſtokratiſcher Kreiſe mit
großen Scharen von Dienern, der Geld- und Kreditwirtſchaft, des geiſtigen Lebens ſetzt
gedrängteres Wohnen wenigſtens für einen Teil der Bevölkerung voraus. Aber ein
ſolches hat ſeine engen Grenzen; wo 500, 1000 und mehr Ackerbaufamilien als Nach-
barn zuſammen wohnen wollen, werden die Wege zum Ackerfelde zu lang und zu zeit-
raubend. Thünen hat berechnet, daß ein großer Teil unſerer von Dorf oder Hof zu
entfernt liegenden Äcker deshalb keinen Reinertrag geben. Das enge Wohnen macht die
Orte ungeſund; mehr als einige Stockwerke können nicht übereinander getürmt werden;
wo ſtatt ein und zwei Familien zwanzig bis fünfzig in einem Hauſe wohnen, wird
das Familienleben und die Sittlichkeit bedroht oder iſt nur durch komplizierte Ord-
nungen in Reinheit zu erhalten; wo zu viel Menſchen einander Luft, Licht, Raum
nehmen, da ſteigern ſich alle Reibungen und Konflikte, wird auch alles wirtſchaftliche
Leben ſchwieriger, in vieler Hinſicht teurer.
So entſtehen für alle ſocialen Gruppen und Individuen, für jede Zeit, auf jedem
Boden eine Summe von teils ſich gegenſeitig ſteigernden, teils ſich begrenzenden und
widerſprechenden Motiven, welche hier auf konzentrierteres, dort wieder auf zerſtreuteres
[273]Die Tendenzen der Concentration und der Decentraliſation der Wohnweiſe.
Wohnen und Siedeln hindrängen. Und je nachdem die Menſchen die Zwecke und die
Möglichkeit ihrer Durchführung klar erkennen oder nicht, je nachdem die natürlichen
örtlichen Vorbedingungen in ihrem Verhältnis zu den Zwecken klar oder unklar erfaßt
werden, deſto mehr oder weniger werden die Familien und größeren Gruppen, die Maſſen
und die Obrigkeiten darauf hindrängen, das Maximum der Förderung und das Minimum
der Hinderung für ihre geſamten Zwecke durch die Art ihrer Siedlung zu erreichen.
Das Einzelne der Ergebniſſe iſt dabei von Klima und Waſſer, von Boden- und Wärme-
verhältniſſen beeinflußt und beherrſcht; das Allgemeine derſelben von den überlieferten
Sitten und geſellſchaftlichen Inſtitutionen, ſowie von den überlieferten Reſten früherer
Siedlung. Die vorgefundenen Gebäude, Wege, Grenzen, Grundeigentums- und Feld-
einteilung ſparen immer ſo viel Arbeit, daß man ſie möglichſt benutzt. Und jede ſpätere
Änderung iſt ſchwer; ein einzelner Zweck mag ſie anzeigen, die anderen Zwecke können
aber noch gut in der alten Weiſe befriedigt werden oder widerſtreben wenigſtens durch
das Schwergewicht des Hergebrachten der Änderung.
Alle Wandlungen der Kultur, der Technik, der Lebens- und Ernährungsweiſe,
alle Änderung der geſellſchaftlichen Inſtitutionen rücken ſtets wieder andere Zwecke in
den Vordergrund und erzeugen Tendenzen zu anderer Siedlung. Es iſt ein nie ganz
ruhender ſocialer und individueller Anpaſſungsprozeß, welcher die Menſchen im Raume
bald mehr konzentriert, bald wieder mehr zerſtreut, welcher aber doch nur in ganz großen
Perioden verſchiedene Geſamtbilder der Siedlung und des Wohnens erzeugt.
Im ganzen werden wir ſagen können: in den älteren Zeiten habe der Bluts- und
Geſchlechtszuſammenhang, das Schutzbedürfnis, dann auch Verwaltungs-, Schul-, Kultus-
rückſichten neben den wirtſchaftlichen die Hauptrolle geſpielt; bei höherer wirtſchaftlicher
Kultur, mit ausgebildetem Verkehr, in feſt und gut geordneten Staaten hätten die rein
wirtſchaftlichen Motive und Zwecke eine ſteigende Rolle geſpielt, weil die anderen Zwecke
(Schutz, Unterricht ꝛc.) jetzt leichter bei jeder Art des Siedelns zu befriedigen geweſen ſeien.
Auf eine ſehr lange Periode der reinen Dorfſiedlung folgte mit der beginnenden
Staatsbildung und mit Gewerbe und Handel der Gegenſatz von kleinen Dörfern und
mäßigen Städten. Mit der Ausbildung größerer Staaten und verbeſſerter Verkehrswege
ſteigerte ſich im ſpäteren Altertum und in den letzten Jahrhunderten der Gegenſatz zu
den vier Gliedern: Hof, Dorf, Klein- und Mittelſtadt, Großſtadt. Es ſind vier Typen
der Wohnweiſe, des Gemeindelebens, welche verſchiedene Arten von Menſchen, von
Nachbarverhältniſſen, von wirtſchaftlichen Einrichtungen erzeugen. Und gerade ihre
neueſte Ausbildung ſcheint dahin zu gehen, die Eigentümlichkeit der Typen und ihrer
einzelnen Erſcheinungen nach gewiſſen Richtungen zu ſteigern, nach anderen ſie zu ver-
mindern. Das ſtädtiſche Leben iſt heute vom ländlichen ſicher viel verſchiedener als vor
100 und 200 Jahren, aber die einzelnen Groß- und Mittelſtädte werden zugleich immer
verſchiedener und eigentümlicher, paſſen ſich verſchiedenartigen Specialzwecken arbeitsteilig
an: als Handels-, Induſtrie-, See-, Binnen-, Univerſitäts-, Reſidenz-, Feſtungs-,
Garniſon-, Badeſtädte ꝛc. Neben die kleinen treten große und die Fabrikdörfer; neben
die Höfe die Weiler; die Zahl der Einzelwohnhäuſer ſteigt. Zugleich iſt mit dem
wachſenden Verkehr eine Tendenz vorhanden, das platte Land gewiſſermaßen zu ver-
ſtädtern, einen Teil der Städte, beſonders die Familienwohnungen, ins Grüne, in Vor-
orte zu verlegen, teilweiſe auch Gewerbe, die bisher in der Stadt ſein mußten (wegen
des Verkehrs, der Arbeiter, der Kunden, des Modeeinfluſſes), aufs Land zu verlegen,
wohin jetzt die früher nur in der Stadt vorhandenen Einflüſſe auch reichen.
b) Jede beſtehende Ordnung des Wohnens erzeugt Sitten und Gewohnheiten des
täglichen Lebens, der Familienwirtſchaft, der Arbeitsteilung, der Betriebsformen, des
Verkehrs; ſie erzeugt beſtimmte Formen und Einrichtungen der Gemeindeverfaſſung
und der Staatsverwaltung. Sie iſt ſtets ein Ergebnis ebenſo ſehr der öffentlichen
Gewalten wie der Individuen und Familien. Je weiter wir in der Geſchichte zurück-
gehen, deſto mehr ſcheint die Ordnung des Siedelns überwiegend in den Händen der
Stammes- und Volksorgane, der Fürſten, der Korporationen oder wenigſtens der Ge-
noſſenſchaften gelegen zu haben. Wo Stamm und Staat, Provinz und Gemeinde ſchon
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 18
[274]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
eine gewiſſe feſte Ordnung erlangt haben, da werden die einzelnen Menſchen und Fa-
milien eine ſteigende Rolle in dem Prozeſſe ſpielen, und das hat die bedeutſame Folge,
daß ſie, von Erwerbs- und Spekulationsabſichten geleitet, mehr ihre Sonderintereſſen
und nur die nächſten Jahre im Auge, nicht immer das für die Zukunft und die
Geſamtintereſſen Beſte anſtreben. Aber es wäre bei der Kompliziertheit der heutigen
Verhältniſſe und dem notwendigen großen Spielraum für individuelle Bethätigung gar
nicht möglich, alle Siedlung und alles Wohnweſen einheitlich von oben her zu leiten.
Und doch entſtehen dadurch Intereſſenkonflikte und falſche Bewegungen.
So lange man im Anſchluß an A. Smith und in naivem Optimismus annahm,
ſtets fördere der Egoismus der einzelnen das Geſamtintereſſe am beſten, und ſtets
griffen die Obrigkeiten in ihren Maßnahmen fehl, beurteilte man beſonders die hier
einſchlägigen hiſtoriſchen und praktiſchen Fragen oftmals falſch. A. Smiths Ausführungen
über das ältere Städteweſen gehören zum Schwächſten, was er geſchrieben hat; alle
Städtebildung erſcheint ihm faſt nur als Folge der mittelalterlichen Barbarei: die
Grundherren und ihre Brutalität haben den geſunden Landbau gehindert; übermäßig
viel Menſchen flüchteten ſich hinter die Stadtmauern, die viel natürlicher ihr Kapital
im Landbau angelegt hätten. Auch die oft erörterte Schulfrage, ob die Städte von
ſelbſt „natürlich“ gewachſen oder abſichtlich „künſtlich“ gegründet und geſchaffen worden
ſeien, beantwortete man mit Vorliebe früher in erſterem Sinne. Man wird nach unſerer
heutigen Kenntniß ſagen müſſen: viele Städte ſeien überwiegend „von ſelbſt“ entſtanden,
viele auch abſichtlich gegründet worden. Aber letztere gediehen auch nur, wenn die
wirtſchaftlichen Bedingungen ihres Wachstums vorhanden, die rechten Stellen, die rechte
Zeit gewählt, die rechten Mittel ergriffen waren. Und die erſteren, die von ſelbſt
erwachſenen Städte, konnten nur vorankommen, wenn ſie die rechte Ordnung fanden
oder erhielten (durch Privilegien, Übertragung eines Stadtrechtes, durch Vorhandenſein
guter Gemeindegeſetze), wenn ausgezeichnete Perſonen mit weitem Blicke, mit Patriotis-
mus und genoſſenſchaftlichem Geiſte an der Spitze ſtanden, die rechten Einrichtungen
und lokalen Statuten ſchufen. Jede Stadt iſt ein komplizierter Organismus, der nur
gedeihen kann, wenn die für die Zukunft und die Geſamtintereſſen notwendigen
Schranken und Ordnungen dem Egoismus der einzelnen die erlaubten Wege weiſen und
die Grenzen ſetzen.
Das gilt auch für alle früheren und alle heutigen Kämpfe in der ſonſtigen Um-
bildung beſtehender Siedlungsverhältniſſe. Stets haben dabei die Obrigkeiten und die
Individuen zuſammen gewirkt, oft gemeinſam nach demſelben Ziele, oft auch nach ent-
gegengeſetzten getrachtet. Machthaber, die den Fortſchritt vertraten, haben einſtmals
verſucht, die am Alten Klebenden zu anderer Wohnweiſe zu zwingen; Geſetze und
Magiſtrate werden heute noch verſuchen, in dieſer oder jener Weiſe eine veränderte
Siedlungsart zu begünſtigen. Ob dabei die Individuen und ihre Anſchauungen, ob
die Organe der Geſamtheit die größere Berechtigung für ſich haben, das Richtige treffen,
hängt von ihrer Bildung, von der Tüchtigkeit der Spitzen des Staates und der Ge-
meinden ab. Der Zwang zu ſtädtiſcher Siedlung oder die große Privilegierung der-
ſelben war zeitweiſe früher ſo berechtigt, wie unter anderen Verhältniſſen einmal eine
Hinderung ungeſunder Maſſenanſammlung, die Förderung des zerſtreuten Wohnens, des
Ausbaues und des Höfeſyſtems ſein kann. Konventionelle Einrichtungen, wie das amerika-
niſche Landvermeſſungsſyſtem, Wegebauten, Kanalbauten und Derartiges können indirekt
einen ebenſo wirkſamen Zwang ausüben wie Niederlaſſungs- und Gemeindegeſetze.
Wenn in älteren und großen Kulturſtaaten mit der Ausbildung eines einheitlichen
Staatsbürgertums und unbegrenzter Freizügigkeit ein Hauptteil der Weiterbildung und
Veränderung der Siedlungs-, Standorts- und Wohnungsverhältniſſe den Individuen
und ihrer wirtſchaftlichen Überlegung anheimgegeben iſt, wenn das praktiſch ſich aus-
drückt im freien Konkurrenzkampfe der Grundſtücksverkäufer und -Vermieter mit denen,
welche der Plätze, Wohnungen und Grundſtücke bedürfen, ſo iſt das eine Form der
Raumverteilung an die Familien und Unternehmungen, welche mit ihrer Beweglichkeit
und Flüſſigkeit, mit dem ſtarken Reize der möglichen Gewinne raſch veraltete Zuſtände
[275]Der Einfluß der Individuen, der Gemeinde, des Staates auf die Wohnweiſe.
beſeitigen, aber unter Umſtänden auch ungünſtige Ergebniſſe herbeiführen kann und
zwar viel mehr als auf dem gewöhnlichen Warenmarkte. Es werden die künftigen
Folgen einer ungeſunden Grundſtücksſpekulation, einer falſchen Straßenziehung und
Bauweiſe nicht ſo leicht eingeſehen. Und doch legen ſolche Spekulationen, und was ihnen
folgt, die Siedlungsweiſe für Generationen feſt; es entſteht daraus vielleicht für Jahr-
hunderte ein feſtes Syſtem, das alle möglichen menſchlichen und wirtſchaftlichen Zwecke
beeinflußt, ja beherrſcht. Daher kann dem privaten wirtſchaftlichen Egoismus hier
weniger als ſonſtwo ganz freie Bahn gelaſſen werden. Die Intereſſen der Zukunft und
der Geſamtheit müſſen mitſprechen und diejenige Verteilung der Grundſtücke, der Straßen,
der Plätze, diejenigen Ortsanlagen und Einrichtungen aller Art teils direkt, teils indirekt
ſchaffen, die zweckentſprechend ſind. Daher in der Gegenwart ſo vielfach die Forderung, daß
die Vertreter der Geſamtintereſſen ſtärker als die heutige Bau-, Straßen-, Fabrik- und
Geſundheitspolizei es geſtattet, in das Wohnungs- und Mietsweſen wie in die ganze
Siedlung eingreifen ſollen. Man fordert Expropriationen ganz anderer Art als bisher,
Sorge der öffentlichen Korporationen für Wohnungen ihrer Beamten oder gar ſchon
Übergang alles oder eines Teils des ſtädtiſchen Grundbeſitzes auf die Kommune. Es
liegt in dieſen noch unklar hin- und herwogenden Forderungen ein berechtigter Kern.
Es handelt ſich darum, die Ordnungen zu finden, die am beſten die Individual-
und Geſamtintereſſen ausgleichen, auf Grund deren begangene Fehler und falſche Rich-
tungen wieder gut gemacht werden können. Es kann Korrekturen geben, die ihrerſeits
derb und kühn, faſt plump durchgreifen, wie die bauliche Umwandlung von Paris durch
den Präfekten Hausmann, daneben andere, die zu ſchüchtern verfahren, wie die neuere
ſtädtiſche Bau- und Geſundheitsgeſetzgebung es noch vielfach thut. Der Staat und ſeine
Verwaltung können auch das Richtige treffen, wie z. B. die neuere preußiſche und
deutſche Separationsgeſetzgebung, die ſtaatliche preußiſche Koloniſation des 18. Jahr-
hunderts, die heutige deutſche Koloniſation in den öſtlichen Provinzen zu beurteilen ſein
wird. Immer wird es ſich heute, wie erwähnt, hauptſächlich um eine indirekte Be-
einfluſſung aller Siedlungsverhältniſſe handeln. Staat und Gemeinde haben eine ſolche
in der Hand durch die ganze hierauf bezügliche Agrar- und Baugeſetzgebung, wie durch
den Wege- und Straßenbau und durch die Kontrolle und Durchführung der Verkehrs-
mittel und -Anſtalten. Ebenſo iſt der Bau von Schulen, Kirchen, Märkten, die Kon-
zeſſionierung der Dampfkeſſel, der Fabrikanlagen, der Schenken ein indirektes Mittel
der Einwirkung. Man wird behaupten können, daß, je dichter die Menſchen wohnen,
deſto unentbehrlicher die Herrſchaft allgemeiner, vom Geſamtintereſſe aus wirkender
Ordnungen über den Siedlungsprozeß ſei.
100. Die Folgen der verſchiedenen Siedlung. Die hiſtoriſche Über-
legenheit der Stadt über das platte Land iſt dieſelbe, die der große über den kleinen
Stamm, das dicht- über das dünnbevölkerte Land hat. Die Stadt bietet die Möglich-
keit und Wahrſcheinlichkeit lebendigerer geſellſchaftlicher Berührung, Reibung, Arbeits-
teilung und Ineinanderpaſſung; die gegenſeitige Förderung des geſteigerten Geſchäfts-
verkehrs, das Gelingen ſocialer Organiſation iſt bei dichterer Wohnweiſe erleichtert.
Daher hat immer leicht die Stadt das Land beherrſcht, eine gegenüber ihrer Einwohner-
zahl überraſchende Macht ausgeübt. Aber ebenſo klar iſt, daß nicht das gedrängte
Wohnen an ſich dieſe Folgen erzeugt, ſondern daß es nur die geſellſchaftlichen Berührungen
und damit die geiſtigen Fortſchritte ſind, welche ſociale Anſtalts- und Machtbildung
ermöglichen und erleichtern. Es giebt gedrängtes Wohnen ſtumpfſinniger Menſchen ohne
dieſe Folgen, und es giebt eine Verkehrsausbildung und Steigerung der Bildungselemente
des platten Landes, die nahezu ähnliche oder gleiche Erfolge erzielen. Die ungeſunde Über-
macht der Städte gehört hauptſächlich den Epochen zurückgebliebener Entwickelung des
platten Landes an.
Auch die von Herbert Spencer mit Recht betonten politiſchen und ſocialen Folgen
zerſtreuter und dichter Siedlung ſind nur mit dieſem Vorbehalt anzuerkennen. Er führt
aus, daß auf dem Lande der Angeſehene, der Krieger und Prieſter, der große Grund-
beſitzer, der Ariſtokrat ſtets eine ganz andere Übermacht behaupte, weil die ihn Um-
18*
[276]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
gebenden ihn nicht mit anderen vergleichen können; je dichter die Siedlung ſei, je
mehr auch die höher Stehenden gleiche neben ſich haben, deſto geringer ſei ihre Über-
legenheit: das platte Land fühlt ariſtokratiſch, die Stadt demokratiſch. Man kann ein-
werfen, daß in den deutſchen Marſchen und den Alpen die bäuerliche Demokratie bei
loſer Siedlung ſich erhalten hat, daß der Pöbel der antiken Großſtädte ſich zuerſt der
kaiſerlichen Tyrannis gefügt, ja ſie hervorgerufen hat, daß die kaufmänniſchen Ariſto-
kratien von Genua und Venedig, wie heute die von London, New York oder Hamburg
durch mindeſtens gleichen Abſtand von den unterſten Klaſſen getrennt ſind wie der
Tagelöhner vom Rittergutsbeſitzer. Es handelt ſich eben bei allen Folgen des zer-
ſtreuten und dichten Wohnens nur um Möglichkeiten, die ſich je nach den mitwirkenden
geiſtig-ſittlichen Faktoren aus der häufigeren Berührung und Reibung der Menſchen
ergeben.
Das aber iſt klar und hat ſich zu allen Zeiten doch überwiegend gezeigt: die
verſchiedene Wohnweiſe differenziert die Menſchen und ihre körperlichen und geiſtigen,
techniſchen und wirtſchaftlichen Eigenſchaften, und als wichtigſtes Ergebnis dieſes Pro-
zeſſes wird man ſagen können: das einfachere Leben auf dem Lande iſt für die mora-
liſchen und Charaktereigenſchaften günſtiger; die Lebensziele ſind da klarer, die Lebens-
wege kontrollierter, die Sitte ſtärker; das Leben auf dem Lande iſt meiſt der Geſundheit,
der Muskelausbildung zuträglicher; der Landmann iſt politiſch konſervativ, techniſch
hängt er mehr am Alten. Das Leben in der Stadt macht rühriger, klüger, dem Fort-
ſchritte zugänglicher; es bildet mehr die Nerven als die Muskeln aus; die Menſchen
ſind aber auch genußſüchtiger; die moraliſchen Einflüſſe ſind geringer, die Zerſtreuung
größer, die Sitte ſchwächer, das Leben iſt ungebundener; die Menſchen reiben ſich mehr
auf. Der Städter iſt liberal, fortſchrittlich, ſocialdemokratiſch.
In den Jahren 1845—70 hat die Statiſtik mit dem raſchen Wachſen der Groß-
und Fabrikſtädte teilweiſe überraſchend ungünſtige Ergebniſſe der Sterblichkeit, der Ge-
bürtigkeit, der Vergehen, der Eheſcheidungen ꝛc. zu Tage gefördert; Wappäus, Schwabe,
Engel und andere beleuchteten daher die ſtädtiſche Wohnweiſe und ihre Folgen in
düſterer Weiſe, wie es allerdings ſchon von Süßmilch geſchehen war. Und bis in die
neuere Zeit ſetzte ſich dieſe peſſimiſtiſche Auffaſſung fort; ja ſie erhielt in dem geiſtvollen,
aber ſtark übertreibenden Buche von G. Hanſſen ihren ſtärkſten Ausdruck; er wollte
beweiſen, daß die Städte, in ſich lebensunfähig und ungeſund, in zwei Generationen
die ihnen vom Lande gelieferten Menſchen aufbrauchen.
In dieſer Litteratur iſt Wahres mit Falſchem gemiſcht. Konſervativ-agrariſche
Vorurteile ſpielen in ihr, fortſchrittlich-induſtrielle in den Gegenſchriften eine Rolle.
Die Wahrheit iſt nicht ſo ſchwer zu finden. Zuerſt haben Rümelin und andere gezeigt,
daß die durch die Städtebevölkerungsſtatiſtik zu Tage geförderten Eigentümlichkeiten
weſentlich auf die Thatſache zurückgehen, daß in den Städten die Altersklaſſen vom
15.—40. Jahre heute teilweiſe doppelt ſo ſtark beſetzt ſind als auf dem Lande, alſo
ſchon deshalb Todesfälle, Geburten, Verbrechen und alles Derartige im Durchſchnitte
ſich anders geſtalten müſſen. Neuerdings haben Brentano und ſeine Schüler eine Reihe
Studien veröffentlicht, die die Übertreibungen Hanfens mit Recht bekämpfen, die Gleich-
wertigkeit und Vorzüge der ſtädtiſchen Bevölkerung ins Licht geſetzt haben. Sie haben
dabei viel Richtiges geſagt, aber auch ihrerſeits teilweiſe übers Ziel hinaus geſchoſſen.
Das ländliche Leben, ſofern es mit guter Wohnung und guter Ernährung verbunden
iſt, hat mit ſeinem Aufenthalt und ſeiner Arbeit in freier Luft für alle körperlichen
Eigenſchaften doch unzweifelhafte Vorzüge. Longſtaff, der übrigens Brentano nahe ſteht,
meint: das Stadtkind bleibt blaſſer, ſchwachäugiger, mit ſchlechten Zähnen verſehen, auch
wenn die ſtädtiſche Hygiene ſein Leben verlängert. Gewiß haben manche Städte und
Gewerbe heute ſo viel oder faſt ſo viel militärtüchtige wie das Land; die Sterblichkeit
iſt in gut gebauten Städten teilweiſe eine ſo niedrige wie auf dem Lande; verkommene
Landdiſtrikte mit ſchlechter Ernährung haben teilweiſe ſchwächlichere Menſchen als Fabrik-
gegenden mit hochſtehender Arbeiterbevölkerung. Aber daß das Land einfachere, ſchlichtere,
beſcheidenere, kräftigere Menſchen, die Stadt klügere, beweglichere, geiſtig entwickeltere,
[277]Die pſychologiſchen und körperlichen Folgen der Wohnweiſe.
körperlich ſchwächere, aber nervös ausgebildetere liefert, bleibt eine notwendige Wirkung
der gegenſätzlichen Lebensweiſe.
Stadt und Land als differenzierte Wohnplätze ſind das notwendige Ergebnis des
höheren, komplizierteren Staats- und Wirtſchafts- und Geiſteslebens; ſie und die von
ihnen geſtempelten Menſchen ergänzen ſich. Die erſten erheblichen Städte wurden die
Mittelpunkte der Kantone und Territorien, die Großſtädte die der Provinzen und Reiche,
in welchen deren Regierung und Wirtſchaftsleben ſich zuſammenfaßt. Das mußte
beſtimmte Folgen für die Bewohner haben. Ebenſo iſt klar, daß die Kunſt, die höhere
Technik, die Litteratur, die Wiſſenſchaft, das heutige Geld- und Kreditweſen, die höchſte
Arbeitsteilung vorzugsweiſe in der Großſtadt gedeiht. Aber wie gewiſſe Fertigkeiten
und gewiſſe Tugenden, ſo wachſen die Laſter in dieſen großen Centralpunkten. Es liegt,
je größer die Städte ſind, die Gefahr um ſo näher, daß zeitweiſe die intellektuelle und
techniſche Kultur in ihnen auf Koſten der moraliſchen wächſt, daß das Familienleben
mehr als ſonſt durch das Einzelwohnen von Männern und Frauen zurückgedrängt, die
Geſchlechtsbedürfniſſe außer der Ehe befriedigt werden. Es hört für ſo viele die wohl-
thätige Kontrolle des Nachbarn in der Großſtadt auf. Schon der großſtädtiſche Straßen-
verkehr erfordert Energie, Gewandtheit, ja Rückſichtsloſigkeit, und ſo wird der moraliſch
haltloſe Teil der Großſtädter rückſichts- und ſchamlos, neugierig und herzlos, materia-
liſtiſch und genußſüchtig, zumal in Zeiten fieberhaften Erwerbslebens und materialiſtiſcher
Lebensanſchauung. Dazu kommen ſchlechte Wohnungsverhältniſſe, ein Übermaß teils
von Arbeit, teils von entnervenden Genüſſen, die Berührung mit dem maſſenhaft
angeſammelten Verbrecher- und Hetärentum.
In den Epochen des geſteigerten atemloſen Lebens der Großſtädte verhalten ſich
die Mittel- und Kleinſtädte zu dieſen vielfach ähnlich wie früher das platte Land zu
jenen. Zumal in den Kleinſtädten kann ruhiges Behagen, beſchränkte Gemütlichkeit,
konſervative Sitte faſt ebenſo wie auf dem Dorfe herrſchen; freilich bleibt immer eine
mannigfaltigere Miſchung ſocialer Elemente; es ſind auch in der kleinen Stadt meiſt
eine Anzahl gebildeter, ſtudierter Leute, einige rührige Handels- und Gewerbsleute.
Dadurch iſt ſie dem gewöhnlichen Dorfe überlegen, das in ſeinem moraliſchen und
intellektuellen Niveau unter Umſtänden ausnahmsweiſe ebenſo ſinken kann wie die
traurigſten Teile der Großſtadt. Gewöhnlich bewahren es Kirche und Schule und der
genoſſenſchaftliche Geiſt der Selbſtverwaltung davor. Die Entwickelung von Charakteren
und ſtarken moraliſchen Gefühlen gelingt in der kleinen Stadt und auf dem Lande
wohl ſtets leichter als in der Großſtadt; vielleicht am meiſten auf dem einſamen Hofe,
wo jedenfalls die konſervativſte, ſtabilſte, unter Umſtänden freilich auch die zurück-
gebliebenſte Bevölkerung hauſt.
Die wichtigſte geſellſchaftliche Folge der ganzen Siedlung haben wir im bisherigen
übrigens nicht berührt; ihr wenden wir uns nunmehr zu: der Organiſation der Gebiets-
abſchnitte und der auf ihnen lebenden Menſchen zu ſocialen Organen, zu Gebiets-
körperſchaften.
3. Die Wirtſchaft der Gebietskörperſchaften: Staat und Gemeinde.
- Allgemeines: Siehe die ganze S. 254 angeführte Litteratur über Siedlungs- und Wohnweiſe.
Dann: Schmoller, Städtiſche, territoriale und ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. J. f. G.V. 1884 u.
U. U. 1898; — Derſ., Der deutſche Beamtenſtaat des 16.—18. Jahrh. J. f. G.V. 1894 u. U. U. — - Bücher, Entſtehung der Volkswirtſchaft. 1893 u. 1898. —
- Levaſſeur, Statistique de la superficie
et de la population des contrées de la terre. Bulletin de l’institut intern. de stat. 1887.
Dorf und Grundherrſchaft: Roſcher, Nationalökonomik des Ackerbaues. 1859 und öfter. — - G. Hauſſen, Die Aufhebung der Leibeigenſchaft und die Umgeſtaltung der gutsherrlich-bäuerlichen
Verhältniſſe in Schleswig und Holſtein. 1861; — Derſ., Agrarhiſtoriſche Unterſuchungen. 2 Bde.
1880—84. — - Judeich, Die Grundentlaſtung in Deutſchland. 1863. —
- Naſſe, Über die mittel-
alterliche Feldgemeinſchaft und die Einhegungen des 16. Jahrhunderts in England. 1869. — - H. S.
Maine, Village communities in East and West. 1871. — - Laveleye, De la propriété et de
ses formes primitives. 1874. Deutſch von Bücher: „Ureigentum“. 1879. — - Keußler, Zur Ge-
[278]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſchichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebeſitzes in Rußland. 1877 ff. — - v. Inama-Sternegg,
Die Ausbildung der großen Grundherrſchaften in Deutſchland während der Karolingerzeit. 1878. — - Seebohm, The english village community. 1883, deutſch 1885. —
- Lamprecht, Deutſches Wirt-
ſchaftsleben im Mittelalter. 3 Bde. 1885—1886. — - Knapp, Die Bauernbefreiung und der Urſprung
der Landarbeiter in den alten Teilen Preußens. 2 Bde. 1887; — Derſ., Die Landarbeiter in Knecht-
ſchaft und Freiheit. 1891; — Derſ., Grundherrſchaft und Rittergut. 1897. — - Schmoller, Die
ältere agrariſche Familienwirtſchaft. J. f. G.V. 1890. — - Meitzen, Agrarpolitik. In Schönberg
H. d. p. Ö. 2. 4. Aufl. 1896. — - Fuchs, Die Epochen der deutſchen Agrargeſchichte und Agrar-
politik. 1898.
Ältere ſtädtiſche Finanzen und Stadtwirtſchaft: v. Schönberg, Die Finanzverhältniſſe der
Stadt Baſel. 1879. — - Sohm, Städtiſche Wirtſchaft im 15. Jahrh. J. f. N. 1. F. 34, 1879. —
- Die Städtechroniken passim. —
- Schmoller, Das Städteweſen unter Friedrich Wilhelm I. Zeitſchr.
f. preuß. Geſch. 11 ff. 1871 ff. — - Bücher, Der öffentliche Haushalt der Stadt Frankfurt im Mittel-
alter. Z. f. St. W. 1896. — - Stieda, Städtiſche Finanzen im Mittelalter. J. f. N. 3. F. 17, 1899. —
- Neuerdings eine große Speciallitteratur.
Entſtehung der Territorial- und Volkswirtſchaft, des Staatshaushaltes: (Forbonnais,) Re-
cherches et considérations sur les finances de la France. 2 Bde. 1758. — - Cheruel, Histoire
de l’administration monarchique en France. 1855. — - Cohn, Colbert vornehmlich in ſtaats-
wirtſch. Hinſicht. Z. f. St.W. 1869 u. 1870, ſowie die übrige Litteratur über Colbert von Pierre
Clément und anderen. — - A. Wagner, Grundlegung. 1876, 3. Aufl. 1892—93. —
- Schmoller,
Epochen der preuß. Finanzpolitik. J. f. G.V. 1877 u. U. U. — - Dowell, History of taxation and
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- Über die Zunahme
der kommunalen wirtſchaftlichen Thätigkeit giebt es heute — außer Hugo, Städteverwaltung und
Municipal-Socialismus in England. 1897 — eine große, zerſtreute Litteratur, über die regelmäßig
in der Zeitſchrift „Sociale Praxis“ von E. Francke berichtet wird. — - Statiſt. Jahrb. deutſcher Städte
von 1890 an. — - Köröſi, Bulletin annuel des finances des grandes villes, ſeit 1879.
101. Vorbemerkung. Entſtehung und Weſen der Gebietskörper-
ſchaft und ihrer Wirtſchaft. Im Anſchluß an die Ausführungen über die
Siedlungsweiſe wollen wir im folgenden die Wirtſchaft der Gebietskörperſchaften,
hauptſächlich die von Gemeinde und Staat betrachten. Seit eine beſondere Finanz-
wiſſenſchaft beſteht, hat man ſie in der Volkswirtſchaftslehre faſt ganz beiſeite gelaſſen.
Und das iſt für die Einzelheiten aus der Lehre von dieſen Wirtſchaften ja nötig. Aber
ihr allgemeines Weſen gehört hieher; denn alle großen Fragen der Volkswirtſchaft
hängen mit dem Verhältnis der Korporationswirtſchaft zu der der Individuen, Familien
und Unternehmungen zuſammen; die wichtigſten gipfeln in dieſem Verhältniſſe; ſie
drehen ſich um den Unterſchied zwiſchen der vom Recht geordneten, mit Zwang aus-
geſtatteten, gemeinnützig verfahrenden Korporations- und der freien, egoiſtiſch verfahrenden
Privatwirtſchaft.
[279]Die Entſtehung der Gebietskörperſchaften; ihr Weſen.
Der Stoff, den wir hier vorzuführen haben, iſt ein ſehr umfangreicher; er iſt für die
neuere Zeit wohl nach manchen Seiten ſchon eingehend, für die ältere aber noch entfernt
nicht vollſtändig durchforſcht. Was wir hier geben können, muß ſich auf einige Umriſſe,
Einzelausſchnitte und Principienfragen beſchränken. Die Lehre von der Korporations-
wirtſchaft hier vor der der Unternehmungen vorzutragen, iſt inſofern berechtigt, als ſie,
wie die Familienwirtſchaft, doch das hiſtoriſch Ältere und die hiſtoriſche und begriffliche
Vorausſetzung alles privatwirtſchaftlichen Getriebes iſt. Natürlich ſind die höheren
Formen der Gemeinde- und Staatswirtſchaft erſt entſtanden unter dem Einfluß der
Arbeitsteilung, der Geld- und Kreditwirtſchaft, des Marktes, der Unternehmungen, die
wir erſt weiterhin ſchildern. Aber da wir es für richtig halten, in dieſem Buche die
geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft, erſt im folgenden deren Einzelbewegungen
zu ſchildern, ſo konnte die Anordnung nur die ſein, mit der Familie zu beginnen, die
Korporationswirtſchaft folgen zu laſſen und mit der Unternehmung zu endigen. —
Alle Wirtſchaft der Gebietskörperſchaften iſt entſtanden durch die Beziehungen
und Bedürfniſſe, die Gefühle und Handlungen der Nachbarn und der Volksgenoſſen
untereinander. Jede Siedlung, ſelbſt der einſame Hof, welcher mit ſeiner Umzäunung
Wohnung und Ställe, Scheune und Knechtgelaſſe umſpannt, erzeugte ein alles Leben
der Beteiligten durch ſeine Folgen beherrſchendes Syſtem materieller, moraliſcher und
geiſtiger Beziehungen. Noch ſtärker wird jedes Dorf, jede Stadt, jede geographiſche und
durch Stammes- und politiſche Bande verbundene Gruppe von Ortſchaften, von Kreiſen
und Provinzen mehr und mehr der ſichtbare Ausdruck einer pſychiſchen und materiellen
Gemeinſchaft, welche durch Gebäude, Wege, Grenzen, Verteidigungswerke auf dem Boden
ſich feſtgewurzelt hat. Aus der Stammes- und Volksgemeinſchaft wird durch die feſte
Siedlung die Gebietsgemeinſchaft. Urſprünglich bluts- und ſprachfremde Menſchen, die
im ſelben Orte, im ſelben Gebiete wohnen, werden Nachbarn, Volks- und Staatsgenoſſen.
Das Heimatsgefühl mit ſeiner ſympathiſch verbindenden Kraft, das Nachbargefühl mit
ſeiner natürlichen Hülfsbereitſchaft verbindet und eint die Menſchen. Und wenn in
größeren Gebieten und Ländern dieſe Gefühle ſich abſchwächen, ſo werden ſie nach und
nach durch die Einſicht in den Wert der gemeinſamen geſellſchaftlichen Einrichtungen,
der gemeinſamen Verteidigung, der gemeinſamen Friedensordnung erſetzt. Ein Prozeß
örtlicher Gruppenbildung vollzieht ſich, der mit der Dichtigkeit der Bevölkerung, der
Wegſamkeit, der Arbeitsteilung, dem Verkehr, der Ausbildung der Preſſe und anderer
pſychophyſiſcher Bindemittel wächſt, die Theilnehmenden geiſtig und wirtſchaftlich auf
einander verweiſt und gemeinſame Rechts- und Wirtſchaftsinſtitutionen erzeugt. Die
Bewohner desſelben Dorfes, derſelben Stadt, desſelben Kreiſes und desſelben Staates
ſind immer im ganzen und durchſchnittlich mehr auf einander als auf andere angewieſen.
Die natürlich-geographiſche Abſonderung wird durch die abſichtliche, ſtaatliche Grenz-
bildung mit ihren Hinderniſſen für Verkehr und Berührung geſteigert. Die Organe
und Vorſtände der Stämme und Völker werden ſolche der Gebiete und Länder, die Volks-
könige werden Landeskönige. Und ſo entſtehen die über beſtimmte Gebiete ſich erhebenden
ſocialen Körper, welche das Land und alle dauernd auf ihm Lebenden beherrſchen; die
Gebietskörperſchaften werden zu Gemeinſchaften, welche alle anderen in ihnen enthaltenen
Vereine und Genoſſenſchaften, alle perſönlichen und dinglichen Gruppen, alle Familien und
Individuen zuſammenfaſſen und regulieren. Sie werden überall zu Zwangsgemeinſchaften
mit einer die einzelnen durch Macht und äußere Gewalt beherrſchenden Spitze, weil
kein Grundſtück und kein Mitglied derſelben ohne Schaden und Nachteil fürs Ganze ſich
gewiſſen gemeinſamen Einrichtungen entziehen kann. Ihre führenden Organe üben dieſen
Zwang aus, übernehmen mit höherer Kultur immer größere Funktionen, von welchen
ein erheblicher Teil wirtſchaftlich iſt, der übrige der wirtſchaftlichen Mittel bedarf.
Wir haben von ihnen oben ſchon (S. 8, S. 129) geſprochen; die Gebiete und Völker
müſſen ſich nach außen gemeinſam ſchützen, verteidigen, ſich eine kriegeriſche Verfaſſung
geben, aus der eine Befehlsgewalt hervorgeht; ſie müſſen eine geordnete Rechtspflege
und Polizei herſtellen, die ebenfalls der Zwangsgewalt bedarf, weil nur ſie den Frieden
garantiert. Sie müſſen im Innern Wälder und Weiden, Äcker und Wohnſtellen ver-
[280]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
teilen und abgrenzen, Wege, Grenz- und Schutzwälle bauen, Zuſammenkunftsorte,
Märkte, Tempel herſtellen. Zu all’ dem werden die Glieder zeitweiſe oder in beſtimmter
Reihenfolge aufgeboten und gezwungen. Alle Arbeitsteilung, aller freie Tauſch- und
Marktverkehr im Innern vollzieht ſich im Rahmen des ſtaatlich feſtgeſtellten Rechtes
und unter Einwirkung der öffentlichen Einrichtungen. Die Organe der Gebietskörper-
ſchaften beſtimmen, welche fremde Perſonen und Waren herein, welche einheimiſche
hinaus dürfen.
So wird die organiſierte Gebietskörperſchaft zu einem wichtigen Organe alles
Wirtſchaftslebens; und ihre führende Spitze muß bald eine ſelbſtändige Sonderwirtſchaft
führen, über gewiſſe wirtſchaftliche Mittel und Arbeitskräfte verfügen können. Die Aus-
bildung einer ſolchen Finanzwirtſchaft, eines öffentlichen Haushaltes iſt nur die wirt-
ſchaftliche Seite der Entſtehung einer feſten politiſchen Spitze, einer befehlenden Zwangs-
gewalt der Gemeinde und des Staates.
H. Spencer ſagt, wo Menſchen als Gruppen zuſammen wirken, da führt der
Klügſte, Tapferſte, Weiſeſte aus, was die Angeſehenen beſprochen und vorgeſchlagen, was
alle genehmigt haben. In jedem politiſchen Körper muß es ſo neben der führenden,
von einer Ariſtokratie oder von Beamten unterſtützten Spitze eine dieſen führenden Ele-
menten gegenüberſtehende, teils beſchließende, teils gehorchende Menge geben; jede ſociale
Gruppenbildung vereinigt ſo in ſich ein genoſſenſchaftliches Element und ein herrſchaft-
liches, welche auf eine irgendwie rechtlich geregelte Zuſammenwirkung beider durch
eine Verfaſſung hingewieſen ſind. Je kleiner und einfacher die ſocialen Gebilde und
Gebiete ſind, deſto mehr kann und wird der Schwerpunkt der Verfaſſung in den Rechten
aller Glieder liegen, deſto mehr genoſſenſchaftliche Färbung hat der ſocialpolitiſche
Körper. Je größer und komplizierter der Verband, das Gebiet, der Staat wird, je
kräftiger er nach außen auftreten, je mehr Aufgaben er nach innen übernehmen ſoll,
deſto ausgebildeter, ſelbſtändiger, mit größerer Zwangsgewalt ausgeſtattet müſſen die
oberſte Gewalt und ihre Organe ſein: ſie kann nur als herrſchaftliche, befehlende, mächtige
Organiſation ihre Funktion erfüllen. Das große Princip der Arbeitsteilung erzeugt
die Scheidung zwiſchen Befehlenden und Gehorchenden, Waffenführenden und Waffen-
unkundigen, geiſtig und mechaniſch Arbeitenden, und ſcheidet ſo zugleich Centrum und
Peripherie, Regierung und Volk in jedem ſocialen Körper. Aller öffentliche Haushalt
ſchließt ſich in ſeiner Ausbildung hieran an.
Er kann aus genoſſenſchaftlichen und Gemeindeeinrichtungen, aus dem Gemeinde-
vermögen und einer Gemeindekaſſe, auch aus ſtändiſchen Einrichtungen hervorgehen oder
Elemente empfangen; aber auch ſie haben ſchon einen gewiſſen Zwangs- und herrſchaft-
lichen Charakter; häufiger entſpringt der Staatshaushalt aus dem Vermögen und der
Hauswirtſchaft von Fürſten und Königen, von Häuptlingen und Ariſtokratien. Meiſt
wird ſich die Staatsbildung an die Macht und den Beſitz von beſtimmten Kreiſen
anknüpfen, welche eine politiſche Herrſchaft begründen, welche die Geſamtintereſſen be-
greifen und vertreten, aber auch der Verſuchung des Mißbrauches unterliegen, in ihrer
Stellung bedroht, zuletzt wieder der Zuſtimmung und Billigung der Beherrſchten
bedürfen. In allem Staatsleben bleiben genoſſenſchaftliche Elemente, Rechte der Bürger,
Strömungen von unten nach oben. Aber eine feſte, ſelbſtändige Gewalt, die auf ererbtes
oder übertragenes Recht ſich ſtützt, in gewiſſer Rechtsſphäre herrſcht und verfügt, iſt in
jedem halbwegs ausgebildeten politiſchen Körper erſte Bedingung der Geſamtexiſtenz, vor
allem auch des geſunden wirtſchaftlichen Lebens. Eine komplizierte Verfaſſung ordnet die
Wechſelwirkung zwiſchen Peripherie und Centrum, Volk und Regierung, die wirtſchaftliche
Teilung der Funktionen zwiſchen beiden, die wirtſchaftlichen Forderungen der Staats-
gewalt an die einzelnen, die Leiſtungen derſelben an ſie.
Immer müſſen bei höherer Kultur die Individuen, Familien, Unternehmungen
eine rechtlich genau beſtimmte freie Sphäre wirtſchaftlichen Handelns behalten. Die
Macht und Rechtsorganiſation des Ganzen hat dieſe Sphäre zu ſchützen, den einzelnen
ihr Eigentum und ihre freie Arbeitsbethätigung zu garantieren; eben hiedurch fördert
ſie Fleiß und Sparſamkeit, Handel und Verkehr, ſowie das wirtſchaftliche Gedeihen der
[281]Die Entſtehung der Staatsgewalt und der ſtaatlichen Finanzen.
Unternehmungen. Aber die Regierung vertritt zugleich die wirtſchaftlichen Geſamt-
intereſſen nach außen und innen, ſchafft die für alle nötigen wirtſchaftlichen Einrichtungen
und Anſtalten und organiſiert für die wichtigſten gemeinſamen Zwecke die einzelnen
und die in ihr enthaltenen Gruppen; ſie fordert und erhebt für die Zwecke der Gemein-
ſchaft wirtſchaftliche Mittel; ſie ſtützt, hebt und fördert die notleidenden Gebietsteile,
Klaſſen und Individuen, ſie bringt die widerſtrebenden wirtſchaftlichen Sonderintereſſen
zur Verſöhnung; ſie erwirbt als juriſtiſche Perſon und Korporation ein beſonderes Ge-
meinde- oder Staatsvermögen, ſchafft eine Centralkaſſe und Behörden, die Vermögen
und Kaſſe verwalten; ſie nimmt neben den freiwilligen und Zwangsdienſten der Bürger
nach und nach bezahlte, berufsmäßig geſchulte Diener, Beamte, Soldaten in ihren Dienſt.
Sie bildet ſo auf Grund einer langen verwaltungsrechtlichen Entwickelung das beſondere
Recht der Finanzgewalt und Finanzhoheit aus, nennt ſich in dieſer Eigenſchaft „Fiskus“
und tritt als ſolcher in den Mittelpunkt aller volkswirtſchaftlichen Veranſtaltungen: die
ſtaatliche Finanzwirtſchaft wird die großartigſte Sonderwirtſchaft innerhalb der Volks-
wirtſchaft, ſie tritt allen anderen Privat- und Familienwirtſchaften, Unternehmungen
und Korporationswirtſchaften an beſtimmten Stellen als gebietende und verbietende
Macht, Steuern und Dienſte fordernd, Vorrechte ausübend, wie an anderer Stelle als
gleichgeordnete, tauſchende und mit ihnen verkehrende Anſtalt gegenüber. Sie beeinflußt
durch ihren Druck, durch die förderliche oder hinderliche Wirkung, die ſie ausüben kann,
alle anderen Wirtſchaften. Sie beherrſcht, eng verbunden mit der ganzen Wirtſchafts-
politik des Staates, durch ihre centralen Einrichtungen, durch die Steuern und Zölle,
durch ihr Kreditweſen, durch ihre Ordnung des Geld- und Verkehrsweſens die ganze
Volkswirtſchaft mehr oder weniger. Ihre gute oder ſchlechte Ordnung iſt einer der
weſentlichſten Faktoren jeder Volkswirtſchaft (vergl. oben S. 4—6, S. 61—64, S. 85 ff.).
Die Finanzwirtſchaft der Gemeinde und des Staates ſtellt eine Arbeitsorganiſation
und eine Vermögens-, Steuer-, Geld- und Kreditverwaltung dar, welche Einnahmen an
verſchiedener Stelle zu erheben, Ausgaben für verſchiedene Zwecke überall im Lande zu
machen, die Mittel für centrale und peripheriſche Funktionen zu verwenden hat, welche
Dutzende, bald auch Hunderte und Tauſende von Perſonen beſchäftigen muß. Dieſe
wirtſchaften mit anvertrautem Gute, ſie ſollen für Fürſt, Gemeinde, Staat redlich und
pflichttreu thätig ſein; ihre Thätigkeit ſoll von einer Stelle aus gelenkt, in Überein-
ſtimmung gebracht, kontrolliert werden. Das Problem iſt ein unendlich viel ſchwierigeres
als das, welches die Familie oder die gewöhnliche Unternehmung zu löſen hat. Es
ſetzt ein unendlich viel höheres geiſtiges und moraliſches Niveau der Menſchen und
einen techniſch geſchulten konventionellen Apparat voraus, den auch nur leidlich herzu-
ſtellen bisher nur großen Organiſatoren auf der Höhe der politiſch-ſocialen Entwickelung
der Kulturvölker nach einer Vorarbeit von Jahrhunderten und Jahrtauſenden ge-
lungen iſt. —
Die in volkswirtſchaftlichen Erörterungen der Smith’ſchen Schule meiſt vorherrſchende
Anſchauung, als ob eine gut eingerichtete Staatsverwaltung mit geordneten Finanzen in
der Regel vorhanden ſei, ſich von Natur ſelbſt einſtelle, hat zu vielen Irrtümern und
falſchen Schlüſſen Anlaß gegeben.
102. Die Größe und die finanzielle Kraft der Gebietskörper-
ſchaften. Wenn alle Gebietskörperſchaften zu einem einheitlichen und organiſierten
wirtſchaftlichen Leben kommen, und wenn bei höherer Kultur der ſichtbare Ausdruck
desſelben die ſelbſtändige Finanzwirtſchaft des betreffenden Körpers iſt, ſo handelt es
ſich nun, wenn wir die verſchiedenen Formen derſelben näher kennen lernen wollen,
darum, uns zuerſt eine Vorſtellung von den betreffenden Größenverhältniſſen zu machen.
Wie groß iſt das Gebiet, wie viel Menſchen nehmen an der Körperſchaft teil, wie groß
ſind die jährlich zu verwendenden Geldmittel in dem gemeinſamen öffentlichen Haushalt?
Nur das letztere können wir leider fragen; denn die Kraft der ſonſtigen geſamtwirtſchaft-
lichen Organiſation, z. B. in der Form einer Naturaldienſtverfaſſung, entzieht ſich jeder
zahlenmäßigen Erfaſſung. Auch die Zahlen über die jährlichen Einnahmen einer Ge-
meinde oder eines Staates ſind natürlich nur ein ganz roher Ausdruck für die Aus-
[282]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
bildung und Leiſtungsfähigkeit der finanziellen Organiſation; aber ſie bieten doch zur
Vergleichung einen feſten Anhalt, ſo ſchwankend auch der Geldwert, ſo zweifelhaft viel-
fach die Umrechnung älterer Münzen auf die heutige deutſche Mark ſein mag; wir haben
für die ältere Zeit nur Zahlen über die verfügbaren reinen Überſchüſſe der Central-
regierung (Nettoeinnahmen), für ſpätere meiſt Angaben über die geſamten Staats-
einnahmen (Bruttobudgets). Beſſer als keine Angaben ſind die Zahlen doch.
Die Ausbeute an Nachrichten für die älteren Zeiten iſt ſehr gering. Attika hatte
2653 Geviertkilometer und 250000 Seelen beim Ausbruche des peloponneſiſchen Krieges;
Xenophon giebt ihm für dieſen Zeitpunkt 1000 Talente (5 Mill. Mark) Staatseinnahme,
wovon aber 600 auf die Tribute der unterworfenen und bündiſchen Städtegebiete fielen,
deren Hunderte gezählt wurden; die Einnahmen ſtiegen dann auf 2000 Talente, und
ſie ſollen ſpäter unter der ſparſamen Verwaltung Lykurgs ohne Tribute wieder 1200
betragen haben. Rom hatte am Ende der Königsherrſchaft ein Gebiet von 983,
340 v. Chr. von 3096, vor dem zweiten Samniterkriege von 6039 Geviertkilometern
und nicht mehr als ½—1 Mill. Seelen. Seine finanzielle und militäriſche Kraft
ruhte damals auch ſchon auf den Bundesverhältniſſen, obwohl es erſt ſo groß war wie
ein kleiner preußiſcher Regierungsbezirk, obwohl es, noch wie Attika in ſeiner älteren
Zeit, einer heutigen großen Kommune näher als einem heutigen Staate ſtand; ſeine
Hauptausgaben waren, wie in jener, die für Bauten; aber freilich die eigene Politik
und die ſelbſtändigen Kriege unterſcheiden beide von heutigen Großſtädten oder Kan-
tonen. Ägypten hatte ſchon vor der griechiſchen Herrſchaft hochentwickelte Finanzen; es
war in ſeiner beſten Zeit ein Land mit 3—7 Mill. Menſchen, die auf etwa 27000 Geviert-
kilometern kulturfähigen Landes, auf einer Fläche wie die der Rheinprovinz ſaßen; es hatte
unter den griechiſchen Herrſchern eine jährliche Regierungseinnahme von 8—14000 Ta-
lenten, d. h. 29—50 Mill. Mark. Auch darunter ſteckten ſicher viele Tribute, die von
auswärts kamen. Immer war es ein einheitlicheres Reich als etwa Perſien unter
Dareios, das nach M. Duncker 46,5 Mill. Mark Grundſteuer einnahm, einen Hofhalt
hatte, der 66 Mill. Mark koſtete. Das römiſche Reich, das beim Tode von Auguſt
3,3 Mill. Geviertkilometer und 54 Mill. Einwohner umfaßte, ſoll in der Zeit von
Auguſtus bis Konſtantin nach den einen nur etwa 30, nach den anderen bis 360 Mill.
Mark jährlich an Reichsausgaben gehabt haben. Aber es hätte, wenn es eine einheitliche
Volks- und Staatswirtſchaft wie unſere modernen Staaten dargeſtellt hätte, nicht viel-
mehr ein Civitäten- und Provinzenbund mit führender Spitze geweſen wäre, auch mit
der zehnfach größeren Summe nicht gereicht. Die auswärtige Politik, die großen Straßen,
die Armee, die Grenzverteidigung, die Oberleitung der Provinzen und gewiſſe Steuern
waren im römiſchen Reiche einheitlich, alles übrige politiſch-wirtſchaftliche Leben war
Sache der Stadtbezirke und der Städtebündniſſe.
Im Mittelalter ſind es die größeren Städte einerſeits, die fürſtlichen Territorien
andererſeits, von denen wir zuerſt wieder Gebietsgröße, Menſchenzahl und Finanzkraft
einigermaßen feſt erfaſſen können. Die Städte haben meiſt ein viel kleineres Gebiet als
im Altertume; 100—500 Geviertkilometer ſind ſchon viel; aber ſie haben mit 10 oder
20, höchſtens 40—50000 Seelen durch ihre Geld- und Kreditwirtſchaft bereits einen
außerordentlichen Einfluß; Baſel giebt im 15. Jahrhundert jährlich in Friedenszeiten
100—160000, in kriegeriſchen 200—260000 Mark aus, Hamburg 1350 35000, 1400
102000 Mark, Köln 1370 114000, 1392 44139 Mark (Stieda); Hamburgs Aus-
gaben ſteigen im 16. Jahrhundert einmal ſchon pro Jahr auf 759000 Mark. Venedig
hat bei mäßigem italieniſchem, freilich großem Kolonialgebiet 1423 1 Mill. Dukaten
Staatseinnahmen (alſo etwa 10 Mill. Mark), der Papſt gegen 1450 0,5—0,6, Mailand
0,6, Florenz 0,3 Mill. Dukaten. Die deutſchen Kurfürſten werden im 13. Jahrhundert
bei Gebieten von etwa 5500—27000 Geviertkilometern mit Seelenzahlen von wahr-
ſcheinlich keiner halben Million auf 3000—50000 damalige Mark Einkommen geſchätzt;
das ſind je nach der Gewichts- oder Zählmark (à 33 oder 16,5 heutige Mark) 50 oder
100000 bis 0,8 oder 1,6 Mill. Mark. Die kleineren Kurfürſten ſtehen alſo unter den Städten.
Alle gut regierten Staaten vom 13.—17. Jahrhundert waren Territorialgebiete, Klein-
[283]Hiſtoriſcher Überblick der Größe der Staaten und ihrer Finanzen.
ſtaaten: Sicilien unter Friedrich II., Böhmen unter Karl IV., Burgund, Florenz, Genua,
Mailand im 14.—15. Jahrhundert, Holland und ſelbſt England im 17. Jahrhundert;
über eine Bevölkerung von 1—2, ausnahmsweiſe 5 Millionen ſind ſie, wie wir ſchon
ſahen, alle nicht gekommen. Auf die 2 Mill. Holländer rechnet Davenant 1688 94, auf
die 5 Mill. Engländer 70 Mill. Mark Staatseinkünfte, die letzteren waren 1790 auf
340 Mill. Mark gewachſen. Brandenburg-Preußen hatte
- 1688 ca. 112000 Geviertkilometer, 1,5 Mill. Menſchen, 8,2 Mill. Mark Netto-Staatseinkommen,
- 1740 - 122000 - 2,2 - - 24 - - - -
- 1788 - 194000 - 5,4 - - 57 - - - -
Andere Staaten waren ſchon früher zu großem Umfang gekommen, wie Spanien,
Frankreich, Öſterreich; Karls V. Einkommen wird auf 4,5 Mill. Dukaten, (45 Mill.
Mark) angegeben, während Luther zur ſelben Zeit einen reichen Grafen zu 24000,
einen namhaften Fürſten zu 240000, einen mächtigen König zu 2400000 heutiger
Mark ſchätzt. Aber mit der Größe der Staaten nahm meiſt noch die wirtſchaftliche
Leiſtungsfähigkeit ab: Öſterreich erreichte unter Karl VI. wohl 550000 Geviert-
kilometer und 20 Mill. Seelen, aber ſein reines Staatseinkommen überſchritt 44 Mill.
Mark nicht; es handelte ſich um eine Zuſammenfaſſung von Ländern und Gebieten in
ähnlicher Art, wie ſeiner Zeit im Altertum; die Teile blieben ſelbſtändig.
Auch heute gilt das zum Teile noch für die ganz großen Staatsgebilde; aber die
mit 2—500000 Geviertkilometern und 10—60 Mill. Einwohnern ſind überwiegend doch
ſchon zu einer homogenen Bevölkerung und zu ganz einheitlichen Wirtſchafts- und Finanz-
einrichtungen durchgedrungen. Ich füge zum Vergleich mit früher die folgenden, über-
wiegend Levaſſeur entnommenen Zahlen über Gebiet und Einwohnerzahl einiger der
wichtigeren größeren Staaten bei:
Die finanziellen Kräfte einiger der wichtigſten dieſer Staaten ſeien durch die
folgende kleine Tabelle veranſchaulicht, welche Bruttobudgets in Millionen Mark teil-
weiſe mit ſchätzenden Ergänzungen giebt; z. B. iſt die neuere preußiſche Zahl gewonnen
durch Zuſchlag eines entſprechenden Beitrages aus dem Reichsbudget:
Die enorme Steigerung der finanziellen Kräfte im letzten Menſchenalter iſt klar
erſichtlich. Die neueſten Zahlen ergeben das noch mehr; das preußiſche Bruttobudget 1899
bis 1900 hat 2326 Mill. Mark Einnahme und Ausgabe (wovon freilich 1050 Mill. Mark
Betriebsausgaben hauptſächlich der Eiſenbahnen ſind), dazu 60 % des Reichsbudgets,
gäbe 4162 Mill. Mark Bruttobudget, und ohne die 1050 Mill. Mark wenigſtens
2212 Mill. Mark, alſo immer noch faſt das 10fache von 1820—30.
[284]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Mag man bei Vergleichung dieſer Zahlen unter ſich und mit den älteren daran
erinnern, daß der veränderte Geldwert und der Erſatz naturaler Staatsanſprüche durch
Geld die Vergleichbarkeit erſchweren, das ungeheure Wachstum der modernen ſtaatlichen
Finanzwirtſchaft gegen alle früheren Zeiten geht doch klar aus all’ dieſen Zahlen hervor.
Erſt ſeit den letzten 200 Jahren begann der Prozeß, der große einheitliche Staaten mit
einheitlichen Wirtſchaftsinſtitutionen und einheitlich centraliſierten Finanzen ſchuf.
Es iſt nur ein anderer Ausdruck derſelben großen Erſcheinung, daß die Staats-
gewalt vom 16.—19. Jahrhundert verſuchte, die ſelbſtändige Organiſation und die
ſelbſtändigen Finanzen der Städte, Gemeinden, Territorien und Provinzen, aus deren
Zuſammenfaſſung die größeren Staaten hervorgingen, zu beſchneiden, teilweiſe ganz zu
beſeitigen. In Preußen z. B. hören die ſtändiſch-finanziellen Organiſationen der Pro-
vinzen im 18. Jahrhundert faſt ganz auf; die meiſten Städte werden im 18. Jahr-
hundert auf ein Jahresbudget von 3000—30000 Mark reduziert; ſelbſt Berlin hatte
1734 mit 86000 Einwohnern nur eine Ausgabe von 72000 Mark, während im Mittel-
alter Städte mit 10000 das 2—6fache Budget hatten. Aber ebenſo klar iſt, daß die
finanzielle Centraliſation, an ihrer äußerſten Grenze angekommen, in unſerem Jahr-
hundert beginnen mußte, den mittleren und kleineren Gebietskörperſchaften wieder eine
größere Thätigkeit und Selbſtändigkeit einzuräumen. Und ſo ſehen wir heute, daß neuere
Reichsbildungen, z. B. die Deutſchlands, neben den Reichs- die Staatsfinanzen belaſſen
haben; von den Vereinigten Staaten und der Schweiz gilt Ähnliches. Öſterreich-
Ungarn hat den Kronlanden eine erhebliche Selbſtändigkeit belaſſen oder wieder gegeben;
überall werden zwiſchen Staat und Gemeinde neue Gebietskörperſchaften geſchaffen, teil-
weiſe die Gemeinden vergrößert und zuſammengelegt; allerwärts ſind die Aufgaben und
die Finanzen dieſer Gebilde wieder in aufſteigender Linie begriffen. Über die Größe
der neueren örtlichen Selbſtverwaltungskörper ſei noch folgendes beigefügt.
Die Gemeindemarkungen in Deutſchland ſchwanken heute zwiſchen 4 und 13 Geviert-
kilometern; in Oſtpreußen und Schleſien umfaßt eine Gemeinde einſchließlich der Guts-
bezirke durchſchnittlich 4—5, in der Rheinprovinz, Heſſen-Kaſſel, Sachſen, Poſen,
Brandenburg 5—8, in Hannover, Weſtfalen, Schleswig-Holſtein 9—13, in Württem-
berg 10 Geviertkilometer. — In dieſen Zahlendurchſchnitten ſind alle Gemeinden, auch
die großen Stadtgemeinden, es iſt alles unwirtliche Land, der geſamte Waldbeſtand
einbegriffen; das bewohnte und bebaute Land ſchrumpft alſo auf zwei Drittel oder
weniger zuſammen. Von der Seelenzahl der deutſchen Landgemeinden haben wir oben
(S. 269) ſchon geſprochen; wir ſahen, daß faſt die Hälfte der preußiſchen Landgemeinden
unter 200 Seelen, die als Kommunen geltenden Gutsbezirke noch weniger Bewohner
haben, während im Süden und Weſten Deutſchlands die Seelenzahl der Gemeinde auf
5—800 ſteigt, wie ſie etwa auch in Frankreich ſein wird. Dort kommen jetzt 14 bis
15 Geviertkilometer auf die Gemeinde. In Öſterreich zählt eine politiſche Gemeinde
500—1500 Seelen, jede umfaßt aber durchſchnittlich 2—3 Ortſchaften; dieſe, die älteren
Gemeinden, haben 120—800 Seelen.
Nehmen wir den Durchſchnitt einer alten germaniſchen Mark, welche, von den
kleinſten (1½) und den größten nordiſchen (8) abgeſehen, 3—5 Geviertmeilen hatte,
zu 4 gleich 225 Geviertkilometer, an, ſo ſind heute 17—20 Dörfer auf einem ſolchen
Raume. Überall haben ſich in der langen hiſtoriſchen Entwickelung über den Dörfern
wieder größere Gebietskörperſchaften, Grafſchaften, Departements, Kreiſe, Arrondiſſements
und wie ſie alle heißen entwickelt. Die engliſche Grafſchaft hat durchſchnittlich
2585 Geviertkilometer. Der preußiſche Kreis 200—2000, durchſchnittlich 825, mit
24000—100000 Seelen. Die ſüddeutſchen Oberämter ſind etwas kleiner; die fran-
zöſiſchen Arrondiſſements haben 1436 Geviertkilometer durchſchnittlich. Auch zwiſchen
dieſen größeren Gebilden und den Dörfern haben ſich überall noch Mittelglieder gebildet;
z. B. in England ſeit der Reformation die Kirchſpiele, welche urſprünglich 13, ſpäter
durch Teilungen 8—9 Geviertkilometer umfaßten, heute etwa 1700 Seelen zählen. Da
auch ſie für die kommunalen Zwecke zu klein waren, bildete man neuerdings (meiſt mit
den Friedensrichterdiſtrikten zuſammenfallend) die Kirchſpielunionen, 150—200 Geviert-
[285]Größe der Gemeinden und ihrer Finanzen.
kilometer, 10—14 Kirchſpiele umfaſſend. Die rheiniſchen Bürgermeiſtereien ſind etwas
Ähnliches, nur kleiner, etwa 40 Geviertkilometer groß, die neuen preußiſchen Amts-
bezirke ebenſo, etwa 20—40 Geviertkilometer. In Rußland iſt neuerdings neben und
über die Dorf- die Samtgemeinde und der Kreis getreten. Die Samtgemeinden zumal
der Kronbauern haben durchſchnittlich etwa 1000—1200 Seelen. In den Vereinigten
Staaten ging das Kommunalleben im Norden von den Dorfſchaften und Kirchſpielen,
im Süden von den Grafſchaften aus, da hier der Großbeſitz vorherrſchte; jetzt iſt, ent-
ſprechend der dortigen dünnen Bevölkerung, die an die nördlichen Einrichtungen ſich
anlehnende township die Grundform des Gemeindelebens geworden; ſie hat 92—93 Geviert-
kilometer mit einigen Hundert bis einigen Tauſend Seelen; ſie läßt bei zunehmender
Bevölkerung Städte und Schulbezirke in ſich entſtehen.
Wenn nun in Großbritannien die ſämtlichen kommunalen Körperſchaften 1867—68
36, 1892—93 82 Mill. ₤, der Staat aber 1892—98 91—106 Mill. ₤, in Frankreich
die Gemeinden 1871 998, 1885 1060, der Staat jedoch 1885 über 3000 Mill. Francs,
in Preußen die ſämtlichen Stadt- und Landgemeinden 1883—84 373, der Staat
1092 Mill. Mark (ohne Reichsbudget) ausgaben, ſo erhellt wohl, wie ſehr die lokalen
Gebietskörperſchaften an finanzieller Bedeutung wuchſen, wie wenig ſie aber noch den
Staat eingeholt haben. Freilich unſere großen Städte haben Finanzen, die an die
Budgets der größeren Staaten des 16.—18. Jahrhunderts heranreichen: Paris 1801
12, 1860 106, 1888 304 Mill. Francs, Berlin 1889—90 85 Mill. Einnahmen,
75 Mill Mark Ausgaben, Boſton 1889—90 17,8 Mill. Doll. Ausgaben; ſelbſt Städte
wie Mainz und Altona haben einen Etat von 3,7 und 4,5 Mill. Mark, mehr als
zu Luthers Zeiten ein mächtiger König. Aber dafür bewegen ſich auch die Ausgaben
einer Dorfgemeinde und Landſtadt noch immer in den beſcheidenſten Grenzen. —
An dieſe ſtatiſtiſch-hiſtoriſchen Größenangaben möchten wir nur ein paar all-
gemeine Schlüſſe und Bemerkungen knüpfen.
a) Die ältere Vorſtellung, als ob die lokalen kleinen Ortsgemeinden in ihrer
Verfaſſung allerwärts das Ältere, Urſprünglichere ſeien, als ob durch deren Zuſammen-
faſſung etwa die Staaten ſich gebildet hätten, iſt nicht richtig. Die älteren Stämme
und Stammesbündniſſe führten zuerſt zu kleinen Kanton- oder Stadtſtaaten, welche
Staat und Lokalgemeinde zugleich waren; innerhalb derſelben brachten es die Orts-
gemeinden in älterer Zeit überhaupt nicht zu einem kräftigen Sonderleben, ſondern
blieben Teile der Kantone. Erſt im Mittelalter und in der neueren Zeit geſchah
dies; es beruht darauf der die ganze neuere Volkswirtſchaft und Staatsverfaſſung
beherrſchende Gegenſatz von Stadt und Land, der dem Altertume fehlte. Aber auch
in der neueren Entwickelung ſind der Gau, die Markgenoſſenſchaft, die nordamerikaniſche
Grafſchaft und township und ähnliche größere Bezirke das Ältere, innerhalb deren
erſt nach und nach durch Differenzierung der Zwecke und Organe die kleineren Gemeinden
als ſelbſtändige Gebietskörperſchaften entſtanden und von Recht und Staat anerkannt
und geordnet wurden. Vollends in unſerem Jahrhundert ſind eine Menge kleinerer
und größerer Gebietskörperſchaften abſichtlich durch die Staatsverwaltung und Geſetzgebung
geſchaffen worden.
Die Vergrößerung der Staaten erfolgte einerſeits durch Bündniſſe ganzer Gebiete
und Völker untereinander, andererſeits durch Eroberung, Staatsverträge, fürſtliche Erb-
ſchaften, Kaufgeſchäfte fürſtlicher Familien, die meiſt ganze Grundherrſchaften, Graf-
ſchaften, Territorien betrafen.
Das Charakteriſtiſche des hiſtoriſchen Entwickelungsprozeſſes in Bezug auf die
Gebietskörperſchaften iſt der Umſtand, daß je größer die Reiche und Staaten werden,
deſto mehr eine komplizierte Hierarchie von größeren und kleineren Körperſchaften über-
einander entſteht, die ſich nun in die verſchiedenen Aufgaben des politiſchen und wirt-
ſchaftlichen Gemeinſchaftslebens teilen. Je höher die Verfaſſung der Staaten ſich aus-
bildet, deſto mehr erhalten die untergeordneten Körperſchaften in gewiſſen, beſonders
wirtſchaftlichen Gebieten eine relative Selbſtändigkeit, müſſen dafür aber in anderen
[286]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
allgemeinen Aufgaben und in der Form ihres Verfaſſungslebens ſich den Beſchlüſſen,
den Geſetzen und Anordnungen der über ihnen ſtehenden Körperſchaften fügen.
b) Daneben nun noch ein Wort über die wirtſchaftliche Bedeutung der Größe
und Abgrenzung der Gebietskörperſchaften. Jedes Dorf, jeder Kanton, jede Provinz,
jeder Staat iſt durch ſeine natürlichen oder politiſchen Grenzen ein wirtſchaftliches
Ganzes, das zunächſt ſeinen Schwerpunkt in ſich hat, aber je nach der Zahl ſeiner Ein-
wohner, je nach der Technik ſeines ganzen Wirtſchaftslebens darauf angewieſen iſt, zeit-
weiſe oder dauernd mit Menſchen oder Waren über das Gebiet hinaus zu drängen,
dies und jenes von Nachbarn zu beziehen. Und ſobald er das zu thun genötigt iſt, ſo
muß durch Verträge oder politiſche Vereinigung, durch Eroberung, Einverleibung,
Handelspolitik eine völker- oder ſtaatsrechtliche Grundlage für dieſen Abfluß, dieſen
Austauſch geſchaffen werden.
Es wird alſo alle fortſchreitende wirtſchaftliche Entwickelung teils zu Grenzhinaus-
ſchiebungen führen, teils in Bündniſſen und internationalen Verträgen verlaufen. Dabei
wird immer das erſtere, die Schaffung größerer Staaten, größerer Verwaltungsbezirke,
größerer Gemeinden das durchſchlagendere Mittel ſein, um Gebiete, die wirtſchaftlich nun
durch den Verkehr ganz aufeinander angewieſen ſind, auch rechtlich, finanziell, in allen
Wirtſchaftseinrichtungen ſo unter einen Hut zu bringen, daß der Menſchen- und Waren-
austauſch am leichteſten ſich vollziehen kann. Andererſeits aber ſtehen dem oft unüber-
windliche ſprachliche, nationale, hiſtoriſche und verwaltungsrechtliche Hinderniſſe entgegen;
die heutige internationale Arbeitsteilung und Weltwirtſchaft hat zahlreiche Produktions-
und Konſumtionsgebiete geſchaffen, die trotz verſchiedener Sprachen, verſchiedenen Rechtes,
verſchiedener Nationalität wirtſchaftlich für einander thätig ſind. Es wurde eine Haupt-
aufgabe der Verträge und des Völkerrechtes, einen zunehmenden Verkehr über die Landes-
grenzen hinweg zu ermöglichen. Aber jeder ſolche Verkehr bleibt bedroht durch Änderungen
der Macht- und der Handelspolitik, und er bleibt erſchwert durch Rechtsungleichheit,
Geldverſchiedenheit und vieles andere. Mag der Weltpoſtverein, der Fortſchritt im
internationalen Recht, in der Annäherung des Handels- und Wechſelrechtes, in den
Handelsverträgen, in der Zulaſſung der Fremden zu Verkehr und Niederlaſſung noch
ſo groß heute ſchon ſein, jedes Gebiet, jeder Staat bleibt ein Ganzes und führt vom
Standpunkte ſeiner Geſamtintereſſen, ſeiner nationalen Gefühle und Leidenſchaften aus
mit den Nachbargebieten einen Konkurrenzkampf, will unter Umſtänden dieſe ausſtechen,
herabdrücken, ja vernichten, ſo daß gewiſſe Gefahren nicht aufhören.
Der große Entwickelungsprozeß des wirtſchaftlichen Lebens ſtellt ſich uns von dieſem
Standpunkte aus dar als ein Rivalitätskampf erſt der kleinen, dann immer größerer
Gebiete; und das Ende iſt häufig die verwaltungs- und ſtaatsrechtliche Verbindung der
kleineren zu einem Ganzen, mit dem Zwecke, die wirtſchaftlichen Gegenſätze im Innern
durch eine ſtarke Centralgewalt zu überwinden, dem wirtſchaftlichen Leben nach innen
Luft und freie Bewegung zu ſchaffen, nach außen die Kräfte zu ſammeln. Die Stadt-
gebiete, die Kleinſtaaten, die Großſtaaten, heute endlich die Weltreiche ſind ſo nach-
einander entſtanden, haben nacheinander einen wirtſchaftlichen Kampf miteinander geführt,
welcher die Folge ihrer Gebietsgröße und ihrer Grenzen war.
Auch heute finden in den größeren Staaten noch ähnliche Rivalitäten ſtatt. Die
Dörfer, die Städte, die Bezirke, ſie führen um Wege, Märkte, Eiſenbahnſtationen
Kämpfe mit einander. Die Großſtadt und ihre Vororte werden mannigfach in ihrem
Wirtſchaftsleben dadurch geſchädigt, daß ihre Straßen-, Waſſerleitungs-, Schul-, Markt-
verwaltung nicht in einer Hand liegt. Es wird zuletzt durch Eingemeindung geholfen.
Die ſteigende Übertragung wichtiger wirtſchaftlicher Funktionen auf die größeren ſtatt auf
die kleinen Gebietskörperſchaften hat hier ihre Wurzel.
Aber das ſind unerhebliche Schwierigkeiten; ſie können zuletzt ſtets durch die ein-
heitliche centrale Staatsgewalt überwunden werden. Nicht ſo zwiſchen ſelbſtändigen
Staaten, die für ihr wirtſchaftliches Gedeihen nicht groß genug ſind, nicht ihre natür-
lichen Grenzen haben, nicht am Meere liegen, die mit einzelnen ihrer Nachbarn wirt-
ſchaftlich verfeindet, nach ihnen hin durch Sperren geſchädigt werden, während der
[287]Die wirtſchaftliche Bedeutung der Größe und Grenzen der Gebietskörperſchaften.
wechſelſeitige Austauſch dringendes Bedürfnis wäre. Alle Handels-, Wirtſchafts- und
ſtaatliche Gebietsgeſchichte iſt von hier aus zu erklären. Schon die aſiatiſchen Eroberungs-
reiche, der attiſche Seebund, die Herrſchaft der Hellenen im Orient, der Karthager im
Occident, das römiſche Reich, die Bildung der großen Nationalſtaaten von 1300—1800,
der Verſuch Napoleons I., die halbe Welt zu unterwerfen, die Geſchichte des Zollvereins,
des Deutſchen Reiches und Italiens in unſerem Jahrhundert ſind weſentlich mit aus
dieſen wirtſchaftlichen Tendenzen zu erklären. Heute handelt es ſich trotz aller Siege
des Freihandels darum, daß es doch viel leichter iſt, ſich in abhängigen Gebieten, in
Kolonien als in fremden Staaten Märkte zu ſichern und Abſatz zu ſchaffen. Daher haben
ſich die Vereinigten Staaten von 1800—1900 von etwas über 2 auf 9,3 Mill. Geviert-
kilometer, haben ſich von 1866—99 das großbritanniſche Weltreich von 12,6 auf 27,8,
das ruſſiſche von 12,9 auf 22,4 Geviertkilometer vergrößert; darum hat Frankreich
ſich in Nordafrika eine zweite Heimat geſchaffen; darum wird heute um die Teilung
der Erde allerwärts gekämpft. Die Größe der Gebiete iſt an ſich ein ungeheures
wirtſchaftliches Machtmittel; und die Lage der Teile zu einander, die Grenzbildung iſt
es oft nicht minder. —
Doch genug. Wir gehen nach dieſen allgemeinen Vorbemerkungen über die
Gebietskörperſchaften zur Darſtellung des einzelnen über. Wir können daraus nur
einige Ausſchnitte geben, vor die Darlegung der heutigen Wirtſchaft des Staates und
der Gemeinde nur einige Skizzen über die ältere mitteleuropäiſche Dorfwirtſchaft, Grund-
herrſchaft und Stadtwirtſchaft ſetzen.
103. Die ältere Dorfwirtſchaft. Die Markgenoſſenſchaft der germaniſchen
Völker, die wir ſchon mehrmals (S. 237, 261) berührt haben, die wahrſcheinlich über-
wiegend oder teilweiſe mit der Hundertſchaft und dem Hundertſchaftsbezirke zuſammen-
fällt, iſt das erſte uns deutlicher erkennbare Beiſpiel eines ſippenartig und genoſſen-
ſchaftlich geſtalteten Familienverbandes, der zugleich durch ein feſt abgegrenztes, von ihm
innegehabtes Gebiet zu einer Gebietskörperſchaft wird. Mögen dieſe dem erſten Jahr-
tauſend unſerer Zeitrechnung angehörenden Verbände mehr politiſch-kriegeriſchen oder
mehr ſippenartigen und wirtſchaftlichen Charakter gehabt, mögen ihre Zwecke im Laufe
der Jahrhunderte ſich vielfach verſchoben haben, ſpäter nach und nach auf andere Organe
(Grafſchaft, Zendnerei, Dorf, Genoſſenſchaft, Territorium, Staat) übergegangen ſein,
mögen ſie urſprünglich mehr Viehweidegenoſſenſchaften, ſpäter mehr Organe der Acker-,
Forſt-, Weide-, Fiſchwaſſerverteilung an die Häuptlinge und Dorfſchaften geweſen ſein,
ſo viel iſt aus der Überlieferung zu erkennen, die freilich aus der Zeit des Rückganges
und der Auflöſung der Markgenoſſenſchaft ſtammt, daß die Markgenoſſenſchaft eine
ziemlich loſe Verfaſſung in dem oberſten Märker, dem Markgericht und der Märker-
verſammlung hatte, daß ſie über die wirtſchaftlichen Nutzungen der Mark verfügte, die
entſprechenden Ordnungen erließ und Beſchlüſſe faßte, daß die Mark als ein geſchloſſenes
Wirtſchaftsgebiet galt, aus dem Holz, Kohlen, Heu, Miſt, Mergel, Fiſche, Vieh auszu-
führen verboten oder erſchwert wurde, weil ſie als Produkte des großen Gemeinbeſitzes,
des Waldes und der Weide, nur dann den Genoſſen dauernd und gleichmäßig dienen
und in ihrer Menge ausreichen konnten, wenn nicht einzelne Betriebſame durch Ausfuhr
die zehn- bis zwanzigfache Nutzung der übrigen in Anſpruch nahmen. So viel wir
ſehen können, hatten die Markgenoſſenſchaften aber es zu einer kräftig handelnden Spitze,
zu einem von dem genoſſenſchaftlichen Eigentume getrennten Korporationsbeſitze, zu einer
gemeinſamen Vermögensverwaltung, einer Kaſſe nie gebracht.
In dem Maße, wie die Bevölkerung ſich vermehrte, der Ackerbau gegenüber der
Viehwirtſchaft wichtiger wurde, in zahlreichen Dörfern mit beſonderen aus der gemeinen
Mark ausgeſonderten Ackerfluren und Weiden ſich einrichtete, der Beſitz der Großen,
teilweiſe auch des Königs zunahm, die Anfänge der Grundherrſchaft ſich bildeten, die
Schenkung der Hufen an die Kirche erlaubt wurde, mit königlichem Briefe Nichtgenoſſen
in die Markgenoſſenſchaft eindringen konnten, da lockerte ſich das Gefüge der alten
Markgenoſſenſchaften. Sie traten zurück gegenüber den neuen, kräftigeren Organen, dem
Dorfe und der Grundherrſchaft. Die Mark erſchien mehr und mehr nur als ein An-
[288]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
hängfel der neuen Gebilde; jedes Dorf, jede Grundherrſchaft ſuchte davon zu erhalten,
was möglich war; man teilte bei Gelegenheit, was noch von dem alten großen Gebiete
unbeſetzt vorhanden war.
Die Markgenoſſenſchaft war ein loſer Verband geweſen, der auf 100—400 Geviert-
kilometern etwa 100 Familien, 1000 Seelen, ſpäter auch mehr umſchloß; die Dorf-
genoſſenſchaft, welche mit der Seßhaftigkeit, mit dem Siege der Dreifelderwirtſchaft ſich
ausbildete, beſaß eine Gemarkung von etwa 15—40, ſpäter 5—15 Geviertkilometern,
in deren Mittelpunkte, im Dorfe, 5—10, ſpäter oft 20—50 Hufner (ſiehe S. 261) ſeit
dem ſpäteren Mittelalter nebſt einigen Koſſäten oder Kleinſtellenbeſitzern, Handwerkern
und Tagelöhnern enge zuſammen ſaßen. Die engere Siedlung und das engere Band
gemeinſamer agrariſch-wirtſchaftlicher Intereſſen erzeugte eine kräftigere, dauerhaftere
Organiſation als es die Markgenoſſenſchaft je geweſen war. Die Dorfbewohner bildeten
im Anſchluß an die alten brüderlichen Traditionen der Sippe eine Friedens-, Rechts- und
Unterſtützungsgenoſſenſchaft, ihre Organe übten eine gewiſſe Rechtſprechung und Polizei
aus, ſchloſſen ſich urſprünglich perſönlich und für den Verkehr ähnlich ab wie die
Markgenoſſenſchaft. Der Schwerpunkt ihres wirtſchaftlichen Lebens lag in der eigentüm-
lichen Verbindung der ſelbſtändigen Eigenwirtſchaft der Familie mit der genoſſenſchaft-
lichen Gemeinſamkeit, wie ſie ſich aus dem Gemeinbeſitz der Allmende, aus der gemein-
ſamen Planlegung des Ackerlandes, aus der Einteilung desſelben in zahlreiche Gewanne
von gleicher Bodenqualität, aus der Zuweiſung eines Loſes von je ½—1 Morgen in
jedem Gewann an jeden Hufner, aus der Umlegung aller öffentlichen und grundherrlichen
Laſten auf die Hufner ergab.
Das Dorf bildete einen perſönlichen und dinglichen Verband; die Genoſſenſchaft
hatte ein Geſamtrecht an der Dorfmark; jeder Genoſſe führte für ſich eine rein auf die
eigene Produktion und Befriedigung aller Lebensbedürfniſſe begründete Haus- und Acker-
wirtſchaft, aber alle zuſammen führten doch zugleich eine planvoll geordnete Geſamt-
und Geſellenwirtſchaft, welche, ohne einen Sonderhaushalt darzuſtellen, die unentbehrliche
Ergänzung der einzelnen Hauswirtſchaften war.
Haus und Hof waren dem einzelnen im Dorfe dauernd zugewieſen; das
Haus lag an der Dorfſtraße, in beſtimmter Reihe und Entfernung vom anderen, es
war mit der unentgeltlichen Hülfe der Genoſſen aus dem gemeinſamen, unbezahlten
Holze des Waldes gebaut; Haus und Hof ſtanden unter verwandtſchaftlichen und
genoſſenſchaftlichen Vorkaufs- und Näherrechten, unter einer Bau- und Feuerpolizei, die
ihre Wurzeln im gemeinſamen Beſitz hatte; ſie waren des Nachts geſchützt durch eine
im Reihedienſt herumgehende Nachtwache. Das Vieh gehörte dem einzelnen, aber es
durfte nur vom gemeinſamen Hirten ausgetrieben werden, es erhielt ſeine Nahrung
durch die gemeinſame Nutzung der Brache, des abgeernteten Sommer- und Winterfeldes,
der Weiden, des Waldes. Der dem Hufner zugeteilte Acker unterlag dem Flurzwange,
d. h. er ſtand unter der genoſſenſchaftlichen Feldpolizei, unterlag den genoſſenſchaftlichen
Weide-, Trift- und Wegerechten, konnte nur gepflügt, beſät, abgeerntet werden nach den
genoſſenſchaftlichen Ordnungen und Beſchlüſſen. Wald, Weide und Waſſer waren
genoſſenſchaftliches Geſamteigentum; und wenn die Rechte der einzelnen daran nach
und nach individuelle Sonderrechte wurden, ſo ſtanden ſie doch ganz unter den genoſſen-
ſchaftlichen Beſchlüſſen, unter der gemeinſamen Weide-, Forſt- und Waſſerpolizei.
Die Wirtſchaft des einzelnen Hufners verkaufte und tauſchte lange nichts oder
ſehr wenig; erſt mit dem Aufkommen der Städte lieferte man einige Überſchüſſe auf den
ſtädtiſchen Markt; im ganzen lebte die Familie durchaus von ihren eigenen Produkten,
ſtellte auch Kleidung und Geräte ſelbſt her. Die Familie verteilte die Arbeit unter
ihre Glieder und ſorgte für jedes derſelben; ein ſtarker Erwerbsſinn konnte ſich nicht
entwickeln, Kapitalbildung, Zins, Abhängigkeit vom Markte fehlten lange. Die einzelne
auf ſich ruhende Hauswirtſchaft war von der Dorfgenoſſenſchaft, ſpäter von der Grund-
oder Gutsherrſchaft, aber nicht vom Spiel der Preiſe beeinflußt und beherrſcht.
Der Beſitz der vollen Dorfgenoſſen, Haus, Garten, Acker und Anteil an der Allmende
(zuſammen 15—50 ha, je nach der Bodengüte), hieß die Hufe. Mehr und mehr dem freien
[289]Die mittelalterliche Dorfgenoſſenſchaft und ihre Wirtſchaft.
Privateigentume ſich nähernd, blieb ſie doch unter einem Agrarrechte, das mehr die
Geſamt- als die Einzelintereſſen im Auge hatte, auf Erhaltung präſtationsfähiger Bauern-
nahrungen zielte.
Die Genoſſenſchaft hatte keine gemeinſame Kaſſe; was ſie etwa an Bußen ein-
nahm, verteilte oder vertrank ſie gemeinſam. Was ſie an Laſten aufzubringen hatte,
legte ſie auf die einzelnen um. Sie hatte urſprünglich keine Organe, die über ihr als
ſelbſtändige Spitze, als Perſonifikation der Korporation ſtanden; Vorſteher, Schöffen,
Gemeindeverſammlung wurden erſt langſam und nach und nach ſeit dem 15.—18. Jahr-
hundert zu einer ſolchen. Aber der genoſſenſchaftliche Geiſt war um ſo ſtärker; er erhielt
durch die Feldgemeinſchaft täglich und ſtündlich neue Nahrung. Jeder einzelne Hufner
mußte wirtſchaften wie der andere; eine Stärke der Sitte, der Gebundenheit, des Gemein-
gefühls bildete ſich aus, welche die Dorfgenoſſen bis heute vielfach wie eine große Familie
mit gleichen Vorzügen und Fehlern erſcheinen läßt. Das Eindringen neuer perſönlicher
Elemente war lange ebenſo erſchwert wie der freie Tauſch- und Geſchäftsverkehr nach
außen. Die Veräußerung des Grundbeſitzes an Nichtgenoſſen war durch Näherrechte
der Verwandten und Dorfgenoſſen gehemmt.
Die Ausbildung erſt der territorialen, dann der großen nationalen Staatsgewalten,
ſowie die der Geldwirtſchaft gab den Anſtoß zur Umbildung dieſer älteren Dorfgenoſſen-
ſchaft in die neuere Einwohner- und Ortsgemeinde, in welcher die einzelnen bäuerlichen
Familien auf ſich ſtehen, mehr und mehr für den Verkauf produzieren. Es iſt eine
Umbildung, welche in vier bis fünf Jahrhunderten langſam durch alle möglichen kleinen
Änderungen der Staats- und Gemeindeverfaſſung, der Verwaltung und des Wirtſchafts-
lebens ſich vollzog. Wir kommen auf die moderne Ortsgemeinde unten. Hier iſt nur
zu erwähnen, daß von der alten Verfaſſung mit ihrer Feldgemeinſchaft auch heute
noch in vielen europäiſchen Staaten erhebliche Reſte beſtehen. Wo die Gemeinde noch
Wald und Weide beſitzt, die Ackerſtücke der Dorfgenoſſen noch in alter Gemengelage
durcheinander liegen, wo damit der faktiſche — wenn nicht der rechtliche — Flurzwang
noch beſteht, da iſt trotz aller Zunahme des individuellen Eigentums, trotz aller Ein-
ſchränkung der alten Gemeinſchaft noch ein gut Stück der alten Zuſtände vorhanden.
Aber allerdings ſind ſie überall in voller Auflöſung begriffen. Die Teilung der All-
mende und Gemeinheiten an die einzelnen, die Güterzuſammenlegung und die Feldweg-
regulierung haben den Betrieb der einzelnen Bauern mehr oder weniger auf ſich ſelbſt
geſtellt. Es lag darin eine naturgemäße Entwickelung. Die Ausbildung der Sonder-
wirtſchaft des Bauern, der ſelbſtändig werden, gewinnen, vorwärts kommen will, war
jetzt ſo notwendig und heilſam wie einſtens die genoſſenſchaftliche Zucht, die ihn genötigt
hatte, zu wirtſchaften, zu pflügen, zu ernten, wie die anderen Genoſſen es thaten. In dem
Maße, wie die Geldwirtſchaft in die Dörfer eindrang, der Bauer anfing, mehr als bisher
für den Markt zu produzieren, mußte ſein wirtſchaftlicher Erwerbstrieb ſich entwickeln;
die alten genoſſenſchaftlichen Traditionen ſchrumpften zu einer ſtarren Sitte zuſammen,
die zunächſt neue Blüten nicht treiben konnte. Rein auf das Herkömmliche beſchränkt,
hatte der Bauer des 16.—18. Jahrhunderts kein Verſtändnis für genoſſenſchaftliche
Be- oder Entwäſſerung, für etwaige gemeinſame Unternehmungen; er war jeder Majori-
ſierung abhold. Erſt die Schule der Geldwirtſchaft, die moderne Umbildung der Dorf-
verfaſſung, die Schaffung neuer, beſſerer Dorforgane, die Fortſchritte der Technik und
des Marktes, die Hebung der ganzen Intelligenz brachten es endlich in unſerem Jahr-
hundert ſo weit, daß der ganz ſelbſtändig gewordene Bauer, der das Rechnen gelernt
hatte, Verſtändnis für Molkerei-, Maſchinen-, An- und Verkaufs-, Darlehnsgenoſſen-
ſchaften, für Güterzuſammenlegung und gemeinſame Meliorationen bekam, daß das zur
Ortsgemeinde gewordene Dorf auch die modernen Aufgaben des Wege-, Schul-, Armen-
weſens und Ähnliches übernehmen konnte.
Der pſychologiſche Umbildungsprozeß von dem alten genoſſenſchaftlichen, ohne
Erwerbstrieb wirtſchaftenden, dann der Grundherrſchaft unterworfenen, von ihr vielfach
gedrückten und dadurch ſtumpf gewordenen Bauern zum ſchlauen Egoiſten und dann zum
rechnenden Kleinunternehmer, zum freien Grundbeſitzer der neuen Zeit und nun wieder
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 19
[290]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
genoſſenſchaftlich fühlenden, die Ehrenämter in Dorf und Amt bekleidenden tüchtigen
Klein- und Mittelbeſitzer iſt eines der anziehendſten Kapitel aus der mitteleuropäiſchen
Kultur- und Wirtſchaftsgeſchichte. —
104. Die Grundherrſchaft und ihre Wirtſchaftsorganiſation.
Das mittelalterliche Dorf war eine genoſſenſchaftliche Gebietsorganiſation von 50 bis
500 Menſchen auf wenigen Geviertkilometern, die Grundherrſchaft eine herrſchaft-
liche Gebietsorganiſation von in der Regel doppeltem, ja zehn- und mehrfachem Um-
fange. Das Dorf war in gewiſſer Beziehung wirtſchaftlich unabhängig, wenn es auch
politiſch der Teil eines größeren Ganzen war, wirtſchaftlich zuerſt von der Markgenoſſen-
ſchaft, ſpäter meiſt von der Grundherrſchaft, dann vom Abſatz nach der Stadt abhing.
Die Grundherrſchaft war auch politiſch und adminiſtrativ in ein größeres Ganzes ein-
gefügt, wirtſchaftlich nicht ohne Verkehrsverbindung nach außen; aber ſie ruhte in der
Hauptſache doch rechtlich und wirtſchaftlich viel mehr auf ſich, zumal in den Zeiten un-
entwickelter Staatsbildung, im ganzen Mittelalter und noch lange in der neueren Zeit.
Ähnliche Verhältniſſe wie unſere europäiſchen, feudal-grundherrlichen Bildungen
haben auch andere Erdteile und Zeiten gehabt, wo Naturalwirtſchaft, kriegeriſche oder
prieſterliche Ariſtokratien und von ihnen abhängige Bauernſchaften zuſammentrafen. Aus
ſolchen Verfaſſungszuſtänden heraus haben ſich faſt überall unſere heutigen geldwirt-
ſchaftlichen Agrarverhältniſſe mit ihren Klein-, Mittel- und Großbetrieben in ver-
ſchiedenen Übergängen entwickelt.
Ihren Kern- und Mittelpunkt hatte die Grundherrſchaft in einer fürſtlichen oder
ariſtokratiſchen großen patriarchaliſchen Familie oder einem Biſchof, einem Kloſter; dieſe,
im Beſitze von großem Grundeigentum, ſammelten um ſich Gefolgs- und Lehnsleute,
freie und unfreie Diener; hauptſächlich aber ſuchten ſie Dörfer und Hufen mit ihren
Bauernſchaften zu erwerben; und die Verdinglichung aller möglichen Regierungs-,
Gerichts-, Lokalverwaltungsrechte, d. h. ihre Verknüpfung mit dem herrſchaftlichen
Beſitze bildete die Grundlage des dinglich-perſönlichen Herrſchaftsverbandes. Er war
bald mehr geſchloſſen, bald ſtellte er mehr einen Streubeſitz dar, beſtand oft nur
aus einigen Dutzend, bald aber auch aus einigen Hundert oder Tauſend Hufen nebſt
Zubehör und großen Waldungen und allerlei Rechten; jedenfalls die lokale Verwaltung
und Ausnutzung dieſes Grundbeſitzes, den man ſtets abzurunden ſuchte, war das treibende
Princip. Die Nutzung konnte, da Geldwirtſchaft, Pacht und Ähnliches noch faſt ganz
fehlte, nur die ſein, daß die Grundherrſchaft das Land an ihre Leute gegen Dienſte
und Naturalabgaben ausgab, ſich ein Obereigentum vorbehielt. Die höheren Dienſtleute
und Reiter erhielten Lehen, etwas größere Güter, 4—8, auch mehr Hufen, die Bauern
und andere Hinterfaſſen erhielten oder behielten ihre einzelnen Hufen und Ackerſtellen,
die, nach ihrer Lage gruppenweiſe unter einem herrſchaftlichen Meier zuſammengefaßt,
womöglich in ihrer hergebrachten Dorfverfaſſung gelaſſen wurden. Eine Anzahl Dörfer
und Meiergebiete wurden unter einen Haupt- oder Fronhof geſtellt; dieſe ſelbſt ſtanden
wieder unter den Oberhöfen und Palatien, an welchen ein eigener, nicht ſehr großer
landwirtſchaftlicher Betrieb des Grundherrn geführt wurde. Von den übrigen zur
Grundherrſchaft gehörigen Gütern, Dörfern, Hufen her wurden Vorräte für den Bedarf
des großen Grundherrn, für ſeine militäriſche, polizeiliche, gerichtliche, geiſtliche Ver-
waltung wie für ſeine perſönlichen Bedürfniſſe in den Fronhöfen angeſammelt. Wurde
von dieſen wirtſchaftlichen Mittelpunkten der Verwaltung aus auch ſchon einiges ver-
kauft, auf den nächſten Markt geliefert, die Hauptſache blieb doch der eigene Konſum
des Grundherrn, des Stiftes, des Kloſters und ihrer Beamten und Diener. Es war
Sitte, daß die Könige, die Grafen, die Biſchöfe mit ihrem Hofhalte von einem ihrer
Haupthöfe zum andern zogen, um zu verzehren, was im Laufe des Jahres da an-
geſammelt war. Es fehlte in der Hauptſache die Geldwirtſchaft, das Produzieren für
den Markt, die Abhängigkeit von den Preiſen.
Aber in dem Centrum jeder der zahlreichen grundherrlichen Verwaltungen entſtand
ein Überblick, ein Geſamtintereſſe, eine gewiſſe Fähigkeit, alle untergeordneten Glieder
zu einem planvollen Ganzen zu verbinden, ihnen nach einem Syſtem der Arbeitsteilung
[291]Die Grundherrſchaft und ihre wirtſchaftliche Verfaſſung.
Dienſte und Lieferungen aufzulegen: der Ritter hat nur Kriegsdienſt zu leiſten, der
Handwerker gewiſſe Produkte zu liefern, der Bauer wurde von der alten Gerichts-
und Kriegspflicht befreit, damit er ſeiner Landwirtſchaft leben, ſeine in der älteren
Zeit mäßigen naturalwirtſchaftlichen Pflichten erfüllen konnte. Der Miniſteriale, der
Ritter, der Förſter, der Bauer, der Handwerker, der Köhler und Zeidler, kurz alle,
die zum grundherrlichen Verbande gehörten, hatten für ſich ihre meiſt auskömmliche
agrariſche Eigenwirtſchaft, aber daneben waren ſie dienende Glieder der Grundherrſchaft,
und es fragte ſich, wie ſtark ſie von hier aus in Anſpruch genommen, gut oder ſchlecht
behandelt, gefördert oder gedrückt wurden. Wo ſich die genoſſenſchaftliche und Gerichts-
verfaſſung des Dorfes erhielt, lag darin ein Schutz gegen die Erhöhung der Laſten; wo
die Abgaben und Dienſte durch Recht und Herkommen, durch Aufzeichnung in Hofrechten
und Weistümern gegen Änderung geſchützt waren, wo und ſo lange an Bauern und
Hinterſaſſen eher ein Mangel als ein Überfluß vorhanden, ein leichter Abzug nach
Städten und neuen Kolonien möglich war, wo der Bodenwert und die Rohproduktenpreiſe
bei gleich bleibenden Naturallaſten ſtiegen, da konnte die Lage des unfreien Bauern eine
leidliche, ja eine allmählich ſich verbeſſernde ſein, wie es thatſächlich in vielen Ländern
bis ins 14. und 15. Jahrhundert der Fall war.
Die geiſtlichen Grundherrſchaften, Bistümer, Stifte, Klöſter wurden im älteren
Mittelalter die Mittelpunkte der höheren Kultur, der feineren Technik, die Schulen und
Erziehungsanſtalten für den geiſtlichen und weltlichen Adel, teilweiſe auch die Ausgangs-
punkte für die ältere Städtebildung. Hier und auf den weltlichen großen und kleinen
Grundherrſchaften fand ein gewiſſer Fortſchritt in Acker- und Wieſenbau, Viehzucht
und techniſchen Gewerben ſtatt; von hier aus wurden die letzten großen Rodungen
unternommen, hier waren Kapitalmittel für Wege-, Burgen-, Kirchen- und Mauerbau
vorhanden; die Vorratsſammlung und die große Zahl Dienender erlaubten, die höheren
Bedürfniſſe des Herrenhofes beförderten manchen wirtſchaftlich-techniſchen Fortſchritt.
Die Organiſation eines Boten- und Fuhrwerksdienſtes brachte Verkehr und einige Abſatz-
möglichkeit. Die Grundherren ſchufen dann nach und nach auch Märkte und Münzſtätten,
bauten Mühlen und Backhäuſer, Keltern und Kalköfen. So geſchah hier manches, was
auch den abhängigen Bauern zu gute kam, die dafür freilich die herrſchaftlichen Ein-
richtungen gegen Entgelt benutzen, auf der herrſchaftlichen Mühle mahlen, aus der
herrſchaftlichen Brauerei ihr Bier beziehen mußten.
Der Eintritt in den Verband der Grundherrſchaft ſetzte Geburt aus einer zugehö-
rigen Familie oder freiwillige Ergebung und Aufnahme voraus; wer hofrechtliche Grund-
ſtücke erwarb, mußte ſich vom Herrn belehnen laſſen; der vom Herrn Aufgenommene
mußte auch von der halbfreien Genoſſenſchaft recipiert werden. Ein freies Austrittsrecht
fehlte gänzlich; es wurde als Fortſchritt empfunden, wenn der Herr den Leibeigenen
nicht mehr ohne ſeine Hufe verkaufen durfte; Heirat war nur zwiſchen Gliedern derſelben
grundherrlichen „Familie“, wie man die Geſamtheit der der Herrſchaft Unterthänigen
bezeichnend nannte, ohne weiteres geſtattet; darüber hinaus gehörte, wie zu jedem Aus-
tritte, Zuſtimmung des Herrn und Loskauf. Noch nach dem preußiſchen Landrecht entläßt
der Gutsherr einen Hinterfaſſen, den er nicht beſchäftigen, dem er nicht Unterhalt ver-
ſchaffen kann, nicht definitiv, ſondern er giebt ihm, wie bis 1860 der ruſſiſche Grundherr
und jetzt die ruſſiſche Gemeinde, eine Kundſchaft, einen Paß, um auswärts Brot zu
ſuchen. Der Grundſtückverkehr, Veräußerung, Teilung, Verpfändung war, abgeſehen
von der Zuſtimmung der nächſten Verwandten, an die des Grundherrn gebunden, jeden-
falls nur innerhalb des hofrechtlichen Verbandes erlaubt. Auch für das Vieh, das
Getreide, die Wolle des grundherrlich gebundenen Bauern maßte ſich die Herrſchaft
teilweiſe ein Vorkaufsrecht an, als mit dem Aufkommen der Städte ein ſolcher Abſatz
bedeutungsvoll wurde. Ein gewiſſes Beſteuerungsrecht hatten die Grundherrſchaften
früh geübt; ſie haben meiſt das Recht in Anſpruch genommen, ſtaatliche und andere
ſolche Laſten zu verteilen und dabei etwas für ſich zu erheben.
Vom 15. Jahrhundert an haben ſie die in den Weistümern aufgeſtellten Schranken
bezüglich der bäuerlichen Dienſte und Abgaben meiſt abzuſtreifen, die Bauern mehr und
19*
[292]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
mehr zu belaſten oder zu abhängigen Arbeitskräften herabzudrücken geſucht. Es iſt ihnen
das in ſehr verſchiedener Weiſe gelungen. In umfaſſendem Maße hauptſächlich da, wo
auf herrſchaftlichen Höfen häufig durch Einverleibung von Bauernhöfen ein größerer
Gutsbetrieb eingerichtet wurde mit der Tendenz, Getreide, Wolle, Bier, Holz, Häute
und andere Produkte auf den Markt zu bringen, wo die ſich ausdehnenden Herren- und
Rittergüter mehr und mehr wirtſchaftliche Geſchäftsunternehmungen wurden, wie das
beſonders in England, im Nordoſten Deutſchlands, in Polen und Rußland vom 16. bis
18. Jahrhundert geſchah. Die hier entſtandene Form der Grundherrſchaft hat man
neuerdings als Gutsherrſchaft bezeichnet, um damit anzudeuten, daß der gutsherrſchaft-
liche Betrieb, eine der Übergangsformen zur modernen, für den Markt produzierenden
Unternehmung, hier zur Hauptſache geworden ſei.
Die ältere Grundherrſchaft war eine patriarchaliſche Großfamilie, teils mit Dutzenden,
teils mit Tauſenden dienender Familien; ſie war gewiſſermaßen ein Großbetrieb, aber
nicht für den Verkauf, ſondern für die Konſumtion, für den Unterhalt des Grundherrn,
des Fürſten, des Stiftes, und für die politiſche, gerichtliche, militäriſche Verwaltung des
Gebietes; ſo lange die Verwaltung eine durch feſte Rechtsnormen gebundene, ſtreng
disciplinierte, von guten Traditionen beherrſchte war, konnte ſie Großes leiſten; wo ſie
milde gegen die Hinterfaſſen war, wie man es von den Krummſtabsgebieten pries,
konnte der Wohlſtand gedeihen. Aber die Disciplin lockerte ſich früh, die Mißbräuche
einer großen Naturalverwaltung konnten raſch ſich ſteigern; es fehlte leicht in dem großen
Getriebe die rechte Kontrolle. In den feſten Geleiſen der Gewohnheit und des Rechtes
wurden Änderungen und techniſche Fortſchritte bald ſchwierig. Die Kloſterwirtſchaften
hörten auf, Muſterwirtſchaften zu ſein; auf den weltlichen Herrenhöfen fehlte gar mannig-
fach der Sinn für wirtſchaftlichen Erwerb, für Sparſamkeit; man begann im 12. und
13. Jahrhundert ſchon, die Höfe oder die Meiereien zu verpachten; ſpäter verſuchte man
da und dort, wie erwähnt, einen großen landwirtſchaftlichen Eigenbetrieb zum Verkaufe
zu beginnen. Die alte Grundherrſchaft iſt ſo vom 13.—16. Jahrhundert in einer
gewiſſen Auflöſung oder Umbildung begriffen; wo aus ihr die Gutsherrſchaft ſich ent-
wickelt, erzeugt ſie techniſch-wirtſchaftlichen Fortſchritt neben bäuerlichem Drucke und
ſocialer Mißbildung. Einzelne der großen Grundherrſchaften werden in Deutſchland
und anderwärts zu Kleinſtaaten und erhalten damit einen anderen Charakter. Die
übrigen und die Gutsherrſchaften kommen unter die territoriale und nationale Staats-
gewalt. Wo die herrſchenden feudalen Klaſſen dieſe in Abhängigkeit von ſich bringen,
iſt der Bauernſtand bedroht, verſchlechtert ſich ſeine Lage bis ins 19. Jahrhundert.
Wo eine ſtarke fürſtliche Gewalt mit großem eigenen Grundbeſitze die Grund- und
Gutsherren an Macht und Einfluß überragt, erhält ſie den Bauernſtand, befreit ihn
perſönlich, verleiht ihm freies Grundeigentum, löſt ſeine Laſten ab. Das einzelne dieſes
Umbildungsprozeſſes gehört nicht hieher. Er hat ſich erſt im Laufe der letzten ſechs
Generationen im größeren Teile Europas vollzogen; bis vor 30—90 Jahren lebten
60—90 % der europäiſchen Landbevölkerung noch in grund- und gutsherrlichen, halb
naturalwirtſchaftlichen, gebundenen Zuſtänden.
Die Grundherrſchaften waren in ihrer erſten aufwärts gehenden Entwickelung
einſtens die Träger des wirtſchaftlichen Fortſchrittes, die normalen Gefäße der lokalen
Adminiſtration wie teilweiſe auch der Staatsverwaltung, die Keime und Gefäße für alle
möglichen höheren Bildungen — für Städte, Landesherrſchaften, Großgutswirtſchaften,
Bistümer, Klöſter, Schulen ꝛc. — geweſen. Die Vorausſetzungen für dieſe ältere nor-
male Wirkſamkeit waren klare und einfache: ſtabile naturalwirtſchaftliche Verhältniſſe
ohne erheblichen Geld- und ſonſtigen Verkehr, einfache agrariſche Technik, Menſchen ohne
ausgebildeten Individualismus, ohne ſtarken Erwerbstrieb, mit regen Gemeingefühlen,
in der Zucht der Familie und der Genoſſenſchaft aufgehend; daneben ſchon eine
bedeutende Klaſſendifferenzierung, eine zum Herrſchen und Lenken fähige Ariſtokratie;
patriarchaliſche Beziehungen zwiſchen ihr und den Hinterſaſſen, wie ſie in einfachen
Verhältniſſen unter täglicher Berührung der Beteiligten entſtehen; Treue, Gehorſam,
Hingebung auf der einen Seite, wie ſie aus dem Gefühle der berechtigten Lenkung, des
[293]Würdigung der Grundherrſchaft; ihre Auflöſung.
gewährten Schutzes, der unzweifelhaften Überlegenheit folgen; auf der anderen Seite
kräftigſtes Selbſtgefühl, Glauben an den eigenen Herrſcherberuf, aber auch menſchliche
Rückſicht, Anerkennung des ärmſten Grundholden als Glied der ſogenannten „familia“,
Schutz in Not, Beiſtand im Unglück; auch der gedrückte Hinterfaſſe hat ſeine Kate, ſein
Ackerland, ſein Familienleben, ſeine rechtlich fixierte Stelle in dem grund- und guts-
herrſchaftlichen Verbande.
Gewiß war dabei die Organiſation eine rohe und eine enge, ſtets mit einer
gewiſſen Härte für die Untergebenen verbunden; die herrſchaftliche Spitze vertrat, was
heute Staat, Provinz, Kreis, Gemeinde, Kirche und Schule, Armee, Gericht, Polizei,
Unternehmung, Arbeitgeber, Armenhaus, Unterſtützungsgenoſſenſchaft als getrennte Or-
gane verfolgen. Viele, vielleicht die meiſten Individuen wurden in engſtem Kreiſe für
die herrſchaftlichen Zwecke gebraucht, eine Anzahl verbraucht; höhere techniſche und
geiſtige Kultur war ſo nur für die an der Spitze Stehenden möglich. Aber immer war
die Grundherrſchaft und die Gutsherrſchaft für Millionen und Milliarden einfacher
Menſchen eine in gewiſſer Beziehung erziehende und ſie befriedigende ſociale Lebensform,
ein Ring in der Kette zu größeren und vollendeteren geſellſchaftlichen Formen, in mancher
Beziehung teilweiſe vollkommener als ein Teil unſerer heutigen Großunternehmungen
mit ihren freien, aber proletariſchen Arbeitern.
Die ſich vom 16.—19. Jahrhundert ausbildende Gutsherrſchaft hat ihre unteren
Glieder noch ſtärker gedrückt als die ältere Grundherrſchaft, weil ſie die Eigenwirtſchaft
der Leute beſchnitt, dieſelbe mehr und mehr zu einer geſteigerten Marktproduktion ver-
wendete; freilich blieben ſtets gewiſſe Schranken des Rechtes und des Herkommens, zu
denen dann die neuen der fürſtlichen Gewalt kamen; dieſe wollte im hörigen Bauern
den Soldaten, den Steuerzahler, den Unterthan ſchützen. Auch die Gutsherrſchaft wurde
nicht reine Unternehmung, ſondern blieb ein Mittelding zwiſchen ihr und patriarchaliſcher
Lokalverwaltung. Das hinderte aber nicht, daß die Mißſtimmung und gegenſeitige
Erbitterung zwiſchen Gutsherrſchaft und halbfreien Bauern von 1700—1800 ſo wuchs,
daß ſie auch die vorhandenen techniſch-wirtſchaftlichen Fortſchritte der Gutswirtſchaften
ſo hemmte, daß die Auflöſung dieſes Verhältniſſes von 1789—1860 in ganz Europa
zu der wichtigſten volkswirtſchaftlichen Reformfrage wurde.
Seit dem 13., noch mehr ſeit dem 15. Jahrhundert hatte an begünſtigten Stellen
dieſer Auflöſungsprozeß begonnen; in den meiſten Staaten iſt er erſt durch große
ſtaatliche Reformmaßregeln 1750—1870 durchgeführt worden: das Eigentum und die
Perſonen wurden frei, Gutsbeſitzer und Bauern mußten lernen, mit freiem Geſinde und
freien Arbeitern zu wirtſchaften, ſich im freien Getriebe der Volkswirtſchaft zu Groß-
und Kleinunternehmern umzubilden. Der ältere agrariſche Verfaſſungszuſtand war ſeit
Jahrhunderten um ſo ſchlimmer geworden, je mehr die Geldwirtſchaft vordrang, die
patriarchaliſchen Gefühle ſchwanden, der individualiſtiſche Erwerbstrieb bei Gutsherren
und Hinterſaſſen zunahm, die vor Jahrhunderten ausgebildeten Rechtsformen ſtarr und
unbildſam geworden, für die intenſivere Landwirtſchaft, für die Marktproduktion und
den neuen Verkehr ſich nicht mehr eigneten; der ſociale Druck hatte für die unteren
Klaſſen außerordentlich zugenommen, ohne den oberen entſprechende Vorteile zu gewähren.
Freilich klammerte ſich die ländliche Ariſtokratie noch immer an ihre alten Vorrechte
an, obwohl ſie längſt den Kriegsdienſt und die Lokalverwaltung nicht mehr beſorgte,
ihre ſocial-patriarchaliſchen Pflichten nicht mehr wie früher erfüllte, weil ſie vom Geiſte
des Erwerbstriebes ergriffen war. —
105. Die ältere Stadtwirtſchaft. Die Wirtſchaft des Dorfes ruhte auf
einer genoſſenſchaftlichen, die der Grundherrſchaft auf einer herrſchaftlichen Gebietsorgani-
ſation, beide hatten es zu gemeinſamen Wirtſchaftseinrichtungen, aber nicht zu einer
über den Einzelwirtſchaften ſtehenden ſelbſtändigen, aktiv führenden Korporationswirtſchaft
gebracht. Das gelang nun der komplizierteren Stadtwirtſchaft.
Die Entſtehung der Städte im Altertume und Mittelalter haben wir im vorigen
Kapitel (S. 257 u. 263) erörtert. Hier haben wir uns auf die Ausbildung der Stadt-
wirtſchaft in der zweitgenannten Epoche zu beſchränken. Man wird an dem Ausbildungs-
[294]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
prozeſſe der Einrichtungen und Veranſtaltungen, die wir unter dieſem Begriffe zuſammen-
faſſen, dreierlei unterſcheiden können: 1. die Markt- und Verkehrserſcheinungen und deren
Organiſation, wie ſie zwiſchen der Stadt und ihrer ländlichen und weiteren Umgebung
ſich ausbilden, einerlei ob beide ein politiſches Gemeinweſen ausmachen, unter derſelben
Adminiſtration ſtehen oder nicht, die Stadtgebietswirtſchaft oder Stadt-
wirtſchaft im weiteren Sinne, 2. die geſamte wirtſchaftliche Organiſation der Stadt
an ſich auf dem geographiſchen Boden der Stadtmarkung und auf dem rechtlichen der
ſtädtiſchen Korporations- und Verfaſſungsbildung, die Stadtwirtſchaft im engeren
Sinne, und 3. innerhalb dieſes geſellſchaftlichen Körpers den Stadthaushalt, die
wirtſchaftlich-finanzielle Seite des Stadtregiments. Iſt dieſer dritte, engſte Begriff der
Stadtwirtſchaft das, was uns hier am meiſten intereſſiert, ſo iſt er doch ohne einen
Blick auf die beiden anderen auch nicht verſtändlich.
Die Stadt erwächſt lokal auf einer meiſt die des Dorfes weſentlich übertreffenden
Gemarkung. Die raſch wachſende, in den Stadtmauern eingeſchloſſene Einwohnerſchaft
erhält durch gerichtliche und adminiſtrative Einrichtungen des Stadtherrn, durch Aus-
bildung ihrer älteren genoſſenſchaftlichen Gemeindeverfaſſung, durch das engere Zuſammen-
wohnen und die lebendigen neuen gemeinſamen Wirtſchaftsintereſſen des Marktes, der
Gewerbe und des Handels den Charakter einer komplizierten, aber doch ſehr eng ver-
bundenen Genoſſenſchaft. Aus einer oder mehreren Bauerſchaften, einer oder mehreren
biſchöflichen, königlichen oder klöſterlichen Grundherrſchaften, aus zugewanderten Kauf-
leuten und Handwerkern von weiterher, aus Ackerbauern und Tagelöhnern aus der
Umgegend wurde bald die einheitliche Bürgerſchaft, die auf engem Raume unter dem-
ſelben Stadtherrn, unter demſelben Stadtrechte, ſpäter unter dem aus ihrer Mitte
hervorgehenden Ausſchuſſe, dem Stadtrate, in ihrer mäßigen Größe, in ihrer Ab-
geſchloſſenheit, in ihrem Lokalegoismus, aber auch mit ihrem ſehr ſtarken Lokal-
patriotismus von einheitlichen Gefühlen, von unſchwer zu erkennenden ſtädtiſchen
Geſamtintereſſen beherrſcht iſt.
Der Rat führte den Kampf um die Abſchüttelung der Vormundſchaft des Biſchofs,
des Stadtherrn, ihrer Miniſterialen, um die Beſeitigung ihrer grundherrlichen und
territorialfürſtlichen Tendenzen; er ſtellte die Einheit der verſchiedenen Genoſſenſchaften
und Gruppen, der freien und unfreien Elemente in der Stadt her. Er nahm dem
Stadtherrn und ſeinen Beamten die Thätigkeit für Markt und Münze, für gewerbliche
Hebung, für Handelseinrichtungen aus der Hand und reinigte die ſtädtiſche Verwaltung
von den fiskaliſchen, fürſtlichen und ſonſtigen Nebenzwecken und Mißbräuchen, welche die
ſelbſtändige wirtſchaftliche Blüte der Stadt hinderten. Der Rat wußte über die Stadt
hinaus durch Meilenrecht, Straßenzwang, Verbot des Landhandwerkes, durch Abmachungen
mit den umliegenden Grundherren und Dörfern über Marktbeſuch die Stadt zum wirt-
ſchaftlichen Centrum eines Gebietes zu machen. Dieſe wirtſchaftliche Politik macht ihn
trotz aller Kämpfe zwiſchen Patriciat und Zünften, Groß- und Kleinbürgern zum un-
bedingten Herrn in der Stadt, zum Repräſentanten der Bürgerſchaft und des Stadt-
gebietes, giebt der Stadt gegen König und Fürſten die durch Kämpfe aller Art, durch
Friedensſchlüſſe und teuere Privilegien erſtrittene „Autonomie“. Durch ihn erhält die
Stadt die handlungsfähige Spitze, welche dem Dorfe gefehlt hatte, welche die Genoſſen-
ſchaft nur um den Preis der Unfreiheit erhalten hatte; ſeine Thätigkeit erhebt die Stadt
zur öffentlichrechtlichen Korporation, welche im Stadtſiegel das Symbol ihrer rechtlichen
Perſönlichkeit, in der Stadtkaſſe den Ausdruck des ſelbſtändigen Korporationshaushaltes
bekommt.
Im Stadtrate ſitzen die Spitzen des ſtädtiſchen Patriciats, die erſten Kauf- und
Geſchäftsleute, bald auch die angeſehenſten Zunftmeiſter; die perſönliche Verknüpfung
ihrer Geſchäftsintereſſen und Geſchäftskenntniſſe und ihrer politiſch-adminiſtrativen
Schulung mit ihrem ſtarken Stadtpatriotismus und ihrer vielfach vorhandenen Ehren-
haftigkeit iſt die pſychologiſche Grundlage der Blüte der italieniſchen, deutſchen, fran-
zöſiſchen, niederländiſchen großen Städte vom 12.—16. Jahrhundert. In Venedig
und Genua, in Köln und Lübeck iſt das ſo wie im Amſterdam des 17. Jahrhunderts.
[295]Die Stadtwirtſchaft; der Rat und die Bürgerſchaft.
Die Bürgerſchaft enthält in den Zeiten des raſchen Stadtwachstums viele neue
Elemente; ſie iſt in ſich keineswegs homogen; aber die Stadtmauern, das Stadtrecht
und die Stadtfreiheit, die beſonderen Privilegien ſchaffen doch zwiſchen den meiſt die
Zahl von 500—2000 nicht überſteigenden Familien einen engen Zuſammenhalt. Die
mittelalterliche Stadtfreiheit giebt dem Stadtbürger viele koſtbare Rechte, die der Grund-
hörige, ja teilweiſe auch der Freie des platten Landes entbehrte: ſo vor allem die
perſönliche Freiheit und die gratia emendi et vendendi, den freien Verkehr auf dem
ſtädtiſchen Markte, das Recht, Handel und Gewerbe zu treiben, die dem Landbewohner
ganz oder teilweiſe verboten ſind, ſowie das Recht, die Hülfe der Stadt für alle Ge-
ſchäfte außerhalb der Stadt in Anſpruch zu nehmen, ferner das Vorrecht auf den
Gerichtsſtand in der Stadt, die Befreiung von mancherlei Abgaben, das Vorrecht auf
Zollfreiheiten da und dort. Jede Stadt hatte ſo ihre beſonderen Rechte, und ſchon
deshalb konnte damals von einer allgemeinen Freizügigkeit der Einwohner eines Landes
in Bezug auf die einzelnen Städte nicht eigentlich die Rede ſein. Bürger der Stadt
wurde urſprünglich, wer eine Hufe in der Stadt erwarb, Jahr und Tag hier eigenen
Rauch hatte und von der Stadt d. h. dem Rate aufgenommen war. Als es dann beim
Emporblühen der Stadt ſich darum handelte, neben den beſitzenden Altbürgern raſch
eine größere Menge Händler, Handwerker und Arbeitskräfte von nah und fern heran-
zuziehen, als man den Hörigen, der Jahr und Tag in der Stadt unreklamiert geſeſſen,
nicht mehr auslieferte, ſtellte ſich neben die Bürgergemeinde die ſteigende Zahl von
Schutzgenoſſen, Bei- oder Hinterfaſſen, die ſpäteren Kleinbürger. Ihre Rechtsſtellung
war eine ſchwankende, vielfach eine demütigende; ſie ſelbſt ſuchen natürlich ins volle
Bürgerrecht mit ſeinem Einfluſſe, ſeinen Benefizien einzudringen; nach der Ausbildung
des Zunftweſens verbindet ſich mit der Aufnahme in die Zunft in vielen Städten die
Aufnahme ins Bürgerrecht; aber wenn der Aufzunehmende jetzt nicht mehr Haus und
Hufe als Eigentum nachweiſen muß, ſo fordert man von ihm nicht unerhebliche Ein-
kaufsgelder, den Nachweis eines Vermögens, des Meiſterrechtes und Stellung von Bürg-
ſchaft für ſein Verhalten, für ſein längeres Verbleiben in der Stadt. Und ſelbſt für
Städte mit Zunftherrſchaft, wie Baſel, hat man (Geering) neuerdings nachgewieſen, daß
die meiſten Zunftmeiſter zuerſt Jahre lang nur Zunftgenoſſen, dann erſt durch Einkauf,
durch geleiſtete Kriegsreiſen ꝛc. Bürger wurden. Noch ſpäter ſchloß man gar, wie in
Baſel gegen 1700, das Burgrecht; alle weiter etwa Zuziehenden waren und blieben
Beiſaſſen. Teilweiſe duldete man die Neuzuziehenden wohl gar nur als Fremde, um
ſie jederzeit beliebig ausweiſen zu können, wie das Herkner für Mühlhauſen nachwies.
Kurz, im ganzen haben die Städte mehr als nach feſtſtehenden liberalen Grundſätzen,
nach ihrem jeweiligen, richtig oder falſch verſtandenen Intereſſe die Aufnahme neuer
Bürger oder Beiſaſſen behandelt, die Zulaſſung in Zeiten des Aufſchwunges erleichtert,
ſonſt aber meiſt erſchwert, obwohl eine rechtliche Verpflichtung zur Armenunterſtützung
damals noch nicht beſtand, die Armenpflege noch überwiegend der Kirche und den Klöſtern
überlaſſen wurde.
Das Recht des freien Wiederaustrittes aus der Stadt iſt in einigen ſtädtiſchen
Stiftungsbriefen, um Anſiedler zu locken, ausgeſprochen; den Beſitzloſen hat man wohl
ſtets, zumal wenn es an Arbeitskräften nicht mangelte, ziehen laſſen. Der wohlhabende
Vollbürger aber wurde meiſt nicht ſo ohne weiteres entlaſſen; er mußte dem Rate
feierlich aufſagen, erhebliche Abzugsſteuern bezahlen, oft bis zu 10 % ſeines Vermögens,
ſchwören, für die Schulden der Stadt zu haften und eine Anzahl Jahre die Steuern
der Stadt noch zu zahlen. Das freie Eherecht für die Töchter der Bürger beſtand im
Gegenſatz zu Miniſterialen und Hörigen darin, daß kein Herr ſie beliebig verheiraten
durfte; aber im übrigen wurde z. B. der Wienerin durch das Stadtrecht nur erlaubt,
nubere cui velit, dummodo nubat utiliter civitati. Außerdem galt der Rechtsſatz, daß
an ſich durch Erbſchaft nichts aus der Stadt heraus dürfe, der freilich, durch Verträge
ermäßigt, in Erbſchaftsſteuer umgewandelt wurde. Noch Fiſcher ſagt in ſeinem Polizei-
recht 1782, jeder Stadt und jedem Gutsherrn komme das Abzugsrecht, d. h. ein Teil
des aus der Gemeinde herausgehenden Nachlaſſes zu.
[296]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Wie das Stadtgebiet eine Inſel beſſeren Rechtes, ſo iſt die Bürgerſchaft eine
privilegierte, enggeſchloſſene, mit dem Stadtgebiete und den Stadtintereſſen verwachſene
Genoſſenſchaft von Voll- und Halbbürgern, die ein gemeinſames Vermögen hat, ſich in
gewiſſem Sinne als Erwerbsgeſellſchaft fühlt, durch ihre Organe, hauptſächlich durch
den Rat, die mannigfachſten Einrichtungen im wirtſchaftlichen Geſamtintereſſe der Stadt
ſchafft. Blicken wir auf ſie noch einen Moment, und konſtatieren wir damit zugleich die
Ausbildung der Stadtwirtſchaft im obigen weiteren und engeren Sinne.
Das wirtſchaftliche Gedeihen der Stadt hängt von einer gewiſſen Herrſchaft über
das umgebende Land und von zahlreichen ſpeciellen Abmachungen über Abſatz und
Handel in der weiteren Umgebung ab. Nicht die Salzjunker in Lüneburg, nicht die
Brauer Hamburgs, nicht die Handwerksmeiſter in allen Städten ſchaffen den nötigen
Abſatz, ſondern ſtets iſt es ganz oder teilweiſe der Rat, der, wie der Ausſchuß eines
großen Stadtkartells, für die Abſatzintereſſen bemüht erſcheint. Freilich leben zumal in
den kleinen Städten noch lange die meiſten Bürger von ihrer Ackerwirtſchaft, haben
nicht viel zu verkaufen, auch nicht ſo ſehr viel einzukaufen. Aber das ändert ſich eben
in dem Maße, wie die Stadt mehr wird als ein Dorf. Der Jahrmarkt, auf dem
fremde Hauſierer und Händler, ſtädtiſche Handwerker und Krämer verkaufen, wird zum
Wochenmarkte, wo der Bauer der Umgegend Getreide, Vieh, Hühner und Eier verkauft,
ſein Bier, ſein Tuch, ſeine Werkzeuge einkauft. So entſteht die Stadtgebietswirtſchaft,
die mit einem Netze enger wirtſchaftspolitiſcher Maſchen die nächſte ländliche Umgebung
überzieht und beherrſcht, mit ihren weiteren handelspolitiſchen Maßnahmen, wenn es
gut geht, auf die Umgebung bis zu 10 und 50 Meilen ſich ausdehnt.
Der Rat erwirbt das Münzrecht, ſucht ein leidliches Geldweſen zu ſchaffen, die
Stadt zum Mittelpunkte einer größeren einheitlichen Münze zu machen, ſie damit zu
fördern, aus der Naturalwirtſchaft herauszuheben, ihre Überlegenheit über die Umgebung
zu ſteigern. Er ordnet den Wochenmarkt, ſtellt eine öffentliche Wage auf, Marktbeamte
an, erläßt eine kluge Wochenmarkts- und Fürkaufsgeſetzgebung. Der örtliche Verkehr,
der ſich zwiſchen Bauer und Bürger ergiebt, ſoll ohne Zwiſchenhand auf dem Markte
ſich abſpielen, der Bauer ſoll nicht vor den Thoren an Fremde, an Händler, ſondern
allein oder in erſter Linie auf dem Wochenmarkte an den Bürger verkaufen; oft iſt dem
Landmanne verboten, ſeine Ware anders wohin als in die nächſte Stadt zu bringen;
das Handwerk hatte ſeinen goldenen Boden an dieſem ſicheren Abſatz; ebenſo die ſtädtiſche
Braunahrung, der ſtädtiſche Kaufmann; ihre Kundſchaft war ihnen geſichert. Die Stadt-
wirtſchaft macht aus der tauſchloſen Eigenproduktion die Produktion für perſönlich
bekannte Kunden. Für den Kaufmann werden Kaufhäuſer und Markthallen gebaut.
Der Marktzoll wird für die Bürger vielfach aufgehoben, für die Nichtbürger beibehalten.
Die Pflege des Jahrmarktes ſoll Gäſte von weiter her locken. Durch Straßen- und
Stapelrecht zwingt man den Verkehr in die Stadt hinein, durch die komplizierte Ord-
nung des Gaſt- und Fremdenrechtes läßt man von fremder Konkurrenz gerade ſo viel zu,
wie erſprießlich iſt, ſchließt aber den fremden Kaufmann, außer während des Jahrmarktes,
vom Detailverkaufe aus, zwingt ihn, an den Stadtbürger zu verkaufen, damit dieſer ſtets
den lokalen Abſatz, die Vermittelung zwiſchen Oſt und Weſt, Süd und Nord behalte.
Jeden Moment verbietet man je nach den Stadtintereſſen die Aus- und Einfuhr dieſer
und jener Waren, ſtets die Edelmetallausfuhr, oft für Monate allen Verkehr mit dieſer
oder jener Stadt. Die ganze Zunftverfaſſung war eine Konkurrenzregulierung im In-
tereſſe der örtlichen Gewerbetreibenden, des lokalen Marktes; ſie hatte günſtige Folgen,
wo ſie vom Rate im Geſamtintereſſe der Stadt geleitet und je nach den wechſelnden
Verhältniſſen umgebildet wurde. Wenn es im Intereſſe der maßgebenden Handels- und
gewerblichen Kreiſe nötig ſchien, zerſtörte man eine aufblühende Vorſtadt, die den Bürgern
das Brot „vor dem Munde wegzunehmen“ drohte, wie man mit benachbarten Kon-
kurrenzorten Händel anfing, ſie belagerte, womöglich aus Handelsneid zerſtörte.
All’ dieſe energiſche Stadtwirtſchaftspolitik war nicht möglich ohne erhebliche
wirtſchaftliche Mittel in den Händen des Stadtrates; ſehen wir, woher ſie ſtammten,
wie ſie geſteigert wurden, wozu ſie dienten.
[297]Die ſtädtiſchen Wirtſchaftsinſtitutionen und der ſtädtiſche Haushalt.
„Der Stadt gemein Gut“ beſtand urſprünglich wie im Dorfe, aus Allmenden,
Weiden, Wäldern, Wegen, Fiſchwaſſern, öffentlichen Plätzen. Teilweiſe hatte in älterer
Zeit der Stadtherr die Hand darauf gelegt; er hatte urſprünglich auch teilweiſe die
Stadtmauern, das Kaufhaus und Ähnliches gebaut; aber ſpäter ſehen wir dieſen großen,
alles ſtädtiſche Leben beherrſchenden Grundbeſitz, wie die Allmende, die Mauern, die
Thore, das Kaufhaus, meiſt auch die Kirchen in der Hand der Stadt oder des Rates
ſelbſt. Der Rat muß jetzt auch für die Verteidigung durch Wall und Graben, durch
die Wachttürme an der Landwehr ſorgen und nimmt dazu die Geld- und perſönlichen
Kräfte der Stadt in Anſpruch. Wie im Altertume iſt der „Stadt Bau“ lange die
wichtigſte Ausgabe.
Zunächſt hatte der Stadtrat in den alten Gewohnheiten der örtlichen Genoſſen-
ſchaft die beſte Stütze für eine billige Verwaltung. Wie das Patriciat im Stadtrate
ohne Bezahlung der Stadt diente, ſo mußte der Bürger Kriegsreiſen und Nachtwachen
thun, ſeinen Harniſch, die Reichen ihre Pferde für den Kriegsfall halten, bei Feuers-
und Waſſersnot unentgeltliche Hülfe leiſten, auch Baudienſte für Unterhalt der Straßen,
der Mauern thun, in allen möglichen lokalen Ämtern ohne Entſchädigung dienen. Und
wenn da und dort ſchon Gebühren und Entſchädigungen bezahlt wurden, wenn die Dienſte,
je komplizierter die Stadtverwaltung wurde, deſto häufiger als nicht ausreichend, als
unzukömmlich ſich erwieſen, die ganze, in der Stadt weiter als im Dorfe ausgebildete,
unbezahlte perſönliche Naturaldienſtverfaſſung hatte das Gute, in jedem Bürger die
Einſicht in die Notwendigkeiten des Gemeindelebens und den Gemeinſinn zu ſteigern.
Und während dieſes billige Syſtem nun noch in voller Wirkſamkeit war, ermög-
lichte der zunächſt auf die Städte beſchränkte Geld- und Kreditverkehr eine neue Art, die
Geſamtintereſſen mächtig zu fördern, Diener und Kriegsleute zu beſolden. Beiträge an
Naturalien und Geld für den König oder Stadtherrn, wohl hauptſächlich als Erſatz für
perſönliche, beſonders für Kriegsdienſte, beſtanden in den deutſchen Städten, ehe die
ſtädtiſchen Räte dieſe Abgaben dann im 12. und 13. Jahrhundert für ſich erhoben und
zu ſtädtiſchen Vermögensſteuern weiterbildeten. Als dieſe nicht mehr ausreichten, kamen
die Ungelder auf Wein, Bier und Mehl, die Gebühren für Benutzung der ſtädtiſchen
Einrichtungen hinzu, verdrängten teilweiſe die Vermögensſteuern, die nur in Jahren
außerordentlichen Bedürfniſſes noch erhoben wurden. Und ſo ſehr mit dem Durchdringen
dieſer Geldſteuerwirtſchaft die Städte leiſtungsfähiger wurden, die Ausgaben von Jahr
zu Jahr waren doch ſo ungleichmäßig, daß nur die Städte, deren Anſehen groß genug
war, um Schulden machen zu können, ſich den Weg zu immer höherer Machtſtellung
offen hielten. Vom 13. Jahrhundert an bis ins 16. entwickelt ſich dieſer ſtädtiſche
Kredit ſo, daß jeder in der Stadt, der überflüſſiges Kapital hat, es der Stadt anbietet,
die es gegen Leibrenten oder Ewigzins annimmt, damit große Barvorräte ſammelt, oft
ſolche, die eine Jahreseinnahme überſteigen. Mit dieſen großen Barvorräten wurde der
Rat aber auch zu großen politiſchen Aktionen, Kriegen, Bündniſſen, Bauten, zum Er-
werbe von Dörfern und Herrſchaften in ganz anderer Weiſe als früher befähigt.
Die früher mäßige Vermögensverwaltung ſteigerte ſich dadurch da und dort außer-
ordentlich: der Beſitz der Dörfer und Herrſchaften, die große Kreditverwaltung, der
ſtädtiſche Bau-, Ziegel-, Kalkhof mit ſeinen Pferden und Perſonal, von wo aus die
Errichtung und Unterhaltung der Kirchen, Schulen, Rathäuſer, Straßen, Brücken,
Brunnen, Quais, Kaufhäuſer, Mühlen, Kranken- und Schlachthäuſer beſorgt wurde,
gaben ſchon genug zu thun. Und dazu kamen nun noch die ſtädtiſchen Getreideſpeicher
und Zeughäuſer, die Beſchaffung von Kanonen und Waffen. Wenn es nötig ſchien,
nahm der Rat den Salz- und den Weinverkauf in die Hand. Kurz, die Ausdehnung
der wirtſchaftlichen Thätigkeit des Rates war eine ſehr große.
Natürlich wuchſen auch entſprechend die Mißbräuche, die Klagen der Bürgerſchaft
über teure Kriegsreiſen und Geſandtſchaften, über die Schmauſereien und die Freigebig-
keit des Rates, der wertvolle Geſchenke an Freunde und Mitglieder machte, über die
Steuern und das Schuldenmachen, über ſchlechte Verwaltung des Getreideſpeichers, über
falſche Maßnahmen der Wirtſchaftspolitik. Die Verſchuldung der Stadt war ſeit dem
[298]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
14. und 15. Jahrhundert vielfach ſchon eine drückende. Die Vorwürfe, daß die Stadträte
und die Zunftmeiſter ihre Taſchen füllen, hören nicht auf. Aber im ganzen überwiegt
der Gemeinſinn und das Geſamtintereſſe ſo ſtark, iſt die Ehrlichkeit ſo weit vorhanden,
daß der Rat nicht nur eine weitgehende Korporationswirtſchaft führen konnte, ſondern
daß er auch in einer Weiſe, die wir mit unſeren Vorſtellungen über Freiheit der Perſon,
der Familie und der privaten Geſchäfte ganz unverträglich finden würden, alles wirt-
ſchaftliche Leben und Treiben in der Stadt durch Markt- und Polizei-, durch Zunft-
und Gildeordnungen, durch Luxus- und Kleiderordnungen, durch Preistaxen und Waren-
ſchau im Geſamtintereſſe zu leiten und zu regulieren vermochte. Nur wenn man ſich
zugleich der kleinen und einfachen Verhältniſſe erinnert, um die es ſich doch damals
handelte, wenn man bedenkt, wie viel geringer der Individualismus und der Erwerbs-
trieb, der Gegenſatz der Klaſſen entwickelt, wie ſtark der kirchliche und Gemeingeiſt war,
begreift man die damalige ſtädtiſche Wirtſchafts- und Finanzorganiſation. In gewiſſer
Weiſe hat auch die heutige Orts- und Einwohnergemeinde noch einen ähnlichen Charakter,
obwohl ſie in den Großſtädten viel mehr Menſchen umfaßt, ihre einzelnen Elemente viel
loſer und ſelbſtändiger nebeneinander ſtehen, die Funktionen des Stadtrates teilweiſe
auf Staat, Provinz, Großunternehmung, Handelskammern, Kartelle übergegangen ſind.
Daß alle Städte mit dieſer alten ſtadtwirtſchaftlichen Verfaſſung geblüht hätten,
iſt natürlich eine falſche Vorſtellung. Nur die beſtverwalteten, günſtig gelegenen haben
zeitweiſe einen großen wirtſchaftlichen Aufſchwung und eine längere Epoche der Blüte
erlebt. Die Zeit dieſer Blüte fällt in die Epoche, da ein lokaler Kundenverkehr den
volkswirtſchaftlichen Fortſchritt der Zeit über Eigenwirtſchaft und rein agrariſche Zuſtände
hinaus darſtellte, da große weitere Fortſchritte techniſch und verkehrsmäßig nicht möglich
waren, da die Grundherrſchaft und die Kirche, letztere als Pflegerin mancher Zweige des
ſittlichen Gemeinſchaftslebens, ſchon ihre Blütezeit überſchritten hatten, der moderne Staat
mit ſeinen hohen und weiter ausgreifenden Funktionen erſt in der Bildung begriffen war.
Dieſe Blüte war meiſt erkauft durch einen harten Egoismus nach außen, durch
eine gewiſſe Ausbeutung des platten Landes, oft auch der kleinen Nachbarſtädte; ſie
endete vielfach nur zu raſch in der Verknöcherung der Stadtverfaſſung, in einer Oligarchie
des Patriciates und der Zunftmeiſter, in einem engherzigen Lokalegoismus, der die
großen Aufgaben einer neuen Zeit nicht verſtand, in einem anarchiſchen ſchädlichen
Kampfe zwiſchen Stadt und Land, Hauptſtadt und Landſtadt, zwiſchen Handels- und
Agrarintereſſen. Wo die Landesherrſchaft ſich ausbildete und mit ihren Grenzen und
Einrichtungen bis an die Thore der Stadt vorrückte, da waren die Städte (wie z. B.
Regensburg und Augsburg von 1600—1800) zum gänzlichen wirtſchaftlichen Stillſtand
für Generationen verdammt. Das neue wirtſchaftliche und gewerbliche Leben mußte
ſeit dem 16.—18. Jahrhundert vielfach außerhalb der alten Städte, auf dem Lande
oder in den fürſtlichen Reſidenzen ſich anſetzen. Die Sonderrechte der Städte, ihre
Privilegien und Monopole waren ein Anachronismus geworden, ſeit nicht mehr die
abſichtliche Städte- und Marktſchaffung das erſte Bedürfnis des volkswirtſchaftlichen
Fortſchrittes waren. Erſt als Glieder des Staates, unter dem gemeinen gleichen Rechte
desſelben, als vom Staate beherrſchte und durch ſtaatliches Geſetz geordnete Selbſt-
verwaltungskörper konnten die Städte in den letzten zwei Jahrhunderten einer neuen
wirtſchaftlichen und finanziellen Blüte entgegen gehen. Die Territorien und Staaten
aber kamen empor, indem ſie analoge Inſtitutionen, aber angewandt auf das Wirt-
ſchaftsleben größerer Gebiete, einführten, das Vorbild der ſtädtiſchen Wirtſchaftspolitik
nachahmten.
106. Die Ausbildung der Territorial- und Volkswirtſchaft und
des Staatshaushaltes. Dorf, Grundherrſchaft und Stadt waren Gebietskörper-
ſchaften mäßigen Umfanges, mit einer Zahl Familien und Menſchen, die ſich perſönlich
meiſt kannten, deren Nachbarſchafts- und ſympathiſche Beziehungen auch, ſoweit eine
Klaſſen- und Beſitzdifferenzierung, eine Ausbildung des individuellen egoiſtiſchen Er-
werbstriebes begonnen hatte, die Entſtehung und Erhaltung gemeinſamer Wirtſchafts-
einrichtungen erleichtert hatten.
[299]Würdigung der Stadtwirtſchaft. Entſtehung der Territorial- und Volkswirtſchaft.
Schon in den etwas größeren Stadtſtaaten des Altertumes, dann in den Klein-
und Territorialſtaaten der neueren Zeit bis zu 30 und 50000 Geviertkilometern, bis
zu 1—500000 Seelen, vollends in den neueren Großſtaaten mit ihren weiten Flächen
und Millionen Menſchen, ihren verſchiedenen Landesteilen, kennen ſich die Menſchen
nicht mehr alle perſönlich; die Gegenden, die Klaſſen, die einzelnen Familien und
vollends die Geſchäfte und Geſchäftsgruppen ſtehen ſich mit ihren wirtſchaftlichen Sonder-
intereſſen ganz anders gegenüber; der ſelbſtſüchtige Erwerbstrieb ſpielt in der arbeits-
teiligen Geſellſchaft nun eine ganz andere Rolle. Und wenn auch bald das lebendige,
beſonders zu gewiſſer Zeit die Maſſen ſtark beherrſchende Nationalgefühl, die gemeinſame
Litteratur und Geſchichte, der ſteigende materielle und geiſtige Verkehr wieder neue
ſympathiſche Bindemittel erzeugen, wenn die Einſicht in den Wert der gemeinſamen
Staats-, Rechts- und Wirtſchaftseinrichtungen nach und nach wächſt, ſo ſind die Voraus-
ſetzungen für das gemeinſame wirtſchaftliche Leben in dieſen viel größeren ſocialen Körpern
doch ganz andere, kompliziertere, ſchwieriger herzuſtellende. Die Macht- und Zwangs-
organiſation der Centralgewalt muß daher viel größer und ſtärker ſein, zumal wo kräftige
Gemeingefühle und die Einſicht in die Geſamtintereſſen fehlen. Und doch muß den ein-
zelnen Familien, Individuen, Unternehmungen, den untergeordneten Gebietskörperſchaften
ein gewiſſer Spielraum freier Bethätigung eingeräumt werden, ſonſt verſiegt die friſche
Spannkraft, die Freude am eigenen Thun und Vorwärtskommen, alles Selbſtgefühl.
Mag daraus Selbſtſucht, Hader, Intereſſenkonflikt und Kampf aller Art entſtehen, das
muß in Kauf genommen, durch gewiſſe feſte Rechtsſchranken gebändigt, durch gemeinſame
öffentliche Einrichtungen überwunden werden. Die getrennten, verſelbſtändigten Elemente
müſſen in höherer Form wieder vereinigt werden. Aber das iſt nicht leicht, iſt nur
durch ſchwerfällige, leicht falſch wirkende Inſtitutionen möglich. Jedenfalls aber ſind
auf die einfachen alten genoſſenſchaftlichen Sympathien wohl kleine ſociale Körper von
Dutzenden und Hunderten, aber nie ſolche von Millionen zu begründen. Die Wirtſchaft
der Staaten muß eine andere viel ſtärkere Organiſation, andere gröbere Züge an ſich
tragen als die der älteren kleinen ſocialen Gebilde; ſie muß ganz anders auf Macht
und Zwang ſich ſtützen können.
In der Ausbildung dieſer großen wirtſchaftlichen Organiſation der neuen Zeit
werden wir unterſcheiden können: 1. die territoriale Zeit, wobei es ſich um Kleinſtaaten
handelt; ſie reicht für faſt ganz Europa bis ins 16. und 17. Jahrhundert, für einen
Teil Deutſchlands, für ganz Italien und die Schweiz bis über die Mitte unſeres Jahr-
hunderts; 2. die Bildung der großen, meiſt nationalen Staaten und Volkswirtſchaften,
die vom 16.—19. Jahrhundert hauptſächlich durch den aufgeklärten Despotismus und
ſeine merkantiliſtiſchen Maßregeln hergeſtellt werden; 3. die Vollendung dieſes Prozeſſes
wird von den konſtitutionellen und abſoluten Staatsgewalten unſeres Jahrhunderts über-
nommen, wobei es ſich darum handelt, das Übermaß centraliſtiſcher Leitung des Wirt-
ſchaftslebens zu beſeitigen, Gemeinde, Unternehmung und Individuum wieder freieren
Spielraum einzuräumen, die nationale, wirtſchaftliche Abſchließung nach außen zu
ermäßigen oder zu beſeitigen; es iſt eine Bewegung, die 1783—1840 beginnt, von da
bis 1875 ſiegt, teilweiſe bereits übers Ziel hinausſchießt. Seither hat nun eine neue,
vierte Epoche begonnen: die Weltwirtſchaft greift immer mächtiger in die einzelnen
Volkswirtſchaften ein; die längſt vorhandenen Tendenzen nach Welthandelsherrſchaft und
Kolonialerwerbung ſchaffen einige weit über die Größe der bisherigen Nationalſtaaten
hinausgehende wirtſchaftliche Weltreiche, in denen neue Abſchließungstendenzen entſtehen.
Innerhalb der Staaten machen ſich die centralen Wirtſchaftsaufgaben wieder mehr
geltend, die zugeſpitzten Klaſſengegenſätze und -kämpfe machen eine Wirtſchafts- und
Socialpolitik nötig, welche eine Verſöhnung der merkantiliſtiſch-centraliſtiſchen und der
individualiſtiſch-liberalen Tendenzen darſtellt; das Anwachſen der centraliſierten Groß-
betriebe und Kartelle bedeutet techniſchen und organiſatoriſchen wirtſchaftlichen Fortſchritt,
ſteigert aber die Kämpfe und bedroht teilweiſe die Staatsgewalt und die übrige Geſell-
ſchaft mit Abhängigkeit; es erwachſen aus all’ dem neue Formen des volkswirtſchaftlichen,
weltwirtſchaftlichen und finanziellen Lebens.
[300]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Wir kommen auf dieſe neueſten Tendenzen weiterhin noch öfter zu ſprechen. Über
die territoriale Volkswirtſchaft müſſen wir uns, da der Raum gebricht, mit wenigen
Worten begnügen. Was wir allein hier etwas darlegen können, iſt die Entſtehung der
Volkswirtſchaft in der merkantiliſtiſchen und ihre Ausbildung in der liberalen Zeit,
ſowie dann die Entſtehung des Staatshaushaltes überhaupt und ſpeciell in dieſer Epoche.
