[]
Jahrbuch
für
Jugend- und Volksspiele.
Mitgliede des Hauses der Abgeordneten, Mitgliede des Ausschusses der deutschen Turnerschaft.
Vorsitzenden des Zentralausschusses
zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in Deutschland.
Dritter Jahrgang.
1894.
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Leipzig,:
R. Voigtländer’s Verlag.
1894.
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6. Der Nutzen der Wettspiele.

Von Professor Dr. K. Koch, Braunschweig.

Die Veranstaltung von Schulspielen halten manche für unnötig,
da die Jugend doch schon ohne Zuthun der Schule sich regelmäßig im
Freien beim Spiele umhertummele, und ebenso für unzweckmäßig, weil
bei solchen von der Schule veranstalteten und geleiteten Spielen die
rechte Jugendlust doch nicht gedeihen könne. Schon wiederholt ist die
Auffassung, auf die sich diese Urteile stützen, daß nämlich heutzutage
unsere deutsche Jugend noch selbständig das kräftige Spiel im Freien
eifrig betriebe, als irrig erwiesen worden. Ja, wer in seiner Jugend-
zeit vor dreißig, vierzig Jahren das Glück gehabt hat, in einer kleineren
Stadt oder auf dem Lande aufzuwachsen, wird ein ganz anderes Bild
im Gedächtnisse haben, ein Bild, das leider der Wirklichkeit nicht im
geringsten mehr entspricht. Wenn wir damals des Mittags oder Nach-
mittags aus der Schule kamen, war es für uns in der geeigneten
Jahreszeit stets das Erste, Schlagholz und Ball aus der Ecke zu holen
und auf dem ziemlich ausgedehnten Hofraume hinter unserm Hause
ein munteres Kaiserballspiel anzufangen. Jeder freie Augenblick ward
dazu ausgenutzt; an geeigneten Spielplätzen fehlte es nirgends und erst
recht nicht an dem nötigen Eifer. Es war das eben eine gute Ge-
wohnheit der damaligen Jugend; irgend welche weitere Zwecke dabei
im Auge zu haben, fiel niemandem ein, wir dachten nur an das Ver-
gnügen beim Spiel, an den Sieg, den wir erringen, an die Niederlage
vom vorigen Tage, die wir wett machen wollten.

Diese schönen Zeiten sind aber leider dahin! Die sich einst in
Fülle bietenden Spielplätze unmittelbar bei den Wohnungen der Ein-
zelnen sind in den Städten mit Bauten besetzt oder in Zierplätze ver-
wandelt, die weiten Angerstrecken auf dem Lande sind nach der Ge-
meindeteilung umgebrochen, kein Plätzchen ist unbenutzt geblieben; kurz,
das alte ungezwungene Spielleben ist jetzt nicht mehr möglich, selbst
wenn die gesteigerten Ansprüche der Schule noch ebensoviel freie Zeit
[39] ließen, wie damals. Schon vor zwanzig Jahren bei der Aufstellung
der Statistik des Schulturnens von Lion 1873 waren aus vielen
deutschen Gauen Klagen erklungen, daß es mit dem Jugendspiele
traurig bestellt sei, und daß unsere Jugend statt dessen in ihren Muße-
stunden vorzeitigen, verderblichen Vergnügungen und Genüssen nachgehe.
Es war das Spiel im Freien durch mancherlei Umstände den Schülern
sehr erschwert. Um zum Spielplatze zu gelangen, mußten sie erst eine
viertel, ja eine halbe Stunde Wegs zurücklegen, sie konnten schon des-
halb nur an den freien Nachmittagen daran denken; es war nicht mehr
möglich, zum Spiel eilig die Nachbarssöhne abzurufen, es mußten um-
ständliche Verabredungen vorher getroffen werden; das Spielgerät war
auch nicht gleich zur Hand; mit einem Worte, die Verhältnisse machten
die freien Spiele fast überall so gut wie unmöglich. Kaum daß die
noch nicht schulpflichtige Jugend zu ihren wenig Platz in Anspruch
nehmenden Spielereien eine freie Stelle fand, wo sie sich ungehindert,
von mehr oder weniger Störungen abgesehen, belustigen konnte.


