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Lebenslaͤufe
nach
Aufſteigender Linie

nebſt Beylagen A, B, C.

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Meines Lebenslaufs
Dritter Theil. Zweyter Band.

Beylage C. Beſchluß.

Berlin: 1781,
bey Chriſtian Friedrich Voß und Sohn.

[[2]][[3]]

In Berlin, das haben meine Leſer, hoff’
ich, ſehr deutlich eingeſehen, gehoͤrte
mein Feldkeſſel zu Hauſe, den meine Mutter
zu kennen nicht die Ehre hatte, und woruͤber
die Frau v. G — hohnlachte, der aber mei-
nes Vaters Mitgabe war. —


Nach Koͤnigsberg brachte uns ein Major
und ſein Schweſterſohn, der als Junker beym
Fuhrwerk ſtand, die uns beynahe zween Tage
in Mitau ohne Noth verzoͤgerten, die Mittag
und Abend in einsweg zu halten, weil eine
Leichenpredigt vorfiel, ſich nicht lange bedach-
ten, und die, wenn gleich ſie nicht erlaubten,
ſich an gruͤnen Plaͤtzen zu verweilen, doch alle
Augenblick einen Platz hatten, wo ſie entwe-
der einen guten Labetrunk wußten, oder wo
der Wirth eine gute Priſe Toback hielte, die
Wirthin etwa ſelbſt huͤbſch war, oder eine
huͤbſche Tochter im Vermoͤgen hatte. Jezt
Extrapoſt, und wenn es meinen Leſern ge-
A 2faͤllig
[4] faͤllig iſt, ſo bis ans Ende. — Ob wir einen
Droſſelpaſtor und ſein Schein und Seyn
kennen oder nicht, und den ſiebenmahl ſie-
ben beſondren Grafen;
die Lindenkran-
ke Predigerin
und ihren Mann mit der
Suͤnde wider den heiligen Geiſt; Gret-
chen,
die mit mir Oſtern auf Minchens Gra-
be feyerte, und Paſtors Trinchen, welche
die heilige Geiſtſtraſſe dreymahl auf und ab-
gieng, und ſo viel andere gruͤne Stellen mehr.
Was thuts? Extrapoſt, nicht wahr? wenn
ſie gleich mehr koſtet, als ein rigaiſcher Fuhr-
mann; ich mache mir nichts draus. —


Von Goͤttingen. Parnaß und Mu-
ſen,
wie es faͤllt.


Vortreflich fuͤr jeden, der Luſt und Liebe
zum Ding’ hat, und doch ſo ziemlich ohn
Jammer und Schad’, fuͤr den, der es nicht
hat. Dieſe Akademie hat bey der Leztgeburth
den Segen, wie Jakob vom Iſaak, ohne ihn
durch rauch gemachte Haͤnde zu erliſten, ohne
ihn durch ein ſchnoͤdes Linſengericht zu beſchoͤ-
nigen. — So viel iſt gewis, Goͤttingen iſt
ſo wenig die Kleinſte unter den teutſchen Uni-
verſitaͤten, daß ſie vielmehr auf dem Wege
iſt, die groͤßte zu werden, oder daß ſie es ſchon
wuͤrklich iſt, den Grosvater in Koͤnigsberg
in
[5] in Ehren; allein giebts in Goͤttingen nicht
auch Grosvaͤter? und wenn gar zum Aelter-
Vater
Hofnung waͤre? Ich kann den Ge-
danken nicht bergen, ohne mich zum compe-
tenten Richter aufzuwerfen: ob und in wie
weit, eben der Umſtand, weil Goͤttingen jung
von Jahren, vieles zu dieſem Fortſchritte bey-
trage? Die Muſen werden im ewigen Fruͤh-
linge der Jahre dargeſtellt. — Zwiſchen
Majoraten, Lehnen, Stiftern und Univerſi-
taͤten ein Unterſchied! Damit ich noch ein
Kapfenſterchen aufſtoſſe; waͤr es nicht gut,
wenn ſich die Univerſitaͤten in Zuͤchten und
Ehren einverſtuͤnden, was ſie eigentlich erzie-
hen wollten? Da koͤnnt’ eine erkohren wer-
den, Profeſſores, academiſche Lehrer zu bil-
den. Laßt uns Profeſſores machen, Bilder,
die uns gleich ſind! Den andern Stief und
rechten Schweſtern waͤre zu uͤberlaßen, mit
der uͤbrigen ſtudirenden Jugend umzuſprin-
gen, oder zu thun und zu laſſen, was jezt ge-
than und gelaſſen wird. Kommen denn alle
auf die Univerſitaͤt zu lernen, um wieder zu
lehren? Da ſind ihrer viel, die nur ſelbſt
wiſſen wollen. Zwiſchen einem Wißer ſchlecht-
weg, zwiſchen einem Vielwißer, und zwiſchen
einem Lehrer, welch ein Unterſchied! und denn
A 3unter
[6] unter der Rubrik, Lehrer, was ſteht da
nicht alles? Schullehrer, Kirchenlehrer, iſt
zwar der bekannteſte Lehrunterſchied; allein
auch gewis der unbedeutendſte. O der un-
ausſprechlichen Unterſchiede! Wie wird ein
Juͤngling ſeinen Weg unſtraͤflich gehen? Die-
ſe Welt iſt eine Schule, wo Lehren und Ler-
nen abwechſelt, und faſt beſtaͤndig ſo, daß
man zu gleicher Zeit lehrt und lernt, Docen-
do diſcimus;
ſonſt wuͤrd’ auch die edle Zeit
verlohren gehn, die oft die beſten Koͤpf’ aufs
Lehren verwenden. Es iſt indeßen, wahrlich,
weit ſchwerer zu lehren, als zu lernen. Der
Menſch hat ſehr was gelehriges; allein wenn
er unterrichten ſoll, zeigt er uͤberall, daß Gott
ſein Lehrer geweſen, und daß er, in Ruͤckſicht
des Lehramts, das Bild Gottes verlohren.
Wahrlich, daß es mit dem menſchlichen Ge-
ſchlechte ſo wenig fortwill, daß es nicht von
einer Stelle kommt, liegt am Lehrſtande.
Das arme Menſchengeſchlecht, wie es da noch
immer in ſeinem Blute liegt? und was thun
unſere Gros- und Kleinſprecher? Sie beſtel-
len einen ſchoͤnen eichenen Sarg, mit im Feur
vergoldeten Griffen, um fuͤr ein Standes-
maͤßiges Begraͤbnis Sorge zu tragen. Die
meiſten Lehrer ſind Curatores funeris, Leichen-
beſor-
[7] beſorger. Gott, wann erſchallt die Stimme;
ſie komme aus Oſten, Suͤden, Weſten, Nor-
den, wenn ſie nur erſchallt: du ſolt leben!


Iſts alſo Gotteswerk zu unterrichten; ſo
gehorchet euren Lehrern und folget ihnen;
denn ſie wachen uͤber eure Seele, ſo lange ſie
nicht Irlehrer ſind! Ich glaube mit meinem
Vater, daß der, welcher zur rechten Thuͤr in
den Schafſtall gekommen, fein methodiſch
ſeine Lektion gelernt, und kein Mietling iſt,
auch andern die rechte Thuͤr zeigen und ein
guter Hirte ſeyn koͤnne, der bekannt iſt den
Seinen, und die Seinen kennet. Dies findet
vorzuͤglich bey Univerſitaͤtslehrern ſtatt, ſo
wie ſie jezt im Schwange gehen. Da hat je-
der ſeine Lektion, die er ad unguem, bis auf
den Nagel ſelbſt, weiß, und alſo auch lehren
kann; indeſſen ſollte man es bey der Man-
nigfaltigkeit der Lernenden und des Unter-
richts nicht bey einem — Leiſten, ja wohl
Leiſten, laſſen. Wuͤrd’ es nicht Fruͤchte brin-
gen in Geduld, wenn man die Saat nach der
erwuͤnſchten Erndte, den Unterricht nach der
kuͤnftigen Anwendung, einrichten moͤchte?
Jezt ſtehn die Studirende nicht viel ordentli-
cher, als die Buͤcher in den meiſten Bibliothe-
ken, nach der Groͤße, nach den Baͤnden, nach
A 4dem
[8] dem Schnitt, nach der Anwerbung. Es fehlt
nur noch, nach dem Verleger und dem Druck-
orte. Das Druckjahr, worauf am wenig-
ſten geſehen wird, wuͤrde vielleicht ein Um-
ſtand ſeyn, der nicht im mindeſten zu verwer-
fen waͤre.


Der Profeſſor haͤngt jezo den Brodkorb
bald zu hoch, bald zu niedrig, und wie oft
vergeſſen nicht die Speiſemeiſter auf Univerſi-
taͤten uͤber der Seele den Leib! Zanket nicht
auf dem Wege, ſagte Joſeph zu ſeinen lieben
Bruͤdern, da er ihnen den Zehrpfennig gab,
und wahrlich dies ſollte die Loſung aller Uni-
verſitaͤten ſeyn. Durchs Zanken wird zwar
die Schale polirt; der Kern aber trocknet ein
in dieſem fein geſchlifnen Gehaͤuſe!


Kann ich doch auf keine Univerſitaͤt kom-
men, ohne mir ihren Ton eigen zu machen.
Ein guter Ton! wenn die Angeber weniger
quid eſt fragen, und alle Wiſſenſchaften zu
Experimental-Wiſſenſchaften zu bringen be-
muͤhet ſind, wie es jezt am Tage iſt. —


In einigen Dingen kann man Univerſi-
taͤtsgebrauch laſſen. Da man einſieht, wie
wenig man weiß, will man lieber irren, als
unthaͤtig ſeyn. Wir ehren einen paradoxen
Mann und bloͤßen unſer Haupt nicht vor ge-
meiner
[9] meiner Erkenntniß. Wir kleiden uns praͤch-
tig und ſollen nur rein einhergehen. Ein
Suͤnder, der Buſſe thut, iſt beſſer, als neun
und neunzig, die der Buſſe nicht beduͤrfen.
Ein faͤhiger Unwiſſender, er ſey wuͤrklich un-
wiſſend, oder er koͤnne ſeine ſo genannte Ver-
nunft gefangen nehmen, ſo oft ſie die Fenſter
einwerfen will, iſt ein ſo ſchoͤnes Naturſtuͤck,
als man nur, nachdem das Paradies einge-
gangen, ſehen kann. —


Kein Examen in Goͤttingen. Wozu
der Unrath, wenn gleich ein Grosvater dabey
am Ruder war, wie erwuͤnſcht fiel der Blitz
durch die Ritze! — Gute Hausmuͤtze, du
konnteſt nicht gelegener, wie ein Eyd, das
Ende alles Haders machen!


Den Fechtboden und das Reithaus
nicht zu vergeſſen; wahrlich ein paar Vergiß-
meinnicht in Goͤttingen! Wir ſind hier ge-
bohrne Fechter und Reiter, ſagte mir der Koͤ-
nigliche Rath beym Creyßrichter in Koͤnigs-
berg, da der letzte eben eine denkwuͤrdige
Schlaͤgerey mit allen ihren Punkten und Clau-
ſeln referiret hatte. Kein Wunder, daß ich
in Koͤnigsberg ſo ſchoͤne Vergißmeinnicht
nicht fand!


A 5In
[10]

In Goͤttingen ſpielt’ ich auf Fechtboden
und Reithaus Alexander, wiewohl ohne an
jene jugendliche Ritterſpiele zu denken, deren
vorgeſtecktes Kleinod Mine war. Berlin
aber ſah ich vor mir; den Paradeplatz nem-
lich in Berlin und in Potsdam, wo der Koͤ-
nig, wie die Sonn’ auf ein Gelaͤnder Pfir-
ſchen, wirkt; dann ſchien es, daß ſich ein Ge-
danke in mir hob, der wollte und noch nicht
konnte. Man muß ihm ſeine neun Monden
Zeit laſſen! — Getauft ſoll er werden, wenn
er zur Welt kommt. —


Ich ſtudirte die Mathematik. Sie, dacht’
ich, iſt zu allen Dingen nuͤtze. Sie iſt das
Lineal, und lehrt, ſich bey allen Wiſſenſchaf-
ten gerade halten. Selbſt Cicero maaß —
— Doch hatt’ er nicht zu viel Mathematik
in ſeinen Reden?


Zu viel Mathematik im Felde taugt nicht.
Was meynen meine Leſer vom ciceroniani-
ſchen Kriege?


Mein Vater war mit dem ganzen Gange
meiner Studien, den ich ihm getreulich und
ſonder Gefehrde vorlegte, zufrieden. Meine
Mutter empfahl mir, große Maͤnner zu hoͤ-
ren, die ſich hoͤren ließen, um ihren Aus-
druck beyzubehalten, und ich lernte hier einen
kennen,
[11] kennen, der weder Hand noch Auge brauchte.
Das Auge, pflegte mein Vater zu ſagen, hat
Chriſtus ſelbſt bey ſeiner Bergpredigt ange-
wandt. Es gehoͤret dem Prediger; die Hand
aber dem Handwerker. Dieſer Redner ohne
Aug’ und Hand fachte in mir keinen goͤttlichen
Ruf zum Geiſtlichen auf, der ſich voͤllig ge-
legt hatte, da ich keine Mine mehr hatte.
Bey meiner erſten Predigt galt mir ihr ver-
ſtohlner Blick und Nummer 5 mehr, als alle
uͤbrige klingende Muͤnze von großer Anlage,
von unvergleichlichen Kanzelgaben, von Kir-
chenvaͤterlichem Anſtand. Minchen liebte
mich nach der erſten Predigt mehr, als ehe-
dem. Ich hatte mich zum Manne ihrer See-
le gepredigt, und war vom Alexander bis
zum lieben Jungen erniedrigt oder erhoͤht
worden. —


Vergeblich erinnerte ich mich, daß mein
Vater, wiewohl nach dem Brande, mich ver-
ſichert hatte, daß ein Geiſtlicher der gluͤcklich-
ſte Menſch in der Welt waͤre, und daß ſeine
Seele in beſtaͤndigem Fruͤhling ſey, wo es
nicht zu kalt, noch zu warm iſt. Fruͤhling
iſt das Clima des Himmels; in der Hoͤlle
iſt Winter und Sommer! — Herbſt
wuͤrde alsdenn das Fegfeuer ſeyn!
Be-
ſtaͤndi-
[12] ſtaͤndiger Fruͤhling, guter Vater? wenn es
aber ein nordiſcher waͤre, wo man den Fruͤh-
ling blos im Calender und in einer lebhaften
Einbildung hat? Zwar in deinem Lande, wo
man zeitig eine Pfeife in der freyen Luft raucht,
den Wein bey der Quelle trinkt und lange
Manſchetten traͤgt — Aber wo gehoͤrſt du zu
Hauſe? — wo? Im Himmel! Guter Va-
ter, da iſt aller Menſchen Vaterland. „Din-
„ge der Zukunft ſind der Geiſtlichen Be-
„ſchaͤftigung.“
Das waͤre ja ein gefund-
nes Eſſen fuͤr mich, der ich Jagdmuͤde bin,
und wahrlich kein Linſengericht, das eine Erſt-
geburt zu ſtehen kommt! Wie aber, wenn
der Geiſtliche uͤber der andern Welt dieſe ver-
gaͤſſe, nur an den Lohn daͤchte, ohne des Ta-
ges Laſt und Hitze zu uͤbernehmen? Wenn
er, den Purpur und die koͤſtliche Leinwand
ſelbſt nicht abgerechnet, hier wie einer der ſie-
ben Bruͤder des reichen Mannes herrlich und
in Freuden lebte; wenn ers mit der Ewigkeit
ſo machte, wie geitzige Leute, die aus Furcht,
in ihrem Lande das Ihrige durch Handel und
Wandel zu verlieren, die uͤberfluͤßigen Capi-
talien in auswaͤrtige Banquen ſenden, oder
ſie auf ſichere Hypotheken eintabuliren laßen,
um ein recht gemaͤchliches Zinſenleben fuͤhren
zu
[13] zu koͤnnen? Man ſehe ſich doch um, laͤßt
ſich denn der Geiſtliche nicht weit lieber bey
ſeinem Lehnspatron, als bey Abraham, Iſaak
und Jakob, zu Tiſche bitten? Sich zerſtreu-
en, heißt denn das leben? Es heißt, recht
geflißentlich nicht leben, es heißt, das Leben
fliehen, das ohne hin nicht leiden kann, daß
man es ſauer anſieht. Zwar giebts Maͤnner,
die, wie mein Vater, ein Rad gebrochen und
im Wirthshauſe weilen, die, wie der Paſtor
in — Droſſelfaͤnger, und wie der in L —
Ehemaͤnner von Weibern ſind, die eine Lin-
denkrankheit haben, aber —


Ich will es meinen Leſern nicht laͤnger
vorhalten. Soldat, dachte ich, um mein
Leben in die Schanze zu ſchlagen, um ſo zu
ſtehen, wie Urias, wiewohl wider Wiſſen und
Willen, ſtand, als der Koͤnig David ſein
Weib zur Wittwe machen wollte. Welch ei-
ne Kluft indeßen war zwiſchen dieſem Gedan-
ken, und der Ausfuͤhrung! welch eine Veſte
war einzunehmen! Ich verſteckte mich, wie
meine Leſer es ſelbſt wißen, mit dieſem Ge-
danken unter die Baͤume im Garten, und
ſtellte mich geflißentlich ſo, damit meine Mut-
ter mich am wenigſten ſehen moͤchte, deren Lo-
ſung
[14] ſung es war: wer ſeinen Eltern nicht folgt,
folgt dem Kalbfell
. —


Ich ſtudirte in Goͤttingen Kriegskunſt.
Kriegskunſt? — Das war ein Wort fuͤr
Mauchen. Die Kriegskunſt und Urias? aber
du guter Mancher! Lernt man denn die
Kriegskunſt fuͤr ſich, oder fuͤr andere, und
ſteh’ ich denn mit dem Urias eben in einem
Gliede? Wagen kann der Menſch ſich ſelbſt;
umbringen muß er ſich nicht. —


Die Hoch und wohlgeordnete und eben ſo
auch verordnete Bibliothek in Goͤttingen iſt
nicht ein Schatz fuͤr Motten und Roſt, wor-
nach hoͤchſtens die Diebe graben und ſtehlen.
Sie iſt ein oͤffentliches Haus, wo jeder einen
Zutritt hat. Die Bemerkung meines Vaters
wie wahr! Eine Univerſitaͤt und keine Bib-
liothek, iſt ein Weinhaus ohne Keller — da
geh’ ich doch hundertmal lieber in einen Kel-
ler, ſo finſter es auch drinn ausſieht, und ſo
ſchwer herabzuſteigen er auch iſt, und trinke
die Gabe Gottes friſch und kraͤftig, faſt wie
an der Quelle, lieber, ſag’ ich, als daß ich in
manchem praͤchtigen Auditorio lange geſtan-
denen warmgewordenen Wein aus einem be-
griffenen Geſchirr trinken ſollte. Das Ge-
ſchirr mag patriarchaliſch, griechiſch, gothiſch,
oder
[17] oder modiſch gearbeitet ſeyn. Eine Univerſi-
raͤt und eine Bibliothek ſind ſich ſo nahe ver-
wandt, daß ich behaupten koͤnnte, eine Aca-
demie ſey nichts weiter, als eine Bibliothek,
wo es oft genug iſt, zu wißen, im Schranke
linker Hand, da und da! Mit dieſem Ent-
ſchluße kam ich in Koͤnigsberg an, und gieng
nach Goͤttingen. Ich that nichts weiter, als
Regiſter machen, welches ein ander Ding iſt,
als Calender, pflegte mein Vater zu ſagen. —
Das Motto uͤber eine Bibliothek dieſes Man-
nes, der meinen Leſern bey ſeiner Buͤchermu-
ſterung bekannt zu ſeyn die Ehre hat, wie
richtig! Machet euch Freunde mit dein
ungerechten Mammon, auf daß, wenn
ihr nun darbet, ſie euch aufnehmen in
die ewigen Huͤtten
. —


Ich kann nicht aufhoͤren zu ſagen, was
mein Vater geſagt hat. Mich wunderts,
pflegte er vor dem Brande zu bemerken, daß
man nicht das Vater unſer und ſeinen Namen
vergißt, und mancher Profeſſor ſein Colle-
gium. —


Außer der Mathematik ſtudirt ich mich
ſelbſt. Wenn Newton entdeckt haͤtte, wie
es mit der Welt von Anfang geweſen, und
was es mit ihr, oder mit ihrem Ebenbilde,
Bdem
[18] dem Menſchen, fuͤr ein Ende haben werde;
ſo waͤr’ es doch noch ein Erfinder geweſen;
allein ſo gehts! Wenn die Menſchen ſich
zeigen, kehren ſie wohl vor ihrer eigenen
Thuͤr?


Seht, wie die Natur es zur Menſchen-
kenntnis recht geflißentlich angelegt hat! Die
Menſchen ſind geſellig, wie man ſagt. Wenn
wir nach Menſchen auslaufen, wollen wir
die meiſte Zeit nicht den Menſchen, ſondern
dieſe oder jene That. Nur wenn man was
Großes von Jemanden gehoͤrt, iſt man begie-
rig, ihn zu ſehen, und wenn man ihn ſieht,
ſieht man denn wohl den Menſchen? — Faſt
nicht, ſondern ſeinen Geiſt, (ſein Geſpenſt,)
die That, die ihn vergroͤßerte. Es iſt eine
Erſcheinung! Ein Geſicht! Schurken dren-
gen ſich vielleicht, große Leute zu ſehen, weil
ſie ſich nicht vorſtellen koͤnnen, daß es ſolche
Menſchen gebe. Der Edle ſieht im Spiegel.


Auch den Boͤsartigſten will man ſehen;
vielleicht um ſeine Pfoſten zu ſichern, daß der
Wuͤrgengel voruͤber gehe! Akademien ſind
ſelbſt, um zu ſehen. Das Gehoͤr iſt ein Stuͤck
vom Geſicht. Im Othem liegt die Liebe, in
der Rede die Probe von Weisheit und Thor-
heit. Rede und du biſt, hab’ ich ſchon ſonſt
wo
[19] wo behauptet; allein ſelten trauen wir der
Rede, wenn wir Temperament und Gemuͤths-
charakter kennen lernen wollen. Man haͤlt
die Zunge fuͤr beſtochen, fuͤr gedungen. Sie
iſt hoͤchſtens ein Hauszeuge. Eben darum
der natuͤrliche Hang zur Phyſiognomik. Man
will in den Augen ſehen, wie dem Menſchen
ums Herz iſt. Freylich iſts ſchwer, von dem
auswendigen Menſchen auf den inwendigen
zu ſchluͤßen. Ich wuͤrde weit eher aus dem
Kleide, aus dem Pferde, den Menſchen beur-
theilen, als aus ſeinen Geſichtszuͤgen, und
andern Schilden, die er vielleicht mit gutem
Vorbedacht aushaͤngt, und vom beſten Stadt-
mahler zeichnen laͤßt. Waͤre hier zur Gewis-
heit zu kommen, wuͤrden die Folgen nicht eben
ſo gefaͤhrlich ſeyn, als es die von der Gewis-
heit unſerer Todesſtunde ſind? Ich gebe
ſelbſt zu, Gottes Finger habe ins Geſicht dem
Menſchen ſein Teſtimonium geſchrieben; wer
kann aber Gottes Hand leſen? Da ſie auf
Cains Stirn leſerlich werden ſollte, mußte
ſie verſtaͤndlich gemacht und mit rother Tinte
unterſtrichen werden. In der nemlichen Ruͤck-
ſicht ſind wir ſo fuͤr Handlungen, fuͤrs entſte-
hen ſehen, vor unſern Augen, fuͤrs goͤttliche
Sprechen, wo Donner und Blitz eins iſt! —
B 2„Eher
[20]„Eher haͤtt’ ich das bedenken ſollen?“
und wenn ichs bedacht haͤtte, geſtrenger Herr,
bin ich denn nicht auf der Akademie? und
ſollte man, ſo bald man der Sache naͤher
tritt, nicht finden, daß ich auch hier handle,
und nicht erzaͤhle! Hier iſt Vivat und Pe-
reat, hoch und tief! — eine Serenade und
eine Stunde im Anditorio.


Wollen Ew. Geſtrengigkeit alles mit Ei-
nem von hohen Schulen? Wir haben ihnen
die Abſonderung der Wiſſenſchaften, die Be-
voͤlkerung derſelben zu danken, und ein ge-
wißes Stellen in Reih und Glieder. Zwar
weiß ich den Einwand dagegen; allein wird
dieſer Maurbrecher unſerm Syſtem Schaden
zufuͤgen? Freylich iſt alles in der Welt in
der Gemeinheit, und freylich iſt noch die Fra-
ge: ob es denn ſo gut ſey, daß alles und je-
des aus der Gemeinheit geſetzt werde? Frey-
lich kann man auch ſeine Lieblingswißenſchaft
nicht ganz aus aller Gemeinheit bringen, da
ſelbſt Leib und Seele in einander wirken; in-
deßen iſt doch ein Tauſendkuͤnſtler gemeinhin
ein ſchlechter Kuͤnſtler! — Der Schuſter kann
dem Mahler nicht verbieten, einen Schuh zu
treffen, und der Schneider nicht, wenn der
Mahler ein Kleid fertiget; allein gemahlt iſt
nicht
[21] nicht gemacht! — Das Gemenge koͤnnte viel-
leicht dem ſymboliſchen Erkenntnis foͤrderlich
und dienſtlich ſeyn, wo man am Leitfaden der
Aehnlichkeit zur Wahrheit kommt; allein
bleibt denn auf dem gelehrten Marktplatz der
Univerſitaͤt nicht noch eine Gelegenheit zu
Symbolen uͤbrig, wenn gleich verſchiedene
Abtheilungen vorhanden ſind? Muß ich denn
gehen in den Garten, um ihn zu beurtheilen,
und iſt hier nicht ein Ueberblick oft nuͤtzlicher,
als ein Gang? — Alles iſt Symbol; Zahlen
ſelbſt, wer ſollte das denken, ſind Symbolen
der Groͤße! — Der Menſch iſts von Gott.
Darum ſind wir ſo große Bilder-Liebhaber!
— Den Kindern bringt man alles durch Bil-
der bey, weil Bilder kleiner als die Natur in
Lebensgroͤße ſind. Mit dem Bilde ſpielt
man; allein wer kann es mit der Natur,
ohne ſich die Finger zu verbrennen? — Je
mehr der Begrif in die Sinne faͤllt, oder in
dem Sinne liegt, je weniger Muͤhe machen
die Worte. Je abſtrakter aber der Begrif,
je ſchwieriger der Wortfang. Auf Univerſi-
taͤten, wo auf allen Straßen abſtrahirt wird,
ſcheint dieſe Gewohnheit zur andern Natur
zu werden! — Selig ſind, die nicht ſehen
und doch glauben. Die Probe bey der Ab-
B 3ſtrak-
[22] ſtraktion iſt geiſtiſch. Zwar iſt auch hier die
Anſchauung die Probe; allein ſie bleibt ſo
ſchwer, als das zu probirende Exempel ſelbſt,
und noch ſchwerer. Leichter iſts, die Sphaͤ-
ren-Muſik zu hoͤren, oder ein Dichter zu ſeyn,
als abſtrakte Sachen anzuſchauen und an-
ſchauend zu machen! — Nur Sonntagskin-
der koͤnnen Geiſter ſehen, ſo wie Leibnitz, zum
Beiſpiel, auf einem Baum das Principium
indiſcernibilium. Zwar geben ſich auch et-
liche mit Geiſterbeſchwoͤrungen ab; allein ich
halte nichts von der Clavicula Salomonis,
und wer weis es nicht, wie es dem D. Fauſt
gegangen?


Der Fuß ſchlaͤft zuweilen ein, und wer
kann alsdenn von hinnen! Man nennt dies
Beſterben; wer ſagt aber, daß der Kopf be-
ſtirbt, und doch beſtirbt er eben ſo, und aus
eben der Urſache, wie der Fuß. Wir merken
nicht ſo ſtark auf das, was den Organenbe-
weger trift, als auf die Organe. Ungern
laßen wir Etwas auf den Kopf kommen, den
wir zur Schau tragen, fuͤr jeden, der Luſt
und Liebe zu ſehen hat. Wir thun gegen alle
Welt gros damit. Dem Mann der Hut,
dem Weibe die Kinder. Den Hut koͤnnen
wir mit leichter Muͤhe abnehmen; ſonſt wuͤr-
den
[23] den wir ihm die Wuͤrde eines Ehrenzeichens
nicht einraͤumen. Es giebt Voͤlker, die das
Haupt bloͤßen, wenn ſie mit Gott reden, und
Voͤlker, die es decken. Die es bloͤßen, thun
es bey Leibe nicht, um dem Kopf gegen Gott
nichts zu vergeben; ſie wollen vielmehr zei-
gen, daß auch der Kopf ein armer großer
Suͤnder ſey. Voͤlker, die ihr Haupt decken,
ſchoͤpfen aus der nemlichen Quelle. Sie
ſchaͤmen ſich, vor Gott ihr Licht leuchten zu
laßen, und kriechen unter die Baͤume im
Garten. — — —


Sollte hie und da ein Kunſtrichter von
meinem Kopf zu behaupten fuͤr bequem fin-
den, daß er zuweilen beſterbe — ſo mag er
wißen, wie man der Erde nicht anſehe, daß
ſie ſpornſtreichs laufe. — Sieh da! — Ich
reiſe Extrapoſt, und ſcheine nicht von der
Stelle zu kommen! — Fuͤrs Kleinkauen bin
ich nicht, guter Freund, ſo geſund es uͤbrigens
deinem ſchwachen Magen ſeyn mag!


Alles, was iſt, hat Geiſt und Leib — Ich
liebe von allem nur den Geiſt vom Buch, vom
Trank, vom Eßen.


Wie weit, ſagte mir einſtmals ein fei-
ner Juͤngling
vor der Stunde, wie weit
ſind noch unſere hohe Schulen vom Ziele!
B 4wie
[24] wie weit! — Alles iſt noch zu tapfer, anſtatt
daß es verfeinert ſeyn ſollte. Je roher die
Nation, je tapferer der Buͤrger! — Je mehr
Renomiſt, je weniger Fleiß!


Aber, fieng ein andrer an, wiſſen ſie
auch, daß ein Knaͤbchen, Milch und Blut im
Geſicht (ſchon wollt ich Angeſicht ſagen, das
gebuͤhrt keinem Knaͤbchen) wiſſen ſie auch, daß
ein ſolches Buͤrſchgen mit aller ſeiner Wiſſen-
ſchaft kein Kerl iſt? Ich nahm mich diesmal
des andern an. Der Nutzen iſt beym Ge-
ſchmack nur nebenher, ſagt’ ich. Sobald der
Nutzendurſt, eigentlich Hunger, zu merken iſt,
leb wohl, Geſchmack! Fein iſt der, der in der
Anſchauung Vergnuͤgen findet; feſt, ſteif, klug,
wer auf Nutzen, wenn der Nutzen gleich nicht
zu den ſichtbaren Geſchoͤpfen gehoͤret, bedacht
iſt. Nutzen iſt ein Gegenſtand des Nachden-
kens, Feinheit iſt ein Dienſt der Sinne. Wenn
aber gleich eine ſilberne Doſe weniger gefaͤllt,
als eine von zerbrechlichem Porcellain, es ſey
berliniſch, oder aus Dresden; was meynen
Sie, hat man denn immer Zeit, eine Doſe
zu warten? und iſts nicht unangenehm, wenn
ſie bricht? Hat man denn nicht mehr in der
Welt zu thun, als Geſchmack und extra feinen
Geſchmack zu zeigen? Ein Bauer, der ſeine
milch-
[25] milchgebende Kuh verkauft, um ſich eine Alon-
ſche zu kaufen, oder eine brabanter Kante, oder
einen Rubens, (ein Stuͤck von ihm) was mei-
nen Sie?


Wer recht viel vor ſich gebracht hat, kann an
Verfeinerungen denken. Wer ſein Feld gebaut,
an den Garten, und wer ſein Haus in Dach
und Fach berichtiget, an Verzierung in ſeinen
Zimmern. Das Menſchengeſchlecht, in Wahr-
heit, hat ſo wenig mehr zu verlieren, daß, wenn
es noch lange mit zerbrechlichem Porcellain
ſpielen wird, wenn es nicht bald anfaͤngt ſich
zu beſinnen, und eine ſilberne Doſe, die was
aushaͤlt, zu kaufen, wenn es nicht wieder auf
Dauer, Staͤrke des Leibes und der Seele zu
ſehen ſich entſchließt, nicht viel drum zu ge-
ben iſt. Waͤre das menſchliche Geſchlecht
mehr renomiſt, mehr ſtark, mehr teutſch, man
koͤnnte eher was mit anheben.


Ja wohl, ſagte Herr v. G —, der dies-
mal in der Stunde war, wer nicht ſeine drey
Tag und Nacht auf der Jagd ſeyn, und dem
Hirſch den Faͤnger entgegenſetzen kann, iſt we-
der zum Groben noch zum Subtilen aufgelegt.
Mehr wollt’ er nicht anbringen, um es mit
dem Juͤngling, der, ſo fein er war, doch wohl
Herz haben koͤnnen, nicht zur Jagd anzulegen.


B 5Ein
[26]

Ein Haus, pflegte mein Vater zu ſagen,
das lange Niemand bewohnt hat, verliert ein
gewiſſes Leben! — Was nur bewohnt iſt, lebt,
oder iſt belebt. Es iſt ihm ein Leben einge-
haucht. — So gehts mit den Wiſſenſchaften,
ſagte Herr von G —, da ich bey einer Gelegen-
heit die vaͤterliche Bemerkung mittheilte. Ich
freue mich, daß ich auf ihn komme, um noch
anfuͤhren zu koͤnnen, daß ich auch in Goͤttin-
gen
in ſeine Seele ſtudirte. Unſer Wirth
hatte keinen Taubenſchlag, am wenigſten ein
geſchmackreich gebautes Huͤnerhaͤuschen, kei-
nen Garten; und wie konnte ſich Herr v. G —
anders helfen, als daß er ſich drey Hunde zu-
legte, die er Argos hieß? Sie hatten andere
Namen; er aber firmelte ſie. Ich will nichts
vom chriſtlichen Namen Satan ſagen, fieng
er an, wie kann aber ein Hund Packan heiſ-
ſen, wenn man in Koͤnigsberg vom Großva-
ter examinirt iſt? Homer! ich kann dich anre-
den, denn du lebſt, du biſt unſterblich! —
Wie iſts moͤglich, dir ein beßres Opfer, ſelbſt
in chriſtlichen Zeiten, zu bringen? Die dir an-
grenzende Nachwelt ſchlug ſich deines Ge-
burtsorts halber; ein curſcher Edelmann
nennt ſeine Hunde Argos! Wer es empfinden
kann, wie ſchoͤn es ſey, daß ein Buch aufs Le-
ben
[27] ben wirkt, was kehrt ſich der an die Packans
ſeiner Zeit! —


In einem kleinen Garten kann fuͤglich
nicht Natur ſeyn. Der Geſchmack liebt Mi-
niatur! — Er beſteht in der Kunſt, etwas aus
dem Großen ins Kleine zu bringen, um es uͤber-
ſehbar zu machen. Er iſt ſo etwas menſchli-
ches, als die Natur goͤttliches iſt! — Und
hiemit, loͤbliche Univerſitaͤten, lebet wohl, le-
bet wohl! Wir ſcheiden ſo, wie in dieſem
Theil oft geſchieden werden wird! — Ihr
habt keine Authentica habita Cod. ne filius
pro patre \&c.
noͤthig, keinen Kranz, kein Gna-
denzeichen — die ganze Fuͤlle der Gelehrſam-
keit wohnt in euch leibhaftig!


In ſeinem ganzen Leben hatte mein Vater
keinen laͤngern Brief geſchrieben, als den ich
auf meinen berlinſchen von ihm erhielt. Ein
gros Compliment fuͤr Koͤnig Friedrich, wenn
er teutſch koͤnnte. Mein Vater ſuchte Rin-
nen um abzulaufen, ſo voll war er —
Stellenweis.


Ich habe zwar die Melodie noch behal-
ten; allein den Text hab ich in dieſem ſo ge-
nannten freyem Lande, daß ſich Gott erbarm!
vergeſſen. Ein Hutmacher macht Cardinaͤle;
allein kein Juvelier einen Koͤnig! — Ich will
es
[28] es nicht ſagen, daß es dir wie manchen Mah-
lern gegangen, die das Pferd beſſer, als den
Reiter treffen; allein wie ungern fand ich hie
und da einen Abbruch zur Unzeit! Reden
koͤmmt vom Reden. Thun vom Thun. Wei-
ber eſſen ſich trunken. Maͤnner muͤſſen Po-
kaͤle haben, wenn ſie warm an der Stirn wer-
den ſollen! —


Auszug aus einem Briefe nach Koͤ-
nigsberg.


Gern ſeh ich, daß du den Koͤnig ſehen
wirſt! — Wenn er dich mit ſeinem Auge elec-
triſirt, fuͤhl es, daß es ein koͤniglicher Funke
ſey. Gruͤß den Koͤnig von mir. Das heißt,
ſieh ihn fuͤr dich und fuͤr mich! Man glaubt
gleich alles im Menſchen zu finden, was der
andre ſagt. So kann man fuͤr gros und klein,
klug und unklug gehalten werden, je nachdem
man im Ruf iſt. — Es iſt gut, daß ſich die
Koͤnige nur ſelten, und dann zu Pferde zeigen.
Sie ſind gebohrne Reiter. Wandelten ſie un-
ter uns, wie oft wuͤrde der allerunterthaͤnigſt
treugehorſamſte Knecht ſein Uebergewicht em-
pfinden! —


Fortſetzung des vorigen Briefes auf
meine Epiſtel von Berlin.


Es giebt olympiſchen Reid oder Eifer-
ſucht!
[29] ſucht! der ſteht einem Koͤnige nicht uͤbel, viel-
leicht iſt er uns allen nuͤtzlich. Dieſer Neid
ſchadet dem andern nicht, ſondern iſt nur be-
muͤht, ſich nicht vorkommen zu laſſen. Wir
ſind alle faul von Natur, und brauchen Lei-
denſchaften-Vorſpann, um weiter zu kom-
men? —


Koͤnig! wo kommts her? Von koͤnnen!
Kung, wie du weißt, heißt im Lettiſchen Herr.
Nicht, als ob meine Achtung fuͤr Koͤnige eine
Folge von der Meinung waͤre, die ich fuͤr die
Perſon ſelbſt habe. Meine Achtung iſt ſo rein
nicht, als ein mathematiſches Problem; du
kannſt es nicht vergeſſen haben, daß ich von
je her des Dafuͤrhaltens geweſen, der monar-
chiſche Staat wuͤrde uns in mancherley Hin-
ſicht zum Reiche Gottes fuͤhren. Wilde Baͤu-
me haben Stacheln. Ungezaͤhmte Thiere fal-
len den Menſchen, ihren Herrn, an! Und lehrts
nicht die taͤgliche Erfahrung, daß ſich ein freyer
Staat ſehr bald in kleine Fingerlange Koͤnig-
reiche zergliedert; hier und dort und da faͤngt
ſich ein Menſch zu verbreiten an! Da gehts
ihm denn freylich wie dem menſchlichen Koͤr-
per, der, wenn er in gewiſſe Jahre kommt,
an Groͤße in der Breite, mit dem Verluſt der
Kraͤfte und Wirkſamkeit zunimmt. Das Gan-
ze
[30] ze leidet bey ſolchen Kleinkoͤnigen; die Bey-
lage hiezu iſt Curland und Semgallen. Man
lobſinget den Alten, weil man im Wahn ſte-
het: die Natur brauche ſich ab, werde alt! —
Nicht alſo; noch heute kann Eden werden, im
Gedicht und im Original. —


— Ich nehme dem Koͤnige Friedrich ſeine
Schatzkammer nicht uͤbel. Wo eine Quali-
taͤt iſt, da laß ich auch eine Quantitaͤt gelten.
Das Geld iſt beym Privatmann ein ſchoͤnes
Piedeſtal, und ein Koͤnig, der ſo wie er denkt,
muß entweder alle Augenblick Schatzungen
ausſchreiben, oder es machen, wie Friedrich —
was iſt beſſer?


— Die Farbe des Verdienſtes iſt die Far-
be der Schaamroͤthe, ſo, daß auch alle rothe
Farbe von ihr ein faſt allgemeines Anſehn
erhalten. Sie iſt von ihr ins Geſchrey ge-
bracht. Purpur iſt die Schaamroͤthe auf ei-
ner braunen Wange! — Unſer gute Herr-
mann reißt beym letzten Vers des Liedes alle
Zuͤge ſeines Poſitives auf, und die gewoͤhnli-
chen Redner und Schreiber ſuchen mit einem
epigrammatiſchen Gedanken zu ſchlieſſen.
Mich ſchmerzt ſo was. Stich iſt Stich —
Dein Brief ſchließt V. R. W. mit dem alten
Vale! Vale!


Ueber
[31]

Ueber das Spiel haͤtteſt du mehr ſchreiben
ſollen. Es ſcheint mir wechſelſeitige Abma-
chung, intereßirt ſeyn zu koͤnnen. Eigennutz
und alles und jedes, wo das Wort eigen vor-
kommt, iſt aus dem Stammhauſe Eigenliebe.
Wer kann indeſſen in einer guten Geſellſchaft
einen Menſchen ausſtehen, der ohne End und
Ziel von ſich ſelbſt ſpricht; es waͤre denn, daß
er ſein uͤberſtandnes Ungluͤck erzaͤhlt. Eben
ſo iſt ein Eigennuͤtziger ein Greuel im Umgan-
ge. Das Spiel ſcheinet erfunden zu ſeyn,
den menſchlichen Neigungen, die man durch
Lebensart zu unterdruͤcken verbunden iſt, zu
Huͤlfe zu kommen. Wir wuͤrden es ſehr uͤbel
nehmen, wenn der andre uns gefliſſentlich ge-
winnen lieſſe. Der Gewinner muß indeſſen
eben ſo viel Gluͤck, als Spielverſtand zeigen,
wenn wir ihm das Recht zu gewinnen zuer-
kennen ſollen; obgleich es auch gewiß iſt, daß
Spieler dieſen gern, jenen hoͤchſt ungern ge-
winnen laſſen, es beſitze jener gleich Gluͤck und
Verſtand in der beſten Proportion. Du ver-
ſtehſt mich von ferne. Unter dem Wort Spie-
ler verſteh ich keinen, der aufs Spiel ausgeht,
oder vielmehr auslaͤuft. Keinen Virtuoſo,
ſondern einen Dilettante, um es dir deutli-
cher, (das heißt oft uneigentlicher) zu geben.
Bey
[32] Bey Leuten, die keine Bewegung haben, er-
ſetzt das Spiel dieſen Mangel. Es iſt See-
lenbewegung, die noͤthiger iſt, als die koͤrper-
liche; es iſt eine Abwechslung aller Leiden-
ſchaften, aller Jahreszeiten haͤtt’ ich bald ge-
ſagt; und zur Geſundheit gehoͤrt dieſe Ab-
wechslung. —


Der Koͤnig ſpielt nicht; kein Koͤnig
ſollte ſpielen. Spiel iſt Zeitvertreib, und wer
kann des Morgens Karten miſchen, ohne das
Unſchickliche zu fuͤhlen? Ich kenne noch kei-
nen Violoniſten, der nicht ſelbſt einem treuen
Kenner oder Liebhaber laͤſtig geworden, wenn
er vor Mittage geſpielet!


Koͤnig Friedrich hat gern Leute, die Gluͤck
haben. Wo Verſtand iſt, muß auch Wille
ſeyn. Ein Entwurf will Ausfuͤhrung, ein
Anfang Vollendung. — — — Man glaubt
ſelbſt gluͤcklich zu werden, wenn man Gluͤck-
lichen ſo nahe iſt, und wer beſchaͤftigt ſich
nicht am liebſten mit Dingen, wo Gluͤck da-
bey iſt. Drum ſpielt man Karten, drum
ſetzt man in die Lotterie, drum geht man auf
die Jagd, wenn man kein Koͤnig iſt, drum
fuͤhrt man Krieg, wenn man Koͤnig iſt. — —
Herr v. G. ſagt, alle Koͤnige ſind Spieler. —


Leb
[33]

Leb wohl, gib dem Kayſer, was des Kay-
ſers, und Gotte, was Gottes iſt. Fuͤrchte
Gott, ehre den Koͤnig; Lebe wohl! —
Aus einem andern vaͤterlichen Briefe.


Deine Mutter ſchreibt dir viel und unfehl-
bar auch von mir. Ich bin nicht mehr, der
ich war. Wenn man einmal in gewißen Jah-
ren iſt, hat man ſich ſo ausprobirt, daß man
lange vor Krankheit ſicher iſt. Da weis man
den verſtimmten Clavis uͤber zu ſpringen, da
haͤlt man eine Rede ohne R., wenn man das
r nicht ausſprechen kann. So giengs mir;
aber die Jahre traten ein, von denen es heißt:
ſie gefallen uns nicht. Das erſtemal, daß ich
klage. Stoͤhnen erleichtert den Schmerz, ſo
wie der Aufſchrey das Schrecken. Was hilft
es, daß du fruͤh aufſtehſt, und lange ſitzeſt,
und dein Brod ißeſt mit Sorgen? Seinen
Freunden giebt ers im Schlafe, im Tode. —
Wer nach einer frohen Stunde den Tod ſchoͤn
finden kann, das iſt ein Mann. Leben und
Tod liegt im Gemenge. Was thun wir im
Tode? Wir legen blos das Kleid ab, das
jedem zu enge iſt. Wir glauben vom Tode,
ſo wie die Juͤnger von ihrem Herrn und Mei-
ſter, er ſey ein Geſpenſt. — Ueber vierzig
CJahre,
[34] Jahre, wer wird von denen ſeyn, die jezt
ſind! — Dieſen Augenblick kann man deine
Seel abfordern, und was wird es ſeyn, das
du an Zeit geſammlet haſt? — Ich habe mich
lange umgeſehen, um von hinnen zu ziehen
ins Vaterland! — ανέχου και απέχου. Lebe
wohl
!


Das lezte Lebewohl! Der Herr ſetze ihn
uͤber viel, dieſen lieben Getreuen uͤber wenig!
— Er iſt eingegangen zu ſeines Herrn Freu-
de! Amen! Amen! —


Ich kann nicht mehr, als Amen ſchrei-
ben, obgleich es ſchon ſo lange her iſt, daß er
mir dies lezte Lebewohl ſchrieb. — Um es au-
thentiſch meinen Leſern mitzutheilen, ſchrieb
ich es aus dem Original aus, das noch da
vor mir liegt. Ich weiß es, daß einige mei-
ner Leſer dem Herrn v. G. nachſagen werden,
die Koͤnigin iſt weg, das Spiel iſt verlohren!
Der Treflichſte in dieſem Buch iſt gefallen! —
Meine Leſer haben ihn gehoͤrt und ich! ich
hab ihn geſehen! — Noch ſeh ich dieſen Mann.
Jede Falte in ſeinem Antlitz zeigte, wie gut
er war! Wahrlich, die beſte Probe eines gu-
ten Alten! — Iſts nicht wahr, daß die Fal-
ten ſich nach den Lieblings Mienen des Men-
ſchen formen, iſts nicht wahr, daß ſie da rei-
fen,
[35] fen, wo jene bluͤheten? O koͤnnt’ ich ihn dar-
ſtellen! —


Ruhe ſanft, ſeltener Mann! Dein Se-
gen war die Wolken- und Feurſaͤule, die mich
gleitete auf meinen Wegen. Deinen Tod
feyern heißt: deinem Beyſpiel folgen!


Er gieng mit der Sonn’ unter! Es blieb
unentſchieden, wer ſchoͤner untergegangen! —
In Abendroth gekleidet war die Wolke, die
ihn zum Himmel nahm, ſchrieb meine Mutter.


Er ſtarb den 24. Junius des Abends um
9 Uhr in ſeiner Lieblingsſtunde. Jeder hat
ſeine Zahl, die ihm am Herzen liegt, verſichert
meine Mutter. So war dem hochgebohrnen
Todtengraͤber ſieben ins Herz geritzt, die Zahl
der Ruhe, die Sabbathszahl, die Zahl der
Vollendung. Meines Vaters Liebling war
die Zahl neun! Sie iſt neun, pflegt’ er zu ſa-
gen und bleibt neun. Zweymahl neun iſt
achtzehn. Acht und eins iſt neun, drey mahl
neun iſt ſieben und zwanzig, ſieben und zwey
iſt neun. Vier mahl neun iſt ſechs und dreyſ-
ſig, ſechs und drey iſt neun. Es iſt die Zahl
der Beſtaͤndigkeit! Es kann ſeyn, daß die im
ewigen Fruͤhlinge ſich befindende neun Jung-
fern den erſten Probirer auf dieſe Berechnung
gebracht, oder die Berechnung auf die neun
C 2Mu-
[36] Muſen. Wer kennt nicht, wie mein Vater,
die liebe treue neunte Zahl! — Meine Mut-
ter ſchreibt, dieſe ſelbſtbeſtaͤndige Zahl blieb
ihm auch treu bis in den Tod. Er ſtarb um
neun Uhr Abends, ward neun und funfzig
Jahr alt, neun Monate und neun Tage! —


Doch der Tod meines Vaters gehoͤrt zum
Vierten Bande, der ſeinen Lebenslauf enthal-
ten ſoll, den ich Bergab zu erzaͤhlen verſpro-
chen habe.


So viel noch vorlaͤufig! Er ſtarb, wie er
ledte, ſprach bis in den lezten Augenblick ſei-
nes Lebens, wie Sokrates, ſein Freund!


Meine Mutter beſchloß ihren Brief: Cur-
land war ſein Zoar, wo dieſer fromme Lot
Gnade fand vor Gottes Augen. Sein Va-
terland hab ich auch in ſeinem lezten Augen-
blick nicht erfahren, ſo herzlich gern ich es
auch, die fruͤhen Spargel und die Pfeife in
der freyen Luft, und die langen Manſchetten
an ſeinen Ort geſtellt, — in dieſer Welt ge-
wußt haͤtte. Er hat uͤberwunden ſo manchen
Hohn, der aͤrger iſt als andre Leiden dieſer
Zeit, bey welchen wir in die Haͤnde Gottes
fallen! — Je mehr Pfand, je mehr Wucher!
Seine Melchiſedechs Predigt, wo Salz und
Schmalz war, und ſo manche andere gewal-
tig
[37] tige Predigten, zeigen, daß er nicht von ſich
ſelbſt geredet, und ſo ſang er auch nicht von
ſich ſelbſt, da er bey der zweyten Strophe im
zweyten Diſkant einfiel:


Laͤßt ſie nicht lange weinen,

in dieſem Jammerthal! —

Er wird nicht in dem himmliſchen: heilig,
heilig, heilig! einen falſchen Ton angeben,
oder den Takt verlieren, dafuͤr ſteh ich! — Er
wird mir aber danken, daß ich ihm Sang und
Klang empfahl, um dort bey der Probe zu
beſtehen. Das Wiſſen blaͤſet auf, aber die
Liebe beſſert! —


Auch ſie ſingt ſchon, im hoͤhern Chor, ein
himmliſches Halleluja! Ein heilig! heilig!
heilig! desgleichen kein Ohr gehoͤret und in
keines Menſchen Herz kommen, und Gott be-
reitet hat denen, die ihn lieben! — Hier war
ſie ein Lied, dort iſt ſie ein Pſalm Davids;
hier ein Sonnabend, dort ein Sonntag, ein
Sabbath; hier ward ſie geſaͤet in Schwach-
heit, dort geht ſie auf in Kraft! Wohl dem,
der ſo ſtirbt, wie ſie! Sie wartete auf ihren
Tod, wie Simeon auf den Troſt Iſraels.
Sie ſtarb wie Simeon: Herr! nun laͤßt du
deine Magd in Frieden fahren
!


C 3Mein
[38]
Mein Leib und Seel befehl ich dir,

O Herr! ein ſelig End gib mir!

Das war nach Minens Tod ihr immer-
waͤhrender Seufzer! Ach wenn werd ich da-
hin kommen, daß ich Gottes Angeſicht ſchaue!
Ich habe Luſt abzuſcheiden! Sie war getreu
bis in den Tod, und wahrlich, wahrlich, ſie
hat das Ende des Glaubens, der Seelen See-
ligkeit, die Krone des Lebens, davon getra-
gen. — Solch ein Weib ſtirbt nicht alle Tage!
Wenn der hochgraͤfliche Todtengraͤber ſie haͤtt’
obſerviren koͤnnen, was haͤtte er drum gege-
ben! Elias ſprach zu Eliſa: bitte, was ich
dir thun ſoll, ehe ich von dir genommen wer-
de. Eliſa ſprach: daß dein Geiſt bey mir ſey
zwiefaͤltig. — Sollt’ ich mich truͤgen, wenn
ich behaupte, daß viele dieſen Wunſch hinauf
gethan? — Nun ſo moͤgen die Prophetenkin-
der allen dieſen guten ſanften Biederſeelen das
Zeugnis geben, das ſie Eliſen gaben: Der
Geiſt Eliaͤ ruhet auf Eliſa, ruhet auf dieſen
Wuͤnſchenden! Er ruhe wohl! —


Meine Leſer werden ſich mit leichter Muͤ-
he erinnern, daß mein Vater in ſeiner Bibel,
beym Hauptmann zu Capernaum und bey
drey Oberſten Zeichen eingeleget, nicht min-
der uͤberall, wo das Schwerd ſchlaͤgt, das
Faͤhn-
[39] Faͤhnlein weht, Trompeten ſchallen, und wo
Sold ausgetheilet wird. Eben ſo erinnerlich
wird ihnen die Epiſtel am ein und zwanzigſten
Sonntage nach Trinitatis ſeyn, die in der
vaͤterlichen Bibel erſchrecklich begriffen war,
und die ich meinen Leſern im erſten Theil, ſo
wie ſie im Lutheriſchen altteutſchen lautet,
woͤrtlich vorgeleſen. Sollte hie und da einem
Capittelloſen dies in Vergeßen gerathen ſeyn;
ſo ſey es mir erlaubt, ihn an meine Mutter
zu erinnern, die, wenn ſie meinen Vater, mit
dieſer Epiſtel angethan, zur Kanzel ſteigen
ſah, zu ſagen die Gewohnheit hatte: heute
geht er geſtiefelt und geſpornt, wie ein geiſt-
licher Ritter, auf die Kanzel. Indeſſen war
auch ſie, das gute Weib, von einer Praͤdilek-
tion wegen gewißer Spruchſtellen nicht frey.
Jeder Menſch hat nicht blos ſeine Lieblings-
zahl, ſondern auch ſeinen Spruch. Der Lieb-
ling meiner Mutter war: der Herr hats ge-
geben, der Herr hats genommen
. Wenn
der Kelch noch nicht da war, mochte ſie viel-
leicht gewuͤnſcht haben, er gehe voruͤber; al-
lein wahrlich, ſie hat auch herzlich hinzugefuͤ-
get: nicht wie ich will, ſondern wie du willt!
Meine Mutter fand im dießeitigen Leben zwar
Dornen und Diſteln; allein auch Veilchen,
C 4Him
[40] Himmelſchluͤßelchen und Krauſemuͤnze. Sie
hatte mit Schmerzen ein Kind gebohren; al-
lein dafuͤr hatte ſie auch einen Sohn. Dieſer
hies zwar Alexander; allein er ſtudirte Theo-
logie. Ihr Ehemann ſagte zwar nicht, wo
fein Vaterland waͤre; indeßen war er doch
rein und lauter in Lehr und Leben. Zwar
konnte ſie eine Zeitlang keinen Menſchen aufs
Kanapee noͤthigen, der Name Melchiſedech
ward nicht anders als bey gedeckten Thuͤren
ausgeſprochen, und ſelbſt alsdenn noch nur
ins Ohr; indeßen ſchlug mein Vater doch
durch eine einzige Predigt ſo viele Blutgierige
und Falſche, und befreyte das Kanapee, das,
wie ein verfluchtes Schloß, wuͤſte war, vom
Fluch. — Ein Weib, wie meine Mutter, war
mit allen Wegen Gottes kindlich zufrieden. —
Wenn ſie unter den Iſraeliten geweſen, ſo
haͤtte ſie nach keinen Wachteln verlangt, ob-
gleich ſie ein Prieſterweib und aus dem Stamme
Levi war. Mit Manna haͤtte ſie ſich begnuͤgt,
ſo daß ihr nie ein Fleiſchtopf eingefallen waͤre.
Sie war nicht wachtelluͤſtern. Viel fuͤr eine
Paftorin! Da ich in meinem vierzehnten Jahr
ohne Hofnung krank danieder lag, und mein
Vater Licht! Licht! Licht! rief; ſang ſie
mit einer Seelenfaßung:


Gott
[41]

Gott eilet mit den Seinen,
daß ſie ſo gar meinen ungeſtimmten unmuſi-
kaliſchen Vater dahin ſang, daß er ſelbſt bey
der zwoten Strophe im zweyten Diskant ein-
fiel, wie oben und unten erwehnt worden! —


Da mein Vater nach dem Brande verſi-
cherte, daß, da Cleopatra die eine Perle auf-
trank, ſie nicht mehr verzehrt haͤtte, als er,
und daß kein Lucius Plancius die andre Perle
gerettet; war meine Mutter ſo Gott ergeben,
daß ſie mitten in der Predigt ſang, mitten im
Gewitter ſanft regnen ließ, und nur eins lag
ihr auf dem Herzen, daß ich nicht gepredigt
haͤtte, eh ich ſtuͤrbe!! — Wie ſehr ich meine
Mutter geliebt, iſt am Tage, und wenn ſelbſt
mein Tod ſie nicht aus dem Lebensconcept
bringen konnte; ich wuͤßte nicht, was ſonſt
ſie zu unterbrechen im Stande geweſen? —
Nichts, nichts konnte ſie ſcheiden von ihrer
Faſſung, nicht Truͤbſal, nicht Angſt, nicht Tod,
nicht Leben! Wahrlich ſie kam nie aus der
Melodie, ſie hielte Takt, und konnte ſelbſt ihre
Hausgenoſſen, ihre Corinther, wie ſie ſie in
ihrem Condolenzſchreiben nannt, in Takt und
Melodie ſetzen. — Minens Tod indeſſen brach-
te ſie ſo ſehr vom Leben ab, daß ſie gern ſter-
ben wollte.


C 5O
[42]

O des ſchoͤnen Baums im Garten
Gottes
! ſchreibt ſie noch in ihrem vorletzten
Briefe. Nach ihrem Ableben fuͤhl ich
keinen Schlag mehr der herrlichen Na-
tur, wovon ſonſt meine Seele genas!
Sie elektriſirt mich nicht weiter. Sie iſt
mir nicht greiflich. Sie ſitzt mir nicht
mehr, daß ich ſie mahlen kann! Keine
Tulpe oͤfnet mir ihren keuſchen Buſen,
den ſie zuſchnuͤrt, wenn der Abend ſich
Freyheiten herausnehmen will. Die Roſe
lockt mich nicht wonniglich in die Abend-
kuͤhle. Wenn ich ſonſt in den Wind ſa-
he, war mir, als haͤtt’ ich mich mit kal-
tem Waſſer erfriſcht, jetzt wird mir warm
ums Herz, wenn ich ihn ſehe! Er macht
mir Hitze. Da ſeh ich die Saat, die ſich
kruͤmmet, wie das Alter, und ſage nicht:
ſey geſegnet im Namen des Herrn! und
dem Baume wuͤnſch ich nicht Gluͤck zur
Erziehung ſeiner neugebohrnen Fruͤh-
lings Sproͤslinge, die ich ſonſt ſo gern
mit einer Hand voll Waſſer zu taufen
pflegte! — Ich verſtehe die Linde nicht
mehr, wenn ſie in der Gegend den Prie-
ſter vorſtellet, wenn ſie ſich ehrfurchts-
voll neiget, das kleine Geſtraͤuch ſegnet

und
[43]und fuͤr ſelbiges betet. Es ruͤhret mich
nicht mehr, wenn dieſes kleine Geſtraͤuch
ſo rings um die prieſterliche Linde ſteht,
und mit deinem Geiſte lispelt, oder
wenn es vielmehr, nach rußiſcher Art,
mit einem Gospodi pumilu ſich buͤckt.


Wie ſchwer athme ich den Balſam
des ſchoͤnen Morgens ein! Iſts mir doch
nicht anders, als wenn ich Arzeney ein-
naͤhme! Wie pflegte mich die Natur lieb
zu haben! wie feſt an ſich zu druͤcken! —
Lieb hatt’ ich ſie wieder! ich weinte oft
fuͤr Freuden in ihren muͤtterlichen Ar-
men! O ich habe eine liebe gute Mutter
verlohren! — Wenn ich jezt etwas ſeh,
iſts alles ungerathen! eitel! Da aͤrgert
mich der Baum, der gerade wachſen
koͤnnte, und aus Eitelkeit ſchief wird,
um ſich in dem kleinen Gewaͤſſer zu be-
ſpiegeln, das in einiger Entfernung blin-
ket — und dort verdrießt mich das elen-
de Kraut, das ſich auf der ſtolz herausge-
wachſenen Wurzel der Eiche niederlaͤßt,
und dieſen edlen Baum chikanirt, wie
oft der Poͤbel große Maͤnner.


Zwar lieb ich mich abzuſondern; al-
lein ich kann nicht ganz allein ſeyn! das

heißt,
[44]heißt, im Finſtern. Licht iſt Geſellſchaft,
pflegte unſer Seliger zu ſagen, und
ich brenne ſelbſt Licht in der Nacht, als
ob ichs beſſer wuͤßte, wie der liebe Gott,
der gewiß mehr Licht am erſten Tage
haͤtte ſchaffen koͤnnen, wenn es gut ge-
weſen waͤre. Bey weitem bin ich nicht,
was ich war. Eine Scheelſichtige bin ich!


Das Kind muß einen Namen haben!
Warum Winkelzuͤge? Freude an der Na-
tur iſt das Probatum eſt eines guten
Gewiſſens. Eine feurige Kohlenſamm-
lerin, eine Aufhetzerin, iſt die Natur dem,
der es mit dem Gewiſſen verdorben hat.
Den Zorn kann man beſprechen; allein
den Schmerz nicht.


Das Thraͤnenſchwere Veilchen gefaͤllt
meinem Auge am meiſten, weil ſich gleich
und gleich gern geſellen, und wenn uns
beyden der Tropfen entblinkt, ſehn wir
gen Himmel, der am beſten weiß, was
uns nuͤtzet. Da zitterte geſtern ein Tro-
pfen auf einem Vergißmeinnicht, und
der in meinem Auge bebte, eben ſo lange,
bis mein Auge zugleich mit dieſem blau-
en Bluͤmchen entbunden war, und beyde
Tropfen zuſammenfloſſen zu den Fuͤßen

des
[45]des ſchoͤnen Vergißmeinnicht. Mine,
Mine, Mine
! Ich vergeſſe dich nicht,
ich vergeſſe dich nicht
! —


Welke gelbe Blaͤtter, das iſt meine
Wonne, wenn ſie abfallen, ich leſe und
hoͤre Gottes Wort; allein ich lege keine
Sylbe bey! und je mehr ich mich faſſen
will; je aͤrger iſts. So gehts mit den
Leidenſchaften, ſagte dein Vater, je mehr
man druͤckt, je elaſtiſcher ſind ſie! — Ich,
die ich keine Fliege auf dem Ruͤcken liegen
ſehen konnte, wenn ſie ans Fenſter prall-
te, und ſich den Kopf ſtieß! Ich, die ich
ihr aufhalf, obſchon ſie mich oft aus der
Melodie ſumſete, habe unſchuldig Blut
verrathen. O Mine! Iſts Wun-
der, daß mir der Bluͤtenſchnee wie ein
Leichentuch vorkommt! O wenn wird
es von mir heiſſen: ich liege und
ſchlafe ohne Kummer
! Wie lange
ſoll ich noch fragen: Huͤter, iſt die
Nacht ſchier hin
? Wenn ruft Gott
der Herr in mein Chaos: es werde
Licht
, und es wird Licht? Wenn
fing ich im hoͤhern Chor: der Tag ver-
treibt die finſtre Nacht
?


Das
[46]

Das war die anhaltende traurige Lage
meiner Mutter, um Minens Willen! — Ge-
ſchieht das am gruͤnen Holz — Die gute
Bußfertige! In ihrem Troſtſchreiben, das ich
in ſeiner Laͤnge und Breite mitgetheilt, ſo wie
ſie es in verſchiedenen Abſaͤtzen, die ſonſt ihre
Weiſe nicht waren, an mich erlaſſen, war
nichts in der erſten Hitze geſchrieben. Sie
blieb ſo, bis in ihren Tod! — Wer lebt ſo,
wie er glaubt
? pflegte ſie zu fragen, und da-
rauf „das thaten nur die Apoſtel„ zu ant-
worten. Wahrlich! ſie lebte, wie ſie glaubte.
Sie that, was ſie ſagte. Sie redete leben-
dig, ſie handelte, wenn ſie ſprach. Jezt war
ſie nicht mehr die Sanftflieſſende! — All Au-
genblick ſchlug ſie Wellen. Sie lag nicht ſtill
auf einer Seite. Sie riß das Deckbette.


Etwas uͤber das Gewiſſen.


Man ſey noch ſo fromm, noch ſo gut, wer
hat nicht ein Wort, dem er nicht auswiche,
wie meine Mutter, wiewohl meines Vaters
halber: Melchiſedech. — Wer hat nicht eine
Handlung, an die er ungern denkt, und wer
kann auch bey der ſorgfaͤltigſten Bemuͤhung,
ein unbeflecktes Gewiſſen zu behalten, beydes
vor
[47] vor Gott und den Menſchen, fuͤr allen Scha-
den ſtehen? Zwey Dinge ſind uns noth, Ge-
wiſſen und Ruf. Dieſer des Naͤchſten, jenes
unſertwegen. Das Gewiſſen aber verdient,
nach der Meynung eines Weiſen des Alter-
thums, mehr Ruͤckſicht als der Ruf. Dieſer
kann truͤgen; jenes nie. Beym Ruf faͤllſt du
in der Menſchen Haͤnde; beym Gewiſſen in
die Hand Gottes. Ich halte dafuͤr, daß es
zweyerley Gewiſſensarten gebe, ohne dem neu-
en gewiſſen Geiſt, den wir als eine Frucht ei-
nes guten Gewiſſens von Gott erwarten koͤn-
nen, ohne dem goͤttlichen Diplom des Gewiſ-
ſens zu nahe zu treten, und auch ohne auf der
andern Seite die Diſtinktionen von Vor-
und Nachgewiſſen u. ſ. w. unguͤltig zu ma-
chen. Es iſt ein Lebens- und Sterbens-Ge-
wiſſen. Auch der redlichſte Richter findet,
ehe er von ſeinem Obern unterſucht werden
ſoll, noch Maͤngel, ohne auf A B C-Schniz-
zer, die nur ein Reviſionsknaͤbchen ruͤgen
kann, Ruͤckſicht zu nehmen. Auf die Frage,
was iſt die Freyheit? antwortete jener Weiſe:
ein gut Gewiſſen. Wer iſt aber, der ſich nicht
zuweilen, wie ich mit meinen Soldatengedan-
ken, meiner Mutter halben, unter die Baͤume
im Garten verſteckt und von Feigenblaͤttern
ſich
[48] ſich Schuͤrzen macht? Auch Julius Druſus,
der in einem durchloͤcherten Hauſe wohnte,
und welcher das Anerbieten eines Kuͤnſtlers,
vor fuͤnf Talente dieſen Flickbau zu uͤberneh-
men, mit den Worten ablehnte: daß er zehn
geben wolle, um ſein ganzes Haus aller Au-
gen darzuſtellen; auch er wird doch, bey al-
len guten Zeugniſſen ſeines Lebensgewiſſens,
ein dunkles Kaͤmmerchen gehabt haben, wo
ihm ein hereingeſchlagener Funke ein ungebe-
tener Gaſt geweſen waͤre!


Am Sonnabend uͤberdenkt jeder gute
Haushalter die Woche; am letzten Tage im
Jahr, das Jahr; im Sterben das Leben! Es
iſt gleichviel, ob ich es hier oder wo anders
erzaͤhle. Ich habe einen Deſerteur — in — —
erſchieſſen ſehen, der, ſeiner angebohrnen Frey-
heit halber, ſich nicht uͤberzeugen konnte, von
Rechts wegen ein Mann des Todes zu ſeyn.
Selbſt die ſpitzfindigſten Rechtslehrer ent-
ſchuldigen hiemit die Flucht aus dem Ge-
faͤngniſſe
, und in einem gelehrten theologi-
ſchen Werklein, das ich geleſen, wird von ei-
nem Caſuiſten behauptet, daß ein Miſſethaͤter,
der auf den Tod ſaͤße, mit gutem Gewiſſen,
wenn er dazu Gelegenheit haͤtte, entfliehen
koͤnnte. Es liegt wuͤrklich etwas menſchliches
drinn
[49] drinn, daß die Flucht aus dem Gefaͤngniſſe
die Strafe nicht vergroͤſſert, die auf den
Miſſethaͤter wartete, wenn er nicht geflohen
waͤre. Mit der Deſertion iſts ſo eine Sache.
Es koͤmmt alles auf den Contrakt an, den der
Soldat eingehet. Unſerm waren von den
Capitulationspunkten nicht ein einziger gehal-
ten, und doch ſollt er des Todes ſterben. Bit-
ter und geſetzt, wie ein Maͤrtyrer, gieng er
zum Richtplatz. Die Maͤrtyrer haben alle
den Todesgang, als waͤre nichts, Welt auf,
Welt ab, ihrer werth. — Die Geiſtlichen hat-
ten ſich muͤde und matt bemuͤht, unſerm Ver-
urtelten zu beweiſen, daß er alle zehn Gebote,
und des D. Luthers Auslegung oben ein, bis
auf jedes Comma und Punkt, uͤbertreten haͤt-
te; allein er blieb dabey, er ſterbe unſchuldig.
Nun ſagte einer der vornehmſten unter den
Ehrwuͤrdigen Herren, ſo waͤre ſeine Behaup-
tung, unſchuldig zu ſeyn, eine Todſuͤnde: denn,
ſetzte er hinzu, wenn wir alles und jedes ge-
than haben, was wir zu thun ſchuldig ſind,
bleiben wir doch unnuͤtze Knechte, und des
Galgens werth. Da der Deſerteur aber die-
ſem Manne, der die Sache beym rechten En-
de angegriffen zu haben glaubte, ſeinen Platz
anbot, hieß es, daß ſie ſo nicht gewettet haͤt-
Dten. —
[50] ten. — Kurz, weder Kaiphas, noch Pilatus,
weder das geiſtliche, noch das weltliche Ge-
richt, konnte ihn von ſeiner Maͤrtyrer Den-
kungsart abbringen. Der Tag des Todes er-
ſchien, und auch der gieng ihm auf, wie alle
andere, auſſer daß er, der Luft wegen, die er,
wie er ſagte, lange nicht genoſſen, ein Glas
Wein fruͤhſtuͤckte. Es ward zum Todesgang
getrommelt. Fuͤrchterlich! — er gieng ihn,
da er ſich blos wegen der boͤſen Luft praͤcavi-
ren zu duͤrfen glaubte, getroſt. Unterwegs
fiel ihm ein Bettler ins Auge! halt! ſchrie
er — ich habe geſuͤndiget! Gott erbarme ſich
mein, nach ſeiner groſſen Barmherzigkeit!
Sagt’ ich nicht, fieng der Geiſtliche an, der
ihm das Geleite gab, kommt Zeit, kommt
Rath — Der Maͤrtyrer kam ſo aus der Faſ-
ſung, daß er kaum weiter konnte. Der com-
mandirende Officier, der an der armen Seele
des Deſerteurs wahren Theil nahm, bewilligte
ihm Zeit und Raum zur Buſſe, und war eben
im Begriff, ihm den Soldateneid vorleſen
zu laſſen, der Geiſtliche, die zehn Gebote mit
ihm nochmahls kuͤrzlich durchzugehn, und,
wo es die Zeit zulieſſe, auch noch die uͤbrigen
Hauptſtuͤcke des chriſtlichen Glaubens, als
es ſich ergab, daß der verſtockte Suͤnder uͤber
ſein
[51] ſein Capitalverbrechen noch eben ſo, wie zu-
vor, dachte. Der Bettler hatt’ ihn an eine
Schuld erinnert, die er mitnahm! Zwar,
fieng er an, war ich in Noth; allein mußt’
ich darum dem armen alten Kerl das Brod
nehmen? Er hatte vor fuͤnf Jahren einem al-
ten Bettler ein Brod genommen. (Um mei-
ne Leſer nicht aufzuhalten) der Bettler, dem
unſer Laͤufer begegnete, mochte nun entwe-
der eine Aehnlichkeit haben, mit dem, wel-
chem er das Brod genommen, wie denn alle
Bettler ſich gleich ſind, oder es mochte das
Gewiſſen, welches, wie man ſagt, auch ſeine
fuͤnf Sinnen hat, bey dieſer Gelegenheit auf
die ſo alten ſchon reponirten und beſtaͤubten
Akta gefallen ſeyn; kurz, dieſer kleine Vorfall
brachte ihn zum Bekenntniß, ein armer groſ-
ſer Suͤnder zu ſeyn, und das Leben verwuͤrkt
zu haben. Nicht immer machen dem Men-
ſchen die ſchaͤdlichſten gefaͤhrlichſten Dinge den
groͤßten Schmerz. Wer iſt am Zahnweh ge-
ſtorben, und wer kann dieſen Schmerz ohne
zu murren ertragen? Einer der Cameraden,
den dieſer Vorfall ruͤhrte, bot dem armen
großen Suͤnder einen Theil von ſeinem Sol-
de an, um das Gewiſſen zu ſtillen, er nannt’
es aus gutem Herzen, dem Gewiſſen was
D 2zu
[52]zu verbeiſſen geben; allein der Laͤufer ver-
bats: gib es, wenn du, ohne ſelbſt zu bet-
teln, es miſſen kannſt, in deinem eigenen Na-
men. Ich will nicht prahlen! — Das Ge-
wiſſen eines Sterbenden iſt ſo leicht nicht be-
friedigt — ſagt’ er nach einiger Zeit. Der
arme Camerad gab es, und hatte acht gan-
zer Tage, Buß- und Bettage, das heißt: er
konnte in acht Tagen keinen Tropfen Bier
trinken. Es war von ſeinem Solde. Der
Prediger hatte kein Geld bey ſich. Der Stabs-
officier hatte Familie, und die Subalternen
waren noch Billardparthien ſchuldig. —


Das Gebet des Bußfertigen war kurz!
herzbrechend! Er hatte ein Weib und zwey
Kinder in den Staaten eines andern Herrn,
und hatte im beſoffnen, oder welches gleich
viel iſt, im zu guten Muth, Handgeld genom-
men. Seine Capitulationsjahre waren ab-
gelaufen. Weib und Kind wollten ſeine
Schwiegereltern nicht ziehen laſſen, und alſo
— Solch einen Schuß, der dieſem Armen das
Herz bohrte! Gott laß ihn mich nie mehr hoͤ-
ren! — Seinem Weibe ließ er noch durch ſeinen
Freund, der ihm den Becher kalten Waſſers
auf dem Richtplatz reichte, zur Pflicht ma-
chen, allen alten Bettlern, die ſo ausſaͤhen,
wie
[53] wie der, der ihm begegnet, und dem der Cam-
rad ſeinen Sold, ſein taͤglich Brod gebrochen,
ein ganzes Brod zu geben, auch wollte er,
daß ſeine Kinder und Kindeskinder es thaͤten,
immerdar. — — Das iſt mein letzter Wille,
ſagte er, und hiemit gab er ſeinem Camera-
den die Hand! der den Bettler, der Wittwe
zur Regel, abzeichnete und ihn traf. — Leb
wohl! Du warſt ein ehrlicher Junge, und ſo
ſtirbſt du auch. — Der Camerad durfte des
grauſamen Herrn Faͤhnrichs wegen nicht wei-
nen, deſto mehr hielt er aus. Es war auch
ein Auslaͤnder! —
Die Nutzanwendung.


Mine war das alles meiner Mutter, was
der Bettler dem Laͤufer. Sie war aͤlter, als
der Laͤufer. Es fiel ihr alſo ſo manches ge-
nommene Brod ein! — Der Hauptdiebſtal
war Mine. Noth hin, Noth her. — Das
Sterbensgewiſſen iſt nicht ſo leicht zu befrie-
digen. Bis auf die Curlaͤnderin lag alles
ſchwer auf ihr. Eine verſtimmte Pfeife,
ſchreibt ſie, verdirbt die ganze Orgel. Bey
mir iſt mehr, als eine, in Unordnung. Was
bey manchem Rath iſt, iſt bey mir Unrath.


Meine Mutter gieng in Gedanken in ein
Cartheuſerkloſter, und ſah’ es ein, daß der
D 3Menſch
[54] Menſch auch bey den beſten Geſinnungen un-
moͤglich mir nichts dir nichts ſterben koͤnne.
Wer kann wiſſen, wie oft er fehle?


Der Stamm Levi vermehrte bey dieſer
Selbſtpruͤfung ihre Seelenleiden. Es war die
Kohle auf ihrem Haupte, welche die andern
noch mehr aufgluͤhete. Wer viel empfieng,
von dem wird viel gefordert. So viel Mund,
ſo viel Pfund, ſagte ſie! — Zwar empfand ſie
leibhaftig, daß ſie ihrem Naͤchſten nicht Waſ-
ſer und Luft verkauft, daß ſie kein verirrtes
Schaaf in ihren Stall getrieben, und dem
Nabot keine Spanne Acker abgegraͤnzet, daß
ſie keine Taubenkraͤmerin, keine Kaͤuferin im
Tempel, geweſen. Geben war ihr ſeliger, als
nehmen; indeſſen heulte doch die ganze Or-
gel! —


Jacobs Ausruf: er lebt, ich will hin,
ihn zu ſehen
, hatte ein großes Zeichen, und
ſo auch alle Stellen, wo Tod und Todtenge-
beine vorkamen. Die Lebenszeichen wurden
zwar nicht verworfen, dazu war ſie zu ſanft;
allein ſie wurden ſo in die Bibel geſteckt, daß
ihr Haupt nicht zu ſehen war. Es hatte ſich
geneiget. —


Mein Vater ſagte, es ſind alte verdiente
Officier, die man zu Commandanten macht.
Ein
[55] Ein dergleichen Commandantenpoſtchen hatte
auch ihr ehemaliger Liebling: Der Herr hats
gegeben, der Herr hats genommen
. Der
Inhalt der liebſten, ja einzigen Geſpraͤche, wa-
ren die vier letzten Dinge: Tod, Auferſte-
hung der Todten, juͤngſtes Gericht, En-
de der Welt
. Alle, die ſie ſonſt gekannt
hatten, fanden jetzt bey ihr eine ſo groſſe
Veraͤnderung, als zwiſchen Tod und Leben,
zwiſchen Wachen und Schlafen, und ſie ver-
barg ſie auch nicht, wie ehemals, den Na-
men Melchiſedech. Thuͤr und Thor ſtand of-
fen bey ihm. Jeder ſahe den Unterſchied, wie
Tag und Nacht. Ich weiß nicht, wie es zu-
gegangen; allein alle Augenblick hatte ſie ei-
nen ſchweren Namen im Munde. Mein Va-
ter wollt’ ihr aushelfen; allein ſie verbats.
Der Tod iſt weit ſchwerer, als dieſe kauder-
welſche Namen, ſagte ſie, und mein Vater
ſchwieg bedenklich. —


Tertullianus und Theophylactus in Eh-
ren, fieng ſie an, welche die Paradoxie gehabt,
daß die Geſchichte vom reichen Mann und ar-
men Lazarus, eine bloße Parabel ſey; die gu-
ten Herren! haben gewiß keine Mine in ihrem
Dorfe gehabt, und keinen Sohn, der Minen
liebte und keinen Gewißensſcrupel Minens
D 4Todes
[56] Todes halber, ſonſt waͤren ſie gewis ſo ortho-
dox geweſen, die Erzaͤhlung vom reichen Mann
und armen Lazarus fuͤr das zu halten, was
ſie iſt, fuͤr reine gediegene Wahrheit. Hat
denn Adrichomius ſich nicht anheiſchig ge-
macht, des reichen Mannes Haus in Jeruſa-
lem zu zeigen jedem, wer es ſehen will? Ich
thue drum keinen Schritt, fuͤgte meine Mut-
ter hinzu, und eben ſo wenig mag ich das
Huſten Chriſti ſehen, das man irgendwo
vorzeigt. —


Das heilige Grab aber, das Grab Chriſti,
v! wie gern haͤtte meine Mutter dies geſehen!
Sie nannt’ es ein geiſtliches Bad, einen geiſt-
lichen Geſundbrunnen, und wunderte ſich
nicht, daß ſo viele Seelenkranke, ſo viele Pil-
grimme dahin wallfahrten! Mein Vater, der
hiebey indeſſen ſeinen Ritterlichen Geſinnun-
gen ihren Lauf lies, hatte ſo wenig wider die-
ſe Reiſe etwas einzuwenden, daß meine Mut-
ter wegen ſeiner Reiſefertigkeit zuweilen faſt
auf den Gedanken gefallen waͤre, ob nicht im
heiligen Lande ſein Vaterland ſey, wenn die
langen Manſchetten ihr nicht im Wege ge-
ſtanden. Vater und Mutter reiſeten alſo die
Woche ein bis zweymal aus heilige Grab,
und legten ſich, ſo oft ſie ſich auf dieſen Weg
machten,
[57] machten, ſo pilgermuͤde, ſo gottſelig nieder,
daß ich wetten wollte, kein frommer Grabes-
wanderer hat eine beßere Nacht gehabt, als
ſie. Des Morgens waren ſie zwar immer
in — ohne daß ſie einen Tuͤrken geſehen; was
thut aber der Tuͤrke zur Sache? —


Wie ich mich verirre, ohne daß ich dieſe
Reiſe nach dem gelobten Lande mitmache!
Da bin ich wieder bey den vier lezten Din-
gen! —


Wer meiner Mutter einen Liebesdienſt er-
weiſen wollte, mußte von dieſen vier lezten
Dingen mit ihr ſprechen. Wenn es auf ſie
angekommen waͤre, haͤtte ſie noch gern wenig-
ſtens ein leztes Ding daruͤber gewuͤnſcht, um
noch mehr druͤber reden zu koͤnnen, wenn nicht
die fuͤnf, eine herzbrechende Zahl, drauf gefol-
get. Mein Vater ſagte ihr, von den vier
Theilen Europens, von den vier Weltgegen-
den, von den vier Jahreszeiten, von den vier
Altern des Menſchen, von den vier Tempera-
menten und vier Elementen, laͤßt ſich leichter
reden, als von den vier lezten Dingen; allein
meine Mutter lies ſich nicht abwendig machen.
Die vierte Zahl war ihr Liebling worden.
Es hat zwar, ſagte ſie, kein Auge geſehen,
kein Ohr gehoͤret, und iſt in keines Menſchen
D 5Herz
[58] Herz kommen, was Gott bereitet hat denen,
die ihn lieben; wenn es aber gleich ſchwer iſt,
von einer Sache zu ſprechen, die kein Auge
geſehen, kein Ohr gehoͤrt, und die in keines
Menſchen Herz kommen; ſo haben wir doch
Moſen und die Propheten, und im neuen Te-
ſtament die Geſchichte vom reichen Mann und
armen Lazarus, wo man, des Tertullianus
und des Theophylaktus unerachtet, mehr von
den Hauptlezten Dingen hoͤrt, als uns Ver-
nunft und alle fuͤnf Sinne zu lehren im Stan-
de ſind. Die Meynung der Pſychopannychi-
ten, als ob die Seelen noch in der Welt her-
um wanken, und andere dergleichen Meynun-
gen, wie abgeſchnitten! Luc. 16. ſtand der
Text meiner Mutter, der keinen Commandan-
tenpoſten, ſondern ein hervorſtehendes Zeichen
hatte; und ſollt’ er nicht? — Eine Cocarde
am Hut, ſagte ein Einfaͤlliſt, ein neumodi-
ſcher Candidat, den meine Mutter auf dieſe
Zeichen aufmerkſam machen wollte; allein
dieſes Buͤrſchgen ward gerupft, obgleich er
noch mit ſeiner theologiſchen Scherpe und
Ringkragen, ſo wie er eben geprediget, oder
auf der Wache geweſen war, da ſtand. Un-
moͤglich haͤtt er uͤbler wegkommen koͤnnen,
wenn er einer der fuͤnf Gemuͤths oder Ge-
bluͤts
[59]bluͤts Bruͤder des reichen Mannes geweſen
waͤre!


Der Tod iſt Proſa, ſagte mein Mutter,
der Himmel Poeſie. Darf ich weiter in den
Text? — Kuͤrzen heißt nicht veruntreuen.
Ich will mit Fleiß bey der Extrapoſt bleiben,
damit Niemand meiner Mutter den Vorwurf
mache: ſie haͤtte ins Gelach hineingeredet.
Meine Leſer kennen ſie noch nicht in der To-
deslaune, die auch proſaiſch war, wie der Tod.
Ueber Luc. 16.


Es kommt, fieng ſie zu ihren Corinthern
an, alles von Gott, Gluͤck und Ungluͤck, Le-
ben und Tod, wie Syrach im eilften Capitel
und deſſen vierzehnten Vers ſchreibt. Abra-
ham war ein reicher Mann. Er wuͤrde ge-
wis mit keinem curſchen von Adel getauſcht
haben, und der Koͤnig Salomo, dem der
Reichthum im Poſtſcript zufiel, wie reich war
er nicht! Was iſt vom ehrbaren Rathsher-
ren Joſeph von Arimathia zu ſagen, der, ſo
reich er war, doch auf das Reich Gottes war-
tete, und der vornehmſte Todtengraͤber gewe-
ſen, der je gelebt hat! Wie leicht faͤllt aber
beym Reichen die Frage vor: Wer iſt der
Herr? Wer laͤßt ſich durch Gottes Guͤte zur
Buße leiten? Wer ſagt nicht zu ſeinem Pal-
laſt
[60] laſt wie Nebucadnezar: dies iſt die groſſe Ba-
bel, die ich erbauet habe, zum Koͤniglichen
Hauſe, zu Ehren meiner Herrlichkeit; und
bey Gelegenheit ſeiner vollen Scheuren: du
haſt nun einen guten Vorrath auf viele Jah-
re, liebe Seele, habe nun Ruhe, iß, trink’
und habe guten Mut. — Wie leicht kleidet
man ſich in Purpur und koͤſtlichen Leinwand.
Des dreygliedrigen Candidaten — Man-
ſchetten koͤnnten unter uns kleiner und fei-
ner
ſeyn.


Was wird ſeyn, du Praſſer, du Vielfraß,
du Saufaus, was wird ſeyn, daß du alle
Tage herrlich und in Freuden gelebt haſt?
O ihr, die ihr euch weit vom lezten Tage ach-
tet, die ihr auf elfenbeinern Lagern ſchlaft,
und Ueberfluß treibet mit euren Betten, die
ihr die Laͤmmer aus der Heerde eßet, und die
gemaͤſteten Kaͤlber, die ihr Wein aus den
Schaalen trinket und ſalbet euch mit
Balſam, und bekuͤmmert euch nichts um den
Schaden Joſephs, was iſts, was ihr gelebt
habt? Wir wollen uns mit dem beſten Wein
und Salben fuͤllen, laßet uns die Mayen-
blumen nicht verſaͤumen! Weisheit im zwey-
ten Capitel, der ſechſte und ſiebente Vers.
Eur Morgenſegen, Eur: das Walt, iſt: Wohl
her!
[61] her! laſſet uns wohl leben, weil es da iſt, und
unſers Leibes brauchen, weil er jung iſt! Eur
Benedicite, Eur: Aller Augen: kommt her,
laßt uns Wein hohlen und voll ſaufen, und
ſoll morgen ſeyn, wie heute, und noch viel
mehr. Wehe! wehe! Es wird nicht lange ſo
ſeyn, der Reiche ſtarb und ward begraben,
und als er nun in der Hoͤlle und in der Quaal
war, hob er ſeine Augen auf und ſahe Abra-
ham von ferne, und Lazarum in ſeinem
Schoos — die Engel waren ſeine Seelentraͤ-
ger! Seiner Seele war es nicht anzuſehen,
daß der Leib voll Schwaͤren, und daß die
Hunde ſeine Wundaͤrzte geweſen. Gerades
Weges, ohne allen Umweg, kam er an ſeinen
Ort, ſo wie der reiche Mann an den Seini-
gen! Was der Tod nicht machen kann!
Welche Kluft iſt zwiſchen beyden befeſtiget!
Lange war der dißeitige Wall ſo gros nicht. —
Die Sterbens-Geſchichte meiner
Mutter ſelbſt.


Das Ableben meines Vaters war Oehl
fuͤr dieſe Lampe, die fuͤr die Ewigkeit brannte.
Auch der Tod des Herrn v. G —, lieferte ei-
nen Oehlbeytrag. Dieſer ſtarb ploͤzlich in
unſrer Kirche und kann ich, wenn es verlangt
wird,
[62] wird, noch Red und Antwort von ſeinem Hin-
tritt ertheilen! — Der Hochgebohrne Todten-
graͤber hat ſo viel Leichenbegaͤngnis in dieſe
Lebenslaͤufe gebracht, daß ich faſt vermuthe,
mancher Kunſtrichter werde ſich auch eine
Spruchſtelle merken, und ihr kein Comman-
dantenzeichen beylegen. Laßt die Todten
die Todten begraben
! — Kann ſeyn, hab
ich aber nicht Minens Tod zu feyren? —


Nach meines Vaters Tode lagen meiner
Mutter ein großer Theil Amtsgeſchaͤfte auf,
womit ſie den benachbarten Herrn Confrater
nicht beſchweren wollte, welcher ſich ſonſt der
heiligen Nothdurft der verwayſeten Gemeine
annahm. Oeffentlicher Amtsverrichtungen
konnte ſie ſich freylich nicht unterziehen; weil
die Weiber, wie ſie ſich von ſelbſt beſchied,
ſchweigen muͤßen in der Gemeine; dagegen
war ſie, wo ein Chriſt nur irgend ein geiſtli-
cher Prieſter ſeyn kann, dieſer Prieſter mit
Leib und Seele. Sie ſetzte den Unterricht mit
den Catechumenen fort, ſie zeichnete die Beicht-
kinder an, ermahnte und troͤſtete ſie, nachdem
es der Seelenzuſtand wollte. Die vier lezten
Dinge wußten die Kinder, wie das Vater un-
ſer. Vorzuͤglich beſuchte meine Mutter die
Kranken. Ehre den Arzt, ſagte ſie, da mein
Vater
[63] Vater kein Wort auf ihr beſtaͤndiges: der
Brief
gab, ſondern wider die Aerzte decla-
mirte; in Wahrheit, ſie ehrte die Aerzte, es
ſind Leibesſorger, pflegte ſie zu ſagen. Ob-
gleich ſie den Arzt, und unter ihnen, den D.
Saft ehrte; ſpendete ſie dennoch, wenn es
die Gelegenheit gab, Hausmittel aus, denen
ſie indeßen wider die Meynung meines Va-
ters bey weitem nicht ſo viel, als einem ſaft-
ſchen Recept zutraute. Sie war ſehr fuͤr al-
les Geſchriebene, und ſtand jedem ſaftſchen
ſchwarz auf weiß den Rang zu. Die Seelen-
cur gieng bey ihr uͤber alles. Heyrathen
rechnete ſie in gewißer Hinſicht auch zu See-
lenmitteln. In allen Seelenkuren war ſie ſo
gluͤcklich, daß das ganze Kirchſpiel zu ihr ein
ſo unumſchraͤnktes Zutrauen hatte, daß die
Gemeine (den Adel nehm’ ich aus, der zum
Theil’ ſein Geſpoͤtte mit ihr trieb) ſie ſehr gern
in die Stelle ihres Mannes zum Predigtamt
berufen haͤtte, wenn nicht das Geſchlecht ihr
entgegen geweſen waͤre. Selbſt von der Noth-
taufe hatte ſie ihre beſondere Meinungen, wo-
bey die Herren Diaconi, Paſtores, Praͤpoſiti
und Superintendenten, gewis nicht den Kuͤr-
zern zogen. —


Was
[64]

Was jene weiſe Frau zum Feldhauptmann
Joab ſagte, da er Abel beſtuͤrmte: Vor Zei-
ten ſprach man: wer fragen will, der
frage zu Abel, und ſo giengs wohl aus
,
das galt von meiner Mutter und ihrem Ra-
the, den ſie keinem entzog, der ihn begehrte.
Das Paſtorat blieb wie gewoͤhnlich lange er-
ledigt, und meine Mutter hatte alſo Gelegen-
heit, ihre Gaben in mancherley Art unter die
Kirchſpielsleute zu bringen. Da zerſprang
ein Felſenherz, welches vieljaͤhrige Bosheit
gehaͤrtet hatte; da taute der Froſt, wie vom
Maͤrzſchein auf, wenn ſie ermahnte, wenn
ſie lehrte. Zwar hatt’ ein benachbarter von
Adel ſich uͤber ſie gar luſtig ausgelaßen, daß
ſie ihm wie ein fluͤgellahmer Storch vorkaͤme,
der den Winter zuruͤckgeblieben; allein dies
war ihr kein Stein des Anſtoßes, kein Fels
der Aergernis. Rache war nie ihre Sache,
wie ſie ſagte. Man fand das kunſtloſe Al-
terthum, wenn man ſie ſahe. Ihre ſehr
treuherzige Art zog ihr alle Herzen zu. Sie
war keine Blendlaterne, die von allen Seiten
zugezogen iſt, ſondern eine glaͤſerne Lampe,
die uͤberall Licht zeigt, wo man ſieht. — Eine
Fackel war ſie nicht, und wollt’ es auch nicht
ſeyn. Ein Dorfmaͤdchen, das eine Haupt-
dichterin
[65] dichterin der Gegend war, ſagte, daß ihre
Worte die Herzen, wie die Morgenſonne die
Blumen, oͤfnete, daß ſie da ſtuͤnden, wie die
Blumenkelche. — Seht, ſo hat die Natur
ſelbſt ihre Kunſt. Es iſt ein ſehr bekanntes
Spruͤchwort: wie die Natur ſpielt!


Einſt traͤumte meiner Mutter, daß Min-
chen ſie auf ein himmliſches Vocal-Concert
einladen lies, bey welchem mein Vater, der
wahrlich dißeitig auch ſelbſt nach dem Bran-
de nicht ſehr muſikaliſch war, und nur den
zweyten Diſkant verſucht hatte, eine Haupt-
ſtimme uͤbernehmen wuͤrde. Ehe ſie antwor-
ten konnte, war das Geſicht verſchwunden.
Dieſe Einladung blieb ſehr lebhaft in ihrer
Seele. Des Tages auf dieſen Traum gieng
meine Mutter, die Seelenbeſorgerin! zu einer
Kranken (es war die Mutter des armen klei-
nen Jungen, der ſeinen Milchtopf zerbrochen
hatte, und dem Minchen aus der Noth half,
indem ſie behauptete, daß ſie ſchnell zugegan-
gen, und da waͤre der Topf hin geweſen) Sie
hatte eine hitzige Krankheit; ein laͤndlicher
Univerſalnamen aller Krankheiten. O meine
Lehrerin, ſchrie ihr die hitzig kranke zu, ich
bin dieſe Nacht zu Gaſte bey Minchen gebe-
ten, auf ein Gericht Manna, wo ich mit Abra-
Eham,
[66] ham, Iſaac und Jakob zu Tiſche ſitzen wer-
de. Gewis werd’ ich auch meinen Sieben-
jaͤhrigen finden, der den Milchtopf zerbrach.
Der liebe wird himmliſch gros geworden und
ſchoͤn ausgewachſen ſeyn! Meynen ſie nicht,
liebe Frau Paſtorin? Meine Mutter hatte
die Einladung auf Manna ſo getroffen, daß
ſie nicht antworten konnte. Nach ihrer Er-
hohlung entdeckte ſie der Kranken ihre Einla-
dung auf Geſang — ich habe aber nicht zuge-
ſagt, ſagte meine Mutter, und warum, die
Kranke? weil das Geſicht die Antwort nicht
abwartete. Gut, fuhr die Kranke fort; ſo
werd ich die Antwort mitnehmen. Amen!
ſagte meine Mutter, um ein himmliſches Wort
zu gebrauchen. Halleluja! die Kranke, und
nun ward eine Todesſtille, als ob beyde ſich
zu dieſer Einladung vorbereiteten. Nach ei-
ner Weile kamen ſie wieder, wo ſie ſtehen ge-
blieben, und die Kranke konnte ſich nicht drein
finden, daß meine Mutter auf Geſang, ſie
aber auf Manna geladen ſey, wobey meine
Mutter ihr ins Geleiſe half. Seht nur, gute
Nachbarin! da kann ja waͤhrend dem Singen,
ſagte ſie, auf Blaͤttern vom Baum des Er-
kenntnißes Gutes und Boͤſes, und vom Baum
des Lebens, Manna herumgetragen werden.
Wenn
[67] Wenn die Blaͤtter gros ſind, ſagte die Kran-
ke — Meſſer und Gabel und Teller, fuhr die
Kranke fort — Weg damit, verſetzte meine
Mutter. In der Auferſtehung werden ſie
weder freyen, noch ſich freyen laſſen, ſondern
ſie ſind gleich wie die Engel Gottes im Him-
mel. Die Kranke reichte meiner Mutter die
Hand, und mit ihr den Tod. Mit einem
Schauer trat er ihr in alle Glieder. Sie
wußt’ es, daß er eingetreten war und gieng
heim. Die Nachbarin ſtarb in wenigen Stun-
den, um bey Minen Geſang und Manna nicht
zu verſaͤumen. Meine Mutter ward krank,
ohne daß ſie und D. Saft wußten, was ihr
fehle. Sie ſtarb an der Einbildung, wenn
ich mich nicht irre, an der mehr Leute ſterben,
als man glauben ſollte. Daß viele daran
krank ſind, iſt eine ohnedem bekannte Sache.
Sie hatte, wie der Graf — in Preußen, das
himmliſche Heimweh, nur mit dem Unter-
ſchiede, daß es beym Grafen eine lange zeh-
rende, bey meiner Mutter eine hitzige Krank-
heit war. Ein Lied war ein Springwaſſer,
das ihr zuweilen Kuͤhlung bot, und mit wel-
cher Inbrunſt ſang ſie! Ihr Troſt war ohne
allen Aufwand — Sie ſah nicht in die Son-
ne. Der Mond war ihr Planet, der Planet
E 2eines
[68] eines Planeten. Wer kann in die Sonne ſe-
hen! ſagte ſie. Der Mond hat ſo was menſch-
liches. Laß ſie, die Hochweiſen Herren, nur
immerhin behaupten, fuhr ſie fort, den Baum
des Erkenntniſſes gutes und boͤſes ſchon in
dieſer Welt gefunden zu haben; es iſt wahr-
lich eine Schlange, die ſie verleitete. Die
Regeln koͤnnen zwar ſchlechte Dichter vom
Parnaß, oder beßer vom Sinai, zuruͤck hal-
ten, haben ſie aber je einen gemacht? Die
Weisheit dieſer Welt, was iſt ſie beym Licht
der reinen Wahrheit? Werdet wie die Kin-
der. Wenn andere lehren: ziehet die Kinder-
ſchue aus, lehrt uns wahre Weisheit: ziehet
ſie an — und noch bis jezt, fuhr meine Mut-
ter fort, hab’ ich mich beym lieben Mond und
bey den Kinderſchuen wohl befunden. Was
ſie uͤber ihr Herz bringen konnte, das konnte
ſie auch mit der Vernunft raͤumen. Das
Herz ſpielt auch wuͤrklich weniger Streiche,
als die Vernunft. Die Vernunft iſt eine Ge-
meinuhr, jeder ſchiebt ihren Zeiger; das Herz
trag ich bey mir. Je weniger der Menſch der
Vernunft und dem Schickſal Bloͤßen uͤber
ſich giebt; je unuͤberwindlicher, je ſtaͤrker iſt
er. Wenn ich ſchwach bin, bin ich ſtark,
konnte meine Mutter ſagen. Ihr Portrait
war
[69] war weibliche Schwachheit, im Arm maͤnn-
licher Staͤrke. Vater und Sohn koͤnnen an
einem Tage taufen laſſen. Ein Pomeranzen-
baum hat Bluͤthe und Fruͤchte.


In Betref ihrer Krankheit; ſo verſtellte
ſie nicht ihre Geberde. Schon bey meines
Vaters Leben hatte ſie eine alte Prieſterwitt-
we, anſtatt einer Diakonin zu ſich genom-
men, und von ihr hab ich empfangen,
was ich meinen Leſern erzaͤhle, und zwar ſo,
als waͤr ich Augenzeuge geweſen. Auf meine
Suͤnde wider Mine ſteht Gewiſſensbiß in der
vorletzten Stunde, pflegte meine Mutter oft
zu ſagen, die lezte aber, ſetzte ſie hinzu, wird
heiter ſeyn. Es nagte und plagte ſie noch
heftig, wenn gleich ſie bis auf die vorletzte
Stunde uͤberwunden zu haben glaubte. Sie
ſagte in einer ſchweren Stunde der Anfech-
tung, in Ruͤckſicht der ſchon erkaͤmpften und
ſie jetzt wieder fliehenden Ruhe auf eine ſchreck-
liche Weiſe: wie gewonnen ſo zerronnen; in-
deſſen wurden ihre Haͤnde bald, bald, wieder
geſtaͤrkt, die ſtrauchelnden Knie erquickt und
der zerbrochene Rohrſtab geleimt — ihre blut-
rothe Schuld war dann wieder Schneeweiß.
Geſchieht das am gruͤnen Holz, geſchieht das
an Minen, die auch noch vor ihrem Ende
E 3man-
[70] manchen Gewiſſensknoten zu loͤſen hatte, ehe
ſie uͤberwand; geſchieht das an meiner Mutter,
die Gewiſſensaͤngſte ergriffen; was will am
Duͤrren werden! Wer kann dies zu oft wie-
derhohlen? Wer es lieſet, der merke drauf! —
Die Krankheit meiner Mutter behinderte ſie,
auſſerhalb ihrem Hauſe Amtsverrichtungen
vorzunehmen. Sie kam ſeit dem Handſchla-
ge
nicht mehr aus dem Paſtorat; indeſſen ließ
ſie ihre geiſtliche Prieſterhaͤnde nicht voͤllig ſin-
ken. Freylich muſten ſie zuweilen geſtuͤtzt
werden, wie jenes Prieſters, wenn er das Volk
ſegnen ſollte; indeſſen ward ſie nicht laß zu
ſtrafen, zu lehren und zu troͤſten. Jedes, das
einen Stein auf dem Herzen hatte, kam zu
ihr; jedes, das ſich nicht finden konnte, ſuchte
Rath, im Geiſtlichen und im Leiblichen.


Eine Beſondernheit, noch denkwuͤrdiger,
als die ſchweren Worte, womit ſie ſich bela-
ſtete! Sie hatte das Gluͤck, daß ſie einige
verborgene Dinge, als z. E Diebſtaͤle, ans
Licht brachte, die wie eine Peſt im Verborge-
nen ſchlichen. — Sie ſagt’ es dem Schuldigen
auf den Kopf zu. Wo ſie anklopfte, da ward
aufgethan. — Ich weiß nicht, ſchreibt die Prie-
ſterwittwe, ob die verſchiedene denkwuͤrdige
Traͤume die Urſache waren, woher ſie die ihr
ver-
[71] verliehene Gabe der Prophezeihung inne
ward? Nur das weiß ich, daß ſie viel Auf-
ſehn gemacht haben wuͤrde, wenn ſie dieſe Be-
geiſterung eher verſpuͤrt haͤtte. Sie ſagte der
Frau v. —, ſie wuͤrde einen Sohn zur Welt
bringen, und doch gieng die Frau v. — nur
im fuͤnften Monat. Sie wußte wer Paſtor
werden wuͤrde, und ſagte dieſem und jenem
Dinge, woruͤber dieſer und jener erſtaunte.
Selbſt von den fetten und magern Kuͤhen der
kuͤnftigen Jahre ließ ſie Worte fallen, die man-
chen Kornjuden haͤtten bereichern koͤnnen,
wenn dergleichen ihren Worten getraut.
Wenn ſie ſich eine Wuͤnſchelruthe gebrochen,
wuͤrde ſie alles Metall in ganz Curland und
Semgallen auspunktirt haben. — Zuweilen
kam ich auf den Gedanken, daß es ein Erb-
ſtuͤck von ihrer ſeligen Mutter geweſen. Eine
Blitzfrau! Die verknuͤpfteſten Raͤthſel, die
intricateſten franzoͤſiſchen Schloͤſſer, ohne Die-
trich gleich offen. — Sie haͤtte einem Super-
intendenten was zu rathen aufgeben koͤnnen,
von Rahelsgeſichtsfarbe, zum Beyſpiel, und
von der Seifkugel des Pontius Pilatus.


Unten noch ein Raͤthſel, das ich loͤſen zu
koͤnnen wuͤnſchen wuͤrde. Hier noch die An-
merkung, daß der Candidat mit den langen
E 4Man-
[72] Manſchetten meines Vaters Platz erhalten
— ich glaube meine Leſer haben, unerachtet
des dreygliedrigen Segens, und der langen
Manſchetten, die eherhin nicht von koͤſtlicher
Leinwand waren, nichts dagegen.


Nicht eins aus dem Kirchſpiele konnte ſich
behelfen, ohne von meiner Mutter Abſchied
zu nehmen, und keines gieng von ihr ohne
Andachtsroͤthe (wie die Prieſterwittwe ſich
ausdruͤckt) auf den Wangen. Man brachte
die Kinder zu ihr, damit ſie ſie einſegnen moͤch-
te, und geſegnete Weiber befragten ſie, obs ein
Sohn oder Tochter waͤre? Ueber mich, ſagte
ſie, wollte ſie nicht den prophetiſchen Zuͤgel
ſchieſſen laſſen, ſo gern ich eine Probe ihrer
Kunſt aus der erſten Hand gehabt haͤtte. — —


Auſſer der Lehre von den vier letzten Din-
gen, war ſie jetzt uͤber die Lehre von den En-
geln unerſchoͤpflich worden. Der Spruch,
erſte Corinther im eilften Capitel der zehnte
Vers: Das Weib ſoll eine Macht auf dem
Haupte haben, um der Engel willen, war ein
Text, woruͤber ſie ſich ausließ, wiewohl ohne
ihn zu zeichnen. Sie zeichnete uͤberhaupt jetzt
keine Spruchſtellen mehr. Da ſie indeſſen,
auch ſelbſt als Prophetin, orthodox blieb, und
die Kinder, ſo man zu ihr brachte, nur zwey-
gliedrig
[73] gliedrig ſegnete; ſo blieb es bey der gewoͤhnli-
chen Erklaͤrung, nach welcher Haube das
Gegentheil von Hut anzeiget. Dieſer deutet
Freiheit an, jene Unterwerfung unter den
Willen des Mannes, und ſollen alſo die Wei-
ber Schleyerhauben tragen, um die Engel
durch Gelegenheiten zur Untreue nicht zu be-
truͤben. Die gute Predigerwittwe fand dieſe
Erklaͤrung ſo uͤberſchwenglich, daß ich ihr zum
Andenken ſie hier einruͤcke! Wie mag dieſe
Spruchſtelle doch ihr Ehegatte ſeliger erklaͤret
haben? Vermuthlich legte er ſie durch heidni-
ſche Aufpaſſer in den Verſammlungen der
Chriſten aus.


Die Engel ſind die treuſten Geſchoͤpfe, die
Gott geſchaffen hat, ſie ſind rein und ſelig — —


Die Auslegung, daß die Weiber darum
Hauben zu tragen angewieſen worden, damit
ſie die Engel nicht anſehen moͤchten, um ſie zu
begehren, war meiner Mutter ein Stein des
Anſtoſſes. — — Sie uͤberlegte alles mit ih-
rem Schutzengel, und war ſo ſehr der Mey-
nung, daß jedem Menſchen ein Gefehrter zu-
geordnet waͤre, der ihn in der Jugend und im
Alter begleite, daß ſie nichts davon abwenden
konnte. In den Jahren, ſagte ſie, wenn der
Menſch im eigentlichen Sinn Menſch iſt, wie
E 5ſelten
[74] ſelten iſt er da eines Engels werth? Die En-
gel ſind nicht unſere Diener, wiewohl etliche
des Dafuͤrhaltens geweſen, ſondern unſere
Vormuͤnder, unſere Curatores. Wie muß es
ſie verdrießen, daß eine Geſtalt, die der erſte
Adam und der zweyte Adam getragen, ſo ver-
nachlaͤßiget wird! Aus der goͤttlichen Uniform,
o! was iſt aus ihr worden! Die Engel lernen
von uns die Auswickelung eines Geiſtes, den
Einfluß des Geiſtes in den Koͤrper, und dieſes
in jenen! Sie ſehen, was es mit einem ſublu-
nariſchen Koͤrper fuͤr eine Bewandtniß habe,
und wie er einem Geiſte ſtehet. Sie ſehen die
Ungemaͤchlichkeiten, die ein Eigenthum vor
einer Miethe, ein eigenes Haus vor einem ge-
heurten habe. — O was iſt vom Menſchen zu
lernen! Vielleicht iſt in ihm aus jedem Haupt-
Weltſtuͤck etwas! — Er iſt die Welt im Regi-
ſter! Man kann ſie bey ihm nachſchlagen —
und wenn er ſtirbt! welcher neue Unterricht!
Die Trennung, das Ueberbleibſel auſſer der
Seele, das Hemde vom Menſchen, von koͤſt-
licher Leinwand. — Wir ſind alſo, ihrer Vor-
mundſchaft unbeſchadet, ihre Lehrer! Hier
ſind wir Engel und Menſchen in einer Perſon!
Wer ſagt, daß wir ſterben, druͤckt ſich unei-
gentlich aus. Wir ſind unſterblich —


Kind-
[75]

Kindlich große Mutter! du ſchlecht und
rechtes Weib! ſelig biſt du, ſelig, dreymahl
ſelig iſt dein Kind, das Chriſtus unter ſeine
Juͤnger zum Muſter ſtellte. Jeſus rief ein
Kind, und ſtellte es mitten unter ſie und ſprach:
Wahrlich ich ſage euch, es ſey denn, daß ihr
umkehret und werdet wie die Kinder, ſo wer-
det ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Wer ſich nun ſelbſt erniedriget, wie dies Kind,
der iſt der groͤßte im Himmelreich! Selig iſt,
der ein Kind wird, um dieſes Kinderfreundes
willen!


Gern haͤtt’ ich meinen Leſern ein Engelge-
ſpraͤch meiner Mutter mitgetheilt, welches
wir andere Leute ein Selbſtgeſpraͤch zu nen-
nen gewohnt ſind, das auf dem Theater ein
Staatsfehler iſt — indeſſen beſprach ſie ſich
mit ihrem Schutzengel in der Stille. Unſere
Seele kennen wir nicht, und wollen die Engel-
natur begruͤnden? ſagte ein Schriftgelehrter
in der Gegend. Wir wiſſen in unſerm eignen
Hauſe nicht, wer Koch und Kellner iſt, und
wollen alle Einwohner jener Sterne zu Ge-
vattern bitten? Allein meine Mutter wider-
legte ihn nicht. Oft brach ſie, ſchreibt die
Paſtorwittwe, mitten drein ab: was ich weiß,
das weiß ich, und gab nicht undeutlich zu ver-
ſtehen,
[76] ſtehen, daß ſie mit ihrem Schutzgeiſte bekannt
zu werden Gelegenheit gehabt. Sonſt wuͤßt
ich auch nicht, wo ſie alles her haͤtte von den
ſieben fetten und ſieben magern Kuͤhen kuͤnf-
tiger Jahre? Ob Soͤhnchen oder Toͤchterchen?
und wer Paſtor werden wuͤrde? —


Es war in der Gegend eine Frau v — B —
von ſehr bekannter Einſicht. Sie hatte nie
Kinder gehabt. Man ſagt, viele Kinder
ſchwaͤchen die Weiber an Leib und Seele, und
wenn man manche alte Jungfer daruͤber zu
Rathe zieht, ſie ſey Durchlauchten, Hochge-
bohrnen, Hochwohlgebohrnen, oder buͤrger-
lichen Standes, findet man zu dieſer Anmer-
kung Beſtaͤtigung. — Ihre Neider behaupte-
ten, ſie waͤre keine Frau, ſondern ein Mann;
obgleich ihr verſtorbener Gemahl nie daruͤber
Klage gefuͤhret. Dieſe Frau war eine Juͤn-
gerin vom ſeligen Herrn v. G —, ohne daß
er es dazu anlegte. Sie hatte wider manches
Scrupel, und trat dem Herrn v. G — in al-
len ſeinen Meynungen bey, ohne zu beden-
ken, ob ihre Scrupel dadurch gehoben waͤren,
oder nicht? Nach der Zeit fieng ſie ſelbſt an,
aus Buͤchern zu ſchoͤpfen. Das ſind nie Quel-
len fuͤr Weiber! Bey ihnen kommt aller Glau-
be durch die Predigt, und ſiehe da! Sie hatte
von
[77] von der Exiſtenz der Seele nach dem Tode ſol-
che Hirngeſpinſte zur Welt gebracht, daß es
ihr beſſer geweſen waͤre, wenn ſie Kinder ge-
habt haͤtte, wenn ſie ihr gleich nicht gerathen
waͤren. Hirngeſpinſte ſind oft ſchaͤdlicher, als
ungerathene Kinder. Hiezu kam, daß ſie kei-
nem dieſe Meynungen mittheilte, ſondern al-
les mit ſich ſelbſt berichtigte. Sie hatte eine
grobe Stimme, ſonſt aber war ſie fein; aus-
genommen Naſe und Augen, die ungewoͤhn-
lich groß waren — und doch war etwas Fraͤu-
liches in beyden Stuͤcken. Daß ſie nicht zu
unſerm Kirchſpiel gehoͤrte, muß ich noch be-
merken. Der Prediger, der ihr angewieſener
Seelenhirte war, ſchien keine Seelenweide zu
verſtehen, am wenigſten die Gabe zu haben,
Scrupel zu heben, und alles wieder auf gut
Weideland zu treiben. Dieſe Fr. v — hatte fuͤr
meinen Vater viel Achtung gehabt; obgleich er
durch das zehnjaͤhrige Interregnum von der
fuͤr ihn gefaßten guten Meynung viel verlohr.
Wo ſie nur von einem Zeichen hoͤrte, erſchien
ſie, und immer im Amazonenhabit. Sie war
eine gebohrne Amazonin. An Schwedenborg,
den Geiſterſeher, hat ſie oͤfters Briefe erlaßen,
auch an einige — — Jezt hoͤrte ſie vom be-
nachbarten Phoenomen. Liebe Frau Pa-
ſtorin!
[78]ſtorin! ich komme zu ſehen, wie ſie ſich
befinden,
— beßer als je! Das hoͤr ich!
und nun alles einſylbig: Je nun, mag, nun
denn! Ach! Sieh doch! und dergleichen.
Die Frau v — hatte meine Mutter fuͤr eine
einfaͤltige gute Frau gehalten. Sie war we-
gen ihres Singens weit und breit bekannt.
Die Frau v — ſang gar nicht. Sie war fuͤr
keine Muſik. Meine Mutter kannte die Frau
v — wegen ihrer Heterodoxie, und merkte ſo-
gleich, daß es auf ein Zeichen wuͤrde angeſe-
hen ſeyn. Sie fertigte ſie indeßen ſo kurz
und gut, als Vater Abraham den reichen
Mann, ab, da er ſeiner fuͤnf Bruͤder halber
eine Erſcheinung begehrte. Hoͤren ſie Mo-
ſen und die Propheten nicht, ſo werden
ſie auch nicht glauben, wenn Jemand
von den Todten auferſtuͤnde.
Mit der
Nachricht, wer Paſtor werden wuͤrde, war
der Frau v — am wenigſten gedient, und da
ſie aus zwey bekannten Dingen, ein drittes
unbekanntes herauszubringen gar wohl ver-
ſtand, nicht minder gar wohl wußte, daß das
Gluͤck allem Außerordentlichen zur Seite gien-
ge; ſo ward ſie ſo wenig uͤberzeugt, als die
Phariſaͤer und Sadducaͤer und Schriftgelehr-
ten. Meine Mutter hatte indeßen etwas im
Geſicht,
[79] Geſicht, was der Frau v — auffiel. Die Fe-
ſtigkeit, mit der meine Mutter alles behan-
delte, machte die Frau v — auch ohne erhal-
tenes Zeichen aufmerkſam. — Sie nahm die
Aßignation auf Moſen und die Propheten an,
und bat ſich die Erlaubnis aus, kuͤnftigen
Sonntag wieder zu kommen. Wenn man den
Loͤwen vorgeworfen werden ſoll, ſtirbt der groͤ-
ßer, und iſt mehr als Maͤrtyrer, der ſich ih-
nen gelaſſen anbietet, als der ſie reitzt. —
Die Frau v — zog ihre Straſſe, und da ſie
wohl einſahe, daß meine Mutter nicht lange
mehr hier wallen wuͤrde, entſchloß ſie ſich et-
was auszufuͤhren, wofuͤr ſie bis dahin zuruͤck-
gebebet. — Sie kam. Noch ein klein Gelaͤute
zuvor, wegen des Sonntags. Seit der Zeit,
daß meine Mutter eine Prophetin worden,
war ſie des Sonntags mehr, als ſonſt, in die-
ſem Prophetenelement; obgleich ſie ſonſt ſo
ſehr fuͤr den Sonnabend war. Sie kam, hab
ich ſchon geſagt. Beyde ſahen es ſich an,
daß ſie heute auſſerordentlich waͤren. Es war
bey beyden Sonntag — ich will die Paſtor-
wittwe ſich ſelbſt uͤberlaſſen. —


Ich wuͤnſchte wohl mit ihnen ganz allein
zu ſeyn, fieng die Frau v — an. „Kann nicht
ſeyn„ antwortete meine Mutter. Gott iſt bey
uns,
[80] uns, und meinen Schutzengel kann ich nicht
gehen heiſſen. — Bleib, Lieber! Dieſes
kurze: Bleib, Lieber! zu etwas, das die Frau
v — nicht ſahe, wuͤrde ſie ſonſt zum Lachen
gebracht haben; jetzt wandelte ſie kein Lachen
an. Auch dieſe meine Collegin, fuhr die Se-
lige fort, darf nicht von mir. Sie hat mein
Herz, und weiß meine ganze Sterbensge-
ſchichte. Nach einigen Erhohlungsaugenblik-
ken verſicherte die Frau v —, daß ſie eine
Bitte an die Selige haͤtte, die ſie wohl uͤber-
dacht. — Im Namen Gottes, erwiederte die
Selige. Ich glaube, fuhr die Frau v —
fort, an Gott den Vater, allmaͤchtigen Schoͤ-
pfer Himmels und der Erden, und ehre in
tiefſter Demuth alle die Wege, die er mit den
armen Menſchen, ſeinen Geſchoͤpfen, einge-
ſchlagen, um ſie zur Erkenntnis der Wahrheit
zu bringen — ich glaube — doch unterbrach
ſie ſich ſelbſt, ſie wiſſen was ich glaube. Ich
weiß, ſagte die Selige mit aller Ueberzeugung,
und legte eben hiedurch ein Zeichen von ihrer
Uebernatur ab: denn mir kam es vor, daß die
Frau v — ſelbſt nicht recht wußte, was ſie
glaubte. Gern, ich leugne es nicht, haͤtte ich
ſie den zweyten und dritten Artikel des chriſtli-
chen Glaubens beten gehoͤrt. — So beſchwoͤr
ich
[81] ich denn, rief die Frau v — b — mit einer
Mark- und Beinſtimme, ſo beſchwoͤr ich dei-
nen Geiſt bey dem ewigen Anſchauen Gottes,
und bey allen Hofnungen der Seligkeit, daß,
wenn es zur Ehre des Geiſtes der Geiſter und
mit Bewilligung deines Gleitengels ſeyn kann,
der hier iſt, ohne daß ich ihn ſehe, daß du mir
drey Tage nach deiner Aufloͤſung erſcheineſt —
ich werde in meinem Hauſe rechter Hand im
weiſſen Cabinet deiner warten. Alle gute
Geiſter loben Gott den Herrn! — Die Selige
antwortete auf ſo viel Kreutzblitze mit einer
Gelaſſenheit, die man nicht beſchreiben kann.
Eure Rede ſey: Ja, ja, nein, nein, was druͤ-
ber iſt, iſt vom Uebel! Laßt mich! — Sie winkte
uns abe! — ich „(das heißt die alte Paſtor-
wittwe) zitterte von dannen: denn ich fuͤhlte,
daß ein unſichtbares Geſchoͤpf in der Naͤhe
ſey, das mit der Seligen conferiren wollte;
die Wahrheit zu ſagen, ich hoͤrte ein Rauſchen,
als eines ſanften Windes, als einer atlaße-
nen Schleppe. Die Frau v — gieng mit der
ehrfurchtsvollſten Gebehrde von dannen! Sa-
muel konnte nicht ehrfurchtsvoller ſagen: rede
Herr, dein Knecht hoͤret! Wir kamen ins blaue
Stuͤbchen, das ich tauſendmahl geſehen, und
jetzt war wir ſo, als ob ich es zum erſtenmahl
Fſaͤhe.
[82] ſaͤhe. Es kam mir vor, als ſaͤh’ ich uͤberall
Kreutzer! Mich umgeſehen haͤtt ich nicht um
tauſende. Die Frau v — ſah mich mit ihren
groſſen Augen ſtarr an! — und eigentlich be-
merkt ich, wie ſie eine Todesangſt faßte. Die
Aengſten hoben ſie; was ſchweben heißt, konn-
te man an ihr ſehen. Dies nahm zuſehends
zu; auch ſie konnte ſich nicht mehr umſehen.
Wie es zugieng, weiß ich nicht; allein ein ploͤtz-
licher Sturm riß die Fenſterladen von ihren
Eiſen; alles bebte im Zimmer. Alles, was
einen Klang im Zimmer hatte, gab einen Laut.
Schrecklich — Weh! war es nicht; allein nicht
viel auseinander. — Die Haͤhne kraͤheten auf
eine Art, als wenn eins verrathen und ver-
kauft werden ſollte! — Im Sturm waren
Worte zu hoͤren. — Wer konnte ſie verneh-
men? Die hochgelahrte Frau v — b — rang
die Haͤnde, und konnte ſich auf den Knien
nicht halten! Was! wie iſt mir? — Da-
mals, und auch nach der Zeit, glaubte die
zeichenbegierige Frau v —, daß die Unterre-
dung der Prophetin mit ihrem Schutzgeiſt auf
den Geiſt der Frau v. gewuͤrkt haͤtte. Etwas
gieng in Wahrheit vor, was es aber war,
mag Gott wiſſen, und der Prophetin Schutz-
geiſt. Die Prophetin klingelte! So was von
Klin-
[83] Klingeln hab ich nie gehoͤrt. Die hochgelahr-
te Frau v — b — hatte ſo wenig Herz herein
zu gehen, daß ſie mich bat, ich moͤchte hoͤren,
was ſie wollte; und da ich vorgieng, hielt ſie
mich zuruͤck, weil ſie nicht bleiben, nicht gehen
wollte. Da eben giengen die Glocken unſerer
Kirche, und der Sturm, der noch nicht nach-
ließ, brachte ſie uns ſo nahe, daß ſie uns recht
ins Ohr ſchrien: Bedenke, Menſch, das
Ende!
Es war eben ein bluͤhendes junges
Maͤdchen, die nur ſeit drey Tagen krank ge-
weſen, verſchieden. Gott habe ſie ſelig! Die
Frau v — b — that, ehe wir noch zu der Se-
ligen giengen, eben ſo feyerlich, als ihre Be-
ſchwoͤrung war, Verzicht auf die Erſcheinung
der Prophetin, als eines von den Todten, und
da wir voll von dieſem Verzicht zur Seligen
kamen; ſo hab ich nie erfahren, wie die Con-
ferenz abgelaufen, und wie ſie ſich mit dem
Schutzgeiſt berathen? Gern wuͤßt’ ich es jetzo.
Zu der Zeit haͤtt’ ich es nicht tragen koͤnnen.
Das bin ich uͤberzeugt, haͤtte ſie verſprochen,
ſie waͤre gewiß gekommen, und wenn ſie vom
lieben Gott ſelbſt Urlaub bitten ſollen! — Es
waͤre ja ohnedem nicht auf lange geweſen!
Rechter Hand ins weiſſe Cabinet. Jam-
mer und Schade! —


F 2Die
[84]

Die Prophetin entdeckte uns bey ſo be-
wandten Sachen nichts von ihrer Conferenz,
und ſo blieb auch die Frage: ob es angeht,
daß man erſcheinen koͤnne? unentſchieden.


