[][][][][]
Patriotiſche
Phantaſien

Zweyter Theil.

Mit Koͤnigl. Preußiſcher, Churfuͤrſtl. Brandenburg.
allergnaͤdigſter Freyheit.

Berlin: ,
beyFriedrich Nicolai, 1776.
[][]

Patriotiſche
Phantaſien
.

Zweyter Theil.



[][]

Vorrede
der
Herausgeberinn.


Ich liefere hiemit den andern Band der
patriotiſche Phantaſien, abermals
nicht ohne Furcht in der Auswahl derſelben
auch ſolche Stuͤcke mitgenommen zu haben,
welche ſich zu genau auf das Land beziehen, fuͤr
welches ſie eigentlich allein geſchrieben worden:
die Abſicht meines Vaters war — doch ich
kann dieſe nicht beſſer als mit den Worten aus-
druͤcken, womit er ſich in den Beytraͤgen zu
den Oßnabruͤckiſchen Intelligenzblaͤttern ſelbſt
erklaͤret hat —


* 3Gleich
[]Vorrede

„Gleich anfangs, wie ich die Feder ei-
„nigemal in dieſen Beytraͤgen anſetzte,
„gieng meine Abſicht dahin, durch den
„Canal derſelben die Landtagshandlun-
„gen und andre oͤffentlichen Staatsſachen
„dem Publicum mitzutheilen; und mei-
„nen Landesleuten aus dem Ton, wo-
„mit der Herr zu ſeinen Staͤnden ſpricht,
„und dieſe ihm antworten; aus den Gruͤn-
„den warum jenes bewilliget und dieſes
„verworfen wird; aus der Sorgfalt, wo-
„mit auch die kleinſten Sachen im Staate
„behandelt werden; aus der Art und
„Weiſe wie man mit den gemeinen Auf-
„lagen verfaͤhrt, und uͤberhaupt aus je-
„der Wendung der Landesregierung und
„Verfaſſung, die vollſtaͤndigſte Kennt-
„niß; und aus dieſer eine wahre Liebe fuͤr
„ihren
[]der Herausgeberinn.
„ihren Herrn, und diejenigen, ſo ihm
„rathen und dienen; ein ſicheres Ver-
„trauen auf ihre Geſchicklichkeit und Red-
„lichkeit; und einen edlen Muth beyzu-
„bringen. Jeder Landmann ſollte ſich
„hierinn fuͤhlen, ſich heben und mit dem
„Gefuͤhl ſeiner eignen Wuͤrde auch einen
„hohen Grad von Patriotiſmus bekom-
„men; jeder Hofgeſeſſener ſollte glauben,
„die oͤffentlichen Anſtalten wuͤrden auch
„ſeinem Urtheil vorgelegt; der Staat gaͤbe
„auch ihm Rechenſchaft von ſeinen Unter-
„nehmungen; und zu den Aufopferungen,
„die er von ihm fordere, wuͤrde auch ſeine
„Ueberzeugung erfordert; die Geſetze und
„ihr Geiſt ſollten lebhaft in ſeine Seele
„dringen; er ſollte die Graͤnzlinie, wo
„ſich ſein Eigenthum von dem Obereigen-
* 4thum
[]Vorrede
„thum des Staats ſcheidet, mit dem Fin-
„ger nachweiſen koͤnnen; er ſollte ſein
„Auge auch bis zum Throne erheben, und
„mit einem fertigen Blick die Blendun-
„gen durchſchauen koͤnnen, welche ein
„deſpotiſcher Rathgeber zum Nachtheil
„ſeiner und der Deutſchen Freyheit, oft
„nur mit maͤßigen Kraͤften wagt; ihre
„Kinder ſollten mit den zehn Geboten
„auch die Gebote ihres Landes lernen,
„und in allen Faͤllen, wo ſie einſt als Maͤn-
„ner geſtrafet werden koͤnnten, auch ein
„Urtheil weiſen koͤnnen; es ſchien mir
„nicht genug, daß ein Land mit Macht
„und Ordnung beherrſchet wird, ſondern
„es ſollte dieſer große Zweck auch mit der
„moͤglichſten Zufriedenheit aller derjenigen,
„um derentwillen Macht und Ordnung
„ein-
[]der Herausgeberinn.
„eingefuͤhrt ſind, erreichet werden; der
„wichtigſte und furchtbarſte Staat, der
„ſich auf Koſten der allgemeinen Zufrie-
„denheit erhalten muͤßte, war mir dasje-
„nige nicht, was er nach der goͤttlichen
„und natuͤrlichen Ordnung ſeyn ſollte ..
„....


und dieſe Abſicht, wenn er ſie gleich nicht voͤl-
lig erfuͤllen moͤgen, hat ihn doch immer zu ſehr
zu Localverbeſſerungen, die fuͤr das Allgemeine
minder erheblich ſind, hingeriſſen, mich aber in
die Nothwendigkeit geſetzt, einige davon mitzu-
nehmen, nachdem ich einmal einezweyte Samm-
lung verſprochen hatte, und dieſes Verſprechen
aus vielen fuͤr mich nicht unwichtigen Urſachen
gern erfuͤllen wollte.


* 5In-
[]Vorrede der Herausgeberinn.

Indeſſen ſchmeichle ich mir doch, daß im-
mer noch einige Leſer ſeyn werden; die derglei-
chen beſondere Naturalien mit in ihre Samm-
lung zu haben wuͤnſchen. Zum Vergnuͤgen der-
jenigen, welche eine gefaͤllige Kleinigkeit einer
ernſthaften Betrachtung vorziehen, habe ich
gleichwol auch verſchiedenes mit eingemiſcht,
was ich nach meinem Geſchmack ihres Beyfalls
werth geſchaͤtzet habe. Iſt einiges darunter, was
weiter nichts als das Verdienſt eines neuen
Liedgens hat, was man des Abends, wenn man
aus der Operette kommt, noch einmal ſingt: ſo
hat doch auch dieſes ſeinen Werth vor das Ver-
gnuͤgen dieſes Abends, und meine Leſer ſind
nicht verbunden, ſich mehr als einmal daran zu
ergoͤtzen.




[I]

Innhalt.


  • I. Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung durch Neben-
    wohner, auf die Geſetzgebung.   1
  • II. Der jetzige Hang zu allg. Geſetzen und Verord-
    nungen, iſt der gemeinen Freyheit gefaͤhrlich.   15
  • III. Vorſchlag, wie der Theurung des Korns am
    beſten auszuweichen.   21
  • IV. Ein Pat. muß vorſichtig in ſ. Klag. bey Landpl. ſeyn.   31
  • V. Die moraliſchen Vortheile der Landplagen.   33
  • VI. Die liebenswuͤrdige Kokette oder Schreiben ei-
    ner Dame vom Lande.   37
  • VII. Gedanken uͤber die Getraideſperre, an den Deutſ.   42
  • VIII. Vorſchlag zu einem beſtaͤndigen Kornmagazin.   51
  • IX. Schreiben eines Kornhaͤndlers.   52
  • X. Ein gutherziger Narr beſſert ſich nie.   57
  • XI. Die Vortheile einer allgemeinen Landesuni-
    forme, declamirt von einem Buͤrger.   60
  • XII. Nachſchrift   70
  • XIII. Schreiben eines Frauenzimmers uͤber die
    Nationalkleidung.   71
  • XIV. Sie tanzte gut und kochte ſchlecht.   76
  • XV. Schreiben eines Frauenzimmers vom Lande an
    die Frau … in der Hauptſtadt.   80
  • XVI. Schreiben eines angehenden Hageſtolzen.   88
  • XVII. Zweytes Schreiben des angehen den Hageſtolzen.   93
  • XVIII. Gedanken uͤber den weſtphaͤliſ. Leibeigenthum.   98
  • XIX. Nichts iſt ſchaͤdlicher als die uͤberhandneh-
    mende Ausheurung der Bauerhoͤfe.   116
  • XX. Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.   137
  • XXI. Die Abmeyerungen koͤnnen dem Hofesherrn
    nicht uͤberlaſſen werden.   156
  • XXII. Betrachtungen uͤber die Abaͤußerungs- oder
    Abmeyerungsurſachen.   162
  • XXIII. Alſo ſind die unbeſtimmten Leibeigenthums-
    gefaͤlle zu beſtimmen.   177

XXIV.
[II]
  • XXIV. Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
    der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.   186
  • XXV. Vom Glaͤubiger und landſaͤßigen Schuldner.   206
  • XXVI. Gedanken uͤber den Stilleſtand der Leibeignen.   215
  • XXVII. Alſo ſollte man den Rentekauf fuͤr den Zins-
    contrakt wieder einfuͤhren.   224
  • XXVIII. Vorſ. zur E[r]leicht[.] der hofgeſeſſenen Schuldn.   230
  • XXIX. Vorſchlag zu einem oͤffentl. Kirchſpielsamte.   235
  • XXX. Die Abmeyerung eine Erzaͤhlung.   239
  • XXXI. Der Verkauf der Frucht auf dem Halme iſt
    eher zu beguͤnſtigen als einzuſchraͤnken.   242
  • XXXII. Alſo ſollte man die Gemeinſchaft der Guͤter
    unter den Landleuten nicht aufheben.   246
  • XXXIII. Alſo ſollte man die roͤmiſchen Stipulatio-
    nen wieder einfuͤhren.   248
  • XXXIV. Schreiben uͤber die Cultur der Induſtrie.   251
  • XXXV. Beantwortung der Frage: Was muß die
    erſte Sorge zur Bereicherung eines Landes
    ſeyn? Die Verbeſſerung der Landwirthſchaft?
    oder die Bevoͤlkerung des Landes? oder die
    Ausbreitung der Handlung? Womit muß der
    Anfang gemachet werden?   256
  • XXXVI. Zur Befoͤrderung einheimiſ. Wollenfabriken.   266
  • XXXVII. Vom Kerbſtocke.   271
  • XXXVIII. Ged uͤber die Abſchaffung der Feyertage.   272
  • XXXIX. Alſo iſt das Branteweintrinken zu verbieten.   277
  • XL. Vorſchlag zu einer Practica fuͤr das Landvolk.   281
  • XLI. Schreiben eines Ehren mitgliedes des loͤblichen
    Sehnetderamts, uͤber das neulich zu Stande
    gekommene Reichsgutachten.   285
  • XLII. Ueber die zu unſern Zeiten verminderte
    Schande der Huren und Hurkinder.   291
  • XLIII. Warum die Abd. in Deutſchl. ohne Ehre ſey?   295
  • XLIV. Unterſchied zwiſchen der Ehre in großen und
    in kleinen Staͤdten.   297
  • XLV. Der Galgen iſt fuͤr uns und fuͤr unſre Kinder.   298
  • XLVI. Der nothwendige Unterſcheid zwiſchen dem
    Kaufmann und Kraͤmer.   302

XLVII.
[III]
  • XLVII. Jeder zahle ſeine Zeche.   307
  • XLVIII. Schreiben einer betagten Jungfer an den
    Stifter der Wittwencaſſe zu ****   312
  • XLIX. Keine Befoͤrderung nach Verdienſten. An
    einen Officier.   315
  • L. Sind die Gemeinheiten nach geſchehener Thei-
    lung mit Steuren zu belegen oder nicht?   320
  • LI. Bon der Real- und Perſonalfreyheit.   331
  • LII. Vorſchlag zu einer Urthelfabrik.   340
  • LIII. Vorſ. zu einer Samml. einheimiſcher Rechtsfaͤlle.   343
  • LIV. Der Friedensadvocat.   346
  • LV. Schreiben eines reiſenden Pariſers an ſeinen
    Wirth in Weſtphalen.   348
  • LVI. Es iſt allezeit ſicherer Original als Copey zu ſeyn.   352
  • LVII. Das leichteſte Mittel um zu gefallen.   357
  • LVIII. Die mehrſten machen ſich laͤcherlich aus
    Furcht laͤcherlich zu werden   358
  • LIX. Der Rath einer guten Tante an ihre junge Niece.   360
  • LX. Amaliens Schreiben uͤber die Luſtbarkeiten.   362
  • LXI. Vorſchlag zur Veredelung der verlohren ge-
    henden Zeit.   364
  • LXII. Die wahre Gewiſſenhaftigkeit.   367
  • LXIII. Ein bewehrtes Mittel wider die boͤſe Laune,
    von einer Dame auf dem Lande.   370
  • LXIV. Man ſollte den alten Geckord. wieder erneuern.   372
  • LXV. Der Staat mit einer Pyramide verglichen.
    Eine erbauliche Betrachtung.   381
  • LXVI. Das Pro und Contra der Wochenmaͤrkte.   385
  • LXVII. Nachſchrift.   390
  • LXVIII. Johann ſey doch ſo gut!   392
  • LXIX. Nachricht von einer einheimiſchen, beſtaͤn-
    digen und wohlfeilen Schaubuͤhne.   396
  • LXX. Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit ſollte
    noch weiter angewandt werden.   402
  • LXXI. Das nat. Recht der erſten Muͤhle, eine Rede
    auf einem neuen Dorfe in Jamaica gehalten.   404
  • LXXII. Von der Landesherrlichen Befugniß bey
    Anlegung neuer Muͤhlen.   410

LXXIII.
[IV]
  • LXXIII. Fuͤr die warmen Stuben der Landleute.   414
  • LXXIV. Alſo iſt es rathſamer die Wege zu flicken
    als neu zu machen.   417
  • LXXV. Umgekehrt: es iſt rathſamer die Wege zu
    beſſern als ausflicken.   422
  • LXXVI. Erinnerung des Altflickers zum vorigen
    Stuͤck.   430
  • LXXVII. Wie viel braucht man um zu leben?   431
  • LXXVIII. Schreiben einer Mutter an einen phi-
    loſophiſchen Kinderlehrer.   436
  • LXXIX. Ueber die Erziehung der Landleute Kinder.   441
  • LXXX. Zufaͤllige Gedanken bey Durchleſung alter
    Bruchregiſter.   443
  • LXXXI. Vom Gluͤcksſpiele am Abend der H. drey
    Koͤnige.   447
  • LXXXII. Die Ehre nach dem Tode.   448
  • LXXXIII. Vorſchlag zum beſſern Unterhalt des
    Reichscammergerichts.   451
  • LXXXIV. Von dem oͤffentlichen Credit und deſſen
    großen Nutzen.   455
  • LXXXV. Vorſchlag zu einer Zettelbank.   461
  • LXXXVI. Das engliſche Gaͤrtgen.   465
  • LXXXVII. Alſo iſt der Dienſteyd nicht abzuſchaffen?   467
  • LXXXVIII. Eine Hypotheſe zur beſſern Aufklaͤrung
    der alten deutſchen Criminaljurisdiction.   469
  • LXXXIX. Von einer neuen Art kleinſtaͤdtiſcher Po-
    litik, ſo aus dem Acciſe Fixo entſtanden.   482
  • XC. Der alte Rath.   484
  • XCI. Der junge Rath.   486
  • XCII. Die geographiſche Lage der Stadt Oßnabruͤck.   489
  • XCIII. Das abgeſchaffte Herkommen. Eine lehr-
    reiche Geſchichte.   492


I.[1]

I.
Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung durch
Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.


Der Einfluß einer groͤßern Bevoͤlkerung auf die Sit-
ten eines Landes iſt ungemein groß; und er ver-
dient die Aufmerkſamkeit des Geſetzgebers, weil
die Policeygeſetze ſich mit den Sitten veraͤndern muͤſſen. In
einem Lande, wo außer den urſpruͤnglichen Hofgeſeſſenen
hoͤchſtens etwa ein Leibzuͤchter *) vorhanden iſt, und folg-
lich ein jeder von ſeinem Ackerbau ruhig und gnuͤglich lebt,
iſt ein Nachbar dem andern zu allen Pflichten bereit; er
iſt mitleidig, gaſtfrey und uneigennuͤtzig, weil jedes Ungluͤck
was da koͤmmt, heute den einen und morgen den andern
trift, und dergeſtalt die Reihe haͤlt, daß insgemein in funf-
zig Jahren jeder ſo viel Dienſte, Freundſchaft und Bey-
huͤlfe von ſeinen Nachbarn wieder empfaͤngt, als er ihnen
erwieſen hat. Hochzeiten, Kindtaufen und Leichen gehen
in dieſem Zeitraume gegen einander auf, und keiner ſpricht
den andern außer dem Falle einer vorhergeſehenen Noth um
etwas an, weil ein jeder, was er gebraucht, ſelbſt zieht
und hat. Man kennet in dieſem Lande keine Feld- Holz-
oder
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. A
[2]Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung
oder Gartendiebe, und noch weniger Raͤuber. Jeder der
einen eignen Hof und einen ehrlichen Namen beſitzt, wagt
hiebey zu viel, und hat auch keine Verſuchung zu ſtehlen,
weil er mit allem nothduͤrftig verſorgt iſt. Die Kinder ei-
ner ſolchen Nation ſind mit keinen ſchlechten vermiſcht; ſie
werden von hofgeſeſſenen Vaͤtern und Muͤttern durch Lehre
und Beyſpiel zur Arbeit und Ordnung erzogen, und man
kan ſagen, daß in einem ſolchen Lande Fleiß, Ordnung und
Tugend zu Hauſe ſey, und daß die alten Deutſchen, um
die Reinigkeit ihrer Sitten zu erhalten, und Freyheit und
Ordnung zu verknuͤpfen, gar kein beſſer Mittel waͤhlen konn-
ten, als ſchlechterdings keine Heuerleute zu dulden, und
ihre kleinen Staatskoͤrper aus lauter hofgeſeſſenen Mitglie-
dern zu bilden. In einer ſolchen Verfaſſung bedarf es faſt
gar keiner Geſetze und Strafen. Der kleine Staatskoͤrper
gleicht einem wuͤrdigen Capittel, wovon jedes Mitgleid ſich
ſelbſt und ſeine Mitbruͤder ehrt; worinn man keinen ſeiner
Pflicht bey Strafe des Zuchthauſes erinnert; und wo der
unfehlbare Verluſt der Praͤbende, oder die Verweiſung aus
der Verſammlung die groͤßte und empfindlichſte Strafe iſt.
Unfehlbar hatten die nordiſchen Nationen den großen Ruhm
ihrer Tugenden groͤſtentheils dieſen ihren Einrichtungen
zu danken; und es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die großen
Auswanderungen derſelben, nicht ſowohl eine Folge ihrer groͤſ-
ſern Brvoͤlketung, als jener Verfaſſung geweſen, nach wel-
cher ſie bloß den Hofeserben, und fuͤr denſelben eines Nach-
bars Tochter zu Hauſe behalten konnten, die uͤbrigen aber alle
fuͤnf oder zehn Jahr gleich den Bienen in fremde Laͤnder
ſchwaͤrmen laſſen muſten, weil ſie keine Staͤdte und keine
Nebenwohnungen duldeten, keine Werbungen kannten, und
keine Schiffart hatten, wodurch ſie einen Theil der Brut
aufopfern konnten. Bloß ein Theil der Meeranwohner
ſchwaͤrm-
[3]durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.
ſchwaͤrmte raͤuberiſch zur See, aber auch aus eben dem
Grunde, woraus andere zu Lande ſchwaͤrmten, weil man
nemlich ihnen keine Nebenwohnungen im Lande verſtatten,
und hoͤchſtens eine Huͤtte auf der Kuͤſte erlauben mogte.


Alle dieſe großen Vortheile fuͤr Tugend, Sitten und Po-
licey verlieren ſich, ſo bald eine ſtarke Bevoͤlkerung durch
Staͤdte, Doͤrfer oder Heuerleute verſtattet wird. Derglei-
chen kleine Beywohner haben keine genugſame Holzungen,
keinen hinreichenden Acker, und gerathen leicht in die Noth
oder in die Verſuchung dasjenige was ihnen ſehlt, zu ſteh-
len oder zu erbetteln. Die Gaſtfreyheit kan gegen die Men-
ge ſo vieler kleinen und unſichern Leute nicht ſo reichlich mehr
ausgeuͤbet werden, als gegen die wenigen hofgeſeſſenen
Nachbarn; man kan ihnen auf ihren Hochzeiten, Kindtaufen
und Leichen nicht ſo nachbarlich zu Huͤlfe kommen; man
kan nicht verlangen, daß ſie ihre Kinder ſo fleißig und recht-
ſich erziehen ſollen, als die alten Hofgeſeſſenen; was maͤn
ihnen in Nothfaͤllen giebt, hat man in gleichen Begeben-
heiten von ihnen nicht wieder zu erwarten: und Geiz, Miß-
trauen, Furcht ſchleichen ſich in die beſten Herzen ein, die
ſich gegen eine Menge von ungleichen Leuten nicht mehr ſo
oͤfnen koͤnnen, als gegen edle Nachbarn, welche der Huͤlfe
nie mißbrauchen, und allezeit im Stande ſind, das em-
pfangene durch Gegendienſte zu verguͤten. Die ganze Ge-
ſetzgebung veraͤndert ſich; es iſt nun nicht mehr das wuͤrdige
Capittel, das aus ebenbuͤrtigen Mitgliedern beſteht, das
durch den Verluſt ſeiner Praͤbende in den Schranken der Ord-
nung gehalten werden kan, und eine Verweiſung aus der
Verſammlung fuͤr die empfindlichſte Strafe haͤlt. Die Na-
tion iſt nun mit Fluͤchtlingen vermiſcht, die ſich aus einer
Landesverweiſung nichts machen, die durch Galgen und Rad
A 2gebaͤn-
[4]Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung
gebaͤndiget werden muͤſſen, und die dem ungeachtet immer
in der groͤßten Verſuchung bleiben, ſich dasjenige durch
Stehlen und Betteln zu erwerben, was ſie ſich mit ihrer
Haͤnde Arbeit nicht verſchaffen koͤnnen. Der Geſetzgeber,
der in dem Falle, wo der Geldreichthum einige Heuerleute
erhebt, keine gelindere Mittel gegen die Hofgeſeſſene als ge-
gen die Fluͤchtlinge gebrauchen kan, vermiſcht den Menſchen
mit dem Menſchen, und wenn er zuletzt mit einem falſchen
philoſophiſchen Auge an jedem Menſchen gleiche Wuͤrde und
gleiche Rechte erblickt; wann er den Menſchen vor dem An-
geſicht Gottes, vor welchem wir alle gleich ſind, mit dem
Menſchen außer dieſem Verhaͤltniß verwechſelt, und ſolcher-
geſtalt ſeine Verordnungen uͤberall mit Schande und mit
Leibes- und Lebensſtrafe ſchaͤrfet: ſo verlieren ſich die Begriffe
von Ehre, Tugend und Sitten, und die vorhin ſo große
und edle Nation, die keiner Geſetze bedurfte, die ohne Ver-
ſuchung und Noth in ihrer Selbſtgenuͤgſamkeit ruhig und
ſicher lebte; die den bloßen Gedanken einer Leibes- und Le-
bensſtrafe unertraͤglich ſand, verwandelt ſich in einen ver-
miſchten Haufen von guten und ſchlechten Leuten, die nun
je mehr ein unangeſeſſener Mann Geld, Ehre oder Dienſte
erhaͤlt, gar nicht anders als tyranniſch behandelt werden
kan. Es iſt dann kein Vorzug mehr, ein roͤmiſcher Buͤrger
zu ſeyn, wenn das Buͤrgerrecht allem, was auf dem roͤmi-
ſchen Boden lebt, mitgetheilet werden muß, wenn unter
dem Namen von Territorialunterthanen, Adel, Erbgeſeſ-
ſenheit, Wachszinſigkeit, Erbpacht und Heuer durch einan-
der gemengt, und fuͤr dieſe unaͤhnliche Maſſe nur einerley
Recht gewieſen werden kan. Es entſtehen dann Philoſo-
phen, welche allgemeine Geſetzbuͤcher ſchreiben, und Regen-
ten, ſo dergleichen einfuͤhren wollen, und man preiſet den
Staat gluͤcklich, wo die Rechte der Menſchheit am weitſten
ausge-
[5]durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.
ausgedehnet, oder um die Wahrheit deutlich zu ſagen, wo
jeder Landeseingeſeſſener von aller ſeiner Wuͤrde, die er aus
dem urſpruͤnglichen Verein hatte, beraubet, und der Regent
allein ſo viel hoͤher erhoben wird.


Dergleichen Betrachtungen haben nun zwar freylich in ei-
ner Zeit, wo die vermiſchte Bevoͤlkerung ſo ſehr Ueberhand
genommen hat, und Denkungsart, Philoſophie, Religion,
Geſetzgebung und politiſches Intereſſe darnach eingerichter
iſt, keinen unmittelbaren Nutzen; ſie muͤſſen aber dem un-
geachtet, nicht unterlaſſen werden, weil ſie zur Naturge-
ſchichte der Staasverfaſſung gehoͤren, und uns in vielen Stuͤ-
cken uͤber unſre wahren Vortheile aufklaͤren, auch gegen die
herrſchende Mode der allgemeinen Geſetzbuͤcher mit einen,
gerechten Mißtrauen erfuͤllen koͤnnen. Sie muͤſſen beſonders
gebraucht werden, um die Veraͤnderung in den Sitten und
der Denkungsart, welche durch eine zunehmende Bevoͤlke-
rung verurſacht werden, nicht unbemerkt zu laſſen, und um
[u]nſere Policeyordnungen darnach einzurichten.


Unſre Abſicht verſtattet es nicht, uns hieruͤber weiter her-
auszulaſſen. Indeſſen wollen Wir doch eine Veraͤnderung
in unſern Policeyanſtalten vorſchlagen, welche die zunehmende
Bevoͤlkerung nothwendig macht; und dieſe ſoll darinn be-
ſtehen, daß in jedem Kirchſpiel ſieben geſchworne hofgeſeſſene
Maͤnner angeſetzet oder erwaͤhlet werden, von deren Urtheile es
abhangen ſoll; ob dieſer oder jener Heuerling im Kirchſpiele zu
dulden ſey oder nicht? Oft und ſehr oft ſieht mancher einen
Heuermann auf unerlaubten Wegen: er rechnet ihm nach, was
er an Holz kauft und verbrennet, was er gewinnet und ver-
zehret, was er ſaͤet und erndtet; er iſt ſo uͤberzeugt, daß der
Mann ein Dieb ſey, als man nur immer ſeyn kann, und alle
A 3Haus-
[6]Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung
Haushaͤlter ſtimmen mit ihm darinn uͤberein. Aber ihn ge-
richtlich zu uͤberzeugen, den ganzen Beweis zu uͤbernehmen,
ſich wohl gar einer Injurienklage oder allen Folgen des Ar-
menrechts auszuſetzen, das thut der gute Haushalter nicht;
dafuͤr ſchweigt er, und opfert wohl gar dem boͤſen Manne,
der ihm auf mancherley Art ſchaden kann.


Um dieſem Uebel abzuhelfen, iſt kein leichter Mittel als eine
Anſtalt von obiger Art; oder wenn man dieſe der Abſicht
nicht angemeſſen findet: ſo laſſe man es geſchehen, daß alle
Hofgeſeſſene der Gemeinheit zuſammen treten, und mit einer
ſchwarzen und weiſſen Kugel uͤber die Verweiſung eines un-
angeſeſſenen Mannes aus dem Kirchſpiel, entſcheiden moͤgen.
Man mache es zu einem Grundſatze, daß jeder unangeſeſſe-
ner Mann ſich dieſem Urtheile unterwerfen ſolle, ſo bald er
zum erſtenmal am Amte einer Dieberey halben beſtrafet wor-
den. Dieſes letztere iſt noͤthig, weil es ſonſt niemand wagen
wuͤrde, den Namen eines Heuermanns zu einem ſolchen Seru
tinio aufzuſetzen; und der Heuermann der einmal als Dieb
uͤberzeugt und beſtraft iſt, hat es ſich ſelbſt beyzumeſſen, wann
er eine ſolche ehrenruͤhrige Unterſuchung erleiden muß.


Vielleicht denken einige, die Gerechtigkeit werde hierdurch
verletzt; und man koͤnne keinen ohne ordentliches Recht des
Kirchſpiels oder des Landes verweiſen. Allein eben hierinn
zeigt ſich unſer Unverſtand, und daß wir nicht bemerken, wie
den hofgeſeſſenen Unterthanen oder den urſpruͤnglichen Con-
trahenten eines Staats, ein ganz ander Recht als jenen Fluͤcht-
lingen zu ſtatten komme. Ein Hofgeſeſſener muß nie des ge-
ringſten Theils ſeines Eigenthums oder ſeiner Freyheit beraubt
werden, ohne eine genaue und vollſtaͤndige Unterſuchung; der
gedultete und aufgenommene Fremde hingegen hat hierauf
keinen
[7]durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.
keinen Anſpruch. Wenn in großen Staͤdten ein Bettler auf
der Gaſſe; gefunden wird: ſo ſchickt man ihn ohne Unterſu-
chung, ob er durch ein großes oder kleines Ungluͤck hiezu ge-
bracht worden, ins Werkhaus; und man hat im Kriege einen
weit kuͤrzern Proceß wie im Frieden; ja die Noth ſteigt oft
ſo hoch, daß man das Recht uͤber Leben und Tod zu erkennen,
und das Erkaͤnntniß auf der Stelle zu vollſtrecken, dem Ge-
neralgewaltiger uͤberlaͤßt. So richtig die Grundſaͤtze ſind,
worauf ein ſolches Verfahren gebauet iſt, eben ſo richtig ſind
auch bey zunehmender Bevoͤlkerung durch Heuerleute, die
Grundſaͤtze jener Anſtalt, und der Heuermann hat ſich ſo we-
nig als der Soldat zu beklagen, der ſich zum Gehorſam gegen
vorher bekannte Geſetze verpflichtet hat.


Die alten Deutſchen behandelten jeden Fremden als einen
Knecht; und wenn die neuern dieſes Verfahren barbariſch nen-
nen: ſo verrathen ſie nur ihre Unwiſſenheit. Ein Knecht iſt
derjenige, welcher ſo wenig an der Geſetzgebenden Macht, als
der Steuerbewilligung Antheil hat, und nicht fordern kann,
daß man ihn durch ſeines Gleichen verurtheilen laſſen ſolle.
Nach dieſem Begriffe ſind noch jetzt alle Fremde Knechte; ſie
muͤſſen das Recht erkennen was im Lande iſt, ohne es mit be-
williget zu haben; ſie muͤſſen die Abgaben entrichten, welche
allen Fremden, ohne ihre Zuſtimmung aufgelegt ſind; und
man verurtheilet ſie durch geſetzte Richter, und erlaubt ihnen
nicht ſich auf das Urtheil ihrer auswaͤrtigen Rechtsgenoſſen zu
berufen. Ganz anders verhaͤlt es ſich mit den Hofgeſeſſenen
im Staat; dieſe haben entweder noch jetzt den Genuß obiger
alten Rechte, oder ihre natuͤrliche und Verfaſſungsmaͤßige
Vertretung, und obgleich die Folgen hievon nicht mehr ſo wich-
tig ſind, wie bey den alten Deutſchen: ſo leuchtet doch der
Grund daraus deutlich hervor, daß man Hofgeſeſſenen und
A 4Heuer-
[8]Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung
Heuerleuten keinesweges einerley Rechte und einerley Form
ſchuldig ſey.


Es verdient dieſes um ſo mehr eine naͤhere Betrachtung, je
offenbarer es iſt, daß die Handlung der Criminal, Juſtitz ge-
gen die Heuerleute oft ſo viel Tauſende erfordere, als Hun-
derte noͤthig ſind, um die Hofgeſeſſenen in Zucht und Ordnung
zu halten. Nun wird die ganze Juſtitzverfaſſung mehren-
theils von den Hofgeſeſſenen getragen, es ſey nun, daß ſolche
aus der Steuer, oder aus den Sportuln oder aus den Straf-
geldern genommen werde. Zu allem dieſem traͤgt der Heuer-
mann das wenigſte bey; er leidet lieber am Leibe als daß er
ſich mit Gelde ſtrafen laͤßt, anſtatt daß der Hofgeſeſſene lieber
hundert bezahlt, ehe er ſich durch eine Leibesſtrafe beſchimpfen
laſſen ſollte. Mit welchem Scheine der Billigkeit moͤgen denn
die unangeſeſſenen in einem Staat fordern, daß die große
Fontaine der Gerechtigkeit fuͤr ſie eben ſo ſpringen ſoll wie fuͤr
den hofgeſeſſenen Mann? Und warum geht man nicht auf
den Grundſatz unſerer Vorfahren zuruͤck, ſie als Knechte des
Staats oder einer Gottheit, andern Rechten zu unterwerfen
als die Hofgeſeſſenen? Die Religion mag den Chriſtenmen-
ſchen noch ſo ſehr veredlen, und das Recht der Menſchheit
noch ſo hoch erhoben werden: ſo gilt doch das eine ſo wenig
als das andre vor dem Generalgewaltiger; die Beduͤrfniß der
Armee und des Staats entſcheidet allein was Recht iſt.


Alſo iſt eine Kirchſpielsanſtalt, welche nicht uͤber die Ver-
weiſung eines angeſeſſenen Mannes, ſondern uͤber die Ver-
weiſung eines unangeſeſſenen und dabey verdaͤchtigen oder un-
ſichern Menſchen erkennen ſoll, keinesweges eine ſo ganz un-
foͤrmliche und ungerechte Sache. Religion und Menſchen-
liebe werden hiebey ihre Wuͤrkung kraͤftiger zeigen, als wenn
die-
[9]durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.
dieſelbe durch Geſetze und Formen gelenkt oder verhindert
wird; und wenn alle halbe Jahr in jedem Kirchſpiel eine da-
zu wohl eingerichtete Predigt gehalten, nach derſelben zum
Urtheil uͤber die verdaͤchtigen Heuerleute geſchritten, und dann
jedem Verurtheilten ein halb Jahr zur Auswanderung erlau-
bet wuͤrde: ſo glaube ich nicht, daß einer ſich mit Billigkeit
uͤber eine ſolche Anſtalt beklagen koͤnne.


Man denke nicht, daß dieſe Einrichtung die unſichern Leu-
te nur aus einem Kirchſpiele ins andre oder eben uͤber die
Grenze, wo ſie vielleicht noch gefaͤhrlichere Diebe werden wuͤr-
den, treiben moͤge. Ein benachbartes Kirchſpiel wird denje-
nigen nicht aufnehmen, der auf ſolche Art aus einem andern
verwieſen worden; und es iſt zu hoffen, daß auch in andern
Laͤndern eben dergleichen Anſtalten getroffen werden wuͤrden,
ſo bald man nur den guten Erfolg davon einſehen wuͤrde. Sie
ſcheinet mir wenigſteus unendlich beſſer zu ſeyn als unſre jetzige
Einrichtung, wo der gefaͤhrlichſte Menſch, wenn er gleich
allen dafuͤr bekannt iſt, nicht anders als durch einen foͤrmli-
chen, weitlaͤuftigen und koſtbaren Criminalproceß verbannet
werden kann.


Ueberhaupt wird bey einer zunehmenden Bevoͤlkerung eine
weit genauere Geſetzgebung und eine ungeſaͤumte Handhabung
der Gerechtigkeit erfordert. Keine Arbeit hat ſo natuͤrliche
Reitzungen und Anlockungen fuͤr den unverdorbenen Menſchen
als der Ackerbau; ſie erfordert einen Fleiß der ſich ſelbſt be-
lohnt, und ſich durch ſich ſelbſt erhaͤlt. Vieles waͤchſt dem
Ackerbauer ohne Arbeit zu; die Abwechſelung der Jahrszeiten
unterbricht die ſchwerere Arbeit durch leichtere, und ſie geht
mehrentheils ihren Gang fort ohne aͤuſſerlichen Zwang, be-
ſonders wo der Boden ergiebig und alles nicht zu genau ge-
A 5meſſen
[10]Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung
meſſen iſt. Ganz anders verhaͤlt es ſich mit der gemeinen
Handarbeit, denn von Kunſtarbeiten iſt die Rede nicht, und
denjenigen ſo davon leben ſollen. Hier iſt weit mehr An-
ſtrengung noͤthig, die Arbeit belohnt ſich nicht ſo wie jene, es
waͤchſt dem Handarbeiter nichts zu, und einer muß die Mi-
nuten beym Spinnrade in Acht nehmen, der ſich davon erhal-
ten will. Zu einem ſo geitzigen Fleiße ſind nicht alle Men-
ſchen gebohren, auch der Beſte laͤßt wohl einmal die Haͤnde
ſinken, wenn er beſtaͤndig einem Sclaven gleich arbeiten ſoll;
und der Boͤſe legt ſich aufs rauben oder ſtehlen. Um die
Maſſe von ſolchen Handarbeitern in ihrem ſtrengen Lauſe zum
Ziele zu erhalten, muß der Geſetzgeber gleichſam beſtaͤndig mit
dem Pruͤgel daruͤber ſtehen, er muß die Bettler unter ihnen
durch Werkhaͤuſer abſchrecken, er muß die Almoſen verbieten,
er muß die Maſſe dieſes Volks zu einem ganz andrem Preiſe
ſchaͤtzen, wie er vorher ſeine Landeigenthuͤmer ſchaͤtzte, er
muß nicht zehn Schuldige laufen laſſen um einen Unſchuldi-
gen zu retten, wie bey einer mindern Bevoͤlkerung billig Rech-
tens iſt, und großen Endzwecken große Opfer bringen.


Geſetzt, die groͤßte Bevoͤlkerung durch Handarbeiter koͤnne
nicht erhalten werden, ohne von hundert tauſend funfzig tau-
ſend aufzuopfern; ſo iſt doch das Land was dieſes Opfer bringt,
und ſeinen Endzweck bey funfzig tauſend fleißigen Handarbei-
tern erhaͤlt, groͤßer und gluͤcklicher als ein Land, worinn man
aus Furcht fuͤr Diebe und Bettler die Heuerleute gar nicht
duldet. Die Englaͤnder opferten in vorigem Kriege 135000
Matroſen und Schiffſoldaten auf, wovon etwa 1700 im Tref-
ſen oder an ihren Wunden fielen, die uͤbrige Menge aber ein
Raub der Schiffskrankheiten wurde. Vermuthlich koͤnnte
man den Land Armeen eine gleiche Rechnung machen. Was
wuͤrde man aber ſagen, wenn man um einen Menſchen ge-
ſund
[11]durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.
ſund uͤberzubringen jedesmal hundert einſchiffen muͤſte? und
gleichwohl iſt dieſes beynahe der Fall in obigem Verhaͤltniß;
und ſchwerlich wird ſich jemals eine erhebliche Bevoͤlkerung
durch Handarbeiter erhalten laſſen, ohne die Haͤlfte davon un-
ter der Peitſche des Hungers und der Noth ſterben zu laſſen.


Ein Staat der zehntauſend Ackerhoͤfe und zweymalhundert
tauſend Heuerleute hat, kann nicht allen Armen und Kranken
auf gleiche Art aushelfen. Ich kenne ein Kirchſpiel, worinn
die Bevoͤlkerung eine ganz neue Kirche, eine Vermehrung von
drey Predigern, von ſechs Schulmeiſtern, acht Hebammen,
zwey Wundaͤrzten, vier Armenhaͤuſern, zweyen Hoſpi aͤlern,
vier Procuratoren ꝛc. erfordert hat. Wenn ich die Rechnung
von dem Unterhalte dieſer Anſtalten nachſehe: ſo werden neun
Zehntel der Koſten von den Hofgeſeſſenen getragen, und dieſe
durch Mitleid, durch Andacht und um groͤßere Uebel abzu-
wenden, zur guthwilligen Uebernehmung dieſer Beſchwerden
bewogen. Wahr iſt es, ſie gewinnen auf einer Seite dabey,
daß ſie ihre Laͤndereyen und Fruͤchte theuer ausbringen koͤn-
nen; ſie haben in vielen Faͤllen mehr Huͤlfe, und man kann
zugeben, daß ihnen die Ueberlaſt bis auf einen gewiſſen Grad
verguͤtet wird. Aber nun auch einmal angenommen, daß
dieſe Volksmaſſe faul wird, daß die Noth den Damm durch-
bricht, und der ganze Unterhalt der Handarbeiter auf die
Menſchenliebe des Kirchſpiels faͤllt, in welche Verlegenheit
wird dann daſſelbe nicht gerathen? Die Oberpolicey tritt
wohl zu, wenn es auf eines Jahres Mißwachs ankommt;
auch das zweyte wird noch wohl gut oder uͤbel ausgehalten.
Aber eine muthloſe, traͤge und ſchamloſe Volksmaſſe, welche
anfaͤngt Betteln und Stehlen fuͤr ein ehrliches Nothmittel zu
halten, wird die Landeigenthuͤmer in wenigen Jahren erſchoͤp-
fen, wo dieſe nicht ihr Herz verhaͤrten, und hunderten zum
noth-
[12]Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung
nothwendigen Exempel, hundert in Elend und Kummer ver-
gehen laſſen.


Nicht ſo leicht wird dieſer Fall unter rechtlichen Landbeſitzern
eintreten, die mit keiner fremden Menge untermiſcht ſind;
dieſe koͤnnen ſich frey und ohne Gefahr der ſuͤßen Ausbreitung
aller wohlthaͤtigen Tugenden uͤberlaſſen, und ſie duͤrfen nicht
fuͤrchten, daß ſie dadurch den Hang zur Faulheit und zum
Betteln vergroͤſſern werden.


Eine große Frage iſt es: ob man jemals den jetzigen an
vielen Orten verdorbenen und verſunkenen Bauerſtand ohne
Einfuͤhrung einer neuen Mannszucht zum Fleiß und zur Ord-
nung zuruͤck bringen werde. Vormals war es ſo, und der
hohe Adel hat ſeinen Urſprung einer vererbten Landhauptmann-
ſchaft zu danken; Er war zu Erhaltung der Mannszucht an-
geordnet, und wie alles noch ſo gieng, wie es nach der reinen
Abſicht gehen ſollte, mochte ein Vauer aus der Hauptmann-
ſchaft, der ſich dem Geſoͤffe ergab, oder jeder ſchlechter und
liederlicher Wirth ſo gleich auf der Stelle entweder aus der
Landeompagnie geſtoſſen, oder aber auf eine andre Art gezuͤch-
tiget werden. Hat man ſolche Handhabungen guter Sitten
und Ordnung bey Landbeſitzern nuͤtzlich gefunden; um wie viel-
mehr wird dieſelbe gegen unangeſeſſene Leute noͤthig ſeyn,
welche mehrere Noth und Verſuchung dulden, mindre Macht
und Reitzung zur Tugend haben, und ſo wenig an ihrer Ehre
als an ihren Guͤtern ſo viel verlieren koͤnnen als aͤchte Landbe-
ſitzer und Staatsgenoſſen. Es iſt eine oft gemißbrauchte Re-
gel: man muͤſſe die Leute druͤcken, um ſie fleißig zu machen;
aber die Wahrheit, ſo darinn liegt, bleibt allemal richtig, daß
die Noth der beſten Zuchtmeiſter, und es fehlerhaft ſey, dieſe
zu erleichtern, wann ſo wie bey Handarbeitern allezeit zu be-
ſorgen iſt, das Wohlthun neue Muͤßiggaͤnger macht. Die
For-
[13]durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.
Forderungen der Noth ſind ſtrenger als die Geſetze; man reißt
ſeines Nachbarn Haus nieder, um ſeines zu retten; aber wehe
dem Boͤſewicht der das Feuer ſelbſt anlegt, um ein Recht zu
dieſer Rettung zu erlangen, und der die Noth muthwillig ver-
urſachet, um deu Fleiß zu erwecken.


Es iſt unſtreitig hart die Suͤnden der Vaͤter an den unſchul-
digen Muͤttern und Kindern zu raͤchen; und wir haben aus ei-
ner beſondern Menſchenliebe faſt alle die alten Geſetze gemil-
dert, welche nur einigermaſſen dahin wuͤrkten. Aber es iſt
auch ſehr hart, daß da, wo zwanzig unangeſeſſene Vaͤter ins
Zuchthaus kommen, der Unterhalt von zwanzig Muͤttern und
hundert Kinder, welche ſich ohne ihrem Vater nicht ernaͤhren
koͤnnen, dem Kirchſpiel oder dem Staat zur Laſt falle. Hier
fordert die groͤßere Bevoͤlkerung wiederum eine nothwendige
Strenge; ſie fordert, daß Mutter und Kinder mit dem Va-
ter, der den Staat unſicher gemacht hat, des Landes verwie-
ſen werden, ſollten ſie auch gleich daruͤber im Elende umkom-
men. Es gehoͤrt dieſes zu den nothwendigen Aufopferungen;
welche Religion und Menſchenliebe zwar allezeit von ſelbſt
mildern werden, die aber doch in den Augen und Anſtalten
des Geſetzgebers ihre Richtigkeit behalten muͤſſen. Der Ge-
ſetzgeber muß je mehr die Bevoͤlkerung zunimmt, deſto ſtren-
ger ſeinem Plan nachgehen, er muß das Mitleid und die
Menſchenliebe nicht mit Anſtalten beſchweren; ſondern dieſen
die ſuͤße und wuͤrkſame Freyheit laſſen nach eignen Empfindun-
gen zu handeln; welche nur zur Zeit der aͤuſſerſten Noth um
ſo viel wuͤrkſamer ſeyn werden, je minder ſie vorher in die
geſetzmaͤßigen Anſtalten eingeflochten worden. Die uͤdrigen
Beſchwerden welche die zu ſtarke Bevoͤlkerung im Stifte Oß-
nabruͤck nach ſich zieht und die noch eine beſondre Betrachtung
erfordern, ſind folgende.


Der
[14]Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung

Der wahre Landmann reichet bey einer theuren Zeit faſt
durchgehends mit ſeinem Vorrathe aus; den vielen Neben-
wohnern aber fehlts. Wenn nun dieſen durch oͤffentliche An-
ſtalten geholfen werden muß, es ſey mit Fuhren, mit Korn
oder mit Gelde; und dieſe Huͤlfe wird von der gemeinen
Maſſe aller Kraͤfte des Staats genommen: ſo iſt offenbar, daß
die groͤßte Laſt davon dem Landbeſitzer aufgebuͤrdet werde.


Eben ſo verhaͤlt es ſich mit den Armen, Fuͤndlingen, Ge-
brechlichen, Raſenden und andern dem gemeinen Weſen auf
dieſe oder jene Art zur Laſt fallenden Perſonen. Dergleichen
Leute finden ſich unter den wahren Landbeſitzern gar nicht,
oder wo ſie ſich finden: ſo fallen ſie dem gemeinen Weſen
nicht zur Beſchwerde. Unter den Nebenwohnern und Heuer-
leuten hingegen finden ſie ſich in Menge; und ſie moͤgen ih-
ren Mangel durch betteln, ſtehlen, oder aus den Landes-
und Kirchſpielscaſſen erſetzet halten: ſo muß der Landbeſitzer
das mehrſte dazu beytragen.


Unſre Kirchen werden uns faſt durchgehends zu klein, und
es ſind deren einige, wo an die fuͤnfhundert Menſchen unter
einer Predigt auf den Kirchhoͤfen ſtehen, um die andre ab-
zuwarten; andre hingegen, wo die Einwohner nur um den
den vierten Sonntag zur Kirche kommen koͤnnen, um ſich
einander Platz zu machen. Den mehrſten Raum nehmen
die Nebenwohner ein. Wenn aber die Kirche gebauet und
erweitert wird: ſo muß der Landbeſitzer Holz, Stein und
Lohn bezahlen.


Die gemeinen Weiden, Mohre und Holzungen werden
am mehrſten genutzt; und auch hierunter muß der Landbe-
ſitzer leiden. Die Huͤlfe, die er dagegen von ihnen erhaͤlt,
iſt gering und koſtbar, weil ſie die beſte Jahreszeit in Hol-
land liegen.....



II.
[15]

II.
Der jetzige Hang zu allgemeinen Geſetzen
und Verordnungen, iſt der gemeinen
Freyheit gefaͤhrlich.


Die Herrn beym Generaldepartement moͤgten gern alles,
wie es ſcheinet, einfache Grundſaͤtze zuruͤckgefuͤhret
ſehen. Wenn es nach ihrem Wunſche gienge, ſo ſollte der
Staat ſich nach einer akademiſchen Theorie regieren laſſen, und
jeder Departementsrath im Stande ſeyn, nach einem allge-
meinen Plan den Localbeamten ihre Ausrichtungen vorſchrei-
ben zu koͤnnen. Sie wollten wohl alles mit gedruckten Ver-
ordnungen faſſen, und nachdem Voltaire es einmal laͤcherlich
gefunden hat, daß jemand ſeinen Proceß nach den Rechten
eines Dorfs verlohr, den er nach der Sitte eines nahe da-
bey liegenden gewonnen haben wuͤrde, keine andere als all-
gemeine Geſetzbuͤcher dulden; vermuthlich, um ſich die Re-
gierungskunſt ſo viel bequemer zu machen, und doch die ein-
zige Triebfeder der ganzen Staatsmaſchine zu ſeyn.


Nun finde ich zwar dieſen Wunſch fuͤr die Eitelkeit und
Bequemlichkeit dieſer Herrn ſo unrecht nicht, und unſer
Jahrhundert, das mit lauter allgemeinen Geſetzbuͤchern
ſchwanger geht, arbeitet ihren Hofnungen ſo ziemlich ent-
gegen. In der That aber entfernen wir uns dadurch von
dem wahren Plan der Natur, die ihren Reichthum in der
Mannigfaltigkeit zeigt; und bahnen den Weg zum Deſpo-
tiſmus, der alles nach wenigen Regeln zwingen will, und
daruͤber den Reichthum der Mannigfaltigkeit verlieret. An
den griechiſchen Kuͤnſtlern lobt man es, daß ſie ihre Werke
nach
[16]Der jetzige Hang zu allgemeinen Geſetzen
nach einzelnen ſchoͤnen Gegenſtaͤnden in der Natur, ausge-
arbeitet, und es nicht gewagt haben, eine allgemeine Regel
des Schoͤnen feſtzuſetzen, und ihren Meiſſel nach dieſer zu
fuͤhren. Die roͤmiſchen Geſetze bewnndert man, und muß
ſie gleich den griechiſchen Kunſtwerken bewundern, weil ein
jedes derſelben einen einzelnen Fall zum Grunde hat, und
allemal eine Erfahrung zur Regel fuͤr eine voͤllig aͤhnliche
Begebenheit darbietet. Man ſpricht taͤglich davon, wie
nachtheilig dem Genie alle allgemeine Regeln und Geſetze
ſeyn, und wie ſehr die neuern durch einige wenige Idealen
gehindert werden, ſich uͤber das mittelmaͤßige zu erheben;
und dennoch ſoll das edelſte Kunſtwerk unter allen, die
Staatsverfaſſung, ſich auf einige allgemeine Geſetze zuruͤck
bringen laſſen; ſie ſoll die unmannigfaltige Schoͤnheit eines
franzoͤſiſchen Schauſpiels annehmen; und ſich wenigſtens im
Proſpect, im Grundriß und im Durchſchnitt auf einen Bo-
gen Papier yollkommen abzeichnen laſſen, damit die Herrn
beym Departement mit Huͤlfe eines kleinen Maasſtabs alle
Groͤßen und Hoͤhen ſo fort berechnen koͤnnen.


Ich will es nicht unterſuchen, ob die gelehrte Natur einen
Hang zur Einfoͤrmigkeit genommen, oder das ruhige Ver-
gnuͤgen allgemeine Wahrheiten zu erfinden, und Geſetze fuͤr
die ganze Natur daraus zu machen, dieſe unſre neumodi-
ſche Denkungsart beliebt gemacht, oder auch der Militair-
ſtand, worinn oft hundert tauſend Menſchen das Auge auf
einen Punkt richten, und den Fuß nach dem nehmlichen
Tackte ſetzen muͤſſen, ſein Exempel zur Nachahmung em-
pfohlen habe. Man mag hier annehmen was man will,
die Wahrheit bleibt allemal, je einfacher die Geſetze, und je
allgemeiner die Regeln werden, deſto deſpotiſcher, trockner
und armſeliger wird ein Staat.*)


Ich
[17]und Verordnungen, iſt der gemeinen ꝛc.

Ich verlange nicht, daß man dieſes auf alle Zweige der
Staatsverfaſſung anwenden ſolle. Es ſind einige und haupt-
ſaͤchlich die aͤußerlichen Formalitaͤten des gerichtlichen Pro-
ceſſes, der Teſtamente und Vormundſchaften, welche ſich
mit allgemeinen Geſetzen und Regeln zu einer nothwendigen
und gluͤcklichen Einformigkeit bringen laſſen, ſo daß man
aus dem Standort eines Generaljuſtitzdepartements ihre
Richtigkeit und Unrichtigkeit zuverlaͤßig uͤberſehen kan; ſo
weit iſt auch der Großcanzlar von Coccejus gekommen. Es
giebt auch in der Staatsoͤkonomie eine Einfoͤrmigkeit der
Formen, der Tabellen, der Vorſtellungen und andrer aͤußer-
lichen Umſtaͤnde, welche die hoͤheſte Einſicht erleichtert; und
vielleicht ließen ſich auch weſentliche Theile der Policey als
Maaßen und Muͤnzen zu einer Gleichfoͤrmigkeit bringen, ſo
groß und ſo mannigfaltig auch die Schwuͤrigkeiten ſind, wel-
che hier dem Auge des theoretiſchen Projectenmachers ent-
wiſchen, und den Mann der in großen Staaten Hand an-
legt, verwirren. Allein allgemeine Policeyordnungen, all-
gemeine Forſtordnungen, allgemeine Geſetze uͤber Handel
und Wandel, uͤber Acker- und Wieſenbau und uͤber andre
Theile der Staats- und Landeswirthſchaft, wenn ſie nicht
bloß theoretiſche Lehrbuͤcher, ſondern wahre in jedem Falle
zu
*)
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. B
[18]Der jetzige Hang zu allgemeinen Geſetzen
zu befolgende Regeln abgeben, wenn ſie brauchbar und zu-
reichend ſeyn, wenn ſie dem Generaldepartement zur Richt-
ſchnur dienen ſollen, um die Vorſchlaͤge, Berichte und Aus-
richtungen der Localbeamten darnach zu pruͤfen, zu beurthei-
len und zu verwerfen, ſind mehrentheils ſtolze Eingriffe in
die menſchliche Vernunft, Zerſioͤrungen des Privateigen-
thums, und Verletzung der Freyheit. Die philoſophiſchen
Theorien untergraben alle urſpruͤnglichen Contrakte, alle
Privilegien und Freyheiten, alle Bedingungen und Verjaͤh-
rungen, indem ſie die Pflichten der Regenten und Untertha-
nen und uͤberhaupt alle geſellſchaftlichen Rechte aus einem
einzigen Grundſatze ableiten, und um ſich Bahn zu machen,
jede hergebrachte, verglichene und verjaͤhrte Einſchraͤnkun-
gen, als ſo viel Hinderungen betrachten, die ſie mit dem
Fuße oder mit einem ſyſtematiſchen Schluſſe aus ihrem Wege
ſtoſſen koͤnnen.


Die Contrakte eines Privatmannes gelten bey Entſcheidung
einer Streitſache mehr als gemeine Rechte, außerordentliche
Faͤlle ausgenommen. Gewohnheiten, Verabredungen und
Vergleiche einer Gemeinheit gelten auf gleiche Weiſe und
eben aus demſelben Grunde, mehr als Provinzialverord-
nungen; und Provinzialabſchiede, mehr als allgemeine Lan-
desgeſetze. Dieſes iſt allemal der natuͤrliche Gang der ge-
ſellſchaſtlichen Rechte geweſen, welchen man zwar dann und
wann aus hoͤhern Urſachen veraͤndert hat, aber doch nicht
voͤllig verlaſſen kan, ohne den Willen eines einzigen zum Ge-
ſetze fuͤr alle zu machen. Voltaire haͤtte nicht noͤthig gehabt,
die Verſchiedenheit der Rechte in zween nahegelegenen Doͤr-
faͤrn laͤcherlich zu finden; er haͤtte dieſelbe Verſchiedenheit in
zween unter einem Dache lebenden Familien finden koͤnnen,
wovon das Haupt der einen mit ſeiner Frau in Gemeinſchaft
lebt,
[19]und Verordnungen, iſt der gemeinen ꝛc.
lebt, das andre aber nicht. Wie viel tauſend Rechtsfragen
entſtehen aus dieſer einzigen Verſchiedenheit, und muͤſſen ge-
gen den einen ſo, und gegen den andern anners entſchieden
werden, wofern man nicht Glaͤubiger um ihre Forderungen,
Kinder um erworbene Rechte, Muͤtter um ihre Sicherheit
bringen will? Wollte man hier ſagen, es waͤre beſſer, daß
entweder alle Eheleute in Gemeinſchaft, oder alle außer der-
ſelben lebten: ſo wuͤrde dieſes eine unnoͤthige Einſchraͤnkung
der Freyheit, und in vielen Faͤllen, die man hier nicht an-
geben kan, hoͤchſtſchaͤdlich ſeyn. Durch ein allgemeines Ge-
ſetz laͤßt ſich aber, wenn einmal die eine Haushaltung ſo und
die andre anders lebt, hier gar keine Veraͤnderung wagen,
wofern man nicht eine Menge von Ungerechtigkeiten begehen
will. Nicht einmal die Erbfolge laͤßt ſich auf eine ploͤtzliche
Art durch ein allgemeines Recht veraͤndern, und in eine
Gleichfoͤrmigkeit bringen, ohne ſehr viele Familien in Un-
gluͤck und Verwirrung zu ſtuͤrzen. Vertraͤge gelten gegen
Geſetze, und Beſitz und Verjaͤhrung haben gleiche Rechte
mit Vertraͤgen, und koͤnnen ohne große Ungerechtigkeiten zu
begehen nicht zuruͤckgeſetzet werden.


In dem oͤkonomiſchen Fache veranlaſſen die Localumſtaͤnde
noch eine groͤßere Verſchiedenheit. Wo an einem Orte das
Holz geſchonet werden muß, mag es an einem andern ver-
ſchwendet werden. Wo hier die Viehtrift im Holze ſchaͤd-
lich iſt, muß ſie an einem andern aus hoͤhern Urſachen ge-
duldet werden. Wo hier die Schweine gekrampfet oder ge-
huͤtet, oder auf dem Stalle gehalten werden muͤſſen, koͤnnen ſie
an einem andern frey gehen — Wer kan hier eine General-
forſt- oder Markenordnung machen, und verbieten oder zu-
laſſen, ohne dem Privateigenthum und eines jeden Forſtes
oder deſſen Anwohner wahrer Nutzung zu ſchaden?


B 2Zwar
[20]Der jetzige Hang zu allgemeinen Geſetzen

Zwar lobt man an einer jeden Maſchine den einfachen
Hebel; und die groͤßte Menge der Wuͤrkungen iſt nicht be-
wundernswuͤrdiger, als wenn ſie durch die kleinſte Kraft
(minimum) hervorgebracht wird. Allein kein vernuͤnftiger
Menſch wird laͤugnen, daß da, wo hundert tauſend zuſam-
mengeſetzte Hebel zugleich das Verdienſt der kleinſten Kraft
erhalten, die Wuͤrkungen unendlich ſchoͤner und groͤßer ſeyn
muͤſſen. Ein Staat, worinn ein jeder der vollkommenſten
Freyheit genießt, und das allgemeine Beſte zugleich im
hoͤchſten Grad erhalten wird, iſt unſtreitig beſſer, gluͤckli-
cher und praͤchtiger, als ein ander, worinn das letzte mit
einer groͤßern Aufopferung der Freyheit anfs theuerſte erkauft
werden muß. Jener aber wird gewiß eine groͤßere Man-
nigfaltigkeit in ſeinen Geſetzen haben, als dieſer.


Daß bey einem Generaldepartement richtige Charten und
Tabellen von allem, was zu ſeiner Beurtheilung eingeſchickt
wird, vorhanden ſeyn muͤſſen, um die Berichte des Local-
beamten deutlich verſtehen, und ſeine Gruͤnde pruͤfen zu
koͤnnen, iſt eine Sache fuͤr ſich; daß daſſelbe die Geſchick-
lichkeit, den Fleiß und die Redlichkeit des Localbeamten auf
das genaueſte controlliren muͤſſe, wird auch wohl niemand
in Zweifel ziehen. Allein dieſes hindert nicht, daß nicht
jeder Forſt ſeine eigne Regeln, jedes Staͤdtgen ſeine eigne
Policey, und jede Bauerſchaft ihre beſondern Rechte, ſo
wie ihre beſondern Vortheile und Beduͤrfniſſe habe, welche
ohne Gewalt unter keine allgemeine Verordnungen gezwun-
gen werden koͤnnen. Es hindert nicht, daß das Gutachten
eines redlichen und einſichtsvollen Localbeamten nicht allemal
mehrere Aufmerkſamkeit verdiene, als die großen Theorien
des Generaldepartements, und wenn ich ein allgemeines
Geſetzbuch zu machen haͤtte: ſo wuͤrde es darinn beſtehen,
daß
[21]und Verordnungen, iſt der gemeinen ꝛc.
daß jeder Richter nach den Rechten und Gewohnheiten ſprechen
ſollte, welche ihm von den Eingeſeſſenen ſeiner Gerichts-
barkeit zugewieſen werden wuͤrden. Dies war das große
Mittel, wodurch unſre Vorfahren ihre Freyheit ohne Ge-
ſetzbuͤcher erhielten; anſtatt daß unſre Generalverordnungen
und Geſetze, ſo bald es zur Anwendung koͤmmt, immer
nicht recht auf den einzelnen ſtreitigen Fall paſſen, und Na-
tur und Geſetze gegen einander in Proceſſe verwickeln.


Es iſt eine allgemeine Klage des jetzigen Jahrhunderts,
daß zu viel Generalverordnungen gemacht, und zu wenige
befolget werden. Die Urſache liegt aber aller Wahrſchein-
lichkeit nach darinn, daß wir zu viel Dinge unter eine Regel
bringen, und lieber der Natur ihren Reichthum benehmen,
als unſer Syſtem aͤndern wollen.



III.
Vorſchlag, wie der Theurung des Korns
am beſten auszuweichen.


Das beſte Mittel einer Theurung des Korns vorzubeugen,
oder ſich bey einer anſcheinenden theuren Zeit zu hel-
fen, ſcheint mir dieſes zu ſeyn, daß man die Preiſe ſteigen
laſſe, wie ſie wollen, und dem Handel ſeinen voͤllig freyen
Lauf goͤnne, ohne ſich von obrigkeitlichen Amts wegen im ge-
ringſten darum zu bekuͤmmern, oder Ausfuhr und Brantweins-
brennen zu verbieten. So ſeltſam auch dieſe Meynung, die
uͤbrigens in dem großen Handel zwiſchen Nationen und Na-
tionen genugſam unterſucht iſt, manchem ſcheinen moͤchte, da
B 3zu
[22]Vorſchlag, wie der Theurung des Korns
zu gegenwaͤrtiger Zeit*) ſo leicht kein Staat in Deutſchland
ſeyn wird, worinn nicht das Gegentheil und zwar ploͤtzlich ge-
ſchehn; indem faſt alle Obrigkeiten die Ausfuhr des Korns
und das Brantweinsbrennen verboten; viele die Kornſpeicher
ihrer Unterthanen oder ihre auf gemeine Koſten unterhaltene
Magazine eroͤfnet, und auf dieſe Weiſe die Theurung zu hem-
men, und die ſogenannten Kornjuden zur Billigkeit zu bringen
geſuchet haben: ſo glaube ich doch, daß jene Meynung alle-
mal ſolche Gruͤnde ſuͤr ſich habe, welche uͤberlegt zu werden
verdienen; ich will ſie alſo kuͤrzlich anfuͤhren und das Urtheil
andern uͤberlaſſen.


Jeder Menſch, welcher einen Handel unternimmt, macht
ſeine Rechnung zufolge der natuͤrlichen Ungewißheit, welche
der Lauf der Handlung mit ſich bringt, und ich glaube es als
einen gewiſſen Satz annehmen zu koͤnnen, daß niemand da
leicht mit Korn handeln werde, wo es ein maͤchtiger, ſo oft es
ihm beliebt, mit Schaden verkaufen kan. Es geſchieht zwar
oft, daß ein Kaufmann, der zu Grunde geht, ſeine Waaren
wohlfeil und mit Schaden losſchlaͤgt, mithin dadurch andern
ehrlichen Leuten den Markt verdirbt. Diſe wiſſen aber ſchon
zum voraus, und haben es als eine in den gemeinen Lauf ge-
hoͤrige Unſicherhelt berechnet, daß jener es nicht lange aus-
halten koͤnne. Allein wo ein Staat, der es lange aushalten
kan, indem er den Schaden wiederum auf alle Einwohner
vertheilet, ſo handeln will; wo dieſer unter dem zufaͤlligen
Preis verkauft; wo dieſer beſtaͤndig mit der Eroͤfnung ſeiner
auf gemeine Unkoſten angelegten Magazine oder der Korn-
ſpeicher ſeiner Einwohner droht; wo dieſer den Abgang der
Waare
[23]am beſten auszuweichen.
Waare ſelbſt, durch ein Verbot der Ausfuhr oder des Ge-
brauchs nach Willkuͤhr entbehrlich machen kan; wo dieſer ſo-
gar den Kaufmann zwingen will, ſeinen gemachten Vorrath
zu einem ihm vorgeſchriebenen Preiſe zu verkaufen; da muͤſ-
ſen nothwendig alle Kaufleute ablaſſen, da kan niemand ſich
in Vorrath ſetzen, da muß der Staat der etwas thun will, auch
alles thun, und ganz und gar nicht auf einigen fernern Zu-
fluß dieſer Waare durch den Weg der Handlung rechnen.


Ein jeder Geſetzgeber, jeder Landſtand, jeder Vornehmer,
der oft ſo leicht darauf faͤllt, die Kornboͤden den Geringern er-
oͤfnen und den uͤberfluͤßigen Vorrath daraus zu einem ſoge-
nannten billigen Preiſe verkaufen zu laſſen, greife hier in ſein
eignes Gewiſſen, und frage ſich, ob er ſich jemals in Vorrath
zum Verkauf ſetzen werde, wenn er dergleichen Eingriffe in
ſein Eigenthum zu fuͤrchten hat; ob er nicht vielmehr bey der
geringſten Furcht, ja bey der Moͤglichkeit, daß ihm der freye
Verkauf durch einen Machtſpruch verhindert werden koͤnne,
ſein Korn losſchlagen, und den erſten den beſten Preis neh-
men werde, ehe er ſich auf eine ſo willkuͤhrliche Art behandeln
laſſen will? Schlaͤgt aber ein jeder Maͤchtiger ſeinen Korn-
vorrath zur Unzeit los; wagt er es nicht denſelben ſo lange zu
halten als er es nach dem natuͤrlichen Laufe des Kornpreiſes
rathſam findet: ſo leidet keiner mehr darunter als der Staat,
der entweder alle Jahre in den letzten Monaten vor der Erndte
einige aus dem ordentlichen Laufe der Handlung nicht zu be-
rechnende Theurung dulden, oder ſogleich bereit ſeyn muß,
dem Ungluͤcke mit ſeinem großen Schaden zu wehren. Nichts
ſcheint ſich einem Staate mehr zu empfehlen, als ein oͤffentli-
ches auf gemeine Koſten zu unterhaltendes Magazin, welches
bey wohlfeilen Zeiten gefuͤllet, und wenn der Preis zum
Exempel auf einen Thaler fuͤr den Himten ſteigt, eroͤfnet wird.
B 4Allein
[24]Vorſchlag, wie der Theurung des Korns
Allein den Schaden ungerechnet, welcher dem Staat durch
das darinn angelegte Capital, durch den Unterhalt der Ge-
baͤude, durch die Beſoldung der Bedienten, durch die allezeit
dabey einſchleichende Betriegerey und durch andre Ungluͤcks-
faͤlle daher zuwaͤchſt: ſo kann man ſicher darauf rechnen, daß
in dem Lande, wo dieſes Magazin liegt, das Korn immer
hoͤher im Preiſe als in andern Laͤndern, alle uͤbrige Umſtaͤnde
gleich genommen, ſeyn werde; und dieſes aus der vernuͤnfti-
gen Urſache, weil der Kaufmann in dem Lande, worinn er
durch das Magazin auf ewig verhindert wird, den hoͤchſten
Preis zu erhalten, es nicht wagen wird, die Gefahr des nie-
drigſten zu ſtehen. Der Kornhandel iſt ſo beſchaffen, daß
neun Jahre Verluſt durch ein Jahr Gewinnſt erſetzet werden
muͤſſen. Hat der Kaufmann nun die Hoffnung nicht, ſich
durch den hoͤchſten Preis des einen theuren Jahrs ſchadlos
halten zu koͤnnen: ſo wird er gewiß die Gefahr der neun wohl-
feilen nicht uͤbernehmen, folglich von dieſem Handel ganz ab-
laſſen, und wenn die Theurung einfaͤllt, dem Staate die ganze
Anſtalt allein zuwelzen.


Es ſollte daher ein ewiges unveraͤnderliches Geſetz in jedem
Staate ſeyn, daß der Kornpreis, die Umſtaͤnde moͤchten kom-
men wie ſie wollten, immer ſeinen freyen Lauf behalten, nie
die Ausfuhr verboten, nie die Keſſel verſiegelt, nie fremder
Vorrath auf Unkoſten des Staats angeſchafft, nie der Spei-
cher eines Privatmanns eroͤfnet, und uͤberhaupt nie etwas
vorgenommen werden ſollte, wodurch der ordentliche Lauf des
Handels unterbrochen werden koͤnnte. Wo aber ein ſolches
Geſetz noch nicht vorhanden; oder wo es zwar vorhanden, aber
noch nicht genug befeſtiget und geheiliget iſt, da muß freylich
die Obrigkeit zutreten, und dem Mangel abzuhelfen ſ[u]chen.
Denn in einem ſolchen Lande haben die Einwohner natuͤrli-
cher
[25]am beſten auszuweichen.
cher Weiſe lange vor eingetretener Theurung geſagt: Unſre
gnaͤdigſte Landesherrſchaft hat uns mehrmalen ſchou aus der
Noth geholfen, und Korn zu einem wohlfeilen Preiſe verkau-
fen laſſen. Es iſt alſo nicht noͤthig, daß wir bis zur Erndte
fuͤr uns ſelbſt ſorgen. Ja wir koͤnnen unſern Vorrath dem
minder gluͤcklichen Nachbarn ſo viel theurer verkaufen. Unſre
großen Meyer haben auch noch Vorrath; wird das Land ge-
ſchloſſen, und der Branteweinskeſſel zugeſchlagen: ſo muß der
Preis wohl herunter gehen. Wir wollen allenfalls den Beam-
ten die Ohren ſo voll ſchreyen, daß ſie dieſe Kornwuͤrmer ein-
mal heimſuchen, und ſie zwingen ſollen zu verkaufen ꝛc. Der
Muͤller hat gedacht: Warum ſoll ich Korn aufſchuͤtten. Die
Herrſchaft wird etwas aus der Fremde kommen laſſen, und
ſolches wenigſtens ohne Vortheil, wo nicht mit Schaden, ver-
kaufen. Dann ſitze ich da und mag die Wuͤrmer futtern. Und
der Kaufmann hat ſchon in ſeinem Geiſte den Beamten hoͤniſch
vorgeworfen: Das koͤmmt von euren guten Anſtalten; nicht
zufriedeu damit, daß die Branteweinskeſſel verſiegelt und die
Ausfuhr aus dem Lande verhindert worden, wollt ihr ſogar
die Aemter und Kirchſpiele ſchlieſſen; ihr wollt die Fuhren,
um Korn aus der Fremde zu holen, umſonſt gebrauchen; ihr
wollt euer oder des Landes Geld ohne Zinſen dazu verwenden;
ihr wollet den Rocken ausborgen; ihr koͤnnet Zollfreyheiten
erlangen. — Da wage es ein Kaufmann, ſich in dieſe Korn-
handlung zu miſchen. — Wo die Umſtaͤnde ſo gelegen ha-
ben, wo der Landmann ſeinen Vorrath aufs theuerſte verkauft,
und ſeine geringen Nebenwohner in der Hoffnung, die Lan-
desherrſchaft werde ſie ſchon verſorgen, Brodlos laͤßt, da iſt
es ſo natuͤrlich als vernuͤnftig, daß die Obrigkeit zutrete und
die Erwartuug der Armuth ſo viel als moͤglich erfuͤlle.


Aber ich ſage, die Lage wuͤrde nie ſo kommen, wenn jenes
Geſetz immitten, und jedermann vollkommen ſicher waͤre, daß
B 5der
[26]Vorſchlag, wie der Theurung des Korns
der Kornhandel nie durch irgend eine maͤchtige Hand einge-
ſchraͤnket werden koͤnnte. Wann eine Landesherrſchaft noch
Korn erhalten kan: ſo kan es auch der Kaufmann bekommen;
und da die ſogenannten Preiscouranten aus Hamburg, Bre-
men, Embden und Amſterdam mit jedem Poſttage zeigen,
wie hoch der gemeine Preis ſey: ſo iſt bey einer fuͤr alle Kauf-
leute und fuͤr jedermann offen liegenden Speculation kein auſ-
ſerordentlicher Wucher zu beſorgen. Dann jeder wird ſein
Geld ſodann wagen, und keiner dem andern einen gar zu groſ-
ſen Preis genieſſen laſſen, ſo bald er nicht zu befuͤrchten hat,
daß ihm durch eine maͤchtige Hand Einhalt geſchehe. In die-
ſem Stuͤck kan man ſich auf die Begierde zu gewinnen, welche
allen Menſchen eigen und ihnen nicht umſonſt gegeben iſt, voͤl-
lig verlaſſen.


Geſetzt aber ein ſolcher Entſchluß, daß man nemlich von
obrigkeitlichen Amts wegen niemals Korn anſchaffen und auch
niemals den Handel mit demſelben einſchraͤnken oder ſchmaͤlern
wolle, faͤnde Bedenken, indem die Lage der Umſtaͤnde ſolchen
nicht geſtattete: ſo ſcheinet es dennoch immer beſſer zu ſeyn,
jedem Kirchſpiele die Verſorgung ſeiner Eiwohner und die da-
zu erforderlichen Anſtalten zu uͤberlaſſen und aufzulegen, als
auf gemeinſame Amts- oder Landesanſtalten hinaus zu gehen.
Denn eines theils iſt oft ein Kirchſpiel ſo ſorglos oder deſſen
Einwohner ſind ſo Geldbegierig, daß ſie alles, was ſie nur
verkaufen koͤnnen, auf den theureſten Markt bringen, und fuͤr
ihre Miteinwohner gar nicht ſorgen, anſtatt, daß ein anders
chriſtlicher und billiger denkt, und alle ſeine Nebenwohner
beſtens mit aushilft. Andern theils weis auch noch oft eines
die Seinigen aus ſeinem eignen verſteckten Vorrathe zu rathen,
und ſeine Anſtalten ganz wirthſchaftlich einzurichten. Wenn
nun aber bey allen Anſtalten im Großen der Schuldige mit
dem
[27]am beſten auszuweichen.
dem Unſchuldigen vermiſcht wird, und dasjenige Kirchſpiel,
was ſich allenfalls noch wohl ſelbſt helfen koͤnnte, mir den uͤbri-
gen einen gleichen Antheil an den gemeinen Amts- und Lan-
desbeſchwerden uͤbernehmen muß: ſo verdrießt dieſes das gute
und haushaͤlteriſche; es ſchwaͤcht das Mitleid; und dasjenige
Kirchſpiel, was fuͤr die Seinige gewiß geſorgt haben wuͤrde,
ſchlaͤgt auch zum theureſten auf fremden Maͤrkten los, weil es
am Ende einerley iſt, ob es gut oder ſchlecht gehandelt hat;
indem doch allen durch die gemeinſchaftliche Anſtalt in gleicher
Maaße geholfen werden muß. Nicht zu gedenken, daß bey
allen großen Anſtalten die wahre Beduͤrfniß und das Ver-
dienſt eines jeden Nothleidenden nicht ſo genau beurtheilet
werden kan, als bey Anſtalten im Kleinen, wo ein Nachbar
den andern kennet, und denjenigen, der das ſeinige verſchwen-
det, oder theuer verkauft, oder ſich ſelbſt noch wohl helfen
kan, zuruͤck ſetzt, und wo ein jeder auch ſeines eignen Vortheils
wegen darauf achtet, daß kein Betrug vorgehe, und keiner
mehr erhalte, als er zur hoͤchſten Nothdurft gebrauchet. Es
giebt Meyer, die ihre Heuerleute und Beywohner auf die ge-
meine Landesanſtalt ſchicken, waͤhrender Zeit ſie ihren eignen
Vorrath theuer verkaufen; es giebt Leute, die es wohl bezahlen
koͤnnten, und ſich doch arm ſtellen, wenn die Landesherrſchaft
der Armuth zum beſten einen Vorrath wohlfeil losſchlagen
laͤßt; es giebt andre, die unter eignen oder geliehenen Namen
ſich mehrmalen zudringen, und hernach mit demjenigen, was
ſie wohlfeil erhalten, einen Handel treiben. Alles dieſes iſt
der nothwendige Fehler großer Anſtalten, wovon ein Kirch-
ſpiel, worinn einer den andern kennet, nichts zu fuͤrchten hat.
Und ich getraue mir zu behaupten, daß 50 Kirchſpiele, die zu
einer gemeinſchaftlichen Fuͤrſorge verknuͤpft ſind, 10000 Mal-
fer Korn fordern werden, welche ſich einzeln mit 4000 behel-
ten wuͤrden.


Es
[28]Vorſchlag, wie der Theurung des Korns

Es ſollte alſo wenigſtens ein Geſetze ſeyn, daß bey einer ein-
tretenden Theurung jedes Kirchſpiel ſich ſelbſt zu helfen haͤtte.


Der Edelmann ſorget hier im Lande faſt durchgehends fuͤr
die ſeinigen, und man koͤnnte die Namen ſolcher Grosmuͤthi-
gen nennen, welche ihren Heuerleuten das Korn beſtaͤndig zu
dem Preiſe geben, wozu es in guten Jahren ſteht. In die-
ſer Fuͤrſorge iſt aber der Edelmann unabhaͤngig, weil er her-
nach zu keinen gemeinen Anſtalten weiter beytraͤgt. Der
Landmann hingegen, wenn er auch auf gleiche Weiſe geſorget
hat, muß dem ungeachtet, auch noch fuͤr ſeine faulen und
ſchlechten Nachbaren, mit denen er in Geweinſchaft der oͤffent-
lichen Laſten lebt, forgen, und Nachbarn gleich fahren und
beytragen; das ſetzt ihn in eine ungleich ſchlimmere Lage; und
wie ſchlimm muß dieſe nicht noch werden, wenn er nicht blos
zu den Anſtalten fuͤr ſein Kirchſpiel, ſondern auch zu denen,
welche fuͤr das Ganze gemacht werden, beytragen muß?


Wenn man noch genauer gehen wollte; ſo ſollten billig die-
jenigen Landleute, welche fuͤr die ihrigen geſorgt haben, von
allem fernern Beytrage zu den Kirchſpielsanſtalten frey ſeyn.
Nur aͤuſſert ſich dabey die Schwierigkeit, daß auf ſolche Art
alle Dorfgeſeſſene und Markkoͤtter, welche kenntlich keinen
Ackerbau und keine Pferde haben, zur Zeit der Noth verlaſ-
ſen ſeyn wuͤrden. Allein hier waͤre auch noch wohl Rath zu
ſchaffen, wenn man vorlaͤufig nur eine gewiſſe Einrichtung
machte.


In den aͤlteſte Zeiten, und lange vor Carl dem Großen, er-
richteten dergleichen Leuten Gildonias, oder Gilden, und tra-
ren zu ihrer gemeinſamen Vertheydigung, es ſey zu Gerichte
oder auſſer Gerichte, unter ihren Beamten zuſammen; an-
ſtatt
[29]am beſten auszuweichen.
ſtatt daß ſie jetzt einzeln ohne gleiche Gewohnheiten (coſtu-
mes)
ohne Landrecht, ohne Rechtsweiſung dahin leben, in
ihren Erbtheilungen, Ausbeſtattungen und dergleichen unter
dem roͤmiſchen Rechte und ſeinen Auslegungen ſtehen, und
wenn eine Noth eintritt, ohne Einigkeit und ohne Haupt ſich
gar nicht zu helfen wiſſen. Daher ſehen wir Koͤtter, die ſich
frey kaufen, wiederum in den Leibeigenthum laufen, weil ſie
ſich rechtlos duͤnken, und nun nicht wiſſen, ob ſie mit ihren
Weibern in Gemeinſchaft der Guͤter leben oder nicht; ob ſie
eine Leibzucht zu gewarten haben, und was ſie ihren Kindern
mitgeben ſollen — welches alles daher koͤmmt, weil die Heyen
oder Hoden*) worinn dieſe Leute ſich begeben, ihr Band
wie ihre coutumes verlohren haben, und der Hodepfennig
oder der Hodeſchilling mit dem Verfall der Muͤnze zu ſehr
heruntergegangen iſt, um es der Muͤhe werth zu achten fuͤr
dieſe armen Leute ein eignes Recht zu machen. Die Fuͤrſten
ſelbſt, welche Coloniſten auf dem platten Lande anziehen, ſchei-
nen den Vortheil der Hode, oder einer ſolchen Gilde, ohne
welche ſich einzelne Leute ſchwerlich halten, ganz und gar zu
miskennen.


Geſetzt nun aber, man zoͤge dieſe Leute in jedem Kirchſpiel
in eine beſondre Gilde unter zween von ihnen erwaͤhlten Vor-
ſtehern zuſammen, und machte eine Vereinigung dahin, daß
die Landleute des Kirchſpiels ihnen fuͤr einen ſichern Preis die
Kornfuhren geben, die Dorfgeſeſſenen hingegen jedesmal ge-
gen einen ſichern Preis die natural Einquartierungen, welche
doch insgemein, wenns Infanterie iſt, auf das Dorf faͤllt,
tragen muͤßten, ſo wuͤrde ſich ſchon eine gewiſſe billige Pro-
portion ausfinden laſſen, nach welcher jeder Landmann im
Kirch-
[30]Vorſchlag, wie der Theurung des Korns
Kirchſpiel dieſer Gilde helfen muͤßte; ſo wuͤrde dieſe Gilde
mit vereinten Kraͤften Geld oder Credit und Buͤrgen finden,
und ſich ſolchergeſtalt auch retten koͤnnen. Es ſind viele Dinge
die eine Compagnie oder Gilde mit genugſamer Macht unter-
nimmt, ein einzelner Mann aber wohl liegen laſſen muß.
Das ſchlimmſte bey den Rettungsanſtalten zur Zeit der Theu-
rung iſt insgemein die erſte Anſtalt zum Ankauf des Korns und
die erforderliche geſchwinde und vorſchuͤßige Bezahlung. Aber
hier tritt nun in guten Staaten die gluͤckliche Fuͤrſorge der
Landesherrſchaft ein. Dieſe laͤßt das Korn auf dem naͤchſten
und wohlfeilſten Orte kaufen, thut den Vorſchuß, und borgt
dem Kirchſpiel oder der Gilde unter ihren Vorſtehern oder
Buͤrgen. Dieſe duͤrfen alſo nur hinſchicken, abholen, und
es ſo vorſichtig vertheilen, daß ſie das Geld dafuͤr zur geſetzten
Zeit wieder einliefern koͤnnen. Dieſe Huͤlfe kann keine Lan-
desherrſchaft einzelnen Menſchen angedeyen laſſen; weil ſie
ſich in unendliche Weitlaͤuftigkeit und mit großer Unſicherheit
einlaſſen wuͤrde. Allein einer Gilde unter Vorſtehern und
Buͤrgen kann ſie ohne dieſe Unbequemlichkeiten deſto leichter
helfen.


Die Erfahrung hat in dieſem Jahre gewieſen, daß viele
Aemter und Kirchſpiele, ohnerachtet ſie Mangel zu haben
ſchienen, lieber ihren Miteinwohner aus ihrem eignen Vor-
rathe mittheilen, und ſich ſo viel ſparſamer behelfen, als die
Fuhren zur Abholung des fremden Korns leiſten wollten.
Andre, welche ins wilde gefordert hatten, traten aus gleicher
Urſache zuruͤck, machten es wie jene, und begehrten nur et-
was weniges. Andre, worinn die Landleute genug hatten,
wollten den Dorfgeſeſſenen nicht aushelfen, und auch nicht
fuͤr ſie fahren. Mancher Landmann der zwar nichts uͤbrig,
aber doch fuͤr ſich genug hatte, behalf ſich ſparſamer, und
ver-
[31]am beſten auszuweichen.
vermiſchte ſeinen Rocken mit andern Koͤrnern, um ſeinen
Miteingeſeſſenen auszuhelfen, und ſich von der Fuhr zu be-
freyen. Alle dieſe Erfahrungen reden das Wort fuͤr die
Kirchſpiels- und gegen die Landesanſtalten, und was ſolcherge-
ſtalt geſparet worden, iſt auch gewonnen. Sie zeigen, daß
bey Landesanſtalten mehrentheils nur die ſchlechteſten Leute
auf Koſten der beſſern Haushaͤlter zehren, die dreiſteſten Bett-
ler den beſcheidenen Armen verdringen, und weit groͤßere
Summen ausgegeben werden, als geſchehen wuͤrde, wenn
jedes Kirchſpiel ſich ſelbſt rathen muͤßte.



IV.
Ein Patriot muß vorſichtig in ſeinen Kla-
gen bey Landplagen ſeyn.


Wenn der Paͤchter uͤber eine ſchlechte Erndte ſchreyt, um
die Kammer zu hintergehen; wenn der Leibeigene
ſein Korn fuͤr voͤllig ausgewachſen angiebt, um bey den Guts-
herrn Mitleid zu finden; wenn der Becker eine Theurung pro-
phezeyht, um ſein Brod nach der hoͤchſten Taxe zu verkau-
fen; wenn endlich alle diejenigen, welche Korn einzunehmen
und zu verkaufen haben, einen allgemeinen Mangel verkuͤn-
digen, um ihren Vorrath zum hoͤchſten Preiſe auszubringen:
ſo weis man warum dieſes geſchieht. Wenn aber der Mann,
der ſchon viele ſchlechtere Zeiten ausgedauret und bey dem
allgemeinen Ungluͤck nichts zu gewinnen hat, dieſen Klagen
gleichguͤltig beypflichtet; wenn der Chriſt, anſtatt ſein Ver-
trauen auf die goͤttliche Vorſorge bey ſolchen Gelegenheiten
vor andern zu zeigen, ſich den Schwachglaͤubigſten gleichſtellt;
wenn-
[32]Ein Patriot muß vorſichtig
wenn ſogar der Patriot ſolche Klagen mit eben der Gelaſſen-
heit anhoͤret, womit der Hofmann die hiſteriſchen Zufaͤlle
einer Princeßin aufnimmt: ſo geraͤth man in die Verſuchung
zu glauben, daß die Vernunft ein uͤberaus maͤßiges Geſchenk,
und das Vergnuͤgen zu klagen und beklagt zu werden, wovon
ſich ſonſt nur bequeme und unthaͤtige Seelen hinreiſſen laſ-
ſen, auch eine Leidenſchaft des edlern Theils der Menſchen
ſey.


Es iſt eine große und wichtige Pflicht den Grund oder Un-
grund ſolcher Klagen zu unterſuchen, ehe man mit einſtimmt.
Sind ſie nicht gegruͤndet; welche Verantwortung ladet man
ſich nicht auf, wenn man dergleichen traurige Vorſtellungen
unbedachtſam mit ausbreiten hilft, die Einſicht der Obern zu
unverdienten Nachlaͤſſen, womit nach einer nothwendigen
Folge andre wieder beſchweret werden, verleitet, die Policey
irre macht, den fleißigen Handwerker druͤckt, den Wucher be-
foͤrdert, den freudigen Geber ſchreckt, und einen großen Theil
ſeiner Mitbuͤrger verfuͤhrt, den Segen Gottes mit traurigem
Undanke zu genieſſen? Sind ſie aber gegruͤndet: ſo iſt es
allemal auch ein unruͤhmliches Verfahren, die Zeit, wo man
auf Rettungsmittel bedacht ſeyn ſollte, mit unnuͤtzen Klagen
zu verlieren. In der Noth zeigt der Weiſe ſeine Groͤße,
der Chriſt ſein Vertrauen auf Gott, und der Patriot Arbeit
und Dauer; wenn Landplagen herrſchen: ſo iſt er froher eine
Thraͤne zu ſtillen als tauſend zu vergießen.


Wie viele ſind aber unter denen, die bisher den Haufen
der Klagenden vermehret haben, welche ſich ruͤhmen koͤnnen,
den Grund oder Ungrund der Noth, womit uns alle haͤngende
Maͤuler drohen, unterſucht und nach eignen Erfahrungen
geurtheilet zu haben? Wer Vorrath hat, macht die Noth
groß,
[33]in ſeinen Klagen bey Landplagen ſeyn.
groß, wer Mangel leidet, verringert ſie, und die Einwohner
der Staͤdte, denen das maͤchtige Herz nicht im Buſen ſchlaͤgt,
was den edlen Landmann bey muthigen Sinne erhaͤlt, verza-
gen entweder bey jedem uͤblen Anſcheine, oder rechnen nur
den Vortheil aus welchen ſie vom Steigen und Fallen zu er-
warten haben? Wo findet man alſo den unpartheyiſchen Zeu-
gen, wenn man nicht aus eigner Erfahrung urtheilen kan? …



V.
Die moraliſchen Vortheile der
Landplagen.


Owenn doch erſt Oſtern; wenn nur erſt der lange Win-
ter voruͤber ſeyn moͤchte! ſagte im vorigen Herbſte ein
Heuermann zu mir, der fuͤr ſich eine Frau und ſieben Kinder
nicht ſo viel geerndtet hatte, als er bis Martini gebrauchte;
dem ſein geſaͤeter Lein nicht aufgegangen war, und den die
vorjaͤhrige Theurung bereits außer Stand geſetzt hatte, ſeinem
Wirthe die letztverſchienene Heuer zu bezahlen.


Nun ſprach ich geſtern zu ihm; Oſtern iſt da, und der
lange Winter voruͤber, und ich ſehe, ihr lebt doch noch mit
eurer Frau und allen euren Kindern! Ich glaube zwar wohl,
ihr habt euer Brodt ſauer erworben, aber es wird euch auch
nie ſo gut geſchmeckt haben, als dieſen Winter, da es das ra-
reſte war, was ihr hattet.


Ja wohl iſt es mir ſauer geworden, antwortete er; Sie ſe-
hen meine ganze Huͤtte ledig, meine Frau und Kinder nackend,
und mich entkraͤftet; ſo ſauer iſt es uns geworden. Das
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. CFlachs
[34]Die moraliſchen Vortheile
Flachs was wir noch hatten, war bald aufgeſponnen; das
Pfund Brodt galt ein Stuͤck Garn, und unſer waren nur drey
die ſpinnen konnten, und neune die eſſen wollten. Zur Ar-
beit außer dem Hauſe war keine Gelegenheit, und wie Weih-
nachten heran kam, war unſer Flachs verſponnen und verzehrt;
ach ein trauriger Weihnachten! Meine Frau hatte ihre Roͤcke
und Muͤtzen bereits verſetzt; wir konnten nicht zu Gottes Kir-
chen gehn. Sonſt war nichts im Hauſe, woraus wir einiges
Geld haͤtten loͤſen koͤnnen, außer einer Kuh; ich wollte ſie
wegfuͤhren ſie zu verkaufen. Aber meine Frau und Kinder
hielten ſie feſt umarmt, und wir ſchrien alle und ſtanden ſo
eine lange traurige Weile. Endlich gieng ich fort, um den
Jammer nicht laͤnger zu erdulden. Ich gieng zwey Stunden
in der Abſicht, die Meinigen nicht Hungers ſterben zu ſehen.
Aber es war immer als wenn mich ſechs Pferde zuruͤck zogen;
ich mußte wieder zu den Meinigen; und nun kam ich einen
angefuͤlleten Backofen voruͤber, und die Noth, der ſuͤße Ge-
ruch, und die Gelegenheit machten mich zum Diebe. So
ſauer iſt es mir geworden! Bey dieſem geſtohlenen Brodte
feyerten wir unſer Chriſtfeſt. Aber nun ſtand ich des Mor-
gens vor Tage auf, nahm meine Kuh, und brachte ſie dem
Manne, welchem ich das Brodt geſtohlen hatte. Mit tauſend
Thraͤnen bekannte ich ihm meine That, und der Mann, den
ich als einen harten und geitzigen Mann gekannt hatte, gab ſie
mir wieder und einen Scheffel Rocken dabey. Seitdem hat
mir mein Wirth, den ich die vorjaͤhrige Heuer noch ſchuldig
bin, und den ich vorhin nicht anſprechen mochte, weil er ſelbſt
nichts uͤbrig hat, ausgeholfen. Ach Herr! es giebt doch noch
Mitleiden in der Welt, es giebt noch heimliche Tugenden die
man nur zur Zeit der Noth erkennt!


Die
[35]der Landplagen.

Die letzte Anmerkung des guten Mannes gefiel mir; was
wollt ihr aber nun anfangen? fuhr ich fort.


Ich muß jetzt nach Holland, ſagte er, um ſo viel zu verdie-
nen, daß ich meine Schuld bezahle. Aber ich habe kein Rei-
ſegeld, und da ich von allen die ich kenne, ſchon ſo viel Gutes
empfangen: ſo mag ich keinen darum anſprechen; ich muß alſo
doch meine Kuh … Hier konnte er fuͤr Schluchzen nicht
weiter reden, und manche Thraͤne rollte von dem abgeherm-
ten Geſichte. — Und wer weis, ob ich aus Holland wieder
komme, da ich mich nach einem ſo traurigen Winter ſchwaͤch-
lich finde, und mich ſehr werde anſtrengen muͤſſen, um nur
erſt ſo viel zu gewinnen, als ich fuͤr Korn und Heuer ſchuldig
bin?


Ich gab ihm zu ſeiner Reiſe, zu ſeiner Erhaltung fuͤr ſeine
Kinder — und nun eilte ich der heimlichen Tugend nachzu-
denken, welche die Noth in manchen Herzen aufſchließt. Wie
groß, wie edel, dachte ich, hat ſich bey der gegenwaͤrtigen
Theurung nicht manches Herz zeigen koͤnnen? Was fuͤr ver-
borgne Quellen der Tugend hat die Noth nicht eroͤfnet! und
wie vielen Dank ſind wir der Vorſehung nicht fuͤr dieſe Pruͤ-
fung ſchuldig?


Lange gluͤckliche und wohlfeile Zeiten ſchlaͤfern den Men-
ſchen endlich ein; der Arme wird unerkenntlich, weil ihm
leicht geholfen wird, und die leichte Huͤlfe macht ihn nachlaͤſ-
ſig in ſeiner Arbeit. Der Philoſoph ſpielt mit der beſten Welt,
und der Staatsmann mit eitlen Entwuͤrfen. Blos wolluͤſti-
ge Leidenſchaften erheben ſich aus der Ruhe, und ſinken nach
einer leichten Befriedigung wieder dahin. Die Tugenden
gehn mit den Complimenten ihren ebnen Weg; nichts zwinget
zu Erfindungen und großen Entſchluͤſſen; die oͤffentliche Vor-
C 2ſorge
[36]Die moraliſche Vortheile
ſorge wird ſchlaff, und alles geht ſo gleichguͤltig wohl, daß
auch ſelbſt das groͤßte Genie nur halb entwickelt wird.


Allein wenn die Noth herein bricht; wenn die Gefahr Hel-
den fordert, und ein allgemeiner Ruf den Geiſt aufbietet;
wenn der Staat mit ſeinem Untergange kaͤmpft; wenn die Ge-
fahr deſſelben ſich mit jedem verſaͤumten Augenblicke verſtaͤrkt;
wenn die ſchrecklichſte Entſcheidung nur mit der großen Auf-
opferung abgewandt werden kan: Dann zeigt ſich alles wuͤrk-
ſam und groß; der Redner wird maͤchtig, das Genie uͤbertrift
ſeine eigene Hoffnungen; Muth und Dauer begeiſtern den
Freund; Herz und Hand oͤffnen ſich mit gleicher Fertigkeit.
Ausfuͤhrungen folgen auf Entwuͤrfe, und die Seele erſtaunet
uͤber ihre eignen Kraͤfte. Sie findet in ſich unbekannte Tu-
genden, erhebt ſich und findet neue, und entdeckt auf ihrer
Hoͤhe die erweiterten Graͤnzen ihrer Pflichten. Die vorhin
in ihrer Ruhe angebeteten Groͤßen verſchwinden unter ihrem
Fluge, und der Menſch zeigt ſich als ein der Gottheit wuͤrdi-
ges Geſchoͤpf.


Wie mancher Saame der Tugend kaͤme vielleicht nie zum
keimen; und wie weniger zur Reife, wenn Noth und Ungluͤck
nicht waͤren? Wie vielen hat der Anblick eines abgezehrten
Armen ihr eignes Herz bekannt gemacht? Und wie manchen
Armen hat nicht der Hunger mit Gefuͤhl, Dankbarkeit und
Begierde zur Arbeit beſeelt, wovon er vorhin nur ſchwache
Anfaͤlle hatte? Sollten nicht auch viele unſrer Landleute den
Werth der Maͤßigkeit und Sparſamkeit beſſer als vorhin ein-
geſehn, und manche eine Menge von Sachen zu entbehren ge-
lernt haben, welche ihnen ſonſt durchaus nothwendig ſchienen?
Ich erwehne jetzt nichts von dem politiſchen Nutzen der Land-
plagen; er wird zu einer andern Betrachtung fuͤhren.


Wie
[37]der Landplagen.

Wie nuͤtzlich, wie lehrreich ſo wohl fuͤr das Herz als den
Verſtand iſt alſo nicht die jetzige Theurung? Die guͤtige Vor-
ſicht ſcheint es mit Fleiß ſo geordnet zu haben, daß dergleichen
wenigſtens eine in jedes Menſchen Alter fallen muß. Ohne
dieſe Erweckung wuͤrden viele ein ſehr dummes Leben fuͤhren.
Zwar giebt ſich der feinere Theil der Menſchen Muͤhe genug,
haͤufigere Strafen des Himmels zu verdienen, und wenn er
hieran nicht genug hat, ſich ſelbſt zu quaͤlen. Allein deſſen Ge-
fuͤhl bedarf auch der wenigſten Erweckungen; und der Himmel
braucht eben kein Land zu ſtrafen, um einige wenige Thoren
zu zuͤchtigen. Zu groß oder zu fuͤhllos, um bey einem allge-
meinen Ungluͤck zu leiden, uͤberlaͤßt er ſie ihrer marternden
Einbildung.



VI.
Die liebenswuͤrdige Kokette oder Schreiben
einer Dame vom Lande.


Lachen Sie nicht mein Schatz, wenn ich Ihnen ſage, daß
ich im Ernſt anfange kokett zu werden. Seit einem hal-
ben Jahre, daß ich jetzt wieder auf dem Lande bin, und taͤg-
lich eine Menge von Armen und Elenden ſehe, thue ich faſt
nichts als Herzen ruͤhren, Thraͤnen erwecken, entzuͤcken und
bezaubern. Den will ich einmal recht heulen laſſen, ſagte ich
geſtern zu meinem Manne, der gar nicht wußte was ich wollte,
und flog auf den Platz, um einen alten armen Mann der kuͤm-
merlich nach meinem Fenſter ſahe, ſelbſt zu ſprechen. Ich
hoͤrte ihm recht freundſchaftlich zu, fragte nach allen kleinen
Umſtaͤnden die ihn druͤckten, beklagte ihn bey jeder Stuffe ſei-
C 3nes
[38]Die liebenswuͤrdige Kokette
nes Ungluͤcks, gab ihm erſt etwas fuͤr ſeine Frau, dann fuͤr
ſeine Kinder, und befahl zuletzt meinen Leuten, ihm zween
Scheffel Roggen und ein Glas Brantewein zu geben. Hier
haͤtten Sie ſehen ſollen, wie dem guten Kerl die Thraͤnen in
feurigen Kugeln von den Wangen herunter rolleten; er fieng
laut an zu ſchluchzen, und nie habe ich die feinſte Liebeserklaͤ-
rung mit ſolcher heimlichen Wolluſt genoſſen, als die Dankbar-
keit dieſes Greiſes.


Wie er weggieng, kam ein ander mit einem Arme. Gu-
ter Freund, ſagte ich zu ihm, wo habt ihr euren einen Arm
gelaſſen? Hier lies ich ihm ſeine Heldenthaten erzaͤhlen, wie
er unter dem Herzog Ferdinand gefochten, wie er im Felde
acht Tage lang oft nichts als Kartoffeln aus der Aſche gegeſ-
ſen und doch niemals ſo ſehr gehungert haͤtte als jetzt. Ich
fragte ihn nach allen was er von dem Herzoge wußte, und
freuete mich, daß ſeine Augen immer heiterer wurden, je mehr
er von ihm ſprach. Durch alles fragen, loben, und bedau-
ren, wobey ich ihm zuletzt mit ei[n]em empfindſamen Blicke ſagte:
er waͤre wohl in ſeinen juͤngern Jahren ein huͤbſcher Kerl ge-
weſen, und ihm darauf einen Dukaten in die Hand druͤckte,
auch einen Scheffel Roggen zu geben befahl, ſetzte ich den
Mann in eine ſolche Entzuͤckung, daß er mir mit einem Eyfer,
den ich an einem Prinzen Unverſchaͤmtheit genannt haben
wuͤrde, auf die Hand fiel, und ſolche kuͤſſete, ehe ich ſie weg-
ziehen konnte. Fy! werden Sie ſagen, ſich von einem Bett-
ler die Hand kuͤſſen zu laſſen! Ja nun! es iſt geſchehen, und
die Erinnerung macht mich nicht roth.


Zwanzigmal gebe ich aber armen Frauensleuten einige
Groſchen, ohne in die Verſuchung zu gerathen, mit ihnen ein
bisgen zu wimmern und zu ſeufzen, und ihnen Thraͤnen der
Dank
[39]oder Schreiben einer Dame vom Lande.
Dankbarkeit abzulocken. Mein Mann legt dieſes als die offen-
bareſte Probe meiner Koketterie aus, und ich weis ſelbſt nicht,
was ich dazu ſagen ſoll, daß mich eine maͤnnliche Thraͤne mehr
ruͤhrt als tauſend weibliche? Es ſey aber Koketterie oder ge-
laͤuterte Eitelkeit, wie Sie das Mitleiden wohl eher genannt
haben: ſo bin ich dergeſtalt darauf verkommen, daß ich alles
Geld, was ich nur erſparen kan, zu Befriedigung dieſer mei-
ner Fantaſie anwende, und ſelbſt eine große Princeßin nicht
betrauert habe, um mir dafuͤr das ſuͤße Schauſpiel der
empfindlichſten Dankbarkeit von ſechs Armen zu verſchaffen.


Doch verſchmaͤhe ich auch das Vergnuͤgen nicht, bisweilen
einem Dutzend armer Hexen eine dankbare Ruͤhrung abzuja-
gen, und mich daran zu ergoͤtzen. Vor acht Tagen kam mein
Kammermaͤdgen ganz außer Odem gelaufen und rief —
Gnaͤdige Frau, Gnaͤdige Frau — Nun Charlotte — Ja
auf dem Boden — Nun was denn auf dem Boden? —
Da da liegt noch eine ganze Kammer voll Flachs und die ar-
men Leute haben nichts zu ſpinnen, weilleider auch das Flachs
im vorigen Jahre nicht gerathen. In meinem Leben habe
ich keine ſo angenehme Zeitung gehoͤrt; ich lief mit dem Maͤd-
gen auf den Boden wie eine Naͤrrin, hielt allen meines Man-
nes Tanten und Großtanten, die das Flachs geſammlet hat-
ten, eine Standrede, und man mußte mir daſſelbe miteinan-
der in die Scheure bringen. Hier lies ich alle Weibsleute
aus dem Dorfe zuſammen kommen, und theilte das Flachs
ungewogen und ungezaͤhlt unter ſie aus. Nun das war eine
Freude! Aber denken Sie, die guten Weibſen bringen mir
das Garn dafuͤr wieder, und verlangen kein Spinnegeld, nach-
dem ich ſie bereits mit Korn verſorget habe. Iſt das nicht
auch ſuͤß? und kan dieſe ſchmeichelhafte Dankbarkeit, ohner-
achtet ſie nicht von Maͤnnern koͤmmt, nicht immer mit ange-
C 4nom-
[40]Die liebenswuͤrdige Kokette
nommen werden? Der Begierde zu Gefallen entwiſcht nichts,
und ſelbſt meinen Vogel habe ich doppelt lieb, weil er mir
und keinem andern zufliegt.


Ich habe mir ſchon viele ſonderbare Ergoͤtzungen auf dem
Lande gemacht. Wie ich vor vier Jahren meinen Mann hey-
rathete, waͤhlte ich mir an meinem Hochzeitstage ſechs arme
Jungen und ſochs arme Maͤdgen aus, lies ſie auf eine ganz
beſondre Art kleiden, und ihren Unterricht damit anfangen, daß
ſie huͤbſch engliſch tanzen lernen mußten. Mein Einfall war
damals den Kleidungen und Koͤpfen unſers Landvolks eine
ganz neue Wendung zu geben; und jene zwoͤlf arme Kinder
zu einem ſolchen Muſter zu bilden, welches die Kinder der
Reichen im Dorfe einmal gewiß nachahmen ſollten. Anfangs
hielte man mich fuͤr eine Erznaͤrrin. Nachdem man aber all-
maͤhlich ſahe, wie gut ich dieſe armen Kinder in allen Arten
laͤndlicher Arbeit unterrichten lies, und wie flink meine Maͤd-
gen in kurzen Roͤcken auf dem Felde und im Stalle wurden:
ſo fieng jeder an zu ſtutzen; und nun da ich auch mit geringen
Leuten ſchwatze, mit ihnen klage, und ihnen dann Korn und
Flachs gebe, ſo bin ich ihr Engel; ich ſehe nichts als geruͤhrte
Leute, und was iſt aller Schmuck der Felder, aller Geſang
der Nachtigallen gegen das Vergnuͤgen vergnuͤgte Leute zu
machen?


Ueberbringerin dieſes iſt eines von dieſen meinen Kindern;
ſo nenne ich ſie noch immer. Laſſen Sie dieſelbe einmal das
Vieh melken, oder eine Butter zurecht machen. Eine ferti-
gere, reinere und nettere Art zu arbeiten muͤſſen Sie in ih-
rem Leben nicht geſehen haben. Etwas Koketterie ſpielt zwar
ſchon aus dem Fuße; das thun aber die weißen Struͤmpfe, ſo
die Maͤdgen ſich ſelbſt knuͤtten, und die ſie durchaus tragen
muͤſ-
[41]oder Schreiben einer Dame vom Lande.
muͤſſen, weil ich den Glauben habe, daß ein huͤbſcher weißer
Strumpf allemal den groͤßten Einfluß auf die moraliſche Bil-
dung des Menſchen habe. Sie erinnern ſich noch wohl des
witzigen Philidors; er hatte keinen Verſtand im ſchwarzen
Strumpfe.


Iſt das nicht Philoſophie? Aber mein Schatz wann wollen
Sie zu uns kommen? ich hoffe doch nicht, daß ſie das Land
fliehen, um den Klagen der Nothleidenden auszuweichen?
Dieſe Urſache faͤllt bey mir weg. Bringen Sie allenfalls ei-
nige hundert Thaler, die Sie ſonſt auf Moden verwenden
wuͤrden, in ihrem gruͤnen Beutel mit, wenn Sie Luſt haben,
an meinem ruͤhrenden Luſtſpiele Theil zu nehmen; und ich
verſpreche Ihnen, ſie ſollen dafuͤr tauſendmal mehr Schmei-
cheleyen zu hoͤren bekommen als in der Stadt; und wahrhaf-
tig von Leuten die ganz anders empfinden als alles was ſonſt
das Gluͤck hat ſich ihrem Fußſchemel zu nahen, und dort ſeine
Huldigung in gehoͤriger Entfernung auf den


N. S.


Ich weis nicht ob ſie den neuen Guckkaſten ſchon geſehen
haben, worinn man durch das eine Glas alles ſo ſieht wie es
iſt
, und durch das andre, wie es ſeyn ſollte. Ich habe ſonſt
eben einen aus England bekommen. Durch das erſte Glas
ſieht man unter andern ein praͤchtiges Schloß im beſten gothi-
ſchen Geſchmack, mit Graben, Thuͤrmen und Obelisken ge-
zieret, viele beiſſende Hunde und verhungerte Bettler vor dem
Thore, umher eine Menge verfallener Strohhuͤtten und eine
Kirche mit herabhangenden Sparren; das Land ſchlecht ge-
bauet, die Nachbarn mißvergnuͤgt, und mit einem haͤmiſchen
Blicke auf jede Gelegenheit laurend, den ſtolzen Beſitzer die-
ſes den Armen und Nothleidenden unzugaͤnglichen Pallaſtes,
C 5ei-
[42]Die liebennswuͤrdige Kokette oder Schreiben ꝛc.
einen heimlichen Knien zu leiſten. Der Greis mit dem Barte,
mit den dicken rollenden Thraͤnen, und der zitternden Sprache
der Dankbarkeit, was iſt das fuͤr ein Liebhaber gegen alle
ihre hohen Friſuren mit angehaͤngten Menſchenkoͤrpern! Ad-
dio cariſſima!
Schaden zuzufuͤgen. Das andre Glas zeigt
eine leutſelige Edelfrau vor ihrer ofnen Thuͤr, wie ſie dem ei-
nen guten Rath, dem andern Huͤlfe giebt; Ihr Haus iſt wie
ſie, edel und anſtaͤndig, und von einer Menge ſchoͤner Haͤufer
umgeben, die wohlhabenden Einwohnern zugehoͤren muͤſſen.
Ueberall ſieht man die Freude und ſegnende Augen, welche
mit einem dankbaren Blicke nach der guten Frau winken.
Dort tragen hundert Arme Korn vom Hauſe weg, hier fah-
ren jubelnde Knechte tauſend Fuder wieder herein .....


Glauben Sie mir, mein Schatz, daß ich recht geſehen habe.
Eine Frau war es, obgleich mein Mann mir den Kaſten ver-
ſchoben, und ein rechtes Fratzengeſicht, woraus man zur
Noth einen Mann machen koͤnnte, vorgeruͤcket hat.



VII.
Gedanken uͤber die Getraideſperre,
an den Deutſchen.
a)


Nun wohlan, ich will Ihnen folgende Saͤtze zugeben:


  • 1) Eine jede Regierung iſt verbunden, im Falle der Noth
    die Ausfuhr zu ſperren, ſo wie zur Peſtzeit die Zu-
    fuhr;
    [43]Gedank. uͤber die Getraideſp. an den Deutſchen.
    fuhr; gleichwie dieſe ohne Ruͤckſicht auf die fraternité
    des nations
    veranſtaltet wird, um den Einwohnern
    das Leben zu erhalten, alſo kan auch jene beſtehen, weil
    ſie dieſelbe Abſicht hat, und die obrigkeitliche Pflichten
    immer dieſelben ſind, zu verhindern, daß der Tod nicht
    uͤber die Graͤnzen herein, oder das Leben nicht uͤber die
    Graͤnzen hinaus gelaſſen werde, ohne auf die Huͤlfe frem-
    der Aerzte zu rechnen.
  • 2) Sie iſt aber auch verbunden, nicht ohne Noth
    Sturm zuſchlagen, ſondern dieſem allem vorgaͤngig
    mit Weisheit den wahren Fall der Noth zu un-
    terſuchen.
  • 3) Dieſes ſind keine Operationen, die von ſich ſelbſt er-
    folgen, ſie muͤſſen ſchlechterdings von der Regierung ge-
    leitet werden, indem der Patriotiſmus in Deutſchland
    zumal bey den Kornwucheren immer nur ein Modeſtu-
    dium iſt, auf welches man ſich nicht verlaſſen kan, ſo,
    daß, wenn auch der reiche Mann bey den vollen Spei-
    chern zuverlaͤßig wuͤßte, daß er in ſeinem Diſtrikte der
    einzige Mann waͤre, der dem Mang el ſteuren koͤnnte,
    es doch allemal ſehr gewagt ſeyn wuͤrde, dieſes blos ſeinen
    guten Willen oder ſeiner Ehrbegierde zu uͤberlaſſen, die
    beyde immer, durch die Theuren Preiſe der Nachbar-
    ſchaft gereizt, mit einer ſchweren Verſuchung zu kaͤm-
    pfen haben wuͤrden, ſo lange die Nachbarſchaft nicht
    vor ihm verſperret, und damit die Verſuchung zur Aus-
    fuhr durch hoͤhere Gewalt abgeſchnitten waͤre.

Ich will Ihnen auch zugeben, daß der Erzvater Noah
ſehr unvorſichtig gehandelt haben wuͤrde, wenn er mehr
Men-
[44]Gedanken uͤber die Getraideſperre,
Menſchen und Thiere in ſeinen Kaſten genommen haͤtte, als
er wuͤrde haben ausfuttern koͤnnen; ich will Ihnen zugeben,
daß man in der Hungersnoth ſeinen Freund freſſen, und alſo
auch gewiß verhungern laſſen koͤnne; ich will endlich zugeben,
daß kein rechtlicher Vater das Brodt fuͤr die Hunde werfe
und ſeine Kinder darben laſſe.


Allein darinn muß ich Ihnen mit Ihrer Erlaubniß wider-
ſprechen, daß irgend ein Land in Deutſchland und beſonders
das Stift (Muͤnſter), welches Sie zum Muſter anfuͤhren,
ſich in der ſchrecklichen Alternative, entweder Hungers zu
ſterben, oder die Kornausfuhr zu verbieten, befunden haben.


Sie ſelbſt raͤumen dieſes ein; indem Sie ſagen, daß das
Korn daſelbſt bey verſtatteter freyen Ausfuhr nur im Preiſe
geſtiegen ſeyn wuͤrde; und daß man dasjenige nur theurer aus
Holland wuͤrde haben wieder kommen laſſen muͤſſen, was
bey der freyen Ausfuhr den Nachbar uͤberlaſſen ſeyn wuͤrde.
Die Frage iſt alſo nicht davon, was die Policey in jenen
erſchrecklichen Nothfaͤllen, in jenen ſpekulativiſchen Situatio-
nen, wo der Sohn ſeinen Vater vom Brete ſtuͤrzt, wenn
ſie beyde ſinken muͤſſen, ſondern was ſie in dem Falle billig
zu thun hat:
wenn ſie z. E. durch eine zeitige Sperrung den Himten
Roggen zum Thaler herunter halten zu kommen hofft;
bey verſtatteter Ausfuhr aber denſelben noch einmal ſo
hoch zu ſteigen befuͤrchten muß?

Und von dieſem Falle, welcher als der gewoͤhnlichſte bey der
Frage von den Schaden oder den Vortheilen der Getraideſperre
billig zum Grunde gelegt werden muß, habe ich behauptet,
daß die Policey am beſten thue, in demſelben die freye Aus-
fuhr
[45]an den Deutſchen.
fuhr zu geſtatten. Von dieſem Falle gilt auch meiner Ein-
ſicht nach dasjenige, was die beyden klaßiſchen Schriftſteller
in dieſer Sachea) zum Beſten der Menſchheit und der na-
tuͤrlich verbruͤderten Nationen ausgefuͤhret haben. Wo wir
zum aͤußerſten Nothfalle herauf ſteigen: ſo hat die ganze
Policey die Sittenlehre und alles was von Pflichten der
Menſchen handelt, ein gar kurzes Ende. Die Summe aller
Lehrer iſt denn: Omnia licent.


Ueberhaupt ſcheint mir alle Sperrung von Laͤndern vergeb-
lich zu ſeyn, da man noch nicht das Mittel gefunden hat,
den Betrug der Acciſe in dem kleinſten Landſtaͤdtgen zu ver-
hindern. Waͤlle und Thore, Wachen und Thorſchreiber
reichen hier nicht zu; mit welcher Wahrſcheinlichkeit duͤrfen
Sie denn hoffen, daß man eine Linie von hundert Meilen
bey Tage und Nachte ſperren koͤnne? Das Land, was Sie
zum Beyſpiel anfuͤhren, war rings herum mit Truppen be-
ſetzt; und dennoch wurden dem Nachbaren daraus taͤglich
hunderten von Laſten angeboten. Die Leute, die ihr Leben
dabey wagten, genoſſen fuͤr jede Laſt 5 Piſtolen; und ich
rechne, daß dieſe bey der Sperrung 5000 Piſtolen gewon-
nen haben, welche den guten Unterthanen des geſperrten
Landes, dieweil ſie heimlich handelten, nothwendig wohl-
feiler verkaufen mußten, aus dem Beutel giengen. Das
war der ganze Nutzen von der beruͤhmten Getraideſperre;
die gegen arme Nachbaren unnoͤthig, gegen reichere aber
eben ſo vergeblich iſt, wie die Wachſamkeit der Englaͤnder
gegen die Schmuggler. Der letzte Himte waͤre uns zu
Theil
[46]Gedanken uͤber die Getraideſperre,
Theil geworden, und der Schleichhandel, der ſeiner Natur
nach, ein grauſamer Veraͤchter aller goͤttlichen und menſch-
lichen Geſetze, und verwuͤſtender als alle freye Ausfuhr iſt,
wuͤrde ihre zugeſperreten Unterthanen auf das aͤußerſte ge-
bracht haben, wenn uns die Noth dazu gezwungen und das
Geld dahin gereichet haͤtte.


Geſetzt aber auch, ein Land von hundert Meilen im Um-
kreiſe ließe ſich glucklicher ſperren, als der enge Schoos der
Danae, welcher ſich aller Riegel und Wachen ungeachtet,
fuͤr Jupiters guͤldnen Regen oͤfnete: ſo wuͤrde ich dennoch in
jenem Falle nicht zur Sperrung rathen.


Schwerlich wuͤrd es Laͤnder geben, deſſen Einwohner alle
dem Ackerbau obliegen; und wenn es dergleichen giebt: ſo
wird die Sperrung daſelbſt am wenigſten noͤthig ſeyn, weil
vorausgeſetzt wird, daß nothduͤrftiger Vorrgth in demſelben
vorhanden ſey, und man weiter vorausſetzen kan, daß ein
Ackerbauer allemal ſeine eigne Nothdurft ſelbſt zuruͤckhalten
werde.


Der gewoͤhnlichſte Fall iſt, daß man in einem Lande einen
Ackerbauer gegen zehn andre, die ſich auf andre Art ernaͤh-
ren, antreffe. Hier fraͤgt man nun billig: ſoll der eine
Ackerbauer die Macht haben, jenen neun Familien, die ihm
bisher ſein Korn abgekauft, die ihm neunzehn Jahr mit ih-
rem Fleiße und mit ihrem Gelde gedient, ohne die er zur
andern Zeit gar nicht fertig werden kan, ſoll er, ſage ich,
im zwanzigſten Jahre (den alle zwanzig Jahr kommt doch
wol nur eine Theurung) die Macht haben, dieſe nun auf
einmal im Kornpreiſe zu uͤberſetzen, und ſie um deswillen
wohl gar darben zu laſſen, weil er außerhalb Landes einen
uͤbermaͤßigen Preis erhalten kan? Sollte nicht der neun-
zehn-
[47]an den Deutſchen.
zehnjaͤhrige Vortheil den er von ihnen ſonſt gehabt, ihn we-
gen des einjaͤhrigen Verluſtes entſchaͤdigen? Und kan es
einer Landesherrſchaft verdacht werden, wann ſie in ſolchen
Umſtaͤnden der ploͤtzlichen und augenblicklichen Wuͤrkung ei-
nes vorſeyenden Wuchers Ziel ſetzet, und dafuͤr ſorgt, daß
der Geiz Zeit erhalte in ſich zu ſchlagen?


Die Frage iſt ſpitzig; Allein laßt uns nun auch erſt ein-
mal fragen: ob ſich zur Zeit der Theurung der Kornvorrath
wuͤrklich in den Haͤnden des Ackerbauers befinde? oder ob
vielmehr unter den neun Familien, die nicht vom Ackerbau,
ſondern von Handel und Gewerbe leben, ſich nicht mehren-
theils die geldreichen Leute finden, welche den Ackerbauer
ſein Korn abnehmen, ſolches aufſchuͤtten, und damit ihre
Speculation treiben? Daß letztere ſcheint mir das wahr-
ſcheinlichſte zu ſeyn. Und ſo fraͤgt ſich endlich:
Iſt es beſſer, den Unterthanen alle zwanzig Jahr ein-
mal eine Theurung ausdauren zu laſſen, und ihnen
dafuͤr 19 Jahre hindurch gute und ſichere Abnehmer zu
Hauſe zu verſchaffen: oder aber einmal in zwanzig Jah-
ren zu ſperren, und dagegen den Ackerleuten ganzer 19
Jahr den Markt zu verderben?


Und hierauf antworte ich, daß der Vortheil, welchen die
Unterthanen in 19 Jahren dadurch genießen, daß geldreiche
Leute ihnen ſogleich fuͤr baares Geld ihr Korn abnehmen,
ſolches aufſchuͤtten, und damit auf Speculation handeln, den
kleinen Vortheil der Sperrung uͤberwiege; und daß der Tha-
ler, welchen er bey einer etwa alle 20 Jahr eintreffenden
Theurung mehr fuͤr den Himten bezahlen muß, gegen die
3 bis 6 mgr. welche er 19 Jahr hindurch dafuͤr empfangen,
und
[48]Gedanken uͤber die Getraideſperre,
und gegen die Bequemlichkeit ſein Korn zu jederzeit verſil-
bern zu koͤnnen, nicht in Vergleichung kommen koͤnne.


Zugeben werden Sie mir hoffentlich, daß die Furcht fuͤr
Sperrung, und fuͤr willkuͤhrlich anzuſetzende Preiſe, alle
Speculation und folglich alle Auſſchuͤttung hindere. Zuge-
ben werden Sie mir auch, daß der Ackerbauer, der Scha-
tzung, Gutsherrliche Gefaͤlle und alle ſeine verſchobene
Schulden, wo nicht auf Michael, doch wenigſtens auf Mar-
tini oder auf Weihnachten bezahlen muß, ſeinen Kornvor-
rath nicht bis Oſtern und Pfingſten, wann eigentlich der
rechte Preis iſt, liegen laſſen koͤnne; und wenn Sie mir die-
ſes zugeben: ſo erwarte ich von Ihnen, daß Sie mir nun
den Markt anzeigen, worauf der Ackerbauer in einem Lande,
welches unter der Furcht der Sperrung erhalten wird, um
Martini losſchlagen ſoll?


Wagt der geldreiche Mann den Ankauf: ſo rechnet er
ſchon auf die Moͤglichkeit der Sperrung, und zieht dem ar-
men Ackerbauer dafuͤr jaͤhrlich 10 p. C. Aſſecuranz ab. Kommt
die Sperre dann nicht: ſo iſt es ſo viel ſchlimmrr fuͤr den
Ackerbauer, der die Gefahr davon geſtanden; und kommt
ſie dann: ſo macht ſich der geldreiche Mann aus ſeinem 19jaͤh-
rigen Aſſecuranzconto, das iſt auf ſichere Rechnung des Acker-
bauers bezahlt.


Verlaͤßt aber der geldreiche Mann den Kornhandel ganz,
und denkt bey ſich, warum ſoll ich ſo thoͤricht ſeyn, mehr
Korn aufzuſchuͤtten, als ich ſelbſt verzehre, da mich eine
Sperrung ſo gleich nicht allein um allen Vortheil bringen,
ſondern auch in den groͤßten Schaden ſtuͤrzen kan: ſo wird
der arme Ackerbauer mit ſeinem Korn immer uͤber die Graͤnze
fahren,
[49]an den Deutſchen.
fahren, und von der haͤmiſchen Handlungsart ſeiner Nach-
baren abhangen, die wohl wiſſen, daß er mit feinem Korn,
nachdem er viele Meilen damit gefahren, nicht ſogleich zu-
ruͤckgehen werde, ſondern Geld, es ſey nun ſo viel wie es
wolle, zu Hauſe bringen muͤßte.


Viele Laͤnder, worinn ſich in ſolchen Faͤllen Magazine
oͤfnen, die den Unterthanen ihren Vorrath um Martini zu
einem gerechten Preiſe abnehmen, giebt es nicht; und wo
es dergleichen giebt, ohne daß eine arme Wittwe etwa den
Fond zur Erhaltung des Magazins vermacht hat; da kan es
ohne Schaden fuͤr die Obrigkeit nicht abgehen, und dieſer
Schaden komme aus der Chatoulle oder aus dem Armen-
blocke; am Ende muß ihn doch der Unterthan verguͤten, weil
alle Beutel der Obrigkeit, ſie moͤgen numeriret ſeyn wie ſie
wollen, gemeines Gut enthalten, deſſen Ausfaͤlle fruͤh oder
ſpaͤt wieder gedeckt werden muͤſſen.


Die Proben von jener Wahrheit haben wir im Stifte
Oßnabruͤck vielfaͤltig empfunden. Viele Kaufleute in den
Graͤnzkirchſpielen meldeten ſich bey der Regierung mit der
Anzeige, wie ſie bereit waͤren, Korn genug fuͤr ihre Gegend
anzuſchaffen, wenn ihnen die freye Ausfuhr dabey verſtat-
tet würde.
Ohne daß ihnen dieſe Bedingung eingeraͤumet
wuͤrde, koͤnnten ſie nichts wagen, weil ſie ſonſt auf ihrem
kleinen zugeſperreten Markte von der Willkuͤhr eigenſinniger
Kaͤufer abhangen wuͤrden. Die Bedingung wurde ihnen
eingeſtanden, und die Folge zeigte, daß dort der wenigſte
Mangel war. Andre erboten ſich unter gleicher Bedingung,
und wenn ihnen dabey das Brandteweinsbrennen frey ge-
laſſen wuͤrde, ihre Kirchſpiele zu einem ſichern Preiſe zu ver-
ſorgen; aber ohne Freyheit war alles vergeblich.


Möſers patr. Phantaſ.II.Th. DJene
[50]Gedank. uͤber die Getraideſp. an den Deutſchen.

Jene Vorfrage, ob ein Ackerbauer die mit ihm in einem
Lande wohnende neun Familien darben laſſen ſolle, bedarf
alſo gar keiner Beantwortung, weil zur Zeit der Sperre das
Korn nicht mehr in ſeinen Haͤnden iſt; und uͤberhaupt kan
man ſagen, daß die von einer Erndte zur andern uͤberſchieſ-
ſende Vorraͤthe, welche den betraͤchtlichſten Einfluß auf die
Kornpreiſe haben, in denjenigen Laͤndern faſt gaͤnzlich erman-
geln, wo eine Sperrung zu beſorgen iſt. Diejenigen, ſo
noch etwas aufſchuͤtten, halten ihre Magazine in kleinen Laͤn-
dern uͤber die Graͤnze, und dann kommen ſie denen zu Statten,
welche die Freyheit des Handels am wenigſten einſchraͤnken.


Ich bleibe alſo bey der Meinung, daß die Getraideſperre
eben ſo nuͤtzlich ſey, wie die Confiſcation der Buͤcher, wo-
bey Schelme oder Waghaͤlſe reich werden, ehrliche Leute aber
verlieren; und wuͤrklich handelt der Menſch, wenigſtens der
Deutſche in kleinen Staaten lieber nach der Regel: Wer wa-
get, gewinnet, als daß er einen reizenden Vortheil verſchla-
fen ſollte. Er gewohnt ſich ein Landesgeſetze zu uͤbertreten,
und uͤbertritt hernach auch die uͤbrigen. Die Urſachen warum
man die Acciſe auf dem platten Lande in fixa verwandelt hat;
eine Urſache, die mehr als eine funfzigjaͤhrige Erfahrung
fuͤr ſich hat, ſollte hier billig entſcheiden, und nicht der Muͤl-
ler, der das Korn im geſperreten Lande wohlfeil aufkauft,
und den auswaͤrtigen Mahlgenoſſen fuͤr ihr gutes Geld die
Mahlmetze zehnfach zuruͤck giebt.



VIII.
[51]

VIII.
Vorſchlag zu einem beſtaͤndigen
Kornmagazin.


Die Kornmagazine, wenn man eigne Gebaͤude dazu un-
terhalten, beſondre Aufſeher dazu bezahlen und dasje-
nige was dabey auf allerhand Art verlohren geht, zum Scha-
den rechnen muß, koͤnnen ſich vielleicht in manchen Laͤndern
erhalten; ſie ſind aber doch am Ende eine Beſchwerde fuͤr die-
jenigen, welche zur Zeit der Noth dieſe falſchen Unkoſten uͤber-
tragen muͤſſen, ſo gluͤcklich man ſich auch alsdenn ſchaͤtzt, eine
ſolche Nothhuͤlfe zu haben.


Es iſt mir daher ein ander Mittel eingefallen, welches jene
Unbequemlichkeiten nicht hat, und doch eben ſo nuͤtzlich ſeyn
koͤnnte. Dieſes beſteht darinn:
Es ſoll hinfuͤhro keiner die Freyheit haben, Brandtewein
zu brennen, er ſtelle dann genugſame Sicherheit, daß
er beſtaͤndig 5 Laſten Roggen in Vorrath haben und
ſolche ſo bald der Scheffel Roggen auf einen Thaler ſteigt,
dem gemeinen Weſen zu dieſem Preiſe uͤberlaſſen wolle.


Bisher ſind vielleicht zweyhundert Keſſel im Lande gewe-
ſen, nun nehme man an, daß deren nach obiger Einrichtung
kuͤnftig noch huudert bleiben, und vielleicht waͤre es ſo uͤbel
nicht, dieſe Zahl einzuſchraͤnken; ſo wuͤrde dieſes ein beſtaͤn-
diger Vorrath von 500 Laſten ſeyn; und dieſe iſt zur Noth-
huͤlfe zulaͤnglich.


D 2Den
[52]Vorſchlag zu einem beſtaͤndigen Kornmagazin.

Den Brennern koͤnnte man dagegen die Verſicherung er-
theilen, daß ihnen das Brennen ſo lange frey ſtehen ſollte,
als der Rogge nicht uͤber 1 Thaler ſtiege und daß ihnen,
wenn er daruͤber gienge, jedesmal eine Zeit von 4 Wochen
verſtattet ſeyn ſollte, ehe und bevor die Keſſel geſchloſſen wer-
den koͤnnten.


Auf dieſe Weiſe glaube ich, waͤre ihnen und dem gemeinen
Weſen zugleich gedienet; ſie wuͤrden ſich bemuͤhen den Preis
unter 1 Thaler zu halten und keinen Schaden an ihrem Vor-
rath leiden. Sie ſind ohnehin die einzigen, welche leicht Korn
aufſchuͤtten koͤnnen, weil ſie dasjenige, was ihnen liegen bleibt,
mehrentheils ohne Schaden verbrennen koͤnnen.



IX.
Schreiben eines Kornhaͤndlers.


Da ſitze ich nun mit meinen Kornvorrath ohne von einem
ſterblichen Menſchen beklagt oder geholfen zu werden.
Jedermann frolocket vielmehr uͤber meinen Verluſt und wuͤn-
ſchet, daß der ſchwarze Wurm und alle Maͤuſe aus dem Felde mir
dasjenige rauben moͤgen, was ich den Armen nicht zu einem
ihrer Meynung nach billigen Preiſe verkauſen wollen. Auch
der vernuͤnftige Mann druͤckt in dem lebhaften Danke fuͤr die
geſegnete Erndte, und in der ſuͤßen Empfindung wohlfeiler
Zeiten einen bittern Gedanken gegen mich aus; und der
Staat, der guͤldne Berge verſpricht wenn er einen ehrlichen
Kerl gebraucht, ſo bald er ihn aber nicht mehr noͤthig hat,
ohne Warregelder zum Henker ſchickt, der Staat ſage ich, laͤßt
meine Magazine nicht unterſuchen; es kommt kein Commiſſa-
rius
[53]Schreiben eines Kornhaͤndlers.
rius der mich fraͤgt: wie viel Korn ich noch vorraͤthig habe,
und wie groß der Schade ſey den ich noch leide? es iſt keine
Zeitung, kein Journal, kein Intelligenzblatt das ſich mit Vor-
ſchlaͤgen fuͤr uns arme .... das Wort will nicht recht her-
aus, nun Kornjuden wollte ich ſagen, weil es doch einmal in
aller Welt Munde iſt … abgaͤbe, und eine Abhandlung zu
unſer Rettung lieferte oder einen Preis auf das beſte Mittel
ſetzte, einen redlichen Kornhaͤndler gegen den gar zu großen
Segen Gottes in Sicherheit zu ſetzen. Jeder ſchweigt, wie
der Karſchin ihre Lerche, nachdem ſie ſatt Weitzen gefreſſen
hatte. Kein empfindſamer Reiſender, deren es doch jetzt ſo
viel giebt, daß ſie auch in die Viſitenzimmer kommen, beſieht
mein Kornmagazin; und ſelbſt der redliche Buchhaͤndler Hie-
ronimus, dieſer tapfre Freund des ehrlichen Sebaſtian Noth-
ankers wegert ſich jetzt mir das oraculum juris fuͤr eine halbe
Laſt Roggen zu uͤberlaſſen.


Gleichwol kan ich mit Wahrheit ſagen, daß ich dem arbeit-
ſamen fleißigen Ackersmann ſeit der vorigen Erndte einen rei-
nen Vortheil von mehr als funfzig tauſend Thaler zugewandt
habe. Der arme Mann war von Gelde entbloͤßt; und er
mußte aus Noth verkaufen. Der Preis des Korns waͤre
gleich nach der Erndte zu 6 Rthlr. das Malter gefallen, wenn
ich meinen Vorrath losgeſchlagen und nicht vielmehr noch ein
mehrerers angekaufet haͤtte. In was fuͤr eine Verlegenheit
wuͤrden die Geringen, die zwiſchen Michael und Weihnach-
ten losſchlagen mußten, gefallen ſeyn, wenn ich damals gleich
ihnen verkauft; wenn ich taͤglich nur ein Fuder zu Markte ge-
ſchickt, und die haͤmiſchen Kaͤufer dadurch ſtutzig gemacht haͤtte!
Wuͤrde nicht der arme Mann, der ein paar Scheffel ſauer zu
Markte getragen, ſolche entweder muͤhſam haben zuruͤck neh-
men oder zu jedem Preiſe verkaufen muͤſſen?


D 3Allein
[54]Schreiben eines Kornhaͤndlers.

Allein ich that es nicht; ich zahlte vielmehr ſelbſt dieſen ar-
men Leuten einen billigen Preis fuͤr ihr Korn, um allen
ploͤtzlichen Fall zu verhuͤten und meinen eignen Vorrath damit
im Preiſe zu erhalten. Und ſolchergeſtalt kan ich mit voll-
kommenſter Wahrheit behaupten, daß ich allen und jeden, die
zwiſchen Michael und Weihnachten verkauft, zwey Thaler
mehr fuͤr das Malter geſchafft habe, als ſie erhalten haben
wuͤrden, wenn ich nach der unbeſonnenen Forderung des ge-
meinen Geſchreyes mit meinen Korn den Markt beſchickt, und
den Fleiß des Ackerbaues zum Raube der Staͤdter gemacht
haͤtte.


Von Weihnachten bis Oſtern verkaufte ſchon der vermoͤ-
gende Landmann; der Preis fieng an zu ſinken, und es fehlte
nur noch an einem Lothe um den Ausſchlag auf der Waage,
zum Nachtheil der Kornhandlung hervor zu bringen; meine
Freunde riethen mir ich ſollte jetzt auch verkaufen; ich ſollte
zeigen daß ich ein Patriot und kein Kornjude waͤre; ich ſollte
mich dieſen verhaſſeten Namen nicht zuziehen. Nein ſagte
ich, dies ſoll nicht geſchehn; ich kan nicht verkaufen, ohne
daß der Preis nicht in kurzer Zeit um 2 Thaler auf das Mal-
ter falle; der Markt wird uͤberladen werden; und der Land-
mann der jetzt verkaufen muß, erhaͤlt nicht was er verdient,
wenn ich nur eine hundert Laſt losſchlage. Er hat voriges
Jahr das Malter fuͤr 20 bis 24 Thaler einkaufen muͤſſen;
es iſt alſo billig und zu ſeiner Rettung nothwendig, daß er
daſſelbe nicht brauche fuͤr 6 Thaler zu verkaufen. Eine ſolche
Strafe des Himmels will ich ihm nicht zuziehen, mein Vor-
rath ſoll liegen, und ich will ſehen was das naͤchſte Quartal
bringt.


Allein in dieſem war keine Frage nach Korn; jeder hatte
ſich nun verſorgt, und ſo oft auch eine uͤble Witterung meine
Hoff-
[55]Schreiben eines Kornhaͤndlers.
Hoffnung von neuem belebte; ſo oft ein Hagel in der Luft,
ein Honigthau oder ein Heer von Maͤuſen beſſere Zeiten ver-
kuͤndigte: ſo war es doch als wenn die Menſchen Siegel und
Briefe von Gott haͤtten, daß die Erndte ſo gut wie geſchehen
ausfallen wuͤrde; keiner meldete ſich um einen Scheffel, und
ſo ſitze ich nun mit einem Capital von vierzig tauſend Thaler
unter der offenbarſten Gefahr, wenigſtens funfzig Procent
darauf zu verlieren. Waͤre die Erndte nicht ſo gut: ſo wuͤrde
ich Geld borgen, um den Preis noch ein Jahr in der Hoͤhe
zu erhalten. Allein dieſe Unternehmung iſt zu groß fuͤr mich,
und wir haben ſo lange theure Zeiten gehabt, daß ich beſorge
wir werden nun zwanzig reiche Erndten nach einander haben.


Zwar fehlt es nicht an Troͤſtern, die mir ſagen, es wuͤrde
bereits ſtark nach Frankreich aufgekauft; der Rogge ſtreue
nicht gut und habe entweder vom Froſt oder vom Mehlthau
gelitten; die Maͤuſe haͤtten in verſchiedenen Gegenden eine
ganze Verheerung angerichtet; der Weitzen werde ſehr abfal-
len, der Buchweitzen habe ſich nur dem Scheine nach erho-
let; und die Eichelmaſt ſey ganz verſchwunden. Meine eigne
Erfahrung ſagt mir aber das Gegentheil, und das Korn iſt
ſo reichlich gewachſen; die Sommerfrucht iſt ſo vortreflich aus-
gefallen; die Buchmaſt iſt dermaſſen ſtark; das Heu iſt ſo
gut eingekommen, die Bohnen, Kartoffeln und Erbſen haben
ſo wie das Obſt ſo reichlich geſetzt, daß jene kleinen Ausfaͤlle
gar nicht in Betrachtung kommen koͤnnen.


Haͤtte es indeſſen das Gluͤck oder Ungluͤck gewollt, daß
wir eine ſchlechte Erndte und einen abermaligen Mangel er-
lebt haͤtten, wie groß wuͤrde nicht wiederum mein Verdienſt
um das Vaterland geworden ſeyn! ſechs tauſend Malter, die
ohne, mein Aufſchuͤtten vielleicht zu ſchlechten Weine verbrannt,
D 4oder
[56]Schreiben eines Kornhaͤndlers.
oder zum geringſten Preiſe auſſerhalb Landes gegangen ſeyn
wuͤrden, hatte ich denn zur Erhaltung der Armuth vorraͤthig
gehabt; haͤtte ich auch vierzig tauſend Thaler darauf gewon-
nen: ſo waͤre dieſes Geld doch im Staate geblieben: Ich
haͤtte den ganzen Kornhandel mit meinem Vorrathe in den
Schranken der Billigkeit halten, und alle uͤbrige zwingen koͤn-
nen, in ihren Preiſen ſich nach den meinigen zu richten. Wir
waͤren den Seeſtaͤdten nicht zinsbar geworden, und mancher
haͤtte bey mir auf einheimiſche Sicherheit Credit haben koͤn-
nen, der das ſeinige ſonſt in der Noth fuͤr halbes Geld haͤtte
losſchlagen muͤſſen, um in der Fremde baar zu bezahlen. Wie
viele falſche Unkoſten, wie viele Fuhren, wie viele Aufſehen
und Ausmeſſer haͤtte der Staat nicht erſparet; und wie ruhig
haͤtte nicht jedermann ſein Haupt niederlegen oder ſeiner Ar-
beit warten koͤnnen, der ſonſt unter naͤchtlichen Sorgen ſeine
Geſundheit geſchwaͤcht, und ſeine Handthierung mit Muth-
loſigkeit getrieben haben wuͤrde.


So viele, ſo große, ſo weſentliche Verdienſte ſollten mir
in der That jetzt eine allgemeine Dankbarkeit, und eine hin-
laͤngliche Schadloshaltung zuwege bringen. Aber nein, nichts
als Spott und Undank iſt mein Lahn; und warum? weil die
Triebfeder meiner Handlungen, wie die Welt ſpricht, eine
ſchnoͤde Gewinnſucht geweſen. Aber wer lebt, wer denkt, wer
handelt und wer ſchreibt ohne Gewinnſt? Sind nicht die Lei-
denſchaften der Menſchen der kaltſinnigen Ueberlegung zu
Huͤlfe gegeben, und ſind unſre Affecten nicht zehnmal beherz-
ter, wuͤrkſamer und eyfriger als alle Vernunftſchluͤſſe? oder
iſt die Privatgewinnſucht ſchaͤdlicher und gefaͤhrlicher als die
Gewinnſucht der Helden, welche Laͤnder erobert oder verwuͤſtet
und die Unſchuld an ihren Triumphwagen feſſelt?


Doch
[57]Schreiben eines Kornhaͤndlers.

Doch ich mache keinen Anſpruch auf Philoſophie, wenn
ich nur mein Korn verkaufen, oder den Staat bewegen koͤnnte,
meine Verdienſte in der That zu erkennen. In dieſer Abſicht
wende ich mich jetzt an das Hochzuehrende Publikum, als ei-
nen Koͤrper der allezeit noch Empfindung hat, wenn gleich alle
deſſen Theile aus lauter dickhaͤutigen Spoͤttern beſteht, mit
welchen ich es nicht gern aufnehmen moͤchte; und ich hoffe
daſſelbe wird mir nebſt einer billigen Schadloshaltung die Ge-
rechtigkeit wiederfahren laſſen, daß ich ſey dem Namen nach
zwar ein Kornjude, in der That aber
ein Patriot wie andre.



X.
Ein gutherziger Narr beſſert ſich nie.


Das iſt das letztemal, ſagte Ariſt, und ſchwur dazu, daß
ich jemanden meinen Beutel oͤfnen will. Verwuͤnſcht
ſey die Gutherzigkeit, wenn man ihr ewiger Maͤrtyrer ſeyn
muß! ich habe Frau und Kinder, und leihe Geld, um an-
dern zu helfen, die es vielleicht nicht werth ſind. In dem
Augenblick, da er ſich allen Entzuͤckungen dieſes großen Vor-
ſatzes uͤberlies, ſchrieb ihm ein Fremder, der ſich auf ſeiner
Durchreiſe in der aͤußerſten Verlegenheit befand — Er
haͤtte das Ungluͤck gehabt auf der Reiſe eine anſehnliche
Summe Geldes zu verſpielen; hier waͤre er voͤllig unbekannt,
voll Verzweiflung uͤber ſeinen Verluſt und uͤber die Noth-
wendigkeit ihn um ein geringes Anlehn von zehn Piſtolen
anzuſprechen; er wuͤſte ſich an niemanden zu wenden als an
den Mann von dem er ſchon in der Ferne viel Gutes gehoͤrt
haͤtte, und deſſen menſchenfreundlicher Charakter ihn in die-
D 5ſen
[58]Ein gutherziger Narr beſſert ſich nie.
ſen traurigen Unſtaͤnden nicht verlaſſen wuͤrde — Ariſt
fieng an zu zweifeln, ob er ſein Geluͤbde von dem heutigen
Tage ſchon anrechnen ſollte. Er hatte die zehn Piſtolen
noch; das Ungluͤck eines Mannes von Stande gieng ihm
nahe. Kurz, er gab ſie hin, ſchwur aber noch einmal, daß
dieſes das letztemal ſeyn ſollte. Der Tag gieng gluͤcklich vor-
uͤber, ohne daß er in die Verſuchung geſetzt wurde ſein Ge-
luͤbde noch einmal zu brechen.


