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Sieben Legenden.
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Sieben Legenden.



Stuttgart.:
G. J. Göſchen'ſche Verlagshandlung.
1872.
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K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (Carl Grüninger) in Stuttgart.

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Vorwort.

Beim Leſen einer Anzahl Legenden wollte es dem
Urheber vorliegenden Büchleins ſcheinen, als ob in
der überlieferten Maſſe dieſer Sagen nicht nur die
kirchliche Fabulirkunſt ſich geltend mache, ſondern wohl
auch die Spuren einer ehmaligen mehr profanen Er¬
zählungsluſt oder Novelliſtik zu bemerken ſeien, wenn
man aufmerkſam hinblicke.


Wie nun der Maler durch ein fragmentariſches
Wolkenbild, eine Gebirgslinie, durch das radirte
Blättchen eines verſchollenen Meiſters zur Ausfüllung
eines Rahmens gereizt wird, ſo verſpürte der Verfaſſer
die Luſt zu einer Reproduktion jener abgebrochen
ſchwebenden Gebilde, wobei ihnen freilich zuweilen
das Antlitz nach einer anderen Himmelsgegend hin¬
gewendet wurde, als nach welcher ſie in der über¬
kommenen Geſtalt ſchauen.


[VI]

Der ungeheure Vorrath des Stoffes ließe ein
Ausſpinnen der Sache in breiteſtem Betriebe zu;
allein nur bei einer mäßigen Ausdehnung des harm¬
loſen Spieles dürfte demſelben der beſcheidene Raum
gerne gegönnt werden, den es in Anſpruch nimmt.

[]

Inhalt.

  • Seite.
  • Eugenia  1
  • Die Jungfrau und der Teufel  29
  • Die Jungfrau als Ritter  45
  • Die Jungfrau und die Nonne  67
  • Der ſchlimm-heilige Vitalis  83
  • Dorothea's Blumenkörbchen  121
  • Das Tanzlegendchen  137
[]

Eugenia.

Ein Weib ſoll nicht Mannsgeräthe
tragen, und ein Mann ſoll nicht Weiber¬
kleider anthun; denn wer ſolches thut, iſt
dem Herrn, deinem Gott, ein Gräuel.


(5. Moſ. 22. 5.)
Keller, Sieben Legenden. 1[][]

Wenn die Frauen den Ehrgeiz der Schönheit,
Anmuth und Weiblichkeit hintanſetzen, um ſich in an¬
dern Dingen hervor zu thun, ſo endet die Sache
oftmals damit, daß ſie ſich in Männerkleider werfen
und ſo dahintrollen.


Die Sucht, den Mann zu ſpielen, kommt ſogar
ſchon in der frommen Legendenwelt der erſten Chriſten¬
zeit zum Vorſchein und mehr als eine Heilige jener
Tage war von dem Verlangen getrieben, ſich vom
Herkommen des Hauſes und der Geſellſchaft zu be¬
freien.


Ein ſolches Beiſpiel gab auch das feine Römer¬
mädchen Eugenia, freilich mit dem nicht ungewöhn¬
lichen Endreſultat, daß ſie, in große Verlegenheit ge¬
rathen durch ihre männlichen Liebhabereien, ſchließlich
doch die Hilfsquellen ihres natürlichen Geſchlechtes
anrufen mußte, um ſich zu retten.


Sie war die Tochter eines angeſehenen Römers,
der mit ſeiner Familie in Alexandria lebte, wo es
[4] von Philoſophen und Gelehrten aller Art wimmelte.
Demgemäß wurde Eugenia ſehr ſorgfältig erzogen
und unterrichtet, und dies ſchlug ihr ſo wohl an, daß
ſie, ſobald ſie nur ein wenig in die Höhe ſchoß, alle
Schulen der Philoſophen, Scholiaſten und Rhetoren
beſuchte, wie ein Student, wobei ſie ſtets eine Leibwache
von zwei niedlichen Knaben ihres Alters bei ſich hatte.
Dies waren die Söhne von zwei Freigelaſſenen ihres
Vaters, welche zur Geſellſchaft mit ihr erzogen waren
und an all ihren Studien theilnehmen mußten.


Mittlerweile ward ſie das ſchönſte Mädchen, das
zu finden war, und ihre Jugendgenoſſen, welche ſelt¬
ſamer Weiſe beide Hyazinthus hießen, wuchſen des¬
gleichen zu zwei zierlichen Jünglingsblumen, und wo
die liebliche Roſe Eugenia zu ſehen war, da ſah man
allezeit ihr zur Linken und zur Rechten auch die bei¬
den Hyazinthen ſäuſeln oder anmuthig hinter ihr her¬
gehen, indeſſen die Herrin rückwärts mit ihnen dis¬
putirte.


Und es gab nie zwei wohlgezogenere Genoſſen
eines Blauſtrümpfchens; denn nie waren ſie anderer
Meinung als Eugenia, und ſtets blieben ſie in ihrem
Wiſſen um einen Zoll hinter ihr zurück, ſo daß ſie
ſtets Recht behielt und nie befürchten mußte, etwas
Ungeſchickteres zu ſagen, als ihre Geſpielen.


Alle Bücherwürmer von Alexandrien machten
[5] Elegien und Sinngedichte auf die muſenhafte Er¬
ſcheinung, und die guten Hyazinthen mußten dieſe
Verſe ſorgfältig in goldene Schreibtafeln ſchreiben
und hinter ihr her tragen.


Mit jedem halben Jahre wurde ſie nun ſchöner
und gelehrter, und bereits luſtwandelte ſie in
den geheimnißvollen Irrgärten der neuplatoniſchen
Lehren, als der junge Prokonſul Aquilinus ſich in
Eugenia verliebte und ſie von ihrem Vater zum
Weibe begehrte. Dieſer empfand aber einen ſolchen
Reſpekt vor ſeiner Tochter, daß er trotz des römiſchen
Vaterrechtes nicht wagte, ihr den mindeſten Vorſchlag
zu machen und den Freier an ihren eigenen Willen
verwies, obgleich kein Eidam ihm willkommener war,
als Aquilinus.


Aber auch Eugenia hatte ſeit manchen ſchönen
Tagen heimlich das Auge auf ihn geworfen, da er
der ſtattlichſte, angeſehenſte und ritterlichſte Mann in
Alexandrien war, der überdies für einen Mann von
Geiſt und Herz galt.


Doch empfing ſie den verliebten Konſul in voller
Ruhe und Würde, umgeben von Pergamentrollen und
ihre Hyazinthen hinter dem Seſſel. Der eine trug
ein azurblaues Gewand, der andere ein roſenfarbi¬
ges und ſie ſelbſt ein blendend weißes, und ein Fremd¬
ling wäre ungewiß geweſen, ob er drei ſchöne zarte
[6] Knaben oder drei friſchblühende Jungfrauen vor ſich
ſehe.


Vor dieſes Tribunal trat nun der männliche
Aquilinus in einfacher würdiger Toga und hätte am
liebſten in traulicher und zärtlicher Weiſe ſeiner Lei¬
denſchaft Worte gegeben; da er aber ſah, daß Eugenia
die Jünglinge nicht fortſchickte, ſo ließ er ſich ihr
gegenüber auf einen Stuhl nieder und that ihr ſeine
Bewerbung in wenigen feſten Worten kund, wobei er
ſich ſelbſt bezwingen mußte, weil er ſeine Augen un¬
verwandt auf ſie gerichtet hielt und ihren großen
Liebreiz ſah.


Eugenia lächelte unmerklich und erröthete nicht
einmal, ſo ſehr hatte ihre Wiſſenſchaft und Geiſtes¬
bildung alle feinern Regungen des gewöhnlichen Le¬
bens in ihr gebunden. Dafür nahm ſie ein ernſtes,
tiefſinniges Ausſehen an und erwiederte ihm:


„Dein Wunſch, o Aquilinus, mich zur Gattin zu
nehmen, ehrt mich in hohem Grade, kann mich aber nicht
zu einer Unweisheit hinreißen; und eine ſolche wäre
es zu nennen, wenn wir, ohne uns zu prüfen, dem
erſten rohen Antriebe folgen würden. Die erſte Be¬
dingung, welche ich von einem etwaigen Gemahl for¬
dern müßte, iſt, daß er mein Geiſtesleben und Stre¬
ben verſteht und ehrt und an demſelben theilnimmt!
So biſt du mir denn willkommen, wenn du öfter
[7] um mich ſein und im Wetteifer mit dieſen meinen
Jugendgenoſſen dich üben magſt, mit mir nach den
höchſten Dingen zu forſchen. Dabei werden wir dann
nicht ermangeln, zu lernen, ob wir für einander be¬
ſtimmt ſind, oder nicht, und wir werden uns nach
einer Zeit gemeinſamer geiſtiger Thätigkeit ſo erken¬
nen, wie es gottgeſchaffenen Weſen geziemt, die nicht
im Dunkel, ſondern im Lichte wandeln ſollen!“


Auf dieſe hochgetragene Zumuthung erwiederte Aqui¬
linus, nicht ohne eine geheime Aufwallung, doch mit
ſtolzer Ruhe: „Wenn ich dich nicht kennte, Eugenia,
ſo würde ich dich nicht zum Weibe begehren, und
mich kennt das große Rom ſowohl wie dieſe Pro¬
vinz! Wenn daher dein Wiſſen nicht ausreicht, ſchon
jetzt zu erkennen, was und wie ich beſchaffen bin, ſo
wird es, fürchte ich, nie ausreichen. Auch bin ich
nicht gekommen, nochmals in die Schule zu gehen,
ſondern eine Ehegenoſſin zu holen; und was dieſe
beiden Kinder betrifft, ſo wäre es, wenn du mir
deine Hand vergönnteſt, mein erſter Wunſch, daß
du ſie endlich entlaſſen und ihren Eltern zurückgeben
möchteſt, damit ſie denſelben beiſtehen und nützlich
ſein könnten. Nun bitte ich dich, mir Beſcheid zu
geben, nicht als ein Gelehrter, ſondern als ein Weib
von Fleiſch und Blut!“


Jetzt war die ſchöne Philoſophin doch roth ge¬
[8] worden, und zwar wie eine Purpurnelke, und ſie
ſagte, während ihr das Herz klopfte: „Mein Beſcheid
iſt bald gegeben, da ich aus deinen Worten entnehme,
daß du mich nicht liebſt, o Aquilinus! Dieſes könnte
mir gleichgiltig ſein, wenn es nicht beleidigend wäre
für die Tochter eines edlen Römers, angelogen zu
werden!“


„Ich lüge nie!“ ſagte Aquilinus kalt; „lebe wohl!“


Eugenia wandte ſich ab, ohne ſeinen Abſchied zu
erwiedern, und Aquilinus ſchritt langſam aus dem
Hauſe nach ſeiner Wohnung. Jene wollte, als ob
nichts geſchehen wäre, ihre Bücher vornehmen; allein
die Schrift verwirrte ſich vor ihren Augen und die
Hyazinthen mußten ihr vorleſen, indeſſen ſie voll
heißen Aergers mit ihren Gedanken anderwärts
ſchweifte.


Denn wenn ſie bis auf dieſen Tag den Conſul
als denjenigen betrachtet hatte, den ſie allein unter
allen Freiern zum Gemahl haben mochte, wenn es
ihr allenfalls gefiele, ſo war er ihr jetzt ein Stein
des Anſtoßes geworden, über den ſie nicht hinweg
kommen konnte.


Aquilinus ſeinerſeits verwaltete ruhig ſeine Ge¬
ſchäfte und ſeufzte heimlich über ſeine eigene Thor¬
heit, welche ihn die pedantiſche Schöne nicht ver¬
geſſen ließ.


[9]

Es vergiengen beinahe zwei Jahre, während welcher
Eugenia womöglich immer merkwürdiger und eine
wahrhaft impoſante Perſon wurde, indeſſen die Hya¬
zinthen allbereits zwei ſtarke Bengel vorſtellten, denen
der Bart wuchs. Obgleich man jetzt von allen Sei¬
ten anfing, ſich über dies ſeltſame Verhältniß aufzu¬
halten, und anſtatt der bewundernden Epigramme
ſatyriſche Proben dieſer Art aufzutauchen begannen,
ſo konnte ſie ſich doch nicht entſchließen, ihre Leib¬
garde zu verabſchieden; denn noch war ja Aquilinus
da, der ihr dieſelbe hatte verbieten wollen. Er ging
ruhig ſeinen Gang fort und ſchien ſich um ſie nicht
weiter zu bekümmern; aber er ſah auch kein anderes
Weib an, und man hörte von keiner Bewerbung mehr,
ſo daß auch er getadelt wurde, als ein ſo hoher Be¬
amter unbeweibt fortzuleben.


Um ſo mehr hütete ſich die eigenſinnige Eugenia,
ihm durch Entfernung der anſtößigen Geſellen ſchein¬
bar ein Zeichen der Annäherung zu geben. Ueberdies
reizte es ſie, der allgemeinen Sitte und der öffent¬
lichen Meinung zum Trotz nur ſich allein Rechen¬
ſchaft zu geben und unter Umſtänden, welche für alle
andern Frauen gefährlich und unthunlich geweſen
wären, das Bewußtſein eines reinen Lebens zu bewahren.


Denn alle ſolche Wunderlichkeiten lagen dazumal
in der Luft.


[10]

Mittlerweile befand ſich Eugenia doch nicht wohl
und zufrieden; ihre geſchulten Diener mußten Him¬
mel, Erde und Hölle durchphiloſophiren, um plötzlich
unterbrochen zu werden und ſtundenweit mit ihr im
Feld herumzulaufen, ohne eines Wortes gewürdigt
zu ſein. Eines Morgens verlangte ſie auf ein Land¬
gut hinauszufahren; ſie lenkte ſelbſt den Wagen und
war lieblicher Laune; denn es war ein klarer
Frühlingstag und die Luft mit Balſamdüften erfüllt.
Die Hyazinthen freuten ſich der Fröhlichkeit, und ſo
fuhren ſie durch eine ländliche Vorſtadt, wo es den
Chriſten erlaubt war, ihren Gottesdienſt zu halten. Sie
feierten eben den Sonntag; aus der Kirche eines
Mönchskloſters ertönte ein frommer Geſang, Eugenia
hielt die Pferde an, um zu hören, und vernahm die
Worte des Pſalmes: „Wie eine Hindin nach den
Waſſerquellen, ſo lechzet meine Seele, o Gott! nach
dir! Meine Seele dürſtet nach dem lebendigen Gott!“


Bei dem Klange dieſer Worte, aus frommen de¬
müthigen Kehlen geſungen, vereinfachte ſich endlich
ihr künſtliches Weſen, ihr Herz ward getroffen und
ſchien zu wiſſen, was es wolle, und langſam, ohne
zu ſprechen, fuhr ſie weiter nach dem Landgute. Dort
zog ſie ins geheim männliche Kleider an, winkte die
Hyazinthen zu ſich und verließ das Haus mit ihnen,
ohne von dem Geſinde geſehen zu werden. Und ſie
[11] kehrte nach dem Kloſter zurück, klopfte an der Pforte
und ſtellte ſich und ihre Begleiter dem Abt als drei
junge Männer vor, welche begehrten, als Mönche in
das Kloſter aufgenommen zu werden, um von der
Welt abzuſcheiden und dem Ewigen zu leben. Sie
wußte, da ſie wohl unterrichtet war, auf die prüfen¬
den Fragen des Abtes ſo trefflich zu antworten, daß
er alle drei, die er für feine und vornehme Leute
halten mußte, in das Kloſter aufnahm und den geiſt¬
lichen Habit anziehen ließ.


Eugenia war ein ſchöner, faſt engelgleicher Mönch
und hieß der Bruder Eugenius, und die Hyazinthen
ſahen ſich wohl oder übel desgleichen in Mönche ver¬
wandelt, da ſie gar nicht gefragt worden waren und
ſich längſt daran gewöhnt hatten, nicht anders zu
leben, als durch den Willen ihres weiblichen Vorbil¬
des. Doch bekam ihnen das Mönchsleben nicht übel,
indem ſie ungleich ruhigere Tage genoſſen, nicht mehr
zu ſtudiren brauchten und ſich gänzlich einem leiden¬
den Gehorſam hingeben konnten.


Der Bruder Eugenius hingegen raſtete nicht, ſon¬
dern wurde ein berühmter Mönch, weiß wie Marmor
im Geſicht, aber mit glühenden Augen und dem An¬
ſtand eines Erzengels. Er bekehrte viele Heiden,
pflegte die Kranken und Elenden, vertiefte ſich in die
Schrift, predigte mit goldener Glockenſtimme und
[12] ward ſogar, als der Abt ſtarb, zu deſſen Nachfolger
erwählt, alſo daß nun die feine Eugenia ein Abt
war über ſiebenzig gute Mönche, kleine und große.


Während der Zeit, als ſie ſo plötzlich verſchwun¬
den war mit ihren Gefährten und nirgends mehr
aufzufinden, hatte ihr Vater ein Orakel befragen
laſſen, was aus ſeiner Tochter geworden ſei, und
dieſes verkündete, Eugenia ſei von den Göttern ent¬
rückt und unter die Sterne verſetzt worden. Denn
die Prieſter benützten das Ereigniß, um den Chriſten
gegenüber ein Mirakel aufzuweiſen, während dieſe den
Haſen längſt in der Küche hatten. Man bezeichnete
ſogar einen Stern am Firmament mit zwei kleineren
Nebenſchnüppchen als das neue Sternbild, und die
Alexandriner ſtanden auf den Straßen und den Zin¬
nen ihrer Häuſer und ſchauten hinauf, und Mancher,
der ſie einſt hatte herumgehen ſehen und ſich ihrer
Schönheit erinnerte, verliebte ſich nachträglich in ſie
und guckte mit feuchten Augen in den Stern, der
ruhig im dunkeln Blau ſchwamm.


Auch Aquilinus ſah hinauf; aber er ſchüttelte den
Kopf und die Sache wollte ihm nicht einleuchten.
Deſto feſter glaubte der Vater der Verſchwundenen
daran, fühlte ſich nicht wenig erhoben und wußte es
mit Hilfe der Prieſter durchzuſetzen, daß Eugenien
eine Bildſäule errichtet und göttliche Ehren erwieſen
[13] wurden. Aquilinus, der die obrigkeitliche Bewilligung
ertheilen mußte, that es unter der Bedingung, daß
das Bild der Entrückten ähnlich gemacht würde; das
war leicht zu bewerkſtelligen, da es eine ganze Menge
Büſten und Bildchen von ihr gab, und ſo wurde
ihre Marmorſtatue in der Vorhalle des Minerva¬
tempels aufgeſtellt und durfte ſich ſehen laſſen vor
den Göttern und Menſchen, da es unbeſchadet der
ſprechenden Aehnlichkeit ein Idealwerk war in Kopf,
Haltung und Gewändern.


Die ſiebenzig Mönche des Kloſters, als dieſe
Neuigkeit dort verhandelt wurde, ärgerten ſich höch¬
lich über den Trumpf, der von heidniſcher Seite aus¬
geſpielt worden, über die Errichtung eines neuen
Götzenbildes und die freche Anbetung eines ſterblichen
Weibes. Am heftigſten ſchalten ſie über das Weib
ſelber als über eine Landläuferin und betrügeriſche
Gauklerin, und ſie machten während des Mittags¬
mahles einen ganz ungewöhnlichen Lärm. Die Hya¬
zinthen, welche zwei gutmüthige Pfäfflein geworden
und das Geheimniß des Abtes in der Bruſt begraben
hielten, ſahen dieſen bedeutungsvoll an; aber er winkte
ihnen zu ſchweigen und ließ das Schelten und Toben
über ſich ergehen als Strafe für ſeinen heidniſchen
Sündengeiſt.


In der Nacht aber, als Mitternacht vorüber war,
[14] erhob ſich Eugenia von ihrem Lager, nahm einen
ſtarken Hammer und ging leiſe aus dem Kloſter, um
das Bild aufzuſuchen und zu zerſchlagen. Leicht fand
ſie den marmorglänzenden Stadttheil, wo die Tempel
und öffentlichen Gebäude lagen und wo ſie ihre
Jugendzeit zugebracht hatte. Keine Seele rührte ſich
in der ſtillen Steinwelt; als der weibliche Mönch die
Stufen zum Tempel hinaufging, erhob ſich eben der
Mond über die Schatten der Stadt und warf ſein
taghelles Licht zwiſchen die Säulen der Vorhalle
hinein. Da ſah Eugenia ihr Bild, weiß wie der ge¬
fallene Schnee, in wunderbarer Anmuth und Schön¬
heit daſtehen, die feinfaltigen Gewänder ſittig um die
Schultern gezogen, mit begeiſtertem Blick und leis
lächelndem Munde vor ſich hinſehend.


Neugierig ſchritt die Chriſtin darauf zu, den er¬
hobenen Hammer in der Hand; aber ein füßer Schau¬
der durchfuhr ihr Herz, als ſie das Bild in ſeiner
Deutlichkeit ſah, der Hammer ſank nieder und laut¬
los weidete ſie ſich am Anblicke ihres eigenen früheren
Weſens. Eine bittere Wehmuth umfing ſie, das Ge¬
fühl, als ob ſie aus einer ſchöneren Welt ausgeſtoßen
wäre und jetzt als ein glückloſer Schatten in der
Oede herum irre; denn wenn das Bild auch zu einem
Ideal erhoben war, ſo ſtellte es gerade dadurch das
urſprüngliche innere Weſen Eugenias dar, das durch
[15] ihre Schulfuchſerei nur verhüllt wurde, und es war
ein edleres Gefühl, als Eitelkeit, durch welches ſie ihr
beſſeres Selbſt in dem magiſchen Mondglanz nun er¬
kannte. Das machte ihr eben zu Muthe, wie wenn
ſie die unrechte Karte ausgeſpielt hätte, um modern
zu reden, da es damals freilich keine Karten gab.


Plötzlich ließ ſich ein raſcher Männertritt hören;
Eugenia verbarg ſich unwillkürlich im Schatten einer
Säule und ſah die hohe Geſtalt des Aquilinus heran¬
ſchreiten. Sie ſah, wie er ſich vor die Statue ſtellte,
dieſelbe lange betrachtete und endlich den Arm um
ihren Hals legte, um einen leiſen Kuß auf die
marmornen Lippen zu drücken. Dann hüllte er ſich
in ſeinen Mantel und ging langſam hinweg, ſich
mehr als einmal nach dem glänzenden Bilde um¬
ſchauend. Eugenia zitterte ſo ſtark, daß ſie es ſelbſt
bemerkte; zornig und gewaltſam nahm ſie ſich zu¬
ſammen und trat wieder vor die Bildſäule mit dem
erhobenen Hammer, um dem ſündhaften Spuck ein
Ende zu machen; aber ſtatt das ſchöne Haupt zu zer¬
ſchlagen, drückte ſie, in Thränen ausbrechend, eben¬
falls einen Kuß auf ſeine Lippen und eilte von dan¬
nen, da ſich die Schritte der Nachtwache hören ließen.
Mit wogendem Buſen ſchlich ſie in ihre Zelle und
ſchlief ſelbige Nacht nicht, bis die Sonne aufging,
und während ſie das Frühgebet verſäumte, träumte
[16] ſie in raſch folgendem Wechſel von Dingen, die das¬
ſelbe nichts angingen.


Die Mönche ehrten den Schlaf des Abtes als
eine Folge geiſtlicher Nachtwachen. Allein zuletzt
ſahen ſie ſich genöthigt, Eugenias Schlummer zu unter¬
brechen, da es für ſie etwas beſonderes zu thun gab.
Eine vornehme Wittwe, welche krank und chriſtlicher
Hilfe bedürftig darnieder zu liegen vorgab, hatte nach
ihr geſandt, den geiſtlichen Zuſpruch und den Rath
des Abtes Eugenius verlangend, deſſen Wirken und
Perſon ſie ſeit geraumer Zeit verehrte. Die Mönche
wollten daher dieſe Eroberung nicht fahren laſſen,
welche ihrer Kirche zu Anſehen verhalf, und ſie weck¬
ten Eugenia. Halb verwirrt und mit hold gerötheten
Wangen, wie man ſie lange nicht geſehen, machte ſie
ſich auf den Weg, mit ihren Gedanken mehr in den
Träumen des Morgenſchlummers und unter den
nächtlichen Tempelſäulen verweilend, als bei dem,
was vor ihr lag. Sie betrat das Haus der Heidin
und wurde in deren Gemach geführt und mit ihr
allein gelaſſen. Ein ſchönes Weib von noch nicht
dreißig Jahren lag auf einem Ruhebette ausgeſtreckt,
allein nicht wie eine Kranke und Zerknirſchte, ſondern
glühend von Stolz und Lebensluſt. Kaum vermochte
ſie ſich leidlich ruhig und beſcheiden anzuſtellen, bis
der vermeintliche Mönch auf ihre Anordnung dicht
[17] an ihrer Seite Platz genommen; dann ergriff ſie ſeine
beiden weißen Hände, drückte ihre Stirn darauf und
bedeckte ſie mit Küſſen. Eugenia, welche von ihren
anderweitigen Gedanken eingenommen, nicht auf das
unheilige Ausſehen des Weibes geachtet hatte und
ihr Gebahren für Demuth und geiſtliche Hingebung
hielt, ließ ſie gewähren, und dadurch aufgemuntert,
ſchlang die Heidin ihre Arme um Eugenias Hals,
den ſchönſten jungen Mönch zu umarmen wähnend.
Kurz, ehe der ſich's verſah, fand er ſich von
der leidenſchafterfüllten Perſon umklammert und
fühlte ſeinen Mund von einem Regen der heftigſten
Küſſe getroffen. Ganz betäubt erwachte endlich
Eugenia aus ihrer Zerſtreuung; doch dauerte es Minu¬
ten bis ſie ſich aus der wilden Umhalſung losmachen
und aufrichten konnte.