Die Territorien und Kleinſtaaten, die als ganz oder halb ſelbſtändige wirtſchaft-
liche Körper, als kriegeriſche Mächte, als finanzielle Organiſationen vom 12.—19. Jahr-
hundert beſtanden, haben im einzelnen mannigfachen Charakter. Einzelne ſind wirt-
ſchaftlich nicht viel anderes als große Grundherrſchaften, andere wieder als erweiterte
Stadtwirtſchaften; noch andere ſtellen gleichſam einen Bundesvertrag zwiſchen einem
Domänen beſitzenden Fürſtentume und den ſtändiſchen Korporationen von Adel und
Städten eines Gebietes dar. Ihre volle Ausbildung erhalten ſie in Venedig und Genua,
ſowie in den Niederlanden durch eine kaufmänniſche, im Kirchenſtaate durch eine geiſtliche
Ariſtokratie, in den anderen italieniſchen Gebieten durch kunſtliebende, halb verbreche-
riſche, halb militäriſche Despoten, im übrigen Europa durch ſtändiſch gebundene, aber
im 17. und 18. Jahrhundert meiſt ſchon auf Heer und Beamtentum ſich ſtützende
abſolute Fürſtenhäuſer. Die militäriſche Gewalt, der Handel, die Förderung von Kunſt,
Technik, Verkehr, die ſtärker ausgebildete Geldwirtſchaft, die etwas größere Kapitalbildung,
die Ausbildung des öffentlichen Dienſtes, der Steuern und einer centraliſtiſchen, weit-
ausgreifenden Wirtſchaftspolitik, das ſind die Kräfte und Elemente, wodurch die gut
verwalteten unter dieſen Territorien emporkommen, wodurch die kräftigſten unter ihnen
die Grundlage und Keime für wirkliche Staaten und nationale Volkswirtſchaften ſchaffen.
Meiſt aber iſt das Gebiet nicht groß, nicht abgerundet genug; die Regierung wird nicht
recht Herr über Städte und Zünfte, über Grund- und Gutsherrſchaften; die alten
Wirtſchafts- und Betriebsformen erhalten ſich, hemmen jetzt aber noch mehr als früher
den Fortſchritt. Die Naturalwirtſchaft bleibt auf dem Lande beſtehen, der freie innere
Markt fehlt noch vielfach; nach außen ſind die meiſten dieſer Territorien zu ſchwach.
Erſt den großen ſtaatlichen Gewalten, wie ſie vom 16.—18. Jahrhundert an von den
Tudors, den Oraniern, den großen franzöſiſchen Königen und Miniſtern, den Hohen-
zollern und Habsburgern, in Rußland von Peter d. Gr. geſchaffen wurden, gelingt
es, große Volkswirtſchaften und Staatshaushalte herzuſtellen. Und beides fällt für die
damals Lebenden ſo zuſammen, daß man das Ergebnis dieſes einheitlichen Prozeſſes
Staatswirtſchaft, économie politique, nannte. Der Verſuch, ſie theoretiſch zu faſſen,
hat die Anfänge unſerer fachwiſſenſchaftlichen Litteratur erzeugt.
Ohne wiederholen zu wollen, was ich zur Erklärung dieſer Litteratur (S. 84—88)
ſagte, möchte ich hier die Volkswirtſchafts- und Staatsbildung kurz ſo charakteriſieren.
Ihr Princip war, die Selbſtändigkeit des nationalen Staates und der Volks-
wirtſchaft zu erringen und die lokalen, ſtändiſch-egoiſtiſchen Wirtſchaftsordnungen der
Provinzen, der Stände, der Kirche, der Städte und Grundherrſchaften, der Zünfte und
Korporationen zu brechen und umzuwandeln in dienende Glieder der einheitlichen, von
der Regierung geleiteten nationalen Volkswirtſchaft. Alle divergierenden Elemente ſollten
membra unius capitis werden, viribus unitis die gemeinſamen Laſten tragen; das
Staatsgebiet ſollte richtig abgerundet, ausgedehnt, mit den richtigen Außenplätzen,
Handelsſtationen, Kolonien, Machtſphären und Einflüſſen über andere Märkte verſehen
werden; nach innen ein freier Markt, nach außen eine geſchloſſene Volkswirtſchaft, die
nur zuließ, was an Fremden und Waren ihr paßte, nur hinausließ, was ſie als
Ganzes mit Vorteil entbehren, womit ſie Gewinn zu machen, Geld hereinzubringen
hoffen konnte.
Derartiges war nur möglich, wenn eine feſte Staatsgewalt ſich auf eine große
ſtaatliche Beamtenſchaft, auf Heer und Kriegsmarine ſtützen konnte. Dazu gehörte viel
Geld, eine ganz neue Ausbildung der Steuern, der ſtaatlichen Regalien und wirtſchaft-
lichen Vorrechte, ein ausgebildetes Landeszollweſen an der Grenze, ein gut ausgenutztes
ſtaatliches Münzweſen, bald auch ſtaatliche oder halbſtaatliche Banken, große Handels-,
Kolonial-, Verſicherungscompagnien, die ganz oder halb von der Staatsregierung ab-
[301]Die merkantiliſtiſche und die liberale Staatspraxis.
hängig waren; auch ein ausgedehnter Staatsbeſitz, große ſtaatliche gewerbliche Betriebe,
Bergwerke und Manufakturen waren erwünſcht. Mit Steuern und Zöllen, mit Gewerbe-
inſpektoren und gewerblichen Reglements, mit Markt-, Wege-, Waſſer-, Forſt- und
anderen Ordnungen wurde das ganze wirtſchaftliche innere Getriebe beherrſcht, reguliert,
die Produktion und der Verkehr, die Märkte und die Aus- und Einfuhr im Gange
gehalten. Nach außen ſuchte man oft gewaltthätig, oft durch Betrug Abſatz, Einfluß,
unter Umſtänden die Kredit- und Handelsabhängigkeit der Nachbarn zu erlangen; durch
Schiffahrtsgeſetze förderte man die Küſtenſchiffahrt und die Handelsmarine, durch die
ſtaatlichen Flotten, auf welchen teilweiſe auch der private Handel ſtattfand, beherrſchte
man die eigenen Kolonien, die man den Fremden verſchloß, die man als Ausbeutungs-
länder behandelte, wie die Konkurrenten, deren Produktion und Handel man nieder-
zuhalten ſuchte. Wenn es nötig war, führte man handelspolitiſche Kriege gegen die
Konkurrenten, vernichtete ihre Handelsmarine. Wenn dies nicht ging, ſchloß man ſich
durch Aus- und Einfuhrverbote ab, um auf dem eigenen Gebiete wenigſtens eine durch
inneren Verkehr blühende Volkswirtſchaft, ein blühendes Gewerbe, eine Landwirtſchaft
mit ausgiebigem Abſatz zu ſchaffen.
Es war vom 16.—18. Jahrhundert keine falſche Tendenz, in dieſer Weiſe große
ſtaatliche und wirtſchaftliche Körper mit einer gewiſſen Selbſtändigkeit und Geſchloſſen-
heit, mit lebendigem innern Verkehr, mit einem alles übrige Wirtſchaftsleben beherrſchenden
Staatshaushalte herzuſtellen. Es war die natürliche Kehrſeite dieſer Tendenz, daß die
Staaten und Volkswirtſchaften ſich in Handelsneid, Feindſchaft, ja in Handels- und
Kolonialkriegen gegenüberſtanden, daß die innere Centraliſation und Vielregiererei zu
weit ging, unter Umſtänden alles lokale und individuelle Leben lähmte. Anders konnten
die neuen Staaten und Volkswirtſchaften zunächſt nicht ſich ausbilden. Aber es mußte
eine Umkehr, eine veränderte Auffaſſung nach und nach, 1750—1850, Platz greifen. Man
empfand, daß die individuelle Freiheit, der Rechtsſchutz der Perſon, der Gemeinden, der
Korporationen mangele, daß Handelsneid und Handelskriege zu viel Schaden anrichten,
daß im internationalen Handel nicht notwendig der eine Staat verliere, was der andere
gewinne, daß im friedlichen Austauſche auch beide gewinnen, ſich fördern können, daß
das Übermaß der volkswirtſchaftlichen Centraliſation, der Handels- und Wirtſchafts-
leitung häufig mehr ſchade als nütze. Es entſtand die Naturlehre der Volkswirtſchaft,
welche ohne Erinnerung an die Entſtehung des vorhandenen Wirtſchaftslebens dieſes
als ein bloßes Spiel freier, natürlicher Kräfte auffaßte, die man beſſer ſich ſelber über-
laſſe, die, harmoniſch von der Vorſehung geordnet, auf dem freien Markte, unter dem
Geſetze der Arbeitsteilung ungehindert ſich bethätigen ſollen. Für Staat und Staats-
haushalt, Handels- und Gewerbepolitik war bei dieſer Auffaſſung der Volkswirtſchaft
überhaupt kein rechter Platz. Man kam über dieſe Schwierigkeit am beſten weg, wenn
man ihren Begriff nur auf die Markt- und Verkehrsvorgänge beſchränkte, Staat und
Recht als etwas von ihr gänzlich Geſchiedenes betrachtete.
So einſeitig und ſchief dieſe Auffaſſung war, ſo enthielt ſie die notwendige
Korrektur der merkantiliſtiſchen Staats- und Wirtſchaftspolitik. Man hatte durch die
Bevormundung zu viel Kräfte gelähmt, man hatte durch Beamte und Reglements das
aufkommende Bürgertum niedergehalten und beleidigt; dieſes wollte, mündig, klug,
reich geworden, nun ſelbſtändig die Betriebe, den Markt, den Handel in die Hand
nehmen; man hatte durch die Sperrmaßregeln nach außen zu oft den Handel und den
Abſatz gehindert; die alte Bureaukratie war gegenüber der neuen Technik, dem neuen
Verkehr, den neuen Betriebsformen unfähig, ihnen ſofort die rechten Bahnen und Formen
vorzuſchreiben; die Freiheit der Perſon und des Eigentums, der Niederlaſſung und der
Kapitalbewegung wirkte im 19. Jahrhundert vielfach wie ein befruchtender Tau auf
alles Wirtſchaftsleben. Kein Wunder, daß die Vorſtellung ſich bilden konnte: alle ältere
Zeit mit ihrer Gebundenheit und ihrer autoritativen Leitung des Wirtſchaftslebens ſei
Barbarei geweſen; nun ſei die vollendete, auf perſönliche Freiheit und freies Privateigentum
gegründete Erwerbsordnung gefunden; nur ſie ganz auszubauen und zu erhalten, könne
das Ziel ſein.
[302]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Wenn man näher zuſieht, ſo war mit ſolcher Generaliſierung freilich weit übers
Ziel hinausgeſchoſſen, ſo war nie die ganze Volkswirtſchaft, ſondern nur ein Teil der-
ſelben mit dem Schlagworte der freien Erwerbsordnung richtig bezeichnet. Auch zur
Zeit des Merkantilismus hatte der Staat nicht die Güterproduktion und den Handel
in die Hand genommen, ſondern ſie der freien Thätigkeit der Privaten, freilich unter
mancherlei teils veralteten, teils neuen Schranken überlaſſen. Die großen Geſetzgeber,
welche die Volkswirtſchaft im Sinne der freien Erwerbsordnung geſtaltet hatten, wie
z. B. Napoleon I., Hardenberg, hatten wohl Rechts- und Steuergleichheit, freiere Kon-
kurrenz, einen freien inneren Markt und Verkehr geſchaffen, Stadt und Land gleichgeſtellt,
Adels- und Zunftprivilegien beſeitigt, aber ſie hatten zugleich die ſtaatliche Gewalt, die
Macht der Polizei außerordentlich geſteigert. Während man Gewerbefreiheit und freies
Grundeigentum herſtellte, hatte man in ganz Weſteuropa, zumal in England und Frank-
reich, den Verluſt alter Einnahmen durch Steuern erſetzt, hauptſächlich den geſteigerten
Staatsbedarf durch weitgehende Ausbildung der indirekten Steuern, der Zölle und handels-
politiſchen Maßnahmen befriedigt und damit alles privatwirtſchaftliche Getriebe in größere
Abhängigkeit vom Staate gebracht als früher. Während man einige ſtaatliche Betriebe
auflöſte, Domänen und Forſten an Private verkaufte, hatte man andere große ſtaatliche
Wirtſchaftsinſtitute und Einrichtungen, den Chauſſeebau, die Fluß- und Hafenregulierung,
die Staatspoſt, die großen centralen Banken geſchaffen oder weiter ausgebildet. Die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die geſetzliche Neuordnung des Gemeindelebens
mit ihrem Ehrendienſte, ihren großen wirtſchaftlichen Aufgaben, die beginnende Arbeiter-
ſchutz-, Sanitäts- und Wohnungsgeſetzgebung und -polizei griff ſofort oder bald tief
in die perſönliche und wirtſchaftliche Freiheit ein, der Staatshaushalt wurde in vielen
Staaten erſt jetzt recht ein weitgehender Regulator der Privatwirtſchaften, dehnte ſich
gerade in der Zeit des wirtſchaftlichen Liberalismus rieſenhaft aus. Und auch darüber
konnte man ſich nicht täuſchen, daß die neue liberale Erwerbsordnung vielfach nicht von
ſelbſt, ſondern gerade durch zwingende, hart einſchneidende Staatsgeſetze, durch die neuen
reformierenden Agrar-, Gewerbe- und Berggeſetze, durch das neue Arbeitsrecht, die alles
mögliche, was bisher üblich war, verboten, ins Leben trat. Ebenſowenig dachte man
im praktiſchen Leben irgendwo daran, auf die allgemeine Leitung der Volkswirtſchaft
durch Handels- und Verkehrspolitik, durch gewerbliches Schulweſen, durch Prämien und
anderes zu verzichten.
So konnte alſo auch in der Blütezeit der freien Erwerbsordnung, auch da, wo
ſie am reinſten ins Leben trat, nirgends davon die Rede ſein, daß ein bloß privates,
ganz freies Marktgetriebe die Volkswirtſchaft ausgemacht hätte. Staat und Gemeinde,
Finanz und Polizei, Steuern und Wirtſchaftspolitik, Recht und Ordnung griffen ſtets
und überall in das Getriebe ein; nur das Maß der Eingriffe, die Stelle und die Art
derſelben hatte gewechſelt. Es war zunächſt eine Änderung vollzogen, welche die ver-
alteten Rechts- und Wirtſchaftsinſtitute und ihre Schranken nach und nach beſeitigte
(1789—1870) und welche daher wohl als ein Sieg der wirtſchaftlichen Freiheit, der
größeren wirtſchaftlichen Konkurrenz bezeichnet werden konnte. Es war eine Bewegung,
welche mit Recht vielfach die ältere wirtſchaftliche Staatsthätigkeit eingeſchränkt, auch
den freien Verkehr von Staat zu Staat gefördert hatte. Aber die große Umbildung
hatte von Anfang an doch auch die ſtaatliche, centrale Wirtſchaft wie die der Gemeinden
geſtärkt. Und ſie hatte in dem Maße, wie die neuen volkswirtſchaftlichen Gebilde ſich
vollendeten, wie die ſocialen und wirtſchaftlichen Kämpfe wuchſen, gezeigt, daß die freie
Erwerbsordnung für eine große Zahl von Menſchen ſteigende Abhängigkeit und materielle
Unfreiheit bedeutet, daß neue Schutzmaßregeln für ſie nötig ſind, daß Staat, Gemeinde,
Zwangskorporationen und Vereine durch neue Ordnungen wieder die einzelnen binden
und beſchränken, durch Übernahme neuer Funktionen wieder einen zunehmenden Teil
des Wirtſchaftslebens für ſich in Anſpruch nehmen müſſen.
Wir haben das hier nicht weiter zu verfolgen; wir hatten uns hauptſächlich ein
Bild davon zu machen, wie die neuere Ausbildung der Volkswirtſchaft in der merkanti-
liſtiſchen und in der liberalen Epoche mit der zunehmenden Bedeutung des Staats-
[303]Staat und Volkswirtſchaft im 19. Jahrhundert. Die ältere Naturaldienſtverfaſſung.
haushaltes und der ſtaatlichen Wirtſchaftsinſtitutionen Hand in Hand ging. Man
hatte im 18. Jahrhundert Volkswirtſchaft und Staatshaushalt als eine Geſamterſchei-
nung unter dem Begriffe „Staatswirtſchaft“ zuſammengefaßt. Im 19. Jahrhundert hat
man bald das privatwirtſchaftliche Getriebe für ſich als Volkswirtſchaft bezeichnet und
ihm die ſtaatliche Finanzwirtſchaft entgegengeſtellt. Das entſprach den individualiſtiſchen
liberalen Tendenzen. Wir verſtehen unter der Volkswirtſchaft heute die Geſamtheit aller
in einem Staate vorhandenen Wirtſchaften, wirtſchaftlichen Veranſtaltungen und Ein-
richtungen, einſchließlich der größten, im Mittelpunkte ſtehenden Wirtſchaft, des Staats-
haushaltes. Wollen wir daneben den Begriff der Staatswirtſchaft beibehalten, ſo iſt
darunter der Staatshaushalt und alle vom Staate ausgehende Einwirkung auf das
übrige Wirtſchaftsleben, alſo die ſtaatlichen Wirtſchaftsinſtitutionen und die ganze wirt-
ſchaftliche Verwaltung zu verſtehen. Aber wir ſagen nicht, wie Rodbertus, daß die
Volkswirtſchaft durch die Staatswirtſchaft abgelöſt werden müſſe.
Wir betrachten nun das einzelne des Staatshaushaltes und gehen dabei an
einzelnen Punkten auch auf die Anfänge, die weiter zurückliegen, kurz ein.
107. Die Naturalabgaben- und Naturaldienſtverfaſſung und die
Domänenwirtſchaft. Jeder Gemeinde- oder Staatshaushalt konnte in der älteren
Zeit der mangelnden oder unausgebildeten Geldwirtſchaft nur in zweierlei liegen, entweder
in einer direkten Verfügungsgewalt des Staates über die Arbeitskräfte und wirtſchaft-
lichen Güter der Mitglieder des politiſchen Körpers, oder in einem großen Beſitz, vor
allem in umfangreichem Grundeigentum, über die Fürſt, Gemeinde, Staat zu ihren
Zwecken frei beſtimmen konnten. Das erſtere dürfte im ganzen das Ältere, das zweite
das Spätere geweſen ſein; beides kommt auch nebeneinander vor. Wir bezeichnen das
erſtere als die Naturalabgaben- und -Dienſtverfaſſung, das letztere als die Baſierung der
Staatsgewalt auf Domänenwirtſchaft. Die erſtere Verfaſſung geht in die zweite über,
wo die öffentliche Gewalt als Eigentümerin alles Grund und Bodens gilt, ihn an die
einzelnen gegen Dienſte und Naturalabgaben erblich oder zeitweiſe ausgiebt.
Eine ausgebildete Naturalabgaben- und -dienſtverfaſſung konnte auch bei ſonſt
geringer wirtſchaftlicher Entwickelung eine ſehr kräftige Centralgewalt ſchaffen; ſie tritt
uns beſonders in kriegeriſchen Barbarenſtaaten entgegen. Die Häuptlinge und Könige
laſſen Burgen und Grenzwälle bauen, ſie ſammeln große Vorräte, vermehren ſie durch
Kriegs- und Raubzüge, bieten alle Männer zum Waffendienſte auf. Aber auch ſpäter
in größeren halbkultivierten und kultivierten Staaten haben ſich ſolche Einrichtungen
erhalten: aus der Sitte, den Fürſten Geſchenke zu beſtimmter Zeit zu geben, werden
feſte Naturallieferungen. Getreide, Vieh, oft der Zehnte aller Erträgniſſe oder gar
größere Quoten müſſen abgeliefert werden. Daneben bleibt die Verpflichtung zum
Kriegsdienſte, oft ohne Entgelt, bei eigener Stellung der Waffen und Verpflegung;
Wagen, Vieh, Schiffe müſſen für den öffentlichen Dienſt zeitweiſe geſtellt werden. Im
Altertume und im Mittelalter herrſcht da und dort eine ausgebildete Ordnung, welche
die Küſtenbezirke, oft auch nur gewiſſe reichere Klaſſen zur Geſtellung von Kriegs- und
anderen Schiffen für den öffentlichen Dienſt verpflichtet. Das ganze Syſtem konnte nur
in nicht zu großen, wirtſchaftlich nicht allzu hoch entwickelten Gemeinweſen mit her-
gebrachter genoſſenſchaftlicher Schulung, mit patriotiſchem Geiſt, mit ſtraff kriegeriſcher
Zucht ohne zu viel Härten und Schwierigkeiten ſich erhalten; es unterſtellt alle private
Wirtſchaft der Regierung und ihren Zwecken. So Großes man da und dort, in Mexiko
und Peru, im perſiſchen Reiche, in Sparta und Rom, in einzelnen mittelalterlichen
Lehnsſtaaten wohl mit ſolchen Einrichtungen erreichte, eine ſolche Verfaſſung mußte
ſtets in größeren Staaten mit Arbeitsteilung und verſchiedenen Klaſſen, mit herrſchenden
und beherrſchten Teilen und Gebieten endlich an einen Punkt kommen, wo ihre Wirk-
ſamkeit verſagte. Die individuelle Wirtſchaft kann ſich nicht ausbilden, die Arbeitsteilung
keine Fortſchritte machen, wenn jeder jederzeit ſeine halbe Arbeitskraft dem Staate zur
Verfügung ſtellen, periodiſch ſo und ſo viel Getreide oder andere Produkte abliefern
ſoll; ſind die ſtaatlichen Dienſte und Abgaben gering und an feſte Regeln gebunden, ſo
verſagt das Syſtem im Moment der Gefahr und der größeren Anforderungen; fehlen
[304]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
dieſe Regeln, und ſind die Anſprüche ſehr groß, ſo endigt das Syſtem in einem
erdrückenden Despotismus, der jede Freiheit und Selbſtbeſtimmung vernichtet, jeden
wirtſchaftlichen Fortſchritt hemmt. Daraus entſpringt entweder eine Auflöſung der alten
Verfaſſung, welche dem Staate ſeine Macht und Stellung nimmt; kriegeriſche Seeſtaaten,
die den Übergang von der Schiffsgeſtellung zu einer königlichen Flotte nicht machen
konnten, ſind dadurch ebenſo einer Schwächung für Generationen verfallen wie Lehns-
ſtaaten, deren Ritter den Dienſt verſagten; oder es entſteht, wenn man mit Zwangs-
mitteln an den alten Einrichtungen feſthält, eine Stagnation alles wirtſchaftlichen
Lebens. Wo die Regierungen das einſahen, wo die wirtſchaftliche Lage es erlaubte, wo
die Regierung über Domänenbeſitz, Regalien, Steuern verfügte, wo die fortſchreitende
Ausbildung des privaten Wirtſchafts- und Verkehrslebens in Stadt und Land es
ermöglichte, da haben kluge Fürſten und Staatsmänner darnach geſtrebt, an Stelle
dieſer Verfaſſung Mittel zur freien Verfügung zu ſammeln, um, unabhängig von der
überlebten ſchwerfälligen Dienſt- und Naturalabgabenverfaſſung, wie eine große, unab-
hängige Privatwirtſchaft handeln zu können; mit ſolchen Mitteln, am leichteſten mit
Geld, konnte man energiſcher, ſchneller, unabhängiger Leute werben, Krieg führen, Schiffe
und Feſtungen bauen, nach allen Seiten hin handeln. Und die Bevölkerung kam dem
überall entgegen. Die Krieger, die von ihrer Hufe Kriegsdienſte thun, die Bauern, die
Acker-, Bau- und Fuhrfronden leiſten, die den Zehnten und andere Teile der Ernte
abgeben, die Kaufleute, die ihre Schiffe dem Staate ſtellen und auf dem Markte einen
Teil ihrer Waren an den Fiskus abtreten ſollten, ſie fühlten ja längſt den unerträglichen
Druck dieſer Laſten, ſie ſuchten ſich in dem Maße, wie ſie Überſchüſſe erzielten und Geld
ſammelten, dieſen Eingriffen in ihre Wirtſchaft durch Geldzahlungen zu entziehen. Die
Regierung ging, wenn ſie konnte, gern darauf ein: ſie hatte den Ärmeren und den
Rittern, die in den Krieg zogen, ja ohnedies ſchon Sold, Waffen und Verpflegung zu
reichen begonnen; ſie hatte angefangen, die niederen Beamten zu bezahlen, die Bauten
an bezahlte Unternehmer zu vergeben. Durch eine gute Ordnung des Münzweſens,
durch Beförderung des Verkehrs, des Handels, der Geldwirtſchaft erwächſt ſo den Privat-
wirtſchaften wie der Finanzwirtſchaft eine Fülle neuer und größerer Kräfte; beide können
nun freier, eigentümlicher, lebendiger ſich nebeneinander entwickeln, die Geldſteuer war
trotz aller Schwierigkeit leichter als die Naturalſteuer umzulegen. Es kommt eine lange
hiſtoriſche Epoche, in welcher die Gemeinweſen mit einer auf Geldeinnahmen und Geld-
ausgaben, auf ein Geldſteuerſyſtem baſierten Finanzwirtſchaft den altväteriſchen, rohen
Gemeinweſen mit naturaler Dienſt- und Abgabenverfaſſung unendlich überlegen ſind, ſie
in Abhängigkeit von ſich bringen.
Da dieſe Umbildung aber zunächſt nur den begünſtigtſten Staaten gelingt, jeden-
falls Jahrhunderte dauert, ſo iſt der andere Ausweg zunächſt der leichtere. Die Regierung
verſchafft ſich einen großen Grundbeſitz, über deſſen naturalen Ertrag, über deſſen ſpätere
Geldrente ſie frei verfügt, ohne in die übrigen Privatwirtſchaften eingreifen, ein aus-
gebildetes Steuerſyſtem entwickeln zu müſſen.
Sehr viele der älteren Gemeinweſen bauten ihre Finanzen auf einem ſolchen Beſitze
des Herrſchers oder der Volksgemeinde auf. Das römiſche Ärarium hat in der Zeit
der Republik weſentlich von dem in den Vogteilanden für dasſelbe eingezogenen ager
publicus gelebt; im Mittelalter beruht faſt alle ſtärkere Staatsgewalt auf der Größe
des königlichen oder fürſtlichen Kammergutes, die gute oder ſchlechte Finanz auf ſeiner
guten oder ſchlechten Verwaltung; die meiſten Fürſten haben aber, durch die Not des
Augenblickes gedrängt, gegen 1500 ihr Kammergut bereits ſtückweiſe verkauft, verpfändet,
verſchleudert. Es waren nur die fähigſten und tüchtigſten, die es in den folgenden
Jahrhunderten wieder von Schulden befreiten, es den Pfandinhabern, meiſt dem Adel,
in langen Kämpfen wieder abnahmen, es durch Kauf und Einziehung des Kirchengutes
vergrößerten, es durch Verpachtung der Landgüter, durch beſſere Forſt-, Berg- und
Salinenverwaltung höher auszunutzen verſtanden. Die finanzielle Größe Sullys, Colberts,
einiger däniſcher und ſchwediſcher Könige, der preußiſchen Finanzverwaltung von 1640
bis 1806 beruhte weſentlich mit hierauf. Wenn dann nach 1800 die großen Kriege
[305]Die Auflöſung der ſtaatlichen Naturalwirtſchaft. Die Domänenwirtſchaft.
und die modiſchen Theorien von der Vorzüglichkeit des privaten Eigentums zu neuen
großen Veräußerungen des Domänenbeſitzes, der ſtaatlichen Forſten, Bergwerke und
Salinen da und dort führten, ſo haben doch auch heute noch manche, zumal viele
deutſche Staaten einen großen, durch das Staatseiſenbahnſyſtem wieder ſehr geſteigerten
Domänen- und fiskaliſchen Beſitz, der die finanzielle Stärke der betreffenden Staaten
ausmacht, dieſelbe gegenüber England, Frankreich, Öſterreich und ähnlichen, von ſolchem
Eigentume faſt ganz entblößten Staaten ſehr erhöht.
Im preußiſchen Etat von 1900 mit 2326 Mill. Mark Brutto- und 1275 Mill. Mark
Nettoeinnahme ſtehen die Domänen und Forſten mit 45 Mill., die Einnahmen aus
Gewerbebetrieben und Eiſenbahnen mit 552 Mill., die Steuern und ſteuerartigen Ein-
nahmen mit 225 Mill. Mark Nettoeinnahme. Im franzöſiſchen Etat für 1890 ſtehen
die Steuern mit 2564, die Staatsmonopole mit 691, die Domänen und Forſten mit
64 Mill. Francs, bei einer Geſamteinnahme von 3423 Mill. Der preußiſche Staat
würde noch einige Dutzend, vielleicht gar hundert Millionen Mark mehr aus dem alten
Obereigentums- und Regalrecht an den Kohlen- und Erzſchätzen des Grund und Bodens
einnehmen, wenn er bei Erlaß der liberalen neuen Berggeſetzgebung, welche allerdings
unſere glänzende große Aktien- und Gewerkſchaftsentwickelung im Bergweſen ſchuf, etwas
vorſichtiger die fiskaliſchen Intereſſen gewahrt hätte. —
Die alte Naturaldienſtverfaſſung war mehr öffentlichrechtlicher, die Domänen-
wirtſchaft mehr privatrechtlicher Natur; doch wurde auch die letztere teilweiſe durch
ſtaatliche Vorrechte (Regalien, ſtaatliche Monopole für einzelne fiskaliſche Betriebe, wie
die Poſt) halb öffentlichrechtlicher Natur. Bei der Auflöſung der beiden alten Ein-
richtungen hat der Staat vielfach ſich nicht anders zu helfen gewußt, als indem er für
eine ſteigende Zahl wirtſchaftlicher Betriebe, die er in Händen hatte, ſich ſolche Vorrechte
der Verfügungsgewalt, der Produktion, des Abſatzes (Regalien, Monopole ꝛc.) beilegte.
Man hat deshalb geſagt, den Übergang von der älteren Finanzwirtſchaft zur neueren
Steuerwirtſchaft bilde die Epoche der Regalwirtſchaft; ſie hat zu vielen Mißbräuchen,
z. B. dem Ämterverkauf, der Verpachtung der ſtaatlichen Vorrechte auf einzelne Gewerbe-
betriebe, zu einer übertriebenen, oft harten Konkurrenz des Staates mit den Privat-
wirtſchaften Anlaß gegeben.
Die ältere Naturaldienſtverfaſſung griff dadurch in alles volkswirtſchaftliche Leben
aufs tiefſte ein, daß ſie durch ihre Ordnungen und Forderungen gleichſam täglich und
ſtündlich jede freie Verfügung aller privaten Wirtſchaft hinderte; die Volkswirtſchaft
und die Grundeigentumsverteilung ſolcher Zeiten und Gebiete war beſtimmt durch die
Kriegs- und Dienſtverfaſſung. Die ältere Domänenwirtſchaft, und was an fiskaliſchem
Beſitz und Betrieb an ſie ſich anſchloß, erzeugte einen volkswirtſchaftlichen Zuſtand,
wobei ein Teil des wirtſchaftlichen Lebens, das Kammergut, in ſehr viel größere Ab-
hängigkeit von der Regierung kam, der übrige Teil aber einer freien Bewegung überlaſſen
wurde. Im Preußen des 18. Jahrhunderts war ⅓—¼ des Staatsgebietes Kammergut,
der Reſt war grund- und gutsherrlich oder ſtädtiſch. Machte das Domanium einen
noch größeren Teil des Landes aus, ſo bekam die ganze Volkswirtſchaft einen grund-
herrlich-fiskaliſchen Charakter. Die größten ſocialen und politiſchen Kämpfe knüpften
ſich da und dort an die rechtliche Natur des Kammergutes, an ſeine Teilung zwiſchen
Kirche und Staat, Adel und Fürſtentum, Staat und Fürſtenfamilie an.
Heute ſind dieſe Zuſtände im ganzen überwunden. Die Geldwirtſchaft, die moderne
Erwerbsordnung, die Steuerwirtſchaft haben das freie Getriebe der Privatwirtſchaften
und den Staatshaushalt unabhängiger nebeneinander geſtellt. Soweit Domänen, Staats-
gewerbe, ſtaatliche Eiſenbahnen heute vorhanden ſind, iſt ihr erſter Zweck nicht der
fiskaliſche, ſondern ein allgemein volkswirtſchaftlicher. Man glaubt, daß die ſtaatliche
Verwaltung das techniſch und wirtſchaftlich Beſſere ſei.
Unbezahlte oder halbbezahlte Zwangsdienſte, Naturalabgaben und -leiſtungen ſind
mit der allgemeinen Wehrpflicht, der neuen Selbſtverwaltung, der Ordnung des Ein-
quartierungs- und Mobilmachungsweſens, dem Feuerlöſchweſen, der Ordnung des Schutzes
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 20
[306]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
gegen Waſſergefahren und Ähnlichem wieder mannigfach entſtanden, aber in ganz anderer
Weiſe als früher. Die Volkswirtſchaft wird freilich auch hiedurch aufs mannigfachſte
berührt, die perſönliche Freiheit beſchränkt. Wir haben davon weiter unten zu ſprechen.
108. Die Steuern und das Geldſteuerſyſtem. Wo die beiden bisher
betrachteten Arten, dem Staate wirtſchaftliche Mittel und Kräfte zuzuführen, nach und
nach verſagen, die Arbeitsteilung und Geldwirtſchaft ſich ausbildet, das privatwirtſchaft-
liche Getriebe in Familienwirtſchaft und Unternehmung eine gewiſſe Selbſtändigkeit
erreicht hat, da muß die Ausbildung von Steuern, und zwar weſentlich von Geld-
ſteuern, zum Loſungsworte und Kennzeichen der höher entwickelten Volks- und Staats-
wirtſchaft werden.
Wie im ſpäteren Altertum die Kulturſtaaten die Anfänge, ſo haben die neueren
Staaten des 17.—19. Jahrhunderts die weitere Ausbildung des ſtaatlichen Geldſteuer-
ſyſtems vollzogen, nachdem vom 12.—16. Jahrhundert die ſtädtiſchen Syſteme voran-
gegangen, und innerhalb einzelner Staaten und Territorien die erſten Geldſteuerverſuche
gemacht worden waren. Die älteſten Geldſteuern knüpfen an die halb freiwilligen, halb
zur Sitte gewordenen Geſchenke der Unterthanen an die Fürſten an, die ſtatt in natura
nun in Geld gereicht werden; unter Eliſabeth waren z. B. Geldgeſchenke an die Königin
zu Neujahr noch ganz allgemein. Sehr vielfach treten dann die Geldſteuern als Erſatz
für Kriegs- oder andere Dienſte auf, wie die engliſchen Dänen- und Schildgelder, die
deutſchen Städteſteuern an den König im 12.—13. Jahrhundert. Wo der Unterthan
etwas vom Fürſten will, muß er bezahlen; es entſtehen die zahlreichen Gebühren für
Rechtſprechung und andere Amtshandlungen, die Bezahlung für Benutzung des Markt-
platzes, des Hafens, der Brücke, welcher der Kaufmann, beſonders der Fremde unter-
worfen wird. So ſind Zölle und Marktabgaben, welche urſprünglich in Form von
Anteilen an dem eingeführten oder verkauften Wein, Pfeffer, Mehl und Derartigem
erlegt wurden, frühe allerwärts in Geldgebühren und Geldſteuern umgewandelt worden.
Wo der Unterthan angeblich oder wirklich Unrecht gethan hatte und deshalb der Gnade
und Barmherzigkeit des Fürſten oder der Regierung gegenüberſtand, mußte er häufig
nach Gutdünken zahlen. Im attiſchen demokratiſchen Freiſtaate wie im normänniſchen
Lehnsſtaate waren die Strafgelder und Vermögenskonfiskationen gleichmäßig hart und
maßlos ausgebildet. Ohne ſolche direkte Veranlaſſung und Gegenleiſtung aber dem
Staate Geld nach der Kopfzahl der Familie, nach der Zahl der beſeſſenen Hufen, nach
dem Vermögen zu zahlen, das widerſtrebte allerwärts dem Sinne der im übrigen ſchon
mannigfach ſteuernden Bürger; ja Hörige, Fremde, Schutz- und Bundesgenoſſen, die
belegte man wohl, aber nicht leicht den Freien. Die attiſchen Bürger zahlten erſt im
peloponneſiſchen Kriege eine Vermögensſteuer; das römiſche tributum war ein gezwungenes
Kriegsdarlehen des Bürgers an das Ärar, das man zurückzahlte, ſobald es ging, das
man von 167 v. Chr. an nicht mehr erhob. Die ſtädtiſchen Vermögensſteuern erhoben
die Räte vom 12.—15. Jahrhundert meiſt nur in ſchlechten Zeiten, in Kriegsepochen,
wenn es nicht anders ging.
Es iſt ſo ein ſehr langſamer Prozeß, der mit der vordringenden Geldwirtſchaft und
den zunehmenden ſtaatlichen Leiſtungen und Rechten durch mancherlei Mittelglieder zur
Steuer führt: man bezahlt da, wo die einzelne Leiſtung des Staates und der ſpecielle,
dem Bürger daraus erwachſende Vorteil klar zu ſchätzen iſt, einen entſprechenden
Geldpreis wie in der Privatwirtſchaft; da wo Leiſtung und Vorteil weniger deutlich
korreſpondieren, eine Gebühr, d. h. einen herkömmlich feſtſtehenden mäßigen Pauſchalpreis;
da wo gewiſſe dauernde ſtaatliche Leiſtungen einzelnen vorzugsweiſe zu gute kommen,
belegt man ſie mit ſogenannten Beiträgen (z. B. die Adjacenten eines Kanals, einer
neuen Straße), die auch als Pauſchalſumme für die Staatsleiſtung ſich darſtellen; da
wo aber die Leiſtungen des Staates nicht ſowohl einzelnen in beſtimmten, klar erkenn-
baren Akten zu gute kommen, ſondern in ihrer Geſamtheit allen oder der Mehrzahl in einer
Weiſe, daß von einer Abmeſſung des Vorteiles gar nicht die Rede ſein kann, da erhebt
man Steuern, d. h. Geldbeiträge, welche der einzelne als Staatsbürger und Unterthan
an ſich zahlt, ohne genaue Beziehung von Vorteil und Leiſtung aufeinander. In dieſe
[307]Die Entſtehung und das Weſen der Steuern.
Steuern ſchieben ſich nun auch noch mannigfach die älteren Vorſtellungen eines Preiſes,
einer Gebühr, eines Beitrages ein, aber im ganzen überwiegt der Geſichtspunkt, daß
jeder zahlen ſoll nach ſeiner Kraft. Die Austeilung, Anlegung und Abmeſſung der
Steuern iſt zuerſt und lange eine ſehr rohe, ungleiche, und deshalb eben führen die Bürger
gegen ſie einen langen Kampf. Erſt in neuerer Zeit hat man ſie nach Reinertrag, Ein-
kommen und Vermögen, ſowie nach der Art des Einkommens (Arbeits- und Vermögens-
einkommen), nach der Kinderzahl und anderen Merkmalen abgeſtuft, hat man die älteren
Befreiungen der Geiſtlichen und der Ritter, der Beamten, oft auch einzelner Landesteile
beſeitigt, den Grundſatz gleicher Steuerpflicht durchgeführt.
Es iſt natürlich, daß die Steuer ſich ſchwerer einbürgern konnte als die direkte
Bezahlung einer Leiſtung, als Gebühren. Unvollkommen, oft ungerecht angelegt, erſchien
ſie dem gering entwickelten Staatsbewußtſein nur als ein Raub an der Privatwirtſchaft,
als ein erzwungener Beitrag für die fürſtlichen Zwecke, für die Sonderintereſſen der
herrſchenden. Sie beſtand Jahrhunderte lang in einem Erpreſſungsſyſtem; ihre Ver-
wendung erfolgte ohne Kontrolle. Die Einſicht in ihre Notwendigkeit, in ihren Nutzen,
in die Vorteile, die aus ihrer Verwendung durch die Macht- und Rechtsorganiſation
generell für alle entſpringen, kann nur bei ganz hochſtehenden Menſchen in gut regierten
Staaten entſtehen. Deshalb iſt es ſo ſchwer, auch heute noch meiſt unmöglich, alle
Staatsausgaben auf Steuern zu baſieren.
Die ſtändiſche Steuerbewilligung beſeitigte die alten gröbſten Mißbräuche, ſchuf
ein Paktieren von Regierung und Steuerzahlern über die „generelle Entgeltlichkeit“;
aber ſie erſchwerte bald auch die Ausbildung und Reform der Steuern, ſo daß der
abſolute Staat doch wieder nach einem möglichſt unbeſchränkten Steuerhoheitsrechte
ſtrebte, das aber durch die konſtitutionelle Regierungsform und das Budgetrecht wieder
in die Bahn von Verhandlungen zwiſchen Regierung und Steuerzahlern zurücklenkte.
Das Problem, ſtaatliche Steuern ohne zu viel Ungerechtigkeit und Druck, Mißbehagen
und Betrug umzulegen, war ſchon techniſch ſo ſchwierig, daß Steuerreformen auch in den
beſtorganiſierten Staaten nur in Zeiten der größten Not oder des größten nationalen
Aufſchwunges den fähigſten Staatsmännern glückten. Es war ſchon ein Großes, wenn
ſtatt der ſtädtiſchen Vermögensſteuern oder ſtatt der gleichen Heranziehung jeder Hufe
des platten Landes es endlich gelang, ein Verzeichnis des ſteuerbaren Vermögens und
Einkommens in Geldeswert für ein ganzes Land zu machen, wie ſolche in Deutſchland
im 15.—16. Jahrhundert doch mannigfach zuſtande kamen; aber die unveränderten
Verzeichniſſe blieben dann viele Menſchenalter hindurch die Grundlage der Beſteuerung,
man war nicht fähig, ſie immer neu zu revidieren; man beſteuerte zuletzt, weil die
Kataſter zu ſchlecht waren, wieder die Kopf- oder Viehzahl, die Hufenzahl, die Zahl
der Schornſteine. Jahrhunderte lang hat ſo England beiſpiellos ſchlechte direkte Steuern
gehabt, bis Pitt und Peel 1798 und 1842 die Einkommenſteuer durchführten. Und
unter faſt noch ungerechterer Umlegung der ſogenannten taille, einer allgemeinen direkten
Vermögens- und Erwerbsſteuer, hat Frankreich geſeufzt, bis die Revolution und Napoleon I.
das Ertragsſteuerſyſtem ſchufen, das heute noch beſteht. In Preußen hat die Staats-
gewalt 1713—1861 mit den widerſtrebenden Provinzial- und Adelsintereſſen ringen
müſſen, um endlich die Hufen- und Schoßkataſter des 16. Jahrhunderts zu einer gerechten
Grundſteuer umzubilden; von 1820—1891 hat es gedauert, bis die rohe Klaſſenſteuer
zu einer halbwegs brauchbaren Einkommenſteuer wurde.
Auch die Mahl-, Schlacht-, Bier-, Weinſteuern, die einſt in einer kleinen Stadt
nicht ſo ſchwer umzulegen waren, boten, auf ganze Länder, auf das platte Land erſtreckt,
unſägliche Schwierigkeiten. Auch ſie haben in Deutſchland gegen 1500 ihre erſte Aus-
bildung für ganze Territorien erhalten, ſind dann im 17. Jahrhundert faſt in ganz
Europa raſch fiskaliſch vermehrt worden, haben im 18. Jahrhundert aber kaum eine
weſentliche Reform erfahren; ſie haben erſt nach den Freiheitskriegen und in den letzten
zwei bis drei Menſchenaltern eine etwas beſſere Geſtaltung in den meiſten Staaten
erhalten. Auch das Zollweſen iſt vollſtändig rationell erſt in den letzten hundert
Jahren ausgebildet worden.
20*
[308]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Heute beſteht in den meiſten Staaten ein kompliziertes Syſtem von Steuern;
einzelne ſind gebührenartig, andere verbinden ſich mit Staatsgewerben und ihrem Monopol,
werden in dem erhöhten Preiſe z. B. des Tabaks, der Eiſenbahntarife der Staatsbahnen
erhoben. Daneben unterſcheidet man die indirekten Steuern, welche, wie Zölle, Ver-
brauchs-, Aufwandſteuern, Steuern von der Bier-, Wein-, Branntwein-, Zuckerproduktion,
von einem Verkaufsgeſchäfte, einem Produzenten oder Händler mit der Abſicht erhoben
werden, daß er ſie auf den Konſumenten überwälze, und die direkten (Vermögens-, Ein-
kommen-, Perſonen-, Ertrags-, Grund-, Häuſer-, Gewerbeſteuern), welche der Inhaber
eines Einkommens oder Beſitzes direkt zahlt und tragen ſoll.
Der größte Fortſchritt im Steuerweſen neben der Ausbildung des ſtaatsrechtlichen
Steuerhoheits- und des verfaſſungsmäßigen Steuerbewilligungsrechtes war der von den
Phyſiokraten und Ad. Smith begründete Gedanke, daß übermäßige und ungerechte
Steuern die Volkswirtſchaft bedrohen, daß eine ſtarke und reiche Regierung nur durch
Stärkung der Steuerkraft der Unterthanen herzuſtellen ſei. Bisher hatte man Steuern
erhoben, wo und wie es ging, wo man Geld fand oder zu finden glaubte. Nun erſt
begann die Forderung einer gerechten Beſteuerung, ein Verſuch, die Leiſtungsfähigkeit
zur Grundlage der gewöhnlichen Steuern zu machen, bei allen Steuern die volkswirt-
ſchaftlichen und ſocialen Nebenreſultate im Auge zu behalten, die Anforderungen der
praktiſchen Steuertechnik in richtige Verbindung mit den allgemeinen politiſchen und
rechtlichen Anforderungen der Steuerpolitik zu bringen, die Reichs-, Staats- und Kom-
munalſteuern richtig gegen einander abzugrenzen, die Geſamtſumme der Steuern immer
zu vergleichen mit dem Einkommen des Volkes und mit den Leiſtungen, die durch ſie
erreicht werden.
In ſehr vielen und zwar den vorangeſchrittenſten Staaten ſind die Steuern
heute ſo zur hauptſächlichen Staatseinnahme geworden. Die Steuer und das Steuer-
ſyſtem jedes Staates iſt damit zugleich zu einem wichtigen Elemente der Volkswirtſchaft
geworden. Einmal dadurch, daß ihr Ergebnis, die Steuereinnahme, die ganze Staats-
verwaltung und ſo indirekt alles wirtſchaftliche Leben ermöglicht. Die Steuer entzieht
den Privatwirtſchaften beſtimmte Mittel, macht ſie um ſo viel ärmer, aber ſie giebt ſie
ihnen durch die Leiſtungen der Staatsverwaltung zurück, ſtützt und fördert ſie; natürlich
in dem Maße, wie letztere richtig verfährt. Außerdem aber üben alle Steuern und das
Steuerſyſtem durch die Art der Anlage die bedeutſamſten Wirkungen auf das wirtſchaft-
liche Leben im einzelnen aus. Die Zölle und indirekten Steuern wollen indirekt beſtimmte
Produktionen und Handelsgeſchäfte fördern oder erſchweren; auch wo ſie nicht dieſe Abſicht
haben, thun ſie es. Die direkten Steuern haben teilweiſe ähnliche Wirkungen; ſie haben
allerwärts die Feſtſtellung der Reinerträge und des Einkommens herbeigeführt; ſie treffen
die verſchiedenen Klaſſen nie ganz gleich. Alle Steueranlage wird von den Klaſſen-
intereſſen der herrſchenden beeinflußt; eine gerechte Regierung wird das zu vermeiden
ſuchen, es iſt aber nie ganz möglich. Die Steuergeſetzgebung bleibt immer bis auf einen
gewiſſen Grad ein Inſtrument der Einkommensverteilung. Man ſpricht heute von einer
kommenden Epoche der ſocialen Steuergerechtigkeit.
Die Entwickelung der Steuer iſt ein Teil der Entwickelungsgeſchichte des Staates
in ſeinem Verhältnis zur Geſellſchaft, zu den Individualintereſſen. Indem das Geld-
ſteuerſyſtem ſich ausbildete, konnte der Staatshaushalt und das privatwirtſchaftliche
Leben ſich ſelbſtändig, je nach ihren beſonderen Tendenzen ausbilden; aber beide Teile des
nationalen Lebens blieben durch die Steuern, ihre Bewilligung, ihre Anlage doch in
engſter Verbindung. Mit den Steuern hat ſich die individuelle wirtſchaftliche Freiheit
und doch zugleich die moderne ſtaatswirtſchaftliche und ſociale Fürſorge der Regierung
für alles Wirtſchaftsleben entwickelt.
Die Steuern können in einem Staate mit größerem Staatseigentume und
zunehmenden Staatsgewerben geringer ſein als in einem anderen; verſchwinden könnten
ſie nur in einem ſocialiſtiſchen Staate, der zugleich die individuelle wirtſchaftliche Frei-
heit, die Unternehmung, die privatwirtſchaftliche Preis- und Gewinnbildung aufhöbe.
[309]Die Steuern und die Volkswirtſchaft. Der Staatsſchatz.
109. Der Staatsſchatz und der Staatskredit. Auch wo die Steuer-
erträgniſſe ſehr anwuchſen, auch wo ſie eine von Jahr zu Jahr je dem Bedürfniſſe ſich
anpaſſende Beweglichkeit erreicht hatten, blieb die Thatſache beſtehen, daß der Staatsbedarf
von Jahr zu Jahr durch Kriege, große Kalamitäten, durch ſtaatliche Neuerwerbungen,
durch notwendige Bauten und Befeſtigungen nicht bloß ums Doppelte, unter Umſtänden
ums Drei- und Mehrfache ſchwankte. Mochte man noch ſo ſehr dahin ſtreben, den
Jahresbedarf gleich hoch zu halten, es lag in ſeiner Natur, daß dies unmöglich war.
Wir ſehen daher ſchon in alten Zeiten, daß das hochentwickelte Staatsweſen den Staats-
ſchatz vorausſetzt: Perikles hatte zur Zeit, als das attiſche Staatseinkommen 1000 Talente
betrug, 8000 Talente auf der Akropolis angeſammelt; von den Lagiden berichtet Lumbroſo,
daß ihr Schatz bis zu 740000 Talenten angewachſen ſei; Tiberius ſoll nach ſeiner
habſüchtigen Regierung 567 Mill. heutige Mark hinterlaſſen haben. Alle mittelalter-
lichen Fürſten, die gute, ſparſame Finanzleute waren, ſammelten einen „Vorrat“,
Heinrich VII. hinterließ 2 Mill. ₤ im Schatze, Friedrich Wilhelm I. über 10,
Friedrich II. 54 Mill. Thaler im Staatsſchatze; noch heute hat das Deutſche Reich
einen ſolchen von 120 Mill. Mark. Aber es iſt klar, daß jede ſolche Anſammlung
große Schwierigkeiten hat, nur einer beſonders ſparſamen und geordneten oder glücklichen
Verwaltung gelingt, daß die kurzſichtigen Intereſſen des Tages ſolcher Weit- und Vor-
ſicht ſich ſtets widerſetzen. Das private Kapital war immer dem Staatsſchatz abgeneigt,
da er ihm die Wahrſcheinlichkeit nahm, in Zeiten des Kriegsausbruches ungeheure Wucher-
prozente zu verdienen. Die Erfahrungsthatſache, daß die Finanzwirtſchaft mit einem
Schatze den übrigen ohne ſolchen immer weit überlegen war, konnte nicht hindern, daß
die meiſten Regierungen den plötzlich anſteigenden Anforderungen der Kriegs- und Notzeit
doch meiſt rat- und hülflos gegenüberſtanden. Wo der Staat bereits eine leidlich große
Münzprägung übernommen hatte, konnte er ſich durch Münzverſchlechterungen helfen;
und das iſt denn auch bis ins vorige Jahrhundert allgemein geſchehen, zum größten
Schaden der Volkswirtſchaft, die durch die Ausgabe des zu leichten Geldes und durch
die notwendige ſpätere Wiedereinziehung desſelben in bedenkliche, teilweiſe gefährliche
Kriſen geſtürzt wurde. In neuerer Zeit iſt an die Stelle der Münzverſchlechterung die
übermäßige Papiergeldausgabe mit ähnlichen Folgen getreten.
In dem Maße, wie der Kredit ſich entwickelte, konnten Fürſten und Regierungen
ſich durch Kapitalaufnahme gegen Zinszahlung in ſolcher Zeit helfen. Die Fürſten
begannen zur ſelben Zeit wie die Städte, wie ſchon erwähnt, ihren Kredit auszunutzen,
ihre Domänen und Zölle zu verſetzen; viele waren auch im 16. Jahrhundert vollſtändig
überſchuldet. Aber die meiſten fanden damals überhaupt nicht ſo leicht und ſo viel
Kredit wie die Städte. Erſt als im 17. und 18. Jahrhundert Holland, England und
Frankreich, das Vorbild Venedigs, Genuas, Florenz’ und des Papſtes nachahmend, an
Stelle der einzelnen kleinen, in privater Form abgeſchloſſenen Schuldverträge neue
rechtliche Formen der Staatsanlehen mit geſicherter Zinszahlung, mit leicht übertrag-
baren, gleichlautenden Urkunden ausbildeten, als die ſteigende Kapitalbildung der reichſten
Länder dieſen wie ihren Bundes- und Schutzgenoſſen die Möglichkeit eröffnete, raſch
Millionen auf dem Kapitalmarkte aufzutreiben, wurden die Staatsſchulden, ihre Ver-
zinſung und Abzahlung zu einem der Hauptſtücke jeder großen moderniſierten Finanz-
wirtſchaft. Den reicheren Staaten wurden damit ungeheure Leiſtungen in der Politik,
der Eroberung, der Kriegführung, wie in der Ausführung von Straßen- und Eiſenbahn-
bauten, in der Milderung von Notſtänden möglich; die ärmeren zerrütteten damit ihren
Haushalt für Generationen, gerieten in weitgehende Abhängigkeit vom Auslande, konnten
vielfach ſich zuletzt nicht anders helfen als durch den Gewaltſtreich des Staatsbankerottes.
So iſt es natürlich, daß die einen den Staatskredit übermäßig prieſen, die anderen
ihn über die Gebühr verdammten. Es verſteht ſich, daß das Wachſen der Staatsſchulden
etwas anderes iſt in einem reichen als in einem armen Lande, in einem Staate, der
die Steuern entſprechend erhöht oder der ſie unvermindert läßt, in einem Gemeinweſen,
das damit Kriege führt, oder das damit Eiſenbahnen baut. Großbritannien gab Mil-
lionen ₤ für Zinſen und Tilgung aus: 1701 1,3, 1784 9,7, 1815 32,6, 1856 27,6,
[310]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
1886 23; es hat alſo verſtanden, ſeit 1815 ſeine Schulden zu vermindern. Frankreich
hatte ſchon 1773 1700 Mill. Livres Schulden, machte dann wiederholt Bankerott;
1851 hatte es 5345 Mill., 1869 8782, 1887 21539 Mill. Francs Schulden;
Preußens Staatsſchuld betrug 1797 134, 1820 644, 1848 475, 1866 770, 1889—90
4457 Mill. Mark. Nach den Berechnungen Heckels über den neueſten Stand (1897—98)
betrug in Millionen Mark
Wenn die größeren europäiſchen Staaten heute 12—38 % ihrer Einkünfte für
die Staatsſchulden nötig haben, wenn von dem Geſamtbetrage der 55669 Mill. Mark
Effekten, die 1888 an der Berliner Börſe notiert wurden, 37653 auf Staats- und
Städteanleihen kamen, wenn man die ſämtlichen europäiſchen Staatsſchulden 1865—66
auf 66013, 1885—86 auf 100431 Mill. Mark ſchätzte (Kaufmann), ſo ſpringt aus
dieſen Zahlen die außerordentliche Bedeutung der Staatsſchulden in die Augen. Und
neben der finanziellen iſt die volkswirtſchaftliche und ſociale kaum minder groß. Mit
und durch die Staatsſchulden haben ſich die Banken, die Börſen, die Formen des
Kreditverkehrs, hat ſich das Lebensverſicherungsgeſchäft entwickelt; durch die Schwierigkeit,
die Anlehen aufzubringen, iſt es den älteren Kreditvermittlern, wie Rothſchild, gelungen,
ein überfürſtliches Vermögen zu erwerben. Das ganze Verhältnis der Beſitzenden zu
den Nichtbeſitzenden iſt durch die Staatsſchulden ein anderes geworden. Hätte der Staat
ſtets, ſtatt Schulden zu machen, ſeine außerordentlichen Bedürfniſſe direkt durch Umlagen
gedeckt, ſo hätte er das nur mittelſt einer hohen Beſteuerung der Reicheren aufbringen
können. Indem er Anlehen aufnahm, gab er den beſitzenden Klaſſen die Gelegenheit
zu großen Kursgewinnen und bequemer Kapitalanlage, ſteigerte er immer wieder den
Zinsfuß und damit die Kapitalrente überhaupt; er verzinſte nun ſeinen Gläubigern
ihre Staatspapiere und deckte das durch Steuern, welche zwar auch die Reicheren, aber
neben ihnen die übrige Bevölkerung zahlen. Wären alle Bürger in gleichem Betrage
Gläubiger des Staates und Steuerzahler, ſo würde der Staat von jedem ſo viel
Steuern erheben, wie er Zinſen erhält, und die Schuldenverwaltung koſtet; die Koſten
der letzteren wären eine überflüſſige Mühe. Man thäte am beſten, Steuern und Zins
auf einmal niederzuſchlagen (Soetbeer). Nur die Ungleichheit der Teilnahme an Steuer
und Zins hindert das. Ohne die großen Staatsſchulden würde eine für die unteren
Klaſſen günſtigere Einkommensverteilung ſtattfinden. Und dieſe Thatſache wird etwas
gemildert, nicht aufgehoben, wenn die „Rente demokratiſiert“ wird, d. h. wenn kleinere
Staatsſchuldtitel auch bis in die mittleren und unteren Klaſſen eindringen, hier ganz
beſonders als geſicherte Kapitalanlage geſchätzt werden.
110. Die Finanzbehörden und die Schwierigkeit aller Finanz-
verwaltung und ſtaatlichen Wirtſchaft. Die Verwaltung des Staats-
vermögens, der Steuern, der Staatsſchulden, ebenſo die von Staatsbanken, Staats-
eiſenbahnen, Staatspoſten, Staatsſchulen ꝛc. iſt nur möglich durch ein Syſtem einheitlich
organiſierter und disciplinierter Kräfte; ſie zu ſchaffen, zu richtiger Funktion zu bringen,
war ungemein ſchwer, wie wir ſchon einleitend (S. 281) erwähnten. Sie amtieren nicht,
wie die Menſchen in der Familie aus Zuneigung und Liebe, nicht, wie in der Unter-
nehmung aus bloßem Erwerbstrieb. Die pſychologiſche Grundlage iſt keine ſo einfache,
überall vorhandene, wie dort, ſondern eine komplizierte, aus Selbſtintereſſe, Ehr-, Standes-
und Pflichtgefühl, Sitten- und Rechtstraditionen gemiſchte. Die ſtaatlichen Behörden und
Ämter entſtehen langſam, die Finanzbehörden entwickeln ſich aus der allgemeinen Amts-,
[311]Der Staatskredit. Die Schwierigkeit aller Finanzverwaltung.
Hof- und Kriegsverwaltung heraus; ſie müſſen dann aber eine ſelbſtändige Stellung neben
den übrigen Central-, Provinzial- und Lokalbehörden, neben den politiſchen, juriſtiſchen,
militäriſchen Organen erhalten, ſich mit dieſen, wie mit der Volksvertretung, mit der
Menge der Steuerzahler in langem Kampfe und Reibungen ihre feſte, rechtlich umgrenzte
Stellung ſichern. Der Auftrag für ſie geht dahin, die Mittel für den Staat und die
Staatsverwaltung zu beſchaffen, ſie in gerechter Verteilung zu erheben, ſie den Zwecken
zuzuführen, welche für die Geſamtheit die wichtigſten ſind. Die Finanzbehörden haben
die zwingende Macht des Staates hinter ſich, ſie ſollen nach Recht und Geſetz verfahren;
aber unendlich viel muß ſtets ihrem Gutdünken überlaſſen ſein; je nach ihrer Weisheit
und Rechtlichkeit, ihrer Beſchränktheit und Unredlichkeit können ſie in Erhebung und
Verausgabung der Mittel faſt wie eine irdiſche wirtſchaftliche Vorſehung walten. Alle
Beteiligten, vom Fürſten, den Miniſtern und oberſten Finanzbehörden herab bis zum
letzten Zoll- und Steueraufſeher ſind und bleiben Menſchen mit egoiſtiſchen Intereſſen,
mit Haß und Leidenſchaft, mit richtiger Einſicht, aber auch mit Irrtum und Sach-
unkenntnis. Daher immer wieder Fehlgriffe und Verſuchungen zum Mißbrauch der
Gewalt, zur Erpreſſung von Dienſten und Abgaben, immer wieder die Klagen über
Nachläſſigkeit, Ungerechtigkeit, unredliche Bereicherung, über fiskaliſche Mißhandlung des
Volkes, welchen Jahrhunderte und Jahrtauſende lang jede entwickelte Finanzgewalt
anheimgefallen iſt. Daher die notwendige Forderung, daß alle Anſprüche der Finanz-
gewalt in geſetzlicher Form ſich vollziehen müſſen, daß alle Thätigkeit der Finanz-
behörden von oben kontrolliert werde, von unten durch Beſchwerde und Klage angefochten
werden könne; die Folge hievon iſt, daß Schwerfälligkeit, Umſtändlichkeit und Verteuerung,
welche durch dieſe unerläßlichen Anordnungen entſtehen, nie ganz zu vermeiden ſind.
Gewiß ſteht die Finanzwirtſchaft eines gut verwalteten modernen Staates dem
Volke und den Privatwirtſchaften heute ſo gegenüber, daß ihre Leiſtungen, d. h. die
Geſamtheit der ſtaatlichen Funktionen, dem Volke trotz der Schwerfälligkeit, trotz des
teuren Mechanismus der Behörden viel mehr nützen, als die Dienſte und Abgaben
des Volkes an die Regierung dieſem Kräfte entziehen. Aber wenn das in der Gegenwart
da und dort auf Grund einer langen Geſchichte durch Budgetbewilligung, Öffentlichkeit
und feſte Rechtsorganiſation endlich auch erreicht iſt, die große Mehrzahl der einzelnen
Unterthanen ſieht die Gleichung zwiſchen Laſt und Vorteil doch nicht leicht ein, kann
ſie nicht beurteilen, weil ſie nie auf ſo hohem Standpunkte ſtehen kann, nie ihre Privat-
intereſſen mit den Staatsintereſſen ſo zu identifizieren vermag wie die an der Spitze des
Staates und der Finanzen Stehenden. Das feſte Zwangsſyſtem, das den Unterthan zur
Steuer zwingt, der Dienſtpflicht unterwirft, wird daher nie entbehrlich werden. Nie wird
ein gewiſſer wirtſchaftlicher Kampf zwiſchen den Bürgern und dem Fiskus aufhören; jeder
Bürger ſucht, ſo viel er kann, vom Staate wirtſchaftliche Vorteile zu erhaſchen, ſo wenig
wie möglich an ihn zu zahlen; ſtets wird der Fiskus ſchwanken zwiſchen ſeiner erſten
Aufgabe, der Mittelſammlung, und ſeiner höheren, der Förderung aller Bürger und der
ganzen Volkswirtſchaft. Nie wird die Finanzwirtſchaft mit den Einzelwirtſchaften ſo
tauſchen und verkehren können wie dieſe unter einander, wenn ſie es auch an einzelnen
Stellen thut, wenn ſie auch den Zwang z. B. bei der Steuerzahlung ſehr oft nicht
praktiſch anzuwenden braucht. Sie iſt durch ihre Macht und ihre Größe, durch ihre
Aufgaben und ihre Mittel, durch ihr Rieſenperſonal, ihre rechtliche Bindung, ihr
Kontrollweſen, ihre Thätigkeit durch bezahlte Beamte etwas von den übrigen Wirtſchaften
gänzlich Getrenntes. Nur die Gemeindewirtſchaft iſt ihr ähnlich; die Organiſation der
großen Aktiengeſellſchaften nähert ſich ihr nach einzelnen Seiten.
Es ſcheint nötig, dieſe Schwierigkeiten, mit denen jede größere finanzielle Organi-
ſation zu kämpfen hat, hier noch durch einige hiſtoriſche und ſtatiſtiſche Beweiſe und
verwaltungsrechtliche Bemerkungen zu belegen. — Staatliche Steuern zu erheben durch
ein eigenes fiskaliſches Perſonal, ſtaatliche Bauten in Regie auszuführen, große
Armeen ſo zu verpflegen, ſchien ohne die maßloſeſten Mißbräuche in Griechenland, in
Karthago, in Rom lange ſo unmöglich, daß man die Einziehung der Steuern wie die
Ausführung der Bauten und Armeeverpflegung privaten Unternehmern und Geſellſchaften
[312]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
gegen Pauſchalſummen übergab, die daraus Wuchergewinne ohne Gleichen zogen, die
das Volk maßlos mißhandelten; aber das erſchien doch noch als das kleinere Übel gegen-
über der erwarteten allgemeinen Dieberei und der Unfähigkeit einer direkten Staats-
finanzverwaltung. Und ähnlich iſt man in neueren Zeiten wieder vielfach, in Frankreich
vom 16.—18. Jahrhundert und anderswo verfahren. Erſt die ſpätere römiſche Kaiſerzeit
und jetzt wieder die neueſte Entwickelung der Verwaltung verſtand den Beamtenapparat
in Staat und Gemeinde ſo weit zu vervollkommnen, daß man ihm mit minderem Schaden
als den brutalen Steuerpächtergeſellſchaften dieſe Aufgabe in die Hand geben konnte.
Von den orientaliſchen Monarchen wird berichtet, daß ſie in ihrem Finanzdienſte
hauptſächlich Eunuchen und Sklaven verwendeten; auch Athen und Rom hat Sklaven
in großer Zahl für die niederen Gemeindedienſte gehabt, und der römiſche Principat
hat die Erbſchaft der politiſch und finanziell bankerotten Republik damit angetreten, daß
er lange überwiegend Sklaven und Freigelaſſene im großen kaiſerlichen Finanzdienſte
verwendete; im Mittelalter waren wieder die unfreien Miniſterialen zuerſt allein fähig,
eine große fürſtliche Finanzwirtſchaft ohne zu viel Mißbräuche ins Leben zu rufen.
Wo eben Hunderte und Tauſende nicht für ſich, ſondern für den König, den Fiskus
thätig ſein ſollen, große Summen in Händen haben, bei großen Aufwendungen ſparſam
verfahren ſollen, da gehören, um die Mehrzahl vom Stehlen, von der Nachläſſigkeit und
Verſchwendung abzuhalten, urſprünglich die eiſernen Disciplinmittel der Unfreiheit dazu.
An ihrer Stelle ſucht heute ein bis ins kleinſte Detail ausgebildetes Verwaltungs- und
Staatsdienerrecht, ein bis zu lähmender Umſtändlichkeit geſteigertes Kontrollſyſtem mit
Nachweiſen, Atteſten und Rechnungslegung aller Art die Tauſende von Beamten in
Pflicht und Ordnung zu halten. Und doch war das 18. Jahrhundert in England und
Frankreich nur deshalb ſo überzeugt, daß alle Beamtenwirtſchaft ſchlecht ſei, weil man
in ihrem Finanzdienſt, ihrer Kolonial- und Heeresverwaltung überwiegend faule, beſtech-
liche Beamte ſah. Wir haben heute, in Deutſchland beſonders, ein hohes Maß von
Beamtentüchtigkeit und Integrität durch einen Erziehungs- und Einſchulungsprozeß von
Jahrhunderten, durch ein richtiges Beſoldungs- und Carriereſyſtem erreicht. Auf der
Sachkenntnis, dem Patriotismus, dem offenen Sinne des höheren und beſſeren Teiles
dieſes Beamtentumes für die ſtaatlichen und Geſamtintereſſen, auf der Abweſenheit
egoiſtiſch-wirtſchaftlicher Klaſſenintereſſen bei ihnen beruht pſychologiſch ein ſehr großer
Teil aller neueren Fortſchritte im Staatsleben, in der wirtſchaftlichen und ſocialen Geſetz-
gebung. Aber dieſer Fortſchritt ruht auf eigentümlichen Vorausſetzungen, die nicht
überall zu ſchaffen ſind. Die ſocialiſtiſche Strömung unſerer Zeit iſt geneigt, die
Beamtenwirtſchaft ähnlich zu überſchätzen, wie A. Smith ſie unterſchätzte. Es ſteht zu
fürchten, daß auch bei uns ein gewiſſer Rückſchlag, eine Ernüchterung eintreten wird
in dem Maße, wie wir den Apparat der Finanzwirtſchaft, die Zahl der angeſtellten
Beamten immer weiter ausdehnen. Es iſt bekannt, wie wenig die republikaniſche Staats-
form die finanzielle Korruption der Volksvertreter und Beamten in großartigſtem Maß-
ſtabe hindert.
Die Schwierigkeit wächſt mit der Größe des Beamtenperſonals und mit ſeiner
geographiſchen Zerſtreutheit. Friedrich der Große ließ ſich 1752 eine Zuſammenſtellung
der aus den königlichen Kaſſen bezahlten Civilbeamten machen; es waren (ohne die
ſchleſiſchen) 8786 mit 787206 Thaler Gehalt. Nach einer neueren Zuſammenſtellung
von Zeller ſind (ohne Staatsgewerbe, Straßenbau und ohne Unterricht) im gewöhnlichen
Juſtiz-, Inneren- und Finanzdienſte 1889—90 beſchäftigt:
- in Württemberg 3093 Beamte mit 6,1 Mill. Mark Gehalt,
- - Baden 3384 - - 6,6 - - -
- - Bayern 10425 - - 20,3 - - -
- - Preußen 46281 - - 107,9 - - -
Einſchließlich der Staatsgewerbe, des Straßenbaues und der Schule waren in Württem-
berg 12525 ſtaatliche Beamte mit 21 Mill. Mark Gehalt, mit Geiſtlichen und Volks-
ſchullehrern 18896 vorhanden. In Preußen zählte Engel ſchon 1876: 9499 höhere,
[313]Die hiſtoriſche und verwaltungsrechtliche Ausbildung der ſtaatlichen Wirtſchaft.
25433 ſubalterne und 39217 Unterbeamte des Staates, zuſammen 74149. Im Jahre
1898 beſchäftigte die deutſche Reichspoſt ein Perſonal von 173976, das preußiſche
Staatsbahnſyſtem ein ſolches von 345903 Perſonen, worunter 113814 etatsmäßige,
15590 diätariſche Beamte und 216499 Arbeiter waren. Wie weit geht das hinaus
über die wenigen großen Privatgeſchäfte oder Aktiengeſellſchaften, die 10000 oder gar
40000 Perſonen beſchäftigen.
In nie ruhender Arbeit muß man verſuchen, ſolche Maſſen von Menſchen in
präciſer, einheitlicher, ineinandergreifender Thätigkeit zu erhalten, ſie bis zu dem Maße
von Ehrlichkeit und Fleiß, von Energie und Ausdauer zu bringen, das der Menſch ſo
viel leichter für ſich, ſo ſchwer im Dienſte anderer hat. Die allgemeine Zunahme der
Bildung, der Intelligenz, der Moralität iſt hiefür gewiß das Wichtigſte. Aber mit der
Größe des Verwaltungsapparates und der Zunahme der Verſuchungen, der Schwierigkeit
und Kompliziertheit der Aufgaben verſagen die Kräfte immer wieder. Die geographiſche
Zerſtreutheit des Perſonals, die Konflikte der Reſſorts, der oberen und unteren
Inſtanzen erſchweren die Ordnung und die Disciplin; die Einſchulung, die Schaffung und
Erhaltung der beſſeren Traditionen bietet ſtets erneute Schwierigkeit. Neben den all-
gemeinen Fortſchritten in Intelligenz und Moralität müſſen beſtimmte äußere techniſche
Hülfsmittel und Einrichtungen kommen, um den Beamtenapparat zu kontrollieren und
zu disciplinieren; ſie werden zugleich das Hauptmittel, ihn moraliſch und intellektuell
zu heben.
Dabei iſt das Wichtigſte ein geordnetes Schrifttum. Die Völker mit ausgebildetem
Schriftweſen, die Ägypter, die Römer, haben auch die erſten leidlich geordneten Finanzen
gehabt; doch hat erſt Auguſtus ein Verzeichnis aller Einnahmen, Vorräte und Kaſſen-
beſtände des römiſchen Reiches zuſtande gebracht. Das ganze Mittelalter hindurch
kämpften alle fürſtlichen Haushaltungen mit der Schwierigkeit, richtige Güter- und
Schuldenverzeichniſſe herſtellen zu können. Noch im 17. und 18. Jahrhundert ſchwebt
infolge der Unvollkommenheit der Aufzeichnungen in zahlreichen Staaten über Hunderten
von Gütern, über ebenſo vielen fiskaliſchen Rechten der Staaten die ſtete Unſicherheit,
wem ſie eigentlich zuſtehen. Und noch viel ſchwerer als den Beſitzſtand des Fiskus
und aller ſeiner Organe zu verzeichnen, fiel es den Behörden und Beauftragten, nach
und nach die täglichen Ausgaben und Einnahmen zu buchen und die Belege für ihre
Berechtigung zu ſammeln. Ein wie ausgebildetes Rechnungsweſen für ihre Finanzen die
Griechen und die Römer ſchon hatten, es war doch immer ſo unvollkommen, daß ſelbſt
die größten und edelſten Staatsmänner jener Tage ſamt und ſonders dem Verdachte
nicht entgingen, die Staatskaſſe um Hunderttauſende beſtohlen zu haben. Die Rechnungs-
führung der neueren Staaten iſt teilweiſe Jahrhunderte alt, vollkommen aber erſt
ſeit wenigen Menſchenaltern. Die jährliche Wirtſchaftsführung des Staates vor Beginn
des Jahres einheitlich zu überſchlagen, den mit einer Volksvertretung fixierten Über-
ſchlag, den ſogenannten Etat, dann der Wirtſchaftsführung zu Grunde zu legen, um ſo
einigermaßen gegen Zufälle und Wechſelfälle, gegen plötzliche Ebbe in der Kaſſe geſchützt
zu ſein, iſt heute wohl allgemein üblich, aber in Preußen z. B. nicht über 200 Jahre
alt. Es hat allerwärts langer Kämpfe bedurft, bis man ſich dieſem Zwange, der jetzt
meiſt geſetzlich genau vorgeſchrieben und in ſeiner Durchführung ſicher geſtellt iſt, fügte.
Und ebenſo lange hat es gedauert, bis ein geordnetes Rechnungsweſen mit Belegen
und genauer Nachprüfung, ein ganz geordnetes einheitliches Kaſſenweſen mit abſolut
genauer rechtlicher Beſtimmung, wer jede Ausgabe anzuweiſen habe, entſtand. Heute
wird jeder Schritt des ganzen ſtaatlichen Finanzapparates ſchriftlich fixiert und mehrfach
nachgeprüft, jeder bewegt ſich in feſten Formen und Formularen, die ihn legitimieren.
Ein bis ins kleinſte Detail ausgebildetes Finanz- und Disciplinarrecht hat all’ das
fixiert, ein ausgebildetes Steuergeſetz- und Steuerſtrafrecht umgiebt jede fiskaliſche
Forderung mit den Kautelen gegen Mißbrauch.
Endlich iſt eines wichtigen Mittels zu gedenken, das den Schattenſeiten einer allzu
ausgedehnten Beamtenwirtſchaft mit ihrer Patronage, ihrem Strebertume, ihrer Neigung,
Gehalte ohne zu viel Anſtrengung einzuſtreichen, entgegenwirkt: das unbezahlte E[h]ren-
[314]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
amt der Beſitzenden und Gebildeten, der zeitweiſe Militärdienſt aller Staatsbürger gegen
geringe Entſchädigung. Indem viele Tauſende heute als Geſchworene, Schöffen, Steuer-
einſchätzer, Abgeordnete, als Reſerve- und Landwehroffiziere, als Soldaten zeitweiſe für
den Staat thätig ſind, werden ihm große Summen erſpart, wird neben den Söldnergeiſt
der zahlreichen mittelmäßigen Beamten ein ganz anderes, bürgerlich unabhängiges Ele-
ment in die Staatsmaſchine eingefügt. Wir haben darauf oben (S. 305/6) ſchon hin-
gewieſen. Da die Herſtellung eines ſolchen Mechanismus mit der Arbeitsteilung der
heutigen Geſellſchaft in einem natürlichen Widerſpruche ſteht, ſo iſt er nur in einem
mäßigen Umfange möglich und muß den Anforderungen der arbeitsteiligen Geſellſchaft,
den Carrieren und Berufsſtellungen, dem Einkommen der Betreffenden vorſichtig angepaßt
ſein. Die Leiſtungen in ſolchen Ehrenämtern behalten teilweiſe notwendig etwas Dilettan-
tiſches; ſie laſſen ſich, wo den Betreffenden ein größerer Einfluß eingeräumt wird, nicht
freihalten von egoiſtiſch-wirtſchaftlichen Mißbräuchen, denen dieſe Elemente mehr als
eigentliche Staatsbeamte unterliegen; man hat deshalb ſchon geſagt, die ehrenamtliche
Selbſtverwaltung und der Parlamentarismus mit ſeinen Majoritätsbeſchlüſſen ſei eine
Art Klaſſenherrſchaft. Und es muß daher der Hauptteil und Schwerpunkt der ſtaatlichen
Arbeit bei berufsmäßig geſchulten, ganz dem Staatsamte lebenden bezahlten Beamten
bleiben. Aber die Einrichtung iſt ein notwendiges und heilſames Korrektiv der geld-
bezahlten, arbeitsteiligen Beamten- und Berufsſoldatenarbeit; ſie erzieht die ehrenamtlich
Thätigen zu politiſchem Verſtändniſſe, erhebt den Bürger über ſein egoiſtiſches Sonder-
intereſſe auf das Niveau der Geſamtintereſſen, erzeugt in ihnen ein höheres Streben
und ein ſtaatliches Bewußtſein. Sie iſt vor allem im Gemeindeleben in breiterer
Weiſe zu benutzen, wie wir gleich ſehen werden.
Immer wird hiedurch wie durch das vollkommenſte Beamtenrecht, das beſte
Beſoldungsſyſtem, die ſtraffſte Disciplin und Kontrolle des Beamtentums nichts abſolut
Vollkommenes zu erreichen ſein. Nur nach dem Maße alles Menſchlichen darf hier
gemeſſen werden. Gewiß ſind heute in den Kulturſtaaten die gröbſten, früher üblichen
Mißbräuche beſeitigt; die Herrſchenden und die Beamten haben nur ausnahmsweiſe noch
ihre Hände in den Taſchen des Fiskus, auch die zahlloſen kleinen Mißbräuche der
Beamten ſind etwas weiter zurückgedrängt bei uns als in Rußland oder in den Ver-
einigten Staaten. Aber niemand wird behaupten, daß alle Beamten für ihr Amt ſo
intereſſiert ſeien wie für ihr Vermögen, niemand wird leugnen, daß ſelbſt in Deutſch-
land auf 30 ausgezeichnete und fähige Staatsdiener 50 mittelmäßige und 20 ſchlechte
und indolente kommen. Damit iſt heute, damit wäre in unendlich geſteigerter Pro-
portion zu rechnen, wenn die Staatsthätigkeit im Sinne des Socialismus die ganze
Volkswirtſchaft erfaßte.
111. Die heutige Einwohnergemeinde und ihre Wirtſchaft. Liegt
die Hauptſchwierigkeit eines immer größer werdenden Staatshaushaltes in der Schwer-
fälligkeit und Unkontrollierbarkeit des perſönlichen Rieſenapparates der ungeheuren
Geldverwaltung, ſo liegt es nahe, daß, je größer die Staaten und ihre Aufgaben werden,
ſie deſto mehr die Provinzen, Kreiſe und Gemeinden als halb ſelbſtändige Gebiets-
körperſchaften organiſieren, ihnen beſtimmte Zwecke auftragen und die Mittel hiefür
überlaſſen müſſen. Wir haben darauf ſchon oben hingewieſen; es in allen Einzelheiten
hier darzuſtellen, iſt nicht unſere Aufgabe. Nur von der wichtigſten dieſer Bildungen,
der modernen Einwohnergemeinde und ihrer Wirtſchaft, iſt hier noch kurz zu reden.
Die heutige Gemeinde iſt eine unter ſtaatlicher Oberhoheit ſtehende Gebiets-
körperſchaft, welche nicht mehr kraft Sonderrechts und Privilegs, ſondern nach allgemein
gültigen Rechtsgrundſätzen die auf dem Gebiete befindlichen Grundſtücke und Wohnungen
und die dauernd da ſich aufhaltenden Perſonen zwangsmäßig zu gemeinſamen, weſentlich
auch wirtſchaftlichen Zwecken zuſammenfaßt; ihre Organe ſind nicht mehr, wie zeitweiſe
im 17. und 18. Jahrhundert, zu reinen Staatsorganen herabgedrückt; das Gemeinde-
gebiet iſt nicht mehr eine bloße geographiſche Abteilung des Staatsgebietes wie damals.
Die Gemeinde ſteht unter dem ſtaatlichen Geſetze, führt vielfach ſtaatliche Aufträge aus;
ihre eigenen Aufgaben ſind ihr vom Geſetze zum großen Teile vorgeſchrieben; aber ſie
[315]Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirtſchaft.
hat ſelbſtändige Organe, ein ſelbſtändiges Vermögen, eine eigene Kaſſe, ſie hat eine
Sphäre freier Thätigkeit, wenn ſie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä-
ciſierten Rechtsſphäre gegenüberſteht, ähnlich wie der Staat dem Bürger.
Die heutige Gemeinde iſt keine geſchloſſene Genoſſenſchaft, die beliebig die Auf-
nahme verweigern, den Abzug erſchweren kann. Sie muß nach den Grundſätzen der
heutigen Freizügigkeit und Niederlaſſungsfreiheit jeden Einwohner dulden, der nach den
Staatsgeſetzen ſich in ihr niederläßt. Sie kann nicht mehr, wie die mittelalterliche Stadt,
eine ganz ſelbſtändige Wirtſchaftspolitik verfolgen; ſie kann in ihren Gliedern nicht mehr
den hingebenden lokalen Patriotismus, nicht mehr den zähen, harten Lokalegoismus
erzeugen. Die Hälfte der in ihr Wohnenden ſind häufig heute an anderem Orte geboren,
was freilich nicht ausſchließt, daß die meiſten älteren, am Orte ſchon Jahre lang An-
ſäſſigen mit dem Gedeihen und Leben der Gemeinde ſo enge verwachſen, daß aus dem
Kreiſe dieſer heraus eine geſunde Kommunalverwaltung entſteht, wie ſie unſere neueren
Städteordnungen und Gemeindegeſetze herzuſtellen ſuchen. Die Gemeindeverfaſſung jedes
Landes iſt nicht bloß politiſch und ſocial von der größten Bedeutung, ſondern auch
wirtſchaftlich. Wo ein geſundes, kräftiges Kommunalleben beſteht, wo die gebildeten
und beſitzenden Bürger, bis zum Mittel- und Arbeiterſtande herab, zum unbezahlten
Ehrendienſte für die Gemeinde herangezogen werden, da entſteht in der Bürgerſchaft ein
kräftiger, gemeinnütziger Sinn, da lernen die oberen Klaſſen die Intereſſen der unteren
aus eigener Anſchauung kennen, da erhält der egoiſtiſche Erwerbstrieb der einzelnen ſein
notwendiges Korrektiv durch die lebendigen Nachbargefühle und durch die Einſicht in
den engen Zuſammenhang des Gedeihens aller Glieder der Gemeinde unter einander
und die Abhängigkeit aller von der gemeinſamen guten oder ſchlechten Lokalverwaltung.
Die wirtſchaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde ſind nicht mehr dieſelben
wie in Dorf und Stadt des Mittelalters. Der Bauer und der Stadtbürger haben heute
eine viel ſelbſtändigere Wirtſchaft, eine viel größere Sphäre individueller Freiheit, beide
haben nicht mehr bloß lokale Intereſſen, hängen vielfach von der Handels- und Steuer-
politik des Staates mehr ab als von der des Ortes. Aber Nachbarn ſind die Dorf-
wie die Stadtbewohner nicht bloß geblieben, ſondern durch das enge Wohnen, durch die
Fortſchritte der Technik, durch das zunehmende geiſtige Leben, durch die wachſende Be-
deutung gemeinſamer Veranſtaltungen noch mehr geworden als früher. Die Solidarität
und Abhängigkeit des einen Nachbarn vom anderen iſt gewachſen, und damit haben ſich
die Aufgaben der Nachbarverbände vermehrt, ſo viel ſie andererſeits an größere Verbände
und den Staat abgegeben haben.
Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde ſei ein wirtſchaftlicher
Nachbarverband, der Staat ein Herrſchaftsverband zu Macht- und Rechtszwecken, das
Geheimnis gefunden zu haben, um aus ihr alle Staats- und Gemeindezwecke, ihre
gegenſeitige Abgrenzung und die richtigen Mittel zu ihrer Durchführung ableiten zu
können. Aber auch der Staat wirtſchaftet, auch die Gemeinde lebt nach Rechtsgrundſätzen
und hat eine gebietende und verbietende Zwangsgewalt. Beide ſind weſensverwandte
Gebietskörperſchaften; nur das iſt richtig, daß beim Staate heute die Macht- und Rechts-
organiſation voranſteht, bei der Gemeinde die gemeinſamen wirtſchaftlichen Aufgaben.
Wir werden unten noch davon zu ſprechen haben, wie neuerdings die wirtſchaft-
lichen Gemeindeaufgaben gewachſen ſind. Wir erwähnen hier nur kurz das Wichtigſte:
die Regulierung des Trinkwaſſers, die Abfuhr der Fäkalien, das Wege- und Bebauungs-
weſen, die Pflaſterung und Beleuchtung, die lokalen Verkehrseinrichtungen, die Kirchen-
und Schulverwaltung, die Armenunterſtützung, das ſind die wichtigſten der neueren
wirtſchaftlichen Funktionen der Gemeinde. Und meiſt ſtehen darunter drei voran: das
Wege- und Verkehrsweſen, das Schulweſen und die Wohlthätigkeitseinrichtungen. Im
Jahre 1883—84 gaben die ſämtlichen preußiſchen Stadtgemeinden von 272 Mill. Mark
65 für Wege, Verkehr und gewerbliche und gemeinnützige Anſtalten, 62 für Unterricht,
36 für Armenweſen, zuſammen 163 Mill. aus; die anderen erheblichen Zwecke koſteten
folgende Summen: 18 Mill. die ſtaatlichen Zwecke, 24 die Gemeindeverwaltung, 27 das
Schuldenweſen; der Reſt verteilte ſich auf verſchiedene Aufgaben.
[316]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Damit iſt auch der Charakter der modernen Gemeindewirtſchaft beſtimmt. Sie iſt
nicht mehr wie einſt eine dorfgenoſſenſchaftliche Geſamtwirtſchaft, d. h. Verwaltung eines
von den Genoſſen genutzten Eigentums, ſondern eine der Staatsfinanz ähnliche und ihr
nachgebildete Vermögens-, Schulden- und Steuerverwaltung, nebſt einer Summe ſpeciali-
ſierter Anſtaltsverwaltungen, wie die Kirchen-, Schul-, Straßen-, Wege-, Waſſerwerks-,
Gasanſtalts-, Armen-, Krankenhaus-, Sparkaſſen-, Leihhausverwaltung und Ähnliches mehr.
Ein Teil der Gemeinden hat noch aus alter Zeit Forſten, Kämmereigüter, Reſte
der Allmende und bezieht daraus ein wertvolles, die Steuerlaſt erleichterndes Einkommen,
kann auch da und dort noch ihren Gliedern freies Holz, Waldweide, einem Teile derſelben
gegen mäßige Bezahlung ein Stückchen Kartoffelland liefern. Überall hat die Gemeinde
für Meliorationen und Wegeanlagen, für Wohnungsreform und Errichtung öffentlicher
Anſtalten, Gebäude, Schulen, Kirchen, Parks, wie für ihre ganze Finanzgebarung durch
ſolchen Grundbeſitz eine wertvolle Stütze. Der größere Teil des Gemeindevermögens
beſteht allerwärts aus Gebäuden für den Gemeinde-, Schul-, Kirchen- und ſonſtigen
Dienſt und aus den Wegen und öffentlichen Plätzen; dieſer Teil giebt keine oder nur
nebenbei eine geringe Einnahme; er wirkt durch ſeine direkte Nutzung; auch Muſeen,
Bibliotheken und Ähnliches gehören hieher. Einen dritten Beſtandteil des Gemeinde-
vermögens bilden die öffentlichen Gemeindeanſtalten, wie ſie beſonders die großen Städte
in ihren Waſſerwerken, Gasanſtalten, Schlachthäuſern, Sparkaſſen, Leihhäuſern, Markt-
hallen ꝛc. haben. Dieſe Anſtalten laſſen ſich ihre Leiſtungen im ganzen nach ihrem
Werte bezahlen; einige erheben noch in der Bezahlung Steuern, d. h. ſie ſtellen ihre
Preiſe ſo, daß große Überſchüſſe für die Gemeinde ſich ergeben. Dazu kommt endlich
das unter Gemeindeverwaltung ſtehende Stiftungsvermögen und eigenes werbendes
Kapital. Im Weſten der Vereinigten Staaten hat die township als Lokalgemeinde die
Wurzeln ihrer Kraft dadurch erhalten, daß 1/36 alles Grund und Bodens ihr als Schul-
fonds angewieſen wurde.
Allen dieſen Vermögenspoſten ſtehen nun die wachſenden Gemeindeſchulden gegen-
über; ſie überſteigen jetzt vielfach das Vermögen; die engliſchen Selbſtverwaltungskörper
hatten 1881—82 auf 50 Mill. ₤ Jahresausgabe 140 Mill. ₤ Schulden, die franzöſiſchen
Gemeinden 1876—77 auf 239 Mill. Francs Ausgabe 1988 Mill. Francs Schulden;
ſelbſt die öſtlichen preußiſchen kleinen Landgemeinden hatten 1890 37 Mill. Mark
Schulden. Berlin hatte 1889 eine fundierte Stadtſchuld von 163 Mill. Mark, der
allerdings ein Wert von 120 Mill. in den großen Anſtalten der Stadt gegenüber-
ſtand. Paris hatte 1885 eine Schuld von 1810 Mill. Francs. Immer iſt heute die
Verſchuldung der Städte verhältnismäßig wohl noch nicht ſo groß wie gegen 1600;
das Schuldenweſen iſt gut geordnet und vom Staate kontrolliert; es bildet ein die
Gemeindeglieder verbindendes Band.
In Bezug auf die Geldmittel, welche die Gemeinde ſich jährlich von den Bürgern
und Einwohnern verſchaffen muß, unterſcheidet ſie ſich vom Staate hauptſächlich in
folgendem. Sie hat, wenigſtens die größere Stadt, meiſt eine verhältnismäßig bedeutende
Anſtaltsverwaltung (Gas-, Waſſerwerke, Markthallen), für welche ſie ſich in privat-
wirtſchaftlicher Weiſe bezahlen läßt. Sie hat mehr als der Staat Gelegenheit, das Ge-
bührenſyſtem auszubilden, wird ſich häufiger als er für beſtimmte Leiſtungen, z. B. den
Schulunterricht, wenigſtens teilweiſe durch tarifierte Geldanſätze bezahlen laſſen. Noch mehr
wird ſie für viele ihrer Thätigkeiten, wie z. B. für Pflaſterung und Straßenreinigung,
ſtatt eigentlicher Steuern, welche alle Bürger nach der Leiſtungsfähigkeit heranziehen,
ſogenannte Beiträge erheben, die von denen zu zahlen ſind, die den Vorteil haben, und
nach dem Maßſtabe, nach welchem ſie ihn haben. Nur bleibt ſtets die gerechte Bemeſſung
dieſer Beiträge ſehr ſchwierig, da doch immer ſchematiſch und nicht nach individueller
Bewertung verfahren werden muß. Die ſtärkere Ausbildung der Gebühren und Beiträge
hat man mit Recht vielfach neuerdings als eine Hauptpflicht der Gemeinde betont; auch
die Vorliebe der Gemeindepolitiker für Grund-, Gebäude- und Mietsſteuer beruht auf
dem Gedanken, daß dieſe Steuern dem Princip der Beiträge, der Bezahlung nach dem
Vorteile ſich nähern. Jedenfalls aber ſind für Unterricht, Armenweſen und alle anderen
[317]Die Einnahmen der Gemeinde.
den Staatsaufgaben näher ſtehenden Gemeindeaufgaben Steuern nach der allgemeinen
Leiſtungsfähigkeit nicht zu entbehren.
Die älteren indirekten Steuern, welche die Gemeinden, beſonders die Städte, bei
ſich ausgebildet hatten, hat der Staat ihnen vielfach genommen, weil ſie die Handhabe
einer lokalen, egoiſtiſchen, wirtſchaftlichen Sonderpolitik waren, und die Staatsbeamten
techniſch zur Verwaltung der indirekten Steuern viel fähiger ſind. Auch die ſelbſtändigen
direkten Kommunalſteuern gingen auf dem Kontinente meiſt von 1600—1850 in
Staatsſteuern über, während England ſein beſonderes Lokalſteuerſyſtem auf Grund des
ſichtbaren äußeren Vermögensbeſitzes beibehielt. So ſind die Kommunen heute auf dem
Kontinente überwiegend auf Zuſchläge zu den direkten Staatsſteuern angewieſen, was
die Gemeinden in vieler Beziehung lähmt und hindert. Es iſt daher ein glücklicher
Gedanke, daß man in Preußen den Ertrag der Grund-, Gebäude- und Gewerbeſteuer
ganz den Gemeinden überlaſſen hat.
Ausreichen mit den Gemeindeſteuern wird man trotzdem nicht, zumal in den
kleineren und ärmeren Gemeinden und gegenüber den zunehmenden Staatsaufträgen und
vom Staate geforderten Zwangsausgaben. Nie ſollte der vom Staate auf die Gemeinden
in dieſer Richtung geübte, in gewiſſem Umfange freilich notwendige Druck ſo weit gehen,
daß die Gemeinde zur bloßen Abwehrverbindung gegen ſtaatliche Zumutungen wird.
Im übrigen iſt zu helfen durch Schaffung größerer, leiſtungsfähigerer Gemeinden,
durch Übertragung einzelner Aufgaben von den Gemeinden auf das Amt, den Kreis, den
Bezirk, ferner dadurch, daß die Gemeinden vom Staate oder den größeren Verbänden
mit Kapital oder jährlichen Zuſchüſſen dotiert werden oder ſchließlich, was die beſte
Form iſt, dadurch, daß ſie für beſtimmte Zwangsaufgaben, die ſie nach dem Geſetz erfüllen
müſſen, durch ſtaatliche Vorſchüſſe und Zuſchüſſe ſubventioniert werden, die ſich einer-
ſeits nach ihrer Bedürftigkeit, andererſeits nach ihrer eigenen Aufwendung richten. Indem
in ſteigendem Umfange komplizierte, gerechte Maßſtäbe für ſolche Subventionen gefunden
werden, erhält man die Selbſtthätigkeit und das Selbſtintereſſe der Gemeinden und
kommt zugleich zu einem paſſenden Zuſammenwirken von Staat und Kommune. —
112. Geſamtergebniſſe. Das neuere Anwachſen der wirtſchaft-
lichen Staats- und Gemeindethätigkeit, ihre Grenze und Verſchieden-
heit. Der vorſtehende Überblick über die Geſchichte und den gegenwärtigen Beſtand
der gebietskörperſchaftlichen Wirtſchaften und öffentlichen Haushalte konnte und ſollte
den Gegenſtand nicht erſchöpfen, ſondern nur die Hauptpunkte hervorheben; zumal auf die
Wirtſchaften der Kirchen, der Stiftungen, der humanitären Korporationen und Vereine,
welche A. Wagner der Volkswirtſchaft als ein beſonderes caritatives Syſtem neben Gemein-
wirtſchaft und Privatwirtſchaft einfügen will, iſt dabei gar nicht eingegangen; zunächſt
des Raumes und ihrer geringeren Bedeutung wegen, dann aber auch, weil die wirtſchaft-
lichen Aufgaben und die finanziellen Mittel, ebenſo die Licht- und Schattenſeiten aller
dieſer Organe doch im Grunde mit denen von Staat und Gemeinde identiſch oder nahe
verwandt ſind, nur eigentümliche Abarten derſelben darſtellen. Wir haben hier zum
Schluß nur noch ein zuſammenfaſſendes Wort über das Reſultat unſerer Unterſuchung
und über die neueſte Entwickelung beizufügen.
Wir ſahen, daß aus genoſſenſchaftlichen herrſchaftliche Wirtſchaftsgebilde, gebiets-
körperſchaftliche Organiſationen entſtehen, daß an ihrer Spitze öffentliche Haushalte
ſich bilden, die über allen anderen Wirtſchaftsorganen des Gebietes ſtehen, daß an
die herrſchaftliche Spitze von Staat und Gemeinde ſich wirtſchaftliche Inſtitutionen an-
ſchließen, welche das ganze Wirtſchaftsleben beeinfluſſen oder beherrſchen. Wir ſahen,
daß die Ausbildung der Volkswirtſchaft, der öffentlichen Haushalte und der ſtaatlichen
Wirtſchaftsinſtitutionen nur Glieder eines und desſelben großen Prozeſſes ſind. Die
öffentlichen Haushalte bilden den Kern der Staats-, Macht- und Rechtsorganiſation,
den Mittelpunkt der Volkswirtſchaft, den ernährenden Quell für alle Staatsverwaltung
und alle ſtaatlichen Wirtſchaftseinrichtungen. Die geſamte Verwaltung von Staat und
Gemeinde iſt ſo beſtimmend für alle volkswirtſchaftlichen Zuſtände, daß ohne ihre
Kenntnis nur über wenige Gebiete der Volkswirtſchaft ein begründetes Urteil möglich
[318]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
iſt. Der öffentliche Haushalt bietet das Werkzeug, die Stadt, das Territorium, den
Staat durch die Zoll- und Handelspolitik in richtige Beziehung zu den Nachbargebieten
und anderen Volkswirtſchaften zu bringen; davon wird im letzten Buche näher die Rede
ſein. Von den übrigen großen, bisher nicht behandelten Wirtſchaftsinſtitutionen der
neueren Zeit (z. B. vom Maß- und Gewichtsweſen, Münzweſen, Kreditweſen, Bank-
politik ꝛc.) wird weiterhin im einzelnen zu handeln ſein. Das Wichtigſte, was wir
hier feſtzuhalten haben, iſt die principielle Frage nach den Zwecken der öffentlichen
Haushalte und der öffentlichen Anſtalten, da wir im bisherigen mehr die Mittel der
erſteren erörtert haben. Und unter den Zwecken von Staat und Gemeinde ſtehen für
uns die primären voran, nicht die ſekundären, welche bloß um der Einnahmen willen
verfolgt werden. Die Frage ſpitzt ſich darauf zu, welche Urſachen den Gebietskörperſchaften
den einen Teil der wirtſchaftlichen oder wirtſchaftliche Mittel erfordernden Funktionen,
den privatwirtſchaftlichen Organen, Familie und Unternehmung, den anderen zugewieſen
haben. Wir werden ein letztes Wort darüber erſt nach Unterſuchung der Unternehmung
ſagen können; hier aber muß das Wichtigſte zur Charakteriſierung der wirtſchaftlichen
Rolle von Staat und Gemeinde beigefügt werden.
Das urſprüngliche Wirtſchaftsleben iſt auf Ernährung, Kleidung, Wohnung,
Herrichtung gewöhnlicher Werkzeuge, einfache Dienſtleiſtungen gerichtet; alles Derartige
beſorgt am einfachſten und billigſten das Individuum, die Familie, die Unternehmung,
welche Produkte oder Dienſte für andere auf dem Markte nach dem Princip von Leiſtung
und Gegenleiſtung mit Gewinnabſicht verkauft. Wenn nun mit ſteigender Kultur und
zunehmender Bildung größerer ſocialer Körper ein Teil der Befriedigung menſchlicher Be-
dürfniſſe auf die öffentlichen Haushalte und Anſtalten, ein anderer aber nicht übergegangen
iſt, ſo muß die Urſache darin liegen, daß von den geſteigerten und differenzierten Be-
dürfniſſen ein Teil, der ältere, einfachere, natürlichere, im ganzen doch beſſer durch die
privatwirtſchaftlichen, ein anderer, der ſpätere, höhere, kompliziertere, beſſer durch die öffent-
lichen Organe befriedigt wird. Zu jenen Bedürfniſſen gehören alle die, welche jeder ohne
weiteres fühlt, die im Geſichtskreiſe jedes Alltagsmenſchen liegen, deren Befriedigungs-
mittel in der Familie und auf dem Markte jeder kennt und durchſchnittlich richtig
beurteilen kann; es iſt heute ſo noch der größere Teil aller gewöhnlichen wirtſchaftlichen
Bedürfniſſe, für welche Familie und Unternehmung Beſſeres und Billigeres leiſtet; ſchon
um ihrer einfacheren Organiſation willen ſind ſie vorzuziehen. In dem Maße aber, als die
höheren, feineren Bedürfniſſe wachſen, als es ſich um größere ſociale Körper, ihre Ein-
richtungen und Wirkungen, die nicht jeder begreift und überſieht, handelt, als vielerlei
Bedürfnisbefriedigung durch die Arbeitsteilung, die ſocialen Klaſſenkämpfe, die komplizierte
Einkommensverteilung ſchwieriger, von vielen Mittelurſachen abhängiger wird, als es ſich
um ein dichteres Wohnen, um eine höhere, für die Maſſen oft unverſtändliche Technik
handelt, als für die Bedürfniſſe der Zukunft ſchon heute geſorgt, als für die Geſamt-
heit der nationalen Exiſtenz, der Volksbildung und Volksgeſundheit gehandelt werden
muß, für welche dem Alltagsmenſchen in ſeinem Egoismus das Verſtändnis fehlt, —
da verſagt die Privatwirtſchaft, da muß die Gemeinſchaft in ihrer Rechts- und Macht-
organiſation oder es müſſen, wenn ſie unfähig iſt, ſtellvertretend Vereine und Korpo-
rationen eintreten, welche das gemeine Wohl, ſeine Bedürfniſſe und Zwecke verſtehen. Wir
werden ſo ſagen können, die zunehmende wirtſchaftliche Thätigkeit der öffentlichen Organe
ſei das Ergebnis der höheren geiſtigen, moraliſchen und techniſchen Kultur überhaupt, des
zunehmenden Sinnes für die zeitlich und örtlich auseinander liegenden Zwecke, ſei die
Folge der wachſenden Vergeſellſchaftung und komplizierteren Staats- und Geſellſchafts-
verfaſſung. Wir werden freilich gleich hinzufügen: dieſe Bedürfniſſe zu erkennen und
zu befriedigen, ſei viel ſchwerer, ſei, wie wir ſahen, nicht zu ermöglichen ohne geſell-
ſchaftliche Apparate, welche Mißbrauch, Irrtum, große Koſten, Freiheitsverluſte, despotiſche
Vergewaltigungen in ſich ſchließen. Alſo werde die Verfolgung dieſer Zwecke durch
Staat und Semeinde immer nur dann überwiegend von Segen ſein, wenn es gelingt,
über dieſe Schwierigkeiten einigermaßen Herr zu werden. Gelingt es nicht, ſo wird
man teils die Zwecke wieder fallen laſſen müſſen, teils ſie Vereinen oder auch der
[319]Der Gegenſatz von privater und öffentlicher Wirtſchaft.
Privatwirtſchaft, obwohl ſie principiell und im ganzen hiefür weniger taugt, zurückgeben.
Die geſchichtliche Entwickelung wird ſo in einem ſteten Vordringen der öffentlichen An-
ſtalten innerhalb des für ſie paſſenden Gebietes, aber auch in einem häufigen Zurück-
weichen verlaufen. Aber ſtets wird der Privatwirtſchaft ihr eigentliches Gebiet bleiben.
Und ſtets wird die Schwankung zwiſchen Vordringen und Zurückweichen dadurch kom-
plizierter werden, daß die Staats- und die Unternehmerthätigkeit, ihre Formen und
Gepflogenheiten ſehr verſchieden ſich geſtalten können; die große Unternehmung hat mit
ähnlichen Schwierigkeiten wie Staat und Gemeinde zu kämpfen; ſie kann aber auch die
Vorzüge dieſer ſich aneignen, kann durch weitſichtige, gemeinnützige Leitung, durch ſtaat-
liche Kontrolle, durch Abgabe eines Teiles ihrer Gewinne an Staat und Gemeinde ſich
dieſen nähern; auch die ſtaatliche Anſtalt kann die Einrichtungen der Privatunternehmung
ſich aneignen; es können gemiſchte Formen der Organiſation ſich bilden.
Sehen wir das einzelne in Staat und Gemeinde noch etwas näher an.
a) Die heutige Gemeinde hat ein viel dichteres Wohnen und durch die
moderne Technik eine unendlich kompliziertere, nur von wenigen Sachverſtändigen erkannte
Einwirkung der Nachbarn aufeinander. Der Zuſtand der Aborte und Dungſtätten, des
Trinkwaſſers, die Beſeitigung der Fäkalien, die mögliche Wirkung von Dampf und
Elektricität, von Rauch und Lärm, von Feuers- und Exploſionsgefahr auf die Nachbarn,
das Zuſammenwohnen von 5—40 ſtatt von 1—2 Familien auf einem Grundſtücke, die
Ordnung der Wege, der Platzanlagen, der Friedhöfe, die Beleuchtung der Märkte und
Straßen, die Verknüpfung aller Häuſer und Straßen durch ober- und unterirdiſche
Leitungen aller Art hat einen techniſch-wirtſchaftlichen Zuſtand geſchaffen, wobei nur
einheitliche Ordnungen, einheitliche Anſtalten die einſchlägigen Bedürfniſſe befriedigen
können. Nun kann gewiß auch heute noch ausnahmsweiſe ohne zu große Mißſtände
die Waſſerleitung, die Gasanſtalt, das Elektricitätswerk, das Abfuhrweſen, das Schlacht-
haus, die Markthalle in Privat-, Vereins- oder Aktienhänden liegen; aber das Monopol,
das entſteht, muß dann ſehr ſtreng in Leiſtungen und Preiſen kontrolliert, es muß durch
Abgabe eines Teiles des Monopolgewinnes an die Gemeinde korrigiert werden; es
erzeugt ſonſt nur zu leicht übergroße Gewinne für die Inhaber, ſchlechte Bedienung
des Publikums. Die Übernahme auf die Gemeinde iſt oft mit etwas größeren Koſten,
meiſt aber auch mit beſſerer Behandlung der Arbeiter und Beamten, mit beſſerer Ver-
ſorgung aller Bürger verbunden.
Die Befriedigung der religiöſen Bedürfniſſe, die der Erziehung der Jugend hat
früh zu geſellſchaftlichen Organiſationen geführt; Kirche und Gemeinde traten ein; es iſt
klar, daß die Nachbarskinder billiger und beſſer durch einen gemeinſamen Lehrer im
gemeinſamen Schulhauſe unterrichtet werden, daß ohne dieſe Einrichtung nur die Reichſten
ſich einen Lehrer halten können. Heute kommen dazu Fortbildungs-, Ackerbau-, Gewerbe-
ſchulen, Bibliotheken, Theater, Muſik-, Turn- und Feſthallen, Spielplätze und Parks; auch
Derartiges kann in Privat- oder Vereinshänden ſein; am beſten aber ſorgt doch wohl
die Gemeinde dafür, ſofern ſie richtig organiſiert, nicht von einer Clique beherrſcht iſt.
Man hat mit Recht heute oft ſchon gefragt, ob nicht die allgemeinen Vergnügungen
und ihre Lokale, die Wirtshäuſer, Theater, Muſikaufführungen beſſer unter Gemeinde-
kontrolle oder -Verwaltung ſtünden; der private Erwerbstrieb wenigſtens hat hier vielfach
zur Großziehung von Laſter und Mißbrauch geführt; er macht die größten Wucher-
gewinne, wenn er dem Leichtſinne des Augenblickes dient. Das Verlangen der Muni-
cipaliſierung des Schankweſens wurde neulich von einem Gemeinderate Mancheſters
aufgeſtellt.
Die Unterſtützung und Erhaltung Kranker, Bedürftiger, Verunglückter war ur-
ſprünglich Sache der Gentilverbände, ſpäter der Großfamilien und Grundherrſchaften,
der Dorf-, Zunft- und anderen Genoſſenſchaften, aushülfsweiſe auch der Kirche geweſen;
als dieſe Organiſationen verſagten, ſich auflöſten, zahlreiche Bettler entſtanden, legte der
Staat der Gemeinde als ſolcher die Pflicht der Armenunterſtützung auf, und dies
erſchien allerwärts um ſo natürlicher, als der Wohlſtand, die Geſittung und die
Arbeitsgelegenheit am Orte von den guten oder ſchlechten Gemeindeverwaltung weſentlich
[320]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
mit abhängt. Notſtandsarbeiten im Winter können große Städte viel beſſer in die
Hand nehmen als der Staat. Wir kommen auf das Armenweſen unten zurück. Für
die Verſorgung der Irren und Blinden, für den Bau der Armen-, der Kranken-, der
Waiſenhäuſer hat man neuerdings meiſt große Kommunalverbände geſchaffen, weil die
einzelne Gemeinde zu klein, zu arm iſt, ſolche Anſtalten in zu kleinem Maßſtabe anlegen
müßte. Teilweiſe hat man auch die Feuer-, Hagel-, die Viehverſicherung Gemeinden
oder größeren Kommunalkörpern in die Hand gegeben. Die Krankenverſicherung, wie
ſie neuerdings in vielen Ländern geſetzlich erzwungen wurde, liegt teils in Gemeinde-
händen, teils in den Händen lokaler Kaſſen, die von der Gemeinde und dem Staate
kontrolliert werden. Auch die Kreditorganiſationen für die ärmeren Klaſſen, die Spar-
kaſſen, die Pfandleihanſtalten, da und dort auch Banken und Pfandbriefinſtitute ſind
vielfach mit Erfolg in Gemeindehänden.
An einzelnen Punkten hat man die Leiſtungen der Gemeinde teils heute ſchon
unentgeltlich gemacht, teils die Unentgeltlichkeit verlangt: man hat da und dort ſchon
freien Unterricht in der Volksſchule gewährt, hauptſächlich im Geſamtbildungsintereſſe
der Nation; diskutierte Fragen ſind die Unentgeltlichkeit der Lehrmittel, des warmen
Frühſtücks und der Bäder für die Schulkinder, dann die des Ärztedienſtes und der
Arzneimittel, der Beerdigung für alle; ferner die der Rechtsbelehrung in beſonderen
Bureaus, des Arbeitsnachweiſes. Es handelt ſich dabei um kleine ſociale Hülfen für die
Ärmeren, um eine Bedürfnisbefriedigung, welche erwünſcht iſt und doch unterbleibt
oder ſehr ſchwer drückt, ſobald direkte Bezahlung gefordert wird. Immer werden ſolch’
unbezahlte Gemeindedienſte nicht ſehr weit gehen dürfen, wenn ſie nicht die Selbſt-
thätigkeit und Selbſtverantwortung lähmen ſollen.
Wo die Gemeinde, wie jetzt in raſch zunehmender Weiſe in England und ſonſt,
Elektricitäts-, Waſſer-, Gaswerke, Pferdebahnen in eigener Regie unterhält, wo ſie, wie
vereinzelt geſchieht, auf Gemeinderechnung Bäckerei, Milch- und Kohlenhandel, Lager-
häuſer, Apotheken, Volksküchen betreibt, Wohnungen baut, große vorſtädtiſche Land-
ſtrecken zum Zwecke der Beherrſchung des Baugeſchäftes kauft, da läßt ſie ſich mindeſtens
die Koſten erſetzen und muß das, weil hier der Vorteil für die Benutzer klar und einfach
zu berechnen iſt, eine Unterhaltung aus Steuermitteln ungerecht wäre, kommuniſtiſche
Begehrlichkeit erzeugte, Fleiß und Sparſamkeit vernichtete. Die Urſache, daß die Ge-
meinde auf den erſtgenannten Gebieten vordringt, iſt einfach; ſie bedient alle gerechter;
ſie ſucht nicht Wucher- und Monopolgewinne zu machen; ſie arbeitet durch centraliſierten
Großbetrieb billiger als eine Anzahl konkurrierender Werke; es handelt ſich meiſt um
Unternehmungen, die auch beim Aktienbetrieb des ſchwerfälligen Apparates zahlreicher
Beamten bedürfen, deren Eigenintereſſe teilweiſe durch Tantiemen belebt werden kann.
Den an zweiter Stelle genannten Zwecken werden ſich die Gemeinden nur ausnahms-
weiſe, wenn beſondere Not vorliegt, zuwenden.
b) Die Zwecke und wirtſchaftlichen Anſtalten, die in Staatshänden ruhen,
ſind teils die alten der Macht-, Rechts- und Friedensorganiſation mit dem baulichen
und perſönlichen Apparat, welcher dazu gehört, teils die neueren der Kultur- und
Wohlfahrtsförderung.
Freilich auch die erſteren wurden nicht immer von den Regierungen auf ſich
genommen: erſt langſam erwuchs aus Blutrache und Fehde das Gericht, aus dem ört-
lichen das ſtaatliche, aus dem vom Kläger bezahlten der ſtaatlich beſoldete Richter; man
hat von einer Verſtaatlichung des Gerichtsweſens in Preußen geſprochen, die von der
Schaffung des Kammergerichtes bis 1850 gedauert habe. Der Schutz nach außen war
lange nur Sache des Fürſten, da und dort dann ſolche von privaten Söldnerbanden,
die jedem dienten, der ſie bezahlte. Die Entſtehung der heutigen Heere, 1650—1870,
hat man auch als Verſtaatlichung des Kriegshandwerkes bezeichnet. Der Schutz nach
außen durch Armee und Flotte, nach innen durch Juſtiz und Polizei kommt ſo ſehr der
Geſamtheit und all’ ihrem Leben zu Gute, daß die Koſten durch Steuern aufgebracht
werden müſſen; und unter denſelben Geſichtspunkten ſtehen der Finanzdienſt, das meiſte
ſtaatliche Bauweſen, die Feſtungen, die Ordnung der Flußläufe und Ähnliches.
[321]Die ſteigenden wirtſchaftlichen Staatsaufgaben.
Alles Straßen-, Verkehrs- und Marktweſen beruht auf gemeinſamer Veranſtaltung,
nämlich auf Straßen-, Brücken- und ſonſtigen Bauten, Koſten für Urmaße, Münzprägung,
Warenſchau. Je größer die Gemeinweſen wurden, deſto weniger genügte die Sorge von
Vereinen, Genoſſenſchaften, Gemeinden, deſto mehr mußten dieſe Veranſtaltungen im
Geſamtintereſſe gemacht, gerecht gehandhabt, von den egoiſtiſchen Sonderintereſſen ein-
zelner Geſchäfte, Orte und Klaſſen befreit werden. Deshalb mußte die Münzprägung
und das Poſtweſen verſtaatlicht werden (in Deutſchland hauptſächlich 1600—1866); die
wichtigſten großen Straßen übernahm allerwärts der Staat; die Eiſenbahnen ſind auch
beſſer in Staats- und Reichshänden, ſind in Deutſchland und in einer Reihe anderer
Länder wenigſtens, hauptſächlich 1870—90, verſtaatlicht worden. Aller Eiſenbahnbetrieb
ſtellt ein großes wirtſchaftliches Monopol dar; die Aktienbahnen bauen nur die centralen
Haupt-, nicht die Nebenlinien; ihre Konkurrenz ſtellt eine Verſchwendung an National-
vermögen dar; die Verſchiedenheit ihrer Verwaltung, Einrichtung, Tarife hindert die
Landesverteidigung, erſchwert und verteuert den Verkehr, macht eine nationale Verkehrs-
und Tarifpolitik unmöglich; nicht umſonſt rief Bismarck, die 63 deutſchen Eiſenbahn-
gebiete ſchaffen ein Fehderecht wie im Mittelalter. In der Hand von privaten
Kapitalmagnaten ſind die Eiſenbahnen und ihre Aktien das Mittel der Börſenſpekulation,
der ungeheuren Bereicherung der Aktionäre, der politiſchen und wirtſchaftlichen Herrſchaft
der Großkapitaliſten über Staat und Volkswirtſchaft. Für gewiſſe Teile der Kredit-
organiſation, beſonders die, welche das Notenweſen betreffen, mit der Geldcirkulation
zuſammenhängen, verlangen ähnliche Gründe eine ſtaatliche Organiſation oder ſtaatliche
Kontrolle. Für eine Verſtaatlichung der Kohlenbergwerke, gewiſſer Teile der Eiſen- und
Waffeninduſtrie, für eine ſtaatliche Verwaltung der Waſſerkräfte, der Elektricitätswerke,
aller großen mechaniſchen Kräfte haben ſich neuerdings manche Stimmen erhoben. Ob
man ſich Derartigem weiter nähert, wird von den ſocialen Kämpfen in dieſen Induſtrien
und der Art abhängen, wie Ringe und Kartelle in ihnen ihre Macht ge- oder miß-
brauchen.
Die ſteigende Rolle des Staates im Bildungs- und Schulweſen beruht auf anderen
Urſachen. Eine gewiſſe Einheit der ſittlich-religiöſen Gefühle und der Bildung war
ſtets die Vorausſetzung eines höheren Kulturlebens, zumal freier Verfaſſungsformen;
ſie war früher unter einfacheren Verhältniſſen leichter herzuſtellen, zumal wo Staat und
Kirche noch zuſammenfielen. Als ſie ſich trennten, als die Geſellſchaft und ihre Bildung
geſpaltener wurden, entſtanden Privatſchulen, Korporations- und Gemeindeſchulen, kirch-
liche Schulen, ſtaatliche Schulanſtalten, kurz eine Summe ſich kreuzender und bekämpfender
Einrichtungen. Je mehr ein weltlicher paritätiſcher Staat ſich ausbildete, je verſchiedenere
Religions- und Sittlichkeitsſyſteme ſich in einem Lande um den Vorrang ſtritten, deſto
mehr hatte der Staat Anlaß, zuerſt höhere, dann auch niedere Schulen, zu deren Unter-
halt er die Gemeinden zwang oder heranzog, zu ſchaffen. Nur damit konnte er hoffen,
im ganzen Volke diejenige einigermaßen homogene geiſtige Atmoſphäre herzuſtellen, ohne
welche die verſchiedenen Elemente ſich nicht verſtehen können, ohne welche vor allem die
unteren Klaſſen den ſchweren Kampf des heutigen freien Erwerbslebens nicht kämpfen
können.
Die Verkehrs- und die Schulanſtalten ſtellen die Gebiete der größten neueren
Ausdehnung der Staatsthätigkeit dar; ich füge den oben angegebenen Zahlen die Notiz
bei, daß Württemberg 1889—90 auf 3093 gewöhnliche Beamte 6000 im Schul- und
5400 im Verkehrsdienſte hatte. —
Man verſuchte, für die ganze Grenzbeſtimmung zwiſchen öffentlicher und Privat-
thätigkeit einfache, feſte, klare Formeln aufzuſtellen: der Staat oder die Gemeinde ſolle
alle Monopole übernehmen, weil ſie in Privathänden zur mißbräuchlichen Ausnutzung
führen; aber was iſt ein Monopol? Der Staat ſolle alle Anſtalten, die ihrer wirtſchaft-
lichen und ſonſtigen Geſellſchaftsnatur nach über das ganze Land ſich ausdehnen müſſen,
alle die, welche mehr für die Zukunft als für die Gegenwart arbeiten, alle, deren Produkte
im Wege des gewöhnlichen Tauſchverkehrs nicht leicht gerecht zu bezahlen ſind, deren
Leiſtungen ohne große Koſtenſteigerung Tauſenden und Millionen zugänglich gemacht
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 21
[322]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
werden können (z. B. Bibliotheken), übernehmen. Man hat ſich bemüht, alle dieſe
Erſcheinungen auf Gemeinbedürfniſſe, im Gegenſatze zu den Individualbedürfniſſen,
zurückzuführen.
So wenig ſolchen Verſuchen ein gewiſſer wiſſenſchaftlicher Wert abzuſprechen iſt,
ſo wenig können ſie doch praktiſch im einzelnen Falle entſcheiden. Es handelt ſich um
einen großen, langſamen Umbildungsprozeß, wie wir ſchon ſahen; dabei entſcheiden
neben den Principien und großen Urſachen viele kleine, unter denen die jeweiligen
Machtverhältniſſe der Regierungen, der Parteien und Klaſſen, die Fähigkeit und Integrität
des Beamtentums obenan ſtehen. Ein Staatseiſenbahnſyſtem iſt in einem gut regierten
monarchiſchen Staate mit tüchtigen Beamten vielleicht ebenſo zu empfehlen wie in einem
Lande mit beſtechlichen Beamten und ausgedehnter parlamentariſcher Patronage zu
widerraten.
Eines bleibt immer wünſchenswert: weder darf die öffentliche Wirtſchaft die
private, noch dieſe jene verſchlingen; ſie müſſen ſich die Wage halten, ſich gegenſeitig
korrigieren: keine dauernd ſegensreiche Steigerung der Staatsgewalt und der Staats-
finanz ohne entſprechende Fortſchritte der individuellen Freiheit, der Freiheit der Vereine,
der Gemeinden und ſonſtigen Körperſchaften. Mancherlei hat der Staat und die Finanz
auch nur vorübergehend übernommen, um einer Organiſation den Stempel ihrer gemein-
nützigen Ideen aufzudrücken; dann kann der Staat die Anſtalt wieder anderen unter
ihm ſtehenden Organen übergeben. Jedenfalls aber iſt heute auch in unſerer Technik
und in unſerem Verkehr kein Grund vorhanden, daß eine ungeheure ſtaatliche Rieſen-
maſchine Familie und Unternehmung abſorbierte. Sie ſind die einfacheren, natürlichen,
viel leichter herzuſtellenden, auf ſicherer wirkenden pſychologiſchen Motiven beruhenden
Organe. Jedes Bedürfnis, das mit einem einfachen ſocialen Apparate ebenſo gut und
billiger befriedigt werden kann, darf nicht einem großen und komplizierten, teureren Mecha-
nismus überliefert werden. Wenn heute noch in Deutſchland die Hälfte aller Menſchen
ihre Kartoffeln, ihr Brot, ihr Schweinefleiſch ſelbſt produzieren, wozu ſollen dieſe Produkte
den Umweg durch einen ſocialiſtiſchen Staatsapparat machen? Die Individuen, die
Familien, die kleineren und größeren Geſchäftsunternehmungen, die arbeitsteilig für
einander arbeiten, werden heute wie in abſehbarer Zukunft trotz der Unvollkommenheiten
und Schattenſeiten ihrer Produktion, auf die wir in anderem Zuſammenhange kommen,
die gewöhnlichen wirtſchaftlichen Thätigkeiten behalten, jene alltäglichen Gegenſtände her-
ſtellen, die jeder beurteilen kann, deren Dringlichkeit jedem gleich deutlich iſt, die wir
teilweiſe auch vom Auslande beziehen, alſo aus Händen, denen die Staatsgewalt die
Herſtellung nur abnehmen könnte, wenn ſie bereits zu einer Weltcentralſtaatsgewalt
geworden wäre. Dem Leben der Individuen und Familien wäre der wichtigſte Teil
ſeines Inhalts und ſeines Strebens, ſeiner Verantwortlichkeit und Freiheit genommen,
wenn dieſe Alltagsbedürfniſſe und ihre Befriedigung auf einen Staatsapparat übertragen
wären. Die Mannigfaltigkeit und ſteigende Verſchiedenheit der ſocialen Organiſations-
formen, die ſtets das Zeichen höherer Kultur iſt, wäre durch die Monotonie der un-
geheuerlichen Staatswirtſchaft beſeitigt.
Eine zahlenmäßige, breitere und ſichere Kenntnis über das Verhältnis von öffent-
licher und privater Wirtſchaftsthätigkeit beſitzen wir leider nicht. Aber einen ungefähren
Maßſtab dafür vermögen doch Zahlen wie die folgenden zu geben. David A. Wells
führt aus, zu Anfang unſeres Jahrhunderts hätten die Ausgaben der großbritanniſchen
Regierung ein Drittel des Nationaleinkommens betragen (die enormen Kriegsausgaben
hatten das Budget von 11 [1784] auf 116 Mill. ₤ [1815] angeſchwellt), heute machen
ſie ein Zwölftel aus. Mit den kommunalen Ausgaben werden ſie wohl auch heute
ein Sechſtel betragen. Das preußiſche Volkseinkommen wird gegenwärtig auf 12 bis
15 Milliarden Mark geſchätzt; die Regierung giebt 1900 (unter Zuſchlag von 60 %
des Reichsbudgets) 4,16 Milliarden Mark aus, alſo auch etwa ⅓—¼; mit Zufügung
aller anderen öffentlichen Haushalte, aller Kirchen-, Stiftungs-, gemeinnützigen Haushalte
wäre es noch mehr. Jedenfalls zeigen dieſe Zahlen die ungeheure, freilich nicht überall
gleich große Bedeutung der öffentlichen Haushalte, ihren Einfluß auf die Volkswirtſchaft.
[323]Privat- und Staatswirtſchaft in der Gegenwart.
Sie ſind in Großbritannien und Preußen die größten Geldempfänger und -zahler, die
größten Kapital- und Kreditnehmer, die größten Abnehmer und Beſteller von Bauten,
von Erdarbeiten, von Maſchinen und Waffen, häufig auch von Wagen und Schiffen;
ſie haben die größte Nachfrage nach Beamten und Arbeitern, ſowie eine weitgehende
Einwirkung auf alle Privatwirtſchaften durch die Steuern und durch die wirtſchaftliche
Verwaltung in der Hand. Wo vollends die centralen neueren Wirtſchaftseinrichtungen
für Verkehr und Kredit in ihren Händen ruhen, wo ſie die Zoll- und Handelspolitik
benutzen wollen, iſt es nicht zu viel geſagt, wenn man behauptet, ſie beherrſchten damit
das Ganze, auch wenn drei Viertel bis fünf Sechſtel alles wirtſchaftlichen Lebens noch
dem freien Willen der einzelnen unterſtehen.
Eine außerordentliche Ausdehnung der ſtaatlichen Wirtſchafts- und Finanzthätigkeit
hat von 1500—1815 und dann wieder von 1850—1900 ſtattgefunden. Man hat deshalb
von einem „Geſetz“ der wachſenden Ausdehnung der Staatsthätigkeit geſprochen. Wir
haben mancherlei Zahlenbelege für dieſe Ausdehnung ſchon oben (S. 282—83) angeführt.
Zur vollen Klarheit über ihre Bedeutung käme man freilich erſt, wenn man zugleich
in ſicherer und umfaſſender Weiſe Rechenſchaft darüber ablegen könnte, wie die privat-
wirtſchaftlichen Einnahmen und Ausgaben daneben ſtiegen. Jedenfalls aber ſtehen dieſer
Steigerung, wie wir ſahen, große Schwierigkeiten und eine beſtimmte Grenze entgegen;
es iſt nicht davon die Rede, daß ſie gleichmäßig fortdauern kann. Die Grenze liegt
teils im Weſen der verſchiedenen Bedürfniſſe und der verſchiedenen Wirtſchaftsorgani-
ſationen, teils in den beſonderen Verhältniſſen des einzelnen Staates. Ob man heute
nicht teilweiſe ſchon zu ſtaatsſocialiſtiſch geworden, ob man heute viel weiter gehen könne,
darüber ſtreiten die Parteien und Klaſſen. Ich glaube, die Bewegung auf Verſtaatlichung,
noch mehr die auf Kommunaliſierung iſt augenblicklich noch im Wachſen, aber ſie wird
nicht mehr ſehr wichtige und große Gebiete in abſehbarer Zeit ergreifen. Der Unterſchied
der angeführten Zahlen in Bezug auf Preußen und Großbritannien zeigt, um welche
Unterſchiede es ſich heute etwa in den Kulturſtaaten handeln kann. Wo die Staats-
gewalt nur 1/12 des Nationaleinkommens ausgiebt, müſſen andere wirtſchaftliche und
ſtaatliche Zuſtände vorhanden ſein als da, wo ſie über ⅓ verfügt.
Der Unterſchied, um den es ſich dabei handelt, iſt nicht durch den verſchiedenen
Reichtum, nicht durch die verſchiedene Technik, auch nicht durch die verſchiedene ſociale
Klaſſengliederung bedingt, ſondern weſentlich durch die von Volkscharakter, geographiſcher
Lage, Geſchichte und politiſcher Verfaſſung hervorgebrachte Verſchiedenheit in den Be-
ziehungen der Staatsgewalt zu dem individuellen Leben. Eine ſtärkere oder ſchwächere
politiſche und wirtſchaftliche Centraliſation kann es in ärmeren und reicheren Staaten
geben, obwohl die moderne Volkswirtſchaft wie jeder große geſellſchaftliche Fortſchritt
nirgends ohne erhebliche Anläufe der Centraliſation entſtand; aber es fragt ſich, ob
eine ſolche anhält, ob nicht bald (wie zuerſt einſt in Holland, ſpäter in England, dann
auch in Frankreich, vielleicht am meiſten in den Vereinigten Staaten) die beſitzenden
Klaſſen es verſtehen, mehr für ihre Stärkung als für die der Staatsgewalt zu ſorgen.
Die ſcheinbar demokratiſche Lehre, der Staat müſſe ſchwach, die Geſellſchaft ſtark ſein,
bedeutete praktiſch ſo viel wie: die oberen Klaſſen müſſen ohne weſentliche Schranken
ſich bereichern, den Staat beherrſchen können. Dieſe Schwächung des Staates und ſeiner
wirtſchaftlichen Mittel tritt am leichteſten ein, wenn derſelbe durch ſeine Lage, wie
England und die Vereinigten Staaten, von außen gar nicht bedroht, am wenigſten,
wenn er ſehr gefährdet iſt, wie Preußen. Dort kann am leichteſten die reiche Geſellſchaft
und der arme Staat entſtehen; es fragt ſich nur, ob die reiche Geſellſchaft nicht in
Wahrheit eine ſolche mit einer kleinen Zahl ſehr reicher, einer großen Zahl ſehr armer
Bürger ſei, und ob ſo die ſchwächere Staatsgewalt einen Fortſchritt bedeute, ob ſie auf
die Dauer der volkswirtſchaftlichen Geſamtentwickelung günſtig ſei.
Jedenfalls aber ſehen wir mit dieſen Betrachtungen, daß die Beziehungen der
öffentlichen Haushalte und der öffentlichen Wirtſchaftsanſtalten zur Volkswirtſchaft weder
rein wirtſchaftlich, noch rein techniſch zu erklären ſind. Gewiß, die Fortſchritte des
techniſchen, des privatwirtſchaftlichen Lebens, der Bedürfniſſe, der Produktion, des Ver-
21*
[324]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
kehrs ſind die Elemente, aus denen ſich auch der wirtſchaftende Staat aufbaut. Und
ſie geben zu gewiſſen Zeiten allgemein allen Staaten, welche an ihr teilnehmen, eine
andere Verfaſſung der Finanz, der öffentlichen Anſtalten. Aber wie der wirtſchaftende
Staat nun im einzelnen ſich geſtalte, wie er ſich mit der Privatwirtſchaft in die Funktionen
teile, das hängt zugleich von den großen vorherrſchenden Ideen über Gemeinſchaft und
individuelle Freiheit, von den einſchlägigen Gefühlen, von den Sitten und Rechtsſätzen, den
Inſtitutionen und moraliſch-politiſchen Ordnungen, dem Ämterweſen und der monarchiſchen
oder ſonſtigen Centralgewalt ab, wie ſie auf dem Boden der realen Geſchichte jedes
Staates hauptſächlich unter dem Drucke der feindlichen Mächte und der großen Ereigniſſe
ſeine Entwickelung geſtalten. Dieſe Urſachen in ihrer Geſamtheit beſtimmen das geiſtige
und politiſche Leben der Staaten und zugleich deren mehr oder weniger centraliſtiſche
Entwickelung.
4. Die geſellſchaftliche und wirtſchaftliche Arbeitsteilung.
- Allgemeines: Außer Ferguſon, Verſuch einer Geſchichte der bürgerlichen Geſellſchaft, deutſch
1868, A. Smith, Marx’ Kapital 1, Spencers Sociologie, Schäffles Bau und Leben des
ſocialen Körpers kommt die ganze anthropologiſche, die techniſch- und kulturhiſtoriſche Litteratur in
Betracht. Dann: Schmoller, Die Thatſachen der Arbeitsteilung. J. f. G.V. 1889; — Derſ.,
Weſen der Arbeitsteilung. Daſ. 1890. — - Simmel, Über ſociale Differenzierung. 1890. —
- Bücher,
Entſtehung der Volkswirtſchaft in Aufl. 1, Arbeitsteilung und ſociale Klaſſenbildung; in Aufl. 2,
Die Arbeitsteilung. 1893 u. 1898. — - Dürkheim, De la division du travail social. 1893. Dazu
meine Kritik J. f. G.V. 1894.
Aus der großen übrigen Litteratur, die ich benützt habe, kann ich hier nur einzelnes anführen.
Über Prieſter: M. Duncker, Geſchichte des Altertums. 9 Bde. 5. Aufl. 1878—1886. — - J. Wellhauſen, Geſchichte Israels. 1878 u. 1883; — Derſ., Israelitiſche und jüdiſche Geſchichte.
1895. — - J. Lippert, Allg. Geſchichte des Prieſtertums. 2 Bde. 1883—1884. —
- Haſe, Kirchen-
geſchichte. 9. Aufl. 1867. — - R. Schröder, Geſetzſprecheramt und Prieſtertum bei den Germanen.
Zeitſch. f. Rechtsgeſch. 4 (1883); dazu K. Lehmann, daſ. 6.
Über Krieger: Rüſtow und Köchly, Geſchichte des griechiſchen Kriegsweſens. 1852. — - Rüſtow, Geſchichte der Infanterie. 2 Bde. 1857. —
- H. Meynert, Geſchichte des Kriegsweſens und
der Heeresverfaſſungen in Europa. 3 Bde. 1868. — - M. Jähns, Geſchichte des Kriegsweſens von
der Urzeit bis zur Renaiſſance. 1880; — Derſ., Heeresverfaſſungen und Völkerleben. 1885; —
Derſ., Geſchichte der Kriegswiſſenſchaften. 3 Bde. 1898. — - J. Marquardt, Römiſche Staats-
verwaltung 2. 2. Aufl. 1884. — - Schmoller, Die Entſtehung des preußiſchen Heeres 1640—1740.
Rundſchau III, 11 und U. U. 1898.
Über Händler: Scherer, Allg. Geſchichte des Welthandels. 1854. — - Falke, Geſchichte des
deutſchen Handels. 2 Bde. 1859. — - Beer, Allg. Geſchichte des Welthandels. 3 Bde. 1860 ff. —
- Kuliſcher, Der Handel auf primitiver Kulturſtufe. Z. f. Völkerpſych. 10. 1875. —
- Heyd, Geſchichte
des Levantehandels. 2 Bde. 1879 ff. — - Schrader, Zur Handelsgeſchichte und Warenkunde. 1886.
— Sonndorfer, Technik des Welthandels. 1889. — - Goldſchmidt, Handbuch d. Handelsrechtes.
3. Aufl. 1. Univerſalgeſchichte des Handels. 1890. — - Mataja, Großmagazine und Kleinhandel.
1891. — - Lexis, Handel. In Schönbergs H. d. P. Ö. 2. Bd. 4. Aufl. 1898.
Über Sklaverei: Wiskemann, Sklaverei. 1866. — - Wallon, Histoire de l’esclavage
dans l’antiquité. 3 Bde. 2 éd. 1879. — - Kuapp, Der Urſprung der Sklaverei in den Kolonien.
Braun, A. f. ſoc. G. 2. 1889; — Derſ., Landarbeiter in Freiheit und Knechtſchaft. 1891. — - M. Weber,
Römiſche Agrargeſchichte. 1891. — - L. M. Hartmann, Zur Geſchichte der antiken Sklaven. D. Z.
f. Geſch. W. 9. 1894. — - Grünberg, Art. Unfreiheit in H.W. d. St.W. 6. 1894. —
- E. Meyer,
Die wirtſchaftliche Entwickelung des Altertums. 1895. — - v. Halle, Baumwollproduktion und
Pflanzungswirtſchaften der nordam. Südſtaaten 1. Die Sklavenzeit. 1897.
Über Leibeigenſchaft und Hörigkeit: Heiſterbergk, Entſtehung des Kolonats. 1876. — - Schulten, Der römiſche Kolonat. Hiſt. Zeitſch. 78. 1897. —
- Sugenheim, Geſchichte der Auf-
hebung der Leibeigenſchaft und Hörigkeit in Europa bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts. 1861. — - Engelmann, Die Leibeigenſchaft in Rußland. 1884. —
- Fuchs, Art. Bauer in W.V. 1, 1898,
giebt eine ſehr umfangreiche Litteratur.
Über die Entwickelung der gewerblichen Arbeitsteilung handelt ein großer Teil der neueren
Handwerks-, Hausinduſtrie-, Fabrikbeſchreibungen, die ganze neuere Gewerbeſtatiſtik ꝛc.; die ganze
S. 187—188 erwähnte Litteratur der Technik kommt mit in Betracht. Ich füge nur bei: Drumann,
Die Arbeiter und Kommuniſten in Griechenland und Rom. 1860. — - Delitzſch, Jüdiſches Hand-
werkerleben zur Zeit Jeſu. 1869 u. 1879. — - Lumbroſo, Recherches sur l’économie politique
de l’Égypte sous les Lagides. 1870. — - Riedenauer, Handwerk und Handwerker der homeriſchen
Zeit. 1873. — - Helbig, Das homeriſche Epos aus den Denkmälern erläutert. 2. Aufl. 1887.
[325]Rückblick auf die Theorien der Arbeitsteilung.
Schriften d. Ver. f. Socialpol. über Hausinduſtrie Bd. 39, 40, 41, 42, 84, 85, 86, 87. 1889
bis 1899, über das Handwerk Bd. 62—71. 1895—1897.
M. Mohl, Aus den gewerbswiſſenſchaftlichen Ergebniſſen einer Reiſe in Frankreich. 1845. — - Die S. 191 angeführten Werke Le Plays und Barbarets. —
- Die ſämtlichen Berichte über die
Induſtrieausſtellungen.
113. Dogmengeſchichte. Weſen und Entſtehung der Arbeits-
teilung. Stoffeinteilung. Wir haben in den letzten Kapiteln unterſucht, wie
einerſeits die Geſchlechts- und Blutsbeziehungen, andererſeits die Nachbarſchafts-,
Stammes- und Staatsbeziehungen die Menſchen verbinden und gruppieren, ſie wirt-
ſchaftlich organiſieren und zu typiſchen Organen und geſellſchaftlichen Formen verknüpfen.
Wir haben nun zu ſehen, wie Arbeit und Eigentum in dieſe Beziehungen und Organi-
ſationen eingreifen, die Menſchen differenzieren und gruppieren. Und es iſt da zunächſt
auszugehen von dem großen Princip der Arbeitsteilung, das wir im weiteſten Sinne
des Wortes faſſen, das nicht bloß wirtſchaftliche, ſondern viel allgemeinere Folgen für
alles menſchliche und geſellſchaftliche Leben hat, aber vor allem durch die Differenzierung
der Geſellſchaft volkswirtſchaftlich geſtaltend wirkt.
Wir werden dieſes Princip nur dann richtig faſſen, wenn wir, wie im bisherigen,
von der geſellſchaftlichen Natur des Menſchen, von den verſchiedenen Arten geſellſchaft-
licher Verbindung, von den gemeinſamen Gefühlen und dem gemeinſamen Handeln der
Menſchen ausgehen. Aus den vorhandenen Gemeinſamkeiten geht alles hervor, was
wir Teilung der Arbeit nennen. Nur das thatſächlich oder in der Vorſtellung der
Menſchen Gemeinſame kann in ſeiner Scheidung als etwas Geteiltes aufgefaßt werden. —
Seit die denkenden Griechen die Berufsgliederung in ihren raſch zu hoher Kultur
gelangten Gemeinweſen beobachtet ſowie die weitgehende gewerbliche Arbeitsteilung Ägyptens
als eine Urſache des dortigen Wohlſtandes erkannt hatten, bildet die Betrachtung der
geſellſchaftlichen Arbeitsteilung ein Element aller geſellſchaftlichen Theorien. Adam Smith
hat dann, ſich an Ferguſon anſchließend, die Arbeitsteilung in den Handwerksſtätten
und Manufakturen ſeiner Zeit ſtudiert, hat aus dieſen Erſcheinungen allgemeine Schlüſſe
gezogen, die techniſche und die tauſchwirtſchaftliche Arbeitsteilung zum Mittelpunkte
ſeines Syſtems gemacht. Mit merkwürdiger Gedankenarmut haben ſeine Nachfolger an
ſeinen Beiſpielen und Sätzen feſtgehalten, bis Marx die Beobachtungsreihen erweiterte,
die Arbeitsteilung in der heutigen Fabrik der Werkſtattarbeitsteilung des 18. Jahr-
hunderts entgegenſetzte. Einen weiteren Anſtoß hat die Lehre neuerdings durch die
Biologie erhalten. Sie begann Pflanzen und Tiere unter dem Bilde eines Zellenſtaates
zu betrachten, der durch Differenzierung der Zellenindividuen höhere Formen des Daſeins
erreiche; ſie lehrte, daß eine Art Arbeitsteilung die beſonderen Organe der Körper-
bedeckung, der Ernährung, der Fortpflanzung, die beſonderen Nervenzellen und Muskel-
zellen geſchaffen habe; ſie wies nach, daß die niedrigſtehenden Weſen eine geringe, die
am höchſten ſtehenden die entwickeltſte Arbeitsteilung aufzeigen; ſie lenkte unſere Auf-
merkſamkeit weiter auf die Arbeitsteilung der Tierſtaaten hin; hauptſächlich Herbert
Spencer und Schäffle haben dieſe Gedankenreihen ſtaatswiſſenſchaftlich zu verwerten,
durch Vergleichungen und Analogien Anregung zu geben geſucht; ſie haben aber auch
da und dort den großen Unterſchied zwiſchen dem Zellenſtaate und der menſchlichen
Geſellſchaft überſehen, der darin beſteht, daß ſelbſt der niedrigſte und roheſte Menſch
in ganz anderem Maße Selbſtzweck bleibt als die Pflanzen- oder Tierzelle. Jedenfalls
iſt es zunächſt Aufgabe der ſocialen Wiſſenſchaften, die geſellſchaftliche Arbeitsteilung
für ſich zu betrachten, ſie nach allen Seiten richtig zu beſchreiben, die hieher gehörigen
Erſcheinungen zu klaſſifizieren und daraus die für unſere Wiſſenſchaft brauchbaren
Schlüſſe zu ziehen. Einen ſolchen Verſuch habe ich 1889 veröffentlicht. Bücher iſt 1893
mit einer Unterſuchung der gewerblichen Arbeitsteilung und ihrer Unterarten gefolgt.
Simmel und Dürkheim haben die Frage vom ſociologiſchen Standpunkte aus behandelt.
Ich verſuche, im folgenden zuerſt eine Überſicht der hieher gehörigen Thatſachen
zu geben, dann die wichtigſten allgemeinen Schlüſſe daraus zu ziehen. Ich muß aber
vorher doch über Begriff und Entſtehung der Arbeitsteilung ein paar Worte ſagen.
[326]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Die Arbeitsteilung iſt eine und vielleicht die wichtigſte Erſcheinung des geſellſchaft-
lichen Lebens, ſie trennt und verknüpft die Menſchen politiſch, geiſtig, wirtſchaftlich und
zwar in dem Maße, wie die Kultur ſteigt, die geſellſchaftlichen Körper größer und ver-
ſchlungener werden. Die Stämme roher, primitiver Menſchen zeigen wenig körperliche
und geiſtige Verſchiedenheit; jeder lebt, nährt ſich wie der andere, ſtellt ſeine Kleider
und Geräte wie der andere her; auch der Häuptling führt alle die kleinen Verrichtungen
für ſeinen eigenen Bedarf aus wie der letzte Stammesgenoſſe; ſelbſt Mann und Frau
unterſcheiden ſich nicht viel in ihrer wirtſchaftlichen Lebensfürſorge, ſo lange jedes auf
ſich angewieſen iſt. Sobald nun zu gewiſſen Arbeiten mehrere zuſammentreten, ſei es
der Geſelligkeit, ſei es der Größe und Krafterfordernis der Aufgaben wegen, entſteht
eine gewiſſe Vergeſellſchaftung; die Sippen in ihrer Thätigkeit, auch die Familien, ſpäter
Nachbarn und Arbeitsgenoſſenſchaften, die ältere Kriegsverfaſſung, manche Arbeiten, die
mit der Feldgemeinſchaft ſich ergeben, führen zu ſolcher Gemeinſchaft der Arbeit; Bücher
hat ſie neuerdings zu beſchreiben und zu klaſſifizieren geſucht. Aber ſie erzeugen zunächſt
nur die Gemeinſamkeit der gleichen, oft im Rhythmus verrichteten Arbeit, die nicht
differenziert, meiſt nur vorübergehend die Menſchen in Beſchlag nimmt. Sobald aber
einer befiehlt, die anderen gehorchen, ſobald die Frau den Hackbau treibt, der Mann
jagt, ſobald ein Teil der Männer Eiſen ſchmilzt und Geräte fertigt, der andere den
Acker baut, ſind die Anfänge der Arbeitsteilung und eine höhere Form der Organiſie-
rung der geſellſchaftlichen Gruppen vorhanden.
Alle Arbeitsteilung knüpft an gewiſſe geiſtige, moraliſche, kriegeriſche, techniſche
Fortſchritte an. Aber nicht jeder ſolche Fortſchritt erzeugt ſofort Arbeitsteilung. Die
meiſten Verbeſſerungen menſchlichen Thuns, menſchlicher Arbeitsmethoden fügen ſich
zunächſt in die hergebrachte Lebensweiſe der betreffenden ſo ein, daß ſie zu einer zeit-
weiſe geübten Funktion ihres täglichen Lebens und Treibens werden. Das Feuer, die
Werkzeuge, die Tierzähmung, die Künſte des Kochens, Spinnens und Webens ſind Jahr-
tauſende lang von allen oder den meiſten Gliedern unzähliger Stämme ſo ausgeübt worden,
ohne zu einer Arbeitsteilung Anlaß zu geben. Jahrhunderte lang war der römiſche
Bauer zugleich Soldat, der römiſche Großgrundbeſitzer nebenher Prieſter, Juriſt, Offizier
und Kaufmann. Die ausgebildete Haus- und Eigenwirtſchaft der indogermaniſchen und
ſemitiſchen Völker umfaßte lange Ackerbau, Viehzucht und gewerbliche Künſte aller
Art, wie heute noch die der norwegiſchen und anderer iſolierter Bauern. Bis in die
Gegenwart bleibt überall ein Teil alles wirtſchaftlichen und Kulturfortſchrittes auf das
Ziel gerichtet, in den Thätigkeitskreis der Individuen und Familien ſo weitere Einzel-
heiten und Verbeſſerungen einzufügen, die mit der beſtehenden Lebensweiſe ſich vertragen.
Die Arbeitsteilung ſetzt erſt da ein, wo ein Teilſtück einer Lebensſphäre ſo anwächſt,
daß es nicht mehr Glied derſelben bleiben kann, daß es ſeinen eigenen Mann fordert,
wo die Einfügung neuer Operationen und Thätigkeiten ins hergebrachte Leben nicht
geht, zu ſchlechte Reſultate liefert, wo man für die neue Thätigkeit einen freiwilligen oder
erzwungenen Vertreter und eine ernährende Lebensſtellung für ihn findet oder eine ſolche
ſchaffen kann. Das Leben derer, für die der arbeitsteilig Fungierende nun eine Arbeit über-
nimmt, wird meiſt nicht allzuviel verändert, es wird nur an einzelnen Punkten entlaſtet.
Aber der, welcher den Teilinhalt nun zu ſeiner Lebensaufgabe macht, muß ſeine Lebens-
weiſe gänzlich umgeſtalten. Zwar muß auch er für ſeine und ſeiner Familie Wirtſchaft
und Lebenszwecke eine gewiſſe Zeit und Kraft behalten, denn gewiſſe unveräußerliche
Eigenzwecke kann niemand aufgeben, aber ſie werden eingeſchränkt, müſſen ſich mit ſeiner
neuen Thätigkeit für andere vertragen.