Er war aber des andern Morgens noch im Bette, als ein
Freund in der groͤßten Angſt und außer Athem zu ihm kam —
O mein Theureſter, was fang ich an? Meine Haushaͤlterin
iſt ſchwanger; ihre Niederkunft iſt nahe, ich muß ſie fort-
ſchicken, oder ich werde auf das empfindlichſte beſchimpft;
Sie wiſſen meine vorhabende Heyrath, meine Hoffnung zur
naͤchſten Befoͤrderung, alles iſt verlohren, und ich bin der
ungluͤcklichſte Menſch; mit funzig Piſtolen koͤnnen ſie mich
retten, dieſe verlangt das Menſch zur Reiſe und zum Wo-
chenbette — Die Gefahr des Freundes war zu dringend.
Ariſt ſtand auf, kleidete ſich in der Eile an, liehe die funfzig
Piſtolen, gab ſie hin und dachte nicht an ſein Geluͤbde.


Gutes Herz! ſchreckliches Geſchenk der Gottheit! was
koſteſt du mir? Du begnuͤgeſt dich nicht allein mich ungluͤck-
lich zu machen, du machſt mich auch meineidig — So phi-
loſophirte Ariſt eben mit ſich ſelbſt, als ihm die Wittwe eines
angeſehenen Mannes in ſeiner Einſamkeit mit der Anrede
uͤberraſchte. — Meine Thraͤnen ſagen Ihnen ſchon meine
ganze Noth. Schwerlich kan ein Zuſtand grauſamer ſeyn,
als der meinige. Gott du weiſt wie vieles mir dieſer Schritt
koſtet! Allein liebſter beſter Ariſt, Sie ſind allezeit meine
einzige Zuflucht geweſen; ſie haben mir ſchon oft geholfen;
koͤnnte
[59]Ein gutherziger Narr beſſert ſich nie.
koͤnnte ich ihnen nur einmal meine ganze Erkenntlichkeit
ausdruͤcken! Sehen ſie hier dieſen Brief erhalte ich ſo eben.
Mein Sohn, mein einziger Sohn, ſoll ſeine Companie ver-
lieren, oder er muß 1500 Thaler bezahlen, die er derſelben
ſchuldig iſt. Ach! einen Theil habe ich ſelbſt von ihm gelie-
hen. Wie mein ſeliger Mann ſtarb, hatte ich nicht ſo viel,
daß ich ihn Standesmaͤßig begraben laſſen konnte; und das
uͤbrige — fuͤr dasmal duͤnkte ſich Ariſt ſicher. Funfzehn-
hundert Thaler hatte er nicht baar, und konnte ſie auch ſo
bald nicht anſchaffen. Die Thraͤnen der Wittwe floſſen alſo
umſonſt. Jedoch zu ſeinem Ungluͤck forderte die Compagnie
nur erſt einen Buͤrgen auf 6 Monate; und wie konnte er der
dankbaren und ungluͤcklichen Emilie dieſe Huͤlfe verſagen?
Verlohr ihr Sohn die Compagnie: ſo waͤren Mutter und Sohn
in die erſchrecklichſte Armuth gerathen; und ſollte er ſich dieſe
einſt vorzuwerfen haben? das wollte der Himmel nicht.


Ariſt dachte jetzte an kein Geluͤbde mehr. Er ſahe es ein,
daß es vergeblich ſey, ſich ſelbſt Geſetze zu geben, und ſeinem
Herzen das Diſpenſationsrecht zu laſſen. Indeſſen klagte er
ſeine Noth einem wuͤrdigen Feunde, einem Manne, den er
unter allen am hoͤchſten ſchaͤtzte, um ſich ſeinen Rath zu er-
bitten. Himmel, antwortete ihm dieſer, was bin ich un-
gluͤcklich! In dem Augenblick, da mich der ſchrecklichſte un-
ter allen Zufaͤllen noͤthigte, Sie mein edelſter, mein werthe-
ſter Ariſt, um einen Vorſchuß von tauſend Thalern zu bitten:
ſo erfahre ich mit Schrecken, wie ſehr ich ihre Freundſchaft
auf die Probe geſtellet haben wuͤrde. Aber der Himmel ſoll
mich bewahren, daß ich ſie nicht zu neuen Schwachheiten
verleite. Es iſt genug, daß ich allein ungluͤcklich bin; ich
werde Muth haben mein Schickſal zu ertragen, ſo hart es
auch immer ſeyn mag. Ich will mich entfernen und vor den
Augen
[60]Ein gutherziger Narr beſſert ſich nie.
Augen der grauſamen Menſchen verbergen. — Ariſt fuͤhlt
alles was ein Freund fuͤhlen kan, und halb zweifelhaft, ob
ſein Freund jene Klage nicht fuͤr einen Kunſtgriff halten wuͤrde,
liehe er noch tauſend Thaler und lies nicht ehender nach, als
bis ſein Freund ſolche von ihm annahm. Und ſo verlohr er
immer mehr und mehr von ſeinem Vermoͤgen, ohne den Ruf
eines reichen und guten Mannes zu verlieren. — Er hies
immer Menſchenfreund, wenn er gleich dieſen Tittel, der
ihm ſchon viele tauſende koſtet, fuͤr den Zunamen eines
Narren hielt.


Wie war aber Ariſten zu helfen? Den Kopf auf ſeinen
eignen Tiſch geſtuͤtzt ſchrieb er lange Zeit Satyren, und be-
gieng immer neue Thorheiten. Endlich aber entſchloß er
ſich, dieſe Erzaͤhlung abdrucken zu laſſen, und ſo oft jemand
Geld von ihm begehren wuͤrde, ſolches darinn zu wickeln,
und es mit dieſem Blatte hinzuſchicken.



XI.
Die Vortheile einer allgemeinen
Landesuniforme, declamirt von
einem Buͤrger.


In dieſer ſchrecklichen Vermiſchung, meine Freunde, wo-
rinn das Kleid uͤberall den Mann macht, und das Geld
mehr gilt als eigner Heerd; wo die Ehre ſeine Obrigkeit zu
waͤhlen und zu Geſetzen und Steuren ſeine Bewilligung zu
ertheilen, kaum noch erkannt wird; wo keine Ehrenſtellen
in der Kirche, keine Ehrentaͤnze auf Hochzeiten, keine Kro-
nen
[61]Die Vorth. einer allg. Land. declam. v. einem Buͤrg.
nen freygebohrner Braͤute, keine ſchwarze Kleider an Feyer-
tagen, und uͤberall keine buͤrgerliche Wuͤrden, dem Staate
wie ehedem zu ſtatten kommen; wo der geldreiche Mann ſich
Adel und Tittel kaͤuft; wo der Heuermann, der dem Staate
ſo wenig mit ſeinem Blute als mit ſeinem Gelde in einem
gerechten Verhaͤltniſſe dient, aller Vortheile genießt, und
den angeſeſſenen Mann unter der Buͤrde der oͤffentlichen La-
ſten ſeufzen laͤßt; und wo endlich ein Caffarelli ſich zum Her-
zoge ſingt: in dieſer ſchrecklichen Vermiſchung ſage ich iſt uns
eine ſchleunige Huͤlfe noͤthig, oder es iſt alles verlohren; die
Ehre, dieſe maͤchtige Triebfeder der menſchlichen Handlungen,
wird uns zu nichts mehr dienen; die edle Liebe zum Eigen-
thum wird verſchwinden; die Belohnungen aller Verdienſte
werden zum Nachtheil des Staats beſtaͤndig mit Gelde Ge-
ſchehen muͤſſen; die Strafgeſetze werden, da Fluͤchtlinge mit
Eingeſeſſenen in einerley Stand treten, grauſam werden, und
die allgemeinen Laſten, welche jederzeit mit der Ehre und der
Liebe zum Eigenthum in unzertrennlicher Verknuͤpfung geſtan-
den, und eine ruͤhmliche Buͤrde geweſen, werden den ſteuer-
baren Mann erſt in Armuth und dann noch dazu in Verach-
tung ſenken.


So groß ſo gewiß iſt die Vermiſchung, und ſo ſchrecklich
ſind die Folgen. Mit einer Krone von Eichenlaube, welche
ehedem ein roͤmiſcher Buͤrger fuͤr ſeine groͤßte Belohnung
ſchaͤtzte, laͤßt ſich niemand mehr bezahlen; die ritterliche
Wuͤrde fuͤhret keinen mehr zu ritterlichen Thaten; der Adel
ſelbſt iſt feil geworden; Geld und Dienſt entſcheiden alles
und beyde haben die Oekonomie der gemeinen Ehre, oder die
Mittel einen zur gemeinen Wohlfahrt ordentlich und gewiſ-
ſenhaft ſteurenden; einen ſich in ſeinen Pflichten unſtraͤf-
lich beweiſenden; einen ſich fuͤr ſeinen Mithuͤrger aufopfern-
den
[62]Die Vortheile einer allgem. Landesuniforme,
den, oder in gluͤcklichen Unternehmungen fuͤr den Staat
ruͤhmlich beſchaͤftigten Patrioten ohne Geld zu belohnen auf
eine ſchaͤndliche Art vernichtiget. Der Geldreiche faͤhret in
verguldeten Caroſſen den nur gemein angeſehenen Mitbuͤrger
zu Boden; und der ſtolze Diener im unruͤhmlichen Solde
lacht uͤber den Mann, der zu Belohnung fuͤr freywillige und
groͤſſere Dienſte nichts als die Ehre einen ſchwarzen Mantel
tragen zu duͤrfeu, ſich ehedem erworben hat.


Die Zeitumſtaͤnde ſind nicht ſo beſchaffen, um nach dem
Beyſpiele eines Lycurgs alles Geld zu verbannen, oder alle
Bedienungen in ruͤhmliche Reihelaſten zu verwandeln, und
den Staat von der druͤckenden Laſt taͤglich anwachſender Be-
ſoldungen zu befreyen. Es giebt keine unbeſuchte Wildniſſe
mehr, wo man ſich auf einen neuen Contrakt anbauen koͤnnte;
und die Sitten der Menſchen in einem kleinen europaiſchen
Laͤndgen, was mit ſchadenfrohen Nachbarn umgeben iſt, laſ-
ſen ſich nicht nach den ſtrengen Vorſchriften William Penns
bilden. Uns bleibt nichts uͤbrig, als mit dem Strome uͤber
Weg zu gehen, und uns zu bemuͤhen demſelben nur ſeine fer-
nere Ausdehnung zu verhindern.


Nichts ſcheinet mir hiezu bequemer, als daß wir uns von
von unſerm Landesherrn eine Uniform erbitten, und dieſelbe
zur Ehrentracht fuͤr alle diejenigen machen, welche in gleich
ruͤhmlichen Verhaͤltniſſe zum gemeinen Beſten ſteuren, und
ſich als ehrenhafte Maͤnner betragen. Anfaͤnglich wird es
euch zwar als eine neue Art von Sclaverey vorkommen, die
vorgeſchriebene Farbe eines Herrn zu tragen, oder der edlen
Freyheit zu entſagen eine Kleidung nicht mehr nach eignen
Gefallen waͤhlen zu koͤnnen. Vielleicht denkt ihr auch wohl
gar zu eurer eignen Beſchimpfung, daß ihr dieſer Uniform
nicht
[63]declamirt von einem Buͤrger.
nicht das Anſehn erwerben wuͤrdet, ohne welches dieſelbe eher
fuͤr eine Erniedrigung als Erhebung gelten duͤrfte. Allein da
ein Fuͤrſt jetzt ſeines Mitfuͤrſten Farbe tragen kann ohne ſei-
nen Heerſchild zu erniedrigen; und derjenige der den ganzen
Staat unterhaͤlt, den Fuͤrſten und ſeine Miniſter bezahlt, und
wenn es erfordert wird, ſein Leben fuͤr das Vaterland ohne
Sold wagt, gewiß mehr als ein Recht zu Achtung und Ehre
hat: ſo wird weiter nichts als ein kuͤhner Entſchluß noͤthig
ſeyn, um euch uͤber jene ſchwache Vorurtheile hinweg zu
ſetzen.


Freylich wird es nicht geſchehen koͤnnen, ohne daß nicht der
Fuͤrſt ſelbſt zu Zeiten dieſe Uniforme anlegt, ſolche alle ſeinen
hohen und niedrigen Civilbedienten tragen laͤßt, und den ober-
ſten Mann von euch bey Gelegenheit ſeiner Tafel wuͤrdiget.
Es wird nicht geſchehen koͤnnen, ohne daß er nicht alle dieje-
nigen welche Banquerott machen, oder ſich ſonſt eine unred-
liche Handlung zu ſchulden kommen laſſen, wie auch alle die-
jenigen, ſo dem Staate blos mit der Hand dienen, und in
der gemeinen Reihe kein Pferd anſpannen, davon ausſchließt;
es wird nicht geſchehen koͤnnen ohne den Mann oder den Ge-
meinen, der Recht zu dieſer Uniform haben ſoll, nach einem
ſichern Maaßſtabe, alſo:


Daß er entweder die erforderliche Actie an liegenden
Guͤtern oder ſichern dem Staate anzuzeigenden Capita-
lien beſitze, und davon monatlich ſo viel beyſteure.


zu beſtimmen, und damit alle ſchlechtere Leute durchaus da-
von auszuſchließen. Dabey verſteht ſich auch von ſelbſt, daß
es in dieſer Einrichtung eine vernuͤnftige Menge von Stuf-
fen geben, und der Vornehmere eine anders verbraͤmte Uni-
forme wie der Gemeine tragen muͤſſe.


Allein
[64]Die Vortheile einer allgem. Landesuniforme,

Allein angenommen, daß dieſes alles ſo eingerichtet wuͤrde,
wie wir es als moͤglich anſehen und wuͤnſchen koͤnnen, und
wie es vordem nach den Kleidertrachten und Ordnungen vie-
ler Reichsſtaͤdte zu urtheilen, wuͤrklich eingefuͤhret geweſen;
wie groß wuͤrde dann nicht der Vortheil ſeyn, den wir uns
davon verſprechen koͤnnten? Nicht allein alle Moden, dieſe
großen Pluͤnderinnen der Landſtaͤdte wuͤrden auf einmal ver-
ſchwinden; nicht allein alle Landfabriken, die ſich gegen die
Veraͤnderungen der Moden und des Geſchmacks gar nicht
wehren und erhalten koͤnnen, wuͤrden ſich durch die Einfoͤr-
migkeit ihrer Manufakturen erhalten; ſondern der ganze
Staat einen neuen Geiſt bekommen. Jeder wuͤrde ſich be-
muͤhen ein Landeigenthum und mit demſelben eine neue Ehre
zu bekommen. Jeder wuͤrde darauf bedacht ſeyn, ſich die
Geldactie, welche zur gemeinen Ehre fuͤhret, zu erwerben.
Derjenige der ſich jetzt den Steuren zu entziehen ſucht, wuͤrde
ſich dazu dringen, um ſo hoch angeſetzt zu werden als es die
gemeine Ehre erfordert. Alle Belohnungen im Staate wuͤr-
den durch die Erlaubniß einer hoͤhern Uniforme beſtritten wer-
den koͤnnen. Die Obrigkeiten wuͤrden ohne alle Beſoldung
blos fuͤr die Ehre der hoͤchſten Uniform dienen und dadurch
dem Staate die ſchwere Laſt der Beſoldungen vermindern.
Der Mann von hundert tauſend Thalern wuͤrde ſein Geld
an nuͤtzliche Unternehmungen wenden, wenn dieſes die Be-
dingung waͤre, worunter er zu einer hoͤhern Uniform gelan-
gen koͤnnte; zu einer reichen Heyrath wuͤrde weder Tittel
noch Adel ſondern blos der buͤrgerliche Rang hinlaͤnglich ſeyn;
die Soͤhne und Toͤchter reicher Kaufleute wuͤrden ihr Geld
nicht aus dem Handel ziehen, ſondern ihren Ehrgeiz in dem
Stande ihrer Vorfahren befriedigen koͤnnen; das Recht
Kutſchen und Pferde und Livreebediente zu halten, wuͤrde ſich
nach dem Range dieſer Uniforme beſtimmen laſſen, und da-
durch
[65]declamirt von einem Buͤrger.
durch derſelben einen neuen Werth geben. Der betruͤgliche
Maaßſtab innerlicher Verdienſte, wodurch ſich mancher ge-
lehrter oder moraliſcher Avanturier jetzt in die Hoͤhe ſchwingt,
wuͤrde minder gebraucht werden; und uͤberhaupt das Land,
eigenthum, dieſe wahre Quelle der gemeinen Gluͤckſeligkeit,
um hundert Procent ſteigen, und die alſo ausgemeſſene Ehre,
ein Product werden, welches man mit Recht ein Plus von
Millionen nennen koͤnnte.


Gienge man hierinn noch weiter, und ließe, nachdem man
die Landuniformen in Compagnien abgetheilet, ſich ſolche in
ihren Aemtern bey einem Vogelſchießen oder andern oͤffentli-
chen Luſtbarkeiten verſammlen: ſo wuͤrde derjenigen Compagnie,
die das Jahr keinen Reſtanten gehabt, der erſte Rang ange-
wieſen werden koͤnnen; diejenige, ſo alle Proceſſe vermieden,
wuͤrde das Recht haben koͤnnen, ihren beſten Mann an des
Oberhauptmanns Tafel zu ſehen; der Landesherr, der bey
einer ſolchen oͤffentlichen Luſtbarkeit ſich perſoͤnlich zeigte, und
was koͤnnte er beſſer thun? wuͤrde Gelegenheit haben, durch
ein einziges Wort den groͤßten Enthuſiaſmus zur Rechtſchaffen-
heit zu verbreiten. Er wuͤrde dem Paſtor ſagen koͤnnen, daß
er ſeine Gemeine wohl gefuͤhrt, und dem Vogte, daß er ſeine
Dienſte als ein Mann von Ehre gethan. Das Auge des
Herrn wuͤrde hier wie an der Spitze einer Armee wuͤrken;
und die Liebe zum Herrn wie zum Vaterlande alle erſchlaften
Adern mit neuen Trieben ſchwellen.


Jetzt kennt der ſchaͤtzbare Unterthan ſeinen Landesherrn nur
dem Namen nach — aus Steuerpatenten oder Strafbefeh-
len. Dieſer kommt nie zur Revuͤe fuͤr ihn; er ſtinkt wohl
gar ſchon ſeinen Beamten an; und einer mag ſich vom Meyer
zum Heuermann proceſſen, ſein Hofgewehr vertrinken oder
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Ever-
[66]Die Vortheile einer allgem. Landesuniforme,
verſpielen; und noch ſo ſehr gedruͤckt, geſchoren, geplagt, und
gejagt werden; ihm kommt kein perſoͤnlicher Blick, keine
ernſtliche Mine, kein gutes oder boͤſes Wort, keine Ehre,
keine Belohnung, keine Beſtrafung und uͤberhaupt von der
ganzen Maſchine, welche den Soldaten auf die Batterie oder
auf die Minen fuͤhrt, und womit der große Herr eine halbe
Welt im freudigen Dienſte aufopfern kan, nichts zu Huͤlfe;
und dennoch ſoll der arme redliche Hund Liebe fuͤrs Vaterland,
Eyfer zum Steuren, Fleiß zum Ackerbau, eſprit de corps
und unzaͤhlige Tugenden beſitzen; er ſoll blos aus Geiz ein
Wirth, und fuͤr eine kalte Predigt, fromm ſeyn; oder Gut
und Blut aus Furcht fuͤr willkuͤhrliche Strafe aufopfern.


Eine ſolche elende Politick, welche die Griechen und Roͤ-
mer, die den Menſchen beſſer kannten und nuͤtzten, als den
hoͤchſten Grad der Unmenſchlichkeit und des Unverſtandes an-
geſehen haben wuͤrden, koͤnnte aber auf einmal in eine beſſere
verwandelt werden, wenn man alle vorhin gedachte ehrbare
Maͤnner in eine Uniform kleidete, dieſe zur wahren Ehren-
tracht machte, und die Geſchichte der Kunſt, den Menſchen zu-
fuͤhren, beſſer benuͤtzte. Der Koͤnig von Frankreich brauchte
ſo dann nicht alle Jahr zwey Kaufleute zu adeln und die uͤbri-
gen damit zu beſchimpfen; und nicht jeder der einen galonir-
ten Rock bezahlen koͤnnte, wuͤrde die ganze Oekonomie der ge-
meinen Ehre freventlich zerſioͤren koͤnnen.


Und wie ſehr wuͤrden nicht dadurch die Strafgeſetze gemil-
dert und doch kraͤftiger gemacht werden koͤnnen? der Verluſt
oder das oͤffentliche Ausziehen der Uniforme, wuͤrde nach ein-
mal feſtgeſetzten Ehrenſtande eine ſchwere und doch billigere
Strafe ſeyn, als Landesverweiſung oder ein Staubbeſem mit
und ohne Brandmark. Man wuͤrde den ehrenhaften Mann
nicht
[67]declamirt von einem Buͤrger.
nicht mit dem landfluͤchtigen ungeehrten vermiſchen, und beyde
wegen einerley Verbrechen mit gleicher Strafe belegen koͤnnen.
Man wuͤrde eine Art von Degradation in der Uniforme fuͤr
Obrigkeiten und oͤffentliche Diener haben, welche entweder
nachlaͤßig oder betruͤglich befunden wuͤrden. Der Landmann
der ſein Hofgewehr nicht im Stande haͤtte, oder einen Stille-
ſtand ſuchte, wuͤrde, wie die Juden in Rom, durch eine
gelbe Cocarde am Hute nothduͤrftig gezuͤchtiget werden koͤn-
nen; und die alten Urtheilsformeln, worinn es noch oft hieß:
vorbehaltlich ſeiner Ehren, wuͤrden beſſere Wuͤrkung thun,
als jetzt, wo ein oͤffentlicher Betruͤger ſich beſſer kleiden darf,
als der ehrlichſte Mann, beſonders ſeitdem die chriſtliche Liebe
die Stirn des Betruͤgers vom Brandmarke gerettet hat. Der
Verſtand der Reichsgeſetze, in Abſicht auf Ehre und Unehre,
auf ehrliche und unehrliche Leute, wuͤrde ſich in ſeinem vollem
brauchbaren Lichte zeigen; und wenn die Hurkinder nie ohne
eine große That fuͤrs Vaterland, zur Ehre oder zur Uniform
gelangen koͤnnten, viele wilde Ehen in buͤrgerliche und chriſt-
liche verwandelt werden. Aber ohne Einfuͤhrung einer Uni-
form ſind alle die großen Folgen fuͤr den Geſetzgeber verlohren.


Unſer Jahrhundert das fruchtbarer in Ordensbaͤndern ge-
weſen, als alle vorigen ſo ſeit der Schoͤpfung verfloſſen ſind;
und nun in Frankreich auch ein Ordenszeichen fuͤr den gemei-
nen wohlverdienten Soldaten ausgefunden hat, ſollte billig
hierinn auch fuͤr gemeine Verdienſte ſorgen. Aber vor der
Menge gelehrter Verdienſte kan man den verdienſtvollen Land-
mann und Buͤrger gar nicht mehr erkennen. Vordem hatte
der Fuͤrſt nur einen gelehrten Canzler; die Raͤthe beſtunden
aus Maͤnnern, welche Vernunft, Erfahrung, Redlichkeit und
Beſitzungen dargeſtellet und gebildet hatten. Dieſe gaben den
Stof, und jener den Schnitt. Jetzt muß alles mit lateini-
E 2ſchen
[68]Die Vortheile einer allgem. Laneesuniforme,
ſchen Maͤnnern beſetzt ſeyn, und das hierauf gelegte Gewicht
verdunkelt alles, was eine gelaͤuterte geſunde Vernunft und
eine langjaͤhrige Erfahrung hervorbringt; und die Behand-
lung der Sachen beſteht in der Kunſt — zu ſchreiben. Dies
macht die Austheilung der Ehrenzeichen ſchwer. Dieſe ſol-
len nicht fuͤr gelehrte Schreiber ſondern fuͤr Maͤnner von wah-
ren und nuͤtzlichen Verdienſten ſeyn, deren Namen in den Tage-
buͤchern fuͤr das Privatverdienſt (ephemerides du Citoyen)
aufbewahrt zu werden verdienten.


Ich will des maͤchtigen Einfluſſes, welchen das ſolcherge-
ſtalt ausgebreitete und verſtaͤrkte allgemeine Gefuͤhl der Ehre
auf oͤffentliche Freuden haben koͤnnte, nicht einmal gedenken.
Aber ſehen wir die Gruͤnde an, aus welchen die Feyertage
vermindert, und alle ſogenannte Schmauſereyen abgeſchaffet
werden mußten; eine Folge, die man ledig jener ungluͤckli-
chen Vermiſchung und der dadurch auf Nothbehelfe geleiteten
Policey zu danken hat: ſo muß es einem jeden in die Augen
fallen, daß der Mangel der gemeinen Ehre den Menſchen in
ſeinen Freuden liederlich, niedertraͤchtig und ausſchweifend
gemacht; und den Geſetzgeber, der es nicht wagen wollte, die
Uniform und mit dieſer einen beſſern Ton einzufuͤhren, ge-
noͤthiget habe, die fuͤr die gemeine Beduͤrfniſſe, fuͤr die Er-
haltung eines Nationalcharakters, und fuͤr die hohe Begeiſte-
rung zu edlen Pflichten, ſo noͤthige Freuden abzuſtellen. Wie
vieles wuͤrde aber hier nicht ausgerichtet werden koͤnnen, wenn
vor dem niedrigen Zuſchauer aus der ungeehrten Claſſe, der
dem Staat nur mit der Hand dienet, oder des allgemeinen
Schutzes fuͤr ein geringes Kopfgeld genießt, die durch eine
Uniform geehrten Maͤnner, ihre Ehrentaͤnze hielten, ihre
Toͤchter mit Kraͤnzen oder in fliegenden Haaren an den Reihen
braͤchten, und ihre Hochzeiten auf eine unterſcheidende Art
hal-
[69]declamirt von einem Buͤrger.
halten duͤrften? Wenn die Schenke nur der Verſammlungsort
fuͤr rechtlich ſteurende Huͤfener waͤre, und der Heuermann
ſich in der Ferne halten, und der im Stilleſtand ſtehende
Schuldner, ſo lange er ſolchen haͤtte, und ein Jahr nachher,
mit Weib und Kind davon ausgeſchloſſen wuͤrde? Wie manche
Frau wuͤrde ihren Mann zur Ordnung und ihre Kinder zur
Arbeit halten, um dieſe ſchreckliche Verbannung von allen
oͤffentlichen Luſtbarkeiten in Zeiten zu verhindern? Unſre
Weiber wuͤrden ſodann ihre Tracht nach einem gewiſſen feſt-
ſtehenden Stande gern behalten, ſo bald ſie nicht mehr beſor-
gen duͤrften von einer Heuermannsfrau uͤbertroffen zu werden.
Man wuͤrde das Recht Gold und Silber zu tragen, eben da-
durch, daß alle Schnallen, Knoͤpfe und andre Zierathen, ihre
uniformes Maaß erhielten, das von dem Beſten nicht uͤber-
ſchritten, und von dem Geringern nicht nachgeahmet werden
duͤrfte, zur Nahrung eines loͤblichen Ehrgeitzes frey erlauben;
und nach einem gleichen Grundſatze alle Verſchwendung ver-
hindren koͤnnen. Die oͤffentlichen Luſtbarkeiten wuͤrden wie
die Taͤnze nach den Turnieren, Schauſpiele der Ehre und des
Vergnuͤgens und Belohnungen der Helden, die ſich das ganze
Jahr hindurch rechtlich gehalten, werden koͤnnen. Dies war
der Geiſt aller Vogelſchießen, aller deutſchen Zuſammenkuͤnfte
der vorigen Zeiten; jetzt iſt er Unordnung und Schwelgerey;
und die dadurch veranlaſſete Abſtellung ein trauriges Denk-
mal verworrener Zeiten, die den maͤchtigen Leitfaden der
Menſchen ſo wenig zu ergreifen als zu halten wiſſen. Der
Menſch faͤngt ordentlich an ſchlecht zu werden, nachdem man
alle Triebe der Ehre erſtickt, alle Freuden um ihren Ton ge-
bracht, und ſich auf den Plan geſtuͤtzt hat, alles mit Befeh-
len und Strafen, Lehren und Predigen von ihm zu erzwin-
gen ......... Er wollte noch weiter reden; aber
weil ſeine Frau beſorgte, er moͤchte wuͤrklich auch auf eine
E 3Uni-
[70]Nachſchrift.
Uniform fuͤr das weibliche Geſchlecht fallen: ſo befahl ſie ihm
zu ſchweigen.



XII.
Nachſchrift.


Wie ich vor drey Jahren die vorhergehende Declamation
entwarf, dachte ich noch nicht daran, daß man in Schwe-
den auf gleiche Gedanken fallen wuͤrde. Man ſcheint aber doch
noch weit von dem rechten Punkte entfernt zu ſeyn, da man
die Moͤglichkeit der Sache aus den Gruͤnden bezweifelt, welche
ehedem von uns in dem 24. Stuͤck des erſten Theils gegen eine
Kleiderordnung angefuͤhret worden. Dieſe Gruͤnde behalten
allemal ihr Gewicht, erheben aber gegen eine Nationaluniform
nichts, wenn überall dem erſten Mann von jeder Uniform,
ſo wie hier vorgeſchlagen, die gebuͤhrende Ehre wiederfaͤhrt;
wenn ein Landesherr das erſte Stuͤck von dem Ochſen auf ſeine
Tafel bringen laͤßt, der fuͤr das Volk gebraten wird; wenn er
ſich bisweilen ein Commißbrod oder eine Hoſpitalſuppe vor-
ſetzen laͤßt, um die Koſt ſeiner Soͤldner zu ehren; oder ein
tuͤrkiſcher Baſſa ſich taͤglich die Loͤhnung eines Janitſcharen
auszahlen laͤßt, um zu zeigen, daß er an der Ehre der Gemei-
nen Theil nehme.


Der ganze geiſtliche Stand, welcher eine ſchwarze Uniform
traͤgt, bleibt allemal ſattſam gehoben, wenn der Generalſuper-
indent bey Hofe zugelaſſen wird, und eine ſeinem Range ge-
maͤße Ehre und Achtung genießet. Der Buͤrgerſtand iſt alle-
mal geehrt, wenn ihr erſter Mann, als der Buͤrgermeiſter,
einen gleichen Vorzug erhaͤlt; und eben ſo koͤnnte die Kauf-
mann-
[71]Schr. eines Frauenz. uͤber die Nationalkleidung.
mannſchaft aus ihren Mitteln einen Repraͤſentanten haben, den
der Koͤnig vorzuͤglich ehrte. Ohne dieſe Voranſtalt wird eine
Nationaluniform nie dasjenige wuͤrken was ſie wuͤrken ſoll.
Durch dieſelbe aber iſt von jeder Uniform der erſte Mann
bey Hofe, und jeder der in der Uniforme ſteht, kan zum er-
ſten Mann erwaͤhlet werden, mithin iſt der ganze Stand
geehrt.



XIII.
Schreiben eines Frauenzimmers uͤber die
Nationalkleidung.


Viel Gluͤck zum neuen Jahre, mein lieber Herr Pro-
jectenmacher 1). Sie nehmen mir es doch nicht uͤbel
2), wenn ich mein erſtes Compliment ſo fort mit dem un-
maßgeblichen Wunſche 3) begleite, daß ſie ſich in dieſem na-
gelneuen Jahre gegen das weibliche Publicum ein bisgen
vernuͤnftiger wie im vorigen betragen moͤgen. Sie koͤnnen
leicht denken was ich ſagen will 4), denn daß ihr einfaͤltiger
Vorſchlag eine Nationalkleidung einzufuͤhren, um uns armen
geplagten Weibern das letzte Vergnuͤgen, die reitzenden Ver-
aͤnderungen der Mode zu benehmen, hoͤchſtunvernuͤnftig 5)
ſey, werden ſie ſelbſt einſehen, und wenn ſie dieſes thun,
auch unſchwer errathen 6) was ich ſagen will. Ueberhaupt
E 4haſſe
[72]Schreiben eines Frauenzimmers
haſſe ich die Projectenmacher 7); es ſind nur Leute die an-
dern etwas auf die Hoͤrner geben 8), und ſelbſt nichts
tragen wollen. In Schweden mag der Koͤnig immerhin eine
Nationalkleidung einfuͤhren; denn ich gedenke in meinem Le-
ben nicht dahin zu reiſen. Aber hier im Lande, wo man feit
der Zerſtoͤrung Jeruſalems die voͤllige Freyheit gehabt hat,
zu tragen was man will, iſt es ein aberwitziger Einfall, verſte-
hen Sie mich 9)? Das beſte iſt daß ihre Projecte geleſen
und vergeſſen werden; waͤre dieſes nicht: ſo wuͤrde ich keine
Nacht ſchlafen koͤnnen 10).


In der That, wenn ſie auch nur ein bisgen Nachdenken
haͤtten: ſo wuͤrden ſie ſo nicht in den Tag hinein projectiren.
Ich und ihre Mademoiſelle Tochter 11) haben uns eben in
die Unkoſten eines Demigalopins und eines Chapeau a la
Canada
geſtuͤrzet. Wir haben eben unſre Grate-epingles
12) mit einem Crochet à la Cardinale verſehen laſſen. Wir
haben
[73]uͤber die Nationalkleidung.
haben uns beyde eine Boͤhmiſche Kugelmuͤtze 13) angeſchaft;
und alles dieſes ſollte umſonſt ſeyn 14)? Vergeſſen ſie denn
nun auf einmal ihr großes Project die Landesproducte zu ver-
edlen, oder iſt es ihnen unbekannt geblieben, daß jaͤhrlich
uͤber hundert Centner Hede zu Chignons verbraucht wer-
den 15). Was liefert Weſtphalen mehr als Hede? Eine
neue Mode iſt noch wol ſeit dem Suͤndenfall nicht darinn er-
funden worden 16). Die Erfindung des Netzgens war auf-
geklaͤrten Laͤndern und Zeiten vorbehalten 17).


E 5Mich
[74]Schreiben eines Frauenzimmers

Mich wundert nur, daß ſie nicht auch eine Tafeluniform
in Vorſchlag gebracht, und alle Speiſen auf ein Stuͤck Rind-
fleiſch und ein Gericht braunen Kohl eingeſchraͤnkt haben 18).
Dabey wuͤrde ſich beſſer philoſophiren laſſen, als bey einer
bombe de Sardanapale, oder einem Gericht Amour en Pi-
queure,
wobey ſich die Herrn den Magen wie den Kopf ver-
derben. Auch die Menge fremder Weine koͤnnten ſie wohl
auf ein gut Glas Braunbier einſchraͤnken; dieſes loͤſcht den
Durſt beſſer, als ein Spitzglaͤsgen Sillery, oder ein Roͤ-
mer Ruͤdelsheimer. Allein dieſe Reforme ſteht ihnen nicht
an; und gleichwohl iſt die Veraͤnderung der Kleider bey uns
eben ſo wichtig als Ihnen die Veraͤnderungen der Tafel ſeyn
moͤgen.


Doch ich will mich mit ihnen nicht zanken; ſie ſind ein boͤ-
ſer Mann 19)! der vielleicht ſeine beſten Tage ſchon genoſſen
hat 20), und der muntern Jugend ihre Freuden nicht goͤn-
net. Ich moͤgte aber wohl wiſſen, was aus den Mannspe-
ruͤken werden wuͤrde, wenn wir ihnen nicht bisweilen die
Koͤpfe zurecht ſetzten 21). Und wodurch kan dieſes beſſer ge-
ſchehen,
17)
[75]uͤ ber die Nationalkleidung.
ſchehen, als daß wir ſie durch die Kunſt der Koketterie in ei-
ner beſtaͤndigen Begierde zu gefallen unterhalten? Die edle
Koketterie kan aber ohne Veraͤnderung der Moden unmoͤglich
beſtehen 22). Stellen ſie ſich nur einmal vor, was das fuͤr
ſchlichte unbedeutende Geſichter geben wuͤrde, wenn wir immer
wie die Nonnen in einer beſtaͤndigen einfoͤrmigen Tracht auf-
gezogen kaͤmen 23); und eine eiſerne Cornete zu unſerm Kopf-
zeugen haͤtten? Stellen ſie ſich vor, was die Leute in Paris
davon ſagen wuͤrden, wenn ſie den Kupferſtich, der gewiß
bald davon gemacht werden wuͤrde, zu Geſichte bekaͤmen 24)?
Man hat neulich, wie ich in den Zeitungen geleſen, eine
Geſchichte der Moden heraus gegeben; und vermuthlich wird
bald ein Dictionaire general et portatif des Modes her-
aus kommen, ſo wie wir dergleichen ſchon einige von Kopf-
zeugen und Peruken haben. Dergleichen ſollten ſie uns auch
ſchreiben, wenn ſie ihre Hand nicht ruhig laſſen koͤnnen,
oder ein Journal fuͤr die Maccaroni, wie in England 25).
Das
[76]Schr. eines Frauenz. uͤber die Nationalkleidung.
Das waͤre noch eine gemeinnuͤtzige Bemuͤhung, wodurch die
Erfindungskunſt ihren Gipfel erreichen wuͤrde. Merken ſie
ſich das und laſſen die thoͤrigten Projecte uns kluͤger zu ma-
chen wie wir ſind, fuͤr dieſes neue Jahr fahren. Unter die-
ſer Bedingung 26) wiederhole ich meinen Wunſch und bin


ihre guͤnſtige gute Freundinn
Anna Maccaroni.




XIV.
Sie tanzte gut und kochte ſchlecht.


Wie das Maͤdgen tanzt! wie ihr die Schultern ſtehn!
Himmel! und der Nacken! Von dem uͤbrigen will
ich nichts ſagen; ich glaube der cû de Paris iſt wieder Mode
geworden! Aber iſt es nicht eine Schande ein junges Maͤdgen
ſo erziehen zu laſſen! Wenn es meine Tochter waͤre: ſie ſollte
mir anders tanzen lernen, oder ſogleich zur Viehmagd ver-
dammt werden. Ich weis nicht wie gewiſſe Eltern ſo blind
ſeyn koͤnnen, daß ſie nicht ſehen, was ihren Kindern fehlt,
und ihnen bey Zeiten die Knochen ein wenig zu rechte bie-
gen. — Die Frau Oberamtmaͤnnin wuͤrde in ihrem wohlge-
mein-
[77]Sie tanzte gut und kochte ſchlecht.
meinten Eyfer noch weiter fortgefahren ſeyn, wenn nicht der
Herr Rittmeiſter, der eben zu ihr trat, ſie ploͤtzlich unterbro-
chen haͤtte. Was fuͤr eine Grazie, rief er aus, indem er auf
ihre eigne Tochter wies; ich glaube, ihr ganzer Koͤrper iſt
nichts wie Harmonie, jede Bewegung zeigt neue Reize. Nie
habe ich ein feineres Contour geſehen; Sie ſcheinet nicht zu
gehn ſondern zu ſchweben, ſie muß alle ihre Nerven unter den
unmittelbaren Befehlen ihres Geiſtes haben, ſonſt waͤre es
nicht moͤglich, ſo viele Entzuͤckung zu verbreiten. Mich deucht,
ich ſehe ihre Mutter, wie ſie als Braut den Ball eroͤfnete,
und mit einem triumphirenden Schritte die bezauberten Zu-
ſchauer zu ihren Fuͤßen riß. — Stille! Stille! verſetzte
die Frau Oberamtmaͤnnin, dieſe Zeiten ſind vorbey, und wenn
mein Maͤdgen gut tanzt: ſo hat ſie mir vielleicht etwas
zu danken, aber doch bin ich mit ihr noch nicht ſo recht zufrie-
den, ihr Auge iſt noch etwas zu ſtarr, und uͤberhaupt zeigt
ihre unſchuldige Mine, daß der Koͤrper mehr als die Seele
tanze. — Die Unterredungen auf den Baͤllen ſind kurz,
der Rittmeiſter ward zum Tanz gefordert, und waͤhrender Zeit
die tanzende Geſellſchaft das Auge durch ihre gleichfoͤrmigen
Schweiffungen ergoͤtzte, wollte die Frau Oberamtmaͤnnin
durch das Urtheil des Herrn Rittmeiſters beſtaͤrkt, ihre vorhin
abgebrochene Rede gegen ihre Nachbarin, die eine wohlha-
bende Paͤchterin war, fortſetzen. Allein dieſe, welche ſich
immittelſt etwes gefaßt hatte, lies ihr nicht die Zeit dazu.


Hoͤren Sie, meine liebe Frau Oberamtmaͤnnin, war ihre
Rede; dieſe Perſon, deren Stellung ihnen ſo ſehr mißfaͤllt,
tanzt freylich nicht zum beſten, ob es gleich gut genug vor-
kommt. Allein ich muß ihnen ſagen, ſie fuͤhret jetzt den gan-
zen Haushalt meines Oheims, der, nachdem er ſeine Frau
fruͤh verlohren und ſeine Kinder verheyrathet hat, mit ihrer
Huͤlfe
[78]Sie tanzte gut und kochte ſchlecht.
Huͤlfe ſeine ganze weitlaͤuftige Pachtung gluͤcklich behauptet.
Ehe ſie zu ihm kam, mußte er alle Jahr fuͤr hundert Thaler
Holſteiniſche Butter zukaufen; und es mochte ſo viel einge-
ſchlachtet werden als nur immer konnte: ſo waren, ehe ein
halbes Jahr zu Ende gieng, alle Vorrathskammern leer.
Das Flachs, was des Jahrs gemacht war, ſchien zu verſchwin-
den, ſo wenig kam davon zu gute; und das Linnengeraͤthe
war dermaſſen in der Haushaltung aufgegangen, daß mein
Oheim, wie er ſeine Tochter ausſteuerte, faſt alles was ſie
noͤthig hatten, kaufen mußte. Nachdem die letzte Couſine
verheyrathet war, erhielt er noch eine Rechnung fuͤr Berliner
Schuh, die ſich auf 80 Thlr. belief, und die ſie in den bey-
den letzten Jahren verbraucht hatte. So lange dieſe, die ins-
beſondre eine ſehr geſchickte Taͤnzerin war, die Haushaltung
fuͤhrte, fehlte es oft, wenn unvermuthete Gaͤſte kamen, an
einem Stuͤcke Fleiſche; und ich erinnere mich an einem Mit-
tage bey meinem Oheim eine Taubenſuppe, eine Taubenpaſtete
und gebratene Tauben gegeſſen zu haben. Dagegen haͤtten
ſie den Vorrath von gangbaren und verdorbenen Putzwerke
ſehen ſollen. Kaum war aber die Perſon, wovon wir erſt
redeten, ein Jahr bey ihm geweſen: ſo lieferte ſie ihm aus
dem Molkenwerke von einem Jahre 180 Thaler, und die
Haushaltung war dabey ohne fremde Butter gefuͤhret wor-
den. Sie hatte ein Drittel weniger, als in den vorigen Jah-
ren geſchehen, einſchlachten laſſen, und hatte noch einen huͤb-
ſchen Vorrath von alten, wie es wieder zum neuen Einſchlach-
ten gieng. Es waren 270 Himten Brodkorn weniger ver-
freſſen oder verſchleppt; und aus dem Flachſe, da ſie ſolches
in ihren Haushalt nicht mit Vortheil hatte verſpinnen laſſen
koͤnnen, nur das Geld zu einigen Stuͤcken Drell gewonnen.
Mein Oheim hatte dabey keine Rechnungen bey dem Weiß-
becker und Schlaͤchter in der Stadt; ſondern erſter war mit
Korn
[79]Sie tanzte gut und kochte ſchlecht.
Korn und letzter mit Schlachtvieh aus der eignen Zucht be-
zahlt. Anfaͤnglich ſahen die verheyratheten Kinder dieſe Per-
ſon, die gleichwol eine nahe Verwandtin von ihnen iſt, mit
boͤſen Augen an, und wuͤnſchten ſie uͤber alle Berge. Allein
es waren nicht zwey Jahre verfloſſen: ſo verehrten ſie dieſelbe
als ihre Mutter. Die juͤngſte Tochter verlohr ihren Mann,
und blieb mit zween Kindern in der groͤßten Duͤrftigkeit ſitzen,
weil der verſtorbene eine weitlaͤuftige und glaͤnzende Pachtung
aber auch heimliche Schulden gehabt hatte. Sie nahm daher
wieder zum elterlichen Hauſe ihre Zuflucht, und ſollten ſie es
wohl glauben, eben dieſe Perſon hat aus der jungen Wittwe
eine empfindſame Tochter, eine zaͤrtliche Mutter und eine auf-
merkſame Hauswirthin gemacht. Keine Hochachtung kan groͤſ-
ſer ſeyn, als die, ſo ſie der ungelenken Taͤnzerin bezeiget, der
freylich die Schulterknochen nicht ſo abgeruͤndet ſind als an-
dern, da ſie einen Keſſel von zween Eymern raſch aufs Feuer
bringt; und alles mit angreift was in der Haushaltung vor-
kommt, die aber doch durch ihr gutes und gefaͤlliges Weſen ei-
nen jeden einzunehmen weis. Wenn eine ſolche Perſon mit
eben der Feinheit tanzen ſollte, womit ihr Mad. Tochter tanzt:
ſo wuͤrde dieſes in Wahrheit zu viel gefordert ſeyn. Fuͤr ſie
iſt es ein Ruhm ſchlecht zu tanzen und gut Haus zu halten;
fuͤr andre aber, die es nicht noͤthig haben, ſich um Kuͤche und
Keller zu bekuͤmmern, und die wegen ihrer Geburt das elende
Privilegium haben, muͤßig zu gehen, iſt es umgekehrt. Sie
hat jetzt viele Praͤtendenten, und unter dieſen iſt der Herr
Oberamtmann zu .......


Was, rief die Frau Oberamtmaͤnnin, dieſer ſollte ein
Auge auf ſie haben, das kan ich unmoͤglich glauben. Er hat
bisher meiner Tochter die Aufwartung gemacht, und ich will
doch nimmer hoffen, daß er ſie nur zum Beſten habe. In
dem
[80]Sie tanzte gut und kochte ſchlecht.
dem Augenblicke hatte der Herr Rittmeiſter ſeinen Tanz geen-
digt und unterbrach die Unterredung von neuen. Ich kan
alſo auch nichts weiter davon erzaͤhlen. Doch habe ich nach-
her gehoͤrt, daß die Heyrath mit der ungeſchickten Taͤnzerin
gluͤcklich zu Stande gekommen, und ihr Mann, der Herr
Oberamtmann, mehrmalen geſagt habe: ihm waͤre mehr mit
einer guten Wirthin als mit einer koſtbaren Zierpuppe gedient.
Die Wittwe iſt jetzt die gluͤckliche Haushaͤlterinn ihres Vatres,
und hat das Herz in ſchwarzen Schuhen zu tanzen.



XV.
Schreiben eines Frauenzimmers vom Lande
an die Frau … in der Hauptſtadt.


Wertheſte Freundinn!

Unſer Beruf in der Welt iſt ſehr von einander unterſchie-
den. Ihnen, Wertheſte Freundin, ſteht es ſehr wohl,
daß Sie des Morgens bis 10 Uhr ſchlafen, drey Stunden
am Nachttiſche ſitzen, und die uͤbrige Zeit in angenehmen
Geſellſchaften zubringen. Allein, uns, die wir auf dem
Lande wohnen, und ganz andere Pflichten haben, muͤſſen
Sie deswegen nicht verachten.


Unſer Nacken kan nicht ſo riſch, wie der ihrige ſtehen, und
unſere Schulterknochen ſind mit gutem Rechte etwas mehr
ausgebogen, als diejenigen, welche Ihnen die guͤtige Natur
blos zur Zierde gegeben.


Sie
[81]Schr. eines Frauenz. vom Lande an die Frau … ꝛc.

Sie haben Recht, uͤber Langeweile zu klagen, ſo bald
Ihnen Spiel oder Geſellſchaft fehlet. Sie haben Recht,
Ihren Geſchmack, ihre Wahl im Anzuge, ihren ſuͤßen Ton,
ihren anſtaͤndigen Gang, ihr herrſchendes Auge, ihr gelen-
kes Koͤpfgen, ihre zarten Haͤnde und andere Vorzuͤge, welche
ich recht mit Vergnuͤgen an Ihnen bemerke, ſelbſt zu bewun-
dern; und ich geſtehe gerne, daß Ihnen ihre Beleſenheit,
ihre Kenntniß der beſten engliſchen und franzoͤſiſchen Schrift-
ſteller, und ihre Einſicht in vielen Dingen einen befugten
Ekel vor alles dumme Zeug, wie ſie zu ſagen pflegen, wir-
ken muͤſſe. Allein das Blut, welches Arbeit und Geſund-
heit uns Landmaͤdgens in die Wangen treibt, muß uns in
ihren erhabenen Augen keine unertraͤgliche Phoſionomien ge-
ben. Sie muͤſſen nicht uͤber unſere alten Moden ſpotten,
und ſich unſere eiſerne Haͤnde in ihre Kuͤche wuͤnſchen.


Verzeihen ſie mir, daß ich Ihnen die Wahrheit ein bisgen
nach unſerer Art ſage. Wie ſie uns das letztemal auf dem
Lande beſuchten, war Ihre Auffuͤhrung wuͤrklich ein wenig
ſehr unhoͤflich, ich forderte bey Ihrer Ankunft nur eine
freundliche Mine von Ihnen: allein Sie waren von ihrer
viertelſtuͤndigen Reiſe dermaßen fatigirt und aneantirt, daß
ich zufrieden war, wie ihre Blicke es nur beym Zanken be-
wenden ließen. Ich lief Ihnen mit offenen Armen entge-
gen. Sie ſpitzten aber Ihren Mund ſo weit voraus, daß ich
nicht das Herz hatte, die Roſenblaͤttergen ein wenig aus ih-
ren Falten zu druͤcken. Meine Mutter fuͤhrte Sie in unſer
beſtes Zimmer: allein die weißen Waͤnde waren Ihnen un-
ertraͤglich, der Armſtuhl unbequem, und der unbedeckte Bo-
den abſcheulich. Es wurde des Abends um 8 Uhr gedeckt,
und Sie hatten keinen Hunger; weil Sie nicht gewohnt wa-
ren vor 11 Uhr zu eſſen. Der Geruch unſerer beſten Talg-
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Flichter
[82]Schreiben eines Frauenzimmers vom Lande
lichter erweckte Ihnen eine affreuſe migraine. Weil kein
Burgunder dort war, trunken Sie Waſſer, und dieſes war
das einzige was Sie ruͤhmten. Wie wir des andern Tages
von dem theureſten Burgunderwein aus der Stadt holen
ließen, fanden Sie ihn zur Denkbarkeit abominable. Ein
ſchoͤner Kalbsbraten ſchien Ihnen vortreflich, um auf einer
Buͤrger Hochzeit zu paradiren, und Sie ſprachen von Fri-
candons
und Poppidons bey dem Anblick einer ſchoͤnen
Schafmilch. Auf ſolche Art bezeugten Sie uns ihre Hoͤf-
lichkeit. Sie ließen uns gar noch dabey empfinden, wie vie-
len Dank wir Ihnen fuͤr Ihre guͤtigen Anmerkungen ſchuldig
blieben, und trieben endlich ihre Gnade ſo weit, daß Sie
ſich bey unſern Coffeetaſſen Ihres ſchoͤnen Dresdener Por-
cellains zu erinnern geruheten.


Wie Sie zu Hauſe kamen, und durch die Stadtluft wie-
der in ihr wahres Element verſetzet wurden: ſo ward unſere
wohlgemeinte Bewirthung der Gegenſtand Ihres Spottes.
Es iſt eine erbaͤrmliche Sache, ſagten Sie, um ein Land-
maͤdgen, es weiß doch von nichts. Den gruͤnen und rothen
Kohl kennet es beſſer, als die Livres verds et rouges a la
Mode.
a) Es lauft ohne Sonnenſchirm und Saloppe wie
ein Schaf im Felde. Wenn man von Wiſtſpiel mit ihm
pricht: ſo ſperret es zwey große Augen auf, und ein Schnei-
dermaͤdgen bey uns wuͤrde ſich eher zur Prinzeßin als ein ſol-
ches Ding auch nur zu einer Cammerjungfer ſchicken.


So urtheilten Sie von mir, wie Sie zu Hauſe waren
und alle meine aufmerkſame Sorgfalt, die ſchoͤne Milch, die
vortrefliche Butter, die ſchmackhaften Gartenfruͤchte, die
ange-
[83]an die Frau … in der Hauptſtadt.
angenehmen Luſtgaͤnge, das offenherzige Vertrauen, die
freundſchaftliche Gefaͤlligkeit, welche unſere Nachbaren bey
uns zu ruͤhmen die Guͤtigkeit haben, mußten Ihren undank-
baren und verwoͤhnten Empfindungen zum Spotte dienen.


Wie konnten Sie aber dieſes verantworten? Und wie konn-
ten Sie bey ihren großen Einſichten die Abſichten nicht unter-
ſcheiden, wozu wir beyde gebohren, erzogen, und gewohnt
ſind? Glauben Sie denn, daß ein Frauenzimmer auf dem
Lande, oder in einer kleinen Stadt alle die ungluͤcklichen Be-
quemlichkeiten noͤthig habe, welche in der Hauptſtadt unent-
behrlich ſind? Wiſſen Sie nicht daß die Menge ihrer Be-
duͤrfniſſe nur ein Zeichen ihrer Armuth ſey? Welch ein Un-
ſegen fuͤr uns, wenn wir an die taͤglichen Aßambleen, wie
an unſer Spinnrad gewoͤhnet waͤren? Wenn wir Voltairen
und Popen beſſer, als unſer Intelligenzblatt, und mehrere
Arten von Spielen, als Hausarbeiten kennten?


Denken Sie nicht, daß ich das Leſen guter Schriften ver-
achte. Ich kenne den Werth derſelben ſehr gut, huͤte mich
aber ſehr davor, daß ich meine Empfindungen nicht aus mei-
nem Stande gewoͤhne, und das Leſen bloß zu einer nothwendi-
gen Ausfuͤllung meiner langen Weile mache. So weit darf
es mit mir nicht kommen. Ich habe meine geſetzten Stun-
den dazu; ſo, wie zu meiner Arbeit, welche ich in meinem
Berufe dem Leſen freudig vorziehe. Und eben dieſem Leſen
habe ich den noͤthigen Ehrgeitz zu danken, daß ich mich durch
die hoͤhniſchen Anmerkungen der Stadtleute in meinen Pflich-
ten nicht irre machen laſſe. Vor 2 Jahren lag ein franzoͤſi-
ſcher Oficier bey uns. Sein Lied war beſtaͤndig: On ne vit
qu’à Paris, on vegete ailleurs.
Er verlangte auf unſerm
Dorfe nichts weniger, als Baͤlle, Opern, Comoͤdien, Soupés
fins,
und petites maiſons. Doch begriff er endlich, daß wir
F 2ſehr
[84]Schreiben eines Frauenzimmers vom Lande
ſehr ungluͤcklich ſeyn wuͤrden, wenn wir dieſes noͤthig haͤtten,
um uns zu zerſtreuen. Ja, er gieng zuletzt ſo weit, und
machte ein Lobgedicht auf den wohlthaͤtigen Fluch, daß jeder
Menſch ſein Brod im Schweiß des Angeſichts eſſen ſollte.


Sie ſprachen, wertheſte Freundin, wie ſie bey uns wa-
ren, ſehr vieles vom Wohlſtande und von der guten Erziehung
in Hannover; und unſere Frau Paſtorin, welche ihnen keinen
Blick entwandte, ſo ſehr huldigte dieſelbe ihre Groͤße, ſucht
jetzo eine Franzoͤſin. Sie hat von Ihnen vernommen, daß
zu einer guten Erziehung die franzoͤſiſche Sprache etc. etc. etc.
etc. etc.
gehoͤre. Alles dieſes glaubt ſie als eine rechtſchaffene
Mutter, ihren Kindern geben zu muͤſſen. Sie beruft ſich
darauf, daß eine gute Erziehung das beſte Erbtheil ſey, was
ſie ihren Kindern laſſen koͤnne. Und was hat ſie anders zu
dieſem Vorurtheile verleitet, als die Verachtung, welche un-
billigerweiſe den Perſonen erwieſen wird, die nicht nach Art
der Hauptſtadt erzogen ſind?


Wie leicht wird die Frau Paſtorin durch eben dieſes Vor-
urtheil verfuͤhret werden, die Kinder des Kramers und des
Schulzen zu verachten? Und wenn ich denn dieſen letzten nur
ein wenig Schwachheit leihe, welches ich gewiß mit guten
Grunde thun kan; ſo ſchicken ſie ihre Kinder auf die hohe
Schule in die Hauptſtadt, entziehen dem Staate einen wuͤrdi-
gen Ackersmann, und ſchenken ihm dafuͤr einen wichtigen Au-
ditor. Wenn ich zur Frau Paſtorin komme, ſo ſetzet ſie mir
zwey Wachslichter vor, und neulich war ich bey unſerer Frau
Amtmannin, da brannten in einem Zimmer allein 24 an den
Waͤnden. Ich mag nicht ſagen, was ich dabey gedachte, ſo
viel aber kan ich Ihnen wohl im Vertrauen entdecken, daß
ich mir eben keine vortheilhafte Begriffe von ihrem Verſtande
machte.


Wie
[85]an die Frau … in der Hauptſtadt.

Wie leicht iſt aber dieſer Fehler zu heben, wenn man nur
demjenigen eine Achtung erwieſe, welcher ſich am beſten nach
ſeinem Stande richtete und wie vieles wuͤrden die Vornehmen
(die Vornehmſten beruͤhre ich nicht, denn dieſe ſchraͤnken ſich
merklich ein) nicht dazu beytragen, wenn ſie auf dem Lande
nicht das Koſtbarſte und Praͤchtigſte, ſondern nur dasjenige
bewunderten, was jeder durch die Kunſt ſeiner Wirthſchaft
zur großen Vollkommenheit gebracht haͤtte? Sie glauben nicht,
wertheſte Freundin, wie gut ich in dieſem Stuͤcke von meiner
Einfalt gedienet bin. Ein jeder, der in unſer Haus koͤmmt,
bleibt in ſeiner Einbildung uͤberzeuget, daß er in Anſehung
der Koſtbarkeiten vor uns einen Vorzug habe. Dieſer Ge-
danke ſchmeichelt ihm, und er iſt mit uns als mit Leuten zu-
frieden, welche ihm den Rang nicht ſtreitig zu machen ge-
denken. Aus einer gleichen Dankbarkeit ſieht unſere Frau
Oberhauptmannin mit einem nicht eiferſuͤchtigen Auge unſere
Wirthſchaft an. Sie bewundert alles und fuͤhlet ſich bey uns
weit bequemer als bey der Frau Oberamtmannin, deren dam-
maſtenes Bette dem ihrigen Trotz bietet. Wir ſind ihre gu-
ten Leute, ſie geht mit uns, wie mit ihren beſten Freunden
um, wir ſehen ſie ſtuͤndlich, ſo liebenswuͤrdig, wie ſie wuͤrk-
lich iſt; und wir genießen der Herzen, ohne uns an den ty-
ranniſchen Zwang der ſtaͤdtiſchen Rangordnung zu binden.


Gewiß wertheſte Freundin, die Damen aus der Hauptſtadt
ſorgen wuͤrklich ſehr ſchlecht fuͤr ihr Vergnuͤgen, wenn ſie auf
dem Lande die Nachahmung der Stadt ſuchen; das Landle-
ben hat was originales, welches ſie ihm billig zu einer ver-
gnuͤgten Abwechſelung laſſen ſollten. Ich freue mich wenig-
ſtens recht, wenn ich in ein wohleingerichtetes Bauerhaus
komme, die beſondern Vortheile und Erfindungen dieſer Fa-
milie ſehe; und eine Tapete von Flachs, das ſchon zubereitet
und nett auf einander gelegt iſt, ergoͤtzet mich da mehr, als
F 3eine
[86]Schreiben eines Frauenzimmers vom Lande
eine haute lice. Das erſte was ich beſehe, iſt die Milchkam-
mer. Nach dieſer beurtheile ich die Wirthin; und das ge-
ſunde Kind, welches mir in einem reinlichen und ſtumpfen
Rocke entgegen ſpringet, kuͤße ich mit Empfindung, wenn ich
die Staatspuppen unſerer Frau Amtſchreiberin ſehr gelaſſen
vorbey neigen ſehe.


Und ſo ſollten Sie auch denken, wertheſte Freundin, wenn
Sie zu uns kaͤmen. Sie ſollten ſich des Staͤdtiſchen Zwanges
und der koſtbaren Beſchaͤftigungen, wozu Sie der Muͤßig-
gang verdammet, auf dem Lande entſchlagen, den Athem aus
freyer Luft ſchoͤpfen, und mit aller Empfindung eines befrey-
ten Sclavens auf einem tanzenden Fuße um die geſegneten
Fluren huͤpfen. In der Hauptſtadt koͤnnen und muͤſſen Sie
ganz anders leben. Leute welche in Bedienung ſtehen, welche
den ganzen Vormittag ihre Arbeit haben, und gleichſam in
einem verguͤldeten Kerker wohnen, woraus ſie nicht zu jeder
Stunde gehen koͤnnen, haben ganz andere Arten von Ergoͤtz-
lichkeiten noͤthig. Ihre Frauen befinden ſich durch die Um-
ſtaͤnde an ein gleiches Joch gefeſſelt. Die Aſſembleen, repas,
Soupés fins,
und alle Arten von Spielen werden ihnen mit
der Zeit zu unentbehrlichen Beduͤrfniſſen. Ich laſſe Ihnen
alſo ſolche mit Recht. Ich ſchenke Ihnen Baͤlle, Comoͤdien.
Redouten und alles was dazu gehoͤret, im Kauf; ich bin uͤber-
zeuget, daß Sie ſich oft dabey in ihrer Art vollkommen erfreuen;
ich glaube daß die Pracht der Meubles, Nippes und ajuſte-
mens
die beſten Puppen fuͤr ſolche große Kinder ſind. Allein,
eben dieſe Forderungen auf das Land zu erſtrecken; diejenigen
zu verachten, welche ſolche nicht erfuͤllen; daruͤber noch wohl
gar zu ſpotten, und auf ſolche Art den nuͤtzlichſten Theil der
Menſchen, welche auch ihre Schwachheiten haben, zu einer
thoͤrigten Nachahmung zu verfuͤhren, dieſes iſt wahrlich
Suͤnde.


Ver-
[87]an die Frau … in der Hauptſtadt.

Vergeben Sie mir dieſes altfraͤnkiſche Wort. Ich glaube
Sie werden ſolches nicht verſtehen, darum ſetze ich nur erklaͤ-
rungsweiſe hinzu, daß vor nicht gar langer Zeit die veraͤcht-
liche Mine einer vornehmen Dame aus der Stadt unſern gu-
ten Pachter verfuͤhret hat, an ſeiner Frauen Schmuck eines
Jahres Pachtgeld zu verwenden, den Koͤnig zu betruͤgen, und
ſich, ſeine ſchoͤne Frau und Kinder ungluͤcklich zu machen.
Wie viel Verantwortung wuͤrden Sie nicht auf ſich haben,
wenn ich ſchwach genug geweſen waͤre, mich durch einen Blick
von Ihnen beſchaͤmt zu halten? und wahrlich, es hat zwiſchen
meiner Schweſter und mir ſchon einen kleinen Zank geſetzt,
daß ſie nicht ein Stuͤck Hemdlinnen in Agremens verwan-
deln duͤrfte, weil Sie ihre einfaͤltige Volante verachtet hat-
ten. Glauben Sie mir, die Maͤdgen auſ dem Lande ſind
nicht alle ſo ſtark, dieſer Verſuchung zu widerſtehen. Und
es kan gar leicht dahin kommen, daß wir ſagen werden, wie
der letzte Krieg uns nicht ſo viel Schaden gethan habe, als
die Raſerey, auf dem Lande alles das zu haben, was zur
Noth ein Vorzug der Hauptſtadt bleiben kan. Die Laſt die-
fer Verantwortung liegt aber groͤſtentheils denenjenigen auf,
welche die Pflichten nicht unterſcheiden, und dasjenige an
einem Landmanne nicht mit Fleiß verehren, was zu ſeinem
Beruf und zu ſeinem Stande gehoͤret. Ich bin u. ſ. w.



XVI.
[88]Schreiben eines angehenden Hageſtolzen.

XVI.
Schreiben eines angehenden

Hageſtolzen. *)


Weg mit dem Einfalle, liebſter Freund! das Heyrathen
iſt keine Sache mehr fuͤr mich. Was mein Vater
und Großvater gethan, geht mich nichts an. Zu ihrer Zeit
war eine Frau noch der beſte Segen eines Mannes; Sie
kam ihm in der Haushaltung zu Statten, erleichterte ihm
ſeine Sorgen, und brachte noch etwas mit, um die Ehſtandes
Laſten, wie es in den alten Ehpackten heißt, zu tragen. Aber
jetzt — iſt es Raſerey eine Frau zu nehmen. Man ſchelte
mich immerhin einen Hageſtolzen und ſetze auch dieſen Namen
auf mein einſames Grab. Es iſt beſſer, daß gar keine Thraͤne,
als die Thraͤne eines betrogenen Glaͤubigers darauf falle.
Setzt dann nur ein treuer Freund hinzu, daß ich der groͤßte,
der zaͤrtlichſte Verehrer der weiblichen Tugend geweſen: ſo
forſcht noch vielleicht ein voruͤbergehendes Maͤdgen der Urſache
nach, warum ich meine Tage einſam beſchloſſen, geht in ſich,
und mindert den Staat, welcher jetzt einen ehrlichen Kerl abhaͤlt,
ſich durch das heilige Band der Ehe an den Bankerottierpranger
ſchließen zu laſſen.


Denken
[89]Schreiben eines angehenden Hageſtolzen.

Denken Sie nicht, daß ich zu ſehr ins traurige oder ins
ernſthafte verfalle. Es iſt dieſes ſonſt, wie Sie wiſſen, mein
Fehler nicht. Allein, nachdem die letzte, worauf ich ein Auge
geworfen hatte, unter einer Menge von andern Geſchenken,
außer den Uhren zum Neglige noch drey Staatsuhren von
mir erwartete, wovon eine jede mit Diamanten nach der Farbe
ihrer Kleider beſetzet ſeyn ſollte: ſo muͤßte ich wohl der unem-
pfindlichſte Menſch von der Welt ſeyn, wenn ich nicht entwe-
der im Luſtigen oder im Traurigen ausſchweifen ſollte. Mein
kuͤnftiger Eheherr ſagte ſie, ohne zu wiſſen, daß ich in der
Hoffnung es einmal zu werden, ihr meine Aufwartung machte,
wird an mir einen koſtbaren Schatz finden, und hoffentlich
zufrieden ſeyn, wenn ich ihm fuͤr ſeine Gefaͤlligkeit alle Tage
einmal ein freundliches Geſicht mache. Wie gluͤcklich biſt du,
ſagte ich zu mir ſelbſt, daß du auf dieſes freundliche Geſicht
noch nichts geborget haſt; und wie ſehr bedaure ich den Mann,
der einmal deinen Artiſchockenkopf (ſie war a l’artichaut
friſirt) zu behandeln haben wird ..... Was meynen Sie
aber, liebſter Freund! wie hoch ſich der Brautſchatz belief,
wofuͤr dieſe Eheſtandslaſt getragen werden ſollte? Auf
10000. ſchreibe zehntauſend Thaler. Damit haͤtte ich vielleicht
nicht einmal die Uhren mit dem zu jeder gehoͤrigen Hals-Kopf-
und Ohrenſchmuck bezahlen koͤnnen; und was waͤre mir
denn fuͤrs Flicken geblieben?


Eine andre, die ich mir vorher ausgeſehen hatte, war zwar
in Anſehung des Schmucks etwas billiger, und haͤtte ſich viel-
leicht mit einem mittelmaͤßigen von Brillanten befriediget.
Allein ihre Schweſter, die eben heyrathete nahm der ent-
behrlichen Koſtbarkeiten ſo viel; und ihre Eltern ſahen mit
einem ſo gefaͤlligen Laͤcheln auf dasjenige herab, was der kuͤnftige
Herr Schwiegerſohn mit ſeinem halben Ruin angeſchaffet hatte,
F 5daß
[90]Schreiben eines angehenden Hageſtolzen.
daß ich mir nicht getrauete, ihm in dieſer Bahn nachzurennen.
Ihm koſteten ſeine Geſchenke gewiß dreytauſend Thaler; und
die Eltern hatten ohne Zweifel noch mehr angewandt, um
die Braut mit einer neumodiſchen Garderobe zu verſehen.
Die guten Leute, dachte ich, werden Bankerott machen, ehe
ſie ihre Handlung anfangen. Denn ihr beyderſeitiges Ver-
moͤgen, womit ſie als Kaufleute handlen wollten, lief nicht
hoͤher wie der Brautſchatz meiner Prinzeßin mit den drey
Uhren.


Meiner erſten Braut, da ſie nachher ſo ungluͤcklich geworden,
will ich in allen Ehren gedenken. Sie hatte ein huͤbſches
Geſicht, ein unſchuldiges Herz, und eine feine Erziehung.
Was konnte ſie dafuͤr, daß ihre thoͤrichten Eltern ſie gleich
einer Perſon von dem vornehmſten Stande und dem groͤßten
Vermoͤgen erziehen laſſen, da ſie ihr doch keinen Thaler mit-
geben konnten? Gern haͤtte ich ſie genommen, wenn ſie nichts
wie ihr gutes Herz und dabey eine haͤusliche Erziehung gehabt
haͤtte. Allein wenn ich an die grauſame Nothwendigkeit ge-
dachte ihr als einer vornehmen Dame alles dasjenige geben
zu muͤſſen, was ihre Erziehung und die jetzige Mode zu un-
entbehrlichen Beduͤrfniſſen gemacht hat: ſo getrauete ich mir
nicht die ganze Eheſtandslaſt allein zu uͤbernehmen. Bey
der erſten Unterredung traf ich ſie in einer Geſellſchaft von
ihres gleichen an. Sie ſprachen von nichts als neuen Mo-
den und Geſchmack. Die eine wollte, wenn ich es recht ver-
ſtanden, a la Tocke, die andre a la Henry quatre ſeyn[;]
dieſe trug ihr Kleid a la Poniatowsky, jene a la Ducheſſe;
dies Stuͤck hies ein Pet en l’air, jenes ein Fichu; und dann
trugen ſie conſiderations, pretenſions, poches de Paris,
Entre deux, Pele rines
und ich weis nicht was alles. Ge-
rechter Himmel; dachte ich, und einen ſolchen Pet en l’ air
ſollſt
[91]Schreiben eines angehenden Hageſtolzen.
ſollſt du zur Frau nehmen? ’ Doch die arme Hexe hat jetzt
einen huͤbſchen feinen und friſirten Mann, aber leider! ihr
Ducheſſen-Kleid verſetzt, um die Wehmutter und den Pfar-
rer zu bezahltn ....


Solche traurige Erfahrungen ſind es, worauf ſich meine
Abneigung zum Heyrathen gruͤndet. Ich habe einen guten
Dienſt und wie mein Vater rechnete, ein ziemliches Vermoͤ-
gen. Eine fromme und kluge Wirthin koͤnnte ich davon mit
aller Bequemlichkeit unterhalten, aber keine Prinzeßin, deren
Apanage nicht hinreicht, das Nadelgeld, was ſie gebraucht,
zu bezahlen. Sie ſehen mich vielleicht fuͤr einen Liebhaber
an, der ein bisgen nach Gelde freyet, und weil er deſſen
nicht genug bekommen kan, dem Heyrathen entſaget hat.
Kan man aber bey dieſen verdorbenen Zeiten anders han-
deln? Und iſt die Forderung uͤberhaupt ſo unbillig, daß eine
Frau ſo viel mitbringen ſoll, als ſie zum Unterhalt ihres Pu-
tzes gebraucht? Handelt das Frauenzimmer nicht noch ſchlim-
mer? Und iſt unter tauſenden auch nur eine einzige, die
nicht mehr nach Equipage, nach Rang und Tittel oder nach
den Mitteln, woraus ſie ihren Staat fuͤhren kan, als nach
einem ehrlichen Kerl freyet? Nennen ſie mir dieſe einzige,
und vielleicht bedenke ich mich noch.


Woher ruͤhrt aber dieſes Verderben unſer Zeiten, dieſer
Fluch, der ſo manchen redlichen Mann und ſo manches gutes
zaͤrtliche Maͤdgen zum ledigen Stande verdammt? Gewiß
von nichts anders als der Thorheit der Eltern. Die Mut-
ter, die nur ein ſeidnes Band oder ein Entre deux bezahlen
kan, ſchmuͤckt gleich ihr kleines Ebenbildgen damit aus; es
muß von unten bis oben gemuͤtzert und gefluͤtzert ſeyn, und
mit den Jahren iſt das Maͤdgen mit allen koſtbaren Moden
der-
[92]Schreiben eines angehenden Hageſtolzen.
dermaſſen bekannt und ſo daran gewoͤhnt, daß ſie nach dem
ordentlichen Laufe der menſchlichen Handlungen gar nicht da-
von zuruͤckkommen kann; und was wird zuletzt daraus? ......
Sie moͤgen es rathen. Unter den vielen ungluͤcklichen Per-
ſonen in den Hauptſtaͤdten ſind nur wenig ihrer Neigung,
die mehrſten aber der Eitelkeit zum Opfer geworden, die ih-
nen eine thoͤrichte Mutter auf das ſorgfaͤltigſte eingepraͤget
hatte. Anſtatt ihre Kinder herunter zu halten, ſie bey an-
dern in Dienſte zu geben oder ſie zu haͤuslicher Arbeit zu ge-
woͤhnen, muͤſſen ſie immer in dem Strudel der Moden
ſchwimmen, und zuletzt auch darinn verſinken.


Haben die Eltern vollends ein paar tauſend Thaler mitzu-
geben: ſo wird das Koͤpfgen der kuͤnftigen Markiſin ſo hoch
friſirt, und das Naͤsgen ſo zugeſpitzt, daß es keiner als ein
eben ſo albernes Naͤrrgen wagt, ihr Herz durch ſeinen Krep
zu ruͤhren; und mit ihr ein praͤchtiges Elend zu bauen; oder ſie
wird grau in ſchmeichelnden Erwartungen, und bietet ſich
zuletzt ſo wohlſeil aus, daß ſie niemand verlangt.


Doch Sie verlangen und brauchen nichts weiter zu wiſſen,
um meinen Entſchlnß vollkommen zu billigen. Haͤtten Sie
eine Tochter, und Sie wollten mich durch ihre Hand gluͤck-
lich machen: ſo wuͤrden Sie ſehen, daß ich aller Empfindun-
gen faͤhig, und blos ein Hageſtolz aus Verzweiflung bin.
Beklagen koͤnnen Sie mich, und ich glaube es zu verdienen;
aber verdammen muͤſſen Sie mich nicht.



XVII.
[93]

XVII.
Zweytes Schreiben des angehenden
Hageſtolzen.


Faſt ſollte es mich gereuen, daß ich die Urſachen, welche
mich vom Heyrathen zuruͤckhalten, oͤffentlich bekannt
gemacht habe. Denn ich bin ſeitdem mit ſo vielen Vorwuͤr-
fen, Zuſchriften und Antraͤgen uͤberhaͤuft worden, das ich bey-
nahe nichts anders zu thun habe, als Rechtfertigungen und
hoͤfliche Ablehnungen zu ſchreiben.


Einige haben mir den bittern Vorwurf gemacht, daß ich
uͤberhaupt eine Abneigung gegen das ſchoͤne Geſchlecht haͤtte,
weil ich mich nur allein bey deſſen Fehlern aufhielte, und die
Mannsperſonen dabey frey ausgehen ließe. Dieſe moͤgen aber
nicht bedenken, daß man ſich nur bey demjenigen gern auf-
haͤlt, was man verehrt und liebt; und daß man nur an ſol-
chen Sachen beſſert, die man einer Vollkommenheit faͤhig
und fuͤr die wuͤrdigſten haͤlt.


Andre haben ſich beklagt, daß ich ihren Toͤchtern Namen
von Moden gelehret, die ſie bisher noch gar nicht einmal ge-
kannt haͤtten; hiedurch haͤtte ich die jungen Kinder nur fuͤr-
witzig gemacht, und die Muͤtter in neue Unkoſten geſtuͤrzt.
Meine Sittenlehre waͤre dem Hirtenbriefe jenes Biſchofen
gleich, der ſeine Schaafe mit den Spoͤttereyen aller Freygei-
ſter bekannt gemacht habe, wovon ſie vorher in ihrer Einfalt
nichts gehoͤret hatten; und ich verdiente mit dieſer Bemuͤ-
hung ohne Gnade des Landes verwieſen zu werden .... Al-
lein eine von den Muͤttern, die ſich ſolchergeſtalt gegen mich
beklagte,
[94]Zweytes Schreiben
beklagte, hatte ſelbſt den Kopf à la Caraffe, und eine andre
ganz à l’ Andalouſienne. O! dachte ich, der gute Biſchof
wuͤrde euch nicht viel neues geſagt haben! und meine Ant-
wort war: es thut mir leid, daß ich den Toͤchtern etwas ge-
lehret habe, was die Muͤtter gern fuͤr ſich allein behalten
haͤtten.


Noch eine andre und zwar, im Vertrauen geſagt, eine al-
te und heßliche hat ſich mir in einer ſo altfraͤnkiſchen und faſt
moͤgte ich ſagen eckelhaften Geſtalt angeprieſen, daß ich mich
gewiß durch ihre Hand fuͤr hinlaͤnglich beſtraft halten koͤnnte,
wenn ich auch eine Satyre gegen das Heyrathen uͤberhaupt
geſchrieben haͤtte; Sie glaubte, daß weil ich nur den großen
Aufwand beym Heyrathen zu befuͤrchten ſchiene: ſo wuͤrde
ich kein Bedenken haben, ſie in ihrem 49ten Jahre als eine
ſolche zu waͤhlen, die ſich mir in ihrer Großmutter Braut-
kleide antrauen laſſen koͤnnte, und mir ſechs große Haarbeutel
aus ihrer Eltermutter Falbeblas machen laſſen wollte .....


Ich habe mir alſo mit meiner Offenherzigkeit viele Unruhen
zugezogen; und moͤgte wohl noch groͤßere erleben, wenn ich
mich endlich bewegen ließe den gefaͤhrlichen Schritt zu thun,
wozu mich die letztere mit den ſuͤßeſten Worten bereden will.
Am beſten iſt es, ich bleibe auf meinem Entſchluſſe, bis ſich
die Zeiten aͤndern; und das wird ſo bald noch nicht geſchehen,
da meine Jungfer Nachbarin eine voͤllige Pantagonianerin,
nun ſogar eine Laterne a) auf den Kopf geſetzt haͤt, worinn
ein
[95]des angehenden Hageſtolzen.
ein kleines Licht, welches von wohlriechenden Waſſern bren-
net, ein durchſcheinendes Gemaͤhlde erleuchtet, worauf ein
Herz, in welchem ein Pfeil ſteckt, die Verwundung ankuͤn-
diget. Sie nennet dieſes au petit cœur bleſſé; und ich
glaube wuͤrklich, daß ſie der Huͤlfe eines Wundarztes noͤthig
haben. Wie viel werden mir aber die wohlriechenden Waſ-
ſer und die Wachskerzen koſten, die ich fuͤr einen ſolchen En-
gel wuͤrde brennen muͤſſen, wenn ich mich entſchloͤſſe mit die-
ſer Schoͤnen meine Huͤtte zu erleuchten?


Außerdem iſt mir mittlerweile noch ein ander wichtiger
Artikel eingefallen, der mich vom Heyrathen abhaͤlt; ich
meine die ſtarke Bedienung, welche eine heutige Frau erfor-
dert. Da muß eine Cammerjungfer, ferner ein Cammer-
maͤdgen, dann wohl gar ein Cammerdiener, item wenigſtens
ein Laquais, eine beſondere Equipage und vielleicht ein eigner
Reitknecht fuͤr die liebe Frau gehalten werden; und wenn ſie
ſich auch mit der Haͤlfte von allem behelfen wollte: ſo wuͤrde
dieſes doch bey gegenwaͤrtigen theuren Zeiten gar nicht aus-
zuhalten ſeyn.


Mein Großvater der als Hausprediger auf einem adelichen
Gute geſtanden, hat mir oft erzaͤhlet, daß zu ſeiner Zeit die
Herrſchaft keinen Bedienten gehalten, der nicht nebenher
ein beſonders Ae[nli]gen gehabt haͤtte; und wann denn eine
Gaſterey geweſen waͤre: ſo haͤtte jeder ſeine Livree aus dem
Schranke geholet und damit paradiret. Der reiſige Knecht
des Herrn oder der Leibdiener, waͤre zugleich Jaͤger gewe-
ſen, und haͤtte, weil man noch von der Kunſtgaͤrtenerey nichts
gewußt, auch den Kraut- und Obſtgarten unter ſeiner Aufſicht
gehabt; der Kutſcher haͤtte die Dienſte eines Ackerknechts ver-
richtet, und waͤre ſeiner Profeßion nach ein Brauer und Becker
ge-
[96]Zweytes Schreiben
geweſen, daher er auch auf dem Gute beydes gebrauet und
gebacken haͤtte; außerdem haͤtte der Herr noch einen Enken,
oder wie man jetzt ſpricht, einen Vorreuter, gehalten, der
das Schmieden gelernt, und zu ſeinem Departement alle
außerordentliche Affairen gehabt haͤtte. Die Haushaͤlterin,
wenn ſie ihre Haͤnde gewaſchen und eine reine Schuͤrze vor-
gemacht haͤtte, waͤre zugleich wuͤrkliche Cammerjungfer und
Koͤchin, und in ihren Nebenſtunden, Altflickerin, Schnei-
derin, Kellnerin, Hofmeiſterin, Stallmeiſterin und Ver-
traute geweſen. Und wenn die Herrſchaft dieſen Bedienten
den Dienſt aufgeſagt: ſo haͤtte ein jeder zur Noth gewuſt, wie
er ſich ſeinen Unterhalt verſchaffen ſollte. Auf dieſe Weiſe
waͤre der ganze Staat zugleich wahre Beduͤrfniſſe, und beym
Abſchiede ſo wenig Herr als Bediente jemals in Verlegenheit
geweſen.


Was wuͤrde man aber, ob ich gleich noch lange ſo groß
nicht bin, als meines Großvatern geſtrenger Herr Patron,
von mir denken, wenn ich meine kuͤnftige Frau nur einiger
maaßen zu einem gleichen Haushalt gewoͤhnen wollte? Wie
wuͤrde ſie ſchreyen, wenn ich ihr im Nothfalle anmuthen
wollte, ſich von der Kuͤchenmagd ſchnuͤren zu laſſen? Rouſſeau
naͤhrt ſich vom Kraͤuterſammlen, weil er allen Menſchen ange-
rathen hat ein Handwerk zu lernen, und ſich ſolchergeſtalt
auf einem eignen guͤldnen Boden zu ſetzen; ich aber wuͤrde
gewiß die Kraͤuter mit einander freſſen muͤſſen, wenn ich nur
behaupten wollte, daß keiner zum Bedienten angenommen
werden ſollte, der nicht zugleich ein Handwerk verſtuͤnde!
oder es wuͤrde mir taͤglich einen Zuber voll wohlriechendes
Waſſer koſten, wenn ich meine kuͤnftige Frau ſolche Cammer-
bediente nur auf zehn Schritt ertragen ſollte. Fy cela
ſent
.... wuͤrde ſie mir taͤglich zurufen. Was kan mich
aber
[97]des angehenden Hageſtolzen.
aber in aller Welt bewegen, eine ſolche Laſt auf meine Hoͤr-
ner zu nehmen?


Bey dem allen ſollte es mir doch ſehr leid ſeyn, wenn man
von mir glaubte, daß ich ein Feind der Moden und ein Be-
wundrer der Zeiten waͤre, worinn die Urtanten ein paar
Haarlocken unter dem Namen von Favoriten in die Nacht-
muͤtzen neheten. Nein dieſes bin ich nicht, und ſelbſt diejenige,
die ich am mehrſten verehre, iſt ein Frauenzimmer fuͤr alle
Zeiten und alle Geſellſchaften. Sie folgt der Mode und ge-
bietet ihr, wie ſie will. Sie ziert ſich heute mit einem
Striche von Cammertuch, und ſitzt morgen auf dem Thron
aller Moden, ohne dabey zu gewinnen oder zu verlieren;
außer daß ich heute Du und morgen Sie zu ihr ſagen moͤgte.
Ihre Regierung iſt wie der Friede in einem maͤchtigen Reiche.
Man kennt die Macht die ihn erhaͤlt, und fuͤhlt ſie nie;
wenn ein uͤberfluͤßiger Aufwand der Armuth Hohn ſprechen
kan, ſieht man ſie reinlich und nett, mit Gefuͤhl und Ge-
ſchmack ungeputzt. Fordert ein Tag zu ſeiner Ehre mehrern
Glanz: ſo ſcheidet die Linie der Armuth, das angemeſſene
vom ausſchweifenden; und ſelbſt der Ueberfluß, wenn ihn
die Ehre durchaus erfordert, borgt bey ihr die beſcheidene
Mine des Nothwendigen. Dasjenige, was ſie nicht haben
kan oder will, entbehrt ſie ohne Roͤthe, und fuͤhlt ſich zu
Fuße ſo groß als in einer vergoldeten Caroſſe. Ihr Anzug
iſt nach jeder Mode und uͤber alle, ohne daß man es bemerkt;
aber auch ohne daß man an ihr etwas vermißt; und nichts
gleicht derſelben was die Seele betrift, als die Schoͤne, wo-
von der ſchwaͤrmerſche Petrarch oder ſein Nachahmer ſagt,
daß ſie vor dem Richterſtuhl, vor welchem einſt unvollbrach-
tes Wollen und kaum empfundene Gedanken buͤßen muͤßten, ihre
holden Augen in ſtiller Hofnung empor richten duͤrfte ........


Möſers patr. Phantaſ.II.Th. GAber
[98]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.

Aber Dame Laure war nicht fuͤr Petrarch, und dieſe nicht
fuͤr mich beſtimmt; ich bleibe alſo ewig
ein Hageſtolz.



XVIII.
Gedanken uͤber den weſtphaͤliſchen
Leibeigenthum.


Nicht wenige Gutsherrn und zwar ſolche, denen es gewiß
nicht an Einſicht mangelt, gerathen allmaͤhlig auf die
Gedanken, daß es weit beſſer fuͤr ſie ſeyn wuͤrde, die Hoͤfe
ihrer Leibeignen mit Vorbehalt ihres Gutsherrlichen Rechts
verkaufen, als ſolche, wie jetzt geſchieht, zum beſten der
Glaͤubiger ausheuren zu laſſen, wenn ſich ihre Leibeigne mit
Schulden a) beladen, und dadurch außer Stand geſetzt haben,
die ihnen anvertraueten Hoͤfe in Reihe und Ordnung erhalten
zu koͤnnen.


„Bey den jetzigen Ausheurungen, ſagen ſie, bekommen
„wir doch ſo nichts mehr als unſre Paͤchte und Dienſte.
„Denn wenn der von ſeinen Glaͤubigern ausgezogene Leib-
„eigne ſtirbt: ſo findet ſich nichts zu erben und was ſoll man
„von Leuten, denen die Glaͤubiger außer der Haut, wenig
„gelaſſen haben und die insgemein aus Mismuth und Gram
oder
[99]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
„oder wegen ihrer liederlichen Gemuͤthsart auf keinen gruͤnen
„Zweig kommen, fuͤr Freybriefe fordern? Dabey gehen die
„Gerechtigkeiten unſrer Hoͤfe bey den Verheurungen vielfaͤltig
„verlohren; jederman ſucht ſeinen Weg daruͤber; und waͤh-
„render Zeit andre ſich in der Mark ausdehnen und ihre
„Hoͤfe verbeſſern, ſtehen die unſrigen in Gefahr, ſogar ihre
„alten Grenzen zu verlieren. Das Gehoͤlz auf dem Hofe
„wird vollends ein Raub. Die Gebaͤude, da ſie auf Rech-
„nung gebeſſert werden, verzehren entweder die Heuergelder
„oder fallen in wenigen Jahren zuſammen; und durch die
„vielen einzelnen Ausheurungen werden unſre eignen Gruͤnde
„zuletzt ſelbſt herunter ſinken.


„Mit dem Adel iſt es nun leider einmal ſo weit gekommen,
„daß er ſeine Ehre im Dienſte ſuchen muß. Man will heut
„zu Tage keine Edelleute mehr, die ihren Haushalt fuͤhren
„und ſelbſt auf den Acker gehen ſollen. Es geht auch hier
„im Stifte gar nicht mehr an, nachdem wir unſre Gruͤnde ſo
„hoch als moͤglich verheuret, unſern Staat darnach einge-
„richtet, und die Erbtheile unſer Bruͤder und Geſchwiſter
„darnach beſtimmet haben. Wir wuͤrden dieſe und andre
„unſre hierauf gemachte Schulden nicht verzinſen koͤnnen,
„wenn wir unſern Acker ſelbſt unternehmen ſollten. Denn
„dabey kommt fuͤr uns, die wir kein Auge, keine Hand und
„keinen Fuß mehr dazu haben, nichts heraus als Schade.
„Wir muͤſſen alſo durchaus darauf denken, die Heuer unſer
„Acker und Wieſen nicht ſinken zu laſſen; und dies werden
„wir wahrlich nicht verhindern, wo man nicht endlich der
„Verheuerung unſer mit Leibeignen beſetzten Hoͤfe ein ver-
„nuͤnftiges Ziel ſetzen, und wenigſtens deren Verheuerung
an einzelne ſchlechterdings verbieten wird.


G 2Dies
[100]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.

„Dies kann aber nicht beſſer geſchehen, ſchlieſſen ſie, als
„wenn wir den Glaͤubigern des Leibeignen erlauben gegen
„ihren Schuldner eben ſo als gegen einen freyen Mann zu
„verfahren, und ſeinen Hof an einen andern verkaufen zu-
„laſſen, ſo bald er nicht bezahlen kan. Wir koͤnnen uns
„10 pro Cent zum Weinkaufe von dem neuen Kaͤufer bedin-
„gen, und denn moͤgen die Glaͤubiger unſere Hoͤfe ſo oft ſub-
„haſtiren laſſen als es ihnen geſaͤllt, wenn wir nur unſre
„Paͤchte und Dienſte behalten. Verfaͤhrt man doch mit den
„Lehnen jetzt eben ſo. Und was ſind wir thoͤricht, daß wir
„mit den Glaͤubigern daruͤber koſtbarlich zanken: ob ein Leib-
„eigener abgeaͤußert werden ſolle oder nicht? Wenn einer
„von uns nicht bezahlen kan: ſo verkauft man ihm ſein Gut
„uͤber dem Kopfe, und fraget nicht darnach ob er gut oder
„ſchlecht gewirthſchaftet habe. Genug daß er nicht bezahlen
„kan; und eben dies oder doch wenigſten der bloſſe Mangel
„des Hofgewehrs, und das daraus hervorgehende Unver-
„moͤgen einer Pachtung vorzuſtehen, ſollte genug ſeyn, den
„Leibeignen vom Hofe zu ſetzen. Unſre Politik erfordert es
„mit den Glaͤubigern des Leibeignen einerley Intereſſe zu
„haben. Denn dieſe ſind es die den Leibeignen unterſtuͤtzen;
„und wir erlangen einerley Intereſſe mit ihnen, ſo bald wir
„den Verkauf gegen ſichere Procentgelder zulaſſen. Wir be-
„kommen einen freudigen Paͤchter an dem Kaͤufer fuͤr den
„verarmten Quaͤler; und erhalten endlich, wenn unſere
„Leibeignen ſehen, daß ſie nicht feſter auf dem Hofe ſitzen als
„freye Eigenthuͤmer, die oft geringer Schulden halben da-
„von ſpringen muͤſſen, ein ſicheres Mittel ihrer uͤblen Wirth-
„ſchaft Ziel zu ſetzen.


„Es iſt eine große Frage, ob das Grundeigenthum nicht
„mehr ein philoſophiſcher Begriff als eine nuͤtzliche Wahrheit
ſey.
[101]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
„ſey. In der Welt kommt alles auf die Erbnutzung an,
„und die Gruͤnde bleiben da liegen, wo ſie ſeit der Schoͤp-
„fung gelegen haben. Den Verkauf freyer Guͤter kan man
„ebenfalls eine Abaͤußerung nennen. Ein Beſitzer geht da-
„von ab und der andere wieder darauf. Hier nuͤtzen die
„Glaͤubiger das Geld; bey den Leibeignen nuͤtzen ſie den
„Grund; und in der That kommen beyde gleich weit. Die
„Sache bleibt nur in unſern Begriffen unterſchieden; und
„wenn wir von dieſem philoſophiſchen Begriffe des Grundeigen-
„thums 10 oder 20 pro Cent ſo oft erhielten, als eine zufaͤl-
„lige Veraͤnderung mit der Erbnutzung vorgenommen wuͤrde:
„ſo duͤnkt mich koͤnnten wir wohl zufrieden ſeyn, und we-
„nigſtens beſſer als jetzt ſtehn.„


Dies ſind die Klagen der Gutsherrn; und man kan wuͤrk-
lich gerade zu nicht in Abrede ſeyn, daß ſelbige nicht vollkom-
men gegruͤndet waͤren. Dennoch aber iſt die Sache ſo leicht
nicht zu heben, wie ſie ſich ſolches vorſtellen; und es gehoͤret
eine muͤhſame Entwickelung verſchiedener Begriffe dazu, um
auf den rechten Punkt zu kommen. Unſer Leibeigenthum iſt
aus lauter Widerſpruͤchen zuſammengeſetzt. Es iſt das ſelt-
ſamſte Gemiſche was ſich in der Rechtsgelehrſamkeit findet;
und wird durch neuere Begriffe noch immer mehr und mehr
verworren.


Der Gutsherr, ſagt man, hatte ehedem das hoͤchſte Recht
uͤber ſeinen Leibeignen; er konnte ihn toͤdten wenn er wollte;
der Leibeigne ſtellete keine Perſon vor; er hatte nichts eignes;
er war keines Rechts, keines Beſitzes, keiner Erbnutzung
faͤhig. Die Gutsherrliche Willkuͤhr war ſein Geſetze. Heute
muſte er dieſen Acker pfluͤgen, morgen einen andern. Hatte
G 3er
[102]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
er Pferde: ſo muſte er ſo weit damit fahren, als der Guts-
herr wollte, nicht woͤchentlich ſondern taͤglich, und ſo weit
die Pferde ziehen wollten. Wenn der Gutsherr etwas
ſchenkte, verſprach oder bewilligte: ſo konnte er es morgen
wiederrufen. Der Leibeigne konnte gar nicht klagen. Er
war echt- und rechtlos, und nichts als das oͤffentliche Mitleid
oder die Religion bauete zuerſt eine Saͤule, bey welcher der
Leibeigne gegen eine uͤbertriebene Grauſamkeit ſeines Herrn
Schutz finden konnte. So war der Leibeigenthum bey den
Roͤmern; ſo ſoll er noch im Mecklenburgſchen und in Liefland
ſeyn; und ſo muß er uͤberall nach rechtlichen Begriffen zuerſt
angenommen werden.


Aber nun koͤmmt der Gegenſatz: Dieſer Leibeigne ſaß oder
wohnte in Bezirken, ſo wie er noch jetzt im Mecklenburg-
ſchen und Lieflaͤndiſchen darinn wohnt; nicht aber auf Hoͤfen
die zur gemeinen Vertheidigung ohne Mittel gezogen wer-
den, und deren Beſitzer dem Aufgebot der Landesobrigkeit
folgen muͤſſen. Der Gutsherr iſt dort ſelbſt ſteuerbar, wo
jene Art von Leibeigenthum eingefuͤhrt iſt. Das iſt er in
Maͤhren und Boͤhmen, in der Laußniz und in Liefland, und
das war er auch zu Rom. Dem Buͤrger und freyen Mann
lagen alle oͤffentliche Laſten auf; und dem Staate war es
ſehr gleichguͤltig, ob einer tauſend Zugſclaven oder ſo viel
Stuͤck Zugvieh hielt; eins war ſo gut als das andre.


Vermuthlich iſt die Beſchaffenheit des weſtphaͤliſchen Bo-
dens, der nur lauter Flecke von Lande hat, und mit Heide,
Mohr, Sand und Gebuͤrgen untermiſcht iſt, Schuld daran
geweſen, daß man keine natuͤrliche Bezirke angelegt hat.
Es ſey aber dieſe oder eine andre Urſache: ſo wollen
wir ſetzen, daß anſtatt der viertauſend Hoͤfe woraus unſer
Stift
[103]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
Stift zum Exempel beſtehen mag, fuͤnfhundert adeliche Be-
zirke vorhanden waͤren: ſo iſt nichts gewiſſer, als


  • a) daß alle unſre Bauern, eben ſo gut wie im Mecklen-
    burgſchen und anderwaͤrts voͤllig leibeigen, und von der Will-
    kuͤhr des Bezirksherrn abhaͤngig ſeyn wuͤrden;
  • b) daß gar keine Beamte, Gowgrafen, Voͤgte und ge-
    meine Bediente vorhanden ſeyn koͤnnten; und
  • c) daß wenn eine Steuer von hunderttauſend Thaler, oder
    eine Kriegsfuhr von zehntauſend Wagen erfordert wuͤrde,
    [j]ene fuͤnfhundert Bezirksherrn fuͤr Haupts zweyhundert Tha-
    ler dazu bezahlen und zwanzig wohlbeſpannete Wagen ſchicken
    muͤßten. Dies geht aus der Anlage hervor; und wird durch
    die Verfaſſung andrer Laͤnder unwiderſprechlich beſtaͤtigt.

Im Stifte Oßnabruͤck befinden wir uns nun aber gerade
im Gegenſatze. Anſtatt jener Bezirke befinden ſich lauter ein-
zelne Hoͤfe; und wir koͤnnen es ſo wohl nach der Natur, als
nach der Geſchichte voraus ſetzen, daß jeder einzelner Hof
urſpruͤnglich mit einem freyen Eigenthuͤmer beſetzt geweſen.


Es ſey nun geſchehen zu welcher Zeit es wolle; aus Noth,
von einem erwaͤhlten Heerfuͤhrer, oder von einem Ueberwin-
der: ſo ſind einmal je zehn und zehn, oder hundert und hun-
dert Bauerhoͤfe in eine Compagnie zuſammengeſetzt und ei-
nem Hauptmann untergeben worden. Dieſer Hauptmann
hat den Meyerhof zum Eigenthum beſeſſen; und hat


  • d) alle zu dieſem Hofe gehoͤrige Leute jaͤhrlich oder ſo oft
    es die Noth erfordert auf ſeinem Hofe verſammlet. Auf
    dieſem Meyerhofe iſt

G 4e) die
[104]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
  • e) die gemeine Burg geweſen, wohin alle Hofhoͤrige ſich
    mit dem Ihrigen zur Zeit eines feindlichen Ueberfalls bege-
    ben haben. Sie haben
  • f) dieſe Burg mit gemeiner Hand erbauet, die Steine dazu
    gefahren, das Dachſtroh dazu geliefert, die Graben umher
    geraͤumet und aufgeeiſet, und kurz alles was wir jetzt Burg-
    feſtendienſte nennen, als gemeine Dienſte dahin verrichtet.
    Da man noch nicht ſchreiben konnte, haben ſie
  • g) um ihr Recht zu dieſer Burg, und ihre Angehoͤrigkeit
    zu beurkunden, dem Hauptmann jaͤhrlich ein Ey, ein Huhn
    oder eine andre Sache geliefert. Sie haben, um ihn
  • h) fuͤr ſeine Muͤhe und Aufſicht zu belohnen, ihm zweymal
    im Jahr bey Graſe und bey Stroh einen Dienſt gethan; ihm
    einen Schutzpfennig gegeben, und es zu ihrer Sicherheit auf
    ſeine Vorſorge ankommen laſſen, welche Fremden er aufneh-
    men und geleiten, oder ausſchaffen und wegweiſen wollte

Er war zugleich


  • i) ihr Richter in allen kleinen Zaͤnkereyen, gab demjenigen
    der an einen andern etwas zu fordern hatte, ſeinen Schulzen
    zur Pfandung mit, und genoß fuͤr dieſe ſeine richterliche
    Muͤhe die Bruchfaͤlle, ſo ſie ihm verwilligten. Da es ihr
    allgemeines Beſte erforderte, daß jeder Hof im guten Stande
    mit einem handfeſten Wirth und gutem Spanne verſehen
    war; weil ſonſt bey einem feindlichen Ueberfalle, oder bey ei-
    nem gemeinen Nothwerke die tuͤchtigen fuͤr den untuͤchtigen
    haͤtten dienen muͤſſen: ſo war
  • k) der Hauptmann verpflichtet dafuͤr zu ſorgen, daß keiner
    unter ihnen ſeinen Hof verwuͤſten, ſein Holz verhauen, ſein
    Spann
    [105]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
    Spann verſaͤumen, oder ſich mit Alter und Leibesſchwachheit
    entſchuldigen moͤchte. Nach einer natuͤrlichen Folge ſetzte
    alſo
  • l) der Hauptmann, ſo bald einer verſtorben und der Erbe
    minderjaͤhrig war, auf ſichere Jahre einen Wirth auf den Hof
    und forderte von ihm gegen die ganze Nutzung auch die ganze
    Vertheydigung; unterſuchte, ob der Erbe, wenn er den Hof
    antreten wollte, Handfeſt zum gemeinen Dienſt ſey; gieng,
    wenn einer verſtarb, ins Sterbhaus, und ſahe darnach daß
    das Heergeraͤthe nicht vertheilet und verbracht, ſondern bey
    dem Hofe gelaſſen wurde; und zog dafuͤr bey der Einfuͤhrung
    des Erben eine Erkenntlichkeit, welches jetzt die Auffarth oder
    der Weinkauf genannt wird, ſo wie bey dem Sterbfalle, das
    beſte Pfand oder eine andre Urkunde.

Dies war ungefehr die aͤlteſte Anlage, welche ſo lange
dauerte, als man den Heer- oder wie wir jetzt ſprechen, den
Arierbann im Felde gebrauchte; und es in Weſtphalen ſo ge-
halten wurde, wie es unter den Croaten und Panduren, die
noch jetzt von ihren Hoͤfen zu Felde dienen, gehalten wird.


Der Heerbann wich dem Lehndienſt, ſo wie der Lehnmann
den heutigen geworbenen weichen muͤſſen. Jener beſtand aus
Leuten, die nur zu gemeiner Noth dienten; der Lehnmann
folgte auch nicht jedem Wink, und ſo war es fuͤr große Herrn
beſſer geworbene zu haben, die alle ihre Abſichten bereitwillig
erfuͤllen. Die Folge der letzten Veraͤnderung ſehen wir noch.
Sie iſt dieſe, daß der Lehnmann ſeine Guͤter verpachtet und
Dienſte nimmt. Eben das erfolgte bey der erſten Veraͤnde-
rung auch. Der Hauptmann verachtete ſeine Landcompagnie
und die Eigenthuͤmer giengen vom Hofe und nahmen Lehn.
Erſter ſetzte einen Meyer oder Schulzen auf dem Meyerhof;
G 5und
[106]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
und dieſe uͤberlieſſen ihren Pflug einem Aftermann, beyde
mit Vorbehalt ſicherer Dienſte und Paͤchte. Die Eigenthuͤ-
mer, ſo noch zuruͤck blieben, wurden immer mehr geplagt, ge-
druͤckt und verachtet, ſo daß ſie, wenn ſie auf dem Hofe blie-
ben und Schutz und Beyſtand haben wollten, ſich dem Bi-
ſchoffe und andern maͤchtigen Herrn auf gewiſſe Bedingungen
uͤbergeben, oder empfehlen, und ihre Hoͤfe von dieſen zur
Precarie oder zum Leibzuchtsgenuß wieder annehmen
mußten.


Wie ſolchergeſtalt nach und nach alle Eigenthuͤmer aus der
Landcompagnie traten und ihre Guͤter andern uͤberließen, kam
die Frage natuͤrlicher Weiſe vor: Ob ſie ſolche verpachten,
oder gegen Erbzins verleihen, Leibeigne oder Freye darauf
ſetzen, ein Meyerrecht oder Landſiedelrecht ſtiften, und uͤber-
haupt, ob ſie dieſen oder jenen Contrakt mit ihren Afterleuten
errichten wollten. Dem erſten Anſchein nach ſtanden ihnen
alle dieſe Contrakte frey. Allein eben ſo wie jetzt der ſpani-
ſche Oberfiſcal Campomanes fordert, daß alle ſchatztragende
Gruͤnde im Koͤnigreich nicht durch Geſinde, Heuerleute, Leib-
eigne und ſolche Menſchen beſtellet ſeyn ſollen, welche zur
Zeit der Werbung nicht frey und ohne Widerſpruch eines
Halsherrn aufgefordert werden koͤnnen: eben ſo forderte da-
mals die gemeine Reichs- und Landeswohlfart, und fordert
es noch jetzt, daß die Hoͤfe beſetzt, nicht aber verheuert oder
auf eine ſolche Art ausgethan ſeyn ſollten, wodurch der
Staat einen aͤchten Unterthanen verlieret. Wo Bezirke ein-
gefuͤhret ſind, wendet ſich der Staat an den Bezirksherrn,
und fordert von ihm eine Recrutenſtellung. Wo aber keine
Bezirke ſind, und der Staat ſich an jeden Hof ohne Mittel
haͤlt, fordert er den Mann vom Hofe, und duldet es nicht,
daß ihm dieſer durch Verbindungen vorenthalten werde, oder
zur
[107]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
zur Zeit der Noth als ein fluͤchtiger Heuerling zum Lande
hinaus gehen koͤnne.


Es iſt ein zwar ſcheinbarer aber doch im Grunde unrichti-
ger Schluß, daß unſre heutigen Bauern anfaͤnglich insge-
mein Heuerleute oder Paͤchter geweſen; und ihre Heuern
oder Pachtungen mit der Zeit erblich geworden ſeyn. Von
einem Heuermann hat nie gefordert werden koͤnnen, daß er
zur Vertheidigung des Staats ſein Leben aufopfre; dieſe
Aufopferung geht einzig und allein aus dem Eigenthum, wel-
ches einer im Staate beſitzt, hervor. Blos die Noth kan
es rechtfertigen, daß ein Heuermann mit Gewalt zum Re-
cruten ausgenommen werde. Denn da er alles was er im
Lande beſitzt, baar bezahlt: ſo hat er kein Eigenthum zu
verſteuern oder mit ſeinem Leibe zu vertheidigen. Kein Buͤr-
ger, kein Markkoͤtter, und uͤberhaupt niemand, der nicht ſo
viel als einen vollen Hof zum Eigenthum beſitzt, braucht ſein
ganzes Leben dem Staate aufzuopfern. Zwey Halbhoͤſe,
vier Viertelhoͤfe und acht Markkoͤtter ſind dem Staate im
Verhaͤltniß mit jenem, nur ein Leben oder einen Mann zum
Heerbann zu ſtellen ſchuldig; und der Heuermann kan hoͤch-
ſtens zum Sechzehntelmann angeſchlagen werden. Die Folge,
welche hieraus hervorgehet, iſt dieſe, daß kein Heuermann
oder Paͤchter der Regel nach jemals hat auf einen Hof geſetzt
werden koͤnnen.


Vielmehr iſt jeder Hof im Staate eine mit dem Dienſte
der gemeinen Vertheidigung behaftete Pfruͤnde, welche der
Eigenthuͤmer als er davon gezogen, einem Vicar auf Lebens-
zeit
conferirt; und dieſer mit der Zeit und aus oͤkonomiſchen
Gruͤnden auf ſein Gebluͤt vererbet hat. Ein gleiches wuͤrde
ſich mit allen geiſtlichen Pfruͤnden zugetragen haben, wenn
nicht
[108]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
nicht zu der Zeit, als der geiſtliche Dienſt mit einer Pfruͤnde
(officium cum beneficio) verknuͤpft wurde, die Kirche weis-
lich zugetreten, und den Geiſtlichen nicht allein das Heyra-
then verboten, ſondern auch die Kinder, welche er vorher
gezeugt, von aller Folge an der Pfruͤnde ausgeſchloſſen haͤtte.


Vielleicht, wird man ſagen, haͤtte es ſolchergeſtalt doch
dem Eigenthuͤmer als Patron frey geſtanden, ſeinen Hof
einem Leibeignen zu conferiren, und dieſen dem Heerbanns
Hauptmann an ſeine Stelle darzuſtellen. Ich antworte hier-
auf ja und nein, und will dieſes ſogleich naͤher erlaͤutern.


Schon zu der Carolinger Zeit konnten zwoͤlf Manſi damit
frey kommen, daß ſie anſtatt zwoͤlf Mann ins Feld zu brin-
gen, einen geharniſchten ſtelleten. a) Die Folge davon iſt,
daß ein Eigenthuͤmer von zwoͤlf Actien, oder zwoͤlf Nägeln,
wie man im Bremiſchen ſpricht, (wo der Beſitzer von zwoͤlf
Naͤgeln eine Stimme in der Directionscompagnie hat oder
zu Landtage gehet) eilf Manſos zur todten Hand bringen,
das iſt mit Leibeignen beſetzen, und ſie mit ſeinem Harniſche
in der Heerbannsreihe vertreten konnte. Solche eilf Manſi
fielen alſo aus der Liſte des Reichshauptmanns ganz weg; es
brauchte ihm davon keiner praͤſentirt zu werden; und da die
Geharniſchten ihre eigne Compagnie ausmachten, mithin dem
Aufbote des Hauptmanns entgiengen: ſo hatte er ſich um
dieſe gar nicht mehr zu bekuͤmmern. Die eilf Manſi konnten
alſo nach Gefallen beſetzt werden; dies geſchahe vielfaͤltig mit
Leibeignen; und daher entſtand vermuthlich der noch jetzt ſo-
genannte Leibeigenthum nach Ritterrechte.


Ganz
[109]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.

Ganz anders verhielt es ſich mit denen Hoͤfen, die nicht
durch geharniſchte außerhalb des Hauptmannscompagnie ver-
treten oder verdienet wurden. Dieſe blieben in der Rolle;
und der Eigenthuͤmer, wie er davon zog, muſte dem Haupt-
mann einen tuͤchtigen Mann praͤſentiren, der kein Leibeigner
ſeyn durfte, weil er im Heerbann mit ausziehen und folglich
ein Eigenthum zu verfechten haben mußte. Dies gab in der
Folge Gelegenheit zu unſerm Eigenthum nach Haves oder
wie wir es zuſammen ziehen, Hausgenoſſenrechte; und wir
finden hierinn ſofort den Grund, warum ſich im Hausge-
noſſenrechte eine Heergewedde, worunter Stiefel und Sporn,
im Leibeigenthum nach Ritterrechte hingegen, dergleichen
nicht befindet. Denn das Heergewedde der letztern ſteckt in
dem Harniſche, wodurch zwoͤlf Manſi diſpenſiret waren, ein
eigenes Heergewedde zu haben. Unfehlbar liegt auch hierinn
der Grund, warum die Leibeignen nach Ritterrecht kein Hof-
gewehr, und alle unſre alten Landesordnungen niemals eines
Hofgewehrs bey Leibeignen gedacht haben; da es doch hin-
gegen im Hausgenoſſenrechte und in allen Laͤndern bekannt
iſt, wo die Ackerhoͤfe nicht mit Leibeignen beſetzt ſind. Denn
das Hofgewehr iſt diejenige geheiligte Ruͤſtung, womit jeder
Unterthan zum gemeinen Dienſt allezeit in dienſt- und marſch-
fertigen Stande ſeyn muß, und wovon kein Stuͤck fehlen
darf. Wo der Pflug fehlt, da kan der Acker nicht gebauet
werden; wo der Acker nicht gebauet werden kan, da fehlen
die Pferde; und wo dieſe fehlen, da muß, wenn es zum
Dienſte koͤmmt, ein Nachbar des andern Laſt tragen. Es
fordert alſo die Wohlfart aller Mitpflichtigen, oder der Staat,
ein vollkommenes und wider alle Angriffe, ſelbſt gegen die
Beerbtheilung, geſichertes Hofgewehr. Dies konnte er aber
da nicht fordern, wo mit dem Harniſch der ganze gemeine
Dienſt erfuͤllet wurde. Es hindert dagegen nicht, daß wie
in
[110]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
in den ſpaͤtern Zeiten, nachdem ſich die Art zu kriegen ver-
aͤndert, andre Grundſaͤtze angenommen haben; und man ehe
funfzig Jahr voruͤber gehen, dem Leibeignen von hoher Lan-
desobrigkeitswegen, ebenfalls ein Hofgewehr wird zulegen
und heiligen muͤſſen. Ich rede jetzt nur von den aͤltern Zei-
ten, und dieſe werden genug gerechtfertiget, wenn die neuern
nach fuͤnfhundert Jahren zu den alten Grundſaͤtzen wieder
zuruͤckkehren muͤſſen.


Mit Recht wird man aber hier einwerfen, daß diejenigen
Leute, welche die Eigenthuͤmer ſolchergeſtalt an ihre Stelle
ſetzten, keine freye Leute geweſen, oder bleiben koͤnnen. Die
Ehre, welche nach dem alten Coſtume das vollkommene Ei-
genthum an unſrer Perſon und unſern Guͤtern, und ſolcher-
geſtalt das Reſultat des Eigenthums ſelbſt iſt, jetzt aber in
unſer niedertraͤchtiger gewordener Sprache Freyheita) ge-
nannt wird, konnte damit gar nicht beſtehen; und ſchwerlich
bequemte ſich ein freyer oder ehrenhafter Mann, eines andern
Zinnsmann oder Paͤchter zu werden; oder wenn er es that:
ſo ward er nicht viel beſſer als ein Leibeigner. Aber hier
muͤſſen wir erſt die alte ſaͤchſiſche Verfaſſung naͤher betrachten.


Es iſt unglaublich, aber ein aufmerkſamer Leſer der deut-
ſchen Geſetze fuͤhlet es, wie ſehr der menſchliche Verſtand
gearbeitet habe, dieſe Sachen zu ordnen, ehe und bevor man
Unterthanen im heutigen Verſtande oder eine Hoheit erfun-
den
[111]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
den hat, die ſich auf den Boden des Landes und nicht mehr
auf die Koͤpfe der Eingeſeſſenen bezieht. Indeſſen haben es
die Sachſen a) hierin allen Nationen und ſelbſt den Roͤmern
zuvorgethan, daß ſie eine Art von Menſchen erfunden ha-
ben, die zweydrittel Leibeigen und eindrittel Frey ſeyn ſoll-
ten. b) Sie hießen ſolche Litos und Litones, wovon die
heutige Benennung von Leuten ihren Urſprung hat. Man
kan ſich ſchwerlich eine feinere Theorie gedenken. Denn der
Mann der ein drittel Freyheit hat, iſt doch nunmehr im
Stande einen Contrakt zu ſchließen; etwas Echt- und Recht
zu haben, fuͤr ein drittel Eigenthum c) zu beſitzen, und ſol-
chergeſtalt auch fuͤr ein drittel ein Mitglied des Staats zu ſeyn.
Er hat zugleich ſeinen ganzen Leib gegen die Willkuͤhr ſei-
nes Herrn geſichert, weil man nicht auf zwey drittel geſchla-
gen werden kan, ohne daß nicht das dritte Drittel, woruͤber
der Herr nichts zu ſagen hat, mit darunter leide. Auf
der andern Seite aber konnte er auch ſeinem Herrn nicht
entlaufen, ihm ſeine Kinder ohne Freybrief nicht entziehen,
und ſich ſonſt einer vollkommenen Freyheit bedienen, wohin-
gegen der Leibeigne nach der Theorie ſeinem Herrn mit Gut
und Blut unterworfen iſt. Das peculium Servorum in
An-
[112]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
Anſehung deſſen die roͤmiſchen Knechte contrahiren konnten,
iſt lange ſo ſyſtematiſch und harmoniſch nicht.


Dieſe Art von Knechtſchaft, welche hernach auch in der
Lehnsverfaſſung gebraucht wurde, und wie es ſcheinet, auch
noch dieſen feinen Vortheil a) hatte, daß ſie Ehre und Frey-
heit nicht peremtoriſch aufhob, wie der Leibeigenthum thut;
indem derjenige, der einmal Leibeigen geworden, durch die
Freylaſſung nicht wieder zu ſeiner vorigen Ehre gelangt; an-
ſtatt daß einer der Leut wird, als Freygelaſſener in ſein vori-
ges Recht trat, war es, welche die Sachſen bey Verleihung
ihrer Hoͤfe und Erbe vorzuͤglich in Betracht zogen, und ſie iſt
auch vielleicht die einzige, welche faſt allen Abſichten ein Ge-
nuͤgen thut, indem ein ſolcher Knecht einiges Eigenthum
im Staate zu vertheidigen hat, und kein fluͤchtiger Heuer-
mann iſt, der zur Zeit der Noth den Spaden in den Deich
ſteckt und das Waſſer einbrechen laͤßt.


Jedoch wir muͤſſen nach allen dieſen Ausſchweifungen end-
lich zur Eroͤrterung der anfaͤnglichen Frage, welche darin
beſtand: ob nicht ein Gutsherr am beſten thaͤte ſeine Hoͤfe
mit Vorbehalt Gutsherrl. Paͤchte und Dienſte gegen ſichere
Procentgelder verkaufen zu laſſen, ſo oft deren Beſitzer ſich
Schulden halber darauf nicht mehr erhalten koͤnnen? zuruͤck-
kehren.


Den
[113]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.

Den Rechten nach iſt hiebey kein Zweifel, indem mit der
Gnade
a) des Hauptmanns, des Schutzherrn und des Guts-
herrn alle dienſtbare Gruͤnde, ſie ſeyn nun mit b) Voll-
oder halb oder Drittelfreyen oder Leibeignen beſetzt, gar
wohl verkaufet werden koͤnnen. Man kan auch keinen
Grund angeben, warum nicht das Erbrecht des Bauers
an dem Hofe eben ſo gut als das Erbrecht einer Familie an
einer Pfruͤnde zum Verkauf gezogen werden kan; indem
ſolches allemal mit der Clauſul, daß die Gruͤnde in ihrer
Verpflichtung und Verbindung bleiben, und die Kaͤufer faͤhig
und willig zu allen erforderlichen Dienſten ſeyn ſollen, geſche-
hen kan. Allein die Hauptſache iſt, daß der Gutsherr bey
einer ſolchen Zulaſſung die Auffahrts- oder Weinkaufsgelder
ſo wie die Freybriefe auf ein ſichers wuͤrde ſetzen, und hier-
naͤchſt auch den Sterbfall, wenigſtens nicht anders als nach
Hofrechte, das iſt blos von ſichern vorgeſchriebenen Stuͤcken
wuͤrde ziehen koͤnnen, indem ſchwerlich ein Kaͤufer ſich ohne
alle Bedingung der Willkuͤhr eines Gutsherrn uͤbergeben
wuͤrde.


Geſchaͤhe nun dieſes: ſo erhielte der Gutsherr ein ſichers
und der Kaͤufer ebenfalls ein ſichers gleichſam zu ſeinem
wohl-
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. H
[114]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
wohlerworbenen Eigenthume; und weil ſolchergeſtalt ein
rechtsbeſtaͤndiger Contrakt zwiſchen den Gutsherrn und ſeinen
Leibeignen entſtuͤnde: ſo verwandelte ſich der letzte wenigſtens
in jenen alten ſaͤchſiſchen zweydrittel Knecht, und es entſtuͤnde
ein ganzes neues Amalgema von Freyheit und Eigenthum,
worauf auch ein ganz neues Recht wuͤrde gewieſen werden
muͤſſen.


Jedoch dieſes iſt das wenigſte. Die Repraͤſentation der
Eigenthuͤmer bey allen Steuerbewilligungen, welche der Geiſt
der nordiſchen Verfaſſung und das erſte Geſetz der Vernunft
iſt, fiele ganz uͤber den Haufen. Die Gutsherrn hoͤrten
nicht allein auf Repraͤſentanten des ganzen zu ſeyn; ſondern
der Theil, oder dasjenige ſichere, was der Kaͤufer erhielte,
bliebe ſolchergeſtalt der einzige Gegenſtand der Steuer, und
das nicht unter ihrer eignen ſondern unter einer fremden Be-
willigung.


Gegenwaͤrtig muß der Gutsherr bey jeder neuen Steuer-
bewilligung, bey jedem neuen Bruͤchten denken, daß alles was
der ſchatzbare Leibeigne auf die eine oder andre Art entrichten
muß, auf ſichere Weiſe ihm ſelbſt entgehe. Dies macht ihn
vorſichtig in ſeinen Bewilligungen; aufmerkſam auf die
Bruͤchtenſatzungen; und geneigt ſeinen Leibeignen zu helfen,
ihn zu ſchuͤtzen und zu vertheidigen.


Diejenigen Eigenthuͤmer, welche zuerſt unter einem Haupt-
mann zuſammen traten, wuſten von keinen Steuren, indem
ihre Steuer im Heer- und im Burgfeſtendienſt, und in dem
feſtſtehenden Unterhalte des Hauptmanns beſtand. Die Bruch-
faͤlle bewilligten ſie ſelbſt; ſie repraͤſentirten ihr Eigenthum
zu Hauſe; und der Hauptmann repraͤſentirte ſie in der Lan-
des-
[115]Gedanken uͤber den weſtphaͤl. Leibeigenthum.
desverſammlung. Der Lito oder zweydrittel Knecht war
ebenfalls genug gedeckt, da er ſein bewilligtes Hofrecht, und
ſeine Hofverſammlung hatte, und in derſelben von ſeinem
Drittelfreyheit eine Perſon vorſtellete. Er war ſo weit von
jenem nicht unterſchieden; nur daß er wie unſer heutiger Sol-
dat fuͤr ſeinen Leib gebunden war. Beyde waren alſo nach
damaliger Art ihres Eigenthums halber geſichert, und bey
den damaligen gemeinen Anſtalten genugſam repraͤſentirt.
Allein dies wuͤrde der Leibeigne, mit dem der Gutsherr ſich
gleichſam voͤllig abfindet, nicht ſeyn. Dieſer wuͤrde das Sei-
nige von ihm fordern und nehmen, und ihn fuͤr das uͤbrige
ohne alle Repraͤſentation laſſen.


Noch eine Hauptſache iſt der Luxus, welchem ſich der Leib-
eigne aus politiſchen Urſachen nicht uͤberlaͤßt, aus Beyſorge,
die Weinkaufs und andre Gelder moͤgten ihm nach der ſchein-
baren Groͤße, die er ſich in Kleidungen und ſonſt geben wuͤrde,
zugemeſſen werden. Er iſt alſo wider die ſtaͤrkſte von allen
Verſuchungen, nemlich den Ehrgeiz einigermaßen gedeckt;
und auch dieſen wuͤrde er ausgeſetzt werden, wenn der Guts-
herr nur ein gewiſſes erhielte.


Mehrere Gruͤnde koͤnnen wir hier nicht anfuͤhren. Viel-
leicht ließen ſich auch noch ſehr ſtarke Gruͤnde fuͤr die gegen-
ſeitige Meinung entdecken, wenn man von einer Materie
alles ſagen wollte, was davon geſagt werden koͤnnte.



XIX.
[116]Nichts iſt ſchaͤdlicher

XIX.
Nichts iſt ſchaͤdlicher als die uͤberhand-
nehmende Ausheurung der
Bauerhoͤfe.


Ich habe mich in meinen Gedanken mehrmalen ins kuͤnftige
Jahrhundert verſetzt, und mich in die Verſammlungen
unſer Urenkel begeben, um zu hoͤren, woruͤber ſie ſich am
mehrſten beſchwerten, und was manche Sache nach ihrem
jetzigen Laufe fuͤr ein Ziel erreichet haͤtte. Das erſte was ich
hoͤrete, war dieſes:


Es iſt unbegreiflich, warum unſre Vorfahren die Hofesbe-
ſatzung ſo ſehr vernachlaͤßiget, und den Grund zu dem ver-
wuͤnſchten Heuerweſen gelegt haben. Anſtatt unſre Paͤchte
zu bekommen, werden wir durch Rechnungen gepluͤndert.
Da hat die Kriegerfuhr ſo vieles gekoſtet; hier hat der Reu-
ter ſo viel verfreſſen; das haben die Lieferungen weggenom-
men; jenes die feindlichen Erpreſſungen oder die Gerichtskoſten.
Nun ſind die Haͤuſer eingefallen; die Heuerleute haben zum
Theil das Holz geſtohlen, zum Theil aber nicht wieder nach-
gepflanzt; wo ſoll man die Koſten hernehmen? Eine zehn-
jaͤhrige Aufopſerung unſer Paͤchte verſchlaͤgt nichts; und wenn
man einen Hof zur Erbpacht austhun will, ſo iſt niemand,
der ihn annehmen mag. Den mehrſten fehlt es an Mitteln,
einen Hof, worauf die Gebaͤude den Einſturz drohen, und
deſſen Aecker mit ſtarker Hand angegriffen werden muͤſſen,
anzufaſſen; und diejenigen, ſo es wohl thun koͤnnten, wollen
ſich theils unſerer Willkuͤhr nicht unterwerfen; theils aber fin-
den ſie ſich beſſer dabey, wenn ſie die Laͤndereyen zur Heuer
nutzen
[117]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
nutzen und uns die Laſten tragen laſſen. Die Gerichte und
die Voͤgte ſind faſt die einzigen Herrn unſerer Hoͤfe. Jene
ſchuͤtzen den Heuermann, der nicht weichen will, bevor ihm
ſeine ganze Beſſerung bezahlet worden; und dieſer pfaͤndet
immer darauf los, ohne fuͤr unſre Paͤchte etwas uͤbrig zu laſ-
ſen. Wo noch ein armer Eigenbehoͤriger iſt; da hat er ſo viel
Geſchwiſter von ſeinem Vater und Großvater, die ihre Kin-
destheile von ihm fordern, daß er ſich gar nicht mehr retten
kann. *) Kurz, wir muͤſſen darauf denken, entweder die
Verfaſſung ſo wie ſolche vor dreyhundert Jahren war, wieder
einzufuͤhren, oder dem Heuerweſen eine ganz andre Form
geben.


Das erſte wird ſchwer halten, bemerkte ein Moraliſt, die
ganze Nation iſt leichtfertig und fluͤchtig geworden. Es iſt
keiner mehr, der es fuͤhlt, was es ſey ein väterliches Erbe
mit eignen Pferden
zu bauen. Der Heuerling zieht von ei-
nem Erbe aufs andre, ohne einen zaͤrtlichen Blick nach dem
Verlaſſenen zu werfen. Jeder ſieht ſeine Wohnung als eine
Herberge an, und denkt nicht an denjenigen der nach ihm
koͤmmt. Ueberall fehlt die Liebe zu dem geheuerten Grunde:
mit ihr die Sorge fuͤr eine Nachkommenſchaft; und mit dieſer
der edle Trieb zur dauerhaften Verbeſſerung. Man rupft
von den Hoͤfen was man kan, und denkt, wann die Heuer-
jaͤhre um ſind; ſo moͤgen Diſteln und Dornen den Grund be-
H 3decken.
[118]Nichts iſt ſchaͤdlicher
decken. Ich habe neulich meinen letzten Leibeignen abaͤuſſern
muͤſſen. Himmel! wie quaͤlte mich der Mann, ihn auf dem
Hofe zu laſſen; Er weinete und heulete nicht anders, als
wenn er Frau und Kinder verlieren ſollte; ich mußte ihn mit
Gewalt aus dem Hauſe fuͤhren laſſen. Nun, dachte ich, zu
einer ſolchen Staͤtte, die ſo ungern verlaſſen wird, ſollen ſich
gewiß tauſend Liebhaber finden. Aber es fand ſich ſchlechter-
dings kein einziger. Die Liebe des Gebluͤts zu dem elterli-
chen Gute iſt eine edle Leidenſchaft, aber unſre Vorfahren ha-
ben nicht daran gedacht, ſie zu unterhalten. Sie haben ihre
eignen Guͤter zu Stamm- und Fideicommißguͤter gemacht,
aber die Fideicommiſſe des Staats zu Grunde gehen laſſen.
Sie haben ſich der Verſchuldung der Hoͤfe nicht kraͤftig ge-
nung wiederſetzt; ſie haben ſolche vielmehr durch ſchwere Aus-
lobungen beguͤnſtiget; ſie haben der Willkuͤhr von einigen kein
genugſames Ziel geſetzet, und nun muß der beſte gleich dem
ſchlechteſten darunter leiden. Vordem ſuchten die reichſten
Heuerleute Leibeigne zu werden, um nur auf einen Hof zu
kommen. Jetzt da ſie ganze Hoͤfe zur Miethe erlangen koͤnnen,
finden ſie ihre Rechnung weit beſſer, wenn ſie ſich zur Heuer
ſetzen, und uns am Ende des Jahr mit Rechnungen bezahlen.


Wir thun wahrlich unrecht, verſetzte ein Alter, daß wir
uns uͤber unſre Vorfahren beſchweren; da wir ſelbſt den Miß-
braͤuchen kein Ziel ſetzen. Ich habe einen Hof, wovon 9
Kinder auszuſteuren ſind: jedes erhaͤlt jaͤhrlich den ganzen
Ueberſchuß des Erbes, und dieſe Abgift wird noch zwey und
zwanzig Jahr waͤhren. Immittelſt iſt meinem Bauren ſein
beſtes Pferd gefallen; und er hat daher, weil er ſich ein an-
ders anſchaffen muͤſſen, in dieſem Jahre den Ueberſchuß wie
gewoͤhnlich nicht abliefern koͤnnen. Was meynen Sie daß
der Richter gethan? Er hat ihm zwey Pferde pfaͤnden und
ſolche verkaufen laſſen, um den Ueberſchuß zu ermaͤchtigen.
Herr!
[119]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
Herr! ſagte ich zu ihm, und faßte ihn beym Knopf, der
Henker pfaͤnde ihm das Herz aus dem Leibe, und dann gehe
Er und richte. Er ſchwur mir aber zu, daß er die beyden
Pferde mit Rechta) genommen.


Ich fuͤhre vor eben dieſem Richter zween Proceſſe. In
dem einen fordert mein Leibeigner von ſeinen Geſchwiſtern,
die ihre Auslobung bey ſeines Vatern Leben erhalten haben,
daß ſie ihm von dem empfangenen wieder zu Huͤlfe kommen
ſollen, nachdem der Vater nach der Auslobung durch Ungluͤcks-
faͤlle zuruͤckgekommen, und ſeinem Anerben einen Hof verlaſ-
ſen hat, wovon nach Abzug der Abgiften und Zinſen gar nichts
uͤberſchießt; allein der Richter ſagt mir: Mein Leibeigner
werde mit Recht verlieren. In dem andern fordern die Ge-
ſchwiſter eine verbeſſerte Auslobung, nachdem der Vater rei-
cher verſtorben, wie er bey der Auslobung war; und der
Richter ſagt mir: Auch dieſen wuͤrde er mit Recht verlieren.
Nun moͤchte ich gern noch einen dritten anfangen. Einer von
meinen Leibeignen der eine reiche Erbſchaft aus Holland ge-
than, iſt damit auf die Leibzucht gezogen, und wird alles was
er hat, heimlich den abgehenden Kindern zuwenden. Immit-
telſt wollen dieſe von dem Hofe ausgelobet ſeyn, und der An-
erbe wird ihnen ihren Erbtheil bey lebendigen Leibe der El-
tern nach Verhaͤltniß des Hoſes auszahlen muͤſſen. Sollte
ich dieſes nicht verhindern moͤgen? Allein ich ſcheue die Pro-
ceſſe und mein Leibeigner hat auch kein Geld dazu, weil ihm
nur fuͤr die ordentlichen Bauerlaſten bey der Theilung etwas
weniges zu gute gerechnet worden, und der Richter ſagt aber-
H 4mal:
[120]Nichts iſt ſchaͤdlicher
mal: Er koͤnnte verlieren, denn die Auslobung waͤre nach un-
ſern Rechte heute Brautſchatz und morgen Erbſchaft. Wo
will das aber hinaus? und iſt es moͤglich, daß ſich ein Menſch
auf einen Hof ſetzen kan, wenn er auf dieſe Art gezerret wird?
Wird ſich alſo unſre ganze Verfaſſung nicht endlich voͤllig in
das verderbliche Heuerweſen aufloͤſen?


Das hat ſie ſchon gethan, ſchloß ein ander. In dem Kirch-
ſpiel, worinn ich wohne, ſind nur noch zwey beſetzte Hoͤfe
uͤbrig. Wenn gefahren werden muß: ſo faͤllt dieſen alles zur
Laſt. Die uͤbrigen Hoͤfe ſind alle ausgeheuret, und mit klei-
nen Quaͤlern beſetzt, die ihren Acker nicht beſtellen ſondern
nur umkratzen. Der Duͤnger fehlt ihnen, da ſie keine rechte
Spannung halten; das Korn was ſie ziehen, iſt um eine
Spanne kuͤrzer und unterſcheidet ſich durch ſein elendes Anſe-
hen unter allen. Der Abfall im Stroh und Korn iſt uͤber
ein Drittel gegen die Zeiten meiner Jugend; und ich erinnere
mich, wie wir vor zehn Jahren eine ſchwere Theurung hatten,
und Korn von Bremen geholet werden ſollte, daß von den
Pferden der Heuerleute kein einziges eine Meile gehen konnte.
Auf dieſe Weiſe muͤſſen die wenigen ſo noch gut ſtehen, und
worauf man zur Zeit der Noth doch greifen muß, nothwen-
dig zu Grunde gehen, ſie moͤgen ſich auch noch ſo lange weh-
ren. Die Obrigkeit ſollte darauf halten, daß jeder Hof nach
Landſittlichen Gebrauch beſetzet werden muͤßte; und dann auch
den Beſitzer ſchuͤtzen, daß ihm ſein Vieh und Feldgeraͤthe nicht
gepfaͤndet werden koͤnnte.


Hurry! Murry! unterbrach ſie hier ein Officier. Wenn
meine Soldaten ihren Tornuͤſter verſetzet haben: ſo laſſe ich
ihnen das Gewehr verkaufen, damit man ihre Tornuͤſter wie-
der einloͤſen koͤnne; und gehts denn zum Marſch, Puf ſo
nimmt jeder einen Stecken in die Hand. Das iſt die ganze
Ge-
[121]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
Geſchichte euer Heuerleute. Wenn der Kerl ein Pferd ſchul-
dig iſt: ſo pfaͤndet ihm der Richter zur Bezahlung zween, und
ihr guten Leute ſeht nicht ein, daß der Hof mit ſeinem Ge-
wehre den der Leibeigne unterhat, die Loͤhnung des Staats iſt,
welche vermoͤge der urſpruͤnglichen Verbindung gegen allen An-
griff geheiliget ſeyn muß. Wenn meine Soldaten von ihrem
Gewehr und ihren Tornuͤſter ihren Kindern nach dem Werth
derſelben etwas auskehren muͤßten: ſo werden dieſe zwar we-
nig erhalten, die Vaͤter aber wahrhaftig mit Stecken zu Felde
ziehen. Mit dem Trommelſchlag bezahlen wir alles; und
das muͤßten eure Leibeignen auch thun.


Es iſt wahrlich keine Sache, woruͤber man ſpotten ſollte,
fieng hier der Moraliſt wieder an. Iſt es gleich traurig und
erſchrecklich, einem Landmanne zur Bezahlung einiger Kuͤhe,
ſein beſtes Pferd; zur Bezahlung eines andern Pferdes ſeine
Kornfruͤchte, und zur Bezahlung neuer Kornfruͤchte Wagen
und Pflug zu pfaͤnden, und zur Befriedigung des Wagen-
machers wieder bey den Kuͤhen anzufangen; mithin ihn in
dieſem Landverderblichen Spiele, wobey zuletzt alles mit
Cartengeldern fuͤr die Bediente aufgeht, herumzujagen: ſo
liegen doch die großen Mittel, wodurch dieſen Uebeln abge-
holfen werden koͤnnte, ſo tief in dem Gebirge, daß eine Art
von Wunderwerk geſchehen, und die große Kayſerin aller
Reuſſen, Catharine die Andre, dieſe weiſe und maͤchtige
Geſetzgeberinn des vorigen Jahrhunderts aus der Erde wie-
derum aufſtehen muͤſte, um ſie heraufzubringen, und vom
rohen Geſtein zu ſaͤubern. Unſre aͤlteſten Vorfahren, um
ſich kurz zu helfen, ſchnitten den roͤmiſchen Richtern und
Advocaten die Zungen aus, und ich ſtelle mir die wilden
Fleiſcher mit der Zunge in der Hand noch oftmals vor, wie
ſie ſprachon:
H 5Ver-
[122]Nichts iſt ſchaͤdlicher
Verdammt ſeyn alle geſchriebene Geſetze und ihre
Ausleger. Hervor du alter Druide und halte deinen
Richterſtab in die Hoͤhe; verſammle zu dir zwoͤlf und
wenn die Sache wichtig iſt, vier und zwanzig ehrliche
Maͤnner aus unſerm Mittel. Was dieſe fuͤr das gemei-
ne Beſte gut und billig finden, das kan und ſoll uns
ein Recht ſeyn. Wer dann leidet, der leide als durch
Gottes Gericht. Allen andern Rechtſprechern aber
thue man wie ich dieſem Roͤmer gethan.

So ſprachen ſie ohne Zweifel, und wann wir nach dieſem
Vorgange erſtlich alle Rechtsgelehrten, es ſey nun als ſo
viel Ariſtides, oder als ſo viel Verraͤther aus dem Lande
verbanneten, und hiernaͤchſt die Auslobungen der Kinder
durch drey oder fuͤnf ehrliche Vaͤter erkennen ließen; wenn
wir ferner jaͤhrlich in jedem Kirchſpiele einen Aeußertag
hielten, und auf demſelben durch drey Gutsherrn und durch
drey der aͤlteſten Gemeinen, unter dem Vorſitze eines von
beyden Theilen erwaͤhlten oder vorgeſetzten Obmanns, gegen
alle ſchlechte Wirthe ein Urtheil ohne Gnade finden ließen;
wenn bey dieſen Aeußertagen alle Schulden, die einer im
Jahre gemacht, angezeigt, gepruͤft und nach einer Vorſchrift
wieder bezahlt werden muͤſten; wenn endlich jedesmal, wie
ſolches geſchehen, bey dem naͤchſten Aeußertage beſcheiniget,
und ſonſt weder Schuld noch Pfandung geſtattet wuͤrde: ſo
ſollten unſre Hoͤfe gewiß nicht mit Heuerleuten, ſondern mit
guten tapfern Wirthen beſetzt ſeyn. Allein wir wollen alles
mit Verordnungen zwingen, und dieſe beſſer machen als
Gott ſein Wort, uͤber deſſen Sinn die verſchiednen Partheyen
nun ſchier uͤber achtzehnhundert Jahre ſtreiten. Die ganze
Weisheit unſer Vorfahren gieng auf den großen Grundſatz:
Daß
[123]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
Daß man das Recht niemals mit der Schnur ausmeſſen
koͤnnte, ſondern vieles dem Ermeſſen ehrlicher Maͤnner
uͤberlaſſen muͤſſe.

Nach dieſem Grundſatze gieng ihre einzige Vorſorge auf
die Ausfindung ehrlicher Leute, welchen das Ermeſſen
anvertrauet werden koͤnnte, und in deren Ermangelung
lieber auf ein paar Wuͤrfel oder auf ein ander Gottes
Urtheil als auf alles was Menſchenkoͤpfe von Rechtswe-
gen
ausſprechen wollen und was niemals einen ehrlichen
Kerl ſo gut beruhigen wird, als ein ungluͤcklicher
Wurf.

Anſtatt daß wir immer an den Geſetzen flicken und ſolche zu
einer Vollkommenheit bringen wollen, wozu uns in der
Sprache der Ausdruck, und im Kopfe diejenige Weisheit
mangelt, welche alle moͤgliche Faͤlle uͤberſehen kan.


Ein ander Pedant, denn einen Pedanten konnte man
dieſen Philoſophen doch wohl nennen, fiel ihm hier in die
Rede, und behauptete, die ganze Schuld der Veraͤnderung
laͤge allein in der entdeckten neuen Welt. Vorher, ſagte er,
und ehe dieſe uns zu unſerm Ungluͤck Geld und Silber in zu
großer Menge geſchickt hat, war es dem Landbeſitzern nicht
leicht moͤglich mehr als eine Erndte in einem Jahre zu ver-
zehren. Seine Geſchwiſter ſteurete er etwa mit einem
Fuͤllen, einem Rinde und einem Bunde Flachs aus; dem
Staate diente er mit der Fauſt, und dem Gutsherrn gab er
was der Boden und die Haushaltung vermogte. Schulden
konnte er ſo viel nicht machen, und ſo blieb Ausgabe und
Einnahme ſich ſo ziemlich gleich. Wer einen Hof hatte,
der blieb alſo darauf, und man wuſte nichts von Geldheuren,
ſondern nur von Kornpaͤchten und andern Nationalliefe-
rungen, die der Herr, wenn ſie nicht entrichtet wurden, vom
Felde
[124]Nichts iſt ſchaͤdlicher
Felde und vom Boden mit kurzer Hand ermaͤchtigen konnte.
Allein durch die ſpaͤtere Einfuͤhrung des Geldes iſt dieſer
gute Plan ganz veraͤndert. Durch Huͤlfe des Geldes kan
ein Landmann in einem Jahre die Erndte von zwanzigen
verzehren. Er nimmt tauſend Thaler auf, und verſpricht
ſolche nach einer halbjaͤhrigen Loͤſe zu bezahlen, ein Ver-
ſprechen, daß er der Natur nach nicht anders halten kan,
als unter der mißlichen Bedingung, wenn ein andrer ſo
thoͤricht iſt, ihm ſolche wieder vorzuſtrecken. Der Richter,
welcher die Unmoͤglichkeit und Eitelkeit dieſes Verſprechens
einſehen ſollte, treibet ihn dem ungeachtet zur Bezahlung,
und man nennet dieſes eine geſetzmaͤßige Gerechtigkeit, ohne
auch nur einmal eine Ahndung zu haben, daß es eine offen-
bare Grauſamkeit ſey; und daß man Unmoͤglichkeiten fordere,
wenn man von einem Landbeſitzer mehr erwartet als was er
am Ende des Jahrs uͤberſchuͤßig hat. Kan nun der
Schuldner nicht bezahlen, ſo pfaͤndet ihn der Richter auf
die tauſend Thaler, ſo lange er ein Pfand im Hauſe hat;
und dabey ſoll der Mann dem Staate von ſeinem Hofe
dienen, und -- vermuthlich mit ſeinen Naͤgeln -- den Acker
beſtellen. Wenn die Sache irgend wieder in eine gute Gleiſe
gebracht werden ſoll: ſo muß entweder das Geld ganz ver-
bannet, oder der Ueberſchuß eines verſchuldeten Hofes ein
vor allemal feſtgeſtellet, und keine Pfaͤndung weiter als auf
den Ueberſchuß geduldet werden.