Die kräftigen Bewegungsspiele – der vieldeutige Ausdruck Spiele
allein könnte zu Mißverständnissen führen – sind unserer heutigen
Jugend so unbekannt geworden, daß die Schule für ihre Zöglinge
nicht allein die Veranstaltung derselben übernehmen, sondern auch erst
ihre Kenntnis ihnen vermitteln muß. Wenn unseren Schülern solche
Spiele nicht eingeübt werden, spielen sie schon aus dem Grunde nicht,
weil sie es nicht verstehen. Daß das etwas Unerfreuliches ist, und daß
es meinetwegen auch nicht natürgemäß erscheint, wenn die Schule zum
Spielen anhalten muß, ändert an der einmal vorliegenden Thatsache
nichts. Es sollte aber allerdings bei Anordnung und Leitung der
Spiele von vornherein grundsätzlich darauf Rücksicht genommen werden,
daß der jetzige Zustand nicht als ein naturgemäßer anzusehen ist, und
daß, soweit möglich, der frühere Zustand, wo die Jugend freiwillig
spielte, wieder angestrebt werden muß. Grade beim Spiele gilt jeden-
falls das Wort, daß ein guter Lehrer dahin streben muß, sich möglichst
bald überflüssig zu machen. Schon bei früherer Gelegenheit (Jahrbuch
1893, 2. Jahrgang, S. 16) ist darauf aufmerksam gemacht, daß des-
halb den Schülern beim Spiele möglichste Selbständigkeit und Freiheit
zu lassen ist. Die Schüler einer Anstalt müssen sozusagen eine Spiel-
gemeinde bilden, thunlichst unter eigener Leitung. Daneben sollten
für das freiwillige Spielen sich eigene Spielvereine entwickeln, die sich
einem bestimmten Spiele ausschließlich widmen. Das alles ist natür-
lich nur unter der Bedingung möglich, daß vorher in der Schuljugend
ein reger Spieleifer geweckt ist. Zu einen Wecken und Steigern des
[40] Spieleifers läßt sich auf verschiedene Weise beitragen, hauptsächlich
aber durch die Veranstaltung geeigneter Wettspiele.


Schon von den ältesten Zeiten her sind, wie wir aus dem Homer
ersehen, bei Wettkämpfen außer den Übenden selbst und den Preis-
richtern als ein Drittes Zuschauer nötig gewesen: der Ring, die Corona,
um die tüchtigen Leistungen zu sehen und sich ein Vorbild daraus zu
entnehmen, aber auch um den Siegern und unter Unständen auch den
Unterliegenden ihre Anerkennung zu zollen. Es wäre grundverkehrt,
wollte man derartige öffentliche Wettübungen als ungehörige Reizung
des Ehrgeizes und als nur einer eitelen Schaulust dienend verurteilen.
In meinem Vortrage über die Einrichtung von Wettspielkämpfen
(Jahrgang II, S. 186) habe ich nachgewiesen, wie allgemein diese Ein-
richtung ist. Sie wirkt auch in doppelter Beziehung segensreich für
das Gedeihen der Spiele und des Spieleifers: Einmal weckt sie in
den tüchtigen Spielern den Wunsch, solche Gewandheit und Fertigkeit
sich zu erwerben, um vor dem Wettspiele mit in die Zahl der Besten,
in die Spielriege hineingewählt zu werden und dann beim Wettspiele
selbst durch mutiges und geschicktes Spiel öffentliche Anerkennung zu
erringen; andrerseits erhalten die weniger tüchtigen Spieler beim Zu-
schauen ein klares Bild davon, auf welche Weise gut gespielt werden
muß, welche Feinheiten des Spiels sie noch erlernen müssen, und sie
erhalten den wirksamsten Antrieb, eifrig und regelmäßig zu spielen.
Für unsere Schüler wollen wir selbstverständlich keine so großartigen
Veranstaltungen, wie sie bei den Volksfesten der Griechen in Olympia,
oder wie sie bei den Trunieren der Ritter im Mittelalter, oder wie sie
bei den großen Cricket-Wettspielen in London getroffen werden – im
Gegenteil, je einfacher, um so besser; auch bei den einfachsten Vor-
kehrungen pflegt der Beifall der zuschauenden Schülerschar reichlich
und kräftig genug zu sein. Es ist ein wahrhaft herzerfreuender An-
blick zu sehen, wie das selbst die kleinsten Sextaner über die Leistungen
ihrer älteren Mitschüler frohlocken und sich im lärmenden Jubel nicht
genug thun können.


