zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
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zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
beiJohann Friedrich Hartknoch.
[][[I]]
Inhalt
der achten Sammlung.
Br. 91. Sechstes Fragment. Wie-
derauflebung der Alten. Was
den mittleren Zeiten gefehlt und
die Erweckung der Alten mit ſich
gebracht habe? Regel und Richt-
maas. Warum die Galanterie
der mittleren Zeiten in Liebe,
Ehre und Andacht ein falſcher
Geſchmack ſei? Wozu durch Er-
weckung der Alten der Grund
geleget worden? S. 1.
- 92. Einwendungen gegen die geglaubte
Wirkung der alten Schriftſteller
zu Erweckung des Genie, zu Laͤu-
[II] terung des Geſchmacks, zu Mit-
theilung einer guten Denkart.
Wie wenig echte Kenner des Al-
terthums es gebe. S. 15.
Br. 93. Beantwortung der Einwendungen.
Was die Alten thun ſollen und
nicht thun wollen. Nachſchrift. S. 24.
- 94. Was die Jugend an den Alten zu
lernen habe, Compoſition und die
Regel des Anſtaͤndigen. S. 34.
- 95. Siebentes Fragment. Schrift
und Buchdruckerei. Was die
Einfuͤhrung der Schrift auf die
Poeſie der Griechen und der le-
bendige Vortrag auf ihre Proſe
gewirket. Andre Geſtalt der
Schriftſtellerei bei den Roͤmern
als bei uns. Mangel der Buͤ-
chermaterialien in den mittleren
Zeiten. Was die Erfindung des
Papiers bewirket? Was die Buch-
druckerei gegeben und genommen
habe? S. 41.
- 96. Fortſetzung. Warnungen und Rath-
ſchlaͤge. Ein Bund der Guten
gegen den Misbrauch der Buch-
druckerei und Kupferſtecherkunſt. S. 56.
[III]
Br. 97. Achtes Fragment. Reforma-
tion, Handel und Wiſſenſchaf-
ten. Große Veraͤnderungen durch
dieſelbe. Scheidung der Voͤlker.
Neue Geſtalt der Poeſie in den
proteſtantiſchen Laͤndern. Wa-
rum es keine perſoͤnliche Helden-
gedichte mehr gebe? Neugegeb-
ner Umriß des Lobes und Ta-
dels. S. 63.
- 98. Unterſchied der Poeſie aus Re-
flexion und der reinen Fabel-
poeſie an Engliſchen Dichtern
gezeiget. Chaucer, Spen-
ſer, Shakeſpeare, Milton,
Cowley, Waller, Pope,
Young, Thomſon. Ihre
Verdienſte und Charaktere. S. 78.
- 99. Von der einkleidenden Proſe der
Englaͤnder. Urſprung derſelben,
ihrer Wochenſchriften und Ro-
mane. Urſprung ihrer humoriſti-
ſchen Charaktere und Schreib-
art. Addiſon, Swift, Fiel-
ding, Richardſon, Sterne.
Ob die Griechen den Roman ge-
kannt haben? S. 98.
[IV]
Br. 100. Uebergang zu Deutſchen Werken
des Geſchmacks. S. 107.
- 101. Warum wir ſo lange zuruͤckblie-
ben? und ſo viel nachahmten?
Lob der Nachahmung. Ihr ho-
hes Ziel. S. 109.
- 102. Ob der Deutſche Charakterlos
ſei? Charakter der Deutſchen von
den aͤlteſten Zeiten her in Tha-
ten und Schriften, ſelbſt in ih-
ren Fehlern. Dieſer Charakter
in ihren Dichtern gezeiget. Bro-
ckes, Hagedorn, Haller,
u. f. — Kleist, Leßing und
Gleim. Klopſtock, Uz und
andre lyriſche Dichter. Wie-
land und Geßner. S. 118.
- 103. Einwendungen gegen die gut-
muͤthige Lehrhaftigkeit der Deut-
ſchen. S. 133.
- 104. Ob die Poeſie der Deutſchen
Formlos ſei? Vorzug unſrer
Sprache in Annaͤherung zur Form
der Alten. Ramler, Klop-
ſtock, Gerſtenberg, Goͤtz,
Leßing u. a. — Goethe. —
Ob jede fremde Form fuͤr uns
[V] ſei? Probe an der Italiaͤniſchen
Oper, und der Engliſchen Ko-
moͤdie. Zachariaͤ. S. 136.
Br. 105. Ob man den Deutſchen Mangel
an Kritik zuzuſchreiben habe?
Charakter der Kritik der Deut-
ſchen. Leibnitz, A. G. Baum-
garten. Wernike. Bodmer
und Breitinger. Haller und
die wiſſenſchaftliche Kritik, die
er eingeleitet. Bibliothek der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften. Litera-
turbriefe. Mangel weiterer Nach-
richten. S. 147.