Ich mag das Gewaͤſche nicht laͤnger hoͤren, rief hier der
Officier. Kurz, der ganze Fehler liegt an dem Mangel der
Kriegeszucht. Anſtatt Vieh und Pferde zu pfaͤnden, ſollte
man die ſchlechten Haushalter beſonders aber die Saͤufer und
Zaͤnker fleißig durch die Gaſſen laufen laſſen. Bey meiner
Ehre, ſie ſollten mir anders werden, oder vom Hofe herunter.
Ich
[125]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
Ich habe in einem alten Buche geleſen, daß vordem jedes
Kirchſpiel unter einem eignen Oberſten oder Landeshauptmann
geſtanden, der ſeine untergebene Hoͤfe und Leute alle Woche
viſitirt, und uͤber die ſchlechten Wirthe ſofort mit Zuziehung
einiger Achtsleute Standrecht gehalten. Geſchaͤhe dieſes wie-
der: ſo ſollte das Ding ſich bald aͤndern. Aber ſo heißt es
nichts, daß der Schuldner jaͤhrlich nicht weiter als auf ſeinen
Ueberſchuß gepfaͤndet werden ſoll. Geſetzt, er haͤlt den Ter-
min nicht, er bezahlt auch nicht was verglichen, und der
Ueberſchuß reicht nicht zu den Koſten: ſo wird ihm doch der
Richter, wenn der Credit noch irgend auf eine Weiſe erhal-
ten werden ſoll, in Ermangelung andrer Sachen, Pferde
und Kuͤhe nehmen muͤſſen; oder er wird eine weitlaͤuftige
Unterſuchung anſtellen; ob der Schuldner mit oder ohne ſein
Verſchulden von neuem außer Stand gerathen ſey zu bezah-
len? Und dann kommen die Rechtsgelehrten zur Nebenthuͤr
wieder herein, wann ihr ſie durch die große ausgewieſen.
Kurz, der Edelmann zieht ſein Gehalt von der gemeinen
Maſſe des Staats dafuͤr, daß er die Controlle uͤber die Wirth-
ſchaft der Gemeinen fuͤhren ſollte; dieſen ſollte man an ſeine
Pflicht erinnern, und die aus der Compagnie verſtreuten
Hoͤfe, wovon jetzt ein jeder ſeinen eignen Capitain oder Guts-
herrn hat, bey hunderten und hunderten wiederum unter eine
Aufſicht bringen, und das Zerſtreuen ſolcher Compagniehoͤfe
fuͤrs kuͤnftige bey Verluſt der Landhauptmannſchaft verbieten,
ſo wie es wuͤrklich in den Reichsgeſetzen, nach der Meynung
unſers Auditeurs ſchon vor fuͤnfhundert Jahren verboten ge-
weſen. Bey einer ſolchen Compagnie waͤre dann anſtatt des
Richters blos ein Landauditeur, der das Protocoll fuͤhrte,
und weiter kein Gelehrter.


Ich
[126]Nichts iſt ſchaͤdlicher

Ich denke das beſte iſt, wir ſetzen einen Preis von hundert
Dukaten auf die Beantwortung der Frage:
Welches die beſte Art des Colonats ſey?
verſetzte ein ander, der bis dahin in aller Stille den uͤbrigen
zugehoͤret hatte, und fuͤgen derſelben allenfalls noch die zweyte
Frage bey:
Was ein Staat in dem Falle, wo die Heuer fuͤr der
Landſiedeley, das Uebergewicht erhalten, fuͤr Maasre-
geln zu ergreifen habe?


Ueber die letzte will ich jetzo meine Meinung eroͤfnen, bis
einem andern der Preis wegen der erſten, deren Beantwortung
eine eigne Reiſe durch Europa und die Aufmerkſamkeit aller
philoſophiſchen Geſetzgeber verdienet, von Einſichtsvollen
Richtern zugeſprochen ſeyn wird.


Ehe ich aber hier weiter gehen kan, muß ich die verſchie-
denen Arten von Verheurungen, worauf ich jetzt ziele, und
welche man ſonſt unter dieſen Namen gewoͤhnlich alle nicht
begreift, mit wenigen beruͤhren.


Ich nenne erſtlich denjenigen ſchatzbaren Landeigenthuͤmer
einen Heuermann, der jaͤhrlich ſo viel an Steuren und Zin-
ſen zu bezahlen hat, als ihm ſein Hof, wenn er ihn verpach-
ten wuͤrde, einbringen koͤnnte. Zweytens rechne ich dahin,
den gewoͤhnlichen Paͤchter oder Heuersmann, der einen gan-
zen Hof von andern geheuret hat; und drittens die kleinen
Heuerleute, deren oft zwanzig einen ſchatzbaren Hof Stuͤck-
weiſe unterhaben.


Alle dieſe Arten von Heuerleuten haben unſre Vorfahren
im Staate nicht geduldet; und zwar aus folgender Haupt-
urſa-
[127]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
urſache, weil in dem Falle, wo z. E. hundert Landeigenthuͤ-
mer und hundert ſolche Heuerleute mit einander einen gleichen
Strang ziehen ſollen, dieſe gegen jene zur Zeit der Noth nicht
aushalten koͤnnen; ſondern entweder davon gehen, oder ſte-
cken bleiben, mithin den erſten die ganze Buͤrde tragen laſ-
ſen muͤſſen. Der Feind, ſagten ſie, welcher ein Land brand-
ſchatzt, rechnet den Staat auf zweyhundert Hoͤfe, die er auch
wuͤrklich enthaͤlt, und richtet ſeine Forderung an Geld, Fuh-
ren und Lieferungen darnach ein. Wenn es aber zur Bezah-
lung koͤmmt: ſo ſind diejenigen, welche nichts uͤbrig haben,
weiter nichts als leere Namen auf dem Papier, und die an-
dern muͤſſen noch dazu fuͤr ſie bezahlen. Fordert der Staat,
zur Zeit einer gemeinen Noth, in der Vorausſetzung, daß
zweyhundert Wirthe: ſo ſind die Haͤlfte davon blind; und
ſteigt die Noth zu einer gewiſſen Hoͤhe: ſo, daß die Heuer-
leute nichts mehr zu verliehren haben, ſo entweichen ſie aus
dem Staat, und verlaſſen ihre Mitbuͤrger, mit denen ſie
vielleicht mehrere Jahrhunderte alle Vortheile der Ruhe, des
Schutzes, und der Landnutzung getheilet haben. Die Ge-
ſetzgebung muß ferner zum Nachtheil der Eigenthuͤmer Leib-
und Lebensſtrafen einfuͤhren, weil die Landesverweiſung fuͤr
einen Heuerling keine Strafe bleibt: oder ſie muß wohl gar
auf Koſten der Eigenthuͤmer, fuͤr welche die Verweiſung eine
uͤberaus ſchwere Strafe iſt, ein Zuchthaus anlegen, um die
Fluͤchtlinge in Ordnung zu halten.


Aus dieſen und mehrern Gruͤnden, welche ich jetzt nicht
anfuͤhren will, litten ſie auf ſchatzbare Hoͤfe keine Heuerleute;
ſondern forderten bey ihrer Vereinigung, wie die oͤffentliche
Sicherheit nicht anders, als durch den Wirth vom Hofe mit
ſeinem ganzen Vermoͤgen behauptet werden konnte, einen
freyen wehrhaften Mann, ohne Schulden und Privatabgif-
ten.
[128]Nichts iſt ſchaͤdlicher
ten. Die Mitglieder des Staats rechneten ſich damals ge-
gen einander wie Beſitzer von ganzen Actien die baar zur ge-
meinſchaftlichen Caſſe erleget ſind. Wie aber die Sicherheit
gegruͤndet war, und die Vertheidigungsanſtalten ſich aͤnder-
ten oder verminderten, und gleichſam die halbe Actie zuruͤck-
bezahlet werden konnte: ſo hatte auch der Staat an dem hal-
ben Hofe Buͤrgſchaft genug, und nun war es dem Eigenthuͤ-
mer frey, dieſe dem Staate unverbundene Haͤlfte nach Ge-
fallen zu gebrauchen; und ſo konnte zuerſt ein Pacht- oder
Erbpacht, ein Zins- oder Erbzinscontract, oder eine andre
Art von Colonat entſtehen, in Gefolge deſſen der Eigenthuͤ-
mer ſeinen Hof einem Aftermann uͤbergab, und der in die
Reihe getretene Mann ſeinem Guts- oder Zinsherrn oder auch
ſeinem Glaͤubiger ſo viel jaͤhrlich entrichten moͤgte, als der
halbe Hof zur Heuer thun koͤnnte. Der Staat ſchien zwar
dadurch ſeinen halben Fond zu verlieren. Es war aber in
der That nichts, weil auf der andern Seite der Guts- und
Zinsherr fuͤrs Vaterland focht, waͤhrender Zeit der Erbzins-
mann ſeinen Acker in Ruhe bauete.


Solchergeſtalt beſtand nun in ſpaͤtern Zeiten die gemeine
Reihe noch aus halben Eigenthuͤmern; und ſie koͤnnte vielleicht
bey ruhigen und gluͤcklichen Zeiten aus Vierteleigenthuͤmern be-
ſtehen. Allein dieſelbe ohne alles Eigenthum beſtehen zu laſſen,
oder einen Staat aus hundert ganzen Eigenthuͤmern, und
hundert Heuerleuten, die beyde zu gleichen Pflichten verbun-
den ſeyn ſollen, zuſammen zu ſetzen, iſt, was das erſte be-
trift, gefaͤhrlich, und in Anſehung des letztern, fuͤr die Ei-
genthuͤmer unverantwortlich. Dies geſchieht aber in allen oban-
gezogenen Faͤllen der Verheurung, und ich habe es noch vor we-
nigen Tagen geſehen, daß in einer Reihefuhr der Hengſt ei-
nes Eigenthuͤmers, die ganze Ladung, die darauf liegende
Fut-
[129]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
Futterſaͤcke der zugeſpanneten Heuerleute, und deren ihre
ohnmaͤchtigen Pferde uͤberweg zog, aber auch daruͤber ſtuͤrzte.


Ich glaube alſo den Satz annehmen zu koͤnnen, daß die
zu gleicher Reihe verpflichteten Unterthanen eigentlich ein
gleiches und allemal ein ziemliches Eigenthum im Staate
haben muͤſſen, welches demſelben auf den Nothfall zur
Sicherheit verhaftet bleibt, und das Unterpfand ausmacht,
worauf er zur Zeit der zunehmenden oͤffentlichen Laſten grei-
fen koͤnne. Dieſes Eigenthum iſt in der Erbpacht, und in
andern Landſittlichen Beſetzungsarten immer einigermaßen
vorhanden, wenn es auch in keinem wahren Rechte am
Grunde, ſondern nur in den Gebaͤuden und der Beſſerung
deſſelben beſtehen ſollte, welche deren Beſitzer bey einer ge-
meinen Noth ſo leicht nicht verlaſſen werden. Es iſt aber
nicht vorhanden, wo dem Verpaͤchter ſowohl der Grund als
die Gebaͤude zugehoͤren, oder der Hof von ſeinem Beſitzer
in der Maaße beſchweret iſt, daß ſowohl Grund als Gebaͤude
nicht weiter als fuͤr das Capital der Abgiften und Zinſen
hinreichen; und es bleibt dem Staate gar keine Sicherheit
uͤbrig, wenn eine Menge von kleinen Heuerleuten den
Reihepflichtigen Hof unter haben, die bey dem geringſten
Sturm mit ihrer Kuh am Stricke, und dem Spinnrade in
der Hand uͤber die Grenze ziehen und beym erſten Sonnenſchein
wieder hereinkommen koͤnnen. Dergleichen geringe Leute
haben als Nebenwohner ihren Werth: Sie moͤgen auch wohl
von ſchatzbaren Hoͤfen heuren. Allein die Hauptwirthſchaft
auf einem Reihepflichtigen Hofe muß zum Beſten und zur
Sicherheit des Staats nicht geſchwaͤcht, und auch nicht ver-
aͤndert werden.


Die gerade Linie beſteht alſo darin, daß jeder Reihepflich-
tiger Unterthan ein fuͤr den Staat zulaͤngliches Eigenthum
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Jhabe
[130]Nichts iſt ſchaͤdlicher
habe und ſicher behalte; und die Mittel, welche ſich einem
Staat, worin das Heuerweſen zu ſehr Ueberhand genommen
hat, darbieten, muͤſſen dahin gehen, zu verhindern, daß von
dieſer geraden Linie ſo wenig als moͤglich abgewichen und wo
davon abgewichen iſt, ſolche wiederum hergeſtellet werde.
Beyde Abſichten werden ſich aber nicht ploͤtzlich, ſondern
nach und nach durch eine beſtaͤndige lebhafte Ueberzeugung
von der Richtigkeit dieſer Linie, und einer darauf gegruͤnde-
ten Policey erreichen laſſen. Unter die Mittel dazu zaͤhle
ich


  • 1) ein Verbot, daß gar keine Hoͤfe weiter ausgeheuret
    werden ſollen.
  • 2) Daß der ganze Hof zu einem oͤffentlichen Fideicommiß
    erklaͤret werde, worauf der Staat und der Gutsherr zwar
    ihr Recht behalten, kein Glaͤubiger, und wenn es auch ein
    abgehendes Kind waͤre, jemals einigen Anſpruch erhalten
    koͤnnen.
  • 3) Daß aus den Gebaͤuden auf dem Hofe, und dem Hof-
    gewehr, welches nach einer vorgegangenen Beſtimmung vor
    allem richterlichen Angrif zu ſichern iſt, und beſtaͤndig vollzaͤhlig
    ſeyn muß, unter Gutsherrl. Guarantie ein Freyſtamm in
    jedem Erbe errichtet und gerichtlich eingetragen werde.
  • 4) Daß alle Schulden, welche der Hofes Beſitzer macht,
    ſo wie alle Pfandzettel, welche gegen ihn erkannt werden, in
    ſo fern des Schuldners uͤbriges zum Hofgewehr nicht gehoͤ-
    ges Vermoͤgen unzureichend iſt, anſtatt der Execution ledig-
    lich in jenes Buch geſchrieben werden.
  • 5) Daß ſo bald die Summe der Schulden die Summe je-
    nes Freyſtamms erreicht, ſofort ohne weitere Urſachen zu
    er-
    [131]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
    erwarten, zur Abaͤußerung geſchritten, und der Hof dem
    Gutsherrn gegen Erlegung der Freyſtammgelder, welche un-
    ter die eingetragenen Glaͤubiger nach der Ordnung zu ver-
    theilen ſind, zur freyen Beſetzung uͤberlaſſen werde.
  • 6) Daß dem Gutsherrn, welcher ſein ausgelegtes Geld
    nebſt einem billigen Weinkauf von dem neuen Beſitzer wieder
    fordern mag, eine ſichere Zeit geſetzet werde, binnen welcher
    er den Hof wieder beſetzen, oder gewaͤrtigen muß, daß ſol-
    ches von dem Landesherrn als oberſten Vertheidiger der ge-
    meinen Reihe geſchehe.
  • 7) Daß der geringſte Mangel an dem vorgeſchriebenen
    Hofgewehr, und uͤberhaupt im Freyſtamm, worunter die
    Gebaͤude mit gehoͤren, wenn er auf dreymaliges Erinnern
    des Gutsherrn nicht wieder ergaͤnzet wird, als eine hinlaͤng-
    liche Urſache der Abaͤußerung angeſehen werde.
  • 8) Daß die Gerichtskoſten, welche die Abaͤußerung koſtet,
    zu einer Summe beſtimmet, und gerichtlich mit eingetragen,
    auch bey erfolgter Abaͤußerung, den Glaͤubigern nicht mehr
    als eines Jahres Zinſe verguͤtet werde.
  • 9) Daß alle Auslobungen ſich einzig und allein nach dem
    verſchuldeten Freyſtamm richten muͤſſen, dagegen aber den
    Eltern frey bleibe, ihren abgehenden Kindern, von demjeni-
    gen Vermoͤgen, was ſie uͤber den Freyſtamm haben, nach
    eigenen Gefallen bey lebendigen Leibe Gutes zu thun.
  • 10) Daß jeder Bauer jedesmal die gerichtlich eingetrage-
    nen Schulden vorn in ſeinem Pachtbuche haben muͤſſe, da-
    mit der Gutsherr jaͤhrlich ſehen koͤnne, ob er zuruͤck oder vor-
    waͤrts gekommen.

J 211) Daß
[132]Nichts iſt ſchaͤdlicher
  • 11) Daß krine Gutsherrliche Bewilligungen fernerhin be-
    ſonders ertheilet werden, ſondern die gerichtliche Eintragung
    auf den Freyſtamm die vollkommene und ofne Sicherheit des
    Glaͤubigers ausmache.

Beym erſten Anblick ſcheinet es zwar, als wenn der Guts-
herr dabey verliere, daß er nicht allein einen Freyſtamm
auf ſeinem Hofe erkennen, und ſolchen bey der Abaͤußerung
den Glaͤubigern bezahlen, ſondern auch fuͤr die einmal be-
ſtimmte und gerichtlich eingetragene unveraͤnderliche Taxe
deſſelben einſtehen ſoll. Es ſcheinet auch mit den Begriffen,
welche wir vom Sterbefall haben, zu ſtreiten, und die ſo
leicht ausgeſprochene roͤmiſche Regel: quicquid ſervus ac-
quirit, acquirit Domino,
auf einmal umzuſtoßen. Es ſchei-
net weiter hart zu ſeyn, dem Gutsherrn die Pflicht aufzule-
gen, dafuͤr ſorgen zu ſollen, daß auf ſeinem ſchatzbaren Hofe
jedesmal ein Hofgewehr, ſo wie es das gemeine Beſte erfor-
dert und beſtimmet, vorhanden ſey. Mancher moͤgte auch
wohl nicht ohne Grund beſorgen, daß er ſolchergeſtalt, an-
ſtatt eine Auffarth zu ziehen, noch wohl Geld wuͤrde zugeben
muͤſſen, um einen guten Wirth, der die Pflicht eines Reihe-
manns gehoͤrig zu erfuͤllen und ſich mit einem bey der jaͤhr-
lichen Muſterung beſtehenden Hofgewehr zu verſehen, im
Stande waͤre, auf ſeine Staͤtte zu bekommen.


Allein bey einer genauern Einſicht, und wenn man die
Sachen aus ihrem wahren Geſichtspunkte faßt, werden dieſe
Schwierigkeiten ſich entweder heben oder durch groͤßere und
dauerhaftere Vortheile uͤberwiegen laſſen, vorausgeſetzt, daß
dem Gutsherrn nur die gehoͤrige Macht gegeben werde den
Plan ohne fremde Verhinderungen ausfuͤhren zu koͤnnen.
Denn was den Freyſtamm betrift: ſo iſt der Name zwar
fremd
[133]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
fremd die Sache aber allezeit vorhanden geweſen. Er ſteckt
wuͤrklich in dem Erbrechte, was der Leibeigne oder Hofhoͤrige
an dem Hofe hat. Hausheuren in den Staͤdten ſind gar
nicht erblich geworden; Heuren von Laͤndereyen ohne Ge-
baͤude ſelten; und vielleicht nur bey ſolchen, die der Aus-
bauer zuerſt roden oder urbar machen muͤſſen. Aber ſo bald
Gebaͤude auf oder neben den Laͤndereyen errichtet worden, und
der Bauer dieſe gebauet und erhalten hat, iſt ſogleich Erb-
recht entſtanden. Und woher dieſes? Blos aus der Urſache,
weil man den Sohn des Vaters mit Billigkeit nicht vertrei-
ben konnte, welcher die Gebaͤude auf ſeine Koſten errichtet
hatte. Wer haͤtte Laͤndereyen annehmen, Haͤuſer darauf
bauen und wenn ihn am Rande ſeines Lebens ein ungluͤck-
licher Brand heimſuchte, ſein ganzes Vermoͤgen an neue Ge-
baͤude verwenden wollen, wenn man ihm geſagt haͤtte; nach
vier, acht oder zwoͤlf Jahren oder mit deinem Tode muſt du
dieſes alles einbuͤßen? Zwar finden ſich auch dergleichen
Contrakte auf der Heyde an der Emſe und in einigen Gegen-
den im Bremiſchen, wo der Bauer nach vollendeten Heuer-
jahren die Pfaͤhle ſeiner Huͤtte aufziehet, und ſolche weiter
ſetzt. Das giebt aber armſelige Leute fuͤr den Staat, und
geht nur in Gegenden an, wo ein leichter Boden, ohne Hol-
zungen dem Heuerling untergeben wird. Hier im Stifte
ſind die Haͤuſer dauerhafter gegruͤndet, und ſo lange in der
Winnnottel oder dem Heuercontrakt nicht ſteht oder bey der
Auflaſſung nicht bedungen wird, wie man es am Ende der
Heuerjahre mit Bau- und Beſſerung halten wolle, iſt die
Heuer, Pacht oder das Colonat, in ſo fern der Heuermann
oder Paͤchter die Haͤuſer ohne Berechnung bauet und unter-
haͤlt, erblich.


Hat das Erbrecht des Leibeignen alſo den vaͤterlichen Bau
und deſſen Beſſerung zum Grunde: ſo iſt die letztere ein
J 3wuͤrk-
[134]Nichts iſt ſchaͤdlicher
wuͤrklicher Freyſtamm; und fehlt ihm nichts als der Name
und die Beſtimmung. Nichts iſt aber feiner als das Mittel,
wodurch unſre Voreltern verhinderten, daß der Freyſtamm
nicht auf freye Erben fallen konnte. Da ſie vorherſahen,
daß bey Einraͤumung des Satzes vom Freyſtamme, ſich auch
freye Erben beym Gutsherrn melden, und eine Verguͤtung
dafuͤr fordern koͤnnten: ſo machten ſie das Geſetz, daß kei-
ner als der naͤchſte Erbe im Gehöra) den Hof erben konnte.
Dadurch blieb allemal Land und Gebaͤude unzertrennlich, und
fiel auf den Erben des Hofes, oder wenn dieſer ſtarb, an
den Gutsherrn zuruͤck. Meldete ſich ein Freyer als Erbe:
ſo trieb ihn der Hofes- oder Gutsherr mit der Ausrede zu-
ruͤck, du biſt nicht in meinem Gehoͤr. Und ſo brauchte er
niemals der Beſſerung halben mit jemanden abzurechnen,
eine Berechnung die ſonſt alles Gute auf einmal umſtuͤrzen,
und jene Einrichtung zu einer Quelle unſterblicher Proceſſe
machen wuͤrde.


Der
[135]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.

Der Sterbfall leidet durch die vorgeſchlagene Einrichtung
nicht, denn Gebaͤude und Beſſerungen gehoͤren eigentlich
nicht darunter, oder das Erbrecht des Anerben muͤſte auch
dem Gutsherrn heimfallen, und dieſer jedesmal zum Anerben
ſagen koͤnnen: alles was dein Vater erworben und hinterlaſ-
ſen, gehoͤret mir, folglich haſt du an nichts Erbrecht. Da
er aber dieſes nicht ſagen kan: ſo ſieht man gleich, daß die
Urſache, warum die Gebaͤude und Beſſerungen dennoch
wuͤrklich zum Sterbfall gerechnet werden, keine andre, als
die Verdunkelung des alten Gehörs ſey. Waͤre dieſes nicht
verdunkelt worden: ſo koͤnnte der Gutsherr, weil er alle
freye Erben und alle Glaͤubiger damit zuruͤck weiſen koͤnnte,
Bau und Beſſerung Sterbfallsfrey erkennen. Nun aber und
nachdem man den Begrif vom Gehör verlohren, muß er es
nothwendig zum Sterbfall rechnen, wo er ſich nicht allerley
Anſpruͤchen blos ſtellen ſoll; Anſpruͤche die einzig und allein
dem naͤchſten Erben im Gehör zukommen, man mag der al-
ten oder neuen Rechtsgelehrſamkeit folgen.


Das aber bleibt allemal wahr, daß es ſchwerer halten
werde, ſolche Wirthe zu bekommen, die gleich mit einem zu-
laͤnglichen Hofgewehr aufziehen und den Freyſtamm bezahlen
koͤnnen, als kleine Heuerleute, die unbeſonnen auf den groͤß-
ten Hof ziehen, und ſich darauf ſo quaͤlen wie ſie koͤnnen.
Allein laßt uns nun einmal dasjenige, was wir vor Augen
ſehen, betrachten.


In dem Kirchſpiele worinn ich wohne, ſind zwanzig Hoͤfe,
ſo unter Hofrecht ſtehen, zu kaufen, und der Hofesherr hat
ſeine Einwilligung dazu ertheilet. Der Richter hat ſie ſchon
dreymal ausgeboten, und es findet ſich kein Kaͤufer der ſich
ins Hofrecht begeben will. Was ſoll nun geſchehen? Das
J 4weis
[136]Nichts iſt ſchaͤdlicher
weis ich nicht; aber das weis ich, daß wenn die jetzt noch
darauf hangende Gebaͤude auf den Boden liegen, man den
Hof umſonſt ausbieten wird. Eben ſo geht es mir mit den
Hoͤfen verſchiedener Rittereignen. Ich kan mit der Abaͤuße-
rung nicht zu Stande kommen, weil ich nicht weis: ob ich
zu viel oder zu wenig thue, wenn ich dazu ſchreite, und der
Richter in einer Sache, wo es ſo ſehr auf ſein Gewiſſen an-
kommt, eben ſo unſchluͤßig iſt. Da nun immittelſt die Heuer
fortgehet, und 54 kleine Heuerleute auf dem Lande herum-
wuͤhlen: ſo weis ich wahrlich nicht, was ich thun ſoll, wenn
einmal die Gebaͤude fallen, und ich einen Bauer noͤthig habe,
der ſolche von neuen aufrichten und den Hof in der oͤffentlichen
Reihe vertheidigen ſoll.


Waͤre es nun aber bey ſolchen Umſtaͤnden nicht tauſendmal
beſſer, daß eine ſtandhafte Linie gezogen wuͤrde, nach welcher
den Eigenbehoͤrigen ein gewiſſer beſtimmter Freyſtamm aus-
geſetzt, und dieſelben ſofort, wenn ſie dieſen mit ihren Schul-
den erreichten, vom Hofe geſetzt wuͤrden. Wenn ein freyer
Eigner im Stifte nicht bezahlen kan: ſo fraͤgt man nicht dar-
nach, ob er durch uͤble Wirthſchaft oder auf andre Art zuruͤck-
gekommen ſey; ſondern verkauft ihm ſein Gut. Der Leibeigne
hingegen bleibt auf dem Hofe hangen, wenn er ihn auch noch
ſo ſehr verſchuldet hat, weil man ſeinem Rechte am Hofe kei-
nen beſtimmten Werth geſetzt hat. Der eine Gutsherr
macht ſich ein Gewiſſen daraus ihn abzuaͤußern; der andre, ſo
dazu ſchreitet, findet keinen der den Hof wieder annehmen
will, weil ſich jeder im Kirchſpiel ein Gewiſſen daraus macht,
auf einen Hof zu ziehen, wovon das Gebluͤt entſetzet wor-
den. So bald iſt aber nicht der Freyſtamm erklaͤrt: ſo faͤllt
das Gewiſſen von beyden Seiten weg, und die Abaͤußerung
wird gleichſam ein gemeiner Verkauf des Freyſtamms, wo-
durch
[137]als die uͤberh. Aush. der Bauerhoͤfe.
durch niemand betruͤbt, verkuͤrzet oder betrogen werden kan,
ſo lange das Schuldbuch oͤffentlich und richterlich gehalten
wird ....


So ſprachen unſre Urenkel. Was wir jetzt ſagen, weis
ein jeder.



XX.
Der Bauerhof als eine Actie
betrachtet.
*)


Wir haben alle einigen Begriff von den großen Compa-
gnien, welche nach Oſt- und Weſtindien handeln; wir
wiſſen, daß dieſelben aus Leuten beſtehn, wovon jeder ein
ſichers Capital hergeſchoſſen hat; wir nennen dieſes Capital
eine Actie, und denken es uns ganz deutlich, daß keiner zu
dieſer Compagnie gehoͤre, er beſitze denn eine ſolche Actie,
und daß nur diejenigen, welche eine ſolche Actie beſitzen,
J 5Scha-
[138]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
Schaden und Vortheil zu theilen haben; das ſage ich, wiſſen
wir deutlich, und zwar ſo deutlich, daß wenn jemand fragen
wuͤrde: ob nicht auch billig alle und jede Menſchen, welche
zur chriſtlichen Kirche gehoͤren, als Mitglieder der oſtindi-
ſchen Compagnie anzuſehen waͤren, der Einfaͤltigſte daruͤber
lachen wuͤrde. So einleuchtend dieſe Begriffe ſind, wann
wir ſie uns unter einer ſo bekannten Geſtalt gedenken: ſo
dunkel ſcheinen ſie manchem zu werden, wenn man ihm jede
buͤrgerliche Geſellſchaft als eine ſolche Compagnie ſchildert,
jeden Buͤrger als den Beſitzer einer gewiſſen Actie vorſtellet,
und nun zu eben den Folgerungen uͤbergeht, welche wir vor-
hin gemacht haben; nemlich, daß Menſchenliebe und Religion
keinen zum Mitgliede einer ſolchen Geſellſchaft machen koͤnnen,
und daß wir in die offenbarſten Fehlſchluͤſſe verfallen, ſo bald
wir den Actioniſten oder den Buͤrger mit dem Menſchen oder
Chriſten verwechſeln. Hier ſtrauchelt oft der groͤßte Philo-
ſoph, und unter allen, ſo viel ihrer die geſellſchaftlichen Pflich-
ten und Rechte der Menſchen behandelt haben, iſt mir keiner
bekannt, der ſeine idealiſche Geſellſchaft auf gewiſſe Actien
errichtet, und aus dieſer naͤhern Beſtimmung, die Rechte
und Pflichten eines jeden Mitgliedes gefolgert habe. Gleich-
wol iſt es natuͤrlich und begreiflich, daß die Verſchiedenheit
der Actien auch ganz verſchiedene Rechte hervorbringen, und
der Mangel derſelben eine voͤllige Ausſchlieſſung nach ſich zie-
hen muͤſſe.


Vielleicht findet mancher auch dieſes ſchon undeutlich, oder
fuͤhlet es doch nicht kraͤftig genug, was ich ſagen will; ich will
alſo gleich ein Beyſpiel zur Erlaͤuterung geben. Viele Phi-
loſophen und Juriſten ſind verlegen, wenn ſie einen fruchtba-
ren Begriff von der Knechtſchaft geben ſollen; ſie ſchwanken
wenn ſie uns den Urſprung derſelben erklaͤren wollen, und
kom-
[139]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
kommen mit aller ihrer Gelehrſamkeit in dieſem Stuͤcke nur
ſelten zu genauen und beſtimmten Folgerungen. So bald
nimmt man aber nur erſt an, daß der Knecht ein Menſch
im Staate ohne Actie
ſey: ſo zeigt ſich die Knechtſchaft in ei-
nem ganz neuem Lichte; man ſieht gleich warum der Knecht
ſo wenig die Vortheile als die Laſten eines Buͤrgers habe;
warum er ſo wenig zur Landesvertheydigung diene, als zu
Ehren gelangen koͤnne, ob er gleich alle chriſtlichen und mora-
liſchen Tugenden im hoͤchſten Grad beſitzt; man erkennet, daß
die Knechtſchaft eben ſo wenig gegen die Religion ſey, als es
gegen die Religion iſt, kein Mitglied der oſtindiſchen Com-
pagnie zu ſeyn; man ſchließt, daß das Buͤrgerrecht ſo wenig
als das Kirchenrecht die Befugniſſe der Menſchheit aufhebe;
daß der Knecht ohne einen beſonderen Vertrag nichts weiter
zu fordern habe, als was man ihm nach dem Rechte der
Menſchheit, und in den ſpaͤtern Zeiten, nach der chriſtlichen
Liebe ſchuldig iſt; und daß die große Linie, welche den Buͤr-
ger von dem Menſchen, oder den Actioniſten von demjenigen
der keine Actie im Staate beſitzt, trennet, zu einer vollſtaͤndi-
gen und brauchbaren Theorie unumgaͤnglich nothwendig
ſey.


Zu unſern Zeiten haben wir ſchon eine Daͤmmerung in der
Rechtsgelehrſamkeit, welche uns bald einen beſſern Tag ver-
kuͤndiget. Man faͤngt nemlich an, das Sachenrecht eher als
das Perſonenrecht vorzutragen. Allein es iſt noch zur Zeit
blos ein dunkeles Gefuͤhl der Wahrheit. Denn noch keiner hat
die Sache unter dem Begriffe der Actie vorgeſtellet; ich
muß mich hier wieder durch ein Beyſpiel erklaͤren. Ein
Mann der z. E. tauſend Thaler beſitzt, und davon die Haͤlfte
zu einer Compagniehandlung einſchießt, beſitzt nur fuͤnfhun-
dert Thaler als Actie, und die uͤbrigen fuͤnfhundert Thaler
ſind
[140]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
ſind freyes natuͤrliches (allodial) Vermoͤgen, womit er nach
ſeinem Gefallen handeln kann. Wegen der erſtern iſt er
ein Mitglied der Compagnie, und wer das Recht der Sa-
chen in einem Compagnierecht abhandeln wollte, wuͤrde blos
die Pflichten beſtimmen, welche auf der Actie haften, ſich
aber durchaus nicht um das uͤbrige Vermoͤgen des Actionairs
bekuͤmmern. Gegen dieſen offenbar richtigen Begrif ſtoſſen
noch alle diejenigen an, welche das buͤrgerliche Sachenrecht
behandeln.


Man glaube nicht, daß dieſes auf eine bloße Speculation
hinaus laufe, und daß in unſern Zeiten, wo jeder Einwoh-
ner
eines Staates mit ſeinem ganzen Vermoͤgen fuͤr
alle Ausgaben der buͤrgerlichen Compagnie zu haften ſcheinet,
jener Unterſchied voͤllig unnuͤtz ſey. Wahr iſt es zwar, daß
wir eben dadurch, daß wir nach und nach, da wir Vermoͤ-
gen- und Perſonenſteuren eingefuͤhret haben, nicht allein
unſre liegende Gruͤnde, ſondern auch unſern Geldreichthum
und ſelbſt unſre Leiber mit in die Compagnie gelegt, folglich
alles was wir haben und uns ſelbſt zu Staatsactien gemacht
haben. Allein eben dieſe Art der Vorſtellung leitet uns doch
zu einer beſſern Ordnung unſrer Begriffe; ſie zeigt in der na-
tuͤrlichen Geſchichte der Staatsverfaſſung, wie zuerſt blos
das Land, was einer beſeſſen, und wovon allein gedienet
oder geſteuret wurde, die urſpruͤngliche Einlage zur Compa-
gnie geweſen; wie zu dieſer Zeit der Mann, der Waaren zu
verkaufen oder Schuh zu machen gehabt, ohne Actie und
folglich ein Knecht geweſen; wie derſelbe ſpaͤter als die Land-
actie
zur Beſtreitung der Compagnieauslagen nicht mehr zu-
reichen wollen, und er ebenfalls etwas von ſeinem baaren
Vermoͤgen oder Verdienſte zuſchieſſen muͤſſen, das Recht ei-
nes Actioniſten erhalten; wie ſolches, ſo lange die Auslagen
der
[141]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
der Compagnie in perſoͤnlichen Heerdienſten beſtanden, lange
nicht fuͤglich geſchehen koͤnnen, bis endlich der perſoͤnliche
Heerdienſt von ſichern ausgeſonderten Maͤnnern uͤbernommen
worden, deren Unterhalt und Ausruͤſtung mit Gelde oder
Anweiſung auf Fruͤchte beſtritten werden koͤnnen; wie nach-
waͤrts, als auch Verdienſt und Vermoͤgenſteuren nicht zuge-
reicht, Perſonenſteuren aufgekommen, und dadurch zuletzt
jeder Menſch ein Mitglied der großen Staatscompagnie, oder
wie wir jetzt ſprechen, ein Territorialunterthan geworden, mit-
hin diejenige allgemeine Vermiſchung von buͤrgerlichen und
menſchlichen Rechten entſtanden, worinn wir mit unſrer phi-
loſophiſchen Geſetzgebung dermalen ohne Steuer und Ruder
herumgefuͤhret werden. Dieſe und unzaͤhlige andre Folgen,
welche das wahre pragmatiſche in der Geſchichte ausmachen,
und hier nicht aus einander geſetzt werden koͤnnen, zeigt uns
obige Art der Vorſtellung, und um ihrentwillen allein, wuͤrde
das Recht der Sachen, in der Maaße als Actien betrachtet,
vor dem Perſonenrechte abzuhandeln ſeyn; jedoch nicht un-
ter Nationen, welche zu Fuße ziehen; denn hier iſt der Leib
die Actie; ſondern unter Voͤlkern, welche Land beſitzen, und
nach dem Verhaͤltniß ihrer Laͤndereyen dienen. Unter Na-
tionen die zu Pferde ziehn, faͤngt die Behandlung des buͤr-
gerlichen Rechts mit den Pferden und deren Ruͤſtung an;
denn das Pferd iſt ein großer Theil der Actie, und wer kein
Pferd hat, iſt auch kein Mitglied dieſer reitenden Voͤlker-
compagnie.


Dieſe Art der Vorſtellung wird aber noch weit wichtiger,
wenn wir in das beſondre Staats- oder Landrecht hineingehn.
Alle unſre Weſtphaͤliſchen und Niederſaͤchſiſchen ſogenannten
Eigenthumsordnungen oder Hofrechte fangen damit an, daß
ſie den Urſprung des Leibeignen, die Pflichten ſeiner Perſon,
und
[142]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
und die Rechte ſo aus ſeiner perſoͤnlichen Verbindung folgen,
zuerſt vortragen, und dann zuletzt auf die Sachen kommen.
So lange wir dieſen Plan verfolgen, werden wir nie zu
irgend einer guten Theorie gelangen; es giebt lauter falſche
Schluͤſſe und Spruͤnge: und ob gleich das Reſultat was wir
zuletzt durch viele Umwege herausbringen, richtig iſt; ſo iſt
das Syſtem doch immer falſch, aus Truͤmmern zuſammen
geſetzt, und unzulaͤnglich eine wahre und große Geſetzgebung
zu unterſtuͤtzen.


Kein Wort koͤmmt in den Nordiſchen Urkunden haͤufiger
vor als das Wort Manſus, und noch hat es kein Gelehrter
vermogt davon einen richtigen Begrif zu geben. Ich muͤſte
mich aber ſehr irren, oder es hat eine Actie bedeutet, und
zwar eine Landactie. Nach dieſer Vermuthung kan ein
Manſus, nach der Verſchiedenheit der Staatsvereinigungen
aus 40, 80 oder hundert Morgen Landes beſtanden haben,
eben wie eine Actie aus großen und kleinen Summen beſtehn
kan. Das Wort Actie laͤßt ſich nicht bequem uͤberſetzen, das
Wort Manſus auch nicht; aber wir kennen den ganzen Be-
grif davon; man kan den Manſus ein ganzes Wehrgut nen-
nen, hier zu Lande heißt es ein Vollerbe; Halb- und Vier-
telerbe ſind Coupons, oder Theile des Looſes, Erbes, oder
Manſus.


Vereinigte Landbeſitzer machen eine Compagnie aus, und ſie
moͤgen nun durch einen beſonders errichteten Socialcontract
oder ſtillſchweigend, es ſey wie es wolle, vereiniget ſeyn: ſo
iſt ein jeder nach dem Verhaͤltniß ſeines Manſus zu gemei-
nem Vortheil und Schaden berechtiget und verpflichtet. Er
iſt ein ganzer, halber oder viertel Actioniſt, nachdem er viel
oder wenig Land beſitzt. Unſre nordiſchen Vorfahren ließen
es
[143]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
es bey dieſer Eintheilung ſo lange bewenden, als die gemeine
Auslagen oder Beſchwerden in perſoͤnlichen Heerdienſten be-
ſtanden; es war ihnen eine einfache und leichte Rechnung,
daß jeder ganzer Manſus ein Pferd oder einen Mann, und
zwey halbe eben ſo viel ſtellen muſten. Wie aber die Geld-
ſteuren aufkamen, und mit Huͤlfe des Geldes die Ausgleichung
feiner und ſchaͤrfer gemacht werden konnte, fieng man an die
Manſus auszumeſſen, und die Geldſteuren nach einem neuen
Verhaͤltniß zu vertheilen. Dem ungeachtet aber blieb
die Stellung der Pferde- und Mannzahl nach dem alten
Socialcontract, weil die kleinen Bruͤche im Naturaldienſte
nicht fuͤglich berechnet werden koͤnnen.


Vermuthlich waren auch dieſe Bruͤche Schuld daran, daß
man die Markkoͤtter, Brinkſitzer und andre geringere Leute,
ſo keine Viertel Actie, und oft kaum ein Vier und zwanzigſtel
derſelben beſitzen, damals nicht in die Compagnie aufnahm,
ſondern ihnen ihren Rang in der Claſſe von Knechten anwies,
jedoch ihren Stand einigermaßen uͤber andre Knechte erhoͤhete,
wenn ſie eine Urkunde, als z. E. ein Pfund Wachs an die
Kirche der Compagnie, eine gemeine Brieftracht zum Dienſt
derſelben, eine Flußraͤumung, eine Galgenerrichtung oder ſo
etwas uͤbernahmen, oder auch ſich gegen den Director der
Compagnie zu andern Urkunden und Gefaͤlligkeiten ver-
pflichteten, welche dieſer zur Verguͤtung ſeiner Muͤhe in den
Angelegenheiten der Compagnie billig genießen mogte.


Es konnte aber bey jener Einrichtung keinen Unterſchied
machen, wie einer zum Beſitz eines Manſus gelanget war,
ob er ihn nemlich als erledigt von dem Director zum Geſchenk
empfangen, oder ſolchen zuerſt frey beſeſſen, und ſich mit
demſelben in die Compagnie begeben hatte. Es konnte in ſo
weit
[144]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
weit nichts zur Sache thun, ob der Manſus mit einem ur-
ſpruͤnglich freyen Mann, mit einem Meyer, Erbpaͤchter
oder Leibeignen beſetzt wurde; denn die Verpflichtungen der
Actie bleiben nach der Natur der Sache, oder nach den
urſpruͤnglichen und nothwendigen Anſpruͤchen der Geſellſchaft,
immer dieſelben, es mag ſie ein Jude oder Chriſt beſitzen;
ſie mag verkauft, verſchenkt, verliehen, verheuret oder ver-
pachter werden. Die Perſon des Beſitzers hat bis dahin
nicht den geringſten Einfluß, und ſo iſt auch auf dieſe die
letzte Ruͤckſicht zu nehmen, wenn ein dauerhaftes und voll-
ſtaͤndiges Buͤrger- Bauer- oder Landrecht entworfen werden
ſoll.


Allein der wahre Beſtand dieſer Actie oder dieſes Manſus
erfordert eine deſto genauere und umſtaͤndlichere Betrachtung.
Ihr wahres Maaß, ihre Erhaltung, die Verhuͤtung ihrer
Verſplitterung, ihre Wiederergaͤnzung, wenn ſie verſplittert
worden, ihr Bau und Gewehr, ihre Gerechtſame in der
Mark, ihre Holzung, ihre Beſchwerden, ihre Verbindlich-
keit gegen den Staat, das Amt, das Kirchſpiel und die Bauer-
ſchaft, alles dieſes gehoͤrt zum Sachenrecht, und muß be-
ſtimmt und beurtheilet werden, ohne die geringſte Einmiſchung
der Perſon, welche die Actie beſitzt. Wenn dieſes in dem
erſten Buche eines Landrechts nach den Localbeduͤrfniſſen und
Abſichten jeder Staatscompagnie gehoͤrig auseinander geſetzt
worden: ſo kan im zweyten Buche die Materie von Con-
tracten abgehandelt werden, und dieſes noch immer wiederum
ohne alle Ruͤckſicht auf die Perſon des Actioniſten. Daß
von der Actie nichts veraͤußert, nichts beſchweret oder verſetzt,
und nichts zum Brautſchatz mitgegeben werden duͤrfe; daß
die Gebaͤude der Actie, die darauf erforderliche Viehzucht,
und alles was zum Beſtande derſelben gehoͤret, in gutem
Stan-
[145]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
Stande ſeyn muͤſſe, damit die gemeine Laſt der Compagnie
getragen werden koͤnne, und der gute Actioniſt zur Zeit der
Noth nicht fuͤr den ſchlechten bezahlen oder dienen muͤſſe;
daß zu mehrerer Sicherheit der Director dahin ſehen muͤſſe,
daß die Holzung der Actie nicht verhauen oder verwuͤſtet,
und der Landbau mit dem gehoͤrigen Fleiße getrieben werde;
daß wenn eine gemeine Noth oder ein beſonders Ungluͤck einen
Actioniſten noͤthigt etwas zu verpfaͤnden oder zu veraͤußern,
dieſes mit Einwilligung des Directors und mit Vorbewuſt
der ganzen Compagnie, das iſt vor gehegten Gerichte, ge-
ſchehe; daß hierunter ein gewiſſes gemein beſtimmtes Maaß
beobachtet, und jeder Actioniſt auf ſichere Weiſe angehalten
werde ſeine Actie binnen einer gewiſſen Zeit von den gemach-
ten Schulden und Laſten wiederum zu befreyen; dieſes folgt
aus dem Weſen der Landactie, und der Beſitzer derſelben
mag frey oder eigen ſeyn: ſo bleiben demſelben alle Contracte,
wodurch dieſes Weſen veraͤndert werden will, durchaus ver-
boten, und mag auch ein Leibeigner mit Einſtimmung ſeines
Gutsherrn dawieder nichts unternehmen. Zwar koͤnnen
Localumſtaͤnde, und beſonders wenn die zur Landactie ge-
hoͤrigen Gruͤnde nicht in einem Bezirk, ſondern im gemeinen
Felde mit andern vermiſcht liegen, gar wohl einige Ausnah-
men, wobey auf die Perſon mit geſehen werden muß,
erfordern. So war es z. E. bey den Roͤmern mit der Praͤ-
ſcription und Uſucapion. Die letztere Art der Verjaͤhrung
galt lediglich unter Actioniſten, ſo daß durch dieſelbe der
Theil einer Actie an einen andern Compagnon uͤbergehen
konnte, wohingegen durch die Praͤſcription der Theil der
Actie aus den Verbindungen der Compagnie an einen ganz
Fremden uͤbergieng; ein Unterſchied den die allgemeine Ver-
miſchung der Menſchen, da man nemlich den Bürger mit
dem Einwohner vermengt, und alles was auf dem Boden
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Kdes
[146]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
des Staats lebt, unter dem Namen von Territorialuntertha-
nen befaſſet, nachwaͤrts verbannet hat, ob er gleich in
Faͤllen, wo z. E. die zu einer Hofrolle, oder zu einem Frey-
gericht gehoͤrige Gruͤnde, aus der Rolle fallen, oder ſchatz-
bare Gruͤnde durch die Verjaͤhrung fuͤr frey erklaͤret werden
wollen, ſeinen feinen Nutzen haben wuͤrde. Hier muß
natuͤrlicher Weiſe der Unterſchied der Perſon, welche etwas
durch Verjaͤhrung erlangen will, in Betracht kommen.
Aber dieſes erfordert doch immer nur noch einen Seitenblick
auf dieſelbe, und noch keine Einmiſchung des Perſonen-
rechts.


Dieſes Sachenrecht aber gehoͤrig zu finden und zu beſtim-
men, ſind nur zwey allgemeine Grundſaͤtze noͤthig, als erſtlich,
daß die Actie blos zu getreuer Hand gehalten werde, und
zweytens, daß die Geſchaͤfte der Compagnie mit der minde-
ſten Aufopferung
gefuͤhret werden muͤſſen. In eine Hand-
lungscompagnie legt man ein gewiſſes Capital entweder baar
oder in Credit ein, und erhaͤlt eine Obligation zuruͤck. Bey
der Staatscompagnie geht es umgekehrt; hier legt der
Actioniſt die Obligation ein, und behaͤlt das Capital in Beſitz;
dieſe Obligation ſey nun ausdruͤcklich oder ſtillſchweigend
geſchehen; ſie fließt allemal aus der Natur der Sache. Der
Actioniſt im Staat, beſitzt alſo dasjenige, was die Actie aus-
macht, unter einer gewiſſen Verpflichtung, oder zu getreuer
Hand eben wie ein Soldat, dem ein Dorf zur Loͤhnung ange-
wieſen ſeyn wuͤrde; und es thut zur Sache nichts, ob es
aufgetragenes oder empfangenes Gut ſey. Das Geſetze
der mindeſten Aufopferung, nach welchem es unerlaubt iſt
einen Pfennig aus dem Vermoͤgen der Compagnie zu ver-
wenden, wenn man mit einem Heller das Erforderliche be-
ſtreiten kan, iſt das ewige Geſetz des Staats wie der Natur,
und
[147]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
und bleibt allezeit die große idealiſche Scheidungslinie zwiſchen
dem Directorium und der Compagnie. Kein Actioniſt hat
ſich jeder Regel nach zu einem mehrern verpflichtet, als die
gemeine Noth des Staats erfordert. Hierauf beruhet die
große Vermuthung fuͤr Freyheit und Eigenthum, und was
davon abgeht, gehoͤrt zur Ausnahme die ſo weit ſie kan, auf
Vertraͤgen und Bewilligungen beruhen mag.


Ich will mich bey den Folgen nicht aufhalten, welche aus
dieſen beyden allgemeinen Grundſaͤtzen fließen, aber doch leicht
herausgezogen werden koͤnnen. Der erſte bietet einem jeden
den ganzen Faden des Lehn- oder Beneficialrechts dar, und
nirgends iſt das Recht der Sachen ſo ordentlich und zuſam-
menhangend vorgetragen als in dieſem. Der andre hingegen
fuͤhret zu den großen Grundſaͤtzen, worauf bey der Colliſion
der gemeinen Laſten und Pachtgefaͤlle zuruͤckgeſehen werden
muß: Alles was das Directorium der Compagnie nach dem
Geſetze der mindeſten Aufopferung fordert, hat vor allem
uͤbrigen den Vorgang: hier muß der Altar nachſtehn, und
die Steine von der Kirche muͤſſen das Loch ausfuͤllen, wenn
das Meer einbricht und Land und Leute nicht anders zu ret-
ten ſind.


Indeſſen will ich doch noch hier des Hauptcontracts, wor-
unter die Landactie jetzt in den mehrſten Laͤndern ſteht, mit
wenigen gedenken. Unſre groͤßten Rechtslehrer nennen ſol-
chen eine Erbpacht, und es iſt nicht zu leugnen, daß jener
ſehr viel aͤhnliches mit dieſem habe. Wenn es aber doch auf
die Frage ankoͤmmt:
Kan denn nun der Verpaͤchter ſeinen Erbpaͤchter ſo ver-
binden, wie es ihr beyderſeitiger guter Wille zulaſſen
will?

K 2eine
[148]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
eine Frage, die ohnſtreitig die wichtigſte unter allen iſt: ſo
verlaͤßt einen die ganze Lehre von der Erbpacht, nach welcher
jene Frage ſicher bejahet werden muͤßte, und man muß ſich
drehen und wenden, um den Schluͤſſen auszuweichen, welche
dieſe Lehre darbietet.


Unſre Vorfahren ſahen lange die Verpachtung der Actie als
eine Ausnahme von der Regel an, und der Zeitpunct laͤßt ſich
aus der Geſchichte beſtimmen, worinn dieſe Ausnahme zuerſt
durch ſchriftliche Contracte eingefuͤhret worden. Vorher war
alles Beſetzung zu Landrechte, Beſetzung zu Hofrechte,
Beſetzung zu Ritterrechte.
Es war Leihe zu Landſiedel-
rechte, Behandlung, Landſaßigkeit, Erbesbeſatzung

und was dergleichen Ausdruͤcke mehr ſind, welche im Grunde
ſo viel ſagen wollten, daß der Hof- Land- oder Gutsherr, die
ihm eroͤfneten Guͤter ohne die geringſte Neuerung und Stei-
gerung der alten Abgiften, zu beſetzen und zu verleihen ſchul-
dig ſey. In mehrern Hofrechten heißt es:

item, da die Huisgenotten von den Gotherrn mit hohre
Pacht und nyn Uplagen beſchweret, aver dat ſe ureltlick
gegeven, dem bedorven ſe nicht to gehorſamen.


und der Bauer hat durchgehends den ganz politiſchen und auf
eine ganz kundbare alte Gewohnheit gegruͤndeten Aberglau-
ben, daß derjenige ewig ſpuͤken gehe, der neue Pflichten auf
ſeinen Hof nimmt. Dieſes laͤßt ſich nun mit der Erbpacht
nicht wohl reimen, als welche es nothwendig dem freyen
Willen beyder Partheyen uͤberlaͤßt, ſo viel Pacht auf den
Hof zu legen, als einer davon tragen kan und will.


So bald betrachtet man aber den Hof als eine Actie, welche
der Beſitzer dem Staate oder der Compagnie zu getreuer
Hand
[149]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
Hand haͤlt; ſo folgt der Schluß von ſelbſt, daß ſolche in ih-
rem Verhaͤltniß fuͤr die Ausgaben des Directoriums zulaͤng-
lich ſeyn, und ſo wenig durch Schulden als durch einige
Paͤchte dergeſtalt erſchoͤpfet werden muͤſſe, daß die Compagnie
bey ihm Gefahr laufe. Zwar kan hierauf auch bey der Erb-
pacht Ruͤckſicht genommen werden, und der Erbpaͤchter, der
die gewiſſen Laſten mit uͤbernimmt, ſteht ſeine Gefahr. Al-
lein dieſes gilt nur bey ſolchen Staatscompagnien, wo die
gemeinen Ausgaben nach dem ganzen Verhaͤltniß der Actie,
nicht aber nach dem Verhaͤltniß des freyen Ueberſchuſſes,
welchen der Erbpaͤchter behaͤlt, angelegt werden.


Um mich deutlicher zu erklaͤren, will ich den Fall ſetzen,
daß zwey ganze Actioniſten, wovon jeder von ſeiner Land-
actie jaͤhrlich hundert Thaler einzunehmen, der eine aber
funfzig Thaler Pacht, der andre hingegen nichts abzugeben
hat, zu einer gemeinen Ausgabe beytragen ſollen. Wie ſoll
hier die Anlage gemacht werden? Sollen ſie beyde gleich,
oder ſoll der Freye doppelt ſo viel als der Schuldner beytra-
gen? Im erſten Fall kan es der Compagnie zur Noth gleich-
guͤltig ſeyn, ob der letztere viel oder wenig Paͤchte uͤbernehme.
Sie haͤlt ſich an die Actie und laͤßt die Pacht nicht folgen,
wenn die gemeinen Beſchwerden es nicht geſtatten. Im an-
dern Falle aber wiederſetzt ſie ſich der willkuͤhrlichen Verpach-
tung, und findet den Willen des Paͤchters und Verpaͤchters
nicht hinlaͤnglich, um der Compagnie den Werth der hal-
ben Actie oder doch wenigſtens ihre einheimiſche Sicherheit
zu entziehen.


Noch weiter; der Verpaͤchter hat insgemein ſeinen Antheil
an dem Directorium, der Erbpaͤchter aber nicht. Geſetzt
nun, jener koͤnne ſeine Pacht rein weg ziehen, und dieſes
K 3ge-
[150]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
geſchieht ſo oft die Paͤchte bey der Anlage der gemeinen Aus-
gaben, vorabgezogen werden; dieſer aber muͤſſe ſich alles ge-
fallen laſſen, was ein ſolches Directorium bewilliget: ſo iſt
die Erbpacht ein ſolcher Contrakt, wodurch ſich der Paͤchter
der Willkuͤhr des Verpaͤchters unterwirft, und dieſem fehlt
es an einer geſetzmaͤßigen Verbindlichkeit; ſie iſt ein Contrakt,
wo derjenige, der nichts zu verlieren hat, die Handlung
treibt, und derjenige, der fuͤr alles ſtehen muß, gar nichts
zu handeln hat, ein Contrakt der den letzten Grund aller
buͤrgerlichen Freyheit aufhebt, und wenn er gleich in der
That nicht gefaͤhrlich ſeyn ſollte, dennoch immer ein theoreti-
ſches Ungeheuer, ein vielkoͤpfiger Deſpotiſmus iſt.


In einigen Staaten hat man dieſes Ungeheuer erkannt,
und daher zur Regel angenommen, daß die Pacht dem
Pachtmanne nicht hoͤher als auf die Haͤlfte ſeines Einkom-
mens geſteigert werden ſolle; und man nennet dergleichen
Leute halben: die vorfallenden oͤffentlichen Laſten tragen Ver-
paͤchter und Paͤchter zur Haͤlfte, und obgleich auch hier der
letztere weder Sitz noch Stimme in der Direction hat: ſo iſt
er doch auf ſichere Weiſe dabey repraͤſentirt, weil der Ver-
paͤchter um ſeine eigne Haͤlfte zu ſchonen, die andre nicht
ohne die hoͤchſte Noth beſchweren wird. Ein ſolcher Contrakt,
ſo bald er zu einer allgemeinen Regel gewacht iſt, hat nichts be-
denkliches, indem es allenfalls jeder Compagnie frey ſteht,
die Actie auf 500 oder 1000 Nthlr. und den Beytrag davon
auf dieſe oder jene Art zu beſtimmen. Allein wo er keine
allgemeine Regel abgiebt, wo der eine Verpaͤchter um die
Haͤlfte, der andre um die dritte, vierte oder zehnte Garbe
mit ſeinem Paͤchter ſchließt, und dieſes noch dazu ohne Vor-
wiſſen der Compagnie, da wuͤrde es eine hoͤchſtunbeſtaͤndige
Art der Handlung ſeyn, die Paͤchte frey vorabgehen zu laſ-
ſen,
[151]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
ſen, und den gemeinen Beytrag nach dem Verhaͤltniß des
freyen Ueberſchuſſes auszuſchreiben. Einer von beyden muß
die Regel ſeyn, entweder haftet die halbe Actie oder ein jeder
ander durch einen allgemeinen Schluß beſtimmter Theil fuͤr
die Ausgaben der Compagnie, und uͤber die andre Haͤlfte
moͤgen Paͤchter und Verpaͤchter nach ihrem freyen Willen con-
trahiren; oder die ganze Actie wird in das Compagniekata-
ſter eingetragen, und der Verpaͤchter muß nachſtehn, ſo oft
die nothwendigen gemeinen Ausgaben ſo weit gehen, daß er
ſeine Pacht nicht erhalten kan. Wo es anders gehalten wird,
da wird der billigſte Verpaͤchter von dem unbilligen hintergan-
gen. Jedoch wir muͤſſen noch etwas von den Perſonen ſa-
gen, welche die Actie beſitzen.


Die Abtheilung derſelben hat viele Schwierigkeiten, weil
es unſrer Sprache an geſchickten Ausdruͤckten mangelt, und
der Gebrauch ſo eigenſinnig iſt, daß er oft die wiederſinnig-
ſten Dinge mit einander verknuͤpft; wie zum Exempel in dem
Worte: freyadlich, welches zwar mit Recht aufgebracht,
aber doch ganz wiederſinnig iſt. Denn die Benennung adel
ſoll den hoͤchſten Grad einer urſpruͤnglichen Freyheit erſchoͤpfen;
und man konnte nicht freyadlich ſagen, als bis man die,
welche ſich zu Dienſte verpflichtet und ihren Adel damit auf-
gegeben hatten, auch noch aus Gefaͤlligkeit edle nannte. Auſ-
ſerdem iſt das Wort frey immer nur relativ, und bedeutet
eine Ausnahme, und Leute die Leibeigen ſind, koͤnnen Freye
und Hochfreye genannt werden, wenn ſie durch Privilegien
von gemeinen Laſten befreyet ſind. Dieſes macht die Ein-
theilung ſehr ſchwer.


Mir hat indeſſen allemal die Eintheilung in Wehren und
Leute die beſte zu ſeyn geſchienen. Erſtere gehoͤren fuͤr ihre
K 4Per-
[152]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
Perſonen keinen Menſchen an, letztere hingegen ſind andern
entweder von ihrer Geburt an oder durch Enrollement ver-
pflichtet oder zugebohren. Nun theile ich erſtlich die Wehren
ab in edle und gemeine,nobiles et ingenuos, und ob ſich
gleich beyde in Dienſte begeben, folglich wuͤrkliche Diener ſeyn
koͤnnen: ſo ſind es doch allemal edel- und frey- gebohrne Leute.


Aber auch die Leute theile ich in edle und gemeine ab. In
der erſten Claſſe befinden ſich die Edlen, welche den Leuteid
freywillig abgelegt haben, ſo wie diejenigen, welche von die-
ſen im Dienſte gebohren ſind. Die Claſſe der letztern, iſt
wie leicht zu erachten, ſehr mannigfaltig und vermiſcht, nach-
dem einer minder oder mehr angehoͤrig geworden oder geboh-
ren iſt. Indeſſen haben doch die deutſchen Rechte alle Ar-
ten gemeiner Leute auf drey Hauptſtaͤmme zuruͤckgebracht,
wovon


  • Der erſte diejenigen enthaͤlt, ſo den kleinen Sterbfall, als z.E.
    blos von dem vierfußigen Gute, oder das beſte Pfand geben;
  • Der zweyte diejenigen, ſo den großen Sterbfall, nemlich
    von ihrer ganzen Verlaſſenſchaft geben muͤſſen: und
  • Der dritte den Ueberreſt befaßt, der in ſogenannten Hyen
    und Hoden ſteckt, und eine kleine Sterbfallsurkunde entrich-
    tet, es ſey nun daß er ſich dieſe Hode, um nicht von dem
    Landesherrn als bieſterfrey gefangen und dem großen Sterb-
    fall unterworfen zu werden, ſelbſt erwaͤhlt hat, oder ſeiner
    unterhabenden Gruͤnde halber zu waͤhlen genoͤthiget worden,
    wovon die erſtern Churfreye, die letztern aber Nothfreye ge-
    nannt worden.

Alles was dem Sterbfalle nicht unterworfen iſt, iſt auch
nicht angehoͤrig oder leibeigen; und Auffarten (laudemia)
Aus-
[153]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
Auslobungen, Bewilligungen auf Schulden, Abaͤußerungen
und andre Einſchraͤnkungen machen nicht die geringſte Ver-
muthung gegen eines Mannes perſoͤnliche Freyheit, ſo wie
hingegen auch die perſoͤnliche Freyheit keinen Menſchen bey
der Actie ſchuͤtzet, wenn er ſolche wider den Socialcontract
verſchuldet, verwuͤſtet oder verſplittert. Der Sterbfall allein
iſt durch die ganze nordiſche Welt die Urkunde der perſoͤnli-
chen Angehoͤrigkeit, dieſe mag nun durch Landgeſetze, Ge-
wohnheit, Religion und Philoſophie in dem einen Lande mehr
oder weniger ſtrenger ſeyn als in dem andern.


Insgemein hat jede Leibeigenthumsordnung ein Capittel
von dem Urſprunge des Leibeigenthums an der Spitze, worinn
oft ruͤhrende Sachen von der Kriegesgefangenſchaft, von den
zu Sclaven gemachten Roͤmern ja wohl gar alte Hiſtorien aus
der Bibel, wo nicht noch andre herzbrechende Sachen vor-
kommen. Allein alle dieſe kleinen Unterlagen tragen das
weite Gebaͤude der perſoͤnlichen Angehoͤrigkeit, das ſich durch
die ganze alte Welt erſtreckt und aus der Hand der Natur
kommt, nicht. Der Grund der Angehoͤrigkeit liegt in einer
wahren natuͤrlichen Staatsbeduͤrfniß, die ſich aber von der
Zeit an verlohren hat, wie der Begriff eines Territorialun-
terthanen bekannt geworden iſt, fruͤh bey den Roͤmern, und
ſehr ſpaͤt unter den nordiſchen Voͤlkern. Die Ausfuͤhrung
hievon duͤrfte vielen dunkel ſeyn, und der Kenner wird
leicht den Gang der Natur in der Angehoͤrigkeit entdecken.


Alſo das Capittel in dem Perſonenrecht uͤbergeſchlagen, und
nur zu der Frage uͤbergegangen: Wie iſt die Perſon beſchaf-
fen welche die Actie beſitzt? iſt ſie angehörig oder nicht?


Die Unangehoͤrigen haben freye Macht mit ihrem natürli-
chen
Vermoͤgen, oder allem demjenigen, was ſie nicht als
K 5Actie
[154]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
Actie beſitzen, zu ſchalten und zu walten; die Compagnie hat
darauf kein Recht, ſo lange ſie nicht durch Noth und ſchwere
Auflagen gezwungen worden, Perſonen- und Vermoͤgenſteu-
ren einzufuͤhren, und ſo nach alles was einer hat, mit zur
Actie zu ziehen, welches der hoͤchſte Grad des Drucks, und
der Grund iſt, warum man ſich gegen alle Perſonen- und
Vermoͤgenſteuren ſo lange als moͤglich ſchuͤtzet.


Die Angehoͤrigen hingegen haben außer ihrer gemeinen Ver-
pflichtung noch eine beſondre, ſo wie Soldaten die zugleich
Wirthe auf einem Erbe ſind, und nicht allein zu gemeinen
Laſten ſteuren, ſondern auch nebenher ihrem Dienſteide genug
thun muͤſſen. Vermoͤge der gemeinen Verpflichtung kan die-
ſen obliegen, ihr Holz nicht zu verhauen; vermoͤge der beſon-
dern, gar nichts ohne Anweiſung zu faͤllen und was dergleichen
Einſchraͤnkungen mehr ſind. Die beſondre Verpflichtung gruͤn-
det ſich aber doch nicht auf den willkuͤhrlichen Contract zwiſchen
dem Capitain und ſeinen Soldaten, ſondern auf das allgemeine
Kriegsreglement, oder das Landrecht.


Eine Hauptfrage koͤnnte es nun ſeyn, wie die Compagnie
zulaſſen koͤnnen, daß dergleichen verpflichtete Perſonen zu dem
Beſitze der Landactie gelangt; und beſonders ſolche verpflich-
tete, welche ihre Perſonen voͤllig abhaͤngig gemacht haben?
denn die beſondre Verpflichtung kan doch manchen hindern im
gemeinen Dienſte der Compagnie zu erſcheinen. Aber man
koͤnnte auf gleiche Weiſe fragen, wie koͤmmt es, daß Solda-
ten als Wirthe auf dem Hofe geduldet werden, da es ſich doch
ebenfalls zutragen kan, daß der Soldat im Feld ſeyn muß,
wenn der Wirth die Heerſtraße beſſern follte? Es ſind dieſes
Fehler, welche ſich einſchleichen, je nachdem die Zeiten ſolche
minder oder mehr beguͤnſtigen. In vielen Laͤndern hat ſich
das Directorium der doppelten Verpflichtung widerſetzt, und
in
[155]Der Bauerhof als eine Actie betrachtet.
in dieſen giebt es keine Vollpflichtige oder Leibeigne auch keine
Soldaten als Wirthe.


Der Leibeigne war anfaͤnglich ein Menſch ohne Actie; nach-
dem aber von der Actie nicht mehr perſoͤnlich gedienet wurde,
und die mehrſten Dienſte in Geld verwandelt, oder durch Vi-
carien verrichtet werden konnten, hat der Staat nachgegeben,
doch alſo, daß da, wo es das Geſetze der mindeſten Aufopfe-
rung erfordert, die beſondern Verpflichtungen den gemeinen
nachſtehen muͤſſen. Den erſten Anlaß zu jener Nachgebung
gab vermuthlich der Dienſt im Harniſch. Zwoͤlf Actien mußten
einen Mann im Harniſch ſtellen; und nun konnte es die Com-
pagnie zulaſſen, daß der geharniſchte Mann nach und nach
die eilf Actien, welche zu ſeiner Ruͤſtung ſteureten, an ſich
brachte, und nach ſeinem Gefallen oder nach Ritterrecht be-
ſetzte. Dieſe mußte unvermeidlich erfolgen, wenn der Dienſt
im Harniſch zunftmäßig getrieben, und keiner dazu gelaſſen
wurde, ſein Vater haͤtte denn auch ſchon einen Harniſch ge-
tragen; hiedurch blieben die eilf Actien auf ewig dem Beſitzer
der zwoͤlften verpflichtet, und die Compagnie wahrete blos
den Geharniſchten, ohne ſich um die eilf uͤbrigen weiter zu
bekuͤmmern.


Der Dienſt im Harniſch hat aufgehoͤret, und ſeitdem hat
die Compagnie immer daran gearbeitet, das Recht der zwoͤlf-
ten Actie zu ſchwaͤchen, und die eilfe wieder herzuſtellen, jene
aber auch alles, was in ihrem Vermoͤgen geweſen, angewandt,
um ihre einmal verjaͤhrten Rechte zu behaupten. Wie der
Ausgang endlich ſeyn werde, ließe ſich zwar wohl berechnen,
jedoch nicht anders als mit Huͤlfe mehrerer Formeln. So
viel bleibt indeſſen gewiß, daß die zwoͤlfte Actie bey ſteigen-
den, und die eilf uͤbrigen bey ſinkenden Ausgaben der Com-
pagnie,
[156]Die Abmeyerungen koͤnnen dem Hofesherrn
pagnie, verlieren, und dieſe ihren Verluſt gluͤcklicher, als die
erſtern, ertragen werden. Plura latent.



XXI.
Die Abmeyerungen koͤnnen dem Hofes-
herrn nicht uͤberlaſſen werden.


Nichts ſcheint dem erſten Anſehn nach unangenehmer und
unſchicklicher zu ſeyn, als daß ein Gutsherr ſeinen
Leibeignen nicht ſelbſt vom Hofe ſtoßen kan, ſondern erſt den
Richter darum angehn, demſelben die Urſachen der Ent-
ſetzung anzeigen, und deſſen Urtheil daruͤber erwarten muß.
Man iſt geneigt zu glauben, daß der Gutsherr, der ſeinem
Leibeignen den Hof ohne alle Umſtaͤnde untergiebt, denſelben
auch billig auf gleiche Art muͤſſe zuruͤck nehmen koͤnnen; und
daß alles was die Gewohnheit oder das Geſetz dieſer natuͤrli-
chen Freyheit zuwieder eingefuͤhret hat, ein wahrer Eingrif
in die Gutsherrlichen Rechte ſey. Allein bey einer naͤhern
Ueberlegung zeigt ſich bald, daß die gerichtliche Form, wel-
cher ein Gutsherr ſich unterworfen hat, ihren ſichern und
vortreflichen Grund habe, und daß man wohl Urſache habe,
folchen als ein Meiſterſtuͤck der menſchlichen Ueberlegung zu
bewundern.


Denn geſetzt, es koͤnnte der Gutsherr ſeinen Leibeignen
nach eignem Gefallen des Hofes entſetzen: ſo wuͤrde es kein
Freyer wagen, einen Hof unterzunehmen und anzubauen.
Zu welchem Ende, wuͤrde er ſagen, ſoll ich Gebaͤude errichten,
Pflanzungen anlegen und mein gutes Geld in fremde Gruͤnde
ſtecken, wenn ich dieſes meines Vermoͤgens durch eine bloße
Will-
[157]nicht uͤberlaſſen werden.
Willkuͤhr beraubet werden kan? Wofuͤr ſoll ich einen großen
Weinkauf bezahlen und meine bewegliche Haabe dem Sterb-
falle unterwerfen, wenn ich weiter keine Sicherheit als die
leicht zu verſcherzende Gnade meines Herrn habe? Wer wuͤr-
de mir in Noth und Ungluͤck einen Groſchen auf Gruͤnde
leihen, die ich alle Augenblick verlieren kan? Der Gutsherr
wuͤrde ſagen, ich wollte daß der Leibeigenthum aus der
Welt waͤre; alle Augenblick koͤmmt mir der elende Kerl ohne
Geld, ohne Credit und will bald ein Haus, bald ein Pferd
bald eine Kuh haben; ich muß des Kerls dumme Streiche
bezahlen, und alle ſeine Unvorſichtigkeiten entgelten. Jage
ich einen Bettler fort: ſo bekomme ich einen andern wieder,
und ich werde von ihm wie von dem vorigen betrogen.


So wuͤrde allem Anſehen nach die Lage der Sache ſeyn,
wenn nicht die gerichtliche Form zwiſchen dem Gutsherrn
und ſeinem Leibeignen eingetreten waͤre, und dem einen wie
dem andern den Beſitz feiner Rechte oͤffentlich und feyerlich
gewaͤhret haͤtte. Durch dieſelbe iſt der Glaͤubiger, der dem
Leibeignen in der Noth ausgeholfen, in billiger Maaße ge-
ſichert; der Freye welcher ſich zum Leibeignen ergiebt, wird
dadurch aufgemuntert, den Hof anzunehmen und zu verbeſſern,
da er weiß, daß ihm ſolcher nicht ohne ſeine eigne große
Schuld entzogen werden koͤnne. Der Werth des Hofes
ſteigt unter der Guarantie des Staats; und der Gutsherr
erhaͤlt den Preis dieſes erhoͤheten Werths und den Vortheil
der gerichtlichen Form in dem Weinkaufe. Er braucht end-
lich dem Leibeignen keinen ofnen Beutel zu halten, weil die-
ſer unter dem Schutze der gerichtlichen Form ſelbſt einen
billigen Credit findet.


Traurig iſt es nun freylich, wenn dieſe gerichtliche Form
zu einer Zuchtruthe fuͤr die Gutsherrn wird, und die Entſe-
tzung
[158]Die Abmeyerungen koͤnnen dem Hofesherrn
tzung eines ſchlechten Haushalters dermaßen erſchweret, daß
auch auf der andern Seite nicht allein der Staat und die
Gutsherrn ſondern auch der Glaͤubiger, der einem ſolchen
ſchlechten Wirthe das ſeinige aufgeopfert hat, in großen
Verluſt geſtuͤrzet wird. Allein ſo vernuͤnftig und nothwendig
auch die Bemuͤhungen ſind, wodurch man dieſer Form eine
verbeſſerte Geſtalt zu geben wuͤnſchet, eben ſo nothwendig iſt
auch die Politik, ſich von jenem Grundſatze nicht zu weit zu
entfernen, und den Richter zum bloßen Ausrichter der guts-
herrlichen Willkuͤhr zu machen. So bald dieſes geſchieht,
treten alle obige zuerſt erwehnte Folgen richtig ein; jeder
Freyer wird ſich ſcheuen unter ſolchen Bedingungen in den
Leibeigenthum zu treten; aller Credit faͤllt nothwendig weg-
und der Gutsherr traͤgt am Ende die Laſt eines jeden nichts,
wuͤrdigen Kerls.


Wenn aber gleich die Regeln, daß eine groͤßere Strenge
der Abaͤußerungsurſachen dem wahren Intereſſe des Guts-
herrn zuwider laufe, und daß mildere Geſetze fuͤr beyde am
zutraͤglichſten ſeyn, dadurch ausgefunden und außer Streit ge-
ſetzet find: ſo muß ich doch aufrichtig bekennen, daß man da-
durch nur noch wenig gewonnen, und hoͤchſtens den Punkt
feſtgeſetzet habe, woraus man die Sache uͤberſehen muͤſſe.
Denn es liegt ſo wenig an der Milde als an der Strenge der
Urſachen, daß wir mit den Abaͤußerungen nicht fortkommen
koͤnnen, ſondern in der Mannigfaltigkeit der Umſtaͤnde, welche
eben und daſſelbe Verbrechen bald vergroͤßern und bald ver-
kleinern; es liegt auch zum theil mit an dem Richter, der
ohne den Leibeignen nach ſeinem wahren Charakter und Haus-
halt zu kennen, blos nach demjenigen ſprechen kan und muß,
was vor ihm in den Acten angefuͤhret und erwieſen iſt, wel-
ches denn wiederum nicht allemal in der Kuͤrze geſchehen kan,
worinn man es zu haben wuͤnſcht.


Mord
[159]nicht uͤberlaſſen werden.

Mord und Raub ſind große Verbrechen, und dennoch tre-
ten oft fuͤr den Schuldigen ſolche beſondre große und ruͤhrende
Umſtaͤnde ein, daß man Muͤhe hat ein Urtheil zu faͤllen.
Die Geſetze koͤnnen auf dieſe Verbrechen die Strafe leicht be-
ſtimmen; aber die verſchiedene Moralitaͤt der Handlungen
bleibt immer unter dem vernuͤnftigen Ermeſſen des Richters.
Der menſchliche Verſtand hat hier noch kein Maaß erfunden,
wodurch der Geſetzgeber zu einer ganz genauen Beſtimmung
ſeiner Geſetze anlangen kan. Die Verbrechen, wodurch ein
Leibeigner ſich um den Hof bringt, laſſen nothwendig noch
eine groͤßere richterliche Ermaͤßigung zu, weil ſie nicht ſo
ſchreyend ſind wie jene, und folglich auch den Richter nicht
berechtigen koͤnnen, hier ſo wie in jenen groͤßern Verbrechen
wohl geſchieht, die ganze Moralitaͤt bey Seite zu ſetzen und
dem Thaͤter des Exempels wegen die ganze Strenge des Ge-
ſetzes empfinden zu laſſen.


Wollte man auf gleiche Art die Moralitaͤt der Handlungen
bey den Abaͤußerungsurſachen außer Betracht ſetzen; und
z. E. den beſten Wirth, der ſich in dem hoͤchſten Grad der
Verſuchung, in einem ungluͤcklichen Augenblick, worinn viel-
leicht der rechtſchaffenſte Mann gefehlet haͤtte, einen Ehebruch
zu ſchulden kommen laſſen, ſo fort mit Weib und Kindern
vom Hofe jagen: ſo wuͤrde man gegen alle Politik handeln,
und die Sicherheit der Glaͤubiger, die dem beſten Wirthe, in
den beſten Umſtaͤnden und in der groͤßten Noth geborget, von
einer Schwachheitsſuͤnde abhangen laſſen und jeden abſchre-
cken einem ſolchen Manne, fuͤr einem liederlichen Wirth kan
ſich ein jeder huͤten, auszuhelfen. Will man aber die Mo-
ralitaͤt mit in Betracht ziehn: welcher Meiſter wird dann die
Grenzlinie ziehen koͤnnen?


Wollte
[160]Die Abmeyerungen koͤnnen dem Hofesherrn

Wollte man ſagen: der Proceß ſoll ganz ſummariſch ſeyn,
und ein Urtheil das Gluͤck oder Ungluͤck des Menſchen ent-
ſcheiden; oder alle Verſchickung der Acten ſoll in dieſem Falle
verboten ſeyn: ſo erreichte die Sache freylich ein kuͤrzers Ziel;
aber wird ein Freyer ſich auf dieſen Wurf eigen geben, oder
ein Glaͤubiger darauf borgen? und wird der Gutsherr ſo
viel Vertrauen auf einen einzelnen Richter oder einen von
dieſem erwaͤhlten Referenten ſetzen, um es auf deſſen Urtheil
allein ankommen laſſen? Wuͤrde nicht in einem ſolchen Falle
wenigſtens das Urtheil eines Collegiums noͤthig ſeyn? und
kan man hoffen, wenn dieſes dazu angeſetzet, mithin alle
fernere Appellation verboten wuͤrde, daß die Reichsgerichte
ſich dadurch die Haͤnde binden laſſen werden?


Niemand kennet unſtreitig einen ſchlechten Wirth beſſer als
ſeine Nachbaren, und die Eingeſeſſenen des Kirchſpiels: dieſe
wiſſen es aufs genaueſte was er fuͤr ein Vogel ſey, und ob
man von ihm noch Beſſerung hoffen koͤnne. Koͤnnte man
ſich ihre Entſcheidung ohne Eigennutz und ohne Abſichten ge-
denken: ſo wuͤrde ihr Urtheil das ſicherſte und geſchwindeſte
ſeyn; man brauchte keine Entſcheidungsgruͤnde von ihnen zu
erfordern und kein Glaͤubiger wuͤrde ſich fuͤrchten; die voll-
kommenſte Beruhigung wuͤrde auf allen Seiten ſeyn koͤnnen:
aber die Eingeſeſſene des Kirchſpiels ſind mehrentheils unter
einander verwandt; ſie haben an dem Beklagten zu fordern
und wollen nicht gern verlieren; ſie ſind wenn es zum Ent-
ſcheiden koͤmmt, furchtſam und mitleidig; ſie ſind natuͤrlicher
Weiſe mit einander gegen die Gutsherrn; und ſo faͤllt auch
dieſe Art des Verfahrens, worauf ſich ſonſt ein jeder mit Si-
cherheit ſtuͤtzen koͤnnte, außer Betracht. Die Eingeſeſſene
eines andern Kirchſpiels koͤnnen aber keine Urtheiler abgeben,
weil ſie den ſchlechten Wirth in ſeinem ganzen Umfange nicht
genugſam kennen.


Bey
[161]nicht uͤberlaſſen werden.

Bey ſo bewandten Umſtaͤnden verdienen hauptſaͤchlich die-
jenigen Abaͤußerungsurſachen, welche der Augenſchein dar-
legt, und die der Richter des Orts mit Zuziehung der Chur-
genoſſen, ſo fort außer Zweifel ſetzen kan, allemal die vor-
zuͤglichſte Aufmerkſamkeit. Wahr iſt es zwar, daß ein Ha-
gelſchlag, ein Mißwachs, ein Viehſterben, ein ſo genann-
tes Ungluͤck am Vieh, ein gerechter aber ſchwerer Proceß
und viele andre Umſtaͤnde einen Leibeignen dergeſtalt zuruͤck
bringen koͤnnen, daß ſeine Gebaͤude und Zaͤune, den Gebaͤu-
den und Zaͤunen eines liederlichen Wirths voͤllig aͤhnlich ſehn;
wahr iſt es auch, daß dergleichen Strafen Gottes wohl einen
ehrlichen Mann in die Verſuchung fuͤhren koͤnnen, die Axt
an eine heilige Eiche zu legen, oder ſein Buͤchenholz etwas
ſtaͤrker anzugreifen, als ein anderer. Allein wenn doch der
Augenſchein zuerſt geredet, und den Leibeignen mit dem
Beweiſe jener Ungluͤcksfaͤlle, in ſo fern er etwas erhebt, be-
laden hat: ſo pflegt ſich die Sache doch bald aufzuklaͤren, in-
dem der Grund oder Ungrund jener Ungluͤcksfaͤlle mit einiger
Muͤhe leicht uͤberſehen werden kan.


Das ſicherſte Mittel unter allen wuͤrde ſeyn, die etwahige Beſ-
ſerung, welche ein Leibeigner in dem Hofe hat, meiſtbietend
zu verkaufen, und ihn und die Glaͤubiger mit dem daraus er-
haltenen Gelde abzufinden; alsdenn beduͤrfte es gar keiner
beſondern Abaͤußerungsurſachen, ſondern man verfuͤhre mit
den Leibeignen wie mit den Freyen, wenn ſie ihre Schulden
nicht bezahlen koͤnnen. Dieſe Beſſerung koͤnnte man durch
Churgenoſſen ſchaͤtzen, und wenn der Gutsherr die Schaͤtzung
bezahlte, demſelben gegen deren Erlegung den Hof zur an-
derweiten Beſetzung uͤberlaſſen. Der Gutsherr behielte von
der Schaͤtzung was er ſelbſt zu fordern haͤtte, und beſetzte ſo-
dann den Hof mit andern nach ſeinem Gefallen. Wollten
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Ldie
[162]Betrachtungen
die unbewilligten Glaͤubiger ſich dieſes nicht gefallen laſſen[:]
ſo muͤſten ſie einen beſſern Kaͤufer ſtellen, der ein mehrers
fuͤr die Beſſerung erlegte, ſo dann ſich zum Leibeignen uͤber-
gaͤbe. Von dem Uebergebot erhielte der Gutsherr die Haͤlfte
zum Weinkauf, und die uͤbrige Haͤlfte waͤre fuͤr die Glaͤubiger.


Allein es iſt dieſes nur ein Vorſchlag, wogegen ein andrer
leicht neue Bedenklichkeiten, beſonders, wenn man erſt fra-
gen wuͤrde, worinn die Beſſerung beſtehe? vorbringen wird,
Mein heutiger Wunſch wird indeſſen erfuͤllet, wenn man nur
uͤberzeugt wird, daß das Ziel was man ſucht, ſo leicht nicht
zu erreichen ſey, wie viele wohl glauben moͤgen.



XIIX.
Betrachtungen uͤber die Abaͤußerungs-
oder Abmeyerungsurſachen.


Es iſt ſchon lange eine allgemeine Klage der Gutsherrn
geweſen, daß ſie viele ſchlechte und liederliche Wirthe
auf ihren Hoͤfen dulden muͤſten, weil ihnen die Richter zu
viele Schwierigkeit machten, wenn ſie ſolche davon ſetzen,
oder wie man hier ſagt, abäußern wollten. Man glaubte
zwar derſelben durch die Eigenthumsordnung voͤllig abzuhel-
fen, indem man die Faͤlle, worin eine Abaͤußerung ſtate
finden ſollte, namentlich beſtimmte, und den Richter anwies
ohne alle Weitlaͤuftigkeit zu verfahren. Allein die Klage iſt
immer noch dieſelbe, es ſey nun, daß der Menſchen Witz,
deſſen Erfindungen in allen Handlungen ſo buͤndig ausge-
ſchloſſen werden, immer noch eine Luͤcke findet, wodurch er
ſei-
[163]uͤber die Abaͤußerungs- oder Abmeyerungsurſ.
ſeinem alten Lehrmeiſter das: On ne penſe jamais à tout
zuruft; oder daß der Geſetzgeber die Urſachen der Abaͤußerung
(weil von zween Perſonen, die ſich des nemlichen Verbrechens
ſchuldig machen, die eine oft Mitleid, die andre aber eine
ſtrengere Strafe verdienet) nicht zu allgemeinen Regeln fuͤr
alle Faͤlle erheben kan. Dem ſey nun aber wie ihm welle:
ſo iſt die Betrachtung der Abaͤußerungsurſachen, womit ſich
jetzt unter uns die groͤſten Maͤnner beſchaͤftigen, eine der
wichtigſten fuͤr den Staat, deſſen Wohlfahrt nothwendig ſehr
darunter leidet, wenn ſchlechte Wirthe auf den Hoͤfen, ihren
Ackerbau verſaͤumen, ihre Gehoͤlze verderben, ihre Span-
nung vermindern, ihren Viehſtapel ſchwaͤchen, und weder
Muth noch Kraͤfte zu neuen Unternehmungen und Verbeſ-
ſerungen beſitzen. Wie mancher Hof wuͤrde doppelte Fruͤchte
tragen, wenn ſtatt des jetzigen faulen Gebluͤts, oder ſtatt
der ſchwachen Heuerleute ein froher arbeitſamer und vermoͤ-
gender Wirth darauf geſetzet wuͤrde?


Allein dieſe Betrachtungen werden nie das rechte Ziel
treffen, ſo lange man blos bey dem Eigenbehoͤrigen ſtehen
bleibt, und ſich durch dieſe Einſchraͤnkung den ganzen Ge-
ſichtspunkt, worin die Sache betrachtet werden muß, verdirbt.
Die Abaͤußerung hat mit der Leibeigenſchaft nicht ſo viel
gemein als man glaubt. Sie iſt die Verbannung eines un-
würdigen Mitgliedes aus der Reihepflichtigen Geſellſchaft,

und dieſes Mitglied mag Rittereigen oder Hofhoͤrig, Chur-
muͤndig oder Nothfrey, ja es mag der urſpruͤngliche Eigen-
thuͤmer des unterhabenden Hofes ſeyn: ſo muß es abgeaͤußert
werden koͤnnen, ſo bald es den Bedingungen zuwider handelt,
welche die reihepflichtige Geſellſchaft zu ihrer Erhaltung und
Vertheidigung eingegangen iſt, und eingehen muͤſſen.


L 2Man
[164]Betrachtungen

Man ſetze nur einen Augenblick den Fall, daß hundert
Hoͤfe einen kleinen Staat ausmachen, der ſeine oͤffentliche La-
ſten hat; und daß die Haͤlfte davon mit Leibeignen, die andre
Haͤlfte aber mit Freyen beſetzet ſeyn. Werden hier die Leib-
eignen den Freyen geſtatten koͤnnen


  • a) ihre Hoͤfe mit Schulden zu beſchweren?
  • b) ſich bey Gelegenheit der Erbfaͤlle mit uͤbermaͤßigen Ab-
    ſteuren zu entkraͤften?
  • c) ihr Spannwerk außer Stand zu ſetzen?
  • d) ihre Gehoͤlze zu verhauen?
  • e) ihre Staͤtten zu verſplittern?
  • f) ſolche zu verlaſſen und mit Heuerleuten zu beſetzen?

Werden ſie nicht ſo fort ihr Oberhaupt, dem ſie die Vollmacht
zur Erhaltung der Reihepflichten gegeben, angehen, und ihn
bitten, den Freyen dieſe dem gemeinſchaftlichen Intereſſe der
Geſellſchaft nachtheilige Unternehmungen zu unterſagen? oder
werden ſie, wenn Fuhren, Einquartierungen und andre ge-
meine Werke vorfallen, wozu Futter, Korn, Spann, Holz,
Geld und andre Lieferungen erfordert werden, fuͤr jene Freyen,
die ihr Holz verdorben, ihre Haͤuſer abgebrochen, ihre Staͤt-
ten verſplittert und ſich in Schulden vertieft haben, den Vor-
ſchuß thun, und dennoch geſchehen laſſen, daß jene Freyen
ſich immer mehr zu Grunde richten? Dies wird ihnen ge-
wiß nie angemuthet werden koͤnnen, und ſo iſt es offenbar,
daß es gar keine ſonderliche Verſchiedenheit in Anſehung der
Abaͤußerung mache, ob der reihepflichtige Hof mit einem
Leibeignen oder mit einem Freyen beſetzet ſey.


Die
[165]uͤber die Abaͤußerungs- oder Abmeyerungsurſ.

Die ganze Blendung, welche man ſich bisher hieruͤber ge-
macht hat, ruͤhrt einzig und allein davon her, daß die mehr-
ſten gemeinen Laſten in neuern Zeiten mit Gelde beſtritten
und zu einer Generalcaſſe bezahlet worden, und der Staat
hierauf nicht ſo genau darnach geſehen, ob er dieſes Geld aus
eines Heuermanns, Paͤchters, Winners oder eines Wehr-
feſters Haͤnden empfangen; folgends ſeine ganze Aufmerk-
ſamkeit auf die Ermaͤchtigung des Geldes gerichtet und ſich
um die Wirthſchaft der Freyen zum großen Nachtheil der
reihepflichtigen Leibeignen faſt gar nicht mehr bekuͤmmert;
ein Fehler, deſſen Folgen immer gefaͤhrlicher werden muͤſſen,
da viele, die ſich frey kaufen, ihre Holzungen angreifen, Laͤn-
dereyen veraͤußern, auch wohl ihr ganzes Erbe Stuͤcksweiſe
verheuren, und ihren ganzen Haushalt eingehen laſſen; ohne
daß der Beamte, der die Rechte der reihepflichtigen Geſell-
ſchaft zu vertheidigen hat, ſich in dieſem Stuͤcke um ihre
Wirthſchaft bekuͤmmern und in die Stelle der Gutsherrlichen
Localcontrolle treten darf.


Nichts beweiſet den geringen Unterſchied unter Leibeignen
und Freyen, welche auf reihepflichtigen Hoͤfen ſitzen, deut-
licher, als die Bemuͤhungen der Rechtsgelehrten, welche
von der unvollkommenen Freyheit der Bauern gehandelt;
und die Zeugniſſe der Beamten und Richter, wodurch ſie alle
ſogenannten Freyen in Leibeigne umgeſchaffen haben. Der
Uebergang von der einen Art zur andern iſt in dem Falle, wo
ſie in einer Reihe ſtehen, faſt unmerklich; aber der Grund
davon keinesweges eine ehemalige Sclaverey, wie jene Ge-
lehrte behaupten, und manche gern ſchließen moͤgten, ſon-
dern der ſimple Satz, welchen ich nicht beſſer als mit den
Worten des Verfaſſers du Traité des vertus et des recom-
penſes
ausdrucken kan. Dieſer ſagt: L’aſſemblage de toutes
L 3les
[166]Betrachtungen
les portions de liberté que chaque particulier a ſacrifié
pour le bonheur public, forme les forces et le treſor de
chaque nation. Le Souverain en eſt depoſitaire et l’ad-
miniſtrateur de droit.
daß heißt ungefehr ſo viel: Wenn
Landbeſitzer eine Geſellſchaft zur gemeinſamen Vertheidigung
errichten: ſo ſchießen ſie ſo viel von ihrer Freyheit und von
ihrem Vermoͤgen zuſammen, als zur Erhaltung des Endzwecks
noͤthig iſt; und vertrauen die Aufſicht uͤber dieſes Zuſammen-
geſchoſſene einem Oberhaupte an. Auf dieſe Weiſe haben alle
Freyen ſich der natuͤrlichen Freyheit ihr Holz zu verwuͤſten,
ihre Hoͤfe zu verſplittern, ihre Spannungen abzuſchaffen
und ſich in Schulden zu vertiefen, weil ſolches der gemein-
ſchaftlichen Reihe nachtheilig iſt, urſpruͤnglich begeben; und
der Beamte, der an die Stelle des Oberhaupts ſteht, fordert
im Namen der ganzen Geſellſchaft mit Recht, daß ſie in vor-
kommenden Nothfaͤllen ohne ſein Vorwiſſen, Ermeſſen und
Bewilligen, nichts zum Nachtheil des Erbes unternehmen
ſollen. Ja man kan ſagen, es giebt gar kein Eigenthum
unterm Amte,
weil der natuͤrliche Eigenthuͤmer ſolches beym
Anfang der Geſellſchaft nothwendig aufgeben muͤſſen. Mo-
ſes in der Theocratie ſagte: Die Erde iſt des Herrn; und
in unſern Verfaſſungen heißt es: Die Erde iſt des Staats.
Eigenthum findet ſich blos im Stande der Natur und der
Exemtion. Die Sprache hat hier einen zu ſtarken Einfluß
auf unſre Begriffe gehabt; und ſie wuͤrde ſchon manches Land
um ſeine ganze Verfaſſung gebracht haben, wenn nicht eine
Menge von Leuten die Wahrheit im Gefuͤhl gehabt haͤtten,
und mit den undeutlichſten Begriffen auf richtige Folgen ge-
kommen waͤren.


Schade nur, daß man dieſe Begriffe uͤberhaupt nicht eher
philoſophiſch behandelt, und vielmehr die Schluͤſſe beguͤnſtiget
hat,
[167]uͤber die Abaͤußerungs- oder Abmeyerungsurſ.
hat, welche von dem Mangel des Grundeigenthums unter
dem Amte, auf die wuͤrkliche Leibeigenſchaft gemacht ſind;
denn eben daher ruͤhret die beſtaͤndige Beſtrebung eines groſ-
ſen Theils der Menſchen, ſich wo immer moͤglich, den ge-
meinen Laſten oder dem Amte zu entziehen, weil es einen
Verdacht der Leibeigenſchaft erweckt; und wir moͤgen es als
die Haupthinderniß anſehen, warum wir in Weſtphalen auf
ſchatzpflichtigen Hoͤfen keine ſolche Landhaͤuſer und Landmaͤn-
ner haben, wie wir in England antreffen, daß alle diejeni-
gen, die ſich fuͤhlen und Kraͤfte haben, die reihepflichtige
Hoͤfe fliehen und dieſelbe einem Leibeignen uͤbergeben; wel-
ches nicht geſchehen wuͤrde, wenn die perſoͤnliche Freyheit un-
term Amte mehr geſichert und geehret worden waͤre.


Um aber wieder auf den Hauptſatz zu kommen; ſo glaube
ich es ſattſam dargethan zu haben, daß die Abaͤußerung uͤber-
haupt ſo wohl gegen freye als leibeigne Beſitzer reihepflichti-
ger Hoͤfe Statt finde. Zwar wird man mir hier einwenden,
daß ich gleichwohl hierinn den Gerichtsgebrauch und den
Mangel eines ausdruͤcklichen Geſetzes gegen mich haͤtte. Al-
lein ich antworte, daß die Abaͤußerung der Rittereignen und
Hofhoͤrigen außer allen Zweifel ſtehe; daß ferner die moͤg-
liche Abaͤußerung der Ravensbergiſchen, Wetteriſchen und
andern Freyen genugſam erwieſen; daß der Schluß, welcher
gegen dieſe gilt, auch gegen die Nothfreyen gelte, und ſchon
oft gegolten haben wuͤrde, wann dergleichen Leute nur auf
ſolchem reihepflichtigen Gute ſaͤßen, wovon ſie Laͤndereyen
verſplittern, Gehoͤlz verhauen, und Spannung vernachlaͤßi-
gen, mithin ſich in den Fall einer Abaͤußerung verwickeln
konnten. Es bleiben alſo blos die Sonderfreyen, welche
ſchatzpflichtige Guͤter beſitzen, und weder Rittereigen noch
Hofhoͤrig, noch in einer Freyenrolle ſind, uͤbrig, und von
L 4die-
[168]Betrachtungen
dieſen behaupte ich, daß ſie ſich insgeſamt in der Zeit von
zweyhundert Jahren freygekauft, und es blos der Nachlaͤſ-
ſigkeit ihrer Unterbeamte zu danken haben, daß ſie nicht zu
einer oder andern Freyenrolle gezogen und den Ravensbergi-
ſchen und Wetteriſchen Freyen gleich gemacht worden. Denn
die Regel ut liberi ſubſint advocatiœ findet ſich durch ganz
Deutſchland a), und in allen unſern alten Amtsregiſtern geht
die Ordnung alſo: daß zuerſt die Freyen und dann die Klo-
ſterleute mit ihren Schutzurkunden, Schatzungen und freyen
Dienſten, zuletzt aber die Hofhoͤrige mit ihren Schulden und
Paͤchte vorkommen, und wuͤrden diejenigen, die ſich binnen
den letztern zweyhundert Jahren von einem Gutsherrn frey-
gekauft haben und auf reihepflichtigen Hoͤfen ſitzen (denn min-
dere haben Churmund oder die Wahl der Hode) ſich hier ge-
wiß eben ſo wie in andern Laͤndern unter die Zahl der Freyen
eingeſchrieben finden, wenn darauf ſofort waͤre geachtet wor-
den; nicht eben darum, weil es ein oder ander altes Recht
ſo mit ſich bringt b), ſondern weil es die Noth erfordert und
das vorangezogene Recht der reihepflichtigen Geſellſchaft
durch-
[169]uͤber die Abaͤußerungs- oder Abmeyerungsurſ.
durchaus erheiſcht, daß ſie unter einer beamtlichen Localcon-
trolle ſtehen. Der Landmann muß ſich vom Hofe, wie der
Soldat von ſeinem Solde und mit der ihm anvertrauten Ruͤ-
ſtung wehren. Beyde werden abgeaͤußert oder aus der Reihe
geſtoßen, wenn ſie ihr Gewehr verſetzen und ihren Sold zu
geſchwind verzehren, und macht es keinen Unterſcheid, ob
jener ſeinen Hof dem gemeinſchaftlichen Oberhaupt aufgetra-
gen oder von ihm empfangen habe. Der Landmann beſitzt
die Actie zu getreuen Haͤnden, wovon die Compagnie den
Handel fuͤhret. Dieſe wuͤrde aber mit großer Unſicherheit
beſtehen, wenn der Actionair das Capital veruntreuen wollte.


Ich will jedoch hiermit gar nicht ſagen, daß gegen Freye
und Leibeigne aus einerley Urſachen zur Abaͤußerung geſchrit-
ten werden koͤnne. Der Leibeigne ſteht insgemein in einer
doppelten Verbindung; wovon die erſte ſich auf das Wohl des
Staats, die andre aber auf einen Pachtcontrakt zwiſchen ihm
und ſeinem Gutsherrn gruͤndet. Die erſte verpflichtet zum
Exempel den Freyen nur ſein Gehoͤlz nicht zu verhauen, die
andre aber verhindert den Leibeignen uͤberhaupt ſein Blu-
menholz ohne Bewilligung anzugreifen; und ſo verſteht es
ſich von ſelbſt, daß die Abaͤußerungsurſachen in allgemeine,
welche ſowohl Freye als Leibeigne betreffen, und in beſondre,
wodurch letztere allein verbunden werden, abgetheilet werden
muͤſſen.


Eben ſo hat die Gutsherrlichkeit einen doppelten Grund,
als einmal die vogteyliche Befugniß, kraft welcher der
Gutsherr gleichſam von obrigkeitlichen Amtswegen dahin
ſieht, daß ſein Leibeigner nicht gegen das Wohl des Staats
wirthſchafte, und dann das aus dem Pachtcontrakte hervor-
gehende Recht, vermoͤge weſſen er von ſeinem pachtpflichtigen
L 5Eigen-
[170]Betrachtungen
Eigenbehoͤrigen fordert, ſich ſeinem Contrakte gemaͤß zu ver-
halten. Beyde Befugniſſe koͤnnen auch getrennet ſeyn. So
hat zum Exempel der Gutsherr, der ein Erbe auf Zeit- oder
Erbwinn ausgethan hat, uͤber den freyen Beſitzer deſſelben
nicht die vogteylichen Gerechtſame, und umgekehrt derjenige,
ſo von einem Freyen nur Schutzrinder, Schuldkoͤrner oder
Schuldſchweine, aber keine Paͤchte zu erheben hat, blos die
Vogtey, und er kan im erſten Fall nur auf die Aeußerung
klagen, wenn der Freye ſeinen Pacht- oder Winncontrakt nicht
erfuͤllet; und im andern blos wenn er den urſpruͤnglichen
Bedingungen der reihepflichtigen Geſellſchaft zuwider han-
delt. Wo der Leibeigne Pachtpflichtig iſt, wird durch die
Abaͤußerung das Erbe dem Verpaͤchter erlediget; wo aber
der Freye blos unter der Gutsherrlichen Vogtey ſtehet, kan
es ihm dem Herkommen oder der Billigkeit nach verſtattet
ſeyn, ſein Erbe einem andern annehmlichen Manne zu uͤber-
geben und ſich auf dieſe Weiſe als ein untuͤchtiger der reihe-
pflichtigen Geſellſchaft zu entziehen. Die Roͤmer welche blos
die Gutsherrlichkeit ohne Vogtey kannten, waren ſtrenge ge-
gen jeden Pacht- oder Zinspflichtigen, wenn er ſeinen Canon
nicht bezahlte; die Deutſchen hingegen, welche dem Guts-
herrn mit der Vogtey die Macht der Selbſthuͤlfe gegen ſeinen
Leibeignen und Schutzfreyen eingeraͤumet haben, waren ge-
linder, und legten es mehr dem Gutsherrn zur Laſt, wenn
er ſeine Gefaͤlle zuruͤckſtehen ließ. Dieſemnach iſt auch das
gedoppelte und einfache Recht des Gutsherrn wohl von ein-
ander zu unterſcheiden.


Wird dieſer und jener Unterſcheid nicht zuforderſt deutlich
aus einander geſetzt: ſo wird die Klage des Gutsherrn nie aus
dem Grunde gehoben werden, und jeder Schritt, den man zur
Verbeſſerung thut, einen neuen Anſtoß finden. Zum Exempel
will
[171]uͤber die Abaͤußerungs- oder Abmeyerungsurſ.
will ich nur den Satz aus der Eigenthumsordnung nehmen,
wo es heißt:

Wenn ein Eigenbehoͤriger das Erbe mit ſo vielen Schul-
den beſchwert, daß ſie den Werth des Erbes nach Pro-
portion der Pachtlieferung zu 3 p. C. erreichen oder gar
uͤberſteigen: ſo ſoll es pro unica cauſa diſcuſſionis ge-
halten werden.


Dieſer iſt in der That ſo vernuͤnftig und ſo [...] billig gewaͤhlet,
als es ein leibeigner Paͤchter verlangen kan. Wie will man
aber hier zu Rechte kommen, wenn man nicht weis, ob der
Pflichtige blos unter der Gutsherrlichen Vogtey oder auch zu-
gleich unter einem urſpruͤnglichen Pachtcontrakt ſtehe?
Schuldkorn iſt kein Pachtkorn. Ein Schuld- oder Holz-
ſchwein iſt kein Pachtſchwein. Das Dienſtgeld was fuͤr die
Vogteyfrohne bezahlet wird, iſt kein Pachtgeld; Spann-
dienſte ſo in der Stelle der Frohnen getreten; Herbſt- und
Mayſchatzgelder, Schutzrinder, Zehntkorn und was derglei-
chen mehr ſind, die ſo wohl Leibeigne als Freye entrichten,
ſetzen keinen Pachtcontrakt, ſondern die vogteyliche Befugniß
voraus, und die Verwechſelung dieſer ganz unterſchiedenen
Begriffe hat bisher jene fuͤr jeden leibeignen Paͤchter nicht
unbillige Verordnung voͤllig unbrauchbar gemacht, und mehr:
malen die Frage veranlaſſet: Ob dann ein Leibeigner, der
von dem groͤßten Hofe jaͤhrlich nur einen Schilling entrichtet,
ſofort abgeaͤußert werden koͤnne, wenn er mehrere Schulden
gemacht als mit dem dritten Theil dieſes Schillings zu 3 p. C.
verzinſet werden konnten? Wo ſteht es aber geſchrieben,
daß dieſer Schilling eine Pacht ſey? Die Alten ſind keine
ſolche Narren geweſen, daß ſie einen Hof ſo wohlfeil verpach-
tet haben ſollten. Wahre Paͤchte ſind dem Ertrag des Ho-
fes, nach Abzug der oͤffentlichen Vertheidigung deſſelben,
ziem-
[172]Betrachtungen
ziemlich angemeſſen, und ſie unterſcheiden ſich durch ihre
Groͤße leicht von vogteylichen Gefaͤllen.


Eine andre Urſache der Abaͤußerung in der Eigenthums-
ordnung, nemlich dieſe:

Wann eine eigenbehoͤrige Perſon ſich dem ſchaͤndlichen
Hurenleben ergiebt, imgleichen Ehebruch oder Dieb-
ſtahl begehet, oder ſonſt einer groben Miſſelhat uͤberfuͤh-
ret wird, wodurch dem Erbe eine ſchwere Laſt zuwaͤchſt;
ſo iſt ſolches alleinig pro cauſa diſcuſſionis zu achten.


hat ſehr vieles von ihrem innerlichen Gehalte verlohren,
weil man hier blos auf das Verhaͤltniß zwiſchen den Leibeig-
nen und Gutsherrn als Erbverpaͤchtern geſehen hat; der
allenfalls zufrieden iſt, einen ſchlechten Kerl, wenn er ſonſt
richtig bezahlt, auf dem Hofe zu laſſen, ſo lange der Staat
ihn nicht verbannet. In der That aber gehoͤrt dieſe Urſache
zu den allgemeinen, und die Beamte ſollten jeden Freyen,
und der Gutsherr, kraft der vogteylichen Gerechtſame, jeden
Leibeignen, der ſich ſo ſchaͤndlich betraͤgt, des Hofes entſetzen
koͤnnen. Ein Soldat mag noch ſo ſchoͤn gewachſen und noch
ſo tapfer ſeyn: ſo wird er vom Regiment gejagt, ſo bald er
etwas begeht, was mit der Dienſtehre nicht beſtehen kan.
Eine gleiche Denkungsart herrſchte unter den urſpruͤnglichen
Reihepflichtigen bey den Deutſchen, und dem Staat iſt daran
gelegen, um die gemeine Reihe bey Ehren, folgends mit
dieſer Ehre Ackerbau und Amtsſaͤßigkeit in Anſehen zu erhal-
ten, dieſe Denkungsart nicht zu ſchwaͤchen. Daß der Mann
oder die Frau, welche in ſolchem Falle durch den ſchuldigen
Theil mit ins Ungluͤck gezogen wird, eine Auffahrt (lau-
demium
) bezahlet habe, iſt zwar ein hinlaͤnglicher Grund
fuͤr den Gutsherrn als Erbverpaͤchtern, um ſie nicht zu
ver-
[173]uͤber die Abaͤußerungs- oder Abmeyerungsurſ.
verſtoßen; aber nicht fuͤr den Gutsherrn, in fo fern er die
Vogtey hat, oder fuͤr den Staat, der in vielen Faͤllen mit
einer Dienſt- und Hofeserlaſſung mehr als mit einer Landes-
verweiſung und Zuchthausſtrafe ausrichten kan.


Ich wuͤrde zu weit gehen, wenn ich die Verwirrung,
welche daher, daß man entweder immer mit dem engen
Begriffe einer Erbpacht in die Sache hineingegangen, oder
ganz verſchiedene Menſchen unter eine Regel zwingen wollen,
entſtanden ſind, mit einander anzeigen wollte. Es verlohnet
ſich auch nicht der Muͤhe, und alles was aus den Abaͤußerungs-
urſachen nach jenen Begriffen gemacht werden kan, wird der
Abſicht, die man hat, nie entſprechen. Um die Beſchwer-
den aus dem Grunde zu heben, muß das ganze zuſammen-
geflickte Gebaͤude in die Luft geſprengt und ein ganz neues
dafuͤr aufgefuͤhret werden, wovon die beyden Grundpfeiler
folgende ſeyn muͤſſen.


„Jeder reihepflichtige Hof, er ſey beſetzt wie und von
„wem er wolle, iſt in Gefolge des geſellſchaftlichen Ori-
„ginalcontrakts eine Pfruͤnde des Staats, oder wenn
„man lieber will, ein Stammlehn oder Fideicommißgut,
„welches der Beſitzer auf Zeitlebens zu vertheidigen und
„zu nutzen hat, und mit ſeinem Tode demjenigen eroͤfnet,
„der durch die Geſetze dazu gerufen iſt; und ferner
„Kein Sohn oder Nachfolger am reihepflichtigen Hofe
„iſt verpflichtet ſeines Vaters oder Vorgaͤngers Schulden
„zu bezahlen, in ſo fern ſie nicht bewilliget ſind.

Iſt dieſes erſt feſtgeſetzt; wie es die wahren deutſchen Rechte,
Noth und Vernunft erfordern: ſo wird ſich das uͤbrige leicht
beſtimmen laſſen. Die Pflichten eines Pfruͤndeners oder
Beneficanten ſind bekannt. Man weis


a) In
[174]Betrachtungen
  • a) In welcher Maaße er das Eichen- und Buͤchenholz auf
    ſeinen Wehdumsgruͤnden angreifen darf;
  • b) Wie er die Pfruͤnde mit keinen Schulden beſchweren
    moͤge;
  • c) Wie er in Nothfaͤllen auf Erkenntniß und mit Vorwiſ-
    ſen ſeiner Obern Gelder darauf leihen kan, die ſein Nachfol-
    ger bezahlen muß;
  • d) Wie ſeine Kinder und Erben aus der Pfruͤnde nicht aus-
    geſteuret und abgefunden werden;
  • e) Wie ſein Nachfolger ſich nicht in ſeine Erſchaft miſche;
  • f) Wie er durch ein liederliches Leben ſeine Pfruͤnde ver-
    wuͤrke, ohne Ruͤckſicht, ob mit der Frauen Brautſchatz eine
    Simonie begangen worden oder nicht;
  • g) Wie er auf eine Competenz oder die Leibzucht geſetzt
    werde, wenn er ſeine Dienſte nicht mehr leiſten kan; ꝛc.

Und die Sache ſelbſt, da von der geiſtlichen Pfruͤnde dem
Staate am Altar, von der weltlichen im Gegentheil demſel-
ben im Felde, wenigſtens durch die von ihm in Sold und
Kleidung zu unterhaltende Vicarien gedienet wird, leidet eine
ſo vollkommene Vergleichung, daß ich nicht ſehe, warum da-
bey einiges Bedenken ſeyn koͤnne. Das einzige, was man
ſagen moͤchte, waͤre dieſes, daß die weltlichen Pfruͤnden erb-
lich beſeſſen wuͤrden. Allein ſind Erbpraͤbenden, die ganzen
Familien gehoͤren, andern Geſetzen unterworfen? ſteht es
dem zeitigen Beſitzer frey, ſolche mit Schulden zu beſchweren?
und iſt die Familie oder ſelbſt der Sohn des Erbpfruͤndeners
verbunden, deſſen Schulden aus der Pfruͤnde zu bezahlen?


Laͤngſt
[175]uͤber die Abaͤußerungs- oder Abmeyerungsurſ.

Laͤngſt hat man dahier erkannt, daß der Sohn eines Leib-
eignen ſich der vaͤterlichen Erbſchaft, die doch, weil ſie zum
Sterbfall gehoͤrt und von ihm geloͤſet werden muß, gar nicht
vorhanden iſt, entſchlagen, folgends das Erbe aus der freyen
Hand des Gutsherrn empfangen koͤnne. Warum macht man
aber dieſes nicht zum allgemeinen Geſetz? und ſetzt einmal
fuͤr alle feſt, daß der Sohn eines reihepflichtigen Leibeignen
wegen unbewilligter elterlicher Schulden nie in gerichtlichen
Anſpruch genommen werden ſolle?


Vielleicht iſt dieſes zu ſtrenge; und dem Credit nachtheilig,
welchen der Pfruͤnder doch dann und wann nothwendig ha-
ben muß. Gut, man verordne dann den unbewilligten Glaͤu-
bigern zum Beſten ein Nach- und Gnadenjahr; man ſetze de-
ren allenfalls viere; oder nach dem Exempel Moſes ſechſe,
und laſſe das ſiebende ein Freyjahr ſeyn: ſo bleibt die Pfruͤnde
ſo lange in des Anerbens bloßer Verwaltung; (cuſtodia be-
neficii
) und man weis doch endlich die Zeit, worinn der welt-
liche Pfruͤndener zum ruhigen und freyen Beſitz des Hofes ge-
langen kan. Iſt ihm nun aber dieſer einmal gewaͤhret: ſo
kan man mit der Abaͤußerung um ſo viel ſtrenger durchfahren,
weil er ſich ſodann nicht wie jetzt auf ſeiner Vorfahren Schul-
den berufen kan, das einzige was ſonſt die mehrſte Schwierig-
keit macht.


Man glaube nicht, daß ich die Vergleichung der geiſtlichen
und weltlichen Pfruͤnde nur obenhin gemacht habe. Ich mache
mich anheiſchig, jeden Punkt, auch ſelbſt das Nach- und Gna-
denjahr, die Verehrung des Patrons mit Gold und Silber,
das jus reſignandi, das jus devolutionis, wann der Guts-
herr mit der Erbesbeſatzung nachlaͤßig iſt, und ſehr viel andre
Uebereinſtimmungen aus den weſtphaͤliſchen Hofrechten buch-
ſtaͤblich zu erweiſen und zugleich zu zeigen, daß das canoniſche
Recht
[176]Betrachtungen
Recht und nicht das roͤmiſche bey unſerm Eigenthumsrechte zu
Huͤlfe genommen werden ſollte. Auch dieſes, daß die Kinder aus
der weltlichen Pfruͤnde nicht ausgeſteuret, ſondern mit einem
Hute, einem Stocke und einem paar Klumpen in die Welt
geſchicket werden ſollen, iſt in jenem Hofrechte deutlich
verordnet.


Folgten wir nun dieſem Plan: ſo wuͤrden wir mit den uͤbri-
gen Abaͤußerungsurſachen gar leicht zu rechte kommen. Ein
Freyer und ein Leibeigner darf ſo wenig ſeinen Hof eigenmaͤch-
tig verheuren, als der Pfarrer fuͤr ſich einen Vicar anſetzen;
er darf ſein Spann ſo wenig ſchwaͤchen als der Geiſtliche ſich
außer Stand ſetzen, ſeinen Dienſt am Altar zu thun: beyde
duͤrfen ihre Haͤuſer oder Curien nicht verſallen laſſen. Beyde
duͤrfen ohne Vorwiſſen und Bewilligung ihrer Obern nichts
veraͤußern oder verſetzen, und der Gutsherr kan ſo wenig als
die untere geiſtliche Obrigkeit in ihrer Einwilligung ſo weit ge-
hen, daß der Dienſt der ganzen Pfruͤnde daruͤber zu Grunde
gehe. Alles dieſes koͤnnte aufs genaueſte und deutlichſte be-
ſtimmet und dem Eigenthumsrecht ſeine wahre alte aus dem
urſpruͤnglichen Contrakt unter Landbeſitzern herfuͤrgehende phi-
loſophiſche Geſtalt gegeben werden; aber nur bloß in dem
Falle, wo die ſteurbaren Hoͤfe als Erbpfruͤnden, die der Guts-
herr aus der Familie ſeines Leibeignen, und der Beamte mit
dem naͤchſten Erben des Freyen zu beſetzen hat, betrachtet, und
die Nachfolger nicht zu Erben ihrer Vorgaͤnger gemachet wuͤr-
den. Diejenigen Contrakte die unter gehoͤriger Bewilligung
geſchloſſen ſind, behalten ohnehin ihre Verbindlichkeit, der
Nachfolger mag Erbe ſeyn oder nicht; ſo wie im Gegentheil
alle Nebenverbindungen zwiſchen dem Patron und Beneficia-
ten unguͤltig ſind, wann ſie die Pfruͤnde mit neuen Dienſten
und Pflichten beſchweren.


Die-
[177]uͤber die Abaͤußerungs- oder Abmeyerungsurſ.

Dieſes waͤre aber nur das Mittel, die allgemeinen Abaͤuſ-
ſerungsurſachen feſtzuſetzen, nicht aber die beſondern, ſo aus
dem Erbpachtcontrakt zwiſchen dem Gutsherrn und ſeinem
Leibeignen hervorgehen. Aber dieſe ſind auch nicht ſo ſchwer
zu beſtimmen.



XXIII.
Alſo ſind die unbeſtimmten Leibeigenthums-
gefaͤlle zu beſtimmen.


Die Frage: ob es nicht gut ſeyn wuͤrde, die ungewiſſen Ei-
genthumsgefaͤlle, auf ein gewiſſes Jahrgeld zu ſetzen?


Muß meines Ermeſſens mit einem aufrichtigen Ja beant-
wortet werden. Denn


  • 1) wird niemand leugnen, daß nicht jedem Schuldner die
    Bezahlung eines ziemlichen Capitals leichter in kleinen
    jaͤhrlichen Terminen als in einer Summe fallen muͤſſe;
    und ob man gleich einwenden moͤchte, daß wenn eine
    ſolche Einrichtung ſofort ihren Anfang naͤhme, verſchie-
    dene Leibeigne, dasjenige was ſie bey einem ſich kuͤnftig
    erſt eraͤugendem Fall zu bezahlen haͤtten, in voraus be-
    zahlen wuͤrden: ſo kann man doch
  • 2) mit Wahrſcheinlichkeit annehmen, daß wenn die eine
    Haͤlfte etwa einige Jahre in voraus bezahlen muͤßte,
    die andre Haͤlfte gewiß die Wohlthat der Nachbezahlung
    genieſſen wuͤrde, indem es nicht fehlen koͤnnte, daß nicht
    ſehr viele Auffahrten und Sterbfaͤlle ſofort zu bedingen
    ſeyn wuͤrden. Zudem wird

Möſers patr. Phantaſ.II.Th. M3) je-
[178]Alſo ſind die unbeſt. Leibeigenthumsgefaͤlle
  • 3) jeder Leibeigne es nicht auf die letzte Stunde ankommen
    laſſen, ſondern wenn er erſt weis, daß das Erſparte ſei-
    nen Erben zu ſtatten koͤmmt, immer etwas zu Bezah-
    lung kuͤnftiger Sterbfaͤlle und Auffahrten zuruͤcklegen;
    und da iſt es, wo nicht beſſer und ſicherer, doch gewiß
    gleichguͤltig, ob er ſolches in ſeinen Schrank legt, oder
    ſeinem Gutsherrn auf Abſchlag bezahlt. Es geht auch
  • 4) einem Gutsherrn nichts dabey verlohren. Denn da
    man annehmen kan, daß von 25 Leibeignen jaͤhrlich ei-
    ner einen Sterbfall oder eine Auffahrt zu dingen haben
    wuͤrde: ſo wird ihm nichts dadurch abgehn, wenn nach
    der neuen Einrichtung die 25 zuſammen eben ſo viel des
    Jahrs bezahlen, als jaͤhrlich einer aufgebracht haben
    wuͤrde. Fuͤr ſolche Gutsherrn aber, die
  • 5) ihre Leibeignen nur fuͤr ihre Perſon, und nicht fuͤr ihre
    Erben, auch wohl nur bey gewiſſen Commenden, Pfruͤn-
    den und Beneficien beſitzen, wuͤrde die neue Einrichtung
    unſtreitig beſonders gut ſeyn, weil ſie allemal ihr Gewiſ-
    ſen frey haben, und den wahren oder falſchen Vorwurf
    vermeiden koͤnnten, daß ſie ihre Leibeignen, zum Nach-
    theil ihrer Dienſt- Lehn- oder Fideicommißfolger, ausge-
    pluͤndert haͤtten. Nicht zu gedenken, daß auch
  • 6) dem zeitigen Beſitzer ſolcher Leibeignen die Gelegenheit
    benommen wuͤrde, ſeinem Nachfolger zum Schaden,
    Auffahrten, Sterbfaͤlle und Freybriefe in voraus dingen
    zu laſſen, und dieſem ſolchergeſtalt das Geld vor der Naſe
    wegzuziehen. Wenigſtens wuͤrde man
  • 7) nie von einem ſolchen Proceſſe, wie vor einigen Jah-
    ren gefuͤhret wurde, wieder hoͤren, da die Erben eines
    ſolchen Gutsherrn, welcher ſeinem Leibeignen befohlen
    hatte,
    [179]zu beſtimmen.
    hatte, binnen Jahresfriſt zu heyrathen, gegen den ſaͤum-
    haften Eigenbehoͤrigen den Caducitaͤtsproceß fortfuͤhrten,
    waͤhrender Zeit der neue Beſitzer der Pfruͤnde eben dem-
    ſelben Leibeignen einen andern Termin zur Heyrath ſetzte,
    und wie er ſolchen verſaͤumte, gegen denſelben mit einem
    2ten Caducitaͤtsproceß herausgieng. Und uͤberhaupt
    duͤrfte dieſe ſonderbare Art von Proceſſen ganz wegfallen,
    indem ein weltlicher Gutsherr, der einen Leibeignen fuͤr
    ſich und ſeine Erben beſitzt, ſeinen Leibeignen nicht leicht
    zum heyrathen zwingt, ſondern lieber deſſen Todesfall,
    wodurch entweder ihm oder ſeinen Erben das Gut erle-
    digt wird, abwartet. Insbeſondre aber wuͤrden
  • 8) die geringen Pfruͤnder ihren Vortheil dabey finden,
    die wenn ſie einmal zur Erhaltung ihres Rechts eine
    Verhoͤhung der auſſerordentlichen Gefaͤlle vornehmen
    wollen, in weitlaͤuftige Proceſſe geſtuͤrzet werden, und
    wenn ſie ihre uͤbrigen Einkuͤnfte darauf zum Vortheil ih-
    res Nachfolgern nicht verwenden wollen, dem Leibeignen
    nachgeben muͤſſen. Zudem iſt
  • 9) der Sterbfall nach Ritterrecht, der zuerſt auf Sunder-
    gute
    a) eingefuͤhret worden, und welchen ehedem der
    Biſchof und ſeine Geiſtlichkeit nie gezogen haben, alle-
    zeit ein trauriges Recht. Denn was kan trauriger ſeyn,
    als Wittwen und Waiſen, ſofort in der groͤßten Be-
    truͤbniß und wenn die Leiche noch im Hauſe ſteht, zu
    uͤberfallen; alles was ſie im Hauſe und Vermoͤgen
    haben, aufzuſchreiben und wegzunehmen, und ihnen
    von den Empfindungen der Vornehmen die allerunan-
    ſtaͤndigſten Begriffe beyzubringen? Welcher Gutsherr
    fuͤhlt es nicht, was eine ſolche Handlung fuͤr widrige
    Begriffe bey dem gemeinen Manne hervorbringen, und
    M 2wie
    [180]Alſo ſind die unbeſt. Leibeigenthumsgefaͤlle
    wie dieſer von dem Manne, der ins Sterbhaus kommt,
    und gleich alle Winkel durchſchnauft, denken muͤſſe? Es
    giebt daher auch
  • 10) wenige Gutsherrn, die ſich dieſes traurigen Rechts
    der Strenge nach bedienen, und den armen Waiſen die
    ganze elterliche Erbſchaft entziehen; wenigſtens treiben
    ſie es ungern zu einer eidlichen Eroͤfnung, weil die
    Verſuchung zum Meineide zu ſtark wird, und ohne
    dieſe Eroͤfnung duͤrfte doch der Leibeigne die vorhandene
    Capitalien ſchwerlich anzeigen. Die mehrſten ſehen auch
  • 11) wohl ein, daß ein Gutsherr ohne ſich ſelbſt zu ſchaden,
    das Erbe nicht von allem entbloͤßen, oder auch nur fuͤr
    den Sterbfall eine gar zu ſtarke Summe auf einmal
    nehmen koͤnne, indem ſolchenfalls der Leibeigne ſelten
    wieder zu Kraͤften kommt, ja ſich wohl gar, weil jeder
    Landhaushalt mit zureichender Fauſt gefuͤhret ſeyn will,
    in deren Ermangelung fruͤh zu Grunde arbeitet, und
    eine muthloſe Nachkommenſchaft zeuget. Daher iſt
  • 12) der Sterbfall nach Ritterrecht, da chriſtliche und
    billige Gutsherrn ſolchen faſt nirgends ziehen, ein un-
    noͤthiges aber ſchaͤdliches Schreckbild, was die Leibeig-
    nen in beſtaͤndiger Furcht und vom Erwerben zuruͤck
    haͤlt. Denn die Vorſtellung, daß alles was ſie mit
    ihrem ſauren Schweiſſe erwerben, ihren Kindern nicht
    anders als in ſo fern ſie einen falſchen Eid daran wagen
    wollen, zu ſtatten kommen werde, muß die Leute noth-
    wendig niederſchlagen und ihren Fleiß ſchwaͤchen.

In Anſehung der Auffahrten iſt es


  • 13) ſo wohl der Gutsherrn als Leibeignen wahrer Vortheil,
    daß die neue Einrichtung Platz greife, indem die Eigen-
    thums-
    [181]zu beſtimmen.
    thumsordnung keine Regel feſtgeſetzt hat, nach welcher
    ſolche gefordert oder bezahlt werden moͤgen; welches
    nothwendig zu unzaͤhligen Proceſſen Anlaß geben muß,
    wobey ſo wenig der Gutsherr als der Leibeigne gewinnet,
    indem die Gerichtskoſten gewiß allezeit eben ſo viel wo
    nicht ein mehrers wegnehmen, als woruͤber beyde Theile
    ſtreiten. Der Gutsherr leidet
  • 14) doppelt dabey, da er ſo lange ſeine Forderung keine
    beſtimmte Graͤnzen hat, nach einer ganz natuͤrlichen Folge
    alle Richter wider ſich haben muß; und hiernaͤchſt wenn
    ſein Leibeigner alles der Chicane aufgeopfert hat, entwe-
    der einen ſchlechten Wirth oder einen elenden Sterbfall
    findet. Der Leibeigne hat aber
  • 15) auch keine Freude davon, wenn er endlich nach vielen
    und ſchweren Koſten eine mildere Auffahrt erhalten hat;
    indem ihm der Gutsherr ſolches gewiß beym Sterbfall
    und bey andern Gelegenheiten wieder gedenket. Ueber-
    haupt liegt es
  • 16) in der menſchlichen Natur, und zwar in dem edelſten
    Theile derſelben, daß man ſich der ſchwaͤchern und dem
    Scheine nach unterdruͤckten gern annimmt; und die ge-
    rechteſten Forderungen der Gutsherrn muͤſſen darunter
    leiden, ſo lange einige derſelben unbeſtimmet ſind. Die
    Eigenthumsordnung hat
  • 17) den Gutsherrn in Anſehung der Auffahrten die Bil-
    ligkeit empfohlen, und in deren Ermangelung, die rich-
    terliche Billigkeit zu Huͤlfe gerufen; die Begriffe der
    Billigkeit in dem fordernden, bezahlenden und richtenden
    Theile ſind aber ſo von einander unterſchieden, daß man
    nie eine Einigkeit hoffen darf, ſondern allezeit eine Will-
    M 3kuͤhr
    [182]Alſo ſind die unbeſt. Leibeigenthumsgefaͤlle
    kuͤhr befuͤrchten muß, und dieſe Willkuͤhr, womit ſich
    das Mitleid und die natuͤrliche Neigung fuͤr den ſchwaͤ-
    chern Theil gern vermiſcht, ſucht leicht alles dasjenige
    auf, und haͤlt es fuͤr das wichtigſte, was dem Leibeignen
    nur mit einigen Scheine zu ſtatten kommen kan. Da
    heißt es dann,
  • 18) die Roͤmer haben den Erbgewinn auf den funfzigſten
    Pfennig beſtimmt. In dieſem und jenem Lande iſt der
    zwanzigſte oder zehnte Pfennig dafuͤr angenommen;
    dort iſt ein jaͤhriger Betrag der Staͤtte, hier ein zwey-
    jaͤhriger die hergebrachte Regel; dort wird nur ein neuer
    Meyerbrief, hier nur ein Saertuchen Wamms bezahlt;
    und der auswaͤrtige oder einheimiſche Rechtsgelehrte,
    der ſelbſt nicht Gutsherr iſt, kan die verſchiedenen Mei-
    nungen der Gelehrten in einen Gluͤckstopf werfen und
    eine herausziehen, ohne daß man ihm mit Beſtande ei-
    nen Vorwurf machen kan. Denn was ſollte er beſſer
    thun, als die bey dem menſchlichen Gluͤcke wachende Vor-
    ſehung da walten zu laſſen, wo ihm Geſetze und Rechte
    nichts vorgeſchrieben haben? Will man
  • 19) noch eine vernuͤnftige Regel annehmen: ſo iſt es dieſe,
    daß der Betrag des Erbes als eine Leibrente angeſehen
    und demjenigen Theile, der die Auffahrt bezahlet, ver-
    kaufet wird. Geſetzt, der Theil des Anerben am Hofe
    thue jaͤhrlich 90 Thaler nach Abzug aller Auflagen, Bauer-
    laſten, Gefaͤlle und Auslobungen; ſo erhalten der Wirth
    und die Wirthin gemeinſchaftlich dieſe Einnahme. Die
    Haͤlfte derſelben iſt alſo dasjenige, was dem neu aufkom-
    menden Theile verkauft wird. Das Drittel der Haͤlfte
    oder 15 Thaler bezahlt er mit ſeinem Leibe, indem er
    ſich eigen giebt. Er kauft alſo eine jaͤhrliche Leibrente
    von
    [183]zu beſtimmen.
    von 30 Thaler; und bezahlt dafuͤr nachdem ſolche zu 5.
    6. 7. 8. 9. oder 10. p. C. verkauft wird, das Capital
    zur Auffahrt. Allein dieſe wenigſtens auf einen Rech-
    nungsſatz zuruͤckfuͤhrende Regel wird dem Gutsherrn
    hart ſcheinen, wenn die Zinſen der unbewilligten Schul-
    den an dem jaͤhrlichen Ertrage vorabgezogen werden ſol-
    len; indem er ſolchergeſtalt ſeiner Leibeignen Schuld mit
    entgelten muß; und ſollen dieſe nicht abgezogen werden:
    ſo erhaͤlt der neu aufkommende Theil, der mit dem An-
    erben in Gemeinſchaft der Schulden treten muß, die
    reine Leibrente nicht, die ihm doch auf Treue und Glau-
    ben verkaufet wird. Am Ende aber fuͤhren dergleichen
    Berechnungen und Anſchlaͤge zu Beweiſen und Gegenbe-
    weiſen, und richterlichen Erkenntniſſen, welche im Ge-
    gentheil durch einen beſtaͤndigen jaͤhrlichen Satz vermie-
    den werden. Sie fuͤhren auch wohl zu Betriegereyen,
    weil der Leibeigne ſeine unbewilligte Schulden dem Guts-
    herrn verheelen und lieber ſeine Braut hintergehen als
    jene entdecken wird.

Die Freybriefe, da ſie eben wenig einen beſtimmten Satz
zum Grunde haben, koͤnnen


  • 20) ebenfalls leicht zu großen und koſtbaren Weitlaͤuftigkei-
    ten fuͤhren, wobey fuͤr beyde Theile nichts als Schade
    herauskoͤmmt; und dieſer Mangel eines beſtimmten
    Grundſatzes wird ſicher einmal zu demjenigen fuͤhren,
    nach welchem ein Hauptmann ſeinen Gemeinen fuͤr ein
    feſtgeſetztes Geld verabſcheiden muß, ohne auf deſſen
    Vermoͤgen eine Ruͤckſicht nehmen zu duͤrfen. Denn es
    arbeiten
  • 21) Religion, Sittenlehre, Mode, Ton, Satyre und
    was noch kraͤftiger als dieſes iſt, das Intereſſe aller Lan-
    M 4des-
    [184]Alſo ſind die unbeſt. Leibeigenthumsgefaͤlle
    desherrn gegen ein zu ſtrenges Leibeigenthum, ſo wie
    gegen alles was Privatgutsherrn von ſchatzbaren Unter-
    thanen und Gruͤnden ohne Beſtimmung zu genieſſen ha-
    ben. Dieſem jetzigen Hange der menſchlichen Sachen,
    welchem alle beſoldete Lehrer und Richter frohnen, und
    alle empfindende Leute ſo lange opfern werden, als der
    Angriff gegen unbeſtimmte und ſchwankende Forderun-
    gen gerichtet bleibt, widerſteht am Ende eines kuͤnftigen
    Jahrhunderts nichts als ein feſter Satz. Man darf
    nur einen Blick in andre Laͤnder thun, um die Wahrheit
    davon deutlicher zu empfinden, als ſolche dahier beſchrie-
    ben werden kan. Nichts iſt aber bey dem allen
  • 22) augenſcheinlicher als der eigne Vortheil der Leibeignen,
    welche nach jener neuen Einrichtung mit doppelten Fleiße
    und Muthe fuͤr ſich und ihre Kinder arbeiten koͤnnen,
    ohne den Verluſt ihres ſauer erworbenen Vermoͤgens
    fuͤrchten zu duͤrfen; welche bey ihren ſich vermehrenden
    Kindern nicht an die Beſchwerde der Freybriefe; und
    bey der Verheyrathung derſelben nicht an den Verluſt des
    Brautſchatzes zu denken haben. Die Obrigkeit wird ge-
    gen einen uͤblen Wirth mit aller Strenge verfahren koͤn-
    nen, wenn ihm einmal die Entſchuldigung benommen iſt,
    daß er zu Bezahlung der ungewiſſen Gefaͤlle ſeinen Hof
    in Schulden ſtuͤrzen, ſein Land verſetzen, und ſein Holz
    verhauen muͤſſe; wie wenige Wirthe werden ſich auf
    den Trunk legen, wenn ſie gewiß ſind, das dasjenige was
    ſie verſaufen, nicht dem Gutsherrn am Sterbfalle, ſon-
    dern ihren Kindern am Erbtheile abgehe? Wie wenige
    werden ungerechten und harten Glaͤubigern zum Raube
    werden, wenn ſie nicht zur Unzeit große Summen borgen
    duͤrfen? Wie ſehr werden ſich ihre Proceſſe dadurch
    mindern? Und wie mancher reicher Freyer wird einen
    Guts-
    [185]zu beſtimmen.
    Gutsherrl. Hof annehmen, wenn er nicht mehr befuͤrch-
    ten darf als ein Leibeigner behandelt zu werden?

Nie iſt auch die Zeit zu einer ſolchen neuen Einrichtung
guͤnſtiger geweſen als jetzt, wo


  • 23) der große Geld- und Creditmangel bey den Leibeignen
    eine ſolche Veraͤnderung nothwendig zu machen ſcheinet.
    Die Menge der verheureten Staͤtten iſt noch nichts in
    Vergleichung derjenigen, welche ſich uͤber funfzig Jahr
    finden wird, wenn die Auslobungen nach dem zum Ver-
    ſuche und zur Verkuͤrzung der daruͤber entſtandenen Pro-
    ceſſe eingefuͤhrten Fuſſe beſtehen bleibt. Denn dadurch
    wird ſich alles mit der Zeit in Heuergut verwandeln und
    der jetzige Eigenthum voͤllig aufgeloͤſet werden. a)


XXIV.
[186]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen

XXIV.
Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
der ſogenandten Hyen, Echten oder
Hoden.


Luft macht eigen heißt es an manchen Orten Deutſchlandes;
und ich habe unſre Vorfahren oftmal in meinen Gedan-
ken einer Grauſamkeit beſchuldiget, daß ſie die Luft gleichſam
vergiftet, und die Sclaverey auf einen in der ganzen Welt
freyen Odemzug geſetzet haͤtten. Oft dachte ich aber auch[:]
Wie iſt es moͤglich, daß ſie die mit Heeren von hunderttau-
ſenden zu Felde giengen, Gut und Blut fuͤr die Freyheit
aufopferten, und keinen leibeignen Knecht die Waffen fuͤhren
lieſſen, die Dienſtbarkeit dergeſtalt beguͤnſtiget, und ganze
Doͤrfer durch die Einfuͤhrung derſelben von dem Heerzuge
befreyet haben ſollten? Voll Zweifels uͤber die Wahrheit und
voll Unmuths uͤber die Ungerechtigkeit der Sache ſelbſt, kam
ich von ungefehr auf einen alten Rechtshandel, woraus ſich
dieſes Lufteigenthum auf einmal als eine ſanfte Freyſtaͤdte
zeigte: ich will ihn meinen Leſern erzaͤhlen. Vielleicht neh-
men ſie auch an der Ehre unſrer Vorfahren einen patriotiſchen
Antheil, und lernen, wie gefaͤhrlich es ſey, aus veralteten
Worten neue Schluͤſſe zu ziehen.


Die Koͤnigin von Pohlen Richezza, eine geb. Pfalzgraͤfin
beym Rhein, ließ ſich in der Stadt Coͤlln nieder, und weil
ſie nicht Luſt hatte das Buͤrgerrecht zu nehmen, begab ſie ſich
in die Hode der heiligen Jungfrau, worin der Sterbfall mit
dem
[187]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.
dem beſten Kleide geloͤſet werden konnte; a) Ihre Cammer-
jungfer aber, welche aus dem Dorfe Guͤtersloh, worin noch
jetzt die Luft eigen macht, zu Hauſe war, verheyrathete ſich
in unſer Stift und ſetzte ſich auf ein ofnes Dorf, worin ihr
Mann ein freyes Haus gekaufet hatte. Kaum hatte ſie ein
Jahr in vergnuͤgter Ehe gelebt: ſo entriß ihr der Tod den
beſten Mann; und zur Vermehrung ihres Schmerzens ka-
men die Beamte, um ihr alles was er verlaſſen hatte, zu
nehmen. Voll Schrecken zeigte ſie ihr einziges Kind, den
Erben ihres Mannes, und bat mit Thraͤnen, wo nicht ihr,
doch dieſem Unmuͤndigen das vaͤterliche Erbtheil zu laſſen.
Allein ihr Flehen war vergebens. Die Beamte, ſo ſehr ſie
auch ſelbſt uͤber dieſen Vorfall bewegt waren, antworteten
nach Landesrecht: Ihr Mann ſey Bieſterfrey b) verſtorben
und ſeine Nachlaſſenſchaft daher der Landesherrſchaft verfallen.
Seine Schuldigkeit ſey geweſen, ſich ſofort, als er ſich dahier
niedergelaſſen, in eine Hode einſchreibenc) zu laſſen; und
da er dieſes verſaͤumet, und daruͤber weggeſtorben: ſo waͤre
nichts als die Gnade der Landesherrſchaft uͤbrig, um ſich von
den Folgen der Bieſterfreyheit zu retten.


O Himmel, rief ſie aus, ich bin aus einem Dorfe zu
Hauſe, wo die Luft das Einſchreiben erſetzt; wo jedes
Haus
[188]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
Haus in einer Hode ſteht, und diejenigen ſo darin ziehn, ſo
bald als ſie die Schwelle betreten haben, nicht mehr zu be-
ſorgen haben, daß ihre Erbſchaft der Landesherrſchaft, gleich
der Erbſchaft eines Wildfangs verfalle. Mein Mann war
aus dem Lippiſchen gebuͤrtig, wo alle Bieſterfreyheit mit
einem Groſchen abgewehret werden kan, a) welchen die Er-
ben auf den Sarg legen, und die Landesherrſchaft zur freyen
Urkunde annimmt. Die Oßnabruͤckiſchen Rechte ſind uns
beyden unbekandt geweſen; wir haben nicht gewuſt, daß wir
uns eben einſchreiben laſſen muͤſten; ich habe gedacht, die
Luft, die ich als Unterthan genoſſen, erſetzte die leere Cere-
monie der Einſchreibung; und mein Mann iſt ohne Zweifel
in dem Glauben geſtorben, daß ich ſeine Verlaſſenſchaft mit
dem traurigen Pfennig noch fruͤh genug loͤſen koͤnnte.


Alles dieſes, verſetzten die Beamte, kan die Landesherr-
ſchaft, nicht aber uns bewegen, von unſerer Forderung abzu-
gehen. Jene kan Gnade thun; wir aber ſind aufs Recht
gewieſen. Wir muͤſſen alles was ihr ſel. Mann verlaſſen
hat, zu uns nehmen. Will ſie aber Gnade ſuchen: ſo wollen
wir ihr einen Monat Zeit dazu geben, und uns immittelſt
begnuͤgen, den Nachlaß des Bieſterfreyen aufzuſchreiben,
und ihr ſolchen gegen genugſame Buͤrgſchaft zur getreuen
Verwahrung uͤberlaſſen. Der armen Witwe blieb alſo
nichts uͤbrig als ſich an den damaligen Biſchof zu wenden,
und dasjenige unter neuen Thraͤnen zu wiederholen, was ſie
den
[189]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.
den Beamten vorgebracht hatte. Dieſer war weit entfernt,
ſich mit einer ſo traurigen Erbſchaft zu bereichern. Inzwi-
ſchen reizte ihn doch ſeine Wißbegierde ſich uͤber den Urſprung
und den Nutzen der Hoden, Hyen oder Echten, und von
der Urſache der Bieſterfreyheit naͤher unterrichten zu laſſen.


Gnaͤdigſter Herr, berichteten dieſe, man hat ehedem von
Territorien und Territorialunterthanen nichts gewuſt. a) Man
kannte den Grundſatz nicht, daß derjenige, der ſich auf dieſen
oder jenen Theil des deutſchen Reichsbodens ſetzte, ſofort
mit der Luft die Oberherrſchaft desjenigen Reichsbeamten
erkannte, in deſſen Amtsbezirk er ſich niederließ. Es gieng
damals auf dem Lande, wie noch jetzt in den Staͤdten, worin
nicht alle ſo zwiſchen den Mauren wohnen, das Buͤrgerrecht
haben, ſondern nur diejenigen, die ſolches ausdruͤcklich neh-
men und gewinnen. Die ſaͤmtlichen Eingeſeſſene eines Lan-
des theilten ſich alſo uͤberhaupt in ſolche welche das Untertha-
nenrecht genommen oder gewonnen, und ſolche welche es nicht
gewonnen hatten.


Diejenigen welche es gewonnen hatten, genoſſen der Rechte
und Wohlthaten, welche der Claſſe, worin ſie ſich begeben
hatten, zukamen; und der oberſte dieſer Claſſe, oder der
Schutz-
[190]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
Schutz- und Schirmherr genoß von ihrer Verlaſſenſchaft ent-
weder das beſte Kleid, oder das beſte Pferd, oder das beſte
Pfand, oder eine andre Urkunde ſeiner Schirmgerechtigkeit
Der Kayſer genoß dieſes von allen Reichsbeamten; der Bi-
ſchof von ſeinen Capitularen; der Archidiacon von ſeinen be-
lehnten Pfarrern; der Lehnsherr von ſeinen Lehnsleuten,
und der Reichsvogt von allen eingeſeſſenen ſeiner Vogtey.


Diejenigen aber ſo das Unterthanenrecht nicht in der einen
oder andern Claſſe, wozu ſie ihrer Geburt nach kommen
konnten, gewonnen hatten, beerbte der Kayſer als arg- oder
bieſterfreye Leute a), und nachdem die Reichsfuͤrſten an deſ-
ſen Stelle getreten, der Landesherr. Sie genoſſen jedoch
auch dagegen, ob wohl nicht als Buͤrger, doch als Menſchen
des hoͤchſten Schutzes b), indem der Kayſer ihr Wehrgeld
erhob, wenn ſie erſchlagen wurden, folglich von oberſtrichter-
lichen Amtswegen ihr Raͤcher war.


Die
[291[191]]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.