Es handelt sich nicht bloß darum, daß überhaupt gespielt wird,
sondern, wenn das Spielen den erhofften und erstrebten Segen haben
soll, so muß streng nach den Regeln und mit Aufbietung der ganzen
Kraft und Geschicklichkeit von den Teilnehmern gespielt werden. Das
mahnende Wort des beaufsichtigenden Lehrers kann ja manches er-
reichen zur Unterdrückung aller möglichen Nachlässigkeiten, aber ein wirk-
lich andauernd strammes, regelrechtes Spiel wird in den meisten Fällen
viel eher erreicht werden, wenn die Spieler an ein demnächst bevor-
[41] stehendes Wettspiel denken, für das sie sich einspielen wollen. Nun ist
es aber wieder eine unbestreitbare Thatsache, daß, je besser und eifriger
gespielt wird, das Spiel umsomehr an Reiz gewinnt und dadurch um-
somehr alle Mitspielenden dazu bringt, ihr Bestes zu thun. Für das
Turnen in den Schulstunden sind ja regelmäßige Zeugnisse eingeführt,
um dadurch auf gleichgültige, bequeme Burschen einen gewissen Druck
auszuüben. Die Erfolge im Spiel sind zum großen Teile vom
Glück abhängig, es würde aber ein erfahrener Spielleiter trotzdem in
den meisten Fällen ein Urteil über die verschiedenen Leistungen abgeben
können. Weit zweckmäßiger will es uns aber scheinen, daß mindestens
am Schlusse jedes Vierteljahrs geeignete Wettspiele zwischen den ein-
zelnen Spielriegen jeder Schule veranstaltet werden, wodurch dem
Lehrer und ihnen selbst ersichtlich gemacht wird, was die Einzelnen
leisten. Vor etwa zwanzig Jahren hat ein mir befreundeter englischer
Lehrer an einer größeren Schule drüben Fußball neu eingeführt. An-
fangs konnte er damit nicht recht vorwärts kommen, weil die Schüler
in M. damals nicht in verschiedenen Pensionaten untergebracht waren,
und gerade die Wettkämpfe der Musterriegen der verschiedenen Häuser,
so heißen drüben die Pensionate, anderswo das Hauptreizmittel für
das Spiel waren. In M. wohnten aber sämtliche Schüler in einem
einzigen großen Gebäude, nur schliefen sie getrennt in sechs großen
Schlafsälen. Da kam er auf den Gedanken, zwischen den Schülern
der einzelnen Schlafsäle Wettspiele zu veranstalten. Sofort entwickelte
sich ein reger Wetteifer, der Spielplatz füllte sich immer mehr, und
von der Zeit an blüht auch in M. das Fußballspiel.