Nach einigen das Ableben der Dirne
treffenden Umſtaͤnden, erzaͤhlte die Prophetin
uns eine zur Stiftung des Cartheuſerordens
gehoͤrige Geſchichte, (die ſie beſſer wiſſen wer-
den, als ich). Es war ein von der ganzen
Welt fromm geglaubter Mann; dieſer ſtarb,
und ſollte begraben werden. Ohnfehlbar hat-
te man uͤber ſeinen ruͤhmlich gefuͤhrten Lebens-
wandel und ſein ſeliges Ende eine Standrede
gehalten, und da richtete er ſich auf und ſagte:
(Die Prophetin richtete ſich im Bett’ in die
Hoͤhe!) Ich bin vor das ſtrenge Gericht Got-
tes vorgeladen. Alles gieng der Neuheit der
Sache wegen von dannen, wiewohl unbeſorgt
wegen des Urtels. — Des folgenden Tages,
da man das Leichenbegaͤngniß fortſetzen woll-
te, richtete ſich der fromme Mann wieder auf,
und rief: Das Verhoͤr iſt vor dem Richter-
ſtuhl geſchloſſen! — Die Leichenbegleiter und
das Volk verlieſſen diesmahl baͤnger die Lei-
che. — Ein Verhoͤr, dachte man; doch viel-
leicht um dem frommen Mann deſto gruͤndli-
cher zu lohnen! — Den dritten Tag, wie be-
gierig
[85] gierig war alles, den Spruch der Gnade zu
hoͤren, das: Ey, du frommer! allein weh!
weh! rief die Prophetin, ſie richtete ſich ſo in
die Hoͤhe, daß ſie mir ungewoͤhnlich groß vor-
kam, der fuͤr fromm gehaltene ſprach mit ei-
nem Tone! mit einem Tone: ich bin ver-
dammt
! Die Amazonin fiel in Ohumacht —
Ein Weib, auch im Amazonenkleide, iſt doch
nur ein unausgebackener Mann! — Die Pro-
phetin ermunterte ſie durch das ſchoͤne Lied:
Du ſieheſt, Menſch, wie fort und fort.
Dies Lied half zuſehends. — Sie druͤckte mei-
ner Mutter die Hand. Nicht eher, als dort,
wuͤnſch ich ſie zu ſehen, rief ſie laut, recht als
ob ſie es dazu anlegte, daß auch die Unſichtba-
ren es hoͤren moͤchten — Sie nahm noch auſ-
ſer ihrer Kammerjungfer einen ihrer Bedien-
ten in den Wagen, und hat keinen Scrupel
mehr, und geht nicht weiter im Amazonen-
kleide. — Den dritten Tag nach ihrer heiligen
Mutter Hintritt fiel ſie in heiler Haut in eine
dreyſtuͤndige Ohnmacht — und erwachte wie-
der ſo, als wenn man ausgeſchlafen hat. Sie
hat wuͤrklich etwas, man weiß nicht was, er-
fahren, wovon ſie aber bis in ihren Tod, der
kurze Zeit darauf folgte, keine Sylbe entdeckt
hat. Ich habe dieſem Vorfall eine Penſion
F 3von
[86] von 50 Reichsthaler Alb. zu danken, die ſie
mir mit der Bitte legirt hat: dieſen Sonn-
tag ihr zum Andenken nicht zu vergeſſen, und
das will und werd ich erfuͤllen, bis auch ich
wiſſen werde, wie es in der Geiſterwelt ſtehet?
Wie mir vorkommt, werd ich Sonntags ſter-
ben, am Penſionstage. Frau v — iſt ſehr
ſanft geſtorben. Ich konnte wegen Selbſt-
krankheit bey ihrem Ende nicht ſeyn —


Des alten Herrn muß ich bey dieſer Gele-
genheit auch denken, ſowohl meiner Mut-
ter, als der Frau v — b — wegen, die
nach Geiſtern ausgieng, und am Ende doch
zu den Seligen gehoͤrte, welche nicht ſehen
und doch glauben.


Meine Mutter hatte ihn ſogleich, nach-
dem ſie von Minens Geſchichte unterrichtet
war, citirt, und, nachdem ſie ihm Himmel
und Hoͤlle vorgeſtellet, ſeinem Herzen die Wahl
uͤberlaſſen — ob Himmel? oder Hoͤlle? —


Herr v. E — hatte, um ſich aus der
Schlinge zu ziehen, den Herrmann voͤllig ver-
laſſen. Magdalene aber ſchien, um einen Lit-
teratus zu heyrathen, ihn nicht aufgeben zu
wollen. Er ſchien wirklich Minens Andenken
und der Zuruͤckerinnerung ihrer Mutter den
Gedan-
[87] Gedanken dieſer Heyrath voͤllig geopfert zu
haben. Noth, ſagte meine Mutter, haͤlt kein
Gebot, wenn ich Ihnen aber Nahrung und
Kleider verſpreche; ſo lang ich lebe! verſteht
ſich. Herrmann machte Buſſe und Glauben
durch das gute Werk thaͤtig, Denen zu ent-
ſagen. — Nach der Zeit troͤſtete ſie den Herr-
mann, darf ich mehr bemerken, um an den
Tag zu legen, daß der Tochterloſe Herrmann
wuͤrklich Reu und Leid uͤber ſeine Suͤnden ge-
tragen! Sie hatte ihm alles aufgedeckt, auch
was er an der Curlaͤnderin verſchuldet. Er
gieng krumm und ſehr gebuͤckt; den ganzen
Tag war er traurig. — Der Tremulant war
ſein Hauptzug. Seine groͤßte Strafe, wie
meine Mutter bemerkte, war die Furcht vor
dem Tode; nicht weil es ihm in der Welt ge-
fiel, ſondern weil er ſich furchte, ſeinem Wei-
be und Tochter unter die Augen zu kommen.
So war unſer Bekannter voll Angſt, ſeinen
Sohn und Charlotten zu ſehen.


Eines Tages, da meine Mutter ihn in
tiefſter Schwermuth fand, welches ſie zwi-
ſchen eilf und zwoͤlf in der Nacht nannte,
nahm ſie ihn bey der Hand: getroſt, ſagte
ſie! Luther lies ſich zu ſeiner Zeit gegen ei-
nen traurigen Organiſten ſo aus: Lieber Ma-
F 4thia,
[88] thia, wenn ihr traurig ſeyd, und es will Ue-
berhand nehmen, ſo ſprecht: Auf, ich muß
ein Liedlein ſchlagen auf dem Regal, das Te
Deum
oder Benedictus. — Gehe hin, thue
desgleichen! Herrmann, ſo betruͤbt er war,
konnte nicht umhin anzumerken, daß er nie
Organiſt geweſen, ſondern nur ein Poſt und
Praͤludium hier und da gehalten, wenn es
vierzehn Tage zuvor beſtellet worden, womit
es meine Mutter bewenden lies, die um alles
in der Welt willen ihm nichts vom kalten
Brande geſagt haͤtte. Sie kraͤnkte ſeine Lit-
teratusehre nach Minens Tode nicht weiter.
Dieſe Welt, lieber Herrmann! ſagte ſie, iſt
ein Praͤludium; die kuͤnftige das Textlied! —
Ja wohl, erwiedert’ er mit einem tiefen Seuf-
zer. So lebte Hermann nicht viel anders,
als ein Cartheuſer, hatte nicht Luſt und Liebe
mehr, ſeitdem er den Kinderunterricht aufge-
geben, ſeine Handwerke zu treiben; obgleich
er noch vom Schneider die Gewohnheit bey-
behalten, auf den Tiſch zu klopfen, vom Schu-
ſter das weite Aushohlen mit den Haͤnden,
und vom Toͤpfer das beſtaͤndige Wackeln mit
dem Fuße. — Die Frau v. — b — hatte
außer der Paſtorwittwe auch an ihn im Teſta-
mente gedacht. Sie hatte ſich, nach ihrer
Wallfart
[89] Wallfart zu meiner Mutter, um alle Umſtaͤn-
de, die Minen und mich betrafen, erkundiget.
„Auch Herrmann jaͤhrlich funfzig Thaler Alb„
hieß es in ihrem mildthaͤtigen Teſtamente.
Mir hatte ſie ein ſchwarzes Kleid nebſt Kra-
gen und Mantel legiret, wenn ich Prediger
werden wuͤrde, welches ich, ſo unbetraͤchtlich
der Umſtand iſt, hier anzumerken nicht er-
mangeln kann! —


Meine Mutter ward von Tage zu Tage
ſchwaͤcher, der Geiſt immer noch willig, thaͤ-
tig, kraͤftig; das Fleiſch ſchwach. Ihre Ein-
bildungskrankheit nahm ſo zu, daß ſie hier
ſchon wie ein Geiſt ausſahe. Aus der Ge-
ſchichte mit der Frau v — b — ergiebt ſich,
daß ſie zu Bette geweſen. Sie war wuͤrklich
ſo, daß ſie ſich nicht auf den Fuͤßen halten
konnte. Seht nur, meine Lieben, ſagte ſie,
wie ſehr ich beweiſe, daß mein Geiſt unſterb-
lich iſt! Da bin ich, durch den, der mich
maͤchtig macht, ſtaͤrker als Sokrates, von
dem ſo viel gemacht wird, und der doch, wie
man mir erzaͤhlt hat, einen Hahn opfern lies,
um ſeine Religionsgrundſaͤtze zu laͤugnen. So
muß ein Hahn immer bey der Verleugnung
ſeyn! Ich lebe auf, indem ich ſterbe. Mein
Geiſt fliegt, indem mein Koͤrper ſinkt! —


F 5Beſon-
[90]

Beſonders war es, daß meine Mutter
uͤber mich, wie bereits bemerkt worden, auch
keinen einzigen Laut prophezeyte! Nach ihrem
lezten Briefe, den ich extraktsweiſe meinen
Leſern mitgetheilt, war alles ſtill uͤber mich.
Zuweilen dachte ſie meiner im Fluge; wer
kann aber im Fluge treffen? Die Paſtor-
wittwe konnt’ es nicht. Sieben Tage vor
ihrem Ende, wie dieſe Krankenwaͤrterin mit
den funfzig Thaler Alb. Penſion mir berich-
tet, war der Geiſt, wie ſoll ichs nennen? noch
ſtaͤrker. Kann es nicht heißen, als je? Sie
war in einer wirklichen Extaſe, wo zuweilen
Funken fielen; allein ſie fielen auf kein gut
Land, ſchreibt die Paſtorwittwe, ſie zuͤndeten
nirgend. Es war alles ſo in die Luft. Die
gute Frau hat mir davon eine Probe mitge-
theilt, die ich ſo wiedergebe, als ich ſie em-
pfangen habe. Meine Leſer wiſſen, wie ſehr
ich fuͤr eigene Worte bin!


Alles, was Othem hat, liebt, und was
keinen hat, moͤchte gern lieben. Es ſehnet
ſich nach Liebe. Bein von meinem Bein,
Fleiſch von meinem Fleiſch. Habt ihr nicht
gemerkt, wie ſich manches Gewaͤchs an ein-
ander ſchlingt, ſo feſt als ein junges Weib
an ihren Gatten, und was ſich nicht umſchlin-
gen
[91] gen kann, beruͤhrt ſich, wenn ein ſanfter Wind
es bewegt. Wie es ſich kuͤßt! Wonniglich
iſt der Kuß, den der Zephyr der Roſe ſtiehlt.
Iſt er der Roſe treu, iſt er der Herr v. E —
der barbariſche Stutzer? iſts ein Stutzer, der
zerſchmilzt, der wie ein Floͤtenton vergeht?
Wie Zucker in der Taße! Was iſt die Liebe?
Der Athem Gottes — Faßt ihn doch auf, ſo
warm er da kommt aus ſeinem Munde! Hei-
lig! heilig! heilig! iſt Gott der Herr Zebaoth
und alle Lande ſind ſeiner Ehre, ſeiner Liebe voll!
Entweder wuͤrklich lieben oder lieben wollen,
nach Liebe ſich ſehnen; ſonſt verlohnts nicht,
daß ein Hund ein Stuͤck Brod von uns nimmt.
Die Hunde nehmens auch nicht vom Liebloſen
und Falſchen. Wenn ich mit Menſchen- und
mit Engelzungen redete und haͤtte der Liebe
nicht; ſo waͤr ich ein toͤnend Erz und eine
klingende Schelle. Wenn man dem Huhn
nicht ein Neſt bereitet, legt es in die Neſſel.
Auch Waſſer wird Lauge, wenn es durch Aſche
geſeuget wird. Seht! ſeine Einfalt erhebt
den Witz, wie Schatten das Licht. Wenn die
Natur ein Chorhemde anzieht, iſt ſie das
Chriſtenthum. Zergliedre, und du findeſt an
der ſchoͤnſten That Flecken, oder Runzeln, oder
des etwas. Sie hat Sommerſproßen, eine
Blat-
[92] Blatternnarbe; allein im Ganzen ſchoͤn! So
gehts auch mit aller dißeitigen Heiligkeit! —
Die Liebe iſt kein Portraitmahler. Sie mahlt
die Seele! Sie mahlt den ganzen Menſchen!
Das Gute iſt zu hoͤren, das Schoͤne iſt zu ſe-
hen! Das Schoͤne erſcheint von vorn, das
Gute von hinten. Mine iſt zu ſehen und zu
hoͤren; mein Schutzengel desgleichen, wie er
da um mich wallt, unſichtbar dem Werktags-
auge! Der Mond ſcheint hell, der Tod reit
ſchnell, ihr lieben Leutlein graut euch auch?
— Singſt du Holde? Apfelbluͤten vom Baum
des Erkenntnißes Gutes und Boͤſes waren
auf ihrer Wange; jezt Bluͤthen vom Baum
des Lebens. Mine, ſingſt du? — Hoͤrt ſie
fingen, ſie iſt des alten Herrn Tochter nicht
mehr, ſie iſt meines Mannes Tochter und ih-
rer Mutter Tochter! Wie ſchoͤn ſie ſingt!
Es iſt das Heyl uns kommen her! —
Wie eine Lerche woͤlbt ſich ihr Geſang, wie
eine Wachtel faͤllt er! Da ſteht ſie! — Wie
ein Stern uͤber meinem Haupte! O des ſchoͤ-
nen Morgenſterns!


Alſo werd ich auch ſtehen,

wenn mich wird heißen gehen

mein Gott aus dieſem Jammerthal!

Nun
[93]

Nun ruhen alle Waͤlder von Paul Ger-
hard
. Nun wachen alle Waͤlder von Feuſtel
und Riedner, die beyde in Maſkopie die
Waͤlder aufgeweckt — Zur Unzeit wie ge-
woͤhnlich! Sie haͤtten ſie ruhen laſſen koͤnnen!
Seinen Freunden giebt ers im Schlafe! Gott
laͤßt uns ſinken, aber nicht ertrinken. Wenn
der Kluͤgſte beichten ſollte, was er in ſeinem
Leben fuͤr Einfaͤlle und Ausfaͤlle gehabt, waͤre
er des Irhauſes ſchuldig! Gruͤne Oſtern,
weiße Pfingſten. Viel koͤnnen zwar zuſam-
men ſingen, aber nicht zuſammen reden. Der
Geſang iſt geſellig, die Proſe iſt Leutſchen,
einſiedleriſch, tuͤckiſch — bey allem dem ernſt-
haft. Traͤume! ihr ſollet nichts ſeyn? und
wenn die Urſache vom Zukuͤnftigen ſchon in
mir liegt, auch dann nichts; wenn das See-
lenauge ſchon ſieht, was das Koͤrperauge
noch nicht zu ſehen im Stand’ iſt? Die Ka-
lendermacher machen den Kalender; der liebe
Gott das Wetter! Steck’ ein Licht an, wenn
die Sonne ſcheint! Kannſt du das Licht ſehen?
Greif auf der Laute, wenn die Glocken roͤnen.
Kannſt du hoͤren? Wenns gut ſchmeckt, ver-
daut man auch gut! Jede Empfindung, die
das Leben unterbricht, iſt Schmerz; die Leben
ins Leben bringt, iſt Freude! der Tod iſt Be-
foͤrde
[94] foͤrderung des Lebens! Der Tod hat auch
ſein Sonntagskleid. Alte Leute in Doktor-
haͤnden, waͤren ſie auch des D. Saft ſeine,
ſind Mayen, die abgerißen ſind von der Na-
tur und im Waſſer ſtehen! — Es geht eine
Zeitlang; allein nicht lange. Viel Koͤche ver-
derben den Brey. Bey ſieben Kuͤnſten geht
man betteln; bey einer kann man Altmeiſter
werden. Gott der Herr hat in jedem Dichter
ſein Feuer und Heerd! O Jeruſalem! Je-
ruſalem! die du toͤdteſt die Propheten, und
ſteinigeſt die zu dir geſandt ſind, wie oft hab
ich deine Kinder verſammlen wollen, wie eine
Henne verſammlet ihre Kuͤchlein unter ihre
Fluͤgel, und ihr habt nicht gewollt. Und es
werden Zeichen geſchehen an der Sonne und
Mond und Sternen, und auf Erden wird den
Menſchen bange ſeyn und werden zagen, und
das Meer und die Waſſerwogen werden brau-
ſen: und die Menſchen werden verſchmachten
vor Furcht und Warten der Dinge, die kom-
men ſollen auf Erden; denn auch der Himmel
Kraͤfte ſich bewegen werden. So ſeyd nun
wacker allezeit, und betet, daß ihr wuͤrdig
werden moͤget zu entfliehen dieſem allem, das
geſchehen ſoll, und zu ſtehen vor des Men-
ſchen Sohn. Sollte Gott nicht retten ſeine
Auser-
[95] Auserwaͤhlten, die zu ihm Tag und Nacht ru-
fen, und ſollte Geduld daruͤber haben? Ich
ſage euch: er wird ſie erretten in einer Kuͤrze!
In der Welt verſchlingen die ſieben fette Kuͤhe
die ſieben magere; in des Traͤumers Pharao-
nis Traum umgekehrt! — Wo iſt deine Schoͤ-
ne, du heilige Stadt, wo dein Glanz, du
Gotteshaus, wo dein Allerheiligſtes, die La-
de
des Bundes? Wehe! wehe! wehe! dei-
nen Thoren! Wehe deiner Feſte! Wehe dem
Tempel! Weh uͤber dies Weh! dies lezte
Weh! Weh auch mir! Mine traf mich! wie
jenen Wehrufer auf Jeruſalems Mauren ein
roͤmiſcher Pfeil, in Schlangengift getaucht —
Weh aus mir! — wie es ziſcht in meinem
kochenden Buſen! Labung! Labung! — Mei-
ne Zunge verdorrt in dieſer Quaal! Eßig und
Galle! O Greul der Verwuͤſtung! an heiliger
Staͤte! Fliehe auf den Berg, der du im Thal
biſt! Stuͤrze in den Abgrund du, der du dich
vor den Wolken buͤckſt! Wer auf dem Felde
iſt, kehre nicht um, ſeine Kleider zu hohlen.
Wer auf dem Dache iſt, in bloßen Fuͤſſen,
ſtuͤrze nicht herab, um einer Verkaͤltung zu
entweichen! Wehe! wehe der Schwangern,
die eine Tochter traͤgt! Wehe der Saͤugen-
den! Sie ſterben dahin in fremden Landen!
und
[96] und keine Milchſchweſter ſingt ihnen das Ge-
habt euch wohl
. Keine Geſpielinn ſtreut
Blumen auf ihr Gebein. Minens Staͤte iſt
in Curland nicht mehr! Der Mond, ſeht ihr
denn nicht! Scharlach! Zeter! Der Comet,
Gottes angebrannter Wachsſtock! Er kommt!
er kommt uns anzuzuͤnden! ha! da brennt
die Erde, und der ſie anzuͤndet verbrennt ſich
den Finger, wie mein Seliger, da er Licht!
Licht! Licht rief, und todt! todt! alles todt!
— Was iſt der Tod? Die Saite platzt an
der Harfe, die iſt leicht bezogen und geſtimmt.
Der Wuͤrgengel mit ſeinem lezten Weh! Ich
bin vor dem geſtrengen Richterſtuhl verklagt,
citirt vor — Nein! da kommt ein heiliger En-
gel, der Gnade bringt, Gnade fuͤr Recht!
Und Minens Mutter! Und ſie ſingen eine Terz
tiefer: Gnade! Gnade! —


Drey Tage vor ihrer Aufloͤſung, oder ih-
rem Aufloͤſungsanfang, verlies ſie die Gabe
der Weiſſagung, der Geiſt der Kraft und
Macht — Die Fluͤgel der Morgenroͤthe ſan-
ken — Sie kam auf die Beine. Der Sab-
bath hatte ſich geneiget, und ſie war wieder
ein anderer Tag in der Woche; indeßen doch
kein Sonnabend mehr! — Dieſe Gemuͤths-
faſſung verlohr ſich ſo allmaͤhlig, ſo weich —
Merk-
[97] Merklich ward dieſer Verluſt durch den Um-
ſtand, daß meine Mutter ſehr gelaſſen an-
ſtimmte:
Was wilſt du, armes Leben!
Ja wohl armes Leben, auch bey der Gabe der
Prophezeyung, und bey dem Geiſte der Kraft
und Macht! Es war dieſer Tag Minens
Sterbetag. Auch an dieſem Tage beobachtete
meine Mutter ihre Faſten ſo ſtreng, als ob ſie
den Tag vorher bey einer Hochzeit auf den
Faſttag praͤnumeriret haͤtte. — Sie fuͤhlte,
wie ſie ſelbſt ſagte, daß ſie zu weit gegangen —
Wahrlich, es war mehr, als ein Gang. Ein
Kind geht — Jetzt war ſie wieder in dieſem
Kindergeleiſe — im Gange — Das erſte,
was ſie in demſelben that, war ein Brief an
den Herrn Amtsbruder, der in der Vacanz ab
und zureißte. Sie bat ihn, ihr die Commu-
nion zu reichen, als welches ſie in ihrer Exraſe,
wie ſie ſelbſt ſagte, nicht gebeten haben wuͤrde.
Sie wußte alles, was in dieſer Entzuͤckungs-
zeit vorgefallen war, aufs genaueſte. Der
Amtsbruder verſprach zu kommen und kam.
Kurz vor ſeiner Ankunft hatte meine Mutter
Tint und Feder gefordert, und eine Viertel-
ſtunde geſchrieben. Sie verſiegelte dieſe
Schrift dreymahl! —


GVon
[98]

Von je her hatte meine Mutter die Ge-
wohnheit gehabt, ſich den Morgen vorher,
ehe ſie zur Communion gieng, die Fuͤße zu wa-
ſchen. Das war ihr ein ſo nothwendiger
Vorhergang, als ein Praͤludium vor dem Lie-
de. Auch jetzo hatte ſie zu dieſem Ende ein
Fußbad veranſtaltet. Ohne alle Specerey!
Sie erſuchte ihre Geſellſchafterin, die Paſtor-
wittwe, dieſes Fußwaſchen zu uͤbernehmen, und
bat ſie, aus dem fuͤnften Capitel des erſten
Briefes an den Timotheus, den neunten und
zehnten Vers aufzuſchlagen und laut zu leſen:
Laß keine Wittwe erwaͤhlet werden unter
ſechzig Jahren, und die da geweſen ſey Ei-
nes Mannes Weib: und die ein Zeugnis
habe guter Werke, ſo ſie Kinder aufgezo-
gen hat, ſo ſie gaſtfrey geweſen iſt, ſo ſie
der Heiligen Fuͤße gewaſchen hat, ſo ſie den
Truͤbſeligen Handreichung gethan hat, ſo
ſie allem guten Werk nachkommen iſt.

Die Paſtorwittwe, die nur einmahl geheyra-
thet geweſen, freyte ſich herzlich uͤber dieſe
Worte, die wie auf ſie zeigend waren, und
war bereit, dieſe ehrwuͤrdige Ceremonie zu
verrichten, da meine Mutter ihr die Ein-
ſetzungsworte laut verleſen hieß. Sie fieng
alſo, nachdem ſie ſich mit dem weißen Schurz,
den
[99] den ihr meine Mutter in die Haͤnde gegeben,
bekleidet, zu leſen an, wie folget:
Stund er vom Abendmahl auf, legte ſeine
Kleider ab, und nahm einen Schurz und
umguͤrtete ſich. Darnach goß er Waſſer
in ein Becken, hub an den Juͤngern die
Fuͤße zu waſchen: und trocknete ſie mit
dem Schurz, damit er umguͤrtet war. Da
kam er zu Simon Petro; und derſelbige
ſprach zu ihm: Herr, ſolteſt du mir meine
Fuͤße waſchen? Jeſus antwortete und ſprach
zu ihm: was ich thue, das weißeſt du jezt
nicht; du wirſts aber hernach erfahren.
Da ſprach Petrus zu ihm: nimmermehr
ſolt du mir die Fuͤße waſchen. Jeſus ant-
wortete ihm: werde ich dich nicht waſchen,
ſo haſt du kein Theil mit mir. Spricht zu
ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Fuͤße
allein, ſondern auch die Haͤnde und das
Haupt. Spricht Jeſus zu ihm: wer ge-
waſchen iſt, der darf nicht, denn die Fuͤße
waſchen, ſondern er iſt ganz rein, und ihr
ſeyd rein, aber nicht alle. Denn er wußte
ſeinen Verraͤther wohl; darum ſprach er:
ihr ſeyd nicht alle rein. Da er nun ihre
Fuͤße gewaſchen hatte, nahm er ſeine Klei-
der und ſetzte ſich wieder nieder, und ſprach

G 2aber-
[100]abermal zu ihnen: Wiſſet ihr, was ich euch
gethan habe? Ihr heißet mich Meiſter und
Herr, und ſaget recht daran, denn ich bins
auch. So nun ich, euer Herr und Mei-
ſter, euch die Fuͤße gewaſchen habe; ſo ſollt
ihr auch euch unter einander die Fuͤße wa-
ſchen. Ein Beyſpiel habe ich euch gegeben,
daß ihr thut wie ich euch gethan habe.
Wahrlich, wahrlich! ich ſage euch: der
Knecht iſt nicht groͤßer, denn ſein Herr,
noch der Apoſtel groͤßer, denn der ihn ge-
ſandt hat. So ihr ſolches wiſſet, ſelig
ſeyd ihr, ſo ihrs thut.


Dieſe Ceremonie ward ſo ruͤhrend vollzo-
gen, daß die Paſtorwittwe mit Thraͤnen das
Fußwaſſer verſtaͤrkte, welches nach vollbrach-
ter Ceremonie, ohnweit dem gruͤnen Tauf-
waſſerplatz ausgegoſſen ward. Es iſt kein
Taufwaſſer, ſagte meine Mutter. Da dieſes
alles der Paſtorwittwe als etwas ſehr Neues
ſchien, verhielt ihr meine Mutter nicht, daß
die Wiedertaͤufer mehr heiliges Waſſer in ih-
rem Glauben haͤtten, als wir; indeſſen es
ſpaͤter zu gebrauchen anfiengen. Behuͤte
Gott, daß wir das Fußwaſchen, nach Mey-
nung mancher Irchriſten, fuͤr etwas mehr,
als einen Nachtmahlsvorklang, ein reines
Hemde
[101] Hemde zum Feſt erklaͤren wollen, als eine
Sache, die ſeyn und nicht ſeyn kann, warum
ſolten wir aber dieſes Zeichen der Erniedri-
gung weglaſſen, und nicht vielmehr, bey die-
ſem Fußbad, an die Reinigung der Seelen
denken, ohne welche Niemand Gottes Ange-
ſicht ſchauen wird! — Meine Mutter, wie
die Paſtorwittwe, eines Mannes Weib be-
merkt, war hier nachgebender, als ſie es wohl
in geſunden Tagen geweſen. Die Mennoni-
ſten kamen beſſer weg, als man denken ſollen.
Sie nannte ſie ſonſt Fußwaͤſcher und behaup-
tete, daß ſie wegen ihrer Agapen oder Liebes-
maͤhler ſich den chriſtlichen Magen verdorben
haͤtten. Jezt gar anders. Wenn gleich ſie
ihnen nicht den Beynamen der Honigbienen
des Staats bewilligte, womit man ſie wegen
ihres Fleißes und ihrer Sparſamkeit zu beeh-
ren pflegt, vielmehr es ſich ziemlich deutlich
merken ließ, daß ſie ungelehrte, oder, wie ſies
nannte, plattdeutſche Socinianer waͤren; ſo
richtete ſie dennoch nicht, um auch nicht ge-
richtet zu werden — Faſten und leiblich ſich
bereiten, ſagte ſie, bleibt beym Nachtmahl
eine feine aͤußerliche Zucht, aber der iſt recht
wuͤrdig und wohlgeſchickt, der die Worte fuͤr
euch verſteht! — Fuͤr Euch! Nach dem vol-
G 3len-
[102] lendetem Fußbade faltete die Gewaſchene die
Haͤnde und ſprach: das Lamm mitten im
Stuhl wird ſie weiden und leiten zu dem le-
bendigen Waſſerbrunnen, und Gott wird ab-
wiſchen alle Thraͤnen von ihren Augen. Of-
fenbahrung Johannes das neunzehnte Capi-
tel, vom ſiebenten bis zum neunten Vers.
Laſſet uns freuen und froͤhlich ſeyn, und ihm
die Ehre geben, denn die Hochzeit des Lammes
iſt kommen, und ſein Weib hat ſich bereitet, und
es ward ihr gegeben ſich anzuthun mit rei-
ner und ſchoͤner Seiden (die Seide aber iſt die
Gerechtigkeit der Heiligen). Und er ſprach
zu mir: ſchreibe: ſelig ſind, die zum Abend-
mahl der Hochzeit des Lammes berufen ſind —


In dieſer Fußgereinigten geduldigen nach-
gebenden Lage traf ſie der Paſtor, der ſie noch
in der vorigen Verfaſſung zu finden glaubte.
Er mußte alſo ſeine Anrede, die er auf den
entzuͤckten Zuſtand zugeſchnitten, kurz und
gut abaͤndern. Sein unſtudirter Vortrag fiel
indeſſen ſo erbaulich aus, daß alle, die ihn hoͤr-
ten, geruͤhrt wurden. Seine Hauptworte wa-
ren: Selig ſind, die zum Abendmal der Hoch-
zeit des Lammes berufen ſind. Meine Mutter
hielt eine Beichte, die ſie aus dem Innerſten
des Herzens nahm. Mine war Anfang und
Ende
[103] Ende — Nach mancherley Herzensnoͤthen
ſchloß meine Mutter mit den Worten: Gott
helfe meiner Schwachheit, Amen
! Alles
andere war in Verhaͤltnis gegen Minen, wie
Worte gegen Sachen, wie das Haupt gegen
ſeine Glieder — Mine war oben drauf —


Wenn ich dieſe Beichte, die meine Mutter
nicht ins Ohr, ſondern laut ablegte, mit-al-
len ihren Punkten und Clauſeln erhalten, wie
gern gaͤb’ ich ſie meinen Leſern! — Mit wel-
cher Inbrunſt empfieng ſie die Communion!
Sie aß und trank Troſt und Beruhigung.
Von der Minute, da ſie das Nachtmahl em-
pfangen, klagte ſie nicht mehr uͤber Angſt, als
in den vorletzten Augenblicken ihres Lebens.
Die Worte Chriſti beym Lukas im zwey und
zwanzigſten Capitel, die er kurz vor dem
Abendmahl ſprach, wie ruͤhrend ſagte ſie ihm
meine Mutter nach: Mich hat herzlich ver-
langet, dies Oſterlamm mit euch zu eſſen, ehe
denn ich leide, denn ich ſage euch, daß ich hin-
fort nicht mehr davon eſſen werde — Man
ſah, daß ſie mit der Seele aß — den Herr-
mann
hatte ſie zu dieſer heiligen Handlung
bitten laſſen, der aber nicht den Judas beym
erſten Abendmahl machte, ſondern den Pe-
trus, welcher, nachdem er beym Caminfeuer
G 4in
[104] in Caiphas Hauſe, ſeinen Meiſter verrathen,
herausgieng und weinte bitterlich. — Meine
Mutter pflegte den Apoſtel Paulus einen No-
tarius des letzten Teſtaments zu heißen. Ich
habe es von dem Herrn empfangen, das ich
euch gegeben habe, denn der Herr Jeſus in
der Nacht da er verrathen ward, nahm er das
Brodt — — Kann was ruͤhrenderes ſeyn, als
dieſes Gedaͤchtnismahl! — Verachtet man
doch eines Menſchen Teſtament nicht, ſagt
Paulus den Galatern, pflegte meine Mutter
zu bemerken und ſchuͤttelte ſonſt das Haupt,
weil im Tredo nichts vom Sacrament des
Altars ſteht. Jezt dachte ſie zwar, da ſie ſich
ſelbſt mit den Mennoniſten vertragen, hieran
nicht; indeſſen konnte die Ruͤhrung nicht hoͤ-
her ſeyn, als die meine Mutter zeigte. Jo-
hannes der Juͤnger, den Chriſtus liebte, com-
municirte ſo an ſeinem Buſen. Gott thut
was uͤberſchwengliches im Nachtmahl an ſei-
nen Gaͤſten, pflegte meine Mutter zu ſagen,
und wie ſehr war es an ihr ſichtbar, daß ſie
auf den Geiſt geſaͤet. Wer auf ſein Fleiſch
ſaͤet, der wird von dem Fleiſche das Verder-
ben erndten, wer auf den Geiſt ſaͤet, der wird
von dem Geiſte das ewige Leben erndten, und
wie viel nach dieſer Regel einhergehen, uͤber
die
[105] die ſey Friede und Barmherzigkeit und uͤber
den Iſrael Gottes! Wahrlich, ſchreibt die
Wittwe, das Weib eines Mannes: Sie hatte
ein hochzeitliches Kleid an! Nach dieſem
Mahl ſprach ſie mit dem Paſtor uͤber verſchie-
dene die Gemeine treffende Dinge. Sie trat
ihm die letzten Sorgen uͤber die Gemeine, wel-
che ſie noch behalten, in ruͤhrender Form ab.
Ich ſterbe, fieng ſie an, und Gott wird
mit euch ſeyn!
Obgleich ſie angeordnet, daß
nach dem Weißagungszufall niemand zu ihr
gelaſſen werden ſollte, als den ſie ſelbſt zu ſehen
verlangen wuͤrde; ſo konnte ſie es doch nicht
verhindern, daß jezt in ihrer wieder herge-
ſtellten Faſſung das Volk ſich zudrang. Ich
ſterbe, ſagte ſie, und Gott wird mit euch
ſeyn! —


Ermahnet euch unter einander und bauet
einer den andern; dem fehlt ein Fenſter, dem
eine Thuͤr, dem ein Stuͤck am Strohdach,
helfet ihm, ſo wie ihr wolt, daß euch der
Herr helfen ſoll, im Leben und im Sterben;
und vor ſeinem Richterſtuhl! So lieb einem
jeden ſein ewiges Wohl iſt; vermahnet die
Ungezogenen, troͤſtet die Kleinmuͤthigen, tra-
get den Schwachen, ſeyd geduldig gegen Je-
dermann! Sehet zu, daß Niemand Boͤſes
G 5mit
[106] mit Boͤſem vergelte, ſondern allezeit jaget
dem guten nach, beydes unter einander und
gegen Jedermann. Seyd allezeit froͤhlich.
Betet ohn Unterlaß. Seyd dankbar in allen
Dingen; denn das iſt der Wille Gottes in
Chriſto Jeſu an Euch. Den Geiſt daͤmpfet
nicht, die Weiſſagung verachtet nicht, pruͤfet
aber alles, und das Gute behaltet. Meidet
allen boͤſen Schein. Er aber, der Gott des
Friedens, heilige Euch durch und durch, und
Eur Geiſt ganz, ſamt Seel und Leib, muͤſſe
behalten werden unſtraͤflich auf die Zukunft
unſers Herrn Jeſu Chriſti. Getreu iſt er,
der euch rufet, welcher wirds auch thun.
Lieben Freunde! betet fuͤr uns! Die Gnade
ſey mit euch! Gehorchet euren Lehrern und
folget ihnen; denn ſie wachen uͤber eure See-
len, als die da [Rechenſchaft] dafuͤr geben ſol-
len, auf daß ſie das mit Freuden thun und
nicht mit Seufzen, das iſt euch nicht gut!
nicht gut — Gedenket an eure Lehrer, die
euch das Wort Gottes geſagt haben, welcher
Ende ſchauet an, und folget ihrem Glauben
nach. Wir ſind alle mit Fehlern verſetzt, der
aber iſt der fehlerhafteſte, der ſeinen Bruder,
ſeine Schweſter darben laͤßt. Bedenkt, daß
dieſe Welt, Gottes Speiſe-Gottes Vorraths-
kam-
[107] kammer ſey. Sehr gros, werdet ihr ſagen,
aber bedenket auch, was der liebe Gott fuͤr
Koſtgaͤnger hat. Wer mehr nimmt, als er
verzehren kann, thut ſeinem Naͤchſten unrecht.
Wenn dieſer zu klein war, zum Fach zu rei-
chen, thut ihr es fuͤr ihn. Wer wird aber
des Handgrifs wegen glauben, daß man an
der genommenen Haabe und Gut allein ein
Recht beſitze? Seht, alle gute Menſchen ge-
ben von dem, was ſie druͤber haben — Gott
gebs wieder,
ſagte jener Arme, allein der
Geber noch weit beſſer: Er hats ſchon ge-
geben!


Almoſen geben armt nicht,

Kirchengehen ſaͤumt nicht.

Beneidet euch nicht unter einander, wie
die wilden Thiere. Seht die Sternlein, wie
ſtill ſie da des Abends bey Mondſchein zuſam-
men ſind. Keins kommt dem andern zu nahe,
und doch ſind ihrer mehr zuſammen, als wenn
die ganze Gemeine bey einander iſt. Kannſt
du ſie zaͤhlen? ſagte Gott zu Abraham. —
Ein Vogel ſingt, ein andrer faͤngt Fliegen.
Jedes Ding nach ſeiner Art. Laßt euren
kuͤnftigen Lehrer nicht von euch ſagen, wenn
er euch eine Bußpredigt gehalten, daß er in
ein Weſpenneſt geſtochen, laßt es ihn nicht an
ſeiner
[108] ſeiner Calende empfinden. Er traͤgt die Bi-
bel nicht umſonſt! — Es iſt die Laterne zum
Himmel! Die Manſchetten wird er ablegen.
Gott ſegne Euch! Herzoge gelten nicht viel
nach dem Tode. Gelehrte nicht viel beym
Leben, und hiemit dank ich euch, ihr meine
Lieben! fuͤr alle Eure Liebe und Eur Zu-
trauen, das ihr meinem ſeligen Mann! und
mir! erwieſen. Dafuͤr kann kein Saͤemann,
daß nicht jedes Korn aufgeht! und wenn hie
und da ein Pulver, das ich fuͤr den Leib, und
ein Troſtwort, das ich euch fuͤr die Seele ein-
gab, nicht anſchlug — ich bin unſchuldig an
eurem Blute! — Liebt euch! das iſt mein
letztes allerletztes Wort. Hab ich euch belei-
diget, es ſey mit zu heftiger Ermahnung,
oder mit unterlaßenem Troſt, es ſey That-
oder Unterlaßungsſuͤnde! Vergebt! Vergebt
mir um Gottes Willen! Ich muß es Gott
klagen und euch, ihr wißt, was mir auf dem
Herzen gelegen. Wer waͤlzet dieſen Stein
von mir, war mein Gebet! Ich war trau-
rig, wie Eßra und Nehemia. Ihr wiſſet,
daß mich der gerechte Gott gezuͤchtiget hat,
durch des alten Herrn Tochter, der ich hart
begegnet. Ihr wißt, was in dieſen Tagen
geſchehen iſt. Alle Zuͤchtigung aber, wenn
ſie
[109] ſie da iſt, duͤnkt ſie uns nicht Freude, ſon-
dern Traurigkeit zu ſeyn; aber darnach wird
ſie geben eine friedſame Frucht der Gerech-
tigkeit denen, die dadurch geuͤbet ſind —
Ich ſcheide und uͤbergebe eure Seelen dieſem
treuen Hirten ſeines Herrn, der ſo ſegnet,
wie meine Vaͤter geſegnet haben; er leite und
fuͤhre euch auf ebener Bahn, damit er euch
dereinſt dem Nachfolger meines Lebensgefaͤhr-
ten als eine geſchmuͤckte Braut dem Braͤuti-
gam uͤbergeben koͤnne, den Gott lehren wolle,
ſein Volk zu ſegnen. Dich, o liebes Altar!
wo ich ſo oft das Nachtmahl meines Herrn
empfangen, o koͤnnt’ ich dieſen rothbeſchlage-
nen Tiſch noch einmal ſehen! Der Herr mit
Euch! wenn ihr dazu tretet, und wenn in
Pfingſten Mayen bis zu den Hoͤrnern des Al-
tars geſetzt ſind, die gern ihren Geiſt im Tem-
pel aufgeben und doppelt ſo angenehm wie
im Walde duften, die in der Kirche begraben
werden; ſo troͤſte der grundguͤtige Gott den,
der Troſt bedarf, und erhoͤre das ſtille Ge-
bet, das aus dem Innerſten eures Herzens
quillet, das Gott allein weiß, das! das!
erhoͤre Gott! Ja! Amen! Ich will nicht in
der Kirche begraben werden, wie die Pfingſt-
Mayen. Auch im Grabe will ich meinem
Selig-
[110] Seligen die Hand geben! und da liegen wo
Er, Minens Mutter und Charlotte liegt.
Wenn ihr dieſe Graͤber vorbey gehet, denkt:
ſelig ſind die Todten, die im Herrn ſterben!
Auf die Kanzel, wo mein Lebens Geleits-
mann und unſer Sohn ſtand, trete nie ein
Miethling, nicht einer, den Fleiſch und Blut,
ſondern den Geiſt und Kraft zum Diener des
Herrn erkohren! Zweygliedrig ſey ſein Se-
gen, den er dem Zerknirſchten giebt, und
zweyſchneidig das Schwert ſeines Mundes,
wenn er dem Suͤnder das Ohr abhaut. Es
wird ſich das dritte Segensglied von ſelbſt
geben, wenn die Manſchetten wegfallen wer-
den. N. 5. Die Banke, wo Mine geſeſſen,
ſey euch mehr, als N. 1. Die fuͤnfte Zahl
iſt eine Wundenzahl. Ich kann nicht mehr —
Sie hielt inne, ſie hatte ſich ſehr ermuͤdet.
Nach einer Weile ſahe ſie alle an! Lebt!
ſagte ſie ſo, daß wir uns alle! alle! dort
wieder zuſammen finden, wie wir hier von
einander ſchieden! damit ich ſagen koͤnne:
Herr! hier bin ich und die, ſo du mir gege-
ben haſt! — Lieb wird es mir ſeyn, herz-
lich lieb, eur Angeſicht zu ſehen mit Freuden
in der ſeligen Ewigkeit! — Gott aber des
Friedens, der von den Todten ausgefuͤhrt
hat,
[111] hat den großen Hirten der Schaafe, durch
das Blut des ewigen Teſtaments, unſern
Herrn Jeſum, der mache euch fertig in allen
guten Werken, zu thun ſeinen Willen, und
ſchaffe in euch, was vor ihm gefaͤllig iſt,
durch Jeſum Chriſt, welchem ſey Ehre von
Ewigkeit zu Ewigkeit Amen! —


Es war ein geſegneter Einfall, daß meine
Mutter dem Paſtor, der ſelbſt ſehr geruͤhrt
war, das Lied: Es woll uns Gott gnaͤ-
dig ſeyn und ſeinen Segen geben,
zu-
winkte, um den Ausbruch der Ruͤhrung der
Gemeine zu hemmen. Jetzt kam alles in
ſanfte Thraͤnen! und alles wuͤnſchte, daß
Gott meine Mutter gleiten moͤge, und an
Ort und Stelle bringen, in den Himmel.
Amen! Sie verſprachen, die Graͤber in Eh-
ren zu halten, und es ihren Kindern und
Kindeskindern auf ihrem Sterbbette anzube-
fehlen, ſo daß der juͤngſte Tag ſie noch fin-
den ſollte! —


Die Wittwe bricht hier ab, und auch ich
muß abbrechen —


Dem Paſtor gab meine Mutter die
Schrift mit drey Siegeln, mit dem aus-
druͤcklichen Beding, ſie nicht eher, als ſieben
Tage nach ihrem Begraͤbniß, zu oͤfnen! Ja,
ſagte
[112] ſagte ſie, Er, Amen! Er legte ſie in die
Agende. Sie fieng ihm noch einmahl zu
danken an! Es iſt ſehr ruͤhrend, wenn ein
Sterbender dankt. Gemeinhin iſt ſonſt der
Dank eigennuͤtzig — Der Paſtor lies ſie
nicht ausdanken, ſondern druͤckte ihr die
Hand, und gieng mit den Worten von dan-
nen — In Ewigkeit — Sie noch ein
Amen! —


Man hat nie erfahren, was in dieſer
Schrift mit den dreyen Siegeln geweſen.
So viel iſt gewis, daß ſie mehr enthalten,
als die Zeitungsnachricht, wer Paſtor wer-
den wuͤrde. Der gute Vicar iſt nach dem
ſiebenten Tage von dem Begraͤbniſſe meiner
Mutter an gerechnet ein ganz anderer Mann
in Gedanken, Gebehrden, Worten und Wer-
ken worden. Es ſchien, als haͤtt’ er einen
Praͤnumerationsſchein auf einige kuͤnftige
Faͤlle erhalten. An die Frau v — b — war
in dieſer Schrift gedacht. Warum denn
nicht an mich? — Warum fuͤr mich nicht
auch eine ανέχου και απέχου mit dreyen Sie-
geln, ſieben Tage nach dem muͤtterlichen Be-
graͤbniſſe zu eroͤfnen? — Meine Mutter
hatte herzlich gewuͤnſcht, daß das heilige
Abendmahl ihre letzte Speiſe ſeyn moͤchte auf
dieſer
[113] dieſer Welt, und ihr Wunſch ward erfuͤllt.
Sie ward von Stunde zu Stunde ſchwaͤcher,
und bat die Paſtorin, ihr die Leidensgeſchichte
Chriſti und ſeinen Tod vorzuleſen aus allen
Evangeliſten! Wir ſollen, ſagte ſie, des
Herrn Tod verkuͤndigen, bis daß er kommt.


Waͤhrend dem Leſen ſagte ſie zuweilen
Strophen aus Liedern. Beym Begraͤbnis
Chriſti ſang ſie mit dumpfen Toͤnen. (Dies
war ihr letzter Geſang. Sie ſelbſt ſagte:
meine Stimme iſt ſchon begraben! Sie wird
wieder auferſtehen im ewigen Leben! Man
kann laͤnger reden, als ſingen.)


Die Welt iſt mir, ich ihr nicht gut,

mir eckelt alles, was ſie thut:

was kann ſie mehr als Fromme ſchmaͤhen?

O! nimm mich! Nimm mich hin ins

Grab;

ſo ſterb ich meinen Suͤnden ab,

und werde ſauber auferſtehen!

komm ſo mein Tod und ſey gegruͤßt,

der mehr als tauſend Leben iſt!

D. Saft, der ohne, daß ſie ihn ver-
langt, zu ihr gekommen war, ſagte der Pa-
ſtorin, daß eine Entzuͤndung da waͤre. Den
Gang der Krankheit konnte er nicht bezeich-
Hnen.
[114] nen. Jetzt war freylich mehr als Einbildung.
Aus dem Schein war das Seyn worden.
Sie ſelbſt ſagte der Paſtorin ins Ohr, daß
ſie des folgenden Tages ſterben wuͤrde. Fruͤ-
her als einen Tag zuvor ſchien ſie ihren To-
des Tag nicht zu wiſſen; vielleicht wußt’ es
ihr Schutzgeiſt nur eine Stunde fruͤher. Auf
Seelenkrankheiten verſtehen ſich die Engel,
ſagte ſie, auf Leibeszufaͤlle wenig oder gar
nicht. Gott weiß alles. Sie hatte verlangt,
daß niemand zu ihr gelaßen werden ſollte.
Saft draͤngte ſich noch den letzten Tag fruͤh
Morgens vor. Ich weiß, ſagte ſie ihm —
Sie verweigerte ihm die Hand, da er ſie be-
pruͤfen wollte, und zeigte mit vieler Muͤhe
gen Himmel. Sie bluͤhete im Geſicht wie
eine Roſe. Den Tag wußte ſie, die Stunde
nicht. Sie war, wie wir wiſſen, aus Sonn-
abend, Sonntag geworden. Starb den — —
Sonntag — —


Wie er von ihr gieng, neigte ſie ihr Haupt
und dankte ihm! — Die vorige Nacht hatte
ſie noch die entſetzlichſten Schmerzen. Um
vier Nachmittag war alles vorbey! Zuwei-
len fiel ſie in eine Phantaſie und ſprach wie-
der mit ihrem Engel. Da ſie ihn zum
erſtenmal wieder inne ward, redete ſie ihn
mit
[115] mit einer Heftigkeit an, die durch die Seele
gieng:
„Alle gute Geiſter loben Gott den
Herrn.“


Die Paſtorin verſicherte, daß ſie bey ei-
nem Geiſter-Rauſchen eine holde Stimme
vernommen „ich auch!“ Je naͤher zum
Tode, je mehr ſprach ſie mit dieſem guten
Geiſte, der ſich ich auch genannt hatte, wie
die Paſtorin verſichert. Sie ſprach mit ihm,
wie mit ihrem Seelentraͤger, mit ihrem Rei-
ſegefehrten, und war ſo froh, an ſeiner Hand
in Abrahams Schoos zu kommen und die
Krone der Gerechtigkeit zu empfahen, daß
ſie den gluͤhenden Fegofen, die Loͤwengrube
der Truͤbſale, nicht achtete. „Aber der En-
„gel Gottes, ſagte ſie zur Paſtorin, fuͤhrt
„mich zu einem Waſſerbrunnen, daß ich beym
„Leben erhalten werde. Er lagert ſich um
„die her, ſo den Herrn fuͤrchten und hilft
„ihnen aus.“


Der Schmerz iſt weg, fieng ſie zu der
Paſtorin nach einer Weile an, aber die Seele,
die Seele! thut mir ſehr ſehr weh! Sie
hat ſich an der Melodie des Koͤrpers zu ſehr
gewoͤhnt.


H 2Die
[116]

Die Wittwe mußte ihr verſchiedenes aus
der Bibel leſen und aus dem Geſangbuch ſin-
gen. Sie ſelbſt ſprach ſehr unvernehmlich!
Die Angſt, die ſie ſtoßweiſe ausſtand, war
groß! Das letzte Lied war:
Herr Gott dich loben wir,
Die letzte Strophe mußte die Paſtorin vier-
mahl ſingen nach Zahl der letzten Dinge —


Behuͤt’ uns heut, o treuer Gott,

Fuͤr aller Suͤnd und Miſſethat.

Sey uns gnaͤdig, o Herre Gott!

Sey uns gnaͤdig in aller Noth!

Zeig uns deine Barmherzigkeit,

Wie unſre Hofnung zu dir ſieht.

Auf dich hoffen wir, o lieber Herr,

In Schanden laß uns nimmermehr!

Amen!

Auch im Grabe, ſagte ſie, nicht zu

Schanden!

Trinken koͤnnen die Kranken laͤnger, als
eſſen. Die letzte Zeit konnte ſie, wie wir wiſ-
ſen, keinen Ton angeben. Zuweilen ſchien
es, ſie wollte; allein ſie ſahe ſich verbunden,
ihre Seele in Geduld zu faſſen und ſich mit
Proſa zu behelfen.


Die Paſtorin mußte den Vorhang am
Fenſter, wo ſie lag, mitten entzwey reiſſen!
So!
[117] So! ſo! ſagte ſie, So! reißts hier! hier!
Licht! rief ſie. Der Vorhang ward wegge-
zogen, ſie ſahe Licht. Gruͤn, gruͤn, fieng ſie
an, Fruͤhling! ſo ſchoͤnes Gruͤn, als das
Taufwaſſergruͤn, und noch ſchoͤner! Kein
Fußwaſſerplatz daneben! alles gleich ſchoͤn!
Oft reckte ſie beyde Haͤnde aus. Paradies! —
rief ſie. Sie ward wieder ſtille, lies ſich ein
Krucifix dahinſetzen, wo der Vorhang zer-
riſſen war. Sie ſah es ſtarr an. Verlangte
es naͤher, druͤckt’ es an ihr Herz, mit den
Worten, die ſie ungewoͤhnlich vernehmlich
ausſprach:


Wenn ich einmahl ſoll ſcheiden,

O ſcheide nicht von mir!

Soll Todesangſt ich leiden,

O ſcheide nicht von mir!

und wenn am allerbaͤngſten

mir rings ums Herz wird ſeyn;

reiß du mich aus den Aengſten,

Kraft deiner Angſt und Pein!

Sie fiel wieder ohnmaͤchtig ein — Was iſt
die Uhr, fragte ſie die Paſtorin, und ſie ver-
ſicherte, daß ihr keine Frage empfindlicher ge-
weſen. Vier? Bald! — Sie hielt ſich feſt
am Krucifix, das ſie ſich hatte reichen laſſen —


H 3Ihre
[118]

Ihre lezten Worte, nicht voͤllig vernehm-
lich, waren:
Komm ſo mein Tod und ſey gegruͤßt,
der mehr als tauſend Leben iſt.

Ihre gewaſchene Fuͤße lagen im Kreuz; ſo im
Kreuz mit Haͤnden und Fuͤßen wollte ſie auch
begraben werden. Ihr Geſicht war nicht im
mindeſten im Tode entſtellt.


Kein Hund heulte, ſchreibt die Paſtorin,
weder vor, noch nach ihrem Ableben, der
Storch nur, der in der Gegend des Paſtorats
ſein Sommerhaus hatte, iſt verzogen.


Von ihrem Begraͤbnis will ich nur wenig
anfuͤhren.


Sie hatte nur bloß uͤber den Ort, wo ſie
ruhen wollte, uͤber ihre Begleiter und einige
Austheilungen an die Armen der Gegend, Ein-
richtungen getroffen; alles andere aber den
Zuruͤckbleibenden uͤberlaſſen. Sie wolte nicht
in der Kirche ruhen, ſondern unter ihren lie-
ben Todten; indeſſen hatte ſie verfuͤgt, daß
ſie in die Kirche gebracht und rund herum ge-
tragen werden ſolte. Bey N. 5. bitt ich an-
zuhalten, ſagte ſie. Mein Gott, ſchreibt die
Wittwe, wie bange war mir, ſie wuͤrde ſich
aufrichten: ich bin vor dem ſtrengen Richter-
ſtuhl
[119] ſtuhl Gottes verklagt! — fuͤrs Urtel war mir
nicht bange. Eine Selige iſt ſie wahrlich!


Der Vikarius hielt ihr eine Rede uͤber die
Worte, Matthaͤi im fuͤnften Capitel der achte
Vers: Selig ſind die reines Herzens ſind;
denn ſie werden Gott ſchauen!


Eine Stelle aus dieſer Rede:


Unſere Glaubensſchweſter fuͤhrte ein ver-
borgenes Leben in Gott. Man ſahe an ihr
die Worte erfuͤllt: Laß dir an meiner Gnade
gnuͤgen: denn meine Kraft iſt in den Schwa-
chen maͤchtig. Die Truͤbſal hatte in ihr ge-
wuͤrkt Geduld, die Geduld Erfahrung, die
Erfahrung Hofnung, und dieſe laͤßt nicht zu
Schanden werden. Ihre Seele war geneſen,
da ſie aus meinen Haͤnden das Mahl des
Herrn empfieng! Gott war mit ihr! —
Wahrlich, Freunde! dieſe Gegend hat eine
Beterin, eine himmliſchgeſinnte! eine Gott-
verlobte! verlohren — —


Vor der Rede ward geſungen:
Wenn Gott von allem Boͤſen!
Die Paſtorin ſchreibt, daß ſie den zweyten
Vers dieſes Liedes auch mit heiligem Schauer
geſungen. Nicht mit Bangigkeit, wie beym
Herumtragen bey N. 5. Sie wird den Sarg-
H 4deckel
[120] deckel heben, dacht ich (ihre eigene Worte)
und mitſingen:


Mein Mund wird nichts als Lachen,

und meiner Zungenklang

wird lauter Lieder machen,

Gott unſerm Heyl zu Dank! —

Nach der Rede ward geſungen:
Es iſt gewiß ein’ große Gnad ꝛc.
Bey der vierten Strophe, ſchreibt die Paſtorin,
empfand ich, wie wohl gewaͤhlt dies Lied war:


Da wird Gott alls in Allem ſeyn;

da wird dann recht erklingen

der Sang der heilgen Engelein,

die Gott ein Loblied ſingen

von Ewigkeit zu Ewigkeit —

Sie ward, wie ſie angeordnet, in die Erde
gelegt, bey meinem Vater. Hier werden ſie
Hand in Hand ihren ſchoͤnen Morgen erwar-
ten, wenn das Verwesliche wird anziehen das
Unverwesliche, und das Sterbliche die Un-
ſterblichkeit! Außer den Begleitern, die ſie
erbeten hatte, war die ganze Gemeine jung
und alt gegenwaͤrtig. Man hatte keine
Schaufel noͤthig ſie zu bedecken. Jedes warf
eine Hand voll Erde ſanft auf ihren Sarg.
Der Greis flehte um einen ſeligen Tod! Der
Mann, um die gluͤckliche Entbindung ſeines
Wei-
[121] Weibes; das Weib, daß ihr Erſtgebohrner
ihr wohl gedeye; der Juͤngling fuͤr ſeine Ge-
liebte; die Braut um die treue Liebe ihres
kuͤnftigen Gatten; das Kind um das Leben
ſeiner Eltern! Was jedem das liebſte und
beſte war, das erflehte er ſich bey dieſem Gra-
be, und jedes warf eine Handvoll Erde! —


Freunde! Schaudert ihr vor dem kalten
Arm der Erde? Seyd getroſt! Ihr werdet
in ihm von der Laſt eurer Pilgrimſchaft aus-
ruhen, und auch der hier nicht viel ſchlafen
konnte, wie ſanft wird er hier ſich legen!
Was weiß ich, ſchreibt die Paſtorin, ob das
Laken geriſſen, oder die Wehmuth derer, die
einſenkten, daran Schuld geweſen? (die Weh-
muth iſt ſchwach wie ein Kind) — der Sarg
riß ſich loß, recht als ob er die Zeit nicht ab-
warten konnte! Wie er nahe an meines Va-
ters Sarg kam, wankte der Deckel. Dies
vermochte die Traͤger um die Erlaubnis zu
bitten, beyde Saͤrger noch zu oͤfnen, und
beyde Haͤnde in einander zu legen. Dieſe ein-
faͤltige fromme Bitte ward von den Leichenbe-
gleitern bewilliget, und ſie copulirten dieſes
Paar, weinten die bitterſten Thraͤnen auf die
Haͤnde, deckten jeden Sarg zu, und alles em-
pfand bey dieſem ungekuͤnſtelten unbereiteten
H 5Vor-
[122] Vorgange, daß er ungekuͤnſtelt, unvorberei-
tet war.


Noch einen dergleichen muß ich nachholen.
Den Abend vor dem Begraͤbniß verſammleten
ſich die beſten Saͤnger und Saͤngerinnen im
Dorfe, und ſangen vor dem Trauerhauſe das
Todtenlied, ſo ich meinen Leſern in einer Ue-
berſetzung mitzutheilen nicht anſtehen kann:
Todtenglocken! Klaget, klaget laut, und
wimmert nicht ſo dumpfig, ſo innerlich,
daß es Mark und Bein durchtoͤnt! Ruft
es aus, damit jedes, klein und groß, wiſſe,
woran es ſey: Vater todt, Mutter todt!
Unſere Kirche eine Vater- und Mutterloſe
Wayſe!
Armes Weib! die noch gern gebaͤhren wolte,
damit unſere Kirchenmutter ihre Hand
auf das Knaͤbchen lege und es einſegne, du
kamſt zu ſpaͤt! Ihre Hand iſt eiskalt! Nicht
ein Tropfen warmer Segen iſt drinn. Sie
hat ihn keinem entzogen, der ſeinen Kopf
darreichte! — Wir fuͤhlen noch alle die
Stelle, wo ihre milde Hand lag!
Wer wird nun unſern Kleinen Honigbrod
geben, wenn ſie den Glauben beten? Wer

wird
[123]wird ſie bey der Hand nehmen, und ſie
Abba mein Vater! an einem Neſt voll jun-
ger Voͤgel, die ihren Mund gen Himmel
aufreiſſen, beten lehren? Wer nach dem Un-
gewitter, wenn die Luft ſich erholt hat, ein
Loblied ſingen, mit dem Finken um die
Wette!
Kommt! laßt uns gehen, wo es wieder-
halt, und Mutter rufen, Mutter! Vielleicht
erfaͤhrt ſie dadurch, daß wir ihrer denken.
Uns ſpottet das Echo nach; mit Geiſtern
ſpricht es, wie wir mit einander. Kommt
in den Wald, wo es wiederhallt! Faſt hoch-
noth iſt, daß wir Zweige brechen, den
Weg zu beſtreuen zu dieſem Grabe. Ihr
Grab wird von ſelbſt gruͤnen und bluͤhen.
Nicht von Aeſten, die ſich erſt welcher Rei-
ſende brechen kann, um ſich auf ſeinem
Wagen eine Bude zu bauen, die ihn vor
der Sonne ſchirmt — In die Hoͤhe wollen
wir klimmen, und aus den Gipfeln Aeſte
nehmen und brechen Sie iſts werth, daß
man hoch ſteigt! und daß man bricht und
nicht ſchneidet. Sie iſt von der Seele geriſſen,
wie dieſe Aeſte vom Stamm. Sie welkt, wie
dieſes Laub auf dem Wege zu ihrem Grabe —

Wem
[124]Wem dienen die Tauben? die ſie im Schla-
ge zuruͤcklies. Auch ſie ſind arme Wayſen,
wie wir alle! Sie freſſen nicht mit Wohl-
gefallen, ſeit ſie todt iſt. Laßt uns Thei-
lung halten! Jedes Haus ein Paar. Ihre
Jungen und die Jungen ihrer Jungen, die
ſie bruͤten, ſollen das Andenken eines Pa-
ſtorpaares erneuren, das wie ein Paar Tau-
ben war, und wenn wir von dieſen Tauben
unſern Kindern ein Paar zuruͤcklaſſen, ſey
es mit der Ermahnung: an die Graͤber die-
ſer Frommen zu denken und ihnen kein Leid
zu thun! Iſt es Euch nicht ſo, als wenn
die Tauben ſelbſt drum baͤten? ohn unſer
Zuthun. Gar fromme Thiere! Unſer Pa-
ſtorpaar wird ſich der liebe Gott ſo halten,
wie jeder von uns das Taubenpaar! —
Seht ihr nichts im Monde? Seht! Sie
iſts! Im weißen Kleide, weißer, heller
noch, als der Mond; ſonſt koͤnnten wir ſie
nicht ſehen. Das Tuch um ihr Haupt, ſo
wie ſie da lag, ehe ſie eingeſargt ward.
Wie ſie uns zublickt! Seht! Seht! welch
ein Abglanz auf uns! Nicht um das Auge
zu blenden, nein um es zu ſtaͤrken. Nicht
Mittag; Abendkuͤhle liegt drinn! Heilige!

Dank
[125]Dank fuͤr deinen Blick! Dank fuͤr alles!
Sieh auf dein Grab; iſt es nicht aus Er-
kenntlichkeit gut aufgeklopft? Da ſoll dein
Gebein ruhen, ſicher vor jedem Sturm-
wind, der ſich mit unbedeckten Gebeinen
neckt, als koͤnnt’ er ſie lebendig machen!
und die frommen Tauben moͤgen Habichte
werden, und unſre junge Kuͤchlein aufhacken,
wenn wir dein Gebein nicht ehren, du from-
me Mutter! um deinetwillen!


Am Begraͤbnistage, und noch zwey Tage nach-
her, ward in der nemlichen Proceſſion dies
Lied abgeſungen! und jedesmahl mit einer
Ruͤhrung, die ihres gleichen nicht hatte. Im-
mer als zum erſtenmahl.


Der nemliche lettiſch gelehrte Saͤnger hat
auch auf meinen Vater einen Sang heraus-
gegeben; indeſſen find ich die gegenwaͤrtige
fromme Sonnabends-Empfindung bey wei-
tem nicht drin. Naive Taͤndeley iſt dem Volke
eigen; indeſſen iſt, was druͤber iſt, nicht im-
mer vom Uebel.


Eine Stelle verdient Mittheilung. Man
merkt leicht, daß das Lied aus hoͤherm Chor
iſt, und daß uͤberhaupt unſer Meiſterſaͤnger
das Kunſtloſe des Volksliedes oͤfters verfehlt!
Wie das zugeht, weiß ich nicht. Mein Va-
ter
[126] ter pflegte zu behaupten: meine Mutter ſey
Schuld daran! Nicht doch, erwiederte meine
Mutter, das kommt, weil er ein Chriſt iſt.
Das Chriſtenthum iſt goͤttliche, himmliſche
Kunſt —


Die Stelle:
Er ſtarb zu einer ſeligen Stunde, eben da wir
den Waizen einſtreuten. Sein Leib, dies
Waizenkorn Gottes, wird ſo leicht verweſen,
als eine Roſe verbleicht, ſo ſanft, als Leib
und Seel von ander giengen und ſich zum lez-
tenmahl herzten.


Die Erd iſt nicht ſo kalt, als ſie zu dieſer
Jahrszeit zu ſeyn pflegt! Schaudre nicht!
Ehrwuͤrdige Paſtorleiche! Die Sonne ſchlug
ſo warm, rings um warm herum, als wenn
ſie es auswaͤrmen wolte, und was wars fuͤr
ein Rauch, den ihre Strahlen herauszogen?
Weyhrauch, den ſein Engel, der auf dem
Sonnenblick herabfuhr, anzuͤndete, um dies
Grab zur Schlafkammer auszuluͤften — —


Iſt es erlaubt, zu der Standrede des
Herrn Vicars, uͤber die Seligkeit der reinen
Herzen, die Gott ſchauen werden, etwas zum
Lebenslauf meiner Mutter zu liefern! Proſe,
wie ihr Tod war. Den Geſang hab’ ich dem
Letten
[127] Letten uͤberlaſſen, dem der Vicar, ein großer
Lette, nachgeholfen zu haben ſcheint —


Sie war von mittelmaͤßiger Groͤße, hatte
braunes Haar, eine ſanftgebogene Naſe und
große Augen, die am Blitz jenem Grosmutter
Auge durch die Ritze, wenig oder gar nichts
gewichen haͤtten. Aus beyden Augen ließ ſie
dies Licht leuchten. Die Naſe iſt der Zeiger
am Menſchen. Sie ſah gerade zu, und trug
die Naſe, wie ſie ſelbſt bemerkte, weder gen
Himmel, noch hatte ſie ein Schatzgraͤberaus-
ſehen. Sie war ſehr verhaͤltnismaͤßig gebil-
det. Man ſahe ihren Haͤnden an, daß ſie
ſolche nur ſelten in Handſchuen verſchloſſen
gehalten, und doch waren ihnen die Prieſter-
ahnen und eine gewiſſe bewaͤhrte Feinheit an-
zuſehen. Sie hatte die folgſamſte Zunge, die
je im Dienſt des Herzens geſtanden. Ihre
Haͤnde lebten mit der Zunge in Gemeinſchaft.
Sie ſchrieben ſich \& Compagnie. Aergert
dich dein Auge, reiß es aus, aͤrgert dich deine
Hand, haue ſie ab, konnte keinem Zuhoͤrer
meiner Mutter einfallen, wenn ſie ſich hoͤren
lies! Alles war im beſten Zuſammenhange
und lies auf ein gleich uͤbereinſtimmendes Herz
ſchluͤßen — Sie bezog nicht Leben und Thaten
der Hochwohlgebohrnen Herren mit Firnis,
Meßing,
[128] Meßing, Blech, Gold. Sie war ſelbſt keine
Freundin von engliſchem Lack. Papilloten
konnte ſie nicht leiden. Ich habe nie in mei-
nem Haare Papilloten getragen. Vater und
Mutter waren dagegen. Papier im Garten
und in den Haaren war meinem Vater gleich
unnatuͤrlich, und meine Mutter ſagte, wenn
ſie einen falſchen Menſchen beſchreiben wollte:
Es iſt ein Menſch, der ſich in Papilloten zu
legen verſteht. Eine Ordnung war ihr eigen,
die mein Vater ein Schnuͤrchen Perlen zu
nennen pflegte. Sehr war ſie fuͤr Leute, die
von Natur lockigt Haar hatten. Gebohrne
Paſtores, pflegte ſie zu ſagen! Im Tanzen
hatte ſie nicht Unterricht genommen, das ſahe
man ihr an. Sie hielt ſich nicht rohrgerade;
allein ſie fiel auch nicht zuſammen. Ein
Kunſtloſer voͤllig natuͤrlicher Anſtand war ihr
eigen. Sie ſchnuͤrte ſich nie, gieng etwas
ſchnell und ein wenig mit dem Kopf vorgebo-
gen. Eine Lieblingsart von Andachtsbezeu-
gung war es, die Schultern in die Hoͤhe zu
ziehen. Die Haͤnde faltete ſie auf eine ſo
vortrefliche Weiſe, daß man Ausdruck drinn
ſahe. Sonſt hemmt das Haͤndefalten alle
Handaction; es ſcheint die tiefſte Ehrfurcht zu
verrathen, die immer unbeweglich iſt. Man
will
[129] will ſich ſelbſt halten, ſich ſelbſt binden. —
Die Haͤnde meiner Mutter bewegten ſich in-
deſſen auch gefaltet, und zwar der Ehrfurcht
unbeſchadet. Sie hatte keine Menſchenfurcht;
indeſſen war ſie auch eben ſo weit entfernt,
ſich zu erdreiſten.


Ihr ſeyd ein Narr, ſagte ein bekannter
Landesvater zu einem ſeiner Hoͤflinge! Wer
iſts nicht, allergnaͤdigſter Herr, erwiederte
der Hoͤfling? Dies: wer iſts nicht? ſieht
meiner Mutter aͤhnlich; obgleich ſie gewis in
einem andern Ton, als der Hofnarr, es ge-
ſagt haben wuͤrde. Da ſie alles nahm, wie
es kam, fiel nichts bey ihr vor, das wie ge-
ſucht anſcheinen koͤnnte! Sie pflegte zu ſa-
gen: man muß keinem Gedanken die Thuͤr
verſchließen. — Sie war im hoͤchſten Grade
gaſtfrey.


Trau, ſchau wem! war ihr ein Spruͤch-
wort, das ſie nicht liebte; obgleich wider den
Reim nichts zu ſagen iſt.


Sie hielte keine Wirthſchaftsbuͤcher, und
liebte ſehr, ohne Etat zu leben. Wenn der
liebe Gott mit uns alles zu Buch bringen
ſollte, pflegte ſie zu ſagen: Ey denn! — Sie
dachte uͤberhaupt alles ohne Zahlen.


JMein
[130]

Mein Vater bemerkte: ſie daͤchte alles
poetiſch. Ein neues Haus ohne Baukoſten;
indeſſen bot ſie ihm die Spitze durch einen ho-
hen Geiſtlichen, den Pabſt Sixtus den fuͤnf-
ten,
welcher behauptet haͤtte, daß man auch
einem Eſel die Arithmetik beybringen koͤnnte.


Der Mond war ihr Liebling. Das Pro-
fil und das gerade zu, pflegte ſie zu ſagen,
wie ſchoͤn! —


Sieh einen Geizigen, ſagte meine Mutter,
Treppen ſteigen, wo er nur kann, nimmt er
zwey Stuffen auf einmal! Man laſſe doch
dem Reichen ſeine volle Scheuren! Ihm, der
gemeinhin arm an Leib’ und Seel iſt! —


Wer Worte aufmutzt, war ihr ein Hahn,
der den Auskehrigt nachkehrt. Gern haͤtte
ſie geſehen, daß der Hahn die uͤble Gewohn-
heit nicht haͤtte. Er war ihr ein bedeutendes
Thier. Sie ſelbſt war ſehr grammaticaliſch,
und ſetzte ihren caſum.


Die Hoͤlle nannte ſie oft brennende
Kaͤlte!


Ich meines Orts, pflegte ſie zu ſagen,
habe nichts wider die Herren Philoſophen;
allein ſie ſind alle, wie mein Hausphiloſoph,
im Herzen fuͤr den monarchiſchen Staat.
Freyheit iſt Himmel!


Der
[131]

Der Dichter iſt fuͤr gleich und recht aus
der goldnen Zeit her. Er hebt alles Anſehn
auf. Den Großen laͤßt er einen Kittel anzie-
hen, den Unbedeutenden einen blanken Rock!
Das beſte iſt, es koſtet ihn nichts. Er ebenet
und gleicht alles, und da ſieht man ſonnen-
klar, daß kein Anſehn in der Welt iſt! Er
ahmet Gott nach: denn auch vom Dichter
kann es heißen:


Es iſt dem Dichter alles gleich,

Den Großen klein und arm zu machen;

Den Armen aber groß und reich!

Er iſt der rechte Wundermann —

Da liegt die Urſache, warum nur gewoͤhnlich
arme Leute dichten?


Das Pfingſtfeſt nannte ſie Geniefeſt, und
hielt es fuͤr nothwendig, daß in dieſen heili-
gen Tagen Wein getrunken wuͤrde. Selbſt
Champagner, wenn nicht anders. In Oſtern
aß ſie ein Lamm mit Brunnenkreſſe. Ueber-
haupt verwahrte ſie alle Erſtgeburt, ſo die Mut-
ter gebrochen, auf Feſttage. Die Erſtgeburt
war ihr heilig. Auch ſelbſt das erſte Glas
aus einer Flaſche war ihr wie Erſtgeburt
werth. Sie gab es dem, den ſie lieb hatte.


Sehr war ſie fuͤr ihr Geſchlecht; indeſſen
war Adam doch die Erſtgeburt, das konnte ſie
J 2nicht
[132] nicht leugnen, und ſagte, daß ein Weib eine
o ſey, der eine 1. vorſtehen muͤßte, wenn die
Null was bedeuten ſolte. Die Maͤdchen,
ſagte ſie zu mir, ſind wie Hopfen, ſie muͤſſen
ſich von klein auf rankeln. Du nicht alſo,
ſetzte ſie hinzu.


So laßt, ich bitte Euch, das Doch aus
dem Vater unſer — und wenn Bitte nicht
helfen wolte, fraß ſie ein heiliger Eifer. Iſt
denn, fuhr ſie fort, das vollkommenſte Gebet
auch nicht vollkommen? O ihr Kleinglaͤubi-
gen, daß ihrs mit einem Doch verſtaͤrkt!
Fuͤhr uns (doch) nicht in Verſuchung. Erloͤs
uns (doch) von allem Uebel.


Mein Vater nahm ſich des Flickwoͤrtchens
doch weniger, als der armen Leut’ an, die,
wenn ſie beteten, nicht ans Vater unſer, ſon-
dern ans Doch und an meiner Mutter Schelt-
wort dachten — Laß ſie! Laͤßt Gott der Herr
nicht manches Doch an uns? — Meine Mut-
ter lies dem ungeachtet nicht nach, das Un-
kraut aus dem Vaterunſerwaizen, wie ſie
ſagte, zu jaͤten —


Das Gedaͤchtnis meiner Mutter war auſ-
ſerordentlich. Es war eiſern. Kein Wunder,
wenn ſie zu Sprachen aufgelegt war. Sie
behauptete, daß man bey der Poeſie das
Ge-
[133] Gedaͤchtnis beſchone. Sie iſt dem Gedaͤcht-
nis eben das, pflegte ſie zu ſagen, was die
gruͤne Farbe den Augen iſt. Bey Sprachen
hingegen, fuhr ſie fort, greift man das Ge-
daͤchtnis an — Was ich ſagen wolte, be-
traf eigentlich Sprachen.


Meine Mutter war keine Freundin von
Woͤrterbuͤchern. Wenn auch, ſagte ſie, dir
das oder jenes Wort fehlt; die Sache verlaͤßt
keinen, der ſie nicht verlaͤßt. Sie hat nicht
unrecht. Wer eine Sprache nicht ex profeſſo
weiß, kann ſich doch drinn treflich ausdruͤcken,
wenn er nur ſonſt ein Kopf iſt. Wagen ge-
winnt, wagen verliehrt, heißts hier! Was
ich ein Genie gern eine Sprache reden hoͤre,
deren es nicht voͤllig maͤchtig iſt! und wo iſt
ein Genie, das ſeine Sprache puͤnktlich weiß?
Da ſeh’ ich denn, wie dem vollen Ausbruch
der Flamme nur ein Mund voll Luft ge-
bricht — Ein Genie iſt ein Kopf, der nicht
aufs Wort merkt und doch, fehlts ihm nie
an irgend einem Guten. Kraft und Macht
ſind hier verſchieden; obgleich ſie ſonſt ein
Paar ſind.


Mein Vater las nie ohne Woͤrterbuch
eine Sprache, in der er nicht Meiſter war.
Er mußte alles aus dem Grund haben und
J 3jedes
[134] jedes Wort aus der Wurzel ziehen — Mein
Vater war ein Proſaiſt; meine Mutter eine
Dichterinn. —


Wenn ein Hahn traͤhte, dachte meine
Mutter an den Hochverrath des Petrus und
an ihren eigenen, den ſie ſich wegen Minen
zu Schulden kommen laßen. Der Praͤpoſi-
tus unter ihren Haͤhnen, der alle andre
uͤberſchrie, war ihr ein ehrwuͤrdiges Thier!
In den Denkzetteln that ſie ihm ſogar die
Ehre, ihn Superintendent zu nennen. Schade,
ſagte ſie, daß auch er den Auskehrigt noch
einmahl auskehrt! — Nichts konnt es ihr
naͤher legen: wer ſteht, mag wohl zuſehen,
daß er nicht falle, als ein Hahn.


Sie konnte keine Uhr ſchlagen hoͤren, ohne
daß ſie auffuhr: Kaufet die Zeit aus! ſagte
ſie. Wenn ſie wo war, ſtand ſie mit dem
Schlage auf; wenn ſie wo hingieng, geſchah
es mit dem Schlage, und dies nicht etwa der
Puͤnktlichkeit wegen, ſondern des Vollſchla-
gens halber. Sie that, als wuͤßte ſie, daß
ſie mit dem Schlage ſterben wuͤrde. Ich
wollt’ auch nicht im erſten oder dritten Vier-
tel, oder wenn es halb iſt; kalt oder warm,
ſagte ſie, da du aber lau biſt, will ich dich
ausſpeyen. —


Waͤr’
[135]

Waͤr’ es nicht gut, fragte ſie, lieber
Mann! wenn man lieber ſpraͤche, wie Mat-
thaͤus, Marcus, Lucas ſagt, und nicht, wie
ſie ſchreiben. Sagen iſt lebendiger Glaube,
ſchreiben todter. Jenes Geiſt, dies Leib.
Mein Vater laͤchelte. —


Meine Mutter, die gegen Jedermann
gerecht war, und die mir in ihrer Textſamm-
lung, in ihren Denkzetteln die Lehre gab, die
u bey ihrem Strich und die i bey ihrem
Punkt (privilegio reali) zu laßen, war eben
ſo gerecht gegen alte Woͤrter und ihre wohl-
hergebrachten Privilegia. Der Wurmſtich
thut zu ihrer Guͤltigkeit nichts ab, nichts zu.
Luther war ihr Autor Claſſicus.


Sie liebte ſehr Realworte, ſolche, welche
die Sache ſelbſt waͤren wie ſie ſich ausdruͤckte.
Donner! Blitz! — Sturm! — In dieſer
Hinſicht war ſie mit einigen nicht zufrieden,
z. E. mit Geſchwind. Es wird kalt, ehe
man das Wort zu Ende ſpricht. Schwind,
wie der Wind, waͤre beſſer. Du ſollt nicht
ſtehlen, ſetzte ſie hinzu, und wich dem Worte
Geſchwind aus, um ihren Grundſaͤtzen auf
der einen und auf der andern Seite dem Worte
keinen Schaden noch Leides zu thun, ſondern
J 4allen,
[136] allen, waͤrs auch einer Sylbe, foͤrderlich und
dienſtlich zu ſeyn.


Sie gab allen Baͤumen zu viel Waſſer,
die ſie ſelbſt pflanzte. Ueberaus gern ſah und
hoͤrte ſie regnen.


Ihren Unterricht pflegte ſie eine Schoͤpfe
zu nennen! wollte Gott, ſetzte ſie hinzu, aus
einem Geſundbrunnen, aus einem Brunnen
des Lebens! Nicht jeder kann, ſo lang wie
er iſt, ſich in den Bethesda ſtuͤrzen.


Seht doch jenen Baum, dem die Aeſte
brechen. Er hat mehr Kinder, als er tragen
kann! So fromm, wie jene Wittwe das
Scherflein einlegte, ſo fromm ſtuͤtzte ſie die-
ſen Baum!


Ein Paſtor aus der Gegend, deſſen Geiz
grenzenlos war, hatte einem duͤrftigen Ein-
gepfarrten 10 Thaler Alb. geliehen. „Wo
ſind denn die neune
“ ſagte er zu ſeinem
Schuldner, da er ihm einen Reichsthaler
zum Anfang abtrug? Das nenn ich, ſagte
meine Mutter, eine Spruchſpoͤtterey, der-
gleichen ſich zehn Freygeiſter nicht zu Schul-
den kommen laſſen; wiewohl ſie ob der Bie-
belſprache hielt.


Die Juden ſahn meine Mutter wie Win-
kelmann
die Antiquitaͤten an. Von getauf-
ten
[137] ten Juden war ſie vielleicht blos darum keine
Freundin. Nie hatte ſie bey einer Juden-
taufe Gevatter geſtanden; obgleich ſie gern
bey Chriſtenkindern dieſes Pathenamt uͤber-
nahm. Sie draͤngte ſich recht zu Gevatter-
ſtaͤnden. Laßt die Kindlein zu mir kommen,
ſagte ſie, und wehret ihnen nicht, denn ſol-
cher iſt das Reich Gottes!


Wer beym erſten Gericht von Religions-
ſachen ſpricht, iſt ein Heuchler! — da denkt
man an den Leib. Beym letzten Gericht,
vorzuͤglich beym Kuchen, wird in allen Ge-
ſellſchaften von Religion des Mittags, von
Erſcheinungen des Abends geſprochen.


Das Gewiſſen, ſagte ſie, iſt eine Sayte,
die nie ausgeſpielt wird. —


Sie ſchrieb Chriſt mit einem X und Chri-
ſtenthum Xthum, und war eine ſo große
Verehrerin vom Kreutz, daß, wenn gleich ſie
nicht mehr ein Kreutz ſchlug, wenn ſie jaͤhnte,
ſie doch alles und jedes ins X legte. Z. E.
Meſſer und Gabel. Die Eckartſchen Ca-
mine waren ein Greuel in ihren Augen, weil
das Holz hier nicht kreutzweiſe brannte.
Sonſt war Caminfeuer ihr Leben. Mein
Vater war auch dafuͤr.


J 5Zu
[138]

Zu fruͤh, ſagte meine Mutter, iſt eben
ſo zur Unzeit, als zu ſpaͤt. Wer etwas zu
geſchwind ſagt, weiß es, und weiß es auch
nicht. Sie gieng zwar etwas ſchnell; allein
ſie ſprach ſo, wie man muß, nicht zu fruͤh,
nicht zu ſpaͤt. Sie hatte ſehr was ver-
nehmliches in der Sprache, eine klingende
Stimme! —


Sie war ſehr fuͤr raſche Pferde, und da
mein Vater gleicher Meynung war; ſo pflegte
ſie oft, wenn ſie mit ihren vier braunen fuh-
ren, zu ſagen: Feurige Roß und Wagen.
Es kann ſeyn, daß ſie, blos weil ſie Dichte-
rin war, raſche Pferde geliebt; indeſſen er-
wehnte ſie nie des Pegaſus. —


Wer wird, ſagte ſie, einen Erzengel, Got-
tes wuͤrklich geheimten Staats- und Kriegs-
miniſter nennen? Kindliche Weisheit mit
Scholaſtik verkaufen? Wiſſet ihr nicht, daß
ein wenig Sauerteig das ganze Gebaͤcke ver-
ſaͤuret?


Sie glaubte ſich, als Paſtorin, wuͤrklich
im goͤttlichen Dienſte. Die Schauſpielerin
arbeitet ſo gut, als er. Eine Saͤngerin er-
haͤlt oft ihren Mann. Eine Paſtorin beſorgt
den kleinen Dienſt, ſagte ſie, um meinem
Vater zum Munde zu reden! —


Ein
[139]

Ein Berg iſt die eigentliche Kanzel Got-
tes! Chriſtus, der Herr, beſtieg ſelbſt eine
dergleichen Kanzel, und predigte gewaltiglich.


Vernunft nannte ſie Unterfutter! Ober-
zeug, ſagte ſie, muß Dichtkunſt ſeyn, wenn
es kleiden ſoll.


Sie konnte nichts uͤbertriebenes leiden,
und uͤbertrieb ſelbſt, wenn ſie dergleichen
Leute auf den rechten Weg leiten wollte „thut
ſie doch ſo keuſch, daß ſie Bedenken traͤgt,
ein Soͤhnlein chriſtlicher Eltern uͤber der Taufe
zu halten“ —


Einen Unbeſtaͤndigen bezahlte ſie mit glei-
cher Muͤnze. In Mutterleibe, ſagte ſie, iſt
er am laͤngſten geweſen. Wer hat aber ſeine
Mutter druͤber befragt, ob ſie nicht Be-
ſchwerde zu fuͤhren gehabt, daß er den Zaun
brechen wollen, eh es Zeit war?


Fuͤr die Augſpurgſche Confeßion war
ſie uͤber alle Maaßen. Herzlich konnte ſie
ſich uͤber einen curſchen Candidaten freuen,
der auf die Frage: woher ſie Confeſſio Augu-
ſtana
hieße? antwortete, weil ſie von Augu-
ſtino
herkaͤme; warum nicht gar vom Kay-
ſer Auguſto, der eine Schatzung ausſchrieb?
Der Converſus war aus Augſpurg, kein
Wun-
[140] Wunder, daß, des Koͤnigs von Spanien un-
erachtet, alles mit dem Hieronymo a ſancta
fide
ſo gut beygelegt, und ein fuͤr den Con-
verſus ſo vortheilhafter Friede eingegangen
ward.


Wenn meine Mutter zuweilen im heili-
gen Eifer war, ſprach ſie, wie ſie ſelbſt be-
merkte, nach Prophetenart, die es auch, wie
ſie glaubte, ſo boͤſe nicht gemeynt haͤtten.
Den folgenden Fluch hatte ſie aus den Pro-
pheten ausgezogen; nie hat ſie ein Glied da-
von gebraucht — „In der Stadt ſoll keine
Muͤhle mehr gehen. Keine Braut ſoll ſich
thres Lieblings freuen. Kein Richter ſoll ei-
nen Mord ruͤgen, jede Erſtgeburt verungluͤ-
cken. Nie werde geſungen und geſprungen.
Huͤlle und Fuͤlle ſey nirgend, weder im Tem-
pel, noch beym Schmauſe. Lang wer-
de den Tiſchgaͤſten die Zeit, wie den Tage-
loͤhnern, und kein Mark ſey auf ihrem Tiſche;
in ihren Haͤuſern rieche es nach eitel todten
Leichnamen, die den Weyhrauch nicht auf-
kommen laßen, wenn gleich ihn Aarons
Hand woͤlbt. Wenn es donnert, ergreife
den Einwohner eine Angſt, wie eine Gebaͤh-
rerin, und niemand finde hier volle Gnuͤge.
Keine Creatur freue ſich hier ihres Seyns.
Der
[141] Der Vogel ſitze laͤnger um ſeine Jungen zu
bruͤten, und verlaße das Neſt, ehe ſeine Nach-
welt einen Flug gethan. Ein Schwindelgeiſt
ſey unter ihre Jugend ausgegoſſen, daß ſie
wie Trunkenbolde laufen, wie aufgerafte
Mittagsſchlaͤfer. Ihr Alter ſey wie Rohr,
das der Wind hin und herbeugt! — Ver-
zagtheit wohne in ihren Staͤdten, und bey
dem kleinſten Uebel recke jeder ſeine Hand wie
ein Ertrinkender, wenn er ſie zum letzten-
mahl reckt.“ — Die Propheten, behauptete
ſie, fluchten ſchoͤn und — wer leſe nicht gern
ſolche Fluͤche? —


Eine feine Flucherin! Ich ſchreibe mir
nichts hinters Ohr, ſagte ſie, und that auch
alſo. Ich habe mit keinem Menſchen ein
Huͤhnchen zu pfluͤcken. Wahrlich! ſie war
ein ſchoͤner nordiſcher Maytag. Sie war
nicht eine Flaͤche, die dem Auge nicht hinrei-
chend Nahrung giebt! Ein Berg, eine Kan-
zel Gottes, graͤnzte an ihr Thal. —


Einen Plan machen konnte ſie nicht. Sie
ſchlug nicht Alleen im Walde, ſondern, nach-
dem es die Gelegenheit gab, hier und da
einen Stamm. Zum erſten beſten Bahn-
bruch war ſie nicht aufgelegt. Sie ſelbſt
aber wußte ein und aus.


Mein
[142]

Mein Vater war gleich mit einem Riß
fertig. Meine Leſer werden ſelbſt ſo manche
Abſchnitzel von Entwuͤrfen bemerkt haben.
Gern aber mochte meine Mutter Plane hoͤ-
ren, z. B. die Diſpoſition meines Vaters
von der Sonntagspredigt ſchon Sonnabends
zu wiſſen, war ihr Leben. Mein Vater
nannt’ es den Kuͤchenzettel der Predigt.
Meine Mutter war mit dieſem Ausdruck
hoͤchſt unzufrieden.


Sie ſah ſehr ungern, wenn irgend ein
gemeiner Menſch ein Inſtrument ſpielte.
Singen, ſagte ſie, muß jeder koͤnnen; allein
ſpielen nur der, wer Geld und Zeit hat. Sie
glaubte, ein Reicher haͤtte unendlich mehr
Zeit, als ein Armer, und man koͤnne wuͤrk-
lich Zeit kaufen. —


Sehet die Voͤgel unterm Himmel, ſie
ſaͤen nicht, ſie ſpinnen nicht, und darum ſin-
gen ſie doch, pflegte ſie zu ſagen.


Das Schreiben hielte ſie in Abſicht des
gemeinen Haufens unnoͤthig, ſogar ſchaͤdlich,
dagegen behauptete ſie, muͤſſe jeder Menſch
ſein Augenmaas excoliren, das heißt: ſetzte
ſie hinzu, zeichnen lernen, wenn nicht anders,
ſo mit den Augen allein. —


Weder
[143]

Weder Hefen, noch Schaum — Der
alte Herr iſt oft beydes — Sie goß alles
ohne Schaͤumchen auf.


Ein Becher war ihr liebſtes Geſchirr; ein
Halbbruder vom Kelch, ſagte ſie. Mein Va-
ter war fuͤr Glaͤſer.


Der Champagner war ein Stutzer unter
den Weinen! Windbeutel nannte ſie ihn —
In Pfingſten hieß er Geniewein.


Sie aß gern Honigſeim, wie ſie es nannte,
zu teutſch Honigkuchen.


Sie hatte eine Weiſe, der Mode nicht
ungetreu zu ſeyn; indeſſen brachte ſie dabey
etwas an, wodurch ſie ihre curſche Freyheit
ſich reſervirte. Mein Vater, der Monar-
chenfreund, verſicherte, daß ſie eben dieſe
Abweichung am vortheilhafteſten gekleidet
haͤtte, und in Wahrheit, eine blos modiſche
Frau iſt geputzt, eine die, wenns noͤthig, ſich
ſelbſt etwas vorbehaͤlt, hat Geſchmack. Sie
gieng ſehr reinlich. Wenn ſie ſich unge-
woͤhnlich ankleidete, pflegte ſie zu ſagen:
Wir brauchen Brod alle Tage; Geld aber
nur alle Jahr.


Walt ewiger Gott! wie viel Vorliebe hat
der Menſch doch fuͤrs Sinnliche! Laͤßt er
wohl das Kippen und Wippen? Und doch iſt
er
[144] er ſchon hier im Stande, verklaͤrt zu werden.
Es giebt Seelen von Menſchen! Geiſter von
Menſchen, ſagt man nicht. Es giebt Ge-
muͤther, von denen man behaupten koͤnnte,
ſie haͤtten keine Erbſuͤnde; allein den meiſten
Menſchen iſt nicht um Sachen, ſondern um
Worte zu thun! Welch eine Thorheit! ſingt
dein Vater, und das mit Recht! Nach die-
ſer Fahr und Noth will ich dir lobſingen,
Gott meine Zuverſicht, in deinem Heilig-
thum! als ob Gott, dem Herrn, mit einer
Hand voll Worte, mit einem Panegyrikus
gedient waͤre! Handlungen, das iſt die ei-
gentliche Art, mit Gott zu reden! das heißt,
ihn im Geiſt und Wahrheit anbeten!


Das ſind mir die rechten Paſtores, die
boͤſe Hunde halten! und die Leute blos ins
Gebet einſchlieſſen! Sie hielte die Hunde
fuͤr eine Beleidigung der Gaſtfreyheit —


Mein Sohn! ſchreibt ſie mir gleich nach
meiner Abreiſe, bald haͤtt ich mein Kind ge-
ſchrieben, und das iſt nicht Juͤngchen, nicht
Maͤdchen. Dieſer Ausdruck ſchickt ſich fuͤr
keinen, als den Johannes den Evangeliſten,
den Chriſtus lieb hatte, mit dem er ſpielte —
Das war ein Kind, ein liebes Kind, im erha-
benen Sinne. Wie ich den Johannes lieb
habe!
[145] habe! Was ich dir ſagen wollte: Saul
ſuchte die Eſelin ſeines Vaters, und fand
ein Koͤnigreich. Joſeph traͤumte ſich zum
Herrn uͤber ganz Egyptenland, der nicht ein
Kornjude, wie etliche wollen, ſondern ein fei-
ner Finanz-Miniſter ward. Es iſt ſehr gut,
daß es dem Menſchen nicht immer nach ſei-
nen Wuͤnſchen geht. Gott behaͤlt ſich ein
Votum bey ihm vor, und anſtatt, daß ein
Menſch betruͤbt ſeyn ſollte, daß ihm ein Po-
ſten abgeſchlagen wird, ſollt er ſich freuen,
daß Gott der Herr ſich in die Sache einge-
miſcht. Wenn man die Zeit abwarten kann,
wird Waſſer in Wein verwandelt. Wer
weiß, ob Horeb oder Gethſemane der beſte
Berg iſt? Du willſt in die Rathsſtube, und
weißt nicht, daß du in die Moͤrdergrube ge-
rathen wuͤrdeſt; du willſt Geld, und bedenkſt
nicht, daß Geitz die Wurzel alles Uebels iſt?
Du klagſt uͤber oͤftern Anfall von Kolik, und
weißt nicht, daß wenn der Stoͤhner nicht
lange lebt, der Prahlhans gewiß nicht. Ich
zittre vor einem großen Gluͤck, wie dein
Grosvater ſeliger. Wenn es recht warm ge-
weſen, donnert und blitzt es. Da erzaͤhlt
mir juͤngſt der Candidat mit den langen
Manſchetten, daß eine Glocke, die nicht feſt
Kgenug
[146] genug hieng, auf ein Maͤdchen von ſieben
Jahren gefallen, die unten ſpielte, und zwar
ſo, daß ſie ſie bedeckte. Von ſolchem Gluͤcke
konnte dein Grosvater nicht ſagen. Das
heißt Gluͤck.
Da haͤtte auch der Himmel
fallen koͤnnen, und nicht blos eine Glocke!
Dies Maͤdchen waͤre keine Frau fuͤr dich ge-
worden. Mag ſie doch der Herzog heyra-
then, wenn er Luſt und Liebe zum Dinge
hat! — —


Buͤcher und Kinder koſten am meiſten, und
es iſt unrecht, dem geiſtlichen Stande den Cre-
dit druͤber zu benehmen. Die alten Predi-
ger ließen etwas Bart zur Art ſtehen, und
dieſe Weiſe gar eben, waͤre ſo etwas in mei-
nen Kram. Vielen unſerer Candidaten wuͤrde
es Muͤhe koſten, dieſen Aufwand zu machen.
Der Bart wird ſich zeitig bey dir einfinden!
Es iſt kein ungebetener Gaſt, er ſey willkom-
men! —


So bald du den Kopf auf einer Seite,
und nicht gerade zu trugſt, merkt’ ich gleich,
du waͤrſt verliebt. So traͤgt ihn der Ver-
liebte. Du fingeſt an, im Tenor zu fallen.
Gut, dacht’ ich, er hat das Weltbuͤrger-
Recht gewonnen. Ich wußte, mein Blick
koͤnne nicht fehl ſchlagen, und du waͤreſt
nicht
[147] nicht gleichguͤltig gegen Minen. Mein Gott!
aber wer konnte auch gleichguͤltig ſeyn!
Wenn ich ihr kaum einen guten Morgen bot,
da ſie kam, mußt ich ſie doch kuͤſſen, wenn
ſie gieng. Viele Menſchen laſſen die Natur
nicht zum Worte. Mine ſtand ſo mit der
Kunſt. Warlich die Natur hat Euch die
Liebe gelehrt! — Laß ſie nur Pfefferkraut
ſammlen, dacht’ ich! Was hats zu ſagen,
wenn es beym Pfefferkraut bleibt. Ich Thoͤ-
rin! konnt ich denn nicht bedenken, zu die-
ſer meiner Zeit, daß du die erſt und letzte
Geburt einer Dichterin waͤrſt, und daß deine
Einbildungskraft kein Stuͤck Kleid bey dem,
was es iſt, laſſen, ſondern es in ein himm-
liſches Gewand umſchaffen wuͤrde! Ich, die
ich deines Vaters halber hebraͤiſch lernte, ich
konnte dies alles nicht bedenken? —


Meine Mutter, obgleich kein Wort ihr
Kopfſchmerzen machte, und ſie Genie im
Ausdruck war, trat doch der u und i Ge-
rechtigkeits halber meinem Vater in Abſicht
der Stammworte bey. Dieſe waren ihr ſo
ehrwuͤrdig, als ihre Ahnherren, die Supe-
rintendenten und Praͤpoſiti. Sie rieth, ſich
dran zu halten, um jedem Worte ſeine
Wuͤrde und Ehre zu geben. Ohne das iſt
K 2alles
[148] alles nicht Fleiſch, nicht Fiſch, nicht gekocht,
nicht gebraten. Soldat iſt zuſammengeſetzt
von Sold und That, ſagte ſie. Wer ums
Lohn Dinge thut, thut ſie der? fragte ſie;
denn ſie hielte nicht viel auf Soldaten. Sie
hies ſie gewoͤhnlich mit der heiligen Schrift
Kriegsknechte. Die Bauren nannte ſie laͤch-
lend Bauherren. Wenn gleich in Curland
blos der Bauren- und Ritterſtand obwaltet,
und der Litterator der Rinnſtein zwiſchen bey-
den iſt, doch ſo, daß er ſich mehr zur baͤuer-
lichen Seite wendet; ſo meynte ſie doch, das
Mittelſtuͤck ſey das beſte.


Wie heißt das vierte Gebot?


Du ſollt deinen Vater und deine Mutter
ehren, auf daß dirs wohl gehe und du lange
lebſt auf Erden!
Was iſt das?


Ob denn nicht ein Autor auch ein Geiſt-
licher Vater ſey? Gern ſaͤh’ ich es, um den
verlohrnen Sohn von Kunſtrichter, bey Ge-
legenheit, daß ich meiner Mutter die kind-
liche Pflicht erſtattet, zur aͤhnlichen Schul-
digkeit anzuweiſen — Mag er doch bey ſei-
nen Trebern bleiben! —


Du aber, ruhe wohl! meine gute liebe
Mutter! bis der liebe juͤngſte Tag anbricht,
bis
[149] bis zur Stunde, da es heißt: Steht auf!
Du warſt zur Wiedergeburt gewoͤhnt, wahr-
lich, du wirſt wiederkommen! Ey, du from-
me und getreue! du biſt uͤber wenig treu ge-
weſen! Du wirſt zu vielem kommen! Du
warſt reines Herzens, du wirſt Gott ſchauen,
du preiſeſt Gott mit deinem Leibe und deinem
Geiſte, welche ſind Gottes — Was geſaͤet
war in Schwachheit, wird auferſtehn in
Kraft! — Eva aß, und gab ihrem Mann
auch davon, und er aß, und doch war Eva
das Weib aller Weiber, die Mutter aller Le-
bendigen. Gute einfaͤltige fromme Seele!
Gott geſegne dich! Vergeß ich dein; ſo ver-
geſſe mein Herz Meiner! Mein Vertrauter,
der aus einem Becher mit mir trinkt, ſey
ein Judas, der Gift unter meinen Kuß mi-
ſche! In meiner Rechtsſache ſpreche ein
ſchielender kleiner Bube aus einem Oberge-
richt! Der in der Curlaͤnderin Sache ſprach,
richte auch meine Sache, wenn von Ehr und
gutem Namen die Red iſt! Mit Thraͤnen will
ich erndten, was ich mit Freuden ſaͤete! —
Dein Mann, mein Vater, verſplitterte oft
das beſte Stuͤck Bauholz, woraus ein andrer
eine Kirchenſtuͤtze gehauen haͤtte, wenn ers
im gemeinen Leben brauchte. Er wechſelte
K 3ein
[150] ein Schauſtuͤck eines Duͤrftigen halber, und
auch du gabſt, was du unterm Herzen hat-
teſt! — Wahrlich, du warſt kein Gras,
das unter Steinen waͤchſt, das keinen ruͤhrt
und wozu niemand ſagt: Gott gruͤß dich!
Eine gruͤne Taufwieſe warſt du, ein holdes
Thal, das einen Berg zum Nachbar hat.
Ein Lied im hoͤhern Chor, ein Sonnabend,
auf den der Sonntag folgt. Eine Glorie von
hellem Mondſchein war hier dein Theil; dort
biſt du gekleidet in Sonne der Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit war deine Ausſaat, und wird
deine Erndte ſeyn. Keinem Wort’ haſt du einen
Zahn ausgeſtoßen, keinem einen bleyernen oder
ſilbernen eingeſetzt! Jedem Buchſtab, gros
und klein, gabſt du, was ſein war. Suͤmpfe
zu verurbaren, gemeine Seelen zu adeln! In
den Schwachen maͤchtig zu ſeyn, ſo wie es
Gott in dir war, das hielteſt du fuͤr deinen
Beruf. Du hatteſt richtige Laͤufe. Ruhe
wohl! — du haſt deine Quarantaine vor der
Ewigkeit richtig gehalten! — Du biſt ein-
gegangen! Gott webe ſeine Hand uͤber dei-
nen Staub! Lebe wohl! —


Daß Herr v. G — der aͤltere noch vor
meinem Vater den Weg gegangen, den wir
alle gehen werden, hat meine ſelige Mutter
anzu-
[151] anzuzeigen nicht ermangelt. Freylich gehoͤrt
Herr v. G — nicht ſo unmittelbar in dieſe Ge-
ſchichte, und waͤre es wohl Zeit, daß ich an
mich ſelbſt mehr daͤchte: ſoll man denn aber
ſeinen Naͤchſten nicht lieben als ſich ſelbſt, und
iſt denn Herr v. G — der aͤltere nicht wahrlich
unſer aller Naͤchſter? Je weniger man an-
dere aus den Augen ſetzt, je mehr ſagt man
von ſich ſelbſt — und damit ich mein Schwert
in die Scheide ſtecke und meinen Leſern reinen
Wein einſchenke; ſo verlangt der nemliche
Freund, der mich ſchon mehrmals in dieſer
Geſchichte beſuchte, den Herrn v. G — in Le-
bensgroͤße. So werd’ ich ihn nicht darſtellen
koͤnnen, weil ich Extrapoſt genommen; indeſ-
ſen doch hie und da ein Zug von dieſem Na-
turmanne, der auch die Kunſt nicht zum Wort
kommen lies, wie meine Mutter es Minen
nachruͤhmt. Es aͤrgert mich jederzeit, wenn
ich eine Vor- oder Nachrede vollbracht habe,
und doch kann ichs nicht laſſen! Wer kann
ſich ohne guten Morgen und gute Nacht
behelfen? In allen Sprachen wird es der
lernenden Jugend zuerſt beygebracht, und wer
ſich uͤberhaupt ohne Vor- und Nachreden be-
helfen, oder, wenn ſie ſchon da ſind, ſie mir
nichts dir nichts ſtreichen kann, kann mehr
K 4als
[152] als ich! Es iſt ſo etwas von Erſt- und Letzt-
geburt drinn. —


Damit meine Leſer indeſſen gleich wiſſen,
woran ſie ſich zu halten; ſo ſey mir erlaubt,
den Text zu verleſen, woruͤber gepredigt wer-
den ſoll. Wahrlich dies iſt auch der einzige
Geſichtspunkt, aus welchem Herr v. G — zu
nehmen iſt.


Er und mein Vater hatten ſich in zehn
Jahren nicht beſucht, wohl aber ſo oft ſie ſich
nur reichen konnten, mit Gedanken, Gebehr-
den, Worten und Werken (wiewohl alles in
Ehren) gepfaͤndet. Sie empfiengen ſich, da
Junker Gotthard und ich zuſammen gegeben
werden ſolten, wie die beyderſeitigen Schwie-
gereltern gemeinhin am Hochzeitlager, ſo
freundlich, daß nichts druͤber war. Aber
Paſtor! ſagte Herr v. G — nachdem ſie in der
freyen Luft ſo manches gute Wort gewechſelt,
ſind wir nicht ein Paar Verneinungen, ein Paar
Nullen geweſen, daß wir uns, und ſo man-
chen Realitaͤten, ſieben Jahre, wenns nicht
mehr iſt (es waren, wie ich nicht anders weiß,
zehn, die vollkommene Zahl,) den Ruͤcken ge-
kehrt? —
Aus
[153]Aus einem Briefe meiner Mutter.


Ich habe, das weißt du, je und in alle
Wege viel aus den Predigten deines Vaters
gemacht; obgleich er nicht viel aus meinem
Geſang, bis er mit Brand heimgeſucht ward.
Am liedſten hoͤr’ ich, ihn, wenn er eine Caſual-
predigt
haͤlt. So iſt mir die Predigt: Rich-
tet nicht,
noch immer in den Ohren ein ſuͤßer
Schall, und haͤtt ers bey den Liedern nicht
verſehen, dieſer Sonntag waͤre werth, in Gold
gefaßt zu werden und Edelſtein — Ueber
den Herrn v. G — hielt er eine Predigt trotz
der: Richtet nicht; indeſſen war ſie nicht
fuͤr jedermaun. Sein Text war aus dem ein-
hundert neun und dreyßigſten Pſalm und
deſſen drey und zwanzigſten und vier und
zwanzigſten Vers; Erforſche mich, Gott,
und erfahre mein Herz, pruͤfe mich und
erfahre, wie ichs meyne, und ſiehe, ob
ich auf boͤſem Wege bin, und leite mich
auf ewigem Wege!
Seine Predigt handelte
vom Verſtande und Herzen eines Chri-
ſten,
nicht, wie alles iſt, ſondern wie mans
glaubt, daß es ſo recht, daß es ſo gut, ſo
recht gut iſt — Auf den Glauben kommts
allein an. Mancher der nicht Herr, Herr!
geſagt hat, wird dort! die beſchaͤmen, die
K 5Herr,
[154] Herr, Herr! des Morgens, des Abends und
vor und nach Tiſche ſangen und beteten; nicht
die Vater unſers, nicht die das Walts ma-
chens aus, ſondern die den Willen thun des
Vaters Jeſu Chriſti im Himmel, ſind hier auf
gutem, auf ewigem Wege. Da bekamen in
die Laͤnge und in die Quer, die ſich uͤber den
Herrn v. G — aufgehalten, weil er lange
nicht communicirt, und kein Kirchengaͤnger
geweſen. Es war deinem Vater nicht anzu-
ſehen, daß er ſein ganzes hebraͤiſch vom Con-
verſus hatte, und das heißt, eben nicht weit
her. Er ſagte uns Chriſtenleuten ſo manches
theure werthe Wort, und wahrlich, mein
Sohn, er hatt’ nicht Unrecht. Die Ortodoxie
des Herrn v. G — will ich an ſeinen Ort ſtel-
len. Gott gebe, wenn es nicht zur Rechten
iſt, es wenigſtens nicht ganz zur Linken, ſon-
dern von der Seite ſey. Der Herr von G —
bekannte und leugnete nicht. Ich bin keiner,
ſagt er rein heraus, und ohne Spruͤchwort.
Wenn man aber die jetzige neue Mode, Chri-
ſten zu ſeyn, erweget, die unſere junge Herrn
(Gott nehm dich in ſeinen Schutz) von eini-
gen Akademien mitbringen; (Heil mit Koͤ-
nigsberg und Goͤttingen fuͤr und fuͤr!) ſo
koͤnnt’ es wohl heißen: dein Silber, zu re-
den
[155] den aus Jeſaias dem erſten Capitel und deſſen
zwey und zwanzigſten Vers: O Chriſten-
thum! dein Silber iſt Schaum worden,
und dein Getraͤnke mit Waſſer gemiſcht,

und aus dem dritten Capitel, der ſiebenzehn-
te und vier und zwanzigſte Vers: Der Herr
wird den Scheitel der Toͤchter Zion kahl
machen, und der Herr wird ihr Geſchmei-
de wegnehmen.
Das heißt: er wird den
Leuchter von der heiligen Staͤte ſtoßen, und
ſtatt der feyerlichen hellbrennenden Kerze,
praſſelt dann ein elendes Talglicht, zwar in
einer glaͤſernen Form gegoſſen, ſchoͤn von auſ-
ſen; allein doch Talglicht; dann wird Stank
fuͤr Gutgeruch ſeyn, und ein loſes Band fuͤr
einen Guͤrtel, und eine Glatze fuͤr kraus Haar,
und fuͤr einen weiten Mantel ein enger
Sack. Fuͤr Bibel und Geſangbuch allerley
Naſchwerk und Marcipan, das ſuͤs auffaͤlt;
allein den Magen verdirbt.


In dieſer Verſtands- und Herzenspredigt
dachte dein Vater an den Herrn v. G —.
Es war wie vom Himmel gefallen. Ha!
vermuthete man, da wird er die zehnjaͤhrige
Entfernung aufdecken! Da wird man erfah-
ren, ob Rahel weiß oder braun geweſen?
Was fuͤr Federn Gabriel in ſeinen Fluͤgeln
gehabt?
[156] gehabt? Ob Adam mit einem Nabel verſe-
hen geweſen? wenn gleich der Text darnach
nicht war! — Es war eine Stille, wo man
das Wort faſt in der Seele hoͤren konnte.
Die Frau v —, die ſo tief zu ſeufzen gewohnt
iſt, daß die Waͤnd’ es hoͤren und wiederhallen,
als wunderten ſie ſich drob! — ſtill! ganz
ſtill! O mein Sohn! dein Vater iſt ein Feuer-
ſchlagender geiſtreicher Mann! Schade! daß
er ſein hebraͤiſch nicht aus der erſten Hand
hat! und abermals ſchade! daß man nicht
weiß, wo er her iſt! Sein Text iſt Stahl
und Feuerſtein. Er ſchlaͤgt, und es fallen
Funken, des Kuͤchenzettels unerachtet, den er
uͤber jede Predigt macht. Ich habe geweint
bitterlich, und die ganze Kirchen- oder Trauer-
verſammlung weinte ſo. Er ſchalt nicht, er
drohete nicht. Er ſtellte dem es heim, der da
recht richtet. Wenn ich doch ſchreiben koͤnn-
te, was er ſagte. Es war alles, wie in Ver-
ſen, ſo leicht! ſo ſchoͤn!


Laßt uns ungebeten an ein Mitglied
einer benachbarten Gemeine denken, deſ-
ſen Erforſchungs-deſſen Pruͤfungsjahre
ſelig zu Ende gegangen, und der den ewi-
gen Weg der Wahrheit und des Lebens
angetreten! — Er kam nicht zu mir, ſo

wie
[157]wie ers ſeit einiger Zeit oͤfters zu thun
die guͤtige Gewohnheit hatte, ſondern
zu unſerm Gotteshaufe! Er wolte un-
ſern frommen Uebungen beywohnen,
ohne daß ichs zuvor wußte. Ich ſprach
ihn nicht, ich begruͤßte ihn! allein von
weiten und ſiehe da! noch ehe ich meine
Predigt anfieng, hatte er ſeinen Lauf
vollendet. Noch ehe ich Ja ſagte, war
er beym Amen. Er ſtarb, wie ihr alle
wiſſet, in den lezten Worten des chriſt-
lichen Glaubens:


nach dieſem Elend

iſt uns bereit

dort ein Leben in Ewigkeit.

Unvergeßlich wird mir jedes Wort die-
ſes Umſtandes ſeyn, ſo wie dieſer Mann
es einem jeden ſeyn muß, der ihn ge-
kannt hat! — Er beſuchte ſelten die Kir-
chen und mußte in einer Kirche ſterben!
Ich ſahe den Aufſtand, der unſers Vol-
lendeten halber entſtand; allein ich hielt
ſeinen Zufall fuͤr einen ſolchen, der bey
weitem nicht der letzte waͤre.


Welch eine Kluft zwiſchen Gottes
und unſern Gedanken! Dein Wille, un-
ſer Vater! dein Wille iſt geſchehen


Er
[158]

Er war — ich ſage das Wort war,
anſtatt iſt zum erſtenmahl, und ich fuͤhl
es, es iſt das erſtemahl. Er war mein
Freund
! er war, ich will mich an dies
Wort gewoͤhnen, er war ein Freund der
Wahrheit, und ich kann hinzuſetzen, ein
Freund Gottes und der Menſchen, nach
ſeinem Bilde gemacht — Gemeynt hat
er es gut, das wiſſen wir alle, mit Gott
und Menſchen. Was koͤnnen leichte
Wolken der Sonne ſchaden? ſie darf
ſich nicht vordrengen, ſie leuchtet ohn-
geſucht hervor, und jeder ſagt: die liebe
Sonne! Er dachte nicht, ſo wie wir,
Freunde! Ihr wiſſet, daß er und ich
uns darob wie Lot und Abraham trenn-
ten, und fiel etwas vor, was nicht ganz
wie Lot und Abraham war! Verzeih’
es Gott! bey dem viel Verzeihung iſt.
Ich bekenn’ es frey, ich war bey dieſer
Trennung der Eiferer, und der Eifer
thut nicht jederzeit, was recht iſt —
Mein Troſt iſt, daß auch ich es gut
meynte! O Gott, wie oft ringt meine
Seele zu dir! Wie oft bet’ ich in mei-
ner Einſamkeit, nur allein von dir ge-
hoͤrt: Erforſche mich Gott, und erfahre

mein
[159]mein Herz, pruͤfe mich und erfahre, wie
ichs meyne, und ſiehe, ob ich auf boͤſen,
auch nur auf Irwegen, bin, und leite
mich auf ewigem Wege! Ich habe ge-
than, was meines Amtes iſt. Thut,
Freunde, auch was das eurige iſt. Ich
wuͤnſche ihm die Ruhe der Gerechten!
Ihr, desgleichen. Gedenk an mich,
wie ich geſtorben bin; ſo wirſt auch du
ſterben. Geſtern war es an mir, heut
an dir, das ſey unſer Geleitsſpruch,
wenn wir dieſes Gotteshaus verlaſ-
ſen!