Sogleich aber begann die Zunge des heidniſchen
Satans ſich zu rühren; in einem Sturm von Worten
that die Teufelin dem entſetzten Abt ihre Liebe und
Sehnſucht kund und ſuchte ihm auf jegliche Art zu
beweiſen, daß es die Pflicht ſeiner Schönheit und
Jugend ſei, dieſe Sehnſucht zu ſtillen, und daß er zu
nichts anderem da ſei. Dabei ließ ſie es an neuen
Angriffen und zärtlichen Verlockungen nicht fehlen, ſo
daß Eugenia ſich kaum zu erwehren wußte, endlich
aber ſich entrüſtet zuſammenraffte und mit blitzenden
Keller, Sieben Legenden. 2[18] Augen der Unholdin ſo derb den Text las und mit
ſo kräftigen Verwünſchungen, wie ſie nur einem
Mönch zu Gebote ſtehen, antwortete, daß jene das
Mißlingen ihres übeln Vorhabens erkannte, mit
Einem Schlag ſich verwandelte und den Ausweg ein¬
ſchlug, den ſchon das Weib des Potiphar eingeſchla¬
gen und der ſeither hundert und tauſend Mal be¬
gangen wurde. Sie ſprang wie ein Tiger auf Eugenia
zu, umſchlang ſie nochmals wie mit eiſernen Armen,
riß ſie zu ſich auf das Bett nieder und erhob gleich¬
zeitig ein ſolches Zetergeſchrei, daß ihre Mägde von
allen Seiten in das Gemach ſtürzten.


„Helft mir! Helft mir!“ ſchrie ſie, „dieſer Mann
will mir Gewalt anthun!“ und zugleich ließ ſie Eu¬
genien los, die ſich athemlos, verwirrt und erſchrocken
auf die Füße ſtellte.


Die herbeigelaufenen Weiber ſchrieen alſobald noch
ärger als ihre Herrin, liefen dahin und dorthin und
riefen auch männliche Geiſter herbei; Eugenia wußte
vor Schrecken kein Wort hervorzubringen, ſondern
flüchtete ſich voll Scham und Abſcheu aus, dem Hauſe,
vom Lärm und den Verwünſchungen des tollen
Haufens verfolgt.


Nun ſäumte die teufliſche Wittwe nicht, ſchnur¬
ſtracks und mit einem guten Gefolge zum Konſul
Aquilinus zu laufen und bei ihm den Mönch der
[19] ärgſten Schandthat anzuklagen, wie er heuchleriſcher
Weiſe in ihr Haus gekommen ſei, um ſich erſt mit
Bekehrungsverſuchen aufzudrängen und, nachdem dieſe
fehlgeſchlagen, ſie gewaltthätig ihrer Ehre zu berau¬
ben. Da ihr ganzes Gefolge die Wahrheit ihrer Aus¬
ſage bezeugte, ließ der entrüſtete Aquilinus ſofort das
Kloſter mit Kriegsvolk beſetzen und den Abt ſammt
den Mönchen vor ſich bringen, um ſie zu richten.


„Iſt das euer Beginnen, ihr niederträchtigen
Heuchler?“ redete er ſie mit ſtrengem Tone an,
„ſticht euch ſchon dermaßen der Hafer, daß ihr, kaum
geduldet, die Ehre unſerer Frauen beleidigt und herum
ſchleicht, wie die reißenden Wölfe? Hat euer Meiſter,
den ich mehr achte, als ihr Lügner! euch dergleichen
gelehrt oder geboten? Mit Nichten! Ihr ſeid ein
Haufen und eine Bande Elender, die ſich öffentlich
einen Namen geben, um im Stillen dem Verderben
zu fröhnen! Vertheidigt euch, wenn ihr könnt, gegen
die Anklage!“


Die ſchändliche Wittwe wiederholte jetzt, von heuch¬
leriſchen Seufzern und Thränen unterbrochen, ihre
lügenhafte Erzählung. Als ſie geendigt und ſich ſitt¬
ſam wieder in ihre Schleier hüllte, ſahen die Mönche
voll Furcht einander an und auf ihren Abt, an deſſen
Tugend ſie nicht zweifelten, und ſie erhoben gemein¬
ſam ihre Stimmen, um die falſche Anklage abzuwehren.
[20] Allein nicht nur das zahlreiche Geſinde der Lügnerin,
ſondern auch mehrere Nachbarn und Vorübergehende,
welche den Abt voll Scham und Verwirrung aus
jenem Hauſe hatten entfliehen ſehen und ihn ſchlecht¬
weg für ſchuldig hielten, bezeugten jetzt nacheinander
und zumal mit lauter Stimme die begangene Unthat,
ſo daß die armen Mönche zehnmal überſtimmt und
überſchrieen wurden.


Sie ſahen daher voll Zweifel auf ihren Abt, und
ſeine Jugendlichkeit kam den Graubärten unter ihnen
jetzt auf einmal auch verdächtig vor. Sie riefen,
wenn er ſchuldig ſei, ſo würde Gottes Strafgericht
nicht ausbleiben, wie ſie ihn auch dem weltlichen Rich¬
ter jetzt ſchon Preis gäben!


Aller Blicke waren nun auf Eugenia gerichtet,
welche inmitten der Verſammlung verlaſſen daſtand.
Sie hatte weinend in ihrer Zelle gelegen, als ſie mit
den Mönchen ergriffen worden, und ſtand die ganze
Zeit über mit geſenkten Augen und die Mönchskappe
tief über das Haupt gezogen, da und befand ſich nun
in der allerſchlimmſten Lage; denn wenn ſie das Ge¬
heimniß ihrer Herkunft und ihres Geſchlechtes be¬
wahrte, ſo unterlag ſie dem falſchen Zeugniß, und
offenbarte ſie daſſelbe, ſo erhob ſich der Sturm gegen
das Kloſter heftiger als vorher und ſie weihte das¬
ſelbe dem Untergange, indem ein Kloſter, das ein
[21] ſchönes junges Weib zum Abte hat, des unſeligſten
Verdachtes und Geſpöttes der böswilligen Heidenwelt
gewärtig ſein mußte. Dieſe Furcht und Ungewißheit
hätte ſie nicht empfunden, wenn ſie, nach Mönchs¬
begriffen, noch reinen Herzens geweſen wäre; allein
allbereits ſeit der letzten Nacht war der Zwieſpalt in
ihr Gemüth eingebrochen und ſelbſt die unglückliche
Begegnung mit dem ſchlimmen Weibe hatte ſie noch
mehr verwirrt, ſo daß ſie nunmehr den Muth nicht
fand, entſchloſſen aufzutreten und ein Wunder herbei¬
zuführen.


Doch als Aquilinus ſie aufforderte, zu reden,
erinnerte ſie ſich ſeiner Neigung zu ihr, und indem
ſie Vertrauen zu ihm faßte, verfiel ſie auf eine Aus¬
flucht. Mit leiſem und beſcheidenem Tone ſagte ſie,
ſie ſei nicht ſchuldig und wolle es dem Konſul be¬
weiſen, wenn ſie allein mit ihm ſprechen dürfe. Der
Klang ihrer Stimme rührte den Aquilinus, ohne
daß er wußte warum, und er gab zu, daß ſie unter
vier Augen mit ihm reden möge. Er ließ ſie des¬
halb in das Innere ſeines Hauſes führen und ver¬
ſchloß ſich dort allein mit ihr in ein Zimmer. Dort
ſchlug Eugenia ihre Augen zu ihm auf, warf die
Kapuze zurück und ſagte: „Ich bin Eugenia, die du
einſt zur Frau begehrt haſt!“


Sogleich erkannte er ſie und war überzeugt, daß
[22] ſie es ſei; aber zugleich ſtieg ein großer Aerger und
eine brennende Eiferſucht in ihm auf, weil die ſo
plötzlich Wiedergefundene als ein Weib zum Vor¬
ſchein kam, das die ganze Zeit über heimlich unter
ſiebenzig Mönchen gelebt hatte. Er hielt daher ge¬
waltſam an ſich und ſtellte ſich, während ſeine Blicke
ſie prüfend überflogen, als ob er ihren Worten nicht
im mindeſten glaubte und ſagte: „Du ſiehſt in der
That jener thörichten Jungfrau ziemlich ähnlich.
Doch das kümmert mich nicht; vielmehr bin ich
begierig zu wiſſen, was du mit der Wittwe ge¬
macht haſt!“


Eugenia erzählte eingeſchüchtert und ängſtlich den
Vorgang und Aquilinus erkannte aus der ganzen
Art der Erzählung die Falſchheit und Schlechtigkeit
der Anklage, erwiederte jedoch mit ſcheinbarer Kalt¬
blütigkeit: „Und auf welche Weiſe willſt du denn,
wenn du Eugenia biſt, ein Mönch geworden ſein, in
welcher Abſicht und wie war es möglich?“


Auf dieſe ſeine Worte erröthete ſie und blickte
verlegen auf die Erde; doch dünkte es ſie nicht unbe¬
haglich, hier zu ſein und endlich wieder einmal zu
einem guten alten Bekannten von ſich und ihrem
Leben zu ſprechen; ſie ſäumte auch nicht und be¬
richtete mit natürlichen Worten Alles, was ſich ſeit
ihrem Verſchwinden mit ihr zugetragen, nur daß ſie
[23] ſeltſamer Weiſe der beiden Hyazinthen mit keiner
Silbe erwähnte. Die Erzählung gefiel ihm nicht
übel, überhaupt wurde es ihm jede Minute ſchwerer,
ſein Wohlgefallen an der ſchönen Wiedergefundenen
zu verbergen. Aber dennoch bezwang er ſich und
beſchloß, durch ihr ferneres Benehmen bis zum
Schluſſe zu erfahren, ob er an Zucht und reiner
Sitte die frühere Eugenia vor ſich habe.


Er ſagte darum: „Alles dies iſt eine gut vor¬
getragene Geſchichte; dennoch halte ich das Mädchen,
das du jetzt zu ſein vorgibſt, trotz ſeiner Sonderlichkeit
nicht für dergleichen gar zu befremdliche Abenteuer
fähig; wenigſtens hätte die wahre Eugenia es gewiß
vorgezogen, eine Nonne zu werden. Denn was ſoll
um aller Welt willen eine Mönchskutte und das Le¬
ben unter ſiebenzig Mönchen für ein Verdienſt und
Heil ſein auch für die gelehrteſte und frömmſte Frau?
deshalb halte ich dich nach wie vor für einen glatten
unbärtigen Kauz von Betrüger, dem ich gar nicht
traue! Ueberdies iſt jene Eugenia für göttlich und
in den Sternen wohnend erklärt worden, ihr Bild
ſteht im Tempel geweiht und es wird dir ſchlimm
genug ergehen, wenn du auf deiner läſterlichen Aus¬
ſage beharrſt!“


„Dies Bild hat ein gewiſſer Mann die vergangene
Nacht geküßt!“ erwiederte Eugenia mit leiſer Stimme
[24] und ſah mit ſeltſamen Blicken zu dem betroffenen
Aquilinus hinüber, der ſie anſtarrte, wie eine mit
höherem Wiſſen Begabte. „Wie kann der gleiche
Mann das Urbild peinigen?“


Aber er bekämpfte ſeine Verwirrung, ſchien dieſe
Worte zu überhören und fuhr fort, kalt und ſtreng:
„Kurz geſagt, zu Ehren der armen Chriſtenmönche,
die mir unſchuldig ſcheinen, kann und will ich nie
glauben, daß du ein Weib ſeieſt! Mache dich bereit,
gerichtet zu werden, denn deine Mittheilungen haben
mich nicht befriedigt!“


Da rief Eugenia: „So helfe mir Gott!“ und
riß ihr Mönchsgewand entzwei, bleich wie eine weiße
Roſe und in Scham und Verzweiflung zuſammen
brechend. Aber Aquilinus fing ſie in ſeinen Armen
auf, drückte ſie an ſein Herz und umhüllte ſie mit
ſeinem Mantel, und ſeine Thränen fielen auf ihr
ſchönes Haupt; denn er ſah wohl, daß ſie eine ehr¬
bare Frau war. Er trug ſie in das nächſte Zimmer,
wo ein reichgerüſtetes Gaſtbett ſtand, legte ſie ſanft
in dasſelbe hinein und deckte ſie mit Purpurdecken
zu bis an's Kinn. Dann küßte er ſie auf den Mund,
vielleicht drei oder vier Mal, ging hinaus und ver¬
ſchloß die Thüre wohl. Dann nahm er den noch
warmen Mönchshabit, der auf dem Boden lag, und
begab ſich wieder zu der harrenden Menge hinaus,
[25] die er alſo anredete: „Das ſind abſonderliche Dinge.
Ihr Mönche ſeid unſchuldig und könnt nach eurem
Kloſter gehen! Euer Abt war ein Dämon, der euch
verderben oder verführen wollte. Hier nehmt ſeine
Kutte mit Euch und hängt ſie zum Andenken irgendwo
auf; denn nachdem er vor meinen Augen ſeine Ge¬
ſtalt ganz abſonderlich verändert hat, iſt er vor eben
dieſen Augen in ein Nichts verfloſſen und ſpurlos
verſchwunden! Dies Weib hier hingegen, welches ſich
des Dämons bediente, Euch zu verderben, iſt der
Zauberei verdächtig und ſoll in's Gefängniß gewor¬
fen werden. Und hiemit begebt Euch allerſeits nach
Hauſe und ſeid guter Dinge!“


Alles erſtaunte über dieſe Rede und ſchaute furcht¬
ſam auf das Gewand des Dämons. Die Wittib er¬
blaßte und verhüllte ihr Geſicht, wonach ſie genug¬
ſam ihr böſes Gewiſſen zu erkennen gab. Die guten
Mönche erfreuten ſich ihres Sieges und zogen mit
der leeren Kutte dankbarlichſt von dannen, nicht
ahnend, welch' ſüßer Kern darin geſteckt habe. Die
Wittwe wurde in's Gefängniß abgeführt, und Aquili¬
nus rief ſeinen vertrauteſten Diener, mit welchem
er die Stadt durchſtreifte, Kaufleute aufſuchte und
eine Laſt der köſtlichſten Frauengewänder einkaufte.
Dieſe mußte der Sklave ſo geheim und raſch als mög¬
lich in's Haus bringen.


[26]

Sachte trat der Conſul in das Gemach, wo
Eugenia war, ſetzte ſich auf den Rand ihres Bettes und
ſah, daß ſie ganz vergnüglich ſchlief, wie Jemand
der ſich von ausgeſtandenen Beſchwerden erholt. Er
mußte lachen über ihren ſchwarzſammtenen geſchorenen
Mönchskopf und fuhr mit leiſer Hand über das
dichte kurze Haar. Da erwachte ſie und ſperrte die
Augen auf.


„Willſt Du nun endlich mein Weib ſein?“ fragte
er ſanft, worauf ſie weder ja noch nein ſagte, wohl
aber leiſe unter ihren Purpurdecken ſchauderte, in
denen ſie eingewickelt lag.


Da brachte Aquilinus an Kleidern und Schmuck
Alles herein, was eine zierliche Frau damals be¬
durfte, um ſich vom Kopf bis zu den Füßen zu kleiden,
und verließ ſie ſodann.


Nach Sonnenuntergang desſelben Tages fuhr er
mit ihr, einzig von dem Vertrauten begleitet, nach
einem ſeiner Landhäuſer hinaus, welches einſam und
reizend im Schatten dichter Bäume gelegen war.


Auf dem Landhauſe vermählte ſich nun das Paar
in der grüßten Einſamkeit, und ſo lange es gedauert
hatte, bis ſie endlich zuſammengekommen, ſo ſchien
ihnen darum doch keine Zeit verloren zu ſein, viel¬
mehr empfanden ſie die herzlichſte Dankbarkeit für
das Glück, das ſie ſich gegenſeitig gewährten. Aquili¬
[27] nus widmete die Tage ſeinem Amte und fuhr des
Abends mit den ſchnellſten Pferden zu ſeiner Gattin.
Nur etwa an unfreundlichen ſtürmiſchen Regentagen
liebte er es, unverſehens ſchon früher nach dem Land¬
hauſe zu eilen, um Eugenien aufzuheitern.


Dieſe gab ſich jetzt, ohne viel Worte zu machen,
mit eben der gründlichen Ausdauer, welche ſie der
Philoſophie und der chriſtlichen Askeſe gewidmet hatte,
dem Studium ehelicher Liebe und Treue hin. Als
aber ihr Haupthaar wieder die gehörige Länge erreicht
hatte, führte Aquilinus ſeine Gemahlin mit Erfin¬
dung einer geſchickten Fabel endlich wieder nach
Alexandrien zurück, brachte ſie zu ihren erſtaunten
Eltern und feierte ein glänzendes Hochzeitsfeſt.


Der Vater war zwar überraſcht, anſtatt einer
unſterblichen Göttin und eines himmliſchen Sternbil¬
des in ſeiner Tochter eine verliebte irdiſche Ehefrau
wieder zu finden, und ſah mit Wehmuth die geweihte
Bildſäule aus dem Tempel wegtragen; doch über¬
wog löblicher Weiſe das Vergnügen an ſeiner leib¬
haften Tochter, welche jetzt erſt ſo ſchön und liebens¬
werth erſchien, wie noch nie. Die Marmorſtatue
ſtellte Aquilinus in den ſchönſten Raum ſeines Hau¬
ſes; doch hütete er ſich, dieſelbe nochmals zu küſſen,
da er nun das lebenswarme Urbild zur Hand hatte.


Nachdem nun Eugenia das Weſen der Ehe genug¬
[28] ſam erkundet hatte, wandte ſie ihre Erkenntniß dazu
an, ihren Gemahl zum Chriſtenthum zu bekehren,
dem ſie nach wie vor anhing, und ſie ruhte nicht
eher, als bis Aquilinus ſich öffentlich zu ihrem Glau¬
ben bekannte. Die legende erzählt nun weiter, wie
die ganze Familie nach Rom zurückkehrte um die
Zeit, da der chriſtenfeindliche Valerianus zur Re¬
gierung gelangte, und wie nun während der aus¬
brechenden Verfolgungen Eugenia noch eine berühmte
Glaubensheldin und Märtyrerin wurde, welche vor
ihrem Tode die merkwürdigſten Wunder verrichtete.


Ihre Gewalt über Aquilinus war ſo groß ge¬
worden, daß ſie auch die geiſtlichen Hyazinthen aus
Alexandrien mit nach Rom nehmen konnte, allwo
dieſelben ebenfalls die Märtyrerkrone gewannen. Erſt
neuerlich ſind in einem Sarkophag der Katakomben ihre
Leiber vereinigt gefunden worden, gleich zwei Lämm¬
chen in einer Bratpfanne, und es hat ſie Papſt Pius
einer franzöſiſchen Stadt geſchenkt, welcher die Preu¬
ßen ihre Heiligen verbrannt haben. Ihre Fürſprache
ſoll namentlich für träge Schülerinnen gut ſein, die
in ihren Studien zurückgeblieben ſind.

[]

Die Jungfrau und der Teufel.

Freund! wach' und ſchau dich um, der Teufel
geht ſtets runden,

Kommt er dir auf den Leib, ſo liegeſt du
ſchon unten.

(Angelus Sileſius, Cherub. Wandersmann
VI. Buch 206.
)

[][]

Es war ein Graf Gebizo, der beſaß eine wunder¬
ſchöne Frau, eine prächtige Burg ſammt Stadt und
ſo viele anſehnliche Güter, daß er für einen der reich¬
ſten und glücklichſten Herren im Lande galt. Dieſen
Ruf ſchien er denn auch dankbar anzuerkennen, in¬
dem er nicht nur eine glänzende Gaſtfreundſchaft
hielt, wobei ſein ſchönes und gutes Weib gleich einer
Sonne die Gemüther der Gäſte erwärmte, ſondern
auch die chriſtliche Wohlthätigkeit im weiteſten Um¬
fange übte.


Er ſtiftete und begabte Klöſter und Spitäler,
ſchmückte Kirchen und Kapellen, und an allen hohen
Feſttagen kleidete, ſpeiſte und tränkte er eine große
Zahl von Armen, manchmal zu Hunderten, und
einige Dutzend mußten täglich, ja faſt ſtündlich auf
ſeinem Burghofe ſchmauſend und ihn lobpreiſend zu
ſehen ſein, ſonſt hätte ihm ſeine Wohnung, ſo ſchön
ſie war, verödet geſchienen.


Allein bei ſolch' ſchrankenloſer Freigebigkeit iſt
auch der größte Reichthum zu erſchöpfen, und ſo kam
[32] es, daß der Graf nach und nach alle ſeine Herrſchaf¬
ten verpfänden mußte, um ſeinem Hange zu gro߬
artigem Wohlthun zu fröhnen, und je mehr er ſich
verſchuldete, deſto eifriger verdoppelte er ſeine Ver¬
gabungen und Armenfeſte, um dadurch den Segen des
Himmels, wie er meinte, wieder zu ſeinen Gunſten
zu wenden. Zuletzt verarmte er gänzlich, ſeine Burg
verödete und verfiel; erfolgloſe und thörichte Stif¬
tungen und Schenkungsbriefe, welche er aus alter
Gewohnheit immer noch zu ſchreiben nicht unterlaſſen
konnte, trugen ihm nur Spott ein, und wenn er hie
und da noch einen zerlumpten Bettler auf ſeine Burg
locken konnte, ſo warf ihm dieſer das magere Süpp¬
chen, das er ihm vorſetzte, mit höhniſchen Schmäh¬
worten vor die Füße und machte ſich davon.


Nur Eines blieb ſich immer gleich, die Schönheit
ſeiner Frau Bertrade; ja, je öder es im Hauſe aus¬
ſah, deſto lichter ſchien dieſe Schönheit zu werden.
Und auch an Huld, Liebe und Güte nahm ſie zu, je
ärmer Gebizo wurde, ſo daß aller Segen des Him¬
mels ſich in dies Weib zu legen ſchien und tauſend
Männer den Grafen um dieſen einen Schatz, der ihm
noch übrig blieb, beneideten. Er allein ſah nichts
von alledem, und jemehr ſich die holde Bertrade be¬
mühte, ihn aufzuheitern und ſeine Armuth zu ver¬
ſüßen, deſto geringer ſchätzte er dies Kleinod und
[33] verfiel in einen bittern und verſtockten Trübſinn und
verbarg ſich vor der Welt.


Als einſt ein herrlicher Oſtermorgen anbrach, wo
er ſonſt gewohnt war, fröhliche Schaaren nach ſeiner
Burg wallfahren zu ſehen, ſchämte er ſich ſeines
Falles, daß er nicht einmal in die Kirche zu gehen
wagte und in Verzweiflung war, wie er die ſchönen
ſonnigen Feſttage zubringen ſollte. Umſonſt bat ihn
ſein Weib mit perlenden Thränen und mit lächeln¬
dem Munde, ſich nicht zu grämen und unverzagt mit
ihr zur Kirche zu gehen; er machte ſich unwirſch los
und ging auf und davon, ſich in den Wäldern zu
verbergen, bis Oſtern vorbei wäre.


Berg auf und ab lief er, bis er in eine uralte
Wildniß kam, wo ungeheure bärtige Tannenbäume
einen See umſchloſſen, deſſen Tiefe die nächtigen Tan¬
nen ihrer ganzen Länge nach wiederſpiegelte, ſo daß
alles düſter und ſchwarz erſchien. Die Erde um den
See war dicht bedeckt mit abenteuerlichem langfran¬
zigem Mooſe, in welchem kein Tritt zu hören war.


Hier ſetzte ſich Gebizo nieder und grollte mit
Gott ob ſeines elenden Geſchickes, welches ihm nicht
mehr erlaubte, ſeinen Hunger genugſam zu ſtillen,
nachdem er Tauſende mit Freuden geſättigt, und ihm
obenein ſeine Werkthätigkeit mit dem Hohn und
Undank der Welt vergalt.


Keller, Sieben Legenden. 3[34]

Unverſehens bemerkte er mitten auf dem See
einen Nachen und in demſelben einen hochgewachſenen
Mann. Da der See nur klein und leicht zu über¬
ſehen war, ſo konnte Gebizo nicht begreifen, wo der
Fährmann auf einmal herkomme, da er ihn zuvor
nirgends bemerkt; genug er war jetzt da, that einen
einzigen Ruderſchlag und landete alsbald dicht vor
dem Ritter, und ehe dieſer ſich einen bedanken machen
konnte, fragte er ihn, warum er ein ſo ſchlimmes
Geſicht in die Welt ſchneide? Da der Fremde unge¬
achtet eines ſehr hübſchen Ausſehens einen Zug gründ¬
licher Unzufriedenheit um Mund und Augen hatte,
erweckte dies das Vertrauen Gebizos und er klagte
unverholen ſein Mißleiden und all' ſeinen Groll.


„Du biſt ein Thor,“ ſagte Jener hierauf; „denn
du beſitzeſt einen Schatz, der größer iſt, als Alles
was Du verloren haſt. Wenn ich dein Weib hätte,
ſo wollte ich nach allen Reichthümern, Kirchen und
Klöſtern und nach allen Bettelleuten der Welt nichts
fragen!“


„Gib mir dieſe Dinge wieder und du kannſt
wohl mein Weib dafür haben!“ erwiederte Gebizo bitter
lachend und Jener rief blitzſchnell: „Es gilt! Suche
unter dem Kopfkiſſen deiner Frau, dort wirſt du
finden, was für deine ganze Lebenszeit ausreicht,
alle Tage ein Kloſter zu bauen und tauſend Men¬
[35] ſchen zu ſpeiſen, und wenn du hundert Jahre alt
würdeſt! dafür bringe mir dein Weib hier zur Stelle,
unfehlbar am Abend vor Walpurgistag!“


Es ſprühte bei dieſen Worten ein ſolches Feuer
aus ſeinen dunklen Augen, daß davon zwei röthliche
Lichter über den Rockärmel des Grafen und von da
über Moos und Tannenſtämme wegſtreiften. Da
ſah Gebizo, wen er vor ſich habe, und nahm das
Anerbieten des Mannes an. Dieſer rührte das Ruder
und fuhr wieder auf die Mitte des Sees hinaus,
wo er ſammt dem Schiffe im Waſſer verſank mit
einem Getön welches dem Gelächter von vielen eher¬
nen Glocken ähnlich war.