Wer die Entwickelung der englischen Spiele in den letzten Jahr-
zehnten verfolgt hat, weiß, daß die Wettspiele wesentlich zu ihrer
feineren Ausbildung beigetragen haben. Am deutlichsten lehrt das die
Geschichte des Rasenballs oder Lawn Tennis, wie es Freiherr von
Richard in seinem Handbuche dieses Spiel ausgeführt hat. Am weit-
greifendsten ist aber in England in der Beziehung der Einfluß des
großen Marylebone Cricket-Klubs, der alljährlich merh als hundert
Wettspiele mit Musterriegen aus den verschiedensten Landesteilen ver-
anstaltet, zum Teil in London, zur andern Hälfte aber außerhalb.
Natürlich übt eine solche Riege guter Cricketspieler, die mustergültig
zu spielen versteht, durch ihr Vorbild auf die Zuschauer und deren
Spiel überall, wo sie erscheint, einen sehr bedeutenden Einfluß. Aber
auch das ganze englische Cricketspielen erhielt eine wesentliche An-
regung, als 1878 zuerst in London eine Riege australischer Wett-
spieler sich zeigte und manche Erfolge zu erringen wußte. Bei uns
[42] liegen die Verhältnisse freilich etwas anders, aber schließen doch eine
gewisse Nachahmung des englischen Vorgehens nicht aus. So wird
z. B. in Altona der deutsche Schlagball besonders eifrig gepflegt, und
die Schüler des dortigen Realgymnasiums haben darin eine große
Kunstfertigkeit entwickelt. Es würde sich wohl ohne Schwierigkeit ein
Wettspiel zwischen ihnen und etwa den Schülern einer Berliner An-
stalt vermitteln lassen, wodurch sicherlich nicht bloß die mitspielenden
wie die zuschauenden Schüler große Anregung erhalten, sondern sich
auch ein Urteil über die Altonaer Spielweise und ihre Vorzüge ge-
winnen lassen würde. Unser Kaiserball (Schlagball) ist gewiß einer
großen Vervollkommnung fähig, und die würde sich gerade durch Wett-
spiele am besten erzielen lassen. Es wäre dankenswert gewesen, wenn
die Altonaer Schüler bei ihrem diesjährigen Besuche in Braunschweig
auch auf Veranstaltung eines Wettspiels mit den Braunschweigern be-
dacht genommen hätten. (Vgl. Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel
1893, 16.)


Am 2. September v. J. hat unter meiner Leitung in Braun-
schweig der Wettkampf im Tauziehen stattgefunden, der schon für 1892
geplant war, vgl. Jahrbuch II. S. 193. Ich kann darüber nur be-
richten, daß die Erfolge in jeder Weise befriedigend gewesen sind. Die
beiden siegreichen Riegen – die zwölf sich beteiligenden Schulen waren
in zwei Gruppen eingeteilt, in denen jede Riege mit jeder anderen
Riege sich messen mußte – leisteten wirklich recht Anerkennenswertes
und bewiesen deutlich, wieviel sich auch bei dem scheinbar so einfachen
Tauziehen durch sorgfältige Übung erzielen läßt.


Eine große Schwierigkeit wird in Deutschland mit der Ver-
anstaltung von Wettkämpfen verbunden sein: es müssen vorher genau
die Regeln über die betreffenden Spiele festgestellt werden. Denn wir
haben zwar verschiedene vorzügliche Bücher über die Jugendspiele, aber
an allgemein gültigen Regeln fehlt es noch ganz. Nun ist ja freilich
nicht wünschenswert, daß auch auf dem Gebiete des Jugendspiels die
Schablone zur Herrschaft kommt. Die Arbeit jedoch zur Feststellung
der Regeln für unsere beliebtesten Spiele wird ohne Frage diesen selbst
in hohem Grade zu gute kommen. Doch die jetzt auf diesem Gebiete
herrschende Willkür zu beseitigen, wird erst dann möglich sein, wenn
durch Wettspiele ein Vergleich der verschiedenen Spielweisen angestellt
ist, und ein Urteil über deren Wert hat gewonnen werden können.


Wir wollen nicht schließen ohne den Ausblick in eine freilich wohl
noch ziemlich ferne Zukunft. Wenn bei uns in Deutschland erst für
unsere Jugend ausreichende, günstig gelegene Spielplätze hergestellt sind,
[43] durch die Schulspiele der Jugend die vergessene Kunst zu spielen wieder
beigebracht ist, und endlich ihr Eifer durch Wettspiele rege gehalten
wird, dann kann voraussichtlich die Schule in ihrer Sorge für die
Spiele wieder nachlassen und wird höchstens wie in England darauf
Bedacht nehmen müssen, daß ihre Zöglinge ihnen nicht allzuviel Zeit
widmen. Indes sind wir davon vorläufig noch recht weit entfernt.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der Nutzen der Wettspiele. Der Nutzen der Wettspiele. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnjb.0