Dieſer Auszug bedarf keines Zuſatzes.
Kurz und gut war der Tod unſers theuren v.
G —. Eben ſo kurz ſoll auch meine Leichen-
rede ſeyn, ob ſo gut, kann ich nicht be-
ſtimmen.


Herr v. G — war ein ſehr natuͤrlicher
Mann; alles was er ſagte war mit der Hand
geſchoͤpfte Natur. Diogenes ſah einen Kna-
ben Waſſer mit der Hand ſchoͤpfen, ſo wie
unſere es mit dem Hut zu thun gewohnt ſind,
und ſetzte ſich aus dem Beſitz ſeines Mobiliar-
vermoͤgens, ohne ſolches publica legis auctio-
ne
dem Meiſtbietenden zu uͤberlaſſen. Wenn
die Natur Lehrer und Propheten ſendet, ſind
es
[160] es alle ſolche Waſſerſchoͤpfer! — Herr v. G —
hatte eben da ſeine eigentlichen Collegia ge-
hoͤrt. Er war aus Curland. Da, wo er ge-
bohren, waren ſchon ſieben Herren v. G —
gebohren und geſtorben; allein wahrlich kein
v. G — ſeiner Art. Curland hat einen ſol-
chen Mann ſchwerlich aus ſeinen Mitteln ge-
habt. Mein Vater konnte ſich nicht uͤberzeu-
gen, daß ſeine Vorfahren Curlaͤnder geweſen.
Er iſt, wie die Curlaͤnder ſeyn koͤnnten, und
wo ſind v. Gs —? Wie aber, wenn die Na-
tur in einem Lande, wo Keckheit, Rauhigkeit,
Trotz und Tyranney unter dem Namen von
Freyheit gang und gaͤbe iſt, einem Mann, der
ihrem aͤdlen Bilde aͤhnlich waͤre, recht mit
Fleiß ſchaffen wollen? Wenn ſie gedacht,
laßt mich einen Curlaͤnder machen, ein
Ideal!


Herr v. G — hatte, wie jeder Junker, ſei-
nen Hofmeiſter. Dieſes war zum Ungluͤck
ein ſo ausgelernter Kuͤnſtler, daß er wider die
Landesgewohnheit viel todte Kenntniß beſaß,
die in der curſchen Dunkelheit hell ſchien; ſo
wie faules Holz gewoͤhnlich im finſtern. Un-
ſer Juͤngling war ſeinem Fuͤhrer am Verſtan-
de unendlich uͤberlegen; dieſer aber jenem an
Spruͤchen, und da der gute Goliath an dem
Herrn
[161] Herrn Vater unſers kleinen Davids einen
Verehrer gefunden; ſo war der junge Herr
gezwungen, den kuͤrzern zu ziehen, ſeine
Schleuder ungebraucht zu laſſen, und ſich
hoͤchſtens mit einem verſtohlnen Blick des
Beyfalls von ſeiner guten Mutter zu begnuͤ-
gen. Dieſes aͤdle Weib hatte die gerechte-
ſten Klagen wider ihren Mann, beſonders in
puncto puncti.
Auch außer dem Puncto puncti
nahm ſich der alte Herr v. G — ſo manche
ſchreyende Haͤrte nicht uͤbel, und befand ſich
dabey recht wohl. Fiel ja ein Gewiſſensbiß
vor, ſo hatte der Hausarzt ein Recept von
Spruͤchen, die ihn auf der Stelle beruhigten.
Arzt und Patient waren gleich kurzſichtig.
Aus ſeines Vaters Hauſe gieng unſer ſelige
Mitbruder in die academiſche Welt, lies ſeiner
Denkungsart, die bishero Ziegel geſtrichen,
den freyen Lauf und ward — Dreiſtdenker.
Anfaͤnglich war es nur, um das Grosmaul,
den theologiſchen Goliath, zu Gottes Erd-
boden zu bringen. Obgleich dieſer Ausfor-
derer
in dem vaͤterlichen Hauſe zuruͤckgeblie-
ben war, und mit keinem kleinen Stein er-
reicht werden konnte; ſo war er doch unſerm
David ſo lebhaft, daß er mit einem kleinen
Steinchen nach dem andern ſeine Stirn pro-
Lbirte.
[162] birte. Dieſer Steinwurf ward ihm eigen.
Jung gewohnt, alt gethan. Die Gewohn-
heit iſt die andre Natur, haͤtt ich bald geſagt;
allein in Wahrheit nicht die andre, ſondern
die erſte, die eigentliche, die Natur ſelbſt.
Unſer Selige ſtudirte Leben- und nicht Schul-
weisheit,
von der er immer der Nachfrage
halber eine Kiſte erhandeln koͤnnen! Freylich,
ſagt’ er, haͤtt’ ich, und es thut mir oft leid,
daß ichs nicht habe; allein wenn es mir wieder
einfaͤllt, daß all die Raritaͤten ſo ſehr der
Mode unterworfen ſind, als es kein Kopfputz
meiner Frauen iſt, warum ſolt’ ich? — Wahr-
lich! Gelehrſamkeit iſt Weiberkopfputz; der
erſte unter den Gelehrten geht friſirt! —
Pfuy! da ehr mir Gott mein eigen Haar,
wenns gleich nicht kraus iſt, wie die gute Pa-
ſtorin es gerne ſieht. Nicht war er in ſich
ſelbſt verliebt; iſt denn das die Natur? Laͤßt
ſie nicht die Kunſt in ihre geheimſten Zimmer
— Hilft ihr nicht die galante Kunſt beym
Anziehen, bald haͤtt’ ich geſagt, reicht ſie ihr
nicht oft das Hemde; allein iſt ſie darum eine
Buhlſchweſter? Mit nichten.


Alles, was Herr v. G — aus der zweyten
und dritten Hand hatte, war ihm nur in ſo
weit theur und werth, als ein gutes Stuͤck
Natur
[163] Natur drunter war. So konnte er ſich uͤber
Naif und Laune nicht zufrieden geben, ob-
gleich dieſe ganze Lehre viel Kopfputz enthaͤlt!
Ich habe die Schule durchgelaufen, pflegt’
er zu ſagen, ſpornſtreichs, ſetzt’ er hinzu.
Was thuts! Er hatte mehr beym Fenſterein-
werfen und beym Staͤndchen, bey einer Pro-
feſſor-Cour, und was weis ich wo mehr, ge-
lernt, als hundert ſeiner Geſellen in den Col-
legiis, die ſich aͤrgerten, wennn jemand dem
natuͤrlichen Wink ſeiner Naſe folgte, und ſie
mit dem Schnupftuch in der Hand ſtoͤrte.
Da ſeh’ ich noch ſo manchen Nachſchreiber
lebhaft, der gern dem guten Paſtor nachge-
fragt haͤtte: Wer grunzet in der Gemeine?
wenn dies Milchknaͤbchen nicht befuͤrchten muͤſ-
ſen, es wuͤrde ihn ein Spiesgeſelle angewie-
ſen haben, ſeine weiſe Naſe ins Heft zu
ſtecken —


Herr v. G — behauptete, Gelehrſamkeit
ſey nur um nachzuſchlagen, und wenn man
ein ſo gutes Lexicon in der Naͤhe haͤtte, wie
mein Vater; ſo waͤre nichts uͤberfluͤßiger, als
ſich den Kopf mit Worten zu uͤberladen, oder
mit der Schale zu ſchoͤpfen!


Es giebt Schrift- und Redgelehrte, So-
krate und Platone, ſo wie es gehende und
L 2ſitzen-
[164] ſitzende giebt. Ich mag deren keines. Zum
Erfinden, ſagt der Paſtor, gehoͤrt Einfalt,
kindiſche Einfalt! Selten iſt ein Erfinder ein
Gelehrter — Wenn ich doch ja was ſeyn ſolte,
wolte ich ein Erfinder ſeyn. Da giebts frey-
lich Profeſſores, die ſich auf ein Difinitionchen
ſo viel einbilden, als auf eine eingenommene
Feſtung mit Sturm oder Liſt! die Thoren!
Was hilfts in ſchoͤnem Porcellain jaͤmmer-
liche Koſt, ohne Geruch und ohne Geſchmack?
Was im cryſtallenen Pocal verſchaalter Wein?
— Ein Definitionskraͤmer wird wahrlich kein
Newton werden, obgleich auch dieſer uͤber die
Offenbahrung Johannis ſchrieb.


Herr v. G — las blutwenig! Wenn ich
ein Buch leſe, ſagt’ er, laſſen mich meine
Gedanken nicht zum Wort kommen! Boͤſe
Geſellſchaften verderben gute Sitten. Die
Natur wolt ihn nicht verfuͤhren laſſen! die
gute Mutter Natur! Bald haͤtt ich geſchrie-
ben, die gute Frau v. W — ich habe mir im-
mer eingebildet, ſo wuͤrde die Natur ausſe-
hen, wenn ſie Menſchenkindern zu Ehren ſich
in unſre Geſtalt verlieben ſolte. Sie wird es
nicht.


Las Herr v. G — ja etwas, ſo mußt es
leſerlich geſchrieben ſeyn. Der Autor mußte,
wie
[165] wie er ſagte, ihn nicht breitſchlagen oder zum
beſten haben wollen. Mein Vater hatte ihm
einige Stellen aus den Alten verdeutſchet, und
Herr v. G — war ſo guͤtig, ſie ein Brennglas
zu nennen, wodurch wir die Sonne an die
Pfeife zoͤgen. Er liebte nicht, mit Schrift-
ſtellern umzugehen. Die ſich friſch und ge-
ſund leſen laſſen, ſagte er, ſind, wie ich gehoͤrt
habe, ſtockſtill in Geſellſchaft — Man ſage
ein Hephata nach dem andern, die Zunge wird
nicht los. Herr v. G — ſelbſt war, ehe er
ſchrieb, noch ſchwieriger, wie mein Vater,
hatt’ er indeſſen die Feder einmahl ergriffen;
giengs, ſeinem eigenen Ausdruck zu folge,
wie aus der Piſtole. Er ſtrich ſo wenig, wie
meine Mutter, und nie hatt’ er ein Blatt zer-
riſſen, um es beſſer zu ſchreiben. Warum
ſoll ich mich mit mir ſelbſt ſchlagen? warum
mich ſelbſt herausfordern? Ich bin ſehr fuͤr
den Hausfrieden, das iſt, fuͤr den mit mir
ſelbſt. Nie macht’ er ein Couvert. Am lieb-
ſten ſchrieb er auf unbeſchnittenem Papier.
Gemeinhin ſchrieb er mit umgekehrter Feder.
Kehrt man denn nicht, ſagt’ er, den Hut um,
wenn die Sonne ſcheint? Die Urſache war,
weil er nicht gern Federn ſchneiden mochte,
und da meynt’ ers denn ſo ehrlich mit jeder
L 3neuen
[166] neuen Feder, daß ſie bald unbrauchbar ward.
Herrmann ſchnitt ihm zuweilen Federn; allein
gemeinhin waren ſie ihm zu ſpitzig.


Plane, pflegte er zu ſagen, kann man er-
zaͤhlen. Ausfuͤhrungen reden von ſich ſelbſt.


Nie zog er ſeine Stiefeln um, wie andere
ehrliche Leute. Schue hat er ſo wenig getra-
gen, wie der Koͤnig von Preußen.


Das Brod ſchnitt er ſehr gerade. Schade!
pflegt er zu ſagen, daß es geſchnitten wer-
den muß! Was nur moͤglich war, aß er ohne
Gabel und Meſſer. Hatte er zuweilen eine
Mahlzeit, die er durchweg ohne dergleichen
Mordgewehr, wie ers nannte, vollbringen
konnte, ſo war ſein Gratias an Gott deſto
inbruͤnſtiger.


Er war hitzig! da moͤcht’ ich, ſagte er
ſelbſt, gleich das Haus zum Fenſter heraus-
werfen; allein wenn ich naͤher komme, ſeh’
ich, daß das Fenſter zu klein iſt!


Die Feder gilt nichts, wenn ſie zertreten
iſt, war ſein Spruͤchwort; warum er dies
Spruͤchwort eben von der Feder entlehnt,
weis ich ſelbſt nicht.


Jeden ſeiner Herren Bruͤder hielt er drey
Schritte vom Leibe. Nie lies er ſich zu nahe
kommen; allein auch er kam keinem zu nahe.


Mit
[167]

Mit dem Kuͤnſtler, Meiſter Herrmann,
ſprach er wie Naturmann. Er fragte ſich nie:
was werden andere Leute ſagen; allein er leb-
te wahrlich ſo, daß niemand von ihm auch
nicht einſt etwas Boͤſes denken konnte, dar-
auf, fuͤgte er hinzu, muß man es anlegen.
Der Schmaͤhſucht entgeht niemand. Selten
wird ein Mann ſeyn, der ſo gleichguͤltig gegen
das Urtel anderer iſt, als er war. Um von
gewiſſen Leuten nicht gelobt zu werden, haͤtt’
er ſo gar etwas thun koͤnnen, das er ſonſt
nicht wuͤrde gethan haben!


Es giebt Krippenreiter in Curland, die es
recht gefliſſentlich dazu anzulegen, ihre Bruͤ-
der in Verſuchung zu fuͤhren, ihnen auf die
Zaͤhne zu fuͤhlen; indeſſen nur alsdann, wenn
die Zaͤhne los ſind, ſtoßen ſie ſie ihnen aus.
Da hatte einer eine Ohrfeige erhalten und
nichts dagegen vorgenommen, als gefragt:
wie er dieſe Zweydeutigkeit verſtehen ſollte?
Das war ſehr natuͤrlich unſerm v. G — ein
Stachel im Auge! der Thor! ſagt’ er. Sieh
den andern, der dich anſieht, wieder an, und
ſein Auge ſinkt. Ziele nur, der andre wird
wanken, wenn er Herz hat, und ſich zuruͤck-
ziehen, wenn er keines hat. Umgekehrt, ſo
wird ein Vers draus. Auf den Hohn: das
L 4Pul-
[168] Pulver ſcheint der Herr Bruder nicht erfun-
den zu haben, gleich den Trumpf: aber zu ge-
brauchen weiß ichs! Ich wette drauf, der
Pulvererfinder wird ſich in beſter Ordnung
zuruͤckziehen —


Herr v. G —, der ſtandhafte Mann,
blieb indeſſen gefaͤllig. Seine Lieblings-
thiere waren Huͤner, und nur nach ihnen
folgten Hunde! Er uͤberrumpelte niemanden.
Jeden lies er zum Wort und beym Worte —
Keine Diſſonanz in ſeinem Umgange. Er
war immer geſtimmt — immer heiter —


In ſeinen Zimmern war ein eigener Ge-
ſchmack, kein fournirter Tiſch, keine Falſch-
heit — Keine Weſte, wo hinten Leinwand
war, waͤre ſie auch von Gold und Silber-
ſtuͤck geweſen, iſt je an ſeinen Leib kommen.
Von allem, was ihm gefiel, ſagt’ er, es
ſchmecke ihm: So ſchmeckte ihm ein Zimmer,
dieſer oder jener Freund — Er behauptete,
auch Ein Zimmer habe ſeine Phyſiognomie,
und aus der Schlafſtube, oder vielmehr aus
einer ſolchen, wo kein Fremder ſo leicht einen
Zutritt hat, muͤßte man den Hausherrn be-
urtheilen.


Vom Trinken machte er mehr, als vom
Eſſen. Kalt aß und trank er am liebſten.


Das
[169]

Das natuͤrlichſte, pflegt’ er zu ſagen, iſt,
wie Diogenes zu eſſen, wenn man Hunger
hat, ohne ſich an Morgen und Abend zu
binden. Geſuͤnder wuͤrde man dabey ſeyn,
auch aͤlter werden; allein wir wuͤrden mehr
einbuͤſſen, als gewinnen. Das Eſſen und
Trinken mit Wohlgefallen, weg waͤr’ es.
Loͤffel ſind im Hoſpital erfunden. Alle fluͤſ-
ſige Sachen ſchwaͤchen — Fuͤr Kinder Milch,
fuͤr Maͤnner Kaͤſe —


An ſeine Gemahlin war er gekommen,
wie man an vieles kommt. Sie ſoll auſſer
der Weiſe ſchoͤn geweſen ſeyn — Wieder
Natur am Herrn v. G — Des darf ich
bitten wegen,
hatt’ er ſie geheyrathet, ſagte
Herr v. G —, da er in — zu Tiſche bat.
Sie konnte, wenn ſie wollte, allerliebſt ſeyn,
und gutherzig ſcheinen. Iſt man es wuͤrk-
lich, wenn man ſo ſtolz, wie die Frau v. G —
iſt? Unſer Freund hatte die beſte Ehe von der
Welt. Wenns zu arg kam, ſagt’ er Punk-
tum,
und die gnaͤdige Frau gieng ſehr freund-
lich ab, wovon wir alle einer Probe beyge-
wohnt haben. Von Ihm, und nicht von
Ihr, hieng es ab, ob man in ſeinem Hauſe,
wie Herr oder Monſieur begegnet werden
ſollte? — Seine Liebkoſungen waren immer
L 5mit
[170] mit Ungeſtuͤm. Frau v. G — befuͤrchtete
zuweilen, daß es ihr wie den ruſſiſchen Wei-
bern, wiewohl ohn ihr Zuthun, gehen wuͤrde,
die aus Liebe von ihren Maͤnnern geſchlagen
werden. Wo Herr v. G — gekuͤßt hatte,
war gewiß ein rother Fleck.


Sie pflegte von ihrem Mann, den ſie im
Herzen ſehr hoch hielt, zu ſagen: Er haͤtte
Einfaͤlle, wie ein altes Haus, und wahrlich
er hatte Einfaͤlle; nicht wie der lebendig todte
Herrmann, an dem man immer den Boks-
fuß ſahe, ſondern wie ein Mann, der alles
gern beym rechten Namen nennet. Er hat
zwar,
ſagt’ er, von einem alten Geiſt-
lichen, der ſich ſehr viel zu gut that, ei-
nen kahlen Kopf, wie Eliſa; al-
lein den Mantel hat er nicht von
Elias geerbt
.
Paſtor! ſagte er zu ei-
nem andern Seelſorger, ſie ſchlagen mit Mo-
ſes um die Wette. Jener auf den Fels; ſie
auf die Kanzel. Hier und dort kommt Waſ-
ſer. Man hielt ihn fuͤr einen Feind der Geiſt-
lichen, und die Wahrheit zu ſagen, ſeine
alten Hauseinfaͤlle trafen dieſe Her-
ren am meiſten. Dies war vielleicht eine
geheime Urſache, warum mein Vater ſich zehn
Jahre von ihm entfernte.


Mein
[171]

Mein Vater hatte ihm ſeiner Hitze hal-
ber im Scherze angerathen, ich, du, er,
wir, ihr, ſie,
zu ſagen, ſo wie er ſich ſelbſt
vorgenommen hatte panis, piſcis, crinis,
ignis, finis, glis,
in dergleichen Faͤllen zu brau-
chen; allein Herr v. G — konnte ſich nicht
ohne den Teufel behelfen. Es luͤftet das
Herz, ſo wie eine Priſe aͤchter Curlaͤnder, die
Naſe. Sein Argos hies Satan. So wie
meine Mutter kein i um ſeinen Punkt betrog,
ſo ſagte Herr v. G — nie daß dich! So
was, fuͤgt er laͤchelnd hinzu, heißt den Teu-
fel betruͤgen! —


Er balbirte ſich ſo, wie mein Vater, mit
kaltem Waſſer, oft mit Schnee, um etwas
Seifaͤhnliches zu brauchen. Wer warmes
Waſſer an ſeinen Leib kommen laͤßt, iſt aus
Furcht des Todes ein elender Knecht ſeines
Lebens. Herr v. G — war viel zu ſehr ein
freyer Curlaͤnder, um beym Leben in Dienſt
zu treten.


Herr v. G — hatte ſein Lebtage keine ge-
wiſſe Eßſtunde. Wenn gleich er leider! Mit-
tag und Abend hielt; ſo wollt’ er wenigſtens
ſich doch nicht auf Stunden einſchraͤnken laſ-
ſen. Hierinn mindeſtens wollt’ er frey ſeyn,
wenn
[172] wenn es nicht vollſtaͤndiger angehen koͤnnte.
Dergleichen Regeln, und faſt alle, pflegt’ er
zu ſagen, ſind der Gemaͤchlichkeit wegen da.
Wer Verſtand und Willen hat braucht keine
dergleichen Kinder-Regel. Grundfalſch war
nie etwas, das er behauptete. Er hatte ei-
nen ſo treffenden Blick in Seel und Leib, daß
man glauben mußte, es waͤre alles Regel-
recht, was er ſagte. Es war, wie wir wiſ-
ſen, ein Wurzelmann. Die Frau Gemah-
linn, die bey ihrem hohen Sinn nicht alle-
mahl einen hohen Ausdruck hatte, pflegte
dies zu uͤberſetzen: er merke Maͤuſe. Je-
der Menſch hat ſeine Manier, ſeine Natur
im Sprechen. Herr v. G — beſaß, wenn
gleich nicht den treffenden Ausdruck meines
Vaters; ſo doch einen wohlgemennten, ei-
nen verſtaͤndlichen. Gnad dem Gott, wer
ihm mit Punkten und Clauſeln kam, die man
ſo und anders nehmen konnte. So was
mochte er verſaͤufen im Meer, wo es am
tiefſten iſt. Auf die Juriſten war er uͤbel zu
ſprechen. Die beſten, behauptet’ er, bemuͤ-
heten ſich dem Kind einen Namen zu geben.
Der Namen iſt ein Zaun, ein Schranken,
bis dahin und weiter nicht. Gott hat keinen
Namen.


Das
[173]

Das natuͤrlichſte, was noch in der Welt
iſt, ſagte Herr v. G —, iſt der Schlaf und
Waſſer. In Ruͤckſicht des Wachens und Eſ-
ſens ſind ſo viel Verſtuͤmlungen vorgefallen,
daß die eigentliche Natur zu finden ein Raͤth-
ſel iſt. Der Schlaf, in ſo weit die Traͤume
von des Tages Laſt und Hitze abhaͤngen, iſt
auch ſchon verfaͤlſcht, wenn mans genau
nimmt. Waſſer alſo, iſt allein aus dem Pa-
radieſe uͤbrig geblieben. Waſſer iſt das ein-
zige unter allem Fluͤſſigen, was reinigt, ſetzt’
er hinzu. —


Die vier Elemente, Feuer, Luft, Waſſer,
Erde, nannte er die vier Tenrperamente der
Natur! — die fuͤnf Sinnen, die Poſtſtraßen
zur Seele; ein Liebhaber der fuͤnften Zahl
hat darum fuͤnf angenommen. Mag ſeyn
nach Anzahl der fuͤnf Finger — —


Unſere Sinne ſind nicht gleiches Ur-
ſprungs. Einige haben ihre Privilegia er-
ſchlichen. Geruch und Geſchmack ſind ge-
kaufte Titel. Kein Kind hat Geruch und Ge-
ſchmack — Freylich lernt es auch ſehen; al-
lein dieſe Lehre bekommt es aus der erſten
Hand. Durch wie viel Haͤnde erhalten wir
dagegen Geruch und Geſchmack! — —
Kann
[174] Kann es je heiſſen: Gott hat den Menſchen
aufrichtig gemacht, aber ſie ſuchen viele
Kuͤnſte; ſo hier —


Das Herz war das Geſetz unſeres theu-
ren v. G — und wahrlich ein treflicher
Geſetzgeber, wenn es wie das v. G — ſche
iſt!


Empfindſamkeit, pflegt’ er zu ſagen,
ſchuͤtzt vor Zuͤgelloſigkeit; allein was iſt beſ-
ſer, zuͤgellos oder weibiſch? —


Er glaubte, daß es Hand, Mund und
Herzensworte gebe. Die Augen ſind filiale,
pflegte er zu ſagen, vom Herzen; die Fuͤße
von den Haͤnden; der Mund hat keinen ſo
nahen Bundesgenoſſen —


So bald uͤber Natur die Rede gieng, war
er unuͤberwindlich; in der Kunſt war er gern
Schuͤler! Selbſt im Wortwechſel uͤber-
rumpelte er keinen. Seinen Grundſaͤtzen
war er treu, wie Gold. Er war kein Praͤ-
varicator, kein zweer Herren Diener.


Die Hauptſache, woruͤber mein Vater
und der Herr v. G — uneins geworden, wa-
ren freylich die drey Artikel des chriſtlichen
Glaubens; indeſſen ſtand der monarchiſche
Staat
[175] Staat hiemit in Verbindung, ohne an man-
che geheime Urſache zu denken, die nie aus-
bleibt. Herr v. G — glaubte, die chriſtliche
Religion und die monarchiſche Regierungs-
form arbeiteten ſich in die Hand, und mochte
ihn wohl der Umſtand, daß mein Vater bey-
des, Chriſt- und Monarchenfreund war, zu
dieſen Gedanken gebracht haben. Ueberhaupt
paarte er zuweilen Dinge, die, wenn man
es genau erwog, wuͤrklich ein Herz und eine
Seele waren, wenn gleich niemand ſie dafuͤr
gehalten. Ob nun zwar die chriſtliche Reli-
gion dem Kayſer was des Kayſers iſt und
Gotte was Gottes iſt zu geben, anordnet;
ſo iſt ſie doch ſo wenig fuͤr die Monarchie,
daß ſie vielmehr das Reich Gottes einfuͤhren
will. — —


Laßt euch mit den Menſchen ein, ſagte
Herr v. G — Sie klagen immer; woher
kommts? warum die Klagen uͤber ſchwere
Zeiten? die, ſeitdem der Cherub mit dem gezo-
genen Schwerte vor der Thuͤre des Paradie-
ſes auf die Wache gezogen, entſtanden? Weil
der Menſch ſich frey fuͤhlt, und es nicht iſt —
Recht! ſagte mein Vater! Gottes Reich iſt
noch nicht kommen. Der Monarch iſt Einer!
Er traͤgt Gottes Bild in dieſem beſondern
Sinn,
[176] Sinn, und iſt mehr, als in Einer Ruͤckſicht,
wenn er will, im Stande, ſein Volk dem Rei-
che Gottes naͤher zu bringen. Wenn er will,
ſagte Herr v. G —, wird er aber wollen?
wird er Gott dem Herrn ſeinen Stuhl abtre-
ten und ſeyn wie Unſer einer? — — —


Wir ſollten immer einfacher werden, und
uns in den Stand ſetzen, wenig zu brauchen:
dadurch wuͤrden wir der Haͤrte unſerer Obern
trotzen, gegen Mein und Dein gleichguͤltiger
werden und allmaͤhlig zum Reiche Gottes
kommen, welches nicht beſtehet in Eſſen und
Trinken, ſondern in Liebe —


In dem Geſetz: was du nicht wilſt, daß
dir andere thun, thu’ ihnen auch nicht, liegt
das ganze Criminal- und der groͤßte Theil
des buͤrgerlichen Rechts. Gott ehr mir un-
ſere curſchen Geſetztafeln! Sie ſind ziemlich
im Kurzen! allein die Huͤlfsvoͤlker! daß ſich
Gott erbarm! wahrlich auch hier ſollte das
Reich Gottes naͤher kommen, und der Menſch
ſich aufs Einfache zuruͤckſtimmen; denn in
Wahrheit! uͤberall iſt nur eins noth! —


Wenns ſo fiel, war alles treflich. So
bald aber Herr v. G — anfieng: er wuͤnſche,
daß heute alle Koͤnige Herzoge von Curland
wuͤr-
[177] wuͤrden, und daß alle Armeen, anſtatt des
Degens, eine Sichel, und ſtatt der Flinte,
einen Spaten zur Hand nehmen moͤchten; ſo
fragte mein Vater heute? und wenn Herr
v. G — beym heute blieb, und es ſich nicht
ausreden laßen wollte; ſo war Feur in den
Daͤchern. Wer hat etwas groͤßeres geſagt,
als jener Primas: Dem Koͤnige iſt die
Krone nicht an dem Kopf gewachſen,

fieng der Herr v. G. an, und mein Vater bat
den Herrn v. G — Pohlen in Augenſchein zu
nehmen, und zu bedenken, was Pohlen ſey,
und was es, aller Wahrſcheinlichkeit nach,
werden wuͤrde. Mag! iſt doch Freyheit da.
Kann doch hier jeder Edelmann dem Regen-
ten ins Geſicht ſagen, der Bucephalus lies
zwar den Alexander aufſitzen; allein ohne
Zaum, den litt Bucephalus nicht! Wenn
ich Edelmann waͤre, erwiederte mein Vater,
ich weiß nicht, ob ich gern Bucephalus heiſ-
ſen wuͤrde. Nicht? ſagte Herr v. G —, und
doch war Bucephalus ein Curlaͤnder —
Bey weitem nicht, erwiederte mein Va-
ter — —


Mein Vater war ein Bienenfreund und
Herr v. G — trieb ſeine Monarchenfeindſe-
ligkeit ſo weit, daß er ſo gar keine Bienen
Mhielt,
[178] hielt, weil ſie einen monarchiſchen Staat
machten; dagegen liebte er Ameiſen, von de-
nen er behauptete, daß ſie in der Freyheit
lebten. Iſt denn der Honig nicht ſuͤß, ſagte
mein Vater? Koſtet er denn nicht den beſten
Saft den Blumen, erwiederte Herr v. G —?
Iſt es nicht geſammleter Zoll und Arciſe, und
wird nicht Zoll und Acciſe noch oben ein mit
einem widerlichen Geſumſe genommen? Mich
duͤnkt immer, ich hoͤre die Bienen ſumſen:
Wir von Gottes Gnaden. Freylich iſt die
Biene militaͤriſch, hat ihr Schwert bey ſich,
ſticht — allein wenn ſie geſtochen, wenn ſie
Krieg gefuͤhrt hat, iſt ſie auch ſo matt und
elend — Und wenn uns die Ameiſen be-
kriechen?
fiel mein Vater ein, ſo ſchuͤttelt
man ſie ab — Die haͤßlichen Thiere
Sind Curlaͤnder, ſagte Herr v. G — koͤnnte
ſeyn,
mein Vater.


Staat iſt ein ſo nothdringliches Mittel,
den Menſchen gluͤcklich zu machen, daß man
ohne dies Mittel zu keinem Zweck kommen
kann. Alles fuͤhrt zum Staate, untere und
obere Seelenkraͤfte. Seele und Leib, Be-
duͤrfnis und Leidenſchaft, Hoſpital und
Schauſpielhaus. Die buͤrgerliche Geſellſchaft
iſt auch eben darum ſo gar fuͤr Naturzweck
von
[179] von etlichen gehalten. Staat iſt freylich
Kunſt; allein dieſe Kunſt beſtehet aus zuſam-
geſetzter Natur — und muß denn der Staat
eben Monarchie ſeyn?


Iſt nicht nur ein Gott? und wird nicht
eher lieber Ein Gott der Erden dem Original
weichen, ſo bald das Volk ſich ans Unſichtba-
re gewoͤhnen lernt, als an ſo viele Goͤtter!


Doch! warum in ſpitzfindigen Reden und
Antworten, ich will verſuchen, meinen Vater
in Eins zu bringen, und was Stuͤckweiſe uͤber
den monarchiſchen Staat vorfiel, in ein Aus-
bund vom Ganzen zu ziehen.


In der Vernunft, womit der Menſch aus-
geſtattet iſt, liegt Freyheit und Regel. Der
Menſch iſt frey, das heißt: der Menſch kann
thun und laſſen, kann wollen. Der Menſch
iſt an eine Regel gebunden, das heißt: ſeine
Willkuͤhre haͤngen vom Geſetz ab. Er hat
Verſtand. Verſtand und Willen zuſammen-
genommen koͤnnte man die Vernunft heißen.
Alle die Unterſchiede, welche die Philoſophen
und Juriſten (ehemals Nachbarn, jetzt faſt
voͤllig aus der Gemeinſchaft geſetzt) unter Ge-
ſetzen machen, koͤnnen ſehr einfach werden,
wenn nur nicht das leichteſte in der Welt dem
Menſchen ſo uͤberſchwenglich ſchwer wuͤrde.
M 2Es
[180] Es giebt eigentlich nur Naturgeſetze, oder
ſolche, welche aus der menſchlichen Natur faß-
lich ſind. Zwar haben auch Geſellſchaften,
Voͤlker, Staaten Geſetze, die außer dieſer
Grenze zu liegen ſcheinen; allein wenn dieſe
Geſetze anders, als aus der Natur des Men-
ſchen erklaͤret werden, ſo ſind es nicht Geſetze,
ſondern Unmenſchlichkeiten. Es ſind Land-
plagen, aͤrger als Froͤſche, Heuſchrecken, und
auch aͤrger als, wenn die menſchliche Erſtge-
burt unter die Soldaten genommen wird, fiel
Herr v. G — bey dieſer Gelegenheit ein.


Mein Vater hielt ein wenig an, und fuhr
fort, ohne zu antworten: Der Menſch iſt ein
geſelliges Thier, es iſt nicht gut, daß er allein
ſey. Die Menſchen werden nur Menſchen,
und koͤnnen ſich als Menſchen zeigen, wenn
ſie in Geſellſchaft treten. „Einer iſt keiner.
Ein Menſch iſt kein Menſch
“ wuͤrde meine
Frau ſagen; Ein Menſch aber iſt kein guter
Menſch. Nicht der Muͤßiggang, ſondern die
Einſamkeit iſt die Mutter alles Boͤſen. Es
iſt indeſſen Grund und Folge; allein ſeyn und
muͤßig ſeyn, iſt ziemlich einerley. Große Er-
findungen ſelbſt ſind in Geſellſchaft gemacht;
alle Kuͤnſteley in der Einſamkeit. Gott allein
iſt Einer. Hier gilt nicht, Eins iſt keins.
Der
[181] Der Verſtand und der Wille eines einzelnen
Menſchen ſcheinen nicht zuzureichen, ein voll-
ſtaͤndiges menſchliches Seyn auszudruͤcken.
Der Pluralis vom Verſtand und Willen iſt er-
forderlich, wenn der Menſch was auszurich-
ten im Stande ſeyn ſoll. Der Staat iſt der
Menſch im Plurali. Im Plurali indeſſen
gilt aber das, was im Singulari gilt. Der
Staat iſt der vollkommenſte, der die meiſten
Menſchen hat, die wie Einer ſcheinen. Je
volkreicher Ein Land iſt, je mehr ſcheint es
ſich dieſer Probe eines wohleingerichteten
Staats zu naͤhern. In Staaten, hab ich
geſagt, muͤſſen auch die Geſetze aus der Natur
erklaͤrt werden, fals ſie nicht egyptiſche Pla-
gen ſeyn ſollen, und wenn ich hinzufuͤge, daß
es Natur aus der erſten, und Natur aus der
zweyten Hand gebe; ſo hab ich mich naͤher
beſtimmt. Im Naturſtande, wo ſich der
Menſch ganz allein denkt, im Paradieſe, iſt er
zwar ein Gott der Erde; allein ſo lang er ſo
denkt, wie Adam und die zeitigen Adamskin-
der, wird er gewis vom verbotenen Baum
eſſen, und bey der Muͤhe und Arbeit und dem
Schweiß ſeines Angeſichts, mit dem er ſein
Brod ißt, ſich weniger bedauren, als in der
Einſamkeit, wo der Muͤßiggang ihm eigen iſt:
M 3wo
[182] wo er vielleicht laͤnger lebt, und ohne vielen
Schmerz einſchlummert, wo indeſſen gegen
eine einzige Stunde jetziges Leben Tage und
Wochen dieſer Einſamkeit wie gar nichts ſind.
Was iſt ihm ſolch ein Baum des Lebens? Er
lebt hier auch im Singulari. Im Staate
lebt der Menſch im Plurali. Zwar kann man
ſich einen Stand der Natur denken, und der
erſte bekannte Schriftſteller entwirft uns ein
Bild im paradieſiſchen Adam von dem Natur-
ſtande, ſo wie der Stifter der chriſtlichen Re-
ligion, der zweyte Adam, ein Urbild des voll-
kommenſten Menſchen im Staat iſt.


Wenn Feinde ſeines Namens behaupten
wollen, Chriſtus habe ein weltliches Reich
ſtiften wollen; ſo iſts aus zwey Drittel Ur-
ſachen eher unglaublich, als glaublich; allein
geſetzt er wolt’ es; ſo war es blos, um die
Menſchen auf dieſem Wege zu dem Ende des
Vater unſers, zu dem zu bringen, deſſen al-
lein das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit
iſt! dahin gieng er auf dieſer Welt! und wenn
die Menſchen ſo ſtockblind waren, daß ſie das
Licht nicht ſehen, das er ihnen anzuͤnden wol-
te, wenn er in ſein Eigenthum kam, und die
Seinen ihn nicht aufnahmen; ſo lies er uns
wenigſtens ein Vorbild, nachzufolgen ſeinen
Fuß-
[183] Fußſtapfen. Es giebt eine doppelte Theokra-
tie, die eine wuͤrde koͤrperlich, die andere gei-
ſtiſch zu nehmen ſeyn. Was iſt glaublicher,
als daß die Menſchen uͤber kurz oder lang zu
allgemeinen Weltgeſetzen kommen werden, wo
jedem Staat ſein beſcheiden Theil angewieſen
iſt, und wo, wenn der eine weiter gehen will,
er alle uͤbrige vereinigte Staaten wider ſich
hat. Dies verbeſſerte Voͤlkerrecht, moͤcht’ es
doch bald kommen! Wie weit naͤher waͤren
wir alsdenn ſchon dem Ende des Vater un-
ſers, als jetzo! Man koͤnnte von dieſer koͤr-
perlichen Theokratie von dieſer Welt Regie-
rungsform ſagen: es iſt eine Heerde und ein
Hirte; allein auch ſelbſt alsdenn iſt noch alles
leiblich! Geiſtlich wird es ſeyn, wenn wir
ſelbſt dieſe allgemeine Weltgeſetze nicht mehr
brauchen, wenn der goͤttliche Codex eintritt,
wenn der Glaube an Gott ſchon alles in al-
lem iſt! — Um ſich die Sache noch begreifli-
cher zu machen, kann man den Redegebrauch
der Theologen beybehalten. So wie die Welt
jezt iſt, koͤnnte man ſie das Reich der All-
macht nennen. Das Reich der Gnaden waͤre
die koͤrperliche Theokratie, wenn die Menſchen
anfiengen allgemeine Weltgeſetze zu machen,
wohin es gewiß kommen muͤßte, wenn der ge-
M 4meine
[184] meine Mann zu mehrern Kenntniſſen kaͤme,
als er jezt hat. Das Reich der Herrlichkeit
waͤre jenes Reich der Moͤglichkeit, wo wir al-
les um Gottes willen thaͤten! — wo! —


War es Wunder, um wieder auf den er-
ſten Adam zu kommen, war es Wunder, daß
die Natur ihm ſowohl anſtand? Adam kam
aus den Haͤnden des Schoͤpfers. Er war die
Bluͤthe des Naturſtandes. Zu Fruͤchten kam
es mit ihm nicht. Er fiel als Bluͤthe ab.
Schade! Er war allein und durfte ſich vor
keinem fuͤrchten, und konnte jede Creatur
durch Vernunft beherrſchen.


Man kann ſich einzelne Menſchen denken
ohne Geſetze, ohne Zaͤune, wie Goͤtter auf
Erden unter einander herumwandeln. Die
Welt iſt groß fuͤr alle. Niemand darf dem
andern vorbauen, zu ſolch einem Stande hat
Gott den Menſchen angelegt; allein dem
Menſchen fiel das Mein und Dein ein, wovon
er erſt nicht wußte, jezt wird ſein Stand ein
wahrer Stand der Suͤnden, wiſſentlicher und
unwiſſentlicher Schwachheits- und Bosheits-
ſuͤnden. Dieſe Erde, dieſe Menſchenwelt,
das leugnet niemand, iſt jezt noch in der Kind-
heit, hie und da ein Kopf. Eine Schwalbe
aber macht keinen Sommer. Ich kann mir
aber
[185] aber denken, daß der Menſch wieder zuruͤck-
kommen werde, und zwar aus Grundſaͤtzen
zuruͤckkommen werde, wo er ausgieng, daß
zuletzt wieder die Welt ein Paradies ſeyn und
jeder Mann, Adam, und jedes Weib ſeine
Ribbe ſeyn werde. Das tauſendjaͤhrige
Reich, wovon ſo viele traͤumen, liegt ſehr
verworren in dieſem Gedanken, ſehr verwor-
ren! kein Stein auf dem andern. Meine
Beruhigung iſt, daß alles, was moͤglich iſt,
auch wuͤrklich ſey oder werde. Warum waͤr’
es ſonſt moͤglich? Die Gelehrten haben ſich
oft geſtritten, ob der Menſch geſellig, oder
ungeſellig ſey? So oft die Gelehrten ſich
gleich vergebens geſtritten; ſo iſt doch dieſe
Frage keine vergebliche. Jeder Menſch ſucht
ſelbſt im Staat ſich zu befreyen. Es iſt ſeine
Herzensluſt, wenn er ſich nur einigermaaßen
in Freyheit ſetzen kann. Jeder kluge Geſetz-
geber muß gewiſſe Faͤlle dem Menſchen an-
heimſtellen, wo er frey ſeyn kann; ſonſt wuͤrde
er zuverlaͤßig auch den menſchenfreundlichſten
Landesherrn Tyrann heißen, und ſich ſein Joch
abſchuͤtteln, ſo ſanft, ſo wohlmeynend es iſt.
Dagegen wuͤrde der Menſch den groͤßten Ty-
rannen ertragen, wenn er ihm nur hie und da
im freyen ließe. Monarchen, die Religions-
M 5frey-
[186] freyheit einfuͤhren, koͤnnen immer Zoll und
Acciſe hoͤher ſtellen. Der Geitz, der Samm-
lungstrieb, gehoͤrt auf dieſe Rechnung. Man
iſt ein Sclave, um einſt frey zu werden. Man
dient als Soldat, um nicht als Buͤrger zu ge-
horchen. Man iſt Ehemann, man iſt ein
Sclave, um zu glauben, man ſey frey.
Selbſt dieſer ſo ausgeartete Trieb fuͤhrt, oder
koͤnnte uns auf den Punkt fuͤhren, den Chri-
ſtus angab. Er ſey bey uns alle Tage bis an
der Welt Ende! zu einer Theokratie, wo jeder
dem andern laͤßt, was er hat, wo im erha-
benſten Sinn jeder fuͤr ſich und Gott fuͤr uns
alle iſt. Wo wir nicht meſſen und waͤgen,
wo alles in den Tag hinein lebt — Dieſe guͤl-
dene Zeit, dieſes mannbare Weltalter, wenn
wird es kommen? Wenn die leibliche Theo-
kratie, wenn die Geiſtliche? das Reich der
Gnaden und der Herrlichkeit? Amen! Komm,
du ſchoͤne Freudenkrone! ſingt meine Frau! —


Dies iſt das Paradies aus Grundſaͤtzen,
das ſich der Menſch ſelbſt bauen kann.


Denkt man ſich aber einen verwilderten
Naturmenſchen, der gewis in keinem Para-
dieſe ſeyn wird, wenn es ihm nicht ein ande-
rer gebauet hat; ſo kann er freylich Herr der
Thiere ſeyn; allein wenn er ſeines gleichen
ſieht,
[187] ſieht, denen er die nemliche Vernunft, die
nemliche Quelle zu Zwangsmitteln anſieht;
ſo flieht er. Hobbes hat dem ungeachtet
Recht, wenn er behauptet, daß der natuͤrliche
Menſch den Begrif von Bothmaͤßigkeit und
Herrſchſucht in ſich traͤgt. Herrſchſucht, Ty-
ranney und Furcht, ſind ſich ſo nahe ver-
wandt, als moͤglich. Ein Grad mehr Furcht
am andern zu erblicken, macht den Wilden
nachdenkend. Jener laͤuft, dieſer verfolgt
ihn. Jener verkriecht ſich, dieſer ſpuͤrt ihm
nach. Freylich wenn ſich jener umſehen, nur
umſehen, nur hervorblicken moͤchte, wuͤrde
dieſer umkehren; allein da jener ſich nicht um-
ſieht, da er nicht hervorblickt; ſo wird dieſer
ſein Meiſter. Aus Furcht wird er ihn beherr-
ſchen, damit er ſich nicht mehr vor ihm fuͤrch-
ten duͤrfe. Im wilden Naturſtande muͤßte
man alſo den Herrn blos als ganzen Men-
ſchen, die Unterthanen aber als verſtuͤmmelt,
blind, krumm und lahm ſehen. Mit der Zeit
wuͤrde ſich der Menſch beſſer kennen lernen;
es wuͤrde dem herrſchenden Scharfrichter leid
thun, daß er dieſem die Hand, jenem das
Bein gelaͤhmt, und man wuͤrde ſich in Ver-
bindungen mit einander ſetzen. Wenn ſich
gleich beym Anfange ein Paar warmherzige
begeg-
[188] begegnen, ſolte nicht, ohne den Weg durchs
Hoſpital zu gehen, eine Geſellſchaft zu Stan-
de kommen? — — Der Stand der Natur iſt
ein Stand des Krieges; allein der polizirte
Staat iſt es auch, bis wir zum Stande der
Gnaden, zu allgemeinen Weltgeſetzen kom-
men, welches der Vorhof zum Reiche Gottes
im eigentlichſten Sinn iſt. (Ich habe ſo man-
ches Lobopfer ausgelaſſen, welches bey dieſer Ge-
legenheit dem monarchiſchen Staate gebracht
ward; indeſſen fand auch Herr v. G —, der
Freund und Feind meines Vaters, ſeine Rech-
nung bey dieſer Deduktion,) die Hauptfrage
blieb mir: bringt die Monarchie oder die
Freyheit am naͤchſten zum Reiche, oder wie
Herr v. G — es wolte, zum Stande der
Gnaden? — Im Naturſtande denkt der
Menſch darum nicht an Geſetze, weil er gar
nichts denkt. Sich zu erhalten, ſich fortzu-
pflanzen, das wuͤrde das einzige ſeyn, was
ihm auffallen, und was ihn beſchaͤftigen koͤnnte.
Es liegt alles in uns! Allein dieſer Naͤhe un-
erachtet, wer wuͤrde es finden, wer es nur
ſuchen? Tauſend und abermal tauſend Men-
ſchen im Naturſtande wuͤrden auf keinen
Buchſtab von natuͤrlicher Religion und na-
tuͤrlichem Rechte fallen, wenn nicht die Gott-
heit
[189] heit es ihnen noch naͤher gelegt haͤtte. Die
Gottheit kann ſich Menſchen nicht anders als
durch Menſchen offenbaren, und die bleiben
Menſchen, wenn gleich ſie Gottes Menſchen
ſind, getrieben vom heiligen Geiſt. Niemand
hat Gott je geſehen; erhabene große Men-
ſchen ſendet Gott zu Menſchen, um ihnen zu
ſagen, was ſie gleich alle wiſſen, wenn es ih-
nen nur geſagt wird. Wir ſind alles und
nichts. Das Licht der Vernunft, das in uns
iſt, muß angezuͤndet werden, ſonſt bleiben
wir beſtaͤndig Kinder der Finſternis. Das
natuͤrliche Recht iſt, ſo lange der Menſch
nicht goͤttlich unterrichtet wird, das, was das
roͤmiſche Recht ſehr treffend von ihm ſagt:
was die Natur allen Thieren lehret. Die
Kraͤfte, die der Menſch noch druͤber hat, un-
terſcheiden ihn vom Thier. Selbſt die Ge-
ſellſchaft, die Vereinigung, die die Natur dem
Menſchen ſo ſichtlich beybringt, indem ſeine
Jungen weit ſpaͤter zu ſich ſelbſt kommen,
als andere Jungen, fordert ihn zur Geſell-
ſchaft auf; allein wenn es auf einen Streit
ankaͤme, wuͤrde ich denen eher beytreten, wel-
che glauben, daß ein Ohngefehr die Menſchen
zuſammengebracht, und nicht die Vernunft.
Selbſt jezt regieret wohl die Vernunft im
Gro-
[190] Großen? Sie lebt ſo in bedruͤckter Kirche,
daß man von ihr behaupten koͤnnte, ſie woh-
ne in Hoͤhlen, in Kluͤften, und doch darf man
von ihr nicht fuͤrchten, daß ſie ſo ausarten
wuͤrde, als die chriſtliche Kirche, da ſie ins
Große gieng, ausgeartet iſt. Die Ausartung
der Vernunft waͤre Unvernunft —


Faſt koͤnnte man behaupten, daß die Men-
ſchen, nachdem ſie vielleicht durch ein Unge-
fehr zuſammengebracht waren, auf die Ver-
nunft gekommen, ſo wie man auf etwas
kommt. Gott hat es ihnen offenbaret. Es
waren vielleicht erſt poſitive Geſetze, ehe man
an natuͤrliche dachte. Der Grund der poſiti-
ven Geſetze, wenn ſie anders den Namen von
Geſetzen verdienen ſollen, iſt ſo gut die Ver-
nunft, als ſie der Grund der natuͤrlichen iſt.
Die Rechtslehrer machen einen Unterſchied,
zwiſchen poſitiven, natuͤrlichen und gemiſch-
ten Geſetzen. Jedes Geſetz muß natuͤrlich,
oder, welches faſt daſſelbe iſt, vernuͤnftig ſeyn,
ſo auch jede Offenbarung. Das Chriſtenthum
iſt eine vernuͤnftige lautere Milch. Was ver-
nuͤnftigen Menſchen Regeln vorzeichnen will,
muß, duͤnkt mich, ſelbſt vernuͤnftig ſeyn. Es
muß ſie uͤberzeugen. Zwar leugne ich nicht,
daß der Staat Anordnungen treffen koͤnne,
die
[191] die ſich nur aus dem Staat erklaͤren laſſen,
und alsdann iſt die Vernunft, auf den Staat
angewendet, der Grund des Geſetzes. Wenn
man die poſitiven Geſetze aus dieſem Geſichts-
punkte nimmt, wie ehrwuͤrdig ſind ſie! Sind
ſie nicht der moraliſche Catechismus des
Volks? Wo iſt ſolch ein Codex? Ich habe
noch keinen von dieſer Art geſehen.


Ich will mich nicht uͤber die poſitiven
goͤttlichen Geſetze auslaſſen. Die Frage: ob
es allgemeine goͤttliche poſitive Geſetze geben
koͤnne? kann wohl keinem Streit unterwor-
fen ſeyn, da es bey dieſer Frage auf die Frage
ankommt: ob es Geſetze giebt, die aus der
Natur nicht zu erkennen, und die Gott, auſ-
ſer dem dem menſchlichen Geſchlecht eroͤfnet
hat? Giebts ſolche? Dieſe Frage iſt ſtreitig.
Herr v. G — nahm das Wort: ſtreitig? ſagte
er. Unſtreitig iſts, daß es keine dergleichen
giebt, und gegeben hat und geben kann.
Mein Vater fuhr fort:


Jeder Staat iſt eine Theokratie. Gott
iſt nicht fern von einem jeglichen unter uns.
In ihm leben, weben und ſind wir. Das
juͤdiſche Volk behauptet, daß es im beſondern
Sinn Gottes Volk waͤre, obgleich es ſich am
wenigſten als ein Volk Gottes unter allen
Voͤl-
[192] Voͤlkern aufgefuͤhrt hat, und doch iſt aus ihm
allen Voͤlkern Heil wiederfahren.


Menſchliche poſitive Geſetze heißen auch,
und das mit Recht, buͤrgerliche. Das Volk
ſelbſt, oder der oder die, dem oder denen es
das Volk uͤbertraͤgt, geben Geſetze. Hier
giebts gemeine und provinzial Geſetze.
Ich wuͤnſchte, es waͤren keine Provinzial-
Geſetze: was ſollen ſie, wenn ſie nicht Poli-
zey- und ſolche ſind, wozu Boden und Sonne
Gelegenheit giebt, und die aufs Mein und
Dein wenig, oder gar keinen Einfluß haben.
Wir ſind alle Kinder Gottes. Alle Soͤhne
der Mutter Erde. Wir haben Eine Sonne;
wir ſind alle Bruͤder. All Augenblick der
Wunſch: o wenn doch Gottes Reich leiblich
und geiſtlich, das Reich der Gnaden und der
Herrlichkeit, kaͤme!


Es giebt Provinzen, die einem Herrn un-
terworfen ſind, und in jeder Provinz ſind an-
dere Geſetztafeln. Ein Staat ſcheint kein
Ganzes zu ſeyn, wenn er ſeine Geſetzbuͤcher
nach Provinzen zaͤhlt. Man ſieht ihm Nadel
und Zwirn an, womit er zuſammengenaͤhet
worden. Er ſcheint nicht fuͤr ſich zuſammen-
gebohren; die Vereinigung ſcheint nicht im
Himmel geſchloſſen zu ſeyn. Wer liebt nicht
ſelbſt
[193] ſelbſt in ſeinem eigenen Hauſe eine Ueberein-
ſtimmung ſeiner fahrenden Haabe? Wer haͤlt
nicht lieber Auction, wenn er erbt, als daß
er fremdes Gut und das ſeinige unſchicklich
zuſammenbringt? Excipe! Wenn es Sachen
ſind, auf die man einen Accent legt! die einen
Lieblingswerth haben.


Natuͤrlich ſind in einem ſo unuͤbereinſtim-
menden, ſo zuſammengeraften Staate die
Buͤrger ſich auch fremde. Sie machen einen
Staat im Staate. Es koͤmmt unter ihnen
zu Anfeindungen, und am Ende wird dieſer
Staat wuͤſte. Keine Provinz, kein Stein
bleibt bey einander. So gewonnen, ſo zer-
ronnen!


Aber! ſagte Herr v. G — (das paſſende
Wort zum Aber wird freylich ſchwer zu finden
ſeyn, ich vor mein Theil mag es nicht ſuchen)
Aber! ſind denn die Fuͤrſten von der Art, daß
man glauben kann, ſie werden die Welt zum
Gnadenreiche bringen? Noch ſcheint es nicht,
erwiederte mein Vater.


Je laͤnger, je weniger, Herr v. G,


ich zweifle.


Sie ſind Tyrannen!


Deſto beſſer!


Was zu hoch gezogen wird, reißt.


NNicht
[194]

Nicht anders!


Und wenn es reißt, ſind wenigſtens zwey
Enden!


die man verbinden kann,


Durch einen Knoten!


Mein Vater ſetzte dieſe Allegorie nicht
weiter fort. Herr v. G — fiel auf die Bemer-
kung meines Vaters.


Freylich Paſtor! fieng er an, wenn uns
die Vernunft wieder ins Paradies bringt,
werden wir ſolche Narren nicht ſeyn, als un-
ſere erſten Eltern! — Die Fuͤrſten, fuhr Herr
v. G — fort, thaten ehemals alles mit Be-
willigung der Staͤnde, darum Wir von Got-
tes Gnaden. Jezt iſt von allem dem nur der
Pluralis uͤbrig, der ſo gar gebraucht wird,
wenn ſie ſich vermaͤhlen. Wir haben uns ent-
ſchloſſen, unſer Beylager auf den und den —
geliebts Gott zu halten. Wir ſind durch die
Entbindung unſerer Gemahlin eines Thron-
erben wegen hoͤchlich erfreut — Als ob?
fragte Herr v. G — ſo wie mein Vater bey ei-
ner andern Gelegenheit; allein mein Vater
antwortete nicht:
Ja wohl!


Vielmehr war mein Vater der Meynung,
dies kaͤme daher, weil ſie den Menſchen im
Plu-
[195] Plurali, den Staat vorſtellten. Herr v. G —
blieb bey ſeinem als ob?


Theurer Naturmann, ſagte mein Vater,
die Wahrheit iſt nackt.


Wir anders?


allein man giebt ihr ein Gewand.


Die Fabel thuts.


Niemand kann einen nackten Menſchen
aushalten. Das nackt ſeyn hat ſo etwas wil-
des anſtoͤßiges an ſich, daß ich faſt die Wahr-
heit ſelbſt nicht nackt ſehen moͤchte —


Zwar hatten die guten beyden Maͤnner,
Herr v. G — und mein Vater, bey der feyer-
lichen Ausſoͤhnung den Friedenspunkt mit be-
ruͤhrt, daß des monarchiſchen Staats weder
im Guten noch im Boͤſen gedacht; ſondern er
vielmehr in ſeinen Wuͤrden und Unwuͤrden ge-
laſſen werden ſolte; indeſſen war Herr v. G —,
dem zum Vortheil dieſer Punkt verzeichnet
war, der erſte, ſo ihn brach. —


Die drey Hauptartikel des chriſtlichen
Glaubens indeſſen waren die Hauptſteine des
Anſtoßes! —


Mein Vater verkuͤndigte (wie meine Mut-
ter verſichert) das Wort Gottes rein und lau-
ter, und ich muß noch hinzufuͤgen, (ich weiß
nicht, ob es meinen Leſern von ihm gefallen
N 2wird?)
[196] wird?) daß er Lehrer und Prediger als Zunft-
verwandte anſah, die alles zu thun und zu
laſſen verbunden ſind, was die Innung mit
ſich bringt. Unſer Schild, pflegte er zu ſagen,
iſt die Bibel. Wenn wir ein ander Buch aus-
haͤngen, eine andere Arbeit treiben, oder die
uns angewieſene Geſchaͤfte nicht nach dem
Zunftprivilegio einrichten, ſind wir Pfuſcher,
Betruͤger. Zwar gab mein Vater im Streite
mit Herrn v. G — zu, daß wenn Jemand mit
der Bibel eingeſchloſſen werden ſollte, um
daraus ein Syſtem herauszubringen, er nie
das unſrige herausbringen wuͤrde, im Fall er
nemlich nicht das mindeſte von einem Cate-
chismus gehoͤrt, und darin gegaͤngelt worden.
Was aus dem Syſtem des alten Teſtaments
werden wuͤrde, waͤr ich begierig zu ſehen,
ſagte Herr v. G — und was das Syſtem aus
dem neuen betrift, fuhr er fort, und mein
Vater grif ein: ſo koͤnnte es natuͤrlicher,
kindlicher, herzlicher ausfallen, ob aber
in Hauptſachen von dem unſrigen abwei-
chend, weiß ich nicht
— Meines Vaters
Loſung war aut, aut; er war in keinem Stuͤcke
lahm, und da Herr v. G — nicht aufhoͤren
konnte zu ſpoͤtteln und zu laͤcheln, und da
nicht beten, und dort nicht das Nachtmahl
neh-
[197] nehmen wolte; da er die Beichte fuͤr eine Art
von Tortur ſchalt, und die Geiſtlichen beſchul-
digte, ſie waͤren Uſurpateurs des Gewiſſens,
und das Chriſtenthum ſey monarchiſcher
Staat eingetheilt in drey Provinzen: Pabſt-
thum, Lutherthum und Calvinismus; ſo
konnte unter dieſen beiden Maͤnnern kein
Reich der Gnaden vorerſt zu Stande kommen!
Zwar, fuhr Herr v. G — fort, haͤtte die ſelbſt
eigene Schwere dieſer den oberſten Gipfel er-
ſtiegenen Monarchie und Tyranney ſie wieder
zur Erde gezogen, wovon ſie genommen war;
allein — Mein Vater lies ihn nicht ausre-
den —


Alle ſolche Zwars und Alleins, ſolche Ab-
weichungen zur Rechten und Linken konnte
mein Vater nicht ertragen. Hoͤren und Se-
hen vergieng ihm. Ein einzelner Mann (ſei-
nen ſehr geſunden natuͤrlich edlen Verſtand
und Willen bey Seite,) will ſich wider die
Kirche auflehnen, was wuͤrde man von mir
denken, wenn ich fuͤnf gerade ſeyn ließe, und
einen Mann nicht miede, den man ſonſt die
Wahrheit zu ſagen nicht fuͤglich meiden kann?
Er iſt Lot in Curland. Ein Gerechter. Seine
Gemahlin ſey was ſie wolle, hier kommt ſie
nicht in Anrechnung; allein er ſey Lot in Be-
N 3ziehung
[198] ziehung auf Curland, nur nicht in Ruͤckſicht
auf mich, wenn ich den Abraham vorſtelle.
Willſt du zur rechten, ſo will ich zur linken,
willſt du zur Linken, ſo ich zur Rechten, koͤn-
ne zwiſchen dem Herrn v. G — und mir nicht
ſtatt finden, wenn von der lautern Milch un-
ſerer Religion die Rede iſt. Zwar will ich
nicht richten! Allein man muß doch hier,
wie uͤberall, auf einen Ausgang denken. Die
Pluralitaͤt ſelbſt, wenn ich dem Herrn v. G —,
dieſem Naturmanne, einen Gefallen thun
wolte, es drauf auszuſetzen, wuͤrde fuͤr mich
entſcheiden. Zwar iſt die Religion nicht mehr
ſo ganz die Religion Chriſti, ſondern die chriſt-
liche Religion; allein wenn gleich das Para-
dies verlohren gegangen; ſo giebts doch noch
ein Reich der Gnaden, und eines der Herr-
lichkeit in der chriſtlichen Kirche.


Die Pfaͤndungen, welche teſtantibus actis
Vol.
1. vorfielen, waren, wie aus allem die-
ſem zu erſehen, lauter Religionskriege.


Der Brief, dem mein Vater zehn Jahre
weniger einen Tag entgegen geſehen, was konnt’
er anders, als ein Glaubensbekenntnis in ſich
halten, das, wenn es gleich nicht aus Augs-
purg, wie der Converſus, war, jedoch mit
dem Verſprechen begleitet ward, nicht von
Reli-
[199] Religionsſachen ſprechen zu wollen, es ſey
denn der Belehrung halber, als wobey, wie
es von ſelbſt ſich verſtuͤnde, Herr v. G —
Schuͤler und mein Vater Lehrer waͤre. Dies
waren die Vortheile, die meinem Vater ſchon
in den Praͤliminaͤrpunkten eingeraͤumet wa-
ren, wogegen ſich Herr v. G — alle Anzuͤg-
lichkeiten gegen den freyen, und Lobreden auf
den monarchiſchen Staat, verbat —


Dieſe Punkte koſteten, bis die Sache ab-
geſchloſſen war, noch ſo manchen Kopfſtoß.
Der Vergleich kam allerliebſt zu Stande.
Dieſen Brief, deſſen l. c. Erwehnung geſche-
hen, will mein Freund — — Kein Wunder,
weil er auf den Herrn v. G — in Lebensgroͤße
beſtehet. Gern, lieber Getreuer! Du weißt,
dies ganze Buch iſt ein langer Brief an dich;
allein du findeſt hier Vorhaͤnge, die ich im
Hauſe des Herrn v. G — nicht fand. Wer
dieſe Vorhaͤnge zugeſchnitten und angebracht,
weiß ich nicht. Vermuthlich lies Herr v. G —
nach der Zeit ſich naͤher durch meinen Vater
belehren, und ſtrich, was er anders einſah —


Die ganze Vorrede geſtrichen.


Gott allein die Ehre.


Den hiſtoriſchen Wahrheiten geht es, wie
den alten Leuten, je aͤlter, je ſchwaͤcher. Ich
N 4ver-
[200] verdamme keinen, wenn er daran zweifelt,
was er nicht ſelbſt geſehen; wenigſtens kann
ihm ein Zweifel dieſer Art keinen Schaden
noch Leides thun. Da es der Vernunft erlau-
bet iſt, jede hiſtoriſche Wahrheit durchzupro-
biren; ſo iſt nichts gewiſſer, als daß die Sache,
wenn nicht vor meinen ſichtlichen Augen, ſo
doch vor dem Auge meiner Vernunft noch ein-
mal vorgehen muß, wenn ich ſie glaͤubig an-
nehmen ſoll —


Es giebt nothwendige Hypotheſen, wahr-
ſcheinliche Gewißheiten. Nichts iſt ohne
Praxis. Bey der Theorie kommt man nicht
weit. Sie iſt der Buchſtab! Die Praxis iſt
das Leben!


Wolte Gott! es waͤre ein Catechismus
moͤglich, den ich ſokratiſch nennen wuͤrde, wo
die Beantwortung und Frage, wenn man ſo
ſagen ſoll, in der Sache, nicht in der Perſon
liegen, wo beyde, der Frager und der Ge-
fragte, an der Quelle waͤren und ſelbſt ſchoͤpf-
ten! Solch ein Buch waͤre freylich nicht zum
Leſen, zum Auswendig lernen; allein es muͤß-
te ins Herz gebracht werden. Man frage
nicht, wie? Sehen und reden iſt ſchon eine
halbe That. Ein Leſer iſt ein Tagdieb. Wir
wollen den gemeinen Mann nicht an eine
Stu-
[201] Studierſtube gewoͤhnen; da kaͤme er aus dem
Regen in die Traufe.


Ich glaube an Gott den Vater, allmaͤch-
tigen Schoͤpfer Himmels und der Erden.
Zwar iſt Gott der Herr mir unbegreiflich;
allein er iſt (damit ich mich kurz faſſe, und
doch ſo, daß ich mir wuͤrklich etwas denke
und nicht blos einbilde, was gedacht zu haben)
Er iſt der Inbegrif aller Moral, mit der zu-
gefuͤgten Gewalt, der Herr der Sonne und
des Blitzes und Donners. Paſtor! da kann
kein Menſch was dawider ſagen; dieſes un-
endlich moraliſche Weſen nehm ich an. Mein
Herz ſagt es mir: Er iſt, ich ſeh ihn, ich hoͤr
ihn in allem —


Ich glaube an Gott, und glaube, daß
man an einen Gott in drey Artikeln glauben
koͤnne; ich glaube aber auch, daß ein einziger
Artikel genug ſey. Ich glaube, daß ſich der
Glaube aͤndern koͤnne. Der Menſch beſteht,
wie man ſagt, aus Geiſt, Seele und Leib,
und Gott den Herrn kann man ſich als Vater,
Sohn und heilger Geiſt vorſtellen. Vielleicht
iſt der Geiſt die Vorſtellung, die Gott ſich von
ſich macht, vielleicht — —


N 5Ich
[202]

Ich glaube an Gott, das heißt: ich bin
ein Kind in Verhaͤltnis gegen ihn, ein Bru-
der in Verhaͤltnis mit meines gleichen; ein
Menſch in Verhaͤltnis alles deſſen, was ich
außer mir ſehen oder nur empfinden kann,
alles, was lebt und nicht lebt, im Großen
und im Kleinen, was weniger ſchaͤtzbar ange-
nommen wird, und was zur hoͤhern Schaͤtz-
barkeit in der Welt, ich weiß nicht warum ge-
kommen iſt. Ich gebrauche was ſichtbar
und unſichtbar lebt (alles lebt) zur Speiſe,
zum Getraͤnk und zum maͤßigen Vergnuͤgen.
Was druͤber iſt, halt ich ſtrafbar. Ein Hauch
Gottes, und ſo hat alles lebloſe eine lebendige
Seele. Was weiß ich, was ich war, und
was ich ſeyn werde. Die ganze Welt iſt mit
mir verwandt Erde bin ich und Erde werd’
ich, wovon ich genommen bin: denn der
Menſch iſt Erde, und ſoll wieder zur Erde
werden.


Ich bin in der Welt Kind, Bruder, Menſch,
oder Herr; doch bin ich in meines Vaters
Hauſe, wo viel Wohnungen ſind, und wo
mir nur das Muttertheil abgetreten iſt, wo
ich viele Bruͤder habe, und unter dem Auge
des guͤtigſten, allein auch gerechteſten Vaters
ſtehe,
[203] ſtehe, der mir das Vatertheil noch vorbehal-
ten hat.


Ich glaube, daß heißt: wenn tauſend
Schwarz- und Weißkuͤnſtler und Klugheits-
gaukler auch kaͤmen und ſpraͤchen: es iſt kein
Gott; ſo muͤßten und koͤnnten mich doch dieſe
Spruͤnge durch den Reif aus dieſen Verhaͤlt-
niſſen nicht herausluͤgen und truͤgen, da ſchon
die Wahrſcheinlichkeit, ſelbſt die Moͤglichkeit,
daß er ſey, und der eben hieraus fließende
Glaube an ihn hinreichend iſt, mich in den
Verhaͤltniſſen, als Kind, als Bruder, als
Herr, zu erhalten, und zur ſtrengſten Erfuͤl-
lung der hiemit verbundenen Pflichten zu
bringen.


So erklaͤr ich mir den Glauben, von wel-
chem vielfaͤltig in der Bibel geredet wird.
Eine vollſtaͤndige demonſtrirte Gewißheit von
dem Daſeyn des Allvollkommen wuͤrde mehr
ſchaden als nuͤtzen, ſo wie die Gewisheit von
meinem Tode; wenigſtens iſt mir die Demon-
ſtration von der Exiſtenz Gottes nicht noth-
wendig, und ein lebendiger Glaube iſt, die
Sache genau genommen, mehr als eine De-
monſtration. Einen lebendigen Glauben
nenn ich, der durchs Leben thaͤtig iſt: denn
der Glaube, wenn er nicht Werke hat, iſt er
todt
[204] todt an ihm ſelbſt, wie die meiſten Buͤcher,
die nicht Gottesmenſchen geſchrieben haben,
todt an ihnen ſelbſt ſind. Die Menſchen muͤſ-
ſen nie von Gott reden, ohne daß ſie an ihre
Pflichten gegen ihre Mitmenſchen denken.
Gott iſt in allem, und durch alles. In ihm
leben, weben und ſind wir. Er, der Origi-
nalgeiſt, der Geiſt im Ganzen. Die Natur
iſt die Seele.


Von Gott, dem unendlich moraliſchen
Weſen, kommt aller her. Er iſt, wie oben
gemeldet, die Moral in Origine. Die Schoͤp-
fung iſt ein hingeſtellter goͤttlicher Gedanke! —
ein Buch Gottes! Bey uns ſind die Gedan-
ken Waſſerblaſen; beym lieben Gott eine
Welt! — Dies All verkuͤndiget das Daſeyn
Gottes, und es gehoͤrt nicht Schulweisheit
dazu, ſondern blos menſchliches Gefuͤhl, die
Macht und Guͤte Gottes wahrzunehmen,
und dies: Er iſt, zu verſtehen. Wuͤrde der
Verſtand ſelbſt den Kopf ſchuͤtteln; das Herz
ſpraͤche doch Ja. Der Gedanke, es iſt ein
Gott, iſt der Anfaͤnger aller bildlichen Poeſie!
Was ſchadet es alſo, ihr Herren Sophiſten,
daß man Fluͤgel der Morgenroͤthe nimmt,
wenn man von Gott ſpricht?


Alles
[205]

Alles verſteht ſich in der Natur, und dieſe
Uebereinſtimmung, dieſe Mitwuͤrkung aller
moraliſchen und phyſikaliſchen Kraͤfte dieſes
ſichtbaren und unſichtbaren in der Natur, ſind
die ungeſcholtenſten Zeugen der goͤttlichen
Weisheit. Was ſchadet die anſcheinende Un-
regelmaͤßigkeit? Iſt ſie es? und wenn ſie es
in meinem Wirkungskreiſe iſt, kann dieſer
Mislaut nicht ein feiner Triller im Ganzen
ſeyn? — Der Paſtor redet ſo von der Har-
monie der Sphaͤren, als haͤtt’ er dieſe Geiſter-
muſik gelernt, die anders klingt, als das
Waldhorn. Ich habe ſeinem feinen Gehoͤr
viel zu danken; nichts lernt man leichter, als
hoͤren.


Ich haͤnge von Gott ab, und drenge mich
recht, von ihm abzuhaͤngen. Mein Gefuͤhl
uͤberzeugt mich, daß ich als ein Mitweſen in
der Reihe der erſchaffenen Dinge, und zwar
unter Ihm, ſtehe. Da darf der Paſtor nicht
gleich kreiſchen, er haͤtte als Monarchen-
freund die Schlacht gewonnen! Der liebe
Gott laͤßt einem jeden ſo ſeine Freyheit, als
man ſie nur in Curland haben kann. Ich
bleibe in dieſem Abhange noch immer ein cur-
ſcher Edelmann, kann thun und laſſen was
ich will; allein da Gott ein lieber guter Gott
iſt:
[206] iſt: ſo iſt mein Gefuͤhl der Abhaͤngigkeit die
Mutter der Ehrfurcht, der Liebe fuͤr ihn dem
Schoͤpfer, und des Gehorſams fuͤr ſeinen hei-
ligen und allezeit guten Willen und deſſen Ge-
ſetze, dies heißt mit andern Worten, ich kann
von Herzen ſagen: Abba, mein Vater, dein
Wille geſchehe auf Erden, wie im Himmel! —
ich thue ihn gerne, dein Geſetz hab ich in mei-
nem Herzen! Gottes Willen gern thun, heißt:
Gott dienen!


Ich ſchwoͤre nicht beym Himmel, daß
dich der Donner erſchluͤge! Nicht bey der
Erde, daß du den Hals braͤcheſt! Der Him-
mel iſt Gottesſtuhl; die Erde ſein Fußſchem-
mel —


Ich liebe Gott mit einer beſondern Liebe,
uͤber alles und in allem; meinen Naͤchſten lieb
ich, wie meine ehrliche Haut.


So denken hab ich gelernt. Nicht un-
mittelbar von Gott, ſondern mittelbar von
Gottesmenſchen, von ſolchen, die ſein Bild
an ſich tragen, im beſondern Sinn. Dieſe
Gottesverkuͤndiger, getrieben vom heiligen
Geiſt, doͤrfen nur den Wachsſtock in mir an-
zuͤn-
[207] zuͤnden, der ſchon da iſt. Jeder hat ſeinen
fertigen Wachsſtock bey ſich. Wie er gleich
lichterloh brennt!


Wenn ich nicht einmal weiß, wie ich in
Mutterleibe zum Menſchen geronnen, wie ich
Ich geworden; wie kann ich wiſſen, wie die
Welt, wie Himmel und Erde entſtanden, und
zum ſtehen und gehen gebracht ſind?


Vom Paſtor — in — hab ich viel ge-
lernt. Es iſt zuweilen hoͤchſt nothwendig,
nicht uͤbereinſtimmend zu denken. Die Wahr-
heit hat keinen groͤßern Feind, und keinen
groͤßern Freund, als die Uebereinſtimmung.
Es kommt nur auf Umſtaͤnde an. Der aͤlte-
ſte von den Gottesmenſchen, von den Gefuͤhl-
anzuͤndern, hat uns die Erſchaffung der Welt
gemahlt. Ein ſchoͤnes Stuͤck! Die neuen
Mahler ſind Klecker gegen ihn. Es haͤngt
vor meinen Augen zum ewigen Andenken das
Bild eines Mannes, der außer goͤttlicher
Kraft, viel Menſchenkenntnis beſaß, und ſein
Volk von Grund aus kannte. So wie aber
die Mahler ihren Nahmen in einer Schatten-
ſtelle gewoͤhnlich anbringen; ſo auch er bey
dieſer Schilderey! — Das kann man ihm
laſſen. Ich wenigſtens ſtoße mich an dieſer
Schattenſtelle nicht. Wiſſen, wie die Welt
gemacht
[208] gemacht iſt, heißt: Gott ſeyn. Wie kann ein
Endlicher dies wiſſen? dies faſſen? Und wuͤrd’
es ihm nuͤtzlich und ſelig ſeyn, zu wiſſen und
zu faſſen, wenn er es wiſſen und faſſen koͤnn-
te? Wir ſehen dies ſo leicht an, und es ſcheint
wuͤrklich ſo; allein alles was recht ſchwer iſt,
ſieht leicht auch — Warum aber ſo weit
hinaus? Gott weiß, ob der Menſch laͤnger
als zehntauſend Jahr in ſeinem Kopf, in ſei-
nen Buͤchern, tragen und beherbergen kann?
Er wird ſchwerlich ſelbſt mehr Geſchaͤfte faſ-
ſen koͤnnen. Wenn alsdann nicht ein ſeliger
Kelch der Vergeſſenheit dem menſchlichen Ge-
ſchlechte gereicht wird, wie wird es ausſehen?
Die zehente Zahl iſt die Zahl mit beyden Haͤn-
den, die vollkommenſte, ſagt der Paſtor! mit
welchem Friede ſey jezt und in Ewigkeit! Er
iſt ein guter Chriſt, und ein braver Mann,
und wenn ich das erſte weniger bin; ſo glaub
ich doch ruhig und ſelig zu ſterben, weil ich
ihm im lezten keinen Tritt weiche —


Jezt ſind dem Menſchen Zuruͤckgedanken
allerdings noch zu geſtatten; denn die Welt
iſt, nach Sethi Calviſii Calenderberechnung,
eben aus ihren Juͤnglingsſchuen. Daß ſich
der Mann verrechnet hat, iſt durch mehr als
eine
[209] eine Probe zu erweiſen. Dem goͤttlichen
Mahler Moſes geht dabey nichts ab — der
war klug genug, im Anfang zu ſetzen, und
die Jahrzahl dem Setho Calviſio zu uͤber-
laſſen.


In Moſes Schoͤpfungsgeſchichte leitet die-
ſer Fuͤhrer in einer ſchoͤnen Mahlerey gerades
weges die Menſchen uͤberhaupt zur Wahrheit,
und nicht, wie ſein Volk, aus weiſen Abſich-
ten, durch Wuͤſteneyen bey der Naſe herum;
indeſſen iſt nicht jeder Liebhaber von der Mah-
lerey, und der verſuche, wie weit er durchs
Licht der Vernunft gelangen werde? Die Ge-
ſchichte Moſes von Entſtehung der Welt iſt ſo
abgefaßt, als ſie dem Menſchen vorgekommen
ſeyn wuͤrde, wenn Gott die Welt vor ſeinen
Augen haͤtte ſchaffen wollen. Dem Moſes
fiel vielleicht an einem ſchoͤnen Morgen, da er
fruͤher als ſonſt aufgeſtanden war, ein: ſo
wuͤrd es dir geſchienen haben, wenn dich Gott
der Herr auf die Schoͤpfung zu Gaſte geladen,
und dein Auge das Licht haͤtte vertragen koͤn-
nen, das die Sonne anſteckte! Dieſer mo-
ſaiſche Gedanke war goͤttlicher Funke, der
ſchnell zuͤndete, goͤttliche Eingebung, die zum
feurigen Buſch ward! — Die erſten Capitel
im erſten Buch Moſe, wie ſchoͤn ſie brennen!
OEs
[210] Es iſt ein allerliebſter Bibelmorgen! — Ganz
aufrichtig gefragt, iſt nicht ſehr viel vom
Morgen in der Schoͤpfungsgeſchichte? Das
Licht iſt das Schimmerlicht, ehe die Sonne
aufgeht, und ſo fortan! — Paſtor! Sie ha-
ben mich immer damit ausgelacht; moͤgen
ſie! — Eben ſo denk ich, (und, Zweifler, faß
in deinen Buſen, du wirſts auch ſo finden,)
daß jeder Menſch den Stand der Unſchuld,
der Suͤnde, der Gnade, ſelbſt belebt. Gott
helf uns zum Stande der ewigen Herrlichkeit!
Nimmt man die Sache ſo; wie viel Weisheit,
Staͤrke und Schoͤnheit in allem! Da ſieht
man eine Hieroglyphe die von allen Ecken und
Seiten erklaͤrungsfaͤhig iſt. Man findet nicht
anſtoͤßig, daß Fiſche im Meer, und Miriaden
Welten paarweiſe wandeln. Mahlerey und
Aſtronomie ſind ſich ſpinnenfeind! Beym Mo-
ſes ſind ſie verwandt. Noch bis auf den heu-
tigen Tag iſt keine Entdeckung gemacht wor-
den, wobey Moſes zu kurz gekommen waͤre —
Wer kann ihm die Goͤttlichkeit abſprechen? —


Iſt, damit ich die nemliche Hieroglyphe
auf die andre Art nehme, iſt denn nicht jedes
Kind, wenn es auf die Welt kommt, im
Stande der Unſchuld? Weiß es vom Mein
und Dein? Faͤlt es nicht in den Stand der
Suͤn-
[211] Suͤnden? kann es indeſſen nicht erzogen, und
der goͤttlichen Abſicht, das heißt: dem goͤtt-
lichen Ebenbilde, naͤher gebracht werden?
Muß der Menſch gleich oft im Streite ſeyn
und im Schweis des Angeſichts uͤber ſeine Lei-
denſchaft kaͤmpfen, kann er nicht auch ſiegen?
und was iſt beſſer, die Haͤnde in den Schoos
legen, und nicht wachen, nicht ſchlafen? oder
beydes recht von Herzen thun?


Ich komme wieder zum Anfange.


Am Anfange, in einer neuen Weltperiode,
oder auch am tiefern Anfange, am allererſten
Anfange, war das menſchliche Geſchlecht ſo
Eins, wie Einer. Das ganze Geſchlecht war
Adam, weniger eine Ribbe, oder, und eine
ſeiner Ribben. Welche goͤttliche Weisheit in
dieſem Bilde! Mann und Weib ſind eins,
und verſchieden. Es fehlt dem Manne,
wenn er ein Weib hat, eine Ribbe; allein die-
ſer Verluſt wie reichlich erſetzt, wie reichlich!
eben weil er ein liebes Weib hat.


Im Schlafe verlohr Adam eine Ribbe,
und es ergiebt ſich beſonders im Schlaf, wo
ſo viel Bilder um uns herumgaukeln, wie noͤ-
thig dem Mann ein Weib ſey.


O 2Vom
[212]

Vom Garten fieng ſich die Haushaltung
an, nicht vom Ackerbau. Man aß eher Aep-
fel, als Brod. Jeder Menſch bebauete ſich
einen Fleck mit Baͤumen und Kraut, und nie-
mand beneidete dem andern ſein Gartenland,
und niemand kam dem andern ins Gehege.
Das Hirtenleben, das Schaͤferleben wird dem
Ackerbau im erſten Buch Moſe vorgezogen,
und das mit Recht. Die Schaͤfer waren Kin-
der Gottes; die Ackerbauer Kinder der Men-
ſchen. Cain brachte dem Herrn ein Opfer
von Feldfruͤchten; Abel von den Erſtlingen
der Heerde. Cain gefiel dem Herrn nicht ſo
wohl, der ſchon bey ſeinem Acker, bey ſeinem
erarbeiteten Mein und Dein mit dem Gedan-
ken umgieng, eine Stadt zu bauen, die er
nach ſeinem Sohn Hanoch nannte, der Moͤr-
der der! So giengs! Erſt Ein Garten, dann
zwey Wege, einer das Schaͤferleben, der an-
dre
Ackerbau. Beym Schaͤferleben war
noch am wenigſten vom Mein und Dein; al-
lein beym Ackerbau, wo der Menſch der Na-
tur weniger uͤberlaͤßt, wo er ſelbſt Hand ans
Werk legt, wie viel Mein und Dein! Vom
Ackerbau bis zur Stadt iſt nur ſo weit, als
von Vater und Sohn, vom Moͤrder Cain und
vom
[213] vom Hanoch. Noch jezt thun wir uns etwas
zu gut, wenn wir vom Schaͤferleben, von der
guͤldenen Zeit, traͤumen. Wir ſehen das
Schaͤferleben als den naͤchſten Grenzort zum
Paradiſe an.


Der Fall Adams iſt der Fall aus der Na-
tur ins Mein und Dein, wodurch Arbeit,
Muͤhe, Schweis des Angeſichts, Uebermuth,
Weichlichkeit in die Welt kam. Auch der Tod
iſt der Sold dieſes Standes der Suͤnden, der
aus Krankheiten beſteht, welche aus einem
unparadiſiſchen Leben entſtehen, und womit
der Tod jezt gemeinhin verbunden iſt. Vor
dieſem waͤre der Menſch lebendig gen Himmel
gekommen; er waͤre in dieſer Welt eingeſchla-
fen und im Himmel aufgewacht. Das laͤßt
ſich ſchoͤn hoͤren, lieben Freunde in dem
Herrn! allein eingemachte Fruͤchte ſind auch
nicht zu verwerfen, und eine vorhergegangene
Krankheit, hat ſie denn nicht ihren großen
Nutzen? Macht ſie uns nicht das ſo liebe Le-
ben ekel? Ich habe ſchon oben geſagt: es iſt
gut zu wiſſen, daß man wacht, und daß man
ſchlaͤft, und ſo koͤnnt’ ich auch behaupten,
eben ſo gut ſey es auch zu wiſſen, daß man
ſtirbt, und daß man lebt. Iſt denn die Kuͤrze
des Lebens ſo etwas ſchreckliches? Ja wenn
O 3das
[214] das Wohlgehen mit dem langen Leben ver-
bunden iſt; wem gehts aber in der jetzigen
argen boͤſen Welt wohl? wo ſelbſt in Curland
ein Herzog iſt. Oft lebt man darum ſo gern
lange, damit man ſich nicht den Vorwurf zu-
ziehe, ſein Leben verkuͤrzt zu haben. Ein lan-
ges Leben ſcheint uns ein Teſtimonium des
Wohlverhaltens gegen uns. —


Der Fluch, der die Weiber traf, gehoͤrt
er nicht auf die Rechnung der Weichlichkeit
und Verzaͤrtelung? Weiber, die ſich weni-
ger verzaͤrteln, empfinden von dem Fluch:
du ſolſt mit Schmerzen Kinder gebaͤh-
ren,
noch bis dieſen Augenblick wenig, oder
gar nichts, und wenn ſie ſelbſt, wie im Na-
turſtande, arbeiten und ſich nicht blos vom
Herrn Gemahl ernaͤhren laſſen, haben ſie ſo
gut ihren Willen, als die Maͤnner. Eignen
ſich nicht viele Weiber dieſen Eigenwillen, be-
ſonders im adlichen Stande, ſchon wegen ih-
res Eingebrachten zu? — daß ſich Gott er-
barme! In ſeinem eignen Hauſe ein Sclave
ſeyn! —


Der Stand der Unſchuld, oder der Stand
der erſten Natur, das Paradies, war ein
Zuſtand, da der Menſch, ſo wie die Thiere,
wan-
[215] wandelte, nur daß ihn ſeine Vernunft zum
Herrn uͤber ſeine Schulcammeraden machte!
Der Menſch ſaß in Prima. Keinem Men-
ſchen fiel es ein, ſich Grenzen abzuzeichnen.
Eine Hoͤhle, das war alles, was er noͤthig
hatte, und auf die war er ſo wenig neidiſch,
und hatt’ es auch ſo wenig Urſache zu ſeyn,
daß niemand ſo leicht dem andern in den Weg
kam. Er gieng nackt und brauchte keine Klei-
der. Kleider ſind eben das, ſo den meiſten
Zank unter den Menſchen verurſacht; denn
ſie ſind beſtaͤndig ſichtbar: dagegen Speiſe
und Trank, wenn es gleich Neid verurſacht,
ihn auch wieder daͤmpft, weil es nicht ins
Auge faͤllt. Die Vernunft braucht Geſetze,
ſo bald ſie heranwaͤchſt. Dieſe Zaͤune, dieſe
Grenzen, brauchte auch das menſchliche Ge-
ſchlecht, da es mehr ſeine Staͤrke fuͤhlte. Die
Herrſchaft uͤber die Thiere bracht’ es zur Herr-
ſchaft unter ſich. Die erſten Grenzzeichen wa-
ren Baͤume; wer ſie nicht achtete, war der
Menſch. Das Weib reizte den Mann, der
Kinder halber, an, die mit dem zugewieſenen
Platz nicht auskommen wuͤrden, und ſo brach
der Menſch die Grenze, und von dieſem Zeit-
punkt an, lernte er aus der Suͤnde, aus der
Grenzuͤbertretung, das Gute und Boͤſe erken-
O 4nen,
[216] nen, was er erſt nicht kannte, da er vor die-
ſem ſo in den Tag hinein lebte, Gott den Va-
ter walten lies, das Maul aufſperrte, wenn
es regnete, und den Apfel nicht eher aß, als
bis er halb faul vom Baume ſich herabſchlich.
Da lob ich mir ein Sprindt zu ſuchen und
den Apfel herabzuhohlen, ehe er natuͤrlichen
Todes ſo alt und ſchwach ſtirbt, daß er in-
wendig faul und auswendig zuſammengefal-
len iſt. Freylich haͤtten die grenzſtreitige Par-
theyen ſehr leicht aus einander kommen koͤn-
nen, wenn ſie ſo klug geweſen, nur ein Paar
Schritte weiter zu gehen, wo ſie eine weit
vortreflichere Gegend, eine Gegend voll Le-
ben,
kennen gelernet, und wo ſie, ohne ſich
zu nahe zu kommen, hinreichend entſchaͤdiget
geweſen waͤren. Sie durften nicht nach Ame-
rika! — Mit dem rohen Adamsnaturſtande
iſts indeſſen ſo eine Sache! Zu ein paar
Schritten weiter, waren ſie nicht zu bringen.


Der Stand der Suͤnde, der Stand, da
aus Familien allmaͤhlig Staaten wurden, hat
freylich ſein vieles Boͤſe an ſich; indeſſen iſt
er doch auch auf der andern Seite nicht ohne
ſein vieles Gute. Der Staat iſt wuͤrklich ein
Baum des Erkenntniſſes Gutes und Boͤſes.


Der
[217]

Der Menſch ward feiner an Leib und
Seele. Schand und Suͤnd iſts freylich, daß
die Seele nicht wachſen kann, wenn nicht zu-
gleich auch der Koͤrper verzaͤrtelt wird, oder
abnimmt.


So gehts! Der Stand der Suͤnde bringt
uns gerades Weges zum Stande der Gnaden.
Durch den Paſtor — bin ich zuerſt auf dieſe
Begriffe gekommen; indeſſen irrt er, wenn er
des Glaubens iſt, daß der monarchiſche Staat
zum Stande der Gnaden eher, als der ariſto-
cratiſche und democratiſche fuͤhren werde.
Mit nichten! Der monarchiſche Staat iſt
vielmehr der Stand der wuͤrklichen Suͤn-
den; die andern Staatenarten ſind Erbſuͤn-
de.
Wenn der monarchiſche Staat erſt
zum hoͤchſten Deſpotismus hinausgewachſen,
kommt man wieder ins Freye! wogegen der
freye Staat kaum den Namen des Standes
der Suͤnde verdienet. Durch einen ſanften
Schlaf kann man aus ihm zu den Seligkeiten
des Standes der Gnaden gedeyhen — Man
weis nicht wie. Sie ſehen, Paſtor! wie weit
ich in der Orthodoxie gekommen. Sie ſind
nur drey, ich gar viergliedrig. Wenn ſie die
O 5theo-
[218] theologiſche Diſtinktion vom Reich der All-
macht, Reich der Gnaden, und Reich der ewi-
gen Herrlichkeit zum Grunde legen, thue ich
ein Gleiches mit dem Stande der Unſchuld,
Stande der Suͤnden, Stande der Gnaden,
und Stande der ewigen Herrlichkeit. Die
Sache genau genommen, hebt ſich der Bruch
und eins geht mit dem andern auf. Ich bin
fuͤr Staͤnde, Sie fuͤr Reiche. Ich wuͤnſche
den Stand der Gnaden, Sie das Reich der
Gnaden. Sie ſind ein Koͤnigſcher, ich ein
Curlaͤnder! — Den Stand der Gnaden wuͤrd’
ich faſt ſo beſtimmen, daß es in der ganzen
Welt wie in Curland ſtuͤnde — Außer die-
ſen Banden,
ſagt der Apoſtel Paulus, und
freylich muß Curland noch von vielen Ungna-
den gelaͤutert werden, eh’ es ein wahrer
Stand der Gnaden iſt. Auf dem Wege dazu
iſt es. Wie ſind wir denn unterſchieden, Pa-
ſtor? Sie wiſſen mehr, als ich, und glau-
ben mehr, als ich. Ich weiß wenig, und
glaube wenig. Sie haben ein Perſpektiv, ich
mein leibliches Auge. Sie Schule, ich ge-
meines Leben! — Man iſt nur ſo gros, als
man gewachſen iſt! — Sie denken verfaͤnglich
von Cnrland und Semgallen, und ich von der
Schoͤpfung. Alles hebt ſich. Wir ſind beyd’
im
[219] im Jammerthal, und werden beyde gen Zion
kommen. Wollen Sie noch mehr vom Stan-
de der Gnaden? —


Der Stand der Gnaden iſt ein durch Ver-
nunft gereinigter Naturſtand, nach welchem
die Vernunft den Menſchen regiert, nach wel-
chem er ihre ewigen Geſetze verehrt, ihnen
folgt, und wenn Clima und Denkart ſich ihr
Votum vorbehalten; ſo haͤlt der Menſch auch
dies Votum, ſo bald es die Vernunft an Kin-
desſtatt annimmt oder ihm beytritt, in Eh-
ren — Kann man denn nicht bey leiblichen
Kindern auch Kinder adoptiren! Auch noch
eher, als der Menſch zu dieſem Gluͤcke des
Standes der Gnaden gelangt, kann er ſich
ſelbſt in dieſen Stand hinein denken, ihn ſich
ſo eigen machen, als waͤre er wuͤrklich ſchon
da! und wenn das viele thaͤten, wie der Pa-
ſtor und ich, ich wette drauf, Gottes Reich,
wie der Paſtor will, oder der Stand der Gna-
den, wie ich will, kaͤme einige hundert Jahre
eher, als jezt. Vor unſerer Trennung war
dieſes Reich und reſpektive Stand der Gna-
den in unſern beyden Wohnungen! Mein
Weib bisweilen abgerechnet.


Auch noch, Geliebte in dem Herrn! auch
noch iſt der Menſch, wenn er will, wie im
Para-
[220] Paradieſe. Er iſt mehr drinn, wie vorhin.
Er ſetzt ſich jezt ſelbſt herein, und erſt kam er
ſo dazu, mir nichts dir nichts. Erworbenes
Brod ſchmeckt am beſten, und bekommt auch
ſo. Der Teppich der Erde iſt mit den vor-
treflichſten Kraͤutern angefuͤllt. Nur wir ſind
nicht mehr Schooskinder. Wir muͤſſen Hand
ans Werk legen. Wie die Natur nur ein
Kind hatte, da hielte ſies freylich auf dem
Schoos; jezt aber — was ſolte ſie mit ſo
viel Tagdieben anfangen? — — — — Blos
das gute kennen, Freund Paſtor? Iſts denn
ſo herrlich, oder iſts nicht beſſer, wie Gott
wiſſen, was gut und boͤſe iſt, aus dem Para-
dieſe in die Welt gehen? Aus der blos ſim-
plen Unſchuld zur Vernunft? Die vernuͤnf-
tige Unſchuld iſt was goͤttliches — allein jene
rothbackigte gemeine Unſchuld, was hat ſie
denn fuͤr Reiz? Wuͤßte denn wohl der Adam
ſich eine Talubbe (Schlafpelz) zu machen?
Ich mag ihm keinen Namen beylegen, dieſem
Namengeber! denn wahrlich! er wuͤrde nicht
ſonderlich abkommen, wenn ich ihn taufen
ſolte —


Iſt der Menſch denn nicht noch jezt der
Herr der Erde? Er ruft alle Geſchoͤpfe mit
Namen und kann ihnen Namen geben, ſo
bald
[221] bald er ihnen nur ins Auge ſieht, fals ſie
nemlich noch nicht benahmt ſind. Der Menſch
vertraͤgt alle Gegenden, und hat er einen gu-
ten Hund, das natuͤrlichſte Hausgeſinde, das
Gott dem Menſchen zugeordet hat, wie wir
alle wiſſen, hetzt er Loͤwen, wie Haſen; ob-
gleich der Loͤwe Herzog unter den Thuͤren iſt;
als welches ich ihm gar nicht ſtreitig machen
will. Koͤnig mag ich, mit des Herrn Paſtors
Erlaubnis, ſolch ein edles Thier nicht nennen.
Wo iſt denn Unkraut? Nirgend. Freunde,
nur dann iſt Etwas Unkraut, wenn es nicht
an der rechten Stelle ſteht, wenn es nicht ge-
braucht, ſondern gemisbraucht wird. Dem
Thoren iſt alles Unkraut. Dem Weiſen iſt
alles Kraut, alles iſt ihm gut, was in der
Welt iſt, er machts, wie Gott der Herr, ſie-
het an, was Gott gemacht hat, und es iſt
alles ſehr gut.


Gott ſahe an, alles was er gemacht hatte,
und ſiehe da, es war alles ſehr wohl!
Was boͤſe ſcheiner iſt Gewinn;
Der Tod ſelbſt, iſt mein Leben!

ſingt ihre Frau! Der Schein truͤgt. Das,
was boͤſe ausſieht, die Grundtriebe, womit
der Menſch auf die Welt kommt, wie wickeln
ſie
[222] ſie ſich vortreflich aus! Laßt ſie nur wachſen,
ohne an einen Stock zu binden. Laßt ſie
wachſen, wie Gott und ſie wollen, und ſiehe
da! es iſt alles ſehr gut! Die Menſchen-
furcht, die das Mißtrauen, den Geiz und an-
dere Schand und Laſter erreget, auch ſie iſt
aus der unverſiegenden Quelle alles Guten! —
Welch eine Fuͤlle der Weisheit liegt in allem
verborgen! Eine Welt mit dieſem Boͤſen iſt
beſſer, als Eine ohne ſolches. O welch eine
Tiefe des Reichthums! beyde der Weisheit
und der Erkenntnis Gottes! Wie gar unbe-
greiflich, o Gott! mein Gott! ſind deine Ge-
richte und unerforſchlich deine Wege! Denn
wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer
iſt ſein Rathgeber geweſen, oder wer hat ihm
etwas zuvor gegeben, das ihm werde wieder
vergolten? Denn von ihm, und durch ihn,
und in ihm ſind alle Dinge! Ihm ſey Ehre
in Ewigkeit, Amen!


Was aus Gottes Haͤnden kommt, iſt ei-
tel gut! —
Ich nehme, wie ers giebet,
ſingt ihre Frau! die anders rechnet, als ich.
In der Summe ſtimmen alle gute Menſchen
auf ein Haar! Thoren! — Ihr wolt Gott
den Herrn meiſtern? Ihr wolt ſticken und
flicken,
[223] flicken, wie die Paſtorin ſagt. Es iſt nicht
voͤllig regelmaͤßig, glaubt ihr? und
wißt ihr denn, daß ſogar alles, was uͤber
die Regel wegragt, was der Regel uͤber die
Schulter ſieht, goͤttlich iſt! — Man
nennt das Geniezuͤge, die groͤßer als die ge-
meinen, bekannten Regeln ſind, und ſagt zu-
weilen von einem Stuͤck, wo doch zuweilen
nur ein einziger gewagter Strich vorfaͤllt:
Ueberaus ſchoͤn! Unvergleichlich! —


Ein Geſicht, iſt es blos regelmaͤßig, kann
es ſchoͤn ſeyn, aber nicht druͤber. So war
das Geſicht der Jungfrau Maria ſchoͤn.
Chriſtus, der Herr! hatte einen Zug, der
goͤttlich, der nicht regelgemaͤs war! — So,
und nicht anders, ſeht die Welt an! und fin-
det ihr dennoch boͤſes?
Was boͤſe ſcheinet iſt Gewinn;
Der Tod ſelbſt, iſt mein Leben!

Der Teufel ſelbſt, iſt Gottes Staatsminiſter.


An die Vorſehung glauben, iſt weit beſ-
ſer, als lauter gute Schickſale haben! Wir
wuͤrden ſonſt gleichguͤltig gegen alles ſeyn! —
Du denkeſt nicht an Gott? Wer lange nicht
an ihm gedacht hat, ſcheut ſich, ihm nahe zu
kommen! Er fuͤrchtet ſich vor ihm. Ungluͤck!
Iſt denn wirklich Ungluͤck in der Welt? Die
Kuͤnſte-
[224] Kuͤnſteleyen, die Beduͤrfniſſe, welche der
Menſch ſo muͤhſam ſuchte, haben ſein Ungluͤck
gemacht. Reichthum iſt nichts weſentliches.
In der im Argen liegenden Welt ſiehet er zwar
ſo aus; allein er iſt es nicht. Gott der Herr
wuͤrd’ ihn ſonſt ſo nicht vertheilt haben. Wer
hat denn den Reichthum? Gemeinhin Leute,
mit denen wir nicht tauſchen wuͤrden. Chri-
ſtus war ganz und gar nicht fuͤr den Reich-
thum, und da er wirklich an ſich etwas unna-
tuͤrliches iſt; wie ſchwer iſt es, hier ein guter
Amtmann Gottes zu ſeyn. Gott! wende
den Reichthum, wend thn von mir, wenn ich
die Buchhalterey nicht verſtehe, die vor Dir
gilt!


So denken, und nach dieſen Grundſaͤtzen
handeln, heißt: das Salz der Erde ſeyn, wo-
durch uns die Welt ſchmackhafter wird. Das
Reich, oder den Stand der Gnaden beſchleu-
nigen, dieſem Gnadenzeitpunkt Gewalt an-
thun. Hab ich nicht viel von Ihnen behal-
ten, Paſtor? —


Einen ſehr großen Theil iſt dieſer Gnaden-
punkt durch die Erſcheinung Chriſti ins Fleiſch
herangeruͤckt! — Daher heißen auch die Ta-
ge von den erſten Weyhnachten: dies iſt die
ange-
[225] angenehme Zeit, dies iſt der Tag des Heils! —
und es mag es geſungen haben, wer da will,
wahr iſts, daß durch Chriſti Herabkunft Frie-
de auf Erden und den Menſchen ein Wohlge-
fallen, und eben dadurch Ehre Gott in der
Hoͤhe, entſtanden!
Des ſollen wir alle froh ſeyn,
ſingt die Frau Paſtorin, und ich ſing es mit.
Was wollen Ew. WohlEhrwuͤrden mehr? —


Dies Singen und Sagen bringt mich zur
Behauptung, daß das alte Teſtament Poeſie,
das neue Proſa ſey: ſo wie die Poeſie eher,
als die Proſa geweſen. Garten, wie wir wiſ-
ſen, eher als Feld. Alles war im ſo genann-
ten alten Bunde Bild! Opfern iſt ein ſehr
natuͤrlicher Gottesdienſt! Der Rauch geht
hinauf, er traͤgt wirklich etwas ab, und zwar
eben dahin, von wo ſo viele gute und voll-
kommne Gaben herabkommen. Seht nur,
wie im Junius die Natur opfert! Das Op-
fer ſteigt hinauf, welches die Blumen dem
himmliſchen Vater bringen! die Erſtlinge des
Fruͤhlings! Wie natuͤrlich die erſten Men-
ſchen aufs Opfern gekommen! Es iſt viel
Poeſie beym Opfer, ſagten ſie, Paſtor!
Wahr! Weg mit dem Rauch aus der Schach-
Ptel
[226] tel des Apothekers! Laßt die Blumen opfern;
wir wollen im heiligen Leben wandeln! —
Das Alter iſt nicht ſo empfindſam, als die
Jugend. Es ſcheinet, dieſes ſey die Folge der
Vernunft. Einer jungen Frucht druͤckt man
alles ein. Wozu dienen aber junge unreife
Fruͤchte? Freylich ſchmecken unreife Stachel-
beeren mit jungen Huͤnern nicht uͤbel; — al-
lein ſie muͤſſen verſuͤßt werden, und reif bleibt
doch reif —


Chriſtus brachte die Menſchen auf die Aka-
demie, nachdem ſie vorher in der Schule ge-
weſen und oft Schullaͤufer geworden. Nie
legt’ er es darauf an, ein weltliches Reich zu
ſtiften. Haͤtt’ ers gethan, ſagt ſelbſt, wer
kann es oft genug fragen, waͤre es nicht ge-
weſen, um das Reich Gottes naͤher zu brin-
gen? Johannes und Jacobus ließen zwar
durch ihre Frau Mutter ein Paar Plaͤtze zur
Rechten und Linken beſtellen; allein Chriſtus
gab ihnen zur Reſolution, ihr wiſſet nicht,
was ihr bittet. Er war ein Jude, weil die-
ſes Volk das einzige war, das mit ſo entſetz-
licher Muͤhe zum einigen alleinigen Gott, der
ein Geiſt iſt und nicht abgebildet werden kann,
vor-
[227] vorbereitet worden, ſagen die Herren Theolo-
gen. Mag ſeyn, auch nicht! Was geht
mich das Warum an?


Wer kann einen Geiſt mahlen? und wenn
er nicht gemahlt wird, wie es ein juͤdiſches
Kirchengeſetz war, wie ſchwer iſt er von Men-
ſchen zu glauben, die nur auf das Augſicht-
bare zu ſehen gewohnt ſind? Man kann es
ſich kaum vorſtellen, wie ſehr das Menſchen-
geſchlecht von je her zur Abgoͤtterey geneigt
iſt! Chriſtus nannte Gott den Herrn, Va-
ter, und wenn unſere Mahler ihn als einen
alten Mann bilden, kann es bleiben? Iſts
verwerflich?


Wie eifrig Chriſtus bemuͤht geweſen, die
reine Erkenntnis Gottes zu lehren, beweiſen
die Evangeliſten, die, unter uns geſagt, auch
mehr haͤtten von Chriſto aufſchreiben koͤnnen.
Es ſind auch viel andere Dinge, die Je-
ſus gethan hat
, ſagt Johannes, welche,
ſo ſie ſolten eins nach dem andern geſchrieben
werden, achte ich, die Welt wuͤrde die Buͤcher
nicht begreifen, die zu beſchreiben waͤren.
Lieber Johannes! Der Paſtor und ich haͤtten
ſie begriffen; denn wir ſind nicht von der Welt.


Moſes kleidete die abſtrakten Wahrheiten
in Allegorien ein! So die Schoͤpfung in ein
P 2Fruͤh-
[228] Fruͤhſtuͤck, ſo die Quelle des moraliſchen Boͤ-
ſen in die Erzaͤhlung vom verbotenen Baum.
So den Urſprung der mancherley Sprachen
in die Geſchichte vom Turmbau zu Babel.
Chriſtus, der Herr, war ſehr entfernt von
aller ruͤckhaltenden, aberglaͤubiſchen, ſpitzfin-
digen Lehrart, welche, voll Verachtung gegen
alles faßliche, gern in der Daͤmmerung iſt.
Er war das wahrhafte Licht, welches die Welt
erleuchtete. Seine Lehre war eine Kinderlehre;
allein man ſieht es noch jezt, wie groß ſie ſey!
Er war wahrlich ein Geſandter Gottes, der
in Gottes Schoos war, und Gott verkuͤndiget
hat, den kein Menſch geſehen hat, noch ſehen
kann. Seine Offenbarung, ſeine Verkuͤndi-
gung, that der Vernunft die treflichſten Dien-
ſte; ſo wie dieſe ſie nach der Zeit und noch
jezt erwiedert. Seit dem Chriſtenthum iſt
noch kein Philoſoph geweſen, deſſen Vernunft
nicht von der Offenbarung geleitet, oder be-
ſtochen worden! — Die guten lieben Herren,
den Paſtor nicht ausgenommen! Man ſolte
Wunder denken, wo ſie es her haben? Lies
das neue Teſtament, geneigter philoſophiſcher
Leſer! und du wirſt finden, daß die Philoſo-
phie nichts weiter als Formalitaͤt, als Lei-
ſten, als Woͤrterbuch ſey. Suche, ſo wirſt
du
[229] du finden, klopfe an, ſo wird dir aufge-
than!


Chriſtus forderte eine Reinigkeit des Her-
zens, die noch nie jemand vor ihm gelehrt hat.
Der Menſch ſoll, des Glaubens halber an
Gott, und nicht aus Stolz, aus Gewinnſucht,
ſeinen Obliegenheiten nachkommen. Es ſoll
kein Waſſer dieſen Wein verderben, und iſt ſie
denn nicht werth, die Tugend, daß man ſie
liebt? Hat ſie denn nicht die gluͤcklichſten
Folgen, die bis in Ewigkeit dauren? Nichts
vergeht ganz. Alles, der Koͤrper ſelbſt, iſt
ewig, und unſere Handlungen? Keine iſt
kinderlos. Jede pflanzt ſich fort, und oft
wird aus einem Adam von Handlung Eine
ganze Welt! Laſſet uns gutes thun, und
nicht muͤde werden; denn zu ſeiner Zeit wer-
den wir erndten ohne Aufhoͤren! Ueber die-
ſen Spruch hoͤrte ich Sie predigen, lieber Pa-
ſtor, und noch hoͤr ich Sie, ſo wohl thut mir
dieſe Predigt!


Der Menſch iſt auf der Stufe ſeiner goͤtt-
lichen Natur nicht im Stande, ſo Herr ſeiner
Handlungen zu ſeyn, daß er den moraliſchen
P 3Ge-
[230] Geſetzen voͤllig folgen koͤnnte. Die Welt hat
eine Beziehung auf unſere Seele und Koͤrper,
nachdem wir die Welt aus dieſem oder einem
andern Geſichtspunkte faſſen. Bald ſo, bald
ſo. Gehts uns ſchlecht, iſt alles ſchlecht.
Geht es uns wohl, ſo laͤchelt uns alles an.
Zwar iſt der Geiſt unabhaͤngig vom Koͤrper,
und ſagen wir alſo nicht: ſein boͤſer Geiſt, ſein
guter Geiſt; ſondern ſein boͤſes Herz, ſein gu-
tes Herz. Wer kann den Geiſt indeſſen allen
aͤußern Antrieben entziehen? Dieſen Geiſt,
wer kann ihn heiligen, ſo wie Gott heilig
iſt? — Wer kann ihn gewoͤhnen, blos nach
Grundſaͤtzen der Vernunft zu handeln? Die-
ſer Kampf des Geiſtes und des Fleiſches iſt
der gute Kampf, den wir alle kaͤmpfen —
Um mich indeſſen in einer fuͤr mich ſo hoͤchſt
wichtigen Sache nicht in Ungewißheit zu laſ-
ſen, und mich von der Sentenz zu unterrich-
ten, die Gott vor ſeinem Richterſtuhl uͤber
jede meiner Handlungen ausſpricht, gab er
mir ein moraliſches Gefuͤhl.


Vor Gott ſind die Himmel nicht rein, und
eine ganz abſolute Vollkommenheit kann in
keinem redlichen Weſen ſeyn. Etwas, das
uͤber
[231] uͤber die Schranken der menſchlichen Natur
geht, kann der Schoͤpfer nicht fordern. Es
giebt keinen allgemeinen guten, und keinen
allgemeinen boͤſen Menſchen.


Erbſuͤnde iſt vielleicht Bewußtſeyn von
natuͤrlicher Freyheit, mit der wir alle auf die
Welt kommen, vorzuͤglich ein Curlaͤnder.
Die Herren Theologen nehmen ſie anders.
Ich laſſe ſie bey ihrer Freyheit; allein ich be-
ſtehe auch auf die meinige. In dem Sinn,
wie die Herren Geiſtlichen es nehmen, hat die
Frau v. W — keine Erbſuͤnde, und ſo kenn’
ich viel ohne Erbſuͤnde — Was iſt die Erb-
ſuͤnde nach der Meynung der Geiſtlichen?
Ein Kind der Dogmatik. Der erſte ſchlechte
Erzieher, der ſich entſchuldigen wolte, erfand
dies Namenſpiel.


Wie kann ſich aber der Menſch bey dem
Bewußtſeyn, geſuͤndiget zu haben, beruhigen?
Es giebt im eigentlichen Sinn nur Suͤnde
wider ſeinen Naͤchſten. Wir ſuͤndigen wider
Gott in ſo weit, als wir unſern Bruder belei-
digen. Die Liebe zu Gott hat keinen andern
P 4Be-
[232] Beweiß, als die Liebe zum Bruder. Die
meiſten Menſchen glauben, den lieben Gott
ſo behandeln zu muͤſſen, wie einen vornehmen
Herrn; obgleich Chriſtus ihn als Vater dar-
geſtellt hat. Er hat ſich uns zum Vater
hergegeben
. Wer hat ſich aber nicht von
Jugend auf angewoͤhnt, Gott zu ſchmeichlen,
dem Herzenskuͤndiger muͤndlich zu verſichern,
was uns nicht ums Herz iſt? Ihn mit den
Lippen zu ehren, und die Seele, ſein Gnaden-
werk, von ihm zu entfernen?


Kurz, wer bemuͤht ſich nicht, durch ſuͤße
Reden Gott ums Herz zu betruͤgen? Solch
eine Fuͤhrung halt ich gerades Weges fuͤr
Menſchengebot und Menſchentand. Wenn
es mich angreift, ſchreye ich aus. Ich bin
zuweilen ordentlich boͤſ’ auf den lieben Gott,
und da wett ich, das muß ihm lieber ſeyn,
als wenn ich den Widerwaͤrtigkeiten aͤußerlich
begegne, wie einem Boten von ihm, und in-
nerlich wuͤnſche, daß dieſer Abgeordnete zum
T — waͤre! — Ich bekenne es frey, daß ich
nicht danken, nicht beten kann, wenn mich
Ungluͤck trift. Wenns donnert, iſt der luſtig-
ſte Vogel hypochondriſch, und wenns ein ſchoͤ-
ner Morgen iſt, wie jubilirt die ganze Schoͤp-
fung! Ueberhaupt denk ich vom Gebet an-
ders,
[233] ders, als der Paſtor; obgleich ich das meiſte
von ſeiner Meynung auf und angenommen,
und wol eins mit bete, wenns ſo die Gelegen-
heit giebt. Thor! was kann denn dem goͤtt-
lichen Weſen damit gedient ſeyn, daß du ſei-
nethalben die Augen verkehrſt, dich krampfar-
tig ſtelleſt, die Haͤnde ins Kreuz haͤltſt — des
Sonntags ſo thuſt, als haͤtteſt du die Wache
vor ſeinem Pallaſt —


Mit dieſen meinen Geſinnungen ſtimmt
meine Hymne, die ich Gott dem Herrn beym
Eingange dieſes Aufſatzes angeſtimmt, und
die mich zuweilen ſo anwandelt, daß ich mich
kaum auf den Fuͤßen halten kann. Ich
ſpring, als wolt’ ich gen Himmel ſpringen, ſo
ein alter ſteifer Kerl ich bin. Eine Ader hab
ich mir dabey nicht verrenket. Da hab ich
zuweilen eine Hymneſtunde, wo mir das Herz
die Bruſt durchſtoßen will. Hinauf will es,
und alles um mich her hat dann eine allerlieb-
ſte Stimme: alles ſingt melodiſch, Gott al-
lein die Ehre
! Lachen iſt ein Kranz, der ge-
meinhin ſauren Wein anpreiſet: Meine Freu-
de braucht keinen Kranz — die Natur hat
eine Wonnecirculation, die mich zu dieſer
Freude auffordert.


P 5Was
[234]

Was kann es dem lieben Gott helfen,
wenn ich, dem lieben Gott zu Ehren, meiner
begangnen Suͤnden halber einen Trauerrock
anlege, mit Kloͤtzen an den Fuͤßen gehe? das
nenn ich, die edle Zeit toͤdten und Suͤnden
mit Suͤnden haͤufen. Anſtatt Leide zu tragen
um meinen Todten, erzieh ich meine uͤbrigen
Kinder und ſage zum verſtorbenen Sohne:
ruhe wohl! Es beſſer machen, durch Scha-
den klug, wie neu gebohren werden, ein ander
Leben anfangen, das heißt: Buße thun, und
dies fuͤhrt die Vergebung der Suͤnden mit ſich.
Das Bewußtſeyn einer guten That, wodurch
wir uns am Morgen des neuen Lebens aus-
zeichnen, vertreibt die vorige finſtre Nacht der
Suͤnden! — Es iſt ſo, als wenn man ein
friſches Hemd anzieht! — Iſt die Suͤnde
zu erſetzen, gilt vor dem Erſatz keine andre
gute Handlung? Mit zinſenreichem Erſatz
faͤngt ſich das Werk der Bekehrung an. Iſt
aber dieſe Genugthuung nicht moͤglich; ſo
nehm ich die Einbildungskraft zu Huͤlfe und
ſtelle mir jemand dar, dem ichs vergelte, dem
ich in des beleidigten Namen Gutes thue!
in eines Juͤngers Namen ein Glas Waſſer
reiche. Gott! denk ich, hat doch einmal ei-
nen vollkommnen Menſchen geſehen, Jeſum
Chri-
[235] Chriſtum, der gerecht iſt. Wenns auch mit
dir fehlt hie und da, ſey unverzagt! — und ich
bins auch! — Bete du nur zehn Jahre und
gib der Wittwe nicht das Stuͤck Waizenland
wieder, um das du ſie betrogeſt, wirſt du Ru-
he haben, wenn dich ein hitziges Fieber er-
greift? oder es ſich ſonſt uͤber deinem Haupte
zuſammenzieht? — Mit nichten. Die beſte
Cur iſt eine gute Handlung, wodurch das
Bewußtſeyn in dir auflodert: dir ſind deine
Suͤnden vergeben. Dies war das Recept,
das Chriſtus verſchrieb, und wahrlich es iſt
kein Kraut, kein Pflaſter, was ſo heilet wie
dies! — Viele [Leute] werden geſund, wenn ſie
ein Teſtament gemacht haben, und ich halte
dies fuͤr ein gewiſſeres Nothmittel, als das
verſparte Aderlaſſen. So bald der Menſch
ruhig iſt, ſo bald er empfindet, ſeine Suͤnden
ſind ihm vergeben; ſo ſteht er bald auf und
wandelt! — Paſtor! Sie ſagten einſt, wie
mich duͤnkt: man muß die Koͤrpercur mit der
Seelencur anfangen! — Die Hypochondrie
iſt gemeinhin eine im Gemuͤth ſtecken geblie-
bene Suͤnde, die ich an mir ſelbſt veruͤbt.
Giebts denn Suͤnden an mir ſelbſt? Freylich!
denn ich bin mir ſelbſt der Naͤchſte; allein ſol-
che Suͤnden haben mir noch keine ſchwere
Lebens-
[236] Lebensſtunde gemacht, ich leide ihrethalber die
natuͤrlichen Strafen. Ich ſterbe ihretwegen
taͤglich und ſuche mir durch Bewegung und
ein Glas Wein die Gedanken zu vertreiben,
wenn ſie mir ins Ohr raunen: du biſt ein
Selbſtdieb! Gottlob, ein Selbſtmoͤrder bin
ich nicht! — Wer aber nie an ſich ſelbſt ge-
ſuͤndiget, der hebe den erſten Stein wider
mich! Ich bitte, den Herrn Generalſuperin-
tendent nicht ausgeſchloſſen, ich bitte! —


Gott ſey mir Suͤnder gnaͤdig! das
war ſo herzlich, als: Gott allein die Ehre!


Es giebt Seelen, die ſich immer gleich,
und wie ein ſanfter ſchoͤner Tag ſind, wo es
immer ſcheint, es wolle die Sonne hervor,
es wolle regnen, und es regnet nicht und es
ſcheint nicht die Sonne! Ich habe auch der-
gleichen Tage gehabt. Man koͤnnte ſie heilige
Tage nennen, und den, der ſie zu leben ver-
ſteht, einen der geheiliget iſt! da komm ei-
nem, was da will, es regnet nicht, es ſcheint
nicht die Sonne. Die Empfindung, daß uns
alles, alles, zum beſten dient, wuͤrkt ſo ſtark
auf unſer Herz, daß wir innerlich und aͤußer-
lich ruhig ſind! Da ſieht man, ſo zu ſagen,
in allem Gott den Herrn. Jaget nach der
Heiligung, ſagt der Apoſtel, ohne welche
wird
[237] wird niemand den Herrn ſehen! Gott laß
mich ſo leben, ſo ſterben!