- 106. Auch zur Kritik iſt Genius
noͤthig. Zerriſſene Faͤden zwi-
ſchen uns und den Bemuͤhungen
andrer Nationen. Ob die Deut-
ſche Poeſie eine Kinderpoeſie
ſei? Gut, wenn ſie es waͤre. Was
von der politiſchen Poeſie zu
halten? S. 162.
- 107. Neuntes Fragment. Reſul-
tat der Vergleichung der Poeſie
verſchiedener Voͤlker alter und
neuer Zeit. Die Poeſie iſt ein
Proteus unter den Nationen.
[VI] Nichtiger Rangſtreit zwiſchen
den Alten und Neuern. Schwie-
rigkeit der Vergleichung. Daß
jede Nation ihre Dichter werth
halten muͤſſe. Was die Deut-
ſchen von den Ihrigen zu lernen
haben. Verſchiedene Methoden
der Claſſification der Dichter.
Fortgang im großen Gange der
Zeiten und Voͤlker. S. 172.
[][][[1]]
91.
Sechstes Fragment.
Wiederauflebung der Alten.
Was der Poeſie des Mittelalters fehlte,
war nicht Stoff und Inhalt, nicht guter
Wille und Endzweck; es fehlte ihr nicht an
Idealen, auf welche ſie hinarbeitete und
ſich bemuͤhte; aber Geſchmack, innere
Norm und Regel fehlte ihr. Keine
aͤußere Form des Sonnets, Madrigals
Achte Samml. A
[2] oder der Stanze, der Reim am wenigſten,
keine Scholaſtik, ſelbſt die Arabiſche Phi-
loſophie nicht, ſie mochte aus Spanien,
Afrika oder Palaͤſtina kommen, konnte ihr
dieſe Regel gewaͤhren; nur Ein Mittel
war dazu, die Wiedererweckung der
Alten.
Immer hatten dieſe, auch in den dun-
kelſten Jahrhunderten einige Liebhaber, ſo-
gar Nachahmer gefunden, ob man von
ihnen gleich nur Wenige kannte und dieſe
Wenigen in einer finſtern Luft durch einen
haͤßlichen Nebel anſah. Bekanntlich war
Petrarka Einer der Erſten, der ſich durch
unablaͤßigen Fleiß eine faſt claſſiſche Denk-
art angebildet hatte, ohne welche er ſeine
liebliche Vulgarpoëſie ſchwerlich haͤtte
erſchaffen moͤgen. Ihm folgten mehrere
Liebhaber und Bewunderer der Alten, bis
nach einer langen Morgenroͤthe endlich hel-
[3] ler Tag anbrach. Von Orient aus kamen
die vertriebenen griechiſchen Muſen nach
Italien; mit einem wunderbaren Enthu-
ſiasmus fuͤr die Sprache, die Werke und
Wiſſenſchaften der Griechen wurden ſie
aufgenommen und Alles belebte ſich neu.
Laß es ſeyn, das fortan, inſonderheit im
naͤchſten Jahrhundert, die Landesſprache
keine Dichter bekam, wie Dante und
Petrarca geweſen waren; beide, inſon-
derheit der letzte, hatte in ſeiner Art die
Bluͤthe hinweggebrochen; ſo daß kein Nach-
ahmer ihn uͤbertreffen konnte. Dafuͤr
aber oͤffnete ſich eine Ausſicht, die zehn-
tauſend Petrarchiſten nicht haͤtten eroͤfnen
moͤgen. Poliziano, Pico, Bembo,
Caſtiglione, Caſa, und ſo viel andre
Geſchichtſchreiber, Dichter, Philoſophen
und Philologen ſchrieben nicht nur claſ-
ſiſch Latein; ſondern einige derſelben dach-
A 2
[4]ten auch claſſiſch, und erwaͤgten die
Werke der Alten. Die Strozza, San-
nazar, Fracaſtor, Vida, und ſo viele,
viele andre ſchrieben nicht etwa nur ele-
gante lateiniſche Verſe; man las, man
uͤberſetzte die Alten; Machiavell u. a.
dachten ihnen maͤnnlich nach. Kuͤnſtler er-
ſchienen, die im Geſchmack der Griechen
und Roͤmer verzierten, baueten, bildeten,
mahlten; das himmliſche Genie Raphael
erſchien, von einer Griechiſchen Muſe mit
einem Engel erzeuget Da erklang ein
Lied im hoͤheren Tone; es fing wirklich
eine neue Denkart, mit einer neuen Zeit
an: denn auch die Buchdruckerkunſt war
erfunden, eine neue Welt war entdeckt,
die Reformation entſtand. U. f.