Die Einziehung der Erbſchaft von allen ſolchen Leuten,
welche ſich in keine Claſſe der Unterthanen begeben hatten,
beruhete in der hoͤchſten Billigkeit. Denn erſtlich hatte man
damals faſt keine Geldſteuren, ſondern jede Claſſe im
Staat hatte ihre angenommene oder angewieſene Verpflich-
tung. Wer ſich alſo nicht in die eine oder die andre einſchrei-
ben ließ, der entzog ſich den oͤffentlichen Laſten. Zweytens
hatte man keine Territorialgeſetze, oder Verordnungen fuͤr
Menſchen, ſondern die Geſetze und Verordnungen bezogen
ſich alle auf Claſſen[;] eben wie jetzt die Kriegsartikel keine
Territorialgeſetze ſind, ſondern nur diejenigen, ſo zum Krie-
gesſtaat gehoͤren, verbinden. Ein Bieſterfreyer entzog ſich
alſo auch den Geſetzen. Er hatte folglich drittens auch kein
Recht, keinen Richter, keinen Advocaten nach damaliger Art,
und keine Zeugen. Denn dies waren derozeit buͤrgerliche
Wohlthaten, welche einem jeden, umſonſt angediehen; und
Richter, Advocaten und Zeugen waren immindeſten nicht
verpflichtet, ſolchen unholden, ungetreuen und ungewaͤrtigen
Leuten ihre Dienſte zu weihen. Er war viertens ohne Ehre,
weil alle Ehre nothwendig ganz allein fuͤr die Claſſe war;
und uͤberall mit der Laſt, welche einer fuͤr das gemeine Beſte
uͤbernimmt, verknuͤpft iſt. Er konnte wenn er ſtarb, ſo we-
nig auf den Kirchhof kommen, als verlaͤutet und begleitet
werden. Denn der Kirchhof und die Glocke gehoͤrte einzig
und allein den Genoſſen; und die Leichenbegleitung iſt uͤberall
die Folgen einer Vereinigung. Der Bieſterfreye hatte
ſich aber darinn nicht begeben. Da fünftens das roͤmiſche
und canoniſche Recht noch nicht das Recht aller derjenigen
war, die gar keines hatten: ſo wuͤrde es hundert Schwierig-
keiten geſetzt haben, ihnen zu Rechte zu helfen. Denn man
wuſte nicht, ob ſie in Gemeinſchaft der Guͤter lebten, ob der
aͤlteſte oder juͤngſte erbte, ob die Witwe ein Witthum hatte ꝛc. ꝛc. ꝛc.
Die
[292[192]]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
Diejenigen aͤchten, wahren und rechtmaͤßigen Einwohner eines
Staats, handelten alſo gar nicht unbillig, wenn ſie ſich derglei-
chen Wildfaͤnge gar nicht annahmen, ihnen kein Recht, kei-
nen Richter, keine Ehre, keine Ehe, kein Witthum, keinen
Contrakt geſtanden, ſondern ſie der bloſſen Willkuͤhr der Lan-
desherrſchaft uͤberlieſſen. War es doch ihre Schuld, daß ſie
ſich nicht hatten in eine privilegirte Claſſe einſchreiben laſſen.


Ganz zu Anfang der deutſchen Verfaſſung mogten alle freye
Landeigenthuͤmer in einem gewiſſen Bezirk ſich vereinigen; je-
dem Hofe eine oder zwey Leibzuchten fuͤr die Alten geſtatten,
im uͤbrigen aber Fremde, welche nicht auf einen Hof geheyra-
thet, und zugleich das gemeine Einwohnerrecht erlangt hat-
ten, als Knechte behandeln; ihre eignen abgehenden Kinder
aber, welche auf keinen Hof heyratheten, ſich aber fuͤr die
Knechtſchaft ſchaͤmten, zum Ausziehen vermoͤgen. So zeigt
ſich wenigſtens die erſte Verfaſſung, worinn keine Staͤdte,
Doͤrfer und Flecken geduldet wurden; und wo ſofort, wenn
auf einem Hofe zwey Leibzuchten fuͤr zwey Wittwen geſetzt
waren, die eine niedergelegt werden muſte, wenn eine Wittwe
ſtarb. Der Plan dieſer Verſaſſung gruͤndete ſich darauf, daß
jeder Hofeigenthuͤmer ſich auf eigne Koſten ausruͤſten und fuͤrs
Vaterland fechten muſte. Eine ſolche Beſchwerde konnte
man den Koͤttern, Brinkliegern und andern kleinen Leuten
nicht anmuthen; und da man keine Geldſteuren kannte, folg-
lich dieſe Leute auch ihren Antheil zu der gemeinen Verthei-
digung in keine wege beytragen konnten; wovon und wofuͤr
haͤtte man ihnen denn gemeine Hut und Weide geben, ihnen
den Brand verſtatten und fuͤr ſie fechten ſollen?


Dieſe Verfaſſung, worinn zwiſchen der wahren Freyheit
und Knechtſchaft kein Mittel war, dauerte aber vermuthlich
nich
[193]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.
nicht lange. Und ſo entſtanden Schirme, Schützungen,
Hoden, Echten, Hyen, Bürgſchaften
und dergleichen Ge-
noſſenſchaften, worinn diejenigen Freyen aufgenommen, ge-
heget, geſchuͤtzet, vertheidigt und zu Rechte geholfen wur-
den, welche nicht zu jenen alten Hofgeſeſſenen Eigenthuͤmern
gehoͤrten und ſich nicht in die vollkommene Knechtſchaft bege-
ben wollten. Eine ſolche Hode wurde nun gleichſam eine vom
Staate priviligirte Gilde, welche eine Abrede unter ſich will-
kuͤhren und ſolchergeſtalt die Rechte freyer Menſchen erhalten
konnte. Sie erhielt folglich eignes Recht, einen eignen
Richter; ebengenoſſe Zeugen; ſie erhielt ein Begraͤbniß; die
Hodengenoſſen begleiteten einander zur Leiche und waren fuͤr
die Bieſterfreyheit, oder den Verluſt ihrer Erbſchaft, ſicher.


Nur an der Ehre im Staat fehlte es ihnen, weil ſie nicht
zur gemeinen Landesvertheidigung kamen; ſondern dafuͤr ei-
nen Pfennig- oder Wachszins, oder eine andre Auflage uͤber-
nehmen, auch vermuthlich bey allen oͤffentlichen Arbeiten mit
der Hand dienen muſten; daher ſie cenſuales, denariales,
cerocenſuales
oder frey wachszinſige Leute genannt, und
den alten Landeigenthuͤmern in keinem Stuͤcke gleich geſchaͤtzt
werden. Ein ſchlimmer Umſtand war es auch fuͤr ſie, daß
die Erbſchaften nicht auſſerhalb der Hoden giengen a). Da-
her ein Sohn der ſich aus der einen Hode in die andre bege-
ben
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. N
[194]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
ben hatte, ſeinen Vater nicht beerben konnte. Jeder Erbe
muſte mit dem Erblaſſer in gleicher Hulde und Gehör ſtehen.
Spaͤter ließ man jedoch gegen einen gewiſſen Abzug die Erb-
ſchaften folgen, wie wohl auch nur auf gewiſſe Grade, deren jede
Hode ihre eigne hatte; denn in einigen erbte ſchon der
Schirmherr, wenn keine huldige und hoͤrige Kinder vorhan-
den waren; in andern aber ſpaͤter. Aus eben dem Grunde,
woraus ein Feldherr die Marketenter, Lieferanten, und den
ganzen Troß, welcher nicht zur Regimentsrolle gehoͤret, gern
ſchuͤtzt; ſchuͤtzten und beguͤnſtigten erſt die Kayſer, hernach
deren Beamte, und zuletzt die Reichsfuͤrſten dieſe neue Art
Leute gern. Sie hatten nehmlich ihren Vortheil davon, an
ſtatt daß der Landeigenthuͤmer eben wie die Enregimentirten
ihrem Oberſten und Hauptleuten nichts entrichteten. Daher
ward in allen Capitularien ſo wie in den ſpaͤtern Reichs- und
Landesgeſetzen ſo ſehr fuͤr die Armen, ſo hieſſen dieſe zwiſchen
den Hoͤfenern geſeſſene Schutzgenoſſen, geſorgt; und denen
die es bezahlen konnten, ein Paſſeport, eine Salvaguardia,
ein Privilegium uͤber das andre ertheilet.


Es laͤßt ſich nicht erweiſen, daß die Landeigenthuͤmer ih-
ren erſten Vorſtehern und Anfuͤhrern das beſte Kleid oder ein
anders Stuͤck ihrer Erbſchaft haben hinterlaſſen muͤſſen;
wiewohl ſie nicht umgehen konnten, ihnen ihre perſoͤnliche
Anhaͤnglichkeit, da der Boden noch nichts ſagte a) auf die
eine oder andre Art zu beurkunden. Denn da man noch kei-
ne ſchriftliche Rollen und Steuren hatte; ſo wuͤrde es oft be-
ſonders nach einem langen Frieden, dem Vorſteher ſchwer
gefallen ſeyn zu erweiſen, daß dieſer oder jener zu ſeiner Auf-
mahnung gehoͤrte, falls dergleichen Beweißthuͤmer nicht ein-
ge-
[195]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.
gefuͤhret waren. Allein erweislich und begreiflich iſt es,
daß die Vorſteher ſo viel immer moͤglich trachteten, das
Landeigenthum in die Haͤnde einiger lieben Getreuen zu ſpie-
len, oder die Eigner ſich allmaͤhlig zur beſondern Treue zu
verbinden: und alles was lieb, getreu, hold und gewaͤrtig
war, muſte ſich zu einer ſolchen Urkunde verſtehen. Man
kan alſo dreiſt annehmen, daß die Urkunde der Anhaͤnglich-
keit wo nicht in die erſten doch in die aͤlteſten Zeiten reiche.


Wir wollen jetzt derjenigen, die in des Kayſers und der
Reichsfuͤrſten unmittelbaren und beſondern Schutze und
Dienſte ſtanden, nicht erwehnen. Der Kayſer zog dieſen
Sterbfall von allen Reichsfuͤrſten; auch von den Biſchoͤfen a);
die Biſchoͤfe zogen ihn wieder von ihren Capitularen und
Dienſtleuten; und war Unſer Biſchof Adolph der erſte der
davon abgieng. Er ſagt in der desfalls erlaſſenen Verord-
nung v. Jahr 1217.


“Inde eſt quod ab antiquis anteceſſorum noſtrorum tem-
poribus conſuetudo fuit in eccleſia Oſnabrugenſi quod
decedentibus eccleſiarum canonicis ab Epiſcopo imbene-
ficiatis tam in eccleſia cathedrali quam in aliis conven-
tualibus eccleſiis epiſcopi per executores ſuos laicos ve-
ſtes et equitatus decedentium occaſione cuiusdam exactio-
nis peſſimæ quæ vulgo dicitur
Herewedde ſibi vendica-
bant — Nos igitur benigniore quadam conſideratione
libertatem cleri ampliare potius quam reſtringere volen-
tes, nolentes ut occaſione modici quæſtus qui nobis vel
ſucceſſoribus noſtris ex eo poſſet provenire, clerus noſter
tam oneroſa de cætero ſervitute prematur præſenti ſcripto

N 2cum
[196]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
cum totius eccleſiæ noſtræ conſilio ſtatuimus ut nul-
lus de cætero Epiſcopus canonicorum ſuorum — deceden-
tum per ſe ipſos aut per[i]alios exuvias recipiat; et quivis
eorum tam de equitatis et veſtibus quam de rebus aliis
liberam habeat — diſponendi facultatem.„


Und der Pabſt Honorius III. beſtaͤtigte dieſe billige Ver-
ordnung im Jahr 1218 a). Die einzige Lehncammer und
der Archidiacon haben ſie unter jenen noch beybehalten.
Erſtere zieht das Heergewedde, oder das beſte Pferd von
dem Sterbfalle des Lehnmanns, entweder in Natur oder
nach einer dafuͤr hergebrachten Geldſumme b); und letzter hat
ſich mit ſeinen belehnten Curatis dahin verglichen, daß ſie
ihren Sterbfall bey lebendigen Leibe verdingen, und dafuͤr
jaͤhrlich den Exuvienthaler bezahlen. Wir wollen auch jetzt
der Kayſerl. Cammerhode, worin die Juden ſtanden; noch
der Keſſelfuͤhrerhode, welche der Pfalzgraf, in deſſen
Amtsbezirk die erſten Keſſel gemacht, und in Deutſchland ver-
fuͤhret wurden, hatte, nicht gedenken, noch auf die Verfaſ-
ſung zuruͤck gehen, wie Spieß- und Handwerksgeſellen, ohne
Gefahr der Verbieſterung reiſen konnten. Die Frage ſchraͤnkt
ſich blos auf den niedrigen Theil der Einwohner, der insge-
mein unter den Beſchwerden ſtecken bleibt, ein.


Von
[197]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.

Von dieſen heißt es in einer Urkunde des Stifts Buͤken:

„Dat Stichte (und eben ſo jedes Amt) hefft drigerley Echte;
„de erſte de hettet Godeshus-luͤde, dat ſint de Hofener, de
„in de ſeven Meigerhoͤfe gehoͤrt. De andre Echte dat ſind
„Sunderluͤde, de werdet geboren und beſadet up Sunder-
„gude, dar en is nene Vogdy an, noch in Luͤden noch in
„Guden. De richtet ſick na den Heren de de Hove unter
„ſich hebbet. Wann de verſtervet, ſo mag de Here ſick rich-
„ten na allen oͤren nagelatenen Gude. De derde Echte dat
„ſind fryge Godesluͤde, und dat ſind ankommende und vryge
„Luͤde, de gevet ſick in Suͤnt Maternians Echte. Und
„wann de ſtervet: ſo gevet ſe in Suͤnt Maternians Ehre
„oͤre beſte overſte Kleid und oͤre beſte Hovet Quekes. Und
„de gevet ſick darum in die Echte, dat de unde oͤre Kinder
„den Heren des Landes nicht willet eigen weſen a).“


Die Leute ſo in die Meyerhoͤfe gehoͤren, ſind unſre Haus-
genoſſen, die einen Geſammtſchutz haben. Die Sun-
derleute ſind unſre Eigenbehoͤrige, welche in dem beſondern
Schutz ihrer Gutsherrn ſtehen; und die Freyen, welche ſich
in St. Maternins Echte begeben, damit ſie den Herrn des
Landes nicht eigen werden,
ſind diejenigen, welche ſich bey
uns in die eigentlichen Hoden einſchreiben laſſen. Die er-
ſtern beyden Arten ſitzen wie man ſieht auf dem Gute, wovon
ein alter Eigenthuͤmer mit zum Heere gezogen; und ſie ſind
von ihrem unterhabenden Gute entweder an die Reichsvogtey
oder Amtshode; oder ihren Gutsherrn beſondern Schutz ge-
bunden. Dieſe verbieſtern dahero auch nicht, wenn ſie die
Einſchreibung verſaͤumen; ſie werden aber Ballmuͤndig b).
N 3Die
[198]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
Die freyen hingegen verbieſtern, weil vor ihrer Wahl kein
Schutzherr einiges Recht uͤber ſie hat; und dieſem folglich
nichts entgeht, wenn der Landesherr ihren Nachlaß zu ſich
nimmt. Sie heiſſen daher Churmuͤndige oder Churechten a),
weil ſie ſich ihre Hodemundium, oder Echte nach Gefallen
waͤhlen koͤnnen. Jedoch verhaͤlt es ſich mit den Neceſſair-
freyen anders, als welche Zwangmuͤndig oder Zwangecht ſind,
folglich an eine nahmhafte Hode gebunden ſind. Dieſe wuͤr-
den auf den Fall, da ſie die Einſchreibung verſaͤumeten, nicht
verbieſtern, ſondern verballmuͤnden, wenn ein anderer als der
Lan-
b)
[199]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.
Landesherr eine Zwanghode uͤber ſie haͤtte a). Es ſind aber
hier im Stifte keine andre Neceſſairfreye als in der Amt Ibur-
giſchen Hode; folglich iſt es einerley, ob ſie verbieſtern oder
N 4ver-
[200]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
verballmuͤnden, weil in beyden Faͤllen der Landesherr ihren
Sterbfall zieht.


Dies

a)


[201]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.

Dies vorausgeſetzt begreift man einer Seits leicht, warum
die Bieſterfreyheit eingefuͤhret worden; und ander Seits wie
jede Hode oder Echte, es mag nun einer dieſelbe erwaͤhlen,
oder daran von ſeiner Geburt und ſeinen Gruͤnden gebunden,
oder derſelben durch die Luft theilhaftig ſeyn, einen ſichern und
wohlthaͤtigen Schutz gegen die Knechtſchaft verleihen ſollen;
und daß unſre Vorfahren, die von Territorialunterthanen nichts
wußten, eben dadurch der Knechtſchaft ausweichen, und verhin-
dern wollen, daß die geringen Leute dem Herrn des Landes nicht
eigen werden ſollten:
und wie konnten ſie witziger und vorſich-
tiger handeln, als daß ſie Churecht einfuͤhrten, und folglich
ſolchen Menſchen die Freyheit lieſſen, ſich nach eigner Wahl
in den Schutz der Heiligen zu begeben?


Das ſchlimmſte Loos das einer zu gewarten hatte, war dieſes,
daß ſeine ganze Erbſchaft zum Sterbfall gezogen wurde. Wer
alſo irgend eine Urkunde, ſie beſtehe nun in dem beſten Pferde,
oder in dem beſten Kleide, in dem beſten Pfande, oder in dem vier-
ten Fuſſe, in dem Exuvienthaler oder in dem Exuvienpfennig,
entrichtet, der hat dieſes ſchlimme Loos nicht zu fuͤrchten, und wo
die Luft eigen a) macht, oder welches einerley iſt, wo die Luft
N 5die
a)
[202]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
die Stelle der Einſchreibung vertritt und Schutz und Hode
giebt, da kan kenntlich niemand verwildern, oder als ein Leib-
eigner ſeine ganze Erbſchaft verlieren, ob er gleich zu einer
guͤtlichen Behandlung derſelben berechtiget und verbunden iſt.
Nur da wo die Luft nichts wuͤrket, iſt die Verbieſterung oder
die voͤllige Knechtſchaft moͤglich; Nur da wo keine Urkunde
entrichtet wird, laͤßt ſich eine arge Freyheit oder die ärgſte
Knechtſchaft gedenken; denn jede angenommene Urkunde ſetzet
einen Vergleich mit dem Staate voraus; und niemand hat
ſich verglichen, um ſeinen ganzen Nachlaß zu verlieren. a)
Dies konnte er ohne Vergleich.


Es iſt aber eine ganz andre Frage: Ob dergleichen Ein-
richtungen ſeitdem das Territorium einen zum Unterthanen
macht, und das ehmalige Band der perſoͤnlichen Anhaͤnglich-
keit
a)
[203]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.
keit von den groſſen Herrn, welche ſich bey dem Satze:
Quicquid eſt in territorio eſt etiam de territorio beſſer
ſtanden, vernachlaͤßiget iſt, dermalen noch billig beyzubehal-
ten ſeyn?


In den mehrſten Laͤndern weiß man ſchon nichts mehr
davon, wohl aber von einem Schutzthaler. Dieſer aber iſt
in der That der Exuvienthaler, womit die Schutzgenoſſen
ihren Sterbfall bey lebendigen Leibe loͤſen. Denn ein ſolcher
Thaler, wie uͤberhaupt alles Schutzgeld, wird in keinem
Lande zur Steuercaſſe kommen, ſondern allezeit als ein Cam-
mergefaͤll berechnet werden. Die Cammer aber, die von
keinem Unterthanen Steuren zu erheben hat, koͤnnte nie an
dieſes Schutzgeld gekommen ſeyn, wenn die Schutzgenoſſen
nicht entweder als Cammerlinge oder Cammerhoͤrige Leute,
die in der Amts- oder Cammerhode, oder aber als Heiligen
Schutzleute in der Kirchenvogteylichen Hode ehedem geſtan-
den haͤtten, ſolches entrichteten.


Hier im Stifte hat man auch ſchon einmal angefangen,
mildere und der Territorialhoheit angemeſſenere Grundſaͤtze
einzufuͤhren. Denn ſo ſetzt die Canzley in einem Reſcripte
vom 13. Maͤrz 1680.


„Es ſind die Un terthanen fuͤr genugſam immatriculirt zu
„achten, welche Schatz und Steuer geben, auf Schatzre-
„giſtern ſtehen, und billig Landesfuͤrſtl. Schirm und
„Schutz genieſſen.

Allein der Schluß war unrichtig, weil Schatz und Steuer
in die Landescaſſen flieſſen, und ein zeitiger Landesherr nicht
ſchuldig iſt, die auf die Verſaͤumniß des Schutzrechts geſetzte
Strafe um deswillen nachzugeben, weil die Unterthanen
gemeine Steuer entrichten. Haͤtte man ſo geſchloſſen:
Die-
[204]Gedanken von dem Urſprunge und Nutzen
Diejenige ſo einen Pfennig ins Amtsregiſter, oder einen
Pfennig vom Sarge an die Cammer; oder ein Schutzgeld
dahin entrichten, ſind fuͤr genugſam immatriculirt zu
achten.

So waͤre nichts dagegen zu erinnern geweſen, und jene Mei-
nung wuͤrde unfehlbar den Beyfall, woran es bis dieſe Stun-
de ermangelt, erhalten haben. Auch in den aͤltern Zeiten,
wo der Reichsvogt die gemeinen Steuren, als Herbſt- und
Maybeden, Herbſt- und Maygeld, Herbſt-und Mayſchatz,
welche jetzt als Cammer- oder auch wohl als Gutsherrliche
Gefaͤlle, nachdem ihr Urſprung verdunkelt iſt, angeſehen
werden, erhoben haben, wuͤrde der Schluß richtig geweſen
ſeyn. Es hat ſich alſo dieſes alte Recht durch jenen unrichti-
gen Schluß nicht verdringen laſſen; und kan auch nicht wohl
anders als dadurch aufgehoben werden, daß ein zeitiger Lan-
desherr auf den Nachlaß aller Bieſterfreyen Verzicht thut,
mithin die Nothwendigkeit ſich in eine Hode zu begeben auf-
hebt. Dieſer Verzicht kan aber nicht ohne viele Schwierig-
keit geſchehen, weil die Neceſſairfreyheit, die Hausgenoſſen-
ſchaft, das Heergewedde, der vierte Fuß, und verſchiedene
andre Freyheitsurkunden, damit eine ganz widrige Bedeu-
tung erhalten wuͤrden, wann ihnen ihre vornehmſte Bezie-
hung genommen wurde a) .....................


Der
[205]der ſogenandten Hyen, Echten oder Hoden.

Der Biſchof hatte nicht Luſt den Bericht ſeiner Raͤthe,
der gar zu lang gerathen war, weiter zu leſen, (vielleicht
geht es manchen unſer Leſer auch ſo) und ſo begnuͤgt er ſich
dem ehemaligen Cammermaͤdgen der Koͤnigin Richezza ihres
Mannes Nachlaß zu ſchenken, und im uͤbrigen die Sache, a)
da ſie ſich mit ſo vielen andern verwickelte, in dem vorigen
Stande zu laſſen.


a)



XXV.
[206]Vom Glaͤubiger

XXV.
Vom Glaͤubiger und landſaͤßigen
Schuldner.


Der dreyßigjaͤhrige Krieg hatte ſo manchen ehrlichen
Mann arm gemacht, daß man in dem darauf erfolg-
ten weſtphaͤliſchen Frieden Art. VIII. §. 5. den ungluͤcklichen
Schuldnern zum Beſten einen eignen Artikel einruͤcken muſte.
Und alle Reichsſtaͤnde waren hierauf bemuͤhet, den Punkt
ausfuͤndig zu machen, worauf ſich Glaͤubiger und Schuldner
ſcheiden ſollten.


Der Reichsabſchied vom Jahr 1654 verordnete zum
Beſten der durch den Krieg verdorbenen Schuldner, daß ih-
nen binnen drey Jahren kein Capital geloͤſet, der Ruͤckſtand
aller waͤhrend dem Kriege angelaufenen Zinſen bis auf ein
Viertel erlaſſen, und vorerſt nichts weiter als eine alte und
neue Zinſe jaͤhrlich zu bezahlen angemuthet werden ſollte.


Es iſt dieſes das einzige Exempel in der Reichsgeſchichte,
daß man ſich des hoͤchſten und aͤuſſerſten Obereigenthumsrechts
auf eine ſo maͤchtige und allgemeine Weiſe bedienet habe.
Die vorgaͤngige Zuziehung aller Landſtaͤnde, die Einwilli-
gung ſaͤmtlicher Reichsſtaͤnde; das Gutachten beyder hoͤchſten
Reichsgerichte; und die beyfaͤllige Meinung der groͤſten
Rechtsgelehrten der damaligen Zeit, ſind aber auch ſolche
feyerliche und weſentliche Umſtaͤnde, daß man wohl einſehen
kan, wie die Reichsſtaͤnde einen fuͤr die Aufrechterhaltung
des Eigenthumsrechts und der davon abhangenden National-
frey-
[207]und landſaͤßigen Schuldner.
freyheit ſo bedenklichen Schritt nicht anders als mit der reif-
lichſten und zaͤrtlichſten Ueberlegung gewaget haben. Die
damalige Noth, worin binnen einer Zeit von 3 Jahren alle
Bauern dieſes Hochſtifts entweder von ihren Hoͤfen entſetzt,
oder doch unter eine gerichtliche Verfuͤgung geſtellet ſeyn ſol-
len, war auch wuͤrklich ſehr groß; und ruͤhrte hauptſaͤchlich
daher, daß man im Jahr 1622 und 1623 die gar zu ſchlecht
gewordene Muͤnze ohne eine genugſame Menge beſſerer ein-
zufuͤhren, ploͤtzlich verrufen, und damit den Schuldnern die
Mittel genommen hatte, ſich noch einigermaſſen zu befreyen.
Wer Gelegenheit gehabt hat, Geldregiſter von ſolcher Zeit
einzuſehen, wird finden, daß von 1623 bis 1648 alle Zinſen
und Geldgefaͤlle ruͤckſtaͤndig geblieben ſeyn.


Der letztere Krieg hat zwar nicht ſo lange gedauret; dieje-
nigen Gegenden aber, welche er in einer beſtaͤndigen Folge
betroffen, nicht weniger ungluͤcklich gemacht. Gleichwohl iſt
in dem darauf erfolgten Frieden fuͤr die verungluͤckten Schuld-
ner nicht geſorgt. Man hoͤrt auch nicht, daß auf Reichs-
oder Landtaͤgen ihrenthalben etwas beſchloſſen werde. Was
ſoll alſo ein Richter, der taͤglich von dem Glaͤubiger um Huͤlfe
und von dem Schuldner um Gedult angeflehet wird, thun,
um ſein Gewiſſen nicht zu verletzen?


Auf der einen Seite verpflichtet ihn ſein Amt, dem Glaͤu-
biger ohne allem Verzug zu helfen. Auf der Gewißheit und
Fertigkeit dieſer Huͤlfe beruhet aller Credit. Der geringſte
Ordnungswidrige Verzug, womit er einem Schuldner dienet,
ſchadet hundert andern, denen kein Glaͤubiger aushelfen will,
ſo bald ſie Aufzuͤge zu befuͤrchten haben. Wo die Handlung
bluͤhen ſoll, muß die richterliche Huͤlfe ſich weder durch die
Thraͤnen der Wittwe noch durch das Geſchrey der Waiſen auf-
halten laſſen. In London, Amſterdam, Hamburg und
Bre-
[208]Vom Glaͤubiger
Bremen kennt man keinen Stilleſtand, den Richter und
Obrigkeit ertheilen. Es iſt ein Raub, den der Richter be-
geht, wenn er einem Glaͤubiger das ſeinige vorenthaͤlt, oder
Schuld daran iſt, daß es ihm vorenthalten werde. Wenn
Gott den Schuldner mit Ungluͤcksfaͤllen heimſucht: ſo muß
er und nicht der Glaͤubiger leiden. Die Geſetze a) haben
dem Glaͤubiger das Seinige auf den Fall nicht abgeſprochen,
wenn der Schuldner ungluͤcklich werden wuͤrde. Die Geſetz-
geber wuſten die Moͤglichkeit der Ungluͤcksfaͤlle vorher. Sie
veraͤnderten aber das allgemeine Geſetz, daß jeder ohne Auf-
enthalt zu ſeinem Rechte und Eigenthum verholfen werden
muͤſte, darum nicht. Sie lieſſen vielmehr dies Recht gehen
ſo weit es konnte, und bis zur Knechtſchaft des Schuldners.
Die Kayſer Gratian und Theodoſius erklaͤrten ſich auf die
gewiſſenhafteſte Art: daß ſie ſich nie der Vollkommenheit ih-
rer Macht bedienen wollten, einem Schuldner Ausſtand zu
geben; und wenn es ja geſchaͤhe, ihre Reſcripte von dem
einzigen Falle verſtanden haben wollten, wo der Schuldner
hinlaͤngliche Buͤrgſchaft ſtellen koͤnnte. Es kan auch kein
Reichsfuͤrſt nach den Reichsgeſetzen, und ohne allen Credit
aus ſeinen Laͤndern zu verbannen, minder Vorſicht gebrauchen,
als bey dem Reichsabſchied von 1654 gebrauchet worden.


Auf
[209]und landſaͤßigen Schuldner.

Auf der andern Seite duͤnkt es dem Richter oft grauſam,
die Kinder von ihrem vaͤterlichen Hofe um einer geringen
Schuldforderung willen zu verdringen. Er ſieht faſt gewiß,
daß das Gut, was er in einer geldloſen unbequemen Zeit
losſchlagen muß, uͤber einige Jahre weit mehr gelten, und
zur Sicherheit des Glaͤubigers voͤllig hinreichen werde. Er
denkt: Der Blitz, der die Gruͤnde des Glaͤubigers nicht
ruͤhren koͤnnen, weil ſein Vermoͤgen in Schuldverſchreibungen
beſteht, hat vielleicht nicht blos den Schuldner ſondern auch
den Glaͤubiger heimſuchen wollen. Jener hat ſich gegen die
Kriegesbeſchwerden als ein treuer Unterthan gewehret, das
Unterpfand des Glaͤubigers mit Aufopfferung ſeines uͤbrigen
Vermoͤgens gerettet, und alles Ungewitter uͤber ſich ergehen
laſſen; dieſer hingegen iſt mit ſeinem Schuldbuche in fremde
Laͤnder gefluͤchtet, und hat dem Sturm vom Ufer zugeſehen.
Soll ich, ſchließt er, dem ungluͤcklichen Landbeſitzer ſein Hof-
gewehr nehmen; womit will er dann ſeinen Acker beſtellen;
und will ich den Hof verkaufen, wie groß ſind nicht auch
die nothwendigſten Koſten? Ich weiß gewiß, ſagt er dem
Glaͤubiger, der am eifrigſten auf ſeine Bezahlung dringt,
daß ihr doch am Ende nichts erhalten und ein andrer jetzt noch
ſchlafender oder guͤtigerer Glaͤubiger damit durchgehen werde;
ſoll ich alſo den Schuldner blos um des willen zu Grunde
richten, um euch zu uͤberzeugen, daß nach Abzug aller Koſten
und Bezahlung aͤlterer Schulden nichts uͤbrig ſey?


Aber was ſoll nun der Richter thun?


Was der Richter thun ſolle? Wenn der Schuldner ein
freyer Mann iſt: ſo nehme er ihm alles was er hat, und ver-
kaufe es. Fuͤr den Staat iſt es vielleicht beſſer, daß ein
freudiger Kaͤufer als ein verarmter und muthloſer Eigenthuͤ-
mer auf dem Hofe liege. Und was kan man in aller Welt
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Ofuͤr
[210]Vom Glaͤubiger
fuͤr einen Grund angeben, warum der Glaͤubiger jetzt eher
als der Schuldner verlieren ſolle? Hat der Glaͤubiger nicht
ſchon genung dadurch gelitten, daß er ſeinem Schuldner die
große Wohlthat gethan, ihm waͤhrend des Krieges alle Zin-
ſen in leichter Muͤnze abzunehmen? Soll er jetzo noch das
Bisgen, was er vielleicht in dreyßig ſchweren Jahren mit
Aufopferung ſeiner Geſundheit bey ſaurer Milch und trocknen
Brodte in Holland erworben hat a), und durch deſſen Huͤlfe
er ſeinen kraͤnklichen Koͤrper bis an irgend ein nahgelegenes
Grab zu ſchleppen gedachte; ſoll er dies jetzt am Rande des
Grabes miſſen? ſoll er ſeine Kinder vor fremde Thuͤren ſchi-
cken? ſoll er ſein Weib unter der Laſt erſticken ſehen? blos
darum, damit ſein Schuldner und kein andrer ehrlicher Mann
dieſen oder jenen Hof bewohne? Nein. Die Sache iſt
leicht entſchieden. Man wuͤrge Buͤrgen und Schuldner und
helfe dem Glaͤubiger.


Aber wie, wenn der Schuldner ein Leibeigner iſt, und
den Hof nur zum Bau unter hat? Wenn die Sache auf dieſe
Spitze zu ſtehen koͤmmt:
Daß der Glaͤubiger keinen Stilleſtand geben will; gleich-
wol aber der Leibeigne ohne ſolchen zu erhalten, kein
Vieh im Stalle und kein Korn auf dem Felde behalten
kan. Was ſoll hier der Richter thun?


Dieſe Frage iſt freylich ſchwerer zu beantworten, ſo leicht
ſie auch manchem ſcheinen mag, der dem Gutsherrn ſagen
wuͤrde: er ſolle gegen die Glaͤubiger hervor treten, und den
Leib-
[211]und landſaͤßigen Schuldner.
Leibeignen, der ſich in ſolche Umſtaͤnde verſetzt, ſo fort vom
Erbe jagen. Allein geſetzt die Glaͤubiger erwiedern:
„Der Gutsherr moͤge dieſes thun, wenn er es auf ſein
Gewiſſen nehmen und vor Gott verantworten koͤnne.
Sie koͤnnten ihrer Seits keinen Stilleſtand geben, weil
ſie arme Leute waͤren, und ihres Geldes, ohne ſelbſt
Bettler zu werden, nicht entrathen koͤnnten.„

Geſetzt weiter der Gutsherr habe ein zaͤrtliches Gewiſſen?
Er wiſſe oder glaube doch wohl, ſein Leibeigner habe im
Kriege oder ſonſt durch Ungluͤck ſeine Pferde, und durch die
Seuche ſein Vieh verlohren. Er wiſſe, der Schuldner habe
ſich mit dem geliehenen Gelde beydes wieder angeſchaffet;
und die Glaͤubiger, welche ihm damals in der Noth ausge-
holfen, haͤtten jetzt ſelbſt kein Vieh; er koͤnne alſo Kraft ſei-
ner Ueberzeugung, ſeinen Leibeignen, der zwar ein ungluͤck-
licher aber kein ſtraͤflicher Wirth geweſen, nicht vom Hofe
ſtoſſen; oder es eraͤugnen ſich andre Umſtaͤnde, wie dann de-
ren taͤglich viele vorkommen, weswegen der Gutsherr ſeinen
verſchuldeten Leibeignen nicht vom Hofe ſetzen koͤnne? Was
ſoll hier der Richter thun, wenn die Glaͤubiger oder die
mehrſten unter ihnen keinen Stilleſtand einwilligen wollen?


Auch hier, glaube ich, muͤſſe der Richter ſein Amt thun,
dem Leibeignen bis der Glaͤubiger befriediget, alles nehmen,
und den Hof ausheuren; ſo lange die Landesobrigkeit nicht
andre Geſetze macht. Denn der Richter iſt kein Geſetzgeber,
ſondern ein Knecht des Geſetzes.


Aber was ſoll denn der Geſetzgeber thun? Kan dieſer, kan
der Gutsherr leiden, daß kein Wirth, kein Spann, kein
Haushalt auf dem Hofe bleibe? Erfordert es nicht die allge-
meine Noth, daß jeder Hof ein taugliches Spann habe?
O 2Und
[212]Vom Glaͤubiger
Und iſt der Gutsherr nicht berechtiget, ſeinen woͤchentlichen
Spanndienſt zu fordern? Allerdings. Die Sache ſelbſt redet
ſo klar, daß man ſich wundern muß, warum der Geſetzgeber
nicht hier im Stifte, ſo wie in benachbarten Laͤndern wuͤrklich
geſchehen, den Bauer mit ſeinem ganzen Hofgewehr eiſern
gemacht habe.


Doch jetzt faͤllt mir ein einziger kleiner Zweifel ein. Wie
ſoll es der Leibeigne machen, wenn er ſein Hofgewehr durch
Feuer, Krieg, Seuchen oder andre Ungluͤcksfaͤlle verlieret,
aber kein baar Geld hat? Woher nimmt alsdann der Guts-
herr den Spanndienſt und die gemeine Noth ihre Kriegsfuhr?
Wird er hier nicht borgen muͤſſen? Und wenn er dieſes thun
muß: hat er es denn nicht auch vorher in gleichen Faͤllen thun
koͤnnen? Freylich, wird man ſagen; allein dieſe Faͤlle ſind
nicht vorhanden geweſen. O! wenn der Proceß nur erſt ſo
weit koͤmmt, daß es auf den Beweis der Ungluͤcksfaͤlle an-
koͤmmt: ſo gehts dem Gutsherrn mit ſeinem Leibeignen wie
der Schoͤnen mit ihrem Anbeter. So bald ſie anfangen zu
philoſophiren, ſind beyde halb verlohren.


Nun ſo mag der Leibeigne dann ſo viel borgen als die hoͤchſte
Noth immer erfordert; braucht doch der Gutsherr um des-
willen nicht zuzugeben, daß Pferde und Kuͤhe fuͤr den Glaͤu-
biger vom Hofe gepfaͤndet werden? .... Nein. Aber die
Frage iſt vorerſt noch, wie Kuͤhe und Pferde herauf kommen,
wenn ſie durch Ungluͤck abfallen? Ob ein Glaͤubiger im ganzen
Lande ſey, der dem Leibeignen eine Klaue leihen werde, wenn
ſie eiſern wird, ſo bald ſie auf den Hof kommt? oder ob ihm
jemand Geld zu einem Pferde leihen werde, ohne ihm dieſes
und was er ſonſt hat, wenn er nicht bezahlt, pfaͤnden zu
duͤrfen?


Hier
[213]und landſaͤßigen Schuldner.

Hier wird wuͤrklich guter Rath theuer, und ich moͤchte bey-
nahe ſagen, man muͤſſe dem Leibeignen befehlen allezeit baar
Geld in Vorrath zu haben, oder die Glaͤubiger zwingen, ihm
ſo viel zu leihen, als er zur Anſchaffung und Ergaͤnzung ſeines
Hofgewehrs noͤthig hat. Sonſt werde in Ewigkeit weder
Hof- noch Landdienſt vom Hofe erfolgen. Doch mir faͤllt
noch ein Mittel bey. Man verwandle den weſtphaͤliſchen Ei-
genthum in den Meckelnburgiſchen, wo der Gutsherr die
Schatzungen bezahlt, die Kriegsfuhren verrichtet, und den
Leibeignen auf den Fuß eines Tagloͤhners oder Heuerknechts
haͤlt; wo Pferde und Kuͤhe, Mauren und Zaͤune, Haͤuſer
und Scheuren dem Gutsherrn ſtehen und fallen; und wo wenn
der Leibeigne etwas verdirbt, verſaͤumet oder zu Grunde ge-
hen laͤßt, die allezeit fertige Bezahlung durch den geradeſten
Weg Rechtens — aus ſeiner Haut erfolgt. Denn dies wird
doch die nothwendige Folge ſeyn muͤſſen, im Fall der Leibeigne,
in Ermangelung alles Credits, das verungluͤckte Hofgewehr
nicht wieder anſchaffen kan, und der Gutsherr ihm ſeine eigne
Pferde und Kuͤhe zur Ackerbeſtellung geben muß.


Allein dieſe Gluͤckſeligkeit, wobey die adlichen Guͤter zu
5-6 p. C. verkauft werden, wuͤnſcht ſich der weſtphaͤliſche Edel-
mann nicht. Er verlangt ſeinem Leibeignen die Zaͤune nicht
zu beſſern, noch fuͤr ihn die Schatzungen zu entrichten; und
die Pferde, die dem Bauren fallen, ſoll er ſelbſt bezahlen.
Folglich iſt ihm mit dem Mecklenburgiſchen Eigenthum gar
nicht gedient. Was iſt denn nun uͤbrig, um ein Spann auf
den Hof zu bringen? Soll ichs ſagen? Er muß ſeinem Leib-
eignen Credit machen. Wieder Credit? Ja nun: ſo ſind wir
ja wieder an dem Fleck wovon wir abgereiſet ſind. Und wo-
durch macht er dem Leibeignen Credit? Dadurch daß er und
ſein Hofgewehr eiſern wird? Ich zweifle ſehr. Durch Be-
willigungen? Nun wenn dieſe ſo oft ertheilet werden muͤſſen,
O 3als
[214]Vom Glaͤubiger
als der Bauer kein Vieh hat, ſeinen Ackerbau gehoͤrig zu trei-
ben: ſo bedaure ich den Gutsherrn, der viele Leibeigne hat.
Denn er wird entweder ihre Wirthſchaften ſelbſt fuͤhren, oder
alle Augenblick hoͤren muͤſſen, daß eine Bewilligung noͤthig
ſey, um dieſes und jenes anzuſchaffen. Noch mehr. Dieſe
Art von Credit durch Bewilligung kan nicht beſtehen, oder
jedes Fohlen, jedes Kalb, jeder Vortheil muß dem Guts-
herrn wieder zu gute kommen, oder doch zu Einloͤſung der
Bewilligungen (welche eine genaue Aufſicht wird hier noͤthig
ſeyn?) angewandt werden, weil er ſonſt die Gefahr des
Schadens ganz allein ſtehen wuͤrde. Und wo ſind wir als-
denn? bey dem Meiſterſtuͤcke der roͤmiſchen Philoſophie, dem
Knechte der gar nichts eignes hatte; und der vermuthlich
durch die Reihe von obigen Schluͤſſen zur Welt gekommen
iſt? Womit erhalten wir aber dieſe Art von Knechten? Und
koͤnnen dieſe anders als auf roͤmiſche Art in Privatzuchthaͤu-
ſern gehalten werden?


Unſtreitig ſind unſre Vorſahren durch dieſe Bedenklichkeit
abgehalten worden, das Hofgewehr der Leibeignen eiſern zu
machen. Haͤtten ſie es gethan; ſo wuͤrden beym letztern
Kriege tauſend und abermal tauſend Befehle an die Guts-
herrn ergangen ſeyn, ihren verungluͤckten Bauern Pferde zu
verſchaffen, oder ihnen Bewilligung zu deren Ankauf zu er-
theilen. Es wuͤrden viele Hoͤfe ſo dann mit ſo vielen bewil-
ligten Schulden beſchweret ſeyn, als ſie mit unbewilligten
beſchweret ſind. Und haͤtte der bewilligte Glaͤubiger nur im
geringſten fuͤrchten duͤrfen, daß ihm der Richter wegen der
eiſernen Beſchaffenheit des Hofgewehrs nicht helfen wuͤrde-
ſo haͤtte er gewiß auch im dieſem Falle nicht geborgt. Wo-
her waͤre ſodenn die Kriegsfuhr erfolgt? Blos von den Hoͤ-
fen deren Spannung im guten Stand geweſen? Das wuͤr-
den
[215]und landſaͤßigen Schuldner.
den dieſe gewiß nicht lange ausgehalten, und die Gutsherrn,
denen ſie gehoͤrt, nicht mit Gedult ertragen haben.


Was iſt aber der Schluß von dieſem allen? einen Preis
fuͤr denjenigen auszuſetzen; der die Frage


Was der Geſetzgeber in obigen Falle thun ſolle?
beſſer beantworten wird.



XXVI.
Gedanken uͤber den Stilleſtand der
Leibeignen.


Der Stilleſtand iſt bekannter maſſen ein Mittel einen
verſchuldeten leibeigenen Unterthanen, deſſen unter-
habendes Gut die Glaͤubiger nicht angreifen koͤnnen, und
deſſen Hofgewehr ſie nie angreifen ſollten, auf einige Jahre
ſo zu ſetzen:
daß er jaͤhrlich ſo viel, als der Hof etwa zur Heuer
thun, oder als ein fleißiger Beſitzer deſſelben ohne Lot-
terien und Kuckſen darauf gewinnen kan, zum Behuf
ſeiner ſchuldigen Abgaben und der Glaͤubiger aufbrin-
gen muß.


Eigentlich ſollte man immer das letzte waͤhlen, weil die
Glaͤubiger ein Recht auf des Schuldners ganzes Vermoͤgen
und folglich auch auf ſeinen Fleiß und ſeine Kraͤfte haben;
wegen verſchiedener Zufaͤlle aber, die man nicht vorher ſehen
kan, wird das erſte als das ſicherſte dem letzten billig vorge-
zogen. Die Abſicht dieſes Stilleſtandes iſt auf die Erhal-
O 4tung
[216]Gedanken uͤber den Stilleſtand
tung des Hofes, des Hofgewehres und eines ungluͤcklichen
Unterthanen gerichtet, indem dem gemeinen Weſen daran
gelegen, daß alle Hoͤfe tuͤchtig beſetzt und zur Zeit der Noth
ſo wenig entbloͤſſet als ausgeſpannet ſeyn moͤgen. So noth-
wendig und billig nun auch dieſe geſetzmaͤßige Vorſorge iſt,
beſonders in den Gegenden, wo nach einer vorgegangenen
Abaͤuſſerung, ſich nicht ſogleich neue Wirthe finden, die mit
einem Feld- und Viehinventarium wieder aufziehen und ſich
eigen geben wollen: ſo haͤufig ſind dennoch die Faͤlle, wo die
desfalls vorhandenen heilſamen Verordnungen und die beſten
Abſichten nicht zum Zwecke wuͤrken.


Der erſte Fall iſt insgemein, daß zwey oder drey der
maͤchtigſten Glaͤubiger, welche die andern uͤberſtimmen koͤn-
nen, mit dem Schuldner heimlich zuſammen ſetzen, ihm durch
die Mehrheit ihrer Forderungen einen Stilleſtand gegen alle
uͤbrige verſchaffen, und hernach, wenn allen andern die Haͤn-
de gebunden, den Schuldner allein rupfen. Dieſer bringt
ſodenn jaͤhrlich zum Schein nach der Mehrheit gewonnener
Stimmen ein gewiſſes auf, und die maͤchtigen ziehen neben-
her ihre voͤlligen und vielleicht gar wucherlichen Zinſen.


Nun hat es zwar ſeine anſcheinende Richtigkeit, daß der
Schuldner ſich ſolchergeſtalt den maͤchtigern verbindlich ma-
chen koͤnne, indem ihm waͤhrend dem Stilleſtande die Ver-
waltung ſeines Hofes vertrauet wird, und er, wenn er das
verglichene richtig bezahlt, das uͤbrige verzehren, verſchenken
und folglich auch nach Gefallen einigen ihn beguͤnſtigenden
Glaͤubigern bezahlen kan.


In der That liegt hier aber ein gedoppelter Betrug zum
Grunde; der eine welchen der maͤchtigere Glaͤubiger in An-
ſehung ſeiner Mitglaͤubiger begeht; und der andre, deſſen
der Richter ſich ſelbſt mit ſchuldig macht, indem auf den Fall,
da
[217]der Leibeignen.
da der Schuldner noch nebenhin etwas aufbringen konnte,
der Stilleſtand ohne genugſame Unterſuchung beſtaͤtiget iſt.
Der Richter hat ſodann blos auf die Mehrheit der mit dem
Schuldner unter einer Decke ſpielenden Glaͤubiger gebauet
und ſelbſt keinen richtigen Ueberſchlag gemacht; dergleichen
Betruͤgereyen verdienen aber keine rechtliche Beguͤnſtigung;
und wenn es gleich nicht moͤglich iſt ſie gaͤnzlich zu verhindern:
ſo ſollte doch kein Richter uͤber jene Nebenbedingungen waͤh-
rend dem Stilleſtande jemals die Huͤlfe erkennen.


Der zweyte Fall iſt, wo der Schuldner einige gute Freun-
de bittet, ſo gar falſche Forderungen gegen ihn aufzuſtellen,
und durch deren Mehrheit die wahren Glaͤubiger zum Stille-
ſtand zu noͤthigen. Hier iſt nun wiederum, ohne eine Men-
ge gefaͤhrlicher Eyde zuzulaſſen keine Huͤlfe: Indeſſen ſollte
doch, wenn ſich ein ſolcher Fall zutruͤge und klar gemacht
werden koͤnnte, der falſche Glaͤubiger verdammet werden,
dem Richter, zum Beſten der uͤbrigen rechtlichen Glaͤubiger
ſo vieles zu bezahlen als er faͤlſchlich angegeben hat.


Der dritte Fall iſt, wenn der Richter nach der Mehrheit
der Stimmen den Stilleſtand erkennet und einem oder an-
dern, wegen eines habenden beſondern Rechts davon aus-
nimmt, mithin den Stilleſtand zum Theil beſtaͤtiget zum
Theil aber nicht.


dieſer Fall ſollte eigentlich nie eintreten, ohnerachtet er
ſich oft zutraͤgt. Denn hat der Schuldner mehr, als er zur
nothwendigen Vertheidigung des Hofes gebraucht: ſo ſollte
dieſes vor dem Stilleſtande verkauft, und das Geld nach
vorgaͤngiger Erkenntniß dem erſten Glaͤubiger in der Ordnung
zuerkannt werden. Hat er aber nicht mehr: ſo iſt es der
allgemeinen Abſicht, den Hof im Stande zu erhalten, entgegen.
O 5Hat
[218]Gedanken uͤber den Stilleſtand
Hat ein Glaͤubiger ferner allein ein Recht dem Stilleſtande
ſich zu widerſetzen: ſo muß dieſer gar nicht erkannt, ſondern
entweder der Abaͤuſſerung, oder dem Verkauf aller auf dem
Hofe vorhandenen Fruͤchten und Mobilien, ſo lange ſolcher
nicht durch Geſetze eingeſchraͤnkt wird, der Lauf gelaſſen,
mithin allen Glaͤubigern die Concurrenz zugeſtanden, nicht
aber einem geholfen und den uͤbrigen durch Beſtaͤtigung des
Stilleſtandes ihre Concurrenz abgeſchnitten werden. Ueberdem
iſt es ſeltſam, daß der Richter den letztern die gerichtliche
Verſicherung ertheilet, wie der Schuldner zu ihrem Behuf
jaͤhrlich ein gewiſſes aufbringen ſoll, und dieſen gleichwohl
durch die Execution zur Gunſt des einen privilegirten Glaͤu-
bigers, außer allen Stand ſetzt, den Vergleich mit ſeinen uͤbri-
gen Glaͤubigern zu erfuͤllen.


Wie aber, wird man ſagen, wenn ein bewilligter Glaͤu-
biger vorhanden, und derſelbe ſeine Befriedigung auf einmal
verlangt? Hier muß entweder der Gutsherr, oder der
Schuldner Rath ſchaffen, oder die unbewilligten Glaͤubiger,
zu deren Beſten der Stilleſtand bewilliget wird, muͤſſen den
bewilligten Glaͤubiger ablegen, und ſich ſolchergeſtalt ihren
Schuldner erhalten. Wenn zu einem von dieſen dreyen
Mitteln nicht zu rathen iſt; und zum beſten des bewilligten
Glaͤubigers alles was auf dem Hoſe an Fruͤchten und Vieh
vorhanden, verkauft werden muß: ſo wird dem Schuldner,
ohne daß die bisherigen Geſetze geaͤndert werden, auch gar
nicht zu helfen ſeyn.


Der vierte Fall zeigt ſich, wenn der Schuldner ſelbſt
uͤbernommen die Steuren und Gutsherrl. Gefaͤlle richtig
abzufuͤhren, und daneben jaͤhrlich ein Gewiſſes fuͤr ſeine
unbewilligte Glaͤubiger aufzubringen; die beyden erſtern
Bedingungen aber nicht erfuͤllet, und ſo dann durch die
na-
[219]der Leibeignen.
natuͤrlicher Weiſe auf Steuren und Gutsherrl. Gefaͤlle erfol-
gende Execution außer Stand geſetzt wird, das verſprochene
aufzubringen.


Eine gleiche Bewandniß hat es damit, wenn er waͤhrend
dem Stilleſtande die Zinſen zu berichtigen uͤbernimmt, und
weil er ſolches nicht erfuͤllet, auf Anrufen eines einzigen
Glaͤubigers gepfaͤndet und außer Stand geſetzet wird, die
uͤbrigen Bedingungen des Stilleſtandes zu erfuͤllen. Hier
muͤſſen oft zehn Glaͤubiger zuſehen und erleiden, daß ihr
gemeinſchaftlicher Schuldner einem einzigen zum Vortheil
heruntergebracht, und deſſen fahrendes Vermoͤgen, welches
ſie ihm aus Gutheit gelaſſen und waͤhrend dem Stilleſtande
gleichſam nur anvertrauet haben, einem einigen Glaͤubiger
zuerkannt wird, ohne daß ſie dagegen ſprechen koͤnnen.


In beyden Faͤllen iſt keine rechtliche Huͤlfe vorhanden, und
man mag daraus dreiſt ſchließen, daß das ganze Stilleſtan-
desweſen eine widerſinniges Gemiſche ſey, woran die Geſetze
nun und zu ewigen Tagen-umſonſt flicken werden.


Aber nun was beſſers! wird man mir zurufen; was hilft es
die Fehler anzuzeigen, wenn keine Mittel dagegen vorhanden
ſind? Ihr erſter Vorſchlag, den ſie einmal gethan haben, alle
Bauerhoͤfe wie weltliche Erbpfruͤnden anzuſehen, und dem zeiti-
gen Beſitzer derſelben nicht mehr als einem andern Pfruͤndner
zu geſtatten, mithin deſſen Glaͤubigern hoͤchſtens zwey Nach- und
zwey Gnadenjahre zu gute kommen zu laſſen, iſt zu heroiſch;
und ſeitdem der Pfruͤndner durch Geſetze gezwungen iſt,
ſeinen Bruͤdern von der Pfruͤnde ordentliche Kindestheile
herauszugeben, widerſinnig; man kan einem nicht Haͤnde
und Fuͤße binden, und zugleich von ihm fordern daß er laufen
ſoll. Vielleicht hat der weltliche Pfruͤndner auch oft des
all-
[220]Gedanken uͤber den Stilleſtand
allgemeinen Beſtens wegen einen groͤßern Credit noͤthig, als
der geiſtliche.


Ihr anderer Vorſchlag, die zerſtreuten Gutsherrlichkeiten
voͤllig aufzuheben, und dafuͤr kleine Bezirke zu machen, uͤber
dieſe Erbgerichtsherrn zu ſetzen, und von dieſen zu erwar-
ten, daß ſie ihre Gerichtsunterthanen in ſtrengerer Zucht
halten, und ſo wohl uͤber ihre Anlehen als deren zeitigen
Wiederbezahlung wachen ſollen, mag zwar wohl der Carolin-
giſchen Verfaſſung gemaͤs ſeyn; aber es wird ſo viel dazu
gehoͤren, um es wieder dahin zuruͤck zu bringen; es ſtreiten
ſo viel heimliche Ahndungen dawider, beſonders wann die
Paͤchte und Pflichten der Gerichtsunterthanen nicht auf eher-
nen Tafeln eingegraben werden ſollten, daß ich nicht weis,
ob es rathſam ſeyn moͤchte, ſich auf dieſe Art zu helfen.


Ihr dritter Vorſchlag, die naͤrriſche Rechtsgelehrſamkeit,
nach welcher ein Landbeſitzer Capitalien aufnimmt, und in der
ungewiſſen Vorausſetzung, daß ihm ein andrer Narr wieder bor-
gen werde, ſolche nach einer halbjaͤhrigen Loͤſe zu bezahlen ver-
ſpricht, zum Lande hinauszupeitſchen, und dafuͤr den alten
Rentcontrakt wieder herzuſtellen, iſt ſchoͤn, aber ſo leicht nicht
auszufuͤhren; ohnerachtet der geſunde Menſchenverſtand eben
dieſen Contrakt in Italien, England und Frankreich erhalten
hat, und es unmoͤglich iſt auf die Dauer jenen beyzubehalten.


Ihr ehmaliger vierter Vorſchlag, dem Beyſpiel der ver-
ſchuldeten Roͤmer zu folgen, die ihren Glaͤubigern und viel-
leicht ihren Patronen oder Gutsherrn auf einmal die ganze
Schuld abſagten, und ſolchergeſtalt das durch langjaͤhrige Ver-
pflichtungen zum Nachtheil des gemeinen Weſens erſchoͤpfte
Eigenthum befreyeten, iſt wiederum zu heroiſch, ohnerachtet
es
[221]der Leibeignen.
es ſchon einmal der Kayſer mit allen Reichsfuͤrſten durch ein
oͤffentliches Reichsgeſetze befohlen hat. a)


Und wenn man ihren dritten und vierten Vorſchlag verei-
nigen, mithin die Lösbarkeit aller auf ſchatzbaren Hoͤfen haf-
tenden Capitalien durch einen Machtſpruch, der ſich doch, da
die Geſetze wenigſtens den Leibeignen die unbewilligten Schul-
den verbieten, gar wohl in einen Rechtsſpruch verwandeln
ließe, aufheben, und dafuͤr jedem Glaͤubiger eine ſichere nach
der Menge der Schulden und dem Ertrag des Hofes abgemeſ-
ſene jaͤhrliche Rente verſchreiben wollte: ſo wuͤrde dennoch in
jedem Kirchſpiel einmal eine eigne oͤffentliche Anſtalt, oder
eine Art von ofnen Rentenbuch, worinn dieſe Renten einge-
tragen wuͤrden; und hiernaͤchſt ein naher Schultheis noͤthig
ſeyn, der dieſe mit dem jaͤhrlichen Ertrage des Hofes in einer
moͤglichen Gleichheit ſtehenden Renten zeitig und fuͤr eine kleine
Gebuͤhr einmahnte, ſo dann aber die Schuldner von Zeit zu
Zeit zur Einloͤſung dieſer Renten anhielte, damit ſolche nicht
in Ewigkeit ſtehen blieben und vermehret wuͤrden. Wie vie-
les wuͤrde ohnedem noch erfordert werden, um dieſe Renten
zu einem ſichern Gegenſtande des oͤffentlichen Handels zu ma-
chen
[222]Gedanken uͤber den Stilleſtand
chen und ihnen den Credit wieder zu geben den ſie vor zwey
hundert Jahren hatten? Man wuͤrde auch dabey die Vorſicht
gebrauchen muͤſſen, welche man in England bey den Annuite-
ten gebraucht, ſo daß keiner mehr als die Haͤlfte ſeiner reinen
Einkuͤnfte in Renten verwandeln koͤnnte, und das uͤbrige zu
ſeiner Competenz und auf unſichere Zufaͤlle behalten muͤßte.
In Deutſchland ſcheint vordem bereits eine gleiche Vorſicht ge-
herrſcht zu haben, indem man eine alte und neue Rente zu-
gleich fordern und beytreiben laſſen mochte, mithin voraus-
ſetzte, daß der Hof jedesmal zu einer gedoppelten Bezahlung
der Renten hinreichen muͤßte ....


So weit geht der Zuruf meiner Freunde; aber nun die
Antwort — nun beſſere Mittel! — dieſe weis ich zwar
nicht anzugeben. Es bleibt aber doch allemal wahr, daß es
eine ſchlechte Mannszucht ſey, wenn der Hauptmann einen
Soldaten lahm ſchlaͤgt um einen guten Kerl aus ihm zu zie-
hen; und dies thut der Richter ſo oft er einem Leibeignen, er
ſtehe nun in einem Stilleſtande oder nicht, bey einer Pfaͤn-
dung nicht ſo viel an Vieh oder Fruͤchten laͤßt, als er zur
nothwendigen Vertheydigung ſeines Hofes in allen oͤffentlichen
Laſten noͤthig hat.


Es bleibt ferner gewiß, daß jeder Landbeſitzer einen natür-
lichen
Stilleſtand habe, der von dem gerichtlichen gar nicht
unterſchieden iſt, außer daß bey dieſem die jaͤhrliche Abgift
zum Behuf der Glaͤubiger ausgerechnet und beſtimmet, bey
jenem zwar eben ſo gewiß aber unbekannt iſt. Man kan kei-
nem von beyden mehr nehmen, als er jaͤhrlich uͤbrig hat, oder
der Richter muß jedem, dem er ein mehrers abfordert, zu-
gleich einen Narren anweiſen, der ihm borgt. Da nun ein
Leibeigner im gerichtlichen Stilleſtande ſo wenig, als der an-
dere, der ſich im natuͤrlichen befindet, fuͤr Ungluͤcksfaͤlle ſicher
iſt;
[223]der Leibeignen.
iſt; ja, da die Ungluͤcksfaͤlle eben wie Gicht und Fluͤſſe ſich
eher auf die kranken als geſunden Glieder werfen: ſo iſt es
beynahe unmoͤglich auf acht oder zwoͤlf Jahre zu beſtimmen,
daß dieſer jaͤhrlich die ganzen Heuergelder ſeines Hofes zum
Vortheil der Glaͤubiger aufbringen ſoll; und wenn dieſes iſt:
ſo muß derſelbe wenigſtens einmal oder zweymal in den Stille-
ſtandsjahren einen gerichtlichen Verkauf ſeiner Fruͤchte erlei-
den — und es giebt deren viele die ihn das erſte Jahr, ſo-
dann aber alle Jahr hinter einander erfahren — auf ſolche
Weiſe kan aber der wahre Endzweck des Stilleſtandes faſt nie
erreichet werden.


Indeſſen bleibt doch auch wiederum gewiß, daß wenn nicht
die ſtrengſten Executiones geſchehn, die liederlichen Wirthe
nie zur Ordnung zu bringen ſind, und gar kein Credit, der
doch unentbehrlich iſt, zu erhalten ſteht. Ueberhaupt ſcheint der
Menſch dazu gebohren zu ſeyn, um unter der Zucht zu leben.
Den Vornehmen peitſcht die Ehre oder die erſchreckliche fuͤrſt-
liche Gnade mit Scorpionen zur Sclavenarbeit; der Soldat
wuͤrde ohne Zucht ein Fluch des menſchlichen Geſchlechts ſeyn;
und wie ſollte denn, der von einer nahen und ſtrengen Auf-
ſicht in der jetzigen Verfaſſung beraubte Landmann in Ordnung
erhalten werden, wenn nicht entweder Noth, oder Geiz, oder
ein pfaͤndender Richter ihn dazu noͤthigten?


Bey dem allen lernt man aber nur ſo viel, daß das Uebel
gewiß die Arzney aber unbekannt iſt; beſonders bey uns,
wo jeder Bauer wenigſtens unter vier Gerichtsbarkeiten zu-
gleich ſteht, und ſeines natuͤrlichen Stilleſtandes nie genießen
kan, weil alle vier Richter, wenn auch jeder von ihnen das
billigſte Maaß gebraucht, und die Execution nach dem Ertrag
des Hofes einſchraͤnkt, ihm dennoch zuſammen dasjenige
vier-
[224]Alſo ſollte man den Rentekauf
vierfach abnehmen, was er nur einmal zu bezahlen im
Stande iſt.


In den benachbarten Laͤndern muß ein leibeigner Schuld-
ner jaͤhrlich gewiſſe Scheffelſaat beſtellen. Dieſe werden unter
die Glaͤubiger meiſtbietend verſteigert; wer am erſten bezahlt
ſeyn will, giebt das mehrſte dafuͤr. Dies ſcheint mir noch
das beſte Palliativmittel zu ſeyn.



XXVII.
Alſo ſollte man den Rentekauf fuͤr den
Zinscontrakt wieder einfuͤhren.


Es iſt ein groſſes Problem, warum die Religion ſo lange
gegen alle Zinſen geeifert, und das Canoniſche Recht
ſolche durchaus verboten hat. Allein wenn man die Sache
aus dem Geſichtspunkt betrachtet, daß man dafuͤr, ſo wie
der Erfolg gewieſen, den Rentekauf beguͤnſtigen wollen: ſo
muß man gewiß die hoͤhere Weißheit bewundern; denn die
Zinſen, oder das damit verknuͤpfte Recht des Glaͤubigers das
Anlehen zu loͤſen, iſt durchaus dem Eigenthum und der Frey-
heit zuwider. Ein Krieg, ein Mißwachs und andre Ungluͤcks-
faͤlle koͤnnen tauſend Eigenthuͤmer noͤthigen ſich zu verſchulden.
Beruhet es nun in der Wahl der Glaͤubiger den unbequemſten
Zeitpunkt zur Loͤſe zu nehmen: ſo muß er ſich alle ihre Guͤter
zum Nachtheil des Staats zueignen, und ſeine Mitbuͤrger zu
ſeinen Sclaven machen koͤnnen. Dies koͤnnte zwar auch
durch ein Anlehen ohne Zinſen geſchehen; allein der weiſe
Geſetzgeber hat wohl eingeſehen, daß der Geiz der Menſchen
die-
[225]fuͤr den Zinscontrakt wieder einfuͤhren.
dieſen Weg nicht einſchlagen, ſondern den Rentekauf erwaͤh-
len wuͤrde. Die Zinſen ſind zuerſt unter Buͤrgern und Han-
delsleuten aufgekommen, und in Deutſchland weit ſpaͤter auch
bey den Landeigenthuͤmern eingefuͤhret worden, da man an
die Canoniſchen Rechte nicht mehr gebunden zu ſeyn glaubte.
Die neuern Canoniſten ſind dem Strome gefolgt. In der
That aber ſcheinet es, daß man den wahren Grund, warum
der Zinscontrakt verboten geweſen, nicht eingeſehen habe.


Man wird einwenden, daß auf dieſe Weiſe, und wenn
man die Renten an ſtatt der Zinſen wieder einfuͤhren, oder
welches einerley iſt, dem Glaͤubiger die Macht benehmen
wollte, ſein Capital zu jederzeit zu loͤſen, der ganze Credit
wegfallen wuͤrde. Allein warum erfolgt dieſes nicht auch in
Frankreich, Spanien und Italien, wo kein Glaͤubiger ſeinem
Schuldner eine Renteverſchreibung loͤſen kan? Warum erfolgt
nicht eben dieſes in andern benachbarten Laͤndern, als z. E.
im Hollaͤndiſchen, Oſtfrieſiſchen, Oldenburgiſchen und Hol-
ſteinſchen? Warum erfolgt es nicht in England, wo man
ebenfalls nur Renten oder Annuiteten hat, und ſogar aus
einem Wechſel nie an ſeines Schuldners Guͤter kommen kan,
wenn er ſolche nicht freywillig uͤbergiebt? Sitzt nicht noch jetzt
ein vornehmer Herr wegen Wechſel- und Rechnungsſchulden
in des Koͤnigsbank, der ſeiner Frauen und Kindern zu gefallen
ſeine Guͤter nicht uͤbergeben, ſondern ſein Leben in der Haft
zubringen will, wohin er ſich jaͤhrlich einen Theil ſeiner Ein-
kuͤnfte ſchicken laͤßt?


Die Furcht, daß der Credit wegfallen wuͤrde, iſt alſo theils,
eine Folge unſrer ſeit hundert Jahren veraͤnderten Art zu denken,
theils aber ungegruͤndet. Es wuͤrde vielmehr eben dadurch,
daß der Zinstontrakt auf dem Lande ganz abgeſchafft und da-
fuͤr der Rentekauf wieder eingefuͤhret wuͤrde, ein ganz neuer
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. PCre-
[226]Alſo ſollte man den Rentekauf
Credit entſtehen. Denn die erſte nothwendige Folge davon
wuͤrde ſeyn, daß die Renteverſchreibungen, oder die Obli-
gations ohne Loͤſe, mit zur Circulation kommen, und die
Stelle des baaren Geldes vertreten wuͤrden. Ein Vortheil
der wuͤrklich verdient daß wir ihn naͤher in Betracht ziehen.
Es wuͤrde dieſes zwar noch einige Voranſtalten erfordern, in-
dem in vorbenannten Laͤndern bloß die Renteverſchreibungen,
welche der Staat oder eine andre oͤffentliche Caſſe auf ſich ſelbſt
ausgeſtellet haben, dem Gelde gleich circuliren; die Privat-
renteverſchreibungen aber nur bey gewiſſen Handelscomtoirs,
die nicht ohne Vortheil dabey beſtehen, gekauft oder verkauft
werden. Allein dieſe Voranſtaltungen ſind ſo ſchwer nicht.
Ein zuverlaͤßiges Hypothekenbuch, wobey der Staat alles was
darinn eingetragen wird, garantirt, macht die ganze Sache
aus; und wie ſehr wuͤrden ſich auf dieſe Art die Zahlungen
erleichtern, wenn wir in einer Zeit, wo das klingende Geld
immer rarer wird, ein ſolches Papier zu Huͤlfe nehmen koͤnn-
ten? Ich erinnere mich einer alten deutſchen Colonie, worin
man dieſe Einrichtung auf eine gluͤckliche Weiſe verſuchte. Sie
beſtand aus hundert freyen Hoͤfen, jeder von 40 Morgen.
Jeder Hausvater hatte ſo viele Morgen, aber auch zugleich ſo
viel Folios in einer mit der Colonie angefangenen oͤffentlichen
Bank erhalten. Auf jedem Blatte ein Morgen; ohne Preis.
Wenn einer Geld noͤthig hatte: ſo verkaufte er ein, zwey oder
drey Blatt im Buche; und dieſe Blaͤtter wurden demjenigen
zugeſchrieben, der das Geld herſchoß. Dabey war es ein
Grundgeſetz in dieſer Colonie, daß darin keine liegende Gruͤnde
fuͤr baar Geld gekauft werden konnten. Man konnte fuͤr
Geld ein Blatt in der Bank, und fuͤr das Blatt in der Bank
einen Morgen Landes kaufen, aber nicht anders. Beweg-
liches Vermoͤgen hingegen mußte mit klingender Muͤnze und
nicht mit Bankblaͤtter bezahlet werden. Eben dieſe Einrich-
tung
[227]fuͤr den Zinscontract wieder einfuͤhren.
tung iſt die ganze feine Philoſophie unſers ehmaligen Concurs-
oder Aeuſſerproceſſes. Man konnte kein Grundſtuͤck aͤuſſern
ohne Siegel und Briefe darauf zu haben. Ein Darlehen
auf einen Wechſel, oder dieſelbe Summe in baaren Gelde
reichte dazu nicht hin. Eben dieſes geſchahe in jener Colonie.
Was hier nicht anders als auf Siegel und Briefe geſchehen
konnte, geſchahe dort nicht anders als auf ein Blatt in der
Bank; und man ſieht wohl, daß die Banko die Gerichts-
ſtube, und das Blatt das gerichtliche Document ſey. Auf
Mundſprache, Wechſel und dergleichen Schulden koͤmmt es
zur Pfaͤndung beweglicher Guͤter. Alſo werden dieſe blos
mit baarem Gelde bezahlt, und durch ein gerichtliches Docu-
ment nicht repraͤſentirt. Zwar werden in unſern neuern ge-
richtlichen Documenten auch bewegliche Guͤter verſchrieben.
Allein dieſes iſt eine elende neuere Erfindung, die ihre Tuͤcke
im Concursproceß zeigt; die die Glaͤubiger, welche auf be-
wegliches Unterpfand geborgt, mit denen zuſammen hetzt,
die Siegel und Briefe haben, und die elendeſte Verwirrung
unter den Rechtsgelehrten angerichtet hat. Ein ungelehrter
Glaͤubiger der ſein bewegliches Unterpfand in Haͤnden hat, kan
es bis in dieſe Stunde nicht begreifen woher es ruͤhre, daß
er ſolches zum Concurs liefern muͤſſe. Er fuͤhlt aus einem
von ſeinen Vorfahren ererbten Begriffe, daß dieſes gegen die
Vernunft ſey; und kein Geſetzgeber ſollte zugeben, daß be-
wegliche Guͤter, den Fall wenn ſie in eine oͤffentliche Bank
gelegt, und folglich unbeweglich gemacht werden, ausgenom-
men, durch Siegel und Briefe repraͤſentiret wuͤrden. Unſre
Rechtsgelehrten, die von dem Unterſcheide des pignoris und
der hypothecae handeln, tappen im dunkeln, ſo lange ſie
nicht auf den groſſen Plan jener Colonie zuruͤckgehen. Der
Bankſchreiber, der jemanden ein Folio auf bewegliches Ver-
moͤgen gegeben haͤtte, ohne ſich dieſes einliefern zu laſſen; oder
P 2um
[228]Alſo ſollte man den Rentekauf
um nach unſrer Art zu reden, der Richter der eine Hypothek
auf bewegliches Vermoͤgen aufnimmt, wuͤrde als ein oͤffent-
licher Verfaͤlſcher beſtrafet werden, wenn ihn der Geſetzgeber
nicht fuͤr dieſes Brandmahl verſichert haͤtte.


Wie ſchoͤn wird aber nun nicht der alte Aeuſſerproceß?
Der Glaͤubiger der auf Grundſtuͤcke leihet, erhaͤlt erſt ſein
Blatt im Buche; hat er dieſes ſechs Wochen gehabt und haͤlt
ſich nicht ſicher genung wegen ſeiner Rente: ſo wuͤrd er an
das Grundſtuͤck, welches durch das Blatt repraͤſentiret wird,
geeignet, und er erhaͤlt die Selbſtnutzung. Weiter kan er
nicht kommen. Will er jetzt ſeines Schuldners ganzen Hof
von 40 Morgen haben: ſo muß dieſer ihm das Recht diejeni-
gen, welche die 39 uͤbrigen Blaͤtter haben, ausbezahlen zu moͤ-
gen, abtreten; und damit kan er erſt den ganzen Hof erlangen.
Man kan ſich ſchwerlich einen ſchoͤnern und feinern Plan zum
Beſten der Landeigenthuͤmer gedenken.


Allein nie koͤnnen wir dahin zuruͤckkommen, ohne ſchlech-
terdings den Zinscontrakt zu verbieten, und ſtatt deſſelben
den Rentekauf wieder einzufuͤhren. Die mit jenem verknuͤpfte
Loͤſe, dieſe elende und ſchaͤdliche Erfindung verdirbt alle dieſe
groſſen Anſtalten unſrer Vorfahren, oder jener Colonie.
Der Staat der fuͤr die Richtigkeit des Bankofolio haftet, kan
nie die Buͤrgſchaft uͤbernehmen, daß ſofort jedes Capital,
wenn es geloͤſet wird, bezahlet werden ſolle. Zwar hat man
in einigen Laͤndern oͤffentliche Hypothekenbuͤcher eingefuͤhrt,
die Grundſtuͤcke des Schuldners darinn eintragen, und den
Richter fuͤr die Richtigkeit deſſelben haften laſſen. Allein
dieſe an ſich guten Anſtalten thun die Wuͤrkung nicht, ſo lange
die Loͤſe bleibt. Das Hypothekenbuch muß nichts weiter als
die Exiſtenz des Grundſtuͤcks, und was es jaͤhrlich traͤgt, ga-
rantiren. Der Glaͤubiger kauft dieſes Grundſtuͤck und ſeinen
Er-
[229]fuͤr den Zinscontrakt wieder einfuͤhren.
Ertrag mittelſt des Anleihens. Entzieht ihm der Schuld-
ner den Ertrag des erſten Jahrs: ſo kan der Staat ihm den
Ertrag des zweyten gewiß durch die Selbſtnutzung verſchaf-
fen. Folglich laͤuft der Staat bey der Buͤrgſchaft faſt gar
keine Gefahr; er beurkundet dasjenige nur oͤffentlich, was
jeder naher oder ferner Glaͤubiger nicht ohne Muͤhe unter-
ſuchen kan; und weil das Grundſtuͤck im Hypothekenbuch zu
keinem Geldwerth angeſchlagen iſt: ſo ſteigt und faͤllt die
Renteverſchreibung eben wie liegende Gruͤnde ſteigen und fal-
len; und der Rentenier lauft von Rechtswegen gleiche Ge-
fahr mit dem Landeigenthuͤmer; an ſtatt daß alle neuere Hy-
pothekenbuͤcher, worinn ein Gut nach Geldeswerth angeſchla-
gen iſt, auf einem ſchluͤpfrigen Grunde ſtehen, weil man
Exempel hat, daß liegende Gruͤnde gegen Geld unter die
Haͤlfte fallen koͤnnen. Dies kan aber auf jene Art gar nicht
geſchehen.


Auſſerdem aber nuͤtzt der Landeigenthuͤmer, wenn er Glau-
ben haͤlt, ſeine 40 Morgen doppelt, einmal in Natur; und
einmal durch ſeine 40 Bankofolios. Dieſe letztere muͤſſen noth-
wendig den vollkommenſten Glauben haben, weil ſie nicht
wie das Geld einen bloſſen Conventionswerth haben; ſondern
Repraͤſentationen ſolcher Effecten ſind, die ſo lange als der
Grund durch kein Erdbeben verſchlungen wird, und Men-
ſchen vorhanden ſind, die Brodt eſſen wollen, zur unent-
behrlichen und unmittelbaren Nothdurft gehoͤren. Ich will
der Speculation, die billiger Weiſe durch das Steigen und
Fallen ſolcher Renteverſchreibungen oder Bankofolios erzeu-
get werden wuͤrde, imgleichen der Comtoirs, wo man ſie in
dieſer Maaſſe zu jederzeit wuͤrde diſcontiren koͤnnen, nicht
gedenken, um nicht zu weitlaͤuftig zu werden. Genung die
Loͤſe oder das Anlehen auf Zinſen muß bey Landeigenthuͤmern
ſchlechterdings aufhoͤren; wer auf Zinſen leihen will, muß
P 3es
[230]Vorſchlag zur Erleichterung
es auf Wechſel, auf bewegliches Pfand oder auf perſoͤnlichen
Credit thun, und keine Hypothek am Grunde haben. Der
Eigenthuͤmer eines Guts kan zu der Erde nicht ſagen: Gieb
mir nach einem halben Jahre ſo viel Geld wieder, als ich
fuͤr mein Gut ausgelegt habe. Dennoch ſinken die liegenden
Gruͤnde darum nicht in ihrem Werth. Warum ſollte dann
der Herr einer Renteverſchreibung mehr Recht haben? Oder
kan man fuͤrchten, daß ſich weniger Rente- als Grundkaͤufer
finden wuͤrden? Unſre Einbildung muß nur erſt wieder recht
gewoͤhnet werden, und jeder wird gern Rente kaufen, wenn
er nicht mehr auf Zinſen leihen kan.



XXVIII.
Vorſchlag zur Erleichterung der hofge-
ſeſſenen Schuldner.


Wenn ein Landmann ſeinem Glaͤubiger einiges Land
uͤberlaͤßt, um ſich aus der Nutzung deſſelben ſo wohl
wegen des Hauptſtuhls als der Zinſen bezahlt zu machen: ſo
nennen wir dieſes Todbau oder Todſaat. Dergleichen Con-
trakte ſind nun zwar auf ſichere Weiſe verboten, weil ſie leicht
zum Wucher Anlaß geben koͤnnen, indem man dasjenige, was
der Glaͤubiger auf dieſe Weiſe erhaͤlt, nicht ſo genau uͤberſchla-
gen kan. Allein bey naͤherer Pruͤfung wird man finden, daß
dieſer Contrakt, wenn er anders genau berechnet iſt, dem
Schuldner alles leiſte, was er insgemein zu wuͤnſchen pflegt.
Mit Huͤlfe deſſelben zahlet er in leichten unmerklichen Termi-
nen ab; das Geld, womit der Glaͤubiger bezahlt wird, koͤmmt
ihm nicht in die Haͤnde, und geht ihm nach einer richtigen
Folge auch nicht durch die Finger; der Glaͤubiger nimmt ſein
Ca-
[231]der hofgeſeſſenen Schuldner.
Capital gleichſam bey Pfennigen an, und die Zeit, wo der
eine frey der andre aber bezahlt iſt, nahet ohne menſchliche
Verhinderung und Befoͤrderung mit gemeſſenen Schritten
heran. Was Nationen, Fuͤrſten und fuͤrſtenmaͤßige Schuld-
ner mit einem Fond d’amortiſſement ausrichten, dieſes hat
die Erfahrung als der ſicherſte Lehrmeiſter dem laͤndlichen
Schuldner laͤngſt gewieſen; und wie ſanft iſt es, mit jedem
Jahr, mit jedem Morgen zu denken, daß man ſchon wieder-
um ein Jahr oder einen Tag ſeiner Befreyung von Schul-
den naͤher gekommen, und nun bald der Acker, den der Glaͤu-
biger jetzt zum vorletzten und dann zum letztenmal genießt,
unter ſeinen eignen Pflug nehmen werde.


Man vergleiche hiemit den buͤrgerlichen Contrakt von Hand-
verſchreibungen und Zinſen. Wie ſchrecklich iſt der nicht? Hun-
dert Thaler hatte der arme Schuldner in einer Summe noͤthig;
nun ſoll er ſie in einer Summe auch wieder bezahlen; er ſoll ſie in
derſelben Muͤnze entrichten, worinn er ſie empfangen; er ſoll es
ſeinem Glaͤubiger einhalb Jahr vorher ſagen, wenn er ihn bezah-
len will; er ſollerwarten und allezeit fertig ſeyn, wenn der Glaͤu-
biger ihm eine halbjaͤhrige Loͤſe thut; er ſoll alles was er hat da-
fuͤr zum Unterpfande ſetzen; er muß dem Glaͤubiger die Wahl
laſſen, ob dieſer ihm ſeine bewegliche oder-unbewegliche Haabe
und Guͤter zur bequemen oder unbequemen Zeit nehmen wolle;
mit einem Worte, er muß immer in der Furcht leben, jedem
der ihm im unverhofften Aufkuͤndigungsfall zu Huͤlfe kom-
men kan, gefaͤllig ſeyn, und wenn er die Haͤlfte oder auch
drey Viertel der Schuld baar liegen hat, dennoch ſolches un-
ter vielen Verſuchungen Jahre lang ungenutzt laſſen, oder
mit Unſicherheit ausborgen, bis er das ganze Capital zuſam-
men hat; alle Gefahr davon ſtehen, und es wohl gezaͤhlt in
ſeinem Beutel haben, ehe und bevor er es wagen darf, die
halbjchrige Loͤſe zu thun. Wer dieſem Contrakt vor jenem
P 4den
[232]Vorſchlag zur Erleichterung
den Vorzug giebt, der muß es nie erfahren haben, daß der
eine Schuldner, welcher auf Todbau geborget, ſich laͤngſt
wiederum befreyet habe, wenn der andre, der auf baare
Wiederbezahlung in einer Summe nach einer gefaͤlligen Loͤſe-
zeit, Geld genommen, noch nicht einmal von Fern an die
Erſtattung des Hauptſtuhls gedenkt; der muß es nicht wiſſen,
wie ſtark die Verſuchung fuͤr einen faulen oder grau geworde-
nen Schuldner ſey, ſeine Zeit mit Abfuͤhrung der Zinſen hin-
zubringen, und die Bezahlung des Hauptſtuhls ſeinen Nach-
kommen zu uͤberlaſſen; und wie wenig Menſchen in der Welt
ſeyn, die ihrer eignen Bequemlichkeit etwas entziehen, um
fuͤr ihre Nachkommen Capitalien zu bezahlen, wenn ſie mit
der Zinszahlung frey kommen koͤnnen.


Selbſt der Vorſatz ſogenannter fetter Laͤndereyen, wo der
Schuldner das dem Glaͤubiger uͤberlaſſene Land ſelbſt duͤngt
und pfluͤgt, um den Todbau ſo viel geſchwinder zu bewuͤrken,
iſt gluͤcklicher wie ein ſolcher buͤrgerlicher Contrakt erfunden,
beſonders wo der Schuldner nur weniges Land auf dieſe Art
verſetzt, folglich ſeinen Viehſtapel und ſeinen Haushalt dar-
um nicht vermindert, ſondern gerade den Duͤnger, die Pferde
und die Zeit hat, um das ſeinem Glaͤubiger untergebene
Land zu beſtellen. Der Ueberſchuß ſeiner Zeit, ſeines Duͤn-
gers, und ſeiner Arbeit bleibt ungenutzt, wenn ſein Haus-
halt der ganzen Staͤtte angemeſſen, nur ein oder ander Stuͤck
Land davon zum Todbau verſetzt, und er nicht berechtiget iſt,
auch dieſe zu duͤngen und zu bearbeiten, um ſich einige Jahre
eher zu befreyen.


Geſetzt aber dennoch man billige den Todbau ohnerachtet
aller dabey anzubringenden Verbeſſerungen nicht: ſollte man
denn nicht die Einrichtung treffen koͤnnen,
daß
[233]der hofgeſeſſenen Schuldner.
Daß der Landmann nicht anders als zu 6, 7 oder 8 p. C.
borgen duͤrfte, und ſolchergeſtalt ſein Capital allmaͤhlig
ſelbſt toͤdten muͤſte?

Der Nutzen einer ſolchen Art von Zahlung leuchtet einem je-
den aus obigen in die Augen, und es beduͤrfte nur einer oͤf-
fentlichen tabellariſchen Rechnung, um ſowohl den Glaͤubiger
als Schuldner zu unterrichten, in wie viel Jahren die Toͤd-
tung des Capitals auf dieſe oder jene Art erfolgen wuͤrde.
Wer jaͤhrlich 1 p. C. mehr bezahlt als die Zinſen betragen,
toͤdtet ſein Capital, wenn er ſolches mit 5 von Hundert ver-
zinſet, in 37 Jahren; wenn er es mit 4 von Hundert ver-
zinſet, im 41 Jahren, und wenn er nur 4 vom Hundert
giebt, in 47 Jahren. Allein die Hauptſchwierigkeit bleibt
immer uͤbrig, ob ſich Glaͤubiger finden werden, welche ihr
Geld auf dieſe Bedingung hergeben wollen. Daß ſie es auf
den Todbau ſo gern austhun, macht außer der Begierde nach
dem Ackerlande, die groͤßere Sicherheit und auch wohl der heim-
liche Vortheil. Allein wie iſt er zu bewegen, ohne eine
gleiche Sicherheit und ohne einen gleichen Vortheil ſein Ca-
pital durch einen geringen jaͤhrlichen Abtrag toͤdten zu laſſen?


Ein Geſetz, daß gar keine andre Verſchreibungen oder
Verſprechungen der ſchatzbaren Landleute guͤltig ſeyn ſollten,
als welche zugleich auf eine allmaͤhlige Toͤdtung des Capitals
gerichtet wuͤrden, koͤnnte etwas wuͤrken. Eine Verordnung,
daß derjenige Glaͤubiger, welcher auf Abſchlag ſeines Capi-
tals jaͤhrlich 2 oder 3 p. C. annehmen wuͤrde, die Zinſen zu
6 p. C. ſollte rechnen duͤrfen, moͤgte auch noch manchen be-
wegen, ſein Capital auf dieſe Weiſe abtoͤdten zu laſſen, und
der Schuldner ſo wohl als ihre Staͤtten wuͤrden ſich immer
noch beſſer bey 6 p. C. Zinſen ſtehen, als wenn ſie jaͤhrlich
3 p. C. zuruͤck legten, und nachdem ſie ſolchergeſtalt das Ca-
pital in drey und dreyßig Jahren muͤhſam und gefaͤhr-
P 5lich
[234]Vorſchl. zur Erleichter. der hofgeſ. Schuldner.
lich geſammlet und erſparet, ſolches ihrem Glaͤubiger in
einer Summe bezahlten. Allein das mehrſte wuͤrde doch
meines Ermeſſens darauf ankommen, daß dem Glaͤubiger
dagegen eine groͤßere Sicherheit, und wo moͤglich eben die-
ſelbe geleiſtet wuͤrde, die er hat, wenn er das Land zum Tod-
bau unter hat; und dieſe koͤnnte beſtellet werden,
wenn die Landleute, die hier jetzt unter 4 bis 5 concurriren-
den Gerichtsbarkeiten ſtehen, unter eine einzige gebracht;
ſodann die Gerichtszwaͤnge verkleinert, und die Richter an-
gewieſen wuͤrden, ein eignes Buch und in demſelben fuͤr je-
den Schuldner eine eigne Rechnung zu halten, mithin am
Schluſſe eines jeden Jahrs nachzuſehen, wie weit der
Schuldner mit Toͤdtung ſeines Capitals gekommen, ihn
auf den Fall, da er es daran ermangeln laſſen, dazu anzu-
halten und von Amts wegen immer ſo wohl fuͤr die Sicher-
heit des Glaͤubigers als die Ordnung des Schuldners zu
ſorgen.

Der Landmann, dem bey dieſer Art des Anlehens, nie ein Capi-
tal geloͤſet, dem nie ein mehrers auf einmal zu bezahlen auferlegt
wird, als er nach vorgegangener Unterſuchung zu bezahlen im
Stande iſt, und deſſen Zahlungstermine nicht wie jetzt auf alle
Tage im Jahr, ſondern ewig und unveraͤnderlich auf gewiſſe be-
queme und ſeinen Umſtaͤnden angemeſſene Zeiten geſetzt wuͤrden,
wuͤrde ſolchergeſtalt und wenn zugleich alle andere Arten von An-
lehen verboten, ſodann auch keine andre Verſchreibungen und
Verſprechungen guͤltig waͤren als die in des Richters Buche ſtuͤn-
den, glaube ich, immer noch ein Anlehn zur Todzahlung finden,
und wie gluͤcklich waͤre der Glaͤubiger, der auf dieſe Weiſe nie zu
fuͤrchten haͤtte, daß ſein Schuldner aus Noth die Schuld leug-
nen, einen Proceß anfangen und ihn in ſchwere Koſten verwi-
ckeln koͤnnte?



XXIX.
[235]Vorſchlag zu einem oͤffeutl. Kirchſpielsamte.

XXIX.
Vorſchlag zu einem oͤffentlichen Kirch-
ſpielsamte.


In jedem Kirchſpiele ſollte billig ein oͤffentliches Amt, oder
wie man in England ſpricht-, a public office, ſeyn,
deſſen ſich daſſelbe ſo wie jeder einzelner Eingeſeſſener zu den
hiernaͤchſt weiter anzufuͤhrenden Beduͤrfniſſen bedienen koͤnnte.
Das Notariatamt iſt zwar wohl in Anfang auf dieſen Zweck
gerichtet geweſen; auch moͤgen die Amts- und Gerichtsſtuben
urſpruͤnglich zu einer gleichen Abſicht gedienet haben. Seit-
dem aber der Zugang zu letztern und den darin niedergelegten
Nachrichten bisweilen verſperret, die Amts- und Gerichts-
ſprengel auch gar zu weitlaͤuftig und das Notariatamt mehr-
mals verdaͤchtig geworden; hiernaͤchſt auch die Laden der
Gilden in den Staͤdten von den Gerichts- und Stadtarchiven
wohlbedaͤchtig abgeſondert ſind: ſo glaube ich nicht ohne
Grund ein ſolches oͤffentliches Amt anpreiſen zu koͤnnen.


Bey einem ſolchem oͤffentlichen Amte und in deſſen Schran-
ken muͤſte liegen


  • Erſtlich eine vollſtaͤndige und von allen fuͤr richtig erkannte-
    Charte vom ganzen Kirchſpiel, worauf eines jeden Eigenthum
    mit ſeinen Graͤnzen, insbeſondre aber die Gemeinheiten mit
    Holzungen, Weiden, Plaggenmatten, Weiſungen, Bruͤcken
    und Wegen ꝛc. deutlich und richtig verzeichnet waͤren;
  • Zweytens, ein Buch zu den Gerechtſamen dieſer Gemein-
    heit, und was ein jeder darauf zu fordern, zu unterhalten,
    und zu ſagen haͤtte;

Drit-
[236]Vorſchlag zu einem oͤffentl. Kirchſpielsamte.
  • Drittens, das Kataſter des Kirchſpiels, worin eines jeden
    Privateigenthum deutlich mit allen ſeinen Pflichten und Ab-
    giften beſchrieben waͤre.
  • Viertens, ein gleiches Buch fuͤr das Einkommen der
    Kirche, und der bey derſelben dienenden Perſonen, wie auch
    fuͤr die uͤbrigen Gerechtſamen der Kirche, der Paſtorat, der
    Kuͤſterey und andrer dem Kirchſpiele in Gemein zugehoͤrigen
    Gebaͤude und Gruͤnde, imgleichen fuͤr die oͤffentlichen Ar-
    menmittel.
  • Fünftens, die Sammlung aller Originalien oder doch be-
    glaubter Abſchriften aller die Gemeinheit betreffenden Ur-
    kunden ꝛc. ꝛc. beſonders aber
  • Sechſtens ein Hypotheken- oder Bankobuch, worin jeder
    Kirchſpielseingeſeſſener ſein eignes Blatt oder Conto haͤtte,
    worauf er ſeine Schulden eintragen laſſen koͤnnte.

Die Wichtigkeit des letztern iſt um ſo viel groͤßer, je mehr
oft der Credit ſolchen die es nicht verdienen, gegeben und
andern die ihn billig finden ſollten, verſaget wird. Die
Fuͤhrung dieſes Buchs wuͤrde dem zeitigen Kuͤſter oder Schul-
meiſter, der zugleich der einzige privilegirte Notarius des
Kirchſpiels ſeyn koͤnnte, anvertrauet, und in deſſen Hauſe
zugleich der gemeine Schrank oder die Lade niedergeſetzt,
worin dasjenige, was vorgedacht iſt, insbeſondre aber das
Bankobuch niedergelegt werden koͤnnte. Dieſer Schrank
muͤſte woͤchentlich an einem beſtimmten Tage und zur gewiſ-
ſen Stunde in Gegenwart des Pfarrers, welcher zugleich
einen zweyten Schluͤſſel dazu haben muͤſte, und dreyen Ge-
ſchwornen eroͤfnet, und ſodann diejenigen Sachen darin ein-
getragen werden, welche darin zu verzeichnen ſeyn wuͤr-
den;
[237]Vorſchlag zu einem oͤffentl. Kirchſpielsamte.
den; damit die dazu Verordnete nicht ſtuͤndlich uͤberlaufen
wuͤrden.


Da ein Notarius mit dreyen Zeugen hier im Stifte ein
dem gerichtlichen gleichgeltendes Dokument ausfertigen kan:
ſo ſehe ich nicht, warum ein ſolches oͤffentliches Amt, ob es
gleich keine Gerichtsbarkeit haben darf, nicht gleichen Glau-
ben finden ſollte; und es muͤſte auch beſtehen koͤnnen, wenn
ihm fuͤr ſeine Bemuͤhungen ein ſichres zugelegt, dagegen aber
kein andrer Notarius im Kirchſpiel geduldet wuͤrde.


Um dieſes noch mehr zu befoͤrdern, koͤnnte man verordnen,
daß gar keine Schulden ſchatzbarer Unterthanen zur gericht-
lichen Klage angenommen werden ſollten, wenn ſie nicht in
dieſem Buche verzeichnet waͤren.


Wollte man den Nutzen dieſes Bankobuchs noch weiter
ausdehnen: ſo muͤßte ein jeder die Summe, die er nach dem
Maaße ſeiner unterhabenden Staͤtte jaͤhrlich aufbringen koͤnnte,
nach dem Ermeſſen der Geſchwornen darin eintragen laſſen,
und die Geſchwornen dafuͤr, daß dieſe Summe jaͤhrlich richtig
eingehen koͤnnte, einſtehen. Wann dann einer etwas benoͤ-
thiget waͤre: ſo koͤnnte er mit dieſer Beſcheinigung und mit
dem Auszuge ſeiner bereits habenden Schulden uͤberall Credit
finden, eben wie ein Landmann in England mit einer gleichen
Beſcheinigung Annuiteten auf ſeinen Hof beglaubigen, und
ſolche in London verkaufen kan. Wuͤrde von irgend einem
Gerichte eine Execution wieder dieſen oder jenen Schuldner
erkannt: ſo muͤſte das Pfandzettel allemal erſt dem vorbe-
ſagten Kirchſpielsamte an dem woͤchentlich beſtimmten Tage
vorgezeiget werden; und dieſes darauf bemerken, wie viel
der Schuldner in dem Jahre bezahlen koͤnnte, ſintemahlen
und wenn bereits andre Executions dasjenige, was einer
jaͤhrlich nach dem Bankobuche aufbringen koͤnnte, erſchoͤpfet
haͤt-
[238]Vorſchlag zu einem oͤffentl. Kirchſpielsamte.
haͤtten, keine weitere Executions fuͤr das Jahr Platz finden
muͤßten; der Vogt richtete ſich dann mit der Pfandung nach
jener Bemerkung des Kirchſpielsamtes. Waͤhlte man fol-
gends beſondre Pfandungszeiten, ſo daß der Schuldner z. E.
nur auf vier oder ſechs bequemen Tagen im Jahr, wo er
ſein Korn oder Linnen verſilbert haben kan, gepfandet werden
duͤrfte: ſo wuͤrden die einlaufenden Pfandzettel dem Kirch-
ſpielsamte vorgelegt, welches ſie mit Bemerkung der Zeit,
wann ſie praͤſentiret worden, an den Vogt beſoͤrderte, und
ſodann den Landmann wider alle unzeitige, uͤbermaͤßige und
verderbliche Executiones ſicher ſtellete.


Wenn Eigenbehoͤrige ſich dieſes Buchs bedienten: ſo er-
hielten die Glaͤubiger dadurch zwar kein mehrers Recht als
wenn ſie einem Leibeignen auf einen Notariatſchein leihen.
Sie koͤnnten aber doch immer aus dem Bankobuch ſich be-
lehren: ob derſelbe ſein Erbe uͤber ein gewiſſes Maaß beſchwerte
und ſeinen Gutsherrn zur Abaͤußerung berichtigte, oder ſonſt
eine uͤble Wirthſchaft fuͤhrte.


Der Gutsherr ſelbſt lernte die Wirthſchaft ſeines Leibeignen
auch kennen, und ſaͤhe ſogleich: ob die Auffarts- Freybriefs-
oder Sterbfallsgelder gehoͤrig beſtritten, oder nur aufgeliehen
wuͤrden. Andrer Vortheile jetzt nicht zu gedenken.


Außerdem aber koͤnnte


  • Siebentens ein ſolches oͤffentliches Amt zur Bewahrung
    eines jeden Privaturkunden, die ſonſt unter den Strohdaͤchern
    der Bauren ſo leicht vermodern oder von den Maͤuſen gefreſ-
    ſen werden, dienen; oder einer koͤnnte darin die beglaubten
    Abſchriften davon niederlegen laſſen; jedes Kirchſpiel koͤnnte
    auch ſeine Rechte und Gewohnheiten in Anſehung der Erb-
    folgen, der Ehen, der Mark ꝛc. ꝛc. vor dieſem Amte be-
    ſchrei-
    [239]Die Abmeyerung eine Erzaͤhlung.
    ſchreiben laſſen, und ſolchergeſtalt unzaͤhligen Proceſſen vor-
    beugen; und wie ſehr wuͤrde uͤberhaupt die allgemeine Si-
    cherheit dadurch befoͤrdert werden?


XXX.
Die Abmeyerung eine Erzaͤhlung.


Du erinnerſt dich noch wohl wie wir zu Badbergen mit
einander in die Schule giengen; ich glaube, es wer-
den nun bald funfzig Jahr ſeyn. Meine Eltern baueten da-
mals Retmars Erbe, welches unſre Vorfahren wer weis wie
lange und zuerſt als Eigenthuͤmer beſeſſen hatten. Sie hatten
jederzeit ihr nothduͤrftiges Auskommen darauf gehabt, ihrem
Gutsherrn das ſeinige richtig bezahlt und in guten Jahren
noch wol einen Thaler fuͤr ihre Kinder eruͤbriget. Allein mein
Vater ſtarb in ſeinen beſten Jahren, nachdem er ſich in der
Erndte zu ſehr erhitzt haben mogte, und meine Mutter uͤber-
lebte dieſen Verluſt nicht lange. Sie war noch nicht begra-
ben: ſo kam der Gutsherrl. Verwalter, welcher ehedem ein
Procurator geweſen war, und ſchrieb alles auf was im Hauſe
war. Ich durfte mich dieſem Beginnen nicht widerſetzen,
weil es leider die Rechte ſo mit ſich brachten, und ich mogte
wollen oder nicht: ſo muſte ich ihm die von meinen Eltern
hinterlaſſene Erbſchaft, ohnerachtet mein Vater und Groß-
vater verſchiedene Stuͤcke davon ſchon mehrmals geloͤſet hatten,
aufs theureſte bezahlen, wenn ich nicht alles was im Hauſe
war, Fruͤchte, Vieh und Hausgeraͤthe, auf einmal verlieren
wollte. Das baare Geld, was ſich fand, nahm er gleich zu
ſich; ich muſte alſo beym erſten Anfange borgen, und ſogar
die Koſten zu meiner Mutter Begraͤbniß. Dies ſetzte mich
ſchon
[240]Die Abmeyernng eine Erzaͤhlung.
ſchon etwas zuruͤck, und wie ich mich durch eine Heyrath
erholen wollte, forderte der Verwalter auch den Brautſchatz
meiner Frauen zum Weinkaufe fuͤr ſie. Was ſollte ich thun,
Henrich? Mein Gutsherr war unmuͤndig, und der Verwal-
ter von dem Richter beſtellet, der die Leute ſchalten und wal-
ten oder die Unterdruͤckten proceſſen lies. Es war kein Baum
auf dem Erbe, den meine Vorfahren nicht gepflanzt hatten
und den ich nicht als Vater und Bruder betrachten konnte;
Gebaͤude und Aecker waren von ihnen und auch in gutem
Stande, und dieſe mit dem Ruͤcken anzuſehen war mir nicht
moͤglich. Ich gab alſo alles hin was mir meine Braut zu-
brachte, und der Procurator nahm ſogar zween harte Thaler,
die ſie mir auf die Treue gegeben hatte, fuͤr die Schreibgebuͤhr
zu ſich.


Nun dachte ich, wuͤrde ich doch arm und ruhig leben koͤn-
nen. Allein der grauſame Menſch behauptete, ich haͤtte bey
dem Sterbfall etwas verſchwiegen, und forderte mich daruͤber
zum Eyde. Dieſen wollte ich ungern ablegen, und es gieng
daher zum Proceß, den ich mit allen Koſten verlohr, weil
ſich noch ein Fohlen, ſo ich in meines Vaters Hauſe angezogen
hatte, in der Weide befand, das ich wohl gewuſt, aber anzu-
geben vergeſſen hatte. Um die Koſten zu bezahlen, muſte ich
neue Schulden machen, und weil ich vielleicht nicht mit dem
Muthe und dem Eyfer arbeitete, womit ich unter gluͤcklichern
Umſtaͤnden mein Brodt gewiß erworben haben wuͤrde: ſo
ſchlugen mir einige Erndten nacheinander ab; ich verlohr
einige Pferde; und weil ſelten ein Ungluͤck allein koͤmmt:
ſo ward ich auch zuletzt von der Viehſeuche heimgeſucht, ſo
daß ich endlich ſo wenig die Gutsherrl. Gefaͤlle als die ſchul-
digen Zinſen gehoͤrig bezahlen konnte. Meine Bruͤder, de-
nen ich ihren Antheil aus dem Erbe geben muſte, drangen
zu gleicher Zeit auf das ihrige. Ich ward verklagt, ver-
dammt,
[241]Die Abmeyerung eine Erzaͤhlung.
dammt, gepfaͤndet, und nach einigen kummervollen Jahren,
zuletzt mit meiner Frauen und ſechs Kindern des Erbes, was
ich dreyßig Jahr im Schweiſſe meines Angeſichts gebauet
hatte, entſetzt. Indeſſen brachte der Verkauf des meinigen
noch ſo viel auf, daß meine Schulden insgeſamt haͤtten bezah-
let werden koͤnnen, wenn die Unkoſten nicht zu viel davon
weggenommen haͤtten; und ich hatte wenigſtens die Beruhi-
gung, daß ich nicht als ein unredlicher Mann gehandelt haͤtte.


Ach Henrich, du haͤtteſt unſern Abzug ſehen ſollen! Er wuͤrde
dir gewiß mitleidige Thraͤnen abgepreßt haben. Meine Frau
hatte ihr juͤngſtes, das damals zehn Jahr alt war, bey der
Hand; und zween andre faßten ihren Rock an um ſie zu hal-
ten, oder mit fortgezogen zu werden; zween andre ſchrien
ihr nach und fleheten, ſie moͤgte ſie doch mitnehmen, wohin
ſie auch gienge. Ich eilte mit meinem aͤlteſten, um nicht von
den Gerichtsbedienten aus dem Hauſe gewieſen zu werden,
durch die Seitenthuͤr in den Garten, und ohne mich umzu-
ſehen, fort. Keiner von uns hatte einmal daran gedacht,
das letzte Brodt, was uns noch uͤbrig geblieben war, mitzu-
nehmen. Ich weiß nicht, ob du dich noch unſers alten Truͤ-
warts erinnerſt? das arme Thier! ich werde es Zeitlebens
nicht vergeſſen. Vor Alter blind und entkraͤftet konnte er uns
kaum nachfolgen. Zittern kroch er uns bis zu dem Stachel-
beerenbuſche nach, der wie du weißt, bey der Thuͤre nach
der Wieſe ſtand, und wo er ſich ſonſt zu ſonnen pflegte. Hier
legte er ſich nieder. Wir andern giengen fort, ich rief ihm,
er wedelte mit dem Schwanze ohne aufzuſtehen; ich lockte ihn
und ſchrie Truͤwart, Truͤwart; er heulte noch einmal und
ſtarb. Auch ich haͤtte mein Grab bey ihm finden koͤnnen;
aber es gefiel Gott, mein Leben fuͤr meine Kinder zu
friſten.


Möſers patr. Phantaſ.II.Th. QHier
[242]Der Verkauf der Frucht auf dem Halme

Hier machte der Alte eine Pauſe und ſahe ſeinem Freunde
ins Auge das von Thraͤnen uͤberfloß. Fuͤr ihn ſelbſt war die-
ſes eine Geſchichte die er ſchon ſehr oft uͤberdacht hatte. Eine
einzige Thraͤne entfiel ſeinem Auge und er fuhr fort.....


Es kan dieſes noch fortgeſetzt werden. Der Stof dazu
liegt in the men of Feelings. Vorerſt aber wollen wir hier
abbrechen, nachdem der Held Truͤwart geſtorben. Ich meine,
daß dieſes der erſte Hund ſey, mit dem ſich ein Trauerſpiel
geendiget hat. Es iſt aber auch ein ländliches Trauerſpiel.



XXXI.
Der Verkauf der Frucht auf dem Halme
iſt eher zu beguͤnſtigen als einzuſchraͤnken.


Es wird im Stifte Oßnabruͤck jaͤhrlich viele Saat auf dem
Felde, oder vieles Korn auf dem Halme verkaufe; ei-
nige ſaͤen mit Fleiß mehr aus, wie ſie zu erndten gedenken,
und ſuchen hernach ihren Vortheil in dem Verkauf der gruͤ-
nen Frucht. Andre, welche ſonſt ihrer Einrichtung halber
etwas Ackerbau treiben muͤſten, unterlaſſen dieſen, weil ſie
hiernaͤchſt ſo viel wie ſie gebrauchen auf dem Felde haben koͤn-
nen; und es kan dieſe Art der Wirthſchaft fuͤr beyde Theile
vortheilhaft ſeyn, indem derjenige, der die Pferde hat, gleich-
ſam der Verleger aller derjenigen wird, die keine halten und
anſtatt ihnen taͤglich fuͤr lohn zu dienen, die ganze Ackerbe-
ſtellung auf ſeine Rechnung und Gefahr thut. Geſetzt, ich
wollte einen Acker ſelbſt beſtellen; nun muͤſte ich darauf Acht
geben, daß er recht gepfluͤget, geduͤnget und beſtellet wuͤrde;
ich muͤſte zuſehen, daß mir durch Treiben, Fahren oder
Tre-
[243]iſt eher zu beguͤnſtigen als einzuſchraͤnken.
Treten kein Schade zugefuͤgt wuͤrde; ich muͤſte fuͤr die Ver-
zaͤunung ſorgen laſſen, ich muͤſte Pferde halten, oder von
andern ſo dergleichen halten, abhangen, und uͤberhaupt muͤſte
ich manche Stunde verſchwenden, die ich in meinen Umſtaͤn-
den, und da ich nur ein bisgen Ackerbau haben wuͤrde, beſ-
ſer anwenden koͤnnte. Dafuͤr vermiethe ich mein Land an
einen der ſelbſt Pferde und Geſinde auf den Ackerbau erhaͤlt,
der nicht um einen ſondern um hundert Morgen ſeine Stege
und Wege thut; der ſein ganzes Geſchaͤfte aus dem Landbau
macht .... und kaufe denn hernach vor der Erndte von
dieſem Manne ſo viel Korn auf dem Halme, als ich ge-
brauche und haben will. Dabey ſtehen beyde Theile ſich un-
ſtreitig beſſer, als wenn jeder ſeinen beſondern Ackerbau
haͤtte; und es waͤre eine große Frage: Ob man nicht wohl
thaͤte das ganze Heuerweſen im Lande auf dieſen Fuß zu ſetzen,
mithin ſchlechterdings den Erbgeſeſſenen Unterthanen alles Ver-
heuren ihrer Laͤndereyen zu verbieten, und dafuͤr den Verkauf der
Fruͤchte auf dem Lande zu beguͤnſtigen. Denn dabey daß der
Heuermann, der ſich ein altes Pferd kauft, ſeinen Acker ſelbſt be-
ſtellet, oder von ſeinen Wirthe bey Feyerabenden beſtellen
laͤßt, verliert das Publicum unendlich viel, weil die Beſtel-
lung zu ſchwach iſt; und der rechte Wirth, der drey Viertheil
ſeiner Laͤndereyen an ſeine geringe Nebenwohner verheuret,
wird ſchwach in der Spannung und im Viehſtapel, und ver-
liert nach einer natuͤrlichen Folge den Geiſt ſeines Berufs.
Beſſer waͤre es alſo, wenn der Wirth auf dem Erbe alles ſelbſt
beſtellete, nichts verheurete, und ſeinen Heuerleuten was ſie
gebrauchten auf dem Halme uͤberließe. Der einzige Verluſt
dabey fuͤr die Heuerleute, wuͤrde der Miſt ſeyn, den ſie von
ihrem Viehe und ſonſt erhalten. Allein dieſem koͤnnten ſie
auch wiederum Fuderweiſe an den rechten Wirth verkaufen,
und hernach in dem Werth der Frucht kuͤrzen.


Q 2In-
[244]Der Verkauf der Frucht auf dem Halme

Indeſſen verbieten viele Reichs- und Landesgeſetze den Ver-
kauf der Fruͤchte auf dem Felde, und insbeſondre ſind die
deutſchen Geſetze hierin ſehr von den roͤmiſchen abgegangen,
die nach jenen hoͤhern politiſchen Grundſaͤtzen den Verkauf der
Fruͤchte auf dem Halme voͤllig frey gelaſſen haben. Die hie-
ſige Landesordnung, nachdem ſie ſich erſt auf die in Jahr 1548
aufgerichtete Reformation guter Policey, und ferner auf die
Reichspoliceyordnung von 1557 bezogen, druͤckt ſich daruͤber
folgendergeſtalt aus:

Da Wir mißfaͤllig in Erfahrung bringen, daß ſolchem
heilſamen Geſetzen oͤffentlich zuwider gehandelt, und hin
und wieder das annoch auf dem Felde im Halm ſtehende
Getraide, Winter- und Sommerfrucht, von gewinn-
ſuͤchtigen Leuten mit offenbarer Vervortheilung des Kaͤu-
fers, abgekaufet werde; und dann ſolchem verderblichen
wucherlichen Unweſen laͤnger nicht nachzuſehen iſt; als
ſetzen, ordnen und wollen Wir, daß von nun an alle
dergleichen Kauf und Verkauf auf dem Halme im Felde,
unter den ſchatzpflichtigen Unterthanen, ſo fern ſolcher
nicht unter gerichtlicher Authoritaͤt an den Meiſtbieten-
den geſchieht, gaͤnzlich aufgehoben; der Verkaͤufer an den-
ſelben nicht gehalten, vielmehr ein ſolcher Contrakt null
und nichtig, und der Kaͤufer die Hauptſumme zu repe-
tiren nicht befugt, ſondern derſelben gaͤnzlich verluſtig
ſeyn ſolle.

Einige ſind der Meinung, daß dieſe Verordnung weiter
als die Reichsgeſetze, welche den Verkauf auf den Schlag und
gemeinen Kauf, was das Getraide zur Zeit des Contrakts
oder 14 Tage nach der Erndte gelten wird, erlauben, mit-
hin nach der Meinung der vernuͤnftigſten Rechtsgelehrten,
blos den wucherlichen Contrakt verbieten, ſich erſtrecke,
und
[245]iſt eher zu beguͤnſtigen als einzuſch raͤnken.
und ſchlechterdings allen auſſergerichtlichen Verkauf der Frucht
im Felde verbiete. Da aber in der That


  • 1) Der Verkauf der Frucht auf dem Felde nach obigen
    Grundſaͤtzen eine Beguͤnſtigung verdienet; da
  • 2) Er bey uns ein gewoͤhnlicher oͤffentlicher Handel iſt, der
    vor und nach jener Verordnung beſtaͤndig geſchehen; da
  • 3) Der Eingang der Verordnung zeigt, daß man blos
    dem unerlaubten Wucher, wobey der arme Verkaͤufer, der aus
    Noth losſchlaͤgt, uͤberraſchet wird, ſteuren wollen; da
  • 4) Wenn jeder ſolcher Verkauf gerichtlich und meiſtbietend
    geſchehen ſollte, die Diaͤten und Sporteln den armen Ver-
    kaͤufer mehr wie der haͤrteſte Glaͤubiger beſchweren wuͤrden:
    ſo darf man billig dafuͤr halten, daß der Sinn dieſer Ver-
    ordnung blos auf die wucherlichen, und uͤberhaupt auf alle
    ſolche Contrakte gehe, wo nach des Richters und der Chur-
    genoſſen Ermeſſen fuͤr die Frucht zu wenig bezahlet worden;
    daß aber dieſe Einrede von Seiten des Verkaͤufers nicht gemacht
    werden ſolle, wenn der Verkauf gerichtlich und mehrſtbietend
    vorgenommen worden. Wenigſtens haben alle Reichs- und
    Landgeſetze in Deutſchland von gleichen Inhalt, dieſe Ausle-
    gung geſtattet, und wenn ſie gleich zu einer Zeit, wo der
    Wucher hoch geſtiegen war, ſich hart und ſtrenge ausgedruͤckt,
    um einen gegenwaͤrtigen Uebel zu ſteuren; dennoch in der
    Folge der natuͤrlichen Freyheit des Handels, dem Willen der
    Contrahenten, und dem wahren gemeinen Nutzen dieſe Er-
    weiterung nachgegeben.

Eine authentiſche Erklaͤrung hieruͤber wuͤrde jedoch allen
Zweifel am beſten abhelfen. Es iſt gefaͤhrlich Geſetze zu ha-
ben, die wenn man einem uͤbel will, ſofort der Rache die
Q 3Hand
[246]Alſo ſollte man die Geimeinſchaft der Guͤter
Hand bieten; und es ſchwaͤcht das Anſehen andrer Geſetze,
wenn man einem oͤffentlich zuwider lebet, und ohnerachtet
der Verkauf aller Fruͤchte auf dem Lande verboten zu ſeyn
ſcheinet, dennoch ſolchen alle Tage vor Augen ſieht, und es
oft ſelbſt von Gerichtswegen einem verſchuldeten Eigenbehoͤri-
gen erlaubt, zu Befriedigung ſeiner unbewilligten Glaͤubiger
einen Beſtimmten Theil ſeiner Fruͤchte auf dem Lande zu ver-
kaufen, und das Geld dafuͤr dem Gerichte oder dem Ver-
walter einzuliefern.



XXXII.
Alſo ſollte man die Gemeinſchaft der
Guͤter unter den Landleuten
nicht aufheben.


In den wenigen Jahren daß ich mein Richteramt bekleidet,
ſagte neulich ein Richter, ſind mir jetzt 73 Faͤlle vor-
gekommen, worinn die Weiber der geringen Heuerleute auf
dem Lande, ſich ihres ſogenannten Frauenrechts bedient, und
wenn ihre Maͤnner gepfaͤndet worden, ſich den Glaͤubigern
unter dem Vorwande widerſetzt haben, daß die gepfaͤndeten
Sachen ihnen zugehoͤrten, oder von ihnen bey der Heyrath
eingebracht worden.


Allein ſo groß ihr Recht ſeyn mogte: ſo ſchwer war alle-
mal der Beweis, und wenn er auch durch Zeugen nur ſum-
mariſch gefuͤhret wurde: ſo war es doch nimmer moͤglich das
Verfahren hieruͤber ſo kurz und wohlfeil einzurichten, daß nicht
am Ende die gepfaͤndeten Sachen mit den Gerichtskoſten auf-
gien-
[247]unter dem Landleuten nicht aufheben.
giengen. Der erbitterte Glaͤubiger hatte insgemein Land-
und Hausheuer zu fordern; er hatte das eingebrachte Gut als
ſeine geſetzmaͤßige Sicherheit angeſehn; und wie er dieſes mit
guten Glauben und redlichem Eyfer verfolgte: ſo konnte man
ihn nicht ſofort als einen andern frevelmuͤthigen Klaͤger ab-
weiſen, auch ſelten in die Koſten verdammen. Die Frau
hingegen, welche als Magd hier ein Oberbette, dort einen
Pfuͤhl verdient, bald eine Kuh mitgebracht, bald eine andre
dafuͤr getauſcht, oder von den Ihrigen gekauft zu haben be-
hauptete, und uͤber alle dieſe Umſtaͤnde Zeugen und Beweis
fuͤhren wollte, konnte auch nicht ſo gleich zuruͤck gewieſeu werden;
und ſo muſte man nothwendig ein zulaͤngliches obgleich noch ſo
kurzes Verfahren verſtatten, deſſen Erfolg allemal dieſer
war, daß Bette, Pfuͤhl und Kuh mit den Koſten auf-
giengen.


Wie traurig iſt es aber nicht fuͤr einen redlichen und em-
pfindlichen Mann das immerwaͤhrende Inſtrument zu dieſem
Ungluͤck zu ſeyn? und unter dem Fluchen des Glaͤubigers und
dem Heulen der Frauen die elenden Gebuͤhren anzunehmen,
die man da ſie geſetzmaͤßig und den Richtern zu ihrem einzigen
Gehalte angewieſen ſind, doch ſo wenig fuͤr ſich, als diejeni-
gen ſo daran Antheil haben, verſchenken kan. In keinem
Stuͤcke hat die Praxis, welche ſeit dreyßig Jahren die Ge-
meinſchaft der Guͤter unter freyen Leuten auf dem platten
Lande aufgehoben, gottloſer gehandelt als in dieſem. Das
redliche deutſche Recht hatte die Gemeinſchaft der Guͤter unter
Eheleuten eingefuͤhrt. Das Wohl des Staats will, daß die
geringen Leute Credit fuͤr Land- und Hausheuer bis zur Ver-
fallzeit finden, weil ſie ſelten vorauf bezahlen koͤnnen; die
Erfahrung zeigt, daß das roͤmiſche Recht, was in der Haupt-
ſtadt der Welt fuͤrtreflich war, ſich fuͤr ſo geringe Leute nicht
ſchicke, weil der Beweis zu viel Koſten erfordert; und doch
Q 4hat
[248]Alſo ſollte man die roͤmiſch. Stipulationen
hat die Proceßſuͤchtige Praxis hier einen Abſprung gewagt,
der um ſo viel unnoͤthiger iſt, da es jedem, der es die Muͤhe
werth achtet, ohnehin frey ſteht, die Gemeinſchaft vor der
Ehe auszuſchließen, und des Eingebrachten halber die noͤthige
Vorſicht zu nehmen.


Allein der Richter kan hier, nachdem die Gewohnheit zum
Geſetze geworden, nichts aͤndern. Der Geſetzgeber muß es
thun.



XXXIII.
Alſo ſollte man die roͤmiſchen Stipulatio-
nen wieder einfuͤhren.


Es geht mir recht uͤbel in der Welt; ich habe einem gewiſ-
ſen Frauenzimmer, mit dem ich etwas zu vertrauet
wurde, in aller Geſchwindigkeit die Ehezugefluͤſtert, und nun
bin ich deshalb gerichtlich belangt. Einem Herrn, der mich
zu einer Mahlzeit begehret, und ſehr viele Hoͤflichkeit erwie-
ſen, habe ich tauſend Thaler zu leihen verſprochen; und er
droht mich mit einer Klage, wenn ich nicht Wort halte.
Noch habe ich jemanden zugeſagt, daß ich ihm mein Haus
vor einem andern vermiethen wollte, ſo bald es ledig wuͤrde;
und ich bin wuͤrklich vom Richter verdammt mein Wort zu
halten; iſt das nicht grauſam? und ſollten die Geſetze dieſes
geſtatten?


Die Roͤmer, dieſes kluge Volck, das die Welt kannte,
und wuſte was Complimente waren, machten einen Unter-
ſcheid unter bloße Verſprechungen, und unter ſolche, welche
auf-
[249]wieder einfuͤhren.
auf eine gewiſſe ſeyrliche Art und mittelſt einer vorgeſchrie-
benen Formel geſchehen waren. Die erſtern hielten ſie fuͤr
dasjenige was ſie waren, nemlich fuͤr Complimente, und
wenn einer darum klagen wollte: ſo wieſen ſie ihn gleich von
der Gerichtsſchwelle weg. Nur die letztern waren unter
ihnen bedachtſame und kraͤftige Verſprechungen. Die alten
Deutſchen waren gleicher Meinung, obwohl auf eine andre
Art. Sie hielten nemlich alle Zuſagen, welche des Nach-
mittags oder auch vielleicht wohl Vormittages uͤber geſchehen,
fuͤr unkraͤftig, wenn ſie nicht des andern Tages noch einmal
wiederholet wuͤrden; a) und der Narr, der zuerſt das Sprich-
wort; ein Mann ein Mann, ein Wort ein Wort, ſo aus-
gelegt hat, daß ein ehrlicher Mann ſein erſtes Wort nicht
wiederrufen koͤnne, hat mehr Ungluͤck angeſtiftet, als man
glauben ſollte. Denn wie viele koſtbare Proceſſe ſind nicht
ſeitdem uͤber bloße Verſprechungen, die in einem unuͤberlegten
Augenblick, in der Hitze einer Leidenſchaft, oder aus Hoͤflich-
keit geſchehen, gefuͤhret; wie viel falſche Eyde ſind nicht dar-
uͤber geſchworen, und wie mancher ehrlicher Kerl iſt daruͤber
nicht an eine ſchlechte Frau gefeſſelt worden?


Warum haben wir neuern nun aber jene ebne Bahn ver-
laſſen? warum halten wir jedes Verſprechen ſogleich fuͤr
buͤndig? und was hat uns in aller Welt bewogen zu glauben,
das uns eine Handlung weniger gereuen koͤnne als unſern
Vorfahren? In der That, ich weiß keine Urſache anzugeben.
Die einzige ſo mir beyfaͤllt, iſt der Begriff einer Romanti-
ſchen Ehre, der uns noch aus den Ritterzeiten uͤbrig iſt, der
ſich aber zu buͤrgerlichen Handlungen gar nicht ſchickt. Der
Q 5ge-
[250]Alſo ſollte man die roͤmiſch. Stipulationen
geſunden Vernunft, ſo wie den vorangefuͤhrten roͤmiſchen und
deutſchen Grundſaͤtzen nach, ſollte es keinem ehrlichen Mann
zum Schimpf ſondern vielmehr zum Ruhm gereichen, daß
er ein Verſprechen was er nicht mit Bedacht gethan, binnen
24 Stunden wieder zuruͤck nimmt. Dies iſt der menſchlichen
Natur gemaͤß, und wer geſtehen muß, daß er fehlen kan,
muß ſich auch nicht der Reue ſchaͤmen duͤrfen.


Wenn zu einem bloßen Eheverſprechen, in ſolchen Laͤndern,
wo dergleichen fuͤr guͤltig gehalten wird, durchaus erfordert
wuͤrde, daß beyde Theile vorher ein lautes Gebet thun muͤ-
ſten und daß folglich keine Klage und kein Eydesantrag zuge-
laſſen wuͤrde, worinn nicht, daß dieſes Gebet mit allen
Buchſtaben laut ausgeſprochen worden, articuliret waͤre; ſo
wuͤrde ich jetzt zu meiner vermeinten Braut mit Wahrheit
ſagen koͤnnen: Salva Madame utriusque temporis ratio eſt.
Und wer weiß, ob ich und meine Schoͤne nicht beyde vor-
ſichtiger geworden ſeyn wuͤrden, wenn wir uͤber das Ehever-
ſprechen nicht ſo geſchwind haͤtten weghutſchen duͤrfen?


Wenn zum Verſprechen eines Anlehns erfordert wuͤrde,
daß man es dreymal mit entbloͤßeten Haupte und aufgereckter
Hand wiederholt haben muͤſte: ſo haͤtte ich mein Glas bey
dem vornehmen Herrn niedergeſetzt, und wohl eine Gelegen-
heit gefunden zur Thuͤr hinaus zu kommen.


Und wenn endlich das Compliment wegen der Hausmiethe
nicht anders fuͤr rechtsbeſtaͤndig erklaͤret werden koͤnnte, als
wenn ich es des andern Morgens nochmals wiederholt haͤtte:
ſo wuͤrde ich mich gewiß in Acht genommen haben, dem gu-
ten Freunde, mit dem ich jetzt daruͤber proceſſe, zu begegnen.


Oder noch kuͤrzer, wenn zu allen bloßen Verſprechungen
ein Stempelboge erfordert wuͤrde: ſo brauchte man ſich nur
zu
[251]wieder einfuͤhren.
zu huͤten, mit einem Frauenzimmer zu genau bekannt zu wer-
den, was ſeinen Stempelbogen allezeit bey ſich fuͤhrte. Die
Stipulationen bey den Roͤmern waren in der That geſtempelte
Verſprechen, und die Rechtsgelehrten, welche dieſes nicht
finden koͤnnen, werden noch lange den Begriff, welchen ſie
uns von einem nudo pactis geben, vergeblich nachjagen.


Zum Beſchluß erſuche ich Sie, mein Herr! dieſes oͤffent-
lich bekannt zu machen, damit die Obrigkeit Anlaß nehme,
alle bloße Verſprechungen, welche nicht auf eine ſichere, feyr-
liche und vorgeſchriebene Art geſchehen, zum beſten der ar-
men Suͤnder fuͤr unguͤltig zu erklaͤren, und den Weg einzu-
ſchlagen, welchen die Kenntniß der menſchlichen Schwachheit
unſern ehrwuͤrdigen Vorfahren ſo richtig gezeigt hatte.


Ich bin mit dreymaliger Handtaſtung.



XXXIV.
Schreiben uͤber die Cultur der Induſtrie.


Sie wollen eine Fabrik anlegen, und dieſes unter den Au-
gen einer neugierigen und fuͤrwitzigen Menge! O ſpa-
ren Sie doch ihr Geld und ihre Geſundheit! Wer in der-
gleichen Unternehmungen gluͤcklich ſeyn will, muß keine Auf-
merkſamkeit, keinen Fuͤrwitz, erwecken. Er muß lange in
dunkler Stille-arbeiten, viele vergebliche Verſuche, viele
falſche Unkoſten, und manchen heimlichen Verdruß ausdauren,
ehe er die Blendungen fortreiſſen und ſein neues Gebaͤude oͤf-
fentlich zeigen darf. Thut er dieſes nicht: ſo wird er ein
Maͤrtyrer ſeiner Empfindlichkeit; die Eitelkeit dieſes allge-
mei-
[252]Schreiben uͤber die Cultur der Induſtrie.
meine Ingredienz unſrer Handlungen fuͤhrt ihn von dem
muͤhſamen Wege auf den geſchwindern, von dem richtigen auf
den glaͤnzenden, und — kurz er ahmet denen fabricirenden
Fuͤrſten oder ihren jungen Cammerraͤthen nach, die das ge-
ſchwinde und laute Lob der leichtfertigen und ſchmeichelnden
Menge dem ſtillen Segen der Nachwelt vorziehen; die eine
Fabrik zur Zeit der Fruͤhlingsſaat anlegen, und in vierzehn Wo-
chen die Gerſte aus dem Sacke und wieder darinn haben wollen.


Ich erinnere mich immer mit Vergnuͤgen der Frau, die
ein Soldat aus Braband mit ſich brachte. Sie machte die
ſchoͤnſten Spitzen und hatte zwey kleine Kinder, denen ſie
nichts anders und auch nichts beſſers zu lernen wuſte. Die
Nachbars Toͤchter in dem deutſchen Dorfe, wo ſie ſich nie-
derließ, ſahen es anfaͤnglich mit Verwunderung an, und
wuͤnſchten ihren Geſpielinnen gleich zu kommen. Ihre Muͤt-
ter ſchickten ſie endlich zu ihr in die Schule, und in Zeit von
dreyßig Jahren waren alle Muͤtter des Dorfs ſchon wieder
Klopplerinnen, die ihre Kinder zu gleicher Arbeit gewoͤhnten.
Jetzt werden daſelbſt die ſchoͤnſten brabandiſchen Spitzen ge-
macht, und dieſes iſt meiner Meynung nach, die wahre Art den
Geiſt der Fabrik zu verpflanzen. Wo iſt aber der große Herr, der
die Gedult hat, ſo lange auf den Erfolg ſeinen Anſtalten zu
warten?


Glauben Sie aber nicht, daß ich dergleichen fuͤrſtliche Un-
ternehmungen tadle. Nein, ich lobe ſie, weil von den Truͤm-
mern ihrer Anſtalten insgemein noch etwas zuruͤck bleibt, was
nach langen Jahren wiederum zu einem neuen Gebaͤude ver-
ſammlet wird; allein ein Privatmann kan auf dieſe Art nicht
verfahren. Jener kan auf eine ruͤhmliche Art bey ſolchen Un-
ternehmungen verlieren, ja er ſollte billig allezeit verlieren,
weil es ſeine Sache nicht iſt durch Fabriken zu gewinnen.
Allein
[253]Schreiben uͤber die Cultur der Induſtrie.
Allein dieſer ſchadet ſich und ſchreckt anderen von aͤhnlichen
Unternehmungen ab, wenn er Sachen mit dem Scheine des
beſten Eyfers anfaͤngt und dennoch dabey zu Grunde geht.
Hat dieſer es nicht zu Stande gebracht, ſagt die unerfahrne
Menge, wer wird es dann wagen duͤrfen?


Ueberhaupt aber muß ich Ihnen ſagen, iſt es ein wunder-
liches Ding mit Verpflanzung der Fabriken. Unſre alten
Linnenhaͤndler ſagen: ſie wollen es jedem Stuͤcke Linnen an-
ſehen, in welchem Dorfe es gemacht iſt; ja ich habe einen
Garnhaͤndler gekannt, der einige hunderttauſend Stuͤck Garn
des Jahrs verſandte, und die Hand der Familie, welche es
geſponnen hatte, eben ſo gut zu unterſcheiden wuſte, als
man die Schrift eines Menſchen von des andern unterſchei-
den kan. Der Aufſeher uͤber eine Gallerie von Gemaͤhlden,
der die Werke von hundert Meiſtern zu unterſcheiden weiß,
war ein Kind gegen den Garnhaͤndler. Jeder Ort hat alſo
eben ſo etwas eigenthuͤmliches in ſeinen Arbeiten, als in ſei-
nem Biere, welches von andern nicht leicht nachgeahmet und
nachgemacht werden kan. Vielleicht hat die goͤttliche Vorſe-
hung auch hierinn ihre Weißheit zeigen und nicht zugeben
wollen, daß ein Land ſich allein alle Kuͤnſte zueignen ſollen.
Dem ſey aber wie ihm wolle, es moͤge das Original von an-
dern Laͤndern nachgeahmt oder aber durch die Nachahmung
eine neue Art von Originalen hervorgebracht werden koͤnnen:
ſo glaube ich doch, daß eine lange und muͤhſame Vorbereitung
dazu erfordert werde, um eine neue Fabrike mit Vortheil an-
zulegen; ja daß die Erziehung der Kinder, ſo wohl dem
Geiſte als dem Koͤrper nach dazu eingerichtet ſeyn, und
Gewohnheit, Sittenlehre, Vorurtheile, Exempel und
viele andre Umſtaͤnde zu dem gluͤcklichen und dauerhaften
Fortgange derſelben mitwuͤrken muͤſſen. Was fuͤr Muͤhe
wandte Nicolini nicht an, um Kinder zur Pantomime zu bil-
den?
[254]Schreiben uͤber die Cultur der Induſtrie.
den? Was iſt dieſelbe aber in Vergleichung des ſtarken Exem-
pels, des beſtaͤndigen Anfuͤhrens, und der unaufhoͤrlichen Ver-
ſuche, wodurch Kinder in den Nehnadelnfabriken zu der ihnen
eignen Fertigkeit gebracht werden? Jene faͤllt freylich mehr in
die Augen; aber dieſe iſt unbemerkt unendlich. Wie viel
heimlicher Einfluß muß auf die Kinder wuͤrken, welche zu
Guͤtersloh von ihrer zarteſten Jugend an das Garn zu den
brabandiſchen Spitzen ſpinnen? Wie viel eigenthuͤmliche Hand-
griffe muß das Dorf Brothagen im Ravensbergiſchen haben,
welches das Flachs dazu bereitet, da es ihm kein ander Dorf
hierinn gleich thun kan? Was fuͤr eine eigenthuͤmliche Beſchaf-
fenheit muß der Boden um dieſes Dorf haben, da auch der
Hanfſaame, welcher dort faͤllt, und hier von Kennern um ein
Drittel hoͤher als der Zwolliſche bezahlet wird, einen Hanf
liefert, der unendlich feiner und ſeidenhafter verarbeitet wer-
den kan, als aller uͤbriger? Was fuͤr ein fruͤher und ſtarker
Eindruck gehoͤrt dazu, um den Wollenſpinnern jeden Unter-
ſchleif mit der Wolle als die groͤßte Suͤnde einzubilden? Wie
fruͤh wird das Ohr des kuͤnftigen Virtuoſen gewehnt? welch
eine Reihe von Jahren arbeitet er, um ſeine Finger, ſeinen
Arm und ſein ganzes Gefuͤhl zu bilden? Wie anhaltend ſind
ſeine Bemuͤhungen? und wenn ſolche fruͤhe, ſtarke und große
Studien dazu erfordert werden, um geſchickte Leute in jeder
Kunſt zu bilden? Wenn der Einfluß ſo vieler Exempel, wenn
eine beſtaͤndige Gewohnheit, wenn eine ordentlich darauf ein-
gerichtete Sittenlehre noͤthig iſt, um dieſe Nation mit Luſt
auf die See und jene ſingend in die Bergwerke zu fuͤhren.
Ja wenn man dem Volke, was zu einer beſondern Art von
Arbeiten auf Zeit Lebens gewidmet bleiben ſoll, mit Huͤlfe der
Erziehung gleichſam alle andre Sinnen nehmen, und ihm nur
den einzigen, den es gebraucht, laſſen muß, um es zu einem
beſtaͤndigen Sclaven ſeines einzigen Berufs zu machen, um
ihm
[255]Schreiben uͤber die Cultur der Induſtrie.
ihm die Geſchicklichkeit, die Luſt und die Kraͤfte zu benehmen,
jemals ein ander Handwerk ergreifen zu koͤnnen, und um es
ſolchergeſtalt zu zwingen, ewig in ſeinen Feſſeln zu bleiben.
Wie darf man denn von neuen Fabriken, an Orten, wo ſolche
gar nicht zu Hauſe ſind, wo noch keiner durch Erziehung, Ge-
wohnheit und Noth gezwungen iſt, Arbeit bey der Fabrik zu
betteln, wo die ganze Denkungsart der Einwohner noch nicht
dazu gewoͤhnt iſt, alles auf den großen Punkt zu leiten; wie
darf man hier ſage ich, das erwarten, das leiſten und das un-
ternehmen, was an andern Orten, wo alle obige Vortheile
den Fabrikanten zu ſtatten kommen, ſchon langſt vorbereitet
iſt, und nur auf die Hand eines Verlegers wartet.


Glauben Sie aber nicht, mein wertheſter! daß ich Sie
dadurch von ihrer Unternehmung abſchrecken wolle. Meine
abſicht geht blos dahin, Sie fuͤr dem Fehler unſer heutigen
Fabrikanten zu warnen, die insgemein mit einem praͤchtigen
Gebaͤude den Anfang machen, und ehe es fertig, ſchon halb
ermuͤdet ſind; die alles ſogleich mit fremden Haͤnden und
vollem Lohne zwingen wollen; und die Jahre nicht erwarten
koͤnnen, worinn der ausgeſtreuete Saame an ihrem Orte kei-
men, aufgehen und zur Reife gelangen kan. Nur alsdann
erſt wenn einheimiſche Kinder unter der Anfuͤhrung von Frem-
den gebildet; und dieſe Kinder erſt wiederum ihre eigne Kin-
der gezogen haben; wann das neue Geſchlecht nichts anders
geſehen und gelernt und ſich nothduͤrftig vermehret hat; wenn
daſſelbe den Verleger als ſeinen Vater betrachtet, und ſich um
die Wette beeyfert beſſer und wohlfeiler zu arbeiten; wenn
bey ihnen die Arbeit zur Beduͤrfniſſe, der Fleiß zur Erge-
tzung, die Noth zum Zuchtmeiſter geworden iſt; wenn die Er-
naͤhrung der Faullenzer nicht mehr Barmherzigkeit heißt;
und keiner als einer der bey der Fabrik unvermoͤgend gewor-
den iſt, Anſpruch auf Mitleid und Unterſtuͤtzung hat; wenn
die
[256]Schreiben uͤber die Cultur der Induſtrie.
die erlernte Kunſt ſich mit der einheimiſchen Art haus zu hal-
ten erſt voͤllig vereiniget hat, wenn die Weiber und Kinder
alle Zwiſchenraͤume der Haushaltung mit einſchießen; wenn
die Kinder bey ihren fruͤhen Beſchaͤftigungen das ewige Freſ-
ſen vergeſſen, und den Bauch nicht immer zum Schaden des
Kopfs hervortreiben, denn ſtehet ein Verleger auf ſeinnr
Hoͤhe, regiert ſein Volk, und bezwingt die reichſten Staaten
mit fleißiger Armuth. Denn kan er eine Fabrik auf die an-
dre impfen, vom leichtern zum ſchweren uͤbergehen, und die
rohe Waare, welche in einer Art von Fabrik immer noch mit
einigen Schaden genutzt wird, in mehrern mit allen moͤg-
lichen Vortheilen gebrauchen.


Uebereilen Sie ſich alſo nicht in der erſten Anlage; legen
ſie den Grund dauerhaft und langſam; fahren ſie ſtille und
unbemerkt fort, und erwarten den Erfolg ihrer Bemuͤhun-
gen nicht eher, als bis er ſich nach dem ordentlichen Laufe der
Sachen darbietet.



XXXV.
Beantwortung der Frage: Was muß die
erſte Sorge zur Bereicherung eines Lan-
des ſeyn? Die Verbeſſerung der Land-
wirthſchaft? oder die Bevoͤlkerung des
Landes? oder die Ausbreitung der Hand-
lung? Womit muß der Anfang gemachet
werden?


Sie ſollten jetzt nach C. kommen; wie hat ſich der Ort
veraͤndert! Vor dreyßig Jahren war es das armſe-
ligſte Landſtaͤdten das man nur ſehen konnte, von Miſthan-
fen
[257]Beantwortung der Frage: Was muß ꝛc.
fen und Huͤtten zuſammengeſetzt. Der Morgen Landes
konnte damals des Jahrs nicht 6 mgr. zur Heuer thun, und
Ochſe, Einwohner und Pferd kroͤpelten das ganze Jahr auf
der umher liegenden großen Heyde herum, um die duͤrre Narbe
davon ab und in die Viehſtelle zu fahren. Man konnte in
einiger Entfernung ganze Felder beynahe umſonſt haben, we-
nigſtens lag ein großer Theil verlaſſen und verwildert.


Was das ſchlimmſte dabey war; ſo zogen die Einwohner
ihre Kinder nur fuͤr Fremde auf. So bald ein Maͤdgen nur
eben dienen konnte, floh es zur Hauptſtadt, und die Soͤhne
giengen in alle Welt, ſo daß in vierzig Jahren gar keine neue
Wohnſtaͤtte angelegt, verſchiedene alte aber eingegangen wa-
ren. Das Korn, was dort wuchs, muſte, wenn die Einwoh-
ner etwas zum Abſatze uͤbrig hatten, weit zu Markte gefah-
ren werden, und dazu war das Heydefuhrwerk zu ſchwach;
folglich bauten ſie ſelten mehr als ſie ſelbſt noͤthig hatten, und
was allenfals uͤbrig war, wurde unnoͤthiger Weiſe verfuttert,
oder zu Brandtewein verkocht. So war dieſes Staͤdtgen be-
ſchaffen, wie ich vor dreyßig Jahren durchreiſete, und weil
ich etwas an meinem Wagen zerbrochen hatte, mich einen
ganzen langen Tag dort verweilen mußte.


Wie groß war aber nicht meine Verwunderung, als ich vor
einem halben Jahre wieder dahin kam, und in der Stadt eine
Menge der ſchoͤnſten Haͤuſer, ringsherum aber eine bluͤhende
Flur entdeckte. Wie, ſagte ich zu meinem Freunde, den ich
jetzt dort beſuchte, iſt hier ein großer Herr eingezogen, der die
Fantaſie gehabt hat, einige hundert tauſend Thaler in der Heyde
zu verſchwenden? Oder hat der Commiſſarius loci Neubauer
angeſetzt und denſelben die große Heyde ausgetheilet? Oder
iſt ein Philoſoph hier erſchienen, der den Einwohnern die Ver-
beſſerung des Ackerbaues gewieſen hat? Oder hat gar der Graf
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Rvon
[258]Beantwortung der Frage: Was muß
von *** deſſen Viehmaͤgde aus dem Stalle auf die Opern-
buͤhne treten und ſo geſchickt ſpielen als melken koͤnnen, ſeine
Zauberkraft hier bewieſen?


„Ach, antwortete er mir, der großen Herrn, welche auf
dieſe Art ihr Geld verwenden, giebt es in Deutſchland nicht
viel, und wenn auch einer von ihnen jedem Wirthe in unſerm
Staͤdtgen ein neues Ackergeſpann, einen Stall voll Vieh, eine
Schiffsladung Korn, und einen Berg von Kartoffeln geſchenkt
haͤtte: ſo wuͤrde doch nach Verlauf von zehn Jahren alles wie-
der in dem vorigen Zuſtande, die Pferde elend, der Stall
ſchwach, das Korn verzehrt, die Kartoffeln verſchlungen und
unſre Heyde nach wie vor wuͤſte geweſen ſeyn. Mit derglei-
chen ploͤtzlichen Wohlthaten richtet man bey Menſchen von ei-
ner gewiſſen Gewohnheit und einem gewiſſen Alter ſelten et-
was aus. Fleiß und Geſchicklichkeit muͤſſen dem Menſchen
von den erſten Jahren an, angewoͤhnt und zur unumgaͤngli-
chen Beduͤrfniß gemachet werden. Die Neubauer des Herrn
Commiſſarius wuͤrden gelacht haben, wenn er ihnen ein Stuͤck
Heyde zur Urbarmachung angewieſen haͤtte, und die Philo-
ſophen thun genug, wenn ſie die Buchdruckerfabriken in Auf-
nahme bringen; den Fleiß werden ſie nie erwecken, ſo lange
ſie nicht ſelbſt Hand anlegen und durch gluͤckliche Erfolge be-
reden. Von ihrem Grafen ſage ich nichts, als daß er der ein-
zige Mann in ſeiner Art iſt.


„Die ganze gluͤckliche Veraͤnderung iſt einzig und allein ei-
ne Folge des Gewerbes und der Handlung, die zuerſt mein
Vater hieher gezogen, ernaͤhret und zu ihrer jetzigen Hoͤhe
gebracht hat. Dieſer Mann, der eine eigne Religion erfun-
den zu haben glaubte, und eine beſondre Gemeinde zu errich-
ten gedachte, lies ſich zuerſt in der Abſicht hier nieder, um
ſeine Profeßion als Camelotwuͤrker in der Stille zu treiben,
und
[259]die erſte Sorge zur Bereicher. eines Landes ſeyn?
und Gott nach ſeinem Wahne ungeſtoͤrt zu dienen. Den An-
laß dazu gab der Prediger des Orts, der in einen Rufe einer
beſondern Heiligkeit ſtand, und in der That ein Mann war,
an welchem mein Vater in aller Abſicht einen getreuen Ge-
huͤlfen fand. Er bauete ſich zuerſt nur ein kleines Haus,
welches aber doch in ſeiner Einrichtung ſo etwas beſonders
und gefaͤlliges hatte, daß ſich alle Einwohner ein gleiches
wuͤnſchten. In dieſem ſchlug er ſeinen Weberſtuhl auf, und
der Prediger verſchaffete ihm noch einige Kinder aus dem
Orte, die fuͤr ihn ſponnen, und arbeiteten. Dieſen wuſte er
eine ſolche Liebe gegen ſich beyzubringen, daß faſt alles was
in dem Staͤdtgen gebohren wurde, ſich zu ihm draͤngte. Der
Prediger kam taͤglich und unterrichtete ſie bey der Arbeit;
mein Vater ſorgte dafuͤr, daß ſie alle reinlich und auf eine
vorzuͤgliche Art in Camelot gekleidet wurden; und die Eltern,
welche das wahre vom falſchen nicht unterſcheiden konnten,
freueten ſich, ihre Kinder ſo gut aufgehoben zu ſehen. Man-
che Vaͤter ließen ſich bewegen auf die eine oder andre Art bey
der Fabrik zu dienen; und viele Muͤtter hielten es fuͤr ein
Zeichen der Andacht, ſich eben ſo wie ihre Kinder zu kleiden;
ſo daß in der Zeit von zwoͤlf Jahren Kleidung, Phiſionomien,
und Menſchen eine ganz neue Geſtalt und ich mag wohl ſagen,
einen ganz neuen Geiſt erhielten.