Jeder Fortſchritt der Arbeitsteilung verläuft ſo in Kompromiſſen zwiſchen dem
Alten und dem Neuen, zwiſchen der bisherigen Vielſeitigkeit der Arbeit und der Speciali-
ſierung. Was früher allgemein und ſelbſtverſtändlich in der Wirtſchaftsführung der
Familie, der Gemeinde, einer Unternehmung verbunden war, iſt nun eine getrennte
Funktion von zweien oder mehreren, und wenn ſich dieſe Scheidung eingelebt hat, ſo
erſcheint ſie nun von dieſem Standpunkte als etwas, deſſen Verbindung, wo ſie noch
beſteht, überraſcht, als rückſtändig erſcheint. Und doch hatte die ältere Verbindung oft
[327]Die Entſtehung der Arbeitsteilung.
moraliſche und politiſche, ja auch große wirtſchaftliche Vorteile. Noch heute ſtellt jede
Familienwirtſchaft ſolche Kombinationen dar, aus der durch Arbeitsteilung dies und
jenes (z. B. das Bereiten der Mahlzeiten) unter Umſtänden auszuſchalten wäre. Die
Kleinbauern und Tagelöhner, die Maurer und Zimmerleute, die im Winter weben und
ſchnitzen, können für beſtimmte Verhältniſſe heute ebenſo am Platze ſein, wie vor
400 Jahren der Schuſter, der zugleich Gerber war. Da und dort kann freilich auch
die Not zu heterogenen Verbindungen führen, welche nicht hergebracht, ſondern, aus Not
neu erdacht und geübt, techniſch geringe Leiſtungen zum Ergebnis haben. Wo unter
beſtimmten Verhältniſſen techniſche Funktionen, die anderwärts längſt getrennt ſind,
noch in einer Perſon ſich vereinigen, könnte man von halber Arbeitsteilung reden,
während wir unter der ganzen Arbeitsteilung diejenigen ſpecialiſierten Thätigkeiten ver-
ſtehen, welche die Lebensarbeit der Betreffenden ganz oder überwiegend ausmachen. Wir
werden ſo die Arbeitsteilung definieren können als die überwiegende und dauernde An-
paſſung der menſchlichen Arbeitskräfte an beſtimmte ſpecialiſierte Aufgaben und Thätig-
keiten, welche der einzelne nicht für ſich, ſondern für mehrere, für viele, für das Volk
oder auch für Fremde ausübt.
Iſt das Neue von Anfang an ſo eigentümlich, bedeutſam, zeit- und kräfteraubend,
daß es gar nicht in den Kreis der alten Hauswirtſchaft und Lebensweiſe eingefügt wird,
ſondern gleich beſondere Kräfte und Geſchäfte fordert, wie z. B. heute die Photographie,
die Produktion von Gas, Elektricität, Lokomotiven, ſo ſprechen wir doch ebenſo von
Arbeitsteilung, wie wenn das Spinnen und Weben aus der Familienwirtſchaft aus-
geſchaltet wird. Und ebenſo wenn zwei bisher fremde Stämme ihre Waren und Produkte
tauſchen, die ſie bisher nicht kannten. Unſer Sprachgefühl, welches Derartiges Arbeits-
teilung nennt, fingiert dabei nicht, daß früher das Getrennte in einer Hand gelegen
habe, ſondern es will nur ſagen: eine rechtlich und geſellſchaftlich irgendwie geordnete
nationale oder internationale Gemeinſchaft hat Teile ihrer gemeinſamen Bedürfniſſe
einzelnen zu befriedigen übertragen.
Die Reſultate, welche mit der Arbeitsteilung erreicht werden, können hiſtoriſch
nicht ihre Urſache ſein, denn ſie konnten in ihrem ganzen Umfange nicht vorausgeſehen
werden. Auch ein angeblicher Tauſchtrieb kann nicht, wie A. Smith meint, der kauſale
Ausgangspunkt ſein, denn es giebt eine umfangreiche Arbeitsteilung ohne Tauſch, z. B.
im Geſchlecht, in der Familie, und die primitiven Menſchen haben eher eine Abneigung
gegen den Tauſch, wie ſie eine Abneigung gegen jede Änderung hergebrachter Lebens-
gewohnheiten beſitzen. Dieſe mußte überwunden werden, ſo oft ein Schritt der Arbeits-
teilung gelingen ſollte, und deshalb war jeder Fortſchritt ſchwierig und langſam; er
hing ſtets an der nie leicht gelingenden Ausbildung neuer Sitten und Inſtitutionen.
Doch wirkt dieſen Hinderniſſen entgegen, was allen Fortſchritt bedingt: die Luſt am
Neuen, der taſtende Sinn nach Verbeſſerung, die Not des Lebens, die zu Verſuchen treibt,
über die Schwierigkeiten der Exiſtenz beſſer Herr zu werden, der Spürſinn, der nach
verbeſſerter Leiſtung ſucht, die dämmernde Einſicht in das kräfteſparende Princip der
Arbeitsteilung. Endlich gab die Verſchiedenheit der menſchlichen Kräfte gleichſam eine
ſtillſchweigende Anleitung zur Arbeitsteilung.
Freilich hat oft auch erſt ſie die Kräfte nach und nach differenziert. Und bei
allen Stämmen niederer Kultur iſt die Verſchiedenheit der Individuen ja noch un-
erheblich oder wird ſie nicht bemerkt. Aber mindeſtens der Unterſchied des Alters
gab Anlaß zu zeitweiſer, der des Geſchlechtes zu dauernder verſchiedener Thätigkeit.
Außerdem: gewiſſe Differenzen der Kraft, des Fleißes, der Klugheit hat es ſtets gegeben,
und ſie traten ſtärker hervor, wenn der Vater ſeinen Söhnen dauernd verſchiedene Auf-
gaben zuwies; ſie zeigten ſich deutlich, wenn große techniſche oder wirtſchaftliche Fort-
ſchritte in Frage ſtanden, denen die einen gewachſen waren, während die anderen ſich
als unfähig zeigten, ſie mitzumachen. Jedenfalls aber waren, ſeit es verſchiedene Raſſen
gab, ſeit die verſchiedenen Stämme teils im Gebirge, teils in der Ebene, teils am Waſſer
lebten, ſeit ſo verſchiedene Arten der Ernährung, der Lebensweiſe, der Geſchicklichkeit ſich
ausbildeten, die Individuen der einzelnen Raſſen und Stämme durch einen Jahrtauſende
[328]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
umfaſſenden Prozeß natürlicher Beeinfluſſung und eigentümlicher erblicher Entwickelung
ſo weit differenziert worden, daß faſt jede Raſſe und jeder Stamm einzelne Fertigkeiten
und Güter beſaß, die dem anderen mangelten. Und je ſtabiler und unbiegſamer in
Lebensweiſe und Sitte, je unfähiger zur Aneignung neuer Künſte alle primitiven Raſſen,
ja ſelbſt heute noch breite ſociale Schichten unſerer Kulturvölker ſind, deſto größeren
Einfluß auf die langſam beginnende Arbeitsteilung mußten dieſe ethniſchen Verſchieden-
heiten haben. Wie ein roter Faden geht es durch alle Kulturgeſchichte hindurch, daß
Fremde alle neuen Künſte und Fortſchritte bringen; noch heute rekrutieren ſich bei dem
Durcheinanderwohnen verſchiedener Raſſen immer wieder dieſelben Berufe aus den ver-
ſchiedenen ethniſchen Elementen. —
Bei den folgenden Darlegungen wird die Schwierigkeit ſein, die Arbeitsteilung
losgetrennt von ihren Urſachen und ihrer praktiſchen Ausgeſtaltung in der Geſellſchaft, von
den konventionellen Ordnungen und Inſtitutionen, in welchen ſie allein Leben gewinnt,
vorzuführen. Wollte man dieſe Scheidung nicht vornehmen, ſo würde dieſes Kapitel
die ganze volkswirtſchaftliche Organiſation und alle ihre Urſachen darlegen müſſen.
Eine iſolierende Unterſuchung der Arbeitsteilung iſt an ſich berechtigt, und es iſt angezeigt,
die anderweitig in dieſem Grundriß beſprochenen, aus der Arbeitsteilung hervorgehenden
Inſtitutionen (wie z. B. die Unternehmungsformen) nicht auch hier darzuſtellen. Immer
aber iſt der große weltgeſchichtliche Entwickelungsprozeß der Arbeitsteilung anſchaulich
nur zu geben mit Ausblicken auf Urſachen und Folgen, mit da und dort eingeſtreuten
kurzen Darlegungen der geſellſchaftlichen Einrichtungen, welche der Arbeitsteilung ihre
beſtimmte hiſtoriſch wechſelnde Form gaben.
Den Stoff gliedern wir nach gewiſſen in ſich zuſammenhängenden Teilen oder
Gebieten, innerhalb derſelben nach hiſtoriſcher Folge.
Die Arbeitsteilung auf jedem der von uns unterſchiedenen Gebiete iſt eine in ſich
zuſammenhängende Kette von Erſcheinungen. Daneben hat jedes Volk für ſich ſeine
Geſchichte der Arbeitsteilung, die aber in ihren einzelnen Teilen der Geſamtentwickelung
der Menſchheit angehört. Wenn die verſchiedenen Völker im ganzen eine einheitliche
Entwickelungsreihe uns zeigen, ſo liegt es teils darin, daß immer wieder dieſelben
Urſachen ſelbſtändig zur ſelben Scheidung führten, teils darin, daß die Gepflogenheiten
einer älteren Arbeitsteilung häufig im Zuſammenhang mit einer gewiſſen Technik oder
mit gewiſſen Inſtitutionen auf die jüngeren Völker durch Nachahmung übergingen.
Das erſte wichtige Gebiet, das uns bei einer Scheidung der hieher gehörenden Er-
ſcheinungen entgegentritt, iſt die Arbeitsteilung in der Familie, die zwiſchen Mann
und Frau, zwiſchen den dienenden Gliedern derſelben. Sie hat in der patriarchaliſchen
Großfamilie ihre Hauptausbildung erhalten, ſpielt aber heute noch eine erhebliche Rolle.
Für alle ſpätere und weitere Arbeitsteilung iſt vor allem die Thatſache wichtig, daß die vollen
Konſequenzen derſelben wohl für die Familienväter, nicht aber ebenſo für die Hausfrauen
und deren Gehülfinnen gezogen werden. Alle hauswirtſchaftliche Frauenthätigkeit iſt zwar
von der Produktion der Güter im großen heute getrennt, ſtellt jedoch in ſich die uni-
verſalſte Vielgeſtaltigkeit ungetrennter Arbeitsfunktionen dar. Ich muß mir verſagen,
auf dieſes ganze Gebiet hier nochmals einzugehen, da ich das Wichtigſte hierüber in
dem Kapitel über die Familienwirtſchaft geſagt habe.
Als ein zweites großes Gebiet der Arbeitsteilung ſtellt ſich uns die Erhebung
der Prieſter, Krieger und Häuptlinge in der älteren Zeit, der Händler in der ſpäteren
über die Maſſe des übrigen Volkes dar. Ihr ſteht als Gegenſtück die Entſtehung einer
Schicht handarbeitender Kreiſe, der Sklaven, der Hörigen, der freien Lohnarbeiter gegen-
über. Es handelt ſich auf dieſem Gebiete um die Scheidung der höheren von der
niederen, der geiſtigen von der mechaniſchen Arbeit; es iſt das Stück Arbeitsteilung,
welches ariſtokratiſche, herrſchende Klaſſen und daneben untere, dienende, beherrſchte
erzeugt. Ich bezeichne ſie als die berufliche und ſociale Arbeitsteilung; ſie
iſt es zuerſt, welche die Scheidung in Stände und Klaſſen herbeiführt.
Das dritte Gebiet, das wir betrachten, betrifft die Scheidung der Gewerbe
von der Haus- und Landwirtſchaft, ſowie die Arbeitsteilung in der letzteren
[329]Die Gebiete der Arbeitsteilung. Die Entſtehung der Prieſter.
und in den Gewerben. Wir fügen dem die Entſtehung der Arbeitsteilung innerhalb
der liberalen Berufe bei, die gleichſam die modernen Nachfolger der Prieſter, in gewiſſem
Sinne auch der Häuptlinge und Krieger ſind. Alle dieſe Teile der Arbeitsteilung gehören
mehr der neueren Entwickelung an, ſtellen Vorgänge dar, die ebenfalls klaſſenbildend
wirken, die vorhandenen drei Hauptgruppen, Ariſtokratie, Mittelſtand, untere Klaſſen
weiter ſcheiden, vielfach aber auch nur im Mittelſtande Platz greifen.
Wir ſchließen endlich mit einigen Bemerkungen über die räumliche Arbeits-
teilung und über die Verſuche einer allgemeinen Beurteilung und zahlenmäßigen
Erfaſſung der Arbeitsteilung, um dann die allgemeinen Urſachen und Folgen der Arbeits-
teilung im Anſchluß an dieſe Vorführung der Thatſachen zu erörtern.
114. Das Prieſter- und Kriegertum. Häuptlinge, Prieſter und Krieger ſind
die Berufsarten, die zuerſt mit der Ausbildung der Stammesverfaſſung und des geiſtigen
Lebens ſich von der übrigen Menge abheben. Ihre Entſtehung iſt oft eine gleichzeitige;
doch ſcheinen Zauberer und Prieſter da und dort vorhanden zu ſein, wo beſondere Krieger
noch fehlen, die Häuptlinge noch wenig Bedeutung haben.
Auch bei ſehr rohen Stämmen, ja wir können ſagen bei den meiſten, die man bis
jetzt näher kennen gelernt hat, findet man Zauberer und Heilkünſtler; in Nordaſien ſind
ſie unter dem Namen der Schamanen, in Amerika als Medizinmänner, in Afrika als
Gangas, in der Südſee unter verſchiedenen Namen bekannt. Ihre Thätigkeit entſpringt,
wie wir ſchon oben S. 46 ſahen, dem Glauben, daß die Seele des Menſchen nach dem
Tode ſich da oder dort in einem Gegenſtande, einem Tiere, einem Steinbilde, einem
Grabe niederlaſſe, dem Menſchen Verderben bringe, wenn man ihr nicht opfere, daß
überhaupt ein Heer von Geiſtern den Menſchen umgebe und all’ ſein Glück oder Unglück
beherrſche, daß alle Krankheit auf die Geiſter zurückzuführen ſei, daß daher die Be-
ſchwörung dieſer Geiſter, ihre Verſöhnung durch immer weiter ſich ſteigernde Kultakte,
Blutdarbringungen, Faſten, d. h. Enthaltungen zu ihren Gunſten, und Opfer aller Art
das dringlichſte Bedürfnis ſei. Leute, in die ſcheinbar die Geiſter gefahren, wie Epi-
leptiſche, Nervöſe, mit Veitstanz Behaftete, Kränkliche, die ſich nicht wie die gewöhnlichen
Wilden ernähren können, haben ſich wohl zuerſt als die der Geiſter Kundigen und als
Vermittler ihren Stammesgenoſſen angeboten; ſie erziehen ihre Kinder oder andere
Schüler abſeits in der Einſamkeit, im Walde, unter allen möglichen Kaſteiungen und
Plagen zu ähnlichem Berufe. Und ſo entſteht eine Klaſſe von Zauberern, Prieſtern
und Ärzten, welche, durch Zucht und Selbſtbeherrſchung geſtählt, durch Kenntniſſe und
Übung aller Geiſteskräfte den anderen überlegen, im Beſitze von ſcheinbar wunder-
kräftigen Fetiſchen, d. h. von den Geiſtern mit Zauberkraft ausgeſtatteten Gegenſtänden
ſich befinden; es ſind Männer, welche mit Hülfe der ihnen zugänglichen Geiſter gegen
Geſchenke und Bezahlung unter allen möglichen Formeln, ekſtatiſchen Erregungen, Be-
ſchwörungen und Vermummungen, bei Feuerlicht und Muſik die böſen Geiſter vertreiben,
die Kranken heilen, Regen machen, die Böſewichter entdecken; daneben kundſchaften ſie
die Feinde aus, tragen ihre Fetiſche in Kriegszügen als ſiegbringende Götter mit, leiten
die Gottesurteile, werden ſo halb und halb die Richter und Polizeiorgane in ihrem
Kreiſe, kurz erringen eine immer angeſehenere, oft das ganze ſociale Leben der Stämme
beherrſchende Stellung. Um die Grabdenkmäler der Häuptlinge, die zu Tempeln und
Gotteshäuſern werden, ſammeln ſich dann ſpäter die mit Land, Vieh und Sklaven, mit
regelmäßigen Geſchenken und Zehnten ausgeſtatteten Prieſterſcharen. Sie ſind urſprünglich
nach Geſchlechts-, Lokal- und Gaukulten geſpalten, oft auch nach den verſchiedenen
Krankheiten, die ſie heilen können, nach den Fetiſchen und Geiſtern, über die ſie ver-
fügen, wie wir das in Afrika heute ſelbſt bei recht niedrigſtehenden Negern ſehen. Aber
aus der Gemeinſamkeit der Fetiſche, der Zauberformeln und der Lehre bilden ſich größere
Kultbünde und Genoſſenſchaften. Und oft gerade im Zuſammenhang mit großen natio-
nalen und religiöſen Fortſchritten entſteht aus den Kämpfen der kleinen Prieſtergruppen
ein einheitlich organiſierter Bund der Prieſter des ganzen Volkes, der die freien Zauberer
und die alten lokalen Prieſterzünfte zu unterdrücken ſucht. Wellhauſen hat uns gezeigt,
wie ſo der Bund der Leviten, um den Jehovakultus und die Prieſterherrſchaft zu befeſtigen,
[330]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſich unter Aufzeichnung der Geſchlechtsregiſter einheitlich organiſierte, die Abſtammung
aller ſeiner Glieder von einem Stammvater lehrte, die prieſterlichen Satzungen definitiv
fixierte. Ähnlich wird es anderwärts, in Ägypten, Indien, Mexiko und Peru gegangen
ſein, während bei den Griechen und Römern das Prieſtertum mehr als Nebenwürde des
weltlichen Adels erſcheint, bei den Kelten die Herrſchaft der Druiden durch die römiſche
Eroberung gebrochen wird, bei Slaven und Germanen eine abſchließende Sonderbildung
der Prieſter noch nicht vollzogen war, als das Chriſtentum eindrang. Die chriſtliche
Kirche des Mittelalters ruht auf einer internationalen Prieſterzunft, die zwölf Jahr-
hunderte lang an der Spitze der europäiſchen Menſchheit ſteht.
Die ganze Entwickelung iſt in ihrem Höhepunkte ebenſo ſehr Ständebildung wie
Arbeitsteilung, aber ihre Kraft ruht ausſchließlich auf der ſpeciellen Ausbildung der
ſittlichen und geiſtigen Kräfte bei den Zauberern und Prieſtern und den hiedurch ihnen
allein möglichen Leiſtungen. Kein ſpäterer Schritt der Arbeitsteilung und Ständebildung
hat tiefer eingegriffen als dieſer: die Geiſterfurcht des Naturmenſchen und das unklare
Gefühl der Abhängigkeit von den dahingegangenen Geſchlechtern wird das große In-
ſtrument, die Millionen für Jahrhunderte und Jahrtauſende in eine faſt ſklaviſche
Abhängigkeit von einer kleinen Prieſterſchar zu bringen; die Erfüllung der endloſen,
alles Leben auf Schritt und Tritt begleitenden, teilweiſe tiefſinnigen und wohldurch-
dachten, teilweiſe aber auch ſinnloſen Kulthandlungen wird eine pſychiſche und wirtſchaft-
liche Laſt, die auf die Individuen und die Geſellſchaft mit nie ruhender Qual drückt.
Ein Drittel und mehr alles Bodenertrages und aller Arbeitskraft nimmt die Prieſter-
ariſtokratie und der Kult in den alten Prieſterſtaaten und im Mittelalter in Anſpruch,
als Gegengabe geiſtigen Troſt ſpendend und auf das Leben im Jenſeits verweiſend.
Furchtbare Mißbräuche, roher Betrug, gemeine Übervorteilung knüpfen ſich da und dort
an die Prieſterherrſchaft, zumal in ihren ſpäteren Stadien. Aber ſie war, beſonders in
ihrer erſten Hälfte, doch für alle Kulturvölker die Bedingung ihrer Erhebung; nicht
umſonſt ſind Jahrhunderte lang die Prieſterſtaaten die Träger des Fortſchrittes, die
reichſten und gebildetſten Gemeinweſen. Die Arbeitsteilung, die in ihnen ſtattfand, war
eben in der Hauptſache doch nichts anderes als ein Sieg der edleren und klügeren
Elemente über die rohe Kraft der Maſſe. Das Vertrauen der großen Menge auf die
ſcheinbar übernatürliche Kräfte beſitzenden Prieſter bezeichnet H. Spencer als unentbehr-
liches Hülfsmittel des geſellſchaftlichen Zuſammenfaſſens der Kräfte auf primitiver
Kulturſtufe.
Indem die Prieſter mit Orakeln, Kultvorſchriften und Geſetzen die Menge bändigten
und ordneten, ſchoben ſie allmählich in die rohen Vorſtellungen über Befriedigung der
Toten und der Geiſter die ſittlichen Gebote eines höheren ſocialen Daſeins ein. Aus
der Vorſtellung, daß Opfer, Faſten und Geſchenke die Götter beſchwichtigen, wurde die
edlere, daß die Zauberformel des heiligen Wortes und das Gebet die Hauptſache ſei;
aus der Vorſtellung, daß gerecht ſei, wer viel Kühe den Prieſtern darbringe, wurde die
edlere, daß gerecht ſei, wer ſeine Eltern ehre, nicht ſtehle, nicht lüge, nicht ehebreche,
den Witwen und Waiſen beiſtehe. Die Prieſter waren für unendlich lange Zeiträume
die Pfadfinder und Bahnbrecher auf den Wegen der ſocialen Zucht und der ſteigenden
ſittlichen Erkenntnis, des Tempel- und Hausbaues, der Zeit- und Kalenderbeſtimmung,
der Schriftkunde und unzähliger anderer Fortſchritte. Sie waren für Jahrhunderte die
politiſchen und wirtſchaftlichen Organiſatoren, die erſten Sammler großer Schätze, die
erſten Bankiers, die erſten Techniker und Leiter großer gemeinnütziger Waſſer- und
Strombauten.
Die Prieſter lebten urſprünglich von Bettel, Geſchenk und Gaben, teilweiſe blieben
ſie auch Hauswirte und Ackerbauer; bald aber waren ſie, wie erwähnt, mit Vermögen
und Einkommen aller Art ausgeſtattet. Sie vereinigten in älterer Zeit alle höhere
geiſtige Bildung, ſie ſind zu gleicher Zeit die Ärzte, die Kenner des Rechtes, die Jugend-
erzieher und Lehrer; ſie ſind Aſtronomen, alle feinere Kunſt und Technik liegt in ihren
Händen. Auf dem Höhepunkte ihrer Herrſchaft haben ſie ſich ſelbſt in eine Hierarchie
höherer und niederer, arbeitsgeteilter Berufe und Beſchäftigungen geſchieden. Die
[331]Die Prieſterherrſchaft und ihre Beſeitigung. Die Krieger.
ſchreibende, buchführende Verwaltung hat Jahrhunderte lang da und dort in ihren
Händen gelegen. Ihr hohes Einkommen haben ſie urſprünglich zur Sammlung von
Familienvermögen, ſpäter, zumal wo der Cölibat herrſchte, wie in der mittelalterlichen
Kirche, zur Anhäufung von Tempel- und Kirchenvermögen verwandt.
Die Nachwirkungen dieſer Inſtitutionen und dieſer Vermögensverteilung ſind in
den meiſten europäiſchen Staaten heute noch vorhanden. Die Prieſterherrſchaft aber iſt
faſt allerwärts beſeitigt oder zurückgedrängt durch die Konkurrenz der ſelbſtändigen
geiſtig-ſittlichen Kräfte, die in den geſamten höheren und mittleren Klaſſen ſich ent-
wickelten, hauptſächlich heute in den verſchiedenen liberalen Berufen ſich finden. Ein großer
Teil dieſer letzteren iſt direkt oder indirekt aus den Einrichtungen und Traditionen der
Prieſter hervorgegangen. Der Typus von Perſonen, die durch ausſchließliche oder über-
wiegende geiſtige Kraft und Arbeit ſich eine höhere oder beſondere Stellung erwerben,
iſt ſeit den Tagen des Prieſterberufes nicht mehr verſchwunden. Alle ſpätere Ariſtokratie
hat ſich ihre Stellung in dem Maße erwerben und behaupten können, wie ſie, ähnlich
den einſtigen Prieſtern, ſich durch Bildung und Kenntniſſe, geiſtige Kraft und moraliſche
Zucht auszeichnete. Manche Naturforſcher glauben, die höheren geiſtigen Leiſtungen
beruhten phyſiologiſch auf der viel ſtärkeren Zuleitung des Blutes zum Gehirn, wie die
mechaniſchen auf der zu den Muskeln, und es ſei ausgeſchloſſen, daß große Fähigkeiten
nach der einen oder anderen Seite möglich ſeien ohne dieſe phyſiologiſche Einſeitigkeit.
Es dürfte dies eine Übertreibung ſein, die nur teilweiſe wahr iſt; es liegt ſicher die
Möglichkeit einer harmoniſchen Ausbildung der körperlichen und der geiſtigen Kräfte
vor; ſie iſt nur praktiſch, je weiter die Arbeitsteilung voranſchreitet, um ſo viel
ſchwieriger, d. h. nur bis zu einem gewiſſen Grade durch immer kompliziertere Geſell-
ſchafts- und Erziehungseinrichtungen herbeizuführen. —
Neben den geiſtlichen haben die meiſten Stämme und Völker eine Gruppe von
weltlichen Ariſtokraten, Häuptlingen, Principes, Adeligen und Kriegern
frühe entſtehen ſehen, die wohl von Anfang an auch durch Klugheit und moraliſche
Eigenſchaften, in der Hauptſache und vor allem aber als große Jäger, kühne Kämpfer,
als Viehzüchter und Tierbändiger, als Anführer von Beutezügen, als kraftvolle, im-
ponierende Perſönlichkeiten ſich auszeichneten. Sie waren diejenigen, die am früheſten
ſich zahlreiche Weiber und Kinder, großen Vieh- und Sklavenbeſitz zu verſchaffen wußten,
die in Zuſammenhang mit ihrer Stellung, mit ihrem Menſchen- und Viehbeſitz ſpäter
auch den größeren Landbeſitz erwarben. Wir kommen darauf zurück.
Die letzte Urſache aber ihres Beſitzes waren ihre perſönlichen Eigenſchaften; durch
dieſe ſtiegen ſie unter den Volksgenoſſen empor, durch dieſe erhielten ſie die Richter-, die
Häuptlings-, die Anführerſtellen, die Ämter. Die Tapferkeit (virtus) galt nicht bloß bei
den Römern als die einzig wahre Tugend, ſie war für alle älteren Zeiten eben die für die
Stämme und Sippen, ihre Exiſtenz, ihre Kämpfe wichtigſte, um ſich zu behaupten. Und
darum erwies man ihr eine Ehrfurcht, die heute kaum mehr vorhanden ſein kann, nur
etwa in der Stellung unſeres Offizierſtandes noch nachklingt. Die kriegeriſchen Ariſto-
kratien gingen aus dieſen Tapferen und ihren Gefolgſchaften hervor.
Freilich iſt die Entſtehung eines beſonderen Kriegerſtandes bei den tüchtigſten und
kühnſten Stämmen nicht der Anfang ihrer Militärverfaſſung. Beſonders einzelne Stämme
mit Viehbeſitz, mit kräftigen Raſſeeigenſchaften, durch Klima, Schickſale und Wanderung
auf ſtete Kämpfe hingewieſen, haben unter der Leitung begabter Führer eine Verfaſſung
ausgebildet, nach der jeder erwachſene Mann zugleich Krieger war. Die bedeutendſten
indogermaniſchen Völker, Griechen, Römer, Germanen, ſind hieher zu rechnen, welche in
ihren Wandertagen und auch noch ſpäter in ihrer Geſamtheit Hirten, Ackerbauer und
Krieger zugleich waren. Allerdings waren auch bei ihnen bald gewiſſe Modifikationen
der allgemeinen Kriegspflicht nötig. Man bot jahres- oder zeitweiſe nur die Hälfte der
Männer auf, während die anderen für dieſe arbeiteten. Man ließ zu kleineren Zügen
nur die Jugend oder die Altersklaſſen bis zum 30., 40., 45. Jahre ausrücken; man
begann die ſchwere Laſt der Ausrüſtung und eigenen Verpflegung wie den Kriegsdienſt
ſelbſt nach der Größe des Grundbeſitzes oder Vermögens abzuſtufen.
[332]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Nur bei einem ſehr niedrigen Grade der wirtſchaftlichen Kultur, bei kleinen
Stämmen, bei ſteter Bedrohung oder Wanderung konnten alle Männer Krieger ſein.
Die wirtſchaftliche Laſt des Unterhaltes fiel dabei überwiegend auf die Weiber, die
Jugend, die alten Leute, die Knechte. Als die höchſte kriegeriſche Leiſtung rechnet man
heute, daß 25 % eines Stammes, die Geſamtheit der erwachſenen Männer, in den Krieg
zogen; für gewöhnlich werden 15—20 % ſchon eine außerordentlich große Leiſtung
geweſen ſein. Jeder Fortſchritt im Landbau und in der Seßhaftigkeit, jede friedliche
Kultur, jede Vergrößerung des Stammgebietes drängte zu einer Arbeitsteilung, welche
einen Teil der erwachſenen Männer vorübergehend oder dauernd von der kriegeriſchen
Arbeit entlaſtete. Es geſchah in der Weiſe, daß kriegeriſche Stämme durch Eroberung
und Unterwerfung ſich zum Kriegsadel eines größeren Gebietes machten, wie in Sparta,
oder ſo, daß nur die Beſitzer größerer Landloſe noch Kriegsdienſte thaten, wie in Athen
oder in Deutſchland mit Einführung des Reiterdienſtes und Lehnsweſens. Die indiſche,
ägyptiſche, japaniſche Kriegerkaſte waren Ergebniſſe einer ähnlichen Entwickelung. Wo
die Kriege ſeltener wurden, der Kriegsſchauplatz ferner lag, auf die Grenzen ſich beſchränkte,
da genügte ein kleiner Teil des Volkes für die kriegeriſche Verteidigung. Aber es war
der angeſehene, meiſt mit erheblichem Grundbeſitz ausgeſtattete. Die Entwöhnung des
Bauern von der Führung des Schwertes bedeutete für ihn ein beſſeres wirtſchaftliches
Fortkommen, aber allerdings auch eine tiefere ſociale Stellung. Die Scheidung des
Volkes in einen kriegeriſchen und nicht kriegeriſchen Teil war zugleich eine ſolche in einen
befehlenden und einen gehorchenden; denn die Kriegerariſtokratie kam neben den Prieſtern
ebenſo an die Spitze des Staates, den ſie allein nach außen verteidigte, wie lokal an
die Spitze der Selbſtverwaltung, da ſie allein Ruhe und Ordnung in jenen gewalt-
thätigen Zeiten aufrecht erhielt. Ein heroiſches Zeitalter ritterlicher Kultur knüpft ſich
an die Tage ihrer Herrſchaft: für Jahrhunderte zerfielen die Völker in die drei Haupt-
gruppen der Prieſter, der Krieger, der Bauern und Bürger, wobei jedoch die zwei erſten
herrſchenden Klaſſen nur einen mäßigen Bruchteil ausmachten, die Maſſe des übrigen
Volkes häufig in eine untergeordnete, abhängige Stellung kam.
Mit der Zeit aber geht ein wachſender Teil der Amtsgeſchäfte der Kriegerariſtokratie
auf das Beamtentum, ein immer größerer Teil ihrer militäriſchen Thätigkeit auf die
mittleren und unteren Klaſſen über. Die größeren techniſchen Anſprüche in beiderlei
Richtung erzwingen dieſe weiteren Schritte der Arbeitsteilung. Mit dem Vordringen
der Geldwirtſchaft und des beweglichen Beſitzes, mit der dichteren Bevölkerung, die ihren
Unterhalt auf dem beſetzten Boden immer ſchwieriger findet, mit der Umwandlung des
Kriegsadels in einen Grundbeſitz- und Amtsadel, mit der Schwierigkeit, die Ritterſchaft ſtets
ſchlagfertig und kriegstüchtig zu erhalten, ſie auf entferntere Kriegsſchauplätze zu führen,
beginnt der Kriegsdienſt gegen Geldſold, in den erſt die Söhne der Ritter und die ver-
armten Adeligen, dann die unteren Klaſſen des eigenen Volkes, endlich Fremde, zuletzt
die beſitzloſen Proletarier von überallher eintreten. An den dauernden Solddienſt knüpfen
ſich die großen techniſch-militäriſchen Fortſchritte: das Heer wird ſtehend, der Soldaten-
beruf ein ausſchließlicher Lebensberuf. Nicht nach Familie, Heimat, Grundbeſitz werden
die Leute mehr gruppiert, ſondern nach Fähigkeit, Bewaffnung und Ausbildung; es
entſtehen die adminiſtrativen und taktiſchen Einheiten des Heeres, die Waffenſpecialitäten,
die hierarchiſche Ordnung von Ober-, Unteroffizieren und Mannſchaften. Ein gut
geſchultes ſtehendes Heer von wenigen Prozenten der Bevölkerung reicht jetzt für die
größten Staaten aus. Die ſtehenden Heere machen heute (nach Zahn) zwiſchen 0,1 %
(Vereinigte Staaten) und 3,4 % (Frankreich) der Erwerbsthätigen aus; in Groß-
britannien ſind es 1 %, in Deutſchland 2,8 %. Von der Geſamtbevölkerung wären es
noch weſentlich niedrigere Bruchteile. So iſt der hiſtoriſche Fortſchritt, welcher in der
Einſchränkung des Waffendienſtes in den letzten 2—3000 Jahren liegt, etwa in dem
Zahlenverhältnis auszudrücken: wo einſt 25 % der Bevölkerung, 35—40 % der Erwerbs-
thätigen, zum kriegeriſchen Schutze nötig waren, da reichen heute etwa 0,4—1,12 % der
Bevölkerung, 1—3 % der Erwerbsthätigen aus.
[333]Die Geſchichte der Kriegsverfaſſung. Die Händler.
Die reinen Soldheere, die im Altertume ſchon etwa 400 v. Chr. beginnen, auch
in Rom unter Marius die alten Bauernſoldaten verdrängen, in der neueren Zeit vom
13.—18. Jahrhundert vorherrſchen, am früheſten und ausſchließlichſten reichen Handels-
ſtaaten eigen ſind, führen aber zuletzt zu den größten politiſchen und ſocialen Mißſtänden.
Während das übrige Volk in Feigheit und Genußſucht verweichlicht, ſetzt ſich der Soldaten-
ſtand mehr und mehr aus den roheſten Elementen, barbariſchen Fremden, Soldaten-
kindern, Thunichtguten, Verbrechern zuſammen; ohne ſittlichen Zuſammenhang mit den
Volks- und Staatsintereſſen, die er verteidigen ſoll, ergiebt er ſich Uſurpationen, erhebt
ſeine Führer zur Diktatur, fordert unerſchwingliche Summen für ſeinen Unterhalt oder
ſeine Beſtechung und ſchützt zuletzt ſo wenig vor innerer Auflöſung wie vor äußeren
Feinden. Die zu weit getriebene Arbeitsteilung macht bankerott.
Daher iſt die neuere Zeit zu einem gemiſchten Syſtem zurückgekehrt: lebenslängliche
Offiziere ſowie Unteroffiziere, die 8—15 Jahre dienen und dann in eine Civilſtellung
übergehen, geben den Rahmen für ein ſtehendes Heer, für das die Männer vom 17. bis
42. Jahre (18 % der Bevölkerung) kriegspflichtig ſind, in dem die körperlich tüchtigen
Männer der ganzen Nation in einer Übungszeit von einigen Monaten oder Jahren
kriegeriſch ausgebildet werden, um dann ihrem anderen, dauernden Berufe zurückgegeben,
nur im Kriegsfalle je nach Bedarf bis zu 7, 8 und 9 % der Bevölkerung zur Fahne
gezogen zu werden. Im Offiziersdienſte verjüngt ſich der alte Grundbeſitzadel, indem
er neue Pflichten auf ſich nimmt; er kann es aber nur, indem er ſelbſt zugleich die
höhere geiſtige Bildung der liberalen Berufe erwirbt und ſich mit dieſen gleichſam ver-
ſchwiſtert. Die allgemeine Wehrpflicht der übrigen Klaſſen iſt die ſtärkſte Korrektur der
ſonſtigen ſo weitgehenden, teilweiſe übertriebenen Arbeitsteilung überhaupt, ein Erziehungs-
mittel für die ganze Nation, ſowie ein ſicheres Gegenmittel gegen die Mißbräuche der
Klaſſenherrſchaft.
115. Die Händler. Ein gewiſſer Handel und Tauſchverkehr hat ſich ſehr
frühe entwickelt. Wir kennen kaum Stämme und Völker, die nicht irgendwie durch ihn
berührt würden. Die verſchiedene techniſche und kulturelle Entwickelung ſchuf in der
allerfrüheſten Zeit bei einzelnen Stämmen beſſere Waren und Werkzeuge; die Natur
gab verſchiedene Produkte, welche bei den Nachbarn bekannt und begehrt wurden. Und
überall hat ſich die Thatſache wiederholt, daß der Wunſch nach ſolchen Waren und
Produkten Jahrhunderte, oft Jahrtauſende früher lebendig wurde als die Kunſt, ſie
herzuſtellen; für viele war dies ja an ſich durch die Natur ausgeſchloſſen.
Der erſte Handel und Tauſchverkehr war nun aber lange ein ſolcher ohne Händler.
Schon in der Epoche der durchbohrten Steine gelangen Werkzeuge und Schmuckſachen
von Stamm zu Stamm auf Tauſende von Meilen. Ein ſprachloſer, ſtummer Handel
beſteht noch heute am Niger; auf den Stammgrenzen kommt man zuſammen, legt ein-
zelnes zum Austauſch hin, zieht ſich zurück, um die Fremden eine Gegengabe hinlegen
zu laſſen, und holt dann letztere. Innerhalb desſelben Stammes hindert lange die
Gleichheit der perſönlichen Eigenſchaften und des Beſitzes jedes Bedürfnis des Tauſches.
Auch auf viel höherer Kulturſtufe finden wir noch einen Handel ohne Händler, wie
z. B. zwiſchen dem Bauer des platten Landes und dem Handwerker der mittelalterlichen
Stadt lange ein ſolcher Austauſch der Erzeugniſſe ſtattfindet, ein Handel zwiſchen
Produzent und Konſument. Zwiſchen verſchiedenen Stämmen gaben die Häuptlinge und
Fürſten am eheſten die Möglichkeit und den Anlaß zum Tauſch. Daher ſind lange dieſe
Spitzen der Geſellſchaft die weſentlich Handeltreibenden. In Mikroneſien iſt heute noch
dem Adel Schiffahrt und Handel allein vorbehalten; die kleinen Negerkönige Afrikas
ſuchen noch möglichſt den Handel für ſich zu monopoliſieren. Ähnliches wird von den
älteren ruſſiſchen Teilfürſten berichtet; die Haupthändler in Tyrus, Sidon und Israel
waren die Häuptlinge und Könige.
Nur bei ſolchen Stämmen, die, entweder am Meere lebend, Fiſchfang und Schiffahrt
frühe erlernten, oder als Hirten mit ihren Herden zwiſchen verſchiedenen Gegenden und
Stämmen hin und her fuhren, wie bei den Phönikern und den arabiſch-ſyriſchen Hirten-
[334]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſtämmen, konnten ſich der abenteuernde Sinn, die kühne Wageluft, der rechnende
Erwerbsſinn entwickeln, die in breiteren Schichten der Stämme Handelsgeiſt und
Handelsgewohnheiten, ſowie Markteinrichtungen nach und nach ſchufen. Ihnen ſteht die
Mehrzahl der anderen Stämme und Raſſen mit einer zähen, Jahrhunderte lang feſt-
gehaltenen Abneigung gegen den Handel gegenüber; ſie dulden Generationen hindurch
eher, daß fremde Händler zu ihnen kommen, als daß ſie ſelbſt den Handel erlernen und
ergreifen. So iſt bei den meiſten, beſonders den indogermaniſchen Völkern der Handel
durch Fremde und Fremdenkolonien nur ſehr langſam eingedrungen. Die Phöniker,
Araber, Syrer und Juden waren die Lehrer des Handels für ganz Europa. Die Araber
ſind es noch heute in Afrika, wie die Armenier im Orient, die Malaien und Chineſen
vielfach in Oſtaſien. Bis auf den heutigen Tag ſind in vielen Ländern einzelne Handels-
zweige in den Händen fremder Raſſen, wie z. B. in London der Getreidehandel weſentlich
von Griechen und Deutſchen, in Paris das Bankgeſchäft hauptſächlich von Genfer Kauf-
leuten und deutſchen Juden begründet wurde, in Mancheſter noch heute ein erheblicher
Teil des Baumwollwarenhandels in fremden Händen liegt. In Indien kann der Krämer
und Händler des Dorfes noch heute nicht Gemeindemitglied ſein (Maine). Im Elſaß
wohnt der jüdiſche Vermittler nicht in dem Dorfe, das ihm von ſeinen Freunden ſtill-
ſchweigend als Geſchäftsgebiet überlaſſen iſt. Am Handel klebt ſo ſehr lange die Vor-
ſtellung, daß es ſich um ein Geſchäft mit Fremden handle.
Die älteren Händler ſind Hauſierer, die mit Karren, Laſttieren und Schiffen von
Ort zu Ort, von Stamm zu Stamm, von Küſte zu Küſte ziehen; ſie ſind meiſt Groß-
und Kleinhändler, Frachtführer und Warenbeſitzer, oft auch techniſche Künſtler und
Handwerker zugleich. Die wertvollſten Waren, mit ihren großen örtlichen Wertdifferenzen,
Vieh und Menſchen, Salz, Wein und Gewürze, Edelſteine, Metalle und Werkzeuge ſind
die Lockmittel jenes erſten Verkehrs. Von dem römiſchen Weinhauſierer, dem Caupo,
ſtammt das Wort Kaufmann. Es iſt ein Handel, der ſtets Gefahren mit ſich bringt,
Verhandlungen mit fremden Fürſten und Stämmen, ein gewiſſes Fremdenrecht, Be-
ſchenkung und Beſtechung der zulaſſenden Häuptlinge oder auch Bedrohung und Ver-
gewaltigung derſelben vorausſetzt. Leichter erreichen die Händler ihr Ziel, wenn ſie in
gemeinſamen Schiffs- und Karawanenzügen, unter einheitlichem Befehle, mit Waffen,
Gefolge und Knechten auftreten. So wird die Organiſation dieſes Handels in die
Fremde meiſt eine Angelegenheit der Fürſten oder gar des Stammes, jedenfalls der
Reichen und Angeſehenen; Stationen und Kolonien werden nicht bloß für die einzelnen
Händler, ſondern für das Mutterland erworben; die Händler desſelben Stammes treten
draußen, ob verabredet oder nicht, als ein geſchloſſener Bund auf, der nach ausſchließ-
lichen oder bevorzugten Rechten ſtrebt. An der Spitze ſolcher Handelsunternehmungen
ſtehen Männer, die als Diplomaten, Feldherren, Koloniegründer ſich ebenſo auszeichnen
müſſen wie durch ihr Geſchäftstalent. Sie ſtreben ſtets nach einer gewiſſen Handelsherrſchaft
und ſuchen mit Gewalt ebenſo oft wie durch gute Bedienung ihrer Kunden ihre Stellung
zu behaupten. Von den phönikiſchen und griechiſchen Seeräuberzügen und den Wikinger-
fahrten bis zu den holländiſch-engliſchen Kaper-, Opium-, Gold- und Diamantenkriegen
klebt Liſt und Betrug, Blut und Gewaltthat an dieſem Handel in die Fremde, deſſen
Formen außerhalb Europas heute noch vielfach vorherrſchen.
Meiſt leben dieſe älteren Kaufleute nicht ausſchließlich von Handel und Verkehr;
ſie ſind zu Hauſe Grundbeſitzer, Ariſtokraten, Häuptlinge, oft auch Prieſter; der römiſche
Handel tritt uns bis in die Kaiſerzeit als eine Nebenbeſchäftigung des Großgrundbeſitzes
entgegen; der puniſche Kaufmann iſt Plantagenbeſitzer, der mittelalterliche vielfach zugleich
Brauer und ſtädtiſcher Grund-, oft auch ländlicher Rittergutsbeſitzer. Aber wo der
Handel dann eine gewiſſe Blüte erreicht hat, da ſind es die jüngeren Söhne, die Knechte
und Schiffer, die Träger und Kamelführer, die nach und nach mit eigener Erſparnis
und auf eigene Rechnung anfangen zu handeln; ſo entſteht ein Kaufmannsſtand, der
ausſchließlich oder überwiegend vom Handelsverdienſt lebt, ſoweit die betreffenden nicht,
wie ihre Principale, wieder durch ihren Beſitz zugleich in die höhere Klaſſe der Grund-
beſitzer und Ariſtokraten einrücken.
[335]Die Entſtehung des Handels und der Händler.
Der ältere Kaufmann iſt ſo im ganzen wie der Prieſter und der Krieger eine
ariſtokratiſche Erſcheinung. Der Handel größeren Stils bietet noch leichtere Möglich-
keiten des Gewinnes als jene Berufe; er iſt lange ein Monopol beſtimmter Stämme,
Städte, Familien; er fordert Talent, Mut, Charakter, er bietet Gelegenheit zu Liſt,
Gewalt und Herrſchaft; daher iſt der Merkur der Gott der Kaufleute und der Diebe.
Für die naive ältere Auffaſſung iſt der Kaufmann der ſtolze, hochmütige, zungenfertige,
ſprachkundige, weltbürgerliche, von der Heimat losgelöſte Völkervermiſcher, welcher Kultur,
Luxus, höhere Geſittung, aber auch Auflöſung der beſtehenden Sitten und allerlei Laſter
bringt. Neben dem ariſtokratiſchen Kaufmann, der in die Fremde zieht, ſtehen nun aber
teils von Anfang an, teils bald darauf weitere arbeitsteilige Glieder von Handel und
Verkehr, die mehr dem Mittelſtande oder gar den unteren Klaſſen angehören. Schon
die kleineren Hauſierer, die teils im Gefolge des großen Kaufmannes, teils ſelbſtändig
mit etwas höherer wirtſchaftlicher Entwickelung entſtehen, gehören hieher.
In dem Maße, wie aus den älteren Märkten, die einigemale im Jahre bei Ge-
legenheit der Gerichts- und Volksverſammlung, der kirchlichen Feſte gehalten werden,
täglich ſtattfindende Märkte werden, treffen wir ſeßhafte Kleinkaufleute, Krämer, Höker,
welche, mit kleinem Gewinn ſich begnügend, den lokalen Detailhandel übernehmen; es
entſteht daneben ein offizielles Marktperſonal von Marktmeiſtern, Meſſern, Trägern,
Maklern, Warenprobierern, denen ſich erſt der fremde Münzer und Geldwechsler, dann
der heimiſche zugeſellt. Aus letzteren erwächſt ſpäter der Bankier und das ganze Kredit-
geſchäft, das aber lange auch von anderen Großkaufleuten, von Klöſtern und Stadt-
verwaltungen, von Goldſchmieden nebenher betrieben wird, erſt im Laufe der letzten
200 Jahre ſeine große, ſelbſtändige Ausbildung, ſeine Specialitäten, ſeine innere, weit-
gehende Arbeitsteilung empfangen hat.
Das Verkehrsgeſchäft iſt ſehr lange Sache des reiſenden Kaufmanns ſelbſt. Er
verpflegt ſich unterwegs ſelbſt oder nimmt Gaſtfreundſchaft in Anſpruch, er beſitzt eigene
Schiffe, Pferde und Wagen, er oder ſeine Diener begleiten die Waren ſelbſt. Im Orient
kehrt er noch heute in der von den öffentlichen Gewalten hergeſtellten Karawanſerei ein,
die ihm nur leere Räume bietet. Gaſthäuſer ſind erſt langſam im Mittelalter auf-
gekommen, noch im vorigen Jahrhundert mußte die preußiſche Verwaltung ſich bemühen,
ſie durch beſondere Begünſtigungen ins Leben zu rufen, während heute das Gaſthaus,
die Bank und die Poſtſtelle die erſten Häuſer einer ſtädtiſchen Neugründung in Amerika
ſind, und die europäiſche Gaſthausinduſtrie eine der großartigſten, techniſch und auch
arbeitsteilig vollendetſten iſt.
Die Entſtehung eines beſonderen Frachtgewerbes haben wir am Waſſer zu ſuchen.
Der Schiffer, der freilich lange zugleich Fiſcher bleibt, auch einzelne Zweige des Handels,
ſo hauptſächlich den Getreide- und Holzhandel, mit ſeinem Frachtgewerbe verbindet,
nimmt den Kaufmann und ſeine Waren ſchon bei den Phönikern und im Altertume
auf; aber daneben bleiben vielfach die Großkaufleute der Seeſtädte Reeder und Schiffs-
beſitzer bis heute. Viel langſamer entwickelt ſich ein beſonderes Frachtfuhrgeſchäft auf
dem Lande. Das Altertum hat nur Spuren davon; die neueren Zeiten haben es vom
15.—18. Jahrhundert langſam entſtehen ſehen; die Metzger und Bauern an den Haupt-
ſtraßen beſchäftigen lange ihre Pferde nebenher in dieſer Weiſe, bis das regelmäßige
Frachtfuhrgeſchäft als ſelbſtändiges Gewerbe ſich lohnte. Eine Poſt im Dienſte der
kaiſerlichen Verwaltung hat das Altertum gekannt, aber nicht im Dienſte des Verkehrs;
erſt aus den ſtädtiſchen und fürſtlichen Botenkurſen des 15.—17. Jahrhunderts ſind die
Poſten unſerer Tage als ſelbſtändige, dem Brief-, Perſonen- und Frachtverkehr dienende
Inſtitute erwachſen. An ſie knüpfen ſich als große Privatunternehmungen oder Staats-
inſtitute unſere heutigen Eiſenbahnen, Telegraphenanſtalten, Poſtdampferlinien, Telephon-
einrichtungen mit ihrem arbeitsteiligen Perſonal von Tauſenden von Perſonen.
Alle dieſe Inſtitutionen zuſammen haben vom 16. Jahrhundert an unſern Handel
und ſeine Einrichtungen in den civiliſierten Staaten und zwiſchen ihnen gänzlich um-
geſtaltet. Nun konnte der Kaufmann zu Hauſe bleiben, durch Briefe und Frachtgeſchäfte,
welche andere beſorgten, ſeinen Handel abmachen; er brauchte nicht mehr in gleichem
[336]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Maße wie früher allein oder in Genoſſenſchaft ſich eine Stellung in fremden Ländern
zu erkämpfen; Derartiges nahm ihm, wenigſtens teilweiſe, die Staatsgewalt ab. Selbſt
die Warenlagerung und das Vorrätehalten ging teilweiſe auf beſondere Geſchäfte und
Organiſationen, wie die öffentlichen Lagerhäuſer, über; das Spekulieren, das Ein- und
Verkaufen auf der Börſe, durch den reiſenden Commis, durch Korreſpondenz trat in den
Vordergrund der großen, das Ladengeſchäft in den Vordergrund der kleinen Geſchäfte.
Aber weder damit, noch mit der Scheidung der Handels- von den Verkehrs-
geſchäften und -organen, noch mit der Ausbildung der beſonderen Kredithändler, der
Banken iſt die neuere Arbeitsteilung im Handel und Verkehr erſchöpft, die Stellung
des neueren Händlertums charakteriſiert. Man wird ſagen können, vom 15. und
16. Jahrhundert bis zur Gegenwart habe der Handelsſtand erſt ſeine ſelbſtändige höhere
Ausbildung und Teilung erreicht, ſei er erſt der Beherrſcher und Organiſator der Volks-
wirtſchaft geworden. Erſt von da an hat die Gütercirkulation, der Abſatz, die inter-
lokale und internationale Teilung der Arbeit ſo zugenommen, daß ſie überall des
Handels und ſeiner Teilorgane bedurfte. Erſt jetzt entſtand für einzelne Handwerks-
waren ein Abſatz in die Ferne durch den Kaufmann; der Handel ſchuf die Hausinduſtrie,
wie er ſpäter hauptſächlich die Großunternehmung ins Leben rief. Wir werden unten
darauf zurückzukommen haben, daß die ganze Unternehmung weſentlich durch den Gewinn
auf dem Markte, durch den Handel und den Kaufmann entſtand. Die großen Meſſen
gehören der Zeit von 1500—1800, die größeren Börſen der von 1800—1900 an.
Beide ſind Ergebniſſe des Handels. Die ganze privatwirtſchaftliche, ſpekulative Seite
der heutigen Volkswirtſchaft hängt am Handel, liegt in den Händen der Kaufleute, iſt
von der arbeitsteiligen Handels- und Verkehrsorganiſation abhängig, welche ſich immer
einflußreicher, komplizierter geſtaltet hat; ſie beherrſcht Induſtrie und Landwirtſchaft,
den großen Teil der wirtſchaftlichen Produktion und die Verteilungsgeſchäfte, welche die
Güter den einzelnen zuführen.
Allerdings zeigen die Handels-, Verſicherungs-, Verkehrs- und Beherbergungs-
gewerbe in unſerer heutigen Berufs- und Gewerbeſtatiſtik entfernt nicht die Speciali-
ſierung wie die Induſtrie. Aber in der deutſchen Zählung von 1882 ſind doch für den
Handel mit Tieren 32, mit landwirtſchaftlichen Produkten 121, mit Brennmaterialien 33,
mit Metallen 51, mit Kolonial-, Eß- und Trinkwaren 121, mit Schnittwaren 126, mit
Kurz- und Galanteriewaren 51 Specialitäten von Geſchäften verzeichnet. Die Anpaſſung
der Verkaufsgeſchäfte an die Bedürfniſſe der verſchiedenen Klaſſen und Orte hat Magazine
und Läden jeder Art, von den kleinſten bis zu den Rieſenbazaren geſchaffen. Die ver-
ſchiedenſten Formen des Verkaufs ſtehen nebeneinander: Hauſierbetrieb, Wochen-, Jahr-
markts-, Markthallenverkauf, Auktionsgeſchäfte, Wander- und ſtehende ſtädtiſche Verkaufs-
lager. Die Linien zwiſchen Produktion und Konſumtion werden durch Makler, Agenten,
Kommiſſionäre, Groß- und Kleinhändler aller Art verlängert. Und ſo ſehr an vielen
Stellen die Zunahme und Verbeſſerung der Verkehrsmittel früher notwendige Mittel-
glieder des Handels ausmerzt, da und dort entſtehen wieder neue. Und jedenfalls iſt
die Macht und der Einfluß des Händlertums immer noch eher im Wachſen, ſo ver-
ſchiedenartig Stellung und Einfluß der Elemente ſind.
Die kleinen Ladenhalter, Höker, Hauſierer, das Perſonal der Markthelfer, Packer,
Träger, Dienſtmänner, das ſubalterne Perſonal aller Verkehrsanſtalten ſteht mit dem
gelernten und ungelernten Arbeiter auf einer Stufe, die kleinen Ladengeſchäfte mit
dem Handwerker, die großen Ladengeſchäfte rechnen zum höheren Mittelſtande; ihre
Tauſende von Commis und ſonſtigen Gehülfen gehören teils ihm, teils dem höheren
Arbeiterſtande an. Über all’ dem ſtehen die höhere Geſchäftswelt, die Großhändler, die
Direktoren und Leiter der Aktiengeſellſchaften, Kartelle, Banken und ähnlicher Geſchäfte;
ſie bilden die Spitze der kaufmänniſchen Welt. Sie werden nicht mehr Fürſten, wie
einſt die Medici oder heute noch glückliche arabiſche Händler in Afrika, aber ſie über-
ragen an Reichtum, Macht und Einfluß doch da und dort alle anderen Kreiſe der
Geſellſchaft, beherrſchen in einzelnen Staaten Regierung und Verwaltung nicht minder
als einſt in Karthago, Venedig und Florenz. Nur wo eine alte, ſtarke Monarchie, eine
[337]Die neuere Handelsentwickelung, ihre Arbeitsentwickelung und Bedeutung.
geſunde und große Grundariſtokratie, eine ausgebildete Heeres- und Beamtenverfaſſung
iſt, exiſtieren noch ſtarke Gegengewichte, welche ihren monopolartigen Einfluß in der
Volkswirtſchaft und Geſetzgebung, ſowie im Staatsleben im ganzen hemmen, ihren großen
Gewinnen gewiſſe Schranken ſetzen.
Die höhere Schicht der kaufmänniſchen Welt ſtützt ſich auf ihren beweglichen
Kapitalbeſitz, wie die Grundariſtokratie auf ihren Grundbeſitz. Aber es iſt eine ſehr
ſchiefe Auffaſſung, aus dem Kapital an ſich alles heute abzuleiten, was Folge der
techniſchen, geiſtigen und moraliſchen Eigenſchaften der Kaufleute, was das Ergebnis
ihrer Marktkenntnis und -beherrſchung, ihrer Organiſation, ihres teilweiſe vorhandenen
Monopolbeſitzes der Geſchäftsformen und Geſchäftsgeheimniſſe iſt. Ihre Stellung in
der modernen Volkswirtſchaft hat man lange von der günſtigſten Seite, neuerdings unter
dem Eindrucke gewiſſer Mißbräuche und Entartungen, auch unter dem Einfluſſe ſocia-
liſtiſcher Theorien vielfach überwiegend zu ungünſtig be- und verurteilt. Gewiß kann
der habſüchtige Handelsgeiſt entarten, in herrſchſüchtiger Monopolſtellung für Volks-
wirtſchaft und Staat große Gefahren bringen. Aber nie ſollte man dabei überſehen,
daß die arbeitsteilige Ausbildung des Handelsſtandes der Fortſchritt iſt, der unſere
moderne Volks- und Weltwirtſchaft ſchuf. Und ſtets ſollte man ſich klar ſein, daß dieſer
Handelsgeiſt je nach den Menſchen, ihren Gefühlen und Sitten, ihrer Moral und Raſſe
etwas ſehr Verſchiedenes ſein kann. Eine fortſchreitende Verſittlichung der Geſchäftsformen
kann die Auswüchſe des egoiſtiſchen Handelsgeiſtes abſchneiden; ein reeller Geſchäfts-
verkehr, eine ſteigende Ehrlichkeit und Anſtändigkeit in Handel und Wandel kann Platz
greifen; durch Staats- und Kommunalbanken, durch Genoſſenſchaften und Vereine, die
wirtſchaftliche Funktionen übernehmen, teilweiſe auch durch das Aktienweſen und ſeine
Beamten kommt in einen Teil des Geſchäftslebens ein anderer, zugleich auf Geſamt-
intereſſen gerichteter Geiſt. Die großen Organiſationen der Induſtrie und der Land-
wirtſchaft haben ſich teilweiſe ſchon von der Vorherrſchaft des Händlertums befreit.
Alle Gefahren wucheriſcher Ausbeutung der übrigen Volksklaſſen und des Staates durch
die Händler werden in dem Maße zurückgedrängt, wie das ganze Volk die modernen
Handels- und Kreditformen erlernt und beherrſcht.
Für das Verſtändnis der neueren politiſchen und volkswirtſchaftlichen Entwicke-
lung der Kulturvölker iſt es eine Erſcheinung von größter Bedeutung, daß von den
drei bisher geſchilderten, durch Arbeitsteilung entſtandenen ariſtokratiſchen Gruppen der
Geſellſchaft die beiden erſteren, die Prieſter und Krieger, wenn nicht verſchwunden, ſo
doch ihrer Übermacht entkleidet ſind; ihre Berufe dauern in weſentlich anderen geſell-
ſchaftlichen Formen heute fort. Wohl giebt es noch Staaten mit ſtarker Prieſterſchaft;
aber die höher civiliſierten, beſonders die proteſtantiſchen, haben eine Geiſtlichkeit, einen
Lehrerſtand ohne wirtſchaftliche Vorrechte und Übermacht. Wohl giebt es noch Militär-
ſtaaten, wie Preußen, aber der Offiziersſtand herrſcht nicht, rekrutiert ſich aus allen
Kreiſen der Gebildeten; die allgemeine Wehrpflicht hat das proletariſche Söldnerberufs-
heer mit ſeiner einſeitigen Arbeitsteilung abgelöſt.
Die Handelsariſtokratie der Gegenwart konnte und kann nicht ebenſo verſchwinden,
weil ihre arbeitsteilige Funktion, die Leitung und Regulierung der wirtſchaftlichen Pro-
duktion, der Verteilung der Güter erſt in den letzten 2—3 Jahrhunderten entſtand und heute
unentbehrlich iſt. Wäre der Handel aller Zwiſchenhändler ſo entbehrlich, wie die Socialiſten
meinen, verdienten die kaufmänniſchen Fabrikleiter ihre Gewinne nur mit demſelben
Rechtstitel wie die Jungen, die über die Mauer ſteigen, um Äpfel zu ſtehlen (Kautsky),
dann wäre dieſe Handelsariſtokratie auch ſchon verſchwunden. Sie wird bleiben, ſo
lange ſie am beſten große und wichtige Funktionen der Volkswirtſchaft verſieht. Aber
ihre einſeitige Herrſchaft wird abnehmen, wie wir eben ſchon andeuteten. —
116. Die Entſtehung eines Arbeiterſtandes. Sklaverei, Leibeigen-
ſchaft. Die drei Gruppen der Geſellſchaft: Prieſter, Krieger, Händler, bleiben die
Grundtypen aller Ariſtokratie. Die betreffenden Individuen und Geſellſchaftsgruppen
ſteigen durch eigentümliche Kräfte und Vorzüge empor, erreichen durch ſie die größere
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 22
[338]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Ehre, die größere Macht, das größere Einkommen und Vermögen. Sie ſteigen in harten
Daſeinskämpfen auf, denen Gewalt, Betrug und Mißbrauch ſo wenig fehlen kann wie
allem Menſchlichen. Die Prieſter haben Dokumente gefälſcht, um ihren Beſitz zu mehren,
die Ritter haben widerrechtlich Bauern von ihren Hufen vertrieben, die Händler haben
mit Liſt und Betrug, mit Wucher und oft auch mit Gewalt ihren Beſitz vergrößert. Sie
haben ſtets geſucht, ihre Stellung um jeden Preis zu befeſtigen, ſie haben die übrige
Volksmaſſe herabgedrückt, ſie ihrer Leitung und Gewalt unterſtellt. Aber auch in der
Gruppenbildung, welche einzelne Befehlende und viele Gehorchende ſchuf, lag ein Fort-
ſchritt für die Zukunft. Denn es war die Bedingung jeder größeren feſten Organiſation
und zugleich die der künftigen Emporhebung und Erziehung der Maſſen, wenn auch
zunächſt damit Härten und Mißbildungen aller Art eintraten.
Die erwähnten ariſtokratiſchen Gruppen werden meiſt nur einige Prozente der
Völker ausgemacht haben; die Maſſe lebte in hergebrachter Weiſe weiter, als kleine
Ackerbauern, Hirten, Waldbewohner, in den Städten nach und nach als Handwerker.
Dieſe Gruppen der Geſellſchaft, aus denen dann der Mittelſtand ſich zuſammenſetzte,
treten uns bald allein, bald auch in Verbindung mit einer unter ihnen ſtehenden
Schicht entgegen. Sie kommen teilweiſe auch in Abhängigkeit von den ariſtokratiſchen,
führenden Teilen der Geſellſchaft, teilweiſe behaupten ſie eine gewiſſe Freiheit. Jedenfalls
ſind es Teile der Geſellſchaft, die mehr die alte Zeit, Technik, Wirtſchaftsweiſe, als die
neue repräſentieren, aus denen heraus viel weniger als aus den ariſtokratiſchen der
Fortſchritt entſpringt. Die führenden Elemente bedürfen ſtets der mechaniſchen Hülfe,
der dienenden Kräfte; wo Großes geſchehen ſoll, da geht es nicht anders. Nur wo ein
Kluger und Kräftiger befahl, und die, welche über gute Arme verfügten, gehorchten, nur
wo eine gewiſſe Arbeitsteilung zwiſchen geiſtiger und mechaniſcher Arbeit Platz griff,
konnten erhebliche politiſche und wirtſchaftliche Erfolge erzielt werden. Die aufſteigenden
höheren Klaſſen bedurften überall mit der Zeit einer ſolchen Arbeitsteilung.
Sie war zunächſt überall durch die patriarchaliſche Familienverfaſſung gegeben:
die Frauen, die Söhne und Töchter, oft auch verheiratete Kinder, ältere unverheiratete
Geſchwiſter und Verwandte, die Knechte und Mägde waren in ihr die ausführenden
Kräfte. Soweit die patriarchaliſche Familie Platz griff, entſtand ſo eine Arbeitsteilung
teils für Jahre, teils fürs Leben, die nur eine kleine Zahl Befehlender kannte. Die
kleine, neuere Familie ſchuf dieſe Stellung für eine etwas größere Zahl. Aber auch ſie
beließ zunächſt den größeren Teil der 12—30jährigen in einem Dienſt- oder Arbeits-
verhältnis bei ihren Eltern oder in anderen Familien, in Kleinbetrieben; ihre Stellung
war auch in letzteren vielfach die von Familiengenoſſen, welche Wohnung, Unterhalt und
Kleidung, daneben einige Geſchenke, auch etwas Geld erhielten. Wir werden unten darauf
zurückkommen, welch’ großer Teil der heute in der Statiſtik aufgeführten Arbeiter noch
Familienglieder oder Leute ſind, welche, ohne dem Arbeiterſtande anzugehören, bis zum
25. oder 30. Jahre in einer dienenden Arbeitsſtellung ſind.
Aber wo die herrſchaftlichen Organiſationen ſich ausdehnten und befeſtigten,
reichten vielfach die Familienglieder und jungen, freien Leute nicht aus. Wo verſchiedene
Raſſen und Völker ſich bekämpften, die einen die anderen unterwarfen, wo dann ver-
ſchiedene Raſſen durcheinander wohnten, ergaben ſich hiedurch Abhängigkeitsverhältniſſe,
die nicht bloß auf die Jüngeren ſich beſchränkten. Es entſtanden ſo beſondere Klaſſen
mechaniſch dienender Kräfte als die notwendigen Ergänzungsglieder der ariſtokratiſchen
Kreiſe und ihrer Organiſationen.
Die geſellſchaftliche und wirtſchaftliche Lage dieſer Kreiſe fand ihren rechtlichen
Ausdruck in den drei großen Inſtitutionen der Sklaverei, der Leibeigenſchaft, der freien
Arbeit. Die erſtere knüpft in ihrer Entſtehung rein an die Familie an, wird aber dann
mit der Entſtehung der Unternehmung etwas weſentlich anderes; die Leibeigenſchaft
knüpft an die Unterwerfung ganzer Stämme an und wird das ergänzende Glied der
Grundherrſchaft; die perſönlich freie Lohnarbeit iſt das Ergebnis der modernen perſön-
lichen Freiheit, des Rechtsſtaates und der Geldwirtſchaft und bildet das ergänzende
untere Glied der modernen Unternehmung.
[339]Die Entſtehung einer Arbeiterklaſſe. Die Sklaverei.
a) Sklaven. Die Wurzeln der Sklaverei liegen, wie erwähnt, in der herrſchaft-
lichen Familienverfaſſung. Wo bisher der Kannibalismus geherrſcht, d. h. wo man
jeden Stammfremden als rechtlos betrachtet, ihn getötet und verzehrt hatte, da war es
ein großer Fortſchritt der Menſchlichkeit und der wirtſchaftlichen Zweckmäßigkeit, wenn
man den Gefangenen nicht mehr tötete oder den Göttern opferte. Wie man Frau und
Kinder damals als verkäufliches Eigentum in der Regel betrachtete, ſo begann man
ebenſo die erbeuteten oder erkauften Knechte und Mägde zu behandeln; man ſchonte ſie,
um ſie zur Arbeit zu gebrauchen; man ſah in ihnen nur die Arbeitskräfte, aber in
ähnlicher Schätzung ſtanden auch die Weiber und Kinder. Gewiſſe Fortſchritte in der
Familienverfaſſung und in der Technik, welche folgſame Arbeitskräfte als wünſchenswert
erſcheinen ließen, mußten vorhanden ſein, um die Sklaverei entſtehen zu laſſen. Meiſt
nur Hirten- und Ackerbauſtämme (neben wenigen hochſtehenden Fiſchern) und meiſt nur
kriegeriſche haben die Inſtitution ausgebildet; ſie wurde für lange Zeiträume die große
mechaniſche Arbeitsſchule der Menſchheit. Da ſie in der älteren Zeit faſt regelmäßig nur
durch Krieg und Beutezüge entſteht, ſo ſind es die ſchwächeren, weniger gut organiſierten,
weniger klugen Stämme und Raſſen, welche ihr unterliegen. In dieſer Raſſendifferenz
ſah man im Altertume und bis in die neuere Zeit ihre Rechtfertigung: wie das Kind,
ſo hieß es, bedarf der niedriger ſtehende Erwachſene der herrſchaftlichen Leitung und
Zuchtrute, des Zwanges zur Arbeit; er iſt zur mechaniſchen Arbeit brauchbarer als zur
geiſtigen. Er läßt ſich Leitung und Herrſchaft nicht nur gefallen, er liebt ſeinen Herrn,
giebt ſich ihm in Treue und Gehorſam völlig hin.
Der Sklave iſt Eigentum des Herrn; er wird von ihm unterhalten und muß
diejenigen Leiſtungen verrichten, die ihm befohlen werden; das ſind bei einzelnen auch
höhere Arbeiten aller Art, bei den meiſten aber handelt es ſich um die mühevollen
mechaniſchen Dienſtleiſtungen in Haus und Hof, in Wald und Acker, ſpäter im Berg-
werke, auf den Schiffen, in den Handwerken und Fabriken. Die Sklaverei erzeugt ſo
nicht ſowohl einen beſtimmten Beruf, als in aller Thätigkeit die Scheidung zwiſchen
der leitenden und befehlenden und der mechaniſchen, ausführenden Arbeit. Der Sklave
iſt das unterſte Glied der Hauswirtſchaft; die bisher den Frauen zugemuteten ſchwerſten
Arbeiten werden nun ihm auferlegt; er hat keine eigene Wirtſchaft, meiſt keine Familie;
auch wenn die Sklaven maſſenweiſe erbeutet wurden, hat man ſie einzeln dem König,
den Häuptlingen, einem Tempel, einzelnen Familienvätern zugewieſen.
Ihre Rechtsſtellung iſt urſprünglich mit der Familienverfaſſung gegeben; ſie ſind
nicht gänzlich rechtlos, ſo lange ſie als Familienglieder behandelt werden. Noch heute
heiraten in Afrika viele Sklaven die Töchter ihrer Herren; der Islam hat ſtets eine
Sklavenbehandlung angeſtrebt, die mit der Freilaſſung endigt. Aber wo der Familien-
ſklave übergeht in den Plantagen- und Bergwerksſklaven, wo der Sklave nicht mehr in
perſönlicher Berührung mit dem Herrn ſteht, nicht mehr in der Familie mit dem Herrn
lebt, wo er von ihm nur noch als eine Erwerbsquelle angeſehen wird, wo an Stelle
des Krieges der Sklavenhandel und die eigene Sklavenzüchterei die Hauptquelle der
Sklaverei wird, wo ein hartes Schuldrecht die eigenen Volksgenoſſen der Sklaverei
ausliefert, da entſteht jenes unbarmherzige, harte Sklavenrecht, das im Bewußtſein der
Gegenwart häufig als deſſen einzige Form erſcheint. Es war eine Inſtitution, die ſich
da notwendig zeigte, wo mit einfacher Technik große, rieſenhafte Leiſtungen nötig waren;
nur mit harter Disciplin und unbarmherziger Behandlung ließen ſich wohlgeſchulte
Arbeitercompagnien aus den meiſt auf tiefſter Stufe ſtehenden Raſſenelementen herſtellen.
Die Verſchärfung des Sklavenrechtes war vielfach die Vorausſetzung, Großes und techniſch
Beſſeres als bisher zu leiſten. Aber dieſes verſchärfte Sklavenrecht vergiftete mit ſeinen
Folgen ebenſo das Familienleben der Sklaven, wie das Verhältnis zum Herrn; es
führte ganz entmenſchlichte Verhältniſſe, barbariſche Mißhandlungen der oft gefeſſelten
Sklaven herbei. Die Unternehmungen, die ganze Geſellſchaft wurde durch die zunehmenden
Reibungen und Kämpfe gelähmt, kam an den Abgrund unhaltbarer, ſich immer weiter
vergiftender geſellſchaftlicher Zuſtände.
22*
[340]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Die Sklaverei, wie ſie in der ſpäteren römiſchen Republik und im Anfange des
Principats, neuerdings in den Sklavenplantagen der europäiſchen Handelsvölker beſtand,
war die härteſte Form der Arbeitsteilung und das höchſte Maß von ausbeutender
Herrſchaft des Menſchen über den Menſchen. Ohne jedes Eigentum, oft ohne jede
Familienfreude, ohne jede Ausſicht auf die Zukunft, ohne jeden ſtrafrechtlichen Schutz,
oft ſchlechter als das Vieh ernährt und behauſt, wurde der Sklave gerade ſo viel
geſchlagen und zur härteſten Arbeit gezwungen, wie man rechnete, den größten Gewinn
mit ihm zu machen. Man kalkulierte, ob es billiger ſei, einen Negertrupp von achtzehn-
jährigen in 7 oder 14 Jahren aufzubrauchen, to use up. Die barbariſche Strenge iſt auf
dieſem Standpunkte ſo richtig und konſequent wie das ſtrenge geſetzliche Verbot jedes
Unterrichtes an die Sklaven. Haben doch noch engliſche Mancheſterleute den Schul-
unterricht der Arbeiterkinder als einen Verſtoß gegen die Arbeitsteilung bezeichnet.
Alle Sklaverei, die ältere milde und die ſpätere harte, leidet an dem Grundfehler,
daß der Arbeitende gar kein Intereſſe an dem Erfolge der Arbeit hat, was um ſo mehr
ſich geltend machen mußte, als ein Selbſtbewußtſein in dieſen Kreiſen erwachte. Als
vollends der innere Kampf und die Erbitterung ſich immer weiter ſteigerten, mußte die
Erkenntnis erwachen, daß das Syſtem ebenſoviel wirtſchaftlichen wie ſittlich-politiſchen
Schaden ſtifte. Es trat teils eine ſucceſſive Milderung, teils eine plötzliche Aufhebung ein,
wie ja auch ſchon während des Beſtehens der Sklaverei ſtets Hunderte und Tauſende der
höher ſtehenden Sklaven durch Freilaſſung in eine beſſere Lage übergingen, freie Arbeiter,
Kleinunternehmer oder was ſonſt wurden. Die langſame Umbildung der antiken Sklaverei
durch die kaiſerliche, von Stoa und Chriſtentum beeinflußte Geſetzgebung in den Kolonat
und andere Miſchformen der Unfreiheit, die Fortſetzung dieſes Prozeſſes durch die Kirche
des älteren Mittelalters iſt eine der anziehendſten ſocialen hiſtoriſchen Erſcheinungen.
Wir haben ſie ſo wenig wie die modernen Aufhebungen der Sklaverei hier darzuſtellen,
wohl aber zu betonen, daß auch im günſtigſten Falle als die Nachwirkung des älteren
Zuſtandes eines übrig bleibt: die tief in allen Gewohnheiten und Sitten des wirtſchaft-
lichen und ſocialen Lebens wurzelnde Thatſache, daß eine Minorität von höher Gebildeten
und Beſitzenden die mechaniſche Arbeit der weniger Gebildeten und Beſitzenden leitet, ſo
ſehr auch der Gegenſatz gemildert, die Rechtsformen des Verhältniſſes verbeſſert ſind.
b) Die verſchiedenen Formen der Halbfreiheit, welche begrifflich
zwiſchen der Sklaverei und der freien Arbeit liegen, hiſtoriſch oftmals auch vor ihr und
neben ihr entſtanden, werden gewöhnlich unter dem Begriffe der Hörigkeit zuſammengefaßt.
Sie haben einen dreifachen Urſprung: 1. kriegeriſche Unterwerfung ganzer Stämme und
Einverleibung ſolcher zahlreicher ſtammfremder Elemente in das Gemeinweſen zu minderem
Rechte, 2. die Emporhebung früherer Sklaven und ganz Unfreier zu einer beſſeren
Rechtsſtellung, wie im antiken Kolonat, und 3. die Herabdrückung früher freier Volks-
genoſſen zu minderem Rechte, wie im Mittelalter die der zahlreichen freien Bauern zu
Vogtei- und Zinsleuten. Die erſtgenannte Urſache iſt in älterer Zeit die am allgemeinſten
vorkommende: die griechiſchen Heloten und Periöken, die ganze bäuerliche Bevölkerung
in den Provinzen des römiſchen Reiches, die deutſchen Liten waren dieſer Art. Wo
das wirtſchaftliche Leben wenigſtens bis zu ſeßhaftem, geordnetem Ackerbau gekommen
iſt, wo ganze Stämme, Landſchaften und Länder erobert und unterworfen werden, wo
gar Sprach- und Raſſenverwandtſchaft zwiſchen Siegern und Beſiegten beſteht, da können
die Unterworfenen nicht alle zu Sklaven gemacht, den Hauswirtſchaften der Sieger ein-
verleibt werden; man läßt ihnen ihren Ackerbeſitz, ihre ſelbſtändige Hauswirtſchaft; die
Sieger nehmen nur teils für die Staatsgewalt, teils für die einzelnen eine Art Ober-
eigentum am Beſitz und ein Recht auf gewiſſe Abgaben und Dienſte der Halbfreien in
Anſpruch. Der Halbfreie entbehrt der politiſchen Rechte, darf häufig keine Waffen
führen, iſt in der Wahl des Aufenthaltes und Berufes häufig beſchränkt, als Ackerbauer
zum Teil an die Scholle gefeſſelt; aber er iſt ſtrafrechtlich gegen Unrecht, oft auch
gegen Überlaſtung mit Abgaben und Dienſten geſchützt, er hat das Recht der Familien-
gründung und ein beſchränktes Eigentumsrecht, kann Prozeſſe führen, hat an halbfreien
Gemeinden, Gilden und Vereinen vielfach einen Rückhalt; er iſt von den ſtaatlichen
[341]Die Hörigkeit; ihre wirtſchaftliche und hiſtoriſche Würdigung.
Militär-, Gerichts- und anderen Dienſten der Freien vielfach ganz oder zum Teil befreit;
oft hat er Anſpruch auf Zuweiſung einer Ackerſtelle oder einer anderen Erwerbsgelegen-
heit gegenüber ſeinem Herrn. Die Verhältniſſe ſind ſehr mannigfaltig; es kommen
Halbfreie in älterer Zeit auch in Städten und gewerblichen Betrieben vor, wie z. B. die
griechiſchen Periöken, dann die römiſchen Freigelaſſenen, die amerikaniſchen Dienſtleute
des 17. und 18. Jahrhunderts eine ſolche Klaſſe darſtellen; überwiegend aber ſind die
Halbfreien kleine Ackerbauer in Ländern einer ſparſamen Bevölkerung ohne Geldwirtſchaft,
die Hinterſaſſen des feudalen Grund- und Gutsherrn.
Es handelt ſich bei dem Verhältnis dieſer Halbfreien ebenſo ſehr um eine Ver-
faſſungs- und Verwaltungseinrichtung wie um die Ordnung des Arbeitsverhältniſſes.
Verſchiedene Stämme und Raſſen konnten urſprünglich nicht in anderer Form ein ein-
heitliches Gemeinweſen bilden, als in der von freien und halbfreien, ſtreng geſchiedenen
Klaſſen; die Staats- und Kirchengewalt, die kriegeriſche Verfaſſung, die lokale Verwaltung
konnte, ſo lange es keine Steuern gab, nicht anders organiſiert werden, als durch Zu-
weiſung von Land und Hörigen an diejenigen, welche dieſe höheren Dienſte für die
Geſamtheit übernahmen. Auch wo im Anfang der Fürſt, der Prieſter, der Ritter eine
Ackerwirtſchaft ähnlich wie der unterworfene Hörige führte, war der letztere doch zu
gewiſſen Abgaben und Dienſten verpflichtet, und mehr und mehr mußte es dahin kommen,
daß die höheren Klaſſen, um ihren Pflichten zu genügen, von der mechaniſchen Acker-
und Hausarbeit ganz entlaſtet, dieſe ausſchließlich den Hörigen aufgebürdet wurde. Sie
mußten Straßen und Kanäle, Kirchen und Burgen bauen, die Fuhren für die öffentliche
Verwaltung und die Großen übernehmen, ihnen den Acker beſtellen, die Kinder ihnen
für Jahre zum Geſindedienſte ausliefern. Die Ariſtokratie war ſo vom Drucke mecha-
niſcher Arbeit und Lebensnot befreit, die große Maſſe der Hörigen mußte ackern und
fronen, damit bei dem damaligen Stande der Technik der Staat, die Kirche, ſowie die
höheren Klaſſen als Träger der Kultur beſtehen konnten. Es war eine tiefgreifende
Arbeitsteilung, die trotz aller Härten und Mißbräuche, die ſie erzeugte, für ihre Zeit
ſo notwendig war wie jede andere. Es war ein Syſtem, das höher ſtand als die
Sklaverei, weil es dem Halbfreien immer eine beſchränkte Sphäre individueller Freiheit
und perſönlichen Eigentums garantierte; da wo der Druck nicht zu groß war, konnte
eine gewiſſe Freude am eigenen Erwerbe, am Familienleben, am Vaterlande entſtehen.
Aber auch oft war die Belaſtung eine ſo ſchwere, daß Stumpfheit und Gleichgültigkeit
die Folge war, jedes Intereſſe an der Arbeit erlahmte.
Es war im ganzen ein zu rohes Rechtsverhältnis und eine zu rohe Art der
Arbeitsteilung; es mußte zurücktreten und verſchwinden in dem Maße, wie die Gefühle,
Rechtsanſchauungen und ſocialen Einrichtungen ſich verfeinerten, wie beſſere und feinere
Arbeit gefordert wurde, wie die dichtere Bevölkerung, der beſſere Verkehr, die Geldwirt-
ſchaft und die fortſchreitende Technik beſſere Formen der Arbeitsteilung ermöglichten.
Wie im Altertum und Mittelalter die begabteren Unfreien und Halbfreien, die mit
ſpecialiſierter, höher geſchätzter Thätigkeit Befaßten vielfach zur perſönlichen Freiheit,
ja zur Ariſtokratie aufſtiegen — ich erinnere an die Freigelaſſenen Roms, an die ritter-
lichen unfreien Miniſterialen, an die urſprünglich unfreien Handwerker und Kaufleute
in den mittelalterlichen Städten —, ſo hat in ſpäterer Zeit auch die geſamte ländliche
hörige Bevölkerung die perſönliche Freiheit erreicht. Vom 15.—19. Jahrhundert haben
die Hörigen Europas ſich losgekauft oder ſind durch Ablöſungsgeſetze befreit worden;
ein Teil derſelben wurde damit in einen Stand kleiner Grundeigentümer, ein anderer
in freie Lohnarbeiter verwandelt. Es iſt klar, daß die Nachwirkung dieſer älteren Zu-
ſtände heute noch nicht verſchwunden ſein kann. Die Mehrzahl unſerer europäiſchen
Lohnarbeiter ſind Nachkommen von Hörigen; in unſeren Einrichtungen und Sitten ſind
noch zahlreiche Nachklänge der älteren Zuſtände.
Die Zahl der Sklaven im Altertume und in den heutigen Staaten und Kolonien
iſt wohl nie ſo umfangreich geweſen wie die der Hörigen. Nach den neueſten Forſchungen
betrugen ſie in Griechenland und Italien ſeinerzeit nicht leicht irgendwo mehr als die
Hälfte der Freien, wozu freilich noch mannigfach Halbfreie, Metöken, Freigelaſſene
[342]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
kamen. Die Leibeigenen ſchätzt Grimm ſchon für das 8.—10. Jahrhundert auf die
Hälfte der Bevölkerung, ſpäter haben ſie wohl vielfach vier Fünftel derſelben ausgemacht.
Dabei darf freilich nicht überſehen werden, daß dieſe Leibeigenen als Klaſſe mit den
Sklaven gar nicht vergleichbar ſind. Ein großer Teil von ihnen ſtand viel höher,
repräſentierte trotz ſeiner Laſten und Pflichten eine Art Mittelſtand, ging ſpäter in
dieſen über. Nur die tiefer ſtehenden Leibeigenen, die, welche mit der Freiheit beſitzlos
wurden, können mit den Sklaven in Vergleich gezogen werden.
117. Die Entſtehung des neueren freien Arbeiterſtandes. Das
große Problem unſerer Tage iſt die Entſtehung eines breiten Standes mechaniſcher
Lohnarbeiter, die auf Grund freier Verträge ganz oder überwiegend von einem Geld-
lohn leben, den ſie durch ihre Arbeit in den Unternehmungen, Familien oder in
wechſelnder Stellung verdienen. Wir fragen: wie kommt es, daß mit dem Siege der
perſönlichen Freiheit nicht bloß in den Ländern der alten Kultur, ſondern auch in den
europäiſchen Kolonien mit ihrem Bodenüberfluß die alte Zweiteilung der Geſellſchaft
ſich erhielt: in eine leitende Minorität, die überwiegend geiſtige und in eine ausführende
Majorität, die überwiegend mechaniſche Arbeit verſieht? Wer alle Menſchen für gleich,
das Princip der perſönlichen Freiheit für ein magiſches Mittel zur raſcheſten Entwickelung
aller Körper- und Geiſtesgaben aller Menſchen hält, wer die Vorſtellung hat, eine
allgemeine Beſitzausgleichung hätte, mit der Erteilung der perſönlichen Freiheit verknüpft,
für immer die Klaſſengegenſätze beſeitigt, wer, von den Wundern der heutigen Technik
berauſcht, annimmt, es wäre wirtſchaftlicher Überfluß für alle Menſchen bei richtiger
Verteilung und demokratiſcher Organiſation von Staat und Volkswirtſchaft vorhanden,
der kann natürlich die große hiſtoriſche Thatſache des modernen Arbeitsverhältniſſes
nicht richtig verſtehen.
Wer die Dinge hiſtoriſch auffaßt, wird die Wucht der überlieferten Klaſſen- und Beſitz-
verhältniſſe, die Bevölkerungsbewegung, die Notwendigkeit herrſchaftlicher Organiſations-
formen bei der Entſtehung der modernen Inſtitution des freien Arbeitsvertrags mit in
Rechnung ziehen und begreifen, daß allerdings ſeine Ausbildung beſſer und ſchlechter
gelingen konnte, da und dort verſchiedene Reſultate erzeugte; er wird verſtehen, daß er,
obwohl von Anfang an ein großer principieller Fortſchritt, doch erſt langſam und
durch mancherlei Reformen zu einer befriedigenden Einrichtung werden konnte; der wird
es für eine kindliche Täuſchung erklären, wenn die Lehre aufgeſtellt wird, ausſchließlich
böſe brutale Menſchen oder das Geſpenſt des blutausſaugenden Kapitalismus hätten
es dahin gebracht, daß einige wenige ſich der Arbeitsmittel und des Bodens bemächtigt
und ſo die Maſſe der Bevölkerung enterbt, zu beſitzloſen mechaniſchen Arbeitern
gemacht hätten.
Schon die Nachwirkung der Leibeigenſchaft, in den Kolonien die der Sklaverei, die
großen Schwierigkeiten der Durchführung der allgemeinen Schulpflicht, die Unmöglichkeit,
bei der Aufhebung der feudalen Agrarverfaſſung alle Hörigen mit Beſitz auszuſtatten,
ſchuf, wie wir ſchon ſahen, breite Schichten wirtſchaftlich, techniſch und geiſtig niedrig
ſtehender Menſchen, welche mit der Freiheit auf irgend eine mechaniſche Lohnarbeit
angewieſen waren. Sie beſaßen nicht die Fähigkeit, auf dem Boden der neuen Technik
iſoliert oder genoſſenſchaftlich gewerbliche oder agrariſche Betriebe zu ſchaffen; auch wo
Bodenüberfluß war, wie in den Kolonien, zogen ſie Lohnarbeit dem Leben des Squatters
im Urwald vor. Die große Menge kleiner Handwerker und Hausinduſtrieller war
ebenfalls nicht recht fähig, ſich aktiv an der neuen Organiſation des wirtſchaftlichen
Lebens zu beteiligen. Wo ſie verkümmerten, waren ſie wie die beſitzloſen ländlichen
Taglöhner auf Arbeit bei der nicht zu großen Zahl von Unternehmern angewieſen, welche
nach ihren perſönlichen Eigenſchaften und ihrem Beſitz den techniſchen und organi-
ſatoriſchen Fortſchritt in die Hand nehmen konnten. Die geſamten weſteuropäiſchen
Staaten waren 1750—1850 nach langer Stagnation wieder in eine Phaſe des wirt-
ſchaftlichen Aufſchwunges gekommen; aber die überlieferten Klaſſenabſtufungen waren
nicht plötzlich zu beſeitigen. Die Bevölkerung blieb nach Raſſe, Abſtammung, Lebens-
haltung, Arbeitsgewöhnung, Begabung ſtark differenziert; die einen waren zu geiſtiger,
[343]Die Entſtehung des heutigen Arbeiterſtandes.
die anderen zu mechaniſcher Arbeit brauchbarer. Die Leute, die vom Gebirge nach der
Ebene, vom Lande nach der Stadt kamen, waren und ſind härter, machen geringere
Lebensanſprüche, ſind aber meiſt auch zunächſt zu feinerer Arbeit weniger tauglich.
Die Bevölkerung hatte ſich ſeit dem 16. Jahrhundert geſteigert; ſie war faſt überall
ſeither über ihren Nahrungsſpielraum hinausgewachſen; für überflüſſige Hände Arbeit
zu ſchaffen, war das Loſungswort der merkantiliſtiſchen Politik. Die Hausinduſtrien
haben überall ihre Wurzel in einem Überangebot ländlicher oder ſtädtiſcher Arbeits-
kräfte, wie auch ihre neueſte Zunahme (z. B. in der Konfektion ꝛc.) darauf zurückgeht.
Auch wo keine Großinduſtrie, keine große Gutswirtſchaft in Betracht kam, mußte die
Bevölkerungszunahme auf die Bildung beſitzloſer Arbeiter hinwirken. Nehmen wir als
einfachſten Fall die Geſchichte eines freigebliebenen Bauerndorfes mit feſter Gemarkung.
Wo 1300 noch 20 Vollhufner ſaßen, lebten vielleicht 1500 noch 6 Vollhufner, 12 Viertels-
hufner, einige Koſſäten und Tagelöhner und im Jahre 1800 waren daraus 2 oder
3 Vollhufner, 20—30 Viertelshufner, 50 Kleinſtellenbeſitzer und ebenſo viele grund-
beſitzloſe Tagelöhner geworden, die in den Wirtſchaften der Bauern, in Forſt-, Berg-,
Straßenarbeit, in der Hausinduſtrie einen Verdienſt ſuchen mußten. Auch das Handwerk
hat ſtets, gerade wenn es blühte, in 2—3 Generationen die 3 und mehrfache Zahl von
Kandidaten für die meiſt nicht ſtark zunehmende Zahl von Meiſterſtellen erzeugt; ſie
fanden von 1500—1700 in den aufkommenden Söldnerheeren, in Schreibſtuben und
Beamtenſtellungen, dann auch in Hausinduſtrie und Fabrik ihren Unterhalt. Wo vollends
ſeit 1770 die Gewerbe blühten und exportierten, wuchs die Menſchenzahl ſehr raſch; es
ſchien ſich jetzt ſo leicht eine ſchrankenloſe Erwerbsmöglichkeit zu eröffnen, und man
beeilte ſich, von 1789—1870 die alten etwa noch beſtehenden Schranken der Nieder-
laſſung und Eheſchließung zu beſeitigen. Alle Schichten der Geſellſchaft nahmen raſch
zu, und wer nicht als Bauer oder Meiſter, als Künſtler oder Beamter, als Kaufmann
oder Krämer eine Stellung fand, dem blieb keine andere Wahl, denn als Lohnarbeiter
ſich eine ſolche zu ſuchen.
Das Geldlohnverhältnis für ältere verheiratete Leute war nun nicht etwa ſeit 1750
etwas ganz neu ſich Bildendes. Wo ſchon in älterer Zeit auf Grund der Geldwirt-
ſchaft etwas größere Betriebe ſich gebildet hatten, da war neben dem Lehrling und
Geſellen auch ein verheirateter, geldgelohnter Arbeiterſtand erſtanden, deſſen Glieder
nur ausnahmsweiſe noch Meiſter oder Unternehmer werden konnten. Die Berg- und
Salinenarbeiter und die Matroſen ſind frühe Beiſpiele von Gruppen von Arbeiter-
familien, die durch Generationen Arbeiter blieben. Gerade ſie waren urſprünglich zu
einem großen Teil Glieder primitiver Arbeitsgenoſſenſchaften geweſen, auf die wir unten
kommen, ſie hatten ſich aber in dieſer Form nicht dauernd ordentlich ernähren können;
die Genoſſenſchaften wie die einzelnen Arbeiter waren unfähig, das von ihnen hergeſtellte
ungeteilte oder geteilte Produkt zu verkaufen, aus ihrer Genoſſenſchaft ein lebensfähiges
Unternehmen zu machen; der Verdienſt war zu ungleichmäßig; es war für die Leute
ein großer Fortſchritt, wenn beſitzende Unternehmer ſich fanden, die im ſtande waren,
ihnen, ſo lange das Geſchäft dauerte, aber unabhängig davon, ob es gut oder ſchlecht
ging, einen fortlaufenden Geldlohn zu zahlen. Und als in neuerer Zeit eine immer
erheblichere Zahl von größeren Betrieben und Anſtalten der dauernden Arbeitskräfte
bedurfte, da haben ſie wohl auch noch, wie ſeither die kleinen Betriebe, jüngere Leute
beſchäftigt; ſie haben ſogar teilweiſe übermäßig Kinder und Frauen herangezogen,
„Lehrlinge gezüchtet“, — aber im ganzen war doch damit die Notwendigkeit gegeben,
die brauchbaren Arbeiter Zeit ihres Lebens oder wenigſtens bis ins 40., 50. Jahr im
Dienſt zu behalten; der Geſelle konnte immer ſeltener Meiſter werden. Ein breiterer
Stand älterer verheirateter gewerblicher Arbeiter mußte in der Stadt mit dem Groß-
betrieb entſtehen, wie auf dem Lande der Stand verheirateter Tagelöhner mit dem
Großgutsbetrieb.
Inſofern iſt es wahr, daß die größeren Unternehmer und ihr Beſitz den heutigen
Arbeiterſtand ſchaffen halfen; man muß aber hinzufügen, die Leute waren ſchon da, ſie
entſchloſſen ſich lange Jahrzehnte hindurch ungern und ſchwer genug, in die Fabrik
[344]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
einzutreten. Aus dem Zuſammenwirken der neuen Technik, des neuen Rechtes, der
perſönlichen Freiheit, der vordringenden Geldwirtſchaft, der beſtehenden Geſellſchafts-
verhältniſſe, der Bevölkerungszunahme ergab ſich das neuere Arbeitsverhältnis, der
moderne Stand von Lohnarbeitern, ſeine Baſierung auf den freien Arbeitsvertrag. Das
Weſentliche iſt dabei folgendes.
Nicht mehr bloß jüngere Leute ſtehen in abhängigen dauernden Arbeitsſtellungen,
ſondern auch verheiratete Familienväter und Frauen; ein großer Teil der Arbeitenden
hat keine Hoffnung, wie es früher vielfach der Fall war, mit den Jahren an die Spitze
eines Kleinbetriebes zu kommen; die Mehrzahl der Arbeitenden verkauft nicht einzelne
Arbeitsleiſtungen, wie die Dienſte leiſtenden Handwerker, ſondern ſie verrichten in einem
wenn auch löslichen, doch feſten und ihre Lebensführung beherrſchenden Arbeitsverhältnis
für einen Arbeitgeber täglich beſtimmte gleichmäßig ſich wiederholende Dienſte und
Arbeiten. Aber dafür iſt auch für die Mehrzahl der Arbeiter durch eine gleichmäßig
fortgehende Einnahme die Exiſtenz wenigſtens einigermaßen geſichert; eine erbliche oder
lebenslängliche Berufsbindung, wie früher, beſteht nicht; jeder kann ſeiner Fähigkeit
entſprechend ſich ſeinen Verdienſt ſuchen, wo und wie er will. Darin lag eben der
weſentliche Fortſchritt. Der Arbeiter iſt ſelbſt verantwortlich gemacht; und wenn erſt
langſam das rechte Gefühl dieſer Verantwortlichkeit ſich bildete, wenn es zunächſt nur
eine Elite haben konnte, die übrigen ohne die alten Gängelbande teilweiſe zurückgingen,
der Segen der Freiheit trat doch nach und nach ein, zeigte ſich in dem Maße, wie der
Arbeitsvertrag ſich richtig ausgeſtaltete, der Arbeiterſtand ſich hob. Auch wo der
größere Teil der Arbeitenden erhebliche andere wirtſchaftliche Mittel der Exiſtenz nicht
hat als den täglich verdienten Lohn, der nur bei den höheren Stufen ſich in Jahres-
gehalte mit dauernder Anſtellung verwandelt, konnten Reformen aller Art das Arbeits-
verhältnis verbeſſern, wie wir im zweiten Teile ſehen werden. Auf die einzelnen Seiten
des heutigen Arbeitsvertrages in wirtſchaftlicher und rechtlicher Hinſicht kommen
wir daſelbſt.
Hier haben wir nur die Entſtehung des freien Arbeiterſtandes klarzulegen als
ein Glied in der Kette der geſellſchaftlichen Arbeits- und Berufsteilung. So Ver-
ſchiedenes er umfaßt, wie einſt die Sklaverei und die Hörigkeit, alle, welche wir zu ihm rechnen,
ſtehen nicht bloß unter einer ähnlichen Rechts- und Wirtſchaftsinſtitution, ſondern zeigen
auch den übereinſtimmenden Zug, daß ſie die mehr ausführende, die mehr mechaniſche
Arbeit arbeitsteilig auszuführen haben, daß ſie durch dieſe Teilung an ihre Arbeitgeber
gekettet ſind, daß beide zuſammen eine geſellſchaftliche Organiſation darſtellen, auf deren
Weſen wir bei der Lehre von der Unternehmung kommen.
Hier haben wir nur noch die Frage zu beantworten, wie groß dieſer Lohn-
arbeiterſtand ſei und aus welchen einzelnen Elementen er ſich zuſammenſetze. So wenig
ſicher die ſtatiſtiſchen Grundlagen hiefür ſind, ſo geben ſie doch einigen Anhalt. Für
den alten preußiſchen Staat möchte ich folgende, freilich weder erſchöpfende noch ganz
ſichere Angaben wagen. Es gab etwa:
Alſo ohne Dienſtboten von 1816—67 eine Zunahme von 1,3 auf 3,9 mit ihnen
von etwa 2,3 auf 4,9 Mill.; in Prozenten der ganzen Bevölkerung ein Wachstum von
13 auf 19, mit den Dienſtboten von 22 auf 24 %; der ganze preußiſche Staat dürfte
1867 etwas über 5, mit Dienſtboten etwas über 6 Mill. Arbeiter gehabt haben; im
Jahre 1895 zählte Preußen in Landwirtſchaft, Induſtrie und Handel 7,5 Mill. Arbeiter
(ohne Dienſtboten). Das Deutſche Reich hatte nach den Berufszählungen von 1882
10,7, von 1895 12,8 Mill. Arbeiter in dieſen Produktionszweigen (ohne 0,6 Mill.
höhere Angeſtellte, 0,4 Mill. wechſelnde Lohnarbeiter und 1,3 Mill. Dienſtboten, auch
[345]Das heutige Arbeitsverhältnis. Größe und Zuſammenſetzung der Arbeiterklaſſe.
ohne die Poſt und die Eiſenbahn); das waren 1882 23 %, 1895 25 % der Geſamt-
bevölkerung. Für Frankreich hat man neuerdings noch die Arbeiter auf 18,3, die
Unternehmer auf 21,9 % der Bevölkerung berechnet (Herkner). Für England giebt Webb
die männlichen Arbeiter zu 18 % an; mit den Frauen würden ſie alſo wohl über 25 %
ausmachen.
Eine große Zunahme der Arbeiterbevölkerung iſt alſo von 1800—1900 ſicher
eingetreten; immer erreicht ſie auch heute noch nicht die relative Zahl der Sklaven oder
gar der Hörigen früherer Zeiten. Die verſchiedene Zunahme der Zahl der Lohnarbeiter
in den einzelnen Volkswirtſchaften, die wir hier ſtatiſtiſch nicht weiter verfolgen können,
wird davon abhängig ſein, wie früh und raſch der kleine Bauern- und Handwerker-
ſtand abnahm, der Großbetrieb zunahm; im Süden und Oſten Europas wird er alſo
weniger umfangreich ſein als in England, wo die frühe Vernichtung des Bauernſtandes
ihn am früheſten anſchwellen ließ. Mag die Erhaltung des Bauernſtandes für jedes
Land, da und dort auch die längere Erhaltung des kleinen Handwerkers ein Glück ſein,
im übrigen darf die Zunahme des Lohnarbeiterſtandes nicht unter allen Umſtänden als
ein ungünſtiges Symptom, als eine Vernichtung des Mittelſtandes, als eine Zunahme
abhängiger Exiſtenzen gedeutet werden. Sie iſt an ſich ein Zeichen moderner Technik
und Betriebsverhältniſſe, kann proletariſches Elend, aber auch je nach Zuſammenſetzung,
Lohn, Arbeitseinrichtungen eine neue Füllung des Mittelſtandes, normale Verhältniſſe
der unteren Klaſſen bedeuten.
Das Verhältnis der Lohnarbeiterzahl zur Geſamtbevölkerung giebt überdies auch
ſtatiſtiſch noch keinen erſchöpfenden Aufſchluß über die Bedeutung derſelben gegenüber
den Unternehmern und über die in ihnen ſtehenden Arbeiterfamilien. Darüber noch
einige Worte und Zahlen.
Im Jahre 1895 kamen in Deutſchland in den drei großen Gebieten der Land-
wirtſchaft, der Induſtrie und des Handels nach der Berufszählung:
Von dieſer hinter der Geſamtbevölkerung um 7—8 Mill. zurückbleibenden Gruppe
der Nation machten alſo die Arbeiter 67,8, mit den Familien 54,3 % aus.
Unter dieſen Arbeitern ſtecken nun aber über 2 Mill. mithelfende Familienglieder;
von ihrer Geſamtzahl ſind 66,6 % ledige, 58—60 % jüngere Leute unter 30 Jahren.
Verheiratete männliche Arbeiter ſind nur 3,7 Mill., verheiratete weibliche nur 0,8 Mill.,
zuſammen 4,5 Mill. (von den 12,8 Mill. Arbeitern) vorhanden; es werden alſo, da
wohl viele der verheirateten Männer und Frauen derſelben Familie angehörten, nicht
viel über 4 Mill. Arbeiterfamilien in Deutſchland 1895 auf 11—12 Mill. Familien
des Reiches exiſtiert haben. Wir ſehen zugleich daraus, daß unter den Geſamtzahlen
unſerer Arbeiter auch heute noch die jungen ledigen Leute, die unverheirateten, weit
überwiegen, daß unter ihnen viele Tauſende ſind, die ſpäter in Unternehmer- oder
andere Stellungen einrücken, dem Mittelſtand, teilweiſe den höheren Klaſſen angehören,
ſich in andere Kreiſe verheiraten. Unſere heutige Statiſtik muß den Millionärsſohn,
der als Commis in einem Geſchäfte arbeitet, die Tochter des Bauern, die irgendwo
dient, ebenſo zum Arbeiterſtande rechnen wie den letzten proletariſchen Arbeiter.
Auf die Scheidung des Lohnarbeiterſtandes in gelernte und ungelernte Arbeiter, in
eine Hierarchie von Kreiſen, deren obere Beamtenqualität haben oder ſich ihr nahen,
den liberalen Kreiſen, dem Mittelſtand angehören, ebenſo ſehr geiſtige wie mechaniſche
Arbeit verrichten, haben wir nicht hier, ſondern anderweit einzugehen. Dieſe Differen-
zierung des Arbeiterſtandes ſelbſt iſt aber eine der wichtigſten und auch der erfreulichſten
Erſcheinungen der neueſten volkswirtſchaftlichen Entwickelung.
[346]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
118. Die Scheidung von Landbau und Gewerbe. Die landwirt-
ſchaftliche und gewerbliche Arbeitsteilung. Einzelne Stämme ſind ſeit urdenk-
lichen Zeiten je nach Raſſe, Klima und Boden, nach Wohnſitzen, nach Flora und Fauna
ihres Landes bloße Jäger, bloße Fiſcher oder bloße Viehzüchter, bloße Bananen- oder
Maiseſſer geblieben, haben ihre agrariſche Wirtſchaft nicht zu der vielſeitigen Geſtalt
ausgebildet wie die Indogermanen und Semiten, teilweiſe auch andere Raſſen in den
gemäßigten Zonen mit ihrer Verbindung von Ackerbau, Viehzucht, Forſtnutzung und
mancherlei Nebengewerben. Wir haben dieſe auf Eigenproduktion gerichtete Haus- und
Familienwirtſchaft ſchon im Zuſammenhange der Geſchichte der Technik (S. 204—205),
dann für ſich geſchildert (S. 239—244), dabei auch die Arbeitsteilung dargelegt, die
ſie beſonders in ihrer patriarchaliſchen Form in den höheren Kreiſen der Geſellſchaft
ausbildete. Die antike Familie mit Hunderten von Sklaven, die mittelalterlich grund-
herrliche Fronhof-, Kloſter-, Abtei-, Fürſtenwirtſchaft iſt ein hauswirtſchaftlicher Groß-
betrieb mit einer erheblichen Zahl Hausämter für Stall-, Kriegsrüſtung, für Vorrats-
haltung in der Kammer, für Küche und Keller, mit einer Anzahl Werkſtätten und
techniſchen unfreien Arbeitern. In den großen Patricierhäuſern, großen Gutswirtſchaften,
fürſtlichen Haushaltungen dauert bis heute eine ſolche weitgehende Arbeitsteilung fort.
In dem Haushalt des Sultan Abdul Azzis waren in unſeren Tagen noch 6124 Perſonen
arbeitsteilig beſchäftigt, 359 allein für den Küchendienſt.
Daß im übrigen ſeit Jahrhunderten dieſe ältere große Hauswirtſchaft ſich auflöſte,
daß dieſe Auflöſung ſich durch Ausſcheidung der gewerblichen Betriebe, durch Ver-
wandlung bisheriger arbeitsteiliger Hausbeamten und Diener in ſelbſtändige Handwerker
und Berufe vollzog, haben wir bei Beſprechung der neueren Familie (S. 245—246)
ebenfalls ſchon dargeſtellt, brauchen das dort Geſagte nicht zu wiederholen. Es iſt die
große Scheidung, welche heute Landwirtſchaft und Gewerbe, in gewiſſem Sinne auch
Stadt und Land als beſondere Produktionszweige, geſellſchaftliche und wirtſchaftliche
Gruppen mit ihrer Eigenart, ihren Sonderintereſſen erzeugt hat. Die heutige komplizierte
volkswirtſchaftliche Organiſation hat ihren Hauptzweck darin, durch Handel, Markt und
Verkehr dieſe zwei Hälften doch in rechte Verbindung, zu glattem Zuſammenwirken
zu bringen.
Der Scheidungsprozeß zwiſchen den zwei Gebieten iſt aber auch heute noch lange
kein vollſtändiger und wird es nie werden; die Scheidung iſt ja nicht Selbſtzweck,
ſondern ein Mittel, das nur dort ſich einſtellt, wo die Produktion dadurch erleichtert,
verbeſſert wird.
Sie kann ſich nicht einſtellen, wo der Verkehr fehlt: der amerikaniſche Farmer,
der alpine Hofbauer, der ſchwediſche Bauer iſt heute noch zugleich Jäger, Baumeiſter,
Tiſchler, Backſteinbrenner, Weber, Gerber und ſonſt noch einiges. Sie vollzieht ſich
aber auch da nicht, wo der kleine Bauer nicht allein recht von ſeiner Ackerſtelle leben
kann, wo ein gewiſſer Abſatz von gewerblichen Produkten der Hauswirtſchaft — wo der
ſogenannte Hausfleiß — möglich wird, auch wo ſpäter der ländliche Handwerker nicht von
ſeinem Gewerbe allein leben kann. In den oſteuropäiſchen und aſiatiſchen Ländern iſt ſo
eine große gewerbliche Produktion in den bäuerlichen Familien noch heute. Achtzig Prozent
der Bauern in der Umgebung Moskaus verrichten gewerbliche Nebenarbeit. In Mittel-
und Weſteuropa hat in unſerem Jahrhundert mit der Zulaſſung der Gewerbe auf dem
platten Lande der Handwerksbetrieb als Nebenbeſchäftigung am meiſten, viel mehr als in
den Städten zugenommen! Für einen thüringiſchen Bezirk weiſt Hildebrand auf 5577
landwirtſchaftliche 11752 gemiſchte Betriebe nach, und für Württemberg berichtet Rümelin,
daß von 117000 landwirtſchaftlichen Familien etwa 99000 irgend einen Nebenerwerb
haben. Nach der deutſchen Berufszählung von 1895 haben von den Erwerbsthätigen im
Hauptberuf 1 Mill. in der Landwirtſchaft, 1,5 Mill. in der Induſtrie, 3,2 Mill. im
ganzen Nebenberufe, und damit iſt ihre Zahl entfernt nicht vollſtändig erfaßt. Von
den deutſchen Müllern haben 87, den Brauern 74, den Grobſchmieden 70, den Stell-
machern 66, den Maurern und Zimmerleuten 61, den Bäckern 52 % einen Nebenberuf.
[347]Die große Scheidung von Landwirtſchaft und Gewerbe.
Beinahe 5 Mill. Fälle von Nebenberufen überhaupt wurden 1895 ermittelt, wovon
3,6 Mill. auf die Landwirtſchaft entfallen.
Die Scheidung zwiſchen Landwirtſchaft und anderen Berufen vollzieht ſich aber
auch deshalb vielfach nicht, weil alle Verſorgung durch den Markt leicht ein Element
der Verteuerung und der Unſicherheit in ſich enthält; der Tagelöhner, der Schullehrer,
der Handwerker des platten Landes, der kleinen Stadt ſpart, wenn er Kartoffeln und
Gemüſe ſelbſt baut, er giebt damit Frau und Kindern eine heilſame, gegen übertriebene
berufliche Arbeitsſpecialiſierung ſchützende Thätigkeit. Es giebt einſichtige ſociale
Reformer, die für alle Lohnarbeiter Derartiges wünſchen. Ein großer Teil der ſocia-
liſtiſchen Schriftſteller hält eine Geſundung unſerer Zuſtände nur möglich unter der
Bedingung allgemeiner Verbindung anderer Berufsarbeit mit Garten- und Ackerbau.
Endlich hat die Loslöſung der alten Beſtandteile der agrariſch univerſalen Wirt-
ſchaft auch gewiſſe techniſche und organiſatoriſche Hinderniſſe. Forſtwirtſchaft, Bergbau,
Ziegelei, Steinbrüche ſind heute meiſt nicht mehr mit den landwirtſchaftlichen Betrieben
verbunden; aber vielfach erſcheint die Verbindung doch noch vorteilhaft wegen der Lage der
Forſten und Gruben, wegen der Einteilung der Arbeiten, der Holznutzung ꝛc. Neuerdings
verbindet man den Rübenbau mit der Zuckerinduſtrie, den Kartoffelbau mit der Spiritus-
brennerei, um ſich die Rohſtoffe zu ſichern, Wege zu ſparen, gewiſſe Nebenprodukte (wie
die Schlempe) als Viehfutter zu verwenden.
All’ dies ſind heilſame und natürliche Ausnahmen des großen Scheidungsprozeſſes.
Auch wo ſie, wie bei manchen ländlichen Hausinduſtrien, bei manchen Kleinbauern
und ländlichen Handwerkern die Folge haben, daß die agrariſche und gewerbliche Technik
nicht ſo leicht fortſchreitet, kann die Verbindung noch angezeigt ſein, wenn die ander-
weiten Vorteile für die Hauswirtſchaft, die Wohnweiſe, das Familienleben, die Moral
ſchwerwiegender ſind als die etwaige techniſche Unvollkommenheit.
Immer haben dieſe Ausnahmen und Schranken die große Thatſache nicht gehindert,
daß die Landwirtſchaft unſerer Kulturländer heute im ganzen etwas anderes, Specialiſier-
teres iſt als früher, daß die meiſten Gewerbe ſich von ihr losgelöſt haben. In jedem
Dorf ſind heute zahlreiche Handwerker; jeder Guts- und Bauernbetrieb kauft heute dieſes
und jenes vom Hauſierer, läßt vom wandernden Lohnwerker Schuhe und Kleider machen,
kauft Wagen, Werkzeuge, Pflug und andere Ackergeräte, läßt ſich ſein Haus von Maurern
und Zimmerern bauen.
Aber im übrigen bleibt dem landwirtſchaftlichen Betriebe doch ſtets eine größere
Vielſeitigkeit als den Gewerben. Der Viehzüchter im Gebirge baut zugleich Hafer und
Kartoffeln; der Ackerbauer in der Ebene hält Vieh, weil er Spannkräfte und Düngung
braucht, ſeine Wieſen und Weiden nutzen muß; er muß mit verſchiedenen Früchten
wechſeln, weil er ſonſt ſeinen Boden erſchöpft. Die meiſten landwirtſchaftlichen Arbeiten
ſind an beſtimmte Tages- und Jahreszeiten geknüpft, können nicht dauernd geübt, nicht
ausſchließlich denſelben Kräften übertragen werden; wer morgens und abends die Kühe
melkt, wer im Frühjahr pflügt, im Sommer die Ernte ſchneidet, muß zu anderer Zeit
anderes thun. Für alle land- und forſtwirtſchaftlichen Betriebe handelt es ſich um die
ſchwierige Kunſt, die verſchiedenſten Thätigkeiten an dieſelben Leute im Jahre ſo zu
verteilen, daß man auch in der Zeit der ſtärkſten Arbeit nicht ſo ſehr viel mehr Kräfte
braucht als im Winter.
Daneben aber hat die neuere Ausbildung des Abſatzes und die Entſtehung größerer
Gutswirtſchaften doch mancherlei Anſätze zur Arbeitsteilung gebracht. Je mehr der
Landwirt anfing, für den Markt zu produzieren, deſto mehr mußte er ſuchen, das
Einträglichſte in ſeinem Betriebe in den Vordergrund zu rücken. Er legte ſich vorzugs-
weiſe auf Getreidebau oder Viehzucht, auf Mäſterei oder Wollproduktion. Er begann
mehr als bisher je nach Bodenverhältniſſen, Größe des Gutes, Arbeitskräften und
Kapitalbeſitz ſeinen Betrieb zu ſpecialiſieren; der kleine Landwirt warf ſich auf Hopfen,
Tabak, Gemüſe, der große auf Rübenbau, Pferdezucht und Ähnliches. Und innerhalb
eines größeren Betriebes verſuchte man ſpecialiſierte gelernte Arbeitskräfte, wie Schäfer,
[348]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Molkereikundige, Inſpektoren, Buchhalter, Maſchinenwärter neben den Stallknechten und
Tagelöhnern heranzuziehen.
Iſt aus dem vorſtehenden klar, daß der landwirtſchaftliche Betrieb, ſo mancherlei
er gegen früher abgeſtoßen hat, doch keine Teilung der Produktion, wie der gewerbliche
verträgt, daß die Leiter und die Hülfskräfte ſich nicht ſo ſpecialiſieren können, wie in
der Induſtrie, ſo iſt damit zugleich erklärt, warum die Landwirtſchaft techniſch, wirt-
ſchaftlich, pſychologiſch etwas für ſich bleibt. Sie behält ſtets ein gut Stück Eigen-
produktion; ſie erhält mehr den familien- und hauswirtſchaftlichen Charakter ſchon
durch ihren iſolierten Standort. So ſehr der Landwirt rechnen, den Kredit zu benutzen
lernen, die Konjunkturen ſtudieren ſoll, er kann nie ſo ſehr Spekulant, nie ſo von der
Geld- und Kreditwirtſchaft erfaßt werden wie der Induſtrielle und Kaufmann. Wie
er deshalb wirtſchaftlich, pſychologiſch und ethiſch ſeit Jahrtauſenden als der Antipode
der andern Hauptberufszweige angeſehen wurde, ſo wird er es auch künftig immer bis
zu einem gewiſſen Grade bleiben.
An den Boden gebunden, von Natur und Wetter ſtets ebenſo abhängig wie von
Kunſt und Technik, glaubt der Ackerbauer nicht ſo an Neuerung und Fortſchritt wie
der Gewerbetreibende. Er iſt auch nicht ſo ſparſam, ſo eifrig; er bleibt leichter im
Schlendrian ſtecken; der große Grundbeſitzer iſt leichter ein luxuriöſer Verſchwender als
der große Fabrikant und Kaufmann. Aber dafür hat der Landmann mehr Achtung
vor der Sitte, iſt ein geſünderer und beſſerer Soldat, ein treuerer und zäherer Patriot.
Das Familien- und das Staatsleben haben kein beſſeres Fundament als einen bewährten
Stand mittlerer beſitzender Ackerbauern, neben dem auf der einen Seite eine grundbeſitzende
Ariſtokratie, auf der anderen eine Mehrzahl kleiner Stellenbeſitzer und auf Parzellen
wirtſchaftender Handwerker, Arbeiter und Tagelöhner ſtehen. Auch die höchſte Ent-
wickelung einer arbeitsteilig gegliederten Volkswirtſchaft hat ſich bis jetzt mit einem
ſolchen Ideal der Ackerbauorganiſation wohl vertragen.
Der Begriff der gewerblichen Thätigkeit in dem eingeſchränkteren Sinne, in
welchem heute das Wort als Gegenſatz zu Landwirtſchaft, Handel und Verkehr gebraucht
wird, iſt erſt ein Ergebnis der neueren Arbeitsteilung. Man verſteht darunter den-
jenigen Teil der wirtſchaftlichen Produktion, welcher auf Formveränderung von Roh-
ſtoffen und auf Dienſtleiſtungen perſönlicher Art gerichtet, durch beſondere Berufsbildung
und Arbeitsteilung aus der Haus- und Landwirtſchaft geſchieden, nicht zu dem Handel
und dem Verkehr und den höheren perſönlichen Dienſtleiſtungen (liberalen Berufen)
gerechnet wird. Alle gewerbliche Thätigkeit entſpringt beſtimmten Handgriffen und
techniſchen Geſchicklichkeiten, die urſprünglich Beſtandteile der primitiven Lebens- und
Ernährungsweiſe einzelner Stämme waren; einzelne Jäger hatten Waffen, einzelne
Fiſcher Boote, einzelne Bergſtämme eiſerne Werkzeuge bereiten gelernt, unendlich lange
Zeiten hindurch erhielt ſich der Beſitz ſolcher Fertigkeiten in den betreffenden Stämmen;
nur wenig Neues kam durch Fremde oder durch Nachbarn hinzu, und was die Haupt-
ſache iſt, die meiſten dieſer Fertigkeiten blieben lange Gemeinbeſitz der Stammesgenoſſen;
noch in der älteſten patriarchaliſchen Hauswirtſchaft der Semiten und Indogermanen
treffen wir kaum techniſche Sonderthätigkeiten, die ausſchließlich von einzelnen geübt
wurden. Nur wo eine gewiſſe Raſſenmiſchung oder -Berührung begonnen hat, wird es
langſam anders.
In den älteſten Quellen der Eranier treten als einzige Handwerker die Erz-
ſchmelzer, die zugleich die Metalle verarbeiten, in den indiſchen Vedas (900 v. Chr.)
neben dieſen ſchon Holzarbeiter auf, die um Entgelt für andere ausüben, was heute
der Zimmermann, Wagenbauer, Tiſchler, Schnitzer beſorgt. Der Schmied iſt allerwärts
der erſte und wichtigſte Handwerker. F. Lenormant behauptet, es ſei dieſe Kunſt von
der turaniſchen Raſſe auf die anderen Völker des Orients übergegangen. Bei den
Juden iſt der Schmied in den Tagen König Sauls kein Stammesgenoſſe wie heute
noch bei vielen Stämmen Afrikas. Bei den Südgermanen traten die Schmiede und
andere Handwerker zuerſt als zugekaufte Sklaven auf, bei den Nordgermanen haben
Könige und Häuptlinge die Kunſt des Schwertſchmiedens zuerſt geübt. Das Wahr-
[349]Die Entſtehung der Gewerbe. Die handwerksmäßige Arbeitsteilung.
ſcheinliche iſt, daß ſie ſie von Fremden lernten und durch ſie als tapfere Krieger
emporſtiegen.
In den homeriſchen Geſängen tritt zum Schmied und zum Holzarbeiter der Töpfer
und der Lederbearbeiter, der lederne Schläuche, Riemen, Gürtel, Helmbänder fertigt;
das Gerben war Sache der Hauswirtſchaft, wie bei uns bis tief ins Mittelalter hinein.
So ſind bei allen Völkern, die im Begriff ſtehen, zu höherer wirtſchaftlicher Kultur
überzugehen, nur einige wenige Arten von Gewerbetreibenden vorhanden, die meiſt noch
ähnlich leben wie die anderen Stammesgenoſſen, aber nebenher für andere um Entgelt
häufig im Umherziehen thätig ſind, ſofern ſie nicht als Sklaven arbeiten; ſie ſind nicht
Verkäufer von Waren, ſondern von Arbeit, ſie ſind Lohnwerker. Sie erſcheinen je nach
der Schätzung ihrer Kunſt teils als gewöhnliche Bürger, teils als Vornehme, wie die
erwähnten germaniſchen Schmiede oder die geiſtlichen Baumeiſter, Glockengießer und
Glasmaler des älteren Mittelalters. Auch als Gemeindebeamte treten ſie auf, wie in
Indien oder im älteſten Griechenland.
Eine breitere Ausbildung von arbeitsteiligen Gewerbetreibenden, wie wir ſie in
Ägypten ſchon von 2000 v. Chr., in Indien von 700—800 v. Chr., in Griechenland vom
6. Jahrhundert an, in Rom in der ſpäteren Zeit der Republik, in Deutſchland vom
12. und 13. Jahrhundert an beobachten, ſetzt die Werkzeugtechnik ſeßhafter Völker, die
Anfänge ſtädtiſchen Weſens, der Baukunſt, der Metallverwendung, der Markteinrichtungen
voraus (vergl. S. 203—205). Faſt überall wiederholen ſich dieſelben Haupthandwerke:
die Bäcker, die Schmiede, die Goldarbeiter, die Zimmerleute, die Wagner, die Kürſchner,
die Gerber und Schuhmacher, die Sattler und Riemer, die Tiſchler, die Töpfer, die
Maurer, die Färber, die Walker, die Kupferſchmiede, bald auch die Maler und Metall-
gießer, die Metzger und die Weber. Wie 8 Handwerksarten ſchon unter König Numa
erwähnt werden, ſo treffen wir mit der Ausbildung ſtädtiſcher Kultur faſt überall die
10—20 Handwerksberufe, die für Jahrhunderte die breitbeſetzten bleiben. Im 13. bis
15. Jahrhundert haben nur wenige Städte über 12—20 anerkannte gewerbliche
Innungen gehabt (Baſel 15, Straßburg 20, Magdeburg 12, Danzig 16, Leipzig
und Köln 26, Frankfurt a. M. 1355 14, 1387 20, 1500 28, 1614 40, nur
Wien 1288 50, 1463 66, Lübeck 1474 50, Brügge 1368 59, 1562 72). Freilich
umfaßten einzelne dieſer Innungen bereits verſchiedene Gewerbe. Wenn man auch die
gewerblichen Berufe beſonders zählt, die nur einzelne Vertreter in einer Stadt und
kein Innungsrecht hatten, einſchließlich aller Arten perſönlicher Gewerbe, wie Barbiere,
Muſiker, Tänzer, Laſtträger, Meſſer ꝛc., ſo iſt 200—500 Jahre nach den Anfängen
ſtädtiſcher Arbeitsteilung die Zahl der zu unterſcheidenden Berufe ſchon nach Hunderten
zu ſchätzen. Für das ſpätere Ägypten und Griechenland iſt uns das ebenſo bezeugt
wie für Rom in der Kaiſerzeit. Der im Codex Theodoſianus aufgeführten ariſtokratiſchen
Handwerke, die von den sordidis muneribus 337 n. Chr. befreit werden, ſind es
allein 35. Für Wien im Jahre 1463 hat Feil ſchon gegen 100, für Frankfurt 1387
Bücher 148, 1440 191, bis gegen 1500 gegen 300 Arten, für Roſtock 1594 Paaſche
180 Arten von überwiegend gewerblichen Berufen nachgewieſen. Nach Geering ſind in
Baſel (14.—15. Jahrhundert) in der Safranzunft allein gegen 100 verſchiedene Berufs-
arten. Und in der Renaiſſancezeit ſowie im 17. und 18. Jahrhundert ſteigt dieſe Zahl
noch. Bratring zählt für die brandenburgiſchen Städte 1801 467 verſchiedene Berufs-
arten, von denen drei Viertel etwa gewerbliche ſind, während für China die Zahl der
Gewerbszweige neuerdings von kundiger Seite auf etwa 350 geſchätzt wird. Für die
kleine bayeriſche Stadt Landsberg hat Krallinger nachgewieſen, daß ſie 1643 42, 1702
60, 1792 70, 1883 100 Arten von Gewerbetreibenden hatte. Die Zahl der zünftigen
Gewerbe hat in den einzelnen deutſchen Städten und Ländern im 18. Jahrhundert
zwiſchen 25 und 80—100 geſchwankt, ſo daß überall daneben eine große Zahl unzünftiger
freilich viel weniger beſetzter vorhanden war. Für Paris weiſt Savary 1760 120
eigentliche Gewerbekorporationen nach.
Wir können die ganze gewerbliche Arbeitsteilung dieſer Zeit als die Epoche der
handwerksmäßigen Berufs- und Produktionsteilung bezeichnen. Sind
[350]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
viele der Handwerker noch umherziehende techniſche Arbeiter, die auf der „Stör“, auf dem
Lande wie in der Stadt als helfende Glieder für Tage in die Hauswirtſchaft kommen, bald
überwiegen doch die in der Stadt auf dem Markte verkaufenden, in ihrer Werkſtatt für ihre
Kunden arbeitenden Meiſter; neben dem Lohnwerk treiben ſie das Preiswerk, verkaufen
beſtellte Waren an ihre Kunden. Auch ſo bleiben ſie mehr Hülfsorgane der örtlichen
Hauswirtſchaften, die bei ihnen beſtellen, als Produzenten für einen größeren Markt.
Doch fehlt dieſer nicht, erſt in der näheren, dann in der weiteren Umgebung. Große
Meiſter und Händler kaufen zuletzt die Handwerksprodukte für den Fernabſatz; es
entſteht die Hausinduſtrie vom 14.—18. Jahrhundert. Aber die Arbeitsteilung wird
dadurch zunächſt meiſt nicht viel anders. In der Werkſtatt findet zwiſchen Meiſter,
Geſellen und Lehrling nur eine geringe Arbeitsteilung ſtatt, jeder erlernt und übt den
ganzen Beruf. Wo Scheidungen ſich nötig machen, vollziehen ſie ſich ſo, daß ſtatt des
einen Schmiedes der Schloſſer, der Klein- und der Grobſchmied, der Meſſerer und der
Harniſchmacher entſteht; Bücher nennt das Specialiſation der Berufsteilung. Schon
einer ſpäteren Zeit gehört es an, daß dasſelbe Rohprodukt vom Klingenſchmied zum
Härter und von dieſem zum Reider oder- Fertigmacher geht, daß Spinnen, Weben,
Färben verſchiedene einander in die Hand arbeitende Handwerke werden; Bücher nennt
das Produktionsteilung. War die handwerksmäßige Berufs- und Arbeitsteilung auch
ſchon da und dort durch die höheren Formen, auf die wir gleich kommen, vom 16. Jahr-
hundert an erſetzt, im ganzen herrſchte ſie bis 1800, ja in Mitteleuropa bis 1860
und 1870 vor.
Die ſociale Stellung der Handwerker hing überall an der Schwierigkeit und
Feinheit ihrer Kunſt, an dem Umſtand, ob ſie zugleich Acker- und Hausbeſitzer waren,
endlich an ihrer Fähigkeit, ſich zu organiſieren, ſich korporative und politiſche Rechte
zu erwerben. In Griechenland und Rom erſcheinen ſie in der Mehrzahl tief herabgedrückt,
und in den deutſchen Städten haben ſie ſich Achtung, Anſehen, vielfach auch Wohlſtand
errungen, ſind bis in unſer Jahrhundert die Vertreter des bürgerlichen Mittelſtandes
geblieben.
Die neuere Entwickelung mit ihrer ganz anderen Technik, ihren großen Verkehrs-
mitteln, ihrem Kapital, ihrer Organiſation des Abſatzes durch die Händler auf weite
Entfernungen hat die gewerbliche Arbeitsteilung gänzlich umgeſtaltet. Zunächſt iſt die
Specialiſation der gewerblichen Betriebe außerordentlich gewachſen; teils ſo, daß
mehrere verſchiedene Betriebe ſich in die Fertigſtellung deſſen für die Märkte teilen, was
bisher in einem Betriebe angefertigt wurde; teils ſo, daß das eine Geſchäft Vorarbeiten
für andere, Maſchinen, Halbfabrikate ꝛc. herſtellt. Die beſondere Herſtellung von Werk-
zeugen und Maſchinen für ſpätere Stadien des Produktionsprozeſſes nennt Bücher
Arbeitsverſchiebung. Am meiſten in die Augen ſpringend war aber die Teilung der
einzelnen Arbeitsoperationen in derſelben Werkſtatt, derſelben Fabrik; Bücher nennt
dieſe Art der gewerblichen Arbeitsteilung Arbeitszerlegung.
Die Scheidung der Betriebe drückt ſich am deutlichſten in unſerer heutigen
Gewerbeſtatiſtik aus: die Tabellen des Zollvereins ſchieden 1861 erſt 92 Arten von
Handwerks- und 121 von Fabrikbetrieben; die Pariſer Gewerbeſtatiſtik von 1847—48
hatte ſchon 325 Arten von Betrieben unterſchieden. Die deutſche Gewerbezählung von 1875
hat 15—1600 Arten von Gewerbebetrieben, und die bayeriſche Publikation fügt allein
398 Gewerbearten als ſolche hinzu, die nicht in die gegebene Klaſſifikation einzureihen
ihr gelungen ſei. Und wenn wir das ſyſtematiſche Verzeichnis der Gewerbearten der
mit der deutſchen Berufszählung von 1882 verbundenen Gewerbezählung ins Auge
faſſen, ſo ſehen wir, daß es 4785 Gewerbebenennungen (ohne Handel und Verkehr)
umfaßt; von dieſen iſt ein erheblicher Teil, wenn man die Zahl der Gewerbearten
kennen lernen will, abzuziehen; jedes Gewerbe, das verſchiedene Namen hat, iſt mit
allen ſeinen Namen aufgeführt; aber mehr als ein Drittel der Zahl dürften dieſe
Doppelbenennungen keinenfalls ausmachen. Allein die Metallverarbeitung ohne die
Hütten-, Walz-, Stahl-, Friſchwerke, ohne die Hochöfen- und Hammerwerke, aber
einſchließlich der Maſchinen- und Werkzeuginduſtrie gliedert ſich in 1248 verſchiedene
[351]Die neuere Arbeitsteilung der Betriebe. Die Arbeitszerlegung in ihnen.
Arten von Betrieben; mögen von dieſer Zahl vielleicht 100—200 abzuziehen ſein wegen
Doppelbenennung, wie Meſſerſchmiede und Meſſerfabrikanten, auch der Reſt der Zahl
und noch mehr die Einzelheiten, aus denen ſie erwächſt, zeigen doch, welch’ erſtaunliche
Arbeitsteilung heute zwiſchen den Betrieben ſtattfindet. Die Verarbeitung von Metall-
legierungen zählt 112, die Nadler- und Drahtwarenverfertigung 57, die Verfertigung
von Spinn- und Webmaſchinen 73, die Maſchinenherſtellung 239, die Verfertigung
muſikaliſcher Inſtrumente 53 Specialitäten von Geſchäftsarten. Und dabei iſt die
Unterſcheidung noch nicht ſo weitgehend, wie ſie ſein könnte und da und dort iſt.
Die Uhrmacherei iſt mit 33 Geſchäftsarten angeführt, während man in La Chaux de
Fonds ſchon früher 53, in England 102 Specialitäten zählte. Die Spielwaren aus
Metall bilden nur eine Nummer, während in dieſer Branche die Geſchäfte, welche
verſchiedene Soldätchen, verſchiedene Wägelchen ꝛc. anfertigen, noch in eine Reihe von
Arten unterſchieden werden könnten.
Das Verzeichnis kann uns belehren, wie ſelbſt unſere alten einfachſten Gewerbe
ſich geteilt haben: die gewöhnlichen Gärtner zerfallen heute in Roſen-, Kamelien-,
Blumenzwiebelzüchter, Obſtbaumzüchter, Samenzüchter, Baumſchuleninhaber, dann in
Anlagen- und Landſchaftsgärtner, in ſtädtiſche Verkäufer und Kranzbinder. Die Gerberei
und Lederfabrikation zerfällt in 40—50 Specialitäten; die Buchbinder- und Cartonnage-
fabrikation in noch erheblich mehr. Auch die Bäcker und Fleiſcher ſind in den größeren
Städten in eine ganze Reihe beſonderer Gewerbszweige geſpalten. Die Herſtellung von
Fleiſchkonſerven, Würſten, Paſteten, Tafelbouillon, die Geflügelmäſtung, die Pökelei und
Räucherei, die Schmalzſiederei iſt zu beſonderen Geſchäften geworden. Viehhändler und
Importfirmen, Viehmakler, Groß- und Kleinſchlächter, Fleiſchlieferanten für große
Anſtalten, Fleiſchwarenverkäufer, Eingeweidehändler, ambulante und ſtehende Kochläden
treten in den Großſtädten neben einander auf. Die neueſte Gewerbezählung von 1895
hat noch viel weitere Unterſchiede in der Betriebsſcheidung nachgewieſen als die
von 1882.
Je mehr aus techniſchen und organiſatoriſchen Gründen häufig jetzt in Rieſen-
unternehmungen die früher meiſt getrennte Spinnerei, Weberei und Färberei vereinigt,
das Erz- und Kohlenbergwerk mit Hochöfen, Gießerei, Walzwerk und Eiſenverarbeitung,
ja mit Waggonfabrik verbunden iſt, deſto mehr könnte man vermuten, daß die Zahl
der Betriebsarten durch Zuſammenlegung abnehme. Aber das iſt in den meiſten
Branchen nicht der Fall. Es beſteht wohl eine ebenſo große Tendenz der Hinaus-
verlegung von Teilprozeſſen in beſondere Betriebe.
Daneben ſteht nun die Arbeitszerlegung in der vergrößerten Werkſtätte,
wie ſie vom 16. und 17. Jahrhundert an begann; ſchon wenn man ſtatt zwei zehn und
zwanzig Webſtühle in einem Raume aufſtellte, noch mehr, wenn man den Stellmacher,
Tiſchler, Polſterer, Glaſer, Lackierer und Vergolder zur Wagenfabrikation unter einem
Dache vereinigte, war es natürlich, daß man nicht mehr, wie im Handwerk, jeden alles
machen ließ, ſondern die Mitwirkenden nach Alter, Kraft, Geſchicklichkeit einteilte, jeden
ausſchließlich mit dem beſchäftigte, wozu er am geſchickteſten war. Man hatte mit dieſer
Einteilung zugleich den Vorteil, Kinder, Frauen, alte Leute beſſer verwenden und
beſchäftigen zu können; eine größere Specialiſierung der Werkzeuge trat ein; ein ſichereres
und ſchnelleres Ineinandergreifen der Teiloperationen war möglich. Es war zugleich
eine Scheidung aller mitwirkenden Perſonen in höhere, mittlere und untere, in hoch
und gering bezahlte Kräfte. Es iſt die Arbeitsteilung, die Adam Smith durch die
18 Operationen der Stecknadel-, Say durch die 70 der Spielkartenfabrikation illuſtriert,
die Karl Marx als die Arbeitsteilung der Manufakturperiode bezeichnet. Sie herrſcht
aber auch in der heutigen Fabrik, in der Zwiſchenmeiſterwerkſtatt der heutigen Haus-
induſtrie, ja in der Heimarbeit, die gerade neuerdings ihre Produkte dadurch am meiſten
verbilligt hat, daß ſie an dieſelbe Perſon immer nur die gleiche Specialarbeit, z. B. das
Nähen von Kinderſchürzen oder Jacken, ausgiebt, aber die Knopflöcher, das Bügeln und
alle etwas feineren ſonſtigen, von der gleichmäßigen Näharbeit abweichenden Operationen
durch beſondere Teilarbeiter machen läßt.
[352]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Vieles, was man von der Arbeitsteilung überhaupt ausſagte, gilt nur von dieſer
weitgehendſten Art der gewerblichen Arbeitszerlegung, die zugleich ihren eigentümlichen
Charakter dadurch erhält, daß ſie vom Unternehmer angeordnet, meiſt in der Fabrik
und unter ihrer Disciplin ausgeführt wird. Es iſt eine Art ſpecialiſierter Arbeit, die
in ſchroffem Gegenſatze zur haus- und landwirtſchaftlichen, zur gewerblichen alten
Werkſtattarbeit ſteht.
Einen etwas verſchiedenen Charakter hat dieſe Arbeitszerlegung, je nachdem ſie
mehr an ſpecialiſierte Werkzeuge anknüpft und ſo virtuoſe Teilarbeiter ſchafft, deren
Ausbildung, in Jahren erworben, gleichſam einen wertvollen Beſitz darſtellt oder, je
nachdem die Arbeitsmaſchinen geſiegt haben und damit die virtuoſen Teilarbeiter über-
flüſſig, durch ungelernte und ſogenannte Futterarbeiter erſetzt wurden. Gewiß iſt
mit der fortſchreitenden Maſchinenanwendung ſo ein Teil der Arbeiter techniſch herab-
gedrückt worden; aber es iſt eine grobe Übertreibung, wenn Marx die Sache ſo dar-
ſtellt, als ob hierdurch faſt alle Arbeiter in ungelernte verwandelt, der ganze Arbeiterſtand
geſunken wäre.
Die neueſte deutſche Berufszählung hat über das Vorkommen der gelernten und
ungelernten Arbeiter zum erſtenmale volles Licht verbreitet. Ich führe nach ihr und
anderweiten Nachrichten folgendes an. Es iſt zuerſt zu bemerken, daß auch viele ſogenannte
ungelernte Arbeiter, wie die Spinner und Weber, durch gute und lange Übung zu
halbgelernten werden können. Der ausgezeichnete Maſchinenweber kann die doppelte, oft
dreifache Zahl mechaniſcher Webſtühle bedienen. Sehr wichtig iſt, daß die ungelernte
gewerbliche Arbeit faſt doppelt ſo ſtark bei dem weiblichen Geſchlecht vorkommt wie beim
männlichen; ferner daß ſie in der Landwirtſchaft mehr als noch einmal ſo zahlreich,
im Handel und Verkehr mehr als dreimal ſo häufig vertreten iſt wie im Gewerbe. Die
ungelernte weibliche Arbeit liegt aber im Weſen des weiblichen Geſchlechtes an ſich mehr
begründet; und die ungelernte landwirtſchaftliche Arbeit iſt abwechslungsvoll und geſund,
iſt in der Unmöglichkeit der Arbeitsteilung in der Landwirtſchaft begründet; die im Handel
und Verkehr beſteht vielfach aus Vertrauensperſonen, aus Kutſchern, Hausdienern ꝛc.
Außerdem beſchränkt ſich in der Induſtrie die ſtarke Zunahme der ungelernten
Arbeit auf gewiſſe Induſtriegruppen, wie Spinnerei, Weberei, Wäſcherei, Färberei, Buch-
binderei, Papier-, chemiſche, Zuckerfabriken, Hütten ꝛc. In dem größeren Teile der
Maſchinen-, Metall-, Holz-, Möbel-, Lederinduſtrie, in den Kunſtgewerben, in den alten
Handwerken überwiegt noch heute die gelernte Arbeit; in vielen Induſtrien hat bis in
die neuere Zeit trotz zahlreicher Maſchinen die Specialiſierung der Operationen zugenommen,
und ſtehen überall neben Futterarbeitern feine Specialarbeiter, z. B. in einer engliſchen
Tuchfabrik wurden neuerdings 34 Operationen, in einer deutſchen Schuhwarenfabrik 16
unterſchieden. Ich führe zuletzt das Geſamtreſultat der deutſchen Berufszählung und
einer Erhebung an, die Bücher für Baſel und das Jahr 1888 gemacht hat. Es gab
unter 100 Gewerbetreibenden:
In dieſen Zahlen liegt zugleich ein Hinweis auf die vier ſocialen Gruppen, welche
die moderne gewerbliche Arbeitsteilung geſchaffen hat. An der Spitze der größeren Ge-
ſchäfte ſteht die leitende, kaufmänniſch und techniſch geſchulte Ariſtokratie; die betreffenden
ſind meiſt zugleich die Eigentümer eines erheblichen Teiles des in den Geſchäften ſteckenden
werbenden Kapitals; aber vielfach ſind es auch mittelloſe Kapazitäten, die als Direktoren
von Geſellſchaften, als Aſſociés, als Prokuriſten die Geſchäfte leiten. Neben dieſer Klaſſe
ſteht im Verhältnis von bezahlten Beamten heute die raſch wachſende Zahl der Commis,
Techniker, Künſtler, Contremaitres, Aufſeher, die teils aus dem Handel, teils aus den
liberalen Berufen, teils aus dem höheren Arbeiterſtande hervorgehen. Sie bilden zuſammen
mit den kleineren Unternehmern die höhere Schicht des Mittelſtandes. An dritter und
[353]Gelernte und ungelernte Arbeiter. Liberale Berufe.
vierter Stelle kommen dann die Arbeiter; die obere, wie mir ſcheint, größere Abteilung
derſelben, die gelernten und beſſer bezahlten Arbeiter, zu denen noch die höhere Schicht
hausinduſtrieller Meiſter tritt, ſind, wenn man ſo ſagen darf, die heutigen Nachfolger
des mittelalterlichen Handwerkerſtandes; ſie bilden mit den noch vorhandenen Hand-
werkern und Kleinbauern die untere Hälfte des Mittelſtandes. Die nichtgelernten, nicht
arbeitsteilig ſpecialiſierten Arbeiter und Tagelöhner bilden eine ſociale Klaſſe für ſich;
in früheren Epochen Sklaven oder Leibeigene, ſind ſie heute freie Arbeiter: ihr Zahlen-
und ihr ſonſtiges Verhältnis zu den gelernten Arbeitern, zum Mittelſtande und zur
gewerblichen Ariſtokratie iſt der Angelpunkt der heutigen ſocialen Entwickelung.
119. Die Arbeitsteilung der liberalen Berufe; die räumliche
Arbeitsteilung. Da wir im vorſtehenden ſchon faſt zu ausführlich waren, müſſen
wir über dieſe Teile oder Seiten der Arbeitsteilung uns mit wenigen Worten begnügen.
Das ſtaatliche und Gemeindebeamtentum, der ärztliche, der Künſtlerberuf, das
Lehrer- und Gelehrtentum, die Journaliſtik haben in unſeren neueren Volkswirtſchaften
eine ſteigende Ausdehnung, eine zunehmende Specialiſierung ihrer Thätigkeitsſphären
erhalten. Das Eigentümliche ihrer Berufe liegt in dem Umſtande, daß viele dieſer
Thätigkeiten in älterer Zeit unbezahlte Nebenbeſchäftigung der Prieſter oder anderer
Ariſtokraten war, daß daneben aber früh der bezahlte Spielmann, Gaukler, Arzt,
Künſtler trat, daß aber die Formen und Grenzen dieſer Bezahlung ſo ſchwer zu finden
waren.
Die ältere ariſtokratiſche Einrichtung der Nichtbezahlung hatte das für ſich, daß
dieſe höheren liberalen Thätigkeiten meiſt leiden, ſchlecht ausgeübt werden, wenn der
Gewinn ſie auslöſt. Sokrates verachtet die Sophiſten, die für den Unterricht ſich
bezahlen laſſen, als Krämer, welche mit den Gütern der Seele Handel treiben. Noch
heute giebt es viele hieher gehörige Handlungen und Dienſte, für welche der anſtändige
Mann nichts nimmt: der ganze unbezahlte Ehrendienſt in der Selbſtverwaltung gehört
hieher.
Aber das Princip reichte ſchon im Altertume nicht aus, heute noch viel weniger.
Allerwärts entſtand mit der Geldwirtſchaft und höheren Arbeitsteilung die Bezahlung
der liberalen Thätigkeit; es drängten ſich dazu die Talente aus allen Klaſſen. Die
Folge war zunächſt in Griechenland und Rom ſchlimm genug. Wir ſehen in Athen
und Rom eine Schicht geld- und ruhmdürſtiger Elemente, deren Charakterloſigkeit,
Korruption und Gewinnſucht ſprichwörtlich wurde. Es waren Freigelaſſene, in Rom
hauptſächlich die einſtrömenden aſiatiſchen und griechiſchen Elemente, Leute, die ſich für
alles bezahlen ließen — für die ſchamloſeſten Künſte wie für guten ärztlichen Rat, die,
ohne feſte Vorbildung, ohne Standesehre, faſt als eine Eiterbeule der antiken Geſellſchaft
bezeichnet werden können.
Als beim Übergang von der einfachen mittelalterlichen Geſellſchaft in die komplizierte
moderne, die unbezahlte Ariſtokratenarbeit des Klerikers und Patriciers ſich wieder in
ähnlicher Weiſe umwandelte in die demokratiſche Schreiber-, Gelehrten- und Künſtler-
thätigkeit, die nach Lohn geht, drohten ähnliche Gefahren. Man leſe die Schilderung
nach, die Burkhardt von dem fahrenden Gelehrten des 15. Jahrhunderts entwirft, man
erinnere ſich, wie heute noch vielfach Schauſpieler und Journaliſten ſich aus den Per-
ſonen rekrutieren, die moraliſch oder ſonſtwie in anderen Carrieren Schiffbruch gelitten.
Aber im ganzen hat die Entwickelung unſeres neueren Schul-, Studien-, Examenweſens,
auch das Vereinsweſen, die Ärztekammern mit ihren Ehrengerichten und anderes derart
die meiſten liberalen Berufe zu feſten Laufbahnen umgebildet, führt den einzelnen
Gruppen überwiegend homogene Elemente meiſt aus dem Mittelſtande zu, hat eine feſte
Standesehre, feſte Sitten und Gewohnheiten über Berufspflichten, ſichere Anſtands-
ſchranken des Gelderwerbes geſchaffen. Damit haben dieſe liberalen Berufe einen gänzlich
anderen Charakter erhalten, als ſie ihn (von den Prieſtern abgeſehen) früher hatten;
die Familien, welche ihre Söhne den liberalen Berufen widmen, ſind mehr oder weniger
eine ſociale Klaſſe für ſich geworden, die weniger durch Beſitz, als durch perſönliche
Eigenſchaften ſich auszeichnet, eine Klaſſe, die doch jedem Talentvollen offen ſteht, haupt-
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 23
[354]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſächlich aber aus den jüngeren Söhnen des Mittelſtandes ſich rekrutiert. Die liberalen
Berufe haben dem ganzen Mittelſtande, der ſonſt überwiegend dem Geſchäfte und dem
Erwerbe lebt, eine edlere Denkungsart eingeimpft und gewiſſe geiſtige Schwungfedern
verliehen, den nackten egoiſtiſchen Klaſſenintereſſen anderer Kreiſe ideale Gegengewichte
gegeben; dieſe Kreiſe haben vielleicht zeitweiſe mit abſtrakten Idealen Staat und Geſell-
ſchaft zu ſehr beeinflußt. Im ganzen aber wurden ſie die eigentlichen Träger des
wiſſenſchaftlichen Fortſchrittes, des Idealismus, der vornehmen Geſinnung. Der Stand
unſerer heutigen Geiſtlichen und Lehrer, unſerer Ärzte und Gelehrten, unſerer Künſtler
und Beamten übt durch ſeine Berufsthätigkeit wie durch die im ganzen diskrete und
anſtändige Art ſeiner Entlohnung einen außerordentlich großen Einfluß auf die Weiter-
entwickelung von Geſellſchaft und Volkswirtſchaft aus.