Es hieße klein und eingeſchraͤnkt den-
ken, wenn man dieſe neue Gedankenform
blos nach dem beurtheilte, was ſie damals
[5] hervorgebracht hat, nicht nach dem leben-
digen Samen, der in ihr zu kuͤnftigen Her-
vorbringungen dalag. Sei es, daß die
erſten Nachahmungen der Alten zu ſkla-
viſch waren, daß die erſte Kritik ſich zu
ſehr an Worte hielt und daruͤber oft den
Geiſt nicht erreichte. Sei es, daß kein
lateiniſcher Dichter dieſes gluͤcklichen Jahr-
hunders Einem alten Dichter gleich kaͤme;
was ſchadets? Die erſten gedruckten Aus-
gaben alter Autoren waren auch die voll-
kommenſten nicht; indeſſen kamen ſie weit
umher und machten die Grundlage nicht
nur zu beſſern Auflagen, ſondern auch zu
vielen, vielen neuen Gedanken. Ohne
Wiedererweckung der Alten waͤre keine neue
Philoſophie und Beredſamkeit, keine Kritik,
Kunſt und Dichtkunſt entſtanden; Europa
ſaͤße noch in der Daͤmmerung und labte
ſich an abentheuerlichen Ritterromanen.
[6] Das Licht der Alten iſts, das die Schat-
ten verjagt und die Daͤmmerung aufgeklaͤrt
hat; mit ihnen haben wir empfangen, was
allein den Geſchmack ſichert, Verhaͤlt-
niß, Regel, Richtmaas, Form der
Geſtalten im weiten Reiche der Na-
tur und Kunſt, ja der geſammten
Menſchheit.
Warum z. B. iſt die bloße Galan-
terie der Liebe ein falſcher, mithin auch
ein unpoetiſcher Geſchmack? Weil ſie etwas
Unwahres in ſich haͤlt, das der reinen
Sprache des Herzens und Geiſtes,
wie es die Poeſie ſeyn ſoll, unwerth iſt.
Jene Galanterie giebt Dingen einen Werth,
den ſie unſrer eignen Ueberzeugung nach
nicht haben; ſie mahlt Schoͤnheit und Liebe
mit falſchen Reizen, und vergiſſet daruͤber
der herzergreifenden Wahrheit. Aus Man-
gel des Gefuͤhls uͤbertreibt ſie; ſie ſpielt
[7] mit Bildern, und Wendungen, mit Witz
und Worten. — — Echte Poeſie alſo und
eine falſche Galanterie ſind unvereinbar.
Moͤge ein verdorbner Geſchmack der Zeit,
moͤge die Mode ſie dafuͤr erkennen; der
Zeitgeſchmack geht voruͤber, die Mode wird
laͤcherlich; und ſpaͤterhin macht die falſche
Schminke das ſchoͤne Geſicht ſogar haͤß-
lich. —
Warum iſt die uͤbertriebne Ritter-
wuͤrde ein falſcher Geſchmack? Weil ſie
als bloßes Ritual Herz- und Seelenlos,
ſteif und laͤcherlich iſt. Feierlichkeiten wird
ein Werth gegeben, den ſie nicht haben;
Misverhaͤltniſſe werden mit einem Schaum-
golde uͤberdeckt; Geiſtloſe Haͤrte wird als
ein Ideal der Maͤnnlichkeit geprieſen. Die
Zeit kommt und ſtreicht mit rauher Hand
das Schaumgold hinweg; ſie ruͤckt die
Staͤnde anders und ſofort iſt jene Misge-
[8] ſtalt unter einem eiſernen Harniſch ſicht-
bar. Alles Geklirr an Mann und Roß
kann uns, wo Verſtand, Zweck, Ebenmaas,
Guͤte des Herzens fehlt, kein Klang einer
himmliſchen Muſe werden. —
Warum iſt jene uͤbertriebene An-
dacht, jenes Haſchen nach dem Unendli-
chen, das Calculiren der Gottheit in un-
nennbaren Gefuͤhlen ein falſcher Geſchmack?
Weil ſie eine Uebervernunft ſind, die
weder in Sprache noch Kunſt einen Aus-
druck findet. Das Unermeßliche hat kein
Maas; das Unendliche hat keinen Aus-
druck. Je laͤnger Du alſo an dieſen Tie-
fen ſchwindelſt, deſto mehr verwirret ſich
deine Zunge, wie ſich dein Haupt verwirrte;
du ſagſt nichts, wenn du etwas Unaus-
ſprechliches ſagen wollteſt. — Schwieg
nicht jener Entzuͤckte von dem, was er im
dritten Himmel geſehen hatte? Alle wahre
[9] Gottbegeiſterte ſchwiegen vom Unausſprech-
lichen, und ſagten was ſie in der Sprache
der Menſchen, zumal in den Grenzen
einer Kunſt ſagen konnten. Der Aus-
druck, der der Religion geziemt, iſt nicht
Schwaͤrmerei, ſondern Einfalt und Wahr-
heit.