„Die Einmuͤthigkeit herrſchte vollkommen in der neuen
Secte, und die Menſchen gefielen ſich mehr und mehr in dem-
jenigen, was den Reiz der Neuigkeit hatte und das Werk
ihrer Erfindung zu ſeyn ſchien. Sie arbeiteten und beteten
und ergoͤtzten ſich auch bisweilen untereinander, und der Ruf
dieſer gluͤcklichen Bruderſchaft zog eine Menge von arbeitſa-
men Schwaͤrmern herbey, die gern fuͤr andre arbeiten aber
fuͤr ſich denken wollten.


R 2„Da-
[260]Beantwortung der Frage: Was muß

„Dabey hatten ſie eine ſo ſichere nnd lebhafte Ueberzeu-
gung von dem Grundſatze: daß alles was betete und arbeite-
te, ſein Brodt haben koͤnnte, daß nach Verlauf von zwanzig
Jahren jeder junger Einwohner mit einer Zuverſicht heyra-
thete, dergleichen andre nicht bey großen Einkuͤnften haben.
Voll von den Gedanken, daß ihre Redlichkeit und Geſchick-
lichkeit ihnen bey ihren Mitbruͤdern ſo viel Credit verſchaffen
wuͤrde, als ſie zur Ausfuͤhrung ihrer Unternehmungen im-
mer mehr gebrauchten, fiel es ihnen nicht einmal ein, an dem
Fortgange derſelben zu zweifeln. Ihre Meynung in Glau-
bensſachen war alſo gleichſam eine Art von Vermoͤgen, welche
dem Landeigenthum oder einer andern Hypothek gleich geſetzer
werden konnte, und ſchwerlich hat je eine Gemeine auf ihre
Beſitzungen ſo vielen Credit gehabt als die Secte auf ihre
Deukungsart erhielt.


„Nun brauche ich ihnen nichts mehr zu ſagen. Sie wer-
den es aber leicht von ſelbſt einſehen, wie auf dieſe Weiſe nach
und nach die Menge von ſchoͤnen Haͤuſern gebauet; vieles
Feldland in Gartenland verwandelt, ein guter Theil der Heyde
zu Kornfeldern und Wieſen gemacht; das Korn zu einem bil-
ligen Preiſe gehoben, der Ackersmann aufgemuntert, das
Spannwerk verbeſſert und der Viehſtapel vermehret worden.
Alles dieſes folgte unvermerkt von ſelbſt, und der Morgen
Landes der vor dreyßig Jahren 15 Thaler galt, wird jetzt zu
150 verkauſt. Die Stadt hat alſo den Werth ihrer Gruͤnde
zehnmal vermehrt, und ſolche gewiß fuͤnfmal vergroͤßert, ſo
daß ſie jetzt funfzigmal ſo viel beſitzt als vor dreyßig Jahren.
Vor Zeiten konnte man die Milch nicht verkaufen, und man
hielt deswegen nicht mehr Kuͤhe als man um des Miſtes wil-
len zur aͤußerſten Noth gebrauchte. Jetzt lebt mancher ge-
ringer Menſch blos von einigen Kuͤhen und ihrer Milch; ſo
ſehr hat ſich alles durch die Handlung verbeſſert.


„Das
[261]die erſte Sorge zur Bereicher. eines Landes ſeyn?

„Das iſt aber doch noch das geringſte. Geſetzt, das eigne
Vermoͤgen ſaͤmtlicher Einwohner laufe auf eine Million Thaler-
ſo iſt ihr Credit auf zehn Millionen; und weil fuͤnf Thaler
Credit eben ſo gut ſind als fuͤnf Thaler baar Geld, das Ver-
haͤltniß ihres erſten Zuſtandes zu dem gegenwaͤrtigen, wie
1 — 500.„


Mein Freund, der in ſeiner politiſchen Rechnung ferti-
ger als ich war, und mit Huͤlfe eines Credits von 10 Millio-
nen, nach der Methode des beruͤhmten Pintoa) ſeiner guten
Vaterſtadt leicht einen neuen Credit von hundert Millionen
verſchaffet, folgends ihren Werth ins unendliche erhoben ha-
ben wuͤrde, war in Begriff weiter fortzufahren als ich ihm die
Frage vorlegte: Ob der jetzige Credit der Stadt mit oder
ohne der beſondern Glaubenslehre ſeines Vaters beſtuͤnde?


Ja, ſagte er, ſie beſteht nicht allein vollkommtn ohne der-
ſelben, ſondern wuͤrde auch ohne Zweifel ſo entſtanden ſeyn,
wenn wir als rechtſchaffene Chriſten uns zu loͤblichen Endzwe-
cken vereinigten und Geringe und Niedrige in der Gemeine
ſich das allgemeine Beſte mit Eyfer zu Herzen naͤhmen. Der
wahre Grund unſrer Aufnahme liegt darin, daß ein Mann,
der noch zur Zeit nichts als ſeine Redlichkeit und Geſchick-
lichkeit beſitzt, auf dieſe beyden Hypotheken ſo viel Credit
finde als er gebraucht.


Es finden ſich unzaͤhlige Leute im Staate, die Redlichkeit
und Geſchicklichkeit beſitzen. Beyde Tugenden liegen aber
wie unſre Heyden brache und ungenutzt, weil ihre Beſitzer
[ni]cht das Vermoͤgen haben ſie urbar zu machen. Blos die
Religion oder eine moraliſche Vereinigung der menſchlichen
R 3Ge-
[262]Beantwortung der Frage: Was muß
Gemuͤther kan hier aushelfen. Der Reiche muß dem Armen
ſo nahe kommen, daß er ihm voͤllig ins Herz, und dort ſeine
Sicherheit ſehen kan; alle Grundſaͤtze der Religion und der
Sittenlehre, welche dem Credit zu ſtatten kommen, muͤſſen
auf das lebhafteſte gefuͤhlt und in dauerhafter Uebung ſeyn.
Die Geiſtlichen, welchen wuͤrklich die Vorſorge fuͤr ein groͤßer
Theil unſrer zeitlichen Gluͤckſeligkeit obliegen ſollte, als man
ihnen insgemein goͤnnet, muͤſſen die einzelnen Glieder ihrer
Gemeine beſtaͤndig in einem ſolchen Lichte erhalten, daß einer
dem andern ſein Vermoͤgen ohne Handſchrift vertrauen kan,
wie ſolches unter den großen Kaufleuten beſtaͤndig geſchieht.
Auf ſolche Art koͤnnen alle Mitglieder des Staats, ohne eigne
Gelder zu haben, nuͤtzliche Unternehmungen anfangen, und
zu jeder Zeit Huͤlfe finden. Geſundheit, Fleiß und Redlich-
keit machen das groͤßte Capital des menſchlichen Geſchlechts
aus; alles Gold und Silber in der Welt reichet ſo wenig daran
als das baare Geld an den geſamten Credit reicht; und
jedes Mitglied des Staats das in den Stand geſetzt wird,
jenes Capital zu nutzen, iſt ein groͤßer Gewinnſt fuͤr denſelben,
als ein bemittelter Verſchwender, der durch Tittel und Be-
dienungen ins Land gezogen wird. Allein unter den ſtroͤher-
nen Banden, welche die menſchliche Geſellſchaft in den mehr-
ſten Laͤndern verknuͤpft, bleibt dieſe ergiebige Mine ungenutzt,
und man hat die Tugenden als den Grund des Credits und
des Handels zu wenig betrachtet. Die Eyferſucht des welt-
lichen Standes gegen den geiſtlichen geht zu weit, und man
ſchaͤtzt ein Volk freyer, das durch Karnſchieben und Pruͤgel
zu ſeiner Pflicht gefuͤhret wird, als das fromme Haͤuflein,
was durch geiſtliche Bewegungsgruͤnde zum gluͤcklichen Scla-
ven ſeiner Wohlfart gemachet worden.


Hier muſte ich meinen Freund unterbrechen, weil ich be-
ſorgte, er moͤgte in eine patriotiſche Schwaͤrmerey verfallen.
In-
[263]die erſte Sorge zur Bereicher. eines Landes ſeyn?
Indeſſen fuͤhlt man doch hieraus den Grund, warum es vie-
len Secten, welche nach dieſem Plane gearbeitet haben, in
verſchiedenen Arten des Handels und der Fabriken, ja ſelbſt
im Ackerbau, wenn man auf die Maͤhriſchen Bruͤder, wel-
che doppelte Landheuren bezahlen konnten, zuruͤck geht, ſo
vorzuͤglich weit gebracht haben. Die Hauptfrage aber, wor-
uͤber ſich die Anhaͤnger der Colberts und Mirabeaux ſtreiten:
ob nemlich der Handel oder der Ackerbau die erſte Aufmerk-
ſamkeit des Staats verdiene, waͤre aber nun noch zu ent-
ſcheiden; und wenn ich nach obigen Exempel ſchließen wollte,
wuͤrde das Urtheil fuͤr den Handel ausfallen, mithin ein
gluͤcklicher Ackerbau nur alsdenn zu hoffen ſeyn, wenn der
Handel ſaͤmtlichen Producten denjenigen Werth verſchaffen
kan, welcher dem Ackersmann ſeine Muͤhe genugſam
belohnet.


Vielleicht wendet man aber ein, es ſey hier ein Unterſchied
zwiſchen einem reichen und armen Boden zu machen, und ein
guͤtlicher Vergleich dahin zu vermitteln, daß auf erſtern der
Ackerbau auf letztern aber der Handel die erſte Aufmerkſam-
keit verdiene. Allein auch der reichſte Boden wird immer
noch mehr tragen, als er thut, wenn die Handlung die Ver-
zehrung und den Werth der Fruͤchte hebt, und den Landmann
in den Stand ſetzet da Ananas zu bauen, wo er jetzt Kartof-
feln zieht. Man weiß, daß die Einwohner zu Montreuil
durch ihre Pfirſchen einen einzigen Morgen Landes jaͤhrlich
auf 6000 Livres nutzen; und daß in Pohlen, wo der Acker-
bau ohne Handel getrieben wird, ſechstauſend Morgen nicht
ſo viel reinen Gewinnſt bringen.


Indeſſen iſt freylich nicht zu leugnen, daß auf einem armen
Boden Handlung und Gewerbe zur Verbeſſerung des Acker-
baues noͤthiger ſeyn als auf einem ergiebigen. Der Anbauer
R 4des
[264]Beantwortung der Frage: Was muß
des letztern macht ſich immer ſelbſt fertig, und lebt gut, wenn
die Gaͤrtnerey auf einem unfruchtbaren Sande nur da gelingt,
wo ihr eine maͤchtige Hauptſtadt zu ſtatten kommt; und ſo
waͤre freylich ein guͤtlicher Vergleich nicht zu verwerfen.
Der ſicherſte Weg bey dem allen aber iſt, beydes Ackerbau
und Handel zugleich zu befoͤrdern, und einem durch den an-
dern zu helfen. Der Handel kan zur Noth ohne Ackerbau
beſtehen, aber dieſer nicht leicht ohne jenem. Ein hoher Preis
der erſten Beduͤrfniſſe, und ſelbſt die Auflagen auf das Brodt,
die in Holland den ganzen Werth deſſelben uͤberſteigen, ſcha-
den den dortigen Fabriken ſo ſonderlich nicht; aber die Wohl-
feiligkeit dieſer Beduͤrfniſſe, welche ohne Handlung leicht
entſteht, druͤckt den Ackersmann zu Boden.


Doch … Gewerbe und Handlung find fluͤchtige Guͤter,
die von einer Nation zur andern ziehen. Wie ſehr iſt die
Groͤße der Hollaͤnder nicht geſunken? Ihre Fluͤſſe ſind untief
geworden; ihren Heerings- Cabillau- und Wallfiſchfang haben
ſie mit andern Nationen theilen muͤſſen. Ihr Gewuͤrzhandel
iſt in gleicher Gefahr; ihre Zuckerſiedereyen ſind von den
Hamburgern, Bremern und andern geſtuͤrzt, und nicht ein
Viertheil von dem vorigen mehr; ihre Verſchiffung, womit
ſie vorhin der ganzen Welt dieneten, iſt nur noch ein Schat-
ten, da alle Voͤlker ihre Waaren ſelbſt holen; ihre ſchweren
Fabriken ſind durch die Franzoſen, Schweitzer, Preußen
und Sachſen unnuͤtz gemacht worden; und ſo werden ſie bald,
wann einmal die Abnahme zu einem gewiſſen Grade geht,
durch ihre Impoſten zu Grunde gehn. Wie viel dauerhafter
iſt dagegen ein Staat, deſſen Wohl ſich auf dem Ackerbau
gruͤndet? der allezeit ſeine Nothdurft und wenn er etwas
uͤbrig hat, auch leicht Abſatz findet? und Deutſchland zum maͤch-
tigſten Volke machen wuͤrde, wenn es nur auf Mittel daͤchte
ſeine Ausfuhr zu vermehren, und durch Vermehrung der Aus-
fuhr
[265]die erſte Sorge zur Bereicher. eines Landes ſeyn?
fuhr ſeine ungenutzten Heyden anzubauen gereitzet wuͤrde?
Denn ohne Ausfuhr im Großen wird der Kornbau kein Land
bereichern. Aller Mißwachs und alle gluͤckliche Erndten ſchraͤn-
ken ſich immer auf 60, 80 oder hundert Meilen in der Breite
ein. Auf dieſe Weiſe ſind diejenigen, ſo blos das Korn auf
ihr eignes Markt bringen, immer geſchoren. Hat einer et-
was: ſo haben ſie es alle. Und wenn ſie alle darben, ſo hat
einer auch nichts. Dieſes iſt aber bey der großen Ausfuhr
nie zu beſorgen. Italien hat zwey Jahr Mangel gehabt,
waͤhrender Zeit Deutſchland Ueberfluß hatte: und nun es uns
fehlt, iſt die Erndte in Italien gluͤcklich geweſen .....


Allein es iſt unnoͤthig auf dieſe Declamation zu antworten.
Der Handel wird allemal die erſte Anfmerkſamkeit des Ge-
ſetzgebers verdienen, weil ſelbſt in England, wo man glauben
ſollte, daß der Ackerbau ſich ſelbſt heben koͤnnte, die Ausfuhr
durch beſondre Praͤmien beguͤnſtiget werden muß, um einen
Ziemlichen Preis und durch denſelben den Flor eines beſſern
Ackerbaues zu erhalten. Dieſe Praͤmien ſind eine milde Gabe
der Handlung, welche der Ackerbau denen zu danken hat die
jene auf den Thron geſetzt. In einigen Gegenden von Ame-
rika toͤdtet man die Buͤffel um der Haͤute willen, und laͤßt das
Fleiſch in den Waͤldern liegen, dies iſt Wirthſchaft ohne Ge-
werbe und Handlung.



XXXVI.
[266]Zur Befoͤrderung einheimiſcher Wollenfabriken.

XXXVI.
Zur Befoͤrderung einheimiſcher Wol-
lenfabriken.


Unſre Nachbaren ſagen Sie, nennen es Einfalt, daß wir
im Stifte Oßnabruͤck alle fremde Wollenwaaren, ob wir
ſie gleich theils ſelbſt ſchon verfertigen, theils auch noch leicht
verfertigen koͤnnten, frey einlaſſen, und ſolche ſo wenig ver-
bieten als auch nur mit der mindeſten Auflage beſchweren;
und dennoch wollen ſie dieſen Vorwurf der Einfalt lieber tra-
gen, als ſich ihrer chimeriſchen Freyheit begeben? ſie wollen
nach ihrem Ausdrucke lieber zu hoͤhern und edlern Grundſaͤ-
tzen, wodurch man freylich zuletzt alles vertheidigen kan, ihre
Zuflucht nehmen, als den Bauer Bauer heiſſen, und den
gemeinen Buͤrger oder Bauern durch einen vorzuͤglichen Zwang
noch weiter von dem Range andrer Unterthanen herabſtuͤr-
zen? Nun davon waͤre ich doch begierig ihre Gruͤnde zu
hoͤren.


Doch ich kenne ihre Zaͤrtlichkeit fuͤr die Landleute; ich weiß
auch ſalbſt wie ſchwer es haͤlt wenn man zur Anwendung
kommt, genau zu beſtimmen, was die Geſe[tze] unter gemei-
nen Bürgern und Bauren
verſtanden haben wollen, und wie
ſchmerzhaft es oft fuͤr einen angeſehenen Meyer ſey, ſich in
eine Klaſſe erniedriget zu ſehen, woruͤber Leute von unendlich
kleinerm Verdienſte, wenn ſie ſich auch nur den Notariat-
ſtempel erworben, ſich ſtolz hinweg ſetzen duͤrfen. Ich will
alſo dieſen Punkt fallen laſſen, und meinen Satz ſo ausdruͤ-
cken, wie ihn die ſchwediſchen Reichsſtaͤnde ausgedruͤckt ha-
ben: Ein ſchwediſcher Mann ſoll ſchwediſche Fabrick tra-
gen;
[267]Zur Befoͤrderung einheimiſcher Wollenfabriken.
gen; was wuͤrden ſie alsdenn fuͤr Gruͤnde haben ſich einem
ſolchen Plan zu widerſetzen? Was wuͤrden ſie dagegen ein-
wenden koͤnnen, wenn man zur Befoͤrderung dieſes Plans
auf jede Elle auswaͤrtigen Tuchs ꝛc. eine Auflage von 6 mgr.
machte?


Ich will noch weiter gehen und ihnen auch den Vorwurf
benehmen, welchen ihnen der Haß gegen neue Auflagen ein-
geben koͤnnte. Die Kaſſe worinn dieſelbe geſammlet wird, ſoll
lediglich zu einer Praͤmienkaſſe dienen. Es ſoll daraus jeder
Kaufmann, der 10 Stuͤck Tuchs von einer einheimiſchen
Fabrik abſetzt, 20 Thaler; der 20 Stuͤcke abſetzt, 50 Thaler
und ſo ferner eine Belohnung im ſteigendem Verhaͤltniß em-
pfangen, um den Vortheil des Kaufmanns, der zugleich al-
lein das Recht haben ſoll, Ellenweiſe zu verkaufen, mit dem
Vortheile des einheimiſchen Fabrikanten zu verbinden. Wer-
den Sie dann nicht patriotiſcher denken?


Das erheblichſte was ich von Ihnen erwarte, wird vermuth-
lich dahin abgehen; daß dergleichen Einrichtungen, wenn ſie
auf dem Papiere noch ſo einleuchtend waͤren, in der Erfuͤl-
lung nur zu Chicanen und Plackereyen wuͤrden; daß Verord-
nungen dieſer Art einem Spinnegewebe glichen, worinn die
Muͤcken ſich fiengen und die Weſpen große Loͤcher riſſen; und
daß zu deren Aufrechterhaltung eine gewiſſe Tyranney geduldet
werden muͤßte, die auf der andern Seite den Einwohnern das
Land nur zuwider machte, und ſolchergeſtalt mehr Schaden
als Vortheil braͤchte. Sie werden ferner ſagen, die zu An-
fang dieſes Jahrs vorgenommene Zaͤhlung der hieſigen Ein-
wohner beweiſe, daß hier im Stifte auf jeder Quadratmeile,
alle Staͤdte ausgeſchloſſen, noch uͤber viertauſend Menſchen
lebten, daß dieſes die ſtaͤrkſte Bevoͤlkerung ſey, die man in
Europa kenne, und daß man dieſe blos der Freyheit zu dan-
ken
[268]Zur Befoͤrderung einheimiſcher Wollenfabriken.
ken habe, mit welcher ein jeder auf dem Lande leben, handeln
und arbeiten koͤnne.


Allein dieſes alles beweiſet nur, daß man die Sache mit
Anſtande, Glimpf und Gedult betreiben, und die Einbildung
der Menſchen ſo viel als moͤglich zu ſchonen ſuchen muͤſſe.
Denn in dem Wunſche, daß alle Oßnabruͤckiſche Maͤnner nur
Oßnabruͤckiſche Waaren tragen moͤchten, ſind wir doch eins.
Wir ſind eins, daß es eben der großen Bevoͤlkerung halber
unendlich vortheilhaft ſeyn wuͤrde, wenn die Einwohner bey
den Fabriken ein Stuͤck Brodt mehr gewinnen koͤnnten, und
bey einer entſtehenden Theurung nicht auf andrer Unkoſten zu
leben gebrauchten. Wir ſind darinn vermuthlich auch eins,
daß jeder Menſch jaͤhrlich wenigſtens fuͤr 18 mgr. Wollenzeug
zu Kleidungsſtuͤcken gebrauchet, und daß von dieſen 18 mgr.
die Haͤlfte fuͤr Spinn, und Webelohn, welches der Fremde
von uns verdient, aus dem Lande gehe, folglich der Verluſt
im Ganzen wenigſtens auf 30000 Rthlr. des Jahrs zu rech-
nen ſey. Sollte nun aber kein Mittel ſeyn, die Erfuͤllung
dieſes Wunſches auf eine Art zu erreichen, daß die Einbildung
des Menſchen dabey nicht litte, und der Endzweck mit An-
ſtand, Glimpf und Gedult, ſo wie wir uns fuͤhren zu laſſen
gewohnt ſind, erreichet wuͤrde?


Stolz, Eigenliebe und Einbildung wuͤrden wenigſtens uͤber-
haupt nichts verlieren, wenn alle Flanelle, Duͤffels und der-
gleichen ungeſchorne Futter oder Tuͤcher von einheimiſchen
Fabriken genommen werden muͤßten. Die mehrſten tragen
ſchon lange davon, da ſie in der Guͤte und dem Preiſe von
auswaͤrtigen nicht unterſchieden ſind; und da in dieſer Art
Waaren fuͤr den gemeinen Mann kein ſolcher glaͤnzender Un-
terſcheid iſt, daß einer vor dem andern ſich darinn hervorthun
koͤnnte: ſo ſollte ich glauben, alles fremde Gut, was auf
ſolche
[269]Zur Befoͤrderung einheimiſcher Wollenfabriken.
ſolche Art zu Unterroͤcken, taͤglichen Kleidungen fuͤr Kinder und
Unterfuttern gebraucht wuͤrde, koͤnnte ſchlechterdings verbo-
ten, oder doch mit einer zweckmaͤßigen Auflage beſchweret
werden; ich ſollte glauben, alle Raſche, Chalons, Caſiangs
und dergleichen glatte wollene Waaren koͤnnten eine gleiche Ein-
ſchraͤnkung ohne ſonderliche Verletzung der menſchlichen Eigen-
liebe und Freyheit erleiden; und auf dieſe Weiſe daͤchte ich, waͤre
ſchon ein großes gewonnen.


Aber die Tuͤcher und andre Waaren, welche mehr fuͤrs Auge
als jene getragen werden, duͤrften Sie ſagen, wollen ſich auf
dieſe Weiſe nicht einſchraͤnken laſſen. Gut! ich will dann eine
andre vorſchlagen. Dieſe ſoll darinn beſtehen, daß auf dem
Lande oder auſſer der Hauptſtadt von den Kaufleuten gar keine
andre Tuͤcher als von einheimiſchen Fabriken gefuͤhret werden
duͤrfen. Wer denn feine Tuͤcher haben will, mag nach der Haupt-
ſtadt gehen; die Kaufleute auf dem Lande hingegen werden ſo-
denn alle ihre Geſchicklichkeit anwenden, ihren Kunden die einhei-
miſchen Tuͤcher angenehm zu machen, und die Fabriken wer-
den ſich bemuͤhen, ihnen ſolche Waare zu liefern, wie es die-
ſer Abſicht gemaͤß iſt.


Scheint ihnen dieſes fuͤr die Hauptſtadt zu vortheilhaft: ſo
wollen wir noch eine Erweiterung machen; und dieſe koͤnnte
darinn beſtehen, daß den Kaufleuten auf dem Lande nur an
ſolchen Orten der Handel mit auswaͤrtigen Tuͤchern, wovon
die Elle uͤber einen Thaler ſteigt, erlaubt ſeyn ſollte, wo
wuͤrkliche Fabriken vorhanden; und die Vorſteher derſelben
den Kaufmann in ſeiner Handlung kontrolliren koͤnnen. Hie-
durch wuͤrde einer Seits der Kaufmann genoͤthiget, die Aufnah-
me der Fabrik ſeines Orts zu befoͤrdern; und ander Seits wuͤrden
die Vorſteher des Wollenweberamts darauf achten koͤnnen,
daß keine fremde Tuͤcher, wovon die Elle unter einen Thaler
kommt,
[270]Zur Befoͤrderung einheimiſcher Wollenfabriken.
kommt, oder keine ſolche fremde Fabrikwaaren, welche ſie ſelbſt
verfertigten, von den Kaufleuten gefuͤhret wuͤrden. In der
Stadt Braunſchweig iſt keinem Kaufmann der nicht das Tuch-
machen ordentlich gelernt, und zu dem Amte gehoͤret, erlaubt,
Tuͤcher, wovon die Elle unter einen Thaler kommt, zu fuͤh-
ren, weil man von ihm in den alten Zeiten geglaubt hat,
daß er dasjenige, was er ſelbſt machen koͤnnte, nicht aus der
Fremde ziehen wuͤrde. Warum ſollte man denn auf unſern
Doͤrfern und Landſtaͤdten nicht einen aͤhnlichen Weg einſchla-
gen koͤnnen.


In der That aber wuͤrde der Vortheil der Hauptſtadt ſo groß
nicht ſeyn. Denn da in derſelben die mehrſten feinen Tuͤcher
getragen werden: ſo wuͤrde auch daraus das meiſte zur Praͤ-
mienkaſſe kommen, und wenn ſie auch dieſe Kaſſe blos zur
Aufnahme ihrer eignen Fabriken gebrauchte: ſo wuͤrde den-
noch der Vortheil von letztern ſich uͤber das Ganze erſtrecken.
Die Spinnerey wuͤrde ſich natuͤrlicher Weiſe weit aufs Land
ausdehnen, den Erwerb vermehren, die Landheuren ſteigern,
und ſolchergeſtalt auch zum Vortheil derjenigen wuͤrken, die
als redliche Patrioten von der Elle ihrer engliſchen und fran-
zoͤſiſchen Tuͤcher den Beytrag gern entrichteten. Niemand
leidet bey einem Mangel der Nahrung im Lande mehr als
die Landeigenthuͤmer, und es iſt zu glauben, daß ſie einen
kleinen Verluſt nicht achten werden, um die große Summen
im Lande fuͤr ſich zu behalten, welche fuͤr allerhand Wollen-
manufacturen heraus gehen.



XXXVII.
[271]Vom Kerbſtocke.

XXXVII.
Vom Kerbſtocke.


Daß unſre Vorfahren kluge Koͤpfe geweſen, beweiſet allein
der Kerbſtock. Keine Erfindung iſt ſimpler und groͤſ-
ſer wie dieſe. Die Italiener moͤgen ſich mit ihrer Kunſt Buch
zu halten, noch ſo groß duͤnken: ſo geht ſie doch immer dahin,
daß einer den andern zum Schuldner ſchreiben kan; daß der
Mann, der borgt, von ſeines Glaͤubigers Redlichkeit oder
Willkuͤhr abhaͤngt, anſtatt, daß beym Kerbſtock Schuldner
und Glaͤubiger gleiche Verſicherung haben, ſich beſtaͤndig kon-
trolliren und einander nicht betriegen koͤnnen.


Was wird haͤufiger geſchworen als Eide uͤber Handlungs-
buͤcher, beſonders, nachdem auch ſogar Handwerker zugelaſ-
ſen wurden, Buch zu halten und ihre Rechnungen zu beſchwoͤ-
ren? Wie mancher Kaufmann hat nicht oft das Seinige ver-
lohren oder dem andern aus Irrthum oder Vorſatz zu viel ge-
than, nachdem er ſich ein oder kein Gewiſſen daraus gemacht,
alles dasjenige zu beſchwoͤren, was ſeine Ladendiener oder
Jungen, oder wohl gar eine Frau oder Magd zu Buche ge-
bracht haben! Wie mancher koſtbarer Proceß iſt nicht daruͤber
gefuͤhret, ob und wenn der Beſtaͤrkungseid in ſolchen Faͤllen
zuzulaſſen? Alles dieſes hatten unſre Vorfahren beym Kerb-
ſtocke nicht zu fuͤrchten.


Insgemein glaubt man jetzt, der Kerbſtock habe nur ge-
dient, um Rechnung uͤber Milch, Bier, Brodt und andre
Sachen, welche ein gewiſſes feſtſtehendes Maas haben, zu
fuͤhren. Allein dieſes iſt irrig. Der Kerbſtock war das
aͤlteſte Dienſt- und Pachtregiſter, und nichts iſt leichter, als
ſol-
[272]Vom Kerbſtocke.
ſolchen auch bey andern Waaren, welche fuͤr Geld verkaufet
werden, einzufuͤhren. Wenn die Kerbe auf einer Seite einen
Thaler, auf der andern einen Schilling, und auf der dritten
einen Pfennig bedeutet: ſo kan der Landmann dasjenige, was
er taͤglich und zur Nothdurft gebraucht, voͤllig darauf be-
wahren.


Wie waͤre es alſo, wenn wir das Recht einfuͤhrten, daß
fuͤrohin alle Kraͤmer und Handwerker, welche auſſerhalb ge-
ſchloſſenen Orten wohnen, und folglich nur mit Sachen von
der hoͤchſten Nothdurft handeln, niemals zur eidlichen Be-
ſtaͤrkung einer Rechnung zugelaſſen werden ſollten? wenn ſie
angewieſen wuͤrden, mit den Landleuten, welchen ſie borgen,
nicht anders als auf einen Kerbſtock zu handeln? Sollte dieſes
nicht beſſer ſeyn, als der eingeſchlichene Gerichtsgebrauch,
nach welchem jeder Mann, der mit Schwefelhoͤlzern handelt,
ja ſogar jeder Wagenmacher, Schmidt oder andre Handwer-
ker, ſich einen andern zum Schuldner ſchwoͤren kan?



XXXVIII.
Gedanken uͤber die Abſchaffung der
Feyertage.
a)


Die Kirche iſt eine guͤtige Mutter, die ihren Kindern
Freuden erlaubt, wenn ſie ſolche mit Dankbarkeit ge-
nießen, und ſie ihnen auch wieder entzieht, wenn ſie erfaͤhrt,
daß ſie entweder gemißbraucht oder ſchaͤdlich werden. Dieſe
liebreiche Geſinnungen hat ſie von ihrem erſten Urſprung an
be-
[273]Gedanken uͤber die Abſchaffung der Feyertage.
bewieſen; ſie hat manches Feſt verordnet und auch wiederum
abgeſtellet, nachdem es die Beduͤrfniſſe ihrer Kinder erfordert,
und dieſer ihre Pflicht iſt es, ihre Weisheit ſowol im Geben,
als im Nehmen zu verehren.


Da ſehr viele dieſes nicht genung erkennen, und unſre ge-
genwaͤrtigen Zeiten, die noch kein einziges Feſt zur Freude
verordnet, wohl aber viele abgeſchaffet haben, einer beſon-
dern Haͤrte beſchuldigen: ſo wird es vielleicht manchem zum
Troſte und zur Beruhigung gereichen, wenn wir uͤber die
muͤtterliche Oekonomie, welche die Kirche mit ihren Feſten von
Zeit zu Zeit gehalten, eine kurze Betrachtung anſtellen, und
ſolche unſern Leſern vorlegen.


Die Feſte, welche wir bis dahin gefeyert haben, ſind nicht
alle von Anfang an und auch nicht alle ſogleich von der ganzen
Kirche gefeyert worden. Das Feſt der heiligen Dreyfaltig-
keit iſt zuerſt im zwoͤlften, das Fronleichnamsfeſt im dreyzehn-
ten und das Feſt der Heimſuchung Mariaͤ im vierzehnten Jahr-
hundert, ſo wie andre fruͤher oder ſpaͤter eingefuͤhrt, und
erſt nur in einigen, nachher aber in mehrern Laͤndern ge-
feyert worden. Das Heyl der Menſchen war hierinn der
Kirche einziger Fuͤhrer, und nachdem eine auſſerordentliche
Gefahr uͤberſtanden, oder die Kirche eines beſondern goͤttlichen
Schutzes genoſſen hatte, oder auch nachdem es Zeit, Sitten
und Umſtaͤnde nuͤtzlich und nothwendig machten, verordnete
ſie Feſte, und erlaubte demjenigen der es thun konnte, ſeine
ganze Zeit in heiliger Freude zuzubringen. Nach ihrem
Wunſche moͤgte unſre ganze Lebenszeit, nur eine Feyer, und
unſre Beſchaͤftigung nichts wie Gottgefaͤllige Freude ſeyn.


Allein ſo liebreich auch dieſe ihre Wuͤnſche ſind: ſo hat ſie
ſich doch oft, durch eine noch hoͤhere und edlere Liebe bewo-
gen geſehen, ein Feſt wiederum einzuziehen, was ſie unter
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. San-
[274]Gedanken
andern Umſtaͤnden und in andern Zeiten verordnet hatte. An-
dre Religionen haben die Knechte arbeiten laſſen, wenn ſie
den Herrn einen Feyertag machten. Allein die chriſtliche
Kirche, welche allen Menſchen ohne Unterſchied des Standes,
ihre Wohlthaten mittheilet, und den Knecht wie den Herrn
als ebenbuͤrtige Kinder aufnimmt, gebietet Feyern fuͤr alle;
und ſo bald ſie dieſen großen Endzweck hatte, ſo bald ſie Rei-
chen und Armen, Wein- und Ackerbauern, Hirten und Jaͤ-
gern eine gleiche Guͤte zeigen wollte; ſo bald ſie die Einwoh-
ner fruchtbarer und unfruchtbarer, ſchwach und ſtark bevoͤlker-
ter, heiſſer und kalter Gegenden einerley Feyern theilhaftig
zu machen wuͤnſchte: ſo war es auch eine ſtillſchweigende Be-
dingung ihrer Weisheit und Guͤte, daß ſie ſich nach den ver-
ſchiedenen Beduͤrfniſſen der Zeiten, Laͤnder und Menſchen rich-
ten wollte. Der Arme muß mehr arbeiten als der Reiche;
ein bevoͤlkerter Staat mehr als ein unbevoͤlkerter, wo wenige
von vielen leben; der Ackersmann mehr, als der ſo von der
Viehzucht lebt; der mit Steuren beſchwerte mehr, als der es
nicht iſt; in waͤrmern Gegenden faͤllt die haͤufigſte Arbeit auf
andre Tage als in kaͤltern; der Weinbauer kan feyern, wenn
der Schnitter ſchwitzt: In einer Reihe von gluͤcklichen und
ruhigen Zeiten koͤnnen Feyertage eingefuͤhret werden, a) die
in harten und theuren Jahren ſchaͤdlich ſind. Einreiſſende
Mißbraͤuche koͤnnen zur Verminderung ſolcher Feyertage fuͤh-
ren, die eine reine Andacht ehedem geheiliget hatte, und ein
herrſchender Unglaube kan die Kirche bewegen gewiſſe Lehrſaͤtze
an eignen dazu beſtimmten Tagen in mehrer Erbauung zu hal-
ten, die nach einer gluͤcklichen Sinnesaͤnderung der Menſchen
uͤber-
[275]uͤber die Abſchaffung der Feyertage.
uͤberfluͤßig werden. Alle dieſe aus der goͤttlichen Oekonomie
unter den Menſchen herfuͤrgehende Umſtaͤnde hat die Kirche
zu jeder Zeit erwogen, darnach beſondre und allgemeine Feyer-
taͤge verordnet, und ſo wie die Umſtaͤnde ſich veraͤndert ſolche
auch wiederum abgeſtellet. a) Sie iſt hierinn der goͤttlichen
Weisheit gefolget, die vieles im alten Bunde verordnet hatte,
was ſie im neuern unter andern Umſtaͤnden billig veraͤndert
hat.


Daher finden wir ſchon in den aͤlteſten Zeiten Spuren von
eingegangenen Feyertagen. b) Insbeſondre aber klagten die
verſammleten Kirchenvaͤter zu Coſtnitz im Jahr 1414 daruͤber,
daß die mehrſten Feyertage nur zur Ueppigkeit verwendet
und viele nuͤtzliche Arbeiten dadurch verſaͤumet wuͤrden; und
verordneten dieſerhalb, daß verſchiedene insbeſondre im Som-
mer, weil der Menſch ſodann die mehrſte Arbeit haͤtte, und
fuͤr den Winter ſorgen muͤßte, eingehen ſollten. Die deutſche
Nation beklagte die Menge der Feſttage auf der Reichsver-
ſammlung zu Nuͤrnberg vom Jahr 1522 mit lauter Stimme.
Es ſind deren ſo viel, ſagte ſie, daß der arme Ackersmann die
Fruͤchte ſeines ſauren Schweiſſes, welche in der augenſchein-
lichſten Gefahr ſtehen, von Regen, Hagel und andern Un-
gluͤcksfaͤllen verdorben zu werden, nicht zu rechter Zeit ein-
erndten kan; und dafuͤr ſeine Zeit im Kruge uͤppig und muͤßig
zuzubringen verleitet wird. Der damalige Paͤbſtliche Nuntius,
S 2der
[276]Gedanken
der Cardinal Campegius gab dieſen Klagen ſeinen Beyfall, und
verſchaffte auch wuͤrklich eine Verminderung der Feyertage,
die nach dem bekannten Interim vom Jahr 1548, noch weiter
gehen ſollte, und wuͤrklich von einigen Biſchoͤfen, insbeſondre
aber von dem Erzbiſchofe zu Trier weiter ausgedehnt wurde.
Und vielleicht waͤre man auch damals noch weiter gegangen,
wenn auſſer andern Urſachen die vielen Steuren und Verthei-
digungsanſtalten, welche des Heil. Roͤmiſchen Reichs Unter-
thanen nachwaͤrts uͤbernehmen muͤſſen, eine ſolche Verminde-
rung damals eben ſo ſehr wie jetzt erfordert haͤtten. Ohne die
hoͤchſte Noth ſchrenkt die Kirche die Freuden ihrer Kinder nicht
ein. Aber ſo wie nach dem Urtheil des H. Bernards, wenn
Gott Landplagen und ſchwere Zeiten den Menſchen zuſchickt,
Feyer- und Feſttage nicht ſehr ſchicklich ſind; ſo muͤſſen ſich
auch die Feyertage vermindern, wenn die uͤbrige Zeit nicht
mehr hinreicht, die ſich taͤglich mehrenden Laſten zu beſtrei-
ten. Traurig iſt es freylich, wann man die der Andacht und
einer Gottgefaͤlligen Freude gewidmeten Tage vermindern
muß, und wir haben Urſache Gott zu bitten, daß er die
Herzen der Großen auf Erden ſo leiten wolle, damit
ſie das ihnen anvertrauete Staatsſchiff nicht in beſtaͤndi-
gen Sturm fuͤhren, und ihre Unterthanen zum unaufhoͤr-
lichen Rudern bringen moͤgen. Allein ohne uns jetzt uͤber die
Strafbarkeit derjenigen zu beſchweren, welche die muͤtterli-
chen Wuͤnſche der Kirche vereiteln; ſo muͤſſen wir vielmehr
die Nachſicht der letztern verehren, und ihre Gelindigkeit be-
wundern, womit ſie unſern Beduͤrfniſſen entgegen koͤmmt.
Die Zeit kan kommen, wo ſie uns einen Moſes erweckt, der
den verdoppelten Frohnen Ziel ſetzet, und uns diejenigen Freu-
den wieder ſchenkt, welche ſie uns jetzt unwillig entzieht. Uns
koͤmmt es aber nicht zu, die Geheimnißvolle goͤttliche Fuͤh-
rung der Menſchen zu richten, und mit Murren Wunder zu
for-
[277]uͤber die Abſchaffung der Feyertage.
fordern. Alles was wir fuͤr uns thun koͤnnen, beſteht darinn,
daß wir unſre uͤberfluͤßigen Beduͤrfniſſe einſchraͤnken, unſere
Ausgaben dadurch vermindern, unſere Guͤter nicht verſchulden,
und uns dadurch in den Stand ſetzen unſre Steuren und Ab-
giften mit mindrer Arbeit aufzubringen. Alsdenn werden
wir uns ſelbſt Feyertage machen, und unſre uͤbrige Zeit Gott
widmen koͤnnen. Die Kirche wird dieſes freywillige Opfer
freudig annehmen, und die weltliche Obrigkeit denen die nach
gethaner Arbeit feyren, ihre Freude zur noͤthigen Ermunte-
rung ſehr gern goͤnnen.



XXXIX.
Alſo iſt das Branteweintrinken
zu verbieten.


Mein Freund aus Amſterdam ſchreibt mir, daß der Preis
des Rockens dort ungemein fallen wuͤrde, wenn die
deutſchen Fuͤrſten ſich vereinigten, oder einer nur den Anfang
machte, das Branteweinstrinken ganz zu verbieten. Da die
Sache wichtig iſt: ſo will ich davon uͤberhaupt etwas ſagen.


In dem Reichspoliceygeſetzen findet man gar nichts ge-
gen den Brantewein, zum Zeichen, daß er in den Zeiten, wie
man die Policey noch gluͤcklicher Weiſe auf dem Reichstage
behandelte, und Handel und Wandel zwiſchen gemeinen Reichs-
unterthanen nicht aus jedem Cabinette ſperrete; noch wenig
in Gebrauch geweſen. Auch in des Erzſtifts Cölln Refor-
mation,
wo doch bey Gelegenheit des Ingwers der gute Rath
ertheilet wird,
S 3„Doch
[278]Alſo iſt das Branteweintrinken

„doch ſehen wir fuͤr nuͤtzer und beſſer an, daß ſich unſre
„Unterthanen mit dem Gewuͤrze ihrer Garten zu ſpei-
„ſen begnuͤgen laſſen,
S. 74. in der Ausgabe v. 1537.
„imgleichem, der Hausmann ſolle ſich mit den Tuͤchern
„binnen Landes gemacht, begnuͤgen laſſen,
S. 73.


und des Branteweins gewiß gedacht ſeyn wuͤrde, findet man
nichts davon. Es wird darinn den Amtleuten blos geboten
dahin zu ſehen, daß keine Weinkaͤufe (welche jetzt zu Regiſter
gebracht werden, damals aber vertrunken wurden) genom-
men; die Wein- und Bierhaͤuſer an Sonn- und heiligen Ta-
gen nicht eher als Nach mittages geoͤfnet und des Abends mit
Sonnenuntergang wieder geſchloſſen; die Zechen nicht uͤber
einen halben Gulden geborget, die Winkelſchenken abgeſchaf-
fet, und von den Predigern gegen das Zutrinken als eine den
Menſchen an ſeiner Seel und Seligkeit, Ehren, Nahrung,
Gunſt, Vernunft und Mannheit ſchaͤdliche Sache, fleißige
und ernſtliche Predigten gehalten werden ſollten. Waͤre der
Brantewein damals ſo haͤufig wie jetzt getrunken worden; ſo
wuͤrde man unfehlbar auch dawider geeifert haben.


Allein in dem vorigen Jahrhundert fiengen die Klagen ge-
gen daſſelbe deſto haͤufiger an, und man begehrte

„daß dem Ueberhandnehmenden Branteweinsbrennen
„mit Zuſchlagung der Keſſel zu wehren, und beſonders
in gravaminibus ſtatuum vom 30. Nov. 1695. daß
„nachdem das Branteweinsbrennen und Verkaufen ſo
„gewaltig eingeriſſen, daß der Diſtillierhelme wohl 150
„moͤgten zu zaͤhlen ſeyn, wodurch nicht allein das Ge-
„hoͤlz verhauen und deſſen Preis in der Stadt Oßna-
„bruͤck
[279]zu verbieten.
„bruͤck wie auch uͤbrigen Landſtaͤdten, Flecken und Wig-
„bolden, gar hoch geſtiegen, ſondern auch vornehmlich
„das liebe Getrayde dem geringen Mann ab der Leibes-
„nahrung entzogen, und unnuͤtzlich zum Brantewein ver-
„braucht wird, von deſſen ohnmaͤßigen Saufen je mehr
„Gelegenheiten ſich durch die vielfaͤltigen Diſtilliers und
„Verkaͤufers hervorthun, je mehr Geldes dadurch con-
„ſumirt, Haus- und Ackerarbeit an Seiten geſetzt, und
„endlich Witz und Geſundheit verſoffen wird, die Oß-
„nabr. Staͤnde in Demuth und Unterthaͤnigkeit gebe-
„ten haben wollten, dem Branteweinsbrennen und Ver-
„kaufen, zulaͤnglich Ziel und Maaße zu ſetzen, und dar-
„uͤber die Einrichtung an den Landrath nechſt Communi-
„cation
mit uͤbrigen Stiftsſtaͤnden zu verweiſen,......
„worauf auch ſolches 1698 Sede vacante ganz verbo-
„ten worden.


und da der Blaſenzins auf dem Lande gegen das Ende
dieſes Jahrhunderts in den mehrſten Laͤndern ſeinen Anfang
nimmt,
S. Cramer in obſ. 959. T. III. p. 696.
vorher aber das Branteweinsbrennen blos den Staͤdten ge-
hoͤrte, und folglich nicht allein in weit geringer Maaße ſon-
dern auch vielleicht anfaͤnglich nur fuͤr die Apotheker getrieben
wurde: ſo iſt wohl nichts gewiſſer, als daß unſre Vorfahren
ſich eine geraume Zeit um dieſes fremde Getraͤnke beholfen
haben, folglich, die allezeit fertige Einwendung, daß der
Landmann und die Schiffsleute ſich nicht wohl darum behel-
fen koͤnnen, eine gutherzige Wendung unſrer alten Brante-
weinstrinker oder leine fromme Liſt der Brennereyen Paͤch-
ter ſey.


S 4Soll-
[280]Alſo iſt das Branteweintrinken zu verbieten.

Sollten wir aber nicht eine Sache, die unſre Vorfahren
ſo lange und ſo gluͤcklich entbehret haben, auch wiederum ent-
behren koͤnnen?


Etwas, koͤnnte man einwenden, will der Gaumen zu ſei-
ner Kitzelung haben. Nun das will ich einraͤumen. Allein
ſollte nicht der Ingwer, der Pfeffer, der getrocknete Kalmus,
die Wacholderbeern, das Wacholderoͤl, was zu Steinhagen
im Ravenſpergiſchen von den Landleuten ehedem ſo fuͤrtreflich
zubereitet wurde, und wovon ein Tropfe mehr als ein Glas
Fuſel wirkt; ſollte nicht der Taback, und tauſend andre Sa-
chen, welche in alten und neuen Zeiten aus einem gleichen Be-
duͤrfniß gekauet worden, dieſe Stelle erſetzen koͤnnen? Soll-
ten nicht zwey Pfefferkoͤrner mit einem Glaſe Waſſer alle
Morgen, eben dieſe Beduͤrfniſſe verrichten koͤnnen? Wir ſe-
hen es an dem nunmehro oͤffentlich triumphirenden Cichorien-
kaſfee, was geſchehen kan, wenn man nur redlich will; und
wie leicht waͤre es durch jene oder andre einheimiſche gute
Gewuͤrze, Kraͤuterextracte oder auch durch die in England ſo
beruͤhmte Stomachical Lozenges, deren Hauptingredienz ein
bisgen Pfeffer iſt, dem zum allgemeinen Schaden des menſch-
lichen Geſchlechts, und man mag mit den Worten der voran-
gezogenen Erzſtifts Coͤllniſchen Reformation wohl ſagen, zum
Schaden der Mannheit einreiſſenden Branteweinstrinken zu
wehren? Ich empfehle dieſes zum weitern Nachdenken beym
Schluſſe eines ſehr theuren Jahrs.



XXXX.
[281]Vorſchlag zu einer Practica fuͤr das Landvolk.

XXXX.
Vorſchlag zu einer Practica fuͤr
das Landvolk.


Ich habe mich mehrmals daruͤber gewundert, warum nicht
jede Landesobrigkeit fuͤr jede Provinz, in ſo fern die-
ſelbe beſondere Gewohnheiten und Geſetze hat, einen kurzen
und deutlichen Unterricht fuͤr das Landvolk ſchreiben und dru-
cken laͤßt, worinn die ihm vorkommenden Rechtsfaͤlle nach ſei-
nen Begriffen eroͤrtert und zugleich gute Raͤthe und Mittel
ſich zu helfen vorgeſchrieben wuͤrden, auf den Fuß, wie Tiſſot
es in Abſicht auf die Erhaltung der Geſundheit gethan hat.
Ein ſolches Werk, wenn es von alten erfahrnen Maͤnnern
geſchrieben und obrigkeitlich beſtaͤtiget wuͤrde, muͤſte unſtreitig
von großen Nutzen ſeyn, und manchen Layen der Rechts-
gelehrſamkeit von unnuͤtzen Proceſſen abhalten, oder doch
dafuͤr verwahren koͤnnen. Die gegenwaͤrtigen Zeiten haben
vieles in andern Stuͤcken zum Unterricht des Landvolks her-
vorgebracht. Sie haben ihm die Mittel eroͤfnet, ſich in
Nothfaͤllen, wo es keinen Arzt haben kan, ſelbſt zu helfen;
ſie haben ihm den Bau verſchiedener Futterkraͤuter, die Cultur
der Maulbeerbaͤume, die Bienenzucht, das Branteweinbren-
nen und viele andre oͤkonomiſche Vortheile in beſondern klei-
nen Schriften deutlich und begreiflich gemacht. Warum ſoll-
ten ſie denn nicht endlich auch ein gleiches in Abſicht auf die
ihn betreffende Rechtsfaͤlle thun? Warum ſoll dieſer Theil
des menſchlichen Unterrichts, der doch fuͤr die gemeine Wohl-
fart ſo wichtig iſt, allein ein Geheimniß der Geſchwornen
ſeyn? Und was kan man fuͤr Gruͤnde anfuͤhren, die wenige
Sorge, welche man hierinn fuͤr das Landvolk in den mehrſten
S 5Pro-
[282]Vorſchlag zu einer Practica
Provinzen a) Deutſchlands bisher gehegt hat, zu entſchul-
digen? Die Kenntniß der Landesgeſetze und Ordnungen iſt
jedem, der darnach handeln und beurtheilet werden ſoll, gewiß
aͤußerſt noͤthig; ſie iſt edel und erhebt den Geiſt; ſie iſt dem
Staate vortheilhaft, weil ſich in tauſend Faͤllen der Land-
mann ſelbſt beſcheiden koͤnnte, und nicht noͤthig haͤtte jeden
guten und ſchlimmen Rath theuer zu erkaufen. Wie man-
cher faͤllt in eine Strafe, die er vermeiden koͤnnte, wenn er
ſeinen kurzen Unterricht fuͤr ſich haͤtte? Wie mancher leiht
ſein Geld aus, ohne die dabey noͤthige Vorſicht zu kennen?
Wie mancher klagt eine Schuldforderung ein, ohne die
Schwierigkeiten zu argwohnen, die ihm gemacht werden
koͤnnen? welches alles nicht geſchehen wuͤrde, wenn er beſſer
unterrichtet waͤre.


Ein ſolcher Unterricht kan aber nicht allgemein fuͤr mehrere
Laͤnder ſeyn, dergleichen wir ſonſt verſchiedene haben. Er
muß auf die eigne Gerichtsverfaſſung eines jeden Landes ein-
gerichtet; er muß ein Auszug aller geltenden Landesordn[u]ngen
und Gewohnheiten; er muß ein kurzer Inbegrif des gemeinen
Rechts ſeyn, in ſo fern es in den Handlungen des Landvolks
ſeinen oͤftern Einfluß hat, und auf alle dieſe Faͤlle die noͤthi-
gen Klugheitsregeln und Huͤlfsmittel enthalten, wodurch man
entweder einen Proceß vermeiden, oder einen unvermeidli-
chen mit Wahrſcheinlichkeit beurtheilen kan. Dieſe Forde-
rungen machen nun zwar ein ſolches Werk ſchwer, und ſchre-
cken ſo wohl einen Verfaſſer als Verleger ab. Aber eben
des-
[283]fuͤr das Landvolk.
deswegen ſollte es ein Gegenſtand der oͤffentlichen Vorſorge
ſeyn, von Obrigkeits wegen verordnet, befoͤrdert und veran-
ſtaltet worden. Ich will jetzt nur einige Exempel geben, um
den Nutzen deſſelben zu zeigen.


Gewiß ſind hundert Faͤlle in dieſem Jahre vorgekommen,
worinn die Frauen, wenn ihre Maͤnner Schulden halber ge-
pfaͤndet werden ſollen, ſich der Huͤlfsvollſtreckung widerſetzt
haben; weil die Sachen, ſo man pfaͤnden wollte, ihnen ge-
hoͤreten. Sie ſind daruͤber beſtraft, und in weitlaͤuftige
Proceſſe verwickelt worden. Waͤre es nun aber nicht gut,
wenn die Frauen wuͤſten, wie ſie ſich in ſolchen Faͤllen zu
verhalten haͤtten? Waͤre es nicht gut, wenn ſie wuͤſten, auf
was Art ſie das Eigenthum ihrer Sachen zu beſcheinigen
haͤtten? Und wie ſie ſolche gleich beym erſten Termin zuruͤck
erhalten koͤnnten, wenn ſie in demſelben mit ihrem Beweiſe
gefaßt erſchienen, und falls ſie ſolchen nicht haͤtten, lieber ihr
Ungluͤck ertruͤgen?


Die Wohlthat des ſtillſchweigenden Pfandrechts, welches
die roͤmiſchen Rechte demjenigen, der Haus oder Land ver-
heuert, auf das eingebrachte Hausgeraͤthe und auf das Korn
was auf dem verheureten Lande waͤchſt, verliehen haben, iſt
von unendlichen Werth. Ohne ſie wuͤrden tauſend geringe
Heuerleute, welche keine andre Buͤrgſchaft haben, weder
Wohnung noch Laͤndereyen erhalten koͤnnen, und die ganze
Bevoͤlkerung des Staats darunter leiden. Wie oft ſucht aber
nicht dennoch ein andrer Glaͤubiger oder die Frau unter dem
Vorwande, daß das eingebrachte Hausgeraͤthe ihr zuſtehe, dem
Haus- und Landherrn ſein Vorzugsrecht ſtreitig zu machen?
Und wuͤrde es nicht fuͤr alle Theile erſprießlich ſeyn, wenn ein
ſolcher von der Obrigkeit beſtaͤtigter kurzer Unterricht das ſichere
Recht in ſolchen Faͤllen nachwieſe?


Eine
[284]Vorſchlag zu einer Practica

Eine Menge von Supplicanten, welche wegen entwende-
ten Holzes aus den gemeinen Holzungen beſtraft ſind, meldet
ſich jaͤhrlich um Nachlaß der Strafe, und gruͤndet ſich auf
eine beſcheinigte Armuth. Koͤnnte man dieſen nicht einmal
fuͤr alle ſagen, daß wenn die Obrigkeit auch noch ſo viel Mit-
leid mit ihnen hegte, es doch wider alle Vernunft ſey, in die-
ſem Stuͤcke die Entſchuldigung der Armuth gelten zu laſſen,
weil ſonſt gar keine gemeinen Holzungen erhalten werden koͤnn-
ten, und es eben die Armuth ſey, die man am mehrſten zu
beſtrafen haͤtte, weil reiche und vermoͤgende kein Holz ſtehlen
wuͤrden?


Wie viele Beſchwerden ließt man nicht in andern Ruͤgeſa-
chen, womit ſich die Partheyen vergebliche Muͤhe und Koſten
machen, und die ſie vermeiden koͤnnten, wenn in einem ſol-
chen Unterricht alle Ruͤgefaͤlle deutlich ausgedruckt, die Ur-
ſachen derſelben begreiflich angezeigt, und zugleich die Raͤthe
ertheilet waͤren, wie ſich die Beſchwerten allenfalls zu ver-
halten haͤtten; Wie mancher wuͤrde eine geringe Strafe, ſo
fern ſie keinen Einfluß auf ſeine Gerechtſame haͤtte, bezahlen
und verſchmerzen, wenn ihm in dem Unterricht deutlich gewie-
ſen waͤre, wie hoch ſich die Koſten beliefen, die er auf eine
mißliche Beſchwerde verwenden muͤßte? Wie mancher wuͤrde
mit einer weitlaͤuftigen Vorſtellung zuruͤck bleiben, oder doch
wenigſtens ſofort Gegenbeſcheinigungen beybringen, wenn er
einmal wuͤßte, daß der Oberrichter allemal die Rechtsvermu-
thung fuͤr den Unterrichter faſſen muͤßte, und ſich darinn durch
keine bloße Erzaͤhlungen ſtoͤren laſſen duͤrfte?


Die vornehmſten Wahrheiten der Dorf- und Marken- und
andrer Policeyordnungen: die Faͤlle und Maaſſen der Pfandun-
gen, ſo zu Erhaltung eines Rechts geſchehen; ein kleines Re-
giſter, wie bey entſtehenden Concurſen die Glaͤubiger geord-
net
[285]fuͤr das Landvolk.
net werden; eine deutliche Anzeige der Faͤlle, worinn man
mit einem Leibeignen nicht contrahiren koͤnne; ein kurzer Aus-
zug der Taxordnung, was man in den gemeinſten Faͤllen an
Richter, Advocaten und Procuratoren zu bezahlen habe; eine
Vergleichung der Maaßen im Stifte; ein Unterricht, was
und wie viel ein Notariat Zeugenverhoͤr beweiſe, wann ein
Arreſt ſtatt finde, wann auf die erſte und wann auf die an-
dere Ladung Pfandung erfolge, wie es mit der Pfandung und
dem Verkauf der Pfaͤnder gehalten werde ꝛc. ꝛc. muͤßte un-
ſtreitig von unendlichen Nutzen fuͤr das Landvolk ſeyn, wenn
ſolche demſelben in kurzen und deutlichen Saͤtzen vorgetragen
wuͤrden.



XXXXI.
Schreiben eines Ehrenmitgliedes des loͤb-
lichen Schneideramts, uͤber das neulich zu
Stande gekommene Reichsgutachten.


Sagen Sie mir doch, was ich mit meinem Jungen an-
fangen ſoll? Ich hatte ihn zum Strumpfweber be-
ſtimmt; allein nachdem er in den Zeitungen geleſen, daß die
Soͤhne der Schinder und Gott weis was mehr fuͤr Leute in
Zuͤnfte und Gilden angenommen werden ſollen, kan ich ihn
gar nicht mehr dazu bewegen. Heut ſpricht er, es ſey nichts
beſſer als Soldat zu werden; morgen will er Theologie ſtu-
diren; dann will er Juris practicus werden; und ich ſchließe
aus dem allen ſo viel, daß er endlich lieber aufs Theater ge-
hen, als ein Handwerk lernen wird. Die Sache liegt mir
indeſſen ſehr am Herzen; der Junge hat Verſtand, und ich
habe
[286]Schr. ein. Ehrenmitgl. des loͤbl. Schneideramts,
habe noch ziemliche Mittel. Er koͤnnte einmal was Rechts
in der Handlung thun, wenn er das Strumpfweben oder ein
ander gutes Handwerk ergriffe. Allein verdenken kann ichs
ihm jetzt nicht, daß er fuͤr alles Handwerk einen Abſcheu be-
kommen; und ich waͤre gewiß Procurator geworden, da ich
in meiner Jugend ſchon bis in die fuͤnfte Claſſe ſtudiret hatte,
wenn ich es vorher gewußt haͤtte, daß es ſo gehen
wuͤrde.


Ich weis gar nicht, was die großen Politici denken; Sie
wollen Kuͤnſte und Ackerbau heben, und beſchimpfen doch
beydes. Sind denn der Hurkinder ſo viel, oder verdient der
Eheſtand ſo wenig Befoͤrderung, daß andrer ehrlicher Leute
aͤchte und rechte Kinder ihnen zu Gefallen die Werkſtaͤtte raͤu-
men muͤſſen? Sie werden es doch wohl endlich nicht machen
wollen wie in China, wo die Soͤhne, wie ich gehoͤret habe,
ihrer Vaͤter Handwerk lernen müſſen? Faſt ſcheinet es mir ſo;
wenn ſie alle unehrliche Leute Zunftfaͤhig machen: ſo muͤſſen
ſie die Menſchen nothwendig in die Zuͤnfte zwingen. Denn
aus freyem edlen Triebe wird ſich doch wohl keiner in eine be-
ſchimpfte Geſellſchaft geben; und ein China ſoll ein gleicher
Umſtand jenen Zwang veranlaſſet haben, weil alle Handarbeit
dort veraͤchtlich iſt, und die groͤßte Ehre darinn beſteht, die
laͤngſten Naͤgel an der rechten Hand zu haben, als einen Be-
weis, daß man keine Handarbeit verrichte. a)


In meinen Leben haͤtte ich dieſes nicht gedacht. In unſern
Intelligenzblaͤttern iſt ſo vieles von der nothwendigen Ehre
der Handwerker geſchrieben. Man hat es ſo deutlich darinn
ge-
[287]uͤber dasneul. zu Stande gek. Reichsgutachten.
gewieſen, daß der Mangel der Ehre in Deutſchland daran
Schuld ſey, warum alle jungen Leute die Geld im Beutel
und keine Gruͤtze im Kropfe haben, lieber ſtudiren und Bedie-
nungen ſuchen als in die Werkſtaͤtten gehen wollen, daß ich
glaubte, es wuͤrde den großen Herrn, die ſo viele Achtung fuͤr
Handel und Gewerbe haben, und ſolches auf alle Weiſe in
Flor zu bringen ſuchen, unmoͤglich auch nur einmal einfallen
koͤnnen, das Handwerk vollends um alle Ehre zu bringen,
oder welches einerley iſt, ihre Ehre dergeſtalt zu erweitern,
daß ſie aufhoͤret Ehre zu ſeyn. Doch ich hoffe noch eins. In
Spanien, wie mir unſer Burgerweiſter erzaͤhlt, hat der Ackers-
mann und der Schinder auch einerley Ehre gehabt, und der
Pflug iſt daruͤber ganz ſtehen geblieben. Endlich aber hat der
Koͤnig Philipp der Dritte allen und jeden, welche den
Pflng in die Hand nehmen wuͤrden, nicht allein eine voͤllige
Freyheit von allen Schatzungen und dem Kriegsdienſte, ſon-
dern auch den Adel — jedoch vergeblich angeboten a), und
hoffentlich wird man in Deutſchland dieſem großen Ex-
empel folgen. Das einzige was ich ſodann beſorge, iſt die-
ſes,
[288]Schr. ein. Ehrenmitgl. des loͤbl. Schneideramts,
ſes, daß wenn der Adel ſolchergeſtalt zur gemeinen Ehre wird,
man uͤber fuͤnfzig Jahre darauf fallen werde, ſolchen allem
was von Mutterleibe aͤcht oder unaͤcht gebohren wird, eben-
falls mitzutheilen; und dann ſey Gott dem armen Staate gnaͤ-
dig! Er wird die Handwerker mit baarem Gelde aufmuntern
muͤſſen, und der Fuͤrſt von der Ehre, wodurch die Menſchen
ſich ſonſt ſo ziemlich wohlfeil leiten laſſen, gar keinen Gebrauch
machen koͤnnen.


Im Grunde muͤſſen die Leute, welche am Ruder des Staats
klimpern, kein Gefuͤhl von der gemeiuen Ehre haben, und
nachdem ſie ſich auf eine gewiſſe Hoͤhe geſchwungen, den Reſt
der Menſchen fuͤr einen Haufen Gewuͤrme anſehen, ſonſt wuͤr-
den ſie doch nicht in ſolche Widerſpruͤche verfallen. In Eng-
land, ſagen ſie zwar, wuͤrde alles ohne Unterſcheid in Gil-
den und Zuͤnſte aufgenommen. Allein ich bin auch an der
Themſe geweſen. In Weſtmuͤnſter kam ich bey einem freyen
Meiſter an, aber in der City nicht; und dann iſt doch noch
ein großer Unterſcheid zwiſchen London oder Paris und einer
deutſchen Landſtadt. In jener heiſſen alle Deutſche Barons;
aber wenn ſie in ihre Landſtaͤdtſche Heymath kommen, packen
ſie ihre Reiſeherrlichkeit wieder ein, und erkennen, daß die
Ehre unter Nachbars Kindern einen ganz andern Maasſtab
als in großen Hauptſtaͤdten habe. In der Fremde und in je-
dem großen Orte, ißt, trinkt und ſpielt man mit Leuten die
Geld haben, und bekuͤmmert ſich um ihren Stand nicht; eben
ſo koͤnnen in einem großen Reiche allerhand Leute zu großen
Ehren kommen, wenn ſie aus einer Provinz in die andre ver-
ſetzt werden, aber in einem kleinen Staͤdtgen iſt es ſehr em-
pfindlich, wenn Keſſelbuͤſſer, Glas-Pott- und Duͤppentraͤ-
ger, Schornſteinfeger, Geuchler, Lotterbuben, Boſſenmacher
und andre dergleichen Abentheurer, wie ſie in Herrn Wil-
helms
[289]uͤber das neul. zu Stande gek. Reichsgutachten.
helms Herzogen zu Guͤlich Policeyordnung zuſammengeſetzt
ſind, ſich in unſre Geſellſchaft eindringen, und aller Ehren
faͤhig werden. Dieſe werden wahrlich keine Genies anlocken
ſich unter ihre Obrigkeit zu begeben.


Zwar haben Loͤbl. Reichsſtaͤdte ſich bey dem unlaͤngſt zu
Stande gekommenen Reichsgutachten dieſes vorbehalten, daß
an Orten und Enden, wo die Gilden und Zuͤnf[t]e unmittelbar
an dem Magiſtrate Theil haͤtten, einige Maͤßigung gebrau-
chet werden ſollte. Allein dieſer Vorbehalt macht das Uebel
nur noch aͤrger; denn wenn man dem Handwerke auch dieſen
Theil der Ehre nimmt: ſo wird es gerade noch ſchlimmer wer-
den. Man mache fuͤr den Militairſtand das Geſetz, daß kei-
ner von den Gemeinen jemals Officier werden ſolle; man gehe
weiter und laſſe keinen Officier einige Zeit als Gemeinen die-
nen; und bringe denn Leute aus den Zucht- und Werkhaͤuſern
unter die Fahne: ſo wird man bald ſehen, was daraus fuͤr
eine Rotte werden wird.


Ueberhaupt weis ich nicht was unſre Geſetzgeber mit der
Unehre ſagen wollen. Die Fuͤrſten ſind ohne Ehre des Kay-
ſers, die Grafen ohne Ehre der Fuͤrſten, die Edlen ohne
Ehre
der Grafen, die gemeinen Bannaliſten ohne Ehre der
Edlen, und die Armen in dem Verſtande der Reichsgeſetze,
ohne Ehre der Gemeinen. Muß nun ein jeder dieſe Unehre
tragen, und erfordert das Wohl des Staats, daß jener Unter-
ſcheid ſorgfaͤltig beybehalten werde, warum ſoll er denn eben
bey der groͤßten und nuͤtzlichſten Claſſe der Menſchen hintan-
geſetzet werden? Warum ſoll der Troß im Lager und der ganze
Schwarm von Juden und Marketentern einerley Ehre mit
dem Soldaten haben? Unſre Vorfahren rechneten die Schaͤ-
fer ꝛc. unter die Marketenter, und darinn beſteht dieſer ihre
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Tganze
[290]Schr. ein. Ehrenmitgl. des loͤbl. Schneideramts ꝛc.
ganze Unehrlichkeit, nicht aber in der Schande, zwey Be-
griffe, welche wir zu unſern Zeiten ganz verwechſelt haben.


Ich gebe es zu, daß die Menſchenliebe, ein Wort das in
meiner Jugend gar nicht bekannt war, alle Menſchen zu Bruͤ-
dern mache, und die chriſtliche Religion dieſe Liebe heilige.
Aber wenn Koͤnige und Bettler vor dem Throne Gottes ei-
nerley Staub ſind, und in der Erde von einerley Wuͤrmen
bruͤderlich gefreſſen werden: ſo gilt doch von demjenigen, was
vor dem Throne des allmaͤchtigen Schoͤpfers vorgeht, kein
Schluß auf unſer Gildehaus. Vor jenem liegt die Haupt-
ſtadt, wo ſich alles vermiſcht, hier aber ſitzt man nach der Ord-
nung um den Tiſch, wie es die Ehre erfordert.


Kurz, ein jeder ſieht daß die politiſche Ehrenhaftigkeit ihren
unterſcheidenden Charakter verliere, wenn ſie allen Menſchen
zu theile wird. Die Buͤrgerliebe verwandelt ſich in bloße
Menſchenliebe, und der Stand der Natur, worinn gar keine
politiſche Ehre iſt, tritt in die Stelle der Civilvereinigung.
Ob aber dieſes ein Gluͤck ſey, was wir wuͤnſchen muͤſſen, und
wodurch wir Kuͤnſte und Ackerbau in Aufnahme bringen wer-
den, moͤgen andre beurtheilen. Genung mein Junge ſoll in
Deutſchland kein Handwerk treiben, ſondern allenfals in die
Laͤnder reiſen, wo er ſich ohne Schimpf mit andern vermi-
ſchen kan.


Ich bin ꝛc.



XXXXII.
[291]

XXXXII.
Ueber die zu unſern Zeiten verminderte
Schande der Huren und Hurkinder.


Sie haben wohl recht in ihrem letzten Schreiben zu
fragen:
Ob denn der Hurkinder ſo viel waͤren und der Eheſtand
ſo wenig Befoͤrderung verdiene, daß andrer ehrlicher
Leute echte und rechte Kinder ihnen zu Gefallen die Werk-
ſtaͤtten raͤumen muͤßten?

Denn ſeit zehn oder zwanzig Jahren iſt in manchen Laͤndern
fuͤr die Huren und ihre Kinder mehr geſchehen als in tauſend
Jahren fuͤr alle Ehegemahlinnen, Ehegattinnen und Ehe-
genoßinnen. Jeder Philoſoph, ſo bald er nur gekonnt, hat
ſich gleich bemuͤhet, die unechten Kinder und ihre Muͤtter ſo
viel moͤglich von aller Schande zu befreyen, und ſich um das
ganze menſchliche Geſchlecht verdient gemacht zu haben geglaubt,
wenn er die armen unſchuldigen Fruͤchte einer zwar verbote-
nen aber leider allezeit verfuͤhriſchen Liebe von allem Vorwurfe
befreyet. Groß ſind unſtreitig die Bewegungsgruͤnde dazu
geweſen. Natur, Menſchheit, und Menſchenliebe haben
laut zum Lobe ſolcher Anſtalten geſprochen. Allein im Grunde
iſt es doch die unpolitiſche Philoſophie unſers Jahrhunderts,
welche hier ihre Macht zeiget. Es iſt wiederum die neumo-
diſche Menſchenliebe, welche ſich auf Koſten der Buͤrgerliebe
erhebt. Es iſt hoͤchſtens die chriſtliche Barmherzigkeit, welche
hier eine Luͤcke der Civilverfaſſung ausfuͤllt, die aber nicht er-
T 2zwun-
[292]Ueber die zu unſern Zeiten vermind. Schande
zwungen werden muß. Die Frage iſt nicht ſo ſchlechterdings
von der Stimme Natur, und von den Rechten der Menſch-
heit, wenn es auf buͤrgerliche Rechte ankoͤmmt. Im Stan-
de der Natur iſt keine Ehe, und ſo bald man die Begriffe hie-
von aus dem Stande der Civilvereinigung in den Stand der
Natur uͤbertraͤgt: ſo begeht man eine gefaͤhrliche Vermiſchung,
deren Folgen in der That ſchaͤdlicher ſind, als man ſich ein-
bildet.


Iſt es wahr, daß die Ehe ihre großen Beſchwerden habe;
iſt es wahr, daß viele ihr den ledigen Stand vorziehen: ſo iſt
nothwendig alles dasjenige was den ledigen Stand beguͤnſtiget,
und was ihm alles Vergnuͤgen, was die Ehe gewaͤhret, ohne
jene Beſchwerden verſchaffet, unpolitiſch und wider die wahre
Wohlfahrt des Staats, nachdem es eine ausgemachte Wahr-
heit iſt, daß aus einer Ehe mehr Kinder gebohren werden,
als aus dreyen unerlaubten Verbindungen. Es iſt unpoli-
tiſch, den Hurkindern einerley Ehre mit den aͤchtgebohrnen zu
geben, weil dadurch der ſtaͤrkſte Bewegungsgrund fuͤr die Ehe
wegfaͤllt. Es iſt unpolitiſch, den ungluͤcklichen Muͤttern jener
verbotenen Fruͤchte ihre vorige Achtung zu erhalten, weil eben
die Furcht fuͤr den Verluſt derſelben das wahre Mittel ſeyn
ſoll, die Ehen zu befoͤrdern. Es iſt unpolitiſch, dem eheloſen
Leben im burgerlichen Stande, gleiche Wohlthaten mit dem
ehlichen zu verleihen, weil der Hausſtand einer Familie dem
Staate mehr nutzt und mehr beytraͤgt als der Stand loſer
Geſellen.


Unſre Vorfahren, die nicht nach Theorien urtheilten, ſon-
dern ſich durch Erfahrungen leiten ließen, forderten immer
zuerſt den Geburtsbrief, wenn ſie einen in ihre Gilden oder
Geſellſchaften aufnehmen ſollten; ſie heyratheten nur aͤchtge-
bohrne Toͤchter; ſie druͤckten die Fruͤchte einer verbotenen
Liebe
[293]der Huren und Hurkinder.
Liebe mit einer beſtaͤndigen Verachtung; ſie flochten Kraͤnze fuͤr
unbefleckte Braͤute; und hatten tauſenderley Erfindungen ih-
ren Ehrentag zu ſchmuͤcken; und warum dieſes? blos um alle
Ehre und alle buͤrgerliche Wohlthaten fuͤr den Eheſtand auf-
zuheben und dieſen dadurch zu befoͤrdern. Haͤtte dieſen je-
mand beweiſen wollen, daß die unaͤchten Kinder insgemein
mehr Genie als andre, und an dem Verbrechen ihrer Eltern
keine Schuld haͤtten; haͤtte ihnen jemand nach den Grund-
ſaͤtzen wilder Voͤlker vormahlen wollen, daß die groͤßten Hu-
ren nothwendig die ſchoͤnſten, angenehmſten und liebenswuͤr-
digſten ſeyn muͤßten, weil ſie ſo fruͤh und allgemein geſucht
worden: ſo wuͤrden ſie gewiß geantwortet haben? Dieſe
Gruͤnde ſind richtig im Stande der Natur aber der Abſicht
einer Civilvereinigung nicht gemaͤs.


Man glaube indeſſen nicht, als wenn ſie nicht auch die
Schwierigkeit gefuͤhlet haͤtten, welche unſre Philoſophen be-
wegt, mit den Huren Mitleid zu haben. Der Sack, worinn
ſie diejenigen von ihnen ertraͤnkten, welche einen Kindermord
begangen, um ſich von der Schande zu befreyen, zeigt nur
gar deutlich, durch welchen Weg ſie der zufaͤlligen Wuͤrkung
einer fuͤr das gemeine Beſte des Eheſtandes nothwendigen
Schande begegnen wollen. Er zeigt deutlich, daß ſie ebenfalls
das menſchliche Herz gekannt, es aber fuͤr ſicherer gehalten
haben die Strafe ſonderbar und erſchrecklich zu machen, als
jene Schande zu vermindern. Unſre neuen Philoſophen hin-
gegen vermindern die Schande ohne einmal die Strafe ſo zu
ſchaͤrfen, wie ſie unſre Vorfahren geſchaͤrfet haben; und ſchwer-
lich werden ſie doch auf dieſem Wege das wahre Ziel erreichen,
oder ſie muͤſſen den Eheſtand ganz aufheben, und einer ledi-
gen Mutter mit der verehligten gleiche Vorzuͤge einraͤumen.


So lange dieſes nicht geſchicht; ſo lange die Verachtung,
welche man einem geſchwaͤchten Weibsbilde zeigt, durch eine
T 3ganz
[294]Ueber die unſern Zeiten verminderte Schande
ganz neue Art von Erziehung nicht ausgerottet wird; ſo lange
jeder ehrliche Mann ſich ſcheuet eine ſolche Perſon zu heyra-
then, eben ſo lange wird auch die ſtaͤrkſte Verſuchung zum
Kindermord bleiben, und die Bemuͤhungen der Geſetzgeber
vereiteln.


Außerdem aber iſt die Ehre allezeit ein uͤberaus großes Mit-
tel, um dem Laſter zu ſteuren und die Tugend zu erhalten. In
Laͤndern wo die Ehre ihren Werth verliert, muͤſſen die Strafen
nothwendig grauſam werden; und es ſcheinet mir uͤberaus be-
denklich zu ſeyn, die Schande eines Verbrechens, wozu die
Verſuchung allemal gleich ſtark bleiben wird, zu vermindern,
um ſich hernach in die Nothwendigkeit grauſamer Strafen zu
ſetzen.


So vernuͤnftig und billig die Schande iſt, womit unſre
Vorfahren dem echten Stande zum Beſten eine Hure belegt
haben; eben ſo gerecht und vernuͤnftig iſt auch der Flecken,
womit ſie die unechten Geburten bezeichnet. Es tritt hier
eben derſelbe Grund ein, und der Vorzug aus einem reinen
Ehebette erzeugt zu ſeyn, muß allen heilig ſeyn, welche den
Eheſtand zu befoͤrdern wuͤnſchen. Nach den goͤttlichen Ge-
ſetzen muͤſſen die Kinder bis ins vierte Glied ihrer Vaͤter Miſ-
ſethat tragen, um dieſe ſo viel kraͤftiger abzuhalten ſich mit
Suͤnden zu beflecken; warum will der philoſophiſche Geſetz-
geber hier den goͤttlichen verbeſſern? Die Mißheyrath eines
Edelmanns wirkt unter dem Schutze der Geſetze bis ins vierte
Glied, warum ſollte die unehliche Vermiſchung im buͤrgerli-
chen Stande nicht unter gleicher Beguͤnſtigung auf das erſte
Glied wuͤrken? Die Rechte der Menſchheit werden in beyden
Faͤllen keinem genommen. In beyden Faͤllen findet nur eine
Ausſchließung von gewiſſen Wohlthaten ſtatt, die der Adel
fuͤr vollbuͤrtige und der Buͤrger fuͤr echte Kinder ausgeſetzt
hat.
[295]der Huren und Hurkinder.
hat. In beyden Faͤllen ſind den Miß- und Wahnbuͤrtigen tau-
ſend Wege offen, die Forderungen der Menſchheit zu befriedi-
gen, ohne daß man dieſerhalb noͤthig hat, eine auf hoͤhere
Urſachen gegruͤndete Politick zu veraͤndern.


Das Recht der Echtſchaft, was die nachfolgende Ehe er-
theilet, iſt als eine große und weiſe Ausnahme von dieſer Re-
gel bey allen geſitteten Voͤlkern zugelaſſen. Die Echtſprechung,
welche der Landesherr aus beſonders bewegenden Urſachen
verrichtet, iſt eine billige Nothhuͤlfe fuͤr auſſerordentliche Faͤlle.
Die Echtſprechung des Comitis palatini mag geduldet wer-
den, wenn ſie nicht ferner zu einer elenden Geldſchatzung
herab ſinkt. Allein ein allgemeines Geſetz, wodurch unechte
Kinder den echten gleich gemacht werden, iſt ein ſolcher Feh-
ler gegen die Politick, daß ich nicht ſehe, wie die Menſchen-
liebe unſrer Zeiten ihn entſchuldigen wolle.


Ich bin ꝛc.



XXXXIII.
Warum die Abdeckerey in Deutſchland
ohne Ehre ſey?


Nichts gleicht einem Vorurtheile ſo ſehr als die Meinung
der Menſchen, daß das Abdecken eines gefallenen Stuͤck
Viehes ſchimpflicher ſey, als das Abſtreifen eines geſchlachteten,
und man hat ſchon mehrmals den Deutſchen das Exempel der
Hollaͤnder und andrer Nationen vorgehalten, bey welchen
dieſer Unterſcheid nicht hergebracht iſt. Indeſſen kan das
Vorurtheil doch einen ſehr großen Grund gehabt hoben, und
T 4man
[296]Warum die Abd. in Deutſchl. ohne Ehre ſey?
man thut wohl eine lange beſtandene Gewohnheit nicht ſo
gleich zu ſchelten; unſre Vorfahren waren auch keine
Narren.


Geſetzt, ſie haͤtten in den Zeiten, wo man noch keine ſolche
oͤffentliche Caſſen und Steuren hatte wie jetzt, einen Nach-
richter noͤthig gehabt; geſetzt weiter, ſie haͤtten demſelben fuͤr
ihre Perſonen oder von ihren Hoͤfen jaͤhrlich kein gewiſſes
geben und ſich in eine verhaßte Zinspflicht ſetzen wollen: was
konnten ſie beſſers thun, als ihm zur Beſoldung das Abdecken
zu geben? Und wie konnten Sie den Landmann, ohne ihre
Anſtalt nach der neuen Art mit ſchweren Geldſtrafen oder
Karnſchieben zu vertheidigen, ſchaͤrfer binden, und dem
Nachrichter ſein Gehalt beſſer verſichern, als dadurch daß ſie
das Abdecken unehrlich machten, und den Abdeckern zu Aus-
uͤbung ihrer Controlle gewiſſe empfindliche Ceremonien
erlaubten?


Dieſe Erfindung ſcheint mir feiner zu ſeyn, wie ein Car-
tenſtempel, worauf man zu unſer Zeit verfallen ſeyn wuͤrde;
und man ſieht leicht ein, daß in allen Laͤndern, wo die Vieh-
zucht ſtark, oder eine große Hauptſtadt iſt, die den Nachrich-
ter mit ſeinen Knechten auf andre Art beſolden kan, das Ab-
decken jedem Landmanne frey geblieben. In jenen waͤre die
Beſoldung zu groß, und in dieſer unnoͤthig geweſen. Die
Philoſophen die das Abdecken ſo gern wieder ehrlich machen
moͤgten, ſollten erſt ein beſſer Gehalt fuͤr den Nachrichter
ausmachen, oder die Verrichtungen deſſelben aus Menſchen-
liebe ſelbſt uͤbernehmen.



XXXXIIII.
[297]

XXXXIIII.
Unterſchied zwiſchen der Ehre in großen
und in kleinen Staͤdten.


Wie’groß der Unterſchied der Ehre und einer rechtſchaf-
fenen Empfindung in einer unermeßlichen Hauptſtadt
und den kleinen Haupt- und Landſtaͤdten Deutſchlandes ſey;
und wie wenig ſich allenfalls von der Gildefaͤhigkeit eines
Hurkindes in London, ein Exempel zur Nachfolge nehmen
laſſe, mag folgende Stelle eines Briefes von Herr Lovell,
welchen wir in der London-Chronik vom 19-21 Oct. 1773
leſen, beweiſen.


.... Der Streit zwiſchen mir und Herrn Altermann
Wilkes ſteht jetzt alſo. Er ſagt, ohne es zu beweiſen,
ich ſey ein Baͤrenhaͤuter: ich haͤtte Stockpruͤgel empfan-
gen und mich nur mit Thraͤnen vertheidiget … ich ſage
und kan ihn ſtehendes Fußes uͤberfuͤhren, er ſey ein nie-
dertraͤchtiger Betruͤger, der jede Gelegenheit genutzet,
wo er ſeine Freunde oder das Publicum beſtehlen koͤnnen;
ich ſage, um von vielen weniges anzufuͤhren, daß er
Sylvien ſchelmiſch behandelt, daß er ſeine dem Capitain
Bodens gegebene Handſchrift abgeleugnet; daß er einem
franzoͤſiſchen Juwelier um eine große Summe ſchaͤnd-
lich betrogen — ich ſage, daß er die ihm anvertraueten
Caſſen des Fuͤndlings-Hoſpitals und der Militz von
Bukkingham beſtohlen; und daß er waͤhrend der Zeit fuͤr
einen rechtſchaffenen Patrioten angeſehn ſeyn wollte, ſich
von dem vorigen Miniſterio mit einer Penſion von tau-
T 5ſend
[298]in großen und kleinen Staͤdten.
ſend Pfund beſtechen laſſen; ich ſage, daß in der Zeit
ſeine Freunde ihm tauſend Pfund gaben, und ſeine
Schulden zu bezahlen ſich anheiſchig machten, er die vier-
tauſend Pfund, welche ihm Milord Hallifax bezahlen
muſte, zu Beutel geſteckt, und nicht allein nichts davon
ſeinen Glaͤubigern gegeben, ſondern eine verfaͤlſchte Liſte
von nie gehabten Schulden aufgeſtellet und ſeine Freun-
de ſolchergeſtalt ums Geld geſchneutzt habe; ich ſchließe
daraus daß er ein Schelm, ein notoriſcher Betruͤger, ein
Spitaldieb, ein Miniſterialheuerling, und ein Raͤuber
ſeiner Wohlthaͤter ſey, bey dem allen aber, noch die ab-
ſcheuliche Unverſchaͤmtheit beſitze ſich dieſer Stadt Buͤr-
gerſchaft zum Lord Maire aufzudringen. ..........

Wuͤrde nicht in Deutſchland ſich alles gegen den Verfaſſer
und Drucker ſolcher unter oͤffentlicher Autoritaͤt bekannt wer-
denden Aufſaͤtze auflehnen? Was geſchieht aber hierauf in
London? Man ließt es und lacht daruͤber, und Herr Wilkes
antwortet ſeinem Gegner in eben dem Tone. Nun ſchließe
man von einer Ehre auf die andre.



XXXXV.
Der Galgen iſt fuͤr uns und fuͤr unſre
Kinder.


Man erzaͤhlt es ſich im Scherze, daß eine gewiſſe Stadt
uͤber ihren Galgen oder uͤber ihren Pranger, ich weis
es nicht genau, welcher von beyden es war, die Worte ge-
ſetzt haͤtte: Dieſer iſt für uns und unſre Kinder. Es fehlt
aber doch auch nicht an Gelegenheiten, wo eine ernſtliche An-
wen-
[299]Der Galgen iſt fuͤr uns und fuͤr unſre Kinder.
wendung davon gemacht worden. Aus einer gewiſſen Stadt
ſchickte man vor einigen Jahren die Miſſethaͤter auf ein nahe
gelegenes Amt, um an ihnen dort das Urtheil vollziehen zu
laſſen. Anfangs achteten deſſen Eingeſeſſene darauf nicht;
wie ſie aber gar zu oft aufgeboten wurden, einen armen Suͤn-
der zur Gerichtſtatt zu begleiten, denſelben zu fahren, den
Galgen dafuͤr zu errichten und andre damit verknuͤpfte Be-
ſchwerden zu uͤbernehmen: ſo fiel es ihnen endlich ein, einen
Rechtsgelehrten daruͤber zu vernehmen, und dieſer wußte
die Sache nicht beſſer zu entſcheiden, als daß er ihnen ſagte:
Der Galgen iſt blos fuͤr euch und fuͤr eure Kinder. Der
Amtmann, wie er dieſes hoͤrte, ſtimmete mit ein, und fuͤhlte
gleich, daß er auch nicht ſchuldig waͤre, jedem ſchlechten Kerl, der
dahin geſchickt wurde, zum Galgen vorzureiten; und der Pfar-
rer wegerte ſich aus einem gleichen Grunde, dergleichen Wechſel-
baͤlge fuͤr die gewoͤhnliche Gebuͤhr zu begleiten. Einem fremden
Diebe, der in meiner Pfarre ergriffen wird, fuͤgte er wohlbedaͤcht-
lich hinzu, binich dieſen letzten Dienſt ſchuldig; ſo wie ich auch ei-
nem fremden, der in meinem Kirchſpiel ſtirbt, ein Plaͤtzgen goͤn-
neu muß. Dies iſt ein Nothrecht, und den es trift den trift es;
aber mir ſolche nach Belieben zuſchicken zu laſſen, ſie drey Tage
und drey Naͤchte zum Tode zu bereiten, und dafuͤr nur die
gewoͤhnliche Gebuͤhr zu erhalten, das iſt in der That etwas
hart. Die Obrigkeit fand die Vorſtellung gegruͤndet, und
verordnete, daß die Vollſtreckung der peinlichen Urtheile
kuͤnftig unter den Aemtern in der Reihe herumgehen, und
ſolchergeſtalt die Gleichheit wieder hergeſtellet werden ſollte.


Es waͤhrete nicht lange: ſo ſollte ein Dieb gerichtet werden,
der auf einem freyen Hofe, deſſen Beſitzer nicht mit zur Ge-
richtsfolge gehoͤrte, ergriffen war. Deſſen Beſitzer und ſei-
nem Geſinde, ſagten die Amtsunterthanen, ſind wir den letz-
ten Liebesdienſt ſchuldig; denn er hat ſeine Vorrechte ehedem
um
[300]Der Galgen iſt fuͤr uns
um uns verdient. Aber wenn er andre Leute aufnimmt und
heget, ſo mag er auch ſehen wie nnd wo er ſie haͤngt; unſer
Galgen iſt fuͤr uns und unſre Kinder, und da jener mit uns
nicht zur Leiche gekommen: ſo ſind wir auch nicht ſchuldig ihn
zu begleiten. Er kan ſo wenig unſre Folge als eine Galgen-
ſtaͤtte auf unſer Gemeinheit von gemeiner Pflicht wegen for-
dern. Wir ſind nicht ſchuldig ein Gefaͤngniß fuͤr ihn zu er-
halten, ihn dort zu bewachen, und den Scharfrichter fuͤr ihn
zu holen. Wer den Vortheil davon hat, mag ſich auch des
Schadens nicht erwaͤhren. ..... Der Proceß hieruͤber
waͤhrte lange, und wurde endlich dahin verglichen, daß der
Beſitzer des freyen Hofes jaͤhrlich eine Tonne Bier und einen
Schinken an die Gemeinheit dafuͤr entrichten ſollte, daß ſeine
Hinterſaſſen mit unter die Kinder aufgenommen wuͤrden, fuͤr
welche der Galgen gehoͤrte; der Amtmann und der Pfarrer
ſollten, ſo oft ſich der Fall zutruͤge, beſonders dafuͤr erkannt
werden, wenn ſie die Begleitung nicht aus Gefaͤlligkeit uͤber-
nehmen wollten.


Der Landesherr, dem dieſes als ein Geſchichtgen erzaͤhlet
wurde, nahm aber die Sache ganz ernſtlich auf. Nein,
ſagte er, dieſes ſoll nicht geſchehn, der Galgen iſt fuͤr meine
getreuen Unterthanen, die ihn bauen und erhalten, und mich
durch Steuren, Schoß und Bruͤchten in den Stand ſetzen,
die peinliche Gerichtsbarkeit zu ihrer Sicherheit auszuuͤben.
Iſt alſo jemand in meinem Lande, der Leute in ſeinem Be-
zirke hat, die nicht zur gemeinen Folge kommen, der mag
auch fuͤr Wachen, Gefaͤngniß, Scharfrichter und Galgen
ſorgen.


Auf dieſe Weiſe, warf die Fuͤrſtin ein, wuͤrde auch mein
Spinnhaͤusgen, was mit lauter fremden Landſtreichern be-
ſetzt iſt, nur fuͤr Ihre getreuen Unterthanen ſeyn muͤſſen.


Aller-
[301]und fuͤr unſre Kinder.

Allerdings, antwortete der Fuͤrſt, ich habe es lange ſagen
wollen, daß Euer Liebden hierinn zu weit giengen. Das
Spinnhaͤusgen hat uͤber zwanzig tauſend Thaler zu bauen ge-
koſtet, und erfordert jaͤhrlich noch an die tauſend Thaler,
wenn wir alles rechnen. Warum ſollen meine getreuen Un-
terthanen, welche doch am Ende alles bezahlen muͤſſen, mit
einer ſolchen Schatzung einigen fremden Landſtreichern zum
Beſten belaſtet werden? Die Fremden ſind Feinde; wir ſind
ihnen kein Recht ſchuldig; und wir werden ſie, wenn ſie es
verdienen, als Sklaven auf die Galeeren verkaufen, oder
wenn ſie nicht ſo viel verbrochen haben, an ein benachbartes
Werbehaus mit der Bedingung abliefern laſſen, daß es die-
ſelben in guter Zucht und auf hundert Meile von unſern
Graͤnzen halten ſolle. Kommen ſie denn wieder: ſo ſollen
ſie ohne Proceß und ohne Begleitung an den erſten Baum
haͤngen. Das Spinnhaͤusgen iſt denn allein fuͤr unſre ge-
treuen Unterthanen, die wenn ſie daraus laufen, das Land
von ſelbſt raͤumen, oder wo ſie wieder kommen, als Fremde,
die ihr Buͤrgerrecht verlaufen haben, haͤngen ſollen.


Aber … ſagte die Fuͤrſtin, jedoch nur um das letzte
Wort zu behalten.



XXXXVI.
[302]Der nothwendige Unterſcheid

XXXXVI.
Der nothwendige Unterſcheid zwiſchen dem
Kaufmann und Kraͤmer.
*)


Billig ſollten die Kaufleute uͤberall von den Kraͤmern un-
terſchieden, fuͤr ſie der erſte Rang, fuͤr die Kraͤmer
aber der unterſte nach den Handwerkern ſeyn. Billig ſollte
jede Stadt zwiſchen beyden die genaueſte Graͤnzlinie ziehen,
und keinen der Ehre eines Kaufmanns genießen laſſen, der
nicht fuͤr eine beſtimmte Summe einheimiſcher Producten jaͤhr-
lich auſſerhalb Landes abſetzte, oder fuͤr eine gleichfalls be-
ſtimmte Sunme einheimiſche Fabricanten mit rohen Materia-
lien verlegte, oder auch ſonſt einen großen Handel von auſſen
nach auſſen triebe. Jede Stadt koͤnnte hierinn ihr eignes
Maaß halten; ein Landſtaͤdtgen koͤnnte denjenigen als einen
Kaufmann verehren, der jaͤhrlich nur tauſend Thaler auf ſolche
Art umſetzte; und groͤßere Staͤdte koͤnnten auf zehn, zwan-
zig, hundert und mehrere hundert tauſend Thaler ſteigen, um
die Summe zu beſtimmen, durch deren Verkehr einer das
Recht zu dem Namen und den Vorzuͤgen eines Kaufmanns
erlangen ſollte. Mit der Kaufmannsſchaft waͤre ſodann auch
die hoͤchſte Ehre und Wuͤrde verknuͤpft; ſo wie im Gegentheil
der Kraͤmer von allen hoͤhern Ehrenſtellen in der Buͤrgerſchaft
voͤllig ausgeſchloſſen ſeyn muͤßte. In den mehrſten großen
Staͤdten iſt dieſer Unterſcheid vor Zeiten eingefuͤhrt geweſen,
und
[303]zwiſchen dem Kaufmann und Kraͤmer.
und in der Welt koͤnnte die Ehre nicht nuͤtzlicher als auf dieſe
Weiſe angelegt werden. Im Gegentheil kan man nicht un-
politiſcher verfahren, als daß man diejenigen, welche allen
einheimiſchen Fleiß unterdruͤcken, und auf nichts anders den-
ken, als an ausheimiſchen Sachen zu gewinnen, mit jenen
vermiſcht, und beyde in eine Claſſe ſetzt.


Die Ehre und der Rang, welchen ſich die Kraͤmer mit den
Kaufleuten und uͤber die Handwerker erworben haben, iſt un-
ſtreitig die offenbarſte Erſchleichung, welche jemals die ge-
ſunde Vernunft erlitten hat. Denn es gehoͤrt gewiß ſehr we-
nig Kunſt dazu um hundert Pfund Zucker, Koſſee oder Ro-
ſinen in Empfang zu nehmen, und bey kleinern Theilen wie-
der auszuwiegen. Die ganze Buchhaltung beſteht hier in
Anſchreiben und Ausloͤſchen, und die ganze Rechenkunſt in
der armen Regel de Tri. Hundert Leute haben ſich auf dem
Land[e] niedergelaſſen und die Kraͤmerey ergriffen, ohne ſie je-
mals gelernet zu haben, und hundert Frauen ſind in die Bou-
tiquen gekommen, welche niemals vorher in der Handlung
unterrichtet worden. Aber unter Millionen Menſchen wird
kein einziger auf einem ſo leichten Wege ein geſchickter Schnei-
der oder Schuſter und unter hundert, die das Handwerk ge-
lernet haben, findet man oft nur einen, der es in einem vor-
zuͤglichen Grade verſteht. Zum Handwerke wird alſo offen-
bar weit mehr Kunſt und Geſchicklichkeit erfordert, als zur
Kraͤmerey, und es iſt ein wichtiger Staatsfehler, die Kunſt
unter jene herabzuſetzen.


Ueberhaupt waͤre es gar nicht noͤthig eine eigne Claſſe von
Kraͤmern, oder eine ſo genannte Kraͤmergilde zu haben. Die
ganze Kraͤmerey ſollte eine Ergoͤtzung fuͤr die Handwerker und
ihre Frauen ſeyn. In dem mehrſten großen Handelsſtaͤdten
hat der Handwerker ſeine Werkſtaͤtte hinten im Hauſe, und
gleich
[304]Der nothwendige Unterſcheid
gleich beym Eintritt glaͤnzt die Wohlausſehende Frau in ihrem
Kramladen. Mit dieſer Einrichtung ſind unzaͤhlige Vortheile
verknuͤpft. Die Frau des Schneiders handelt mit Muͤtzen,
Saloppen und andern dergleichen Waaren, die der Mann
entweder ſelbſt machen, oder doch eben ſo leicht als ein Kraͤ-
mer anſchaffen kan. Der Mann bekoͤmmt, wenn letzters ge-
ſchieht, alle neue Moden in die Haͤnde, er aͤndert darnach
ſeine eigene Arbeit, beſſert an den empfangenen, lernt nach-
ahmen, nutzet alle Kleinigkeiten und bedient ſich aller Vor-
theile ſeines Amts. Auf gleiche Weiſe verfahren alle andre
Handwerker. Ihre Frauen handeln mit ſolchen Waaren, wor-
unter der Mann immer noch etwas von ſeiner eignen Arbeit
mit verkaufen, oder woran er durch aͤndern, beſſern oder zu-
ſetzen etwas gewinnen kan. Alles was an den Waaren zer-
brochen oder verdorben iſt, verſtehet er durch ſeine Kunſt zu
erſetzen; er bedarf keiner fremden Hand wie der Kraͤmer,
und verſteht die gute Erhaltung und Bewahrung der in ſein
Handwerk ſchlagenden Waaren beſſer als wie dieſer, der oft
nicht weiß ob eine Waare ſich in trockener oder feuchter Luft,
in Holz oder Glas, auf dem Boden oder im Keller am beſten
erhalten will. Der Handwerker, der bey dieſer Gelegenheit
die fremden Preiſe kennen lernt, und findet, daß ſie geringer
ſind als er ſie in ſeiner eignen Arbeit geben kan, ſinnet den
Kunſtgriffen nach die der Fremde gebraucht; entdeckt das ver-
faͤlſchte oder unvollkommene mit einem halben Auge, und er-
findet durch ſeine kunſtmaͤßige Einſicht ſo gleich einen Vortheil,
wodurch er den Fremden wieder uͤberholet.


Und wer kan ein groͤßerer Kenner von Waaren ſeyn, als
der Handwerker der ſolche taͤglich ſelbſt verfertiget? wer kennt
die Farben beſſer als ein Faͤrber oder Mahler? wer Rauch-
und Lederwerk, wer Wolle und Filz, wer Metall und Eiſen-
waaren beſſer als diejenigen ſo darinn arbeiten? und wer kan
ge-
[305]zwiſchen dem Kaufmann und Kraͤmer.
geſchickter und faͤhiger ſeyn die Kraͤmerey mit den dahin gehoͤ-
rigen Sachen zu treiben, als eben dieſe? Warum wird nicht
dem Handwerker oder deren Frauen eine eingeſchraͤnkte Art
von Handel damit geſtattet? und was braucht man eigne Kraͤ-
mer, deren Vortheil immer gerade dem Vortheil der Hand-
werker entgegen ſteht; der ſelbſt keine Waare kennet, und bloß
nach dem Scheine urtheilet, ſelbſt betrogen wird und andre
wieder vetriegt?


Gleichwohl iſt es ein Verbrechen der beleidigten Buͤrger-
ſchaft, ſo oft ein Schneider mit Nehenadeln, oder ein Mah-
ler mit Farben handelt; oder ein Schmidt fremde eiſerne
Waare, die auf Huͤtten und großen Fabriken wohlfeiler ge-
macht werden, mit durchſetzt, oder daran eine Politur und
Verbeſſerung gewinnet? Unſre Vorfahren haben zwar den
Grundſatz gehabt, die Zweige der buͤrgerlichen Nahrung ſo
viel thunlich zu trennen, um die Zahl der buͤrgerlichen Fami-
lien zu vermehren, und zu verhindern daß nicht eine maͤchtige
Hand alles an ſich ziehen, und anſtatt den Staat mit ſeßhaf-
ten Buͤrgern zu vermehren, mit einer Menge fluͤchtiger Ge-
ſellen arbeiten moͤgte. Dieſe Grundſaͤtze waren gut, und blei-
ben allezeit richtig, wenn auch ein Reichsabſchied die unend-
liche Anzahl von Geſellen der Vermehrung buͤrgerlicher Fami-
lien vorzieht. Allein unſre Vorfahren haben es nie gearg-
wohnet, daß eine Zeit kommen wuͤrde, worinn die Kraͤmer
alle Ehre und Geld an ſich ziehen, und mit Huͤlfe von bey-
den ihre Mitbuͤrger die Handwerker verdunkeln und erſtuͤcken
wuͤrden. Bey dieſen offenbaren Verfall wuͤrden ſie nicht ih-
ren Plan geaͤndert, aber ſicher eine Wendung in ihre Poli-
cey gemacht, den Kaufmann erhoben, den Kraͤmer herunter
geſetzt und den Handwerker durch neue Privilegien beguͤnſti-
get haben. Dieſes haͤtten ſie nach ihrer großen Einſicht ge-
wiß gethan, und ich ſehe keinen Grund ein, warum nicht eben
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Udieje-
[306]Der nothwendige Unterſcheid
diejenigen die den Kraͤmern unter andern Umſtaͤnden Vor-
zuͤge eingeraͤumet haben, ſolche auch, nachdem es die gemeine
Wohlfart erfordert, wieder mindern ſollten?


Das Recht mit Thee, Koffee, Zucker, Weine und der-
gleichen zu handeln koͤnnte den eigentlichen Kanfleuten ver-
bleiben. Jeder der vor dem vertrauten Ausſchuſſe darlegte,
daß er z. E. fuͤr zehntauſend Thaler jaͤhrlich einheimiſche Lin-
nen- oder Wollenwaare verſchickte, koͤnnte dabey fuͤglich das
Recht haben, mit jenen Waaren allein zu handeln. So wuͤrde
die Kraͤmerey eine Nebenſache des Kaufmanns, und nur der
Patriot der mit der einen Hand ſeine Mitbuͤrger hoͤbe, haͤtte
die Befugniß ſich mit der andern durch ſolche Waaren, welche
ſich nicht fuͤglich fuͤr Handwerker ſchicken, zu bereichern. Die-
ſes waͤre eine gerechte Vergeltung, und weil die Kraͤmerey
dadurch zugleich zu einem bloßen Nebenzweige gemacht wuͤr-
de: ſo duͤrfte man auch ſo leicht nicht fuͤrchten, daß einer ſich
zu ſehr darauf legen wuͤrde. Der Kaufmann, der einheimi-
ſche Producte im Großen verſchickt, hat eine edlere Seele;
er denkt groͤßer, und hebt ſeinen Mitbuͤrger um ſeinen vor-
zuͤglichſten Handel durch ihn zu befoͤrdern. Dieſes iſt eine
natuͤrliche Folge der menſchlichen Denkungsart, und die Ehre
ein Kaufmann zu ſeyn, und durch dieſen Namen ſich den Weg
zu den hoͤchſten buͤrgerlichen Wuͤrden zu bahnen, wuͤrde ihn
ſcharfſinnig machen neue Erwerbungsmittel fuͤr ſeine Mitbuͤr-
ger auszuſinnen, um auf dieſe Weiſe durch neue Zweige ſei-
nen Handel und ſeine Ehre zu erhalten.


Bis dahin dieſe guten Wuͤnſche erfuͤllet ſeyn, muß man es
als eine Gluͤckſeligkeit unſerer Zeiten anſehen, daß allmaͤhlig
große Kraͤmer entſtehen, deren jeder zwanzig kleinere ver-
ſchlingt. Die kleinen Raubvoͤgel die unſre guten Handwer-
ker zuerſt verzehret haben, werden ſolchergeſtalt ein Raub der
Groͤſ-
[307]zwiſchen den Kaufmann und Kraͤmer.
Groͤßern, und da es nicht eines jeden Sache iſt, ſo gleich ein
großer Kraͤmer zu werden: ſo muß man hoffen, daß unter
dieſen Aſpecten ſich wenige der kleinen Kraͤmerey widmen
werden. Man muß hoffen, daß dadurch mancher ſich bewe-
gen laſſen werde ſich wieder zum Handwerk zu wenden, und
daß endlich die Handwerker, wann es zuletzt nur noch auf ei-
nige wenige Feinde ankommt, dieſe uͤberwaͤltigen und durch
eine neue und verbeſſerte Einrichtung ſich Ehre und Recht ver-
ſchaffen werden.



XXXXVII.
Jeder zahle ſeine Zeche.


Die Anzahl der Fuͤndlinge hat ſich voriges Jahr in Pa-
ris um zweytauſend vermehrt. Dies iſt doch ein ſtar-
ker Beweis der herrſchenden Unordnung, duͤrfte mancher em-
pfindſamer Reiſender ſagen; aber vermuthlich iſt es nichts we-
niger, und beweiſet dieſer ſtarke Zuwachs hoͤchſtens nur, daß
alle Generalcaſſen und Generalaufſeher mehr hintergangen
werden, wie andre ehrliche Leute, die entweder blos ihre eigne
Haushaltung fuͤhren, oder die ihnen anvertraute Gemein-
heilsausgaben voͤllig uͤberſehen koͤnnen. Unſre guten ehrlichen
Vorfahren hielten daher nichts von Generalcaſſen. Der
Himmel moͤgte auch dem heiligen roͤmiſchen Reiche gnaͤdig
ſeyn, wenn es beſtaͤndige Reichs- und Kreiscaſſen, und auf
denſelben wie ſeine Nachbaren einige hundert Millionen
Schulden haͤtte! Wie viele Penſionen wuͤrden daraus verflie-
gen? Wie viel große und kleine Bettler wuͤrden daraus le-
ben, und wie viele hohe und geringe Muͤtter wuͤrden an den
Orten, wo dieſe Caſſen ſtuͤnden, ihre aͤchten und unaͤchten Kin-
U 2der
[308]Jeder zahle ſeine Zeche.
der zu gluͤcklichen Fuͤndlingen machen, und ſolche unter die-
ſem Titel dem Heil. Roͤm. Reich in die Futterung geben?
Waͤre dieſe Caſſe vollends an dem Orte des Reichstages in
Verwahrung, beſtuͤnde denn das vom Kayſer Maximilian an-
geordnete Reichsregiment noch in ſeinem voͤlligem Weſen,
und haͤtte dieſes wie billig, das Auschreiben und die Zahlun-
gen zu verordnen; wer weiß wie ſich dann die Fuͤndlinge um
Regenſpurg vermehret haben wuͤrden? Die Kenntniß der
Rubricken dieſer Rechnung wuͤrde zur wahren Freude unſrer
Staatsrechtsliebenden Deutſchen eine eigne Wiſſenſchaft, und
die Zahl der Caßirer Rechnungsraͤthe ꝛc. ꝛc. ꝛc. den franzoͤſi-
ſchen Paͤchtern gewiß nicht viel nachgeben. Daß der Magi-
ſtrat zu Regenſpurg bey der erlittenen auſſerordentlichen
Theurung eine billige Beyhuͤlfe daraus erhalten haben wuͤrde,
verſteht ſich von ſelbſt.


Auch den Landescaſſen waren ſie nicht ſonderlich gewogen.
Wenn eine allgemeine Noth oder der Landesherr zur auſſer-
ordentlichen Huͤlfe eine gemeine Steuer erforderte: ſo brach-
ten ſie ſolche fuͤr die Zeit auf, ließen ſie durch die Landesherr-
lichen Beamte heben, oder machten es mit ihrem Caßirer wie
mit ihrem Heerfuͤhrer, der nach vollendetem Kriege ſich bey
ſeinen Lorbern waͤrmen konnte, wenn er ſonſt nichts zu thun
hatte. War ein Landwehr zu graben, oder ein Hauptort
mit Wall und Graben zur gemeinen Landesſicherheit zu um-
geben: ſo grub jedes Kirchſpiel ſeinen ihm zukommenden Theil,
und gieng dann wieder nach Hauſe.


Gleichwol wird man ſagen, erforderte die Nothwendigkeit
immerfort oͤffentliche Ausgaben. Es waren Kirchen zu unter-
halten, Wege zu beſſern, Richter zu beſolden, Fuͤndlinge zu
erziehen, Arme zu ernaͤhren, und viele andre Nothwendig-
keiten, die einen beſtaͤndigen Zuſchuß erforderten, zu beſtrei-
ten.
[309]Jeder zahle ſeine Zeche.
ten. Freylich war dieſes; allein jedes Kirchſpiel ſorgte dar-
inn fuͤr ſich. Der Vogt, Kirchſpielherr oder Gerichtsherr,
wie man ihn nenneu will, ſammlete erſt bey Graſe und bey
Stroh eine Herbſt- und Maybede oder eine Jahrbede von ſei-
nen Gemeinen, beſtritt daraus die kleinen Vorfaͤlle, a) und
was er erſparete, diente zu ſeinem Staat und ſeiner Zehrung,
oder zur Vergeltung ſeiner unberechnetern Bemuͤhungen.
Reichte dieſe Bede fuͤr dasmal nicht zu: ſo bewilligte man
noch wohl eine Nothbede, und jeder ſteuerbare Unterthan
kannte und uͤberſahe ungefehr die Nothwendigkeit und Ver-
wendung ſeines Beytrags, ohne eben koſtbare Rechnungen zu
verlangen.


Nun haben ſich freylich dieſe Zeiten im Kleinen und Groſ-
ſen maͤchtig veraͤndert; und wir haben ſeit den niederlaͤndi-
ſchen Unruhen und den ſpaniſchen Zuͤgen durch Deutſchland,
beſtaͤndige Landescaſſen. Indeſſen bleibt es doch immer eine
einleuchtende Wahrheit, daß wann auf Rechnung einer Lan-
descaſſe getrunken wuͤrde, mancher, der nur ein Glas getrun-
ken, fuͤr ſeinen Theil ein Stuͤbgen zu bezahlen haben wuͤrde,
und wir moͤgen daraus als vernuͤnftige Leute wohl den Schluß
ziehen, daß fuͤr die Waſſertrinker keine Maxime vortheilhaf-
ter ſey, als: ein jeder bezahle ſeine Zeche.


U 3Muͤß-
[310]Jeder zahle ſeine Zeche.

Muͤßte in Frankreich jedes Kirchſpiel ſeine Fuͤndlinge un-
terhalten: ſo wuͤrde eine Nachbarin auf die andre genau ach-
ten; der Schulze im Dorfe wuͤrde ſeine Angeber uͤberall hal-
ten, und manche arme Hure, die ihr Kind auf die allgemeine
Landesbarmherzigkeit ausſetzt, in Zeiten genaͤhrt, unterſtuͤtzt,
und mit der Halbſcheid desjenigen, was ſie der gemeinen An-
ſtalt koſtet, bey muͤtterlichen Geſinnungen erhalten werden.


Eben das laͤßt ſich von den Armen und Ungluͤcklichen ſagen,
die auf Koſten einer gemeinen Anſtalt ihre Verſorgung finden.
Der Pfarrer, um ihnen ſein Mitleid zu bezeugen, und ſich
des ungeſtuͤmen Bettlens zu erwehren, giebt ihnen das Zeug-
niß der Duͤrftigkeit aus guten Herzen. Der Vogt denkt;
unſer Herr Paſtor wird es wiſſen, und hierauf bezeugt er al-
les der Wahrheit gemaͤß; die Kirchſpielsvorſteher ſchreiben
ihren Namen unbedenklich darunter, weil es nicht unmittel-
bar auf ihre Rechnung geht; und ſo laͤuft alles der gemeinen
Zeche zu, wozu hernach manches Kirchſpiel ein Stuͤckfaß lie-
fern muß, was ſeine Durſtigen hoͤchſtens mit einen Anker
erquicken koͤnnte.


Was hilft es, ſagte neulich ein Bauer zu mir, daß wir
nach der Verordnung unſre Arme ernaͤhren, ihre Kinder zur
zeitigen Arbeit gewehnen, keinem fremden Bettler in unſre
Nebenhaͤuſer aufnehmen; und ſolchergeſtalt einer Seits den
Geiſt der Betteley zu erſticken ſuchen, ander Seits aber unſre
wahren Armen verſorgen? Was hilft es, daß wir ſtrenge ſind,
keinen ſuͤr Arm erkennen, der es nicht wuͤrklich iſt, keinem
andern Zeugniß als dem Zeugniſſe unſer Augen trauen, und
uns alle Jahr zweymal zur Ader laſſen, damit unſer Herr
Chirurgus die Verungluͤckten umſonſt curiren moͤge: wenn
andre Kirchſpiele nicht ein gleiches thun? wenn dieſe alles
was nur geht und kommt zur Heuer einnehmen, und ihr aus-
gehun-
[311]Jeder zahle ſeine Zeche.
gehungertes Vieh mit einem guten Zeugniſſe auf die gemeine
Weide ſchicken duͤrfen?


Freylich, antwortete ich ihm, waͤre es gut, wenn jedes Kirch-
ſpiel in dieſem Stuͤcke ſeinen Haushalt fuͤr ſich haͤtte, und
allenfalls eine eigene Schatzung zu dergleichen Beduͤrfniſſen
anlegte. Wenn es ſolchergcſtalt gerade zu aus eines jeden
Beutel gienge: ſo wuͤrde kein Zeugniß was drey Meilen von
euch gegeben waͤre, Glauben finden; es wuͤrde mancher, der
bey der allgemeinen Caſſe ſehr klaͤglich thut, daheim wo ſeine
Umſtaͤnde bekannt ſind, ganz leiſe reden muͤſſen; viele die
ſich vor Fremden nicht ſchaͤmen, wuͤrden es vor ihren Nach-
baren thun; das Geſinde wuͤrde nicht ſo leichtfertig zuſammen
laufen, die Einnahme eines fremdem Heuermanns wuͤrde
ohne Erlaubniß des Kirchſpiels nicht ſtatt finden; der Chirur-
gus wuͤrde entweder die Armen umſonſt curiren, oder jeder
guten Frauen das Recht zu curiren laſſen muͤſſen; den Bett-
lern vom Handwerke wuͤrde man ihre Kinder nehmen, und ſie
bey andern fuͤr dieſelben Almoſen, welche man ihnen giebt,
zur Erlernung der Wirthſchaft eindingen, und was das Beſte
iſt, ein Kirchſpiel wuͤrde das andre nicht auf gemeine Rech-
nung bezechen koͤnnen. Allein .....


Ich bin doch recht neugierig zu wiſſen, fiel hier der Bauer
ein, was das fuͤr ein Allein werden wird? Aber zu ſeinem
Ungluͤck vergaß ich daruͤber was ich ſagen wollte.



XXXXVIII.
[312]Schreiben einer betagten Jungfer

XXXXVIII.
Schreiben einer betagten Jungfer an den
Stifter der Wittwencaſſe zu ****


O mein Herr, Sie haben es nie empfunden, was es
fuͤr eine grauſame Sache fuͤr ein lediges und betagtes
Frauenzimmer ſey, von der Gnade ſeiner Verwandten ab-
zuhangen; wie erſchrecklich es ſey, den Stolz und die Ver-
achtung kleiner naſeweiſen Niecen mit Freundlichkeit zu er-
wiedern; was die ungeſitteten Spoͤttereyen und die haͤmiſchen
Anmerkungen aufgeſchoſſener Vettern fuͤr nagende Wunden in
ein empfindliches Herz ſchlagen; und wie ſauer es einem
werde, jeden geringen Dienſt von einem durch ſolche Exempel
verhetzten und boshaften Geſinde zu erkaufen; ſonſt wuͤrden
Sie fuͤr ein bejahrtes lediges Frauenzimmer eben ſo gut wie
fuͤr huͤbſche junge Wittwen geſorget haben.


Ich bin jetzt 58 Jahr alt; und die Frau Oberamtmaͤnnin
bey deren Kinder ich die Stelle einer Tante Lore, oder wenn
Sie den rechten Namen wiſſen wollen, einer Kinderwaͤrterin
vertrete, iſt meines ſeligen Brudern Tochter. Hier bin ich
der taͤgliche Spott von ſechs verzogenen Kindern, und dieſe
Ehre muß ich gegen ihre ſtolze Mutter, die ich, Gott er-
barme es! von den Windeln an gewartet habe, mit unter-
thaͤnigen Dank erkennen, weil ich meine beſten Jahre in mei-
nes Brudern Haushaltung aufgeopfert, und da ich nicht fuͤr
Geld gedienet, auch nichts eruͤbriget, und keine Hoffnung
habe, von Fremden, denen ich nicht mehr nuͤtze werden kan,
aufgenommen zu werden. Eine grauſamere Situation fuͤr
ein empfindliches Frauenzimmer iſt ſchwerlich zu gedenken.
Oft
[313]an den Stifter der Wittwencaſſe zu ****
Oft kan ich fuͤr innerlicher Wuth nicht weinen, wenn ich des
Abends nach einem muͤhſam hingequaͤlten Tage entweder gut-
willig oder gezwungen einem Anbeter der Frau Oberamtmaͤn-
nin zu Gefallen das Zimmer raͤumen, und wenn dieſer ſodenn
hoͤniſch hinter mich dareinlaͤchelt, ihm beym Herausgehn noch
eine tiefe Verbeugung machen muß; und wann dann einmal
meine Thraͤnen zum Ausbruch kommen: ſo habe ich oft nicht
die Ruhe meinen Schmerz dadurch zu erleichtern, indem bald
das Geſinde, was ich gern in Ehrfurcht und Ordnung halten
moͤgte, mir aufs groͤbſte begegnet, bald aber die Kinder mich
zur Thuͤr heraus weiſen, ohne daß ich dawider mit dem ge-
hoͤrigen Nachdruck reden darf. Und bey dem allen, was fuͤr
eine andre Ausſicht, als noch einmal Kinderwaͤrterin zu wer-
den, wenn eine von meinen Niecen heyrathet, und die Gnade
fuͤr mich hat, mir das Brod in meinem kuͤmmerlichen Alter zu
geben? Wahrlich, mein Herr! dieſer traurige Stand unver-
heyratheter Frauenzimmer iſt Ihnen nicht bekannt geweſen,
oder Sie haben ein recht ſehr hartes Herz, daß Sie nicht auch
fuͤr ſie eine Verpflegungscaſſe errichtet haben.


Tauſend und aber tauſendmal denke ich daran, wie oft mein
ſeliger Bruder wuͤnſchte, daß eine Caſſe ſeyn moͤgte, worin er
fuͤr mich ſo gut wie er fuͤr ſeine Wittwe gethan, ein ſicheres
Capital legen koͤnnte. Warum, ſagte er, ſollte ich nicht in ſo
fern auch meiner Schweſter Mann ſeyn, und ihr damit eine
Wittwenrente nach meinem Tode erwerben koͤnnen? Warum
ſollte ſich nicht jedes lediges Frauenzimmer auf dieſe Weiſe
einen Vater, einen Oheim oder Freund, der ſie im Leben
verſorgen kan, und nach ſeinem Tode in betruͤbten Umſtaͤnden
zuruͤcklaſſen muß, zu einem Titulairmanne erwaͤhlen, und
durch denſelben in eine Wittwencaſſe gelangen koͤnnen? Allein
man antwortete ihm immer ganz ernſthaft: Die Wittwen-
caſſen waͤren blos um den Eheſtand zu befoͤrdern; um einen
U 5Ver-
[314]Schreiben einer betagten Jungfer
Verdienſtvollen unbemittelten Mann in den Stand zu ſetzen,
eine Wahl nach ſeinem Herzen treffen zu koͤnnen; um ein tu-
gendhaftes junges Frauenzimmer zu reitzen einen ſolchen Mann
gluͤcklich zu machen, und um endlich die ſproͤden Maͤdgen mit
Fleiß zu zwingen, ſich denjenigen Unterhalt durch den Ehe-
ſtand zu erwerben, der ihnen im ledigen Stande fehlen
koͤnnte.


Dieſe Urſachen ſind freylich groß, und wenigſtens ſo poli-
tiſch, wie man ſie von Mannsperſonen erwarten kan. Allein
zugegeben, daß ſie ihre voͤllige Richtigkeit haben; zugegeben,
daß es wohl nicht rathſam ſeyn moͤgte, Verpflegungsanſtalten
fuͤr Maͤdgen von einem gewiſſen Alter zu machen, weil manche
darauf rechnen, und ſich entweder den Beſchwerden des Ehe-
ſtandes, oder dem Dienſte bey andern entziehen moͤgten: ſo
duͤnkt mich doch, daß ein funfzigjaͤhriges lediges Frauenzim-
mer, das ſich jederzeit unſtraͤflich gehalten, das im Dienſte
bey andern einen Theil ſeiner beſten Jahre zugeſetzt, dem man
nicht verwerfen koͤnnte die Hand eines ehrlichen Mannes
ausgeſchlagen zu haben; ein ſolches Maͤdgen duͤnkt mich, ſollte
von der ſtrengen Regel ausgenommen ſeyn. Ein ſolches
Maͤdgen muͤſte alsdann, aber auch nicht eher, die Wittwen-
penſion erlangen koͤnnen, als bis ihr Erhalter und Freund,
der an Mannsſtatt fuͤr ſie eingeſetzt, zu ſterben kaͤme. Steht
es doch bey ihr, ſich einem Manne in der Fremde zum Schein
antrauen zu laſſen, und mit Huͤlfe des Trauſcheins dereinſt
Wittwe zu werden; warum will man ſie denn zu einem Um-
wege zwingen, da man ihr auf einem naͤhern Wege helfen
kan?


Ueberlegen Sie es doch, mein Herr! ich bitte Sie mit
heiſſen ungeſehenen Thraͤnen, ob uns armen Kindern nicht zu
helfen ſey? Sollte es auch nicht anders geſchehen koͤnnen,
als
[315]an den Stifter der Wittwencaſſe zu ****
als daß jede von Uns dem Staate einen Fuͤndling abnehmen,
und denſelben zugleich von der Jungfernpenſion erziehen
muͤſte?


Ich bin
Lore ....



XXXXIX.
Keine Befoͤrderung nach Verdienſten.
An einen Officier.


Es geht mir zwar nahe, liebſter Freund! daß ihre Ver-
dienſte ſo wenig erkannt werden; allein ihre Forderung,
daß in einem Staate einzig und allein auf wahre Verdienſte
geſehen werden ſollte, iſt mit ihrer guͤtigen Erlaubniß, die
ſeltſamſte, welche noch in einer muͤßigen Stunde ausgehecket
worden. Ich wenigſtens wuͤrde belohnt oder unbelohnt nie
in dem Staate bleiben, worinn man es zur Regel gemacht
haͤtte, alle Ehre einzig und allein dem Verdienſte zuzuwenden.
Belohnt wuͤrde ich nicht das Herz gehabt haben einem Freunde
unter Augen zu gehen, aus Furcht ihn zu ſehr zu demuͤthigen;
und unbelohnt wuͤrde ich einer Art von oͤffentlichen Beſchim-
pfung gelebt haben, weil ein jeder von mir geſagt haben
wuͤrde: Der Mann hat keine Verdienſte. Glauben Sie mir
gewiß, ſo lange wir Menſchen bleiben, iſt es beſſer, daß un-
terweilen auch Gluͤck und Gunſt die Preiſe austheilen, als daß
eine menſchliche Weisheit ſolche jedem nach ſeinen Verdienſten
zuwaͤge; es iſt beſſer, daß Geburt und Alter als wahrer Werth
die Rangordnung in der Welt beſtimme. Ja ich getraue mir
zu ſagen, der Dienſt wuͤrde gar nicht beſtehen koͤnnen, wenn
jede
[316]Keine Befoͤrderung nach Verdienſten.
jede Befoͤrderung ſich lediglich auf das Verdienſt gruͤndete.
Denn alle diejenigen, ſo mit dem Befoͤrderten in gleicher
Hoffnung geſtanden; und dieſes wuͤrde natuͤrlicher Weiſe der
Fall aller derjenigen geweſen ſeyn, die nur irgend eine gute
Meynung von ſich gehabt haͤtten, wuͤrden ſich fuͤr beleidigt
und beſchimpft halten. Ihre Geſinnungen wuͤrden ſich gegen
ihn, gegen den Dienſt und gegen den Herrn wenden; ſie wuͤr-
den in Haß und Feindſchaft ausbrechen, und in kurzer Zeit
wuͤrde man unter allen Kriegs- und Landesbedienten eben die
Auftritte ſehen, welche man ſonſt nur an Hoͤfen und auf Uni-
verſitaͤten ſieht, wo der Ruhm perſoͤnlicher Verdienſte naͤher
in Betracht kommt, folglich auch alle obige Fehler erzeugt.
Erwegen Sie dagegen den Fall, wo dieſer durch eine hoͤhere
Geburt, jener durch ſeine mehrern Jahre im Dienſte, und
dann und wann auch einer durch einen gluͤcklichen Zufall be-
foͤrdert wird: ſo bleibt es einem jeden frey ſich damit zu ſchmei-
cheln, daß es nicht nach Verdienſten in der Welt gehe; es
kan ſich ſo leicht niemand fuͤr beſchimpft halten; die Eigenliebe
beruhiget ſich, und man denkt: Gluͤck und Zeiten werden uns
auch an die Reihe bringen. Mit dieſen Gedanken vertreiben
wir unſern Kummer, faſſen neue Hoffnungen, artbeiten fort,
vertragen den Gluͤcklichern, und der Dienſt wird nicht gehin-
dert. Anſtatt daß der Faͤhndrich dem Lieutenant, und dieſer
dem Hauptmann heimlich zu ſchaden ſuchen wuͤrde, wenn der
Obere dem Untern blos ſeines groͤßern Verdienſtes halber vor-
geſetzet worden. Die groͤßte Zwietracht findet ſich insgemein un-
ter den Generals, weil die Hauptausfuͤhrungen bisweilen
große Verdienſte erfordern. Allein dieſe Zwietracht wuͤrde
allgemein ſeyn, wenn die Officiren nach den Grundſaͤtzen be-
foͤrdert wuͤrden, nach welchen Generale zu Ausfuͤhrungen er-
waͤhlet werden.


Und
[317]An einen Officier.

Und wie viele Ungerechtigkeiten wuͤrden nicht in einem
Staate, unter dem Scheine das Verdienſt zu befoͤrdern, vor-
genommen werden koͤnnen? Der Fuͤrſt iſt nicht allemal ein
einſichtsvoller Richter; er kan auch von ſeiner Hoͤhe nicht
alles uͤberſehen. Dieſem wuͤrde ein Guͤnſtling, jenem eine
Maitreſſe Verdienſte leihen, und wahrſcheinlich wuͤrde der
dreiſte Stuͤmper den beſcheidnen Kuͤnſtler, der gefaͤllige
Schmeichler den ſtillen Redlichen, der unruhige Projectenma-
cher den erfahrnen Cameraliſten, und das ſchimmernde alle-
mal das wahre verdringen. Der Fuͤrſt, wo er wider alle
Wahrſcheinlichkeit nicht zugleich der groͤßte Mann von Ein-
ſicht und Redlichkeit waͤre, wuͤrde ſich wenigſtens in der groͤß-
ten Verlegenheit befinden; oder ſich unter dem Vorwande das
Verdienſt zu belohnen, zu einem orientaliſchen Deſpoten er-
heben, der zuerſt aus einem aͤhnlichen Grundſatze abgereiſet
iſt, wie er einen Sclaven zu ſeinem erſten Miniſter verord-
nete, alle Klaſſen der Menſchen durch einander miſchte, und
ſich allein zum Ungeheuer machte. Wer ruhig in der Welt
leben; wer die Suͤßigkeit der Freundſchaſt genießen; werden
Beyfall der Redlichen behalten, und große Endzwecke befoͤr-
dern wollte; wuͤrde ſein Verdienſt verlaͤugnen, und ſich fuͤr
alle aͤußerliche Belohnungen deſſelben mit der groͤßten Sorg-
falt in Acht nehmen muͤſſen.


Waͤten wir Menſchen nicht ſo beſchaffen, daß jeder nicht
die beſte Meynung von ſich ſelbſt haͤtte: ſo moͤchte es freylich
anders ſeyn. Allein ſo lange wir unſre jetzige Natur und un-
ſre Leidenſchaften behalten, und ſo lange es gewiſſer maßen
noͤthig iſt, daß jeder eine gute Meynung von ſich ſelbſt habe,
ſcheinet mir die Befoͤrderung nach Verdienſten gerade das
Mittel zu ſeyn, alles zu verwirren. Schon jetzt iſt es im
Militairſtande eine Art von Geſetz, daß der aͤltere Officier
ſeinen Abſchied nehmen muß, wenn ihm ein juͤngerer vorge-
zogen
[318]Keine Befoͤrderung nach Verdienſten.
zogen wird. Was wuͤrde es dann nicht ſeyn, wenn das Avan-
cement nach Verdienſten gienge, wann auf einmal der Gene-
raladjutant, der einem alten General jetzt zum Rathgeber zu-
gegeben wird, dieſem und allen uͤbrigen vorgeſetzet wuͤrde?
Wuͤrden hier nicht alle diejenigen oͤffentlich geſcholten und
außer Stand geſetzt werden laͤnger zu dienen, wenn das Ver-
dienſt alles entſchiede?


Zwar hat ein großer Koͤnig unſrer Zeiten ein Mittel er-
funden auch in dieſen Faͤllen die Gemuͤther zu beruhigen. Er
geht oft die Ordnung des Dienſtalters vorbey, zieht einen ge-
ſchicktern dem aͤltern vor; und befoͤrdert nach einiger Zeit ei-
nen vorbeygegangenen auf eine ſo ſchmeichelhafte Art, daß je-
der uͤbergangene allezeit im Zweifel erhalten wird, ob der
Koͤnig ihn nur zu einer beſſern Befoͤrderung geſparet, oder
aber aus Mangel von Verdienſten zuruͤckgeſetzet habe. Allein
dieſes Mittel wird allezeit als außerordentlich betrachtet wer-
den muͤſſen; es gehoͤrt blos fuͤr den Herrn, den Einſicht und
Erfahrung zu deſſen Gebrauch privilegiren. In jeder an-
dern Hand wuͤrde es das gefaͤhrlichſte fuͤr die Ruhe der Men-
ſchen, und der helle Weg zur aͤußerſten Sclaverey ſeyn.


Sie wenden mir ein, bey großen Verdienſten finde ſich
auch allezeit Beſcheidenheit und Maͤßigung, und mit Huͤlfe
dieſer Tugenden, wuͤrde der gluͤckliche ſich mit dem ungluͤck-
lichen leicht verſoͤhnen, und die Empfindungen des Haſſes und
Neides erſticken, welche ſich zum Nachtheil des Dienſtes in
der Bruſt aller zuruͤckgeſetzten erzeugen koͤnnte. Allein ſo
bald Verdienſte oͤffentlich erkannt und belohnet ſind, wird ei-
nem die Beſcheidenheit und Maͤßigung nur fuͤr Politik an-
gerechnet und man kan davon keine Wuͤrkung hoffen. Ja ich
moͤgte ſagen, die Beſcheidenheit vermehre oft nur die Kraͤn-
kung des unbelohnten, weil dieſer nicht ſelten wuͤnſcht, an dem
gluͤck-
[319]An einen Officier.
gluͤcklichen einen Fehler zu finden, um ihn zu ſeiner eigenen
Ruhe deſte rechtmaͤßiger haſſen zu koͤnnen; ſo ſind wir Men-
ſchen. Zudem wiegt der Staat die Verdienſte nicht wie der
Sittenlehrer ab. Jener zieht oft große Talente, wenn ſie
auch von Stolz und Unbeſcheidenheit begleitet werden, mit
Recht einer minder geſchickten Beſcheidenheit vor.


Derjenige Staat wuͤrde auch ſehr ungluͤcklich ſeyn, der
nicht mehrere und viel mehrere Maͤnner von Verdienſten be-
ſaͤße, als er belohnen koͤnnte; und bey dieſer Vorausſetzung
wuͤrde es doch immer fuͤr ſehr viele Menſchen unangenehm
ſeyn, ſich vorſtellen zu muͤſſen, daß die Belohnten auch die
vorzuͤglichſten unter allen waͤren, und jeder Ordensband auch
den beſten Ritter bezeichnete. Jetzt koͤnnen dieſe zu ihrer Be-
ruhigung denken, das Gluͤck und nicht das Verdienſt hat dieſe
erhoben; oder mit dem Dichter ſprechen: hier deckt ein groſ-
ſer Stern ein kleines Herz. Allein wenn alles nach Verdien-
ſten gienge: ſo fiele dieſe ſo noͤthige Beruhigung ganz weg,
und der Schuſter der mit aller Zufriedenheit an ſeinen Leiſten
klopft, ſo lange er ſich ſchmeicheln kan, daß er ganz etwas
anders als der Frau Burgermeiſterin ihre Pantoffeln flicken
wuͤrde, wenn Verdienſte in der Welt geachtet wuͤrden, koͤnnte
unmoͤglich gluͤcklich ſeyn.


Laſſen ſie alſo, liebſter Freund! ihren ſchwermeriſchen Ge-
danken von der Gluͤckſeligkeit eines Staats fahren, worinn
alles nach Verdienſten gehen ſollte. Wo Menſchen herrſchen
und Menſchen dienen, iſt Geburt und Alter, oder das Dienſt-
alter immer noch die ſicherſte und am wenigſten beleidigende
Regel zu Befoͤrderungen. Dem ſchoͤpferiſchen Genie oder
der eigentlichen Virtu wird dieſe Regel nicht ſchaden; aber
aber eine Ausnahme von dieſer Art iſt ſehr ſelten, und wird
auch nur ſchlechte Herzen kraͤnken.



L.
[320]Sind die Gemeinheiten nach geſcheh. Theilung

L.
Sind die Gemeinheiten nach geſchehener
Theilung mit Steuren zu belegen
oder nicht?


Mit der Theilung der Gemeinheiten oder der ſogenannten
Marken, Huden und Weiden, iſt es nunmehr in der
politiſchen Welt ſo weit gediehen, daß man ihre Nutzbarkeit
fuͤr entſchieden annehmen muß, in ſo weit ſich beſondre Local-
ſchwierigkeiten, welche außer der Sphere des theoretiſchen
Oekonomen liegen, der Ausfuͤhrung nicht widerſetzen. Man
thut alſo billig einen Schritt weiter und fraͤgt allmaͤhlig:
Moͤgen die Looſe, welche der Unterthan aus dieſer Thei-
lung erhaͤlt, zum Kataſter gebracht und mit Steuren be-
legt werden oder nicht?

ich antworte, nein. Hier ſind meine Gruͤnde:


Diejenigen Hoͤfe, welche jetzt unter der Steuer ſtehen, ha-
ben ehedem nicht angeſchlagen werden koͤnnen, ohne daß nicht
auch zugleich auf ihre mehr oder minder vortheilhafte Lage in
Anſehung der daneben liegenden Gemeinheit eine billige Ruͤck-
ſicht genommen worden. Denn 12 Malter Saat Landes,
deren Eigenthuͤmer viele gemeine Weide zur Viehzucht, viele
Heyde zum Plaggenmatt, vieles Moor zum Brande fuͤr
Heuerleute hat, ſind gewiß in einem hoͤhern Werthe, als 12
andre Malter Saat von gleicher Guͤte, deren Beſitzer nicht
allein das Vieh auf dem Hofe futtern, ſondern auch allen
Duͤnger aus dem Stalle nehmen muß, und keinen Heuermann
ſetzen
[321]mit Steuren zu belegen oder nicht?
ſetzen kan, ohne einen Holzdieb auf ſeinen Gruͤnden zu hegen.
Hat dieſes ſeine Richtigkeit, und iſt die Steuer der alten
Gruͤnde nach einem billigen Verhaͤltniß angeſetzt: ſo iſt es
ganz außer Zweifel, daß die Genoſſen einer ſolchen Gemein-
heit fuͤr die Nutzung derſelben laͤngſt mit geſteuert haben, und
folglich in ihrem Anſatze um deswillen nicht erhoͤhet werden
koͤnnen, daß ſie dasjenige was ſie bisher offen genutzet, kuͤnftig
beſchloſſen genießen ſollen.


Will man dagegen einwenden, jene tartariſche Steppen,
welche ſo lange ungetheilt gelegen, und nicht zum zehnten Theil
genutzet worden, wuͤrden durch die Cultur eine ganz neue
Quelle von Reichthuͤmern, und muͤßten alſo billig, wo nicht
nach dem Fuße der alten, doch wenigſtens auf eine andre leid-
liche Art zum Anſatz gebracht werden; ſo iſt doch


  • Erſtlich dagegen billig zu bedenken, daß die Urbarmachung
    des Grundes, ſo wie die Anlegung weitlaͤuftiger Graben,
    Zaͤune und Hecken, womit der neue Marktheil eingefaſſet
    werden muß, ſehr vieles koſte, und insgemein den Beſitzer
    dergeſtalt erſchoͤpfe, daß er ſeine alten Gruͤnde daruͤber ver-
    nachlaͤßigen muͤſſe. Wollte man nun auch zehn oder zwanzig
    Freyjahre dafuͤr abſetzen: ſo iſt es doch
  • Zweytens eine uͤberaus ſtarke Vorausſetzung, daß alle die-
    jenigen, welche ihren Theil der Gemeinheit ſolchergeſtalt in
    den Zaun bringen muͤſſen, ſelbigen in einem gleichen Zeitlauf
    zur voͤlligen Nutzung bringen ſollen. Mancher Wirth iſt alt,
    und man kan von ihm nicht fordern, daß er mit dem jungen
    gleichen Muth und gleichen Eyfer zeigen ſolle. Ein andrer
    iſt verſchuldet und außer Stande, ſich dasjenige Spannwerk
    und eine ſolche Viehzucht anzuſchaffen als zu einem ſolchen
    großen Anbau erfordert wird. Und uͤberhaupt ſcheinet die
    Vollkommenheit des Werks erſt dem Enkel oder wohl gar dem
    Möſers patr. Phantaſ.II.Th. XUr-
    [322]Sind die Gemeinheiten nach geſcheh. Theilung
    Urenkel vorbehalten zu ſeyn. Es wird ſich alſo das Werk
    nicht nach einer gewiſſen Anzahl von Freyjahren beſtimmen
    laſſen. Geſetzt nun weiter
  • Drittens, daß in einigen Marken ſich Localſchwierigkeiten
    hervorthun, welche die Theilung hindern: ſo wuͤrden gerade
    diejenigen, welche ihre Marken in Gemeinſchaft behielten,
    die gluͤcklichſten ſeyn; und dies ſcheint doch eben der Abſicht
    nicht zu entſprechen.
  • Viertens muß es nothwendig ein ſtarker Bewegungsgrund
    zur Ueberwindung vieler Localſchwierigkeiten ſeyn, wenn die-
    jenigen, welche ihren Antheil von der Gemeinheit zu ſich neh-
    men, ſolchen nicht hoͤher als vorhin verſteuren duͤrfen, und
    ihn gleichwol weit beſſer als ſonſt nutzen koͤnnen. Ein ſolches
    Beyſpiel wird unfehlbar alle uͤbrigen zur Nachfolge reitzen,
    und manchen bewegen die groͤßte unter allen Localſchwierigkei-
    ten, nemlich den Unterſchied des zu theilenden Grundes nicht
    zu achten, mithin ſeinen Nachbaren den ihnen naͤher gelegnen
    Weidegrund zu goͤnnen, und ſich mit einer ihm vor der Thuͤr
    liegenden Heide zu begnuͤgen, in Hofnung ſolche durch Fleiß
    und Muͤhe endlich auch urbar zu machen.
  • Fünftens iſt die Haupturſache, welche bisher die Theilung,
    oder doch wenigſtens den neuen Anbau verhindert hat, un-
    ſtreitig dieſe geweſen, daß man den Neubauer nicht ſeinen
    Genoſſen, ſondern unmittelbar dem Staate zu Huͤlfe ſteuren
    laſſen. Haͤtte man zu einer Gemeinheit geſagt:
    „Ihr muͤßt jetzt jaͤhrlich tauſend Thaler aufbringen;
    „und da eurer nur zwanzig ſind: ſo macht das fuͤr jeden
    „funfzig Thaler. Wenn ihr aber in eurer großen Ge-
    „meinheit zwanzig Neubauer anſetztet, und jeden dabey
    „zwey Malter Saat Landes verwilligtet: ſo wuͤrde ein
    „je-
    [323]mit Steuren zu belegen oder nicht?
    „jeder von dieſen euch jaͤhrlich mit fuͤnf Thalern zu
    „Huͤlfe kommen koͤnnen, und ihr brauchtet ſodann nur
    „45 Thaler zu contribuiren.

    ſo iſt es uͤberaus wahrſcheinlich, daß man damit weit eher zu
    Stande gekommen ſeyn wuͤrde; und der Staat haͤtte gewiß
    nicht dabey verlohren, weil jede Erleichterung der Untertha-
    nen ein Schatz fuͤr kuͤnftige Nothfaͤlle bleibt. Dieſe Haupt-
    urſache des verhinderten Anbaues wird aber auch noch nach
    geſchehener Theilung fortdauren, wenn die neuen Gruͤnde
    verſteuret werden ſollen. Jeder wird dieſelben lieber zu ſchlech-
    ten Holzwachſe oder nach wie vor zum Plaggenmatte nutzen,
    als in einen fruchtbaren Stand ſetzen, in Hofnung, daß wenn
    auch davon in ſolcher Maaße einige Steuer gegeben werden
    ſolle, dieſe dennoch mit dem Anſcheine eines unbrauchbaren
    Bodens uͤbereinſtimmen muͤſſe.
  • Sechſtens iſt zwar in den verſchiedenen Aemtern oder Pro-
    vinzen eines Landes kein gewiſſes Hauptverhaͤltniß in der
    Contribution feſtgeſetzt; ein Fehler, der wuͤrklich manche ab-
    ſchreckt, ſich gehoͤrig zu verbeſſern, weil jede Verbeſſerung
    ihre Abgaben erhoͤhet. Da aber doch die Politik mit der
    Zeit eine ſolche Beſtimmung wohl anrathen duͤrfte, nach
    welcher jede Provinz, wie in Holland, ein ſichers zu hundert
    contribuiren muͤßte: ſo iſt zu beſorgen, daß alle Verbeſſerun-
    gen, welche vor dieſer Epoque verſteuret werden, der Pro-
    vinz, die ſich wuͤrklich verbeſſert, zum Nachtheil gereichen
    werden. Daß aber eine ſolche Beſtimmung einmal geſchehen
    werde, daran iſt um ſo viel weniger zu zweifeln, weil ſie die
    ſchoͤnſte Reitzung fuͤr jedes Amt, oder fuͤr jede Landſchaft iſt,
    ſich uͤber die Linie zu erheben, welche bey ihrem Anſchlage
    zur Richtſchnur genommen worden.