Leidenſchaften ſind Engel und koͤnnen Teu-
fel werden. Sie ſind Befoͤrderer, Mitwuͤr-
ker des Guten. Sie geben Spannkraft und
Thaͤtigkeit den Muͤden! — Waͤrme und Leben
dem Kaltgewordenen.


Wohl dem, der ſich der Leidenſchaften zu
ſeinem eigenen und zum Vortheil ſeines Naͤch-
ſten bedient, der alles zu edlen Abſichten lenkt!
Hat doch jemand geſagt, das Ungeziefer waͤre
blos da, um die Faulen zur Arbeit zu trei-
ben! — Daß dich doch die Muͤcke dafuͤr
ſtaͤche! —


Noch nie hat ſich ein Menſch ſeiner Suͤn-
den als Suͤnden geruͤhmt. Er wolte viel-
mehr durch dieſe ſeine Offenherzigkeit den an-
dern auf das Gute aufmerkſam machen, was
in dieſem Boͤſen lag. Wer Boͤſes von ſich
ſagt, iſt oft der feinſte Lobredner auf ſich.
Man denkt, er wolle ſich was Leides thun;
allein er thut ſich was zu gut, ſo wie ſich
niemand ums Leben bringt, der in aller Welt
Augen
[238] Augen die Piſtole ladet und laut rufet: auf
mich! Wen er lieb hat, den zuͤchtigt er,
koͤnnte man vom Menſchen ſagen, der uͤbel
von ſich ſelbſt ſpricht.


Da Chriſtus den großen Zweck ſeiner
Sendung nicht erreichen konnte, ſondern bey
der evangeliſchen Lehre des Gnadenſtandes,
des Heilſtandes, nichts anders, als Verach-
tung und den Tod ſelbſt erduldete; ſo war es
kein Wunder, daß ſeine Juͤnger, die ſo weit
von ihrem Meiſter abſtanden, ob dieſem Wer-
ke verzweifelten, bis ſie endlich, nach ſehr ge-
heimen Berathſchlagungen, ſich entſchloſſen,
das Evangelium zu verkuͤndigen, bis daß Er
kaͤme! bis daß ſein Reich kaͤme, und wir ihn
wieder im Geiſte dargeſtellt ſaͤhen! — Ein ein-
muͤthiger heiliger Geiſt beſeelte die Juͤnger ſo,
daß ſie das Werk anfiengen mit Freuden, und
fuͤr ſo eine gute Abſicht Maͤrtyrer zu werden
kein Bedenken trugen.


Obgleich Menſchenſatzungen die Religion
Jeſu ſo ſehr verdunkelt, daß, wenn Chriſtus
herabkaͤme, er die Chriſten nicht kennen wuͤr-
de;
[239] de; ſagt! iſt ſie nicht noch jetzt, ſo wie ſie
da liegt, vortreflich? Iſt ſie nicht die ein-
zige, die den Menſchen zum Gnadenreiche,
zum Stande der Gnaden, zu bringen Kraft
und Staͤrke hat? Ich hab es anfaͤnglich ſo
nicht eingeſehen; allein jetzt glaub ich, daß
in dieſer Lehre Leben fuͤr dieſe, und Selig-
keit fuͤr die andre Welt liege.


Die Juͤnger Chriſti waren ehrliche Kerls,
bis auf den Judas, der ihn verrieth. Pe-
trus
war feurig, Jacobus ſtrenge, Jo-
hannes
ſanft. Keiner hat ſich Schaͤtze er-
worben. Wie lebten ſie, wie ſtarben ſie? ſo
lebt, ſo ſtirbt kein Leutbetruͤger!


Vornehm werden wollen heißt, darauf
ausgehen, daß man bewundert oder beneidet
wird; beydes taugt nicht! Sich Gluͤck
wuͤnſchen heißt, andere kleiner verlangen, als
man ſelbſt iſt. Andere auf ſeine Koſten un-
gluͤcklich wiſſen! — Solche eigennuͤtzige
ſtrafbare Wuͤnſche ſind geradesweges dem
Gnadenreiche Chriſti entgegen, wo kein
Kronprinz, kein Koͤnigsbruder iſt. Der erſte
iſt der letzte, der letzte der erſte. Der Ge-
ringſte der Vornehmſte, der Vornehmſte der
Ge-
[240] Geringſte. — Gegenſeitige Geſinnungen
bey ſeinem Beſten zu bemerken; mußte den
Erretter, den Erloͤſer des ganzen menſchli-
chen Geſchlechts, ganz natuͤrlich zum Ruͤck-
halt gegen dieſe ſeine ſonſt guten Freunde
bringen, welche die zwoͤlf Staͤmme unter ſich
theilten, und durchaus etwas vorſtellen wol-
ten! — War es Wunder? Waͤren wir in
allen ihren Umſtaͤnden beſſer geweſen? Ich
glaub es nicht. Chriſtus nahm ſie alſo wie
Kinder, denen man durch Gleichniſſe, durch
Erzaͤhlungen, auf den rechten Weg hilft,
und ſagt, Freunde! wenn Chriſtus in Cur-
land gewandelt haͤtte, wo doch alles von
Freyheit ſpricht, waͤr er nicht gekreuziget?
Sie, Paſtor, ſind eins mit mir. Was
wuͤrde nicht im deſpotiſchen, im monarchi-
ſchen Staate werden! Noch jetzt kann man
Chriſti Abſicht, ſo klar ſie gleich da liegt,
weder errathen, noch ertragen. Man haͤlt
ſie unmoͤglich. Was aber bey Menſchen un-
moͤglich iſt, iſt es nicht bey Gott. Wie lang-
ſam gehts mit der wahren Erkenntniß Got-
tes und mit der Tugenduͤbung! Wahrlich
Chriſtus leidet noch — wie ſeine Worte ge-
kreuziget werden!


Getroſt!
[241]

Getroſt! —


Johannes, der Schoosjuͤnger Chriſti,
ſahe, da er ein hohes Alter erreichet hatte,
ein, daß die zwoͤlfe nicht im Stande gewe-
ſen, dieſes große Werk auszufuͤhren; allein
ſeine Hofnung war noch feſt! — Die Re-
ligion Chriſti war nicht Menſchenwerk. Er
half ſich mit der Einbildungskraft, da wo er
ſich verlaſſen fuͤhlte. In ſeinem Geſichte ſah
er einen Engel vom Himmel fahren, der
hatte den Schluͤſſel zum Abgrunde, und eine
groſſe Kette in der Hand. Doch warum
dieſe Zuͤge von einem ſo ins Große gemahl-
ten Bilde? — Er ergrif das Erdenelend
und band es tauſend Jahr. Johannes, der
es empfand, wie Menſchunmoͤglich es ſey,
Chriſti Reich auf Erden zu verbreiten, ohne
daß Tyranney und Bosheit gefeſſelt wuͤrden,
bildete ſich ein: Es ſey alſo. Er ſtelte ſich,
um ſich nicht zu vergeſſen, vor, daß die Maͤr-
tyrer, die Zeugen Jeſu, welche die Mahlzei-
chen an Stirn und Hand haͤtten, jetzt in die-
ſem Gnadenſtand eingehen und tauſend Jahr
mit Chriſto regieren wuͤrden! — Selig iſt
der und heilig, der Theil hat an der erſten
Auferſtehung; uͤber ſolche hat der andre Tod
keine Macht, ſondern ſie werden Prieſter
QGot-
[242] Gottes und Chriſti ſeyn, und mit ihm regie-
ren tauſend Jahr.


Der hat den Himmel auf Erden, deſſen
Lebenszeit in dieſe tauſend Jahre faͤlt, wo
man einſehen wird, was Chriſtus und die
Maͤrtyrer beabſichtiget. Nach dieſer tauſend-
jaͤhrigen Regierung bildet ſich Johannes wie-
der Tyranney und Blutvergießen ein! Das
Erdenelend wird wieder losgeſchloſſen; allein
nach ſeiner Vorſtellung ſoll es nicht lange
dauren. Hallelujah! Es kommt ein neuer
Himmel, eine andere Denkungsart von
Gott, eine neue Erde, andere Menſchen.
Da iſt er! Ein immerwaͤhrender Stand der
Herrlichkeit! —


Ich, ſagte Johannes, ſahe die heilige
Stadt, das neue Jeruſalem, von Gott aus
dem Himmel herabfahren, zubereitet als eine
geſchmuͤckte Braut ihrem Manne, und hoͤrte
eine große Stimme von dem Stuhl, die
ſprach: Siehe da eine Huͤtte Gottes bey den
Menſchen, und er wird bey ihnen wohnen
und ſie werden ſein Volk ſeyn, und er ſelbſt,
Gott, mit ihnen, wird ihr Gott ſeyn, und
Gott wird abwiſchen alle Thraͤnen von ihren
Augen, und der Tod wird nicht mehr ſeyn,
noch Leid, noch Geſchrey, noch Schmerz wird
mehr
[243] mehr ſeyn; denn das erſte iſt vergangen, und
der auf dem Stuhl ſaß, ſprach: Siehe! ich
mache alles neu und er ſpricht zu mir:
ſchreibe, denn dieſe Worte ſind wahrhaftig
und gewiß.


Amen! Amen!


Meditiren, wie die Gelehrten es nennen,
nachdenken, wie der gemeine Mann ſagt,
heißt, in vielen Faͤllen, beten! — Wer das
Gebet als einen Erzwang in Hinſicht der Sa-
chen, die er bittet, anſieht, irrt ſich; es iſt
nur die Connexion, in die man ſich mit Gott
ſetzt. Das Vater unſer kann jeder Menſch
beten; wenn wir indeſſen, wenn Gott will,
in den Stand der Gnaden und in den Stand
der ewigen Herrlichkeit eingetreten, muͤſſen
wir ein anderes Gebet haben, nicht wahr lie-
ber Paſtor? dazu uns Gott ſeine Gnade und
ſeines Geiſtes Beyſtand, Staͤrke und Huͤlfe
verleihen wolle! — Ja Gott, der in uns
angefangen hat das gute Werk, wolle es durch
ſeinen heiligen Geiſt in uns beſtaͤtigen und
vollfuͤhren bis auf den Introductions-Tag
des Standes der ewigen Herrlichkeit, bis auf
den Tag Jeſu Chriſti. Getreu iſt Gott, der
euch ruft, wirds auch thun.


Q 2Ein
[244]

Ein Atheiſt iſt der, welcher ſeinen Bru-
der nicht liebet, den er ſiehet! Selbſtver-
leugnung iſt Erſparung an ſich ſelbſt, um ge-
gen den Naͤchſten freygebig zu ſeyn. Freude
iſt Dankſagung. Wolte Gott! daß ich alle
Menſchen dies zu uͤben bewegen koͤnnte! Das
wuͤrde heiſſen: ſie beten lehren! Vergib dei-
nem Bruder, vergiß nicht, daß du erſt von
den mehrern Pfunden, die Gott dir verlieh,
Rechnung abzulegen verbunden biſt, ehe du
vor Gott treten kannſt! — Vor Johanni
beſtellen die Leute ein Gebet beym Prediger,
nach Johanni, ſagt Gevatter Hans, will ich
ſchon mit meiner Grete beten. Warum ha-
ben die gemeinſten Leute Neigung zu Spoͤtte-
reyen? Man ſolte ihnen nicht mehr zu glau-
ben aufgeben, als glaublich iſt. Ein Tho-
mas wirft alles uͤber und uͤber, und ſein
Nachbar glaubt, was das Zeug haͤlt, um
mit Glauben dem Thun auszuhelfen! —
Aufforderungen zu guten Handlungen, ſind
nicht Handlungen ſelbſt; das Gelaͤute keine
Predigt. Der Chriſt hat zwar ſeinen Stern
am Himmel, wie die Weiſen aus dem Mor-
genlande; allein er muß auch ſeine Lampe
in der Hand halten, wie die fuͤnf klugen
Jungfrauen. Viele berufen, wenige aus-
erwaͤhlet.


Die
[245]

Die Welt iſt vor der Hand nicht im
Stande der Gnaden. Man muß ſie ſo ver-
brauchen. Doch befinde ich mich unter We-
ſen, die mit mir zu einer Claſſe gehoͤren, de-
nen Gott Augen, Ohren, Vernunft und alle
Sinne gegeben hat. Was iſt billiger, als
daß ich in Ruͤckſicht dieſer meiner geliebten
Mitbruͤder genau nach den Vorſchriften ver-
fahre, die uns der Wille unſeres gemein-
ſchaftlichen Urhebers vorgeſchrieben hat. Im
Worte Bruder liegen alle dieſe Pflichten zu-
ſammen. Bruder iſt ein großes Wort. Mich
freut es recht von Herzen, daß dies Wort
in Curland ſo gang und gaͤbe iſt! — Zwar
iſt es in den meiſten Faͤllen nur ſo da, der
Mode halber, wie hohl dich — indeſſen iſt
Rom nicht an einem Tage erbaut.


Durch die Geburt ſehe ich mich in gewiſſe
geſellſchaftliche Verbindungen geſetzt, zu wel-
chen ich zwar meine Einwilligung nicht mit-
telſt eines deutlichen und aufrichtigen Ja-
worts beygetragen; hab ich aber nicht An-
theil an den gemeinſchaftlichen Vortheilen ge-
nommen? Fordern mich alſo Geſetze des
Staats, in dem ich lebe, auf, denen das
Q 3Ge-
[246] Gewiſſen ſeine Stimme nicht entzieht; ſo bin
ich ſchuldig, treu, hold und gegenwaͤrtig zu
ſeyn. Ich muß das Land das mir Brod
und Waſſer giebt, nicht als eine Herberge
anſehen, wo man ſich oft laͤnger, als man
wuͤnſcht, aufzuhalten verbunden iſt, weil ein
Rad gebrochen. Weſſen Brod ich eſſe, deſ-
ſen Lied ich ſinge.


Gott aber muß man mehr gehorchen als
den Menſchen.


Die Religion im jetzigen Sinn iſt der
zweyte Theil der Staatsverfaſſung. Sie iſt
die Ehegattin der Staatsklugheit. Ich bin
nicht berechtiget, wider die Religion, die der
Staat entweder als Mitregentin nimmt, oder
als Freundlingin ſchaͤtzet, mir eine Verraͤ-
therey zu Schulden kommen zu laßen —


In dieſer Ruͤckſicht bekenne ich mich, als
ein Mitglied eines chriſtlichen Staats, zur
chriſtlichen Religion in ſo fern derſelben Lehr-
ſaͤtze meinen gepruͤften und als wahr aner-
kanndten Grundſaͤtzen, bey denen mein Ge-
wiſſen praͤſidiret, nicht entgegen ſind. Von
dieſer Oberrathsſtube gilt keine Appellation
nach Warſchau —


Kei-
[247]

Keinem will und werd ich meine Grund-
ſaͤtze nahe legen. Nie wuͤrd ich mit dem gu-
ten Paſtor geſtritten haben, wenn er nicht der
Paſtor in — und ich der waͤre, der ich bin!
Warum wir uns aber zehn Jahre abgeſon-
dert, begreif ich nicht bis dieſen Augenblick.
Luthers Schne, pflegten Sie zu ſagen, ſind
nicht allen Dorfprieſtern gerecht —


Ueber Vermoͤgen fordre ich von mei-
nen Untergebenen, ſie moͤgen undeutſch oder
deutſch ſeyn, keinen Schritt. Wenn Gott es
mit den Ungerechten machte, wie ſie mit ihren
Schuldnern — — —


Milchhaar wird auch braun oder ſchwarz,
und wo iſt denn eine Luſt, die ihren Gift
nicht bey ſich traͤgt? wo iſt ein Mahl von
reinen Wein voll Mark, darinn kein Hefen
iſt? wo eine Suͤnde ohne Strafe! — Wuͤ-
ſteney iſt in der Stadt.
Das iſt ein Text,
wo er ſteht weis mein Hofmeiſter, den Gott
troͤſte! am beſten. Was iſt aber richtiger
als Wuͤſteney iſt in der Welt. Ein unver-
faͤlſchtes Lachen giebt es nicht in der Welt.
Jeder leidet was ſeine Thaten werth ſind.
Der Weiſe ruͤhmt ſich eines Seelenvergnuͤ-
Q 4gens,
[248] gens, und wirft ſeinem Weibe aus Verdruß
einen Porcellain-Aufſatz nach dem Kopf.
Ein lautes Vergnuͤgen haͤlt man fuͤr Rauſch.
Saur und ſuͤß eſſen Vornehme und Geringe,
und wenn man ein rechtes Vergnuͤgen be-
ſchreiben will, heißt es eine Thraͤnenwonne.
Die goͤttliche Traurigkeit, die Reue, die
niemand gereuet, iſt ein Beweiß, daß
Freude und Leid ſich verhalten, wie Roſen und
Dornen —


Ich fuͤhle zwar mich und meine Kraͤfte in
gewiſſen Graͤnzen eingeſchloſſen; allein ich
weiß auch, daß das Ende dieſes Lebens nicht
auch das Ende meiner ganzen moraliſchen
Exiſtenz ſey; vielmehr hoffe und glaub’ ich,
daß wenn gleich mein Koͤrper durch die Ver-
weſung in ſeine erſten Theile aufgeloͤſet und
mit der uͤbrigen Materie vermiſcht wird,
ich daſſelbe ich und kein Fremder, fortdau-
ren werde.


Die Vernunft iſt ewig. Sie iſt der Sitz
des goͤttlichen Ebenbildes, und dies ſein Bild
ſolte Gott der Herr vernichten?


Glau-
[249]

Glauben, im gemeinen Leben, heißt, an-
derer Meynungen annehmen. Thun, heißt
nach ſeiner Ueberzeugung handeln.


Verſtand haben, heißt etwas verſtehen.


Leichtſinnig iſt der, welcher alles leicht
faßt; allein eben darum gehts hier herein,
dort heraus. Der Paſtor ſagt: ich waͤre
leichtſinnig; allein dieſer Aufſatz ſelbſt mag
Richter ſeyn, zwiſchen mir und ihm. Iſt
denn die Saat, die der Paſtor ausgeſtreut,
auf einen Felſen gefallen, wo, wenn es reg-
net, die Saat zwar keimen, ihr Haupt em-
por heben, allein nicht Wurzel ſchlagen kann?
wie ſolches alles der alte Herr in Muſic ge-
ſetzt hat. Iſt die Saat in Ruͤſicht meiner
auf einen ſo harten Boden gefallen, daß ſie
keinen Eindruck gemacht, ſondern dem Vo-
gel zum geſunden Fraß und dem Wanderer
zum Spiel gereichet? Wie der Wanderer ſie
da mit ſeinem Stabe aufſprenget! Gehoͤr
ich denn nicht zu den Seligen, die Got-
tes Wort hoͤren und bewahren? Ein Schwaͤr-
mer bin ich nicht, der alles gierig und heiß
ißt, und ſich total den Magen verdirbt. Er
kann die Zeit nicht abwarten — —


Alles iſt Geſchichte in der Welt, und da
kommts freylich viel drauf an; ob ich ſelbſt
Q 5geſe-
[250] geſehen, ſelbſt gehoͤrt, oder mir von andern
erzaͤhlen laſſen, was dieſe andere geſehen und
was ſie gehoͤret. Der hat ein Auge fuͤrs
Vergangene, der fuͤrs Gegenwaͤrtige. Man
ſagt: einige haͤtten es fuͤr die Zukunft. Ich
meines Orts habe keinen von der letzten Art
gekannt. Sie, Paſtor, ſehen das Gegen-
waͤrtige, als ſtuͤnd alles vor ihnen —


Wie lange kann es mit uns waͤhren? So
alt, oder aͤlter. Wir ſind nicht von dan-
nen, ſondern warten auf unſeres Leibes Er-
loͤſung.


So lang ich hoffe, leb ich, ſo lang ich
ſeufze, hoff ich. Ich bin der feſten Zuver-
ſicht, daß mein Tod mich nicht aus der Faſ-
ſung bringen werde. Jetzt, in dieſem Stan-
de der Suͤnden zu leben, wenn gleich Cur-
land noch hie und da vermoͤge der herrſchen-
den Freyheit mehr Ausſicht zum Gnadenrei-
che hat, als ein ander Land, was iſts mehr
als Wuͤſteney? Man ſtirbt jetzt des Erden-
leidens wegen gern, wenn gleich Krankheit
und Schmerzen uns den Tod verbittern. Im
Stande der Gnaden wird man gern ſterben,
weil bey einer einfachern Lebensart die Krank-
heiten
[251] heiten’ ſich von ſelbſt heben werden. Leicht
iſt der Tod immer. Alles iſt leicht, nur das
Leben nicht. Ein wahres Wort im Stande
der Suͤnde — Nur im Grabe hat der
Menſch alles unter ſeine Fuͤße gethan. Die
ſechs Seiten des Cubus ſind nicht der ganze
Inhalt unſeres Seyns —


Ob auf einem Berge mehr Kornaͤhren
oder Baͤume ſtehen koͤnnen, als auf dem ebe-
nen Grunde? war eine Frage, die jetzt ſo klar
beantwortet iſt, als: wie viel macht zwey mal
zwey — — — —


Ich bin vielleicht ſehr oͤfters ein ich ge-
weſen. Man hat drey Reiche, das Mine-
ral, Pflanzen, und Thierreich, die koͤnnte man,
duͤnkt mich, Reich der Allmacht, Reich der
Gnaden, Reich der Herrlichkeit nennen, be-
ſonders wenn man den Menſchen als das
letzte Thier in Erwaͤgung zieht. Durch dieſe
drey Reiche bin ich vielleicht ſchon durchge-
wandert. So wie ich leblos als Erde war,
ſo hatte ich Saft als Pflanze, bis ich als
Thier Blut bekam. Jetzt bin ich Menſch, bin
Thier
[252] Thier und Engel! — Die Seele iſt Mittler
zwiſchen Geiſt und Koͤrper. Mein Geiſt
denkt vernuͤnftig, zuſammenhaͤngend allge-
meine Wahrheiten; indeſſen iſt mein Geiſt
ein ausgelernter Geiſt. Kinder zeigen ſo we-
nig von allen dieſen Menſcheneigenſchaften,
daß einem jeden klugen Mann bange wird,
wenn er ſein Kind ſieht. Kluger Mann, ſag
ich, das heißt ein ſolcher der die wenigſte Af-
fenliebe hat. Wer hat ſie aber nicht? Gemein-
hin verzweifelt der Kluge auch in Verhaͤltnis
von ſich auf den Kleinen: ob je aus dem
Kindlein was werden wuͤrde, und eben dar-
um gerathen ſo ſelten die Kinder der Gelehr-
ten. In der erſten Jugend wiſſen ſie ſo viel,
daß man gewis glaubt, ſie wuͤrden eher Ma-
giſters werden, als Leibnitz; allein ſie blei-
ben bald ſtockſtill ſtehen — — Der Herr
Vater giebt ſie auf —


Vielleicht werd ich noch ein Paar mahl
verwandelt, ehe ich das Bewußtſeyn meines
ganzen Geweſens erhalte und die Kette uͤber-
ſehe, welche ich hinauf gieng. Mein Koͤr-
per ſteht auf. Nichts wird ganz vernichtet.
Alles, das geringſte Staͤubchen nicht ausge-
ſchloſſen, iſt zu etwas gut! — Die Vernunft
iſt ewig! ewig! Sie iſt der Sitz des goͤttli-
chen
[253] chen Ebenbildes, und dies Bild ſolte Gott der
Herr vernichten? — —


Hiemit will ich dieſen Aufſatz ſchließen,
den man wohl ſchwerlich von einem curſchen
von Adel erwarten ſolte.


Daß Herr v. G — in ſeinem Aufſatze
mancherley von meinem rechtglaͤubigen Vater
angebracht, iſt nicht zu leugnen; allein mein
Vater nahm ſich dieſer wuͤrklich ungerathenen
Kinder nicht an, ſtellte alles Gott heim, der
recht richtet und blieb bey ſeinem aut, aut
Obgleich er, wie wir wiſſen, zugeben mußte,
daß wenn jemand mit der Bibel allein einge-
ſchloſſen wuͤrde, er gewis nie unſer Kirchen-
ſyſtem herausbringen wuͤrde; ſo war er doch,
wie wir auch wiſſen, fuͤr die Zunftregeln, und
wolte durchaus nicht weiter gehen, als ſein
Schild es beſagte —


Dieſer Aufſatz konnte alſo bey ſolchen Ge-
ſinnungen ſo wenig befriedigend fuͤr meinen
Vater ſeyn, daß er ihn gewiß nicht ohne Be-
klemmungen ſeines Herzens geleſen haben
wird.


Herr v. G — hatte ihm einſtmahls in ei-
ner großen Geſellſchaft die Frage vorgelegt,
was
[254] was er wohl lieber aufgeben wuͤrde: die Bi-
bel, oder die natuͤrliche Religion? So et-
was zu fragen —


Herr v. G — konnte nicht aufhoͤren, ſich
uͤber die Unzulaͤnglichkeit der evangeliſchen
Nachrichten zu beklagen. Mein Vater erwie-
derte. Freylich ſind es fuͤnf Gerſtenbrodte
und ein wenig Fiſchlein, ſo die Evangeliſten
zuruͤckgelaſſen; allein den Segen druͤber ge-
ſprochen; ſo iſt es hinreichend, daß vier tau-
ſend Mann davon geſpeiſt werden koͤnnen,
wenn ſie auch noch ſo heißhungrig ſind, und
wie viel Koͤrbe blieben nicht noch fuͤr den Den-
ker uͤbrig! —


Herr v. G — war, wie meine Leſer ſichs
leicht vorſtellen koͤnnen, bey einer ſolchen
Denkart ein Sokratiker. Ich bin ein
Chriſt, ſagte mein Vater, mache mir eine
Ehre draus, und alle Rechtſchafne erkennen
mich dafuͤr?


Hier konnte man wohl mit Recht
als ob und
ja wohl

fragen und antworten.


Wenn ich noch mit einem Pauſch und
Bogengeſpraͤch uͤber den Sokrates dienen
kann, welches uͤber die zehnjaͤhrige Entfer-
nung
[255] nung ebenfalls Licht zu verbreiten im Stande
ſeyn duͤrfte, will ichs gerne.


Gehalten am Pauſch und Bogen
Tage kurz vor der Tafel an dem ſchoͤnen
Tage, da wir, mein Vater und ich,
nach — zum Herrn v. G — kamen,
und zwiſchen beyden ſtreitfuͤhrenden
Maͤchten ein Vergleich geſaͤet und be-
goſſen ward, wozu auch Gott das Ge-
deyen gab.


Wo wiſſen Sie denn, daß ein Sokrates
in der Welt geweſen, fragte mein Vater,
und zwar ein Sokrates eben ſo und nicht
anders?


Aus ſeinen Fruͤchten, antwortete Herr
v. G — ſolt ihr ihn erkennen. Kann man
auch Trauben leſen von den Dornen, und
Feigen von den Diſteln! — Plato —
ſuchte Ideale,
und fand den wuͤrklichen Sokrates! — Den
Apoſtel der Heiden.


Das war Paulus.


Nach Chriſti Geburt. Das Orakel ver-
ſichert, Sokrates ſey der weiſeſte unter allen
Menſchenkindern geweſen.


Σωϰράτης ἀνδρῶν σοφώτατος, weil er nichts
wußte.


Iſt
[256]

Iſt das verſtaͤndlich?


Ich verſtehe kein griechiſch.


Und ich dies Orakel nicht. Zwar weiß
ich den Unterſcheid zwiſchen Weisheit und
Wiſſenheit — —


Wer aus dieſem Zeugnis folgert, ergo
iſt der, der allerdummſte, welcher viel oder
alles weiß, Paſtor! der verdient zur Strafe
ewig mit einem umgewandten Kleide zugehen.


Ich laße kein Kleid kehren.


ich auch nicht.


Sokrates —


Was ſagte der Phyſiognomiſt von ihm?


Was Sokrates ſelbſt ſagte. Huͤte dich
fuͤr den, den Gott gezeichnet hat, iſt eine
apocryphiſche Regel. Iſt denn Paſtor! ein
Suͤnder, der Buße thut, iſt er nicht beſſer,
als neun und neunzig Gerechte die der Buße
nicht beduͤrfen? —


Wahr! ein Prophet aber muß nicht heß-
lich, nicht ſchoͤn ſeyn; ſo wie Waſſer und
Brod muß er in ſeinem Aeuſſern nach nichts
ſchmecken — Ὁ τόινυν τοιȣ´τω συνὼν σώματι,
τίνα, ἡγȣ´μεϑα, ῏ειχε ψυχήν. Huͤte dich fuͤr den,
den Gott gezeichnet hat, iſt freylich eine apo-
cryphiſche Regel; aber koͤnnen wir denn
die Sinnlichkeit ablegen, und trauen wir
wohl
[257] wohl einer Seele, die ſo ſchlecht wehnt, Ge-
ſchmack zu —? Niemand hat uns Chriſti
Geſtalt rein und lauter beſchrieben, weder
Lueas, noch die heilige Veronica, und ich
aͤrgre mich, wenn die Mahler und Zeichen-
meiſter ſich um die Wette bemuͤhen, einen
Chriſtus-Kopf darzuſtellen. Den werdet ihr
nicht treffen, lieben Leutlein! Ein Marien-
geſicht, das laß ich gelten, da wolt’ ich
ſchwoͤren, daß mein Weib einen Zug von ihr
hat. Mein Sohn lag in ſeinem vierzehnten
Jahre ohne Hofnung danieder, und mein
Weib, wie Maria des Herrn Mutter: ich
bin des Herrn Magd, mir geſchehe, wie du
geſagt haſt — ich ehre den Sokrates.
nicht ſo wie ich! —
kann ſeyn, weil ich ein Chriſt bin —


Und wenn es Sokrates auch geweſen?
Chriſtus war er nicht; warum wollen Sie
ihm aber den chriſtlichen Glauben abſprechen?
weil ſie ihm die Hand nicht auf ſeinen Mond-
kalbskopf gelegt —
Sie ſpoͤtteln,
und ſie predigen!
Das that Sokrates auch,
und ſchrieb nicht, ſo wie wir alle beyde
RDa
[258] Da ſind wir wieder zuſammen, wie Mann
und Weib! —


Nur noch lange nicht Eine Seele! Frey-
lich beſaß Sokrates etwas, das die Weiſen
ſeiner Zeit nicht hatten, was man einen Daͤ-
mon, einen ſokratiſchen Schutzengel nannte,
und was nichts weiter als ein philoſophiſches
Genie war. Genie und Daͤmon iſt nicht viel
auseinander —


Paſtor! den Rabbat laß ich mir nicht ge-
fallen; kann denn nicht wuͤrklich eine un-
ſichtbare Geſtalt — Wußte denn nicht So-
krates Zukuͤnftigkeiten?


Wie Sie und ich —


Zu Chriſto kam Nicodemus des Nachts;
zu Sokrates der Euclides.


Aber Nicodemus, ein ehrbarer Raths-
herr, maskirte ſich nicht in Weibertracht —


Wie Sokrates ſtarb! —


iſt die Frage.


Gros! Paſtor!


kann ſeyn —


Stehen Sie etwa des Hahns wegen an?
Kommt denn nicht auch ein Hahn in der
Paßionsgeſchichte vor?


Da
[259]

Da Petrus Chriſtum verleugnete —


Eben kraͤhete auch jetzt ein Hahn, und
Herr v. G — war ſtill, kam aus dem Zu-
ſammenhang und machte ein Geſicht, als
wolt’ er ſagen: du haͤtteſt auch nicht kraͤhen
duͤrfen —


Mein Vater that, obgleich es ſchien, daß
er wider den Sokrates war, ihm die buͤn-
digſte [Ehrenerklaͤrung], ſo bald Herr v. G —
nur nicht auf Koſten des Chriſtenthums dem
Sokrates lobredete. Es war unmoͤglich, daß
Sokrates und mein Vater nicht gute Freunde
ſeyn ſolten.


Cicero, ſagte er, nannt’ ihn den Adam
der Philoſophie, den Vater der Weiſen, und
das mit Recht, weil er die Sophiſten ſeiner
Zeit, die mit einem Wortkram von Schola-
laſtik geziert waren, ſo treflich durch gemei-
nes Leben, durch edle Einfalt in die Enge
trieb. Gehts denn unſern Philoſophen an-
ders? Sind denn nicht die meiſten, den Pro-
feſſor Grosvater
nicht ausgenommen, in
Wortſuͤnden empfangen und gebohren? Ha-
ben ſie nicht alle ſophiſtiſche Erbſuͤnde? So-
krates war ein Volksphiloſoph, und ſo iſt die
Einfalt zu nehmen, die er frey von ſich be-
kannte. Er fieng nicht Fliegen in einem
R 2Spinn-
[260] Spinngewebe von Feinheit. Aus Haus-
mannskoſt beſtand ſeine Mahlzeit. Was
nuͤtzen denn Definitionen, wenn man das
Wort verſteht, und was hat man denn,
wenn man ein ganzes Geſchlechtregiſter eines
Worts gelernet hat? Thun die Philoſophen
vielmehr, als jener Landgeiſtliche, der ſeinen
Bauern, bey Gelegenheit des Evangelii vom
reichen Fiſchzuge, erklaͤrte, was ein Netz
ſey. Das Dorf hatte große Fiſcherey —


Die Standrede, die Diogenes auf den
Sokrates hielt, verhaͤlt ſich freylich zu der
des Hauptmanns unterm Kreuze wie beyde
Erblaßte gegen einander. Er iſt ein from-
mer Menſch und Gottes Sohn geweſen! —
Meine Frau ſagt: da zog die Erde den Tre-
mulanten, Sie bebte! — Da wurde das
Haus des Entſchlafenen, der Himmel, mit
Trauertuch ausgeſchlagen. Es ward eine
Sonnenfinſternis! und hat meine Maria
nicht recht?


Diogenus ſagt:


Πρῶτος μετὰ τȣ̑ μαϑητȣ̑ Ἀσχίνȣ ῥητορεύειν
ἐδίδαξε, καὶ πρῶτος περὶ βίȣ διελέχϑη, και
πρῶτος φιλοσόφων καταδικασϑεὶς ἐτελεύτα.

(Diogen. Laert. i. 2. ſect. 20.)

Herr
[261]

Herr v. G — verſtand freylich kein Grie-
chiſch; wie konnt’ er aber auch verlangen,
daß Diogenes ſeinetwegen deutſch oder lettiſch
lernen ſolte! Beylaͤufig, ſagte mein Vater,
die drey Theile, in welche die Leichenrede des
Diogenes gelegt ſind.


Sokrates war ein Herzensredner, ein
Moraliſt und der erſte philoſophiſche Maͤr-
tyrer.


Der erſte? fragte Herr v. G — der erſte,
antwortete mein Vater; denn wenn gleich
in der Recenſion uͤber dieſe Standrede be-
merkt worden, daß Zeno noch vor dem So-
krates ums Leben gekommen; ſo ſtarb doch
Zeno nicht der Philoſophie halber! —


Die Schaͤcher litten, was ihre Thaten
werth waren. Zeno, als General, in Sa-
chen ſeines Vaterlandes wider den Tyrannen
Nearchus. Sokrates ſtarb und καταδικασϑεις
durch ein Criminalurtel unſchuldig ver-
dammt —


Theurer Sokrates, du wolteſt die Men-
ſchen zur Erkenntnis Gottes und ſeines
Willens bringen, du wolteſt die Menſchen
gehen lehren, die gen Himmel ſahen und
daruͤber das Bein brachen. War das dein
Lohn?


R 3Socra-
[262]

Socrates primus philoſophiam devocauit c
coelo, et in vrbibus collocauit et in domos
etiam introduxit et coegit de vita et moribus
rebuſque bonis et malis quærere.


Herr v. G — nahm meinen Vater bey
der Hand, als wolt’ er ſagen: ich verſteh’
auch nicht lateiniſch. Sokrates, fieng mein
Vater an, lehrte nicht wie die Welt entſtan-
den, wie ſie vergehen wuͤrde; er wußte nichts
von der Elektricitaͤt und ihren Wuͤrkungen;
er haͤtte Gott dem Herrn, wenn er ihn am
erſten Weltmorgen zu ſich geladen, keinen
Rath gegeben, wiewohl etliche — Er wußte
nichts von Zeit und Raum, von beſter und
nicht beſter Welt! — Leben lehrte er, um
froh zu ſterben! — Er brachte die Philoſo-
phie in Stadt und Hauß — —


Lieber Paſtor! ſagte Herr v. G —, So-
krates lehrte den Stand der Gnaden, er
brachte die Philoſophie in Stadt und Hauß,
das heißt: er wolte alle Geſetze heben, und
die Menſchen ſo geſittet machen, daß ſie uͤber
alle Geſetze waͤren. Er wolte nicht Recht ſpre-
chen, ſondern ohne Recht ſich behelfen lehren.
Nicht alſo?


Mein Vater lies ſich nicht aus dem Con-
cept heraus fragen. Wie treflich, ſagt’ er
der
[263] der Pompadour ſeiner Zeit, der Theodora, da
ſie ihm vorruͤckte, daß ſie ihm ſo manchem
ſeiner Schuͤler weggeworben, er aber ſchwer-
lich einen, der bey ihr Handgeld genommen,
abwendig machen wuͤrde! Dein Weg iſt
breit, der meinige ſchmal. Dein Weg geht
bergab, der meinige bergauf. Die Welt aber
vergeht mit ihrer Luſt, wer aber den Willen
Gottes thut, bleibt in Ewigkeit.


Eine Frau haͤtt er nicht nehmen ſollen,
ſagte mein Vater.


Eine Xantippe nicht, erwiederte Herr
v. G.


Keine! mein Vater.


Sind ſie wo alle Xantippen? Die mei-
nige hat, ihres ſchoͤnen darf ich bitten uner-
achtet, etwas von ihr.


Die meinige keinen Zug —


Ein ſo heßlicher Mann, wie Sokrates,
fuhr mein Vater fort, ohne dran zu denken,
daß Herr v. G — kein Griechiſch verſtand,
bey dem man fragen konnte: ἔι Σωκράτȣς ἐϛί
τις σιμώτερος, band es mit zwey Frauen an,
war das rathſam? Ein Mann, der zu den
Fuͤßen der Diotima die Kunſt zu lieben und
zu den Fuͤßen der Aſpaſia die Kunſt der arti-
gen Beredſamkeit gelernt, mußte ſehr leicht
R 4ſolche
[264] ſolche Ehefehler begehen! Wer hieß ihn denn
hier Unterricht nehmen? Kein Weiſer muß
von einem Weibe lernen. Wer eine Mamſell
gehabt, behaͤlt etwas mamſellaͤhnliches, wenn
gleich er Feldmarſchall wird. Das ganze
ſchoͤne Geſchlecht lehren, das kann der Weiſe!
Sokrates hatte freylich das, was ihm am
Koͤrper abgieng, durch Seele in Ruͤckſicht ſei-
ner Weiber erſetzen koͤnnen und ſollen. That
ers denn nicht? Wer weiß es. Iſt es denn
ſo unrecht, doß er geſagt hat:
τȣ̀ς μὲν ἄνδρας, τοῖς πόλεως νόμοις δεῖ πείϑεσϑαι-
τὰς δὲ γυναῖκας τοῖς τῶν συνοικȣ́ντων ἀνδρῶν
ἤϑεσι.

Iſt denn nicht der Mann der Geſetzgeber ſei-
nes Weibes? Was kann ein Weib ohne
Mann? Waͤre ich Sokrates geweſen, wuͤrd
ich freylich meine Philoſophie im eigenen
Hauſe zu uͤben angefangen haben: wer ſingt
indeſſen nicht den andern Diſkant, wenn die
Frau Zeit und Stunde trift, und das rechte
Lied? Lies denn Sokrates ſein Haus ohne
Unterricht? Bracht’ er nicht Freunde ins
Haus, ohn ein Dresdner Service, und ohne
zu den erſten Leckerbiſſen ſeiner Frauen Geld
gelaſſen zu haben?


Ich
[265]

Ich weiß, ſagte Herr v. G —, da kam er
einſt mit dem Euthydemus vom Fechtboden,
die Frau Profeſſorin, anſtatt den Tiſch zu de-
cken, kehrt’ ihn um und um. Euthydemus,
ungewohnt gegen Weiber ſeine Staͤrke zu zei-
gen, wuͤnſchte vor Tiſch eine geſegnete Mahl-
zeit. Nicht alſo, ſagte der Herr Profeſſor.
That denn nicht juͤngſt eine Henne das nehm-
liche, da ich das Vergnuͤgen hatte bey Ihnen
zu eſſen? Mein Vater lies den Herrn v.
G —, dem er ein fuͤr allemal nicht geſtattete,
ſich des Sokrates anzunehmen, obgleich we-
der die Henne, noch der um und um gewor-
fene Tiſch der chriſtlichen Religion Schaden
oder Leides thun konnte, ſo unangehalten
nicht mit dieſer Geſchichte. Er zeigte ſehr ge-
lehrt, wie zwar Ὄρνις eine Henne bedeute;
allein im gegenwaͤrtigen Verſtande ſchwerlich,
und heißt denn αναϛρέφειν τράπεζαν um und
um kehren? Hier wuͤrde es um ſo weniger
paſſen, da ich noch nie geſehen, daß eine Hen-
ne den Tiſch umgekehrt. Die Geſchichte,
fuhr mein Vater fort, iſt aus dem Plutarch
— allein der gute Herr v. G — nahm ihn bey
der Hand, kehrte den Tiſch nicht um und um,
ſondern wußte meinen Vater ſo vortreflich
einzulenken, daß er fortfuhr, und die Wahr-
R 5heit
[266] heit zu ſagen, Herr v. G — haͤtte ihn nicht
unterbrechen ſollen. Hatt’ er denn nicht ſchon
gewonnen Spiel? Die Grille, ſagte mein
Vater, da er wieder an Stell und Ort war,
ſchwirrt ein Abend- die Lerche ein Morgenlied.
Leidet man nicht Kamine und Kachelofen im
Sommer? Leibnitz ſtarb bey Barklais Ar-
genis; ein andrer ſtirbt bey der lezten Oeh-
lung. So lange man der Seele nicht geſun-
de Triebfedern und den Adern friſches Blut
einfloͤßen kann, was iſt zu machen? Lot
blieb auch in Sodom gerecht. Herr v. G —
wolte ſagen, Abraham war aber auch ſein
Oheim; allein mein Vater lies ihn nicht zum
Worte, und wenn es wahr iſt, daß Xantippe
bey ſeinem Tode die bitterſten Thraͤnen vergoſ-
fen; ſo iſt ſie mir lieber, als die Wittwe von
Epheſus.


Ihr Philoſophen heutiger Zeit, lernt hier
vom Sohne einer Hebamme und eines Bild-
hauers Weisheit lehren, da Euch doch das
neue Teſtament nicht kunſtgerecht iſt. Sokra-
tes that zwey Feldzuͤge, ward noch im hohen
Alter athenienſiſcher Rathmann, ein Feind der
Tyranney und ein Freund ſeines Vaterlandes.
Er lehrte auf den Straſſen und an den Zaͤu-
nen
[267] nen, und catechiſirte alle, die nur hoͤren und
antworten wollten, wogegen ihr nur Diſpu-
tationen haltet — —


Da fiel es ihm ein, daß er mit den Akade-
mien Friede gemacht, und daß Junker Gott-
hard und ich reiſefertig waͤren —


Sokrates hatte an den Sophiſten die groͤß-
ten Feinde. Die Schriftgelehrten hetzten den
Ariſtophanes wider ihn auf, der ihn in einem
Luſtſpiel laͤcherlich machte. Sokrates ſahe
ſich auf dem Theater; allein dieſer große
Selbſtkenner kannte ſich nicht, obgleich die
Gallerie einmal uͤbers andre bravo! getrof-
fen! rief, und dem Schauſpieler klatſchte.
Wer im ſiebenzigſten Jahre durch Urtel und
Recht ſtirbt, kann mit Wahrheit ſagen, daß
eben dies Urtel die Natur ſchon uͤber die ge-
ſtrenge Herren Richter ſelbſt ausgeſprochen
haͤtte. Unſer Leben waͤhret ſiebenzig Jahre.


Ich wuͤrde, geliebter Leſer! dieſe Unterre-
dung gerne unberuͤhrt gelaſſen haben; allein
eben jezt, da ich dieſes ſchreibe, verfolgen mich
ein Paar Sophiſten Anytus und Melitus, die
Gevattern von meinem Ariſtophanes ſind.
Ein
[268] Ein feines Triumvirat! — Gott wird ans
Licht bringen, was im Verborgenen geſchehen
und den Rath der Herzen offenbaren und dann
wird einem jeglichen von Gott Lob wiederfah-
ren! Amen! Komm o ſchoͤne Freudenkrone!
Amen! —


Die Umſtaͤnde des Todes unſers theuren
v. G — will ich nicht wiederhohlen. Er wollte
meinen Vater, ſeinen Freund, an einem Sonn-
tage beſchleichen und ihn predigen hoͤren. Er
kam oͤfters nach der Ausſoͤhnung zu ihm; noch
nie war er einen Sonntag da geweſen. Man
ſagt, Herr v. G — habe in der letzten Zeit die
Bibel ſehr fleißig geleſen und zu ſagen die Ge-
wohnheit gehabt: wenn man etwas heraus-
bringen will, muß man die Bibel ſelbſt leſen.
Minens Schickſal gieng dir zu Herzen, theu-
rer Naturmann! und dein Tod! erſchuͤttert
meine Seele! Da mein Vater dem Herrn v.
G — Minens Begraͤbnis, und bey dieſer Ge-
legenheit auch vom Hochgraͤflichen Todtengraͤ-
ber erzaͤhlte, konnte er nicht aufhoͤren den
Kopf zu ſchuͤtteln. Zum Todtengraͤber hatte
Herr v. G — keine Anlage. Bey Gelegen-
heit des Herrn v. E — ſagte mein Vater in der
Hitze: da haben wir Curland! Nicht alſo,
Paſtor, ſondern die Welt!


Herr
[269]

Herr v. G — ſtieg im Paſtorat ab, und
waͤre bey einem Haar, meiner gaſtfreyen
Mutter wegen der Mittagsmahlzeit zuvor
gekommen. Sie bat eine Minute zuvor, als
er ſagen wollte, dieſen Mittag bin ich ihr Gaſt,
wenn ſie ſo wollen! — Er gieng zur Kirche.
Meine Mutter orderte das Mahl an, und um
Maria und Martha in Einer Perſon zu ſeyn,
gieng ſie etwas ſpaͤt in die Kirche, und um
der Gemeine kein Aergernis zu geben, wie der
Zoͤllner, unterm Glockenthurm! —


Sie kam im letzten Wir, das ſie nicht
umhin konnte laut mitzuſingen, ſo daß wenn
ſie ſich nicht beſonnen haͤtte, wie ſie unterm
Glockenthurm waͤre, ſie eben ſo gut, als durch
die Thuͤr verrathen werden koͤnnen, da ſie mei-
nes Vaters Vaterland erſchleichen wollte.


Von dieſem Wir lebte Herr v. G — nur
noch wenige Reihen; denn bey den Worten:
nach dieſem Elend! ſchrie er auf, ſank zur
Erde, und ward todt aus dem Kirchenſtuhl
getragen. Er fiel vorwaͤrts. Mein Vater
ſah den Herrn v. G — in die Kirche kommen,
und wie er aus der Kirche getragen ward.
Sein Text war: Roͤmer im achten Capitel,
der fuͤnf und dreyßigſte Ver Wer will

uns
[270]uns ſcheiden von der Liebe Gottes?
Truͤbſal oder Angſt? oder Verfolgung
oder Hunger? oder Bloͤße, oder Faͤhrlich-
keit, oder Schwert? wie geſchrieben ſte-
het: Um deinetwillen werden wir ge-
toͤdtet den ganzen Tag; wird ſind geach-
tet wie Schlachtſchaafe. Aber in dem
allen uͤberwinden wir weit, um des wil-
len, der uns geliebet hat.


Bey dieſem Text dachte mein Vater ſo
manches Wort dem Herrn v. G — ans Herz
zu legen, und da er ſeit ſo geraumer Zeit nicht
in ſeiner Gegenwart geprediget, es dahin zu
bringen, daß Herr v. G — in ſeinem Glau-
bensbekenntniſſe noch ſo manche Reihe ſtrei-
chen moͤchte. Wer kann auf der Kanzel mit
euch aufkommen, pflegte Herr v. G. zu ſagen,
ihr fragt und behauptet, und kein Menſch iſt
euch zu antworten und einzuwenden im Stan-
de. Nichts iſt unausſtehlicher, als die Me-
thode der Redner, zu fragen — Iſts nicht
alſo? Was koͤnnet ihr dagegen
ſagen, meine Freunde!
Er nannte
dies ſtumme Fragen, ſo wie es ſtumme Suͤn-
den giebt.


Der
[271]

Der gute v. G — er iſt aller Fragen ent-
gangen. Er hat uͤberwunden. Mein Vater
ſchlug ſich diesmal im eigentlichen Sinn mit
ſeinen eigenen Worten. Wie doch immer der
liebe Gott das beſte thut! ſo mußt er es vor-
zuͤglich bey dieſer Predigt thun, da mein Va-
ter ganz zerſtreut war, und nicht wußte, wie
es mit ſeinem Freunde hinauswollte! —


Meine Mutter bemerkt, daß Herr v. G —
kein Wort von allen drey Wirs mitgeſungen,
bis die Worte gekommen: nach dieſem Elend,
da wollte er, wie ſie ihren ſichern Nachrich-
ten zu Folge ſchreibt; allein er konnte nicht.
Es kann ihm auch wohl, ſchreibt ſie, den gan-
zen Glauben uͤber uͤbel geweſen ſeyn. Wahr-
lich! liebe Mutter! am Ende des Glaubens
war ihm wohl, ſehr wohl! Ende gut, alles
gut!


Auch berichtet ſie, daß Herr v. G — ohne
Klang und Sang, indeſſen wider ſeine oͤftere
Aeußerung, nicht in die Erde geſcharrt, ſon-
dern nach der Anordnung [ſeiner] Frau Gemah-
lin, in dem Familiengewoͤlbe beygeſetzt ſey.
Gott ſchenke ihm, ſo ſchluͤßt ſie, eine froͤhliche
Auferſtehung! Amen! —


Ich
[272]

Ich weiß nichts hinzuzufuͤgen, als daß die
Frau v. W — ſehr gerne ihrem Gemahl zu
Gefallen, des Herrn v. G — halber Trauer
anlegte. Herr v. W — that ſo, als ob Jun-
ker Gotthard ſchon wuͤrklich ſein Schwieger-
ſohn waͤre. Beym Herrn v. W — blieb es
bey der Trauer; allein ſeine Gemahlin war
ſo betruͤbt, daß die Schmaͤhſucht zum Glimpf
und Namenbruch, wie meine Mutter ſich aus-
druͤckte, Gelegenheit genommen haͤtte, wenn
nicht vom ſeligen v. G — und von der v. W —
die Rede geweſen. Herr v. G — hatte von
je her viel Freundſchaft fuͤr die Frau v. W —
bewieſen. In ſeinem Glaubensbekenntniß
ſtritt er ihr die Erbſuͤnde im theologiſchen
Sinne glatt ab. Gott ſchuf ihr Herz, pflegte
er zu ſagen, im ſtillen ſanften Mondenſtrahle!
Sein Finger iſt kenntlich. Sie iſt das Lieb-
chen der Natur. Sie naſcht ihr, wie ein
frommes Laͤmmchen, aus der Hand! —
Wie wahr! und wer war ein treuerer Natur-
kenner als Herr v. G —?


Meine Mutter verſicherte, daß nie eine
Trauer beſſer geſtanden, als der Frau v. W —
uͤber ihren Freund! — obgleich, fuͤgte ſie
hinzu, ſie beyde fuͤr Gott noch keine Ver-
wandte
[273] wandte ſind. Der Menſch denkt, Gott
lenkt.


Noch einen Ausdruck aus meiner Mutter
Nachricht, den Tod des Herrn v. G — be-
treffend. Sie bemerkte, Herr v. G — waͤre
zwar ein braver, allein kein kreuzbraver
Mann, jenes ſey ein Sokratiker, dies ein
Chriſt — Warum iſt er doch nicht in die
Erde geſcharret, dieſer brave Mann! dieſer
Naturmann?


Genug vom Herrn v. G —, der blos aus
Naͤchſtenliebe in dieſe Geſchichte gekommen,
der keines andern als des Gaſtrechts ſich zu
erfreuen gehabt. Gott ſchenk’ ihm eine froͤh-
liche Auferſtehung! — und uns zu ſeiner Zeit
eine ſelige Nachfolge! —


Der Tod meiner Mutter bewog mich,
mich wegen des Nachlaſſes meiner Eltern an
einen Rechtsfreund zu wenden. Ich konnte
und wollte nicht nach Curland. Meine Leſer
kennen meinen Gevollmaͤchtigten, es iſt der
Protokolliſt, dem der gelehrte α. — aufgab,
nichts auf die Erde fallen zu laſſen, was im
Blutrathe uͤber Minen vorfiel.


SIch
[274]

Ich ſtatte dem Curator funeris hier oͤf-
fentlich meinen Dank ab, ohne zu wiſſen, ob
meine Leſer dieſem Danke in Ruͤckſicht der ih-
nen mitgetheilten Nachrichten beytreten wer-
den. Ich wuͤnſcht’ es wohl —


Unter den muͤtterlichen Papieren, welche
er mir uͤberſandte, war ein Briefbuch, wel-
ches unſer Gottfried meiner Mutter zuge-
ſchrieben. Dies war der geheime Auftrag,
den man dem Gottfrieden, da wir auf dem
Gute des Herrn v. G — in Koͤnigsberg ſchlie-
fen, eben ſo anſah, als es ihm anzuſehen war,
daß er geweint hatte. Es ſey dieſes Brief-
buch
unter den A b c Beylagen die letzte.
Mit welchem Herzen ich dies Wort lezte nie-
dergeſchrieben, weiß Gott und mein Freund
— — es.


Bey-
[[275]]

Beylage C.


S 2
[[276]][277]

Einen freundlichen Grus und alles Liebes
und Gutes zum Voraus


WohlEhrwuͤrdige, Veſte, Hoch und wohl-
gelahrte Frau Paſtorin,


Fuͤrſichtige Seelſorgerin und Mutter meines
zweyten Herrn,


Nebſt dienſtwilliger Bitte, mir durch die
Finger zu ſehen, daß ich ſo keck bin, ſchriftlich
Ew. WohlEhrwuͤrden hinterm Stuhl zu ſte-
hen und auf dieſem Teller ein Glas Waßer zu
reichen. Wer durſtig iſt, ſteckt auch die Naſe
in ein Glas Waßer. Ein Schelm giebt mehr,
als er hat. Mit der Zeit hof ich ein Spitz-
glaͤschen Wein reichen zu koͤnnen. Ew. Wohl-
Ehrwuͤrden duͤrfen nicht glauben, daß ich Ihr
Kleid mit dieſem Glas Waßer begießen wer-
de, und wenn ich etwas vergoͤſſe, iſts doch
blos Waßer! Wo das fleckt, iſt die Farbe
nicht aͤcht — Ew. WohlEhrwuͤrden haben alles
aͤchte Farben.


Ich lerne, was man nur kann. Ver-
ſtand kommt nicht vor Jahren, wie ich ſehe,
S 3weder
[278] weder in Kopf noch in Finger. Meine Her-
ren machen ſich den Spas zu ſagen, daß ich
viel Anlage zum Handwerk habe; aber blut-
wenig zum Gelehrten, da das Schreiben mir
wunderbarlich von ſtatten geht, und da ich
die ſchwerſten Worte von der Fauſt weg aufs
Papier ſetze. Das waͤchſt alles wie Pilzen.
Wenn ich nur die Herren und Bedienten un-
ter den Worten unterſcheiden koͤnnte; aber da
liegt der Hund begraben, nicht der Argos
meines adlichen Herrn, ſondern der Hund im
Spruͤchwort. Wuͤßt’ ich die großen und klei-
nen Buchſtaben zu brauchen, was wuͤrde mir
dann fehlen! Im gemeinen Leben kennt man
ſo was an der Lievrey; bey den Buchſtaben
iſt all Eins, nur daß einer ein beſſer Geſicht
als der andre hat. Die l gefaͤllt mir uͤber die
Maaßen, ein ſchlanker Buchſtab, und uͤber-
haupt bin ich den Buchſtaben gut, die gedruckt
und geſchrieben ſich gleich ſind, da weiß man
doch woran man iſt. Es wird mir herzinnig-
lich lieb ſeyn zu vernehmen, wenn mein lieber
Vater wohl auf waͤre, der keine i geſchweige
denn eine a machen kann. Fuͤr mich iſt a der
ſchwerſte Buchſtab im ganzen deutſchen a b c.
Schweſter Trinchen, die ſo ſchrieb, wie ich,
eh ich auf die Akademie gieng, wird wohl noch
nicht
[279] nicht aufgeboten ſeyn. Meinetwegen danke
dem lieben Gott fuͤr gute Geſundheit. Mir
hat auf der Reiſe kein Finger vom Daumen
bis zum kleinen weh gethan und meinen Her-
ren auch nicht. Kein mahl umgeworfen, aber
all Augenblick gedacht, es fiele ſchon. Einem
der andern Herren Paſſagiers kam eine meer-
ſchaumne Pfeife, die in Curland ihre zehn
Bauren werth geweſen, unters Rad, und
noch Einer verlohr ſeinen Hirſchfaͤnger, den
er auch zu Hauſe laſſen koͤnnen. Er war noch
dazu nicht von Adel und trug unterm Hut
eine baumwollne Schlafmuͤtze. Meine Her-
ren pflegten zu ſagen, daß er in einem Zuge
wache und ſchlafe. Haͤtt er den Hirſchfaͤnger
nicht mit gehabt, waͤr er nicht verlohren ge-
gangen. Er hatte einen ſilbernen Grif. Das
Gehenk ſchenkte er mir, weil ich ihm unterwe-
gens beyſprang. Sonſt war er bis auf den
Hirſchfaͤnger und den Hut und Muͤtze in einem
Stuͤck, bald haͤtt ich in einer Perſon geſchrie-
ben, nicht zu verwerfen. Schon haͤtte ich
eher Ew. WohlEhrwuͤrden von allen dieſen
Dingen dies Glas Waßer voll Nachricht er-
theilet, wenn ich nicht erſt das Glas reinigen
und laͤutern wollen. Wird ſich von ſelbſt ver-
ſtehen, daß ich mich im Schreiben ſichtlich
S 4gebeſ-
[280] gebeſſert habe, wofuͤr ich naͤchſt Gott meinen
Herren dienſtlichſt verbunden bin. Ein Apfel
faͤllt nicht weit vom Stamm, und wer nur
Luſt hat, kann ſchon auf der Akademie was
lernen, es ſey großer oder kleiner Buchſtab.
Ew. WohlEhrwuͤrden danke ganz gehorſamſt
fuͤr alles gute und unter dieſem Guten fuͤr die
ſchoͤne Predigt, da ich Abſchied nahm und den
Segen empfieng, den Ew. WohlEhrwuͤrden
an dieſe Predigt legten. Das gieng mir al-
les durch Mark und Bein! So ein ſchoͤner
Text, als wenn er auf mich gemacht waͤre.
Niemand kann zween Herren dienen!
Ew. WohlEhrwuͤrden Erklaͤrung vergeß ich
nicht, ſo lang eine Handvoll Leben in mir iſt,
daß nemlich dieſer Spruch ſo wie der, vom
Kameel-Nadeloͤhr und dem Reichen zu verſte-
hen ſey. Ich hab alles gefunden, wie Ew.
WohlEhrwuͤrden es mir auf den Weg gege-
ben. Meine beyde Herren ſind wie Mann
und Frau, und ich diene alſo nicht zween Her-
ren. Sie ſind ſo von einander unterſchieden
und wieder ſo zuſammen, wie Mann und
Weib.


Ew. WohlEhrwuͤrden Herr Sohn wird
einen ſtarken ſchwarzen Bart bekommen.
Der liebe Gott laß ihn dabey. Iſt doch beſ-
ſer,
[281] ſer, als ein Judas Bart, den ich in drey Kir-
chen am Altar abgemahlt gefunden. So ge-
troffen! Mich wundert, daß ein Balbier
nicht in Gedanken dem Judas zu Halſe ge-
gangen. Man konnt ihn recht beym Bart
halten. Mit dem Herrn v. G — haͤlts we-
gen des Barts ſchwer. Hie und da ein wei-
ßes Haarchen. Sonſt ſind hier die Balbier
nicht in ſonderlichem Anſehen, und werden
von den Herren Studenten Bartphiloſophen
genannt, welches ich Ew. WohlEhrwuͤrden
nicht verhalten kann. Große Staͤdte, große
Suͤnden, kam auch in Dero Abſchiedsermah-
nung vor, und das iſt wahr und wahrhaftig.
Prediger die ſchwere Menge, mit blauen und
weißen Kragen. Blau haben die Feldpredi-
ger, auch Manſchetten und kleine ſeidene
Maͤntel, die man Advocatenmaͤntel heißt.
Die Advocaten gehen hier ſchwarz mit kleinen
Maͤntelchen, die man Feldprediger Maͤntel
heißt. Sie nennen ſich Prieſter der Gerech-
tigkeit; von andern ehrlichen Leuten werden
ſie Galgenprediger genannt. Ich konnte die-
ſe Herren lange nicht auseinanderbringen,
bis mich der blaue Kragen an Ort und Stelle
brachte. Wie das alles hier durcheinander
laͤuft und faͤhrt, wahrlich noch weit aͤrger,
S 5
[282] als in dieſem Briefe. Prediger und Advoca-
ten. Man kann vor Lerm kaum ſein eigen
Wort hoͤren. Die Paſtortracht, die in Cur-
land keiner anzulegen ſich erkuͤhnen darf, er
ſey noch ſo Hochwohlgebohren und hochge-
ſchoren, iſt hier etwas ſo gemeines, daß alle
Kuͤſter ſich in Kragen und Mantel ſtecken und
kein Anſehen der Perſon zwiſchen Paſtor und
Gloͤckner iſt. Greul iſts anzuſehen. Es giebt
ſo gar Leute, die beym Wagen gehen, wenn
vornehme begraben werden, ganz gemeine
Kerls, Traͤger von den eigentlichen Leichen-
traͤgern, und auch dieſe Untertraͤger gehen
mit Kragen und Mantel. Anfaͤnglich war
mein Hut mehr in der Hand, als auf dem
Kopf, weil ich jeden Kragen und Mantel
gruͤßte, jezt laß ichs bleiben, und ſo bleibt
auch wider meine Schuld mancher Paſtor un-
gegruͤßt, welches Ew. WohlEhrwuͤrden nicht
uͤbel auszulegen belieben wollen. Gott gruͤß
den Herrn, wenn er es verdient, und Ew.
WohlEhrwuͤrden gleich iſt in Lehr und Le-
ben! —


Um zur Hauptſache zu kommen, die Ew.
WohlEhrwuͤrden mir auf meine arme Seele
gebunden; ſo hab ich mancherley von Ketzern
auch in Curland gehoͤrt; allein wer den Teufel
nicht
[283] nicht ſelbſt geſehen, hat keine rechte Vorſtellung
vom boͤſem Feinde. Die Ketzer ſehen, Gott
ſeys geklagt! aus, wie wir andere Chriſten-
menſchen. Vom Kopf bis zu Fuͤßen, nicht
einſt laſſen ſie ſich den Bart wachſen, wie Ju-
das in den drey Kirchen. Man hat mir er-
zaͤhlt, daß unter den Doktorn und Schrift-
gelehrten ſo gar viele waͤren, die nicht reiner
Lehre ſind; allein hier iſt jeder fuͤr ſich, und
Gott fuͤr uns alle. Ich habe mir einen Can-
didaten zeigen laſſen, der ſeine Stimme durch
eine Erkaͤltung verlohren, aber darum geht
ihm kein Dreyer ab. Er ſteht ſich beſſer, als
wenn er eine Gemeine und eine Stimme haͤtte.
Er lebt von Predigtmachen ſo gut, als Einer,
und wenn der Paſtor unter den Mennoniſten,
den Reformirten, den Katoliken, ſelbſt unter
den Juden, eine Predigt noͤthig hat, huſch!
iſt er mit fertig, und wer ſie hoͤrt, merkt nicht
auf tauſend Meilen, daß ein lutheriſcher Can-
didat ohne Stimme dieſe Predigt ausgeheckt.
Der Herr Sohn ſagt: der Mann ſieht wie die
Toleranz ſelbſt aus, und da war ich noch uͤbler
mit dieſem Candidaten dran, wie zuvor;
denn ich fand an ihm kein Abzeichen, ob ich
ihm gleich zehn Straßen nachlief, wenn ich
ihn gehen ſah. Was er daruͤber gedacht hat,
fahr
[284] fahr in die naͤchſte Predigt, die er fuͤr den
Rabbi macht, welches allhier ein feiſter Mann
iſt, der wie ein Wechsler ausſieht und von
Moſes kein Haar hat. Die Toleranz ſieht
wie der Herr Candidat aus, und der Herr
Candidat, wie ein andrer ehrlicher Menſch.
Was ich mir druͤber den Kopf zerbrochen ha-
be! Geſtern bemuͤhte ſich der Herrn Sohn
dies Wort ins Licht zu ſtellen, wozu ich ihm
Feurſtein und Stahl reichte.


Toleranz heißt: wenn man fuͤnf gerade
ſeyn laͤßt, welches doch nicht iſt, obgleich wir
an jeder Hand fuͤnf Finger haben. Wo Dul-
dung iſt, da iſt auch Fortpflanzung, ſagt’ er,
und was er ſagt, iſt wie Amen in der Kirche.
Hier zu Land’ iſt man fuͤr beydes, fuͤr Fort-
pflanzung und fuͤr Toleranz. Die Leute ſa-
gen: je mehr Kinder, je mehr Brod. Das
find ich nicht, und was die Toleranz betrift;
ſo kann ich Ew. WohlEhrwuͤrden verſichern,
daß zur heiligen Advents- und Weyhnachts-
zeit von den Chorknaben vor den Haͤuſern der
Juden ſo wie vor Chriſten Thuͤren geſungen
wird „Uns iſt gebohren ein Rindelein
das iſt uͤber den Candidaten, den Predigtfa-
brikanten. Ew. WohlEhrwuͤrden koͤnnen
nicht glauben, wie ſonderbar das Lied:
Uns
[285]Uns iſt gebobren ein Kindelein“ vor
einer Judenthuͤr klingt! Es verlohnt der
Muͤhe, drum nach Koͤnigsberg zu reiſen und
wenn Ew. WohlEhrwuͤrden einen ſo guten
Major und Junker finden, wie wir, ſo wuͤrd
ihnen kein Haar gekruͤmmt, daß Ew. Wohl-
Ehrwuͤrden nicht ſelbſt zu kruͤmmen Luſt und
Belieben finden.


Bey uns eſſen die Juden und die Edel-
leute freylich Kirſchen zuſammen; allein man
weiß wohl wies geht, wenn paar und unpaar
Kirſchen eſſen! Ich verſichre Ew. WohlEhr-
wuͤrden, daß hier ein Katolik bey einem der
erſten Prediger in Dienſt ſteht. Er heißt Jo-
hann
und iſt, bis auf den catholiſchen Glau-
ben, ein guter Knabe, der mich neulich in ſei-
ne Kirche ſchlepte, wo ich eine Predigt gehoͤrt,
die Gott ſey bey uns! mir ſo vorkam, als
waͤre ſie lutheriſch. Das ſoll mir eine War-
nung ſeyn, nie mehr in unaͤchte Kirchen zu ge-
hen. Die preußiſche Luft iſt ſo tolerant, daß
man wie behext da ſteht. Ew. WohlEhrwuͤr-
den verſichere auf Ehre, daß, Gott ſteh uns
bey! wenn ich mir die Augen verbaͤnde, ich
ein Vater unſer in der catholiſchen Kirche be-
ten koͤnnte, trotz dem Johann, der beym er-
ſten lutheriſchen Prediger dient. Wie ſich das
alles
[286] alles hier ſpricht und widerſpricht! — Eine
Waͤſcherin heyrathet einen Kohlbrenner, eine
Herrenhuͤterin, die ſelbſt ſo ſchlecht und recht
einhergeht, als koͤnnte ſie nicht drey zaͤhlen,
naͤhrt ſich vom Putzmachen. Jedes geht ſei-
nen Weg. Keiner legt es an, den andern zu
bekehren. Juden, daß verſichre Ew. Wohl-
Ehrwuͤrden auf meinen chriſtlichen Glauben,
kommen ſo gar in chriſtliche Kirchen, nicht
um ſich zu bekehren und zu leben, ſondern um
eine wohlgeſetzte Predigt zu hoͤren. In der
Kirche bis auf die ſchoͤne Muſik zu, iſt es wie
auf dem Tanzboden. Alles faßt ſich an, hier
mit der Hand, dort mit den Augen. Daß
die Toleranz dem lieben Gott ein Greul ſey,
weiß ich wie Einer, daß aber die Leute hier
juſt ſo dick und fett ſind, wie anderswo, iſt
nicht zu leugnen. Mag aber wohl ungeſun-
des Fett ſeyn! Hexen glaubt hier kein Kind
von acht Tagen, das doch ſo in ſeinen beſten
Glaubens Jahren iſt. Mein adelicher Herr
ſagte geſtern: wenn hier die alten Weiber, mit
Ew. WohlEhrwuͤrden Erlaubnis, noch ſo heß-
lich ausſehen, es iſt keine der Gefahr ausge-
ſetzt, verbrannt zu werden, wiewohl auch zu
meiner Zeit keine in Curland, Gott ſeys ge-
klagt! in Rauch aufgegangen. Ich moͤchte
gern
[287] gern eine praßlen hoͤren. Muß doch einen
beſondern Knall geben! Der Himmel weiß,
wie es kommt, ſo heßlich ſind die alten Wei-
ber in Curland nicht, wie hier. Mag wohl
kommen, weil ſie hier nicht alt ſeyn wollen.
Die Maͤdchen ſo frech, daß nur noch juͤngſt
eine Ehefrau (ich ſtand hinter ihrem Stuhl
ſo behext, wie in der catholiſchen Kirche) die
Frage aufbrachte, warum wir nicht alle nackt
giengen, wie im Paradieſe? Da bin ich gut da-
fuͤr, daß Ew. WohlEhrwuͤrden das Wort nackt
noch bis dieſen Augenblick nicht ohne Roͤthe
werden ausſprechen koͤnnen, und dieſe — war
nicht einmal roth. Sie forderte ein Glas kalt
Waßer, daß dein Feur geloͤſcht werde, dacht
ich, allein es ſcheint, ſie beduͤrfe des Loͤſchens
nicht. Laͤndlich, ſittlich! Koͤnnte man wohl ſa-
gen, wenn bey dieſer Sach’ auch nur das min-
deſte Sittliche waͤre. Man hat mich verſichert,
daß dergleichen Maͤdchen mit bloßen Buſen,
hinter deren Stuhl man behext wie in der catho-
liſchen Kirche iſt, die Tugendhafteſten waͤren.
Erbſuͤnde hat jedes, Ew. WohlEhrwuͤrden
ſelbſt nicht ausgeſchloſſen. Das gruͤne Holz,
die Frommen, die Stillen, ſollen hier zu Lande
das duͤrre ſeyn, und davon kann Ew. Wohl-
Ehrwuͤrden ein Proͤbchen geben. Gerad uͤber,
wo
[288] wo wir einwohnen, war ein Maͤdchen, in ih-
rer Art nicht uneben. Sie that ſo zuͤchtig,
als kannte ſie den alten Adam nicht anders,
als im Kupferſtich, wo ich ihn auch mit Hoͤr-
nern geſehen! — Sie dient, ich diene. Mein
adlicher Herr kann ihre Jungfer leiden, und
was ſoll ich leugnen, ich ſie! Wenn ich ſie
nur ein wenig hart zur Hand nahm, gleich
ein Schrey! und denn wieder: bringen Sie
mich nicht zum Ende! Sie werden Unheil
anrichten! und ſo weiter. Kam ich Sonn-
tags, laß ſie:
die in Gott andaͤchtige Jungfer mit
ihren Morgends und Abends zu Gott
erhabenen Haͤnden, an Sonn und Feſt-
tagen, ſowohl durch auserleſene Spruͤ-
che der heiligen Schrift, andaͤchtige Ge-
bete und geiſtliche Lieder vorgeſtellet,
als in beygefuͤgten ſaubern Kupferbil-
dern entworfen von
M. Nicolao Haas Pa-
ſtore Primario
undInſpectoreder evangeli-
ſchen Kirchen und Schulen zu Budißin.


Stade, druckts und verlegts Caſpar
Holwein. Im Jahr
1717.


Was mir dieſe Andacht durchs Herz gieng,
kann ich nicht ſagen. Den Tittel abzuſchrei-
ben hat mir, wie Ew. Wohlehrwuͤrden leicht
denken
[289] denken koͤnnen, viel Muͤhe gemacht; aber ich
that es mit Freuden, um Ew. Wohlehrwuͤr-
den dieſe Freude zu machen. Weiß nicht, ob
Ew. Wohlehrwuͤrden dieſen Haas, dieſen
Caſpar Holwein und die in Gott andaͤch-
tige Jungfer
kennen? Solte mir herzlich
lieb ſeyn, wenn es waͤre! Der Name Haas
iſt freylich etwas anſtoͤſſig; wer kann aber
fuͤr den Namen. Die Kupferſtiche ſind ſau-
ber. Wo ich ein andaͤchtiges Weibsbild auf
Knieen fand, dacht ich, Lieschen waͤr es auf
ihrem Herzensknie. Das Buͤchelchen war
mit Silber beſchlagen. Koͤnnen ſich Ew.
Wohlehrwuͤrden von dieſer in Gott andaͤchti-
gen Jungfer mit ihrem Morgens und Abends
zu Gott erhabenen Haͤnden an Sonn- und
Feſttagen vorſtellen, daß ſie vor vierzehn Ta-
gen ein Soͤhnchen taufen laßen! Da waͤr
ich angekommen, wenn ich es mit ihr zu Ende
gebracht! Ich habe gar viel Spott daruͤber
von Freund und Feind erlitten, weil man
nichts anders glauben wolte, als daß ich
Haͤhnchen im Korbe geweſen! — Der Thaͤ-
ter ſoll ein liederlicher Burſch ſeyn, der durchs
Gebetbuch gewiß nicht angelockt worden.
Hab ich doch um das Maͤdel geweint, wie
ihr kleines Kind. Da war ſie in Angſt und
TNoth
[290] Noth wegen ihres Kindes und wolt ich wohl
oder uͤbel, mußte ſchon in einen ſauren Apfel
beiſſen und das Kind ernaͤhren. Der Apfel
iſt eben ſo ſauer nicht. Geht ſchon in den
vierten Monat, daß ich das Kind erhalte.
Ward mir indeſſen vom Johann, der ſich
auf ſo etwas verſteht, angerathen, zum Rich-
ter zu gehen, und uͤber das alles ein Proto-
koll zu loͤſen, damit ich nicht zu Kind und
Kegel kaͤme, wozu hier zu Lande die Unſchul-
digſten am erſten kommen. Iſt ein braver
Mann der Richter, nahm kein Geld vor die
Schrift; wohl aber mußt ich den Stempel-
bogen bezahlen! weiß nicht warum? Beſſer
waͤre es geweſen, das Kind haͤtte das Geld
dafuͤr aufgepappt.


Was das wunderlichſte dabey iſt; ſo thut
die in Gott andaͤchtige Jungfer als waͤre die
ganze Sach’ eine Kleinigkeit! — Wie man
es nimmt, freylich eine Kleinigkeit. Der
Stempelbogen aͤrgert mich am meiſten! —
Wozu iſt denn ein Stempelbogen noͤthig,
wenn man ein Kind einer in Gott andaͤchti-
gen Jungfer, Stade druckts und verlegts
Caſpar Hollwein, erziehen will! Johann
ſagt, ob Roſe, oder Knoͤſpchen. Weis
nicht. Lieſe ſoll ſich haben verlauten laßen:
Wer
[291] Wer wieder aufſtehen kann, was thut dem
der Fall? Ich denke thut viel, und waͤr es
auch nur, daß alle Leute drob lachten, wenn
man faͤllt. Solte man glauben, Lieschen
lieſet wieder die in Gott andaͤchtige Jungfer,
als waͤre nichts vorgeweſen. Mit der Zeit,
merk ich, iſt man allen kleinen Kindern gut.
Vater ſeyn oder nicht, macht nichts zur Sa-
che. Ew. Wohlehrwuͤrden wuͤrden dem
Knaͤbchen ſelbſt gut ſeyn, wenn ſie es ſehen
ſolten. Iſt ein feines ſaubres Kind, wie die
Kupferbilder! Zwar ſagt die arge boͤſe Welt,
daß es mir aͤhnlich waͤre; allein was ſagt die
nicht? Iſt nur gut, daß ich das Protokoll
auf Stempelpapier habe, um der argen boͤſen
Welt das Maul zu ſtopfen; zu ſo etwas iſt ein
Stempelbogen gut.


Ew. Wohlehrwuͤrden Herr Sohn wird
von allen Menſchen geliebt. Ich wette,
wenn er Geld lehnen wolte, Juden und Chri-
ſten wuͤrden ihm leihen auf ſein blank Ange-
ſicht. Sonſt giebt man den Studenten kein
Geld, ſie ſtudiren weltlich oder geiſtlich!
Warum denn nicht? — Sein gerader Weg
macht ihm Credit uͤberall. Wenn was zu ſe-
hen iſt, und es iſt Wache ausgeſtellt, Er
kommt, gleich iſt die Pforte offen, ich hinter-
T 2her
[292] her wie Ew. Wohlehrwuͤrden leicht denken
koͤnnen. Jeder Vater, der ihn anſieht,
moͤcht ihm ſeine Tochter geben, und jede
Tochter, das wolt ich wetten, moͤcht’ ihn
auch gerne, mit Herzen, Mund und Haͤn-
den! Das laͤßt er aber bleiben. Er wuͤrd
ſich durch keine in Gott andaͤchtige Jungfer
anſtecken laßen, ob er aber ohne Protokoll
abkommen wird, zweifle ſehr! Wer hier
ein gutes Herz hat, kann an ein Protokoll
kommen, weiß nicht wie! Selten, glaub ich,
iſt jemand, der nur mit dem Stempelpapier
abkommt, wie ich, wofuͤr ich Seiner Geſtren-
gigkeit großen Dank ſage, und es zu ruͤhmen
wiſſen werde. Lieschen iſt ein und zwanzig
Jahr alt und, bis auf das Soͤhnchen, ein
vortrefliches Maͤdchen. Hoffe, daß das
Kind ihr Gemuͤth haben werde, und nicht des
liederlichen Burſchen. Sonſt ſolte mirs doch
wohl um die Paar Groſchen leid thun, die
ich meinem Munde entziehe; der Magen ver-
liert nichts dran. Ob Ew. Wohlehrwuͤrden
Dero Abkoͤmmling kennen wuͤrden in ſeiner
gelben Weſt und Hoſen? Koͤnnte wohl
ſchwarz ſeyn, wird auch wills Gott werden.
Gegen die Koͤnigsbergſche Jungfern, iſt gleich
viel ob gruͤnes oder duͤrres Holz, iſt er wie
Eiſen
[293] Eiſen und Stahl. Weiß nicht, wie es
kommt! — Wuͤnſchte, daß ich gegen Lies-
chen auch ſo waͤre! bins nicht! Weiß nicht,
wie er auf gelb gefallen, keine ſonderliche
Farbe. Hat aber ſeine Grillen! Hab ihn
zuweilen mit ſich ſelbſt reden gefunden! und
recht laut; ſagt, daß es alle Leute thaͤten,
die ſich ſtark was einbilden koͤnnten. Mir
wuͤrde grauen, wenn ich allein ſeyn und re-
den ſolte. Denk, es koͤnnte ſich doch was
melden, und da waͤr ich uͤbel dran. Ob er
zur Uebung mit Tiſch und Stuͤhlen catechi-
ſirt, weiß nicht, moͤchte erfahren, was Ew.
Wohlehrwuͤrden von dieſem Gerede denken?
Ob Roͤschen oder Knoͤſpchen? ſagt der Ka-
tolik; allein groſſer Unterſchied! Iſts denn
gleich, fein zuͤchtig ſich gehalten, oder Schaam
und Schande verlohren, und ſich weit und
breit jedem darſtellen, ders begaffen und be-
riechen will? Ew. Wohlehrwuͤrden werden
meiner Schweſter Trinchen dieſe Roſenge-
ſchichte nicht aufblaͤttern. Sie und Hann-
chen liegen ſich immer an den Ohren. Haͤtte
zwar Hanchen halber die in Gott andaͤchtige
Jungfer je eher je lieber ehelichen koͤnnen, da
ich kein Buch und Tuch aufs Gewiß gegeben.
Ein Hannchen aber iſt mir mehr werth, als
T 3zehn
[294] zehn andaͤchtige Jungfern. Werde ſchwer-
lich Hannchen zum ehelichen Gemahl neh-
men.


Von Wahrzeichen weiß Ew. Wohlehr-
wuͤrden wenig oder nichts zu ſagen, auſſer
die ſchoͤne Aufſchrift an einem Hauſe, die
meine Herren ſich den Tag wohl zehnmahl
abfragen, und abantworten. Der eine
faͤngt an:
Klimm, ſchlaͤfſt du?


Der andre antwortet,


Treu, Glaub’, das Recht, und das

rechte Recht

Die haben ſich alle vier ſchlafen

gelegt;

Nun komm, du lieber Herre,

und erweck ſie alle Viere.

Zwar ſind dieſe Worte im platten Deutſch,
welches man ſo gut, wie das Curſche, un-
deutſch heiſſen koͤnnte; hab indeſſen Ew.
Wohlehrwuͤrden mit dieſem platten Deutſch
nicht ſchwer fallen wollen, wohl wiſſend, was
Ew. Wohlehrwuͤrden ſchuldig bin. Mir iſt
in dieſer Aufſchrift ſo was vom lieben juͤng-
ſten Tage, daß ich das Haus bey Mond-
ſchein nicht ohne Schauer vorbeylaufen kann,
wo dieſe juͤngſte Tagesſchrift angeſchrieben
iſt.
[295] iſt. Gehen koͤnnt ich nicht vorbey, um tau-
ſende. Da duͤnkt mich immer, Klimm regt
ſich. — Wenn Ew. Wohlehrwuͤrden mir
bey guter Gelegenheit zu erklaͤren die Guͤte
haͤtten, wie das Recht und das rechte Recht
von einander waͤren, wuͤrden Ew. Wohlehr-
wuͤrden Ihrem Diener ein großes Licht an-
zuͤnden. Mein zweyter Herr lies ſich zwar
verlauten, daß das Recht im Buche, das
rechte Recht im Herzen, und im rechten Her-
zensfleck, im Gewiſſen, angeſchrieben ſtuͤnde,
und daß, wo viel Recht waͤre, oft am wenig-
ſten rechtes Recht ſey, das mag aber wohl
er und Klimm verſtehen; ich begreife da
kein Wort.


Der Koͤnig ſoll ſich alle Muͤhe geben,
Recht und rechtes Recht in ſein Land zu zie-
hen; ſo wie es alle Fremde bey ihm gut ha-
ben; allein noch ſoll Klimm ſchlafen. An
Recht ſoll es, wie man hoͤrt, nicht fehlen;
mag wohl am rechten Recht! Hoffe wohl
vor mein Theil ungeſchlagen, auch ſelbſt
ohne blaues Auge davon zu kommen, da ich
das Protokoll in Haͤnden habe. Solte glau-
ben, daß vor dem lieben juͤngſten Tag Treu,
Glaube, Recht und das rechte Recht ſchwer-
lich aufwachen werden! Dieſem ſeligen Tage
T 4ſehe
[296] ſehe mit allen frommen Chriſten entgegen.
Wuͤnſche gar andaͤchtig, Ew. Wohlehrwuͤr-
den deſſelben Tages fruͤh Morgens um drey
Uhr einen ſchoͤnen guten Morgen ſagen zu
koͤnnen. Solte denken, daß ich den Klimm
alsdenn ohne Schauer bey Mondſchein ſehen
werde! —


Mein erſter Herr ſagte geſtern gar eben,
die Hofnung ſey der Steigbiegel, woran
wir uns halten, und das gefiel mir nicht
uͤbel. Bedaure nur, daß Ew. Wohlehrwuͤr-
den nicht reiten, um dies Gleichniß probieren
zu koͤnnen — Muß bekennen, daß ſich
mein erſter Herr durch meinen zweyten Herrn
ſichtbarlich verklaͤret, wie aus dem Steigbie-
gel zu ſehen. Hat mir ſeine Antwort gefal-
len, die er geſtern gab. Sie muͤſſen ſchon
das Auge zumachen, ſagt ihm jemand! Das
thue ich nur, erwiedert’ er, wenn ich ſchlafe!


Das uͤbrige was Freund Gottfried mei-
ner Mutter zugeſchrieben, ſtellenweis. Ue-
berhaupt iſt mir dieſe Beylage in die Hand
gefallen, ehe ichs mir verſah. Ich hatte
meinen Leſern ein ganz anderes C. beſtimmt,
wo-
[297] womit es mir indeſſen freilich wie dem Gott-
fried mit den großen und kleinen Buchſtaben
gehen koͤnnen. Ich wuͤnſchte herzlich, daß
ich dem Buchſtaben C. durchs gegenwaͤrtige
Briefbuch nichts vergeben haͤtte, deſſen mein
Vater ſich als eines Unterdruͤckten und
Nothleidenden angenommen. Er wars, der
den Candidaten ohne C. widerlegte und die-
ſem Buchſtab das deutſche Buͤrgerrecht ver-
lieh, welches ihm meine Mutter zur Gerech-
tigkeit rechnete, obgleich der lettiſche Dich-
ter Paul Gerhard
kein Lied mit C. angeho-
ben, welches ihm meine Mutter nie ganz
vergeben konnte. Daß ich Worten, denen
reſpektive große und kleine Buchſtaben ge-
buͤhren, dieſe Gerechtigkeit wiederfahren laſ-
ſen und dieſes Briefbuch mehr leſerlich von
dieſer Seite gemacht, ſey fuͤr die Buchſtaben-
helden geſagt.


Koͤnigsberg den — —


Der Koͤnig hat ſich in den Kopf geſetzt,
die Sperlinge zu vertilgen, und es iſt ein
Befehl ausgeſchrieben, daß jedes Maͤnnlein
eine gewiſſe Anzahl Sperlingskoͤpfe jaͤhrlich
einzuliefern verbunden. Ohne den Willen
T 5des
[298] des himmliſchen Vaters, der doch am beſten
wiſſen muß, wozu ein Sperling gut iſt, faͤllt
keiner. Waͤr ich wie der Koͤnig, lies ich kei-
nem den Kopf abdrehen. Ew. Wohlehrwuͤr-
den ſolten nicht glauben, wie viel Sperlinge
dieſer Verfolgung unerachtet in Preuſſen ſind!
beſonders in den Kirchenmauren, wohin die
armen Dinger ſich retten und fliehen. Da
ſieht man doch, daß es nicht ganz gottloſe
Geſchoͤpfe ſind. Vor wenigen Tagen hielt
mein zweyter Herr den Sperlingen eine Ver-
theidigung, wobey er auch vom Morgen- und
Abendſegen der Raben ſprach, die andaͤchti-
ger auswendig beten moͤgen, als Lieschen
aus der in Gott andaͤchtigen Jungfer. Kann
das Maͤdchen nicht aus den Gedanken brin-
gen. Beſonders des Nachts gaukelt ſie mir
vor den Seelenaugen! Hoffe indeſſen mit
der Zeit, ſie gar voͤllig los zu werden. Mein
zweyter Herr behauptet, daß es gewiſſe Rau-
pen gebe, von welchen die Sperlinge den
Boden reinigen. Habe nie gewußt, was
Eine Inſel ſagen wolle; bey dieſer Sper-
lingsgelegenheit auch erfahren. In Eng-
land kann man Thiere ausrotten, als Baͤren,
wilde Schweine, Woͤlfe; aber Voͤgel zu ver-
tilgen muß man in England bleiben laßen.
Moͤchte
[299] Moͤchte wiſſen, was Ew. Wohlehrwuͤrden
von Preuſſen und den Sperlingen denken,
von denen doch ein Paar im Kaſten Noah
geweſen —?


Ha der Betruͤger! Lieschen iſt ſo ſchul-
dig nicht, als ich glaubte Er hat ſich durch
keinen Schrey abſchrecken laßen, wie andere
wohlgezogene Gemuͤther! — Hat ihr ein
ſeines Briefchen von ſeiner Mutter gezeiget,
die gar hoͤchlich froh uͤber ſolch eine Schwie-
gertochter gethan! Mich hat der Boͤſewicht,
mit Verlaub zu melden, einen Coſacken ge-
nannt. Moͤchte wiſſen, ob ſo etwas nicht
zu beſtrafen? Fuͤrchte nur, daß nicht ohne
Stempelpapier abkommen wuͤrde. Hat ei-
nen Nickel verkleidet, der als ſeiner Mutter-
ſchweſter, Lieschen gar lieblich begruͤſſet, und
nun iſt Mutter, und Mutterſchweſter nicht
zu ſehen, nicht zu hoͤren. Glaub auch, daß
der Boͤſewicht, der ſtill wie ein toller Hund
hinſchlendert, ſich unſichtbar machen werde.
Mich einen Coſacken? Moͤchte nicht einmal
ein Katolik ſeyn, wenn Pabſt werden koͤnnte,
ſo doch ein gutes Stuͤck Brod iſt — Hab
es meinem zweyten Herrn erzaͤhlt, wundert
ſich darob, daß alles ſo wie aus einem Buch
genommen waͤre. Hab es von Lieschen, die
es
[300] es mir mit Thraͤnen erzaͤhlt hat, und konnt
ich nicht umhin herzlich mitzuweinen. Was
das Maͤdel den Tanz bedauret, wozu ich die
Muſik bezahle, iſt nicht auszuſprechen. Habe
Luſt, das Protokoll zu zerreiſſen, und dem
Kinde meinen Namen zu geben. Ob ich das
Protokoll zerriſſen zuruͤckbehalten werde,
weiß nicht! — Wolte das Kindlein Ew.
Wohlehrwuͤrden gottesfuͤrchtig empfohlen
haben, wenn ich unterwegs bleibe. Die
Mutter iſt ſeit geſtern ſo voll Buße, daß
wenn ſie nicht etwa eine neue Unthat bereuet,
welches Gott verhuͤten wolle, ſich ein Stein
uͤber ſie erbarmen koͤnnte. Bittet Ew. Wohl-
ehrwuͤrden auf allem Fall ihres Kindleins
halber zu gruͤßen. Hoffe, daß Hannchen,
wenn gleich ſies erfaͤhrt, bedenken wird,
daß Tanz und Muſik zweyerley iſt —


— — Habe geſtern eine Wallfarth mit
meinen beyden Herren zu Fuß gehalten nach
der alten Stadt und deren Kirche, wo der
Sohn des ſeligen D. Martin Luther Johan-
nes
genannt, begraben liegt. Werden auch
wohl in Ferien nach Muͤhlhauſen, ein Paar
Meilen von hier, reiſen, wo ſeine Tochter
ſchlaͤft. Man zeigt noch ihre Knochen in
einem
[301] einem kleinen Sarge! — Soll gut fuͤr
Kopfſchmerzen ſeyn —


Will Ew. Wohlehrwuͤrden ein Paar Ge-
ſchichtlein nicht verhalten, die hier viel Re-
dens gemacht in Lehr, Wehr und Naͤhrſtand,
wie Ew. Wohlehrwuͤrden die Chriſtenwelt be-
dachtſam eintheilen.


Ein armes Weib, die in einem benach-
barten Flecken mit Brod ausgeſeſſen, iſt allda
vor Hunger geſtorben. Will viel ſagen,
friſches Brod riechen und nicht begehren ſei-
nes Naͤchſten friſches Brod! — Ihr Brod-
lohn hat ſie ihren zween unerzogenen Kin-
dern zugewendet, welche der ſelige Mann
ihr zuruͤckgelaßen! — Wolte nicht in die-
ſem Flecken wohnen! Muß Hagelſchaden
kommen und Mißwachs! —


Da geht ein bedruckter Mann in die Kir-
che nach Troſt — Findet ihn! Der Paſtor
predigt recht nach ſeinem Herzen; nun gehts
an eine Collekte fuͤr eine abgebrannte Kirche.
Die Kirche hat nicht Fleiſch und Bein, wie
ich habe, ſondern Stein und Kalk, und iſt
nicht mein Naͤchſter, wie ich glaube. Der
arme Mann will zur Thuͤr hinaus, ehe die
Kirchenaͤlteſten die Sammlung anheben.
Siehe
[302] Siehe da! die benachbarte Thuͤr iſt verſchloſ-
ſen! und ſo muß er durch die ganze Kirche,
und alles zeigt ihm mit Fingern nach. Er
hatte nur einen Gulden in ſeinem ganzen
Hauſe, und fuͤnf Kinder, die nach Brod
den Mund aufſperrten. Mein zweyter Herr
behauptet, dieſer Troſtloſe haͤtte mehr gege-
ben, wie ſie alle, obgleich er nichts gab. Er
lies ſich ſchnoͤde mit Fingern nachweiſen.
Wenn es doch mit dem Gulden wie mit dem
Oehlkruͤglein gienge. Gott gebs —


Hab mir noch einige Knoten ins Schnupf-
tuch gemacht.


Ein armes Weib bekommt drey Kinder,
und hat nur mit genauer Noth ein Hemd-
chen vor ihrer Niederkunft zuſammenge-
bracht. Wie das dritte kommt ringt ſie die
Haͤnde. Das arme Weib will die beyden
juͤngſten nackt taufen laßen! — Der Pre-
diger gab nichts, als drey Segens und wolte
auch fuͤr drey bezahlt ſeyn. Was aber die
Leute, ohne daß ſie Gevattern waren, dem
armen Weibe zugewandt, iſt nicht zu beſchrei-
ben! Muͤſſen doch noch mehr Gerechte hier
ſeyn, als in Sodom, wenn gleich man mit
Uns iſt gebohren ein Kindelein„ vor
den
[303] den Judenthuͤren hauſiren geht, eine Waͤ-
ſcherin einen Kohlbrenner heyrathet, eine
Herrenhuͤterin Putz macht, ein ſtimmloſer
Candidat fuͤr Juden und Heyden Predigten
fabriciret!


Ein großer Knoten — Meine Herren
klagen all Morgen uͤber die ſchlechte Milch.
Freylich ſieht ſie aus, als kaͤme ſie von einer
der ſieben magern Kuͤhe. Doch liegts nicht
an der Kuh und wird ſie mit Waßer von den
Maͤdchen verfaͤlſcht, die ſie ausſchreyen! —
da geht eines dieſer Milchmaͤdlein, und der
Wind reißt ihr ihr rothes Tuch vom Halſe,
und nimmt es mit ins Waſſer! — Weg
iſts! Da ſteht ſie mit bloſſen Buſen, wie
die junge Frau, die nackt gehen wolte. Vom
Waßer kommts, zu Waßer gehts! So ge-
wonnen, ſo zerronnen, ſagten die Leute, und
Ew. Wohlehrwuͤrden werden dieſen großen
Knoten verzeihen —


Es iſt eine extra fromme Schule, wo ein
Knabe gefragt wird: wer iſt dein Vater?
Soll antworten: der Teufel, wie es geſchrie-
ben ſteht; der Junge iſt ſo dumm und ſagt:
Erzprieſter in — iſt daruͤber hart angeſehen,
wie ers auch wohl verdient hat.


Habe
[304]

Habe ſo viel von einem großen Gelehr-
ten erzaͤhlen gehoͤrt, der im großen Weinfaß
ſeine Wohnung genommen, und ſich uͤber al-
les aufgehalten, was ihm zu nahe gekommen.
Ein Mann deſſelben Schlages iſt alhier befind-
lich. Seiner Profeßion ein Jude. Sagt
allen Leuten eine trockne Wahrheit, hat nur
den Fehler, daß er betruͤgt, wie andere. Mag
wohl der Faßgelehrte auch nicht ohne Ta-
del geweſen ſeyn.


Das Pflaſter Einer der beſten Straßen
wird gebeſſert. Was wolt ihr, fraͤgt der
Jude? da ſie mit Spaten und Steinen kom-
men. Die — — Gaſſe ausbeſſern! Das
geht nicht mit Steinen, ſondern mit Fried-
richsdoren. Eine Muͤnze, die hier funfzehn
Gulden gilt, und der der Koͤnig ſeinen Na-
men gegeben hat. Iſt doch nur ein Stuͤck-
chen Gold, und Ew. Wohlehrwuͤrden ſolten
Lieschens ſchoͤnen Jungen ſehen! — ich
denk, ich zerreiß das Protokoll und verwerfe
die Stuͤcke —


Der Jude iſt Ein ſonderbarer Kautz!
Haͤngt ein Jude, ſagt er, wem kommts
wohl ein zu ſchreyen; da haͤngt ein Dieb!
da haͤngt ein Jude, ſagt jeder —


Was
[305]

Was habt ihr das Jahr, geſtrenger
Herr, fraͤgt’ er einen Richter? Bald viel,
bald wenig, wie es faͤllt, erwiederte der ge-
ſtrenge Herr. Sporteln meynt ihr doch,
fuͤgte der Richter hinzu. Nicht doch, be-
ſchloß der Jude, Fluͤche und Segen.


Der Reiche, hat er ſich verlauten laßen,
iſt ein Kettenhund des lieben Gottes, den er
an die Kiſten und Kaſten geſtellt hat. Der
Reiche bezahlt fuͤr den Armen, dieſer genießt,
jener traͤgt die Koſten.


So gehts, ſagt’ er, da jemand fuhr, der
ſich durch einen wohlthaͤtigen Banquerot be-
reichert hatte, der Herr faͤhrt, weil er ſich
vergangen hat.


Eine Hand waͤſcht die andre. Gottfried
hat fuͤr mich ein gut Bekenntnis gethan und
ich kann ihm mit gutem Gewiſſen Gleiches
mit Gleichem vergelten! Es war kein Au-
gendiener, ſondern einer von Herzensgrunde.
Wißbegierig bey mittelmaͤßigen Faͤhigkeiten.
Ein ſeltener Fall. Oft vergaß er aus Acht-
ſamkeit dem Koͤniglichen Rath den Teller zu
nehmen, und bald gab er ihm Salz fuͤr Pfef-
Ufer,
[306] fer, und Eßig fuͤr Zucker. Der Koͤnigliche
Rath liebte alles ſehr ſuͤß. Gottfried hoͤrte
uͤberhaupt mehr, als er ſahe; war nicht et-
wa ordentlich, ſondern peinlich. Es verdroß
ihn nichts mehr am Junker Gotthard, als
daß er die Groſchen und Pfenninge oft unbe-
rechnet lies. Herzlich freut’ er ſich uͤber
meine Bemerkung: Bruder! zum Kaufmann
und tiefen Gelehrten haſt du keinen Beruf;
die berechnen Pfennige. Dichter aber koͤnn-
teſt du werden — Nach Noten, erwiederte
Junker Gotthard! Gottfried laͤchelte und
dachte vielleicht innerlich, zum tiefen Gelehr-
ten mehr Anlage zu haben, als der gnaͤdige
Herr! —


Zuweilen uͤbertrieb Gottfried dieſe An-
lage. Wenn er Spielgeld wegtrug, beſtand
er auf eine Quittung, woruͤber er einmal bey
einem Haare aus dem Regen in die Traufe
gekommen waͤre. Einen gaſtfreyen Aus-
druck nahm ſich Gottfried nicht uͤbel, und
kam immer mit heiler Haut davon, wenn
gleich er zu weit gieng — Seine Recht-
ſchaffenheit blickte uͤberall durch. Jeder
nahm Parthey, ſo bald er ihm ins Geſicht
ſah. Da er ſich im Schreiben zu uͤben Ge-
legenheit hatte; glaubt’ er auch im Denken
es
[307] es weit gebracht zu haben. So gehts mit
ſolchen Leuten, und was ſchadet es, daß es
ſo geht. Man kommt oft mit Erfahrungs-
begriffen weiter, als mit Vernunftbegriffen.
Bey jenem iſt man unternehmend, nichts
ſicht uns an; bey dieſen all Augenblick ein
Querſtrich, ein Seitenſprung. Die Ver-
nunft iſt nicht jeder Sache gewachſen, und
kann manches Gehege nicht durchbrechen, wo
die Erfahrung ſich Bahn macht! — Die
Baarſchaft ſeiner Seelenkraft ergiebt ſich aus
ſeinem Briefe. Ich habe den groͤßten Theil
ſeines langweiligen Briefbuchs abgeſichelt.
Was hindert er das Land? Seine Bemer-
kungen uͤber Danzig gehen all auf Glocken-
ſpiel heraus! In Berlin hat er keine in Gott
andaͤchtige Jungfer mit ihren Morgens und
Abends zu Gott erhaben Haͤnden gefunden.
Lieschen iſt tod, ihr Kind hat Gottfried
nach ſeinen Namen genannt, und das Pro-
tokoll nicht etwa eingeriſſen, ſondern ver-
brant. Noch eine Stelle find ich in ſeinem
Briefbuch die leſenswerth ſeyn doͤrfte.


Es iſt allhier Sitte, daß man die von
Gottes Gnadens oder Ungnadens
wie
es die Leute nennen, in den Wirthshaͤuſern
U 2zu
[308] zu jedermanns Achtung, ſonderlich denen
daran gelegen, aufknuͤpfet. Da hieng ein
ganzer Codex (meine Herren nannten es ſo)
am Nagel, und es gefiel meinen Herren die
Art, den Codex an den Nagel zu haͤngen,
woruͤber der Wirth ſelbſt lachte, da man ihn
darauf brachte. Sein Schwager, der das
Bier zu verſuchen gekommen war, hatte noch
einen tuͤckiſchern Einfall, den ich Ew. Wohl-
ehrwuͤrden mittheilen will. Mein adelicher
Herr that die Frage: Nun ihr haltet doch
dieſe heilſamen Verordnungen, oder von
Gottes Gnadens, wie ihr ſie nennt? Jun-
ger Herr! Einer haͤlt ſie im ganzen Dorf.
Gott verzeih mir meine ſchwere Suͤnden!
Da fiel mir der Juͤngling ein, der alle zehn
Gebote gehalten hatte von ſeiner Jugend an.
Ha! dacht’ ich, das wird wohl ſo ein Enkel-
chen dieſes Juͤnglings ſeyn und freute mich,
daß beyde Herren fragten: wer? denn haͤt-
ten ſie nicht gefragt; ſo haͤtt ichs gethan.
Wer? Der Nagel, antwortete der Bauer,
und ſah nach oben, als ob ſeine Antwort auch
auch an den Nagel hienge.


Aus dem nemlichen Faß des juͤdiſchen
Diogenes. Nicht wahr? ein beſondrer Ge-
ſchmack drinn! Es ſchmeckt nach dem Faß —


Hier
[309]

Hier ſagt man, ſchreibt Gottfried: Mut-
ter ſelig allein, hab es in Curland nicht ge-
hoͤrt. Mein zweyter Herr iſt gleich mit einer
Erklaͤrung da. Will es von den ſechs Wo-
chen verſtanden haben, da der Mann ſein
Weib, wenn er ſie gleich noch ſo liebt, allein
laͤßt, und wo ſie doch allein ſo ſelig in der
Mutterfreude iſt, daß ſie nichts mehr be-
gehrt — Lieſe, fuͤgt er hinzu, hat nur drey
Wochen gehalten. Moͤchte wiſſen, wenn
nach dem betruͤbten Suͤndenfall die Sechs
Wochen aufgekommen?


Meiner Mutter Lieblingswunſch war:
Gott thue wohl den guten und frommen See-
len! und ſo ſchlies ich auch dieſe Beylage
C.



[[310]][311]

Soldat!


Ob mein Vater den rechten Weg einge-
ſchlagen, mich zum Soldaten zu erziehen,
moͤgen Feldherren und nicht Kunſtrichter be-
ſtimmen. Daß ich mich aber ſelbſt nach die-
ſer Lebensart, nur erſt da Mine todt war,
herzlich geſehnt, iſt ein Umſtand, den ich zur
Steuer der Wahrheit, ſonder Argliſt und
Gefehrde, hie und da zu erkennen gegeben.
Nie wuͤrd ich dieſe Sehnſucht befriedigt ha-
ben, wenn es nicht dem Herrn uͤber Leben
und Tod gefallen, meine liebe theure Mutter
aus der ſtreitenden Kirche dieſer Welt in die
triumphirende zu verſetzen und zum ewigen
Frieden in ſein himmliſches Reich zu bringen,
wo Ruhe iſt. Sie warf zuweilen die gros-
muͤtterliche Frag auf; ob es in der andern
Welt zwey Geſchlechter geben wuͤrde? und
mein Vater, der ſich in ſolche Fragen nie
einlies, brachte ſie auf die himmliſchen Heer-
ſchaaren
und lies das gute Weib im Stich.
Sie war wuͤrklich auf dem Wege zu glauben,
daß dort nur maͤnnliches Geſchlecht ſeyn
wuͤrde! Indeſſen erklaͤrte ſie die Spruchſtel-
len, welche die Engel als ſtarke Helden, als
edle Streiter, als Huͤlfsvoͤlker der Men-
U 4ſchen
[312] ſchen darſtellten, in der Art, daß man in der
andern Welt ſich recht aͤmſig bemuͤhen wuͤrde,
(dem Wort: exerciren wich ſie gluͤcklich aus)
Gott zu loben! — Der Engel aber, ſagte
mein Vater, der in einer Nacht einhundert
fuͤnf und achtzig tauſend Mann ſchlug? —
„Das war durch eine Feldpredigt“ und der
mit dem Schwerte vor dem Paradieſe auf-
zog? fiel ich ein. Stecke dein Schwert in
die Scheide; denn wer das Schwert nimmt,
wird durchs Schwert umkommen.


Ohne daß man wußte, ob dieſe vortref-
liche Worte auf den Cherub, oder mich,
giengen —


Noch nie bin ich uͤber etwas ſo ſtimmig
geweſen, als uͤber die Ausfuͤhrung des Ent-
ſchuſſes, Soldat zu werden. Es war goͤttli-
cher Ruf. Ich hatte nicht noͤthig, die guͤldne
Regel von zwey Looſen in Anwendung zu
bringen und in eines flugs Ja und ins andre
flugs Nein zu ſchreiben, ſie einander gleich
zu machen, eins zu greifen, und zu thun,
was ich gegriffen. Es war alles Ja in mir,
und Amen in mir, und wahrlich! ich em-
pfand, daß ich eine Stimme zum Adler und
Loͤwen hatte, die meine Mutter nur Baßpa-
ſtoren erlaubte, dagegen ſie der guͤtigen Mey-
nung
[313] nung war, daß auch ein Diskantiſt ſchon ein
Thierchen fuͤr ſein Stimmchen in der Bibel
finden wuͤrde! —


Der preußiſche Dienſt hatte ſo viel An-
zuͤgliches fuͤr mich, daß ich lange kaͤmpfen
mußte, wo ich den Tod, den lieben Tod, ſu-
chen ſolte? Da fiel mir noch zu rechter Zeit
ein Geſpraͤch ein, das der Profeſſor und der
Officier beym Koͤniglichen Rath uͤber dieſe
Materie gehalten. Es ward von einem jun-
gen Mann geſprochen, welcher durchaus und
wider ſeiner Eltern Willen, wie es der Pro-
feſſor hies, dem Kalbfell und nicht den Pro-
legomenen der Metaphyſik folgen wollte.


Der Kalbfell-Ausdruck fiel dem Officier
auf. Er foderte den Profeſſor; hier iſt das
Duell:


Und wenn er will?


Der Verſtand iſt frey!


Der Wille nicht?


Wer ſich auf den Verſtand verlaͤßt, was
thut der.


Alles!


Mit der Feder?


mit dem Kopf uͤberall der Soldat. Freund!
ich laß ihrem Stande alle Gerechtigkeit wie-
U 5der-
[314] derfahren, ich laß ihm den Degen und, wenn
Sie wollen, die Hand —


Und Willen?


Meinetwegen! wenn mein Stand den
Verſtand behaͤlt, hat er gewonnen Spiel.
Den Verſtand — —


Bitte zu behalten. Gegoͤnt von ganzem
Herzen. Mit Verſtand iſt nicht viel anzufan-
gen; aber was koͤnnen ſie denn meinem Stan-
de nachſagen.


Cain ſchlug ſeinen Bruder Abel todt, war
der erſte Atexander der Große, der erſte com-
mandirende General-Feldmarſchall, ein Aller-
durchlauchtigſter Ueberwinder, Sieger aller
Sieger! —


Und das Zeichen, das ihm Gott an die
Stirn hieng, gelt!


Das war wohl, nach ihrer Meynung,
ein Gnadenkreutz, ein Orden — —


Wenn Sie wollen; wenigſtens ſchuͤtzt
manches Gnadenzeichen den Traͤger, daß man
ihn nicht Moͤrder ſchilt —


Gewonnen!


Noch
[315]

Noch nicht. Gott ſchuf Weiber und
Maͤnner; allein viele Maͤnner ſind Weiber,
und viele Weiber, Maͤnner. Es giebt Leute,
die den Baum fein hoͤflich wegbiegen, und
Leute, die ihm gerad entgegen trotzen. Leute,
die bitten, und die fordern.


Fordern, Freund! Was haben wir denn
Welt auf Welt abzufordern?


Die ganze Welt!


Oder nichts, als uns ſelbſt. Ein jeder
hat den Ort, wo er ſteht, den Platz, wo er
ſeine Rieben pflanzt.


Und wer ihm das nimmt?


Iſt ſein Feind!


Alſo Krieg und Soldat!


Fuͤr den die ſteinerne Tafel ſub B. die von
der Liebe des Naͤchſten handelt, ihn ſchuͤtzt:
Was du nicht willſt, daß dir andere thun,
thue andern auch nicht.


Und wenn trotz der ſteinernen Tafel ſub
B.
doch ein ſolcher Thaͤter waͤre?


Dann alles wider ihn, bellum omnium
contra vnum, ſolum, totum.


So waͤre das menſchliche Geſchlecht eine
Familie, wo der liebe Gott Hausvater waͤre.
Staaten ſind unſerer Herzenshaͤrtigkeit we-
gen, und Soldaten? —


Traͤu-
[316]

Traͤume! Freund! Wir wollen nicht im
Schlaf reden.


Iſts Schlaf, iſts Traum? Wie gern
gaͤb ich, wie der Aſtronom, den Tag, um
dieſe Nacht! Glauben Sie nicht, Freund!
daß einmahl eine Heerde und ein Hirte ſeyn
wird? daß die Boͤcke ausgeſtoſſen, und die
Laͤmmer geſammlet werden koͤnnen? — Es
gehen viel Laͤmmer in einen Stall! und in
Wahrheit, die Erde iſt ſo ein kleiner Stall
eben nicht, daß nicht jedes Paar ſein Koͤnig-
reich, ſein Haus und Hof, ſeinen Acker ha-
ben und ſich begnuͤgen ſolte mit dem, was da
iſt! Wir haben nichts in die Welt gebracht,
und iſt gewiß, daß wir auch nichts heraus-
nehmen werden. Der Menſch, wenn er todt
iſt, hat mit wenig Spannen Erde genug, und
wenn er lebt, ſchwebt und iſt, braucht er ein
Paar Spannen druͤber. Man ſolte nach
Spannen meſſen. Die verdammten Meilen,
ſie moͤgen deutſche oder engliſche, oder —
ſeyn, ſo ſind es Wege, die den Menſchen aus
dem Menſchen hinausfuͤhren. Die Solda-
ten ſind eigentlich die Meilenzeiger. Sie ha-
ben alles Ungluͤck in die Welt gebracht, ſie
erhalten es und werden es ſo lang erhalten,
bis die Menſchen ſo klug werden, daß ſie kein
Herz
[317] Herz mehr haben; dann wird ſich alles von
ſelbſt geben! —


In den erſten fuͤnf tauſend Jahren wohl
nicht, und da unſer Leben ſiebenzig waͤhret,
wenns hoch kommt achtzig; laſſen Sie uns
die Welt nehmen, wie ſie iſt, und den Solda-
ten, Soldaten ſeyn!


Aber das Bewußtſeyn, daß er uͤberfluͤßig
iſt, daß die Welt ohne ihn ſeyn koͤnnte; und,
was noch mehr iſt, gluͤcklicher ſeyn wuͤrde —
ha! ſolch Bewußtſeyn thut weh.


Kann nicht ſagen! Was wuͤrden denn die
Herren Gelehrten in dieſem Paradieſe vor-
ſtellen?


Bewahrer der Lade des Bundes, wo ge-
ſchrieben ſteht: Was ihr nicht wolt, daß die
Leut euch thun, das thut ihnen auch nicht.


Lieber Freund! Zu ſo einem kleinen Bun-
deslaͤdchen hat jeder in ſeinem Hauſe Platz,
ohne den Gelehrten Miete bezahlen zu duͤrfen.


Nun! ſo mag alles dahin fahren! der
Herr hats gegeben, der Herr hats genommen,
der Name des Herrn ſey gelobet!


Und gebenedeyet! Kurz und gut, lieber
Profeſſor! Geſetze ohne Vollſtreckung ſind Pro-
feſſores ohne Studenten! —


Zur
[318]

Zur Vollſtreckung ſind hundert Mann
genug.


Nachdem die Unterthanen ſind, viel oder
wenig, ruhig oder unruhig.


Man weiß nicht, ob Julian die Chriſten,
oder die Chriſten den Julian verfolgt? Die
Sterbſcene an ſeinen Ort geſtellt, da Julian
eine Handvoll Menſchenblut mit den Worten
gen Himmel warf: Endlich haſt du, Galli-
laͤer, doch uͤberwunden!


Ich! Julian? —


Die wenigſten Unterthanen laſſen es bis
zur Execution —


Und die Nachbaren?


Muͤſſen denken wie wir!


Muͤſſen! und wenn nicht?


Greift der Buͤrger nach ſeinen Waffen.


Der Profeſſor nach den Studentendegen.


Hats denn nicht militiam civicam gegeben?


Schneider zum Beyſpiele.


Fleiſcher, Schloͤſſer, Schmiede, unſere
Fuhrleute —


Gaͤnſe zur Leibwache fuͤrs Capitolium —


Was ich bey dieſer Unterredung fuͤr ver-
nuͤnftige lautere Milch in Abſicht meines Ent-
ſchluſſes eingeſogen, wird jeder ſelbſt einſehen.
So lange die Welt ſo iſt, wie ſie iſt, ſcheint
der
[319] der Soldatenſtand ſo etwas maͤnnliches, ſo
etwas ruͤſtiges an ſich zu tragen, daß ich kei-
nem jungen Menſchen, fals er nicht eine Mi-
ne
hat, verarge, wenn er dem Kalbfell folgt,
ſo wenig wie den Sokrates, daß er zwey
Schlachten pro patria et gloria uͤbernommen.
Der Gebrauch, daß man dem Kinde den Sem-
mel erſt mit einem Pfeile treffen lies, ehe man
ihm ſolchen bewilligte, hat er nicht ſein Gu-
tes? und wer kann meinem Vater das Ale-
xanderſpiel vorruͤcken? Man ſieht den Krieg
als eine Staatsaderlaſſe an, und vielleicht
nicht ohne Grund. Der Profeſſor war der
Meynung ſo wie es alle Schulmaͤnner ſind,
der Peditatus, das Fußvolk, ſey der Kern, der
Phalaux der Armee; weil die Alten davor
geweſen, ſagte der Officier, und weil die
Schulofficiere ſelbſt alle Peripathetiker, Spa-
ziergaͤnger, ſind. Der Officier war ein Reu-
ter. Ein Pferd iſt freylich ein gebohrner
Soldat unter den Thieren, und kann es vom
Reuter mit Recht heißen: doppelte Schnur
reißt nicht; indeſſen war ich mit dem Profeſſor
ſehr fuͤrs Fußvolk. Kein Wunder, da ich
Student war. Ich blieb aber auch dieſer
Meynung, weil ich in der Jugend ſchon bey
der Infanterie gedient und einen ruͤhmlichen
Ab-
[320] Abſchied als Alexander erfochten. Fußſolda-
ten ſind die Richter, die das Urtel ausſpre-
chen; die Reuter vollſtrecken es nur.


Daß doch der guͤtige Himmel dies Kraͤnz-
chen beym koͤniglichen Rath in Frieden erhal-
ten wolle! Nach meinem letzten Briefe aus
Koͤnigsberg lebt er noch, der Praͤſident deſſel-
ben, dieſer Mann mit einer ofnen, weit ofnen
Stirn, ſchwarzem Haar und einem Aug, in
dem man ihn im Kleinen, allein doch ganz
ſahe, dieſer Mann, der in den Mond und auf
ein Grab ſehen und weinen konnte —


Es gehoͤrt, ſagte der koͤnigliche Rath, Mi-
niſter und General zum Kriege, einer der das
Pulver erfindet, und ein andrer der es
braucht; und dies kam dem Profeſſor wie ge-
rufen: Was will denn der Soldatenſtand,
fieng er an? Erfand nicht ein Geiſtlicher das
Pulver? Und hat nicht Daniel einen Trak-
tat von der Cavallerie geſchrieben? Der Of-
ficier haͤtte, das ſah man ihm an, den guten
Mann nicht ohne ein Wer da? gehen laſſen;
wenn nicht Daniel eben von der Cavallerie
geſchrieben. Das bracht ihn durch —


Ueber die fremden Worte beym Exercieren,
war der Officier am verlegenſten. Die Her-
ren, ſagte der Profeſſor, ſind alle deutſche
Briefe
[321] Briefe mit franzoͤſiſchen Aufſchriften. Fuͤr
aufbrechen, fortgehen, ſagen ſie marſchieren,
fuͤr Schlacht Bataille, fuͤr Rittmeiſter Capi-
taine, fuͤr Rottmeiſter Corporal, fuͤr Feldwe-
bel Sergeant — Warum denn nicht Feld-
herr, ſondern General? Von den Pohlen
koͤnnen wir deutſch lernen; da giebts allein
Groß- und Unterfeldherren. Zwar, fuhr der
Profeſſor fort, haben die Herren freylich auch
ihre deutſche Kunſtwoͤrter. So heißt z. B. der
Teufel hat ihn geholt, in unſerer Sprache:
er iſt ſanft und ſelig im Herrn entſchlafen!
aber — Wer andre jagt, fiel der Officier
ein, wird ſelbſt muͤde, und der Profeſſor
wie ein Canonenſchus: man muß ſein Geld
nicht in Einen Kaſten werfen, wozu man
den Schluͤſſel nicht hat
.


Außer in den Gotteskaſten, ſagte der koͤ-
nigliche Rath.


Soldat! aber wo! Eigentlich iſt man
Soldat fuͤrs Vaterland. Da Curland indeſ-
ſen kein Vaterland iſt, oder da Curland keine
Soldaten haͤlt; ſo war mir die ganze Welt
offen. Wo, dacht’ ich? Der gute Officier,
ohne zu wiſſen, was ich dachte, ſprach ohn
End und Ziel von der uͤberwiegenden Wuͤrde
eines preußiſchen Soldaten. Ueberzeigt,
Xdaß
[322] daß er mit drey Mann drey tauſend ſchla-
gen koͤnnte, ſo daß kein Gebein von ih-
nen auf dem andern bleiben ſolte, war ihm
Alexander nicht groß. Alexander nicht? Der
Profeſſor ſagte: an einem tapfern Tage, ge-
wiß hat ein preußiſcher Trompeter die Mau-
ren in Jericho zu Schanden geblaſen. Unſer
Reuter laͤchelte. Wiſſen Sie, Freund! fuhr
er fort, die Unterredung des großen Alexan-
ders mit dem Seeraͤuber, der ſich ſo nahm,
als waͤren ſie Kriegscammeraden. Der Reu-
ter laͤchelte. Als Alcibiades, ſagte der Reu-
ter, erfuhr, daß die Athenienſer ein Todes-
urtel uͤber ihn ausgeſprochen, ſagt’ er, laßt
uns ein Lebensurtel eroͤfnen, und dies Urtel
in Rechtskraft ſetzen. Alcibiades, lieber Pro-
feſſor, zeigte, daß er lebte.