Gebizo eilte mit einer Gänſehaut bekleidet auf
dem geradeſten Wege nach ſeiner Burg, unterſuchte
ſogleich Bertradens Bett und fand unter ihrem Kopf¬
kiſſen ein altes unſcheinbares Buch, das er nicht leſen
konnte. Wie er aber darin blätterte, fiel ein Gold¬
ſtück nach dem andern heraus. Sobald er das merkte,
machte er ſich mit dem Buche in das tiefſte Gewölbe
ſeines Thurmes und blätterte dort in aller Verbor¬
genheit für's Erſte, ſo lange das Oſterfeſt dauerte,
einen hinreichenden Haufen Goldes aus dem intereſſan¬
ten Werke heraus.


Dann trat er wieder auf vor der Welt, löſete
alle ſeine Beſitzungen ein, rief Werkleute herbei, die
[36] ſein Schloß herſtellten, prächtiger als es je geweſen,
und ſpendete Wohlthaten rings herum gleich einem
Fürſten, der eben gekrönt worden iſt. Das Haupt¬
werk aber war die Grundlegung einer mächtigen
Abtei für fünfhundert der frömmſten und vornehm¬
ſten Capitularen, eine ordentliche Stadt von Heiligen
und Schriftgelehrten, in deren Mitte dereinſt ſeine
Begräbnißſtätte ſein ſollte. Dieſe Vorſicht glaubte
er ſeinem ewigen Seelenheil ſchuldig zu ſein. Da
über ſeine Frau anders verfügt war, ſo wurde eine
Grabſtätte für ſie nicht vorgeſehen.


Am Mittage vor Walpurgis befahl er zu ſatteln,
und gebot ſeiner ſchönen Frau ihr weißes Jagdpferd
zu beſteigen, da ſie einen weiten Weg mit ihm zu
reiten hätte. Zugleich verbot er, daß irgend ein
Knappe oder Diener mitkäme. Eine große Angſt be¬
fiel die Arme, ſie zitterte an allen Gliedern und be¬
log zum erſten Mal in ihrer Ehe den Gemahl, indem
ſie ſich für unwohl ausgab und ihn bat, ſie zu
Hauſe zu laſſen. Da ſie kurz vorher halblaut ein
wenig geſungen hatte, ſo ward Gebizo zornig über dieſe
Lüge und glaubte nun ein doppeltes Recht über ſie
zu haben. Sie mußte, dazu noch möglichſt wohl
geſchmückt, zu Pferde ſitzen und ritt traurig mit ihrem
Manne von dannen, ohne zu wiſſen, wohin es
gehen ſollte.


[37]

Als ſie ungefähr die Hälfte des Weges zurückge¬
legt, kamen ſie zu einem Kirchlein, das Bertrade in
früheren Tagen ſo nebenbei einſt gebaut und der
Mutter Gottes gewidmet hatte. Es war einem armen
Meiſter zu Gefallen geſchehen, welchem wegen ſeiner
mürriſchen und unlieblichen Perſon Niemand etwas
zu thun gab, ſo daß auch Gebizo, dem Jeder mit
gefälligem und ehrerbietigem Weſen nahen mußte, ihn
nicht leiden mochte und bei allen ſeinen Werken leer
ausgehen ließ. Heimlich hatte ſie das Kirchlein bauen
laſſen und der verachtete Meiſter hatte gleichſam als
Feierabendarbeit zum Dank noch ein gar eigenthüm¬
lich anmuthiges Marienbild ſebſt gearbeitet und auf
den Altar geſtellt.


In dieſes Kirchlein begehrte jetzt Bertrade für
einen Augenblick einzutreten, um ihr Gebet zu ver¬
richten, und Gebizo ließ es geſchehen; denn er dachte,
ſie könnte es wohl brauchen. Sie ſtieg alſo vom
Pferde und ging, indeſſen der Mann draußen harrte,
hinein, kniete vor dem Altare nieder und empfahl ſich
in den Schutz der Jungfrau Maria. Da fiel ſie in
einen tiefen Schlaf; die Jungfrau ſprang vom Altar
herunter, nahm Geſtalt und Kleidung der Schlafen¬
den an, trat aus der Thüre friſchen Muthes und
beſtieg das Pferd, worauf ſie an der Seite des Gra¬
fen und an Bertradens Statt den Weg fortſetzte.


[38]

Der Elende wollte ſein Weib noch täuſchen und
je näher ſie dem Ziele kamen, mit um ſo größerer
Freundlichkeit einſchläfern und zerſtreuen; und er
redete deshalb über dieſes und jenes mit ihr und die
Jungfrau gab ihm trauliche Antwort in ſüßem Ge¬
plauder, ſich ſtellend, als ob ſie alle Bangigkeit ver¬
löre. So erreichten ſie die dunkle Wildniß an dem
See, über welchem falbe Abendwolken hingen; die
alten Tannen blühten mit Purpurknoſpen wie es nur
in den üppigſten Frühlingen geſchieht; im Dickicht
ſchlug eine geſpenſtige Nachtigall ſo ſtark wie mit
Orgelpfeifen und Cymbeln, und aus den Tannen
ritt der bewußte Mann hervor auf einem ſchwarzen
Hengſt, in reicher ritterlicher Tracht, ein langes
Schwert zur Seite.


Er näherte ſich ganz manierlich, obgleich er einen
ſo grimmigen Blick ſchnell auf Gebizo ſchoß, daß die¬
ſem die Haut ſchauderte; ſonſt ſchienen nicht einmal
die Pferde Unheil zu wittern, denn ſie blieben ruhig.
Gebizo warf dem Fremden zitternd die Zügel ſeiner
Frau zu und ſprengte ohne ſie von dannen und ohne
ſich nach ihr umzuſehen. Der Fremde aber ergriff
die Zügel mit haſtiger Fauſt und fort ging es wie
ein Sturmwind durch die Tannen, daß Schleier und
Gewand der ſchönen Ritterfrau flogen und flatterten,
über Berg und Thal und über die fließenden Waſſer,
[39] daß die Hufe der Pferde kaum die Schäume der
Wellen berührten. Von ſauſendem Sturme gejagt,
wälzte ſich vor den Roſſen her eine roſig duftende
Wolke, die in der Dämmerung leuchtete, und jene Nach¬
tigall flog unſichtbar vor dem Paare her und ſetzte
ſich da und dort auf einen Baum, ſingend, daß die
Lüfte ſchallten.


Endlich nahmen alle Hügel und alle Bäume ein
Ende und die Beiden ritten in eine endloſe Haide
hinein, in deren Mitte wie aus weiter Ferne die
Nachtigall ſchlug, obgleich weder Strauch noch Zweig
zu ahnen war, auf dem ſie hätte ſitzen können.


Unverſehens hielt der Reiter an, ſprang vom Pferde
und half der Dame mit den Geberden eines voll¬
kommenen Ritters aus dem Sattel. Kaum berührte
ihr Fuß die Haide, ſo entſproß rings um das Paar
ein mannshoher Roſengarten mit einem herrlichen
Brunnen und Ruheſitz, über welchem ein Sternen¬
himmel funkelte, ſo hell, daß man bei ſeinem Lichte hätte
leſen können. Der Brunnen aber beſtand aus einer gro¬
ßen runden Schale, in welcher einige Teufel in der Weiſe,
wie man heut zu Tage lebende Bilder macht, eine ver¬
führeriſche weiße Marmorgruppe ſchöner Nymphen
bildeten oder darſtellten. Sie goſſen ſchimmerndes
Waſſer aus ihren hohlen Händen, wo ſie es hernah¬
men, wußte nur ihr Herr und Meiſter; das Waſſer
[40] machte die lieblichſte Muſik, denn jeder Strahl gab
einen andern Ton und das Ganze ſchien geſtimmt
wie ein Saitenſpiel. Es war ſozuſagen eine Waſſer¬
harmonika, deren Akkorde alle Süßigkeiten der erſten
Mainacht durchbebten und mit den reizenden Formen
der Nymphengruppe in einander floſſen; denn das
lebende Bild ſtand nicht ſtill, ſondern wandelte und
drehte ſich unvermerkt.


Nicht ohne feine Bewegung führte der ſeltſame
Herr die Frau zu dem Ruheſitz und lud ſie ein,
Platz zu nehmen; dann aber ergriff er gewaltſam
zärtlich ihre Hand und ſagte mit einer das Mark
erſchütternden Stimme: „Ich bin der ewig Einſame,
der aus dem Himmel fiel! Nur die Minne eines
guten irdiſchen Weibes in der Mainacht läßt mich das
Paradies vergeſſen und gibt mir Kraft, den ewigen
Untergang zu tragen. Sei mit mir zu Zweit und ich
will dich unſterblich machen und dir die Macht geben,
Gutes zu thun und Böſes zu hindern, ſo viel es
dich freut!“


Er warf ſich leidenſchaftlich an die Bruſt des ſchönen
Weibes, welches ſeine Arme lächelnd öffnete; aber in
demſelben Augenblicke nahm die heilige Jungfrau
ihre göttliche Geſtalt an und ſchloß den Betrüger, der
nun gefangen war, mit aller Gewalt in ihre leuch¬
tenden Arme. Augenblicklich verſchwand der Garten
[41] ſammt Brunnen und Nachtigall, die kunſtreichen
Dämonen, ſo das lebende Bild gemacht, entflohen
als üble Geiſter mit ängſtlichem Wimmern, ihren
Herrn im Stich laſſend, und dieſer rang mit Titanen¬
gewalt, ſich aus der qualvollen Umarmung loszu¬
winden, ohne aber einen Laut zu verlieren.


Die Jungfrau hielt ſich aber tapfer und entließ
ihn nicht, obgleich ſie alle Kraft zuſammennehmen
mußte; ſie hatte nichts Minderes im Sinn, als den
überliſteten Teufel vor den Himmel zu tragen und
ihn dort in all' ſeinem Elend zum Gelächter der
Seligen an einen Thürpfoſten zu binden.


Allein der Böſe änderte ſeine Kampfweiſe, hielt
ſich ein Weilchen ſtill und nahm die Schönheit an,
welche er einſt als der ſchönſte Engel beſeſſen, ſo daß
es der himmliſchen Schönheit Marias nahe ging.
Sie erhöhte ſich, ſo viel als möglich; aber wenn ſie
glänzte wie Venus, der ſchöne Abendſtern, ſo leuchtete
Jener wie Luzifer, der helle Morgenſtern, ſo daß auf
der dunklen Haide ein Leuchten begann, als wären die
Himmel ſelbſt herniedergeſtiegen.


Als die Jungfrau merkte, daß ſie zu viel unter¬
nommen und ihre Kräfte ſchwanden, begnügte ſie ſich den
Feind gegen Verzicht auf die Grafenfrau zu entlaſſen,
und alsbald fuhren die himmliſche und die hölliſche
Schönheit auseinander mit großer Gewalt. Die Jung¬
[42] frau begab ſich etwas ermüdet nach ihrem Kirchlein
zurück; der Böſe hingegen, unfähig, länger irgend
eine Verwandlung zu tragen und wie an allen Glie¬
dern zermalmt, ſchleppte ſich in grauſig dürftiger
Geſtalt, wie der leibhafte geſchwänzte Gram, im
Sande davon. So übel war ihm das vorgehabte
Schäferſtündchen bekommen!


Gebizo indeſſen, nachdem er ſein liebliches Weib
verlaſſen, war in der beginnenden Nacht irr geritten
und Roß und Mann in eine Kluft geſtürzt, wo er
den Kopf an einem Stein zerſchellte, ſo daß es nun
überall aus mit ihm war.


Bertrade dagegen verharrte in ihrem Schlafe bis
die Sonne des erſten Maitages aufging; da erwachte
ſie und verwunderte ſich über die verfloſſene Zeit. Doch
ſagte ſie gleich ihr Ave Maria, und als ſie geſund
und munter vor das Kirchlein trat, ſtand ihr Pferd
davor wie ſie es verlaſſen. Sie wartete nicht lang auf
ihren Gemahl, ſondern ritt froh und eilig nach Hauſe;
denn ſie ahnte, daß ſie irgend einer großen Gefahr
entgangen ſei.


Bald fand und brachte man die Leiche des Gra¬
fen. Bertrade ließ ihn mit allen Ehren beſtatten
und ſtiftete unzählige Meſſen für ihn. Aber alle
Liebe zu ihm war unerklärlicher Weiſe für ſie aus
ihrem Herzen weggetilgt, obgleich dasſelbe ſo freund¬
[43] lich und zärtlich blieb, als es je geweſen. Deshalb
ſah ſich ihre hohe Gönnerin im Himmel nach einem
andern Manne für ſie um, der ſolch anmuthiger Liebe
würdiger wäre, als jener todte Gebizo, und dieſe
Sache begab ſich, wie in der folgenden Legende ge¬
ſchrieben ſteht.

[][]

Die Jungfrau als Ritter.

Maria wird genenn't ein Thron und
Gott's Gezelt,

Ein Arche, Burg, Thurm, Haus, ein Brunn,
Baum, Garten, Spiegel.

Ein Meer, ein Stern, der Mond, die
Morgenröth', ein Hügel:

Wie kann ſie alles ſeyn? ſie iſt ein' and're
Welt.

(Angeli Sileſii cherub. Wandersmann
2. Buch, 42.
)

[][]

Gebizo hatte zu ſeinen früheren Beſitzungen noch
ſo viele neue erworben, daß Bertrade über eine be¬
deutende Grafſchaft gebot und ſowohl ihres Reich¬
thums als ihrer Schönheit wegen im deutſchen Reiche
berühmt wurde. Da ſie zugleich eine große Beſchei¬
denheit und Freundlichkeit gegen Jedermann kund
that, ſo ſchien das Kleinod ihrer Perſon allen unter¬
nehmenden und ſchüchternen, kühnen und furchtſamen,
großen und kleinen Edelleuten gleich leicht zu gewin¬
nen, und männiglich, wer ſie einigemal geſehen, wun¬
derte ſich, warum er ſie eigentlich nicht ſchon an der
Hand hätte. Dennoch war mehr als ein Jahr ver¬
floſſen, ohne daß man von Einem vernahm, der wirk¬
liche Hoffnung gewonnen.


Auch der Kaiſer hörte von ihr, und da er wünſchte,
daß ein ſo anſehnliches Lehen in die Hand eines
rechten Mannes käme, beſchloß er, auf einer Reiſe
die berühmte Wittwe zu beſuchen, und zeigte ihr dies
in einem gar wohlgeneigten und freundlichen Briefe
an. Dieſen gab er einem jungen Ritter Zendelwald,
[48] welcher gerade des Weges zu reiten hatte. Der wurde
von Bertrade huldreich empfangen und bewirthet wie
Jeder, der auf ihrer Burg einkehrte; er beſah ſich
ehrerbietig die herrlichen Säle, Zinnen und Gärten
und verliebte ſich nebenbei heftig in die Beſitzerin.
Doch blieb er um deswillen nicht eine Stunde
länger auf der Burg, ſondern als er ſeinen Auftrag
verrichtet und Alles beſehen, nahm er kurzen Abſchied
von der Frau und ritt von dannen. Er war der
Einzige von Allen, die je hier geweſen, der nicht
daran dachte, dieſen Preis erringen zu können.


Ueberdies war er träg in Handlungen und Wor¬
ten. Wenn ſein Geiſt und ſein Herz ſich eines Dinges
bemächtigt hatten, was immer vollſtändig und mit
Feuer geſchah, ſo brachte es Zendelwald nicht über
ſich, den erſten Schritt zu einer Verwirklichung zu
thun, da die Sache für ihn abgemacht ſchien, wenn
er inwendig damit im Reinen war. Obgleich er ſich
gern unterhielt, wo es nicht etwa galt, etwas zu er¬
reichen, redete er doch nie ein Wort zur rechten Zeit,
welches ihm Glück gebracht hätte. Aber nicht nur
ſeinem Munde, auch ſeiner Hand waren ſeine Ge¬
danken ſo voraus, daß er im Kampfe von ſeinen Fein¬
den öfters beinahe beſiegt wurde, weil er zögerte, den
letzten Streich zu thun, den Gegner ſchon im Voraus
zu ſeinen Füßen ſehend. Deshalb erregte ſeine Kampf¬
[49] weiſe auf allen Turnieren Verwunderung, indem er
ſtets zuerſt ſich kaum rührte und nur in der größten
Noth mit einem tüchtigen Ruck obſiegte.


In voller Gedankenarbeit, deren Gegenſtand die
ſchöne Bertrade war, ritt dieſer Zendelwald jetzt nach
ſeinem Heimatſchlößchen, das in einem einſamen
Bergwalde lag. Nur wenig Köhler und Holzſchläger
waren ſeine Unterthanen, und ſeine Mutter harrte da¬
her jedesmal ſeiner Rückkunft mit bitterer Ungeduld,
ob er jetzt endlich das Glück nach Hauſe bringe.


So läſſig Zendelwald war, ſo handlich und ent¬
ſchloſſen war ſeine Mutter, ohne daß es ihr viel
genützt hätte, da ſie ihrerſeits dieſe Eigenſchaft eben¬
falls jederzeit übertrieben geltend gemacht und daher
zur Zweckloſigkeit umgewandelt hatte. In ihrer Jugend
hatte ſie ſo bald als möglich an den Mann zu kom¬
men geſucht und mehrere Gelegenheiten ſo ſchnell und
eifrig überhetzt, daß ſie in der Eile gerade die ſchlech¬
teſte Wahl traf in der Perſon eines unbedachten und
tollkühnen Geſellen, der ſein Erbe durch jagte, einen
frühzeitigen Tod fand und ihr nichts als ein langes
Wittwenthum, Armuth und einen Sohn hinterließ,
der ſich nicht rühren wollte, das Glück zu erhaſchen.


Die einzige Nahrung der kleinen Familie beſtand
aus der Milch einiger Ziegen, Waldfrüchten und aus
Wild. Zendelwalds Mutter war eine vollkommene
Keller, Sieben Legenden. 4[50] Jägerin und ſchoß mit der Armbruſt wilde Tauben
und Waldhühner nach Gelüſten; auch fiſchte ſie Fo¬
rellen aus den Bächen und pflaſterte eigenhändig das
Schlößchen mit Kalk und Steinen, wo es ſchadhaft
war. Eben war ſie mit einem erlegten Haſen heim¬
gekommen und ſchaute, als ſie das Thier vor das
Fenſter ihrer hochgelegenen Küche hing, nochmal in's
Thal hinaus; da ſah ſie ihren Sohn den Weg her¬
aufreiten und ließ freudig die Brücke nieder, weil er
ſeit Monaten fortgeweſen.


Sogleich begann ſie zu forſchen, ob er nicht irgend
ein Schwänzchen oder eine Feder des Glückes erwiſcht
und mitgebracht hätte, woran ſich klüglich zu halten
wäre, und als er die wie gewöhnlich unerheblichen
Ergebniſſe ſeiner letzten Kriegsfahrt erzählte, ſchüttelte
ſie ſchon zornig den Kopf; als er aber vollends ſeiner
Botſchaft zur reichen und reizenden Bertrade erwähnte
und deren Huld und Schönheit rühmte, da ſchalt ſie
ihn einen Faulpelz und Bärenhäuter wegen ſeines
ſchimpflichen Abzuges. Bald ſah ſie auch, daß Zen¬
delwald an nichts dachte als an die ferne Herrenfrau,
und nun wurde ſie erſt recht ungeduldig über ihn,
da er mit einer ſo trefflichen Leidenſchaft im Herzen
gar nichts anzuwenden wüßte, während ihm die ſchwere
Verliebtheit eher ein Hemmniß als ein Antrieb zum
Handeln war.


[51]

So hatte er nicht die beſten Tage; die Mutter
ſchmollte mit ihm und aus Aerger, um ſich zu zer¬
ſtreuen, beſſerte ſie das verfallende Dach des Schlo߬
thurmes aus, ſo daß es dem guten Zendelwald angſt
und bange ward, als er ſie oben herumklettern ſah.
Unwirſch warf ſie die zerbrochenen Ziegel herunter
und hätte faſt einen fremden Reitersmann todt ge¬
ſchmiſſen, welcher eben in das Thor zog, um ſich ein
Nachtlager auszubitten.


Es gelang dieſem aber, die Freundlichkeit der her¬
ben Dame zu wecken, als er beim Abendbrod viel
gute Dinge erzählte und beſonders, wie der Kaiſer
ſo eben auf der großen Burg der ſchönen Wittwe
weile, wo ein Feſt das andere dränge und die won¬
nige Frau vom Kaiſer und ſeinen Herren unabläſſig
beſtürmt werde, unter dieſen ſich einen Gemahl zu
wählen. Sie habe aber den Ausweg ergriffen, ein
großes Turnier auszuſchreiben und dem Sieger über
Alle ihre Hand zu reichen, feſt vertrauend, daß ihre
Beſchützerin, die göttliche Jungfrau, ſich in's Mittel
legen und dem Rechten, der ihr gebühre, den Arm
zum Siege lenken werde.


„Das wäre nun eine Unternehmung für Euch,“
ſchloß der Mann, ſich an Zendelwald wendend, „ein
ſo hübſcher junger Ritter ſollte ſich recht daran hin
machen, das Beſte zu erwerben, was es nach irdiſchen
[52] Begriffen in dieſen Zeitläuften gibt; auch ſagt man
allgemein, die Frau hoffe, es werde ſich auf dieſem
Wege irgend ein unbekanntes Glück für ſie einfinden,
ſo ein armer tugendlicher Held, welchen ſie alsdann
recht hätſcheln könnte, und die großen bekannten Gra¬
fen und eiteln Freier ſeien ihr alle zuwider.“


Als der Fremde weggeritten war, ſagte die Mutter:
„Nun will ich wetten, daß niemand anders als Ber¬
trade ſelbſt dieſen Boten hergeſandt hat, dich auf die
richtige Spur zu locken, mein lieber Zendelwald!
Das iſt mit Händen zu greifen; was hätte der Kauz,
der unſer letztes Krüglein Wein zu ſich genommen
hat, ſonſt zu thun und zu reiſen in dieſem Wald?“


Der Sohn fing über ihre Worte mächtig an zu
lachen und lachte immer ſtärker, theils über die offen¬
bare Unmöglichkeit der mütterlichen Einbildungen,
theils weil ihm dieſe Einbildungen doch wohlgefielen.
Der bloße Gedanke, Bertrade könnte wünſchen, ſeiner
habhaft zu werden, ließ ihn nicht aus dem Lachen
heraus kommen. Doch die Mutter, welche glaubte,
er lache, um ſie zu verſpotten, gerieth in Zorn und
rief: „So höre denn! Meinen Fluch gebe ich Dir,
wenn Du mir nicht gehorchſt und Dich von Stund
an auf den Weg machſt, jenes Glück zu erwerben!
Ohne daſſelbe kehre nicht zurück, ich mag Dich dann
nie wieder ſehen! Oder wenn Du dennoch kommſt,
[53] ſo nehme ich mein Schießzeug und gehe ſelbſt fort,
ein Grab zu ſuchen, wo ich von Deiner Dummheit
unbeläſtigt bin!“


So hatte Zendelwald nun keine Wahl; um des
lieben Friedens willen rüſtete er ſeufzend ſeine Waf¬
fen und ritt in Gottes Namen in der Richtung nach
Bertradens Wohnſitz hin, ohne daß er überzeugt war,
wirklich dort anzukommen. Doch hielt er den Weg
ſo ziemlich inne und je näher er dem Ziele kam, um
ſo deutlicher geſtaltete ſich der Gedanke, daß er das
Ding eigentlich wohl unternehmen könnte, ſo gut wie
ein Anderer, und wenn er mit den Rivalen fertig
geworden ſei, ſo werde es den Kopf auch nicht koſten,
mit der ſchönen Frau ein Tänzchen zu wagen. Zug
für Zug fand jetzt in ſeiner Vorſtellung das Aben¬
teuer ſtatt und verlief auf das Beſte, ja er hielt be¬
reits Tage lang, während er durch das ſonnengrüne
Land ritt, ſüße Zwiegeſpräche mit der Geliebten, worin
er ihr die ſchönſten Erfindungen vorſagte, daß ihr
Antlitz in holder Freude ſich röthete, d.h. alles dies
in ſeinen Gedanken.


Als er eben wieder eine erfreuliche Begebenheit
innerlich ausmalte, ſah er in Wirklichkeit an einem
blauen Höhenzuge die Thürme und Zinnen der Burg
in der Morgenſonne erglänzen und die vergoldeten
Geländer aus der Ferne herüberfunkeln und erſchrack
[54] ſo darüber, daß all' ſein Traumwerk zerſtob und nur
ein zages, unſchlüſſiges Herz zurückließ.


Unwillkürlich hielt er das Pferd an und ſchaute,
nach Art der Zauderer, rings nach einer Zuflucht aus.
Da gewahrte er ein zierliches Kirchlein, das nämliche,
welches einſt Bertrade der Mutter Gottes erbaut und
in welchem ſie jenen Schlaf gethan hatte. Sogleich
beſchloß er, da einzukehren und ſich vor dem Altare
ein wenig zu ſammeln, beſonders da es der Tag
war, an welchem das Turnier abgehalten wurde.


Eben ſang der Prieſter die Meſſe, welcher bloß
zwei oder drei arme Leute beiwohnten, ſo daß der
Ritter der kleinen Gemeinde zur nicht geringen Zierde
gereichte; als aber alles vorbei war und Pfaff und
Küſter das Kirchlein verlaſſen, war es Zendelwald
noch ſo wohl in dieſem Aufenthalt, daß er ganz ge¬
mächlich einſchlief und Turnier und Geliebte vergaß,
wenn er nicht davon träumte.


Da ſtieg die Jungfrau Maria wieder von ihrem
Altare herunter, nahm ſeine Geſtalt und Waffen¬
rüſtung an, beſtieg ſein Pferd und ritt geſchloſſenen
Helmes, eine kühne Brunhilde, an Zendelwalds Statt
nach der Burg.