X 2Dieſe
[324]Sind die Gemeinheiten nach geſcheh. Theilung

Dieſe Gruͤnde beweiſen freylich nicht, daß es durchaus un-
gerecht ſey, die neuen Gruͤnde mit Steuren zu belegen. Nein;
dieſes laͤßt ſich gar nicht beweiſen, indem die Noth des Staats
zuletzt ſo weit gehen kan, daß ein jeder alles hergeben muß was
er hat, um ihn zu retten. Sie zeigen aber doch allemal ſo
viel, daß ſo lange eine Provinz mit Verſteurung ihrer alten
Gruͤnde die Forderungen des Staats in ihrem bisherigen
Verhaͤltniſſe befriedigen kan, es hart und unbillig auch nicht
rathſam ſey, ihre neuen Gruͤnde, die in der That nur den
Duͤnger fuͤr die alten hergeben, mit Steuren zu belegen.
Man ſage nicht, eine ſolche Provinz moͤge ſich mit dem Vor-
theile begnuͤgen, den ſie nun ſo lange Zeit gegen andre ge-
habt, die ihren ganzen Boden verſteuren muͤſſen; denn die-
jenigen Laͤnder, wovon der ganze Boden ſeit undenklichen Jah-
ren gluͤcklich gebauet und verſteuret iſt, haben wahrlich erſtau-
nende Vorzuͤge vor ſolchen, wo um einen Morgen Landes gut
zu machen, vier andre abgenarbet werden muͤſſen. Ich habe
die Heyde in Weſtphalen lange gebauet, und weiß was dazu
gehoͤrt drey oder vier Zoll guter Erde auf todten Ohrſande zu
erhalten und zu bewahren, ohne daß der Aufwand den Vor-
theil uͤberwiege. Zwoͤlf Malter Saat altes Land, welche als
Gut zum Kataſter ſtehn, koͤnnen dieſen Titel nicht behaup-
ten, und ihn noch weniger dem neuem Grunde mittheilen, ſo
bald ſie nicht mehr mit der Narbe von 36 andern gefuttert
werden; auſſerordentliche Faͤlle, als die Lage einer Heyde nahe
an der Hauptſtadt, oder an einem Fluſſe ausgenommen.
Wer es anders ſagt, hat den Bau der Heyde keine 12 Jahre
im großen ſondern nur im kleinen oder auf dem Papier ver-
ſucht.


Andre Gruͤnde, womit ſonſt die Steuerfreyheit der Mar-
ken oder Gemeinheiten behauptet werden will, ſcheinen mir
uͤbrigens nicht hinlaͤnglich zu ſeyn. Insgemein ſagt man hier,
die
[325]mit Steuren zu belegen oder nicht?
die Mark ſey von der Schoͤpfung an frey geweſen, weil alles
was ein freyes Gut daraus erhalte, frey bleibe und die Na-
tur des Hauptgutes annehme; wie ſolches von den Stifts-
ſtaͤnden mehrmals beglaubiget worden. Allein dieſe Behaup-
tung loͤſet ſich doch zuletzt in folgenden Satz auf, daß wo z. E.
98 ſteuerbare und 2 freye Hoͤfe in einer ſolchen Gemeinheit
liegen, \frac{2}{100} derſelben unter der Freyheit, und \frac{98}{100} Theile
unter der alten Steuer begriffen geweſen, den Fall, wo be-
ſondre Vergleiche vorhanden ſind, ausgenommen. Wenn alſo
ein Freyer ſeinen ofnen Theil einzieht: ſo macht dieſes keine
Veraͤnderung in dem Grundſatze; er nutzt nun dasjenige be-
ſchloſſen frey, was er vorhin offen frey genutzt; eben ſo wie
der ſteuerbare das neu beſchloſſene nicht verſteuret, weil es
vorhin bereits offen unter ſeiner alten Steuer mit begriffen
geweſen.


Wollte man aber den Satz weiter ausdehnen: ſo wuͤrde
ein großer Theil der Freyen in Gefahr ſeyn bey erheiſchender
allgemeinen Noth, wovon uns der letzte Krieg mehr als ein
Beyſpiel gegeben, eine Beyſteuer uͤbernehmen und ſich ſolcher-
geſtalt ſeiner Freyheit begeben zu muͤſſen. Denn geſetzt, daß
ein Freyer Mittel faͤnde in einer Reihe von Jahren die halbe
oder ganze Mark an ſich zu bringen, und ſolche, weil ſie von
der Schoͤpfung an frey geweſen, auch ſteuerfrey zu genießen;
geſetzt weiter, die darinn berechtiget geweſene ſteuerbare Hoͤfe
wuͤrden hierauf zu ſchwach, ihre ſich durch die Noth vermeh-
rende Laſten zu tragen; was wuͤrde davon die Folge ſeyn?
Gewiß keine andre, als daß der uͤbrige Theil des Staats ſo
viel mehr aufbringen muͤßte; wem wuͤrde dieſes in die Laͤnge
zur Laſt fallen? Den Freyen und Gutsherrn, die nicht das
Gluͤck und die Gelegenheit gehabt eben ſo große Conqueten
zu machen; und wem waͤre hievon die Schuld beyzumeſſen?
X 3Kei-
[326]Sind die Gemeinheiten nach geſcheh. Theilung
Keinem als dem Landesherrn, dem der ganze Staat ſowohl
Freye als Unfreye die Controlle des gemeinen Gutes anver-
trauet und der ſich durch einen feyerlichen Eyd dahin verbun-
den hat, nach allem Vermoͤgen daruͤber zu ſeyn, und zu weh-
ren, daß von der gemeinen Mark keine Zuſchlaͤge, Kotten und
Zaunrichtungen aufgerichtet, oder jemanden vergoͤnnet wuͤr-
den, es geſchehe denn mit ſeiner, des Thumcapittels und aller,
ſo dazu Intereſſe haben, beſonderm Vorwiſſen und Belie-
ben. (a)


Ich weiß wohl was einige, welche die Sache aus einem
kleinen Geſichtspunkte gefaßt, dagegen eingewendet haben.
Allein wenn man um die Sache zu uͤberſehen, den rechten
Standort waͤhlt, und die allgemeine Staatscontrolle zur Hand
nimmt: ſo faͤllt der Schluß unfehlbar dahin aus, daß dem
Landesherrn und ſaͤmtlichen Staͤnden an Erhaltung und or-
dentlicher Vertheilung der Marken eben ſo viel wo nicht mehr,
als an der Erhaltung und einem richtigen Kataſter der ſteu-
erbaren Gruͤnde gelegen; und daß es einerley Urſachen ſind,
welche die Verſplitterung ſteuerbarer Gruͤnde, und die Ver-
ſplitterung der Markgruͤnde ohne gehoͤrige Aufſicht und Be-
willigung verbieten. Hat man gleich hierauf eine Zeitlang
nicht geachtet, und ſtillſchweigend darinn geheelet, daß gegen
dieſe große und erſte Regel gehandelt worden: ſo iſt dieſes ein
Zeichen, daß eben keine Mißbraͤuche ruchtbar geworden; und
hiernaͤchſt iſt dieſes zu einer Zeit geſchehn, wo in die kleinſte
Ver-
[327]mit Steuren zu belegen oder nicht?
Veraͤußerung alle Intereſſenten geheelen mußten, und wo man
ſich darauf verlaſſen mochte, daß dasjenige, worinn alle ge-
heelten, dem gemeinen Weſen nicht ſonderlich ſchaͤdlich ſeyn
wuͤrde. Seitdem man aber in den Gerichtshoͤfen angefan-
gen hat, bey ſolchen einzelnen Veraͤußerungen bisweilen auf ein
paar Stimmen nicht zu achten, und den Landmann bey allen
Gelegenheiten eines ſtraͤflichen Eigenſinns zu beſchuldigen,
moͤchte die Sache wohl etwas mehr Aufmerkſamkeit verdie-
nen, und der Ausſpruch leicht dahin ausfallen, daß nur da,
wo Herr und Staͤnde eine Theilung bewilligen, der Wider-
ſpruch einzelner Genoſſen, wo er gegruͤndet, als ein nothwen-
diges Opfer, und wo er nicht gegruͤndet, als Eigenſinn be-
trachtet werden koͤnne.


Ein anderer Grund, dem man bisweilen fuͤr die Steuer-
freyheit der eingeſchlagenen oder einzuſchlagenden gemeinen
Gruͤnde anfuͤhrt, beſteht noch darinn, daß diejenigen, ſo der-
gleichen erhalten, ſolchen theuer genug bezahlt, und mit ſchwe-
ren Koſten urbar gemacht haͤtten. Dieſer Grund fiele nun
zwar bey den gemeinen Theilungen weg, weil alsdenn keiner
etwas bezahlt, und ein jeder nur ſeinen ofnen Theil zuſchlaͤgt.
Allein auch da, wo wuͤrklich ein Theil aus der Gemeinheit
verkaufet worden, vorausgeſetzt, daß die Markgenoſſen, ohne
Bewilligung derjenigen, welche die Staatscontrolle fuͤhren,
einen Theil Grundes ſteuerfrey verkaufen koͤnnen, beweiſet er
dasjenige nicht was er beweiſen ſoll. Denn ſo hat entweder
ein bereits ſteurender Mitgenoſſe, oder ein Heuerling, der
nicht einmal ein eignes Haus beſitzt, ſich einen ſolchen neuen
Grund erworben. Im erſtern Fall ſehe ich nicht den min-
deſten Grund, warum nicht der Steuereinnehmer ſo wohl als
ein ander Glaͤubiger, die Fruͤchte des nach ſo theuer bezahl-
ten neuen Grundes zu ſeiner Bezahlung angreifen koͤnne,
wenn die Steuer von dem alten nicht zu ermaͤchtigen iſt; und
X 4im
[328]Sind die Gemeinheiten nach geſcheh. Theilung
im letztern Fall wuͤrde man den Heuerling ebenfalls mit Recht
heranziehen, wenn das ganze Kirchſpiel ſeinen Anſchlag nicht
erfuͤllen koͤnnte. Denn ſowol die gebaueten als ungebaue-
ten Gruͤnde haben fuͤr gemeine Nothfaͤlle gehaftet, und man
verſolgt in der Mark worinn 98 ſteuerbare Hoͤfe und zwey
freye ſind, mit Recht die \frac{28}{100} Theile, ſie moͤgen ſich befinden
wo ſie wollen, gleich ſie denn auch dem Provinzialretrakt un-
terworfen ſeyn, welchen eine ganze Gemeinheit ſo wohl als
ein einzelner Mann anſtellen kann.


Endlich moͤgte man auch noch fuͤr die Steuerfreyheit der
zuzuſchlagenden Marken anfuͤhren, daß hier im Stifte ein-
mal fuͤr alle der dritte Pfennig davon bezahlet und damit die
bisherige Vogteylichkeit oder der Markenſchutz eben ſo abge-
kaufet wuͤrde, wie ein Mann der auſſerhalb Landes oder auf
eine Freyheit zieht, ſein Vermoͤgen mit dem Abſchoſſe von
fernerer Steuer befreyet. Und ich leugne nicht, wenn unſre
heutigen Steuren eben dasjemge waͤren, was man vor zwey-
hundert und allen vorhergehenden Jahren unter dem Namen
von gemeiner Schatzung verſtand, daß dieſer Grund eine
ziemliche Schließbarkeit haben wuͤrde. Allein da dieſe ge-
meine
Schatzung ſich mit der Zeit eben ſo wie die Gerichts-
frohne und andre zur ehmaligen Advocatie gehoͤrige Rechte, in
bloße Privatgefaͤlle und Dienſte veraͤndert hat, und unter
dem Namen von Herbſt- und Maygeldern an vielen Orten
unter der Rubrik von Geldzinſen oder Schuldgeldern ſteht;
da ferner jetzt alle oͤffentlichen Ausgaben eines Staats, aus
der Caſſe der auſſerordentlichen Steuren, dergleichen die
heutiges Tages bey uns ſogenannten Schatzungen ſind, bezah-
let werden; ſo mag jene Abkaufung der gemeinen oder ordent-
lichen Schatzung keine Befreyung von der auſſerordentlichen
wuͤrken, immaßen denn auch der dritte Pfennig nicht in die
Caſſe der auſſerordentlichen Steuren oder die Landescaſſe, ſon-
dern
[329]mit Steuren zu belegen oder nicht?
dern in die Caſſe derjenigen fließet, welche die Holzgrafſchaf-
ten als ein Stuͤck der ehmaligen Advocatie an ſich gekaufet
haben. Ueberhaupt aber wuͤrde die Eroͤrterung dieſer Sache
eine große Einſicht in die neuere Markengeſchichte erfordern,
da, ſo viel ich weis, vor dem ſiebenzehnten Jahrhundert auch
ſogar der Name einer tertiae Holzgravialis hier im Stifte
nicht bekannt geweſen.


Dieſes werden ungefehr die Gruͤnde zuſammen ſeyn, welche
fuͤr die Steuerfreyheit der Marktheile angefuͤhret werden koͤn-
nen. Wenigſtens fallen mir ſogleich keine mehrere bey; und ich
wuͤnſche, daß ein anderer ſolche pruͤfen und allenfalls beſſere an
die Hand geben moͤge. Beylaͤufig aber verdient es aber doch noch
eine Anmerkung, wie wenig diejenigen in das innere einer
Staatsverfaſſung eindringen, welche dafuͤr halten, daß die
Sachen, wo es auf eine Verminderung der gemeinen Mark
ankommt, von den Partheyen fuͤr jeden Richter gezogen wer-
den koͤnnen.


Im Grunde bleiben dieſelben eben wie die Steuerſachen
ein Gegenſtand der hoͤchſten Landespolicey, und man findet
in den aͤlteſten Zeiten nicht anders, als daß daruͤber vor dem
Biſchoffe und ſeinen Staͤnden gehandelt worden. Noch jetzt
kennet man einen Zuſchlag, welchen der Biſchof Conrad von
Retberg in Gegenwart ſeiner Staͤnde perſoͤnlich abgeſtochen
hat. a) Und wenn man die alten Markreceſſe und Verglei-
che ein wenig aufmerkſam anſieht; ſo wird man finden, daß,
X 5wenn
[330]Sind die Gemeinheiten nach geſcheh. Theilung
wenn auch alles was zur Erhaltung der Mark gehoͤrt, den
Erbexen und Intereſſenten uͤberlaſſen worden, dennoch alle
Veraͤrgerung derſelben insbeſondre aber Zuſchlaͤge und Kotten
nicht anders als mit Bewilligung des Landesherrn und ſeiner
Staͤnde beſchloſſen oder verglichen worden. Wenn aber doch
die Sache in Anſehung des Beweiſes und Gegenbeweiſes zum
gerichtlichen Verfahren gedeihen muß: ſo erfordert es die of-
fenbare Nothwendigkeit, daß ein eignes und einziges Gericht
dazu angeordnet werde, welches auf die zu ſteuerbaren Hoͤfen
gehoͤrige Marknutzungen achte, deren Vertheilung und Ver-
aͤrgerung nicht anders als nach einem von Herrn und Staͤnden
anzugebenden Policeygeſetze, geſtatte; die Eingriffe einzelner
Genoſſen verhindere, und das Gleichgewicht hieruͤber im gan-
zen Staate erhalte; weil andergeſtalt und wenn hieruͤber bey
mehrern Gerichten, und ohne daß dabey diejenigen, welchen
die Generalcontrolle des Schatzweſens in einem Staate an-
vertrauet worden, ein Auge darauf haben, Proceſſe geſtattet
wuͤrden, am Ende die gefaͤhrlichſten Folgen fuͤr alle ſowol
ſteuerfreye als ſteuerbare Unterthanen daraus entſtehen
wuͤrden.


Es verhaͤlt ſich damit eben wie mit Lehnsjagd und Schaz-
zungsſachen. Wie mancher Lehnsmann, deſſen Lehne auf
den Fall ſtuͤnden, wuͤrde ſich einen Vettern geben; wie man-
cher Jagdberechtigter einem Freunde etwas einraͤumen; wie
mancher ſteuerbarer ſich den oͤffentlichen Laſten entziehen koͤn-
nen, wenn die Partheyen uͤber ſolche Sachen blos unter ſich,
und vor einem Richter, der allein auf das vorgebrachte, ein-
geraͤumte und zum Schein erwieſene ſprechen muͤßte, handeln
koͤnnten.


Vielleicht iſt die Sache bey uns damit verworren, daß man
den allgemeinen Ausdruck von Marcalſachen gebrauchet hat.
In
[331]mit Steuren zu belegen oder nicht?
In Faͤllen, wo es nicht auf eine Verringerung des Mark-
grundes ankommt, moͤgten die Partheyen ſich ſowol einen
Schiedsrichter waͤhlen, als an jedes ofne Gericht gehen koͤn-
nen, aber da wo es auf die nach der Stiftscapitulation von
dem Landesherrn abzuwendende Verringerung des gemeinen
Guts ankommt, muß er ſelbſt oder durch ſeinen beſonders dazu
inſtruirten Controlleur gegenwaͤrtig ſeyn, oder man muß al-
les gehen laſſen wie es geht, und erwarten bis Noth und
Zeit den Gerechten mit dem Ungerechten heimſuchen.



LI.
Von der Real- und Perſonalfreyheit.


Es war eine Zeit, da man nichts von einer Realfreyheit
wußte, ſondern blos Perſonalfreyheiten kannte. Das
Haus was der Pfarrer heute bewohnte, war frey ſo lange er
es hatte, und wenn er Morgen ein anders bezog: ſo war
dieſes frey und jenes wiederum pflichtig. Sogar der Graf,
oder Heerbannsoberſte muſte wiederum zur Bauerreihe kom-
men, wenn er abdankte, und mit dem Dienſte ſeine Freyheit
verlohr. Er hatte es in ſeinem Verhaͤltniß nicht beſſer als
unſre Bauerrichter, Mahlleute, Unterholzgrafen, Kirch-
ſpielsfaͤhndriche und dergleichen, die gewiſſe Freyheiten ge-
nießen, welche mit ihrem Dienſte waͤhren und aufhoͤren. So
war die Verfaſſung unſrer aͤlteſten Zeiten; und ſo wird ſie in
der Jugend eines jeden Staats ſeyn, ehe die Dienſte erblich
werden, und die perſoͤnliche Freyheit ſich unvermerkt dem
Grunde mitth eilet. Man unterſcheidet dann agros indomi-
nicatos
(Laͤnderey die der Herr ſelbſt bauet) von non indo-
minicatis,
und macht ganz andre Schluͤſſe und Folgen, als
zur
[332]Von der Real- und Perſonalfreyheit.
zur Zeit, wann Realfreyheit die Ueberhand gewinnet. In
den mittlern Zeiten waͤhrte dieſes noch fort. Alles was ein
adlicher Landſaſſe oder Dienſtmann heute mit ſeinem eignen
noch ſo weitlaͤuftigen Haushalte bauete, war frey, und wenn
er es Morgen einem Bauer zur Erbpacht gab, oder an einen
unfreyen Mann verkaufte: ſo gieng die Freyheit nicht mit
uͤber, und der Grund veredelte oder verbauerte ſich nach der
Beſchaffenheit ſeines erblichen Beſitzers.


So lange der Staat wenig Steuren und hingegen viele
tapfere Haͤnde oder Dienſtleute forderte, war jede Befreyung
ein Zuwachs ſeiner Macht; ein Dienſtmann, der ſich auf ei-
nen Bauernhof ſetzte und ihn befreyete, war ein wahrer Ge-
winn. Wie aber allmaͤhlich Steuren erfordert und Soͤldner
angeworben wurden, veraͤnderte ſich das Intereſſe des Staats,
und mit dieſem die Politik. Nun mußte man der perſoͤnli-
chen Freyheit Schranken ſetzen, und verfiel auf verſchiedene
Mittel. Der eine Staat machte es zum Grundſatze: nur
derjenige ſoll den Hof den er bewohnt, befreyen koͤnnen, der
ſo viel als zweyhundert Tonnen hart Korn in dem Staate
jaͤhrlich einzunehmen hat. Der andre ſetzte feſt, daß einer
zwoͤlf Hoͤfe beſitzen muͤſte, um Einen durch ſeine Wohnung zu
befreyen; die mehrſten aber fielen auf das uti poſſidetis, und
gaben mithin dasjenige was eine perſoͤnlich freye Familie lange
als frey beſeſſen hatte, verlohren, ſetzten aber dagegen feſt,
daß von nun an keiner mit ſeiner Perſon fernerhin etwas
befreyen ſollte.


Die Kataſter oder Steuerbuͤcher welche um dieſe Zeit auf-
kamen, unterſtuͤtzten dieſen Plan. Dasjenige was damals
wuͤrklich ſteurete, wurde dar inn beſchrieben, und ſo mit gegen
alle fernere Befreyung gedeckt; dasjenige aber was zu der Zeit
von langer Hand einen perſoͤnlich freyen Beſitzer gehabt hatte,
wurde auf ewig fuͤr frey erklaͤrt.


Man
[333]Von der Real- und Perſonalfreyheit.

Man kan ſich leicht vorſtellen, daß der Uebergang von der
einen Art zu denken und zu handeln zur andern, unendliche
Verwickelungen mit ſich gefuͤhret habe; und die Geſchichte
dieſes Uebergangs macht einen wahren Theil der Staats-
geſchichte aus. Wie man blos den Begrif hatte, daß der
Dienſt des Beſitzers den Hof welchen er bewohnte, frey
machte, kam es nothwendig ſehr viel darauf an, was fuͤr Be-
diente einer halten mochte, und welche einer Freyheit genießen
ſollten. Carl der Große beſchwerte ſich ſchon daruͤber, daß
verſchiedene große Reichsbeamte, allen und jeden die ſich ihnen
nur unter irgend einem Vorwande verpflichteten, unter dem
Tittel von Dienſtleuten und gebrodeten Dienern die Freyheit
vom Auszuge verſchaffen wollten. a) Und wenn man in den
Urkunden findet manſus coqui, manſus præconis: ſo kan
wan dieſe Benennungen ſicher ſo auslegen, daß der Biſchof
oder Graf dieſe manſos von der Reichsfolge befreyet habe,
weil er ſie mit ſeinem Koche und Frohnen beſetzt hatte. Es
fuͤhrte aber dieſes nothwendig zu Beſtimmung einer gewiſſen
Anzahl von Bedienten, damit ein Herr nicht zuletzt zehn
Koͤche und zehn Frohnen halten, mit hin alle Eingeſeſſene ſei-
nes Kirchſpiels auf dieſe Art befreyen mochte. Vielleicht liegt
hierin auch der Grund, warum es ehedem insgemein nur
vier und keine mehrere Hofaͤmter gab. Eine Regel mußte
allemahl hieruͤber vorhanden ſeyn; denn was dem einen Bi-
ſchoffe oder Grafen Recht war, das war dem andern kein Un-
recht. Und ſo wurden die Bediente fruͤhzeitig mit Namen
ge-
[334]Von der Real- und Perſonalfreyheit.
genannt, welche ein jeder hatte, und vom Heerzuge befreyen
mogte.


Auf der andern Seite, und ſo bald ſtatt der perſoͤnlichen
Befreyungen die Realfreyheit aufkam, zaͤhlte und achtete man
die Hofaͤmter ſo ſehr nicht mehr, bekuͤmmerte ſich auch nicht
darum, ob einer mit ſeinem Koche oder Kellner einen ſteuer-
baren Hof beſetzte. Es wurden keine neue Fiſch- Krebs- und
Gruͤndelfaͤnger, Brieftraͤger, Baumſchließer und dergleichen
Titel, wodurch ſich geringe Neubauer ehedem eine Freyheit
verſchaffeten, angeſetzt; und man ſagte auch ſogar den Sol-
daten die Freyheit auf dem platten Lande ab. So wenig
geiſtliche als adliche konnten weiter ein ſteuerbares Gut be-
freyen; dahingegen auch kein Bauer ein Edelgut veraͤrgern.
Man beurkundete (1709) nun foͤrmlich, daß der Bauer,
welcher ein adliches Gut erblich an ſich brachte, davon in Abſicht
der Jagd, die guter maßen zu den perſoͤnlichen Freyheiten ge-
hoͤrte, der Gerichtsbarkeit und andrer dem Gute anklebenden
Freyheiten eben ſo frey waͤre als ein Edelmann; und jetzt ſind
wir an dieſem Begriff ſchon dergeſtalt gewohnet, daß wir uns
ſogar wundern, warum es in dieſem Falle einer beſondern
Beurkundung bedurft, und derſelbe ſich nicht von ſelbſt ver-
ſtanden habe.


Der Einfluß dieſer neuen Denkungsart gieng noch weiter.
Vorhin und ſo lange die perſoͤnliche Freyheit den Hauptbegrif
ausmachte, blieb der befreyete Grund in realibus den Gow-
gerichtern unterworfen; die auf denſelben wohnende unfreyen
Perſonen, wozu aber die gebrodeten Diener des Herrn nicht
gehoͤrten, veraͤnderten ihren Gerichtszwang nicht; und man
findet noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts als dem Zeit-
punkte, worinn nach eingefuͤhrten Kataſtern die Realfreyheit
endlich den voͤlligen Sieg erhielt, verſchiedene Verfuͤgungen,
wor-
[335]Von der Real- und Perſonalfreyheit.
worinn der alte Begrif mit dem neuen kaͤmpft, und die Ge-
richter, welche dieſe Veraͤnderungen in dem politiſchen Sy-
ſtem und dieſes allmaͤhlig entſtandene neue Gebaͤude nicht ſo
bald erkannten, ſich in ihren Entſcheidungen gar nicht zu hel-
fen wußten; beſonders die Untergerichter, welche ihren Ver-
luſt taͤglich ſahen, und gar nicht wußten wie das zugieng. Die
Natur, welche nun das ganze Syſtem der Realfreyheit mit
aller Macht zu ſeiner Vollkommenheit bringen wollte, warf
die Ruinen der alten Daͤmme, welche noch von der Perſonal-
freyheit uͤbrig waren, auf die Seite, und uͤberraſchte die Rechts-
gelehrten ſo noch vom Verbauern, traͤumten, und zu jeder
Freyheit einen perſoͤnlichen Titel erforderten. Ihren letzten
Glanz zeigte die Perſonenfreyheit bey Errichtung der Kata-
ſter, wo man allerley perſoͤnliche Titel aufgefuͤhrt und viele
Jaͤgerhaͤuſer benannt ſieht, welche unter dieſem Namen die
Steuerfreyheit fordern.


Es iſt eine ſehr wichtige Frage: ob die alte oder neue Art
zu befreyen die beſte geweſen? Unſre Vorfahren ſtelleten ſich
vor, jeder Acker liege gleichſam an einem Strome, und jeder
ſey einmahl zu ſeiner Selbſterhaltung, ſodann aber auch durch
die geſellſchaftliche Verbindung, worinn ihn die Noth verſetzt
haͤtte, verpflichtet, ſein Ufer gegen den Strom zu verthei-
digen. Wuͤrden einige von ihnen erfordert, um das Vater-
land auf der andern Seite zu vertheidigen: ſo waͤren dieſe
zwar fuͤr das Jahr frey; dieſe Freyheit komme aber dem
Grunde nie zu ſtatten, und die Nachbaren muͤſten fuͤr die
abweſenden Krieger das Ufer machen. Der Acker des Man-
nes der am Altar fuͤr die Gemeinde betete, muͤſſe ſich eben-
falls gegen den Strom wehren, ob er gleich ſelbſt durch ſeinen
edlern Dienſt verhindert wuͤrde Hand mit anzulegen. Nach
dieſem Begriffe kannten ſie gar keinen freyen Grund und Bo-
den, ſondern rechneten alle Freyheit der Perſon zu, die wenn
ſie
[336]Von der Real- und Perſonalfreyheit.
ſie als Koͤnig, oder Fuͤrſt, als Prieſter oder Krieger im ge-
meinen Dienſt behindert wurden, ſelbſt das Ufer zu machen,
mit Recht forderte, daß die unverhinderten fuͤr ſie in die Stelle
treten ſollten; eben wie die Eingeſeſſene eines Graͤnzbannes
fordern, daß die zu Hauſe bleibende fuͤr ſie den Acker beſtellen
und ihnen ihr Korn einfahren ſollen, wenn der dritte Mann
von ihnen fuͤr das Jahr zu Felde liegen muß. Leute von die-
ſer Denkungsart wuͤrden ſich wundern, wenn man ſagen
wollte, dieſer und jeder Acker, ob er gleich durch eine gemeine
unverhinderte Hand gebauet wird, ſolle einer Realfreyheit ge-
nießen, oder dieſer und jener Acker ſoll einer ewigen Freyheit
genießen, ſein Beſitzer werde durch eine gemeine Noth ver-
hindert oder nicht.


Außerdem wuͤrden ſie auch noch ſehr viele Unbequemlichkei-
ten bey der Realfreyheit finden, und vielleicht mit Eyfer aus-
rufen: Wie der Staat will die Freyheit dem Grunde und Bo-
den angedeyen ein weitlaͤuftiges Buch daruͤber halten, und
darinn nach der Fußmaaße beſchreiben laſſen, was frey oder
ſchatzbar ſey, der geringſte Mann, der einige Fuß lang und
breit freyen Landes zur Wohnung erhalten, ſoll darauf ſitzen
und ſich auf ewig den geſellſchaftlichen Laſten entziehen koͤn-
nen? Er ſoll des gemeinen Schutzes, der oͤffentlichen Sicher-
heit, und aller Vortheile genießen; alle gemeine Erwerbungs-
mittel ſollen ihm offen ſtehen, die Straßen ſollen ihm ge-
pflaſtert, und die Zoͤlle, die Wachen, ja alle Steuren zur ge-
meinen Vertheydigung ſollen ihm erlaſſen ſeyn, weil er das
Gluͤck gehabt hat, ein Plaͤtzgen, welchen man ſich als frey ge-
denkt, zu erhalten? Was wird das fuͤr eine Muͤhe koſten,
alle dieſe Plaͤtze, die kein redendes Abzeichen von der Natur
erhalten haben, zu wahren? ſie beſtaͤndig unter allerhand
Formen und Geſtalten von andern Gruͤnden zu unterſcheiden,
und die ganze Geſchichte eines Ackerhofes, der ſolchergeſtalt
aus
[337]Von der Real- und Perſonalfreyheit.
aus einem Theil geiſtlichen, einem Theil adlichen, einem Theil
freyen, und einem Theil ſteuerbaren Ackers erwachſen kan,
fuͤr die Nachwelt zu erhalten? der Mann der vom Ackerbau
oder vom Handwerke leben muß, ſoll mit einem adlichen Grunde
Jagd und Fiſcherey erhalten koͤnnen? die obern Gerichte ſollen
ſich mit ſeinen kleinen Rechtshaͤndeln beſchaͤftigen, und ihn
bey jedem Bruchfalle durch einen beſondern Fiſcal auffordern
laſſen? Nein, dieſes iſt unerhoͤrt. Fuͤr den Edelmann redet
uͤberall ſein Stand; dieſer laͤßt ſich nicht verdunkeln; und den
Hof den er bewohnt, den befreyet er. Findet er einen beſſern
und angenehmern: ſo waͤhlt er ihn, und verlaͤßt den andern,
der dafuͤr wieder zuruͤck faͤllt. Hier braucht es keiner Kon-
trolle, keiner Geſchichte; die Sache redet, und ſo lange man
den Stand eines Mannes kennet, kennet man ſeine Freyheit;
und wo ſich jener aus dem Geſichte verlieret, da muß keine
Verjaͤhrung fuͤr dieſe Statt finden. Zuerſt iſt freylich die Zahl
der Dienſtleute, welche einen freyen Sitz im Lande gehabt,
gering geweſen. Hat aber die Beduͤrfniß des Staats ihre
Vermehrung erfordert; ſo muß man auch die Folgen davon
dulden. Sie haben ihre Vorrechte nicht umſonſt erlangt, ſon-
dern Gut und Blut dafuͤr gewagt, und ſo muͤſſen ſie derſelben
auch billig ſo gut wie andre genießen. Befuͤrchtet man aber,
daß ihre Anzahl fuͤr den gegenwaͤrtigen politiſchen Zuſtand zu
groß werde: ſo kan man ſie beſtimmen. Es hat ohnedem
nicht jeder fremder Edelmann ſondern nur der einheimiſche;
und unter dieſen nicht jeder Sohn, ſondern jeder wuͤrklicher
Dienſtmann das Recht den Hof, welchen er bewohnt, zu be-
freyen. Hat der Staat vierzig Hauptleute noͤthig; ſo ſind
das vierzig freye Sitze, und braucht er achtzig: ſo ſind auch
dieſe nicht zu viel. Den kayſerlichen Befreyungen, welche
die wahre Urſache des Haſſes ſind, den man gegen die Per-
ſonalfreyheiten gefaſſet hat, kan man auf andre Art, als durch
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Ydie
[338]Von der Real- und Perſonalfreyheit.
die Einfuͤhrung einer beſtaͤndigen Realfreyheit Ziel ſetzen.
Man iſt ſo wenig ſchuldig ſie ohne einheimiſche Bewilligung
anzunehmen, als die paͤbſtlichen Befreyungen ohne Einſtim-
mung des Biſchofes. Von dieſer Seite ſind wir alſo genug-
ſam gegen eine zu große Vermehrung freyer Sitze gedeckt;
und wann wir dann ſelbſt mehr Dienſtleute zulaſſen als noͤthig
ſind: ſo iſt dieſes unſre Schuld. Die Zahl der Bedienten
welche der Staat haͤlt, und ſtatt der Beſoldung einen freyen
Sitz genießen moͤgen, laͤßt ſich ebenfalls und ſo gut wie die
Zahl der Pfarrer einſchraͤnken und beſtimmen. Vielleicht er-
bauen ſie ſich gute Haͤuſer, und wenn dieſe mit dem Leben des
Beſitzers ihre Freyheit verlieren: ſo faͤllt ein wohl gebaueter
Hof zur gemeinen Reihe. Auch hier redet der Dienſt gegen
alle Verjaͤhrung. Es giebt keine Proceſſe uͤber adliche Frey-
heiten. Wer heute Gefreyter iſt, und Morgen Gemeiner,
kan keinen Beſitzſtand fuͤr ſich anfuͤhren .......


Allein was auch dieſer Mann immer gegen die Realfrey-
heit ſagen moͤgte: ſo beſteht dieſelbe doch auf einem maͤchti-
gen Grunde. Denn ſo konnte bey jener Verfaſſung kein ad-
liches Gut in unfreye Haͤnde fallen, ohne ſich in gemeines
Gut zu verwandeln; und dieſe Einſchraͤnkung wuͤrde den
Werth und Verkauf der Guͤter zum Nachtheil des Staats
ungemein verhindern. Es wuͤrde einen Einfluß auf den
Credit haben, und eine vorgaͤngige Beſtimmung erfordern,
in welcher Verhaͤltniſſe ein ſolches Gut wiederum zu gemeinen
Laſten gezogen werden ſollte; eine Beſtimmung die ihre eig-
nen Schwierigkeiten haben, und ſchwerlich viele geldreiche
Kaͤufer anreitzen wuͤrde. Die Gebaͤude auf einem ſolchen Hof
wuͤrden dem Reihepflichtigen Manne nur zur Laſt und ſol-
chergeſtalt auch kein ſtarker Grund vorhanden ſeyn, dergleichen
aufzufuͤhren. Unfehlbar waͤre auch der Adel in machen Laͤn-
dern
[339]Von der Real- und Perſonalfreyheit.
dern ganz zu Grunde gegangen, wenn jene Verfaſſung ge-
blieben waͤre, weil die Ertheilung der perſoͤnlichen Freyheit
zu ſehr von der Willkuͤhr und Beſtimmung des Landesherrn
abgehangen, und ein jeder lieber ſeinen neugeworbenen Dienſt-
leuten als den alten einen freyen Sitz ertheilet haben wuͤrde.
Die Reihepflichtigen wuͤrden, ſo oft ihnen ein perſoͤnlichfreyer
Mann einen Hof entzogen haͤtte, in ihrer gewohnten Ord-
nung unterbrochen ſeyn, und ſich nicht dadurch beruhiget haben,
daß ihre nachbarliche Reihe einen verbauerten Edelhof zur
Mithuͤlfe gewonnen haͤtte. Man wuͤrde alſo eine beſondre
Eintheilung haben machen muͤſſen, wie viel freye Wohnungen
eine jede derſelben zu uͤbertragen ſchuldig ſeyn wuͤrde. Dieſes
wuͤrde zu einer allgemeinen Beſtimmung der perſoͤnlichfreyen
Perſonen fuͤr jeden Staat gefuͤhret, und mit dem allen wuͤrde
man vielleicht eben ſo viel Muͤhe als mit einem Kataſter uͤber
die Realfreyheit gehabt haben .......


Eins gegen das andre abgewogen, thut man alſo wohl am
beſten die Sache ſo zu laſſen, wie ſie durch den Lauf der Zeit
angefangen, befoͤrdert, und geendiget worden. Indeſſen iſt
es allemahl gut die Geſchichte der Perſonal- und Realfreyheit
weiter zu unterſuchen, und ſich einen vollſtaͤndigen Begriff
von den Folgen und Schluͤſſen jeder Art zu machen, um nicht
zwiſchen beyden zu ſchwanken, und ein falſches Urtheil zu
faͤllen.



LII.
[340]Vorſchlag zu einer Urthelfabrik.

LII.
Vorſchlag zu einer Urthelfabrik.


Bey den gegenwaͤrtigen oͤkonomiſchen Zeiten waͤre es wohl
ſo uͤbel nicht, wenn dahier, nach dem Exempel andrer
Laͤnder, auch eine Urthelfabrick angelegt wuͤrde. An Abgang
ſollte es nicht fehlen, indem dieſe Waare in Weſtphalen und
ſo Gott will, auch hier im Stifte ſtaͤrker als anderwaͤrts ge-
ſucht wird, und zur Noth koͤnnte man auch der Fabrik ein
Privilegium dahin ertheilen, daß fuͤrohin das erſte Urtheil,
in Sachen, welche das einheimiſche Recht betreffen, nicht
von einem fremden Markte herein geholet werden ſollte. Man
mennet dergleichen Fabriken anderwaͤrts Facultaͤten oder auch
wohl Schoͤpfenſtuͤhle, und wenn ſie ſich in guten Credit ſetzen
oder ehrlich, fleißig und geſchickt arbeiten: ſo koͤnnen ſie oft
ſo viel nicht verfertigen als abgeht; wogegen jetzt manche
arme Partheyen ganze Jahre warten muͤſſen, ehe ihnen ge-
holfen wird, und es nicht ſelten geſchieht, daß ſie ganz un-
brauchbare Waare erhalten.


Dieſem Uebel koͤnnte abgeholfen, und vieles Geld, was
dafuͤr auſſerhalb Landes geht, beſonders aber auch das vor-
zuͤglich ſchwere Actenporto erſparet werden, wenn man dar-
auf antruͤge, daß eine ſolche Fabrik, welche ſich leicht ſelbſt
unterhalten koͤnnte, dahier angelegt und privilegiret wuͤrde.


Da an einem guten Rufe und auch an wuͤrklich guter Ar-
beit das mehrſte gelegen: ſo wuͤrden zu Schoͤpfen keine andre
als angeſehene und verdiente Maͤnner, welche bereits mit
dem Doctorhute das Privilegium zu fabrieiren vom Kaiſer
er-
[341]Vorſchlag zu einer Urthelfabrik.
erhalten haͤtten; auch um allen Schein einer partheyiſchen
Waare abzulehnen, oder um bey allen Kunden gleiches Zu-
trauen zu finden, in gleicher Anzahl von beyden Religionen
genommen werden muͤſſen.


Den Titel eines Commerzienraths wuͤrden ſie zwar nicht
annehmen; jedoch glaube ich, daß wenn ein Landesherr ih-
nen den Charakter eines Aſſeſſoris gnaͤdigſt beylegte, ein jeder
ſich eine Ehre daraus machen wuͤrde, ſelbigen zu tragen.


Wenn ihnen dabey erlaubt wuͤrde, nur die Haͤlfte von
demjenigen was ſonſt das auswaͤrtige Porto bey Verſendung
der Acten gekoſtet, unter dem Titel von Siegelgeld zu neh-
men: ſo wuͤrde die Fabrik eine Caſſe haben, woraus ſie ver-
ſchiedene nothwendige Ausgaben wuͤrde beſtreiten koͤnnen; die
Urthelsgebuͤhren erhielte jeder Fabricant fuͤr ſeine Arbeit.


Sie wuͤrden uͤbrigens auf gute und richtige Waare beeydet,
doch zu keines Landesherrn Dienſten beſonders verpflichtet,
damit ihr Zutrauen ſo viel allgemeiner wuͤrde. Da jetzt die
hoͤheren Collegien aus keiner einheimiſchen Privatfabrik kau-
fen duͤrfen: ſo wuͤrde ihnen erlaubt, ſich dieſer mit zu bedienen,
auch in den Faͤllen, da ſie Augenſcheine einzunehmen, Zeu-
gen abzuhoͤren haͤtten, ſelbſt aber verhindert waͤren, einen
Commiſſarium aus dem Schoͤpfenſtuhle zu nehmen.


Doch waͤre einer ſolchen Fabrik kein Monopolium zu ver-
ſichern; ſondern die Richter behielten die Freyheit nicht allein
ſelbſt zu ſprechen, ſondern auch die Acta vor wie nach an
Privatreferenten auszuſtellen. Nur blos in dem Falle,
wo gegen beyderley Arten von Relationen excipirt wuͤrde, traͤte
dieſe oͤffentliche Fabrik ſtatt der auswaͤrtigen zum erſtenmale
ein.


Y 3Wei-
[342]Vorſchlag zu einer Urthelfabrik.

Weiland Ihro Churfl. Durchl. von Coͤlln hatten bereits
verordnet, daß das erſte Urtheil im Lande verfertiget werden
ſollte. Allein die Sache fand Schwierigkeit, weil die Ver-
fertigung allerhand Privatfabrikanten, deren heimliche Ver-
bindungen und Gefaͤlligkeiten man zu ſehr fuͤrchtete, uͤberlaſ-
ſen werden ſollte. Dieſe Furcht und die ganze Beſchwerde
wuͤrde aber wegfallen, wenn ein ſolches oͤffentliches Hand-
lungscollegium dazu gebrauchet wuͤrde.


Es koͤnnte daſſelbe mit der Zeit, wenn es ſich ein allgemei-
nes Zutrauen und Anſehen erworben, auch reſponſa fabrici-
ren, und damit in Sachen, welche das einheimiſche Recht
betreffen, einen guten Abſatz hoffen. Vielleicht compromit-
tirten auch ſtreitige Partheyen auf daſſelbe, oder bedienten
ſich ſeines Raths, wenn daſſelbe ſich mit der Zeit eine gute
Sammlung von Landesnachrichten angeſchaffet haͤtte.


Da auch ein ſolches Collegium nothwendig faͤhig gemacht
wuͤrde, Schenkungen und Vermaͤchtniſſe anzunehmen: ſo
koͤnnte ſich vielleicht auch noch wohl ein alter unbeweibter
Rechtsgelehrter finden, der ſeine Bibliothek oder ein kleines
Capitaͤlgen zum Beſten armer Wittwen und Wayſen vom
Handwerke vermachte, und daruͤber dem Collegio die Aufſicht
und Verwendung vertrauete ꝛc. ꝛc.



LIII.
[343]

LIII.
Vorſchlag zu einer Sammlung einheimi-
ſcher Rechtsfaͤlle.


Die allgemeinen Verordnungen, Geſetze und Theorien,
wenn ſie auch in dieſem fruchtbaren Jahrhundert zu
noch ſo vielen Baͤnden anſchwellen ſollten, werden einem
Staate das nie leiſten, was ihm die roͤmiſchen Rechte, und
beſonders die Pandekten leiſten. Denn es geht in der Rechts-
kunſt wie in der Arzneykunſt, eine Sammlung richtiger Er-
fahrungen mit ihrer Behandlung und Entſcheidung iſt alle-
mal nuͤtzlicher und brauchbarer, als ein Syſtem, worinn doch
immer allgemeine Raiſonnemens und Hypotheſen den groͤß-
ten Platz einnehmen, und Menſchen nicht ſo richtig als Er-
fahrungen ſprechen. Boerhave wird bleiben wenn Hofmann
vergeſſen iſt, und Mevius in allen Haͤnden ſeyn, wenn Mon-
teſquieu nur noch als eine Seltenheit gezeiget werden wird.
Die Pandekten ſind das Reſultat von Erfahrungen, welche
den groͤßten Maͤnnern, unter einem großen Volke in Zeit von
fuͤnfhundert Jahren vorgekommen, von ihnen beurtheilet und
entſchieden waren.


Meine Abſicht iſt hier nicht, dem roͤmiſchen Rechte eine
Lobrede zu halten; ſondern nur den Wunſch zu rechtfertigen,
daß wir unſere eignen Erfahrungen auf gleiche Art ſammlen
und nutzen, nicht aber ſo ſehr dem Hang zu allgemeinen Ge-
ſetzen und Verordnungen folgen moͤchten. Es iſt uͤber die
Kraͤfte aller großen und kleinen Geſetzgeber, ſich alle moͤgliche
Faͤlle ſo vorzuſtellen, wie ſie die Erfahrung mit unendlich klei-
nen Veraͤnderungen taͤglich darbietet, und man kan ziemlich
Y 4wahr-
[344]Vorſchlag zu einer Sammlung
wahrſcheinlich ſchließen, daß wenn alle Faͤlle, ſo in hundert
Jahren zur richterlichen Entſcheidung gedeyhen, geſammlet
ſind, nicht leicht ein nener Fall vorkommen werde, der nicht
nach der Analogie der vorigen entſcheiden werden koͤnne.
Wenn daher ein Geſetzgeber eine ſolche Sammlung veranlaſ-
ſete, und nach vorgegangener Pruͤfung beſtaͤtigte: ſo wuͤrde
dieſes ein beſſers und brauchbareres Rechtsbuch ſeyn, als eine
dicke Sammlung von Verordnungen. Faſt alle Laͤnder ſind
uns hierinn vorgegangen, nur in den weſtphaͤliſchen Provin-
zien, worinn doch nach dem bekannten Vorwurf die mehrſten
Proceſſe gefuͤhret werden ſollen, iſt man noch zur Zeit hier-
auf in gehoͤriger Maaße nicht bedacht geweſen. Wie waͤre
es alſo, wenn auch wir einmal anfiengen, die Entſcheidun-
gen einheimiſcher Rechtsfaͤlle zu ſammlen, und ſolche mit ihren
Gruͤnden nach den großen Muſtern eines Fabers, Mevius,
Strubens und Pufendorfs in einer buͤndigen und ange-
nehmen Kuͤrze zu liefern? Ich will dazu folgenden Vorſchlag
thun.


Der Tittel des Werks mag ſeyn: Erläuterungen Vater-
ländiſcher Rechte durch eine Geſellſchaft von Rechtsgelehr-
ten.
Jeder der letztern ſoll die Ehre haben, ſeinen Namen
unter ſeine Arbeit zu ſetzen.


In Anſehung der Buͤndigkeit und Kuͤrze muͤſſen ſolche vor-
gedachten Muſtern ſo nahe kommen, ſo weit ſolche zu errei-
chen ſind; die allgemeinen bekannten Gruͤnde muͤſſen nur im
voruͤbergehen bemerkt, und wo es noͤthig, hoͤchſtens durch ein
Geſetz oder durch die Anzeige einer Hauptquelle beſtaͤrkt; die
wahren Gruͤnde aus dem Landrecht und der Landesgewohn-
heit aber deutlich und beſtimmt angefuͤhrt, bewieſen, und zu-
letzt durch Anfuͤhrung eines gerichtlichen Ausſpruchs, Land-
ſtaͤndiſchen Atteſtats oder Goͤdingsſpruchs beſtaͤrkt werden.


Son-
[345]einheimiſcher Rechtsfaͤlle.

Sonderbare und mit hoͤhern Grundſaͤtzen ſtreitende Ent-
ſcheidungen muͤſſen ausfallen und nur die billigen und practi-
cablen eingeruͤcket werden. Daher auch keine einen Platz
darinn erhalten kan, welche nicht von Zweydritteln der Ge-
ſellſchaft vorher gebilliget worden.


Die Geſellſchaft richtete vorzuͤglich ihre Abſicht dahin, eine
Sammlung entſchiedener Rechtsfaͤlle zu liefern, worauf ein-
mahl ein Landesherr ſeine Gerichtshoͤfe verweiſen und ihnen,
um darnach in vorkommenden Faͤllen zu ſprechen, anbefehlen
koͤnnte.


Jeder Rechtsgelehrte koͤnnte darinn aufgenommen werden,
wenn er ſich obigen Bedingungen unterwerfen wollte.


Alle Wochen verſammlete ſich die Geſellſchaft einmahl an
einem gemeinſchaftlichen Orte. Jedes Mitglied truͤge darinn
zuerſt den Rechtsfall vor, woruͤber man ſich bey der naͤchſten
Verſammlung unterreden wollte. In der naͤchſten Verſamm-
lung, nachdem ein jeder vorher zu Hauſe den Fall uͤberdacht,
und was er fuͤr einheimiſche Nachrichten davon haͤtte, mit ſich
gebracht, ſagte die Geſellſchaft ihre Meinung daruͤber und
theilte demjenigen, der den Rechtsfall aufgeworfen, ſeine
Gruͤnde und Nachrichten mit. In der dritten Verſammlung
wuͤrde er ausgearbeitet verleſen, und nachdem die Ausarbei-
tung gebilliget, zur kuͤnftigen Sammlung hingelegt.


In der zweyten Verſammlung wuͤrden dann wiederum zu-
gleich die neuen Rechtsfaͤlle, welche in der dritten auf gleiche
Weiſe uͤberlegt, und in der vierten ausgearbeitet geliefert wer-
den ſollten, angezeigt, und ſo weiter beſtaͤndig verfahren.


Dieſe vorherige Geſellſchaftliche Ueberlegung dient dazu,
damit die Grundſaͤtze, woraus jeder fuͤr ſich abreiſet, mit dem
Geiſt des Ganzen in der Harmonie bleiben; die Sache ſelbſt
Y 5aber
[346]Der Friedensadvocat.
aber erſt von verſchiedenen Seiten betrachtet; und hernaͤchſt
eine Entſcheidung erwaͤhlet werde, worinn ſich das æquum
et bonum
vereiniget. Mancher der ſonſt einmahl ſeine
Meinung entworfen und ſeine Muͤhe daran gewandt, moͤgte
vielleicht zu keiner Abaͤnderung zu bringen ſeyn, der vorher
leicht ſeine Meinung geaͤndert und einen andern Faden er-
waͤhlet haͤtte. Daher es mir ſehr noͤthig zu ſeyn ſcheinet,
daß jeder abzuhandelnder Rechtsfall erſt angeſagt, dann er-
wogen, und darauf endlich ſchriftlich entworfen werde.


Wenn eine ſolch Arbeit ſich auch nur bloß auf die Mark-
und Eigenthumsrechte erſtreckte; denn in buͤrgerlichen und
ſtaͤdtiſchen Sachen ſehlt es ſo ſehr nicht: ſo wuͤrde dieſes was
jene beyden Artikel betrift, in wenigen Jahren ein ziemlich
vollſtaͤndiges Landrecht geben, und dem philoſophiſchen Geiſte
der mit der Zeit alle Falten ausglaͤttet und alles zum Vor-
theil erwaͤhlter Theorien einfoͤrmig macht, damit aber Frey-
heit und Eigenthum untergraͤbt, das maͤchtigſte Ziel ſetzen.



LIV.
Der Friedensadvocat.


In einer gewiſſen deutſchen Provinz finden ſich Krieges-
und Friedensadvocaten. Die erſtern kennen wir auch,
die letztern aber nicht; und iſt das ſonderbareſte dabey, daß
ein Friedensadvocat niemals eine Streitſache zu Rechte aus-
fuͤhren darf. Die Partheyen wenden ſich zuerſt an ihn; er
ſtellet ihre Sache dem Richter vor; dieſer vernimmt daruͤber
den Beklagten, und ſetzt ſodann einen Termin zum muͤndli-
chen Vorbeſcheide an, worinn beyde Theile mit ihren Frie-
dens-
[347]Der Friedensadvocat.
densadvocaten erſcheinen und die Guͤte verſuchen. Kommt
der Vergleich zu Stande: ſo haben beyde Anwaͤlde einen billi-
gen und angenehmen Vortheil; fehlt er aber; ſo haben ſie
keine weitere Hoffnung etwas an der Sache zu verdienen,
ſondern beyde Theile muͤſſen ſich einen Kriegesadvocaten
zulegen.


Dieſe letztere Einſchraͤnkung iſt wirklich neu und fein; und
wenn wie man vorausſetzen kan, alles was in dem Termin
zur Guͤte geſprochen und eingeraͤumet iſt, unter einem heili-
gen Stilleſchweigen vergraben bleibt, mithin keinem Theile
jemals zur Verfaͤnglichkeit gereichen kan: ſo ſollte man glau-
ben, daß viel gutes damit geſtiftet werden koͤnnte. Zur meh-
rern Vorſorge, ſo wohl um das Geheimniß ſo viel beſſer zu
bewahren, als auch um den Endzweck deſto eher zu erreichen,
koͤnnte man in dieſem Falle einen geiſtlichen Richter zulaſſen,
der ebenfalls, ſo bald der Vergleich nicht zum Stande kaͤme,
die Sache von ſich ab, und an den weltlichen verweiſen muͤſte.


Ich glaube daß beyde, nemlich die Friedensrichter und die
Friedensadvocaten mehrern Verdienſt als die Kriegeriſchen
haben wuͤrden. Das ſchwerſte dabey wuͤrde der Beweis ſeyn,
welchen der eine oder andre Theil zu fuͤhren haͤtte; indem
dieſer doch immer nur ſummariſch und ohne Eydesleiſtung
wuͤrde bleiben muͤſſen, weil alles dasjenige, was beyde Theile
ſich einander in Anſehung ihrer Urkunden oder ihrer Zeugen
aus Liebe zum Frieden einraͤumten, hernach in dem Krieges-
gerichte nicht gebrauchet werden duͤrfte. Eine andre Schwie-
rigkeit iſt, daß einer des andern ſchwache Seite entdecken,
und ſich hernach dieſer Kenntniß doch immer bedienen wuͤrde.
Allein auch hiezu faͤnden vernuͤnftige Friedensrichter und Frie-
densadvocaten auch noch wohl Rath. Allenfalls aber muͤßten
ſie in einem ſolchen Falle die Sache ſofort von ſich abweiſen,
und
[348]Schreiben eines reiſenden Pariſers
und wenn der Beweis in der Kriegesinſtanz vollfuͤhrt, noch
einmal Hand an die Sache ſchlagen, und ſich die Acten auf
einen Monat, um die Guͤte zu verſuchen, geben laſſen koͤn-
nen, wenn es der eine oder andre Theil auf ſeine Koſten
verlangte.



LV.
Schreiben eines reiſenden Pariſers an
ſeinen Wirth in Weſtphalen.


Gott ſey Lob und Dank, daß ich doch endlich wieder hier
und einiger maßen bey halbmenſchlichen Geſchoͤpfen
bin; denn in H.... hat doch noch einer oder andre die Seine
geſehen, oder im Parterre pfeifen gehoͤret. Aber bey euch in
Weſtphalen, iſt das ein Wuſt von runden ehrlichen Leuten,
die man ohne Schaden nach dem Gewichte verkaufen koͤnnte;
man erſtickt bey eurer vielen Geſundheit, und eure ſogenann-
ten Damen haben eine Phyſionomie, wobey einem angſt und
bange werden ſollte, wenn ſie nicht zum Gluͤck fuͤr uns ver-
nuͤnftig waͤren. Sie haben nichts von dem ſanften Geliſpel,
nichts von der zaͤrtlichen Mattigkeit, nichts von der zittern-
den Empfindſamkeit, und uͤberhaupt nichts von der unaus-
ſprechlichen Morbidezza, welche die geringſte Buͤrgerfrau in
Paris ſich ſo oft ſie will zu geben weis. Das feine Son-
derbare, die kuͤnſtlichen Launen, die ſchlauen Quaͤlereyen,
und alle die kleinen allerliebſten Spitzen, womit das andre
Geſchlecht bey uns eine rechte Zauberkraft ausuͤbt, ſind ihnen
eben ſo unbekannt, als unſre ſchwebenden Ruhebettgen im
roſenfarbigen Sommercabinet. Sie lachten ſogar uͤber die
letztern,
[349]an ſeinen Wirth in Weſtphalen.
letztern, wie ich ihnen einmal einen Begrif davon geben wollte,
und glaubten, welche Einfalt! man koͤnnte bey gewiſſen Vor-
faͤllen wohl von Natur ſchamroth werden, ohne eben noͤthig
zu haben, das Licht durch rothe Vorhaͤnge fallen zu laſſen,
und mit dieſem Wiederſcheine einem leichtfertigen Falle das
Anſehen einer uͤberwundenen Tugend zu geben. So entfernt
ſeyd ihr noch von den herrlichen Kunſttrieben und Kunſt-
tugenden, die ſich doch zu dem natuͤrlichen, wie eine Paſtete
von La Boulaye zu euren großen Bohnen verhalten. Eine
ſolche thieriſche Art von Menſchen, die ihre Seele blos mit
geſunden Wahrheiten fuͤttert, und wenn man ihr die neueſten
Erfindungen in der Kunſt zu genießen, mit den feurigſten
Farben mahlt, oder ein Operetgen von Gretry mit aller Gra-
zie vorſingt, kaltſinnig antwortet, daß wir das italiaͤniſche
nur ſuͤß und leicht, das engliſche ſchwach und mishellig, ihr
deutſches aber vollends lahm machten, habe ich in meinem Le-
ben nicht angetroffen.


Der Hang zum vernuͤnftigen und nuͤtzlichen iſt zwar frey-
lich nicht zu verachten; und ich goͤnne es euren Bauren gern,
daß ſie lieber eine gute lange Predigt als eine Opera hoͤren.
Aber daß Leute von Stande einen ſolchen groben Geſchmack
haben; und daß Damen, die doch nur zum Vergnuͤgen in der
Welt erſchaffen ſind, ein ſolches Pflanzenleben fuͤhren koͤnnen,
dieſes iſt mehr als ein Philoſoph berechnen kan. Wann man
dergleichen Charaktere auf unſer Buͤhne vorſtellen wollte; ſo
wuͤrde die pariſiſche Welt den Verfaſſer fuͤr eine ſo abentheur-
liche Uebertretung der menſchlichen Natur ohne Barmherzig-
keit auspfeifen; und entdeckte er ihnen dann vollends was ich
noch weiter geſehen, daß alle eure verheyratheten Weiber,
Kinder und oft ſehr viele haben; daß ſie ihre edelſte Zeit mit
deren Erziehung zubringen; und daß es bey euch Maͤnner
giebt, welche dergleichen Kindermuͤtter mit zaͤrtlichen Augen
anſe-
[350]Schreiben eines reiſenden Pariſers
anſehen koͤnnen: ſo wuͤrde ihn der ganze Hof ohne Gnade fuͤr
verruͤckt ausſchreyen. Dem Poͤbel allein liegt es ob die Welt
zu bevoͤlkern; und eine ſo einfaͤltige Fruchtbarkeit iſt der hoͤchſte
Grad der Dummheit.


Und eben ſo denke ich von allen euren baren Tugenden und
ofnen Herzen. Jene ſind wie eure rohen Schinken, und
dieſe gleichen einer nackten Haut ohne Schminke, die
man ohne zu ſchaudern nicht anſehen kan. Dafuͤr iſt es hier
denn doch noch guͤlden, da iſt noch Tugend ſo ſchoͤn wie But-
ter a quatre couleuts.


Eure Mannthiere ſind aber in ihrer Art faſt noch laͤcherli-
cher. Diejenigen, ſo bey uns das Land regieren, haben ihre
Hauscanzleyen, welchen ſie einmal fuͤr alle ſagen: zugeſtan-
den, was Geld einbringt, und alles uͤbrige abgeſchlagen. Die
Ausfertigungen gehn demnaͤchſt ihren Gang, und es braucht
keines weitern Vortrags. Der Staat iſt da das Generalho-
ſpital; wenn der Arzt nur einmal geſagt hat: Zur Rechten
Ader gelaſſen, zur Linken abgefuͤhrt: ſo wiſſen die Handlanger
mehr als zu viel. Was wuͤrde es auch fuͤr eine erſchreckliche
Arbeit ſeyn, alle Krankheiten zu unterſuchen oder alle Sachen
ſelbſt einzuſehen, und ſo wie euer Herr M .... thut, bey
jedem Ja und Nein, was er auf die eingekommenen Vorſtel-
lungen ſetzt, mit einem Buchſtaben noch beſonders zu bemer-
ken, ob das Neinpiano, andante, andantino, grave, forte,
piacevole gratioſo
oder ſtoccato und allabreve ertheilet
werden ſoll?


In eurem Lande hingegen arbeiten dergleichen Herrn oft
fuͤr einen armen Bauren, als wenn des ganzen Landes Wohl-
fahrt daran laͤge, ob ein Hundert dergleichen Krautkoͤpfe
mehr oder weniger in der Welt waͤren; die edlen Abendſtun-
den, die in der ganzen vernuͤnftigen Welt der Freude heilig
ſind,
[351]an ſeinen Wirth in Weſtphalen.
ſind, werden nicht einmal der Arbeit entzogen, und um zu
ihnen zu kommen, braucht man ſo wenig den Schweizer als
den Kammerdiener zu beſtechen. Euer ganzer Adel braucht
nicht ſo viel wohlriechendes Waſſer als ich fuͤr meine Perſon
allein, und duͤnkt ſich groß ohne auch nur einmal von weiten
geſehen zu haben, wie unſer Koͤnig ſein Hemd anzieht, oder
ſein Morgengebet abſtoͤßt. Eure Gelehrten wiſſen kaum mit
dem Hunde einer Dame geſchweige denn mit vernuͤnftigen
Menſchen umzugehen; und der geringſte Schuhflicker in Pa-
ris hat mehr feine Lebensart als euer beſter Vollmeyer. Ich
begreife gar nicht wie es ſich in einem ſolchen Lande leben laͤßt,
wo die Leute nichts thun als arbeiten, eſſen, ſchlafen, und
ſich wohl befinden. Wo man keinen Koͤnig zu bedauren, kei-
nen Miniſter zu verfluchen, keine Graͤfin zu kreuzigen, keine
Commiß zu ſpieſſen, keine Verordnung zu verſpotten, keine
Freunde zu ſtuͤrzen, keine Großen zu haſſen, keine Partheyen
zu erheben, und keine Krankheiten zu erzaͤhlen hat; wo es
keine Maͤnner zu betriegen, keine Weiber zu verfuͤhren, keine
Tugend zu kaufen oder zu verkaufen, keine Patrioten zu er-
handeln, und keine Betrieger zu verehren giebt; kurz wo die
Uebertretung aller zehn Gebott Gottes einem ſo wenig Anſehn
als Vergnuͤgen giebt. Nur Schade, daß ich nicht daran ge-
dacht habe ein Geſchoͤpfe eurer Art mit nach Paris zu neh-
men, um den Herrn von Buffon beſſer in Stand zu ſetzen,
die Claſſe der Abweichungen in der menſchlichen Art noch mehr
zu bereichern, und ein Gerippe von euch in der Kunſtkammer
des Koͤnigs mit meiner Beſchreibung aufzuſtellen. Hiemit
Gott befohlen und die Rechnung bezahlt, womit ich dich bey
meiner Abweſenheit beehret habe.



LVI.
[352]Es iſt allezeit ſicherer

LVI.
Es iſt allezeit ſicherer Orginal
als Copey zu ſeyn.


Predigten helfen wuͤrklich nicht! gedruckte Verordnungen
auch nicht, auch keine Satyren von gewiſſer Art,
welch eine herrſchende Thorheit gleichſam anbellen. Es wird
eine feinere Aufmerkſamkeit der Landesobrigkeit, ein großes
Exempel, ein vornehmer Ton erfordert, um die ſtille Groͤße
zu erheben, und die praͤchtigen Thoren von dem Thron ihrer
Einbildung zu ſtuͤrzen. Gewiſſe fuͤrſtliche Kinder durften nur
vor einigen Jahren laut vor Tiſche beten; ein Monarch
durfte nur alle Naͤchte bey ſeiner Gemahlin ſchlafen; eine
Herzogin durfte ihr Kind nur in der Kirche Taufen laſſen ....
ſogleich fand die ganze aͤffende Welt das Gegentheil aͤrgerlich.
Ich muß Ihnen bey dieſer Gelegenheit meine erſte Reiſe nach
Paris erzaͤhlen. Wie ich dort ankam, haͤtte ich mich um
alle Welt nicht in einem deutſchen Kleide zeigen moͤgen, ohn-
erachtet ich die Meinigen in Stille, wo man doch die Mode
taͤglich aus der Quelle erhaͤlt, ſo ziemlich einſtuͤtzen laſſen. Ich
ſchickte deswegen nach einen Schneider, und wurde nicht we-
nig betreten, alsbald darauf ein Mann in einem ſchwarzen
ſammeten Kleide, welchen ich aus meinem halb eroͤfneten Fen-
ſter in einer Kutſche ankommen ſahe, zu mir ins Zimmer trat,
und mich ſogleich von oben bis unten betrachtete. Ich bat
ihn, ſich nieder zu laſſen, und mir zu ſagen, womit ich ihm
dienen koͤnnte, als er mich fragte, ob ich ein Kleid Couleur
du Jour
erlangte? Und noch merkte ich kaum daß dieſer Mann
ein Schneider war, der mir bereits mit ſeinen Augen die Maaße
zum
[353]Original als Copey zu ſeyn.
zum Kleide genommen hatte. Denn er bat mich zugleich ihm
noch den Abend die Ehre zu thun und ein Soupé fin dans ſæ
petite maiſon
bey ihm einzunehmen, jetzt aber zu erlauben,
daß er wieder forteilen duͤrfte, weil er noch einen deutſchen
Prinzen und ſechs Hofcavaliers zu machen haͤtte. Ich dankte
ihm voll Verwirrung, und haͤtte ihn vielleicht an den Wagen
begleitet, wenn mich nicht ein anderer Mann in einem eben
ſo praͤchtigen Kleide an der Thuͤr aufgehalten haͤtte. Dieſes
war mein Hauswirth, welcher mir, weil ich einen Frieſeur
verlangt hatte, ſeine unterthaͤnigen Dienſte anbot, und mich
fragte, ob ich en aimable etourdi, en abbé minaudant, en
Musquetaire à la morbleu, en homme à ſentimens
oder
auch en Neitre allemand ausgeſetzt ſeyn wollte? ſo ſollte gleich
ſein erſter Commiß, der, ich weis nicht, wie viel Herzoge fri-
ſirte, ſeine Aufwartung bey mir machen. Bald haͤtte ich mir
letzteres erwaͤhlet, wenn nicht eben ein beſtellter Miethlaquais
herein getreten waͤre, und ohne alle weitere Vorrede befohlen
haͤtte, mich a la meaupou zu friſiren. Dieſer junge Menſch
hies meinen Wirth im Staatskleide ſogleich einen ſot; zeigte
mir in einer Secunde eine nagelneue Doſe von Martin, eine
goldne Uhr von tertre, Manſietten a triple rang, und uͤber-
hin la plus ſine Jambe du monde. Jetzt trat mein Freund,
ein junger allerliebſter Franzoſe, herein, dem ich aus Holland
empfohlen worden. Niemals hat ſich ein Menſch mehr uͤber
meine Ankunft erfreuet als dieſer. Ich getraue mir ſein Bild
nicht zu entwerfen. Es war ein ganz unbeſchreiblicher Mann,
und unſer Vertrauen gieng ſogleich uͤber alles. Er ſagte mir,
nachdem er meine Geſtalt durchgelaufen war, mit einer Auf-
richtigkeit, die mich noch ruͤhret, wie er mich ſchwerlich in
die gute Geſellſchaft bringen koͤnnte, weil ich die platteſte Fi-
gur von der Welt waͤre. Doch ſetzte er endlich hinzu, wollte
er, um ſeine Zeit zu verlieren, mich als einen Baͤren einfuͤh-
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. Zren
[354]Es iſt allezeit ſicherer
ren, wenn ich nichts dawider haͤtte. Alsdenn will ich heute
uͤberall herum gehen, und meinen Freunden bekannt machen,
daß ich ihnen morgen ein ganz neues Original aus Deutſch-
land zeigen wuͤrde, desgleichen ſeit Erſchaffung der Welt noch
nicht in Paris geweſen waͤre; ich will eine Beſchreibung da-
bey machen .... Und hier machte er wuͤrklich eine, wor-
inn ich bis auf die Tatzen und das Fell eine ziemliche Aufrich-
tigkeit fand. Was ſollte ich thun? Mein Freund gieng mit
einen Sansadieu und jusqu’a revoir davon, und uͤberließ mich
meinen Betrachtungen. Die erſten waren nicht die ruhig-
ſten. Endlich aber faßte ich das Herz, mir ſelbſt getreu zu
bleiben, und mich ſo zu zeigen, wie ich glaubte, daß ich mich
zeigen muͤßte. Und auch einmal war ich uͤber meinen Schnei-
der, meinen Frieſeur, und meinen Miethlaquais erhaben.
Mein Freund freuete ſich des andern Tages, mich in vollkom-
mener Baͤrengeſtalt zu finden, und ich, der Baͤr, und er,
der Baͤrenleiter fuhren gluͤcklich in die Geſellſchaft. Ich
merkte gleich ein vorwitziges Aufſehen; nahm aber doch den
Ton der Geſellſchaft an, und erzaͤhlete ihnen meine Geſchichte
mit der aufrichtigſten Einfalt, welche der Wahrheit bisweilen ſo
vielen Nachdruck geben kan. Und was meynen Sie, daß darauf
erfolgte? Ein Frauenzimmer, welches ich aus Erkenntlichkeit
billig als das ſchoͤnſte in der ganzen Geſellſchaft ruͤhmen muß,
nahm das Wort mit einigen Eifer und ſagte: Es iſt doch kein
abgeſchmackter Ding in der Welt, als ein junger Pariſer.
Er hat die Vernunft einzuſehen, daß er ſelbſt das laͤcherlichſte
Original ſey, und will doch daß Fremde ſich nach ihm bilden
ſollen. Er iſt ſtolz genug zu glauben, daß ſeine Narrheit un-
nachahmlich ſey, allein um das boshafte Vergnuͤgen zu haben,
ſich gegen einige Copeyen halten zu koͤnnen, beredet er andre
zur Nachahmung, welche, wenn ſie ſeine Vorzuͤge erreichen
koͤnnten, ihn raſend machen wuͤrden. Er glaubt zu gefallen,
wenn
[355]Original als Copey zu ſeyn.
wenn wir ihn zur Puppe erniedrigen, und ſeinen Anzug in
eben der Abſicht loben womit wir unſern Schooshuͤndgen die
Ohren zerren. Sie, mein Herr, fuhr ſie gegen mich fort,
werden hoffentlich dem beſſern Theil unſrer Nation die Ehre
erweiſen, und ſich dadurch nicht irren laſſen. Wenn ſie einige
beſondere Thorheiten aus ihrem Vaterlande mitgebracht ha-
ben: ſo goͤnnen ſie uns das Vergnuͤgen, den Contraſt zu be-
merken, und ſeyn verſichert, daß wir auch unter demſelben
Verdienſte zu erkennen wiſſen.


Mein junger Franzoſe fand dieſes goͤttlich, und breitete
uͤberall zu meinen großen Vergnuͤgen die komiſche Scene aus,
welche er mit ſeinen Baͤren geſpielet hatte, wodurch er mir
in kurzer Zeit ſo viele Achtung erwarb, daß ich meines Schnei-
ders gar nicht mehr noͤthig hatte.


Ich erzaͤhlte bey meiner Wiederkunft dieſe Geſchichte einen
guten Buͤrger, welcher ſich in ſeinem braunen Kleide immer
hinter der Hausthuͤre ſtellete, ſo oft ſein Nachbar, ein Kan-
nengieſer, in einem rothen Manſcheſter auf die Gaſſe trat.
Aber verſetzte er, die Großen in der Stadt ſind ſo, daß ſie
einen ehrlichen Buͤrgersmann nicht uͤber die Achſel anſehen,
wenn er nicht Staat macht; meine Frau ſchaͤmt ſich bereits
mit mir in die Kirche zu gehen, und meine Mademoiſ. Toͤch-
ter ſtutzen vor mir hin, ohne mich anzuſehen, da ich doch ihr
wuͤrklicher Vater bin, und ihnen ihren Flitterſtaat im Schweis
meines Angeſichts erworben habe. Was das erſte betrift,
erwiederte ich ihm: ſo bin ich gewiß, daß die Großen in der
Stadt eben wie die franzoͤſiſche Dame denken; daß ſie in der
Nachahmung des Kannengieſers, die ſpielende Copey eines
vielleicht guten Originals fanden, und daß der Koͤnig ſelbſt
mehr Achtung fuͤr die Verdienſte eines großen Kuͤnſtlers, als
fuͤr das ſammetene Kleid eines franzoͤſiſchen Schneiders habe;
Z 2ſeine
[356]Es iſt allez. ſicher. Original als Copey zu ſeyn.
ſeine Frau fuhr ich fort, wuͤrde ſich weiſen laſſen, wenn er ihr
die Ehre verſchafte, die Frau des groͤßten Meiſters von ſei-
nem Handwerke zu ſeyn, und ſeine Tochter wuͤrde im zwan-
zigſten Jahre ſchon einſehen, daß die Ehe mit einem ehrlichen
Buͤrger, der leeren Erwartung auf einen Mann mit der Doſe
von Martin, und mit der Uhr von du tertre unendlich vorzu-
ziehen ſey. Ich verſicherte ihn, wenn er nun das Ziel ſeiner
Wuͤnſche erreichen, und ſich alle Sonntage in einem dammaſte-
nen Schlafrocke zeigen koͤnnte, daß ſein Nachbar ſodann ſei-
nen Bauch in einem franzoͤſiſchen Stof zu Fenſter legen wuͤrde;
und daß er niemals ein Narr werden koͤnnte, ohne zu verhin-
dern, daß ein anderer nicht noch ein groͤßerer Narr wuͤrde;
ich machte ihm endlich begreifen, daß vieles in der Einbil-
dung beruhete, und daß die Einbildung ein Maͤdgenkopf waͤre,
welcher ſo lange ſchwaͤrmete, als er auf einem jungen Rumpfe
ſaͤſſe.


Allein, um ihn voͤllig zu uͤberzeugen, haͤtte ich ein großer
Herr ſeyn, und ihm alsdann diejenige Achtung in der That
bezeigen muͤſſen, die ich ihm jetzt nur mit Schluͤſſen beweiſen
koͤnnte.


Wie viele Mittel haben die Großen nicht, den Geringern
die falſche Scham zu benehmen, wodurch ſie zu praͤchtigen
Thorheiten verleitet werden! le ridicule eſt la raiſon du
ſot;
und wie viele giebt es nicht, die keinen andern Grund
anzugeben wiſſen, als dieſen! das Laͤcherliche oder Veraͤcht-
liche haͤngt nicht von einem braunen oder ſammetenen Kleide,
ſondern gar ſehr von dem Werthe ab, welchen der herrſchende
Ton dieſen Sachen beyleget; Und der herrſchende Ton koſtet
den Geſetzgebern oder den Geſetzgeberinnen oft nur einen ſuͤſ-
ſen Traum. Zwey Millionen und ſiebenmal hunderttauſend
Thaler ſind in zehn Jahren fuͤr geſchickte Sachen aus dem
Lande
[357]Das leichteſte Mittel um zu gefallen.
Lande gegangen; und in den naͤchſten zehn Jahren fliegt eine
Million fort bloß fuͤr Mahagoni Meubles. Und warum das?
Weil es die Marquiſin ſchoͤn findet. O wenn dieſe kluge Dame
durch ihren Beyfall einen geſchickten Tiſchler gaͤbe, und ihn zu
neuen Geſchoͤpfen aus Eichenholz vermoͤchte, wie vieles wuͤrde
Sie, der Handwerker und das Land dabey gewinnen!



LVII.
Das leichteſte Mittel um zu gefallen.


… Man ſchreibt viel von der Kunſt zu gefallen, und wenn
jemals die Regeln Kruͤcken geweſen, welche der
Kranke gebraucht, und der Geſunde verwirft; ſo iſt es in dieſer
Kunſt. Das ganze Geheimniß beſtehet in einem großen Ver-
dienſte und einem Loche im Strum pfe, oder um mich deutlicher zu
erklaͤren: man bemuͤhe ſich, der erſte in ſeiner Art zu werden,
und gebe dem Feinde einen, und dem Freunde zwy Fehler
preiß. Der Neid des erſtern, und die Fantaſie des andern
wird durch dieſes geringe Opfer befriediget, und der eine wie
der andere ſo ſanft erhoͤhet werden, daß er ſich ſelbſt bey uns
gefallen wird. Denn die Kunſt zu gefallen beſtehet nicht ſo
wohl darinn, daß wir andern, ſondern andere ſich mit uns
gefallen.


Ein vollkommner Menſch wuͤrde unertraͤglich ſeyn, und die-
ſes aus ſehr natuͤrlichen Urſachen. Erſtlich wuͤrden wir ſei-
ner Vollkommenheit einen Anſpruch auf Vorzug und Bewun-
derung leihen, und dieſes raͤumet unſer theures Selbſt ungern
ein. Zweytens wuͤrden wir ihm keine Schwaͤche zeigen
wollen, und in ſeiner Geſellſchaft alle unſre Kraͤfte anſpannen,
Z 3um
[358]Die mehrſten machen ſich laͤcherlich
um dieſes zu verhindern. Niemand aber iſt gern beſtaͤndig
in einer Staatskleidung, und noch weniger in einer Staats-
laune. Drittens wuͤrden wir gegen einen ſolchen Moidor
nicht gerne unſre Scheidemuͤnze auskramen, und alſo in un-
ſern eigenen Augen alberne Geſchoͤpfe bleiben. Diß iſt nun
ein pro primo, pro ſecundo und pro tertio. Mehrere Ur-
ſachen darf ein Pedant nicht haben.


Noch gefaͤhrlicher aber iſt es, und dieſes iſt der gemeinſte
Fall, wenn wir Fehler haben, und doch keinen einzigen zei-
gen wollen; wenn von der Fußſole an bis zur leeren Scheitel
alles in der feinſten Ordnung erſcheinet. Da koͤmmt die be-
leidigte Eiferſucht mit ihrem ſcharfen Auge, und richtet die
Seele ſo viel ſtrenger, je weniger der aͤuſſerliche Bau ihr ei-
nen Fehler Preis geben will. Sie bringt Gold, welches den
Strich gehalten, unter die Capelle, und wehe dann dem ar-
men Suͤnder, wenn er hier die Probe nicht haͤlt! wer gefal-
len will, muß, wohl zu verſtehen, des andern Narr werden.
Er hat nur die Wahl uͤber die Art.



LVIII.
Die mehrſten machen ſich laͤcherlich aus
Furcht laͤcherlich zu werden.


— — — Das habe ich meinem Junker auch geſagt.
Allein ſeine Tante hat ihm eingepredigt,
daß es nicht ſo ſchlimm ſey, die zehn Gebote zu uͤbertreten,
als ſich laͤcherlich zu machen. Was meinen ſie dann, ſollten
unſere Sittenlehrer, die Comoͤdianten und Poeten, der Sache
nicht zu viel thun, wenn ſie ſich zu ſehr darauf legen die Feh-
ler laͤcherlich zu machen? das Gute und Boͤſe wird leicht ver-
wech-
[359]aus Furcht laͤcherlich zu werden.
wechſelt; junge Gemuͤther ſind nicht im Stande ſolches alle-
mahl zu pruͤfen; ſie richten ſich lediglich darnach ob etwas
laͤcherlich gefunden werde oder nicht? Der Grund einer Sache
wird gar nicht mehr unterſucht, und der Hofmeiſter wuͤrde
ein Pedant heiſſen, der ſich eines andern Beweiſes bediente
als: Fy! cela eſt ridicule.


Ich habe meinen Untergebenen oft gegen dieſen gebietriſchen
Ausdruck verhaͤrtet, und ihm Stolz genug beybringen wollen,
ſich ſelbſt zum Original zu bilden. Junker, habe ich ihm geſagt;
Sie haben einen dicken Kopf, und die Taubenfluͤgel ſtehen ihnen
beſſer, wenn ſie ſolche etwas abnehmenlaſſen; ſie haben ein
edles freundſchaftliches Weſen, wodurch ſie einen jeden gewinnen
werden, warum wollen ſie ihre Geſichtsmuſ keln aufſteifen,
um ein zuruͤckhaltendes Anſehen zu haben? Die Statur hat
ihnen die Phyſionomie, welche ſich zu ihren Neigungen
ſchickt, mitgetheilet, warum wollen ſie dieſer weiſen Mut-
ter nicht folgen? Iſt es denn ſo etwas großes, ein geſchickter
Affe zu ſeyn? Und ſind ſie verſichert, hierinn zur Voll-
kommenheit zu gelangen, da ihnen ihre Natur hierinn nicht
zu Huͤlfe kommt? Ihre Seele hat die Faͤhigkeit, etwas
großes zu lernen. Und ſie tragen Bedenken fleißig zu
ſeyn, weil es andere auch nicht ſind? Sollte es ihnen aber
nicht ſchmeichelhafter ſeyn, Exempel zu geben, als Exempel
zu nehmen? .... Ja, man wird ſich uͤber mich aufhalten;
die Tante wird ſagen ich ſey ein Schulfuchs, und die Couſi-
nen werdem mich den guten Vetter nennen, wenn ich ſo ein
Geſicht habe das mit Brey aufgefuͤttert zu ſeyn ſcheinet. …
Gut, aber iſt denn das hoͤniſche Aufhalten ſo etwas fuͤrchter-
liches? Bilden ſie ſich einmahl ein, dieſe ſchreckliche Begeg-
nung ſey unvermeidlich, ſie moͤgen nun ein Original oder eine
Copey werden; es ſey nothwendig, daß ein Menſch dem an-
dern dieſen Zoll geben muͤßte, was meinen ſie, von welchem
Z 4Theile
[360]Der Rath einer guten Tante
Theile wollten ſie dieſe Abgaben am liebſten entrichten? Von
ihren Tugenden, oder von ihren Taubenfluͤgeln? Am liebſten
von keinen. Aber wenn es nun nicht anders ſeyn koͤnnte? ..
Kuͤſſen ſie ihrer lieben Tante die Hand zur Dankbarkeit, ſo
oft ſie ſich uͤber den Schnitt ihres Kleides aufhaͤlt, und denn
kommen ſie zu mir: ſo wollen wir gemeinſchaftlich uͤberlegen,
ob wir den Schnitt aͤndern wollen oder nicht. Unſer eigenes
Urtheil ſoll die Entſcheidung verrichten; wir wollen nicht
ſtrenge, aber auch keine ſolche Kinder ſeyn, die ſich von jedem
Thoren am Gaͤngelbaͤndgen leiten laſſen.



LIX.
Der Rath einer guten Tante an
ihre junge Niece.


Ihr Entſchluß iſt gefaͤhrlich meine liebe Niece bey ſo jungen
Jahren allen Frivoliteten abzuſagen. Das einzige was
Sie dadurch gewinnen werden, iſt dieſes, daß ſie die ganze
Geſellſchaft in Erſtaunen ſetzen; und im Vertrauen geſagt,
die Erſtaunten erholen ſich bald von dem erſten heftigen Anfall,
und laſſen es hernach insgemein derjenigen entgelten, die ih-
nen dieſen Paroxiſmus verurſacht hat. Es iſt auch fuͤr ein
junges Maͤdgen nicht gut, gar zu ſehr in dem Rufe der Weiß-
heit und Tugend zu ſtehen. Die Welt glaubt doch ſie ſpiele
nur eine Rolle, und das Rollenſpielen, wenn es zu fruͤh ge-
ſchieht, erweckt Nachdenken. Man uͤbertreibt ſie insgemein,
und nur eine Italiaͤnerin von 14 Jahren iſt im Stande, unter
der Maske der kindiſchen Unſchuld, ihre von der ſchlauen
Mutter erlernte Kunſt, auf eine gluͤckliche Art in Uebung zu
ſetzen.
[361]an ihre junge Niece.
ſetzen. Die beſte Manier fuͤr ein junges weſtphaͤliſches Maͤd-
gen iſt, ſich in dem Rufe eines guten Kindes zu erhalten,
ſich der Wirthſchaft zu befleißigen, und der Mode zu folgen,
ſo wie ſie der Rangordnung nach an ſie koͤmmt. Diejenige,
ſo hierin zu viel oder zu wenig thut, verfehlt das allgemeine
Ziel und verliſcht ehe ſie brennet.


Wenn ich Ihnen alſo als eine gute Tante rathen ſoll: ſo
erniedrigen ſie ihren Kopfputz vorerſt nur um einen Zoll; und
befleißigen ſich der Wirthſchaft ohne jemals davon zu ſprechen.
Zeigen Sie ihren Freunden ein ofnes Herz; vermeiden Sie
allen Hang zu beſondern Tugenden und laſſen die Weißheit
denen, die ſolche beſſer verwahren koͤnnen als es ein junges
Maͤdgen thun kan. Dies waren die Regeln meines ſeligen
Vaters, wodurch ich eine gluͤckliche Frau geworden bin; an-
ſtatt daß verſchiedene meiner alten Geſpielinnen, die wie ich
verſichert bin, mehrern Witz, hoͤhere Tugenden und einen
feinern Geſchmack hatten, und dabey immer ſich nach der
neueſten Mode kleideten, oft bewundert und nie geliebet wur-
den.


Ihre wahre natuͤrliche Staͤrke, mein liebes Kind! iſt ein
gutes empfindliches Herz; keine Rolle gelingt beſſer als die-
jenige, wozu man von Natur aufgelegt iſt. Wollen ſie alſo
ja in ihren Jahren durch einen beſondern Vorzug glaͤnzen:
ſo ſetzen ſie ihre ganze Kunſt darinn, daß Sie dieſes gute em-
pfindliche Herz einem jeden auf die vortheilhafteſte Art zeigen.
Seyn ſie aufrichtig und ſpielen die Aufrichtigkeit; dieſe Co-
moͤdie gelingt und gefaͤllt leicht, anſtatt, daß ihnen ein offen-
barer Krieg mit allen Modethorheiten oder eine andre ſtrenge
Tugend in ihren Jahren nur Spott zuziehen wird. Vielleicht
denken Sie, daran ſey nichts gelegen, und es ſey ruͤhmlich,
der Tugend ein ſolches Opfer zu bringen. Allein glauben
Z 5Sie
[362]Amaliens Schreiben uͤber die Luſtbarkeiten.
Sie mir nur mein gutes Kind, es iſt eine Thorheit, der Tu-
gend Spoͤtter zuzuziehen, wenn man ihr durch eine geringe
Wendung in der Manier Verehrer erwerben kan.


Dieſes ſage ich Ihnen am erſten Tage des Jahrs; und Sie
koͤnnen daraus alle meine Wuͤnſche errathen.



LX.
Amaliens Schreiben uͤber die
Luſtbarkeiten.


Ich zanke mich oft mit meinem Mann — — nun das
verſteht ſich, werden ſie ſagen — — und vielleicht
hat er wohl gar Recht, dies verſteht ſich ſonſt nicht — —
wenn es auf die Frage ankoͤmmt? Was eigentlich Luſtbar-
keiten ſeyn?
Heute, ſpreche ich zu ihm, will ich mich recht
divertiren; wir haben Comoͤdie, Ball, und wenn dieſer zu
Ende, ein Jagdfruͤhſtuͤck; ich werde mich einmal recht ſatt
tanzen. Mit laͤcheln wuͤnſcht er mir Gluͤck zu meinem großen
Vorſatz; und dann wann die Luſt nun voruͤber, und ich den
erſten Taumel ausgeſchlafen habe: ſo ſieht er mich an als
wollte er fragen: wie ich mich dann nun divertirt haͤtte?
Heimlich beſchaͤmt, aber großſprecheriſch erzaͤhle ich ihm dann
mit den lebhafteſten und uͤbertriebenſten Ausdruͤcken was ich
alles genoſſen, empfunden und ausgefuͤhrt haͤtte. Er aber,
der mich kennt, und mir ins Herz ſieht, laͤßt ſich durch keine
Blendungen taͤuſchen. Hier bey dieſer Hand, ſagt er, indem
er diejenige faßt, welche ich ihm ehmals zum erſten Zeichen
meiner Liebe reichte, beſchwoͤre ich ſie mir aufrichtig zu ge-
ſtehen: ob ſie ſich wuͤrklich ſo [ſ]ehr erluſtigt haben wie ſie vor-
geben?
[363]Amaliens Schreiben uͤber die Luſtbarkeiten.
geben? Nun bin ich arme Hexe gefangen, ich kaͤmpfe nur
noch auf der Flucht, und mehr um meine eigne Schwachheit
zu verhelen, als den Sieg davon zu tragen. Wenn ſie es
durchaus wiſſen wollen, antworte ich ihm ganz leiſe ins Ohr:
ſo will ich Ihnen wohl geſtehen, daß ich beſtaͤndig beyde
Fluͤgel geſchlagen habe, um zu fliegen, aber nicht einen Dau[-]
men breit von der Erde gekommen bin. Wir jagten alle nach
der Luſt, und keiner erhaſchte ſie. Bey der Tafel ſchien einer
den andern zu fragen, wo ſie bleibe. Man verſuchte den
Ton der Freude; er wollte ſich aber nicht finden. Die Trin-
ker ließen die Glaͤſer erklingen, waͤhrender Zeit ihr Geiſt lange
Weile hatte, und beym Tanze waren nur die Verliebten recht
munter; die uͤbrigen folgten dem Reihen, weil ſie einmal da
waren; und wie es Zeit war aufzuhoͤren, giengen die mehr-
ſten gern zu Bette. Kurz, es fehlte ich weis nicht was;
und keiner ſchien diejenigen Beduͤrfniſſe zu fuͤhlen, welche zum
wahren Genuß der Freude gehoͤren.


Wer iſt zufriedner als mein Mann, wenn ich ſeinem klei-
nen philoſophiſchen Stolze dieſes Opfer gebracht habe? Sollte
er aber in der That recht haben, liebſte Freundinn? und ſollte
die Eitelkeit und das Vergnuͤgen vergnuͤgt zu ſcheinen nicht
mit zur Rechnung gebracht werden duͤrfen? Sollte die maͤch-
tige Begierde zu glaͤnzen, zu verſchwenden und in aller Welt
Augen als die gluͤcklichſte Perſon zu erſcheinen nicht auch ihre
Rechte haben? Und hat mein Mann nicht unrecht, wenn er
im Eſſen und Trinken weiter nichts als eine Befriedigung der
erſten Beduͤrfniſſe ſucht, und ohne Durſt keine Luſt am Trin-
ken findet? die Forderungen meines Magens ſind ſehr ge-
ringe; aber dem ungeachtet, ſehe ich gern achzig Schuͤſſeln
auf der Tafel. Was iſt die dunkle Gemuͤthsruhe und die ſo-
genannte innerliche Zufriedenheit gegen die Befriedigung ei-
ner angenehmen Leidenſchaft? Wer nichts wie jene ſucht, der
kan
[364]Vorſchlag zur Veredelung
kan auch mit Rockenbrey zufrieden ſeyn; und die Vorſehung
hat es weislich geordnet, daß man wohlfeil und koſtbar ver-
gnuͤgt ſeyn kan, damit ein jeder nach Standesgebuͤhr gluͤck-
lich ſeyn koͤnne. Aber unſer eine, die die unendlichen und
mannigfaͤltigen Beduͤrfniſſe der Eitelkeit fuͤhlt; unſer eine
ſage ich, geht zu allen oͤffentlichen Luſtbarkeiten, und genießt
dabey ein edlers Vergnuͤgen, als alle, ſo nichts wie einen
philoſophiſchen Geiſt und einen dummen Magen zu befriedi-
gen haben. Ich denke wenigſtens ſo; und Sie koͤnnen mir
keinen groͤßern Gefallen erzeigen, als wenn ſie mir ihren Bey-
fall geben. Thun Sie es aber bald; ich erwarte ihn noch
heute und bin ꝛc.



LXI.
Vorſchlag zur Veredelung der verlohren
gehenden zeit.


Die liebe Zeit, welche mit hin- und hergehen, mit ho-
len und bringen in allen Haushaltungen verlohren
wird, kan fuͤglich in einem Staate, worinn hunderttauſend
Menſchen leben, auf einen taͤglichen Schaden von tauſend
Thalern gerechnet werden; und ſo dann wird nur angenom-
men, daß ein Drittel derſelben, oder um alle Bruͤche zu ver-
meiden, 36000 Menſchen, alle Tage einen Mariengroſchen
damit verlieren. Dieſen Verluſt fuͤhlt man nicht lebhafter
als im Lippiſchen, wo man keinen Dienſtboten und ſehr wenige
Perſonen auf dem Wege findet, die nicht beſtaͤndig ihr Knuͤtte-
zeug in Haͤnden haben, und indem ſie ihren Geſchaͤften nach-
gehen, ihre Zeit zu veredlen ſuchen. Fremde ſehen in Pyr-
mont keine Frau die mit linnenen Struͤmpfen handelt, ohne
bey
[365]der verlohren gehenden Zeit.
bey ihrem herumgehen zugleich wieder einen andern Strumpf
zu knuͤtten; und ich habe mannigmal aus den Staͤdten dorti-
ger Gegend hunderte von Maͤdgen zum Melken ausgehen
ſehen, worunter keine einzige war, die nicht mit dem groͤß-
ten Eyfer ihren Strumpf knuͤttete. Hier ſage ich, fuͤhlt man
den Verluſt lebhaft, den andre Laͤnder, worinn gewiß auch
einige tauſend Menſchen zum Melken gehen, und taͤglich
mit hin- und herlaufen ſechs Stunden verlieren, erleiden
muͤſſen; und warum? blos weil es die Gewohnheit, oder weil
der Menſch von ſeiner erſten Jugend an nicht dazu erzogen iſt.


Mit Recht belohnten die hieſigen Landſtaͤnde beym vorigen
Landtage eine junge Frau a), die ſeit vielen Jahren auf
zweyen Raͤdern zugleich geſponnen hatte, um ihren alten
Mann, und ihre Kinder zu ernaͤhren. Exempel von dieſer
Art zeigen was geſchehen koͤnne, wenn die fruͤhe Erziehung
der Landespolicey entgegen koͤmmt; und wie ſehr waͤre es zu
wuͤnſchen, daß auf dieſe Art der Erziehung nur ſo viel ver-
wendet wuͤrde, als auf manche verungluͤckte Fabrik verwen-
det iſt. Es wuͤrde freylich nicht zu verlangen ſeyn, daß alle
Menſchen ſo anhaltend arbeiten ſollten. Allein die Geſchick-
lichkeit dazu koͤnnte ein jeder durch die Erziehung erlangen;
und ſo wuͤſte er doch zur Zeit der Noth, daß er ſein Brodt
mit zweyen Raͤdern ſuchen muͤſte, was er mit einem nicht er-
halten koͤnnte; ſo wuͤrde ihm vielleicht die Arbeit zur Ge-
wohnheit, und Gewohnheit zur andern Natur: und ſo wuͤr-
den die 216000 Stunden, die von 36000 Menſchen alle
Tage regelmaͤßig mit holen und bringen verlohren werden,
zu einem wichtigen plus in der Oekonomie des Staas.


Es
[366]Vorſchl. zur Veredel. der verlohr. gehend. Zeit.

Es liegt nichts daran, ob das Knuͤtten auf dem Wege,
was die Dienſtboten und andre gehende Perſonen thun koͤn-
nen, fuͤr die Herrſchaft wobey ſie dienen, oder fuͤr die Ar-
beiter ſelbſt geſchehe; allein dem Staat, der in beyden Faͤllen
gleichviel gewinnet, iſt unendlich daran gelegen, daß es ge-
ſchehe, und manche Herrſchaft machte ſich vermuthlich ein Ver-
gnuͤgen daraus, ihrem Geſinde das Garn dabey zu ſchenken.
Ich kenne eine Familie, worinn der Vater ſeinen Kindern,
allen Flachs ſchenkte, was ſie verſpinnen konnten, wogegen
ſie ſich aber in Kleidungen ſelbſt unterhalten muſten; und der
Eyfer der Kinder gieng ſo weit, daß er ihnen die Raͤder ver-
ſchließen muſte, weil ſie um zwey Uhr des Morgens ſchon
dahinter ſaßen, und der Sohn, der nachmals ein wuͤrdiger
Prediger ward, ſich eben ſo fruͤh mit ſeiner Grammatik an das
Rad ſetzte.


An dem guten Ton fehlt es hier gewiß nicht; alle unſre
vornehmen Damen arbeiten beſtaͤndig in Geſellſchaften, und
und haben ihren Nehebeutel im Wagen wie in der Comoͤdie.
An der Moͤlichkeit iſt kein Zweifel, da ſo gar blindgebohrne
Perſonen, die ſchoͤnſte Knuͤttearbeit verfertigen koͤnnen, und
andre Laͤnder, wie auch verſchiedene hieſige Kirchſpiele, be-
ſonders aber die Muͤnſterſchen Aemter Kloppenburg und
Vechte, worinn gewiß jaͤhrlich fuͤr 100-000 Rthlr. wollene
Struͤmpfe mit der Nebenarbeit verfertiget werden, davon
zeugen. Woran liegt es alſo, daß viele Kinder unſrer Land-
leute im Sommer, wenn der Schulhalter zum Torfſtechen
nach Holland geht, hinter den Kuͤhen muͤßig liegen? An haͤus-
lichen Exempeln und an der Erziehung.



LXII.
[367]Die wahre Gewiſſenhaftigkeit.

LXII.
Die wahre Gewiſſenhaftigkeit.


Der Barbier des beruͤhmten Columbus hat ſo viele ſeines
gleichen in den uͤbrigen Klaſſen der Menſchen, daß
ich mich ſeiner faſt taͤglich erinnere; und ich glaube meinen
Leſern wird es eben ſo gehen, wenn ich ihnen ſeine Geſchichte,
ob ſie gleich laͤngſt bekannt iſt, noch einmal erzaͤhle. Es war
nun ſchon der dreyzehnte Tag, man zaͤhlt wenn man hungrig
iſt ſehr genau, daß das Schiffsvolk dieſes Seehelden ohne
eine rechtliche Nahrung zugebracht hatte. Viele hatte der
Hunger bereits voͤllig entkraͤftet, und die uͤbrigen, welche ihre
Kleider taͤglich in Seewaſſer tunkten, und a) dasjenige durch
die Haut einduͤnſteten was der Magen nicht vertragen wollte,
ſahen ſich auch durch dieſes Mittel nicht weiter zu retten.
Die Verzweiflung wuͤtete aus ihren Augen, und jeder fuͤrch-
tete ſich von dem andern aufgefreſſen zu werden. Bruͤder,
ſagte endlich der Barbier, welcher noch der fetteſte war, und
deswegen am mehrſten zu fuͤrchten hatte, hier iſt nichts zu
thun als wir muͤſſen looſen. Wer die hoͤchſten Augen wirft,
der ſoll zuerſt geſchlachtet werden, und trift es mich: ſo ſoll es
mir ein Troſt ſeyn, ſo vielen redlichen Freunden das Leben
noch
[368]Die wahre Gewiſſenhaftigkeit.
noch auf einige Tage friſten zu koͤnnen; und wer weis ob ihr
nicht immittelſt ſo gluͤcklich ſeyd ein Land oder Schiff zu ent-
decken, was euch zu Huͤlfe kommt … Die Noth verſtat-
tet keine lange Ueberlegung, die Wuͤrfel wurden herbey ge-
bracht, und unſer Barbier that den erſten Wurf; der zwar
ziemlich hoch, aber doch nicht ſo hoch war, daß er ſich nicht
die Hoffnung machen konnte, von den uͤbrigen, deren noch
ſieben und zwanzig waren, uͤbertroffen zu werden. Der
Steuermann warf nach ihm aber ſehr wenige Augen; ihm
folgte einer nach dem andern mit gleichem Gluͤcke bis auf den
Columbus, der zuletzt werfen ſollte. Hier riefen die Matro-
ſen einhellig, er ſolle und duͤrfe nicht mit werfen, indem ſie
ihn nicht entbehren koͤnnten, wann er auch ſo ungluͤcklich ſeyn
ſollte den Barbier abzuwerfen. Allein er dachte in dieſer
Noth, wo ein Menſch ſo gut wie der andre iſt, an keine Vor-
zuͤge, und an keinen Rang; griff dem Steuermann die Wuͤr-
fel aus der Hand und warf — — — eben wie die andern
weniger als der Barbier, der ihn mit vielem Eyfer uͤberzeugt
hatte, daß er ſich ohne Nachtheil ſeiner Ehre dem Looſen nicht
entziehen koͤnnte. Dieſer mußte alſo zuerſt daran, und das
Schiffsvolk verzehrte ſchon den fetten Koͤrper, der ſich bey
Tropfen und Pulvern und etwas heimlichen Zwieback noch
am beſten geſtanden hatte, mit grimmigen Augen, als er ſich
großmuͤthig ſchuͤttelte und mit einem Muthe, den ihm die
Todesangſt einfloͤſſete, die uͤbrigen alſo anredete:


„O der ſeligen Stunde da ich mein Leben fuͤr meine beſten
„Freunde aufopfern kan! Wie ſehnlich habe ich mir jederzeit
„dieſes gluͤckliche Loos gewuͤnſcht! Naͤchſt dem Tode fuͤrs Va-
„terland iſt nichts ſanfter als fuͤr ſeine Freunde zu ſterben! ..
„Aber meine theureſten Freunde! Eins .. Eins .. muß
„ich euch ſagen; ich muß es ſagen, damit es meine Ruhe jen-
„ſeit des Grabes nicht ſtoͤre: damit ich nicht noch nach mei-
„nem
[369]Die wahre Gewiſſenhaftigkeit.
„nem Tode von euch verfluchet werden moͤge. Ich habe,
„wie wir zu Schiffe giengen, eine uͤble Krankheit gehabt,
„das Gift brennet noch in meinen Adern, und mein ganzes
„Fleiſch iſt voll heimlicher Geſchwuͤre. Schreckliches und er-
„niedrigendes aber wahres und gewiſſenhaftes Bekenntniß!
„Dieſe Thraͤne mag euch uͤberzeugen, wie nahe es mir gehe,
„ſolches abzulegen. Aber mein Gewiſſen geht mir fuͤr alles.
„Ihr koͤnnet mein Fleiſch nicht genießen, ohne euch in die
„elendeſten Umſtaͤnde zu verſetzen; und was wuͤrde aus euch
„werden, wenn ihr von dieſem ſchrecklichen Gifte ergriffen,
„ohne meine Huͤlfe ohne die Huͤlfe eures einzigen Arztes auf
„dieſen wilden Meere noch weiter herum getrieben werden
„ſolltet! Der Himmel iſt mein Zeuge, das ich ohne Eigennutz
„rede. Der Uebergang aus dieſem Leben in das kuͤnftige iſt
„nur ein Schritt, und der Weg unter mir iſt mit Blumen
„beſtreuet, da ich ihn nunmehr mit dem reinſten Gewiſſen be-
„treten, mein Elend endigen und euer Leben verlaͤngern
„kan. Was ſollte mich denn abhalten mich fuͤr meine beſten
„Freunde aufzuopfern, wenn es nicht eure eigne Wohlfarth
„dieſer große Gegenſtand aller meiner Bemuͤhungen waͤre?
„Glaubet mir ..


In dem Augenblick rief die Schildwache auf dem Maſtkorbe
Land Land; und der Barbier ſchlich fort in ſeine Hangmatte.



Möſers patr. Phantaſ.II.Th.LXIII.
[370]Ein bewehrtes Mittel wider die boͤſe Laune,

LXIII.
Ein bewehrtes Mittel wider die boͤſe Laune,
von einer Dame auf dem Lande.


Ich muß Ihnen in der Geſchwindigkeit eine Entdeckung mit-
theilen, die ich in der vorigen Woche gemacht habe. Mein
Mann und ich waren ſo unaufgeraͤumt als zwey Eheleute bis-
weilen ſeyn koͤnnen, wie ſich eben Herr und Frau ....
bey uns anſagen ließen. Nun ſo wollte ich … fuhr mein
Mann heraus, man kan doch keinen Augenblick auf dem Lande
allein ſeyn; es iſt doch eben keine Zeit um zu ſchmauſen, da
ſo viele arme Menſchen Hunger leiden, und ich weiß nicht
was den Leuten ankommt; es ſind ja erſt vierzehn Tage daß
ſie uns beſuchet haben. Und ich bin auch nicht im Stande,
ſtimmete ich ihm graͤmlich bey, einen Beſuch anzunehmen,
indem ich noch in meinem erſten Neglige und wahrhaftig
außer Stande bin dieſen Mittag einen Braten zu ſchaffen.
Indeſſen und da die Gaͤſte ſchon vor dem Thore und zwey
Meilen gefahren waren, mußten wir doch die Antwort ſagen
laſſen: es ſollte uns viele Ehre ſeyn.


Nun! ſagte mein Mann, das wird eine recht ſchoͤne Ge-
ſellſchaft ſeyn; ich bin nicht im Stande drey Worte zu ſpre-
chen und du … O! antwortete ich ihm, hier iſt nichts zu
thun, als wir muͤſſen beyde eine Rolle ſpielen; ich will die
allerliebſte Frau und du ſollſt den allerliebſten Mann agiren;
wir wollen ſehen .... In dem Augenblick kamen unſre
Gaͤſte auf dem Platz gefahren, und wir machten den Anfang
unſrer Rolle ſo vortreflich, daß die guten Leute ganz entzuͤckt
daruͤber wurden. Die ruͤhrenſien Verſicherungen der Freude
uͤber
[371]von einer Dame auf dem Lande.
uͤber ihre Ankunft, die zaͤrtlichſten Umarmungen, die ſchmei-
chelhafteſten Liebkoſungen folgten einander ganz ungezwun-
gen; und mein Mann, der durch dieſen poßierlichen Einfall
fortgeriſſen wurde, gab mir nichts nach. Wir lachten beyde
uͤber unſre Rollen von ganzen Herzen, und unſre Gaͤſte, die
dieſes Lachen vor lauter Zeichen der Freude uͤber ihre Ankunft
dankbar annahmen, druͤckten ihre Zufriedenheit mit gleicher
Lebhaftigkeit aus, und ehe eine Viertelſtunde voruͤber gieng,
waren wir alle ſo aufgeraͤumt, als wenn wir uns recht zum
Vergnuͤgen bey einander verſammlet haͤtten. Der Mangel
des Bratens wurde leicht erſetzt; das Neglige fand Beyfall
und der Tag lief uns in den Tone ſo fort, daß wir uns am
Abend nicht ſcheiden konnten. Es war als wenn ſich auf ein-
mal ein ganz neuer Geiſt unſer bemeiſtert hatte, und was erſt
blos Rolle war, hatte ſich dergeſtalt in Natur verwandelt,
daß wir wuͤrklich alles dasjenige fuͤhlten, was wir Anfangs
nur ſpielen wollten.


Was duͤnkt Ihnen, liebſte Freundin! von dieſem Mittel,
ſich in eine gute Laune, die wir ſo ſelten in unſrer Gewalt
haben, zu verſetzen? Sollte es nicht zu dieſer Zeit, wo man
oft ſo verdruͤßlich empfangen und ſo kaltſinnig entlaſſen wird,
eine oͤffentliche Bekanntmachung verdienen? Die ganze Kunſt
ſcheinet nur darinn zu beſtehen, daß man ſeine Freunde erſt
aufgeraͤumt und erkenntlich macht; und wird dieſes gleich
Anfangs durch eine gluͤckliche Verſtellung erzwungen: ſo koͤn-
nen wir ſelbſt nicht unaufgeraͤumt und unerkenntlich bleiben,
ſondern muͤſſen nach einer ganz natuͤrlichen Harmonie mit
einſtimmen. Wir vergeſſen ſo dann das Mittel und ſchme-
cken nur die Suͤßigkeiten des Erfolgs.


Mein Vater ein tiefſinniger Mann, der ſeine Hausrech-
nungen niemals nachſahe, aber dagegen den Lauf der Come-
A a 2ten
[372]Man ſollte den alten Geckorden
ten deſto genauer zu berechnen ſuchte, den alle fuͤnfhundert
Hofnarren des Koͤnigs von Monomotapa nicht zum Lachen
gebracht haben wuͤrden, pflegte ſich alle Tage einmal in ſei-
nen Lehnſtuhl zu ſetzen, und ſo lange mit dem Munde zu lachen,
bis er wuͤrklich von Herzen lachen und ſeiuer Lunge eine wohl-
thaͤtige Erſchuͤtterung geben konnte. Hier war alſo noch ein an-
drer Grund der veraͤnderten Laune; und ich glaube, wenn man
aus Muthwillen oder aus Ueberlegung ſein Geſicht eine Zeitlang
vor dem Spiegel zu freundſchaftlichen Zuͤgen uͤbte, es wuͤrde dieſe
Bewegung der Lachemuskeln auch eine gluͤckliche Mitwuͤrkung
auf unſer Herz hervorbringen.


Doch Sie koͤnnen ohne dieſes Mittel vergnuͤgt ſeyn; aber
wir armen geplagten Hausfrauen mit unſern graͤmlichen Maͤn-
nern muͤſſen bisweilen unſre Zuflucht zur Kunſt nehmen, um
die Falten zu verziehen, welche ſich wider unſern Willen zu
Runzeln aufwerfen wollen. Leben Sie indeſſen wohl, und
vergeſſen uns tragicomiſchen Landleute nicht. Ich bin


Amalia …



LXIV.
Man ſollte den alten Geckorden wieder
erneuern.


Man ruͤhmt es zwar unſern großen Vorfahren nach, daß
ſie zum Zeitvertreibe vieles auf vertraute Geſellſchaf-
ten und bruͤderliches Trinken gehalten, und darin die ganze
Wolluſt politiſcher Begeiſterungen und kuͤhner Verſchwoͤrungen
genoſſen haͤtten; auch redet man nie von ihren Toͤchtern,
ohne ſich Prinzeßinnen vorzuſtellen, die in einſamen Nach-
den-
[373]wieder erneuern.
denken, in anhaltenden Vorſtellungen und treuer Liebe im
hohen Stil ihre Feyerabende zugebracht haͤtten. Allein man
mag ihnen ihr Trinken, ihre Verſchwoͤrungen und ihre Aben-
theuer noch ſo hoch anrechnen: ſo bleibt es doch noch immer
ein Raͤthſel, wie ſie ohne Kartenſpiel, ohne die jetzt ſo ſehr
zur Mode gewordene Lectuͤre, ohne Schauſpiel und ohne Zei-
tungen, die eine Zeit wie die andre ſo vergnuͤgt hinbringen
koͤnnen?


Die Antwort welche man insgemein hierauf hoͤret, daß ſie
ſich mehr mit dem Haushalt abgegeben haͤtten, auch erfind-
ſamer an ſchlauen Streichen, kuͤhner in ſatyriſchen Bildern,
kraͤftiger im Scherzen, reicher an kurzweiligen Erzaͤhlungen,
und uͤberhaupt geſunder und hungriger zur Freude geweſen
waͤren, loͤſet den Knoten nicht; die Arbeit reicht nicht immer
zu; das Vademecum wird erſchoͤpft; die Laune ſchlaͤft ein,
wie meine Leſer vom Handwerke, welche eine Geſellſchaft da-
mit zu unterhalten verſuchen, ſelbſt geſtehen werden; und
dreyhundert fuͤnf und ſechzig Tage, worunter hundert Feyer-
tage waren, welche unſre Vorfahren bey ihrer mehrern Arbeit
mit muntern Scherzen und lachenden Freuden ohne Karten-
ſpiel, ohne Lectuͤre, ohne Zeitungen und ohne Schauſpiele
zugebracht haben, zeigen einen ſolchen ungeheuren Raum von
Zeit, daß obige Mittel, ſo blos genommen, nicht hingereicht
haben koͤnnen, ſolchen auf eine angenehme Art auszufuͤllen.
Und dann iſt wiederum noch die Frage, woher unſre Vorfah-
ren ſo geſund, ſo hungrig, ſo aufgelegt zur Freude geweſen,
und worin die große Kunſt beſtanden, mit deren Huͤlfe ſie die
Langeweile aus ihren Geſellſchaften verbannet haben? Die
Geſchichte, welche die Handlungen eines Jahrhunderts in eine
halbſtuͤndige Erzaͤhlung zuſammen draͤngt, und die ganze Welt
als immer geſchaͤftig darſtellet, taͤuſcht den Kenner hier nicht;
die heroiſchen Tugenden waren ſo wenig wie die taͤndelnden
A a 3un-
[374]Man ſollte den alten Geckorden
unſers Jahrhunderts der Langenweile allein gewachſen. Sie
muſten alſo ein eignes verlohrenes Mittel haben, wodurch ſie
den frohen Scherz erzeugten, und ihre Feyerſtunden auf eine
vergnuͤgte Art zubrachten.


Da ich unlaͤngſt der Urſache des von dem Herzoge von Cleve
geſtifteten Geckordens nachdachte; ſo fiel mir ein, daß unſre
Vorfahren ſich vielfaͤltig Rollen oder Charaktere erwaͤhlt, und
ſolche bey Gelegenheit geſpielet haͤtten. Gewiß iſt es wenig-
ſtens, daß wenn eine Geſellſchaft von Freunden zuſammen
kommt, worunter jeder ein luſtiges Amt zu verwalten oder
eine komiſche Figur zu machen hat, ein laͤrmender Ton der
Freude ſich geſchwind verbreite und ziemlich erhalte. Ich
erinnere mich einer Geſellſchaft, worin vor zehn Jahren der
eine nur ein einziges mahl zum Pangloß, und eine Dame zur
Mademoiſelle Kunigonde geſtimmet wurde, und ſo bald kom-
men jetzt die beyden nicht wieder zuſammen: ſo bringt ein
freundſchaftliches: comment va pangloſs und ein ſanftes:
eh Mademoiſelle ſi tout ne va pas bien tout ne va pour-
tant pas mal;
die beyden Leute gleich in einen ſolchen Ton,
und dieſer reißt die Geſellſchaft ſo mit fort, daß ich augen-
ſcheinlich ſehe, dergleichen Rollen ſind noch immer fuͤrtrefliche
Kruͤcken der menſchlichen Freude.


Der Geiſt des Geckenordens war unſtreitig, daß der Her-
zog ſogleich ſein Durchlaucht, der Graf ſeine Excellenz,
und der Ritter ſeine Gnade, um in den heutigen Stil zu
ſprechen, verbannete, alle ſich in Bruͤder von gleichen Kappen
verwandelten, und nun keine ſteife Verbeugung, keine unter-
thaͤnigſte Ehrfurcht, keine gnaͤdigſte Erlaubniß dieſe ſchreck-
lichen Feinde aller guten Freunde, ſich, ohne laͤcherlich zu
werden, ſehen laſſen durfte. Die vollkommenſte Freyheit,
ſo
[375]wieder erneuern.
ſo wie ſie ausgeſuchte Leute zu gebrauchen wiſſen, war noth-
wendig damit verknuͤpft, und man findet in verſchiedenen
Ueberbleib ſeln des Witzes aus jenen Orden, eine ſolche Ga-
lanterie der Narrheit, daß ich nach einem einzigen anſtoͤßigen
oder auch nur einigermaßen zweydeutigen Ausdruck von ge-
wiſſer Art, vergeblich geſuchet habe. So groß war das Stu-
dium oder die Cultur der Thorheit, und mit ſolcher Wahl
wurden die guten Gecke (Foux du bon ton) zuſammen
gebracht.


Wie vieles wuͤrde jetzt mancher großer Herr darum geben,
ſich an den Abende eines mit Sorgen und Arbeit zugebrachten
Tages eine ſolche herzliche Freude verſchaffen und ſein Ge-
muͤth auf den andern Tag erheitern zu koͤnnen? Was wuͤrde
er darum ſchuldig ſeyn alle ſeine nnterthaͤnigſten Diener, welche
ihn in tiefſter Erniedrigung zum Henker wuͤnſchen, nur dann
und wann als Freunde, als luſtige und vergnuͤgte Bruͤder zu
ſehn, die ihm unter dem Ordenszeichen des Gecken, ihr Herz
eroͤfnen und dasjenige ſagen duͤrften, was in einer ſteifen und
lahmen Stellung ihnen nie ſo recht geſagt werden kan? Wann
man zu unſrer Zeit bey Excellenzien und Gnaden iſt, weis man
es ſelten, ob es erlaubt ſey, einen Pfeil zu ſchieſſen; und
wenn man es ja einmahl wagt; ſo trift er ſelten, weil er mit
furchtſamer Fauſt abgedruckt wird. Man bringt die Zeit bey
Tiſche wie im Staatscabinette zu, und redet mit der Vorſicht
eines Geſandten. Wie gluͤcklich waren dagegen jene klugen
Gecken, die ihren Orden aushangen, und dann in dem Cha-
rakter ihrer Rolle mit allen Durchlauchtigſten und Hochgebohr-
nen Bruͤdern eine ſtumpfe Lanze brechen konnten.


In den neuern Zeiten hat man kein ander Exempel von ei-
nem ſolchen Orden, als demjenigen, welchen der verſtorbene
Churſuͤrſt von Coͤlln Joſeph Clemens, wo ich nicht irre, un-
A a 4ter
[376]Man ſollte den alten Geckorden
ter dem Namen von Rat de pont errichtete, wovon die Ab-
ſicht eben diejenige war, welche der Herzog Adolph von Cleve
mit ſeinen Geckorden hatte. Der Mopsorden hat den Geiſt
nicht gezeigt, ohne welchem dergleichen Erfindungen laͤppiſch
werden.


Deſtomehr ſcheint die ſogenannte Dyonſche Infanterie jene
große Abſicht gehabt zu haben, das ſteife und gezwungene,
was der Unterſcheid der Staͤnde in der Welt oft nothwendig
macht, zu verbannen, und dafuͤr eine redliche Freude anzu-
ziehen. Es zeiget ſich dieſes aus den Patenten ihrer Mitglie-
der, wovon ich nur den Anfang desjenigen was ein Biſchoff
von Langres erhielt, hier anfuͤhren will a):

Les ſuperlatifs et Mirelefiques Loppinans b)de l’In-
fanterie Dyonnoiſe, Mourriſons d’Appolon Enfans
Jegitimes du venerable Perre Bon-tems: a tous
Foux Archifoux, Lunatiques. Eventez, Poetes
par nature, par Beccare et par Bemol, Almanachs
vieux et nouveaux, preſens abſens et a venir, Sa-
lut: Piſtolles Ducats Portugaiſes Jacobus, ecus et
autres triquedondaines: Scavoir faiſons que haut et
puiſſant Seigneur De la Reviere Eveque Duc et Pair
de Langres, aiant en deſir de ſe trouver en l’Aſſem-
blèe de nos Goguelus et aimables Enfans de l’In-

fan-
[377]wieder erneuern.
fanterie Dyonnoiſe et le reconnoiſſant capable de
porter le Chaperon de trois couleurs, et la Marotte
de Sage foile pour avoir en eux toules les allegreffes
de Machoires fineſſes galantiſes hardieſſe ſuffiſance
et experience des dens qui pourrount etre requiſes
a un Mignon de caberet auroit auſſi recu et couvert
ſa caboche dudit Chaperon, pris en main la celebre
Marotte et proteſté d’obſerver et ſou tenir la dite
ſolie a toute fin, voulant a ce ſujet etre empapaquete
et inſcrit au nombre des enfans de notre des redou-
table Dame et Mere, attendu la qualite d’homme
que porte le dit Seigneur, la quelle eſt toujours ac-
compagnée de ſolie — a ces cauſes \&c.


Solche und eine Menge andrer Bruderſchaften, welche
ihre geiſtlichen und weltlichen Beſchaͤftigungen und dabey ihre
freudigen Erquickungen hatten, mußten nothwendig die Ge-
ſellſchaften mehr begeiſtern und erhoͤhen als unſre Litteratur-
diſcurſe, worinn ein kleiner unbekannter neuer Autor oft zum
Helden in einer Standrede beym Hammelbraten gemacht wer-
den muß.


Das Frauenzimmer hatte vermuthlich auch ſeine Mittel,
um die Freude nicht einſchlafen zu laſſen. Die Schoͤppen-
ſtuͤhle a) der Liebe, wohin die zaͤrtlichen Streitigkeiten zum
A a 5Ur-
[378]Man ſollte den alten Geckorden
Urtheil geſchickt wurden, laſſen wenigſtens vermuthen, daß
man ſich auf eine uͤberaus ſinnreiche und angenehme Art ver-
gnuͤget habe; wie man denn auch ſagen muß, daß die wahre
Galanterie oder der Adel zaͤrtlicher Empfindungen, welche
unſre Vorfahren im dreyzehnten Jahrhundert beſeelte, mit
unter die Vorbilder gehoͤrte, nach welchen ſich Petrarch bildete.
Man kan die Zaͤrtlichkeit nicht hoͤher und kraͤftiger ausdruͤcken,
wie es die damaligen Dichter thaten; und das Kolorit iſt noch
ſo bezaubernd, ihre Sprache hat einen ſolchen Silberton, daß
man noch nach fuͤnfhundert Jahren davon entzuͤcket wird.
Zum Beyſpiel will ich nur eine einzige Strophe aus einem
Gedichte des boͤhmiſchen Koͤnigs Wenzel anfuͤhren:

Recht alſam eine Roſe diu ſich us ir Kloſen lat,
Wenne ſi des ſueſſen Touwes gert,
Sus bot ſi mir Zuker ſueſſen roten Mund.
Swas ie kein Mann zer Werlte Wunne enphangen
hat,
Das iſt ein wiht ich was gewehrt
So helfeberndes Troſtes. Ach der lieben Stund
Kein Mout es nimmer me durchdenket noch vol
ſaget

Was
a)
[379]wieder erneuern.
Was lebender Selde mir was an ir Gunſt betaget,
Mir Leide Libe wart geiaget.
Das Leid was froh diu Libe klaget.


woͤrtlich uͤberſetzt:

Recht wie eine Roſe die ſich aus ihrer Clauſur laͤßt,
Wenn ſie des ſuͤßen Thaues begehrt,
Bot ſie mir ihren Zucker ſuͤßen rothen Mund.
Was je ein Menſch zur Weltwonne genoſſen hat,
Das war es deſſen ſie mich gewaͤhrte
Eines ſo huͤlfreichen Troſtes. Ach der lieben Stunde!
Keine Seele mag es durchdenken oder voͤllig ſagen
Was fuͤr irrdiſche Seeligkeit mir durch ihre Gunſt wie-
derfuhr,
Die Liebe war durch vieles Leid muͤhſam erjagt,
Das Leid ward froh und die Liebe klagte.


und dergleichen Beyſpiele findet man in der Maneßiſchen
Sammlung von ſo vielen Koͤnigen, Fuͤrſten und Herrn, daß
man uͤberzeugt wird, alle Kinder vom Stande ſeyn damals
in der Poeſie wie jetzt in der franzoͤſiſchen Sprache unterrich-
tet worden. Der Koͤnig Conrad, ein Sohn Friedrichs des
Andern, ſang ſchon fruͤh:

Mich hat diu Liebe ſer entgelten
Das ich der Jare bin ein Kind.

Aber das beſte Mittel fuͤr das Frauenzimmer, um einer
Geſellſchaft den lebhafteſten Ton zu geben, war unſtreitig die-
ſes, daß nach der damaligen Sitte, ein jedes ſeiner Ehren
unbeſchadet, ſeinen erklaͤrten Anbeter haben durfte. Jeder
Dich-
[380]Man ſollte den alten Geckorden
Dichter, und alles was vom Stande war gab ſich mit der
Dichtkunſt ab, hatte alſo ſeine beſtaͤndige Muſe die ihn be-
geiſterte, und welcher er wiederum ſeine Lieder weihte. Es
war dem Anbeter erlaubt ſeiner Dame alles was nur fein
und ſchmeichelhaft war zu ſagen, und ihre Schoͤnheit dasje-
nige Opfer zu bringen, was der Wohlſtand erlaubte. Die
groͤßten Prinzeßinnen machten ſich eine Ehre aus dieſer An-
betung, und der Quichotiſmus einiger Dichter gieng ſo weit,
daß ſie ſich Dulcineen in Gedanken waͤhlten, und fuͤr Perſo-
nen, die ſie in ihren Leben nicht geſehen hatten, aus einer
idealiſchen Liebe verſchmachteten wie Jaufred Riedel fuͤr die
Graͤfin von Tripolis. a)


Wenn man die Vergnuͤgungen der Zeit, worinn dieſer hohe
Stil der Kunſt ſtets froͤlich zu ſeyn herrſchte, nur einiger maſ-
ſen uͤberdenket: ſo wird man die Wuͤrkungen davon leicht er-
rathen. Auf unſern Baͤllen werden die Paare durchs Loos
gezogen; und dieſe ſogenannten Gluͤcksehen erhoͤhen ſicher den
guten Ton, geben zu manchem ſchoͤnen Einfalle Anlaß, und
fuͤllen das Leere aus, was der Klang großer Glaͤſer niemals
erfuͤllen will. Was hier dieſe Gluͤcksehen thun, das thaten
wahrſcheinlich jene Verbindungen in einem hoͤhern Maaße.
Es mußte nothwendig die Geſellſchaft lebhaft machen, wenn
jeder Dichter ſeine Dame oͤffentlich ſagen durfte, was er bey
ihrem Anblick fuͤhlte; und wenn dieſe ihm in eben dem Tone
antworten konnte. Jedes Auge mußte heiterer, jeder Mund
beredter, und jeder Einfall leichter ſeyn, als jetzt, wo der
Mann ſeiner Frauen gar nichts, der Liebhaber aber ſeine
Schmei-
[381]wieder erneuern.
Schmeicheleyen nur heimlich ſagen darf. Die heutigen Ci-
ſisbeen ſind vermuthlich ein Ueberbleibſel jenes Stils; aber
auch nur Schatten gegen den großen Geiſt des alten Coſtums.
Es iſt mit dieſen wie mit dem Pfandſpiele gegangen, wobey
man ſich etwas ins Ohr ſagen muß. Der Erfinder deſſelben,
Wilhelm Adhemar, ein Liebling des Kayſers Friedrichs des
Erſten, und der Anbeter der Graͤfin von Die hatte eine weit
hoͤhere Abſicht damit verknuͤpft. a)


Man muß ſich aber wohl huͤten, daß man die Freude ge-
ſchloſſener Geſellſchaften nicht mit der allgemeinen verwechsle.
Die zuͤnftige Geckheit war von ganz andrer Beſchaffenheit,
als die unzuͤnftige, oder ungeſchloſſene; zur letztern Art gehoͤ-
ren die ſogenannten Narren und Eſelsfeſte, welche weil ſie
an keine Ordensregeln gebunden waren, bald verwilderten.
Die Geckorden und Narrenfeſte, ohnerachtet ſie Du Til-
liot
zuſammen gefuͤgt hat, haben gar nichts mit einander ge-
mein. .........



LXV.
Der Staat mit einer Pyramide ver-
glichen. Eine erbauliche Betrachtung.


Ein Staat laͤßt ſich am beſten mit einer Pyramide ver-
gleichen, die alsdenn ſchoͤn iſt, wenn ſie ihr gehoͤriges
Verhaͤltniß hat, unten auf einem guten Grunde ruht, und
nach der Spitze zu immer dergeſtalt abnimmt, daß das un-
terſte das oberſte voͤllig aber auch mit der mindeſten Beſchwerde
traͤgt. Um ſolches recht deutlich zu machen, wollen wir jetzt
mit
[382]Der Staat mit einer Pyramide verglichen.
mit einander betrachten, erſtlich die Spitze, hernach die Mitte,
und zuletzt den Grund.


Die Spitze iſt beſonders fehlerhaft, wenn ſie oben zu dicke
iſt; oder um ſo gleich die Anwendung hievon zu machen,
wenn die Landesherrliche Familie ſich zu ſehr vermehrt, wenn
alle Prinzen heyrathen, und alle Prinzeßinnen Ausſteuren er-
fordern, und ſolchergeſtalt die Bevoͤlkerung oben ſtaͤrker geht
als unten. Sie iſt fehlerhaft, wenn ſich alle Kraͤfte nach dem
Kopfe ziehen, und den untern Theil machtlos laſſen; ſie iſt
endlich fehlerhaft, wenn der Kopf zittert, und die Kraͤfte, die
ſich hinauf ziehen ſollten, in der Mitte ſtocken.


Nach dieſem Grundſatze ſollte man meynen, daß ein geiſt-
licher Staat, deſſen Fuͤrſt nicht heyrathen darf, allemal der
beſte ſeyn muͤßte, weil hier der Kopf durch keine Ausſteuren,
Wittwenſitze und Apanagen zu ſehr vergroͤßert werden kan.
Allein da leider dergleichen Koͤpfe ſehr oft mit gefaͤhrlichen
Kroͤpfen heimgeſuchet werden, die ſich bisweilen ſo ſehr aus-
dehnen, daß ſie die ganze Pyramide durch ihre Schwere um-
ſtuͤrzen: ſo laͤßt ſich ſolches nicht mit Gewißheit behaupten.


Wir wollen uns alſo nur zur Mitte wenden. Nach dem
ſtaͤrkſten Pyramidaliſchen Verhaͤltniß folgt auf Eins Zwey,
und ſo bekoͤmmt der Schaft eine Unfoͤrmlichkeit, wenn oben
dieſes Verhaͤltniß uͤberſchritten wird, und die hohe Diener-
ſchaft ſich oben am Halskragen zu ſehr vermehret; der Schaft
bekoͤmmt einen Bauch, wenn zu viel neue Edelleute gemacht
werden, oder der unbeguͤterte Adel ſich zu ſtark in die Bedie-
nungen dringt, darauf heyrathet und eine Menge Kinder zeugt,
die niemals wieder zum Pfluge zuruͤck kehren, ſondern, wo
ſie nicht todtgeſchoſſen werden, lauter Auswuͤchſe werden, die
von der Wurzel leben, ohne dem Stamme wiederum einigen
Saft mitzutheilen; ſie bekoͤmmt zuletzt unten einen Bruch,
und
[383]Eine erbauliche Betrachtung.
und leider iſt dieſes jetzt das allgemeine Staatsuͤbel, wenn
der Wehrſtand, er ſey nun vom Leder oder von der Feder,
beſonders wo demſelben das Heyrathen erlaubt wird, mit
Weibern und Kindern, den Nehrſtand uͤberwiegt; und eine
Menge kleiner und mittelmaͤßiger Bediente ſich wie das Un-
geziefer anhangen.


Auch hierinn ſollte man ſagen, haͤtte der geiſtliche Staat
einen Vorzug, wo der neue Adel verachtet, die juͤngern Soͤhne
und Toͤchter des Alten mit Praͤbenden verſorgt, und vom
Heyrathen abgehalten, die hoͤheſten Bedienungen mit Geiſtli-
chen beſetzt, und alle Maasreguln genommen werden, daß
der dem Pfluge entzogene Stand, ſich wie billig, nicht zu ſehr
zur Laſt des Staats vermehre, und jeder Fuͤrſtliche Rath wie-
derum ſechs andre Raͤthe, und ſechs kuͤnftige Raͤthinnen zeuge.
Allein auch hier muͤſſen wir mit jenem alten heydniſchen Sit-
tenlehrer ausrufen: Ubique naufragium, uͤberall zerbrochene
Toͤpfe!


Von dem Grunde brauchen wir weiter nichts zu ſagen, als
daß ſolcher nicht leicht zu zahlreich, nicht zu ſtark und nicht
leicht zu gut gefugt ſeyn koͤnne; und daß wo es hieran erman-
gelt, wo ſich hier eine Luͤcke bey der andern zeigt, und der
eine Stein geborſten, der ander verwittert, und der dritte ge-
ſtohlen iſt, die ganze Pyramide nothwendig zuſammen fallen
muͤſſe. Das merkwuͤrdigſte bey dieſer Vergleichung iſt, daß
die Natur gerade nach den Regeln arbeitet, welche dieſe Py-
ramidaliſche Einrichtung erfordert. Denn man wird wahrneh-
men, daß im großen Durchſchnitt die menſchliche Pyramide im-
mer nach der Spitze zu am erſten abnehme und verdorre. Je
hoͤher hinauf, je mehr ſchwaͤchliche Geſundheiten und Uebel;
die Fuͤrſtlichen Soͤhne verderben ſich fruͤh, damit ihre Kin-
der dem Staate nicht zur Laſt fallen; die jungen Edelleute
fol-
[384]Der Staat mit einer Pyramide verglichen.
folgen einem ſo großen Exempel, und man ſagt uͤberhaupt,
große Maͤnner erziehen ſchlechte Kinder. Mit Macht dringt
ſich Geſundheit, Fleiß und Staͤrke immer von unten auf ge-
gen die Hoͤhe; dieſe eiſernen Tugenden des untern Theils der
Pyramide ſchieben taͤglich eine Menge zum Schafte hinaus,
welche dort abſterben und wie verdorrete Zweige herunter
fallen; die Hauptſtaͤdte werden immer von dem dauerhaften
Pflugſtande bevoͤlkert, in der Handlung zaͤhlt man immer
mehr gewordene als erzeugte Reiche; und ſelbſt von den Ge-
lehrten will man angemerkt haben, daß die vom geringſten
Herkommen, in ihrer Jugend den mehrſten Fleiß, als Maͤn-
ner die wahre Dauer zur Arbeit, und am ſeltenſten den Feh-
ler die Hypochondrie haben.


Diejenigen haben der Natur gemaͤs gearbeitet, die dem
Menſchen erlaubt haben, dem Heyrathen durch eine Geluͤbde
zu entſagen; vorausgeſetzt, daß keiner zu dieſem Geluͤbde ge-
laſſen werde, der zum Grunde der Pyramide gehoͤrt, oder
billig zu deſſen Verſtaͤrkung gebrauchet werden kan; und das
iſt auch mehrmalen heylſamlich verordnet worden. Man mag
dagegen ſo vieles einwenden wie man will: ſo iſt doch offen-
bar, daß wenn die Fuͤrſtlichen, Graͤflichen, Adlichen und
andrer guter Leute Kinder ſich wie die Geringen vermehrten,
die Pyramide oben ſo dick wie unten werden, und der Schaft
ſeinen Grund tief in die Erde druͤcken wuͤrde; oder wir muͤß-
ten eine andre politiſche Einrichtung haben, nach welcher die
juͤngern Kinder Stand und Wapen ablegen, und ſich dem
Gewerbe oder Ackerbau ergeben koͤnnten.


Der Militairſtand iſt zwar freylich ein großer Abnehmer
dieſer Kinder. Allein da auch dieſer immer mehr und mehr
heyrathet, und ein Officier wie billig nur Officiern zeugt; ſo
wird die Ausſicht immer ſchlimmer; und der unterſte Theil
der
[385]Eine erbauliche Betrachtung.
der Pyramide der jener weichen muß, wird gar ausgehn,
wenn ihm der Soldat, der Weib und Kinder hat, heimlich
oder oͤffentlich die Nahrung zu entziehen gezwungen wird.
Dieſer letzte Bruchſchade iſt unheilbar; und doch wird er ſo
wenig erkannt, daß man ſo gar hie und da dem Soldaten ein
Handwerk frey zu treiben erlaubt.


In den Morgenlaͤndern, wo man nur Verſchnittene zu den
hoͤchſten Poſten zieht, hat man ebenfalls gefuͤhlt, daß die
Pyramide ihr Verhaͤltniß verlieren, und der Kopf oder Kropf
zu groß werden wuͤrde, wofern man nicht der gar zu ſtarken
Vermehrung des unfruchtbaren oder unſteuerbaren Standes
der Menſchen vorbeugte. Man iſt aber in der Wahl der Mit-
tel unſtreitig ungluͤcklicher geweſen. Nur der Deutſche, der
heute aus dem Becker einen Rathsherrn, und uͤbers Jahr
aus dem Rathsherrn wiederum einen Becker macht, hat den
vernuͤnftigſten Weg erwaͤhlt, die vielen Auswuͤchſe des Schafts
zu verhindern, und den Grund ſeiner Pyramide durch Ehre
und Arbeit zu verſtaͤrken.......



LXVI.
Das Pro und Contra der Wochenmaͤrkte.


Nun gut! Ihre Wochenmaͤrkte, liebſter Freund, moͤgen
alles liefern was ſich der Menſch zum Wohlleben nur
wuͤnſchen kan; ſie moͤgen ſo wohl wegen der Menge und
Schoͤnheit aller Arten von geniesbaren Geſchoͤpfen, als wegen
des Gewuͤhls der Kaͤufer und Verkaͤufer die beſte Augenweide
fuͤr den Buͤrger und Philoſophen ſeyn; ſie moͤgen den Fleiß
auf einige Meilen weit um die Staͤdte verbreiten, den Gar-
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. B btenbau
[386]Das Pro und Contra der Wochenmaͤrkte.
tenbau vorzuͤglich heben, dem Landmanne ſein taͤgliches baares
Geld und dem Buͤrger die gluͤckliche Bequemlichkeit verſchaf-
fen, ſein Handwerk ungeſtoͤrt fortſetzen zu koͤnnen; ſie moͤgen
endlich die gluͤcklichſte Art des Zwiſchenhandels unter dem
Landmanne und Buͤrger ſeyn; ich will dieſes alles von ganzen
Herzen einraͤumen: auch Ihre hohe Begeiſterung, womit
Sie mir die auf ihrem Wochenmarkte hervorſtrahlenden Me-
lonen, die im ſtillen Vertrauen auf ihr Verdienſt und auf den
Beyfall der Kenner, minder glaͤnzenden Pfirſchen, die voll-
gewachſenen und mit ihren goldnen Kernen ſpielenden Trau-
ben, die fleiſchigten und noch unberuͤhrten Pflaumen, die
reifen und ſich freywillig oͤfnenden Feigen und andre Reizun-
gen geſchildert haben, ſoll bey mir nicht verlohren ſeyn; ich
will Ihnen mit der lebhafteſten und dankbarſten Empfindung
zugeſtehn, daß die Figuren auf ihrem ſo fleißig ausgearbeite-
ten Kuͤchenſtuͤcke, ein duftendes Kolorit, ein markigtes Fleiſch,
einen ſchwellenden Umriß und die gluͤcklichſte Anordnung
haben; die Hand des Griechiſchen Maͤdgens, welches die
Erſtigkeiten ſeines Gartens aus ſeinem ſchoͤnen geflochtenen
Koͤrbgen darbietet, ſoll ſo ſchoͤn ſeyn, wie ſie Guido Reni
immermehr haͤtte mahlen koͤnnen, und die hochgeſchuͤrzte
Baͤurin, welche ihre Krautkoͤpfe im Hintergrunde feil hietet,
dem flandriſchen Raphael Ehre machen koͤnnen ....


Aber .... nun was fuͤr ein Aber? werden Sie vielleicht
fragen — aber dabey keine Satyre auf uns arme Landſtaͤd-
ter, welche dieſen großen und gerechten Vorzug der Haupt-
ſtaͤdte entbehren muͤſſen; oder ich fahre auf in meiner erhoͤhe-
ten Empfindung und mahle Ihnen mit eben ſo ſetter Farbe,
obgleich mit einem haͤrtern Pinſel ein Stuͤck daneben, was
Sie auf eine nicht ſo ſanfte Art ruͤhren ſoll. Mit Schrecken
ſehe ich es an, wie die Weiber ihrer guten Landleute alle Tage
die
[387]Das Pro und Contra der Wochenmaͤrkte.
die Gott werden laͤßt, zur Stadt laufen, und keine andre
Seligkeit kennen, als dort die Zeit zu verlaufen. Die Haus-
haltung entbehret ihren Fleiß, das Geſinde mit den Kindern
ihre Aufſicht, und das Haus iſt leer von allem was eine recht-
ſchaffene Hausmutter fuͤr ſich haben muß. Den Morgen
verplaudern ſie unter Wegens oder auf dem Markte, und den
Nachmittag ſitzen ſie in den Schlupfwinkeln vor den Stadt-
thoren und lernen Koffee, Thee, Muscatwein und der Him-
mel weis wie viel mehr ſuͤße Naͤſchereyen koſten. Ein Theil
des geloͤſeten Geldes iſt ſchon fuͤr Baͤndgen und Bluͤmgen in
der Stadt verſplittert, und hier wird ein guter Theil des
Ueberreſtes vernaſchet, der Mann aber des Abends mit Luͤgen,
wie ſchlecht der Preis geweſen, und wie man die Waare halb
umſonſt habe hingeben muͤſſen, berichtet. Von kleinen Be-
truͤgereyen gehn ſie bald zu groͤßern uͤber, und zuletzt entziehn
ſie der Haushaltung alles was nur verkaͤuflich iſt, um ihre
Eitelkeit und Gewohnheit zu befriedigen. Dasjenige Maͤd-
gen, das zu Hauſe keine Anfuͤhrung hat, laͤuft mit, ſo bald
es laufen kan, und gleicht bald einer ſchlechten Currentmuͤnze,
die einmahl glaͤnzt dann roth wird, und zuletzt fuͤr den ſchlech-
ten innern Werth verſchmolzen wird. Sie laͤuft von Haus
zu Haus, von Hand zu Hand, verkauft und wird verkauft,
und verliert ihre Unſchuld ohne derſelben froh zu werden.
Die mitſchuldige Mutter unterrichtet ſie in der Frechheit,
und dieſe Brut iſt es, welche dem Staate einſt Muͤtter und
Wirthinnen liefern ſoll. Vielleicht ſind unter Hunderten
fuͤnfe, die ſo viel Fruͤchte zu Markte bringen, daß es die Reiſe
und der Zeit verlohnt; die Menge der uͤbrigen aber, welche
Butter, Eyer, Milch, Obſt, Kienholz und dergl. bringt,
hat fuͤr alle ſeine Muͤhe und Verſaͤumniß taͤglich nicht zween
Groſchen reinen Gewinnſtes; und um dieſen Preis ſollten ſich
die Landleute auf zwey Meilen, der buͤrgerlichen Bequem-
B b 2lich-
[388]Das Pro und Contra der Wochenmaͤrkte.
lichkeit aufopfern? zu dieſem Preiſe ſollen Muͤtter und Kinder
Marktlaͤuferinnen werden; und Vater und Soͤhne taͤglich die
Landſtraßen belaufen, zu Hauſe keine Verpfiegung finden und
in den Schenken haͤngen bleiben? Nein, mein Freund!
dieſe Forderung der Buͤrger in kleinen Staͤdten iſt zu hart;
die Aufopferung iſt zu groß fuͤr den Staat; und das Wohl-
leben aller Staͤdte bezahlt das Verderben ſo vieler Landleute
nicht. Ich ſage nichts von der großen Verwoͤhnung der
Dienſtboten in den Staͤdten, welche durch die Bequemlichkeit
der Maͤrkte von aller harten Arbeit zuruͤckgebracht und bloße
Zimmerputzerinnen werden. Gleichwohl verdient ſie auch
eine Betrachtung. Aus den Staͤdten ſollten geſchickte Muͤtter
aufs Land kommen. In dieſer Abſicht dienten die Toͤchter
der Landleute ehedem gern in Staͤdten. Allein da, wo die
Koͤchin alles [vo]m Wochenmarkte holet, vermehret ſich ein
weichliches faules Zwittergeſchlecht von Geſinde, was dem
Buͤrger zum Weibe nicht gut genug iſt, und der Landmann
nicht gebrauchen kan, zuletzt aber, wenn es, wiedie Drohne,
aus dem Korbe geſtoßen wird, dem Staate zur laſt faͤllt.