Iſt Alles, was uns Umriß lehret, was
unſrer Natur die ihr angemeßne Schran-
ken zeigt, und ſie auf wirklichen Begriff,
auf Wahrheit der Empfindung zuruͤckfuͤhret,
ein goͤttliches Geſchenk; wie ſehr thut die-
ſes, recht verſtanden und angewandt, die
Poeſie, die Kritik, die Philoſophie
und Denkart der Alten.
Dieſe z. B. weiß nichts von jener Hoͤf-
lichkeit eines uͤbertreibenden, falſchen
Witzes, der Galanterie und Courtoiſie ſeyn
ſoll; am Hofe der griechiſchen und roͤmi-
ſchen Muſen hatte dieſe Kunſt keinen Werth.
[10] Sie weiß nichts von jenem leeren Pomp,
der dem Heiden und Gott den Menſchen
auszieht; die heroiſche Poeſie der Alten iſt
menſchlich. Wozu endlich ward von den
kluͤgſten Voͤlkern die Mythologie, wo
nicht erfunden, ſo wenigſtens an den ſchoͤn-
ſten Stellen gebraucht? Dem was keine
Geſtalt hat, eine fuͤr uns lehrreiche und
angenehme Geſtalt zu geben, den Abglanz
der blendenden Sonne im Spiegel des
Meers oder in den Farben des Regenbo-
gens zu zeigen. Uns ſind im Grunde alle
Einkleidungen, wo und wenn ſie erfunden
wurden, gleich; wir wollen ſie zwar nicht
unzeitig vermiſchen, aber alle mit Verſtand
gebrauchen. Ariſtoteles, Horaz, und
Quintilian ſind uns nicht etwa uͤber die
Mythologie der Griechen allein; uͤber die
Mythologie jeder Nation und Reli-
gion ſind ihre Grundſaͤtze Geſetz und Regel.
[11]
Alles alſo was den Geſchmack der Alten
unter uns befoͤrdert, ſei uns werth, Aus-
gaben, Ueberſetzungen, Commentare, Nach-
ahmungen; unter dieſen Nachahmungen
auch die neuere lateiniſche Poeſie
zu nennen, ſcheue ich mich nicht. Sie war
immer ein Zeichen, daß man die Alten
kannte und liebte, daß man uͤber neuere
Gegenſtaͤnde im Sinne der Alten dachte,
daß man ihr Richtmaas an dieſe neuen
Gegenſtaͤnde zu legen wagte. Sie hat viel
Gutes gewirket. Latein ſagte man, was
man in der Landesſprache nicht ſagen konnte
oder dorfte; nachahmend ſprach man gleich-
ſam den Alten nach, und ſagte ihnen
ſeine Lection auf; man freuete ſich,
daß man ſie aus ihnen gelernt und unge-
faͤhrdet aufſagen konnte. Ueber die Vor-
urtheile ſeiner Zeit, ſeines Ordens, Volks
und Standes hob mancher ſich, ohne daß
[12] ers wußte, auf Schwingen irgend eines
alten Dichters empor; oder wenn er hiezu
nicht Kraft gnug hatte, kam er doch nach-
ahmend dem Geſchmack und beſſern Ver-
ſtaͤndniß des Dichters, in deſſen Weiſe er
ſchrieb, naͤher und ward, auch nachlallend,
mit ihm vertrauter. Endlich ſchloß
ſich durch die neuere lateiniſche Poeſie eine
Geſellſchaft zuſammen, von der vorher
noch keine Zeit gewußt hatte; in Italien,
Spanien, Portugall, Frankreich, den bri-
tanniſchen Inſeln, den nordiſchen Koͤnig-
reichen, in Liefland, Pohlen, Preuſſen,
Ungarn, in Deutſchland, Holland u. f.
hat man lateiniſch nicht nur verſificiret,
ſondern hie und da gewiß auch gedichtet.
Italien, Frankreich, Deutſchland, Pohlen,
vor allen Holland hat Maͤnner gehabt,
die mit dem Latein wie mit ihrer Mutter-
ſprache umzugehen wußten und in ihm Ge-
[13] dichte gaben, die in jeder Landesſprache
Aufmerkſamkeit gebieten wuͤrden. Selbſt
die vortreflichen, die der Sprache und Poe-
ſie ihrer Nation eine beſſere Geſtalt gaben,
hatten dieſe meiſtens im Lateiniſchen zuerſt
verſucht, wie auſſer den Italiaͤnern die
Beiſpiele Miltons, Cowleys, Gro-
tius, Heinſius, Opitz u. f. zeigen.