Als ſie eine Weile geritten, lag am Wege ein
Haufen grauen Schuttes und verdorrten Reiſigs. Das
kam der aufmerkſamen Jungfrau verdächtig vor und
[55] ſie bemerkte auch, daß etwas wie das Schwanzende
einer Schlange aus dem Wirrſal hervorguckte. Da
ſah ſie, daß es der Teufel war, welcher, noch immer
verliebt, auch in der Nähe der Burg herumgeſchlichen
war und ſich vor der Jungfrau ſchnell in das Gerölle
verſteckt hatte. Scheinbar achtlos ritt ſie vorüber,
ließ aber geſchickt das Pferd einen kleinen Seiten¬
ſprung machen, daß es mit dem Hinterhufe auf jenes
verdächtige Schwanzende trat. Pfeifend fuhr der Böſe
hervor und davon und machte ſich an dieſem Tage
nicht mehr bemerklich.


Durch dieſes kleine Abenteuer erheitert, ritt ſie
guten Muthes vollends auf die Burg Bertrades, wo
ſie eben ankam, als die zwei ſtärkſten Kämpen übrig
geblieben, um die Entſcheidung unter ſich herbeizu¬
führen.


Langſam und in nachläſſiger Haltung, ganz wie
Zendelwald, ritt ſie auf den Platz und ſchien unent¬
ſchloſſen, ob ſie ſich betheiligen wolle oder nicht.


„Da kommt noch der träge Zendelwald,“ hieß es,
und die zwei ſtarken Ritter ſagten: „Was will uns
der? Laßt uns ihn noch ſchnell abthun, ehe wir's
unter uns ausmachen!“


Der Eine nannte ſich „Guhl der Geſchwinde“. Er
pflegte ſich mit ſeinem Roſſe wie ein Wirbelwind
herum zu tummeln und ſuchte ſeine Gegner mit hun¬
[56] dert Streichen und Liſten zu verwirren und zu be¬
ſiegen. Mit ihm mußte der vermeintliche Zendelwald
zuerſt den Kampf beſtehen. Er trug einen pechſchwar¬
zen Schnurrbart, deſſen Spitzen ſo ſteif gedreht wag¬
recht in die Luft ragten, daß zwei ſilberne Glöckchen,
die daran hingen, ſie nicht zu biegen vermochten und
fortwährend klingelten, wenn er den Kopf bewegte.
Dies nannte er das Geläute des Schreckens für ſeine
Feinde, des Wohlgefallens für ſeine Dame! Sein
Schild glänzte, je nachdem er ihn drehte, bald in
dieſer, bald jener Farbe, und er wußte dieſen
Wechſel ſo raſch zu handhaben, daß das Auge davon
geblendet wurde. Sein Helmbuſch beſtand aus einem
ungeheuren Hahnenſchwanz.


Der andere ſtarke Ritter nannte ſich „Maus der
Zahlloſe“, womit er zu verſtehen gab, daß er einem
ungezählten Heere gleich zu achten ſei. Zum Zeichen
ſeiner Stärke hatte er die aus ſeinen Naslöchern her¬
vorſtehenden Haare etwa ſechs Zoll lang wachſen laſ¬
ſen und in zwei Zöpfchen geflochten, welche ihm über
den Mund herab hingen und an den Enden mit zier¬
lichen rothen Bandſchleifen geſchmückt waren. Er
trug einen großen weiten Mantel über ſeine Rüſtung,
der ihn faſt ſammt dem Pferde umhüllte und aus
tauſend Mausfellchen künſtlich zuſammengenäht war.
Als Helmzierde überſchatteten ihn die mächtig aus¬
[57] gebreiteten Flügel einer Fledermaus, unter welchen
er drohende Blicke aus geſchlitzten Augen hervorſandte.


Als nun das Signal zum Kampfe mit Guhl dem
Geſchwinden gegeben wurde, ritt dieſer gegen die
Jungfrau heran und umkreiste ſie mit immer größerer
Schnelligkeit, ſie mit ſeinem Schilde zu blenden ſuchend
und mit der Lanze hundert Stöße nach ihr führend.
Inzwiſchen verharrte die Jungfrau immer auf der¬
ſelben Stelle in der Mitte des Turnierplatzes und
ſchien nur die Angriffe mit Schild und Speer ab¬
zuwehren, wobei ſie mit großer Kunſt das Pferd auf
den Hinterfüßen ſich drehen ließ, ſo daß ſie ſtets dem
Feinde das Angeſicht zuwendete. Als Guhl das be¬
merkte, ritt er plötzlich weit weg, kehrte dann um und
rannte mit eingelegter Lanze auf ſie ein, um ſie über
den Haufen zu ſtechen. Unbeweglich erwartete ihn
die Jungfrau, aber Mann und Pferd ſchienen von
Erz, ſo feſt ſtanden ſie da, und der arme Kerl, der
nicht wußte, daß er mit einer höheren Gewalt ſtritt,
flog unverſehens, als er auf ihren Speer rannte,
während der ſeinige wie ein Halm an ihrem Schilde
zerbrach, aus dem Sattel und lag auf der Erde. Un¬
verweilt ſprang die Jungfrau vom Pferde, kniete ihm
auf die Bruſt, daß er unter der gewaltigen Stärke
ſich nicht rühren konnte, und ſchnitt ihm mit ihrem
Dolche die beiden Schnäuze mit den Silberglöcklein
[58] ab, welche ſie an ihrem Wehrgehänge befeſtigte, in¬
deſſen die Fanfaren ſie oder vielmehr den Zendelwald
als Sieger begrüßten.


Nun kam Ritter Maus der Zahlloſe an den Tanz.
Gewaltig ſprengte er einher, daß ſein Mantel wie eine
unheildrohende graue Wolke in der Luft ſchwebte.
Allein die Jungfrau-Zendelwald, welche ſich jetzt erſt
an dem Kampfe zu erwärmen ſchien, ſprengte ihm
ebenſo rüſtig entgegen, warf ihn auf den erſten Stoß
mit Leichtigkeit aus dem Sattel und ſprang, als Maus
ſich raſch erhob und das Schwert zog, ebenfalls vom
Pferde, um zu Fuße mit ihm zu kämpfen. Bald aber
war er betäubt von den raſchen Schlägen, mit denen
ihr Schwert ihm auf Haupt und Schultern fielen,
und er hielt mit der Linken ſeinen Mantel vor, um
ſich dahinter zu verbergen und ihn dem Gegner bei
günſtiger Gelegenheit über den Kopf zu werfen. Da
fing die Jungfrau mit der Spitze ihres Schwertes
einen Zipfel des Mantels und wickelte Maus den
Zahlloſen mit ſolch' zierlicher Schnelligkeit ſelbſt von
Kopf bis zum Fuße in den Mantel ein, daß er in
kurzer Zeit wie eine von einer Spinne eingeſponnene
ungeheure Weſpe ausſah und zuckend wie eine ſolche
auf der Erde lag.


Nun zerdraſch ihn die Jungfrau mit der flachen
Klinge und mit ſolcher Behendigkeit, daß der Mantel
[59] ſich in ſeine urſprünglichen Beſtandtheile auflöſte und
die umherſtäubenden Mäuſefellchen unter dem allgemei¬
nen Gelächter der Zuſchauer die Luft verfinſterten, wäh¬
rend der Ritter allmählig wieder zu Tage kam und
als ein geſchlagener Mann davonhinkte, nachdem ſein
Beſieger ihm die Naſenzöpfchen abgeſchnitten hatte.


So war denn die Jungfrau als Zendelwald der
letzte Sieger auf dem Platze.


Sie ſchlug nun das Viſier auf, ſchritt hinauf zur
Königin des Feſtes, beugte das Knie und legte die
Siegestrophäen zu deren Füßen. Dann erhob ſie ſich
und ſtellte einen Zendelwald dar, wie dieſer gewöhn¬
lich zu blöde war, es zu ſein. Ohne indeſſen ſeiner
Beſcheidenheit zu viel zu vergeben, grüßte ſie Ber¬
traden mit einem Blicke, von deſſen Wirkung auf ein
Frauenherz ſie ſicher war; kurz, ſie wußte ſich als
Liebhaber wie als Ritter ſo zu benehmen, daß Ber¬
trade ihr Wort nicht zurücknahm, ſondern dem Zu¬
reden des Kaiſers, der am Ende froh war, einen ſo
tapfern und edlen Mann mächtig zu ſehen, ein williges
Ohr lieh.


Es geſchah jetzt ein großer Feſtzug nach dem hoch¬
ragenden Lindengarten, in welchem das Banket be¬
reitet war. Dort ſaß Bertrade zwiſchen dem Kaiſer
und ihrem Zendelwald; aber es war gut, daß jenem
für eine ſchöne und muntere Nachbarin geſorgt war;
[60] denn dieſer ließ ſeiner Braut nicht viel Zeit, mit An¬
dern zu ſprechen, ſo geſchickt und zärtlich unterhielt
er ſie. Er ſchien ihr die feinſten Dinge zu ſagen, da
ſie ein Mal um das andere glückſelig erröthete. Es
ſchien überhaupt Alles glücklich zu ſein; in den grü¬
nen Laubgewölben in der Höhe ſangen die Vögel um
die Wette mit den Muſikinſtrumenten, ein Schmetter¬
ling ſetzte ſich auf die goldene Krone des Kaiſers
und die Weinpokale dufteten wie durch einen beſon¬
deren Segen gleich Veilchen nnd Reſeda.


Aber vor Allen fühlte ſich Bertrade ſo glücklich,
daß ſie, während Zendelwald ſie bei der Hand hielt,
in ihrem Herzen ihrer göttlichen Beſchützerin gedachte
und derſelben ein heißes, ſtilles Dankgebet abſtattete.


Die Jungfrau Maria, welche ja als Zendelwald
neben ihr ſaß, las dies Gebet in ihrem Herzen und
war ſo erfreut über die fromme Dankbarkeit ihres
Schützlings, daß ſie Bertraden zärtlich umfing und
einen Kuß auf ihre Lippen drückte, der begreiflicher
Weiſe das holde Weib mit himmliſcher Seligkeit er¬
füllte; denn wenn die Himmliſchen einmal Zuckerzeug
backen, ſo geräth es zur Süße.


Der Kaiſer aber und die übrige Geſellſchaft riefen
dem vermeintlichen Zendelwald ihren Beifall zu, er¬
hoben die Becher und tranken auf das Wohl des
ſchönen Paares.


[61]

Indeſſen war der wirkliche Zendelwald aus ſei¬
nem unzeitigen Schlaf erwacht und fand die Sonne
ſo ſtark vorgeſchritten, daß das Turnier wohl vorbei
ſein mußte. Obgleich er nun des Handelns glücklich
enthoben war, fühlte er ſich doch ſehr unglücklich und
traurig, denn er hätte doch die Frau Bertrade gar
zu gerne geheirathet. Auch durfte er jetzt nicht mehr
zu ſeiner Mutter zurückkehren, und ſo entſchloß er ſich,
eine immerwährende freudloſe Irrfahrt anzutreten,
bis ihn der Tod von ſeinem unnützen Daſein erlöſen
würde. Nur wollte er vorher noch ein Mal die Ge¬
liebte ſehen und ſich ihr Bild für die übrigen Tage
einprägen, damit er ſtets wüßte, was er verſcherzt
habe.


Er legte alſo den Weg bis zur Burg vollends
zurück. Als er das Menſchengedränge erreichte, hörte
er überall das Lob und das Glück eines armen Rit¬
ters Zendelwald ausrufen, der den Preis errungen
habe, und bitterlich neugierig, wer dieſer glückliche
Namensvetter ſein möge, ſtieg er vom Pferde und
drängte ſich durch die Menge, bis er am Rande des
Gartens einen Platz gewinnen konnte, und zwar an
einer erhöhten Stelle, wo er das ganze Feſt überſah.


Da erblickte er in Schmuck und Glanz und un¬
weit der funkelnden Krone des Königs das in Glück
ſtrahlende Antlitz der Geliebten, aber Haupt an Haupt
[62] bei ihr zu ſeinem bleichen Erſtaunen ſeine eigene Per¬
ſon, wie er leibte und lebte. Wie leblos ſtarrte er
hin, juſt ſah er ſeinen Doppelgänger die fromme
Braut umfangen und küſſen; da ſchritt er, unbeachtet
in der allgemeinen Freude, unaufhaltſam durch die
Reihen, bis er dicht hinter dem Paare ſtand, von
ſeltſamer Eiferſucht gepeinigt. In demſelben Augen¬
blicke war ſein Ebenbild von Bertrades Seite ver¬
ſchwunden, und dieſe ſah ſich erſchrocken nach ihm um.
Als ſie aber Zendelwald hinter ſich ſah, lachte ſie
voll Freude und ſagte: Wo willſt Du hin? Komm,
bleibe fein bei mir! Und ſie ergriff ſeine Hand und
zog ihn an ihre Seite.


So ſaß er denn, und um den vermeintlichen
Traum recht zu probiren, ergriff er den vor ihm
ſtehenden Becher und leerte ihn auf einen Zug. Der
Wein hielt Stich und ſtrömte ein zuverſichtliches Le¬
ben in ſeine Adern; wohl aufgelegt wandte er ſich
zum lächelnden Weibe und ſah ihr in die Augen,
worauf dieſe zufrieden die trauliche Unterhaltung
fortſetzte, in welcher ſie vorhin unterbrochen worden
war. Allein Zendelwald wußte nicht, wie ihm ge¬
ſchah, als Bertrade ihm wohlbekannte Worte ſprach,
auf welche er einige Male, ohne ſich zu beſinnen,
Worte erwiederte, die er auch ſchon irgendwo geſpro¬
chen hatte; ja, nach einiger Zeit merkte er, daß ſein
[63] Vorgänger genau das nämliche Geſpräch mit ihr ge¬
führt haben mußte, welches er während der Reiſetage
phantaſirend ausgedacht hatte, und welches er jetzt
bedächtig fortſetzte, um zu ſehen, welches Ende das
Spiel eigentlich nehmen wolle.


Aber es nahm kein Ende, vielmehr wurde es im¬
mer erbaulicher; denn als die Sonne niederging,
wurden Fackeln angezündet und die ganze Verſamm¬
lung zog auf den größten Saal der Burg, um dort
des Tanzes zu pflegen. Nachdem der Kaiſer den
erſten Gang mit der Braut gethan, nahm Zendel¬
wald ſie in den Arm und tanzte mit ihr drei oder
vier Mal um den Saal, bis die Erglühende ihn plötz¬
lich bei der Hand nahm und zur Seite führte in ein
ſtilles Erkergemach, das vom Mondſchein erfüllt war.
Dort warf ſie ſich an ſeine Bruſt, ſtreichelte ihm
den blonden Bart und dankte ihm für ſein Kommen
und ſeine Neigung. Der ehrliche Zendelwald aber
wollte jetzt wiſſen, ob er träume oder wache und be¬
fragte ſie um den richtigen Sachverhalt, beſonders
was ſeinen Doppelgänger betraf. Sie verſtand ihn
lange nicht; doch ein Wort gab das andere, Zendel¬
wald ſagte, ſo und ſo iſt es mir ergangen, und er¬
zählte ſeine ganze Fahrt, von ſeiner Einkehr in das
Kirchlein und wie er eingeſchlafen ſei und das Tur¬
nier verſäumt habe.


[64]

Da ward Bertraden die Sache ſoweit klar, daß
ſie abermals die Hand ihrer gnädigen Patronin er¬
blickte. Jetzt erſt aber durfte ſie den wackern Ritter
keck als eine Himmelsgabe betrachten, und ſie war
dankbar genug, das handfeſte Geſchenk recht an's
Herz zu drücken und demſelben den ſüßen Kuß voll¬
wichtig zurückzugeben, den ſie vom Himmel ſelbſt
empfangen.


Von jetzt an verließ aber den Ritter Zendelwald
alle ſeine Trägheit und träumeriſche Unentſchloſſen¬
heit; er that und redete alles zur rechten Zeit, vor
der zärtlichen Bertrade ſowohl, als vor der übrigen
Welt, und wurde ein ganzer Mann im Reiche, ſo
daß der Kaiſer ebenſo zufrieden mit ihm war, als
ſeine Gemahlin.


Zendelwalds Mutter aber erſchien bei der Hoch¬
zeit hoch zu Roß und ſo ſtolz, als ob ſie zeitlebens
im Glück geſeſſen hätte. Sie verwaltete Geld und
Gut und jagte bis in ihr hohes Alter in den weit¬
läufigen Forſten, während Bertrade es ſich nicht
nehmen ließ, ſich alljährlich einmal von Zendelwald
in deſſen einſames Heimathſchlößchen bringen zu
laſſen, wo ſie auf dem grauen Thurme mit ihrem
Liebſten ſo zärtlich horſtete, wie die wilden Tauben
auf den Bäumen umher. Aber niemals unterließen
[65] ſie, unterwegs in jenes Kirchlein zu treten und ihr
Gebet zu verrichten vor der Jungfrau, die auf ihrem
Altar ſo ſtill und heilig ſtand, als ob ſie nie von
demſelben heruntergeſtiegen wäre.


Keller, Sieben Legenden. 5
[][]

Die Jungfrau und die Nonne.

Wer gibt mir Taubenflügel,

daß ich auffliege und Ruhe finde.

((Pſ. 55, 7.))
[][]

Ein Kloſter lag weit ausſchauend auf einem
Berge und ſeine Mauern glänzten über die Lande.
Innen aber war es voll Frauen, ſchöne und nicht
ſchöne, welche alle nach ſtrenger Regel dem Herrn
dienten und ſeiner jungfräulichen Mutter.


Die ſchönſte von den Nonnen hieß Beatrix und
war die Küſterin des Kloſters. Herrlich gewachſen
von Geſtalt, that ſie edlen Ganges ihren Dienſt,
beſorgte Chor und Altar, waltete in der Sakriſtei
und läutete die Glocke vor dem Morgenroth und wenn
der Abendſtern aufging.


Aber dazwiſchen ſchaute ſie vielmals feuchten Blickes
in das Weben der blauen Gefilde; ſie ſah Waffen
funkeln, hörte das Horn der Jäger aus den Wäldern
und den hellen Ruf der Männer, und ihre Bruſt
war voll Sehnſucht nach der Welt.


Als ſie ihr Verlangen nicht länger bezwingen
konnte, ſtand ſie in einer mondhellen Juninacht auf,
bekleidete ſich mit neuen ſtarken Schuhen und trat
[70] vor den Altar, zum Wandern gerüſtet: „Ich habe
dir nun manches Jahr treu gedient,“ ſagte ſie zur
Jungfrau Maria, „aber jetzt nimm du die Schlüſſel
zu dir, denn ich vermag die Gluth in meinem Her¬
zen nicht länger zu ertragen!“ Hierauf legte ſie ihren
Schlüſſelbund auf den Altar und ging aus dem Kloſter
hinaus. Sie ſtieg hernieder durch die Einſamkeit des
Berges und wanderte, bis ſie in einem Eichenwalde
auf einen Kreuzweg gelangte, wo ſie unſchlüſſig, nach
welcher Seite ſie ſich wenden ſollte, ſich an einem
Quell niederſetzte, der da für die Vorüberziehenden
in Stein gefaßt und mit einer Bank verſehen war.
Dort ſaß ſie, bis die Sonne aufging und wurde feucht
vom fallenden Thau.


Da ging die Sonne auf hinter dem Walde und
ihre erſten Strahlen, welche durch die Waldſtraße
ſchoſſen, trafen einen prächtigen Ritter, der völlig
allein in ſeinen Waffen daher geritten kam. Die Nonne
ſchaute aus ihren ſchönen Augen, ſo ſtark ſie konnte,
und verlor keinen Zoll von der mannhaften Erſchei¬
nung ; aber ſie hielt ſich ſo ſtill, daß der Ritter ſie
nicht geſehen, wenn nicht das Geräuſch des Brunnens
ſein Ohr berührt und ſeine Augen hin gelenkt
hätte. Sogleich bog er ſeitwärts nach dem Quell,
ſtieg vom Pferde und ließ es trinken, während er die
Nonne ehrerbietig begrüßte. Er war ein Kreuz¬
[71] fahrer, welcher nach langer Abweſenheit einſam heim¬
wärts zog, nachdem er alle ſeine Leute verloren.


Trotz ſeiner Ehrerbietung wandte er aber kein
Auge von der Schönheit der Beatrix, welche ihrer¬
ſeits es ebenſo hielt und den Kriegsmann nach wie
vor anſtaunte; denn das war ein beträchtliches Stück
von der Welt, nach der ſie ſich ſchon lange im Stillen
geſehnt hatte. Doch jählings ſchlug ſie die Augen
nieder und ſchämte ſich. Endlich fragte ſie der Rit¬
ter, welchen Weges ſie zöge und ob er ihr in etwas
dienen könne? Der volle Klang ſeiner Worte ſchreckte
ſie auf; ſie ſah ihn abermals an, und bethört
von ſeinen Blicken geſtand ſie, daß ſie dem Kloſter
entflohen ſei, um die Welt zu ſehen, daß ſie ſich aber
ſchon fürchte und weder ein noch aus wiſſe.


Da lachte der Ritter, welcher nicht auf den Kopf
gefallen war, aus vollem Herzen, und bot der Dame
an, ſie vorläufig auf einen guten Weg zu leiten,
wenn ſie ſich ihm anvertrauen wolle. Seine Burg,
fügte er hinzu, ſei nicht weiter als eine Tagreiſe von
hier entfernt; dort möge ſie, ſofern es ihr gefalle,
in Sicherheit ſich vorbereiten und nach weislicher Er¬
wägung in die weite ſchöne Welt auslaufen.


Ohne Erwiederung, aber auch ohne Widerſtand
ließ ſie ſich, immerhin ein wenig zitternd, auf das
Pferd heben; der Ritter ſchwang ſich nach und, die
[72] rothglühende Nonne vor ſich, trabte er luſtig durch
Wälder und Auen.


Zwei- oder dreihundert Pferdelängen weit hielt
ſie ſich aufrecht und ſchaute unverwandt in die Weite,
während ſie ihre Hand gegen ſeine Bruſt ſtemmte.
Bald aber lag ihr Geſicht an dieſer Bruſt aufwärts
gewendet und litt die Küſſe, welche der reiſige Herr
darauf drückte; und abermals nach dreihundert
Schritten erwiederte ſie dieſelben ſchon ſo eifrig, als
ob ſie niemals eine Kloſterglocke geläutet hätte. Unter
ſolchen Umſtänden ſahen ſie nichts vom Lande und
vom Lichte, das ſie durchzogen, und die Nonne, die ſich
erſt nach der weiten Welt geſehnt, ſchloß jetzt ihre
Augen vor derſelben und beſchränkte ſich auf einen
Bezirk, den ein Pferd auf ſeinem Rücken forttragen
konnte.


Auch Wonnebold, der Ritter, dachte kaum an ſei¬
ner Väter Burg, bis die Thürme derſelben im Mond¬
lichte vor ihm glänzten. Aber ſtill war es um die
Burg und noch ſtiller in derſelben und nirgends ein
Licht zu erblicken. Vater und Mutter Wonnebolds
waren geſtorben und alles Geſinde weggezogen bis
auf ein ſteinaltes Schloßvögtchen, welches nach langem
Klopfen mit einer Laterne erſchien und vor Freuden
beinahe ſtarb, als es den Ritter vor dem müh¬
ſam geöffneten Thore erblickte. Doch hatte der Alte
[73] trotz ſeiner Einſamkeit und ſeiner Jahre das Innere
der Burg in wohnlichem Zuſtande erhalten und be¬
ſonders das Gemach des Ritters in immerwährende
Bereitſchaft geſetzt, damit derſelbe wohl ausruhen
könne jeden Augenblick, wo er von ſeinen Fahrten
zurückkäme. So ruhte denn Beatrix mit ihm und
ſtillte ihr Verlangen.


Keines dachte nun daran, ſich vom andern
zu trennen. Wonnebold öffnete die Truhen ſeiner
Mutter. Beatrix kleidete ſich in die reichen Gewänder
derſelben und ſchmückte ſich mit ihrem Geſchmeide,
und ſo lebten ſie vor der Hand herrlich und in Freu¬
den, nur daß die Dame recht- und namenlos dahin
lebte und von ihrem Geliebten als deſſen Leibeigene
angeſehen wurde; indeſſen verlangte ſie nichts beſſeres.


Einſt aber kehrte ein fremder Baron mit Gefolge
auf der Burg ein, die ſich inzwiſchen auch wieder
mit Dienſtleuten belebt hatte, und es wurde zu deſſen
Ehren feſtlich gelebt. Endlich geriethen die Herren
auch auf das Würfelſpiel, bei welchem der Hausherr
ſo glücklich und beſtändig gewann, daß er im Rauſche
ſeines Glückes und ſeines Glaubens daran ſein Liebſtes,
wie er ſagte, auf's Spiel ſetzte, nämlich die ſchöne
Beatrix, wie ſie war, ſammt dem köſtlichen Geſchmeide,
das ſie eben trug, gegen ein altes melancholiſches
Bergſchloß, welches ſein Gegner lächelnd einſetzte.


[74]

Beatrix, welche dem Spiele vergnügt zugeſchaut
hatte, erbleichte, und mit Recht; denn der alſobald er¬
folgende Wurf ließ den Uebermüthigen im Stich und
gab dem Baron gewonnen.


Der ſäumte nicht, ſondern brach augenblicklich
auf mit ſeinem ſüßen Gewinnſt und mit ſeinem Ge¬
folge; kaum fand Beatrix noch Zeit, die unglücklichen
Würfel an ſich zu nehmen und in ihrem Buſen zu
verbergen, worauf ſie unter ſtrömenden Thränen dem
rückſichtsloſen Gewinner folgte.


Als der kleine Zug einige Stunden geritten war,
gelangte er in ein anmuthiges Gehölz von jungen
Buchen, durch welches ein klarer Bach floß. Wie
ein leichtes grünes Seidenzelt ſchwebte die zarte Be¬
laubung in der Höhe, von den ſchlanken Silberſtan¬
gen emporgehalten, und die offene Sommerlandſchaft
ſchaute darunter herein. Hier wollte der Baron mit
ſeiner Beute ausruhen. Er hieß ſeine Leute ein
Stück vorwärts fahren, indeſſen er ſich mit Beatrixen
in der luftigen Grüne niederließ und ſie mit Lieb¬
koſungen an ſich ziehen wollte.