Der Profeſſor ſchwieg, ohne zu laͤcheln.
Ich wuͤrde unſerm Reuter, der wahrlich ein
deutſcher Brief mit einer franzoͤſiſchen Auf-
ſchrift war, die Verachtung des großen Ale-
xanders verziehen haben, obgleich Alexander
mein Verwandter war, und worden ſeyn, wie
er Einer, wenn nicht zu allem dem noch ein
Vademecum von Werbgeſchichten gekommen
waͤre, die der Reuter in Bereitſchaft hatte,
und die mehr intereſſiren, als die im Druck
erſchie-
[323] erſchienenen Liſt und luſtige Begebenhei-
ten der Herren Officiers auf Werbungen.

Es iſt bekannt, daß Preußen fuͤr ſeine Kriegs-
macht zu wenig Vaterlaͤnder habe, und daß
durchaus auf fremde Ruͤckſicht genommen wer-
den muͤſſe. Mein Herr, ſagte ein Witzling,
braucht nicht Kinder, ſondern Maͤnner, als
man von der Unzulaͤnglichkeit der preußiſchen
Landeskinder ſprach. Kann man aber vom
Witze ſagen, daß er ſeinen Mann halte? —
Der Krug geht ſo lange zu Waſſer, bis er
bricht, bemerkte der Profeſſor uͤber dieſen Ge-
genſtand. Es kommt viel drauf an, wie man
ihn traͤgt, erwiederte der Reuter. Mag ſeyn!
Was kann denn aber ein Fremder fuͤr inner-
lichen Beruf fuͤhlen, fuͤr ein fremdes Land zu
ſiegen, oder zu ſterben? Solte man es nicht
fuͤr eine Art von Blutſchande halten, wenn
Fremde fuͤr Geld und gute Worte Blut und
Leben in die Schanze ſchlagen? Freylich ge-
ben auch zwey kalte Steine Feuer; allein man
muß ſie lange reiben; mit einem eilfertigen:
Fertig, Schlagt an, Feuer! iſts hier nicht
gethan. Zur Zeit der Anfechtung fallen die
Miethlinge abe! — Gut! ſagte der Reuter,
daß der Spreu vom Kern ſtiebt! — allein
noch beſſer, wenn kein Spreu mehr da iſt.
X 2Der
[324] Der Profeſſor! — Sollen Werbungen ſeyn,
warum liſt und luſtige Begebenheiten dabey?
Iſts denn ſo unrecht, wenn ein mit Liſt und
Luſt geworbener ſich mit Liſt und Luſt wieder
aus dem Staube macht? Der Liſt kann
durchaus nichts anders als Liſt entgegen ge-
ſetzt werden. Verſtand thut nichts dagegen.
— Der Profeſſor konnte nicht aufhoͤren uͤber
den armen Tropf zu lachen, der als Regi-
mentsglaſer Handgeld genommen. Eine
einzige
von dieſen intereſſanten Ge-
ſchichten:


Ein Officier, der aus Liſt und Luſt in ge-
meiner Kleidung auf Menſchencaperey aus-
gieng, fand, wie ſich unſer Reuter ausdruͤck-
te, ſeine Leute, die er mit Geld und guten
Worten locken wolte, daß ſie dran glauben
ſolten, ſo gefaßt, daß er keine Menſchenfe-
ſtung einnehmen konnte. Er legte ſein Ueber-
kleid ab, fieng an zu drohen, und ſiehe da! man
legte es ihm ſo nahe, daß er ſich ins Waßer
ſtuͤrzte, um ſich zu retten. Ungewohnt zu
Waßer Dienſte zu thun, wuͤrde er ſein Leben
gewiß eingebuͤßt haben, wenn nicht ein jun-
ger Menſch, der nur an die That, nicht an
die Gefahr zu denken gewohnt war, mit ſeiner
eignen Lebensgefahr das Leben dieſes Werbers
geret-
[325] gerettet haͤtte. Edler Menſch, ſagt’ ihm der
Gerettete, was bin ich ſchuldig? — Nichts,
erwiederte er. Ein Tuch wenigſtens zum
Trocknen! Ich bin nie anders getrocknet,
als von der Sonne; ſo ſey mein Freund! —
Hier lies ſich der Retter bewegen, dem Ge-
retteten die Hand zu geben und ihm zu folgen.
Edler Menſch! wo gehſt du hin?


Bey großen Handlungen iſt kein Stand
merklich. Man ſieht den Menſchen nicht vor
der That. Jezt, da beyde unter Dach waren,
ſah der Officier, daß die Seele ſeines Lebens-
verehrers weit uͤber deſſen Stand waͤre! —
Der Gerettete lies auftragen, was das Haus
vermochte. Macht den Verſuch, es kommt
nur auf euch an, wie ihr den gemeinen Mann
haben wolt. Ihr habt den Stimmhammer
zu ſeinen Geſinnungen in euren Haͤnden! —


Der Officier ſo wenig zum Stimmen aufer-
legt, daß er bis auf eine ſehr kleine Cultur tief
unter ſeinem Retter ſtand, verhielt ſich herr-
lich zu ihm. Man aß und trank, und ward,
wie der Reuter ſich ausdruͤckte, von innen ſo
naß wie von außen. In dieſem ausgelaſſe-
nem Vergnuͤgen noͤthigte der Officier ſeinem
Erretter ein Verſprechen ab, das ſo gleich
durch eine rothe Binde in Rechtskraft geſetzt
X 3ward.
[326] ward. Unſer Reuter nannte dieſe Erzaͤhlung
einen Waßerfall und that ſo liſtig und luſtig
dabey, daß es jedem von uns wie ein zwey-
ſchneidiges Schwert durch die Seele gieng.


Wenn das der Koͤnig wuͤßte, ſagte der koͤ-
nigliche Rath! Wenn? erwiederte der Reu-
ter, was fuͤr ein Federleſer wird es ihm denn
melden? Da niemand das Wort nahm,
fuhr der Reuter fort: nachdem es faͤlt, was
fuͤr Colliſion iſt denn hier, wenn man die Sa-
che beym rechten Zipfel faßt? —


Ich wuͤnſchte dieſe zweyſchneidige Ge-
ſchichte ſo kalt erzaͤhlt zu haben, als ſie der
Neuter erzaͤhlte, der mir in dieſem Augen-
blick mit ſeiner Liſt und Luſt wie ein Menſchen-
haͤndler vorkam! Er glaubte, daß der Ret-
ter nicht hoͤher, als durch eine rothe Binde,
belohnt werden koͤnne, da er aus einem Scla-
ven ein Gebieter worden! Wie man alles in
der Welt nehmen kann! Das Copernikani-
ſche Syſtem ſcheint paradox und iſt doch das
wahrſcheinlichſte! Der Retter war freylich
ein gemeiner Mann; muß man denn aber
einen Degen tragen, um gluͤcklich zu
ſeyn! — —


Ich dachte nicht mehr wo? Die Rußen
koͤnnen von Riga aus den Curlaͤndern in die
Fen-
[327] Fenſter ſehen! Unſer Reuter ſelbſt konnte den
Rußen nicht ein gutes Zeugnis abſchlagen.
Er hatte ſich mit ihnen gemeſſen, und ſein
Vater, der, waͤhrend dem dritten ſchleſiſchen
Kriege, in Preußen den Rußen zu huldigen
verbunden geweſen, hatte alles Liebes und
Gutes von dieſen guten Feinden genoſſen! —
Alles, fuͤgt er hinzu: alles haben die Rußen
von uns — Mag! Man ſagt freylich, die
Rußen ahmten nach. Beſonders, daß eine
Nachahmung der Natur, eine Beſchleichung
derſelben, eine unmittelbare Befolgung der
Vernunft, eine Erfindung heißt, und von
niemanden, als wer es verſteht, Nachah-
mung geſcholten wird. Nur wenn ein Menſch
ein Menſchnachahmer iſt, heißt er Affe, Maͤn-
chenmacher, oft Poſſenreiſſer, dann ſiehts aus,
als wenn man im verbotenen Grad geheyra-
thet haͤtte — Iſts eine Blutſchande, fuͤr ein
anderes als das Vaterland den Degen bloͤßen;
ſo iſt hier die Blutſchande noch erſichtlicher.
Wahr! daß kein Menſchnachahmer es weit
bringt und die Naſe (bey jeder Nachahmung
ein Hauptſtuͤck, das in Bewegung iſt,) hoch
heben kann. Warum aber wahr? Weil der
Menſchnachahmer vielleicht mehr vermochte,
als ſein Herr und Meiſter, weil der Nachah-
X 4mer
[328] mer kein Herz hatte; und weil uͤberhaupt es
nicht viel Menſchen giebt, deren Bild man
tragen kann.


Jeder Menſch iſt Original, ſagt Pope,
und wie oft iſt das uneigentuͤmliche nichts
weiter, als Roſt, der ſich an eigenes Talent
anklammert.


Das erſte Wort war Rußen! das zweyte
Krieg, und das dritte Tuͤrken! So viel
Worte, ſo viel Gewichte. Die Tuͤrken gaben
den Ausſchlag.


Mein Vater konnte zwar als ein chriſtli-
cher Geiſtlicher nicht wie Ariſtander in dem
Alexanderſpiel dienen; allein wider die Tuͤr-
ken waͤr er mit Freuden als Feldprobſt ge-
gangen.


Ich fuͤrchte, er haͤtte ſeine Bibel ſehr bald
mit dem Degen verwechſelt. Er hatte nach
ſeiner angeſtammten Milde keinen Feind in
der Welt, als die Tuͤrken. Auch dieſe waren
Feinde der Einbildung. Waͤr es auf Liebes-
dienſte angekommen, er haͤtte nicht ermangelt.
Selbſt zog er keine erbauliche Kirchenglo-
cke
wider ſie. Meine Mutter beſaß eine Pre-
digt mit dieſer Aufſchrift, die mein Vater
in ſeinem Buͤcherheer litte — Das will ſchon
viel ſagen, was that er denn Curland und
Sem-
[329] Semgallen? und was den Tuͤrken? — Wem
faͤlt hier nicht ſeine Reiſe ein, die er mit mei-
ner Mutter des Abends zum Grabe Chriſti
anſtellte. Des Morgens, wenn beyde zu
Hauſe wieder eintrafen, hatte keines einen
Tuͤrken geſehen. — —


Junker Gotthard hatte, nach dem Tode
ſeines Vaters, von ſeiner Mutter dringende
Briefe zuruͤckzukommen. Schnell fiel ihm auf
einmal ſeine unverkruͤmmte und unverkratzte,
reif wie die Natur herausgegangene, wie eine
Goͤttin ausgewachſene Trine ein, gegen die
alles, was er in Koͤnigsberg ſchoͤnes erjaget,
nur mangelhafte Kopien blieben. Was das
fuͤr ein Geruch iſt, ſagt’ er mir einen Abend,
wenn die Pomade auf den Kopf und die Roſe
am Buſen im Wettſtreit ſind! Nun war
Junker Gotthard fertig. Er ſagte ſelbſt, daß
er wie aus der Piſtole abgehen wolte. Un-
vergeßlich iſt mir der Abend, da die Nachricht
von ſeines Vaters Befoͤrderung eingieng.
Seine Mutter hatte mir uͤbertragen, ihm die-
ſen Todesfall gelegentlich im Saͤftchen beyzu-
bringen. Er kam mir mehr, als halbes We-
ges, entgegen. Meine Vorbereitung indeſ-
X 5ſen
[330] ſen verpfuſchte mir eine Scene nicht, auf die
ich es gefliſſentlich anlegte. Er iſt geborgen,
fieng er an! Was meynſt du, Bruder, ich
werde nicht alt werden? Mit dieſen Worten
ſtuͤtzte ſich Junker Gotthard auf drey Finger
ſeiner linken Hand, (Er hatte ſtarke Finger,)
und blieb ſo eine Viertelſtunde. Jezt ſprang
er auf und murmelte die Melodie: Wenn
mein Stuͤndlein vorhanden iſt.
Das En-
de vom Liede, fieng er zu mir nach dem drit-
ten Vers an, das Ende vom Liede, Bruder!
iſt ſterben — Wir leben fuͤr nichts und wie-
der nichts. Eins kommt zum andern, erwie-
dert’ ich, es giebt auch ſchoͤne Tage in der
Welt.


er, Summa Summarum, was iſt das
Leben?


ich, Freylich, der ſchoͤnſte iſt der Sterb-
tag!


er, Gelt! es war ein Mann, mein Vater!
ich will nicht ruhmredig ſeyn. Ich werde
nie werden, was er war! —


Wahr! Bruder! ich vergeſſe nie ihn und
den Alten mit dem einen Handſchu! den er
jezt mit Vor- und Zunamen kennt!


Junker Gotthard hohlte ſich den Calender
und brachte ganz richtig heraus, daß ſein Va-
ter
[331] ter an dem nemlichen Tage geſtorben, da der
ehrwuͤrdige Alte zum leztenmal vom Gewaͤchs
des Weinſtocks bey ihm getrunken! — Eine
Sttlle!


Junker Gotthard aß den Abend keinen
Biſſen. Er war ernſt und feyerlich. Gott-
fried außer ſich! — Beyde konnten ſich nicht
anders nehmen, da ſie herzlich betruͤb waren.
Gottfried weinte laut, als wolt er ſeinem
Herrn den Rang ablaufen. Junker Gotthard
keine Thraͤne!


Man entgeht mit eins, wenn man ſtirbt,
allem, allem Elend, ſagte Gottfried, und riß
ſeinem Junker das Kleid herunter und band
ihm das Kopftuch mit den Worten um: Iſts
mir doch, als waͤr es dem ſeligen Herrn! —


Ich weis nicht, ob dies oder was anders
der Drucker der Flint geweſen! — Junker
Gotthard weinte heimlich. Er und ich hatten
die Gewohnheit aus dem Bette gute Nacht
auszuwechſeln, diesmal hielt es lange an, eh
ſie ſeiner Seits zum Vorſchein kam! Ich
hoͤrt ihn weinen! — Spaͤt kam die gute Nacht,
und ſo mit Thraͤnen verſetzt, daß ich ſelbſt be-
wegt ward! ich kein Wort, wie gute Nacht!
— Wer ſolte glauben, daß Junker Gotthard,
dieſer rauhe Juͤngling, auf dieſe Art gute
Nacht
[332] Nacht ſagen koͤnnte! Er ſchlief bald ein.
Seine drey Argos, die er in Goͤttingen hatte,
konnt’ er nicht freundlich anſehen. Der Se-
lige hatte es ihm verboten. So wie ſein
Schmerz nachlies, ſo nahm die Liebe zu den
Hunden zu. Sie heißen Argos, ſagt er, ich
nehme ſie mit. Der Schmerz, ſagt ich ihm,
iſt eine Seelenbewegung! Die Deinige hatte
ſie hoͤchſtnothwendig.


Ich geſteh’ es, ſie war der Stockung nahe.


Faſt —


ich kann mich nicht ſo geſchwind auffreuen,
als Mancher!


Deſto beſſer, daß du geweint haſt! —


Aber weinen! —


Wuͤrden wir wohl weinen koͤnnen, wenn
wir nicht weinen ſolten?


Gern haͤtt’ er, wie er ſagte, ſeinen Vater
im Sarge geſehen! Du haſt mir geſagt, es
gaͤbe Geſichter, die ſich da ausnehmen! Mein
Vater war einer von denen, die im Tode ge-
troſt zu ſeyn verſtanden. Es freute den Jun-
ker Gotthard, daß ſein lieber Vater, wie ers
nannte, zu Kreuz gekrochen und ſich mit der
Bibel ausgeſoͤhnt haͤtte.


Seine Mutter hatt’ ihm von allem unter-
richtet, und im Poſtſcript, das faſt eben ſo
lang
[333] lang, als der Brief war, vorgezeichnet, wie
der Trauer beſchaffen ſeyn ſolte? Die Regel
jenes Alten, die er gab, da man ein Mittel
wider den Schmerz von ihm verlangte,
brachte den Junker Gotthard wieder auf die
drey Finger ſeiner linken Hand, denke an
die Zukunft, als waͤre ſie da!
— Wahr-
lich eine ſchoͤne Regel!


Giebts Schmerz? koͤnnte man fragen,
und: giebts Freude? darauf antworten. Bey
Gott iſt Finſternis Licht. Boͤſes iſt bey ihm
Gutes. Er ſieht wie Gott, und wir wie Men-
ſchen! — Podagra iſt Originalſchmerz! Edles
Salz, uns das Leben ſchmackhaft zu machen,
das iſt Schmerz! — — —


Daß dem Junker Gotthard ſeine gute
Trine einfiel, wer kann es ihm verdenken?
Ich verdenke keinem, was die Natur ihm
nicht verdenkt! Da ich ihn aber an die liebe
Kleine,
an Lorchen, erinnerte, ſchlug er den
Kopf zuruͤck! Kinderſpiel! Das war alles,
was er ſagte. Junker Gotthard ward, was
er nie geweſen, krank, und konnte nicht rei-
ſen. Die Aerzte widerriethen ihm die Reiſe,
und ſeine Mutter, da ſie die Nachricht von
ſeiner Krankheit eingezogen, verbot ſie ihm.
Sie verfuͤgt eine Zeit, damit er ſich ja nicht
uͤber-
[334] uͤbereilen moͤchte. Ihren muͤtterlichen Segen
ſetzte ſie darauf — Junker Gotthard blieb,
wie er mir ſagte, gern meinetwegen! und
ich leugne es nicht, daß ich mich ihm und ſei-
nem Gottfried in dieſer Vorbereitungszeit
mehr widmete, als vor dieſem!


Einen Morgen traf ich ihn mit einer Tau-
be beſchaͤftigt. Er wolte ihr beybringen die
Wicken aus den Erbſen zu leſen! — Bruder
ſetze den Citronenbaum dem Fenſter naͤher;
ſiehſt du nicht, wie er ſeine Aeſte nach der
Sonne reckt! — Natur, Bruder! Wie
kannſt du glauben, daß eine Taube ſich ſo
verleugnen ſolte? Dafuͤr iſts eine Taube!
erwiederte er.


Ich wuͤrde ſie verachten, wenn ſie keine
Erbſt mit verſchlaͤnge! —


Zugegeben, ſagt’ er einen guten Abend,
da er ſich durchaus noch eine viertel Pfeife
laͤnger mit mir unterhalten wolte, alles zuge-
geben, eine Flinte iſt doch was Großes. Ju-
piters Scepter! Donner und Blitz! Jupiter
wuͤrde ſich nicht ſchaͤmen, ſie zu fuͤhren.


Je aufgeklaͤrter die Nation, je weniger
wilde Thiere, erwiederte ich. Wilde Thiere,
wilde Menſchen!


er.
[335]
  • er. Der Sohn des Achill gieng mit zwey
    Jagdhunden in die Verſammlung der
    Achaͤer.
  • ich. Wilde Thiere ſind Straßenraͤuber.
  • er. Darum Jagd.
  • ich. ich wuͤnſchte Ausrottung! —
  • er. und wo denn Fleiſch in der Wuͤſten?
  • ich. Wachteln! Voͤgelwild!
  • er. Voͤgelwild iſt Weiberwild. Maͤnner
    ſolten ſo maͤnnlich ſeyn, und dieſen Jagd-
    abſchnitt den Weibern uͤberlaſſen! nicht
    wahr, auch Hausthiere?
  • ich. Freylich wenn durchaus Fleiſch ſeyn
    ſoll, wenn Manna nicht hinreichend iſt.
    Man muß doch von je her Gewiſſensbiſſe
    uͤbers Fleiſch gehabt haben; ſonſt wuͤrde
    nicht in den chriſtlichen Kirchen die Fleiſch-
    faſten ein Religionsſtuͤck worden ſeyn. Der
    Menſch, duͤnkt mich, iſt Souverain der
    Erde! kann eſſen und trinken, was er will.
    Was ſein großes Haus, die Erde, nur ver-
    mag! — Was ſeiner Souveraͤnitaͤt in Weg
    kommt, begeht Hochverrath! Alle ſchaͤd-
    liche Thiere ſind Verraͤther. Nimm Eng-
    land! —
  • er. Haaſen giebts da noch.

ich.
[336]
  • ich. Die ſind zu keinem Hochverrath auf-
    gelegt.
  • er. Der Hauptjagd Artikel!
  • ich. Du ſprichſt dein Urtel ſelbſt. Sieh da!
    den Beweis, daß die Jagd mehr ein Spiel,
    als eine Ausuͤbung der Majeſtaͤtsrechte
    uͤber die Thiere iſt! — Freylich kommt der
    Jaͤger mit Liſt, Hunden und Flinte, ſo wie
    jeder Deſpot; allein, der Sache nahe ge-
    treten, iſt er Fiskal, Richter, Henker, der
    im kleinen den Monarchen ſpielt! — Aus-
    rottung, Bruder! Ausrottung!
  • er. Du redſt, wie Moſes von den Canani-
    tern, Hethitern, Amaritern —
  • ich. Mit dem Unterſchiede, daß meine Ca-
    naniter Baͤren, wilde Schweine, Woͤlfe,
    und andere dergleichen Schadenfrohe Thie-
    re ſind.
  • er. und England?
  • ich. Ich bitte.
  • er. Dieſer Wildfang von Staat ward, was
    die Thiere erſt waren, ward wild.
  • ich. Frey, willſt du ſagen, und Curland,
    dies Baͤrenland! —
  • er. gute Nacht, Bruder!
  • ich. gute Nacht! —

er.
[337]
  • er. Mein Vater pflegte zu ſagen, der Mo-
    narchiſt reitet, der Ariſtokratiſt faͤhrt, der
    Demokratiſt geht zu Fuß, wie jeder kluge
    Mann.
  • ich. Der Deſpot laͤßt ſich in der Saͤnfte
    tragen.
  • er. Der Monarch liebt die Jagd.
  • ich. Auguſt der ſchoͤne, Koͤnig von Pohlen,
    liebte die Jagd raſend, und der Original-
    Koͤnig Friedrich liebt er ſie? — — —

Schon hab ich bemerkt, daß die Frau v.
G — ihrem Sohne die Trauer ſehr puͤnktlich
vorgezeichnet. Herr v. W — haͤtte nicht ge-
nauer ſeyn koͤnnen, wenn von ihm ein Trauer-
gutachten auf Ehr und Reputation waͤre ab-
gefordert worden. Wer aller dieſer Trauer-
geſetzgebung ungeachtet, nicht trauerte, war
Junker Gotthard! —


Man muß Gott mehr gehorchen, als den
Menſchen, ſagt’ er; dem Vater mehr, als der
Mutter.


Herr v. G —, der Selige, declamirte,
nach der Relation des Junkers Gotthard,
unaufhoͤrlich wider allen Trauer. Jedes,
ſagte dieſer Naturmann, hat ſeine Tracht.
Die Erde gruͤn, die Sonne Gold! Gruͤn und
Gold iſt Erd und Sonne!


YBru-
[338]

Bruder! ſagt’ ich, man ſiehts dir nicht
an. (Dies war ſeine Uniform, wie wir alle
wiſſen.)


Ihr Gelehrten, habt alle kein Aug’, er-
wiedert’ er.


Aber die Jagd, Bruder! verbot ſie der
Selige nicht?


Er ſelbſt war Jaͤger; bin ich denn noch
Student? —


An der Taube haſt du den Erb und Ge-
richtsherrn von — geſehen, nicht wahr? in
Lebensgroͤße! Sey immer eine Taube, lie-
ber Gotthard! —


Der Zeitpunkt kam, den ihm die beſorgte
Mutter bezielt hatte, und nun ſchieden wir
an einem regenigten Tage, nach Mittage,
weil es eine weite Reiſe war, von einander.


Es iſt in dieſem Buche ſchon ſo oft Ab-
ſchied genommen worden, und begnuͤge ich
mich alſo zu bemerken, daß der unſrige kurz
und gut war, wie vieles in dieſem Buch iſt.
Gienge ich zu Fuß; wuͤrd’ ich behaupten, ich
gienge mit einem Springſtock — Gottfried
hatte etwas ſchriftliches aufgeſetzt, das er
mir mit einer Art behaͤndigte, die nicht zu be-
ſchreiben iſt. —


Der
[339]

Der Juͤngling, fieng Gotthard an, lehrt
den Mann, der Mann den Greiß. Der
Grund, die Folge, pflegteſt du zu ſagen, lie-
ber Bruder! Du ſolſt Freude an mir erle-
ben! — Gott ſegne dich, lieber Gotthard,
ſagt ich.


er. Du wirſt dein Lebtag nicht Paſtor
werden.


Nach einem kleinen Wortwechſel mit dem
Poſtillon wegen der drey Hunde, brachte Jun-
ker Gotthard es in einem Augenblick durch
Geld und gute Worte dahin, daß der Poſtil-
lon dieſen dreyen Argos ſelbſt ein Lager legte!
und nun lies Junker Gotthard uͤber und uͤber
blaſen! Reiſe gluͤcklich!


Zum erſtenmal empfand ich die Gluͤckſe-
ligkeit allein zu ſeyn! Daß Leute in gewiſſen
Jahren zum Traualtar ſo ſchwer zu bringen
ſind, kommt wahrlich! daher, weil ſie die
Suͤßigkeiten des Einſiedlerſtandes gekoſtet ha-
ben! — Luther ſagt, wo ich nicht irre: wo
reiche Leute ſind, iſt Theurung; wo Menſchen
Huͤlfe aufhoͤrt, da faͤngt Gottes Huͤlfe an!
und gewis keinen hat Gott und die Natur ver-
laſſen! — Wahrlich Freunde! es iſt keine
unrichtige Behauptung, daß der eheloſe, der
einſame Stand, nach der jezigen Eheweiſe
Y 2unend-
[340] unendlich viel zum goͤttlichen Leben beytraͤgt;
daß eine gewiſſe Kirche die Eheloſen beguͤnſti-
get, iſt es Wunder?


Rußen! Krieg! Tuͤrken! das waren
die drey Worte, bey denen ich ſtehen blieb,
und mich ausruhte. Auch ich war fertig,
nach dem Ableben meiner Mutter, wie aus
der Piſtole. Preußen vermied ich wohlbe-
daͤchtig, ich wolte ſtark ſeyn, und wahrlich!
das heilige Grab hatte mich geſchwaͤcht!


Ich kam ins rußiſche Lager zu einer
theuren Zeit. Die Tuͤrken hatten alle Lebens-
mittel aus der Moldau aufgeraͤumt, um uns
das Bahnmachen, das Vorruͤcken, zu behin-
dern! — Solche Zaͤune ſind im Kriege die
gefaͤhrlichſten —


Fuͤrſt Gallizin! (Sein Name ſey in der
Geſchichte ehrwuͤrdig!) lies zwo Bruͤcken uͤber
die Nieſter ſchlagen, und brach auf mit uns —
Die Hauptmaxime des Krieges iſt freyer Kopf
und freye Fuͤße. Sich den Feind vom Leibe
halten, iſt im Großen und Kleinen ein wich-
tiges Stuͤck —


Wer von mir Ulißeiſche Wanderungen
erwartet, dem geb’ ich eine guͤltige Anweiſung
auf
[341] auf den Homer, und wenn er will, auf den
Profeſſor Grosvater, der dem Homer, neben
der Bibel, ein Raͤumlein vergoͤnnt hatte! —
Wer nach einer Abhandlung wider den Sol-
datenſtand duͤrſtet, gehe zum Antagoniſten
des Reuters, dem Profeſſor — Klein-Vater
haͤtt’ ich bey einem Haar geſchrieben —


Freunde! um euch nicht ganz im Bloßen
zu laſſen: Es iſt alles in der Welt nur ein
Spiel! Der Soldatenſtand, wie der academi-
ſche, der Feldherr, Profeſſor, die Staabs und
andere Officiere, Magiſtri, Baccalaurei, Li-
centiaten, Candidaten, Fußvolk und Reute-
rey, Studenten, in vollem Mond, im hal-
ben, im Viertel; nur mit dem kleinen Unter-
ſchiede, daß der Pedantismus mehr im Sol-
daten, als im academiſchen Stande herrſcht.


Ich bitte, mein Herr Obriſter, dies fuͤr
keinen Druckfehler zu halten. Tauſendmal
hab ich gedacht, nur neue Dekoration, das
Stuͤck iſt das nemliche. Wenden ſie ihre Zeit
gut an, ſagt der General und der Profeſſor,
und wenn ſie Pietiſten ſind; ſetzen ſie hinzu:
Gott ſegne ihre Unternehmungen! Ich dachte
ſo wenig, da ich Soldat ward, meinen Le-
benslauf zu ſchreiben, als auf der Akademie.
Dort wolt ich leben, hier wolt ich ſterben.
Y 3Auch
[342] Auch nicht viel aus einander! Kein Wunder,
daß ich bey aller Menſchmoͤglichen Gelegen-
heit Muth zeigte. Waͤr ich ein Katolik gewe-
ſen, vielleicht ſchrieb ich im Kloſter Prodro-
mum aeternitatis,
Jacobs Himmelsleiter; als
Proteſtant, ſage ſelbſt liebe Mutter, was
konnt ich anders, als Soldat werden? Ich
folgte nicht dem Kalbfell, ſondern der Todes-
fahne, in der ein Kreuz hieng, dein Lieblings-
zeichen, das du dir aber meines Vaters hal-
ber beym Gaͤhnen abgewoͤhnteſt. Es gehoͤrt
auch fuͤr kein gros Maul! —


So und nicht anders konnte mir der Sol-
datenſtand nur willkommen ſeyn; ich wolte
nicht den Buͤrger kraͤnken, um mir von ſeinem
Schweis und Blut einen Bauch des reichen
Mannes anzumaͤſten! — ich wolte ſiegen,
oder ſterben. Mine ſelbſt wuͤrd es mir nicht
verzeihen, die vielleicht auf dieſes Blatt blickt,
wie Geiſter blicken, wenn ich eine Unwahr-
heit ſchriebe. Ehre miſchte ſich in meinen [Ent-
ſchluß]
, und wo ſie nicht iſt, was ſchmeckt?
Ich war nicht verliebt in mein Leben; allein
ich wollt es nicht um ein Linſengericht dahin-
geben —


Was kann meinen Leſern mit Scharmuͤzel-
und Schlachtriſſen gedient ſeyn! Haͤtte ich
geglaubt,
[343] geglaubt, mich dadurch in beſſern Ruf zu ſez-
zen, wuͤrd ich daraus, mit Gottfriedens Er-
laubnis, die Beylage C. gemacht haben.


Ich war bey dem Treffen, da es zwiſchen
dem Vordertrab des Fuͤrſten Proſorowski und
dem Ottomanniſchen Haufen, der vom Kara-
man Baßa angefuͤhrt wurde, zum Angrif
kam!


Ich war bey der Belagerung von Cho-
tzim. Ueberall ſtand ich wie Urias, ohne ſein
Empfehlungsſchreiben zu haben. Mein Le-
bensgleichguͤltiges Herz hatte mir dieſen Urias-
brief geſchrieben, die Ehre hatte ihr großes
Siegel mit einem Adler drauf gedruckt. Bey
Chotzim gab mir der Tod, mit dem ich wie
mit einem guten Freunde umgieng, die Hand.
Ich ward durch den Arm geſchoſſen! Ich kam
dieſer Armkugel nicht in den Weg, ich ſagte
nicht, du irrſt dich, hier iſt der Fleck! — aufs
Herz zeigend. Es iſt ein beſonderes Ding, das
Leben, auch wenn man eine Gemuͤthskrankheit
hat, die das Leben ſchwarz, wie die mondloſe
Nacht, und den Tod weiß, wie einen ſchoͤnen
Lenztag, poetiſch verkuͤnſtelt! Es iſt doch das
Leben, worauf es angeſehen iſt.


Ein Armbruch iſt im Kriege eine Ader-
laſſe; eh ich ſelbſt dachte, war ich da, und
Y 4froh,
[344] froh, daß ich da war! Geſchaͤfte ſind dem
Menſchen nach unſerm Weltlauf ſo noͤthig,
als das taͤgliche Brod. Ich kann nicht ſa-
gen, daß ich Minen druͤber vergaß; allein
Handlungen ſind der Einbildung ſo entgegen,
wie Waßer dem Feuer! —


Gallizin, der mich bis zum Hauptmann
gebracht, (Er war ſo gut zu ſagen, ich allein
haͤtt es gethan) uͤbergab das Commando dem
Romanzow! Auch er verdient einen Undank-
ſichern Platz in der Geſchichte.


Ich ſtand unter dem braven General
Elmpt bey der Einnahme von Jaßi.


Was werth zu ſehen war, hab ich geſehen.
Was iſt doch Paris und Rom, und die ſchoͤn-
ſte Schweizergegend gegen dieſen Schauplatz?
Ich ſahe mehr, als was alle Kuͤnſtler zeigen
koͤnnen; ich ſah den großen Sieg, da das tuͤr-
kiſche Lager erobert ward! — Moͤchten ſie
doch das heilige Grab verlaſſen, wie ihre Zel-
ter! Da ſah ich den Prinzen Wilhelm von
Braunſchweig
ſiegen! warum nicht ſterben?
Was will eine Civilkrankheit von Helden? —
Wie mir ſein Tod nahe gieng, blos weil es
ein Betttod war! Kein Prinz ſolte einen
Civiltod ſterben! —


Ich
[345]

Ich ſah Bender mit Sturm erobern.
Es war ein Wirbelwind; ob es gleich nur
Tuͤrken galt, wand ich doch mein Auge von
der Pluͤnderung. Feinde laufen, Prinzen ihr
Leben losſchlagen ſehen, iſt ein Anblick, der
ſeines gleichen nicht hat. Welch ein Abfall!
die Pluͤnderung! Drey Auftritte giengen mir
bey dieſer Pluͤnderung durch die Seele. Mein
Herz rief wehe! uͤber ſie. Sie ſollen nicht
meinen Lebenslauf verunreinigen! —


Romanzow commandirte mich zum
Panninſchen Corps. Er ſchien mit mir zu-
frieden zu ſeyn und begießen zu wollen, was
Gallizin gepflanzt hatte. Romanzow band
mir ein paar vornehme Rußen auf die Seele.
Nicht ſollen ſie, ſagt’ er, wie an der Schnur
irgend eines Unterrichts einhergehen! — Sie
ſind ſchon vor ſolch einem Garn geweſen!
Wir Rußen ſind gewohnt, die Antwort aus
der Frage zu nehmen! Reim dich oder ich freß
dich, iſt unſere Regel! Durch Umgang, ohne
Uebergang und Curialien, wuͤnſcht’ ich, daß
ſie dann und wann einen Funken ihres natuͤr-
lichen Verſtandes in ihr Herz und ihre Seele
fallen ließen. Zuͤnden wird es, hof ich! Es
waren ein Paar allerliebſte junge Helden!
Sie wußten vom Handwerk mehr, als ich;
Y 5indeſ-
[346] indeſſen ſchloſſen ſie ſich ſo feſt an mich an,
als brauchten ſie uͤber alles, was ſie wußten,
meine Beſtaͤtigung. Die mathemathiſche
Methode iſt in der Philoſophie abgekommen,
und iſt die Mathematik heut zu Tage, da alles,
was nur einen halben Kopf hat, ſtudirt, zum
Soldaten noͤthiger, als Geſinnungen, als
Grundſaͤtze? Wer kann denn den Franzoſen
ihre Kriegskunſt abſtreiten? — Buͤcher ſind
nur ein Beweis fuͤr das, was in uns iſt.
Ihr Geiſt giebt Zeugnis unſerm Geiſt, daß
wir richtig wandlen. Wie leicht wird uns
manches durch Umgang, was im Buche ſo
ſchwerfaͤllig war. Ueber den Fuß, auf den
ich mit dieſen jungen Helden umgieng, waren
ſie ausgelaſſen. Mich ſolt verlangen, fieng
der Eine an, was Er von meinem Aufſatz ſa-
gen wird! — ich durfte nur uͤberall Natur
hineinbringen! Alles war ſchwer von Kunſt
beſchlagen. Ich brauchte nur den Kopf zu
ſchuͤtteln und alles ward glatt ausgeloͤſcht.
Gnade dem Gott, der ſich unterſtand, mir den
den Deutſchen zu verargen! Die Rußen zie-
hen ſelten aus dem Kern etwas gros. Alles
wird mit der Wurzel verpflanzt! — All mein
Lebtage denk ich an einen Vormittag, wo mei-
nes Vaters Geiſt auf mich fiel, und wo meine
beyden
[347] beyden Freunde ausnehmend zufrieden mit
mir ſchienen.


Wir ſprachen vom oberſten Commando,
wozu wir die Gelegenheit nicht weit ſuchen
durften. Nicht wahr, es ſolte nach der
Staatsform geformt werden? Iſt die mo-
narchiſch, ariſtocratiſch, democratiſch; ſo auch
das Commando. Der hat ſehr uͤber den Sol-
daten gewonnen, der ihm einbilden kann, er
waͤre zu Hauſe! — Die Maxime iſt gar nicht
unuͤberdacht, daß man den Soldaten das Hey-
rathen verbietet. Da merken ſie es gleich,
daß ſie nicht zu Hauſe ſind, wenn ſie ihre Wei-
ber nicht bey ſich haben! Ein Weib und ein
Schlafrock ſcheint einen Soldaten gleich un-
paſſend.


Soll ein Prinz das Commando haben?
Guſtav Adolph und Carl der XII. ſcheinen faſt
auf ein Nein zu bringen. Peter der erſte,
Koͤnig Friedrich
wuͤrden es bejahen.


Zum Beſchluß tranken wir dem Droſſel-
paſtor zu Ehren: vivat Academia! Es lebe
Romanzow! —


Meine beyden Schuͤler waren jung und
konnten nicht umhin, ſehnlichſt zu wuͤnſchen,
daß Luſtbarkeiten, Baͤlle und Theater im Fel-
de erlaubt waͤren! Ich ſchlug es ihnen rund
ab.
[348] ab. Nicht eines? Der keines, lieben Freun-
de! Der Kampf der Ehre und Liebe macht
den fuͤnften Aktstod ſo ſchoͤn, daß man mit
Geſchmack ſterben will! — Im Felde muß
man den Tod nehmen, wie er kommt — da
hilft keine Herz-Mutter! Dies brachte uns
auf die lieben Franzoſen, die ihren Feld-Tanz
und Fechtboden, ihr Feldtheater und andere
Feldplaiſirs mehr haben! — Feldbibliotheken
ja nicht zu vergeſſen! — Die guten Herren!
Da ſie zu ſich ſelbſt kein ſonderliches Zutrauen
faſſen koͤnnen, haben ſie Zutrauen zu Feſtun-
gen! Ich bin fuͤr Soldaten von deutſchem
Schrot und Korn. Im Felde muß man Flin-
ten blitzen ſehen, und Soldaten Volks-Lieder
ſingen hoͤren. Ein Marſch, ein Feldgeſchrey,
das iſt alles, was von Inſtrumental- und
Vocalmuſik erlaubt iſt. Laßt den Schaͤfer
ins weiche Bett des Graſes ſich legen, laßt
ihn beyher die Nachtigal aus einem Bluͤthen-
baum ſchlagen hoͤren! Wir haben vom Stoi-
ciſmus Handgeld genommen. Wahrlich die
erhabenſte philoſophiſche Sekte! Laßt uns
mit der koͤniglichen Frau Mutter ſo umgehen,
wie Alexander mit Madam Darius, und ich
mit der Babbe, welche zum Leidweſen meiner
Mutter uͤber der koͤniglichen Wuͤrde die Gruͤtze
ver-
[349] verſalzte! Gute Mannzucht iſt Empfehlung
zur Huldigung! — Mannzucht iſt Strenge! —
wo die nicht iſt, wie kann da Guͤte ſeyn? Lie-
be ohne Gerechtigkeit iſt ein Unding! — Wel-
che Nation denn wohl die tapferſte waͤre? —
Die rußiſche, ſagten meine beyden Juͤnger! —
Leute aus bergigten Orten, fiel ich ein, ſie
ſind allen Elementen ausgeſetzt, und wer die
aushalten kann, was hat der ſeines Gleichen
zu fuͤrchten? Die Gallier jagten den Roͤmern
wegen ihrer Groͤße Schrecken ein, und man
ſage was man will, Friedrich Wilhelm hatte
mit ſeinen Potsdammern in der Regel ſo
recht, als ſein Sohn, dieſe Rieſen in alle
Welt gehen zu laſſen! —


Große Leute ſind wie Mauern und Waͤlle.
Zu erſteigen iſt alles! Wie viel brechen aber
druͤber den Hals, ehe ſie oben ſind? Ich war
von Jugend an ſehr fuͤr Berge. Große Men-
ſchen ſind Berge! Befehlshaber duͤrfen nicht
nur nicht groß ſeyn, ſondern hier wird oft die
Groͤße ſchaͤdlich. Hoͤhere Weſen, wenn ſie
erſcheinen ſolten, wuͤrden ſich in ein mittel-
maͤßiges Menſchenkleid einkleiden. Kein
großes Genie hat Rieſenhoͤhe! — Starke aus-
gewachſene Maͤnner ſind die beſcheidenſten! —
Ich wolte mit der guͤldnen Regel ſchließen:
Ein
[350] Ein weiſer Mann iſt ſtark und ein vernuͤnfti-
ger Mann iſt maͤchtig an Kraͤften; allein man
wolte noch mehr von der Furcht, dem Haupt-
feinde des Soldaten.


Ich hatte geaͤußert, daß man durchaus
retiriren lernen muͤßte; bey dieſem Einzigen
muͤßte man im Kriege an ſtrenge Regeln ge-
bunden ſeyn. Den Feind zu weit verfolgen,
heißt ihn zur Verzweiflung bringen, und denn
kehrt ſich auch der feigeſte als Held um.
Konnte nicht ein ſo unbekannter Menſch als
Heroſtrat den Tempel zu Epheſus anſtecken.
Mich aͤrgert, wenn man ſeinen Namen aus-
ſpricht. Das wolt’ Er. nur. Ein einziger
Strahl, ſo macht der Fluͤchtling halt! iſt feuer-
feſt — iſt Mauerbrecher! —


Man hat ſo viel, fieng ich an, von der
Furcht geſagt, daß gewiß der kleinſte Theil
richtig ſeyn kann! Die Deutſchen giengen nie
zu Rath, nie zum Feſt unbewafnet. Sie
ſchlugen auf ihre Waffen, das hieß Ja! Die
Waffen waren ihr Sprachrohr. Dies alles
nicht aus Furcht, ſondern um mit den Waf-
fen bekannt zu werden. Ordnung treibt ſo
ſehr die Furcht aus, daß ich eben hier den
weiſen tiefweiſen Grund des Exercirens ent-
deckte, das ohne dieſe Ruͤckſicht Kinderſpiel
waͤre!
[351] waͤre! Eben weil es wie Kinderſpiel ausſieht,
wird es auch von allen Kindern, ſo bald ſie
Soldaten ſehen, nachgemacht! Man muß ſich
dicht halten, wie Ein Mann, iſt eine Folge
dieſer Regel. Ein takthaltender Marſch iſt
Beweiß eines Phalanxs. Der Menſch braucht
was unſichtbares, an das er ſich haͤlt, und
das iſt die Ordnung. So bald etwas unre-
gelmaͤßiges, eine Luͤcke, ſich vorfindet, ſieht
der Feind, daß ſein Gegner nicht mehr fuͤr ei-
nen Mann ſteht. Sein Muth waͤchſet — er
wagt! Er ſiegt! Die Furcht ſiegt oͤfter, als
Grundſaͤtze der Herzhaftigkeit. Die Furcht
ſchuͤtzet Koͤnigreiche. Sie iſt eine Kunſt, wo-
durch wir andere glauben machen, wir fuͤrch-
teten uns fuͤr nichts. Daher ſo viele Thra-
ſonen, ſo viele Donner ohne Blitze! — Ent-
halte dich von allem Gewiſſensvorwurf, wenn
du wider deine Feinde ausziehſt: das iſt wahr-
lich kein Feldpredigertext, ſondern ein theures
werthes Wort! Iſts ein Gott, der uns ent-
gegen iſt; wir haben eine gerechte Sache.
Iſt es ein Menſch; wir ſind das, was er iſt.
Was meynen Sie, meine Herren! wuͤrde ſich
Ariſtander bedenken, den Phalanx uͤber dieſe
Worte in beliebter Kuͤrze und Einfalt von
den Geſinnungen eines Helden
zu unter-
halten.
[352] halten. Ich wuͤnſchte, er ließe die Predigt
drucken! —


Die Furcht iſt wahrlich ein groͤßeres Ue-
bel, als das, wofuͤr man ſich fuͤrchtet! Was iſt
es denn, woruͤber dir die Zaͤhne klappern, als
Stoͤrche, woruͤber dir die Sporen zittern, als
wolten ſie einen Ton angeben? Tritt ihm
doch naͤher; es iſt dein Schatten! Die Arze-
ney iſt aͤrger, als die Krankheit! Junker
Gotthard (bey ſeiner Eheverbindung kann
ihm dieſer Umſtand weder Schaden noch Lei-
des thun,) fuͤrchtete ſich in — — in einem
Zimmer allein zu ſchlafen, wo Alexander der
Große gemahlt war! Es waren doch noch
andere Bilder da
, ſagt’ ich ihm, Bruder!
die du, im Fall der Noth, zu Huͤlfe ru-
fen koͤnnen
. Er war getroffen, fuhr Gott-
hard fort, als wolt’ er mit mir ſprechen.
Immer gerade zu auf mich! Da wandelte
mir auf einmal die Vorſtellung an: wie leicht
kann er lebendig werden! Bruder! haſt du
ihm denn ins Geſicht geſehen? — Ein preu-
ßiſcher Corporal mit einem Stutzbart gut ge-
troffen, wuͤrde eher zu fuͤrchten ſeyn. Alex-
ander hat ſo wie alle ſeines Gleichen etwas
von einer Kinderwaͤrterin, von einer Amme,
im Geſicht. Bey mir hieß es, in Ruͤckſicht
auf
[353] auf meine Herzensgeſchichte: die Liebe treibet
die Furcht aus. In Wahrheit! ein wahres
Wort! Der iſt unſchuldig, der keine Furcht
hat, der iſt nicht furchtſam, der gar nichts
fuͤrchtet! Die Flamme, welche der Wind auf-
facht, verfliegt bald! — Wer nach Grund-
ſaͤtzen herzhaft iſt, wer nicht ſchnoͤden Ge-
winnſtes, oder Zeitungsewigkeit halber, die
Waffen ergreift, was kann den ſtoͤhren? Wi-
drige Vorfaͤlle! Sind die nicht uͤberall?
Mars und Venus halten es mit allen. Iſt
Mars zweifelhaft, ſo iſt Venus wahrlich nicht
ſicher. Pack ſchlaͤgt ſich, Pack vertraͤgt ſich,
wuͤrde meine Mutter ſagen. In allen Sa-
chen Herz zeigen, heißt ein großer Mann
ſeyn. —


Hand in Hand gieng ich mit meinen bey-
den Kriegscammeraden! —


Bialograd verglich ſich — Deſto beſſer
fuͤr mein Auge. Ibrailof ward von den
Tuͤrken verlaſſen! Bukareſt! — Buka-
reſt
! —


Mit welchem Herzen ſchreib ich dieſen
Namen! Einer meiner Juͤnger ſtarb hier
einen ſchoͤnen Tod vor meinen Augen. Gott!
welch einen Blick er mir gab! — Du haſt mir
den Unterricht herrlich bezahlt. Ein unaus-
Zſprech-
[354] ſprechliches Honorarium. Kein Koͤnig kann
ſo lohnen! — So nimmt ein wohlgerathener
Sohn Abſchied von ſeinem Vater. Seinem
Milchbruder konnt’ er noch die Hand reichen;
mir nicht. Wir waren zu weit auseinander.
Soll ichs ſagen? er wolte mir ſeine Liebe noch
ſterbend beweiſen! Wird mein gebrochnes
Auge hiezu Kraft haben? Er warf mir eine
Handvoll Blut zu, mit einer Art, die geſehen
werden muß! Den Abend vorher ſprachen
wir kein ander Wort, als vom Tode! Er war
der frohſte unter uns! Gern haͤtt ich den Hoch-
gebohrnen Todtengraͤber hergewuͤnſcht, um
dieſe und ſo manche Sterbensſcene zu beſich-
tigen. Lieber Graf! hier iſt der Tod ganz ein
ander Weſen. Wer ihn nicht anders, als
aus der Kammer kennt (und waͤre da gleich
ein Obſervatorium angelegt,) weiß hier nicht,
daß man ſtirbt. So wie die große Welt von
Provinzial Flecken, ſo Tod von Tod. Zwar
ſind Sie der Meynung, der Helden Tod, der
Feldtod, wo der Menſch nicht Zeit und Raum
hat, ſich in Ordnung zu legen, eh er dahin
faͤhrt, ſey keiner Obſervation werth; allein
Sie irren, lieber Graf — Hier iſt die große
Welt
des Todes — —


Ich
[355]

Ich will dem Grafen nicht mit Bemer-
kungen das Licht halten, wahrlich! ich koͤnnte
ſein Schatzkaͤſtlein bereichern! —


Warum aber Obſt, eh’ es reif iſt? war-
um durchs Schwert eines Tuͤrken? Mir war
es, als fielen unſer trefliche Juͤngling und
der, ſo ihn ſchlug! Freund und Feind. Der
Tuͤrk, der ihm das Leben nahm, waͤre werth,
bey dem Grabe Chriſti auf die Wache zu zie-
hen, wie der Hauptmann unterm Kreuz.
Was haben die Großen, die praͤdicirten Goͤt-
ter der Erden, mehr als den Buͤndeſchluͤſſel!
Der Loͤſeſchluͤſſel iſt ihnen nicht behaͤndiget.


Weint um meinen Edlen, ihr Jungfrauen
im Lande! — Leib und Seele haͤtten um den
Vorzug ſtreiten koͤnnen, wer ſchoͤner ſey, waͤ-
ren ſie nicht ſo ſtimmige Freunde geweſen! —
Wehe dem Feuranleger! Es muß Aergernis
kommen, doch wehe! dem Menſchen, durch
welchen Aergernis kommt. Was trug ſein
Mund fuͤr mich, der endlich ſank! wie unter
einer Laſt, die ihm zu ſchwer ward. Blumen
waren es nicht, die bald welken. Geſinnun-
gen, die ewig ſind, wie er! Ich habe dich
verſtanden! Edler! dein ganzes Geſicht war
leſerlich! Du haͤtteſt die Handvoll edles Blut
nicht verſchwenden duͤrfen. Es fiel auf kein
Z 2gutes,
[356] gutes, dir werthes Land. Was kann man
ſich im Kriege mehr wuͤnſchen, als einen ed-
len Feind. Mich duͤnkt, dies Ziel haſt du
erreicht! — Verzeih, Sterbender! daß ich
nur ein halbes Auge auf dich verwenden
konnte! ich hatte drey Viertel hochnoth fuͤr
die Feinde! —


Gott! wenn kommt dein Reich? wenn
wird Friede auf Erden und den Menſchen ein
Wohlgefallen? Jeder Irthum hat ſeine
Schule, ſein Auditorium. Keiner kann ſo
uͤbertuͤnchet werden, als die Idee vom Kriege.
Wahrlich! ein uͤbertuͤnchtes Grab! Nicht
meine Leſer wuͤrden es mir vergeben, nicht ich
ſelbſt, wenn ich mich nicht ſelbſt uͤber dieſen
Edlen vergeſſen haͤtte! —


Bukareſt! ſchrecklicher Name! war der
Ort, wo auch ich den Tod fand! — ich erhielt
toͤdtliche Wunden! — Guter Tuͤrke! ich ver-
zeih dir alles, auch den Stich, da ich nicht
mehr den Arm bewegen konnte, der etwas
tuͤrkiſch war, und den du bleiben laſſen koͤn-
nen! — Sey gluͤcklich! — Alles gab mein
Leben auf. Mein andrer Lehrling ſtarb acht
Tage darauf. Sein Sterbelager war vier
Schritte von dem meinigen. Fuͤr mich Eine
halbe Welt. Der Arzt verbot mir ſogar allen
Troſt!
[357] Troſt! Wie konnt’ ich ihn aber ohne den ſter-
ben laſſen? Oft wenn er lechzte, wie gern
haͤtt’ ich ihm ein Glas Waſſer gereicht! konnt
ich! — da lag ich noch aͤrger, als todt. So
etwas, Freunde, wer kann es erzaͤhlen? Leſet
den Homer. Ich bitt Euch! — ich kann nicht
mehr — —


So viel ſey euch noch unverhohlen, daß
ich den Sterbenden mit dem Prinzen Will-
helm
von Braunſchweig am meiſten aufrich-
tete, der ein Schweſterſohn Koͤnig Friedrichs
war! Auch Er, ſagt ich, ſtarb im Kriege.
Eben ſo wenig unmittelbar. An den Neben-
umſtaͤnden des Krieges ſtarb er, die ſo wie
die Krankheiten aͤrger, als der Tod, ſind. Ich
werd’ auch als Held auferſtehen, ſagt er, in
einer Nacht. Wie denn anders? antwortete
ich, und hatt’ eine Thraͤne in den Augen. Er
ſtarb —


Was konnt ich mehr verlieren? Meine
beyden Freunde! Mich ſelbſt! Ich lag vier
Wochen ohne alle Hofnung! Iſts Suͤnd und
Schand, in ſolcher Lage die Lebensſchnur
ſelbſt abreißen, die ein Arzt mit ſolchen un-
ausſprechlichen Schmerzen anknuͤpfen will?
Haͤlt die Schnur da, wo ſie angeknuͤpft iſt
am laͤngſten, und ein eiſern Band, da wo es
Z 3brach,
[358] brach, und durch Feur und Schlag zuſam-
mengeſchmiedet war? Keine dieſer Fragen
ſtellten in meiner Leidenszeit mich zur Rede.
Ich hatte nicht Zeit, ins Allgemeine zu
fragen.


Der Civilſterbende wollte durchaus auf
dem Schlachtfelde eingeſcharrt werden. Auch
ich mußt’ ihm verſprechen, eben da den Krieg
ausſchlafen zu wollen. Sein Teſtament iſt
erfuͤllt, was ihm ſelbſt betraf! Ich zwar
wache noch; allein Ein Theil meines Lebens
iſt auf dem Schlachtfelde bey Bukareſt ver-
ſcharrt! Ich liege in deiner Nachbarſchaft,
edler Juͤngling! — Deine Wuͤnſche ſind er-
fuͤllt! —


Romanzow, wie er gehoͤrt, was vorge-
fallen, ſoll hoͤchſt zufrieden mit meinem Un-
terricht geweſen ſeyn, und ſoll den Edlen und
mir eine Leichenrede gehalten haben, die kuͤr-
zer und dringender geweſen, als die ungebe-
tene des Organiſten in L — bey Minchens
Grabe — kommt er auf, war der Schluß die-
ſer Leichenrede, iſt er Brigadier. Ich war
ſchon ſeit einiger Zeit Major worden! —


Wahrlich Freunde! dies war ein Examen
trotz dem, beym Profeſſor Grosvater. Was
iſt ein Blitz einer Hausmuͤtze durchs Stuben-
ritzchen
[]

[figure]

[][359] ritzchen gegen Kriegsblitze? — Zwar lebt jeder
ſeines Lebens, zwar ſtirbt jeder ſeines Todes,
jedem iſt ſein Pfund Leben und ſein Pfund Tod
zugewogen, wie der hochgebohrne Todtengraͤ-
ber ſehr einſichtsvoll behauptet; doch glaub ich,
daß mancher dies Pfund ins Schweistuch ver-
graben, und mancher damit wuchern kann.
Der Kriegswucher, was meynen Ew. Hochge-
bohrnen, iſt er nicht der reichlichſte? Er traͤgt
tauſendfaͤltig und zwar Leben und Tod. Kaum
lebt man, wenn man den Tod nicht in der
Nachbarſchaft hat. Die weiſeſten Leute ha-
ben von je her Todesbetrachtungen fuͤr Lebens-
regeln gehalten. Wo iſt der Tod bey lebendi-
gem Leibe dem Geſunden, dem Starken ſo nah,
als im Kriege? —


Wo kann man an ihn mit mehr Leibes-
und Seelenkraft denken, als eben hier? Ihr
Weiſen des Alterthums, und ihr der neuern
Zeit, warum habt ihr nicht uͤber Kriegstod
geſchrieben? — Sie, hochgebohrner Todten-
graͤber, warum nicht uͤber den Kriegstod eine
Reduͤbung angeſtelt? Weil der Krieg eine
von den Kuͤnſten iſt, welche die Menſchen ge-
ſucht haben, die von Gott aufrichtig gemacht
ſind! Wahr! allein auch wahr, daß jeder
Weiſe, im Privatkreiſe alles zum Guten lenkt,
Z 4ſo
[360] ſo wie Gott der Herr es pro Publico
thut! —


Prahle nicht, lieber Reuter! Herz haben,
und im Kriege ſeyn, iſt ſolch ein Unterſchied,
wie Grundſaͤtze haben, und nach Neigungen
verfahren — handlen und ſich mit einem Ge-
webe von Empfindungen behelfen! — Jeder-
mann, der ein gutes Gewiſſen hat, und ſich
bewußt iſt, eins haben zu koͤnnen, kann von
ſich ſagen, das that ich! —


Auch ich, Freunde! wuͤrde es ſagen, wenn
ich wuͤrklich gethan und nicht blos gelitten
haͤtte. Glaubt nicht, ihr Kleinglaͤubigen,
jenen Schreyhaͤlſen, jenen Zahnaͤrzten, jenen
Nachtwaͤchtern, die nicht aufhoͤren koͤnnen
Schlachten zu mahlen, als waͤren es Thaten!
Der commandirende General allein hat ge-
than; alles, was nicht er ſelbſt oder ſein Rath
iſt, leidet! — Mit vielen kriegen, mit weni-
gen zu Rath gehen! Wer kann mir ſagen,
daß ihn nicht Schauder ergriffen, wenn er
zwey Heere auftreten geſehen? und ſich mit
unter? Ihr, die ihr bis jezt davor hieltet,
daß es Todesfurcht ſey, habt euch, wie mich
duͤnkt, hintergangen, denn auch mich ſchau-
derte! Es iſt eher Menſchenfurcht, Mangel
der Lebensart, als Schrecken des Todes!
Seht
[361] Seht einen Haufen Menſchen bey einander,
iſt es nicht die nemliche Anwandlung? Sie
iſt ſo angreifend nicht; vorhanden iſt ſie.
Wenn ich ſchwach bin, bin ich ſtark, koͤnnte
man hier ſagen. Wenn ich allein bin, fuͤrcht
ich mich, falls ich geſund bin, vor keinem.
Junker Gotthard, der ſich vor dem Alexander
dem Großen im Bilde fuͤrchtet, macht keinen
Einwand. Friſche und geſunde Leute ſind ſo
gar gebohrne Freydenker! — Ich wuͤrde ſie
Fleiſch- und Biutphiloſophen heißen, friſche
und geſunde Leute, ſag ich; denn; wenn ich
einen Spoͤtter ſehe, deſſen Koͤrper wie ein zer-
riſſenes Kleid ausſieht, weiß ich, daß ſeine
lezten Stunden zu ſeiner Zeit im Druck er-
ſcheinen. Wie kommts, daß der Menſch, der
doch die menſchliche Schwaͤche kennt, ſich vor
nichts ſo ſehr als Menſchen fuͤrchtet? Der
Menſch hat keine natuͤrliche Ruͤſtung und
Waffen, das was außer ihm iſt, ſich vom
Halſe zu halten. Nicht Element, nicht Thier,
kann er allein zwingen, und doch ein Kronprinz
der Ratur. Vereinigt aber ſteht alles fuͤr ei-
nen Mann. Tauſend Koͤpfe, tauſend Arme,
ſind Ein Kopf Ein Arm! — Iſts Wunder,
daß er blaß wird, wenn er den Feind ſieht?
Zwar befindet er ſich auch in guter Geſellſchaft;
Z 5allein
[362] allein die Furcht ſieht immer ins Weite; was
nah iſt, iſt vor ihren Augen verborgen! Die
Furcht hat ein Perſpektiv, die Hofnung ein
Vergroͤßerungsglas. Sonſt ſind ſie Toͤchter
Einer Mutter. Kommt man ſich naͤher, wird
man auf einander verbittert. Man ſchlaͤgt,
weil man geſchlagen wird. Gehoͤrt denn da-
zu Herz? Der Lerm, der ſehr wohlbedaͤchtig
erregt wird, laͤßt die Vernunft zu keinem Ge-
danken! — Man ſtirbt, man weiß nicht wie!
Iſt das ein ſchwerer Tod? Hunger, Durſt,
Hitze, Froſt ſind ſchwer; die Schlacht iſts
nicht, bis auf die Invalidenfurcht, an die
kein braver Soldat denkt. Kommt es denn
nicht in Anſchlag, in Geſellſchaft zu ſterben?


Beym Seetreffen thuts der Wind. Bey
Landſchlachten ſind Berge, Thaͤler und, auſ-
ſer dieſen großen Dingen, oft die unbetraͤcht-
lichſten Kleinigkeiten, die wie ein Irlicht den
Feind verfuͤhren, daß er einen Schritt ruͤck-
waͤrts thut. Dies ſeinem Volke nur einbil-
den! dies ihm nur vortaſchenſpielen, heißt
die Schlacht gewinnen.


Der gemeine Soldat muß jung ſeyn; der
Befehlshaber, ſagt man, alt! Ich glaub es
ſelbſt. Nur nicht zu jung, nicht zu alt.
Ziska commandirte und war blind. Ein
Com-
[363] Commandeur braucht nichts, als Kopf! Ein
Vorurtheil thut hier oft Wunder! Richelieu
will zwar einen herzhaften General; allein
Richelieu war ein Geiſtlicher. Wie kommts,
daß kluge Leute ſo ſehr viel auf herzhafte Leute
halten? und daß ſie untereinander ſich nicht
ſonderlich ausſtehen? Sie ſehen zu ſehr ein,
daß man mit dem Verſtande eben nicht weit
kommen kann, und wollen doch wo, den Men-
ſchen ſtark finden! O ihr kluge, liebe, gute
Herren! Laßt euch ſagen, auch das menſch-
liche Herz iſt ein trotzig und verzagt Ding;
wer kann es ergruͤnden?


Es iſt ein altes Spruͤchwort: Wer zum
erſtenmal nach Rom reiſet, ſucht den Schalk.
Zum zweytenmal findet er ihn. Zum dritten
mal bringt er ihn mit.


Ey, wenn ich das auf den Krieg deuten
wuͤrde! —


Ich hoffe, große Kriege werden abkom-
men; ſo wie man den dreyßigjaͤhrigen uͤber
einige hundert Jahre nicht mehr Glauben bey-
meſſen wird. Wozu ſind auch Kriege, ſelbſt
noch ehe das Reich Gottes kommt, wozu? —
So wenig durch Diſputationen die Wahrheit
ausgemacht wird, ſo wenig entſcheiden Siege.
Darf ich rathen? hohe Herren, denkt mehr
eure
[364] eure Unterthanen zu mehren! So viel liebe
getreue im Lande, ſo viel Feſtungen. Die
Bevoͤlkerung iſt wie die Gottſeligkeit zu allen
Dingen nuͤtze und hat die Verheißung dieſes
und des zukuͤnftigen Lebens! —


Mit einem Statu morbi kann wohl keinem
ein Dienſt geſchehen, ſonſt koͤnnt ich damit
aufwarten. Die Herren α, β, γ, von welchen
Herr α, der Kopfhalter war, wuͤrden mir die-
ſen Liebesdienſt gern erweiſen. Es war kriti-
ſchen Sammlern kein alltaͤglicher Fall. Eine
Quetſchung an der Seite, eine Zerſchmette-
rung des rechten Armknochens! — —


Die unaufhoͤrliche Verſicherung der Wund-
aͤrzte, nie mehr dienen zu koͤnnen, war mir
mehr, als alles. Dieſen Troſt haͤtten die
Kunſterfahrne Herren bey ſich behalten koͤn-
nen, da ich es ſelbſt ſo ſehr fuͤrchtete —


Der Gedanke, obgleich er ſehr natuͤrlich
war: was wirſt du eßen, was trinken, womit
dich kleiden? beunruhigte mich keinen Augen-
blick. Er hat mir wenig Kummer in dieſer
Welt gemacht. Als Menſch kann jeder leben,
wenn gleich nicht jeder als Major —


Romanzow lies mich bey aller Gelegenheit
Proben ſeines Wohlwollens empfinden, und
das war freylich Oel und Wein in meine
Wun-
[365] Wunden! Der Gedanke in der Lehre bleiben
zu ſollen, ſchlug dieſen Aufblick nieder! —
Bey dem erſten Anklang der Sterbensglocke,
die ich freylich nur in der Einbildung hoͤrte,
war ich auch in der Einbildung bey meinem
guten Paſtor zu L — in Preuſſen! Mine hatte
ihre Anſpruͤche auf mich geltend gemacht! —
Ich fand, daß die Liebe, ſolch eine Liebe, wie
die unſrige, durchaus ſich nur auf gewiſſe Le-
bensperioden paßt, und doch iſt, nach unſerm
Weltlauf, ſo zu lieben wie wir, Tugend! ho-
he Aufopferung ſeiner ſelbſt! Weite Ueber-
windung der Natur! — Mein Leben war ein
lebendiger Tod, und dies iſt eben der Zuſtand
des Menſchen, wo eine dergleichen Liebe ihr
Feur und Heerd hat. Man kann nicht an-
ders ſagen, als daß auch ſolch eine Liebe ihre
ſchoͤnen Tage habe. Das Boͤſe hat auch ſein
Gutes, ſagte Herr v. G —, und es liegt goͤtt-
liche Weisheit in dieſem Ausſpruch. —


So war das Ende meiner kriegeriſchen
Laufbahn. Folge, dacht ich, dem Wink dei-
nes rechten Arms. Er hat Abſchied genom-
men, nimm du ihn auch! und ſo mußt ich
denken. Meine Geſundheit war aͤußerſt zu-
ruͤckgeſetzt. Du haſt, dacht’ ich, was du
wolteſt — Ein Paar große Schritte naͤher zu
Mi-
[366] Minen; allein ich widerlegte mich ſelbſt.
Wohlgehen ſteht vor lang Leben im vierten
Gebot, und krank ſeyn iſt nicht leben, nicht
ſterben. Faſt iſts ein Mittelding, bey dem
jedem einfallen muß: o daß du kalt, oder warm
waͤreſt! Es gab eine Zeit, wo ich den Tod
ſchlechthin aufſuchte, und ſiehe da, ich hatte
weder ihn funden, noch das Leben behalten —


Ich erhielt meinen Abſchied nicht, ſondern
einen Auftrag zu einer wichtigen Reiſe. Ich
weiß keinem dies Geſchaͤfte zu uͤbertra-
gen, der es ſo, wie ihr, betreiben koͤnn-
te,
ſchrieb die Kayſerin, und ihr Wunſch, daß
die Veraͤnderung der Luft meine Geſundheit
wieder herſtellen moͤchte, war mir das, was
jeder Rauſch iſt. Ich fuͤhlte keinen Schmerz
und reiſete nach Petersburg, und ſodann —


Wie bald ich von meinem Jeſuiterraͤuſchen
wieder nuͤchtern worden, darf ich nicht be-
merken! —


Wer meinen Auftrag naͤher kennen lernen
will, dem dient zur Antwort, daß er geheim
war, wer wohin? fraͤgt, kann gruͤndlicher
beſchieden werden. Freund! da, wo man
fruͤher, als in Rußland, eine Pfeife im Gruͤ-
nen raucht, fruͤhe Spargel ißt, und den Wein
aus der erſten Hand hat. Wegen der Man-
ſchet-
[367] ſchetten muß ich, um die reine Wahrheit zu
ſagen, bemerken, daß ich ſie nicht laͤnger,
wie die hieſigen, funden! — Moden aͤndern
ſich! —


Obs nicht gut waͤre, kraͤnkliche Leute zu
Geſandſchaften, und was ihnen anhaͤngt, zu
brauchen? Eine Frage, die nebenher auffaͤlt.
Ich richtete treulich und ſonder Gefaͤhrde aus,
wozu ich geſandt war; allein meine Geſund-
heit hatte durch die Luftveraͤnderung noch
mehr gelitten! Ich glaubte ſchon, ich wuͤrde
lau zu ſeyn aufhoͤren, und kalt werden —
Wohl dem, der es wird! Eine ſo geſchwinde
Ruͤckreiſe, als es die Geſchaͤfte wolten, haͤtte
mich wirklich zu Minen gebracht, da kam —
mein Freund, und entledigte mich mei-
ner Buͤrde!


So ſey es dir wieder, mein Geliebter!
wenn du lebensſatt und muͤde, ſucheſt, wo
du dein Haupt hinlegeſt. Er konnte ſich
nur eine einzige Nacht aufhalten, die wir
durchwachten! — und wie es doch immer
geht, wir dachten nicht an uns, ſondern an
andere. Er hatte meine beyden Anbefohlnen
ſehr genau gekannt! Warum Freund! nur
eine Nacht? Er konnte nicht. Armer Freund!
der Schlaf waͤre dir geſunder geweſen, als
ſolch
[368] ſolch eine Todtenwache! — Gehe hin in Frie-
den! in Frieden!


Jezt Freunde! haͤtt ich zum Andreas-Or-
den geſagt: Geh mir aus der Sonne! Der
gnaͤdigſte Brief der Kayſerin ſelbſt konnte mir
in dieſer Lage keine frohe Stunde verlei-
hen! —


Ich erlaſſe euch aller Dienſte, und, da
ihr durchaus nicht mehr als Major ſeyn
wolt; ſo bleibt, was [ihr] ſeyd, mit der
Verſicherung, daß Mir eure ſeltene Be-
ſcheidenheit zum Wohlgefallen gerei-
chet
— —


Ich wuͤnſchte, daß dieſer Brief euch nicht
aus dem Wege zu Baͤdern traͤfe, wenn ſie
anders eurer Geſundheitsverfaſſung dienlich
ſind. Ich ſchenke euch — — Gern wuͤrd
ich es ſehen, wenn ihr in Liefland — —


Wenn ihr eures Adels wegen Anſpruͤche
befuͤrchtet; ſo ertheil ich euch hiemit den Adel
mit allen ſeinen Vorzuͤgen, und ſoll euch das
Diplom ſo bald ihr es verlangt —


Lebt ſo gluͤcklich, als ihr es verdient, und
als es wuͤnſchet


Eure gnaͤdige Kayſerin
Catharina.


Wenn
[369]

Wenn ſolch ein Brief keine frohe Stunde
mehr verleihen kann, wie lebensmuͤde muß
man ſeyn! Gott! was kann ſolch ein Brief!


Allerdurchlauchtigſte! — Nein


Gute Kayſerin, Mutter eines Staats,
der nach einer ſtrengen Vaterregierung Peters
des Großen einer Mutter noͤthig hatte, um
das zu werden, was er unvermerkt wird — —


Wenn dieſe Monarchin mit dem Koͤnige
von Preuſſen ein Paar worden: Welt! was
meynſt du?


Ich folgte dem Winke, den mir der
Gnadenbrief gab, und gieng nach Pirmont.
Schon die Reiſe ſchlug bey mir an. Wie
gar anders iſts doch, reiſen muͤſſen, und rei-
ſen wollen. Jeder kann dieſe Erfahrung
beym erſten beſten Spaziergang anſtellen!
Auch ſelbſt die Geſundheitsſorge muß man
dabey verlieren, ſonſt iſt ſchon ein feiner
Zwang dabey, den die friſche Luft nicht ver-
tragen kann! —


Mit meiner Wiederauflebung meine un-
intereßirte Leſer, die Spaziergaͤnger, bey die-
A aſer
[370] ſer Schrift aufzuhalten, waͤre unverzeihlich.
Gern erzaͤhlt ich ſie, aber den Kunſtrichtern,
die von Amtswegen die Sonne auf und un-
tergehen ſehen, und die den gruͤnen Grund
im Naturgewande nicht ohne den albernen
Gedanken anſehen koͤnnen, ey wenn er weiß
waͤre? — O ihr Thoren und traͤges Her-
zens, zu glauben alle dem, was in der Na-
tur geſchrieben iſt! —


Ich blieb den Winter hindurch in Suͤden,
lernte je laͤnger je mehr den Kayſerlichen
Brief empfinden, bis ich endlich ſo herge-
ſtellt war, als ein Invalide es ſeyn kann,
deſſen Koͤrper ein immerwaͤhrendes Wetter-
glas iſt — Eben ein Stich im Arm, der
mir den Wunſch abzwingt, daß meine Leſer
dergleichen Stiche nicht von ſelbſt bemerkt
haben moͤchten! Was gehts meinen Leſern an,
daß ich im Felde geweſen? —


Bey meiner Hinreiſe gieng ich durch Koͤ-
nigsberg, wie Mine. Ich ſah keinen, als
Poſtbediente; allein was ich empfand weiß
der, der Herzen und Nieren pruͤfet! — Ich
muͤßte mich ſehr irren, wenn es nicht Se.
Spectabilitaͤt geweſen, die mir, da ich ſchon
im Poſtwagen war, ſo heiter auffielen, als
gien-
[371] giengen ſie zu Weine! — Kann geweſen
ſeyn; denn bey meiner Ruͤckreiſe erfuhr ich,
daß die Hausmuͤtze Todes verblichen ſey —
und daß der gute Grosvater, da er keinen
Blick durchs Ritzchen weiter zu befuͤrchten
hatte, gar luſtig zu jubiliren angefangen.
Alles in Ehren, verſteht ſich. Jetzt wieder
in Koͤnigsberg. Ich wiederholte hier meine
Studia — Mein erſter Gang war zu Sr.
Spectabilitaͤt, nach dem Signo Depoſitionis.
Ich fand den Grosvater auf dem Sprunge
zu einer Clubbe, zu der er mich mitnahm.
Wie man ſich doch noch als Grosvater aͤn-
dern kann, wenn man keinen Ritzenblick mehr
zu fuͤrchten hat. Er war ſeiner Bande entle-
digt und jetzt ungeſtoͤhrt ſo froh, als wenn
ſeine Tochter den nemlichen Tag haͤtte taufen
laßen, als wenn der Taͤufling ein Soͤhnlein
ſey, und noch oben ein nach dem Grosvater
genannt waͤre. Setzen Sie ſich an meine
gruͤne Seite, ſagte der Profeſſor, (eine
preußiſche Redensart, die zur Rechten be-
deutet.) Ich ſetzte mich, und machte an
dieſer gruͤnen Seite eine Anmerkung, die ich
meinen Leſern nicht verſchweigen kann. Der
gute Grosvater war kein Religionsfreund,
obgleich die Bibel ſo wenig, wie Homer, be-
A a 2ſtaͤubt
[372] ſtaͤubt war. Selten iſt ein Profeſſor Gros-
vater ein Religionsfreund. Woher Freunde?
Weil er das Wahre in ſeiner Lehre aus Got-
tes Wort geſchoͤpft hat, und weil er einſie-
het, daß wenn er ſeine Wiſſenſchaft aufs
Volk herabſtimmen ſolle, man nicht anders
lehren wuͤrde, als Chriſtus, der Profeſſor
des ganzen menſchlichen Geſchlechts.


Zu dieſem Weil noch ein Paar: weil alle
wahre Philoſophie in Zweifel beſteht, weil
viel unphiloſophiſches in die Religion hinein-
gekommen, zu der jeder vernuͤnftige lautere
Chriſt zu ſagen gewohnt iſt: Freund, wie
biſt du hereinkommen und haſt kein
hochzeitliches Kleid an?
Solch eines
Gaſtes halber aber die ganze Hochzeitfreude
aufzuheben iſt ſuͤndlich! O ihr guten Philo-
ſophen! macht ihrs wohl wie die Engel, die
das Unkraut vom Waizen trennen? Ihr
reißt beym Jaͤten Unkraut und Waizen aus,
ſo daß die Erde ohne Hemde nackt und blos
da iſt, als waͤrs Wintertag, wenn der
Wind allen Schnee weggetrieben! — Mich
friert! —


Was wolt ihr Hochgelahrte Nichtswiſ-
ſer! von den Concilien und den jetzigen
Winkelzwieſpalten in der Kirche? Faſſet
doch
[373] doch in euren eignen Buſen! Wie lang iſts,
daß in Deutſchland alles demonſtrirt ward?
Man hat mir vom großen Wolf als eine
ſehr wahre Anekdote erzaͤhlt, daß, als ihn ei-
ner ſeiner Zuhoͤrer um eine Demonſtration-
chen angetreten, das er keinen abzuſchlagen
gewohnt war, er gleich auch jetzt damit fer-
tig geweſen. Da der Impetrant den Aufſatz
beym Licht beſah, fand er, daß ſein Pytha-
goras das Gegentheil von ſeinem erwuͤnſch-
ten Satze demonſtrirt, oder zu deutſch, ſon-
nenklar gemacht hatte. Da ſtand der arme
Juͤngling wie Butter in der Sonne! Der
Lehrer nahm ihn bey der Hand, was mehr?
fieng er an. Man kann alles demonſtriren.
Flugs demonſtrirt er ihm was zu erweiſen
war. Man ſagt, der Juͤngling ſey nicht ge-
rechtfertigt in ſein Haus gegangen! Ich,
waͤr ich Juͤngling geweſen, ich haͤtt es mit
der ganzen Philoſophie gebrochen. Die De-
monſtrirzeiten, haben Gott ſey gelobt! auf-
gehoͤrt. Jetzt obſervirt man. Man geht
auf die Jagd — — — Pulver und Schrot
wird verſchoſſen; ſelten trift man. So geht
alles im Zirkel! Lieben Herren, wenn die
Glocke zwoͤlf geſchlagen, gehts auf Eins,
bis es wieder an zwoͤlf kommt — Bald
A a 3Ver-
[374] Vernunft bald Sinne! Die Philoſophie iſt
ein Wortkram! Ich leugne es nicht, daß
manches Wort abgebrannt iſt, und die wuͤſte
Stelle wohl verlohnte, bebaut zu werden.
Nur vergeßt nicht, Freunde Grosvaͤter, daß
ihr keinen Fiſchzug Petri gehabt, wenn ihr
hie und da Altflickereyen von Schuldefinitio-
nen angebracht, ob ſo oder ſo — Was
hab ich denn, wenn ich weiß, daß geſchwind,
behend, ſchnell, nur von lebloſen Sachen
z. E. Kugel; raſch, hurtig hingegen von le-
bendigen gebraucht wird? Ihr legt dem
Menſchen Daumenſchrauben an, und wenn
man ſich recht umſieht, iſt man Tag und
Nacht gefahren und immer in die Runde,
und auf Einem Fleck geblieben. Schwindlicht
oben ein.


Unſer Grosvater, der wahrlich die Bibel
geleſen, die dem Homer zur Seite lag,
glaubte vigore commiſſionis kein Wort in der
Bibel; allein jedes Wort in den Reiſebe-
ſchreibungen war ihm heilig! Theater, Poe-
ſie mit allen At und Pertinentien waren ihm
unausſtehlich, wenn aber die Reiſebeſchrei-
bung auch noch ſo poetiſch, noch ſo ſchoͤn
war, ſo daß man gleich beym erſten Blick
ſahe, die Beſchreibung, und nicht die Reiſe,
ſey
[375] ſey die Hauptſache bey dieſer Arbeit; ſie war
ihm Ja und Amen! Aber, lieber Grosva-
ter! — Aber, lieber Major! Mag es
beym Aber bleiben, und jeder lebe ſeines
Glaubens! —


Ich kann mich irren; allein mich duͤnkt
mein Vater beſaß das, was die Griechen,
ἀποφϑεγματικὴν βραχυλογίαν καὶ λακωνικὴν
nannten. Herr v. G —, der Selige, pflegte
um dem fruͤhen Spargel und der Pfeife im
Freien meines Vaters nicht zu nahe zu kom-
men, zu ſagen, er ſey aus Lacedaͤmon. Herr
v. G — ehrte meines Vaters Wortgriffe.
Schade, ſagte mein Vater, daß ich nur auf
Worte herabgeſetzt bin — Zum Gluͤck auf
Volksworte, wie ich zu Gott hoffe. Freund,
ſagte Herr v. G —, kommen Sie wenns Ge-
legenheit giebt, auf die Baͤrenjagd! Mein
Vater zeigte auf ſeine Reverende. Jagd,
fuͤgt’ er hinzu, um kein Wort ſchuldig zu
bleiben, iſt nur Thatenſpiel, Ballſchlag!
Zum Wort Funken ſelbſt gehoͤrt Stahl und
Feurſtein! Paſtor! beſchloß Herr v. G —
Sie Stahl! ich Kieſel! —


Mein Vater war kein Freund von
Spruͤchwoͤrtern, von faulen Knechten, von
A a 4ſtum-
[376] ſtummen Dienern, wie er zu ſagen pflegte,
wohl aber von Volksſpruͤchen. Vox populi,
ſagte er, vox Dei. Ein Volksſpruch iſt die
Unterlage zur Handlung, behauptete mein
Vater. Bey Spruͤchwoͤrtern und Senten-
zen guckt ein ſauber gedrucktes Buch her-
vor! —


Ehrlicher Grosvater! du thuſt wohl, daß
du zu Weine geheſt; darf ich dir indeſſen des
Herrn v. G — letzte Stunden empfehlen?
Je mehr du Menſchen ſehen wirſt, je mehr
wirſt du finden, daß es auf eine Definitions-
ſpitze nicht ankommt. Lebe wohl! — Trink
auf meine Geſundheit! Schreibſt du, ſo
iſt dein Buch gewiß in meinem Buͤchervor-
rath. Verzeih, daß ich unſer Examen auf
Mutwillen gezogen, und ſo manches, was
du fuͤr ein Ehrenkleid hielteſt, ſo lange noch
die Ritze war! —


Wer wird nicht gern mit zum Koͤniglichen
Rath kommen mit der ofnen, weit ofnen
Stirn, ſchwarzem Haar und einem Auge, in
dem man ihn im Kleinen — allein doch
ganz ſieht. Ich uͤberfiel ihn, wie er ſagte,
und da er keiner Erſchuͤtterungen gewohnt
war, ſondern immer ſeinen geraden Weg
gieng, ſelbſt wenn er auf dem Gottesacker
wein-
[377] weinte — ſo koſtete ihm, wie er mir den
folgenden Tag verſicherte, dieſer Beſuch eine
Nacht. Niemand war von unſerm Kraͤnz-
chen mehr uͤbrig, als der Prediger, der aber,
wie meine Leſer es ziemlich deutlich gemerkt
haben werden, nur zum Collektſingen und
Segenſprechen gebraucht werden konnte.
Er war verwandt mit dem Koͤniglichen Rath,
ſonſt haͤtt’ er nicht Sitz und Stimme erhal-
ten! — Alles todt! Auch der Creyßrichter,
wo ich den Koͤniglichen Rath kennen gelernt,
und ſeine Frau, die ſchon bey meiner Ab-
reiſe ihr Gehoͤr verlohren. Er, eher wie ſie,
an einer Bruſtkrankheit, ſo wie er ſich ſelbſt
prophezeyt hatte! — Junker Gotthard
hatte die Frau Creyßrichterin noch am Leben
gefunden, und als geweſener Hausofficier
ſeine Schuldigkeit bey der Durchreiſe beob-
achtet. Sie hatte ihn vorgelaßen. Schade!
auch der Reuter todt! Der Koͤnigliche Rath
verſicherte mich, daß dieſer Officier ſo ſehr
mein Freund geweſen, daß er bey meinem
Entſchluß Soldat zu werden, ſo bald er er-
ſchollen, nichts weiter zu tadeln gefunden,
als daß ich nicht ſein College geworden.


Auch der Profeſſor todt, der eine ſo vor-
trefliche Deklamation ſelbſt im gemeinen Le-
A a 5ben
[378] ben beſaß, daß man ſeine Stimme eine pro-
ſaiſche Melodie nennen konnte. Der letzte
Zank, den er mit unſerm Reuter gehabt,
war uͤber die Zeitungen, die der Reuter in
hohen Ehren hielt; er aber ſo wenig, daß er
ſich der veraͤchtlichen Bemerkung bediente:
er brauche ſie nicht anders, als wenn beym
Raſiren ein Einſchnitt ſich etwa zugetragen.
Sie wußten nicht, ſagte der Koͤnigliche Rath,
daß ſie beyde in einer Woche in die Zeitung
kommen wuͤrden! — Ich konnte den klein-
ſten von dieſen Zuͤgen nicht ohne ganz beſon-
derer Aufmerkſamkeit hoͤren. Alles nahm
ich zu Herzen. Wir erinnerten uns ſo man-
chen Streits. Der Reuter behauptete, daß
nach dem neuen Teſtament die Zeitungen den
erſten Platz verdienten, und daß eben ſie die
jetzige Welt fuͤr Barbarey ſchuͤtzen wuͤrden.
Setzen Sie den Fall: man ſchriebe aus —
es haͤtte ſich da ein Geſpenſt hoͤren und ſehen
laßen, wuͤrde man nicht gleich aus Berlin
antworten: kein wahres Wort — Die
Avancements waren indeſſen unſerm Reuter
das Hauptſtuͤck, die nun freylich weniger In-
tereſſe fuͤr die Welt haben, als wenn ein Ge-
ſpenſt ſich ſehen und hoͤren laßen ſolte. Ich
lies unverhohlen, daß eben der Zeitungs-
Pane-
[379] Panegiriſt Schuld daran waͤre, daß ich in
rußiſche Dienſte gegangen.


Der Koͤnigliche Rath hatte die abgegan-
gene Stellen wieder beſetzt; indeſſen hatt’ er,
um mir die eingebuͤßte Nacht nicht ſchuldig
zu bleiben, auſſer dem Stammhalter, dem
Prediger, die als ordentliche Mitglieder ein-
gefuͤhrten Maͤnner, den Officier, den Koͤ-
niglichen Rath, den Profeſſor und noch einen
verabſchiedeten preußiſchen Officier gebeten,
der als Zoͤllner verſorgt war. Dieſer Zoͤllner
und ich ſahen uns an, und wie aus einem
Munde. Alexander! Darius! Wer haͤtte
das gedacht! —


Es war im erſten Augenblick alles du
und du. Da aber Darius hoͤrte: ich waͤre
Major geweſen, beſchied er ſich den Augen-
blick, und ich hatte viel Muͤhe, ihn wieder
an Ort und Stelle zu bringen! Benjamin?
Ja er ſelbſt! — Auch Benjamins Ge-
ſchichte will ich Extrapoſt erzaͤhlen. Wir
verließen Benjamin in einem ſchrecklichen Zu-
ſtande.


Mine, die ihm aufgetragen ihre Reiſe
nach Mitau vorzubereiten, fand ihn ſelbſt
reiſefertig zur andern Welt und gieng von ſei-
nem
[380] nem Bette, betruͤbt bis in den Tod. Ben-
jamin erhohlte ſich zwar; indeſſen konnt’ er
in einem halben Jahre zu keiner Faſſung kom-
men. Man gab die Hofnung auf, daß er
je ganz zu ſich ſelbſt ruͤckkehren wuͤrde. End-
lich war er im Stande, die Scene mit ſeiner
Schweſter zu verſtehen, die ihm aber wegen
der ſo langen Zeit mit vielen Zuſaͤtzen und
Verſtuͤmmlungen beygebracht ward. Mei-
ſter und Meiſterin hatten keine Schuld an
ihm. Der alte Herr hatte keine Taube ſei-
nes Sohns halber verſandt und der Meiſter
war ſo voller Beobachtung der Regel: was
dich nicht angeht, davon laß deinen Fuͤrwitz,
daß er, um den Dariusſchen Ausdruck bey-
zubehalten, ſeinen Pruͤgel viel zu lieb hatte,
um ihn unter die Hunde zu werfen. Vorerſt
war es auf eine Heyrath mit des Meiſters
einzigen Tochter Chriſtine angelegt. Es
wird doch, ſagte der Meiſter, keine Mißhey-
rath ſeyn. Da aber Chriſtinchen ſich un-
verſehens ſo ſehr verlaufen; wie Darius
ſagte, daß kein ehrlicher Mann ſie aufzuſu-
chen im Stande war; ſo ließen die betruͤbten
Eltern Benjamin ziehen in Frieden. Beym
Abſchiede, ſagte Benjamin, lief es mir eis-
kalt uͤbern Ruͤcken. Es waren ſehr gute
Leute.
[381] Leute. Benjamin zog nicht eher Nachricht
von Minen ein, als bis ſie todt war! —
Ich aß eben, ſagt’ er, Brod in friſche
Milch eingebrockt, da ich die erſte ſichere
Nachricht von ihrem Tode erfuhr! und ich
haͤtte, ſo hungrig ich war, den Loͤffel nicht
an den Mund bringen koͤnnen, um wie vie-
les! — Auf meiner Wanderſchaft, ſagt’ er,
hat mich manch harter Sturm erſchreckt, o!
wie manche rabenſchwarze Nacht hab ich be-
lebt, und wie oft bin ich ganze Tage gegan-
gen, ohne einen Huͤttenrauch zu entdecken!
An einen Kirchenthurm war ohnedies nicht
zu denken.


Er kam in eine preußiſche Stadt, wo er
dem Commandeur vorgefuͤhrt wurde! —
Benjamin erſchrack gewaltig, da er vom
Soldaten hoͤrte, den ihm der Officier ſo ſuͤs
vorpfif! — Es ward ihm indeſſen alles
uͤberlaßen. Eben weil er nicht gezwungen,
ſondern ſich ſelbſt uͤberlaſſen ward, bot er ſich
nach vier Wochen von ſelbſt an. Die Mei-
ſterinn des Orts, wo auf kein Chriſtinchen
Ruͤckſicht zu nehmen war, hatte ihn ohne
Urſach chicanirt, und nun glaubt’ er, ſie
wieder chicaniren zu muͤſſen. Ich warf den
Plunder weg, ſagt er, und ward Soldat!
Das
[382] Das Dariusſpiel hat viel dazu beygetragen.
Benjamin zeigte keine kleine Geſchicklichkeit
im Schreiben, und da er im ganzen Staͤdt-
chen privilegirter Briefſteller und Berechner
war; ſo ſtand er ſich ſo vortreflich, daß er
auf Standeserhoͤhung dachte, die ihm auch
nicht fehlſchlug. Er ward namhafter Cor-
poral. Wie wars, wenn es ans Feur!
gieng? fragte ich ihn. Mußte gut ſeyn!
ewiedert’ er. Freylich hatt’ ich noch keine
Flinte, bis auf den Tag, da ich Menſchenjaͤ-
ger ward, losgedruͤckt, und auſſer einem Ta-
ſchenpuffer, kein Knall- und fallendes Ge-
wehr in meiner Hand gehabt; indeſſen fand
ſich alles nach und nach. Vorerſt ward mir
dann und wann eins angehangen, und vor-
zuͤglich hab ich meines Fußes halber manchen
Spaß gehabt. Kommts nicht heute, kommts
morgen, dacht ich, und es kam morgen! —
Du pflegteſt mir zu ſagen, daß in jeder Sa-
che, auſſer dem, was ins Auge faͤllt, noch
etwas Unſichtbares waͤre, auſſer dem, was
da iſt, noch ein Geiſt, der webt. Beym
Soldatenſtand iſt dergleichen Geiſt nicht,
wohl aber, wie du ſelbſt wiſſen wirſt, ſo
mancher blaue Dunſt, den man machen
kann. Was fehlt meinem Bein? — ich
unter-
[383] unterrichtete beym Obriſtlieutenant die Kin-
der. Du? meynſt du Nein! Jeder Menſch
hat im Regiment geglaubt, ich haͤtte ſtudirt;
da hab ich manchmal gedacht: ich waͤre ſchon
ſo aus der Erblitteratenfamilie! — Der
Prediger hielt mich fuͤr einen Juriſten, der
Auditeur fuͤr einen Theologen! — Die
Herren Gelehrten muͤſſen doch ſelbſt nicht ſo
recht wiſſen, woran ſie ſind.


Darius ward auf Werbung vermoͤge
ganz beſonderer Empfehlung geſandt, und da
er hier Gelegenheit hatte, ſich ausnehmend
hervorzuthun, vom Koͤnige unmittelbar zum
Lieutenant ernannt. Meine Feinde ſagen:
es ſey ein Mißverſtaͤndnis im Namen vorge-
fallen — und der Koͤnig ſoll ſich auf einen
Corporal gleiches Namens beſonnen haben,
der, vor ſeinen Augen, wie ein Baͤr im
Kriege gethan. Auf einmahl erſcholl ein
Gericht, daß alle buͤrgerliche Officiere, die
nicht zu dieſer Ehrenſtelle waͤhrend dem Kriege
gekommen, in Gnaden erlaßen und nach Be-
wandtnis der Umſtaͤnde untergebracht wer-
den ſollten. Das Gluͤck gieng mir nach die-
ſem Ungluͤck bald wieder auf. Anfaͤnglich
nur in Geſtalt eines halben Mondes; ich
hatte nur eine halbe Gluͤckswange. Dieſes
Halb-
[384] Halbgluͤck war ein Maͤdchen, das mir wohl-
wolte. Es ward meine Frau. Bald dar-
auf erſchien der volle Mond. Ich bekam
eine Stelle bey der Zoll- und Acciſe-Verwal-
tung, wo ich außer einer Aergernis, die mir
viel zuſetzt, ehrlich und ordentlich lebe! Zur
Aergernis gab ein ganz beſondrer Vorfall
Gelegenheit. Benjamins Hauptmann, der
nicht ſo gut ſchrieb und rechnete, wie Benja-
min Darius, ward als ſein Subaltern ange-
ſetzt. Der arme Mann hatte Feldzuͤge mit-
gemacht, und Darius nichts weiter, als
Werbdienſte gethan. Natuͤrlich, daß dieſer
wunderliche Wechſel dem Herrn Hauptmann
ſchmerzen mußte, und dies um ſo mehr, da
er ſich von Adel hielt, woran indeſſen auch
gezweifelt ward. Bruder, fuͤgt er hinzu:
es iſt ein Litteratusadel, den ich mir auch zu-
zueignen im Stande waͤre. Ich konnte mich
nicht des Lachens enthalten.


Benjamin unterhielt mich mit dem Fuͤr
und Wider, den Adel des Herrn Haupt-
manns betreffend, laͤnger als ich ſelbſt
wolte. Das aͤrgſte iſt, ſagt’ er, daß unſer
Hauptmann von Capernaum aus einem gu-
ten Hauſe geheyrathet und eben darum ſich
Anhang zuſammengeſprengt hat. Alles
Haus-
[385] Hausarm; allein deſto feſter halten die
Kletten. Da findet ſich denn doch wo ein
gnaͤdiger Onkel, der einen Einfluß hat —
So viel kannſt du glauben, fuhr Darius
fort, ich vergebe mir nichts. Ehre verloh-
ren, alles verlohren. Da ich der Sache naͤ-
her trat, oder eigentlicher, treten mußte, war
der anomaliſch adliche Hauptmann ſo wenig
ein Subaltern des Darius, daß er blos eine
kleinere Stelle beſaß — Meynſt du, fragt
er mich?


Allerdings! und die Hitze des Subordi-
nationsfiebers legte ſich.


Freylich fuͤrcht ich, es werde eine Pallia-
tivcur ſeyn. Meine Frau — — „gehey-
rathet?
“ Ja! Ein Sohn und eine Toch-
ter —


Benjamin lies nicht nach, mir das Ver-
ſprechen abzufordern, daß ich bey ihm Nacht-
lager nehmen moͤchte — So ſieht er doch,
fuͤgt er hinzu, daß auch ein Major bey mir
einkehren kann! Da haben wir das Sub-
ordinationsrecidiv. Ich lernte eine recht
artige gute Frau Lieutenantin oder, wie ſie
lieber hies, Inſpektorin kennen. (Der
Hauptmann war nur Einnehmer.) Sohn
und Tochter! Ein Paar liebe Kinder! Ich
B ber
[386] erſchrack an der Tochter einen entfernten Zug
von Minen zu treffen und da ich ihm nach-
ſpuͤrte, fand ich ihn auch am Vater, und
was noch mehr war, an der Mutter!


Meine ſelige in Gott ruhende Mutter be-
hauptete Stein und Bein, wie ſie ſprach,
daß Mann und Weib ein Leib waͤren, das
heißt, was aͤhnliches haͤtten, ſonſt ſetzte ſie
hinzu, wuͤrden ſie ſich nicht geheyrathet ha-
ben. Das iſt der Abdruck des Himmels, in
dem bekanntlich Ehen geſchloſſen ſind. Ich
muß frey bekennen, daß ich dieſe Bemer-
kung oft beſtaͤtiget gefunden! Mag wohl
immer ſeyn, wenn Neigungen Ehen bin-
den! — Man liebt ſich ſelbſt in andern! —
Deſto angenehmer war mir der Abend! —


Wir blieben ſpaͤt in die Nacht zuſammen.
Die beyden Kleinen, die von Schlaf umfie-
len, mußten nicht von der Wache. Hab ich
mir nicht, ſagte der Herr Inſpektor, mehr
im Kriegesdienſt gefallen laßen? und konnt
ich denn davor, daß waͤhrend der Zeit kein
Krieg war? Sprach man doch jede Revue
vom Marſch! — Wir wollen doch ſehen
mein Kind! bemerkte die Frau Inſpektorin,
wer von den Kindern den Preis erhalten
wird, ob unſere, oder des Einnehmers? Ich
freute
[387] freute mich, daß Madam es auf dieſe Probe
ausſetzte, und ſahe wohl ein, daß die Sub-
ordinationsſtreitigkeit eigentlich bey der Wei-
berinſtanz vorlag! — So nagt doch immer,
ſieng die Frau Inſpektorin nach einer kleinen
Weile an, etwas am Mark des Lebens! —
Eine gute Frau bis auf die kleine Affektation,
hie und da etwas, das gehen ſolte, tanzen zu
laßen. Ein Capriolchen nahm ſie ſich nicht
uͤbel. Sie las viel Romane, die alle von-
treflich gebunden waren. Sie kleidete ſich
ſehr mit Geſchmack — Ich fand ſie im al-
lerliebſten Negliſchee! Was ſie ſpricht, (die
Frau Einnehmerinn nemlich) ſagte die Frau
Inſpektorin, iſt mit welkgewordenen Blu-
men einer Metapher bekraͤnzt!
— Solch
ein Kranz! Er iſt nur auf wenige Stunden.
Im Waßer halten ſich die Blumen am ſchoͤn-
ſten! „Liebe Frau Inſpektorin! muß aber
kein Springwaßer ſeyn!„ —


Meine Frau, ſagte Darius, nicht wahr?
geht rund herum; ich ſteige gleich aufs
Dach! Sie ſtelts zur Schau aus; ich haͤng
es gerade zu hin, wo es haͤngen ſoll —
Mein Kind! ſagte ſie, bey einer andern Go-
legenheit, wie er heyrathete, (der Haupt-
mann nemlich) verſchwand der letzte
B b 2Stern
[388]Stern von Hofnung — Aber! erwie-
dert’ er, der Major ſagt — — Mag im-
mer, lieber Herr
Major! Weiberſehnen
entſtricken ſich eher


Ohnfehlbar glaubte ſie ihrem Stande
durch einen dergleichen Ausdruck nachzuhel-
fen. Mag wohl litteratadlich ſeyn; natuͤr-
lich iſt er nicht — Mir wenigſtens kann
kein Naturſtuͤck aufſtoßen, wo ich nicht et-
was aͤhnliches entdecke, Bein von meinem
Bein, Fleiſch von meinem Fleiſch —


Sie erkundigte ſich ſehr herzlich nach ih-
rem Schwiegervater, und wolte von mir
eine Beſchreibung von einem Litteratus,
welche ſie bis dahin noch nicht von ihrem
Manne nach der Tablatur, wie ſies nannte,
erkuͤßen koͤnnen. Ich lies den Herrmann
bey Ehren! Haͤtte der Hauptmann von Ca-
pernaum, pro tempore Acciſeeinnehmer, die
Abkunft des Inſpektors erfahren, Subordi-
nation! — wo waͤrſt du blieben? Wenn
mein Mann wider ſeinen Vater was hat,
was gehts mich an? Man ſehe doch das
gallloſe Schaͤfchen! Ernſt! Ein gutes
Weib! Man laß ihr doch die welkgeworde-
nen Blumen einer Metapher! — Was
thut
[389] thut es denn dem Manne, wenn ſeine Frau in
ſo etwas unſchuldiges verliebt iſt — Zehnmal
verſicherte ſie mich, wahre Freundſchaft
daure noch, wenn gleich alle Kronen Ur-
nen worden!
— und alle Worte Gedan-
ken, wolt ich ſchon ſagen! — Ihrem
Manne machte das Tulpenbeet ſeiner Frau,
in zierlichen Ausdruͤcken dergeſtalt, keine ge-
ringe Freude, obgleich er ſelbſt bey ſeiner
Weiſe blieb, geradesweges aufs Dach zu
ſteigen. Freylich mußte das Dach nicht zu
hoch ſeyn — da Benjamin Darius origete-
nus auf ſchwachen Fuͤßen ſtand.


O der wunderbaren Vermiſchung der
Denk- und Handlungsart der Menſchen! und
doch wieder ſo allzuſammen eins, daß man
weiter gehen koͤnnte, als meine Mutter.
Nicht blos Mann und Weib, ſondern alle
Menſchen haben einen gemeinſchaftlichen
Zug — Alle etwas vom Vater Adam und
Mutter Eva, denen, ſie moͤgen geweſen ſeyn,
wie ſie wollen, doch Kindespflicht eignet und
gebuͤhret.


Amalia war mit dem Kraͤmer ehelich
verbunden, und gluͤcklich genug geweſen,
fuͤnf Kinder mit ihm zu erzielen. Junker
Gotthard hatte ſie nicht beſucht, woruͤber ſie
B b 3ſich
[390] ſich beklagte, ohne daß der Kraͤmer ein Wort
druͤber verlohr! —


Ich erneuerte alle meine alte Bekannt-
ſchaften, die heilige Geiſtſtraße und den
Roßgaͤrtſchen Kirchhof nicht ausgeſchloſſen!
Die Straße, die zu meiner Zeit beym Ab-
zuge des Mahlers deſſen Quartier wir bezo-
gen, illuminirt war, ſoll, wie man ſagt,
nicht aus der Illumination herauskommen.
Was die Muͤtter thaten, thun die Toͤchter
nach ihnen.


Schluͤßlich uͤbergab ich dem Darius und
vorzuͤglich ſeiner Frau Minens Grab in L —
Ich that es in Gegenwart ihrer Kinder, und
ſo feyerlich, daß alles weinte, nur der gewe-
ſene Herr Lieutenant nicht, dem man in Ab-
ſicht der Thraͤnen nicht ſo leicht aufs Dach
ſteigen konnte. Sie gab mir das feyerliche
Verſprechen, kuͤnftige Woche zum guten Pa-
ſtor nach L — zu fahren, wo ſie ſchon be-
kannt war, um ihren Kindern das Grab zu
zeigen! Gern waͤre ſie jetzt gleich mitgekom-
men; wenn ich es ihr nahe gelegt; ich wolte
mir aber durch kein Gewuͤrz ein geſundes na-
tuͤrliches Eſſen verderben! Auf dieſen Aus-
druck bringt mich die Frau Inſpektorin
ſelbſt. Sie ſprach von einem Ausdruck, den
ſie
[391] ſie das vor Faͤulnis bewahrende Salz
nannte. — Wenn die Speiſen nur nicht
perſalzen werden, wie die Koͤnigliche Frau
Mutter es ſchon drey Tage vor dem Koͤnig-
lichen Auftritt zu thun gewohnt war! —


Darius dankte mir, wiewohl insgeheim,
(wer mag gern in Gegenwart ſeiner Frau in
die Flucht geſchlagen werden) fuͤr die ſchoͤnen
Tage, die er bey einem Haare, wie die Dorf-
jungen Talken genannt haͤtte, wenn ich ihn
nicht in Zeiten ins Griechiſche gebracht. Ich
habe dieſen Kriegen, ſagte der Herr Inſpek-
tor, viel zu danken. Nimmermehr wuͤrd
ich ſeyn, was ich bin, wenn ich nicht Darius
geweſen! — Freylich kann wohl von Da-
rius nichts natuͤrlicher, als Acciſe-Inſpektor
werden! Alexander aber und Major! iſt
da Verhaͤltnis, Kunſtrichterlicher Leſer? nicht
wahr, eine verſalzte Frage! —


Ich fand Fronſpergers Kayſerliches
Kriegsrecht
beym Darius, und Benja-
min verſicherte mich, daß ihm das Werkchen
viele gute Dienſte gethan. Freunde! Darf
ichs wiederhohlen: beym Spiel eine ernſt-
hafte Miene gemacht, ſo iſts Ernſt; beym
Ernſt eine komiſche Miene, ſo iſts Spiel!
B b 4Ent-
[392] Entweder iſt alles Spiel, oder alles Ernſt in
der Welt! — Wie man es drauf anlegt! —
Und nun, wenn anders meine Leſer keine
Tuͤcke auf Benjamin haben, wer haͤtte ge-
dacht, daß dieſe linke Hand ſich ſo herausar-
beiten wuͤrde. Iſt ihm die Nothtaufe anzu-
ſehen? Schneider, oder Litteratus, ſagte
ſeine liebe ſelige Mutter —


Der Major, der uns nach Koͤnigsberg
brachte, war todt. Schade! Eben, da ich
ſein College war! Der Junker war Lieute-
nant worden, Benjamins Amtsbruder, nur
mit dem Unterſchiede, daß Benjamin ein ſte-
hendes, ſein College aber ein fließendes
Waßer war! Wie weit kann ers nicht noch
bringen! — Der fließende Lieutenant, wie
er ſich daruͤber freute, daß ich Soldat ge-
worden! Noch lieber haͤtt’ er und der ver-
ſtorbene Reuter, wuͤrkliches Mitglied des
gelehrten Kraͤnzchens (wenn letzterer nemlich
noch gelebt,) geſehen, daß ich bey der Ca-
vallerie geſtanden! —


Beym Abſchiede gab ich dem Herrn In-
ſpektor den Brief der Kayſerin, den ich, auſ-
ſer dem Koͤniglichen Rath, keinem gezeigt
hatte. Dem Profeſſor Grosvater, waͤre,
wie
[393] wie mich duͤnkt, am wenigſten damit gedient
geweſen! Da war Benjamin wieder aus
dem Dugeleiſe und bat um Verzeihung, ſo
ſehr die Subordination beleidiget zu haben.
Ich hatte Muͤhe, ihn ins Du zuruͤck zu brin-
gen. Stell dir vor, ſagt’ er zu ſeiner Frau,
ohne daß ich es behindern konnte, daß er
diesmahl zu Dach ſtieg: unſer Gaſt iſt auch
geadelt und ein Gutsbeſitzer — Ihr Ge-
ſicht! wahrlich etwas zur Schau! — gut,
daß es beym Schlus war! —
Lebe wohl, Koͤnigsberg, auf ewig!
Nach L — nach L —


Ich zog durch einen andern Weg, und
obgleich ich nichts that, als mich gierig nach
dem heiligen Grabe umſehen, fand es doch
mein Auge nicht. Der gute Paſtor! Mich
aͤrgern alle die Verzierungen, die man beym
guten gemeinen Leben anbringt. Da will
man ſeine vorige Bekannte rathen laßen,
wer man iſt! Da laͤßt die Frau, ohne daß
der Herr Gemahl es weis, zu ſeinem Ge-
burtstage ein Mahl anrichten. In der Jo-
ſephsgeſchichte ſelbſt, gefaͤlt mir der Zierrath
nicht — Warum nicht gleich: ich bin Jo-
ſeph, euer Bruder!
— Gerade zu gab
B b 5ich
[394] ich mich dem Paſtor zu erkennen, wie ſeinem
Bruder, dem Koͤniglichen Rath, der es ei-
nen Ueberfall nannte, und der druͤber um
eine Nacht kam, ich weiß nicht wie. Wie
es mit Minens Grabe ſtuͤnde, war meine erſte
Frage, in die ſich unſer Paſtor nicht finden
konnte. Ich umarmte ihn, und ohne ihn
zur Antwort zu laßen, die er von der Ueber-
legung borgen wolte, nahm ich ihn bey der
Hand und da waren wir! — Nach der
Zeit hat er mich verſichert, daß ihm noch
ſelbſt auf dem Wege alles wie ein Traum
geweſen! Da! ſagt er, liegt mein Weib,
Minens Nachbarin! Es war kurz vor Oſtern
und ſchon war Minens Grab ſo gruͤn! ſo
ſchoͤn! —


Der Paſtor verlies mich, um, wie ich
nach der Zeit ſahe, von Haupt zu Fuß ſich
umzukleiden. Ich ſah gen Himmel, warf
mich auf die Erde, auf die heilige Minen ge-
weihte Erde! Ich konnte nicht weinen! —
Mine! Mine! war alles, was ich konnte.
Ich warf mich mit einer Heftigkeit aufs
Grab, die kein Wort aufkommen lies, die
es erdruͤckt haben wuͤrde, wie ein Grauſa-
mer einen Wurm, der ſich kruͤmmt — und
ſiehe da! ſo wie ich hinſtuͤrzte, fiel das Grab
ein!
[395] ein! Ein andrer waͤre aufgeſprungen; allein
ich erſchrack daruͤber ſo wenig, als ich mich
uͤber den Kayſerlichen Brief erfreute. Wer
kann etwas in ſolchen Umſtaͤnden! Nach
einer kleinen Weile war es mir ſo, als der
lebendige Odem aus ihrer Naſe, woraus
wir ihre Ruͤckkunft ins Leben erprobten!
Gott! ſchrie ich und ſah nun ein, daß der
Sarg nachgelaßen, und die Erde ihm gefolgt
war, als ob ſie mir Platz machte! dachte
ich. Ich komme bald! ſagt ich ſo laut, daß
ichs wiederhallen hoͤrte; wo es wiederhallte
weis ich noch nicht: allein dies Bald im
Wiederhall, wie es mich ergrif, das kann
ich nicht ſagen, nicht denken! Empfinden —
kann ichs. In ſolchen Faͤllen laßt der Em-
pfindung ihren Werth, ihr Empfindungsfluͤr-
mer! Noch jetzt hat es mich erſchuͤttert!
bald! Amen! bald! Amen! —


Nach einer Weile fiel es mir wie ein
Blitz ein, das Ende meines
ανεχου και κπεχου
zu machen. Schnell riß ich die letzten Sie-
gel auf und las:
Du biſt ein gebohrner Edelmann, ich
heiße — — Einen einzigen Buchſtab
hab ich im Namen geaͤndert. Wirfſt

du
[396]du den weg, biſt du was deine Vor-
fahren ſeit undenklichen
Jahren gewe-
ſen. Mein aͤlteſter Bruder, der mich
verfolgte, iſt Schuld an dieſem allem.
Wie wenig iſt dieſes alles. Ein
geaͤnderter Buchſtab, ein einziger,
was will das ſagen? Die Beylage
iſt die Aſche von den Papieren, die im
Brande drauf giengen, der ſich zu-
trug, da du krank wareſt. Sie muß
gelten wenn du ſie geltend machen
willſt. Gott ſegne und behuͤte mei-
nen Bruder, und die Seinen fuͤr und
fuͤr! Auch dich ſegne er mit und ohne
den Buchſtab
— —


Mehr konnt ich vorerſt nicht leſen und
auch meine Leſer wiſſen gnug in meinem Le-
benslauf. Das uͤbrige gehoͤrt zum Lebens-
lauf meines Vaters, wovon der vierte Theil
Berg auf handelt. Die Beylage Aſche,
hatte die Buchſtaben ſo unleſerlich gemacht,
daß alles wie ſchwarze Kunſt ausſah.


O Freunde! Die Scene, wie ich beyde
Adelbriefe zuſammen nahm und ſie auf Mi-
nens Grab legte zu ihren Fuͤßen! koͤnnt’ ich
ſie doch mittheilen. Ob ſie gemahlt im Zim-
mer ſich ausnimmt, weiß ich nicht; aber
fuͤrs
[397] fuͤrs Herz! — ich kann nicht! — je
brachte mich zu Thraͤnen, zu ſanften, ſuͤßen
Thraͤnen. Mine war mir Welt, Leben, Alles!


Sieh! Minens Schutzgeiſt, ſieh! der
du ihr das Bald ſo warm wiederbracht haſt,
als es das Echo, das Sprachrohr der Gei-
ſter, dir zubrachte! Sieh dieſe Treue! Sie
war Minens werth! Was ſollen mir dieſe
Gnadenbriefe ohne ſie? O du lieber ſelger
Vater! Dank ſey dir, daß du dieſen Pomp
in Aſche verwandelt, und ſie zur Beylage
gemacht haſt! Wir ſind Staub und Aſche!


Der Paſtor kam ganz herrlich verzieret,
und wollte mich ſeiner Entfernung halber um
Vergebung bitten. Da er aber ſahe, was
vorgieng, war er Willens zu bitten, daß ich
ihm ſeinen Ueberfall verzeihen moͤchte. Herr
Major, fieng er an, (dies hatt’ er ſchon
von meinem Bedienten ercatechiſiret,) das
hat nie ein Major gethan, ſo lange die
Welt ſteht! So hat er auch keine
Mine gehabt, ſo lange die Welt ſteht! —
erwiedert’ ich, nahm ihn wieder bey der
Hand, und fuͤhrte ihn zu dem Grabe
ſeines Lindenweibes. Hanna wolte durch-
aus, ſagt’ er, Minens Nachbarin ſeyn,
und wir alle wollens ſeyn. Meine Tochter
hat
[398] hat ſich dieſes von ihrem Manne ſchriftlich
verſprechen laßen, und er von ihr! — Hat
Mine es doch dem Nathanael vergeben, lie-
ber Major! Sie wuͤrden ſich gewis vertra-
gen — gut begehen haͤtt ich bald geſagt!
Freund, antwortete ich (ſelbſt weiß ich nicht,
wie ich dazu kam,) da ſind Tuͤrk und Ruße
Bruͤder! — O lieber Herr Major! vom
Tuͤrkenkriege zu reden! — Freylich hier
nicht, aber doch! Ja! Ich druckt ihm
die genommene Hand. Freund! das Grab
ihrer Hanna ohne Linden! Eine wolt’ ich
ihr geben, ausgegangen! drey Jahr nach
einander geſetzt und ausgegangen! Wie
todt geſchlagen! ohne Leben und Odem!
Mehr als eine mocht ich nicht! Warum ſolt
ich ihrer Mine die Sonne entziehen! — Die
Linden nehmen ſich viel heraus, wenn ſie
ins wachſen kommen. Sie ſind ſehr Son-
nengeizig, ungerecht gegen alles, was unter
ihnen waͤchſt.


Nach dieſer Scene giengen wir in die
Kirche! Siehe! ich komme bald, halt was
du haſt, das Niemand deine Krone nehme,
rief mir jede der vier Gegenden zu, Oſten,
Suͤden, Weſten, Norden! Alles war mir
ſo gegenwaͤrtig, als ob es vorgieng. Mi-
nens
[399] nens Begraͤbnis, Gretchens Eheverbin-
dung!
Was Gott thut, das iſt wohlgethan;
es bleibt gerecht ſein Wille.

und
Drum laß ich ihn nur walten!


Warum denkt man ſo gern an gehabte
frohe Stunden? Wahrlich, weil das Leben
ſo kummervoll iſt, und weil wir ihm durch
dergleichen Kunſtgriffe foͤrderlich und dienſt-
lich ſeyn wollen. Wahrlich die uͤberallguͤ-
tige Natur hilft auch hier, ſo wie in allem,
unſerer Schwachheit aus. Wir erinnern
uns froher Tage faſt eben ſo froh, oft fro-
her, als wir es waren, da wir ſie lebten.
Die Zuruͤckerinnerung an traurige Vorfaͤlle
geht von langen zu kurzen Tagen uͤber und
wird ſchwaͤcher.


Alles war uns von Gretchens Hochzeit
ſichtbarlich: die Verſchwendung des Puders
von Seiten des Nathanaels, das Kleid mit
den Goldbeſponnenen Knoͤpfen des Amt-
manns ſelbſt, womit der Amtmann ſich blos
ausſtaffiren wolte, und das nicht zum Vor-
ſchein kam, war uns gegenwaͤrtig.


Der gute Paſtor haͤtte nicht die Frage
aufwerfen doͤrfen: wie waͤr es, wenn wir
Gret-
[400] Gretchen beſuchten? haͤtt ich ihr ſo nahe ſeyn
koͤnnen, ohne ſie von Angeſicht zu Angeſicht
zu ſehen? Muß ich denn nicht ihr und ih-
rem Manne fuͤr die treue Pflege danken, die
ſie Minens Grabe angedeyen laßen? (die Zeit
hatte meinen Schmerz uͤber Minen in Poeſie
gebracht, wie ſie es immer thut, o! ſo ſanft
lyriſch!) Bin ich Gretchen denn nicht die
Heimfuͤhrung ſchuldig? —


Es ward verabredet, zuerſt Gretchen
und ihren gepuderten Mann, und nach die-
ſem den hochgebohrnen Todtengraͤber et
Compagnie zu beſuchen. Ich habe ſchon be-
merkt, daß ich keine Maskeraden liebe.
Warum auch die Mummerey? Da ſteig ich
lieber den Leuten, wie der Herr Lieutenant,
aufs Dach, als daß ich ihnen (auch ein Aus-
druck des Herrn Inſpektors,) was ins Maul
ſchmieren ſollte — Wie das abſticht, der
Herr Inſpektor und die Frau Inſpektorin!


Mein Gott! wie ſich Gretchen freute!
auch Nathanael! —


Sie kuͤßte mich wieder ſo herzlich, als wie
ich zur Hochzeit kam, und den Juſtitzrath
zur Frage: Wenn? brachte. Der arme
Mann mußte jetzt viel dieſer Eiferſucht halber
aus-
[401] ausſtehen! — Jetzt war er ſo weit vom
Wann, daß er ſelbſt gern daruͤber lachen
mochte. Er hatte ſich ungemein auf die Po-
litik gelegt, und wolte durchaus die Karte
herbeyhohlen, da ſich der Herr Schwiegerva-
ter an den Tuͤrkenkrieg erinnerte. Der gute
Nathanael war immer mit marſchirt, hatte
immer mitgekriegt und mitgeſiegt. Er war
ſo wie ſein Schwiegervater wohlbedaͤchtig
rußiſch, obgleich ſonſt jeder Menſch eine Nei-
gung hat, ſich des Unterdruͤckten anzuneh-
men. Iſts Wunder? Es gieng ja gegen die
Tuͤrken! Die Anlage zur Politik, welche
der Prediger bey Gelegenheit der verlohrnen
Schildwache zeigte, hatte freilich noch nicht
ihren Geiſt aufgegeben; indeſſen uͤbertraf
Nathanael ſeinen Schwiegervater in der
Politik bey weitem. Gretchen war dagegen
ſo unpolitiſch, daß ſie recht gefliſſentlich die-
ſem Blutvergieſſen auswich. Ein politiſches
Weib iſt wahrlich das unausſtehlichſte unter
allen aus der ſiebenten Bitte. Faſt ſolten
ſie das Wort Krieg nicht auszuſprechen, nicht
uͤber ihr Herz zu bringen vermoͤgen. Ein
anderes! giengs um die ſchoͤne Helena!
oder wenn ſich ein Paar um das blaue Au-
genpaar der Huldgoͤttin der Stadt ſchluͤgen!
C cIn
[402] In ſolchen ſchoͤnen Faͤllen erlaub ich ihnen
[auch] ein Wort uͤber Krieg und Kriegsgeſchrey
zu ſprechen! —


Gretchen, du haſt den beſten Theil er-
waͤhlt, das ſoll nicht von dir und deinen
Toͤchtern genommen werden ewiglich! Wie
du in Reiſekleidern ausgiengſt, liebenswuͤr-
diges Geſchoͤpf, und mit verweinten Augen
zuruͤckkamſt! — Gott lohne dich mit ſeinem
reichlichen Segen! — Sein Antlitz heb Er
auf dich, und ſey dir gnaͤdig!