Faſt alle Reformatoren Erasmus, Lu-
ther, Zwingli, Melanchthon, Ca-
merarius, Beza u. f. waren Liebhaber
der Alten, Liebhaber der Griechiſchen und
Lateiniſchen Dichtkunſt. Die gebildetſten
Staatsmaͤnner, wie Thomas Morus,
de Thou, Hopital u. f. Botſchafter,
Paͤpſte, Cardinaͤle waren lateiniſche Dich-
ter. Ein Helikon vereinigte ſie und weckte
Stimmen vom Aetna bis zum Hekla, vom
Ausfluß des Tago bis zur Weichſel und
der Duͤna.
[14]
Ich will mich nicht auf den Gemein-
platz einlaſſen, daß alle echte Kritik und
Philoſophie der Neueren nur eine palingene-
ſirte Pflanze der Alten ſei: denn woher
hatten neben den Weltbekannten Commen-
tatoren, Erasmus, Grotius, Hein-
ſius, Boileau, Gravina, der edle
Shaftesburi und die wenigen ſonſt,
die ins Herz der Kritik drangen, ihre Weis-
heit? als von den Alten. Eine Spani-
ſche, Deutſche, Irlaͤndiſche Kritik
giebt es nicht; aber eine Griechiſche und
Roͤmiſche Kritik giebt es. Mit ihr
faͤngt die Cultur aller Europaͤiſchen
Landesſprachen in Poeſie und
Proſe, ja durchaus das Beſtreben nach
einem beſſern Geſchmack in ganz
Europa an; den Beweis hievon liefert
die Geſchichte.
[15]
92.
Es thut mir leid, daß ich Ihrem Frag-
ment einige Einwendungen entgegenſetzen
muß; wozu aber waͤre die Heuchelei auch
im Lobe des Geſchmacks der Alten noͤthig?
Zuerſt giebt ihr Fragment es ſelbſt
zu, daß auch vor der ſogenannten Erwek-
kung der Alten in jedem Fach große Maͤn-
ner, Denker und Dichter gelebt haben;
und eben ſo wenig wird bezweifelt werden
koͤnnen, daß ſeit dieſer Entdeckung große
Maͤnner gelebt und geſchrieben haben, die
von den Alten wenig oder nichts wußten.
Ich darf von den erſten nur Dante, von
[16] den letzten nur Shakeſpeare anfuͤhren;
wie viel andre moͤchten zu nennen ſeyn!
Die groͤßten Erfindungen ſind in den Zei-
ten gemacht, die wir barbariſche, rohe
Zeiten nennen; vielleicht haben in ihnen
auch die groͤßeſten Maͤnner gelebet. Da-
mals ſtanden die Koͤpfe noch nicht ſo dicht
an einander; jeder hatte zum eignen Den-
ken freien Raum; um ſie war Daͤmmerung;
deſto munterer aber wirkten ſie, und dorf-
ten in der Mittagsſonne der Alten eben
noch nicht erblinden. Wie Ein Roger
Baco vor hundert Commentatoren des
Ariſtoteles gilt: ſo giebt es romantiſche
Gedichte der mittleren, ſelbſt der neueren
Zeit, bei denen man den Geſchmack der
Alten gern vergißt und in ihnen wie im
Feenreich luſtwandelt. Ich erinnere Sie
an ſo manche Romane, die uns der Graf
Treßan und ſeine Gehuͤlfen gegeben, ja
ſeit
[17] ſeit Wiederauflebung der Wiſſenſchaften
an die groͤßeſten Lichter aller cultivirten
Nationen. Woher nahmen Arioſt und
die ihm vorgingen, woher Spenſer,
Shakeſpeare und zwar in ſeinen ruͤh-
rendſten Stuͤcken Form und Inhalt? Nicht
aus den Alten, ſondern aus der Denk-
art des Volks und ſeinem Ge-
ſchmack in ihren und den mittleren
Zeiten. Glauben Sie, daß Shakeſpe-
are, auch wenn er die Alten mehr ge-
kannt haͤtte, als er ſie kannte, ihnen aͤngſt-
licher nachgegangen waͤre? Wie leicht konnte
er ſie kennen lernen, da ſchon ſo manche
in Engliſchen Ueberſetzungen neben ihm
exſiſtirten! Er ließ dieſe den Ben Jonſon
ſtudiren und hielt ſich an das Maͤhrchen,
an die Novelle der mittleren Zeit, aus
denen er ſeine dramatiſche Schoͤpfung her-
vorrief. Seitdem haben die Britten den
Achte Samml. B
[18]Aeſchylus, Sophokles, Euripides
geleſen, commentirt, uͤberſetzt und emen-
diret; aus dem Allen aber iſt kein zweiter
Shakeſpeare worden.