Da erhob ſie ſich ſtolz und indem ſie einen flam¬
menden Blick auf ihn warf, rief ſie: wohl habe er
ihre Perſon gewonnen, nicht aber ihr Herz, welches
nicht für ein altes Gemäuer zu gewinnen ſei. Sei
er ein Mann, ſo ſolle er etwas Rechtes dagegen ein¬
[75] ſetzen. Wolle er ſein Leben daran wagen, ſo wolle
ſie mit ihm um ihr Herz würfeln, welches ihm, wenn
er gewinne, auf ewig verpfändet und zu Eigen ſein
ſolle, wenn aber ſie gewinne, ſo ſolle ſein Leben in
ihrer Hand ſtehen und ſie wieder eigene Herrin ihrer
ganzen Perſon ſein.


Dies ſagte ſie mit großem Ernſt, ſah ihn aber
dabei ſo ſeltſam an, daß ihm jetzt erſt das Herz zu
klopfen anfing und er verwirrt ſie betrachtete. Im¬
mer ſchöner ſchien ſie zu werden, als ſie mit leiſerer
Stimme und fragendem Blicke fortfuhr: „Wer wird
ein Weib minnen wollen ohne Gegenminne und das
von ſeinem Muthe nicht überzeugt iſt? Gebt mir
Euer Schwert, nehmt hier die Würfel und wagt es,
ſo mögen wir verbunden werden wie zwei rechte
Liebende! Zugleich drückte ſie ihm die buſenwarmen
Elfenbeinwürfel in die Hand. Bethört gab er ihr
ſein Schwert ſammt dem Gehänge und warf ſofort
eilf Augen mit Einem Wurfe.


Hierauf ergriff Beatrix die Würfel, ſchüttelte ſie
mit einem geheimen Seufzer zur heiligen Maria,
der Mutter Gottes, heftig in ihren hohlen Händen,
und warf zwölf Augen, womit ſie gewann.


„Ich ſchenk' Euch Euer Leben!“ ſagte ſie, ver¬
neigte ſich ernſthaft vor dem Baron, nahm ihre Ge¬
wänder ein wenig zuſammen und das Schwert unter
[76] den Arm und ging eilfertig davon in der Richtung,
woher ſie gekommen waren. Als ſie jedoch dem noch
ganz verblüfften und zerſtreuten Herrn aus den Au¬
gen war, ging ſie ſchlauer Weiſe nicht weiter, ſondern
um das Gehölze herum, trat leiſe wieder in dasſelbe
hinein und verbarg ſich, kaum fünfzig Schritte von
dem Getäuſchten entfernt, hinter den Buchenſtämmchen,
welche ſich in dieſer Entfernung durch ihre Menge
eben hinreichend in einander ſchoben, um die kluge
Frau zur Noth zu bedecken. Sie hielt ſich ganz ſtill;
nur ein Sonnenſtrahl fiel auf einen edlen Stein an
ihrem Hals, ſo daß derſelbe durch das Gehölz blitzte,
ohne daß ſie es wußte. Der Baron ſah ſogar die¬
ſen Schein und ſtarrte in ſeiner Verwirrung einen
Augenblick hin. Aber er hielt es für einen ſchim¬
mernden Thautropfen an einem Baumblatt und
achtete nicht darauf.


Endlich erwachte er aus ſeiner Starrheit und ſtieß
mit Macht in ſein Jagdhorn. Als ſeine Leute her¬
bei gekommen, ſprang er auf's Pferd und jagte der
Entflohenen nach, um ſich ihrer wieder zu verſichern.
Es dauerte wohl eine Stunde, bis die Reiter wieder
zurückkamen und verdrießlich und langſam durch die
Buchen zogen, ohne ſich diesmal aufzuhalten. Sobald die
lauſchende Beatrix den Weg ſicher ſah, machte ſie ſich auf
und eilte heimwärts, ohne ihre feinen Schuhe zu ſchonen.


[77]

Wonnebold hatte in der Zeit einen ſehr ſchlechten
Tag verbracht, von Reue und Zorn gepeinigt, und
da er wohl fühlte, daß er ſich auch vor der ſo leicht¬
fertig verſpielten Geliebten ſchämte, ward er inne,
wie hoch er ſie unbewußt hielt und daß er kaum
ohne ſie leben mochte. Als ſie daher unverſehens
vor ihm ſtand, breitete er, noch ehe er ſeine Ueber¬
raſchung ausdrückte, ſeine Arme nach ihr aus und
ſie eilte ohne Klagen und ohne Vorwürfe in dieſelben
hinein. Laut lachte er auf, als ſie ihm ihre Kriegs¬
liſt erzählte, und wurde nachdenklich über ihre Treue,
denn jener Baron war ein ganz anſehnlicher und
ſchmucker Geſell.


Um ſich nun gegen alle künftigen Unfälle zu wah¬
ren, machte er die ſchöne Beatrix zu ſeiner rechtmäßi¬
gen Gemahlin vor allen ſeinen Standesgenoſſen und
Hörigen, ſo daß ſie von jetzt an eine Rittersfrau
vorſtellte, die ihres Gleichen ſuchte bei Jagden, Feſten
und Tänzen ſowohl als in den Hütten der Unter¬
thanen und im Herrenſtuhl der Kirche.


Die Jahre gingen wechſelvoll vorüber und wäh¬
rend zwölf reichen Herbſten gebar ſie ihrem Gatten
acht Söhne, welche emporwuchſen wie junge Hirſche.


Als der älteſte achtzehn Jahre zählte, erhob ſie
ſich in einer Herbſtnacht von der Seite ihres Wonne¬
boldes, ohne daß er es merkte, legte ſorgfältig all'
[78] ihren weltlichen Staat in die nämlichen Truhen, aus
denen er einſt genommen worden, und verſchloß die¬
ſelben, die Schlüſſel an die Seite des Schlafenden
legend. Dann ging ſie mit bloßen Füßen vor das
Lager ihrer Söhne und küßte leiſe einen nach dem
andern; zuletzt ging ſie wieder an das Bett ihres
Mannes, küßte denſelben auch, und erſt jetzt ſchnitt
ſie ſich das lange Haar vom Haupt, zog das dunkle
Nonnengewand wieder an, welches ſie ſorgfältig auf¬
bewahrt hatte, und ſo verließ ſie heimlich die Burg
und wanderte durch die brauſenden Winde der Herbſt¬
nacht und durch das fallende Laub jenem Kloſter zu,
welchem ſie einſt entflohen war. Unermüdlich ließ
ſie die Kugeln ihres Roſenkranzes durch die Finger
rollen und überdachte betend das genoſſene Leben.


So wallte ſie unverdroſſen, bis ſie wieder vor der
Kloſterpforte ſtand. Als ſie anklopfte, that die ge¬
alterte Pförtnerin auf und grüßte ſie gleichgiltig mit
ihrem Namen, als ob ſie kaum eine halbe Stunde
abweſend geblieben wäre. Beatrix ging an ihr vor¬
über in die Kirche, warf ſich vor dem Altar der hei¬
ligen Jungfrau auf die Kniee und dieſe begann zu
ſprechen und ſagte: „Du biſt ein bischen lange weg¬
geblieben, meine Tochter! Ich habe die ganze Zeit
deinen Dienſt als Küſterin verſehen; jetzt bin ich aber doch
froh, daß du da biſt und die Schlüſſel wieder übernimmſt!“


[79]

Das Bild neigte ſich herab und gab der Beatrix
die Schlüſſel, welche über das große Wunder freudig
erſchrack. Sogleich that ſie ihren Dienſt und ordnete
das und jenes, und als die Glocke zum Mittagsmahl
erklang, ging ſie zu Tiſch. Viele Nonnen waren alt
geworden, andere geſtorben, junge waren neu ange¬
kommen und eine andere Aebtiſſin ſaß oben am Tiſch;
aber Niemand gewahrte, was mit Beatrix, welche
ihren gewohnten Platz einnahm, vorgegangen war;
denn die Maria hatte ihre Stelle in der Nonne ei¬
gener Geſtalt verſehen.


Nachdem nun abermals etwa zehn Jahre vergan¬
gen waren, feierten die Nonnen ein großes Feſt und
wurden einig, daß jede von ihnen der Mutter Gottes
ein Geſchenk, ſo fein ſie es zu bereiten vermöchte,
darbringen ſolle. So ſtickte die Eine ein köſtliches
Kirchenbanner, die Andere eine Altardecke, die Dritte
ein Meßgewand. Eine dichtete einen lateiniſchen
Hymnus und die Andere ſetzte ihn in Muſik, die
Dritte malte und ſchrieb ein Gebetbuch. Welche gar
nichts anderes konnte, nähte dem Chriſtuskinde ein
neues Hemdchen und die Schweſter Köchin buck ihm
eine Schüſſel Kräpflein. Einzig Beatrix hatte nichts
bereitet, da ſie etwas müde war vom Leben und mit
ihren Gedanken mehr in der Vergangenheit lebte als
in der Gegenwart.


[80]

Als nun der Feſttag anbrach und ſie keine Weih¬
gabe darlegte, wunderten ſich die übrigen Nonnen
und ſchalten ſie darum, ſo daß ſie ſich in Demuth
ſeitwärts ſtellte, als in der blumengeſchmückten Kirche
alle jene prächtigen Dinge vor den Altar gelegt wur¬
den in feierlichem Umgang, während die Glocken läu¬
teten und die Weihrauchwolken emporſtiegen.


Wie hierauf die Nonnen gar herrlich zu ſingen
und zu muſiciren begannen, zog ein greiſer Ritters¬
mann mit acht bildſchönen bewaffneten Jünglingen
des Weges, alle auf ſtolzen Roſſen, von ebenſoviel
reiſigen Knappen gefolgt. Es war Wonnebold mit
ſeinen Söhnen, die er dem Reichsheere zuführte.


Das Hochamt in dem Gotteshaus vernehmend,
hieß er ſeine Söhne abſteigen und ging mit ihnen
hinein, um der heiligen Jungfrau ein gutes Gebet
darzubringen. Jedermann erſtaunte über den herr¬
lichen Anblick, als der eiſerne Greis mit den acht
jugendlichen Kriegern kniete, welche wie ebenſoviel ge¬
harniſchte Engel anzuſehen waren, und die Nonnen
wurden irre in ihrer Muſik, daß ſie einen Augenblick
aufhörten. Beatrix aber erkannte alle ihre Kinder
an ihrem Gemahl, ſchrie auf und eilte zu ihnen, und
indem ſie ſich zu erkennen gab, verkündigte ſie ihr
Geheimniß und erzählte das große Wunder, ſo mit
ihr geſchehen.


[81]

So anerkannte nun Jedermann, daß ſie heute der
Jungfrau die reichſte Gabe dargebracht, und daß die¬
ſelbe angenommen wurde, bezeugten acht Kränze von
jungem Eichenlaub, welche plötzlich auf den Häuptern
der Jünglinge zu ſehen waren, von der unſichtbaren
Hand der Himmelskönigin darauf gedrückt.


Keller, Sieben Legenden. 6
[][]

Der ſchlimm-heilige Vitalis.

Meide den traulichen Umgang mit
Einem Weibe, empfiehl du überhaupt lieber
das ganze andächtige Geſchlecht dem lieben
Gott.


(Thomas a Kempis, Nachfolge, 8, 2.)
[][]

Zu Anfang des achten Jahrhunderts lebte zu
Alexandria in Egypten ein wunderlicher Mönch,
Namens Vitalis, der es ſich zur beſondern Aufgabe
gemacht hatte, verlorene weibliche Seelen vom Pfade
der Sünde hinwegzulocken und zur Tugend zurück¬
zuführen. Aber der Weg, den er dabei einſchlug,
war ſo eigenthümlich, und die Liebhaberei, ja Leiden¬
ſchaft, mit welcher er unabläſſig ſein Ziel verfolgte,
war mit ſo ſeltſamer Selbſtentäußerung und Heuchelei
vermiſcht, wie in der Welt kaum wieder vorkam.


Er führte ein genaues Verzeichniß aller jener
Buhlerinnen auf einem zierlichen Pergamentſtreifen,
und ſobald er in der Stadt oder deren Umgebung
ein neues Wild entdeckt, merkte er Namen und Woh¬
nung unverweilt auf demſelben vor, ſo daß die
ſchlimmen Patrizierſöhne von Alexandria keinen beſſeren
Wegweiſer hätten finden können, als den emſigen
Vitalis, wenn er einen minder heiligen Zweck hätte
verfolgen wollen. Allein wohl entlockte der Mönch
[86] ihnen in ſchlauem ſpaßhaftem Geplauder manche neue
Kunde und Notiz in dieſer Sache; nie aber ließ er
ſich dergleichen ſelbſt ablauſchen von den Wildfängen.


Jenes Verzeichniß trug er zuſammengerollt in
einem ſilbernen Büchſchen in ſeiner Kaputze und nahm
es unzählige Male hervor, um einen neuentdeckten,
leichtfertigen Namen hinzuzufügen oder die bereits
vorhandenen zu überblicken, zu zählen und zu berechnen,
welche der Inhaberinnen zunächſt an die Reihe kommen
würde.


Zu dieſer ging er dann in Eile und halb verſchämt
und ſagte haſtig: „Gewähre mir die zweite Nacht von
heute und ſage keinem Andern zu!“ Wenn er zur
beſtimmten Zeit in das Haus trat, ließ er die Schöne
ſtehen und machte ſich in die hinterſte Ecke der Kammer,
fiel dort auf die Kniee und betete mit Inbrunſt und
lauten Worten die ganze Nacht für die Beſitzerin des
Hauſes. Mit der Morgenfrühe verließ er ſie und
unterſagte ihr ſtreng, zu verrathen, was er bei ihr
gemacht habe.


So trieb er es eine gute Zeit und brachte ſich in
den allerſchlechteſten Ruf. Denn während er im Ge¬
heimen, in den verſchloſſenen Kammern der Buhlerinnen
durch ſeine heißen Donnerworte und durch inbrünſtiges
ſüßes Gebetlispeln manche Verlorene erſchütterte und
rührte, daß ſie in ſich ging und einen frommen
[87] Lebenswandel begann, ſchien er es öffentlich vollſtändig
darauf anzulegen, für einen laſterhaften und ſündigen
Mönch zu gelten, der ſich luſtig in allem Wirrſal der
Welt herumſchlüge und ſeinen geiſtlichen Habit als
eine Fahne der Schmach aushänge.


Befand er ſich des Abends, wenn es dunkelte, in
ehrbarer Geſellſchaft, ſo rief er etwa unverſehens:
„Ei, was mache ich doch? Bald hätt' ich vergeſſen,
daß die braune Doris meiner wartet, die kleine
Freundin! Der tauſend, ich muß gleich hin, daß ſie
nicht ſchmollt!“


Schalt man ihn nun, ſo rief er, wie erboſt:
„Glaubt Ihr, ich ſei ein Stein? Bildet Ihr Euch
ein, daß Gott für die Mönche keine Weiblein ge¬
ſchaffen habe?“ Sagte Jemand: „Vater, legt lieber
das kirchliche Gewand ab und heirathet, damit die
Andern ſich nicht ärgern!“ ſo antwortete er: „Aergere
ſich, wer will und mag, und renne mit dem Kopfe
gegen die Mauer! Wer iſt mein Richter?“


Alles dies ſagte er mit Geräuſch und großer
Verſtellungskunſt, wie Einer, der eine ſchlechte Sache
mit vielen und frechen Worten vertheidigt.


Und er ging hin und zankte ſich vor den Haus¬
thüren der Mädchen mit den Nebenbuhlern herum,
ja er prügelte ſich ſogar mit ihnen und theilte manche
derbe Maulſchelle aus, wenn es hieß: „Fort mit dem
[88] Mönch! Will der Kleriker uns den Platz ſtreitig
machen? Zieh' ab, Glatzkopf!“


Auch war er ſo beharrlich und zudringlich, daß
er in den meiſten Fällen den Sieg davontrug und
unverſehens, in's Haus ſchlüpfte.


Kehrte er beim Morgengrauen in ſeine Zelle zurück,
ſo warf er ſich nieder vor der Mutter Gottes, zu
deren Preis und Ehre er allein dieſe Abenteuer unter¬
nahm und den Tadel der Welt auf ſich lud, und
wenn es ihm gelungen war, ein verlorenes Lamm
zurückzuführen und in irgend einem heiligen Kloſter
unterzubringen, ſo dünkte er ſich ſeliger vor der
Himmelskönigin, als wenn er tauſend Heiden bekehrt
hätte. Denn dies war ſein ganz beſonderer Geſchmack,
daß er das Martyrium beſtand, vor der Welt als
ein Unreiner und Wüſtling dazuſtehen, während die
allerreinſte Frau im Himmel wohl wüßte, daß er
noch nie ein Weib berührt habe und ein Kränzlein
weißer Roſen unſichtbar auf ſeinem vielgeſchmähten
Haupte trage.


Einſt hörte er von einer beſonders gefährlichen
Perſon, welche durch ihre Schönheit und Ungewöhn¬
lichkeit viel Unheil und ſelbſt Blutvergießen anrichte,
da ein vornehmer und grimmiger Kriegsmann ihre
Thüre belagere und Jeden niederſtrecke, der ſich mit
ihm in Streit einlaſſe. Sogleich nahm Vitalis ſich
[89] vor, dieſe Hölle anzugreifen und zu überwinden. Er
ſchrieb den Namen der Sünderin nicht erſt in ſein
Verzeichnis, ſondern ging geraden Weges nach dem
berüchtigten Hauſe und traf an der Thüre richtig mit
jenem Soldaten zuſammen, der in Scharlach gekleidet
hochmüthig daherſchritt und einen Wurfſpieß in der
Hand trug.


„Duck' dich hier bei Seite, Mönchlein!“ rief er
höhniſch dem frommen Vitalis zu, „was wagſt du,
an meiner Löwenhöhle herumzukrabbeln? Für dich
iſt der Himmel, für uns die Welt!“


„Himmel und Erde ſammt allem, was darin iſt,“
rief Vitalis, „gehören dem Herrn und ſeinen fröhlichen
Knechten! Pack' dich, aufgeputzter Lümmel, und laß
mich gehen, wo mich gelüſtet!“


Zornig erhob der Krieger den Schaft ſeines Wurf¬
ſpießes, um ihn auf den Kopf des Mönches nieder¬
zuſchlagen; doch dieſer zog flugs den Aſt eines fried¬
lichen Oelbaumes unter der Kutte hervor, parirte den
Streich und traf den Raufbold ſo derb an die Stirne,
daß ihm die Sinne beinahe vergingen, worauf ihm
der ſtreitbare Kleriker noch viele Knüffe unter die
Naſe gab, bis der Soldat ganz betäubt und fluchend
ſich davon machte.


Alſo drang Vitalis ſiegreich in das Haus, wo
über einem ſchmalen Treppchen die Weibsperſon ſtand,
[90] eine Lampe tragend, und auf das Lärmen und Schreien
horchte. Es war eine ungewöhnlich große und feſte
Geſtalt mit ſchönen großen aber trotzigen Geſichtszügen,
um welche ein röthliches Haar in reichen wilden Wellen
gleich einer Löwenmähne flatterte.


Verachtungsvoll ſchaute ſie auf den anrückenden
Vitalis herab und ſagte: „Wohin willſt du?“ „Zu
dir, mein Täubchen!“ antwortete er, „haſt du nie
vom zärtlichen Mönch Vitalis gehört, vom luſtigen
Vitalis?“ Allein ſie verſetzte barſch, indem ſie die
Treppe ſperrte mit ihrer gewaltigen Figur: „Haſt
du Geld, Mönch?“ Verdutzt ſagte er: „Mönche tragen
nie Geld mit ſich!“ „So trolle dich deines Weges,“
rief ſie, „oder ich laſſe dich mit Feuerbränden aus dem
Hauſe peitſchen!“


Ganz verblüfft kratzte Vitalis hinter den Ohren,
da er dieſen Fall noch nicht bedacht hatte; denn die
Geſchöpfe, die er bisanhin bekehrt, hatten dann natür¬
licherweiſe nicht mehr an einen Sündenlohn gedacht,
und die Unbekehrten begnügten ſich, ihn mit ſchnöden
Worten für die koſtbare Zeit, um die er ſie gebracht,
zu ſtrafen. Hier aber konnte er gar nicht in's Innere
gelangen, um ſeine fromme That zu beginnen; und
doch reizte es ihn über alle Maßen, gerade dieſe roth¬
ſchimmernde Satanstochter zu bändigen, weil große
ſchöne Menſchenbilder immer wieder die Sinne ver¬
[91] leiten, ihnen einen höheren menſchlichen Werth zuzu¬
ſchreiben, als ſie wirklich haben. Verlegen ſuchte er
an ſeinem Gewande herum und bekam dabei jenes
Silberbüchschen in die Hand, welches mit einem
ziemlich werthvollen Amethiſt geziert war. „Ich habe
nichts, als dies,“ ſagte er, „laß mich hinein dafür!“
Sie nahm das Büchschen, betrachtete es genau und
hieß ihn dann mit hineingehen. In ihrem Schlaf¬
gemache angekommen, ſah er ſich nicht weiter nach ihr
um, ſondern kniete nach ſeiner Gewohnheit in eine
Ecke und betete mit lauter Stimme.


Die Hetäre, welche glaubte, er wolle ſeine welt¬
lichen Werke aus geiſtlicher Gewohnheit mit Gebet
beginnen, erhob ein unbändiges Gelächter und ſetzte
ſich auf ihr Ruhbett, um ihm zuzuſehen, da ſeine
Geberden ſie höchlich beluſtigten. Da das Ding aber
kein Ende nahm und anfing, ſie zu langweilen, ent¬
blößte ſie unzüchtig ihre Schultern, ſchritt auf ihn zu,
umſtrickte ihn mit ihren weißen ſtarken Armen und
drückte den guten Vitalis mit ſeinem geſchornen und
tonſurirten Kopf ſo derb gegen ihre Bruſt, daß er
zu erſticken drohte und zu pruſten begann, als ob er
im Fegefeuer ſtäcke. Es dauerte aber nicht lang, ſo
fing er an, nach allen Seiten auszuſchlagen, wie ein
junges Pferd in der Schmiede, bis er ſich von der
hölliſchen Umſchlingung befreit hatte. Dann aber
[92] nahm er den langen Strick, welchen er um den Leib
trug, und packte das Weib, um ihr die Hände auf
den Rücken zu binden, damit er Ruhe vor ihr habe.
Er mußte jedoch tüchtig mit ihr ringen, bis es ihm
gelang, ſie zu binden; und auch die Füße band er
ihr zuſammen und warf den ganzen Pack mit einem
mächtigen Ruck auf das Bett. Wonach er ſich wieder
in ſeinen Winkel begab und ſeine Gebete fortſetzte,
als ob nichts geſchehen wäre.


Die gefeſſelte Löwin wälzte ſich erſt zornig und
unruhig hin und her, ſuchte ſich zu befreien und ſtieß
hundert Flüche aus; dann wurde ſie ſtiller, während
der Mönch nicht abließ, zu beten, zu predigen und
zu beſchwören, und gegen Morgen ließ ſie deutliche
Seufzer vernehmen, welchen bald, wie es ſchien, ein
zerknirſchtes Schluchzen folgte. Kurz, als die Sonne
aufging, lag ſie als eine Magdalena zu ſeinen Füßen,
von ihren Banden befreit, und benetzte den Saum
ſeines Gewandes mit Thränen. Würdevoll und heiter
ſtreichelte ihr Vitalis das Haupt und verſprach, mit
einbrechender künftiger Nacht wiederzukommen, um
ihr kund zu thun, in welchem Kloſter er eine Bußzelle
für ſie ausfindig gemacht hätte. Dann verließ er ſie,
vergaß aber nicht, ihr vorher einzuſchärfen, daß ſie
inzwiſchen nichts von ſeiner Bekehrung verlauten laſſen
und vor Allem nur Jedermann, der ſie darum befragen
[93] würde, ſagen ſolle, er habe ſich recht luſtig bei ihr
gemacht.


Allein wie erſchrack er, als er zur beſtimmten
Stunde wieder erſcheinend, die Thüre feſt verſchloſſen
fand, indeſſen das Frauenzimmer friſch geſchmückt
und ſtattlich aus dem Fenſter ſah.


„Was willſt du, Prieſter?“ rief ſie herunter, und
erſtaunt erwiederte er halblaut: „Was ſoll das heißen,
mein Lämmchen? Thu' von dir dieſen Sündenflitter
und laß mich ein, daß ich dich zu deiner Buße vor¬
bereite!“ „Du willſt zu mir herein, ſchlimmer
Mönch?“ ſagte ſie lächelnd, als ob ſie ihn mißver¬
ſtanden hätte, „haſt du Geld oder Geldeswerth bei
dir?“ Mit offenem Munde ſtarrte Vitalis empor;
dann rüttelte er verzweifelt an der Thüre; aber ſie
war und blieb verſchloſſen und vom Fenſter war das
Weib auch verſchwunden.


Das Gelächter und die Verwünſchungen der
Vorübergehenden trieben den ſcheinbar verdorbenen
und ſchamloſen Mönch endlich von dem verrufenen
Hauſe hinweg; allein ſein einziges Sinnen und
Trachten ging dahin, wieder in das nämliche Haus
zu gelangen und den Böſen, der in dem Weibe ſteckte,
auf jede Weiſe zu überwinden.


Von dieſem Gedanken beherrſcht lenkte er ſeine
Schritte in eine Kirche, wo er, ſtatt zu beten, über
[94] Mittel und Wege ſann, wie er ſich den Zutritt bei
der Verlorenen verſchaffen könne. Indem fiel ſein
Blick auf die Lade, in welcher die Gaben der Mild¬
thätigkeit aufbewahrt lagen, und kaum war die Kirche,
in welcher es dunkel geworden, leer, ſo ſchlug er die
Lade mit kräftiger Fauſt auf und warf ihren Inhalt,
der aus einer Menge kleiner Silberlinge beſtand, in
ſeine aufgeſchürzte Kutte und eilte ſchneller, als ein
Verliebter, nach der Wohnung der Sünderin.