Dieſe Entwickelung nun im einzelnen für die verſchiedenen hieher gehörigen Berufs-
kreiſe darzulegen, in jedem einzelnen die weitere Teilung der Arbeit zu verfolgen, würde
zu viel Raum fordern; es gehörte dazu eine Schilderung der Erziehungseinrichtungen,
der Carrierebedingungen, der verſchiedenen Staffeln in jeder Laufbahn, der Art und Höhe
der Bezahlung; es müßte nachgewieſen werden, aus welchen ſocialen Schichten und warum
aus ihnen der einzelne Stand ſich rekrutiert. Man müßte bei der Beſprechung der
Beamtencarriere zuerſt eine Geſchichte der Ämter geben, zeigen, wie die höheren, mittleren,
untergeordneten Ämter, wie die Berufe der Offiziere, Richter, Verwaltungsbeamten
nebeneinander entſtanden ſind, wie erbliche, Wahl-, Ernennungsämter nach und neben-
einander vorkamen, wie das Beſoldungsweſen und die unbeſoldeten Ehrenämter ſich
geſtalteten. Es würde all’ das hier zu weit führen. Nur das ſei zum Schluß bemerkt,
daß die ganze Entwickelung des ſtaatlichen Verfaſſungs- und Verwaltungsapparates
unter dem Geſichtspunkte der Arbeitsteilung betrachtet werden kann, und ſich von ihm
aus eine Reihe fruchtbarer wiſſenſchaftlicher Gedankenreihen eröffnet. —
Die perſönliche Arbeitsgliederung wird im Anſchluß an die Natur-
und Verkehrsverhältniſſe zur räumlichen Arbeitsteilung; dieſe drückt ſich aus
in der geographiſchen Verteilung der landwirtſchaftlichen und gewerblichen Produktions-
zweige, in den geſamten Wohnungs- und Siedlungsverhältniſſen der Menſchen mit
Rückſicht auf ihren Beruf. Wir haben dieſe Dinge bei der Erörterung der Siedlung
ſchon beſprochen, müſſen hier aber mit ein paar Worten auf ſie zurückkommen.
Wo Stadt und Dorf nebeneinander entſtehen, da iſt der erſte große Schritt
räumlicher Arbeitsteilung vollzogen: die Landwirtſchaft ſucht das Land, Gewerbe und
Verkehr die Stadt auf. Es entſtanden die ſtadtwirtſchaftlichen Syſteme mit ihrer räum-
lichen Gliederung. Die Stadt ſelbſt hatte in ihrem Centrum Markt, Kirche, Rathaus,
Münze, Wage, Gaſthäuſer, in ihrer Peripherie die Wohnungen, dann die landwirtſchaft-
lichen Gebäude, die Wein- und anderen Gärten, ſowie ihr Ackerland und ihre Weide.
Die Dörfer in nächſter Nähe der Stadt fingen an, die raſch verderblichen, ſchwer trans-
portablen Rohprodukte, Gemüſe, Milch, Blumen, Stroh, Heu, Kartoffeln zu erzeugen;
von den etwas entfernteren Dörfern kam mehr nur Getreide, von den ferner liegenden
Landbezirken das Vieh, die Wolle und ähnliche leichter transportable Produkte. Thünen
hat, indem er die Einwirkung der Transportkoſten auf den Standort der Landwirtſchafts-
zweige ſtudierte, in ſeinem iſolierten Staate (ſ. S. 117) dieſe örtliche Arbeitsteilung der
Bezirke, wie ſie unter dem Einfluſſe eines einheitlichen ſtädtiſchen Marktes ſich geſtalten
muß, zuerſt richtig erfaßt, ſie gleichſam in ein abſtraktes Schema gebracht. Es ſind die
Zuſtände, die zugleich die ältere Stadtwirtſchaftspolitik erklären, wie wir ſie bereits kennen
gelernt haben, wie ſie am deutlichſten ſich herausbildeten, wo in einem Kleinſtaate nur
ein beherrſchender ſtädtiſcher Mittelpunkt vorhanden war.
Wo Waſſerverkehr iſt, oder ein verbeſſerter Landverkehr entſteht, beginnt die
Arbeitsteilung zwiſchen verſchiedenen Städten und Gegenden. Nur zur Blütezeit der
antiken Weltreiche und in der neueren Zeit hat dieſe fortſchreitende räumliche Arbeits-
teilung eine größere Bedeutung erhalten. Sie war Schritt für Schritt verknüpft mit
der Herſtellung größerer Staaten und freier Märkte in ihrem Innern; das Hinterland
mußte ſeine Küſten und Flußmündungen zu erwerben ſuchen, die Induſtriegegend bedurfte
[355]Die geographiſche Arbeitsteilung.
ihrer Handelsplätze und Ackerbaudiſtrikte; die intenſivſte Arbeitsteilung ſetzt ſtets ſtaatliche
Zuſammengehörigkeit voraus, wie umgekehrt jede ſtaatliche Zuſammengehörigkeit mit der
Zeit darauf hinarbeitet, daß die politiſch verbundenen Teile auch durch eine erhebliche
wirtſchaftliche Arbeitsteilung verknüpft werden. Alle moderne nationale Wirtſchafts-
und Schutzzollpolitik beruht darauf. Daneben aber greift dieſelbe Tendenz der lokalen
Arbeitsteilung doch notwendig über die einzelnen Staaten hinaus; erſt befreundete und
benachbarte, ſpäter alle civiliſierten Länder kommen mit einander in Verkehr auf Grund
völkerrechtlicher Abmachungen und handelspolitiſcher Verträge (vergl. S. 286—287). Aus
der interlokalen wird die internationale Arbeitsteilung; aus den Nationalwirtſchaften hat
ſich neuerdings die Weltwirtſchaft entwickelt, die ihr Ideal im allgemeinen Weltfrieden
und im Siege des Freihandels hat. Die beiden Tendenzen der nationalen und der
internationalen Arbeitsteilung gehen gleichberechtigt nebeneinander her; ſo oft ſie ſich
auch bekämpfen, müſſen ſie immer wieder die den realen Verhältniſſen angepaßten
Kompromiſſe ſchließen.
Für Deutſchland ſehen wir hauptſächlich ſeit dem 15. Jahrhundert die interlokale
Teilung zwiſchen verſchiedenen Städten und Gegenden eintreten. Die früher allerwärts
blühende Tuchinduſtrie konzentriert ſich auf beſtimmte Orte, an den anderen geht ſie
zurück. Zur ſelben Zeit fängt die Ulmer und Augsburger Barchentweberei, die Nürn-
berger Metallinduſtrie, die Solinger Klingeninduſtrie, die Baſeler Papierinduſtrie an,
mehr für andere Städte als für den lokalen Markt zu arbeiten, wie es ſchon früher
die flandriſche und niederrheiniſche Tuchinduſtrie gethan. Die Meſſen, auf denen dieſe
interlokale Arbeitsteilung ihre Produkte tauſcht, werden für Deutſchland von 1500 bis
1800 ſo wichtig wie früher die lokalen Wochen- und Jahrmärkte. Für viele Orte
bedeutete dieſer Umbildungsprozeß einen unwiederbringlichen Verluſt; zahlreiche kleine
Städte ſind von da an zurückgegangen; Klagen darüber treffen wir daher auch in
Deutſchland wie in England ſeit dem 16. Jahrhundert. Die ältere gewerbliche Uni-
verſalität jeder Stadt war für immer verloren, wo und inſoweit dieſe interlokale
Arbeitsteilung ſiegte. Roſchers Unterſuchungen über den Standort der einzelnen Induſtrie-
zweige enthalten im weſentlichen den Nachweis, daß in älterer Zeit die meiſten Gewerbe
nur an dem Orte des Abſatzes gediehen, ſpäter an entfernteren Orten mit beſtimmten
Produktionsvorteilen. Seine zahlreichen Beiſpiele enthalten hauptſächlich Beweiſe der
Verſchiebung der Standorte innerhalb desſelben Landes.
Heute ſtellt jedes größere Land ein um ſo ausgebildeteres Syſtem räumlicher
Arbeitsteilung dar, je ausgebauter ſein Verkehrsweſen, je abſchließender ſeine Handels-
politik iſt. In der Hauptſtadt konzentriert ſich heute mehr als früher die Central-
regierung, die Kunſt, die Litteratur, die großen Kreditgeſchäfte; in den großen Hafen-
plätzen konzentriert ſich mehr als früher alle Aus- und Einfuhr, ſchon weil ſie allein
die beſten Docks, Lagerhäuſer und Freihafeneinrichtungen haben, weil hieher die fremden
Beſteller am meiſten kommen. Aus Hunderten von kleineren Getreide- und Viehhandels-
plätzen werden einige wenige gut gelegene große, wie in Deutſchland Danzig, Berlin
und Mannheim. Während früher jede Stadt Wall und Graben hatte, übernehmen
jetzt wenige große Feſtungen den Schutz des ganzen Staates. Wie die Landes- und
Reichshauptſtadt, ſo wachſen die Provinzialhauptſtädte durch die Konzentration der
Provinzialverwaltung, durch die provinziellen Anſtalten, Sammlungen und Schulen.
An einer Stelle werden die Irren oder Kranken beſtimmter Art für eine Provinz oder
einen Bezirk verpflegt, die früher zerſtreut waren. Die einzelnen Städte bilden ſich
mehr und mehr zu ſtädtiſchen Specialitäten aus (vergl. S. 273). In wenigen Punkten
oder Gegenden konzentrieren ſich die großen Induſtrien des Maſchinenbaues, der Spinnerei,
der Weberei, der Gerberei, der Eiſenverhüttung, der Zuckerinduſtrie für den ganzen
Staat. Hier ſind Fachſchulen, Techniker, Maſchinenbau, Arbeiterbevölkerung darauf ein-
gerichtet, Verkehr und Kreditorganiſation paßt ſich den ſpeciellen Bedürfniſſen an. Den
Anſtoß hiezu haben die verſchiedenartigſten Urſachen gegeben: Gunſt der Natur, Ein-
wanderung von Gewerbsleuten, ältere verwandte Induſtrien, beſondere Pflege; meiſt
reichen die Keime Jahrhunderte zurück; aber während an anderen Orten die ähnlichen
23*
[356]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Beſtrebungen abſtarben, ſind ſie hier gediehen. Der Konkurrenzkampf war früher ein
nur lokaler, heute iſt er mindeſtens ein nationaler, oft ein internationaler; für alle
leicht verſendbaren Waren iſt er ſo ſtark, daß er jede nicht unter den günſtigſten Be-
dingungen arbeitende Induſtrie beſeitigt.
Je kleiner nun aber der Staat, je aufgeſchloſſener er durch das Meer oder die
Eiſenbahnen nach außen iſt, je freier ſeine Handelspolitik, deſto mehr ſetzt ſich der
Konkurrenzkampf und die Arbeitsteilung über die politiſchen Grenzen hinaus fort. Die
großen kontinentalen europäiſchen Staaten erzeugen noch 75—90 % ihrer Lebensmittel
ſelbſt, Großbritannien nur noch 25—50 %. In der Induſtrie haben alle europäiſchen
Großſtaaten ſeit zwei Menſchenaltern einzelne Branchen verloren, um andere deſto mehr
auszubilden. So ergänzen ſie ſich in gewiſſen Specialitäten gegenſeitig und ſuchen ihren
Export nach den Tropen- und Kolonialländern, nach den Ländern mit geringerer tech-
niſcher Entwickelung, nach den Ackerbauſtaaten zu ſteigern. Deutſchland ſetzt einen ſehr
großen Teil ſeines produzierten Zuckers, Branntweins, Papiers, ſeiner chemiſchen und
Textilwaren im Auslande ab. Von den Seidenwaren des Krefelder Bezirkes gingen 1879
und 1880 für etwa 50 Mill. Mark ins Ausland, für 23—24 Mill. blieben in Deutſch-
land, von den Barmer Strumpfwaren gehen 75 % nach außen. Laves hat den Verſuch
gemacht zu berechnen, welchen Teil ſeines Einkommens Deutſchland 1880—82 für aus-
wärtige Waren ausgegeben; er kommt zu dem Reſultat, es müſſe ⅕—1/7 ſein. Heute
(1899) führen wir bei einem Nationaleinkommen von 20—22 für 5,5 Milliarden Mark ein.
Wenn wir mit Recht heute dieſe Fortſchritte des Verkehrs und der Weltwirtſchaft
bewundern, ihre Folgen für menſchliche Wohlfahrt, Frieden und Geſittung preiſen, das
dürfen wir daneben nicht überſehen, daß es keineswegs an ſich eine Verbeſſerung bedeutet,
wenn eine zunehmende Zahl Waren lange Wege zwiſchen den Orten der Produktion
und der Konſumtion zurücklegen. Wo das nicht nötig iſt, erſcheint bei gleich guter und
billiger Güterverſorgung der Konſum am Orte oder in der nächſten Nähe der Produktion
ſtets als das einfachere und natürlichere. Wenn heute noch die Mehrzahl aller Frauen
ohne tauſchwirtſchaftliche Arbeitsteilung im Hauſe thätig iſt, wenn die landwirtſchaftliche
Bevölkerung heute noch die Hälfte ihrer Produkte ſelbſt verzehrt, wenn heute noch der
größere Teil aller Arbeitsteilung ſich in derſelben Stadt, demſelben Kreiſe, derſelben
Provinz, demſelben Staate abſpielt, ſo iſt das ebenſo natürlich und vorteilhaft, wie
wenn einige unſerer Großinduſtrien ihre Produkte in alle Weltteile abſetzen. —
120. Die älteren Verſuche der Beurteilung und die neuere
zahlenmäßige Erfaſſung der Arbeitsteilung. Eine entwickelte Arbeits-
teilung erzeugt ſociale Klaſſen, entgegengeſetzte Intereſſen, einen komplizierten ſocialen
Mechanismus. Es war natürlich, daß auch die tiefere, nach Erkenntnis ringende Ein-
ſicht der großen Denker, geſchweige denn die von Klaſſenintereſſen getrübte Tagesmeinung
über dieſe große geſellſchaftliche Erſcheinung nicht ſofort nach allen Seiten das Rich-
tige traf.
Die Alten faßten zunächſt die pſychologiſchen und ſittlichen Folgen ins Auge, die
das Leben des dem Staate dienenden Ariſtokraten und die Thätigkeit des kleinen Acker-
bauers und Handwerkers, des als Betrüger verdächtigen fremden Kaufmannes, der als
Barbaren verachteten Sklaven habe. Wenn Ariſtoteles ſagt, daß die Handarbeit Körper
und Geiſt abſtumpfe, rohe, ungeſchlachte Leute ſchaffe, wenn im Altertume die Klein-
händler, Höker und Geldwechsler als ſchlechte, verworfene Menſchen faſt allgemein an-
geſehen wurden, ſo lag darin neben unbedingter Wahrheit doch auch ariſtokratiſcher
Hochmut und Verkennung des Wertes arbeitsteiliger Funktionen von dem Klaſſenſtand-
punkte aus, den die Philoſophen und Schriftſteller einnahmen. Man ſieht das ſchon
aus den vergeblichen Bemühungen Solons und anderer, Gewerbe, Arbeit, Kaufmann-
ſchaft in der ſocialen Achtung zu heben.
Die Kirchenväter und die Reformationszeit lehnen ſich an die Anſchauung der
Alten an. Die Verachtung des Handels iſt bei den Ariſtokraten des 13.—17. Jahr-
hunderts eine ähnliche wie bei Plato; Neid und Mißgunſt, Unverſtändnis in Bezug
auf die Rolle des Handels und wirkliche Beobachtung wirkten zuſammen, ſo daß noch
[357]Die ältere Beurteilung der Einzelberufe. Produktivitätslehre.
ein ſo feingebildeter Mann wie Erasmus, um von Luther, Hans Sachs, Hutten zu
ſchweigen, die Kaufleute als die ſchmutzigſte und thörichtſte Menſchenklaſſe bezeichnen
konnte. Derartige Übertreibungen und der Übergang der Aufmerkſamkeit von den
pſychologiſch-ſittlichen auf die damaligen glänzenden geſellſchaftlichen Folgen des Handels
bedingten dann den Umſchlag zur merkantiliſtiſchen Auffaſſung: man ſah, daß die
Handelsſtaaten, die Länder mit ſtarkem innerem Güterumſatz, mit aktivem, direktem
Handel, die Induſtriewaren ausführenden, ſeefahrenden, Kolonien erwerbenden Staaten
die reichen waren. Und ſo kam man zu der Lehre, was Edelmetall ins Land bringe,
alſo hauptſächlich der Handel, ſei allen anderen Thätigkeiten vorzuziehen. Es kam das
Stichwort auf, dieſe geldſchaffende Arbeit ſei allein oder vorzugsweiſe produktiv,
welchem dann die Phyſiokraten den Satz entgegenſtellten, daß nur die Ackerbauer, welche
die brauchbaren Stoffe vermehrten, produktiv, die anderen Geſellſchaftsklaſſen ſteril ſeien;
der Handel bringe die Waren nur von einer Hand in die andere, vermehre ſie nicht,
ſei unproduktiv. Ad. Smith will der Landwirtſchaft die größere Produktivität laſſen,
nennt aber auch Gewerbe und Handel produktiv. Und die neuere deutſche National-
ökonomie will dieſen Ehrentitel dann ebenſo für die perſönlichen wirtſchaftlichen Dienſt-
leiſtungen wie für die liberalen Berufe in Anſpruch nehmen, während die materialiſtiſche
Demokratie mit Vorliebe bis heute den Satz wiederholt, daß Fürſten und Beamte,
Soldaten und Geiſtliche unproduktiv ſeien.
All’ dieſen ſchiefen Theoremen lag der Gedanke einer Klaſſifikation und Rang-
ordnung der arbeitsteiligen Berufe zu Grunde, ſowie die Abſicht zu beweiſen, daß dieſe
oder jene Berufe vorzugsweiſe befördert, andere eingeſchränkt werden müßten. Weil man
den ganzen Zuſammenhang der Arbeitsteilung, die mit ihr verknüpften Inſtitutionen
und Folgen noch nicht überſah, ſtrebte man nach einer einfachen dogmatiſchen Formel,
die den Schlüſſel der Erkenntnis abgeben ſollte. Und an das vieldeutige Wort pro-
duktiv knüpfte man nun in wirrer Weiſe privat- und volkswirtſchaftliche, techniſche,
ſittliche und politiſche Gedankenreihen. Der eine dachte an die Vermehrung des Ver-
kehrs, der andere an die Vermehrung der Warenvorräte, der dritte an die Wertbildung,
der vierte an den privaten, der fünfte an den ſocialen Nutzen, der ſechſte an den mora-
liſchen Einfluß und die indirekten Wirkungen der verſchiedenen Berufe. Es iſt klar,
daß von jedem dieſer Standpunkte eine andere Rangordnung der arbeitsteiligen Berufe
ſich ergiebt.
Der ganze hieran ſich knüpfende, noch von Hermann, Roſcher und anderen mit
Umſtändlichkeit vorgetragene Schulſtreit kann heute als eine Antiquität der volkswirt-
ſchaftlichen Dogmatik gelten. Er hatte den Wert, die Aufmerkſamkeit auf die Geſamt-
folgen der Arbeitsteilung gegenüber den früheren, ausſchließlich in Betracht gezogenen
pſychologiſchen und individuell-moraliſchen Folgen hinzulenken und zu der Erkenntnis
zu führen, daß die ſchmälere oder reichlichere Beſetzung der einzelnen Berufsgruppen
eine Folge notwendiger hiſtoriſcher Entwickelung der Geſellſchaft und der Volks-
wirtſchaft ſei, daß alſo eine geographiſche und hiſtoriſche Vergleichung der Zuſtände
eintreten müſſe, daß dann die Verſchiedenheit der Ergebniſſe gedeutet werden könne, teils
als Produkt des verſchiedenen normalen Entwickelungsgrades, teils als eine Abweichung
hiervon, die beſondere Urſachen habe. Solche Reſultate können in der Beſonderheit der
Zuſtände, z. B. eines Handelsſtaates, liegen, wie in der Hypertrophie ungeſunder Bil-
dungen, z. B. eines Übermaßes von Geiſtlichen, von Zwiſchenhändlern, von Ackerbauern,
gegenüber dem Bedürfniſſe und den Leiſtungen. Hauptſächlich Roſcher hat auf dieſe
Verhältnismäßigkeit der Beſetzung hingewieſen und betont, daß übermäßig viel Diener
und Mönche, wie in Spanien, nicht anormaler erſcheinen als ein Ackerbauproletariat
wie das iriſche, das pro Kopf nur ¼—⅕ deſſen erzeuge, was die gleiche Zahl engliſcher
Landwirte hervorbringe. Dieſes Beiſpiel zeigt zugleich, wie die älteren Verſuche, mit
dem Schlagworte der Produktivität die ſocialen und wirtſchaftlichen Geſamtzuſtände
der Länder abzuthun, das ausſichtsloſe Beſtreben enthielten, Technik, Organiſation,
wirtſchaftliche und ethiſche Leiſtung aller Berufszweige aller verſchiedenen Länder auf
einen einheitlichen Nenner zu bringen.
[358]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
So iſt an die Stelle der Lehre von der Produktivität der Arbeitszweige heute
der Verſuch getreten, die Berufsgliederung hiſtoriſch und ſtatiſtiſch zu erfaſſen. Und
Arbeiten wie die von Bücher über die Bevölkerung in Frankfurt a. M. im 14. bis
15. Jahrhundert zeigen, was ſelbſt für ältere Zeiten möglich iſt. Im übrigen iſt auch
das Material unſerer Zeit bisher wenig zuverläſſig geweſen, weil bei Erhebungen des
Berufes die Grenzen ſo ſchwer feſtzuſtellen ſind und ſo leicht bei jeder Zählung wieder
etwas anders geſetzt werden. Will man nur die eigentlich im Berufe Thätigen, die
ſogenannten Erwerbsthätigen, zählen, ſo bleibt immer fraglich, wie weit man im Berufe
nebenbei mithelfende Frauen, Kinder und Dienſtboten mitzählen ſoll. Von einer großen
Zahl bald da bald dort beſchäftigter Arbeiter und Tagelöhner iſt immer zweifelhaft,
welcher Gruppe ſie zuzurechnen ſind. Zählt man die landwirtſchaftlich Thätigen oder
die Gewerbetreibenden allein für ſich, ſo erhält man ſtets zu hohe Zahlen, weil noch
heute Tauſende und Millionen beides verbinden. (Vergl. oben S. 346—347.)
Das ſind die einfachen Gründe, weshalb man alle älteren Angaben über Berufs-
ſtatiſtik mit Zweifel betrachten muß; ich will nur Vereinzeltes aus ihnen und dann
neuere Berechnungen von Bodio und aus den deutſchen Berufszählungen kurz anführen.
Zu einer Begründung der Zahlen iſt hier kein Raum. Ich ſuche im ganzen die Prozent-
zahlen der geſamten Bevölkerung, d. h. der Erwerbsthätigen nebſt Angehörigen und
Dienenden, nicht die der Erwerbsthätigen allein zu geben, weil letztere zu ungleichmäßig
abgegrenzt werden.
Die erſte Frage iſt, welchen Anteil die Urproduktion (Land- und Forſtwirtſchaft,
Gärtnerei ꝛc.) an der Geſamtbevölkerung noch habe. Eine Berechnung über den Kanton
Zürich kommt zu dem Ergebnis, es ſeien 1529 85, 1775 33, 1890 27 % geweſen.
In den meiſten europäiſchen Staaten nimmt ſie gegenwärtig nicht mehr die Hälfte in
Anſpruch, nur (nach Bodio) in Italien 52, in Irland 54, in Cisleithanien 55, in
Ungarn 62, in Rußland wohl noch über 70, im Kanton Wallis beinahe 75 %; ſie
ſinkt in Sachſen auf 19, in England auf 15 %. Nach der Tabelle des deutſchen
ſtatiſtiſchen Amtes von 1884 fallen auf die Urproduktion in der Schweiz 42, in
Deutſchland 42 (1895 36), in Dänemark 45, in Frankreich 48, in Öſterreich 55, in
Norwegen und Schweden 55 %. In Großbritannien ſinkt die Prozentziffer von 35
(1811) auf 28 (1831), 21 (1861) und 16 (1881), in Preußen von 78 (1816) auf 64
(1849), 48 (1867) und 42 (1882). Nach preußiſchen Gebietsteilen ſtellt ſich die Ziffer
1882 auf 63 in Poſen, 62 in Oſtpreußen, 52 in Pommern, 48 in Hannover, 43 in
Schleſien und Brandenburg, 41 in Schleswig-Holſtein, 39 in Heſſen-Naſſau, 46 in
Sachſen, 33 in Weſtfalen, 30 am Rhein; ähnlich ſchwanken die anderen deutſchen
Staaten zwiſchen 30 und 50 %. Im mittelalterlichen Frankfurt nimmt die Urproduktion
noch 18—19, im heutigen 2—3 % in Anſpruch.
In der Abnahme der landwirtſchaftlichen Prozentziffer von 85, 70, 60 bis zu
30, 15 und 10 ſehen wir die ganze neuere Wirtſchaftsgeſchichte des betreffenden Staates,
die Umbildung des Agrarſtaates zum Induſtrieſtaate, wie man es neuerdings bezeichnete.
Natürlich kann dieſelbe Abnahme der Prozentzahl ſehr Verſchiedenes bedeuten, je nachdem
ſie auch abſolute Abnahme oder nur relative der landwirtſchaftlich Thätigen bedeutet,
je nachdem ſie durch eine ſehr intenſive, mit Maſchinen betriebene Landwirtſchaft aus-
geglichen wird oder nicht, je nach der nötigen Zunahme der Einfuhr von Lebensmitteln
und je nach der Sicherheit dieſer Zufuhr.
Als komplementäre Zahlen zu den eben angeführten erſcheinen nun die über die
Gewerbe (Induſtrie, Bergbau, Handwerk). Unter 11—12 % ſinkt ihr Anteil an der
Geſamtbevölkerung heute ſelbſt nicht in den agrikolen europäiſchen Gebieten, z. B. in
Schweden und im Kanton Wallis; in Oſtpreußen und Poſen ſind es 16—17, ähnlich
in Norwegen; in Ungarn kamen 1857 17, in Cisleithanien 21 % auf die Gewerbe,
jetzt 21 und 29; für Dänemark berechnet Bodio 1880 30 %, für Italien 1881 25,
für Frankreich 1880 24, für die Schweiz 1870 35, 1880 42 %; für Deutſchland zählte
man 1882 35 (Rhein 44, Sachſen 55, Weſtfalen 45, Württemberg 33, Bayern 27),
1895 39, für England 1881 55, 1891 57, für Belgien 1846 31, 1880 57 %. Von
[359]Berufsſtatiſtik. Agrar- und Induſtrieſtaat.
100 Einwohnern überhaupt ſind nach einer Berechnung von Jannaſch eigentliche gewerblich
Thätige (1870—80) in Ungarn 4, in Frankreich und Öſterreich 11—12, in Deutſchland
14—15, in der Schweiz und Belgien 18—19, in England 22.
Die Zahl der gewerblichen Bevölkerung iſt alſo heute eine geringe, wo ſie 11—18 %
erfaßt, eine mittlere, wo es ſich um 19—36 handelt, eine ſtarke, wo ſie bis 57 % an-
ſteigt. Deutſchland erreicht Belgien und die Schweiz noch nicht, England entfernt nicht.
Die Perſonen, welche dem Handel und Verkehr ihre Thätigkeit widmen, machen
nebſt ihren Angehörigen in den großen europäiſchen Ländern der Gegenwart wohl nirgends
unter 3—5 % und über 11—13 % aus; in Berlin freilich 22, in Hamburg 31; ſie
ſind aber als Städte nicht mit größeren Gebieten vergleichbar. Zur Illuſtration mag
beigefügt werden, daß in Frankfurt a. M. 1440 die Gewerbe 58, Handel und Verkehr
13, im Jahre 1882 erſtere 35, letztere 31—32 % der ſelbſtändigen Erwerbsthätigen
beanſpruchten. Nach der deutſchen Berufszählung von 1882, welche Eiſenbahnen und
Poſten nicht mit umfaßt, haben faſt alle Provinzen und Länder über 7—8 %, Heſſen-
Naſſau, Rheinprovinz, Schleswig-Holſtein, Sachſen, Braunſchweig ſteigen über 10 %.
Die liberalen Berufe ſchwanken, ſoweit wir Nachrichten haben, zwiſchen 2 und 8,
in der deutſchen Berufszählung zwiſchen 3 und 8 %; in den großen Städten machen
ſie 11—12 %. Für genauere Vergleiche beſtimmter Teile fehlen meiſt die Zuſammen-
ſtellungen, ſo lehrreich ſie wären; Bodio hat einige geliefert, die uns z. B. zeigen, daß
in den Vereinigten Staaten dreimal ſoviel Advokaten ſind als in England, in Italien
zwei- bis dreimal ſoviel Geiſtliche als in Deutſchland.
Es geht in dieſem Punkte wie oft mit der Statiſtik; gerade wo ſie uns die
lehrreichſten Ausblicke eröffnen ſollte, verläßt uns das Inſtrument, weil es noch zu roh,
zu wenig entwickelt, und weil auch das von ihr gelieferte Rohmaterial zu wenig
bearbeitet iſt. — Wir müſſen uns hier mit dieſen wenigen Zahlen und Andeutungen
begnügen, die nur den Zweck haben, einen ſummariſchen Einblick in die Geſamtreſultate
der heutigen Berufs- und Arbeitsteilung zu geben.
121. Die Urſachen und Bedingungen der Arbeitsteilung haben
wir ſchon in der Einleitung andeutungsweiſe berührt, wir haben jetzt auf Grund des
vorgeführten Thatſachenmaterials zu verſuchen, ſie präcis und möglichſt erſchöpfend zu
formulieren.
Die Arbeitsteilung entſpringt der feineren und ſpecialiſierten Ausbildung aller
menſchlichen Thätigkeit; es entſtehen Einzelaufgaben, denen nicht jeder gleich gewachſen
iſt, die gut nur der bemeiſtern kann, der hiezu beſondere körperliche und geiſtige Fähig-
keiten hat, der hiezu angelernt iſt, dieſer Aufgabe ſein Leben widmet.
Wie der einzelne Menſch aus ſeiner Thätigkeit ein zuſammenhängendes, durch-
dachtes Syſtem macht und ſo rationeller, arbeitſparender ſeine Bedürfniſſe befriedigt, ſo
kommt die Geſellſchaft durch rationelle Specialiſierung der Thätigkeit ihrer Glieder, durch
Zuweiſung der geteilten Arbeit an die hiefür Paſſenden zu immer größeren Erfolgen. Die
Arbeitsteilung ſetzt, wie wir von Anfang an erwähnt, eine ſociale Gemeinſchaft voraus:
wir fügen jetzt bei: ſie ſetzt eine Berührung und Verſtändigung der zur Anpaſſung an
ſpecialiſierte Arbeit und zur Organiſation fähigen Perſonen voraus. Wie ſie möglich
iſt in der patriarchaliſchen Hauswirtſchaft, ſo gelingt ſie zwiſchen Stadt und Land,
zwiſchen zwei Welten, die häufigen Dampfſchiffahrtsverkehr haben. Eine immer dichtere
Bevölkerung, größere Gemeinweſen und Staaten, höhere Staatengemeinſchaft wird ihr
günſtig ſein, ebenſo wie alle Verbeſſerung der Verkehrsmittel. Sie wird auch unter
dieſen Vorausſetzungen nur gelingen, wenn eine kluge, zum Fortſchritt geneigte Bevölke-
rung ſie benützt, wenn nicht ſtarre Sitten und Rechtsinſtitutionen, wie da und dort das
Kaſten- und Zunftweſen, die Änderung hindern. Aber es müſſen außerdem noch gewiſſe
Bedingungen erfüllt ſein, um ſie möglich zu machen: die ſpecialiſierte Funktion muß in
der Regel dauernd, gleichmäßig ausgeführt werden können, die Teiloperationen müſſen
zeitlich zugleich verrichtet werden, die Zuſammenwirkenden müſſen örtlich und geſchäftlich
richtig nebeneinander geſtellt, in Verbindung gebracht werden können. Es muß ein
gewiſſes Verſtändnis für die erwachſende Erſparnis an Kräften, für die ſo erzielte beſſere
[360]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
oder größere Leiſtung vorhanden ſein, die Bedürfniſſe müſſen geſtiegen und verfeinert
ſein oder es muß die Ausſicht hiefür vorliegen; eine größere und beſſere Produktion muß
erwünſcht oder gefordert ſein. Endlich wird jede Arbeitsteilung nur Hand in Hand
mit Fortſchritten der Technik und der Kapitalbildung ſich vollziehen. Die phönikiſch-
ägyptiſche Werkzeugtechnik hat die gewerbliche Arbeitsteilung für mehrere Jahrtauſende
beſtimmt; aber nur die wohlhabenderen Völker konnten ſie anwenden. Die techniſchen
Fortſchritte der Renaiſſancezeit haben neben den Verkehrsverbeſſerungen aus der kleinen
Werkſtatt des Altertums und Mittelalters ſeit dem 15. und 16. Jahrhundert in Süd-
und Weſteuropa die Hausinduſtrien und die arbeitsteiligen Manufakturen gemacht. Seit
100 Jahren iſt es die moderne Maſchinentechnik, die bei den reichen und mit guten
Verkehrsmitteln ausgeſtatteten Völkern oder vielmehr in gewiſſen begünſtigten Mittel-
punkten derſelben die höchſte Arbeitsteilung erzeugte. Wie der moderne Augenarzt ſich
erſt vom gewöhnlichen Arzt ſchied, als zu einer genügenden Anzahl Augenkranker in der
großen Stadt der Augenſpiegel und andere beſondere techniſche Hülfsmittel der Augen-
heilkunde kamen, ſo entſtand an Stelle des Handſpinners und Handwebers die moderne
arbeitsteilige Textilinduſtrie, als zu dem vermehrten Leinwand- und Tuchabſatze die
Spinnmaſchine, der Kraftwebſtuhl, die chemiſche Bleiche und ein Stand von Kaufleuten
und Verlegern hinzukam, der große Kapitalien in die Manufakturen und Fabriken ſtecken
konnte. Ein einfacher alter Holzwebſtuhl koſtet 30 Mark, hundert Weber brauchen alſo
nicht viel mehr an Werkzeugkapital als etwa 3000 Mark; um 100 Arbeiter in einer
heutigen Maſchinenwebanſtalt mit Utenſilien auszuſtatten, dazu gehören ſchon hundert-
tauſende von Mark.
Den praktiſchen Anſtoß aber zu der Ausführung jedes einzelnen Schrittes der
Arbeitsteilung, zu dem die Bedingungen im übrigen vorliegen, giebt in der Regel
der Kampf ums Daſein, die Konkurrenz. Daher die große und raſche Zunahme der
Arbeitsteilung infolge der heutigen liberalen wirtſchaftlichen Geſetzgebung und der ver-
beſſerten Verkehrsmittel. Wo die Bevölkerung nicht wächſt, wo in hergebrachter Weiſe
Platz für die Überſchüſſe der Bevölkerung iſt, da ſchreitet ſie nicht leicht voran. Aber
wo die Lage für viele ſchwieriger wird, da probieren die Fähigſten etwas Neues; wo
das geſchieht, da findet ſich auch für die ſchwächeren Kräfte ein Plätzchen; je verſchiedener
die Menſchen werden und je Verſchiedeneres ſie thun, deſto mehr haben auf demſelben
Raume nebeneinander Platz, deſto eher vertragen ſie ſich, ſchon weil die in verſchiedener
Funktion Befindlichen nicht direkt konkurrieren, und jeder des anderen bedarf. Der große
Ausleſeprozeß drängt dieſen nach oben und jenen nach unten, ſchiebt jeden an die für
ihn mögliche Stelle und nötigt ihn zur Anpaſſung. Und indem dieſe geſchieht, gelingt
es auch am eheſten, die Gefühle, die Moral- und Sittenregeln, die Rechtsformen ent-
ſprechend umzubilden, ohne welche das neue komplizierte Zuſammenwirken ſich nicht
geſtalten und bewähren kann. Ich ſage zuerſt ein Wort über die ſocialen Formen und
Inſtitutionen, welche den neueingeſchobenen Gliedern ihren Unterhalt verſchaffen, dann
ein ſolches über den notwendigen pſychologiſchen Umbildungsprozeß.
Die Arbeitsteilung, wie ſie der Hausvater in der Familie anordnet, und die, wie
ſie zwiſchen zwei Fremden ſtattfindet, die ihre Werkzeuge oder Waren tauſchen, ſind
die Urtypen der möglichen ſocialen Anordnung der Beteiligten. Eine herrſchaftliche
und eine freie, gewillkürte Form; jene geht von der Gemeinſchaft aus, dieſe erzeugt
ſie oftmals erſt, entſpringt der Verſchiedenheit der Menſchen; die hauswirtſchaftliche
Teilung führt ſie herbei oder fördert ſie. In der hiſtoriſchen Entwickelung, können wir
ſagen, haben ſich aus dieſen zwei vier Hauptformen, zwei naturwirtſchaftliche und
zwei geldwirtſchaftltche herausgebildet.
a) Die Familie, die patriarchaliſche Hauswirtſchaft der Alten, die Fron- und
Kloſterhöfe des Mittelalters, heute noch große Fürſtenhaushalte, Truppenkörper, Arbeits-
und Zuchthäuſer ſind mehr oder weniger naturalwirtſchaftliche Verbände, die ihren
Gliedern beſtimmte ſpecialiſierte Funktionen und dafür Wohnung, Kleidung und Speiſe,
kurz alles zum Leben Nötige zuweiſen. In älterer Zeit ruhten dieſe Verbände halb
auf Herrſchaftsverhältniſſen, halb auf dem Blutszuſammenhange; beides war intenſiv
[361]Die vier Formen geſellſchaftlicher Ordnung der Arbeitsteilung.
ausgebildet; der Individualismus ſtand nicht hindernd im Wege. Heute iſt dieſe Art
der Organiſation wohl in der Familie noch leicht zu ermöglichen, aber wo ſie über
dieſelbe hinausreicht, iſt die Durchführung nur mit ſchärfſter Disciplin möglich. Die
zunehmende Abneigung der modernen Menſchen, ſich von oben nicht bloß die Arbeit
und die Hausordnung, ſondern auch Kleidung, Eſſen und Trinken und jede Bewegung
vorſchreiben zu laſſen, erſchwert die Bildung ſolcher Verbände. Und wir ſehen daher,
daß dieſe Form, zumal ſeit dem Siege der Geldwirtſchaft, immer mehr verlaſſen wird.
Die nötige Unterordnung unter eine ſtrenge Arbeits- und Hausordnung wird heute wohl
noch von der Jugend in Erziehungshäuſern und Kaſernen, von frommen Mönchen in
Klöſtern, von Armen in Armenhäuſern, von Verbrechern in Zuchthäuſern ertragen, im
übrigen können nur utopiſche Schwärmer davon träumen, die ganze Volkswirtſchaft
unter Aufhebung des Geldverkehrs aus ſolchen Verbänden aufzubauen oder gar ein
Volk von Millionen wieder in einen einzigen ſolchen naturalwirtſchaftlichen Verband zu
verwandeln.
b) Wo Gemeinde, Stamm und Staat mit der Seßhaftigkeit, der Prieſter- und
Kriegerverfaſſung und einem geordneten Ackerbau mit Sklaven und Hörigen zu einer
feſten, geordneten Organiſation, zur Sammlung von Vorräten, zur Erhebung von
Zehnten und Derartigem gelangen, da wird es möglich, ariſtokratiſche Familien mit
Land und abhängigen Arbeitern, ſowie mit Zehnten zu dotieren, auch Beamte, unter
Umſtänden Handwerker mit periodiſch zu erhebenden Naturalabgaben auszuſtatten. Ein
erheblicher Teil der älteren Arbeitsteilung und Klaſſenordnung ruht auf einem ſolchen
Syſteme, das in ſeiner Entſtehung ſtets vorausſetzt, daß die ſo Ausgeſtatteten ihre Kräfte
dem Ganzen widmen. Aber es fehlt in der Regel die Kontrolle der Leiſtungen, und
daher tritt ſo leicht die Entartung zu einer Ariſtokratie des Beſitzes ein, die nur ver-
zehren und genießen, höchſtens herrſchen, aber nicht mehr arbeiten will.
c) In dem Maße, wie die Geldwirtſchaft vordringt, hört nicht bloß der Natural-
tauſch auf, ſondern werden auch die eben erwähnten Formen der herrſchaftlichen Organi-
ſation und der Dotierung mit Land und Naturalabgaben nach und nach beſeitigt. Der
Staat und die Korporationen ſammeln nun Vermögen oder legen Steuern um und
erhalten ſo die Geldmittel, um für beſtimmte ſpecialiſierte Berufe Leute feſt anzuſtellen
und zu beſolden: Geiſtliche, Beamte, Offiziere, Soldaten, Lehrer, oft auch Ärzte und
andere Perſonen verpflichten ſich, gegen feſte Jahresgehalte beſtimmte arbeitsteilige
Thätigkeiten zu übernehmen; neuerdings ſtellen auch Privatunternehmungen und Aktien-
geſellſchaften Hunderte und Tauſende ſo an. Im ganzen findet dieſe Form mehr in
den oberen Schichten der Geſellſchaft ihre Anwendung. Immer iſt heute bereits ein
ſehr großer Teil der arbeitsteilig thätigen Geſellſchaft in dieſer Weiſe eingegliedert in
den Zuſammenhang der Volkswirtſchaft. Die Bezahlung durch Jahresgehalte ſetzt ein
gleichmäßiges Bedürfnis nach den Leiſtungen, durch Sitte und Recht geordnete Carrieren
und eine ſtete Beaufſichtigung der Leiſtungen voraus. Da die Kontrollen aber ſtets
ſehr ſchwierig ſind, ſo wird das Syſtem leicht zu Faulheit und Schlendrian Anlaß
geben; es wird in den unteren Klaſſen der Geſellſchaft ohne eiſerne Disciplin nicht leicht
beſtehen können; für die mittleren und oberen kann dieſe wenigſtens teilweiſe erſetzt
werden durch ein hochgeſpanntes Ehr- und Pflichtgefühl, durch das Bewußtſein größerer
Verantwortung und ſteter Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Das Syſtem hat vor der
naturalwirtſchaftlichen Eingliederung in einen Herrſchaftsverband den Vorzug, die weit-
gehendſte Arbeitsteilung möglich zu machen bei größter Freiheit des Familien- und des
individuellen Lebens in den dienſtfreien Stunden. Vor der Bezahlung der einzelnen
Ware oder Leiſtung hat es den Vorzug, den Angeſtellten vor den täglichen Schwan-
kungen des Marktes zu bewahren, aber den Nachteil, weniger zu Fleiß und Anſtrengung
anzuſpornen, Leiſtung und Belohnung unvollkommener einander anzupaſſen.
d) Der Haupterfolg der Geldwirtſchaft aber iſt die Verwandlung des Tauſch-
verkehrs in das Kauf- und Verkaufsgeſchäft, der älteren gebundenen Arbeitsverhältniſſe
in das jederzeit lösbare Geldlohnverhältnis: die Produktion der Waren für den Markt
und der daran ſich ſchließende Warenhandel, ſowie die freien Arbeitsverträge über die
[362]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
einzelnen Arbeitsleiſtungen werden das Inſtrument, die Arbeitsteilung in größerem
Maßſtabe als je früher durchzuführen. Das Syſtem iſt einer geographiſchen Aus-
dehnung, einer qualitativen Steigerung, einer Verfeinerung fähig, wie keine der anderen
Formen. Auf Grund desſelben haben ſich Landwirtſchaft und Gewerbe, Handel und
Verkehr in ihrer heutigen ſpecialiſierten Geſtaltung ausgebildet. Die bisherige National-
ökonomie hat an dieſe Form faſt ausſchließlich gedacht, wenn ſie von der Arbeitsteilung
und ihren Bedingungen ſprach. Daher die bekannten Sätze: die Ausdehnung des Marktes
ſei die Grenze der Arbeitsteilung, die höchſte Arbeitsteilung finde ſtatt bei der Produktion
der transportabelſten Waren, deren Markt über die ganze Erde ſich erſtrecke; größere
Arbeitsteilung in der Stadt als auf dem Dorfe, in der dichtbevölkerten als in der
ſparſam bevölkerten Gegend, im Lande mit Flüſſen, Kanälen und Eiſenbahnen als in
dem mit ſchlechten Landwegen; größere Arbeitsteilung im Gewerbe als in der Land-
wirtſchaft mit ihren ſchwer transportablen Waren. Kurz die Lehre: der Verkehr und
ſeine Ausbildung ſei das große Schwungrad für die Ausbildung der Arbeitsteilung.
Der Markt, die Börſe, das Maß-, Gewichts- und Geldweſen, die Unternehmung,
das Arbeitsvertragsrecht ſind die ſocialen Inſtitutionen, die zur Verwirklichung dieſer
Art von Arbeitsteilung gehören. Angebot und Nachfrage ſowie Preisbildung ſind die
ſocialen Hülfsmittel, um die Cirkulation der Güter und Arbeitsleiſtungen in Bewegung
zu halten. Von all’ dieſen Erſcheinungen iſt an anderen Orten zu reden.
Die Reſultate dieſer Art der Arbeitsteilung ſind bald über alle Maßen verherrlicht,
bald maßlos angegriffen worden. Sicher iſt, daß durch dieſe Arbeitsteilung die Indi-
viduen bei ſteigender Thätigkeit für andere doch unabhängiger von einander werden, daß
die höhere wirtſchaftliche und ſittliche Entwickelung der Individualität mit ihr in Ver-
bindung ſteht, daß ſie aber auch die Menſchen zunächſt trennt und in ſcharfe Konflikte
und Intereſſengegenſätze hineinführt, daß die Ausbildung der richtigen Inſtitutionen,
Gefühle und Sitten ſo viel Schwierigkeiten macht, daß die richtigen Grenzen und
Gegengewichte gegen übermäßige Arbeitsteilung hier oft lange nicht gefunden werden.
Wenn dieſe Form der Arbeitsteilung alſo auch bei vollendeter Ausbildung einerſeits
freie Bewegung und Wegfall von Zwangsmaßregeln, andererſeits eine im ganzen
zunehmende Gerechtigkeit der Einkommensverteilung herbeiführt oder wenigſtens nicht
ausſchließt, ſo iſt doch der allgemeine Satz Dürkheims, daß die zunehmende Arbeits-
teilung ſtets wachſende Solidarität bedeute, nur beſchränkt wahr; das iſt mehr eine
ideale Möglichkeit als eine Wirklichkeit, wenigſtens für unſere heutige ſich umbildende,
an Kriſen und Verkümmerung großer ſocialer Klaſſen leidende Volkswirtſchaft. Und
daß dieſe Mißſtände mit der Arbeitsteilung, mit den aus ihr entſprungenen Inſtitutionen
entſtanden ſind, wird man nicht leugnen können. Es fragt ſich nur, ob dieſe Übel-
ſtände nicht doch gegenüber den älteren und anderen Rechtsformen der Arbeitsteilung
und ihren Härten die geringeren, ob ſie nicht zu beſeitigen ſind. Und jedenfalls wird
jede denkbare Organiſation der Volkswirtſchaft aus einer irgendwie vollzogenen Miſchung
der vier erwähnten Formen haushalten müſſen. —
Neben den neuen Inſtitutionen, welche die Arbeitsteilung ermöglichen, kommen
nun als letzte Vorbedingung derſelben die Veränderungen im ganzen Seelenleben der
Menſchen. Die Menſchen ohne weſentliche Arbeitsteilung werden wirtſchaftlich durch das
einfache Motiv, ihren Bedarf zu decken, beherrſcht und direkt geleitet; die Intereſſen-
gegenſätze ſind geringer, Habſucht und Erwerbsſinn fehlen; in Hauswirtſchaft, Sippe,
Stamm, Gemeinde, Staat entſtehen in ſolcher Zeit unſchwer die verbindenden ſympa-
thiſchen Gefühle, ohne welche die Geſellſchaft nicht beſtehen kann. Mit der Arbeitsteilung
hört die klare, einfache Leitung des wirtſchaftlichen Handelns nach dem Bedarfe auf; jeder
muß nun, ſtatt direkt auf die wirtſchaftliche Verſorgung loszugehen, nach Arbeits-
gelegenheit, Abſatz, Gewinn, Verdienſt ſich umſehen, darum mit anderen kämpfen; der
Erwerbsſinn, die Konkurrenzleidenſchaft entſteht bei den oberen Kreiſen; die unteren
ſollen für ferne, ihnen unverſtändliche Zwecke arbeiten, was ſie lange nur gezwungen,
durch Not und Hunger getrieben thun. In jedes individuelle Leben zieht nun ein
kompliziertes Syſtem von wirtſchaftlichen Motiven ein: Hunger und Durſt, die Vor-
[363]Die Komplizierung der menſchlichen Motive durch die Arbeitsteilung.
ſtellung der Bedarfsdeckung wirken noch mit, aber müſſen auf komplizierte Umwege ſich
begeben; es muß ſich ein vielgeſtaltiges Lock- und Zwangsſyſtem ausbilden, wobei Lohn
und Gewinn, Ehre, Freude am techniſchen Erfolge, Furcht und Zwang zuſammenwirken.
Alles individuelle Leben, ſeine Geſtaltung, die ganze Lebensführung wird jetzt von dem
eingangs erwähnten Kompromiß von unveräußerlichen Eigenzwecken und geſellſchaftlichen
Aufgaben und Pflichten, von Zwecken, die dem einzelnen zunächſt nicht als die ſeinen
erſcheinen, beherrſcht; für ſolche thätig zu ſein, iſt ſchwer zu erlernen; der natürliche
Menſch ſträubt ſich dagegen, wenn er nicht viel gewinnt. Und wird ihm das geſtattet,
ſo geht er leicht über die Grenze, mißhandelt die Schwächeren. Alle Moral, alle
Pflichtenlehre muß eine andere, kompliziertere werden; alle Erwerbs- und Gewinnarten
müſſen erſt in Recht und Sitte, im Gefühl und in der Moral ihre rechten Schranken
erhalten. Es iſt vielleicht die größte moraliſch-pſychologiſche Aufgabe, vor die die
Menſchheit ſo geſtellt iſt.
Alle ſocialen Inſtitutionen, durch welche die Arbeitsteilung allein wirken kann,
ſind abhängig von dem jeweiligen Stande dieſes pſychologiſch-hiſtoriſchen Prozeſſes; nur
große geiſtige und moraliſche Fortſchritte können ihn ſo geſtalten, daß die Arbeitsteilung
als rein ſegensreich ſich darſtellt. Alle Inſtitutionen der Geſellſchaft müſſen nun ſo
beſchaffen ſein, daß ſie nicht bloß dem Bedürfniſſe des Tages, dem heutigen Stande der
Arbeitsteilung entſprechen, ſondern ſo, daß ſie auch dieſen pſychologiſchen Umbildungs-
prozeß richtig fördern. Wie ſchwierig iſt das! Wie leicht kann aus der fortſchreitenden
Arbeitsteilung deshalb da und dort mehr Reibung und Kampf, mehr Verwirrung und
Druck als vollendete Vergeſellſchaftung entſpringen. —
Faſſen wir das über die Urſachen und Bedingungen der Arbeitsteilung Geſagte
nochmal zuſammen, und vergleichen wir unſere Auffaſſung mit der älteren, ſo leiten wir
ſie in erſter Linie aus den geiſtigen und techniſchen Fortſchritten ab, die mit dichterer
Bevölkerung in größeren Staaten unter dem harten Drucke des Daſeinskampfes ent-
ſtanden; wir begreifen ſie als den elementar notwendigen geſellſchaftlichen Anpaſſungs-
und Differenzierungsprozeß, der ſtets auf eine höhere Form der Vergeſellſchaftung hinzielt,
aber nur unter der Bedingung beſſerer Moral, vollendeterer geſellſchaftlicher Organi-
ſationen und Rechtsformen dies Ziel erreichen kann.
Die mancheſterliche Nationalökonomie betrachtete von ihrem technologiſch-indivi-
dualiſtiſchen Standpunkte aus die Arbeitsteilung als eine Art Wunderwerk, als eine
präſtabilierte Harmonie, in die ſich die ſelbſtändig und iſoliert gedachten Individuen
unbewußt oder gelockt durch die Vorteile des Tauſchverkehrs gleichſam willenlos einfügen.
Der Socialismus von Marx ſah nur in der Despotie des Dorfpatriarchen, des Werkſtatt-
vorſtehers, des großen Fabrikanten eine vernünftige, weil von oben geleitete Arbeits-
teilung, in allen anderen Teilen derſelben eine Anarchie, in der nur Zufall und Willkür
ihr Spiel treiben, und die Marktwerte vergeblich ſich abmühen, das Gleichgewicht zwiſchen
den geſellſchaftlichen Arbeitszweigen herzuſtellen. Während jene ältere mancheſterliche Auf-
faſſung unbedingte Freiheit und Willkür, dieſe jüngere ſocialiſtiſche von Marx centra-
liſtiſchen Despotismus für die Durchführung aller Arbeitsteilung verlangte, ſind ſie
beide das Produkt einer gänzlich unhiſtoriſchen, atomiſtiſchen und materialiſtiſchen
Geſellſchaftsauffaſſung. Die Arbeitsteilung iſt weder ein abſolut harmoniſcher, noch ein
ganz anarchiſcher, ſondern ſie iſt ein geſellſchaftlicher Prozeß, der in der Einheit von
Sprache, Gedanken, Bedürfniſſen und moraliſchen Ideen ſeine Grundlage, in der Einheit
von Sitte, Recht und Verkehrsorganiſation ſeine Stützen hat. Sie iſt ein Schlachtfeld,
auf dem der Kampf um die Herrſchaft und der Irrtum ihre Spuren hinterlaſſen, aber
ſie iſt zugleich eine Friedensgemeinſchaft mit zunehmender ſittlicher Ordnung. Die Fort-
ſchritte der Technik, des Verkehrs, der Bevölkerung rütteln täglich an dem beſtehenden
Syſteme der Arbeitsteilung; je komplizierter das ganze Syſtem iſt, je raſcher es ſich
ändert und vergrößert, deſto leichter kann ein einſeitiges Wachſen an dieſer oder jener
Stelle und damit eine zeitweiſe Inkongruenz der arbeitsteilig aufeinander angewieſenen
Teile eintreten. Nur ein Thor könnte leugnen, daß zeitweiſe recht ungeſunde paraſitiſche
Mittelglieder ſich in den vielgliedrigen Mechanismus der arbeitsteiligen Geſellſchaft
[364]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
einſchieben. Ich erinnere nur an den Ausſpruch J. St. Mills, daß neun Zehntel der
engliſchen Detailhändler entbehrt werden könnten, und an die von Roſcher beigefügte
Anmerkung, die Überſetzung des engliſchen Detailhandels erzeuge jährlich Bankerotte im
Betrage von 40 Millionen Pfund Sterling. Aber ſolche Unvollkommenheiten liegen in
der Schwierigkeit des Problems. Sie beweiſen nichts gegen die Beherrſchung der Arbeits-
teilung durch eine immer verſtändigere und immer vollkommenere geſellſchaftliche Ordnung.
Dieſe Ordnung wird durch geiſtig-moraliſche Faktoren erzeugt, ſie beſteht in ein-
zelnen Teilen aus der leicht umbildſamen Sitte, in anderen aus dem ſtarren und feſten
Rechte; ſie iſt teilweiſe durch Befehle und Geſetze von oben her gemacht, teilweiſe durch
Anpaſſungen, freie Verträge, ſowie Gewohnheiten der Beteiligten von unten her ent-
ſtanden. Jedenfalls fehlen in ihr nie gewiſſe einheitliche Tendenzen, gewiſſe geiſtig-
ſittliche Faktoren, Vorſtellungen über das, was gut, recht und billig ſei. Immer ſind,
auch wo die Ordnung zunächſt eine unvollkommene iſt, die Anläufe und Anſätze vor-
handen, um aus den Härten und Unvollkommenheiten, aus dem zeit- und ſtellenweiſen
Mangel an Harmonie herauszukommen zu beſſeren Einrichtungen.
122. Die geſellſchaftlichen und individuellen Folgen der Arbeits-
teilung haben wir in den bisherigen Betrachtungen über ihre Urſachen und Be-
dingungen teilweiſe ſchon berühren müſſen; auf einzelne andere Folgen, z. B. die
Eigentumsverteilung und ſociale Klaſſenbildung, kommen wir in den folgenden Kapiteln.
Hier iſt aber doch noch kurz auf den Kern derſelben einzugehen: was hat die Arbeits-
teilung geſchaffen, was hat ſie aus Geſellſchaft und Individuen gemacht, was hat ſie
ihnen genützt und geſchadet?
Die Arbeitsteilung iſt das große Inſtrument des Kulturfortſchrittes, des größeren
Wohlſtandes, der größeren und beſſeren Arbeitsleiſtung. Da die beſchränkte menſchliche
Kraft da mehr leiſtet, wo ſie nach ihrer Eigentümlichkeit hinpaßt, da die Ausführung
immer ſchwierigerer geiſtiger und techniſcher Aufgaben ſtets eher den für ſie ausgewählten,
auf ſie eingeſchulten Kräften gelingt, ſo muß mit der Arbeitsteilung immer Größeres
mit geringerem Aufwande erreicht werden. Arbeitsteilung iſt wirtſchaftlichere Aus-
führung aller Arbeit, iſt Krafterſparnis. Die Lebensenergie nimmt zu in dem Maße,
wie die Funktionen ſich ſpecialiſieren; die Specialiſierung der geſellſchaftlichen Organe
bedeutet beſſere Anpaſſung, höhere Funktion, ſichereren Effekt. Indem das geſellſchaftliche
Syſtem der ineinander gepaßten Thätigkeiten jedem das zuweiſt, wozu ihn ſeine Geiſtes-
und Körperkräfte, ſeine Raſſen- und Familieneigenſchaften, ſeine Erziehung und ſeine
Schickſale, ſeine Gewohnheiten und ſein Alter, ſein Geſchlecht und ſein Geſundheitszuſtand
beſonders befähigen, indem dieſe verſchiedenen Thätigkeiten immer geſchickter ineinander
gefügt werden, müſſen die Leiſtungen der Geſamtheit immer vollkommenere und größere
werden. In der iſolierten Wirtſchaft des Individuums findet eine ungeheure Kraft-
verſchwendung ſtatt; zu jeder Stunde muß wieder anderes gethan werden; die Hemmung
und Reibung verbraucht den größeren Teil der Kraft; der Erfolg iſt ein minimaler
gegenüber der geteilten und geſellſchaftlich richtig geordneten Arbeit. Die kurze Lebens-
dauer und der geringe Umfang der individuellen Kräfte erlauben eine beſſere Ausbildung
der geiſtigen und körperlichen Fähigkeiten nur auf beſchränktem Gebiete.
Nur durch die Arbeitsteilung haben wir Denker und Dichter, Künſtler und Tech-
niker, geſchickte Handwerker und beſſere Ackerbauer erhalten; aller geiſtige und techniſche,
aller politiſche und organiſatoriſche Fortſchritt beruht auf ihr. Selbſt der mittelmäßig
Begabte erlangt durch jahrelange Übung virtuoſe Fähigkeiten; der Talentvolle erlangt
durch eine Erziehung und Einſchulung in einem beſtimmten Berufe körperliche und
geiſtige Fähigkeiten, die ans Wunderbare grenzen. Die Gewöhnung des Geiſtes und
der Aufmerkſamkeit, der Nerven und Muskeln an beſtimmte Funktionen erzeugt nun
eine leichtere Auslöſung der betreffenden Thätigkeit; ſie geſchieht zuletzt automatiſch, läßt
die geiſtige, bisher auf ſie verwendete Kraft zur Verfolgung weiterer damit in Zuſammen-
hang ſtehender Arbeitszwecke frei. Die ſteigende Geſchicklichkeit arbeitsteilig thätiger
Menſchen beruht weſentlich auf der Möglichkeit, bei derſelben Arbeit eine Reihe von
Geſichtspunkten zugleich und in richtiger Verbindung zu verfolgen. Was die Talente
[365]Der geſellſchaftliche Erfolg der Arbeitsteilung.
und Genies ſo mit Hülfe der Arbeitsteilung erſannen, das macht in der Folge als
objektive Arbeitsmaxime die Arbeit von Millionen fruchtbarer. Indem arbeitsteilige
Organe uns beſonders das abnehmen, was uns übermäßig viel Zeit und Mühe koſtet,
weil wir es nicht regelmäßig üben, was uns, wie die Beſtellung von Briefen, der
nächtliche Schutz unſeres Hauſes, nicht mehr Mühe macht, ob wir es für uns allein
oder für 10 und 100 Nachbarn zugleich beſorgen, entſteht eine geſellſchaftliche Zeit-
erſparnis ohnegleichen.
Der heutige Staat, die heutige Volks- und Weltwirtſchaft mit all’ ihrem Glanz,
ihrem Reichtum, ſie ſind ein Ergebnis der Arbeitsteilung. Die Exiſtenz eines neben-
einander beſtehenden regulierenden, produzierenden und verteilenden Syſtems von Or-
ganen, wie es Herbert Spencer ausdrückt, und alles Zuſammenwirken dieſer regierenden,
ſchaffenden und verteilenden Kreiſe, die Spaltung der regierenden in centrale und lokale,
in Specialzweige, in befehlende und ausführende Organe, die Abzweigung der wirtſchaft-
lichen Leitung von der regierenden in der Geſellſchaft, die Scheidung der liberalen Berufe
von den kirchlichen Funktionen, die Gegenſätze von Stadt und Land, von Gewerbe,
Handel und Landwirtſchaft, von Unternehmer und Arbeiter, kurz alles dieſes kompliziertere
Kulturleben iſt eine Folge der Arbeitsteilung. Durch ſie kommen alle Glieder einer
Geſellſchaft in immer größere Abhängigkeit von einander; die Vergeſellſchaftung wächſt;
oft wachſen auch die Konflikte und Reibungen; aber zuletzt müſſen die Löſungen gefunden,
die richtigen Verbindungen hergeſtellt werden. Inſofern liegt in der Arbeitsteilung der
Antrieb zum ſittlichen Fortſchritte, zu immer beſſeren Inſtitutionen. So oft die Völker
an dem Probleme ſtrauchelten, ſo viele darüber zu Grunde gingen, den fähigſten gelang
es. Die zunehmende Arbeitsteilung ging bei ihnen Hand in Hand mit dem intellek-
tuellen und moraliſchen Fortſchritte. Die Völker mit der größten Arbeitsteilung ſind
doch die an Macht, Größe, Bevölkerung, Reichtum, Ausbreitungsmöglichkeit erſten; ſie
ſind denen mit geringerer Arbeitsteilung überlegen, ſie bleiben die Sieger im welt-
geſchichtlichen Kampfe um den Erdball.
Aber dieſer große Erfolg für die Geſamtheit wird nicht ohne ſchwere Opfer für
einzelne Individuen und Klaſſen erreicht. Die Arbeitsteilung fordert von ihnen, daß
ſie ſich einzelnen Aufgaben anpaſſen, daß ſie vielfach ihre Eigenzwecke hintanſetzen hinter
die Thätigkeit für andere, für die Geſellſchaft; ſie fordert die komplizierten Kompromiſſe,
deren pſychologiſche Vorausſetzungen oft ebenſo ſchwer herzuſtellen ſind, wie ihre Durchführung
Körper und Geiſt ſchädigen. Seit es eine Arbeitsteilung giebt, haben die Klagen über
ſie vom individuellen Standpunkt nicht aufgehört. Zumal die neuen großen Fortſchritte
der Arbeitsteilung, deren richtige Begrenzung und Verſöhnung mit den Anſprüchen
individueller Ausbildung und harmoniſcher Lebensführung ſo vielfach noch nicht gefunden
ſind, haben ſie aufs neue geſteigert. Die Naturſchwärmerei Rouſſeaus und des ganzen
18. Jahrhunderts iſt ein Proteſt gegen die Arbeitsteilung. Schiller klagt, daß ſie den
an ein kleines Bruchſtück des Ganzen gefeſſelten Menſchen nur zu einem Bruchſtück
ausbilde, Hölderlin jammert, man ſehe heute nur Handwerker, Prieſter ꝛc., aber keine
Menſchen. Der ſocialiſtiſche Urquhart meint: einen Menſchen unterabteilen heißt ihn
hinrichten, wenn er das Todesurteil verdient hat, ihn meuchelmorden, wenn er es nicht
verdient hat; die Unterabteilung der Arbeit iſt der Meuchelmord eines Volkes. Engels
klagt, der erſte große Schritt der Arbeitsteilung, die Scheidung von Stadt und Land,
habe die Landbevölkerung zu jahrtauſendelanger Verdummung verurteilt; „indem die
Arbeit geteilt wird, wird auch der Menſch geteilt; der Ausbildung einer einzigen
Thätigkeit werden alle übrigen körperlichen und geiſtigen Fähigkeiten zum Opfer
gebracht“. Von der Maſchine und der modernen Technik hofft er Beſeitigung aller
Arbeitsteilung, wie er vom Verſchwinden des Gegenſatzes von Stadt und Land träumt.
Alle derartigen Vorwürfe gegen die Arbeitsteilung haben darin recht, daß ſie die
harmoniſche Ausbildung der menſchlichen Körper- und Geiſteskräfte als individualiſtiſches
Lebensideal betonen gegenüber der einſeitigen Thätigkeit in einem erſchöpfenden Lebens-
beruf; ſie haben auch darin recht, daß dieſes individualiſtiſche Lebensideal immer wieder
ſich geltend machen muß gegenüber den Anſprüchen der Geſellſchaft und den über-
[366]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
triebenen Geſtaltungen der Arbeitsteilung. Aber ſie irren hiſtoriſch und praktiſch, wenn
ſie glauben, das Individuum hätte vor der Arbeitsteilung dem Ideale eines gleichmäßig
ausgebildeten, körperlich und geiſtig vollendeten Menſchen näher geſtanden oder würde ihm
heute ohne ſie näher kommen. Es iſt ohne ſie ein Barbar, der ißt, trinkt und faulenzt;
wir wiſſen heute, daß alle Wilden dem tieriſchen Zuſtande viel näher kommen als die
gewöhnlichen Tagelöhner der Kulturſtaaten. Das Ideal einer harmoniſchen Ausbildung,
das wir in Gegenſatz ſtellen zur Arbeitsteilung, iſt eine nur in Gedanken zu voll-
ziehende Summierung deſſen, was durch ſpecialiſierte Ausbildung der Kräfte in den
verſchiedenſten Lebensberufen Hohes und Bedeutſames erreicht wurde. Es iſt unmöglich,
es auf eine Perſon zu häufen. Wohl aber iſt es die ſekundäre hiſtoriſche Folge der
vorübergehend einſeitigen Arbeitsteilung, daß ſpätere Zeitalter gewiſſe Stücke des ſo
erzielten techniſchen und geiſtigen Fortſchrittes, wie z. B. das Leſen und Schreiben, die
militäriſche Ausbildung, das Buchführen des Händlers, das äſthetiſche Gefühl des
Künſtlers in Form der Jugenderziehung oder in anderer Weiſe zu einem Teilinhalt
jedes Menſchenlebens zu machen ſuchen.
Die Arbeitsteilung ſchreitet, wie alles Menſchliche, durch taſtende Verſuche, durch
einſeitige Geſtaltungen und Ordnungen vorwärts. Die harten Intereſſenkämpfe drücken
auch ihr erſt zeitweiſe einen häßlichen Stempel auf; ganze Geſellſchaftsgruppen ſind durch
ſie, durch eine zu einſeitige körperliche oder geiſtige Arbeit ohne Gegengewicht verkümmert
oder verkrüppelt worden. Ihre bisherige Geſtaltung in manchen Fabriken iſt unzweifel-
haft gegenüber der älteren Geſtaltung, wie ſie im Bauernhaus und in der Handwerks-
ſtätte ſich fixiert hatte, für menſchliche Erziehung und Geſittung ein Rückſchritt. Aber
dieſe Geſtaltung iſt auch der weſentlichſten Umgeſtaltung fähig, ebenſo wie früher gewiſſe
Extreme der Arbeitsteilung wieder umgebildet oder gar ganz rückgängig gemacht wurden,
z. B. die Sklaverei. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß jede zu einſeitige Ausbildung und
Thätigkeit einer einzelnen körperlichen oder geiſtigen Funktion die Geſundheit des ganzen
Menſchen bedroht, und daß ſo zuletzt auch die Specialkraft gelähmt werden kann.
Aber deshalb iſt nicht jede Arbeitsteilung falſch, ſondern nur gewiſſe extreme Geſtaltungen
derſelben; ihre maßvolle mit Gegengewichten und Schranken umgebene Durchführung,
iſt das der beſchränkten individuellen Menſchenkraft adäquate; ſie iſt das Mittel, das
Individuelle und Wertvolle im Menſchen auszubilden. Deshalb ſagt Hegel mit Recht,
wer einen ſpeciellen Beruf ergreift, ergiebt ſich nicht dem Niedrigen, ſondern wird erſt
ein rechter Menſch. Und Goethe läßt mit Recht den titaniſchen Fauſt als Dämme
bauenden Landwirt, den äſthetiſierenden Wilhelm Meiſter als Wundarzt enden und
glücklich werden.
Es kommt bei jedem Schritte der Arbeitsteilung darauf an, wie er die Motive und
Zielpunkte menſchlicher Thätigkeit umgeſtalte und durch Veränderung des ganzen Lebens
und ſeines Inhaltes auf die Individuen zurückwirke, wie die unveräußerlichen Eigenzwecke
jedes Menſchen und die arbeitsteiligen Funktionen ſich vertragen, wie der Verluſt auf der
Seite der allgemeinen Ausbildung und vielſeitigen Thätigkeit ausgeglichen werde durch
die Thatſache, daß die einſeitige Specialarbeit den Menſchen doch in den Dienſt der
Geſellſchaft ſtelle, ihm neben harter Arbeit doch auch höhere Zwecke ſetze oder
wenigſtens ihn einfüge in ein Syſtem geſellſchaftlichen Zuſammenhanges und ſittlicher
Solidarität. Die Abrechnung zwiſchen dieſen beiden Konten kann dabei immer wieder
zeitweiſe zu Ungunſten des Individuums ausfallen; d. h. der geſellſchaftliche Fortſchritt
und die Arbeitsteilung iſt nicht möglich, ohne daß immer wieder zeitweiſe ihr einzelne
Individuen und Klaſſen geopfert werden.
Und daher wird ſtets von neuem der Antrieb entſpringen, die geſellſchaftlichen
Ordnungen ſo weit zu beſſern und zu korrigieren, daß die Zahl dieſer Opfer abnehme.
Aber es heißt, ſich auf den individualiſtiſchen ſtatt auf den geſellſchaftlichen Standpunkt
ſtellen, wenn die ſocialiſtiſche Theorie alle Arbeitsteilung aufheben, jeden Menſchen für
alle Berufe erziehen und ihn dann ſtunden-, tage-, monats- oder jahreweiſe allen
zuteilen will. Damit wird die menſchliche Natur und ihre Ausbildungsfähigkeit
gänzlich verkannt; es wird die Vererbung der menſchlichen Fähigkeiten überſehen; es
[367]Die Schattenſeiten der Arbeitsteilung, ihre Beſeitigung.
wird der Reichtum an Talenten grenzenlos überſchätzt. Eine ſolche Einrichtung bedeutete
einen ungeheuren Kräfteverluſt, die Nichtausnutzung aller eigentümlichen Begabungen
und Talente, die mittelmäßige Arbeit aller und die Vernichtung der größten Luſt-
gefühle, die mit der Thätigkeit im rechten Specialberuf gegeben ſind. Die Geſellſchaft
wäre in einen Taubenſchlag verwandelt.
Aber einen berechtigten Keim enthalten dieſe Vorſchläge, wie alle ſocialiſtiſchen
und individualiſtiſchen Anklagen gegen die Arbeitsteilung. Vor allem unſere Erziehung
muß nicht bloß die Specialgeſchicklichkeit, ſondern auch beim Arbeiter ſeinen Verſtand,
ſein techniſches Können im allgemeinen ausbilden; er wird dann auch leichter, wenn es
nötig iſt, von einem Beruf zum anderen übergehen können, ohne daß damit die
Arbeitsteilung aufhört.
Der heutige Fabrikarbeiter muß die entſprechende Zeit für ſeine Familienwirtſchaft
und ſeine Muße erhalten; ebenſo muß die verheiratete Arbeiterfrau mehr als bisher
ihrer Wirtſchaft, ihre Kinder müſſen der Schule und dem Spielplatz zurückgegeben werden;
die mechaniſche Arbeit für andere, für fremde Zwecke darf in der Jugend nicht zu früh
beginnen, im Alter nicht zu lange dauern; ſie muß möglichſt ſo geſtaltet werden, daß
der Arbeiter ſie als geſellſchaftlichen Zweck, als ſociale Pflicht begreift, Freude und
Verſtändnis für ſie haben kann; ſie muß durch genügenden Lohn, durch die Möglichkeit,
an Sparkaſſen, Kranken- und anderen Hülfskaſſen teilzunehmen, als ein gleichberechtigtes
Glied im Geſamtorganismus der Volkswirtſchaft anerkannt ſein. Sie muß in der
Erziehung, in der Schul- und Wehrpflicht, in der Geſelligkeit, im Vereinsweſen, in der
Teilnahme an Gemeinde-, Kirchen- und öffentlichen Angelegenheiten die entſprechenden
Gegengewichte erhalten. Dann wird die Arbeitsteilung nicht mehr von den Socialiſten
als der Meuchelmord des Volkes angegriffen werden können. Und ſo weit wir von
einem Ideal dieſer Art noch entfernt ſind, die Erkenntnis, daß die Grenzüberſchreitungen
der Arbeitsteilung rückgängig gemacht werden müſſen, iſt heute eine ziemlich verbreitete.
Man könnte ſagen, ein großer Teil der beſten Reformen unſerer Zeit, allgemeine Schul-
und Wehrpflicht, lokale Selbſtverwaltung, unbezahlte Ehrenämter, Geſchworenenthätigkeit,
Einführung von Vertretungen neben den Beamten in Gemeinde und Staat ſeien
Reaktionen gegen ein Übermaß der Arbeitsteilung, Verſuche, die harmoniſche Aus-
bildung mit ihr ins Gleichgewicht zu bringen.
5. Das Weſen des Eigentums und die Grundzüge ſeiner Verteilung.
- Die rechtsphiloſophiſche Litteratur (S. 48), die ſocialiſtiſche (S. 93—99), die ſocialreformatoriſche
und wirtſchaftsgeſchichtliche (S. 116—123, z. B. Maine, Schäffle, A. Wagner), die anthropo-
logiſche (S. 139), die kulturgeſchichtlich-techniſche (S. 187), die ſiedlungsgeſchichtliche (S. 254), endlich
die Litteratur über Dorf- und Grundherrſchaft, Gemeinde- und Staatswirtſchaft (S. 277—278) wieder-
holen wir hier nicht, ſo vielfach ſie auch in einzelnen Teilen hieher gehört, einzelne Seiten des
Eigentumsproblems erörtert. Es iſt ſomit hier nur einiges nachzutragen.
Allgemeines: Thiers, Propriété. Deutſch 1848. — - Leiſt, Über die Natur des Eigentums.
1859. — - Samter, Geſellſchaftliches und Privateigentum. 1877; — Derſ., Das Eigentum in ſeiner
ſocialen Bedeutung. 1879. — - Dargun, Urſprung und Entwickelungsgeſchichte des Eigentums. Z. f.
vergl. Rechtsw. 5. — - R. Hildebrand, Recht und Sitte auf den verſchiedenen Kulturſtufen. 1, 1896.
Altertum: B. Hildebrand, Die ſociale Frage der Verteilung des Grundeigentums im klaſſiſchen
Altertum. J. f. N. 1. F. 12, 1869. — - M. Weber, Die römiſche Agrargeſchichte. 1891.
Geſchichte der neueren Eigentumsverteilung: Laboulaye, Histoire du droit de propriété
foncière en Occident. 1839. — - Systems of land tenures in various countries. (Cobden Club)
1870. — - Cliffe Leslie, Land systems and industrial economy of Ireland, England and con-
tinental countries. 1870. — - Liebknecht, Zur Grund- und Bodenfrage. 2. Aufl. 1876. —
- v. Miaskowski, Das Erbrecht und die Grundeigentumsverteilung. 2 Bde. 1882—1884. —
- Scrutton, Commons and common fields. 1887. —
- Hasbach, Die engliſchen Landarbeiter und
die Einhegungen. 1894. — - Rachfahl, Zur Geſchichte des Grundeigentums J. f. N. 3. F. 19, 1900.
123. Begriff und Bedeutung. Das Eigentum primitiver Jäger-
und Hackbauſtämme. Wenn wir vom Eigentum und vom Eigentumsrecht ſprechen
wollen, ſo müſſen wir uns zunächſt alles deſſen erinnern, was oben (S. 51—55) über
[368]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
die Natur und Bedeutung des Rechtes überhaupt, über ſeine Entſtehung aus der Sitte,
über den notwendig formaliſtiſchen Charakter alles poſitiven Rechtes geſagt iſt. Das
Eigentumsrecht iſt gleichſam der Kernpunkt und das Centrum alles Rechtes, jedenfalls
alles Privatrechtes. Alle dergleichen Rechte und ein Teil des Familien- und Erbrechtes
ſind nur ein Anhängſel des Eigentumsrechtes. Ein erheblicher Teil des Obligationen-
und Strafrechtes ſtellt nur ein Mittel zur Durchführung der Zwecke des Eigentums-
rechtes dar.
Hätten wir nun das Eigentumsrecht vom Standpunkt des Juriſten zu erklären
und zu erörtern, ſo würden wir verſuchen, die hiſtoriſch-genetiſche Entſtehung des
Beſitzſchutzes, der Prozeßformen, kurz des formaliſtiſchen Geſellſchaftsapparates zu
ſchildern, deſſen Funktionen die äußere Ausbildung des Eigentumsrechtes ermöglichen.
Dieſe Aufgabe müſſen wir dem Juriſten und Rechtsphiloſophen überlaſſen; wir haben
uns vom geſellſchaftswiſſenſchaftlichen und volkswirtſchaftlichen Standpunkt aus klar zu
werden, wie, an welchem Stoffe, unter welchen Verhältniſſen das Eigentumsrecht
entſtanden ſei, was für Folgen ſocialer und wirtſchaftlicher Art ſich daran knüpften,
wie es ſich in ſeinen Grundzügen auf Staat, andere Korporationen, Familien und
Individuen verteilt habe, was es in ſeinem innerſten Kern bedeute. Und wenn wir
dabei zu dem Reſultat kommen werden, das Eigentumsrecht ſei der Inbegriff der
rechtlichen Regeln, welche die Nutzungsbefugniſſe und die Nutzungsverbote der Individuen
und der ſocialen Organe untereinander in Bezug auf die materiellen Objekte der Außen-
welt feſtſetzen, ſo liegt darin ſchon die ganze Tragweite des Eigentumsrechtes angedeutet
und ebenſo ſeine doppelte Funktion: das Eigentumsrecht iſt in ſeiner äußeren Funktion
eine Schranke, um den Streit zu hindern, beſtimmte Bethätigungsſphären abzugrenzen;
es iſt ſeiner inneren Funktion nach Geſellſchaftsordnung, d. h. eine Inſtitution, welche
Individuen, Familien, Genoſſenſchaften, Gemeinde und Staat zu beſtimmtem Zuſammen-
wirken veranlaßt und nötigt.
Es mag ſehr ſchwer erſcheinen, hier in kurzen Strichen die Grundzüge der
Eigentumsverteilung vorzuführen, ohne vorher die Einkommenslehre vorzutragen, ohne
auf die ganze Rechtsgeſchichte des Grund- und beweglichen Eigentumes einzugehen.
Aber da an dieſer Stelle vom Eigentum geredet werden muß, als einem der Eckſteine
des volkswirtſchaftlichen Lebens, als einer Vorausſetzung der geſellſchaftlichen Klaſſen-
bildung und der Unternehmung, wie ſie heute die Volkswirtſchaft charakteriſiert, ſo
müſſen auch die thatſächlichen und hiſtoriſchen Verteilungserſcheinungen kurz dargeſtellt
werden, weil ohne ihre Kenntnis alles Reden über das Eigentum ins Blaue und
Nebelhafte geht. Einzelne Ergebniſſe des folgenden Buches, welches den Verteilungs-
prozeß darſtellt, müſſen dabei ſchon hier vorweggenommen werden. —
Sobald es eine Geſellſchaft gab, mußte auch eine gewiſſe, wenn auch noch ſo
primitive Ordnung der Nutzung des Bodens, des Beſitzes an Geräten, Gebrauchs-
gegenſtänden und Nahrungsmitteln vorhanden ſein. Man behauptet wohl, daß es bei
den roheſten Stämmen keinen Beſitzſchutz gebe, daß Kleider und Geräte ſcheinbar ohne
Gegengabe von einem Individuum zum anderen übergingen, daß jeder Stammesgenoſſe
bei den anderen unbegrenzte Gaſtfreundſchaft finde. Aber das ſind mehr Beweiſe für
die Wertloſigkeit aller Habe unter beſtimmten Verhältniſſen, als für das Fehlen jedes
Eigentumsbegriffes. Ein ſolcher ſpringt deutlich in die Augen, wenn wir hören, daß
ſelbſt der roheſte und ärmſte Wilde ſeine Waffen und Werkzeuge als ihm gehörig
anſieht, daß dann bei beginnender Differenzierung der Geſellſchaft Vornehmen ihre
Waffen, ja ſpäter ihre Weiber und Sklaven ins Grab mitgegeben werden, daß Fürſten
in ihren Paläſten begraben, und die letzteren für immer mit ihren Schätzen verlaſſen
werden. Ein gewiſſer Eigentumsſchutz wurde überhaupt den Göttern und Häuptlingen,
auch den Prieſtern eher zu teil, als anderen Menſchen. Aber auch für ſie fehlte er
nicht. Wir ſehen jedenfalls bei Jägern und Hackbauern, daß teils der Stamm und
die Gens, teils die Mutter mit ihren Kindern und die Individuen zu beſtimmten
Teilen der Außenwelt in ausſchließliche Beziehung gebracht, als ausſchließliche Nutzungs-
und Verfügungsberechtigte betrachtet werden. Wo die Horden und Stämme lagern, Quellen
[369]Das Eigentum der Jäger- und Hackbauſtämme.
benutzen, ſich etwas länger aufhalten und jagen, da achten ſie für gewöhnlich den gegen-
ſeitigen Beſitzſtand, da werden natürliche Grenzmarken zwiſchen ihnen als Verbote
angeſehen, die wirtſchaftliche Nutzung darüber hinaus in Anſpruch zu nehmen. Der
auf einem Jagdgebiet verwundete, in einem anderen fallende Elephant gehört am
Zambeſi mit ſeiner unteren Hälfte dem Häuptling des letzteren. Die Betſchuanen geben
den Buſchmännern noch heute Teile ihres Jagdertrages für die längſt vollzogene
Abtretung von Jagdgründen. Im übrigen entſcheidet zwiſchen feindlichen Stämmen,
zwiſchen ſolchen, denen die Weidegründe und Ackerſtellen zu ſchmal und zu klein
geworden, natürlich die Gewalt der Waffen. Der ſtärkere Stamm ſiegt, aber er ſieht
in dieſem Siege auch die rechtliche Legitimation auf Verdrängung und Knechtung der
Unterworfenen. Gewalt und Kraft, kriegeriſche Tüchtigkeit entſcheidet ſo, nicht ein Fatum,
das unabhängig wäre von den Eigenſchaften der Menſchen.
Innerhalb des Stammes aber wird, ſo lange Grund und Boden in Fülle vor-
handen iſt, jede zeitweilige Beſitzergreifung für den Bau einer Hütte, den Anbau eines
Feldes geachtet. Erſt wo es an Raum zu fehlen beginnt, ſtellt ſich die Verteilung
und Abgrenzung durch die Stammesorgane ein, die entweder an die Zwecke und
Bedürfniſſe des Stammes oder an die perſönlichen, von dem Stamme bereits geachteten
und anerkannten Unterſchiede der Führer, der Krieger, der Prieſter von den übrigen
Stammesgenoſſen anknüpft; ſie wird nirgends weſentlich auf Gewalt beruhen. Es iſt
ganz allgemeiner Grundſatz, daß kein Individuum, keine Gens, keine Familie die andere
aus der occupierten oder zugewieſenen Stelle vertreiben darf; oft iſt rechtens, daß erſt
nach zweijähriger Nichtbenutzung ein anderer dieſelbe Stelle für ſich in Anſpruch nehmen
kann. Als Inhaber dieſes Verbotsrechtes der Störung erſcheinen bald die Verwandt-
ſchaftsgruppen, bald die Individuen, die das Feld bebauen. Und ſofern es bei den
am niedrigſten ſtehenden Stämmen mehr die letzteren als die erſteren ſind, hat man
auch bezüglich des Bodens behaupten können (Dargun), das rein individuelle Eigentum
ſtehe am Beginn aller wirtſchaftlichen Entwickelung, nicht das Kollektiveigentum.
Jedenfalls viel richtiger als für den Boden iſt das für Werkzeuge, Waffen, Kleider,
Nahrungs- und Genußmittel. Bei den roheſten Stämmen ſorgt zunächſt jeder Mann
und jede Frau für ſich, ſucht Nahrung, wie jedes ſie findet, und behält, was es hat.
In den langen Zeiträumen, in welchen der Kampf mit den wilden und eßbaren Tieren
im Vordergrund ſtand, war der ſtarke, kampfgeübte Jäger, der Mann, der die beſten
Waffen herſtellte, zugleich der, welcher den erheblichſten Beſitz ſein nannte. Niemand
beſtritt ihm, was er sudore et sanguine erworben. Für die gemeinſame Jagd mehrerer
bilden ſich feſte, Eigentum erzeugende Teilungs- oder Zuweiſungsgrundſätze: iſt das
Renntier von mehreren Pfeilen getroffen, ſo gehört es dem, deſſen Pfeil dem Herzen
am nächſten ſitzt; bei den Sioux und Comanches erhält bei gemeinſamer Jagd der
Erleger das Fell, als den wertvollſten Teil, das Fleiſch wird gleich geteilt.
Der individuelle, freilich meiſt noch unbedeutende Beſitz, der den Männern nicht
ins Grab mitgegeben wird, erfährt im Erbfall eine verſchiedene Behandlung. Er fällt
teils an die Gens, teils an die Kinder der Schweſtern. Es giebt auch vereinzelte
Stämme, bei welchen die bewegliche Habe nach dem Tode des Mannes geplündert wird.
Daß Frau und Kinder darauf kein Recht haben, ſolange Mutterrecht beſteht, iſt wohl
begreiflich, während umgekehrt der bewegliche und ſonſtige Beſitz der Mutter, ſo weit
wir ſehen, ſtets auf ihre Kinder überging.
Alſo ausſchließliche Nutzungsrechte der Stämme und Gentes, weitgehende Beſitz-
anerkennung, Erbrecht ſind ſchon auf dieſen älteſten Stufen menſchlicher Wirtſchaft vor-
handen; ohne ſie iſt ein geordneter Friedenszuſtand nicht denkbar.
124. Das Sklaven- und Vieheigentum der älteren Ackerbauer
und Hirten. Mommſen hat von den Römern geſagt, was man in richtiger
Begrenzung von den meiſten Raſſen und Völkern behaupten kann: das Eigentum habe
ſich nicht an den Liegenſchaften, ſondern zunächſt am Sklaven- und Viehſtand entwickelt.
Mommſen meint natürlich damit nicht die Anfänge eines Beſitzſchutzes und ausſchließ-
lichen Nutzungsrechtes in irgend welcher Form, ſondern das individuelle Eigentum in
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 24
[370]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſeiner ſchärferen Geſtaltung und breiteren Ausdehnung, mit ſeiner relativ wenig
beſchränkten Verfügungsgewalt. Dieſe hat freilich zuerſt nur für das Vieh beſtanden;
die Herrſchaft des Menſchen über den Menſchen war lange kein wirkliches Eigentum,
ſondern ein familienhaftes Rechtsverhältnis.
Daß das ältere Sklavenrecht ein Teil des Familienrechtes war, dem Familien-
vater über den Sklaven kaum andere Rechte gab, als über Frau und Kinder, ſahen
wir. Das ſpätere harte, zum wirklichen Eigentum führende Sklavenrecht war die Folge
der Ausweitung der Familien zu herrſchaftlichen unternehmerartigen Organiſationen,
welche nur unter der Vorausſetzung dieſer Herrſchaft in jenen Zeiten techniſch und
wirtſchaftlich Großes leiſten konnten. Aber die Möglichkeit dieſes zur Entartung
führenden Sklavenrechtes bot doch in erſter Linie die ethniſche Verſchiedenheit: die Herren
ſtammten im ganzen aus der höheren, die Sklaven aus der niederen Raſſe. Nie und
nirgends hat es ſich in der Hauptſache und dauernd ſo verhalten, daß kulturell gänzlich
Gleichſtehende ſich als Herren und Sklaven gegenüber, daß im Durchſchnitt die Herren tiefer
ſtanden. Ihre Wurzel lag in perſönlichen Verſchiedenheiten, ſowie in dem Bedürfnis großer
herrſchaftlicher Organiſation; dazu kam dann das Zurücktreten der älteren familienhaften
Rechtsſchranken, wodurch allerdings das ganze Verhältnis zum Unrecht nach und nach
wurde. Das ſpätere Sklavenrecht iſt die falſche Übertragung einer für Tiere und Sachen
paſſenden und entſtandenen Inſtitution auf Menſchen. Dieſe Art des Eigentums
mußte wieder verſchwinden; ſie that es allerdings erſt, nachdem ſie viel Unheil geſtiftet,
vorübergehend aber zugleich die Rolle eines weitreichenden herrſchaftlichen Bandes und
Organiſators roher Menſchen für große techniſche und wirtſchaftliche Zwecke geſpielt hatte.
Die urſprüngliche Entſtehung des Vieheigentumes knüpft an die oben (S. 196
bis 197) beſprochene Viehzähmung an. Die Hypotheſe über ſie, welche E. Hahn aufſtellt,
weiſt darauf hin, daß urſprünglich die Rinderherden eine Art geheiligten Stammes-
eigentums dargeſtellt haben. Auch Meitzen nimmt an, daß bei den keltiſchen Viehweide-
genoſſenſchaften das Rindvieh teils dieſen, teils den einzelnen gehört hätte. Im übrigen
können wir in hiſtoriſcher Zeit und in der heutigen beſchreibenden Reiſelitteratur keine
Beiſpiele des Stammes- oder Sippeneigentums an Vieh finden. Der verbreitete Viehbeſitz
erſcheint überall als ein perſönlicher; und ich glaube, wir können annehmen, das beruhe
auf der Thatſache, daß in aller älteren Zeit die perſönliche Kraft und Geſchicklichkeit des
einzelnen Mannes am beſten ſolches Eigentum pflegen, erhalten und vermehren konnte.
Der Mann allein konnte mit dem Stier und der Kuh, dem Pferd und Kamel fertig
werden, ſie bändigen, ſchlachten; er beſorgt bei allen primitiven Stämmen das Vieh.
Schon den Kindern wird bei den afrikaniſchen Hirtenſtämmen ein Schaf oder ein Kalb
geſchenkt. Bei vielen Nomaden wird der erwachſene mannbare Sohn mit ſo viel Vieh
ausgeſtattet, daß er exiſtieren und ſich eine Frau kaufen kann. Wir ſehen überall mit
dem Viehbeſitz die Vermögensungleichheit beginnen. Im Eraniſchen heißt der König
Hvánthwa, d. h. der mit guter Herde Verſehene. Die demokratiſch kriegeriſche Rechts-
gleichheit der höher ſtehenden Indianerſtämme beruht auf der Abweſenheit des Vieh-
beſitzes. Unter den älteſten Semiten und Indogermanen finden wir ſchon Reiche und
Arme; ihre Häuptlinge ſind, wie heute die afrikaniſchen, ſtets die reichen Viehbeſitzer.
Und wenn der wohlhabende Herero nach der Schilderung Büttners ſein Vieh bei möglichſt
vielen verſchiedenen Stammesmitgliedern leihweiſe unterbringt, wenn bei den Kaffern
jeder Beſitzloſe ſich zum Hofe und Dienſt des Häuptlings drängt, der ſchon als Führer
der Viehraubzüge die größten Herden hat, und für ſeine Dienſte Viehbelohnung erwartet,
ſo laſſen uns die älteſten Nachrichten über Viehbeſitz und Viehkreditgeſchäfte bei den
Juden und Indern, neuerdings die anſchaulichen Bilder der älteſten iriſch-keltiſchen
Zuſtände, wie ſie Maine aus den Brehon-laws entwickelt, erkennen, wie wir uns die
Eigentumsverfaſſung ſolcher Stämme zu denken haben, deren wichtigſter Beſitz noch
das Vieh iſt.
Der keltiſche Häuptling giebt dem ihm etwa an Rang gleichſtehenden aber beſitz-
loſen Volksgenoſſen einige Stücke Vieh, wofür er ihm ſieben Jahre lang Kalb und
Milch liefern und gewiſſe Gefolgsdienſte leiſten muß; dem tiefer ſtehenden werden
[371]Das Sklaven- und Vieheigentum.
größere Dienſte und Abgaben auferlegt, die bis zum Tode des Häuptlings dauern; der
rechtloſe Flüchtling, der mit dem Vieh und der Landparzelle Schutz und Sicherheit
erhält, wird den ſchwerſten Laſten unterworfen. Maine hat wohl Recht, daß die
Stellung der keltiſchen Equites, welche nach Cäſar auf der Zahl ihrer Schuldner beruhte,
der attiſchen Eupatriden, der römiſchen Patricier gegenüber den Klienten auf Derartiges
zurückzuführen ſei. Die neueſte Hypotheſe Meitzens, welche auch R. Hildebrand zur
Grundlage ſeiner älteſten germaniſchen Social- und Wirtſchaftsgeſchichte gemacht hat,
daß die Germanen des Tacitus aus einer kleinen Zahl reicher Viehbeſitzer und einer
großen ärmerer Ackerbauer beſtanden hätten, gehört, wenn ſie ſich als richtig erweiſt, in
dieſen Zuſammenhang. Jedenfalls iſt ſicher, daß eine ſtarke Ungleichheit des Viehbeſitzes
überall die Klaſſengegenſätze vermehrte, daß ſie geeignet war, Schuld- und Abhängigkeits-
verhältniſſe zu erzeugen, die alte mehr demokratiſche Geſellſchafts- und Wirtſchafts-
verfaſſung zu bedrohen oder aufzulöſen.
Wie ſollen wir uns aber den erſten Anfang des ungleichen Viehbeſitzes denken?
Die Ungleichheit mag vielfach durch Raub bei anderen Stämmen ſich geſteigert haben;
aber die Anführer der Viehraubzüge waren eben die Tapferſten, die Klügſten. Und
innerhalb des Stammes gab es keinen ſolchen Raub. Zufällige Schickſale, Viehſterben
mögen noch ſo ſehr eingegriffen haben; im ganzen müſſen aber doch diejenigen größere
Herden bekommen haben, die ſie am beſten zu behandeln wußten, oder die für höhere
Dienſte und Leiſtungen Viehgaben erhielten, wie Prieſter, Gefolgsleute, treue Diener.
Wir können uns ohne Rückgriff auf dieſe perſönlichen Unterſchiede keine Entſtehung der
Beſitzungleichheit denken. Sobald ſie dann eine Zeit lang beſtanden hatte, gab natür-
lich der größere Beſitz eine Überlegenheit, eine ſociale Stellung, die unabhängig von
perſönlichen Eigenſchaften ſich geltend machen konnte. Alle größeren Viehbeſitzer werden
weiterhin bei der Verteilung der Äcker und Weiden größere Teile zugewieſen erhalten
haben. Aber nur pſychologiſche und hiſtoriſche Unkenntnis kann leugnen, daß auch in
dieſer Phaſe der Entwickelung die Bevorzugten die klügſten, die tapferſten, die wirt-
ſchaftlich höchſt ſtehenden Glieder ihrer Stämme im Durchſchnitt waren und lange
blieben. Wir kommen damit zur Grundeigentumsverteilung zurück.
125. Die ältere Grundeigentumsverfaſſung der Ackerbau- und
Hirtenvölker, einſchließlich der antiken. Alle alten Völker und Stämme
mit Viehbeſitz haben bei getrenntem Vieheigentum eine genoſſenſchaftlich organiſierte
Pflege und Ernährung des Viehes gehabt (ſiehe S. 198): den Sippen und
Viehweidegenoſſenſchaften wurden von den Stammesobrigkeiten die Gebiete und Weide-
flächen zugeteilt. Soweit daneben gar kein oder nur ein geringer Ackerbau ſtattfand,
konnte man den Geſchlechtern und Familien es frei überlaſſen, die nötigen Stellen in
Beſitz zu nehmen; ſobald Raummangel eintrat, wurde auch hier eine Zuweiſung und
Anerkennung des occupierten Feldes durch die Organe des Stammes oder der Sippen
nötig. Je nach der definitiven oder vorübergehenden Seßhaftigkeit, je nach dem Stande
der landwirtſchaftlichen Technik (Brennwirtſchaft, wilde Feldgraswirtſchaft ꝛc.) werden die
Ackerſtellen nur als jährliche, oder als mehrjährige oder als Zuweiſung auf Lebenszeit
gegolten haben. Der weitaus größte Teil des Gebietes wurde in älteren Zeiten
gemeinſam als Wald und Wieſe genutzt, ſtand alſo im gemeinſamen Eigentum des
Stammes oder ſeiner Unterverbände. Lamprecht ſchätzt die Allmenden des Trierſchen
Landes noch im 18. Jahrhundert auf die Hälfte des Gebietes.
Die weitere Entwickelung konnte nun aber ſehr verſchieden ſein. Es kann bei
Bodenüberfluß und wenig ſtraffer Organiſation aus ſolcher Feſtſetzung der Sippen und
Familien ſich ohne Zwiſchenglied das individuelle oder Familieneigentum an Grund
und Boden dadurch entwickeln, daß eine ſeit Generationen nicht geſtörte Nutzung ſich
in die rechtliche Vorſtellung eines ausſchließlichen Nutzungs- und Verfügungsrechtes der
Inhaber umſetzt, während die Vorſtellungen über ein Obereigentum der Gentes und des
Stammes ſich verflüchtigen, beziehungsweiſe einerſeits in das Eigentumsrecht des Königs
über gewiſſe Teile der Gebiete, andererſeits in das ſtaatsrechtliche Territorialrecht am
Gebiete ſich umbilden. Das iſt aber wenigſtens für die höher ſtehenden Raſſen und Stämme
24*
[372]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
nicht das Gewöhnliche. Bei ihnen ſehen wir aus dieſen älteſten periodiſchen Nutzungs-
rechten an Ackerſtellen und dem älteren Stammes- oder Gentileigentum an dem übrigen
Lande verſchiedene Formen des Gentil-, Gemeinde- und Familieneigentums entſtehen,
die erſt nach einer Entwickelung von Jahrhunderten in ein überwiegend individuelles,
freies Eigentum übergehen. Es ſind immer gewiſſe gemeinſame Thätigkeiten, geſell-
ſchaftliche Organiſationen, die das bedingen. Das Kollektiveigentum wird für lange
Zeiten das weſentliche Inſtrument höherer politiſcher und ſocialer Organiſation, das
Mittel ſocialer Zucht. Gemeinbeſitz und Feldgemeinſchaft ſind für lange die begleitenden
Erſcheinungen des Häuptlings- und Königtums, der Militärverfaſſung, des beſſeren
Ackerbaues und der höheren Kultur überhaupt.
Hauptſächlich an die Geſchlechterverfaſſung und die aus ihr folgenden genoſſen-
ſchaftlichen Einrichtungen ſchließt ſich das kollektive Grundeigentum an. Die Männer
einer Gens roden den Weibern ihrer Sippe, die das Feld beſtellen wollen, im voraus,
ehe der Wohnſitz weiter verlegt wird, die künftigen Felder gemeinſam, wie ſie gemeinſam
die Jagd, den Schiffsbau, den Hausbau betreiben. Die Weiber beſtellen das Feld
teils iſoliert, teils unter gegenſeitiger Hülfe und in Gemeinſchaft. Kriegeriſche Stämme
oder deren Gentes ſammeln vor den Kriegszügen gemeinſame Vorräte; damit ver-
knüpft ſich teilweiſe gemeinſame Beſtellung und Ackerarbeit der Männer, teilweiſe gleich-
mäßiger Zwang zum Anbau, um beſtimmte Teile der Ernte in die Vorratshäuſer
des Stammes liefern zu können. Gemeinſame Mahle nach der Ernte, aber auch fürs
ganze Jahr knüpfen ſich teils an die gemeinſame Beſtellung, teils an die Natural-
abgaben der Einzelwirtſchaft. Bei manchen Stämmen iſt die gemeinſame Beſtellung
und Ernte mit einer gleichen oder nach Rang und Würde ſich vollziehenden Teilung
nach der Ernte verbunden. Wo die gemeinſame Beſtellung üblich wird, da erſcheint
der ſo beſtellte Acker als Eigentum der Gens, des Dorfes, unter Umſtänden, bei
geſteigerter Centralgewalt, als Eigentum des Häuptlinges oder des ganzen Stammes.
Wo der Zwang zu Abgabenlieferung ſich ausbildet, da wird es Sitte, daß der Häuptling
den einzelnen die Loſe zuweiſt, je nach der getriebenen Wirtſchaft in jährlichem oder
mehrjährigem Wechſel. Für alle dieſe Fälle laſſen ſich bei Waitz, Klemm, Dargun,
Laveleye-Bücher, Ratzel und anderen zahlreiche Beiſpiele anführen. Die von Cäſar
geſchilderte Ackerbeſtellung der Sueben, wobei jährlich die Hälfte der Männer in den
Krieg zieht, die andere den Acker beſtellt, gehört hieher, wie die ähnliche Einrichtung
der Böhmen in den Huſſitenkriegen. Wo aus ſolchen Verhältniſſen heraus eine
kriegeriſche Despotie ſich ausbildete, konnte bei einer gewiſſen Kulturhöhe der Gedanke
eines allgemeinen Staats- oder Stammeseigentums ſiegen. Ein Beiſpiel hiefür ſcheint
die peruaniſche Bodenverfaſſung zu ſein, welche mit der alten ägyptiſchen, ſoweit wir
ſie kennen, Ähnlichkeit hat. Von dem peruaniſchen Lande war ein Drittel dem Volke,
ein Drittel den Tempeln und ein Drittel dem Herrſcherhauſe der Inka zugewieſen; das
Heer wurde von den Inkas unterhalten, die zwei Drittel öffentlichen Eigentums (das
Tempel- und das Königsgut) wurden ebenfalls vom Volke in Fronarbeit beſtellt; den
einzelnen Familien wurde ihr Landanteil in jährlicher Neuverteilung nach der Zahl
der Kinder zugewieſen.
Am leichteſten konnte der allgemeine Gedanke, daß das Grundeigentum der
Geſamtheit gehöre, daß es in ihrem Intereſſe verteilt werden müſſe, daß der Staat
ſtets wieder durch Neueingriffe die richtige Verteilung herbeizuführen habe, ſiegen:
1. in gemeindeartigen Kleinſtaaten von wenigen Quadratmeilen, 2. in Bezug auf
eroberten Grund und Boden, und 3. gegenüber relativ gleichartigen Bodenflächen, deren
weſentlicher Wert von gemeinſam hergeſtellten Bewäſſerungen abhing, wie in Ägypten.
In Rom hat Generationen hindurch die Bauernpolitik der plebs rustica es durchgeſetzt,
daß auf dem eroberten Boden jedem jüngeren Sohne eine Hufe zugewieſen wurde. Auch
die ſo oft im Altertum aufgeſtellte Forderung neuer Landteilungen und gewiſſer
Schranken des privaten Landbeſitzes und des auf die Gemeinweide zu treibenden Viehes
gehört hieher. Doch iſt bekannt, daß dieſe Wünſche bei intenſiverer Landwirtſchaft,
höherer Kultur und Kapitalverwendung, in den größeren Staaten mit komplizierter
[373]Die älteſte Grundeigentumsverfaſſung, einſchließlich der der antiken Welt.
Agrarverfaſſung immer weniger durchführbar waren. Alle beſſeren Ackerbauer, oft auch
die kleinen, fürchteten bei ſolchen Maßregeln mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Und
vollends die größeren Vieh- und Grundbeſitzer ſtemmten ſich mit Energie gegen die
Neuverteilung. Sie hatten ſtets die Gemeinweiden ſtärker in Anſpruch genommen, ſie
hatten, wie wir von den Römern wiſſen, vom eroberten Lande größere Striche occupiert,
auch durch Kauf ihre Beſitzungen abgerundet; die billige Sklavenarbeit und die höhere
landwirtſchaftliche Technik der großen Beſitzer begünſtigte dieſe in Judäa, in Griechen-
land und Italien gleichmäßig ſich vollziehende Bewegung einer raſchen Anſammlung
großen Grundeigentums.
M. Weber hat uns in einer geiſtreichen Unterſuchung zu zeigen geſucht, wie an
Stelle der alten römiſchen Hufenverfaſſung mit Feldgemeinſchaft die Großgrundbeſitzer,
welche zugleich Kaufleute waren, die unbedingte Freiheit des Bodenverkehrs herbeiführten,
wie ſie die Kleinbeſitzer bewucherten, die neuen Eroberungen freilich teilweiſe mit den
nach Land hungrigen Kleinbeſitzern teilten, im ganzen aber doch vor allem für ſich
auf dem ager publicus freie Beweidung und Occupation mit einer niemals ſeither
wieder erreichten Nacktheit des Klaſſenegoismus durchſetzten. Sie haben die Landanſprüche
der kleinen Leute immer wieder zu hemmen, die Geſetzes- und Verwaltungsanläufe nach
dieſer Richtung zu nichte zu machen gewußt. Sie haben ſo zu dem Zuſtande geführt,
den der große Hiſtoriker mit den lapidaren Worten bezeichnet: latifundia perdidere
Romam. Sechs Perſonen beſaßen die Provinz Afrika. In dem ſpäteren Stadium
hätten Landteilungen auch nichts mehr genützt; ſie hätten aus verlumpten ſtädtiſchen
Proletariern keine Bauern mehr machen können.
Wenn ſo die glänzendſte, wirtſchaftlich tüchtigſte Ariſtokratie der Welt durch
Freiheit des Grundeigentums, Wucher, Eroberung, Sklavenwirtſchaft, Spekulation und
harten Egoismus ihren Reichtum vergiftete, ſo endeten ſie doch als Grundherren, die
ihren halbfreien Kolonen das Land überlaſſen mußten, weil die Sklavenwirtſchaft zu
teuer wurde. Damit entſtand eine neue, wieder geſundere Verteilung des Grundeigen-
tums, wie ſie die Regierung, weder die patriciſche der ſpäteren Republik, noch die demo-
kratiſche des Principats, unmöglich hätte durchführen können. Die Aufgabe einer plötzlichen
Neuverteilung des Grundeigentums wird in Ländern alter Kultur, dichter Bevölkerung
immer weniger durchführbar.
Wo in ſpäterer Zeit und in größeren Staaten die Rechtsvorſtellung vom Eigen-
tume des Staates an allem Grund und Boden wieder auftritt, da hat ſie nie wieder
ſo weitgehende Reſultate erzeugt wie in Ägypten und Peru; es war ja in den größeren,
komplizierteren Staaten der ſpäteren Zeit auch unendlich viel ſchwieriger, ſie praktiſch
durchzuführen. So verflüchtigte ſie ſich z. B. im Islam frühe in ein Beſteuerungsrecht
des Staates, oder ſie wurde, wie im normanniſchen Lehnsſtaate, zu einem allgemeinen
Rechte des Staates, die Beſitzordnung zu regulieren. In dieſer Form aber iſt ſie auch
ſpäter und bis heute immer wieder aufgetreten, und ſteht ihr eine fernere Zukunft bevor.
Die zwei Tendenzen 1. eines zunehmenden Individualeigentums am Grund und Boden
im Intereſſe des techniſchen Fortſchrittes und im Anſchluß an die Eigenſchaften wirt-
ſchaftlicher Tüchtigkeit und techniſcher Fähigkeit und 2. die Unterordnung alles Privat-
eigentums, ſeiner Größe, ſeiner Veräußerlichkeit, Verſchuldbarkeit und Vererblichkeit
unter die Geſamtintereſſen des Staates haben immer wieder ſich vertragen müſſen, in
irgend welcher Form wieder Kompromiſſe geſchloſſen.
126. Die Ausbildung des neueren kleinen und großen Grund-
eigentums. Wir haben oben die Ausbildung der weſteuropäiſch-mittelalterlichen
Dorfgenoſſenſchaft und der Grundherrſchaft geſchildert (S. 287—293). Damit hängt die
Grundeigentumsentwickelung aufs engſte zuſammen; ſie begreift eine ältere, ſtärkere,
auf kleine und mittlere Ackernahrungen gerichtete und eine ſpätere, ariſtokratiſche, den
größeren Beſitz erzeugende Bewegung in ſich.
In ſämtlichen germaniſchen Staaten finden wir, daß mit der Seßhaftigkeit, dem
Siege des Ackerbaues, ganz überwiegend Landbeſitzungen und Höfe entſtehen, welche den
Zweck haben, eine Familie von 5—18 Perſonen zu ernähren und zu beſchäftigen, ſie
[374]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
auch für die gemeinſam zu tragenden Laſten kräftig genug zu machen; ſtets iſt im ſelben
Dorfe eine Beſitzung genau ſo groß wie die andere; in den verſchiedenen Gegenden ſind
ſie je nach Bodengüte und Wirtſchaftsart verſchieden groß; alle ſind ſpannfähig, ermög-
lichen die Haltung von 2, 4 oder 8 Pferden. Jede umfaßt die Hausſtelle, den Hof, das
nahe gelegene Gartenland als feſtes Eigentum, das zugewieſene, in den Gewannendörfern
im Gemenge liegende Ackerland als feſtes, erbliches Nutzungsrecht, endlich das Mit-
benutzungsrecht von Wald und Weide, von Fiſchwaſſer und Jagd als ideellen Anteil an
der Allmende, an dem mark- oder dorfgenoſſenſchaftlichen Gemeinbeſitz. Der geſamte Beſitz.
heißt, wie wir ſchon ſahen, die Hufe, engliſch hide, er umfaßt 15—50 ha, wovon im
Anfange und auf beſſerem Boden meiſt nur 8 ha unter dem Pfluge waren.
Wenn offenbar von Anfang an da und dort Mehrhufner vorkommen, d. h. An-
geſehenen mehrere Hufen ſchon bei der erſten Verteilung zugewieſen wurden, wenn früh
die Halb- und Viertelhufner durch Erbteilung entſtanden, und ſie in vielen Gegenden
bereits im 16. Jahrhundert die Mehrheit ausmachen, ſo iſt doch der ganz überwiegende
Charakter der Hufenverfaſſung der der Gleichheit, das dauernde Vorherrſchen von ſpann-
fähigen Beſitzungen, die ihren Mann voll ernähren und beſchäftigen. So lange über-
flüſſiger Boden in Menge vorhanden war, hat man den jüngeren Söhnen die Errichtung
neuer Hufen geſtattet. Aber als dies nicht mehr möglich war, hat man in den meiſten
germaniſchen Ländern doch auf Erhaltung der Hufenverfaſſung, d. h. ſpannfähiger Nah-
rungen hingewirkt. Sie lagen im Intereſſe des öffentlichen Kriegsdienſtes (die karo-
lingiſche Heeresverfaſſung baute ſich auf ihr auf), wie ſpäter der Grundherren. Die
Familie verwuchs mit der Hufe; gewiſſe Schranken hinderten die Teilung und Ver-
äußerung; es bildete ſich nach und nach das beſondere bäuerliche Individualerbrecht
mit Bevorzugung eines Erben aus. Die ganze Inſtitution ruhte auf dem Gedanken
des Familieneigentums, der Hufe als normaler Wirtſchaftseinheit, die durch den Lauf
der Generationen erhalten werden ſollte. Und die Wirkung war im ganzen eine ſo
ſtarke, daß trotz der mannigfachſten Wandlungen, Bevölkerungszu- und -abnahmen,
Bauernbedrückungen und -beraubungen in einem großen Teile Europas ſich im Anſchluß
an dieſe 12—15 Jahrhunderte alte Hufenverfaſſung ein Eigentum von 7,5—50 ha als
vorherrſchend bis heute erhalten hat.
Es war eine Verfaſſung, welche in ihrem Urſprunge demokratiſchen Charakter hat,
nur aus den ſocialen und politiſchen Anſchauungen der betreffenden Völker und ihrer
techniſchen Wirtſchaftsſtufe ſich ganz erklären läßt, in ihrer Konſequenz aber eine ariſto-
kratiſche Färbung erhielt: für die wachſende Bevölkerung blieb kein Raum für immer
weitere Hufenbildung: die jüngeren, überzähligen Söhne mußten abwandern oder ſich
außerhalb der Flur auf einem Stück Gartenland oft ohne Geſpann als Koſſäten anſiedeln
oder gar als Kätner, Häusler, Büdner mit einem Gartenſtück ſich begnügen oder auch
als Pächter kleine Stellen übernehmen und zugleich beim Bauern auf Arbeit gehen
(Heuerlinge), endlich als in natura bezahlte Tagelöhner (Inſtleute) eine Exiſtenz ſuchen.
Wo in älterer Zeit in den eigentlich germaniſchen Gebieten periodiſche Neuvermeſſungen
und -verteilungen vorkommen, haben ſie nicht den Zweck, an alle Gemeindeglieder gleiche
Anteile auf Koſten der älteren größeren Stellen zu geben, ſondern nur den einer beſſeren
Einteilung der Gewanne, einer Zuſammenlegung der dem einzelnen gehörigen Grundſtücke.
Das iſt auch das Grundprincip der neueren Güterzuſammenlegungs-, Separations-,
Arrondierungs-, Feldwegregulierungsmaßregeln und -geſetze von 1770 bis zur Gegenwart.
Nicht auf demſelben principiellen Boden ſteht die eigentümliche agrariſche Ent-
wickelung in Irland und Schottland, ſowie in den ſlaviſchen Ländern. Die iriſchen und
ſchottiſchen Kelten haben eine ausgebildete Klanverfaſſung mit ſtarker Verfügungsgewalt
des Häuptlings gehabt: in Schottland erhielt ſich lange eine gemeinſame Bearbeitung
des Bodens und Verteilung der Nahrung durch den Häuptling. In Irland war es
noch 1605 eigentlich rechtens, daß jedes Landlos nach dem Tode des Inhabers von
dem Häuptlinge eingezogen und an die Mitglieder der Sept verteilt wurde; der Haupt-
gewährsmann hiefür, Dawis, führt damals ſchon die troſtloſe Wirtſchaft und die Klein-
heit der Stellen darauf zurück. In Wahrheit aber beruhte dieſe Kleinheit damals ſchon
[375]Das kleine Grundeigentum der Germanen und Slaven. Die Entſtehung des großen.
überwiegend nicht auf den Teilungen, welche die genoſſenſchaftliche Rechtsbaſis hatten; die
Häuptlinge waren längſt Herren des größeren Teiles des Grund und Bodens geworden
und gaben ſie in zu kleinen Stücken gegen Rente an die zahlreichen verarmten pachtenden
Glieder der Sept, des Geſchlechtes.
Im ganzen Slavengebiete hat wahrſcheinlich in älterer Zeit allgemein die Haus-
kommunion geherrſcht (ſ. oben S. 241), d. h. die Familien blieben mehrere Generationen
hindurch zuſammen und wirtſchafteten kommuniſtiſch unter einem Hausvater und einer
Hausmutter; ſie hatten einen entſprechend großen Landbeſitz. Wo aber die Zahl der
Familienglieder zu groß wurde, teilte man, und ſo entſtanden frühe zu kleine Beſitzungen;
auch ſcheint in Böhmen, Polen und Rußland die Hauskommunion ſich früh aufgelöſt und
kleinen Bauernnahrungen Platz gemacht zu haben. Nur in den ſüdſlaviſchen Landen
hat ſie ſich erhalten, iſt aber auch wohl da im Zurückgehen. In Rußland hat ſich das
Princip wiederholter Teilung des Landes in den Bauerngemeinden erſt ſeit dem 16.
und 17. Jahrhundert unter dem Drucke der ſchweren ſtaatlichen und grundherrlichen
Laſten feſtgeſetzt. Die ſeither entſtandene ruſſiſche Gemeindeverfaſſung giebt jedem männ-
lichen erwachſenen Gemeindemitgliede das Recht auf einen gleichen Ackerteil, aber legt
ihm auch die Pflicht auf, die entſprechenden Steuern zu tragen und Dienſte zu leiſten;
ſie kommt mit dieſem Princip zu häufigen Neuverteilungen des Ackerlandes, die von da
an bedenklich und ſtörend werden, wo die Bevölkerung über das Maß der in der Ge-
meinde vorhandenen Nahrungsſtellen gewachſen und wo eine intenſivere Bodenbeſtellung,
eine Fixierung von Kapitalien in den Boden angezeigt iſt. Die Folge iſt eine Summe
zu kleiner, faſt lebensunfähiger, ſchlecht und extenſiv beſtellter Ackernahrungen. —
Iſt ſo im neueren Europa meiſt eine etwas ariſtokratiſcher oder etwas demo-
kratiſcher gefärbte, hier zu erblichem, dort zu zeitweiſem Nutzungsrechte ausgeſtaltete
Verteilung des Bodens an mittlere und kleine bäuerliche Wirte die Grundlage, ſo erhebt
ſich nun über derſelben eine andere Entwickelung, die ſeit den Tagen der Völkerwanderung
wirkſam, teilweiſe die alte Grundlage zerſtört, teilweiſe ſie aber nur vorübergehend
beeinflußt und partiell verändert hat. Sie entſpringt teils romaniſchen und kirchlichen
Einflüſſen, teils dem Aufſteigen des Königs, des kriegeriſchen und Dienſtadels, dem
Lehensweſen, der Grundherrſchaft, erzeugt, wie wir ſchon ſahen, hier ein Obereigentum,
dort einen großen Beſitz von 12, 30, 50 und mehr Hufen. Wir wollen hier nicht auf
die Frage zurückkommen, ob die Verſchiedenheit des Beſitzes und Beſitzrechtes das ältere,
die höhere Klaſſen ſchaffende, oder ob dieſe eine Folge der verſchiedenen perſönlichen
Eigenſchaften und Leiſtungen geweſen ſei. Schon Tacitus ſpricht von Geringen und
Mächtigen, die ſich doch an Beſitz noch gleich geſtanden.
Die angeſehenen Fürſten, der Erb- und der Dienſtadel wie kluge romaniſierte
Prieſter verſtehen es, die antike Grundbeſitzordnung für ſich zu nützen. Sie hatte auf
dem früher römiſchen Boden vielfach ſich erhalten. Große Güter, abhängige, unfreie
Kolonen darauf, individuelles, unbeſchränktes Eigentum beſtanden da fort, wo man
germaniſche Stämme erſt an der Hand der römiſchen Einquartierungsordnung auf-
genommen, dann mit der Hälfte des Grundbeſitzes ihrer Gaſtgeber ausgeſtattet hatte.
Die Kirche beſaß in Gallien zu Ende des 7. Jahrhunderts ſchon ein Drittel alles Grund
und Bodens. Die Könige beanſpruchten als Bodenregal alle großen Flächen unbebauten
Landes; ihnen gehörten große Stücke bebauten konfiszierten Landes, das ſie teils
behielten, teils in beliebigen Stücken verſchenkten; ſie gaben ſie ihrem Gefolge als Lehen.
Dieſe erſt lebenslänglichen Lehen wurden ſpäter erblich; an die großen Lehen des hohen
Adels ſchloſſen ſich in den Jahrhunderten des aufkommenden Reiterdienſtes die kleinen
Reiterlehen an, die wenigſtens das 4—8 fache einer Bauernhufe ausmachten. Überall
beanſpruchten große und kleine Herren in der Mark- und Dorfgenoſſenſchaft die erſte
Stelle, galten zuletzt als oberſte Märker, ja als Eigentümer des Waldes, der Weiden,
der Fiſchwaſſer, an denen die Hufner nur Nutzungsrechte behielten. So roh und brutal
ſich da und dort die Inhaber dieſes größeren Grundbeſitzes gegen die Bauern benahmen,
im ganzen war dieſes Eigentum der Grundherren lange ein bloßes Obereigentum; die
Mehrzahl der Bauern war durch ihre genoſſenſchaftliche Verfaſſung, durch die Fixierung
[376]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ihrer Laſten in den Weistümern geſchützt. Jedenfalls hat die grundherrliche Verfaſſung
nicht gehindert, daß der Bauernſtand in Nordeuropa vom 9.—15. Jahrhundert an
Wohlſtand zunahm, und daß auch vom 15.—18. trotz des zunehmenden Druckes der
Feudallaſten der grundherrliche Adel in den meiſten Gegenden des kontinentalen Europas
mehr zurückging als der Bauernſtand, und daß die Ablöſungsgeſetze des 19. Jahrhunderts
das Obereigentum und die anderen Rechte der Grundherren auf feſte Renten beſchränkt,
in Ablöſungsgelder oder Landabtretungen umgeſetzt oder gar ohne Entſchädigung auf-
gehoben haben. Dabei ging ein Teil der kleinen Stellenbeſitzer mit ſchlechteren Rechten
leer aus; ſie ſanken zu Tagelöhnern und Inſtleuten herab. Ein ſehr erheblicher Teil
der Bauern aber, in vielen Ländern der weitaus größere Teil, wurde, ſoweit dies nicht
vorher durch Einzelgeſchäfte geſchehen war, durch dieſe neuere Agrarpolitik zu vollen,
freien Eigentümern an ihren Hufen. So geſchah es überwiegend in Frankreich, im
ganzen ſüdlichen und weſtlichen Teile Deutſchlands, in Belgien, Holland, der Schweiz,
in den ſkandinaviſchen Reichen, wo daher heute das kleine und mittlere freie Grund-
eigentum überwiegt.
Im Oſten Deutſchlands, in Öſterreich, in Rußland, hauptſächlich im ſüdlichen,
fehlt es an geſundem bäuerlichem Beſitze heute zwar keineswegs, aber es ſtehen daneben
doch auch zahlreiche große Güter; ſie ſind aus den Einrichtungen des Feudalweſens,
aus dem landwirtſchaftlichen Selbſtbetriebe der Ritter und aus den Bauernlegungen und
Bauernmißhandlungen hervorgegangen. Es wird auf ihnen heute Großgutswirtſchaft
mit Tagelöhnern getrieben; ein erheblicher Teil iſt verpachtet, wie die dem Staate
gebliebenen Domänen. Die großen auf dieſen Gütern ſitzenden Pächter repräſentieren
einen wohlhabenden Unternehmerſtand, der zugleich der Hauptträger des landwirtſchaft-
lichen Fortſchrittes iſt. In England hat hauptſächlich die unbedingte Verfügungsgewalt
des Grundherrn über Wald und Weide und die vom techniſch-agrariſchen Fortſchritte
diktierte Durchführung der Feldgraswirtſchaft, welche größere Güter forderte, zu den
Einhegungen der Allmende im grundherrlichen Intereſſe geführt, welche dem kleineren
Bauern ſeine wirtſchaftliche Exiſtenz unmöglich machten. Es giebt jetzt dort überwiegend
Großgrundbeſitz in den Händen der alten und der neuen Ariſtokratie, von Geldzeitpächtern
unter Hülfe von Tagelöhnern bewirtſchaftet. —
Die im vorſtehenden geſchilderte verſchiedene Entwickelung der Grundeigentums-
verteilung vom Mittelalter bis in die neuere Zeit iſt in ihrem Unterſchiede nicht oder
nicht in der Hauptſache auf techniſche oder rein wirtſchaftliche Urſachen, ſondern haupt-
ſächlich auf politiſche und verfaſſungsgeſchichtliche zurückzuführen. Wo eine ſtarke Monarchie
den Bauernſtand ſchützte, hat im ganzen das mittlere und kleine Grundeigentum ſich
erhalten; wo grund- und gutsherrliche Zuſtände zu einer überwiegenden politiſchen
Herrſchaft des Adels im Parlamente, in der Staats- und Selbſtverwaltung führten, da
hat ſich das große Grundeigentum ausgebreitet. Dabei wirkten natürlich die perſön-
lichen Eigenſchaften der Bauern und des Adels mit; ein kräftiger, tüchtiger Bauernſtand
erhielt ſich länger und leichter, ein intelligenter, hochſtehender, zu politiſchen und mili-
täriſchen Leiſtungen befähigter Adel dehnte ſeinen Beſitz energiſcher aus, verkümmerte
nicht ſo leicht wie ein unpolitiſcher, in Genußſucht verſunkener, dem Landleben ent-
fremdeter; ein tüchtiger, dauernd zwiſchen ſeinen Bauern lebender Adel, wie der engliſche
und nordoſtdeutſche, wurde meiſt zugleich der Führer auf dem Gebiete des techniſch-
wirtſchaftlichen Fortſchrittes; er hatte, wo er dies geworden, häufig auch mehr Neigung,
einen tiefſtehenden Bauernſtand auszukaufen, ihn zum Tagelöhnertume herabzudrücken.
So wenig es für die Zeit von 1300—1900 wahr wäre zu ſagen, bloß die ver-
ſchiedene Grundbeſitzverteilung habe die Klaſſenunterſchiede der Gutsherren, Bauern und
Tagelöhner geſchaffen, ſo wird das doch unzweifelhaft ſein, daß die vorhandenen und
ſich durch Generationen befeſtigenden Beſitzunterſchiede ein ſehr wichtiges Moment für
die verſchiedene Lebenshaltung, Bildung, Geſittung, Erziehung, für den politiſchen Einfluß
und die Einkommensverteilung ſowie für die Ausbildung der Klaſſenunterſchiede waren.
Aber nirgends wirkten der Beſitzunterſchied und ſeine rechtlichen Folgen allein, ſondern
ſtets in Zuſammenhang und Wechſelwirkung mit anderen Faktoren.
[377]Die Urſachen des heutigen Großgrundbeſitzes. Das neuere Grundeigentumsrecht.
Die Grundeigentumsverteilung wird für den Aufbau der Geſellſchaftsordnung in
jedem Lande ein weſentlicher Faktor; ja ſie beeinflußt alle ſociale Klaſſenbildung, ihre
Färbung und ihre Diſtanzen; wo der größere Teil des Landes Bauern gehört, pflegt
auch der gewerbliche Mittelſtand, die kleine Stadt ſich anders zu erhalten als im Gebiete
des größeren Grundbeſitzes. Wo dieſer vorherrſcht, ſind die unteren Klaſſen ſtets tiefer
herabgedrückt als ſonſt. Wo noch 40—60 % aller Familienhäupter Grundbeſitzer ſind,
wie in den Gegenden des deutſchen Kleinbeſitzes, müſſen andere, mehr demokratiſch
gefärbte Zuſtände ſein als da, wo nur 5—20 % derſelben dieſen feſten Boden der
Unabhängigkeit unter ſich haben.
Immer aber iſt die Grundeigentumsverteilung nicht allein ausſchlaggebend. Die Ver-
teilung des übrigen Eigentums wird mit ſteigender wirtſchaftlicher Kultur immer wichtiger.
Und zugleich hängen alle feineren und vielfach ausſchlaggebenden Folgen des großen
und kleinen Grundeigentums an den verſchiedenen geiſtigen, ſittlichen, techniſchen und
wirtſchaftlichen Eigenſchaften der Eigentümer und der übrigen Klaſſen der Geſellſchaft.
Und dieſe Eigenſchaften gehen ſtets zugleich auf andere Urſachen als auf den Beſitz-
unterſchied zurück.
127. Das heutige Grundeigentumsrecht und die Richtungen der
heutigen Landpolitik. Gleichmäßig, ob großer, mittlerer oder kleiner Grundbeſitz
vorherrſche, hat die neuere Ideenentwickelung und das wirtſchaftlich techniſche Bedürfnis
in Europa überall auf eine Beſeitigung der alten Bindung des Grundeigentums durch
feudale, grundherrliche, familienhafte und dorfgenoſſenſchaftliche Schranken hingewirkt.
Die Geldwirtſchaft, der individuelle Erwerbsſinn, der ganze Zug des modernen Rechts-
lebens drängte ſeit 200 Jahren dahin. Überall hat die Geſetzgebung der neuen Zeit
es als ihr Ziel angeſehen, dem individuellen Eigentümer eine möglichſt weitgehende
und unbeſchränkte Veräußerungs-, Verſchuldungs-, Teilungs- und Zuſammenlegungs-
freiheit zu geben. Jedes gemeinſchaftliche Eigentum, jede Beſchränkung im Familien-
oder dorfgenoſſenſchaftlichen Intereſſe ſchien ihr ſchädlich. Sie knüpfte, und zwar zum
erheblichſten Teile mit Recht, die Hoffnung großer landwirtſchaftlicher Fortſchritte und
ſteigender Verwendung von Arbeit und Kapital auf den Grundbeſitz in erſter Linie an
ein rechtlich geſichertes, unbeſchränktes Grundeigentum. Durch gute Vermeſſung, Kartierung,
Eintragung aller Parzellen in die Grundbücher, durch Neuordnung des Hypotheken-
weſens im Sinne der Eintragung aller Hypotheken und ſonſtigen dinglichen Rechte ins
Grundbuch hat alles Grundeigentum in der That ſehr an rechtlicher Sicherheit gewonnen.
Die Übertragung von Grundeigentum und die Eintragung von Hypotheken iſt durch
die neueren Grundbuchordnungen außerordentlich erleichtert; man hat das eine Mobili-
ſierung des Grundbeſitzes genannt. Das frühere Gemeindeeigentum iſt vielfach an die
privaten Grundeigentümer der Gemeinde aufgeteilt; von dem Staatsbeſitz iſt ein großer
Teil an Private verkauft.
Und doch hat das private Grundeigentum ſo wenig in Weſteuropa ganz geſiegt
wie die unbeſchränkte Freiheit desſelben. Die meiſten deutſchen Staaten wenigſtens
beſitzen noch große Forſten und Domänen, die ſüddeutſchen, ſchweizeriſchen, franzöſiſchen
Gemeinden haben noch erhebliche Allmenden. Freilich nutzen Staat und Gemeinden
ihre Forſten und ihr Grundeigentum nicht mehr wie früher, ſondern überwiegend als
privatwirtſchaftliche Rentenquelle, um ein fiskaliſches Einkommen zu erzielen.
Eine Reihe von Schranken des privaten Grundeigentums ſind in verſchiedenen
Formen ſtehen geblieben. Es iſt für kein Land der Welt ganz wahr, was man oft
behauptet hat, daß die heutige Zeit das römiſche Mobilieneigentumsrecht ganz und
ohne Rückhalt auf das Grundeigentum angewendet habe. Und ſoweit eine unbeſchränkte
Freiheit des Grundeigentums unerwünſchte Folgen nach ſich zog, hat ſie bald zu rück-
läufigen Strömungen geführt. All’ zu raſch hat ſich gezeigt, daß ſie unter gewiſſen
Umſtänden zu übermäßiger Zerſplitterung und Zwergpacht einerſeits, zu Anhäufung des
Grundbeſitzes in wenigen Händen und Ueberſchuldung des Grundbeſitzes andererſeits
führe. Und ſo ſtehen wir heute mitten in einer großen theoretiſchen und praktiſchen
Bewegung, welche in ihrem Extrem die ganze heutige Grundeigentumsverfaſſung und
[378]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ihre Folgen für ſchädlich hält, allen privaten Grundbeſitz in Frage ſtellt, ihn in Staats-
und Gemeindeeigentum überführen will, in ihren energiſchen Reformern ihm die Ver-
ſchuldbarkeit ganz oder teilweiſe nehmen, die Teilbarkeit und die Anhäufung des Grund-
beſitzes an gewiſſe Bedingungen knüpfen möchte, in ihren gemäßigten Vertretern jedenfalls
durch eine Bevorzugung eines Erben im Erbrecht die beſtehende Verteilung erhalten,
den Grundbeſitz vor Zerſplitterung und Überſchuldung bewahren will.
Den ſtärkſten Anſtoß zu Erörterungen und Fragen dieſer Art gab die Verfaſſung
des Grundeigentums da, wo der wirtſchaftende Eigentümer in wachſende Abhängigkeit
von Hypothekengläubigern kam, oder wo mehr und mehr der Grundeigentümer aufhörte,
Landwirtſchaft zu treiben, ein bloßer Rentner wurde. Bei ſtarker Überſchuldung, wie ſie
ein Teil der kleinſten mitteleuropäiſchen Grundeigentümer und ein Teil der oſteuropäiſchen
Gutsbeſitzer zeigt, werden materiell die Gläubiger Eigentümer, der juriſtiſche Eigentümer
iſt ihr Verwalter, oft ein ausgebeuteter, ſchwer bedrängter Verwalter. Der engliſche
Großgrundbeſitz zeigt faſt gar keine Verſchuldung, er iſt die Grundlage einer immer
noch großen und geſunden Ariſtokratie; ob die ſo vom großen Beſitz bezogene Rente
dem Staate und der Geſellſchaft durch die Leiſtungen der Ariſtokratie zu gute komme,
davon hängt die innere Berechtigung ſolch weitgehender Ungleichheit der Verteilung ab.
Außerdem iſt, da wo die Pacht ſich ausdehnt, wichtig, welche Stellung die Pächter
haben; die engliſchen, meiſt aus den ehemaligen Bauern hervorgegangenen Zeitpächter
ſtellen einen beſitzenden Mittelſtand dar, der freilich ſucceſſiv in etwas ungünſtigere Lage
gekommen iſt; der iriſche kleine Pächterſtand, von Mittelsperſonen und jährlichem
Kontrakt abhängig, ohne jeden moraliſchen und politiſchen Zuſammenhang mit den
engliſchen, faſt ſtets außerhalb Landes reſidierenden Großgrundbeſitzern, zeigt uns ein
Bild ungeſundeſter Agrarverfaſſung. In den ſüdeuropäiſchen und romaniſchen Ländern
bildet ein großer Teil des Grundeigentums nur einen Rententitel für ſtädtiſche Kapital-
beſitzer, Honoratioren, Advokaten, Notare, Kaufleute. Die in Zeit- und Halbpacht
ſitzenden Bebauer ſind in leidlicher Lage da, wo noch patriarchaliſche Beziehungen
herrſchen. Wo dieſe fehlen, iſt eine ungeſunde Ausbeutung der Pächter, proletariſches
Elend unter ihnen nicht zu leugnen. Die ernſtliche, zumal für Irland, für Sicilien,
aber auch ſonſt aufgeworfene Frage, inwieweit Staat und Geſetzgebung die kleinen
Pächter vor dem Druck und der Ausbeutung der Grundbeſitzer ſchützen ſolle, zeigt eben-
falls, wie wenig das Princip des unbedingt freien Grundeigentums heute vorhält.
In Deutſchland haben wir, von den größeren, vorhin erwähnten Domänenpächtern
abgeſehen, noch wenig Pacht; der wirtſchaftende Eigentümer überwiegt noch vollſtändig
im Mittel- und Bauernbeſitz; nur in der Nähe der Städte, in Fabrikgegenden, in
dem Gebiete der dichteſten Bevölkerung fängt die Klein- und Parzellenpacht an, etwas
häufiger zu werden; aber ſie hat noch nichts Bedenkliches. Und auch das Maß der
Verſchuldung des Grundbeſitzes iſt für die meiſten Gegenden und für den erheblicheren
Teil des Groß- und Mittelbeſitzes, ſowie für die eigentlichen Bauerngüter erſt in
neueſter Zeit durch die lange landwirtſchaftliche Kriſis, in Folge der überſeeiſchen Kon-
kurrenz, bedenklich geworden. Es kommt darauf an, dem Bauernſtand durch eine große
Agrarpolitik über dieſelbe weg zu helfen, einen Teil des unhaltbar gewordenen ritter-
ſchaftlichen, überſchuldeten Beſitzes in Bauerngüter unter günſtigen Bedingungen über-
zuführen, der Neuverſchuldung beſtimmte Grenzen zu ſetzen. Die frühere techniſche Über-
legenheit der großen über die kleinen Betriebe beginnt zu verſchwinden, weil die Bildung
und Technik des Bauernſtandes ſich ſehr gehoben hat.
Neben den Wandlungen, welche das weſteuropäiſche Grundeigentumsrecht von
1750—1850 im Sinne der Überführung feudalen und unfrei bäuerlichen Eigentums
in das freie, wenn auch mannigfach noch beſchränkte Privateigentum der neueren Zeit
erfahren hat, ſtehen in der Zeit von 1850 bis zur Gegenwart die großen Veränderungen
im Grundeigentumsrecht und in der Landpolitik Rußlands, Brittiſch-Indiens und Nord-
amerikas.
In Rußland hat die Emancipationsgeſetzgebung von 1861 zunächſt das bäuerliche
und grundherrliche Eigentum nach Teilungsgrundſätzen geſchieden, wobei der Bauer zu
[379]Neuere Grundeigentumsreformen. Städtiſches Grundeigentum.
ſehr verkürzt wurde; der grundherrliche Beſitz iſt ſeitdem freies Privateigentum des Adels,
der bäuerliche blieb auch jetzt Gemeindeeigentum, wie wir ſchon erwähnten, das nach
der Kopfzahl der Männer periodiſcher Neuverteilung unterliegt. Die einſichtigſten Stimmen
gehen dahin, daß mit wachſender Bevölkerung weder die alten Landteilungen ſich erhalten
können, weil ſie die geſunden normalen Wirtſchafts- und Hofeinheiten auseinander
ſchneiden zu Gunſten eines wirtſchaftlich nicht haltbaren Kleinbeſitzes, noch daß es
richtig oder möglich wäre, ſofort weſteuropäiſches privates Eigentum einzuführen (Kawelin,
Keußler). Nur eine Siſtierung der Landteilungen und eine Verwandlung des bisherigen
bäuerlichen Rechtes auf einen Landanteil in ein beſchränktes, von der Gemeinde kontrol-
liertes Nutzungsrecht, mit feſten Schranken gegen allzu große Parzellierung und gegen
Anhäufung mehrerer Höfe in einer Hand erſcheint als das Ziel einer vernünftigen
Reform.
Auch in Indien ſtand die brittiſche Regierung feudalen Grundherren und uralten
Dorfgemeinſchaften gegenüber; ſie hat zuerſt vielfach falſch experimentiert, die Grund-
herren begünſtigt, neuerdings aber mit Energie und Glück verſucht, einen gegen Pacht-
erhöhungen der Grundherren geſetzlich geſchützten Bauernſtand zu ſchaffen. Die Maß-
regeln ſind um ſo bedeutungsvoller, als ſie ſich auf einen großen Teil des rein agrikolen
Landes mit 253 Mill. Menſchen beziehen, während die ruſſiſche Bauernemancipation nur
auf 22 Mill. Privat- und 23 Mill. domänenbäuerlicher Bevölkerung gerichtet war.
In den Vereinigten Staaten hatten politiſche und Staatsſchuldenrückſichten die
unbebauten Ländereien der Unionsgewalt unterſtellt; ſie verkaufte, nachdem ſie ein aus-
gezeichnetes quadratiſches Vermeſſungsſyſtem angeordnet hatte, das alle Beſiedlung für
immer auf die Bahn iſolierter, viereckiger Einzelhöfe wies, erſt lange aus freier Hand;
eine wüſte Spekulation entſtand und vielfach übergroßer Grundbeſitz in wenigen Händen.
Dagegen reagierte der geſunde demokratiſche Gedanke, eine Republik ſolle auf kleinen
Grundeigentümern ruhen, und ſetzte das Bundesheimſtättengeſetz von 1860 durch, deſſen
Tendenz es iſt, Höfe von 160 acres (= 64,0 ha) Landes zu ſchaffen. Wenn daneben
auch noch die Landſchenkungen an die Eiſenbahnen und andere Urſachen und geſetz-
geberiſche Möglichkeiten viel großen Beſitz erzeugten, das mittlere und kleine freie Grund-
eigentum überwiegt doch. Und die Nachahmungen dieſer amerikaniſchen Landgeſetzgebung
haben ſich nicht nur auf Auſtralien, Canada, Chile, Mexiko und andere Staaten er-
ſtreckt, ſondern dieſe Staaten ſind auch vielfach noch kühner und energiſcher vorgegangen
mit der Tendenz, paſſende mittlere und kleine Wirtſchaftseinheiten zu ſchaffen, die
Spekulation auszuſchließen, für die Weide- und Holznutzung im großen Stil, mit der
die Urbarmachung beginnt, nur Pacht zuzulaſſen. Die ganze neue Welt ſcheint ſo unter
ein Grundeigentumsrecht zu kommen, das, verwandt mit der Hufenverfaſſung, die
Tendenz verfolgt, freies Privateigentum, aber in feſt beſtimmten Größen zu ſchaffen.
Die Heimſtätte von 160 acres Landes (à 1,6 Morgen oder 40,5 Aren = 64,8ha) iſt
nicht ſo ſehr viel größer als die alte Hufe, die an Garten, Ackerland und Weide
zuſammen auf beſtem Boden wohl nur 15, auf geringem aber und in den Gebieten
mit Bodenüberfluß auch 50 ha Umfang hatte, wie wir ſchon wiſſen.
128. Das ſtädtiſche Grund- und Hauseigentum. Wie das geſunde
Hufeneigentum des Familienvaters dahin zielte, daß der Eigentümer auf ſeinem Gute
ſelbſt wirtſchafte, ſo war überall mit der Seßhaftigkeit und dem beginnenden Hausbau
für Hausbeſitz und Hausbau der Gedanke maßgebend, daß jede Familie ihre Unabhängigkeit
erhalten ſolle durch das Eigentum an Haus und Hof, durch die Freiheit, ſich das Haus
ſo zu bauen, wie ſie es brauche. Noch heute ſind in unſeren alten Kulturländern dieſe
Vorausſetzungen vielfach auf dem Lande vorhanden: in jedem Hauſe trifft man eine
Haushaltung, die meiſten Familien wohnen im eigenen Hauſe, Mietsverhältniſſe kommen
nur ausnahmsweiſe vor. In den Städten aber iſt dieſes längſt anders geworden, der enge
Raum wurde zu mehrſtöckigen Häuſern benutzt, das Mietsverhältnis wurde allgemeiner,
und heute ſind in den meiſten unſerer Groß-, Mittel- und Fabrikſtädte nicht mehr
etwa nur 2—5, ſondern 10, 20 ja 30 Haushaltungen auf einem Grundſtücke; 90—96 %
aller Familien wohnen in kurzen Kündigungsterminen zur Miete; 5—28 % aller
[380]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Mieter wechſeln in den deutſchen Städten, von denen wir ſtatiſtiſche Nachrichten haben,
jährlich ihre Wohnung.
Auch auf dem Lande wohnen viele Arbeiter zur Miete, ſind teilweiſe heute
mehrere Familien in einem Hauſe. Vor allem aber das ſtädtiſche Grundſtücks- und
Hauseigentum iſt nicht mehr die Baſis der freien, auf ſich ſelbſt geſtellten Familien-
wirtſchaft, ſondern iſt ein nutzbringender Kapitalbeſitz, ein Geſchäft wie andere. Von
einem Einfluß des Bewohners auf ſeine Wohnung iſt nicht die Rede; die Mehrzahl
der Menſchen wohnt heute in Räumen, die vor Jahren und Jahrzehnten von anderen,
oftmals auch für ganz andere Zwecke und die, wenn neu, von der Spekulation nach
der Schablone hergeſtellt ſind. Das Baugewerbe iſt ein großer komplizierter Organismus
geworden: vornehme Bautechniker mit einem Stab von Hülfsbeamten, Baubanken und
anderen Kreditgebern, ſpekulierende Grundſtücksbeſitzer ſowie Bauunternehmer und Hand-
werksmeiſter aller Arten mit Hunderten und Tauſenden von Arbeitern wirken mit den
Baupolizeibehörden und den die Straßen- und Baupläne im ganzen beeinfluſſenden
Kommunen zuſammen, um das Wohnungsbedürfnis des Publikums zu befriedigen.
Gewiß liegt in dieſer ſelbſtändigen Organiſation der für den Bau Thätigen einerſeits
ein großer Fortſchritt; die vollendete Bautechnik der heutigen Zeit wäre nicht möglich
geweſen in den Händen der einzelnen Familien. Aber andererſeits haben ſich hiemit
große Mißſtände entwickelt: das Grundeigentum hat nirgends einen ſo monopolartigen
Wert erhalten als im Centrum der größeren Städte; nirgends ſind ſo ſichtbar maßloſe
Konjunkturgewinne ohne Arbeit des Eigentümers gemacht worden; die Spekulation
auf ein Steigen der Renten hat vielfach ſo falſch in die Straßenbaupläne und den
Häuſerbau eingegriffen, die ſteigende Wohnungsnot der ärmeren Klaſſen hängt mit
dieſen Verhältniſſen ſo zuſammen, die Vermietung wird teilweiſe durch wucheriſche
Mittelsperſonen ſo unanſtändig betrieben, daß es natürlich erſcheint, wenn gerade das
ſtädtiſche private Grundeigentum den heftigſten Angriffen und Bedenken ausgeſetzt war,
wenn Vorſchläge auftauchten, Staat und Gemeinde müßten hier ſehr viel ſtärker eingreifen,
mindeſtens für ihre Beamten Wohnungen herſtellen, durch das Expropriationsrecht und
eine Bauordnung und Baupolizei ganz anderer Art die ungeſunden Zuſtände in den
übervölkerten Häuſern beſeitigen, ja wenn verlangt wurde, das private Eigentum müſſe
hier ganz fallen.
Der Weg einer Verſtaatlichung oder Kommunaliſierung des Grund- und Haus-
beſitzes einzelner Städte gegen Entſchädigung der Eigentümer würde aber ſicher nicht
zum Ziele führen; er würde gar zu leicht das Beamtentum und die Kommunal-
verwaltung korrumpieren. Eher ließe ſich denken, daß da, wo die Mißſtände zu grell
werden, mit Hülfe eines Specialgeſetzes der Grund- und Hausbeſitz einer Stadt oder
wenigſtens dieſer oder jener Vorſtadt einer ſelbſtändigen halb öffentlichen, halb erwerbs-
thätigen Korporation übergeben würde, deren Aktionäre aus den bisherigen Grund-
und Hausbeſitzern, deren Gläubiger aus den bisherigen privaten Hypothekenbeſitzern
beſtünden. Die Korporation erhielte eine gemiſchte Leitung, in welcher Staat, Kommune,
Aktionäre, Gläubiger und Mieter vertreten wären; ebenſo müßte der Gewinn zwiſchen
dieſen Elementen geteilt werden. Leicht herſtellbar wäre freilich auch ein ſolcher Apparat
nicht; aber er erlaubte die ſchlimmſte der heutigen Wohnungsmißſtände zu beſeitigen,
ohne Staat und Gemeinde mit allzu ſchwierigen Aufgaben und mit zu viel Verſuchung
zu Nepotismus und Bevorzugung zu belaſten. So lange Derartiges unmöglich erſcheint,
iſt es Aufgabe von Genoſſenſchaften, gemeinnützigen Geſellſchaften, Stiftungen, human
und billig geleiteten Aktiengeſellſchaften, nach und nach möglichſt viel Haus- und Grund-
beſitz an ſich zu ziehen, das private Haus- und Grundeigentum, ſoweit es zu ſchlechter
Verwaltung, korrupten Mietsverträgen, Bauſchwindel und Ähnlichem führt, in ein gut
verwaltetes Eigentum von ſolch’ höher ſtehenden Geſellſchaftsorganen überzuführen. In
kleinen Städten und auf dem Lande liegt zu all’ dem kein Bedürfnis vor.
129. Das bewegliche Eigentum der Kulturvölker. An der fahrenden
Habe beſtand, wie wir oben ſahen, Eigentum der Familien und der einzelnen ſeit
undenklichen Zeiten. Und ſeit den Tagen des wachſenden Viehbeſitzes knüpfte ſich an
[381]Das ſtädtiſche Grundeigentum. Das Eigentum am Kapitalbeſitz.
die Verſchiedenheiten der Perſonen weſentlich auch die Verſchiedenheit an ſolch beweglichem
Eigentum. Die ſpätere hiſtoriſche Entwickelung hat das Princip des perſönlichen
Eigentums nur weiter gebildet durch die genauere Ordnung des Familien- und Erb-
rechts, des ehelichen Güterrechts, durch feinere Ausbildung der Verträge und Erwerbs-
arten, durch welche Eigentum erworben wird. Ohne Ausnahme blieb in allen Kultur-
ſtaaten der weit überwiegende Teil des beweglichen Beſitzes der freien Verfügung der
Individuen und Familien, dem privaten Eigentum überlaſſen.