Zweitens. Zu viele Proben haben
es erwieſen, daß die Alten kennen und
nachahmen, uns ihnen noch nicht gleich
ſtelle, da ihre gelehrteſten Kenner oft die
ungluͤcklichſten Schoͤpfer geweſen. Wie
ging es dem Triſſino mit ſeinem befrei-
ten Italien? dem Gravina und Maffei
mit ihren Drama's im Geſchmack der Al-
ten? Die gelehrten Kenner der Alten,
Caſa, Bembo u. f. uͤberſtiegen den Pe-
trarka nicht; den Chiabrera, Redi,
Filicaja, Lemene vermochte ihre Kaͤnnt-
niß der Alten und ihre Gelehrſamkeit ſogar
vor dem boͤſen Geſchmack ihrer Zeit nicht zu
ſichern. Unter den Englaͤndern war Cow-
ley mit den Alten ſehr bekannt; er ſchrieb
[19] und dichtete ſelbſt lateiniſch; ſeine proſai-
ſchen Aufſaͤtze ſind mit der Beſcheidenheit
und Wuͤrde eines Roͤmers geſchrieben; und
welches ſonderbare Phantom bildete ſich
dieſer gelehrte Dichter an Pindar ein! In
wie boͤſem Geſchmack erſchuf er jene Oden-
gattung, die ſeinen Landsleuten wirklich
ein Verderb des Geſchmacks ward! —
Alſo hilft auch hier das Alter fuͤr Thorheit
nicht; jeder Neuere behaͤlt ſeine natuͤrliche
Groͤße, falls er in ſeinem Studiumauch den
Griechiſchen und Roͤmiſchen Helikon auf ein-
ander thuͤrmte und ſich droben hinauf ſtellte.
Drittens. Nun kann ich zwar gegen
die ſchoͤne lateiniſche Schreibart vieler
Neueren in Poeſie und Proſe nichts ein-
wenden und finde in ihnen fuͤr mich ein
großes Vergnuͤgen; fuͤr ſich ſelbſt aber was
thaten dieſe Schriftſteller mehr, als daß
ſie ihre Pflicht erfuͤllten? Muß Jeder, der
B 2
[20] in einer Sprache ſchreibt, in ihr gut zu
ſchreiben ſuchen: ſo waͤre es ja dreifache
Schande, die Sprache, in welcher jene
Roͤmer ſchrieben, ſchlecht zu behandeln.
Wer in ihr nicht ſchreiben kann, wie er
ſoll, ſchreibe, wenn ers vermeiden kann, in
ihr gar nicht; hat er in ihr leidlich oder
gut geſchrieben, ſo iſts ihm nicht mehr
Lob, als Jedem andern, der in ſeiner
Sprache gut ſpricht, oder einem Floͤten-
ſpieler, der ſeine Floͤte gut ſpielet. — Wenn
Schriftſteller durch eine ſogenannte ſchoͤne
Schreibart, die bei keinem Vernuͤnfti-
gen von einer guten Denkart getrennet
werden kann, wenn vor Allen lateiniſche
Schoͤnſchreiber ſich von einer guten Denk-
art durch dieſe Sprache freigeſprochen
glauben; wo ſind wir denn mit der Regel
der Alten? Dieſer ſcriptor denkt an Worte;
an Sachen und Gruͤnde wenig. Ueberſetzt
[21] ſein Latein in eine gemeine Sprache; und
ihr findet die trivialſten Dinge in einem
Ton geſagt, vor dem die demuͤthige Lan-
desſprache beinah verſtummet. Dort ging
das gelehrte Kind in einem Gaͤngelwagen
oder vielmehr der Gaͤngelwagen (ambitus
verborum) ging ſtatt des gelehrten Kin-
des und nahm es mit; dem rund - viereck-
ten Vehikul entnommen, wie erbaͤrmlich
iſt ſeine Geſtalt, wie ſchwach und duͤrftig!
Und doch machte man ſo oft die Erfah-
rung, daß unter allen literariſch - Stolzen
es faſt keine ſtolzeren, als die Latein-
ſchreiber gebe. Sie ſind die alten Ba-
rone, deren Diplom ruͤckwaͤrts uͤber das
Chriſtenthum, deren Unſterblichkeit vor-
waͤrts uͤber den juͤngſten Tag der Landes-
ſprache hinausreicht. Sie ſchreiben nicht
fuͤr ihre Nation in der ſogenannten Vul-
gar- oder Poͤbelſprache; ſondern fuͤr Welt
[22] und Nachwelt in der einzig-unver-
gaͤnglichen Goͤtterſprache. Wie wohl
wird dem Leſer in der Geſchichte der Lite-
ratur, wenn nach zu Grabe getragenen
Schoppen(Scioppiorum) die Periode
der eigentlichen Wiſſenſchaften (Scien-
zen) anfaͤngt, in welcher man ſich nicht
mehr uͤber Worte und Autoritaͤten Schop-
piſch zankte. — —
Endlich. Wahre Kenner der Alten
hat es immer nur wenige gegeben! Die
Kritik der Sylben und Worte iſt eine un-
entbehrliche, nuͤtzliche Kunſt; ſie erfodert
Genie, Tact, und vor andern viel Kaͤnnt-
niſſe, Fleiß und Uebung; daß ſie aber die
Kaͤnntniß der Alten noch nicht ſei, von
der das Fragment eine Palingeneſie der
Dinge herzuleiten ſcheinet, dies iſt wohl
Sonnenklar. Kritiker, wie Ruhnken an
Hemſterhuis ſchildert, ſind ſelten; auch
[23] von denen, die die Alten mit Geiſt leſen,
waͤhlt Jeder ſich gern ſeinen Alten, den
er uͤber Alle hinausſetzt, nach welchem er
dann, auch mit Fehlern und Schwaͤchen,
ſeine Denkart praͤget. Eine Reihe von
Beiſpielen waͤre anzufuͤhren, aus welchen
erhellen wuͤrde, wie ſelten wir in den Al-
ten ſie ſelbſt, wie noch ſeltner wir in
ihnen ihr Hoͤchſtes, das [...]