Es war ein gutartiger allerliebſter Fruͤh-
lingstag. Wir kamen fruͤh an, und fruͤh-
ſtuͤckten auf einem Haufen. Mir kommt das
Fruͤhſtuͤck als die natuͤrlichſte Mahlzeit vor,
das ſich auch die Engliſche, die natuͤrlichſte
Nation, nicht nehmen laͤßt. Guten Mor-
gen! lieber Englaͤnder! —


Ich ſetzte mich ins Gras, und die fuͤnf
Kleinen (ſo viel hatte Nathanael aufzuzeigen)
um mich her. Dies brachte mir ein Vergiß-
meinnicht, jenes nahm mir den Hut ab; die
beyden kleinſten Maͤdchens ergoͤtzten ſich an
den blanken Knoͤpfen meiner Uniform! —


Der gute Prediger ſahe dieſe Gruppe und
ſagte: Simon Johanna, haſt du mich
lieb?
Weide meine Laͤmmer! Ich hielt
die-
[403] dieſen Spruch an, und auch noch ſchallt er
mir ins Herz! Weide meine Laͤmmer


Leopold, willſt du ins Gruͤne?


Eben wolt ich bitten.


Komm!


ohne Strohhut?


Verſteht ſich —


Gretchen ſowohl, als Nathanael behaup-
teten, der dritte von oben haͤtte viel Aehnlich-
keit von mir! Ich fand es nicht. Vater
und Mutter hatten ihn am liebſten. Schade,
daß er nicht Alexander hies, ſagten die El-
tern, der aͤlteſte hies ſo! Das erſte Kind
war eine Tochter und hies Mine! — Wie
ich dies liebe Maͤdchen an mein Herz ge-
druͤckt! Es war es, das mir Vergißmein-
nicht brachte! Ich lies mir von Gretchen


Das Ende ihrer Mutter erzaͤhlen! wo
ſehr ſtarke Stellen drin vorkommen. Ich
will meine Leſer, denen ohnehin eine Todes-
fahrt bevorſteht, mit den naͤhern Umſtaͤnden
nicht aufhalten! — Sie ſtarb ſehr heiter.
Ihr Tod war kein Lindentod. Wer nicht von
dieſer ihrer Krankheit gewußt haͤtte, wuͤrde
ſie in Wahrheit aus den letzten vier Wochen
ihres Lebens nicht erſehen haben. Ihre Ein-
bildungskraft war wieder eingezaͤunt. Ihr
C c 2Auge
[404] Auge hatte jene Wildheit nicht mehr! — Es
ſtrahlte nicht, es ſchien nur! — In ihren
Segnungen paarte ſie mich noch mit Gret-
chen. Das heißt: ſie ſegnete mich ſo in-
bruͤnſtig, als ſie, obgleich Nathanael und
ſeine Kinder hiebey nicht zu kurz kamen! Auf
den Enkel Alexander legte ſie beyde Haͤnde,
auf jedes andere ihrer Kinder nur eine! —
Was ſie froh war, ſagte Gretchen, Minen
zu ſehen! — Gehe ein zu deines Herrn
Freude!


Kaum hatte Gretchen dieſe fuͤr mich ſo
ruͤhrende Geſchichte vollendet; ſo marſchirte
Nathanael ſchon wieder zum Tuͤrkenkriege,
und wolte ich wohl oder uͤbel, ich mußte er-
zaͤhlen — Gretchen beſtellte waͤhrend des
Tuͤrkenkrieges ein natuͤrlich ſchoͤnes Mahl!
Bey Tiſche war der Juſtizrath nicht von Bu-
kareſt
zu bringen, bis ihn endlich Gretchen
wie einen Tuͤrken ſchlug. Die kleine liebe
Rußin! Sie vergoß uͤber meine zwey liebe
Kriegscammeraden bittere Thraͤnen! und
mehr, als die Geſchichte dieſer jungen Hel-
den, wolte ſie nicht. Der Prinz Wilhelm
von Braunſchweig
war ihr zu vornehm,
um an ihm Theil zu nehmen.


Rech-
[405]

Rechten und Fechten, fieng die Loſe
an, und zeigte mit Fingern auf Nathanael.
Er gleich fertig: brummen, verſtummen!
und zeigte auf Gretchen! Ich gab dem
Juſtizrath einen Blick, als wolt ich ſagen:
ich bitte meine Mutter ruhen zu laßen in
Frieden!


Was Gretchen wohl anſteht, gebuͤhrt
eben einem ſo puderreichen Manne nicht.
Nathanael fuͤhlte, daß er zu weit gegangen,
und ward ſo ſtill, daß ich ihn ſelbſt mitleids-
voll durch eine Tuͤrkengeſchichte aufmunterte.
Wer kann immer fechten; ich fieng alſo zu
rechten an. Ich will mich ſelbſt richten,
ſchrieb Nathanael an ſeinen Schwiegervater,
und den Krieg Rechtens mit mir ſelbſt
anfangen.
Ein ſchoͤn Stuͤck Arbeit! Na-
thanael hatte redlich Wort gehalten. Nie
ſprach er ein Urtel uͤber andern aus. Sich
ſelbſt hielt er in Ordnung. Vielleicht fiel er
eben darum aufs politiſche. Durch eine
Schadenfreude uͤber die Tuͤrken, konnt’ er
freylich keinen Schaden thun — Wenn er
ja noch mit einer Beurtheilung ſich hoͤren
lies, ſo war es wider die Geſetze ſelbſt. Wi-
der die Tuͤrken und wider die Geſetze ſollte
C c 3wahr-
[406] wahrlich jedem Chriſtenmenſchen ein Wort zu
ſeiner Zeit erlaubt ſeyn.


Die Geſetze, ſagte der Juſtizrath, ſcheeren
alle Menſchen uͤber einen Kamm! Ohnfehl-
bar dacht’ er ans Promemoria. Wenigſtens
fiel es uns allen ein, obgleich wir es nicht
ſagten. Der Gerechte und Ungerechte wird
nach einer Form behandelt, und ein Gelehrter
Juriſt iſt der, welcher aus einer Taſche nimmt,
und es in die andre legt. Aus der Ausgabe
in die Hauptcaſſe! — und unſere Philoſophen,
ſagt ich, was thun ſie mehr? wenn es koͤſt-
lich geweſen, ſchlagen ſie die Zinſen zum Ca-
pital, und dann, fuhr der Prediger fort, ge-
ben ſie es an einen unſichern Ort, und dann,
beſchlos der Juſtizrath, hohlt der Teufel
alles.


Der gute Nathanael erſchrack ſelbſt uͤber
den Teufel da er ihn citirt hatte, ſo wie uͤbers
Brummen und Verſtummen! Er hatte in
dieſen Tagen ein klein Capitaͤlchen verlohren,
das er vielleicht auch wie die Philoſophen von
Zinſen geſammlet! Solch Geld ſoll uͤberhaupt
nicht viel Segen haben.


Warum Scheltwort wider die Geſetze,
ſagte der Prediger? Ihr Herren habt ein
gewiſſes Phlegma, das ihr Dienſteifer nennt.
Alles
[407] Alles nur ſo nachdem es ſcheint, nichts, nach
dem es iſt.


Ihr Bruder! fieng ich an


iſt nicht phlegmatiſch von Natur —


ein wahrer Menſchentreffer.


Mag! allein das beſte Auge wird muͤ-
de! —


  • ich. und furchtſam, wenn es ein paarmal fehl-
    geſchoßen.
  • Juſtizrath. Man hat ſo viel Muͤhe, ſich
    ſelbſt zu treffen und hat ſich doch immer
    vor der Naſe!
  • Prediger. Aber nicht vor den Augen.
  • ich. Vielleicht trift man ſich mehr, als es
    ſcheint — Man publicirt uns das Urtel
    nicht. Es bleibt uneroͤfnet. Jeder Schelm
    weiß, daß ers iſt, der kleine ſchielende Re-
    viſor ſo gut, wie ein anderer — Die Ju-
    ſtizform in England! —
  • Juſtizr. Freylich die beſte! Die lieben Di-
    caſteria. Laßt den Nachbar uͤber den Nach-
    baren urtheilen. So wie bey uns Soldat
    uͤber Soldat, Unterofficier uͤber Unteroffi-
    cier, Officier uͤber Officier! Wenn nur das
    Deſertionsedikt nicht waͤre! — Dicaſteria
    ſind gemeinhin Hoſpitaͤler, wo viel geredet
    und wenig gethan wird! — Kommt ein-
    C c 4mal
    [408] mal ein großer Kopf herein, ſioͤßt er ihn
    ſich wund. Das edle Geſchoͤpf Gottes hatte
    nicht Naum in dieſer Herberge!

Solte man wohl nach dieſen Datis glauben,
der Juſtizrath habe keinen Dienſtverſtand! —
Die Herren Rechtsgelehrten lernen die Geſetze;
allein ſelten den Menſchen. Es giebt Leiden-
ſchaften, die jeder billiget, weil ſie mit ihm
ſelbſt ſtimmig ſind. Wer zuͤrnt uͤber den Zorn,
wenn der Eifer uͤber eine Beleidigung kommt,
die ins Allgemeine geht! Ein dergleichen Ei-
ferer heißt ein Patriot! — Trift der Eifer ei-
nen Lehrer, der ein falſcher Muͤnzer iſt, der
Worte fuͤr Sachen verkauft, Schifszwie-
backe fuͤr Manna ausgiebt, oder auch einen
ſolchen, der ſeinem moraliſchen Vortrage durch
ſeinen Lebenswandel widerſpricht, dann iſt die-
ſer Eifer, ein Eifer fuͤr des Herrn Haus.
Bey dieſer Gelegenheit, da wir dem, was ins
Allgemeine ſchlaͤgt, Gerechtigkeit wiederfah-
ren ließen, fieng der Prediger an: es iſt ſo
eine Sache mit dem lieben Allgemeinen!
Wir wollen nur Thatſachen, die aufs Allge-
meine gehen. Je allgemeiner die Be-
nennung iſt, womit man uns belegt, je
weniger will man ſich ſo benennen laßen.
Menſch! kann zur Probe dienen. Ein all-
gemei
[409] gemeiner Geiſt zieht in ſeinem Privathauſe
gemeinhin den kuͤrzern.


Nathanael verſicherte, und auch dies war
wahrlich nicht der kleinſte Beweis von ſeinem
Dienſtverſtande, daß er in ſeiner langen Praxi
nie gefunden, daß ein gut denkender Mann
auf einen Dieb boͤſe geweſen, wenn er das
Seinige wieder erhalten. Wir Menſchen,
denk ich, ſehen es zu ſehr ein, daß wir alle
gleiche Rechte in der Welt haben, und danken
Gott, wenn wir nur bey ſolchen Gelegenhei-
ten ungeſchlagen davon kommen.


Der Prediger der noch kein Wort von ſei-
ner Suͤnde wider den heiligen Geiſt geſagt,
vielmehr ſeinem Herrn Schwiegerſohn, weil
er Juſtizrath war, obgleich ein in Gnaden
verabſchiedeter, die Vorhand gelaſſen, hohlte
jezt alles ein, ſchlug Zinſen zum Capital, und
bemerkte jedes Wort, das er in der zweyten
Ausgabe dazu und davon gethan. Er ſpreng-
te, da es Nathanael ihm zu lang machte uͤbern
Zaun, und der Schwiegerſohn mußte ihm das
Wort abtreten; obgleich er Juſtizrath war.
Man kann ſich um den Hals reden! — auch
um den Gedanken! — Der gute Prediger fieng
nicht zu ſeiner beſten Stunde an! Gretchen
kam, und ich lies den Juſtizrath (Gelehrſam-
C c 5keit
[410] keit gegen Gelehrſamkeit) bey der Frage: ob
auch Jemand mit der linken Hand ſchwoͤ-
ren, und ob, wenn er falſch geſchworen,
ihm die Finger abgehauen werden koͤnn-
ten?
und den Paſtor bey der Antwort, daß er
ſehnlichſt wuͤnſchte einen Suͤnder wider
den heiligen Geiſt ſeiner zwoten Ausga-
be in Kupfer vorſtechen zu laſſen.
Moͤ-
gen ſie rechten und fechten!


Gretchen und ich giengen ſpatzieren. Ein
Sohn und ein Toͤchterchen mit uns. Eins
fuͤr mich, eins fuͤr ſie, ſagte die gute Haus-
mutter! Wer Gretchen mit ihren Kindern
ſahe, und nicht Luſt bekam zu heyrathen,
hatte kein Gefuͤhl von Unſchuld! — Sie zeigte
mir dort eine neue Anlage zum Spatziergang,
hier ein vortrefliches Grasſtuͤck! — Den Acker
rahden und der Gegend zur Ader laſſen, wie
Gretchen es nannte, oder einen Graben zie-
hen, uͤberlies ſie dem Herrn Gemahl! — Sie
nannte das Milchdepartement ihr beſchiedenes
Theil, und noͤthigte mich in ein allerliebſtes
Buͤdchen, ihren Thron, wie ſie ſagte. Aller-
liebſt! So ſchoͤn ſitzt kein Monarch, als Gret-
chen in ihrer Milchbude. Hier ward oft fri-
ſche Milch gegeſſen, und die ſchoͤnſte Wieſe,
die das Guͤtchen vermochte, lag vorm Au-
ge! —


Wer
[411]

Wer fehlt mir, Freund, als Mine, ſagte
Gretchen und weinte ſo ſanft, als man in ei-
ner Milchbude weinen muß. Sie beklagte
ſehr, keine Freundin in ihrer Gegend zu ha-
ben; allein ich habe einen lieben ſehr lieben
Mann! fuͤgte ſie hinzu. Wer haͤtte das dem
Nathanael, dem Juſtizrath, anſehen ſollen?
Wenns geregnet hat, ſagte ſie, wie ſchoͤn iſt
es hier! und gab mir die Hand. Das gute
Gretchen! Warum nicht alle Kinder, fragt’
ich Gretchen? Gern moͤcht ich mich mit die-
ſen Kleinen ins Gras ſetzen! „Ich wolte
mehr mit ihnen allein ſeyn!“
Wahr iſts!
Drey kleine Kinder zuſammen iſt wie eine
große Geſellſchaft. Gretchen hatte keine an-
dere Geſellſchaft, als ihre Kinder. Zuweilen
kam der Graf, und ſie waren noch oͤfter bey
ihm. Gretchen war nicht ganz fuͤr dieſen Ge-
ruch des Todes zum Tode. Die Sache ge-
nau genommen, iſt auch der Geruch des Le-
bens zum Leben, Leib und Seele geſuͤnder.
Eine Perſon von ihrem Herzen konnte nicht
anders, als toͤdtlich geruͤhrt vom Grafen heim-
fahren. Nathanael lies ſie vorzuͤglich, wenn
ſie geſegnet war, nicht zum Grafen. Alles
gut! ſagte Gretchen, das hieſige Leben iſt doch
auch nicht zu verachten und es iſt Pflicht, zu
genuͤßen
[412] genuͤßen und Troſt zu hoffen. Was fehlt uns
denn in dieſer Milchbude?


Die Milch! Gretchen,


Wollen Sie? —


Ich laͤchelte, nein.


Der ſiebenmal ſieben liebe Graf! — Iſt
denn nicht mein Stubenornat beſſer, hatte er
juͤngſt zu Gretchen geſagt, als wenn ich meine
Zimmer mit geilen Bildern behangen haͤtte,
deren jedes Feur ſtreut, wodurch ſo viele junge
liebe Herzen in Brand gerathen! Viele luͤ-
gen, ſagt’ ich, weil die Wahrheit was ge-
woͤhnliches iſt! Der Graf iſt nicht beſonders,
weil er es ſeyn will, ſondern weil er einen Le-
bensconcurs gemacht hat — Ich wußte wohl,
mit wem ich ſprach; Gretchen hatte aufs Haar
gelernt, was ein Concurs ſey.


Ich habe einen ſehr lieben, lieben Mann,
wiederhohlte Gretchen von freyen Stuͤcken.
Der Concurs kann ihr unmoͤglich hiezu Gele-
genheit gegeben haben. Mein Mann liebt
mich, fuhr ſie fort, und ſeine Kinder, iſt ge-
recht gegen jedermann, und verlangt vom
Gluͤcke keinen Dreyer mehr, als es ihm zuge-
wendet — Wir verlohren ein kleines Capitaͤl-
chen und zweymal haben wir in der Lotterie
gewon-
[413] gewonnen, ſo daß ſich alles ziemlich heben
wird.


Es ward Gretchen zu kalt. Sie zeigte
bey aller Gelegenheit eine ſchwache Bruſt.
Wenn nur die Lindenkrankheit ihrer Mutter
ihr nicht den Stof zur Hektik eingepflanzt! —
Schonen Sie ſich! Gretchen, hoͤren Sie? ſcho-
nen ſie ſich — Ein großer Theil meiner Leſer
vereinigt ſeine Bitte mit der meinigen: Scho-
nen Sie ſich —


Ich wendete mich zum Wege, auf dem
wir gekommen waren; allein Gretchen zog
mich ſeitwaͤrts, um mir einen Gang zu zeigen,
der nach einem meiner Vornamen hieß. Auch
Einen Minchenberg gab es, wo wir uns we-
nige Augenblicke niederſetzten! — Daß wir
doch nicht Geiſter ſehen koͤnnen, ſagte Gret-
chen. Der Graf glaubt zwar drey Seelen
bey ihrem Aufflug mit einem Blick erhaſcht
zu haben! — Im Fluge, Gretchen, truͤgt das
Geſicht am meiſten — Zum Collationiren,
ſagte ſie, gehoͤrt Original und Copie! Liebes
Gretchen, erwiederte ich, reden ſie doch wie
eine wahre Juſtizraͤthin —


Wir kamen zuruͤck und fanden den Herrn
Schwiegervater und Sohn noch in gelehrten
Streitigkeiten. Der Juſtizrath ſprach uͤber
die
[414] die Frage: ob jemand mit der Todesſtrafe
zu belegen, der einen Mißethaͤter eine
halbe Stunde vor der Todesurtels Voll-
ſtreckung ermordet,
und der gute Prediger:
ob es nicht billig, daß der Verleger den
Titelbogen vor voll bezahle, wenn gleich
nur ein Blatt beſchrieben iſt.
Iſts doch
der Titel! —


Was meynen meine Leſer, von einem
Suͤnder wider den heiligen Geiſt in Kupfer?
Solte nicht eine Silhouette mehr anzurathen
ſeyn? —


Keinen ſtaͤrkern Beweis konnte wohl Na-
thanael ablegen, nicht mehr eiferſuͤchtig zu
ſeyn, als eben den, daß er ſein liebes treues
Weib mir anvertraute. Hat der Herr Major
alles geſehen? Ja, lieber Nathanael! Al-
les!
tauſend Dank fuͤr Gang und Berg! Ich
will Gleiches mit Gleichen vergelten, wenn
mir Gott an Ort und Stelle hilft! Gretchen
war mir lieb als Gretchen, und lieb iſt ſie mir
als Frau Nathanael! —


Herr Major, ſagte Nathanael! Sie iſt
Minens Schuͤlerin!


Wer kann wohl glauben, daß es nicht
drey Minuten daurte, da wir von Gretchens
Milchbuͤdchen bis


Buka-
[415]

Bukareſt waren! —


Diesmal waren Gretchens Bruͤder meine
Retter. Sind ſie noch, fragte ich, in Poeſie-
Compagnie? Vier Augen ſehen mehr, als
zwey, ſagte Gretchen und laͤchelte. Wie ſie
doch ſo guͤtig ſind, fiel der Prediger ein, ſich
ſelbſt an dieſe Maſkopie zu erinnern! Den-
ken Sie noch daran, wie ich Ihnen meine Ab-
handlung zum erſtenmal anvertraute? Solt’
ich nicht! erwiedert’ ich und lenkte wieder auf
die beyden Compagnions ein, wovon einer in
Curland Hofmeiſter war, der andre ſtand in
dem nehmlichen Ehrenamt in Preußen! —
Der Prediger empfahl mir den Curlaͤnder,
wenn er wo mit v. E — s in Colliſion kaͤme! —
Ich antwortete mit einem Handdruck —


Den folgenden Tag reiſeten wir zum Gra-
fen. Ich wuͤnſchte, daß Gretchen mit kaͤme;
allein ich bat ſie nicht mitzukommen, da ich
wußte, daß der Geruch des Lebens zum Leben
ihr lieber war! — Ich glaube je laͤnger je
mehr, weil ſie die Folge der muͤtterlichen Lin-
denkrankheit ſelbſt fuͤhlte, und nicht fuͤhlen
wolte! Das liebe Gretchen! — Sie kam
von ſelbſt, die gute Grete. Wir fuhren alle
viere! — —


Der
[416]

Der Graf freute ſich uͤber alle Maaßen.
Ein Sterbender allein haͤtt ihn mehr erfreuen
koͤnnen. Man ſchrieb mir aus Koͤnigsberg,
ſie waͤren da, ſagte der Graf, und ich waͤre
faſt in die Verlegenheit gekommen, ſie zu bit-
ten, ihren alten Freund nicht zu vergeſſen —
Deſto beſſer, daß ſie ohne das gekommen ſind.


Meinen Leſern iſt es bekannt, wie viel der
Graf von Kuͤnftigkeiten zu beſtimmen gewohnt
war. Es fiel ihm mancher Umſtand wie aus
dem Ermel. Wer wird denn wohl im drey-
ßigſten oder vierzigſten Jahre wißen wollen,
ob er es bis ſiebenzig oder achtzig bringen,
oder eher ſterben werde? Und wem iſt uͤber-
haupt damit gedient, da Vorhaͤnge aufzuzie-
hen, wo die Hand der Vorſicht ſie wohlbe-
daͤchtig angebracht hat. Warum ſoll man
die Kunſt lernen, faſt immer die Zeit und
Stunde zu wißen, wenn es mit den Patien-
ten aus ſeyn werde? Gut, keinen medicini-
ſchen Tod zu ſterben; indeſſen wuͤrd ich es
eben ſo ungern ſehen, wenn ich wuͤßte: ich
ſterbe und ein andrer obſervirt mich! — Wer
laͤßt ſich gern obſerviren? Eben darum trift
der Mahler am beſten, der die Geſtalt ſtiehlt!
— Die Welt iſt ein Garten im Norden, wie
der Graf ſagt, wo wenig reif wird So wir
das
[417] das wiſſen, ſelig ſind wir, wenn wir darnach
thun! — Wie kommt das, daß ich Gretchen
unvermerkt in Ruͤckſicht ihres Geruchs bey-
trat? Ich weiß keine andere Urſache, als
weil ich auch vierzig Jahr trage. Der Graf
ſchien es ſelbſt zu merken, daß ich den Antheil
an ſeinen Anſtalten nicht nahm, den ich vor
dieſem genommen! Diesmal, ſagt’ er ſehr
fein, werden Sie nicht in — krank werden!
weil ich es bin, erwiedert’ ich, und, wie mich
duͤnkt, war meine Antwort eben ſo richtig,
als ſeine Frage. Sie haben ein groͤßeres Sterb-
haus geſehen, Herr Major, ſagt’ er, als das
meinige! Der Juſtizrath und der Prediger
waren froh, um vielleicht manches noch vom
Tuͤrkenkriege zu hoͤren, woruͤber ich, wie ſie
waͤhnten, den Grafen nicht abſchlaͤgig beſchei-
den wuͤrde; allein ſie kamen wieder von Bu-
kareſt zuruͤck, ohne mehr zu wißen. Ohn-
moͤglich kann den lieben Herren ſolch eine
ſchnelle Reiſe gut thun! Der Graf hielt ſich
blos uͤber die Frage auf: ob man wohl im
Felde, ohne ſeiner Pflicht etwas abzukuͤrzen,
obſerviren koͤnnte? — Ich hatte ihn ſchon
uͤberzeugt, daß es viel Gelegenheit zu Ob-
ſervationen im Felde gebe, und ihm eine ganz
neue Ausſicht eroͤfnet —


D dDer
[418]

Der Inſpektor und ſeine Frau! — Sie
waren zum Prediger nach L — gekommen,
und von L — zum Grafen, ob ſie es ſich gleich
erſt die kuͤnftige Woche zu thun vorgeſetzet.
Ich war Major und von Adel, und freylich
haͤtte die Subordination gelitten, wenn Ben-
jamin, wie er ſich ausdruckte, ermangelt haͤt-
te — — Wie machſt du es mit deiner Stelle?
Er hatte den Einnehmer damit belehnt, lieber
Major! erwiederte die Frau Inſpektorin fuͤr
den Herrn Inſpektor. Das heißt wohl ſein
Amt an den Nagel haͤngen. Noch daſſelbe
Geſicht zur Schau, das die Frau Inſpektorin
beym Gutbeſitzer und Edelmann aufſchlug! —
Er ſelbſt auch noch die nemliche Subordina-
tion. Bey ihm wuͤrkte der Edelmann, bey
ſeiner Frau der Gutsbeſitzer! — Er war aus
Curland, ſie aus Preußen. Bey dieſen
Schaugeſichtern war es kein Wunder, daß
die Sache weiter gieng! und an den Grafen
kam, dem die Nachricht eben ſo, wie der Frau
Inſpektorin auffiel. Ihnen, lieber Graf!
der Sie taͤglich ſterben? — Gretchen allein
war wie vorhin! — Der Juſtizrath reuſperte
ſich ein wenig, da er zum erſtenmal mit dem
adlichen Major, dem Erbherrn auf — ſprach!
— Dem Prediger war nichts anzumerken! —
Der
[419] Der Graf, den der Tuͤrkenkrieg blos des Ob-
ſervationsſtuͤbchens halber intreßirt hatte,
wovon ich ihm einige Winke gegeben, nahnt
an meinem Adel ſo viel Antheil, daß die Ob-
ſervation jetzt auf meiner Seite war. Mein
Gott! wie kann doch jemand, der taͤglich
ſtirbt, an dergleichen Kleinigkeiten Theil neh-
men! Vorurtheile, gegen die doch der Mann,
der ſich vom Haufen unterſcheidet, angehen
ſoll, koͤnnen die auch ſolch einen Mann — ſo
beherrſchen? — Es gieng mir nahe, dieſe
Buͤhne aufgezogen zu ſehen! — Sein erſter
Blick that gleich zehn Fragen an mich, und
ſo lieb es mir war, den Herrn Inſpektor noch
zu ſehen; ſo war ich doch im erſten Augenblick
nahe dran, zu wuͤnſchen, daß er lieber mit
ſeiner Hausehre beym Herrn Hauptmann ge-
blieben, als uns geſtoͤhrt haͤtte! —


Der Graf wolte die Lebenslaͤufe aller
meiner Ahnen! Lieber Graf! ich weiß ſie ſelbſt
noch nicht, und ſuche noch hie und da Luͤcken
auszufuͤllen. Zeit bringt Roſen! Wenn Sie
Geduld haben, die jedem Noth iſt, und Gott
ihnen das Leben friſtet, ſo ſollen Sie im drit-
ten Theil meinen Vater und im vierten mei-
nen Grosvater von oben ab ſehen! Gleich
ein Unterſchied zwiſchen mir und der andern
D d 2Geſell-
[420][Geſellſchaft]. Lieber! warum das? warum
die weißen Federbuͤſche, und die Wapen und
die graͤfliche Krone? Der gute Paſtor in L —
ſagte, auf den Punkt verſteht der Graf keine
Bruͤderſchaft. Da iſt das Kroͤnchen leicht
gebrochen. Der Graf kannte meine Familie.
Solt er nicht? und nichts war ihm im Wege,
als meine Mutter, die doch buͤrgerlichen Stan-
des geweſen. Sie iſt todt, lieber Graf!
Freylich hebt der Tod viel, es iſt nur der
Ahnentafel und der Stiftsfaͤhigkeit we-
gen.
Ich verſicherte die graͤfliche Krone, we-
der an eine Ahnentafel zu denken, noch auf
Stiftsfaͤhigkeit je Anſpruch zu machen; allein
er druckte mir die Hand mit einem ſehr be-
deutenden: Kommt Zeit, kommt Rath!
Da Gretchen alles ſahe, was vorgieng, ſchien
ſie ſelbſt einen Subordinationszug einfuͤhren
zu wollen, den ich aber ſogleich bey der Thuͤr
abwies! — Die Frau Inſpektorin fand voll-
kommen ihre Rechnung. So bald ſie bemerk-
te, daß es hier auf Paar und Unpaar ankam,
gieng ſie bey ſich ſelbſt zu Rathe, ob und in
wie weit ihr der Rang uͤber Gretchen zuſtuͤn-
de? Sie uͤbertrug dem Herrn Inſpektor hie-
bey Sitz und Stimme; da ſie aber zu ihrem
Leidweſen erfahren mußte, daß ihm der Fall
zu
[421] zu wichtig ſey, nahm ſie ihres Herrn Gemahls
Verfahrungsart an, ſtieg Gretchen zu Dache,
und drengte ſich der lieben Unſchuldigen vor,
die indeſſen bey dem allererſten Blick des Vor-
drangs ſo nachgebend war, daß die Frau Da-
rius nur ein ſehr kleines Dach zu ſteigen
hatte! —


Der Graf hatte die ganze Geſellſchaft elek-
triſirt. Alles war geſchlagen, bis auf Gret-
chen, ihren Vater und mich. Elektricitaͤt iſt
ein Naturblatt, auf dem viel ſteht, pflegte
mein Vater zu ſagen. Wenn wir den Altar
kennten, von dem dieſe gluͤhende Kohle, die-
ſer goͤttliche Funke, genommen iſt, waͤren wir
weiter! —


In der Naturlehre, lieber Vater! Wenn
du aber hier in dieſer geſchlagenen Geſellſchaft
geweſen, was fuͤr ein Feld zu moraliſchen An-
merkungen, waͤre dir da offen geweſen! Wie
doch dem Menſchen der Zwang ſo eigen wer-
den kann! Ein kleiner Schlag, und alles ge-
rade wie auf Drath gezogen!


Gretchen gewann bey meiner Standeser-
hoͤhung am meiſten; denn der Todtengeruch
war ſehr zum Geruch des Lebens zum Leben
uͤbergegangen! —


D d 3Der
[422]

Der Graf bat es ſich zur Freundſchaft aus,
ſobald ich mich mit meiner Familie ins Ver-
kehr geſetzt haben wuͤrde, ihm uͤber dieſen und
jenen Punkt, wo ſeine Familienkenntniſſe nicht
zureichten, Auskunft zu ertheilen. Dieſer
und jener Punkt waren Federbuſch, Wapen
und dergleichen Dinge mehr! — Hie und da
eine Anekdote von dem und dem in der Fami-
lie! Das war alles? wie ich ſage, keinen Tritt
weiter. Iſts moͤglich, ein Mann, der einen
Mann ohne Wapen zum Lebens-, alle Ster-
bende zu Sterbens-Bruͤder und Schweſtern
annahm? — Was anders, wenns Leute
thaͤten, die dem hieſigen Leben den Eyd der
Treue geleiſtet —


Ich konnte das Andenken an jene Grab-
ſchrift nicht abwehren:
Hier liegt der lebendig Todte!
Bey dieſen Umſtaͤnden haͤtten Sie die Blaͤt-
ter, die von der Reiſe zum Grafen handeln,
nicht uͤberſchlagen duͤrfen, meine gnaͤdige
Frau!
Zwar nahm ich mir die Freyheit, bey
Gelegenheit der Sterbensumſtaͤnde unſerer
guten Hanna, dieſe Reiſe eine Todesfahrt
zu nennen; allein geruhen Ew. Gnaden die
Fraͤulein Schweſter zu fragen, der es geſtern,
als Veſtalin, auf dem Ball recht gut ſtand,
ob
[423] ob nicht dieſe Blaͤtter unbedenklich mitgenom-
men werden koͤnnen?


Hier oder dort waren die letzten Worte,
die ich mit dem Grafen beym Abſchiede wech-
ſelte, da ich ihn beym Geruch des Todes be-
ſuchte! — Wer haͤtte geglaubt, daß das
hier eintreffen ſolte, und zwar ein recht ei-
gentliches Hier! voll Geruch des Lebens.
Wie ſich die Luft erfriſcht hatte, blos weil ich
Edelmann war! — Da wir im heiligen roͤ-
miſchen Reiche meines Adels halber waren,
kamen wir, ich weiß nicht wie, auf Carl den
V, der ſich bey lebendigem Leibe begraben
lies, um zu ſehen, wie es ihm laßen wuͤrde?
Ich glaube, ſagt’ ich, dieſe Probe hat ſein
Ende befoͤrdert. Ich nicht! erwiederte der
Graf, der alle Vierteljahr eine Nacht in
ſeinem Sarge ſchlief, Carl der Vte ſtarb aus
Reue und Leid ſeiner niedergelegten Kronen
halber, und ohne ein Comma zu machen,
war der Graf bey der Frage: ob mein Adel
aͤlter waͤre, als Kayſer Karl der Vte glorrei-
chen Andenkens, der, eh’ er 1558 ſtarb, ſich
Probe begraben lies. Daß ich nicht wuͤſte,
erwiedert’ ich.


Wenn doch, dacht’ ich, was Sterbendes
vorhanden geweſen, um den Grafen wieder
D d 4einzu-
[424] einzulenken — Wenn doch Eins eingelaͤu-
tet wuͤrde!


Jetzt Abſchied auf ewig, ſo wie ich ihn
auf ewig vom heiligen Grabe in dieſer gelob-
ten Gegend nehmen werde. Dort, lieber
Graf! dort! —


Laßt mich, lieben Leſer, Abſchied neh-
men! Ich bitte, laßt! Geſundheit trinken
iſt, wie ihr wißt, ein Sinnbild des Lebens.
Abſchied nehmen ein Sinnbild des Todes.
War es Wunder, daß der Graf beym Ab-
ſchiede wieder in ſeinen ihm eignen Ton fiel?
Darum ſoll ich boͤſe werden, weil es Nacht
und Tag in der Welt iſt? Vielleicht ſchmeckt
alles ſuͤß, was ſchlecht bekommt. Zucker
ſchleimt, ſagt mein Hauptarzt. Vielleicht
ſchmeckt alles widerlich, was uns eigentlich
wohl behagt! Zwiſchen Schein und Seyn,
wie der Droſſelpaſtor ganz recht hat, welch
eine Kluft! Weil wider dieſes Uebel die
China nicht hilft, darum biſt du boͤſe? Giebt
es nicht Hausmittel, warum China? Koͤn-
nen denn nicht auſſer der Hauptſtraße viele
Nebenwege ſeyn? Sind uͤberhaupt Uebel in
der Welt? Iſt es nicht alles, je nachdem
man alles ſtellt? Genau genommen, ſind
bey allen Dingen die nemliche Ingredienzien!
Muͤt-
[425] Muͤtterlich hat die Natur fuͤr uns geſorgt.
Wahrlich! Muͤtterlich! — Die Hofnung iſt
was Geiſtiſches, was Unſichtbares. Sie iſt
Geiſt vom Geiſt. Sie iſt ſelbſt ein Geiſt, der
uns lehret, weiſe zu leben und froh zu ſterben.
Siehe! wenn der Koͤrper ſtirbt, faͤngt ihr Le-
ben in Gott an! — Man nehme dem Genuß
die Vorſtellung, die Weiſe, alles was man
gern hat, ſich weit vorzuͤglicher zu denken,
als es da iſt, allem ein poetiſches Kleid um-
zuhaͤngen! — Was iſt denn der Genus?
Er iſt nicht Aufhebens werth! — —


Dies war unſere Unterredung beym
Scheiden. Haͤtte mir der Graf nicht mit
den Worten die Hand gedruͤckt: die bewuß-
ten Nachrichten;
wahrlich ich haͤtte glau-
ben muͤſſen, es waͤren zwey Grafen! —
Was meint ihr, dem allem unerachtet, ein
weiß Federbuͤſchchen kann man ihm verzei-
hen! — Der Herr Inſpektor ſowohl, als
die Frau Inſpektorin, ſchienen uͤber unſere
letzte Unterredung ſehr erbaut. Sie ſahen
die Kronen Urnen werden, und die Urnen
wieder Kronen! Gretchen und den lieben Ih-
rigen war nichts neu! — Minchens Ver-
wandte
in Mitau, vermied der Graf ſo
ſorgfaͤltig, daß kein Zweifel uͤbrig iſt, er ſey
D d 5der
[426] der Wohlthaͤter! — Doch ein Hochgebohr-
ner lieber Mann! Nicht wahr? Das uͤbel
angebrachte weiße Federbuͤſchchen thut wenig,
oder gar nichts zur Sache. Wir Menſchen
incliniren ſo zu zwey Principien, daß es
mich nicht wundert, wenn man ein gutes
und boͤſes Weſen angenommen, die auf dem
Weltthron Sitz und Stimme haben. Frey-
lich wenn man erwaͤgt, daß eines das an-
dere herunterſtoßen muͤßte; ſo ſieht man
wohl, daß die Vernunft hiebey Anſtoͤße fin-
det, wo kann aber auch die Vernunft durch,
ohne daß ſie ſich den Kopf ſtoͤßt? — Eine
große Maſchiene, ſagt man von einem un-
gewoͤhnlich großen Menſchen! Warum Ma-
ſchiene? Koͤnnte man dieſen Ausdruck nicht
weit eher von der Vernunft brauchen, wenn
ſie gleich uͤbrigens recht fein ausſieht, und
ſich ſo rein gewaſchen, wie moͤglich? — —


Bey der rechtlichen Abſtellung der beyden
Principien, kann man freylich dem Aus-
ſpruch der Vernunft nichts entgegen ſtellen;
indeſſen haben wir doch Einen, Gott dem
Herrn untergeordneten Boͤſen, noch bis jetzt
in unſern Glaubensbuͤchern, woruͤber meine
Mutter ſingt
Fuͤr den Teufel uns bewahre! —
Extra-
[427] Extrapoſt! — In L — leutſchaͤndete ich
ein wenig mit Gretchen uͤber die Frau In-
ſpektorin, doch ſo, daß dieſe Krone und Urne
es in hoher Perſon haͤtte anhoͤren koͤnnen!
Gretchen verſicherte, den Grafen von dieſer
Seite zwar vermuthet, noch nie aber ſo in
Lebensgroͤße gekannt zu haben! — Wer
hat nicht, liebes Gretchen, ſein weißes Fe-
derbuͤſchchen? Die Frau Inſpektorin ſo gut,
wie der Graf, ſagte Gretchen, und der Herr
Inſpektor, fragte ſie? Der ſteigt zu Dach,
erwiedert’ ich. Ganz boͤſe iſt der Teufel
ſelbſt nicht! Weiß Gott, ob er ſich nicht
noch einmahl erhohlt, wie mancher Baum,
der, wenn er ganz weggehauen iſt, friſch an
der Wurzel ausſchlaͤgt —


Ich ermahnte den Inſpektor, ſeinen Va-
ter ja nicht zu nachlaͤßigen, wenn gleich Her-
mann keine Taube nach ihm ausgeſandt. Die
Frau Inſpektorin, die hiebey den Klingklang
vom Litteratus vermißte, bereicherte meine
Aufmunterung mit ein Paar ſchoͤnen Redens-
arten, womit ſie das Herz des Herrn Ge-
mahls, wie ſie ſagte, zur Sanftmuth be-
thauen
wolte. Wenn wir am ſchoͤnen
Abend,
fieng ſie an, Hand in Hand da
hinſchlendern und der Mond ſich in mei-

nen
[428]nen Thraͤnen beſpiegelt, wenn ich an ſo
manche heilige Schauer zuruͤckdenke,
die ich in — — beym Grafen empfand,
da er Abſchied nahm — wenn
— Sie
wolte fortfahren; allein Darius fiel ihr ins
Wenn. Man ſeh doch! ſagt’ er, auch du
bemuͤheſt dich, mein Kerbholz zu vergroͤſſern,
und den Major aufzuwieglen? Noch blieb
Madam in ihrer Faſſung. Leute von gewiſ-
ſem Stande, fuhr ſie fort, ſolten ſich durch
Zuthaͤtigkeit gegen ihre Verwandten heraus-
zeichnen. Ein Aſt, der den andern uͤber-
wachſen will, ſetzt ſich der Gefahr aus, daß
der Bube ihn bricht, oder der Gaͤrtner ihn
wegſchneidet! — Bey den meiſten Men-
ſchen ſind die Farben nicht recht angebracht,
roth die Augen, ſchwarz die Zaͤhne! —
(Ihre Augen und Zaͤhne waren, die Wahr-
heit zu ſagen, ohne Tadel) Jetzt ſtieg der
Herr Inſpektor der Frau Inſpektorin wuͤrk-
lich zu Dache, und Sie? die ſich bey dieſer
Gelegenheit durch Sanftmuth herauszeichnen
ſollen, uͤberwuchs ihren Gemahl ſo zuſehens,
daß man ſie nicht wieder kannte. Ein
Sonntagskleid wird am Ende ein Alltags-
kleid. Anſtatt, daß ſie ihren Mann ſanft,
wie der Zephyr die Roſen, kuͤſſen ſol-
len,
[429] len, machte ſie ein Geſchrey, als wann die
Huͤner auffliegen wollen. Wahrlich! die
Farben waren auch nicht recht angebracht,
roth die Augen, ſchwarz die Zaͤhne. Der
Inſpektor, wie behutſam er vom Dache ſtieg!
Er bewies ſich als einen wahren Darius, der
auf der Werbung Lieutnant geworden, und
war, wie er ſich ausdruͤckte, in die Pfanne
gehauen. Er verſprach, ſeinen Vater nicht
zu verlaßen, und ich bot mich als Mitler
an, welches von beyden, vorzuͤglich von der
Frau Inſpektorin, dankbarlich aufgenom-
men ward. —


Was machen Sie da, Gretchen? Ich
kann mit dem Tuche nicht zurechtkommen —
Ich hatte Gretchen die Art gewieſen, wie
ſich das ſchoͤne Geſchlecht in Rußland ein
Tuch um den Kopf bindet. Allerliebſt, ſagte
Gretchen! Ich wette, ſie geht noch alle
Morgen ſo, bis auf den heutigen Tag!


Ueber die Sprache der Frau Inſpektorin
ſagte mir Gretchen ſo was treffendes, daß
ich es durchaus meinen Leſern mittheilen
muß. Ein großer Unterſchied, wenn der
Himmel beguͤßt, und wenn es die Hand des
Gaͤrtnierers thut! Die Blumen wiſſen gut,
wo es herkommt!


Ich
[430]

Ich uͤbergab Minens Grab! Segnete die
ganze gelobte Gegend und ſchied —


Ich werd es nicht mehr wiederſehen, ſagt’
ich zu Gretchen, und zeigt’ aufs Grab, nachdem
die Ceremonie vorbey war! — Die Frau In-
ſpektorinn hatte wie ein Kind geweint, und kein
Gedanke war ihr angewandelt, ihren Rang
mit dem Rang einer Juſtizraͤthin in die
Schaale zu legen! —


Am juͤngſten Tage, ſagte Gretchen, wenn
die ganze Erde, ſetzte die Frau Inſpektorin
hinzu, nur ein Grab iſt! — Der Paſtor
umarmte mich und buͤckte ſich tief! — Der
Inſpektor ſah auf ſein lahmes Bein, als
wolt’ er ſagen, dies Dach iſt mir zu
hoch —


Der Droſſelpaſtor war nicht mehr in —
Ich wolte mein Pfand einloͤſen, und mich
ihm aufdringen; allein er war weit wegge-
zogen, und ſein Nachfolger hielt keine Lei-
chenpredigten, nach Art des vorigen! Er
war ſeiner Eſausſtelle angemeſſen, und ein
gewaltiger Droſſelfaͤnger! —


Meine Abſicht war, ſo ſchleunig als moͤg-
lich nach meiner Heimath zu gehen, das
heißt,
[431] heißt, nach Liefland auf das Gut, ſo die Kay-
ſerin mir verehret. Ich hatte meinen Rechts-
freund nach Mitau citirt, um da mit ihm
alles fein zu berichtigen. Mitau, nach Junker
Gotthards Meynung, die Hauptſtadt der
Welt, nahm ich aus, ſonſt wolt’ ich Curland
anſehen, wie eine Herberge, wo man durchs
Fenſter ſieht, ob das zerbrochene Rad nicht
wieder im Stande iſt! War denn Lot nicht
todt, Abrahams Verwandter? Und Jun-
ker Gotthard? den hatt ich fein ſaͤuberlich
gleichfals nach Mitau beſchieden, um ſich
hier zu rechter fruͤher Tageszeit einzufin-
den! — Die Graͤber der Eltern machen
keine Gegend zur gelobten. Wenn ich ge-
legnere Zeit habe, dacht’ ich! — Ihre See-
len, die in Abrahams Schoos von den Engeln
getragen ſind, werden mir immer wie gegen-
waͤrtig vor Augen ſchweben! —


Gotthardten fand ich nicht — Der
Rechtsfreund, der wohl wußte, was eine
Citation war, hatte die Tagefarth eingehal-
ten, ein junger Mann mit einer unbefange-
nen Stirn. Meine Leſer wuͤrden ihm ihre
Rechtsſachen ohne Bedenken uͤbertragen. Ich
gab ihm eine Quittung fuͤr ſich, ſeine Erben
und Erbnehmer, wegen meiner wohlbeſorgten
Erb-
[432] Erbſchaftsangelegenheit. Was es mir an-
genehm iſt, eine Quittung zu geben und eine
zu nehmen! — Das iſt der Abſchied in
Rechtsgeſchaͤften.


Eben wolt ich den — — der die rußi-
ſche Angelegenheiten in Mitau betreibt, be-
ſuchen, da er ſelbſt zu mir kam, und mir
ein Cabinetsſchreiben uͤbergab. Es enthielt
einen Auftrag, den ich oͤffentlich bekannt ma-
chen koͤnnte, wenn ich wolte. Warum ſolt
ich? Dieſer Auftrag erforderte eine Reiſe ins
Land, die ich unverzuͤglich antrat. Ich wolte
meinem lieben Gotthard von Liefland aus
Vorwuͤrfe machen und ihm die Koſten zur
Laſt legen, mich eben dort zu beſuchen, und
ſo wolt’ ich auch aus meiner Heimath mein
Verſprechen erfuͤllen, das ich der Frau In-
ſpektorin in Ruͤckſicht ihres Herrn Schwie-
gervaters gethan. Jetzt aͤnderten ſich dieſe
Vorſaͤtze, und ich hatte ſo wenig Urſach, die
Hofnung aufzugeben, Gotthardten, den al-
ten Herrn und wer weiß wen mehr zu ſpre-
chen, daß ich ihnen vielmehr entgegen rei-
ſete.


Ich hatte das Gluͤck gehabt, dem Ge-
ſchenke der Kayſerin durch den Ankauf eines
kleinen benachbarten Guts, eine ſo betraͤcht-
liche
[433] liche Verbeſſerung zuzuwenden, daß nach den
Beſchreibungen meines dortigen Geſchaͤfts-
traͤgers mich ein nicht voͤllig unangenehmer
Aufenthalt erwartete. In dieſer Ruͤckſicht
war mir der Kayſerliche Auftrag im Wege,
in vielem andern Betracht aber, unausſprech-
lich willkommen! —


Ich gieng ohne Anſtand von Mitau nach
— und ſolte nach dem mir vorgezeichneten
Reiſeplan in — Nacht halten. Meine Sa-
che war es nie, den Herrn des Guts zu uͤber-
fallen, wo die oͤffentliche Anſtalten fuͤr Dach
und Fach geſorgt hatten, ſo ſehr ſolch ein Ue-
berfall auch Sitt’ in Curland iſt. Ich ward
bey einem Amtmann eingebracht, der nach
vielen Complimenten meinen Schein anſahe
und mein Seyn abfragen wolte. Natuͤrlich
erfuhr der Ehrenmann ſo viel, als noͤthig
war. Wie ich aber ſo wenig neugierig ſeyn
konnte zu fragen, wer ſeine Hochwohlge-
bohrne Herrſchaft waͤre, weiß ich noch bis
dieſen Augenblick ſelbſt nicht. Mein Vater
war ein Fremdling in Curland und ich war
ſo wenig zu Wurſtreiſen, zu Krippenritten
angefuͤhrt, daß ich, wie er, in Curland
gleichfals nicht zu Hauſe gehoͤrte. Auch
ſelbſt jetzt, haͤtt ich, wie ich ſchon bemerkt,
E enur
[434] nur einen Durchzug gehalten, wenn nicht
der Auftrag mich auf andere Gedanken ge-
bracht. So viel nahm ſich mein lieber Herr
Amtmann die Erlaubnis gleich zu bemer-
ken, daß die einzige Baroneſſe Tochter ſeiner
Hochwohlgebohrnen Herrſchaft morgen prie-
ſterlich verlobt werden ſolte! — Da ich
daran keinen Antheil nahm, vielmehr ſehr
zufrieden war, dieſes Haus in ſeiner hoch-
zeitlichen Freude nicht geſtoͤhrt zu haben; ſo
verſchwand mein lieber Herr Amtmann,
und kam mit einem Livereybedienten zuruͤck,
der ſich noch die eben angelegten Manſchet-
ten und Halsbinde zurecht zog. Beyde
ſtimmten gegen einander ein Duett von Bitte
an, von Sr. Hochwohlgebohrnen ein Nacht-
lager anzunehmen. Dieſe Art haͤtte mich
ohne Nachfrage darauf bringen koͤnnen, wo
ich war. Soll ich es meinen Leſern noch be-
ſonders anzeigen, daß Herr v. W — hier
ſein Feur und Heerd hat? ha, dacht’ ich, nun
weiß ich, warum mein guter Gotthard ſich
nicht in Mitau eingefunden. Er hat ein lie-
bes Weib genommen, darum konnt’ er nicht
kommen, und freute mich, daß Fraͤulein
Tinchen (ſo ward ſie ſeit einiger Zeit genannt,
weil ein Lorchen in dieſer Gegend, kein gutes
Lor-
[435] Lorchen war. Lorchen v. W — hatte gar
viele Namen, die der Herr Vater ihr blos
aus Hoͤflichkeit beylegen laßen. Alſo Tin-
chen) und Junker Gotthard ein Herz und
eine Seele worden! Freylich haͤtt ich auf
dies Duett eine Antwort auf Noten ſetzen
ſollen; allein ſobald ich wußte, wo ich war,
und mir Gotthards Verlobung mit dem lie-
ben Tinchen dachte, war ich unverzuͤglich im
Hofe! Ich wußte, wo ich die Ehre hatte zu
ſeyn. Mein Herr Wirth und die lieben Sei-
nigen, wußten nur, daß ihr Gaſt ein Ma-
jor ſey! —


Ich kann ſehr kurz ſeyn, wenn ich meinen
Leſern die Geſellſchaft praͤſentire, in die ich
ſie fuͤhre.


Den Herrn v. W — und die liebenswuͤr-
dige Frau v. W — kennen ſie. Fraͤulein
Tinchen ſind wir auch im Hofe des ſeligen
Herrn von G — inne geworden. Sie hatte
einen Bruder, der Muͤcken mordete. Fraͤu-
lein Tinchen lies ſich Blut von Muͤcken ab-
ziehen und wuͤnſchte wohl zu bekommen. —
Daß der ein und dreyßigſte Julius, an wel-
chem Benedictus der erſte, der 6te roͤmiſche
Pabſt, nicht minder Ignatius Lojola, im
65 Jahr geſtorben, in dieſer Familie denk-
E e 2wuͤr-
[436] wuͤrdig waren, gehoͤrt ſo fuͤglich nicht hie-
her, und kann es, wie mich duͤnkt, meinen
Leſern ſehr gleichguͤltig ſeyn, daß der verſtor-
bene Junker Caſimir v. W — am nemlichen
ein und dreyßigſten Julius die erſten Zahn-
ſproſſen erhalten, und acht Tage drauf To-
des verblichen. Auch zweifle ich, daß meine
Leſer, die nicht ſelbſt etwa wo einen Bein-
bruch erlitten, den Umſtand ſo innigſt beher-
zigen werden, daß der Mutter Bruder des
Herrn v. W. gleichfals am ein und dreyßig-
ſten Julius ein Bein gebrochen. Wer wird
ſich aber nicht freuen, daß ich ihn daran er-
innere, wie Fraͤulein Tinchen den 18ten April
(eben heute, da ich dieſes ſchreibe,) gebohren
iſt, am Tage, da Alexander Magnus geſtor-
ben und Diogenes aus Sinope, der Alexan-
der unter den Philoſophen! —


Kurz, ehe ich im Hofe war, befragte
mich der Livreybediente, der jetzt mit Man-
ſchetten und Halsbinde voͤllig in Ordnung
war, nach einer tiefen Bitte, es nicht auf die
Rechnung ſtrafbarer Neugierde zu ſchreiben,
ob ich wuͤrklich als Major geſtanden, oder
nur meinen Abſchied als Major erhalten?
Nach der Zeit erfuhr ich, daß dieſer Umſtand,
ſo klein er auch anſcheinen doͤrfte, in der Eti-
kette
[437] kette des Herrn v. W — einen betraͤchtlichen
Unterſchied machte — Er lief mit der Ant-
wort voraus, und Herr v. W — empfieng
mich, einen Fuß uͤber die letzte Stufe zum
Hauſe geſetzt! Haͤtt’ ich es weiter gebracht,
wuͤrd’ er den andern Fuß gefaͤlligſt nachgezo-
gen haben; waͤr ich nicht wuͤrklich Major ge-
weſen, wuͤrd auch der eine Fuß dieſe Vorbeu-
gung nicht gemacht haben! —


Ich freute mich wahrlich! Den guten
Herrn v. W — ſo fern von allen Waldhoͤr-
nern zu ſehen. Man ſahe ihm eine gewiſſe
Zufriedenheit an, die nicht von ungefehr ent-
ſtanden, ſondern durch eine froͤhliche Bege-
benheit veranlaßet war. Herr v. W — war
nicht gewohnt ſich ungewoͤhnlich zu freuen! —
Heute aber hatte ſein Wohlſeliger Herr Gros-
vater ein vortrefliches Geſchenk von des Her-
zogs Durchlauchten erhalten, das noch bey
der Familie aufbewahret wurde, und in ei-
nem Portrait des Herzogs, in Gold gefaßt,
beſtand. Morgen war der frohe Tag, da
eben dieſer ſelige Herr Grosvater ruhmwuͤr-
digen Andenkens ſich mit der ſeligen Frau
Grosmutter ehelich verbunden! — So ſehr
die gute Frau v. W — die Arten und Unar-
ten ihres theuren Herrn Gemahls mit Still-
E e 3ſchwei-
[438] ſchweigen zu uͤbergehen pflegte, war ſie doch,
da ihr Herr v. W — eroͤfnete, wie ſeine
Tochter an dem nemlichen Tage verlobt wer-
den ſolte, ins alte Volkslied ausgebrochen:


Als der Grosvater die Grosmutter

nahm,

war der Grosvater der Braͤutigam! —

Woruͤber der Herr Gemahl gewiß aus der
Melodie des damahligen Freudenfeſtes ge-
kommen waͤre, wenn er nicht ſo Melodiefeſt
geweſen. Er war eigentlich nur Melo-
die! — — —


Eben wie Herr v. W — den einen Fuß
(ich laße ungeſagt, ob es der rechte oder der
linke geweſen) nach mir ausgeſetzet, war die-
ſes herzogliche in Goldgefaßte Geſchenk, wel-
ches, wie Herr v. W — ſich ausdruckte, als
eine Sonne dieſes Tages geleuchtet, unterge-
gangen, und ins Freudennaturaliencabinet,
wie Frau v. W — es auch in einer frohen
Stunde genannt, gelegt, ſo daß ich auch
dieſe Gnadengabe nicht zu Geſicht bekommen.
Wer wird, fragte Herr v. G — am Pfingſt-
tage ſingen: Vom Himmel hoch, da komm
ich her, und zu Weyhnachten: Wer recht die
Pfingſten feyren will. Der heilige Abend des
Verlobungsfeſtes war eingetreten und dem
brachte
[439] brachte Herr v. W — als Brautsvater mir
ſo ſichtbarlich entgegen, daß ich mich nicht
entbrechen konnte zu ſagen: Man koͤnnte aus
dem Untergange der heutigen Sonne ſehen,
was fuͤr ein ſchoͤner Tag uns morgen erwarte!
Seine Kleidung ganz froͤhlich und guter
Dinge. Herr v. G — ſagte dem guten Herrn
v. W — bey einem ſeiner Halbfeſte: Bru-
der! du biſt wie ein Dambrett gekleidet! Gu-
ter lieber G — heute haͤtteſt du den Braut-
vater ſehen ſollen! —


Ich ward ins Gaſtzimmer gebracht, wo
ich die Hand der Frau v. W — nicht ver-
kannte! Wie natuͤrlich ſchoͤn! — Da Herr
v. W — kein Wort an Junker Gotthard
dachte, den ich doch ſo gewiß als zwey mahl
zwey vier den Tag vor ſeiner Verlobung in —
erwarten konnte, gieng ich auch von meiner
Regel ab. Zwar ſtieg ich nicht, wie der Herr
Inſpektor Darius zu Dach; allein es war
mir nie moͤglich auch in gutem Sinn mich
unter die Baͤume im Garten zu verſtecken,
und mir Schuͤrzen von Feigenblaͤttern zuzu-
ſchneiden? Jetzt vergalt ich Gleiches mit
Gleichem, that ſo zuruͤckhaltend, wie Herr
v. W — es war. So gern ich alſo vom gu-
ten Junker Gotthard und vom Fraͤulein Tin-
E e 4chen
[440] chen ein lebendiges Wort geſprochen; ſo
zwang ich mich doch, dem Herrn v. W —
gefaͤlligſt nachzugeben, der mich unterrichtete,
warum ohne weiße Struͤmpfe kein Gallakleid
ſtuͤnde? Das that freylich mehr noth, als
von meinem guten Gotthard reden zu hoͤren.
Beym weißen Strumpf, ſagte Herr v. W —
iſt der Fuß dicker, beym ſchwarzen ſchrumpft
er vor ihren ſichtlichen Augen ein. So wie
beym langen Bart, fuhr er fort, das Auge
immer truͤbe und klein iſt, dagegen wie heiter,
wenn der Bart abgenommen worden? Er
ſtand bey dem Wort: abnehmen, lang an,
ohnfehlbar um dem Barte nicht zu viel zu
thun! Abnehmen iſt ein ſo wohlgewaͤhltes
Wort, daß kein Koͤniglicher Bart dagegen
etwas ſagen koͤnnte! — Daß mich Herr v.
W — nicht kannte, war das groͤßte Feigen-
blatt, ſo ich bey meinem Wiedervergeltungs-
recht anwendbar fand! — Von einem
Manne, der nie gegenwaͤrtig iſt, ſondern
hin oder zuruͤckdenkt, wie kann man erwar-
ten, daß er den Retter ſeiner Tochter, dem
er bey der Abreiſe mit ſteifem Arm zu umar-
men die Ehre erwies, da er vor ihm ſtand,
kennen ſolte? Ich fand ihn in allem wieder,
das grisgraͤmiſche Geſicht nicht ausgenom-
men,
[441] men, auf das ich mich ſehr lebhaft beſann.
Daß Sie nur ja nicht glauben, mein Herr
Major! daß ich taͤglich in weißen Struͤm-
pfen gehe! — Alle Einerleyheit beſchwert,
Wechſel erleichtert, ſagte mir ein gewiſſer
Paſtor — (mein Vater) ein gelehrter Mann,
der aber wie die meiſten Gelehrten zu wenig
Welt hatte, und wer hat ſie hier zu Lande?
Man hat hier Curland; allein nicht Welt! —


Wenn immer Tag waͤre und immer Nacht,
ſo wolt ich lieber kein Menſch ſeyn! — Freude
und Traurigkeit! Sommer und Winter das
iſt das menſchliche Leben! Heute Koͤnig,
morgen todt! — Wer geht denn immer
mit einem Hemde, damit ich mich dieſes
Worts mit ihrer Erlaubnis bediene? Wer
wechſelt denn nicht im Sommer taͤglich!
Zwar, fuhr er fort, und zog ſich eine Vier-
telelle laͤnger, als vorhin, liegt freylich et-
was Erhabenes, etwas Großes in einem ge-
wiſſen Einerley! allein das iſt nicht fuͤr jeder-
mann! So iſt Gott der Herr immer der-
ſelbe! und was meynen der Herr Major von
der ſchwarzen Farbe? Sie iſt roͤmiſch Kay-
ſerlich! — Man nenne mir aber nach ihr
eine einzige Farbe, die Stich haͤlt! — Got-
tes Altagszimmer, wie oft veraͤndert es
E e 5ſich!
[442] ſich! — ich meyne dieſe Erde! All Au-
genblick andere Mobilien! Freylich in ſei-
nem Hauptſchloſſe, im Himmel, wird ſich alles
nach ihm richten — —


Der Herr Major werden verzeihen, fuhr
Herr v. W — fort, daß ich Sie mit meinen
Lieblingsideen unterhalte! — — —


Nach einigen ausgewechſelten Compli-
menten, wobey ich die morgende Tagesfreude
des Herrn v. W — ſich lichterloh vermehren
ſah, konnt ich mich nicht laͤnger halten nach
dem Braͤutigam der Fraͤulein Tochter zu fra-
gen und ein Stuͤck von meiner Feigenblatt-
ſchuͤrze einzureiſſen. Wiſſen Sie ihn hier,
erwiederte der Brautsvater? Ich ſolte den-
ken, antwortete ich. Sie kennen unſere Cur-
laͤnder noch nicht, wie ich ſehe. Die Herren
wiſſen von keinem heiligen Abend und von
keinem Faſtnachttag. Brautnacht iſt die Lo-
ſung! — In dieſer Beſchreibung verkannt’
ich meinen guten Gotthard ſo wenig, daß
ich ihn vielmehr augendeutlich vor mir ſah,
obgleich er noch nicht da war — Ich hatte
gar keine Neigung, die Braut zu ſehen, und
welch eine Mannsperſon ſieht eine Braut
gern? Herr v. W — und ich waren aus der
wohldecorirten Gaſtſtube in ein Zimmer ge-
gan-
[443] gangen, wo er mir eine allerliebſte Ausſicht
zeigen wolte, und da kamen Mutter und
Tochter, die uns noch im andern Zimmer
glaubten. Man ſah es ihnen an, daß ſie
uns hier nicht vermutheten. Tinchen in ei-
nem weißen leichten Gewand, wo ſie beynah
wie ein Leibnitzſches Koͤrperchen ausſah! —
haͤtt ichs nicht gewußt, ich haͤtte ſie nicht
wieder gekannt! — Sie mich aber auf den
erſten Blick! Die Mutter war faſt unver-
aͤndert! Sie aber fand mich ſehr veraͤndert,
wie ſie ſagte. Wer hatte nun Recht? Tin-
chen und ich ſahen einander, und die Faſſung
ſchien uns beyde im Stich zu laßen. Ob-
gleich noch mehr da waren, kam es uns doch
ſo vor, als waͤren wir unter vier Augen.
Im Augenblick verlohren wir den Faden!
Ich fand ihn zwar wieder in der andern Se-
kunde; Tinchen aber ſchien ihn nicht faſſen
zu koͤnnen — Was fehlt der Braut, ſagte
Herr v. W — Etwa der Braͤutigam? kennſt
du denn nicht deinen Gaſt? Tinchens
Retter, erwiederte Frau v. W
— Herr Ma-
jor! Herr v. W — O des frohen Tages! ſagte
der guͤtige Wirth, und bald darauf: Sind ſie
denn wuͤrklich Major? Wuͤrklich Herr v. W.
Da ich ſchon aus dem Rufe in Ruͤckſicht meines
Auf-
[444] Auftrags bekannt worden und hiernaͤchſt dem
Herolde meine Wuͤrklichkeit verſichert; ſo war
die Frage Fremde. Nebenher, was meynen
meine Leſer, ziemlich unhoͤflich! Ich be-
gruͤßte die gute Frau v. W — mit ſo vieler
Achtung, als Empfindung. Nahm Tinchen
bey der Hand, die ſie ſehr nachlaͤßig wegge-
worfen, und wolt ihr zum heutigen heili-
gen Abend und morgenden Verlobungstage
Gluͤck wuͤnſchen, da ich bemerkte, daß Mut-
ter und Tochter einen geheimen Kummer hat-
ten, der tiefer lag, als Herr v. W — ihn kurz
zuvor anzugeben fuͤr gut fand! — War
doch Tinchen faſt ſo auſſer ſich, als wie ſie ins
Waßer gefallen und als Louischen: Rett!
Rett!
rief. O wie gern haͤtt ich das arme
Maͤdchen wieder aus dieſem Waßer der An-
fechtung gezogen, wenn es in meinen Kraͤf-
ten geweſen waͤre! — Endlich erhohlte ſie
ſich wieder, und Herr v. W — konnte nicht
vor dem Bitten um Vergebung Luft und
Kraft ſchoͤpfen. Fuͤrs erſte, daß er mich ver-
kannt, ſodann daß ſeine Frau ſo unvorberei-
tet erſchien, hienaͤchſt daß die Braut ſich ſo
wie ins Waßer gefallen, aufgefuͤhrt. An
die Frage: ob ich denn auch wuͤrklich Major
waͤre dacht’ er nicht, obgleich er billig dieſer
Frage
[445] Frage wegen, die erſte Bitte um Vergebung
anbringen ſollen. Was haſt denn du getrof-
fen? fragte mich Junker Gotthard, da ich
mit meiner Jagdprobe ſo ſchlecht in ſeinen
Augen beſtand. Dies edle Geſchoͤpf, war
meine Antwort, die ein Blick auf Tinchen
geleitete. Dieſe unſchuldige Frag und Ant-
wort fiel mir jetzt ſo ſehr auf, daß ich nahe
war, laut dran zu denken! Nicht wahr?
Sie hatten Tinchen nicht gekannt, Herr
Major! fragte mich die gute Mutter? Nein,
erwiedert’ ich ſehr aufrichtig. Und woran
wuͤrd es gelegen haben an Bild, oder Rah-
men? An beyden, ſagt ich, gnaͤdige Frau.
Tinchen war nicht gegenwaͤrtig! — Herr
v. W — hatte ſich auf eine ganz kurze Zeit
beurlaubt, und die liebe [Frau] v. W — ent-
deckte mir, daß Tinchen ſchon von lang her
etwas in ihrem Herzen getragen, in ihrem
Gewiſſen, fuͤgte ſie hinzu, wahrlich nicht.
Sie iſt ſo, ſo unſchuldig, als wie ſie ins
Waßer fiel! wie ſie ihnen den Abſchiedskuß
gab! Tinchen, fuhr ſie fort, konnte anfaͤng-
lich nicht aufhoͤren, ihr Lob zu verkuͤndigen,
und die Geſchichte mit Minen! wie viel Ehre
haben ſie damit eingelegt! — Seit einiger
Zeit hat Tinchen ſie und alles vergeſſen, mich
duͤnkt,
[446] duͤnkt, auch ſich ſelbſt! — Sie iſt ſtill! —
tief — was weis ich, wie ſie iſt, was weiß
ich, was ſie iſt! —


Natuͤrlich!


nicht ganz! —


Sie liebt ihre Mutter, die ſie verlaͤßt —


Die ſie aber im Auge behaͤlt, wenn gleich
nicht an der Hand!


Gnaͤdigſte! die Hand iſt bey einer zaͤrt-
lichen Liebe die Hauptſache! Unter Mutter
und Tochter unentbehrlich! —


Sie kann es mit ſo manchem Lebens-
vorfall aufnehmen; ihre Entfernung iſts
nicht —


Ihr Braͤutigam iſt rauh; allein bieder
und gut!


Faſt ſolt ichs auch glauben! —


Gewiß! Gnaͤdige! Gewiß! und ſolch ein
Mann iſt behaͤglicher, als einer der vorerſt
kriecht, und nachher ſein Weib verlaͤßt, wie
es hier zu Lande zu meiner Zeit Sitte war —
— und noch iſt —


Deſto gluͤcklicher dieſe Wahl!


Nicht Raupe, nicht Schmetterling iſt
fuͤr ein Herz wie Tinchen — Gnaͤdige
Frau! — ich kenn es —


Kaum
[447]

Kaum in aller ſeiner Feinheit! Man
weiß, wie junge Leute ſind; allein er haͤtte
wenigſtens bedenken ſollen, was Tinchen zu
ertragen vermag, und was ihr zu ſchwer
iſt! — Jugendliebe — —


Nichts als Jugend-Helden und Eulenſpie-
gelſtreiche! — Trinchen und Amalichen
thun nichts zur Sache! Jagd iſt die Lo-
ſung! —


Da kam der Herr v. W — der da an-
fieng, wo ers gelaſſen hatte, mit einer Bitte
um Vergebung! — Er nahm Antheil an
unſerer Unterredung und obgleich er wieder
ſeinen Eidam allerdings ſo manche Bedenk-
lichkeit hatte; ſo war er doch der Meynung,
daß Guͤte des Herzens und Biederſinn uͤber
eine gewiſſe Zaͤrtlichkeit giengen, woran in
Curland blos darum ſo viel Miswachs waͤre,
weil die Hoͤflichkeit nicht betrieben wuͤrde,
die zu allen Dingen nuͤtze ſey! — Gluͤcks
genug, wenn man heut zu Tage einen Mann
ohne Schulden findet, der zu ſeiner Zeit ein
Mahl zu Ehren anrichten kann, einen Mann,
ohn Eigenſinn, der Arten begreifen will, ei-
nen Mann, der Verſtand hat und Arten zu
faſſen verſteht! — Wieder eine Bitte um
Vergebung, und warum? weil ich ſie ſo lange
von
[448] von meinem kuͤnftigen Schwiegerſohn unter-
halten habe! „Er iſt mein Freund!


Deſto beſſer! ſagte Frau v. W — Sie
bleiben doch morgen? fuͤgte ſie hinzu


Ich bleibe —


Herr v. W — kleidete ſein Geſuch, daß
ich morgen noch bleiben moͤchte, in ein ſo fei-
nes Compliment, daß es zugleich fuͤr ſeine
Gemahlin und mich Weiſung enthielt, weil
wir die Sache ſo kurz und gut berichtiget! —
Man hats, ſagt’ er, wiewohl bey einer an-
dern Gelegenheit, fuͤr ein Geld! — War-
um ſolte man nicht ein wenig Gewuͤrz dran
legen!


Es hebt,


Macht aber Hitze!


nachdem das Gewuͤrz iſt! —


Wir giengen zu Tiſche und Tinchen war
ſehr heiter. Vater und Mutter ſchienen aus-
nehmend mit ihr zufrieden! Was mir vor-
zuͤglich auffiel, war die guͤtige Art, mit der
ſie ſich gegen mich nahm! — Sie erinnerte
ſich an die geringſte Kleinigkeit, die zu der
Zeit, da ich nach Koͤnigsberg gieng, vorge-
fallen war. Herr v. W — hatte Muͤhe,
uns von einander zu bringen, und wenn wir
anſtanden muͤndlich zu ſprechen, waren unſere
Augen
[449] Augen in einer immerwaͤhrenden Unterhal-
tung; ich rettete Tinchen, und ſie dankte
mir! — Tinchen richtete den Sallat an,
und ich nahm mir die Erlaubnis, ſie an das
examen rigoroſum zu erinnern, daß ſie
in — — uͤberſtand. Mir kam es vor, daß
des ſtrengſten Augeninnerſtes und Haͤndege-
wichts unerachtet, womit Tinchen ſonſt be-
gabt war, dieſesmahl die Sallatingredien-
zien nicht nach richtigen Maas und Gewicht
gemiſcht wurden. Zu viel Salz! — zu we-
nig Eßig! —


Die Deutſchen Herr Major! hielten auf
ehrliche Geburt; alle ihre hoͤhere Titel laufen
auf Gebohren heraus! —


Ehrenveſt, Hochedel und Wohledel,
Geſtreng,
ſind noch mehr Originaldeutſche
Titel, als das liebe gebohren?


Erlauben der Herr Major, ſagte Herr v.
W —. Der Franzos ſagt Monſieur, wie gehts
aber mit dem gebohren? Ich glaube, in
Frankreich kennt ſelten der Sohn den Va-
ter! —


Sie haben etwas, die Franzoſen, in der
Sprache und in allem, was man ihnen nicht
nehmen kann; nur das gebohren nicht! —
Wie dreiſt iſt ein Franzoſe bey aller ſeiner
F fSprach-
[450] Sprachfeinheit! — Ein dummdreiſter Mund
und ein liebliches Wort! — Man ſeh nur,
wie die Franzoſen ihren Mesdames begeg-
nen! Sie verſtehen, in Feinheit grob zu
ſeyn. Sie gehen, als wenn ſie einen guten
Freund auf der Schulter balancirten, oder
wie der letzte Taſchenſpieler, der eine Pfeife
auf der Naſe tanzen lies. Zur Hoͤflichkeit,
zur Feſtlichkeit, gehoͤrt auch ein Koͤrper, der
etwas auf ſich nehmen kann. Ein gewißer
Wuchs iſt ſchon an ſich feſtlich, und wenn
ſich ein Zwerg buͤckt, iſt das hoͤflich? —
Da faͤllt mir immer der Bericht ein, den
ein General dem verſtorbenen Koͤnige von
Preuſſen uͤber Paris erſtattete: Alles Aus-
ſchuß! Allergnaͤdigſter Herr! Kein Hofcava-
lier, der ſieben mißt! — Was ich den
Franzoſen nicht goͤnne, iſt das Wort Servante,
Das deutſche Dienerin iſt nicht hin nicht her,
und Magd! Pfuy uͤbers Kopftuch! Wir
hielten uͤber dieſe Materie ein Geſpraͤch, an
dem ich, wie der Inhalt es zeigen wird, we-
nig Antheil nahm. Ich ſah lieber Tinchen
im Waßer, als daß ich das Feſt der Deutſchen
wiederhohlte.


Der Franzoſe iſt auswendig gelernt, der
Deutſche nimmt ſich, wie er ſich findet; der
erſte
[451] erſte Blick iſt immer der Beſte, das ſieht man
beym Billiard.


Was geben die Franzoſen, wenn ſie einen
zu Gaſt noͤthigen? Die letztbeklatſchte Come-
die zu leſen, oder die heutige Zeitung; eine
Limonade oben ein! — Sie ſind geſelliger,
als die Deutſchen; allein ihre Geſelligkeit
ſchrenkt ſich aufs Reden ein. Iſts Wunder,
daß in ihren Worten mehr Geſchmack, als
bey uns iſt, wenns aber auf Thaten an-
kommt! heraus, ihr Herren! wenn ihr
Herz habt! Mir gefaͤlt jener Deutſche, der,
wie alle ſeine Landsleute, nie allein trank.
Wenn dieſer Biedermann keinen hatte, mit
dem er Glaͤſer anſtoſſen konnte, nahm er ſein
Stammbuch und leerte Seite vor Seite aufs
Wohl ſeiner Freunde ſein Glas! — Daß
es dir wohlbekomme, ehrlicher Deutſcher!


Der Englaͤnder vergraͤbt alles in ſich;
zuweilen graͤbt ers auf, um dieſem oder je-
nem Todten den Ring vom Finger zu ziehen.
Man ſieht aber faſt immer noch am Ringe
ein Stuͤck vom Finger! —


Noch eine ſehr feine Bemerkung, die
Herr v. W — machte, ihm zum immerwaͤh-
renden Andenken.


F f 2Man
[452]

Man ſagt: mein Roͤschen! Niemand
mein Nelkchen, meine Lilie! meine Hyacin-
the! Da ſieht man doch, daß jedes Ding
ſein Hochwohl und Hochedelgebohren hat,
wenn man es nur nimmt, wie es zu nehmen
iſt! —


Moͤchten Sie doch, liebes Tinchen, gluͤck-
lich in ihrer Ehe ſeyn! Wer ſie nicht auf
Haͤnden traͤgt, verdient keine Hand zu ha-
ben! — Junker Gotthard hat zwey Haͤn-
de. —


Wir ſtanden von der Tafel auf. Ich
ſprach mit Tinchen; allein ohne daß ſie und
ich an ihren morgenden Verlobungstag
dachten! —


Wie kam das? Um vieles haͤtt ich ſie nicht
daran erinnern koͤnnen!


Herr v. W — hatte die Gewohnheit,
alle Abend mit ſeinen Leuten eine Betſtunde
zu halten. Es war, wie ers nannte, ein
ſchuldiger Gottesdienſt! Die Frau v. W —
ſagte mir dieſe Gewohnheit mit einer ſo herz-
lichen Art, daß ich dieſe Abendſtunde um vie-
les nicht verlieren wolte. Herr v. W —
legt es, da die Betglocke geſchlagen, ſo ge-
fliſſentlich an, mich eben ſo gern herauszu-
complimentiren, als ich bleiben wolte. End-
lich
[453] lich kam es zum Wortwechſel. Warum wol-
len Sie ſich incommodiren? fieng er an, als
ob das Gebet eine Beſchwerde waͤre! als ob
es den Herrn v. W — angienge. Ich lies
nicht nach und fand, daß Herr v. W —
durchs Gebet mit dem lieben Gott compli-
mentirte, und offenbar bewies, daß er das
Geſpraͤch nicht angehoͤrt, welches zwiſchen
meinem Vater und dem Herrn v. G — bey
der Ankunft in — dem Hauſe des Herrn
v. G — vorfiel.


Wir giengen in das Betzimmer, wo auch,
wenn das Wetter zu ſchlecht war, um in die
Kirche zu fahren, eine Predigt geleſen ward,
und Tinchen nahm mit einer Unſchuld, die
uͤber alles gieng, ein in ſchwarz Corduan ge-
bundenes Buch, und las ein Gebet mit einer
ſolchen Herzlichkeit, daß es mir durch die
Seele gieng! — War es mir doch, als
wenn ſie Gott ſaͤhe! Meine in Andacht trun-
kene Seele, fand in Tinchens Herzen, Mund
und Haͤnden das ganze Ideal einer erhoͤhrten
Beterin!
Du weiſt, was uns bevorſteht, und
wir wiſſen, daß du unſer Vater
biſt! Vater, in deine Haͤnde befeh-
len wir unſern Geiſt! — Dein

F f 3Geiſt,
[454]Geiſt, lieber Vater, giebt Zeugnis
unſerm Geiſt, daß wir deine Rin-
der ſind! — Geiſter ſind ſo all zu-
ſammen verwandt, und unſere Lei-
ber haſt du durch deinen lieben
Sohn an Kindesſtatt angenommen.
Ganz ſind wir dein!


Noch eine Stelle! —
Lehre du uns mit deiner Welt zu-
frieden ſeyn, die du gemacht haſt
ſehr gut. Laß uns nie vergeſſen,
daß es an uns liegt, wenn ſie uns
nicht ſehr gut iſt! Wenn ſie uns
nicht ſehr gut vorkommt! — Dein
Wille geſchehe!

Hier brach ſich ein Thraͤnchen, das Tine ſo
lange zuruͤckgehalten, hervor! Man hoͤrt’ es
an ihrer Stimme! Sehen konnt’ es keiner.
So weit lies Tinchen es nicht! — Wie ruͤh-
rend! — Jedes von uns hatt’ eine Thraͤn’
im Auge. Herr v. W — allein ausgenom-
men, der nur nach vorgeſchriebenen Noten
weinte!


Dein Wille geſchehe! Hundertmahl
moͤcht ich dieſe Worte herſetzen, vielleicht
traͤf Eine meiner Leſerinnen Tinchens Ton! —
Dein Wille geſchehe!


Herr
[455]

Herr v. G — der aͤltere, ſoll geſagt ha-
ben, den Willen hat ſich der liebe Gott vor-
behalten, vom Verſtand hat er uns ein gutes
Stuͤck abgebrochen, und als er das ſagte,
brach er ſich Brod ab, welches er, wie wir
wiſſen, ungern ſchnitt! —


Mein Vater iſt dagegen der unvorgreifli-
chen Meynung geweſen, daß dem Menſchen
viel Willen anheim geſtellt waͤre, den Ver-
ſtand aber haͤtte ſich Gott der Herr vorbe-
halten.


Endlich haben ſie ſich auf den Satz verei-
nigt. daß der Verſtand eine herrliche Gabe
Gottes ſey, wenn nur nicht der Unverſtand
ſeine Lobrede uͤbernehme! —


Liebhaber, haſt du je deine Geliebte beten
gehoͤrt? und geſehen? Lieber Gotthard! wie
haͤtteſt du hier alles, alles vergeſſen, was
nicht deine Tine iſt, wenn du ſie geſehen und
gehoͤrt haͤtteſt? Wer verdenkt dem Gottfrie-
den ſeine Liebe zur in Gott andaͤchtigen
Jungfer?


Jener Arme, der einen reichen Mann um
Geld anſprach, erwiederte, da ihn der Rei-
che fragte, gegen was fuͤr Sicherheit? —
Ingroßation auf den Himmel! — Der
Reiche gab ihm nichts, weil auf dieſe Guͤter
F f 4ſchon
[456] ſchon zu viel intabulirt waͤre, wie der Reiche
glaubte —


Das Gebet, Freunde! iſt wahrlich eine
gerichtliche Verſchreibung auf die unſichtbare
Welt! —


Dein Wille geſchehe, ſagte Tinchen und
die letzten Worte? —


Dann liegen wir in unſerm Grabe
und ſchlafen unbekuͤmmert den ſuͤßen
Schlaf des Todes, und ein Bote des
Herrn geht mit einem: Geſegnet
ſeyſt du dem Herrn voruͤber
, bis
wir eingehen zum ewigen himmliſchen
Reiche, das bereitet iſt denen, die Gott
lieben!


Wir ſchieden ſehr ſtill von einander! —
Die verſammlete Gemeine naͤherte ſich (al-
les in gewiſſen Tempos) zu den Knieen des
Herrn v. W —; die Frau v. W — wuͤnſchte
blos eine gute Nacht. Das Fraͤulein Tin-
chen ſahen die Leute ſo an, als dachten ſie,
ſchoͤn gebetet! — Niemand ruͤhrte ſie an!
als waͤre ſie ein Engel Gottes, den niemand
taſten kann! —


Was meynen der Herr Major, ſagte
Herr v. W — zu mir, das Fort e piano
und pianißimo weiß meine Tochter zu hal-
ten.
[457] ten. O des Erzcomplimentiſten! mit ſeinem
Fort e piano und pianißimo


Ich konnte die Nacht kein Auge ſchluͤßen.
War es Wunder?


Tinchen, wie ihre Mutter des andern
Tages verſicherte, hatte eine noch aͤrgere
Nacht gehabt! Die Nacht vor der Verlo-
bung, iſt ſie nicht wuͤrklich, wie meine Mut-
ter bey Gelegenheit ihres Romans, den ſie
mit meinem Vater geſpielt, ſie nennet, eine
arme Suͤndernacht? —
in welcher Nacht ich lag ſo hart,
mit Finſternis umfangen —


Ich weis nicht, was mir war! Schla-
fen konnt ich nicht, gewacht hab ich auch
nicht! —


Der Verlobungstag erſchien, an wel-
chem der Herr Grosvater des Herrn v. W —
mit der Frau Grosmutter ſich ehelich ver-
bunden! und ward mit einer Feierlichkeit ein-
gelaͤutet, die ihres gleichen nicht hatte. Daß
Herr v. W — mit einem dicken Fuß wegen
der friſch angelegten weißſeidenen Struͤmpfe
paradirte, bedarf keiner Anmerkung.


Ich ſahe zeitig aus meinem Fenſter, das
ich oͤfnete. Wahrlich! ich betete, ſo voll war
ich! Bey aufgeſtoßenem Fenſter verſteht ſich.
F f 5Ich
[458] Ich weiß nicht, ob meinen Leſern noch das
Vater unſer beywohnt, da mein Vater und
ich im Hofe des Herrn v. G — ausgeſchla-
fen hatten. Wir ſahen zum Fenſter heraus,
und da ich Abſchied in dieſem ſo ſeligen Hofe
von ihm nahm; (es war das letztemal, daß
ich meinen Vater ſahe!) ſtieß Er ein Fenſter
mit einer Heftigkeit auf, die mir noch auf-
faͤlt. Mein Vater! mein Vater! Wa-
gen Iſraels und ſeine Reuter!


Iſt ſie es? Sie iſts! Ich ſahe durch
mein Fenſter Tinen an einem Teiche mit ei-
nem Maͤdchen herumgehen, und immer in
den Teich ſehen! Solte Sie, dacht ich, an
dem Tage, da ihr Herr Aeltervater mit der
Frau Aeltermutter ſich ehelich verbunden und
auch ſie Gotthardten auf ewig die Hand zu
geben in dem Herrn entſchloſſen iſt, ſolte ſie
da das Andenken des Waßerfalls feyerlich
begehen! und gleich unterdruͤckt’ ich dieſen
ſtolzen Gedanken! — Wir thaten, als ſaͤ-
hen wir uns beyde nicht, und doch ſahen wir
uns beyde! — und wuͤnſchten es, daß wir
uns ſaͤhen! —


Sie verſchwand! —


Eine feyerliche Stille im ganzen Hauſe!
Mehr als ein Pianißimo!


Bald
[459]

Bald haͤtt ich zu bemerken vergeſſen, daß
Herr v. W — mir des Abends das Geleite
gegeben und des Morgens fruͤh nach meinem
Wohlſeyn ſich erkundigen laßen! — Fruͤh-
ſtuͤck ward jedem in ſein Zimmer gebracht,
und es kann zehn geweſen ſeyn, da Herr v.
W — zu mir kam in vollem Staat und mir
die Viſite gab. Es ward mir auf den Er-
mel geheftet, daß ich ſie ihm wiedergeben
muͤßte, das that ich, und nun war bis zum
Verlobungsmittag alles nach Ortsgebrauch
berichtiget! —


Man gab mir zu verſtehen, ob ich nicht
Luſt und Liebe haͤtte das Verlobungszimmer
anzuſehen! Ich hatte nicht Luſt und Liebe! —
Da ich indeſſen merkte, daß dieſe Anregung
hoͤheres Orts ſich herſchrieb gieng ich, und
fand ein Zimmer, wo ein Sopha ſtand, car-
moiſinroth beſchlagen, druͤber Grosvater
und Grosmutter ſo unaufgeraͤumt gemahlt,
daß es mir vorkam, als waͤre dies gute
Paar unwillig, daß man ſie aus dem Schlafe
ſtoͤhre! —


Man oͤfnete zwey Fluͤgelthuͤren und ich
fand eine ſolche allerliebſte Uebereinkunft, daß
es ſchien, als freuten ſich die Zimmer, daß
ſie einander ſaͤhen. Man ſah es recht, daß
eins
[460] eins ins andre kam! Wenn eine Sayte an-
geſchlagen wird, toͤnt die andere, falls die
Inſtrumente gleich geſtimmt ſind. Ueber-
all fand ich die liebe, liebe Frau v. W —.


Schwerlich! dacht ich, wird es Junker
Gotthard ſo empfinden, als ich! —


Es war alles bereitet, und niemand
fehlte, als der Braͤutigam. Freylich bey
der Verlobung ein wichtiges Stuͤck! Da
raſſelte ein Wagen! und da lief alles, was
nur von Domeſtiken laufen konnte, auf den
Poſten. Herr v. W — war nicht Willens
ſeines Schwiegerſohns halber die letzte Stuffe
der Treppe zu beſchreiten, um den Ankoͤmm-
ling entgegen zu nehmen; denn vorerſt war
er der Schwiegerſohn, ſodann verſtand er
nicht, was heiliger Abend war, und ſelbſt
an ſeinem Ehrentage hatt’ er viel zu lange auf
ſich warten laßen.


Wo ſind denn die Damens ſchrie Herr
v. W — der in ſeine Rolle geſehen hatte.
Sie hatten ſich noch nicht ſehen laßen, auſſer
daß ich Tinchen am Waßer erblickt! —


So erſchrack Louiſe nicht uͤber den unzei-
tigen Flintenſchuß, als ich, da ich hoͤrte Tin-
chen
[461]chen waͤre wie todt — Ich hoͤrte das
wie nicht und doch hat ein dergleichen wie
eine große Bedeutung! — Herr v. W —
wolte nicht aus der Rolle weichen, und das
war ihm in den Jahren nicht zu verdenken!
Er hatte zu viel zu behalten, um ſich voͤllig
auf ſein Gedaͤchtnis verlaßen zu koͤnnen! —
Todt! Herr v. W — Todt? Was hilft
der Braͤutigam, wenn die Braut fehlt?

Dieſer Gedanke muß ihm, wie ich vermuthe,
einen Stoß gegeben haben! Er war wuͤrk-
lich aus dem Concept, und gieng zu ſeiner
Tochter, die, wie es bald darauf hies, immer
ſchlechter wuͤrde
. Soll denn, ſagte Herr v.
W —, da er aus Tinens Zimmer kam, aus
dem Tag der Freude ein Tag des Traurens
werden? Alles lief durcheinander! Die
Mutter hoͤrt’ ich rufen, meine Tochter!
meine Tochter! ſo klaͤglich, als die Retts
und die Hiers von Louiſen, ſchallten ſie
mir, und o! was iſt in ſolchen Faͤllen der
Wohlſtand? Das ſchrecklichſte, was ich
weiß! Wird Gotthard, der eben gekommen
es nicht ſo machen, wie ehemahls, und eher
die Flinte abzuſchießen bemuͤht ſeyn, als ſei-
ner Kranken die Hand zu reichen.


Nach
[462]

Nach einem langwierigen unverſtaͤndli-
chen Miſchmaſch, kam alles an Ort und
Stelle. Der Herr Braͤutigam hatte ſich ent-
ſchuldigen laßen. Sein Fuͤrſprecher war
Junker Peter, der Muͤckentodtdruͤcker, Tin-
chens Bruder, der mit feurigen Roß und
Wagen angekommen war. Man hoͤrt es den
Pferden an, daß ſie bey einem Braͤutigam
im Dienſt ſind, ſagte Herr v. W — und
that ſehr zufrieden, daß der Herr Schwie-
gerſohn in Ruͤckſicht der Pferde die Etikette
als Braͤutigam nicht verfehlet; was aber
Ihn ſelbſt betraf, oh! das war ihm zu uner-
traͤglich, als daß er uͤber dieſe curſche Denk-
art ſeinen Unwillen nicht aͤuſſern ſollen. Die
Stimme iſt Jacobs, die Haͤnde Eſaus, ſagte
der gute Herr v. W — ohne zu bedenken,
daß er dem Jacob, den er mit den kecken
Braͤutigams-Pferden verglich, eben keine
ſonderliche Ehre erwies. Wie doch alles in
der Welt durch Mißverſtaͤndniſſe geſchlaͤngelt
wird! Ich weiß nicht, ob meine Leſer ſich
noch an den ſonſt unbetraͤchtlichen Umſtand
des vermeintlichen Todes des D. Safts erin-
nern, welche meine betruͤbte Suͤndenfalls-
Krankheit im vierzehnten Jahre veranlaßte
und was fuͤr Kreutzwege giengen nicht aus
dieſer
[463] dieſer meiner Krankheit aus, bis ſie all zu-
ſammen in den zweyten Diskant meines Va-
ters zuſammentrafen:


Gott eilet mit den Seinen,

laͤßt ſie nicht lange weinen!

Du wirſt dich ſo vergeſſen, ſagte Frau v.
W — zu ihrem bedruckten Manne, der wahr-
lich ſeine Jacobsſtimme eingebuͤßt hatte, daß
du deinen Gaſt aus dem Geſicht zu verlieren
im Begrif ſteheſt! — Gleich ein Platzregen
von Bitten um Vergebung, und doch hinter
dieſen, wieder Gloßen uͤber Curland und
Semgallen
, die mein Vater nicht unhoͤfli-
cher machen koͤnnen! Freylich war es arg,
daß die Sonne am Grosvaͤterlichen Verlo-
bungstage ſo unverrichteter Arbeit unterge-
hen ſolte, und ohne daß ſie ein Enkelpaar be-
gruͤßt hatte! — Ein Troſt fiel mir ein, der
noch am heilſamſten anſchlug! Wer Thor-
heit mit Klugheit verbeſſern will, gebe ja das
ganze Geſchaͤft’ auf. Thorheit muß Thorheit
heilen! Gleich und gleich! — Grosvaͤterlicher
Hochzeitstag, ſagen ſie? Ja doch! Hoch-
zeitstag, erwiederte Herr v. W — der, un-
ter uns geſagt, ſein unhoͤfliches Doch beſpa-
ren koͤnnen, deſſen ich mich nicht gewaͤrtig
war. Indeſſen gieng es nicht mich, ſondern
ſeine
[464] ſeine unbedachtſame Voreltern an, die zwar
den Hochzeits- nicht aber den Verlobungstag
in die Archive von — gelegt und in die Fa-
milienakten verzeichnet hatten, welches Herr
v. W — bey dieſer Gelegenheit ſehr [empfind-]
lich ruͤgte! — Nun nahm ich mir die Er-
laubnis zu bemerken: Ihr Herr Vater hat
auch einen Hochzeitstag gehabt? Freylich,
erwiederte Herr v. W — allein wie ſchoͤn
waͤr alles zu ſtehen gekommen, wenn
an dieſem Tage
— das Beylager, grif ich
ein, und an jenem die Verlobung gehalten
waͤre? Darf ich aber ihren ſelbſt eigenen
Hochzeitstag, weil doch die Verlobungstage
in der Familie in etwas vernachlaͤßiget zu
ſeyn ſcheinen, wenigſtens nicht Ahnenreich
ſind, darf ich — Herr v. W — merkte auf
und begrif, wo ich hinaus wolte. Er ſchien
ſich zu faſſen, obſchon er nicht umhin konnte,
dem Worte Beylager Einen Brandmark zu
geben, und, wie er ſagte, mich hoͤchlich zu
bitten, zu Ehre der Deutſchen dies Wort
bis aufs Blut zu verfolgen! — welches ich
ihm, um ſeinen patriotiſchen Abſichten nicht
den Weg zu vertreten, verſprach! —


Tinchen genas, und die Familie verſam-
melte ſich zu einem zwar etwas ſpaͤtern, allein
deſto
[465] deſto eintraͤglichererem Mittagsmahl, aus
welchem indeſſen zwey Schuͤſſeln, nach An-
ordnung des Herrn v. W —, ungegeſſen ab-
getragen werden mußten, weil, wie er ſagte,
ſie origetenus Verlobungsgerichte waͤren.
Die eine war, duͤnkt mich, Kaͤlbermilch.
Herr v. W —, um nicht die Regeln der Le-
bensart zu uͤbertreten (er verzieh mir den
harten Beylagerausdruck) verbiß ſeine Bit-
terkeit. Die Frauenzimmer ſchienen ſo zu-
frieden, daß ſelbſt von Tinchens Krankheit
nicht viel geſprochen wurde! Ein Waßerfall,
ſagte ſie, da ich mich darnach erkundigte.
Wenn man einmal aufm Trocknem iſt, was
iſt mehr? So ſchien ſie mir auch wuͤrklich! —
Friſch, wie nach dem kalten Bade, und die
Mutter? Auch ſie brauchte ſo wenig, wie
Louischen, meinen Hut voll Waßer. Die
Zufriedenheit ihrer ſo liebenswuͤrdigen Toch-
ter hatte ſie hinreichend getroͤſtet! —


Von Tinchens Bruder, vom Muͤcken-
helden
, bin ich noch die Beſchreibung ſchul-
dig. Dieſer junge Mann war auf eine ſo
hoͤfliche Art von ſeinem Herrn Vater erzogen,
daß nichts druͤber gieng. Wen er lieb hat,
den zuͤchtigt er, ſcheint mir noch immer die
Hauptregel der Erziehung zu ſeyn. Ich
G gweiß,
[466] weiß, daß man es heut zu Tage dazu anlegt,
durch gute Worte gute Plaͤtze zu ſuchen.
Wenns nur ohne Nagelbohr gehen wird!


Meine liebe ſelige Mutter ſchrieb meine
Krankheit im vierzehnten Jahre auf die Rech-
nung des betruͤbten Suͤndenfalls — —


Extrapoſt! Die Feſtlichkeit und Hoͤf-
lichkeit, welche unſer theurer Herr v. W —
ſo bruͤderlich zu vereinigen wußte, floß, die
reine Wahrheit zu ſagen, aus der Quelle des
Stolzes! — Hierin folgte der Herr Sohn
dem Vater buchſtaͤblich, und da es ihm nicht
verborgen bleiben konnte, daß eben die Hoͤf-
lichkeit
das Wort Melchiſedech war, wel-
ches ſeinem Herrn Vater rings umher, in
einem ſolchen Lande, wie Curland, uͤbel
ausgelegt ward; ſo machte er ſich noch eine
gewiſſe Heucheley eigen, die weit unartiger
hervorſchoß, als wenn ſie blos aus der Wur-
zel der Feſt- und Hoͤflichkeit entſproſſen
waͤre! — In ſeines Vaters Hauſe war er
hoͤflich und feſtlich, und zwar gegen ſeinen
Vater, ungezogen curſch in aller Ruͤckſicht,
ſobald er ins Freye kam. Alles von dieſer
Verfahrungsart konnte dem Vater unmoͤglich
verborgen bleiben; indeſſen ſchrieb er dies
flugs
[467] flugs der großen Kunſt zu, ſich in die Zeit
zu ſchicken
. Ueberhaupt glaubte der Herr
Vater einen wohleingeſchlagenen Sohn in
Junker Petern vorzeigen zu koͤnnen, und
hatte nie etwas dagegen, wenn es dem jun-
gen Herrn einfiel, ſeinen Vergnuͤgungen
Thuͤr und Thor zu oͤfnen. Die gute Mut-
ter, die kein doppeltes Geſicht ausſtehen
konnte, weil das Geſicht das Patent des
Herzens, des Gemuͤths iſt, hoͤrte nicht auf
einzulenken; allein da war der Herr Sohn,
ſo wie es die Zeit mitbrachte, oft hoͤflich wie
gegen ſeinen Vater, oft rauh und curſch, wie
mit ſeinen Bruͤdern!


Was ich einen ſich immer gleichen Cha-
rakter liebe! Und wahrlich, zu dieſem Gleich-
laut den Menſchen zu bringen, kann nicht
ſchwer halten, wenn man ihn von der Bahn
der Ausdruͤcke, der Worte, zu Handlungen,
zu Thaten, von dem Wege der Empfindun-
gen auf den Weg der Grundſaͤtze und der
Regeln leitet! Wer kann das zu offt ſagen!
Wahrlich! es waͤre gut, den Menſchen von
allen Neigungen abzuhalten, die ſich nicht
aus der Naturſchule herſchreiben! — Man
laße das Kind, wie Herr v. G — der Se-
lige, der Meynung war, eſſen, wenn ihm
G g 2hun-
[468] hungert, man laß es zu Bette gehen, wenn
ihm ſchlaͤfert! — Man uͤberlaß es ſich in
ſolchen Dingen ſo ſehr, daß man jeden Gaͤn-
gelband verabſcheue! Es hat gute Wege.
Wenn der Finger verbrannt iſt, wird man
das Licht ſcheuen, und wenn ſich das Kind
den Kopf geſtoßen, wird es dem Fall aus-
weichen! — Die Erziehung geht nicht die-
ſen, ſondern einen ganz andern Weg! Man
ſehe doch, wie Gott den Menſchen zu er-
ziehen ſich bemuͤht, da der Menſch ſich in
die Unnatur ſtuͤrzte und in ſeinem Blute
lag. —


Neigungen, Angewohnheiten ſchraͤnken die
Macht der vernuͤnftigen Bewegungsgruͤnde,
der Grundſaͤtze ein, und uͤberhaupt, was ma-
chet uns ungluͤcklich in der Welt? Wahrlich
nicht der Mangel der Sache. Der Menſch kann
ſich ohn alles behelfen. Selbſt ohne die Hof-
nungen der andern Welt kann man gutes thun.
Der Appetit, Freunde! die Neigung zu et-
was, das entweder gar nicht da iſt, oder
ſchwer erhalten werden kann, macht uns un-
gluͤcklich! — Menſch, du biſt ein gebohr-
ner Diogenes! Lerne dich ſelbſt kennen!


Ob und in wie weit der Muͤckenheld
dieſe Lektion verdient habe, die ich ihm ge-
leſen,
[469] leſen, ſey meinen Leſern zu beurtheilen uͤber-
laßen!


Jetzt zur Geſchichte, und damit ich mei-
nen Leſern doppelt einbringe, was ſie bey
dieſer Nutzanwendung eingebuͤßt, ſo ſey mir
gleich mit der Anzeige anzufangen erlaubt,
daß Junker Gotthard nicht Tinens Braͤu-
tigam war. Wie das moͤglich iſt? und wie
ich denn auf Trinchen und Amalchen in mei-
ner Unterredung mit der lieben Frau v. W —
fallen koͤnnen? Wohlgeſprochen! aber ich
frage wieder, wie man glauben koͤnnen, daß
D. Saft todt ſey? und ob nicht Jedes der
Meynung ſeyn muͤßen, Junker Gotthard
waͤre der Braͤutigam? Wer anderer Mey-
nung iſt, blaͤttre das grisgraͤmiſche Geſicht
des Herrn v. W — auf, da er die heiſſeſten
Wuͤnſche ſeinem Schwiegerſohne bey der aca-
demiſchen Wanderſchaft auf den Weg gab,
daß der große Gott ihn auf ſeiner Reiſe be-
gleiten, ſeine Studia zu ſeiner Ehre und des
Vaterlandes Nutzen ſegnen, und ihn zu ſei-
ner Zeit in die Arme ſeiner kleinen Braut ge-
ſund zuruͤckbringen wolle! — und das war
nur ein Theil, der kleinſte, von ſeiner Schwie-
gervaterempfindung —


G g 3Jun-
[470]

Junker Gotthard wars nicht? Warum
nicht? Daran wird weniger liegen, als an
der Frage: wer es denn ſonſt geweſen? Ich
will verſuchen, beyde Antworten unter einen
Hut zu bringen.


Junker Gotthard hatte in Goͤttingen
und Koͤnigsberg ſo wenig Aufmunterung zur
heiligen Ehe gefunden, daß ihm vielmehr
ſeine Trine je laͤnger je ſchmucker vorkam,
und was ihm den Reſt gab, kann wohl die
Art geweſen ſeyn, wie Tine v. W. ihn bey
ſeiner erſten Aufwartung begegnete! — Herr
v. W — mit ofnen Armen. Frau v. W —
reicht’ ihm die Hand! Tinchen nahm ſich da-
bey ſo, als wenn ſie nur zum Zuſehen da waͤ-
ren! — Erbarmung, dies Mittelſtuͤck der
Liebe, wenn Erbarmung rechter Art iſt, ſieht
aufs Ungluͤck, nicht auf die Perſon, und die
Liebe? ſagt ihr, die ihr geliebt habt, hat
nicht jede Liebe einen Goͤtzen, den ſie anbe-
tet? Idol, oder Ideal, iſt hier nicht weit
auseinander. Alexander bringt das Bild
ſeiner Mine auf die Welt, und Mine das
Bild des Alexanders. Die Sinnen bringen
nur auf etwas, das ſchon da iſt. Sie de-
cken nur den Tiſch, um die fertigen Schuͤſ-
ſeln aufzutragen, und noch jetzt, wenn gleich
die
[471] die Eheangelegenheiten ihre ſieben magere
Jahre angetreten, giebts doch noch Adams-
und Evas-Ehen! — —


Junker Gotthard empfand, daß er ge-
kommen, geſehen und nicht geſiegt hatte,
und gieng gerechtfertigt in ſein Haus! — Er
ſahe ein, daß hier keine Ausſicht fuͤr ihn waͤre,
wenn er mit gutem Gewiſſen verfahren ſolte,
und es koſtete ihm wenig Muͤhe umzuſat-
teln, um aus ſeiner Sprache ein Wort an-
zubringen. Ich glaube, daß er nie mit dem
ernſten Gedanken zu Tinchen gekommen,
ſeine alte Rechte geltend zu machen, und
da er fand, daß das Waßer im Teiche
Betesda ſichtbarlich nicht fuͤr ihn, ſondern
fuͤr einen andern bewegt ward, hofte er,
nach der Liebe, daß, wenn ihm ja nach der
Eheklauſe eine Sehnſucht anwandeln ſolte,
ihm ſein Kaͤmmerchen nicht fehl ſchlagen
wuͤrde! —


Tinchen und Gotthard fanden bey dieſem
Auftrit vollkommen ihre Rechnung; nur Tin-
chens Vater und Mutter waren nicht ſonder-
lich erbaut, welches Gotthards mindeſter
Kummer war — Ein Gluͤck fuͤr Junker
Gotthardten war es, (denn ſonſt wuͤrd ihn
Herr v. W — mit Hoͤflichkeit verfolgt ha-
G g 4ben)
[472] ben) daß er bey dieſer Gelegenheit alle Re-
geln der Hoͤflichkeit gegen den Herrn Schwie-
gervater uͤbertreten. Kein Wunder, daß er
dieſem Ehrenmann, der mit ſeiner Tochter
nicht verlegen war, in Harniſch jagte, und
daß die [fehlgeſchlagene] Hofnung dem Herrn
v. W — keine Minute verdarb! — Faſt
haͤtte man glauben ſollen, Tinchen und Gott-
hard haͤtten ſich aus bloßer Liebe verlaſſen,
ſo ſchien es, da ſie ſich einander los waren.
Tinchen legte indeſſen ein Jahr nach dem
andern zuruͤck, und was noch mehr iſt, ſo
war ſie ſo ſehr in ſich gekehrt, daß die Eltern
ihrethalben fuͤrchteten. Es kann ſich auch
wohl ein D. Saft mit einem Heyrathsrecipe
obenein gemeldet haben, worauf um ſo mehr
Ruͤckſicht genommen ward, als ein Lor-
chen
, wie ſchon erwaͤhnt worden, in der
Gegend ſich ſo herabgeſetzt, daß ſo gar Tin-
chen nicht mehr Lorchen genannt wurde. In
dieſer Lage ward Tinchen von einem reichen
Junker geſehen, der nicht aus dem Lande ge-
kommen war. Aug auf, oder Beutel, ſagte
Herr v. W —, und intreßirte ſich faſt groͤb-
lich fuͤr dieſe Heyrath. Herr v. W — be-
wies, daß wenn gleich die Hoͤflichkeit zu allen
Dingen nuͤtze waͤre, daß Geld ihr nur etwas
weni-
[473] weniges nachgebe, und da er Feſtlichkeit
mit der Hoͤflichkeit paarte, wie ſie denn
ſich gegen einander wuͤrklich verhalten, wie
Mann und Weib, ſo war es ſehr natuͤrlich,
daß er das Vermoͤgen des reichen Junkers
in eine der Sache gemaͤße Erwaͤgung zog.
Tinchens Freyer unterſtuͤtzte den Muͤckenhel-
den mit Vermoͤgen zu allerley Vergnuͤgun-
gen, und dieſer ihn mit Empfehlungen im vaͤ-
terlichen Hauſe. So hoben ſich die Bruͤche,
und ſelbſt die gute Frau v. W — war, wie
wir gehoͤrt haben, eben nicht wider dieſe
Heyrath —


Tinchen allein ſahe die Sache von einer
ganz andern Seite an. Sie wolte nicht frem-
des Feuer auf einen Altar bringen, der ei-
nem unbekannten Liebhaber geweihet war,
und eben in dieſer Ruͤckſicht fielen ihr tauſend
Dinge an ihrem Liebhaber auf, die andere
Leute nicht bemerkten. Selbſt ihre feine Mut-
ter nicht. Die Liebe entſchuldigt, die Ab-
neigung tadelt alles — und wahrlich Tin-
chen hatte nicht Urſache, bey dieſer Tadel-
ſucht ſich anzuſtrengen. Tinchens Werber,
Herr v. K —, damit ich den erſten Buch-
ſtaben gebe, hatte ſich nicht blos auf eine
ſchmucke Trine eingeſchraͤnkt, ſondern auf
G g 5jedem
[474] jedem ſeiner Doͤrfer und Vorwerker war
eine dergleichen ſchmucke Perſon, die er be-
gnadigte, (ein lettiſcher Ausdruck, den ich
nur ſehr unkraͤftig verdolmetſchet habe.) Der
Muͤckenheld war in Abſicht dreyer dieſer
Trinchens in Compagnie getreten, wo aller
Schade auf Herrn v. K —, der Vortheil
aber zu wenigſtens gleichen Theilen gieng. Ju-
riſtiſch Loͤwengeſellſchaft genannt. v. K —
war ein Verſchwender, und geizig — er
liebte und haßte auf eine ſo uncivile, ungeſit-
tete Art, daß freylich bey der Verbindung
mit Tinchen keine ſehr gluͤckliche Ehe abzuſe-
hen war. — Was ſolche Leute ekelhaft ſind!
— Ich trinke darum ungern Punſch, weil
er, wie Herr v. E — und Herr v. K —
ſich widerſpricht. Indeſſen ward Tinchen
endlich eingeſchlaͤfert, im Schlafe aufge-
ſprengt, und da hatte ſie den Kopf nach
vorn genickt, wie alle gute Leute, wenn ſie
ſchlafen, nach vorn den Kopf zu neigen pfle-
gen. Dies Nicken hieß beym Herrn v. W —
um ſo mehr Ja, als, nach ſeinen Regeln
der Hoͤflichkeit, er keinem Maͤdchen in ein
deutliches Ja! auszubrechen geſtattete; hoͤch-
ſtens konnte ſie es verlieren. Eben darum
haͤtte er das Trauungsformular, trotz den
zwey-
[475] zweygliedrigen Segen gern reformirt, wenn
es in ſeiner Macht geweſen waͤre. Die gute
Mutter empfand deſto mehr, daß Kopfnicken
und deutlich Ja ſagen verſchieden waͤren.
Sie ſah ihre Tochter ſo oft ganz Gottergeben
vor dem Altar dienen, wo freylich nur das
Feſt des unbekannten Liebhabers gefeyert
wurde; indeſſen iſt die Liebe der Einbildung
die gefaͤhrlichſte! —


Kind! fing ſie an, und Tinchen erwie-
derte: Mutter!


Liebes Kind!


Liebe Mutter!


einzige Tochter!


einzige Mutter! —


Das war alles, was verhandelt ward.
Du haſt gewolt! Ja, liebe Mutter! Un-
gern? Ja, liebe Mutter! Gott wird hel-
fen! Tinchen blickte gen Himmel! — Ihre
Mutter fuͤhrte ſie auf ſo manche Hoͤflichkeits-
ſcene, durch welche ſie ſich durchdrengen muͤſ-
ſen, auf die Abneigung, die ſie fuͤr alles,
was ſich biegt, gehabt und noch haͤtte, und
dann unterbrach dieſe Lieben der Muͤcken-
held
, oder ſein Herr Vater, und Tine em-
pfand die Unannehmlichkeit in ihrem ganzen
Umfange, von dieſem des Herrn v. K —
halber
[476] halber geliebkoſet, und von jenem aufgefor-
dert zu werden! — Alle Zudringlichkeit iſt,
bey Gemuͤthern, die ſelbſt zu wiſſen glauben,
was zu thun iſt, unausſtehlich, es kleide ſich
dieſe Zudringlichkeit ſchwarz oder weiß —


Herr v. K — der wohl wußte, daß Geld
bey ihm die Loſung ſey, bot ſeiner Braut auf
eine recht curſche Art ein Geſchenk in baarem
Geld’ an, um nach ihrem weltberuͤhmten Ge-
ſchmack, wie er ſagte, ſelbſt davon Gebrauch
zu machen. Wer kann das ſo, wie Sie,
ſetzte der galante Herr v. K — dazu! —
Welt bekannt, erwiederte Tinchen — kehrte
den rothen Netzbeutel zuruͤck, und fuͤgte auf
eine Art hinzu: wir ſind beyde nicht aus
Curland geweſen
, daß Herr v. K — es ſelbſt
verſtand! Das muß doch eine ſehr deutliche
Art geweſen ſeyn! — Herr v. W —, der hoͤfli-
che Herr v. W — wußte ſelbſt dieſe Geſchenk-
manier zu Gunſten des Herrn v. K — auszule-
gen, obgleich Geſchenke in Gelde ſo was wider-
ſtehliches an ſich haben, daß kein guter edler
Menſch ſie mit ofnen Augen nehmen kann. Ge-
ſchenke machen die Weiſen blind! — Herr v.
W — hatte dem Junker v. K — den Hoch-
zeitstag ſeines Herrn Großvaters verziehen;
wie ſolt er ihm ein Geſchenk in Geld uͤbel
deuten?
[477] deuten? Geld war des Junkers v. K —
Loſung.


Geſchenke in Gelde, heißen Geſchenke in
Originali, fieng Herr v. W — an. Praͤ-
ſente, in Sachen beſtehend, heißen Geſchenke
in authentiſcher Kopie. Alle Originale ſind
hart, oft widerlich, geſtrichen und mit Faͤhn-
chens verſehen. Eine vidimirte Copie wird
gemeinhin ſchoͤn geſchrieben, faͤllt weicher
ins Auge. Original iſt indeſſen Original und
bleibt Original.


Tinchen war endlich wuͤrklich entſchloſſen,
Ja in den Augen von ganz Curland und
Semgallen zu nicken, bis ſie den Tag vor
meiner Ankunft ſolche Beklemmungen erhielt,
daß ihre Mutter ihrenthalben beſorgt war.
Ihr Vater hielt es fuͤr ein Capitel aus der
Weiberpolitik, und klatſchte, daß ſie ihre
Rolle ſo ſchoͤn ſpielte; — Auf Schauſpiele
haͤtte ſich doch Herr v. W — beſſer verſte-
hen ſollen! —


Auf dieſe Rechnung gehoͤrten die herzli-
chen Worte: Dein Wille geſchehe! und
das Pianiſſimo beym Schluß:
dann liegen wir in unſerm Grabe,
und ſchlafen unbekuͤmmert den ſuͤßen
Schlaf des Todes, und ein Bote des

Herrn
[478]Herrn geht mit einem: Geſegnet
ſeyſt du dem Herrn
, voruͤber
! —


Meine Ankunft war ihr ſo etwas wunder-
bares, daß ſie voͤllig aus dem Zuſammen-
hang kam. Sie extemporirte. Wer denkt
beym Extemporiren viel an das, was vor-
hergeht, und was nachfolgt? Wer glaubt
nicht Wunder wenn er liebt, und bald haͤtt’
ich gefragt, wo geſchehen in dieſen wunder-
geitzigen Zeiten anders Wunder, als in der
Liebe? Im alten Bunde verſandte Gott En-
gel; jetzt macht er gute Menſchen zu Commiſ-
ſarien! Kommen ſie mir doch wie ein Engel-
ſagt’ ich zu meinem J — — s, da er mich
zum letztenmahl heimſuchte, und wahrlich!
du warſt mir ein Engel, guter J — — s!


Da die Braͤutigams Pferde anſprengten,
fiel Tinchen in Ohnmacht — warum? als
ob man bey einer Ohnmacht warum fragen
kann; Des Morgens, wie wir alle wiſ-
ſen, war ſie heil und geſund ans Waßer ge-
gangen —


Die Braͤutgams Pferde brachten nur den
Junker Peter, unbepackt mit Entſchuldigun-
gen, die freylich wenn gleich ſie noch ſo ſchwer
geweſen, an einem ſolchen Tage unbefriedi-
gend geblieben waͤren. War es denn nicht
der
[479] der Verlobungstag des Herrn Großvaters
Hochwohlgebohrnen? Konnte denn aber Pe-
ter nicht wenigſtens vorgeben, Herr v. K —
waͤre ſterbend krank worden? und dem D.
Saft einen Brief an der Braut uͤbertragen?
Junker Peter ſchien nicht undeutlich zu ver-
ſtehen zu geben, daß der Ton beym Praͤſent
in Originali viel zu dieſer Fuͤhrung beygetra-
gen. Den folgenden Morgen kam ein Brief
vom Herrn v. K —, worin er alle Unter-
handlungen unterbrach. Herr v. W. — gab
mir in der erſten Hitze dieſen Brief zu leſen.
Gewiß wuͤrd’ ers nicht gethan haben, waͤr
es nicht in der erſten Hitze geweſen. Herr
v. K — hatte ſeinem Freunde keinen unhoͤf-
lichen Blick von ſeinem Vater zuziehen wol-
len, der aber mit 300 Thaler Alb. heraus-
ruͤcken ſolte! —


Man bat mich zu bleiben, ich blieb.
Der Ton ſchien uͤberhaupt in dieſem Hauſe
zu Hauſe zu gehoͤren. Ueberhaupt gehoͤrt
er zum Weiberdepartement. Faſt wuͤrd’ ich
baupten, daß alle Declamation Weiberwerk
ſey. —


Lieschen war bis jetzt Tinchens Ver-
traute geblieben, und da ich mich ihrer ſo
lebhaft und oft erinnerte, ward ſie herbey
geholt.
[480] geholt. Sie war an einen Amtmann verhey-
rathet. Sie hatte keine Kinder. — Frau
Louischen kam und freute ſich ſo, mich zu
ſehen, daß nichts druͤber gieng. Sie fand,
daß ich alt worden, und daß mein Arm
ſchwerlich ein Fraͤulein Lorchen mehr aus dem
Waſſer hohlen wuͤrde. Ein Fraͤulein Tin-
chen noch weniger, ſetzte ſie hinzu. Frau v.
W — und ihre Tochter fanden der keines —
Die Frau Amtmannin beſuchte mich oͤfters
auf meinem Zimmer, wenn ich allein war,
und unſer einziger Text war Tinchen. In
der Nutzanwendung kam Herr v. K — vor,
und da ward er behandelt, wie man die
Suͤnder in der Nutzanwendung zu behandeln
pflegt —


Noch vier ſchoͤne Tage lebte ich in — und
da ſich meine Commißion nicht laͤnger ver-
ſchieben lies, gieng ich mit dem Verſprechen
ab, nach geendigtem Geſchaͤfte wieder zu
kommen! —


Beym Abſchiede wieder der Ton! Wie
ich den Ton liebe, und alles Kopfnicken
haſſe, wenn der Kopf gleich nach vorn faͤlt! —
Nur beym Tode nicht. Herr v. G — ſtarb
nach vorn! Nur beym Schlaf nicht; denn
er iſt des Todes leiblicher Bruder.


Jun-
[481]

Junker Peter hatte ſich gegen mich ziem-
lich fremd genommen, und ich bezahlte ihn
mit gleicher Muͤnze; indeſſen muß ihm der
Abſchied, den Tine und ich nahmen aufge-
fallen ſeyn, ohne daß eben der Ton der frey-
lich ein zu gutherziges Kapitel fuͤr ihn war,
dazu etwas beygetragen haben kann. Wenn?
fragte Tine; o! wie anders als Nathanael,
da er ſein Gretchen ſehen wolte — Auch
die liebe Mutter dieſes edlen Geſchoͤpfs,
fragte: wenn? Herr v. W — konnte ſich
nicht aus dem Strudel herausarbeiten. Oft
kam er in die Complimente, die er ſeinem
Schwiegerſohne zugedacht hatte, und die er
fuͤr nichts und wieder nichts gelernt — und
nun verlernen mußte! — Wie er denn ab-
brach, wenn er auf einmal merkte, es ſey ein
Wort des Schwiegervaters zum Sohne! —
Wer ſieht nicht gern ſchwimmen, wenn ein
Kunſtverſtaͤndiger im Waßer iſt?