Es verſtand ſich das für Vieh und Nahrungsmittel, für Kleider und Hausgeräte,
die man ſelbſt hergeſtellt, ganz von ſelbſt, ebenſo auch für alle eingetauſchten Gebrauchs-
vorräte. Und heute noch will ſelbſt der extreme Socialismus das private Eigentum
an dieſen Gegenſtänden nicht antaſten. Auch in Bezug auf das Eigentum des Bauern
und Handwerkers an ſeinem produktiven Kapital geben Marx und Engels zu, daß es
berechtigt, weil in klarem ſichtbarem Zuſammenhang mit der individuellen körperlichen
Arbeit des Eigentümers ſei. Aber das Kapital der Großunternehmung, das ausgeliehene,
Zinſen oder Gewinn gebende Kapital, das ſtehe mit ſeinem heutigen juriſtiſchen Eigen-
tümer nicht mehr in derſelben Beziehung; nicht von ihm geſchaffen und nicht von ihm
bearbeitet, ein Ergebnis geſellſchaftlicher Prozeſſe gebe es ihm eine unberechtigte Rente;
wie der geſellſchaftliche Arbeitsprozeß den individuellen oder familienhaften abgelöſt
habe, ſo müſſe auch der Verteilungsprozeß ein geſellſchaftlicher, das Arbeitsmittel und
ſein Produkt ein der Geſellſchaft gehöriges werden. Die jetzige überlebte Rechtsform —
der ſogenannte Kapitalismus — erzeuge die Ausbeutung der unteren, die Übermäſtung
der oberen Klaſſen.
Nun iſt gewiß der frühere Kleinbetrieb vom heutigen Großbetrieb weit verſchieden;
und gewiß haben die geld- und kreditwirtſchaftlichen Formen des heutigen Geſchäfts-
lebens, zumal die neueren Unternehmungsformen den Verteilungsprozeß ſo kompliziert,
dem großen Beſitzer und dem großen kaufmänniſchen Talent Möglichkeiten der Rente
und des Gewinns geſchafft, die früher fehlten, und die an vielen Stellen durch unrechte
Ausnützung der Übermacht, durch Betrug und Liſt entarteten. Wenn ſelbſt ein Mann
wie Darwin es ausſprechen konnte, die Sieger im Kampfe ums Geld ſeien heute keineswegs
immer die Beſten und Klügſten, ſo muß die heutige Verteilung des beweglichen Kapital-
eigentums nicht einwandfrei ſein. Die Geldmacher ſind gewiß meiſt große Geſchäftstalente,
aber ihre Millionen und Milliarden ſtehen zu oft doch in keinem entſprechenden Verhältniſſe
zu dieſem Talent. Der Zufall ſpielt in dem lotterieartigen Kampfe um den Beſitz
heute eine größere Rolle als früher; und ebenſo die harte, oft wucheriſche Skrupel-
loſigkeit der Mittel. Die heutige Kapitalbildung in den Händen der Kaufleute und
Unternehmer konnte den Anſchein erwecken, als ob in der neueren Zeit nur noch der
Beſitz die Scheidung zwiſchen den höheren Ständen und den beſitzloſen Arbeitern erzeuge,
daß nur die Beſitzenden Unternehmer würden, die Nichtbeſitzenden davon ausgeſchloſſen
ſeien. Und ſo wenig das durchaus zutrifft, ſo groß die Zahl der beſitzloſen Arbeiter
Werkmeiſter und Kaufleute iſt, die Unternehmer und Kapitalbeſitzer werden oder ſonſt in
gute Stellungen kommen, bei dem Übergang in die Großinduſtrie und in die moderne
Kapital- und Kreditwirtſchaft vollzog ſich in der That eine harte Klaſſenſcheidung, die
neben anderen Urſachen auf der großen und raſchen Kapitalanhäufung in den Händen der
wenigen Führer der neuen wirtſchaftlichen Organiſationen beruhte. Das hat naturgemäß
heute in weiten Schichten der Zurückgebliebenen und Übervorteilten ein ſtarkes, aber unklares,
dunkles Gefühl der Mißſtimmung erzeugt, die Zweifel an einer gerechten Verteilung
der Güter ſehr verſtärkt. Aber das beweiſt doch nicht, daß alles individuelle produktive
Kapital nun geſellſchaftliches Geſamteigentum werden müſſe. Wenn im Handwerk mehr
die techniſche Arbeit des Meiſters, in der Großunternehmung mehr die geiſtige des
Unternehmers in den Vordergrund tritt, ſo iſt damit doch nicht bewieſen, daß der Rein-
ertrag dort von Rechtswegen, hier zu Unrecht dem gebühre, der das Riſiko trägt, das
Geſchäft ins Leben gerufen hat. Die Bezeichnung des Kleinbetriebes als individuellen,
des Großbetriebes als geſellſchaftlichen Produktionsprozeſſes iſt eine ſtarke Übertreibung,
wenn ſie behaupten will, daß bei jedem großen Geſchäft die ganze Geſellſchaft gleichmäßig
[382]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
die Urſache, die Ordnerin des Betriebes ſei; es iſt dort ein Meiſter, hier ein Kaufmann
oder Techniker, ein Kapitaliſt oder eine Gruppe von ſolchen; der Geſelle hat dort, die
Arbeiter haben hier, ſo bedeutſam ihre Intelligenz, ihr techniſches Können auch iſt, doch
mehr nur eine paſſive Rolle, ſie führen die Gedanken anderer aus. Und ſo weit es wahr
iſt, daß in den immer größer werdenden Geſchäften und ihren Formen ein eigentlich
geſellſchaftlicher Prozeß ſich uns offenbare, inſoweit iſt auch der Verteilungsprozeß ein
geſellſchaftlich geordneter und wird es täglich mehr. Daß er heute noch vielfach
unvollkommen ſei, die Spuren veralteter Einrichtungen oder des Übergangs in eine
neue Zeit an ſich trage, durch Sitte und Recht, durch gerechtere Einkommens- und
Vermögensverteilung vollkommener zu geſtalten ſei, leugnen wir nicht nur nicht, ſondern
betonen wir mit aller Energie. Wir leugnen nur, daß durch dieſe Mißſtände die
Unhaltbarkeit alles privaten Kapitaleigentums bewieſen ſei. Wir behaupten, daß es
bis jetzt von niemandem nachgewieſen ſei, wie ohne dasſelbe die Menſchen heute zu Fleiß
und Anſtrengung, zu Sparſamkeit und Kapitalbildung, zu kühnen Verſuchen der Produktions-
verbeſſerung veranlaßt würden.
Wenn heute die großen Vermögen in erſter Linie in den Händen glücklich
operierender Händler und Großunternehmer, Bankiers und Gründer ſich ſammeln,
ſo iſt eben die Frage, ob ihre großen Gewinne mehr Folge außerordentlicher Talente
und ſeltener Leiſtungen oder Folge von Zufällen und Konjunkturen, von künſtlichen
oder thatſächlichen Monopolen oder gar von unredlichen Mitteln ſind. Und glatt,
allgemein läßt ſich hierauf weder mit ja, noch mit nein antworten. An die erſtere
Alternative glaubt die Geſchäftswelt, zu letzterer neigen die ſocialiſtiſchen Schriftſteller,
oft auch das große Publikum. Die Wahrheit wird in der Mitte liegen. Es wird
jede Einſchränkung der Möglichkeit unreellen Erwerbes ein ſittlicher und ſocialer
Fortſchritt ſein, während das größere Eigentum für das größere Talent und die höhere
Leiſtung doch, ſoweit ſie ehrlich und anſtändig verfahren, von keinem Vernünftigen
ernſtlich beanſtandet werden kann. Nur darum kann es ſich handeln, die Wege zu
finden, um den maßloſen Monopolgewinn einzuſchränken oder zu beſeitigen, die Erwerbs-
arten nach ſeite des Rechts und der Geſchäftsſitten, eventuell durch beſtimmte Schranken
des Gelderwerbs ſo zu geſtalten, daß nicht zu viel rohe Emporkömmlinge und Protzen,
nicht zu viele unanſtändige Wucherer und gewiſſenloſe Spekulanten ſich als die
maßgebenden Spitzen der Geſellſchaft fühlen oder gar Gemeinde und Staat beherrſchen
können.
Jedenfalls aber laſſen ſich zwei Reihen von Thatſachen und Überlegungen an-
führen, die für den hiſtoriſch Denkenden jede Wahrſcheinlichkeit beſeitigen, daß das
private Eigentum am Erwerbskapital im ſocialiſtiſchen Sinne überwiegend oder ganz
beſeitigt werden könnte. Es handelt ſich einerſeits um die pſychologiſch-ſittengeſchicht-
lichen Vorgänge, die heute unſer Erwerbsleben begleiten, andererſeits um die Rechts-
formen, in denen das Kapitaleigentum heute mehr und mehr auftritt.
In erſterer Beziehung möchten wir betonen, daß die unteren Klaſſen nur in dem
Maße ſich wirtſchaftlich heben können, wie ſie ſelbſt diejenigen wirtſchaftlichen Eigen-
ſchaften des Fleißes, des Sparens, der Kindererziehung, des Zurücklegens für die Kinder
ſich erwerben, wie ſie heute als Folge des Eigentums, des Darlehens, der Geld- und
Kreditwirtſchaft die höheren und mittleren Klaſſen auszeichnen. Nur indem der
Arbeiter, der Handwerker, der Bauer rechnen, buchführen, kalkulieren lernt, alle Preiſe
kennt und verfolgt, kurz in gewiſſem Sinne ein Geſchäftsmann wird, kann er dem Druck
der Überlegenheit der heutigen Kaufleute und Unternehmer ſich entziehen. Nur Menſchen,
die fähig geworden ſind, Eigentum ſich zu erarbeiten, es richtig zu verwalten und ihren
Kindern entſprechende Gewohnheiten einzuimpfen, ſind auch fähig, Eigentumsanteile
an einem genoſſenſchaftlichen, gemeindeartigen oder ſtaatlich gemeinſamen Beſitz richtig
zu gebrauchen, ſofern und ſoweit die weitere Entwickelung Derartiges bringt. Vom
Drucke der Beſitzloſigkeit läßt ſich der heutige und zukünftige ſtädtiſche und gewerbliche
Arbeiter nur vereinzelt noch durch ein eigenes Häuschen oder ein eigenes Garten- und
Ackerſtück, aber ziemlich allgemein bei rechter Erziehung und Entwickelung durch einen
[383]Die Notwendigkeit des individuellen Kapitaleigentums. Das Erbrecht.
Anteil, eine verzinsliche Forderung an eine Sparkaſſe oder eine Genoſſenſchaft, durch
ein Inhaberpapier irgend welcher Art befreien.
Und damit ſind wir beim zweiten Punkt: ein ſteigender Teil alles Kapital- und
Grundeigentums geht heute in Forderungs- und Anteilrechte von Aktionären, Genoſſen-
ſchaftern, Pfandbrief- und Sparkaſſenbuchinhabern, von Hypotheken-, Staats- und Gemeinde-
gläubigern über. Aus dem realen wird eine Art Buch- oder Papiereigentum, das
gewiß neue Mißſtände und ſociale Gefahren erzeugt, in ſeiner Geteiltheit aber allen
Kreiſen der Geſellſchaft, auch den unterſten zugänglich iſt. Die hieher gehörigen
Einrichtungen ſind nicht denkbar ohne den Mechanismus der Wert- und Preisbildung
ſowie ohne das Inſtitut des verzinslichen Darlehens; ſie bringen aber einen immer
größeren Teil des produktiven Kapitals aus Privathänden in die thatſächliche Verwaltung
von Staat, Gemeinde, öffentlicher Korporationen, halböffentlicher Anſtalten, Geſellſchaften
und Genoſſenſchaften. Die Ausbildung der entſprechenden ſocialen Organe, die dieſe
Art gemiſchten, nach der Rentenſeite individualiſtiſchen, nach der Verwaltungsſeite
gemeinſamen Eigentums verwalten können, iſt die Vorausſetzung des Fortſchrittes nach
dieſer Richtung. Wir kommen darauf in anderem Zuſammenhang zurück. Nur daran
ſei erinnert, daß jede ſolche Organiſation in gewiſſer Weiſe ſchwerfällig iſt, Betrug und
Unterſchleif erzeugen kann, auf zahlreiche Schwierigkeiten ſtößt, die in der Familienwirtſchaft
und der herrſchaftlichen Privatunternehmung fehlen. Daher werden die Fortſchritte auf
dieſem Gebiete immer langſame ſein. Aber ebenſo unzweifelhaft iſt, daß damit der
formale Weg angebahnt iſt, auf dem das kollektive Eigentum der Zukunft ſich aus-
dehnen wird. Das rententragende Bucheigentum iſt der Demokratiſierung fähig; ſeine
Mißbräuche und ſeine zu ungleiche Verteilung können bis zu einem gewiſſen Grade
durch Sitte und Recht verbeſſert werden; durch Regulierung der zuläſſigen Erwerbsarten,
durch gerechtere Einkommensverteilung, durch ſucceſſives Steigen des Lohnes und ſucceſſives
Sinken des Zinsfußes kann die künftige Eigentumsverteilung eine gerechtere und geſündere
werden, ohne daß die ſegensreichen Folgen des Eigentums für individuelle Freiheit und
für wirtſchaftliche Erziehung verſchwinden.
130. Das Erbrecht. Ehe ich nun aber verſuche, kurz die Ergebniſſe der
geſchichtlichen Betrachtung zuſammenzufaſſen, ſei ein Wort über die Erblichkeit alles
privaten Eigentums hier eingeſchaltet.
Die Erblichkeit alles Eigentums hat ihren Urſprung in der Familienverfaſſung.
Die ältere Familie hatte wirtſchaftlich eine durch Generationen hindurch fortgeſetzte
Exiſtenz. Die aus der Familie hinaus heiratenden Töchter hatten urſprünglich kein
Erbrecht, ſo wenig wie Söhne, die mit einer gewiſſen Ausſtattung das Elternhaus
verlaſſen hatten, „abgeſchichtet“ waren. Die beim Tode der Eltern vorhandenen Kinder
ſetzten ungeteilt die Wirtſchaft fort. Niemandem konnte einfallen, ihnen die Habe zu
nehmen, welche die Grundlage ihrer Wirtſchaft war. Später, mit dem ſteigenden Beſitz
und dem erwachenden Individualismus forderte jedes Kind einen gleichen Erbteil,
ſoweit nicht im Geſamtintereſſe der Familie oder des Staates einzelne Kinder bevorzugt
wurden. Jedenfalls aber wird, wo heute ein geſundes und kräftiges Familienleben
vorhanden iſt, überall das Erbrecht der Kinder als etwas Gerechtes und Selbſtverſtändliches
angeſehen; jedermann ſieht, daß dieſes Erbrecht ein wichtiges Mittel des wirtſchaftlichen
Fortſchrittes iſt; gerade die fähigen und kräftigen Eltern werden zur höchſten Anſpannung
ihrer Kräfte am meiſten dadurch veranlaßt, daß ſie ihren Kindern eine beſſere Stellung
erwerben wollen. Der wichtigſte Teil der Motive, die heute Fleiß, Anſtrengung und
Kapitalbildung erzeugen, wäre ſtillgeſtellt, wenn das Erbrecht der Kinder wegfiele.
Das Erbrecht entfernterer Seitenverwandten dagegen wird in dem Maße als ein
Überlebſel aus der Zeit der alten Sippen- oder patriarchaliſchen Familienverfaſſung
erſcheinen, wie die moderne kleine Familie ſiegt, die Verwandtſchaftsbeziehungen zu
entfernteren Verwandten verblaſſen.
So natürlich nun aber das Erbrecht der Kinder allen Kulturvölkern ſeit langer
Zeit erſchien, ſo mußte doch, ſobald der Beſitz etwas größer und ungleicher geworden
war, das ererbte Eigentum in anderem ſocialen Licht erſcheinen als das ſelbſt erworbene.
[384]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Der einzelne erhält es, ob er ſo tüchtig iſt wie ſein Vater oder nicht; er erhält weniger,
wenn er mehr Geſchwiſter hat, mehr, wenn er allein iſt, Seitenverwandte beerbt.
Und wie das Erbrecht für die Eltern das Motiv zur Anſtrengung, ſo kann es für die
Kinder der Reichen das zur Faulheit werden. Es treten ſich entgegengeſetzte Folgen
und Überlegungen nun einander gegenüber. Und Sitte und Recht werden hievon
beeinflußt werden, ſo langſam auch gerade hier veränderte Zuſtände zu einer Umbildung
der Gewohnheiten und Geſetze führen.
Welche Änderungen man auch hier erwarten mag, wie hoch man die Thatſache
einſchätze, daß ſchlechte und unfähige Kinder ein reiches Erbe ohne Verdienſt erhalten,
daß der Zufall der Kinderzahl den einen reich, den andern unbemittelt mache, — all’
das ſind mehr individuelle Zufälle, die aus keiner Geſellſchaftsverfaſſung zu beſeitigen
ſind. Im ganzen werden wir für die Fragen der Geſellſchaftsordnung nur auf den
Durchſchnitt ganzer Klaſſen ſehen dürfen. Und thun wir das, ſo werden wir ſagen:
ſo lange die höheren beſitzenden Klaſſen nicht entartet ſind, ſo werden die Kinder durch-
ſchnittlich die Eigenſchaften der Eltern haben. So lange alſo eine gewiſſe Parallelität
der höheren Eigenſchaften und des größeren Beſitzes ſich im Laufe der Generationen
erhält, ſo lange wird auch das Erbrecht der Kinder innerlich berechtigt ſein. Dieſes
Erbrecht wird Segen ſtiften, ſo lange es zum Inſtrument wird, um höhere perſönliche
Eigenſchaften beſtimmter ſocialer Gruppen für längere Zeit zu erhalten, ja ſie zu ſteigern.
Wo der große Grundbeſitz ausgezeichnete Staatsmänner und Generale, tüchtige unabhängige
Lokalbeamte und Vertreter des landwirtſchaftlichen Fortſchritts erzieht, wo der mittlere
Grundbeſitz einen geſunden Bauernſtand erhält, da erſcheint auch die durch Jahrhunderte
erhaltene ungleiche Grundeigentumsverteilung als ein berechtigtes Mittel ariſtokratiſcher
Geſellſchaftsgliederung und Erhaltung eines breiten Mittelſtandes. Und wo das in
den Händen von Kaufleuten, Bankiers und Unternehmern ſich ſammelnde Kapital
überwiegend die Grundlage für ein geſittetes Bürgertum, der Anlaß zu kühner Auf-
ſuchung neuer Handelswege, zur Anbahnung techniſcher Fortſchritte, zur Begründung
neuer Induſtrien wird, da wird die Erhaltung erheblicher Vermögen in denſelben
Familien ſegensreicher fürs Ganze ſein, als wenn alles neu erſparte Kapital ſtets ſofort
gleichmäßig unter alle Bürger verteilt würde.
Das Erbrecht wird ſo das Mittel, eine beſtehende ungleiche Grundbeſitz- und
überhaupt jede Beſitzverteilung zu erhalten, unter Umſtänden auch ſie zu ſteigern,
zumal wenn einzelne Kinder bevorzugt werden, oder die höheren Klaſſen nur eine
geringe Kinderzahl haben. Es können dadurch auch die Klaſſengegenſätze ſich verſchärfen,
wenn z. B. der Grundbeſitz ſehr an Wert ſteigt, die Pächter oder Bauern gegenüber
den Eigentümern und Grundherren in ſchlechtere Lage kommen. Aber das Erbrecht
ſchafft nicht die ungleiche Beſitzverteilung; es erleichtert nur einzelnen die wirtſchaft-
liche Exiſtenz und damit auch die Anhäufung von Beſitz. Und es fragt ſich nun, wie
im Laufe der Generationen die perſönlichen Eigenſchaften der Beſitzenden zu der Größe
ihres Beſitzes ſich ſtellen, welchen Gebrauch ſie davon machen, ob zumal da, wo immer
größerer Beſitz ſich in wenigen Händen anhäuft, die Leiſtungen, Fähigkeiten und Tugenden
entſprechende ſind. Es kommt da ganz auf die Erziehung in den höheren Klaſſen,
auf deren geiſtig-moraliſche Entwickelung an. Jede ältere Beſitzariſtokratie iſt der
Verſuchung ausgeſetzt, ſich dem Luxus, dem individuellen Lebensgenuß, den Laſtern des
vornehmen Lebens zu ergeben, nicht mehr zu arbeiten und auf das ſtolze Vorrecht
der Initiative zu verzichten. Erſt ſind es einzelne ihrer mißratenen Söhne, oft bald
auch der Durchſchnitt derſelben, der ſo herabſinkt, die alten Fähigkeiten und damit die
Führung des Volkes verliert. Und doch ſind ihre Glieder oft gerade in ſolcher Zeit
in der Lage, durch geminderte Eheſchließung und Kinderzahl, Geldheiraten und Erbrecht
größere Vermögen zu ſammeln. Die perſönlichen Eigenſchaften ſinkender Ariſtokratien
ſind es, welche die wichtigſte Urſache revolutionärer, kommuniſtiſcher Bewegungen
darſtellen. Und daß alle Ariſtokratien, am früheſten die exkluſiv nach unten ſich
abſchließenden, mit der Zeit der Gefahr der Erſchöpfung, der Entartung erliegen, wird
ſich nicht leugnen laſſen.
[385]Das Erbrecht, die Angriffe auf dasſelbe, ſeine Reform.
Man kann nun einwenden, in ſolchen Zeiten ſänken die verkommenen Söhne und
Enkel einer alternden Ariſtokratie durch Verſchwendung und durch ihre körperlichen und
geiſtigen Eigenſchaften in der Regel ſpäteſtens in der 2. oder 3. Generation von ſelbſt
in die unteren Klaſſen herab, oder die Familien ſtürben aus, neue, beſſere Elemente träten
an ihre Stelle, und es fände ſo gleichſam ein natürlicher Reinigungsprozeß ſtatt. Aber
ein ſolcher genügt den anſtürmenden demokratiſchen Beſtrebungen nicht. Unter dem Ein-
drucke der entarteten Sitten, der geſunkenen Leiſtungsfähigkeit und der politiſchen Fehler
der bevorrechtigten Kreiſe, bildet ſich in ſolcher Zeit der Glaube, alle Vermögens-
verteilung ſei ungerecht. Und unter der Vorſtellung, daß alle Menſchen von Natur
gleich ſeien, wird nun das Erbrecht überhaupt angegriffen, das den gleichen Menſchen
ſo ungleichen Beſitz zuweiſe. Der Zufall, der durch Krankheit und Geſundheit, durch
Leben und Sterben in alles Menſchenſchickſal eingreift, erſcheint auch in der Form
der Erbrechtsreſultate nun als etwas Unerträgliches, durch neue Einrichtungen zu
Beſeitigendes.
Aus ſolchen Bewegungen iſt der berechtigte Gedanke erwachſen, daß das Erbrecht
der Seitenverwandten zu beſeitigen ſei, daß der Staat durch Erbſchaftsſteuern an jeder
Vermögensübertragung im Todesfall teilzunehmen habe. Weiter ſchon geht es, wenn
alle größeren Vermögen einer progreſſiven Erbſchaftsſteuer unterworfen werden, oder
wenn, wie das oft (zumal im Altertum) vorgekommen iſt, die größeren Vermögen durch
ſtaatliche Konfiskation beſeitigt werden. Das letzte Glied in dieſer Kette iſt der ſocialiſtiſche
Gedanke, überhaupt Staat oder Gemeinde ſtatt der Kinder erben zu laſſen oder wenigſtens
jede Erbſchaft über einen gewiſſen Umfang dieſem Princip zu unterwerfen. Dabei wird
überſehen, wie klein heutzutage die Zahl der Millionäre iſt, die man beneidet, bei
deren Kindern die ungünſtigen ſittlichen und wirtſchaftlichen Folgen des Erbrechts über-
wiegen. Wir können ohne Übertreibung behaupten, daß bei 80—95 % aller Familien
auch heute noch das Erbrecht der Kinder überwiegend ſegensreich wirkt. Auf die Zahlen,
die dies wahrſcheinlich machen, werden wir bei der Einkommensverteilung zurückkommen.
Und auch bei der heutigen Ariſtokratie wird die Zahl derer, welche durch größeren
Beſitz und Erhaltung desſelben in den Familien der Geſamtheit mehr nützen als
ſchaden, ebenſo groß oder größer ſein wie die der entarteten Rentiersſöhnchen, die durch
ein großes Erbe zu Grunde gehen, nicht arbeiten, durch ihr Beiſpiel mehr ſchaden
als nützen. Und wie wollte man ein Erbrecht einrichten, das nach der perſönlichen
Würdigkeit dem einen ſein Erbe läßt, dem anderen es nimmt. So wird, ſo lange
es individuelle Menſchen und individuelles Eigentum giebt, die Menſchheit ſich in
Familien fortpflanzt, auch das Erbrecht dauern, allerdings allmählich durch Steuern mehr
beſchränkt und in Bezug auf Seitenverwandte ganz oder halb beſeitigt; ſowie modifiziert
durch jenen gemeinnützigen Sinn, der jedem Millionär die Pflicht auferlegt, einen Teil
ſeines Beſitzes durch gemeinnützige Stiftungen der Geſamtheit zuzuwenden.
131. Die Ergebniſſe der geſchichtlichen Betrachtung. Zwei
hiſtoriſche Entwickelungsreihen aus der Geſchichte des Eigentums überſehen wir: die
antike und die moderne. Beidesmal ſiegte im ganzen das Privateigentum über das
ältere Staats- und Gemeindeeigentum. Dieſe letzteren Formen waren in breiter, aus-
gebildeter Weiſe ſo lange vorhanden, wie eine naturalwirtſchaftliche Genoſſenſchafts- oder
Staatsverfaſſung die noch nicht zu individueller Ausbildung gelangten Menſchen
beherrſchte. Ein volles ſtaatliches Bodeneigentum hat es nur in militäriſchen oder
prieſterlichen Despotien gegeben; die Allmende ſetzte Überwiegen der Weidewirtſchaft
über den Ackerbau voraus. Mit dem Siege des intenſiven Ackerbaues, mit allen Fort-
ſchritten der Technik verknüpft ſich bei allen Völkern das breitere Vordringen des freien
Privateigentums. Weil wir bisher eine andere Art vollendeter techniſcher Produktion
in Ackerbau und Induſtrie, im Klein- und Großhandel noch nicht erlebt haben, als
unter der Vorausſetzung des überwiegenden Privateigentums, ſo hat bisher auch die
herrſchaftliche freie Verfügung der Individuen über die Gegenſtände der beſchränkten
materiellen Außenwelt für die beſte rechtliche Baſis der Volkswirtſchaft gegolten.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 25
[386]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Ebenſo klar aber iſt, daß mit dem Eigentum des Privatmannes, welches das direkte
Bedürfnis ſeiner Perſon, ſeiner Familie überſchreitet, Mißbräuche geſellſchaftlicher Art
verbunden ſein können. Das Eigentum giebt eine Sphäre der Freiheit, einen Spiel-
raum für individuelles und mannigfaltiges Thun, und je größer dieſe Freiheitsſphäre,
deſto wechſelvoller können die Folgen ſein. Der größere Grundbeſitz, das größere Kapital
giebt Macht, die recht und die falſch gebraucht werden, die der Geſellſchaft nützlich oder
ſchädlich ſein kann. Alles größere Eigentum legt mehr ſittliche als rechtliche Pflichten
auf, die erfüllt und vernachläſſigt oder verletzt werden können. Und darnach wird die
Geſellſchaft urteilen, darnach wird ihr Urteil über die beſtehenden Eigentumsverhältniſſe
ausfallen.
In der antiken Geſchichte war das ältere gebundene und genoſſenſchaftliche Eigentum
zu raſch und zu plötzlich in den freien Latifundienbeſitz einer kleinen entarteten, mehr
durch Ausbeutung ihrer politiſchen Herrſchaft als durch Arbeit überreich gewordenen
Ariſtokratie umgeſchlagen, während die Menge ebenſo faul und genußſüchtig wie
eigentumslos war. Der römiſche Principat legte auf das wertvollſte Eigentum an
Bergwerken, Salinen, Gütern und Fabriken durch Konfiskation und in anderer Weiſe
die Hand und ſammelte ſo gewaltſam ein Rieſenvermögen, um das ungeheure Reich
damit zu regieren, den Pöbel der Hauptſtädte durch Brotſpenden und Spiele zufrieden
zu ſtellen; die großen ariſtokratiſchen Vermögen, die daneben in Privathänden, im
Beſitz der Poſſeſſoren blieben, wurden mit ſolchen Laſten im Staatsintereſſe belegt, daß
die Eigentümer bald lieber ihren Beſitz aufgaben, durch erblichen Zwang in ihrer
Stellung feſtgehalten werden mußten.
Die neuere Entwickelung war viel langſamer, viel komplizierter, ſie war in ihren
wirtſchaftlichen und ſittlichen Folgen eine viel günſtigere.
Von dem großen Grundeigentum, das im Mittelalter ſich bildete, und das einſt
die Grundlage der politiſchen und lokalen Verwaltung, der Kirche, des kriegeriſchen
Dienſtes geweſen war, iſt der größere Teil ſpäter in die Hände freier mittlerer und
kleinerer Eigentümer gekommen. So weit der Großgrundbeſitz ſich erhielt oder neu in
den letzten 200—300 Jahren ſich bildete, gehört er überwiegend dem Staate, den Kor-
porationen oder einer Ariſtokratie, welche politiſche Pflichten erfüllt, die lokale Selbſt-
verwaltung ermöglicht, Träger des techniſch landwirtſchaftlichen Fortſchrittes iſt. Es
iſt von ſeiten der Socialiſten und der Verherrlicher des Großbetriebes neuerdings öfter
behauptet worden, bald werde und müſſe alles Ackerland zu Großbetrieben vereinigt
werden, um beſſer und mehr zu produzieren. Aber ſelbſt in Nordamerika machen die
Rieſenfarmen nur einen verſchwindenden Bruchteil des beſtellten Landes aus; in England
ſind die Pachteinheiten viel kleiner als die Eigentumseinheiten; auf dem ganzen
europäiſchen Kontinent dehnt der landwirtſchaftliche Großbetrieb ſich heute nicht nur
nicht aus, ſondern er weicht da und dort bereits dem Kleinbetrieb. Auch iſt es nicht
allgemein wahr, daß er größere Ernten billiger erzeuge als der Mittel-, vollends als
der Klein- und Gartenbetrieb. Ob künftige Fortſchritte in der landwirtſchaftlichen Technik
das ändern werden, muß dahingeſtellt bleiben. Für jetzt iſt das Nebeneinanderfortbeſtehen
der kleinen, mittleren und großen Güter als das der Produktion und der Geſellſchaft
Zuträglichſte anzuſehen. Jedenfalls hätten wir, falls heute ein Geſetz das beſtehende
Grundeigentum durch Rentenentſchädigung der Grundeigentümer einziehen wollte, keine
fähigen genoſſenſchaftlichen oder anderweiten Organe, denen mit denkbar günſtigem Erfolg
das Land in direkte Pacht oder zur Unterverpachtung übergeben werden könnte. Genoſſen-
ſchaften unſerer Bauern und unſerer Landarbeiter wie unſere Landgemeinden wären gleich
unfähig dazu. Und alles, was wir heute an Triebkräften des Fleißes und der Sparſam-
keit in eigenem Beſitz ſo ſegensreich wirken ſehen, was wir an geſunder Verbindung von
Familienwirtſchaft und landwirtſchaftlichem Kleinbeſitz, an Verwachſung der Generationen
mit dem Hofe der Väter beſitzen, wäre mutwillig zerſtört. Von den landwirtſchaftlichen
Arbeitern verlangen heute die meiſten nach einem kleinen individuellen, nicht nach einem
genoſſenſchaftlichen oder ſtaatlichen Eigentum.
[387]Antike und moderne Eigentumsentwickelung.
Nur unter beſtimmten Vorausſetzungen werden die heutigen Eigentumsverhältniſſe
des Grundeigentums unhaltbare: wenn der größere und mittlere Beſitz ſeiner öffentlichen
Pflichten ganz vergißt, wenn die Mehrzahl der größeren Grundeigentümer zu bloß
genießenden Rentiers herabſinkt, wenn und wo ungeſunde Zwergpachtverhältniſſe oder
eine allgemeine Überſchuldung ſiegen oder ganz überwiegend werden. Dieſen Gefahren
kann entgegengearbeitet werden, und wird es längſt, wie wir oben ſchon ausführten.
Der ältere Bauernſchutz, unſere Ablöſungsgeſetze, unſer neueres Anerbenrecht gehören
hieher. Über Erſchwerung der Verſchuldung verhandeln wir heute, mehr wird noch in
Zukunft geſchehen. Im Oſten der preußiſchen Monarchie hat man mit Erfolg begonnen,
unter Mitwirkung ſtaatlicher Behörden und ſtaatlichen Kredits zahlreiche mittlere und
kleine Bauernſtellen zu ſchaffen. Die Anhäufung des zu großen Grundbeſitzes in einer
Hand ſollte erſchwert, jedenfalls an Bedingungen im Intereſſe ſocialer Reform geknüpft
werden. Es könnte verfügt werden, daß die beſtehenden mittleren Beſitzungen ohne
genügende Gründe nicht verpachtet, ſondern von Eigentümern bewirtſchaftet werden
müſſen, daß ſie über ein Maximum nicht vergrößert, unter ein Minimum nicht ver-
kleinert werden dürfen, daß von ſolchen Beſitzungen nur eine in derſelben Hand ſein
darf. Anſätze zu ſolcher Rechtsbildung haben wir in verſchiedenen Staaten und in
der kolonialen Landgeſetzgebung. Ein größerer Teil des Grund und Bodens kann
daneben ganz dem freien Verkehr überlaſſen bleiben.
Aller Grundbeſitz, ebenſo aller Haus-, Fabrik-, Bergwerksbeſitz wird in ſteigendem
Maße in ſeiner Nutzung geſetzlichen Schranken im Geſamtintereſſe unterworfen. Und
doch bleibt daneben der Verkehr damit frei; ein immer größerer Teil des heutigen Ver-
mögens iſt nicht ererbt, ſondern erworben; je beweglicher unſere Volkswirtſchaft
geworden, deſto weniger kann der Unfähige und Faule im ganzen ſich halten. Freilich
verſchwinden die Ausnahmen nicht, freilich hören glückliche Zufälle und Konjunkturen
nicht auf, den Dummen und Trägen einmal das große Los treffen zu laſſen, und
überträgt das Erbrecht immer wieder die Vermögensverteilung der alten Generation,
ohne Rückſicht auf die Eigenſchaften, auf die jüngere. Aber das ſind keine Einwürfe,
die ſchwerwiegend genug gegenüber den entgegenſtehenden günſtigen Folgen wären. Nur
darf man als Ideal einer gerechten und durchführbaren Eigentumsordnung nicht eine
ſolche aufſtellen, die jedem Individuum gleich viel oder in jedem Augenblick nach ſeinem
perſönlichen Verdienſt giebt. Soweit letzteres indirekt möglich iſt, müſſen die Inſtitutionen
darauf hinwirken, direkt aber iſt dies nie möglich, weil dazu eine allwiſſende Behörde
gehörte, deren Wirken doch von den einzelnen als ungerechter Despotismus empfunden
würde. Hauptſächlich iſt aber nicht das augenblickliche Einzelintereſſe aller Individuen der
richtige Maßſtab, ſondern das geſellſchaftliche Geſamtintereſſe in Gegenwart und Zukunft.
Dies kann daher auch allein maßgebend für die Frage ſein, ob und wo Staat
und Gemeinde oder öffentliche von ihnen halb abhängige Anſtalten, ob und wo
Stiftungen, Geſellſchaften, Genoſſenſchaften die Verwaltung eines ſteigenden Teils
alles Eigentums in den verſchiedenſten Rechtsformen den Individuen und Familien
abnehmen.
Aber es wird auch in Zukunft wie bisher eine breite Sphäre des Eigentums der
Individuen beſtehen bleiben neben dem des Staates und der anderen höheren ſocialen
Organe; es liegt im Weſen des Individuums und der Geſellſchaft, daß dem ſo ſein muß.
So lange es Menſchen giebt, wird es individuelles Eigentum geben, es iſt nur erweitertes
Organ des Willens; menſchliche und berufliche Ausbildung iſt unmöglich ohne eine
freie Eigentumsſphäre. Alle höhere Ausbildung der Individualität ſetzt die höhere,
ſichere Ausbildung einer gewiſſen individuellen Sphäre der Freiheit d. h. des Eigentums
voraus. Und vollends wer daran feſthält, daß eine gewiſſe ariſtokratiſche Gliederung
der Geſellſchaft ſich immer erhalten wird, kann auch in einer entſprechenden ariſtokratiſchen
Eigentumsverteilung nur die Konſequenz eines Gedankens ſehen, deſſen Ausſchreitungen
man bekämpfen muß, der aber an ſich nicht verſchwinden wird.
Ebenſo aber ſchließt alle höhere Staats- und Geſellſchaftsverfaſſung gemeinſchaft-
liches Eigentum und beſtimmte Rechte der Gemeinſchaft über das individuelle Eigentum
25*
[388]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
in ſich. Die Epochen des großen ſocialen Fortſchritts, der ſteigenden Zuſammenfaſſung
der Kräfte ſind zugleich Zeiten, in welchen das gemeinſame Eigentum nicht bloß das
des Staates ſondern aller größeren ſocialen Organe zunimmt, und die Unterordnung
des individuellen Eigentums unter die Geſamtzwecke wächſt. Wir leben heute wieder
in einer ſolchen Epoche, die die Grenzen zwiſchen gemeinſchaftlicher und individueller
Eigentumsſphäre etwas anders reguliert, eine kompliziertere Ineinanderpaſſung beider
Sphären herbeiführt, eine Summe neuer Gemeinſchaftsorgane mit eigentümlicher,
komplizierter Verfaſſung und gemeinſchaftlichem Eigentum erzeugt und erzeugen wird.
Das Weſentliche aber bei all’ dem iſt, daß die Eigentumsordnung eine immer kom-
pliziertere wird, die verſchiedenſten je für beſtimmte Verhältniſſe paſſenden Formen
ausbildet, aber nicht, daß ſie zu den rohen Formen des alten Staats- oder Gemeinde-
eigentums zurückkehrt.
Die Geſchichte des Eigentums reflektiert ſtets die ganze Geſchichte der Geſellſchaft
und ihrer Organiſation, ſowie die Geſchichte der fortſchreitenden ſittlichen Ideen, welche
dieſe in ſich aufnimmt. Alle Geſellſchafts-, Genoſſenſchafts-, Staatsbildung hat irgend
welche Formen des gemeinſamen Eigentums, irgend welche Schranken und Pflichten des
privaten Eigentums erzeugt. Die Ausbildung des individuellen Eigentums hat die
älteren Geſellſchaftsordnungen aufgelöſt, die neuere bilden helfen. Ohne dasſelbe konnte
die patriarchaliſche und moderne Familie, die Unternehmung, die Arbeitsteilung, Handel
und Verkehr ſo wenig entſtehen, wie die individuelle Perſönlichkeit ſich ausbilden. Immer
mehr aber haben ſich zugleich die Geſamtintereſſen, die ſociale Zweckmäßigkeit und Reform,
die ſympathiſchen Gefühle in alle Rechtsſatzungen des Eigentums eingeſchoben und haben
edlere höhere Formen des privaten und kollektiven Eigentums erzeugt.
132. Eigentumsdefinitionen und Eigentumstheorien. Wenn wir ſo
alle Konſequenzen des Eigentumsrechtes ins Auge faſſen, ſo werden wir uns für unſeren
Zweck auch nicht mit der gewöhnlichen Definition zufrieden geben, das Eigentum ſei die
ausſchließliche rechtliche Herrſchaft einer natürlichen Perſon oder eines ſocialen Organes
über eine Sache; das iſt eine Definition mittelſt einer bildlichen Analogie; das Bild
der politiſchen oder ſocialen Herrſchaft einer Perſon über andere wird auf die Sachen-
welt übertragen. Alles Recht iſt in ſeinem Kerne eine Regelung der Beziehungen von
Perſonen und ſocialen Organen untereinander, und daher ſage ich lieber: das Eigentums-
recht iſt der Inbegriff von rechtlichen Regeln, welche die Nutzungsbefugniſſe und -Verbote
der Perſonen und ſocialen Organe untereinander in Bezug auf die materiellen Objekte
der Außenwelt feſtſetzen. Das Eigentum an der einzelnen Sache iſt in erſter Linie der
rechtliche Inbegriff der andere ausſchließenden Nutzungsbefugniſſe, alſo das Recht des
Gebrauches, des Verkaufes, der Vererbung, der Verſchenkung ꝛc., in zweiter Linie ſchließt
aber das Eigentumsrecht ſtets auch gewiſſe rechtliche Schranken und Pflichten ein,
welche dem Eigentümer in Bezug auf die beſtimmte Sache gegen andere Perſonen und
ſociale Organe auferlegt ſind.
Die Eigentumsordnung iſt die rechtliche Regelung der geſamten Beziehungen der
einzelnen Perſonen und der ſocialen Organe zur materiellen Außenwelt; ſie normiert
gemäß den beſtehenden Machtverhältniſſen und ſittlichen Grundanſchauungen in der
Form des Rechtes die Verteilung von Grund- und beweglichem Beſitz an die Individuen
und ſocialen Organe. Das heißt: ſie normiert die erlaubten und verbotenen Nutzungen
für die Gegenwart und beſtimmt die zuläſſigen Veränderungen in der künftigen
Verteilung durch das Erbrecht, durch die Verträge, die rechtlich zuläſſigen Erwerbsarten.
Schon die älteren einfachen Eigentumsordnungen beſtehen ſo aus einer großen Zahl
von formalen und materiellen Beſtimmungen; je höher die Kultur ſteigt, deſto mannig-
faltiger und komplizierter werden ſie, deſto mehr erſchöpft ſich die Eigentumsordnung
nur in einer ſteigenden Zahl ſelbſtändiger Rechts- und Verkehrsinſtitutionen.
Die hiſtoriſche Entwickelung des Eigentums und alle ſpätere formale und materielle
Ausbildung des Eigentumsrechtes, alle Veränderung in der Grenznormierung zwiſchen
individueller und gemeinſchaftlicher Sphäre knüpft an praktiſche Anläſſe, an Macht-
kämpfe, an die ſocialen und volkswirtſchaftlichen, die politiſchen und militäriſchen Ein-
[389]Die verſchiedenen Eigentumstheorien.
richtungen der Zeit an; alle ſelbſtiſchen und alle ſympathiſchen Motive menſchlichen
Lebens wirken da mit, bei der Ausbildung der individuellen Sphäre mehr die ſelbſtiſchen,
bei den gemeinſchaftlichen mehr die höheren Gefühle.
In dem Maße, wie in dieſes Spiel der Motive und Intereſſen denkende Betrach-
tung eingriff, haben führende Geiſter einzelne der mitwirkenden Motive, Gedanken-
und Erſcheinungsreihen herausgegriffen und aus ihnen ſogenannte Eigentumgstheorien
geſchaffen, die alle den Zweck verfolgten, mit einer einheitlichen Formel das Weſen des
Eigentums hiſtoriſch und begrifflich zu erklären und meiſt zugleich ein beſtimmtes Ideal
der Eigentumsordnung aufzuſtellen. In dem Maße, wie ſolche Theorien das Glaubens-
bekenntnis ganzer Schulen, Klaſſen und Parteien wurden, haben ſie auf das praktiſche
Leben wieder maßgebend zurückgewirkt. Über die urſprünglichen Motive aber und die
geſchichtlichen Prozeſſe, welche das Eigentum ſchufen und umgeſtalteten, waren die
meiſten dieſer Eigentumstheoretiker wenig unterrichtet; ſie verlegten ihre Gedanken und
die vorherrſchenden Motive ihrer Zeit in die Epoche der Entſtehung des Eigentums.
Aber alle dieſe Theorien ſind als hiſtoriſche Produkte ihrer Zeit, als Fermente
für die Weiterbildung des Eigentums von Bedeutung. Sie zerfallen der Tendenz nach
wie alle derartigen Theorien über ſtaatliche und wirtſchaftliche Einrichtungen in eine
individualiſtiſche und eine centraliſtiſche Gruppe; der Motivierung nach knüpfen ſie
teils mehr an die materiellen Vorgänge und Thatſachen, teils mehr an die Formen
und Entſtehungsgründe des Rechtes überhaupt an. Zu allen Zeiten haben die
verſchiedenen Theorien neben einander beſtanden; nur findet je nach den Zeitverhältniſſen
und Zuſtänden bald die eine, bald die andere mehr Anhänger.
An der Spitze der individualiſtiſchen Eigentumstheorien ſtehen die
der urgeſchichtlichen Wortbildungen, die uns O. Schrader aus der indogermaniſchen
Sprachwelt vorführt. Wir ſehen, daß ſchon in den älteſten Zeiten das werdende
Eigentum bezeichnet wurde als das „Beſeſſene, Innegehabte, Erarbeitete, Erlangte,
Erbeutete, Überlaſſene, dann als das Verborgene, das mit der Hand Ergriffene, das der
Gewalt Untergebene, das zum Leben Gehörige“. An ähnliche Vorſtellungen knüpfen
die ſpäteren individualiſtiſchen Theorien überwiegend an. Die von A. Wagner ſogenannte
natürliche Eigentumstheorie, als deren Hauptvertreter Fichte, Krauſe, Hegel, Stahl,
Trendelenburg genannt werden können, geht davon aus, daß individuelles Eigentum
Vorausſetzung der Entwickelung der Perſönlichkeit und daher gerechtfertigt ſei. Dieſem
an ſich ganz richtigen Gedanken wird entgegnet: der Pächter, der auf fremdem Boden,
der Arbeiter, der an fremder Maſchine fremden Rohſtoff bearbeite, entwickele trotzdem
ſeine Perſönlichkeit, alſo paſſe die Theorie nicht auf den Boden und nicht auf das
Kapital; ſoweit der Satz zutreffe, beweiſe er nur, wie falſch das Eigentum heute
verteilt ſei, indem einzelne zu viel, andere zu wenig Eigentum zu einer ſittlich-
individuellen Entwickelung hätten.
Die von A. Wagner als natürlich-ökonomiſche bezeichnete Theorie, die auf
Nationalökonomen wie Mill und Roſcher zurückgeht, erklärt das individuelle Eigentum
für notwendig, um Fleiß, Sparſamkeit, Kapitalbildung zu erzeugen. Sie bezeichnet
pſychologiſch zutreffend eine der fundamentalen Vorausſetzungen unſerer ganzen Kultur-
entwickelung und unſerer heutigen Volkswirtſchaft, aber ſie erklärt und rechtfertigt nicht
jedes beſtehende Privateigentum, ſie ignoriert alles Gemeinſchaftseigentum.
Die römiſchrechtliche Occupationstheorie, die alles individuelle Eigentum aus einem
individuellen Willensakt ableitet, iſt für das urſprünglich meiſt durch ſociale Gemein-
ſchaften occupierte und verteilte Grundeigentum, und vielfach auch für alle ſpätere
Eigentumsverteilung gänzlich falſch; ſie ſtammt aus den kriegeriſchen Beuteerinnerungen
von Männern, die nach Gajus maxime sua esse credebant, quae ex hostibus cepissent.
Viel richtiger erfaßt die von den Niederländern und Locke aufgeſtellte, von vielen
Nationalökonomen angenommene Arbeitstheorie das Problem. Daß, was ich mit meiner
Hand geſchaffen, mir mehr gehört als anderen, iſt eine ſo evidente Wahrheit, daß ſie
ſtets dem natürlichen Gefühl ſich aufdrängen mußte. Aber in einer kompliziert zuſammen-
wirkenden arbeitsteiligen Geſellſchaft begegnete die Durchführung dieſes Princips ſteigenden
[390]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Schwierigkeiten. Wie viel von dem Ackerwert hat die Arbeit des Feldmeſſers, des
Hypothekenrichters, des Gutsbeſitzers, des Tagelöhners, wie viel von dem fertigen
Maſchinenwert hat der Bergmann, der Eiſenproduzent, der Maſchinenfabrikant, der
Monteur, der Gießer und der Schmied geſchaffen? Der ärmſte Arbeiter, wie der
Millionär iſt heute zu Neunzehntel von Eigentum umgeben, das er nicht geſchaffen.
Außerdem aber, ſoll die Waiſe und die Witwe nicht das Eigentum des verſtorbenen
Vaters oder Mannes erhalten, weil ſie es nicht erarbeitet? Hat eine wohlthätige
Stiftung, hat eine Gemeinde ihr Eigentum auf Grund von Arbeit? Kurz, wir kommen
mit dieſer Theorie, ſo Richtiges ſie in ihrem Kern enthält, praktiſch nicht weit, ſo wenig
wie mit der in die Reihe der individualiſtiſchen Theorien gehörenden Fiktion der Natur-
rechtslehrer (Hugo Grotius), die Menſchen ſeien durch freien Vertrag der Individuen aus
einem urſprünglichen Zuſtande der allgemeinen Gütergemeinſchaft in eine ſolche des
geteilten individuellen Eigentums übergetreten.
Alle dieſe Theorien denken ausſchließlich an das Privateigentum, ſie ſind gänzlich
unhiſtoriſch, aber ſie greifen aus den Thatſachen der Geſchichte und des Seelenlebens
doch die wichtigſten heraus, die in der Ausbildung des privaten Eigentums eine Rolle
geſpielt. Sie haben darin recht, daß bei höherer Kultur, bei zunehmender Individuali-
ſierung der Menſchen die private Eigentumsſphäre eine ſteigende Rolle ſpielt, ſie berühren
ſich teilweiſe in ihren Idealen der Verteilung mit den entgegengeſetzten Theorien, die
eine planvolle Ordnung des Eigentums von oben verlangen. Die individualiſtiſche
Gerechtigkeit, die nie allein herrſchen kann, die aber einen ſteigenden Einfluß erlangt,
fordert vom Standpunkt der natürlichen und der Arbeitstheorie, daß jedes vollberechtigte,
ſelbſtändige Individuum einen beſtimmten auskömmlichen Anteil am Eigentum erhalte;
ſie lehrt, daß eine Eigentumsordnung und -verteilung, welche den Arbeitsleiſtungen,
ja überhaupt den ſittlich und ſocial in Betracht kommenden Eigenſchaften und Leiſtungen
der Familien und Individuen im großen und ganzen entſpreche, welche verſuche, ſich
ſolchem Ideal zu nähern, die richtige ſei. Aber alles Recht arbeitet mit durchſchnitt-
lichen Maßſtäben und groben Regeln, kann deshalb nie alle Ungerechtigkeit und
Zufälligkeit der Eigentumsverteilung beſeitigen.
Die entgegengeſetzten centraliſtiſchen Eigentumstheorien ſtehen auf dem
Boden, der ſchon in der älteſten Sprachbildung den Beſitz als ein Geſchenk der Götter
(divitiae) bezeichnete, der das Grundeigentum als ein von den Prieſtern verwaltetes
und verteiltes Eigentum der Gottheit auffaßte. Von Plato bis zu den heutigen
Socialiſten reicht die Kette der Denker, die das Gemeinſame und Zuſammenhängende
in der Geſellſchaft im Auge haben und alles von den einzelnen Individuen nicht direkt
Geſchaffene der Geſamtheit und ihren Organen vindizieren. Von den neueren Socialiſten
werden alle ſchlechten Eigenſchaften der Menſchen, Habſucht, Gewinnſucht, Verbrechen,
unrechtmäßige Abhängigkeit eines Teiles der Bevölkerung vom anderen auf das individuelle
Eigentum zurückgeführt.
Die ſogenannte Legaltheorie betont ausſchließlich das Formale: alles Eigen-
tum iſt Folge des Gewohnheitsrechtes und des Geſetzes. Zu ihr bekennen ſich Hobbes
und Montesquien, Bentham und Laſſalle, neuerdings A. Wagner, alſo Geiſter aus
den verſchiedenſten politiſchen Lagern. Die Theorie drückt den Gedanken richtig aus,
daß das Eigentum, wie alles Recht, der ſtaatlichen Anerkennung bedürfe, unter
ſtaatlicher Oberhoheit ſtehe, vom Staate mit Pflichten, wie ein Amt ſie erteile, belegt
werden könne; aber ſie überſieht, daß die Anfänge der Eigentumsbildung älter ſind
als jede eigentliche Staatsgewalt, und ſie giebt für die Frage, ob es ein Privateigentum
und wie weit es ein ſolches geben ſoll, gar keinen Anhalt, weil ſie eben rein formali-
ſtiſche Theorie iſt. Von ſocialiſtiſcher und ſtaatsſocialiſtiſcher Seite iſt ſie neuerdings
bevorzugt worden, weil ſie die Konſequenz nahe legt, daß wenn das Eigentum nur
durch Geſetz entſtanden, es durch Geſetz auch jederzeit aufgehoben oder beſchränkt
werden könne. —
Alle dieſe verſchiedenen Theorien enthalten ſo Elemente der Wahrheit, keine enthält
die volle ganze Wahrheit. Alle gehen von dem falſchen Glauben aus, eine ſo komplizierte,
[391]Individualität und Geſamtintereſſe, Reform und Revolution in der Eigentumsordnung.
die ganze Geſellſchaftsverfaſſung beherrſchende Einrichtung wie das Eigentum müſſe auf
einen einzigen Gedanken ſich hiſtoriſch oder begrifflich zurückführen laſſen. Sie über-
ſehen, daß das Weſen des Eigentums ſich nur erſchöpft in den geſamten vielgeſtaltigen
ſocialen und wirtſchaftlichen Inſtitutionen, in den geſamten Beziehungen zwiſchen
Individuum und Staat, in den großen hiſtoriſchen Veränderungen, welche die darauf
bezüglichen Einrichtungen durchgemacht haben und immer wieder durchmachen.
Das private und das öffentliche Eigentum ſind entſtanden und gewachſen in dem
Maße, wie das Individuum und die geſellſchaftlichen Organe ſich ausbildeten. Der
Schutz des nach den Anſchauungen der Zeit wohlerworbenen Eigentums wurde die Vor-
ausſetzung des Friedens in der Geſellſchaft, der höheren Geſittung, der komplizierteren
auf Arbeitsteilung und Geldverkehr beruhenden Verfaſſung. Gewiß konnten die Gerichte
und eine ſtets unvollkommen bleibende Geſetzgebung nicht jeden unrechten Erwerb
hindern; jeder verjährte Beſitz mußte als unangreifbar hingeſtellt werden, ſollte nicht
ein Rückfall in barbariſche Roheit eintreten. So konnten immer wieder zeitweiſe
ungeſunde Eigentumsverhältniſſe entſtehen; und niemals iſt auch eine an ſich geſunde
Eigentumsverteilung von allen als ſolche gleichmäßig anerkannt worden. Wo große
Veränderungen der Technik, der geſellſchaftlichen Organiſation einzelne oder ganze Klaſſen
emporhoben, andere herabdrückten, entſtand immer wieder die Frage, iſt das Reſultat
der veränderten Eigentumsverteilung ein gutes, ein gerechtes? Wo ungerechte Privilegien
und Vorrechte ſich zu lange hielten, blieb auch der Sturm der Revolution nicht aus
und ſuchte kühn und plötzlich in das beſtehende Eigentum einzugreifen und zu beſſern.
Meiſt nicht mit gutem Erfolg für die Bedrückten, häufig nur zu Gunſten weniger.
Jedenfalls nur in ganz rohen und einfachen Zuſtänden konnten Neuverteilungen des
Bodens z. B. denen zum Segen gereichen, die ſo ausgeſtattet wurden. Oft wurden
durch gewaltſame Ausbrüche, durch Beraubungen der Beſitzenden, durch Schulderlaſſe
und Ähnliches die Zuſtände ſchlimmer als vorher, wurde durch ſie die Kultur des
betreffenden Volkes begraben.
Damit ſoll nicht behauptet werden, die Widerſprüche zwiſchen Ideal und harter
Wirklichkeit ließen ſich immer friedlich löſen. Auch die Eigentumsordnung kommt
zeitweiſe an Punkte, wo die Friedensdämme brechen, und für die veränderten Strömungen
neue Dämme der Ordnung im Sturm der Revolution gebaut werden müſſen. Aber
auch in ſolchen Stürmen wird der Neubau nur gelingen, wenn ein genialer Diktator
den entfeſſelten Gewalten Halt gebietet, die neuen Eigentumslinien unter Schonung des
Beſtehenden zieht. Beſſer wird die Reform meiſt durchgeführt, wenn eine feſte monarchiſche
Gewalt ſie in die Hand nimmt, dabei die Pole alles geſellſchaftlichen Lebens, Einzel-
und Geſamtintereſſen, gleichmäßig und als das wichtigſte Ziel das im Auge behält,
daß nicht ſowohl die plötzliche Beſſerung, als die künftig gerechtere Neuordnung der
Eigentumsverteilung anzuſtreben ſei. Keine irdiſche Gewalt kann jemals direkt eine
ganz gerechte Verteilung herbeiführen, ſie erhalten, ſie immer von neuem herbeiführen.
Nicht die direkten, ſondern die indirekten Wege führen, wie ſo oft, auch hier zum Ziele.
Die Rechtsordnung muß verſittlicht, die Zugänge zum Eigentum, die rechtlich zuläſſigen
Erwerbsarten müſſen ſo geordnet werden, daß daraus eine beſſere Eigentumsverteilung
nach und nach von ſelbſt entſteht. Nicht im Umſturz des beſtehenden Rechtes, ſondern
in der praktiſchen, auf das Mögliche gerichteten, an die beſſeren Triebe der Menſchen,
an die beſſere Sitte appellierenden, von großen Idealen geleiteten Reformarbeit im
einzelnen liegt das Ziel. Alles vorhandene Eigentum iſt dabei heilig zu halten.
6. Die geſellſchaftliche Klaſſenbildung.
- Allgemeines: Ferguſon, Verſuch über die Geſchichte der bürgerlichen Geſellſchaft. 1768. —
- Benſen, Die Proletarier. 1847. —
- A. Widmann, Die Geſetze der ſocialen Bewegung. 1851. —
- Riehl, Die bürgerliche Geſellſchaft. 1851 ff. —
- Mundt, Geſchichte der Geſellſchaft. 1856. —
- v. Stein, Geſellſchaftslehre. 1856. —
- Roßbach, Geſchichte der Geſellſchaft. 8 Bde. 1868—1875. —
- H. Spencer, Principien der Sociologie. 4 Bde. Deutſch 1877 ff. —
- Schäffle, Bau und Leben
[392]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
des ſocialen Körpers. 4 Bde. 1881 ff. — - Gumplowicz, Der Raſſenkampf. 1883. —
- Schmoller,
Das Weſen der Arbeitsteilung und der ſocialen Klaſſenbildung. J. f. G.V. 1890. — - Simmel,
Über ſociale Differenzierung. 1890. — - Roſcher, Politik, Geſchichtliche Naturlehre der Monarchie,
Ariſtokratie und Demokratie. 1892. — - Bücher, Arbeitsteilung und ſociale Klaſſenbildung in Entſt.
der Volkswirtſchaft. 1893; — Derſ., Arbeitsgliederung und ſociale Klaſſenbildung. Daſ. 2. Aufl.
1897. — - Ammon, Die Geſellſchaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. 1895 und 1896; dazu
meine Anzeige. J. f. G.V. 1895. — - R. Kidd, Sociale Evolution. Deutſch 1895; dazu meine An-
zeige. J. f. G.V. 1895. — - Richter, Die Teilung der Erde. J. f. G.V. 1899.
Kaſtenweſen: Außer einer großen hiſtoriſchen Litteratur: Schlagintweit, Oſtindiſche Kaſte
in der Gegenwart. Zeitſchr. d. morgenl.-deutſch. Geſ. 23. — - Shering, Hindu tribes and castes
as represented in Benares. 1872. — - Nesfield, Brief view of the caste system ect. 1885.
Antike ſociale Entwickelung: Nitzſch, Die Gracchen und ihre nächſten Vorgänger. 1847; —
Derſ., Geſchichte der römiſchen Republik. 2 Bde. 1884—1885. — - Bücher, Die Aufſtände der un-
freien Arbeiter 143—129 v. Chr. 1874. — - P. Müller, Die Geldmacht im alten Rom gegen das
Ende der Republik. 1877. — - Buſolt, Die griechiſchen Staats- und Rechtsaltertümer. 2. Aufl. 1892. —
- Pöhlmann, Geſchichte des antiken Kommunismus und Socialismus. 1893. —
- E. Meyer, Die
wirtſchaftliche Entwickelung des Altertums. 1895. — - F. Cauer, Die Stellung der arbeitenden
Klaſſen in Hellas und Rom. Neue Jahrb. d. klaſſ. Altertums 1899.
Sociale Entwickelung der neuen Zeit bis 1800: Hüllmann, Geſchichte des Urſprunges der
Stände in Deutſchland. 1817 u. 1830. — - L. BlancHistoire de la révolution française. 1847.
— Schmoller, Die ſociale Entwickelung Englands und Deutſchlands im Mittelalter. J. f. G.V.
1888. — - v. Inama-Sternegg, Geſchichte des deutſchen Ständeweſens. H.W. Sup. 2. —
- Kautsky,
Tomas More und ſeine Utopie. 1890. — - Sering, Die ſociale Frage in England und Deutſchland.
J. f. G.V. 1890. — - Kautsky, Das Erfurter Programm. 1892. —
- Breyſig, Die ſociale Ent-
wickelung der führenden Völker Europas. J. f. G.V. 1896 u. 1897.
Die neuere ſociale Entwickelung: v. Stein, Der Socialismus und Kommunismus Frankreichs.
1842 u. 1848; die oben erwähnten Schriften von Marx, Engels, Rodbertus und die ganze
ſocialiſtiſche Litteratur. — - Lange, Die Arbeiterfrage. 1865 ff. —
- Schmoller, Einige Grund-
fragen ꝛc. 1874 u. 1875, 1898. — - v. Treitſchke, Der Socialismus und ſeine Gönner. Preuß.
Jahrb. 34. Hiſtor. pol. Aufſätze. — - Hitze, Kapital und Arbeit. 1881. —
- A. Loria, Die wirtſch.
Grundlagen der herrſchenden Geſellſchaftsordnung. Deutſch 1895 (in Marxſcher Tendenz, dazu die
Anzeige W. Lexis’. J. f. G.V. 1894). — - W. Sombart, Socialismus und ſociale Bewegung im
19. Jahrhundert. 1896 ff.
133. Begriff, Weſen und pſychologiſche Begründung der Klaſſen-
bildung. Wir haben in den Kapiteln über Arbeitsteilung und Eigentum die Grund-
lage der ſocialen Klaſſenbildung kennen gelernt. Wir verſtehen darunter das Zerfallen
der Geſellſchaft in eine Anzahl von größeren Gruppen, von Ständen oder Klaſſen, in
welche je die gleichen oder ähnlichen Individuen und Familien nicht nach Verwandt-
ſchaft, Ortsangehörigkeit, ſondern nach Beruf, Arbeit, Beſitz, Bildung, häufig auch nach
politiſchen Rechten ſich zu loſeren oder geſchloſſeneren Einheiten zuſammenfinden, nicht
um gemeinſame Geſchäfte zu treiben, ſondern um im Bewußtſein ihrer Gemeinſamkeit
ſich zu ſtärken, die Geſelligkeit zu pflegen, die gemeinſamen Intereſſen zu verfolgen.
Alle größeren ſeßhaften Völker, welche die ältere Gentil- und Geſchlechtsverfaſſung über-
wunden haben, einer gewiſſen Berufs- und Arbeitsteilung unterlegen ſind, beſtehen aus
verſchiedenen über und neben einander ſtehenden geſellſchaftlichen Klaſſen, mindeſtens
aus Adel und Volk oder aus Adel, Volk und Unfreien, aus Ariſtokratie, Mittelſtand
und unteren Klaſſen, häufig aber auch aus zahlreicheren Untergruppen. Es ſind
Gruppenbildungen von Perſonen und Familien, die man früher, ſo lange ſie rechtlich
getrennt und erblich waren, mehr mit dem Worte „Stände“, heute mehr mit dem der
„Klaſſen“ bezeichnet, ohne daß an dieſem Wortunterſchiede heute ſtreng feſtgehalten
würde. Nirgends iſt dieſe Art der Gruppierung, ſo ſehr ſie wechſelte, von Jahrhundert
zu Jahrhundert ſich umbildete, da, wo ſie einmal vorhanden war, wieder verſchwunden.
Die Scheidung iſt dort am ſchärfſten, wo die Herrſchaft kräftigerer über ſchwächere Raſſen
zu einem Staatsweſen geführt hat, in dem trotz des Jahrhunderte langen Durcheinander-
wohnens die aus den verſchiedenen Raſſen entſtandenen Klaſſen ſich noch als Fremde
fühlen. Aber die Klaſſenbildung fehlt auch da nicht, wo ein einheitlicher Menſchenſchlag
ſich gebildet hat. Sie zeigt ſich, wo eine ſchroffe Rechtsordnung die Klaſſen trennt,
wie da, wo Rechtsgleichheit und Ehefreiheit, freier Zugang zu allen Berufen und Ämtern
vorhanden iſt.
[393]Der pſychologiſche Ausgangspunkt der Klaſſenbildung und Klaſſenhierarchie.
Eine große beſchreibende und unterſuchende Litteratur hat ſeit hundert Jahren die
Grundlage zu einer empiriſchen Klaſſenlehre gelegt, hat uns über die Einwirkung der
Arbeitsteilung, des Berufes, der Erziehung, der Beſitzverteilung auf die Klaſſenbildung
große Materialien geliefert, hat uns jedenfalls gezeigt, daß, was auch die weſentlichen
Urſachen der Entſtehung ſein mögen, innerhalb jedes größeren Volkes die Klaſſenbildung
gleichſam Spielarten des Volkscharakters, verſchiedene Typen der körperlichen und
geiſtigen Konſtitution ſchaffe, die durch Generationen hindurch ſich erhalten, trotz des
Wechſels der einzelnen Glieder durch Leben und Tod, durch Eintritt und Austritt.
Wir können vor allem heute eines klar überſehen, nämlich, daß pſychologiſche
Urſachen einfacher Art eine ſolche ſociale Gruppenbildung erzeugen, ſobald in einer
größeren Geſellſchaft die einzelnen Glieder eine erhebliche Verſchiedenheit erreicht haben.
Sei die Urſache der Verſchiedenheit nun, welche ſie wolle, die Verſchiedenheit trennt, die
Gleichheit verbindet. Die gleichen oder naheſtehenden Intereſſen, Gefühle, Vorſtellungen
und Ideen erzeugen eine Gruppenbildung; gewiſſe Gedanken treten über die gemeinſame
Schwelle des Bewußtſeins und geben den Kitt. Die gleichen Autoritäten beherrſchen
die Gleichen. Das Bedürfnis nach Anerkennung läßt ſich in einem ſolchen Stadium der
geſellſchaftlichen Entwickelung für die Mehrzahl am leichteſten im Kreiſe der Berufs-
genoſſen befriedigen: es entſteht die Standes- und Berufsehre, die wichtigſte Wurzel
aller Klaſſenbildung. Indem der einzelne in ſeinem Selbſtgefühl von der Achtung der
Standesgenoſſen abhängig wird, ſteigert ſich das Gefühl der Zugehörigkeit zur ſocialen
Gruppe. Derartige Anlehnung wird dem einzelnen um ſo mehr Bedürfnis, je größer
die Volksgemeinſchaft geworden, je mehr in ihr die älteren kleineren Unterabteilungen,
die Geſchlechts- und Ortsverbände, dem Individuum nicht mehr die erwünſchte pſychiſche
Anlehnung und materielle Hülfe in mancherlei Lebenslagen bieten. Es handelt ſich um
pſychologiſch-ſociale Bande, welche die einzelnen erſt lokal, dann in immer weiterem
Umfange, urſprünglich nur mit einem dunkeln, halb unbewußten Gemeinſchaftsgefühl
umſchlingen, die bei höherer Kultur je nach dem Maße der Verſtändigung, des wachſenden
Bewußtſeins, des Gegendruckes von außen, des Kampfes um die ſpeciellen Intereſſen
und der ſich vollziehenden äußeren bündiſchen oder Vereinsorganiſation bis zum
ſchroffſten, exkluſivſten, härteſten Klaſſen- und Standesgeiſte ſich ſteigern können.
Ebenſo notwendig aber wie die Klaſſenbildung ſcheint die Herausbildung einer Klaſſen-
ordnung, einer Hierarchie der Klaſſen zu ſein. Und zwar nicht bloß, weil bei den meiſten
großen Fortſchritten der Klaſſenbildung die eine Gruppe emporſteigt, die andere in ihrer Lage
bleibt oder ſinkt, nicht bloß, weil Klaſſenbildung ſtets Machtverteilung iſt, meiſt herrſchende
und beherrſchte Klaſſen erzeugt. Das wirkt ja mit und ſpielt zeitweiſe eine große Rolle,
aber die Erſcheinung wird noch durch eine allgemeinere pſychologiſche Thatſache erklärt,
die ſelbſt eine Haupturſache der verſchiedenen Macht-, Vermögens- und Einkommens-
verteilung und der daran ſich ſchließenden Rechtsbildungen iſt. Wir meinen die Not-
wendigkeit für das menſchliche Denken und Fühlen, alle zuſammengehörigen Erſcheinungen
irgend einer Art in eine Reihe zu bringen und nach ihrem Werte zu ſchätzen und zu
ordnen. Wie jeder Menſch in ſeiner Familie, in ſeinem nächſten Kreiſe geſchätzt wird
nach dem, was er durch ſeine Perſönlichkeit, ſeinen Beſitz, ſeine Leiſtungen dieſem Kreiſe
iſt, ſo hat zu allen Zeiten die öffentliche Meinung die arbeitsteiligen Berufsgruppen
und -klaſſen des ganzen Volkes nach dem gewertet und in ein Rangverhältnis gebracht,
was ſie dem Ganzen der Geſellſchaft waren oder ſind. Natürlich je nach den Zeit-
vorſtellungen über das, was in ſittlicher, politiſcher, praktiſch-wirtſchaftlicher Beziehung
das für die Geſellſchaft Wertvollere ſei. Die Maßſtäbe können die allerverſchiedenſten,
berechtigten und unberechtigten, rein äußerlichen oder tief in das Weſen dringenden ſein.
Nesfield hat uns gezeigt, daß der Rang der indiſchen Kaſten vor allem auf dem Alter
der Beſchäftigungen beruht; alle ſpäter entſtandenen Berufe pflegen höher zu ſtehen.
G. Simmel hat nachzuweiſen geſucht, daß die unteren Klaſſen überall mehr eine ältere
Zeit mit unentwickelterer Individualität, mit minderwerten Eigenſchaften repräſentieren,
daß die höheren Eigenſchaften und die größere Leiſtungsfähigkeit der oberen Geſellſchafts-
ſchicht mit ihrer Specialiſierung und Individualiſierung zu danken ſei. Wie dem aber
[394]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
auch ſei, was das Urteil der Menſchen über einander beherrſche, die wirkliche Einſicht
oder der Schein der Dinge, die Leiſtung für die Geſellſchaft oder der äußere ſichtbare
Erfolg derſelben, wie z. B. der Beſitz und die Standesabzeichen, es muß in jedem
Stadium der geiſtigen und wirtſchaftlichen Kultur eine Rangordnung entſtehen, und ſie
muß je nach dem Wechſel der Werturteile über Leiſtungen und Erfolge wechſeln. Lange
Epochen hindurch erſchien hier der Prieſter-, dort der Kriegerſtand als der erſte; ander-
wärts iſt es ein Amtsadel, ſpäter die Klaſſe der aus dieſem Stande hervorgehenden
großen Grundbeſitzer, wieder zu anderer Zeit und an anderen Orten ſtehen die großen
Kaufleute, die großen Bankiers und Induſtriellen voran. Da die Ehre und Rangordnung
der Gruppen etwas langſam Wachſendes iſt, das im Laufe der Generationen erkämpft,
mit Energie feſtgehalten wird, ſo drückt ſich häufig in der jeweiligen Ordnung nicht die
lebendige Wirklichkeit, ſondern eine rückwärts liegende Vergangenheit aus. Die Nach-
kommen tapferer Krieger behalten Wappenſchilde, Titel, bevorzugte geſellſchaftliche
Stellung lange, nachdem ſie friedliche Krautjunker und Grundbeſitzer geworden; ſie
beanſpruchen denſelben Rang da, wo ſie ihren alten Standesrang durch neue Thätigkeit
im Offiziers- oder Beamtenſtand, in der ehrenamtlichen Selbſtverwaltung neu verdient
haben, wie da, wo ſie nur den Vergnügungen und Laſtern des vornehmen Lebens, dem
Weiber- und Pferdeſport, dem Spiele und der Jagd, dem faden Hofleben ſich ergeben.
Die ſchlichte Handarbeit hat man lange unterſchätzt, heute ſind gewiſſe Theorien und
Klaſſen teilweiſe geneigt, ſie zu überſchätzen. Die ſtaatliche Gewalt und ein fürſtlicher Hof
können durch Rangreglements, durch Titelverleihung, durch Erteilung politiſcher Rechte
die ganze ſociale Rangordnung beeinfluſſen, ihre hieher gehörigen Handlungen ſtehen
aber dabei unter demſelben pſychologiſchen Geſetz wie die freie öffentliche Meinung ſelbſt
in der demokratiſchen Republik. Wenn in den Vereinigten Staaten heute vor allem
der Geldmacher und der Millionär geſchätzt wird, ſo geſchieht es, weil es in der breiten
Maſſe des Volkes noch an Verſtändnis für den Wert wiſſenſchaftlicher, politiſcher und
anderer Leiſtungen als der des smart fellow im Geſchäftsleben fehlt. Überall werden
die Berufe und die Leiſtungen ſowie die daran ſich ſchließenden Beſitzgrößen und Beſitz-
arten gewertet nach dem, was jeweilig in den entſcheidenden, führenden, die öffentliche
Meinung beherrſchenden Kreiſen als das Wichtigere, das für das Vaterland Wertvollere
gilt. Und da keine Zeit kommen wird, in welcher die Thätigkeit des großen Miniſters
und die des letzten Bureaudieners, die eines Großinduſtriellen wie Werner Siemens und
die des gewöhnlichen Fabrikarbeiters für gleichwertig gelten, ſo wird auch nie eine
gewiſſe Über- und Unterordnung der Stände und Klaſſen verſchwinden. Wer da weiß, wie
die gute Köchin auf das Hausmädchen, der Diener im gräflichen auf den im bürger-
lichen Hauſe, der gelernte Maurer und Zimmermann auf den bloßen Handlanger herab-
ſieht, wer da weiß, wie feſt ſolche Rangordnungen in Anſchauung und Einkommen aller
Beteiligten trotz alles heutigen Gleichheitsfanatismus ſich ausdrücken, der wird eine
gewiſſe Hierarchie der Stände als eine pſychologiſche Notwendigkeit aller Zeiten begreifen.
Wie die ſociale Klaſſenbildung ſich äußere, iſt in vorſtehendem ſchon geſtreift.
Wir fügen darüber noch kurz folgendes bei. Wer zur ſelben Klaſſe gehört, nimmt,
ob er höheres oder geringeres Einkommen habe, im ganzen dieſelben Ehren in Anſpruch;
die Klaſſengenoſſen verkehren geſellſchaftlich, verehelichen ſich überwiegend in ihrer Klaſſe,
ſie tragen gleiche oder ähnliche Kleider, haben ähnliche Gewohnheit des Eſſens, ähnliche
Sitten und Ceremonien in ihren Zuſammenkünften, Spielen, Feſten, fahren in derſelben
Eiſenbahnklaſſe. Die weitere Konſequenz iſt, daß ſie in älterer Zeit das gleiche Wehr-
geld, den gleichen Gerichtsſtand haben; Wahlrechte und viele andere Rechte ſtufen ſich
entſprechend ab. — In Indien unterſcheiden ſich die Kaſten weſentlich durch die ver-
ſchiedenen Speiſen und Tiere, die den einen erlaubt, den anderen verboten ſind. Bis
auf unſere Tage iſt bei allen Völkern Sitte, daß nur die denſelben Klaſſen An-
gehörigen an demſelben Tiſche mit einander eſſen und trinken. Noch heute gilt überall die
Vornahme gewiſſer Arbeiten oder ihre Vermeidung als Zeichen der gleichen ſocialen
Würde: wer den Pflug nicht ſelbſt führt, wer keine Laſt auf der Straße trägt, dieſe
oder jene Arbeit nicht oder nicht vor anderen verrichtet (wer ſeiner Zeit in der Weber-
[395]Die Äußerungen und Begründungsverſuche der Klaſſenordnung.
ſtadt keine blauen Nägel hatte und damit zeigte, daß er nicht in die Färberküpe gegriffen
hatte), der gehört zur höheren Klaſſe.
Am ſicherſten wurden die Klaſſengegenſätze befeſtigt, wenn ſie in der Phantaſie
der Betreffenden als göttliche Einrichtung ſich darſtellten. In Mikroneſien iſt es dem
Adel gelungen, nicht nur, was ja auch ſonſt allgemein vorkommt, die verſtorbenen
Häuptlinge zu Göttern zu machen, ſondern die Lehre zu verbreiten, daß die unteren
Klaſſen keine Seelen hätten, nicht ins Paradies gelangen könnten. Die indiſche Kaſten-
lehre baut ſich auf dem Satze auf, daß die Prieſter aus dem Munde, die Krieger aus
den Armen, die Ackerbauer aus den Schenkeln, die ſchwarzen unteren Klaſſen anderer
Raſſe aus den Füßen Brahmas ſtammten, daß alle Auflehnung gegen die Kaſtenordnung
mit unerſchöpflich langen Strafen im Jenſeits beſtraft würde. Die deutſche Sage und
die Edda läßt die verſchiedenen Stände durch den Geſchlechtsverkehr des Gottes Heimdall
mit drei ganz verſchiedenen Frauen entſtehen. Daraus ließ man die Häuptlinge, die
Gemeinfreien und die Sklaven hervorgehen. Und dieſe naiv reſignierte, vom Glauben
an die Vererbung mütterlicher Eigenſchaften ausgehende Auffaſſung erhält ſich noch in
dem Märchen von den ungleichen Kindern Adams und Evas, welches dem 15. und
16. Jahrhundert angehört, welches Baptiſta Mantuanus, Hans Sachs, Agrikola und
Melanchthon wiederholen, um die Ungleichheit der Stände zu erklären und als göttliche
Einrichtung zu rechtfertigen. Längſt waren freilich auf den Höhepunkten des geiſtigen
Lebens unter dem Druck unbarmherziger Klaſſenherrſchaft auch die entgegengeſetzten
Stimmungen lebendig geworden. Die großen Religionsſtifter Buddah und Jeſus haben
die Gleichheit der Menſchen vor Gott betont und in gewiſſem Maße zur Anerkennung
in den kirchlichen Gemeinſchaften gebracht. Die Bauernprädikanten des 16. Jahrhunderts
hoffen teils auf eine künftige Gleichheit auf dieſer Erde, teils darauf, daß Ritter und
Pfaffen zur Hölle fahren, die Bauern allein in den Himmel kommen. Der neuere
Socialismus hofft von der Vernichtung des Kapitalismus die Aufhebung der Klaſſen-
gegenſätze, wie die franzöſiſche Revolution ſie von der politiſchen Freiheit erwartet hatte.
Der naiven älteren Reſignation wie der bitteren neueren Auflehnung gegen die
Klaſſengegenſätze wird in der Zukunft die wiſſenſchaftliche Einſicht in die Notwendigkeit
der ſocialen Klaſſenbildung folgen müſſen. Und mit ihr wird die Möglichkeit wachſen,
die Härten und Schäden zu mildern, die jeder Klaſſenbildung anhängen.
Die aufſteigenden ſocialen Klaſſen glauben immer leicht wieder im Namen der
Gleichheit aller zu handeln, wie von 1789—1850 das Bürgertum, heute die Arbeiterwelt.
In Wirklichkeit zerfiel das Bürgertum bald wieder in verſchiedene Klaſſen, und die
Arbeiter erleben in der Gegenwart dasſelbe. Das hindert aber, wie wir ſehen werden,
gewiſſe Reformen, gewiſſe Nivellierungsprozeſſe bei den höheren Kulturvölkern nicht.
134. Die Haupturſachen der Klaſſenbildung: Raſſe, Berufs- und
Arbeitsteilung, Vermögens- und Einkommensverteilung. Die geſell-
ſchaftliche Klaſſenbildung hat natürlich-pſychologiſche und techniſch-wirtſchaftliche Urſachen,
welche unabhängig von Staat und Recht ſich geltend machen. Aber ſie wirken praktiſch
nur im Staat, innerhalb des Rechtes, der Schranken und Einrichtungen, ſowie der
großen ſittlichen Gemeinſchaftsprozeſſe, welche von der Geſamtheit ausgehen, die Klaſſen-
bildung ſteigern oder mildern und modifizieren können. Wir ſehen zunächſt von dieſen
modifizierenden Elementen ab, bleiben bei Raſſe, Berufs- und Arbeitsteilung, ſowie
Eigentumsverteilung.
Daß ſie beſtimmend auf die Klaſſenbildung einwirken, leugnet heute kaum jemand.
Aber über das Maß des Einfluſſes dieſer drei Gruppen von Urſachen iſt Streit und
muß Streit ſein, weil es ſich um unendlich komplizierte Vorgänge und Wechſelwirkungen
handelt. Gobineau und ſeine Schule führen alle Klaſſengegenſätze auf die Raſſe zurück:
alle Ariſtokratien der Welt ſind indogermaniſch, alle unteren Klaſſen haben Negerblut
in ſich. Eine ebenſo ſtarke Übertreibung wie dieſe Lehre iſt die der Socialiſten, welche an
die Gleichheit der Menſchen glauben, die Klaſſenbildung ganz oder überwiegend auf die
Vermögens- und Einkommensungleichheit zurückführen. So Marx und ſeine Schüler,
und Bücher ſteht nicht ſehr weit ab von ſolcher Auffaſſung. Ich habe hauptſächlich den
[396]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Einfluß des Berufs und der Arbeitsteilung zu betonen geſucht. Zu abſchließenden
Reſultaten kann heute die Wiſſenſchaft noch nicht kommen. Suchen wir den Stand
unſerer Erkenntnis objektiv wiederzugeben.
Wir haben oben (S. 139—158) von den Urſachen der Entſtehung von Raſſen und
Völkern, von dem Problem der Vererbung der Eigenſchaften und deren Abwandlung durch
Variabilität geſprochen, haben geſehen, daß der Typus der Raſſen und Völker ſich erblich
durch Jahrhunderte hindurch erhalte. Wo Raſſen und Völker durcheinander wohnen und
ſich noch nicht durch ſehr lange Blutsmiſchungen ausgeglichen haben, da zeigt uns die
Geſchichte aller Zeiten, daß die höheren und die unteren Klaſſen dem höheren und dem
niedrigeren Raſſentypus entſprechen. Freilich meiſt ſo, daß die höhere Raſſe zugleich
zu beſtimmten Berufen (der Prieſter, Krieger, Händler) hinführte und Eigentums-
gegenſätze erzeugte. Es bleiben alſo auch hier immer Zweifel, was vom Brahmanen
auf ſeine Raſſe, was auf ſeinen Beruf, was vom weſteuropäiſchen Juden auf ſein
Semitentum, was auf ſeine Handelsthätigkeit, was auf ſeinen Beſitz zurückzuführen ſei.
Aber daß Raſſe und Volkstum für Jahrhunderte klaſſenbildend wirken, daß die ſchroffſten
Klaſſengegenſätze darauf zurückgehen, daß dieſe Einflüſſe gleichmäßig durch ungezählte
Generationen hindurch fortdauern, wird kein Unbefangener leugnen. Er wird aber weit
entfernt ſein, alle Klaſſengegenſätze allein hieraus erklären zu wollen, weil auch dem
Blute nach einheitliche Völker ſolche zeigen.
Wenn die Raſſen- und älteren Völkertypen durch Spaltung entſtanden ſind unter
der Einwirkung verſchiedenen Klimas, verſchiedener Ernährung, verſchiedener Lebens- und
Arbeitsweiſe, wenn neue Völkertypen innerhalb der Raſſen teils durch die gleichen
Einflüſſe, teils durch fortgeſetzte Blutsmiſchung innerhalb beſtimmter abgeſonderter
Gruppen und durch eine nach beſtimmter Richtung ſich gleichmäßig fortſetzende Va-
riabilität (d. h. kleine Abweichungen je der folgenden von der älteren Generation)
entſtanden, ſo werden wir ſchließen können, daß die Berufs- und Arbeitsteilung
innerhalb der Völker zwar in abgeſchwächter, aber doch analoger Weiſe verſchiedene
erblich ſich fortſetzende Spielarten des Volkscharakters unter beſtimmten Bedingungen
ſchaffe. Man wird dabei betonen, daß die Einwirkung verſchiedenen Klimas nur
beſchränkt, durch den Gegenſatz von Gebirge und Ebene, durch verſchiedene Landesteile
in Betracht komme; auch daß dem Gegenſatz der Lebens- und Arbeitsweiſe andere
nivellierende Einflüſſe bis auf einen gewiſſen Grad entgegenwirken können: ſo die
Blutsmiſchung, wie ſie da und dort zwiſchen verſchiedenen Klaſſen ſtattfindet, ſo die
ſonſtigen Berührungen und Nachahmungen und die einheitlichen geiſtigen Einflüſſe,
ſoweit ſie vorhanden ſind. Aber dieſe Urſachen können fehlen oder ſehr ſchwach ſein;
ſie werden jedenfalls die Thatſache nicht aufheben, daß mit der zunehmenden Berufs-
und Arbeitsteilung zuerſt einzelne für beſtimmte Thätigkeiten und Berufe körperlich und
geiſtig Paſſende ſich ihnen zuwenden, daß in der Regel ihre Söhne dieſen Beruf fort-
ſetzen, daß dieſe überwiegend Weiber aus denſelben Kreiſen heiraten, daß die Lebens-
und Arbeitsweiſe ſo Körper und Geiſt der Individuen und Klaſſen beeinfluſſe, Nerven
und Muskeln, Gehirn und Knochen der ſpeciellen Thätigkeit anpaſſe. Es kommt dazu,
daß meiſt eine beſtimmte Art der Ernährung, der Erziehung, der Sitten und Gewohn-
heiten in dem betreffenden Kreiſe vorherrſcht und dazu beiträgt, den Typus zu
befeſtigen. Aus dieſen teils durch die Ausleſe der Perſonen, teils durch lange Anpaſſung
und Vererbung, teils durch Erziehung und Milieu geſchaffenen Zuſammenhängen ent-
ſpringen dann die übereinſtimmenden typiſchen Klaſſeneigenſchaften. Sie werden ſicherlich
da und dort ein ſehr verſchiedenes Maß von Feſtigkeit und Vererblichkeit haben, hier
einen klar fixierten, dort einen mehr ſchwankenden Typus von Perſonen erzeugen; das
muß je nach der Eigentümlichkeit des Berufes und der Arbeit, je nach Dauer der ver-
erblichen Einflüſſe, je nach den mitwirkenden ſonſtigen Bedingungen (der Ernährung,
der Erziehung, der Frauenzufuhr aus anderen Bezirken und Berufen ꝛc.) verſchieden
ſein. Aber nur Unkenntnis kann leugnen, daß der Hirtenſtab und der Pflug, das
Schwert und der Hammer, die Spindel und der Webſtuhl, die Nadel und der Hobel
nicht nur zeitlebens, ſondern durch Generationen in erblicher Weiſe geführt, beſtimmten
[397]Der Einfluß der Raſſe, d. Arbeitsteilung u. d. Eigentumsverteilung auf d. Klaſſenbildung.
Gruppen der Geſellſchaft einen eigentümlichen Stempel aufdrücken. Solange der Herr
und der Knecht dasſelbe thaten, ganz gleichmäßig lebten, konnte es keinen großen Klaſſen-
gegenſatz zwiſchen ihnen geben; wo aber der Ritter aufhörte, den Pflug, der Bauer das
Schwert zu führen, bedingte die Verſchiedenheit des Berufes und der Arbeit den ſocialen
Gegenſatz.
Die Thatſache der verſchiedenen Arbeits- und Berufsſphären ſchafft ſo verſchiedenen
Blutlauf, verſchiedene körperliche und geiſtige Ausbildung, verſchiedene Ideale und
Lebenszwecke. Die bisher Gleichen, die ſich vorher als Verwandte und Genoſſen be-
handelten, werden ſich fremder. Die Umbildung erſt der einzelnen, in einer neuen
Specialität thätigen Perſonen, dann die Variation von Generation zu Generation
innerhalb einer Gruppe, welche unter dem Einfluß gleicher Faktoren die Abweichung
fixiert, muß ſo klaſſenbildend wirken.
Die Fortſchritte der Technik, der Arbeit, des geiſtigen Lebens mußten ſich zunächſt
ſtets auf einzelne, dann auf kleinere Kreiſe beſchränken; ſie können unmöglich ſofort auf
ganze Stämme und Völker ſich übertragen; ſie werden teils durch Vererbung, teils
durch Überlieferung und Unterricht in dieſen Kreiſen bewahrt, vielfach als Geheimnis und
Monopol gehütet: die Münzer ganz Europas bildeten vom 15. bis 19. Jahrhundert einen
kleinen eng geſchloſſenen Kreis von erblich dazu beſtimmten Perſonen. Was bei dieſem
Vorgang auf biologiſche Vererbung, was auf Erziehung und geſellſchaftliche Einrichtung
zurückzuführen ſei, läßt ſich ſchwer ſagen; aber ſicher iſt, daß beides mitwirkt, daß ſo
alle Prieſter-, Krieger-, Händlerklaſſen, die Gruppen der Handwerker, die der liberalen
Berufe entſtanden ſeien, daß ſo unſere Gutsbeſitzer und Bauern, unſere meiſten Arbeiter-
typen einen mit dem Beruf und der Arbeitsteilung zuſammenhängenden ſpeciellen
körperlichen und geiſtigen Stempel an ſich tragen.
Man hat die Wahrheit der vorſtehenden Sätze teils mit politiſchen Partei-
argumenten angegriffen: ſie ſeien eine Verherrlichung der beati possidentes, des Kaſten-
weſens; teils hat man ſie durch übertreibende angeblich notwendige Schlußfolgerungen
aus ihnen zu widerlegen geſucht, die, an ſich falſch, nichts beweiſen.
Ich habe nie geſagt: jede Arbeitsteilung wirke klaſſenbildend, ſondern: „nur die
großen, tief einſchneidenden, breitere Teile eines Volkes umfaſſenden, mit erheblichen
techniſchen, geiſtigen, moraliſchen und organiſatoriſchen Verbeſſerungen verbundenen Phaſen
der fortſchreitenden Arbeitsteilung“ hätten dieſe Folge. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der
Philologenſohn keine Vokabeln, der Schneiderſohn keine Kenntnis des Zuſchneidens von
ſeinem Vater erbt. Aber ein ſo kritiſcher Forſcher wie De Candolle ſagt: der Sohn des
Generals hat oft die Neigung zum Befehlen, der des Mathematikers zum Rechnen. Alle
Lehrbücher der Pſychiatrie, ſagt Ribot, bilden ein unwiderſtehliches Plaidoyer für die
Erblichkeit. Ich habe oben ſchon erwähnt, daß über die Vererbung der von den Eltern
erworbenen Eigenſchaften heute ein noch nicht ausgetragener Streit beſtehe, aber auch
daß ſie von keiner Seite ganz geleugnet werde. Das zu thun, hieße den Fortſchritt der
Menſchheit vom Wilden zum Kulturmenſchen negieren. Auch über die Frage, welche
Eigenſchaften mehr, welche weniger vererbt werden, iſt heute der Streit nicht geſchloſſen.
Aber die beſten Forſcher nehmen an, daß in erſter Linie die Inſtinkte und die Fähigkeit
zu Sinneswahrnehmungen, dann die Gefühle und der Charakter, endlich die Intelligenz
vererbt wird, und zwar von dieſer die einfachere Form mehr, die kompliziertere weniger;
man hat mit Grund behauptet, die höchſte Intelligenz werde als eine ſeltene Kombination
nicht leicht, aber die allgemeinen Richtungen der Intelligenz eines Volkes, einer Klaſſe
werden regelmäßig im Durchſchnitt vererbt. Bei ſolcher Auffaſſung bleibt der Individuali-
tät ihr Recht, aber auch den Erfahrungen der hiſtoriſchen und maſſenpſychologiſchen
Beobachtung.
Man hat mir eingeworfen, die Erblichkeit der Berufsarbeit der deutſchen Hand-
werker und Pfarrer vom 16.—18. Jahrhundert habe degenerierend gewirkt; nach meiner
Theorie müßte die Erblichkeit in dieſem Berufe Vervollkommnung bedeutet haben. Ich
habe aber die möglichen ungünſtigen Folgen der zu einſeitigen Ausbildung der Arbeits-
teilung ſtets betont, und ich habe unterſchieden zwiſchen aufſtrebenden und finkenden
[398]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Klaſſen. Die Specialiſierung des Berufs in der aufſtrebenden Zeit iſt ein Element des
Fortſchritts, während ſie ſpäter für ſich und im Zuſammenhang mit anderen Urſachen
der Degeneration eine Miturſache des Verfalles ſein kann. Daß die freie Berufswahl
in unſerer Zeit ein ungeheurer Fortſchritt ſei, habe ich ebenſo betont. Ich komme
darauf zurück.
Daß durch die eigentümlichen Einflüſſe der Variabilität aus allen Klaſſen einer
im ganzen hochſtehenden Geſellſchaft Talente und große Männer hervorgehen, iſt ſo
ſelbſtverſtändlich, wie daß die Atmoſphäre des Mittelſtandes oft große Charaktere erzeugt.
Ebenſo iſt mir wohl bewußt, daß es in allen Klaſſen aufſteigende Individuen und
Familien und in den oberen entartete giebt, daß ganze Klaſſen der Ariſtokratie durch
Inzucht, falſches und thörichtes Leben, durch übermäßige Genüſſe, durch Verzicht auf
Arbeit und Initiative mit der Zeit zu Grunde gehen. Das beweiſt aber nicht, daß
ihre Vorfahren nicht durch das Gegenteil, durch beſondere Vorzüge und Leiſtungen
emporſtiegen, daß nicht im Durchſchnitt aller Zeiten und Völker die höheren Klaſſen ſich
durch beſondere Fähigkeiten auszeichneten, auch die Mittelklaſſen über den unteren ſtehen.
Nach Galtons Unterſuchungen über England ſtände etwa die Hälfte aller bedeutenden
Männer dieſes Staates in verwandtſchaftlichen Beziehungen zu ebenſo bedeutenden
aus den höheren Ständen; das beweiſt doch wohl, daß ſie aus der kleinen Gruppe
der höher ſtehenden Kreiſe hervorgingen, während das ganze übrigen Volk die andere
Hälfte der großen Männer ſtellte, alſo prozentual viel weniger an ſolchen hervorbrachte.
Zu ähnlichen Reſultaten iſt bekanntlich ein Schüler Comtes gekommen.
Der Einwurf, daß die Erziehung ſehr mächtig in die ſociale Klaſſenbildung ein-
greife beziehungsweiſe eingreifen könne, trifft mich nicht; ich habe das mit Energie
betont, komme darauf zurück. Ich leugne nur, daß das Beiſpiel eines einzelnen un-
gewöhnlich begabten Tagelöhner- oder Kleinbauernſohnes, der, in andere Umgebung verſetzt,
auf höheren Schulen erzogen, ein großer Maler, Gelehrter, Staatsmann wurde, gegen
die Vererbung von Klaſſeneigenſchaften ſpreche. Man müßte die Zahl ſolcher gelungenen
Beiſpiele vergleichen mit der Zahl der nicht gelungenen, um wiſſenſchaftlich damit zu
operieren.
Ich muß daher bei dem allgemeinen Satze bleiben, daß neben dem Raſſentypus
die großen hiſtoriſchen Scheidungen des Berufs und der Arbeit den weſentlichſten Anſtoß
zur ſocialen Klaſſenbildung gaben. Ich glaube auch trotz der gewiß beachtenswerten
Einwendungen Büchers gegen mich über den Einfluß der Beſitzverteilung, daß die Berufs-
ſcheidung häufig und beſonders in früheren Zeiten dem verſchiedenen Beſitz vorausging,
daß die Verſchiedenheit des Beſitzes auch heute noch vielfach Folge, nicht Urſache der ver-
ſchiedenen klaſſenmäßigen und individuellen Eigenſchaften iſt. Daß daneben „die Beſitzgrößen
und -arten klaſſenbildend wirken, daß ſie eines der wichtigſten Mittel ſind, die Klaſſen-
macht zu ſtärken, daß ſie als Miturſachen in beſtimmten Kreiſen körperliche, geiſtige und
moraliſche Eigenſchaften erzeugen und verſtärken“, gab ich ſchon 1889 zu. Ich kann
heute Bücher einräumen, daß er in manchem einzelnen recht hat, beſonders in ſeiner
Betonung des Umſtandes, daß die Erziehung — nicht überall, aber vielfach — vom
Einkommen und Beſitz der Eltern abhänge. Aber die meiſten der hiſtoriſchen Beiſpiele
Büchers halte ich nicht für überzeugend; doch würde es zu weit führen, darauf einzugehen.
Teilweiſe werden ſie auch durch die beiden vorausgegangenen Kapitel widerlegt; teilweiſe
wird der Beſitzeinfluß, ſo weit ich ihn für richtig halte, daſelbſt dargethan.
Das Weſentliche des Zuſammenhangs iſt wohl ſo zu formulieren: jedes einzelne
Emporſteigen des einzelnen und einer Klaſſe hat häufig gleich ein etwas größeres Ein-
kommen, unter Umſtänden auch größeren Beſitz zur Folge, und deshalb verbinden ſich
nun in der weiteren Entwickelung die beiden Einflüſſe der Berufsthätigkeit und des
Einkommens; die Mittel- und höheren Klaſſen ſind ohne größeres Einkommen nicht,
wohl aber ein Teil derſelben ohne großen Beſitz zu denken. Jedenfalls aber iſt ihre
Klaſſenſtellung mit dem Beſitz allein nicht erklärt. Es iſt nicht unrichtig, die heutigen
Fabrikanten mit den Kaufleuten des 16.—18. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen;
aber es giebt einen gänzlich falſchen Sinn zu ſagen, aus den ſtädtiſchen Rentnern ſeien ſie
[399]Abwägung der Einflüſſe auf die Klaſſenbildung. Die Klaſſenorganiſation.
hervorgegangen, weil dadurch der Nebenſinn entſteht, der Rentenbezug habe etwas gemacht,
was nur Folge beſonderer und relativ ſeltener Eigenſchaften ſein konnte.
Es giebt nicht leicht reine Beſitz- und Nichtbeſitzklaſſen, wie es auch keine reinen
Kapitaliſten und Kapitalbeſitzer, oder nur in unendlich kleiner Zahl giebt. Selbſt der
Rittergutsbeſitzer, der ſein Gut verkauft, der Bankier, der ſein Geſchäft aufgegeben hat,
ſie bleiben ſocial, geiſtig, politiſch in ihrer Berufsſphäre. Die Arbeiter gliedern ſich
nach ihrem Beruf als Bergleute, Maſchinenarbeiter, Weber, Spinner; vollends die
großen Schichten des Mittelſtandes erhalten viel mehr durch ihren Beruf, ihr Berufs-
einkommen, als durch ihren Beſitz und ihr Beſitzeinkommen ihre Signatur. So groß
heute an manchen Punkten der Beſitzeinfluß iſt, ſo fehlt heute noch weniger als in
früheren Zeiten die Möglichkeit, daß Leute „ohne Halm und Ar“ und mäßig begüterte
Kreiſe und Klaſſen in Staats- und Volkswirtſchaft eine große Rolle ſpielen.
135. Die Kaſten- und Ständebildung älterer Zeiten. Haben wir
in dem Raſſecharakter, der Berufs- und Arbeitsteilung ſowie in der Vermögens- und
Einkommensverteilung die grundlegenden Urſachen der Klaſſenbildung geſehen, ſo wird
die hiſtoriſche Farbe, die praktiſche Wirkſamkeit jeder geſellſchaftlichen Klaſſe durch die
Art beſtimmt, wie ſie ſich als Verein, Bund, Korporation zu organiſieren verſteht, wie
Staat, Recht, Sitte, öffentliche Meinung dieſe Organiſation dulden, fördern, mit Privi-
legien und Vorteilen ausſtatten, mit Hemmungen und Schranken umgeben, die Aus-
artung bekämpfen. Ich werde auf die Klaſſenkämpfe, auf die Klaſſenherrſchaft, auf die
Geſamtreſultate der ſocialen Entwickelung erſt im letzten Buche, wo überhaupt die volks-
wirtſchaftliche Entwickelung im ganzen zur Darſtellung kommen ſoll, eingehen. Hier
aber, wo die Elemente einer ſocialen Klaſſenlehre erörtert werden, müſſen die Formen
der Klaſſenorganiſation und ihr Recht beſprochen werden. Wir ſuchen, zuerſt die älteren,
das Kaſtenweſen, das römiſche und germaniſche Ständeweſen kurz vorzuführen. Es knüpft
ſich daran am beſten die Erörterung der Erblichkeit der Berufe.
Mit dem portugieſiſchen Worte Kaſte bezeichnen die europäiſchen Sprachen
die Art der rechtlichen Geſellſchaftsgliederung, wie ſie in Indien noch heute beſteht,
wie ſie die Griechen ſchon dort und in Ägypten fanden oder zu finden glaubten, wie
ſie heute wohl noch bei den höher ſtehenden Negern, Arabern und Völkern ähnlicher
Kulturſtufe vorkommen. Der oberflächlichen Beobachtung ſchien die ägyptiſche und indiſche
Bevölkerung in drei, vier, fünf, ſieben oder mehr Abteilungen zu zerfallen, die in erb-
licher Weiſe ausſchließlich beſtimmten Berufen oblägen und unter ſich keine Ehegemein-
ſchaft hätten.
Daran iſt zunächſt ſoviel richtig, daß unterdrückte Raſſen von Ureinwohnern, in
geographiſcher und geſchlechtlicher Abgeſchloſſenheit lebend, hier wie anderwärts als aus-
ſchließliche Jäger, Hirten, Fiſcher, da und dort auch als Handwerker beſtimmter Art
viele Jahrhunderte, ja Jahrtauſende lang ſich erblich bei demſelben Berufe erhalten haben.
Alle ältere Erziehung iſt ausſchließlich eine ſolche durch die Eltern, in der Familie,
oder in der Sippe. Daraus entſpringt eine thatſächliche Erblichkeit der Berufe, ſoweit
eine Arbeitsteilung, eine Verſchiedenheit der Lebensweiſe, der techniſchen Kenntniſſe ſchon
vorhanden iſt. Die Beſchäftigung des mütterlichen Onkels bei Mutterrecht, des Vaters
bei Vaterrecht überträgt ſich ſtets ſicher auf die Söhne. Es giebt keine andere Art,
etwas zu lernen; wo etwa Prieſter und Zauberer andere Kinder unterweiſen, geſchieht
es in der Form der Annahme an Kindesſtatt. Auch ſoweit Wahlen ſtattfinden, wie
bei Erledigung von Häuptlingsſtellen, iſt der von Onkel und Vater dazu Erzogene,
Eingeweihte, bisher neben dem Häuptling Wirkende der geborene Kandidat, dem nur
ab und zu in Verwandten oder in den Häuptern rivaliſierender Familien Konkurrenten
gegenübertreten. Vollends die in einzelnen Familien traditionell geübten gewerblichen
Berufe beruhen ſo gänzlich auf der von Jugend auf erfolgten Einweihung der Kinder
in die techniſchen Kunſtgriffe, daß man ſchlechthin jeden Übergang junger Leute zu
einem anderen Berufe als zu dem der Eltern, des Geſchlechts, der Vormünder für alle
älteren Zeiten als faſt unmöglich bezeichnen kann. Noch heute ruht ein erheblicher
Teil des Kaſtenweſens in Afrika und Aſien in der Hauptſache auf dieſer einfachen
Thatſache.
[400]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Die Erblichkeit der Berufe und Beſchäftigungen iſt ſo in primitiver Zeit überall
vorhanden, und ſie erſcheint als Gebot der Erhaltung jeder höheren Fertigkeit. Spencer
ſagt, Nachfolge durch Vererbung der Stellungen und Funktionen ſei das Princip der
ſocialen Dauerhaftigkeit; er meint damit, wo die Befeſtigung des Beſtehenden die Haupt-
ſache ſei, werde ſie ſich einſtellen und erhalten, ſei ſie berechtigt.
Haben wir ſo eine thatſächliche Erblichkeit der erſten arbeitsteiligen Berufe aller-
wärts anzunehmen, ſo iſt die Frage damit noch nicht entſchieden, wie wir uns das
ſogenannte ägyptiſche und indiſche ältere Kaſtenweſen zu denken haben. Nach den neueren
Forſchungen hat in Ägypten wohl auch nur die thatſächliche Regel geherrſcht, daß der
Sohn das Gewerbe des Vaters ergriff; es beſtand aber kein abſoluter Berufszwang
und ebenſowenig ein ausſchließliches gegenſeitiges Eheverbot für alle Kaſten, jedenfalls
nicht in der älteren Zeit.
In Indien haben ſeit den Eroberungen der Arias im Gangesthal (von 1400 bis
gegen 600 v. Chr.) gewiſſe ſich zuſammenſchließende Prieſtergeſchlechter es verſtanden,
ſich weit über die Krieger und die Maſſe des Volkes zu erheben und im Hinblick auf
eine degenerierende Raſſenmiſchung mit den ſchwarzen Eingeborenen die religiöſe Lehre zu
verbreiten, daß eine göttliche Ordnung die Klaſſen der Prieſter und Krieger vom übrigen
Volke getrennt habe, daß Blutsmiſchung mit den ſchwarzen Sudras ſtrafwürdig, daß die
Auflehnung gegen die ſtrenge Kaſtenſcheidung Auflehnung gegen die göttliche Ordnung
der Dinge ſei. Als Vorſitzende der Totenmahle der Geſchlechtsverbände beherrſchten ſie
von da bis heute alle Ehen, wie alles Leben der Inder. Jeder Brahmane, der ſich
in einem Dorfe von dunkelfarbigen Eingeborenen feſtſetzt, bringt heute noch die Kaſten-
anſchauungen mit ſich und zur Geltung. Aber die Ehegemeinſchaft zwiſchen den drei
erſten Klaſſen, die derſelben Raſſe angehören, hat beſtanden, bis die Prieſter auf dem
Höhepunkt ihrer Macht angelangt waren, und auch ſpäter galt nur der Satz, daß jeder
ſeine erſte Frau aus ſeiner Kaſte nehmen ſolle, daß die Kinder von Frauen niederer
Kaſte in die niedrigſten unter den Sudras ſtehenden Kaſten fallen. Der Sohn des
Brahmanen wurde Prieſter nur, wenn er die prieſterlichen Schulen durchgemacht hatte,
er konnte ſtets andere Berufe ergreifen; nur gewiſſe Thätigkeiten waren als unehrliche
oder unanſtändige für ihn ausgeſchloſſen. Die Krieger haben nie in demſelben Maße
wie die Prieſter ſich abgeſchloſſen, haben ſtets neue Elemente in ſich aufgenommen,
haben daneben als Bauern gelebt, andere Berufe ergriffen, ohne freilich damit ihr
Standesgefühl, ihr Standesrecht ganz aufzugeben. Die übrigen Klaſſen der ariſch-
indiſchen Bevölkerung haben in älteſter Zeit wohl nur im Geſetzbuch Menus, nicht
in Wirklichkeit, ſich als Kaſte gefühlt und entſprechende Sitten und Rechtsſatzungen
gehabt.
Wenn trotzdem im Laufe der Jahrhunderte die geſellſchaftliche Klaſſenabſonderung
unter dem von den Brahmanen gegebenen Impuls immer weiter und bis zur ſchärfſten
rechtlichen und geſchlechtlichen Abſonderung ging, wenn nach der Volkszählung von
1872 faſt überall einige Hundert, in Madras 3900 Kaſten, zerfallend in 309 Hauptkaſten
gezählt wurden, wenn von den 140 Mill. der Hindubevölkerung die großen 149 Kaſten
(mit je über 100 000 Mitgliedern) allein 115 Mill. ausmachten, auch von den 40 Mill.
Muhamedanern 12—13 in Kaſtenverbänden leben, ſo ſcheint das folgende Urſachen zu
haben. Zunächſt haben ſich wie kaum irgend wo ſonſt die uralten Stammes- und
Geſchlechtsverbände erhalten; die verſchiedenen Brahmanenkaſten, die untereinander nicht
heiraten, ſind heute weſentlich ſolche Gruppen; aber auch ſonſt ſind Raſſen-, Bluts-,
Familienverbände ein Hauptelement des ſogenannten Kaſtenweſens. Dann wuchert in
Indien in üppigſter Weiſe das Sektenweſen mit ſeiner Ausſchließlichkeit; jede Sekte hat
die Neigung, zur Kaſte zu verhärten; ausſchließliche religiöſe Bräuche bilden ein
wichtiges Element des ſocialen Lebens in Indien. Endlich und das ſcheint die Haupt-
ſache: die gildenartige Berufsgliederung ſpielt ſeit uralten Zeiten eine Rolle, iſt aber
bis auf den heutigen Tag eher in Zunahme als in Abnahme begriffen; vielfach mit
Raſſen- und Blutsgegenſätzen zuſammenfallend ſind die durch gleiche Beſchäftigung
gebildeten Kaſten in ſteter Umbildung, Spaltung, Neuerung begriffen. Jede Kaſte ſtrebt
[401]Das indiſche Kaſtenweſen.
nach höherer Ehre, legt ſich gern ehrende Namen bei; die Wahrung gemeinſamer
Intereſſen, Handelsgebräuche, die gemeinſamen Feſte, die Geldſammlung zu wohlthätigen
und religiöſen Zwecken ſpielen dabei dieſelbe Rolle wie bei unſerem mittelalterlichen
Zunftweſen. Es wird in den Cenſusarbeiten von 1872 berichtet, daß die Herabdrückung
Indiens durch die Engländer zum reinen Ackerbauſtaate und die neuerliche Wieder-
belebung vieler Induſtrien überall große Umwälzungen in dieſem gewerblichen Kaſten-
weſen verurſacht habe. Die Erblichkeit der Beſchäftigung iſt heute noch in Indien
wie anderwärts ſelbſtverſtändliche Regel, wo Geheimniſſe und Geſchicklichkeiten nicht
anders als mündlich überliefert, als Familienbeſitz gehütet werden. Der Individualismus
iſt noch heute ſo wenig entwickelt, daß das reich gewordene Mitglied einer niederen
Kaſte eher Tauſende bezahlt, ſeine Kaſte durch Prieſterausſagen zu heben, als daß es
in eine höhere Kaſte zu dringen ſuchte. Aber daneben ſind viele Kaſten in Auflöſung
begriffen, andere bilden ſich neu. Prieſterliche Sprüche und Weihen machen das möglich,
wie ſie andererſeits den Pulaya zwingen, ſeine Wohnſtätte als Düngerhaufen zu
bezeichnen und ſich im Dickicht vor dem Mann der vornehmen Kaſte zu verbergen. Von
100 heutigen indiſchen Kaſtennamen gehen durchſchnittlich 77 auf die Arbeits- und
Berufsthätigkeit, 17 auf Stammnamen, 5 auf geographiſche, religiöſe und andere
Urſachen zurück.
Das indiſche Kaſtenweſen iſt ſo entfernt nichts Einheitliches, ſondern es begreift
eine Summe kirchlicher und Raſſeſatzungen, eine Fortdauer von Geſchlechtsverbänden
und eine üppige Wucherung von Beſchäftigungsgilden; das Ganze hat ſeinen Impuls
durch die Brahmanen, ſeine Ausbildung aber in der Zeit ſinkender Kultur erhalten,
in einer Zeit, in welcher eine weitgehende Arbeitsteilung und geſellſchaftliche Klaſſen-
ſpaltung ihre Fortbildung nicht durch ſtarke ſtaatliche Gewalten und eine zielbewußte
Geſetzgebung, ſondern durch Gewohnheitsrechte und Sitte im Laufe von Jahrhunderten
empfing.
So iſt das indiſche Kaſtenweſen nicht, wie man oft behauptete, eine Erſcheinung,
die einzig in ihrer Art wäre. Sie hat Ähnlichkeit mit zahlreichen Einrichtungen halb-
kultivierter heute noch beſtehender Staaten; ſie hat viel Analogien mit den ſtändiſchen
Einrichtungen, wie ſie in Japan bis in die neuere Zeit beſtanden, mit den ſtändiſchen
Inſtitutionen unſeres Mittelalters und wieder mit denen des ſinkenden römiſchen
Reiches. —
Von der Organiſation der griechiſchen geſellſchaftlichen Klaſſen wiſſen wir aus
der Zeit nach der Auflöſung der Geſchlechtsverbände zu wenig, um ein klares Bild zu
entwerfen. Wir hören nur, daß die höheren Klaſſen in der Zeit der Auflöſung des
Verfaſſungslebens vielfach Hetärien, d. h. Schutzbünde zu politiſchen Zwecken gebildet
haben, daß, als Griechenland Rom unterthan war, gewerbliche Zünfte da und dort
nachweisbar ſind.
Die römiſche Überlieferung erwähnt Handwerkerzünfte ſchon für jene Zeit, da
neben die alte Geſchlechtsverfaſſung die Einteilung des Volkes nach Vermögensklaſſen
tritt; wir wiſſen dann, daß Patricier und Plebejer in der älteren Zeit kaſtenartig von
einander getrennt ſind, daß die Patricier in den Prieſtertümern und ſonſt eine feſtgeſchloſſene
bündiſche Organiſation beſitzen. Im übrigen ſiegt in dem urſprünglich kleinen feſt-
gefügten Staatsweſen der Staatsgedanke ſo gänzlich, daß bald alle größeren Vereine,
alle politiſchen und religiöſen Körperſchaften erſcheinen, als ob ſie weſentlich durch die
Staatsautorität beſtünden oder von ihr abhingen. Die societas freilich iſt rein privat-
rechtlich, hat ihre Blüte in den Finanzgeſchäften und Steuerpachten der Ritter, der
früheren plebejiſchen reichen Bürgerſchaft. Die sodalitates ſind politiſche Vereine der
Vornehmen, der Begriff des corpus iſt ein ſehr allgemeiner; dazu gehören die universi-
tates öffentlich rechtlicher Art wie die Gemeinden, endlich die collegia, d. h. legaliſierte
Vereine mit ſakralen Beziehungen. Vereine von Beamten und Prieſtern, wie von Hand-
werkern, Sterbekaſſen und Ausſtattungsgeſellſchaften ſind collegia. Die Handwerkerkollegien
erhalten ihre sacra vom Senat, ſetzen ausdrückliche oder ſtillſchweigende Staatserlaubnis
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 26
[402]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
voraus. Erſt in der Zeit vor dem Bürgerkrieg treten ſie klar und umfangreich hervor,
nehmen einen ſocialpolitiſch-agitatoriſchen Charakter an, werden deshalb von Sulla
unterdrückt, von Clodius wieder hergeſtellt, während Cäſar und Auguſtus wieder den
größeren und gefährlichen Teil derſelben unterdrücken, und jedes Kollegium wieder von
da an der Staatserlaubnis bedarf, jederzeit aufgelöſt werden kann. Doch ſchloß das
eine zunehmende Neubildung von lokalen Gewerbezünften nicht aus, beſonders im
2. Jahrhundert, indem die Staatsverwaltung ſie beſtimmten Beamten unterſtellte, ihnen
öffentliche Pflichten, wie z. B. den Zimmerleuten das Feuerlöſchweſen, übertrug, auch
ihre körperſchaftliche innere Verfaſſung näher beſtimmte. Hauptſächlich Alex. Severus
(222—235) errichtete viele Zünfte; ſie nahmen den Charakter ſtädtiſcher Inſtitute an;
während die collegia der Subalternbeamten öffentliche Körperſchaften, die collegia
tenuiorum, die Sterbekaſſen, freie Vereine waren und die sodalicia als politiſche Vereine
nach wie vor nicht geduldet wurden.
Im Laufe des dritten und vierten Jahrhunderts nach Chriſtus nimmt die ganze
Geſellſchaft des römiſchen Reiches, auf dem Standpunkt hoher Arbeitsteilung angekommen,
den Charakter eines vom Staat geordneten erblichen Kaſtenweſens an, wobei der vor-
herrſchende Geſichtspunkt der iſt, jeder Klaſſe beſtimmte Laſten für Staat und Geſellſchaft
aufzulegen, ihr dafür beſtimmte Privilegien und Befreiungen von anderen Laſten zu-
zubilligen, Perſonen und Vermögen der Betreffenden aber erblich an die ſtaatlich geordneten
Pflichten zu binden. Natürlich iſt dieſe Entwickelung nicht ausſchließlich, ja nicht einmal
weſentlich eine von oben gemachte, ſondern ebenſo ſehr eine durch die natürliche Erblichkeit
der Berufe und die Wucht der egoiſtiſchen Klaſſenintereſſen gewordene. Der Stand der
Senatoren und Ritter war längſt vorhanden, als das Kaiſertum aus den überlieferten
Adels- und Beſitzklaſſen Familiengruppen ſchuf, in die bei gewiſſem Vermögen der
Kaiſer berief, und deren Mitglieder dann zum Eintritt in die Beamtencarriere verpflichtet
waren. Die Poſſeſſoren in allen Stadtgebieten waren ein ähnlicher Amts- und Beſitz-
adel, aus dem den Austritt zu verbieten erſt die ſinkende Staatsverfaſſung und Auf-
löſung aller wirtſchaftlichen Verhältniſſe Anlaß bot. Die Feſſelung der ländlichen
Kolonen an die Scholle, der Zwang für alle Soldatenkinder, wieder Soldaten zu werden,
waren ebenfalls erſt Endergebniſſe einer langen Entwickelung der betreffenden Inſtitute.
Erſt ein Jahrhunderte langer Ausbau der großen ſtaatlichen Verkehrsanſtalten, Berg-
werke und Fabriken endete damit, daß neben Verbrechern, Sklaven und Freigelaſſenen
auch Freie, die daſelbſt arbeiteten, für ihre Perſon, ihre Familien und ihr Vermögen
einem feſthaltenden Zwange unterworfen wurden. Die Nahrungsgewerbe der größeren
Städte, die Schiffer, Meſſer und ſonſt an der Ernährung beteiligten Gewerbe, die man
ſpäter als corporati zuſammenfaßte, hatten längſt Korporationsverfaſſung, waren
polizeilich reguliert, erhielten für ihre Geſchäfte große Staatszuwendungen; und ſo kam
es, daß ihre Unternehmungen halb den Charakter öffentlicher Anſtalten und Stiftungen,
halb den von Vereinen und Genoſſenſchaften annahmen, aus denen man dann zuletzt auch
auszutreten verbot.
Viel ſelbſtändiger ſtanden alle übrigen, auch zunftmäßig organiſierten Hand-
werker da; man faßte ſie unter dem Namen der collegiati zuſammen; die höheren der-
ſelben — 34 — ſind von den Staatsfronen, den sordidis muneribus, befreit; auf
den anderen laſten dieſe in der ſpäteſten Zeit mit beſonders hartem Druck, ſo daß man,
als ſie maſſenweiſe aufs Land flohen, auch hier den Austritt für unerlaubt erklärte.
Aber das Weſen dieſer Verbände, welche Vermögen, Vorſtände, sacra hatten, lag doch
wohl mehr in der vorhergehenden inneren Entwickelung, von der wir freilich nicht viel
wiſſen, die aber ſicher, wie bei den ſpäteren indiſchen Kaſten und bei den Zünften
des Mittelalters, in der Pflege der gemeinſchaftlichen Wirtſchafts- und Standes-
intereſſen ihr treibendes Princip hatte. —
Das für die mittelalterliche Entwickelung der germaniſchen Völker
Eigentümliche ſcheint mir zu ſein, daß ſie vor dem Hauche romaniſch-chriſtlicher Ideen
und Einrichtungen, am raſcheſten natürlich im Südweſten, ihre alte Geſchlechts- und
Sippenverfaſſung verloren, ohne doch die Staats-, Gemeinde- und ſonſtige Rechts-
[403]Die ſpätrömiſche und die germaniſche Ständebildung.
verfaſſung der antiken Welt ſofort ſich aſſimilieren zu können, ohne doch aufzuhören,
kindliche gemütstiefe Naturmenſchen zu ſein, die des Aufgehens in einem kleinen Kreiſe
von Genoſſen nicht entbehren konnten. So entſteht aus Volkscharakter und hiſtoriſchem
Schickſal, unter Einwirkung des zerklüfteten antiken Standesgeiſtes und nationaler
Genoſſenſchaftsimpulſe raſch jene üppige Wucherung einer rechtlichen Ständeordnung und
einer Vereins-, Genoſſenſchafts- und Korporationsbildung, wie ſie die antiken Staaten
nicht in gleichem Umfange ſo frühe gekannt hatten. Mochte die Gleichheit und Einfachheit
der Lebensweiſe, die Zuweiſung einer Hufe auch an den letzten Hörigen, mochten die
Lehren des Chriſtentums die Härte der antiken Klaſſengegenſätze mildern, Adelige, Freie
und Unfreie treten uns ſofort mit dem rechtlichen Unterſchied des 8fachen Wergeldes
zwiſchen Freien und Unfreien, des 2—6fachen zwiſchen Freien und Adeligen entgegen.
Die zu gleichem Stand ſich Rechnenden ſind Genoſſame, ſind allein ebenbürtig; nur vom
Genoſſen läßt ſich jeder im Gericht beurteilen. Dazu kommen raſch die Ehren der feſt-
organiſierten Kirche, die Amtsrechte, der Grundbeſitzunterſchied, der Dienſtadel und die
kriegeriſche Lehnsverfaſſung, die den Gegenſatz zwiſchen Freiheit und Unfreiheit ver-
wiſchen, um den von ritterlicher und bäuerlicher Lebensart an die Stelle zu ſetzen.
Bald wird im gleichmäßigen Gang der erblichen Verhältniſſe nur der noch als Ritter
angeſehen, der von Vater, Mutter und Großeltern her rittermäßig iſt; die ſtets vor-
handene Tendenz, nur ebenbürtige Ehen in allen Ständen zuzulaſſen, die unebenbürtige
Ehe durch ungünſtige Rechtsfolgen zu ſtrafen, wird allgemein. Die feudale Geſellſchaft
wird ſo eine rechtlich fixierte Hierarchie, die dem indiſchen Kaſtenweſen kaum nachgiebt:
die Heerſchilde des Lehnsweſens, die verſchiedenen Kreiſe des hohen und des niederen,
des weltlichen und des geiſtlichen Adels, in den Städten die Patricier, die Vollbürger,
die hohen und die niederen Gilden und Zünfte, die Schutzgenoſſen, auf dem Lande die
verſchiedenen Kreiſe freier, halbfreier und höriger Bauern, alle ſind mehr oder weniger
gegenſeitig durch ſchwer überſteigbare Rechtsſchranken getrennt, haben verſchiedenes
Standes-, Privat-, Ehe- und Erbrecht; der Adelige darf nicht bürgerliche Nahrung
treiben, der Bürgerliche nicht adeligen Grundbeſitz erwerben. In einzelnen extremen
Konſequenzen längſt bekämpft, dauert dieſe rechtliche Ständeordnung doch bis ins
19. Jahrhundert und wirkt noch heute in ihren Reſten fort.
Eine Haupturſache, daß ſo die Berufs- und Beſitzſtände faſt durchaus Geburts-
ſtände wurden, lag in der mittelalterlichen Genoſſenſchaftsbildung. Jede Gruppe
von Standesgenoſſen, die ſich häufig ſah, zuſammen wohnte, gemeinſame Intereſſen
verfolgte, wurde zur Schwurgenoſſenſchaft, zur Gilde, zum gegenſeitigen Hülfs- und
Unterſtützungsverein, zum Verein für gemeinſames Seelenheil. Dieſe Genoſſenſchafts-
bildung erzeugte nach innen ſympathiſche Beziehungen und gewiſſe Gleichheitstendenzen,
nach außen harten Egoismus, Dünkel und Überhebung. Je ſchwächer der Staat
im ganzen war, je weniger romaniſche Verwaltungseinrichtungen eindrangen, deſto
umfangreicher war die Genoſſenſchaftsbildung; daher in England, Norwegen, Dänemark,
Niederſachſen ein reicheres klaſſenhaftes Gilde- und Genoſſenſchaftsleben als im Süd-
weſten Deutſchlands, in Frankreich, in Italien. Die Vereine und Schwurgenoſſenſchaften
der Geiſtlichen und der Laien wurden bald, wie von Karl dem Großen, unterdrückt, bald
wieder geduldet und gepflegt. In den höheren Geſellſchaftskreiſen, in der Form kirch-
licher Einrichtungen wurden einzelne bald zu Inſtituten der öffentlichen Verwaltung
und zu Korporationen, wie die Genoſſenſchaften der Dienſtleute, die Ritterorden, die
Kaufmannsgilden, ſpäter auch die gewerblichen Zünfte. Es kam bei jeder ſolchen aus
dem natürlichen Spiel der geſellſchaftlichen Intereſſengruppierung hervorwachſenden
Genoſſenſchaft für ihre Weiterentwickelung, je kräftiger ſie auftrat, deſto mehr darauf
an, wie ſie ſich mit den öffentlichen Gewalten auseinanderſetzte, wie ſie ſich ihnen an-
zupaſſen, beſtimmte Funktionen derſelben zu übernehmen verſtand. Wenn und ſo weit
ihr dies gelang, wurde ſie nicht nur geduldet, ſondern ſogar bis zum Übermaß rechtlich
anerkannt, mit Sonderrechten und Privilegien ausgeſtattet. Sie empfing hiedurch ihr
beſtimmtes Gepräge; ſo die ſtändiſchen Adelsgenoſſenſchaften durch ihre Verfaſſungs-
und Verwaltungsrechte, die Kaufmannsgilden durch ihre Handelspolitik, die Handwerks-
26*
[404]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
zünfte durch ihre örtlichen Markt-, Gerichts- und Polizeibefugniſſe, durch die Konkurrenz-
regulierung, die in ihren Händen lag.
Die Innungen ſind ſtädtiſche Genoſſenſchaften, welche die Gewerbetreibenden einer
beſtimmten Art umfaſſen. Teils aus hofrechtlichen, von großen Grundherren für ihre
Zwecke geordneten Verbänden und Ämtern, teils aus geiſtlichen Bruderſchaften und
teils aus freien Einungen hervorgehend, im Norden da und dort aus den Gilden aller
am Markt Beteiligten als Teile ausgeſchieden oder ſich loslöſend, wurden ſie 1100 bis
1300 oftmals unterdrückt, aber immer wieder geduldet, zuletzt von Fürſten und Stadt-
räten anerkannt; ſie erſtarkten ſchon 1300—1400 ſo, daß ſie in der Zunftrevolution
nach dem Ratsſtuhl greifen konnten, wurden aber von 1400 an meiſt wieder ſtrenge
dem ſtädtiſchen Rate untergeordnet. Von 1400—1600 bildete ſich in Deutſchland
wenigſtens erſt das Innungsrecht im einzelnen aus, dehnte ſich von einigen wenigen
auf die Mehrzahl der beſetzteren Gewerbe, ja auf alle möglichen ſonſtigen Schichten der
Geſellſchaft, wie Spielleute, Soldaten ꝛc. aus. Die Innungen wurden in dieſer Epoche
ebenſo ſehr ſtädtiſche Selbſtverwaltungskörper, dem Rate untergeordnete, zu Steuer-,
Verwaltungs-, Wahl-, Militärzwecken gebrauchte Teilgemeinden, wie ſie Vereine Gewerbe-
treibender waren, die unter beſtimmten ſittlichen, techniſchen, rechtlichen, auch Vermögens-
bedingungen Geſellen aufnahmen und für ihre Mitglieder das ausſchließliche Recht des
Gewerbebetriebes in ihrem Fache und im Stadtbezirk beanſpruchten, da und dort auch
wohl ſich erblich abſchloſſen, ihre Wirtſchaftsintereſſen gemeinſam verfolgten, als Unter-
ſtützungsvereine und Cenſurbehörden, ſowie im Auftrage des Rates als Gewerbepolizei-
und Gewerbegerichtsbehörden wirkten.
Eine ähnliche genoſſenſchaftliche Verfaſſung bildeten die Geſellen von 1400 an aus.
Von 1500 an traten durch den zunehmenden Verkehr die einzelſtädtiſchen Innungen,
wie die Geſellenbruderſchaften immer mehr zu provinziellen, ja nationalen Bünden
zuſammen, bis dieſe im 18. Jahrhundert mehr oder weniger unterdrückt wurden. Die
monopoliſtiſchen Mißbräuche der einzelnen Innungen und Geſellenbruderſchaften erzeugten
vom 16. und 17. Jahrhundert an eine gegen ſie gerichtete Landes- und Reichsgeſetz-
gebung, welche zuerſt ſich bemühte, dieſelben in eine ſtaatliche Gewerbepolizeiinſtitution
zu verwandeln, und ſie dann zuletzt ganz beſeitigte oder zur Bedeutungsloſigkeit herab-
drückte. Es geſchah dies von 1600—1869 in den meiſten europäiſchen Staaten unter
der Einwirkung der modernen Geldwirtſchaft, der modernen Staatsbildung, des freien
inneren ſtaatlichen Marktes, der interlokalen Arbeitsteilung, der neuen Betriebsformen;
vor allem aber war es die individualiſtiſche, mit der Staatsautorität verbündete
Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts, welche auf volkswirtſchaftlichem und ſocialem
Gebiete nur noch den Staat und das Individuum dulden wollte. Der leidenſchaftliche
Kampf gegen alles Ständeweſen und alle ſtändiſchen Korporationen und Vereine war
das Thor, durch welches der moderne Rechtsſtaat allein ſeinen Einzug halten konnte.
136. Die neuere ſociale Gliederung nach Aufhebung der Erblich-
lichkeit und der ſtändiſchen Rechtsſchranken der Berufe. Das Recht
der Vereinsbildung. Wir können ſagen, die überwuchernde Blüte und Vollkraft
der bündiſchen korporativen Organiſation der ſocialen Klaſſen, des Ständetums und die
erbliche Übertragung von Beruf und Ständerecht gehören den Epochen der Geſchichte
an, in welchen die alte Gentilverfaſſung ſich auflöſt, die bloße Kanton- und Stadt-
gemeindeverfaſſung die geſchiedenen Klaſſenintereſſen nicht mehr befriedigen kann, und der
centraliſierte ſtarke Rechtsſtaat, der ſie notwendig in gewiſſe Schranken zurückweiſt, noch
nicht aufgerichtet iſt oder wieder aufgelöſt war. Die ſtändiſche korporative Organiſation
der Klaſſen, der Prieſter und Krieger, der Kaufleute und Handwerker, der Bauern und
gewiſſer höher ſtehender Arbeiter, z. B. der Berg- und Salinenarbeiter, der Matroſen ꝛc.
hat ebenſo viele glänzende und ſegensreiche Blüten erzeugt wie durch engherzigen Klaſſen-
egoismus geſchadet, zu Revolutionen und vergiftenden Kämpfen Anlaß gegeben.
Was urſprünglich natürlich geweſen war, die Erblichkeit der Berufe, wurde nach
und nach durch Sitte und Recht, durch Privilegium und Exkluſivität ein Unrecht und
eine unerträgliche Härte; ſie hielt Leute in Berufen feſt, zu denen ſie nicht paßten; ſie
[405]Der Kampf gegen die Erblichkeit der Berufe und das Ständetum.
ließ in übertriebener enger Arbeitsteilung die Familien und Individuen verknöchern.
Die Erblichkeit und die Vorrechte der höher ſtehenden Berufe, die einſt nötig geweſen
waren, um Erfahrung, Talent und Beſitz in gewiſſen engeren Kreiſen anzuhäufen und
zu erhalten, wurden jetzt gegenüber den emporſtrebenden anderen Klaſſen ein Unrecht.
Die ſtändiſche erbliche Rechtsordnung gab Leuten Klaſſenvorrechte, welche weder die
Eigenſchaften hatten, noch den Beruf mehr übten, wegen deſſen die Vorrechte einſt erteilt
worden waren. Jede älter gewordene Klaſſenordnung hat, je mehr ſie in Geburts-
und ſtändiſchen Vorrechten ſich fixiert, deſto mehr die Tendenz, alle Ämter- und Stellen-
beſetzung, alle Zugänge zum Erwerb im egoiſtiſchen Sonderintereſſe zu fixieren. Je
länger das dauert, deſto weniger erhalten ſich in dieſen Klaſſen die Eigenſchaften der
Ahnen, durch welche dieſe emporgekommen waren (ſiehe oben Erbrecht S. 384). Andere
Klaſſen und die fähigen Talente aus allen Kreiſen ſtreben empor; die ſtändiſchen Ein-
richtungen wollen das hemmen. Die ganze ſociale Rechtsordnung mit ihren erblichen
Vorrechten, ihren Ehehinderniſſen, ihren Privilegien erſcheint als ein großes, nicht mehr
zu duldendes Unrecht.
Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart hat die wirtſchaftliche und die Ideen-
entwickelung darauf hingearbeitet, die alte ſtändiſche Klaſſenordnung zu beſeitigen. Neue
ariſtokratiſche Kreiſe entſtanden, die ihre Stellung durch ihre perſönlichen Eigenſchaften
und Leiſtungen legitimierten: die Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers, der Beamten-
und Offiziersſtand; das mittlere Bürgertum erhob ſich, lernte rechnen, ſchreiben, bildete
die Technik und das Geſchäftsleben aus, forderte Gleichberechtigung; die arbeitenden
Klaſſen erlangten perſönliche Freiheit, Rechts- und Steuergleichheit mit den höheren;
und wenn ſie auch zunächſt dem Mittelſtande noch nachſtehen, heben ſie ſich doch ſicher und
gleichmäßig an Geſittung, Bildung und techniſcher Leiſtungsfähigkeit. Edelmann, Bauer
und Bürger erlangen die Freiheit des Grundſtücksverkehrs; alle Klaſſen ſetzen Frei-
zügigkeit, Ehefreiheit, Gewerbefreiheit, Zugang zu allen Ämtern, Berufen und Arbeits-
thätigkeiten durch, ſofern der einzelne nur die Vorbedingungen, welche der Beruf an
die Ausbildung ſtellt, erfüllt. Derartiges entſprach den Ideen des Chriſtentums, des
abſtrakten römiſchen Rechts, den Idealen der Humanität und Aufklärung, wie ſie
1700—1850 vorherrſchten. Die Geldwirtſchaft und der moderne Verkehr erleichterten
und förderten die neuere Beweglichkeit und Flüſſigkeit der Geſellſchaft.
Die Möglichkeit zu dieſer großen Veränderung trotz der großen Beſitzungleichheit,
trotz aller beſtehenden Vorurteile, trotz aller ſich einſtellenden Schwierigkeiten und Miß-
bräuche ergab ſich durch das veränderte Erziehungsweſen. Wie wir erwähnt, lag alle
ältere menſchliche und techniſche Erziehung bis ins ſpätere Mittelalter für die Mehrzahl
der Menſchen in der Familie. Nur die Kirche hatte in ihren Kirchen- und Kloſter-
ſchulen eine neue Art der Erziehung geſchaffen, die neben dem Fürſtenſohne auch Bauern-
und Tagelöhnerſöhne emporhob. Das Inſtitut der handwerksmäßigen Lehrlingſchaft,
von 1300—1800 ausgebildet, war in ſeinem Kerne auch familienhaft, hatte aber mehr
und mehr ſich auch auf Nachbarskinder in der Stadt, teilweiſe ſogar auf Bauernſöhne
ausgedehnt. Die Kunſt des Leſens, Schreibens und Rechnens, bis ins 14. Jahrhundert
auf Prieſter beſchränkt, ging vom 14.—18. Jahrhundert in den Kloſter- und Stadt-
ſchulen auf den Landadel, die Stadtkinder, die Beamten über, hatte gewiſſermaßen eine
neue, ſchriftkundige Ariſtokratie geſchaffen. Die höheren Schulen und Univerſitäten
hatten die Scheidung der homines litterati von den übrigen Menſchen geſteigert. Die
nicht daran teilnehmenden unteren Klaſſen waren dadurch weſentlich noch herabgedrückt
worden. Die Reformation hat dann aber den Gedanken der allgemeinen Volksſchule
erzeugt, die folgenden Jahrhunderte, hauptſächlich die Zeit von 1750—1870, haben ihn
praktiſch durchgeführt und damit eine der wichtigſten ſocialen Scheidewände zwar nicht
beſeitigt, aber doch zum Teil abgetragen. Das neuere Volksſchulweſen, die wenigſtens
teilweiſe Zugänglichmachung der mittleren und höheren gelehrten und praktiſchen Schulen
auch für weitere Kreiſe hat gegenüber der früher engen Art der Überlieferung von
Kenntniſſen und Fähigkeiten eine neue, breitere Bildung, eine nivellierte Geſellſchaft da
geſchaffen, wo dieſe Inſtitutionen ſachgemäß durchgeführt wurden. So war durch die
[406]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
neue, das Ständetum beſeitigende Rechtsordnung und die neue geſellſchaftliche Ordnung
des Bildungs- und Erziehungsweſens in der That ein ganz anderer Zuſtand der
Geſellſchaftsordnung und Klaſſenbildung entſtanden, der gegenüber der alten Erblichkeit
der Berufe und der ſtändiſchen Verfaſſung der Geſellſchaft eine weltgeſchichtliche Wendung
bedeutete; die Klaſſen ſchienen aller Schranken entledigt; die Wertſchätzung des indivi-
duellen Verdienſtes ſchien gekommen; die Härte der beſtehenden Klaſſenordnung hatte
jedenfalls einen erheblichen Teil ihrer ſchlimmſten Spitzen verloren.
Und doch konnte das neue Recht natürlich weder die Eigenſchaften der Menſchen,
wie ſie in den verſchiedenen Klaſſen abgeſtuft nun einmal beſtanden, noch die beſtehenden
Beſitzverhältniſſe von Grund aus plötzlich ändern. Ja, die neue Wirtſchaftsordnung gab
den Fähigen und Rückſichtsloſen freiere Bahn des Erwerbes, nahm den Schwächeren
aus den mittleren und unteren Klaſſen, die zunächſt weder die entſprechende Schul-
und techniſche Bildung, noch die Fähigkeit hatten, die neue formale Freiheit richtig zu
gebrauchen, viele Stützen und Hülfen, welche ihnen die alte Wirtſchaftsordnung gegeben
hatte.
Auch wo dieſe Schattenſeiten ſich weniger zeigten, konnte der neue Rechtszuſtand
nicht ändern, daß die Mehrzahl der Kinder wenn nicht im Specialberuf, ſo doch in
der ſocialen Klaſſe der Eltern bleiben. Nur den fähigeren und beſſeren Kindern iſt
heute das Ergreifen anderer Berufe und das Aufrücken möglich, meiſt auch nur in der
Weiſe, daß ſie in der zweiten oder dritten Generation die höheren Sproſſen der geſell-
ſchaftlichen Leiter erreichen, nicht bloß weil es ſich um eine langſame körperliche und
geiſtige Umbildung handelt, ſondern auch weil es meiſt nur den aufopferungsfähigſten
und vom Glück begünſtigten Eltern gelingt, ihre Kinder beſſer zu erziehen, ihnen einen
etwas größeren Beſitz als weiteres Mittel des Emporſteigens zu hinterlaſſen. Nicht die
ſocialen Klaſſen ſind alſo beſeitigt, ſondern mehr nur ihre Abgeſchloſſenheit. Freilich
iſt das ſchon ſehr viel, bedeutet eine gänzlich veränderte Struktur der Geſellſchaft; jede
ganz einſeitige, mißbräuchliche Klaſſenherrſchaft iſt damit in der Regel beſeitigt, zumal
wenn durch weitere Fortſchritte im Schulweſen, durch weitere Erleichterungen des Empor-
ſteigens der Talente in allen Carrieren, durch höhere Wertſchätzung der perſönlichen
Eigenſchaften und verminderte des Geldbeutels dieſe Tendenzen noch verſtärkt werden,
die freie Berufswahl aller noch mehr zur Wahrheit gemacht wird.
Die ſocialen Klaſſen alſo bleiben; aber ſie ſind nicht mehr erblich, ſie haben das
gegenſeitige Connubium; es entſteht damit eine gewiſſe Blutsmiſchung durch alle Klaſſen
hindurch, wenn auch die Ehe innerhalb der Klaſſen das Vorherrſchende bleibt. Die
Klaſſen können im heutigen Rechtsſtaate weder mehr ſolche Vorrechte erhalten, noch ſo
zu exkluſiven Korporationen und Ständen ſich organiſieren wie früher. Schon die
heutige Öffentlichkeit, die Preſſe, der Verkehr erlaubt den Klaſſen nicht mehr, ſo ſich
in Ständegeiſt und Exkluſivität einzuſchließen wie früher. Jede halbwegs gute und
ſtarke Regierung ſteht heute mit einem ſtarken Beamten- und Rechtsapparate über den
Klaſſen. Sie und die geſunde öffentliche Meinung bringen in die bornierteſte Klaſſen-
verſammlung einige Lichtſtrahlen der Geſamtintereſſen hinein. Die Organiſation der
öffentlichen Meinung hat eine Scham und ein Gewiſſen gegenüber den Klaſſenvorurteilen
und -mißbräuchen erzeugt, die in den Zeiten ohne Preſſe und Buchdruck fehlten.
Das vollſtändige Aufgehen des Menſchen in der Klaſſe und im Klaſſenegoismus
war im Mittelalter möglich und vielfach pſychologiſch natürlich; heute iſt das Gleiche
Menſchen, die an der allgemeinen Bildung, am Staatsgefühle teilhaben, weit ſchwerer;
der obere Teil der Geſellſchaft kommt mit andersartigen Klaſſenelementen mehr in Be-
rührung als früher; die meiſten Gebildeten empfinden nur mit einem Bruchteile ihres
Weſens die Klaſſenzugehörigkeit. Sie ſind zu individuelle, vielfach auch zu egoiſtiſche
Menſchen, um ſich ganz an die Klaſſe hinzugeben. Daß das nicht für alle Kreiſe,
beſonders nicht für die unteren Klaſſen gelte, darauf komme ich gleich.
Auch die letzteren ſind durch Schule, Preſſe, Vereinsleben etwas anders geworden,
haben viel geſehen und viel gelernt, haben ein beſſeres Leben, höhere Bedürfniſſe, einen
lebendigen Wiſſensdrang erhalten. Daraus entſpringen ihre Fähigkeiten, mehr zu leiſten,
[407]Die ſocialen Klaſſen im Staate der Rechtsgleichheit. Das Vereinsweſen.
aber auch ihre Wünſche, mehr zu erhalten, ihr ſtarker Drang emporzuſteigen, die Un-
möglichkeit, in ſtumpfer Reſignation und demütiger Beſcheidenheit zu verharren wie
früher. Ihr Klaſſenbewußtſein iſt erwacht und bethätigt ſich nun in einem unwider-
ſtehlichen Zuge nach Vereinigung, nach Zuſammenſchluß. Und da ihre individualiſtiſchen
und egoiſtiſchen Gefühle weniger ausgebildet ſind als bei den oberen Klaſſen, da ſie
durch Mangel an Beſitz und Familienverbindung ꝛc. ein ſtärkeres Bedürfnis der geſell-
ſchaftlichen Anlehnung haben, in ſtarken Gemütsimpulſen ſich noch naiv und ungebrochen
ihrem Klaſſenbewußtſein hingeben, ſo iſt in ihren Kreiſen ein Vereinsleben, eine Klaſſen-
organiſation entſtanden, wie ſie einſt die oberen Klaſſen hatten, wie ſie heute ihnen
aber nicht mehr ſo leicht und ſo allgemein gelingt.
Brentano ſagt, das Princip des Zuſammenſchluſſes ſei ſtets das Princip der
Schwachen geweſen, um ſich gegen die Starken zu ſchützen. Ich glaube, die Geſchichte
zeigt uns, daß in der älteſten Zeit ſich faſt nur der Adel, die Prieſter, die Krieger,
die Kaufleute klaſſenmäßig organiſierten; viel ſpäter erſt (im Mittelalter) gelang es den
Handwerkern und Bauern, erſt neuerdings den unteren Klaſſen. Dieſe wichtigſte That-
ſache aus der Geſchichte der ſocialen Entwickelung der Menſchheit, welche für mich einen
der Stützpunkte einer Hoffnung auf fortſchreitend gerechtere ſociale Entwickelung der
Menſchheit bildet, iſt pſychologiſch und geſellſchaftlich nicht ſchwer zu erklären. Jede
Organiſation der Klaſſe ſetzt eine gewiſſe geiſtig-moraliſche Entwickelung, aber auch noch
das Vorhandenſein ſehr ſtarker Gemeinſchaftsgefühle, den Mangel eines intenſiven Indivi-
dualismus und die Abweſenheit ſtarker Hemmniſſe der Organiſation durch den Staat
oder die anderen Klaſſen voraus. Die oberen Klaſſen organiſierten ſich, ehe es eine feſte
Staatsgewalt gab, und nahmen ſie in die Hand; der Mittelſtand konnte ſich erſt organi-
ſieren, als eine gewiſſe Selbſtändigkeit der Staatsgewalt neben und über der Ariſtokratie
entſtanden war. Für den Arbeiterſtand und ſein Aufſteigen iſt heute eine Organiſation
möglich geworden, weil er emporſtieg und doch noch nicht ſo ſtark individualiſtiſch fühlt
wie die oberen Klaſſen. Ob ſie ihm gelingt, wie ſie ſich geſtaltet, wie ſie wirkt, das
hängt von den Arbeiterführern, dem Gegendruck der übrigen Klaſſen, denen das unbequem
iſt, und der Staatsgewalt ſowie ihrer Geſetzgebung ab.
So ſteht heute das Problem der Organiſation der Arbeiter, in zweiter Linie
auch der übrigen Klaſſen der Geſellſchaft im Vordergrunde der Socialpolitik; die theo-
retiſche Betrachtung unſerer heutigen Klaſſenordnung und die praktiſche Erörterung ihrer
Fortbildung hängt an dieſem Punkte, alſo weſentlich an dem Vereinsrecht.
Der Liberalismus dachte zunächſt über das politiſche und das wirtſchaft-
liche Vereinsweſen ziemlich verſchieden. So ſehr er die Freiheit des erſteren als ſelbſt-
verſtändlich forderte, ſo wenig war ihm das zweite ſympathiſch. Da er in der Politik eine
gut geordnete Staatsgewalt und ideale Menſchen vorausſetzte, ſo ſah er keinen Schaden,
den die weitgehendſte Vereins- und Verſammlungsfreiheit haben könne. In der Wirt-
ſchaftstheorie aber war er noch ganz in den Anſchauungen des aufgeklärten Despotismus
befangen, deſſen Aufgabe der Kampf gegen alle Korporationen und Ständebildungen
war. Wie man alles Zunftweſen bekämpft hatte, ſo blieb man bis 1860—75 in den
Anſchauungen befangen, jede Vereinigung von Unternehmern und Arbeitern ſei ein
unberechtigtes Mittel, künſtlich Angebot und Nachfrage in ihrer Wirkung zu beſchränken.
Man war alſo mit den entſprechenden geſetzlichen Verboten der Vereine einverſtanden.
Nur für das politiſche Leben hatte der Liberalismus die Vereinsfreiheit ſeit 1789
gefordert; da vergaß er, daß weder der römiſche Rechtsſtaat, noch der Abſolutismus von
1600—1800 ſie gekannt, daß der letztere den Ständeſtaat nur durch die Unterdrückung
aller Vereine und Korporationen überwunden hatte.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Verlangen nach politiſcher, ſocialer und
wirtſchaftlicher Vereinsfreiheit aber immer dringlicher. Wo die Gewerbefreiheit geſiegt
hatte, zeigten ſich bald die Anfänge neuer Vereinsbildungen aller Art; die Arbeiter
ſahen ſich ohne Vereinsfreiheit nach allen Seiten gehemmt. Der Socialismus hatte die
Forderung der Vereinsfreiheit vom Liberalismus als ſelbſtverſtändliches Urrecht jedes
[408]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Menſchen übernommen; hoffte er doch mit ihr die beſtehende Staats- und Wirtſchafts-
ordnung entzwei zu ſchlagen. Zunächſt wurde aber nicht zu viel erreicht.