der Griechen- und Roͤmerwelt, ihre Re-
gel des Geſchmacks im Wahren,
Guten und Schoͤnen ſtudiren. Am
oͤfterſten ſchauen wir ſie wie Narciſſe an,
denken daran, was Wir uͤber Sie zu
ſagen haben, und bewundern unſre Geſtalt
in dem fluͤſſigen Spiegel der alten heiligen
Quelle. Statt an ihnen gehen zu lernen,
verlieren manche durch ſie den geſunden
Brauch ihrer eignen Glieder.
[24]
93.
Ihre Einwendungen koͤnnte ich mit Spruͤch-
woͤrtern beantworten, z. B. Rom iſt nicht
in Einem Jahr gebaut. Je ſchwe-
rer die Kunſt, deſto mehr Pfuſcher.
Je organiſirter der Koͤrper, deſto
boͤſer ſeine Faͤulung u. dgl. Ich will
aber mit Gruͤnden antworten; in der
Hauptſache ſind wir Eins.
Daß zu allen Zeiten und unter allen
Voͤlkern Talente ans Licht kommen, iſt
eine Erfahrung, die eben ja jeder Bemuͤ-
hung um Ausbildung der Talente zum
Grunde liegt. Nicht in Athen und
[25] Rom allein wurden daͤmoniſche, goͤtt-
liche Maͤnner gebohren; ſie bedorften auch
von dorther keiner Beurkundung, daß ſie
ſolche waren. Die Gabe der Muſe iſt
eine angebohrne Himmelsgabe, die kaum
mit Muͤhe vergraben werden kann. Großer
Leidenſchaften und Vorſtellungen faͤhig, ſehen
Einige nichts als dieſe Bilder, ſprechen in
Leidenſchaft, laben ſich in Toͤnen des Wohl-
lauts und fuͤhlen ſich geſchaffen, die Ge-
muͤther andrer mit dem, was ſie erfreuet
und anregt, auch zu erfreuen und anzu-
regen. Wenn Poeſie noch nicht erfunden
waͤre, wuͤrden ſolche Menſchen ſie erfin-
den, und erfinden ſie taͤglich.
Aber wie ſehr Talente dieſer Art unter
dem Druck einer ſchlechten Sprache und
einer ſinnloſen Mitwelt leiden, zeigt eben
ja die Geſchichte ſowohl der rohen,
als der mittleren dunkeln Zeiten.
[26] Giebt es eine Kunſt der Sprache; was
vermag ohne Werkzeuge der Kuͤnſtler?
Ueberdem, wie ſchwer wirds eben dem
feurigſten Kopf, ſich innerhalb der Gren-
zen zu halten, in denen das Wahre,
Gute und Schoͤne Eins iſt und eben
auf dieſe, die Einzige Weiſe, in Form und
Inhalt, dadurch was man ſagt, und wie
man es ſagt, ewig zu werden. Ihm alſo
ſowohl als denen fuͤr die er arbeitet, iſt
Lehre noͤthig, eine Diſciplin, die uns
fuͤr andre, andre fuͤr uns zubereite, beide
vor Ausſchweifungen ſichre, und dem ar-
beitenden Genius leere Verſuche, von
denen er mit Reue zuruͤckkommen muͤßte,
erſpare. Oft iſt das Genie ein Edelſtein,
der tief im Schacht liegt, in einer harten
Rinde begraben; die Rinde muß geſprengt,
der Edelſtein von der Hand des Kuͤnſtlers
bearbeitet werden u. f. — Wem gab
[27] nun die Natur das eigentliche Kunſtta-
lent in groͤßerm Maaße, als den Grie-
chen? Auf der ganzen Erde keinem Volke
wie ihnen. Gleichſam vom Inſtinct gelei-
tet erfanden ſie jeder Geſtalt und Wiſſen-
ſchaft Maas, Ziel und Umriß. Nicht
nur das zu Viele, das Ungehoͤrige ſonder-
ten ſie ab, ſondern auch dem Bleibenden,
der Geſtalt ſelbſt, gaben ſie Fuͤlle, Le-
ben und Anmuth.