Eben wollte ein zierlicher Stutzer in die aufgehende
Thüre ſchlüpfen; Vitalis ergriff ihn hinten an den
duftenden Locken, ſchleuderte ihn auf die Gaſſe und
ſchlug die Thüre, indem er hineinſprang, jenem vor
der Naſe zu, und ſo ſtand er nach einigen Augen¬
blicken abermals vor der ruchloſen Perſon, welche ihn
mit funkelnden Augen beſah, da er ſtatt des erwarte¬
ten Stutzers erſchien. Vitalis ſchüttete aber ſchnell
das geſtohlene Geld [auf] den Tiſch und ſagte: „Ge¬
nügt das für dieſe Nacht?“ Stumm aber ſorgfältig
zählte ſie das Gut und ſagte dann: „Es genügt!“ und
that es beiſeite.


Nun ſtanden ſie ſich ſonderbarlich gegenüber. Das
Lachen verbeißend ſchaute ſie darein, als ob ſie von
nichts wüßte, und der Mönch prüfte ſie mit ungewiſſen
und kummervollen Blicken und wußte nicht, wie
er es anpacken ſollte, ſie zur Rede zu ſtellen. Als
[95] ſie aber plötzlich in verlockende Geberden überging
und mit der Hand in ſeinen glänzenden dunkeln Bart
fahren wollte, da brach das Gewitter ſeines geiſtlichen
Gemüthes mächtig los, zornig ſchlug er ihr auf die
Hand, warf ſie dann auf ihr Bett, daß es erzitterte,
und indem er auf ſie hinkniete und ihre Hände feſt¬
hielt, fing er, ungerührt von ihren Reizen, dergeſtalt
an ihr in die Seele zu reden, daß ihre Verſtocktheit
endlich ſich zu löſen ſchien.


Sie ließ nach in den gewaltſamen Anſtrengungen,
ſich zu befreien, häufige Thränen floßen über das
ſchöne und kräftige Geſicht, und als der eifrige Gottes¬
mann ſie nun frei gab und aufrecht an ihrem Sün¬
denlager ſtand, lag die große Geſtalt auf demſelben
mit ausgeſtreckten müden Gliedern, wie von Reue
und Bitterkeit zerſchlagen, ſchluchzend und die umflor¬
ten Augen nach ihm richtend, wie verwundert über
dieſe unfreiwillige Verwandlung.


Da verwandelte ſich auch das Ungewitter ſeines
beredten Zornes in weiche Rührung und inniges Mit¬
leid; er pries innerlich ſeine himmliſche Beſchützerin,
welcher zu Ehren ihm dieſer ſchwerſte aller Siege ge¬
lungen war, und ſeine Rede floß jetzt verſöhnend und
tröſtend wie lindes Frühlingswehen über das gebro¬
chene Eis dieſes Herzens.


Fröhlicher, als wenn er das lieblichſte Glück genoſ¬
[96] ſen hätte, eilte er von dannen, aber nicht, um auf ſei¬
nem harten Lager noch ein Stündchen Schlaf zu finden,
ſondern um vor dem Altare der Jungfrau für die
arme reuevolle Seele zu beten, bis der Tag vollends
angebrochen wäre; denn er gelobte, kein Auge zu
ſchließen, bis das verirrte Lamm nunmehr ſicher hinter
den ſchützenden Kloſtermauern verwahrt ſei.


Kaum war auch der Morgen lebendig geworden,
ſo machte er ſich wieder auf den Weg nach ihrem
Hauſe, ſah aber auch gleichzeitig vom andern Ende
der Straße den wilden Kriegsmann daher kommen,
welcher nach einer durchſchwelgten Nacht, halb betrun¬
ken, es ſich in den Kopf geſetzt hatte, die Hetäre end¬
lich wieder zu erobern.


Vitalis war näher an der unſeligen Thüre und
behende ſprang er darauf zu, um ſie vollends zu er¬
reichen; da ſchleuderte jener den Speer nach ihm, der
dicht neben des Mönches Kopf in der Thüre ſtecken
blieb, daß der Schaft zitterte. Aber noch ehe er aus¬
gezittert, riß ihn der Mönch mit aller Kraft aus dem
Holz, kehrte ſich gegen den wüthend herbeigeſprunge¬
nen Soldaten, der ein bloßes Schwert zückte, und trieb
ihm mit Blitzesſchnelle den Speer durch die Bruſt;
todt ſank der Mann zuſammen und Vitalis wurde
faſt im ſelbigen Augenblicke durch einen Trupp Kriegs¬
knechte, die von der Nachtwache kamen und ſeine That
[97] geſehen, gefangen genommen, gebunden und in den
Kerker geführt.


Wahrhaft kummervoll ſchaute er nach dem Häus¬
chen zurück, in welchem er ſein gutes Werk nun nicht
vollenden konnte: die Wächter glaubten, er bedaure
lediglich ſeinen Unſtern, von einem ſündhaften Vorſatz
abgelenkt zu ſein, und traktirten den vermeintlich un¬
verbeſſerlichen Mönch mit Schlägen und Schimpfwor¬
ten, bis er im Gefängniß war.


Dort mußte er viele Tage liegen, mehrfach vor
den Richter geſtellt; zwar wurde er am Ende ſtraflos
entlaſſen, weil er den Mann in der Nothwehr um¬
gebracht. Doch ging er immerhin als ein Todtſchläger
aus dem Handel hervor und Jedermann rief, daß
man ihm endlich das geiſtliche Gewand abnehmen
ſollte. Der Biſchof Johannes, welcher dazumal in
Alexandria vorſtand, mußte aber irgend eine Ahnung
von dem wahren Sachverhalt oder ſonſt einen höhe¬
ren Plan gefaßt haben, da er ſich weigerte, den ver¬
rufenen Mönch aus der Kleriſei zu ſtoßen, und befahl,
denſelben einſtweilen noch ſeinen ſeltſamen Weg wan¬
deln zu laſſen.


Dieſer führte ihn ohne Aufenthalt zu der be¬
kehrten Sünderin zurück, welche ſich mittlerweile aber¬
mals umgekehrt hatte und den erſchrockenen und be¬
kümmerten Vitalis nicht eher herein ließ, bis er wie¬
Keller, Sieben Legenden. 7[98] derum irgendwo einen Werthgegenſtand entwendet und
ihr gebracht. Sie bereute und bekehrte ſich zum dritten
Mal, und auf gleiche Weiſe zum vierten und fünften
Mal, da ſie dieſe Bekehrungen einträglicher fand, als
alles Andere, und überdies der böſe Geiſt in ihr
ein hölliſches Vergnügen empfand, mit wechſelnden
Künſten und Erfindungen den armen Mönch zu äffen.


Dieſer war jetzt wirklich von innen heraus ein
Märtyrer; denn je ärger er getäuſcht wurde, deſto
weniger konnte er von ſeinem Bemühen laſſen, und
es dünkte ihn, als ob ſeine eigene Seligkeit gerade
von der Beſſerung dieſer Einen Perſon abhange. Er
war jetzt bereits ein Todtſchläger, Kirchenräuber und
Dieb; allein lieber hätt' er ſich eine Hand abhauen
laſſen, ehe er im Geringſten ſeinen Ruf als Wüſtling
aufgegeben hätte, und wenn dies alles ihm endlich in
ſeinem Herzen ſchwer und ſchwerer zu tragen war, ſo
beſtrebte er ſich um ſo eifriger, vor der Welt die
ſchlimme Außenſeite mit frivolen Worten aufrecht
zu halten. Denn dieſe märtyrliche Spezialität hatte
er einmal erwählt. Doch wurde er bleich und ſchmal
dabei und fing an, herumzuſchleichen, wie ein Schat¬
ten an der Wand, aber immer mit lachendem Munde.


Gegenüber jenem Hauſe der Prüfung nun wohnte
ein reicher griechiſcher Kaufmann, der ein einziges
Töchterchen beſaß, Jole geheißen, welche thun konnte,
[99] was ihr beliebte, aber doch nicht recht wußte, was ſie
den langen Tag hindurch beginnen ſollte. Denn ihr
Vater der ſich zur Ruhe geſetzt hatte, ſtudirte den
Plato, und wenn er deſſen müde war, ſo verfaßte er zier¬
liche Xenien über die geſchnittenen antiken Steine, deren er
eine Menge ſammelte und beſaß. Jole hingegen, wenn
ſie ihr Saitenſpiel bei Seite geſtellt hatte, wußte ihren
lebhaften Gedanken keinen Ausweg und guckte unruhig
in den Himmel und in die Ferne, wo ſich eine Oeffnung bot.


So entdeckte ſie auch den Verkehr des Mönches
in der Straße und erfuhr, welche Bewandtniß es mit
dem berüchtigten Klerikus habe. Erſchreckt und ſcheu
betrachtete ſie ihn von ihrem ſicheren Verſteck aus und
konnte nicht umhin, ſeine ſtattliche Geſtalt und ſein
männliches Ausſehen zu bedauern. Als ſie aber von
einer Sklavin, welche mit der Sklavin der böſen Buh¬
lerin vertraut war, vernahm, wie Vitalis von letzterer
betrogen würde, und wie es ſich in Wahrheit mit
ihm verhalte, da verwunderte ſie ſich über alle Maßen,
und weit entfernt, dies Martyrium zu verehren, be¬
fiel ſie ein ſeltſamer Zorn und ſie hielt dieſe Art
Heiligkeit der Ehre ihres Geſchlechts nicht für zuträg¬
lich. Sie träumte und grübelte eine Weile darüber
und immer unzufriedener wurde ſie, während gleich¬
zeitig ihre Theilnahme für den Mönch ſich erhöhte
und mit jenem Zorne kreuzte.


[100]

Plötzlich entſchloß ſie ſich, wenn die Jungfrau
Maria nicht ſo viel Verſtand habe, den Verirrten auf
einen wohlanſtändigeren Weg zu führen, dies ſelbſt
zu übernehmen und ihr etwas in's Handwerk zu pfu¬
ſchen, nicht ahnend, daß ſie ſelbſt das unbewußte
Werkzeug der bereits einſchreitenden Himmelskönigin
war. Und alſogleich ging ſie zu ihrem Vater, be¬
ſchwerte ſich bitterlich über die unangemeſſene Nach¬
barſchaft der Buhldirne und beſchwor ihn, dieſelbe
um jeden Preis vermittelſt ſeines Reichthums und
augenblicklich zu entfernen.


Der Alte verfügte ſich, nach ihrer Anweiſung, auch
ſogleich zu der Perſon und bot ihr eine gewiſſe Summe
für ihr Häuschen, wenn ſie es zur Stunde verlaſſen
und ganz aus dem Revier wegziehen wolle. Sie ver¬
langte nichts Beſſeres und war noch am gleichen Vor¬
mittag aus der Gegend verſchwunden, während der
Alte wieder hinter ſeinem Plato ſaß und ſich nicht
weiter um die Sache kümmerte.


Deſto eifriger war nun Jole, das Häuschen von
unten bis oben von Allem räumen zu laſſen, was an
die frühere Beſitzerin erinnern konnte, und als es
gänzlich ausgefegt und gereinigt war, ließ ſie es mit
feinen Spezereien ſo durchräuchern, daß die wohl¬
duftenden Rauchwolken aus allen Fenſtern drangen.

Dann ließ ſie in das leere Gemach nichts als
[101] einen Teppich, einen Roſenſtock und eine Lampe
hinübertragen, und als ihr Vater, welcher mit der
Sonne zur Ruhe ging, eingeſchlafen war, ging ſie
ſelbſt hin, das Haar mit einem Roſenkränzlein ge¬
ſchmückt, und ſetzte ſich mutterſeelenallein auf den aus¬
gebreiteten Teppich, indeſſen zwei zuverläſſige alte
Diener die Hausthüre bewachten.


Dieſelben jagten verſchiedene Nachtſchwärmer davon;
ſobald ſie dagegen den Vitalis herankommen ſahen,
verbargen ſie ſich und ließen ihn ungehindert in die
offene Thüre treten. Mit vielen Seufzern ſtieg er
die Treppe hinan, voll Furcht, ſich abermals genarrt
zu ſehen, und voll Hoffnung, endlich von dieſer Laſt
befreit zu werden durch die aufrichtige Reue eines
Geſchöpfes, welches ihn verhinderte, ſo viele andere
Seelen zu retten. Allein wie erſtaunte er, als er, in
das Gemach getreten, dasſelbe von all' dem Flitter¬
ſtaat der wilden rothen Löwin geleert und ſtatt
ihrer eine anmuthige und zarte Geſtalt auf dem Tep¬
pich ſitzend fand, das Roſenſtöckchen ſich gegenüber auf
demſelben Boden.


„Wo iſt die Unſelige, die hier wohnte?“ rief er,
indem er verwundert um ſich ſchaute und dann ſeine
Blicke auf der lieblichen Erſcheinung ruhen ließ, die
er vor ſich ſah.


„Sie iſt fortgewandert in die Wüſte,“ erwiederte
[102] Jole ohne aufzublicken, „dort will ſie das Leben einer
Einſiedlerin führen und büßen; denn es hat ſie dieſen
Morgen plötzlich übernommen und darnieder geworfen
gleich einem Grashalm, und ihr Gewiſſen iſt endlich
aufgewacht. Sie rief nach einem gewiſſen Prieſter
Vitalis, daß er ihr beiſtehen möchte. Allein der Geiſt,
der in ſie gefahren, ließ ſie nicht länger harren; die
Thörin raffte alle ihre Habe zuſammen, verkaufte ſie
und gab das Geld den Armen, worauf ſie ſtehenden
Fußes in einem härenen Hemd und mit abgeſchnit¬
tenem Haar, einen Stecken in der Hand, hinauszog,
wo die Wildniß iſt.“


„Geprieſen ſeiſt du, Herr, und gelobt deine gna¬
denvolle Mutter!“ rief Vitalis, voll fröhlicher An¬
dacht die Hände faltend, indem es ihm wie eine Stein¬
laſt vom Herzen fiel; zugleich aber betrachtete er das
Mädchen mit ſeinem Roſenkränzchen genauer und ſprach:


„Warum ſagteſt du: die Thörin? und wer biſt
du? von woher kommſt du und was haſt du vor?“


Die liebliche Jole richtete jetzt ihr dunkles Auge
noch tiefer zur Erde; ſie beugte ſich vorn über und
eine hohe Schamröthe übergoß ihr Geſicht, da ſie ſich
ſelbſt der argen Dinge ſchämte, die ſie jetzt vor einem
Mann zu ſagen im Begriffe war.


„Ich bin,“ ſagte ſie, „eine verſtoßene Waiſe, die
weder Vater noch Mutter mehr hat. Dieſer Teppich,
[103] dieſe Lampe und dieſer Roſenſtock ſind die letzten
Ueberbleibſel von meinem Erbe, und damit habe ich
mich hier niedergelaſſen, um das Leben zu beginnen,
das Jene verlaſſen hat, welche vor mir hier wohnte!“


„Ei, ſo ſoll dich doch — !“ rief der Mönch und
ſchlug die Hände zuſammen, „ſeht mir einmal an,
wie fleißig der Teufel iſt! Und dies harmloſe Thier¬
lein hier ſagt das Ding ſo trocken daher, wie wenn
ich nicht der Vitalis wäre! Nun, mein Kätzchen,
was willſt du thun? Sag's doch noch einmal!“


„Ich will mich der Liebe weihen und den Män¬
nern dienen, ſo lange dieſe Roſe lebt!“ ſagte ſie und
zeigte flüchtig auf den Strauch; doch brachte ſie die
Worte kaum heraus und verſank vor Scheu beinahe
in den Boden, ſo duckte ſie ſich zuſammen, und dieſe
natürliche Scham diente der Schelmin ſehr gut, den
Mönch zu überzeugen, daß er es hier mit einer kind¬
lichen Unſchuld zu thun habe, die nur vom Teufel
beſeſſen mit beiden Füßen in den Abgrund ſpringen
wolle. Er ſtrich ſich vor Vergnügen den Bart, ein¬
mal ſo zu rechter Zeit auf dem Platz erſchienen zu
ſein, und um ſein Behagen noch länger zu genießen
ſagte er langſam und humoriſtiſch:


„Und dann nachher, mein Täubchen?“


„Nachher will ich in die Hölle fahren als eine
allerärmſte Seele, wo die ſchöne Frau Venus iſt, oder
[104] vielleicht auch, wenn ich einen guten Prediger finde,
etwa ſpäter in ein Kloſter gehen und Buße thun!“


„Gut ſo, immer beſſer!“ rief er, „das iſt ja ein
ordentlicher Kriegsplan und gar nicht übel errathen!
Denn was den Prediger betrifft, ſo iſt er ſchon da,
er ſteht vor dir, du ſchwarzäugiges Höllenbrätchen!
Und das Kloſter iſt dir auch ſchon hergerichtet wie
eine Mausfalle, nur daß man ungeſündigt hinein
ſpaziert, verſtanden? Ungeſündigt bis auf den ſau¬
beren Vorſatz, der indeſſen einen erklecklichen Reueknochen
für dein ganzes Leben abgeben und nützlich ſein mag;
denn ſonſt wärſt du kleine Hexe auch gar zu poſſier¬
lich und ſcherzhaft für eine rechte Nonne! Aber nun,“
fuhr er mit ernſter Stimme fort, „herunter vorerſt
mit den Roſen vom Kopf und dann aufmerkſam zu¬
gehört !“


„Nein,“ ſagte Jole etwas kecker, „erſt will ich zu¬
hören und dann ſehen, ob ich die Roſen herunter
nehme. Nachdem ich einmal mein weibliches Gefühl
überwunden, genügen Worte nicht mehr mich abzu¬
halten, eh' ich die Sünde kenne, und ohne Sünde
werde ich keine Reue kennen, dieß gebe ich dir zu
bedenken, ehe du dich bemühſt! Aber immerhin will
ich dich anhören!“


Jetzt begann Vitalis ſeine ſchönſte Predigt, die er
je gehalten. Das Mädchen hörte ihm anmuthig und
[105] aufmerkſam zu und ihr Anblick übte einen erheblichen
Einfluß auf die Wahl ſeiner Worte, ohne daß er
deſſen inne ward, da die Schönheit und Feinheit des
zu bekehrenden Gegenſtandes wie von ſelbſt eine er¬
höhte Beredtſamkeit hervorrief. Allein da es ihr nicht
im mindeſten ernſt war mit dem, was ſie frevelhafter
Weiſe vorgab, ſo konnte die Rede des Mönches ſie auch
nicht ſehr erſchüttern; ein liebliches Lachen ſchwebte
vielmehr um ihren Mund, und als er geendigt und
ſich erwartungsvoll den Schweiß von der Stirne
wiſchte, ſagte Jole: „Ich bin nur halb gerührt von
deinen Worten und kann mich nicht entſchließen, mein
Vorhaben aufzugeben; denn ich bin allzuneugierig,
wie es ſich in Luſt und Sünden lebe!“


Wie verſteinert ſtand Vitalis da und wußte nicht
ein einziges Wort hervorzubringen. Es war das
erſte Mal, daß ihm ſeine Bekehrungskunſt ſo rund
fehlgeſchlagen. Seufzend und nachſinnend ging er im
Gemach auf und nieder und beſah dann wieder die
kleine Höllenkandidatin. Die Kraft des Teufels ſchien
ſich hier auf unheimliche Weiſe mit der Kraft der
Unſchuld zu verbinden, um ihm zu widerſtehen. Aber
um ſo leidenſchaftlicher gedachte er dennoch obzuſiegen.


„Ich geh' nicht von der Stelle,“ rief er endlich,
„bis du bereuſt, und ſollt' ich drei Tage und drei
Nächte hier zubringen!“


[106]

„Das würde mich nur hartnäckiger machen,“ er¬
wiederte Jole, „ich will mir aber Bedenkzeit nehmen
und die kommende Nacht dich wieder anhören. Jetzt
bricht der Tag bald an, geh' deines Weges; indeſſen
verſprech' ich, nichts in der Sache zu thun und in
meinem jetzigen Zuſtand zu verbleiben, wogegen du
verſprechen mußt, nirgends meiner Erwähnung zu
thun und nur in dunkler Nacht hieher zu kommen!“


„Es ſei ſo!“ rief Vitalis, machte ſich fort und
Jole ſchlüpfte raſch in ihr väterliches Haus zurück.


Sie ſchlief nur kurze Zeit und erwartete mit Un¬
geduld den Abend, weil ihr der Mönch, dem ſie die
Nacht durch ſo nahe geweſen, noch beſſer gefallen hatte,
als ſonſt aus der Ferne. Sie ſah jetzt, welch' ein
ſchwärmeriſches Feuer in ſeinen Augen glühte und
wie entſchieden, trotz der geiſtlichen Kleidung, alle ſeine
Bewegungen waren. Wenn ſie ſich dazu ſeine Selbſt¬
verleugnung vergegenwärtigte, ſeine Ausdauer in dem
einmal Erwählten, ſo konnte ſie nicht umhin, dieſe
guten Eigenſchaften zu ihrem eigenen Nutzen und Ver¬
gnügen verwendet zu wünſchen, und zwar in Geſtalt
eines verliebten und getreuen Ehemannes. Ihre Auf¬
gabe war demnach, aus einem wackeren Märtyrer
einen noch beſſeren Ehemann zu machen.


In der kommenden Nacht fand ſie Vitalis zeitig
wieder auf ihrem Teppich und er ſetzte ſeine Be¬
[107] mühungen um ihre Tugend mit unvermindertem Eifer
fort. Er mußte fortwährend dazu ſtehen, wenn er
nicht zu einem Gebete niederkniete. Jole dagegen
machte es ſich bequem; ſie legte ſich mit dem Ober¬
leib auf den Teppich zurück, ſchlang die Arme um
den Kopf und betrachtete aus halb geſchloſſenen
Augen unverwandt den Mönch, der vor ihr ſtand
und predigte. Einigemal ſchloß ſie die Augen, wie
vom Schlummer beſchlichen, und ſobald Vitalis das
gewahrte, ſtieß er ſie mit dem Fuße an, um ſie
zu wecken. Aber dieſe mürriſche Maßregel fiel den¬
noch jedesmal milder aus, als er beabſichtigte: denn
ſobald der Fuß ſich der ſchlanken Seite des Mädchens
näherte, mäßigte er von ſelbſt ſeine Schwere und be¬
rührte nur ſanft die zarten Rippen, und deſſen un¬
geachtet ſtrömte dann eine gar ſeltſamliche Empfindung
den ganzen langen Mönch hinauf, eine Empfindung,
die ſich bei allen den vielen ſchönen Sünderinnen, mit
denen er bisher verkehrt, im Entfernteſten nie ein¬
geſtellt hatte.


Jole nickte gegen Morgen immer häufiger ein; end¬
lich rief Vitalis unwillig: „Kind, du hörſt nicht, du
biſt nicht zu erwecken, du verharrſt in Trägheit!“


„Nicht doch,“ ſagte ſie, indem ſie die Augen plötz¬
lich aufſchlug und ein ſüßes Lächeln über ihr Geſicht
flog, gleichſam als wenn der nahende Tag ſchon dar¬
[108] auf zu ſehen wäre, „ich habe gut aufgemerkt, ich haſſe
jetzt jene elende Sünde, die mir um ſo widerwärtiger
geworden, als ſie dir Aergerniß erregt, lieber Mönch;
denn Nichts könnte mir mehr gefallen, was dir mi߬
fällt!“


„Wirklich?“ rief er voll Freuden, „ſo iſt es mir
doch gelungen? Jetzt komm' nur gleich in das Kloſter,
damit wir deiner ſicher ſind. Wir wollen diesmal
das Eiſen ſchmieden, weil es noch warm iſt!“


Du verſtehſt mich nicht recht, erwiederte Jole und
ſchlug erröthend die Augen wieder zur Erde, „ich bin
in dich verliebt und habe eine zärtliche Neigung zu
dir gefaßt!“


Vitalis empfand augenblicklich, wie wenn ihn eine
Hand auf's Herz ſchlüge, ohne daß es ihm jedoch
dünkte, weh' zu thun. Beklemmt ſperrte er die Augen
und den Mund auf und ſtand da.


Jole aber fuhr fort, indem ſie noch röther wurde,
und ſagte leiſe und ſanft: „Nun mußt du mir auch
noch dies neue Unheil ausreden und verbannen, um
mich gänzlich vom Uebel zu befreien, und ich hoffe,
daß es dir gelingen werde!“


Vitalis, ohne ein Wort zu ſagen, machte kehrt
um und rannte aus dem Hauſe. Er lief in den
ſilbergrauen Morgen hinaus, ſtatt ſein Lager aufzu¬
ſuchen, und überlegte, ob er dieſe verdächtige junge
[109] Perſon ein für allemal ihrem Schickſal überlaſſen
oder verſuchen ſolle, ihr dieſe letzte Grille auch noch
auszutreiben, welche ihm die bedenklichſte von allen
und für ihn ſelbſt nicht ganz ungefährlich ſchien.
Doch eine zornige Schamröthe ſtieg ihm in's Haupt
bei den Gedanken, daß dergleichen für ihn ſelbſt ge¬
fährlich ſein ſollte; aber dann fiel ihm gleich wieder
ein, daß der Teufel ihm ein Netz geſtellt haben
könnte, und wenn dem ſo wäre, ſo ſei dieſes am Beſten
bei Zeiten zu fliehen. Aber feldflüchtig werden vor
ſolchem federleichten Teufelsſpuck? Und wenn das
arme Geſchöpfchen wirklich es gut meinte und durch
einige kräftige grobe Worte von ſeiner letzten unzu¬
kömmlichen Phantaſie zu heilen wäre? Kurz, Vitalis
konnte nicht mit ſich einig werden, und das um ſo
weniger, als auf dem Grunde ſeines Herzens bereits
ein dunkles Wogen das Schifflein ſeiner Vernunft
zum Schaukeln brachte.


Er ſchlüpfte daher in ſeiner Bedrängniß in ein
Gotteshäuschen, wo vor Kurzem ein ſchönes altes
Marmorbild der Göttin Juno, mit einem goldenen
Heiligenſchein verſehen, als Marienbild aufgeſtellt
worden war, um dieſe Gottesgabe der Kunſt nicht
umkommen zu laſſen. Vor dieſer Maria warf er ſich
nieder und trug ihr inbrünſtig ſeinen Zweifel vor
und er bat ſeine Meiſterin um ein Zeichen. Wenn
[110] ſie mit dem Kopfe nickte, ſo wolle er die Bekehrung
vollenden, wenn ſie ihn ſchüttle, ſo wolle er davon
abſtehen.