In England waren Arbeitervereine ſeit dem 13. und 14. Jahrhundert, religiöſe
ſeit der Reformation verboten; alle Vereine wurden durch die Geſetze von 1795 und
1817 in enge Schranken gewieſen, die Gewerkvereine haben in langſamen Schritten
1795, 1825, 1872 und 1876 die Anerkennung unter beſtimmten Rechtsvorausſetzungen
bekommen. Frankreich hatte die Vereinsfreiheit 1789—1795. Das ſcharfe Geſetz gegen
die Vereine von 1834 gilt heute noch; nur die Verſammlungsfreiheit iſt 1881 erweitert
worden, und den Unterſtützungs- und Berufsvereinen (1884) iſt unter beſtimmten
Vorausſetzungen eine gewiſſe Freiheit der Bewegung gelaſſen. In Deutſchland hat nur
1848—50 volle Vereinsfreiheit beſtanden; 1850 kamen in den wichtigſten Staaten ſehr
einſchränkende Geſetze; die Koalitionsfreiheit wurde 1869 konzediert, aber ohne ent-
ſprechende Vereinsfreiheit.
Man iſt damit in den weiteſten Kreiſen der Geſellſchaft, die immer dringlicher
volle Vereins- und Verſammlungsfreiheit fordert, ebenſo unzufrieden, wie andererſeits
die Regierungen ſich ſpröde und zögernd gegenüber den Forderungen verhalten. Was iſt
davon zu halten? Iſt es richtig, daß die Negation des Vereinsrechtes bei den Römern,
bei den Staatsgewalten des 17.—18. Jahrhunderts, die Vorſicht der heutigen Regierung
nichts wäre als eine unbegreifliche Kette von falſcher Ängſtlichkeit und Bevormundungs-
ſucht? Ich glaube, der Unbefangene und hiſtoriſch Denkende wird nicht ſo urteilen.
Eine feſte, große, über den Parteien und Klaſſen ſtehende Staatsgewalt kann wohl in
beruhigten Zeiten, ohne ſtarke politiſche und ſociale Kämpfe, dulden, daß ſich die Klaſſen,
denn um ſie handelt es ſich vorzugsweiſe, in Vereinen organiſieren; aber ſobald große
Kämpfe drohen, iſt die Sache zweifelhaft. Gar leicht führt die vereinsmäßige Organi-
ſation der ſocialen Klaſſen in jeder bewegten Zeit zur Lahmlegung der Staatsgewalt.
Kaſtenweſen und Ständeſtaat waren die Folgen der freien Vereinsbildung und Klaſſen-
organiſation. Nur in ruhigen Zeiten kann eine ſtarke Staatsgewalt die weitgehendſte
Vereinsfreiheit einräumen, in bewegten müſſen die Vereine je nach ihrer Art, je nach
den ſocialen Klaſſen, um die es ſich handelt, wenigſtens gewiſſen Schranken im Geſamt-
intereſſe, im Intereſſe einer geſunden ſocialen Entwickelung unterworfen werden, natürlich
aber ſo, daß Rechtsgleichheit ſo weit als möglich herrſcht. Ein Klaſſenregiment der
oberen Stände, das für dieſe die Freiheit, für die unteren Klaſſen das Verbot aller
Vereine durchſetzt, iſt ſo verwerflich wie ein ſocialiſtiſches Regiment, das die Arbeiter
allein, aber nicht die übrigen Klaſſen ſich organiſieren läßt.
Wie liegen die Dinge nun heute? Die oberen Klaſſen ſind, wie wir ſahen, heute
nicht ſo befähigt, ſich zu organiſieren wie die Arbeiter; dieſen iſt eine bündiſche, partei-
und klaſſenmäßige, gewerkſchaftliche, genoſſenſchaftliche Vereinigung trotz aller Verbote
und Einſchränkungen viel mehr gelungen. Das iſt den oberen Klaſſen unbequem, vielfach
auch den Regierungen und zwar um ſo mehr, als ſie von jenen Klaſſen beeinflußt oder
gar beherrſcht ſind. Man ſucht deshalb das freie Vereinsrecht, ſoweit es beſteht, ein-
ſchränkend gegenüber den Arbeitern zu interpretieren, ſoweit es nicht beſteht, ſeine Änderung
zu hindern.
Dabei hat ſich nun aber auch in den oberen Klaſſen trotz ihres Individualismus’
in den letzten 30 Jahren eine Änderung vollzogen. Neue ſtändiſche Anſchauungen
erſtarken, ſuchen ſich in Sitte und Gewohnheit zu befeſtigen, beſtimmte Perſonen von
beſtimmten Berufen auszuſchließen. Die Arbeiterverbände haben Unternehmerverbände
erzeugt. In Handels-, Landwirtſchafts-, Handwerkerkammern, Syndikaten, Fabrikanten-
und anderen Verbänden ſchließen ſich die Unternehmer zuſammen oder werden von den
Regierungen vereinigt. Geht das ſo weiter, ſo werden die oberen Klaſſen bald ziemlich
weitgehend organiſiert ſein, ſo wird damit die Freiheit der Berufswahl und der Gewerbe
mehr oder weniger eingeſchränkt; die großen Erwerbs- und Aktiengeſellſchaften, die Ringe
und Kartelle werden eine Macht, hinter welcher beſtimmte Klaſſen ſtehen, welche zuletzt
die Regierung und die Volkswirtſchaft beherrſchen.
[409]Klaſſenorganiſation und Vereinsfreiheit.
Nur kurzſichtige oder Klaſſenregierungen können die Gefahren überſehen, die da
drohen: eine uneingeſchränkte Vereins-, Aſſociations-, Korporationsfreiheit muß, ſoweit
ſie dieſen Klaſſen zu gute kommt, mit der Klaſſenherrſchaft endigen, wie ſie das ſtets
that, wenn man die oberen Klaſſen ſich ganz frei organiſieren ließ.
Dieſe Tendenzen ſind aber nicht ganz zu hindern, weil ſie doch einen gewiſſen wirt-
ſchaftlich-techniſchen und organiſatoriſchen Fortſchritt bedeuten; die großen Erwerbsgeſell-
ſchaften, die Ringe, die Handelskammern und andere Verbände haben — in den richtigen
Schranken gehalten — viele gute Folgen. Man braucht heute wirtſchaftliche Intereſſen-
vertretungen, alſo muß man ſie dulden und fördern, aber im Geſamtintereſſe gewiſſen
Kontrollen und Schranken unterwerfen. Und man muß zugleich als Gegengewicht die
Arbeiterverbände ſich entwickeln laſſen, natürlich auch innerhalb feſter ſtaatlicher Ord-
nungen und Kontrollen. Verfährt man dabei richtig, ſo werden nicht bloß die Gefahren
der Klaſſenorganiſation vermieden, ſondern es wird zugleich damit das ſittliche und
wirtſchaftliche Aufſteigen der Arbeiterklaſſe befördert. Die Arbeiter bedürfen heute eines
ausgebildeten Vereinsweſens, nur durch ein ſolches werden ſie dem heutigen Staate richtig
eingefügt, mit der Regierung und den oberen Klaſſen verſöhnt. All’ das wird aber
gehindert durch eine kurzſichtige Unterdrückungspolitik.
Das ſind die Geſichtspunkte, von denen aus heute das Vereins- und Korporations-
recht, ſoweit es die ſocialen Klaſſen betrifft, geordnet werden muß. Auf das einzelne
kommen wir im zweiten Teile bei der Beſprechung der Arbeiterfrage und der ſocialen
Entwickelung der Gegenwart.
Nicht die naturrechtlichen Fiktionen und vagen Hoffnungen, daß jede Vereinsfreiheit
von Segen ſei, dürfen entſcheiden, ſondern die konkrete Beurteilung der ſocialen Zu-
ſtände und die Einſicht, daß eine vereinsmäßige Organiſation heute nicht zu hindern
ſei und eben deshalb innerhalb der vom Staate geordneten Bahnen und Schranken ſich
vollziehen müſſe.
137. Schlußbetrachtung über die ſociale Klaſſenbildung. Wie
wir mehrfach erwähnt, werden wir erſt im zweiten Teile auf die ſociale Geſamt-
entwickelung kommen. So haben wir hier nur kurz die Elemente einer ſocialen Klaſſen-
lehre, die wir zu geben ſuchten, zuſammenzufaſſen.
„Auf dem Geſetz der Arbeitsteilung,“ ſagt Engels, „beruht die Teilung der
Geſellſchaft in Klaſſen.“ Wenn dies ſelbſt ein Führer der Socialdemokratie zugiebt, ſo
werden alle billig Denkenden es nicht leugnen können, daß die höhere Kultur, weil auf
Arbeitsteilung beruhend, auch verſchiedene ſociale Klaſſen haben muß. Jede Klaſſen-
ordnung, welche den Fähigſten und Beſten höhere Stellung giebt, erſcheint dem naiven
Urteil gerechtfertigt. Und jede Ausbildung einer Klaſſenordnung hängt mit dem Auf-
ſteigen der Tüchtigeren, mit der Führerrolle zuſammen, welche den Leiſtungsfähigſten
ſtets von ſelbſt zufällt. Ohne dieſes Aufſteigen, ohne dieſen Ausleſeprozeß gäbe es
keinen Fortſchritt irgend welcher Art. Alle Stämme und Völker ſind nur auf dieſe
Weiſe vorangeſchritten; die fähigen, aktiven, kräftigen Elemente übernahmen die Führung;
es handelte ſich dabei überwiegend und im ganzen um die Siege der größeren körper-
lichen oder geiſtigen Kraft. Die Herrſchaft, die dieſe Elemente üben, wird allgemein
auch zuerſt trotz ihrer nie ganz fehlenden Mißbräuche dankbar anerkannt, ſie wird mit
Hingebung und Treue belohnt; ſie iſt in ihrem Kerne ſtets eine berechtigte, auch wenn
ſie auf Gewalt und Unterwerfung beruht. Die Unterwerfung der ſchwächeren durch die
ſtärkere und fähigere Raſſe, der politiſch unfähigen Ackerbauern durch kriegeriſche Hirten-
ſtämme war dem Fortſchritte dienlich, wenn ſie eine beſſere Regierung, geiſtige, techniſche,
moraliſche Erziehung, beſſeren Schutz nach außen brachte. Die Herrſchaft des ritterlichen
Feudaladels vom 11.—16. Jahrhundert, die Leitung der Städte durch das Patriciat,
die Organiſation der Unternehmungen durch die Kaufleute vom 17.—19. Jahrhundert
waren lauter Siege höherer Klaſſen, welche zugleich der Geſamtheit dienten, ſie förderten.
Wie der Radikale F. A. Lange die Ariſtokratien damit rechtfertigt, daß ſie die Muſter
und Vorbilder für alles weitere Streben, für alle ſpäteren Generationen und Völker
lieferten, ſo können wir heute ſagen, keine Demokratie, keine Arbeiterklaſſe hätte Führer
[410]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
und Ideen, wenn ſie nicht dieſelben ganz oder teilweiſe aus den oberen Klaſſen beziehen
könnte. Bedeutende Kulturhiſtoriker haben die freilich noch nicht bewieſene Hypotheſe
aufgeſtellt, das Zurückſinken und Altern ganzer Völker und Kulturen beruhe ſtets
weſentlich auf dem Verluſte ihrer Ariſtokratie, auf der zu geringen Fortpflanzung der-
ſelben, auf der Verbannung und Hinrichtung der Fähigſten, auf der politiſchen Ver-
folgung aller Höherſtehenden (ſo Gobineau, Lapouge, Seeck, Ammon). Jedenfalls
werden wir zugeben, daß wir keine höhere Kultur kennen, ohne daß gewiſſe ariſtokratiſche
Kreiſe eine leitende Stellung einnehmen. In dieſem Sinne hat Schäffle recht, wenn er
ſagt, daß jede Ariſtokratie beſſer ſei als die Abweſenheit jeder Ariſtokratie.
Aber nicht bloß die oberen Klaſſen, auch die mittleren und unteren erſcheinen mit
ihren eigentümlichen Berufsſphären, ihren eigentümlichen Eigenſchaften, Tugenden und
Trieben als eine Bereicherung der ſocialen Gemeinſchaft. Ein großes Kulturvolk braucht
verſchiedene Menſchentypen, wie nur die verſchiedenen Klaſſen und ihre Organiſation ſie
liefern. Dazu gehört der Fleiß, die Ehrbarkeit, die Familienzucht des Mittelſtandes,
das lebendige Gemütsleben und die Aufopferungsfähigkeit der unteren Klaſſen ebenſo
wie die Geiſteskraft und das Selbſtbewußtſein der oberen. Die Ausbildung des Indivi-
dualismus, des feineren Nervenlebens, der Wiſſenſchaft, die Schaffung von Menſchen
mit Herrſcherwillen und Unbeugſamkeit, von Übermenſchen, wie man ſeit Nietzſche ſagt
und ſie übermäßig verherrlicht, iſt Sache der mittleren und oberen Stände, die der
Gemein-, der religiöſen und ſympathiſchen Gefühle, der derben Körperkraft, der geſunden
Muskeln Sache der unteren Klaſſen. Darum konnte Treitſchke mit Recht ſagen, letztere
ſeien der Jungbrunnen der Geſellſchaft; durch ſie erhält ſich das Gemüt, die Kraft und
die Geſundheit, durch die oberen die Geſittung, der Geiſt, der Fortſchritt, die Genialität,
die Thatkraft.
Wenn und wo die oberen Klaſſen nach Ablauf von Generationen und Jahr-
hunderten degenerieren, wie das ein allgemeines Geſetz der Geſchichte zu ſein ſcheint, ſo
iſt in den mittleren und unteren, die von den Fehlern und Entartungen der oberen
vielfach frei bleiben, der Erſatz gegeben; ihre Talente dringen als einzelne in die
Ariſtokratie ein, verjüngen ſie, teilweiſe ſteigen ſie als Geſamtheit oder in größeren
Gruppen empor. Keine Geſellſchaft kann ohne ein ſolches Aufſteigen, das verſchiedene
Klaſſen vorausſetzt, beſtehen. Die Klaſſenhierarchie mit ihrer Verſchiedenheit der Ehre,
der Macht, des Beſitzes iſt das weſentliche Inſtrument, das den geſellſchaftlichen Fort-
ſchritt in Bewegung erhält. Wenn es für den einzelnen kein Ziel des Aufſtrebens,
keine erreichbare höhere Stellung mehr giebt, ſo erlahmt alle Energie, verſiegt aller Wett-
bewerb; volle ſociale Gleichheit wäre der Tod der Geſellſchaft. Wenn der Menſch keine
Hoffnung mehr hat, ſeine Lage zu verbeſſern, ſo verdrängt Mutloſigkeit und Indolenz
alles Streben.
Jede Klaſſe iſt auch für ſich durch die Zuſammenfaſſung und Unterordnung der
einzelnen unter ihre Tendenzen ein Inſtrument ſittlicher Ordnung wie jede andere
Gemeinſchaft. Die Klaſſenſitte und die Klaſſenehre erzieht, ſittigt, zwingt zu Opfern,
zu Zucht, zu Gehorſam.
Freilich ſteht dieſen Wahrheiten nun eine andere nicht minder ſichere entgegen:
die zunehmenden Klaſſengegenſätze werden ſo groß, daß die Einheit des Volkes, die
ſympathiſche Wechſelwirkung zwiſchen den Klaſſen, der Friede in der Geſellſchaft bedroht
iſt. Jede normale Geſellſchaft kann nur beſtehen, wenn eine gewiſſe Einheit, ſei es der
Religion, ſei es der Staatsgeſinnung, ſei es der Bildung und Geſittung, trotz aller
Verſchiedenheit ſich erhält. Die übermäßig zunehmenden Verſchiedenheiten werden nun
aber weiter durch Mißbrauch, durch falſche Rechtsentwickelung unter Umſtänden bis zur
Unerträglichkeit geſteigert. Wo dieſe Erſcheinungen ſich zeigen, da wird mit den wachſenden
Gegenſätzen der Erziehung und der Lebenshaltung, des Beſitzes und der Macht, der Ehre
und des Rechtes erſt die Entfremdung und das Mißverſtändnis, dann der Haß und der
Neid immer mehr zunehmen; es können ſich ſo zuletzt die verſchiedenen Klaſſen wie
Todfeinde gegenüberſtehen, jede Klaſſe mit der gleichen des Auslandes ſympathiſcher ſich
berührend als mit den verfeindeten Klaſſen der eigenen Heimat. Und fällt nun mit
[411]Allgemeine Würdigung der ſocialen Klaſſenbildung.
den harten und frivolen Mißbräuchen der Herrſchenden ein Erwachen des Selbſtbewußt-
ſeins der unteren Klaſſen, die Erſetzung der Reſignation durch kühne aktive Hoffnungen
zuſammen, ſo entſteht der gewaltthätige Klaſſenkampf, die Revolution, der Bürgerkrieg.
Das Gemeinweſen geht zu Grunde oder gelangt erſt durch allerlei Kämpfe, Umbildungen
und Reformen nach und nach wieder zu leidlichen Friedenszuſtänden, wenn es gelingt,
den einenden Elementen der Kultur wieder die Oberhand über die trennenden zu ver-
ſchaffen, die Entartung des Klaſſenregimentes, das ein ariſtokratiſches oder ein demo-
kratiſches ſein kann, jeweilig zu beſeitigen oder zu mildern. Wir kommen darauf zurück.
Hier ſchließen wir mit der vorläufigen Erkenntnis: keine höhere Kultur ohne
Klaſſen und ihre Wechſelwirkung; die Klaſſenordnung iſt normal, wenn ſie den ver-
ſchiedenen durchſchnittlichen Fähigkeiten und Leiſtungen entſpricht; das iſt häufiger bei
einer neuen Klaſſenbildung der Fall als bei einer alten, verſteinerten; jede einſeitig
zur Herrſchaft kommende Klaſſe verſucht das Recht und die Inſtitutionen in egoiſtiſchem
Sinne umzubilden; die Mißbräuche einer ſiegenden Ariſtokratie ſind andere als die
einer zur Herrſchaft kommenden Demokratie, aber es fragt ſich, welche größer ſind und
das Geſamtwohl mehr ſchädigen. Je weiter eine herrſchende Klaſſe mißbräuchlich Beſitz
und Macht, Ehre und Einfluß anders verteilt, als es den durchſchnittlichen Eigen-
ſchaften der Menſchen entſpricht, deſto ſchlimmer werden die Zuſtände. Jede zur Herr-
ſchaft gelangende Klaſſe ſteht, bis ſie ihren Höhepunkt erreicht hat, im Dienſte der
Geſamtentwickelung; ob und wie lange ſie ſich auf dieſer Höhe erhält, hängt von der
Frage ab, ob ihre Fähigkeiten und Tugenden dieſelben bleiben, ob ſie raſch entartet,
eine zu große Zahl unfähiger Elemente in ſich birgt, ob ſie ihre Pflichten vernachläſſigt,
einem trägen Genußleben ſich ergiebt, in ſchmutziger Weiſe ſich bereichert, ob ihr Ver-
mögen und Einkommen in zu großen Gegenſatz zu ihren Leiſtungen tritt. Die mittleren
und unteren Klaſſen kommen nicht ſo leicht und ſo oft in die Lage, ihre Stellung zu
mißbrauchen; aber die großen politiſchen Siege der Demokratie, welche wir in Griechen-
land und Rom, im Mittelalter und in der neueren Zeit erlebten, zeigen uns, daß
dieſe Klaſſen entweder ſofort der Herrſchaft eines populären Diktators anheimfallen oder
die Macht und die Finanzen des Staates zerrütten, zu geſunden Reformen und Neu-
geſtaltungen unfähig ſind und nach kürzerer oder längerer Zeit, nach ungeſchickten oder
heilloſen Experimenten wieder der Herrſchaft verluſtig gehen.
Das ganze Problem iſt ein ſittlich-pſychologiſches auf der einen Seite, ein ſolches
der wirtſchaftlichen und politiſchen Inſtitutionen und ihrer Fortbildung auf der anderen.
Der Verſuch, aus der Technik und der Beſitzverteilung allein die Klaſſenbildung und alle
ihre Folgen abzuleiten, iſt ſo verfehlt wie der, aus dieſen ſelben Urſachen eine künftige
Beſeitigung aller ſocialen Klaſſen beweiſen zu wollen.
7. Die Unternehmung. Die Entwickelung der Geſchäfts- und Betriebsformen.
- Allgemeines: Roſcher, Die Induſtrie im Großen und Kleinen. Gegenwart 10, 1855, und
Anſichten d. V.W. 3. Aufl. 2. 1878. — - Schäffle, Das geſellſchaftliche Syſtem der menſchlichen
Wirtſchaft. 2. Aufl. 1867, § 107—115. 3. Aufl. 1873, § 211 ff.; — Derſ., Die Anwendbarkeit
der verſchiedenen Unternehmungsformen. Z. f. St. 1869; — Derſ., Kapitalismus und Socialismus.
1870. — - Thun, Die Induſtrie am Niederrhein. 2 Bde. 1879. —
- Schmoller, Die geſchichtliche
Entwickelung der Unternehmung. 13 Abhandlungen. J. f. G.V. 1890—1893. — - Bücher, Gewerbe.
Im H.W. 3, 1892; — Derſ., Die gewerblichen Betriebsſyſteme in ihrer geſchichtlichen Entwickelung,
Entſtehung d. V.W. 1893 u. 1897. — - Sombart, Die gewerbliche Arbeit und ihre Organiſation.
A. f. ſoc. G. 14, 1899. — - (Zahn) Die berufliche und ſociale Gliederung des deutſchen Volkes nach
der Berufszählung v. 14. Juni 1895. Stat. d. d. Reiches. N. F. 111, 1899. — - (Zahn) Gewerbe
und Handel im deutſchen Reich. Stat. d. d. Reiches. N. F. 119, 1899.
Ältere Arbeitsgenoſſenſchaften: Stieda, Die Artele in Rußland. J. f. N. 2. F. 6, 1883. — - Stähr, Über Urſprung, Geſchichte, Weſen und Bedeutung des ruſſiſchen Artels. 1890 u. 1891. —
- Schmoller, Die ältere Arbeitsgenoſſenſchaft. J. f. G.V. 1890.
Das Handwerk, ältere Zeit: S. Hirſch, Das Handwerk und die Zünfte in der chriſtlichen
Geſellſchaft. 1854. — - Arnold, Das Aufkommen des Handwerkerſtandes im Mittelalter. 1861. —
- Schönberg, Zur wirtſchaftlichen Bedeutung des deutſchen Zunftweſens. J. f. N. 1. F. 9, 1868. —
- [412]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Schmoller, Straßburg zur Zeit der Zunftkämpfe. 1875; — Derſ., Die Straßburger Tucher- und
Weberzunft. 1879; — Derſ., Das brandenburgiſch-preußiſche Innungsweſen 1640—1800. Forſch.
z. brand.-preuß. Geſch. 1, 1888, und U. U. 1898. — - Stieda, Die Entſtehung des deutſchen Zunft-
weſens. J. f. N. 1. F. 27, 1876. — - Gothein, Wirtſchaftsgeſchichte des Schwarzwaldes. 1, 1892.
Das Handwerk, 19. Jahrhundert: (J. G. Hoffmann) Das Intereſſe des Menſchen und
Bürgers bei den beſtehenden Zunftverfaſſungen. 1803. — - Rau, Über das Zunftweſen und die
Folgen ſeiner Aufhebung. 1816. — - J. G. Hoffmann, Die Befugnis zum Gewerbebetrieb. 1843. —
- Maſcher, Das deutſche Gewerbeweſen. 1866. —
- Schmoller, Zur Geſchichte der deutſchen Klein-
gewerbe. 1870. — - Dannenberg, Das deutſche Handwerk. 1872. —
- Keller, Das deutſche Hand-
werk. 1878. — - Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 1883. —
- Unterſuchungen über die Lage
des Handwerks in Deutſchland und Öſterreich. S. V. f. S. 62—71, 1895—1897. Dazu Büchers
Referat und die Verhandlung über die Handwerkerfrage in Bd. 76 daſ. 1898. — - Grandtke,
Altes und neues Handwerk. Preuß. Jahrb. 86, 1896; — Derſ., Zuſammenfaſſende Darſtellung der
Unterſuchungen d. V. f. S. über die Lage des Handwerks. J. f. G.V. 1897. — - Stieda, Die
Lebensfähigkeit des Handwerks. 1897.
Die Hausinduſtrie: Über ſie iſt in der älteren Litteratur meiſt nur gelegentlich gehandelt;
ebenſo in den Induſtriebeſchreibungen bis 1875. Wartmann, Induſtrie und Handel des Kantons
St. Gallen in geſchichtlicher Darſtellung. 1875. — - E. Sax, Die Hausinduſtrie in Thüringen.
2 Bde. 1882—1884. — - L. Bein, Die Induſtrie des ſächſiſchen Voigtlandes. 2 Bde. 1884. —
- Schanz, Zur Geſchichte der Koloniſation und Induſtrie in Franken. 1884 ff. —
- Zimmermann,
Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schleſien. 1885. — - Schmoller, Die Hausinduſtrie und
ihre älteren Ordnungen und Reglements. J. f. G.V. 1887. — - Moore, Das Sweatingſyſtem in
England. A. f. ſ. G. 1, 1888. — - Stieda, Litteratur, heutige Zuſtände und Entſtehung der deutſchen
Hausinduſtrie. S. V. f. S. 39, 1889. — - Schmoller, Die Hausinduſtrie. J. f. G.V. 1890; —
Derſ., Das Recht und die Verbände der Hausinduſtrie. Daſ. 1891. — - Sombart, Die Hausinduſtrie
in Deutſchland. A. f. ſ. G. 6, 1891; — Derſ., Hausinduſtrie. Im H.W. 4, 1892 (mit umfang-
reicher Litteraturangabe). — - Hintze, Die Schweizer Stickereiinduſtrie und ihre Organiſation. J. f.
G.V. 1894. — - Schwiedland, Kleingewerbe und Hausinduſtrie in Öſterreich. 2 Bde. 1894. —
- Grandtke, Entſtehung der Berliner Wäſcheinduſtrie. J. f. G.V. 1896. —
- Feig, Hausgewerbe und
Fabrikbetrieb in der Berliner Wäſcheinduſtrie. 1896. — - Hausinduſtrie und Heimarbeit in Deutſchland
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138. Begriff der Unternehmung. Ihre Ausgangspunkte: Handel,
Arbeitsgenoſſenſchaft, Familie. Die Ausbildung der landwirt-
ſchaftlichen Unternehmung. Während die Familien und die Gebietskörperſchaften
überall mit der Seßhaftigkeit zunächſt als die ſocialen Organe erſcheinen, welche die
weſentlich wirtſchaftlichen Funktionen vollziehen, entſtehen nach und nach mit der Geld-
wirtſchaft, der ſteigenden Arbeitsteilung und Klaſſenbildung, dem Verkehr- und Markt-
weſen diejenigen ſocialen Organe, welche heute die eigentlichen Träger des Handels und
der Produktion ſind, die Unternehmungen, die wirtſchaftlichen Geſchäfte.
Wo einzelne Perſonen, Familien oder kollektive Perſönlichkeiten in irgend welcher
dauernden, durch Sitte und Recht normierten Form beginnen, regelmäßig Leiſtungen
oder Warenlieferungen für den Markt zu übernehmen, Arbeit und Kapital mit der
Abſicht einſetzen und verwenden, um durch Kauf und Verkauf einen Gewinn zu machen,
davon zu leben, mindeſtens ſich den Aufwand erſetzen zu laſſen, da ſprechen wir von
einer Unternehmung. Es handelt ſich bei der Unternehmung ſtets um ein doppeltes:
1. um die techniſch-perſönliche Organiſation, die Beſchaffung der Räume, der Mittel,
der Perſonen und ihre Ineinanderpaſſung und 2. um die Verkehrsſeite, den Ein- und
Verkauf, den Zuſammenhang mit dem Markt und der übrigen Geſellſchaft. Wirken
mehrere Perſonen zuſammen, ſo müſſen ſie als Familienglieder, Genoſſen, Arbeitgeber
und Arbeiter, kurz irgendwie rechtlich in ihrem Verhältnis zu einander, in Bezug auf
Leiſtung, Bezahlung, Teilung des Ertrags geordnet ſein. Der die Initiative Ergreifende,
privatrechtlich die Gefahr Tragende iſt der Unternehmer; er iſt der Mittelpunkt und
Leiter der Unternehmung, die aber als ein zuſammengeordnetes Syſtem von Produktions-
mitteln und Arbeitskräften durch ihren dauernden Zweck, d. h. durch die Übernahme
[414]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
eines beſtimmten Handels oder einer beſtimmten ſpecialiſierten Produktion von Waren
zu einer ſelbſtändigen Anſtalt mit beſtimmter Verfaſſung, mit eigenem Lebensintereſſe
wird. Nur in den ſpäteren Stadien der antiken und in den letzten Jahrhunderten der
europäiſchen und der von ihr abhängigen kolonialen Kultur haben ſich dieſe Unter-
nehmungen voll und ganz ausgebildet, während vorher nur Anſätze dazu, hauptſächlich
in den Handelsgeſchäften, dann auch im Handwerk, in gewiſſen landwirtſchaftlichen
Betrieben vorhanden waren und ähnlich noch heute in allen Ländern niedriger oder
halbentwickelter Kultur nur ſolche Anfänge der Unternehmung beſtehen.
Es iſt daher begreiflich, daß erſt die beginnende Volkswirtſchaftslehre des 18. Jahr-
hunderts von einem Unternehmer ſprach, daß ſie in ihrer Richtung auf Unterſuchung
der Einkommensverteilung weſentlich die Frage erörterte, welche Natur der Unternehmer-
gewinn habe. Die Engländer ſahen in ihm weſentlich einen Kapitalgewinn, identifizierten
ihn vielfach mit der Kapitalrente; die Franzoſen ſahen in ihm eine Art Arbeitslohn. Die
Deutſchen begannen ihn als eine ſelbſtändige Einkommensart aufzufaſſen. Nachdem der
Socialismus gegen das Weſen der Unternehmung, als der Organiſationsform, welche
den innerſten Kern, den Pol der heutigen Volkswirtſchaft ausmache, welche aus dem
Dienſte der Geſamtheit private Gewinne für die Leiter herausſchlage, ſeine heftigen
Angriffe gerichtet hatte, konnte die Wiſſenſchaft nicht mehr bei der Frage ſtehen bleiben,
ob der Unternehmergewinn unter dieſe oder jene privatrechtliche oder wirtſchaftliche
Kategorie falle; ſie mußte beginnen, die verſchiedenen Arten der Unternehmung zu
beſchreiben, ſie pſychologiſch und hiſtoriſch, techniſch und wirtſchaftlich aus ihren Urſachen
zu erklären, um ſo zu einem abſchließenden Urteil über ihr Weſen, ihre Entwickelung
und Berechtigung zu kommen, ſie im Zuſammenhang der ganzen ſocialen und geſell-
ſchaftlichen Organiſationsfragen zu begreifen. —
Wir werfen zuerſt einen Blick auf die Ausgangspunkte, aus denen heraus die
Unternehmung ſich hiſtoriſch entwickeln konnte: Wo Handel und Verkehr Platz greifen,
Nomaden und Schiffer auf Beute und Gewinn ausziehen, Märkte entſtehen, da bildet
ſich mit dem Tauſch, mit der Erkenntnis der großen örtlichen Preisdifferenzen, mit der
Erſpähung der verſchiedenen Bedürfniſſe da und dort der Sinn für den Handelsgewinn;
er iſt der pſychologiſche Keim der Geſchäftsſeite aller Unternehmung.
In die Wirtſchaftsführung der Menſchen und Familien kommt damit ein neues
anderes Element; der bisher ausſchließlich auf die Hauswirtſchaft gerichtete Sinn, der
nur Vorräte für den Gebrauch, nur ihre Herrichtung für den eigenen Bedarf kannte,
greift jetzt über dieſen Kreis hinaus; er will erwerben, erbeuten, einkaufen, um fremden
Menſchen die Ware zuzuführen, und damit einen Gewinn machen. Dazu gehört Welt-
und Menſchenkenntnis, wagender Mut, rechnender Verſtand, (vergl. oben S. 335). Die
bisher nur mit Familien und Stammesgenoſſen freundlich, mit Fremden feindlich
Verkehrenden kommen nun beim Tauſch und Handel mit Fremden und bald auch mit
den Stammesgenoſſen in jene den Tauſchverkehr charakteriſierende Berührung, die
einerſeits Sympathie und Rückſichtnahme zurücktreten läßt, andererſeits den Verzicht
auf Tötung und Beraubung nach und nach fordert: man macht ein Geſchäft, man hat
eine perſönlich gleichgültige Berührung; Käufer und Verkäufer ſtehen ſich gleichſam in
abſtrakter Ferne gegenüber, ohne daß nähere ſittliche Bande aus dem Geſchäft entſtehen,
wie ſie bisher innerhalb der Familie, der Gens, des Stammes alle wirtſchaftliche
Berührung begleitet hatten. Nur der lockende Gewinn, der ſich dem Egoismus, dem
Erwerbstrieb darbietet, konnte den Umweg bilden, auf dem Fremde in andere als feindliche
Berührung kamen, einander dienſtbar wurden. Aber die Art, wie ſie ſich dienſtbar
wurden, wie ſie in immer größerer Zahl vorübergehend, flüchtig, ohne näheres Kennen-
lernen, ohne dauernde Beziehung durch Tauſch und Verkehr ſich berührten, ſchloß auch
das engere Verbundenſein, die weitergehenden gegenſeitigen Pflichten aus, wie ſie in
den engeren geſellſchaftlichen Verbänden bisher gefordert wurden; Übervorteilung,
Täuſchung, Bewucherung, ja unter Umſtänden Liſt und Gewalt galt lange im Handel
als erlaubt. Sein Zweck iſt nicht, einen Freund, einen Verwandten zu verſorgen, ſondern
einen Gewinn, ein rentierendes Geſchäft zu machen, das Kapital einzuſetzen, die Leiden-
[415]Der Handel als Keim der Unternehmung. Die ältere Arbeitsgenoſſenſchaft.
ſchaften und Schwächen der Menſchen zu nützen, die Preisdifferenzen zu verfolgen, ſich
bezahlen zu laſſen in einer Weiſe, daß auch die Gegengabe wieder Vorteil bringe. Es
iſt eine gänzlich andere moraliſch-pſychologiſche Atmoſphäre, die mit dem Handel ent-
ſteht, die erſt langſam und nach und nach ihre Sitte, ihr Recht, ihre Moral, ihre
ſocialen Schranken erhielt. Die Auffaſſung der ſocialen Beziehungen zu allen ferner
Stehenden unter dem Geſichtswinkel des Gelderwerbes, die damit verbundene Geiſtes-
thätigkeit und Willensrichtung wird das zunächſt rohe, aber unentbehrliche Hülfsmittel,
um nach und nach die ganze Produktion umzugeſtalten, die Volkswirtſchaft und in
weiterer Linie den Welthandel zu ſchaffen. Dieſe beſtimmte pſychologiſch-geiſtige Atmo-
ſphäre iſt noch heute die Vorausſetzung des überwiegenden privatwirtſchaftlichen Geſchäfts-
getriebes; ſie kann, mit moraliſchen Elementen durchſetzt, nach und nach ſelbſt eine ver-
ſittlichte werden. Nur darf man von ihr nicht den Verzicht auch auf den reellen Gewinn
fordern. Wer allen Gewinn als „Profitwut“ anklagt und aus der Volkswirtſchaft
entfernen will, tötet ihre Seele und muß nachweiſen, welch’ andere Seele er ihr ein-
zuhauchen im ſtande ſei.
Wie, durch welche Stadien, Einrichtungen, mit Hülfe welcher Anordnungen von
Gemeinde und Staat der Handelsgeiſt ſich nach und nach entwickele, haben wir hier
nicht zu verfolgen. Nur das ſei noch betont, daß aller Tauſch und aller Handel, ſo
ſehr er der Organiſation von Genoſſenſchaften, Sippen, Karawanen, Gemeinden und
Staaten bedarf, doch von Haus aus Sache der Individuen, zuerſt der Häuptlinge, oft
der großen Grundbeſitzer, dann der Händler iſt, und daß naturgemäß die Familien-
glieder, die Sklaven und Diener der Betreffenden zu Gehülfen des Handelsgeſchäftes
dabei werden. Dazu braucht der Händler die Fähigkeiten und die Eigenſchaften, die
ſpäter überhaupt für jeden Unternehmer größerer Geſchäfte nötig ſind: die Kunſt,
Menſchen zu behandeln und an ſich zu ketten, vielköpfige Anſtalten einheitlich zu leiten,
richtig zu befehlen und Gehorſam zu finden.
Haben wir ſo eine Vorſtellung, wie an die Geſchäftsſeite der Unternehmung,
welche mit dem Handel entſteht, die organiſatoriſche Zuſammenfaſſung mehrerer ſich
anſchließt, ſo iſt, um ſie richtig und ganz zu verſtehen, von der Frage auszugehen,
welche Rolle die älteren Formen ſocialer Organiſation dabei geſpielt haben, die genoſſen-
ſchaftliche, wie ſie mit der Sippe, die herrſchaftliche, wie ſie mit der Familie gegeben war.
Die älteren Gentilverbände, die Sippen haben wir oben (S. 236—239) kennen
gelernt: ſie beruhen auf ſehr ſtarken Gemeingefühlen, ſie faſſen in einer Zeit ohne erheb-
lichen individuellen und Familienbeſitz je eine größere Zahl Männer zu Kriegs- und
Beutezügen, zu Schiffs- und Hausbau, zu Rodung und Feldgemeinſchaft zuſammen.
Als Unternehmungen können wir ſie nicht bezeichnen, ſie wollen keinen Gewinn machen;
aber ſie ſind Arbeitsgenoſſenſchaften und ſchulen die Menſchen in gemeinſamer Thätigkeit.
In der hiſtoriſchen Zeit der Kulturvölker ſind ſie meiſt in Auflöſung begriffen oder in
Mark- und Dorfgenoſſenſchaften umgebildet, der wichtigere Teil aller wirtſchaftlichen
Arbeit iſt jetzt auf die Familien übergegangen. Aber die alten Sitten des gruppen-
weiſen Zuſammenarbeitens dauern doch in beſtimmten Fällen da und dort umfangreich
fort: eine Anzahl Männer jagen und fiſchen gemeinſam, arbeiten als Flößer und Schiffer
zuſammen, brechen Steine, bauen Erzgruben ab, übernehmen Fuhren, arbeiten ſpäter als
Träger, Packer, Unterkäufer oder ſonſt wie gemeinſchaftlich. Es handelt ſich um lauter
relativ einfache Arbeitsthätigkeiten, die, außerhalb der Hauswirtſchaft geübt, das Zuſammen-
wirken mehrerer nötig machen. Männer mit einfachen Werkzeugen, gleicher Kraft und
Geſchicklichkeit, ohne ausgebildeten Erwerbstrieb, ohne eigentliche Arbeitsteilung, als
Verwandte, Nachbarn, Freunde und durch die Schule der gemeinſamen Arbeit von
einem naiven Gemeinſchaftsgefühl beherrſcht, treten ohne ſchriftlichen Vertrag unter
einfachen Formen, z. B. unter Küſſung eines Heiligenbildes, unter Trunk aus einem
gemeinſamen Becher zuſammen; damit iſt der Bund unter den herkömmlichen, jedem
bekannten Bedingungen geſchloſſen; ein Führer wird gewählt; oft wird für die Zeit
der gemeinſamen Arbeit gemeinſames Mahl gehalten. Eine Kaſſe, ein gemeinſames
Vermögen, eine Buchführung beſtehen meiſt nicht oder nur in kümmerlichen Anfängen.
[416]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Die erzielten Produkte, die Jagdbeute, die erzielten Erze, die gefangenen Fiſche werden
in Natura geteilt, jedem bleibt überlaſſen, ob er ſeinen Anteil verzehren oder verkaufen
will. Es ſind in älterer Zeit rein naturalwirtſchaftliche Arbeitsgenoſſen-
ſchaften, auch heute noch haben ſie teilweiſe dieſen Charakter, teilweiſe ſind ſie zu
Genoſſenſchaften von Lohnarbeitern geworden, die gemeinſame Arbeiten übernehmen,
in den Dienſt eines Unternehmers treten. Der Verdienſt wird nach Köpfen geteilt,
dem Führer, dem Koch, dem Steuermann wird eine Vorzugsportion überlaſſen. Dieſe
Genoſſenſchaften waren in älterer Zeit viel zahlreicher als ſpäter, ſie kommen heute noch,
z. B. als ſogenannte Artels in Rußland, dann in China ſehr häufig vor. Teilweiſe ſind
aus ihnen in der Folge anderweite kompliziertere Unternehmerorganiſationen erwachſen.
Unſere ganze Bergwerksverfaſſung entſprang dem gruppenweiſen Zuſammenarbeiten von
4, 8, 16 Erzgräbern, die noch bis ins 14. Jahrhundert ihren Verdienſt in dem
betreffenden Erzanteil hatten, den ſie teilten. In der Fiſcherei arbeiten noch heute
in vielen Ländern einige Männer genoſſenſchaftlich zuſammen und teilen den Fang.
Die ganze Geſchichte der Matroſenlöhnung iſt nur verſtändlich als allmähliche Umbildung
des genoſſenſchaftlichen Anteils an der Fracht und des Rechts jedes Genoſſen, Waren
mitzuführen, in den ſpäteren Geldlohn, die Heuer. Die Lippeſchen Ziegelarbeiter, die
italieniſchen Maurer, in gewiſſem Sinne alle Gruppenaccorde gehören dieſem Typus
der Organiſation an. Noch heute wird beſonders bei gefahrvollen Beſchäftigungen die
große Leiſtungsfähigkeit und Zuverläſſigkeit ſolcher Arbeitsgenoſſenſchaften gerühmt; es
lebt in dieſen Gruppen ein ſtraffes Ehrgefühl, eine ſtrenge Ausleſe, die nur tüchtige
Leute aufnimmt, da jeder Faule oder Unzuverläſſige allen ſchadet.
Aber es iſt feſtzuhalten, daß für die meiſten techniſchen Arbeitsoperationen über-
haupt in älterer Zeit keine ſolchen Gruppen von Männern nötig waren; der Ackerbau
und die gewöhnlichen Gewerbe forderten ſie nicht, lagen in den Händen von einzelnen
oder Familien. Alle Handelsentwickelung ruht auf dem individuellen Erwerbstrieb.
Die zur Meerfahrt ausziehenden Wikinger ſchworen, die Beute zu teilen, den Handels-
gewinn jedoch jedem perſönlich zu laſſen. Aber wo der Großhändler, der Plantagen- und
Bergwerksbeſitzer eine größere Zahl zum Zuſammenarbeiten eingeſchulter dienender Kräfte
bedarf, werden wir uns ſeine Leute, ſeine Sklaven vielfach als ſolche Arbeitsgenoſſen-
ſchaften zu denken haben.
So weit in älterer Zeit ſolche Arbeitsgenoſſenſchaften in größerer Zahl blühten
und ſelbſtändig thätig waren, ihre Produkte verkauften, kam ſtets leicht für ſie die Zeit,
wo ihre Organiſation verſagte, eben weil ſie keine eigentlichen Unternehmungen waren
und zu ſolchen nicht werden konnten. Sie waren zu techniſchem Fortſchritt, zur Arbeits-
teilung, zu reicherer Kapitalanwendung nicht fähig, noch weniger zur kaufmänniſchen
Ausnützung ihrer Thätigkeit. Auch heute beobachten wir den Prozeß der Auflöſung
bei den noch ſo zahlreichen Fiſchereigenoſſenſchaften; wo größere Schiffe nötig ſind,
tritt ein kapitaliſtiſcher Unternehmer an die Spitze; die genoſſenſchaftlichen Fiſcher ſind
zum Verkauf ihrer Fiſche, zur Aufſuchung beſſerer Märkte unfähig, fallen dabei Wucherern
in die Hände; ſie verbeſſern heute ihre Lage häufig, wenn ſie geldgelohnte Arbeiter
werden. Erſt wo die Betreffenden durch die Schule des individualiſtiſchen Erwerbs-
lebens mit all’ ſeinen Einrichtungen, ſeiner Buchführung, ſeiner Marktkenntnis hindurch-
gegangen ſind, kann der genoſſenſchaftliche Geiſt wieder neue kräftige Blüten treiben,
zu lebensfähigen Unternehmungen kommen. In Ländern wie Rußland, Italien und
anderwärts, wo der moderne Individualismus noch wenig Herrſchaft errungen hat,
knüpft die neueſte Agitation für Genoſſenſchaftsweſen mannigfach an die Reſte dieſer
uralten Arbeitsgruppen an.
Im ganzen aber haben nicht die brüderlichen Traditionen der Sippe, ſondern
die herrſchaftlichen der Familie die Grundlage für die Unternehmungen gegeben.
Wir haben oben (S. 239—244) die Entſtehung der patriarchaliſchen
Familie und ihre Funktion als wirtſchaftliches Organ kennen gelernt; ſie faßt eine
Anzahl Menſchen zu gemeinſamer Arbeit zuſammen, hat eine feſte monarchiſche Spitze
im Familenvater, der allen Gliedern ihre Aufgabe zuweiſt, ſie kontrolliert, zur Thätigkeit
[417]Die Entwickelung der Familienwirtſchaft zur Unternehmung.
zwingt; ſie iſt ein Organ, das Herden-, Land-, Kapitalbeſitz zu ſammeln, zu verwalten,
von Geſchlecht zu Geſchlecht zu überliefern verſteht.
Aber ihre Hauswirtſchaft hat urſprünglich nur die eigene Verſorgung der Familie
zum Zweck, nicht eine Überſchußproduktion für den Markt; höchſtens ſo viel ſuchen die
Familien außer für den eigenen Bedarf zu ſchaffen, wie etwa für Gemeinde und Grund-
herren, für Kirche und Staat noch nötig iſt; denn an dieſe geſellſchaftlichen Verbände
muß die Familie Dienſte und Naturalabgaben liefern; ſo groß iſt ihre Hufe bemeſſen,
daß ſie das kann; und auch der größere Vieh- oder Landbeſitzer, der Grundherr, das
Kloſter, ſie haben in älterer Zeit nicht ſowohl eine Überſchußproduktion und Gewinn-
erzielung im Auge als eine ſo große Eigenproduktion, daß die lokalen Verwaltungs-
zwecke, die Zwecke einer militäriſchen, kirchlichen, ariſtokratiſchen Familienorganiſation,
die mit dem größeren Beſitz verbunden iſt, befriedigt werden, ſo und ſo viel Diener,
Ritter, Kloſterbrüder wie nötig, behauſt, geſpeiſt und ſonſt unterhalten werden können.
Die Haus- und Familienwirtſchaft der älteren Zeit iſt ſo keine Unter-
nehmung, es fehlt ihr die Geſchäftsſeite, die Verbindung mit dem Markt; ihr Zweck
iſt nicht Gewinn, ſondern Unterhalt. Aber ſie hat eine feſte, klare, leiſtungsfähige
Organiſation, ſie bildet eine Arbeitsteilung aus; ſie lehrt die Menſchen, planvoll für
die Zukunft arbeiten und ſparen; ſie iſt ein ausgezeichnetes Mittel der Schulung und
Heranziehung jüngerer Arbeitskräfte; ſie hat in dem unbeſtrittenen Kommando des
Familienvaters das einfachſte Mittel, mehrere, ja viele ohne Reibung zuſammen wirken
und die Fähigkeiten des Befehlenden zu vollſtem Effekt gelangen zu laſſen. Sie iſt
hierin der Arbeitsgenoſſenſchaft unendlich überlegen. Und deshalb wird ſie für Jahr-
hunderte und Jahrtauſende nicht bloß das Organ der menſchlichen Fortpflanzung, des
Wohnens und des Haushalts, des ſittlichen Lebens, ſondern auch der Keimpunkt, an
den ſich ganz überwiegend die entſtehende Unternehmung anſetzt.
Die Familienwirtſchaften, die zu Unternehmungen werden, tragen
ſehr lange Zeit noch überwiegend den Stempel der Haus- und Familienwirtſchaft mit dem
Zweck der Eigenproduktion an ſich; nur langſam knüpft ſich je nach den Naturverhältniſſen,
je nach den produzierten Früchten und Tieren, Geräten und Gegenſtänden ein Verkaufs-
geſchäft, eine Überſchußproduktion an ſie an; aber letzteres bleibt Nebenſache; die ganze
Organiſation, die Wohnung, die Arbeitsſtätten, die Sinnes- und Lebensweiſe der Betreffenden
bleibt die familienwirtſchaftliche. Die Fiſcher und Zeidler, die Köhler und Salzſieder des
älteren Mittelalters haben früher und mehr zu verkaufen als der Bauer; aber alle leben
in erſter Linie von den Erzeugniſſen ihres Fleißes, ſtellen ſich Wohnung, Kleidung und
Eſſen, ja die Mehrzahl der Werkzeuge ſelbſt her. Auch der Handwerker, der Berg-
arbeiter, der Kaufmann hat vielfach noch lange in erſter Linie eine agrariſche Haus-
wirtſchaft, ſeine anderweite Thätigkeit iſt lange nur ein Anhängſel dieſer. Aber doch
gelangt, der Natur dieſer auf den Markt gerichteten Thätigkeiten entſprechend, das
„foro rerum venalium studere“ nach und nach zu einer Bedeutung, die es beim Bauer
nicht hat, oder erſt in unſern Tagen der vollendeten Geld- und Verkehrswirtſchaft da
und dort bekommt. So lange der Kleinbauer, ſei er Eigentümer, vertreibbarer Stellen-
inhaber oder Halbpächter, ſeine etwaigen Überſchüſſe in natura dem Grundherren abliefern
muß, kann das, was er zu Markt liefert, nicht viel ſein; er hat darum auch wenig
Sinn für techniſchen Fortſchritt, Kapitalbildung, Gewinn; hat er gelegentlich übriges
Geld, ſo legt er es in den Schrank oder kauft Land oder verſpielt und vertrinkt es.
Muß er aber ſtaatliche Geldſteuern aufbringen, entſtehen Märkte, Verkehr, Geldwirtſchaft
in ſeiner Nähe, ſo beginnt er doch, in ſteigendem Maße für den Verkauf zu produzieren;
zuerſt und lange handelt es ſich nur um einige Prozente ſeiner Früchte, die er verkauft,
heute können wir jedenfalls annehmen, daß es in Deutſchland die Hälfte derſelben,
vielfach auch mehr ſeien. Der heutige Bauer iſt damit auch zum halben Unternehmer
geworden und kommt täglich mehr unter die Gewalt der Geſichtspunkte, die mit der
Unternehmung an ſich gegeben ſind. Am meiſten der Gärtner, der vorſtädtiſche, der
Tabaks-, der Gemüſebauer.
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 27
[418]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Früher als er kommt der größere Herden- und Grundbeſitzer ſo weit; die
römiſche und die engliſche Grundariſtokratie haben, wie uns geiſtreiche Hiſtoriker gezeigt,
weſentlich durch vergrößerte Viehzucht und den Verkauf von Wolle und Vieh ihren
Wohlſtand begründet. Auch die mitteleuropäiſchen Grundherren des Mittelalters, die
Klöſter und Biſchöfe begannen ſchon ſeit den Tagen Karls d. Gr., einzelne Produkte,
an denen ſie Überſchuß hatten, zu verſilbern; aber doch erſt in den ſpäteren Zeiten der
Geldwirtſchaft wurde der Großgrundbeſitzer eigentlicher Korn-, Woll- und Viehproduzent,
mit kaufmänniſchem, ja teilweiſe ſpekulativem Charakter. So die römiſche Ariſtokratie
in der letzten Zeit der Republik und den erſten Jahrhunderten des Principats. Es
waren Grundbeſitzer, die zugleich Kaufleute, Feldherren, Verwalter von Staatsämtern,
Pächter von Steuern waren, in der Herrſchaft über unterworfene Lande zu befehlen und
Geſchäfte in großem Stil zu treiben gelernt hatten, die Hunderte und Tauſende von
Sklaven beſaßen und zwar teilweiſe techniſch hochſtehende. Damit waren ſie befähigt,
große Unternehmer zu werden, ihren Landbau, ihre Bergwerke, ihre Fabriken und den
Handel unter Anwendung großer Kapitalien und techniſcher Fortſchritte, mit Hülfe
ihrer wohlgegliederten und disciplinierten Sklaven, ihrer familia urbana und rustica
zum höchſten Ertrag und Gewinn zu bringen. In den neueren Zeiten haben die
Europäer in ihren Kolonien mit Sklaven eine ähnliche Plantagen- und Unternehmer-
wirtſchaft organiſiert. In Europa iſt die ältere Grundherrſchaft nie zur eigentlichen
Unternehmung geworden; wohl aber haben die Gutsbeſitzer Englands, Oſtdeutſchlands,
Rußlands vom 16. Jahrhundert an ſolches erſtrebt; die engliſchen gleich mit freien, die
mitteleuropäiſchen mit erbunterthänigen, teilweiſe auf erblicher Hufe ſitzenden Bauern.
Das Gutsland iſt vergrößert, meiſt aus dem Gemenge gezogen, mit dem Vieh, den
Hand- und Spanndienſten der Bauern wurde eine Art Großbetrieb vom Gutsbeſitzer
organiſiert, der viel mehr den Markt als die Verſorgung der gutsherrlichen Familie
oder die Lokalverwaltung im Auge hat. Knapp ſieht deshalb hier den Anfang des
kapitaliſtiſchen Betriebes, d. h. der modernen Unternehmung. Nur war dieſe gutsherr-
liche Unternehmung dadurch gehemmt, daß die oberen Schichten ihrer Arbeiter, die
Hufner, einen eigenen Hof hatten, und daß alle Arbeiter nur innerhalb feſter,
gewohnheitsmäßiger oder vom Staate geſetzter Rechtsſchranken zu Dienſten verpflichtet
waren.
Daher beginnt die eigentliche landwirtſchaftliche Unternehmung doch erſt da, wo
der größere Beſitzer oder Pächter mit freien Arbeitern für den Markt produziert. Die
Familienwirtſchaft der Inhaber, oft auch die einiger Beamten und einer Anzahl noch
halb in Naturalien bezahlter Arbeiter bleiben zwar in der Regel auf dem Gute und
mit ſeinem Betrieb verknüpft; die Arbeiter ſinken für den anſtändigen Landwirt nicht
zu „Händen“ herab, ſie bleiben mehr als in der Stadt Nachbarn und Gemeindegenoſſen,
wenn ſie nicht bloß für die Ernte- und Beſtellzeit aus der Fremde kommen. Nicht leicht
ſiegen die rein geſchäftsmäßigen Geſichtspunkte ſo wie in der großſtädtiſchen Fabrik.
Aber andererſeits iſt ein ſolch’ moderner Betrieb doch ſpekulative Unternehmung geworden:
das Kapital ſoll ſich verzinſen, ein Gewinn erzielt werden; der Buchwert des Grund-
kapitals äußert ſeine große Bedeutung, er ſteigt oder fällt und verhält ſich demgemäß
günſtig oder ungünſtig zu der feſten Höhe der eingetragenen Hypotheken, der ſchuldigen
Zinſen, die herausgewirtſchaftet werden ſollen. Der techniſche Fortſchritt wird in den
Dienſt der beſſeren und billigen Produktion geſtellt; die betreffenden Landwirte ſind die
Führer und Träger dieſes Fortſchrittes und deshalb eben dem Bauer überlegen, bis
dieſer beginnt, ähnliche Wege zu wandeln. Am deutlichſten tritt dieſes hervor bei den
großen Pächtern; ſie ſind eben als Nichtgrundbeſitzer keine Ariſtokraten mit dem ſicheren
Gefühl des Rentenbezuges, ſondern ganz Geſchäftsleute, die erwerben wollen.
Die kleineren Pächter dagegen produzieren wie die Bauern und Kleinſtellenbeſitzer
überwiegend für die eigene Wirtſchaft; ihre Landwirtſchaft bleibt vielfach mehr Anhängſel
der Haus- und Familienwirtſchaft als Unternehmung.
139. Das Handwerk. Iſt ſo die Ausbildung landwirtſchaftlicher Unter-
nehmungen ein ſehr langſam ſich vollziehender Prozeß, ſind heute noch faſt alle land-
[419]Die landwirtſchaftliche Unternehmung. Das Handwerk.
wirtſchaftlichen Betriebe an Familienwirtſchaften angelehnt, ſo gilt im gewerblichen Leben
Ähnliches, ſolange es die Stufe des Handwerks nicht überſchreitet.
Wir verſtehen unter einem Handwerksbetrieb das kleine, mit der Familien-
wirtſchaft des Inhabers verbundene Geſchäft eines durch irgend eine beſondere techniſch-
gewerbliche Geſchicklichkeit ſich auszeichnenden Meiſters, der allein oder mit ſeiner
Familie oder wenigen Gehülfen für Kunden arbeitet, an ſie ſeine Arbeit oder ſeine
Produkte verkauft. Wir haben oben (S. 349—350) die Entſtehung des Handwerks auf
dem Boden der Arbeitsteilung, die ſociale Stellung der Handwerker, die Zeit ihrer
Hauptblüte kennen gelernt; hier haben wir von dem Handwerk als einer Betriebs-
und Unternehmungsform, als dem Anſatz und Keim der ſpäteren vollen gewerblichen
Unternehmung zu ſprechen; es verſteht ſich, daß wir dabei weſentlich das Handwerk in
der Epoche ſeiner vollen Ausbildung im Auge haben; es handelt ſich hauptſächlich um
das ſtädtiſche Handwerk, wie es nach Ausbildung der Geldwirtſchaft ſich entwickelte,
ſpäter auch auf das platte Land ſich ausdehnte.
Der Handwerker iſt ein Mann, der durch beſtimmte, eigentümliche, techniſche
Kunſtfertigkeit ſich von ſeinen Stammes- und Gemeindegenoſſen unterſcheidet, von ſeiner
Arbeit und Kunſt zu leben ſucht. Er thut es, indem er hauſierend oder am Ort und in
der Umgebung ſeine Dienſte anbietet, in der Hauswirtſchaft anderer Familien als techniſcher
Hülfsarbeiter, als Schneider, Schlächter, Küfer gegen Koſt und Bezahlung mithilft, dann
aber, indem er mit ſeinem einfachen Handwerkszeug zu Hauſe in ſeiner kleinen Werkſtatt
für Kunden auf Beſtellung arbeitet oder einige Waren auf Vorrat für den örtlichen
Markt und die nächſtliegenden Jahrmärkte herſtellt und zu verkaufen ſucht. Wo er
ſeßhaft geworden iſt, läßt er ſich bei ſeiner Arbeit von Frau und Kindern, iſt ſie etwas
umfangreicher, von Lehrling und Geſellen helfen. Sein Geſchäft bleibt meiſt in engſter
Verbindung mit der Familienwirtſchaft; Wohnung und Werkſtatt fallen nicht immer,
aber ſehr häufig zuſammen; Lehrling und Geſelle werden als Familienglieder behandelt.
Anderes Kapital als die Werkzeuge und etwas Rohſtoffe ſind nicht vorhanden; glücklich,
wenn der Meiſter noch Häuschen und Gartenſtück beſitzt; oft wohnt er zur Miete; die
Werkſtatt oder Bude gehört teilweiſe der Stadt, der Zunft oder einem anderen Herrn.
Mag er vielfach nebenher durch Beſitz und Eigenwirtſchaft eine wirtſchaftliche Sicherung
der Exiſtenz haben, im ganzen will er von ſeiner Arbeit, ſeinem Gewerbe leben; und
er kann es, wenn er eine genügende Kundenzahl findet; ſeine Stellung als Geſchäfts-
mann beruht weſentlich darauf, daß er direkt für die ihm bekannten, oftmals befreundeten
Kunden arbeitet, direkt ohne kaufmänniſche Zwiſchenglieder an die Kunden verkauft. Die
perſönlichen direkten Beziehungen des Meiſters als Produzenten zu den Konſumenten
auf dem Markt der Stadt und in der nächſten Umgebung unterſcheidet die Betriebs-
form des Handwerks von der Hausinduſtrie und der Großinduſtrie. Daß er viel mehr
als der Bauer von dem Markte lebt, unterſcheidet ihn von dieſem. Der Handwerks-
meiſter hat ein Geſchäft, der Bauer einen Haushalt.
Freilich das Geſchäft iſt klein und beſchränkt; es kennt keine weſentliche Arbeits-
teilung, kein großes Riſiko. Der Meiſter, der ſich zu Wohlſtand und Hausbeſitz auf-
arbeitet, dankt es mehr ſeiner Geſchicklichkeit und Zuverläſſigkeit, als dem wagenden Mut,
der Fähigkeit, den Abſatz zu organiſieren, wie Kaufmann und Fabrikant. Deshalb will
Sombart das Handwerk nicht als Unternehmung gelten laſſen. Aber immer muß der Meiſter
Werkzeuge und Rohſtoff anſchaffen, er muß ein- und verkaufen, Gehülfen und Kunden
behandeln können. Das Handwerk hat nur da geblüht, wo ein gewiſſer Unternehmer-
geiſt ſich mit techniſchem Geſchick, mit Klugheit und ſittlicher Tüchtigkeit verband; ohne
Gewinnabſicht kann es nicht exiſtieren, wenn es auch nicht kaufmänniſch ſpekuliert.
Man könnte hinzufügen, es habe da geblüht, wo es richtig eingefügt war in den
Zuſammenhang einer Zunft- und Stadtorganiſation, die ihm das gab, was der ſpätere
Großunternehmer ſich ſelbſt verſchaffte: geſicherten Abſatz. Aus bruderſchaftlichen Ver-
einigungen der das gleiche Handwerk treibenden Genoſſen und aus Markteinrichtungen
war die Inſtitution der Zünfte hervorgegangen (ſ. oben S. 404). Das Wohnen oder
Feilbieten der Handwerker gleichen Berufes neben einander auf beſtimmten Teilen des
27*
[420]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Marktes oder der ihm nächſtgelegenen Straßen, eine amtliche Warenſchau, Preisſetzung
und andere Maßnahmen der Marktpolizei erzeugten eine Organiſation des Abſatzes,
welche die Innung ſelbſt nach und nach in die Hand bekam; es lag darin eine Art
Konkurrenzregulierung, die dem einzelnen Schranken auferlegte, ihn aber auch erzog
und ſeinen Erwerb erleichterte. Die ſtädtiſche, ſpäter die territoriale und ſtaatliche
Gewalt mußte nach Ausbildung des Zunftweſens ſuchen, die Oberleitung im Intereſſe
der Geſamtheit in die Hand zu bekommen, den Handwerkern ihr Marktgebiet und ihren
Abſatz zu ſichern. Nur wer der Zunft am Orte angehörte, durfte das Handwerk
ſelbſtändig treiben, und er wurde nur aufgenommen, wenn er bei einem Gewerbs-
meiſter als Lehrling gelernt, wenn er dann gewiſſe Jahre Geſelle geweſen, gewandert
war, ein Meiſterſtück gemacht hatte. Da der Meiſter zugleich nur Lehrlinge und Geſellen
ſeines Handwerks und ſtets nur in beſchränkter Zahl halten durfte, ſo war damit
erreicht, daß Meiſter und Gehülfen ſich als eine gemeinſame Klaſſe fühlten, daß die
arbeitenden Geſellen mit der Ausſicht auf die Meiſterſchaft nicht eigentlich zu einem
beſonderen Lohnarbeiterſtand wurden, daß nur kleine Geſchäfte mit Meiſtern an ihrer
Spitze beſtanden, die mehr techniſche Arbeiter als Kapitalbeſitzer und Kaufleute waren.
Durch zeitweilige oder dauernde Fernhaltung fremder Konkurrenz, durch das Verbot des
Landhandwerks, durch oft jahrelange Einſchränkung der Zulaſſung zum Meiſterwerden
oder gar durch eine geſchloſſene Meiſterzahl wurde vollends der Nahrungsſtand der
Meiſter geſichert, aber auch eine Art Monopol erzeugt.
Die Erhaltung der kleinen Geſchäfte mit höchſtens 1—3 Gehülfen lag in der
Natur der damaligen Werkſtatttechnik, in dem mäßigen Kapital jener Tage, in der
Natur des Kundenabſatzes; aber andere Faktoren wirkten mit: ſo das Verbot, daß
kaufmänniſche Kräfte an die Spitze träten, daß ein Meiſter zwei Läden oder Werkſtätten
habe, die Produkte der Mitmeiſter aufkaufe, mit dem Rohſtoff ſpekuliere; ſo die
Begrenzung der Lehrlings- und Geſellenzahl, das Verbot der Frauenarbeit, die wöchent-
liche Maximalgrenze für die Produktion.
So lange dieſe geſamten Einrichtungen dem Verkehr und der Technik ihrer Zeit
im ganzen angemeſſen waren, haben ſie die Ehre, die Ausbildung, den Wohlſtand der
Handwerker gefördert. Seit dem 16. und 17. Jahrhundert, ſeit die interlokale Arbeitsteilung
und der Fernabſatz da und dort begann, war an einzelnen Stellen dieſe alte Handwerks-
verfaſſung bedroht und überlebt; für den weitaus größeren Teil Europas aber blieb
bis gegen 1850, ja 1870 der lokale gewerbliche Kundenmarkt die Hauptſache, und konnte
daher das Handwerk zunehmen. Auch die Gewerbefreiheit hat, wo ſie vor 1860 ein-
geführt wurde, wohl ein Landhandwerk geſchaffen, aber das Stadthandwerk nicht
beſeitigt. Für viele Teile Deutſchlands liegt die Entſtehung und die Blüte des Hand-
werks ſogar erſt in der Zeit von 1700—1870, der ſteigende Wohlſtand zeigte ſich bis
1860 in Deutſchland vielfach in einer Zunahme der Handwerksmeiſter und ihrer
Geſellen. Man kann ziemlich ſicher ſchätzen, daß im heutigen Deutſchland 1816 etwa
0,5 Mill., 1861 1 Mill., 1895 1,3 Mill. Handwerksmeiſter vorhanden waren. Nach
ſehr wahrſcheinlichen Berechnungen kamen auf 1000 Einwohner in Preußen und
Deutſchland:
Im Jahre 1895 kamen auf 1000 Einwohner:
Bei den 1,3 Mill. Handwerksmeiſtern 1895 darf man nicht vergeſſen, daß die
Mehrzahl auf das Land und die kleinen Städte kommt, daß ein ſehr großer Teil nur
noch als Lohnarbeiter für Magazine, als Hausinduſtrielle ihr Daſein friſten. Die ſeit
1840—50 dauernde, ſeit 1875—90 immer ſtärker einſetzende Handwerkerkriſis iſt trotz
dieſer Zahl vorhanden. Wir ſehen, daß es in den großen Städten, wo die Entwickelung
weiter iſt, nur noch halb ſoviel Meiſter giebt wie in den Mittelſtädten. Aber die
Abnahme hier wird teilweiſe noch durch die Zunahme auf dem Lande, zumal wo dichte
Bevölkerung iſt, ausgeglichen.
Im ganzen mußten die Groß- und die Hausinduſtrie, ſowie die ſtädtiſchen
Magazine immer weitere Teile des Handwerks zurückdrängen, gerade weil es noch nicht
eine volle Unternehmung mit ihren wirtſchaftlichen Vorzügen darſtellt. Das Handwerks-
geſchäft alten Stils iſt von der Form und den Sitten der Familienwirtſchaft beherrſcht;
darin liegt ſeine Kraft und ſeine Schwäche. Der Meiſter iſt Familienvater, Unter-
nehmer, techniſcher Arbeiter, Beſitzer des kleinen Kapitals zugleich; der Meiſter beſitzt ſein
eigenes Werkzeug, das ihn ſittlich erzieht, indem er es techniſch bemeiſtern lernt;
Körper und Geiſt, Gemüt und Sinn der Mitarbeitenden werden durch die Einfügung
in Familie und Werkſtatt zugleich in einem normalen Gleichgewicht erhalten und richtig
erzogen. Der Handwerker kennt ſeinen Kunden, für den er arbeitet; er fühlt ſich ihm
verantwortlich; das Verhältnis erhält damit einen ethiſchen Charakter, der ſpäter wegfällt,
wo Produzent und Konſument ſich nicht mehr kennen. Aber die Arbeitsteilung fehlt,
häufig auch die wiſſenſchaftliche Kenntnis, die höhere, feinere Technik; der Sinn für
techniſchen Fortſchritt erlahmt in der Routine; mechaniſche Kräfte und erhebliche Kapitale
werden nicht angewandt; der Betrieb bleibt Jahrhunderte lang gleich einfach und
elementar. Das Verkaufsgeſchäft, dem lokalen, engen Marktverkehr angepaßt, iſt techniſch
noch unvollkommener. Die Technik der Produktion und das Verkehrs- und Abſatz-
bedürfnis mußten mit der Zeit über die alte Form des Handwerksbetriebes hinaus-
drängen, wo es große Märkte, einen Abſatz in die Ferne zu erobern galt.
Ein Teil der alten Handwerker, die Spinner und Weber, die Böttcher und Seiler,
die Brauer und die Seifenſieder, die Nagelſchmiede und andere Metallarbeiter ſind faſt
ſchon ganz verſchwunden; ein anderer Teil iſt erſt neuerdings bedroht: die Schuh-
macher, Tiſchler, Schmiede, Stellmacher, ſie ſind im Begriff, ihre Thätigkeit an
Fabriken, Hausinduſtrien, Magazine abzugeben. Ein dritter Teil iſt ſtabil geblieben,
weil ihre Geſchäfte heute noch überwiegend nach ihrer Technik und ihrem Markt lokale
ſind: die Bau- und Anbringungsgewerbe, die Buchbinder, die Sattler, auch ein Teil
der Schneider, ſo viel ſie auch ſchon an die großen Konfektionsgeſchäfte verloren.
Endlich hat ein vierter Teil der alten Handwerke ſich noch mit Bevölkerung und Wohl-
ſtand vermehrt, weil ſie Kundengeſchäfte ſind und bleiben: die Bäcker, die Fleiſcher, die
Tapeziere, die Barbiere ꝛc. In allen Branchen halten ſich kleine Handwerker als
Laden- und Flickgeſchäfte. In ſehr vielen konſervieren ſie ſich dann, wenn die intelli-
genten Meiſter ſo viel kaufmänniſchen Sinn und Marktkenntnis erwerben, um ſich das
Wichtigſte für heute, einen guten Abſatz nah und fern zu erwerben und zu erhalten.
Aber immer bleibt die Thatſache, daß unter den 1,3 Mill. Meiſtern von 1895 wohl
drei Viertel allein ohne Geſellen, alſo kümmerlich ihr Gewerbe treiben; neben ihnen
ſtehen aber in der Gewerbeſtatiſtik von 1895 nun 0,6—0,7 Mill. Gewerbetreibende, die
2—5 Perſonen beſchäftigen; ſie repräſentieren immer noch einen breiten gewerblichen
Mittelſtand in Deutſchland, der allerdings auch ſchon ziemlich umfangreich Maſchinen und
Arbeitsteilung anwendet, mit Kapital und Kredit arbeitet.
Die Gewerbefreiheit, welche die kleinen Gewerbetreibenden von den Schranken des
Zunftweſens befreite, kaufmänniſche Leiter und allerlei Arbeiter in allen Gewerben
zuließ, hat die Umwälzung befördert, aber nicht erzeugt; ſie liegt in der Hauptſache
in den Forderungen der Technik, des Abſatzes, der Kapitalanwendung, der kaufmänniſchen
Leitung.
140. Die Anſätze zu größeren Betrieben und Organiſationen in
genoſſenſchaftlicher und korporativer Form bis gegen 1800. War im
[422]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Altertum und in der neueren Zeit bis in unſer Jahrhundert ein Geſchäftsleben und
eine Marktproduktion eigentlich nur in Anlehnung an die Familienwirtſchaft vor-
handen, ſo drängte gerade die Beſchränktheit dieſer Form doch an manchen Stellen auf
die Schaffung von geſchäfts- und unternehmerartigen Organiſationen neuer und größerer
Art: die Technik, die über die einfache Werkſtatt hinausging, erzeugte ſie hier, dort waren
es Abſatzbedürfniſſe, welche zu neuen Geſtaltungen führten.
Wie die Dorfgenoſſenſchaften Wege, Brunnen, Wald, auch Backhaus und Mühle
gemeinſam verwalteten, ſo ſind an einzelnen Stellen Waldgenoſſenſchaften dazu
gekommen, Sägemühlen und Floßanſtalten einzurichten, Flößerei und Holzhandel
gemeinſam zu treiben. Wir treffen daneben Mühlen- und Fiſchereigenoſſenſchaften,
Hausgenoſſenſchaften der Münzer mit eigentümlicher Organiſation, mit Anteilsrechten,
korporativer Gemeinwirtſchaft oder kartellartiger Leitung der Einzelbetriebe. Die Zünfte
haben mancherlei Verſuche zu genoſſenſchaftlichen Einrichtungen gemacht; ſie beſtehen
teilweiſe in gemeinſamen Verkaufshäuſern, Walken, Färbehäuſern, dann in Bleichen und
Teichrahmen; man verſucht ſich im gemeinſamen Einkauf des Rohſtoffes, auch im gemein-
ſamen Abſatz; es wollte freilich nicht recht gelingen. Eher haben die Magiſtrate
indirekt, durch Verhandlungen den Abſatz, der aber ein ſolcher auf Rechnung der einzelnen
blieb, gefördert. Die Handelsgilden hatten in ihren Hallen, Krahnen, Quais und anderem
einen gemeinſamen Beſitz, ſowie in den gemeinſamen Fahrten und handelspolitiſchen
Maßregeln ein Element der Genoſſenſchaft ſowohl als Anſätze zu einer gemeinſamen
Großunternehmung; die ſogenannten regulierten Handelscompagnien des 14.—17. Jahr-
hunderts waren genoſſenſchaftliche, kartellartige Verbände von Kaufleuten und Reedern,
wobei die einzelnen Geſchäfte für ihre Rechnung, aber unter Kontrolle und nach Vor-
ſchrift des Vorſtandes machten. Wir kommen darauf zurück.
Eine beſonders eigentümliche Entwickelung hat das genoſſenſchaftliche und korpo-
rative Leben in der älteren Brauerei, dem Salinenweſen und dem Bergwerksbetrieb
erhalten.
Das Brauen, urſprünglich hauptſächlich ſtädtiſches Nebengewerbe der Wohl-
habenden, wurde in Deutſchland aus feuerpolizeilichen und monopoliſtiſchen Gründen
ein erbliches Vorrecht der patriciſchen größeren Hausbeſitzer, die zu einer Gilde, einem
Kartellverband zuſammentraten, um gemeinſam Produktion und Abſatz zu ordnen; ſo
kamen ſie teilweiſe zu einem Reihebrauen, wie ja auch die Schlächter und Bäcker vielfach
als kartellartige Verabredung eine Reiheproduktion eingeführt hatten, dann zur An-
ſtellung gemeinſamer Braumeiſter, oft auch zum Beſitz gemeinſamer Braukeſſel, die
herumgingen, und endlich zum Bau von gemeinſamen Brauhäuſern, die jeder der Reihe
nach benutzte. Dieſe zu feſter Rechtsorganiſation gewordenen und verknöcherten Ein-
richtungen verſagten ſchon im 17. und 18. Jahrhundert trotz zahlreicher bureaukratiſcher
Reformen den Dienſt, lieferten zu ſchlechtes Bier, erlagen erſt der Konkurrenz der länd-
lichen größeren Brauereien der Rittergüter, mit der Gewerbefreiheit der der freien
ſtädtiſchen Unternehmungen. Zur eigentlichen Großunternehmung war die Entwickelung
nicht gelangt; auch im gemeinſamen Brauhaus ſott jede Woche ein anderer Brau-
berechtigter auf eigene Rechnung und mußte dann oft 1—2 Jahre warten, bis das
Brauen wieder an ihn kam. Die Urſache, daß in vielen Städten die einſt blühende
Brauerei mit einer ſolchen Verfaſſung zu Grunde ging, lag darin, daß das Brauen für
jeden Berechtigten doch ein Anhängſel ſeiner Hauswirtſchaft blieb: man entſchloß ſich
zu einer gemeinſamen Pfanne, einem gemeinſamen Brauhaus, einem gemeinſamen Brau-
meiſter, aber nicht zu einem gemeinſamen Betrieb und Abſatz. Und ſo fehlte der wirk-
liche techniſche Fortſchritt und die lebendige kaufmänniſche Abſatzgewinnung.
Die älteren Salinen beſtanden aus einem oder mehreren gemeinſamen Sool-
brunnen nebſt Leitungen und Schöpfeinrichtungen ſowie aus einer Anzahl, oft mehr als
100 kleinen Siedehäuſern, den ſogenannten Koten. Das Eigentum an den Soolbrunnen
ſtand urſprünglich dem König oder anderen Großen, ſpäter allen möglichen Belehnten,
Kirchen, Adeligen oder Bürgern zu, die, in eine oder mehrere Genoſſenſchaften oder
Korporationen gegliedert, ſchon frühe bloße Rentenbezieher ohne Einfluß auf die Saline
[423]Die ältere Brau-, Salinen-, Bergwerksverfaſſung.
wurden. Die das Salz ſiedenden, die Koten und Pfannen beſitzenden Pächter der Soole,
die ſogenannnten Pfänner, waren Kleinunternehmer, ſpäter oft auch Eigentümer eines
Teiles der Soole und reiche ſtädtiſche ſogenannte Salzjunker; genoſſenſchaftlich
organiſiert, ließen ſie in ihren Kreis nur Leute der Stadt mit beſtimmten Eigen-
ſchaften zu, ordneten kartellartig Produktion und Abſatz, kauften gemeinſam Holz zum
Sieden ein, riſſen den Haupteinfluß bei Leitung des Geſamtwerkes an ſich, während
der Betrieb in der Kote, das Salzſieden Sache des einzelnen Pfänners blieb. Das
Salzwerk hatte in der Regel eine komplizierte korporative Verfaſſung, eigenes Gericht
und Polizei, Vorſtände; auch die zahlreichen Arbeiter, die teils für das geſamte Werk,
teils für die einzelnen Pfänner thätig waren, hatten eine genoſſenſchaftliche und kor-
porative Verfaſſung mit behaglichem Auskommen. Vom 15. und 16. Jahrhundert an
wurde mit dem erleichterten Verkehr ein Abſatz in größere Entfernung möglich; viele
der kleinen ſchlechten Salinen gingen ein, die großen machten gute Geſchäfte, hatten
ſteigenden Abſatz. Die verbeſſerte Technik ſollte durchgeführt werden: Pumpwerke ſtatt
des Schöpfens und Tragens der Soole in Eimern, Gradierwerke, größere und verbeſſerte
Siedehäuſer ſollten von 1550—1800 gebaut werden. Im ganzen zeigten ſich die kom-
plizierten alten pfännerſchaftlichen Korporationen und ihre Leiter vollſtändig unfähig,
dieſe Verbeſſerungen durchzuführen. Die Pfänner konnten ſich nicht zur Aufgabe ihrer
kleinen, unvollkommenen Betriebe entſchließen. Überall griff der Staat ein, adminiſtrierte,
kaufte oder pachtete die Salinen, vollzog die techniſchen Fortſchritte; den Abſatz ordnete
er meiſt in Form des ſtaatlichen Salzregals.
Der Bergbau, der im Mittelalter hauptſächlich Silbererze förderte, erhielt die
Form ſeines Betriebes dadurch, daß die als Regal des Königs oder der Fürſten
geltenden Erzlager an Genoſſenſchaften von 4, 8, 16, 32 Bergarbeitern verliehen wurden,
welche unter Aufſicht des herrſchaftlichen Bergmeiſters und unter der Bedingung
ununterbrochenen Betriebes die Erze förderten, einen Teil derſelben, ſpäter den Zehnten
an den Regalherrn ablieferten, den Reſt unter ſich teilten. Die Erze wurden von kleinen
Unternehmern, den ſogenannten Hüttenherren, in den kleinen Schmelzhütten entweder
auf Rechnung der Bergarbeiter verſchmolzen oder ihnen von den Hüttenherren abgekauft.
Das fertige Silber und Kupfer mußte zu beſtimmtem Preiſe wieder an den Regalherrn
verkauft werden; der Abſatz war ſicher, brachte aber einen ſehr mäßigen Gewinn. Das
Recht der Bergarbeiter konnte als erbliches Leihe- und Nutzungsrecht in der zweiten und
dritten Generation nicht ſtets in einer Hand und vollends nicht immer in einer ſolchen
bleiben, die die Grubenarbeit beſorgte. Die erbenden Nutzungsberechtigten ſchickten
arbeitende Stellvertreter gegen Koſt, beziehungsweiſe Koſtgeld für ſich, und ſo kamen bis
gegen 1500 die meiſten einträglichen Gruben und Zechen in den Beſitz von ſogenannten
Gewerken, d. h. rentenbeziehenden Anteilbeſitzern, die die ſogenannte Ausbeute erhielten
oder auch Zubuße zahlten, die Bergarbeiter gegen Lohn beſchäftigten. Aus Arbeits-
genoſſenſchaften waren kleinbürgerliche einfache Kapitalgenoſſenſchaften geworden, die
wöchentlich zuſammentretend mit ihrem Schichtmeiſter als ihrem Beamten und ihren
Bergleuten abrechneten, ihre Geldgeſchäfte durch den herrſchaftlichen Münzer oder Zehnter
beſorgen ließen, um den Abſatz und die Schmelzung der Erze ſich nicht viel zu kümmern
brauchten. Als im 16. Jahrhundert mit dem Aufſchwung des Bergbaues die Gruben
größer und die Technik komplizirter wurde, immer mehr fremdes Kapital, hauptſächlich
ſolches aus den großen Handelsſtädten herangezogen werden mußte, als damit die einfluß-
reichſten Gewerke aus ſachverſtändigen Bürgern der Bergſtädte fremde Kapitaliſten wurden,
da verſagte die alte Form der Gewerkſchaft; ſolche Gewerke konnten ſich nicht mehr
wöchentlich, ſondern höchſtens vierteljährlich oder jährlich verſammeln, mußten ihren ſie
betrügenden Schichtmeiſtern alles überlaſſen. Da ſchufen die ſächſiſchen Bergordnungen
von 1477—1600 jenes Bergrecht, das in und außer Deutſchland recipiert bis in die
Mitte unſeres Jahrhunderts in der Hauptſache galt. Es legte mit Rückſicht auf die
Unfähigkeit der Gewerkſchaftsverſammlungen die Leitung des Betriebes, die Rechnungs-
prüfung und die Anſtellung der Arbeiter in die Hände der Bergämter und der von
ihnen abhängigen Werkbeamten. Es war eine Reform, die nach dem Maß der Fähigkeit
[424]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
der Bergbehörden den Bergbau zunächſt hob und zur Blüte brachte, auch nach Schaffung
eines durch Bergſchulen vorgebildeten höheren Bergbeamtentums von 1750—1850 noch-
mals eine Hebung desſelben erzeugte. Die Reform hatte zugleich einen privilegierten,
korporativ organiſierten, tüchtigen Bergarbeiterſtand geſchaffen, aber ſie endete doch
zuletzt in bureaukratiſcher Routine. Die große neue Technik unſeres Jahrhunderts, die
jetzt eröffneten Abſatzmöglichkeiten forderten viel größere, maſchinell eingerichtete, kauf-
männiſche Betriebe; die alten Gewerkſchaften unter bureaukratiſcher Vormundſchaft
konnten dem nicht genügen; ſie brachten auch die großen Kapitalmittel nicht auf. Die
Loſung der Zeit von 1840—70 war: freie, private, ſpekulative Unternehmung, eine neue
unabhängige Form der Gewerkſchaft, Aktienbetrieb, Freierklärung des Bergbaues, Ver-
zicht des Staates auf ſeine Regalrechte und die Oberleitung der Betriebe. Die Richtung
dieſer Bergwerksreform war notwendig und heilſam; der große Aufſchwung des deutſchen
Bergbaus ging aus ihr und den freien moderniſierten Betrieben hervor. Nur hätte der
Staat ſeine bisherigen finanziellen Rechte, ſowie die Aufſicht über die ſociale Seite der
Bergwerke beſſer wahren ſollen; er hätte von den großen Monopolgewinnen aus
den unterirdiſchen Schätzen der Geſamtheit, dem Staate einen erheblichen Teil vor-
behalten ſollen.
141. Die Hausinduſtrie (das Verlagsſyſtem). Haben wir im bis-
herigen Verſuche geſehen, im Anſchluß an ältere genoſſenſchaftliche und korporative
Gebilde, mit Hülfe von ſtaatlicher Intervention, die Produktion über den alten Rahmen
der Familienwirtſchaft hinauszuheben, und wurden wir uns dabei der Schwierigkeiten klar,
größere wirtſchaftliche Gebilde und Unternehmungen überhaupt zu ſchaffen, ſo haben wir
jetzt einen Weg zu betrachten, der zeitlich parallel mit dieſen Verſuchen betreten wurde:
die Hausinduſtrie, d. h. die Tendenz, die gewerbliche Überſchußproduktion des Familien-
hauſes und der Meiſterwerkſtatt auf größere Märkte durch das Zwiſchenglied des Handels
zu führen. Wir werden ſehen, daß es ſich auch hiebei noch nicht um eine vollkommene
Löſung des Unternehmungsproblems handelte, aber um eine hiſtoriſch notwendige Zwiſchen-
form, die zuerſt mehr von günſtigen, ſpäter überwiegend von ungünſtigen Folgen
begleitet war.
Gewiſſe leicht transportable, eigentümliche und allgemein begehrte Produkte des
häuslichen Fleißes und des Handwerks ſind ſchon in frühen Zeiten, vollends zur Blütezeit
griechiſcher und römiſcher Kultur teils von Händlern teils von größeren Produzenten
ſelbſt auf fremde Märkte gebracht worden. Im Mittelalter beginnt dasſelbe in Italien
vom 12. und 13. Jahrhundert an, aber erſt vom 15. und 16. an erreicht die lokale Arbeits-
teilung und der Verkehr nördlich der Alpen eine ſolche Ausdehnung, daß daraus die Haus-
induſtrie als beſondere Betriebsform hervorgehen konnte. Sie bildet im 17. und 18. Jahr-
hundert die Hauptform der für den Abſatz im Großen thätigen Induſtrie. Ihre Entſtehung
und ihre Blüte iſt damals das Hauptzeichen der fortſchreitenden volkswirtſchaftlichen
Entwickelung und des Wohlſtandes geweſen. Auch in unſerem Jahrhundert entſteht ſie
überall noch neu, wo die häusliche und handwerksmäßige Thätigkeit zu einem großen
Abſatz in der Nähe oder in der Ferne übergeht, und hat ſich, wo ſie früher beſtand,
noch da und dort in breiter Ausdehnung erhalten. Aber vielfach iſt ſie auch ſchon von den
höheren Formen des Betriebes, den Manufakturen und Fabriken verdrängt worden, ſtellt
nicht mehr ſo wie früher einen Fortſchritt ſondern eher ein für den Verleger bequemes,
aber ſocialpolitiſch unerwünſchtes Auskunftsmittel dar.
Wir faſſen dabei unter dem Begriff der Hausinduſtrie die Art der Produktion und des
Abſatzes zuſammen, welche die im Hauſe, in der Familie, in der handwerksmäßigen
Werkſtatt mit einfacher Technik hergeſtellten Produkte nicht mehr einem Kunden, ſondern
einem Händler, einer Zwiſchenperſon übergiebt, um ſie in den Handel zu bringen. Die
Thätigkeit ländlicher Spinner und Weber, armer Gebirgsbewohner, die Holz ſchnitzen
und Spitzen klöppeln, die der ruſſiſchen und anderen oſteuropäiſchen Bauern, die alles
Mögliche nebenher produzieren, wie die aller ſtädtiſchen Handwerke, neuerdings die von
Tauſenden von Frauen und Männern, die für ſtädtiſche Magazine und Exportfirmen zu
Hauſe arbeiten, gehören hierher, ſo verſchieden ihre Lage ſonſt ſein mag. Ob man die
[425]Entſtehung und Weſen der Hausinduſtrie.
noch immer zahlreichen, beſonders auf dem Lande, im Gebirge verbreiteten kleinen
Produzenten, die oft hauſierend durch Familienglieder gewerbliche Produkte an anderen
Orten vertreiben, zur Hausinduſtrie rechnen ſoll, iſt eine untergeordnete Frage. Ihre
Zahl iſt nicht ſehr groß.
Das Weſentliche der Entſtehung dieſer Betriebsform iſt, daß eine alte hergebrachte
Technik und Produktionsweiſe durch Handel und Verkehr einen beſſeren Abſatz erhielt,
daß ein häuslicher oder handwerksmäßiger Körper einen kaufmänniſchen Kopf bekam.
Zwei ſociale Klaſſen, häusliche Produzenten und kaufmänniſche Vermittler ſind auf-
einander angewieſen: hier Kleinmeiſter, Bauern, Weiber und Kinder, vielfach bisher Be-
ſchäftigungsloſe, die ohne viel Kapital, ohne viel Arbeitsteilung mit beſchränktem
Geſichtskreis froh ſind, mit häuslicher, herkömmlicher Technik etwas zu verdienen und
dabei in den gewohnten Lebensgeleiſen zu bleiben; dort kühne Hauſierer, ſpekulative
Fuhrleute, kluge und reichere Meiſter, welche die Produkte ihrer Mitmeiſter aufkaufen
und die Jahrmärkte beziehen, hauptſächlich aber lokale Krämer und Kaufleute aus den
größeren Städten, kurz lauter intelligente und wagende Leute, die mit einem gewiſſen
Kapital, hauptſächlich aber durch ihre Marktkenntnis, ihre Zahlungsfähigkeit, ihren Kredit
und ihre Verbindungen den Abſatz ſchaffen; es ſind Perſönlichkeiten, die man im 17. Jahr-
hundert als die nützlichſten Glieder der Geſellſchaft feiert, welche Tauſenden Nahrung gäben.
Sie machen die großen Gewinne, ſteigen empor, werden reich; ſie heißen Verleger, weil
ſie Vorſchuß, Verlag geben können. Schon weil ſtets zur Verlegerſtellung nur wenige,
zur Stellung des Heimarbeiters ſehr viele brauchbar ſind, zeigen alle Hausinduſtrien
dieſelbe ſociale Struktur, die je nach dem Überfluß der Arbeitskräfte, ihrer Bildung, ihrem
Beſitz, ihrer örtlichen Zerſtreuung, je nach der rechtlichen und ſittlichen Ordnung der
Hausinduſtrie, je nach der Weite und Schroffheit des Abſtandes zwiſchen Verleger und
Heimarbeiter, teils ein Bild glücklicher, ſocialer Organiſation, teils ein ſolches harter,
wucheriſcher Ausbeutung bietet.
Die Hausinduſtrien ſind nicht mehr, wie das Handwerk, lokal überall und gleich-
mäßig angeſiedelt; ſie erblühen in einzelnen Städten, Gegenden, Thälern und Gebirgen,
wo ſie günſtige Vorbedingungen finden, und vertreiben von da ihre Waren. Eine
lokale Verkehrs- und Abſatzorganiſation iſt auf eine Anzahl Meilen nötig für das
Zuſammenwirken von Verlegern und Heimarbeitern, eine ſolche auf Dutzende und
Hunderte von Meilen für den Warenvertrieb. Im Mittelpunkt ſitzen die großen Ver-
legergeſchäfte mit ihren Comptoiren und Warenlagern; ſie haben teilweiſe bereits
techniſche Hülfsanſtalten, um die Produkte fertig machen, färben, appretieren, zuſammen-
ſetzen zu laſſen, oft Zweigniederlaſſungen an anderen Orten und Weltteilen. Sie beſtellen
oder kaufen oft die Waren nicht bei denen, die ſie herſtellen, ſondern beziehen ſie von
kleinen Verlegern, wie in Remſcheid. Oft haben ſie reiſende Commis, oft Annahme-
und Abgabeſtellen in den umliegenden Dörfern; oft beſorgen von ihnen abhängige oder
ſelbſtändige Faktoren (Fercher), Zwiſchenmeiſter die Vermittlung zwiſchen ihnen und
den Heimarbeitern. Dieſe ſind vielfach harte, wucheriſche Perſönlichkeiten geweſen, welche
die Heimarbeiter ausbeuteten, ihnen den Rohſtoff zu teuer anrechneten, am Verdienſt
oder Lohn ſo viel wie möglich abzogen. Das in den Verlegergeſchäften angelegte Kapital
iſt weſentlich umlaufendes: Geldkapital, um die Heimarbeiter zu lohnen und fertige
Waren zu kaufen, Rohſtoff, um ihn an die Arbeiter auszugeben. Das Geſchäft iſt ein
überwiegend kaufmänniſches, beruht urſprünglich ausſchließlich auf Wareneinkauf und
-vertrieb, erzeugt alſo an ſich keine näheren perſönlichen Bande zwiſchen den Kontra-
henten, alſo auch keine Verpflichtung dauernder Beſchäftigung, regelmäßiger Abnahme
der von den Heimarbeitern hergeſtellten Waren. Wo Zwiſchenglieder vermitteln, kennt
der große Verleger die Dutzende oder Hunderte von Heimarbeitern, die er beſchäftigt,
gar nicht.
Dennoch haben ſich früher und teilweiſe auch heute noch patriarchaliſche Beziehungen
zwiſchen Verleger und Heimarbeiter gebildet, die auf eine möglichſt gleichmäßige Be-
ſchäftigung hinwirkten; bis zur Einführung der Gewerbefreiheit haben die ſtaatlichen
Reglements und die Staatsverwaltung mit Energie auf dieſes Ziel hingearbeitet. In
[426]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
manchen Hausinduſtrien waren die Verleger entweder allein zu Zünften vereint, oder
waren ſie Zunftgenoſſen der Heimarbeiter, mußten z. B. in Lyon zehn Jahre Lehrlings-
und Geſellenzeit am Webſtuhl durchgemacht haben. Diente das da und dort auch zu
Verabredungen und Maßnahmen im egoiſtiſchen Intereſſe der Verleger, im ganzen
ſuchten die Regierungen durch die Organiſation und durch die Reglements die Schleuder-
konkurrenz zu hindern, unanſtändige Elemente aus dem Kreis der Verleger fern zu
halten, den Verlegern mancherlei Pflichten gegenüber den Heimarbeitern aufzuerlegen.
Man könnte dieſe früher weit verbreitete Organiſation der Hausinduſtrie ein Mittelding
zwiſchen Zunft, Gewerkverein und Kartell nennen. Soweit mit ihnen und durch ſie
eine kartellartige Konkurrenzregulierung entſtand, wirkte ſie mannigfach wohlthätig;
jedem zu monopoliſtiſchen Treiben der Verleger traten die Regierungen entgegen; oft wurde
ein Überangebot von Arbeitskräften ſo verhindert. Hauptſächlich dem leicht wucheriſchen
Treiben der vermittelnden Faktoren, Garnhändlern ꝛc. ſuchten die Reglements durch
Konzeſſionszwang entgegenzutreten; oft mit, oft ohne Erfolg.
Dieſe ſtaatlichen Reglements der Hausinduſtrie ſind meiſt nach Anhörung aller
Beteiligten von den Regierungen erlaſſen worden; ſie waren für die Hausinduſtrie, was
das Zunftrecht für die Handwerke war, was die Arbeiterſchutzgeſetzgebung für die heutige
Großinduſtrie iſt. Wo die Hausinduſtrie erblühen ſollte, mußte zuerſt häufig das
beſtehende hindernde Zunftrecht mit ſeinen veralteten techniſchen und Betriebsvorſchriften
beſeitigt werden; aber dieſer gewerbefreiheitlichen Strömung folgte raſch das Bedürfnis
neuer Ordnung, einer Ordnung, die mehrere Gewerbe, Stadt und Land, ganze Gegenden
umfaßte, das techniſche und wirtſchaftliche Zuſammenwirken ſo vieler zerſtreuter Einzel-
kräfte und gute reelle Produktion einheitlicher Waren garantierte, die Verleger vor Ver-
untreuung, die Heimarbeiter vor Übervorteilung, Druck und Ausbeutung ſchützte. Als
die Großinduſtrie aber aufkam und die Gewerbefreiheit ſiegte, mußten naturgemäß
die meiſten Reglements fallen, weil alle ihre Beſtimmungen nur auf die Haus- oder
Werkſtattarbeit zugeſchnitten waren, und man dieſen zu Liebe die Technik höher ſtehender
Fabriken nicht verbieten konnte; einige der Reglements waren auch längſt veraltet; viele
aber hatten ſehr ſegensreich gewirkt, hauptſächlich die Heimarbeiter weſentlich gehoben.
Die wirklich traurigen Zeiten für die Heimarbeiter begannen allerwärts erſt nach ihrer
Aufhebung in unſerem Jahrhundert.
Ihre wirtſchaftliche Lage und ihr Einkommen waren früher und iſt heute von
ihrer Bildung, ihrem Beſitz, ihrer ſtärkeren oder ſchwächeren Stellung im Konkurrenz-
kampfe gegenüber den Verlegern und Faktoren abhängig. Wo die Heimarbeiter noch
nicht verſchuldet ſind, wo ſie auf dem Lande über ein Häuschen und ein Ackerſtückchen
zum Kartoffelbau verfügen, ſind ſie natürlich in ganz anderer Lage als beſitzloſe Mieter,
die verhungern, wenn der Faktor nicht Beſchäftigung bringt. Wo die Heimarbeiter
ſelbſt noch eine Unternehmerſtellung, eventuell anderen Verdienſt haben, ihre Arbeit
oder ihre Waren auch ſelbſt verkaufen z. B. auf Jahrmärkten vertreiben können, iſt
ihre Lage ebenfalls noch beſſer, als wo ihre zerſtreute Lage, ihre Marktunkenntnis,
ihre Unfähigkeit zu anderer Arbeit ſie ganz vom Verleger abhängig macht. Je höher
ihre techniſche Kunſt ſteht, deſto weniger haben ſie bei jeder Hauſſekonjunktur zu fürchten,
daß alle möglichen Kräfte ſich ihrer Beſchäftigung zuwenden. Wo ſie, wie in den aus
dem Handwerk entſtandenen Hausinduſtrien, noch Werkzeuge eigen haben, den Rohſtoff
einkaufen, ein fertiges Produkt verkaufen (Kaufſyſtem), iſt ihre Lage natürlich im
Durchſchnitt beſſer, weil unabhängiger, als wo ſie für den Webſtuhl teure Miete
zahlen, den Rohſtoff geliefert und angerechnet bekommen, das fertige Produkt gegen
Lohn abliefern (Lohnſyſtem). Letzteres iſt neuerdings das Häufigere: hier verlegt der
Verleger die Heimarbeiter in der That mit dem Rohſtoff, dieſer iſt Lohnarbeiter des-
ſelben, obwohl er in ſeiner Wohnung arbeitet. Wo der Verleger dieſes Syſtem geſchaffen
hat, die Heimarbeiter nach ſeinen Muſtern ſeinen Rohſtoff verarbeiten, da kann man
allenfalls die Hausinduſtrie decentraliſierten Großbetrieb nennen; beſſer ſcheint es, dieſen
Begriff auf die gewerblichen Betriebe zu beſchränken, welche den Arbeiter aus ſeiner
Wohnung und Werkſtatt in die des Arbeitgebers verſetzen.
[427]Ältere und neuere Verfaſſung der Hausinduſtrie.
In den letzten zwei Menſchenaltern hat die Konkurrenz mit der techniſch und meiſt
auch ſocial überlegenen Großinduſtrie den Verdienſt in den wichtigſten weſteuropäiſchen
Hausinduſtrien ſo herabgedrückt, daß zumal in Gegenden ſtarker Bevölkerungszunahme
und bei Leuten, die anderem Erwerb ſich nicht zuwenden konnten, die furchtbarſte Ver-
längerung der Arbeitszeit, die traurigſte Ausbeutung der Kinder und Frauen, die kümmer-
lichſte Ernährung und das elendeſte Wohnen, kurz die traurigſten proletariſchen Zuſtände
entſtanden. Wo es ſo ſteht, iſt der Übergang zur Fabrikarbeit ein techniſcher und
ſocialer Fortſchritt. Er hat ſich in Weſteuropa ſchon ganz in der Spinnerei, zum
großen Teil in der Weberei, teilweiſe auch in den Bekleidungs- und Konfektionsgewerben,
in der Uhrmacherei, der Eiſenverarbeitung, der Holzinduſtrie vollzogen.
Die heute noch vorkommenden Formen der Hausinduſtrie ſind, von den Klein-
produzenten abgeſehen, welche ihre eigenen Hauſierer ſind und teilweiſe genoſſenſchaft-
lichen Abſatz ſich heute geſchaffen haben, durch techniſche und kaufmänniſche Schulung über
das durchſchnittliche hausinduſtrielle Niveau überhaupt am leichteſten herausgehoben werden
können, folgende: 1. die ſtädtiſchen geringeren Handwerke, welche überſetzt, durch frühes
Heiraten der Geſellen vermehrt, keinen eigenen Abſatz mehr finden, für Magazine, Ver-
leger, größere Meiſter und Fabrikanten arbeiten. Die Schuhmacherei, Schneiderei und
Tiſchlerei, welche mehr und mehr aus allerwärts verbreiteten Lokalgewerben konzentrierte
Induſtrien an begünſtigten Orten werden, ſind die Hauptrepräſentanten dieſer Form.
Wo die alten Werkſtatt- und Handwerkstraditionen noch vorhalten, der Meiſter mit
Geſellen und Familie arbeitet, iſt ihre Lage noch nicht ſo kümmerlich wie da, wo
die Werkſtatt ſich ganz auflöſt, die Geſellen, irgendwo eingemietet, iſoliert arbeiten,
neben ihnen die verſchiedenſten Arbeitskräfte ſich in das Gewerbe drängen. Die Heim-
arbeiter dieſer Art ſind heute überwiegend bloße Lohnarbeiter, welche nur den Arbeits-
raum und einige Hülfsſtoffe ſtellen, den Rohſtoff zugeſchnitten erhalten, ganz nach der
Vorſchrift des Magazins arbeiten. Ihre Lage kann da eine etwas beſſere werden, wo
Centralwerkſtätten mit billiger Platz- eventuell Kraftvermietung als ſelbſtändige oder
ſtädtiſche Unternehmungen beſtehen und ſie aufnehmen.
2. Die zahlreichen ländlichen Hausinduſtrien, welche in Gegenden dichter Be-
völkerung oder im Gebirge die freie Zeit von Kleinbauern und Tagelöhnern nebſt ihren
Familien ausnützen wollen; ſie ziehen teilweiſe auch einem billigen decentraliſierten Roh-
ſtoff nach und liefern, hauptſächlich im Gebirge, für die kümmerlichen ſonſtigen Nahrungs-
quellen die unentbehrliche Ergänzung. Die Technik iſt meiſt eine einfache und primitive,
teilweiſe auch eine durch Gewerbeſchulen gehobene. Auf dieſem Boden iſt teilweiſe noch
die Verbindung der Acker- und Gartenarbeit mit der gewerblichen für Geſundheit und
Familienleben förderlich; die Lage kann noch leidlich ſein, wenigſtens wo die Zahl der
Hausinduſtriellen nicht übermäßig angewachſen iſt, wo nicht die Mehrzahl als ganz
beſitzloſe Mieter der Bauern ihr Daſein friſtet. Wo das der Fall iſt, erzeugt dieſe
ländliche Hausinduſtrie auch ſchlimme proletariſche Zuſtände.
3. Die jüngere Hauptzunahme der Hausinduſtrie fällt auf neu ausgebildete
Gewerbszweige, welche von der Maſchinentechnik noch nicht erfaßt, von handwerks-
mäßigen Traditionen nicht berührt, die billigen Arbeitskräfte der großen Städte, beſonders
die weiblichen, oft das zugewanderte Proletariat, in London die Juden, in Newyork die
Italiener ausnützen wollen. Die Konfektion, die Wäſche- und Kleider-, die Schuhinduſtrie
ſind ihre Hauptbeiſpiele. Die Magazine und Exportgeſchäfte beſchäftigen dieſe Kräfte
meiſt durch ſogenannte Zwiſchenmeiſter, welche teilweiſe eigene Werkſtätten für 2 bis
20 Perſonen haben, teilweiſe die Arbeit den Weibern ins Haus geben. Das Elend
dieſer Arbeiter hat in England zu der Bezeichnung des Schwitzſyſtems (sweating)
geführt. Der ſtarke Zuzug nach den Städten, der zu geringe Verdienſt der Familien-
väter, das Schickſal von Witwen, die um jeden Preis einen Verdienſt ſuchen müſſen,
hat zur Ausbildung dieſer Betriebsform ebenſo hingeführt wie der Vorteil für den
Unternehmer, der Fabrik und Werkſtatt damit ſpart. Die wenigen etwas feineren
Arbeiten werden in die Zwiſchenmeiſterwerkſtatt verlegt, im übrigen wird durch die
weitgehendſte Arbeitsteilung bei der Ausgabe der Arbeit eine ſehr billige Produktion
[428]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ermöglicht. Die Folgen ſind vielfach ſo ungünſtig für dieſe Ärmſten der Armen, daß
man teilweiſe die künftige Beſeitigung dieſer Art der Heimarbeit, einen geſetzlichen
Zwang zur Verlegung derſelben in Werkſtatt und Fabrik verlangt hat. Doch dürften
ſolche Wünſche in abſehbarer Zeit keine Hoffnung auf Durchführung haben; man
nähme Tauſenden von armen Familien ihren letzten Verdienſt. Es darf nicht überſehen
werden, daß heute in der ganzen Hausinduſtrie 1. die ſchwächlichſten Arbeiter und
2. die beſchäftigt werden, die ihrer Familienſtellung, ihrem ſonſtigen Erwerb nach keine
volle Arbeitsſtellung, ſondern nur einen Nebenerwerb ſuchen können.
Auf den Verſuch, die Abnahme der Hausinduſtrie, ihr teilweiſes Wiederanwachſen
hiſtoriſch-ſtatiſtiſch darzulegen, müſſen wir im ganzen verzichten. Das Material dazu
iſt zu unſicher; die direkten deutſchen Erhebungen geben offenbar nur einen Teil der
Hausinduſtrie. Daß ſie in Oſteuropa noch viel umfangreicher iſt als in England und
bei uns, iſt ſicher. Ich bemerke nur, daß die ſelbſtändigen Hausinduſtriellen (ohne
ihre Gehülfen) in Deutſchland von 1882—95 von 329 644 auf 287 389 (— 15,39 %)
nach den amtlichen Zahlen abgenommen haben, daß ſie 1895 mit Gehülfen und
mithelfenden Familienangehörigen noch 4—500 000 Perſonen ausmachten, während
für Öſterreich St. Bauer auf 2,24 Mill. gewerblich thätige Arbeiter 0,95 Mill. groß-
induſtrielle (42 %), 0,58 Mill. handwerksmäßige (27 %) und 0,71 Mill. hausinduſtrielle
(31 %) ſchätzen will. In der Schweiz ſollen 19 % der Arbeitenden der Hausinduſtrie
angehören, in Rußland die 6—7 fache Zahl der Fabrikarbeiter.
Die Hausinduſtrie unterſcheidet ſich vom Handwerk dadurch, daß ſie nicht mehr
Kundenabſatz, ſondern Maſſenabſatz bezweckt, daß die kaufmänniſche Leitung und die
gewerbliche Arbeit ganz getrennt iſt, daß dem Hausinduſtriellen, auch wenn er noch
eine Werkſtatt leitet und eine Ware verkauft, doch der größere Teil der Unternehmer-
thätigkeit und damit auch der Unternehmergewinn entzogen iſt. Immer ſind in der
Hausinduſtrie noch zahlreiche Mittelglieder zwiſchen der Unternehmer- und Arbeiter-
ſtellung; daneben aber auch viel tieferſtehende Arbeiter als in der Großinduſtrie.
Für den Unternehmer iſt die Hausinduſtrie kapitalſparend; er kann viel leichter
als beim Fabrikbetrieb ſein Geſchäft ausdehnen und einſchränken, er wälzt einen Teil des
Riſikos auf die an ſich ſchwächeren Arbeiter ab. Dafür hat er mit der Schwierigkeit
zu rechnen, Dutzende, Hunderte und Tauſende von Arbeitern zu einheitlichem Thun zu
verbinden; es fehlt die ſichere Einheitlichkeit und Planmäßigkeit des großinduſtriellen
Arbeitsprozeſſes; Maſchinenanwendung iſt nur in geringem Maße möglich; nur
Produkte, wobei dieſe zu entbehren iſt, laſſen ſich hausinduſtriell herſtellen.
Die Hausinduſtrie wird nicht ganz verſchwinden; ſie wird vielleicht durch die
Elektricität, durch Centralwerkſtätten, durch techniſche Schulung, auch da und dort durch
Übervölkerung noch zunehmen; ſie hat auch nicht überall die ſocialen Nachteile der
Über- und Kinderarbeit, des Lohndruckes, der Proletariſierung; ſie kann unter
beſtimmten Verhältniſſen, zumal wenn eine innere Organiſation der Heimarbeiter und
der Verleger gelingen ſollte, dann bei nicht ganz Beſitzloſen, auf dem Lande, im Gebirge,
auch in der Stadt für beſtimmte Perſonen eine normale Form der Betriebsorganiſation
noch heute ſein. Im ganzen aber iſt ſie mehr eine Form der Vergangenheit, des Über-
ganges zur Großinduſtrie.
142. Die moderne Unternehmung, hauptſächlich der Groß-
betrieb. Die Fabrik. Wo in den Staaten des klaſſiſchen Altertums aus dem
Haus- der Bergwerks-, Plantagen-, Fabrikſklave wurde, da entſtanden große, weſentlich
auf Gewinn bedachte Geſchäftsbetriebe. Wie Nikias von Athen 1000 Sklaven in den
lauriſchen Bergwerken hatte, ſo zählten die ſogenannten familiae reicher römiſcher
Ritter und Freigelaſſener bis 5, 10 und 20 000 Sklaven; es waren halb fürſtliche
Haushaltungen, halb hart disciplinierte Großunternehmungen, welche Handel, Verkehr
und Kredit, landwirtſchaftliche und gewerbliche Produktion mit großen Kapitalien und
vollendeter Technik zu glänzender Entwickelung brachten, bedeutende Gewinne abwarfen
(vergl. oben S. 339—340, S. 418).
[429]Rückgang der Hausinduſtrie. Entſtehung und Weſen des Großbetriebes.
Das ganze Mittelalter war von Ähnlichem weit entfernt, wenn auch auf einzelnen
Fronhöfen und in manchen Klöſtern Werk- und Arbeitshäuſer mit einem Dutzend Arbeiter
und mehr ſich fanden. Einzelne größere Handels- und Bankhäuſer haben ſich dann
zuerſt in Italien, ſpäter im Norden gebildet. Aber im ganzen blieb der kleine, von
der Familienwirtſchaft beherrſchte agrariſche, gewerbliche, Handelsbetrieb vorherrſchend
bis in die letzten Generationen; Technik und Abſatz, Sitte und Recht forderten es ſo
und ließen lange anderes nicht recht zu. Doch entſtehen mit der Renaiſſancezeit in
den großen italieniſchen Kommunen neben Handwerk und Hausinduſtrie große gewerb-
liche, da und dort beginnen im Norden die größeren Gutsbetriebe; vollends Handel,
Schiffahrt, Bankweſen konzentrieren ſich relativ früh; die kleinen Salzkoten und Erz-
gruben verſchmelzen zu größeren; größere Hüttenwerke entſtehen (S. 210). Die Italiener,
Franzoſen, Holländer bringen mit ihren Wanderungen auch die neuen Formen des
Geſchäftsbetriebes nach den Ländern ihrer Einwanderung. Im 18. Jahrhundert treffen
wir in den europäiſchen Kulturſtaaten da und dort ſchon große Geſchäfte mit 10, 50,
ja über 100 Arbeitern, zumal in neuen bisher unzünftigen Zweigen der Induſtrie;
man fördert ſie durch Konzeſſionen und Privilegien, teilweiſe liegen ſie in der Hand
des Staates; ſie erſcheinen als eine höhere Form des wirtſchaftlichen Lebens.
Aber doch erſt im Laufe unſeres Jahrhunderts, und hauptſächlich ſeit 1850 hat
der Großbetrieb eine erheblichere Verbreitung in Weſteuropa und den Vereinigten
Staaten gefunden. Auch heute noch beſchränkt er ſich weſentlich auf beſtimmte Geſchäfts-
branchen: Bank-, Verkehrs-, Verſicherungsweſen, Bergwerke und Hütten, Spinnerei,
Maſchineninduſtrie, chemiſche, Papier-, Zuckerinduſtrie, einzelne Handels- und Land-
wirtſchaftszweige; aber die Tendenzen erſtrecken ſich viel weiter, dringen auch in Tauſende
kleiner und mittlerer Geſchäfte ein; es ſind die Tendenzen der ſpekulativen Markt-, Kurs-
und Kapitalausnutzung und der Kraftſteigerung durch möglichſt geſchickte Kombination
der Arbeitskräfte mit vollendeter Technik, mit Kraft- und Arbeitsmaſchinen; erſtere
gelangen im Bankgeſchäft, dieſe in der Fabrik zum vollendetſten Ausdruck.
Wir können ſo die moderne Geſchäftsunternehmung, welche im Groß-
betrieb gewöhnlich ihre Natur am prägnanteſten ausbildet, definieren als die ſelbſtändige,
von der Familienwirtſchaft der Unternehmer, Beamten und Arbeiter äußerlich, lokal los-
gelöſte Geſchäftsanſtalt, welche nach rein kaufmänniſchen und techniſchen Geſichtspunkten
angelegt und betrieben, in der Hand des das Kapital beſchaffenden oder beſitzenden Unter-
nehmers mit Hülfe geldgelohnter Beamter, Commis, Techniker und Arbeiter einen Zweig
des Handels oder der Produktion auf ihre Gefahr übernimmt, für den großen Markt,
oft einen nationalen und internationalen, arbeitet, aber in erſter Linie einen Gewinn
machen will. Sie unterſcheidet ſich von dem mit einer Hauswirtſchaft verbundenen
landwirtſchaftlichen Betriebe, wie vom handwerks- und hausinduſtriellen Geſchäft eben
durch die Vorherrſchaft der rein geſchäftlichen Tendenzen; ſie will nicht Familienglieder
und Kinder verſorgen, ſondern nur Gewinn erzielen; die Geſchäftszwecke ſind hier Selbſt-
zweck geworden, und darum iſt hier die räumliche und bauliche Anordnung, die Kapital-,
die Maſchinenanwendung, die Technik, die Menſchenbehandlung, die Organiſation des
Abſatzes rein und unbehindert, zielbewußt und folgerichtig. Es konnte mit dieſer
Betriebsform erſt eine gleichſam wirtſchaftlich vollendete Produktion, ein virtuos
ausgebildeter Handel entſtehen. Das iſt die weltgeſchichtliche Bedeutung der modernen
Geſchäftsunternehmung, wie ſie auch vom Socialismus anerkannt wird. Nicht die Zahl
der beſchäftigten Perſonen beſtimmt ihre Natur, ſondern die in ihr lebenden
Tendenzen, ihre Struktur, ihre Art, die Beſchäftigten zu behandeln und zu verbinden,
ihr Verhältnis zur übrigen Volkswirtſchaft und zum Familienleben. Manche Geſchäfte
von 6—20 Perſonen gehören dazu, jedenfalls aber die, welche regelmäßig über 50
beſchäftigen.
Die Entſtehung ſolcher Betriebe hing von folgenden Vorbedingungen ab:
a) ein entwickeltes Verkehrsweſen und größere Staaten, eine glückliche Handels- und
Kolonialpolitik mußte große, leicht zugängliche Märkte geſchaffen haben; die inneren
Schranken des Verkehrs und der Konkurrenz, wie ſie in dem älteren Stadt-, Markt-
[430]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
und Fremdenrecht, im Zunftweſen, in der älteren Agrar- und Bergverfaſſung lagen,
mußten fallen; Gewerbe- und Niederlaſſungsfreiheit, Handelsfreiheit, Freiheit des
Eigentums und der Perſon, Beſeitigung des handwerksmäßigen und hausinduſtriellen
Arbeitsrechtes, das dem Großbetrieb Schranken auferlegte, waren die Schlagworte und
Tendenzen, für welche die Begründer der großen Betriebe als ihren Intereſſen dienlich
kämpften. Kurz es mußte die rechte Abſatzmöglichkeit, die freie Bewegung für den
Handel vorhanden ſein, wenn einzelne die konzentrierte Produktion für eine ſteigende
Menſchenzahl und ferne Orte in die Hand nehmen ſollten.
b) Es mußte der Handel ein tüchtiges ſelbſtbewußtes Bürgertum geſchaffen, einen
lebendigen Handels- und Unternehmungsgeiſt erzeugt haben; es mußte ein Geſchlecht
von Männern erwachſen ſein, die fähig waren, die ſich ſammelnden Kapitalien zu dem
kühnen Wagnis privater Geſchäfte zu verwenden, die Fortſchritte des Verkehrs, der
Technik, des Maſchinenweſens in dem Dienſte dieſer Geſchäfte richtig zu verwerten, den
Abſatz ebenſo zu organiſieren wie zu Hauſe die perſönlichen mitwirkenden Kräfte. Die
neuen Großunternehmer waren teilweiſe auch Grundherren und Handwerker oder frühere
Werkmeiſter, aber in der Hauptſache waren es Faktoren, hausinduſtrielle Verleger, Kauf-
leute; in der Landwirtſchaft waren es die größeren Pächter und die mit kaufmänniſchem
Geiſt und moderner techniſcher Bildung verſehenen größeren Gutsbeſitzer; alle, denen
es als Großunternehmer gelang emporzukommen, mußten ganz beſondere ſpekulative
und organiſatoriſche, geiſtige und Charaktereigenſchaften haben, mit beſonderer Energie
teilweiſe auch mit Rückſichtsloſigkeit ihren Weg gehen; manche verfolgten ihn auch,
vom Erwerbstrieb ausſchließlich beherrſcht, von der Konkurrenz gedrängt, mit Härte und
Schamloſigkeit.
c) Je größer die Geſchäfte wurden, deſto mehr mußten die Unternehmer erhebliche
Kapitalien beſitzen oder durch den Kredit erhalten. Nur in reichen Ländern iſt der
Großbetrieb möglich, denn er fordert, wie wir bei der Arbeitsteilung (S. 360) ſahen, ſehr
viel mehr und meiſt feſtgelegte Mittel als Handwerk und Hausinduſtrie. Aber es müſſen
nicht bloß an ſich die Mittel da ſein; es muß auch einen Kapital- und Kreditmarkt,
eine Kreditorganiſation geben, die die erſparten Mittel ſammelt, kaufmänniſch verwaltet,
ſie den rechten Perſonen und Stellen zuführt. Ohne das iſt keine Großinduſtrie, ſind
ihre neuen und komplizierten Formen, ihr glatter Geſchäftsgang nicht denkbar. In-
ſofern iſt es nicht falſch, wenn man den Großinduſtrien einen kapitaliſtiſchen Charakter
zugeſchrieben hat. Aber wenn man ſich einbildet, die ungleiche Kapitalverteilung an ſich
erzeuge die Großbetriebe; wenn man ſich vorſtellte, weil die Erben glücklicher Unter-
nehmer in der zweiten und dritten Generation vor allem als Kapitalbeſitzer erſchienen,
der Kapitalbeſitz habe die Unternehmungen geſchaffen, ſo iſt das ganz falſch. Was ſie
ſchafft und erhält, bleiben immer die perſönlichen Eigenſchaften; jeder Mangel an den-
ſelben rächt ſich durch Verluſte, oft durch den völligen Bankerott. Wird man doch
kaum zu viel ſagen, daß die Gefahr des Mißlingens und die Chance des Gewinnes
in der Unternehmung durch die wachſenden Schwierigkeiten der Organiſation und des
Abſatzes ſo verteilt ſeien, daß faſt die Hälfte aller gewerblichen und Handelsgeſchäfte
unter Verluſt ihres Kapitals bald wieder zu Grunde gehen.
d) Daß die Ausbildung aller größeren ſocialen Organiſationen mit der Ent-
wickelung der Technik zuſammenhänge, haben wir oben darzulegen verſucht (S. 203
bis 225): die höhere Ausbildung der Familienwirtſchaft war nicht ohne den Hausbau,
die der Städte nicht ohne den Mauer-, Straßen-, Waſſerbau, die erſten größeren feſten
Staaten nicht ohne die aſiatiſch-römiſche Großtechnik möglich. Die Fortſchritte im
Mühlenweſen, im Bergbau- und Eiſengewerbe, im Münzweſen, in der Kredittechnik und
anderes mehr ermöglichten die volkswirtſchaftliche Entwickelung von 1400—1800; die
verbeſſerten Waſſerräder, die Dampf- und die elektriſchen Kraftmaſchinen, die Spinu-
und die Webſtühle, die Dampfhämmer ſind die wichtigſten Erſcheinungen aus der großen
oben (S. 211—218) geſchilderten techniſchen Revolution von 1770 bis zur Gegenwart,
welche den Großbetrieb herbeiführte. Die Metall- und Werkzeugtechnik der Zeit 4000 v. Chr.
bis 1700 und 1800 n. Chr. hatte die Hauswirtſchaften und kleinbetrieblichen handwerks-
[431]Die Vorausſetzungen und Urſachen des Großbetriebes.
mäßigen oder hausinduſtriellen Werkſtätten geſchaffen, hatte den erſteren auf dem Lande
einzelne größere Betriebe mit Sklaven und Hörigen angehängt. Aber erſt die neuere
Maſchinentechnik, geſtützt auf die neue Verkehrstechnik, ſchuf für einen ſteigenden Teil
des privaten wirtſchaftlichen Lebens den Großbetrieb. Seine Begründer verfügten über
ſo viel Kapital und Kredit, daß ſie die für einen einheitlichen Geſchäftszweck nötigen
Kraft- und Arbeitsmaſchinen direkt nebeneinander ſtellen, den Arbeitsprozeß in die ent-
ſprechenden Stationen zerlegen und doch richtig aneinander fügen konnten. Die
Maſchinenanwendung wird häufig um ſo billiger, je größer der Betrieb iſt. Der Klein-
betrieb kann oft die mechaniſche Kraft, ſelten die teueren Arbeitsmaſchinen ſich verſchaffen.
Der heutige Großbetrieb kann ſich immer mehr auf einzelne Waren und Geſchäfte
ſpecialiſieren und damit unendlich viel an Arbeit, an Vorbereitungskoſten, Maſchinen
ſparen gegenüber dem kleinen Geſchäft, das vielerlei produziert. Er kann daneben an
anderer paſſender Stelle verſchiedene Arbeitsprozeſſe kombinieren, die in einer Hand
Feuerung, Transportkoſten und kaufmänniſche Speſen erſparen, die Arbeitsprozeſſe
erleichtern, Abfälle und Nebenprodukte beſſer zur Verwertung bringen, den ruhigen
gleichmäßigen Gang des Geſchäftes, die Verſorgung mit Halbſtoffen erleichtern. Je
weiter freilich die Mechaniſierung des Arbeitsprozeſſes, ihre Begründung auf eine
Summe großer teuerer Maſchinen geht, deſto mehr ſetzt das einen geſicherten Abſatz für
längere Zeiträume voraus, in welchen die großen Koſten ſich erſt amortiſieren. Alle
wirtſchaftliche Produktion, aller Verkehr und Handel im Großen iſt ſo für Jahre feſt-
gelegt, kann ſich nicht wie die Hauswirtſchaft, das Handwerk, die Hausinduſtrie ſtetig
dem wechſelnden Bedarf anpaſſen.
e) So weit früher größere Organiſationen in Familie, Gemeinde und Staat,
auch in Landwirtſchaft und Gewerbe entſtanden, hat man ſie nur mit Sklaven und
Hörigen zuſtande gebracht, weil ſie als herrſchaftliche Gebilde ſo viel leichter gelingen
wie als genoſſenſchaftliche, weil ſie den Befehl eines Höherſtehenden, die Ausführung
durch Gehorchende vorausſetzen. Die Entſtehung des neueren privatwirtſchaftlichen
Großbetriebes fiel zuſammen mit dem Sieg der perſönlichen Freiheit, aber auch mit
einer althergebrachten weitgehenden Klaſſendifferenzierung. Daß er in den Händen
gleichſtehender Genoſſen unendliche Schwierigkeit bietet, zeigt heute noch jede Produktiv-
genoſſenſchaft, in der man ſelten den rechten Leiter, ebenſo ſelten den rechten Gehorſam
bei den übrigen Genoſſen findet. Aus den Kreiſen der Kleinbürger, der Handwerker,
der Bauern konnte der neue Großbetrieb nicht hervorgehen; er konnte nur entſtehen,
wenn die zur Leitung Befähigten in einer beſitzloſen Arbeiterſchaft die mechaniſch aus-
führenden Hülfskräfte fanden, ſie disciplinierten, ihre Arbeit zerlegten und wieder richtig
kombinierten. Die größten Fortſchritte der Arbeitsteilung konnten mit ihren Folgen
nur ſo durchgeführt werden. Dieſen Neuerungen widerſtrebten nun aber die Arbeits-
kräfte meiſt ebenſo, wie der ſtraffen Disciplin, der Ordnung, dem Mechanismus, ohne
den der größere Betrieb nicht beſtehen kann; nur wen die Not trieb, wer ſonſt keine
Exiſtenz fand, ging als Lohnarbeiter auf den Gutshof und in die Fabrik. Aber da
es doch im ganzen viele ſolcher Kräfte gab, während die Zahl der fähigen Leiter
gering war, ſo ergab ſich als ſociale Struktur der großen Unternehmung eben die
in der Hauptſache heute noch vorhandene: ein Unternehmer, der auf ſeine Gefahr das
Geſchäft ins Leben ruft, Gewinne macht oder alles verliert, jedenfalls den mittleren
und höheren Schichten der Geſellſchaft angehört oder in ſie eintritt, und unter ſeiner
Leitung die von ihm engagierten, meiſt den unterſten Klaſſen angehörigen Arbeiter; ſie
erhalten ſicher ihren feſten Lohn, ob das Geſchäft einen Gewinn abwirft oder nicht;
derſelbe iſt nur für eine kleine Elite reichlich, für eine größere Zahl auskömmlich, für
viele kärglich; und die geringeren Arbeiter riskieren immer, bei ungünſtiger Konjunktur
brotlos zu werden.
Das Rechtsverhältnis, welches die innere ſociale Struktur des Großbetriebes
neuerdings beherrſcht, hauptſächlich der freie kündbare Arbeitsvertrag, entſpricht den
ſocialen Verhältniſſen, den überlieferten Sitten und Rechtsinſtituten, dem praktiſchen
Bedürfnis. Es ruht auf ſehr einfachen, ſicher wirkenden Motiven und einfacheren Rechts-
[432]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſätzen als jedes andere kompliziertere Verhältnis. Es führt trotz ſeiner Schattenſeiten das
ſchwierige Zuſammenwirken vieler Freier in demſelben Geſchäft auf die einfachſte Weiſe
herbei. Wir kommen darauf gleich zurück.
f) Liegen ſo die Vorbedingungen für den Großbetrieb in allgemein ſtaatlichen,
wirtſchaftlich-techniſchen und ſocialen, ſowie rechtlichen Verhältniſſen und ihren Folgen, ſo
iſt die ſpeciell treibende Urſache, die ihn Schritt für Schritt weiter ausdehnt, die Kon-
kurrenz einerſeits, die Vereinheitlichung der Bedürfniſſe, der begehrten Waren in immer
weiteren Gebieten andererſeits. Nur ſoweit Tauſende und Millionen dasſelbe begehren,
kann man es in großen Betrieben für ſie herſtellen. Aller individuelle Bedarf erfordert
eine ſpecialiſierte, d. h. eine Produktion in kleinem Umfang. Die Vereinheitlichung der
Bedürfniſſe wird heute durch den Verkehr, die Preſſe, das Reiſen gefördert, vor allem
aber dadurch, daß die beſſeren und billigeren Produkte, ſoweit ſie leicht transportabel ſind,
durch die zunehmende Konkurrenz überall angeboten werden. Der Druck der Konkurrenz
wäre nicht möglich, wenn nicht der große Betrieb an ſo vielen Punkten beſſer und
billiger produzierte. Er kann es, weil er leiſtungsfähigere, dauerhafte, ſociale Körper
darſtellt, mit kaufmänniſchen und techniſchen Intelligenzen an der Spitze, mit gut ein-
geſchulten, hoch bezahlten Werkmeiſtern und Arbeitern produziert, Markt, Bedarf,
Kreditverhältniſſe beſſer kennt und benutzt, die neueſten, beſten techniſchen Methoden
anwendet, über größere Kapitalien, beſſere Reklame verfügt als die kleinen Geſchäfte. —
Immer iſt die Geſtaltung des Großbetriebes in den verſchiedenen Zweigen der
Volkswirtſchaft eine ſehr verſchiedene, und ſeiner Zunahme ſtehen in vielen Gebieten teils
hiſtoriſche, teils dauernde Hinderniſſe im Wege. Darüber noch einige Worte.
In der Landwirtſchaft erzeugt der Großbetrieb wohl auch ein Syſtem nebeneinander
liegender Ställe, Vorratshäuſer, Werkſtätten und Maſchinenräume, eine vermehrte
Kapitalanwendung, aber keine Centraliſierung der Arbeit in Fabrikgebäuden; die wich-
tigſten Arbeiten bleiben decentraliſiert, wie noch mehr im großen Forſtbetrieb. Daß
der Großbetrieb der Landwirtſchaft den kleinen nicht beſeitigt, ſahen wir ſchon mehrfach;
er ſtellt gegenüber dem rationell verbeſſerten Kleinbetrieb mehr eine bloße Summierung
als eine Steigerung der Kräfte und Produktionsmittel dar, während der kleine Forſt-
betrieb meiſt unvollkommen bleibt, ſchon weil er eine Schlageinteilung in 30—120 Schläge,
von welchen einer jährlich abgetrieben wird, nicht geſtattet. Das große Bergwerk hat
ſeine Maſchinen und Förderhäuſer, aber die techniſche Arbeit iſt unten in den Schächten
und weit auseinander liegenden Gängen decentraliſiert. Sein Kapital und ſeine Technik
iſt aber ſo ausgebildet, daß der kleine Betrieb verſchwinden muß. Die Großbetriebe des
Verkehrs haben centrale Anlagen für Wagenparks, Schiffe, Werkſtätten, aber die
Thätigkeit zerſtreut ſich über die Eiſenbahn- und Schiffslinien. Die Hamburg-Amerika-
Linie hat auf dem Lande heute ein Perſonal von 8145, auf 80 Oceandampfern ein
ſolches von 6120 Perſonen. Die Verkehrsorganiſation ſtrebt heute am allermeiſten nach
Großbetrieb und Centraliſation; immer aber erhalten ſich auch viele kleine lokale Ver-
kehrsgeſchäfte; die Beherbergungsgewerbe, die unſere Statiſtik zum Verkehr rechnet, ſind
überwiegend Klein- und Mittelbetriebe, weil ſie dem örtlichen Bedarfe dienen. Die
großen Bankbetriebe, vielleicht die älteſten der neueren Großbetriebsentwickelung, haben
weder einen großen Maſchinenapparat und feſte Kapitalanlagen, noch ein ſo ſehr großes
Perſonal, ihr Schwerpunkt liegt in ihrem umlaufenden Kapital; decentraliſiert und doch
einheitlich war ihre Geſchäftsthätigkeit frühe; die Florentiner Geſellſchaft der Peruzzi
hatte Anfang des 14. Jahrhunderts ſchon 14 Filialen und 150 Faktoren in der ganzen
Welt. Die Deutſche Bank in Berlin beſchäftigte 1895 am Orte in ihren Rieſengebäuden
und 16 Depoſitenſtellen 1005 Perſonen, 617 in ihren außerhalb Berlins befindlichen
Filialen und Niederlaſſungen. Das kleine Bankgeſchäft geht heute raſch zurück; aber
immer erhält es ſich für beſtimmte Klaſſen und Bedürfniſſe; die örtliche Perſonen- und
Sachkenntnis iſt am ſicherſten von kleinen Ortsgeſchäften, freilich teilweiſe auch von
Filialen großer Geſchäfte zu erreichen. Die großen Warenhäuſer der neueſten Zeit, die
Rieſenbazare, die großen Verkaufsgeſchäfte haben bedeutende techniſch-maſchinelle Ein-
richtungen, aber im übrigen liegt ihr Schwerpunkt in ihrem Perſonal und ihrem
[433]Der Fortſchritt des Großbetriebes im einzelnen. Manufaktur und Fabrik.
Kapital, das nur zum kleinen Teil feſtgelegt iſt; das Perſonal des Wertheimſchen
Warenhauſes in Berlin iſt in wenigen Jahren bis auf 4670 Angeſtellte geſtiegen. Im
übrigen iſt trotz des raſchen neueſten Wachstums der größeren Verkaufsgeſchäfte im
Handel der Klein- und Mittelbetrieb noch im ganzen vorherrſchend. Es beſtanden
Handels- und Verkehrsgeſchäfte in Deutſchland (ohne Poſt- und Eiſenbahnen):
Alſo kleine Geſchäfte mit bis zu 5 Perſonen 1882 0,6 Mill., 1895 0,9 Mill., während
die großen von 26994 auf 50231 ſtiegen.
In den Gewerben haben ſich größere Betriebe von 1770—1850 hauptſächlich in
der Form gebildet, die man ſeit Marx ſich gewöhnt hat, als Manufaktur zu bezeichnen.
Wo man ſtatt 2—4 15—30 Webſtühle in einem Saale aufſtellte, ſparte man Bau-
koſten, Licht, Aufſicht; man fing teilweiſe an, ſie durch mechaniſche Kraft zu bewegen;
man verbeſſerte die Werkzeuge, zerlegte die Arbeit, kontrollierte ſie beſſer, vermied Ver-
untreuungen und andere Schattenſeiten der Hausinduſtrie. Aber man hatte in dieſen
Manufakturen, in dieſen vergrößerten Werkſtätten oder kleinen Fabriken mit ihren
5—50 Arbeitern doch vielfach mehr geſchäftsmäßige als techniſche Einheiten. Ihre
Zahl iſt heute noch eine ſehr große, und in ſehr vielen Zweigen der Produktion, in
welchen die vollendetſte Mechaniſierung und Centraliſierung des Betriebes aus techniſchen,
Abſatz- und anderen Gründen nicht möglich iſt, werden ſie ſich auch künftig erhalten.
Wo die neuere Technik mit ihren mechaniſchen Kräften, mit einem vollendeten
Syſtem von Arbeitsmaſchinen die gewerbliche Produktion ganz ergriffen, wo der Abſatz
im großen geſiegt hat, da entſtehen die eigentlichen Fabriken als große geſchloſſene
Etabliſſements, als einheitliche rieſenhafte Bauanlagen mit möglichſt paſſender Neben-
und Aufeinanderfügung der Räume für die einzelnen ſich folgenden Arbeitsprozeſſe; ſie
ſind rein nach techniſch-geſchäftlichen Rückſichten angeordnet, dahin verlegt, wo die
Abſatz- oder Produktionsbedingungen am günſtigſten ſind. Sie folgen teilweiſe den
Waſſerkräften, der Kohle, den Erzſchätzen, teilweiſe den Orten, wo die techniſche Bildung,
die Arbeitskräfte, die entſprechenden Zweige des Maſchinenbaues für ſie am günſtigſten
ſind. Sie konzentrieren ſich an wenigen Punkten und verſorgen von da ganze Länder
und Erdteile. Von ihnen gilt, was man meiſt vom Großbetrieb überhaupt ſagt:
höchſte Ausbildung des maſchinellen Prozeſſes, hauptſächlich auch der Arbeitsmaſchinen,
größte Erſparung an menſchlicher Arbeit, weitgehendſte Anwendung fixen Kapitals. Sie
erweitern ſich in den neuen Rieſenunternehmungen zu ganzen Stadtteilen. Freilich, wo dieſe
aus kaufmänniſchen oder techniſchen Gründen, aus Monopolabſichten bis über 10000 Ar-
beiter hinausgehen, wo ſie in der Hand von Kartellen oder Truſts aus bisher zerſtreut
liegenden Etabliſſements entſtehen, da ſehen wir, daß dieſe kombinierten Unternehmungen
meiſt aus einer Summe örtlich weit auseinander liegender Betriebe beſtehen. Krupp
mit ſeinem Perſonal von 44000 Perſonen hat heute außer ſeiner Gußſtahlſabrik in
Eſſen (25617 Perſonen) das Gruſonwerk in Buckau (3749 Perſonen), die Germania-
werft in Kiel (5882 Perſonen); er beſitzt 500 Eiſenſteingruben im Aus- und Inland,
4 Kohlenbergwerke, 4 Hochofenanlagen, 3 Seedampfer, in Eſſen ſelbſt zur Beförderung
auf ſeinem Werke eine Eiſenbahn mit 40 Lokomotiven, 450 Dampfmaſchinen mit
36561 Pferdekräften, 113 Dampfhämmer, 1100 Drehbänke und 400 Bohrmaſchinen,
22 Walzſtraßen ſind auf ſeinen Werken im Gange.
In Bezug auf die Verbindung der kaufmänniſchen und techniſchen Seite der
gewerblichen Großbetriebe war in den letzten zwei Generationen eine entgegengeſetzte
Bewegung zu bemerken. Die engliſchen und franzöſiſchen Großbetriebe haben vielfach, um
ſich von der Sorge für den Abſatz zu befreien, dieſen beſonderen, neben ihnen ſtehenden
Großhandelsgeſchäften zu übergeben geſucht; man hat oft dieſe Teilung als eine
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 28
[434]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Erleichterung der Geſchäftsführung, eine Verminderung des Riſikos, als einen Fortſchritt
bezeichnet. Sie hat ſich aber nicht überall vollzogen, in Deutſchland zumal wenig;
man hat neuerdings auch eine Schwächung der betreffenden Großbetriebe in dieſer
Teilung geſehen. Wo Kartelle ſich bildeten, haben ſie recht eigentlich den Abſatz in ihre
Hand genommen.
Nun noch einige Zahlen über den Fortſchritt des Großbetriebes: in Deutſchland
hat man 1882 und 1895 etwas über 5 Mill. landwirtſchaftliche Haupt- und Neben-
betriebe gezählt, wovon etwa 25000 Großbetriebe über 100 ha, 5—600 über 1000 ha
bewirtſchaften; neben ihnen ſtehen 281000 größere Bauernbetriebe, welche 30—100 ha,
an mittleren und kleinen Bauernbetrieben je faſt 1 Mill., welche 5—20 und 2—5 ha
bewirtſchaften, und ca. 3 Mill. Parzellenbetriebe; von 1882—95 fand keine weſentliche
Veränderung ſtatt; nur die beiden Gruppen der mittleren und kleinen Bauern wuchſen
um 35000 und 72000. An gewerblichen Großbetrieben mit über 50 Perſonen (in
Gärtnerei, Fiſchzucht, Gewerbe, Bergbau, Handel und Verkehr, wie ſie unſere Gewerbe-
ſtatiſtik zuſammenfaßt) zählte man in Deutſchland 1861 etwa 4000, 1875 7800,
1882 9900, 1895 18955; an Rieſenbetrieben mit über 1000 Perſonen 1882 127,
1895 255; aber Poſt und Eiſenbahn ſind dabei nicht mitbegriffen; die Rieſen-
betriebe wären um ein Fünftel zahlreicher, wenn die kombinierten Großunternehmungen
als ganze und nicht in ihren einzelnen Teilen gezählt wären. In den Großbetrieben
arbeiteten aber 1882 von 7 Mill. Perſonen 1,6, 1895 von 10 Mill. 3 Mill. Fügt
man noch die Mittelbetriebe von 6—50 Perſonen zu den Großbetrieben, ſo waren
dieſe Betriebe 1882—1895 von 121000 auf 210000, ihr Perſonal von 2,9
auf 5,4 Mill. Menſchen geſtiegen; mit der Poſt und den Eiſenbahnen wären es
etwa 6 Mill. Betrugen die Allein- und Kleinbetriebe auch noch 1882 2,8 mit
4,3 Mill., 1895 2,9 mit 4,7 Mill. Menſchen, ſo lag doch der perſönliche Schwerpunkt
der gewerblichen Produktion ſchon 1882, noch mehr 1895 auf den größeren Betrieben
mit 6 und mehr Perſonen; ihrer Produktivkraft nach waren die großen Betriebe
natürlich weit überlegen, ſchon weil ſie ganz anders mit Motoren und Kraftmaſchinen
ausgeſtattet ſind. Rechnet man die Pferdekraft in den Großbetrieben 1895 zu 15
Menſchenkräften, ſo verfügten ſie ſtatt über 3 über 41 Mill. Kräfte, alſo über die
ſechs- bis ſiebenfache Zahl der ſämtlichen übrigen Gewerbebetriebe.
Daß eine weitere Zunahme des gewerblichen und handelsmäßigen Großbetriebes
zu erwarten ſteht, darüber kann nach den Veränderungen von 1882—95 kein Zweifel
ſein; aber es iſt ſchwer zu ſagen, wo und in welchem Maße ſie eintreten wird. Daß
aber auch der handwerksmäßige und hausinduſtrielle Betrieb, noch mehr der Mittel-
betrieb in breitem Maße ſich erhalten wird, dafür ſprechen alle Anzeichen.
In Großbritannien und den Vereinigten Staaten hat der Großbetrieb ſich ſchon
weiter als in Deutſchland ausgedehnt, Frankreich wird Deutſchland nahe ſtehen, Öſter-
reich, Rußland, Italien ſind auf dieſer Bahn noch erheblich zurück, noch viel mehr die
Länder der Halbkultur wie Japan, während in den europäiſchen Kolonien das Gewerbe
und der Handelsbetrieb ſich raſch centraliſieren.
143. Das geſellſchaftliche Problem des Großbetriebes. Zwei bis
fünf Perſonen zu gemeinſamer Arbeit oder zu gemeinſamem Leben in dauernder Form
zu verbinden, iſt immer ſchon nicht ganz leicht geweſen, wo nicht beſondere ſympathiſche
Bande, Unterordnungs- und Treuverhältniſſe oder Derartiges ſie verknüpfte. Aber zehn,
hundert, tauſend ſo zu verknüpfen, daß ſie ohne zu viel Reibung und Konflikte
zuſammenwirken, ſich in einander paſſen, einheitliche Zwecke harmoniſch verfolgen, hat
bei allen Kennern des Lebens und der menſchlichen Seele ſtets als ein ſociales Kunſt-
werk gegolten. Die Sippe und die patriarchaliſche Familie, ſpäter die Gemeinden, die
kirchlichen Genoſſenſchaften, die militäriſchen Körper, endlich ganze Staaten zu organiſieren,
das war ſtets ein ſchwieriges Problem, an dem oft Jahrhunderte vergeblich arbeiteten,
das erſt nach langen Verſuchen der Sitte, dem Recht, den Inſtitutionen der höher ſtehenden
Raſſen und Völker gelang. Sollte es leichter geweſen ſein, Dutzende, Hunderte, jetzt
bereits Tauſende im Großbetrieb zu einheitlicher Arbeit zu verbinden?
[435]Statiſtik des Großbetriebes. Das geſellſchaftliche Problem deſſelben.
Wir ſahen, daß die Familienwirtſchaft, die patriarchaliſche Gewalt des Haus-
vaters über Kinder und Geſinde und der an Stelle von Sklaven und Hörigkeit tretende
freie Arbeitsvertrag die Grundlage für die Ausbildung des Großbetriebes war. Und
wo es ſich um Geſchäfte von mäßigerem Umfang handelt, reichen dieſe Traditionen und
Rechtsbeziehungen auch aus, eine kleine Zahl von Arbeitskräften zu dem einheitlichen
Zuſammenwirken, wie es das Geſchäftsleben erfordert, zu bringen, wenn auch die
Schwierigkeiten in dem Maße ſich ſteigern, wie erwachſene, verheiratete Mitarbeiter in
den Kreis eintreten, wie es ſich um verſchiedene Klaſſen und Menſchen, um zunehmende
Intereſſengegenſätze handelt. Wo aber 50—100 und mehr Perſonen in Betracht
kommen, wo die Zahl ſich gar auf Tauſende ſteigert, da iſt die rechte Organiſation
und Disciplin, das pünktliche und ſichere Ineinandergreifen ſo vieler verſchiedener
Menſchen mit teilweiſe niedriger Bildung, mit ſtarken Leidenſchaften und gewecktem
Selbſtgefühl nicht leicht zu erreichen. Die Anſprüche an perſönliche Freiheit, achtungs-
volle Behandlung wachſen; und im ſelben Maße muß im Rieſenbetrieb die Ehrlichkeit,
die Unterordnung, die Pünktlichkeit, die Kontrolle zunehmen. Eine Hierarchie von
Stellungen und Ämtern muß ſich bilden; komplizierte Geſchäfts- und Arbeitsordnungen
müſſen thatſächlich entſtehen, ſchriftlich fixiert werden und in Fleiſch und Blut über-
gehen. Der Großbetrieb, als Rieſenanſtalt, gewinnt ein Leben, eine Tradition, ein
Geſamtintereſſe für ſich, das über dem des privaten zufälligen Eigentümers ſteht, mit
den Abſichten und Gefühlen des letzteren in Konflikt kommen kann.
Drei große Fragen ſind es hauptſächlich, die im Zuſammenhang mit dieſen Er-
wägungen entſtehen: 1. Kann und ſoll der Großbetrieb in den Händen individueller
perſönlicher Eigentümer bleiben? ſoll ihr privates Schickſal die Anſtalten in Mitleiden-
ſchaft ziehen? 2. In den Großbetrieben ſchiebt ſich zwiſchen die Chefs und die Arbeiter
eine ſteigende Anzahl Beamter, Ingenieure, kaufmänniſcher Angeſtellter, Werkmeiſter;
wie ſoll ihre Stellung, ihre Carriere, ihre Vorbildung geordnet werden? Der Groß-
betrieb hat hier die gleichen ſchwierigen Aufgaben zu löſen, wie Staat und Gemeinde.
3. Das Rechtsverhältnis der ſteigenden Arbeiterzahl bedarf einer reformierenden Ordnung,
wenn nicht die Reibung und die Konflikte hier ebenſo wie einſt bei der Sklaverei und
Leibeigenſchaft zu einem Punkte der Unerträglichkeit, der Bedrohung der Großbetriebe
und der ganzen Geſellſchaft führen ſollen.
ad 1. Seit den letzten 5000 Jahren beruhte überall der wichtigſte Teil des
Kulturfortſchrittes auf herrſchaftlichen Organiſationen; und dieſe waren immer am
leiſtungsfähigſten, wenn einzelne dazu Befähigte befahlen, eine ſteigende Zahl ihnen
gehorchte. Aber an einer ſteigenden Zahl von Stellen hat man auch aus dem einen
ein Kollegium, eine gegliederte kollektive Perſönlichkeit gemacht, um die Leidenſchaften
und Fehler, die Einſeitigkeit des einen durch den Charakter und die Kenntniſſe mehrerer
zu ergänzen, um die befehlende Spitze ſtetiger, dauerhafter zu machen. Ähnliches ſehen
wir auch in der Welt der wirtſchaftlichen Unternehmungen. Neben den Einzelunter-
nehmer, welcher für die Mehrzahl aller kleinen und mittleren Betriebe heute noch ſeine
unzweifelhaften Vorzüge hat, treten ſucceſſiv an die Spitze der größeren Unternehmungen
kollektive Perſönlichkeiten.
Der unternehmende einzelne Handwerker, Kaufmann, Landwirt und Fabrikant hat
als Geſchäftseigentümer und Betriebsleiter, wo die Technik, das Geſchäft, das Kapital
nicht zu groß, zu kompliziert iſt, den unendlichen Vorzug ungeteilter Verantwortung
und einheitlichſter Leitung; ihn beſeelt ein Erwerbstrieb wie nie einen Beamten; an der
guten Leitung des Geſchäftes hängt ſein Vermögen, ſeine Ehre, ſeine Zukunft. Er hat
niemand Rechenſchaft abzulegen; ihm iſt raſches und kühnes Handeln möglich wie nie
einer Mehrheit von Perſonen. Er kann ſich, wenn er nur leidlich Menſchen zu behandeln
verſteht, bei ſeinen Leuten eine Autorität verſchaffen wie keine vielköpfige Leitung; er
kann die Friktionen der Mitarbeitenden leichter überwinden, den Abſatz gut organiſieren,
den richtigen Kredit finden, weil er als Perſönlichkeit ſich einſetzt, Vertrauen erwirbt.
Sobald aber das Geſchäft einen gewiſſen Umfang erreicht, fallen viele dieſer
günſtigen Folgen weg; der Herr kann nicht mehr alles ſehen, nicht mehr ſeine Leute
28*
[436]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
alle ſo kennen; er muß alles Mögliche ſeinen Untergebenen überlaſſen. Die Schatten-
ſeiten des reinen Privatgeſchäfts treten mehr hervor. Das größere Geſchäft iſt leicht
auf fremdes Kapital angewieſen, das ihm gekündigt werden kann. Zufällige Familien-
ſchickſale bedrohen es ſtets; der frühe Tod des Inhabers führt zu einer Auflöſung oder
zu einem Verkauf. Die Auflöſung zerſtört die Kundenbeziehung, die Tradition, die
Erfahrungen, die hier geſammelt waren, macht Angeſtellte und Arbeiter brotlos. Der
Verkauf bringt einen neuen Herrn, mit dem die alten Diener ſich nicht ſtellen können.