Die Frau Amtmaͤnnin konnte nicht um-
hin, mich weit dringender, als das ganze
Haus, zu bitten, wiederzukommen. Aber,
liebe Frau Amtmannin, mein Arm iſt nicht
mehr in den Umſtaͤnden, Lorchen aus dem
Waßer zu ziehen! Kommen Sie doch, Herr
Major! —


H hOb
[482]

Ob Herr v. K — durch ſeine abſchlaͤgige
Antwort die Abſicht gehabt, Tinchen weich-
herziger zu machen, das Praͤſent in Origi-
nali anzunehmen, um das Laͤmmchen anzu-
gewoͤhnen aus ſeiner Hand zu eſſen, oder ob
er ihren Vater zu einer andern Eheverſchrei-
bung auffordern wollen, oder ob er ſich, was
weiß ich, in der Gegend, wo man ihn mit
Tinchens Sproͤdigkeit aufzuziehen anfieng,
wieder in Credit zu bringen gedacht, oder ob
er es ſeinem Herrn Schwager blos zu Gunſten
gethan, um ſeinen Herrn Vater, bey dieſer
erwuͤnſchten Angelegenheit des Hauſes, ſo
geſchmeidig im Geben zu machen, als der
Herr Sohn es im Reden war, das ſind kitz-
liche Fragen, die ich meiner Aeltermutter
uͤberlaſſen wuͤrde, wenn ſie noch am Leben
waͤre.


Junker Peter, ohne einen Auftrag ſelbſt
vom Vater zu haben, reiſete von ſelbſt wie-
der, wo er gekommen, und erzaͤhlte dem
Herrn v. K — was er geſehen und gehoͤret,
und was er zu glauben Urſache haͤtte; erhielt
auch ſogleich von ihm Macht und Gewalt,
ſobald ich wieder eintraͤfe, mich zur Rede zu
ſtellen, wie ich zu der Dreiſtigkeit kaͤme, in
einem
[483] einem Hauſe mich aufzudrengen, wo er Re-
gent waͤre! —


Mein politiſcher Auftrag gieng ſo von
ſtatten, als noch kein Geſchaͤfte mir je von
ſtatten gegangen! den Tuͤrkenkrieg nicht aus-
genommen! Ich kam, fand Tinen ſo, wie
ich ſie gelaßen; ihre Mutter desgleichen. Ihr
Vater hatte etwas Ruͤckhaltendes angenom-
men, obgleich er nicht verfehlte, in Abſicht
der Treppe mich ſo zu empfangen, als zu-
vor!


Warum Nebenumſtaͤnde? da ein einzi-
ger alles entſcheidet. Bis jetzt hatte ich an
Tiene nicht anders als an ein liebes gutes
Maͤdchen gedacht. Den Abend, da ich ruͤck-
kam, gieng ich weiter. Was war es? was
mich weiter brachte. Ein Ungefehr? O ihr
Kleinglaͤubigen! Ich ehre jedes Ungefehr,
als goͤttlichen Fingerzeug. Es iſt etwas,
das eine unſichtbare im Stillen wuͤrkende
Hand thut, und was ſie thut, iſt wohlge-
than! Was iſts denn hier? Ich kam in
mein Zimmer und da wars, wie eine Stim-
me, die zu mir ſprach Mine! Schnell lief
ich zu ihren Papieren und fand die Stelle! —
Gros geſchrieben:
H h 2Nun
[484]Nun meine feyerlichſte Bitte, mein Be-
ſchwur! Ich bitte dich vor Gott und
nach Gott! Ich beſchwoͤre dich bey allem,
was heilig iſt, im Himmel und auf Erden,
und nach dieſem hohen Schwur bey mei-
nem letzten, letzten Seufzer, bey meinem
letzten Todesſtoß, bey meinem letzten war-
men Hauch — dich zu ſeiner Zeit ehelich
zu verbinden. Gott ſegne dein Weib und
die Kinder, die er dir ſchenken wird! —

Wie mir dabey war, weiß Gott! ich konnte
kein Wort mehr leſen. Schnell legt ich mich
nieder, um keine Zeit zu verſaͤumen. Als
ob ich nicht ſchon zum Voraus wußte, ich
wuͤrde nach dieſer Stelle keine Stunde ſchla-
fen. Ich ſchlief wuͤrklich keine Stunde, und
doch hatte ich ausgeſchlafen! Mein Ent-
ſchluß war, alles dem Ungefehr zu uͤberlaſ-
ſen, mich nicht um Tinen zu bewerben; allein
ihrer Hand auch nicht auszuweichen. Daß
mir Tine ſchon zuvor nicht gleichguͤltig gewe-
ſen, laͤugn’ ich nicht, mich aber ſo gegen ſie
zu nehmen, war das Werk dieſes Abends,
welches der in mir wuͤrkte, der Wollen und
Vollbringen giebt, nach ſeinem Wohlge-
fallen.


Ein
[][]
[figure]
[485]

Ein Traum? wird der gelehrte Kunſt-
richter fragen, und wenn er bitter iſt, bemer-
ken, daß dies ein Hauptſtuͤck eines regelmaͤſ-
ſigen Trauerſpiels ſey! Mein Vater ſagte
an einem dunklen Tage: wenn ja Arzeneyen
genommen werden ſollen, iſts gleich viel,
was fuͤr welche? auf die Art, wie? Auf den
Glauben kommts an, Solch einen Glauben
konnte man wohl hinzufuͤgen, hab ich in
Iſrael nicht funden —


Mehr als einmal hat mich eine derglei-
chen Stimme eines Unſichtbaren aufgefordert.
Noch nie hat es mich gereuet, dieſen Seelen-
Appetit befriediget zu haben.


Wie ich Tinen und das Haus ihrer El-
tern gefunden, wiſſen meine Leſer ſchon, und
eben dieſe Aufnahme machte mich empfaͤng-
lich, das Wort Mine zu faſſen! — Ich
gieng mit Tinen im Garten, und eben an der
Stelle, wo ſie am Waßer herumirrte, fragte
ich ſie, was ſie zum Wechſel zwiſchen dem
Herrn v. K — und mir ſagen wuͤrde? Daß
es kein Wechſel iſt
. Wie ſo? Fra-
gen Sie das
? Mit einer Art, daß ich
alles wußte. Ich nahm ihre Hand, und ſie
legte ihr Geſicht auf meine linke Schulter.
Wir weinten beyde! —


H h 3Gott
[486]

Gott iſt die Liebe! Iſt es denn Schande
zu lieben? Alles, was nur dieſen ſuͤßen Na-
men fuͤhrt und mit ihm in Verbindung iſt,
ſtammt von ihm, iſt ſeines Geſchlechts! Gott
iſt die Liebe! —


„Jenes korinthiſche Maͤdchen zog Stri-
„che um den Schatten ihres ſchlafenden Lieb-
„habers, in denen ſie ſein Bild ſahe! Ihre
„Einbildung fuͤllte mit einem wohlgeruͤttel-
„ten und uͤberflieſſenden Maas dieſen Schat-
„tenumriß aus! — So gieng es mir mit ih-
„nen, nur daß meine Einbildungskraft auch
„alle die Striche zog“ — Liebe Tine! —


Was man auch immer von Silhouetten
ſagen mag! Perſonen, die man kennt und
liebt, ſolte man nicht mahlen! Da hat die
Einbildung zu viel Muße! Bey einer Sil-
houette arbeitet ſie mit, ſie fuͤllt die Striche
aus, bringt Colorit an — Um unſere Lie-
ben der geehrten Nachwelt zuruͤckzulaſſen, iſt
ein Gemaͤhlde noͤthig!


Wir waren ſo eins am Waßer, daß alles
Er und Sie, Sie und Er war. Warum
wir uns nicht dutzten, weis ich bis dieſen
Augenblick nicht —


Ihre Mutter?


weiß alles —


Gott-
[487]

Gottlob!


An Herrn v. W — dacht ich nicht —


Ich ſprach die gute Mutter, die keinen
Schatten von Bedenklichkeit fand; allein ſie
wuͤnſchte, daß ich mich an ihren Mann, oder,
wie ſie ſagte, an Herrn v. W — wenden
moͤchte! —


Ich thats, und merkte, daß er ſich herz-
lich freute, eine Gelegenheit zu haben, von
ſeiner Complimenten-Sammlung Gebrauch
zu machen. Nachdem ich aber alles ſichtete,
fand ſich unendlich mehr Spreu als Koͤrner,
und was noch Korn war, lief auf die wohl-
hergebrachte Landesmanier heraus, daß man
ein Vierteljahr ſeiner Geliebten die Aufwar-
tung machen, und nach ſo mancherley Bey-
urteln endlich die Definitivſentenz abwarten
muͤße. Hiezu kam, daß Herr v. K — Doch!
warum ſoll ich all die Umwege bemerken?
In dieſen Schattenriß kann jeder die Stri-
che machen, ohne den Herrn v. K — gekannt
zu haben. Da darf man nur den Menſchen
kennen, und dies Zutrauen hab ich zur Zeit-
welt, und weit, weit zuverſichtlicher zur
Nachwelt —


Wer will nicht das haben, wonach er ei-
nen andern ringen ſieht? Wer haͤtte nicht
H h 4ein
[488] ein Landgut, ein Haus gern, wenn es eben
verkauft iſt? Geht! auf die erſte beſte Auk-
tion, um euch hievon zu uͤberzeugen —


Das ſchlimſte bey dem gegenwaͤrtigen
Fall war, daß Herr v. W — feſt entſchloſ-
ſen war, wenn Herr v. K — nur irgend
ernſtlich wolte, auch zu wollen. Seine Mey-
nung war es zu machen, wie meine Gros-
mutter, da mein Vater nach meiner Mutter
gieng. Herr v. W — wolte ſeine Tochter
auf keine Weiſe einem Major geben, deſſen
Vater Paſtor in Curland geweſen; er mochte
nun in ſeiner Jugend Alexander geſpielt ha-
ben, oder nicht! — Man muß, ſagte Herr
v. W —, freylich nicht Fleiſch und Blut
Maͤnnern von Verdienſt vorziehen; allein
Ehre und Geburt ſind die Wurzeln alles Gu-
tes! O des verfehlten Wurzelmanns! Wie
kam dieſer Blaͤtterliebhaber ſelbſt aufs Wort
Wurzel, das nur dem Herrn v. G — zu-
ſtand, den ich bey dieſer Gelegenheit ver-
mißte. Ich hatte freylich mein Auskommen;
allein Junker v. K — war reich —


Das korinthiſche Maͤdchen, Tine, waͤre
nun wohl bereit geweſen, mit ihrem Liebling
zu ziehen, wie und wo ers verlangt; allein
wer wolte das Licht mit dem Finger ausloͤ-
ſchen,
[489] ſchen, wenn Putzſcheeren vorhanden? wer
wolt’ es ausblaſen und Geſtank zuruͤcklaßen?
ſagte Herr v. W — bey einer andern Gele-
genheit, und hatte nicht unrecht, obgleich,
wenn es eine reine ſchoͤne Wachskerze iſt, der
angebliche Geſtank Geruch heiſſen koͤnnte.
Wer weiß uͤberhaupt wie dies zum Geruch
und jenes zum Geſtank gekommen? Zwar
muſte Petrus ſein Schwert einſtecken, fuhr
Herr v. W — bey dieſer andern Gelegenheit
fort, allein dem Adel gebuͤhrt es, ſich zu guͤr-
ten, wenn ſich der Unadel was herausneh-
men will. Ein Edelmann iſt ein verſtaͤrkter
Mann, er preſentirt ſich und ſeine Vorfah-
ren — Wer haͤtte wohl ſolchen Till und
Kuͤmmel vom feſtlich hoͤflichen Herrn v. W —
erwartet? —


Da kam Junker Peter, im Harniſch ge-
jagt! ja wohl gejagt, mit Entſchluͤßen, die
nicht Fleiſch nicht Fiſch waren. Er ſchni-
tzelte am Rahmen, noch eh’ das Bild ange-
fangen war. Stolz, daß er ſeinen Herrn
Vater Hochwohlgebohren geſattelt fand, ver-
zog er ſeinen Mund, als wolt er Hohn ſpre-
chen, und empfieng mich ſo unartig, daß ich,
weil er Tinens Bruder war, nichts anders
thun konnte, als ihn grosmuͤthig uͤberſe-
H h 5hen!
[490] hen! — Zum Muͤckenfaͤnger war ich me
aufgelegt. War ich dazu zu kraͤftig, oder zu
gut, das weiß ich nicht. Ich gab auf alle
ſeine Reden, die er entweder vor ſich oder
gegen andere richtete, kein Wort. Da aber
dies Muͤckchen eben hiedurch dreiſter ward,
und ſich gerad an meine Stirn klebte, ſah
ich mich gedrungen, es wegzuſcheuchen. Un-
fehlbar hatte unſer Held einige Romane ge-
leſen, wo der Zweykamf in einer Kinderlehre
abgehandelt wird! — Ihr lieben Herren!
wenn ihr den Menſchen da beſſern wolt; ſo
habt ihr eben nicht das rechte End ergriffen.
Vorwaͤrts, ihr Herren, zu allen Seiten ſtehe
oder falle, was da will! Unſer Muͤckenheld
erwartete eine Catechismusantwort, und ſah
mich uͤber Hals und Kopf blank. Was wol-
len Sie, junger Menſch! Ihre Schweſter?
Die werd ich nicht nehmen, wenn Tine nicht
ſelbſt will, und wenn Tinens Eltern nicht
wollen, Vater und Mutter. Was haben
Sie fuͤr Rechte auf ihre Schweſter, ſo lange
ihre Eltern leben, und ſo lange Tine ſelbſt
denken und handeln kann? Unſer Held ſteckte
ſein Schwert ſo nothduͤrftig in die Scheide,
daß er den Namen v. K — ſtammelte und
ſich eben nicht in der beſten Ordnung zu-
ruͤck-
[491] ruͤckzog! — Wie er ſahe, daß auch ich
nachlies, fieng er ſeine Vorbehaͤlte an! —
Wollen Sie mehr, als ich verſprochen? er-
wiedert’ ich. Haben Sie denn verſprochen,
meine Schweſter dem Herrn v. K —, dem
ſie eignet, ungeſtoͤrt zu belaßen?


Nein.


aber ſie gehoͤrt’ ihm.


Hat er ſie nicht aufgegeben?


hat er ſie nicht wiedergenommen?


Da ſie nicht mehr frey war —


Herr v. K — that, oder war wuͤrklich
unertraͤglich verliebt. Er bereute ſeine Ue-
bereilungen, wie es hies, und ſchrieb und
ſandte Boten ohn Ende. Herr v. W —,
der ſchon an ſich entſchloſſen war, dem Herrn
v. K — zu verzeihen und, auſſer dem Ver-
ſoͤhnungsfeſt, noch auf ſo mancherley rech-
nete, was dieſe Anwerbung beguͤnſtigte,
gieng ihm mit zuvorkommender Huld ent-
gegen. Zu allem dieſem wiſſen wir die Be-
weggruͤnde.


Der Vater Paſtor!


Lieber Mann! der Sohn Major.


Aber, liebe Frau! beym Adel gilt der
Vater immer mehr, als der Sohn.


Will denn Tine den Vater?


Wenn
[492]

Wenn Sie aber auch Sohn, Vater,
Grosvater und ſo weiter in der Perſon des
Sohns heyrathen kann?


Dann iſts Blutſchande!


Herr v. W — ward uͤber die Blutſchande
boͤſe, und fieng pathetiſch an: Ein anderes
iſt ein Siegel mit dem Lindwurm am Ta-
ſchenmeſſer, ein anderes ein wohlhergebrach-
tes Wapen. Ein anderes die feinſten Spi-
tzen, ein anderes Judenkanten. Ein ande-
res Prinzmetall, ein anderes aͤchtes gediege-
nes Gold; ein anderes ein Kratzfaß, ein an-
deres eine Verbeugung. Wer wird ſich denn
die Finger verbrennen, wenn man kein Kind
mehr iſt? —


Allgemach legte ſich dieſer Ahneneifer, an
welchem Junker Peter vielen Antheil hatte! —
Der Muͤckenheld hatte mich blank geſehen,
und ſo mochte er ſeinen Schwager, wohl
aus mehr als einer Urſach, nicht ſehen! —


Die Frau v. W — nahm Gelegenheit,
ihrem Gemahl ans Herz zu legen, was ſie
gehoͤrt, daß ich nemlich von gutem alten Adel
waͤre, und Tinchen alſo auch Vater, Gros-
vater, Aelter-Vater, und ſo weiter, in mir
vereinigt heyrathen wuͤrde. Warum, fuhr
ſie fort, ihm Luft und Othem abſchneiden, eh
man
[493] man noch die Graͤnzen ſeines Seyns kennt?
Der Schein betruͤgt —


Er ſtammt von Melchiſedech —


Der war ein Koͤnig und Prieſter! — —


Warum dieſe Ahnentafelunterredung, die
das Alltaͤgliche enthaͤlt? Sie hatte indeſſen
die Folge, die ich meinen Leſern ſchuldig
bin.


Frau v. W — nahm mich bey der Hand,
und zwar ſo, daß dieſe Art mir Buͤrge wurde:
es ſey wie es ſey, ſie ſind Tinens, und Tine
iſt die ihre! — Sie wußte nicht, wie ſie es
recht anfangen ſolte, und fieng endlich, nach-
dem ſie mich lange bey der Hand gehalten,
allein, wie mich duͤnkt, viel zu ent-
fernt, an: der Schleier der Beſcheidenheit
giebt jedem Geſichte, jeder Tugend einen groͤſ-
ſern Werth!


Ja, Gnaͤdige! Der Belag iſt Tine! —


Da war ſie wieder weiter zuruͤck, wie zu-
vor. Sie nahm mich aufs neue bey der
Hand, und ohne daß ſie blitzte, mein
Schlag!


Gnaͤdige! Sie wollen was ſagen — fra-
gen! erwiederte ſie.


Die Liebe, das einzige, was die Natur
uns noch zuruͤckgelaßen, ſolte freylich uͤber
alle
[494] alle Kunſt hinaus ſeyn — bey einem Haar
waͤre ſie wieder vom Wege gekommen —
Wer iſt aber heut zu Tage natuͤrlich?
Mein Mann? Sie kennen ihn! — Koͤnn-
ten ſie ſich ſo viel von ihrer Denkart auf ei-
nen Augenblick abmuͤßigen, und ihm in der
Naͤhe zeigen, was ſo viele von weiten geſe-
hen? Jedes Auge traͤgt nicht gleich weit.
Sind ſie ein Edelmann? —


Eine Chrie iſt der andern werth. Um wie
vieles haͤtt’ ich das Vergnuͤgen nicht gegeben,
erſt Tinen zu heyrathen und ihr ſodann zu be-
weiſen, daß ſie von dieſer Seite keine Ungezo-
genheit vom adlichen Poͤbel zu fuͤrchten haͤtte.


Das Wort: ein Gewißer koͤnnt ich
ſelbſt von meinem Eidam nicht leiden, um
wie vieles! Fuhr Frau v. W. fort.


Das traf! Frau v. W — hatte Recht.
Ein Gewißer, ſo vortreflich das Wort gewiß
ſonſt iſt, welch ein erniedrigendes Wort! Ein
gewißer heißt, Einer, der wegen ſeiner Exi-
ſtenz beſorgt zu ſeyn Urſache hat, und eine
Tafel aushaͤngen muß: hier wird Seife
geſotten
! Es iſt ein in einem kleinen Zir-
kel blos Bekannter, ein Kleinſtaͤdter, der
will, und nicht kann! Faſt ſcheint es, daß
es mit dem Menſchen nicht aufs Gewiße an-
gelegt
[495] gelegt iſt — Liebe gnaͤdige Frau! Ich will
alles thun, um mich aus dem Gewißen ins
Ungewiße zu ſetzen! Der vorliegende Fall
iſt von der Art, daß ichs kann. Ich wolte
der Frau o. W — zeigen; allein wie doch
die Weiber ſind, das Siegel war ihr gnug! —
Sie gieng zu ihrem Mann, der aber bey der
ganzen Erzaͤhlung, das Siegel mit eingerech-
net, ſo ungewiß als moͤglich blieb. Tine
war mir ſo werth, daß ich ſelbſt Gelegenheit
nahm, dem Herrn v. W — zu zeigen, wo-
von ſeine Gemahlin nur das Siegel geſehen,
und da er weniger erfahren in Familienregi-
ſtern, als der Hochgebohrne Todtengraͤber,
war; ſo konnt’ ich ihm zwar von meinem ur-
alten Adel nicht ſo uͤberzeugende Beweiſe ge-
ben; indeſſen ſah er eben darum die Sache
groͤſſer, als ſie war! — Er fand in der
Dunkelheit ſo etwas feſtliches, daß er den
Paſtor druͤber vergaß. Er ſah uͤber die
Huͤtte hinweg, und heftete ſein Auge an die
Kirchenmauren. Die rechte Sayte in ſeiner
Seele war getroffen. Die Gluͤcksumſtaͤnde
des Herrn v. K — konnten mir nicht den
Weg vertreten, da ich ihn vom Geſchenk der
Kayſerin und dem dazu gekommenen gluͤckli-
chen Kauf unterrichtete! — —


Alle
[496]

Alle Geſchenke erniedrigen, nur Geſchenke
der Großen nicht; da gilt ein Band mehr,
als man glauben ſolte. Wie doch alle Lei-
denſchaften Nachbarskinder ſind! — Stolz
und Furcht ſind auſſer der Nachbarſchaft ver-
wannt. Herr v. W — fuͤrchtete den Jun-
ker v. K — und ſeinen leibeigenen Sohn, der
es mit Junker v. K — hielt. Sie wiſſen,
fieng er an, und ſuchte Kraft zum Othem-
holen! — wie es in Curland geht! Die
Wahrheit zu ſagen, ich bin froh, daß eins
von meinen Kindern aus dieſem Waldhorn-
ſtaat, aus dieſem Dulande, erloͤſet wird! —
Wer iſt hier fuͤr ein Paar Piſtolen ſicher?
Jeder, der Herz hat, erwiedert’ ich. Nicht
immer! Herr Major! Es giebt unter den
Krippenrittern Leute, die ihr Leben keinen
Pfeifenkopf werth halten. Was haben ſie
denn in dieſer Welt zu gewinnen und zu ver-
lieren? und wenn Herr v. K — es dazu an-
legt; ſo iſt mein Haus belagert, und ich mit
Mann und Maus verlohren. Junker von
K — hat Geld, das will in Curland viel [ſa-
gen]
. Freylich wers Gluͤck hat, fuͤhrt die
Braut heim. Der verſtorbene Herr v. G —
hatte ſie weit von ſich entfernt. Sie kamen!
Er begegnete ihnen nicht wie Hochwohlge-
bohr-
[497] bohrnen Bruͤdern, ſondern wie bettlenden
Schneidergeſellen! — Den Pferden und
Waffentraͤgern dieſer Donqviſchotten noch
uͤbler. Einer unter dieſen Krippenrittern
nahm das Ding unrecht und forderte den
Schluͤſſel zum Gaſtzimmer, und, weil ſich
der Gerechte auch ſeines Viehes erbarmet,
zum Stall. Hier iſt der Schluͤſſel, ſagte
Herr v. G — und zeigte auf den Degen.
Freylich haͤtte er, hier ſind ſie, ſagen ſollen,
da zwey Schluͤſſel gefordert worden, einer
zum Stall und einer zum Gaſtzimmer, und
alsdann haͤtt er auf die Piſtolen weiſen koͤn-
nen, die verheyrathet ſind und die man nicht
anders als Paarweiſe hat — Mag! —
Sein Haus iſt von dieſer Zeit an von der
egyptiſchen Plage der curſchen Heuſchrecken
verſchont blieben. Das nenn ich aber toll-
dreiſt. Zwar hab ich es, beſchloß Herr von
W —, mit meiner Hoͤflichkeit ſo weit nicht
gebracht; indeſſen kann ich auch nicht bittre
Klagen fuͤhren!


Ich verſicherte ihn, daß dieſes mein gering-
ſter Kummer waͤre, und er ſchien wuͤrklich die
Meynung von mir zu faßen, daß mir nicht
leicht das Haar zu Berge ſtuͤnde! —


J iSie
[498]

Sie verſprechen, ſagte er, mein Herr
Major! bey allem, was Gott geben, die
Seele denken, das Herz wollen, der Mund
ſprechen, die Hand greifen kann, meine
Tochter zu lieben, bis der Tod ſie ſcheidet?
Ich verſpreche! — Wohlan! ſo will ich den
Verlobungstag feſtſetzen, an dem ich mich
mit meiner Frau verlobte! —


Nach dieſer Feyerlichkeit fiel ihm, das
ſah ich, mein Vater ein; allein konnt er nach
dieſem feſtlichen Auftritt von dieſem Einfall
Gebrauch machen?


Wenn ich nicht durchaus mir vorgeſetzt,
nicht in den alten Geſchmack von Gefechten
zu fallen, ſondern der reinen klaren Liebe ge-
treu zu bleiben; ſo koͤnnte ich wuͤrklich mit
einigen Vorfaͤllen aufwarten, die niemanden,
als dem Herrn v. W — ſchwer fielen! — Gott-
hardt! wer ſolte das denken, legte alle dieſe
Neckereyen bey, und alles war wie abgeſchnit-
ten oder abgehauen! — Gotthard? Er ganz al-
lein! Ein Tauber haͤlt ſich Voͤgel und freut ſich,
daß ſie ſpringen, wenn gleich er ſie nicht ſin-
gen hoͤrt, und Gotthard war im Stande in
Curland ſolche Strahlen zu ſpruͤhen, daß al-
les wie vom Blitze geruͤhrt ſtand. —


Gott-
[499]

Gotthard, den mein Brief nicht getrof-
fen, hatte durch viel Muͤhe erfahren, daß
ich in — waͤre und flog in meine Arme. Ent-
zuͤckt uͤber alles, was vorgieng, verſichert’ er
mich auf Ehre, daß er Tinen mir aufrichtig
goͤnne! und nur dann, fuͤgt’ er hinzu, waͤre
keine Schlacke unterm Golde, wenn ich mit
meiner Frau in Curland bliebe! — Was
ſich Gotthard freute! — Aus lichterloher
Freude war er gegen den Herrn v. W —
hoͤflich, der ihm wegen der Befehdungen ſeine
Noth klagte, worauf er ihm ſeinen kraͤftigſten
Beyſtand verſprach. „Bruder?„ Ich! er-
wiedert’ er, da gehen viele auf der Heer-
ſtraße, andere uͤber Stock und Stiel, viele
durch Blumenbeete, andere uͤber Felſen, durch
Dornen und Diſteln — Nicht auf den
Weg, Bruder, ſondern aufs Ziel kommts
an!


Bruder!


Was ich dir ſage!


Junker Gotthard loͤſete dieſe Raͤthſel, und
es ergab ſich, daß er ſeine Helfershelfer hatte,
die er beſoldete, um andere Helfershelfer ab-
zuhalten. Wer hier Geld hat, Bruder! fuͤgt
er hinzu, iſt ſchußſicher! Er haͤlt ſich ſeine
Leibwache, und Trotz dem geboten, der ſich
J i 2er-
[500] erfrecht, ihm zu nahe zu kommen und nicht
drey Schritt vom Leibe zu bleiben. Jezt macht
mich nichts wild! — Herr v. W —, der zum
Theil von dieſen Haustruppen unterrichtet
war, nahm dieſes Anerbieten mit vielen Com-
plimenten an, das ich aber kurz und gut ab-
ſchlug!


Bruder! fuhr Gotthard fort, die Kerls,
ſo dich anfallen wollen, ſind keine Tuͤrken,
ſind keines Tropfens Chriſtenblut werth.
Solchen Lumps auszuweichen iſt Ehre.


Herr v. W — trat dieſer Behauptung
bey; ich nicht voͤllig. Es ſey indeſſen, daß
Herr v. W — mit Junker Gotthard eine ge-
heime Allianz geſchloſſen, oder daß ſeine An-
weſenheit im Hauſe ſchon die gegenſeitige
Streitfuͤhrende Macht durch Furcht in die
Flucht geſchlagen; genug wir waren ſo ru-
hig, wie moͤglich. —


Der Muͤckenheld ſelbſt, da Junker Gott-
hard mit ihm allein geſprochen, und ihm
vielleicht eine Buͤrgſchaft wegen der naͤchſt zu
bezahlenden Schuld, und etwa eine ſchmucke
Trine zugeſagt, hatte andere Sayten aufge-
zogen, und ſo waren wir dahin gediehen, daß
wuͤrklich in der folgenden Woche das Verlo-
bungs-
[501] bungsfeſt, ohne zu fuͤrchtende Belagerung,
gefeyret werden konnte! —


Junker Gotthard wich nicht von dannen,
und war mir ein ſo angenehmer lieber Gaſt,
daß Tine ſelbſt ſo viel Vergnuͤgen in ſeinem
Umgange fand, als ſie zuvor Miswillen ge-
aͤuſſert hatte.


Ich weiß nicht, wie mir der einige Aus-
druck Buſenfreund entfuhr, den mir Herr
v. W — entſetzlich uͤbel nahm.


Das Wort Buſenfreund, fieng Herr v.
W — an, iſt das zweydeutigſte, was man
brauchen kann, ſo bald man zur heiligen Ehe
ſchreitet. Iſt man Junggeſell, wo iſt ein
beſſeres zu Freund, als Buſen! —


Junker Gotthard umarmte mich bren-
nend, und zeigte mir, wie man auch bey der
groͤßten Rauhigkeit bieder und gut ſeyn
koͤnne. — Kein großer Mann, ſagte er
zum Herrn v. W —, hat ſich in ſein Haupt-
werk allein verliebt. (Es war eine Anmer-
kung ſeines lieben ſeligen Vaters, die er
aber beſonders lenkte, ohnfehlbar dacht’ er
an ſeine ſchmucke Trine.) Er ſucht ein Ne-
benwerk und findet es. Er ſieht die Beklom-
menheit, die Eingeſchraͤnktheit ſeines Haupt-
werks ein, und will der ſchwachen Menſch-
J i 3heit
[502] heit durch Abaͤnderung aushelfen! Kein
Mann, der ſich von andern unterſcheidet, iſt
daher gros in ſeiner Hauptkunſt. Im Ne-
benwerk bringt ers oft weiter — welches
auf die Rechnung des Freyheitstriebes ge-
hoͤrt, der uͤberall ausſchlaͤgt und ſchoͤne Zweige
zeigt.


Bruder! ſagt ich ihm, von Anbeginn
iſt es ſo nicht geweſen! — Vortreflich, fiel
Herr v. W — ein, bis auf das Wort:
Bruder, das ihm, wie er ſagte, zu kahl, zu
entblaͤttert da ſtuͤnde! — Wenn nur nicht
unſaftig, erwiedert ich. Gern haͤtt es Herr
Herr v. W — geſehen, wenn Gotthard und
ich das du geſtrichen; allein das gieng nicht,
und da ich den Herrn v. W — verſicherte,
daß nur Gotthard und Darius meine Du’s
waͤren, die ich in der Welt haͤtte, und daß
ich ſelbſt meine beyden Kriegscammeraden,
die bey Bukareſt im Herrn ruhen, nicht Du
genannt; ſo begab er ſich. Froh legt’ er
unſere Haͤnde in einander und ſprach: was
Gott zuſammen fuͤgt, ſoll der Menſch nicht
ſcheiden — Und nun nahm er mich allein.
Gelt, fieng er an, zum Eherath wuͤrd ich den
Herrn v. G — nicht vorſchlagen? und ich
nicht nehmen, war meine Antwort.


Er.
[503]

Er. Sie lieben Tinen!


ich. herzlich! —


Er. einzig?


ich. bis in den Tod.


Griechen und Roͤmer, fieng er zu uns
beyden an, (im Wiederhall des Feſtes der
Deutſchen.) Wo iſt jene edle Einfalt, die,
wenn gleich ſie gerade zugieng und mit Gott
und mit Menſchen gleich ſprach, doch ſo viel
Feinheit anbrachte, daß man kein Du merkte,
ſo wie es noch in keiner wohlgeſetzten Poeſie
zu merken iſt! Iſt wohl eine neuere Spra-
che ohne Erbſuͤnde? Was laͤſtert ihr Nachba-
ren uͤber unſer Hoch- und Wohlgebohren Hoch-
edelgebohren und Hochedlen, da doch auch ihr,
Ew. Majeſtaͤt wird erlauben, Ew. Excellenz
denkt zu gerecht, ſprecht? Wie man da von
hinten kommt! Wie ein Politikus! Wo iſt eine
Sprache, die nicht dergleichen Flecken, oder
Runzeln, oder des etwas haͤtte? — (Mir
fiel das Wort Monſieur aus dem Garten
Eden des ſeligen v. G — ein.) Vtinam
viveret!


Ich nahm das Wort und bemerkte, daß
die Deutſchen Ew. Durchlauchten, Hochge-
bohren, Hochwohlgebohren, Hochgelahrten,
Hochbenahmten, Hochweiſen, Geſtrengen,
J i 4viel-
[504] vielleicht als eine Satire uͤber die andern
Sprachen auf- und angenommen! Wie!
fiel mir Herr v. W — ein, ſo wuͤrden ſie
auch mich nicht fuͤr einen hoͤflichen Mann
gelten laßen, ſondern fuͤr einen Swift uͤber
die Hoͤflichkeit halten — Ich buͤckte mich
ſo, daß Herr v. W — voͤllig mit mir aus-
geſoͤhnt ward, und da er nicht lange darauf
anfieng:


Lieber Major! ihre Meynung, als waͤre
die deutſche Sprache eine Satyre uͤber andere
Sprachen ſties mir ſo auf; ſo erſchrack er
ſelbſt uͤber den harten Ausdruck: ſties mir
auf, daß Herr v. W — ſich ſelbſt aufſties —
Es hob ſich Credit und Debet und wir wa-
ren eins —


Die Verlobung kam dem Herrn v. W —
ſehr hoch zu ſtehen. Umſtaͤnde veraͤndern die
Sache. Ein anders uͤbers Evangelium, ein
anders uͤber die Epiſtel! — Wir ſahen ihn
oft allein und mit ſich ſelbſt zu Rathe gehen,
wobey wir, die Wahrheit zu ſagen, nichts
an Rath verlohren! —


Unausſtehlich wuͤrd es meinen Leſern
ſeyn, wenn ich ihnen die ganze Proceßion die-
ſes Verlobungsfeſtes erzaͤhlen ſolte. Nur
ungeſuchte Zuͤge, wie ſie fallen!


Gern
[505]

Gern wolte Herr v. W —, daß ich auf
Knieen Ja ſagen ſolte. Es war ihm ſo et-
was ritterliches, ſo etwas altadeliches drin.
Da ich ihm indeſſen das Ungewoͤhnliche zu
Gemuͤth fuͤhrte, ſo mancher Misdeutungen
erwehnte, welche hiedurch zum Verſchein
kommen wuͤrden, lies er mich auf den Fuͤſ-
ſen, nachdem er von mir das Verſprechen
abgenommen, meiner Prinzeßin dieſe ſchul-
dige Ehre inter privatos parietes zu erwei-
ſen.


Bey ſo viel Natur, die bey der Verlo-
bung herrſchte, in ſo weit ſie zum Departe-
ment der [Frau] v. W — gehoͤrte, ſtach die
Unnatur des Herrn v. W — ſo ab, daß
man keine Abſtuffung ſah, ſondern hier
gleich [und] eben gieng, und dort auf dem
Sprung war! — —


Unter andern war Herr v. W — ſo par-
fuͤmirt, daß Jeder einen Schlagflus befuͤrch-
ten muſte, der ihm zu nahe kam. Zwar duf-
tete er jederzeit; noch nie aber ſo, wie heu-
te — Kurz vor der Ceremonie hatt’ er ſich
ſo wohlriechend gemacht. —


Junker Gotthard konnte nicht umhin,
druͤber ein Wort zu verlieren, allein Herr
v. W — fuͤhrte ihn an Stell und Ort, indem
J i 5er
[506] er ihn belehrte, daß Chriſtus der Herr ſelbſt
fuͤr wohlriechendes Waſſer geweſen, indem er
ſich von einer Dame mit eau de Lavande be-
ſprengen laßen —


Die Verlobung fieng mit einer Red’
an, die Herr v. W — uͤbernahm; indeſſen
ſchoß er dabey, wie bey der Redeuͤbung am
Feſt der Deutſchen zu kurz. Sein Aller-
ſeits nach Stand und Wuͤrden Hoch-
wohlgebohrne Verſammlung
verlor keine
Sylbe, und eine Thraͤne, die ihm allemahl
zu Dienſten ſtand, wenn ihm ein Wort ver-
ſagte, bewegte mich ſo, als ob er zum erſten-
mal geweint haͤtte. Wir ſagten, ohne daß
wir gefragt wurden, Ja, und kuͤßten einan-
der ſo herzlich, daß Jedes glaubte, was uns
anſahe, es haͤtte nichts von der Rede verloh-
ren. Da Herr v. W — ſelbſt nicht aus und
ein gewußt, und daruͤber, wie mir vorkam,
verlegen ſchien, ſo lies ers geſchehen, daß
alles uͤber und uͤber gieng, und eben dies
uͤber und uͤber, wie ſchoͤn war es! — Wie
der Lenz iſt die Verlobung! Das Beylager
iſt ein ſchoͤner Sommertag; dieſes die Sonne
im Glanz, jene Aurora!


Tine warf ſich ihrer Mutter in die Arme,
und bat um ihren Segen. Herr v. W —
lenkte
[507] lenkte dieſen zu natuͤrlichen Armwurf ſo kuͤnſt-
lich ein, daß die Friſur dabey nicht litte —
Bey ſolchen Vorfaͤllen, bemerkte er, muß
man ſchon zuweilen fuͤnfe gerade gehen laſ-
ſen! —


Bey Tafel bemerkte Herr v. W —, daß
man durchaus etwas auf dem Teller liegen
laßen muͤße. Bin ich beym Vornehmern
wie ich, ſagt er, laß ich das beſte zuruͤck, um
zu zeigen, daß auch das ſchlechteſte fuͤr mich
das beſte iſt! — Selbſt in meinem Hauſe
mach ich meiner Frauen dies Compliment,
welches auch diesmal beobachtet ward! —


Mein lieber Gotthard blieb noch acht
Tage bey uns und reiſete mit der Verſiche-
rung ab, ſo lang er lebe unſer Freund zu
ſeyn! — Herr v. W —, der ihn bis dahin
als einen Commendanten angeſehen, nahm
ihn beym Abſchiede allein. Ohnfehlbar ga-
ben ſie ſich die Parole; wenigſtens koͤnnte
man dies aus den Worten ſchluͤßen, womit
Junker Gotthard aufbrach. Es iſt beſſer,
ſein Roß an des Feindes Zaum binden, als
daß der Feind es an unſern Baum anſtricket!
Gute Nachbarſchaft, erwiederte Herr von
W —, iſt die beſte Mauer, und ich! Muth
der leichteſte Harniſch! Peter und Gotthard
ſpra-
[508] ſprachen wieder geheim. Bald haͤtt ich ver-
geſſen zu bemerken, daß ſich Peter bey dem
uͤber und uͤber, an meinem Verlobungs-
tage artig gnug nahm! —


Ich blieb noch drey Tage in —. Tine
und ich waren ſo ſeelenfroh, daß alles, was
uns ſah, Theil dran nahm! — Die Liebe
iſt wahrlich die Sonne des Lebens. Durch
ſie leben und ſind wir! Du biſt nicht werth,
daß dich die Sonne der Liebe beſcheint, iſt
eine Injurie, welche die groͤßte iſt, die je aus-
geſprochen worden! — Sinais Fluch iſt da-
gegen Segen! —


Meine Uebernahme in — ward von ei-
nem Tage zum andern ausgeſetzt. Herr v.
W — bat, aus Hoͤflichkeit, meine Tine und
ihre Mutter herzlich! — herzlich! meiner
Tine Leibwort! —


Es war die hoͤchſte Zeit, daß ich nach —
— gieng. Manche kleine Einrichtung war-
tete auf mein Auge. Tine ſah ſelbſt die
Nothwendigkeit meines Hingangs, und doch
lies ſie mich ungern hingehen. Ich hatte die
geringſte Kleinigkeit mit ihr uͤberlegt. Die
Liebe macht alles wichtig, was die Liebenden
betrift — Auſſerhalb ihrer Graͤnze iſt eine
Krone des Aufhebens nicht werth! — Da
ſolte
[509] ſolte ein Sopha, dort ein Nehtiſchchen, hier
ein Schraͤnkchen ſeyn — da eine blane, und
wieder da eine rothe Tapete, zu ſtehen kom-
men!


Nur an die Schlafkammer ward nicht ge-
gedacht. Die bleibt immer dem Geſchmack
des Braͤutigams und der Schwiegermutter
anheim geſtellt. Nachdem nun alles und je-
des bis auf die letzten vier blinkenden Naͤgel,
die meine Mutter, da ſie am Kupferſtiche ei-
nes Eyerreformators angebracht wurden, fuͤr
Sterne hielte, verabredet war, kam die Frage
zur Eroͤrterung: ob ich Morgens oder
Nachmittags reiſen ſolte? — Was dar-
uͤber fuͤr und wider verhandelt ward, iſt un-
ausſprechlich. Wahrlich die Andacht und
die Liebe ſieht alles fuͤr Sterne an; wenn
gleich ſechs fuͤr einen Vierding zu haben ſind.
Ich lies nur fallen, daß wenn ich fruͤh in
mein Land zoͤge, ich ſchwerlich mehr als zwey
ganze Tage zur Reiſe noͤthig haben wuͤrde.
Herr v. W — glaubte, ſo fruͤhe nicht mit
allem fertig werden zu koͤnnen, was doch der
Wohlſtand bey dieſer Gelegenheit mit ſich
braͤchte. Der Fall war eigen — Endlich
kamen die Praͤliminarien in Richtigkeit:
fruͤh des Morgens. So ſehr ich darauf
drang,
[510] drang, daß niemand ſich ſehen laßen moͤchte;
ſo war doch Herr v. W — der Meynung,
daß dieſes auf keine Weiſe Styli werden
koͤnnte. Um indeſſen eine Finte anzubrin-
gen, lies er mich halb und halb in Ungewiß-
heit. Er wolte dadurch der Sache einen An-
ſtrich von Unerwartung, und einen deſto
groͤßern Werth beylegen — Ich war um
vier Uhr Morgens in Reiſekleidern, und
eben, da ich mich durch den Saal ſchleichen
wolte, kam mir Herr v. W — entgegen,
der, wie ein wachſamer Chef, eine Viertel-
ſtunde vor der beſtimmten Zeit auf dem Platze
witterte — Meine Schuld iſt es nicht, fieng
er an — und was konnt ich wohl bey dieſen
Umſtaͤnden anders, als Compliment uͤber
Compliment machen — Tinchen kam am
letzten, nicht weil ſie am ſpaͤtſten aufgeſtan-
den war, ſondern weil ihr Vater es ihr vor-
gezeichnet. Auch bey der zaͤrtlichſten herz-
lichſten Liebe, muß der Wohlſtand nicht aus
den Augen geſetzt werden, ſagte Herr v. W —,
da er ihr ihre Rolle uͤbergab. O dieſer Mor-
gen! — Was iſt alles im menſchlichen Le-
ben, wenn man es nur zu nehmen verſtehet!
Niemand, ſelbſt Herr v. W — nicht, war
voͤllig in pontificalibus (wie ers nannte). Der
Mor-
[511] Morgen, bemerkt’ er, muß anzuſehen ſeyn.
Dieſe edle Nachlaͤßigkeit, die jedes Blad
zeigt, eh es ausgeſchlafen hat, wie ſchoͤn! —
Mag wohl ſeyn, weil der Menſch wuͤrklich
nicht da iſt, um auf Drath gezogen zu wer-
den, waͤr es ſelbſt durch Arbeit — Wie es
alles dahinſchlenderte! — Die Milch, noch
von keiner Sonne getroffen. Alles ſo
friſch! — Tine kam zu mir, ſo bald in ih-
rer Rolle der lange Monolog zum Ende war,
und gab mir, obgleich es nicht vorgeſchrie-
ben ſtand, die Hand, die ich in die meinige
einſchloß! — Ein Handkuß wuͤrde die
Sonne verdorben haben. Da kam ihre
Mutter und legte ſich auf meine Schulter.
Selbſt Junker Peter, dem der Morgen am
meiſten anzuſehen war, fragte zweymal, wenn
er mich wieder ſehen wuͤrde! Solch eine
Morgengruppe, ich kann ſie nicht mahlen! —
Tine verlangte aufs genaueſte zu wiſſen, wo
ich jeden Mittag eſſen und jede Nacht ſchla-
fen wuͤrde —


Alles trank Caffee, bis auf mich. Ich
blieb bey Milch, die mir vorordnet war.
Herr v. W — wuͤrde mich ohne dieſe Ruͤck-
ſichten nicht vom Caffee losgelaſſen haben. Er
verſicherte, daß der Caffe ſo etwas feſtliches
haͤtte,
[512] haͤtte, daß ſelbſt ſeine Farbe, wenn die
Milch oder die Waͤſche, wie ers nannte, gut
waͤre, gewiß keinen geringen Rang verdiene.
Eines ſeiner Hauptſtaatskleider war caffee-
braun, doch ſo, daß die gute Milch durch-
ſchien. Warum ſind Baͤder ſo nutzbar?
Warum ein Fruͤhſtuͤck ſo wohlſchmeckend?
weil wir mit dem Morgenkleide den Men-
ſchen angezogen, und den Staat nicht be-
gruͤßt haben, deſſen Sclavereyuniform un-
ſer Feyerkleid iſt! —


Verſucht es einmal, ihr, die ihr ſo etwas
zu verſuchen verſteht, des Morgens Abſchied
zu nehmen! Iſts nicht ruͤhrender, wenn
ein bluͤhender junger Menſch ſtirbt, als wenn
dies Loos einen Greiß trift?


Herr v. W — hatte ſich auf einige Au-
genblicke entfernt, unfehlbar auf die letzte
Oehlung zu ſtudiren, und da waren wir,
Tine und ich, mit einem ſo herzlichen Kuß
zuſammen, daß kein Wort Platz fand! Es
waͤre erſtickt! Herr v. W — blieb wieder,
wie Abſolon, an einer Eiche hangen, nur
mit dem Unterſchiede, daß ich ihm zeitig zu
Huͤlfe kam, und ſein langes Haar losriß —
Junker Peter wolte druͤber ſpoͤtteln; allein
weder
[513] weder ſeine Schweſter, noch ich, gaben ei-
nen Blick, geſchweige ein Wort darauf.


Je weniger Sayten bey einem Inſtru-
ment, je weniger Luxus! Mit dieſem Plan
kam ich nach — wo alles meine Erwar-
tung uͤbertraf. Hier, dacht ich, wirſt du
Ruhe athmen, und wie Fabritius Ruͤ-
ben erndten! Weisheit cum omni caufsa iſt
ſo kurz und gut, daß jeder Menſch ſie faſ-
ſen kann, wenn er will. In den meiſten
Faͤllen hat ſie aber zwey Aeſte, von denen
ihr einer inoculirt iſt! — Gott wird uns
ins Paradies helfen, wo das Einaͤugen ver-
boten iſt — Das Wort: Stille! Stille!
hat ſchon ſo etwas von Silberglockenton.
Dieſe Glocke lautet zum Himmel! Ruhe iſt
hart gegen Stille! — Alles iſt in uns, al-
les thun wir aus uns, und je nachdem wir
Sonnen, oder bloße Jupiters Trabanten
ſind, je nachdem machen wirs um uns helle,
oder dunkel! — Was will man mehr, als
ſich? — das iſt Eigenliebe, die Gott wohl-
gefaͤllig iſt. Sie iſt die Liebe im ganzen Um-
fange; denn wahrlich der Naͤchſte kommt da-
bey nicht im mindeſten zu kurz. —


Ich richtete alles nach dem mit Tine ver-
abredeten Riße ein, wovon ich ihr auf der
K kStelle
[514] Stelle getreuen ſchriftlichen Bericht erſtattete.
Viel Anlage zum Garten; Baͤume, und
Waßer, das die Baͤume unvermerkt belauſch-
te! Wie ich uͤber dies alles froͤlich und
guter Dinge ward! Da ſtellt ich mir ſo
[lebhaft] vor, was da noch alles werden ſolte!
und das iſt immer ſchoͤner, als was ſchon
da iſt —


Zwey meiner Nachbaren waren Leute,
mit denen es der Muͤhe verlohnte umzuge-
hen. In Ruͤckſicht der andern, die mich be-
gruͤßten, war mein Entſchluß gefaßt, daß
es beym Begruͤßen verbleiben ſolte. Einer
von den Auserwaͤhlten behauptete, noch nie
ein Glas Wein allein getrunken zu haben!
Ich weiß nicht, ob man ein beſſeres Zeugniß
eines guten Herzens fuͤr ſich haben kann.
Der andere Auserwaͤhlte ſtritt ſich mit einem
der blos Grußnachbaren, wegen der ſchlechten
Zeiten. Die Klagen uͤber die ſchlechten Zei-
ten ſind ſo alt, wie die Zeit, ſagte der Aus-
erwaͤhlte, und der Grußnachbar fand, daß
dies nicht klapte, und fah es ſogar als einen
Anſtoß an. Es wurde nun zwar alles auf
eine Art beygelegt, daß niemand druͤber aus
der Welt gieng. Wer ſolte aber denken,
daß der Grußnachbar bey einer Sache etwas
befrem-
[515] befremdendes finden ſolte, die bekannt, wie
ein Kind im Hauſe iſt? — Der Koch wird
vom Geruche ſatt, ſagte der Auserwaͤhlte in
der Stille zu mir, ſchicket euch in die Zeit,
erwiedert’ ich, denn es iſt boͤſe Zeit. Der
Auserwaͤhlte hatte dieſem haͤndelſuchenden
Grußfreunde ein Anlehn, wie Rechtens ab-
geſchlagen, und dies war die Urſache, daß
er ihm ſo unzeitig aufs Wort merkte.


Den erſten Platz, den ich in meinem
Hauſe ausſuchte, war eine Altarſtelle fuͤr
Tinen, ein Betkaͤmmerlein, eine Zelle fuͤr
dieſe Beterin! — — und von dieſer Ein-
richtung gieng ich zu der andern uͤber. In
dieſer Capelle ſolte Minens Bild haͤngen! —


Einige meiner Leſerinnen werden ganz un-
fehlbar die Anmerkung in ihrem guten Her-
zen haben aufkeimen laſſen, wie ich uͤber der
zweyten Ehe die erſte ſo bald und ſo tief ver-
geſſen koͤnnen? Freylich dachte weder Tine
noch ich, von der Zeit, da wir oͤffentlich eins
waren, laut an Minen; allein in unſerm
Herzen ward ihr kein Schritt von der Graͤnze
entzogen. Ich liebte Minen in Tinen! — Das
menſchliche Herz iſt ein wunderliches Ding.
Warum vermieden wir den Namen Mine?
War es, weil Tine befuͤrchtete, ihre Vor-
K k 2gaͤn-
[516] gaͤngerin im Amte wuͤrd ihr Abbruch thun?
War es, weil ich befuͤrchtete, daß Tine die-
ſes befuͤrchten koͤnnte, oder was war es?


Oft weiß der Menſchenkenner, der Men-
ſchentreffer, ganz puͤnktlich, was der andere
denkt, und laͤßt ihn dabey, ohne im aller-
geringſten etwas dagegen zu haben, ſobald
dieſer andere aber ſeine Gedanken in Worte
auswechſelt, weg iſt die Faſſung! Ich ver-
gaß uͤber Minen nicht meine Tine, und uͤber
Tinen nicht Minen. Sie waren mir eins.
Wunderbar! Freylich wunderbar! Was
iſt aber die Liebe? (das natuͤrlichſte, was in
der Welt iſt) was iſt ſie worden? Wenn
ſie koͤſtlich geweſen, was iſt ſie anders, als
Schwaͤrmerey? Wir ſind ſo weit gediehen,
daß dieſe Schwaͤrmerey allerliebſt ſteht? nicht
wahr? allerliebſt!


Die erſte Nacht, die ich in — ſchlief,
wars mir doch, als ſpraͤch’ ein Engel mit
Minen uͤber meine Verbindung! Nicht
wolt’ er Einſpruch thun, ſondern uͤber Dinge
ſprechen, die kommen ſolten. Da kamen Ruͤck-
und Hin- und Seitenſichten zum Vorſchein.
Mine trat mich ſo feyerlich ab, daß ich druͤ-
ber Thraͤnen vergoß! — und endlich wur-
den unſere beyden Geiſter, Tinens und der
mei-
[517] meinige, zuſammengegeben! Es ſoll eine
Himmelehe werden, ſprach ein Erzengel! —
eine Himmelehe!


Herr v. W — war ein ſolcher Tagewaͤh-
ler, daß jeder Tag, wie wir wiſſen, ſeine
eigene Plage, oder ſeine eigene Freude
hatte; ſo ward der Hochzeittag nach der
Anlage des Verlobungstages beſtimmt —
ſehr natuͤrlich!


Wer etwas faſſen will, ſieht es zuerſt im
Ganzen, und waͤhlt, ſobald es zum Zerglie-
dern kommt, nicht die groͤßern hervorra-
genden, ſondern die etwas verſteckteren Stel-
len! — So mit dem Menſchen. Die guten
Herren, die ihn ſo beſchrieben, wie er aus
des Modeſchneiders, Modefriſeurs, Haͤn-
den kam, recht als gieng er zum Ball, ha-
ben ihn wenig getroffen. Sie treffen den
Puder und die Kleiderfalten. Wir ſind die-
ſelben, wenn wir in Gallakleidern ſind, oder
im Schlafrock — Sagt aufrichtig, haben
wir nicht hoͤchſt ſelten den Menſchen im
Buche geſehen? Einen Theatermenſchen, ſchoͤn
geſchmuͤckt, als ging er zur Buͤhne, als wolt
er ſich zeigen, als wolt er populo eſſe ſpecta-
culo!
Den Menſchen mit einer gewiſſen Lebens-
art ſo vorzuſchieben, als ein Bild am opti-
K k 3ſchen
[518] ſchen Kaſten — o, dergleichen Menſchen ohne
End und Ziel! — Jede Bibliothek hat Vor-
ſetzbilder von Menſchen dieſer Art die ſchwere
Menge! Die meiſten Menſchenmahler bil-
den ihn in ſo fern er repraͤſentirt — Eben
darum, wie froh iſt man, wenn ein Autor
nur ſo thut, als waͤhlte er die kleinern un-
geſuchtern Stellen, als rief’ er: Adam, wo
biſt du? — als riß’ er ihm die Feigenblatts-
ſchuͤrze ab —


Ob ich bey dieſer Tafel ins Schwarze ge-
troffen, moͤgen die beurtheilen, die es wol-
len, wenn ſie koͤnnen.


Herr v. W — beſtand darauf, ohne daß
er noͤthig hatte darauf zu beſtehen, weil
ihm niemand widerſprach — Herrmann
ſolte zur Hochzeit gebeten werden — und
dies war die Tonangabe, daß Tine und ich
wieder von Minen ſprachen. Das pytago-
riſche Stillſchweigen war groͤßtentheils ge-
hoben, und Mine ward nicht mehr ſo, wie
vorhin, gefliſſentlich vermieden.


Herrmann ward einige Tage zuvor gehohlt,
und ich fand ihn, ſo wie ich ihn gelaſſen!
Sein Auge zeigte indeſſen eine gewiſſe Schaam
uͤber ſeine begangene Suͤnden, eine gewiſſe
Buße. Dem Buͤßenden muß man nicht mehr
auf-
[519] auflegen, als er ſich ſelbſt aufgelegt hat. Da
er ſahe, wie gut ich ihn aufnahm, ſo kam
er zwar mehr in ſein voriges Geleiſe; indeſ-
ſen blieb etwas im Auge, das man ein
Cainszeichen nennen konnte! O, dergleichen
haben viele!


Herr v. W —, der ihn zum Adjudanten
ſo noͤthig hatte, gab ihm die erforderliche
Inſtruktion, und hiebey fiel eine Geſchichte
mit dem Staatsringe vor, die nicht poßir-
licher ſeyn konnte! Herr v. W — wolte dem
Herrmann dieſen Ring vorſtrahlen.


Schoͤn! ſchrie Hermann, indem Her v.
W — die einem ſolchen Ringe zuſtehende
Ueberzuͤge und Bemaͤntelungen abzog! —
Tine (die dabey ſtand und ſchon wußte, wie
winterlich der Ring bezogen war) ganz nach
ihrer Art: Herr Herrman, es kommen
noch zwey Futterale!
— Mir fielen dieſe
zwey Futterale, auf welche Herrmann bey
ſeinem Schoͤn nicht gerechnet hatte, ſo auf,
daß ich laut lachen mußte; allein Herr v. W —
ſchien zu glauben, daß Herrmann der Sa-
che nicht zuviel gethan, und ſchon im Geiſt
etwas beklatſcht haͤtte, ſo wie man ei-
nen Schauſpieler oft das Opfer bringt, ſo
K k 4bald
[520] bald er kommt, und ehe er noch den Mund
geoͤfnet.


Herrmann hatte einſehen gelernt, daß
die Liebe zum Leben die ergiebigſte Quelle ſey,
Complimente zu ſchoͤpfen! — Einem Ster-
benden wuͤrde er geſagt haben: er ſehe aus,
wie ein Hochzeiter! Wer dem Kinde ſagt,
es ſaͤhe fuͤr ſeine Jahre, weit aͤlter aus, und
dem Manne, er ſaͤhe weit juͤnger aus, ver-
bindet ſich beyde gar hoͤchlich. Beydes iſt
dem Lebensdurſt zuzuſchreiben; das Wort
Lebenshunger kann man nur im Hoſpital
brauchen —


Herrmann verſicherte, daß ich mich ver-
juͤngt haͤtte, und da ich ihn verſicherte, daß ich
vom Gegentheil uͤberzeugt waͤre; ſo blieb er
nicht nur bey ſeiner Meynung, ſondern wußte
ſie ſo treflich zu beſchoͤnigen, daß Tine ihm bey-
zutreten Willens ſchien. Herr v. W — brachte
die Sache ins Reine, und bemerkte, daß der
Menſch erſt in die Hoͤhe, dann in die Dicke
wuͤchſe und im dreyßigſten Jahre muͤndig
wuͤrde. Dies iſt das Jahr, da jeder redet,
wenn gleich mancher noch ſchweigen ſolte —


Herr v. W — hielt eine lange Unterre-
dung vor der Hochzeit wegen der Kleidung
mit mir, und da er wohl von ſelbſt einſahe,
daß
[521] daß ich meiner Uniform nicht untreu werden
koͤnnte, ſo bemerkte er, daß die Einfoͤrmig-
keit in der Kleidung zwar was geſetztes (ganz
gehorſamſter Diener!) anzeige; allein es waͤre
nichts froͤliches nichts aufmunterndes, nichts
ſchoͤnes dabey! — Immer hin!


Mit den lieben Schoͤnleuten! Ich liebe
ſie nicht, ſie moͤgen Schoͤndenker, Schoͤn-
ſchreiber, Schoͤnfaͤrber ſeyn! —


Tine hatte ſich ganz rußiſch gekleidet. Sie
trug, wie ſie ſagte, meine Uniform. Ich
zeigte ihr, wie Gretchen, die rußiſche Art,
beym Negliſche ein Tuch um den Kopf zu
binden — Stchy, ein rußiſches Original-
gericht, kam oft auf die Tafel. Herr v.
W — fand es den Umſtaͤnden angemeſſen,
da ich rußiſcher Major waͤre. Kiengis (Pelz-
ſchue) verehrt’ ich meiner Braut, und ſie
zeigte ſolch eine Freude daruͤber, daß ſie ſol-
che ſtehendes Fußes anzog. Sie ſchien ſie
anbehalten zu wollen. Fuͤr den Winter,
fing ich an, liebe Tine! fuͤr den Winter?
ſagte Tine. Ja, liebe Tine!


Herr v. W —, der auch dieſe und an-
dere rußiſche Trachten meinethalber großmuͤ-
thigſt geſtattet hatte, gab ſeiner Tochter den
Wink, daß, da nun bald der tabelnoi prasz-
K k 5nick
[522]nick einfiele, ſie auf ihren Brautſchmuck
denken ſolte. So ſehr ich auch Gretchens
Hochzeit empfahl, ſo fand ich doch kein Ge-
hoͤr, und gab gern nach.


Mit den lieben Ehepakten! Ich habe ſie
nie recht ausſtehen koͤnnen; indeſſen war
ich ihnen eben ſo wenig, als den Braut-
ſchmuck, entgegen. Nachdem ſie unterſchrie-
ben und beſiegelt waren, bat ich eine Abaͤn-
derung, welche darin beſtand, daß ich mei-
ner kuͤnftigen Frau Gemahlin die Herrſchaft
abtreten wolte, in beſter Form Rechtens!
Zwar, fuhr ich fort, nennt Doktor Martin
Luther dergleichen Maͤnner verba anomala; al-
lein den Herrn Doktor Martin Luther in Eh-
ren, ich trat die Herrſchaft ab, und wenn ich mir
ja was ausbitte, iſts, daß es nicht zu merk-
lich ſey! Ich ſprach im Ernſt! Tine kam
nicht aus dem Lachen. Sie warf ſich in mei-
nen Arm, als ob ſie mir gern huldigte.
Herr v. W —, und ſein Waffentraͤger, nahm
dieſen Verzicht ſo hoch, daß ſie es fuͤr das
feinſte Compliment erklaͤrten, das ich meiner
Braut haͤtte machen koͤnnen! Indeſſen hielt
Herr v. W — nach gepflogenem Rath es doch
fuͤrs beſte, daß dieſe Abtretung nicht in Schrif-
ten verfaßt wuͤrde. Ein ehrlicher Mann haͤlt
Wort!
[523] Wort! Tine, hab ich Wort gehalten? Ich
ſchreibe Ja oder Nein! was du wilſt. Schreib
Ja und Nein. Da ſtehts.


Zur Hochzeit hatte Herr v. W — noch
einen Adjudanten gebeten. Ein Geſellſchaf-
ter fuͤr Herrmann, ein Maͤrtyrer der deut-
ſchen Sprache. Dieſer Ehrenmann hatte als
Privatſecretair gedient, und ſein Ungluͤck ge-
macht, weil er durchaus nicht Herr Capitain,
ſondern Hauptmann ſchreiben wollen. Wahr-
lich! darum verdient’ er zur Hochzeit gebeten
zu werden!


Dieſe Maͤrtyrer Geſchichte brachte den
Herrn v. W — geradesweges auf das Wort
Herr, womit er ſo ganz wegen der zwey erren
nicht zufrieden ſchien, da ich ihm aber erwie-
derte: daß ein deutſcher Herr und ein fran-
zoͤſiſcher Monſieur zwey ſehr unterſchiedene
Leute waͤren; ſo gab er nach. Ein deutſcher
Herr iſt ein Herr mit einem Zaͤhnenzuſam-
menbiß —


Mein guter Gotthard brachte einen Hoch-
zeitgaſt mit, auf den niemand gerechnet hatte;
er commandirte ſein Corps, und war ein ſo
toller Hund, wie er ihn nannte, daß nichts
druͤber war. — Stolz! barſch — Zum
Gluͤck bekam dieſer Barſche einen Auftrag,
und
[524] und konnte nicht bleiben, ſo daß ſeine Gaſt-
rolle eben nicht ſtark war — Vielleicht dien’
ich vielen meiner Leſer, die ſolch ein cur-
ſches Original in meinem Buche geſucht und
nicht gefunden. Der Commandeur ließ
ſchießen, wenn es donnerte, nicht um die
Duͤnſte zu zertheilen. Ein Herr begruͤßt den
andern, ſagt’ er.


Den lieben Gott hat er foͤrmlich zu Ge-
vattern gebeten. Der Paſtor Loci mußt ihm
einen Inſinuationsſchein ausſtellen, und den
lieben Gott wuͤrklich als Taufzeugen auf-
fuͤhren.


Seinen Hund machte er zum Wacker!
Die Bauren mußten den Hut vor ihm ab-
ziehen —


Bey der Taufe ſeiner Kinder, mußte der
Paſtor fragen: wollen Ew. Hochwohlgebohr-
nen getaufet werden? und beym Abendmahl:
befehlen Ew. Hochwohlgebohrnen auch vom
andern? Seine Beichte fieng an: ich von
Gottes Gnaden, Erbherr auf — — — die-
ſen Augenblick vor Gott allein, nicht aber
vor dem Paſtor ein armer Suͤnder! —


Ich glaube, meine Leſer werden es gerne
ſehen, daß dieſer tolle Curlaͤnder abgerufen
worden. Wie Oel und Waßer paßt’ er zu uns
allen
[525] allen, am wenigſten aber zum armen Herrn v.
W —, der wohl lieber ein Waldhorn vorn
Willen genommen haͤtte, wenn ihm die Wahl
waͤre uͤberlaſſen worden.


Bruder! wie kommſt du zu dem
Menſchen?
— Es ſind deren Etliche un-
ter meinem Regiment; der ehrlichſte Kerl,
den du denken kanſt! — Den lieben Gott
zu Gevattern zu bitten?
Sieh! Bruder!
Er hat nicht viel, und will ſich doch zeigen!
— Der Herr Gevatter verzehrte einen Wild-
braten, zwey Bouteillen Franzwein und eine
Ungariſch, gab uns allen die Hand, und
zog ſeine Straße, froͤlich, wie es ſchien!
Starke, geſunde Kinder! ſagt er zu mir. Ich:
Eine gluͤckliche Reiſe! —


Gottlob, daß ich in Liefland wohne!
So etwas war mir in Curland noch nicht
vorgekommen, obgleich kein Zug unrichtig,
nicht einſt verſtellt iſt — Alles wie es war!
Herr v. W — kannte ihn, wie er ſagte, par
renommée
, bemerkte indeſſen, daß er derglei-
chen Schlag Menſchen vorn Tod nicht aus-
ſtehen koͤnnte! Ich auch nicht ſo ganz, ſagte
Junker Gotthard. Was muß man aber
nicht, um Frieden zu haben? Nur daß ich
ihn mitgebracht, haͤlt dir den Herrn v. K —
und
[526] und ſeine Spießgeſellen zehn Meilen vom
Leibe — — Wie kann ihm aber, fragt’ ich,
der Paſtor einen Empfangsſchein geben? Ey
muͤſſen! Bruder! du glaubſt nicht, wie viel
Paſtors es giebt, die ſich hier mit dem Edel-
mann meſſen wollen. Solch ein Empfangs-
ſchein ſchadet ihnen nicht!


Herr v. W — war zwar gezwungen,
dem Junker Gotthard fuͤr dieſes Meteor den
verbundenſten Dank zu ſagen; indeſſen dankt’
er ihm noch weit mehr dafuͤr, daß er die
Hochzeit von dieſem Feuerſpeyenden Dra-
chen auch wieder befreyet haͤtte. Er iſt nuͤch-
tern ſo unausſtehlich nicht, als wenn er was
im Kroͤnchen hat, ſagte Junker Gotthard,
und haͤtten Sie ihn durchaus nicht laͤnger ha-
ben wollen, ich wuͤrd ihn ſchon zum Auf-
bruch gebracht haben, ohne daß er abgeru-
fen waͤre. Einigen gelingts in Curland, ohne
dergleichen Helfershelfer, ſich die Landpla-
gen der Krippenritter vom Halſe zu halten;
indeſſen hat ſich mein Vater doch fuͤnfmahl
ſchießen muͤſſen — und ihnen Herr v. W —
koſtet es gewiß manches Compliment. —
Ich liebe nicht, mich herum zu ſchießen, war-
um ſolt ichs, ſo lang ich ſo abkommen kann?
Dieſer Gottes Gevatter iſt arm, hat eine maͤſ-
ſige
[527] ſige Penſion von mir und von einigen Bruͤ-
dern meines Gleichen, die ſich nicht ſchießen
moͤgen. Ein alter Edelmann iſt er, und ſein
Vermoͤgen hat er mit guten Kerls aufgegeſ-
ſen und aufgetrunken —


Den Tag vor der Hochzeit war ein er-
ſchreckliches Regenwetter. Man konnte ſa-
gen, die Fenſter des Himmels thaͤten ſich
auf. Dies brachte dem Herrn v. W — keine
kleine Sorge zuwege. Er hatte durchaus
ſchoͤnes Wetter auf die Hochzeit invitirt, und
mancherley Vergnuͤgungen gar darnach ein-
gerichtet. Die ganze Nacht, an keinen
Stern, der Aufklaͤrung verkuͤndigte, zu den-
ken! Den Morgen klaͤrte es ſich auf, und
wir hatten einen ſo heitern, einen ſo ſchoͤnen
Tag, daß Herr v. W — dieſen Umſtand
zum heutigen Feſte verzeichnete. Er war es
werth, daß er zum Protokoll genommen
ward —


Unter vielen Ceremonien nur einige:


Die Trauung war in eine Rede einge-
ſchaltet, welche der Paſtor der Gegend uͤber
die Worte hielt:
Befiehl dem Herrn deine Wege und
hoff auf ihn, er wirds wohl machen,

zu reden aus dem fuͤnften Vers des ſieben
und
[528] und dreyßigſten Pſalms Koͤnigs und Prophe-
ten Davids.


Wahrlich kein Gedanke, der auch nur
eine Pflanzengroͤße uͤbertraf; indeſſen traf ſo
mancher mein Herz —


Meine Tine gab mir mitten unter der
Rede bey einer Stelle, die ihr auffiel, die
Hand, und obgleich ihr Herr Vater dieſen
Vorfall ſo uͤbel vermerkte, daß er uns gern
aus einander geſchlagen haͤtte; ſo blieb es
doch bey dieſem Hand in Hand, bis wir ſie
von Trauungs wegen aus einander nahmen,
damit ſie der Herr Paſtor zuſammenlegen,
und: was Gott zuſammen fuͤgt, ſoll der
Menſch nicht ſcheiden, druͤber ſagen konnte —


Wie ſolch eine Kleinigkeit, zum wahren
Beweiſe, daß die Natur uͤber die Kunſt geht,
bis ins Innerſte dringt! —


Nach der Trauung warf ſich Tine in meine
Arme. Dein! ſagte ſie, ohne daß wir ein
Du verabredet hatten, und von Stund an,
war es du und du, dem Herrn v. W —
nicht zur kleinen Aergernis, der dieſes auch
unter Eheleuten nicht ſo leicht erlaubte —
Wir brachten ihm anderswo ein, was hier
drauf gieng.


Keine
[529]

Keine von allen dieſen Ceremonien ruͤhrte
mich mehr, als die Wallfarth, die der Herr
v. W — in Begleitung unſerer und einiger
ausgeſuchten Hochzeitgaͤſte, wozu auch Herr-
mann und der Herr Hauptmann gehoͤrten,
anſtelte.


Er allein, mit einem Theeſchaͤlchen in der
Hand, das mit gruͤnen Blaͤttern bedeckt war.
Es ward ſo feyerlich getragen, und die ganze
Ceremonie ſah faſt ſo aus, als wie meine
Mutter und ich den Eyerheiligen verewig-
ten. —


In der Opferſchaale lagen zwey Pome-
ranzenkoͤrner, die er mit einer großen Feyer-
lichkeit zur Hand nahm und in zwey dazu
ſchon gemachte Toͤpfe ſetzte — Seyd frucht-
bar! ſagt’ er, und mehret euch! Jedem,
meiner Tine ſowohl, als mir, ward ein Glas
Waßer gegeben, womit wir dieſe eingeackerte
Pomeranzenkoͤrner begoßen — Gott! ſagte
er, gebe das Gedeyen! — Er hatte uͤber-
haupt die Gewobnheit, die Koͤrner von Po-
meranzen und Citronen, die er zu Pabſt,
Cardinal, Biſchoff und Punſch, an feſtlichen
Tagen verbraucht hatte, zum Andenken des
feſtlichen Tages zu pflanzen. So hatte ſeine
ganze curſche Orangerie feſtliche Geburtstage.
L lEr
[530] Er glaubte der Frucht dadurch ein Andenken
zu ſtiften, und ihr eine Art von Erkenntlich-
keit zu beweiſen. Mein Vater dachte in Ab-
ſicht der Pomeranzen und Citronenkoͤrner an-
ders. Davor war er ein Kernmann; Herr
v. W — aber ein Blaͤttermann —


Bey Tafel war Herr v. W — der gefaͤl-
ligſte Wirth, den man ſich nur denken
kann.


Er fieng eine Unterredung an, oder brach
ſie ſchnell ab, je nachdem es Zeit und Gele-
genheit wolten.


Den guten Paſtor, der heute alles wohl-
gemacht hatte, brachte er in die Enge, indem
Herr v. W — den undeutſchen Anfang des
Vater unſers auf die Rechnung der Hoͤflich-
keit ſchrieb. Das Subſtantivum ſolte uͤber-
haupt vor dem Adjunctivo zu ſtehen kom-
men —


Eine Unterredung fiel mir ſehr auf, die
Herr v. W — ſo recht aus dem Innerſten
ſeines Herzens geſchoͤpft zu haben anſchien.
Grobe Leute, ſagt’ er, ſind gluͤcklicher, als
die Hoͤflichen. Fuͤr Grobe fuͤrchtet fich Je-
dermann. Man freuet ſich, wenn ſie ein Laͤ-
cheln wo leuchten laßen. — Ich habe Leute
gekannt, die ſich durch Grobheit als Ge-
lehrte,
[531] lehrte, als Herzhafte, als — — alles was
man will, ins Geſchrey gebracht; indeſſen iſt
erſpartes Geld, fuͤgte Herr v. W — wohl-
bedaͤchtig hinzu, beſſer, als erworbenes, und
kommt ein harter Stein zum andern, ſo ſteht
der hinterſte im Genitivo. Die ſelige Mut-
ter meines Herrn Schwiegerſohns wuͤrde
geſagt haben: zwey harte Steine mahlen ſel-
ten reine.


Unſer Jupiter, unſer Gottes Gevatter,
haͤtte ſich, wie mich duͤnkt, blos bey dieſer
Unterredung erhohlt, alles andere waͤren
Schaubrodte fuͤr ihn geweſen, bey denen er
nun freylich weit dreiſter, wie David, zu
Werke gegangen. Selbſt aber dieſe Dreiſtig-
keit, wuͤrde ſie nicht allen, die zu Tiſche ſaßen,
unertraͤglich geweſen ſeyn? Der geſchickteſte
Mann, ſagte Junker Peter, um grob und
fein zu ſeyn, bey den beſten Kohlen und
recht geſunden Funken, fehlt ihm Wind, das
heißt, eine gewiſſe Art — Gefaͤlligkeit, Ge-
lindigkeit — er wird in der Geburt erſti-
cken — Gewuͤnſcht haͤtt’ ich, daß den Jun-
ker Peter ein Mahler geſehen haͤtte, wie ſeine
Herzhaftigkeit in der Geburt erſtickte, da der
Commandeur an ihn kam, um ihm die Hand
zu reichen, die er uns allen beym Abſchiede
L l 2reichte.
[532] reichte. Jupiter lies es dabey nicht, ſon-
dern drohte ihm mit den Vorderfingern der
rechten Hand. Im Spas verſteht ſich.
Wie fuhr aber Junker Peter im Ernſt zuſam-
men.


Meine Leſer werden ohne meinen Finger-
zeig bemerken, daß ich dem Herrn v. W —
bey der Tafel das Heft in Haͤnden lies.
Sein Refrain war, daß Feſtlichkeit die
Freude leite und fuͤhre auf ebener Bahn, ſo
wie ſie auch die Betruͤbnis in Schranken
ſetze! Wahrlich ein theures werthes Wort.


Ich hatte mit Tinen Herzensangelegen-
heiten, die uͤber alles giengen. Wir ſpra-
chen von unſerer Trauung, von der alle beyde
nicht ſonderlich erbaut waren. Ich freue mich,
ſagt ich, liebe Tine! daß ſie pompreicher und
weniger herzlich ablief, als Gretchens —
Schwerlich wuͤrd ich ſie ſonſt ausgehalten
haben —


Tine hatte, wie ſie ſagte, eine Bitte uͤber
alle Bitten an mich — und dieſe war, daß
ich ſie nicht mehr Albertine ſondern Mine
nennen ſolte! — O Tine! das iſt mehr, als
die ganze Trauung. Es war mit mir geſche-
hen! — Dieſe Firmelung brachte mein gan-
zes Herz aus ſeiner Faſſung! Mine! ſagt
ich,
[533] ich, und druͤckte ſie an oͤffentlicher Tafel ſo
feſt an mein Herz, daß Herr v. W — auf-
ſchrie, und mitten in der Hoͤflichkeit ſich hart
vergieng. Er faßte ſich, und haͤtte eben ſo
laut um Vergebung gebeten, als er aufge-
ſchrien, wenn ich die Sache weiter treiben
wollen — Sie ſelbſt, als ob ſie nun nichts
weiter nach der prieſterlichen Einſegnung zu
fuͤrchten haͤtte, ſprach ohn Ende von Minen.
Nun war die Zunge voͤllig geloͤßt. Einmal
hatte Tine ſie geſehen — Ich habe ſie ge-
mahlt, ſetzte ſie hinzu. Auswendig weiß ich
ſie. Du ſollſt ihr Bild ſehen! — Ueber der
Ruͤſtkammer von ihren Sachen, die du ihr
zum Andenken aufbewahreſt, ſoll es haͤn-
gen! —


Heiß’ ich Mine?


Du heißt Mine! —


Junker Gotthard, dem die Geſchichte von
meiner ſeligen Mine nicht verborgen geblie-
ben, und der dieſen mir ewig ſuͤßen Namen
jetzt nennen hoͤrte, warf ſich, ſo wie er da ein
Hochzeitsgaſt war, zur Rache wider v. E —
auf, die er aber wohlbedaͤchtig durch ſeinen
Jupiter uͤben laßen wolte —


Friede! ſagt’ ich ihm, Bruder! Ich hoͤre,
fuhr er leiſe fort, und hielt die Serviette
L l 3vor,
[534] vor, als ob er die Frage mit der Serviette
verhaͤngen wolte: ihr dutzet euch?


Mine laͤchelte und Junker Gotthard konnte
nicht umhin, ihr uͤberm Tiſch die Hand zu
reichen, und ein Glas Wein druͤber umzu-
ſtuͤrzen — Nicht das Glas, ſondern die
Handgabe, war ein Greuel in den Augen des
Herrn v. W — der aber nicht einſt aufſchrie
wie oben, da ich Minen an mein Herz nahm! —
Wie guͤtig! —


Ich darf es wohl nicht bemerken, daß,
auſſer dem wohlgemachten Paſtor, wenig
Leute da waren, die einen Begrif vom Zu-
ſammenhange in Geſellſchaft hatten! —
Herr v. G — der Selige! was meynen meine
Leſer, war er nicht gebohren, in eine Geſell-
ſchaft Geiſt und Ordnung zu bringen, —
und ſelbſt Waldhoͤrnern den Cammerton bey-
zulegen? Ich wette, Jupiter waͤre unter
ſeinem Vorſitz ein angenehmer Geſellſchafter
worden! und behaupte, daß in der Conver-
ſation, da wir auf ſeinem Gute waren, ſo
viel Einheit, ſo viel Stimmung liege, daß
es ein Concert heiſſen koͤnnte, wenn der Kunſt-
richter es ſo erlauben will.


Wahrheiten, die jeder ſieht und hoͤrt,
wer kann ſie aushalten? Es regnet, es hat
gereg-
[535] geregnet, es wird regnen! — Wer einen
Garten anlegt, muß fuͤr Schatten ſorgen.
Wagen gewinnt, wagen verliert. Wenn ich
gehe, komm ich weiter. Solcher Augen-
ſcheinlichkeiten drengten ſich in ſchwerer
Menge zum Vorſchein, wer kann aber daran
Theil nehmen? Wer uͤber Einfaͤlle der nem-
lichen Art lachen? Iſts Wunder, daß ſich
unſre Redner gefliſſentlich bemuͤhen, den ge-
meinſten Hut nach der Mode zu ſtutzen! So
waßerklar waren auch die Hochzeit-Tiſchre-
den, und das Gedicht, welches Minens ge-
weſener Informator zuſammengewuͤrfelt hat-
te. Das Gedicht lief allen an Waßerklarheit
den Rang ab. Ein Reim nahm die Erklaͤ-
rung des andern uͤber ſich — Wie Herr
und Knecht war einer gegen den andern —


Ein alter Edelmann unterſchied ſich
durch den Brauch, nach Noten zu gaͤhnen,
und hielt dabey ordentlich Melodie. Anfaͤng-
lich fiel uns dieſe Muſikneigung auf; indeſ-
ſen nahm Herr v. W — in eigener Perſon
ſeine Vertheidigung uͤber, und Herrman, der
nur auf dies Commando gewartet hatte, be-
hauptete, daß das Gaͤhnen die Erfindung der
Cadanzen waͤre, die doch heut zu Tage ſo
treflich beklatſcht wuͤrden. Man bewunderte
L l 4ſogar
[536] ſogar die Euphonie unſeres Gaͤhnenden. Ver-
ſteht ſich, daß er ſich deſto oͤfter ſehen und
hoͤren lies! — Herr v. W — haͤtte ſeinen
zu freygebigen Beyfall, ſobald unſer Edel-
mann es zur foͤrmlichen Tafelmuſik anlegte,
gar zu gern wiederrufen; wie konnte ſich
aber Herr v. W — widerſprechen? Freylich
war er ſonſt die leibhafte Catachreſis, eine
Figur in der andern. Er war ein Trauer-
froͤhliger. Dieſe Figur lies ſich indeſſen nicht
bey dem vorliegenden Fall anbringen.


Auf der Hochzeit zu Cana in Galilaea ge-
brach es an Wein; hier gebrach es an mehr!
An Etwas, das kein Wein geben kann; wenn
gleich tauſendmal jenes pauliniſche Recept:
trinke ein wenig Weins, deines ſchwa-
chen Magens halber,
in Ausuͤbung ge-
bracht wird.


Darf ich noch bemerken, daß es bey der
Mahlzeit, in ſo weit es uͤberhaupt das De-
partement der Marta betraf, das ſich Herr
v. W — in hoher Perſon zugeeignet, nicht
fehlte an irgend einem Guten! — Wohl
aber war von allem etwas druͤber; ein Com-
pliment ſtach uͤberall durch! — Iſt das
nicht etwas druͤber?


Der
[537]

Der Cadanzgaͤhner, brachte wiewohl in
unmaasgeblichen Vorſchlag, Hamburger
Pulver
zum Deſert; indeſſen fand er keinen
Beyfall; Herr v. W — ſelbſt meynte, das
wuͤrde heißen: zum Bußtage gratuliren —


Unter einem Maͤrtyrer ſtelt man ſich ei-
nen thaͤtigen hervorragenden Mann vor, der
einen Kopf zu viel hat, oder der einen Kopf
groͤßer wie der Haufe iſt. Was aber den Un-
ſrigen betrift; ſo war er ſo leidend, wie moͤg-
lich. Wo ſtudirt, Herr Hauptmann?


in Koͤnigsberg.


Auch ein Collegium uͤbern deutſchen Styl?


beim Profeſſor — — gehoͤrt.


Das dacht ich wohl! beim Profeſſor, Feld-
herr anſtatt General.


Ein Maͤrtyrer alſo von Hoͤrenſagen.


Beyde, Herrmann und unſer Haupt-
mann, ſaßen an einem kleinen Tiſch, der an
unſerer Tafel graͤnzte. Ich haͤtte ſie zur Ta-
fel gezogen, auch meine Mine haͤtt es, wenn
es auf uns angekommen waͤre.


Wegen einer aus dem Alter genommenen
und auf curſchen Grund und Boden ver-
pflanzten Geſchichte, waͤre der Herr Paſtor,
der ſonſt alles wohlmachte, bey einem Haar
uͤbel angekommen. Auf die ſchriftliche An-
L l 5frage,
[538] frage, wie viel jaͤhrlich fuͤr einen einzigen
Junker? haͤtte ein Hofmeiſter, nach der Er-
zaͤhlung des Herrn Paſtors, hundert Tha-
ler Alb.
gefordert. Wir werden nicht Han-
delsleute, erwiederte der Edelmann, dafuͤr
halt ich meinem Sohne Zeit Lebens zwey
deutſche Bediente, und da hat er Verſtand
und Dienſt oben ein. Facit, erwiederte der
Hofmeiſter, drey Schlingel! — Dies un-
ſchickliche Wort, welches eben, weil ein Jun-
ker mit drinn begriffen war, deſto haͤrter auf-
fiel, brachte alles in Bewegung, obgleich es
nicht auf die Rechnung des Paſtors, ſondern
des Hofmeiſters gehoͤrte. Wenn nicht Herr-
mann die Sache ins Geleiſe gebracht, wer
weiß, ob ſelbſt nicht der Cadanzmacher aus
der Weiſe gekommen waͤre. Richtig, ſagte
Herrmann, und der Cavalier beſchloß: Eins
zu dre [...] thut vier. Schriftlich oder muͤnd-
lich, fragt’ ein anderer? Schriftlich, erwie-
derte der Paſtor; der Hofmeiſter war noch
zur Zeit in Preußen. Das war dem Schlin-
gel zu rathen. Ich daͤchte, der Paſtor haͤtte
die Geſchichte weglaßen, und der Maͤrty-
rer haͤtte Capitain, ſtatt Hauptmann, ſchrei-
ben ſollen! —


Noch
[539]

Noch hatte der gute Herr v. W — zwey
Reden auf dem Herzen!


Die Begleitungsrede ins Schlafgemach
und die Strohkranzrede! Und wo war bey
ſo vieler Verwirrung Zeit, auf dieſe Arbei-
ten zu denken! — und ſie anzuordnen! —


Solche zehn Reden, wenn ſie auch alle
zehn ſo gegluͤckt waͤren, als die beym Schla-
fengehen verungluͤckte, waren nicht den Se-
gen werth, den unſere gute Mutter auf ihre
Tochter legte. Sie verlies uns mit dem Lei-
chentext meiner Mutter: Selig ſind die
reines Herzens ſind, denn ſie werden
Gott ſchauen!


Mehr, duͤnkt mich, war nicht noͤthig an-
zufuͤhren, als daß dieſe Schlaftrunksrede
verungluͤckt ſey, um zugleich zu bemerken,
daß Herr v. W — ſie ſelbſt uͤbernommen!


Die Strohkranzrede ausgenommen, fiel
nichts vor unſerer Heimfuͤhrung vor, was
bemerkungswuͤrdig geweſen waͤre.


Ob nun Herr v. W — wieder befuͤrchtet,
daß er ſeinen Mund an einen Stein ſtoßen
wuͤrde, oder ob er in Erwaͤgung gezogen,
daß eine Strohkranzrede ſich fuͤr keinen Va-
ter ſchickt, wenn gleich dieſer Vater zum
Complimentiren oder zum Redhalten (das iſt
ſich
[540] ſich wohl nicht viel aus dem Wege) gebohren
iſt, weiß ich nicht. Dieſes Geſchaͤfte war
indeſſen einem jungen Edelmann uͤbertragen,
dem der Herrmann ſuflirte! —


Zu Herrmanns Ehre ein Wort, er
weinte ungeſehen, da ich mit Minen zu
Bette gieng — ungeſehen!


Und warum war die Frau v. G — nicht
bey der Hochzeit?


Ich bat die gute Seele der Frau v. W —,
auſſer dem Gewoͤhnlichen, noch ein Wort des
Vertrauens an ſie zu ſenden, ihres Seligen
und Bruder Gotthardts wegen. Warum
kam ſie dieſes Worts des Vertrauens uner-
achtet nicht? Weil mein adliches Blut durch
das poetiſche Blut meiner Mutter Schaden
gelitten, und weil meines Vaters Adel da-
durch, daß er die Kanzel beſtiegen, einen un-
ausloͤſchlichen Fettfleck erhalten — Junker
Gotthardt! Deine Mutter, warum? — —
Waͤre ſie meine Mutter nicht, wuͤrd ich mir
die Freyheit nehmen, zu ſagen: Warum? —
guter Junge!


Herr v. W — und Frau v. W — gleite-
ten uns bis zu unſerer Heimath. Beſonders,
daß keine Thraͤne bey allen dieſen Abſchieden
vorfiel. Junker Peter blieb zu Hauſe; er
hatte
[541] hatte ſich zu einem Abſchied vorbereitet, der
zu lang war, um nur herzlich zu ſcheinen!


Ohne Umſtaͤnde, Peter! Darf ich —


Sie ſind der Bruder meines Weibes,
wollen Sie auch mein Bruder ſeyn?


Ernſt?


wahrer!


Koͤnnen Sie vergeben? —


Was denn?


vergeſſen iſt mehr, als vergeben! Bruder! —


Junker Gotthard gab meinem Weibe und
mir die Haͤnde. Jedes von uns erhielt
eine. Wir kuͤßten ihn beyde. Deſto beſſer!
ſagt er. Gott laß es euch wohlgehen! Meine
Trine wird mir die erſten vierzehn Tage kein
Leckerbiſſen ſeyn, da ich euch geſehen!


Er gab uns ſein Ehrenwort, uns alle
Jahr einmal zu beſuchen. Sind Jagden in
— —? Verſteht ſich! Lebt wohl!


Auch du, guter Gotthard! ich liebe dich
herzlich!


Ich halte, was ich verſprochen, ſagte
Gotthard zum Bruder Peter! der ſich ver-
bindlichſt verbeugte! — Noch wolte Peter
mit Gotthardten in der Stille ſprechen. Es
bleibt! ſchrie ihm Gotthard zu —


Ehe-
[542]

Ehemann alſo! der Mann eines
Weibes, das mich liebt, und das ich wie-
der liebe! — Komm, liebes Weib! Tine!
Mine genannt, komm! — ſchreib ſelbſt! —
damit meine Leſer wiſſen, was an dir iſt! —


Was ſoll ich ſchreiben?


Von der Zeit an, da ich ins Waßer fiel,
bis dieſen Augenblick —


Ich liebte meinen Mann von dem Augen-
blick, da die Retts und die Wo’s vorfielen,
ohne daß ich wußte, was Liebe ſey. Meine
Liebe aͤuſſerte ſich durch meinen Hang, von
ihm ohne Aufhoͤren zu reden. Alle meine
Kinderfragen auf die Manier wie: Sehen ſie
doch, gnaͤdige! wie hoch der Baum iſt;
der Babyloniſche Thurm war wohl weit
hoͤher?


Meine liebe Mutter ward nicht muͤde,
mir Mutterantworten zu geben. Ich weiß
den Tag noch, da ich nicht mehr uͤber ihn
Kinderfragte, und von dieſer Zeit an ver-
wandelte er ſich in ein Ideal, das mit mir
gieng und kam, und aß und trank, das mich
zuweilen froh machte, wenn ich glaubte, ich
koͤnnte ſein werden, und zuweilen betruͤbte,
wenn es mir einfiel: und wenn dies Ideal
ein ander Ideal haͤtte? Dies Ideal ver-
drengte
[543] drengte meinen Alexander, und doch war es
mein Alexander, als wenn er geſeßen
haͤtte —


Minens Andenken war mir nicht im min-
deſten im Wege. Nie kam der Gedanke in
meine Seele: Ihr Tod iſt dein Leben. Ihr
Alexander war nicht der meinige. Der Ih-
rige war da; der meinige war ein Seelen-
alexander! — Es war alles, ich weiß nicht
wie. Ich haͤtte einen andern, der dieſem
Bilde nicht aͤhnlich war, heyrathen koͤnnen;
allein aus blindem Gehorſam gegen meine
Eltern. Ein dergleichen Iſaacs Opfertag er-
ſchien, und ein Engel brachte mir den zu,
den ich liebe und lieben werde bis in den Tod!
Wenn ich jetzt an meinen Hirngeſpinſterpe-
riod zuruͤckdenke, kommt es mir vor, ein
Maͤdchen, das uͤber funfzehn iſt, koͤnne nur
zweyerley, entweder ſolch ein Ideal haben,
oder — ſich lieben laßen und ſich verlieben,
wie das arme Lorchen, derentwegen ich die-
ſen meinen Namen in Tine verwandelte, der
jetzt in Mine veraͤndert iſt! — Es thut
mir recht leid um den Namen Lorchen, den
ich verlohr! Tine hab ich gern verlohren.


Es iſt eine ganz andere Liebe vor, und
eine ganz andere nach der Hochzeit. Bey
dieſer
[544] dieſer iſt mehr Seyn, bey jener mehr Schein,
wie der Droßelpaſtor ſich erklaͤren wuͤrde,
den mein Alexander bey ſeinem Heimzuge
nicht geſprochen hat — Was mir das leid
thut!


Von dem Augenblick, da ich den Namen
Mine erhielt und ich meinen Alexander du
nannte, trat die Veſper ein, das


Nach der Hochzeit — —


Ich bin ein ſo gluͤckliches Weib, als man
es in einer Welt ſeyn kann, die ein Sonn-
abend iſt, und auf die der Sonntag folgt.
Meine ſelige Mutter (das Schwieger kann
ich nicht ſchreiben, es iſt nicht kalt, nicht
warm,) war nicht allein ein Sonnabend.
Alles in der Welt iſt es! alles! Unſre Liebe
ſelbſt, das Vollſtaͤndigſte, was ich kenne, ein
Sonnabend! — Wolt ihr mehr von unſerm
Eheleben?


Was ich mir nur merken laße, thut mein
Alexander. Faſt aber ſolte ich denken, ſeiner
Herrſchaftsabtretung unerachtet, wuͤrd er
nicht thun, was ich will. Wie kann auch ein
Weib wollen? —


Unſere Trauungseinſegnung waͤre frey-
lich anders ausgefallen, wenn ſie der Paſtor
aus L — uͤbernommen. Wie ſie mir aber
noch
[545] noch lebhaft ſind die Worte: (alle Fragen
haben was feyerliches fuͤr mich). Wollen
Sie mit dieſem Manne ziehen, Gluͤck und
Ungluͤck mit ihm theilen, und ſich nicht eher
von ihm trennen, als bis ein Gott gebe ſeli-
ger Tod ſie ſcheidet? — Mein Vater hatte
mir Ja vorpraeludirt; allein mein Herz hielt
ſo wenig Melodie, daß ich laut Ja ſagte,
und ſo laut, ſo herzlich ſag ich es noch jetzo,
bis der Tod uns ſcheidet. Ja, Ja! Amen!
Amen! Hoͤrſt du Alexander? Ja!


Mein Mann kann mir keinen groͤßern
Beweiß von ſeiner Liebe geben, als daß er
mir eine Aehnlichkeit mit Minen zuſchreibt.
Zwar hab ich ſie nur ein einziges mahl in ih-
rem kummervollen Leben, zu ſehen das Gluͤck
gehabt, ſo wie auch vor dieſem die froͤmm-
ſten Leute nicht alle Tage Engel ſahen; allein
auch dies einemal macht ſie mir auf ewig wie
gegenwaͤrtig. Da ſteht ſie! Auch dort
werd ich ſie gleich kennen —


Sie haͤngt in unſerm Hauſe nicht blos
uͤber den Kleinigkeiten, die ſich mein Mann
zum Andenken erkohren; uͤberall haͤngt ſie,
in Oel, in Paſtell und Silhouetten ohn
Ende — Sie lebt und ſchwebt mir vor Au-
M mgen.
[546] gen. Dank, lieber Schutzgeiſt! daß du ſie
mir praͤſentirt haſt, da ich mich auf die Paar
Zuͤge nicht beſinnen konnte! — Jetzt darf
ich dich nicht mehr beſchweren —


Mein Alexander iſt ſehr gerade zu —
Meine Mutter liebt ihn, wie eine Mutter ih-
ren Sohn. Mein Bruder, faͤngt ſich ſo
ſehr nach ihm zu bilden an, als es einem
aͤuſſerſt verdorbenen Menſchen nur immer
moͤglich iſt — Mein Vater ſelbſt iſt mit
dieſem gerade zu ſo zufrieden, als ich es
nie gedacht habe. Aeuſſerſt zufrieden mit
meinem Mann behauptete er juͤngſt, daß ein
gewiſſes edles gerade zu die allerfeinſte Hoͤf-
lichkeit waͤre — Aufs Einkleiden kommts
an, ſetzte er hinzu, und eben das Einkleiden
ſcheint meines Alexanders Sache eben nicht
zu ſeyn. Mein Vater faͤngt mehr an uͤber
die Hoͤflichkeit und Feſtlichkeit zu ſpeculiren,
als ſie zu uͤben. Ganz wird er dieſen Schmuck
nicht ablegen, und warum ſolt’ er? Mein
Mann ſteigt nicht zu Dache. Sein Gerade
zu iſt ein edles Gerade zu.


Die Liebe iſt kuͤhn und ſchuͤchtern im
Großen und im Kleinen. — Mein Vater
will nicht leiden, daß ich meinem Alexander
un-
[547] unters Kinn greife — Warum nicht, lie-
ber Vater? Ein Eheweib darf nichts enteh-
rendes finden, als ein Schelmſtuͤck, und da
ſey Gott fuͤr! — — Wahrlich eine gewiſſe
unzeitige Schaam hat unſer Geſchlecht un-
ter dem Vorwande, es zu heben, ſo herun-
ter gebracht, daß die wenigſten wiſſen, was
ſie thun.


Dem guten Vater faͤllt oft was auf die
Nerven, was andere keinen Augenblick an-
haͤlt —


Ehrenthalber, ſagt mein Mann, iſt
der unausſtehlichſte Ausdruck, den ich kenne,
und beym Kratzfuß des alten Herrn pflegt’ er
zu ſagen: warum verſtellſt du deine Ge-
berde?


Der alte Herr iſt, ſo oft er kommt, ein
mir ſehr lieber Gaſt! Was mir das leid
thut, daß er am Hochzeittage am kleinen Tiſch
ſaß! So oft er kommt, muß er mir: Ich
hab mein Sach Gott heimge-
ſtelt
ꝛc. ſpielen und da ſing ich es denn
ſo herzlich, daß ich ihn noch jedesmahl wei-
nen geſehen! Auch ich weine! Es iſt ein
Regenlied.


Mein Mann beſchuldigt mich, daß ich zu
ſpitzig bin. Noch hab ich keinem, als mir
M m 2ſelbſt,
[548] ſelbſt, mit einer Nadel Schaden gethan!
Wie Alexander da lacht! Solt ich wieder
wo zu Nadelſpitz geweſen ſeyn? — Fuͤrs
Lachen eine Klage!


Mir iſt aͤuſſerſt ſchwul zu Muthe, wenn
ich die Zimmer kehren und aufputzen laße!
Freylich ſagt mein Mann kein Wort druͤber;
allein wenn ſein Blick dieſe meine Thaten be-
ſtreicht, iſt mirs ſo, als ſage er etwas —
Seine Schreibſtube wird faſt gar nicht gelaͤu-
tert. Weiß der Himmel, es iſt wenig Staub
drinn, aller der Buͤcher unerachtet, von de-
nen ſich manche recht nach Staub zu ſehnen
ſcheinen! — wie Er ſelbſt ſagt.


Ehegeſtern ſah Er ſehr ſteif an einen Ort
und war ſo tief in Gedanken, als man in kei-
nen Schlaf ſinken kann. Da hab ich dich ge-
ſehen, ſagte Alexander, wie du einſt alt und
wohlbetagt ſeyn wirſt! — Recht ſo! So
bald die Mienen, wenn man ſo ſagen ſoll,
ohne ſteife Wuͤſte zuſammen fallen, ſieht
man alle die Anſaͤtze zu Runzeln, die man
einſt haben wird, wenn keine Ermunterung,
keine Aufraffung dieſe Linien, dieſe Falten,
mehr zu verloͤſchen im Stande iſt!


Mein Mann ißt ſtark, lauter natuͤrliche
Speiſen, trinkt wenig Wein; allein immer
aus
[549] aus der Quelle! — Ich lege vor — er
gießt ein! — Alles, was bey Tiſche nur
gebrauet und angerichtet werden kann, wird
oͤffentlich gebrauet und angerichtet. Er
macht Punſch und Biſchoff, ich Sallat —
oft ein Ragout aus freyer Fauſt! — Man
gewinnt viel, ſagt mein Mann, wenn man
was werden ſieht! Ich glaube ſelbſt! Was
muß es dem lieben Gott nicht angenehm ge-
weſen ſeyn, ſo alles entſtehen zu ſehen! —
Ich will ſchon gern nicht nach den Sternen
ſehen koͤnnen, aber Gras und Baͤume wach-
ſen, moͤcht ich gern ſehen! — Wer kann es
beſchleichen! —


Noch einen Beweis der zaͤrtlichſten Liebe
meines Alexanders! Mein Leopold hat viele
Zuͤge von mir. Er kuͤßt mich in ihm! O!
das ſind Kuͤße, ſagt er ſelbſt, wenn man ſein
Weib in ſeinem Sohne kuͤßen kann! Sage
noch einmal, das ſind Kuͤße! Ich fuͤhle je-
den, den du deinem Sohne giebſt! —


Wie ſehr hab ich mich geſcheut, einen
Vorfall anzuzeigen, welcher der wichtigſte
meines Lebens iſt, kein Wunder, daß ich ihn
bis auf die letzt geſpart!


M m 3Ich
[550]

Ich bin die Mutter nur von einem einzi-
gen Sohne, Alexander Leopold genannt. Er
heißt im gemeinen Leben Leopold, weil mein
Mann da Alexander heißt. Dies waren
meine erſten und letzten Wochen —


Nach einem der vergnuͤgteſten Jahre,
empfand ich alle Bitterkeiten des Eheſtandes,
und den Fluch, der auf unſre Allmutter Eva
gelegt ward: Du ſolſt mit Schmerzen Kin-
der gebaͤhren — Verzeiht den Seufzer, den
ich tief hohle! — und dieſe Thraͤnen, die
auf dieſes Blatt fallen — Mein Mann
konnte die Scene nicht aushalten. Er gieng
davon, da er ſie nur anfangen ſahe. In
meiner Sterbensnoth gieng er nicht davon! —
Nun bin ich allein! — Vielleicht dreiſter!
Es kam bey der Geburth meines Einzigen
auf die Frag’ an, ob das Kind oder ich ge-
opfert werden ſolte. Mein Mann ſolte ent-
ſcheiden; der Arzt und die Hebamme ſetzten
es darauf aus. Mein Gott, was fuͤr Vor-
faͤllen kann der Menſch ausgeſetzt werden?
Fuͤhr uns nicht in Verſuchung, ſondern er-
loͤs uns von allem Uebel! Gott unſer Va-
ter — Ich kann nicht weiter —


Nach einem ſehr harten Kampfe blieben
zwar Mutter und Kind, ich und Leopold,
leben;
[551] leben; allein weh mir! — Ich kann nicht
mehr Mutter werden! —


Ich habe geendiget in dieſer Welt! — Ich
bin in ein Kloſter eingegangen. Als Klo-
ſter, in ein ſehr gluͤckliches! Mein Mann
liebt mich, wie ſeine Freundin. Mein Leo-
pold, der Lohn meines Kampfes, iſt der beſte
Junge, der in der ganzen Welt iſt — Was
will ich mehr?


Einen guten Kampf hab ich

auf der Welt gekaͤmpfet —

— — — — —

— — — —

daß ich meinen Lebenslauf

ſeliglich vollendet,

und mein arme Seel hinauf

Gott dem Herrn geſendet —

Daß ich meiner ſeligen Mutter nicht voͤl-
lig im Geſang gleich komme, ergiebt ſich,
duͤnkt mich, aus meiner Erzaͤhlung. Wenn
ich aber in meiner Lage ein Lied anſtimme,
wo mein Mann, ſeinem Vater gleich, im
M m 4zwey-
[552] zweyten Diskant einfaͤlt, wie wohl iſt
mir! —


Ich bin der Welt im eigentlichſten Sinn
abgeſtorben! und finde in der Hoſnung der
kuͤnftigen Welt, ſo viel Troſt, daß es wohl
der Muͤhe belohnt, hier nicht ganz gluͤcklich
zu ſeyn! — Ich wolte um wie vieles nicht
mein Theil in dieſem Leben haben, um wie
vieles nicht! — Wie du willſt, Herr, wie
du willſt, ſchick es mit mir! — Wahrlich,
wir ſind zur Hofnung gebohren. Mit dem
Genuß will es nicht recht fort — Ich weiß
nicht, ich kann keinen Menſchen ſo recht aus-
ſtehen, der es ſich gefliſſentlich angelegen ſeyn
laͤßt, zu genuͤßen, dem man es anmerkt, daß
es ihm ſo recht ſchmeckt! —


Man ſagt, daß es die Wehemutter bey
meiner Niederkunft verſehen haben ſoll. Ich
verzeih es ihr herzlich — herzlich — Gott
troͤſte ſie! Sie iſt nach der Zeit oͤfters tief-
ſinnig — Mein Mann und ich, das weiß
Gott, haben nichts dazu beygetragen, daß
ſie tiefſinnig worden — Gott troͤſte ſie und
alle, die dies leſen, bey ihren Leiden, mit
dem Troſte des beßern Lebens, das Gott ge-
ben wird denen, die ihn lieben! —
Tine
[553]Tine genannt Mine.


Damit ich dich abloͤſe. Mine iſt eine
Dichterin. Hier iſt eine Probe von ihr, die
ſie nicht lange nach [unſerer] Heyrath lieferte.
Man wird noch immer das Fraͤulein Lorchen
drinn finden, das ſpitzige Maͤdchen! obgleich
ſie es nicht haben will, und oͤffentlich behaup-
tet, ſie haͤtte noch keinem andern, als ſich
ſelbſt, mit der Nadel Schaden gethan. Aus
Lorchen iſt Tine, und aus Tinen iſt Mine
worden! — Dies iſt die letzte Verwande-
lung, bis der Tod ſie und mich verwandlen
wird, und das Sterbliche anziehen wird, die
Unſterblichkeit — Waͤr es doch auf Einen
Tag, auf Eine Stunde! —


Komm, mein Geliebter, hier ans Camin,
damit ich den Unterſchied deſto mehr empfin-
de, in deinem warmen Arm zu ſeyn und
mich am Caminfeur zu waͤrmen. Welch ein
Abſtand zwiſchen Feur und Feur! gemein
und Opferbrand! Deine Hand, deine bey-
den Haͤnde, in allem ſchlaͤgt ein Schlag der
Liebe, und wenn du deine Hand in meine
legſt, iſts ſo, als wuͤrden unſere Nerven in
einander geſtrickt, unſere Adern zuſammen
M m 5gebun-
[554] gebunden! Wir ſind eins! Wie fremde es
klingt, Er und Sie! Mine und Alexander!
du und ich! Zwey Du’s ſind wir, zwey
ichs.
Außer dir iſt nichts, und außer mir
iſt nichts! —


Welch ein Schauder! Noch einer! Was
ſeh ich! Sieh, Geliebter, an die Fenſter-
ſcheibe, vor deinen ſichtlichen Augen, mahlt
ſich ein Vergismeinnicht! Sieh! ſieh! im
Zuge M und A! Fuͤhlſt du es ſo wie ich?
Mine wars, der Engel Mine! der es mahlt!
Mine, die mich an dich in der Welt abtrat,
die dich im Himmel wieder fordern wird.
Das war nicht die Hand der Natur, die dieſe
Zuͤge heraufſpielte! Dieſes M und A im
weißen Damaſt! Genaͤht iſts nicht — Da
iſt kein Stich zu kennen! — Wie ſchoͤn,
himmliſch ſchoͤn! wo auch kein Stich zu ken-
nen iſt! — O Geliebter, verzeih dieſen
Seufzer! Wenn ich dich im Himmel zu ver-
lieren denke, wie iſt mir? der Himmel und
Verluſt! — Wen willſt du waͤhlen? wen?
O der zwey Sieen! Sie, oder mich? Mich
oder Sie? — Mine, die immer ein Engel
war, oder Mine, die Fleiſch und Bein hatte,
und die werden wird, was Mine immer
war! Engel Mine! Iſts moͤglich, ſchreibs
bey
[555] bey hellem Mondſchein ans Fenſter, wenn
mich ein Herzbeben ergreift, das mir das
Nahſeyn eines Geiſtes verkuͤndigt. Du oder
ich? — Verzeih, Himmliſche! dieſe Erden-
frage! Grosmuͤthige, verzeih! — Du biſt
mein Geliebter! — du bleibſt mein Ge-
liebter! — Mine, die Goͤttliche, wie ſie
mich Dir laͤßt! — Komm in meinen
Arm, komm ans Caminfeur! Wir ſind Ein
Herz und Eine Seele, wir ſind Eins fuͤr
Himmel und Erde! — Hoͤre, wie das Feur
im Camin in Jubel ausbricht! Das iſt kein
gemeines Gepraſſel! — und auch jene ſanf-
tere Stimme, wie harmoniſch! — Kohlen
vom Heiligthum geben dem ſtummen Waßer
Leben und Sprache. So kocht kein ſchlech-
tes Waßer, wie dies da, das ſich mit dem
Gepraßel des Caminbrandes in Melodie
ſetzt! — Das ſich vordrengt, um gehoͤrt zu
werden. Alles ſpricht, du und ich! Wir
beyde Dus, wir beyde ichs! Grosmuͤthiger
Engel Mine! — Unausſprechliche Himmli-
ſche! — Wenn ich ein Engel werde, wie
du es immer warſt, will ich dir danken! —


Tine, genannt Mine iſt aͤuſſerſt fromm!
— Sie betet alle Abend, ſo wie ſie es in ih-
res
[556] res Vaters Hauſe zu thun gewohnt war! —
Selbſt hat ſie Gebete aufgeſetzt, die, wenn
gleich ſie auch nicht Bild und Ueberſchrift:
Volksgebete, verdienen, doch von einem
Herzen zeigen, in dem Gott ſein Werk ange-
fangen hat. Er woll es in ihr durch ſeinen
heiligen Geiſt beſtaͤtigen und vollfuͤhren bis
zu ſeinem Tage. Amen! Ich will das
Gebet fuͤr den Sonnabend
herſetzen:


Dieſer Tag, in Parentheſi, iſt meines
Weibes Liebling, ſo wie es der Tag meiner
Mutter war; allein aus verſchiedenen Urſa-
chen. Mit mir, ſagt mein liebes Weib, iſts
Sonnabend! — Gute Seele! — Unſere
Wege ſind nicht Gottes Wege. Unſere Ge-
danken ſind nicht Gottes Gedanken. So
hoch der Himmel uͤber der Erde; ſo ſind auch
Gottes Wege hoͤher, denn unſere Wege, und
Gottes Gedanken hoͤher, denn unſere Ge-
danken.


Am Sonnabend.


Gottlob! wieder eine Woche! Wie ſie
war, und nun nicht mehr iſt! Ich glaube,
es wiſſen viele Leute nicht, wenn ſie ſterben,
daß
[557] daß ſie gelebt haben. O ſelige Kuͤrze der
Zeit, einziger lebendiger Troſt, bey allen Lei-
den dieſer Welt! die eben deretwegen zeitlich
und leicht ſind! und doch ſchaffen ſie eine
ewige und uͤber alle maaßen wichtige Herr-
lichkeit, uns, die wir nicht ſehen auf das
Sichtbare ſondern auf das Unſichtbare, nicht
auf den Leib, ſondern auf die Seele, nicht
auf die Welt, ſondern auf Gott, den Anfaͤn-
ger und Vollender! den Hoͤchſten! ſo wie der
Menſchen Geiſt vielleicht der niedrigſte
iſt — — Es geht mit der Zeit ſo, wie mit
allem, was gut iſt. Wir ſchaͤtzen es nicht
eher, als bis wir es nicht mehr haben! —
Nichts iſt weniger habhaft zu werden, als die
Zeit. Ich ſtelle mir vor, ſie verwandelt ſich
in Ewigkeit, ſo wie wir in Engel! Wer
kann alles begreifen, wie es zugeht! Ich
fuͤrchte mich nicht, wenn dieſe Woche auftritt,
und mich einſt vor jenem Richterſtuhl zur Re-
chenſchaft fordert, wo wir alle werden offen-
bar werden! an dieſem Sonnabend der
Welt! Wer kann aber, Richter der Welt,
wer kann vor dir beſtehen, du Herzenskuͤndi-
ger! du Gedankenkenner! Barmherzigkeit
komme uͤber mich, und uͤber alle, die ſich be-
muͤhen Barmherzigkeit zu uͤben und Gutes
zu
[558] zu thun, und in guten Werken zu trachten
nach dem ewigen Leben!


Die Zeit vergeht; allein gute Thaten
pflanzen ſich fort, und ihre Geſchlechter dau-
ren bis zum Ende der Tage! — Jede gute
That hat mehr als Einen Sohn, hat viel Er-
ben! und dieſe Kinder, haben wieder Kin-
der! — Wer wolte nicht gut ſeyn, um ein
Vater, eine Mutter von ſo guten lieben Kin-
dern zu werden, die ſich ſelbſt erziehen! —


Der Schluß der Woche kann der Anfang
zur Beſſerung ſeyn! Ich gelobe! und wills
halten, mein Fleiſch und Blut niederzuſchla-
gen, wenn der Eigenduͤnkel mir einbilden
will, ich waͤre beſſer, als ein anderer, wenn
die Haͤrte mir ins Ohr ziſcht: Verdient es
auch der Arme?
will ich antworten: Bey
Gott gilt der gute Wille; Was wuͤrde ſonſt
aus uns allen werden? So will ich leben,
damit ich einſt froh ſterben kann. Wenn
werd ich? das weiß Gott, der Herr des Le-
bens! Wohl mir, daß er nicht ein Gott der
Todten, ſondern der Lebendigen iſt! Wohl
mir, daß er mir den Trieb zum Leben ſo tief
eingepflanzt hat. Je aͤlter wir werden, je
mehr Luſt zum Leben wandelt uns an. Die-
ſen
[559] ſen Trieb zum Leben ſolt ich haben, und doch
ſterblich ſeyn! Nein! wahrlich! wahrlich!
Ich glaub es, nimmermehr werd ich ſterben,
es wird nur ſo ſcheinen, als ſtuͤrb ich! —
Der liebe Gott wuͤrde ſich geirrt haben, wenn
er den Lebensplan in den Menſchen gelegt
haͤtte, falls der Menſch ihn auszufuͤhren auſ-
ſer Stand waͤre. Gott begeht keinen Ir-
thum! Iſt der Tod nicht Ende? wie gluͤck-
lich, daß wir ſterben! Erwachen wir nicht
nach einer Nacht voll Schlaf, friſch zu einem
ſchoͤnen Morgen? Die Nacht iſt ein Bild
des Todes; der Morgen ein Bild der Wie-
dergeburt, die uns allen bevorſteht! —
Herr! lehre du mich bedenken, daß ich ſter-
ben muß, lehr es mich in jeder Daͤmmerung,
lehr es mich am Sonnabend vor allen Din-
gen! Mach es mit mir, wie du willſt — und
iſt der Sonnabend meines Lebens vorhanden,
helf mir Gott, der helfen kann, wenn alle
menſchliche Huͤlfe verzweifelt — Wenn kein
Trunk mehr unſre gedorrte Lippen labt, er-
quick uns der Troſt der Unſterblichkeit! Wenn
die Unſrigen unſern Segen fordern, und wir
ſegnen wollen und nicht mehr koͤnnen! Vol-
lende das Werk, Abba, lieber Vater, du
haſt mehr als Einen Segen. Laß unſere Lie-
ben
[560] ben bedenken, daß wir ſie alle wieder finden
werden, an einem ſchoͤnen Sonntage mit
Feyrkleidern angethan! — Hallelnja! —
Vollbracht! ſey unſer letztes Wort, Gnade!
unſer letzter Seufzer!


Da denk ich eben an die, ſo eben jetzt, da
ich um ein ſanftes ſeliges Ende bete, wenn
mein Stuͤndlein vorhanden iſt, ihr Haupt
zum Tode zurecht legen! Moͤchte doch ihr
Sterbkuͤßen ihnen leicht ſeyn! — ſo wie uns
allen einſt die Erde. Wir ſind ja alle aus
deinem Hauſe, lieber Vater! Kinder der To-
desangſt unſeres ſterbenden Bruders, unſrer
entſchlafenden Schweſter. Laß den guten
Geiſt, der ſie in dieſer Welt leitete, ihre
Seele geleiten zu den Wohnungen der Ge-
rechten! — Sie ſterben an einem ſchoͤnen
Tage! Erbarm dich ihrer und unſrer aller! —
Kuͤrze die Noth eines jeden, die er auch ſei-
nem Vertrauteſten nicht entdeckt, der Mann
nicht ſeinem Weibe! — Erhoͤre jeden
Wunſch, wenn es auch dein Wunſch iſt!
Amen! In deine Haͤnde befehl ich meinen
Geiſt! Amen! —


Ich
[561]

Ich habe die Gewohnheit beybehalten,
daß ſie alle Abend in Gegenwart der Leute
betet! und auch ein Lied nach dem Gebete an-
ſtimmt, das wir alle ſingen. Ihr gebuͤhrt
die Wahl, und ich habe oft die Freude durch
dieſen oder jenen Gedanken eines Liedes herz-
inniglich uͤberraſcht und ſelig erquickt zu wer-
den! — Wuͤrde ſich meine ſelige Mutter
uͤber eine ſolche Tochter nicht freuen, wenn
gleich ſie nicht aus dem Stamme Levi iſt,
und ich nicht Superintendent worden. Aus
dem Liede ſehe ich, wie mein liebes Weib ge-
ſtimmt iſt.


Geſtern Abend ſangen wir:
Warum ſolt ich mich denn graͤmen?
Gott! wie ſang ſie den Vers:


Kann uns denn der Tod wohl toͤdten?

Nein! er reißt

meinen Geiſt,

aus viel tauſend Noͤthen;

ſchließt das Thor der ſchweren Lei-

den! — —

und macht Bahn

himmelan!

zu dem Sitz der Freuden.

Heute ſingen wir ein Loblied, das ſeh ich
ihr an! Alle Sonnabend einen Sterbgeſang,
N ndas
[562] das weiß ich ſchon! Meiner ſeligen Mine
Regenlied! Ich hab mein Sach Gott
heimgeſtellt,
iſt auch ihr Seelenlied! —
Ich wuͤnſchte, daß manche edle Seele von
meinen Leſerinnen den Herrmann ſpielen und
mein Weib ſingen hoͤren koͤnnte! — O des
guten Weibes! —


Unſerm Leopold hab ich in dieſem Buche
ſein Kind-ſein Pflichttheil berichtiget! Ich
hab ihn beym Publiko eingeſchrieben; mehr
gebuͤhrt ihm nicht. So viel indeſſen zur
Nachricht, daß er ein lieber, lieber Jung iſt,
der ſeinen Lebenslauf zu ſeiner Zeit ſchon ohne
ſeines Vaters Beyhuͤlfe ſchreiben wird! —
Es hat gute Wege mit ihm; Faͤhigkeiten ſel-
tener Art! —


Junker Gotthard beſucht uns alle Jahre!
ſo wie er uns ſein Wort gegeben. Noch iſt
er nicht Ehemann! — Seine Jagdliebha-
berey nimmt taͤglich zu! — Sein Herz iſt
untadelhaft. Man mag ſagen, was man
will, er iſt doch immer das beſte Wild in al-
len ſeinen ſchoͤnen Waͤldern.


Seine Mutter kann es ſich noch nicht vor-
ſtellen, daß ich die Tochter eines benachbar-
ten Edelinanns geheyrathet, und freuet ſich
herzlich, daß nicht die Sonne in Curland die-
ſen
[563] ſen unerhoͤrten Fall beſcheine! — Kaͤm es
auf ſie an, ſie wuͤrde unſre Ehe noch bis die-
ſen Augenblick unguͤltig erklaͤren — Sie
zaͤhlt zehn Ahnen mehr, als nach Sethi Calui-
ſii
Berechnung (der doch auch ſein Exempel
zu rechnen wußte) die Welt geſtanden. O
der ſtifts und turnierfaͤhigen Frauen! —
Doch! warum von ihr Auskunft, da mir
noch Jemand weit naͤher iſt —


Der alte Herr hat jetzt ſeine Freyſtatt
beym Herrn v. W —. Seine duͤrftige Um-
ſtaͤnde erforderten Beyhuͤlfe, und wer wird
ſich nicht freuen, daß Herrman, der, nach dem
betruͤbten Suͤndenfall, den Apfelbaum aus
ſeinem Garten rottete und der Tugendbelob-
ten Jungfer Dene einen Scheidebrief er-
theilte, nicht Noth leidet. Herr v. W —
konnte aber auch ſich ſelbſt nicht beſſer rathen,
als auf dieſe Weiſe.