Allein das Bild ließ ihn in der grauſamſten Un¬
gewißheit und that keins von beidem, weder nickte
es, noch ſchüttelte es den Kopf. Nur als ein röth¬
licher Schein vorüberziehender Frühwolken über den
Marmor flog, ſchien das Geſicht auf das holdeſte zu
lächeln, mochte es nun ſein, daß die alte Göttin, die
Beſchützerin ehelicher Zucht und Sitte, ſich bemerklich
machte, oder daß die neue über die Noth ihres Ver¬
ehrers lachen mußte; denn im Grunde waren beides
Frauen und dieſe lächert es immer, wenn ein Liebes¬
handel im Anzug iſt. Aber Vitalis wurde davon
nicht klüger; im Gegentheil machte ihm die Schön¬
heit des Anblickes noch wunderlicher zu Muth, ja
merkwürdiger Weiſe ſchien das Bild die Züge der
erröthenden Jole anzunehmen, welche ihn aufforderte
ihr die Liebe zu ihm aus dem Sinne zu treiben.


Indeſſen wandelte um die gleiche Zeit der Vater
Joles unter den Cypreſſen ſeines Gartens umher;
er hatte einige ſehr ſchöne neue Steine erworben,
deren Bildwerke ihn ſo früh auf die Beine gebracht.
Entzückt betrachtete er dieſelben, indem er ſie in der
aufgehenden Sonne ſpielen ließ. Da war ein nächt¬
licher Amethyſt, worauf Luna ihren Wagen durch den
[111] Himmel führte, nicht ahnend, daß ſich Amor hinten
aufgehockt, während umherſchwärmende Amoretten auf
griechiſch ihr zuriefen: Es ſitzt Einer hintenauf! Ein
prächtiger Onix zeigte Minerva, welche achtlos ſinnend
den Amor auf dem Schoße hielt, der mit ſeiner Hand eifrig
ihren Bruſtharniſch polirte, um ſich darin zu ſpiegeln.


Auf einem Carneol endlich tummelte ſich Amor
als ein Salamander in einem veſtaliſchen Feuer herum
und ſetzte die Hüterin desſelben in Verwirrung und
Schrecken.


Dieſe Scenen reizten den Alten zu einigen Diſti¬
chen und er beſann ſich, welches er zuerſt in Angriff
nehmen wolle, als ſein Töchterchen Jole blaß und
überwacht durch den Garten kam. Beſorgt und ver¬
wundert rief er ſie an und fragte, was ihr den
Schlaf geraubt habe? Ehe ſie aber antworten konnte,
zeigte er ihr ſeine Kleinode und erklärte ihr den Sinn
derſelben.


Da that ſie einen tiefen Seufzer und ſagte: „Ach,
wenn alle dieſe großen Mächte, die Keuſchheit ſelbſt,
die Weisheit und die Religion ſich nicht vor der Liebe
bewahren können, wie ſoll ich armes unbedeutendes
Geſchöpf mich wider ſie befeſtigen?“


Ueber dieſe Worte erſtaunte der alte Herr nicht
wenig. „Was muß ich hören?“ ſagte er, „ſollte dich
das Geſchoß des ſtarken Eros getroffen haben?“


[112]

„Es hat mich durchbohrt, erwiederte ſie, „und wenn
ich nicht binnen Tag und Nacht im Beſitz des Man¬
nes bin, welchen ich liebe, ſo bin ich des Todes!“


Obgleich nun der Vater gewohnt war, ihr in
allem zu willfahren, was ſie begehrte, ſo war ihm
dieſe Eile jetzt doch etwas zu heftig und er mahnte
die Tochter zu Ruhe und Beſonnenheit. Letztere
fehlte ihr aber keineswegs und ſie gebrauchte dieſelbe
ſo gut, daß der Alte ausrief: „So ſoll ich denn die
elendeſte aller Vaterpflichten ausüben, indem ich nach
dem Erwählten, nach dem Männchen auslaufe und
es an der Naſe zum Beſten hinführe, was ich mein
nenne, und ihn bitte, doch ja Beſitz davon zu neh¬
men? Hier iſt ein ſchmuckes Weibchen, lieber Herr,
bitte, verſchmäh es nicht? Ich möchte dir zwar lie¬
ber einige Ohrfeigen geben, aber das Töchterchen
will ſterben und ich muß höflich ſein! Alſo laß' dir's
doch in Gnaden belieben, genieße um's Himmels
willen das Paſtetchen, das ſich dir bietet! Es iſt
trefflich gebacken und ſchmilzt dir auf der Zunge!“


„Alles das iſt uns erſpart,“ ſagte Jole, „denn wenn
du es nur erlaubſt, ſo hoffe ich ihn dazu zu bringen,
daß er von ſelbſt kommt und um mich anhält.“


„Und wenn er alsdann, den ich gar nicht kenne, ein
Schlingel und ein Taugenichts iſt?“ „„Dann ſoll er mit
Schimpf weggejagt werden! Er iſt aber ein Heiliger!““


[113]

„So geh' denn und überlaß mich den Muſen!“
ſagte der gute Alte.


Als der Abend kam, folgte die Nacht nicht ſo
ſchnell der Dämmerung, als Vitalis hinter Jole her
im bekannten Häuschen erſchien. Aber ſo war er
noch nie hier eingetreten. Das Herz klopfte ihm und
er mußte empfinden, was es heiße, ein Weſen wie¬
der zu ſehen, das einen ſolchen Trumpf ausgeſpielt
hat. Ein anderer Vitalis ſtieg die Treppe hinauf,
als in der Frühe heruntergeſtiegen war, obſchon er
ſelbſt am wenigſten davon verſtand, da der arme
Mädchenbekehrer und verrufene Mönch nicht einmal
den Unterſchied zwiſchen dem Lächeln einer Buhl¬
dirne und demjenigen einer ehrlichen Frau ge¬
kannt hatte.


Doch kam er immerhin in der guten Meinung
und mit dem alten Vorſatze, dem Ungeheuerchen jetzt
endlich alle unnützen Gedanken aus dem Köpfchen
zu treiben; nur ſchwebte ihm vor, als ob er nach
gelungenem Werke dann doch etwa eine Pauſe in
ſeiner Märtyrthätigkeit ſich erlauben möchte, zumal
ihn dieſe ſehr zu ermüden begann.


Aber es war ihm beſchieden, daß in dieſer ver¬
hexten Behauſung ſtets neue Ueberraſchungen ſeiner
warteten. Als er jetzt das Gemach betrat, war es
auf's Anmuthigſte ausgeziert und mit allen Wohn¬
Keller, Sieben Legenden. 8[114] lichkeiten verſehen. Ein fein einſchmeichelnder Blu¬
menduft erfüllte den Raum und ſtimmte zu einer ge¬
wiſſen ſittigen Weltlichkeit; auf einem blühweißen
Ruhebett, an deſſen Seide kein unordentliches Fält¬
chen ſichtbar war, ſaß Jole herrlich geſchmückt, in
ſüß bekümmerter Melancholie, gleich einem ſpintiſiren¬
den Engel. Unter dem ſchönfaltigen Bruſtkleide wogte
es ſo rauh, wie der Sturm in einem Milchbecher,
und ſo ſchön die weißen Arme erglänzten, die ſie
unter der Bruſt übereinander gelegt hatte, ſo ſah
doch all' dieſer Reiz ſo geſetzlich und erlaubt in die
Welt, daß Vitaliſens gewohnte Redekunſt in ſeinem
Halſe ſtecken blieb.


„Du biſt verwundert, ſchönſter Mönch!“ begann
Jole, „dieſen Staat und Putz hier zu finden!
Wiſſe, dies iſt der Abſchied, den ich von der Welt
zu nehmen gedenke, und damit will ich zugleich die
Neigung ablegen, die ich leider zu dir empfinden
muß. Allein dazu ſollſt du mir helfen nach deinem
beſten Vermögen und auf die Art, wie ich mir aus¬
gedacht habe und wie ich von dir verlange. Wenn
du nämlich in dieſem Gewande und als geiſtlicher
Mann zu mir ſprichſt, ſo iſt das immer das Gleiche,
und das Gebaren eines Klerikers vermag mich nicht
zu überzeugen, da ich der Welt angehöre. Ich kann
nicht durch einen Mönch von der Liebe geheilt wer¬
[115] den, da er ſie nicht kennt und nicht weiß, von was
er ſpricht. Iſt es dir daher recht, mir Ruhe zu
geben und mich dem Himmel zuzuwenden, ſo geh' in
jenes Kämmerlein, wo weltliche Gewänder bereit lie¬
gen. Dort vertauſche deinen Mönchshabit mit
jenen, ſchmücke dich als Weltmann, ſetze dich nach¬
her zu mir, um gemeinſam mit mir ein kleines
Mahl einzunehmen, und in dieſer weltlichen Lage
biete alsdann all' deinen Scharfſinn und Verſtand
auf, mich von dir ab und der Gottſeligkeit zuzu¬
drängen!“


Vitalis erwiederte hierauf nichts, ſondern beſann
ſich eine Weile; ſodann beſchloß er, alle Beſchwerde
nun mit Einem Schlage zu enden und den Welt¬
teufel wirklich mit ſeinen eigenen Waffen zu Paaren
zu treiben, indem er auf Joles eigenſinnigen Vor¬
ſchlag einginge.


Er begab ſich alſo wirklich in das anſtoßende
Gemach, wo ein paar Knechtlein mit prächtigen Ge¬
wändern in Linnen und Purpur ſeiner harrten.
Kaum hatte er dieſelben angezogen, ſo ſchien er um
einen Kopf höher zu ſein, und er ſchritt mit edlem
Anſtand zu Jolen zurück, welche mit den Augen an
ihm hing und freudevoll in die Hände klatſchte.


Nun geſchah aber ein wahres Wunder und eine
ſeltſame Umwandelung mit dem Mönch; denn kaum
[116] ſaß er in ſeinem weltlichen Staat neben dem anmuth¬
vollen Weibe, ſo war die nächſte Vergangenheit wie
weggeblaſen aus ſeinem Gehirn und er vergaß gänz¬
lich ſeines Vorſatzes. Anſtatt ein einziges Wort her¬
vorzubringen, lauſchte er begierig auf Joles Worte,
welche ſeine Hand ergriffen hatte und ihm nun ihre
wahre Geſchichte erzählte, nämlich wer ſie ſei, wo
ſie wohne und wie es ihr ſehnlichſter Wunſch wäre,
daß er ſeine eigenthümliche Lebensweiſe verlaſſen und
bei ihrem Vater ſich um ihre Hand bewerben möchte,
auf daß er ein guter und Gott gefälliger Ehemann
würde. Sie ſagte noch viele wunderſame Dinge in
den zierlichſten Worten, über eine glückliche und
tugendreiche Liebesgeſchichte, ſchloß aber mit dem Seuf¬
zer, daß ſie wohl einſehe, wie vergeblich ihre Sehn¬
ſucht ſei, und daß er nun ſich bemühen möge, ihr
alle dieſe Dinge auszureden, aber nicht, bevor er ſich
durch Speiſe und Trank gehörig dazu geſtärkt habe.


Nun trugen auf ihren Wink ihre Leute Trink¬
gefäße auf den Tiſch nebſt einem Körbchen mit Back¬
werk und Früchten. Jole miſchte dem ſtillen Vitalis
eine Schale Wein und reichte ihm liebevoll etwas zu
eſſen, ſo daß er ſich wie zu Hauſe fühlte und ihm
faſt ſeine Kinderjahre in den Sinn kamen, wo er als
Knäbchen zärtlich von ſeiner Mutter geſpeiſ't worden.
Er aß und trank, und als dies geſchehen, da war
[117] es ihm, als ob er nun vorerſt von langer Mühſal
ausruhen möchte, und ſiehe da, mein Vitalis neigte
ſein Haupt zur Seite, nach Jolen hin, und ſchlief
ohne Säumniß ein und bis die Sonne aufging.


Als er erwachte, war er allein und Niemand
weder zu ſehen noch zu hören. Heftig ſprang er auf
und erſchrack über das glänzende Gewand in dem er
ſteckte; haſtig ſtürmte er durch das Haus von oben
bis unten, ſeine Mönchskutte zu ſuchen; aber nicht
die kleinſte Spur war davon zu finden, bis er in
einem kleinen Höfchen Kohlen und Aſche ſah, auf
welchen ein halbverbrannter Aermel ſeines Prieſter¬
gewandes lag, ſo daß er mit Recht vermuthete, das¬
ſelbe ſei hier feierlich verbrannt worden.


Er ſteckte nun vorſichtig den Kopf bald durch
dieſe, bald durch jene Oeffnung auf die Straße und
zog ſich jedesmal zurück, wenn Jemand nahte. End¬
lich warf er ſich auf das ſeidene Ruhebett, ſo bequem
und läßig, als ob er nie auf einem harten Mönchs¬
lager geruht hätte; dann raffte er ſich zuſammen,
ordnete das Gewand und ſchlich aufgeregt an die
Hausthüre. Dort zögerte er noch ein Weilchen; plötz¬
lich aber riß er ſie weit auf und ging mit Glanz und
Würde in's Freie. Niemand erkannte ihn, Alles hielt
ihn für einen großen Herrn aus der Ferne, welcher
ſich hier zu Alexandria einige gute Tage mache.


[118]

Er ſah indeſſen weder rechts noch links, ſonſt
würde er Jole auf der Zinne ihres Hauſes geſehen
haben. So ging er denn geraden Weges nach ſeinem
Kloſter, wo aber ſämmtliche Mönche ſammt ihrem
Vorſteher eben beſchloſſen hatten, ihn aus ihrer Mitte
zu verſtoßen, weil das Maß ſeiner Sünden nun voll
ſei und er nur zum Aergerniß und Schaden der
Kirche gereiche. Als ſie ihn gar in ſeinem weltlichen
hoffärtigen Aufzuge ankommen ſahen, ſtieß das dem
Faße ihrer Langmuth vollends den Boden aus; ſie
beſprengten und begoßen ihn mit Waſſer von allen
Seiten und trieben ihn mit Kreuzen, Beſen, Gabeln
und Kochlöffeln aus dem Kloſter.


Dieſe ſchnöde Behandlung wäre ihm zu anderer
Zeit ein Hochgenuß und Triumph ſeines Märtyr¬
thums geweſen. Jetzt lachte er zwar auch innwendig,
aber in ziemlich anderm Sinne. Noch ging er ein¬
mal um die Ringmauern der Stadt herum und ließ
ſeinen rothen Mantel im Winde fliegen; eine herr¬
liche Luft wehte vom heiligen Lande her über das
blitzende Meer, aber Vitalis wurde immer weltlicher
im Gemüth und unverſehens lenkte er ſeinen Gang
wieder in die geräuſchvollen Straßen der Stadt,
ſuchte des Haus, wo Jole wohnte, und erfüllte deren
Willen.


Er wurde jetzt ein eben ſo trefflicher und voll¬
[119] kommener Weltmann und Gatte, als er ein Märty¬
rer geweſen war; die Kirche aber, als ſie den wah¬
ren Thatbeſtand vernahm, war untröſtlich über den
Abgang eines ſolchen Heiligen und wendete Alles an,
den Flüchtigen wieder in ihren Schoß zu ziehen.
Allein Jole hielt ihn feſt und meinte, er ſei bei ihr
gut genug aufgehoben.

[][]

Dorotheas Blumenkörbchen.

‘Aber ſich ſo verlieren, iſt mehr ſich finden.’
(Franciscus Ludovicus Bloſius,
Geiſtlicher Unterricht, Cap. 12.
)
[][]

Am ſüdlichen Ufer des Pontus euxinus, unweit
der Mündung des Fluſſes Halys, lag im Lichte des
hellſten Frühlingsmorgens ein römiſches Landhaus.
Von den Waſſern des Pontus her trug ein Nordoſt¬
wind erfriſchende Kühle durch die Gärten, daß es
den Heiden und den heimlichen Chriſten ſo wohlig
zu Muthe war, wie den zitternden Blättern an den
Bäumen.


In einer Laube am Meere ſtand abgeſchieden von
der übrigen Welt ein junges Paar, ein hübſcher jun¬
ger Mann gegenüber dem allerzarteſten Mädchen.
Dieſes hielt eine große, ſchöngeſchnittene Schaale
empor, aus durchſcheinendem röthlichem Steine ge¬
macht, um ſie von dem Jünglinge bewundern zu
laſſen, und die Morgenſonne ſtrahlte gar herrlich
durch die Schaale, deren rother Schein auf dem Ge¬
ſichte des Mädchens deſſen eigenes Erröthen verbarg.


Es war die Patrizierstochter Dorothea, um welche
ſich Fabrizius, der Statthalter der Provinz Kappa¬
[124] docien, heftig bewarb. Da er aber ein pedantiſcher
Chriſtenverfolger war und Dorotheas Eltern ſich von
der neuen Weltanſchauung angezogen fühlten und
dieſelbe ſich fleißig anzueignen ſuchten, ſo ſträubten
ſie ſich ſo gut als möglich gegen das Andrängen des
mächtigen Inquiſitoren. Nicht daß ſie etwa ihre
Kinder in geiſtliche Kämpfe hineinziehen und deren
Herzen als Kaufſchillinge des Glaubens verwerthen
wollten; hiezu waren ſie zu edel und frei geſinnt.
Allein ſie dachten eben, ein religiöſer Menſchenquäler
ſei jederzeit auch ein ſchlechter Herzensbefriediger.


Dieſe Erwägung brauchte Dorothea ſelbſt zwar
nicht anzuſtellen, da ſie ein anderes Schutzmittel gegen
die Bewerbung des Statthalters beſaß, nämlich die
Neigung zu deſſen Geheimſchreiber Theophilus, der
eben jetzt bei ihr ſtand und ſeltſam in die röthliche
Schaale blickte.


Theophilus war ein ſehr wohlgebildeter und
feiner Menſch von helleniſcher Abkunft, der ſich aus
widrigen Schickſalen emporgeſchwungen und bei Jeder¬
mann eines guten Anſehens genoß. Aber von der Noth
ſeiner Jugend her war ihm ein etwas mißtrauiſches
und verſchloſſenes Weſen geblieben, und indem er ſich
mit dem, was er ſich ſelbſt verdankte, begnügte,
glaubte er nicht leicht, daß ihm irgend Jemand aus
freien Stücken beſonders zugethan ſei. Er ſah die
[125] junge Dorothea für ſein Leben gern; aber ſchon der
Umſtand, daß der vornehmſte Mann in Kappadocien
ſich um ſie bewarb, hielt ihn ab, etwas für ſich zu
hoffen, und um keinen Preis hätte er neben dieſem
Herrn eine lächerliche Figur machen mögen.


Nichts deſto weniger ſuchte Dorothea ihre Wünſche
zu einem guten Ziele zu führen und ſich vor der
Hand ſo oft als möglich ſeiner Gegenwart zu ver¬
ſichern. Und da er fortwährend ruhig und gleich¬
gültig ſchien, ſteigerte ſich ihre Leidenſchaft bis zu
mißlichen kleinen Liſten und ſie ſuchte ihn durch die
Eiferſucht in Bewegung zu bringen, indem ſie ſich
mit dem Statthalter Fabrizius zu ſchaffen zu machen
und freundlicher gegen denſelben zu werden ſchien.
Aber der arme Theophil verſtand dergleichen Spaß
gar nicht, und wenn er ihn verſtanden hätte, ſo wäre
er viel zu ſtolz geweſen, ſich eiferſüchtig zu zeigen.
Dennoch wurde er allmälig hingeriſſen und verwirrt,
ſo daß er ſich zuweilen verrieth, aber ſofort wieder
zuſammen nahm und verſchloß, und der zarten Ver¬
liebten blieb nichts anderes übrig, als etwas gewalt¬
ſam vorzugehen und bei Gelegenheit das Netz un¬
verſehens zuzuziehen.


Er hielt ſich in Staatsgeſchäften in der pontiſchen
Landſchaft auf, und Dorothea, dies wiſſend, war
ihren Eltern aus Cäſarea für die angebrochenen
[126] Frühlingstage auf das Landgut gefolgt. So hatte
ſie ihn an dieſem Morgen auf mühevoll ausgedachte
und kluge Weiſe in die Laube zu bringen gewußt,
halb wie aus Zufall, halb wie mit freundlicher Ab¬
ſicht, daß beides ihn, das gute Geſchick und die er¬
zeigte Freundlichkeit, heiter und zutraulich ſtimmen
ſollten und es auch thaten.


Sie wollte ihm die Vaſe zeigen, die ihr ein wohl¬
wollender Oheim zum Namensfeſt aus Trapezunt
herübergeſendet hatte. Ihr Geſicht ſtrahlte in reiner
Freude, den Geliebten ſo nah und einſam bei ſich
ſehen und ihm etwas Schönes zeigen zu können, und
auch ihm ward wirklich froh zu Muth; die Sonne
ging endlich voll in ihm auf, ſo daß er nicht mehr
hindern konnte, daß ſein Mund gläubig lachte und
ſeine Augen glänzten.


Aber die Alten haben vergeſſen, neben dem holden
Eros die neidiſche Gottheit zu nennen, welche im ent¬
ſcheidenden Augenblicke, wenn das Glück dicht am nächſten
ſteht, den Liebenden einen Schleier über die Augen
wirft und ihnen das Wort im Munde verdreht.


Als ſie ihm die Schaale vertrauensvoll in die
Hände gab und er fragte, wer ſie geſchenkt habe,
da verleitete ſie ein freudiger Uebermuth zu der
Schalkheit, daß ſie antwortete: „Fabrizius“! und ſie
war dabei des ſicheren Gefühles, daß er den Scherz
[127] nicht mißverſtehen könne. Da ſie jedoch unfähig war,
ihrem froh erregten Lächeln jenen Zug von Spott
über den genannten Abweſenden beizumiſchen, welcher
den Scherz deutlich gemacht hätte, ſo glaubte Theo¬
philus feſt, ihre holde ehrliche Freude gelte nur dem
Geſchenk und deſſen Geber und er ſei arg in eine
Falle gegangen, indem er einen Kreis übertreten, der
ſchon geſchloſſen und ihm fremd ſei. Stumm und
beſchämt ſchlug er die Augen nieder, fing an zu zit¬
tern und ließ das glänzende Schauſtück zu Boden
fallen, wo es in Stücke zerſprang.


Im erſten Schreck vergaß Dorothea ihren Scherz
gänzlich und auch ein wenig den Theophilus und
bückte ſich nur bekümmert nach den Scherben, indem
ſie rief: „Wie ungeſchickt!“ ohne ihn anzuſehen, ſo daß
ſie jene Veränderung in ſeinem Geſichte nicht bemerkte
und keine Ahnung von ſeinem Mißverſtändniſſe hatte.


Als ſie ſich wieder aufrichtete und ſich ſchnell
faſſend zu ihm wendete, hatte ſich Theophilus ſchon
ſtolz zuſammengerafft. Finſter und gleichgültig drein
ſchauend, blickte er ſie an, bat ſie beinahe ſpöttiſch
um Verzeihung, einen vollen Erſatz für das verun¬
glückte Gefäß verheißend, grüßte und verließ den
Garten.


Erblaſſend und traurig ſah ſie ſeiner ſchlanken
Geſtalt nach, welche die weiße Toga feſt an ſich zog
[128] und den ſchwarzen Krauskopf wie in fern abſchweifen¬
den Gedanken zur Seite neigte.


Die Wellen des ſilbernen Meeres ſchlugen ſanft
und langſam gegen die Marmorſtufen des Ufers,
ſtille war es ſonſt weit umher und Dorothea mit
ihren kleinen Künſten zu Ende.


Weinend ſchlich ſie mit den zuſammengeleſenen
Scherben der Schaale nach ihrem Gemach, um ſie
dort zu verbergen.


Sie ſahen ſich jetzt manche Monate nicht mehr;
Theophilus kehrte unverweilt nach der Hauptſtadt
zurück und als auch Dorothea im Herbſte wieder kam,
vermied er ſorgfältig jedes Zuſammentreffen, da ihn
ſchon die Möglichkeit, ihr zu begegnen, erſchreckte und
aufregte, und ſo war die ganze Herrlichkeit für ein¬
mal zu Ende.


Es begab ſich nun auf natürliche Art, daß ſie
Troſt ſuchte in dem neuen Glauben ihrer Eltern und
ſobald dieſe es vermerkten, ſäumten ſie nicht, ihr Kind
darin zu beſtärken und ſie ganz in ihre Glaubens-
und Ausdrucksweiſen einzuführen.


Inzwiſchen hatten jene ſcheinbaren Freundlichkeiten
Dorotheas auf den Statthalter ebenfalls ihre unglück¬
liche Wirkung geübt, ſo daß Fabrizius mit verdoppel¬
ter Heftigkeit ſeine Bewerbung erneuerte und ſich hiezu
für berechtigt hielt. Um ſo betroffener war auch er,
[129] als Dorothea ihn kaum mehr anzublicken vermochte
und er ihr mehr zuwider geworden zu ſein ſchien,
als das Unglück ſelbſt. Allein er zog ſich deßhalb
nicht zurück; vielmehr ſteigerte er ſeine Zudringlich¬
keit, indem er zugleich anfing, wegen ihres neuen
Glaubens zu zanken und ihr Gewiſſen zu bedrängen,
Schmeicheleien mit ſchlecht verhehlten Bedrohungen
vermiſchend.


Dorothea jedoch bekannte ſich offen und furchtlos
zu ihrem Glauben und wendete ſich von ihm weg,
wie von einem weſenloſen Schatten, den man nicht ſieht.