Durch Erbſchaft kommt das Geſchäft oft in die Hände eines unfähigen Sohnes.
So wachſen für die größeren Unternehmungen die Anläſſe, die Impulſe, ſie in
kollektive Hände überzuführen. Wir beſprechen das Entſtehen der Handels- und Aktien-
geſellſchaften, der Genoſſenſchaften, der Kartelle in den folgenden Paragraphen. Hier
fügen wir nur noch die ſtatiſtiſche Thatſache bei, daß unſere Gewerbeſtatiſtik von 1895
ſchon 70050 Unternehmungen zählt, welche in kollektiven Händen liegen; das erſcheint
nicht viel gegenüber 1,4 Mill. Gehülfenbetrieben, wohl aber gegenüber 18933 Betrieben
mit über 50 und gegenüber 210000 mit über 10 Perſonen; und es kommen auf ſie
ſchon 2,8 Mill. (1882 1,7) Perſonen; rechnete man dazu noch die Poſt und die Eiſen-
bahnen, ſo würden es etwa 3,4 Millionen ſein gegenüber einer Geſamtzahl von etwas über
10 Mill., welche in gewerblichen Betrieben mit Gehülfen (einſchließlich Poſt und Eiſen-
bahn) thätig ſind. Unter den 70050 Kollektivbetrieben ſind 55239 offene Handels-
geſellſchaften mit faſt 1,5 Mill. Perſonen. Auch die anderen Formen der Kollektiv-
betriebe haben alſo bereits eine erhebliche Bedeutung; und ſie ſind entfernt nicht voll
von der Statiſtik erfaßt. Es fehlen einige Tauſend Genoſſenſchaften, wahrſcheinlich auch
viele Gemeindeanſtalten. Der ſtaatliche Forſtbetrieb, die ganze Heeresverwaltung iſt
nicht einbegriffen.
Auf weitere Einzelheiten hier einzugehen, würde zu weit führen. Auch davon
will ich hier nicht weiter ſprechen, daß jede ſolche kollektive Geſchäftsleitung neue andere
Schwierigkeiten erzeugt, als ſie in der Einzelunternehmung vorliegen. Wir kommen
darauf teilweiſe weiterhin zurück. Nur das möchte ich hier noch betonen: die Geſchäfte mit
ſolcher Spitze haben in ihrer komplizierten Leitung die Einfachheit und Schlagfertigkeit
der herrſchaftlichen Einzelunternehmung eingebüßt; ihre Leiter werden nicht mehr von
ſo einfachen Motiven beherrſcht, ſie müſſen ſich vertragen, einem Geſamtintereſſe unter-
ordnen. Deshalb können kollektive Geſchäftsleitungen nur glücklich fungieren, wenn
pſychologiſch-ſittliche Entwickelungsreihen und eigentümliche rechtliche und inſtitutionelle
Prozeſſe in aufwärtsgehender Linie ſich vollzogen haben.
ad 2. Die Einſchiebung eines geſchäftlichen Beamtentums zwiſchen die Inhaber
der Geſchäfte und die Arbeiter iſt ein Reſultat des Großbetriebes. Die Zahl ſolcher
Angeſtellter betrug nach der Berufsſtatiſtik
In der deutſchen Gewerbeſtatiſtik (die Gärtnerei, Tierzucht, Gewerbe, Handel
und Verkehr umfaßt) zählte man 1895 auf 3 Mill. Selbſtändiger (d. h. Unternehmer),
wovon 1,7 Mill. Allein-, 1,3 Mill. Gehülfenbetriebe waren, 0,5 Mill. Angeſtellte,
6,8 Mill. Arbeiter; alſo die Unternehmer in den Gehülfenbetrieben betrugen nur noch
das 2½ fache ihrer Beamten; nach den gewerbeſtatiſtiſchen Zahlen haben von 1882 bis
1895 die Unternehmer in den Gehülfenbetrieben um 1,3 %, die Arbeiter um 62,6, die
Beamten um 118,9 % zugenommen. Daraus erhellt die raſch wachſende Bedeutung
dieſer Elemente unſerer heutigen größeren Betriebe. Sie ſpielen in den Aktiengeſellſchaften
und Genoſſenſchaften eine noch größere Rolle als in den großen Privatgeſchäften. An
ſie denkt die Socialdemokratie, wenn ſie behauptet, die das Kapital beſitzenden Eigen-
tümer der Geſchäfte könnten heute jeden Tag entbehrt werden. Wir werden ſehen, wie
[437]Großbetriebe in Kollektivhänden. Das Beamtentum des Großbetriebes.
falſch das auch für die Aktiengeſellſchaften iſt. Aber ein Korn Wahrheit, und zwar
ein erhebliches ſteckt darin. Das Gedeihen größerer Geſchäfte hängt heute weſentlich
an dieſem Beamtentum. Einer der genialſten, klügſten und ehrenhafteſten deutſchen
Leiter rieſenhafter Aktiengeſellſchaften und Kartelle ſagte mir einſt, die ganze Arbeit
ſeines Lebens ſtecke in den Bemühungen, ein kaufmänniſch-techniſches Beamtentum zu
erziehen, das fähig ſei, fremdes Kapital pflichttreu und gewinnbringend zu verwalten.
Der gewöhnliche Erwerbstrieb lenkt dieſe Menſchen nicht in erſter Linie, auch wenn ſie
Tantièmen erhalten. Andere Motive müſſen das Beſte thun: das Intereſſe am Geſchäft,
Ehrlichkeit, gute, aufſteigende Gehälter, Verſorgung im Alter, Verträge auf Jahre oder
Lebenszeit. Zugleich iſt klar, daß der Unterſchied der großen Geſchäfte, welche eine
erhebliche Zahl ſolcher Angeſtellten beſchäftigen, von Gemeinde- und Staatsbetrieben
zwar nicht ganz verſchwindet, aber ſehr abnimmt. Der Schlendrian, die Neigung, bei
feſtem Gehalt ſich nicht mehr zu ſehr anzuſtrengen, auch die großen Mißſtände wie
Unterſchlagungen, Untreue aller Art, müſſen mit dieſem Syſtem ebenſo zunehmen, wie
eine komplizierte Überwachung und Kontrolle. Die Koſten für Kontrolle (z. B. durch
ein kompliziertes Buchungsſyſtem, das jede Unregelmäßigkeit raſch zu Tage bringt)
ſind außerordentlich groß. Der Leiter einer unſerer größten Aktienbanken ſagte mir,
ohne dieſe Kontrollen könnte ſeine Bank ſaſt mit der Hälfte des Perſonals auskommen.
Auch darf nicht unterſchätzt werden, welche Summe von Intriguen, Reibungen, Kon-
flikten, Patronage unfähiger Verwandter in jedes große Geſchäft durch die ſteigende
Schwerfälligkeit des Beamtenapparates kommt, wie viel ſchwerer es hier iſt als im
Staate mit ſeinen Prüfungen und ſeiner alten Tradition, gerecht, unparteiiſch, ſachgemäß
die Beförderungen und Stellenbeſetzungen vorzunehmen.
Die großen techniſchen und geſchäftlichen Vorteile des Großbetriebes ſtehen ſo einer
erheblichen Summe von Koſten und Schwierigkeiten gegenüber; ſie werden in gut geleiteten
Geſchäften die Vorteile nicht erreichen, ſonſt rentierten dieſe nicht, ſonſt nähme der
Großbetrieb nicht zu. Aber ſie ſind ein wichtiges Element der Entwickelung, ſie können
an beſtimmten Punkten immer den Großbetrieb unmöglich machen.
ad 3. Die Frage der Arbeiterbehandlung im Großbetrieb können wir hier nicht
erſchöpfen wollen. Auf die wichtigſten Einzelheiten des Arbeitsrechts und der ſocialen
Reform kommen wir ohnedies im folgenden Buche. Aber die eine große principielle
Frage haben wir hier kurz zu erledigen: warum iſt die patriarchaliſche Verfaſſung der
Großinduſtrie zunächſt entſtanden, warum und wo wird ſie verſchwinden und durch eine
andere erſetzt werden?
Als in der Zeit von 1770—1850 ſich der Großbetrieb in Weſteuropa verbreitete,
ſich in der Hauptſache dabei freier, beſitzloſer Arbeiter bediente und ſie in freiem Arbeits-
vertrag den Geſchäften angliederte, da konnte zunächſt ein anderes Verhältnis als das
patriarchaliſche nicht leicht entſtehen. Das heißt, die meiſten Geſchäfte entſtanden in
Anlehnung an die Familienwirtſchaft des Unternehmers; dieſer kannte kein anderes
Herrſchaftsverhältnis gegenüber helfenden und dienenden Kräften als dasjenige, wie es
der Hausvater gegen Geſinde, Lehrlinge, Geſellen und Knechte hatte. Die Arbeiter
hatten kein Selbſtbewußtſein, in demütiger Unterordnung ſtanden ſie den Unternehmern
gegenüber. Auch die Geſetzgebung und Verwaltung kannte kein anderes Verhältnis.
Für die meiſten Arbeiter jener Tage war eine gewiſſe Bevormundung und Leitung
durch die Unternehmer angezeigt; und ſo lange die Geſchäfte klein, die Arbeiter aus
der Gegend, als Nachbarn und Gemeindegenoſſen dem Unternehmer bekannt waren,
entſprach eine patriarchaliſche Behandlung den Verhältniſſen. Das wurde aber anders,
als die Geſchäfte größer, Arbeiter von außen herangezogen wurden, als die Beſchäftigung
von älteren, verheirateten Arbeitern zunahm, als die Wohnungen der Arbeiter ſich
räumlich meiſt weiter von den Arbeitsſtätten entfernten, die menſchlichen und Nachbar-
beziehungen zwiſchen dem Arbeitgeber und ſeiner Familie einerſeits, den Arbeitern und
deren Familien andererſeits ſeltener und loſer wurden. Der bewegliche Arbeitsmarkt,
die Freizügigkeit, bald auch die Lohnkämpfe, die Sitte, rückſichtslos überflüſſige Arbeits-
kräfte zu entlaſſen, erzeugten in ſteigendem Maße die Auflöſung der alten menſchlichen
[438]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Beziehungen zwiſchen Arbeitgeber und -nehmer, zumal in den Groß- und Fabrikſtädten.
Das patriarchaliſche Verhältnis wurde durch das reine geſchäftliche Vertragsverhältnis
abgelöſt. Die ſympathiſchen Gefühle in der oberen Schicht, die der hingebenden Treue
und Unterordnung in der unteren wurden ſeltener. Die Härte der Disciplin mußte
mit der Größe der Geſchäfte wachſen und zerſtörte die alten Beziehungen. Andererſeits
wuchs das Selbſtbewußtſein der Arbeiter mit der Schulbildung, mit dem Vereinsrecht
und der Vereinsbildung, dem Wahlrecht, der ganzen politiſch-liberalen und radikalen
Atmoſphäre der Zeit; Gefühle der Bitterkeit über geringen Lohn und demütigende
Behandlung entſtanden in breiten Schichten des Arbeiterſtandes. Die Arbeiter wollten
keine Wohlthaten mehr, ſondern ihr gutes Recht, das ſie in beſſerem Lohn, kürzerer
Arbeitszeit, in ihrer Organiſation, in ihrem Mitreden beim Arbeitsvertrag ſahen.
Betonte man ihnen gegenüber die Vorzüge des patriarchaliſchen Syſtems, erklärte man
gar, der Unternehmer habe in der Fabrik dasſelbe Hausrecht, wie der Familienvater im
Hauſe, ſo fanden die Arbeiter nicht mit Unrecht, daß die Zeiten ſich geändert, daß eine
Fabrik mit 1000 Arbeitern keine Familienſtube ſei, daß für viele Arbeitgeber das Lob
des patriarchaliſchen Syſtems nur eine unwahre Phraſe ſei.
Immer werden auch heute alle kleinen Geſchäfte gewiſſe patriarchaliſche Züge
behalten, weil ſie in der Natur der Sache liegen, wenn Menſchen im engſten Kreiſe ſich
täglich menſchlich berühren. Und auch aus den großen Unternehmungen wird das
Syſtem nicht ganz verſchwinden. Auf dem platten Lande, auf jedem iſoliert liegenden
Gutshof, im Gebirge, auf allen einſam liegenden Großbetrieben, überall, wo ſehr hoch
ſtehende, edle und humane Unternehmer einer wenig entwickelten Arbeiterſchaft gegen-
über ſtehen, wo Arbeitgeber und Arbeiter noch Nachbarn ſind, ſich genau perſönlich
kennen, in einem kleinen Gemeindeverband durch die Aufgaben der Kirche, Schule,
Armen- und Krankenpflege täglich menſchlich zuſammengeführt werden, da wird auch
heute viel von der patriarchaliſchen Verfaſſung des Großbetriebes ſich erhalten, da
wird eine andere Verfaſſung gar nicht möglich ſein, da wird das patriarchaliſche Syſtem
gut wirken, d. h. die Arbeiter moraliſch, intellektuell, techniſch und wirtſchaftlich
heben und erziehen, das Zuſammenarbeiten von beiden ſocialen Schichten fördern und
erleichtern.
Wo aber dieſe Bedingungen verſchwunden ſind oder nie vorhanden waren, wie
in den meiſten Induſtriegegenden und in den großen Städten, wo das demokratiſche
Selbſtbewußtſein der Arbeiter durch geiſtige und wirtſchaftliche Hebung geſtiegen iſt, wo
die Unternehmer vornehme Kavaliere geworden ſind, welche dem Sport leben, Rennſtälle
halten, den größern Teil des Jahres in der Hauptſtadt oder an der Riviera leben,
da muß es verſchwinden, da müſſen andere rechtliche Beziehungen entſtehen, andere
pſychologiſche Faktoren in Thätigkeit treten.
Die Verfaſſung des Großbetriebes, die nun entſteht, iſt mit dem Schlagwort des
freien Arbeitsvertrages und der privatrechtlichen Gleichheit der Kontrahenten freilich
noch nicht charakteriſiert. Ebenſo wenig iſt die Verweiſung auf den ſocialen Kampf
zwiſchen Unternehmer und Arbeiter, ſo wenig ſich dieſer vermeiden läßt, mehr als ein
Verlegenheitstroſt; denn es fragt ſich eben, zu was man durch den Kampf komme. Und
die ſocialdemakratiſche Hoffnung, daß die Arbeiter ſiegen, die Unternehmer beherrſchen
oder beſeitigen, alle Großbetriebe ſich in ſocialiſtiſche oder ſtaatliche Organiſationen
verwandeln werden, iſt eine pſychologiſche Utopie. Es handelt ſich darum, welche ſociale
und rechtliche Ordnung die Großbetriebe unter der Vorausſetzung der heutigen wenn auch
gemilderten Klaſſengegenſätze erhalten werden, alſo unter der Vorausſetzung, daß die
höhere Klaſſe im ganzen die techniſche und kaufmänniſche Leitung, die untere die aus-
führende Arbeit behalte, daß eine herrſchaftliche Organiſation vorherrſchend bleibe, und
das Eigentum der Beſitzenden in der Form des Privat- oder Aktienkapitals nicht ver-
ſchwinde, höchſtens auf eine größere Zahl von Intereſſenten ſich verteile.
Wer davon ausgeht, daß mit dieſen Vorausſetzungen in den nächſten Generationen
zu rechnen ſei, aber zugleich die Schattenſeiten und Gefahren der jetzigen Großbetriebs-
verfaſſung einſieht, der wird bei näherer Prüfung zu dem Schluſſe kommen, daß nicht
[439]Die patriarchaliſche Verfaſſung des Großbetriebes, ihr Zurückweichen, ihr Erſatz.
alles ſo bleiben kann, wie es iſt, daß eine neue Art der Verfaſſung kommen müſſe, wenn
auch die bisherige Geſtaltung ihm begreiflich erſcheint.
Die Unternehmer der erſten Generation, welche die Großbetriebe unter unſäglichen
Schwierigkeiten, im heftigen Konkurrenzkampf gründeten, auf dem geſetzlichen Boden einer
einſeitigen Freiheitslehre die bisher ungeſchulten Maſſen als Arbeiter in die Fabrik
zogen und für die dortigen Aufgaben disciplinierten, konnten dies Ziel nur erreichen,
die neue Technik und die neuen Abſatzwege nur organiſieren durch die außerordentliche
Übermacht, welche ihnen Intelligenz, kaufmänniſche Gewandtheit und großer Beſitz gaben,
durch die weitgehende herrſchaftliche Autorität, welche ſie über die unorganiſierten,
beſitzloſen Arbeiter durch die Fabrikdisciplin und das beliebige Entlaſſungsrecht übten.
Man könnte ſagen, die rückſichtsloſe Geſchäftsenergie habe ſo einen geſchäftlichen Neubau
der Volkswirtſchaft vollzogen, techniſch und kaufmänniſch dabei das Höchſte geleiſtet,
aber auch durch Überſpannung der Konkurrenz und Gewinnſucht viel Unheil geſtiftet
und durch die Nichtrückſichtnahme auf Leben und Geſundheit, Bildung und Familien-
intereſſen der Arbeiter, durch die übermäßige Ausdehnung der Arbeitszeit, durch über-
mäßige Frauen- und Kinderarbeit, durch Lohndruck und Ausbeutung der unteren Klaſſen
in die moderne, private, rein auf den Gewinn arbeitende Unternehmung Keime der
Reibung und des Kampfes gelegt, die nach und nach zu einer Umgeſtaltung und Reform
führen müſſen.
Die Reform hat in erſter Linie davon auszugehen, daß die großen Betriebe nicht
mehr unter demſelben Recht ſtehen können wie die Hauswirtſchaft, daß ſie mehr und
mehr der Gegenſtand des öffentlichen Intereſſes ſind. Von ihrer Verfaſſung und Ein-
richtung hängt das wirtſchaftliche und moraliſche Wohl des Ortes, der Gegend, der
Geſellſchaft ab. Sie gleichen Gemeinden, ja teilweiſe kleinen Staaten eher als Familien;
wo 1000—40000 Perſonen in einem Großbetrieb arbeiten, handelt es ſich direkt um
die Exiſtenz von 5000—200000 Menſchen, indirekt um noch viel mehr. Sie ſind,
auch in privaten Händen, dauernde Anſtalten mit halb öffentlichem Charakter; ſie
beherrſchen das Leben, das Gedeihen, die Exiſtenz ganzer Gegenden und Provinzen, ſie
beeinfluſſen oft ſogar die Staatsgewalt. Ihre Organiſation hat durch die neue Form des
Genoſſenſchafts- und Geſellſchaftsrechts, wovon wir gleich eingehender reden, durch die
ganze ſtaatliche Fabrik-, Bergwerks-, Arbeiterſchutzgeſetzgebung und die daran ſich knüpfende
ſtaatliche Aufſicht, durch die Fortbildung des Arbeitsvertrags, durch die feinere Aus-
bildung der Lohnzahlungsformen einen gemeindeartigen Charakter erhalten. Die
Entſtehung von Arbeiterausſchüſſen und Älteſtenkollegien in den Großbetrieben zum
Zweck der Verhandlung mit den Unternehmern über die Arbeitsordnung, die Lohnform,
die Hülfskaſſen und anderes, zur Verwaltung von Wohlfahrtseinrichtungen, zur Be-
aufſichtigung und Erziehung der jungen Arbeiter, hat beſcheiden die Anfänge einer Arbeiter-
vertretung in den Großbetrieben geſchaffen. Die Entſtehung der Gewerk- und Fach-
vereine hat natürlich zunächſt vielfach die ſocialen Kämpfe geſteigert und wird bis heute
von den Vertretern des patriarchaliſchen Syſtems nur als eine Hinderung der Autorität
angeſehen. Sie kann es gewiß ſein. Aber bei richtiger Leitung der Vereine und richtiger
Verhandlung mit ihnen können ſie, wie die daran ſich knüpfenden Einigungsämter und
Schiedsgerichte, eine Stärkung der Ordnung und Autorität und das beſte Hülfsmittel
werden, den Frieden wieder herzuſtellen.
Gewiß liegt der Hauptteil dieſer großen Aufgaben noch in der Zukunft. Wir
ſtehen mitten inne in dem Ringen nach den neuen beſſeren, aber auch viel komplizierteren
Formen des Großbetriebes. Wir werden ſie nur erhalten, wenn die leitenden und
die ausführenden Kräfte mehr und mehr auf einen höheren intellektuellen und moraliſchen
Standpunkt ſich ſtellen, in ihren geſamten Eigenſchaften ſich heben, wenn ſie fähig werden,
neben den Intereſſengegenſätzen die gemeinſamen Ziele zu ſuchen und zu verfolgen.
Aber unmöglich iſt hier nicht, was in der Gemeinde und im Staate möglich
war: eine friedliche konſtitutionelle Verfaſſung, wobei jeder Teil in ſeiner Sphäre gewiſſe
Rechte ausübt und Pflichten erfüllt.
[440]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
144. Die offenen Handels- und die Aktiengeſellſchaften. Wir haben
geſehen, daß an die Stelle der Einzelunternehmer heute in großer Zahl Kollektiv-
perſönlichkeiten treten: Staat und Gemeinde, Innungen und Vereine, Korporationen
der verſchiedenſten Art, vor allem aber die kaufmänniſchen Geſellſchaften und die neueren
Genoſſenſchaften, nebſt den höheren Zuſammenfaſſungen und Verbänden beider, die
Kartelle und Centralgenoſſenſchaften kommen da in Betracht. Von dieſen letzteren Formen
haben wir hier noch zu reden. Ihre raſche und großartige Entwickelung ſeit den letzten
50 Jahren ſcheint der ganzen Volkswirtſchaft und ſpeciell dem Charakter des Unter-
nehmungsweſens eine andere Geſtalt und Farbe zu geben.
Alle dieſe neueren Geſellſchaften und Genoſſenſchaften haben gewiſſe gemeinſame
Wurzeln und Züge. Sie knüpfen teils an ſehr alte ſippen- und familienartige Ver-
bindungen an, teils ſind ſie das Ergebnis neuerer Geſchäfts- und Kreditgepflogenheiten
und Inſtitutionen. Sie ruhen auf praktiſch wirtſchaftlichen Bedürfniſſen, aber ihre
Geſtalt iſt im einzelnen von den nach Zeit und Land verſchiedenen Rechtsſitten und
Geſetzen beſtimmt. Pſychologiſch ſetzen ſie die Entwickelung des modernen Erwerbs-
triebes und kaufmänniſcher Gewinnabſichten ſowie die Gewohnheiten der Geldwirtſchaft
voraus; aber das Charakteriſtiſche für ſie iſt die Verbindung dieſer Motive und Strebungen
mit höheren Gefühlen, mit Pflichttreue und Hingebung an engere oder weitere Kreiſe. —
Wir betrachten zunächſt das kaufmänniſche Geſellſchaftsweſen und zwar deren wichtigſte
Formen, die offene Handelsgeſellſchaft und die Aktiengeſellſchaft. Die unwichtigeren
Formen, wie die Kommanditgeſellſchaft, die neuen deutſchen Geſellſchaften mit beſchränkter
Haftung müſſen wir ebenſo übergehen, wie wir ſelbſtverſtändlich auf die Einzelheiten der
Geſetzgebung der verſchiedenen Länder nicht eingehen können.
In den antiken Staaten haben wahrſcheinlich zeitweiſe Bildungen dieſer Art ſich
auch in reicher Fülle entwickelt, aber ſie ſind unter dem Druck der zügelloſen egoiſtiſchen
Gewinnſucht, der Sklavenwirtſchaft, der ſpäteren großen fiskaliſchen Betriebe — abgeſehen
von den zu halb öffentlichen Korporationen gewordenen Steuer- und Domänenpacht-
geſellſchaften raſch — verkümmert und zurückgetreten; das ſpätrömiſche Recht kennt eigentlich
nur die Gelegenheitsgeſellſchaft für einzelne Spekulationen. Viel reicher hat in den
mittelalterlichen und neueren Staaten die langſamere pſychologiſche und ſociale Ent-
wickelung das Geſellſchaftsweſen ausgebildet.
Wir ſehen aus den uralten Fiſcher- und Schiffahrtsgenoſſenſchaften im Mittelmeer
und in den nördlichen Meeren vom 11.—18. Jahrhundert das Inſtitut der Schiffs-
partnerſchaft ſich entwickeln; es bildete ſich als ein Societätsverhältnis zwiſchen einer
kleinen Zahl von Perſonen; ſie gehören den beſitzenden, Handel und Schiffahrt treibenden
Klaſſen der Seeſtädte an; mehrere ſich perſönlich nahe ſtehende und auf die Geſchäfts-
führung Einfluß habende Partner umgeben den an der Spitze ſtehenden Patron, der
häufig Haupteigentümer des Schiffes iſt und es führt; die Anteile gelten als Kapital-
anlage und ſind beliebt, weil ſie leicht veräußerlich ſind.
Aus der Familien- und Hausgemeinſchaft entwickelt ſich zuerſt ſichtbar in Italien
vom 12.—14. Jahrhundert die Brot- und Arbeitsgemeinſchaft mehrerer Familienglieder,
welche gemeinſam einen Handel oder ein Handwerk treiben; ſie wächſt aber im 14. und
15. Jahrhundert durch Vertrag und Eintragung der Socii in ein öffentliches Geſellſchafts-
regiſter, durch die Ausbildung der Firma und des geſonderten Firmenregiſters über die
Familiengemeinſchaft hinaus, nimmt andere Socii auf, wird ſo zum Kerne der offenen
Handelsgeſellſchaft; dieſe verbreitet ſich dann vom 15.—18. Jahrhundert über ganz
Europa.
Daneben ſpielt in den italieniſchen Geſchäftshäuſern des 14.—16. Jahrhunderts
die Bezahlung der Handlungsgehülfen durch Gewinnanteile und das Kapitaldarlehen
gegen Gewinnanteil eine große Rolle: Verhältniſſe, die ſchon frühe vorkamen, zur
societas maris, der ſtillen und Kommanditgeſellſchaft führten und fähig waren, die
blühenden Handelsgeſellſchaften des 15.—18. Jahrhunderts mit größeren Kapitalien
und mit paſſenden Gehülfen zu verſehen. Nur auf dem Boden der ſtädtiſchen Kredit-
entwickelung jener Tage waren die beſten, meiſt befreundeten und verwandten Elemente
[441]Die Entſtehung des Geſellſchaftsweſens. Die offene Handels- und die Aktiengeſellſchaft.
des ſtädtiſch-kaufmänniſchen Patriciats fähig, die offenen Handelsgeſellſchaften, die
Kommanditgeſellſchaften und die großen Compagnien des 17.—18. Jahrhunderts, die
Vorläufer der Aktiengeſellſchaften, zu ſchaffen.
Die offene Handelsgeſellſchaft, wie ſie ſich im heutigen europäiſchen Rechte kon-
ſolidiert und in neuerer Zeit immer weiter ausgedehnt hat, gedeiht auch heute noch am
beſten in den Händen von Verwandten; ſie ſtellt den gemeinſamen Betrieb eines Geſchäftes
durch mehrere gleichberechtigte Geſellſchafter unter voller Haft derſelben dar. Eine
einheitliche Firma und ein vom Privatvermögen der Geſellſchafter getrenntes Geſellſchafts-
vermögen ſtellt die Einheit nach außen in viel ſtärkerer Weiſe als einſt in der römiſchen
societas her; Tod, Austritt, Bankerott eines Geſellſchafters endigt das Geſchäft nicht
notwendig; meiſt ſetzen es die Erben fort; die innere Einheit iſt am beſten gewahrt,
wenn die an ſich gleichberechtigten Socii doch einem, dem Vater, dem Älteſten oder
Fähigſten ſich thatſächlich fügen. Die offene Handelsgeſellſchaft erhält die Geſchäfte
durch Generationen, verſtärkt das Geſchäftskapital, verhindert Auszahlung an Miterben;
ſie ſetzt an die Stelle des einen mehrere Leiter, die paſſend ſich in die Geſchäfte teilen
können, während das Riſiko und der Erwerbstrieb doch ähnliche bleiben, wie im Privat-
geſchäft mit einem Leiter. Immer iſt die Schlagfertigkeit und Energie der Leitung
geringer; die inneren Reibungen bringen eine große Zahl der neugegründeten Handels-
geſellſchaften ſtets wieder zu raſcher Auflöſung. In Preußen waren in den achtziger
Jahren von 102000 — 111000 ins Handelsregiſter eingetragenen Firmen etwa der
vierte Teil, 21—25000 Handelsgeſellſchaften, von letzteren wurden jährlich 2300—3500
neu eingetragen, 1700—3100 gelöſcht. In Deutſchland zählte man 1882 51108, 1895
55239 offene Handelsgeſellſchaften, von welchen 32216 auf die Gewerbe mit 1,25 Mill.
Perſonen, 22426 auf Handel und Verkehr mit 0,21 Mill. Perſonen kamen. Im
Gebiete des Handels iſt dieſe Form des vergrößerten Leitungsapparates der Geſchäfte
älter, verbreiteter, ſchon bei geringerer Zahl der beſchäftigten Perſonen angezeigt; eine
offene Handelsgeſellſchaft umfaßt im ganzen hier 9—10, in den Gewerben 39—40
Perſonen; 1882 waren es 7 und 28.
Die Aktiengeſellſchaften ſind erwachſen aus der Geſchäftspraxis und den
Privilegien der großen Compagnien des 17. und 18. Jahrhunderts. Dieſe waren teils
im Anſchluß an die Sitten der älteren Handelsgeſellſchaften und Schiffspartnerſchaften
entſtanden, teils hatten ſie anderen Einrichtungen einzelnes entnommen: ſo die Teilung
eines großen Kapitals in viele kleinere, gleichgroße Anteile den älteren italieniſchen
Staatsanleihen, den gleichzeitigen Betrieb großer Handelsgeſchäfte nach gemeinſamen
Regeln und mit Unterſtützung gemeinſamer Einrichtungen denjenigen ſpäteren Handels-
gilden, die man als regulierte Compagnien bezeichnet; wie wir ſchon erwähnten, waren
das Genoſſenſchaften von Kaufleuten und Reedern, welche mit getrenntem Kapital und
auf Rechnung der einzelnen, aber unter einheitlicher Leitung von Vorſtehern einen
beſtimmten Zweig des Handels betrieben, ihre Gemeinſamkeit unter Umſtänden bis zur
Zuſammenlegung ihrer Fonds ſteigerten und auf gemeinſame Gefahr ihre Geſchäfte
machten. Viele der wirklichen Compagnien waren halb oder ganz Staatsanſtalten; einzelne
führten nur eine Scheinexiſtenz als private Handels- oder Produktionsgeſchäfte, ſie
waren in Wahrheit Staatsanleihen, wobei ein Gläubigerausſchuß die Verwaltung hatte.
Faſt alle waren mit ſtaatlichen Vorrechten, viele mit Handelsmonopolen verſehen; die
wichtigſten waren im Kolonialhandel erwachſen. Einzelne verfügten ſchon über ſehr
große Kapitalien und ein Perſonal von 10—30000 Perſonen (Matroſen, Schiffsperſonal,
kaufmänniſche Verwalter, Kolonialbeamte). Von den meiſten (55—100) iſt keine nähere
Nachricht zu erhalten. Sie wurden im 17. Jahrhundert ebenſo von Praxis und Theorie als
das wichtigſte Mittel, Handel und Induſtrie emporzubringen, gerühmt, wie von 1750 an
von der individualiſtiſchen Tagesmeinung verurteilt: die Mißbräuche der Beamten, die
Unterſchlagungen, die teure Wirtſchaft des großen Apparates hatte 1700—1800 viele
bis zum Bankerott gebracht. Von Savary bis zu A. Smith und Büſch hören wir
nur Verurteilungen des Syſtems; die franzöſiſche Revolution verbietet 1793 alle Aktien-
geſellſchaften; Büſch ſchließt ſich dem Ausſpruch eines Hamburger Kaufmanns an:
[442]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
„Cumpani is Lumperi“. Die individualiſtiſche Aufklärung kann ſich nicht denken, daß
eine Geſellſchaft von Kapitaliſten die richtigen Leiter finde: den Direktoren, ſagt Smith,
fehlt Fleiß, Umſicht, Fähigkeit, den Beamten die Ehrlichkeit; beide verwalten ja fremdes,
nicht eigenes Vermögen; ſie wirtſchaften leichtſinnig, wie die Kammerdiener reicher
Leute. Die Lähmung des Wirtſchaftslebens durch die Kriegszeit und die lange nach-
folgende Erholungszeit bis gegen 1830—40 ſchien ſolchen Stimmen recht zu geben.
Erſt von 1830—60 begann das Bedürfnis nach großen dauernden lebensfähigen Geſchäfts-
anſtalten mit rieſenhaften Kapitalien wieder ſich geltend zu machen: die neue Technik,
die neuen Verkehrs- und Krediteinrichtungen drängten dahin, ein neuer Aufſchwung
kam in das Aktiengeſellſchaftsweſen.
Die Geſetzgebung der meiſten Staaten verſuchte in wiederholten Anläufen, die
neuen Bildungen einem gleichmäßigen Rechte zu unterwerfen, die beſchränkte Haft der
Aktie einerſeits, die Entſtehung und die Pflichten der Organe der Geſellſchaft andererſeits
zu normieren, die Geſellſchaften einer gewiſſen Öffentlichkeit zu unterwerfen, z. B. dem
Zwange, ihre Geſellſchaftsberichte wahrheitsgetreu zu publizieren, ſich anzumelden und
in ein öffentliches Regiſter eintragen zu laſſen. Die älteren Geſetze knüpften die Entſtehung
meiſt noch an eine ſtaatliche Konzeſſion; doch ließ man dieſe 1844—85 in den meiſten
Staaten fallen; ähnlich die laufende Aufſicht durch Staatsbeamte. Nur für gewiſſe
Arten, z. B. Eiſenbahnen, Notenbanken, Verſicherungsgeſellſchaften u. ſ. w. behielt man
meiſt ſtaatliche Konzeſſion und Aufſicht bei. Die Freigebung ſuchte man durch ver-
ſtärkte Publizität und geſteigerte geſetzliche Normativbeſtimmungen über die Begründung
der Geſellſchaften, die Verantwortlichkeit der Gründer, der Vorſtände und Beamten
zu erſetzen.
Teils mit dem Wechſel der Geſetzgebung, teils mit den geſchäftlichen Aufſchwungs-
perioden hing die ſteigende Ausbreitung der Aktiengeſellſchaften zuſammen. Nach den
Mißbräuchen in den Epochen des geſchäftlichen Schwindels angeklagt und diskreditiert,
zeitweiſe abnehmend oder ſtillſtehend, haben ſie immer bald wieder zugenommen. Unſere
heutige Großinduſtrie, unſere großen Verkehrs- und Kreditanſtalten ſind ohne die Aktien-
geſellſchaft nicht zu denken. Was ſtellen ſie nun dar?
Die heutigen Aktiengeſellſchaften ſind von privaten Perſonen gegründete und ver-
waltete Vereine mit juriſtiſcher Perſönlichkeit, welche in der Weiſe feſte gleiche Kapital-
beiträge zu einem beſtimmten, genau fixierten Geſchäftszwecke zuſammenlegen, daß die
Mitglieder nur mit dieſen haften, ſie aber auch während des Beſtehens nicht zurück-
ziehen dürfen, daß Gewinn und Verluſt auf dieſe Beiträge verteilt wird, und daß die
Geſchäftsleitung durch Majoritätsbeſchlüſſe und Wahl von Vorſtänden nach dem Maß-
ſtab der Beiträge herbeigeführt wird. Die über dieſe Beiträge ausgeſtellten Urkunden
heißen Aktien, ſie lauten meiſt auf den Inhaber, ſind ſo leicht verkäuflich. Die Gleichheit
des Aktienbetrages ſchließt nicht aus, daß einzelne Mitglieder ſehr viele, andere ſehr
wenige oder nur eine Aktie haben. Meiſt gedeihen die Aktiengeſellſchaften am beſten, deren
Hauptaktienſtamm in wenigen geſchäftskundigen Händen iſt; wie überhaupt thatſächlich
das gleiche Recht jeder Aktie nur eine juriſtiſche Fiktion darſtellt; faſt überall handelt
es ſich um die Verbindung zwei ganz verſchiedener Gruppen von Aktionären: einerſeits
um die geſchäftsunkundigen Privatleute, die in der Aktie nur die Kapitalanlage ſehen, und
andererſeits um die geſchäftskundigen Aktionäre, welche die Initiative bei der Begründung
hatten, die Geſellſchaft und das Geſchäft beherrſchen und leiten. Die Aktiengeſellſchaft
hat ihre Wurzel im privaten Geſchäftsleben; einzelne durch Wahl berufene Geſchäftsleute
führen als Aufſichtsräte und Direktoren die Verwaltung in ähnlicher Weiſe wie
private Geſchäfte. Aber die Größe ihrer Zwecke, ihres Kapitals, ihrer dauernden Anlagen,
ihr großes Perſonal, ihre Tauſende von Arbeitern, oft ihre monopolartige Stellung
geben der Aktiengeſellſchaft, jedenfalls der größeren, thatſächlich eine halböffentliche
Stellung, eine Bedeutung, wie ſie ſonſt nur eine große Stadt- oder Kreisverwaltung
haben kann. Wie können dem ihre Organe gerecht werden?
Die jährlich einmal berufene, ein bis zwei Stunden tagende Generalverſammlung
der Aktionäre hat das wichtige Recht, den Aufſichtsrat und eventuell auch den Vor-
[443]Die Verfaſſung, die Vorzüge und Schattenſeiten der Aktiengeſellſchaften.
ſtand zu wählen, die Rechnung zu prüfen, die Gewinnverteilung zu genehmigen. Außer in
beſonderen Fällen erſcheinen aber die Aktionäre nicht; auch wenn ſie erſcheinen, beſtehen
ſie aus Kapitaliſten, die ſich nicht kennen, die verſchiedenen Berufen, Orten, Staaten
angehören. Die meiſten Generalverſammlungen ſind, ſo lange die Geſchäfte gut gehen,
ſchlecht beſuchte Komödien, die von den Leitern der Form wegen raſch abgeſpielt werden.
Aber die Generalverſammlung iſt nötig, um eventuell eine ſchlechte Leitung zu ſtürzen,
Mißbräuche zur Sprache zu bringen, eine Minoritat der Aktionäre in eine Majorität
zu verwandeln. Sie iſt das Organ der Stimmungsausgleichung zwiſchen den leitenden
Perſönlichkeiten und den rentenbeziehenden Kapitaliſten.
Der Schwerpunkt jeder Aktiengeſellſchaft kann nur in einer kleinen Zahl leitender
Perſönlichkeiten liegen; ſie gliedern ſich meiſt a) in den Vorſtand, der aus einem oder
mehreren Direktoren beſteht und mit Hülfe von Beamten die laufenden Geſchäfte führt,
b) in den Aufſichtsrat, welcher meiſt den Vorſtand wählt, ſich häufig verſammelt, die
wichtigſten Fragen mit dem Vorſtande entſcheidet und den letzteren kontrollieren ſoll.
Alles Gedeihen und alle Blüte der Aktiengeſellſchaften hängt davon ab, daß in dieſen
Organen die rechten Leute ſitzen, d. h. Leute mit ſo viel Geſchäftskenntnis, Energie,
Intereſſe zur Sache und Ehrlichkeit, daß ſie mit Geſchick, Hingebung und Treue für
die Geſellſchaft arbeiten. Sie müſſen teils gut bezahlt, teils durch großen Aktienbeſitz
intereſſiert ſein; ihre Pflichten müſſen privat- und ſtrafrechtlich, durch Inſtruktionen richtig
beſtimmt ſein. Sie und die wachſende Zahl der Beamten müſſen fähig ſein, gute Geſchäfte,
techniſche Fortſchritte, organiſatoriſche und kaufmänniſche Verbeſſerungen durchzuführen
und doch zugleich ſich als Verwalter fremden Vermögens, wie der Rechtsanwalt, der
Vormund, der Konkursverwalter, der Staatsbeamte zu fühlen. Es handelt ſich um
das ſittliche und pädagogiſche Problem, ob es möglich ſei, Leute zu finden und zu
erziehen, welche Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit mit Energie, Geſchäftsklugheit, Organi-
ſations- und Spekulationstalent verbinden.
Das Problem iſt deshalb ſo ſchwierig zu löſen, weil von der Gründung an für
dieſe Kreiſe die Möglichkeit vorhanden iſt, mit kleinen Unredlichkeiten oder gar nur mit
formal unantaſtbaren Schlauheiten große Gewinne zu machen. Man gründet Geſell-
ſchaften, nur um die Aktien mit Agio zu verkaufen, um eigene Kapitalien und Geſchäfte
der Aktiengeſellſchaft hoch anzurechnen; man übernimmt die Leitung, um ſich regelmäßigen
einträglichen Abſatz oder billigen Kredit oder ſonſt Vorteile der Art zu verſchaffen, um
eine Patronage für Verwandte auszuüben, um Aufſichtsratstantiemen ohne viel Arbeit
einzuſtreichen, die Miniſtergehalte überſteigen.
Aber trotz alledem bleibt es wahr, daß ſeit den Tagen der großen älteren Compagnien
es gut geleitete Aktiengeſellſchaften gab; es waren die, in welchen die ſogenannten
Hauptparticipanten, die großen und reichen Kaufleute, Reeder, Bankiers, welche die
Aktiengeſellſchaft gegründet hatten, auch dauernd den größeren Teil des Kapitals und die
Haupſtellen in der Leitung behielten, ſich verantwortlich fühlten. Seit die Gründung
von Aktiengeſellſchaften arbeitsteilig ein Hauptgeſchäft beſtimmter großer Banken ge-
worden iſt, erſcheint es als deren Pflicht und Ehre, für gute und pflichttreue Direktoren
zu ſorgen, einen leitenden nnd kontrollierenden Einfluß zu behalten. Viel kann auch
eine geſunde kaufmänniſche Preſſe und die ganze Öffentlichkeit, eine richtig geleitete
Börſenſpekulation thun, welche die Aktien je nach der Qualität der guten oder ſchlechten
Leitung wertet, ſowie eine Staatsverwaltung und Rechtſprechung, welche die Mißſtände
bekämpft und beſtraft. Im ganzen wird man immer ſagen können: ſo ſehr die Aktien-
geſellſchaften den Reiz zur Spekulation und Agiotage ſteigerten, große Mißbräuche in der
Gründung und Verwaltung ermöglichten, ſo iſt es doch nach und nach gelungen, anſtändige
und reelle Gepflogenheiten in den beſſeren Geſellſchaften zum Siege zu bringen, durch
ehrliche Direktoren und Aufſichtsräte, die zugleich Hauptteilhaber und große Geſchäfts-
talente waren, die ganze Inſtitution zu legitimieren.
Und ſo groß die Schattenſeiten auch heute noch ſein mögen, die Vorteile für die
Volkswirtſchaft zeigten ſich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ſtärker. Sie liegen in dem
großen Kapital und Kredit, welche nie von privaten Einzelunternehmern ſo zu beſchaffen
[444]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
ſind, in der ewigen Dauer der Anſtalten, in der ganz ſelbſtändigen Organiſation, in
der Fähigkeit, die größten Talente zu gewinnen, die neueſte und beſte Technik anzuwenden,
in der Belebung des Unternehmungsgeiſtes, in der Teilung des Riſikos, in der Heran-
ziehung des kleinen Kapitals zu den Gewinnen des großen. Die Aktiengeſellſchaften
haben ein neues, gewiſſermaßen höheres Element in das Getriebe der Volkswirtſchaft
eingeführt; die große Unternehmung in der Hand von Vertrauensmännern und Beamten
nähert ſich der Gemeinde- und Staatsverwaltung; ſie erhält den Charakter einer öffent-
lichen Anſtalt, ihre Leiter werden ſich allgemeiner Pflichten gegen die Geſamtheit mehr
und mehr bewußt, ſie behandeln häufig ihre Arbeiter beſſer als Privatunternehmer,
erheben die tüchtigſten zu Beamten. Und wenn die Form zunächſt am beſten paßte auf
Geſchäfte mit mechaniſch gleichmäßigem Betrieb, an die ſich ſchon allgemeine Intereſſen
knüpften, ſo zeigt doch die neueſte Entwickelung ihre Ausdehnung auf alle möglichen
Handels-, Verkehrs- und Induſtriegeſchäfte. Wo Staat und Kommune einen Teil des
Kapitals beſitzen oder die Ernennung der wichtigſten Direktoren und Beamten ſich
vorbehalten oder indirekt beherrſchen, da werden die Aktiengeſellſchaften vollends ein
Mittelding zwiſchen öffentlicher, gemeinnütziger Verwaltung und Privatgeſchäft.
Bei Staatsbanken, Eiſenbahnen und ſonſt hat ſich dieſe gemiſchte Organiſationsform
ausgezeichnet bewährt.
Eine gute, vollſtändige Statiſtik der Aktiengeſellſchaften giebt es nicht; aber doch
ſo zuverläſſige Nachrichten, daß wir ihre allgemeine Zunahme und ebenſo den großen
jährlichen Wechſel in ihrer Gründung, das raſche Verſchwinden zahlreicher Neugründungen
überſehen können.
In Großbritannien und Irland zählte man Neugründungen: 1844 119, 1845
1520, 1848 123, 1852 464, 1865 1001, 1868 443, 1873 1207, 1878 836, 1886
1809; von 31951 in den Jahren 1844—86 gegründeten Geſellſchaften beſtanden 1886
noch 9471. Im Jahre 1884 zählte man 8692 mit 475, 1895 19430 mit 1062 Mill. ₤
Kapital. Im Jahre 1885 hatte R. Giffen das ganze Volksvermögen auf 10037 Mill. ₤
geſchätzt; eine Annahme von 1887 geht dahin, ein Drittel des in der Induſtrie
angelegten Kapitals gehöre ſchon der Aktienform an. In Frankreich wurden 1840—65
jährlich nicht über 1 — 3 Dutzend Aktiengeſellſchaften errichtet, ſeither ſchwanken die
Zahlen zwiſchen 300 und 1000.
Im preußiſchen Staate entſtanden je in dem ganzen Zeitraume 1801—25 16,
1826—50 102, 1851—70 295, 1870—74 857, 1876—83 1620; die Zahl der für
Deutſchland im „Ökonomiſt“ nachgewieſenen Aktiengeſellſchaften war im Gründerjahre
1872 479, ging 1876—79 auf 42—45 zurück, ſtieg dann wieder bis 1883 auf 192, war
1885 wieder bloß 70, 1889 360, 1894 92 und ſtieg ſeither wieder dauernd; die Schwan-
kungen entſprechen den Konjunkturen; das jährlich neu aufgelegte Aktienkapital ſchwankte
in den letzten 20 Jahren zwiſchen 56 und 800—1000 Mill. Mark. Für das Jahr 1883
ſchätzt der „Ökonomiſt“ die beſtehenden deutſchen Geſellſchaften auf 1311 mit faſt
4 Milliarden Kapital, für 1890 auf faſt 3000 mit 5,6 Milliarden; heute dürften es 4 bis
5000 mit 8—10 Milliarden ſein. Wenn das deutſche Volksvermögen 175—200 Milliarden
Mark beträgt, ſo wären das etwa 5 %; es wären 10 %, die doppelte Zahl, wenn die
ſämtlichen Eiſenbahnen in Aktienhänden wären. Die öſterreichiſchen Geſellſchaften giebt
Juraſchek für 1866 auf 137 mit 689 Mill. fl., für 1893 auf 465 mit 1597 Mill. fl.
an. Die deutſche Gewerbeſtatiſtik zählt 1895 über 6000 einzelne Betriebe (nicht Unter-
nehmungen) von Aktien-, Aktienkommanditgeſellſchaften und Geſellſchaften mit beſchränkter
Haftung (darunter 4749 Aktienbetriebe) mit 0,9 Mill. Perſonen, alſo auf einen Betrieb
150 Perſonen. Über je 200 Perſonen beſchäftigten nur 3331 deutſche Gewerbebetriebe
überhaupt. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß dieſe großen Betriebe mit über 200 Perſonen
überwiegend einer dieſer drei verwandten Rechtsformen angehörten, in erſter Linie
Aktiengeſellſchaften waren.
145. Die neueren wirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. Während die
Handelsgeſellſchaften die Formen darſtellen, in welchen ſich die höheren handel- und
gewerbetreibenden Klaſſen das mit gemeinſamen Beſitz verbundene Zuſammenwirken
[445]Statiſtik der Aktiengeſellſchaften. Entſtehung der Genoſſenſchaften.
mehrerer an der Spitze der großen Unternehmungen geſchaffen haben, ſehen wir in den
neueren Genoſſenſchaften die Formen, in welchen die mittleren und unteren Klaſſen, die
Arbeiter, Handwerker, Bauern und Landwirte, ſich zu gemeinſamen Unternehmungen
zuſammenfanden. Es iſt ein überaus merkwürdiges, unſer volkswirtſchaftliches Leben
und Treiben gewiſſermaßen auf einen anderen Boden ſtellendes Princip, was hier ſich
durchringt. Freilich ſchon in der offenen Handels- und in der Aktiengeſellſchaft iſt es
nicht der egoiſtiſche Erwerbstrieb allein, der die Betriebe beherrſcht und ermöglicht, aber
doch hat er noch eine überwiegende Bedeutung. Die Genoſſenſchaft will auch geſchäfts-
mäßig verfahren und kaufmänniſch erziehen, aber ſie will ſtets zugleich auf brüderlichem
Geiſte beruhen, ihre pſychologiſchen und ſittlichen Elemente ſind um ein gutes Stück
andere als dort. Sie erwuchs in den Kreiſen der Geſellſchaft, in welchen der moderne
Erwerbstrieb noch nicht ſeine volle Ausbildung erhalten, die noch ſtärker von lebendigen
Gemeinſchaftsgefühlen beherrſcht waren. Sie entſtand in den Kreiſen, die von der
modernen Wirtſchaftsentwickelung bedroht waren. Die alten Mittelſtände in Stadt und
Land ſahen ſich in die Notwendigkeit verſetzt, entweder in den alten Betriebsformen
unterzugehen oder ſich techniſch und kaufmänniſch zu vervollkommnen und dabei ſich
genoſſenſchaftlich zu ſammeln. Die bereits zum Lohnarbeiter Herabgedrückten waren
dem Waren- und Wohnungswucher, dem Lohndrucke, der Ausbeutung ausgeſetzt. Mit
dem Siege der Geld- und Kreditwirtſchaft, der neuen Technik begann in dieſen Kreiſen
ein lebendiges Vereinsweſen zu erblühen, das zur Vorſchule für das Genoſſenſchaftsweſen
wurde. Ideale Apoſtel der Selbſthülfe und des genoſſenſchaftlichen Geiſtes, wie Schulze
und Raiffeiſen, ganze und halbe Socialiſten, wie R. Owen und Buchez, chriſtliche
Socialiſten, wie Maurice, Ludlow, Holyoake, V. A. Huber, ſtellten ſich an die Spitze
von kräftigen Agitationen, die eine Reform aller menſchlichen Motive, wie aller volks-
wirtſchaftlichen Organiſation erhofften. Von dieſen Idealen wurde nur ein Teil erreicht,
und konnte es nur ein Teil. Die Welt ließ ſich nicht plötzlich ändern. Das Geſchäfts-
leben läßt ſich nicht bloß auf ideale Antriebe gründen. Auch die ſogenannte „Selbſt-
hülfe“ konnte nur den Sinn haben, daß die Betreffenden ſich nicht rein von oben
organiſieren und leiten ließen, daß ſie mit männlicher Aktivität, wenn auch unter den
Impulſen aus höheren Kreiſen, ſelbſt Hand anlegten. Zu den idealiſtiſchen Strömungen
der hochherzigen Brüderlichkeit, die die Bewegung belebten, kam das erwachende Standes-
und Klaſſenbewußtſein, die radikale Entrüſtung über die Mißbräuche des Beſtehenden
und ebenſo die Hoffnung auf Gewinn und Dividende, auf beſſere und billigere Waren,
auf beſſeren Abſatz, erleichterten Verdienſt. Es geht nirgends in der Welt ohne die
Miſchung höherer und niederer Motive. Es kommt nur darauf an, die Miſchung zu
finden, welche die Menſchen nicht bloß wirtſchaftlich, ſondern auch moraliſch und geſell-
ſchaftlich vorwärts bringt und treibt.
Die teilweiſe ſchon 1820—50 verſuchten, 1850—70 in England und Deutſchland,
1870—1900 in allen wichtigeren Kulturſtaaten zu Hunderten und Tauſenden entſtandenen
wirtſchaftlichen Genoſſenſchaften (sociétés cooperatives, provident and industrial societies)
ſind Vereine überwiegend lokalen Charakters, deren Mitglieder zuerſt weſentlich den
unteren und mittleren Klaſſen angehörten; ſie ſchießen meiſt in kleinen Teilzahlungen,
oft mit Hülfe des Sparzwanges ein kleines Kapital zuſammen und begründen gemeinſame
Geſchäfte zur Förderung ihres Erwerbes und ihrer Wirtſchaft; weder das Kapital, noch
die Mitgliederzahl iſt geſchloſſen wie bei der Aktiengeſellſchaft: der Schwerpunkt der
Vereinigung liegt nicht, wie bei jener, im Kapital, ſondern in der perſönlichen Ver-
einigung; ſie faßt nicht 2—5 Geſellſchafter zu einem Geſchäft zuſammen, wie in der
offenen Handelsgeſellſchaft, ſondern Dutzende, oft Hunderte; ein gewählter Ausſchuß,
ein Vorſtand führt die Geſchäfte, nicht die Geſamtheit der Genoſſen, welche ihre Rechte
ausſchließlich in der Generalverſammlung ausübt.
Die Zwecke der Genoſſenſchaften ſind nun im einzelnen ebenſo verſchieden wie die
Zahl der Mitglieder und das Maß der Beteiligung, das die Genoſſen ihnen widmen.
Der Konſumverein iſt ein genoſſenſchaftliches Detailverkaufsgeſchäft, das an die Mitglieder
gute, unverfälſchte, preiswerte Waren verkaufen, ſie teilweiſe auch ſelbſt herſtellen, einen
[446]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Gewinn erzielen will, der an die Mitglieder meiſt nach dem Maße ihrer Einkäufe ver-
teilt wird. Die Vorſchuß- und Darlehnskaſſen, weſentlich dem Handwerker-, Klein-
kaufmanns-, Bauernſtande entſproſſen, ſammeln von ihren Mitgliedern in kleinen Bei-
trägen ein eigenes Kapital, entleihen daneben fremdes und geben damit den Genoſſen
Perſonalkredit. Die Rohſtoffgenoſſenſchaften kaufen Roh- und Hülfsſtoffe für Handwerker
und Landwirte ein, um ſie ihnen gut und billig zu liefern; ſie haben auf dem Lande
vielfach auch den Verkauf von Maſchinen und Geräten übernommen. Wo ſie dem
Landwirte ſeine Produkte abnehmen, werden ſie zu Verwertungs-, Kornhausgenoſſen-
ſchaften ꝛc. Die Magazingenoſſenſchaften ſuchen dem ſtädtiſchen Handwerker, z. B. dem
Tiſchler, den Abſatz ans Publikum abzunehmen. Einzelne ſchwierige Teile des techniſchen
Prozeſſes, häufig einſchließlich des Verkaufes, nehmen die Werkgenoſſenſchaften den kleinen
Produzenten, teilweiſe auch ſchon den mittleren und größeren Landwirten ab: ſo die
genoſſenſchaftlichen Mühlen und Bäckereien, die Schlächtereien, die Obſtverwertungs-
vereine, die Zuchtgenoſſenſchaften; am großartigſten haben ſich neuerdings die Molkerei-
und Winzergenoſſenſchaften entwickelt; ſie konzentrieren in techniſch vollendeten, gemein-
ſamen Anſtalten die Butter-, Käſe- und Weinbereitung und übernehmen den Vertrieb
für die Genoſſen. Die Baugenoſſenſchaften ſammeln teilweiſe nur Kapital, um es ihren
Mitgliedern zum Bau zu leihen, teilweiſe bauen ſie ſelbſt Einzelhäuſer, die ſie an
ihre Mitglieder vermieten oder verkaufen, oder große Logierhäuſer, die in erſter Linie
ihren Mitgliedern zur Miete angeboten werden. Die Produktivgenoſſenſchaften endlich
gehen weiter, ſie vereinigen eine Anzahl Schuhmacher, Schneider, Buchdrucker, Tiſchler,
teilweiſe auch Fabrik- und Erdarbeiter zu einem Geſchäft, in welchem die Genoſſen allein
oder mit Lohnarbeitern thätig ſind, mit eigenem und fremdem Kapital wie andere Unter-
nehmungen für den Markt arbeiten.
Wenn die Produktivgenoſſenſchaften bis jetzt am wenigſten gediehen, ſo iſt das
natürlich; die Leitung und Geſchäftsführung, die Gefahren und die inneren Reibungen
ſind am größten, viel ſtärker als bei den ſämtlichen anderen Formen, die nur dem
Arbeiter ſeine Familienwirtſchaft, dem Bauer und Handwerker ſein Geſchäft erleichtern
wollen, wie die Konſum- und Vorſchußvereine. Die meiſten Genoſſenſchaften ſind ſo
nicht ein Erſatz der bisherigen beſtehenden wirtſchaftlichen Organe und Geſchäfte, ſondern
nur Hülfsorgane für ſie. Die Genoſſen verlaſſen ihre Stellung und Lebensſphäre nicht,
ſondern treten nur zuſammen, um einen Aufſichtsrat und Vorſtand zu wählen, Beiträge
zu ſammeln, die Leiter zu kontrollieren.
Die Rechtsformen, welche erſt das praktiſche Leben und die Sitte für die Genoſſen-
ſchaften ſchufen, dann in Geſetzen fixiert wurden, ſind teils der offenen Handelsgeſellſchaft,
teils der Aktiengeſellſchaft entlehnt. Aber der Geiſt war doch ein anderer, an die alten
brüderlichen Sippen ſich anſchließender. Suchen wir ihn und in Zuſammenhang damit
die für Genoſſenſchaften ſo wichtige Solidarhaft kurz zu charakteriſieren und daran einige
Bemerkungen über die Verfaſſung der Genoſſenſchaften zu knüpfen.
Die übrige Geſchäftswelt, wo ſie einſeitig und ſchroff, ohne ſittliche Schranken
dem Erwerbstriebe folgt, arbeitet mit der Loſung: jeder für ſich, jeder gegen ſeinen
Bruder, und den letzten beißen die Hunde; die Genoſſenſchaft mit der Loſung: einer
für alle und alle für einen. Dort der volle Kampf ums Daſein, hier ſeine Aufhebung
im Kreiſe der Genoſſen und auch darüber hinaus reelle, gerechte Gegenſeitigkeit und
Ehrlichkeit; dort der Egoismus, hier die Sympathie, dort Niederwerfung der Schwachen,
hier Hebung und Erziehung derſelben. Dieſe Tendenzen finden nun ihren lebendigſten
Ausdruck in der ſolidariſchen Haftung aller Genoſſen für das Geſchäft. Sie ſetzt voraus,
daß man ſich kennt, ſchätzt und helfen will, ſie iſt voll und ganz im kleinen Kreiſe
von Gleichen und Bekannten angemeſſen; ſie gedieh ſtets beſſer in der kleinen Stadt,
im Dorfe, im Gebirge, als im Treiben der egoiſtiſchen Weltſtadt. Die Handwerker und
Kleinbürger deutſcher Mittelſtädte, das puritaniſch ernſte Geſchlecht der engliſchen Weber
und Fabrikarbeiter im gebirgigen Nordweſten, die Elite franzöſiſcher Induſtriearbeiter
und Werkmeiſter, jetzt die rheinheſſiſchen und weſtdeutſchen Bauern, ſie gaben den Kern
der Bewegung, ſie hatten die ſittliche Kraft für die Solidarhaft. Und ſie waren daneben
[447]Art, Zweck, Verfaſſung der Genoſſenſchaften.
doch ſchon ſo einſichtig und geſchäftsgeſchult, daß ſie begriffen, ihr Unternehmen könne
nur auf dem Boden modernen Geld- und Kreditverkehrs, kaufmänniſcher Buchführung
und Gewinnberechnung, ſolider Barzahlung, unter dem ſelbſt aufgelegten Joch des
Sparzwanges gedeihen.
Die Mehrzahl aller Genoſſenſchaften hat heute noch nicht mehr als 30 bis
300 Mitglieder, die an einem Orte oder in der Nachbarſchaft wohnen, ſich in die
Fenſter, in die Taſchen, in die Herzen ſehen. Sie nehmen nur auf, wer für ſie paßt;
ihr Verein erbt gleichſam den gemeinnützigen Geiſt der alten genoſſenſchaftlichen Gemeinde.
Wo aber die Mitglieder auf 1000, ja bis 20000 ſteigen, die in großen Städten oder
verſchiedenen Orten wohnen, da tritt die Solidarhaft in Widerſpruch zu den vorhandenen
ſittlich-pſychologiſchen Vorausſetzungen. Geſchäftlich war die Solidarhaft für den Konſum-
verein nie ſo nötig wie für die Kreditgenoſſenſchaft; ſtets waren die Ärmeren für die
Solidarhaft, die Reicheren für ihre Beſchränkung. In Deutſchland ſetzte Schulze durch,
daß bis 1889 keine Genoſſenſchaft ohne Solidarhaft in das amtliche Genoſſenſchaftsregiſter
eingetragen wurde. Dann ließ man auch bei uns, wie vorher ſchon in anderen Ländern,
ſolche mit beſchränkter Haftpflicht zu, um das Genoſſenſchaftsweſen auf weitere Kreiſe, auf
etwas höhere Schichten der Geſellſchaft auszudehnen, um Genoſſenſchaften von Genoſſen-
ſchaften als zuſammenfaſſende Organe möglich zu machen. Es hat ſich bewährt. Aber
die Blüte der Genoſſenſchaft liegt noch heute da, wo man an der Solidarhaft feſthält;
die Mehrzahl der deutſchen Genoſſenſchaften hat ſie heute noch.
Aus der Mitgliederzahl, ihrem Charakter und der Solidarhaft ergiebt ſich auch
die Verfaſſung und Verwaltung der Genoſſenſchaft. Das beſchließende Organ
iſt auch hier die Generalverſammlung; aber ſie tritt herkömmlich öfter zuſammen,
hat viel lebendigere Intereſſen und dadurch größeren Einfluß als in der Aktiengeſellſchaft.
Schulze ſuchte auf jede Weiſe ihre Bedeutung zu erhöhen. Wo unbeſchränkte Haftpflicht iſt,
darf jeder Genoſſe nur einen Anteil haben; und jeder verfügt, ob beſchränkte oder un-
beſchränkte Haftpflicht gilt, ob im erſteren Falle einer zehn, der andere einen Anteil habe,
über gleiches Stimmrecht in der Generalverſammlung. Nicht das Kapital und ſeine Größe
ſoll herrſchen, ſondern die Perſonen nach dem Gewicht ihres Charakters und der Güte ihrer
Gründe. Die Kapitalanteile ſind ohnedies meiſt klein, oft nur 2—10 Mark, neuerdings
freilich auch bis 100, 200, ja 500 Mark. Freilich konnte ſich das Gewicht der General-
verſammlung nicht gleichmäßig erhalten. Je größer ſie wird, deſto unfähiger zeigt ſie
ſich auch hier. Je bedeutſamer die Geſchäfte werden, deſto einflußreicher wird der
Vorſtand. Zwei oder drei Genoſſen führen das Amt des Vorſtandes, fünf bis ſieben
das eines Aufſichtsrates; ſie ſind in der kleinen Genoſſenſchaft meiſt noch unbezahlt; ſie
haften als Mitglieder ſolidariſch. Auch die bezahlten Rechner und ſonſtigen
Beamten läßt man Mitglieder werden, um ſie haften zu laſſen. Über die Frage,
wie weit man ehrenamtliche, unentgeltliche Dienſte, inwieweit man bezahlte, eventuell
mit Tantiemen gelohnte vorziehen ſoll, wird vielfach geſtritten; ebenſo über die Art
der Wahl, die Amtsdauer. Die Aufgabe iſt, die pflichttreue genoſſenſchaftliche Opfer-
bereitſchaft und Fähigkeit der beſten und intelligenteſten Mitglieder zu verbinden mit
der Erziehung einer genoſſenſchaftlich-kaufmänniſch geſchulten, pflichttreuen, bezahlten
Beamtenſchaft. Die Kontrolle, die der Aufſichtsrat führt, wird verſtärkt durch die
periodiſche Reviſion von angeſtellten Reviſoren, welche zuerſt in England entſtanden,
dann, von Schulze empfohlen, von den Genoſſenſchaftsverbänden übernommen, durch
das deutſche Geſetz von 1889 obligatoriſch gemacht wurde. Die Einordnung der
Genoſſenſchaften in Provinzialverbände, ihre Zuſammenfaſſung in große Anwaltſchaften
hat die Entwickelung in gleichmäßigen Bahnen gehalten und hat ſehr viel gethan, den
genoſſenſchaftlichen Geiſt und die geſchäftliche Solidität zu ſtärken und zu ſtützen. Die
Zahl der Konkurſe und der Veruntreuungen durch Vorſtände und Beamte iſt in der
Welt der Genoſſenſchaften unendlich viel kleiner als bei den Aktiengeſellſchaften und großen
Privatgeſchäften.
In Großbritannien haben ſich hauptſächlich die Konſumvereine, dann auch die Bau-
genoſſenſchaften entwickelt. Im Jahre 1830 ſoll es von erſteren ſchon 2—300 gegeben haben;
[448]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
1854 wieder 300 mit 25000 Mitgliedern: 1878 berichteten 1034, 1888 1204 Konſum-
vereine mit 0,5 und 0,8 Mill. Mitgliedern, jetzt wird eine Million längſt überſchritten
ſein. An Baugenoſſenſchaften zählte man 1887 2404 mit 0,6 Mill. Perſonen, 36 Mill.
eigenem, 15 Mill. fremdem Kapital. Seit den 60 er Jahren haben die Konſum-
vereine in Schottland und England zwei rieſenhafte Großhandelsgeſellſchaften errichtet,
welche im ganzen Reiche eigene Fabriken, eigene Seedampfer, Einkäufer in allen
Weltteilen haben.
In Frankreich hat die Genoſſenſchaftsbewegung 1832, 1848, 1863—69 und dann
wieder ſeit 1882 und diesmal kräftiger als früher eingeſetzt. Produktiv-Genoſſen-
ſchaften und Vorſchußvereine ſtehen im Vordergrunde. In Belgien hat ſeit den letzten
15 Jahren ſich die ſocialdemokratiſche Arbeiterbewegung der Sache bemächtigt und
geradezu Staunenswertes geleiſtet. In Italien, der Schweiz, Öſterreich geht das Genoſſen-
ſchaftsleben auch rüſtig voran.
In Deutſchland war der erſte Anſtoß Schulze-Delitzſch, ſeinen Vorſchußvereinen
und Handwerkergenoſſenſchaften von 1849—53 an zu danken: man ſchätzte 1863 1250,
1873 4100 Genoſſenſchaften mit 1,3 Mill. Mitgliedern, 140 Mill. Mark eigenem
Kapital, 2250 Mill. Mark Geſchäftsumſatz. Nun folgte ein gewiſſer Stillſtand, bis
in den 80 er Jahren die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften ihre ſelten glänzende
Ausdehnung und Entwickelung erfuhren; an ſolchen gab es 1890 3000, 1900
13000; die Geſamtzahl aller deutſchen Genoſſenſchaften wird jetzt 17000—18000
erreicht haben, von welchen drei Viertel noch die Solidarhaft haben; die Mit-
gliederzahl wird über 2 Mill. betragen. H. Crüger rechnete pro 31. März 1899
10850 Kreditgenoſſenſchaften, 1275 Rohſtoffgenoſſenſchaften (1193 landw.), 516 Werk-
genoſſenſchaften (482 landw.), 273 Magazingenoſſenſchaften (106 landw.), 1373 Konſum-
vereine, 244 Baugenoſſenſchaften, 2210 Produktivgenoſſenſchaften (2017 landw., haupt-
ſächlich Molkerei-, Winzer- ꝛc. Gen.). Von 927 berichtenden Kreditgenoſſenſchaften
wurden faſt 2 Milliarden Kredite 1898 gewährt. Die Genoſſenſchaften faſſen ſich in
eine Reihe von Provinzial- und Landesverbänden, in Centralkaſſen und ähnliche
Organiſationen zuſammen. Die preußiſche Centralgenoſſenſchaftskaſſe ſtützte ſich 1899
auf 7454 eingetragene Genoſſenſchaften mit 0,75 Mill. Genoſſen. Das preußiſche Ge-
noſſenſchaftskataſter zählte 1898 1,11 Mill. Der Raiffeiſenſche Neuwieder Genoſſenſchafts-
verband umfaßte 1. Juli 1899 12 Verbandsbezirke und 3273 Vereine.
Kann weder das eigene Kapital, noch die Zahl der von den Genoſſenſchaften direkt
beſchäftigten Perſonen mit denen der Aktiengeſellſchaften verglichen werden, ſo iſt ihre all-
gemeine Bedeutung für die Signatur der Volkswirtſchaft doch eine außerordentlich
große. Die Genoſſenſchaftsbewegung erſtreckt ſich mit ihren Folgen auf den ganzen
Mittel- und Arbeiterſtand, teilweiſe ſchon auch auf die höheren Schichten der Land-
wirte, der Konſumenten. Ihre allgemeine Bedeutung liegt in dem ſiegreichen Kampf
für ehrliche Geſchäftsmaximen, für Barzahlung, für Sparſamkeit, in der Bekämpfung
des Wuchers und der Warenfälſchung, in der geſchäftlichen und ſittlichen Erziehung
der unteren und mittleren Klaſſen, in der glücklichen Verbindung von Erwerbstrieb und
ſympathiſch-genoſſenſchaftlichen Gefühlen, auf denen ſie beruhen, die ſie fördern. Sie
können die Tauſende von teilnehmenden Kleinbürgern und Arbeitern nicht plötzlich zu
etwas ganz anderem machen; aber ſie heben ſie techniſch, geſchäftlich, ſocial empor; ſie
ſchaffen eine große Zahl von neuen Organen, die modern wirtſchaften, teilweiſe einen
vollendeten Mittel- und Großbetrieb haben und doch in Leitung, Mitgliedſchaft und
Beſitzanteilen bis in die unterſten Kreiſe herabreichen; ſie erhalten die beſtehenden kleinen
und mittleren geſunden Betriebe und füllen die ſociale Kluft zwiſchen den großen
Privatunternehmern und kleinen Leuten aus. Sie ſind im eminenten Sinne ein konſer-
vatives Element, das doch ausſchließlich dem ſocialen Fortſchritt dient und noch eine
große Zukunft hat.
146. Die Verbände der Händler und Unternehmer, die Kartelle,
Ringe und Truſts. Wo eine größere Zahl von Händlern und Unternehmern einen
Markt verſorgten, da haben ſie ſtets je nach Volkscharakter, je nach egoiſtiſchen und
[449]Würdigung der Genoſſenſchaften. Ältere kartellartige Bildungen.
ſympathiſchen Gefühlen, auch je nach Zeit- und Geſchäftslage einerſeits mit einander
konkurriert, andererſeits Anläufe gemacht, ſich zu verabreden und zu verbinden, um die
Konkurrenz zu ermäßigen, ſich gute Preiſe zu ſichern, fremde Konkurrenz, wenn es ging,
fern zu halten. Schon der älteſte Karawanenhandel zeigt ſolche Züge. In Oſtaſien wird die
unzweifelhafte partielle Überlegenheit des Chineſen über den Europäer darauf zurückgeführt,
daß erſterer faſt ſtets, letzterer ſelten in geſchloſſenen Organiſationen auf dem Markte
auftritt. Der ältere Handel zur See in gemeinſamen Flotten führte faſt ſtets zu einem
gemeinſamen gildenartigen Auftreten; wo Händler im Auslande Stationen und Nieder-
lagen erwarben, wie die Italiener des Mittelalters im Orient, die Hanſen im Norden
Europas, da haben ſie Verabredungen getroffen, den Markt nicht zu überführen. Die
mehr erwähnten regulierten Compagnien, welche vom 14.—17. Jahrhundert thätig waren,
wie die engliſche Staplergeſellſchaft, die wagenden Kaufleute und viele andere, waren
Geſellſchaften von Händlern und Reedern, deren jeder für ſich Geſchäfte machte, die
aber mit ihren Vorſtänden, Abgaben, Aufnahmeerſchwerungen weſentlich eine Konkurrenz-
regulierung erſtrebten, oft ſogar die Gewinne der einzelnen Geſchäfte ausglichen,
Gefahren auf die gemeinſame Kaſſe übernahmen; ſie waren etwas ganz Ähnliches wie
heute die Kartelle; ſie haben teilweiſe, wie die holländiſche und engliſche oſtindiſche
Compagnie, zuletzt ihre Kapitalien zuſammengelegt, ſich fuſioniert wie die heutigen hoch-
ausgebildeten Kartelle.
Daß auch die Zünfte eine örtliche Konkurrenzregulierung, Preishaltung, Be-
ſchränkung des Angebotes erſtrebten, haben wir geſehen, ebenſo daß die Salinen eine
ſolche Verfaſſung hatten; jahrhundertelang hat der Salzgraf in Halle a./S. jeden
Sonnabend die Pfänner verſammelt, um zu beſchließen, welches Quantum Salz jeder
die folgende Woche ſieden dürfe. Auch die ähnlichen Beſtrebungen der organiſierten
Verleger der Hausinduſtrie haben wir kennen gelernt. An die Monopole, Preis-
erhöhungen, engherzigen Ausſchließungstendenzen aller dieſer älteren Bildungen dachte
A. Smith, als er wehklagend von den Verſchwörungen der Unternehmer gegen das
Publikum ſprach, an ſie dachte die ganze individualiſtiſche Aufklärung, als ſie Beſeitigung
aller dieſer Verbände und Korporationen forderte und durchſetzte. Ihre früheren guten Seiten
kannte man nicht mehr. Man ſah von 1750—1870 nur, daß ſie, aus älteren techniſchen,
ſocialen und Verkehrsverhältniſſen ſtammend, die aufſtrebenden Talente abhielten, neue
größere und techniſch vollkommenere Unternehmungen zu ſchaffen. Freie Bewegung und freie
Konkurrenz war damals vor allem nötig. Und was im Moment richtig war, hielt man
für die ewig richtige Rechtsbaſis und Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Sah man doch, daß
die neuen am beſten geleiteten Unternehmungen, Handels- und Kreditgeſchäfte in leben-
digem inneren und äußeren Konkurrenzkampf emporkamen. Ihn zu fördern, jede Ver-
bindung von Händlern und Produzenten zu erſchweren oder zu verbieten, ſchien von
1789—1870 der volkswirtſchaftlichen Weisheit letzter Schluß; hatte doch ſchon das
römiſche Recht und ſeither oftmals die Geſetzgebung alle Preisverabredungen zu ver-
bieten geſucht.
Man erreichte mit dieſer Geſetzgebung, was zunächſt den Verhältniſſen entſprach,
eine Belebung der Konkurrenz, des Unternehmungsgeiſtes, aber nicht ein vollſtändiges
Verſchwinden aller gemeinſamer Marktverabredungen. Hatten ſich doch die alten Innungen
nur da aufgelöſt, wo man ſie verboten oder ihr Vermögen den Mitgliedern zur
Plünderung überwieſen hatte. In Frankreich ließ man die Bäcker- und Fleiſcher-
innungen bald wieder als kartellartige Inſtitute der Konkurrenzregulierung zu. Die
franzöſiſchen Syndikate der Unternehmer wuchſen 1840—84 ſchon in großer Zahl, ſeit
ihrer geſetzlichen Zulaſſung 1884 zu Hunderten. In Deutſchland ſetzte ſeit 1879 eine
neue Innungsbewegung ein, die in provinziellen und ſtaatlichen Innungsverbänden
gipfelte, und ihr parallel entwickelten ſich die Verbände der einzelnen Großinduſtrien,
welche ebenfalls in provinziellen und centralen Geſamtorganiſationen ſich zuſammenfaßten:
Generalſekretäre, große Büreaus, Fachzeitſchriften, Beeinfluſſung der Preſſe, der Handels-
kammern, der Parlamente, der Regierungen, große öffentliche Tagungen, das waren die
Mittel, mit denen man für die wirtſchaftlichen Sonderintereſſen der Gruppe wirkte. Die
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 29
[450]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Landwirtſchaft und der Zwiſchenhandel blieben nicht zurück und organiſierten ſich in
ähnlicher Weiſe. Wo ſchwache Miniſterien beſtanden, die ſich vor dieſen Organiſationen
fürchteten, da traten ſie um ſo kräftiger auf. Auch die amtlichen Intereſſenvertretungen,
die man ſchuf, Handels-, Landwirtſchafts-, Handwerkerkammern verſtärkten die Bewegung.
In Deutſchland hat man zum Zweck der Unfallverſicherung alle großen gewerblichen
Unternehmer in Berufsgenoſſenſchaften mit Unterverbänden gegliedert.
Wo die Arbeiter ſich in Gewerkſchaften verbunden hatten, war die notwendige
Folge, daß die Unternehmer zu Gegenverbänden zuſammentraten. Kurz, auf allen
Gebieten hatte ſich langſam und ſchüchtern von 1840—75, immer ſtärker ſeit 1875 eine
neue Vereins- und Verbandsorganiſation der Unternehmer und der Geſchäfte hergeſtellt.
Sie verfolgten vielfach die legitimſten Zwecke, zeigten ſich nützlich und förderlich für die
Intereſſen der Mitglieder. Von der Preis-, Abſatz- und Konkurrenzregulierung hatten
ſie ſich meiſt noch zurückgehalten, teils weil die Geſetzgebung dagegen war, teils weil
es dem Geiſte der Zeit widerſprach, ein ſehr dringliches praktiſches Bedürfnis noch
nicht vorlag.
Das wurde nach der großen Aufſchwungsperiode von 1850—73 und der ihr
folgenden jahrelangen Stockung anders. Die Märkte ſchienen allerwärts verteilt und
überführt, ein neuer Aufſchwung wollte lange nicht kommen; der übermäßige Konkurrenz-
druck hielt jahrelang an. Warum ſollte man nicht verſuchen, ſtatt allgemein über
Fachintereſſen zu debattieren, den entſcheidenden Punkt gemeinſam anzufaſſen: die Abſatz-
und Konkurrenzregulierung, die gemeinſame Preisfeſtſetzung, die Sorge für auskömmlichen
Gewinn, für genügende Verzinſung des Kapitals, für gleichmäßige Beſchäftigung der
Arbeiter. Man wußte nichts davon, daß Derartiges früher oft in großem Maßſtabe
geſchehen war. Man hatte ein dunkeles Gefühl, daß man mit ſolchem Beginnen, Mono-
pole ſchaffend, ein Unrecht thue; man hüllte ſich möglichſt in den Schleier des Geheim-
niſſes. Aber die Not drängte. Man handelte.
So ſind hauptſächlich von 1875 an die Kartelle, Konventionen, Ringe, Truſts
entſtanden und haben ſich allmählich eine feſtere Verfaſſung gegeben. Die vorſtehend
geſchilderten fachlichen Vereinigungen haben ſie in der Regel nicht direkt gebildet, wohl
aber ſie vorbereitet; auch die leitenden Bankkreiſe, die ihre finanzielle Seite geordnet,
oft ſie ins Leben gerufen haben, ſind nicht mit ihnen identiſch. Wir verſtehen unter
den heutigen Kartellen die durch beſondere, auf beſtimmte Zeit geſchloſſene Verträge
zwiſchen einer größeren Zahl von gleichartigen Unternehmungen hergeſtellten Ver-
bände; ſie haben den Zweck, durch Vereinbarung über Angebot, Preiſe und Verkaufs-
bedingungen die Größe der Produktion, den Markt und den Gewinn zu beherrſchen.
Wir rechnen die verwandten Gebilde, z. B. die Spekulantenringe, welche während kurzer
Zeit durch Aufkauf und Zurückhaltung einer Ware den Preis beſtimmen wollen, die
Syndikate von Banken zu Gründungen und Anlehensunterbringung nicht dazu. Die
Kartelle wollen dauernd die Warenproduktion beherrſchen und unter eine gewiſſe ein-
heitliche Kontrolle bringen; ſie ſtellen dauernde organiſche Einrichtungen der Volks-
wirtſchaft dar. Sie unterſchieden ſich von älteren analogen Anläufen, z. B. den Zünften,
den organiſierten Verlegern, den regulierten Compagnien dadurch, daß es ſich heute
nicht um Kaufleute und Kleinmeiſter, ſondern um Großbetriebe mit Maſchinenanwendung,
meiſt um Aktiengeſellſchaften mit ſehr großen Kapitalien und um ſehr viel größere Märkte,
um die Märkte ganzer Großſtaaten oder Weltteile handelt.
Die Kartellbildung beginnt mit teilweiſe harmloſen Verabredungen über Lieferungs-
bedingungen und endigt zuletzt da und dort mit vollſtändiger Fuſion, mit der Entſtehung
von Rieſenaktiengeſellſchaften, welche einige Dutzend bisher ſelbſtändiger Geſchäfte in ſich
vereinigen. Dazwiſchen liegen die verſchiedenſten Phaſen des Kartells mit wachſender Bin-
dung und Centraliſierung der Leitung. Da es ſich zunächſt um verſchiedene Intereſſenkreiſe,
um eine Reihe ſelbſtändiger Perſonen, um große und kleine, gut und ſchlecht eingerichtete
Werke handelt, da der Vorteil für die einzelnen ſehr verſchieden iſt, die ganz großen
Geſchäfte die Stütze des Kartells häufig nicht nötig haben, da mit dem Bruch der
Verabredungen für einzelne Geſchäfte oft große Gewinne ſich ergeben, ſo iſt klar, wie
[451]Entſtehung, Weſen und Verfaſſung der Kartelle.
ſchwierig die Verhandlungen ſein mußten, wie häufig ſie ſcheiterten, wie oft beſtehende
Kartelle ſich wieder auflöſten. Meiſt hat erſt die bittere Not 60—90 % der geſamten
Produktion des Gebietes auf den Standpunkt der Vereinigung hingedrängt; wenn nicht
ſo viele beitraten, war der Erfolg meiſt in Frage geſtellt. Auch iſt klar, daß nur
Geſchäfte ohne zu viel Schwierigkeiten ſich einigen konnten, die gleichmäßige, vertretbare
Waren, hauptſächlich Halbſtoffe erzeugen, wie Kohle, Eiſen, Schienen, Salz, Chemikalien,
Petroleum, Zucker, Branntwein oder Eiſenbahn- und Telegraphengeſellſchaften ꝛc. Die
Verſuche in der keramiſchen, Wirkwaren-, Chokoladen-, Glacéhandſchuhfabrikation ſcheiterten
bisher. Auch wo es ſich um Tauſende von kleinen und mittleren Produzenten handelt,
iſt die Sache ſehr viel ſchwieriger, als wo eine kleinere Zahl großer Fabriken den
Markt beherrſcht.
Die Phaſen der Kartellentwickelung laſſen ſich kurz ſo charakteriſieren: 1. Ver-
abredungen über Kreditgewährung, Zahlungsbedingungen und Ähnliches, 2. ſolche über
Maximalpreiſe, welche man für Rohſtoffe zahlt, über Minimalpreiſe, die man beim
Verkauf fordert; 3. Hinzufügung des Ehrenwortes und bald von Geldſtrafen bei Ver-
letzung, welche man durch hinterlegte Wechſel leicht einziehbar macht; auch das reicht
meiſt nicht aus; alſo 4. Verteilung des Marktes durch Demarkationslinien, die bei Strafe
eingehalten werden müſſen, und 5. Verabredungen über das einheitliche Vorgehen bei
Submiſſionen; nur ein Werk bietet, die anderen höchſtens zum Schein; 6. feſte Ver-
abredungen über die Größe der Produktion jedes Werkes nach ſeiner bisherigen Kapacität,
entweder überhaupt oder wenigſtens fürs Inland, häufig ſo, daß für Minderproduktion
eine Prämie gezahlt, für eine gewiſſe Mehrproduktion eine Strafe erhoben wird; dieſe
Verabredung verbindet ſich meiſt mit Preisfeſtſetzungen; 7. reicht auch das nicht, ſo wird
aller Verkauf der Produkte auf eine Centralſtelle übertragen, welche die Natur einer
gemeinſamen Agentur haben kann oder die einer ſelbſtändigen Aktiengeſellſchaft, deren
Aktionäre nur die beteiligten Werke ſein können. Iſt die Centraliſation ſoweit gediehen,
ſo können auch weitere Maßnahmen getroffen werden: die Stillſtellung teilnehmender
oder gepachteter Werke, der Ankauf von nicht beigetretenen, die Verhinderung der
Entſtehung neuer Werke, wobei man in den Mitteln teilweiſe nicht wähleriſch iſt.
Die juriſtiſche Natur der Verbindungen und der Centralſtellen kann ſehr ver-
ſchieden ſein; in Amerika hat man die Form gewählt, daß ein kleines Vertrauens-
komitee, die ſogenannten trustees, die Aktien der beteiligten Werke in die Hand und
damit die unbedingte Verfügung über Generalverſammlungen und Vorſtände, über
techniſches und kaufmänniſches Gebaren der Geſellſchaften bekommen; ſie ſtellen den
Aktionären an Stelle der Aktien Certifikate aus, oft im 2—4 fachen Betrag der Aktien,
um die gezahlten Dividenden niedriger erſcheinen zu laſſen.
Außer dem direkten Zwecke der Konkurrenz und Preisregulierung, der Herſtellung
von Monopolen und hohen Gewinnen haben die Kartelle in großartiger Weiſe Verſuchs-
ſtationen, Bibliotheken, Nachrichtenbureaus errichtet, den techniſchen Fortſchritt gefördert,
die Verkehrsanſtalten beeinflußt, die Regierungen und Parlamente, wie die öffent-
liche Meinung bearbeitet, oft auch mit enormen Summen einzelne Perſonen für ſich
gewonnen.
In Schutzzollländern war die Herſtellung der Kartelle durch die Abhaltung der
fremden Konkurrenz wohl etwas erleichtert; im ganzen haben ſie ſich in allen Ländern
mit maſchinellem Großbetrieb, ſtarker Konkurrenz, entwickeltem Verkehr gebildet. Am
weitgehendſten wohl in den Vereinigten Staaten, wo ſie auch die Politik und die
Eiſenbahnen am meiſten beherrſchen; es exiſtieren dort zahlreiche Truſts mit 60—90 Mill.
Dollars Kapital; aber auch in England, Frankreich, Deutſchland, Öſterreich, Italien
beſtehen zahlreiche Kartelle; in Deutſchland zählte man 1887 70, 1896 137. Eine
Reihe großer internationaler Kartelle beherrſchen den Weltmarkt, wie der amerikaniſche
Standart Oil Truſt, der die dortige Petroleumproduktion, und das Haus Rothſchild,
das die ruſſiſche kontrolliert. Jeder derartige Verband wirkt leicht darauf hin, daß
die mit ihm verkehrenden Produktionskreiſe ſich ähnlich organiſieren, um nicht bei jeder
Gelegenheit von der Übermacht des anderen Teiles gedrückt zu werden. Die Groß- und
29*
[452]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
die Detailhändler der betreffenden Waren ſinken leicht zu Agenten oder Kommiſſionären
oder gar zu Beamten der Kartelle herab.
Das Urteil über dieſe neue centraliſtiſche Ordnung großer Gebiete der Produktion
ſchwankt naturgemäß: die einen ſehen darin nur einen Rückfall in alte Mißbräuche und
Monopole, rufen nach Polizei und verbietenden Geſetzen; ſie klagen, daß die Konkurrenz
und die Gewerbefreiheit mit ihnen verſchwände, daß ſie die Preiſe und die Gewinne
unmäßig erhöhten, das Publikum ſchamlos ausbeuteten, einen ſteigenden Druck auf die
Arbeiter ausübten. Die alten Freihändler, der kleinbürgerliche Radikalismus urteilen
ſo; die Socialiſten, die Socialreformer, teilweiſe auch konſervative Politiker, vollends
die Vertreter des großen Kapitals ſehen auch die günſtigen Seiten und vielfach nur
dieſe. Als ſolche erſcheinen die großen techniſchen, Verkehrs- und Organiſationsfortſchritte,
welche die genialen Leiter vieler Kartelle herbeigeführt haben; manche derſelben ſind
freilich zugleich die geriebenſten Geldmacher, ja kaufmänniſchen Spitzbuben. Daß Miß-
bräuche im großen Maßſtabe ſich an einzelne Kartelle knüpfen, Preßkorruption, unlautere
Spekulation, Börſentreibereien, Ausbeutung des Publikums durch das Monopol, wird
ſich nicht leugnen laſſen. Die Verteidiger der Kartelle betonen aber vor allem, daß die
Preiſe durch die Kartelle teilweiſe ermäßigt, keineswegs allgemein erhöht wurden, daß
jedenfalls die großen Schwankungen in Produktion und Abſatz durch ſie ſehr ermäßigt
worden ſeien. Das iſt ihr weitaus wichtigſter Vorzug.
Im ganzen wird man ſagen können, ſie ſeien ſo ſegensreich oder ſo unheilvoll,
wie die Leiter maßvoll und ſtaatsmänniſch oder kurzſichtig und habſüchtig ſind. Die
Kartelle ſind eine Erſcheinung, die mit Notwendigkeit aus derſelben Tendenz erwuchs,
welche den maſchinellen Großbetrieb, den heutigen Verkehr, die Kreditentwickelung und
Spekulation ſchuf. Die Großbetriebe mit ihren feſten Anlagen auf Jahre, mit ihrer
notwendigen Spekulation auf die Zukunft mußten, durch gegenſeitige übermäßige Kon-
kurrenz gepeinigt, durch den Wechſel der Nachfrage und die Kriſen bedroht, auf den
Ausweg der Kartellierung kommen, gerade wo große kaufmänniſche und organiſatoriſche
Talente an der Spitze ſtanden. Die Kartelle wiederholen nur, was immer in ähn-
lichen Fällen früher geſchah, was auch heute auf der Börſe und ſonſt mit mehr Ver-
heimlichung und weniger Berechtigung vorkommt.
Es iſt ein Entwickelungsprozeß, der unſerer Zeit, ihren materiellen, wirtſchaftlichen
Bedingungen, ihren organiſatoriſchen Tendenzen entſpricht. Er kann entarten zu gefähr-
lichen monopoliſtiſchen Mißbräuchen, zu wucheriſcher Rieſenvermögensbildung für wenige.
Er kann aber auch in die rechten Wege gelenkt werden, wenn es beizeiten gelingt,
volle Öffentlichkeit in das Verfahren und in die Gewinnbildung zu bringen, und wenn
in die Leitung dieſer centraliſtiſchen Organiſationen mehr weitblickende und ſtaats-
männiſche Patrioten als Geldmacher und neben den Kapitalvertretern ſolche der
Allgemeinheit, Vertreter des Staates, vielleicht ſpäter auch einmal der Arbeiter kommen,
wenn die Monopolgewinne zu einem entſprechenden Teil der Allgemeinheit zugeführt
werden. Die Organiſation des deutſchen Kalikartells mit den in demſelben dem
preußiſchen Handelsminiſter vorbehaltenen weitgehenden Rechten iſt ein Beiſpiel für
richtige Staatseinmiſchung. Auch die Verfaſſung der deutſchen Reichsbank mit ihren
halb vom Staate berufenen, halb von den Anteilseignern gewählten Organen zeigt den
Weg, der zu gehen iſt. Die Verfaſſung der zu einem Rieſenbetrieb verſchmolzenen
Pariſer Omnibus- und Straßenbahngeſellſchaften zeigt, wie man Gemeinde und Staat
größere Vorteile als den Aktionären zuwenden kann. Es wird ſchwere Kämpfe geben,
bis dieſe Ziele erreicht ſind; die bisherigen Anläufe einer die Kartelle beſchränkenden
Geſetzgebung waren reſultatlos, waren hölzerne Schüreiſen. Nur große und ſtarke, die
Zukunft richtig erkennende Regierungen werden im Bunde mit einer geſunden öffentlichen
Meinung, mit den beſſeren Kräften der Kartellleiter und der Geſchäftswelt, ſowie mit
den aufgeklärteſten Arbeiterführern das Ziel erreichen: die Kartelle nicht zu vernichten,
ſondern ſie aus den heute teilweiſe falſchen Bahnen hinüber zu lenken in geſunde, ſo
daß ſie als die richtigen Organe einer höheren Form der vergeſellſchafteten Volkswirt-
ſchaft, als die berufenen centralen Steuerungsorgane der Produktion gelten können.
[453]Beurteilung und Würdigung der Kartelle.
Erinnern wir uns zugleich, wie neben den Kartellen weitere Teile der volkswirt-
ſchaftlichen Organe unter eine freiwillige, aber ſehr ſtark wirkende centraliſtiſche Leitung
kommen: die Genoſſenſchaften ſtehen unter der techniſchen, kaufmänniſchen und kredit-
mächtigen Kontrolle ihrer Verbände und Centralkaſſen. Das ganze Kreditſyſtem übt
in ſteigender Weiſe über alle Unternehmungen eine Kontrolle aus; man bucht bei allen
Kreditorganen die guten und ſchlechten Eigenſchaften jedes Geſchäftsmannes und erteilt
darnach Kredit. Jedes untere Kreditorgan kommt ſo in wachſende Abhängigkeit von
den höheren, die zuletzt in den großen Centralkreditanſtalten ſich zuſammenfaſſen. Das
Verkehrsſyſtem centraliſiert ſich nicht minder und ſchreibt durch ſeine Tarife und Be-
dingungen jedem Geſchäft vor, bis wohin es ſeine Waren bringen kann. Außerdem
erinnern wir an die oben (S. 319—321) geſchilderte ſtarke Zunahme der wirtſchaftlichen
Funktionen von Gemeinde und Staat.
So wird ſich nicht leugnen laſſen, daß auch durch das privatwirtſchaftliche Ge-
triebe wie durch die ganze Volkswirtſchaft heute ein centraliſtiſcher Zug geht; nicht
willkürliche Staatsintereſſen ſchaffen ihn, ſondern die Geſchäftswelt ſelbſt drängt dahin.
Nicht plumpe Reglementierung greift Platz, ſondern eine Anpaſſung und Fügung gegen-
über kollektiven Organen findet ſtatt, die über größere Talente und größere Erfahrung
verfügen, auf höherer Warte ſtehen. Die wirtſchaftliche Freiheit verſchwindet damit
nicht, aber an gewiſſen Stellen macht ſie allerdings der richtigen Leitung und Vorſchrift
von oben Platz. Nicht das Kapital hat dieſe centraliſtiſchen Organe erzeugt, ſondern
die fähigſten Geſchäftsleute und Staatsmänner bauen ſie auf, allerdings mit Hülfe des
Kapitals und der neuen Technik, aber ebenſo und noch mehr mit moraliſch-politiſchen
Eigenſchaften und Faktoren und unter dem Beifall der Maſſen, hauptſächlich der
Arbeiter. Was ſo entſteht, hebt nicht den Stand der privaten Unternehmer auf,
ſondern differenziert und gliedert ihn, giebt ſeinen Spitzen, ſeinen genialſten kaufmänniſchen
und techniſchen Talenten eine größere Macht und vermindert ſo die Fehlgriffe der
Produktion und des Handels, die nie ganz zu vermeiden ſind. Eine Volkswirtſchaft
ohne Kartelle produziert nicht anarchiſch, eine ſolche mit Kartellen nicht mit kommu-
niſtiſcher Centraliſation; der Gegenſatz iſt nur der, daß für die Vorausſicht und den
Überblick, der auch vorher auf dem Markt nicht ganz fehlte, an einigen Stellen beſſere,
einheitlichere und einflußreichere Vertreter durch die Kartelle entſtehen.
147. Schlußergebnis. Geſamtbild der geſellſchaftlichen Ver-
faſſung der Volkswirtſchaft, ſpeciell des Unternehmungsweſens. Die
heutige Volkswirtſchaft beruht auf dem Zuſammenwirken der Familie, der Unternehmung,
der Gemeinde und des Staates. Es ſind drei Gruppen von Organen, welche alle drei
nach innen gegliederte Einheiten mit einer gewiſſen friedlich harmoniſierten Verfaſſung,
nach außen egoiſtiſche Körper mit beſonderen Intereſſen darſtellen. Nur ruht die
harmoniſierte innere Verfaſſung bei der Familie überwiegend auf Sympathie, Verwandt-
ſchaft und Liebe, bei der Gebietskörperſchaft auf Nachbarſchaft, Staatsgefühl, Recht und
Zwang, bei der Unternehmung auf privatrechtlichen Verträgen, welche dem Erwerbstrieb
relativ freien Spielraum laſſen. Die Familienwirtſchaft will ihre Glieder menſchlich
mit wirtſchaftlichen Gütern verſorgen; aber auch ein großer Teil des Produktions-
prozeſſes, beſonders des landwirtſchaftlichen und des kleingewerblichen, ruht noch auf
ihr; ſie hat nicht dieſelben, aber doch auch gewiſſe Gewinnabſichten, wie die Unter-
nehmung. Dieſe hat einen ſteigenden Teil der Warenproduktion und des Handels
übernommen und führt dieſe Aufgabe, weſentlich durch Gewinnabſichten gelockt, in ihren
Betrieben durch, welche ihre Waren auf den Markt unter dem Spiel konkurrierender Kräfte
liefern. Man wirft ihr vor, ſie vergeſſe über den Gewinnabſichten alle Pflichten gegen-
über den Arbeitern, den Konſumenten, der übrigen Geſellſchaft; ſie diene dem Feind wie
dem Freund, verkaufe Scheren, die nicht ſchneiden, und Kleider, die nicht wärmen,
wenn ſie nur damit gewinne. Es iſt wahr, daß ſie in den Dienſt der Geſamtheit nur
auf dem Umweg des egoiſtiſchen Gewinnes tritt, daß dieſer auch zu vielem Mißbrauch
verleite. Aber 1. bleiben die Unternehmer durch Moral, Sitte und Recht beherrſchte
Menſchen, ſo viel ſie im einzelnen auch durch Habſucht fehlen mögen, und 2. iſt der
[454]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
dauernde Gewinn im ganzen doch nur möglich, wenn die Unternehmer die Bedürfniſſe
gut und preiswert befriedigen. Staat und Gemeinde ſind als Organe der Macht- und
Rechtsorganiſation entſtanden, mußten aber ſtets und mit ſteigender Kultur in erhöhtem
Maße gewiſſe Nachbarſchaftsbedürfniſſe befriedigen, ſich wirtſchaftlich in den Dienſt
größerer, höherer Bedürfniſſe (S. 318) ſtellen. Ihr Vorzug iſt es, daß ſie dabei gemein-
nützig wirken, an die Zukunft und die Geſamtintereſſen denken, mit ganz anderem
Nachdruck, mit einheitlichen Organen auf ihrem Gebiete auftreten können, in der
Regel gerecht verfahren, zu vielen Aufgaben der höheren wirtſchaftlichen Kultur teils
allein, teils beſonders geſchickt ſind. Aber die großen Anſtalten, die in ihren Händen
entſtehen, unterliegen dem Mißbrauch der Herrſchenden, ſind faſt ſtets ſchwerfällig und
vielfach teuer, ſie leiſten Gutes nur, wenn eine glückliche Entwickelung ein tüchtiges
Beamtenperſonal geſchaffen hat. Oft fehlt ihnen die rechte Kontrolle, wie ſie die Unter-
nehmung darin hat, daß der Markt ihr die ſchlechten und teuern Produkte nicht
abnimmt. Die wirtſchaftliche Staats- und Gemeindeanſtalt tritt thatſächlich oder rechtlich
meiſt monopoliſtiſch auf, wendet nicht immer aber vielfach den Zwang an; der Bürger
hat ihr gegenüber meiſt keine Wahl; ob ſie Ausgezeichnetes leiſtet und gerecht verfährt
oder nicht, ſie kann nur durch einen ſehr harten Druck der öffentlichen Meinung, durch
eine Änderung in den Regierungskreiſen in andere, in neue Bahnen gebracht werden,
was ſtets ſehr ſchwer iſt.
Die Familie iſt das älteſte, ſie bleibt das natürlichſte und einfachſte Wirtſchafts-
organ. Staat und Gemeinde ſind in ihren Macht- und Rechtsfunktionen gleichfalls ſehr
alt, in ihrer umfaſſenden wirtſchaftlichen Thätigkeit aber relativ jung, in ihrer Organi-
ſation ſtets kompliziert und ſchwierig herzuſtellen. Die Unternehmungen ſind das jüngſte
Organ; ſie ſind mit ihrem Appell an den wirtſchaftlichen Egoismus, mit ihrem auf die
Arbeitszeit beſchränkten Zuſammenwirken verſchiedener, ſich ſonſt fernſtehender Menſchen
ſchwieriger als die Familie, aber im ganzen doch viel leichter als die Wirtſchaftsanſtalten
von Staat und Gemeinde zu organiſieren. Wo ſie einen ſehr großen Umfang erreichen,
wird das Problem freilich viel ſchwieriger, teilweiſe ein der Gemeinde- und Staats-
bildung ähnliches. Aber ihr ſociales Gefüge bleibt doch erheblich loſer und beweg-
licher, und ihre Mißbräuche, ihr möglicher Zuſammenbruch ziehen die Geſamtheit nicht
ſo in Mitleidenſchaft wie die Fehler der Gemeinde- und Staatsanſtalten. Indem die
Verantwortlichkeit in der Unternehmung auf private Schultern gelegt wird, indem die
Unternehmer mit Ehre und Vermögen für ihr Thun einſtehen, gelingt hier eine Aus-
leſe der Perſönlichkeiten und eine Kräfteanſpannung, wie ſie der Staat und die Gemeinde
nicht ſo leicht oder wenigſtens nur auf den Höhepunkten moraliſch-ſocialer Zucht erzeugen:
der Staatsbeamte wird getadelt, verſetzt, ſehr ſelten kaſſiert, wenn er falſch gewirtſchaftet
hat, der Unternehmer macht Bankerott.
Familie, Gemeinde und Staat dienen noch anderen Zwecken, ſind nicht aus-
ſchließlich für das wirtſchaftliche Leben geſchaffen und eingerichtet, die Unternehmung
dient nur wirtſchaftlichen Zwecken, iſt ihnen ganz und voll angepaßt; ſie iſt das ſpecifiſche,
das differenzierteſte Wirtſchaftsorgan.
Die heutige Volkswirtſchaft bedarf gleichmäßig der drei Gruppen von Organen,
ihres Ineinandergreifens, ihrer Arbeitsteilung, ihres Zuſammenwirkens. Jede Gruppe
ruht auf anderen pſychologiſchen Motiven, auf anderen Sitten und Rechtsregeln, hat
ihre Vorzüge und Nachteile, ihre große geſellſchaftliche und wirtſchaftliche Funktion, in
der ſie unerſetzlich iſt. Keine dieſer Gruppe wird mit ihrem eigentümlichen Leben,
mit ihren beſonderen Aufgaben verſchwinden. Die Familie hat viel an die Unter-
nehmung abgegeben, aber ebenſo Wichtiges iſt ihr geblieben; neue höhere Aufgaben ſind
ihr zugewachſen. Gemeinde und Staat haben zeitweiſe manches, was ſie früher in der
Hand hatten, den Unternehmungen abgegeben, anderes ihnen neueſtens wieder mit Recht
entzogen; ihr Hauptgebiet in Bezug auf das wirtſchaftliche Leben ſind die neuentſtandenen
höheren centralen Aufgaben, wie Schule, Verkehr, Kredit, Verſicherung, denen die private
Unternehmung nicht ebenſo gewachſen iſt. Die Unternehmung hatte erſt der Familie,
dann auch dem Staate manches abgenommen; ſo vieles man ihr nahm, ihr Umfang
[455]Die Teilung der wirtſchaftlichen Funktionen zwiſchen Familie, Staat und Unternehmung.
iſt ſtets gewachſen; der Volkswirtſchaft des 19. Jahrhunderts gab ſie die Signatur.
Wenn ihre Groß- und Rieſenbetriebe ſich der Gemeinde und dem Staate genähert haben,
ſo geſchah dies mehr in der äußerlichen Verfaſſung, in der Behandlung der dienenden
Kräfte, teilweiſe auch in dem Monopol, das viele erlangen; es erſcheint nur erträglich in
Privathänden, wenn die Anſtalten große Pflichten übernehmen, einen erheblichen Gewinn-
anteil an die Geſamtheit abgeben. In der freien Bewegung, in der Möglichkeit, ohne
zu viel Zwang, Rechtsſchablone, parlamentariſche Streitigkeit zu verfahren, in der Not-
wendigkeit, kaufmänniſch ſich dem Angebot, dem Markte anzupaſſen, bleibt die Aktien-
geſellſchaft und das Kartell vom Staatsbetrieb verſchieden und ihm überlegen. Für alle
kleinen Unternehmungen, für die gewöhnliche landwirtſchaftliche und gewerbliche Güter-
produktion, die gewöhnlichen Handelsgeſchäfte wäre die Kommunaliſierung und Ver-
ſtaatlichung eine verteuernde Abſurdität, eine künſtliche Erzeugung von Reibung, von
Schwerfälligkeit, von Umwegen, wie wir ſchon oben (S. 321—324) ſahen.
So Vieles ſich alſo in der geſellſchaftlichen Verfaſſung der Volkswirtſchaft in den
letzten Jahrzehnten geändert hat, ſo ſehr, wie wir eben ſahen, durch ihre komplizierteren
Teile ein Zug der Centraliſation geht, ſo wenig ſpricht die Wahrſcheinlichkeit dafür,
daß in abſehbaren Zeiten eine ganz ſocialiſtiſche oder kommuniſtiſche Verfaſſung ſiegen
werde. Gewiß, die ſocialiſtiſchen Einzelzüge werden da und dort noch wachſen, und wer
das nicht begreift, ſollte heute weder als Miniſter, noch als Parlamentarier weiter eine
Rolle ſpielen, aber ebenſo ſicher werden die verſchiedenen wirtſchaftlichen Aufgaben
immer verſchiedene Organiſationsprincipien erzeugen, und das Reſultat wird nicht eine
centraliſtiſche Rieſenwirtſchaft des Staates, ſondern das komplizierte Nebeneinander-
beſtehen und Zuſammenwirken verſchiedener Organe, verſchiedener Motive, verſchiedener
Inſtitution ſeien.
Nur ſchablonenhafter Doktrinarismus kann es überraſchend oder gar widerſpruchs-
voll finden, daß heute neben Staatsbahn, Staatspoſt und Staatstelegraphen große
private Kartelle und Aktienbetriebe, neben zahlreichen kommunalen Wirtſchaftsbetrieben
die Einzelgeſchäfte und die Genoſſenſchaften, neben Großinduſtrie und Fabrik Haus-
induſtrie und Handwerk, neben den großen Gutsbetrieben die Bauern- und Parzellenwirt-
ſchaften ſtehen, daß ſich neben der Produktion für den Markt in breiter Weiſe die Eigen-
wirtſchaft, neben koſtenloſer Darreichung einzelner Leiſtungen die überwiegende Bezahlung
der Waren und Leiſtungen erhält. Jede Form und Art des wirtſchaftlichen Lebens
hat ihre Bedingungen und Vorausſetzungen und erhält ſich, wo letztere vorhanden ſind.
Der Großbetrieb, das Kartell, der Staatsbetrieb iſt an manchen Stellen dem Klein-
betrieb, dem Privatgeſchäft ſehr weit überlegen, aber produziert an anderen teurer und
nicht beſſer. Alle höheren Formen der wirtſchaftlichen Organiſation haben zu ihrer
gedeihlichen Wirkſamkeit höhere pſychologiſche und inſtitutionelle Vorausſetzungen, ſo
daß ſchon deshalb die Entwickelung derſelben nur eine langſame, von Rückſchlägen
begleitete, in gewiſſen feſten Grenzen ſich bewegende ſein muß. —
Wirtſchaften heißt, die äußeren materiellen Mittel für unſere Exiſtenz beſchaffen.
Der einzelne Menſch that es einſtens allein, und zwar auf die direkteſte Weiſe und
im Augenblicke des Bedarfs. Alle höhere Kultur beſteht darin, die Mittel gemeinſam,
geſicherter, auf indirekte Weiſe und ſo im voraus zu beſchaffen, daß die Menſchen nicht
Not leiden. Alle höhere Technik, alle Anwendung früherer Mittel (des Kapitals) bei
der Beſchaffung hat dies im Auge. Für viele Jahrtauſende war die Wirtſchaft und
die Technik der Familie und ihre Vorratshaltung das beſte und faſt das einzige
Mittel, um reichlich und nachhaltig die Bedürfniſſe zu befriedigen. Aber das Organ
reichte doch nicht ganz aus, die Wechſelfälle der Natur zu beſchwören, die Bedürfniſſe
der größeren differenzierten Geſellſchaften zu befriedigen. Die Gebietskörperſchaften
und ihre Spitzen waren fernſichtiger, reicher, kräftiger; ſie konnten zuerſt Heer-, Gerichts-
weſen und Verwaltung, dann auch eine Summe rein wirtſchaftlicher Aufgaben über-
nehmen, aber ſie erlahmten doch bald wieder auf letzterem Gebiete, weil die führenden
Spitzen ſich zu viel aufgeladen hatten, weil ihre Organe den meiſten wirtſchaftlichen
Bedürfniſſen zu fern ſtanden und ſie nur mit allzugroßem Aufwand und Mißbräuchen
[456]Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
aller Art, oft mit ungerechter Verteilung an die Bürger befriedigen konnten. Sie gaben
deshalb von 1750—1870 den privaten Unternehmungen wieder freiere Bahn; die
heutige Güterverſorgung, die heutige Technik, der heutige Verkehr konnten damit entſtehen.
Erſt neueſtens, als die Schattenſeiten und Mißbräuche der Unternehmungen ſtark hervor-
traten, haben Staat und Gemeinden ſie teils unter Kontrolle geſtellt, teils ihnen gewiſſe
Funktionen wieder abgenommen. Die Unternehmungswelt erwuchs von 1750 bis zur
Gegenwart zu ſolcher Größe und Leiſtungsfähigkeit, weil ſie einen ſteigenden Perſonen-
kreis, wachſende Kapitalien zu einheitlichem wirtſchaftlichem Effekt zuſammenfaßte und
doch frei auf dem Markt ſich bewegte, durch die Gewinnchancen zu höchſter Anſtrengung
veranlaßt wurde. Sie verlangt auf dem Markte Erſatz ihres Aufwandes und Gewinn,
ſie richtet ſich nach den erzielten Preiſen. Erſetzen die Preiſe den Aufwand, die Koſten
nicht, ſo ſtellt ſie die Produktion ein oder ſchränkt ſie ein, weil ſie den Verluſt nicht
ertragen will; erſetzen die Preiſe die Koſten reichlich, ſo ſteigt der Gewinn, und dieſes
Steigen des Gewinnes verlockt die Produktion zur Ausdehnung. So entſtand mit der
Unternehmung jenes freie Spiel von Verträgen, von Zu- und Abnahme des Angebots
und der Nachfrage. Der Handel kommt hinzu, die Vorräte an den rechten Ort, zu
rechter Zeit zu bringen, die Vorratshaltung zu übernehmen; auch das geſchah mehr
und mehr am leichteſten, wenn die Unternehmung es übernahm. Ein Mechanismus
der freien geſellſchaftlichen Marktverſorgung entſtand, der durch das ſtete Steigen und
Fallen der Preiſe, durch die Gewinnprämie für richtige, billige, gute Produktion, die Ver-
luſtſtrafe für falſche, zu teure ſchlechte Produktion den größeren Teil der Warenerzeugung
und den Handel in den rechten Bahnen erhielt. Natürlich nur in dem Maße, wie
das nach der Größe und Iſoliertheit des Marktes, nach der Fähigkeit der Menſchen,
nach den Zufällen der Natur und des Schickſals möglich war. In kleinen Staaten
und Gebieten war es leichter als in großen Nationalſtaaten und gar in der heutigen
Weltwirtſchaft. Mit der Kompliziertheit der Technik, den Entfernungen des Verkehrs,
der wachſenden Größe der Betriebe wurde die Produktion für den Markt und die Vor-
ratshaltung in der Hand der Unternehmer auf der einen Seite freilich erleichtert, auf der
anderen aber wurde die Beurteilung des Bedarfs erſchwert, weil man für die ganze Welt
und die ferne Zukunft ſpekulativ ihn faſſen ſollte. Daher neben der beſſeren Verſorgung
im ganzen doch die wachſenden Klagen über Kriſen und Arbeitsloſigkeit, über Hauſſe
und Baiſſe. Die harte Korrektur der falſchen Spekulation und Produktion durch
Bankerotte mußte als ſtarker Mißſtand empfunden werden. Unlautere Gewinnabſichten
konnten in das immer kompliziertere Spiel des Marktes leichter eingreifen. Schamloſe
Gewinnſucht, rückſichtsloſe harte Konkurrenz, brutale Niederwerfung der Schwachen konnte
ſündigen, wie kaum je früher.
Der Socialismus erklärte deshalb: die Unternehmung taugt nicht; ſie will nur
Wuchergewinn machen; ſie iſt herzlos und gleichgültig; ſie verſagt, wenn der Gewinn
auf 1—2 % ſinkt, ſie wird erſt bei 10 % kühn, bei 50 % waghalſig, bei 100 % ſtampft
ſie alle menſchlichen Geſetze unter die Füße, bei 300 % erlaubt ſie ſich jedes Verbrechen.
Gewiß liegen nach dieſer Seite die dunkeln Schatten der Unternehmerthätigkeit. Aber
es iſt nicht falſch, daß ſie bei 1 % erlahmt, bei 8—10 energiſch wird; zu mehr kommt
ſie nur ſelten. Es iſt eine Verkennung aller menſchlichen Natur zu verlangen, daß der
Menſch nicht nach Gewinn ſtrebe, nur muß die Moral- und die Rechtsregel dieſes
Streben im Zaume halten. Durch Rieſengewinne laſſen ſich nicht bloß Unternehmer,
ſondern die meiſten Menſchen beſtechen.
Über einen Teil der Unvollkommenheit der bisherigen Unternehmungen können die
Kartelle mit ihrer nationalen und internationalen Ausdehnung uns weghelfen. Ihre
Schattenſeiten und Monopolmißbräuche verſchwinden, wenn ſie in die rechte Verfaſſung
gebracht werden. Ob es omnipotente, ſtaatliche, kommuniſtiſche Organiſationen
beſſer vermöchten, zumal in wechſelnd demokratiſchen Händen, das iſt eben die Frage, welche
die Socialiſten bejahen, alle Kenner der Geſchichte und der Menſchen verneinen. Noch
viel unwahrſcheinlicher iſt, daß es gelingen ſollte, eine ſocialiſtiſche Centralleitung
der Weltwirtſchaft zu ſchaffen, was doch bei der heutigen geographiſchen Arbeits-
[457]Die Unternehmer unter der Kontrolle der Preiſe und dem Drucke der Geſamtintereſſen.
teilung nötig wäre, wenn man die Unternehmungen und Kartelle überflüſſig machen wollte.
Und daher erſcheint die Verfaſſung der Volkswirtſchaft heute als die normalſte, welche
die Bedürfnisbefriedigung, die über die Familienwirtſchaft hinausgeht, zwiſchen den
Gebietskörperſchaften und den Unternehmungen teilt, ſo daß beide Syſteme einander
ergänzen. Die Vorzüge des einen Syſtems werden dabei ſtets als Vorbild für das
andere, ihre Fehler als abſchreckendes Mittel wirken. So weit die Güterproduktion
und der Handel in privaten Händen, in denen von kleinen und großen Geſchäften bleiben,
werden ſie allerdings immer mehr unter die indirekte Kontrolle der Geſamtheit und des
Staates kommen. Dieſe wird durch die ganze Handels-, Verkehrs-, Social-, Bau-,
Markt-, Geld-, Kreditpolitik, wie durch die Thätigkeit der großen ſtaatlichen Wirtſchafts-
inſtitutionen ausgeübt. Sie entſteht ferner in gewiſſer Weiſe dadurch, daß immer mehr die
Maſſe der Bürger Aktien und Anteile von Geſellſchaften und Genoſſenſchaften in Händen
hat, und daß die organiſierten Arbeiter einen gewiſſen Einfluß auf die Unternehmungen
erhalten. Die Verantwortlichkeit und Freiheit der Unternehmer kann und ſoll dabei
aber im ganzen fortbeſtehen; nur die Schranken ſollen ihrer Gewinnſucht gezogen,
die Direktiven ihrem Handeln gegeben werden, die im Geſamtintereſſe der Nation und
ihrer geſunden Entwickelung liegen.
Je mehr ſo ein wirklich großes Unternehmertum entſteht, wird es im Einklang
mit dem Staat und den unteren Klaſſen ſich fühlen können, wird es einſehen, daß man
die Volkswirtſchaft oder den wichtigſten Teil derſelben nicht leiten kann ohne große
öffentliche Pflichten zu erfüllen, ohne daß die großen Unternehmungen — auch ohne
Staatsanſtalten zu ſein — im Geiſte der großen allgemeinen Intereſſen und nicht im
Geiſte habſüchtiger Bereicherung geführt werden müſſen.
Eine wachſende Vergeſellſchaftung und Centraliſation wird dabei vorhanden ſein,
aber nicht in der Art, daß Staat, Gemeinde und Unternehmungen zuſammenfallen,
ſondern in der, daß die reformierte Unternehmungswelt, einſchließlich der Genoſſen-
ſchaften und Kartelle, ſich immer mehr in einheitlichen Spitzen zuſammenfaßt, daß neben
und über ihr die politiſchen Gewalten ebenſo einer zunehmenden Centraliſation unter-
liegen. Nur an gewiſſen oberſten Stellen wird die Geſchäftswelt ſich der Staatsgewalt
unterordnen müſſen. Soweit Gemeinde und Staat unternehmerartig auftreten, werden
ſie aber auch am beſten verfahren, wenn ſie ihren Verkehrs-, Kredit-, Verſicherungs-
anſtalten, ihren eigentlichen Geſchäftsbetrieben eine gewiſſe Selbſtändigkeit gegenüber den
politiſchen Gewalten geben. Vor allem den Staatseiſenbahnen, den großen Central-
banken thut das not.
So wie die Menſchen heute ſind und in abſehbarer Zeit bleiben, iſt die auf
eigene Verantwortung wirtſchaftende, das Riſiko tragende Unternehmung mit den ſie
bedingenden Inſtitutionen, auch mit all’ ihren Spekulationsſünden, mit all’ ihrer die
Habſucht ſteigernden Tendenz, mit ihrer ſocialen Wirkung und ihrer Beeinfluſſung
der Einkommensverteilung doch das notwendige Inſtrument, welches in den ent-
ſcheidenden Kreiſen das höchſte Maß von wirtſchaftlichen Fähigkeiten, von Fleiß und
Energie, von techniſchem und organiſatoriſchem Fortſchritt erzeugt. Sie iſt zugleich die
geſellſchaftliche Form, welche in breiten Schichten diejenige perſönliche Freiheit und
wirtſchaftliche Unabhängigkeit ermöglicht, die nur der eigene Beſitz, das Vertrauen auf die
eigene Kraft und auf ſelbſtändige Leiſtungen geben kann.
Wir mögen unſer Beamtentum und ſeine großen Tugenden, unſere liberalen Berufe
mit ihrem Idealismus, unſer Bauerntum mit ſeinen kernhaften Muskeln und ſchlichten
Gemütseigenſchaften, unſere aufſtrebende Arbeiterwelt mit ihrem Bildungstrieb, ihrer
techniſchen Tüchtigkeit, ihrer aufopfernden Vereinsthätigkeit noch ſo hoch ſchätzen, ſie
bedürfen als Ergänzung der ganz anders gearteten, aber nicht minder wertvollen pſycho-
logiſchen und geſellſchaftlichen Kräfte der Geſchäftswelt ebenſo, wie dieſe ohne jene
anderen geſellſchaftlichen Kräfte und Tendenzen nicht glücklich wirken könnte.
[[458]]
Appendix A Regiſter
zum erſten Teil des Grundriſſes.
Die Zahlen geben die Seiten an. — Dehnt ſich die Erörterung des Themas über mehrere Seiten aus, ſo iſt nur die
erſte und letzte Seitenzahl, getrennt durch einen ſchrägen Strich, genannt, z. B. 1/4. — Zur Erleichterung des Auf-
findens iſt der Seitenzahl eine kurze Andeutung des Zuſammenhanges beigefügt, in dem das Stichwort behandelt wird;
bei nur einmaligem Vorkommen des Stichwortes iſt die Angabe des Zuſammenhanges unterblieben. — Ä iſt bei Ae,
Ö bei Oe u. ſ. w. eingeordnet.
Appendix A.1 I. Perſonen-Regiſter.
Die Autoren aus den vor den einzelnen Abſchnitten angeführten Litteraturangaben ſind hier nicht wiederholt; nur die im
Text erwähnten Perſonen ſind hier verzeichnet.
- Achenwall 112.
- Agrikola 395.
- Alexander Severus 402.
- Althuſius, Vertreter des Natur-
rechts, ſein Hauptwerk 82;
Eintreten für Volksſouveräni-
tät 83. - Ammianus Marcellinus, alle-
manniſche Grenzdörfer des
4. Jahrhunderts 207; Ein-
druck ſtädtiſcher Mauern auf
die Germanen 263. - Ammon 410.
- Anton 113.
- Ariſtoteles, geſelliger Trieb 27;
erſter empiriſcher Ethiker 71/72;
Stellung in der Geſchichte
der Staatswiſſenſchaften, ſeine
Volkswirtſchaftslehre 77/78;
Kindsmord und Freigebung der
Kinderzeugung 173; körperliche
Folgen der Handarbeit 356. - Arkwright, R. 214.
- Arndt, E. M. 156.
- Arndt, O. 119.
- Arnold, W., Bedeutung für die
deutſche Wirtſchaftsgeſchichte
114; Schilderung des Waſſer-
mühlenbaues im 13.—14. Jahr-
hundert durch deutſche Klöſter
und Städte 209; Siedlung
nach Hof- oder Dorfſyſtem 261. - Aſhley, W. J. 120.
- Aſinius Pollio 13.
- Audiganne 121.
- Auguſtin 71.
- Auguſtus, Bibliotheksgründung
in Rom 13; Unterdrückung der
Handwerkerkollegien 402. - Baboeuf 93.
- Bachofen, philologiſch hiſtoriſche
Studien über das Mutterrecht
231; Annahme einer regelloſen
Geſchlechtsgemeinſchaft oder all-
gemeiner Gruppenehen am An-
fang der menſchlichen Ent-
wickelung 234. - Bacon, Philoſoph des Natur-
rechts 82; lex naturalis 83. - Bär, K. E. v., Einfluß der Natur-
verhältniſſe auf die Menſchen
127; Zurückführung der wirt-
ſchaftlichen Kultur auf Boden
und Klima 138. - Barbaret, J. 121.
- Baſtian 116.
- Baſtiat, Fr. 92.
- Baudrillart, Unterſuchung über
den Luxus 23; franzöſiſcher
Wirtſchaftshiſtoriker 121. - Bauer, St. 428.
- Bazard 94.
- Bebel, Standpunkt in der Be-
völkerungsfrage 175; ein-
ſeitiger Optimiſt in der Be-
urteilung des Maſchinenzeit-
alters 224. - Becher, Johann Joachim, Be-
deutung als deutſcher Merkan-
tiliſt, ſein Lehrbuch 87; einer
der erſten Vertreter empiriſcher
Nationalökonomie 112; opti-
miſtiſcher Bevölkerungspolitiker
174. - Beck, Wichtigkeit der Metallwerk-
zeuge für die Herrſchaft der
Menſchen 201; Zeitpunkt der
Erfindung und Verbreitung der
Holzſägemühle 209. - Beckmann 113.
- Beesly 120.
- Behm 171.
- Beloch, Bedeutung für die Me-
thode der Bevölkerungsſtatiſtik
103; Bevölkerungsgröße ver-
ſchiedener antiker Reiche 170;
Bevölkerungszahl der Stadt
Rom vor Chriſti Geburt 259. - Benecke 71.
- Bentham, Meſſung der Gefühle
23; wirtſchaftliche Theorie des
Selbſtintereſſes 32; ſenſua-
liſtiſch-materialiſtiſcher Ethiker
71; Vertreter der Legaltheorie
in der Eigentumsfrage 390. - Bernoulli 159.
- Bernſtein 98.
- Beſſemer 216.
[459]Regiſter.
- Bismarck, Urteil über die Be-
einfluſſung der Staatsleitung
durch jüdiſche Geſchäftsleute
152; Folgen der privaten deut-
ſchen Eiſenbahnen 321. - Blanc, Louis 95.
- Block, Maurice 115.
- Blumenbach 140.
- Bodinus, Vertreter des Natur-
rechts und ſein Hauptwerk 82;
Eintreten für monarchiſche
Staatsallmacht 83. - Bodio, Luigi, Leiter der italie-
niſchen Statiſtik 115; Statiſtik
über Anteil der Urproduktion
und Gewerbe an der Bevölke-
rung 358; Zahlen für ver-
ſchiedene Beſetzung verſchiedener
liberaler Berufe in verſchie-
denen Ländern 359. - Böckh, A. 116.
- Böhm-Bawerk, v., Stellung als
nationalökonomiſcher Forſcher
119; Identifizierung von kapi-
taliſtiſcher und moderner Ma-
ſchinenproduktion 226. - Böhmert, Victor, 119.
- Boisguillebert 88.
- Bonald, L.G.A.,Vicomte de 113.
- Booth 120.
- Bratring 349.
- Braun, H. 112.
- Brentano, L. Hauptarbeiten
119; Städtebevölkerung 276;
Princip des Zuſammenſchluſſes
das Princip der Schwachen 407. - Bright 92.
- Briſſot 93.
- Buchenberger 123.
- Buchez 445.
- Buckland 133.
- Buckle 127.
- Bücher, K., Bedeutung für die
Methode der Bevölkerungs-
ſtatiſtik 103; Vertreter der
monographiſchen deutſchen Wirt-
ſchaftsgeſchichte 114; Mitar-
beiter des A. Wagnerſchen Lehr-
buches 123; Grad der Mobili-
ſierung der Bevölkerung; Wir-
kung des Zuges nach der Stadt
272; Unterſuchung über gewerb-
liche Arbeitsteilung 325; Be-
ſchreibung und Klaſſifikation
der Arbeitsteilung 326; Zahl
der Handwerke in Frankfurt
im Jahre 1387 349; Termi-
nologie der gewerblichen Ar-
beitsteilung 350; Berufs-
zählung für Baſel im Jahre
1880 352; hiſtoriſch-ſtatiſtiſche
Erfaſſung der Berufsgliederung
in dem Buch über die Be-
völkerung Frankfurts 358;
Theorie der Klaſſenbildung
395; Beſprechung der von B.
gegen die Schmollerſche Theorie
der Klaſſenbildung erhobenen
Einwände 398. - Büſch, J. G., hervorragender
älterer Specialſchriftſteller, ſeine
Werke 113; über die einer Stadt
durch Beziehungskoſten von Holz
u. ſ. w. gezogenen Grenzen 267;
Verurteilung der Kompagnien
441. - Büſching 112.
- Büttner 370.
- Bunſen 216.
- Burckhardt, Einwohnerzahl italie-
niſcher Städte im 14. und 15.
Jahrhundert 266; Charakte-
riſtik fahrender Gelehrter des
15. Jahrhunderts 353. - Burke 113.
- Butter, Nathaniel 14.
- Cäſar 402.
- Carey 261.
- Carlyle, Th. 120.
- Cauwès, Führer der neuen fran-
zöſiſchen Nationalökonomie und
Herausgeber der Revue d’éco-
nomie politique 121; ſeine
Werke als ſolche, welche den
Gedanken und Zielen der neueren
deutſchen Volkswirtſchaftslehre
nahe ſtehen 123. - Chevalier, Michel, Berechnung
der Steigerung der menſchlichen
produktiven Kraft in verſchie-
denen Gewerben 221; ein-
ſeitiger Optimiſt in der Beur-
teilung des Maſchinenzeitalters
224. - Child, Joſiah, Vertreter des
Merkantilismus, ſeine Haupt-
werke 87; Betonung der Grenzen
der Bevölkerung in der Er-
nährungsmöglichkeit 174. - Chwolſon 151.
- Cibrario 266.
- Cicero 193.
- Clément, Pierre 121.
- Clodius 402.
- Cobden 92.
- Cohn, G., Bedeutung des Bluts-
zuſammenhanges gegenüber dem
rohen Egoismus 28; Wirt-
ſchaftshiſtoriker Englands 119;
ſein Lehrbuch als ſolches, in
dem ſich die Anſchauungen der
heutigen deutſchen National-
ökonomik am deutlichſten ſpie-
geln 123. - Colbert, Beiſpiel für das Streben
des Merkantilismus nach Her-
beiführung einheitlicher wirt-
ſchaftlicher Ordnung im Staat
85; Pflege des Kammergutes
304. - Comte, Auguſte, metaphyſiſch-
idealiſtiſcher Ethiker 71; Socio-
loge 72; ſeine Stellung und die
des Poſitivismus in der Ge-
ſchichte der Nationalökonomie
120; Anhänger einer Zurück-
führung der wirtſchaftlichen und
ſonſtigen Kultur auf äußere
Naturverhältniſſe 138. - Condorcet 138.
- Confutſe 151.
- Conrad, J., Agrarpolitiker 117;
Jahrbücher für Nationalökono-
mie und Statiſtik 119; Hand-
wörterbuch der Staatswiſſen-
ſchaften 120. - Conſidérant, Victor 95.
- Cook 140.
- Cotta, Unterſuchung über den
Zuſammenhang der Bodenver-
hältniſſe mit der wirtſchaft-
lichen Entwickelung unter Be-
zugnahme auf Sachſen 133;
Sonderung der Menſchen nach
den Gebirgsformationen 144. - Crompton, H. 120.
- Crompton, S. 214.
- Cunningham, W., Stellung in
der Geſchichte der National-
ökonomik 120; Faktoren, nach
denen der maſchinelle Betrieb
einzurichten 224. - Crüger 448.
- Cunow 231.
- Curtius, E. 127.
- Dargun, Stellung in der Litte-
ratur über die älteſte Familien-
verfaſſung 231; individuelles
Bodeneigentum älter als kollek-
tives 369. - Darwin, Ch., Lehre vom Kampf
ums Daſein und das Princip
der Zuchtwahl 64/65; Konſtanz
der Tierraſſen 141; Vererbung
tugendhafter Neigungen 141;
Bejahung des einheitlichen Ur-
ſprunges aller Menſchen 142;
das Ungenügende ſeiner Er-
klärung der Raſſenſcheidung
142/143; Überſchätzung der
Vererbung erworbener Eigen-
ſchaften 143; die Sieger im
Kampf ums Geld nicht immer
die Beſten und Klügſten 381. - Davenant, Charles, Vertreter
des Merkantilismus, ſein Haupt-
werk 87; Staatseinkünfte der
Holländer im 17. Jahrhundert
283. - Dawis 374.
- De Candolle, Zukunft der euro-
päiſchen Kultur, falls die
Staaten nach dem Ideal der
Juden eingerichtet würden 152;
Erblichkeit von Neigungen 397. - Delbrück, H. 169.
- Depping 121.
- Dieſel 213.
- Dieterici 102.
- Dietzel, Erwerbstrieb als wirt-
ſchaftlicher Sinn 33; einer der
[460]Regiſter.
Ausläufer der engliſchen deduk-
tiven Schule 110; Mitarbeiter
des A. Wagnerſchen Lehrbuches
123. - Dilthey 62.
- Diodor, über die Schrift 12; die
Bevölkerungsabnahme Ägyp-
tens durch die Fremdherrſchaft
zur Zeit Alexanders 170. - Dove 127.
- Drude, Naturforſcher, deſſen Ar-
beiten die Kenntnis vom Einfluß
der Natur auf das Menſchen-
leben gefördert haben 127; das
Verhältnis zwiſchen der geo-
graphiſchen Verbreitung von
Tier und Pflanze 137. - Ducpétiaux 121.
- Dühring 98.
- Dürckheim, ſociologiſche Behand-
lung der Arbeitsteilung 325;
beſchränkte Richtigkeit ſeines
Satzes, daß zunehmende Ar-
beitsteilung wachſende Soli-
darität bedeute 362. - Duncker 282.
- Dunoyer, Charles 91.
- Elſter 120.
- Emin Paſcha 163.
- Encyclopädiſten 71.
- Enfantin 94/95.
- Engel, Ernſt, Stellung als Sta-
tiſtiker 115; Berechnung über
den Altersaufbau der preußi-
ſchen Bevölkerung 161; Koſten-
berechnung für verſchiedene
Arten mechaniſcher Kraft im
Verkehr 219; Peſſimiſt hinſicht-
lich der ſtädtiſchen Wohnweiſe
276; Statiſtik der preußiſchen
Staatsbeamten 313. - Engels, Friedrich, Vertreter des
Socialismus 95/98; Stand-
punkt gegenüber dem Bevölke-
rungsproblem 175; Verur-
teilung der Arbeitsteilung 365;
Berechtigung des Privateigen-
tums an produktivem Kapital,
das mit individuell körperlicher
Arbeit des Eigentümers zu-
ſammenhängt 381; Arbeits-
teilung als Urſache der Klaſſen-
bildung 409. - Epicur, ſenſualiſtiſch-materia-
liſtiſcher Ethiker 71; Stellung
der epicureiſchen Schule in der
Geſchichte der Staatswiſſen-
ſchaften 78; Einfluß auf die
ſtaatswiſſenſchaftlichen Lehren
des Mittelalters 80. - Erasmus 357.
- Eulenburg 263.
- Faucher, Jul. 92.
- Faucher, Léon 121.
- Fechner 22.
- Feil 349.
- Ferguſon 325.
- Feuerbach 71.
- Fichte, ſeine beiden ſtaatswiſſen-
ſchaftlichen Hauptwerke 93;
individualiſtiſcher Eigentums-
theoriker 389. - Fiſcher 295.
- Flürſcheim 98.
- Forbonnais 88.
- Forſſac 199.
- Fourier, Werke und ſocialiſtiſche
Lehre 95; einſeitiger Optimiſt
in der Beurteilung des Ma-
ſchinenzeitalters 224. - Francke, E. 119.
- Franklin 190.
- Franz 269.
- Friedrich der Große 63.
- Fuchs, Carl Johannes, Agrar-
hiſtoriker 119; Kenner ameri-
kaniſcher Volkswirtſchaft 119. - Gaius 389.
- Galiani 113.
- Galton, Francis, Stellung zur
Vererbung erworbener Eigen-
ſchaften 143; Unterſuchung über
Blutsverwandtſchaft bedeuten-
der Männer zu andern b. M.
398. - Ganilh 113.
- Gans 230.
- Gaſſendi 71.
- Geering, Tr., Vertreter mono-
graphiſcher deutſcher Wirt-
ſchaftsgeſchichte 118; Zahl der
Berufsarten in der Baſeler
Safranzunft 349. - Geiger, L. 192.
- Genoveſi, Antonio 87.
- George, Henry 98.
- Gérando 121.
- Gerland 195.
- Gide, Führer der neueren fran-
zöſiſchen Nationalökonomik und
Herausgeber der Revue d’éco-
nomie politique 121; ſeine
Werke als ſolche, welche den
Gedanken und Zielen der neueren
deutſchen Volkswirtſchaftslehre
nahe ſtehen 123. - Giffen, R. 444.
- Gneiſt 264.
- Gobineau, Graf, Raſſentheorie
140; zuſammenfaſſende Reſul-
tate über die Raſſenfrage 158;
Zurückführung der Klaſſen-
gegenſätze auf die Raſſe 395;
Zurückſinken ganzer Völker auf
dem Verluſt ihrer Ariſtokratie
beruhend 410. - Godin 95.
- Godwin 93.
- Goethe 366.
- Gothein 133.
- Graunt, John 112.
- Grimm 342.
- Griſebach 127.
- Groſſe 231.
- Grotius, Hugo, geſelliger Trieb
27; metaphyſiſch-idealiſtiſcher
Ethiker 71; Vertreter des Natur-
rechts; Hauptwerk 82; ſocialer
Trieb 83; Eigentumstheorie
390. - Grünberg 119.
- Guérad 121.
- Guillaumin 121.
- Guizot 121.
- Guttenberg 13.
- Guyot, A. 127.
- Hahn, Ed., Naturforſcher, deſſen
Arbeiten die Kenntnis vom
Einfluß der Natur auf das
Menſchenleben gefördert haben
127; zeitliche Folge von okku-
patoriſcher Thätigkeit, Hackbau,
Viehzähmung, Ackerbau und
Viehwirtſchaft 195; Hypotheſe
über die Entſtehung der Vieh-
zähmung 196; Wertſchätzung
der älteſten Fortſchritte des
Landbaues 201; Rinderherden
zuerſt geheiligtes Stammes-
eigentum 370. - Halle, v. 119.
- Haller, K. L. v. 113.
- Halley 112.
- Hann 127.
- Hanſen, G. 276.
- Hanſſen, G. 117.
- Hargreaves, J. 214.
- Harriſon, F. 120.
- Hartenſtein, über Öffentlichkeit
15; liberaliſtiſche Auffaſſung
über Inſtitutionen 63. - Hartley 28.
- Hasbach, W. 119.
- Hausmann 275.
- Haxthauſen, das Verhältnis der
Rentabilität zwiſchen einem
Gute in Rußland und Mittel-
europa 132; Specialunter-
ſuchung über den Zuſammen-
hang der Bodenverhältniſſe mit
der wirtſchaftlichen Entwicke-
lung unter Bezugnahme auf
Weſtpreußen 133. - Heckel 310.
- Hecker 172.
- Heeren, der Göttinger kultur-
hiſtoriſchen Schule zugehörig
113; Auffaſſung über den Zu-
ſammenhang der wirtſchaft-
lichen und ſonſtigen Kultur
mit den Naturverhältniſſen 138. - Hegel, öffentliche Meinung 14;
Inſtitutionen 63; metaphyſiſch-
idealiſtiſcher Ethiker 71; Stel-
lung in der Geſchichte der
Staatswiſſenſchaften 113; Be-
rufsteilung 366; individua-
liſtiſcher Eigentumstheoretiker
389. - Hegewiſch 113.
[461]Regiſter.
- Hehn, Naturforſcher, deſſen Ar-
beiten die Kenntnis vom Ein-
fluß der Natur auf das Menſchen-
leben gefördert haben 127;
Zurückführung des Unterganges
des römiſchen Reiches auf die
Raſſenmiſchung 147. - Heinrich I., König, 264.
- Held, A. 119.
- Helferich, E. v. 119.
- Helvetius, Bedeutung als Theo-
retiker des Egoismus 32;
Neigung, den Volkscharakter
auf die geiſtigen Kollektivkräfte
zurückzuführen 145. - Henning 262.
- Heraclit 77.
- Herbart, die Bedeutung der
Sprache für die menſchliche
Geſellſchaft 11; empiriſcher
Ethiker 72. - Herbert von Cherbury 82.
- Herder, Sprache und Schrift 12;
die Zuſammenhänge zwiſchen
Natur und Völkerleben 127;
Anhänger der Zurückführung
der wirtſchaftlichen und ſonſtigen
Kultur auf die Naturverhält-
niſſe 138; Verſuch, die Raſſen-
und Völkerunterſchiede zu er-
faſſen 140. - Herkner, Verfaſſer einer In-
duſtrie- und Arbeiterſchilderung
119; Behandlung Neuzuziehen-
der in Mühlhauſen 295; pro-
zentualer Anteil der Arbeiter
und Unternehmer an der Be-
völkerung Frankreichs 345. - Hermann, E., Vergleich zwiſchen
menſchlichem Körper und Ma-
ſchine 190; Frage nach der
Bedeutung der modernen Tech-
nik 220. - Hermann, F. B. W., Altruis-
mus und Egoismus zur Er-
klärung wirtſchaftlicher Hand-
lungen 33; individualiſtiſcher
Nationalökonom, ſein Haupt-
werk 91. - Hertzka 98.
- Hettner 133.
- Highs, Th. 214.
- Hildebrand, Bruno, Bedeutung
für die hiſtoriſche National-
ökonomie, Hauptarbeit 117;
Jahrbücher für Nationalöko-
nomie und Statiſtik 119; Zahl
der landwirtſchaftlichen und
gemiſchten Betriebe eines
thüringiſchen Bezirkes 346. - Hildebrand, R. 371.
- Hillebrand 154.
- Hirth 119.
- Hobbes, Bedingtheit des Sitt-
lichen 43; Quelle von Moral
und Recht 63; ſenſualiſtiſch-
materialiſtiſcher Ethiker 71;
Vertreter des Naturrechts,
Hauptwerk 82; Eintreten für
monarchiſche Staatsallmacht 83;
Vertreter der Legaltheorie in
der Eigentumsfrage 390. - Hobſon, Kritik ſeines Schluſſes,
alle Großtechnik gehöre in die
Hände öffentlicher Korpora-
tionen 222; wiſſenſchaftlicher
Beurteiler des Maſchinenzeit-
alters 224. - Hoffmann, J. G., ſeine realiſti-
ſchen Schriften, ſeine Verdienſte
um die Ausbildung der Statiſtik
115; Berechnungen über die
Zunahme der Bevölkerung 168. - Hölderlin 365.
- Holyoake 445.
- Homer 199.
- Horn 269.
- Horwicz 72.
- Howe, Elias 215.
- Howell, G. 120.
- Hübbe-Schleiden 182.
- Hüllmann 113.
- Huber, V. Ä. 445.
- Humboldt, A. v., Bedeutung
für die Erdkunde und die rea-
liſtiſche Forſchung 116; Ver-
gleich zwiſchen der Nährfähig-
keit eines Bananen- und Weizen-
feldes 131; Vergleich zwiſchen
der Abhängigkeit der Menſchen
und Tiere und Pflanzen von
der Natur 137; ſtarker Knaben-
geburtenüberſchuß in Neu-
ſpanien 163; Araber als Be-
gründer der phyſikaliſchen
Wiſſenſchaften 207. - Hume, David, empiriſcher Ethiker
72; individualiſtiſcher National-
ökonom 90; Bedeutung für die
Bevölkerungslehre 159; dasſelbe
für die Methode der Bevölke-
rungsſtatiſtik 102; idealiſtiſche
Auffaſſung über den Zuſammen-
hang der menſchlichen Eigen-
ſchaften mit der äußeren Natur
137; Neigung, den Volks-
charakter auf die geiſtigen
Kollektivkräfte zurückzuführen
145. - Hutcheſon 72.
- Hutten 357.
- Ibu Batutu 256.
- Jevons 23.
- Inama-Sternegg, K. Th. v.
Bedeutung für die deutſche
Wirtſchaftsgeſchichte 118; Sied-
lung nach Dorf- und Hofſyſtem
261. - Ingram, J. K. 120.
- Jones, Lloyd 120.
- Jonnès, Moreau de 115.
- Jung 259.
- Juſti, J. H. G. v., merkan-
tiliſtiſche Lehrbücher 87/88;
optimiſtiſcher Bevölkerungs-
politiker 174. - Jannaſch 359.
- Jellinek 57.
- Ihering, Wanderbrauch der Indo-
germanen, nachgewieſen am
ver sacrum der Römer 177;
Überſchätzung des Überganges
vom Holz- zum Steinbau 204. - Juraſchek, Zahl und Kapital
der öſterreichiſchen Aktiengeſell-
ſchaften 444. - Kant 71.
- Kapp, E. 127.
- Karl der Große 403.
- Karl V. 283.
- Kaufmann 310.
- Kautsky, Vertreter des deutſchen
Socialismus 98; Charakteri-
ſierung der Gewinne kauf-
männiſcher Fabrikleiter 337. - Kawelin 379.
- Kay, John 214.
- Keußler, Nachweiſung des Vor-
kommens von kleinen Dörfern
und Höfen nebeneinander in
Rußland bis ins 16. Jahr-
hundert ꝛc. 262; Einwohner-
zahl ruſſiſcher Dörfer im 16.
Jahrhundert und jetzt 263;
Zeitpunkt des Beginns wirklich
ſtädtiſchen Lebens in Rußland
267; Landpolitik für Rußland
379. - Kindlinger 260.
- Knapp, G. F., Statiſtiker 115;
Agrarhiſtoriker 117/119; Be-
denken gegen die Meitzenſche
Siedlungstheorie 262; Groß-
betrieb der Gutsherrſchaft als
Anfang kapitaliſtiſchen Be-
triebes 418. - Knies, Karl, Altruismus und
Egoismus zur Erklärung wirt-
ſchaftlicher Handlungen 33;
Arbeit über die Statiſtik als
Wiſſenſchaft 115; Bedeutung
für die hiſtoriſche National-
ökonomie, Hauptwerke 117. - Kohl, J. G., Stellung zur Frage
des Zuſammenhanges zwiſchen
Natur und Geſchichte 127;
Unterſuchungen über die Ab-
hängigkeit der Verkehrslinien
von der Erdoberfläche 133;
über das engliche Weſen 156. - Kraus, Ch. J. 91.
- Krauſe, K. Ch. Fr. 389.
- Krünitz, J. G. 112.
- Krupp 433.
- Laboulaye 230.
- Lamarck, Überſchätzung der Ver-
erbung erworbener Eigenſchaften
143; Neigung, den Volks-
charakter auf die geiſtigen
[462]Regiſter.
Kollektivkräfte ꝛc. zurückzufüh-
ren 145. - Lamprecht, K., Bedeutung für die
deutſche Wirtſchaftsgeſchichte
118; bevölkerungsſtatiſtiſche Be-
rechnungen des Trierſchen Ge-
bietes 168; Errichtung von
Waſſermühlen durch die deut-
ſchen Dorfgenoſſenſchaften 208;
Größe der Allmende im Trier-
ſchen Gebiet im 18. Jahrh. 371. - Landau 261.
- Lange, F. A. 409.
- Lapouge 410.
- Laſſalle, Bedürfnisloſigkeit 26;
perſönliche Freiheit und Rechts-
regulierung 58; Anlehnung an
Ricardo 95; Würdigung als
Sozialiſt 96; Bedeutung von
Stoff und Gedanke zur För-
derung der Erkenntnis 103;
Vertreter der Legaltheorie in
der Eigentumsfrage 390. - Laurent, E. 121.
- Laveleye, Emil de 121.
- Laves 356.
- Lazarus 49.
- Leibniz 71.
- Lenormant, F. 348.
- Le Play, hervorragende Be-
deutung für die Beſchreibung
der ſocialen Gegenwart, Haus-
haltungsbudgets 121; ſocial-
politiſche Behandlung der
Frauen- und Familienfrage
231; mangelnde Stabilität des
heutigen Familienlebens 247. - Leroy-Beaulieu 182.
- Leslie, Th. E. Cliffe, 120.
- Levaſſeur, Erneſt, führende
Stellung in der franzöſiſchen
Statiſtik, diesbezügliches Haupt-
werk 115; franzöſiſcher Wirt-
ſchaftshiſtoriker, einſchlägige
Hauptarbeit 121; Schätzung
der Einwohnerzahl von Paris
gegen 1300 266; Statiſtik der
Größe und Einwohnerzahl ver-
ſchiedener Staaten 283. - Lexis, W., Statiſtiker 115; Ar-
beiten über franzöſiſche Volks-
wirtſchaft 119; monographiſcher
Specialforſcher auf dem Gebiet
des Geld-, Bank- und Börſen-
weſens 119. - Liebig 220.
- Lippert 193.
- Liſt, Friedrich 116/117.
- Livingſtone 145.
- Locke, Bedingtheit des Sittlichen
43; ſenſualiſtiſch-materialiſti-
ſcher Ethiker 71; Vertreter des
Naturrechts und ſein Haupt-
werk 82; angeborener ſocialer
Trieb, Stellung unter den Ver-
tretern des Naturrechts 83;
Eintreten für Volksſouveränität
83; Stellung zur individua-
liſtiſchen Volkswirtſchaftslehre
88/89; Neigung, auf die geiſtigen
Kollektivkräfte den Volks-
charakter zurückzuführen 145;
Begründung des Eigentums
durch die „Arbeitstheorie“ 389. - Longſtaff 276.