Herrmann gieng nach Minens Tode
krumm und gebuͤckt, und meine Mutter fand
ſich verpflichtet, ihm Nahrung und Kleider
zuzuwenden. Dieſe Sorgfalt, verſprach ſie,
ſo lange ſie lebte fuͤr ihn zu haben. Sie hielt
mehr, als ſie verſprochen, und noch nach ih-
rem Tode empfand er ihre milde kalte Hand.
N n 2In
[564] In die Stelle ihrer Gutherzigkeit trat das Le-
gat der Frau v. — b — indeſſen war Herr-
mann noch nicht voͤllig aus aller Leibesnoth,
aus welcher ihn Herr v. W — voͤllig ſetzte.
Der Herr Inſpektor fand ſich auch mit hun-
dert Thaler preußl. ein, die Herrmann zum
Bratenrock verwendete. Indeſſen hat De-
rius ſo wenig Luſt, ſeinen Vater, als der
Vater den Herrn Inſpektor zu ſehen! —
Dieſe Penſion von hundert Thaler preuß. will
Darius jaͤhrlich fortſetzen.


Man ſagt, Schulmeiſter werden darum
ſo ſehr alt, weil ſie immer mit jungen Leu-
ten umgehen. Dieſen Kunſtgrif haben viele
Alte, um ſich zu verjuͤngen, wie die Adler! —
Freude ſteckt an! Man darf hier nicht blos
auf die Ausduͤnſtung Ruͤckſicht nehmen, auf
die es vielleicht bey dem Kebsweibe des Koͤ-
niges Davids angeſehen war — Herrmann
hatte nun wohl ſchon laͤngſtens das Schul-
handwerk aufgegeben; indeſſen hatte er ein
Temperament, das hier mehr galt, als der
Umgang mit der Jugend.


Wenn er zur Treppe herunter geworfen
wird, ſagte Herr v. G — der Selige, kommt
er zuverlaͤßig ſeinen Hut hohlen — —


Haſt
[565]

Haſt du, lieber Leſer, je Einen obſervirt,
der dem andern zu gefallen lacht oder weint?
Beydes iſt heßlich! Unendlich lieber aber
will ich, Jemanden zu gefallen, weinen, als
lachen ſehen. Wie eckel, wenn man Jeman-
den zu gefallen freundlich thut! — Herr-
mann war ein dergleichen Klag- und Freu-
denweib. Er giebt, wie Herr v. G — der
Selige ſagte, wie ein Teich, naſſe und
trockene Nutzung.


Der Stolz iſt zweyerley, innerlich und
aͤußerlich. Leibes- und Seelenſtolz! So
kann man ſtolz ſeyn auf ſeine Naſe, Augen,
Ohren, aufs Zifferblatt; allein auch aufs
Werk ſelbſt, auf die Seele! Dieſer innerliche
Stolz, wenn er uͤbel angebracht iſt, heißt
Aufgeblaſenheit. Dies war Herrmanns Feh-
ler, den er beym Herrn v. W — abzulegen
ſchwerlich Gelegenheit finden wird. Von ſei-
nem Schnupftuch haͤngt ein großer Theil aus
der Taſche. Er ſchmuͤckt ſich gern mit einem
lateiniſchen Woͤrtchen, welches wie ein Schoͤn-
fleckchen abſticht —


Herr v. G — ſelbſt indeſſen, wenn er
noch lebte, wuͤrde dem Herrmann, dieſes
Schoͤnfleckchens und des herausragenden
Schnupftuchs unerachtet, das Zeugnis der
N n 3Beſſe-
[566] Beſſerung in ſehr vielen Stuͤcken nicht ver-
ſagen! — Wir wollen uns nur der ſtillver-
weinten Thraͤne zuruͤckerinnern, da ich mit
Minen zu Bette gieng! — —


Seine Einfaͤlle freylich hat er noch nicht
gelaßen; wer laͤßt aber auch Buſenſuͤnden ſo
leicht? Sie ſind Parderflecken! —


Herr v. G — der Selige nannte ſeinen
Witz des Satansengel, der ihn mit Faͤuſten
ſchluͤge, und wahrlich mit Recht! Seine
Einfaͤlle? Sind ſie denn Einfaͤlle? Kaum!
Es ſind Gipsabguͤſſe von Witz.


War es Wunder, daß Herrmann wieder
zu Kraͤften kam, da ihm Herr v. W — mit
Rath und That ſo hoͤflich beyſtand? Der
Tremulant ward zwar noch zuweilen gezogen;
indeſſen ließ von Zeit zu Zeit der Trompeten-
zug ſich hoͤren.


Lang hungern, iſt nicht Brod ſparen,
ſagte Junker Gotthard! der gute Junge! Er
hatte eine gewiſſe Antipathie wider den Herr-
mann von ſeinem Vater geerbt! — Juͤngſt
ſah er mich an, und liebaͤugelte mir auf
Rechnung meines Schwiegervaters und ſei-
nes Waffentraͤgers zu. Das Wetter, ſagt’
er, kennt man am Winde. Als Herrmann
von ſeinen ausgeſtandenen Ungluͤcksfaͤllen
anfieng,
[567] anfieng, macht’ ihn Gotthard mit der Be-
merkung ſtill: was ein guter Haken werden
will, kruͤmmt ſich in Zeiten — Herrmann
erzaͤhlte eine Beleidigung, die ihm ohne
ſein Verſchulden zugefuͤgt worden — da
hielten Sie wohl ein Schnupftuch vor, und
ſagten: mir blutet die Naſe? fragte Junker
Gotthard.


Herrmann hatte die Art, wenn ihn Je-
mand ſeines Gleichen was fragte, nicht zu
antworten, ſondern recht, als fuͤrchtete er
etwas, anſtatt der Antwort wieder zu fra-
gen. Wie ſo? Er begegnete der Frage durch
eine andere Frage, und ſo wie kluge Leute,
wenn ſie nach gothiſcher Weiſe examinirt wer-
den, die ſchwere Pflicht zu antworten ſehr
weislich auf den Frager ſchieben; ſo macht’
es auch Herrmann und eben hiedurch gewann
er Zeit, erhielt ſich bey Ehren, und ſuchte
ſich, wie alle Leute ſeiner Art, zu praͤſer-
viren —


Dem Junker Gotthard, der doch wahr-
lich nicht ſeines Gleichen war, begegnete Herr-
mann auf gleiche Weiſe; indeſſen gewoͤhnte
er ihm ſein wie ſo? auf eine ſo auffallende
Art ab, daß Herrmann ſich bey jeder Frage
verſcheute, wenn gleich ſie nicht wie ſo? war.


N n 4Das
[568]

Das iſt ſo platt, daß es keine Naſe hat,
ſagte Herrmann zum Herr v. W — uͤber ei-
nen Ausdruck des Junkers Gotthard; allein
er fand keinen Beyſtand, vielmehr ward er
auch vom Herrn v. W — auf eine Art an-
gelaſſen, daß, um ſeinen gewoͤhnlichen Aus-
druck beyzubehalten, ihm die Ohren klangen.
Da verdienen ſie eine Naſe, erwiederte Herr
v. W — und freute ſich, daß bey ſeinem
Scheltwort wenigſtens ein Wohllaut, wie er
dafuͤr hielt, anzubringen geweſen! — Wohl-
laut? Herr v. W?


Die Gewohnheit, die Herrmann ſeit ſo
lange ich ihn kenne, hatte, ſeine Weſte mit
Nadeln zu beſtecken, daß ſie wie mit golde-
nem Rundſchnur beſetzt ausſah, hat ihm Herr
v. W — gluͤcklich abgewoͤhnt — Verſteht
ſich, mit Hoͤflichkeit —


Vor kurzen nahm mein Schwiegervater bey
Gelegenheit der Naſe, die Sache des Jun-
kers Gotthard; jetzt rettete er Herrmanns
Ehre, als Gotthard ihm den Schneider
vorruͤckte. Federſchneider wollen Sie ſa-
gen, fiel ihm Herr v. W — ein. Freylich
haͤtte Gotthard bedenken ſollen, daß Herr-
mann ein Haͤusling des Herrn v. W — iſt.
Gotthard war gewohnt, dem Herrn v. W —
nach-
[569] nachzugeben. Es blieb beym Federſchneider.
Viele nannten den Herrmann Secretair, und
man ließ ſie, ohne daß ſie zurecht geholfen
wurden, dabey.


Um die Zeit, wenn der Inſpektor ſeinem
Vater das Jahrgeld ſendet, iſt Herrmann ſo
tief in Gedanken, daß Herr v. W — alle
Muͤhe hat, ihn zu zerſtreuen! — Er koͤnne
ſich, ſagt Herr v. W —, vor Unruhe nicht
bergen! — Wie das kommen mag! Wenn
es nur nicht mit Herrmann zum Ende geht!
ſagte Herr v. W —, da er mich zum letzten-
mahl beſuchte! — Jetzt faͤngt er an, ſo
tief in Gedanken zu fallen, wenn er nur et-
was anlegt, das von dieſer Penſion gekauft
worden! Den Bratenrock zieht er gar nicht
mehr an. Gott ſey ſeiner Seele gnaͤdig! —


Der Schwager Peter hat ein Weib ge-
nommen, darum kann er nicht kommen, ſagt
Junker Gotthard, das heißt: der gute Jun-
ker Peter hat die Herrſchaft in ſeinem Hauſe
nicht abgetreten; allein er iſt ſo wenig Herr,
daß ſeine Frau ſogar den Stab Wehe uͤber
ihn fuͤhrt! — Herr v. K — nahm ihn in
Anſpruch, und forderte alles Geld, das er
ihm geſchenket, oder mit ihm gemeinſchaft-
lich reichmaͤnniſch durchgebracht hatte. Es
N n 5war
[570] war nur, ſchreibt ihm Herr v. K —, auf
die Hand gegeben. v. K — der ehemals
ein Verſchwender war, iſt jetzt in einen ſol-
chen Geizſumpf gefallen, daß er ſich ent-
ſetzlich beſudelt — Jeder Redliche im Lande
flieht ihn. Wer hat aber nicht ſeinen An-
hang in Curland? der auch mit v. Ks —
vorn Willen nimmt. Junker Peter konnte
ſich in der Noth, da er vom v. K — in
Anſpruch genommen ward, und bey die-
ſer Gelegenhet ſo mancherley und man-
ches ans Licht brach, nicht anders, als
durch ein Eheverbindniß, helfen. Wie
oft decken Ehen der Suͤnden Menge! —
Faſt immer ſind ſie heut zu Tage Suͤnden-
diener —


v. E — hat eine ſehr liebenswuͤrdige Frau,
und von ihr drey Soͤhne, die dem Bilde ih-
rer Mutter aͤhnlich ſind. Ich hab’ ihn ſeit
der Zeit nicht geſehen, da er in Koͤnigsberg
Koͤnig eines Freudenmahls war. Warum
bracht ich die Nacht, da Herr v. E — mit
Extrapoſt von Koͤnigsberg gieng, ſchlaflos
zu? Seine Zuſchrift, nachdem er von mei-
ner Ankunft in Curland Nachricht eingezo-
gen, will ich ſo wenig mittheilen, als meine
Antwort. Wir wiſſen alle, daß er Franzos
und
[571] und Curlaͤnder war, daß er Kriechen und ſich
ein Paar Zoll hoͤher heben konnte, als er ge-
wachſen war. Ob ſeine Frau ihn nicht wenig-
ſtens auf eins einſchraͤnken, und entweder zum
Curlaͤnder oder zum Franzoſen bringen wird?
muß die Zeit lehren. Wie es zugegangen,
weiß ich nicht; allein v. E — hat den v. K —
gefordert. Wie gewoͤhnlich, ſie haben ſich nichts
gethan. Da hat jeder ſeinen heißhungrigen
Jupiter, und dergleichen Gevatter wetzen die
Scharten aus! —


Dieſen Augenblick erhalt ich vom Herrn
v. W — die Nachricht, daß Herrmann in
wirklichen Wahnſinn gefallen! welch ein
Unterſchied gegen eine Lindenkrankheit? —
Die Hoͤflichkeit des Herrn v. W — erlaubt
es nicht, ihn von ſich zu entfernen, und
auf der andern Seite, bemerkt er, bin ich aͤuſ-
ſerſt mit ihm geplagt! — Sich ſelbſt kann
Herrmann nicht uͤberlaſſen werden.


Sein Sohn hat ihm dieſes Jahr hundert
und funfzig Thaler geſandt. Ob ihm dieſe
Erhoͤhung voͤllig den Kopf verruͤckt, oder die
Bitte, die Benjamin der Zulage beygefuͤgt,
ihn in Preußen zu beſuchen, weiß Herr v.
W — nicht!


Die
[572]

Die Frau Inſpektorin ſey in geſegneten
Umſtaͤnden, und truͤge ein ſo großes Verlan-
gen (ſchreibt Darius) ihren Schwiegervater
zu ſehen, daß er auf das dringendſte bitten
muͤßte — Muͤſte, das glaub ich ſelbſt!
Einen andern Vater wuͤrde dies entzuͤckt ha-
ben, und Herrmann — —


Iſt todt! — Ein Brief von meiner lie-
ben Mutter! — Drey Tage vor ſeinem
Ende iſt er vernuͤnftig geweſen. In den An-
faͤllen der Raſerey hat er ſehr laut Benja-
min
gerufen! Mine aber ſo hohl, als duͤrft
er nicht. Inſpektor! Inſpektor! jetzt koͤnnt
es dir leid thun, daß du deinen Vater nicht
noch geſprochen haſt! Gute Wochen deiner
Frau! Eben meld’ ich ihm den vaͤterlichen
Tod. In der Beylage dieſes Briefes erfolg-
ten 350 Reichsthaler preuſch, die Herrmann
unerbrochen weggelegt hat. Unerbrochen!
Das Ehrenkleid, das er von der Penſion des
erſten Jahres berichtiget, iſt ihm mit ins
Grab gegeben, auf ſein ausdruͤckliches Ver-
langen! Ich will es anziehen, hat er ge-
ſagt, wenn ich Minen ſehe! —


Roth wird ſeinetwegen kein Tag im Ca-
lender des Herrn v. W — gefaͤrbt werden!
dafuͤr ſteh ich! So wie ich weiß, daß er ſei-
nen
[573] nen Tod herzlicher, als den Tod ſo vieler an-
dern rothgefaͤrbten, bedauren wird!


Junker Gotthard ſoll Braͤutigam ſeyn!
das waͤre viel! —


Alles, was ich ſonſt noch auf meinem Her-
zen und Gewiſſen habe, in die Nutzanwen-
dung! —


Schluß
[574]

Schluß!


Endlich! wird ein großer Theil meiner
wohlmeynenden Leſer, wie ich wuͤnſche und
hoffe, ſagen, und dieſem Endlich ſagen, ſetz
ich aus dem Innerſten meines Herzens Gott-
lob!
entgegen. — Gottlob! —


Alſo haͤtten wir in den gegenwaͤrtigen
drey Theilen abgehandelt, ob kuͤrzlich, weiß
ich nicht, einfaͤltiglich aber gewiß, meinen
Lebenslauf,
bis auf eine ſaͤchſiſche Friſt
vor der Meſſe, nebſt drey Beylagen, A. B.
C. denen ich am Thor ein vielleicht zu ſtolzes
Prognoſticon geſtellet habe. Nichts iſt wah-
rer, als jene Bemerkung: nulla tam odioſa
narratio, quam ſui ipſius laus,
welches Junker
Gotthard ſehr ſchoͤn, Eigenlob ſtinkt, verdol-
metſchen wuͤrde. Darius wuͤrd es noch hand-
greiflicher geben. Damit alſo nur ja nie-
mand auf den unrichtigen Gedanken falle,
als haͤtt’ ich mir ſelbſt dieſes Monument er-
richtet; ſo ſey es mir erlaubt zu bemerken,
daß ſolches blos der lettiſchen Muſe, dem
Organiſten in L — und dem guten Gott-
frieden
zu Ehren prangert, und daß der
vierte und fuͤnfte Theil mehr durch meine
Feder,
[575] Feder, als durch meinen Kopf gehen werde.
Qui bene diſtinguit, bene docet.


Dank dir, Deutſchland, an das meines
Schwiegervaters Hochwohlgebohrnen tauſend
Empfehlungen mitgeben, daß du mir nicht
manum de tabula, die Hand vom Schreib-
tiſch zugerufen. Schuldig bin ich noch (da
ich dieſes Werk mit einer Hand verglichen, ob
rechte oder linke? hab ich wohlbedaͤchtig un-
beſtimmt gelaſſen) den Goldfinger und Ohr-
finger. Getreulich und ſonder Gefehrde, hab
ich die drey erſten oder die Schwurfinger dar-
gereicht, den Daumen, oder den Kopf der
Hand, den Zeige- und Mittelfinger — Zu
Abtragung meiner Schuld nur eine kurze
Friſt.


Friſt!


Ich weiß ſo gut, wie Nathanael, ver-
ſprechen macht Schuld, und wer mehr ver-
ſpricht, als er zu halten im Stande iſt, kann
zur Erſetzung des Schadens ex L. Aquili[a]
angehalten werden. Schaden? Vortheil ſoll
Euch mein Anſtand zuziehen, und landuͤbliche
Zinſen tragen. Es fehlen nur noch einige
Nachrichten, meines Vaters Jugend, und
meines Grosvaters Alter betreffend, um al-
len
[576] len reſpektive Frag- und Verwunderungszek-
chen zu entgehen. Ein Kind, wenn es ſich
die Finger verbrannt, pflegt das Licht zu
ſcheuen, obgleich mein Leopold es noch lange
erſt verſuchen wuͤrde, ob die Finger mit der
Zeit nicht ſtaͤrker, als das Licht, ſeyn wuͤr-
den! —


Kurze


Ich habe nicht noͤthig zu fragen: meynſt
du, daß dieſe Gebeine wieder lebendig wer-
den? Es liegt alles, bis auf einen Hauch
da! — Es ringt nach Leben! —


Da ſeht, meine Ehrlichkeit! — Haͤtt
ich denn nicht meiner Laͤnge, wo nicht eine
ganze Elle, ſo doch ein Viertel, und da ich
Soldat geweſen, ein Paar Zoll zuſetzen, und
behaupten koͤnnen, daß mich ein anderes ge-
lehrtes Werk abhielte. Ich habe aber nie auf
den Zehen in dieſem Buche geſtanden, oder mich
durch einen hohen Abſatz vergroͤßert. Warum
ſolt ichs? Warum ſolt ich ſagen, daß mich
eine andre gelehrte Arbeit beſchaͤftige, und
daß ich zweyen Herren diene? Blos bin ich im
Dienſt der Wiſſenſchaften, und dieſe meine
hochgebietende Herren ſind ſo geneigt, wie
Gott der Herr, ihren Dienſt einzurichten.
Wir
[577] Wir dienen nicht Gott, ſondern uns, und
ſo gehts auch mir mit den Wiſſenſchaften!


Ich glaube nicht, daß ein Speiſemeiſter
vom andern und dritten Theile zu ſagen Ur-
ſache gefunden: Jedermann giebt zuerſt
den guten Wein, und wenn die Gaͤſte trunken
ſind den geringern. Dies ſey die Buͤrgſchaft,
die ich bey meinen Leſern in beſter Rechtsform
wegen der Fortſetzung einlege, und ſolte hie
und da ein Speiſemeiſter dieſe Klage wider
mich rechtlich fuͤhren zu koͤnnen, des Dafuͤr-
haltens ſeyn; ſo wiſſe er, daß ich nicht Je-
dermann
bin, und daß ich in Wahrheit es
nicht zum Betrinken angelegt. Freyheit iſt
meine Loſung bey Tiſch, als Schriftſteller
— uͤberall — Ein Jeſuiterraͤuſchchen hat
bey den truͤben Tagen des Lebens nichts zu
ſagen! — Zwar hab ich mich bemuͤhet, al-
len einſchlaͤfrenden Erweiterungen auszuwei-
chen. Was iſt aber ganz vollendet? Alles,
was vollendet iſt, iſt dem Menſchen nicht auf
ſeinen Leib, oder eigentlich auf ſeine Seele
gemacht. Selbſt ihr Unſterblichen! Du New-
ton
und du Copernikus! wißt ihr denn auch
gewiß, daß alles ſo iſt, wie es euch in ei-
ner gluͤcklichen Nacht traͤumte? — das
rechte Wort zu allen Erfindungen — Koͤnnt’
O oihr
[578] ihr ſagen, es iſt vollendet? ihr, die ihr ſelbſt
nicht vollendet, ſondern nur Numero ſieben
ſeyd. Maulwuͤrfe, koͤnnen die vollenden?
Homer und Milton, Vater und Sohn,
was meynt ihr? — Ach Gott! du allein,
Unbegreiflicher, du allein biſt vollſtaͤndig,
vollkommen. Alle Erfindungen, ſo hoch man
auch kommt, lehren nur den Menſchen, wie
weit er noch vom Ziel ſey. Die Hauptmen-
ſchen in der Welt verdienen nur den Namen
Propheten. Sie ſagen, was kuͤnftig ſeyn
wird.


Es wuͤrde die vires haereditatis uͤberſtei-
gen heißen, wenn ſich irgend ein Menſch ein-
bilden wollte, etwas zu ſchreiben, wovon er
behaupten koͤnnt’, es waͤre ſo ganz da, wie
er! Ein andres Schoͤpfer! ein andres Ge-
ſchoͤpfe! Niemand kann ſagen, er ſahe an,
alles was er gemacht hatte, und ſiehe da,
es war alles ſehr gut.


Ein Fragment iſt mir aus dieſem Ge-
ſichtspunkt ein angenehmes Wort! Es iſt
ein Menſchenwerk! Der Menſch ſelbſt kommt
ſich in dieſer Welt nur als ein Fragment vor,
ſo ganz er gleich da iſt. Heil ihm! daß er
eben von dieſem Ganzen ſchließen kann, daß
er ſelbſt ſich in allen Ruͤckſichten begreifen,
von
[579] von allen Zipfeln einſt faſſen werde, in der
Fortſetzung ſeines Lebens! — in der andern
Welt! —


Das, was meinem Herzen von meinem
Leben am meiſten aufgefallen, hab ich mit-
getheilt — und was die Zukunft betrift —
Was kann mir kuͤnftig (beym Licht die Sache
genommen) viel mehr begegnen, als der
Tod? — ûnd da hoff ich zu dem, der in mir
angefangen hat das gute Werk, er werde es
durch ſeinen heiligen Geiſt in mir beſtaͤtigen
und vollfuͤhren, bis an dieſen meinen juͤng-
ſten Tag, auf dieſer Welt und in der neuen
— Ein doppelter juͤngſter Tag! — Solten
ſich Umſtaͤnde ereignen, wer weiß die Ge-
ſchichte ſeines morgenden Tages, die eines
Protocolls werth waͤren; ſo trag ich es hie-
mit meinem beym Publico als Autor einge-
ſchriebenen Sohne Alexander Leopold auf,
getreulich alles zu geben, wie er es empfangen
hat — Gott ſegne dich! lieber Leopold! und
deine Mutter fuͤr und fuͤr! Amen! —


Schone mich nicht, mein Sohn, ziehe
vielmehr den Vorhang auf, wenn ich mich
vor dem Publico gefliſſentlich in einem andern
Lichte darſtellte! Schreibe getroſt. Schone
O o 2nicht
[580] nicht. So war mein Vater nicht, ſo
war er!


Was ſoll ich von meinem Buche ſagen?
Wahrlich, es iſt nicht ein olympiſcher Lauf
nach einem Zeitungslob! — Ein unverwelk-
tes Erbe war mein Ziel, zu trachten in gu-
ten Werken nach dem ewigen Leben, meine
Hofnung! —


Ich ſchrieb den Menſchen, oder bemuͤhte
mich, ihn zu ſchreiben. Jeder hat noch ein
Aeſtchen aus dem Paradieſe mitgebracht, und
jeder hat etwas vom Apfel gegeſſen! — Die
Menſchen ſind alle auf einen Fuß. Man
darf ſie nur aus dem gehoͤrigen Geſichtspunkt
nehmen, ſo ſind ſie als Einer, als Adam.
Madam Eva war ja auch in ihm, in ſeiner
Ribbe. Solch ein Geſichtspunkt iſt vorhan-
den; ob ich ihn getroffen, ſey dem wachha-
benden Officier, dem mit einem Achſelbande
zu Pferde, zu Fuß, von der Leibgarde, von
der Garde der Gelehrten Republik, anheim
gegeben! — Mit den Thorſchreibern hab ich
mich, wie erwecklich zu leſen, in dem Buche
ſelbſt, ein langes und breites abgegeben —


Freylich iſt zwiſchen Waͤchtern und Rich-
tern ein Unterſchied. Wie wenige verdienen
aber
[581] aber den ehrwuͤrdigen Namen Richter? Ein
Richteramt iſt ein ſchweres Amt. Natha-
nael waͤhlte das beſte Theil, da ers nieder-
legte, und wie wenig giebts Nathanaels und
ſolche kunſtrichterliche Juſtizraͤthe, wie er!
Kleine ſchielende Reviſionsknaben die Menge!
— Die Herren α, β, γ, moͤcht ich auch un-
gern daruͤber ſprechen laſſen.


Wer in den Charakteren nicht Praͤciſion
findet, kann jeden in Perſon kennen lernen,
bis auf die, welche in dieſem Buche ſelig ent-
ſchlafen ſind, und wer meiner Grosmutter
nachſpottet, und mit geruͤmpfter Naſe die
Frage aufwirft: wie vielmal Amen in die-
ſem Buche vorkommt? wiſſe, daß ich ein
Liebhaber dieſes Worts bin. Ich liebe nicht
Flittern, nicht Schminke, trage keinen Re-
genſchirm, keinen Herrmannſchen Glanzkit-
tel. Eine Jahreszeit iſt mir ſo, wie die an-
dere. Alles, was aus Naturhaͤnden kommt,
iſt Gottes Gabe! Geſchmack? Ja frey-
lich hat nicht jeder Luſt zu lauter Milch und
Kuchen, und zum Stuͤck vom zarten guten
Kalbe, dieſem verlohrnen Sohnsbraten, ob-
gleich Abraham himmliſche Herrſchaften da-
mit bewirthete — —


O o 3Wer
[582]

Wer nicht zuweilen Himmel und Erde in
Eins gefuͤhlt hat, Seel und Leib in Einer
Perſon — Wer nicht Muth gehabt, im di-
cken Walde, die heiligen Schauer, aus ſei-
nem Grabe herausgeſtiegen, zu empfinden,
und die Stimme der menſchenfeindlichen Ei-
che verſtanden: aus mir wird einſt dein Sarg
geſchnitten! muß freylich ganze Bogen dieſes
Buchs unausſtehlich finden. Wer aber die-
ſes Gefuͤhl kennt, das ſich nicht unterſteht,
einen Ausdruck zu wagen, damit ihn nicht ein
Bote Gottes ungewaͤhlt faͤnde! Mit dem geh’
ich zuſammen. Hebt ſich dein Herz, wird dein
Buſen entzuͤndet, komm in Charlottens Laube!
und wo du ſonſt willſt, hier iſt meine Hand! —


Ein Menſch, der zu empfinden weiß, daß
er nicht mehr brauche, als zu leben, daß
alle Reichthuͤmer Schaͤtze ſind, die Motten
und Roſt freſſen, und wornach Diebe gra-
ben, um ſie zu ſtehlen, erhaͤlt eine gewiſſe
edle Art, ein wahres Geniegefuͤhl, das allen
Hoch- und Hochwohlgebohrnen Zwang ver-
ſchmaͤht, ſich entſattelt, und den Reuter ver-
achtet, der ſich ihm aufbuͤrden will! — Das
iſt ein Genie! —


Muttermaͤhler der Sinnlichkeit und
Schoͤnpflaͤſterchen ſind ſo unterſchieden, als
ein
[583] ein unſchuldiges frommes Maͤdchen und eine
Nonne.


Wir verehren nicht gemeine Dinge und
verſuͤndigen uns oft ſchwer an ihnen. Was ſel-
ten iſt, gefaͤllt! — Man haßt den, der im Klei-
nen betruͤgt. Thut ers im Großen; ſo finden
wir ſo viel nicht auszuſetzen. Das Spiel ver-
lohnt das Licht nicht! — Große Diebe lau-
fen, kleine haͤngen! Der Beobachter wen-
det ſich nur an kleine Zuͤge, und uͤberlaͤßt
gern die Hauptſtuͤcke andern, blos weil ſie
mehr ins Auge fallen. Das Gemuͤth, das
Herz, ſchlaͤgt im Winkel an ſeine Bruſt, wie
der Zoͤllner, es will durchaus nicht geſehen
ſeyn; allein jeder hat auch ſeinen Phariſaͤer
bey ſich, der gefliſſentlich bemuͤht iſt, ſich
vorzudrengen, wenn man den Menſchen mah-
len will.


— Gern! gern! verzeih ich allen, die
mich truͤglich behandelt, mit Luͤgen und mit
falſchem Gedicht, durch notas ſelectas und
variorum. Scire leges non eſt, verba earum
tenere, ſed vim et poteſtatem
.


Der, der aller Welt Richter iſt und recht
richtet, der das rechte Recht ſpricht, das
ſich ſchlafen gelegt hat, weiß den innerſten
Gedanken meiner Seele und den Rath mei-
O o 4nes
[584] nes Herzens. Er weiß, wie ich ringe, die Men-
ſchen, die ſich von ihm entfernet, zu ihm zu
ſammlen, und wie ich getroſt ohne Menſchen-
furcht gerufen: trachtet am erſten nach dem
Reiche Gottes, und nach ſeiner Gerechtig-
keit; ſo wird euch das andere alles zu-
fallen.
Vor ihm iſt all mein Begier, mein
Seufzen iſt ihm nicht verborgen, meine Thraͤ-
nen nicht, fuͤr Jeruſalem, ach! wenn es
bedaͤchte zu dieſer ſeiner Zeit, was zu
ſeinem Frieden dienet, aber noch iſt es
fuͤr ſeinen Augen verborgen,
und mein
Gebet: dein Reich komme — — das al-
les weiß der Herzenskuͤndiger!


Und doch hielten viele mein Buch, weil
ich mit Zoͤllnern zu Tiſche ſaß, fuͤr einen Ver-
fuͤhrer des Volks — Ihr, die ihr nur aufs
Sichtbare ſeht, und nicht aufs Unſichtbare,
obgleich das Sichtbare zeitlich iſt, und das
Unſichtbare ewig! O ihr Gottes Augendie-
ner! die ihr Splitter im Naͤchſtenauge ſeht,
und euren Balken nicht bemerket, was meynt
ihr wohl von Tugend und Religion? die ich
entweiht haben ſoll? Werdet wie die Kinder,
das iſt die goͤttliche Lehre, deren Geiſt mich
trieb, und ihr Phariſaͤer, die ihr nicht ſeyd,
wie andere Leute, Raͤuber, Abgoͤtter, oder
dieſes
[585] dieſes Buch, dieſer im Winkel ſtehende Zoͤll-
ner, die ihr zwier in der Woche faſtet, und ge-
bet den Armen von allem, was ihr habt,
und die ihr dies alles gerade vor dem Altar laut
ſagt, glaubt ihr gerechtfertiget in euer Haus
zu gehen? — Glaubt ihr, daß der Pauken-
ſchall allein gen Himmel reiche, und daß euer
Oden-Wirbel dem ein ſuͤßer Geruch ſey, der
menſchlich zu Menſchen ſprach, und allem,
was gros iſt, Einfalt beylegte? Was ſchlecht
und recht iſt, iſt ihm angenehm; nicht das
hohe, das ſich baͤumt und ſchwillt, nachdem
es reſpective ſich baͤumen oder ſchwellen
kann.


Ich will euch nicht namentlich darſtel-
len, euch, die ihr Gottes Finger verkanntet,
die ihr Steine wider mein Buch aufhobet,
und ein Geſicht dabey ſchnittet, als thaͤtet ihr
Gott einen Dienſt daran. Unſer Herr und
Meiſter ſchalt nicht wieder, da er geſcholten
ward, draͤute nicht, da er litte, ſondern
ſtellte es dem heim, der da recht richtet; in-
deſſen konnt er nicht umhin, eine Geißel in
die Hand zu nehmen und die Kaͤufer und Ver-
kaͤufer aus dem Tempel zu treiben, und das
ſeid ihr! Ihr, die ihr Gott zu lieben vor-
gebt, den ihr nicht ſehet, und euren Bruder
O o 5nicht
[586] nicht liebt, den ihr ſeht. Ihr, die ihr einen
Menſchen, ſchnoͤden Gewinnſtes, gallſuͤchti-
gen Neides halber, verfolgt, der die Le-
benslaͤufe in aufſteigender Linie ſchreibt,

und am Sonntage Aehren ißt, wenn ihn hun-
gert, auch, wenn ihm Gelegenheit gegeben wuͤr-
de, einen jeden Eſel aus dem Brunnen ziehen
wuͤrde am Sabbath — was hab ich euch ge-
than? hab ich je einen Phariſaͤer und Saddu-
caͤer namentlich genannt? Hab ich nicht vom
Laſter geredet, wenn ich den Laſterhaften
meynte. Mit dem einzigen Voltaire hab ich
namentlich ein Geſpoͤtte getrieben und ich ver-
ſichr’ es Euch auf Ehre, daß es mir leid thut,
obgleich er gewiß den erſten Theil meines Le-
benslaufs nicht geleſen hat, und alſo unmoͤg-
lich daran geſtorben ſeyn kann —


Fragt meine Eltern, Vater und Mutter,
die all in der Erde liegen und ſchlafen, ob ich
ſie nicht geliebt habe bis in den Tod, fragt
dies Buch, wenn gleich es die Wahrheit ge-
ſchrieben, hat es darum nicht Vater und
Mutter geehrt? — Wahrlich! des vierten
Gebots halber wird es ihm wohl gehen, und
es wird lange leben auf Erden, und ſelbſt,
wenn es gekreuziget wuͤrde, wird es auferſte-
hen!


Ent-
[587]

Entweder die Religion muß alles tingiren,
oder es iſt gar keine! Iſt denn Gott nicht
uͤberall? und glaubt ihr Leutbetruͤger, Gott
ſey wie ein Menſch, den ihr mit einem Ge-
ſichte voll Ergebenheit, wenn gleich das Herz
fern von ihm iſt, hinters Licht fuͤhren koͤnnt?
Mit gutem Herzen zu ſagen: es iſt kein
Gott — aus Tyrus und Sydon ſeyn, iſt beſ-
ſer, als Gott heucheln, wie des Hiobs
Freunde! — —


Wilſt du erlauben, lieber Herr α, daß
ich dich ganz deutlich ins Geſicht frage: ver-
ſtehſt du auch, was du lieſeſt? Wenn meine
Mutter nicht eine Originalchriſtin iſt, moͤcht
ich ſagen, giebts kein Chriſtenthum!


Bibliſche Worte und Wendungen?
Iſt denn die Bibel nicht werth, daß man ihr
nachſpricht? Fehlt es ihr wo an Lebensart,
daß man ſie nicht in Geſellſchaft nehmen
darf? und die wohlgemeynte lutheriſche Ue-
berſetzung, kommt ſie nicht von Herzen und
geht ſie nicht zu Herzen? Wir haben ſchon
anders den Grundtext, und wer ſteht uns da-
fuͤr, daß man Luthers Bibeluͤberſetzung in
der chriſtlichen hochdeutſchen Gemeine nicht
verbietet; wird ſie aber darum das Kindli-
che verlieren? und haben nicht ſelbſt einige
dieſer
[588] dieſer neuen Ueberſetzer Luthers Stern und
Kern, wie meine Mutter ſagen wuͤrde, im
Segen benutzet? Von einigen Stellen ſolte
man faſt glauben, Chriſtus der Herr wuͤrde
ſolch Deutſch geredet haben, wenn er dieſe
Sprache bey ſeiner Amtswanderſchaft auf
Erden gefunden.


Iſt die Bibelſprache zu erhaben? zu hei-
lig? Sollen wir denn nicht heilig ſeyn, wie
Gott der Herr? und ſind wir nicht ſeine Kin-
der? Nimmt denn Gott der Herr es uͤbel,
wenn wir in Liebe und Einfalt uns ihm auf
den Schoos ſetzen. Kann ich mit ihm um-
gehen wie die lieben Kinder mit ihrem lie-
ben Vater, warum denn die affektirte Ehrer-
bietung gegen ein in ſchwarz Corduan mit
goldnem Schnitt gebundenes Buch? Wo iſt
ein, ſelbſt der Natur mehr nahkommendes
Werk, das ſo ſehr unter Menſchen von aller-
ley Art bekannt iſt? Kennen denn alle den
Homer, welche die Bibel kennen? und
wo iſt mehr wohlthaͤtige Volksphiloſophie,
kindlich groͤßere Natur, als in der Bibel?
Pruͤft doch die Leute naͤher, welche die Bi-
bel, und eigentlich nicht ſie, ſondern das
Kleid der Bibel, wie Schaubrodte, wie Re-
ligion, behandeln! Der Mann da mit der
from-
[589] frommen Miene beſitzt ſieben Hufen Nabots-
acker, und jene Betſchweſter hat jedwedes
Mitglied ihres Hofſtaats mit einer Narbe
beehrt, welche freylich eine heilige Wunde
zuruͤckgelaßen; indeſſen war es doch Wunde,
und iſt doch Narbe. Sie wirft jedem, was
ihr zu nahe kommt, mit der Bibel am Kopf,
der ſie nachher das Blut abwaͤſcht und der
ſie mit einem Kuß abbittet. Judas, ver-
raͤthſt du des Menſchen Sohn mit einem
Kuß? —


Was macht die Ungnaͤdige? fragt’ ich
juͤngſt, und der ehrwuͤrdige Beichtvater ant-
wortete: Sie geht herum nach 1 Petri 5.
v.
8. Und dieſen ſilberhaͤrigen Greiß, die-
ſen Mann Gottes, ſolt ich ſeines 1 Petri 5.
v. 8. wegen anſehen, wie Cain ſeinen Bru-
der Abel? weil er nicht, wie ſeine Amtsbruͤ-
der, am Wort und an der Lehre haͤlt, weil
er nicht mit jedem von und jedem und Ab-
goͤtterey treibet, das in der Bibel ſteht: An
ihren Fruͤchten ſolt ihr ſie erkennen!
Du
ſollſt nicht andre Goͤtter haben neben mir,
ſpricht der Herr, und aus dieſem Herrn iſt
unſer Vater worden, nach dem Unterricht des,
der gekommen iſt, zu ſuchen und ſelig zu ma-
chen, was durch Uebel-Verſtand verlohren
war.
[590] war. Ich habe nichts dagegen, wenn Na-
thanael ſich in den Pandekten den Titel de
verborum ſignificationibus
bekannt macht;
was iſt aber Bild und Ueberſchrift, wenn
Barren da ſind?


Mein Name? Was thut denn der zur
Sache? Muß man durchaus in Kupfer ge-
ſtochen ſeyn, wenn man ein Autor iſt? und
muß der Herr Kunſtrichter, um ſein Muͤth-
chen zu kuͤhlen, noch den von Angeſicht zu
Angeſicht kennen, den er mit Lob oder Tadel
mishandeln will? Du ſollſt keine Perſon an-
ſehen, noch Geſchenke nehmen! Geſchenke
machen ſelbſt die Weiſen blind und verkeh-
ren die Sachen der Gerechten. Was recht
iſt, dem ſolſt du nachjagen. Kannſt du denn
nicht loben, Elender! als ins Geſicht? Der
Name?
bin ich denn anders, ſeit dem ich
Alexander war und rußiſcher Major ward?
ſeit dem mir mein Vater mit dem einen Buch-
ſtab ein Geſchenk machte? und da ich dies
Geſchenk noch nicht hatte? Alles auf Worte,
auf Buchſtaben! Kommts denn in dieſer
Welt auf etwas mehr, als Grundſaͤtze an?
Giebts nicht eine unſichtbare Kirche, fuͤr
welche ich allemal viel Achtung gehabt?
Freunde? — Auch euch nenn ich ſo, die
ihr
[591] ihr mir flucht und nachſchmaͤht — es giebt
ſichtbare und unſichtbare Kirche, ſtreitende,
und heil mir! triumphirende Kirche! — — —


Seht! ich hab es dazu nicht angelegt,
daß dieſe Schrift per honore di lettera aufge-
nommen werde! —


Nur drey wiſſen meinen Namen, und Ei-
ner iſts, an den ich dieſes Buch geſchrieben
habe! — Eine lange Epiſtel! Den andern
beyden hab ich meinen Namen ins Ohr ge-
ſagt, einem ins rechte, einem ins linke. Was
das angenehm iſt, ſo manchen Schuſter
hinter dem Vorhange zu hoͤren, der uͤber ſei-
nen Leiſten hinwegurtheilt, und den ein Schnei-
der verbeſſert, und mit dem ein Hutmacher
das Garaus macht, da der Dumkopf ſich ſo
gar bis an den Kopf gewagt — Hut, wolt
ich ſagen! Beym Leiſten, Meiſter! beym
Leiſten! —


Ich trinke lieber mit meiner lieben Mine
und meinem Leopold friſche Milch, als daß
ich einem litterariſchen Reiſenden zu Anekdo-
ten und zu einer Suͤnde mehr wider
den heiligen Geiſt
Gelegenheit geben
ſolte! —


Chri-
[592]

Chriſtus der Herr verbot ſeinen Juͤngern
alles Studiren: es wird euch zu der Zeit
ſchon alles gegeben werden! Dies iſt eine
Regel, die mit goldnen Buchſtaben angezeich-
net zu werden verdiente, uͤber alle Bibliothe-
ken in der Welt! — Ueber alle Autor-
tiſche! —


Es iſt ſehr natuͤrlich, daß man ſich wun-
dern werde, wie ich ſelbſt nicht an Stell und
Ort bekannt worden, und bis jetzt allen feu-
rigen Pfeilen der Boͤſewichter, auch der im
Dunklen ſchleichenden Anekdotenſucht, ſo rit-
terlich entgangen!


Obgleich ich nun eben nicht noͤthig haͤtte,
eine Polemik, ehe mir dazu Gelegenheit ge-
geben wird, dieſem thetiſchen Werke anzu-
haͤngen, und eher zu antworten, als ich ſo
naſeweiſe gefragt worden; ſo hab ich doch
lieber ſo viel Anſtoßſteine, als ich nur ſehen
konnte, wegzuraͤumen, als ſie im Wege zu
laßen mir in dem Herrn vorgeſetzet.


Wiße alſo, Opponens doctiſſime! daß
Mitau zwar nur ſieben Meilen von Riga
liegt; allein dieſe ſieben Meilen ſind in Ab-
ſicht der Sitten und Gebraͤuche nicht ſieben,
ſondern ſiebenzig mahl ſieben. Es iſt zwi-
ſchen
[593] ſchen dieſen beyden Staͤdten eine ſo große
Kluft befeſtiget, daß die da wolten, konnten
nicht — Wer ließt in Curland? Wahrlich
wenig ſind, die dieſen ſchmalen Weg fin-
den — Herr v. G — iſt todt! — Alſo
haͤtt’ ich mir Curland mit leichter Muͤhe vom
Halſe geſchaft.


An Ort und Stelle hab ich dreyen bra-
ven Leuten, wie oben bereits geſagt worden
(der Organiſt in L — wuͤrde ſagen, dreyen
getreuen Nachbaren und desgleichen) das Ge-
heimnis entdecken muͤſſen. Die guten Her-
ren laſen, und ſchon beym dritten Blade des
erſten Theils waren ſie mir ſo zu Dache, wie
der Inſpektor es nur immer ſeyn konnte.
Das ſind ſie ja mit Leib und Seele! Nun
ja doch! Ich bins! allein fuͤr jeden nicht! —
Was braucht ein vierter und fuͤnfter den
Ringſchluͤſſel zu tragen, und warum ſoll ich
jedem Gecken erlauben, in meinem Hauſe
gemaͤchlich zu thun? Kann ich denn nicht
auch, wie Herr v. G — der Selige, auf
meinen Degen ſchlagen, wenn der Krippen-
ritter nach dem Schluͤſſel zum Gaſtzimmer
und Stall fraͤgt?


Behalt es bey dir! du mir liebes Trium-
virat! bey dir! und wenn der — — mit
P pdem
[594] dem rothen Bart, der immer Waßer auf ſeine
Muͤhle ſucht, ſeine Naſe in euren theuren
Rath (denn guter Rath iſt theuer!) ſteckt,
ſchlagt dem Bengel, der mir ſchon ſo oft gal-
lenbittre Stunden gemacht, auf ſeine unbe-
deutende herausgegorne Naſe, damit er das
Stecken in anderer Leute Haͤndel aufgebe
und ſeine eigene Haustafel lerne, wo Re-
chenmeiſter, nur er nicht, wie am Pasquin,
mit duͤrren Worten geleſen haben: Land und
Leutbetruͤger! O du Muͤckenſauger! Cameel-
verſchlucker! Lederdieb, um ein Paar Pan-
toffeln zu fertigen, das du dem Bettler giebſt,
wenn er nehmlich eine Rohrdommelſtimme
hat und in allen Straßen ſingen kann:
Es iſt das Heil uns kommen her!


Ich kenne dich — — Mit deinen Klauen
kenn ich dich! Raubvogel! und koͤnnt’ ich
dieſe Klauen einem klugen Phyſiognomiſten
in copia vidimata ſenden, er wuͤrde ex vngue
nicht leonem, ſondern — — kennen, und
ſie zur Warnungsanzeige drucken laßen, al-
len, die Gottes Finger und Menſchenfinger
kennen — Du, ein aͤrgrer falſcher Zeuge,
als Johann Peter Beifuß und Martin Ja-
cob Kegler, nur du! biſt mein Alexander
der
[595]der Schmidt, der dem ehrlichen Petrus viel
Herzeleid zufuͤgte und ſeinen Werken und
Worten oft widerſtand! — Gott vergelte
dir nicht nach deinen Werken, ſondern ſchenke,
wenns moͤglich iſt, dir ſchwarzes Haar im
Bart, und ſtatt der Nebucadnezarnaͤgel
menſchliche — wenn es ſeinem heiligen
und allezeit guten Willen nicht zuwider
iſt —


Gott weiß am beſten, mit welchem ſchwe-
ren beklommenen Herzen ich dieſes Buch ge-
ſchrieben! Menſchentreffer werden es ohne
Wegweiſer finden, und ich ſolte noch oben
ein mir von dieſem oder jenem Weibe, wenn
ich in erlaubter Entfernung am Caminfeur
ſtehe und mich waͤrme, ins Geſicht ſagen laſ-
ſen: wareſt du nicht Einer! — — — —


Deine Sprache verraͤth dich! Ich
mag nicht klaͤtſchern, am Caminfeur, Rede
ſtehen und Gecken das Verſtaͤndnis oͤfnen,
daß ſie die Schrift verſtehen. Hoͤren ſie Mo-
ſen und die Propheten nicht, ſo werden ſie
nicht glauben, wenn einer von den Todten
auferſtuͤnde und das Reich Gottes predigte,
welches nicht beſtehet in Eßen und Trinken,
ſondern in Liebe und Freude im heiligen
P p 2Geiſt!
[596] Geiſt! — Kann wohl auch der gedultigſte die ſo
boshafte Art, womit man Koͤpfen begegnet, er-
tragen? Kann er, wenn ſein Name in allen
Landen bekannt iſt, einem Melchiſedechs-
Spottwort in ſeinem Lebenszirkel auswei-
chen? Gern ſeh ich Wahrheit ſich mit Kri-
tik herausfordern; allein nicht poͤbelhaft bal-
gen! —


Ein Burſchenvivat oder Pereat iſt nicht
fuͤr mich. Ich verbitte beydes! und wer
kann beyden entgehen, wenn man weiß, wo
ich des Abends Licht brenne? Wenn nun
auch jetzt ein verzogener ungenannter Bube,
der auf der Landſtraße die Vorbeygehenden
mit Schneebaͤllen wirft, die er all in ſeiner
Hand gedruͤckt und gedraͤngt hat, eins auf
mich abfeurt, laßt ihn doch dieſen Prophe-
tenknaben, ohn’ ihm die Ruthe zu geben!
Er iſt zu petulant, um von ihm ſagen zu
koͤnnen: der Herr hats ihm geheißen! Iſts
doch auf der Landſtraße, wo man mich auch
nicht kennt. Ich ſolte! — Nein! das Buͤb-
chen wird ſeinen Schulmeiſter ſchon finden;
und das Birkenreiß, waͤr es auch ein Re-
viſor!


Was
[597]

Was willſt denn du mit den kleinen Stei-
nen? Koͤnnteſt du ſie ſchleudern, wie David,
und waͤr eine Goliath Stirn dir zu Dienſten,
ſo waͤrs eine Sache! — David hob anders
ſeine kleine Steine, wie du, und all ihr! die
ihr voll Wuth das Straßenpflaſter zerſtoͤrt
und Steine nahmet, mich ſteinreich poͤbelhaft
zu uͤberfallen, ſteinigt! Wißt! ich ſeh den
Himmel offen! und einen, der meinen Geiſt
aufnimmt — Grabt mir Gruben! Ich ſinge
mit meiner Mutter:
Wenn wir geſchlafen haben,
wird uns erwecken Gott —

Und mit meinem Vater aus ſeinem Lieblings-
liede, wo er zuerſt den zweyten Diskant an-
ſtimmte:
So giengs den lieben Alten! —


Ich werde nicht ſterben, ſondern leben blei-
ben — — —


Nur dann, wenn das Waßer geraͤdert
wird, wenn man es aufhaͤlt, machts ein Ge-
ſchrey. Was thu ich Euch?
Roman?
und wenn es denn einer waͤre! Freylich be-
kam es dem guten Biſchof Heliodorus nicht
ſonderlich, daß er in ſeiner Jugend einen Ro-
man geſchrieben, der noch, unter dem Na-
P p 3men
[598] men Aetiopica, wenn nicht bluͤhet, ſo doch
vorhanden iſt — Seine Herren Amtsbruͤ-
der ſahen, daß ſich junge Leute dieſen Ro-
man kauften, und verlangten, daß der Bi-
ſchof entweder dieſen Roman oͤffentlich wie
einen Sodomiten verbrennen, oder ſeine
Muͤtze abnehmen ſolte. Der Schriftſteller
lies die Muͤtze fahren — Gott ſey gelobt!
Ein Biſchofthum hab ich nicht zu verlieren,
und wer es genau nimmt, wird finden, daß
alles in der Welt Roman ſey. Hat je ein
großer Herr das gemeine Leben, ſo wie es
da gemein iſt, geſehen? Wer kennt die Stadt,
den Berg, das Thal aus der Beſchreibung,
wenn er an Stell und Ort kommt? Curtius
hat es nur ein klein wenig zu grob gemacht;
welch ein Geſchichtſchreiber indeſſen hat ihn
nicht in der Schule uͤberſetzt. Man behaup-
tete zu ſeiner Zeit, Philipp derIII.Koͤnig
von Spanien
ſey Autor des Don Qvichotte
und Cervantes habe nur Hebammendienſte
verrichtet und den Druck beſorgt — —
Waͤre mein Buch alſo ein Roman: warum
ſolt ich es zuruͤckhalten? Was Philipp dem III.
Koͤnige von Spanien anſtand, kann ſich ja
wohl ein Major mit einem abgeaͤnderten Buch-
ſtab im Namen gefallen laßen!


Seht
[599]

Seht ihr aber, ihr Romanhelden! ſeht
ihr nicht in meinem Buche das gemeine Leben?
Iſt der Geiſt wahr, wie er denn wahr und
wahrhaftig iſt, was kuͤmmert euch der Leib?
Ein Koͤnig von England, ſagte uͤber einen
Betrunkenen, der ſich Freyheiten gegen ihn
herausnahm, die den uͤbrigen, die zu Tiſche
ſaßen, nicht wohlgefielen: Laßt ihn! ein Be-
trunkener iſt mein College! Wer geizig iſt,
um zur rechten Zeit drauf gehen zu laßen,
kann der geizig heiſſen? und wer ſeine Zinſen
verzehrt, ohne den Hauptſtuhl anzugreifen, iſt
das ein Verſchwender? Wo Holz gehauen
wird, fallen Spaͤhne! Spaarpfennige ſind
wie gute Feuranſtalten, um gleich zu loͤſchen,
wenn es brennt! —


Ich fuͤhl es, Freunde! Ich hab einen gu-
ten Kampf gekaͤmpfet, ich habe den Lauf vol-
lendet, forthin iſt mir beygelegt die Krone
der Gerechtigkeit, nicht allein aber mir, ſon-
dern allen, welche die Erſcheinung, welche
den Advent des Reichs Gottes, lieb haben!
— — Komm, du ſchoͤne Freudenkrone! —


Der zeitlichen Ehr will ich gern ent-
behren! — Du wollſt mir nur die ewige
gewaͤhren,
und wenn ich mir noch etwas
zur Gefaͤlligkeit erbitten darf, zeichnet mein
P p 4Buch
[600] Buch nicht durch Falten, koͤnnt ihr nicht ohne
Merkmal finden, wo ihr geblieben; nehmt
Denkzettel! Soltet ihr euch aber auch nicht
ohne die behelfen koͤnnen? Ich habe keinen
Sand auf das Manuſcript geſtreut, es iſt
durchweg durch die Sonne getrocknet! und
ihr ſoltet nicht ohne Zeichen leſen koͤnnen?


Gott gruͤß Euch! lieben Leſer und Leſe-
rinnen! und laß es euch nie mangeln an ir-
gend einem Gute, das heißt: er laß es euch
ſelbſt erkennen, wie wenig der Menſch braucht,
um alles zu haben! — —


Wenn ich zum vierten und fuͤnften Theil
ſchreite, ſehen wir uns wieder. Iſts gleich
nicht ſo nahe, ſehen wir uns doch — Da
kommts nur aufs Aug’ an. So wie ich mei-
nen Tod wuͤnſche, ſo ploͤtzlich nehm ich Ab-
ſchied! Lebt wohl! —


Geſchrieben zu — l —


von Tr — — *)


Aus!
[603]

Aus! alles aus! Amen! Amen! Auf
ewig lebt wohl, lieben Leſer. Mein Leopold
iſt hin! — ſanft und ſelig ehegeſtern, den
ſechs und zwanzigſten Merz, des Abends um
ſieben Uhr — — bis heute konnt ich kein
Wort, und heute, was werd ich koͤnnen?
Wenig oder gar nichts! Wie ruhig Polt
ſtarb! — Es war ein lieber, lieber Junge,
einen Himmelszug um die Augen, welcher
laut lehrte, Polt ſey nicht von dieſer Welt,
ſondern von jener! Faß dich, armes liebes
Weib! Wir werden alle ſterben! Gott
gebe, ſanft und ſelig! wie Polt uns vor-
ſtarb. Kinder, die den Eltern gar nicht aͤhn-
lich ſind, ſind Gottes Bild, gehoͤren ihm!
Polt glich weder meinem Weibe, noch mir!
Er ruhe wohl! wohl! —
— —
Geſchrieben den neun und zwan-
zigſten, eben da es ſieben
ſchlaͤgt. Polts Sterbſtunde!


Mein Polt iſt beerdiget und ich bin ge-
faßter, als den neun und zwanzigſten um ſie-
ben Uhr Abends. Ich hoffe, daß ich Kraft
haben werde, etwas von ihm zu ſchreiben?
nur eine Handvoll! — Ich hab’ ihn in die-
ſes
[604] ſes Hiſtorienbuch einſchreiben laßen; laßt
mich, lieben Leſer! laßt mich ihn ausſtrei-
chen! Mit ihm iſt mein Stamm hin! Er
war uns ein ſehr theurer Sohn, ihr wißt
wie! Daß er wie Clodius Albinus zur Welt
gekommen, hab ich gleich zu Anfange dieſes
Werks geſagt — Seine Geburt machte ihn
aber zum Einzigen, zum Einzig moͤglichen.
Das arme Weib! Ich waͤhlte die Mutter!
Gott lies mir den Iſaak und ſie zugleich!
Gott! er lieh mir den Iſaak! Vollbracht! —
Herr, wie du willſt, dein Wille geſchehe! —


Ihr gutherzig rachſuͤchtige! ihr Edelge-
ſtrenge, die ihr im Herzen daruͤber aufwal-
let, daß ich nach Minen, der erſten, Minen,
die zweyte, lieben konte! habt ihr denn Mi-
nens Teſtament vergeſſen? — Den Be-
ſchwur vor und nach Gott, und das: ſo
wahr dir mein Andenken lieb iſt? Eben geht
mir eine Stelle auf, in Minens Teſtament! —
Da iſt ſie:
Wenn dir ein Sohn ſtirbt, ſchreckli-
che Ahndung! ſey er mein in der
andern Welt! Ich will mich mit
ihm verbinden und deine himmli-
ſche Schwiegertochter werden, da

kom-
[605]kommen dir dann, und deinem
kuͤnftigen Weibe entgegen, ich, mei-
ne Mutter, dein Sohn! und lehren
dich in der Stadt Gottes die Haͤu-
ſer kennen. Halleluja! Hallelujah!
Amen!


Erfuͤllt! Aber, Mine, ich habe nur den
Einzigen! Kann nur einen Einzigen haben!
Nimm ihn hin! Gott, dein Wille iſt geſche-
hen! —


Ich habe geendiget! Mein ſchriftlicher
Lebenslauf iſt zum Ende! auch ich bin es!
Ich bin auch zu Ende! mein Weib zu Ende!
Alles! Amen! Amen!


Ich kann nicht weiter! — So gern ich
meinem Leopold parentirte. Es iſt ſpaͤt! —
Spaͤt oder fruͤh! ich ſchlafe keine Minute
dieſe Nacht! —


Des Abens um eilf —


Da ich heute den Tag, des Morgens um
ſechs Uhr, leſe, was ich ehegeſtern, des
Abends um eilf Uhr, geſchrieben, find ich
ſchon der Parentation Anfang. Der liebe
Junge! ſo gern wolt er ins Buch! Komm
herein! du Geſegneter des Herrn, warum
ſie-
[606] ſteheſt du drauſſen? Deine Wuͤnſche ſollen
erfuͤllt werden; die meinen bleiben unerfuͤllt.
Ich wolte, daß du meinen Lebenslauf ergaͤn-
zen und wenn zwiſchen jetzt und meiner Sterb-
ſtunde ſich noch ein Fall ereignete, der werth
waͤre in einem Poſtſcript aufbewahrt zu wer-
den, daß du ihn verzeichnen moͤchteſt. Ich
trug dir eine Durchſicht auf, ſo wie du ſie
vor deinem Gewiſſen zu verantworten gedaͤch-
teſt! — Du biſt vollendet! du biſt bey Mi-
nen! — Da ruft deine Mutter, deren
Schmerz lange ſtumm war, ſo, daß dies An-
ſichhalten meine Seele betruͤbte: „Suͤßer
„Mondſtral! Kommſt du von Minen,
„kommſt du von Polt! O bringe mich,
„bringe mich zu meinen Lieben! — hinauf,
„hinauf leuchte mich, wenn dieſe Augen bre-
„chen. Dort oben, wo Ruhe iſt! — —


Wie bald iſts mit unſern Vergnuͤgungen
geſchehen! Schnell, wie der Schnee auf der
Straße, ſchmelzen ſie weg und ihre Staͤte iſt
nicht mehr! — Dieſe Welt iſt erſter Wurf!
Man ſieht den Meiſter; allein es bedarf Aus-
arbeitung. Dies ſind allgemein verlautbarte
Klagen! die, nachdem das Blut aufſchlaͤgt,
oder wieder faͤllt, angeſtellt werden! Es giebt
ein
[607] ein beſonderes Licht, wenn die Nacht ſich mit
dem fernen Sternenlicht kreuzt. Das iſt das
treue Bild unſeres Wiſſens, unſeres Weiſſa-
gens und unſerer Hofnung! — welches die
goͤttlichen Cabinetsbriefe, geſchrieben auf Got-
tes allergnaͤdigſten Specialbefehl, durch Maͤn-
ner, getrieben vom heiligen Geiſt, uns er-
theilen. Dies iſt das Sehen durch einen
Spiegel in einen dunklen Ort — Das Re-
gale der Vernunft iſt zu zweifeln; der geof-
fenbarten Kinderlehre zu glauben! Gott helfe
meiner Schwachheit. Amen! —


Polt war nicht kindiſch, ſondern kindlich.
Ein Paar Worte, bey denen meine Mutter
einen himmelweiten Unterſchied fand!


Es war ein lieber, ſehr lieber Junge.
Weiß und roth, Lilien und Roſen! Oft in
Gedanken, was haſt du kleiner Menſch zu
denken? Statt einer Antwort, laͤchelt er.


Homer und Milton und all ihr Men-
ſchenleſer! — ihr ſeyd all zu fruͤh geſtorben,
denn ihr habt keine Fibel geſchrieben! Wie
ſehr ich dies Werk bey meinem Polt vermißt,
iſt unausſprechlich. Welch ein großer Geiſt
wird einſt die Kindlein zu ſich kommen laßen
und
[608] und ſie nicht zu klein finden! denn ihrer iſt
das Reich Gottes! — In ſolche Schulen
zu gehen wuͤrde ſo viel heiſſen, als eine Pro-
menade ins Paradies machen. Jetzt haben
ſich auch hier Staatsgrundſaͤtze eingeſchlichen
und jedes Kind wird jetzt ſchon an eine Kette
gelegt, als ein beißiger Hund!


Menſch, iſt denn dies das Reich Gottes?
Wahrlich! ich ſage euch! wenn ihr nicht wer-
det, wie die Kinder, werdet ihr nicht in das
Reich Gottes eingehen! —


Etwas von Aehnlichkeit haben die Kin-
der auch von unmittelbaren Eltern. Dieſer
Aehnlichkeitsflecken iſt oft ſehr verſteckt.
Mein Vater fand ihn ſehr oͤfters in den Naͤ-
geln an den Fingern — Die Probe doͤrfte
meiſtentheils richtig ſeyn — — —


Gottlob! daß ich Polten nicht ins Treib-
haus gebracht! Was haͤtt es ihm geholfen,
wenn er zu decliniren und zu conjugiren ge-
wußt? Er iſt zeitig reif worden, ſagt meine
Mine! er wird es werden, meine Liebe!


Gedankenwerk iſt Fachwerk — Bildung
der Vernunft iſt eigentliche Erziehung und
Seelenbeſchaͤftigung. Mein Vater hatte die
Ge-
[609] Gewohnheit uͤber den, Kyrie eleyſon! auszu-
rufen, der nicht griechiſch verſtand, warum
lieber Vater? Er gab, ſo klein ich war, alle
Tage ein griechiſch Wort zur Parole aus.


Warum lieber Vater? Wenn Plato
nichts anders als griechiſch weiß, kann
mein Polt kein Wort mit ihm wechſeln!
Gewiß wird er nicht beym Griechiſchen ge-
blieben ſeyn! — Mein Vater ſagte, die he-
braͤiſche Sprache ſey die metaphyſiſche, die
deutſche die philoſophiſche im allgemeinen
Sinn. Die franzoͤſiſche die witzige, die
engliſche die dichteriſche! Die engliſche die
Genie- die franzoͤſiſche die Geſchmacks-
Sprache! —


Ich uͤberlies Polten wo ich nur wußt’
und konnte der Natur und entfernte ihn ſo
wenig von den Kindern gemeiner Leute, daß
ich ihn vielmehr in ihre Art kleidete. Sein
Anzug war nur durch innern Werth, auf den
kein Kind ſieht, unterſchieden — Warum
wie ein Hollaͤnder, wie ein Englaͤnder, wenn
man in Liefland wohnt?


Q qHer-
[610]
[figure]

Heraus, ſchrie Polt einmal, da mein
Schwiegervater kam, und alle Jungens tra-
ten ins Gewehr! Wie hoch dies Herr v. W —
aufnahm, kann ich nicht ausſprechen! —


Seine Mutter hatte ihm unfehlbar ge-
lehrt, den Bohnen nachzuhelfen, und ſie
von den allererſten Blaͤttern, die ſo bald gelb
werden, zu befreyen; das war ſein Leben! —
Meine Frau nannte dies, den Bohnen die
Kinderſchue ausziehen — Meine beide Mi-
nen mochten ſo gern der Natur einen Lie-
besdienſt erweiſen, und ihr huͤlfliche Hand
lei-
[611] leiſten — Sie konnten nicht einſt eine
Pflanze leiden ſehen — —


Beſonders! Polt ſelbſt pflanzte nicht, durch-
aus nicht. Warum das, Polt? „Es koͤnnte
„ja ausgehen!„ Guter Junge! du biſt nicht
ausgegangen —


Ein Kind muß in ſeinem irdiſchen Vater
den himmliſchen Vater kennen lernen! in ſei-
ner Mutter ſeine kuͤnftige Geliebte, in andern
Menſchen ſich ſelbſt — Die Mutter hatte
unſerm Polt kein: das Walt, kein: aller
Augen
gelehrt! So wie er mit mir ſprach,
betete er auch! —


Er war ſehr geneigt, fuͤr ſich zu ſeyn —
Oft hab ich ihn laut redend mit ſich ſelbſt ge-
funden. Alle fleißige Beter ſind Selbſtſpre-
cher! Hat dir der liebe Gott ſchon einen gu-
ten Morgen gewuͤnſcht? Hieß an einem ſchoͤ-
nen Fruͤhlingsmorgen: haſt du ſchon die
Sonne ſcheinen geſehen? — Der liebe
Kleine ſprach des Morgens und des Abends
vor Tiſch und nach Tiſch ſo einfaͤltig ruͤhrend
mit dem lieben Gott, als ein liebes Kind mit
dem lieben Vater! —


Einen guten Mittag, da er noch juͤnget
war, trat er hin nach Tiſch und ſprach: ich
danke dir, lieber Gott, fuͤr die ſchoͤne

Q q 2Kraͤu-
[612]Kraͤuterſuppe und den Braten und den
Kuchen! Kuchen nicht! Geſtern hatten
wir Kuchen, und geſtern hab ich auch
dafuͤr gedankt!


Die Mutter wolte haben, daß er die
Haͤnde unter die Decke beym Schlafen legen
ſolte; allein er ſchlief nie anders, als die
Haͤnde frey und uͤber der Decke.


Aus Haͤndefalten war er ſchwer zu brin-
gen! Er hatte einen Gefangenen an Haͤn-
den geſchloſſen geſehen! Sind wir denn des
lieben Gottes Gefangene, ſagt er, daß ich
die Haͤnde ſchließen ſoll? Wir ſollen beten
und arbeiten, ſagt ihm die Mutter! drunt
zeigen wir dem lieben Gott die Haͤnde. Das
gute Weib hatte dieſe Erklaͤrung freylich nicht
ſelbſt erfunden. Sie war fuͤr Polten beruhi-
gend; Er faltete die Haͤnde! — Im Schweis
deines Angeſichts ſolt du dein Brod eſſen,
iſt das beſte Recept fuͤr alle Krankheiten! —


Wie ich noch ein kleines Maͤdchen war,
ſagte der Kleine bey einer Erzaͤhlung, und
meynte die Zeit, da er noch im langen Rocke
gegangen! —


Die Mutter lies ihn nur acht Stunden
ſchlafen. So lange ſoll er ſchlafen, bis er
acht Jahr iſt, und nach der Zeit ſieben Stun-
den
[613] den. Sie hat recht, daß man eben ſowohl
zu viel eſſen, als zu viel ſchlafen kann!


Einen Tag kam ich vom Felde und Polt
hatte das Bild der ſeligen Mine mit den er-
ſten Blumen ſo bekraͤnzet, wie eine Braut,
ſagte der Kleine, und ſprang herum! —


Die Geſelligkeit iſt nicht die Folge einer
aufgeklaͤrten Vernunft. Je kluͤger der Menſch,
je weniger theilnehmend, je weniger geſellig
iſt er! Je mehr Cultur, je kleiner der Wir-
kungskreis! Es ſcheint, ein vernuͤnftiger
Menſch bilde ſich ein, er ſey ſo ſtark an Lei-
beskraͤften, als an Verſtandsvermoͤgen, und
brauche keiner Geſellen!


Das ſchwerſte iſt, den Kindern einen Ein-
druck von Gott machen, ohne ihnen Gott
zeigen zu koͤnnen. Mit Gott in Gemeinſchaft
treten, ohne ihn zu ſehen, iſt ſchwer, und doch
ſtehen wir uns ſelbſt im Licht, wenn wir ge-
wiſſe Begriffe nicht in der Jugend gruͤnden,
und allmaͤhlig einen Damm von dieſer zur
kuͤnftigen Welt ſchuͤtten, die unſichtbar iſt,
wie Gott der Herr! —


Meine ſelige Mutter hielt viel auf eine
Lade. Jedes im Hauſe hatte ſeine Lade. Ich
auch die meinige. Mein Vater lachte druͤ-
her. Sie hatte dabey die Bundeslade in Ge-
Q q 3dan-
[614] danken. Schon das Wort war ihr heilig.
Polt mußte nichts verſchließen. Was hat
denn Gott der Herr verſchloßen, das wir
brauchen? —


Mein Vater pflegte zu ſagen: es waͤren
fuͤnf Wuͤnſch-Perioden beym Menſchen:
erſtlich, Beinkleider.
zweytens, Taſchenuhr.
drittens, Maͤdchen.
viertens, Vermoͤgen.
fuͤnftens, Landgut! — Die fuͤnfte Zahl,

ſetzt er hinzu, iſt bey dem Menſchen nicht zu
verachten, es iſt die Koͤrperzahl! —


Meine liebe Mine, der das meiſte auf
dieſem Blade zugehoͤrt, will noch etwas mehr
angefuͤgt haben! Gern, liebes Weib!


Wie er klein war, ſagte ſie, lies ich ihn ſo
lange ſchreyen, bis er aufhoͤrte, ohn ihn zu
herzen und zu kuͤſſen. Nie hat er in einer
Wiege gelegen.


Da gieng ich mit ihm ſpazieren nach dem
Berge, wo die Baͤume ſo ſtehen, als ſtiegen
ſie den Berg hinauf. Es war ein ſchoͤner
Abend! Polt ſagte: wie die Engel auf Ja-
cobs Leiter!


Polt aß nicht ſuͤße Fruͤchte; ſaure waren
fuͤr ihn!


Da
[615]
[figure]

Da ſah er einen Aſt an dem Birnbaum
geknickt, und nahm ſeinen Strumpfband, und
band ihn an.


Liebes Weib! wen kann das alles behagen?


Nur noch, wie er ſtarb.


Meinthalben! herzlich gern! ich (mein
liebes Weib nemlich) erzaͤhlte ihm viel von
der ſeligen Mine, an die ich ihm, wie an
eine Verwandtin unſeres Hauſes, eine Em-
pfehlung gab.


Du wirſt ſie dort finden — ſie wird dich
aufſuchen. Auch ſagt’ ich ihm, daß er kei-
Q q 4nen
[616] nen Bruder, keine Schweſter mehr haben
wuͤrde! Warum, liebe Mutter? Unſer
Nachbar, und ſeine Frau haben ſieben Soͤhne.
Wir keinen, mein Kind! wenn du todt biſt,
keinen! Sag es Minen in meinem Na-
men, keinen! „Auch in Vaters Namen?
fragte Polt — ich ſtand an uͤber dieſe Frage.
Ja! erwiedert ich, auch in Vaters Namen!
Hab ich zu viel geſagt? Nein! liebes Weib,
auch in meinem Namen! — Meine Mut-
ter hatte nur mich! — Gottlob! daß ſie
dich behielt! ſagt und ſchreibt Mine.


Mine wolte, daß ich Polten nach preußi-
ſcher Manier begraben laßen ſolte; allein ich
thats nicht, ſondern lies ihn einen Morgen
bey Sonnenaufgang begraben! Ich beglei-
tete ihn mit einem meiner Freunde, den ich
an dieſen Ort beſtimmt hatte. Sie weiß,
wo er ruht, und noch heute hat ſie Mutter-
thraͤnen auf ſein Grab geweint! — Weine
nicht! Mine! — Weine nicht! —


Gott was iſt das Leben? —


Eben
[617]

Eben eine Antwort von unſerer Mutter und
ihrem Gemahl. Sehr verſchiedenen Inhalts.


Zwar auch er ſcheint den Fall zu Herzen
zu nehmen, der ihm ſo viel Gelegenheiten zu
Freudenfeſten genommen. Da er ihm aber
doch ein Trauerfeſt verleihet, ſcheint er ſich
zu finden. Complimente machen kalt. Man
loͤßt ſich ganz in Worten auf, und in abgemeſ-
ſenen Verſtummungen. Wer es zu Worten
bringt, iſt getroͤſtet, ſo wie ich es jetzo unendlich
mehr bin, als zuvor — — Ein Complimentiſt
iſt ein Klugredner! — Meine liebe Mutter,
Gott, was hat ſie gelitten! Das Wort Sohn!
gilt ſonſt nicht um die Haͤlfte ſo viel, bey
der Grosmutter, als der Mutter! Die
Grosmutter rechnet auf ſeinen Schutz nicht!
— Polt aber war das einzige Groskind, und
ſeine Grosmutter war die Frau v. W — Soll
ich aufhoͤren, Grosmutter zu ſeyn, ſchreibt ſie
und ringt die Haͤnde; ſchriftlich ringt ſie die
Haͤnde. Es iſt ihrethalber zu fuͤrchten! —
Iſaac! der Eineinzige! — Ey du frommer
und getreuer Knecht, ſchreibt die geweſene
Grosmutter, du biſt uͤber wenig treu gewe-
ſen, ich will dich uͤber viel ſetzen! Dieſe
Worte, ſo anſtoͤßig ſie wegen des Knechts
ſcheinen, beruhigten mich doch auf eine un-
Q q 5beſchreib-
[618] beſchreibliche Art, ich fand ſie ſo treffend —
Beym Troſt muß man jede Gelegenheit benu-
tzen, die ohnedem immer wie eine Sybille
ihre Waare ausbietet. Wer nicht zugreift,
verliert die Helfte davon und muß die andre
Helfte doppelt bezahlen.


Da der Menſch immer leidet; ſo hat
auch Gott der Herr dafuͤr geſorgt, daß er
auf troſtergiebigem Boden wandelt! — Der
Troſt haͤlt Stich, wenn man alle zerſtreute
Zuͤge in einen Brennpunkt zu vereinigen
ſucht. Er iſt wie die Schoͤnheit, die heßlich
wird, ſo bald man ſie zergliedert. Das
dreßirteſte Pferd ſtolpert unter einem ſchlech-
ten Reuter, und auch den haͤrteſten Stein
weiß der Kuͤnſtler ſo weich darzuſtellen, ſo
warm zu machen, daß man glaubt, es ſey
Blut in ihm! —


Liebe Mutter! liebes Weib! faßt euch!
wir werden zu ihm kommen! — Seht nicht
auf die Perſon, ſondern auf die Sache, und
dann blickt Euch um! Gehts anders in der
Welt? Sind wir die einzigen, die einen
Polt verlohren haben? —


Beym Sonnenlicht beſehen, was hat die
ganze weite Welt, ſo lange der Menſch noch
nicht
[619] nicht auf ſeine eigene Hand lebet. Ohne
durchs Schluͤſſelloch Entdeckungen zu machen,
fragt den beſtirnten Hofmann, wenn er des
Tages Laſt und Hitze getragen, und gekruͤmmt
nach Hauſe kommt, ob alles Gold ſey, was
man fuͤr Gold ausgiebt? Der Wuͤrgengel
geht keine Thuͤr vorbey. Er hat den Auf-
trag, ſich uͤberall an der Erſtgeburt, am
Mark des Lebens, zu halten! — Vielleicht
iſt es noch am beſten, den Exorcismus ge-
brauchen, den allgemeinen Klagen und allen
Uebeln des Lebens durch eine Tollkuͤhnheit
widerſtehen, den lieben Gott zu Gevattern
bitten und Krippenreiten? als ob die Specu-
lation etwas anders waͤre, als ein Gevat-
terſtand, den man dem lieben Gott anſin-
net! — Wahrlich ein Krippenritt! —


L. 3. Inſt. quibus ex cauſ. manum. non lic.
ſæpe de facultatibus ſuis amplius, quam in his
eſt, ſperant homines!
— Laßt ſie doch, die armen
Menſchen. Wenn ſie ſich durch Selbſtbetrug
weiter bringen koͤnnen — ob ſo, oder an-
ders! —


Ehemals wuͤrkte das Bewußtſeyn der
Muͤhſeligkeiten dieſes Lebens den Entſchluß,
der Welt zu entſagen, welcher noch bis jetzt
in
[620] in einer Kirche, wiewohl nur in den meiſten
Faͤllen pro forma, Stich gehalten; bey mir
wirkt’ er das Gegentheil. Nachdem ich mich
anders bedacht, fand ich mein Zoar, meine
Buͤcherſtube, der Lage nicht angemeſſen, in
die ich verſetzt war. Giebt es denn nur Zo-
ars und Sodoms und Gomorras in der
Welt? — So wie die Welt jetzt iſt, was
meynt ihr? ſcheint ſie uns nicht noch am
allerertraͤglichſten, wenn wir naͤher auf ſie zu-
gehen, und durch Wandel ohne Kruͤmme ihr
ein Beyſpiel zeigen, nachzufolgen unſern Fuß-
ſtapfen?


Studium, wenn es Troſt des Lebens ſeyn
ſoll, kann nicht in einem platoniſchen opti-
ſchen Kaſten, oder in einer beſſern Melodie
auf den nemlichen alten Text, beſtehen! und
iſt die Speculation etwas anders? Laßt euch
doch nicht durch den Schall bethoͤren! Der
Text iſt immer derſelbe. Die Stoiker ließen
ſich, ihrer Philoſophie unbeſchadet, zu Welt-
geſchaͤften brauchen.


Chriſtus war nur vierzig Tage und vier-
zig Naͤchte in einer Wuͤſte, und nie wagte
ſich der Satan an dem Heiligen, als eben
hier! Fleiſch und Blut iſt in der Einſamkeit
ſo
[621] ſo laut, als es die Thorheit in der Welt iſt! —
Wer kann mit Speculation und wer mit
Weisheit zu Ende kommen? Mit Geſchaͤften
aber kommt man zum Ende. Und welch eine
Freude, zum Ende zu kommen! Wer ſich
ſelbſt Arbeiten auflegt, diſpenſirt ſich auch
ſelbſt, faͤrbt eh man ſichs verſieht, einen gan-
zen Monat roth im Calender, und hat alle
Augenblick einen Heiligen, dem er nicht die
Meſſe abſchlagen kann!


Geſchaͤften iſt bey dem Uebergewicht des
Menſchen zur Traͤgheit nichts beſſer, als ein
Muß! — Wenn es ſchon auf Kunſt ange-
ſehen iſt, warum ſoll man nicht zu dieſem
kunſtreichen Muß greifen? Wenn die Dienſt-
jahre nur nicht laͤnger, als ſechs Jahre, dau-
ren. Jacob diente ſieben, und ſein Lohn war
eine Lea! — Wie man ſchlaͤft, wenn man
was beendiget hat, iſt unausſprechlich! Man
ruht, man ſtirbt, man auferſteht, wie neu-
gebohren! Dem Paſtor ſchmeckts am Sonn-
tag am beſten, dem Junker am Erndteſchluß,
und dem Kaufmann am Poſttage! —


Ich uͤberlegte alles mit meinem Weibe
und ſie fand es wie ich. Was findet dies
Mariengeſicht nicht ſo?


Sehet!
[622]

Sehet! wir gehen hinauf gen Jeru-
ſalem,
ſagten wir einander, und ich ent-
ſchloß mich noch einmal, mich in Geſchaͤfte
einzulaßen, wozu ich mich ſo wenig gedraͤngt
hatte, daß vielmehr die dringendeſten An-
traͤge mich zuerſt auf den Gedanken brachten.
Dieſe Stelle iſt ſechsjaͤhrig, ſie iſt wohlthaͤ-
tig fuͤr andere, und ohne alle andere Ein-
kuͤnfte, als Diaͤten, zu denen ich noch ein-
mal ſo viel legen muß, um in — — zu le-
ben, wo alles koſtbar iſt! —


Mein Weib, wuͤnſcht ich, moͤchte einen
Victualien Zettel beylegen. Warum aber
Beylage D. zu der ich mich nicht verbindlich
gemacht? So muß man geſchaͤftig ſeyn,
wenn uns Geſchaͤfte zerſtreuen und huͤlfliche
Hand leiſten ſollen! Wenn dieſe Capitula-
tionsjahre geendiget ſind, bin ich gegen funf-
zig, und wer druͤber geſchaͤftig iſt, glaubt
nicht, was Herr v. G — herzlich mitſingen
wolte, und nicht mehr konnte! Was meine
ſelige Mine mir noch zu guter letzt ſchrieb:
Nach dieſem Elend
iſt uns bereit
dort ein Leben in Ewigkeit! —


Ein
[623]

Ein Verſuch! werden viele meiner Leſer
ſagen, und mein lieber — — s desgleichen.
Freylich ein Verſuch! allein ein mislunge-
ner Proceß in der Chymie brachte das Por-
cellain ans Tageslicht, welches zwar zer-
brechlich iſt, indeſſen doch ſchoͤn ausſieht. Das
Berliner hat eine ſchoͤnere Mahlerey, als Por-
cellain anderer Orte! —


Ein Baum ohne Zweige, ohne Kinder
und Erben, ſchießt in die Hoͤhe! Das will
und werd ich nicht. Mein Muth iſt nicht
zum Himmelſtuͤrmen und das ſechs Jahrziel,
wie bald verlaufen! Schon jetzt freu ich
mich auf die guͤtige milde Ausſpannung aus
dem Jahr der Standesruͤckſichten und gewiſ-
ſer Etiketten, ohne die kein Amt iſt, und die
mir ſchon ſeit der kurzen Zeit, da ich einge-
ſpannt bin, ſo druͤckend ſind! — Bey Ge-
ſchaͤften, falls ſie koͤſtlich geweſen, iſt alles
eine authonianiſche Chrie, wenns noch ſo
unpedantiſch ausſieht — Auch wenn ich von
dem Legat der Amazonin, der Frau v. — b —
Gebrauch gemacht, und Mantel, Rock und
Kragen angelegt, waͤr ich ohne authoniani-
ſche Chrie abgekommen?


Jener
[624]

Jener Heyde hoͤrte: dein Sohn iſt todt,
da er den Goͤttern opferte, und raͤucherte! ich
nicht alſo! —


Meine Stunde iſt kommen, um von mei-
nen Leſern, vielleicht auf ewig vielleicht auf
ſechs Jahre, Abſchied zu nehmen. Wer
haͤtte das denken ſollen, da ich uͤber die
Worte: kurze Friſt commentirte. Natuͤr-
lich bringt mich dieſes, nach einem Endlich,
noch auf ein
letztes Endlich!


Ich weiß, was fuͤr eine herrliche Sache
es iſt, den Schlußſtein des ganzen Gewoͤlbes
zu entdecken, und bey dieſer Gelegenheit ſich
zu uͤberzeugen, daß die Saͤulenbogen nicht
nur ſchoͤn, ſondern auch ſicher ſind! Weis-
heit, Staͤrke und Schoͤnheit an einem derglei-
chen Schwiebogen finden, iſt ſo was er-
wuͤnſchtes, als etwas in dieſer Welt, wo ſo
ſelten der Schlußſtein zu ſehen iſt, nur ſeyn
kann! Iſts aber meine Schuld? — dacht
ich, Zoar je zu verlaßen? Legt ich es je zu
einem Buchſtab ſo oder anders, mehr oder
weniger, in meinem Namen an? um dieſe
Namensveraͤnderung mit mir ſterben zu
laßen?
[625] laßen? Kinderlos! bey einem ſo lieben edlen
Weibe! — und was ſoll mir der Lebenslauf
meiner Vorfahren in aufſteigender Linie,
da keine abſteigende vorhanden iſt? — So
hat es dem Herrn uͤber Leben und Tod ge-
fallen, und er allein weiß es, ob ich noch
mein Wort erfuͤllen, und die beyden faſt fer-
tig daliegenden Theile uͤberſehen und ergaͤn-
zen werde! In meinen Amtsjahren ge-
wiß nicht. Was da alles aufs Wort
merkt! — gewiß nicht! in den ſechs Dienſt-
jahren —


Verzeiht, lieben Leſer! dieſen Umſchlag,
den ich zu machen gezwungen bin.


Sehet! ich gehe hinauf!
So wie ich einen Jeden, wes Standes, Al-
ters und Ehren er iſt, hiemit feyerlichſt erſu-
che, nichts zu dieſem Werke hinzuzuthun,
und, unter dem Schein des Rechts, meinen
Vater und Grosvater durch magiſche Kuͤnſte
zu citiren; ſo ſey es mir auch erlaubt zu bit-
ten, nichts von dieſen drey Theilen abthun zu
doͤrfen, und das Bild und die projektirte Ue-
berſchrift zum ewigen Andenken ſo zu laßen,
wie beydes da iſt! —


Hiemit lebet wohl!


R rNach
[626]

Nach geendigtem Buche, lieber — — es!
noch etwas hinzufuͤgen, heißet: die Ein-
heit verletzen und der goͤttlichen Natur eines
Buchs zu nahe kommen. Ich bin kein
Freund, wenn ſchon letzte Worte da ſind,
noch mehr letzte Worte und allerletzte letzte
Worte beyzufuͤgen. Meinethalben! Ein
Paar Zuͤge koͤnnen freylich nicht helfen, nicht
ſchaden.


Herr v. G — war fuͤrs Einfache: Mein
Vater
hatte fuͤr Eins auch eine wahre Ach-
tung: waͤre er ſonſt ein Monarchenfreund
geweſen? Im Skelet, ſagt’ er, ſcheinen
Mann und Weib Einerley. Je naͤher man
der Natur tritt, je mehr uͤberzeugt man ſich,
daß der liebe Gott alles vortreflich rubricirt
hat. Sein Hausbuch der Welt hat weniger
Artikel, als man glauben ſolte. Drey In-
gredienzien konnte mein Vater leiden, nicht
aber mehr. Vertraͤgt ſich doch Oehl und Eſ-
ſig — Die neunte Zahl war meines Va-
ters Liebling. Drey mahl drey iſt neun.


Eiſen war ihm in vielen Ruͤckſichten beſ-
ſer, als Gold! — Gold iſt Wahn und Zu-
fall, Eiſen iſt Wahrheit, und wirklicher
Werth —


Nur
[627]

Nur neulich erinnerte mich mein Schwie-
gervater, daß er wegen des Abſchiednehmens
mit meinem Vater ein Herz und eine Seele
geweſen! So ganz nicht! Etwas kann
ſeyn —


Mein Vater haßte armſelige Allgemein-
heiten. Wer Abſchied nimmt, ſingt die Me-
lodie des Todes, mancher pfeift ſie! —


Herr v. W — nannte einen kurzen Ab-
ſchied, der, wie mich duͤnkt, der beſte iſt, den
man nehmen kann, einen Schlagflus, einen
feyerlichen Abſchied! die Hektik, die ſich in
die Zeit zu ſchicken verſteht.


Wer ohne Abſchied aus der Geſellſchaft
ſcheidet, oder, wie man ſich ausdruͤckt, ſich
unſichtbar macht, hat ſich, wie mein Vater
ſagt, ſelbſt umgebracht —


Mein Vater war kein Tagwaͤhner, Tag-
faͤrber! Auf Tagezeiten heilt er ſehr! So
hab ich ihn nie des Morgens lachen geſehen!
Den Sommer hielt er fuͤr den Gelehrten we-
niger zur Arbeit tauglich, als den Winter.
So verkehrt iſt die liebe Gelehrſamkeit!
Man ſagt, Milton, obſchon er blind gewe-
R r 2ſen,
[628] ſen, ſoll im Winter beßre Verſe gemacht
haben —


Mein Vater war ernſthaft, hager und
hielt ſich gerade — Ein gewiſſes Nachden-
ken, das wie Schwermuth ausſahe (ſo ſieht
das Nachdenken gemeinhin aus, vielleicht
weil wir zu ſehr wiſſen, daß wir nicht weit
damit kommen) war in ſeinem ganzen Ge-
ſicht verbreitet. Er war ſonſt heiter und gu-
ter Dinge. Selten grif ihn Etwas an. Die
Augen hatten ein beſonderes Feur — Die
Lerche ſingt im Fluge, ſo auch aͤchte Dichter.
Der Philoſoph ſteht. Oft, wenn er ſpazie-
ren gieng, blieb er ſtehen, die linke Hand auf
ſeinen großen weißen Stock gelegt, und mit
der rechten ſich aufgeſtuͤtzt!


Da ſehen die meiſten Leute dieſe Welt als
eine Spielgeſellſchaft an, wo die Klugen
nichts weiter thun, als Parthien machen.
Einigen ſcheint ſie, wie ein Schauſpiel, wo
ſich der Zuſchauer, blos weil er ſeinen Platz
bezahlt hat, uͤber andre zu lachen berechtiget
haͤlt. Der Weltpatriot ſieht dies Leben als
Zeit und Gelegenheit zu ernſthaften Dingen
an, wenigſtens haͤlt er ſich verpflichtet, Vor-
ſaͤtze hiezu zu faßen. Gott ſegne ſeine Studia.


Mein
[629]

Mein Vatee ſtritt, ohne eben darauf
auszugehen, Recht zu behalten. Jeder wird
ſeines Glaubens leben, war ſein Glaube.
Meine Mutter pflegte zu ſagen, er ſey von
der ſtreitenden, nicht aber von der triumphi-
renden Kirche.


Ich moͤchte wetten, er haͤtte gern einen
Ring getragen, wenn er nicht Paſtor gewe-
ſen. Herr v. G — ſeliger gewiß nicht, um
wie viel nicht —


Mein Vater ſetzte nichts ins Spiel, was
er lieb hatte. Meine Mutter glaubte, man
koͤnne ſeine Zuneigung zu allem Lebloſen nicht
anders an den Tag legen, als wenn man es
an einen Ehrenort ſetzte. Selbſt war ſie fuͤr
Gewoͤlbe, bis mein Vater ſie davon, wie
vom Kreutzſchlage, abbrachte. Mein Va-
ter brauchte alles, was er lieb hatte! Durchs
Aufbewahren, bemerkt’ er, zerbricht alles
leichter. Peinlichkeit ſchadet uͤberall. Wenn
man mit der Doſe im Umgange iſt, wird ſie
zuletzt ganz dreiſt mit uns! und ſo bekannt,
daß ſich keines vor einander ſcheut, weder ich
noch ſie! Iſt es nicht thoͤricht, ſich Knoten
ins Schnupftuch machen, um ſich an dies und
das zu erinnern?


R r 3Was
[630]

Was er doch uͤber die Theilung von Poh-
len geſagt haben wuͤrde, wenn er ſie belebt
haͤtte?


Gern, lieber Freund! — — haͤtt ich
gewuͤnſcht, Sie haͤtten meinen Vater, wenn
nicht gekannt, ſo doch einmal geſehen —
Er gehoͤrte unter die ſichtbaren und unſicht-
baren Geſchoͤpfe, und war in allen Ruͤckſich-
ten ein verehrungswuͤrdiger Mann.


Maͤnner ſeiner Art ſieht man gern, Eine
doppelte Perſoͤnlichkeit am Kern und Schaale,
Koͤrper und Geiſt! —


Es giebt Leute, an denen es auffaͤllt, daß
ſie den Leib nur wie einen Schlafrock umge-
worfen! — Er haͤngt ſo, wie ein Dieb am
Galgen! — Meinem Vater war der Leib
auf die Seele gemacht, ſo wie man vom
Kleide ſagt: es iſt auf den Leib gemacht. Es
war ihm Maas genommen. Ein feiner An-
zug! — Keine ſteife Leinewand, alles ſo lo-
cker und aͤdelloſe und doch anprobirt! Wie
auf den Leib gegoſſen. Oft gieng er fuͤr die
Seele! Es giebt wuͤrklich Seelenbewegung,
wobey man ordentlich fuͤhlt, daß der Leib kei-
nen Antheil hat. Den Magen nannt er
die
[631] die Wurzel des Thieres; das Gehirn die
Wurzel der Seele!


Zu orthodox? Er war freylich den
Grundſaͤtzen ſeiner Kirche treu; allein wahr-
lich! er wuͤrde den kindlichen Communions-
hunger des Johann Jacob Roußeau, wel-
cher auch in meinem Buche Todes verblichen,
geſtillt haben! — Meine Mutter, die eine
Schutzpatronin der leidigen Erbſuͤnde war,
haͤtt ihn zwar ohn Gnad und Barmherzigkeit
vom Tiſch des Herrn gewieſen und wider ſei-
nen Zutritt in beſter Rechtsform proteſtirt;
allein mein Vater nicht. Wahrlich! wahr-
lich! ich ſag es euch, er haͤtt’ ihm dieſen Tiſch
gedeckt, und einem ſo hungrigen und durſti-
gen Manne das Brod gebrochen und dieſen
Kelch gegeben. Ihm, der Bruͤder und
Schweſtern ſuchte, und ſo viel Seelenmord-
brenner und Gewiſſensvergifter fand, daß
er zuletzt meinem vierſchroͤtigen Freunde
Hume nichts Gutes anſah, und ein ſolch
wunderlicher Seelen und Leibes Phyfiogno-
miſt ward, daß ſich Gott erbarm! Nie kann
ich es vergeſſen, was mein Vater, der mit
dem Apoſtel Johann Jacob nur nach mei-
ner Zeit naͤher bekannt worden, meiner Mut-
ter (aus dem Einhornſchen Geſchlecht) bey
R r 4Gele-
[632] Gelegenheit, daß ſie den Stab uͤber den
Herrn v. G — brach, deſſen er ſich in ſeiner
Abweſenheit immer ritterlich annahm, zu-
rief: Preußen! Holland! Toleranz hin, To-
leranz her! Ein anderes iſt Toleranz aus
Commercium Abſicht, ein anderes von Got-
teswegen. Ein anderes Holland, ein ande-
res (er nannte ein Land) — Glaub mir mein
Kind! wer wuͤrd in Holland und — dem
Herrn Chriſto die Communion verſagen,
wenn er da waͤre. Die Narren! ohne zu
bedenken, daß er ſie in der Nacht, da er ver-
rathen ward, eingeſetzet hat. Nenne mir
ein Land, liebe orthodoxe Seele! wo man ihn
nicht kreutzigen wuͤrde? wo er nicht noch in
manchem ſeiner Juͤnger (Roußeau und —)
gekreutziget wird? Lieber Roußeau! ich habe
dich meinem Schwiegervater empfohlen, und
er feyret deinen Sterbtag, obgleich du nicht
von Adel biſt! — Mehr vermag ich nicht.
Meine Mutter haͤtte dir kein Monument in
der Speiſekammer errichtet! Ob mein Va-
ter zum Eugen im Prunkzimmer zur rechten
Hand unterm Spiegel geſagt: weiche die-
ſem,
weiß ich nicht. Wenn ich erwaͤge, daß
du, wie alle edle Menſchen, nicht hatteſt,
wo du dein Haupt hinlegteſt, und da dich
dur-
[633] durſtete, dir nichts gegeben ward, als Eßig
und Galle! ſo faͤllt mir der Spruch ein:
was ihr gethan habt einem meiner geringſten
Bruͤder, das habt ihr mir gethan! —


Geburt, ſagte mein Vater, klebt an bis
ins Grab! Wahrlich! er hatte Recht! Die
wahre Religion iſt die, in der man gebohren
und erzogen iſt. Erziehung iſt ein Stuͤck von
Geburt! Seelengeburt! Seht ſelbſt Ge-
lehrte! wenn ſie von ſchlechten Herkommen
ſind, wie ſie ſich nach ihres Geburtsgleichen
ſehnen! — Sie finden, daß der gemeine
Mann eben ſo klug iſt, wie der Hofmann,
nur daß ihm der Ausdruck fehlt, zu dem ihn
doch zuweilen ein Glaͤschen uͤbern Durſt
bringt, und dann iſt dieſer Ausdruck immer
treffender und waͤrmer, als der Ausdruck des
Hofpapagayen. Gelehrte von geringer Ab-
kunft wollen nicht Engelaffen, ſondern Men-
ſchen ſeyn. Thun ſie ja, als wuͤßten ſie
auch, wie es bey Hofe zugeht; ſo ſtehts ih-
nen gewaltig uͤbel! — Selten iſt Geſchmack
in ihrer Kleidung, am wenigſten bey Peruͤke
und Schuen. Ein Schweinbraten kommt
bey einer wirklichen Hofſchuͤſſel zu ſtehen! —
Etwas wohlfeiles in ihrem Ausdruck, und
R r 5dann
[634] dann zuweilen ein Schwung, daß man fraͤgt:
wo ſind ſie blieben? Sie nehmen ſich des
gemeinen Mannes an, und wollen es nicht
ſeyn.


Ich weiß nicht, ob es meinen Leſern nicht
aufgefallen, wie ſehr mein Vater, von je an,
Zeichen einer guten Geburt ſchimmern laßen.
Er hatte wahrlich! eine ſehr feine Lebensart!
Ein gewiſſes Gelbſtgefuͤhl war ihm eigen,
bey einer edlen Mittheilung auch immer ein
gewiſſer Ruͤckhalt, der Leuten vom Stande
eigen iſt! — Aus dieſem Geſichtspunkt
wird man manches ſo nach und nach aufloͤ-
ſen, was in ſeinem Charakter ſich zu wider-
ſprechen anſcheint, und ſich nicht wider-
ſpricht. Nie wand ſich das Licht in einem
ſchwarzen Chaos, eh’ es herausſpritzte. Es
ſpritzte nicht, es floß — Er ſchrie nicht,
er ſprach, und es ward. Sein Ausdruck
war nie gemein; allein auch nie ſchwer. Er
war kein Tongeber; allein auch kein Ton-
nehmer! — Die Italiener bitten aufs Ca-
ſini zu Gaſt! Sie wollens zu gut in ihrem
Hauſe machen, und laßen es lieber gar blei-
ben. Der iſt geborgen, der ſchon bey ihnen
im Saal iſt! Licht ohne Ende! Allein auf
der Treppe ſtoͤßt man ſich den Kopf.


Viel-
[635]

Vielleicht haͤtten wir, ohne menſch-
liche Seele, Anlage zu Hausthieren,

ſagte mein Vater und dann wieder, kaum!


Meine Mutter hatte die beliebte Paſtor-
Erklaͤrungs-Wendung: als wolte er ſagen,
wenn er Paſtorin in — geweſen, fiel mein
Vater ein. Die Commentatores empfehlen,
was jetzt getragen wird. Sie machen aus
einem Kopf ein Knieſtuͤck und flicken ein
Stuͤck Leinwand an, das ſie nach Gutduͤnken
bemahlen! — Schade um den alten guten
Rahmen, aus dem ſie den Kopf gehoben.
Meynſt du? Jammer und Schad um das
Bild! Ein junger Hohnſprechender Paſtor,
der von — kam, lies ſich aus: er wuͤrde eine
Vorſuͤndfluthswelt-Geſchichte ſchreiben und
der Bibel Vorfluth ſchaffen. Mein Vater
vermied ſo ſehr als moͤglich, mit ihm zuſam-
men zu ſeyn. Noch iſt das Werk nicht her-
aus! —


Mein Vater war nie verlegen uͤber ſeine
Predigten. Im gemeinen Leben ſchien er
redneriſch; es war aber blos ein lebensarti-
ger Ausdruck! Die Redekunſt macht ſeichte
Koͤpfe, pflegte er zu ſagen, und wenn ei-
nige ſeiner vernuͤnftig milchlautern Collegen
ſich
[636] ſich unter ſich beſchwerten, daß ſie nichts
mehr zu predigen wuͤßten, und daß ſie ſich
ausgepredigt haͤtten verſicherten; ſo konnt er
dies eben ſo wenig begreifen, als daß irgend
jemanden die Zeit lang werden koͤnne. Oft
nahm er eine Blume, einen Aſt aus der
Sonntagslektion, Evangelium oder Epiſtel,
oft gieng er ſie ohne meiner Mutter: als
wolt er ſagen,
nach ihrer ganzen Laͤnge
durch. Kopf blieb Kopf — Knieſtuͤck, Knie-
ſtuͤck! —


Wenn Chriſtus, ſagte meine Mutter, eine
Bibel vom Himmel gebracht, wie doch die
geweſen waͤre!


Darſtellung, ſagte mein Vater, iſt der
naͤchſte Weg zum Menſchen. Wer durch
die Speculationsthuͤr kommt, iſt ein Mieth-
ling! —


Die Feyerlichkeit, mit der mein Vater
alles that, war ſo ſehr von der Feſtlichkeit
des Herrn v. W — unterſchieden, daß ich
behaupten kann, bey einem war der Leib,
bey dem andern die Seele im Sonntags-
gewand.


Meine
[637]

Meine Leſer! (oder ſoll ich mich blos zu
dir, mein guter — — es! wenden?) wer-
den dieſes Sonntagskleid oft gefunden haben;
nie aber mehr, als wie er: Licht! rief. —
Das Papier gluͤhte ſo feyerlich, ſagte meine
Mutter, als wenn einſt Gott den Bogen
Papier des Himmels am Licht anzuͤnden
wird.


Meine Mutter konnte ihm ſeine Kopfun-
terlage im Bette nicht hoch genug machen!
Es war ein Berg aus lauter Madratzen —
Herr v. G — hatte faſt nichts unterm
Kopf —


Salvey, ein Kraut, woraus die Alten
viel machten, ward, meinem Vater zu Gun-
ſten, an die meiſten Schuͤßeln gelegt, die
meine Mutter anrichtete —


Er ſchoͤpft die Natur ſo von oben, ſagte
meine Mutter, wie ich den Milchrahm: ob-
gleich ſie auch Raturfinderiſch war.


Gleich das erſte Jahr nach unſerer Hoch-
zeit gieng ich mit ihm ſpazieren, wir ſahen
eine Eiche, die am Zaun ſtand. Sieh nur!
ſagt er, ſie ſieht auf den Zaun, deſſen Kinder
und Kindeskinder ſie beleben wird.


Von
[638]

Von abgeriſſenen Blumen, die im Zim-
mer ihr Leben aufgaben, war er kein Liebha-
ber! — Man riecht den Todesſchweiß, ſagt’
er, und ihre Verweſung!


Meine Mutter konnte nicht vergeſſen,
daß er die Froͤſche einſt Dorfmuſicanten ge-
nannt.


Wie die Blumen und Baͤume da ſchlafen,
ſagt er einen ſchoͤnen Abend zu mir, (alles aus
dem Munde meiner Mutter) da uns der
Mond herausgelockt hatte. Sieh! einige
Blaͤtter legen die Fuͤße zuſammen, andere le-
gen ſich ganz zu! Alles anders, als wenn es
wacht! Zweige beugen ſich, als wenn du in
dem Stuhl eingeſchlafen biſt. Wie ſchoͤn
alles eingeſchlummert iſt! Gute Nacht! lie-
ber Mond —


Was meines Vaters theoſophiſchen Aus-
druck betrift; ſo hat uns Herr v. G — der
Selige, auf ſo manche Spuren gebracht, die
meinem Vater zur Phyllobolie dienen koͤn-
nen! Waßer iſt Mutter, Feur Vater! ſagt’
er — — —


Ueber
[639]

Ueber die Liebe ſprach er gern und gewal-
tiglich! Sie hat, verſichert’ er, wenn er
menſchlich druͤber ſprach, die Adjectiva erfun-
den. Kam er aber auf die Epiſtel am Sonn-
tage Qvinquageſimaͤ: Erſte Corinther
das dreyzehnte Capitel;
ſo wußt ich nicht,
wo ich war, ſagte meine Mutter, und ob er
mit Menſchen- oder Engelzungen redete?


Meine Mutter hatte dieſe Liebesſprache
ſo zu Herzen genommen, daß auch ſie in die
Liebe verliebt war, wie die Prieſterwittwe
mit den funfzig Thalern Alb. ſich ausdruͤckt.
Wahrlich! die Liebe iſt ein Hauch Gottes!
ein elektriſcher Funken! ein Geheimnis, ſo
gemein ſie da ausſieht! — Es gehoͤrt
Kraft und Macht dazu, zu lieben und geliebt
zu werden! — Auch meine Mutter hatte
Fluͤgel der Morgenroͤthe, welche das Lied:
Was wilt du armes Leben niederdruͤck-
ten. Sie ſprach, wie mein Vater, gewaltig-
lich uͤber die Liebe.


Die Epiſtel am Sonntage Qvinqvageſimaͤ
hebt ſich an:
Wenn ich mit Menſchen und mit
Engelzungen redete und haͤtte der

Liebe
[640]Liebe nicht, ſo waͤr ich ein toͤnend
Erz oder eine klingende Schelle,

und ſchließt
Nun aber bleibt Glaube! Hof-
nung! Liebe! dieſe drey: die Liebe
iſt die groͤßte unter ihnen —


Am ein und zwanzigſten Sonntage nach
Trinitatis, gieng mein Vater, nach meiner
Mutter Meynung, wie ein geiſtlicher Ritter,
geſtiefelt und geſpornt auf die Kanzel! —
Herr v. G — Seliger hatte bemerket, am
Sonntage Qvinquageſimaͤ, wie ein Gold-
macher — Liebe iſt die Firmelung der
Seele, ſagte mein Vater u. ſ. w.


Die heilige Eins meines Vaters iſt uns
bekannt, und ſeine heilige Drey desglei-
chen.


Man muß Gott, ſagt’ er, nicht verkoͤr-
pern und den Menſchen nicht vergoͤttern.
Statt Leib und Seele, ſagte er oft: meine
Phyſik und Metaphyſik, und dieſe Ausdruͤcke
ſind noch in der dortigen Gegend gang und
gaͤbe bis auf den heutigen Tag.


Der
[641]

Der Geitz ſieht auf die Folge der Sache.
Wenn andere ſpazieren fahren, denkt er,
ſie werden wieder zu Hauſe kommen, und
dann ſind ſie eben ſo klug, als ich, der ich
zu Hauſe geblieben. Ich koͤnnte, denkt er,
wenn ich wolte, auch traktiren, und giebt
keinem Salz und Brod!


Mein Vater pflegte ſehr artig die Chri-
ſten aus dieſem Geſichtspunkte des Geitzes
zu beſchuldigen, die nur blos bey ihrem
Gutſeyn (doch wer iſt das, als Gott?) bey
ihrem Beſtreben gut zu ſeyn, auf die andre
Welt ſehen! — Er war kein Feind dieſes
Lebens, obgleich er mit einer ſeligen Faßung
ſtarb, und wuͤrklich auch in der Hofnung ſe-
lig war eines kuͤnftigen Lebens.


Er gieng mit der Sonne unter, wie
ich ſchon gemeldet habe —


Er ſtarb, ſich vollſtaͤndig bewußt, und
nur in einer Stunde, in der er viel grie-
chiſch redete, ſchien die Einbildungskraft der
Vernunft das Uebergewicht abgewonnen zu
haben. Es waͤhrte indeſſen nicht lange, und
alles war wieder an Stell und Ort.


S sEr
[642]

Er dachte an mich mit herzlichem vaͤter-
lichen Segen!


Meine Mutter fragt’ ihn, ob es ihn leid
thaͤte, daß ich Alexander hies. Er laͤchelte.
Gern, wie ſie ſchreibt, haͤtte ſie ihn wegen
ſeines Vaterlandes, und nach einer ſchwe-
ren Menge ihr unaufloͤslicher Dinge gefragt,
wenn ſie, wie ſie anmerkt, Herz gehabt.
Er ſah ſo himmliſch aus, daß meine Liebe
ſich in Achtung verwandelte, ſchreibt ſie.
Liebe fraͤgt, fuhr ſie fort; Achtung merkt
auf. Mein Vater ſtarb mit den Worten:
nimm meinen Geiſt auf! — Er ver-
ſtummte nicht, ſchreibt meine Mutter, die-
ſer treue Lehrer! Er blieb nicht im Worte.
Der Geiſt vertrat ihn und half ſeiner
Schwachheit aus. Man hoͤrte ganz ver-
nemlich: nimm meinen Geiſt auf!


So bald er kalt war, ſang ſie das
Pfingſtlied:


Nun bitten wir den heiligen Geiſt,

um den rechten Glauben allermeiſt,

Daß
[643]
Daß er uns behuͤte! an unſerm Ende,

wenn wir heimfahren aus dieſem Elende!

Kyrie Eleyſon!

Auch dies iſt vollendet! Ein kleines
Stuͤck aus dem vierten Theil! — Weit we-
niger, als ein Fragment!


Daß ich ſchon in Jeruſalem bin, wo ich
hinaufgieng, will ich noch kuͤrzlich bemerken.
Ich will ausdauren, aber wahrlich! nie-
manden rathen, ins Geſchaͤftkloſter zu gehen,
um ſich zu zerſtreuen! — Lieber J — — es,
laß dich nicht geluͤſten!


Ein ehrbarer roͤmiſcher Rathsherr lies
ſich aufs Grab ſchreiben: Hier liegt Similis,
ein alter Mann, der doch nur ſieben Jahre
gelebt hat. Sieben Jahre lebte er in Si-
milis Hoͤfchen
— das andere von ſeinem
Leben gehoͤrte nicht ihm! — —


Sechs Jahre! weniger fuͤnf Monat!
Gott wird helfen Amen! —


S s 2Eben
[644]

Eben hat Mine mir wieder ein Proͤbchen
von ihrer Dichtungsgabe vorgeleſen! Da
iſt es! — Es enthaͤlt eine treue Beſchrei-
bung meines Feſtungsgartens, den ſie Spott-
weiſe Alexandrien nennt. Meine Arbeits-
ſtube geht in dieſen Garten, ſo, daß ich ihn
mir eigen mache —


Alexan-
[645]

Alexandrien.


Iſt die Welt denn etwas anders, als ein
Vogelbauer, wo man ſich herumdreht und,
wenn es recht luſtig hergeht, Sproß’ auf
Sproß ab ſpringet. Klage nicht uͤber dein
Gaͤrtchen, das rings umher mit Haͤuſern
umgeben iſt, ſo daß dir nur nach oben zu,
freye Ausſicht uͤbrig bleibt! Giebts eine
andere freye Ausſicht, als die nach oben gen
Himmel? O die ſchoͤne Gipsdecke Gottes,
ſo ſchoͤn kann kein Kuͤnſtler ſie nachmachen!
Alles koͤnnen Mahler und Zeichner nachbil-
den, nur den Himmel nicht. Wie kann man
die Welt in eine Kammer bringen? den groſ-
ſen Gott in ein Haus, wenns auch einen
Thurm hat? Sieh dich um in deinem Gaͤrt-
chen, ſind die nachbarlichen Mauren nicht
gruͤn behangen? und ſo ſchoͤn von der Na-
S s 3tur
[646] tur bewuͤrkt, daß man die Feſtungsmauer
ringsum nicht wahrnimmt? Willſt du mehr,
als dieſe augenſtaͤrkende herzerfriſchende
gruͤne Tapete? Die Grasſtuͤck Wieſe, und
dieſe lebendige Wand, Wald! Was hat die
Erde herrlicher? was war im Paradieſe
mehr, als Baͤum’ und Gras? und ſieh nur
jenen großen Baum! Er ſtammt geradeswe-
ges vom Baum des Lebens im Paradieſe.
Wie herrlich er da ſteht! ſich verbreitet! und
ſich einbildet, deinen ganzen Garten befaſſen
zu koͤnnen! Laß ihn gros thun, dieſen Baum
aus ſo gutem Hauſe, laß ihn gros thun!
Es koſtet ihm am meiſten. Das Gras
braucht Schatten und die Hecke Aeſte, die
ihr zu Huͤlfe kommen. Sieh! wenn die-
ſer Lebensbaum ihr nicht unter die Arme
griffe und aushuͤlfe, ſie wuͤrde nicht bis oben
zu die Mauer bedecken, die allem, was gruͤn
iſt, ſo ſpinnenfeind iſt. Auch wuͤrde die Sonne
ſonſt dieſer nur friſch gepflanzten Hecke das
Kleid beflecken, und es verderben, ehe der
Herbſt kommt und es Zeit iſt. Klein iſt dein
Garten; allein merkſt du nicht, wie alles
ſich beſtrebt, ſich darnach einzurichten. Die
Biene ſumſet ſo laut nicht, um den Finken
nicht zu ſtoͤren, der deinen kleinen Garten
ſich
[647] ſich zur Capelle geheiligt hat, ſein Morgen-
lied abzuſingen — und wenn die der Welt
abgeſtorbene Philomele deine kleine Einſie-
deley entdeckt, was ſolte ſie abhalten, hier
ihr Klagelied anzuſtimmen? und dieſe Ein-
ſamkeit dem voͤgelreichen lermvollen Walde
vorzuziehen? welcher ihrer nicht werth iſt! —
nicht werth!


Sieh, wie der Sperling ſich in der
Stille paart, um durch ſein galantes Zwit-
ſchern keinem geſitteten Buͤrger deines Gar-
tens durch Ueppigkeit ein boͤſes Beyſpiel zu
geben!


Gros iſt dein Garten dem Weiſen, dem
Guten, dem nichts zu klein iſt, wie unſerm
Herr Gott! Einen ſo großen Erdſchollen,
als der Menſch zum Grabe braucht, hat er
auch nur noͤthig, froh zu ſeyn! — Wie
weit mehr haſt du! Du und dein Weib koͤn-
nen in dieſem Gaͤrtchen begraben werden
und ſelig ruhen, und doch bleibt noch Raum
fuͤr einen Menſchenfreund, dem Philomele
beyſtimmt, wenn er unſern Tod beweint! —


S s 4Eben
[648]

Eben ein Brief, daß meine Schwieger-
mutter auſſer Hofnung ſey! — So ſtirbt
denn alles, was gut iſt! — Vielleicht beſ-
ſert ſie ſich! Gott geb’ es —


Meine Mine will den aͤlteſten Sohn des
Nathanaels, Alexander genannt, erziehen.
Mag ſie ſich wiſſen.


Hiemit lebet wohl! das waren
die Worte, in die mein Freund — — es
grif. Jetzt, da ich auch ihn befriediget,
kann ich mit voͤllig entledigtem Herzen lebt
wohl! wiederhohlen! Wenigſtens habt ihr
doch etwas von der aufſteigenden Linie,
ſo daß Bild und Ueberſchrift dieſes Buchs
zum kleinen Theil erfuͤllt iſt — Sterb ich
in den ſechs Jahren; goͤnnt mir die Ruhe! —
Laßt, was ich euch geſagt habe, im Segen
bey euch bleiben. Ich laße euch den Frie-
den, ich gebe euch den Segen des Friedens
Gottes, der hoͤher iſt, denn alle Vernunft!
Nicht geb ich euch den Frieden, wie die Welt
giebt, die mit ihrer Luſt vergehet. Eur Herz
erſchrecke nicht ob dem großen Gedanken
vom Reiche Gottes, und fuͤrchte ſich nicht.
Weiter, lieben Bruͤder! was wahrhaftig
iſt,
[649] iſt, was ehrbar, was gerecht, was keuſch,
was lieblich, was wohl lautet, iſt etwa eine
Tugend, iſt etwa ein Lob, dem denket nach!
Der Gott des Friedens ſey mit euch und
meinem Geiſte! Amen! —


Legt es dazu an, Freunde! daß wir uns
einſt wieder finden, in der Verſammlung der
Guten, nach dieſer Zeit Leiden, wo ſo man-
cher ſeine Mine, ſeinen Polt, wieder finden
wird, unter den Verklaͤrten des Herrn! —


Liebes holdes Maͤdchen! ſchaͤme dich
der Thraͤne nicht, die dir entfiel! Deine
Liebe zu dem Vertrauten deiner Seele, war
eine edle gute Liebe. Du wirſt ihn wieder
finden, deine Traurigkeit wird in Freude
verkehrt werden. Du haſt deinen Willen
uͤberwunden, der Welt halber, du haſt uͤber
die Welt geſiegt, in welcher du Angſt hatteſt!
Sey getroſt! —


Auch du, Kinderloſer Mann! der du
Kraft fuͤhlteſt, dir Nachkoͤmmlinge zu erwe-
cken, der du jene aſtronomiſche Prophezey-
hung nicht zu hoch fandeſt: zaͤhle die Sterne,
kannſt du ſie zaͤhlen, alſo ſoll auch deine
S s 5Nach-
[650] Nachkommenſchaft ſeyn! — Du in deiner
Kraft durch den Weltlauf erſtickter edler
Mann! nimm Troſt aus meinem Beyſpiel!
Sieh! ich werde, ohne mich fortzupflanzen,
verſammelt zu meinen fruchtbaren Vaͤtern.
Kein Sohn wird bey meinem Grabe gen
Himmel ſehen und ſagen: mein Vater! —
Keine Tochter wird ihre Haͤnde ringen und
meine Gebeine begruͤßen mit einem: ruhet
wohl! und ſieh, Freund! Du biſt weiblos,
und ich habe eine Mine und ſie hat mich! —
Weib meiner Seele! Wende dein Auge, ich
ſeh es brechen, wend es! Ich bitte, ich
flehe! laß mich mit dieſen Kinderloſen allein!
Unſer Polt ſiehet das Angeſicht unſers Va-
ters im Himmel, der heute nach einer ſo
langen Duͤrre regnen lies. Blick her! wie
ſich der Baum vorm Fenſter erhohlt hat.
Unſer Polt iſt bey Gott. Die Gerechten wer-
den weggeraft vor dem Ungluͤck, und die
richtig vor ſich gewandelt, kommen zum
Frieden und ruhen in ihren Kammern —
Freund! haſt du ſie geſehen? Haſt du mich
gehoͤrt? O danke Gott! daß du Kinder- und
Weiblos biſt, daß du nicht noͤthig haſt, ein
Weib zu troͤſten ihres einzigen Sohnes hal-
ber! Wie weit gluͤcklicher biſt du! —


Die
[651]

Die Freude an Gott und ſeinem Reiche
ſey unſere Staͤrke. Bis unſer Ende kommt,
wollen wir nicht weichen von unſerer Froͤm-
migkeit. Vergis, Lieber! was dahinten
iſt, und ſtrecke dich nach dem, das da vorn
iſt, jage nach dem vorgeſteckten Ziel, nach
dem Kleinod, welches verhaͤlt die himmliſche
Berufung — Wandle wuͤrdiglich, dem
Herrn zu gefallen, und ſey fruchtbar in allen
guten Werken, bis uns der Herr erloͤſet von
allem Uebel und uns aushilft zu ſeinem
himmliſchen Reiche! Denk, Einſamer! wenn
du Kinder haͤtteſt, die deine grauen Haare
in die Grube braͤchten? Kinder, deretwe-
wegen du wie Eli, der Prieſter, den Hals
braͤcheſt, Halsbrechende Soͤhne! Abſalons?
die die gerechte Seele quaͤlen Tag und Nacht.
Hat denn dein Bruder nicht einen Sohn?
und iſt ſein paradies-natuͤrliches Weib nicht
wieder geſegnet? Sey frohen Muths! Gott
kann dir aus Steinen Kinder erwecken.
Dein Leichenſtein, wenn er gluͤcklich gelegt
iſt, kann deinen Namen einem Seher ins
Geſicht bringen, der dich in ſein ewiges Buch
ſchreibt, da lebſt du dann ſo gut, als durch
deine Nachkommen! — —


Soll
[652]

Soll ich euch, geliebteſten Leſer! uͤber
ſechs Jahre, wie ich hoffe, wiederſehen; ſo
gaͤb’ es Gott, daß wir uns gutes Muths
treffen! Er, der mein Innerſtes ſieht, weiß,
mit welchem Herzen ich von euch ſcheide!
Meine Seele iſt betruͤbt bis in den Tod! —
Gott ſchenke euch viel Freude! — Dank
euch drey Maͤnnern, die ihr mich geleitet
habt! Der Engel des Herrn gleite euch wie-
der, und du mein lieber — — es! dem ich
dies ganze Buch zu gefallen geſchrieben,
danke nicht: Es iſt gern geſchehen!


Lebt alle, alle! wohl! fromm und
gluͤcklich!
Stehet auf und laßet uns von
hinnen gehen!


[][][][][][][]
Notes
*)
Daß dies die Anfangs-Buchſtaben meines
Namens ſind, bekraͤftige ich hiemit mit Ja
und Amen! —

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnct.0