Sehen Sie dagegen unſre alte einfaͤltige Verfaſſung an,
Der Landmann kommt nur mit Fudern zur Stadt, und bringt
in Großen was er zu verkaufen hat. Seine Weiber und
Kinder kommen nicht anders dahin als an Sonn- und Feyer-
tagen, wann ſie ohnedem kommen muͤſſen. An dieſen Tagen
bringen ſie ihre Kleinigkeiten mit, und wann ſie ſich dann
auch einmahl von dem Gewinn etwas zu gute thun: ſo ſind
der Sonn- und Feyertage doch zu wenig um ein beſtaͤndiges
Jucken in ihren Fuͤßen zu unterhalten. Die Werkeltage
uͤber ſitzen ſie zu Hauſe, ſpinnen ihr Garn, weben ihr Linnen,
oder kneten ihre Butter ein, und bringen dann auf einmahl
die Frucht ihrer Arbeit zur Stadt: erhalten die Bezahlung
nicht
[389]Das Pro und Contra der Wochenmaͤrkte.
nicht bey Kleinigkeiten, ſondern in betraͤchtlichen Summen,
welche nicht ſo durch die Finger fallen. Ihre Kinder genieſ-
ſen der elterlichen Aufſicht, der Mann hat ſeine Pflege nach
der Arbeit, das Geſinde wird ordentlich gehalten, und die
Kleidung wird nicht in Wind und Wetter auf der Heerſtraße
verdorben.


Der Buͤrger hat zwar hiebey die Bequemlichkeit nicht, ſich
taͤglich zu verſorgen, und bloß vom Markte zu leben. Allein
er iſt gewohnt ſeinen Vorrath zu machen, und er ißt dort
eben ſo ſatt als andre, ſo bloß fuͤr einen Tag einkaufen. Da
er ſich, wie es in kleinen Staͤdten insgemein die Nothdurft
erfordert, ſelbſt mit dem Acker- und Gartenbau wie auch mit
der Viehzucht abzugeben weiß: ſo zieht er harte Kinder, und
verwoͤhnt die ihm dienenden Toͤchter der Landwirthe nicht;
dieſe koͤnnen immer wieder von der Stadtwirthſchaft zur Land-
wirthſchaft uͤbergehen, und ihre erworbene Kenntniſſe dorten
ausbreiten. Die Reinigkeit der Sitten wird nicht durch die
marktgaͤngige Freyheit verdorben, und die Zwiſchenraͤu-
me der Zeit werden nicht ſo eitel als an ſolchen Orten
zugebracht, wo die Magd weiter nichts zu thun hat, als
was den Tag uͤber gebraucht wird, vom naͤheſten Markte zu
holen. ....


So wuͤrde ich Ihnen antworten, und dieſes in Rouſſeaui-
ſcher Manier uͤbertreiben, wann Sie mir mit Satyren begeg-
nen wollen. Bleiben Sie aber bey dem Gemaͤhlde ihrer
Gemaͤchlichkeit ſtehen: ſo will ich Ihre Behauptung in Anſe-
hung der großen Staͤdte, wo ſich ein eignes, von dem Land-
bauer unterſchiednes Geſchlecht, von dem Verkauf ſeiner Gar-
tenfruͤchte ernaͤhren kan, gelten laſſen. Nur den wahren
Landmann muͤſſen Sie nicht reizen wollen, einen Marktlaͤufer
abzugeben. Es iſt genug daß er nach ſeiner Gelegenheit ſei-
B b 3nen
[390]Rachſchrift.
nen Ueberfluß zur Stadt fuͤhret; aber mit Holz auf Karren
und Eſeln, mit Obſt in Koͤrben, und mit andern Kleinigkei-
ten mag ich ihn und ſein Weib dort nicht ſo oft ſehen.



LXVII.
Nachſchrift.


Ihr Vorwurf, welchen ſie unſerm beruͤhmten Landesmanne
abgeborget haben, und der beiſſend genug alſo lautet:

II faut pour ſ’y fournir, ainſi qu’un habitant
Qui craindroit d’un blocus l’appareil effraiant,
Remplir des Magazins et contre la famine
Fonder ſur des greniers l’Eſpoir de la Cuiſine.


wird mich nicht irre machen. Bey der letzten Theurung ha-
ben wir es erfahren, wie gluͤcklich diejenigen Laͤnder ſind,
worinn die Haushaltungen nicht vom Markte ſondern vom
eignen Boden zehren. Im vorigen Jahrhundert ſtieg bey
einer dreytaͤgigen Sperrung das Brodt in Paris auf einen
zehnfachen Preis; zu Muͤnſter hingegen blieb es im letztern
Kriege waͤhrend einer viermonatlichen Sperrung und Bela-
gerung im Preiſe unveraͤndert; und es wahr den letzten Tag
nicht theurer als den erſten; Jene Theurung, und die noch
ſchlimmere Furcht, welche leicht zu Unordnungen fuͤhret,
wird alle Orte treffen, welche zu ſehr auf die Wochenmaͤrkte
rechnen, und ſich blos von einem Tag zum andern verſorgen;
anſtatt daß alle diejenigen, wowider ihre Satyre gerichtet
iſt, ſich von einer Erndte zur andern noch ziemlich durchbrin-
gen werden. Der Mißwachs in den letztern Jahren iſt in
Weſtphalen ſo groß wie anderwaͤrts, aber die Noth lange
nicht
[391]Nachſchrift.
nicht ſo arg geweſen, und niemand aus Hunger geſtorben,
welches wir blos jenen Privathaushaltungsmagazinen zuzu-
ſchreiben haben.


Alle Projecte, welche man anderwaͤrts um ſich wider eine
Hungersnoth zu verwahren, in der Noth gemacht und auch
nachher wieder vergeſſen hat, muͤſſen mir das Wort reden.
Ein oͤffentliches Magazin fuͤr alle iſt weit beſchwerlicher zu
unterhalten, als ein Privatmagazin, daß jeder fuͤr ſich hat,
mit eigner Muͤhe gegen den Wurm und die Betrieger bewahrt,
und zur Zeit der Noth auch noch fuͤr einen armen Nebenmen-
ſchen mit hinreicht. Aber durch die Wochenmaͤrkte werden
die Leute von dieſer Einſammlung abgewoͤhnt.


Wenn ein Ort belagert werden ſoll, pflegt man diejenigen
herauszuweiſen, die ſich nicht auf eine beſtimmte Zeit ſelbſt
aus ihrem eignen Vorrath ernaͤhren koͤnnen. Dieſes ſollte
die Regel fuͤr alle Staaten ſeyn. Alle Einwohner muͤßten
ihre Magazine auf ein Jahr gefuͤllet haben; und diejenigen,
welche dazu nicht im Stande waͤren, in einer eignen Rolle
ſtehen, fuͤr welche ein beſtimmtes oͤffentliches Magazin, zu
deſſen Unterhaltung und Verzinſung ihnen eine beſondre mo-
natliche und verhaͤltnißmaͤßige Steuer auferleget werden
muͤßte, von den Branteweinsbrennern unterhalten wuͤrde,
ſo wie ſolches in dieſen Blaͤttern ſchon einmal vorgeſchlagen
worden.



LXVIII.
[392]Johann ſeyd doch ſo gut!

LXVIII.
Johann ſeyd doch ſo gut!


Johann! Nun wo bleibt der Kerl? So fort lauft mir zu
dem verfluchten Schuſter, und ſagt ihm, wo er mir die
Stiefeln nicht in Zeit von zwey Stunden ins Haus lieferte:
ſo ſollte er ſunfzig Stockpruͤgel haben; und du eben ſo viel,
wenn du nicht laͤufſt was du kannſt ....


Ja, Herr Hauptmann, ſagte Johann, und gieng ohne
eine Nerve mehr als gewoͤhnlich, anzuſtrengen. Allein
indem er noch ſo gieng, rief der Hauptmann: Johann! bringt
mir doch etwas Tobak mit. Recht gern, verſetzte dieſer, und
gieng etwas eilfertiger zu ſeinem Hute. In dem Augenblick
da er aus dem Hauſe gehen wollte, kam ihm der Herr nach
und ſagte mit einem ſehr freundſchaftlichen Tone: Johann
ihr koͤnntet mir wohl einen rechten Gefallen thun, wenn ihr
zu meiner Frauen (dieſe war auf einem nahgelegenen Land-
gute) hinaus liefet, und ihr ſagtet, daß ich dieſen Mittag
einige gute Freunde mitbringen wuͤrde; ihr muͤſſet aber, wie
ihr wiſſet, in der Stunde wiederum hier ſeyn.


Wer lief freudiger als Johann? In weniger als einer
Stunde waren alle Auftraͤge verrichtet, ohnerachtet das Land-
gut bey nahe eine Stunde von der Stadt lag; und der Haupt-
mann ſahe mit Verwunderung ſeinen Diener noch eher, als
er ihn erwartet hatte, zuruͤck kommen, ihn ſeinen Bericht mit
Freuden abſtatten, nach einer kleinen Lobeserhebung von ſei-
nem Herrn, verſchiedene Beduͤrfniſſe, welche die Frau Haupt-
maͤnnin verlangt hatte, wiederum heraustragen, den Mittag
unver-
[393]Johann ſeyd doch ſo gut!
unverdroſſen aufwarten, den Nachmittag ſeine Geſchaͤfte thun,
und in der Nacht zu Fuße neben ſeines Herrn Pferde nach
der Stadt traben; anſtatt daß er fonſt gerade nur dasjenige
that, was er thun muſte, ſo oft ihm ſein Herr ohne Vorrede:
Johann thue das, ſagte.


Der Oberſte welcher mit von der Geſellſchaft geweſen war
und die Unverdroſſenheit des jungen Menſchen bewunderte,
bat den Hauptmann inſtaͤndig, ihm dieſen Bedienten zu uͤber-
laſſen; lange haͤtte er gewuͤnſcht einen ſolchen Kerl zu haben,
alles Geſinde was er haͤtte, waͤre traͤge und faul, und man
muͤßte den Leuten alles was ſie thun ſollten, ins Maul ſtop-
fen, ohnerachtet er doch meinte, daß ſie es beſſer bey ihm
haͤtten als ſonſt irgendwo in der ganzen Stadt, und daß er
ihnen den Lohn noch kuͤrzlich verbeſſert haͤtte. .....


Von Herzen gern, ſagte der Hauptmann, allein der Herr
Oberſt muͤſſen mir einen von den ihrigen wieder uͤberlaſſen,
weil ich ſo gleich keinen andern habe ....


Gut, der Wechſel wurde vollzogen; Johann kam bey dem
Herrn Oberſten, und Peter, ein ſtockiſcher Maulaffe, bey
dem Hauptmann. Kaum waren acht Tage voruͤber: ſo fuͤhrte
der Oberſte ſeine vorige Klage, und Johann, dem er doch
ſeinen Lohn verbeſſert hatte, war nicht beſſer als die uͤbrigen.
Peter hingegen wollte ſich fuͤr den Hauptmann, der ob er
gleich bisweilen mit Stockpruͤgeln drohete, allemahl zu rechter
Zeit ein gutes Wort gab, zu Tode laufen.


Ich weiß nicht wie Sie es in aller Welt anfangen, ſagte
der Oberſte zu ihm, daß ihre Leute ihnen ſo gut dienen; ich
gebe den Meinigen einen beſſern Lohn, ſie haben mehrere
Freyheit und weniger Arbeit als bey Ihnen, ſie erhalten uͤber-
dem ſo viel Spielgelder, und doch ....


B b 5O er-
[394]Johann ſeyd doch ſo gut!

O erwiederte der Hauptmann, daran liegt es alles nicht.
Der Menſch iſt ein wunderliches Thier; ſein Koͤrper ſteht
unter unſrer Fuchtel aber ſeine Seele nicht. Wir koͤnnen dieſe
zwar auch nach unſerm Gefallen regieren, aber dann wird ſie
immer enger und kleiner, und man kan einem nicht be-
fehlen, Witz und Verſtand zu haben. Dieſes ſind Eigen-
ſchaften, welche wir in andern auf mancherley Art erwecken,
naͤhren und unterhalten muͤſſen. Wenn ich zu meinem Koch
ſage, ſchaffe mir eine Paſtete: ſo ſchaffet er mir eine, der-
gleichen ich ihm alle Jahre eine mit allen Ungewittern in die
Kuͤche ſchicke. Sage ich aber: Mein guter Koch macht mir
doch einmal eine Paſtete, ſo wie ſie die Frau Oberſtin gern
ißt, und ſo daß wir beyde Ehre davon haben: ſo koͤnnen Sie
glauben, der Koͤnig hat ſie nicht beſſer. Meiner Frau geht
es mit ihrem Cammermaͤdgen eben ſo. Iſt die Hexe uͤbler
Humeur: ſo ſitzt meiner Frauen das Zeug ordentlich und ſteif-
aber nicht ein bisgen gefaͤllig; Sie ſieht aus wie eine Schul-
digkeit in puris naturalibus. Meine Frau die dieſes weiß,
verſaͤumet es daher nie, ihr, ſo oft ſie ein wenig glaͤnzen
will, ſchon fruͤh Morgens ein gutes Geſicht zu machen, ſie
ihre liebe Liſette zu nennen, und ihr alles Bittweiſe zu be-
fehlen. Und dann lacht gewiß aus jeder Schleiffe die ſie ihr
anlegt, eine Grazie. Dieſes hindert aber nicht, daß ſie nicht
bisweilen, wenn meine Frau im Nachtzeuge bleiben will,
das dumme Thier zum Henker ſchickt, und ihr ſo gleich das
Haus zu raͤumen befiehlt, wenn ſie es nicht beſſer verdient.
Nein; dieſes muß auch ſeyn, man muß zu rechter Zeit das
Boͤſe mit dem Guten abwechſeln laſſen, wenn jedes die ge-
hoͤrige Empfindung erregen ſoll.


Ey zum Henker verſetzte der Oberſte, wer kan mit den
Menſchen ſolche Capriolen machen? Ich befehle meinen Leu-
ten trocken, und gut was ſie thun ſollen, bezahle ſie richtig,
gebe
[395]Johann ſeyd doch ſo gut!
gebe ihnen was ſich gebuͤhret, auch noch wohl zu Zeiten ein
mehrers, und mehr kan ich nicht thun; ich habe andre Sa-
chen zu bedenken, als mich mit dergleichen Kleinigkeiten ab-
zugeben, und .......


Aber Herr Oberſt! wie macht es unſer Koͤnig? Dem ei-
nen ſchreibt er: Mein Herr General, dem andern, mein
lieber Herr General, dem dritten, mein lieber Freund, dem
einen verſichert er beym Schluſſe ſeiner Gnade, den andern
umarmt er, den dritten umarmt er von ganzen Herzen; bis-
weilen befiehlt er trocken, bisweilen gnaͤdig, bisweilen gar
freundſchaftlich und zaͤrtlich. Alles dieſes thut er, um ſeinen
Generalen neuen Eyfer, ſchaͤrfere Einſichten, muthigere Un-
ternehmungen und gleichſam eine beſondre Seele einzufloͤßen.
Jeder iſt ſchuldig ihm zu dienen, jeder hat ſeinen Sold rich-
tig, auch noch wohl eine gute Verbeſſerung. Allein um Ver-
ſtand, Zutrauen und Liebe im hoͤchſten Grade zu erwecken,
um alle Kraͤfte in Bewegung zu bringen, macht er es wie
eine ſchlaue Kokette, die ihres Liebhabers Beutel rein aus-
fegen will. Die hitzigen Liebhaber opfern Gut und Blut auf,
und ſo will die Welt, ſo mein Koch regieret ſeyn .....


Der Oberſte ſchuͤttelte den Kopf; Johann gieng ſeinen ſtei-
fen Gang und that ſeine Pflicht; Peter ließ ſeinen Hut nach
der neueſten Mode faſſen, und that was er immer konnte.
Dabey aber aß der Hauptmann allezeit gute Paſteten, und
die Frau Hauptmannin war ganz allerliebſt gekleidet.



LXIX.
[396]Nachricht von einer einheimiſchen, beſtaͤndigen

LXIX.
Nachricht von einer einheimiſchen, beſtaͤn-
digen und wohlfeilen Schaubuͤhne.


Endlich bin ich mit meiner hieſigen Schauſpielergeſellſchaft
fertig. Die zwoͤlf armen Waiſenkinder, die ich mir vor
zehn Jahren von unſerm Fuͤrſten dazu ausgebeten habe, ſollen
dieſen Winter zum erſtenmal oͤffentlich erſcheinen und fuͤr Geld
ſpielen, und wie ich hoffe alles in Entzuͤckung ſetzen. Einige
unter ihnen ſingen dabey vortreflich und faſt alle tanzen gut.
Es hat freylich Muͤhe und Arbeit gekoſtet, ſie zu dieſer Voll-
kommenheit zu bringen. Ich hoffe aber dem Staate einen
weſentlichen Dienſt auf ewig geleiſtet zu haben. Es ſind ſchon
viele Muͤtter bey mir geweſen, die mir ihre Kinder in gleicher
Abſicht anbieten, und der Geiſt dieſer Anſtalt kan ſich nie
wieder verlieren, ſo lange die Menſchen ihr Vergnuͤgen lieben.


Einer von ihnen iſt bey dem Fuͤrſten als Hoflakay im
Dienſte; ein andrer naͤhrt ſich als Mahler; noch einer iſt
Kupferſtecher und alle haben ein Handwerk dabey gelernt,
wovon ſie zur Noth ihr Brodt haben koͤnnen und zum Theil
auch ſuchen ſollen. Die Maͤdgen ſind geſchickt in allerley Ar-
ten von Arbeit, daß ſich ein jeder in ſie verliebt, und ſie ſind
ſo gut erzogen, ſo feſt in ihren Grundſaͤtzen, daß ich in der
Folge weniger fuͤr ſie als fuͤr andrer ehrlicher Leute Toͤchter be-
ſorgt bin.


Anfangs hielt es etwas ſchwer ſie zu formen. Allein wie
ſie nur acht Tage auf eine feine Art gekleidet geweſen waren,
brauchte ich einem widerſpenſtigen nur die Kleider ausziehen
und
[397]und wohlfeilen Schaubuͤhne.
und ihm ſein voriges Gewand wieder anlegen zu laſſen: ſo lieſ-
ſen ſie ſich alle zu allem leiten. Eines das lange nicht gut
thun wollte, ſchickte ich ins Waiſenhaus zuruͤck. Es graͤmte
ſich aber dort ſo lange, daß ich endlich fuͤr ſein Leben beſorgt
wurde, und es wieder in meine Erziehung nahm: jetzt iſt es
das beſte; und uͤberhaupt machte ich ſie zu Prinzen und Prin-
zeßinnen auf meiner kleinen Schulbuͤhne, nachdem ſie ſich
wohl verhalten hatten. Dadurch brachte ich ſie zu einem er-
ſtaunlichen Wetteifer gegen einander.


Ich glaube daß dieſes die erſte und einzige Anſtalt in dieſer
Art in der ganzen Welt iſt. Zwar ſieht man in Amſterdam
eine Prinzeßin auf der Schaubuͤhne, welche des Tages uͤber
Aepfel auf dem Markte verkaufen ſoll; und ſaͤmtliche Schau-
ſpieler leben dort nicht bloß von der Buͤhne, ſondern von ih-
rem Handel oder von ihrem Handwerk. Auch iſt mir nicht
unbekannt, daß die franzoͤſiſchen Schauſpieler an vielen Orten
zugleich Sprach- oder Tanzmeiſter abgeben; und das Frauen-
zimmer einen kleinen Haudel mit allerhand franzoͤſiſchen Putz-
waaren treibe. Der Gedanke, daß eine Schauſpielergeſell-
ſchaft nicht bloß von der Buͤhne leben ſoll, iſt alſo gar nicht
neu. Aber kein Fuͤrſt hat doch noch den Einfall gehabt, ſich
auf dieſe Art eine eigne, ſich zum theil ſelbſt ernaͤhrende und
das Geld im Lande verzehrende Geſellſchaft zu bilden. Die
ehmalige Buͤhne im Stifte zu St. Cyr muß aus einem andern
Geſichtspunkt betrachtet werden.


Gleichwol iſt es offenbar, daß keine Stadt in Deutſchland
ſo groß und ſo volkreich ſey, um eine ziehende Geſellſchaft,
die ſich blos von ihren Vorſtellungen unterhalten will, lange
bey ſich ernaͤhren zu koͤnnen; es iſt offenbar, daß ſelbſt in
Lon-
[398]Nachricht von einer einheimiſchen, beſtaͤndigen
London und Paris a) verſchiedene Schauſpieler Muͤhe haben
ſich ein hinlaͤngliches Auskommen zu erwerben, ſo groß auch
das Gluͤck iſt was bisweilen ein und andrer Lieblieng der ko-
miſchen Muſe macht; es iſt offenbar, daß eine Geſellſchaft,
welche nicht allein alles im Staate frey hat, ſondern noch uͤber-
dem viele Tauſende an Beſoldungen, es ſey nun aus der
Schatoulle oder aus einer andern Sparcaſſe genießt, man-
chem
[389[399]]und wohlfeilen Schaubuͤhne.
chem anſtoͤßig ſey. Die Sache ſelbſt, daß einige Einwohner
einer Stadt, ſie moͤgen ſich nun von der Feder oder vom Le-
der naͤhren, ſich zur Buͤhne geſchickt machen, und fuͤr einen
maͤßigen jaͤhrl. Nebengewinnſt ihren Mitbuͤrgern etwa die
Woche zweymal das Vergnuͤgen eines Schauſpiels geben ſol-
len, beruht alſo auf einem richtigen oͤkonomiſchen Grunde,
und das Aepfelweib was zu Amſterdam die Prinzeßin vorſtel-
let, verdient um deswillen nicht belacht ſondern bewundert zu
werden.


Man werfe mir nicht ein, daß Leute dieſer Art ſchwerlich
die feine und anſtaͤndige Lebensart, den Geſchmack und den
Ausdruck, und alle die Talente erreichen werden, welche zu
einer guten Vorſtellung erfordert werden. Corregio, dieſer
große Mahler, dieſer Fuͤrſt der Grazie und des Kolorits, ſtarb,
wie bekannt, an einem hitzigen Fieber, nachdem er zu Parma
die Bezahlung fuͤr ein Gemaͤhlde in Kupfermuͤnze empfangen
und ſolche vier Meilen in der groͤßten Hitze zu Fuße nach
Hauſe getragen hatte. Ohnfehlbar bediente ſich Corregio
hiezu eines Querſacks; und wandelte alſo mit ſeinem Buͤndel
die Landſtraße; wer wird aber um deswillen dem Manne Ge-
ſchmack, Ausdruck und Genie abſprechen? Garrick iſt gewiß
kein Mann von feiner Lebensert; und man ſollte ihn auſſer-
halb der Buͤhne fuͤr dumm und wahnſinnig halten. Dem
ungeachtet iſt er der maͤchtigſte im Ausdruck, und der Mann
der ſich in alle Formen bildet. Der Firniß einer guten Lebens-
art iſt bald erreicht, wo Empfindung und Macht vereinigt
ſind; und ich getraue mir faſt zu behaupten, daß die eigent-
liche feine Lebensart der Kunſt mehr ſchaͤdlich als vortheilhaft
ſey. Es ſind mehrentheils hohle Figuren mit einer erſchlaften
Seele, die keine Muſkel anſtrengen und keine Nerve ſpannen
wollen; welche nach dem Rath des Riccoboni ſich in der ſchein-
baren Hitze einer großen Leidenſchaft bey kaltem Blute wahren,
und
[400]Nachricht von einer einheimiſchen, beſtaͤndigen
und aus Beſorgniß ihre zarte Lunge zu verderben, kein Ge-
witter im Buſen tragen, vielweniger aber ſolches nach Gefal-
len donnern und ſchweigen laſſen koͤnnen; und dies iſt doch
die kraͤftige Manier Garricks. Ueberhaupt aber iſt es auch in
dieſem Verſtande wahr, daß das Kleid den Mann mache,
oder daß ſobald eine Perſon ihre theatraliſche Kleidung anzieht
und auf der Buͤhne erſcheinet, eine ganz neue Seele in ihren
Koͤrper fahre, und die groͤßte Bloͤdigkeit ſich oft in die anſtaͤn-
digſte Dreiſtigkeit verwandle.


Eine theatraliſche Erziehung wird aber durchaus erfordert;
und wenn eine Perſon dieſe zugleich mit erhalten hat: ſo mag
ſie hernach Blumen, Handſchuh oder Aepfel verkaufen; es
ſchadet ſolches ihren Talenten nicht. Und hierauf iſt der Plan
von meinem neuen Sparta gegruͤndet. Wie viele Wittwen,
die heimlich nach Brode ſeufzen, wie viele Maͤnner, die des
Morgens etwa zwey Suppliquen zu machen, oder zehn Baͤrte
abzunehmen haben, wie viele Frauen die keinen Flachs zum
Spinnen haben, wie viele Maͤdgen, die keine Gelegenheit
wiſſen, ihren Eltern etwas zu erwerben, koͤnnten hier auf
ſolche Weiſe ſich in dreyen Abendſtunden eine angenehme Bey-
huͤlfe erwerben, wenn ſie dieſe Erziehung gehabt haͤtten? Und
wie beruhigend wuͤrde es fuͤr den Patrioten ſeyn, wenn er mit
dem Gelde, was er ſolchergeſtalt ſeinem Vergnuͤgen aufopferte,
zugleich eine redliche Familie ernaͤhrte!


Die Kleidungsſtuͤcke, welche eine ſolche Geſellſchaft ge-
braucht, ließen ſich bey einer ſo ſparſamen Einrichtung mit
der Zeit leicht eruͤbrigen und anſchaffen, beſonders wenn die
Einnahme keinem Manne, der wiederum davon leben will,
ſondern einem oͤffentlichen Bedienten fuͤr eine geringe Zulage
anvertrauet wuͤrde? Die erſte Auslage fuͤr meine Anſtalt hat
der Fuͤrſt gethan, und ich halte ſie beſſer angewendet, als ir-
gend
[401]und wohlfeilen Schaubuͤhne.
gend eine andre die zu einem Feuerwerke oder zu einer andern
Art von Luſtbarkeit verwendet wird. Die Buͤhne erhaͤlt das
Waiſenhaus und genießt dafuͤr ſo viel als es billiger Weiſe er-
warten kan; und alle diejenigen, welche aus dieſer Anſtalt
ein ſittliches Verderben fuͤrchten, ſind verdammt, die Grab-
ſchrift der Miſtris Pritchard, welche ihr im vorigem Jahre
in der Weſtmuͤnſter Abtey an der Seite Shakeſpears und
Haͤndeln gegen uͤber, auf Koſten einiger Patrioten errichtet
wurde, taͤglich dreymal zu leſen. Sie iſt folgende:

Her comic Vein had ev’ry charm to pleaſe,
’Twas nature’s dictates breathed wiht nature’s eaſe.
E’en when her Powers ſuſtain’d the tragic load,
Full, elear, and juſt, the harmonious Accents flow’d;
And the big Pasſions of her feeling Heart
Burſt freely forth and ſhew’d the mimic Art
Oft, on the ſcene, with colours not her own,
She pâinted vice, and taught us what to ſhun;
One virtuous Track her real Life purſu’d,
That nobler Part was uniformly good.
Each Duty there to ſuch Perfection wrought,
That, if the precepts fail’d, the Example taught.
W. Witehead. P. L.

Hoffentlich ſollen alle meine Maͤdgen ein gleiches Denkmahl
verdienen.



Möſersrpat. Phantaſ.II.Th.LXX.
[402]Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit

LXX.
Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit ſollte
noch weiter angewandt werden.


Es iſt der Wellenlinie wie andern neuen Erſcheinungen ge-
gangen, die eine kurze Zeit alle ſchoͤne Geſellſchaften in
Aufmerkſamkeit und Bewunderung ſetzen, und dann den Phi-
loſophen zur fernern Betrachtung heimfallen. Zu bewundern
iſt es jedoch, daß keiner der letztern darauf gefallen iſt, ihre
Wahrheit und Richtigkeit zu erweiſen. Hogarth war ein gu-
ter Handwerker, der mit der Muͤtze unter dem Arme ſeine
Stuͤcke verkaufte, und ſich um die Theorie ſeines durch die
Erfahrung gefundenen Satzes nicht bekuͤmmerte; aber der
Philoſoph mit der Pelzmuͤtze auf dem Haupte haͤtte billig tie-
fer in die Sache eindringen ſollen. Die Wellenlinie iſt die
Linie der Schoͤnheit, aber nicht anders, als wenn ſie zugleich
ein Minimum iſt.


Die Zirkellinie iſt unter einer gleichen Bedingung die Li-
nie des Reitzes. Beydes loͤſet ſich hiedurch in eine ganz ſimple
Wahrheit auf. Die Zirkellinie iſt die groͤßte Abweichung von
der geraden, oder der Linie der Noth. Wo die Natur oder
der nachahmende Kuͤnſtler den allergroͤßten Abweg waͤhlt,
und dieſen durch die groͤßte Menge der Wuͤrkungen bezahlt,
da muß nothwendig alles zuſammen ſeyn, was man mit Rechte
fordern kan. Es iſt folglich auch theoretiſch richtig, daß die
Zirkellinie, die Linie des Reitzes ſey. Gleichwie aber Rhein-
wein auf die Dauer beſſer ſchmeckt, als Champagner; und
ſimple Schoͤnheiten laͤnger gefallen als hohe Reitzungen: ſo
wuͤrden wir ſehr uͤbel daran ſeyn, wenn die Natur oder der
Kuͤnſt-
[403]ſollte noch weiter angewandt werden.
Kuͤnſtler uns lauter Reitze zu bewundern gaͤbe. In dieſer
Abſicht iſt alſo die Wellenlinie, oder die ſanfteſte Abweichung
von dem Wege der Noth, wenn ſie zugleich ein Minimum iſt,
ſchoͤn.


Man macht insgemein den Einwurf: Die Saͤule ſey ſchoͤn,
ob ſie gleich keine Wellenlinie habe. Allein ſie iſt eigentlich
nicht ſchoͤn, ſondern erhaben. Das Erhabne aber iſt der
groͤßte Reichthum unter der Geſtalt des Nothwendigen, wel-
ches letztere durch die gerade Linie bezeichnet wird. Die groͤßte
und dickſte Saͤule, die ſich jemand als ein Minimum denken
kan, iſt auch der hoͤchſte Grad des Erhabnen. Da der Menſch
zu ſchwach war, ein ſolches Minimum hervorzubringen: ſo
lies er der Saͤule oben gruͤnen, und ihre Blaͤtter oder viel-
mehr Zweige ſich unter der Laſt in einen Zirkel winden, um
ihr den Anblick der groͤßten Staͤrke zu geben, woraus hernach
die Fabel von den Acanthusblaͤttern entſtanden.


Bey dem allen wird aber die wahre oder ſcheinbare Ein-
heit
als eine nothwendige Eigenſchaft des Natur- oder Kunſt-
werks vorausgeſetzt. Zwey gerade Linien, die aus einander
flieſſen, werden als zwey und nicht als Eins gedacht. Die ge-
rade Linie, der Winkel und das Viereck haben fuͤr ſich genom-
men, insgemein den Fehler vor das Auge, daß ſie als Be-
ſtimmungsſtuͤcke zu einem groͤßern Ganzen angeſehn werden.
In ihrer weitern Anwendung zeigt ſich erſt, ob die geraden Li-
nien, woraus ſie beſtehen, als bloße Linien der Noth, die
ihre Rechte da haben, wo alle Schoͤnheit unſchicklich ſeyn
wuͤrde, ihren Platz finden; oder ob ſie ſchon einem großen
Ueberfluſſe die Geſtalt des Nothwendigen geben, und ſolcher-
geſtalt zu dem Erhabenen wuͤrken.


Wenn Batteux auf die Nachahmung der ſchoͤnen Natur
dringt: ſo iſt es nicht uͤberfluͤßig die Regeln ſelbſt zu ſtudiren,
C c 2nach
[404]Das natuͤrliche Recht der erſten Muͤhle,
nach welcher die ſchoͤne Natur handelt, und hier wuͤrde die
Lehre von jener Linie den beſten Grundſatz an Hand geben.



LXXI.
Das natuͤrliche Recht der erſten Muͤhle,
eine Rede auf einem neuen Dorfe in
Jamaica gehalten.


Ich verlange weiter nichts, meine Freunde und Mitbuͤrger,
als daß ihr mich hoͤret; ihr koͤnnt dann noch immer
machen was ihr wollt. Die Muͤhle, welche ich hier ange-
legt habe, koſtet mir mein ganzes Vermoͤgen. So oft ka-
men wir nicht zuſammen: ſo ſagtet ihr: O wenn wir doch
auch eine Muͤhle haben moͤchten; ſie war euer einziger Wunſch,
und nun da ich ſolche angelegt, da ihr taͤglich mit Freuden
zugeſehen habt, wie der Bau von Zeit zu Zeit fortgieng; da
ihr mich tauſendmahl eurer ewigen Dankbarkeit verſichert
habt; da ich mein ganzes Vermoͤgen dazu verwendet, und
auf dieſe eure Dankbarkeit, auf den allgemeinen Wunſch, und
auf die offenbarſte Billigkeit mehr als auf ein koͤnigliches Pri-
vilegium oder auf einen ſchriftlichen Contrakt gerechnet habe;
nun ſage ich, wollet ihr meinem Nachbarn nicht verbieten noch
eine Muͤhle anzulegen? er darf ſich des Modells, was ich mit
vielen Koſten angeſchafft, und der Bauleute, die ich mit groſ-
ſen Belohnungen aus England heruͤber gezogen habe, zu ſei-
nem Bau bedienen, und oͤffentlich ſagen, das er, nachdem er
ſolchergeſtalt mindre Unkoſten gehabt als ich, wohlfeiler mah-
len wolle? Ihr wollet es nicht unbillig finden, daß ich auf
dieſe Weiſe in meinem beſten Vertrauen, was ich oͤffentlich
durch
[405]eine Rede auf ein. neuen Dorfe in Jamaica geh.
durch meinen Bau zu erkennen gegeben habe, und was ihr
durch euren oͤffentlichen Beyfall immerfort unterhalten habt,
auf das ſchaͤndlichſte hintergangen werde? Ihr wollet behaup-
ten, daß ein jeder die Freyheit habe, auf dem Seinigen zu
thun was er wolle; daß ich kein Zwangrecht erlangt habe;
und daß ein ander ſich eben der Freyheit bedienen koͤnne, deren
ich mich bedient habe? Ihr wollet es zum Geſetze machen,
daß die Anlegung einer Muͤhle zu den freyen und willkuͤhrli-
chen Handlungen gehoͤre, die ſo lange ihr euch eurer Freyheit
nicht begeben habt, keinem verwehret werden koͤnne? …


O meine lieben Freunde bedenket wohl was ihr thut; Ihr
habt noch eine Kirche, viele Bruͤcken, verſchiedene Heerſtraſ-
ſen, einen Canal, eine Waſſerleitung — ihr habt noch eine
Brauerey, ein Wirthshaus, eine Schoͤnfaͤrberey und viele
andre koſtbare Anlagen noͤthig, ehe ihr in den Stand kommt,
dasjenige, was euch die Natur hier beſchert hat, auf das beſte
zu nutzen, eurer Haͤndearbeit die gehoͤrige Vollkommenheit zu
geben, und euch nur einiger maßen zu einem Staate zu bil-
den? Wer wird es aber wagen dergleichen auf ſeine Koſten
auszufuͤhren, wenn ihr ihm auf gleiche Art begegnen wollet?
Wer wird die Kirche bauen, wenn jeder ſeine Stube zur Ca-
pelle machen will? Wer wird den Bau einer Bruͤcke oder
Heerſtraße wagen, wenn ihr, ſo bald ſolches geſchehn, einem
andern geſtatten wollet neben der Bruͤcke nur ein Faͤhrſchiff zu
halten, oder ſo oft er kan, den Zoll auf der Heerſtraße zu ver-
fahren? Wer wird die koſtbare Waſſerleitung, die von jenem
Berge uͤber eine Stunde Weges hieher gehen muͤßte, anle-
gen, wenn ihr dieſe Unternehmung, die jetzt einem jeden frey-
ſteht, ſo bald ſie vollfuͤhret iſt, andern nicht verbieten wollet?
Bedenkt es wohl, ſage ich noch einmal, was ihr thut; nichts
iſt jetzt freyer und willkuͤhrlicher als die Anlegung einer Poſt
zu unſern benachbarten Colonien. Tauſend wuͤnſchen ſie, und
C c 3tau-
[406]Das natuͤrliche Recht der erſten Muͤhle,
tauſend koͤnnen es verſuchen, niemand wehrt es ihnen; aber,
meine Freunde, wenn einmal ein Patriot die Anſtalt und
Einrichtung dazu gemacht hat; ſo erwartet er von eurer Ver-
nunft, von eurer Billigkeit, von eurer Dankbarkeit, und von
eurem großen Intereſſe, daß ihr es nach ihm allen andern
verbieten ſollet. Denkt er nicht daran, ſich uͤber ſeine Poſt
ein Privilegium zu erwerben, oder vorher einen Contrakt mit
euch zu errichten: ſo werden doch die Urſachen, worauf ſich
das Privilegium, wenn es anders beſtehen ſoll, gruͤnden
muͤßte, nachher eben ſo wuͤrkſam ſeyn, wie ſie vorher geweſen
ſeyn wuͤrden. Und wer verdient denn den groͤßten Dank,
der Mißtrauiſche, der ſich von euch Brief und Siegel vorher
geben laͤßt, oder der Großmuͤthige, der auf eure Dankbarkeit
und Billigkeit mit voͤlligem Vertrauen rechnet?


Es iſt die Natur gemeinnuͤtziger und koſtbarer Unterneh-
mungen, welche ein Patriot oͤffentlich unternimmt und aus-
fuͤhret, daß ſie ihr Privilegium von ſich ſelbſt mit ſich fuͤh-
ren, und alle andre von gleichen Unternehmungen ſo lange
ausſchließen, bis die gemeine Nothdurft eine Veraͤnderung
erfordert. Das Urtheil uͤber dieſe Veraͤnderung gebuͤhrt euch,
meine verſammleten Mitbuͤrger, nicht aber einem Privat-
manne, der nach dem erſtern eine gleiche oder aͤhnliche Anſtalt
machen will. Eben dieſe Unternehmung, die zuerſt einem je-
den offen ſtund, ſteht alſo dem zweyten nicht mehr offen; die
erſte Beſitzergreifung entſcheidet hier wie in andern Faͤllen;
und es iſt ein Eingriff in euer Urtheil, eine Beleidigung eu-
rer Majeſtaͤtsrechte, und eine Beſchimpfung der Nationalver-
nunft und Dankbarkeit, zu behaupten; daß dasjenige, was
dem erſtern in dieſen Faͤllen freygeſtanden, den andern eben-
falls unverwehrt ſeyn muͤſſe. Die Richter wuͤrden freylich,
wenn eine ſolche Sache vor ſie gebracht wuͤrde, auf andre
Gruͤnde verfallen muͤſſen; weil ſie mit euch keine gleiche Be-
fug-
[407]eine Rede auf ein. neuen Dorfe in Jamaica geh.
fugniſſe haben, Privilegien zu ertheilen oder einzuſchraͤnken;
ſondern nach wuͤrklich ertheilten oder erlangten Privilegien
ihr Urtheil abmeſſen muͤſſen. Aber wer von euch, wird eine
Sache zur richterlichen Erkenntniß bringen, die ihrer Natur
nach nicht dahin gehoͤren kan?


Der Himmel behuͤte mich zu ſagen, daß nun, ſo bald die
Poſt angelegt, keiner zu Fuße oder zu Pferde gehen ſolle,
ohne ſich derſelben zu bedienen; oder daß ein jeder durchaus
das Quellwaſſer kaufen ſolle, was durch die Waſſerleitung in
die Stadt kommen wird. Ich zwinge niemand auf meine
Muͤhle zu kommen, und derjenige, der die Kirche anlegen
will, ſoll nicht fordern, daß ich durchaus hineinkommen, und
ihm die Miethe fuͤr den Platz bezahlen ſoll. Nein, meine
Freunde, dieſe ſtraͤfliche Abſicht habe ich nicht. Jeder von
euch mag ſich ſo gut behelfen, wie er ſich beholfen hat, ehe
Muͤhle, Kirche und Waſſerleitung angelegt worden; das
Waſſer der Quelle am Berge mag unverkauft bleiben, wenn
uns der Himmel noch eine ſpaͤtere Quelle mitten in der Stadt
beſchert. Ich fordere nur das Recht, daß keiner nach mir
eine mit der meinigen aͤhnliche Anſtalt ohne euer gemeine Be-
willigung anlegen ſoll; ich verlange nur, daß es nicht in ei-
nes jeden freyen Willkuͤhr ſtehen ſoll, das zu thun, was ich
gethan habe. Dieſe einzige Einſchraͤnkung iſt alles was ich
fordere, und mit Recht zu fordern glaube. Es iſt das Recht
was die Natur in ſolchen Faͤllen dem Erſtern gegeben hat;
es iſt gleichſam das Recht der Erſtgeburt.


Euer Urtheil iſt allezeit frey. Wenn die Bevoͤlkerung ſich
vermehrt, wenn der Staat ſich vergroͤßert, wenn der Handel
zunimmt, und die Umſtaͤnde eine Erweiterung der vorhande-
nen Anſtalten erfordern: ſo beruhet das Maaß der Erweite-
rung bey euch. Ihr koͤnnt eine zweyte Muͤhle zulaſſen, noch
C c 4ein
[408]Das natuͤrliche Recht der erſten Muͤhle,
ein Wirthshaus, noch eine Schoͤnfaͤrberey bewilligen, zehn
Straßen und Bruͤcken fuͤr eine genehmigen, mehrere Poſten,
mehrere Waſſerleitungen, und mehrere Kirchen oder Capellen
zulaſſen, nachdem ihr ſolches dem gemeinen Weſen nuͤtzlich
findet. Nur in eurer oder eurer Repraͤſentanten Hand muß
dieſe Erlaubniß unverruͤckt bleiben; nicht aber auf der freyen
Willkuͤhr eines jeden Mitbuͤrgers oder auf dem Ausſpruch ei-
nes bloßen Richters beruhen. Ihr koͤnnet zuletzt, wenn un-
ſere Colonie ſo bluͤhend wird, daß man ihre Beduͤrfniſſe nicht
mehr abmeſſen kan, die vollkommenſte natuͤrliche Freyheit
wieder herſtellen, und jede Anlage wieder willkuͤhrlich machen;
aber ob und wann dieſe Freyheit eintreten ſoll, muß eurer
Ueberlegung, eurer hohen Ermaͤßigung vorbehalten ſeyn.


Glaubt ihr, daß ich des Mulders auf meine Muͤhle zu
viel nehme; findet ihr, daß der Mann, der die Waſſerleitung
anlegen wird, den Eymer zu theuer verkaufe; oder daß das
Poſtgeld zu hoch geſetzet werde: ſo wehret euch niemand jede
Anſtalten, wodurch dieſer Gottloſigkeit Einhalt geſchehen kan,
zu waͤhlen, zu beguͤnſtigen und ausfuͤhren zu laſſen; aber Euer
muß dieſe Obererkenntniß bleiben; und ohne deren Vorgang
muß niemand befugt ſeyn, ſeine Willkuͤhr in ein Recht zu
verwandeln und nach dieſem ſich ohne Anfrage und Bewilli-
gung eben dasjenige anzumaßen, was der erſte ohne Anfrage
und Bewilligung mit vielen Koſten, aus bloſſen Vertrauen
auf die oͤffentliche Dankbarkeit und Billigkeit angeleget hat.


Noch eins meine Freunde; geſetzt ihr haͤttet die Muͤhle auf
gemeine Koſten angelegt, und ein jeder haͤtte das ſeinige dazu
beygetragen, wuͤrdet ihr wohl in dieſem Falle, einem von
euren Mitbuͤrgern geſtatten, ohne eure Erlaubniß noch eine
zweyte anzulegen? Nein das wuͤrdet ihr nicht thun; ihr wuͤrdet
euch dagegen aus eben den Gruͤnden ſetzen, woraus ich mich
dar-
[409]eine Rede auf ein. neuen Dorfe in Jamaica geh.
daruͤber beklage. Was iſt aber beſſer, und mehr zu beguͤn-
ſtigen, daß Privatmaͤnner dergleichen gemeinnuͤtzige Anſtalten
auf ihre Gefahr und Rechnung uͤbernehmen, als daß alles
und alles aus gemeinem Beytrage, der im Anfang unſrer Co-
lonie noch ſehr ſchwach und gar nicht auf zubringen war, koſt-
ſplitterlich ausgefuͤhret werde? Euer Wunſch war geſtern noch
einen geſchickten Wundarzt zu haben. Geſetzt es wagte einer
aus Europa ſich hieher, er kaͤme ohne Ruf und ohne Beſoldung,
er rechnete gewiß darauf, daß kein ander in unſrer Colonie
waͤre, und auch wahrſcheinlich nicht kommen wuͤrde, ſo lange
er nur allein dort leben koͤnnte; wuͤrdet ihr nicht in der
Folge aus Dankbarkeit und Billigkeit einem zweyten Wund-
arzte ſo lange die Praxin verbieten, als ihr mit dem erſten
zufrieden waͤret? Gleichwohl hat der erſte kein ander aus-
ſchließliches Privilegium, als was ihm das gemeine Beſte,
die oͤffentliche Dankbarkeit, und eure billige Ueberlegung ge-
waͤhret. …


Die Gemeine erkannte hierauf fuͤr Recht, daß keine neue
Muͤhle ohne ihre Bewilligung angelegt, und der Proceß,
welchen der Zweyte daruͤber angefangen, aufgehoben werden
ſollte. Sie behielt ſich auch das Recht vor, nach Beſchaffen-
heit der Umſtaͤnde Erweiterungen oder Einſchraͤnkungen zu
machen, und uͤberließ dieſes in der Folge ihrer Obrigkeit.



LXXII.
[410]Von der Landesherrlichen Befugniß

LXXII.
Von der Landesherrlichen Befugniß bey
Anlegung neuer Muͤhlen.


Zur Zeit wie noch gar keine Muͤhle im Lande war, konnte
jeder das Recht haben eine anzulegen; und man wuͤrde
demjenigen, der ſich zum gemeinen Beſten mit einer ſo
ſchweren Unternehmung beladen haͤtte, gewiß eine oͤffent-
liche Dankſagung ſchuldig geweſen ſeyn. Wie aber die erſte
Muͤhle vorhanden war, muſte ſich dieſes Recht nothwendig
aͤndern, und die vorige Freyheit aufhoͤren. Denn derjenige,
der zuerſt den Bau derſelben vor aller Welt Augen ohne Wi-
derſpruch uͤbernommen, wuͤrde ſich nie damit abgegeben haben,
wenn er nicht darauf gerechnet haͤtte, daß ſeine Nachbaren,
ſo viele deren zur Muͤhle kommen konnten, ihr Getreide bey
ihm mahlen laſſen und ihn dadurch entſchaͤdigen wuͤrden.
Billig handhabet alſo der Landesherr den erſten Muͤller, und
verſaget allen andern die Erlaubniß dergleichen zum Nachtheil
des erſtern zu erbauen. Billig verſagt er auch andern die
Erlaubniß eine Muͤhle fuͤr ſich zu haben. Denn die gemeine
Muͤhle wuͤrde ſo wenig wie die Kirchſpielskirche beſtehen,
wenn jeder ſeine eigne Capelle und Muͤhle haben wollte.
Mit großer Billigkeit legt man folglich auch dem Landesherrn
das Recht bey, Muͤhlen zu bewilligen und nicht zu bewilligen,
weil auf den Fall da dieſes nicht waͤre, der erſte Muͤller ſich
entweder durch einen urſpruͤnglichen Vergleich, der aber ſelten
vorhanden iſt, oder durch ein natuͤrliches Bannrecht, was
man jedoch nicht angenommen hat, gegen andre wuͤrde ſchuͤtzen
muͤſſen.


Ob
[411]bey Anlegung neuer Muͤhlen.

Ob aber gleich ſolchergeſtalt das Recht eine Muͤhle zu er-
lauben oder zu verbieten der hoͤchſten Obrigkeit zuſteht: ſo
braucht darum die Muͤhlengerechtigkeit eben kein Regal zu
ſeyn. Ein jeder Unterthan, der einmahl dergleichen beſitzt,
hat die Vermuthung fuͤr ſich, daß er der erſte geweſen, der
ſeines Orts der gemeinen Nothdurft zu ſtatten gekommen,
und entweder eine ausdruͤckliche oder ſtillſchweigende Erlaub-
niß dazu erlangt habe. Der bloße rechtmaͤßige Privatbeſitz
ſchuͤtzt ihn bey der Muͤhle wie bey jedem andern Theile ſeines
Eigenthums; er ſelbſt muß aber wuͤnſchen, daß das Recht
Muͤhlen zu erlauben, der Landesobrigkeit vorbehalten bleibe,
damit nicht ein jeder um und neben ihn ſich nun eben der
Freyheit bedienen moͤge, deren er ſich ſelbſt bedienet hat;
und damit er nicht genoͤthiget werde, gegen jeden neuen Muͤh-
lenbau einen koſtbaren Proceß zu fuͤhren.


Von der Landesobrigkeit iſt nicht zu vermuthen, daß ſie
mehrere Muͤhlen als noͤthig ſind, erlauben werde. Mehrere
Muͤhlen an einem Orte, wo eine zureichend iſt, ſind dem
Staate zur Laſt, weil ihr Unterhalt doch immer auf die eine
oder andre Art von der Gemeinheit getragen werden muß,
und jeder Muͤller leben will. Jedoch iſt die Frage: was noͤ-
thig und nicht noͤthig ſey? immer ſchwer zu entſcheiden. Man-
cher Muͤller hat nie genug, und wollte wohl daß die Mahl-
genoſſen, welche eine Tagereiſe von ihm entfernet ſind, zu ihm
kommen ſollten; ein andrer wuͤnſcht um deswillen der einzige
Muͤller zu ſeyn, damit alle nothwendig zu ſeiner Muͤhle kom-
men moͤgten, und er ſie nach ſeiner Beſcheidenheit behandeln
koͤnnte; noch ein andrer, der einmal im Beſitz der erſten Muͤhle
iſt, will der ſpaͤtern Bevoͤlkerung nichts nachgeben, und im,
mer ein natuͤrliches Bannrecht behaupten; die mehrſten aber
ſind diejenigen, welche des Winters alles beſtreiten koͤnnen,
des Sommers aber ihre Mahlgaͤſte gehen laſſen muͤſſen
Dieſe
[412]Von der Landesherrlichen Befugniß
Dieſe ſperren ſich immer gegen alle neue Muͤhlen, welche ih-
nen den Winter Abbruch thun koͤnnen, wenn ſie gleich des
Sommers unentbehrlich ſind.


Hier wird nothwendig die Landesherrliche hoͤchſte Einſicht
und ein billiges Ermeſſen erfordert; wofern nicht das gemeine
Beſte widerrechtlich leiden ſoll. Eine richterliche Entſchei-
dung wuͤrde zu beſchwerlich und weitlaͤuftig ſeyn. Jene
hoͤchſte Einſicht muß aber in keine Willkuͤhr ausarten; und
nichts ſcheint hier billiger zu ſeyn, als daß wenn eine Be-
ſchwerde vorkommt, daß die vorhandene Muͤhle nicht mehr
zureiche:


  • 1) Die Familien, welche ihrer Lage nach zu einer
    Muͤhle gehen, oder woruͤber die Noth ein Zwangrecht aus-
    uͤbet, gezaͤhlet; hiernaͤchſt
  • 2) Auf jede Muͤhle nach dem Maaß ihres Waſſers und
    ihrer Mahlgaͤnge eine ſichere und zureichende Anzahl von
    Familien gerechnet, und wann ſich findet, daß die erſte
    Muͤhle nicht zureiche, und ein betraͤchtlicher Ueberſchuß
    von Mahlgaͤſten ſey, denen nicht geholfen werden koͤnne;
  • 3) Dem erſten Muͤller, wenn er ſeine Muͤhle erwei-
    tern oder eine andre zureichende Anſtalt machen kan, der
    Vorzug gelaſſen, oder wo dieſes Bedenken haben ſollte,
    wie es denn bisweilen gut ſeyn kan, daß zwey Muͤller um
    den Vorzug arbeiten muͤſſen;
  • 4) Eine zweyte Muͤhle unter einer zum Vortheil der
    erſten gemachten Einſchraͤnkung der Mahlgaͤnge, zugelaſ-
    ſen werde.

Eine Landesherrſchaft welche ſich in ihren Bewilligungen
nach dieſen Grundſaͤtzen richtet, wird ſolche allemal rechtfer-
ti
[413]bey Anlegung neuer Muͤhlen.
tigen koͤnnen. Der Widerſpruch des erſten Muͤllers, wenn
er auch bey einer mindern Bevoͤlkerung einmal den Beyfall
erhalten haͤtte und darauf ſein Bannrecht gruͤnden wollte,
wird ſie ſo wenig als die Haabſucht deſſelben irre machen;
und niemand kan verlangen, daß ſie von ihrem Verfahren
eine weitere Rechenſchaft gebe, als obige Grundſaͤtze mit ſich
bringen.


Bey dem allen laͤßt ſich aber doch auch das Recht eine
Muͤhle zu haben, als ein Regal der untern Claſſe betrachten.
Geſetzt, die erſte Muͤhle ſoll jetzt angelegt werden, und es
erbietet ſich einer aus der Gemeinheit unter der Bedingung
dazu, wenn ihm die Gemeinheit das Kamm- und Wellen-
holz aus ihrem Walde ſchenken, ihm mit Fuhren zu Huͤlfe
kommen, den Muͤhlenteich auswerfen, und ſich verpflichten
wolle, bey keinen andern als bey ihm Mahlen zu laſſen; ſo
wird die Gemeinheit ganz natuͤrlicher Weiſe antworten:
Warum ſoll denn unſer Nachbar dieſen Vortheil haben?
Warum ſollen wir dem Holz ſchenken, Fuhren leiſten und
Teiche auswerfen? Beſſer iſt es, wir goͤnnen dieſen Vortheil
unſerm Pfarrer, unſerm Vogten oder unſerm Kuͤſter, und
behalten dafuͤr ein, was wir dieſen ſonſt an Beſoldungen rei-
chen muͤſſen. — Dieſe Antwort ſcheint mir eben ſo natuͤr-
lich zu ſeyn, wie die Forderung desjenigen Privatmannes
der ſich zuerſt mit dem Bau abgeben wollte. Und ſo koͤnnte
es ganz bequem zugehen, daß die erſte Muͤhle ein Anhang
eines gemeinen Amts wuͤrde. Es ſind zu viele Muͤhlen mit
der Gerichtsbarkeit verknuͤpft; zu viele Muͤhlen, welche der
Kirchen gehoͤren; zu viele, welche mit einem von einer hoͤ-
hern Befugniſſe zeugenden Zwange berechtiget ſind: zu viele,
welche Kamm- und Wellenholz aus dem gemeinen Walde er-
halten, zu viele, welche ein Recht auf eine gemeine Huͤlfe
bey Bau und Beſſerung haben, um nicht den Schluß zu ma-
chen,
[414]Fuͤr die warmen Stuben der Landleute.
chen, daß nicht ſehr oft die erſte Einrichtung auf die jetzt ge-
dachte Art gemachet worden. Finden ſich gleich auch viele
ſolche Muͤhlen in Privathaͤnden: ſo finden ſich auch ſo viele
Spuren alter zerſplitterter Gerichtsbarkeiten und Aemter, daß
man auch die Muͤhle fuͤr einen ſolchen Splitter anſehen kan.
Die Muͤhle eines Eigenbehoͤrigen kan aus der Gutsherrlichkeit
entſtanden ſeyn, und die Gutsherrlichkeit iſt gewiß auch ein
Splitter der Carolingiſchen Gerichtsbarkeit; ſo ſehr ſie auch
jetzt einem Privatrechte aͤhnlich ſteht, und ohnerachtet es lei-
der ſo weit damit gekommen iſt, daß ein Leibeigner Gutsherr
eines andern Leibeignen ſeyn kan.


Solchergeſtalt muß man aber das Wort Regal in dem all-
gemeinſten Verſtande nehmen, wo es jede Befugniß oder
jedes Vorrecht eines oͤffentlichen Amts bedeuten kan.



LXXIII.
Fuͤr die warmen Stuben der Landleute.


Es gehoͤrt mit unter die laͤufigen Anmerkungen unſerer heu-
tigen philoſophiſchen Oekonomen und Aerzte, daß der
Landmann des Winters zu warm ſitze, und in ſeinen engen
Stuben ſich bis zum erſticken waͤrme; und ein Arzt der jeden
ſcheinbaren Umſtand zu faſſen, und nach demſelben Brod und
Waſſer, Bier und Wein, Fleiſch und Gemuͤſe, mit gleicher
Annehmlichkeit zu preiſen und zu verachten weis, giebt den
warmen Stuben wie leicht zu gedenken, manche Schuld, die
ſie vielleicht verdient, und auch nicht verdient haben moͤgen,
wie wir allerſeits dahin geſtellet ſeyn laſſen muͤſſen. Indeſ-
ſen laͤßt ſich doch auch noch manches zu ihrem Vortheile ſa-
gen, was immer noch einige Aufmerkſamkeit verdient.


Ein
[415]Fuͤr die warmen Stuben der Landleute.

Ein Menſch der des Sommers in der Hitze arbeitet, und
oft in einem Tage mehr Schweiß vergießt, als ein Gelehrter
in einem Monate, wuͤrde dem Anſehen nach den langen Win-
ter nicht durchdauern, wenn er alsdenn nicht bisweilen in eben
der Maaße ſchwitzte, wie im Sommer. Der Ruſſe kriecht
in einen warmen Backofen; die nordiſchen Voͤlker hatten vor-
dem viele heiſſe Badſtuben; ſie haben ſpaͤter dicke Federbet-
ten und zuletzt warme Stuben zugelegt; ſie haben zuerſt die
Nothwendigkeit der Hemde von Leinewand eingeſehen. Die-
ſes einſtimmige Verfahren der nordiſchen Voͤlker, welches nicht
durch Buͤcher und Zeitungen, ſondern durch eine uͤberall wuͤr-
kende Beduͤrfniß und Erfahrung erzeugt worden, macht es
ſehr wahrſcheinlich, daß ein Mann aus den noͤrdlichen Ge-
genden, der des Sommers ſein Brodt in dem ſtaͤrkſten
Schweiſſe gewinnet, des Winters nicht mit dem Maaße der
Waͤrme zukommen koͤnne, womit muͤßige Leute, und ein Theil
Buͤrger in den Staͤdten, die das ganze Jahr durch in der
Werkſtaͤtte ſitzen, ſich billig befriedigen. Die Natur entle-
diget ſich von ſehr vielen Uebeln durch den Schweiß; und ſie
waͤhlt dieſen Weg gewiß fuͤnfmal mehr als jeden andern.
Auch dieſe ſcheinet alſo jener Erfahrung das Wort zu reden,
und mit ihr einzuſtimmen.


Ich gebe es zu, daß Italiaͤner ſich des Winters mit einem
Sonnencamine, und mit einer duͤnnen Bettdecke behelfen
koͤnnen; allein der Italiaͤner iſt ganz anders gemacht wie der
noͤrdliche Deutſche; der fleiſchichter, blutreicher und weicher
iſt als jener, und die Arbeit nicht ſo trocken verrichten kan
als ein feſthaͤutiger, nervigter und geſchmeidiger Suͤdlaͤnder.
Ohnſtreitig erfordert die Natur andre Koͤrper in kalten als in
warmen Laͤndern; aber eben deswegen erfordern auch beyde
eine ganz unterſchiedene Diaͤt, und die heiſſen Badſtuben
und Backofen, oder die dicken Federbette und warmen Stu-
ben
[416]Fuͤr die warmen Stuben der Landleute
ben der Landleute moͤgen mit allen Scheine Rechtens darun-
ter gezaͤhlet werden. Ich glaube auch bemerkt zu haben, daß
unter allen Gelehrten die Prediger immer eine waͤrmere Stube
lieber haben als andre; welches ebenfalls eine Beduͤrfniß zu ſeyn
ſcheint, die ſich auf ihre ſtaͤrkere Canzelarbeit gruͤndet.


Es iſt noͤthig dergleichen Anmerkungen zu ſammlen, damit
der Landmann nicht durch eine Landesordnung angewieſen
werde, ſein Wohnzimmer nach einem geſtempelten Thermome-
ter zu hitzen, und ſein Bette mit einem taxmaͤßigen Zeug-
niſſe des Collegii medici zu ſchuͤtzen. Die Vorſorge der
Obrigkeiten gruͤndet ſich nicht edler als auf die Erhaltung der
Unterthanen, und ihr Einkommen iſt nicht ſicherer als wenn
es auf Sachen gelegt wird, die zur unentbehrlichen Beduͤrf-
niß gehoͤren. In einer gewiſſen Chineſiſchen Provinz iſt es
Lothweiſe beſtimmt, was jede Perſon des Tages eſſen muß;
der Hausvater muß ſolches bey einer ſchweren Leibesſtrafe
jedem zuwiegen, und zwar auf einer Wage, die alle Monat,
damit ſie recht richtig geht, geſtempelt wird; der Kayſer em-
pfaͤngt zur Steuer nichts mehr als den Betrag desjenigen
was die Unterthanen vordem mehr verfreſſen haben; hiebey
verliert kenntlich der Unterthan nicht allein nichts; ſondern er
wird auch munter und geſunder, und ſparet uͤberdem was er
vorhin an Aerzte und Arzeneyen gewandt hatte; folglich iſt
hier das billigſte und richtigſte plus was jemahls ein Chine-
ſiſcher Cameraliſt erfunden hat. Eine gleiche Vorſorge koͤnnte
nun auch die warmen Stuben unſrer Landleute bey dem im-
merwaͤhrenden Geſchrey uͤber Holzmangel treffen, wenn man
nicht in Zeiten bewieſe, daß ſie zur Geſundheit in kalten Laͤn-
dern unentbehrlich waͤren, beſonders fuͤr Leute die des Win-
ters den Tag uͤber in Froſt und Schnee leben, und ihre Aus-
duͤnſtungen des Abends und des Nachts verrichten muͤſſen.
Die Kaͤlte iſt das groͤßte Staͤrkungsmittel, und wohlfeiler als
Stahl,
[41[417]]Fuͤr die warmen Stuben der Landleute.
Stahl, China und Wein; dieſe giebt den von einer zu groſ-
ſen Waͤrme erſchlaften Nerven ihren natuͤrlichen Ton wie-
der, und der Ruſſe, der aus dem heiſſen Backofen in den
Schnee kriegt, und ſich wohl dabey befindet, giebt uns das
beſte Muſter zur Nachahmung.



LXXIV.
Alſo iſt es rathſamer die Wege zu flicken
als neu zu machen.


So angenehm es auch iſt, auf ſchoͤnen und bequemen We-
gen zu rollen; und ſo vieles dadurch an Fuhrwerk er-
ſparet und an der Fracht gewonnen wird: ſo laͤßt ſich doch
auch noch manches zur Entſchuldigung ſolcher Laͤnder ſagen,
deren Einwohner fuͤr die Bequemlichkeit der Durchreiſenden
minder ſorgen, und die der guͤtigen Natur den groͤſten Theil
der Vorſorge fuͤr ihre Heerſtraßen uͤberlaſſen. Ueberhaupt
glaube ich die Regel dahin faſſen zu muͤſſen, daß man keine
Wege ohne Noth fuͤr Heerſtraßen erklaͤren, und ſelbige im-
mer nur von einer Jahrszeit zur andern flicken, nicht aber,
wie man zu reden pflegt, aus dem Grunde beſſern, oder wohl
gar ihre ganze Natur zerſtoͤren muͤſſe.


Gegen die erſte Regel wird ſehr oft verſtoßen. Insge-
mein glaubt ein Richter oder Beamter, er leiſte dem Staat
einen wichtigen Dienſt, wenn er einen Land- oder Dorfweg
zur Zoll- oder Heerſtraße adelt, und das Amt oder die Ge-
meinheit zu deſſen Unterhaltung noͤthiget. In der That iſt
dieſes aber eine neue Schatzung, welche er dem laſttragenden
Unterthanen aufbuͤrdet, und es iſt nicht unmoͤglich ein kleines
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. D dLand
[418]Alſo iſt es rathſamer die Wege zu flicken
Land dermaßen mit Heerwegen zu belegen, daß deſſen Ein-
wohner keine andre Schatzung als deren Unterhaltung tra-
gen koͤnnen. Giebt man gleich oft dem einen Kirchſpiele das an-
dre zu Huͤlfe: ſo iſt es doch immer eine neue Laſt fuͤr das Ganze,
und ein Landesherr, welcher wichtigere Gegenſtaͤnde der oͤf-
fentlichen Wohlfart zu beſtreiten hat, thut wohl, wenn er
auch hier das Geſetze der Sparſamkeit empfiehlt, und nicht
mehr Heerſtraßen verſtattet, als die hoͤchſte Noth erfordert;
wenn er ſeinen Gerichten befiehlt die Vermuthung wider die
Heerſtraßen zu faſſen, und nicht eher eine Gemeinde damit
beſchweren zu laſſen, als bis es deutlich erwieſen oder von der
Noth erfordert wird.


Die andre Regel wird aber noch oͤfterer verletzt. Man
glaubt, es zeuge nichts herrlicher von der guten Policey ei-
nes Staats als praͤchtige ſteinerne Bruͤcken und Pflaſter, koſt-
bare Straßen, und glaͤnzende Meilenzeiger; nichts mache
einem Lande mehr Ehre als dergleichen große und gemein-
nuͤtzige Unternehmungen, und der Schriftſteller duͤnket ſich
ſchon groß, der mit der Feder den Anſchlag dazu gegeben
hat. Es verhaͤlt ſich aber mit dieſer Art des Luxus, wie mit
jeder andern; ſie iſt ſchoͤn, vortreflich und bewundernswuͤr-
dig, wo ſie mit Recht zu Hauſe gehoͤrt; aber da wo die Noth
nach Brodte geht, weiter nichts als ein glaͤnzendes Elend.
Da wo der Zoll einer einzigen Bruͤcke, ſo wie in London,
des Jahrs 50000 Thaler aufbringt, laſſen ſich ganz andre
Anſtalten, als in Laͤndern, wo der ganze Zoll nicht zureicht
das Zollhaus zu unterhalten.


Unſre Vorfahren, welche ſich von der getreuen Natur al-
lein leiten, und durch keine falſche Theorien irre machen lieſ-
ſen, flickten ihre Wege im Fruͤhjaͤhre und im Herbſt, und
forderten weiter nichts, als daß dieſe ihre Beſſerung in dem-
ordent-
[419]als neu zu machen.
ordentlichen Laufe der Zufaͤlle, von der einen Jahreszeit bis
zur andern dauren ſollte. Sie rechneten auf Hitze und Froſt,
als die wohlfeilſten Mittel zur Wegebeſſerung, und richteten
ihre Frachten wohl gar ſo ein, daß ſie ſolche nicht anders als
in der beſten Jahreszeit zu- und abfuͤhreten. Bey dieſer
Rechnung fuͤlleten ſie die ausgefahrnen Stellen mit dem naͤch-
ſten dem beſten Sande, auch wohl mit Waſen, Stroh und
Quecken, und wenn er von neuem ausgeſpuͤhlt oder ausge-
fahren wurde: ſo wiederholten ſie in der Geſchwindigkeit ihre
vorige Beſſerung, und reichten im ganzen Jahre mit der Ar-
beit von wenig Tagen zu dem nothwendigſten hin.


Wir neuern hingegen, wir wollen nicht anders als fuͤr die
Ewigkeit ſchreiben und arbeiten; wir wollen griechiſche und
roͤmiſche Werke auf den Doͤrfern, und praͤchtige Landſtraßen
in ſolchen Gegenden haben, wo ſie den damit beſchwerten Anwoh-
nern nicht weiter dienen. Als um ihr Brodt darauf zu betteln.
Wir verachten die Curen der alten Aerzte die immer nur der
Natur zu Huͤlfe kamen, und glauben die heroiſchen Mittel ſeyn
in jedem Falle die beſten. Freylich ſind ſie die beſten, wo Ge-
fahr auf dem Verzuge haftet, und wagen noͤthig iſt; freylich
iſt ein Pallaſt beſſer als eine Strohhuͤtte; aber doch wenn er
auf einem Baurenhofe ſteht, und von demſelben in Dach und Fach
erhalten werden muß, mag er auch leicht fuͤr ein ewiges Denk-
mahl der Unbeſonnenheit gelten. Und eben das laͤßt ſich von
jenen großen Heerſtraßen denken, welche durch abgelegne
und mit dem Zolle in kein Verhaͤltniß zu bringende Gegen-
den angelegt werden. Die Sommer- und Winterhuͤlfe,
welche jeder Weg umſonſt hat, ſollte nicht ganz außer Be-
tracht fallen. Wer den Sommer einheitzt, verbraucht mehr
Holz, als wer ſich blos fuͤr Kaͤlte ſchuͤtzt, und derjenige, der
Wege macht, welche ſo wenig von der Hitze als vom Froſte
ihre natuͤrliche Huͤlſe nehmen, ſondern durch ihre eigne An-
D d 2lage
[420]Alſo iſt es rathſamer die Wege zu flicken
lage beſtehen muͤſſen, bauet koſtbarer als er noͤthig hat, und
begehet eine Thorheit, ſo bald ihm dieſe unnoͤthige Ausgabe
auf einer andern Seite zur Laſt faͤllt.


Geſetzt aber auch, die erſte Anlage werde aus einer beſon-
dern Fundgrube gemacht, und diejenigen dreyßig tauſend
Thaler, welche eine Meile guten Weges ohne Fuhren und
Materialien koſtet, faͤnden ſich ohne merkliche Beſchwerde
des Landes; ein Fall der ſich doch ſelten eraͤugen wird: ſo
hat es doch insgemein wiederum eine ganz andre Beſchaffenheit
mit der Unterhaltung eines kunſtmaͤßig gebaueten und eines
von der Natur gewieſenen Weges. Dieſer wird wie jede
Strohhuͤtte geflickt, wenn jener wie ein Pallaſt unterhalten
werden muß. Hier werden kunſtmaͤßige Haͤnde, gelehrte
Aufſeher, und viele Dinge erfordert, welche nicht anders
als mit ſchwerem baaren Gelde angeſchaffet und bezahlet wer-
den koͤnnen, wenn die Huͤtte mit dem naͤchſten Lehm, mit
ſelbſtgebaueten Stroh und einer unerfahrnen Hand bey Feyer-
abenden ausgeflicket werden kan. Die Erhaltung eines ſol-
chem kuͤnſtlichen Weges iſt alſo eine ewige Laſt fuͤr das Land,
und dieſe zu den Zinſen des angelegten Capitals gerechnet,
eine ſolche Beſchwerde, welche immer nur wenige Laͤnder
tragen koͤnnen.


Nur wenige Laͤnder werden ſolche mit den zu ſolchem Ende
eingefuͤhrten Weggeldern beſtreiten. Da wo der Weg nach
einer Hauptſtadt, oder nach einem großen Handlungsorte
fuͤhret, wirft die große Conſumtion und der Handel endlich
die Koſten noch wohl ab; und der Luxus traͤgt ſeinen redlichen
Antheil mit. Wo aber dieſe Stuͤtzen fehlen, und alles auf
die Nothdurft faͤllt, da wird die Erfahrung bald zeigen, daß
die Fuhrleute aller ihrer Fluͤche und Verſprechungen ungeach-
tet, in der ſchoͤnen Jahrszeit, wenn die mehrſten Frachten
gehn,
[421]als neu zu machen.
gehn, diejenigen Wege einſchlagen, wo ihnen Froſt und
Hitze zu ſtatten kommen, und hoͤchſtens in den dreyen oder
vier ſchlechten Monaten des Jahrs unſre Weghaͤuſer beſuchen,
welche davon ſchlecht beſtehen werden. Und uͤberhaupt wird
die Nahrung im Lande, welche von den Frachtfuhren ent-
ſteht, ſich ſehr vermindern, wenn die mit Weggeldern be-
ſchwerten Wege ſolchergeſtalt zur beſten Zeit, und wenn der
Zug am ſtaͤrkſten iſt, auf das ſorgfaͤltigſte vermieden werden.


Die Freunde des Anbaues und der Bevoͤlkerung, welche
ſich freuen, wenn ſie durch abgeſetzte Heerſtraßen einen Theil
Heide unbefahren erhalten, und aufs ungewiſſe zu einem beſ-
ſern Gebrauch beſtimmen koͤnnen, ſollten billig die Rechnung
erſt ziehen, ob die Unterhaltung eines kuͤnſtlichen Weges nicht
mehr wegnehme als das neue Urbare aufbringt; und dann
wuͤrden ſie gewiß finden, daß ſelbiger der Bevoͤlkerung und
dem Anbau nicht ſo ſehr zu ſtatten komme, als ſie glauben,
ſo lange die durch jene vermehrten Frohndienſte den Ertrag der
neugewonnenen Laͤndereyen uͤberſteiget. Es iſt daher noch ſo
ganz unraͤthlich nicht, wenn in einigen Gegenden, wo nichts
als Heide iſt, breite Striche zu den Wegen ungebauet liegen
bleiben, damit man das Spur deſto oͤfterer verſetzen, und ſich
von der Unterhaltung eines eignen Weges befreyen koͤnne.
Man laͤßt hier der Sonne und dem Froſt ihre natuͤrliche
Wuͤrkung, und ſparet ſich fuͤr die Aufopferung eines ge-
ringen unergiebigen Raums unzaͤhlige Frohndienſte. Bey
dem allen raͤume ich aber gern ein, daß da wo es geſchehen
kan und in allem Betracht mit Recht geſchieht, die ſchoͤnen
Wege einem Lande zur groͤßern Ehre gereichen als die praͤch-
tigſten Schloͤſſer, welche oft zu nichts weiter dienen als den
Kontraſt zu vergroͤßern. Ein Fuͤrſt kan gar keine edlere Art
der Verſchwendung, da doch etwas zum Glanze des Hofes
geſchehen muß, waͤhlen, als die Verſchoͤnerung der Heer-
D d 3ſtraſ-
[422]Umgekehrt: es iſt rathſamer
ſtraßen; und ich ziehe ſolche allem andern Aufwande, ſelbſt
demjenigen vor, welchen Schauſpiele, Maitreſſen und Jag-
den erfordern. Nur wuͤnſche ich nicht, daß man das ge-
meine Beſte fuͤr einen engliſchen Garten halten, alles große
im kleinen umhahmen, und Bruͤcken und Wege auf gemeine
Koſten und zum Druck der Unterthanen anlegen moͤge, wo ſie
mit der Handlung und dem Intereſſe des Staats in keinem
Verhaͤltniß ſtehen, und fuͤr ein beluſtigtes Auge zehntauſend
mit Thraͤnen erfuͤllen.



LXXV.
Umgekehrt: es iſt rathſamer die Wege zu
beſſern als auszuflicken.


Mein Herr!

Sie verlangen meine Anmerkung uͤber das vorige Stuͤck?
Wohlan hier ſind ſie, ſo wie mir die theils angenehme
theils traurige Erfahrungen meiner neulichen Reiſe ſelbige
an die Hand geben. a)


Die erſte Regel unſers Lobredners der ſchlechten Wege,
nicht ohne Noth Feldwege fuͤr Heerſtraßen zu erklaͤren und
ſolche nicht gruͤndlich zu beſſern, ſondern nur zu flicken, be-
greife ich ſo gut als ſolche an ſich außer allen Zweifel iſt. Doch
daß ſehr oft gegen ſelbige verſtoſſen werde, iſt mir bis daher
unbekannt geweſen. Ich wenigſtens habe auf meinen vielfaͤl-
tigen
[423]die Wege zu beſſern als auszuflicken.
tigen Reiſen auch ſelbſt da wo man bauete und flickte, dieſen
Verſtoß nie wahrgenommen.


Konnte nun auch der Herr Verfaſſer die Regel ſelbſt nicht
ganz weglaſſen; ſo deucht es mir doch billiger, wenn das oft
des Verſtoſſes zu einem gar ſeltenen Fall waͤre herunter ge-
ſetzet worden.


Ich wende mich alſo zu ſeiner zwoten Regel.


In einem Lande wo die Finanzen des Landesherrn und der
Unterthanen gleich kuͤmmerlich; welchem kein fremdes Fuhr-
werk kommt und zollet; oder da, wo die Heerſtraßen gar keine
oder doch nur ſolche Doͤrfer beruͤhren, welche keine Wagen
und Pferde halten, mithin es dieſen gleichguͤltig, ob die Wege
gut oder ſchlecht, da iſt es freylich genug Wege zu flicken ja
mehr als erforderlich. Sollte aber auch die Noth die hier
nach Brodte gehet, wohl anders rathen laſſen?


Giebt es aber Laͤnder in unſerm allgemeinen Vaterlande,
denn ich halte es meinen Patriotiſmus viel zu entehrend, als
mit unſerm Autor die Unterthanen des ganzen Deutſchlandes
das Brodt guten theils an den Heerſtraßen erbetteln zu laſſen;
giebt es, ſage ich, ſolche Laͤnder, deren Einwohner ihre er-
baueten Fruͤchte verfahren und ſonſtige Gewerbe vermittelſt
der Heerſtraßen treiben; ſo erniedrige ich ſolche nicht zum Bet-
telſtab. Ich preiſe ſie vielmehr gluͤcklich, wenn gruͤndlich er-
bauete Wege ihnen jetzt den Vortheil einer geringern An-
ſpannung, weniger Zeit zur Reiſe, weniger Abnutzung des
Geſchirrs, die Bequemlichkeit in jeder Jahrszeit zu reiſen,
und die Befreyung der Furcht ja Lebensgefahr auf denen
Heerſtraßen darbieten, auf welchen ſie ſonſt die Flickarbeit
zittern machte. Und wenn, wie ich ſo wenig als meine hieſi-
gen Freunde auf unſern Reiſen innerhalb Deutſchland bemerket
D d 4zu
[424]Umgekehrt: es iſt rathſamer
zu haben uns erinnern, auf keinem dergleichen erbaueten Wege,
mehr Pracht angewandt worden, als wegen des Grund und
Bodens, und zu ſolider Erhaltung derſelben erforderlich ge-
weſen, ſo begreife ich nicht, wie ſolche mit Billigkeit zum
Luxus zu rechnen.


Ich behaupte es allerdings, daß gute Wege in einem
Lande, wo nicht alles todt oder ſchlaͤft, recht zu treffende Vor-
richtungen, und fuͤr Fremde das erſte Kennzeichen der Weis-
heit des Regenten und der Policey ſeines Landes ſind. Wie!
auch die Bruͤcken, Meilenzeiger? ꝛc. ꝛc. freylich fuͤr geflickte
Wege ſehr unſchicklich, aber auch fuͤr dieſe nur Hirngeſpinſte!
Da wo man hingegen den Rath unſers Schriftſtellers nicht
befolget, wo man die oͤffentlichen Heerſtraßen nicht blos flickt,
ſondern es zutraͤglicher haͤlt, ſolche zu allen Jahrszeiten fahr-
bar zu erhalten, da ſind Bruͤcken allerdings nothwendig. Man
hat es mir bey meinen Erkundigungen allemal als die erſte
Regel bey Anlegung eines immer guten Weges angegeben,
daß dem Waſſer von allen Seiten der Heerſtraße ein freyer
Abzug gegeben werden muͤſſe; und da man in allen dieſen
Laͤndern, nach dem einſtimmigen Reſultat meiner Nachrichten,
aus dem durch Erfahrungen beſtaͤtigten Grundſatz, daß es bey
einer ordentlichen Vorrichtung, vortheilhafter einmal zu
bauen, als ohne eine Wegebeſſerung zu beſchaffen, ewig zu
flicken, es ſich vorgeſetzet hatte fuͤr die Ewigkeit zu bauen;
ſo iſt mir an den von mir befahrnen Heerſtraßen, nichts praͤch-
tig, nichts glaͤnzend erſchienen. Ich fand es vielmehr hoͤchſt
vernuͤnftig und angemeſſen, uͤber Fluͤſſe, große Bruͤcken, uͤber
Baͤche, kleinere und uͤber die Seiten- oder Abzugsgraben noch
geringere zu erblicken, a) ſolche nach Maaßgabe des Verhaͤlt-
niſ-
[425]die Wege zu beſſern als auszuflicken.
niſſes mit hoͤhern oder niedrigern, oder mit gar keinen Ge-
laͤndern, verſehen, und da, wo es mit Steinen wohlfeiler als
mit Holz zu bauen, ſolche maßiv wahrzunehmen. Wenn ich
endlich hiebey erwog, daß der Unterthan mit einer Laſt von
einigen Jahren (die vielleicht ſo groß nicht ſeyn mag, als ſie
ſich oft aus Hoͤrſagen oder aus ſonſtigen Urſachen hinter dem
Schreibtiſche mahlet) ſich und ſeine Nachkommen auf ewig
vom Wegbau befreyete, ihn nnd ſie bey einer geringern jaͤhr-
lichen Verwendung, zumal wenn ſie noch geringer als Flick-
arbeit ſeyn ſollte, die auſſer allen vernuͤnftigen Zweifel ge-
ſetzte Vortheile einer immer gleich fahrbaren Heerſtraße auf
ewig verſchaffte; Wenn ich nun noch bedachte, daß die Fund-
grube zur erſten Anlage und Unterhaltung der Wege, welche
ich jedoch nicht mit dem Herrn Verfaſſer fuͤr jede Meile zu
beſtimmen vermag, den Unterthan manchen Groſchen finden
laſſen und viele ſonſt muͤßige Haͤnde des Staats beſchaͤftiget
und in Nahrung geſetzet; dann erſchien mir dieſe kurze Laſt
vielmehr als eine ewige Wohlthat fuͤr die Unterthanen.


Hin und wieder erblickte ich zu meinem großen Vergnuͤgen
auch Meilenzeiger. Man hatte darinn die Oberſachſen jedoch
mit mehrer Einſchraͤnkung nachgeahmet. Ich erfuhr, daß
ſolche fuͤr eine Meile hoͤchſtens auf zehn Thaler kaͤmen. Ge-
ſetzt nun auch, ſie gehoͤren nicht zum weſentlichen der Heer-
ſtraßen: ſoll denn ein großer Herr gar nichts thun um das
Publicum zu obligiren? Und ſollte ihm der ſegnende Dank
des vernuͤnftigen und empfindſamen Reiſenden, dieſen ge-
ringen Aufwand, nicht hundertfaͤltig belohnen?


Aber unſre Vorfahren! (O ewiges Steckenpferd unſrer
heutigen Schlaͤfrigkeit!) wahrhaftig ſie waren ruͤhriger als
man es ihnen nur zu oft abzuſprechen bemuͤhet iſt. Sie
thaten gewiß mehr als blos flicken. Ihre Heerſtraßen zeugen
D d 5noch
[426]Umgekehrt: es iſt rathſamer
noch jetzo davon in den vielfaͤltigen, ſelbſt da wo man jetzt
flickt, vorhandenen Ruinen. Nur ihre neuere Nachkommen
flicken und flicken bis ſie die ganze Natur jener Wege zerſtoͤ-
ret und durch den naͤchſten den beſten Sand oder Koth, Wa-
ſen, Stroh und Quecken, das ſonſt noch ertraͤgliche Terrain
zu grundloſen Moraͤſten und Fluch auspreſſenden Mordwegen
umſchaffen. Sehr oft habe ich es erfahren, daß natuͤrliche
Schlagloͤcher weniger gefaͤhrlich zu paßiren, als die geflickten
Wege, die ich alsdenn lieber gekuͤnſtelte Mordgruben betitelt
haͤtte.


Ich halte es uͤberfluͤßig, das fehlerhafte der von Froſt und
Hitze hergenommenen Wegebeſſerungsmittel weitlaͤuftig zu
zeigen. Wer Wege, die geflickt werden, kennet, und die
Kinderjahre zuruͤck geleget, um von der Ungewißheit auch
ſelbſt unſrer ſogenannten beſtaͤndigen Jahrszeiten Erfahrungen
zu ſammlen, der wird jene willkuͤhrliche Beſſerung nie an-
preiſen, es ſey denn, daß er es wage den Rath hinzuzufuͤgen:
Unſere Frachten wie die Alten ſo einzurichten, daß wir ſie
nur in der beſten Jahrszeit ab- und zuführten.


Soll eine Heerſtraße nun zu allen Zeiten fahrbar ſeyn; ſo
erfordert ſolche Aufſicht mithin Koſten. Woher dann aber
die Koſten dieſer fuͤr die Ewigkeit angeſtelleten Aufſicht, dieſer
Unterhaltung, ſo unbetraͤchtlich ſie auch gegen das immer-
waͤhrende Flicken ſeyn mag? Iſt dazu ein Weggeld gut und
rathſam, wird nicht der Unterthan dadurch auf eine neue Art
gedruͤcket und wird denn ſolches zum Endzwecke hinreichen?


Ich wuͤrde zweifelhaft bey dieſer Frage geweſen ſeyn, wenn
nicht einige Tage zuvor als ich ſie mir in einem gewiſſen Lande
bey der wuͤrklichen Abforderung zweener Groſchen fuͤr die
Befahrung einer Meile neu erbaueten Weges, aufzuwerfen
Gele-
[427]die Wege zu beſſern als auszuflicken.
Gelegenheit hatte, mir ein Zufall alle Bedenklichkeiten der-
ſelben auf einmal aufgeloͤſet haͤtte. Auf einer nicht zur Heer-
ſtraße geadelten ſondern ſehr alten großen Route, trafen in
einem Wirthshauſe verſchiedene Fuhrleute mit mir zuſam-
men. Sie zahlten eben wie ich ins Haus trat, fuͤr jedes
Pferd, welches ſie zu Zuruͤcklegung eines noch nicht gar ſchlech-
ten Weges von drey Stunden zum Vorſpann dingen muͤſſen,
einen Gulden, nicht ohne Ausſtoſſung vieler Fluͤche und Ver-
wuͤnſchungen des Ungemachs und der Koſten, welche ihnen die
mit dem naͤchſt gelegenen Sande, Waſen, Stroh und Quek-
ken ausgebeſſerten Wege veranlaſſet hatten. Mit einer hei-
tern Mine ſetzten ſie das Gottlob! in einigen Tagen treffen
wir endlich auf beſſere Wege, hinzu; wie gern zahlen wir
da unſern Groſchen und noch mehr! Dies machte mich auf-
merkſam, und ſie verſicherten mich, daß allein die Koſten des
Vorſpanns auf den geflickten Wegen, das Weggeld, ſo ſie auf
gruͤndlich gebeſſerten Heerſtraßen zahlen muͤßten, bey weiten
uͤbertraͤfe, nicht zu gedenken, daß ſie in einem Tage auf neuen
Wegen zwo Tagereiſen ſchlechter Wege zuruͤcklegten, und alſo
auf den erſtern auch außer der Zeit die halben Zehrungskoſten
erſparten. Der Herr ſchaue nur, fuͤgte der eine hinzu: An
einem Dorfe lief vordem eine gewiſſe alte große Heerſtraße
hinaus; man hatte ſie hier endlich mit Steinen, Koth, Holz
und Quecken auch fuͤr die beſten Jahrszeiten zu einem fuͤrch-
terlichen Mordwege geflicket, und nicht ſelten habe ich zwey,
drey und mehr Thaler gezahlet, um nur zweene, drey oder
mehr Pferde, und das nur noch aus großer Gefaͤlligkeit der
Einwohner des Dorfs, zum Vorſpann zu erhalten, und meine
Fuhr mit halsbrechender Arbeit in halben Tagen ohngefaͤhr
drey viertel Stunde vorwaͤrts zu ſchleppen. Vordem paßirte
ich dieſe Straße mit Furcht und Zittern. Seit einigen Jah-
ren iſt ſie neu erbauet und mit einer anſehnlichen Abkuͤrzung
von
[428]Umgekehrt: es iſt rathſamer
von dieſem Dorfe weggelegt worden. Nun befahre ich ſie
mit Freuden, froͤhlich und ſingend entrichte ich mein Weg-
geld, denn es erſparet mir Kummer, Koſten und Zeit, und
ſegnend preiſe ich dafuͤr den guten Herrn und ſein Land.


Ich bin ungern weitlauftig: allein folgende Geſchichte
ſcheinet mir zugleich fuͤr die Erwartungen der von unſerm
Herrn Verfaſſer vielleicht nie ſelbſt verſuchten Winterhuͤlfe
zu entſcheidend, als ſolche ganz mit Stillſchweigen uͤbergehen
zu koͤnnen, ſie iſt aus dem Munde eines andern meiner Fuhr-
leute: im vorigen Winter war er nehmlich auf einer oͤffent-
lichen Landſtraße, ohngefehr hundert Schritte vor einem ge-
wiſſen Dorfe im Kothe ſtecken geblieben, zu einer Zeit, wo
das angeprieſene wohlfeilſte Mittel, der Froſt, zwar ange-
fangen zu beſſern, doch noch nicht voͤllig ſo gebauet hatte, daß
es ſeine Pferde und Wagen tragen wollen. Auch ſelbſt die
im Dorfe erkaufte Huͤlfe hatte ihn nicht vor Eintritt der Nacht
loshelfen koͤnnen. Er hatte alſo im Dorfe uͤbernachtet, oder
vielmehr in bitterer Kaͤlte ſeinen im freyen Dreck geſteckten
Wagen bewachet, da indes der zuſaͤllige Wegbauer ſeinen Wa-
gen des Morgens ſo ſtark eingemauert, daß er ihm mit un-
ſaͤglicher Muͤhe und Koſten loshauen laſſen muͤſſen, bis er
endlich Nachmittags ins Dorf gekommen und gerade vier und
zwanzig Stunden zugebracht, um hundert Schritt Weges zu-
ruͤckzulegen, welche ihm, wie er noch mit Seufzen bedauerte,
mehr gekoſtet, als ihm vielleicht funfzig Meilen guten Weges
an Weggelde nicht wuͤrden gekoſtet haben.


Durch dieſe Erzaͤhlungen ſchon etwas beſtimmter fuͤr das
Weggeld, benahmen mir die Nachrichten, die ich einige Tage
darauf der treuherzigen Hoͤflichkeit einiger der Maͤnner, die
mir das Weggeld abforderten, zu verdanken hatte, alle noch
uͤbrige Zweifel. Sie ſtimmten alle darinn uͤberein, daß das
Geld,
[429]die Wege zu beſſern als auszuflicken.
Geld, was ſie hoͤben, blos zu Unterhaltung der Wege ange-
wandt wuͤrde; daß alle vernuͤnftige Reiſende ſolches mit vie-
lem Vergnuͤgen erlegten; daß die Unterthanen, welche die
Laſt des Baues getragen, ſich aber gar nicht zu beſchweren
haͤtten, indem ſie mit halber ſonſtigen Anſpannung und Zeit,
ihre Producte frey verfahren koͤnnten.


Nun zahlte ich mein Weggeld mit Freuden und ſegnete mit
meinen neulichen Frachtleuten die guten Landesherren, in de-
ren Lande ich meine Scherbe zum gemeinen Beſten mit ein-
zulegen die Gelegenheit fand. Und wenn es denn auch beſ-
ſer waͤre gar kein Weggeld zu zahlen, dachte ich, iſt es denn
nicht auch eben ſo billig bey dem Genuß eines allgemeinen
Vortheils auch gemeinſchaftliche Beyhuͤlfe zu leiſten? Gute
Wege erhalten ſich nicht ſelbſt; ſie erfordern alſo wo nicht
kunſtmäßige Hände und gelehrte Aufſeher
, doch eine ſtete
und vernuͤnftige Aufſicht; dieſe halte ich aber in den Haͤnden
verſtaͤndiger Leute immer kluͤger und vortheilhafter als in den
Haͤnden der Lehmklecker, Flicker und Schmierer. Und nur
dann erſt, wenn die vernuͤnftige Unterhaltungskoſten das Weg-
geld uͤberſtiegen, duͤrfte vom Landsherrn ein mehrers verlan-
get werden koͤnnen.


Haͤtte unſer Schriftſteller meine Frachtfahrer reden gehoͤ-
ret; ſo wuͤrde ihm vielleicht die Sorge, daß die erbaueten
Wege des Weggeldes wegen, aller Fluͤche und Verſprechun-
gen der Fuhrleute ohnerachtet verfahren werden, weniger Kum-
mer verurſachen. Doch es geſchehe! Soll denn alles Gute
desfals unterbleiben, weil es gemißbrauchet werden kan?


Die Freunde des Anbaues und der Bevoͤlkerung, welche
ſich freuen, wenn in Heiden durch die ſogenannte Abſetzung
der Wege, Land zur Cultur gewonnen wird, muͤſſen warlich
ſehr ſeichte Begriffe von Heiden, Cultur und Bevoͤlkerung
ha-
[430]Erinnerung des Altflickers
haben, oder der Herr Verfaſſer verſtehet ſolche nicht recht.
Es giebt aber auch Heiden und Moͤhre, die der Fleiß zum
beſten Ackerlande umſchaffen koͤnnte; ſie bleiben aber immer
oͤde und unnuͤtz, bloß weil man ſie als jene Wege behandelt,
der Sonne und dem Froſte allein uͤberlaͤſſet, und uͤbrigens kei-
nen Handſchlag zu ihrem Beſten verwendet. Wuͤrden der-
gleichen Wuͤſteneyen; beſonders wenn ſie in der Naͤhe wohl-
bevoͤlkerter Doͤrfer oder gar Staͤdte liegen, mithin die Her-
beyſchaffung des Miſtes moͤglich, beackert, oder gewoͤnne auch
nur die Hude und Weide durch die Einſchraͤnkung des will-
kuͤhrlichen Fahrens, wuͤrden, ſage ich, dergleichen Wuͤſteneyen
zur Cultur oder mehrer Nutzbarkeit durch die mit dem Bau
verknuͤpfte Einſchraͤnkung der Wege gebracht; ſo getraute ich
mir zu behaupten, daß bey dieſer, wie bey allen Arten der
Induſtrie im ganzen gewonnen und der Erbauung der Wege
ein neues Verdienſt aufgehen muͤßte.



LXXVI.
Erinnerung des Altflickers zum
vorigen Stuͤck.


Aufmerkſame Leſer und Kenner werden es vielfaͤltig bemerkt
haben, daß ich mich ſehr oft einer Art der Rede bediene,
welche Deklamation genannt wird. Es giebt verſchiedene
kleine alltaͤgliche und auch ſonderbare Wahrheiten, die man
nicht intereſſant machen kan, ohne ſie auf dieſe Weiſe aufzu-
ſtutzen. So wie aber dieſe Art des Vortrags auf der einen
Seite ihre eignen Privilegien hat: ſo wuͤrde es auf Seiten
der Leſer ſehr unbillig gehandelt ſeyn, wenn ſie dasjenige, was
De-
[431]zu vorigen Stuͤck.
Deklamation iſt, fuͤr eine ſtrengere Art der Rede, und z. E.
die Gruͤnde, ſo gegen die Wochenmaͤrkte vorgebracht worden,
fuͤr richterliche Entſcheidungsgruͤnde halten wollten. Die
Deklamation iſt ein gutes Mittel gewiſſen kleinen vernach-
laͤßigten Wahrheiten eine ſolche Groͤße und Geſtalt zu geben,
daß der Richter bey Abfaſſung des Urtheils ſie nicht uͤberſehen
moͤge. Haͤtte der Verfaſſer des obigen Aufſatzes ein gleiches
bemerkt: ſo wuͤrde er die Gruͤnde fuͤr das Flicken der Wege
nicht ſo gar ernſtlich genommen haben. Seiner Seits hat
er große und auffallende Wahrheiten vorzutragen, welche ſich
jedem Auge frey darſtellen, und ohne Kunſt einleuchten. Die-
ſes hatte der Altflicker nicht, und gleichwohl hatte er doch auch
etwas zu ſagen, was nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde, ins-
beſondre aber des Bodens, worauf er flickt und ſchreibt, ſicher
richtig iſt, wenn es auch in der Sphaͤre des Patriotiſmus,
worinn der Herr Widerleger die Wege zu uͤberſehen hat,
ganz anders ausſehen ſollte. Das beſte wird wohl ſeyn, den
Streit in der Guͤte dahin abzuthun, daß Kruͤcken vortrefliche
Maſchinen bleiben ſollen, wenn es gleich beſſer iſt, ſie gar nicht
noͤthig zu haben.



LXXVII.
Wie viel braucht man um zu leben?


Was braucht man um zu leben; iſt zwar eine alte aber
auch noch nie voͤllig beantwortete Frage. Ein Thor-
ſchreiber dem der Fuͤrſt jaͤhrlich hundert Thaler gab, ſtellete
einmal unterthaͤnigſt vor:


Es ſey unmoͤglich bey den gegenwaͤrtigen theuren und
verſchwenderiſchen Zeiten von hundert Thalern zu leben;
er
[432]Wie viel braucht man um zu leben?
er habe eine Frau und ſechs Kinder; wenn er auf jede
Perſon auch nur jaͤhrlich zwanzig Thaler rechne, und ſo
viel bewilligte man doch wohl zum Unterhalte eines
Fuͤndlings; ſo waͤre es offenbar, daß er damit nicht
auslangen koͤnnte; er muͤſſe alſo nothwendig ein Betrie-
ger werden, oder als ein ehrlicher Mann verhungern …


Der Fuͤrſt lies ſich endlich bewegen, demſelben jaͤhrlich
dreyhundert Thaler zu geben, ohnerachtet die Acciſe an dem
Thore, wo der Thorſchreiber ſtand, nicht voͤllig tauſend Tha-
ler des Jahrs einbrachte, und der Schreiber ſolchergeſtalt uͤber
dreyßig Procent von der Einnahme erhielt. Wer war froher
als der Thorſchreiber? Seine Frau, welche bisher nur Kon-
tuſchen getragen, legte ſich eine Andrienne zu, die Toͤchter
wurden Mademoiſelles geheiſſen, und die Soͤhne muſten als
Kinder eines groſſen fuͤrſtlichen Bedienten zum ſtudiren ange-
halten werden. Kaum aber hatte dieſe Veraͤnderung einige
Jahre beſtanden: ſo war der Thorſchreiber in Schulden, und
ſtellete abermals vor:


Es ſey ſchlechterdings unmoͤglich, daß er mit dem ihm
gnaͤdigſt bewilligten Gehalt auskommen koͤnnte. Hoͤchſt-
dieſelben wuͤrden gnaͤdigſt erwegen, daß wenn er nur
einiger maßen Standesmäßig leben ſollte, auch der ſpar-
ſamſte Bediente von ſeinem Stande damit nicht aus-
reichen koͤnnte. Der Unterricht ſeiner Kinder, welche
doch nach ihrem Stande ſtudiren muͤſten, nehme wenig-
ſtens das dritte Theil ſeines Gehalts weg, und da der
aͤlteſte bald auf die Univerſitaͤt muͤſte: ſo wuͤrde dieſer
allein den Ueberreſt ſeines Gehalts verzehren ......


Der Fuͤrſt legte hierauf ſeinen Miniſtern die Frage vor,
ob er keinem ſeiner Bedienten eine Zulage geben koͤnnte, ohne
zugleich eine Standeserhoͤhung zu veranlaſſen? Die Mini-
ſter antworteten:
Es
[433]Wie viel braucht man um zu leben?
Es waͤre natuͤrlich, daß ein Mann der viertauſend Tha-
ler jaͤhrlicher Beſoldung haͤtte, mehr verzehren muͤſte
als ein andrer, der nur zweytauſend erhielte, und daß
derjenige der vierhundert Thaler erhielte, ſich hoͤher
achtete als ein andrer, der nur die Haͤlfte bekaͤme. Die
Folge hievon waͤre, daß diejenigen ſo große Beſoldungen
haͤtten, eben ſo wenig leben koͤnnten, als die andern, ſo
geringere haͤtten; und wenn Ihro Fuͤrſtl. Durchlaucht
Dero eignen Cammeretat nachſehen zu laſſen geruhen
wollten: ſo wuͤrde ſich finden, daß Hoͤchſtdieſelben eben
wohl nicht Standesmaͤßig leben koͤnnten. Es waͤren in
dem fuͤrſtlichen Hauſe ſo viele Prinzen und Prinzeßin-
nen, ſo viele Apanagen, ſo viele hohe und niedrige
Bediente .....


Der Thorſchreiber wurde nun zwar hierauf in Gnaden be-
ſchieden, daß wenn er von dem Dienſte nicht leben koͤnnte,
es ihm frey ſtehen ſollte einen beſſern zu ſuchen. Allein der
Fuͤrſt war dadurch doch nicht beruhiget, und glaubte immer
noch, daß ſeine Miniſter der Frage keine Gnuͤge gethan, we-
nigſtens die Quelle des Uebels nicht recht aufgedeckt haͤtten.
Er wandte ſich alſo an ſeinen alten laͤngſt aus dem Dienſte
getretenen Canzler, der vorhin ſeines Großvaters einziger
geheimter Rath, Cammerpraͤſident und Secretarius geweſen
war, und bat denſelben ihm ſeine Meinung hieruͤber zu ent-
decken. Dieſer verſetzte mit wenigen Worten:


Euer Fuͤrſtl. Durchlaucht Herr Großvater hielten we-
nige und gute Bediente; ſie forderten von denſelben Ar-
beit und Treue, und verließen ſich auf beydes. Ihr
Herr Vater liebte eine andre Ordnung; es wurden ſo
manche Departements gemacht als Sachen waren; dazu
kam ein Oberdepartement, um alle die andern Departe-
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. E ements
[434]Wie viel braucht man um zu leben?
ments zu beachten; zu jedem wurden ein paar Raͤthe,
ein paar Secretarien und verſchiedene Unterbediente
nothwendig erfordert; dieſe Departements forderten ſo-
dann beſondere Zimmer, Archive, Acten, Rechnungen
und Berichte; die Mitglieder derſelben beeyferten ſich
um die Wette, um die Sachen in die ſchoͤnſte Ordnung
zu bringen, ſie erfanden die deutlichſten Formulare,
Rubriken, Tabellen, und hundert andre Dinge, wozu
immer mehr und mehr Haͤnde, immer mehr und mehr
Papier, immer mehr und mehr geſchickte Leute erfordert
wurden. Der Thorſchreiberdienſt wurde zu einer
Wiſſenſchaft, und der Untervogt muſte einen zierlichen
Bericht zu erſtatten im Stande ſeyn. Euer Fuͤrſtl.
Durchlaucht waren zu dieſer Ordnung erzogen; Sie ver-
beſſerten dieſelbe noch in vielen weſentlichen Stuͤcken,
und ich gieng als ein alter Mann mir dem vergnuͤgten
aber auch traurigen Anblick aus Dero Dienſten, daß
meine Arbeit unter funfzig Perſonen vertheilet wurde.
Indeſſen habe ich mir neulich den Generaletat von der
jetzigen Einnahme vorzeigen laſſen, und gefunden, daß
Hoͤchſtdieſelben jetzt jaͤhrlich zehntauſend Thaler mehr,
wie der Herr Großvater einzunehmen, aber auch funf-
zigtauſend Thaler mehr fuͤr die Dienerſchaft auszugeben
haben, als wie ich Canzler mit einer Beſoldung von
fuͤnfhundert Thalern war, und einen Schreiber hatte,
dem hundert Thaler in Gnaden gereichet wurden .....


Aber ſagte der Fuͤrſt, es iſt doch nicht moͤglich, daß ich et-
was von dem allen einſchraͤnken kan. Ein Militairdeparte-
ment iſt unentbehrlich, weil es mit Leuten beſetzt ſeyn muß,
welche das Militaire aus dem Grunde verſtehn. Das Cam-
merdepartement erfordert unſtreitig ſeine eignen Leute, und
diejenigen ſo dabey ſtehn, haben alle Haͤnde voll zu thun;
ohne
[435]Wie viel braucht man um zu leben?
ohne ein Juſtitzdepartement kan kein Land beſtehen, wie vie-
len Ungerechtigkeiten wuͤrden ſonſt meine armen Unterthanen
nicht ausgeſetzt ſeyn? Das geiſtliche Departement laͤßt ſich
mit dem weltlichen gar nicht vereinigen; und die Regierungs-
ſachen erfordern warlich auch geſchickte Maͤnner, damit alles
in der Ordnung und der Friede mit den Nachbaren erhalten
werde. Das Hofdepartement iſt in allen Laͤndern von den
uͤbrigen getrennet; der Stall, die Kuͤche, der Keller, die
Capelle, das Theater, die Jagd, die Hofgebaͤude, die Gaͤr-
ten, die Luſtbarkeiten — wollen durchaus beſondre Leute,
und ein Marſchallamt; der geringſte Edelmann in meinem
Lande hat ja ſeinen Secretair, Oberverwalter, Unterverwal-
ter oder Kornſchreiber, ſeinen Haushoſmeiſter, ſeinen Cam-
merdiener, ſeinen beſondern Braten- Paſteten- und Suppen-
koch, ſeinen Haushaltungsgegenſchreiber, ſeinen Kutſcher,
Poſtillon und Vorreuter, ſeine Jaͤger, Bediente, Laͤufer, .....
Wie will ich dann mein Anſehn unter dieſen behaupten, wenn
ich mich wie mein Großvater mit einem Canzler begnuͤgte,
und die Departements dagegen eingehen ließe?


Dieſes iſt auch meine Meinung nicht, verſetzte der Canzler,
ich habe weiter nichts ſagen wollen, als daß ein Fuͤrſt wider
die ſchoͤne Ordnung und wider das viele ſimplificiren, wel-
ches ſich unter der Dienerſchaft immer mehr und mehr aus-
breitet, auf ſeiner Hut ſeyn muͤſſe. Eine große Bibliothek
kan und muß nach den Wiſſenſchaften geordnet werden. Man
waͤhlt billig fuͤr jede Klaſſe ein beſonders Repoſitorium, und
in dem Buͤcherverzeichniß eine beſondre Rubrik. Wenn man
aber dieſes bey einer kleinen Bibliothek thun will; ſo kommt
unter jeder Rubrik und in jedes Repoſitorium oft nur ein
einziges Werk; und es wird auf dieſe Art viel Papier, viel
Holz und Raum verſchwendet. Eben ſo geht es auch mit
den Departements, mit den vielen beſondern Rechnungen,
E e 2Etats
[436]Schreiben einer Mutter
Etats und Berichtern; dieſe vermehren die Arbeit aber nicht
die Einnahme, und ein Fuͤrſt der alles ſelbſt ſehen, leſen und
wiſſen will, iſt in meinen Augen ein Mann, der um einen
Fuchs zu fangen mit zehntauſend Unterthanen ein Treibjagen
anſtellet. Ich dachte man ließe dem Fuchs ein Huhn und
ſtellete das Treibjagen ein.


Stille mein lieber Canzler, ſchloß der Fuͤrſt, die Ordnung
die Ordnung iſt eine ſo ſchoͤne, ſo nothwendige ſo wichtige
Sache … und ein Fuchs iſt fuͤr die armen Huͤhner ein ſo
ſchaͤdliches Thier. Doch um auf unſre vorige Frage zu kom-
men und von der Sache recht aus dem Grunde unterrichtet zu
ſeyn, wollen wir durch unſer Intelligenzblatt einen Preis von
50 Ducaten fuͤr die beſte Ausfuͤhrung uͤber
die Aufgabe
bekannt machen laſſen: Wie viel braucht man um zu leben?



LXXVIII.
Schreiben einer Mutter an einen philo-
ſophiſchen Kinderlehrer.


Mit einem Worte, ich mag ihr ganzes Geſchwaͤtz von der
Erziehung meiner Kinder nicht mehr hoͤren. Die
Gruͤnde fuͤr die Tugend ſind gut, und meine Maͤdgen ſollen
ſie auch faſſen. Aber die Erfahrung lehrt mich, nicht alles
auf Gruͤnde und Erkenntniß der Pflichten ankommen zu laſ-
ſen. Die Natur hat uns Empfindungen und Leidenſchaften
gegeben, welche ſowol bey kleinen als großen Kindern zu nutzen
ſind, und ich ſehe gar nicht ein, warum ich meine Maͤdgen
nicht
[437]an einen philoſophiſchen Kinderlehrer.
nicht eben ſo gut durch ein: was werden die Leute davon
ſagen
, als durch eine Vorhaltung ihrer Pflichten zum Guten
leiten ſoll. Wenn wir aufrichtig reden wollen: ſo muͤſſen wir
geſtehen, daß bey jedem Menſchen die Empfindung der Ehre
am ſtaͤrkſten unter allen wuͤrke, und daß die Ehre eine ehr-
liche Frau zu ſeyn und dafuͤr gehalten zu werden, mehr gutes
thue, als die Pflicht es zu ſeyn.


Wenn mein aͤlteſtes Maͤdgen, was jetzt 16 Jahr alt iſt,
einen zaͤrtlichen obgleich noch ſehr unſchuldigen Blick auf einen
jungen Menſchen ſchießen laͤßt: ſo renne ich ihr, ſo bald ich
ſie allein faſſen kan, mit einigen Sarcaſmen zu Leibe. Da
iſt ſie eine verliebte Thorin, der junge Menſch ein Laffe, der
noch kaum der Ruthe entronnen iſt; da frage ich ſie: was
dieſe und jene, ſo ihren zaͤrtlichen Blick wahrgenommen, wohl
von ihr gedacht habe, und in welchen Ruf ſie ſich ſetzen werde,
wenn ſie ſchon ſo fruͤh geſchmeidig werde? — Auf dieſe
Weiſe ſuche ich ihre ganze Ehrbegierde zu reitzen, und wenn
es denn auch Zeit iſt; ſo halte ich ihr ihre Pflichten vor. Ich
verlaſſe mich aber in der That mehr auf meine Sarcaſmen,
und auf ihre Empfindungen von Ehre, als auf die Wuͤrkung
der uͤbrigen Sittenlehren. Jede ehrliche Hausmutter wird
Ihnen hiebey ſagen, daß ich auf dieſe Art mehr ausrichte,
und das zarte Alter meiner Kinder gluͤcklicher zum wahren
Alter der Ueberlegung durchfuͤhre, als alle die Hofmeiſter
und Hofmeiſterinnen, welche die fuͤrſtlichen Prinzen und
Prinzeſſinen mit kalten Vorſtellungen aus der Religion und
Sittenlehre unterhalten, und in dieſem Jahrhundert eben
nicht viel Ehre eingelegt haben.


Die große Muͤhe, den Kindern von allem deutliche Begriffe
zu geben, kan ich noch weniger billigen, ſo ſtrenge auch unſre
Neuern in dieſer ihrer Forderung ſind. Ein deutlicher Be-
E e 3griff
[438]Schreiben einer Mutter
griff koͤmmt mir gerade ſo vor, wie eine Haberſuppe, worinn
man Waſſer und Gruͤtze, Butter und Salz voͤllig von einan-
der unterſcheiden kan. Aber ein dunkler Begriff iſt wie ein
Pudding von Miß Samſoe, worinn die Maſſe vortreflich
ſchmeckt, ohnerachtet man nur eine kleine Vermuthung von
allen einzelnen Ingredienzien bekoͤmmt. Jene wuͤrket Ekel,
und dieſer gleitet oft mit ſo vieler Wolluſt herunter, daß die
Vorſtellungen des Leibarztes nichts dagegen vermoͤgen. Die
ganze philoſophiſche Moral ſcheinet mir eine ſolche Haberſuppe
zu ſeyn, und es nimmt mich gar nicht Wunder, daß Menſchen,
die blos durch deutliche Begriffe gefuͤhret werden, bey jedem
Pudding gegen ihre Ueberzeugung handeln.


Einer unſrer großen Philoſophen hat das Uebergewicht der
dunklen Begriffe uͤber die deutlichen auf einen ſolchen Pud-
ding gegruͤndet, und da es unwiderſprechlich iſt, daß eine
groͤßere Summe von Ingredienzien maͤchtiger wuͤrkt als we-
nigere, und daß jene nothwendig minder deutlich geſchmeckt
werden koͤnnen als dieſe: ſo ſehe ich gar nicht ein, warum
man bey Erziehung der Kinder, blos die Habermoral gebrau-
chen ſolle.


Deutliche Begriffe helfen uͤberdem allemal die Entſchuldi-
gungen erleichtern. Wenn ich mein Maͤdgen fuͤr einen
uͤblen Ruf zittern mache und ihre ganze Ehrbegierde dadurch
in Flammen ſetze: ſo ſtuͤrmen eine Menge von Begriffen und
Folgen auf ihre Seele, welche ſie maͤchtig dahin reiſſen. Er-
klaͤre ich ihr aber die Beſtandtheile des uͤblen Rufs, ſage ihr
woraus das Publicum, was den boͤſen Ruf giebt, beſtehe; aus
wie vielen alten Weibern daſſelbe zuſammen geſetzet ſey, wo
die Graͤnze zwiſchen dem wahren und falſchen liege, und was
wir fuͤr einen Werth auf das Urtheil des gemeinen Haufens
zu legen haben: ſo wird ſie meine Warnung zerlegen, Stuͤck-
weiſe
[439]an einen philoſophiſchen Kinderlehrer.
weiſe auseinander ſetzen, und mir zeigen, daß ich offenbar
Unrecht habe; beſonders wo ich blos eine unſchuldige Hand-
lung an ihr getadelt habe; und das iſt durchaus der gewoͤhn-
lichſte Fall worinn ſich eine Mutter befindet. Die unſchuldige
Handlung, welche die naͤchſte Stuſfe oder Gelegenheit zu ei-
ner boͤſen iſt, muß ſchon mit einer uͤblen Vermuthung ver-
folgt und beſtraft werden, um die Kinder vorſichtig zu ma-
chen. Ein junges Maͤdgen, das mit einer Mannsperſon
einſam und allein geht, kan ſich mit ihm von Tugend und
Religion unterhalten. Eine Mutter geht aber allemal ſiche-
rer, wenn ſie ihnen eine ſchlimmere Materie unterſchiebt und
ihre Tochter mit keiner Entſchuldigung hoͤret.


Man ſolle dem Kinde, ſagen Sie weiter, gar keine Un-
wahrheit, gar keine falſche Gruͤnde ſagen; dagegen habe ich
nichts. Iſt es aber nicht auch eine Unwahrheit, wenn man
bittere Arzeneyen in Suͤßigkeiten verbirgt und einem Kinde
die Pillen verguldet? Iſt es nicht allemal eine Unwahrheit,
wenn ich dem Kinde die Gefahr zu fallen oder zu erſaufen
lebhafter und groͤßer vormahle wie ſie wuͤrklich iſt, oder ihm
das Zahnausreiſſen zum Vergnuͤgen mache? Meine Mutter
ſagte mir hundertmal: Kind laß die junge Katze gehn, es iſt
ein falſches Thier, ſie beiſſet oder kratzet dich. Ich antwortete
allemal: ach nein Mama, es iſt ein ſanftes poßierliches und
allerliebſtes Thier, ſie beißt mich nicht, ſie ſtreichelt mich nur.
Wenn aber meine Tante mit einem erſchrockenen und vielbe-
deutenden Geſichte rief: Maͤdgen laß die Katze gehn, ihre
Haare ſind giftig, fluchs jagte ich ſie weg, beſahe meine Haͤnde,
und wenn nur das geringſte rothe Fleckgen daran war: ſo
glaubte ich ſchon vergiftet zu ſeyn. Meine Tante fagte eine
Unwahrheit, aber dieſe rettete mir vielleicht ein Auge, welches
eine boͤſe Katze einer kleinen Verwandtin von mir auskratzte.
Dieſes heißt jedem Alter ſeine Gruͤnde, die es faſſen kan, an-
E e 4paſ-
[440]Schr. einer Mut. an einen philoſophiſ. Kinderl.
paſſen, und das moraliſche Spielzeug oder die Wiegenmaͤhr-
gen da gebrauchen, wo es vergeblich ſeyn wuͤrde von Pflichten,
deren Verbindlichkeit ein Kind nie mit der gehoͤrigen Staͤrke
fuͤhlt, zu reden.


Alles was Sie mir von dem Unterricht des Verſtandes, und
der Beſſerung des Willens ſagen, verwerfe ich nicht, nur
muͤſſen Sie den letzten nicht blos vom erſten abhangen laſſen.
Beſuchen Sie alle Hausmuͤtter auf dem Lande, und bemerken
die Art, wie ſie ihre Kinder erziehen. Keine einzige unter
ihnen wird ſich gerade zu darum bemuͤhen ihren Kindern ei-
nen Begriff von der Moralitaͤt freyer Handlungen zu geben.
Jede wird nach einem praktiſchen Gefuͤhl die Hauptleidenſchaft
ihres Kindes zu ſeiner Beſſerung gebrauchen, und ihm blos
den unmittelbaren Schaden vormahlen, den es von einer boͤſen
Handlung hat. Dieſen Weg hat ihr die treue Erfahrung ge-
lehrt; der unmittelbare Schade, ſollte er auch in einer guten
Zuͤchtigung beſtehn, wuͤrket naͤher und ſchaͤrfer, als der ent-
fernte, der durch Schluͤſſe herbey geholt wird. In allen un-
ſern Handlungen liegt zwar ein Schluß zum Grunde, aber es
iſt falſch, daß wir ihn allemal ſelbſt machen. Der gluͤckliche
Menſch wird leichter und ſchneller gefuͤhrt als durch kalte Ue-
berlegungen. Die Leidenſchaft, dieſe edle Gabe Gottes,
fuͤhret ihn ſicherer als die aufgeklaͤrteſte Vernunft; und Lei-
denſchaften geben Fertigkeiten; welche zur Zeit der Verſuchung
treuer aushalten als das Urtheil, was nach Gruͤnden gefaͤllet
werden ſoll.


Vielleicht uͤbertreibe ich die Sache auf der einen Seite,
aber Sie uͤbertreiben ſie gewiß auch auf der andern. Doch
ich habe Ihnen heute genug geſagt, daher will ich das uͤbrige
ein andermal nachholen.



LXXIX.
[441]

LXXIX.
Ueber die Erziehung der Land-
leute Kinder.


Ich weis nicht, was unſern Herrn Cantor in den Kopf
kommt. Alle Jungen und Maͤdgen ſollen leſen und
ſchreiben lernen; dabey predigt er ihnen einen Catechiſmus,
der iſt ſo dick wie mein Geſangbuch, und wenn er von der
Kinderzucht ſpricht: ſo ſagt er weiter nichts, als wie gluͤcklich
die Kinder ſind, die nicht wie die Heyden aufwachſen, ſondern
leſen und ſchreiben und auf alle Fragen antworten koͤnnen.


Nun ſoll mich zwar der Himmel wohl dafuͤr bewahren,
daß ich unſern Herrn Cantor meiſtern ſollte. Allein ich fuͤhle
doch, daß die Kinder mehr zur Handarbeit angefuͤhret und
dazu von Jugend auf gewoͤhnet werden muͤßten: ich fuͤhle,
daß das viele Buchſtabiren und Schulgehen unſere Jugend
vom Spinnerocken zieht, und daß jetzt kein einziger Junge
mehr im Kirchſpiele ſey, der taͤglich drey Struͤmpfe knuͤtten
kan, da ſie es in meiner Jugend doch alle konnten. Ich habe
nun mein achzigſtes Jahr erreicht, und kan ſagen, daß ich die
Welt von hinten und von forn geſehen habe. Allein unter
allen, die mit mir aufgewachſen ſind, war kein einziger, der
ſchreiben lernte. Man ſahe dies als eine Art von buͤrgerlicher
Beſchaͤftigung an, die blos in den Staͤdten und von Leuten,
die keinen Ackerbau und keine Viehzucht haͤtten, getrieben
werden muͤßte. Das Leſen, wie mir mein Vater ſagte, waͤre
erſt in ſeiner Jugend unter den Landleuten Mode geworden;
und dieſer haͤtte es noch wohl von ſeinem Vater gehoͤrt, daß
in ſeiner Kindheit das ganze Jahr hindurch nur drey Geſaͤnge
D d 5in
[442]Ueber die Erziehung
in der Kirche waͤren geſungen worden, welche ein jeder aus
dem Kopfe gewußt haͤtte. Darauf waͤre erſt ein kleines Ge-
ſangbuch gekommen; dem ſey ein etwas dickers gefolgt; bis
es endlich zu ſeiner Zeit zu einer ganzen Dicke angeſchwollen
ſey. Was iſt aber von allem die Folge geweſen? Unſre Kin-
der haben mindre Luſt, Fertigkeit und Dauer zur Handarbeit
erhalten; ſie haben geglaubt, wenn ſie ſchreiben, leſen und
auf alle Fragen antworten koͤnnten: ſo waͤren ſie beſſer, als
diejenigen waͤren, die drey Struͤmpfe im Tage knuͤt-
teten ......


In der That aber ſehe ich doch eigentlich nicht, was das
Schreiben einem Ackermann ſonderlich nuͤtze. Wenn er weis,
wie viel Glas Brantewein oder wie viel Kruͤge Bier durch
einen Strich an der Tafel bedeutet werden; wenn er die große
Erfindung des Kerbſtocks, wovon unſer Meyer letzthin ge-
ſchrieben hat, kennet; und wenn er endlich drey Kreuzer zum
Wahrzeichen mahlen kan: ſo hat er meines Ermeſſens alles
was er von dieſer Seite gebraucht. Mir ſind wenigſtens
ganze Jahre vorbey gegangen, ohne daß ich einmal Dinte im
Hauſe gehabt habe. Wenn ich etwas an meinen Procurator
zu ſchreiben hatte, ſo ſagte ich es dem Cantor; und im uͤbrigen
konnte ich mich mit einem Stuͤckgen Kreite und einem Kerb-
ſtock behelfen. Das Leſen koͤmmt mir blos in der Kirche zu
ſtatten, und wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn, wenn wir das ganze
Jahr hindurch einerley Geſaͤnge haͤtten. Wozu nuͤtzt es alſo,
daß man unſern Kindern ſtatt des Flegels die Feder in die
Hand giebt, und ſie bis ins ſechszehnte oder achtzehnte Jahr
mit ſolchen Taͤndeleyen, die kein Brodt geben, herumfuͤhrt?
Ihre Knochen bekommen keine Haͤrte, und ihre Nerven
keine Staͤrke; und wie manchen verſucht nicht eben ſein leſen
und ſchreiben nach Amſterdam oder nach Oſtindien zu gehen,
und dort eine Gelegenheit zu ſuchen, um ſeinen vaͤterlichen
Acker
[443]der Landleute Kinder.
Acker zu meiden — — Was die Maͤdgen betrift, o ich
moͤchte keines heyrathen das leſen und ſchreiben kan. Wiſſen
ſie das, ſo wiſſen ſie auch ........



LXXX.
Zufaͤllige Gedanken bey Durchleſung
alter Bruchregiſter.


Die Strafgeſetze und Strafregiſter dienen ungemein den
Charakter einer Nation in gewiſſen Zeitpunkten zu be-
ſtimmen. Man gehe ein Straf- oder wie wir ſprechen Bruch-
regiſter
von hundert Jahren durch: ſo wird man mit Ver-
gnuͤgen bemerken, wie gewiſſe Verbrechen zu einer Zeit ſehr
haͤufig vorkommen, die ſich zu einer andern ganz verlohren
haben; nicht ſo wohl weil der Menſch tugendhafter gewor-
den, denn ſonſt wuͤrde ein ſolches Regiſter gegen Rouſſeau
beweiſen, daß die Wiſſenſchaften die Menſchen froͤmmer ge-
macht haͤtten; ſondern weil die Leidenſchaften einen feinern
Weg zum Ausbruche genommen haben.


In dem Regiſter des Oßnabr. Amts Fuͤrſtenau von den
Jahren 1550 bis 1600 ſind im Durchſchnitte jaͤhrlich 120
blutige Schlaͤgereyen oder wie es heißt Blutrunnen, und
zwey Todtſchlaͤge, oder nach der damahligen Sprache, Ned-
derſchläge
, beſtraft, und dieſe Zeugniſſe einer Wildheit neh-
men immer mehr und mehr ab, ſo daß ſie in den neuern Zei-
ten, ohnerachtet ſich die Einwohner gewiß dreyfach vermehret
haben, nicht den zwanzigſten Theil der alten Zahl aus-
machen.


Von
[444]Zufaͤllige Gedanken

Von dem Nedderſchlage heißt es immer nur ſchlechthin
1532. Vor einem Nedderſchlag tor Boetferdigung X Mk.


  • Vor einen Doetſchlag  X Mark.
  • Vor einen Nedderſchlag ſelv fyfte tor Boetferdigung
     XX Mark.
  • 1541. Wurden bald 7 Mk. bald 6 Mk. dafuͤr berechnet.
  • 1544. Bald 8, bald 9, bald 20 Thaler.
  • 1560. Wegen eines Nedderſchlages vor ein Wergeld
      10 Thaler.
  • 1561. Vor ein Wergeld tor Begnadigung ſines Halſes
      85 Thaler.
  • 1562. Vor einen Nedderſchlag   32 Thaler.
    • Vor eine verbrochene Halsſtrafe   45 Thaler.
  • 1566. Wegen eines Nedderſchlages ſo billig hoͤchnoͤthig zu
    beſtrafen   100 Thl.
  • 1568. Vor einen Nedderſchlag ſelb dritte, jeder   6 Thl.
  • 1570. Steht mehrmahlen anſtatt Wergeld Fahrgeld.
  • 1571. N. N. Dat he ut tornigen und haſtigen Mode ſy-
    ner Tochter mit der Exen dat Been terſchloͤg davon ſe
    ſtarf   71 Thl.
  • 1575. Vor ein Wehrgeld und das Land wieder zu kaufen,
    bald 7, bald 35, bald 20, bald   18 Thl.
  • 1579. Vor ein Wehrgeld   28 Thl.
  • 1597. Vor Wehrgeld einmal 28 und einmal   23 Thl.

und nach dieſer Zeit verlieret ſich das Wehrgeld ganz, entwe-
der weil die Todtſchlaͤge ſeltener geworden, oder doch die Strafe
dafuͤr am Amte nicht mehr berechnet worden.


Diebereyen oder nach damaliger Redensart, Duvetalle,
finden ſich wenig, vermuthlich weil noch wenig geringe Ne-
benwohner im Lande geduldet wurden, und wenn ſie ſich fin-
den, wurden ſie ſcharf beſtraft, als z. E.


1532.
[445]bey Durchleſung alter Bruchregiſter.
  • 1532.
    ‘N. N. Dat he eene unrechte Goes ankleeſ   7 Mk.’

    (Der Ausdruck zeigt, daß man ſogar die Worte geſcho-
    net, und einen Gaͤnſedieb keinen Gaͤnſedieb heiſſen
    wollen)

woraus man wohl ſchließen mag, daß die Begriffe von Ehre,
welche nach der damahligen Sitte durch Nedderſchlage und blu-
tige Wunden eher erhoͤhet als erniedriget wurden, hoͤher als jetzt
geweſen. Vielleicht iſt dieſes auch die Urſache, warum wenige
Scheltungen oder trockene Schlaͤge, Dufſchläge, (wovon wir
noch das Wort Düfken haben) vorkommen, und warum die un-
terlaſſene Anmeldung eines verbiſterten Rindes im Jahr 1579.
mit 6 Thlr.; und der Hehler geſtohlner Sachen immer ſcharf be-
ſtraft worden. Der Begrif von Ehre wuͤrkte auch allem An-
ſehen nach mit ein, wenn gebrochene Geluͤbde mehrmalen ſehr
hoch und gebrochene Willkühren beſtaͤndig geahndet wurden.
Daraus daß im Jahr 1542. Heinrich Schrage dafuͤr

Dat he moetwilliger Wyſe ohne Wegerung geborlicker
Rechten Vyant geworden,


mit 12 Goldfl. beſtraft wurde, laͤßt ſich auch wohl noch ver-
muthen, daß jedem freyen Menſchen das Recht die Geſell-
ſchaft, welche ihm nicht zu gebuͤhrlichen Rechte verhelfen
wollte, zu verlaſſen, und in den natuͤrlichen Zuſtand des Krie-
ges zuruͤckzutreten, auch damals, nachdem durch den Landfrie-
den von 1521. alle Fehde aufgehoben war, noch zugeſtanden
habe. Bey dem Ruͤge oder Bruchgerichte durfte aber doch
niemand in ſeiner eignen Sache ſelbſt ohne Erlaubniß ſprechen;
wo er nicht das Urtheil

N. N. Dat he im Gerichte ane Vorſpracken gekallet
3 Mark.


hoͤren wollte, welches eine gute Vorſicht ſo wohl fuͤr den Ver-
klagten, der ſich im Eyfer leicht vergißt oder zu heftig aus-
druͤckt,
[446]Zufaͤllige Ged. bey Durchl. alter Bruchregiſter.
druͤckt, als an den Beamten, der ſonſt viel unnoͤthiges Zeug
anhoͤren muß, geweſen zu ſeyn ſcheinet.


Bey dem allen ſind doch die Bruchfaͤlle noch nicht ſehr ver-
vielfaͤltiget, und der beſtraften Arten von Verbrechen ſehr we-
nig in Vergleichung der neuern Zeiten. Das mehrſte iſt an-
faͤnglich Blutronne, Niederſchlag, Friedebruch und Gewalt;
ſo wie ſich aber in dem, fuͤr die deutſche Policey merkwuͤrdi-
gen ſechzehnten Jahrhundert, die Reichspoliceygeſetze ver-
mehren: ſo haͤufen ſich auch die Strafen, von wucherlichen
Kornzinſen, heiligen Bieren, dreytaͤgigen Kindelbieren, Gaſt-
geboten, ſo Gutſetzungen (wird die jetzige Kiſtenfuͤllunge ſeyn)
genannt werden, und dergleichen.


Durchgehends herrſcht aber eine groͤßere Strenge als jetzt.
Man war auch minder zaͤrtlich und verſchmaͤhete im Jahr
1600. den Sterbfall von Leuten, ſo damals an der Peſt ge-
ſtorben waren, nicht; auch ſogar die Saguͤner oder Zigeuner
wurden 1532. mit Gelde beſtraft, weilen ſie ohne Geleit ins
Land gekommen waren.


Die arabiſche Zahl tritt in der Rechnung vom Jahr 1594.
ſtatt der roͤmiſchen ein; nachdem jedoch die erſtere eine Zeit
von 30 Jahren mehrmalen ſchon ante lineam gebraucht wor-
den. Gegen das Jahr 1572. vermehren ſich die hochdeut-
ſchen Ausdruͤcke; in der Sediscaranz von 1574. kommen
auch ſchon hochdeutſche Rubricken auf und gegen 1590. ver-
lieret ſich das plattdeutſche faſt gaͤnzlich. Dergleichen Bemer-
kungen koͤnnen dienen, die Aufrichtigkeit alter Regiſter zu pruͤ-
fen, und ſie von neuern oder veraͤnderten zu unterſcheiden.



LXXXI.
[447]Vom Gluͤcksſp. am Abend der H. drey Koͤnige.

LXXXI.
Vom Gluͤcksſpiele am Abend der H.
drey Koͤnige.


Es heißt in den Statuten der Stadt Bockholt im Muͤn-
ſterſchen:

Allen Boͤrgeren, Inwoners, Kindern und Knappen is
von older Inſettunge des gemeinen Rades verboedden,
dat nemand Doebelen, Crucemunten off eynig Spill ſpel-
len ſall, dar men Geld medde wynnen off verleeren mach,
uppe geinen Steeden offt Tiden, buiten offte binnen
Bockholt, uitgeſegt Schanktafelle, Worttafeln, Bo-
zeln
offt derglicken, ock uitgeſegt alle Nyjahrs Avende, und
der H. dre Könige Avende, war dat dan geſchege
mit Vroͤlickheyden in Geſteryen, in Geſellſchappen in
ein loenen Becken mit twen Dobbelſteynen, de meſte
Ogen to werpen — —

S. Nunningin Monum. Monaſt. S. 280.


Der Geiſt dieſes Geſetzes, der menſchlichen Thorheit zwey-
mal im Jahr einen froͤlichen Ausbruch zu goͤnnen, damit ſie
keine boͤſe Gehrung im Koͤrper veranlaſſe, iſt merkwuͤrdig,
und hat vielleicht mehr gewuͤrket als die Strenge unſer heuti-
gen Geſetze, welche den menſchlichen Leidenſchaften gar keinen
Spielraum verſtatten. Selbſt den Ordensgeiſtlichen erlaub-
ten unſre billigen und pracktiſchen Vorfahren, in gleicher Ab-
ſicht eigne Feſte. S. DICT. ENCYCL. unter dem
Worte: fetes des fous. Jetzt iſt nun noch der Koͤnig von
England der zur Urkunde jener alten Gewohnheit auf H. drey
Koͤnige
[448]Die Ehre nach dem Tode.
Koͤnige Abend mit den Großen ſeines Hofes Wuͤrfel ſpielt;
wovon der Vortheil fuͤr die Armen iſt. Man ſchließt aber
leicht aus der Vergleichung dieſer Ceremonie mit den Bock-
holtiſchen Statuten, daß es eine allgemeine deutſche Gewohn-
heit geweſen auf Heil. drey Koͤnige Abend Gluͤcksſpiele zu
ſpielen; oder ſich etwas mehr zu erlauben, als die Geſetze ſonſt
geſtatteten.



LXXXII.
Die Ehre nach dem Tode.


Die Zeit, mein Sohn, daß ich aus der Welt ſcheiden
muß, naͤhert ſich nun mit jedem Tage; ich fuͤhle daß
ich keinem weiter nuͤtzlich ſeyn kan, und gehe andern, die das
Werk friſcher angreifen koͤnnen, nur im Wege. Bereite
dich alſo nur in Zeiten deinen Vater, der dich ſo ſehr geliebt
hat, zu verlieren; verſprich mir aber vorher, daß du mir
nach meinem Tode ein Denkmahl in unſrer Kirche aufrichten
laſſen wolleſt, wodurch mein Andenken noch auf einige Zeit
dem Staate, dem ich gedient habe, erhalten werde. Ich
weiß zwar wohl, daß die heutige Welt uͤber dergleichen Dinge
ſpottet. Laß dich aber dadurch nicht abhalten meine letzte Bitte
zu erfuͤllen. In dem vorigen Jahrhundert, worinn ich ge-
bohren bin, wurde jedem verdienten Mann ein ſolches Ehren-
gedaͤchtniß errichtet, und ich glaube es auch verdient zu haben.
Die Sitte der damaligen Zeiten gefaͤllt mir uͤberhaupt beſſer
als die jetzige, und ich ſehe es als eine hoͤchſtſchaͤdliche Neue-
rung an, daß man den verdienten wie den unverdienten Mann
ganz in aller Stille verſcharret, und oft den einen ſo wenig
als den andern mit einem Stein bedeckt, der ſeinen Namen
der
[449]Die Ehre nach dem Tode.
der Nachwelt meldet. Wenigſtens ſcheint mir dieſe Neuerung
eine große Epoque in der Geſchichte der menſchlichen Denkungs-
art zu machen, und mehrere Aufmerkſamkeit, zu verdienen,
als man insgemein darauf wendet.


Die Zeit welche ich gelebt habe, hat mir dieſe Veraͤnde-
rung mit ihren Urſachen leicht entdeckt, und ich kan ſie dir
mit wenigen ſagen. Vordem arbeitete ein jeder fuͤr ſeinen
Nachruhm, jetzt fuͤr den Tag, den ihm der Himmel giebt.
Unbekuͤmmert um den Tadel wie um den Ruhm der ſpaͤtern
Zeiten, genießt er was er findet, verzehrt was er hat, und
dient um genießen und verzehren zu koͤnnen. Der Glanz ei-
nes kurzen Tages hat mehrere Reitzung fuͤr ihn, als der groͤßte
Dank des ſpaͤteſten Jahrhunderts, und das Gluͤck mit Sechſen
fahren zu koͤnnen, iſt ihm koͤſtlicher, als die Ehre eines mar-
mornen Denkmahls. Das iſt die kurze Geſchichte, und nun
erwege, ob die Sitte der vorigen oder der jetzigen Zeiten die
beſte ſey?


In beyden Faͤllen kommt es auf die Befriedigung einer
Ehrbegierde an. Aber die erſtere Art der Befriedigung iſt
dem Staate unſtreitig weit nach theiliger als die letztere. Erſtere
fuͤhrt zu fortwaͤhrenden Verſchwendungen, großen Beſoldun-
gen, ſchaͤdlichen Zerſtreuungen, und einem ſittlichen Verder-
ben; anſtatt daß die letztere nichts als eine wahre Groͤße im
Leben und einen maͤßigen Aufwand nach dem Tode erfordert.


Sicher wuͤrkt auch die Ehre, bey der Nachwelt in einem ge-
ſegneten Andenken zu ſeyn, ſtaͤrker, als ein Stern, Band
oder Titel, womit ein kleiner Fuͤrſt oft einen noch kleinern
Diener beſchenkt. Wir ſehen es an den Gelehrten, welchen
man die Pedanterey fuͤr ihren Nachruhm zu arbeiten verzeihet;
wie vieles opfern dieſe von ihrer Ruhe, von ihrer Geſundheit
und von ihrem Vermoͤgen nicht auf, um durch ein unſterbli-
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. F fches
[450]Die Ehre nach den Tode.
ches Werk ihren Namen auf die Nachwelt zu bringen? Keine
Ehrbegierde iſt durch das ganze Leben ſo dauerhaft und an-
ſtrengend als dieſe, und keiner von ihnen wuͤrde ſo getreu, ſo
fleißig und ſo ſchwer fuͤr irgend eine Beſoldung oder Beloh-
nung arbeiten als ſie fuͤr das Lob der Zukunft thun. Kein
Augenblick geht ihnen ungenutzt voruͤber, und alles was an-
dre den Luſtbarkeiten aufopfern, das wenden ſie mit dem
groͤßten Geitze fuͤr einen guten Nachruhm an.


Jedem iſt es nicht gegeben ſich durch gelehrte Werke zu
verewigen. Es wuͤrde auch gewiß nicht gut ſeyn, wenn die
Ruhmbegierde alle Menſchen noͤthigte dieſe Bahn zu laufen.
Fuͤr dieſe nun, die gleichwol auch ihre Verdienſte haben, die
dem Staate vielleicht wichtigere Dienſte leiſten, und demſel-
ben keine mindere Opfer bringen als Gelehrte, ſollte jeder
Staat durch ein Denkmahl ſorgen; ſo wie die Griechen und
Roͤmer thaten und noch jetzt verſchiedene empfindſame Natio-
nen, obwol ſelten thun.


Faͤllt dieſer Art von Ehrgeitz ganz: ſo iſt zu beſorgen, daß
auch die Großen dieſer Erden gegen das Lob oder den Tadel
der kuͤnftigen Geſchichte gleichguͤltig ſeyn werden. Bisher
iſt es noch immer ein großer Bewegungsgrund fuͤr manchen
Helden und Fuͤrſten geweſen, ſein Andenken von dem Fluche
der Zukunft und dem Brandmahl der Nachwelt zu befreyen.
Wenigſtens haben ſolche Fuͤrſten, die ſich durch einige Thaten
im Andenken erhalten werden, immer gewuͤnſcht ſolche unbe-
fleckt zu erhalten, und in dieſer Abſicht manches unterlaſſen,
was ſie ſich ſonſt wohl erlaubt haben wuͤrden.


Vordem ſtarb kein Mann von Anſehn, ohne nicht wenig-
ſtens eine Leichenpredigt zu erhalten. Sind dieſelben gleich
gemißbrauchet worden: ſo war doch die Abſicht, welche man
anfaͤnglich dabey hatte groß und wichtig, und man haͤtte
ſolche
[451]Die Ehre nach dem Tode.
ſolche unter einer Staatscenſur immer erreichen koͤnnen, wenn
wir nicht zu fruͤh hierin nachgegeben haͤtten. Allein ſo ha-
ben wir eins mit dem andern aus der Welt heraus ſatyriſirt,
und nur Ludewig der XV. hat das Gluͤck gehabt, daß ihm
in einer Leichenpredigt die Wahrheit nachgeſagt worden.
Billig ſollte uns dieſe franzoͤſiſche Mode wieder dahin brin-
gen, wo wir vor hundert Jahren waren; und hiezu mein
Sohn laß mich das Exempel geben. Laß mir eine Leichen-
predigt halten, und errichte mir ein Denkmahl, ſo wie mei-
nem Urgroßvater errichtet worden. .......



LXXXIII.
Vorſchlag zum beſſern Unterhalt des
Reichscammergerichts.


Da man jetzt in England mit dem großen Entwurfe um-
geht, alles deutſche Linnen, was dort hinkoͤmmt, mit
einer ſolchen Auflage zu beſchweren, daß es endlich ganz zu-
ruͤck bleiben, und den Schottiſchen und Irriſchen Linnen
weichen ſoll; in Deutſchland aber, wo die heilſame Juſtitz
immer die große Nationalangelegenheit bleibt, man ſich noch
nicht uͤber die Mittel vereinigen koͤnnen, wie des Heil. Rom.
Reichs Cammergerichte, von deſſen Nothwendigkeit jeder
rechtſchaffener Mann uͤberzeugt iſt, in ſeiner gehoͤrigen Voll-
ſtaͤndigkeit zu erhalten, und billiger Weiſe zu bezahlen ſey:
ſo waͤre es wohl unter allen Vorſchlaͤgen, die ſeit der Zeit,
daß jeder Staat einige Projectenmacher als nothwendige
Raͤthe angenommen hat, geheckt ſind, nicht der ſchlechteſte,
wenn ſich die edle deutſche Nation unter der allerhoͤchſten Ge-
F f 2neh-
[452]Vorſchlag zum beſſern Unterhalt
nehmigung ihres Oberhaupts dahin vereinigte, daß in allen
Haͤfen und Anfutren unſers werthen Vaterlandes ſo wie auf
allen Graͤnzpaͤſſen nach der niederlaͤndiſchen Seite ebenfalls
ein Verhaͤltnißmaͤßger Zoll auf alle engliſche Wollenwaaren
gelegt, und dieſer zum Unterhalt fuͤr Hochbeſagtes Reichs-
gericht angewandt wuͤrde.


Man rechnet in England, daß fuͤr drey Millionen und
dreymal hundert tauſend Pfund Sterling Wollenwaaren in
Deutſchland und in Norden abgeſetzt werden. Wahrſchein-
lich koͤmmt davon fuͤr eine Million Pf. St. zu uns. Wenn
wir einen Impoſt von 35 p. C.; als ſo viel die deutſchen
Linnen jetzt in England wuͤrklich bezahlen, darauf legten:
ſo wuͤrde dieſes jaͤhrlich ſchon mehr als zwey Millionen Tha-
ler betragen, und mit einer ſolchen Summe koͤnnte man ge-
wiß ſo viel Aſſeſſores beſolden, als unſre Proceßſucht erfor-
dert, und noͤthig ſeyn wuͤrde, um alle Proceſſe jedesmal in
einer Zeit von drey Jahren zu Ende zu bringen. Vielleicht
reichte auch der zehnte Theil ſchon hin, das Erforderliche zu
beſtreiten.


Bis dahin ſind alle engliſche Waaren in Deutſchland Zoll-
frey eingegangen, weil deſſen einzelne Staͤnde den Haͤfen
und Staͤdten, wodurch ſolche in ihre Laͤnder kommen, nicht
geſtatten koͤnnen und wollen, ſolche zu ihrem Nachtheil zu
beſchweren; die letztern auch mehrern Vortheil dabey gefun-
den, wenn ſie fein viele auslaͤndiſche Waaren dem armen
Vaterlande zuſchicken koͤnnen, als wenn ſie durch Auflagen
die Zufuhr verhindert haͤtten; und dieſe Verfaſſung wird im-
mer ſo bleiben muͤſſen, ſo lange des Heil. Roͤm. Reichs Fuͤr-
ſten fuͤr dergleichen Auflagen nicht eine gemeinſchaftliche Caſſe,
deſſen Einnahme jedem Stande in ſeinem Verhaͤltniſſe zu
gute koͤmmt, errichten. Dieſe aber kan in der That zu kei-
ner
[453]des Reichscammergerichts
ner beſſern Abſicht errichtet werden, als zu dem vorgedachten
großen Zwecke, woran Haupt und Gliedern insgemein gele-
gen, und mit welchem die edle deutſche Freyheit ſtehen oder
fallen muß.