- Lotz, wirtſchaftliche Theorie des
Selbſtintereſſes 32; indivi-
dualiſtiſcher Nationalökonom,
Hauptwerk 91. - Lotze, Trachten nach Luſt als
Triebfeder praktiſcher Wirk-
ſamkeit 20; Gefühle 21; Rück-
ſichtnahme auf das Urteil an-
derer als Stellvertreter des
eigenen Gewiſſens 31; geſell-
ſchaftliche Organbildung 62;
empiriſcher Ethiker 72; Wert
einer Kenntnis der Thatſachen
103; Grundlage der techniſchen
Entwickelung des Menſchen 190. - Lubbock, Fehlen ſittlicher Urteile
43; perſönliche Freiheit bei den
Wilden 49; Bedeutung für die
realiſtiſche Forſchung 116; An-
nahme einer regelloſen Ge-
ſchlechtsgemeinſchaft oder all-
gemeiner Gruppenehen am An-
fang der menſchlichen Ent-
wickelung 234. - Ludlow, J. M., ſeine Stellung
in der Geſchichte der National-
ökonomik 120; genoſſenſchaft-
licher Agitator 445. - Luther, über ſeine Wirtſchafts-
und Socialpolitik 80; Schätzung
des Einkommens eines Grafen,
Fürſten und Königs ſeiner Zeit
283; Geringachtung der Kauf-
leute 357. - Lux 214.
- Lyell 189.
- Mably 93.
- Macchiavelli 85.
- Macculloch 172.
- Mac Lennan 234.
- Maine, H., Stellung der In-
ſtitutionen in der Entwickelung
der Geſellſchaft 63; Bedeutung
für die realiſtiſche Forſchung,
Hauptwerke 116; Begründer
der wiſſenſchaftlichen Geſchichte
der patriarchaliſchen Familien-
verfaſſung 231; Händler des
Dorfes in Indien nicht Ge-
meindemitglied 334; älteſte
iriſch-keltiſche Eigentumsver-
hältniſſe 370; Zürückführung
der Stellung der keltiſchen
Equites, attiſchen Eupatriden
und römiſchen Patricier auf
Viehbeſitz 371. - Maiſtre, J. de, ſein Einfluß auf
die franzöſiſchen Socialiſten und
A. Comte 113.
- Malthus, ſein Auftreten als einer
der erſten und wichtigſten
Schritte zu einer wiſſenſchaft-
lichen Bevölkerungslehre 159;
bevölkerungspolitiſches Ideal,
das er in Norwegen ꝛc. fand
174; Lehre, Würdigung, Folgen
175; Unwirkſamkeit ſeiner Em-
pfehlung der Enthaltſamkeit
176. - Mantuanus 395.
- Marheinecke 49.
- Marlo 98.
- Marouſſem, Graf 121.
- Marres, de la 112.
- Marſhall 224.
- Martin 216.
- Marx, Karl, Anlehnung an Ri-
cardo 95; Hauptwerke, Lehre
und Kritik 96/98; Würdigung
ſeiner ſocialen Theorien in Zu-
ſammenhang mit ſeiner Raſſen-
zugehörigkeit 152; Standpunkt
gegenüber dem Bevölkerungs-
problem 175; einſeitiger Peſſi-
miſt in der Beurteilung des
Maſchinenzeitalters 224; Er-
weiterung der früheren Be-
obachtungen über Arbeitsteilung
325; Arbeitszerlegung = Ar-
beitsteilung der Manufaktur-
periode 351; Kritik ſeiner Be-
hauptung bezügl. Folgen ſtei-
gender Maſchinenanwendung
352; Verlangen nach centra-
liſtiſch geleiteter Arbeitsteilung
363; Berechtigung des Privat-
eigentums an produktivem Ka-
pital, das mit individuell kör-
perlicher Arbeit des Eigen-
tümers zuſammenhängt 381;
Zürückführung der Klaſſen-
bildung auf Vermögens- und
Einkommensungleichheit 395;
Terminus-Manufaktur 433. - Maurice 445.
- Maury, F. 212.
- Mayr, Georg v., Statiſtiker,
ſeine Hauptwerke 115; Tabelle
des Altersaufbaues nach v. M.
160. - Mehring 98.
- Meiners 113.
- Meitzen, Auguſt, Statiſtiker,
Hauptarbeit 115; Agrarhiſto-
riker, Hauptwerke 117; Weide-
genoſſenſchaften der Kelten und
Germanen zur Zeit überwie-
gender Viehzucht 198; Be-
urteilung der Markgenoſſen-
ſchaft 237; Theorie über die
Siedlungsweiſen verſchiedener
Völker, Dorf- und Hofſyſtem
261/262; Rindvieh bei den
keltiſchen Viehweidegenoſſen-
ſchaften teils dieſen, teils den
einzelnen gehörig 370; Hypo-
[463]Regiſter.
theſe über die zur Zeit des
Tacitus nach dem Viehbeſitz
differenzierten Germanen 371. - Melanchthon, Stellung zur ſog.
natürlichen Religion 82; Er-
klärung der Ungleichheit der
Stände 395. - Melon 88.
- Menger, Carl, Ausläufer der
engliſchen deduktiven Schule
110; Stellung als national-
ökonomiſcher Forſcher 119. - Meyer, Ed. 144.
- Miaskowski, A. v. 117.
- Mill, J. St., Verlangen nach
Reichtum als Urſache der Volks-
wirtſchaft 33; ſenſualiſtiſch-
materialiſtiſcher Ethiker 71;
Theoretiker des Utilitarismus
73; individualiſtiſcher National-
ökonom, ſein Hauptwerk 91/92;
Stellung in der Methodenlehre,
namentlich zur Induktion und
Deduktion 110; Negation eines
allgemein menſchlichen Charak-
ters; Streben, die Volkswirt-
ſchaftslehre aus einem überall
gleichen Erwerbstriebe abzu-
leiten 140; Verhältnis des Eng-
länders zur Arbeit und Lang-
weile 156; peſſimiſtiſche Be-
völkerungspolitik 175; Unwirk-
ſamkeit ſeiner Empfehlung der
Enthaltſamkeit im Geſchlechts-
verkehr 176; ſocialpolitiſche
Behandlung der Frauen- und
Familienfrage 231; Entbehr-
lichkeit von 9/10 der engliſchen
Detailhändler 364; Vertreter der
natürlich-ökonomiſchen Eigen-
tumstheorie 389. - Mirabeau 174.
- Miſchler, E. 115.
- Möſer, Juſtus, Bedeutung für
die nationalökonomiſche Litte-
raturgeſchichte 113; das Hof-
ſyſtem als urſprüngliche Sied-
lungsweiſe 260. - Mohl, R. v., Verhältnis zur
heutigen Sociologie 72; Ein-
fügung der Familienwirtſchaft
in das Syſtem der National-
ökonomie 231. - Mommſen, Th., Bedeutung für
die hiſtoriſch-realiſtiſche Forſch-
ung 116; Entwickelung des
individuellen Eigentums bei
den Römern nicht an Liegen-
ſchaften, ſondern an Sklaven
und Vieh 369. - Mone, Siedlung nach Hof- oder
Dorfſyſtem 261; die Einwohner-
zahl badiſcher Dörfer im 15.,
16. und 19. Jahrhundert 263. - Montesquieu, über die Zuſam-
menhänge zwiſchen Natur und
Menſchenleben 127; Anhänger
der Zurückführung der wirt-
ſchaftlichen und ſonſtigen Kultur
auf Boden und Klima 138;
Vertreter der Legaltheorie in
der Eigentumsfrage 390. - Morelly 93.
- Morgan, Lewis H., Bedeutung
für die realiſtiſche Forſchung,
ſein urgeſchichtliches Hauptwerk
116; Mitteilung über die
Menſchenzahl der Indianer-
Bunde 169; Auffaſſung über
die Bedeutung der Erfindung
der Töpferei 194; dasſelbe
über die der Eiſengewinnung
201; Rolle ſeiner Unterſuch-
ungen über die älteſte Familien-
verfaſſung 231; Annahme einer
regelloſen Geſchlechtsgemein-
ſchaft oder allgemeiner Gruppen-
ehen am Anfang der menſch-
lichen Entwickelung 234. - Morus, Thomas 93.
- Mühry 127.
- Müller, A. 113.
- Mun, Thomas 87.
- Napoleon I. 307.
- Nasmyth 216.
- Naſſe, E. 119.
- Necker 113.
- Nesfield 393.
- Neumann, J. F. 105.
- Neumann, Kaspar 112.
- Nicholſon 224.
- Niebuhr, B. G. 116.
- Niſſen 258.
- Nitzſch, Bedeutung für die
nationalökonomiſch-realiſtiſche
Forſchung 116; dasſelbe für
die deutſche Wirtſchaftsgeſchichte
118; Tribur als Mittelpunkt
der Reichsverwaltung, ohne
Stadt zu ſein 264. - Novacki, A. 195.
- Oettingen, v. 115.
- Owen, Robert, praktiſcher Be-
gründer des engliſchen Socia-
lismus, ſein Hauptwerk 94;
genoſſenſchaftlicher Agitator
445. - Paaſche 349.
- Papin 212.
- Paſſy 224.
- Paul, L. 214.
- Paulſen 72.
- Pauſanias 257.
- Peel 307.
- Peruzzi 432.
- Peſchel, Forſcher, deſſen Arbeiten
die Frage nach dem Einfluß
der Natur auf das Menſchen-
leben gefördert haben 127;
Europa dankt ſeinem ſchlechten
Wetter ſeine hohe Kultur 129;
Auffaſſung über den Zuſammen-
hang der Volkswirtſchaft mit
der äußeren Natur 137; Ein-
fluß auf die Indogermanen,
falls dieſe an der nordweſtlichen
Durchfahrt ſäßen 144; Be-
deutung der planmäßigen Zucht
von Pflanzen und Tieren 195. - Petty, William, Vertreter des
Merkantilismus, Hauptwerke
87; einer der erſten Vertreter
empiriſcher Nationalökonomik
112; Totenliſten der Stadt
London 112. - Philippovich, E. v. 123.
- Pictet 116.
- Pindar 133/134.
- Pitt 307.
- Plato, metaphyſiſch-idealiſtiſcher
Ethiker 71; Stellung in der
Geſchichte der Staatswiſſen-
ſchaften 77; Vorſchläge über
Kindsmord und ſtaatliche Regu-
lierung der Kinderzahl 173;
Verachtung des Handels 356;
centraliſtiſcher Eigentumstheo-
retiker 390. - Prince Smith 92.
- Proudhon 95.
- Ptolomäus 263.
- Pufendorf, Hauptwerk über das
Naturrecht 82; vermittelnde
Stellung unter den Vertretern
des Naturrechts 83; Eintreten
für monarchiſche Staatsallmacht
83. - Quesnay, François 89.
- Quetelet, L. A. J., Bedeutung
für die belgiſche Statiſtik 115;
einer der erſten Vertreter
wiſſenſchaftlicher Bevölkerungs-
lehre 159. - Raleigh, Sir Walter 174.
- Ranke, L., Bedeutung als Hiſto-
riker 116; Abhängigkeit der
ägyptiſchen und perſiſchen Reli-
gion von der geographiſchen
Lage der Länder 129. - Rathgen 259.
- Ratzel, F., Bedeutung für die
realiſtiſche Forſchung, Haupt-
werke 116; Geograph, deſſen
Arbeiten die Frage nach dem
Einfluß der Natur auf das
Menſchenleben gefördert haben
127; Specialiſierung der Unter-
ſuchung des Einfluſſes der
Naturverhältniſſe auf Menſch
und Wirtſchaft 129; Einfluß
des ſüdlichen Klimas auf die
Eigenſchaften der Menſchen 131;
ſeine Zuſammenfaſſung der Zu-
ſammenhänge der Bodenverhält-
niſſe mit der wirtſchaftlichen
Entwickelung 133; Zuſammen-
faſſung des Einfluſſes der Natur-
verhältniſſe auf die Raſſen- und
[464]Regiſter.
Völkerbildung 144; Beiſpiele
für die Wirkung der Beſchäf-
tigung auf den Raſſentypus
145; Urſachen der ſchlechten
Eigenſchaften der Miſchlinge
Südafrikas 147; Mitteilung
von ſtarken Abweichungen im
Geſamtgleichgewicht der Ge-
ſchlechter bei Halbkulturvölkern
163; Aufſtellung über die
typiſche Wichtigkeit der Be-
völkerung auf verſchiedenen
Stufen ökonomiſcher Kultur
183; Auffaſſung über die Be-
deutung der Erfindung der
Töpferei 194; wirtſchaftliche
Eigenſchaften des Nomaden 197. - Rau, wirtſchaftliche Theorie des
Selbſtintereſſes 32/33; indi-
vidualiſtiſcher Nationalökonom,
Hauptwerk 91; Einteilung der
Volkswirtſchaftslehre 124. - Rawſon 166.
- Renan, Ernſt 151.
- Redtenbacher 213.
- Reuleaux, Charakteriſtik der Ma-
ſchine 191; Waſſerverſorgung
des alten Rom und heutigen
London 207; einſeitiger Opti-
miſt in der Beurteilung des
Maſchinenzeitalters 224. - Reybaud 121.
- Ribot, Unterſchied der Geſamt-
nervenmaſſe der Wilden und der
Kulturmenſchen 144; Wirkung
der Erziehung auf den Charakter
146; Erblichkeit perſönlicher
Eigenſchaften 397. - Ricardo, David, individualiſti-
ſcher Nationalökonom, Haupt-
werk 91; engliſche Schriftſteller,
die zuerſt das ungenügende
ſeiner Thorie empfindend, ſich
der realiſtiſchen Forſchung zu-
wandten 120. - Riehl, Volkscharakter der Pfälzer
155; ſocialpolitiſche Behand-
lung der Frauenfrage 231;
patriarchaliſche Familie 241. - Ritter, K., Bedeutung für die
Erdkunde und die realiſtiſche
Forſchung 116; Abhängigkeit
menſchlicher Kultur von der
natürlichen Geſtaltung der Erde
127; Vergleich zwiſchen der
Nährfähigkeit eines Bananen-
und Weizenfeldes 131. - Roberts, R. 214.
- Rodbertus, perſönliche Freiheit
und Rechtsregulierung 58; An-
lehnung an Ricardo 95; Wür-
digung als Socialiſt, Haupt-
werke 96; Ablöſung der Volks-
durch Staatswirtſchaft 303. - Rogers, Th. E., Hauptarbeiten
und Stellung in der Geſchichte
der engliſchen Nationalökonomik
120; Angaben über Einwohner-
zahl engliſcher Städte im 14.
Jahrhundert 266; Anteil der
ſtädtiſchen Bevölkerung an der
Geſamtbevölkerung Englands
im Jahre 1377 267. - Roſcher, Unterſuchung über den
Luxus 23; Altruismus und
Egoismus zur Erklärung wirt-
ſchaftlicher Handlungen 33;
Anknüpfen an die Göttinger
kulturhiſtoriſche Schule 113;
Bedeutung für die hiſtoriſche
Nationalökonomik, Hauptwerke
117/118; ſeine Werke als ſolche,
welche ſich in der Richtung der
Gedanken und Ziele der neueren
Volkswirtſchaftslehre bewegen
123; zeitliche Verhältniſſe der
hiſtoriſchen Epochen der Vieh-
zucht und des Ackerbaues 195;
Wertſchätzung des Ackerbaues
bei den Alten 200; Hofſyſtem
als Ausnahme der Siedlungs-
weiſe auf niederer Kulturſtufe
260; Hinweiſung auf und
Beurteilung der verhältnis-
mäßigen Beſetzung verſchie-
dener Berufe 357; Erzeugung
von Bankerotten durch Über-
ſetzung des engliſchen Detail-
handels 364; Vertreter einer
natürlich-ökonomiſchen Eigen-
tumstheorie 389. - Rougemont 192.
- Rouſſeau, optimiſtiſcher Bevöl-
kerungspolitiker 174; ſeine
Naturſchwärmerei ein Proteſt
gegen Arbeitsteilung 365. - Rümelin, Guſtav, Statiſtiker
115; Beiſpiele für die Größe
der Zeiträume, die ſchon eine
geringe Zahl von Generationen
umfaßt 143; ſchwäbiſcher Volks-
charakter 155; Normalzahl der
Eheſchließungen 164; Städte-
bevölkerung 276; Umfang des
Nebenerwerbes landwirtſchaft-
licher Familien in Württemberg
346. - Ruskin 120.
- Sacharoff 170.
- Sachs, Hans, Geringachtung der
Kaufleute 357; Erklärung der
Ungleichheit der Stände 395. - Saint-Chamans, Vicomte de
113. - Saint Simon 94/95.
- Sartorius 113.
- Sartorius von Waltershauſen
119. - Savary, als einer der erſten
Vertreter empiriſcher National-
ökonomie 112; Zahl der Pariſer
Gewerbekorporationen im Jahre
1760 349; Verurteilung der
Kompagnien 441. - Sax, Emanuel Hans 119.
- Sax, Emil, Einteilung der Be-
dürfniſſe 23; Altruismus und
Egoismus zur Erklärung wirt-
ſchaftlicher Handlungen 33. - Say, J. B., individualiſtiſcher
Nationalökonom, ſein Haupt-
werk 91; Verdeutlichung der
Arbeitszerlegung an der Spiel-
kartenfabrikation 351. - Say, Louis 113.
- Schäffle, Ideal ſocialer Mechanik
60; Verdienſt um die Lehre von
den ſocialen Organen 63; So-
ciologe 72; Zeitſchrift für die
geſamte Staatswiſſenſchaft 119;
Würdigung; ſeine Werke als
ſolche, welche die Ziele und Ge-
danken neuerer Volkswirt-
ſchaftslehre mit am deutlichſten
wiederſpiegeln 123; Bedeutung
des Ackerbaues für die Ver-
nunftentwickelung 200; Verſuch
einer Einfügung der Familien-
wirtſchaft in das Syſtem der
Nationalökonomik 231; ſtaats-
wiſſenſchaftliche Verwertung
der biologiſchen Gedankenreihen
über Arbeitsteilung 325; Wich-
tigkeit der Ariſtokratien für
höhere Kultur 410. - Schanz, G., Wirtſchaftshiſtoriker
Englands 119; Finanzarchiv
119. - Schelling, metaphyſiſch-idealiſti-
ſcher Ethiker 71; Einfluß auf
deutſche Socialiſten 113. - Scherer, W. 11.
- Schiller 365.
- Schlözer 112.
- Schmoller, G., Vertreter der mo-
nographiſchen deutſchen Wirt-
ſchaftsgeſchichte 118; Jahrbuch
für Geſetzgebung, Verwaltung
und Volkswirtſchaft im Deut-
ſchen Reich 119; Arbeit über
Arbeitsteilung aus dem Jahre
1889 325; frühere Auslaſſung
über die klaſſenbildende Wirkung
der Arbeitsteilung 397. - Schnapper-Arndt 119.
- Schönberg, G. v., Vertreter
der monographiſchen deutſchen
Wirtſchaftsgeſchichte 118; Hand-
buch der politiſchen Ökonomie
120. - Schönlank 98.
- Schrader, O., Bedeutung für die
realiſtiſche Forſchung, Haupt-
werke 116; individualiſtiſche
Eigentumstheorie, anknüpfend
an urgeſchichtliche Wortbil-
dungen 389. - Schulze (-Delitzſch), genoſſenſchaft-
licher Agitator 445; Eintreten
[465]Regiſter.
für Solidarhaft, Erhöhung der
Bedeutung der Generalver-
ſammlung, Empfehlung peri-
odiſcher Reviſionen 447. - Schumacher, H. 119.
- Schwabe 276.
- Senior 32.
- Sering, M., Agrarpolitiker 119;
Kenner amerikaniſcher Volks-
wirtſchaft 119. - Serra, Antonio 87.
- Settegaſt 196.
- Shaftesbury, empiriſcher Ethiker
72; im Sinne des Naturrechts
natürliche und unnatürliche
Neigungen 83. - Siemens, Erfindung verbeſſerter
Stahlgewinnung 216; hervor-
ragender Großinduſtrieller 394. - Simmel, ſociologiſche Behand-
lung der Arbeitsteilung 325;
die unteren Klaſſen repräſen-
tieren eine rückſtändige Zeit 393. - Sismondi, Vertreter des So-
cialismus, ſein Hauptwerk 93;
auf chriſtlicher Grundlage
fußend 113; ſein Wirken im
Gegenſatz zur Sayſchen Schule
121; einſeitiger Peſſimiſt in
der Beurteilung des Maſchinen-
zeitalters 224. - Sivert, H. 127.
- Smith, A., Bedeutung der Sym-
pathie der Menſchen 30; über-
triebener Einfluß, den er dem
Streben nach Anerkennung bei-
mißt 31; Stellung in der Ge-
ſchichte der Lehre vom Selbſt-
intereſſe 32; empiriſcher Ethiker
72; individualiſtiſcher National-
ökonom, Bedeutung für die
Volkswirtſchaftslehre 90/91;
optimiſtiſcher Bevölkerungspoli-
tiker 174; Ausführungen über
Städteweſen, Kritik 274; Selbſt-
verſtändlichkeit gut eingerichteter
Staats- und Finanzverwaltung
281; Begründer der Auffaſſung,
daß übermäßige und ungerechte
Steuern die Volkswirtſchaft be-
drohen 308; Unterſchätzung der
Beamtenwirtſchaft 312; Stu-
dien über Arbeitsteilung 325;
Ausgangspunkt der Arbeits-
teilung 327; Verdeutlichung der
Arbeitszerlegung an der Steck-
nadelfabrikation 351; Land-
wirtſchaft produktiver als Ge-
werbe und Handel 357; Ver-
urteilung der Kompagnien und
ihrer Direktoren 441; desgl. der
Unternehmerverbände 449. - Socrates 353.
- Soetbeer, monographiſcher Spe-
cialforſcher 119; gleichzeitige
Niederſchlagung von Steuern
und Staatszinszahlungen 310.
- Solon 356.
- Sombart 419.
- Sonnenfels 174.
- Sophiſten, Bedingtheit des Sitt-
lichen 43; ſenſualiſtiſch-mate-
rialiſtiſche Ethiker 71; Stellung
in der Geſchichte der Staats-
wiſſenſchaften 77. - Spencer, Kontrolle der menſch-
lichen Handlungen 45; em-
piriſcher Ethiker 72; Sociologe
72; Bedeutung für die hiſto-
riſche und ſonſtige realiſtiſche
Forſchung 116; angeborene
Denkformen 141; ethnogra-
phiſche Beſchreibung der nie-
derſten Raſſentypen im An-
ſchluß an H. Sp. 148/150;
Vergleich zwiſchen Tierarten
und Völkern verſchiedener Kul-
turhöhe bezüglich der Opfer,
die die Nachkommenserzeugung
den Eltern bereitet 161; Stand-
punkt in der Bevölkerungsfrage
175; Wichtigkeit der zunehmen-
den Lebensdauer der Eltern in
der patriarchaliſchen Familie
für die höheren Kulturleiſtungen
242; politiſche und ſociale
Folgen zerſtreuter und dichter
Siedlung 275; Zuſammen-
wirken verſchieden beanlagter
Menſchen in Gruppen 280;
ſtaatswiſſenſchaftliche Verwer-
tung der biologiſchen Gedanken-
reihen über Arbeitsteilung 325;
Wichtigkeit des Vertrauens der
großen Menge auf die Prieſter
bei primitiver Kultur 330;
Folgen der Arbeitsteilung 365;
Vererbung von Stellung und
Funktion als Princip ſocialer
Dauerhaftigkeit 400. - Spinoſa, Vertreter des ſogen.
Naturrechts 82; Selbſtſucht 83;
Eintreten für Volksſouveräni-
tät 83. - Spittler 113.
- Stahl 389.
- Starke 231.
- Stein, Lorenz v., Hauptwerke
113; Charakteriſtik, Bedeutung
für die Wiſſenſchaft 114; Werke
als ſolche, welche ſich in der
Richtung der Gedanken und
Ziele der neueren Volkswirt-
ſchaftslehre bewegen 123; Ver-
ſuch einer Einfügung der Fa-
milienwirtſchaft in das Syſtem
der Nationalökonomie 231. - Steuart, James, wirtſchaftlicher
Mechanismus ein Werk des
Staatsmannes 85; hervor-
ragendſter Vertreter des eng-
liſchen Merkantilismus, Haupt-
werk 87/88; Betonung der in
der Ernährungsmöglichkeit ge-
gebenen Grenzen der Bevöl-
kerung 174. - Stieda, W., Vertreter der mono-
graphiſchen deutſchen Wirt-
ſchaftsgeſchichte 118; Höhe
ſtädtiſcher Etats im 14. Jahr-
hundert 282. - Struck 119.
- Struenſee 113.
- Süßmilch, Johann Peter, Haupt-
werk, Bedeutung für die em-
piriſche Forſchung und Statiſtik
112/113; erſter, der den Ver-
ſuch einer Bevölkerungslehre
unternahm 159; ältere Zahlen
über Eheſchließungen 165;
desgl. über Todesfälle 166;
Schätzung der Bevölkerung der
ganzen Erde 171; optimiſtiſcher
Bevölkerungspolitiker 174; peſſi-
miſtiſche Auffaſſung über
ſtädtiſche Wohnweiſe 276. - Sulla 402.
- Sully 304.
- Supan 171.
- Syme, D. 120.
- Tacitus, Unmöglichkeit, auf ihn
die Annahme des Hof- oder
Dorfſyſtems bei den Germanen
zu ſtützen 262; Geringe und
Mächtige mit gleichem Beſitz
375. - Tarde 10.
- Temple, Sir William, einer der
erſten Vertreter empiriſcher
Nationalökonomik 112; opti-
miſtiſcher Bevölkerungspolitiker
174. - Thierry, hervorragender Hiſto-
riker und dadurch Anreger
der franzöſiſchen Wirtſchafts-
geſchichte 121. - Thomas von Aquino 71.
- Thompſon, William 94.
- Thornton 120.
- Thünen, A. v., Bedeutung für
die Volkswirtſchaftslehre 117;
Unrentabilität landwirtſchaft-
licher Grundſtücke wegen zu
weiter Entfernung von den
Wohnſtätten 272; örtliche Ar-
beitsteilung 354. - Thukydides 77.
- Thun 119.
- Tooke, Th. 120.
- Tories 87.
- Toynbee, A. 120.
- Treitſchke 410.
- Trendelenburg 389.
- Turgot 89/90.
- Tylor 116.
- Unger 230.
- Urquhart 365.
- Vauban, individualiſtiſcher Volks-
wirt, ſein Hauptwerk 88; op-
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 30
[466]Regiſter.
timiſtiſcher Bevölkerungspoli-
tiker 174. - Verri 86.
- Viebahn 269.
- Vierkandt, Charakteriſtik der Se-
miten 152; Autor, der ab-
ſchließende Zuſammenfaſſungen
über die Raſſenfragen unter-
nommen hat 158. - Villermée 121.
- Vollgraf 140.
- Voſſius, Iſaac 171.
- Wagner, Adolf, Einteilung der
Bedürfniſſe 23; monographiſcher
Specialforſcher 119: ſein Lehr-
buch als ſolches, in dem ſich
die Gedanken und Ziele neuerer
Volkswirtſchaftslehre mit am
deutlichſten ſpiegeln, Stellung
in der Nationalökonomik 123;
beſonderes caritatives Syſtem
neben Privat- und Gemein-
wirtſchaft 317; Terminologie
der Eigentumstheorien 389;
Vertreter der Legaltheorie in
der Eigentumsfrage 390. - Wagner, Moritz, Migrations-
theorie 129; Erklärung der
Raſſenſcheidung 142/143; Be-
deutung der Migrationstheorie
176; Urſache der erſten tech-
niſchen Fortſchritte 191. - Waitz, Th., Bedeutung als re-
aliſtiſcher Forſcher und Anthro-
pologe, Hauptwerk 116; Ver-
treter einer mehr idealiſtiſchen
Auffaſſung über den Zuſammen-
hang der Civiliſation mit der
äußeren Natur 137. - Wallace, A., Naturforſcher, deſſen
Arbeiten die Kenntnis vom
Einfluß der Natur auf das
Menſchenleben gefördert haben
127; Konſtanz der Tierraſſen
141. - Wallon, H. 121.
- Wappäus, Bevölkerungsſtatiſtiker
115, 159; peſſimiſtiſche Auf-
faſſung über ſtädtiſche Wohn-
weiſe 276. - Webb, Beatrice und Eheleute,
Würdigung 98; Stellung in
der Geſchichte der engliſchen
Nationalökonomik 120: pro-
centualer Anteil der Arbeiter
an der engliſchen Geſamt-
bevölkerung 345. - Weber, M., Agrarpolitiker 119;
Erſetzung der römiſchen Hufen-
verfaſſung mit Feldgemeinſchaft
durch freies Bodeneigentum und
ihre Folgen 373. - Weismann 143.
- Wellhauſen 329.
- Wells, Procentſatz der in ver-
ſchiedenen Induſtrien der Ver-
einigten Staaten durch die
neueſten techniſchen Fortſchritte
überflüſſig werdenden Arbeiter
223; Verhältnis zwiſchen
Staatsausgaben und National-
einkommen Großbritanniens
322.
- Wertheim 433.
- Weſtergaard, W. 115.
- Weſtermarck, Abweichungen im
Geſamtgleichgewicht der Ge-
ſchlechter bei halbkultivierten
Völkern 163; Stellung in der
Litteratur über die älteſte
Familienverfaſſung 231; ſein
Gebrauch des Begriffs Ehe
231; Annahme einer befeſtigten
patriarchaliſchen Familienver-
faſſung bei größeren primitiven
Stämmen 234. - Whigs 87.
- Winkelblech ſ. Marlo.
- Wittich 119.
- Woeikoff 127.
- Wolf, Chriſtian, Vertreter des
Naturrechts, Hauptwerk 82;
Eintreten für monarchiſche
Staatsallmacht 83; Merkan-
tiliſt 88. - Wolf, Julius 122.
- Wright, Th. 120.
- Wundt, empiriſcher Ethiker 72;
Gegenſatz des Geiſtes zu den
Naturwiſſenſchaften 111. - Xenophon, Stellung in der Ge-
ſchichte der Staatswiſſenſchaften
77; Staatseinnahmen Attikas
282. - Young, Arthur 112.
- Zahn 332
- Zeno 79.
Appendix A.2 II. Sach-Regiſter.
- Abſatz, Abhängigkeit vom Klima
132; beim Handwerk 419; in der
Hausinduſtrie 425; im Groß-
betrieb 429/430, 432, 433/434;
Regulierung durch Zünfte
419/420; dasſelbe durch Kar-
telle 449, 450/451; Regelung
auf dem freien Markt 456. - Abzugsrecht, unter der Grund-
herrſchaft 291; nach Stadtrecht
295. - Ackerbau, Abhängigkeit der Ent-
ſtehung von den Bodenverhält-
niſſen 132; A. folgt dem Waſſer
134; Einfluß auf die Wande-
rungen 177; verſchiedene An-
ſichten über hiſtoriſche Auf-
einanderfolge der Epochen des
A. und Viehzucht 195; Hack-
bau Hahnſcher Terminus für
primitiven A. 195; Entſtehung
des A. mit Pflug u. Zugvieh
im Anſchluß an das Gelingen
der Rindviehzähmung 196/197;
A. die weiblichen u. friedlichen
Eigenſchaften der Stämme för-
dernd 198; Unterſchied zum
Hackbau 198; Bedeutung des
A. für Entwicklung der Technik
und Kultur 199/200; verſchie-
dene Syſteme des A. 200/201;
Sklaven- und Vieheigentum
älterer A.-Stämme 369/371;
ältere Grundeigentums-Ver-
faſſung der A.-Völker 371/373.
- Agrar- und Induſtrieſtaatsfrage
359. - Agrarweſen, die deutſchen Haupt-
autoren des A. 117, 118/119. - Aktiengeſellſchaft, hiſtoriſche Vor-
läufer 441; Wandelung des
A.-Rechts 442; Weſen u. Ver-
faſſung 442/443; Schwierig-
keiten und Schattenſeiten 443;
Vorzüge 444; Statiſtik 444. - Allgemeine Vokswirtſchaftslehre
124. - Allmende, Verſchwinden der römi-
ſchen A. im ager publicus 258;
Stellung in Dorf- und Mark-
genoſſenſchaft 287/288; Teilung
und Folgen für den Bauer 289;
Rolle in der Stadtwirtſchaft
[467]Regiſter.
297; im Eigentum moderner
Einwohnergemeinden 316, 377;
Größe im Trierſchen Lande im
18. Jahrhundert 371. - Altersaufbau, A. in verſchiedenen
Staaten 160; verſchiedene Be-
ſetzung der Altersklaſſen nach
dem Stande der Kultur 162;
Unterſchied zwiſchen Stadt und
Land 162; Bedeutung für die
Sterblichkeit 167. - Altersklaſſen, wirtſchaftliche
Stellung u. numeriſche Be-
deutung der verſchiedenen A.
160/161; Wichtigkeit der reife-
ren A. für die Kultur 161/162. - Altersverhältniſſe der Bevölke-
rung 159/162. - Amtsbezirk 285.
- Anerkennungstrieb, allgemeine
Schilderung u. Würdigung 30;
A. ſittliches Zuchtmittel 45;
Zuſammenhang mit der Klaſſen-
bildung 393. - Arbeit, Definition 38; Erziehung
zur A. 38/39; Bedeutung als
wirtſchaftliche Tugend 39; Be-
einfluſſung der Zu- oder Ab-
nahme der Arbeitsgelegenheit
u. ihrer Regelmäßigkeit durch
die Maſchine 223; Beein-
fluſſung durch die Arbeits-
teilung 364/365. - Arbeiter, Arbeiterſtand, Ent-
ſtehung eines breiten Lohna.
im Anſchluß an die Großtechnik
223; Wirkung der Maſchine
auf Lebenshaltung, Geſundheit,
Kraft, Bildung der A. 223/224;
allgem. Geſichtspunkte über die
Entſtehung eines gehorchenden
A. 337/338; unfreie u. halb-
freie A. 339/342; Entſtehung
des neueren freien A. 342/343;
Weſen des letzteren 344; Ele-
mente u. Größe des A. in
Preußen im Laufe des Jahr-
hunderts 344; procentualer
Anteil an der Bevölkerung in
verſchiedenen Staaten 344/345;
gegenwärtiges Zahlenverhält-
nis in Deutſchland zwiſchen
Unternehmern, Beamten u. A.
345, 352; landwirtſchaftliche
Thätigkeit induſtrieller Lohna.
347; gelernte u. ungelernte A.,
Statiſtik 352/353; notwendige
Forderungen für die A. gegen-
über den ſchädlichen Folgen der
Arbeitsteilung 367; das heutige
Problem der Organiſation der
A. 407/409; Rechtsverhältnis
der A. im Großbetriebe: patri-
archaliſche Verfaſſung 437/438;
freier Arbeitsvertrag 438/439;
Reform 439. - Arbeitsgenoſſenſchaften, 415/416.
- Arbeitsmaſchine, im Gegenſatz
zur Kraftmaſchine 218; Charak-
teriſtik der Vorausſetzungen u.
Wirkungen 219. - Arbeitsteilung, frühe in den
Mittelpunkten der aſiatiſchen
Reiche 205; Vorläuferin der
Arbeitsmaſchine 219; eine Art
A. zwiſchen Mann und Frau
in den früheſten Zuſtänden
zerſtreuten Wohnens 232; die
patriarchaliſche Familie als Er-
zeugerin einer natürlichen, ein-
heitlich geleiteten A. 242; Or-
ganiſation der A. in der patri-
archaliſchen Familie 243; A. in
der modernen Familie 249/250;
gewiſſe A. Bedingung der
Städtebildung 265; A. in der
grundherrſchaftl. Verwaltung
290/291; geſellſchaftl. u. wirt-
ſchaftl. A. 324/367; Dogmen-
geſchichte 325; Entſtehung u.
Weſen 326/327; Stoffeinteilung
328/329; Thatſachen der A.
328/359; Prieſter- und Krieger-
tum 329/333; Händler 333/337;
Entſtehung eines Arbeiter-
ſtandes 337/338; Sklaven
338/340; halbfreie Arbeiter
340/342; neuerer freier Ar-
beiterſtand 342/345; Scheidung
von Gewerbe und Landbau
346/347; landwirtſchaftliche A.
347/348; gewerbl. A.; Weſen
und Termini; Zahl der ver-
ſchiedenen Gewerbe; Würdigung
348/353; A. der liberalen Be-
rufe 353/354; räumliche A.
354/356; ältere Beurteilung
der A.; Altertum, Kirchen-
väter, Phyſiokraten, Smith
356/357; zahlenmäßige Er-
faſſung 358/359; vier Typen
geſellſchaftlicher Ordnung der
A. 360/362; techniſch-wirtſchaft-
liche Bedingungen 359/360;
ſociale Inſtitutionen als Vorbe-
dingung 362; pſychologiſche Vor-
bedingungen, Komplizierung der
menſchlichen Motive 362/363;
Urſachen 360; Zuſammen-
faſſung der Urſachen u. Bedin-
gungen 363/364; ſociale Reſul-
tate 362; geſellſchaftliche Folgen
364/365; individuelle Folgen
365/366; Schattenſeiten, not-
wendige Forderungen für die
Arbeiter ihnen gegenüber 367;
ſocialiſtiſche Beurteilung 363,
365, 366/367; mancheſterliche
Beurteilung 363; Anklagen
vom individuellen Standpunkt
365/367; Einfluß auf Klaſſen-
bildung 396/398. - Arbeitsverſchiebung 350.
- Arbeitszerlegung, Begriff 350;
Schilderung und Würdigung
351/352. - Ariſtokratie, Entſtehung u. Herr-
ſchaft der Prieſter-A. 330/331;
Krieger-A., Entſtehung u. Um-
wandlung 331/332; Händler-A.
333, 335, 337; Mittel des
Emporkommens, procentualer
Anteil an der Bevölkerung,
Stütze durch dienende Kräfte
338; Arbeitsteilung zwiſchen
A. und Hörigen 341; Kriterium
der Berechtigung ihres großen
Grundbeſitzes 378; Erbrecht u.
A. 384/385; Rechtfertigung
durch F. A. Lange u. a., Be-
deutung für Emporſteigen der
Völker 409/410. - Armenpflegerkongreß 119.
- Arrondiſſement 284.
- Ausland, Verbindung mit ihm
durch völkerrechtl. Abmachungen
und Handelsverträge 286/287;
Teil des für ausländiſche Waren
ausgegebenen deutſchen Natio-
naleinkommens 356. - Auswanderung, geſchichtliche
Rolle in der Bevölkerungs-
politik 177/179; Statiſtik der
neueren A. 180/182; ſtaatliche
A.-Politik 181. - Bankweſen, deutſche Haupt-
autoren 119; arbeitsteilige Ent-
ſtehung aus Nebenerwerb 335;
Großbetriebe im B. 432; cen-
traliſtiſche Tendenzen 453. - Bauer, Veränderung durch Um-
bildung der genoſſenſchaftlichen
Dorfwirtſchaft in Sonderwirt-
ſchaft 289/290; Lage des un-
freien B. unter der Grund-
herrſchaft 291/292. - Baugewerbe 380.
- Baumwolle, Statiſtik der B.-
Spindeln 214; Chevaliers Be-
rechnung der Steigerung der
produktiven Kraft in der B.-
Verarbeitung 221. - Baumwollſpinnmaſchine 214.
- Beamte, Bedeutung für die
ſtaatliche Wirtſchaft 312; Größe
des B.-Perſonals in verſchie-
denen Staaten u. Verwaltungen
312/313; Schwierigkeit der Or-
ganiſation des B.-Apparates
313; gegenwärtiges Zahlen-
verhältnis in Deutſchland
zwiſchen Unternehmern, B. u.
Arbeitern 345, 352; Zahl der
B. 1882 u. 1895 in Landwirt-
ſchaft, Gewerben, Handel und
Verkehr 436; Beamtentum des
Großbetriebes 436/437. - Bedürfnis, Litteratur 20; ge-
meinſame B. Bildner wirtſchaft-
licher Bewußtſeinskreiſe 19;
individuelle B. 22/26; Defi-
30*
[468]Regiſter.
nition 23; B.-Befriedigung
Ausgangspunkt alles Handelns
23; Einteilung 23; Erklärung
24; Berechtigung der wirt-
ſchaftlichen B.-Steigerung 25;
Gefahren der B.-Steigerung
25/26; Vereinheitlichung der
B. treibende Urſache des Groß-
betriebes 432. - Begriffsbildung, Zweig der
Methodenlehre 103/105; Auf-
gabe und Bedingungen 103;
allgemeine Begriffe; häufige
Überſchätzung; Begriffsſchema-
tismus 104; Bedeutung für
die Volkswirtſchaftslehre 105. - Beobachtung, wiſſenſchaftliche
Methode 100/103; Definition
der wiſſenſchaftlichen B. 100;
Objekte und Hilfsmittel 101;
Verhältnis zu Induktion und
Deduktion 102. - Bergbau, Verwendung der Waſſer-
kraft im 14. u. 15. Jahrhundert
209; Großbetrieb 432. - Bergwerk, Veräußerung ſtaatl.
B. von 1800 ab 304/305; Rolle
im Etat verſchiedener Staaten,
305; ältere Verfaſſung 423;
neuere Reform 424. - Beruf, Verſuche einer Klaſſi-
fikation 356/357; Verhältnis-
mäßigkeit der Beſetzung 357;
Erblichkeit 399/400; Berufserb-
lichkeit im indiſchen u. römiſchen
Kaſtenweſen 400/402; Kritik
der Erblichkeit, Kampf dagegen
404/405; Aufhebung der Erb-
lichkeit u. ihre Urſachen 405/406;
freie Berufswahl 406. - Berufsſtatiſtik 358/359.
- Berufsteilung, frühe in den
Mittelpunkten der aſiatiſchen
Reiche 205; Weſen u. Begriff
349/350; Weſen u. Begriff der
Specialiſation der B. 350;
hiſtoriſch-ſtatiſtiſche Erfaſſung
358/359; Einfluß auf Klaſſen-
bildung 396/398. - Beſchäftigung, Raſſentypus 145.
- Beſchreibung, wiſſenſchaftliche
Methode 100/103; Definition
101; Verhältnis zur Beobach-
tung 101/102; Vergleichung
als Hilfsmittel der B. 102. - Bevölkerung, merkantiliſtiſche Re-
gelung 85; Verteilung auf die
nördliche und ſüdliche Hälfte
der Erde 128; Abhängigkeit
von Flora und Fauna 135/137;
durch natürliche Fruchtbarkeit
des Bodens und Klimas be-
dingte Verſchiedenheit der Dich-
tigkeit 136; Altersverhältniſſe
159/162; Geſchlechtsverhältnis
und Verehelichung 162/165;
Geburten u. Todesfälle 165/168;
Zunahme u. Abnahme 168/169;
abſolute Größe der B. ver-
ſchiedener Völker und Länder
zu verſchiedenen Zeiten 169/171;
Hemmungen 171/176; Aus-
breitung nach außen, Eroberung,
Koloniſationen, Wanderungen
176/182; Schätzung der voraus-
ſichtlichen B. einzelner Nationen
nach hundert Jahren 182; Ver-
dichtung der B. 182/186; Ver-
teilung auf Stadt und Land
im Mittelalter 267; relative
und abſolute Verteilung der B.
auf Stadt u. Land, verſchiedene
Bevölkerungszunahme; Sta-
tiſtik 269/271; Anteil der B.,
der bei verſchiedener Kultur-
ſtufe und Militärverfaſſung
Kriegsdienſt thut 332; Einfluß
der Bevölkerungszunahme auf
die Bildung der Hausinduſtrie
und des modernen Arbeiter-
ſtandes 343; Teilung nach Be-
rufen 358/359. - Bevölkerungslehre, ihr Gegen-
ſtand und die Anfänge einer
wiſſenſchaftlichen Behandlung
159; Malthus 175. - Bevölkerungspolitik, Hemmun-
gen bei primitiven Völkern
173; B. des aufgeklärten Des-
potismus 174; peſſimiſtiſche
B. vertreten durch Malthus,
Mill ꝛc.; in ihrer Folge mancher-
lei die Bevölkerungszunahme
hindernde Geſetze 175; Wan-
derungen ganzer Stämme bei
roheren Naturvölkern 177;
Koloniſation ſeßhafter Völker
177/178; Richtlinien für eine
deutſche B. der Gegenwart 187. - Bevölkerungsproblem, B. und
die Wege ſeiner Löſung 171/187. - Bevölkerungsverdichtung, Sta-
tiſtik der B. 182/184; die na-
türlichen Bedingungen der B.
184; techniſche, wirtſchaftlich-
organiſatoriſche Vervollkomm-
nung als Verdichtungsbedin-
gung 185/186; Bedeutung und
Grenzen der B. 186; B. Be-
dingung der Städtegründung
265; Verhältnis der verſchie-
denen Wohnplätze zur Bevöl-
kerungsdichtigkeit; Statiſtik
269/271. - Bewußtſeinskreiſe, Litteratur,
15; allgemeines Weſen 16/17;
die einzelnen B. 18/20; re-
ligiös-kirchliche B. 19; wirt-
ſchaftliche B. 19/20. - Biologie, Einfluß auf die Lehre
von der Arbeitsteilung 325. - Blutsmiſchung, ſociale B. 145;
als Urſache neuer Raſſentypen
146/147.
- Blutszuſammenhang, als Princip
geſellſchaftlicher Gruppierung 7. - Bodenverhältniſſe 133.
- Börſenweſen, die deutſchen Haupt-
autoren 119. - Brauerei 422.
- Brennwirtſchaft 200.
- Bronze 202.
- Bürgermeiſterei 285.
- Bürgerſchaft, Zuſammenſetzung
in der älteren Stadt, Rechte
der Mitglieder 295; Natural-
dienſtleiſtungen in der älteren
Stadt 297. - Burg, älterer deutſcher Gebrauch
des Namens 263; Beziehungen
zwiſchen Burgbau und Städte-
gründung 264. - Buſchmänner 148.
- Caritatives Syſtem 317.
- Centraliſtiſch, Steigerung des c.
Zuges in der Leitung der Volks-
wirtſchaft 453, 455, 457; Be-
urteilung 455. - Chineſen, ethnographiſche Be-
ſchreibung; Bedeutung ihrer
Konkurrenz für Europa 150/151. - Chriſtentum, Einfluß auf die
Staatswiſſenſchaften und ſeine
Stellung in ihrer Geſchichte
79/80; Stellung zur Bevöl-
kerungsfrage 174. - Cobdenklub 92.
- collegia 401.
- collegiati 402.
- Compagnien, ihre Rolle bei der
Auswanderung 178; Weſen,
Leiſtungen, Umfang der re-
gulierten C. 441; Urteile über
letztere 441/442. - Dampf, als Kraftquelle 212;
Vorzüge gegenüber Waſſer und
Wind, Schattenſeiten 213; die
Dampfkräfte Deutſchlands im
Vergleich zur Größe anderer
mechaniſcher Kräfte 218; Koſten
der Dampfkraft im Vergleich
zu anderer im Verkehr 219. - Dampfmaſchine, Überblick über
ihre Entwicklung 212; Ver-
breitung, techniſche Leiſtung,
wirtſchaftliche Bedeutung 213. - Dampfſchiff, ſein Übergewicht in
der europäiſchen Handelsmarine
212. - Deduktion, als wiſſenſchaftliche
Methode 109; Zuſammenwirken
mit der Induktion 109/110. - Definition, ſiehe auch Begriffsbil-
dung; als Zweig der Methoden-
lehre 103/105; Zweck, Be-
dingungen, Grenzen, Beiſpiele
103; Möglichkeit verſchiedener
D. 104; Nominal- und Real-D.
104. - Deutſche 154/156.
[469]Regiſter.
- Dentſchland, Abhängigkeit ſeines
Ackerbaulebens von ſeiner geo-
graphiſchen Lage 129; Größe
ſeines zuſammenhängenden
Landgebietes und deren Be-
ziehungen zur geographiſchen
Lage 129. - Detailhandel 364.
- Dieſelſche Wärmemaſchine 213.
- Differenzierung, Anerkennung,
daß zu große D. der ſocialen
Klaſſen die Gegenwart bedrohe
123. - Domänen, Veräußerung von 1800
ab 304/305; Rolle im Etat ver-
ſchiedener Staaten 305. - Domänenwirtſchaft, Vorzüge
gegenüber der Naturaldienſt-
verfaſſung 304; Würdigung 305. - Dorf, allgemeine natürliche Be-
dingungen 133; Hackbau als
Erzeuger 200; Definition des
Begriffes 255; dem vorwie-
genden Leben des Hack- und
Ackerbaues entſprechend 256;
Einwohnerzahl badiſcher und
ruſſiſcher D., dasſelbe von 58
Pfälzer D. im 15., 18. und
19. Jahrhundert 263; Zahl der
Familien nach Meitzen, welche
bei den Germanen gemeinſam
Dorffluren erwerben und D.
anlegen 261; kleine D. früher,
als Höfe 262; Statiſtik der mo-
dernen Einwohnerzahl 268/271;
Verhältnis zur Markgenoſſen-
ſchaft 287/288. - Dorfgenoſſenſchaft, Verfaſſung,
Organe, Eigentumsrecht, Ge-
ſamtwirtſchaft der alten D.
288/289; Umbildung in die
neuere Einwohner- und Orts-
gemeinde 289. - Dorfſyſtem, Streitfrage, ob Dorf-
oder Hofſyſtem das ältere
260/262; Vorzüge des D. und
Prognoſe ſeiner zukünftigen
Ausdehnung 262/263; ſtatiſtiſche
Erfaſſung des territorialen
Gegenſatzes von Hof- und Dorf-
ſyſtem 268. - Dorfwirtſchaft, weſentl. Merk-
mal früheren Wirtſchaftslebens
4; Zwecke, Verfaſſung, Weſen
der älteren D. 287/290. - Dreifelderwirtſchaft 200.
- économie politique 300.
- Egoismus, ſ. Selbſtliebe.
- Ehe, Statiſtik der Verehelichun-
gen, Urſachen der zeitlichen und
geographiſchen Schwankungen
163/165; Kontrolle der Ehe-
ſchließung durch den Herrn bei
Sklaven, Halbfreien als Be-
völkerungshemmnis 174; Er-
leichterung der E. unter dem
aufgeklärten Despotismus zur
Förderung der Volksvermeh-
rung 174; ſteigende Eheloſig-
keit ꝛc. als bedenkliches Symp-
tom unſerer volkswirtſchaft-
lichen und ſocialen Organiſa-
tion 176; Richtlinien einer
Ehepolitik als Beſtandteil einer
deutſchen Bevölkerungspolitik
187; Begriff 231; Fehlen der
E. in den früheſten Zuſtänden
zerſtreuten Wohnens und in der
Horde 232/233; Annahme von
Gruppenehen am Anfang
menſchlicher Entwickelung 234;
Umbildung des Eherechtes 248;
gewiſſe moderne Strömungen
bezügl. der Eheſchließung und
-ſcheidung 251. - Eherecht, unter der Grundherr-
ſchaft 291; nach Stadtrecht
295; im Kaſtenweſen 400; Ein-
fluß der germaniſchen Stände-
bildung 403. - Ehre 17.
- Ehrenamt 313/314.
- Eigenproduktion, E. und Haus-
wirtſchaft 204/205; in der
patriarchaliſchen Familie 242
bis 243; während der älteren
Dorfwirtſchaft 288; während der
Grundherrſchaft 290; während
der Stadtwirtſchaft, Übergang
zur Kundenproduktion 296;
Umfang der E. im heutigen
Deutſchland an Kartoffeln, Brot,
Schweinefleiſch 322. - Eigentum, über Grundeigentum
ſiehe dieſes; Weſen und Grund-
züge der Verteilung 367/391;
Bedeutung und Begriff 368;
erſtes Vorkommen des Eigen-
tumsbegriffes und -ſchutzes bei
Jägern und Hackbauern 368
bis 369; individuelles E. frü-
her als kollektives 369; Ent-
wickelung individuellen E. am
Viehſtand 369/370; Sklaven-
und Vieheigentum älterer Acker-
bauer und Hirten 369/371;
ſtädtiſches Grundeigentum 379
bis 380; Privateigentum am
Kapitalbeſitz, Angriffe dagegen;
ſeine Notwendigkeit u. die Mög-
lichkeit einer Demokratiſierung
380/383; Zuſammenfaſſung
über die antike Entwickelung
385/386; dasſelbe bezügl. der
neueren 386; Würdigung der
beſtehenden Eigentumsordnung
387/388; Definitionen 388;
individualiſtiſche Eigentums-
theorien 389/390; centraliſtiſche
Eigentumstheorien 390; Legal-
theorie 390; Einfluß der Eigen-
tumsverteilung auf ſociale
Klaſſenbildung 398; Anerken-
nung, daß bei ſteigender Ver-
geſellſchaftung die Freiheit des
E. nicht verſchwindet 122;
Anſammlung größeren E. als
Grund für die Ausbildung des
Vaterrechtes 239; Frage nach
der dem Großbetrieb ange-
meſſenen Eigentumsform 435
bis 436. - Einfelderwirtſchaft 200.
- Eingeborener 180.
- Einkommen, prozentuale Inan-
ſpruchnahme durch die Kleidung
215; dasſelbe durch Ernährung
und Wohnung 220; Einfluß
der Einkommensverteilung auf
Klaſſenbildung 398. - Einkommensverteilung, Aner-
kennung der Notwendigkeit
neuer Formen der E. 122; Be-
tonung der ungleichen E. durch
Sismondi und manche Socia-
liſten in der Bevölkerungsfrage
175; Hinarbeiten auf gleich-
mäßigere E. als Bedingung der
Bevölkerungsverdichtung 187;
E. und Arbeitsteilung 362. - Eiſen, E. im Beſitz der Afrikaner,
ſolange ihre Geſchichte bekannt
192; Wichtigkeit der Eiſen-
produktion für die Menſchheit
201; Geſchichte der älteſten
Eiſenbereitung und -Verwen-
dung 202/203; dasſelbe fort-
geführt bis in die letzten Jahr-
hunderte 209/210; Entſtehung
von Specialbetrieben bei der
Eiſenherſtellung 210; Eiſenver-
brauch im 16.—17. Jahrhundert
210; Statiſtik der Produktion
u. Fortſchritte der Gewinnungs-
technik im 18. u. 19. Jahrhundert
216/217; Chevaliers Berechnung
der Steigerung der produktiven
Kraft in der Eiſenbereitung
ſeit 4—5 Jahrhunderten 221. - Elektricität, Bedeutung für die
Ausnutzung der Waſſerkraft 212;
Verwendung und Wichtigkeit
als Kraftquelle 213/214; mög-
licher Einfluß auf die Haus-
induſtrie 428. - Eiſenbahn, Wirkung auf Größen-
klaſſen der Städte 271; Vor-
züge der Verſtaatlichung 321. - Elemente der Volkswirtſchaft
125/228. - Eltern, Entſtehung der Fürſorge
für die E. 242. - Empiriſch, empiriſche Ethik 71/72;
empiriſche Beobachtung und In-
duktion 110; Anfänge einer
empiriſchen Wiſſenſchaft der
Volkswirtſchaftslehre 112/114. - Endogamie, ſ. Inzucht.
- England, deutſche Gelehrte, die
über ſeine Volkswirtſchaft ge-
ſchrieben haben 119; die hiſto-
[470]Regiſter.
riſch- oder ſonſt realiſtiſch-
nationalökonomiſche Forſchung
in E. 121. - Engländer 156/157.
- Entwickelungsgedanke, ſeine An-
erkennung als beherrſchende
wiſſenſchaftliche Idee unſeres
Zeitalters, eines der gemein-
ſamen Merkmale der beſten
neueren volkswirtſchaftlichen
Werke 122. - Erbrecht, in der Sippenverfaſſung
238; in der patriarchaliſchen
Familie 241; Vorkommen auf
den älteſten Stufen menſchlicher
Wirtſchaft; unter Mutterrecht
369; Urſprung, allgem. Recht-
fertigung 383; Folgen, Be-
dingungen der Berechtigung
384/385; Reformvorſchläge 385. - Erbſchaftsſteuer, in der älteren
Stadtwirtſchaft 295; als Mo-
difikation des Erbrechts 385. - Erdoberfläche, Raumfläche, Ver-
teilung von Land und Waſſer
ꝛc. 128; Entſtehung 132; Er-
gebnis der an die E. anknüpf-
enden volkswirtſchaftlich-geo-
graphiſchen Betrachtung 134. - Ernährung, Wirkung auf die
Raſſenbildung 145; erſte tech-
niſche Fortſchritte der E. durch
Gebrauch des Feuers 193; Her-
manns Zweifel, ob die gegen-
wärtige E. beſſer ſei als die
der Griechen 220; procentuale
Ausgabe des Einkommens für
E. 220; Einfluß beſſerer E.
auf die Art des Geſchlechtsver-
kehrs 233/234. - Erwerbsthätige, die in Deutſch-
land 1895 im Hauptberuf E.
246; Prozentſatz der ſtehenden
Heere von den E. 332; Zahl
der E. mit Nebenerwerb 1895
346. - Erwerbstrieb, Litteratur 32; Dog-
mengeſchichtliches 32/33; Fehlen
auf den erſten Wirtſchaftsſtufen
33/34; Entſtehung 34/35; geo-
graphiſche Verbreitung 35; Ver-
breitung über die verſchiedenen
Klaſſen 35; Grundlagen für
ſucceſſive Ausbildung 35; Ent-
artung 35/36; wirtſchaftliche
und ſittliche Würdigung 36/38;
Steigerung durch das Maſchi-
nenzeitalter 225; Rolle bei der
Entſtehung der Unternehmung
414/415; dasſelbe beim Groß-
betrieb 430; Entwickelung des
E. Vorausſetzung aller neueren
Unternehmungs-Geſellſchaften
440. - Erziehung, als Zweck ſocialer
Gemeinſchaften 9; Wertſchätzung
durch Ariſtoteles 78; Einfluß
auf den Raſſentypus u. Über-
ſchätzung desſelben durch die
Socialiſten und manche Socio-
logen 145/146; Gewinnung
richtiger Kompromiſſe zwiſchen
den Erziehungs-, Produktions-
und Familienintereſſen 147; E.
der Frauen 251, 253; ſocialiſti-
ſches E.-Ideal 251/252; Ein-
fluß auf Klaſſenbildung 398;
ältere E. ausſchließlich in der
Familie; Begünſtigung der
Kaſtenbildung 399; Änderung
des Erziehungsweſens als Ur-
ſache für Auflöſung des Stände-
tums 405/406. - Etat, ſiehe Haushalt, Finanz-
wirtſchaft. - Ethik 71/72.
- Ethnographiſche Einzelbeſchrei-
bung, die niedrigſten Raſſen
148/149; Neger und verwandte
Stämme 149/150; Mongolen
150/151; mittelländiſche Raſſen,
Semiten 151/152; Indogerma-
nen, Ruſſen, Italiener, Fran-
zoſen 152/154; germaniſche Völ-
ker, Deutſche 154/156; Eng-
länder und Nordamerikaner
156/158. - Exogamie 233.
- Fabian society 98.
- Fabrik, Zuſammenhang der F.-In-
duſtrie mit den Bodenverhält-
niſſen 133; Begriff und Weſen
433. - Familie, Gleichgewicht der beiden
Geſchlechter als Grundbeding-
ung des Familienlebens 162;
Verſchiebung zwiſchen den
Funktionen von F., Gebiets-
körperſchaft und Unternehmung
222, 453/457; Litteratur
230/231; Begriff 232; älteſte
Familienverfaſſung 232/236;
Wichtigkeit des Princips der
Exogamie 233; Fehlen der F.
zur Zeit des Mutterrechts 235;
Funktionen der Familie in der
Sippenverfaſſung 238; Groß-F.
ſiehe patriarchaliſche F.; Um-
bildung der patriarchaliſchen F.
in die neuere verkleinerte, Größe
und Aufgaben der letzteren
244/245; Wirtſchaft der neueren
F. 246; Statiſtik der deutſchen
Familienhaushalte und ihrer
Angehörigen 246; Problem, die
Anforderungen der Familien-
wirtſchaft und der arbeits-
teiligen Thätigkeit ihrer
Glieder in Verbindung zu
bringen 247; Gewinnung rich-
tiger Kompromiſſe zwiſchen den
F., Erziehungs- und Produk-
tionsintereſſen 247; Umbildung
des Familien-, Ehe- ꝛc. Rechtes
248; Leitung der modernen Fa-
milienwirtſchaft 249; Arbeits-
teilung in der modernen F.
249/250; wirtſchaftl. und ſittl.
Fortſchritte in der heutigen F.-
Verfaſſung 248/250; Gefahr
einer Auflöſung der Familien-
wirtſchaft 250/253; Verbindung
ihrer Eigenwirtſchaft mit der
genoſſenſchaftlichen der älteren
Dorfwirtſchaft 288; Familien-
wirtſchaft als Ausgangspunkt
der Unternehmung: Entwick-
lung dazu 416/417. - Feldgemeinſchaft, genoſſenſchaft-
liche Folge des Hack- und
Ackerbaues 199; primitive Form
des agrariſchen Lebens; Hin-
weis auf das Dorfſyſtem als
urſprüngliche Siedlungsweiſe
260; Reſte in der Gegenwart
289. - Feldgraswirtſchaft 200.
- Feuer, Bedeutung für die Ver-
breitungsmöglichkeit des Men-
ſchen über die Erde 192; Frage
nach erſter Benutzung; Zu-
ſammenhang mit Prieſtertum
und Magie 192/193; Bewahrung
und Frage nach erſter künſt-
licher Art des Feuermachens
193; erſte wirtſchaftliche Ver-
wendungen 193. - Finanzbehörden 310/311.
- Finanzverwaltung, Organe 310
bis 311, 312; Schwierigkeiten,
hiſtoriſch-ſtatiſtiſche Belege für
die letzteren 311/312; Wichtigkeit
von Schrifttum, Buchführung,
Etatsaufſtellung 313. - Finanzwirtſchaft, Entſtehung der
ſtaatl. F. und ihre Aufgaben
280/281; hiſtoriſcher Überblick
über F. der Gebietskörper-
ſchaften 282/285; F. der Grund-
herrſchaft 291; F. der älteren
Stadt 297/298; Naturalab-
gaben- und Dienſtverfaſſung
303/304; Domänenwirtſchaft
304/305; Regalwirtſchaft 305;
Geldſteuerſyſtem 306/308;
Staatsſchatz, Staatskredit,
Staatsſchulden 309/310; Münz-
verſchlechterung und Papier-
geldausgabe 309; Zinslaſt und
ihr Verhältnis zum Überſchuß
der privatwirtſchaftl. Staats-
einnahmen in verſchiedenen
Staaten 310; Finanzbehörden
und die Schwierigkeit aller
Finanzverwaltung 310/314; F.
der modernen Einwohnerge-
meinde 316/317. - Finanzwiſſenſchaft, F. u. Volks-
wirtſchaftslehre 278. - Fiſchfang, Steigerung ſeines Er-
trages durch gute Werkzeuge,
[471]Regiſter.
Bedeutung des F. für die Ver-
breitungsmöglichkeit des Men-
ſchen über die Erde 192; Er-
zeuger eines gewiſſen Wohl-
ſtandes 195. - Fleiß 39.
- Flurzwang, als genoſſenſchaftl.
Folge des Hack- und Acker-
baues 199; Weſen 288. - Forſten, Veräußerung ſtaatl. F.
von 1800 ab 304/305; Rolle im
Etat verſchiedener Staaten 305. - Frachtgewerbe 335.
- Frankreich, deutſche Gelehrte, die
über ſeine Volkswirtſchaft ge-
ſchrieben haben 119; die hiſto-
riſch- oder ſonſtige realiſtiſch-
nationalökonomiſche Forſchung
in F. 121; Größe ſeines zu-
ſammenhängenden Landgebietes
und deren Beziehung zur geo-
graphiſchen Lage 129; Anteil
der Stadtbewohner an der Be-
völkerung 259. - Franzoſen 153/154.
- Frau, numeriſches Verhältnis zu
den Männern 162/163; auf nie-
derer Kulturſtufe Bewahrerin
des Feuers 193; Verhältnis
zum Mann in den früheſten
Zuſtänden zerſtreuten Wohnens
232; dasſelbe in der Horde
232/233; beſſere Ernährung auf
primitiver Stufe ihr Verdienſt
234; unter dem Mutterrecht
234/236; Verſchlechterung ihrer
Stellung durch die patriarcha-
liſche Familie, Ausbildung des
Frauenkaufes 240; Rolle in
der patriarchaliſchen Familie
241/242; Arbeitsteilung zwi-
ſchen Mann und F. in der
patriarchaliſchen Familie 243;
allmähliche Erhebung d. Frauen-
ſtellung ſeit Umbildung der
patriarchaliſchen Familie in die
verkleinerte Familie 248; Ar-
beitsteilung zwiſchen F. und
Mann in der modernen Familie
249/250; Ideal der Gleichheit
von Mann und F., der So-
cialismus 251/253; Frauen-
frage 251/253. - Freihändleriſche Theorie in Eng-
land 92; in Frankreich 92. - Freiheit, perſönliche F. begründet
in der Trennung der ſittlichen
Regeln in Moral, Sitte und
Recht 57; wirtſchaftliche und
politiſche F. bedingt durch
die Grenzregulierung zwiſchen
Moral, Sitte und Recht 58;
Forderung nach F., teils be-
rechtigtes Ideal, teils gefähr-
liches Mittel der Ausbeutung
und Majoriſierung 74; An-
erkennung, daß die F. des In-
dividuums und des Eigentums
nicht wieder verſchwinden könne
122; Zuſammenfallen des neuen
privatwirtſchaftl. Großbetriebes
mit dem Siege der perſönlichen
F. 431; Einſchränkung wirt-
ſchaftl. F. durch centraliſtiſche
Leitung 453. - Freizügigkeit, unter der Grund-
herrſchaft 291; nach Stadtrecht
295; F. und Großbetrieb
437/439. - Friedens- und Kriegsgemein-
ſchaften 7/8. - Friſchherd 215/216.
- Fronhof, als Mittelpunkt ſpäterer
Städte 264; Stellung in der
Grundherrſchaft 290. - Gasmaſchine 213.
- Gebietsbildung, natürliche Ein-
flüſſe 129; wirtſchaftliche Be-
deutung der Größe und Gren-
zen für Gebietskörperſchaften
286/287. - Gebietskörperſchaft, erſte Sied-
lungs- und Wirtſchaftsgemein-
ſchaften 8; Verſchiebung zwiſchen
den Funktionen von Familie,
G. und Unternehmung durch die
moderne Technik 222; Ent-
ſtehung der Wirtſchaft 279;
Weſen und Urſachen 279/280;
hiſtoriſcher Überblick über terri-
torialen Umfang, Einwohner-
zahl und Größe der Finanzen
282/285; verſchiedene Gemeinde-
bildungen verſchiedener Staaten
284/285; hiſtoriſche Entwick-
lung größerer und kleinerer G.
neben u. über einander 285/286;
wirtſchaftliche Bedeutung der
Größe und Abgrenzung der G.
286/287; Markgenoſſenſchaft
erſter Familienverband, der G.
wird 287; ältere Dorfwirtſchaft
287/290; Grundherrſchaft und
ihre Wirtſchaftsorganiſation
290/293; ältere Stadtwirtſchaft
293/298; der Staat und ſeine
Wirtſchaft 298/314; moderne
Einwohnergemeinde 314/317;
Teilung der wirtſchaftl. Funk-
tionen zwiſchen G., Unter-
nehmung, Familie 318/319,
453/457; die bei dieſer Teilung
den G. zufallenden Aufgaben
319/324. - Gebirge 128.
- Gebrechliche 161.
- Gebühr, Entſtehung und Weſen
306; ihre ſtärkere Ausbildung
als Pflicht der Gemeinden 316. - Geburten, bei Naturvölkern höhere
Geburtenzahl als bei Kultur-
völkern 161; Verhältnis der
beiden Geſchlechter bei Kultur-
völkern 162; Überwiegen der
Mädchengeburten bei verſchie-
denen Völkern 163; phyſiologiſch
mögliche Geburtenzahl 163;
thatſächliche Geburtenzahlen
163/164; Urſachen der Schwan-
kungen 164; Geburtenzahl und
Sterblichkeit 167/168. - Gefäße 193.
- Gefühle, Litteratur 90; ſ. a. Ge-
meingefühle; individuelle G.
20/22; G. als vom Intellekt zu
regulierende Wegweiſer 21;
Wertung der G. 22. - Geiſtig 331.
- Geiſtig-moraliſche Atmoſphäre
145. - Geld 85.
- Geldweſen, die deutſchen Haupt-
autoren 119. - Gemeinde, Einwohnerzahlen 269;
territorialer Umfang der ver-
ſchiedenen Gemeindebildungen
verſch. Staaten 284; Finanz-
wirtſchaft 285; Umbildung der
Dorfgenoſſenſchaft in die neuere
Einwohner- u. Ortsgemeinde
289; rechtl. Stellung u. Ver-
faſſung der modernen Ein-
wohnergemeinde 314/315; ihre
Aufgaben u. deren Abgrenzung
von den Staatsaufgaben 315;
moderne G.-Finanzwirtſchaft;
Vermögen, Schulden, Ein-
nahmen 316/317; Teilung der
wirtſchaftl. Funktionen zwiſchen
Familie, Unternehmung, G.,
Staat 222, 318/319, 453/457;
die der G. hierbei zufallenden
Funktionen 319/320. - Gemeinderſchaft 241.
- Gemeingefühle 9.
- Generationswechſel 159/160.
- Genoſſenſchaft, G. der ſtark wan-
dernden Nomaden 198; mittel-
alterl. germaniſche G. 403/404;
Entſtehung u. Ideale der neue-
ren wirtſchaftlichen G. 444/445;
Zwecke und Arten 445/446;
Recht u. Verfaſſung 446/447;
Statiſtik 447/448. - Gens, ſ. Sippe.
- Gentilverfaſſung, ſ. Sippenver-
faſſung. - Geographie 127.
- Geographiſch, g. Eigenſchaften der
verſchiedenen Erdteile u. Län-
der 128/130; Einfluß der g.
Lage auf die Kultur u. Größe
des zuſammenhängenden Land-
gebietes der Staaten 129; der
g. Nachbareinfluß auf die Wirt-
ſchaft der Völker und der Wan-
dergang der Kultur 130. - Geologiſche Verhältniſſe 132/133.
- Gerechtigkeit, Princip der G.
kein einfaches, aus dem alle
ihre Forderungen ſicher abzu-
[472]Regiſter.
leiten ſind 74/75; Idee der G.
mehr individualiſtiſch als die
Geſamtheit in den Vordergrund
rückend 74. - Gerichtsweſen 320.
- Germanen 260/263.
- Geſchlecht, Geſchlechtsverbindung
als Princip geſellſchaftlicher
Gruppierung 7; Gleichgewicht
der beiden Geſchlechter in der
Bevölkerung 162; Abweichun-
gen davon 163; vermutete Ur-
ſachen der Geſchlechtsbeſtim-
mung 163; Geſchlechtsbeziehun-
gen der zerſtreut wohnenden
Menſchen 232; dasſelbe in der
Horde 232/233; allgemeine Re-
geln der Geſchlechtsvermiſchung
in früheſter Zeit 233; Einfluß
des näheren Zuſammenwohnens,
beſſerer Ernährung ꝛc. auf den
Geſchlechtsverkehr 233/234; Ge-
ſchlechtsverkehr unter dem Mut-
terrecht 234/235; Schranken u.
Regelung des Geſchlechtsver-
kehrs in der Sippenverfaſſung
237. - Geſchlechtstrieb 28.
- Geſellenbruderſchaften 404.
- Geſellſchaft, Geſellſchaftsweſen,
die pſychiſchen, ſittlichen und
rechtlichen Grundlagen der G.
6/75; Zwecke und Mittel des
geſellſchaftl. Zuſammenſchluſſes
6/10; Litteratur hierüber 6;
g. Tadel als ſittliches Zuchtmittel
45; g. Inſtitutionen u. Organe
61/64; vier Typen geſellſchaftl.
Organiſation der Arbeitsteilung
360/362; Arbeitsteilung ein ge-
ſellſchaftl. Prozeß; ihr geſell-
ſchaftl. Erfolg 363/365; g.
Problem des Großbetriebes
434/439; Geſellſchaftsweſen im
Altertum u. Mittelalter 440;
moderne Geſellſchaftsformen
441/453. - Geſetze 108/109.
- Geſundheitspflege 9.
- Getreideſpenden 259.
- Gewerbe, deutſche Hauptautoren
der Gewerbegeſchichte und Po-
litik 118; Abhängigkeit der G.
von Flußläufen ꝛc. 133; Wir-
kung der modernen Technik
219/220; Veränderung im
Standort der gewerbl. Unter-
nehmungen durch neuere Technik
und Verkehr 221/222; Schei-
dung von G. und Landwirt-
ſchaft; Zahl der gemiſchten Be-
triebe 1895 346/347; Begriff
der gewerbl. Thätigkeit; Ent-
ſtehung aus der Arbeitsteilung
348; Weſen und Termini der
gewerbl. Arbeitsteilung, Wür-
digung, Zahl der verſchiedenen
G. zu verſchiedenen Zeiten
348/353; interlokale Arbeits-
teilung 355/356; Anteil an
der Bevölkerung 358/359; g.
Unternehmungsformen, ſ. Unter-
nehmung; g. Großbetrieb,
Manufaktur, Fabrik 433; Sta-
tiſtik über Zahl und Größe
der Betriebe in Deutſchland
1882 u. 1895 433/434. - Gewohnheit 49.
- Glas 194.
- Gleichheit, Forderung der G. als
Ausfluß eines ſittlichen Ideals,
teils ſegensreicher Reformge-
danke, teils die höhere Ent-
wicklung bedrohender Fanatis-
mus 74; natürliche G. aller
Menſchen als Ausgangspunkt
früherer Volkswirtſchaftslehre
139. - Glückslehre 73.
- Göttinger kulturhiſtor. Schule
113. - Gottesdienſt 9.
- Grafſchaft 284.
- Grenzbildung 286/287.
- Großbetrieb, Anfänge des G. im
Zuſammenhang mit der beſſeren
Herſtellung des Eiſens 210;
Begünſtigung durch die moderne
Technik und ſeine Folgen 222;
in der Landwirtſchaft 386, 432;
Anfänge 428/429; Begriff 429;
Vorbedingungen: Verkehrs-
weſen 429/430, Handelsgeiſt,
Kapital, Kredit 430, Technik
430/431, perſönl. Freiheit und
Klaſſendifferenzierung 431/432;
treibende Urſachen 432; ver-
ſchiedene Geſtaltung in verſch.
Gewerben 432/433; Verbindung
der kaufmänniſchen und tech-
niſchen Seite 433; Statiſtik der
Fortſchritte 434; geſellſchaftl.
Problem des G.: in individu-
ellem Privat- oder in Kollektiv-
eigentum 435/436, Beamtentum
436/437, Rechtsverhältnis der
Arbeiter 437/439; Reform der
Verfaſſung 439. - Großſtädte 221/222.
- Großfamilie 232.
- Grundeigentum, Veräußerung in
der Dorfgenoſſenſchaft 289;
Veräußerung unter der Grund-
herrſchaft 291; Hypotheſe von
dem früheren Vorkommen indi-
viduellen als kollektiven G.
369; ältere Grundeigentums-
verfaſſung der Ackerbau- und
Hirtenvölker, einſchließlich der
antiken 371/373; Schwierigkeit
von Neuverteilungen des G.
372/373; Ausbildung des neue-
ren kleinen G. der Germanen
und Slaven 373/375; Ent-
ſtehung des großen G. 375/376;
Urſachen und Wirkungen der
verſchiedenen Grundeigentums-
verteilung 376/377; heutiges
Grundeigentumsrecht 377/378;
Reformvorſchläge 378/387; G.-
reform in Rußland, Indien;
Landpolitik der Vereinigten
Staaten 378/379; Kriterium
der Berechtigung weitgehender
Ungleichheit der Grundeigen-
tumsverteilung 378; ſtädtiſches
G., Reformvorſchläge 379/380. - Grundherrſchaft, Verhältnis zur
Markgenoſſenſchaft 287/288;
Weſen, territoriale Größe, Ein-
wohnerzahl, wirtſchaftl. Ver-
faſſung 290/291; Beſteuerungs-
recht 291; kulturhiſtoriſche Be-
deutung 291/292; Eintritt und
Austritt in den Verband der
G. 291; Umbildung zur Guts-
herrſchaft 291/292; Würdigung
292; Vorausſetzungen 292/293;
Auflöſung 293. - Grundrente, Beurteilung durch
Thompſon 94; durch Enfantin
94. - Grundriß, wiſſenſchaftl. Stand-
punkt dieſes G. 122/123; ſeine
Stoffeinteilung u. -abgrenzung
123/125. - Grundſteuer, die einzige G. der
Phyſiokraten 89; Vorliebe der
Gemeindepolitiker für ſie 316;
in Preußen den Gemeinden
überlaſſen 317. - Grundſtückſpekulation 275.
- Gruppenbildung 6/7; ſ. a. Klaſ-
ſenbildung. - Gut 3.
- Gutsbezirk 269.
- Gutsherrſchaft, Entſtehung als
Form der Grundherrſchaft, Be-
griff 291/292; Würdigung, Fol-
gen 293. - Hackbau, Abhängigkeit der Ent-
ſtehung von den Bodenverhält-
niſſen 132; Hahnſcher Terminus
für primitiven Ackerbau 195;
Entſtehung 194/195; Höhe der
durch ihn hervorgerufenen wirt-
ſchaftlichen Kultur 195; erſte
Viehzähmung in der Epoche des
H. 196; die mit dem H. eintre-
tende Veränderung d. Familien-
organiſation u. des Geſchlechts-
verkehrs 234; Siedlungs- und
Wohnweiſe der Hackbauern 256
bis 257; Eigentum bei primiti-
ven Hackbauſtämmen 368/369. - Halbfreiheit, Halbfreie; drei-
facher Urſprung 340; Rechts-
verhältnis, Ordnung des Ar-
beitsverhältniſſes, Arbeitstei-
lung zwiſchen Ariſtokraten und
H., Befreiung der H. 341;
[473]Regiſter.
Zahlenverhältnis zur ſonſtigen
Bevölkerung 342. - Händler, Fremde als H. 334;
Epoche der im Nebenamtthätigen
H. 334; Entſtehung der arbeits-
teilig thätigen H. 335/336; Be-
deutung und fortgeſetzte Steige-
rung des Einfluſſes der H.,
ihre Machtmittel, Gegengewichte
336/337; Mißachtung 356/357. - Handel, Rolle der Metalltechnik
203; Einfluß der modernen
Maſchinen 219; Veränderung
im Standort der händleriſchen
Unternehmung durch neuere
Technik und Verkehr 221; Ent-
ſtehung u. Schilderung des erſten
H. ohne Händler 333; H. durch
Fremde 333; H. als Nebenerwerb
in Verbindung mit anderen Er-
werbsarten 334; Entſtehung
des ſelbſtändigen H. 335/336;
Specialiſierung nach der Be-
rufs- und Gewerbeſtatiſtik 336;
Streit über ſeine Produktivität,
Entſcheidung 357; Anteil an
der Bevölkerung 359; Keim der
Unternehmung 414/415; ent-
wickelter H. und Handelsgeiſt
Vorbedingung des Großbetrie-
bes 430; Großbetrieb im H.
432; Größe und Zahl der
Handelsgeſchäfte in Deutſchland
1882 u. 1895 433. - Handelsbilanz 85/86.
- Handelsgeſellſchaften, Rolle bei
der Auswanderung 178; wirt-
ſchaftliche Leiſtungen, Zahl und
Größe der offenen H. in Deutſch-
land 441; ältere H. 441. - Handelspolitik, H. des Merkan-
tilismus 85/86; richtige H. Be-
dingung der Bevölkerungsver-
dichtung 187. - Handwerk, Handwerker, entſtan-
den in den Mittelpunkten der
alten weſtaſiatiſchen Reiche 205;
Bedürfnis nach H. Bedingung
der Städtebildung 265; die
erſten H. 348/349; Zahl der
Handwerke zu verſchiedenen
Zeiten an verſchiedenen Orten
349; handwerksmäßige Berufs-
u. Produktionsteilung 348/350;
Organiſation im indiſchen Kaſ-
tenweſen 400/401; dasſelbe in
Rom 401/402; mittelalterliche
Innungen 404; Begriff 419;
Schilderung als Unterneh-
mungsform 419; Bedingungen
ſeiner Blüte 419/420; Statiſtik
des deutſchen und preußiſchen
H. im 19. Jahrhundert 420/421;
Vorzüge und Schwächen 421;
gegenwärtige Lage 421. - Haus, Entwickelung in Anknüpf-
ung an den Feuerherd der
Frau 193; definitive Seßhaftig-
keit verbunden mit Hausbau
199; techniſche Entwickelung
204; Baumaterial der deutſchen
H. im 12.—13. u. 15.—16. Jahr-
hundert 207; ſtädtiſches Haus-
eigentum, Reformen 379/380. - Haushalt, Haushaltetat verſchie-
dener Städte, Staaten, Fürſten
ꝛc. 282/285; H. der älteren
Stadtwirtſchaft 297/298; Ent-
ſtehung großer Staatshaus-
halte 300; zunehmende Bedeu-
tung des Staatshaushaltes
302/303; Naturalabgaben und
Dienſtverfaſſung 303/304; Do-
mänenwirtſchaft 304/305; Rolle
der Steuern, Domänen und
Forſten in verſchiedenen Staats-
haushalten 305; Regalwirt-
ſchaft 305; Geldſteuerſyſtem
306/308; Wichtigkeit der Auf-
ſtellung von Haushaltetats für
die Finanzwirtſchaft 313; Ver-
hältnis zwiſchen H. und Volks-
vermögen in England und
Preußen 322. - Hausinduſtrie, Definition 103;
in ihr zuerſt Abnahme der regel-
mäßigen Arbeitsgelegenheit
223; Wurzel 343; Vorkommen
und Begriff 424; Schilderung
als Unternehmungsform 425;
ältere Verfaſſung, Reglements
425/426; wirtſchaftliche Lage
der Heimarbeiter 426/427: heu-
tige Formen 427/428; heutiger
Umfang 428; Würdigung 428. - Hauskommunion, ſ. Zadruga u.
patriarchaliſche Familie. - Haustiere 196.
- Hauswirtſchaft, weſentl. Merk-
mal früheren Wirtſchaftslebens
4; Technik der H. der patriar-
chaliſchen Familie 204/205;
Auflöſung 245/246; Ausgangs-
punkt der Unternehmung 416
bis 417. - Heer 332.
- Heimarbeiter 426/428.
- Heirat, Heiratsalter in verſchie-
denen Ländern 164; H. unter der
Grundherrſchaft 291; nach Stadt-
recht 295; im Kaſtenweſen 400. - Heloten 340.
- Hirten, Siedlungs- und Wohn-
weiſe 255/256; Sklaven- und
Vieheigentum älterer H. 369/371;
ältere Grundeigentumsver-
faſſung der Hirtenvölker 371/373. - Hiſtoriſche Forſchung in der
Nationalökonomie, Überſicht
über Litteratur und Hauptver-
treter 116/121; Bedeutung für
die nationalökonomiſche Wiſſen-
ſchaft 116; ältere hiſtoriſche
Schule 116/118; jüngere hiſto-
riſche Schule Deutſchlands
118/120; Hauptvertreter in
England 120; Hauptvertreter
in Frankreich 121. - Hiſtoriſche Perioden 195.
- Hiſtoriſche Staats- und Geſell-
ſchaftsauffaſſung 113 ff. - Hochofen, Entſtehung und Wich-
tigkeit für die Eiſenherſtellung
209; neuere techniſche Ent-
wickelung 216. - Hörigkeit, Begriff 340; ſiehe
Halbfreiheit. - Hof, Begriff 255; Größe der
römiſchen Höfe (villae) 259. - Hofſyſtem, mitwirkende Nachteile
260; Streitfrage, ob H. oder
Dorfſyſtem das ältere 260/262;
wirtſchaftliche Vorzüge des H.
und Prognoſe für ſeine künf-
tige Ausdehnung 262/263; ſta-
tiſtiſche Erfaſſung des terri-
torialen Gegenſatzes von H.
und Dorfſyſtem 268. - Horde, Begriff, Größe, Verhält-
nis zum Stamm 231; Größe,
Bedingungen des Vorkommens,
Geſchlechtsbeziehungen, Eintei-
lung 232/233. - Hütteninduſtrie 215/216.
- Hufe, Wirtſchaft, Größe 288/289;
Grundeigentumsverfaſſung in
der Hufenverfaſſung 373/374. - Ideale 73/75.
- Idealiſtiſch, Vertreter i. Moral-
ſyſteme 71; Formeln u. Zweck-
gedanken der i. Moralſyſteme 73. - Inceſt 233.
- Indianer, ethnographiſche Be-
ſchreibung 149; von allen nie-
deren Raſſen die größte bündiſch-
völkerrechtliche Menſchenvereini-
gung gelungen 169; ihre demo-
kratiſch-kriegeriſche Rechtsgleich-
heit auf Abweſenheit des Vieh-
beſitzes beruhend 370. - Individualiſtiſche Volkswirt-
ſchaftslehre, ihre Hauptver-
treter 88/93; ihre Anfänge und
Grundlagen 88/89; die franzö-
ſiſchen Phyſiokraten, namentlich
Quesnay und Turgot 89/90;
die engliſchen Vertreter des
18. Jahrhunderts, namentlich
Hume, Smith 90/91; das 19.
Jahrhundert 91; die freihänd-
leriſchen Ausläufer 92; Wür-
digung 92/93. - Indogermanen, ethnographiſche
Beſchreibung 152/157; organi-
ſiertes Fortwandern überſchüſſi-
ger Volksteile 177; Siedlungs-
und Wohnweiſe in älterer Zeit
257. - Induktion 110.
- Innungen 404.
- Inſtitution, geſellſchaftliche J.
[474]Regiſter.
61/64; Definition 61; Bedeutung
der J. für die Auffaſſung des
Merkantilismus und der Ka-
meraliſtik 63; Anſicht des Libe-
ralismus 63; Überſchätzung der
J. durch den älteren Socialis-
mus und Stellung der Social-
demokratie 63; Stellung und
Rolle in einem vollendeten
ſocialen Zuſtande 64; Bedeu-
tung des Studiums der J. für
die Erkenntnis des ſocialen
Körpers 64; wirtſchaftl. Fort-
ſchritt gebunden an gute J.
64; Argumentieren aus ihnen
heraus Fortſchritt der Volks-
wirtſchaftslehre 108; Bedeu-
tung der richtigen Ausbildung
f. das Bevölkerungsproblem 176. - Intereſſenſphären 180.
- Inzucht 233.
- Italiener 153.
- Jäger, Familienverfaſſung der
J.; Stämme 233; Eigentum
primitiver Jägerſtämme 368/369. - Jagd 194/195.
- Journal des Economistes 121.
- Juden, Wirkung des jüdiſchen
Raſſenelementes in den Kultur-
ſtaaten 147; ethnographiſche
Beſchreibung 151/152; Stellung
zur Bevölkerungsfrage 174. - Jürgens Tretſpinnrad 214.
- Kameraliſtik 63.
- Kammergut, Bedeutung im Mit-
telalter 304; Veräußerung von
1800 ab 304/305; Rolle im
Etat verſchiedener Staaten 305;
Größe im preußiſchen Staat
des 18. Jahrhunderts 305. - Kampf ums Daſein 64/69; Dar-
wins Lehre, Übertragung auf
geſellſchaftliche Erſcheinungen
64/65; jede ſociale Gruppen-
bildung Modifikation des K.
u. D. 65/66; Unzuläſſigkeit
direkter Übertragung des für
das Tier- und Pflanzenleben
Geltenden auf die menſchliche
Geſellſchaft 66; Beurteilung des
Kampfgedankens durch die ver-
ſchiedenen wirtſchaftlichen Theo-
rien 66/67; K. u. D. als pſy-
chologiſch, geſellſchaftl. wirt-
ſchaftlicher Prozeß 67; Aufgabe
der Streitordnungen 67; Not-
wendigkeit und Zuläſſigkeit der
Regelung des K. u. D. durch
Sitte, Moral u. Recht 68; K.
u. D. und Zuchtwahl keine Er-
klärung für die Verſchieden-
heiten der Raſſen 142. - Kapital, Beurteilung durch
Thompſon 94; Kapitaliſt und
K. bei Marx, Kritik 97; ſtei-
gender Kapitalüberfluß als
äußerliches Hauptergebnis der
Maſchinentechnik 221; vermehrte
Kapitalaufwendung bei fort-
ſchreitender Technik 226; er-
heblicher Kapitalbeſitz Vorbe-
dingung des Großbetriebes 430. - Kapitalbildung 265.
- Kapitalgewinn 94.
- Kartell, ältere kartellartige Bil-
dungen und ältere Urteile über
ſie 449; ſtaatliche Behandlung
449/450; Veranlaſſung zu neu-
eren Bildungen 450; Begriff
u. Entſtehung der modernen K.
450/451; Phaſen der Entwicke-
lung 451; Verfaſſung, Aufgaben
451; Vorkommen 451/452; Be-
urteilung 452/453; Beſeitigung
einiger Unvollkommenheiten der
Unternehmungen durch ſie
456/457. - Kaſte, Definition 399; Urſachen
399/400; indiſche Kaſtenweſen
400/401; Kaſtenweſen im römi-
ſchen Reich 401/402 - Kauſalität 107.
- Kelten 260/263.
- Kempten, Hochſtift 262.
- Kind, Kinderſterblichkeit, Ge-
burtenzahl und Bevölkerungs-
zunahme 167/168; Kinderſterb-
lichkeit der Kulturvölker im
Mittelalter 172; Rolle des
Kindsmordes als Bevölkerungs-
hemmnis 173; ſteigende Kinder-
fürſorge in der patriarchaliſchen
Familie 242. - Kirchſpiel 284.
- Klan 239.
- Klaſſen, ſociale, Anerkennung,
daß zu ſtarke Differenzierung
der ſocialen K. die Gegenwart
bedrohe 123; Einfluß der mo-
dernen Technik auf die Stellung
der ſocialen K. 221; im Stände-
und Kaſtenweſen 400/404; im
Staate der Rechtsgleichheit
406/409; weitgehende Diffe-
renzierung der K. Vorbedingung
des Großbetriebes 431. - Klaſſenbildung, ſociale, Fort-
ſetzung der durch Lebensweiſe,
Beſchäftigung und Ernährung
hervorgerufenen Verſchiedenheit
der Völkertypen 145; Definition
392; Vorkommen 392; pſycho-
logiſche Urſachen 393; Weſen u.
Äußerung 394; Zurückführung
der Klaſſenunterſchiede auf gött-
liche Einrichtungen 395; Haupt-
urſachen 395/399; Einfluß der
Raſſe 396; Einfluß der Berufs-
und Arbeitsteilung 396/398;
Einfluß der Erziehung, Ein-
kommens- und Beſitzverteilung
398/399; Kaſten- und Stände-
bildung älterer Zeit 399/404;
neuere ſociale Gliederung
405/407; ſtarke oder ſchwache
Elemente zuerſt Klaſſen bildend?
407; kulturgeſchichtl. Bedeutung
409/410; allgemeine Würdigung
410/411. - Klaſſenordnung, Begriff und pſy-
chologiſche Urſachen 393; Maß-
ſtäbe 393/394; Rangordnung
verſchiedener Klaſſen 394. - Klaſſenſtandpunkt 122.
- Klaſſifikation, Zweig der Me-
thodenlehre 104; analytiſche
und genetiſche K. 104/105. - Kleidung 215.
- Kleinbürger 295.
- Klima, Definition 130; in ver-
ſchiedenen Zonen 131; Wir-
kungen auf das wirtſchaftliche
Leben 131/132; Einfluß auf die
Raſſen u. Völkerbildung 144/145. - Klimatologie 127.
- Kollektiveigentum, ſpäter als in-
dividuelles 369; Entſtehung an
Grund und Boden 372; Groß-
betrieb im K. 435/436. - Kollektivkräfte, geiſtige, Litte-
ratur 15; allgemeines Weſen
15/18; Einfluß auf Raſſe und
Völkertypus 145. - Kolonien, Stellung im Merkan-
tilismus 85/86; Gründung im
Altertum zur Herbeiführung
des Menſchenabſchubes 177/178;
K. der neuen Welt, zunächſt
nicht zur Siedelung benutzt 178;
Definition, verſchiedene Arten
179/180. - Koloniſation, aus bevölkerungs-
politiſchen Gründen bei ſeßhaften
Völkern 177/178; innere K. 179;
Wirkung der neueren K. auf
die Bevölkerungsverhältniſſe
180/182. - Kome 257.
- Konkurrenz, Urſache des Groß-
betriebes 432; Belebung durch
Beſchränkung der Unternehmer-
ꝛc.-Verbände 449; Regulierung
durch Kartelle ꝛc. 450. - Kontinente 128/130.
- Kraft, Charakteriſtik der Kraft-
maſchine 218; mechaniſche K.
der Menſchen in Deutſchland
verglichen mit der Tier-, Dampf-
ꝛc.-Kraft 218/219; Steigerung
u. Verbilligung der produktiven
K. durch die Kraftmaſchinen
219; Michel Chevaliers Be-
rechnung der Steigerung der
menſchlichen produktiven K. in
verſchiedenen Gewerben 221. - Kraftſtuhl 215.
- Kreis 284.
- Kreuzzüge 178.
- Krieg, Beiſpiele der Menſchen-
vernichtung durch K. 173; hoch-
ſtehende Kriegstechnik der alten
[475]Regiſter.
weſtaſiatiſchen Völker 203, 205;
Bedeutung der beſſeren Eiſen-
herſtellung im 16. bis 17. Jahr-
hundert für die Kriegstechnik
210. - Krieger, Entſtehung arbeitsteilig
thätiger Kr. 331/333; heutiger
Einfluß im Vergleich zu dem der
Prieſter und Händler 337. - Kriegs- und Friedensgemein-
ſchaften 7/8. - Kriegsverfaſſung 332/333.
- Kriſen, Erklärung durch Rod-
bertus 96; Einfluß auf die Ge-
burtenzahl 166. - Kruppſches Stahlwerk 217.
- Küſte 128/129.
- Kultur, Beſtimmung ihrer Rich-
tung durch die natürlich-geo-
graphiſchen Bedingungen 129;
Beziehungen ihres Wander-
ganges zu den Nachbarbezieh-
ungen 130; gemäßigte Zone
als Wiege 132; höhere viel-
ſeitige K. meiſt nur in Vor-
bergen und Stufenländern 133;
Vordringen von den Küſten und
Flußmündungen die Thäler
aufwärts 134; mit ſteigender
K. kein Loslöſen des Menſchen
von der Natur, ſondern inni-
gere Verbindung 139; Wichtig-
keit einer reichlichen Beſetzung
der reiferen Altersklaſſen 161
bis 162; höhere Kultur durch
die Völker mit größerer Be-
völkerung erreicht 172; Ver-
dichtung der Bevölkerung Vor-
ausſetzung höherer K. 182/184;
Lipperts Zurückführung der
höheren K. der nördlichen Raſ-
ſen auf ihre beſſere Feuerpflege
193; Bedeutung des Ackerbaues
199/200; Verhältnis zwiſchen
höherer K. und höherer Technik
226/227; Definition 228; De-
finition von Halb- und Ganz-
kulturvölkern 228; Wichtigkeit
der zunehmenden Lebensdauer
der Eltern in der patriarchali-
ſchen Familie 242; Städtebil-
dung und höhere K. 263; kom-
pliziertes Kulturleben Folge
der Arbeitsteilung 365; höhere
K. verſchiedene ſociale Klaſſen
bedingend 409. - Kulturgeſchichte 127.
- Kunſt 9.
- Land, Anteil an der Erdober-
fläche, davon bebau- und be-
wohnbar 128; Anteil der heißen
Zone 131; Größe des landwirt-
ſchaftlich bebaubaren Teiles
133; Sterblichkeit in Stadt und
L. 167; relative und abſolute
Verteilung der Bevölkerung auf
Stadt und L. 269/271; Gründe
der Überlegenheit der Stadt
über das platte L. 275; körper-
liche und pſychologiſche Folgen
des Wohnens auf dem L. 276
bis 277. - Landflucht, Ausgehen von iſolier-
ten Wohnungen 262; Betrach-
tung unter Berückſichtigung
der abſoluten Zahlen der Land-
bevölkerung und Grundbeſitz-
verteilung 270; Folgen für das
Individuum, Ziel und Umfang
der Wanderungen, allgemeine
Urſachen 272. - Landgemeinde 269.
- Landwirtſchaft, ſ. a. Ackerbau,
der der L. zugängliche Teil der
Erdoberfläche 128; in Rückſicht
auf die geologiſchen Verhält-
niſſe bebaubarer Teil 133;
Schwierigkeiten des landwirt-
ſchaftlichen Fortſchrittes, Be-
deutung für die Bevölkerungs-
verdichtung 185; landwirtſchaft-
liches Syſtem 200/201; die
neueſten techniſchen Fortſchritte
217/218; Rolle der modernen
Maſchinentechnik 220; räum-
liche Veränderung im Stand-
ort der landwirtſchaftlichen
Unternehmungen durch neueren
Verkehr u. Technik 221; Schei-
dung von L. und Gewerbe,
Zahl der gemiſchten Betriebe
1895 346/347; Arbeitsteilung
in der L. 347/348; räumliche
Arbeitsteilung, Einwirkung der
Transportkoſten 354; Anteil
an der Bevölkerung 358; Groß-
betrieb 386, 432. - Lebenshaltung, Einfluß der Ma-
ſchinen 223/224; Steigerung
im Gefolge der modernen Tech-
nik 225. - Lebensweiſe 145.
- Lehn, Größe der L. der grund-
herrſchaftlichen Dienſtleute ꝛc.
290; L. im Zuſammenhang mit
der Entſtehung des Großgrund-
eigentums 375. - Lehrbücher 123.
- Liberale Berufe, Nichtbezahlung
und Bezahlung 353; Entſteh-
ung der Arbeitsteilung, geſell-
ſchaftliche Bedeutung 353/354;
Anteil an der Bevölkerung 359. - Liberalismus, individualiſtiſcher,
Auffaſſung über Inſtitutionen
63; Anlehnung an d. Naturrecht
83; verſchiedene Auffaſſung
über politiſches und wirtſchaft-
liches Vereinsweſen 407. - Liten 340.
- Lohn 221.
- Luſtgefühle 20/22.
- Luxus 23.
- Machtſphären 180.
- Malaye 149.
- Mancheſterſchule 92; Stellung
zum Bevölkerungsproblem 175;
Beurteilung der Arbeitsteilung
363. - Mann, numeriſches Verhältnis
zu den Frauen 162/163; Ver-
hältnis zwiſchen M. und Frau
in den früheſten Zuſtänden
zerſtreuten Wohnens 232; das-
ſelbe in der Horde 232/233;
unter dem Mutterrecht 234/235;
Steigerung ſeines Einfluſſes
durch die von ihm ausgehende
Viehzähmung, den beſſeren
Hausbau 239; Stellung in der
patriarchaliſchen Familie 240
bis 241; Arbeitsteilung zwiſchen
M. und Frau in der patriar-
chaliſchen Familie 243; das-
ſelbe in der modernen Familie
249/250; gleiche Stellung von
M. und Frau, der Socialis-
mus 251/253. - Manufaktur 433.
- Mark, Größe der germaniſchen
M. (nach Meitzen) 261, 284. - Markgenoſſenſchaft, Zahl ihrer
Familien und Seelen 237;
Größe und Rolle bei der Sied-
lung 261; Zuſammenfallen mit
der Hundertſchaft, erſter Fa-
milienverband, der zur Gebiets-
körperſchaft wird 287; wirt-
ſchaftliche Zwecke, Verfaſſung,
territoriale Größe, Einwohner-
zahl, Zurücktreten gegenüber
Dorf und Grundherrſchaft
287/288. - Markt, Beziehungen zwiſchen
Marktverleihungen und Städte-
gründungen 264; Bedürfnis
nach Marktweſen als Bedin-
gung der Städteentwickelung
265. - Maſchine, Hermanns Vergleich
mit dem menſchlichen Körper
190; Reuleaux’ Charakteriſtik
191; komplicierte Kriegsma-
ſchine der weſtaſiatiſchen Völker
205, 207; Beſchreibung des
modernen weſteurop.-amerikan.
Maſchinenzeitalters 211/218;
Würdigung des Maſchinenzeit-
alters 218/225; Unterſchied
zwiſchen Werkzeug und Ma-
ſchine, Arbeits- und Kraft-
maſchine 218; Weſen und pro-
duktive Wirkungen der Maſchine
218/221; Begünſtigung des
Großbetriebes 222; Einfluß
auf die Arbeiter 223/224; Zu-
ſammenfaſſendes Urteil über das
Maſchinenzeitalter 224/228. - Maſſenerſcheinungen der Volks-
wirtſchaft 125/228.
[476]Regiſter.
- Materialismus, ökonomiſcher
96/97. - Matriarchat 234.
- Meier 290.
- Meliorationen 132.
- Merkantilismus, Auffaſſung
über Inſtitutionen 63; An-
lehnung an das Naturrecht 83;
volkswirtſchaftlicher Stand-
punkt 84/86; Litteratur und
Hauptvertreter 86/88; hervor-
tretende Beſonderheiten des
holländiſchen Merkantilismus
86/87; dasſelbe vom italieni-
ſchen, engliſchen 87; vom
deutſchen 87/88; vom franzöſi-
ſchen 88. - Metall, Bedeutung und Ge-
ſchichte der verſchiedenen Metalle
201/202; wirtſchaftliche Folgen
der Metalltechnik 203. - Meteorologie 127.
- Methoden der Volkswirtſchafts-
lehre 99/111; Litteratur 99/100;
Beobachtung und Beſchreibung
100/103; Begriffsbildung 103
bis 105; typiſche Reihen und
Formen, ihre Erklärung, die
Urſachen 105/108; Geſetze, in-
duktive und deduktive Methoden
108/111. - Migrationstheorie, die für die
urſprünglichſten Wanderungen
und Ausbildung eigentümlicher
Tier- und Pflanzenarten be-
ſtimmenden Faktoren 129; ihre
Erklärung der Raſſenſcheidung
142/143; die ihr von M. Wagner
beigemeſſene Bedeutung für die
Weltgeſchichte 176. - Milieu 145.
- milites agrarii 265.
- Mittelländiſche Raſſen 151/152.
- Mongolen, ethnographiſche Be-
ſchreibung 150/151; mongoliſche
Nomadenwirtſchaft 197/198. - Moral, Entſtehung neben und
über Sitte und Recht 55/57;
Abhängigkeit von religiöſen
Glaubensſyſtemen 56; Defini-
tion 56; Aufgabe 56; Bildung
verſchiedener Moralſyſteme 56;
Selbſtändigkeit gegenüber Sitte
und Recht, Verhältnis zu dieſen
beiden 56/57; Bedeutung der
Differenzierung von Sitte,
Recht und Moral 57/59; die
neuere Volkswirtſchaftslehre
eine moral-politiſche Wiſſen-
ſchaft 122. - Moralſyſteme, der ſie ſchaffende
geiſtig-methodologiſche Prozeß
69/70; Erfahrung u. Hypotheſe
in den M. 70; Möglichkeit ver-
ſchiedener M. neben einander 70;
die ſenſualiſtiſch-materialiſti-
ſchen und metaphyſiſch-idealiſti-
ſchen M. 71; empiriſche Ethik
71/72; Leitideen und Ziele der
verſchiedenen M. und ihre Be-
deutung für das volkswirt-
ſchaftliche Leben 73. - Mühlen, Mahlen des Altertums
208; Verbreitung der Waſſer-
mühlen in Deutſchland vom
13. Jahrhundert ab 208/209;
Zahl der jährlichen Normal-
arbeitstage der Windmühlen
212; Chevaliers Berechnung
der Steigerung der produktiven
Kraft in der Mehlbereitung
ſeit Homer 221. - Münzverſchlechterung 309.
- Muttergruppe, Begriff 232;
Wirtſchaft, Stellung, Recht 235;
Funktionen in der Sippenver-
faſſung 238. - Mutterrecht, Entſtehung und
weſentlicher Inhalt 234/236;
Gründe der Beſeitigung 239;
Auflöſung überall, wo Islam
und Chriſtentum eindringen
240; Erbrecht 369. - Nachahmung 9/10.
- Nahrungsgewinnung, Einfluß
auf die Art des Geſchlechts-
verkehrs, das Stammesleben,
die Wohn- und Wirtſchafts-
weiſe 233/234. - Nationaldomänen 180.
- Nationalökonomie, ſ. a. Volks-
wirtſchaftslehre 122. - Natürlich, Theorie einer n. Ge-
ſellſchaft und n. Volkswirtſchaft
und ihre Verkennung der Be-
deutung von Moral, Sitte und
Recht 58; hiſtoriſche Erklärung
dieſer Theorie 58; n. Kräfte
59/60. - Naturalabgaben- und Natural-
dienſtverfaſſung, Vorkommen,
Weſen, Würdigung 303/304;
Umbildung in ein Geldſteuer-
ſyſtem 304; Übergang zur
Domänenwirtſchaft 304/305;
Naturalabgaben u. -leiſtungen
in der Gegenwart 305/306. - Naturleben 126/127.
- Naturlehre, individualiſtiſche der
Volkswirtſchaft 88/93; Reaktion
gegen die N. der Volkswirt-
ſchaft 112/114; kritiſches Ver-
halten der N. gegenüber bei
Anerkennung des Berechtigten
122. - Naturrecht, allgemeine philo-
ſophiſche Grundlagen 82; Haupt-
vertreter u. Lehre 82/83; die
beiden ſich entgegengeſetzten
praktiſchen Ideale ſeiner Ver-
treter: monarchiſche Staats-
allmacht und Volksſouveränität
83; Würdigung 83/84. - Naturverhältniſſe, Abhängigkeit
der Volkswirtſchaft von den
äußeren N. 126/139; Behand-
lung in der bisherigen Litte-
ratur 127; der Einfluß der N.
auf Raſſen- und Völkerbildung
144/145. - Naturvölker, ethnographiſche Ein-
zelbeſchreibung 148/150; jeden-
falls weſentlich jugendlicherer
Altersaufbau als bei Kultur-
völkern 162; Geſchlechtsverhält-
nis und Verehelichung 162/164;
Bevölkerungshemmungen 173. - Neger, ethnographiſche Beſchrei-
bung 149/150; Emin Paſchas
Mitteilung vom Überſchuß der
Mädchengeburten 163; Größe
ihrer Stämme 169; Siedlungs-
und Wohnweiſe 255/256. - Neumalthuſianismus 176.
- Niederſächſiſcher Stamm 156.
- Nomaden, Nomadenwirtſchaft,
natürliche Bedingungen 136;
zeitliches Verhältnis von N.
und Ackerbau 195; Frage, ob
N. den Ackerbau mit Rindvieh
und Pflug begründeten 196/197;
mongoliſche N. 197/198; Vor-
ausſetzungen des Entſtehens
und heutigen Beſtehens 197;
Siedelungs- und Wohnweiſe
255/256. - Nordamerikaner 157/158.
- Oberämter 284.
- Öffentliche Meinung 14.
- Ökonomiſcher Materialismus
96/97. - Ölmühlen 209.
- Öſterreichiſche Schule 119.
- Organ, geſellſchaftliche O. 61/64;
Definition 61; Geſchlechtsge-
meinſchaft als Ausgangspunkt
aller geſellſchaftl. Organbildung
61; Struktur u. Verfaſſung 62;
Unterſcheidungsmerkmale und
Zuſammenwirken verſchiedener
O. 62/63; Bedeutung des Stu-
diums der O. für die Erkennt-
nis des ſocialen Körpers 64;
wirtſchaftl. Fortſchritt gebunden
an komplizierte Organbildung
64; die drei hauptſächlichen
Gruppen ſocialer O. 230; ſtei-
gende centraliſtiſche Leitung
volkswirtſchaftl. O. 452/453. - Organiſation, Notwendigkeit
einer der veränderten Technik
entſprechenden wirtſchaftl. O.
225/226; Verhältnis zwiſchen
volkswirtſchaftlicher O. und
Technik 227; ſtarke od. ſchwache
Elemente ſich zuerſt organi-
ſierend? 407; gegenwärtige
Fähigkeit der verſchiedenen
Klaſſen zur O. 408; heutiges
Problem der Organiſation der
[477]Regiſter.
Arbeiter und übrigen Klaſſen
407/409; Anſätze zu größeren
gewerbl. O. in genoſſenſchaftl.
und korparativer Form bis
gegen 1800 421/424. - Ortsgemeinde 238.
- Papiergeldausgabe 309.
- Papiermühlen 209.
- Papua 149.
- Patriarchaliſche Familie, Regu-
lierung der Bevölkerung in be-
ſchränkendem Sinn 174; keine
p. Familienverfaſſung bei grö-
ßeren Stämmen vor der Zeit
des Hackbaues u. der Rodungen
234; Größe 239, 241; Ent-
ſtehung, Gründe dafür 239/240;
Organiſation, Wirtſchaft, hiſto-
riſche Bedeutung 240/244. - Periöken, Urſprung ihrer Hörig-
keit 340; Vorkommen in Städten
und gewerbl. Betrieben 341. - Pfälzer 155.
- Pferd 197.
- Pflanzen 135/137.
- Pflanzengeographie 127.
- Phalanſterien 95.
- Phratrie 232.
- Phyſiokraten 89/90.
- Polygamie 240, 241.
- Poſtweſen, Verſtaatlichung 321;
im Altertum im Dienſte des
Staates; Entſtehung im Dienſte
des Verkehrs 335. - Preis, Regulierung durch Zünfte
425; dasſelbe in der Haus-
induſtrie 425; durch Kartelle
449, 450/451; Regulator und
Kontrolleur der Produktion
456/457. - Prieſter, P. und Richter in einer
Perſon 52; Entſtehung 329;330;
Entſtehung und Bedeutung der
Prieſterherrſchaft 330/331; Be-
ſeitigung letzterer 331; heutiger
Einfluß im Vergleich mit dem
der Krieger und Händler 337. - Privatwirtſchaft, Abgrenzung
zwiſchen privater und öffent-
licher Thätigkeit; Zahlenbei-
ſpiele 321/322; centraliſtiſcher
Zug in heutiger P. 453; Un-
entbehrlichkeit der privatwirt-
ſchaftl. Unternehmungen 457. - Produktion, Abhängigkeit vom
Klima 131; Vermehrung und
Verbilligung durch die moderne
Technik 219/221; indirekte Be-
einfluſſung der P. eines er-
heblichen Teiles des Volkes
durch die Maſchinentechnik 221;
Verlängerung des Produktions-
weges bei fortſchreitender Tech-
nik 226; in der Dorfwirtſchaft
289; Grundherrſchaft 290;
Stadtwirtſchaft 296; Anteil der
Bevölkerung an verſchiedenen
Zweigen 358/359; Einfluß der
Arbeitsteilung 364/365; hand-
werksmäßige 419, 421; haus-
induſtrielle 424/425; im Groß-
betriebe 429; Feſtlegung durch
letzteren 431; in Manufaktur
und Fabrik 433; Regelung durch
Kartelle 451; dasſelbe durch
die Preiſe 456. - Produktionsteilung 350.
- Produktivitätslehre 357.
- Proſtitution, im Zuſammenhang
mit Bevölkerungshemmungen
173; bedenkliches Symptom
unſerer volkswirtſchaftl. und
ſocialen Organiſation 176. - Protektoratsländer, ſ. Schutz-
länder. - Pſychologie, pſychologiſch, Schlüſ-
ſel zu allen Geiſteswiſſenſchaften
107; Notwendigkeit einer pſ.
Völker- und Klaſſenkunde 107;
pſ.-ſittliche Betrachtung, Eigen-
ſchaft der beſten neueren na-
tionalökonomiſchen Werke 122;
pſ. Völkerbilder ſ. ethnogra-
phiſche Einzelbeſchreibungen;
pſ. Vorbedingungen der Ar-
beitsteilung 362/363. - Puddelprozeß 216.
- Raſſe, Feſtſtellung der eigentüm-
lichen Züge der verſchiedenen
R., Schlüſſel für die Erkennt-
nis verſchiedenen wirtſchaftl.
Handelns 139/140; die ver-
ſchiedenen R. und das Princip
der Vererbung 140/144; ver-
ſchiedene Theorien der Ent-
ſtehung der R. 142/144; die
einzelnen Urſachen der Raſſen-
bildung 144/146; Folgen eines
Eindringens niederer R. für
die höherſtehenden 147; ethno-
graphiſche Einzelbeſchreibung
der wichtigſten R. 148/158;
Einfluß auf Klaſſenbildung 396. - Raſſenmiſchung, Definition und
Vorkommen 146; Einfluß auf
die Variation der R. 146; Ent-
ſtehung neuer Raſſentypen;
Beiſpiele; Würdigung 146/147. - Raſſentheorie, R. von Vollgraf
und Gobineau 140. - Rat der Stadt 294.
- Recht, Entſtehung 51; ältere Ver-
bindung zwiſchen Sitte u. R.
51/52; Grenze zwiſchen Sitte
u. R. 52, 55; Scheidung von
R. u. Sitte 53; Definition;
Ziele 54; formale Natur 54;
Bedeutung der Differenzierung
von Sitte, R. u. Moral 57/59. - Reformation, Bedeutung für die
Staatswiſſenſchaft 80; R. und
die Anfänge der neueren Wiſſen-
ſchaft 81. - Réforme sociale 121.
- Regalwirtſchaft 305.
- Regenmenge 131.
- Reinertrag, landwirtſchaftlicher
132; Geſetz der abnehmenden
Bodenerträge 220. - Religion, Erzeugerin großer, ein-
heitlicher Bewußtſeins- und
Geſittungskreiſe 19; religiöſe
Vorſtellungen als Urſache ſitt-
licher Umbildungen 46/48; Be-
deutung des Verblaſſens der
religiöſen Vorſtellungen 47/48. - Revue d’économie politique
121. - Rindvieh 196.
- Rivalitätstrieb 31/32.
- Rußland, Größe ſeines zuſammen-
hängenden Landgebietes und
deren Beziehungen zur geogra-
phiſchen Lage 129; ethnogra-
phiſche Beſchreibung ſeiner Be-
völkerung 152/153; Grundeigen-
tumsrecht 378/379. - Säuglinge 161.
- Salinen 422/423.
- Samtgemeinde 285.
- Schankweſen 319.
- Schloſſerei 210.
- Schiffspartnerſchaft 440.
- Schmerzgefühle 20/22.
- Schmied, Urtypus des Gewerbs-
mannes 203; Aufblühen des
Schmiedehandwerks im 16. bis
17. Jahrhundert durch beſſere
Technik der Eiſenherſtellung 210. - Schnellſchütze 214.
- Schonung 194.
- Schrift, Litteratur 10; Sch. als
pſychologiſches Mittel menſch-
licher Verſtändigung 11/12;
Verbreitung und Vervielfälti-
gung 13. - Schule 13.
- Schulpflichtige Kinder 161.
- Schulweſen 321.
- Schutzländer 180.
- Schwabe 155.
- Segelſchiff 212.
- Selbſterhaltungstrieb 27/28.
- Selbſtliebe, Dogmengeſchichtliches
32; Erwerbstrieb und S. 36;
Grundprincip von Moralſyſte-
men 73. - Selbſtverwaltungskörper, ſiehe
Gebietskörperſchaft, Entſtehung
von S. zwiſchen Staat und
Gemeinde 284. - Semiten 151/152.
- Sept 239.
- Seßhaftigkeit 199.
- Siedelung, Bedeutung der Kennt-
nis der natürlichen Bedingun-
gen für das Verſtändnis der
S. 133/134; S. der heutigen
Barbaren und aſiatiſchen Halb-
kulturvölker 255/256; Siede-
lungsweiſe der Germanen und
[478]Regiſter.
Kelten 260/263; Begriffe der
Siedelungsſtatiſtik 268; Er-
gebniſſe moderner Siedelungs-
ſtatiſtik 269/271; Motive für
konzentrierte und zerſtreute S.
272/273; Zuſammenwirken von
Individuum und öffentlicher
Gewalt bei S. 273/274; Siede-
lungsreformen 275; Folgen
der verſchiedenen S. 275/277. - Siedlungsgemeinſchaften 8/9.
- Sippe, Begriff, Verhältnis zum
Stamm 231; Größe 231, 237;
Unterſcheidung von Vater- und
Mutterſippe, Zweck, Princip
der Einteilung 231/232: Furcht
vor blutsnahen Geſchlechtsver-
bindungen als Veranlaſſung
der Sippenbildung bisher ge-
trennter Horden 233; Entſte-
hung des Sippeneigentumsdurch
gemeinſame Rodung der Män-
ner 234; ſtärkere Anſätze zur
Sippeneinteilung des Stammes,
meiſt in der uterinen Form,
mit Ausbreitung des Hackbaues
und der Rodungen 234; Rolle
und Entſtehung der uterinen
S. im Mutterrecht 234/235;
Entſtehung der Vaterſippe 236;
Zahl der S. eines Stammes
236/237; gemeinſame Veran-
ſtaltungen 237/238; Recht der
Vormundſchaft und Erbfolgen
238; Funktionen der S. gegen-
über Muttergruppe u. Familie
238; Übergang zur patriarcha-
liſchen Familie 239. - Sippenverfaſſung, Entſtehung
in der uterinen Form 234;
Entſtehung der ſpäteren Vater-
ſippe 236; Darſtellung, Vor-
ausſetzungen der Blüte, Wür-
digung 236/239. - Sitte, Definition 49; Gewohn-
heit und S. 49/50; äußeres
Leben als Objekt der S. 50;
über kulturgeſchichtliche Her-
leitung der einzelnen Form 50;
Entſtehung 50/51; volkswirt-
ſchaftliche Bedeutung 51; ältere
Verbindung mit dem Recht 51
bis 53; Grenze zwiſchen S.
und Recht 52, 55; Scheidung
von S. und Recht 53; Bedeu-
tung der Differenzierung von
S., Recht und Moral 57/59. - Sittliche, das, Weſen des S.
41/48; ſittliches Handeln 41/42;
ſittliches Urteil 42/43; hiſtori-
ſche Entwickelung des S. 43/44;
Ziele des S. 44/45; ſittliche
Zuchtmittel 45/48; ſittliche Um-
bildung durch religiöſe Vor-
ſtellungen 46; ſittliche Ordnun-
gen des geſellſchaftlichen Lebens
48/59; Normen des ſittlichen
Handelns 48; allgemeiner Zu-
ſammenhang zwiſchen volks-
wirtſchaftlichem und ſittlichem
Leben 59/75; ſittliche Kräfte
60/61; ſittliche Ideale teils
zu heilſamem Fortſchritt, teils
zu falſcher Beurteilung des
Beſtehenden und zu thörichten
Forderungen führend 73/75;
noch fehlende ſittliche Lebens-
ordnung für die richtige Be-
nutzung der neuen Technik 225. - Sklaverei, Sklaven, indirekte
Hemmung der Bevölkerungs-
zunahme 174; Wurzeln, Vor-
ausſetzungen der Familienver-
faſſung und Technik, Recht-
fertigung in der Raſſendiffe-
renz, die durch ſie herbeige-
führte Arbeitsteilung, techni-
ſche Leiſtungen, verſchiedene
Rechtslagen und Formen 339;
Umbildung und Aufhebung
340; Zahlenverhältnis zur ſon-
ſtigen Bevölkerung 341; Skla-
veneigentum der älteren Acker-
bauer und Hirten 369/371. - Slacht 239.
- societas 401.
- sodalitates 401.
- Söldnerweſen 178.
- Solidarhaft 446/447.
- Sociale Körper, Entſtehung 8,
279/280. - Socialer Trieb, kein ſelbſtändiger
Trieb 30; Anſicht über ihn
bei Hugo Grotius, Pufendorf,
Locke, überhaupt im Naturrecht
83. - Socialismus, Auffaſſung über
Inſtitutionen 63; Anlehnung
an das Naturrecht 83; Littera-
tur 93/98; ältere ſocialiſtiſche
Gedanken 93; ſteigende Bedeu-
tung und Ausbildung mit dem
Hervortreten gewiſſer wirt-
ſchaftlicher und ſocialer Er-
ſcheinungen 93; engliſche Ver-
treter 94; franzöſiſche Vertreter
94/95; deutſche Vertreter 95/98;
Würdigung und Kritik 98/99;
kritiſches Verhalten dem S.
gegenüber bei Anerkennung des
Berechtigten 122; Neigung, auf
die geiſtigen Kollektivkräfte,
Milieu und Erziehung den
Volkscharakter und den des
Individuums zurückzuführen
145; Standpunkt gegenüber
dem Bevölkerungsproblem 175;
S. u. Familie 250/253; Geſell-
ſchaftsform, die ohne Steuern
beſtehen kann 308; Kritik ſeiner
Beurteilung des Handels 337;
Beurteilung der Arbeitsteilung
363, 365, 366/367; Zugeſtänd-
niſſe hinſichlich des Privateigen-
tums an Gütern des perſön-
lichen Gebrauchs und Kapital-
gütern des Bauern und Hand-
werkers 381; über Folgen des
individuellen Eigentums 390;
Auffaſſung über Vereinsrecht
407/408; Beurteilung der pri-
vaten Unternehmung 456; Aus-
ſichten und Kritik ſeiner Ver-
faſſungsvorſchläge des Unter-
nehmungsweſens 455. - Sociologen 145.
- Sociologie, Aufgabe 72; als
Stütze für eine empiriſche Ethik
und die allgemeinen Fragen
ſocialer Specialwiſſenſchaften
72. - Sparſamkeit, Teil der Wirtſchaft-
lichkeit 40; Bedingungen 40. - Specielle Volkswirtſchaftslehre
124. - Spinnerei, techniſche Entwicke-
lung der mechaniſchen Sp.;
Statiſtik der Spindeln 214/215;
Verhältnis der Leiſtungsfähig-
keit zwiſchen Hand- u. mecha-
niſcher Sp. 215. - Sprache, Litteratur hierüber 10;
pſychologiſches Mittel menſch-
licher Verſtändigung 10/11. - Staat, wirtſchaftlich-geſellſchaft-
liche Veranſtaltung, Bedingung
der Volkswirtſchaft 6; ſtaatliche
Strafen als ſittliche Zuchtmittel
45/46; Verknüpfung von St.
u. Volkswirtſchaft im Merkan-
tilismus 85; Beziehungen zwi-
ſchen der Natur, beſ. geo-
graphiſchen Lage der St. und
ihrer Größe 129; hiſtoriſcher
Überblick über Größe, Ein-
wohnerzahl, Finanzen verſchie-
dener St. 282/285; wirtſchaft-
liche Seite des Strebens der
St. nach Selbſtändigkeit, Ver-
größerung, zweckmäßiger Grenz-
bildung 286/287; ſtaatliche Fi-
nanzwirtſchaft 298/314; Teilung
der wirtſchaftlichen Funktionen
zwiſchen St., Gemeinde, Unter-
nehmung, Familie 222, 318/319,
453/457; die dem St. hierbei
zufallenden Funktionen und
ihre Vergrößerung 320/324;
Zuſtand der Staatsorganiſation
zur Zeit des Ständetums 404. - Staatliche oder ſonſt öffentliche
Wirtſchaft, Bedeutung der Be-
amten, ihre Zahl in verſchiede-
nen Staaten und Verwaltungen
312/313; Schwierigkeiten und
Hilfsmittel 313/314; Abgren-
zung zwiſchen privater u. öffent-
licher wirtſchaftl. Thätigkeit,
Zahlenbeiſpiele 321/322; außer-
ordentl. Ausdehnung in der
[479]Regiſter.
Neuzeit, in verſchiedenen Staa-
ten verſchieden, Gründe dafür
282/283, 322/324. - Staatsallmacht, Naturrecht und
St. 83; Merkantilismus und
St. 85. - Staatsbildung, in der Regel den
Nomaden früher und beſſer ge-
lungen als Hack- und Acker-
bauern 198; Entſtehung 280. - Staatsgewalt 280/281.
- Staatshaushalt, ſiehe Haushalt.
- Staatskredit 309.
- Staatspraxis, Charakteriſtik u.
Würdigung der merkantiliſti-
ſchen St. 300/301; dasſelbe
von der liberalen St. 301/302. - Staatsſchatz 309.
- Staatsſchulden, Beurteilung nach
Verwendung u. Vermögenslage
des Staates 309; St. verſchie-
dener Staaten und ganz Euro-
pas 310; ſociale Wirkung 310;
Zinslaſtverſch. Staaten 309/310. - Staatswirtſchaft, Entſtehung des
Terminus 300; Bedeutung des
Terminus im 18. Jahrhundert,
dasſelbe gegenwärtig 303. - Stadt, Bedeutung der Kenntnis
der natürlichen und geologiſchen
Bedingungen für das Ver-
ſtändnis der Lage und Grün-
dung der St. 133; allgemeine
volkswirtſchaftliche Wahrheiten
über die natürl. Bedingungen
größerer oder kleinerer St. 133;
Entſtehung größerer St. durch
den Waſſerverkehr 134; Unter-
ſchied im Altersaufbau zwiſchen
St. u. Land 162; Sterblichkeit
in St. u. Land 167; Ackerbau
als Erzeuger der St. 200;
Ausſehen der deutſchen St. des
12. und 13. Jahrhunderts 207;
Fortſchritte d. ſtädtiſchen Technik
des 11. bis 17. Jahrhunderts
208; Begriffsdefinition 255;
antike Städtebildung, St. und
Stadtbezirk, Größe und Ein-
wohnerzahl einiger St. 257/259;
Vorliebe in den Mittelmeer-
ländern für ſtädtiſches Leben
u. Wohnen 259; Größe badiſcher
St. im 16. u. 19. Jahrhundert
263; Städteweſen vom Mittel-
alter bis 1800 263/267; Ent-
ſtehungszeit d. älteren deutſchen
St. 263/265; Entſtehungszeit
der Bezeichnung „Stadt“ 264;
Weſen, Entſtehungsgründe und
-bedingungen 265; Privilegien
der älteren deutſchen St. 265;
Entwickelung u. Bedeutung der
Städtefreiheit 266; Einwohner-
zahl einiger älterer deutſcher u.
anderer St. 266; Urſachen des
Aufblühens der deutſchen St.
von 1200—1500 u. des ſpäteren
Stillſtandes 266/267; Städte-
entwickelung anderer Länder
267; Anteil der ſtädtiſchen an
d. Geſamtbevölkerung im Mittel-
alter 267; ſteigende Speciali-
ſation 273; Gründe der Über-
legenheit der St. über das platte
Land 275; pſychologiſche und
körperliche Folgen d. ſtädtiſchen
Wohnens 276/277; hiſtoriſcher
Überblick üb. territoriale Größe,
Einwohnerzahl, Finanzen ver-
ſchiedener St. 282; ältere
Städtewirtſchaft 293/298; Rat
294; Bürgerſchaft 295; Aus-
tritt 295; Stadtwirtſchafts-
politik 296; Stadthaushalt
297/298. - Stadtgebietswirtſchaft, Begriff
294; Entſtehung, Schilderung
296. - Stadtrecht, Begriff 265; Inhalt
294/295. - Stadtwirtſchaft, Begriff 4; dabei
dreierlei zu unterſcheiden 294;
Unterſchied gegenüber der Wirt-
ſchaft des Dorfes u. der Grund-
herrſchaft 293; Organiſation
294/298; Würdigung 298. - Stände, römiſche Ständebildung
401/402; germaniſche Stände-
bildung 403/404; Zuſtand der
allgemeinen Staatsorganiſation
zur Zeit des Ständetums 404;
Kampf gegen das Ständetum
404/405; Aufhebung und ihre
Urſachen 405/406. - Stahl, Geſchichte ſeiner Technik
216; Statiſtik der Produktion
und Konſumtion 217. - Stamm, Stammeswirtſchaft, we-
ſentliches Merkmal früheren
Wirtſchaftslebens 4; Stammes-
bündniſſe in der Regel Nomaden
früher gelungen als Ackerbauern
198; Begriff, Verhältnis zu
Horde, Sippe, Volk 231; Ent-
ſtehung von Stammeseigentum
durch Stammesokkupation 234;
Vorzüge d. Stammesverfaſſung
gegenüber den Horden 238;
Eigentumsrecht im St. primi-
tiver Völker 368/373. - Stapelrecht 265.
- Station 180.
- Statiſtik, Wertſchätzung im Mer-
kantilismus 85; Methode em-
piriſch-realiſtiſcher Forſchung
114; Grenzen ihrer Leiſtungs-
fähigkeit, Bedeutung 114/115;
Hauptvertreter in den verſchie-
denen Ländern 115; Bevöl-
kerungs-St. 160/187. - Sterblichkeit, Statiſtik u. Urſachen
der Verſchiedenheiten 167/168;
Beiſpiele für zeitweiſe außer-
ordentliche St. 172/173. - Steuer, Entſtehung und Weſen
306; Schwierigkeiten der Um-
legung 307; Schwierigkeit, alle
Staasausgaben auf St. zu
baſieren 307; Steuerhoheits-
u. Bewilligungsrecht 307; Be-
griff u. Wirkung indirekter St.
308; St. und die Volkswirt-
ſchaft 308. - Stoa, ihre metaphyſiſch-idealiſti-
ſche Ethik 71; Stellung in der
Geſchichte der Staatswiſſen-
ſchaften 78; Einfluß auf die
ſtaatswiſſenſchaftlichen Lehren
des Mittelalters 80. - Stoffeinteilung ſ. Syſtematik.
- Strafe 45/46.
- Stückofen 209.
- Sympathie 232.
- Synoikismos 257.
- Syſtematik, Bedingungen, unter
denen jede S. berechtigt iſt 124;
S. dieſes Grundriſſes 125. - tableau économique von Ques-
nay 89. - Tadel 45.
- Tagelöhner 246.
- Truſt 451.
- Technik, techniſche Fortſchritte
verſchiedener Art als Bedingung
der Bevölkerungsverdichtung
185/186; Entwickelung der T.
in ihrer volkswirtſchaftlichen
Bedeutung 187/228; Definition
189; verſchiedene Einteilung
techniſcher Perioden 190; all-
gemeine Urſachen der T. 190/192;
Wanderung der T. 191; die
erſten techniſchen Fortſchritte,
älteſte Waffen und Werkzeuge,
Feuer, Töpferei 192/194; älteſte
Fortſchritte der Ernährungs-
technik 194/197; Nomadenwirt-
ſchaft und Ackerbau 197/201;
Bedeutung des Ackerbaues für
die Entwickelung der T. 199;
Geſchichte der älteren Metall-
technik 201/203; drei große
techniſche Fortſchritte der alten
weſtaſiatiſchen Völker 203; T.
des Hausbaues daſelbſt 204;
T. der Staatsbauten der weſt-
aſiatiſchen Völker, Verteidi-
gungs- und Kriegstechnik 205;
Verhältnis zwiſchen Höhe der
T. und Kraft der Völker 205/206;
T. der Griechen 206; T. der
Römer 207; arabiſche T. 207;
mittelalterlich-abendländiſche
T. 207/211; Einführung der
Waſſerkraft in die T. 208/210;
Beſchreibung des modernen weſt-
europäiſch-amerikaniſchen Ma-
ſchinenzeitalters 211/218; Wür-
digung des letzteren 218/225;
[480]Regiſter.
Einfluß auf Vermehrung und
Verbilligung der Produktion
219/221; Grenzen des techniſchen
Fortſchrittes 221; andere Wir-
kungen der modernen T. 221/222;
Wirkung auf die Arbeiter 223
bis 224; zuſammenfaſſendes
Urteil über das Maſchinenzeit-
alter 224/225; Notwendigkeit
einer neuen ſittlichen Lebens-
ordnung zur richtigen Be-
nutzung der techniſchen Fort-
ſchritte 225; ſteigende Kapital-
aufwendung und Verlängerung
des Produktionsweges bei fort-
ſchreitender T. 226; Verhältnis
zwiſchen höherer Kultur und
höherer T. 226/227; Verhältnis
zwiſchen volkswirtſchaftlicher
Organiſation und T. 227;
Wechſelwirkung zwiſchen den
einzelnen Elementen der T. 228;
entwickelte T. Vorbedingung des
Großbetriebes 430/431. - Territorialwirtſchaft, Voraus-
ſetzungen des gemeinſamen
wirtſchaftlichen Lebens 299;
Entſtehung und Weſen 300. - Textilinduſtrie 214/215.
- Thätigkeitstrieb 28/29.
- Thomas-Gilchriſtſche Verfahren
216. - Tiere, Verteilung u. wirtſchaft-
liche Rolle 135/137; Zähmung
zuerſt bei Hackbauern 195/196. - Tiergeographie 127.
- Todesfälle, Statiſtik der T. in
verſchiedenen Zeiten u. Ländern
166/167; Deutung und Be-
deutung der Sterbeziffern
167/168. - Töpferei 194.
- township, Stellung in der ameri-
kaniſchen Selbſtverwaltung,
Größe und Einwohnerzahl 285;
Grundeigentum im Weſten der
Vereinigten Staaten als Schul-
fonds 316. - Triebe, Litteratur 20; Definition
und Erklärung 26 f; hiſtoriſche
Entwickelung des Trieblebens
27; Klaſſifikation 27; Schilde-
rung verſchiedener Triebe 27/32;
Trieblehre des Naturrechts 83. - Triebhandlungen 27.
- Tropen 132.
- Tugenden, wirtſchaftliche, Regu-
latoren des Erwerbstriebes
37/38; verſchiedene w. T.
38/41. - Typiſche Reihen und Formen,
ihre Erfaſſung erſter Schritt
zu wiſſenſchaftlicher Erkenntnis
105; Urſacherklärung 106. - Übervölkerung, relative Ü. als
Urſache der Auswanderung 181;
abſolute und relative Ü. 186/187.
- universitates 401.
- Unternehmer, Anteil der größeren
U. an der Schaffung des mo-
dernen Arbeiterſtandes 343;
gegenwärtiges Zahlenverhältnis
in Deutſchland zwiſchen U.,
Beamten und Arbeitern 345,
352; Begriff 413; unter Kon-
trolle der Preiſe u. Druck der
Geſamtintereſſen 456/457. - Unternehmergewinn 414.
- Unternehmung, Verſchiebung
zwiſchen den Funktionen von
Familie, Gebietskörperſchaft u.
U. durch die moderne Technik
222; dasſelbe als Folge zu-
nehmender Vergeſellſchaftung
318/319, 453/457; Begriff
413/414; Ausgangspunkte: Han-
del 414/415, ältere Arbeits-
genoſſenſchaft 415/416, Familie
416/417; landwirtſchaftliche U.
418; gewerbliche U: Handwerk
419/421, Anſätze zu größeren
Betrieben bis gegen 1800
421/424, Hausinduſtrie 424/428;
Großbetrieb, Fabrik 428/439;
offene Handels- u. Aktiengeſell-
ſchaft 440/444; neuere wirt-
ſchaftliche Genoſſenſchaften 444
bis 448; Kartelle, Ringe, Truſts
448/453; Geſamtbild des Unter-
nehmungsweſens 453/457. - Unternehmungsgeiſt, Entſtehung
und Bedeutung 40/41; ent-
wickelter U. Vorbedingung des
Großbetriebes 430. - urbes regales 264.
- Urproduktion 358.
- Urſacherklärung, Hauptaufgabe
der Wiſſenſchaft 106; Urſache,
Folge, Bedingungen 106; volks-
wirtſchaftliche Erſcheinungen
bedingt durch materielle und
geiſtige Urſachen 106/107; Me-
thoden der U. in der Volks-
wirtſchaftslehre 107/111. - Utilitarismus 73.
- Variabilität, Princip der V. 141;
Vorausſetzungen der V. und
das Zuſtandekommen von Vari-
ationen 141/142; V. als Grund-
lage der einheitlichen Entſtehung
der Raſſen 142/143: Maß der
V. 143/145; Wirkung der
Raſſenmiſchung auf die Vari-
ation 146; Entſtehung neuer
Raſſentypen, Beiſpiele, Wür-
digung 146/147. - Vaterrecht, ſein Sieg der Über-
gang zur patriarchaliſchen
Familie, Grund der Aus-
bildung 239/240; V. überall,
wo Islam und Chriſtentum
eindringen 240. - Vegetationszeit 132.
- Verein für Socialpolitik 119.
- Vereinsbildung, im alten Rom
401/402; zuerſt ſeitens der
ſtarken oder ſchwachen Ele-
mente vorgenommen? 407. - Vereinsrecht, im alten Rom
401/402; im deutſchen Mittel-
alter 403/404; Auffaſſung des
Liberalismus und Socialismus
407/408; Geſchichte des moder-
nen V. 408; Verlangen nach
V.-Freiheit; Kritik 408/409. - Vererbung, Princip der V. und
Raſſenbildung 140/144; Prin-
cip der V. begrenzt durch das
der Variabilität 141. - Vergeſellſchaftung, Anerkennung
einer ſteigenden wirtſchaftlichen
Vergeſellſchaftung 122; zu-
nehmende wirtſchaftliche Thätig-
keit öffentlicher Organe als Er-
gebnis wachſender V. 317/324;
ſteigende V. durch die Arbeits-
teilung 364/365; wachſende V.
des Unternehmungsweſens 457. - Vergleichung 102.
- Verkehr, Abhängigkeit vom Klima
132; Abhängigkeit von den
Bodenverhältniſſen u. Waſſer-
läufen 133/134; Rolle der Me-
talltechnik 203; Fortſchritte bis
1700 210; Dampfkraft 213;
Koſten der verſchiedenen ihm
dienenden mechaniſchen Kraft
219; Verkehrserleichterung als
größte Wirkung der modernen
Maſchinen 219; Veränderung
im Standort der landwirt-
ſchaftl., gewerbl. und händleri-
ſchen Unternehmungen ꝛc. durch
verbeſſerten V. 221; Entwicke-
lung der verſchiedenen Verkehrs-
mittel 267; Anteil an der Be-
völkerung 359; V. u. Arbeits-
teilung 362;. entwickelter V.
Vorbedingung des Großbetrie-
bes 429/430; Großbetrieb im
V. 432; Größe und Zahl der
deutſchen Verkehrsgeſchäfte 433. - Vermögen, Ungleichheit mit dem
Viehbeſitz beginnend 370; erſte
Unterſchiede des Beſitzes auf
perſönlichen Unterſchieden be-
ruhend 371; Einfluß des Erb-
rechts auf die Vermögensver-
teilung 384. - Verſchuldung 378.
- Verſtaatlichung, Kritik der V.
des Grundbeſitzes 380, 386;
ſ. a. Staat. - Verſtändigungsmittel 14.
- Verwandtſchaft, Definition der
Begriffe der wichtigſten Ver-
wandtſchaftsgruppen 231/232. - Vieh, verſchiedene Anſichten über
die hiſtoriſche Aufeinanderfolge
der Epochen der Viehzucht u. des
Ackerbaues 195; Entſtehung der
[481]Regiſter.
Viehzähmung bei Hackbauern
195/196; Ed. Hahns Hypotheſe
über Entſtehung der Viehzucht
196; Viehhaltung die männlich-
kriegeriſchen Eigenſchaften der
Stämme fördernd 198; Stei-
gerung des Einfluſſes des Man-
nes durch die Viehzähmung 239;
Vieheigentum der älteren Acker-
bauer und Hirten 369/371. - Vielmännerei, Vorkommen und
Urſachen 163; in Zuſammen-
hang mit Bevölkerungshem-
mungen 173. - Vielweiberei 163.
- Völkerleben 126/127.
- Völkerſchaften, abſolute Größe
der V. verſchiedener Raſſen u.
Zeiten 169/170; Größe in
Gallien zu Cäſars Zeit 257. - Völkerſcheidung, Theorien ihrer
Entſtehung 142/143; die ein-
zelnen Urſachen 144/147. - Volk, einheitl. Bewußtſeinskreis
18/19; phyſiologiſch-pſycholo-
giſche Einheit 139; die ver-
ſchiedenen Völker u. das Princip
der Vererbung 140/144; ethno-
graphiſche Einzelbeſchreibung
der wichtigſten V. 148/158;
Definition der Begriffe Halb-
und Ganzkulturvölker 228; Be-
griff; Verhältnis zu Horde,
Sippe, Stamm; Entſtehung
231. - Volkseinkommen 322.
- Volksgeiſt, die Summe der nach
Einheit drängenden Bewußt-
ſeinskreiſe 16; die einheitlichen
Gefühle eines Volkes 18. - Volkswirtſchaft, Litteratur über
den Begriff 1; ſtaatswiſſen-
ſchaftlicher Kollektivbegriff 1;
Analyſe des Begriffes V. 2 ff.;
Begriff der V. 4/6; Princip
der V., die geſellſchaftliche Ge-
ſtaltung der wirtſchaftl. Vor-
gänge 5/6; Staat Vorbedingung
6; pſychiſche, ſittliche u. recht-
liche Grundlagen 6/75; Ele-
mente und Maſſenerſcheinungen
125/228; Abhängigkeit von
den äußeren Naturverhältniſſen
126/139; Veränderung durch
die moderne Großtechnik 222;
Verhältnis zwiſchen volkswirt-
ſchaftl. Leben und Technik
227; geſellſchaftliche Verfaſſung
229/457; Vorausſetzungen des
gemeinſamen wirtſchaftl. Le-
bens 299; vier hiſtor. Epochen
299; heutige Bedeutung des
Terminus 303; V. und Steuer
308; heutige V. Ergebnis der
Arbeitsteilung 365; Geſamt-
bild der geſellſchaftl. Verfaſſung
der V. 453/457.
- Volkswirtſchaftlicher Kongreß
92. - Volkswirtſchaftliche Organiſa-
tion, Hauptzweck 346; Schluß-
ergebnis und Geſamtbild 453
bis 457. - Volkswirtſchaftslehre, Anfänge
76; Definition 76; geſchicht-
liche Entwickelung der Littera-
tur 77/124; Methoden 99/110;
Bedeutung des Überblicks über
Nachbarwiſſenſchaften, über-
haupt einer univerſalen Bil-
dung 111; Ausreifung zur
Wiſſenſchaft im 19. Jahrhun-
dert 111/124; heutiger wiſſen-
ſchaftlicher Standpunkt 122
bis 123; Einteilung durch Rau
124; Einteilung in dieſem
Grundriß 124. - Wärme 131/132.
- Waffe, Identität und Differen-
zierung von Werkzeug und W.,
Definition, die älteſten W. 192;
W. aus Metall 201/203; Fort-
ſchritt der Waffentechnik zur
Kunſt 210. - Wald 135/136.
- Wanderungen, geographiſche Fak-
toren beſtimmend für die ur-
ſprünglichſten W. der Pflanzen,
Tiere und Menſchen 129; Ab-
hängigkeit des Wanderganges
der menſchlichen Kultur von
den natürlichen Nachbarbezieh-
ungen 130; Bedeutung der
menſchlichen W. für die Be-
völkerungsgröße der Länder
168; die halb und ganz kriege-
riſchen W. der rohen Natur-
völker in ganzen Stämmen
177; W. der ſeßhaften Völker
in Form von ſtaatlicher Kolo-
niſation 177/178; moderne W.
einzelner Individuen und Fa-
milien 178/179; Urſachen der
W. des 18. und 19. Jahrhun-
derts 181; Umfang und Be-
deutung moderner W., „Zug
nach der Stadt“ 271/272. - Warenhaus 432/433.
- Waſſer, Anteil an der Erdober-
fläche 128; Bedeutung ſeiner
Verteilung, der Quellen, Flüſſe,
Meeresküſten für die wirtſchaft-
liche Entwickelung 133; Waſſer-
technik, Waſſermühlen, Be-
nutzung der Waſſerkraft im
Bergbau 208/209; Rolle als
Kraftquelle 212; Entſtehungs-
zeit der Waſſermühlen 214. - Weberei 215.
- Wehrpflicht 333.
- Wehrpflichtige, ihr prozentualer
Anteil an der Bevölkerung
Deutſchlands 161; dasſelbe
durchſchnittlich auf verſchiedener
Kulturſtufe 332/333. - Weidegenoſſenſchaft 261.
- Weidewirtſchaft 200.
- Weiler 255.
- Weltwirtſchaft, Begriff 5; An-
erkennung, daß eine ſteigende
Annäherung im Sinne der
W. ſtattzufinden habe 123;
vierte hiſtoriſche Epoche der
Wirtſchaftsorganiſation der
neuen Zeit 299; Entſtehung
großer W. 300; heutige W.
Ergebnis der Arbeitsteilung
356, 365; Ausſichten einer
ſocialiſtiſchen Centralleitung
456/457. - Werkzeug, Entſtehung 190/191;
Identität und Differenzierung
von Waffe und W., Definitionen,
die älteſten W. 192; W. aus
Metall 201/203; Unterſchied
zwiſchen W. und Maſchine 218. - Wind 212.
- Wirtſchaft, Begriff des Wirt-
ſchaftens 2/3; Begriff der W.
als geſellſchaftliches Organ 3/6;
Gegenſatz von privater und
öffentl. W.; Teilung der Funk-
tionen 318/319, 322/324; ſ. a.
Privatwirtſchaft, ſtaatl. W. - Wirtſchaftliches Handeln, erſte
Veranlaſſungen 33; Wichtigkeit
der Feſtſtellung der eigentüml.
Züge der verſchiedenen Raſſen
für die Erkenntnis verſchiedenen
w. H. 139/140. - Wirtſchaſtlichkeit, Definition 39;
Bedingungen 40; wirtſchaftl.
Tugend 40; W. und Erwerbs-
trieb 40. - Wirtſchaftsgemeinſchaften 8/9.
- Wirtſchaftsgeſchichte, Haupt-
autoren in Deutſchland 118/119;
dasſelbe in England 120; das-
ſelbe in Frankreich 121. - Wiſſenſchaft, Anfänge der neue-
ren W. 80/82; Vorwiegen prak-
tiſcher Ideale während der erſten
Anfänge 80; Aufgaben der
ſtrengeren W. des 19. Jahrh.
100; Aufeinanderwirken der an-
einandergrenzenden W. 102/103;
Bedeutung der Begriffe für die
W. 105; Feſtſtellung der Ur-
ſachen die wichtigſte Aufgabe
106; Ausreifung der Volks-
wirtſchaftslehre zur W. im
19. Jahrh. 111/124; heutiger
Standpunkt der nationalökono-
miſchen W. 122; in den beſten
neueren volkswirtſchaftlichen
Werken die Nationalökonomie
eine moral-politiſche W. 122. - Wohlſtand 225.
- Wohnplätze, Definition verſchie-
dener Begriffe 255; brittiſch-
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 31
[482]Regiſter.
indiſcher Cenſus der W. 256;
Verhältnis der verſchiedenen
W. zur Fläche u. Bevölkerungs-
dichtigkeit 269; Motive für
koncentrierte u. zerſtreute W.
272/273; wachſende Differen-
zierung der Eigentümlichkeiten
und Typen 273. - Wohnung, Wohnweiſe, die älteren
menſchlichen W. 203/204; pro-
centuale Inanſpruchnahme des
Einkommens durch die Aus-
gaben für W. 220; Hermanns
Zweifel, ob unſere W. beſſer
ſei als die der Griechen 220;
Einfluß des näheren Zuſammen-
wohnens in früheſter Zeit auf
die Art des Geſchlechtsverkehrs
233/234; Wohnweiſe der älteren
Völker beſonders zur Zeit des
Mutterrechts 235; dasſelbe
unter der patriarchaliſchen
Familienverfaſſung 243; Ver-
gleich der älteren und modernen
W. 248/249; Einfluß der In-
dividuen und öffentlichen Ge-
walten, Reform der W. 273/275;
pſychologiſche und körperliche
Folgen der zerſtreuten und
dichten W. 275/277. - Wüſten 128.
- Zadruga, Größe 241; Grund-
eigentumsverfaſſung im Gebiet
ihres Vorkommens 375. - Zeitſchriften 119/120.
- Zeitung, Litteratur 10; Geſchichte
und Bedeutung 14. - Zins, ſinkender Z. in Zuſammen-
hang mit der modernen Ma-
ſchinentechnik 221; Zinslaſt
verſchiedener Staaten, prozen-
tuales Verhältnis erſterer zum
Überſchuß der privatwirtſchaftl.
Staatseinnahmen 309/310. - Zone, Einteilung der Erde in
Z. 130; Klima, Fruchtbarkeit
und wirtſchaftl. Bedingungen
der verſchiedenen Zonen 131/132. - Zünfte, Fortſetzung der Sippen
239; römiſche Z. 401/402; ſ. a.
Innungen. - Zweifelderwirtſchaft 200.
- Zweikinderſyſtem 176.
Appendix B Druckfehlerverzeichnis.
S. 48 in der Litteratur Zeile 8 lies ſtatt auf Grund der Ethik auf dem Grunde der Ethik.
S. 59 in der Litteratur Zeile 3 u. 4 lies ſtatt J. f. St. 1880 u. 81 J. f. N. 2. F. 1 ff. 1880 u. 1881.
S. 154 Zeile 11 u. 28 lies ſtatt Hildebrand Hillebrand.
Appendix C
Pierer’ſche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Schmoller, Gustav von. Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnk8.0