Theophil hörte von all dieſem und wie das gute
Mädchen nicht die beſten Tage hätte. Am meiſten
überraſchte ihn die Kunde, daß ſie von dem Pro¬
konſul ſchlechterdings nichts wiſſen wolle. Obgleich
er in Anſehung der Religion altweltlich oder gleich¬
gültig geſinnt war, nahm er doch kein Aergerniß an
dem neuen Glauben des Mädchens und begann voll
Theilnahme ſich wieder mehr zu nähern, um etwa
beſſer zu ſehen und zu hören, wie es ihr ginge. Aber
wo ſie ſtand und ging, ſprach ſie jetzt nichts, als
in den zärtlichſten und ſehnſüchtigſten Ausdrücken
von einem himmliſchen Bräutigam, den ſie gefunden,
der in unſterblicher Schönheit ihrer warte, um ſie
an ſeine leuchtende Bruſt zu nehmen und ihr die
Roſe des ewigen Lebens zu reichen u. ſ. w.


Keller, Sieben Legenden. 9[130]

Dieſe Sprache verſtand er ganz und gar nicht,
ſie ärgerte und kränkte ihn und erfüllte ſein Herz
mit einer ſeltſam peinlichen Eiferſucht gegen den un¬
bekannten Gott, welcher den Sinn des ſchwachen
Weibes bethöre; denn er konnte die Ausdrucksweiſe
der aufgeregten und verlaſſenen Dorothea auf keine
andere, als auf alt mythologiſche Manier verſtehen
und erklären. Gegen einen Ueberirdiſchen aber eifer¬
ſüchtig zu ſein, verletzte ſeinen Stolz nicht mehr, ſo¬
wie auch das Mitleid für ein Weib verſtummte,
welches ſich der Vereinigung mit Göttern rühmte.
Und doch war es nur die fruchtloſe Liebe zu ihm,
welche ihr jene Reden in den Mund gab, ſowie er
ſelbſt den Stachel der Leidenſchaft fortwährend im
Herzen behielt.


So zog ſich der Zuſtand eine kleine Weile hin,
als Fabrizius unverſehens denſelben gewaltſam an¬
packte. Erneuerte kaiſerliche Befehle zur Chriſten¬
verfolgung zum Vorwand nehmend, ließ er Dorothea
mit ihren Eltern gefangen ſetzen, die Tochter jedoch
getrennt in einen Kerker werfen und um ihren Glauben
peinlich verhören. Neugierig näherte er ſich ſelbſt
und hörte, wie ſie laut die alten Götter ſchmähte,
ſich zu Chriſto als dem alleinigen Herrn der Welt
bekannte, dem ſie als Braut anverlobt ſei. Da be¬
fiel auch den Statthalter eine grimmige Eiferſucht. Er
[131] beſchloß ihre Vernichtung und befahl ſie zu martern,
und, wenn ſie beharre, zu tödten. Dann ging er
weg. Sie wurde auf einen eiſernen Roſt gelegt,
unter welchem Kohlen in der Art entfacht waren, daß
die Hitze nur langſam anſtieg. Aber es that dem
zarten Körper doch weh. Sie ſchrie gedämpft einige
Male, indem ihre an den Roſt gefeſſelten Glieder ſich
bewegten und Thränen aus ihren Augen floßen.
Unterdeſſen hatte Theophilus, der ſich von jeder Be¬
theiligung an ſolchen Verfolgungen fern zu halten
pflegte, von der Sache gehört und war voll Unruhe
und Schrecken herbeigeeilt; die eigene Sicherheit ver¬
geſſend, drängte er ſich durch das gaffende Volk, und
als er nun Dorothea ſelber leiſe klagen hörte, ent¬
riß er einem Soldaten das Schwert und ſtand mit
einem Sprunge vor ihrem Marterbette.


„Thut es weh, Dorothea?“ ſagte er ſchmerzlich
lächelnd, im Begriffe, ihre Bande zu durchſchneiden.
Aber ſie antwortete, plötzlich wie von allem Schmerz
verlaſſen und von größter Wonne erfüllt: „Wie
ſollte es weh thun, Theophilus? Das ſind ja die
Roſen meines vielgeliebten Bräutigams, auf denen
ich liege! Siehe, heute iſt meine Hochzeit!


Gleich einem feinen lieblichen Scherze ſchwebte es
um ihre Lippen, während ihre Augen voll Seligkeit
auf ihn blickten. Ein überirdiſcher Glanz ſchien ſie
[132] ſammt ihrem Lager zu verklären, eine feierliche Stille
verbreitete ſich, Theophilus ließ das Schwert ſinken,
warf es weg und trat wiederum beſchämt und betre¬
ten zurück, wie an jenem Morgen in dem Gar¬
ten am Meere.


Da brannte die Gluth aufs Neue, Dorothea
ſeufzte auf und verlangte nach dem Tode. Der
wurde ihr denn auch gewährt, ſo daß ſie auf den
Richtplatz hinausgeführt wurde, um dort enthauptet
zu werden.


Leichten Schrittes ging ſie einher, gefolgt von dem
gedankenloſen und lärmenden Volke. Sie ſah den
Theophilus am Wege ſtehen, der kein Auge von ihr
wandte. Ihre Blicke begegneten ſich, Dorothea ſtand
einen Augenblick ſtill und ſagte anmuthig zu ihm:
„O Theophilus, wenn du wüßteſt, wie ſchön und
herrlich die Roſengärten meines Herren ſind, in
welchen ich in wenigen Augenblicken wandeln werde,
und wie gut ſeine ſüßen Aepfel ſchmecken, die dort
wachſen, du würdeſt mit mir kommen!“


Da erwiederte Theophilus bitter lächelnd: „Weißt
Du was, Dorothea? Sende mir einige von deinen
Roſen und Aepfeln, wenn du dort biſt, zur Probe!“


Da nickte ſie freundlich und zog ihres Weges
weiter.


Theophilus blickte ihr nach, bis die von der
[133] Abendſonne vergoldete Staubwolke, welche den Zug
begleitete, in der Ferne verſchwand und die Straße
leer und ſtille war. Dann ging er mit verhülltem
Haupte nach ſeinem Hauſe und beſtieg wankenden
Schrittes deſſen Zinne, von wo aus man nach dem
Argeusgebirge hinſchauen konnte, auf deſſen Vor¬
hügeln einem der Richtplatz gelegen war. Er konnte
gar wohl ein dunkles Menſchengewimmel dort erkennen
und breitete ſehnſüchtig ſeine Arme nach jener Gegend
aus. Da glaubte er im Glanze der ſcheidenden
Sonne das fallende Beil aufblitzen zu ſehen und ſtürzte
zuſammen, mit dem Geſichte auf den Boden hingeſtreckt.
Und in der That war Dorothea's Haupt um dieſe
Zeit gefallen.


Aber nicht lange war er reglos ſo gelegen, als
ein heller Glanz die Dämmerung erleuchtete und blen¬
dend unter Theophils Hände drang, auf denen ſein
Geſicht lag, und in ſeine verſchloſſenen Augen ſich er¬
goß, wie ein flüſſiges Gold. Gleichzeitig erfüllte ein
feiner Wohlgeruch die Luft. Wie von einem ungekann¬
ten neuen Leben erfüllt, richtete der junge Mann ſich
auf; ein wunderſchöner Knabe ſtand vor ihm, mit
goldenen Ringelhaaren, in ein ſternenbeſäetes Gewand
gekleidet und mit leuchtenden nackten Füßen, der in
den ebenſo leuchtenden Händen ein Körbchen trug.
Das Körbchen war gefüllt mit den ſchönſten Roſen,
[134] dergleichen man nie geſehen, und in dieſen Roſen
lagen drei paradieſiſche Aepfel.


Mit einem unendlich treuherzigen und offenen
Kinderlächeln und doch nicht ohne eine gewiſſe an¬
muthige Liſt ſagte das Kind: „Dies ſchickt dir Doro¬
thea!“ gab ihm das Körbchen in die Hände, indem
es noch fragte: „Hältſt du's auch?“ und verſchwand.


Theophilus hielt das Körbchen wirklich in Händen,
das nicht verſchwunden war; die drei Aepfel waren
leicht angebiſſen von zwei zierlichen Zähnen, wie es
unter den Liebenden des Alterthums gebräuchlich war.
Er aß dieſelben langſam auf, den entflammten Ster¬
nenhimmel über ſich. Eine gewaltige Sehnſucht durch¬
ſtrömte ihn mit ſüßem Feuer und, das Körbchen an
die Bruſt drückend, es mit dem Mantel verhüllend,
eilte er vom Hausdache herunter, durch die Straßen
und in den Palaſt des Statthalters, der beim Mahle
ſaß und einen wilden Aerger, der ihn erfüllte, mit
unvermiſchtem Cholcher Wein zu betäuben ſuchte.


Mit glänzenden Augen trat Theophilus vor ihn,
ohne ſein Körbchen zu enthüllen, und rief vor dem
ganzen Hauſe: „Ich bekenne mich zu Dorothea's
Glauben, die ihr ſo eben getödtet habt, es iſt der
allein wahre!“


„So fahre der Hexe nach!“ antwortete der Statt¬
halter, der von jähem Zorne und von einem glühenden
[135] Neide gepeinigt aufſprang und den Geheimſchreiber
noch in derſelben Stunde enthaupten ließ.


So war Theophilus noch am gleichen Tage für
immer mit Dorotheen vereinigt. Mit dem ruhigen
Blicke der Seligen empfieng ſie ihn; wie zwei Tau¬
ben, die, vom Sturme getrennt, ſich wieder gefunden
und erſt in weitem Kreiſe die Heimath umziehen,
ſo ſchwebten die Vereinigten Hand in Hand, eilig, eilig
und ohne Raſten an den äußerſten Ringen des Him¬
mels dahin, befreit von jeder Schwere und doch ſie
ſelber. Dann trennten ſie ſich ſpielend und verloren
ſich in weiter Unendlichkeit, während Jedes wußte,
wo das andere weile und was es denke, und zugleich
mit ihm alle Creatur und alles Daſein mit ſüßer
Liebe umfaßte. Dann ſuchten ſie ſich wieder mit
wachſendem Verlangen, das keinen Schmerz und keine
Ungeduld kannte; ſie fanden ſich und wallten wieder
vereinigt dahin oder ruhten im Anſchauen ihrer ſelbſt
und ſchauten die Nähe und Ferne der unendlichen
Welt. Aber einſt geriethen ſie in holdeſtem Vergeſſen
zu nahe an das kryſtallene Haus der heiligen Drei¬
faltigkeit und gingen hinein; dort verging ihnen das
Bewußtſein, indem ſie, gleich Zwillingen unter dem
Herzen ihrer Mutter, entſchliefen und wahrſcheinlich
noch ſchlafen, wenn ſie inzwiſchen nicht wieder haben
hinauskommen können.

[][]

Das Tanzlegendchen.

Du Jungfrau Israel, du ſollſt noch
fröhlich pauken, und herausgehen an den
Tanz. — Alsdann werden die Jungfrauen
fröhlich am Reigen ſein, dazu die junge
Mannſchaft, und die Alten miteinander.


(Jerimia 31. 4. 13.)
[][]

Nach der Aufzeichnung des heiligen Gregorius war
Muſa die Tänzerin unter den Heiligen. Guter Leute
Kind, war ſie ein anmuthvolles Jungfräulein, welches
der Mutter Gottes fleißig diente und nur von einer
Leidenſchaft bewegt war, nämlich von einer unbezwing¬
lichen Tanzluſt, dermaßen, daß wenn das Kind nicht
betete, es unfehlbar tanzte. Und zwar auf jegliche
Weiſe. Muſa tanzte mit ihren Geſpielinnen, mit
Kindern, mit den Jünglingen und auch allein; ſie
tanzte in ihrem Kämmerchen, im Saale, in den Gär¬
ten und auf den Wieſen, und ſelbſt wenn ſie zum
Altare ging, ſo war es mehr ein liebliches Tanzen
als ein Gehen, und auf den glatten Marmorplatten
vor der Kirchenthüre verſäumte ſie nie, ſchnell ein
Tänzchen zu probiren.


Ja, eines Tages, als ſie ſich allein in der Kirche
befand, konnte ſie ſich nicht enthalten, vor dem Altar
einige Figuren auszuführen und gewiſſermaßen der
Jungfrau Maria ein zierliches Gebet vorzutanzen.
[140] Sie vergaß ſich dabei ſo ſehr, daß ſie blos zu träu¬
men wähnte, als ſie ſah, wie ein ältlicher aber ſchöner
Herr ihr entgegen tanzte und ihre Figuren ſo gewandt
ergänzte, daß beide zuſammen den kunſtgerechteſten
Tanz begingen. Der Herr trug ein purpurnes Königs¬
kleid, eine goldene Krone auf dem Kopf und einen
glänzend ſchwarzen gelockten Bart, welcher vom Silber¬
reif der Jahre wie von einem fernen Sternenſchein
überhaucht war. Dazu ertönte eine Muſik vom Chore
her, weil ein halbes Dutzend kleiner Engel auf der
Brüſtung deſſelben ſtand oder ſaß, die dicken runden
Beinchen darüber hinunterhängen ließ und die ver¬
ſchiedenen Inſtrumente handhabte oder blies. Dabei
waren die Knirpſe ganz gemüthlich und praktiſch und
ließen ſich die Notenhefte von ebenſoviel ſteinernen
Engelsbildern halten, welche ſich als Zierrath auf dem
Chorgeländer fanden; nur der Kleinſte, ein paus¬
bäckiger Pfeifenbläſer, machte eine Ausnahme, indem
er die Beine übereinander ſchlug und das Notenblatt
mit den roſigen Zehen zu halten wußte. Auch war
der am eifrigſten: die Uebrigen baumelten mit den
Füßen, dehnten, bald dieſer, bald jener, kniſternd die
Schwungfedern aus, daß die Farben derſelben ſchim¬
merten wie Taubenhälſe, und neckten einander wäh¬
rend des Spieles.


Ueber alles dies ſich zu wundern, fand Muſa nicht
[141] Zeit, bis der Tanz beendigt war, der ziemlich lang
dauerte; denn der luſtige Herr ſchien ſich dabei ſo
wohl zu gefallen, als die Jungfrau, welche im Him¬
mel herumzuſpringen meinte. Allein als die Muſik
aufhörte und Muſa hochaufathmend daſtand, fing ſie
erſt an, ſich ordentlich zu fürchten und ſah erſtaunt
auf den Alten, der weder keuchte noch warm hatte
und nun zu reden begann. Er gab ſich als David,
den königlichen Ahnherrn der Jungfrau Maria zu er¬
kennen und als deren Abgeſandten. Und er fragte
ſie, ob ſie wohl Luſt hätte, die ewige Seligkeit in
einem [unaufhörlichen] Freudentanze zu verbringen,
einem Tanze, gegen welchen der ſo eben beendigte ein
trübſeliges Schleichen zu nennen ſei?


Worauf ſie ſogleich erwiederte, ſie wüßte ſich nichts
Beſſeres zu wünſchen! Worauf der ſelige König
David wiederum ſagte: Wohlan, ſo habe ſie nichts
anderes zu thun, als während ihrer irdiſchen Lebens¬
lage aller Luſt und allem Tanze zu entſagen und ſich
lediglich der Buße und den geiſtlichen Uebungen zu
weihen, und zwar ohne Wanken und ohne allen
Rückfall.


Dieſe Bedingung machte das Jungfräulein ſtutzig
und ſie ſagte: Alſo gänzlich müßte ſie auf das Tanzen
verzichten? Und ſie zweifelte, ob denn auch im Him¬
mel wirklich getanzt würde? Denn Alles habe ſeine
[142] Zeit; dieſer Erdboden ſchiene ihr gut und zweckdien¬
lich, um darauf zu tanzen, folglich würde der Himmel
wohl andere Eigenſchaften haben, anſonſt ja der Tod
ein überflüſſiges Ding wäre.


Allein David ſetzte ihr auseinander, wie ſehr ſie
in dieſer Beziehung im Irrthum ſei, und bewies ihr
durch viele Bibelſtellen ſowie durch ſein eigenes Bei¬
ſpiel, daß das Tanzen allerdings eine geheiligte Be¬
ſchäftigung für Selige ſei. Jetzt aber erfordere es
einen raſchen Entſchluß, ja oder nein, ob ſie durch
zeitliche Entſagung zur ewigen Freude eingehen wolle
oder nicht; wolle ſie nicht, ſo gehe er weiter; denn
man habe im Himmel noch einige Tänzerinnen von
Nöthen.


Muſa ſtand noch immer zweifelhaft und unſchlüſſig
und ſpielte ängſtlich mit den Fingerſpitzen am Munde;
es ſchien ihr zu hart, von Stund an nicht mehr zu
tanzen um eines unbekannten Lohnes willen.


Da winkte David und plötzlich ſpielte die Muſik
einige Takte einer ſo unerhört glückſeligen, überirdi¬
diſchen Tanzweiſe, daß dem Mädchen die Seele im
Leibe hüpfte und alle Glieder zuckten; aber ſie ver¬
mochte nicht eines zum Tanze zu regen und ſie merkte,
daß ihr Leib viel zu ſchwer und ſtarr ſei für dieſe
Weiſe. Da ſchlug ſie voll Sehnſucht ihre Hand in
diejenige des Königs und gelobte das, was er begehrte.


[143]

Da war er nicht mehr zu ſehen und die muſizi¬
renden Engel rauſchten, flatterten und drängten ſich
durch ein offenes Kirchenfenſter davon, nachdem ſie in
muthwilliger Kinderweiſe ihre zuſammengerollten No¬
tenblätter den geduldigen Steinengeln um die Backen
geſchlagen hatten, daß es klatſchte.


Da ging Muſa andächtigen Schrittes nach Hauſe,
jene himmliſche Melodie im Ohr tragend, und ließ
ſich ein grobes Gewand anfertigen, legte alle Zier¬
kleidung ab und zog jenes an. Zugleich baute ſie ſich
im Hintergrunde des Gartens ihrer Eltern, wo ein
dichter Schatten von Bäumen lagerte, eine Zelle,
machte ein Bettchen von Moos darin und lebte dort
von nun an abgeſchieden von ihren Hausgenoſſen als
eine Büßerin und Heilige. Alle Zeit brachte ſie im
Gebete zu und öfter ſchlug ſie ſich mit einer Geißel;
aber ihre härteſte Bußübung beſtand darin, die Beine
ſtill und ſteif zu halten; ſobald nur ein Ton erklang,
das Zwitſchern eines Vogels oder das Rauſchen der
Blätter in der Luft, ſo zuckten ihre Füße und mein¬
ten, ſie müßten tanzen.


Als dies unwillkürliche Zucken ſich nicht verlieren
wollte, welches ſie, zuweilen, ehe ſie ſich deſſen verſah,
zu einem kleinen Sprung verleitete, ließ ſie ſich die
feinen Füßchen mit einer leichten Kette zuſammen¬
ſchmieden. Ihre Verwandten und Freunde wunderten
[144] ſich über die Umwandlung Tag und Nacht, freuten
ſich über den Beſitz einer ſolchen Heiligen und hüteten
die Einſiedelei unter den Bäumen wie einen Augapfel.
Viele kamen, Rath und Fürbitte zu holen. Vorzüg¬
lich brachte man junge Mädchen zu ihr, welche etwas
träg und unbeholfen auf den Füßen waren, da man
bemerkt hatte, daß alle, welche ſie berührt, alſobald
leichten und anmuthvollen Ganges wurden.


So brachte ſie drei Jahre in ihrer Klauſe zu;
aber gegen das Ende des dritten Jahres war Muſa
faſt ſo dünn und durchſichtig wie ein Sommerwölk¬
lein geworden. Sie lag beſtändig auf ihrem Bettchen
von Moos und ſchaute voll Sehnſucht in den Himmel,
und ſie glaubte ſchon die goldenen Sohlen der Seli¬
gen durch das Blau hindurch tanzen und ſchleifen zu
ſehen.


An einem rauhen Herbſttage endlich hieß es, die
Heilige liege im Sterben. Sie hatte ſich das dunkle
Bußkleid ausziehen und mit blendend weißen Hochzeits¬
gewändern bekleiden laſſen. So lag ſie mit gefal¬
teten Händen und erwartete lächelnd die Todesſtunde.
Der ganze Garten war mit andächtigen Menſchen
angefüllt, die Lüfte rauſchten und die Blätter der
Bäume ſanken von allen Seiten hernieder. Aber un¬
verſehens wandelte ſich das Wehen des Windes in
Muſik, in allen Baumkronen ſchien dieſelbe zu ſpie¬
[145] len, und als die Leute emporſahen, ſiehe, da waren
alle Zweige mit jungem Grün bekleidet, die Myrthen
und Granaten blühten und dufteten, der Boden be¬
deckte ſich mit Blumen und ein roſenfarbiger Schein
lagerte ſich auf die weiße zarte Geſtalt der Ster¬
benden.


In dieſem Augenblicke gab ſie ihren Geiſt auf,
die Kette an ihren Füßen ſprang mit einem hellen
Klange entzwei, der Himmel that ſich auf weit in
der Runde, voll unendlichen Glanzes, und Jedermann
konnte hinein ſehen. Da ſah man viel tauſend ſchöne
Jungfern und junge Herren im höchſten Schein,
tanzend im unabſehbaren Reigen. Ein herrlicher
König fuhr auf einer Wolke, auf deren Rand eine
kleine Extramuſik von ſechs Engelchen ſtand, ein
wenig gegen die Erde und empfing die Geſtalt der
ſeligen Muſa vor den Augen aller Anweſenden, die
den Garten füllten. Man ſah noch, wie ſie in den
offenen Himmel ſprang und augenblicklich tanzend ſich
in den tönenden und leuchtenden Reihen verlor.


Im Himmel war eben hoher Feſttag; an Feſt¬
tagen aber war es, was zwar vom heiligen Gregor
von Nyſſa beſtritten, von demjenigen von Razianz
aber aufrecht gehalten wird, Sitte, die neun Muſen,
die ſonſt in der Hölle ſaßen, einzuladen und in den
Himmel zu laſſen, daß ſie da Aushülſe leiſteten. Sie
Keller, Sieben Legenden. 10[146] bekamen gute Zehrung, mußten aber nach verrichteter
Sache wieder an den andern Ort gehen.


Als nun die Tänze und Geſänge und alle Cere¬
monien zu Ende und die himmliſchen Heerſchaaren
ſich zu Tiſche ſetzten, da wurde Muſa an den Tiſch
gebracht, an welchem die neun Muſen bedient wur¬
den. Sie ſaßen faſt verſchüchtert zuſammengedrängt
und blickten mit den feurigen ſchwarzen oder tiefblauen
Augen um ſich. Die emſige Martha aus dem Evan¬
gelium ſorgte in eigener Perſon für ſie, hatte ihre
ſchönſte Küchenſchürze umgebunden und einen zierlichen
kleinen Rußfleck an dem weißen Kinn und nöthigte
den Muſen alles Gute freundlich auf. Aber erſt,
als Muſa und auch die heilige Cäcilia und noch
andere kunſterfahrene Frauen herbei kamen und die
ſcheuen Pierinnen heiter begrüßten und ſich zu ihnen
geſellten, da thauten ſie auf, wurden zutraulich und
es entfaltete ſich ein anmuthig fröhliches Daſein in
dem Frauenkreiſe. Muſa ſaß neben Terpſichore und
Cäcilia zwiſchen Polyhymnien und Euterpen und Alle
hielten ſich bei den Händen. Nun kamen auch die
kleinen Muſikbübchen und ſchmeichelten den ſchönen
Frauen, um von den glänzenden Früchten zu bekom¬
men, die auf dem ambroſiſchen Tiſche ſtrahlten. König
David ſelbſt kam und brachte einen goldenen Becher,
aus dem Alle tranken, daß holde Freude ſie erwärmte;
[147] er ging wohlgefällig um den Tiſch herum, nicht ohne
der lieblichen Erato einen Augenblick das Kinn zu
ſtreicheln im Vorbeigehen. Als es dergeſtalt hoch
herging an dem Muſentiſch, erſchien ſogar unſere liebe
Frau in all' ihrer Schönheit und Güte, ſetzte ſich auf
ein Stündchen zu den Muſen und küßte die hehre
Urania unter ihrem Sternenkranze zärtlich auf den
Mund, als ſie ihr beim Abſchiede zuflüſterte, ſie werde
nicht ruhen, bis die Muſen für immer im Para¬
dieſe bleiben könnten.


Es iſt freilich nicht ſo gekommen. Um ſich für die
erwieſene Güte und Freundlichkeit dankbar zu erweiſen
und ihren guten Willen zu zeigen, rathſchlagten die
Muſen untereinander und übten in einem abgelegenen
Winkel der Unterwelt einen Lobgeſang ein, dem ſie
die Form der im Himmel üblichen feierlichen Choräle
zu geben ſuchten. Sie theilten ſich in zwei Hälften
von je vier Stimmen, über welche Urania eine Art
Oberſtimme führte, und brachten ſo eine merkwürdige
Vokalmuſik zuwege.


Als nun der nächſte Feſttag im Himmel gefeiert
wurde und die Muſen wieder ihren Dienſt thaten,
nahmen ſie einen für ihr Vorhaben günſtig ſcheinen¬
den Augenblick wahr, ſtellten ſich zuſammen auf und
begannen ſänftlich ihren Geſang, der bald gar mächtig
anſchwellte. Aber in dieſen Räumen klang er ſo
[148] düſter, ja faſt trotzig und rauh, und dabei ſo ſehn¬
ſuchtsſchwer und klagend, daß erſt eine erſchrockene
Stille waltete, dann aber alles Volk von Erdenleid
und Heimweh, ergriffen wurde und in ein allgemeines
Weinen ausbrach.


Ein unendliches Seufzen rauſchte durch die Himmel;
beſtürzt eilten alle Aelteſten und Propheten herbei,
indeſſen die Muſen in ihrer guten Meinung immer
lauter und melancholiſcher ſangen und das ganze Pa¬
radies mit allen Erzvätern, Aelteſten und Propheten,
Alles, was je auf grüner Wieſe gegangen oder ge¬
legen, außer Faſſung gerieth. Endlich aber kam die
allerhöchſte Trinität ſelber heran, um zum Rechten
zu ſehen und die eifrigen Muſen mit einem lang hin¬
rollenden Donnerſchlage zum Schweigen zu bringen.


Da kehrten Ruhe und Gleichmuth in den Himmel
zurück; aber die armen neun Schweſtern mußten ihn
verlaſſen und durften ihn ſeither nicht wieder betreten

[][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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