Zwar wird man einwenden, daß bey einem ſolchen Impoſt
alle engliſche Waaren gar bald gaͤnzlich zuruͤck bleiben, und
unſre deutſchen Fabriken, welche bereits wuͤrklich den engli-
ſchen in vielen Arten von Waaren gleich kommen, den Markt
allein haben wuͤrden. Allein ohne zu gedenken, daß wir ſo
wie hier oben bereits gezeiget, keine Auflage von 35 p. C. zu
machen gebrauchen, ſondern mit dem zehnten Theil zukom-
men koͤnnen, und daß hierdurch die engliſchen Manufacturen
vermuthlich nicht ganz zuruͤck gehalten werden duͤrften: ſo
wird zu der Zeit, wenn wir erſt ſo gluͤcklich ſeyn werden, die
fremden Wollenwaaren gaͤnzlich entbehren zu koͤnnen, ſich
noch allemal ein patriotiſches Project wieder finden, wodurch
dieſes minus in der zu errichtenden Reichscaſſe erſetzet werden
kan; und vielleicht ſind wir zu der Zeit gar ſo gluͤcklich, daß
mittlerweile alle unſre alten Proceſſe abgethan, und die
neuen mit wenigern Koſten durchgebracht werden koͤnnen.
Außerdem aber werden noch immer ſo viel americaniſche Pro-
ducten aus den noch unbeſchwerten engliſchen Colonien zu uns
kommen, woran wir uns erholen koͤnnen, daß kein gaͤnzlicher
Ausfall eher zu befuͤrchten, als bis alle unſre Heiden den
ſchoͤnſten Toback tragen, und unſre Berge mit Mahagoni-
eichen bewachſen ſeyn werden. Und gegen dieſe Zeit denke
ich, ſind wir ſo reich, daß wir auch Flotten in der See ha-
ben, und uns den Unterhalt fuͤr das Cammergericht von den
zinsbaren Inſeln einſchicken laſſen koͤnnen.


Ueberhaupt aber wuͤrde die deutſche Handlung und Manu-
factur ein ganz neues Leben bekommen, wenn dieſelbe durch
F f 3gemein-
[454]Vorſchlag zum beſſern Unterhalt
gemeinſchaftliche Auflagen zum allgemeinen Reichsbeſten regie-
ret werden koͤnnte. Es iſt kein Reich jetzt in der Welt, was
nicht in ſolcher Abſicht ein gewiſſes Syſtem hat, nach wel-
chem Aus- und Einfuhr nach der innern Beduͤrfniſſe des
Staats entweder gehindert oder gehoben wird. Deutſchland
allein iſt ein ofnes Reichs, was von allen ſeinen Nachbaren
durch die Handlung gepluͤndert wird, und in welchem das
Intereſſe aller Seehaͤfen mit dem Intereſſe des innern Lan-
des auf das offenbareſte ſtreitet. Kein einzelner Staat kan
hierinn fuͤr ſich eine große Aenderung machen, ohne weiter
etwas zu thun, als den Handel, der bisher den Weg durch
ſeine Straßen genommen, ſeinen laurenden Nachbaren zuzu-
wenden. Was auf der Elbe zu ſehr beſchweret werden wuͤrde,
liefe in die Weſer, und was hier nicht ohne Abgabe eingehen
koͤnnte, wuͤrde die Emſe ſuchen, oder durch die Niederlande
zu uns kommen, ja wohl gar, ſo wie jetzt ſchon wuͤrklich ge-
ſchieht, den Weg uͤber Trieſte nach Sachſen ſuchen. Die
Franzoſen, welche hoͤchſtens unſre rohen Producten einlaſſen,
und ſolche jetzt aus vielen hieher nicht gehoͤrigen Urſachen
theurer als wir ſelbſt nutzen koͤnnen, nehmen nichts aus
Deutſchland, woran die Hand etwas betraͤchtliches gewon-
nen hat, wir hingegen ſehr viele Sachen, woran die Hand
unendlich verdienet hat, von ihnen. Wir laſſen ſolche frey
ein, weil wir ſie nach unſer mißhelligen Verfaſſung nicht be-
ſchweren koͤnnen; und ſeitdem dieſe alten Erbfeinde deutſcher
Nation ſich in unſre Erbfreunde verwandelt haben, koͤnnen
wir ſicher darauf rechnen, daß ſie unſre Fabriken nicht auf-
kommen laſſen werden, wenigſtens diejenigen nicht, woran
wir mehr als Salz und Brodt gewinnen koͤnnten. Schwe-
den erhaͤlt vermoͤge ſeiner Zollregiſter faſt wenig oder
nichts mehr von allem was wir ehedem dahin geſandt haben.
Daͤnnemark macht es nicht viel beſſer, und Rußlands Zoͤlle
ſind
[455]des Reichscammergerichts.
ſind ſo hoch und ſtrenge, daß ſie mit der Zeit, wenn erſt alles
ſelbſt im Lande gemacht werden kan, nichts mehr von uns nehmen
koͤnnen, und Pohlen ....... Deutſchland aber allein hat
kein gemeinſchaftliches Intereſſe wodurch ſeine Seehaͤfen mit
dem innern Lande zu einem Zwecke geſtimmt und gebracht
werden koͤnnten. Deſſen Zollweſen ſteht noch auf denſelben
Grundſaͤtzen, worauf es vor 500 Jahren, wie alle ſeine Nach-
baren noch von ſeinen Kaufleuten abhaͤngig waren, geſtan-
den hat; und in jeder Capitulation wird es, in Ruͤckſicht
auf ſeinen wuͤrklichen Zuſtand mit dem beſten Grunde, ſonſt
aber wahrlich ohne Ruͤckſicht auf die Handlung wiederholet,
daß kein neuer Zoll angelegt, kein alter erhoͤhet, und ſomit
das werthe Vaterland allen wachſamen Nationen zum beſtaͤn-
digen Raube gelaſſen werden ſolle.



LXXXIV.
Von dem oͤffentlichen Credit, und deſſen
großen Nutzen.


Es koͤmmt vielen unglaublich vor, wenn man ihnen ſagt,
daß ein Staat durch Schulden machen reicher werde;
und gleichwol muͤſſen die eifrigſten Feinde dieſer Behauptung
einraͤumen, daß England in vorigem Kriege keine 50 Millio-
nen Pf. St. wuͤrde haben aufleihen koͤnnen, wenn es nicht
vorher ſchon achtzig ſchuldig geweſen waͤre. Sie geſtehen,
eine Nation, welche noch gar keine Schulden und hoͤchſtens
ſechs Millionen baares Geld habe, koͤnne unmoͤglich in einem
Jahre 12 Millionen aufleihen, und ein Drittel davon auſſer
halb Landes verwenden, ohne die ganze einheimiſche Circula-
F f 4tion
[456]Von dem oͤffentlichen Credit,
tion zu hemmen, und dem Handel und Wandel alles baare
Geld zu entzjehen; Sie geſtehen, daß dieſer Staat, wenn er
erſt zehn Millionen Schulden hat, weit leichter ein paar
Millionen aufleihen koͤnne als vorhin, ſo bald die ausge-
ſtelleten Obligationen in allen Zahlungen angenommen wer-
den, und die Stelle des baaren Geldes vertreten; Sie ge-
ſtehn, daß England nachdem es erſt achtzig Millionen ſchuldig
geweſen, ohne alle Muͤhe und ohne die geringſte Stoͤhrung
ſeines Handels 12 Millionen in einem Jahre aufgeborget
habe; und dennoch wollen Sie nicht geſtehen, daß dieſes Reich
dermalen da deſſen Einwohner ein Vermoͤgen von ſechs Mil-
lionen baar Geld, und von 130 Millionen Obligationen
beſitzen, reicher ſey als zu der Zeit, wie dieſe 130 Millionen
noch gar nicht vorhanden, oder welches einerley iſt, wie noch
gar keine Schulden gemacht waren.


So widerſprechend dieſes iſt: ſo ſchwer haͤlt es dieſe ehr-
lichen Leute zu uͤberzeugen; und wenn ihnen der Verfaſſer des
Traité de la Circulation et du Credita) aufs deutlichſte
zuruft.


„So oft die engliſche Regierung Schulden macht, und
einen Theil der Steuer zur Bezahlung der Zinſen an-
weiſet, ſo oft erſchaffet ſie aus nichts ein kuͤnſtliches und
neues Capital, welches vorhin gar nicht da war, und
welches mit Huͤlfe des Credits eben ſo nuͤtzlich, dauer-
haft, und ſicher iſt, als wenn es in klingender Muͤnze
vorhanden waͤre. Laßt uns zum Beyſpiele die 12 Mil-
lionen betrachten, welche die engliſche Regierung im
Jahr 1760 aufnahm; laßt uns unterſuchen was daraus
geworden? Iſt es nicht war, das ſolche groͤßtentheils im
Lande verzehrt worden? Dasjenige was davon an die
Ar-
[457]und deſſen groſſen Nutzen.
Armeen und Hoͤfe in Deutſchland bezahlt, iſt es nicht
groͤßtentheils wieder zuruͤckgefloſſen, und iſt Deutſchland
nicht eine Wieſe, wovon wir ſo viel mehr Heu geerndtet,
je mehr wir ſie gewaͤſſert und fruchtbar gemacht haben?
Fließen die Reichthuͤmer Deutſchlandes nicht mit einan-
der in die Caſſen der handelnden Nationen? … Aber
es ſey gnug, daß der groͤßte Theil der damals ausgege-
benen Obligationen in den Haͤnden der Nation ſelbſt ge-
blieben, und ſo iſt es ein ausgemachter Satz, daß durch
jenes Anlehn die Capitalien ſeiner Mitglieder damals
anſehnlich vermehret worden. Will man noch eine deut-
lichere Probe: ſo frage man ſich nur einmal ſelbſt: wo
die 130 Millionen Pf. St. welche England jetzt ſchuldig
iſt, und welche den groͤßten Reichthum ſeiner Einwohner
ausmachen, jetzt ſeyn wuͤrden, wenn gar keine Schulden
gemachet worden? Wuͤrden deſſen Einwohner dieſe
Summe am baarem Gelde vorraͤthig haben? Dieſes iſt
nicht moͤglich, ganz Europa hat ſo viel Geld nicht. Wuͤr-
den ſie den Werth dafuͤr an Gruͤnden beſitzen? Das laͤßt
ſich auch ſchwerlich behaupten, da die Grenzen des Lan-
des ſich nicht ausdehnen laſſen, und der erhoͤhete Werth
der Laͤndereyen eben eine Folge des erſchaffenen Reich-
thums, des dadurch vermehrten Handels und der da-
durch zugenommenen Bevoͤlkerung iſt. Wuͤrden ſie ſo
viel mehr Schiffe ſo viel mehr Waaren haben. O auch
dieſe haben ihr Maximum, woruͤber man ohne Gefahr
nicht herausgehen kan. Und bey dem allen wuͤrde Geld
kein Geld bleiben, wenn die 130 Millionen Pfund Ster-
ling auf einmal in Muͤnze verwandelt und unter die
Leute gebracht wuͤrden; die Waaren wuͤrden keinen Preis
haben, wovon auf einmal fuͤr 130 Millionen vorhan-
den waͤre; ſie wuͤrden ihren Beſitzern zur Laſt fallen;
und wenn die Anzahl der Kaufleute, welche mit ſo einer
F f 5unge-
[458]Von dem oͤffentlichen Credit,
ungeheuren Menge von Waaren handelten, ins unend-
liche vermehret worden: ſo wuͤrde einer dem andern den
Markt verderben. Wo waͤren alſo die 130 Millionen?
Sie waͤren gar nicht vorhanden, und die Nation um ſo
viel aͤrmer als ſie weniger Schulden haͤtte ........

ſo will Ihnen doch dieſes Syſtem nicht recht gelaͤufig werden
und Sie ruͤcken immer mit dem Einwurfe heraus: wie es moͤg-
lich ſey, daß ein Mann durch Schulden machen reicher wer-
den koͤnne?


Der Fehler liegt aber gewiß nicht an der Sache, ſondern
an der Formel, deren man ſich bedienet, um ſie auszudruͤcken,
und ich bin verſichert, daß die Wahrheit derſelben einem je-
den einleuchten werde, ſo bald man ſie nur anders ausdruͤckt.
Geſetzt ein Kaufmann lege auf der erſten Meſſe, die er be-
zieht, ſein ganzes Capital an, welches aus zehntauſend Tha-
lern beſtehen ſoll; auf der zweyten lege er wiederum ſein eig-
nes Geld an und erhalte fuͤr 10000 Thaler Waaren auf Cre-
dit; auf der dritten Meſſe finde er fuͤr zwanzig tauſend, und
zuletzt nachdem er durch eine puͤnktliche Bezahlung ſich das
vollkommenſte Zutrauen erworben, fuͤr hundert tauſend Tha-
ler Credit: ſo wird er unſtreitig immer in dem Verhaͤltniß ge-
winnen, als er mehrern Credit erhaͤlt und nuͤtzt; und wenn
man dieſes mit obiger Formel ausdruͤckt: ſo wird es heiſſen:
Der Kaufmann iſt um ſo viel reicher geworden, als er mehrere
Schulden gemacht hat.


O! denkt mancher, das habe ich lange gewußt, und die
Gelehrten ſollten ſich billig ſchaͤmen, dergleichen Wahrheiten,
die der geringſte Ladenjunge weis, ſo unverſtaͤndlich auszu-
druͤcken. Nun freylich das ſollten ſie nicht thun; ſie koͤnnten
ſich wohl bisweilen eine minder wichtige Mine geben; in-
deſſen iſt es doch ſo lange nicht, daß man die Anwendung die-
ſer
[459]und deſſen groſſen Nutzen.
ſer einem Kaufmann bekannten Wahrheit auf ganze Staaten
gemacht hat. Es iſt noch ſo lange nicht, daß man auf die
Gedanken gekommen iſt, der Credit eines Staats, laſſe ſich
wie der Credit eines Kaufmanns nutzen, und das Land was
blos mit ſeinem baarem Capital handle, koͤnne lange dasjenige
nicht leiſten, was ein anders leiſtet, welches ſeinen ganzen
Credit mit zum Handel nimmt.


Geſetzt nun ein Staat habe eine Million baares Geld, und
neun Millionen Werth an liegenden Gruͤnden: ſo wird man
denſelben keiner Unvorſichtigkeit beſchuldigen koͤnnen, wenn
er bey erheiſchender Nothdurft an baarem Gelde und Obliga-
tionen zehn Millionen circulieren laͤßt. Geſetzt weiter dieſe
Obligationen circuliren unter ſeinen Einwohnern, und wenn ſie
auch auswaͤrts in Zahlungen gebraucht werden, kehren durch die
Bilanz der Handlung wieder dahin zuruͤck; ſo wird er es unſtrei-
tig wagen duͤrfen, noch fuͤr zehn Millionen neuen Credit zu ma-
chen, und alſo zwanzig Millionen circuliren zu laſſen, wenn
es der Handel erfordert. Verhalten ſich dieſe zwanzig Mil-
lionen eben ſo wie die vorigen, und der Handel erheiſcht noch
mehrere Zeichen: ſo wird er immer und ſo lange mit dieſer
Operation fortgehen koͤnnen, als Leute ſind die dergleichen
nehmen und fordern. Jede Vermehrung derſelben wird ein
eben ſo ſicheres Zeichen einer zunehmenden Handlung ſeyn,
als ſicher es ein Zeichen von dem zunehmenden Gewerbe ei-
nes redlichen Kaufmanns iſt, je mehr er Geld zu ſeiner Hand-
lung anleiht. Es iſt alſo klar und unwiderſprechlich, daß die
groͤßte Benutzung des Credits, oder um mich nach der alten
Formel auszudruͤcken, die groͤßte Menge von Schulden die
ſicherſte Probe eines zunehmenden Reichthums ſeyn koͤnne.


Um die Sache noch deutlicher zu machen, und ſie der An-
wendung naͤher zu bringen, wollen wir ein Dorf nehmen,
das
[460]Von d. oͤffentl. Credit, und deſſen großen Nutzen.
das aus 100 Ackerhoͤfen beſtehe, welche jaͤhrlich tauſend Tha-
ler an Steuer zu bezahlen haben ſollen. Geſetzt dieſe Hoͤfe
haͤtten Gelegenheit, wenn ſie jaͤhrlich 4000 Thaler an Zinſen
aufbraͤchten, ein Capital von hundert tauſend Thalern in Obli-
gationen zu erſchaffen, und ſolches 100 Fabrikanten, die ſich
unter ihnen beſetzten, wiederum anzuvertrauen, und jeden
Fabrikanten damit in den Stand zu ſetzen, nicht allein die
Zinſen richtig wiederum abfuͤhren, ſondern auch eben ſo viel
als die 100 Hoͤfe, an Steuer aufbringen zu koͤnnen, was
wuͤrde der Erfolg hievon ſeyn? Unfehlbar dieſer, daß die 100
Hoͤfe jaͤhrlich die Haͤlfte weniger als vorhin ſteureten, und
weil ſie die Zinſen richtig wieder empfiengen, keinen Pfennig
dabey verloͤhren. Und wuͤrde man nicht ſagen muͤſſen, daß
die kleine Nation von 100 Hoͤfen durch ihre Schulden reicher
geworden als vorher.


Man wird zwar einwenden, daß die Sache in der Theo-
rie richtiger ſey als in der Anwendung, weil hier Ungluͤck und
Betrug mit zum Anſchlag gebracht werden muͤßten. Allein
man rechne auch dagegen den Einfluß von 100 Fabrikanten
auf die Kornpreiſe, die Haus- und Landheuren und auf un-
zaͤhlige Nebenvortheile: ſo wird ſich eins gegen das andre
leicht compenſiren laſſen, und ſo lange die Obligationes dieſer
kleinen Nation in allen Zahlungen als baares Geld genom-
men werden, kan man immer die vortheilhafteſten Schluͤſſe
machen.



LXXXV.
[461]Vorſchlag zu einer Zettelbank.

LXXXV.
Vorſchlag zu einer Zettelbank.


Wenn unter der beſten Guarantie und Sicherheit in der
Hauptſtadt des Landes eine Bank errichtet wuͤrde,
worinn man ſein Geld zur Sicherheit verwahren, und allen-
falls auch bis zu einer beſſern Gelegenheit, zwey vom Hun-
dert als eine Zinſe davon genießen koͤnnte;


Wenn alle Depoſitengelder, welche bey den Gerichten un-
gebraucht liegen, in dieſe Bank geſchickt werden muͤßten;


Wenn anſtatt bey oͤffentlichen Verſteigerungen baar Geld
ins Gerichte zu bezahlen, jeder Kaͤufer nur zu beſcheinigen ge-
brauchte, daß er den Kaufſchilling in dieſe Bank geliefert haͤtte;


Wenn ſo oft Glaͤubiger im Gerichte bezahlet werden muͤß-
ten, der Richter ihnen nur die Scheine auf dieſe Bank zu
geben brauchte, um bey derſelben ihre Bezahlungen zu em-
pfangen;


Wenn alle Vormuͤnder angewieſen wuͤrden die Gelder ih-
rer Pupillen nicht uͤber 8 Tage im Hauſe zu haben, ſondern
ſolche bis zu einer beſſern Belegung in die Bank zu liefern;


Wenn denn der Vormund, ſo bald er eine beſſere Bele-
gung faͤnde, demjenigen, der das Geld annimmt, nur den Bank-
ſchein einliefern duͤrfte, um das Geld ſelbſt in Empfang zu
nehmen.


Wenn alle pia corpora nach dem Exempel der Vormuͤn-
der verfahren muͤßten.


Wenn
[462]Vorſchlag zu einer Zettelbank.

Wenn alle oͤffentlichen Caſſen ihre lahm liegenden Gelder
dahin abgeben koͤnnten: .........


So wuͤrde man nicht allein vieles zaͤhlen und waͤgen, ſon-
dern auch ſehr viele Umſchweife und Muͤhe beſonders auch
Porto und Gerichtsgebuͤhren erſparen, und mit mehrer Si-
cherheit und Ruhe einen Bankſchein als das baare Geld ſelbſt
bewahren; man wuͤrde mindern Verluſt bey den Geldſorten
haben; und vom Lande in die Stadt, und von der Stadt
aufs Land die Zahlung lieber mit Banknoten als mit baarem
Gelde verrichten.


Hauptſaͤchlich aber wuͤrde man aller Wahrſcheinlichkeit nach
auf dieſe Weiſe immer ein großes Capital gegen einen gerin-
gen Zins in der Bank haben, und dieſes zum Vortheil der
Handlung nutzen koͤnnen.


Wann dann von dieſem Capital auf keine andre Pfaͤnder
als auf Linnen und Garn, welches Ballenweiſe in die Bank
geliefert wuͤrde, und hoͤchſtens auch auf Wollenballen zu vier
vom Hundert vorgeſchoſſen wuͤrde:


So wuͤrde der einheimiſche Kaufmann nie zur Unzeit los-
ſchlagen duͤrfen; er wuͤrde ſein Linnen und Garn ſo lange
auf eigne Rechnung behalten koͤnnen, bis es von auſſen gefor-
dert wuͤrde; er wuͤrde nur den dritten Theil des Geldes noͤ-
thig haben, was er jetzt noͤthig hat; und der Wollenfabrikant
koͤnnte zu rechter Zeit das noͤthige ankaufen, und einen Bal-
len nach dem andern, ſo wie er die Zahlung leiſtete, aus der
Bank ziehen.


Dieſe Art der Anſtalt, welche ich hier nur auf eine unge-
kuͤnſtelte Art aufzuſtellen bemuͤhet bin, nennet man eine Zet-
telbank, und ſolche iſt in allen Laͤndern, wo das baare Geld
und
[463]Vorſchlag zu einer Zettelbank.
und der Privatcredit nicht zureicht, die Unternehmungen ſei-
ner Eingeſeſſenen zu beſtreiten, jederzeit von dem groͤßten Nu-
tzen befunden worden. Es iſt dieſes die erſte natuͤrlichſte,
einfaͤltigſte und ſicherſte Art den Landescredit zu nutzen; das
Capital was in der Circulation iſt, zu verdoppeln, und ſol-
ches einzig und allein zum Vortheil der Handlung zu gebrau-
chen. Was kann alſo einen Staat, dem es an Credit nicht
ermangelt, abhalten, dieſen Vortheil ſich und ſeinen Einwoh-
nern zu verſchaſfen?


  • Erſtlich, wenn Geld und Privatcredit genug vorhanden?
  • Zweytens, wenn es an einheimiſchen Fleiſſe und Gelegen-
    heit mangelt ein doppeltes Capital zu gebrauchen?
  • Drittens, wenn zu befuͤrchten iſt, daß die Circulation mit
    zu vielen Geltungen (Muͤnze und Papier ſind beyde Geltun-
    gen) zu ſehr uͤberhaͤuft, folglich die Zinſe zu niedrig fallen
    werde.

Allein welcher Staat in Deutſchland kan ſich auf den erſten
und dritten Grund berufen? und welcher Patriot wird nicht
hoffen, daß Mittel auch Muth und Fleiß erwecken werden?


Wahrſcheinlich wuͤrden die Scheine einer Oßnabruͤckiſchen
Bank auch in Bremen und Holland Credit finden; und wie
vieles wuͤrde nicht auch hiedurch erſparet werden? Ein Kauf-
mann der in Bremen zu bezahlen hat, ſchickt das Geld mit
einem Frachtwagen hin; ein andrer der fuͤr Linnen dort et-
was zu empfangen hat, laͤßt dieſes eben ſo unſicher dorther
kommen, und wenn gleich auch dann und wann eine Aßigna-
tion ins Mittel tritt: ſo iſt dieſe doch bisweilen unſicher, man
muß ſie erſt aufſuchen, und ſie laufen in einem zu kleinen Zir-
kel; wenn dagegen jeder Kaufmann in Bremen das Linnen
mit Bankſcheinen bezahlen ließe: ſo wuͤrde der Bremer auch
dieſe
[464]Vorſchlag zu einer Zettelbank.
dieſe wiedernehmen, und anſtatt leichtes Gold oder ſchlechte
Muͤnze fuͤr uns zu ſammlen, jene Scheine zuruͤck ſchicken.
Eben ſo wuͤrde es der Hollaͤnder machen, und auch fuͤr die
hollaͤndiſchen Wechſel, welche wir in Bremen verkauften,
wuͤrden wir unſre Bezahlung in Banknoten geſchwinder, leich-
ter und wohlfeiler erhalten.


Alles was dabey verlohren gehen koͤnnte, waͤre die jetzige
Kraͤmerey mit der Muͤnze und dem leichten Golde, da der
Kaufmann immer fuͤr ſein Linnen das ſchlechteſte Geld was
er nur gebrauchen kan, in Bezahlung nimmt, und dasjenige
was er in Bremen zu bezahlen hat, mit demjenigen was dort
am hoͤchſten gilt, verrichtet. Allein eben dieſes wuͤrde ein
weſentlicher Vortheil fuͤr den Staat ſeyn, und der Kaufmann
erſparete leicht an Porto, Proviſion und auf andre Art ſo vie-
les wieder, als er auf jene Art verlohren.


Ich erinnere mich eines Faͤßgen Geldes, was vor einigen
Jahren, wie die leichte Muͤnze noch im Cours war, in der
Zeit von zweyen Monaten ſechs mahl das hieſige Poſtamt
paßirte, ohne jemals von dem Verſender eroͤfnet zu ſeyn. Es
gieng immer in Bezahlung von Hamburg nach Amſterdam,
und von Amſterdam nach Hamburg. Haͤtte nun eine Bank-
note die Stelle dieſes Faͤßgens vertreten: wie viel Porto wuͤrde
nicht ſeyn erſparet worden? und das Geld was in dem Faͤß-
gen war, haͤtte man inzwiſchen weit beſſer nutzen koͤnnen.



LXXXVI.
[465]Das engliſche Gaͤrtgen.

LXXXVI.
Das engliſche Gaͤrtgen.


Was das fuͤr eine Veraͤnderung iſt, meine liebe Groß-
mama! Sollten Sie jetzt ihre kleine Bleiche, wor-
auf Sie in ihrer Jugend ſo manches ſchoͤnes Stuͤck Garn
und Linnen gebleichet — —, ſollten Sie den Obſtgarten,
worinn Sie, wie Sie mir oft erzaͤhlet haben, ſo manche
Henne mit Kuͤchlein aufgezogen — ſollten Sie das Kohl-
ſtuͤck, worauf der große Baum mit den ſchoͤnen roth geſtreif-
ten Aepſeln ſtand, — ſuchen, nichts von dem allen wuͤrden
Sie mehr finden. Ihr ganzer Krautgarten iſt in Huͤgel und
Thaͤler, wodurch ſich unzaͤhlige krumme Wege ſchlaͤngeln, ver-
wandelt; die Huͤgelgen ſind mit allen Sorten des ſchoͤnſten
wilden Geſtraͤuches bedeckt, und auf unſern Wieſen ſind keine
Blumen, die ſich nicht auch in jenen kleinen Thaͤlergen fin-
den. Es hat dieſes meinem Manne zwar vieles gekoſtet, in-
dem er einige tauſend Fuder Sand, Steine und Lehmen auf
das Kohlſtuͤck bringen laſſen muͤſſen, um ſo etwas ſchoͤnes
daraus zu machen. Aber es heißt nun auch, wenn ich es recht
verſtanden, eine Schrubbery, oder wie andre ſprechen, ein
engliſches Boßkett. Ringsherum geht ein weiſſes Plank-
werk, welches ſo bunt gearbeitet iſt, wie ein Drellmuſter,
und mein Mann hat eine Dornhecke darum ziehen laſſen
muͤſſen, damit unſre Schweine ſich nicht daran reiben moͤg-
ten. Von dem auf der Bleiche angelegten Huͤgel kan man
jetzt zwey Kirchthuͤrme ſehen, und man ſitzt dort auf einem
chineſiſchen Cannape, woruͤber ſich ein Sonnenſchirm von
verguldetem Bleche befindet. Gleich dabey ſoll jetzt auch eine
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. G gchine-
[466]Das engliſche Gaͤrtgen.
chineſiſche Bruͤcke, wozu mein Mann das neueſte Modell aus
England erhalten, angelegt, und ein eigner Fluß dazu aus-
gegraben werden, worinn ein halb Dutzend Schildkroͤten,
die bereits fertig ſind, zu liegen kommen werden. Jenſeits
der Bruͤcken, gerade da, wo der Großmama ihre Bleich-
huͤtte war, kommt ein allerliebſter kleiner gothiſcher Dom zu
ſtehn, weil mein Mann Gotherich Dom heißt. Wie ich
vermuthe, hat er dieſe Idee aus dem Garten zu Stove ge-
nommen, worinn der Lord Tempel ſo viele Tempel angelegt
hat. Der Dom wird zwar nicht viel groͤßer werden, als
das Schilderhaͤusgen, worinn der Onkel Toby mit dem Cor-
poral Trim (doch Sie werden dieſes nicht verſtehn, Sie ha-
ben den Triſtram Shandy nicht geleſen) die Belagerungen in
ſeinem Garten commandirte. Aber die gothiſche Arbeit dar-
an wird doch allemal das Auge der Neugierigen an ſich zie-
hen, und oben drauf kommt ein Fetiſch zu ſiehen. Kurz, ihr
gutes Gaͤrtgen, liebe Großmama, gleicht jetzt einer bezau-
berten Inſel, worauf man alles findet, was man nicht dar-
auf ſuchet, und von dem was man darauf ſuchet, nichts fin-
det. Moͤgten Sie doch in ihrem Leben noch einmal zu Uns
kommen und alle dieſe Hexereyen mit anſehen koͤnnen! Sie
waren ſonſt eine ſo große Bewundererin der Baͤren und Pfauen
von Taxus, womit in ihrer Jugend die fuͤrſtlichen Gaͤrten
geſchraͤnckt waren; was fuͤr ein Vergnuͤgen wuͤrde es Ihnen
nun nicht ſeyn zu ſehen, durch was fuͤr erhabene Schoͤnheiten
dieſe altfraͤnkiſchen Sachen verdraͤngt worden! Sie muͤſſen
aber bald kommen; denn wir werden noch vor dem Winter
nach Schevelingen reiſen, um den engliſchen Garten zu ſehen,
welchen der Graf von Bentink dort auf den Sandduͤnen an-
gelegt hat. Alles was die Groͤße der Kunſt dort aus dem
elendeſten Sande gemacht hat das denkt mein Mann muͤſſe
auf einem guten Ackergrunde gewiß gerathen; und er bedan-
ret
[467]Alſo iſt der Dienſteyd nicht abzuſchaffen.
ret nichts mehr, als daß er die Sandhuͤgel ſo muͤhſam anlegen
muß, welche dort die See aufgeſpuͤlet hat. Von Schevelin-
gen gehen wir dann vielleicht nach England, und ſo weiter
nach China, um die große eiſerne Bruͤcke, den porcellainen
Thurm von neun Stockwerken, und die beruͤhmte Mauer in
Augenſchein zu nehmen, nach deren Muſter mein Mann noch
etwas hinten bey dem Stickbeerenbuſche, wo Sie ihre Krau-
ſemuͤnze ſtehen hatten, anzulegen gedenket. Wenn Sie aber
kommen: ſo bringen Sie uns doch etwas weiſſen Kohl aus
der Stadt mit; denn wir haben hier keinen Platz mehr da-
fuͤr. Ich bin in der ungedultigſten Erwartung ꝛc.


Anglomania Domen.



LXXXVII.
Alſo iſt der Dienſteyd nicht abzuſchaffen.


Wenn ein Zeuge dem Gefangenen unter Augen geſtellet,
fuͤr den ſchrecklichen Meineyd gewarnet, und feyerlich
beeydigt wird: ſo pflegt der Zeuge einen mitleidigen Blick auf
den Miſſethaͤter zu werfen, und damit ſo viel auszudruͤcken:
Vergieb es mir mein Freund, daß ich die Wahrheit ſagen
muß; ich wollte dich gern mit dem Verluſt meines Vermoͤgens
retten, aber meine Seele kan ich dir nicht aufopfern. Der
Miſſethaͤter fuͤhlet dieſes, er verzeiht ſeinem Freunde, und
traͤgt ihm keinen Groll nach, wenn er wieder zu ſeiner Frey-
heit gelangt; eben ſo geht es auch in buͤrgerlichen Sachen,
wenn Freund gegen Freund zeugen muß, und dieſer einzige
Nutzen des Eydes, wodurch ſo viel mehr Ruhe und Einigkeit
in der buͤrgerlichen Geſellſchaft erhalten wird, verdient in der
That ſchon einige Betrachtung.


G g 2Noch
[468]Alſo iſt der Dienſteyd nicht abzuſchaffen.

Noch mehr aber nutzt der Dienſteyd. Oft genug iſt es ge-
ſagt, ein redlicher Mann wuͤrde allezeit ſeine Pflicht thun, er
moͤge beeydiget ſeyn oder nicht; und ich bin uͤberzeugt, daß
dieſer Schluß ſeine Richtigkeit habe. Allein der Dienſteyd
hat noch einen weit erhabnern Nutzen. Nicht ſelten kommt
ein Freund zum Richter, und ſtellt ihm ſeine Sache ſo mitlei-
dig, ſo angelegen und ſo dringend vor, daß er alle Muͤhe hat
auf ſeinem Satze zu bleiben. Raiſonnirt er mit ſeiner Freund-
ſchaft: ſo iſt er ſo gewiß verlohren wie ein Maͤdgen das mit
der Liebe raiſonnirt; und wenn der Freund von ihm fuͤr das-
mal die Aufopferung ſeiner eignen Einſichten fordert, ihm
die Moͤglichkeit, daß er irren koͤnne, vorhaͤlt, ihm Gruͤnde
vorbringt die allen Schein haben, andre Freunde zu Huͤlfe
nimmt, und alles aufbietet was Menſchen Witz aufbringen
kan: ſo wird er unvermerkt erſchuͤttert werden, wenigſtens
mit Gruͤnden gegen Freundſchaft vergeblich kaͤmpfen. So
bald er aber dem Freunde nur dieſes ſagen kan: ich ſehe die
Sache in meinem Gewiſſen ſo und ſo ein, und ich bin kraft mei-
nes Eydes verbunden mein Gewiſſen zu befolgen: ſo wird die
Unterredung ernſthaft, der Freund darf keine Aufopferungen
fordern ohne ſich ſelbſt fuͤr einen unehrlichen Mann zu erklaͤ-
ren, und der Richter hat den Vortheil einer Nonne, die mit
dem Geluͤbde der Keuſchheit alle Betheurungen und Bemuͤ-
hung ihres Liebhabers vereitelt.


In einem gleichen Vortheil befindet ſich der Staatsmann,
von dem ein Freund Entdeckungen verlangt; oder dem ein
Freund Vorwuͤrfe macht, daß er ihm nicht einen Wink von
dem uͤblen Ausgange ſeiner Sache gegeben habe. Der Eyd
dient ihm zur anſtaͤndigen Entſchuldigung, und der Freund
kan ſich beklagen ohne mit Grunde empfindlich zu werden.
Mit dem Gewiſſen hat es auſſerdem ſeine beſondre Eigenſchaft.
Es iſt eine dunkle Kammer wohin man ſich zuruͤck ziehen kan,
ohne
[469]Alſo iſt der Dienſteyd nicht abzuſchaffen.
ohne weiter Rechenſchaft zu geben. Man entweicht dadurch
dem Angriffe mit Gruͤnden, welchen man oft nichts entgegen
ſetzen kan, weil die Gegengruͤnde unter dem Siegel der Ver-
ſchwiegenheit liegen; und man entgeht dem Raiſonniren, das
zuletzt nur gar zu leicht auf die Seite einer anſcheinenden
Billigkeit tritt, und womit man ſich ſelten in einer gefaͤhrli-
chen Verſuchung rettet.



LXXXVIII.
Eine Hypotheſe zur beſſern Aufklaͤrung der
alten deutſchen Criminaljurisdiction.


Wenn man alles dasjenige geleſen hat, was von der
Hohen und Niedern Gerichtsbarkeit geſchrieben wor-
den: ſo hat man zwar freylich ſehr vieles und mehr als Her-
kules gethan, aber doch noch keinen ſo vollſtaͤndigen Begriff
von der Sache erlangt, daß man ſich wider alle Zweifel be-
ruhigen, und zu ſich ſelbſt ſagen kan: ich ſehe alles deutlich
ein. Mir iſt es wenigſtens ſo gegangen; bis ich endlich nach
vielen aufgebaueten und wieder eingeriſſenen Syſtemchen auf
eine ganz beſondre Vermuthung gerathen, welche mir die
Sache am beſten aufzuklaͤren ſchien; und womit ich wenig-
ſtens auf manchem dunkeln Wege Licht gefunden habe.


Auf dieſe Vermuthung brachte mich zuerſt folgende Stelle
in den Capitularien.


Si quis neceſſitate cogente homicidium commiſit,
comes in cuius miniſterio res perpetrata eſt, et com-
poſitionem ſolvere et faidam per Sacramentum paci-

G g 3fica-
[470]Eine Hypotheſe zur beſſern Aufklaͤrung
ficare faciat. Quod ſi una pars ei ad hoc conſentire
noluerit, id eſt aut ille qui homicidium commiſit,
aut is qui compoſitionem recipere debet, faciat illum
qui ei contumax fuerit ad praeſentiam noſtram ve-
nire, ut eum ad tempus quo nobis placuerit in exi-
lium mittamus, donec ibi caſtigetur ut comiti ſuo
inobediens eſſe ulterius non audeat et maius dam-
num inde non accreſcat.

Hier fragte ich, warum der Graf als der hoͤchſte Richter in
ſeiner Grafſchaft, der unter des Kayſers Banne richtete, ge-
gen diejenigen, die ſeinem Urtheile gemaͤs das Wehrgeld fuͤr
einen Todtſchlag entweder nicht bezahlen oder nicht annehmen
wollten, nicht weiter verfahren, ſondern es dem Kayſer mel-
den ſollen? und die einzige Antwort, welche ich mir hierauf
zu geben wußte, war dieſe:
Daß der ordentliche hoͤchſte Richter bey den Deutſchen
zwar uͤber Blut, aber lediglich zur Erhaltung oder
zum Wehrgelde
richten, mithin keinen freyen Menſchen
zu Leib- und Lebensſtrafen verdammen koͤnnen.

Ich fragte weiter: Wie der Kayſer ſich von allen ſolchen Vor-
faͤllen Rechenſchaft geben laſſen und ſolche ſeinem hoͤchſten Ur-
theile vorbehalten koͤnnen, ohne die Criminaljurisdiction auf
eine ganz ungemeine Art zu verwirren oder aufzuhalten; und
die beſte Antwort, die ich mir zu geben wußte, war dieſe:
Daß der kayſerliche Miſſus, eben wie jetzt der paͤbſtliche
Nuntius, perſonalis praeſentiae imperatoriae vel
pontificalis locumtenens
geweſen, und das vorhin an-
gezogene Geſetz weiter nichts ſagen wolle, als daß der
Graf einen ſolchen Miſſethaͤter dem Miſſo bekannt ma-
chen ſolle.

Auf
[471]der alten deutſchen Criminaljurisdiction.
Auf dieſe Weiſe zeigten ſich ploͤtzlich zwey ganz unterſchiedene
Reichsblutrichter, der eine oder der ordentliche zum Leben, und
der andre oder der auſſerordentliche zum Tode. Was mich hiebey
am mehrſten freuete, war dieſes, daß auf einmal das regale
et ſaeculare judicium,
was der Kayſer den Biſchoͤfen uͤber
ihre Leute verliehen, ein hoͤchſtes Gericht, aber nicht zum
Blutvergießen, ſondern zur Erhaltung des Verbrechers ge-
weſen, und daß alle die Kritiken, welche daruͤber, daß die
Kirche Blutgerichte angenommen haͤtte, gemachet worden,
auf einmal zerſielen, und weiter nichts bewieſen, als daß die
guten Leute das Coſtume der Carolingiſchen Zeiten nicht ver-
ſtanden hatten.


Nun dachte ich, die Deutſchen haben vordem wohl Sen-
deboten
(Miſſos) und Sendebriefe oder Sendſchreiben (Miſ-
ſivas)
geſagt: ſollten ſie denn nicht auch wohl die kayſerlichen
Miſſos, wozu insgemein Grafen genommen wurden, Send-
grafen
, folgends die Miſſatica oder den Nuntiaturdiſtrict
Sendgraſſchaft geheiſſen haben? Nichts ſchien mir wahr-
ſcheinlicher zu ſeyn als dieſes, und ſo kam ich ganz natuͤrlicher
Weiſe dahin, dieſe Vorausſetzung zu wagen, daß der Graf
(Comes) der ordentliche Richter zur Erhaltung, der Send-
graf (Miſſus) hingegen der auſſerordentliche Richter zu Haut
und Haar geweſen. Ich las hierauf die Capitularien mit
Aufmerkſamkeit ganz durch und fuͤhlte, daß ich alles, was
mir im Wege ſtand, ganz ſchicklich erklaͤren konnte; mehr
braucht es nicht, um mich in meiner Vermuthung zu beſtaͤrken.
Die bekannte Stelle: In placito Centenarii nemo ad mor-
tem neque ad libertatem ſuam amittendam aut ad res red-
dendas vel mancipia condemnetur. Sed iſta in praeſentia
comitis (ſcilicet ſi actio civilis ad compoſitionem pecu-
niariam inſtituta fuerit) vel miſſorum noſtrorum (ſcilicet
ſi ad poenam criminalem agitur) remittantur
ſchien mir
G g 4durch
[472]Eine Hypotheſe zur beſſern Aufklaͤrung
durch die eingeſchobene Parentheſe ganz harmoniſch, und an-
dre aͤhnliche nicht der mindeſten Schwierigkeit unterworfen.


Aber, dachte ich, die Sendgrafen, woraus eine barbariſche
Latini aͤt entweder Zent- oder Cent und bey den Etymolo-
giſten wohl gar Synodalgrafen gemacht, ſind in Weſtphalen
gar nicht bekannt; und es muͤſſen doch auch dort wohl auſſer-
ordentliche Richter geweſen ſeyn, welche zu Haut und Haar
gerichtet, und diejenigen, welche entweder das Wehrgeld
nicht bezahlen oder nicht annehmen wollen, zur auſſerordent-
lichen Strafe gezogen haben. Dies war unmoͤglich zu laͤug-
nen; allein was konnten die weſtphaͤliſchen Freygrafen(co-
mites liberi)
in der That und bey ihrem Urſprunge anders
ſeyn als Sendgrafen? Frey oder fray heißt im Hollaͤndiſchen
noch auſſerordentlich; im Deutſchen dasjenige, was von der
Regel abweicht; und da der Sendgraf der judex extraordi-
narius vel irregularis
war, weil der ordentliche Richter nicht
anders als auf die Erhaltung und Genugthuung erkannte; ſo
konnte ihm der Name Freygraf aus einem andern Geſichts-
punkte mit dem vollkommenſten Rechte, und um ſo viel mehr
beygelegt werden, weil Frais- oder freisliche Obrigkeit in der
That auch nur ſo viel als das officium extraordinarium, was
zu Haut und Haar richtet, bezeichnet, die ſogenannte Male-
fitziſche
aber gerade der Gegenſtand von der Benefitziſchen iſt,
welche das Blut verſchonet und die Verbrecher zu Gelde
richtet.


Bey dem allen ſchien mir doch das Syſtem zu witzig, wenn
ich es ploͤtzlich in die Carolingiſchen Zeiten legen wollte. Wenn
Carl dieſen Unterſcheid zuerſt erfunden haͤtte: ſo wuͤrde er ſich
deutlicher daruͤber ausgedruckt haben. Es mußte alſo entwe-
der zu ſeiner Zeit eine ganz bekannte Sache ſeyn, daß die
hoͤchſte Obrigkeit lediglich zur Erhaltung (ad compoſitionem
civi-
[473]der alten deutſchen Criminaljurisdiction.
civilem) richtete, oder es iſt eine Chimere. Kaum hatte ich
dieſen Einwurf gemacht: ſo ſahe ich auf einmal die Stelle
beym Tacitus: Licet apud concilium accuſare quoque et
diſcrimen capitis intendere
in einem ganz neuen Lichte; a)
ſo ſchloß ich, uͤber eines freyen Menſchen Leben konnte auch
bey den alten Deutſchen nur in der Nationalverſammlung
(und das iſt mit der praeſentia Imperatoris oder mit dem
Miſſo perſonalis praeſentiae regiae locumtenente einerley)
geurtheilet werden, folglich hatte der ordentliche Richter ei-
nes Bezirks lediglich auf buͤrgerliche Genugthuung zu erken-
nen, beſonders da alle Verbrechen, welche nicht fray oder
freislich gemacht waren, mit Gelde geloͤſet werden konnten.
Der ordentliche Richter war der Liebenswuͤrdige, der wohl-
thaͤtige Vater und Erhalter ſeines Volks. Die Biſchoͤfe uͤber-
nahmen dieſe Gerichtsbarkeit mit ſo vielem Vergnuͤgen als
Anſtande, und die Freyſtaͤdte waren die gluͤcklichen Mittel,
dem Verbrecher nach dem damaligen Coſtume zur buͤrgerlichen
Genugthuung zu verhelfen, nicht aber der Beſtrafung zu ent-
ziehen, und ſie vertraten die Stelle des ſichern Geleits. So
moͤgen auch die moſaiſchen Freyſtaͤtte nur gegen den Blutrich-
ter, nicht aber gegen den Erhaltungsrichter, der dem Thaͤter
eine Geldſtrafe oder ein ander Opfer auſlegte, gedienet haben.


Ein beſonderer Fall blieb aber doch wie es ſcheinet, noch
uͤbrig, ob er gleich ſehr ſelten vorfallen mogte, worinn auch
der Graf (Comes) einen Verbrecher zur Todesſtrafe verdam-
men konnte. Dies geſchahe, wann derſelbe auf der That
ergriffen und ihm als ein uͤberwundener Miſſethaͤter ins Ge-
richt geliefert wurde. Ein ſolcher genoß der Wohlthat nicht
G g 5ſich
[474]Eine Hypotheſe zur beſſern Anfklaͤruug
ſich mit Gelde loͤſen zu koͤnnen, gleich es denn uͤberhaupt ſchei-
net, daß nur diejenigen dazu gelaſſen wurden, welche gefluͤch-
tet waren, oder ſich auf die Seite gemacht hatten, und nicht
wieder zuruͤckgekommen ſeyn wuͤrden, wenn man ihnen nicht
ein ſicheres Geleit und die Loͤſung des Verbrechens zugeſtan-
den haben wuͤrde. Die Geſetze hatten jedoch das Fluͤchten
beguͤnſtiget, und uͤberal Freyſtaͤtte, Friedensorte und heilige
Saͤulen angelegt, wohin dem Uebelthaͤter ſo wenig der Richter
als der Raͤcher folgen durfte, um den erſten die geſetzmaͤßige
Wohlthat des Loͤſegeldes zu verſchaffen. Daß nun aber der
Graf einen uͤberwundenen und ihm eingelieferten Verbrecher
mit der Leib- und Lebensſtrafe belegen konnte, war eine ſo
große Sache nicht. Diejenigen, ſo ihn ergriffen und uͤber-
wunden hatten, waͤren befugt geweſen, ſich ſelbſt Recht zu
ſchaffen. Lieferten ſie ihn ſtatt deſſen nun dem Richter: ſo
hatte er nicht viel zu urtheilen, ſondern eigentlich nur die ihm
aufgetragene Privatrache zu vollziehen; er liehe gleichſam das
Schwerdt der Gerechtigkeit oder ſeinen Henker, denen, die
um ſicher zu gehen, ihr eigen Schwerdt nicht brauchen und
das Henkeramt nicht ſelbſt uͤbernehmen wollten.


Nach dieſer Vorausſetzung ſieht man nun leicht ein, daß


Erſtlich des Grafen Blutrichteramt nach dem Verhaͤlt-
niß abnehmen mußte, als durch den Verfall der Muͤnze, durch
die Vermehrung des Geldes, und durch die anwachſende
Menge unangeſeſſener und fluͤchtiger Menſchen, anſtatt des
Loͤſegeldes faſt lauter Leib- und Lebensſtrafen eingefuͤhret wer-
den mußten; ferner


Zweytens, daß dagegen das Anſehen des Sendgrafen nach
dem Maaße ſteigen mußte, als er jeden Verbrecher an Haut
und Haar verfolgen konnte, ohne zu erwarten, ob derſelbe ſich
vor
[475]der alten deutſchen Criminaliurisdiction.
vor dem Grafen (Comite) mit Gelde loͤſen wolle, und
endlich


Drittens, daß wie Carl der Große gewiſſe Verbrechen,
als zum Exempel, den Abfall zum Heydenthum, den Kirchen-
raub und andre, aus ganz guten Urſachen fuͤr unabloͤslich
erklaͤrte, mithin der Sendgraf in dieſen Faͤllen, ebenfalls
die Erkenntniß des ordentlichen Richters unerwartet, gleich
aufs Blut richtete, daraus leicht die Fabel entſtehen koͤnnen,
daß Carl der Große zu Beſtrafung jener Verbrechen beſondre
geheime Gerichte in Weſtphalen angeordnet habe. Durch
die bloße Erklaͤrung: daß ein Verbrechen nicht mehr mit
Gelde geloͤſet werden ſollte, konnte er ſeinen Endzweck errei-
chen. Denn darauf gruͤndete ſich das Richteramt des Send-
oder Fraygrafen ohne Mittel; und daß ein ſolcher Richter
von den Sachſen, die jedes Verbrechen loͤſen zu laſſen gewohnt
waren, als grauſam und erſchrecklich angeſehen werden mußte;
daß ihr Haß ſich auf die Rechnung dieſer Richter ſehr beſchaͤf-
tiget; und zuletzt jene Fabel ausgeheckt hat, geht aus der
Sache ſelbſt hervor. Es iſt uͤbrigens gewiß, daß die Send-
grafen (Miſſi) ſo wohl ihre gebotene als ungebotene Gerichte
gehalten haben; und hoͤchſt wahrſcheinlich, daß das erſtere
das Vehmgericht und das letztere die Oberſala in Weſtpha-
len genannt worden.


An dieſem allen wuͤrde uns aber wenig gelegen ſeyn, wenn
man nicht auch noch in der heutigen Praxis davon einigen
Rutzen ziehen koͤnnte; und dieſer beſteht darinn, daß es mit
den Grafen oder Erhaltungsrichtern ſo wie die Muͤnze geſun-
ken, und das Wehrgeld laͤcherlich geworden, zum Concurs
gekommen, wenigſtens ihre ganze Verlaſſenſchaft durch eine
Auction zerſtreut und daraus ein und andre ſpecies juris-
dictionis,
welche jetzt als Patrimonial beſeſſen wird, in Pri-
vat-
[476]Eine Hypotheſe zur beſſern Aufklaͤrung
vathaͤnde gekommen ſey, ohne daß es die Reichsſendgra-
ſen, deren Befugniß nachher an die Landesherrn gekommen,
der Muͤhe werth achteten, dieſe altfraͤnkiſchen Stuͤcke an ſich
zu bringen.


Ein Stuͤck daraus iſt gewiß die Blutronne, welche ſich hie
und da ohne die geringſte Beymiſchung andrer Arten von
Gerichtsbarkeiten in Privathaͤnden befindet. Dieſe, in ſo
fern ſie mit einem von Alters her feſtſtehenden Gelde beſtraft
oder geloͤſet wird, iſt das hauptſaͤchlichſte Stuͤck, was von dem
ehmaligen Blutbann des Grafens oder Erhaltungsrichters
dermalen noch uͤbrig iſt. Es erhellet dieſes ziemlich deutlich
aus einem Vergleich mit Ravenſperg de 1497. und zwar aus
folgenden Worten:

Auch als wir beyde Herrn und Fuͤrſten von Oſnabruͤck
und von Guͤlich vorgenandt Gowgerichte haben eins in
des andern Landen, nemlich wir Conrat vorgemeldt zu
Borgholzhauſen und Halle und wir Wilhelm vorgemel-
det zu Buer; ſo denn die Gowgerichte in Blutrunnen
gegen einander beſtehen blieben
, laſſen wir es von bey-
den Seiten dabey, und mit dem Blutrunnen im Dorſe
zu Diſſen zu halten wie vordem, alſo, daß beyderſeits
Beamte ſolche zuſammen zu theilen.


Worinn meines Ermeſſens ſo viel geſagt wird:
Daß, nachdem die Verbrechen, woruͤber der Gowgraf
ehedem zu Gelde gerichtet, nunmehro an Leib und Le-
ben, und bloß die blutigen Wunden nur noch mit Gelde
geloͤſet wuͤrden, man wegen des erſtern die Befugniß
voͤllig aufheben, und ſolche auf die letztern einſchraͤn-
ken wollte.

In den Vergleichsentwuͤrfen uͤber einen aͤhnlichen Fall mit
Muͤnſter, wollte man Muͤnſterſcher Seits die Worte haben:
Daß
[477]der alten deutſchen Criminaljurisdiction.

Daß Muͤnſter des Gowgerichts ſonder Inſperrung ge-
brauchen und alle Todtſchlaͤge und Blutrunnen zu ſtra-
fen haben ſollte.
S. den Quakenb. Entwurf de 1568.


Oßnabruͤckſcher Seits hingegen ſetzte man:

Daß Muͤnſter den Blutrunn, ſo zum Gowgericht gehoͤ-
ret, unbekrott ſolle gebrauchen als bisher.
Altenb. Entwurf de 1521.


Und es erhellet daraus ſo viel, daß erſtere den alten Blut-
richter zur Erhaltung in den Blutrichter an Leib und Leben,
oder den comitem in miſſum verwandeln wollten.


Ein ander Stuͤck aus jener Auction iſt ein Galgen, woraus
oft auf die Criminaljurisdiction geſchloſſen werden will. Der
alte Graf hatte freylich auch einen Galgen und einen Gerichts-
platz, worauf er nach obiger Hypotheſe einen auf friſcher That
ergriffenen, gefangenen und uͤberlieferten Miſſethaͤter haͤngen
laſſen konnte. Aber von einem ſolchen Falle heißt es in der
Urkunde des Biſchofes Walraven zu Muͤnſter fuͤr den Grafen
von Bentheim de 1452.


Der Gowgraf mußte den Miſſethaͤter in dreyen Tagen
mit Rechte zu Tode richten, oder wenn er das nicht
konnte, ihn liefern in des Herrn Biſchofes hoͤchſte
Gerichte.

Und ferner:

Dies Gerichte moͤge der Graf bekleiden und ſpannen,
und ſein Pferd binden an den Schwerdtpfahl vor dem
Gerichtsſtuhle, und ſo weit das Pferd mit der Halftern
an
[478]Eine Hypotheſe zur beſſern Aufklaͤrung
an den Pfahl gebunden gehet, moͤgen die Urthelsfinder
ihren Kreis ſchließen.
Beym Muͤnnig in Monum. Monaſt. p. 360.


Woraus man deutlich ſieht, daß der Erhaltungsrichter zuletzt
eine ſehr laͤcherliche Figur gemacht habe, und von dem Send-
grafen oder dem ihm gefolgten Landesherrn in ſehr enge
Schranken getrieben ſey.


Ein drittes Stuͤck iſt die Aufhebung todter Koͤrper, welche
der Erhaltungsrichter naruͤrlicher Weiſe auch hatte und mit
den Goͤding oder den Churgenoſſen verrichtete, wenn er den
Todtſchlag zu Gelde richtete, aber mit Rechte verlohren hat,
nachdem man dies Verbrechen mit dem Schwerdte beſtraft
und die Beſichtigungen hoͤchſt unkluger Weiſe ohne Churge-
noſſen a) vornimmt. Auf allen Graͤnzen zanken wir uns
daruͤber, und es iſt nur bey jener Vorausſetzung begreiflich,
daß beyde Theile, nemlich ſowol derjenige, welcher den alten
Comitat hat, als der andre, der in die Stelle des Miſſi ge-
treten iſt, Faͤlle fuͤr ſich anfuͤhren koͤnnen. Wenn man uͤber-
dem dieſe Faͤlle genau beachtet; ſo hat der erſte im funfzehn-
ten Jahrhundert ſchon angefangen ſich mit den Gerichtsge-
buͤhren fuͤr die Aufhebung als einer Ceremonie zu begnuͤgen,
und den todten Koͤrper oft dem letztern uͤberlaſſen. Der erſte
verlangt auch immer nur die Beſtrafung des Todtſchlags;
und unter denen, die der letzte zu Tode gerichtet hat, finden
ſich
[479]der alten deutſchen Criminaljurisdiction.
ſich zehn Exempel von verbrannten Hexen gegen einen Mord,
weil dieſer im funfzehnten Jahrhundert hier noch mit Gelde
geloͤſet, die Hexerey aber gleich der Abgoͤtterey fuͤr unabloͤslich
gehalten wurde, folglich von dem Miſſo allein beſtraft werden
konnte.


Man kan auch Viertens die Scheffelwroge dahin rechnen,
als welche ſich oft in Privathaͤnden befindet, ſo daß auch zwey
Meyer hier im Stifte damit berechtiget ſeyn.


Man kan leicht gedenken, daß eben die Schickſale, welche
den alten Grafen betroffen haben, auch ſeinen Hauptmann
Advocatum treffen mußten, ob gleich dieſer, da die geringere
Verbrechen ſich lange bey der Geldſtrafe hielten, ſich einige
hundert Jahr laͤnger erhalten hat. Seinen natuͤrlichen Feind
hatte er an dem Unterſendgrafen (denn man hat centenam
inferiorem et ſuperiorem
) der ſich in ſeiner Art eben ſo aus-
dehnte wie der Oberfreygraf. Aus der Verlaſſenſchaft des
erſten kommen einige Holzgraſſchaften, nicht alle, denn ver-
ſchiedene ſind aus der bloßen Aufſicht uͤber eine Mark entſtan-
den; ferner die Kannenwroge, welche mancher ohne die ge-
ringſte Beymiſchung einer andern Art von Gerichtsbarkeit be-
ſitzt, nicht weniger die Beſtrafung im Eſche, die Erbesbe-
ſatzung oder die Gutsherrlichkeit und andre fliegende Rechte,
die ſich hie und da zerſtreuet finden. Man kan auch keinen
rechten Grund angeben, warum einer blutige Wunden beſtra-
fen koͤnne, ohne ein Scheltwort beſtrafen zu duͤrfen, wofern
man nicht jene gedoppelte Verlaſſenſchaft vorausſetzt Die
mehrſten Advocatien hat der Landesherr an ſich gekauft; und
es war eine Zeit, wo er das Naͤherrecht dazu hatte, als man
dafuͤr hielt, daß die alte Reichsgerichtsbarkeit nicht gethei-
let werden, auch nicht in geringere Haͤnde verfallen duͤrfte,
damit nicht zuletzt, ſo wie es zu unſern Zeiten oͤffentlich ge-
ſchieht,
[480]Eine Hypotheſe zur beſſern Aufklaͤrung
ſchieht, ein Unterthan den andern kaufen koͤnnte. Jetzt hin-
gegen haben verſchiedene Leibeigene wiederum ihre Leibeigne.


Die Freygrafen, welche im funfzehnten Jahrhundert ſich
hier folgendergeſtalt vernehmen ließen:

Uns gebuͤhrt diejenigen, ſo vom chriſtlichen Glauben
zum Unglauben verfallen, geweihte Kirchen und Kirch-
hoͤfe, auch die Kramkindelbette und Kindelbettsfrauen
geſchaͤndet und beraubet, Zauberey getrieben, desglei-
chen kuͤndliche Vertaͤtherey, Falſchheit, Dieberey, Raub,
Mord, Reraub begangen, zu ruͤgen.


Und in dieſer Aufſtellung ungefehr die Zeitordnung halten,
wie jedes Verbrechen unabloͤslich geworden, hatten endlich
kein beſſer Schickſal. Alle Reichsfuͤrſten ſetzten ſich nicht
ohne Grund gegen Leute, welche die Reichsgerichtsbarkeit,
ohne ſich durch die ſich allmaͤhlig gruͤndende Territorialhoheit
aufhalten zu laſſen, noch immer fortfuͤhren, und keine ge-
ſchloſſene Provinz erkennen wollten. Dieſe Freyſchoͤpfen, die
gleich ofnen Notarien (welche doch nunmehro auch in dem Be-
zirke jedes Territorii immatriculirt und approbirt ſeyn muͤſ-
ſen) von dem oberſten Freygrafen angenommen, und aus
kayſerlicher Macht nunmehro ohne Mittel, und ohne daß ei-
ner ſich jetzt noch auf den alten ausgegangenen Erhaltungs-
richter, als ſeinen ordentlichen Richter, berufen konnte, ihr
Richteramt ausuͤbten, waren in der That die letzten Maͤrty-
rer der alten kayſerlichen Macht. Freylich hatte manche Stadt
und mancher Stand ſchon ein Privilegium de non evocando
gegen ſie erhalten. Ihre Befugniß dauerte aber im uͤbrigen
noch, bis ſie endlich von den Reichsſtaͤnden dermaſſen ange-
ſchwaͤrzt wurden, daß der Kayſer ſie ihnen Preis geben
mußte.


Wei-
[481]der alten deutſchen Criminaliurisdiction.

Weiter brauche ich jetzt jene Hypotheſe nicht zu verfolgen,
um derſelben einige Wahrſcheinlichkeit zu geben, ich will aber
zum Schluß noch anfuͤhren, wie bey jener langen Gaͤhrung
des Jurisdictionsweſens, wo zuletzt immer ein Richter fuͤr
den andern die Sache nur zuerſt befingern (ſo nennete man
die praeventionem fori) ſuchte, ſehrviele Rechte verdunkelt
worden.


So hatten die Freygrafen ihre Hangebaͤume, und ſein Ge-
richtsfrone die Eicheln und das Laub davon, ohnerachtet ſie
auf eines andern Grunde ſtanden. So unterſchied man die
Windfaͤlle, wenn der Baum uͤber der Erde oder mit der Wur-
zel umfiel, eignete jene dem Holzgerichte, dieſe der hoͤchſten
Obrigkeit als Grundherrn zu; ſo gaben diejenigen, welche
jetzt Schnepfenfluchten beſitzen, und zur Jagd nicht berechti-
get ſind, jaͤhrlich dem Beſitzer der Advocatie zwey Schnepfen
zur Urkunde; ſo hatte der Holzgraf, der ſeinen Urſprung aus
der alten Advocatie hatte, beym Holzgericht den hoͤchſten Stuhl,
den weiſeſten Becher und einen Beutel mit drey Hellern; ſo
erhielt der alte Graf zuletzt eine doppelte Blutronne von je-
dem Todtſchlage, wie die hoͤchſte Obrigkeit dieſes Verbrechen
allein beſtrafte; ſo hatte der Advocatiebeſitzer das Zwangmalz
oder Grut, wie es genannt wurde, wovon jeder Brauer neh-
men mußte; ſo beſaß auch dieſer einen Muͤhlenzwang —
welches mehrentheils in dem Streite verlohren gieng, weil
ein Richter es dem andern nicht zukommen laſſen wollte. —
Zu wuͤnſchen waͤre es, daß unſere heutigen Bardenſaͤnger
mehr die alten wahren Sitten ſtudieren, und uns mit den
Gebraͤuchen unſer Vorfahren auf eine lehrreiche Art bekandt
machen moͤgten, anſtatt daß ſie bloß ihre Einbildung in Un-
koſten ſetzen.



Möſerspatr. Phantaſ.II.Th.LXXXIX.
[482]Von einer neuen Art kleinſtaͤdtſcher Politik,

LXXXIX.
Von einer neuen Art kleinſtaͤdtſcher
Politik, ſo aus dem Acciſe Fixo
entſtanden.


Es hat unſtreitig ſeine großen Vortheile, wenn Staͤdte und
Weichbilder ihre feſtſtehenden Steuren haben, die ſich
mit der Zahl ihrer Einwohner nicht vermehren, und mit der
Aufnahme ihres Handels nicht ſteigen. Die Eingeſeſſenen
werden dadurch ermuntert etwas zu unternehmen, und immer
mehr Familien anzuziehen, welche die Laſt mit ihnen theilen;
ihr eignes Intereſſe verbindet ſie dazu, und je mehr ſie ſich
vermehren, je hoͤher ihre Nahrung ſteigt, deſto weniger fuͤhlt
jeder einzelner Buͤrger die Laſt. Es beruht dieſe Einrichtung
auch auf einem großen Rechtsgrunde. Denn urſpruͤnglich
lagen die Steuren nur auf den Acker, und ein Staͤdtgen mag
hundert oder tauſend Einwohner zaͤhlen: ſo vermehren ſich
ſeine ſteuerbaren Aecker dadurch nicht. Spaͤter hat man nun
zwar den Handel und das Handwerk auch beſteuren muͤſſen,
und dieſes iſt der Billigkeit ſehr gemaͤs, beſonders wenn der-
gleichen Oerter Bannmeilen haben. Treibt man aber dieſe
Steuer zu hoch: ſo geht ſie zuletzt in eine Vermoͤgenſteuer
uͤber, und dazu iſt der Einwohner einer Stadt ſo lange nicht
verpflichtet, als nicht auch diejenigen ſo auſſerhalb den Staͤd-
ten wohnen, dazu angeſchlagen werden. Zudem vermehret
ſich der Handel in der Banmneile nicht, er mag von zehn oder
hundert Kraͤmern getrieben werden; und wenn die Bann-
meile jaͤhrlich tauſend paar Schuh gebraucht: ſo gewinnet
das Staͤdtgen im Ganzen nichts mehr dabey, ob dieſe tauſend
paar
[483]ſo aus dem Acciſe Fixo entſtanden.
paar Schuh von zehn oder zwanzig Schuſtern gemacht wer-
den. Verbeſſert ſich das Staͤdtgen dem ungeachtet: ſo muß
dieſes nothwendig von einem auswaͤrtigen Vertrieb ſeiner
Waaren kommen, und es iſt unpolitiſch diejenigen, die ihr
Vermoͤgen auf eine ſolche Art verwenden, durch erhoͤhete Steu-
ren abzuſchrecken.


So richtig dieſe Betrachtungen ſind: ſo wenig iſt es jedoch
zu dulden, wenn jedes Staͤdtgen nun ſein eignes kleines poli-
tiſches Intereſſe zum Maaßſtabe des Landesintereſſe machen,
und eben deswegen, weil es ein gewiſſes Steuer- oder Acciſe
geld jaͤhrlich aufbringen muß, keine andre Regeln befolgen
will, als ſolche die in ſeinen kleinen Kram dienen. Wir er-
fahren dieſes jetzt an verſchiedenen benachbarten Orten, in-
dem zum Exempel das eine Staͤdtgen, was keinen auswaͤrti-
gen Abſatz ſeiner Waaren hat, alle fremde zu ihm kommende
Waaren zum beſten ſeiner Handwerker mit ſolchen Auflagen
beſchweret, daß kein Fremder weiter dahin etwas verkaufen
kan; wohingegen das andre, das ſeiner Gelegenheit nach ei-
nen auswaͤrtigen Handel hat, bitterlich klagt, wenn ihm der
auswaͤrtige Nachbar ſeinen Markt auf gleiche Weiſe verſper-
ret. Da ſpricht dieſes kleine Staͤdtgen, es laſſe ja ſeinen
Markt den Fremden frey, es ſey unſchuldig an demjenigen,
was das andre Staͤdtgen thue, und es ſey jederzeit zu allen
gegenſeitigen Gefaͤlligkeiten bereit.


Vorher und ehe jedes Staͤdtgen ſein gewiſſes feſtſtehendes
Steuerquantum hatte, wurden dergleichen Sachen nach all-
gemeinen Grundſaͤtzen behandelt; kein Ort konnte vor ſich al-
lein beſondre Steuren auf fremde Waaren anlegen, ſondern
dieſes that der Landesherr, welcher zufoͤrderſt erwog, ob er
im Ganzen dabey gewann oder verlohr, und dann ſeine Maaß-
regeln nahm; wohingegen jetzt, das Staͤdtgen was nach ſei-
H h 2nem
[484]Der alte Rath.
nem eignen politiſchen Intereſſe den Fremden ſeinen Markt
erſchweret, ſich gar nicht darum bekuͤmmert, ob ein anders
unter derſelben Herrſchaft, doppelt ſo viel dabey verliert.


Was ſoll indeſſen der Nachbar in ſolchen Faͤllen thun? Soll
er dem einen Staͤdtgen, was den Handel frey laͤßt, nachge-
ben? und bloß dem andern, was ſeinen Markt den Fremden
erſchweret, den ſeinigen auch verſchlieſſen, oder ſoll er die
Schuldige mit den Unſchuldigen leiden laſſen? In den bey-
den erſten Faͤllen wird er gewiß betrogen; denn das Staͤdt-
gen, was den Markt frey laͤßt, zieht ſeiner Gelegenheit nach
von ihm wenig oder nichts; und dasjenige, was ihn verſper-
ret, hatte ſeiner am mehrſten noͤthig. Alſo iſt es eben ſo gut,
er willige in ſeinen Schaden, und laſſe ſich fuͤr einen einfaͤl-
tigen Tropf halten, als ſeine Maaßregeln gegen jedes benach-
barte einzelne Staͤdtgen beſonders zu nehmen. Das letztere
iſt hart; aber doch allemal ſo beſchaffen, daß diejenigen welche
darunter leiden, es aͤndern koͤnnen, wenn ſie ſich bey ihrer
Landesherrſchaft dahin bemuͤhen, daß das ſperrende Staͤdt-
gen nicht nach ſeinem kleinſtaͤdtſchen Intereſſe, ſondern nach
dem allgemeinen Landes Beſten verfahren muͤſſe.



XC.
Der alte Rath.


Da liege ſo lange bis ich dich wieder aufſetze, ſagte Sid-
nev zu ſeiner Brille, und warf ſie unmuthig vor ſich
auf den Tiſch, da ſie ſeinen verdunkelten Augen nicht mehr
die Dienſte leiſten wollte, die er vielleicht mit Unrecht von
ihr forderte. In dem Augenblick trat ſein Bedienter herein
und
[485]Der alte Rath.
und meldete ihm eine Dame deren Name nicht viel zur Sache
thut, wenn ſie auch Gertrud a) geheiſſen haͤtte. Ich wollte
daß das Ungewitter alle Quaͤlerinnen zum Henker fuͤhrte, ſagt
ihr ich ſey nicht zu Hauſe, war die Antwort womit er den Be-
dienten fortſchickte. Gelaſſen nahm er darauf ſeine Brille
wieder auf und machte das Urtheil fertig, warum die Dame
bitten wollte, und woran er vorher gearbeitet hatte. Kaum
hatte er ſich in ſeinen Lehnſtuhl zuruͤckgelehnt, um eine Arbeit
zu uͤberdenken, die ihm ſein Fuͤrſt aufgetragen hatte: ſo kam
ein Hoflakay und forderte ihn nach Hofe. Der Fuͤrſt denkt
doch, ein ehrlicher Kerl habe nichts zu thun als hin und her
zu laufen, murmelte er vor ſich, und eilte mit einem ſolchen
Eyfer ſeinem Herrn aufzuwarten, daß er ſeine Brille daruͤber
in Stuͤcke warf. Der Fuͤrſt ſprach ihn uͤber die Sache, welche
dieſer bereits uͤberdacht und wozu er den Plan ſchon voͤllig an-
gelegt hatte: er konnte aber weiter nichts aus ihm bringen
als: Ihro Durchlaucht muͤſſen Geduld haben. Bey ſeiner
Zuruͤckkunft begegnete ihm ein alter ungluͤcklicher Mann, den
er vorher in beſſern Umſtaͤnden gekannt hatte, und der ſich
ihm furchtſam naͤherte. Mit einem wohlthaͤtigen Eyfer gab
er ihm in der Geſchwindigkeit alles Geld was er bey ſich hatte,
und das nicht unbetraͤchtlich war, begleitete es aber mit dem
rauhen Segen: Nun geht in Gottes Namen. Zu Hauſe
fand er jetzt ſeine Brille auf der Erde, ſchalt auf die ewigen
Zeitverderber, und vollendete die Arbeit ſeines Fuͤrſten, ob-
gleich die Brille vor dem einen Auge geborſten war. Es ward
indeſſen Abend, und ſeine liebenswuͤrdige Nichte glaubte den
Augenblick zu finden ihn wegen ihrer Heyrath, worinn er
ſchon laͤngſt gewilliget hatte, zu ſprechen. Wie ſie in ſein
H h 3Zim-
[486]Der alte Rath.
Zimmer trat, erzaͤhlte er ihr die Geſchichte von ſeiner Brille,
und das mit einem ſolchen Eyfer, daß das arme Maͤdgen das
Herz nicht hatte ihres Anliegens zu gedenken. Als ſie endlich
traurig weggehen wollte, rief er ihr nach: A propos! Couſine,
eure Hochzeit wird bald ſeyn, hier habt ihr was ich euch vor-
erſt mitzugeben gedenke, aber nun laßt mich mit allen Anſtal-
ten ungeſchoren. Macht alles ſo gut wie ihr koͤnnt und wollt,
ich will es bezahlen, aber nun nichts mehr davon hoͤren. Ver-
ſteht ihr mich? Die arme Hexe gieng furchtſam weg, ſahe
daß ihr der gute Onkte zehntauſend Thaler zum Brautſchatze
geſchenkt hatte, und durfte es doch nicht wagen ihm dafuͤr zu
danken. Beym Abendeſſen faßte ſie ſeine Hand und benetzte
ſolche mit einer dankbaren Thraͤne. Zum Ungluͤck fuͤr ſie war
er eben in ein wichtiges Project vertieft; er fuhr alſo auf,
und wie er ihre Ruͤhrung ſahe, ſagte er ihr weiter nichts als:
Mach ich es denn immer Unrecht? In der Eilfettigkeit wo-
mit ſie ſich zuruͤck zog, wurf ſie ein Glas Wein um, das vor
ihr auf dem Tiſche ſtand. Hier forſchte er mit der groͤßten
Sorgfalt nach, ob ſie ſich auch erſchrocken, oder Schaden ge-
than haͤtte, beruhigte ſie mit den freundſchaftlichſten Worten,
und erzaͤhlte ihr um ſie zu troͤſten, wie es ihm heute eben ſo
mit der Brille ergangen waͤre ..... der alte gute Rath.



XCI.
Der junge Rath.


Die feine Welt hat eine gewiſſe allgemeine Sprache,
worinn ſie ſich bey jeder Gelegenheit etwas angeneh-
mes und gefaͤlliges ſagt. Der Einfaͤltige ſpricht ſie ſo gut wie
der Witzige, und man umarmt einen Feind wie einen Freund
mit
[487]Der junge Rath.
mit einer gewiſſen zaͤrtlichen Manier, uͤber deren Werth man
ſich voͤllig verſteht. Es giebt aber in dieſer feinen Welt noch
Leute welche dieſe Sprache und dieſe Manier beſonders ſtudi-
ret haben, jeden Ausdruck ihrer Augen, jeden Ton ihrer
Stimme, jeden Druck ihrer Hand, und was noch mehr iſt,
ſelbſt einen guten Theil ihres Verſtandes und ihrer Tugenden
in dieſes Geſchaͤfte uͤbertragen, und eine beſondre Wiſſenſchaft
daraus machen. Man kan dergleichen Leute nicht haſſen, ſo
lange ihr Betragen nicht aus Falſchheit herruͤhrt; man muß
ſie auch dulden, wenn es nicht ins abgeſchmackte faͤllt; bey
dem allen aber iſt es doch das Zeichen eines kleinen Genies,
ſo vieles auf den bloßen Ausdruck zu geben, und anſtatt ſich
Wahrheiten und Tugenden zu erwerben, nur immer den Gra-
zien der Figur nachzuſtreben.


Selimor gehoͤrte voͤllig in dieſe Claſſe. Außer jener allge-
meinen Sprache, und den gelaͤufigen Freundſchaftsbezeugungen
gegen alle ſeine Mitbuͤrger in der feinen Welt, hatte er die
Kunſt gefaͤllig zu ſeyn aufs hoͤchſte gebracht. Dorinde mochte
vorlegen oder reden, ſo bezeugte ihr ſein aufmerkſames Auge,
daß er alle ihre Gedanken und Bewegungen dankbar fuͤhlte.
Aus allen ſeinen Wendungen laͤchelte ihr eine ſanfte Schmei-
cheley entgegen; und wenn der Fuͤrſt in den Hofſaal trat: ſo
ſprach die feinſte Ehrfurcht aus jedem ſanften Tritte, womit
er den Boden des Zimmers beruͤhrte. Seine Stellung war
der ſchoͤnſte Ausdruck einer liebenswuͤrdigen Beſcheidenheit;
und alle Tugenden dienten ſeiner Begierde der angenehmſte
Mann zu ſeyn. Ohne Liebe und Freundſchaft zu fuͤhlen wußte
er die Sproͤde zu gewinnen, und der Zaͤrtlichen einen Seufzer
abzulocken. Die Flatterhafte ſahe ſich fluͤchtig nach ihn um,
und die Ernſthafte verweilte ſich gern bey ihm. Kurz in der
ganzen feinen Welt war kein Auge das ihn durch ſchauete; er
H h 4herrſchte
[488]Der junge Rath.
herrſchte durch die Groͤße ſeiner Kunſt uͤber alle verfeinerte
Geſchoͤpfe, und entzog ihnen durch die Macht ſeiner Beſchei-
denheit den ganzen Umfang ſeiner Herrſchaft. Waͤre das
menſchliche Leben nur ein Roſenmonat geweſen; ſo wuͤrde
Selimor als der vollkommenſte Mann geſtorben ſeyn.


Aber nun ſtelleten ſich auch rauhe Winter ein. Der Fuͤrſt
war in Schulden gerathen und uͤberwarf ſich mit ſeinem
Cammerpraͤſidenten, einem wuͤrdigen und geſchickten aber
trockenen Mann. Das Wohl des Herrn und des Staats
erforderte durchaus dieſen Mann beyzubehalten, und Selimor
wurde an ihn abgeſchickt eine Verſoͤhnung zu ſtiften. Anſtatt
aber ſolche zu befoͤrdern, verdarb er die Sache, weil er die
trockene Begegnung des Praͤſidenten fuͤr Grobheit aufnahm,
und das Herz des Fuͤrſten immer tiefer verwundete. Seli-
mor uͤbernahm endlich auf Begehren des Fuͤrſten die Cam-
merſachen. Kaum hatte er ſolche ein halbes Jahr verſehen:
ſo war alles in Verwirrung, weil weder Arbeit noch Dauer
in ihm war, und die bloße Manier außer der Sphaͤre der fei-
nen Welt den Mangel wahrer Verdienſte nicht erſetzte. Die
redlichen und natuͤrlichen Beamten verlohren die Hochachtung
wie den guten Willen fuͤr den Mann, der weder Erfahrung
noch Wiſſenſchaft hatte. Einer von den geringern Bedienten,
dem der alte Praͤſident fuͤr ſeine zahlreiche Familie jaͤhrlich
hundert Thaler aus ſeiner Taſche gegeben hatte, und den Se-
limor nun mit einem freundſchaftlichen Lobe zu ſeinen betruͤbten
Kindern ſchickte, hieß ihn einen Hofſchranzen, weil dieſer den
Werth der Geſchoͤpfe aus der feinen Welt nicht beſſer einſahe.
Der Militairſtand, der in dreyen Monaten keine Zahlung ge-
ſehen hatte, und ſeine Ungeſchicklichkeit in Geſchaͤften bemerkte,
ſchalt ihn einen ſuͤßen Herrn. Die Hofdamen welche das
ihrige auch nicht erhielten, fanden ihn nun ſehr fade, und
wie er einer von ihnen einen kleinen Dienſt mit aller der fei-
nen
[489]Der junge Rath.
nen Anſtaͤndigkeit leiſtete, die er in ſeiner Gewalt hatte, zog
dieſe ihm den Mann vor, der ihr rundweg ohne viele Friſur
diente; und fand es abgeſchmackt, daß ſie fuͤr jede Kleinigkeit
ein zugeſchnittenes Compliment machen ſollte. Eine Wittwe
welche die gerechteſte Forderung an die Cammer hatte, und
ſich bey ihm melden ließ, ward nicht vorgelaſſen, weil er hoͤrte,
daß ſie keinen guten Ton im Vortrag hatte; und der Fuͤrſt,
der zuletzt von allem was vorgieng auf das genaueſte unter-
richtet wurde, bezeugte ihm eine voͤllige Verachtung.


Selimor, der ſo vielen Ungluͤcksfaͤllen nicht widerſtehen
konnte, entzog ſich endlich der feinen Welt, und ſtarb, weil
er niemanden mehr gefallen konnte. Der einzige Hofbild-
hauer erbarmte ſich ſeiner, und ſetzte ihm ein Denkmahl,
woran jeder die Draperie bewunderte, und die Figur welche
weder Groͤße noch Charakter und Erfindung zeigte, mit
Gleichguͤltigkeit anſah.



XCII.
Die geographiſche Lage der Stadt
Oßnabruͤck.


Ehe ich Ihnen ſchreibe, wie die Beobachtungen, welche der
Herr Prof. Lichtenberg von Goͤttingen, uͤber die geo-
graphiſche Lage unſrer Stadt mit Erlaubniß S. K. Maj. tan-
geſtellet hat, ausgefallen ſeyn, muß ich Ihnen zur freudigen
Rachricht ſagen, daß die Charte, welche der edle Patriot,
unſer rechtſchaffener Herr Oberſtlieutenant von dem Buſche
von unſerm Stiffte aufgenommen hat, und der zu Ehren die
hieſige Landſchaft jene Beobachtungen hat anſtellen laſſen,
H h 5merk-
[490]Die geographiſche Lage
wirklich geſtochen worden; nicht die große, ſo aus 17 Plan-
chen beſteht, und in das Cabinet S. koͤnigl. Maj. gekommen
iſt, ſondern die kleine, welche von ihm nach jener verfertiget
worden. Schwerlich hat irgend ein Land auf dieſe Art eine
ſo vollſtaͤndige Charte erhalten, daß ein ehrlicher Mann, um
ſich uͤber den Verluſt einer wuͤrdigen Frau zu zerſtreuen, ſich
aufmacht, und aus freyen Willen auf eigne Koſten, mit vie-
ler Beſchwerlichkeit ein Land ausmißt, und ihm davon eine
vortrefliche Charte ſchenket. Aber ſchwerlich giebt es auch
noch irgend einen Mann, der ſo denkt, handelt, und — was
ich fuͤr das groͤßte Gluͤck ſchaͤtze, ſo mein Freund iſt als er.
Doch jetzt zur Frage: Herr Prof. Lichtenberg hat, nach der
uns mitgetheilten Nachricht die Polhoͤhe oder die geographi-
ſche Breite durch oft wiederholte Beobachtungen nach zwo
verſchiedenen Methoden beſtimmt, nach der gewoͤhnlichen,
und nach derjenigen, deren ſich P. Hell in Wardehus und Hn.
Cap. Niebuhr in Arabien bedient haben, welche um ſo viel
vortreflicher iſt, als dabey diejenigen Fehler des Inſtruments,
die auch der geſchickteſte Kuͤnſtler begehen kan, der Richtig-
keit der Beobachtung nicht ſchaden koͤnnen. Ein Mittel aus
ſeinen beſten Beobachtungen giebt fuͤr die Polhoͤhe
52 Grade 16 Minuten 12 Secunden,
alſo 9 Minuten 12 Secunden weniger, als ſie von Wolffen
a) und auf einigen Charten, aber nur etwa 4 Minuten we-
niger als dieſelbe auf der Oßnabr. Charte von 1753 angege-
ben wird.


Er hat ſich dabey nicht bloß des Firſternen Verzeichniſſes
des Hrn. de la Caille, ſondern auch das von dem beruͤhmten
Hrn. Bradley, dem man ſo lange mit Ungedult entgegen ge-
ſehen
[491]der Stadt Oßnabruͤck.
ſehen hat, bedienet, und bey ſeiner Berechnung jederzeit beyde
Verzeichniſſe zu Rath gezogen.


Die geogrophiſche Laͤnge hat er im Herbſt des Jahrs 1772
aus vier Beobachtungen an den Jupiters Trabanten berech-
net und gefunden, daß der Oßnabruͤckiſche Mittagskreis 30
Minuten 29 Secunden in Zeit von demjenigen gegen Oſten
abliegt, der uͤber Sr. Koͤnigl. Majeſtaͤt Sternwarte zu Rich-
mond geht. Von dieſem liegt der Greenwichiſche 1 Minute
19 Secuuden weſtlich ab, ſolglich der Oßnabruͤckiſche vom
Greenwichiſchen 31 Minuten 48 Secunden. Ferner iſt der
Greenwichiſche von dem Pariſiſchen 9 Minuten 16 Secunden
gegen Weſten entfernt, alſo der Oßnabruͤckiſche von dem Pa-
riſiſchen 22 Minuten 32 Secunden in Zeit. Wird dieſer
letztere Zeitunterſchied in Grade des Aequators verwandelt,
ſo ergiebt ſich, daß Oßnabruͤck 5 Grade 38 Minuten oͤſtlich
von Paris abliegt. Setzt man nun mit dem Hn. de l’Isle
und d’Anville die Inſul Ferro 20 Grade weſtlich von Paris,
ſo wird die Laͤnge der Stadt von beſagter Inſul angerechnet,
25 Grade 38 Minuten
betragen. Herr Prof. Lichtenberg hat nachwaͤrts, weil die
Richtigkeit ſeiner Rechnung, von der Richtigkeit der Tafeln
fuͤr die Jupiters Trabanten abhieng, noch verſchiedene zu glei-
cher Zeit angeſtellete Beobachtungen, insbeſondre des Herrn
Prof. Roͤhls zu Greifswalde, und andrer, die ihm der große
Aſtronom Herr Bernouilli freundſchaftlich mitgetheilt hat,
mit den ſeinigen verglichen, jedoch ſich nicht genoͤthiget geſe-
hen, etwas in ſeiner Rechnung zu aͤndern. Indeſſen muß
man doch hier nur den Grund des hoͤchſtwahrſcheinlichen an-
nehmen, weil man ſelbſt in Berlin, wo ein koͤnigl. Obſerva-
torium iſt, wo Maupertuis, Prof. Kies, de la Lande, und
Bernouilli obſervirt, und Gelegenheiten gehabt haben, eine
Menge
[492]Das abgeſchaffte Herkommen.
Menge von Finſterniſſen der Sonne, des Mondes, der Ju-
piters Trabanten, ja ſelbſt Durchgaͤnge der Venus durch die
Sonne, zu Huͤlfe zu nehmen, noch in Abſicht der Laͤnge die-
ſer Stadt auf 43 Secunden in Zeit ungewiß iſt. Herr Prof.
Mayer zu Greifswald ſetzte anfangs die Laͤnge dieſes Orts
auf 45 Minuten 25 Secunden; und nachher Herr Wargentin
auf 45′ 8″. Bey der großen Sonnenfinſterniß im Jahr
1764 ſchmolz ſie auf 45′ 3″ und im Jahr 1765 auf 44′ 58″
Jetzt 1774 hat ſie Herr de la Lande gar zu 43′ 46″ herunter
geſetzt. Die vollkommenſte Gewißheit iſt alſo, da ſie an je-
nen großen Orten, unter den guͤnſtigſten Umſtaͤnden fehlt,
auch wohl bey uns nicht zu erreichen, wo man in der Eile
ein Obſervatorium aufgefuͤhrt, und nicht ſo viele und ſo große
Beobachtungen anſtellen koͤnne.


Die Abweichung der Magnetnadel hieſelbſt hat er mit ei-
ner 7 Zoll langen Nadel gemeſſen, und dieſelbe 17 Grade
25 Minuten gegen Weſten befunden.



CXIII.
Das abgeſchaffte Herkommen. Eine
lehrreiche Geſchichte.


Nicht weit von der Burg zu Holte wohnten vor lieben
langen Jahren ein Paar frommer Hausleute, welche
den edlen Herrn daſelbſt fuͤr ihren gnaͤdigen Gutsherrn er-
kannten, und ihm ſo wie es das Herkommen mit ſich brachte,
getreu und redlich dienten. Ihre einzige Tochter, ein friſches
ſchlankes Maͤdgen, hatte ihres gleichen unter allen zu dieſer
Burg
[493]Eine lehrreiche Geſchichte.
Burg gehoͤrigen Leute nicht, und wenn ſie jaͤhrlich auf der
Hofſprache a) welche die Herrſchaft damals noch mit ihrer
Gegenwart zu beehren pflegte, tanzte, ſo haͤtte man ſchwoͤren
ſollen, es ſey niemals ein Holzſchuh an ihre Fuͤße gekommen.
Ihre Stimme war ſo rein und klingend, daß man es allemal
auf der Burg hoͤren konnte, wenn ſie unten im Sundern b)
mit den Nachtigallen wetteiferte; und die Hausarbeit gieng
ihr ſo leicht von der Hand, daß der guten Mutter das Herz
lachte, wenn ſie ihr liebes Kind die Droͤſche wenden ſah.


Lange hatte der Sohn des alten Burgherrn, ein junger
Herr, der jetzt die Jahre der Knapſchaft angetreten hatte,
und mit Vergnuͤgen der Zeit entgegen ſahe, da er auf
Ebentheuer reiſen ſollte, die ſchoͤne Sylika, ſo war der Name
der Dirne, insgeheim bewundert, und manchen Abend das
Fenſter in dem dicken Thurm auf der Burg geoͤfnet, um ſich
an ihrer Stimme bey ſtiller Abendzeit zu ergetzen. Oft hatte
er ſchon ſeiner gnaͤdigen Frau Mutter angelegen, ſie zu ſich
auf die Burg zu nehmen, und im Perlenſticken und Haarflech-
ten unterweiſen zu laſſen, und dermaleinſt ein geſchicktes Hof-
maͤdgen, denn der Tittel Cammerjungfer war derozeit noch
nicht uͤblich, daraus zu erziehen. Allein da die Eltern ihr
einziges Kind nicht gern miſſen, und noch weniger die An-
erbin ihres Hofes zu falſchen Hoffnungen und gewiſſen Thor-
heiten verwoͤhnet haben wollten: ſo hatte der alte Burgherr,
ein Mann, der zwar manchen Bieder mann ritterlich erſchla-
gen, und manchen Buͤrger gebrandſchatzet, doch niemals ei-
nem
[494]Das abgeſchaffte Herkommen.
nem frommen Ackersmann das mindeſte Leid zugefuͤget hatte,
ſich allezeit dagegen geſetzet, ſo oft ſein Sohn den Beyfall der
gnaͤdigen Frau Mutter erſchmeichelt hatte. Denn damals
richtete ſich der Haushalt noch nach den Befehlen des Herrn.


Endlich aber wagte er es doch, den Gegenſtand ſeiner ju-
gendlichen Wuͤnſche, da er ſie auf gruͤner Heide allein fand,
um einen Kuß anzuſprechen, und vielleicht haͤtte ſie ihm ſol-
chen in aller Unſchuld nicht verwehrt, wenigſtens hat man
nicht gehoͤrt, daß ſie ein ſauers Geſicht dazu gemacht; wenn
nicht die Mutter, welche hinter der Hecke ſtand, aufs eifrigſte
ihrer Tochter zugerufen hatte: Kind thue es nicht, es moͤchte
eine Pflicht daraus werden.


Mutter und Tochter wußten damals noch nicht was wir
jetzt wiſſen, daß ein Kuß aus Pflicht gegeben, niemals ſo
ſtrenge als ein andrer Hofdienſt gefordert werde. Ihr Wahn
war alſo leicht und um ſo vielmehr zu entſchuldigen, da ſie
von Jugend auf in dem Glauben erzogen waren, daß derje-
nige, der ſeinen Hof mit einer neuen Pflicht beluͤde, ewig auf
demſelben ſpuken gehen muͤßte; ein Glaube, der ihnen jeder-
zeit mehrere Dienſte als alle Gruͤnde, womit die geringen
Leute ſelten recht umzugehen wiſſen, geleiſtet hatte.


Der junge Herr erbot ſich indeß gegen die Mutter bey rit-
terlichen Ehren ihrer Tochter den Kuß ſo insgeheim zu geben,
daß niemals ein Zeuge daruͤber gefuͤhret werden koͤnnte. Er
verſprach in allem Ernſt, weder ſeinem Herrn Vater noch ſei-
ner Frau Mutter das mindeſte davon zu ſagen, und verſicherte,
daß der Kuß ſolchergeſtalt niemals ins Lagerbuch a) geſchrie-
ben
[495]Eine lehrreiche Geſchichte.
ben werden ſollte. Allein die Mutter beharrete auf ihrem
Sinn, und meinte endlich: ſie muͤßte wenigſtens vorher ih-
ren Mann daruͤber zu Rathe ziehen. Das Maͤdgen allein
ſagte nichts; und man weis bis auf dieſe Stunde nicht, ob
ſie nicht gern gewuͤnſcht haͤtte, ihren Hof mit dieſer Pflicht zu
beladen.


Wie ſie des Abends zu Hauſe kamen, und einmuͤthig beym
Herde ſaſſen, erzaͤhlte die Mutter der Sylika ihrem Mann
den ganzen Vorfall. Sie lieſſen beyde ihre Gedanken lange
daruͤber gehen; endlich aber ſagte der Alte, ein Mann von
vieler Erfahrung; Die Sache betrift nicht blos mich, ſondern
alle zur Burg gehoͤrige Leute. Wenn der Gutsherr einmal
das Recht hat, einen Kuß von unſerm Maͤdgen zu fordern;
ſo wird er es mit der Zeit von allen begehren. Es iſt alſo
am
a)
[496]Das abgeſchaffte Herkommen.
am beſten, ich trage es dem ganzen Hofe vor; und was die-
ſer beſchließt, das ſoll geſchehen.


Fruͤh wie die Sonne aufgieng, eilte der Alte zum Meyer-
hofe, und erhielt ſogleich von dem Redemeyer, daß eine Hof-
ſprache angeſaget wurde. Ihr Maͤnner vom Hoſe, fieng
hierauf der beredete Redemeyer ſeine Rede gegen die verſam-
leten Hofesgenoſſen an, ihr wißt, wie oft ich das Ungluͤck be-
klagt habe, daß alle unſre Pflichten jetzt nach dem Herkommen
beurtheilet werden. In den aͤlteſten Zeiten, wie ich von mei-
nen Vorfahren gehoͤret habe, war es nicht alſo; ſondern die
Genoſſen eines Hofes hatten alle nach ihrem unterſchiedenen
Verhaͤltniſſe a) einerley Pflichten, welche auf einer Tafel b)
ſo hinter dem Altar hieng, beſchrieben waren. Man wußte
von keinem Lagerbuche und von keinem Beſitze, ſondern rich-
tete ſich lediglich nach dieſer oͤffentlichen und geheiligten Ur-
kunde. Und man ſagt, daß im Anfange mit Fleiß die Pflich-
ten in jedem Hofe gleichfoͤrmig gemacht worden, um den ge-
ringen Mann gegen alle einzelne Auſbuͤrdungen zu verſichern.
Zu dieſer Zeit machte man ſich kein Bedenken daraus, der
gnaͤdi-
[497]Eine lehrreiche Geſchichte.
gnaͤdigen Herrſchaft ein Fuder Weins aus dem Rheingau zu
holen, oder ihr den Heerwagen bis auf die ronkaliſchen Ge-
filde zu fahren. Denn wir waren durch jene oͤffentliche Ur-
kunde ſicher, daß alles dasjenige, was einer uͤber die durch-
gaͤngig gleiche Pflicht leiſtete, in Ewigkeit eine Gefaͤlligkeit
bleiben wuͤrde. Und wer von uns wollte ſich auch noch we-
gern, einen ſo braven Herrn als unſer alter Gutsherr iſt, nicht
alles aufzuopfern was in ſeinem Vermoͤgen waͤre, wenn es
ohne Folge geſchehen koͤnnte? Allein ſeytdem man angefan-
gen hat lediglich darauf zu ſehen, was der Gutsherr bey je-
dem hergebracht hat; ſeytdem unſere Pflichten nicht mehr hin-
terin Altar in unſer Bauerkirche, ſondern in Buͤchern beſchrie-
ben ſtehen, welche vor hundert Jahren niemand gekannt hat;
ſeit dieſer Zeit, ſage ich euch, hat ſich das Ungluͤck uͤber uns
arme Hofhoͤrige Leute wie eine Flut ausgebreitet. Wir duͤr-
fen unſerm Gutsherrn, ſo gern wir auch wollten, nichts zu
Gefallen thun; wir koͤnnen ſeine Gnade durch unſern beſten
Willen nicht verdienen; wir haben dagegen von ihnen auch
keine zu hoffen; und ſo wird die natuͤrliche Bewegung der
Erkenntlichkeit in uns erſtickt; wir muͤſſen alle Augenblick
grobe Toͤlpel heiſſen, und ſind es vielleicht auch aus Noth-
wendigkeit, weil wir kein Ey bringen koͤnnen, was nicht leicht
angeſchrieben wird. Es iſt alſo auch nicht rathſam, daß eure
Tochter dem jungen Herrn einen Kuß verſtatte. Denn wenn
derſelbe auch nicht angeſchrieben und in Gegenwart einiger
Zeugen gegeben wird: ſo haben die verwuͤnſchten Rechtsge-
lehrten einen Eid erfunden, womit ſie uns armen Leuten gleich
auf den Leib fallen. Das Maͤdgen kan den empfangenen Kuß
nicht abſchweren; und dann heißt es, der Gutsherr iſt im
Beſitz; a) und Beſitz entſcheidet jetzt alles; da doch ehedem
weder
Möſers patr. Phantaſ.II.Th. J i
[498]Das abgeſchaffte Herk. eine lehrreiche Geſchichte.
weder der Beſitz noch der Eid gegen die oͤffentlich bekannten
Hofesrechte zugelaſſen wurde. Ein anders waͤre, wenn unſre
gnaͤdige Herrſchaf die Pflichten, welche aus jedem Hofe gehen,
von neuen oͤffentlich beſchreiben, und auf ſteinernen Tafeln
in der Kirche wieder aufhaͤngen laſſen wollte. Alsdenn moͤch-
ten ſie ſo viel Kuͤſſe, ſo viel Huͤner und Eyer verlangen als
ſie nur wollten. Mit Freuden ſollten unſre Toͤchter ſie hin-
bringen; wir wollten ihnen dienen, ſo oft ſie es noͤthig haͤt-
ten, und ſie wuͤrden ſich auch ihrer Seits gegen uns mitlei-
dig beweiſen, wenn wir einmal nicht im Stande waͤren unſre
Pflicht zu leiſten.


Kaum hatte die verſamlete Menge dem Redemeyer ihrem
Beyfall gegeben: ſo gieng der Vater der Sylika nach Hauſe,
um ſeiner Frauen die Meynung des Hofes bekannt zu machen;
und dieſe brachte es durch ihre ſchoͤne Tochter dahin, daß das
Herkommen ganz abgeſchaffet, und die Tafel in der Kirche
wieder auſgehangen wurde.


Seitdem hat man zwar in dieſer Gegend oft im Finſtern
einen Kuß gehoͤrt; aber niemals geglaubt, daß es eine Spu-
kerey der Sylika ſey; und ihre Nachkommen wiſſen es ihr
noch jetzt Dank, daß keine Mutter uͤber die Hecke rufen koͤnne:
Thue es nicht, es wird eine Pflicht daraus.


a)


Ende des zweyten Theils.



[[499]][[500]][[501]][]
Notes
*)
Die Leibzucht iſt der Wittwen- oder des Wittwersſitz auf-
jedem Hofe; in eigentlichen Verſtande aber, eine Nutzung
auf Lebenszeit, uſusfructus ad dies vitæ.
*)
Der Herr von Montesquieu ſagt eben dieſes; aber der
Auteur de la Theorie des loix civiles. Londres 1767.
*)
S. 94. in der Vorrede antwortet ihm: Quoi les tyrans
aiment les loix ſimples! ils en font l’arme du de-
ſpotiſme! et le ſoutien de l’oppreſſion! autant vau-
droit avancer, que ces animaux que la nature a con-
damnés à vivre dans la nuit du terrier ne recher-
chent rien avac tant d’ardeur que la lumiere du
jour. Je ſuis ſurpris que le livre de Mr. de M., ſi
eſtimable d’ailleurs, contienne tant de prejugés de
ſophiſmes et d’erreurs.
Wer ſollte hier nicht erſchre-
cktn! und kan man eine groͤbere Unwiſſenheit verrathen!
*)
1771. ich bemerke hier das Jahr, worinn dieſer Aufſatz ab-
gedruckt worden, weil man im Jahr 1774. in Herrnkreuh
aus eben dieſen Grundſaͤtzen die Kornhandlung frey gemacht
hat.
*)
Man ſehe hier unten die Abhandlung von dem Urſprung
und Nutzen der Heyen und Hoden.
a)
S. Briefe eines Deutſchen uͤber oͤffentliche Gegenſtaͤnde
des Vaterlandes. Erſte Lieferung: von der Fruchtſperre.
Erfurt 1772.
a)
Der Herr Landdroſt von Muͤnchhauſen ꝛc. Der freye Korn-
handel.
Hannover 1772. Herr H. F. R. Schlettwein:
Die wichtigſte Angelegenheit fuͤr das ganze Publicum.
Carlsruhe 1772.
1).
Gehorſamer Diener.
2).
Ganz und gar nicht.
3).
Die Bank, wo man die Wuͤnſche diſcontiren kan, iſt mir
unbekannt, ich bitte deshalb um eine gefaͤllige Anzeige.
4).
Noch in der That nicht.
5).
Was einfaͤltig iſt, muß wohl auch unvernuͤnftig ſeyn.
6).
Jetzt weiß ich es, und brauche es nicht mehr zu errathen.
7).
Warum? Die Moden erfordern die groͤßten Projecten-
macher.
8).
Sie ſind doch verheyrathet?
9).
O ja, mit allem Reſpee-
gegen den Machtſpruch.
10).
Was der gute Wille nicht thut, wenn er nur gemacht wer-
den darf.
11).
Meine Tochter hat mir weiß gemacht, daß ſie dieſe ſchoͤ-
nen Saͤchelgen fuͤr ihren Aly Bey eingetauſcht haͤtte,
den ich ihr auf dem letzten Jahrmarkte anſchaffen muſte.
12).
Die Mode hat ſich me ſiſtematiſcher gewieſen, als darinn,
daß ſie die Grate-epingles nach den dicken Chignons
aufgebracht hat. Die dicken Koͤpfe muſten nothwendig Un-
geziefer zeugen.
13).
Dieſe waren ſchon vor vier hundert Jahren Mode: in
der Limpurgiſchen Chronick, ſo 1720 zu Wetzlar wieder
aufgelegt iſt, heißt es S. 90. die Frauen trugen Böh-
miſche Kogeln, die giengen da an in dieſen Landen.
Die Kogeln ſtürzt eine Frau auf ihr Haupt, und
ſtunden ihnen vorne auf zu Berge über das Haupt,
als man die Heiligen mahlt mit den Diadement.
14).
Daͤchten ſie dann eine Mode laͤnger als 8 Tage zu tragen?
Sie koͤnnen gewiß noch zehnmal veraͤndern ehe der Schnei-
der mit der Nationalkleidung fertig wird.
15).
Wahrlich eine trefliche Veredlung der Landesproducten,
daß man die hinterſten Haare mit einem klumpen Hede
ausſtopft.
16).
Dieſes iſt mit Erlaubniß ein grober hiſtoriſcher Fehler.
In vorangezogener Chronick heißt es S. 61. In derſel-
ben Zeit da giengen an die weſtphäliſchen Lendener,
die waren alſo, daß Ritter, Knecht und reiſige Leute
führeten Lendener und giengen an der Bruſt an hin-
ten auf den Rücken hart zugeſpannt, und waren alſo
fern als die Schoppen lang war, hart geſtept, bey
nahe eines Fingers dick. Und kame das aus Weſt-
phalen Land.
17).
Nicht doch; die Limpurger Chronick beym Herrn von
hontheim
in Prodrom. Hiſt. Trev. T. I.
18).
O dieſes iſt lange geſchehen; Pudding, Roſtbif und ein
Glas Porter mit der Freyheit zu ſagen, was man denket,
ſind beſſer als alle Leckerey unſrer Gothiſchen Kochkunſt.
19).
Aber ſie zanken ja doch! vergeſſen Sie ihr Wort nicht.
20).
Das haben ſie errathen, indeſſen lache ich doch noch im-
mer gern mit, wenn es der Muͤhe werth iſt.
21).
Sagt der Herr Gemahl auch ja dazu?
17).
S. 1084. redet ſchon von einer aͤhnlichen Sache; die
Frauwen trugen
, heißt es dort, neuwe weite Haupt-
finſtern, alſo, daß man ihre Bruſt und Dutten bey
nahe halb ſahe.
Dieſe Hauptfinſter muͤſſen dem Filet
ziemlich nahe gekommen ſeyn. Ich bitte um Verzeihung
wegen der vielen pedantiſchen Noten. Wir Gelehrten
machen es nicht anders.
22).
Es giebt auch mehrere Arten der Koketterie, und die arme
Hexe, die alle ihre Kuͤnſte von dem Schneider oder der
Putzmacherin borgen muß, verraͤth eine mitleidenswuͤrdige
Armuth. Der Geiſt kan ſich in unzaͤhligen neuen Geſtal-
ten zeigen, und das Herz eine gute Eigenſchaft nach der
andern bald auf dieſe bald auf jene Art entdecken. Eine
ſolche Koketterie verwerfe ich nicht; und auch ſelbſt eine
Nonne im heiligen Schleyer wird auf dieſe Art Kokett
ſeyn koͤnnen.
23).
Ich bedaure ſie von Herzen, wenn ſie ſich in dieſem Falle
befinden. Ihnen zu gefallen kan eine Ausnahme in der
Regel gemacht werden, ſo wie Heinrich der Vierte in Frank-
reich ſie dem leichterm Geſchlechte zum Beſten machte.
24).
Sie vertheidigen ihre Sache nicht ſonderlich. Wenn ſie
mir ein gut Geſicht machen wollen: ſo will ich Ihnen bey
Gelegenheit beſſere Gruͤnde ſagen.
25).
Dieſes waͤre ſo uͤbel nicht. Aber wer erklaͤrt uns jetzt was
Strauben, Stauſſen, Krappen, Kogeln, Preiſchen,
26).
Aber wenn ich mir den Wunſch verbitte: ſo hat die Be-
dingung doch wol nicht ſtatt?
25).
Grellen, Tapperte, Duchſing, Scheckenrock, Hunds-
kugeln, Stauchen
ſo bis auf die Erde hiengen; was
Sorkett und Diſſelſett, was gezatelt, gemützert und
geflützert eigentlich geweſen. Unſre Vorfahren muͤſſen
ihre Moden nicht von Paris geholet haben, weil ſie ſich
kemer franzoͤſiſchen Namen bedienten.
a)
Der Aufſatz iſt vom Jahr 1760 wo dieſe franzoͤſiſchen Kinder
ſpiele Mode waren.
*)
Der Hageſtolz oder Weiberfeind bleibt allezeit ein brauch-
barer Charakter fuͤr das Luſtſpiel, beſonders wenn man
ihn zum letzten Stammhalter einer großen Familie macht,
um deſſen Verheyrathung ſich die ganze Familie, und
ſelbſt diejenige bemuͤhen kan, welche dieſe mit kundbaren
Rechte fuͤr ihn zur Frau beſtimmet hat.
a)
Beylaͤufig muß ich hier einen patriotiſchen Wunſch anbrin-
gen. Wenn man die Heiligen, vor welchen in den catho-
liſchen Kirchen ein ewiges Licht oder eine beſtaͤndige Lampe
brennet, auf die Gaſſen ſetzte: ſo wuͤrde die Stadt ge-
zieret und erleuchtet ſeyn, die Andacht aber nichts ver-
lieren.
a)
Um dieſes in ſeinem voͤlligen Maaſſe zu verſtehen, muß
man bemerken, daß es in dem Stifte Oßnabruͤck Leibeigne
gibet, die ihre Hoͤfe mit zehn und zwanzig tauſend Thaler
Schulden beladen haben.
a)
Omnis homo de XII manſis bruniam habeat Capit.
ann.
805. §. 8.
a)
Das engliſche Liberty and property iſt ſchielend.
Beſſer waͤre honor and property; oder ſchlechtweg
property. Denn property oder dominium ſetzt in
ſubiecto civem Romanum
oder einen vollmaͤchtigen
Mann voraus.
a)
Die ſaͤchſiſche Nation iſt die einzige geweſen, welche die
Menſchen in vier Claſſen, nemlich in Edle, gemeine Ei-
genthuͤmer, zweydrittel Knechte und ganze Knechte
eingetheilet hat.
b)
De Lito occiſo duæ tertiæ compoſitionis cedunt
domino uno tertia propinquis. V. Lex. Friſ. Tit. I.

§. 3. Die Folge zieht ſich von ſelbſt.
c)
Es iſt vermuthlich noch eine Folge hievon, daß man ſpaͤter
den Leibeignen indirecte zugeſtanden hat ein drittel ihres
Guts zu verſchulden, indem ſie nicht eher abgeaͤußert wer-
den, als bis ſie dieſes Drittel uͤberſchritten haben.
a)
Der heutige Soldatenſtand iſt ebenfalls eine Art von
Knechtſchaft; aber er hat eben das feine, daß ein Fuͤrſt
als Musketier dienen kan ohne ſeiner Ehre zu ſchaden. In
verſchiednen Oßnabr. Urkunden vom Jahr 1000 heißt es:
quidam libertus et miles. Hier muß man einem li-
bertum e ſtatu latonico,
nicht aber e ſtatu ſervil
annehmen.
a)
Unter dem Worte Gnade verſtanden die Deutſchen biswei-
len das nobile officium judicis; bisweilen das diſcre-
tum arbitrium domini;
bisweilen auch ipſum conſen-
ſum;
und giebt es auch nothwendige Gnade als z. E. in
Lehnsveraͤußerungen zur Erloͤſung des Vaſallen aus der
Gefangenſchaft ꝛc.
b)
Libertus homo qui full-freal (Vollfreyer) fa-
ctus eſt, res quas a patrono tenet, ipſi reliquat. Lex
Rotharis regis
228.
*)
Mit den Abfindungen oder Auslobungen der Geſchwiſter
von einem Bauerhofe iſt es in Stift Oßnabruͤck eine be-
ſondre Sache, nachdem durch eine ungluͤckliche Folge roͤ-
miſcher Begriffe, der Erbe zum Hofe vor ſeinen Geſchwiſtern
nur eine doppelte Portion voraus hat, und ihnen nach die-
ſem Verhaͤltniß herausgeben muß. Alle Hoͤfe muͤſſen da-
bey zu Grunde gehn.
a)
Es iſt dieſes Oßnabruͤckiſchen Rechtens, welches leyder mit
der Landesverfaſſung ſo verflochten iſt, daß man es durch
Satyren und Predigen nicht ausrotten, und mit Verord-
nungen nicht zwingen kan.
a)
Das Gut ſoll fallen an den naͤchſten Erben huldig und hö-
rig.
S. Eſſenſches Hofrecht beym von Steinen im VI.
Stuͤck ſeiner Weſtphaͤl. Geſch. p. 1754. ſq. Die Erben
ſollen ſeyn ledig, huldig und Hofhörig an dem Gude.
S. die Weſthofiſchen Hofrechte beym von Senkenberg
in corp. jur. Germ. T. I. p. 115. poſt præfat. Die
Hörigkeit ſchloß alle emancipatos, clericos, cives,
und in genere alle diejenigen von der Hofes Erbſchaft
aus, die ſich entweder als Frey oder Eigne in andern
Schutz oder Hulde begeben hatten. Sie hat die Schick-
ſale der Mancipation erlitten, die ſich auch ſpaͤter ver-
dunkelt hat. Man fuͤhlt es kaum mehr, daß ſie der
Grund geweſen, warum Geiſtliche des Lehnrechts darbten,
und noch der Grund der geſammten Hand als eines brief-
lichen Gehörs
iſt.
*)
Man muß es dem Verfaſſer nicht verdenken, daß er zu oft
von dieſer Materie redet. Sie iſt die wichtigſte fuͤr das
Wohl der Staaten, und in oͤffentlichen Schriften noch we-
nig behandelt. Die Aufſaͤtze, ſo hier auf einander folgen,
ſind in den Zeitraͤumen vor mehrern Jahren geſchrieben,
und enthalten oft einen Gedanken mehrmals. Allein wer
in einem Regierungscollegio ſitzt, und taͤglich den verſchied-
nen Beſchwerden und Forderungen, nach einer Theorie,
welche auf die mindeſte Aufopferung von Freyheit und Ei-
genthum gegruͤndet iſt, abhelfen ſoll, weis es am beſten,
wie vieles daran gelegen, ſolche Grundſaͤtze aufrecht zu
erhalten.
a)
Item in liberis hominibus et eccleſiarum ſervis, qui
nobis ratione advocatiae ſubſunt intra diſtrictum
et terminos praenotatos. Docum. de 1259 ap.
Eccard in orig. fam. Habsburgo auſtriacae p.
243.
b)
In einer ganz neulich beym Reichstag uͤbergebnen Schrift
wurde aus einem Schenkungsbrief Kaiſers Lothars I.,
worin es heißt: Coloni et fiſcalini tam de Equeſtre
quam pedeſtre ordine
(beym Eccard l. c. p. 108)
behauptet, daß auch der Dienſtadel unterm Amte geſtan-
den haͤtte. Allein in unſern Regiſtern heißt es freyen
Wagen- und freyen Fußdienſte, und das ſind bis in die
heutigen Stunde keine von Adel, ſondern Pferde- und
Fußkoͤtter de Equeſtre et pedeſtre ordine.
a)
Bonis extra curtem vel a curte ſeparatis.
a)
Es iſt wider alle Wahrſcheinlichkeit und wider den Lauf der
menſchlichen Sachen, daß der Beſitzer eines Landgutes,
wenn es auch jaͤhrlich 10000 Thaler einbringt, ſeinen juͤn-
gern Geſchwiſtern nur die Haͤlfte des Werths auszahlen und
dabey beſtehen kan. Nicht einer unter Hunderten gewin-
net, wenn man dreyßig Jahr fuͤr ſein Leben rechnet, dieſe
Summe wieder, und wenn ſein Sohn abermal mit ſeinen
Geſchwiſtern getheilet hat, ſo geht der Enkel gewiß dabey
zu Grunde. Weit ſchwerer iſt der Stand eines Leibeignen,
der nur einen doppelten Kindestheil behalten und folglich
in den mehrſten Faͤllen Dreyviertel der Erbſchaft ausgeben
ſoll. Dieſer muß nothwendig in die Umſtaͤnde und in die
Verſuchung gerathen, lieber der Heuermann als der Colon
ſeines Hofes zu ſeyn. Geſchicht dieſes, wie man es vorher
ſehen kan, ohne eben Prophet zu ſeyn: ſo werden ſich die
Eigenthumsgeſaͤlle immer mehr und mehr verlieren. We-
nigſtens wird der Leibeigne immer mehr und mehr ein Sclave
der abgehenden Geſchwiſter bleiben. Dieſe werden alles
wegnehmen, was er eruͤbrigen und borgen kan; das Anerb-
recht wird minder geſucht und beneidet werden; und ſo wird
weder der Leibeigne zu großen Baarſchaften, noch der Guts-
herr zu einer billigen Auffahrt auf einmal gelangen.
a)
Die Urkunde ſteht beym Lunig in ſpec. eccl. Contin.
I. p.
134.
b)
Bieſter heißt bey den Weſtphaͤlingern ſo viel als arg. Er iſt
bieſterkrank, bieſter grämlich ꝛc. ſagt man. Die arge
Freyheit
iſt aber, wenn einer ohne Schutz und Schirm ſo
frey als ein Vogel (doch muß es kein Auerhahn ſeyn, der Koͤ-
nigsfrieden hat: in der Luft iſt, den man herab ſchieſſen kan.
c)
Dieß iſt wie bekant noch jetzt im ganzen Stifte Oßnabruͤck
gebraͤuchlich.
a)
Eben dergleichen Gewohnheiten gab es anch an verſchiede-
nen Orten in Frankreich, als z. E. Et ſi aucun de ces
Aubains mourut et n’eut commandé à rendre 4 de-
niers au Baron, tous les meubles ſeroient au Baron.
v. Stabilimenta S. Lodovici L. I. c. 87. ap du.
fresnev. Aubenœ.
a)
Dieſer Begrif haͤngt uns jetzt immer nach; und wir ſind zu
bekannt mit ihm geworden, um ihn gaͤnzlich zu vergeſſen.
Allein wer die alte Verfaſſung beurtheilen will, muß
ſchlechterdings an keine Laͤnder, Landesunterthanen und
Landesordnung denken. Wie eifrig war man in alten
Zeiten auf die Huldigungen, wie man nach eines jeden
Menſchen Einwilligung in die Unterthanen Pflicht fuͤr noͤ-
thig hielt. Jetzt da der Boden Unterthanen macht, haͤlt
man die Huldigung der Bauern fuͤr eine uͤberfluͤſſige
Ceremonie.
a)
De his qui a litterarum conſcriptione ingenui ſunt,
ſi ſine traditione (i. e. absque electione patrocinii)
mortui fuerint, hereditas eorum ad opus noſtrum
recipiatur. capit. II. ann.
813. §. 6.
b)
Qui per chartam ingenuitatis dimiſſi ſunt liberi ubi
nullum patrocinium \& defenſionem non elegerint
regi componantur 40 Solidis. Capit. Baj. anni 788.

§. 7. Die manumiſſi in eccleſia traten ſofort aus der
Knechtſchaft in das patrocinium ſanctiſſimae ſummæ ec-
cleſiæ
und brauchten daher kein patrocinium zu waͤhlen.
v. LL. Rip. tit. 58. Auch diejenigen, ſo per acceptatio-
nem denarii
freygelaſſen wurden, verbieſterten nicht,
wenn ſie ſich keinen patronum erwaͤhlten, weil ſie als
denariales in mundeburde regia blieben.
a)
S. Die Capitulat. Conradi de Ritberg. art 17. beym
Kreſs. vom Archid. Weſen in app. p. 7. Dies findet
man in allen Hofrechten beym Strodmannde jure cu-
riali litonico.
Und noch verliert der leibeigne Sohn
ſein Erbrecht an dem vaͤterlichen Hofe, wenn er aus der
Gutsherrlichen Hulde tritt. Den emancipatis gieng es
zu Rom lange Zeit eben ſo.
a)
Jetzt ſchreyt der Boden aus vollem Halſe: Quicquid oſt
in territorio eſt etiam de territorio.
a)
S. Coll. Concil. Germ. beym HarzheimT. I. p.
495. 505.
a)
Aus einem gleichen Grunde ſollte auch der Exuvienthaler,
das Heergewedde und die uͤbrigen Arten von Mortuariis,
welche ihren Grund in dem alten Coſtume haben, und un-
ter der Territorialhoheit nur zu allerhand widrigen Ver-
muthungen Anlaß geben, ganz abgeſchaffet werden.
b)
Bey den hieſigen Lehnshoͤfen hat das Heergewedde ſeine
feſtſtehende Taxe; die Hausgenoſſen behaupten aus dem-
ſelben Grunde ein gleiches Herkommen; und der alte An-
ſchlag wie das Vieh im Sterbfall zu ſchaͤtzen, hat ein
aͤhnliches Hofrecht oder Hofesherkommen zum Grunde.
a)
S. Boͤhmer in præf. ad Strodtmanni jus curiale litonicum.
b)
Wenn von den Hausgenoſſen eines dem Domcapitul gehoͤ-
rigen Meyerhofes einer ſein Recht verſaͤumt; ſo wuͤrde
a)
In der alten Mark Brandenburg giebt es Corecti und
Gerken ſchreibt davon in diplom. vet. March. Brand.
S. 15. Die Erklärung des WortsCorectihabe in
den
Gloſſatoribusvergeblich geſucht; vermuthlich
aber ſind darunter Coſſanten gemeint, weil von
Bauern die Rede iſt, und dabey ſteht,
qui manfos
non habuerunt.
Sollte man wohl glauben, daß die
Wahlhode oder die Churecht, welche zur erſten Kenntniß
des ſtatus hominium in Deutſchland gehoͤrt, und ſich
durch ganz Europa erſtreckt hat, dermaſſen verdunkelt
werden koͤnnen? Si manſos habuiſſent: ſo wuͤrden ſie
von dieſem ihren Heerbannsgute in der Vogteyrolle, oder
aber wenn dieſe verdunkelt, als Sonderleute in dem be-
ſondern Schutze ihrer dem Vaterland fuͤr das Sundergut
verpflichteten Gutsherrn geſtanden haben.
b)
ſein ganzer Sterbfall zwar verfallen, aber nicht dem Lan-
desherrn ſondern dem Domcapitul als Hofesherrn. Letz-
ters iſt verballmuͤnden, erſters aber verbieſtern. Die Ur-
ſache warum Hausgenoſſen nicht verbieſtern, iſt offenbar
dieſe, weil ſonſt der Hofesherr, der ein jus quæſitum
auf die Einſchreibung hatte, ſolches injuria \& incuria
Coloni
verlieren wuͤrde
a)
In Frankreich behauptet der Koͤnig, daß ſeine aubains
auch insgeſamt ſeine Neceſſairfreyen ſeyn; S. de Laurere
in praef. ad T. I. ordin. reg p. XV.
und dieſes eſta-
bilimentis Ludovici S. L. I. c.
31. wo es heißt: Mes
aubains ne püent faire autre Seigneur que le Roy
en ſon obieſſance, ne en autre Seigneurie, ne en
ſen reſſort qui vaille, ne qui ſoit ſtable ſelon l’Uſa-
ge de Paris d’ Orleannois et de la Soleigne. Aubain

wird insgemein von alibi natus hergeleitet; allein nicht
alle aubains ſind alibi nati, und nicht alle alibi nati
aubains.
Weit wahrſcheinlicher und ich moͤchte ſagen
wahr iſt es, daß man diejenigen, welche im Heer- oder
Arierban zu fechten nicht verpflichtet waren, albanos
oder aubains genannt habe; Al zeigt extremitatem
an, und ſo zeigt ſich die Bedeutung leicht. Eben ſo muß
einer bey der Armee entweder zur Fahne geſchworen haben,
oder doch im Schutze des Generals ſeyn, wofern er nicht
als ein Fremder, Feind, oder Spion behandelt werden
will. Die Schutzgenoſſen des Generals als z. E. Marke-
tenter ꝛc. ſind hier aubains oder albani. Da bey den
Deutſchen außer dem allergroͤßten Nothfalle keine andre
aufgeboten wurden, als diejenigen qui manſos habeant:
ſo waren folglich die andern: qui manſos non habeant
albani
oder aubains. Auf gleiche Art ſind ganze Voͤlker
albani genannt worden, weil ſie denjenigen, ſo ihnen die-
ſen Namen gaben, extra bannum lagen. Die Franzoſen
haben die Lehre von den aubains zu keiner Deutlichkeit
bringen koͤnnen, weil ſie keine Woͤrter in ihrer Sprache
haben, um Churmuͤndige und Nothfreye, Ballmuͤndige
a)
und Bieſterfreye aubains zu unterſcheiden; ohne dieſe
vier Hauptbegriffe aber von einander abzuſondern, ſich
nothwendig verwirren muͤſſen. Ihre Regaliſten ſchreiben
aus dem oben angezogenen Stabilimento Ludovici ſancti
dem Koͤnige das droit d’Aubaine allein zu, da ihm doch
nur die Bieſterfreyen aubains verfallen ſind; indem nach
dem vorhin angefuͤhrten Stabilimento der Baron die
Ballmuͤndigen aubains, qui ne lui paioent pas leurs 4
deniers
beerbte. In den Staͤdten ſind diejenigen unge-
freyten Einwohner aubains, ſo kein Buͤrgergut beſitzen,
und folglich im Buͤrgerbann nicht zu Walle gehen. Unter
ſeinen aubains verſteht der Koͤnig von Frankreich alle ſeine
Freygelaſſenen, und die von ſeinen gehegeten Leuten ge-
bohrne Kinder, auch fremde; denen er nicht geſtattet, ſich
in die Hode eines Barons zu geben. Die Franken hielten
ſchon ehedem ſehr ſtrenge darauf: Nullus tabularius de-
narium ante regem præſumat jactare; quod ſi fe-
cerit, ducentis Solidis culpabilis judicetur
heißt es
in LL. Ripuar. tit. 58. Dies heißt in unſrer Sprache:
Es ſoll ſich keiner der in die Kirchenhode gehört, in
des Königshode begeben;
und in die Kirchenhode gehoͤr-
ten nicht allein die freygelaſſenen ihrer Leibeignen; ſondern
auch alle diejenige, welche von Leyen in der Kirche freyge-
laſſen wurden. Bey den Franken war alſo lauter Neceſ-
ſairfreyheit und faſt wenig Churmund; anſtatt daß in un-
ſerm Stifte bis auf einige wenige alles Churmund iſt;
doch kan auch manches verdunkelt ſeyn, indem ſich in eini-
gen Amtsregiſtern mehr als hundert Freyen befinden, ſo die
Pfennigsurkunde geben; und nach obangefuͤhrten lege
Ripuariorum
wuͤrkte die projectio denarii ante regem,
Koͤnigsſchutz; und ein homo denarialis war in des Koͤ-
nigs Zwanghode. Ueberhaupt ſcheinen die Gutsherrn,
a)
Das Wort: eigen entſcheidet fuͤr ſich nichts. Ein Herr
wird jetzt leicht ſagen: Meine eigne Leute, meine eigne
Unterthanen haben es gethan, ohne daraus ein Leibeigen-
thum zu machen. Wie viel weniger kan alſo aus dem
a)
welche keine Gerichtsbarkeit und folglich auch kein Recht
hatten, aubains aufzunehmen, die Wahl gehabt zu haben,
ob ſie ihre Freygelaſſene in des Koͤnigs oder eines ſpaͤter
dazu privilegirten Heiligen Schutz geben wollten; dies war
eine reſignatio juris patronatus ad manus competen-
tes.
Nachwaͤrts aber hat man dieſe freye Wahl den Frey-
gelaſſenen ſelbſt uͤberlaſſen, und ſie ſind corecti geworden.
a)
In einigen franzoͤſiſchen Orten hat die Sache eine ganz ver-
kehrte Wendung genommen. On arrache le ſerf à ſa
mort de la maiſon de ſon Epouſe deſolée, on le
tranſporte dans une terre etrange, mais libre, une
famille en pleurs ſuit ſon Pere expirant dans des
lieux inconnus, et a ſouvent la douleur de voir,
qu’un transport perilleux pour le malade, mais
dont la liberté commune eſt le prix, a abregé ſes
jours.
S. Diſſertation ſur l’Abbaye de St. Claude,
im Anhang, p. 35. hier hat die Fahrloßigkeit der Koͤnigl.
Beamte gemacht, daß die Leute, ſo ſich aus dem Bezirk der
Abtey St. Claude tragen laſſen, frey ſterben, anſtatt daß
ihre Erbſchaft ſodann als Bieſterfrey dem Koͤnige heimfal-
len ſollte. Dagegen hat die Abtey St. Claude ihre Hode
in eine Sclaverey verwandelt.
a)
Gebrauch des Worts eigen in der Periode der perſoͤnlichen
Anhaͤnglichkeit etwas verfaͤngliches geſchloſſen werden?
a)
So bald der Landesherr auf den Sterbfall der Bieſterfreyen
kein Recht mehr hat: ſo braucht auch keiner ſeine Ver-
laſſenſchaft auf den vierten Fuß, auf einen Exuvienthaler
oder einen Todtenpfennig zu accordiren. Denn wo das
mortuarium ejusque redemtio aufhoͤrt; da faͤngt ſo
fort die teſtamentifactio an; und das Geſetz: Pater
familias uti legaſſit
iſt eine groͤſſere Epoque der buͤrger-
lichen Freyheit in Rom als man insgemein glaubt. Der
Biſchof Adolph verknuͤpfte die Freyheit der teſtamentifa-
a)
Es iſt keine Stadt in Deutſchland, die nicht ein privile-
gium
gegen alle Beerbtheilungen habe, woraus viele die
alte Leibeigenſchaft ihrer Einwohner folgern wollen, und
insgemein hat der Stadtſchreiber noch ein gutes Pfand
von jeder verſiegelten Erbſchaft, eben wie der Meyer von
der Erbſchaſt eines verſtorbenen Hausgenoſſen, welche er
zum Behuf des Hofesherrn beſchreibt.
a)
ction mit der Aufhebung des juris exuviarum; und
dieſe combination wird man in tauſend Faͤllen finden.
Faſt ſollte man auf den Gedanken gerathen, bey der erſten
rohen Vereinigung der Menſchen haͤtten die Vorſteher,
um Zank, Mord und Todtſchlag unter den Erben zu ver-
meiden, jedes Mitgliedes Nachlaß ad ſequeſtrum
genommen und hernach jedem gegen einen gewiſſen Abzug
das ſeinige loͤſen laſſen; da denn unechte Erben (die nem-
lich in keiner Echte geſtanden) kein Recht zur Abloͤſung
gehabt. Das jus ſpolii exuviarum \&c. ſetzet eine ſol-
che Anſtalt voraus; und ſo wie die cuſtodia hereditatis
zuerſt dem patri familias nachgelaſſen worden: ſo iſt ſie
auch nachwaͤrts a comite ad Epiſcopum, ad Epiſcopo
ad Capitulares \&c.
gekommen. Auf dieſe Weiſe erhielte
man einen ſehr vernuͤnftigen Urſprung des juris mor-
tuarii vel ſpolii.
a)
Quid tu tam imprudentes judicas fuiſſe maiores
noſtros, ut non intelligerent iniquiſſimum eſſe eo-
dem loco haberi eum, qui pecuniam quam a cre-
ditore acceperat, libidine aut alea abſumſit, \& eum
qui incendio aut latrocinio aut alio quodam caſu
triſtiori aliena cum ſuis perdidit? Nullam excuſa-
tionem receperunt ut homines ſcirent fidem utique
præſtandum. Satius enim erat a paucis etiam ju-
ſtam exceptionem non accipi quam ab omnibus
aliquam tentari. ſeneca de benef. VII.
26.
a)
Der große Credit der Oßnabr. Eigenbehoͤrigen ruͤhrt daher,
daß die Menge Heuerleute, welche nach Holland zur Ar-
beit gehn, ihnen ihr erworbenes Geld leihen, um etwas
Land zur Heuer zu bekommen.
a)
Das Beyſpiel der Roͤmer iſt gewiß tauſendmal erzaͤhlt Aber von
Deutſchland hat es kein einziger Geſchichtſchreiber bemerkt;
ohnerachtet es eine groͤßere Epoque fuͤr unſere Geſchichte,
als das Datum der Magna Charta fuͤr England ſeyn
ſollte. Das Geſetz iſt deutlich: omnes cenſus vini, pe-
cuniæ, frumenti vel alii, quos ruſtici conſtituerunt
ſe ſoluturos, relaxentur \& ulterius non recipiantur.

S. die Reichstagsverordnung zu Utin vom Jahr 1232. in
der Senkenbergiſchen Sammlung der Reichsabſthiede
T. I. p. 18. Nur muß man das Wort cenſus von den
Advocatiegefaͤllen wohl unterſcheiden; dieſe wurden nicht
aufgehoben.
a)
Detecta et nuda omnium mens poſtera die revoca-
tur et ſalva utriusque temporis ratio eſt. tacit.
de M. G. c. 22.
a)
In ſeinem Traité de la Circulation et du Credit.
Amſt.
1771.
a)
Bey Gelegenheit der ſo wohl fuͤr die Evangeliſchen als Ka-
tholiſchen im Stifte Oßnabruͤck aufgehobenen Feyertage.
a)
Aus dieſem Geſchichtspunkt betrachtet auch ſchon der H.
Bernard Epiſt. 174. die Feyertage, wenn er ſchreibt:
Patriae eſt non exilii haec frequentia gaudiorum,
et numeroſitas feſtivitatum cives decet non exules
a)
Alma mater eccleſia plerumque nonnulla rationabi-
liter ordinat et conſulte, quae ſuadente ſubjectorum
utilitate, poſtmodum conſultius et rationabilius re-
vocat, in meliusve commutat. c. fin. de fent. ex
ſent. ex com. in 6to.
b)
S. Geogr. Chriſtian Neller in diſſ. I. de feriis §. 2.
ſq.
a)
Der Layenſpiegel von Ulrich Jenglern. Straßberg 1536
iſt in dieſer groſſen Abſicht geſchrieben, und iſt ſicher be-
ruͤhmter geweſen, als irgend ein ander avis au peuple
oder ſpeculum populare. Wer ſich davon uͤberzeugen
will, vergleiche die innere Muͤhlenpolicey ſeines Orts
mit dem was dieſer Spiegel von den Muͤhlen hat.
a)
C’eſt à la Chine une marque de Nobleſſe de porter
les ongles de la main droite fort longs. Voiage de
le Gentil.
p.
56.
a)
Un homme qui travaille, ſort de la dignité du ca-
ractere eſpagnol et ſe rend mepriſable — Unpay-
ſan eſtime plus quelques bottes d’oignons qu’il aura
cultivés et levés de terre, la GOLILLE au couque
des milliers de boiſſons de blé qu’il n’auroit pu ſe
procurer qu’en laiſſant dans ſon armoire la maje-
ſtueuſe cravate au moins pendant la Moitié de l’an-
nee. — Philippe III. offrit la nobleſſe et l’exem-
tion perpetuelle des impots et du ſervice militaire
a tous paiſans qui s’adonneroient ſerieuſement a
l’Agriculture v. Teſtament politique du Cardinal Al-
beroni Ch. II.
*)
Dieſer Aufſatz erſchien den 20. Nov. 1773. und im Auguſt
1774. hat die Kayſerin Koͤnigin in ihren Erblanden eine
Verordnung erlaſſen, worinn der Vorſchlag wirklich aus-
gefuͤhret iſt.
a)
Man legt den Landesherrn jetzt uͤberall viele gemeine Aus-
gaben auf die Cammergefaͤlle, ohne dabey zu ſagen, daß
dieſe Gefaͤlle zum Theil ſehr viele gemeine verdunkelte
Steuren enthalten, worauf jene Ausgaben gehaftet ha-
ben. Insbeſondre aber ſind die Herbſt- und Maybeden,
oder Herbſt- und Maygelder alte Steuergefaͤlle; und hier-
aus muͤſſen mit allenfalſiger Huͤlfe einer Nothbede, oder
des Kirchſpiels Beyſteuer, die Fuͤndlinge unterhalten wer-
den. Man ſehe indeſſen des Hrn. Vicecanzler Strubens
Rechtl. Bed. T. I. n. 171.
(a)
S. Capit. Conradi de Retberg de ao. 1482. §. 10.
Erici Ducis de Brunsvic de 1509. §. 11. Franciſci
de Waldeck de 1532. §. 11. Phlippi Sigismundi
de 1591. §. 24. Franciſci Wilhelmi de 1626. §. 20.
Capit. perpet.
§. 51. Beym Kreß vom Archid. Weſe[n]
in app.
a)
Es iſt der Zuſchlag von Rolf Byinck zu Batbergen, durch
deſſen Grunde im Jahr 1490. die neue Haſe nach der Qua-
kenbruͤcker Muͤhlen gegraben, und dem dafuͤr eine Entſchaͤ-
digung aus der Mark von dem Biſchoffe perſoͤnlich abge-
ſtochen wurde. S. die Urkunde beym Lodtmann de jure
Holzgraviali n. XVI.
a)
Epiſcopi \& Abbates ſive comites dimittunt eorum
liberos homines ad caſam ſub nomine miniſteria-
lium. Hi ſunt falconarii, venatores, teleonarii,
præpoſiti
(Vogte) Decani (Bauerrichter, nach unſrer
Art zu reden) \& alii qui miſſos recipiunt \& eorum
ſequentes. Capit. de ao
811.
a)
Die Praͤmie iſt ihr ohne ihr Geſuch, und ohne daß ſie auch
nur dergleichen vermuthet, zugeſandt worden.
a)
Der Menſch hat auch dieſes mit den Gewaͤchſen gemein,
daß er durch die Haut einſaugt. Man hat vorm Jahr ein
gleiches Exempel in England gehabt, wo diejenigen von
den Matroſen, die bey einer entſtandenen Hungersnoth
beſtaͤndig ihre Kleider in Seewaſſer getunkt, ſich ohne andre
Nahrung acht Tage laͤnger als ihre Mitbruͤder erhalten
und ſich endlich gerettet haben.
a)
S. Memoires pour ſervir a l’Hiſtoire de la fete des
Foux. par Mr. du tilliot. T. II.
123.
b)
Lopinant iſt ein Provinzialwort; und nach einem deut-
ſchen Ausdruck von gleicher Art ſo viel als Spliß oder ab-
geriſſenes Stuͤck von einem ſteuerbaren Hofe. Die ſaͤmt-
lichen Spliſſe machen alſo ein ganzes aus; und man koͤnnte
die in der ganzen Welt zerſtreuten Gecken wohl als Spliſſe
der groͤßten Geſellſchaft anſehn.
a)
Jean de Noſtradamus dans les vies des plus celebres
poetes Provençaux 8. Lyon. 1575. p.
26. hat uns
davon noch einen aufbehalten; finalement voyant que
ceſte queſtion eſtoit hautte et difficile ilz l’envoi-
crent aux dames illuſtres tenans cour d’amour à
Pierrefeu et à Signe, qu’eſtoit cour pleniere et
ouverte pleine d’immortelles louanges, aornèe de
nobles Dames et de Chevaliers du pays pour aveir
a)
determination d’icelle queſtion. Les dames qui
preſidoient à la cour d’amour de ce tems eſtoient
celle-cis. Stephanette Dame des Baulx, fille du
Comte de Provence, Adalaize Vicomteſſe d’Avi-
gnon, Adalete Dame d’Ongle‘ Hermyffende Dame
de Poſquieres, Bertrane Dame d’Urgon, Mabille
Dame d’Yeres, La comteſſe de Dye, Riſtangue
Dame de Pierrefeu, Bertrane Dame de Signe, Jeuſ-
ſerande de Clauſtral.
a)
Er gieng zu Schiffe um ſie zu ſehen, und ſtarb bey ſeiner
Ankunft. Vorher hatte er ſchon ein Lied auf den Fall ge-
macht, wenn er, ohne ſie zu ſehen, zuruͤck reiſen muͤßte;
es fieng an: Irat et dolent m’en partray s’yeu non
vey eſt amour de luench etc.
a)
Jean de Noſtradamus l. c. S. 46.
a)
An beyden Orten iſt die Einnahme zwar ſehr groß; aber die
Impreſſarii ziehen das Geld und bedingen manche Prin-
zeßin oft ſo genau, daß ſie, wenn ſie nicht andre Zufluͤſſe
haͤtte, gewiß nichts fuͤr die Zukunft erndten und ſich fuͤr
das Alter einen bequemern Sitz bereiten kan. Garrick,
dieſer große Schauſpieler, dieſer Stolz der engliſchen
Nation, der ein ſo großes Vermoͤgen mit der Buͤhne er-
worben; aber auch zugleich ein Hauptunternehmer der
Buͤhne in Drurylane iſt, wird von jenen gedruͤckten Schau-
ſpielern alſo angeredet:

Think not thy Crimes oh Garrick ſhall eſcape;
Thy Crimes, as Manager, of Monſt’rous ſcape — — —
By royal patent conſtituted ’Squire
To what great purpoſe did thy ſoul aſpire?
Not with true taſte do dignify the ſtage
In gratefull ſenſe of ſuch a gen’ rous age,
Whoſe favors flow’d upon thee in à tide
Unknown beforte: to ſwell thy purſe and pride:
To trik the public and become ſupreme
Were the ſole objects of thy ſelfiſch ſcheme. —
Hasthou e’er given young genius due reward?
Hasthou not rather pinch and grip’d it hart? —

Siehe the thearetsby Sir Nicolaus Nipdoſe. Bart.

a)
Dieſer Aufſatz iſt von einem ungenannten Verfaſſer, der
aber hier mit eingeruͤckt wird, weil man beyde Partheyen
hoͤren muß, um richtig zu urtheilen.
a)
Der Herr Verfaſſer hatte es an ſeinem Gegner getadelt,
daß er eine gar zu bekandte Regel vorausgeſchickt haͤtte.
Hier haͤtte er ſich ſeiner eignen Kritick erinnern ſollen.
Anmerkung der Herausgeberinn.
a)
Amſterdam 1771.
a)
Dahin kamen auch die Roͤmer: Ne impoſterum de ca-
pite civis Romani injuſſu populi cognoſceretur l. 2.
§. 6. ff. de Orig. jur.
a)
Bey der Feſtſetzung des corporis delicti in puncto ho-
micidii
ſollten auſſer dem Richter dem Medico und
Chirurgo allemal noch drey geſchworne Churgenoſſen ihre
Meynung zum Protocoll daruͤber eroͤfnen, ob ſie den Tod-
ten fuͤr ermordet, oder fuͤr erſchlagen oder fuͤr verungluͤckt
halten. Dies geſchieht in England durch The Coroners
Inqueſt
oder die Churgenoſſen.
a)
Der Cammergerichtsaſſeſſor von Ludolf bemerkt es irgendwo
in ſeinen Obſervationibus daß alle Damen, ſo am Cam-
mergericht Proceſſe gehabt, dieſen Namen gefuͤhrt.
a)
Element. Geograph. §. 60.
a)
So wird der Verſamlungstag der hofhoͤrigen Leute im Stifte
Oßnabruͤck genannt.
b)
Sundern iſt ein betraͤchtliches Gehoͤlz, was in Abſicht der
Viehweide offen oder gemein, aber was das Holz betrift,
davon geſondert oder einem Herrn zuſtaͤndig iſt.
a)
Mit den gutsherrlichen Flur- oder Lagerbuͤchern, welche
gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts Mode wurden
und wozu in dem gegenwaͤrtigen ſchoͤn groß Papier ge-
a)
nommen worden, iſt es eine eigne Sache: ich getraue mir
zu ſagen, daß kein einziges richtig ſeyn koͤnne; weil man
zur Zeit, wie ſie aufkamen, z. E. ſagte: Rindgeld Schwei-
negeld, Dtenſtgeld
, und kein Gutsherr dieſes zu Briefe
ſchreiben konnte, ohne ſich mit ſeiner eignen Hand zu ſchla-
gen, gleichwol aber auch ohne Verletzung ſeines Pflichtigen
nicht ſchreiben durfte, ein Rind oder dafuͤr 4 Thaler, ein
Schwein oder dafuͤr 2 Thaler, ein woͤchentlicher Spann-
dienſt oder dafuͤr 10 Thaler. Jeder ſetze ſich hier an die
Stelle des Gutsheren und ſchreibe; und ſehe dann zu, ob
er nicht ſeine eigne Auslegung fuͤr die Wahrheit nieder-
ſchreibe. Ganz anders verhaͤlt es ſich mit dem Beweiſe
durch langjaͤhrige Regiſter. Dieſe bezeugen lediglich das
factum vel praeſtitum, und die Auslegung ſchleicht ſich
auch ſo leicht nicht ein, aber man achtet nicht darauf. Der
l. 7. C. de probat; nach welchem es fuͤr die gemeine
Freyheit ſchaͤdlich gehalten wird, daß ein Mann der andere
zu ſeinem Schuldner ſchreiben kan, iſt fuͤr die ganze
Menſchheit wichtig.
a)
Dieſes war das ſicherſte Mittel den Bauern gegen die Auf-
buͤrdung neuer Pflichten zu ſichern. Aliqui noſtrorum
ſolvunt
Vullſchuld; aliqui dimidia debita, qua vul-
gariter vocantur
Holfſchuld; heißt es in verſchiednen
alten Urkunden. Hier wird die Schuld als eine ſichere
einfoͤrmige und bekanndte Sache vorausgeſetzt; und ein
Monarch, der die Pflichten in jedem Dorfe einfoͤr mig machte,
wuͤrde das gemeine Eigenthum auf ewig verſichern; und
vielen Proceſſen anheim zuvorkommen.
b)
Die Tafeln in den Kirchen, worauf die Pflichten der Ge-
richtsunterthanen beſchrieben waren, waren ehedem haͤufig;
und man muß die alten Deutſchen bewundern, welche die
Erfahrung zu dieſer Vorſicht geleitet hat.
a)
Der Beſitz iſt immer das arme elende Nothmittel, worauf
die roͤmiſchen Rechtsgelehrten verfallen, wenn ſie ſich um
die vaterlaͤndiſchen Rechte nicht bekuͤmmern; es iſt aber
a)
auch ein gefaͤhrliches Mittel, beſonders wo der Eid ein-
zelnen
Leuten angetragen werden kan. Dieſes iſt wieder-
um ein unverzeihlicher Fehler unſrer Praxis. Einem ein-
zelen Manne, der zu einer Gilde oder einem Hofe gehoͤrt,
muß nie uͤber Gilde- oder Hofesgerechtſame der Eid an-
getragen werden koͤnnen; ſondern er muß der ganzen Gilde
deferirt werden, die ſich per Syndicum vertheidigt, und
die Maͤnner ſelbſt ſtellet, deren Eid hiernaͤchſt fuͤr alle ver-
bindlich ſeyn ſoll.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Patriotische Phantasien. Patriotische Phantasien. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bndb.0