Wollen aber Griechen und Roͤmer, ſo-
fern ſie Griechen und Roͤmer ſind, hiemit
eine Monarchie errichten? wollen ſie Na-
tionalcharaktere unterdruͤcken, lebende Spra-
che verdraͤngen, oder verſchlimmern? Nichts
von Allem! Aufmunterung, Ord-
nung, Verbeſſerung iſt ihr einziger
Zweck; man darf alſo von ihnen nicht
mehr fodern, als ſie zu leiſten vermoͤgen.
Sie wollen Kraͤfte wecken, aber nicht ge-
[28] ben; ſie ſind Vorbilder, keine Schoͤpfer.
Da indeſſen im Reich der Gedanken von
Aufmunterung, zumal durch thaͤtige
Vorbilder, von Ordnung und Erzie-
hung viel abhangt: ſo iſt die Herrſchaft,
die jeder Verſtaͤndige den Alten freiwillig
einraͤumt, zwar keine Monarchie, aber ein
Rath der Beſſeren zum Beſten.
Laſſen Sie alſo die wuͤrdigſten Schrif-
ten zuweilen von den unwuͤrdigſten Haͤn-
den behandelt werden, was ſchadets? Geht
nicht auch das Gold durch die Haͤnde nie-
driger Bearbeiter und Sammler? verlohr
der Diamant dadurch, daß ihn die Duͤrf-
tigkeit ſelbſt aufgrub? Wenn unter dem
Text eines alten Autors ſich in den Noten
oft uͤber Nichts ein ſchreckliches Gezaͤnk
erhebt: ſo laſſet uns vom blutigen Spiel
dieſer Gladiatoren, die ſich zu Ehren des
Verſtorbenen neben ſeinem Grabe wuͤrgen,
[29] hinwegſehn und ſie fuͤr das halten, was
ſie ſind, Sklaven. Die Worte des Autors
werden uns werther, wenn wir uns uͤber
die Waſſer der Suͤndfluth, die unten den
Text uͤberſchwemmet hat, zum Gipfel em-
porheben und da den friedlichen Oelzweig
finden. —
Da endlich der Geiſt, den wir aus
den Schriften der Alten ziehn ſollen, ge-
ſunder Verſtand und ein geſundes
Herz, die wahre Philoſophie und
Richtung des Lebens, bona Mens
und Humanitaͤt iſt: ſo iſt die Einfuͤhrung
dieſer Gottheiten fuͤr uns und unſre Nach-
kommen ein Werk von fortdauren-
der, wachſender Wirkung. Zuerſt
mußten dieſe Schriften gefunden, verviel-
faͤltiget, erklaͤrt, erlaͤutert, von Fehlern
gereinigt, verſtanden werden, ehe ihr beſſe-
rer, ihr weiſerer Gebrauch in jeder An-
[30] wendung ein Hauptzweck werden konnte.
Hie und da iſt er es ſchon geworden; er
wirds noch mehr werden. Die Zeit der
Solipſorum geht zu Ende; zu Einem ge-
meinen Beſten arbeiten wir Alle.
[31]
Nachſchrift.
Jener Amerikaner glaubte, daß in jedem
Brief ein Geiſt eingeſchloſſen ſei; ich wollte,
daß ich dieſem Briefe einen Geiſt einſchlieſ-
ſen koͤnnte, den Geiſt der Alten. Hoͤren
Sie daruͤber einen apokryphiſchen Schrift-
ſteller.
„Gerade, als ob unſer Lernen blos
ein Erinnern waͤre, weiſet man uns
immer auf die Denkmahle der Alten, den
Geiſt blos durch das Gedaͤchtniß zu bil-
den. Wir wiſſen ſelbſt nicht recht, was
wir in den Griechen und Roͤmern bis zur
Abgoͤtterei bewundern.“
„Gleich einem Manne, der ſein leiblich
Angeſicht im Spiegel beſchaut, nachdem
er ſich aber beſchauet hat, von Stundan
davongeht und vergiſſet, wie er geſtaltet
[32] war, eben ſo gehen wir mit den Alten
um. Gar anders ſitzt ein Mahler zu ſei-
nem eignen Bilde.“
„Da ich blos dem Geiſt der Alten nach-
ſpuͤre: ſo geht mich das Schulmeiſtergeſicht
nichts an, womit die ** ihren Autor
Leſern und Zuhoͤrern vereckeln. Ich will
ſehr zufrieden ſeyn, wenn ich mein Grie-
chiſch nur ungefaͤhr ſo verſtehe, wie Ueber-
bringer dieſes ſeine Mutterſprache. Wer
die Alten ohne die Natur zu kennen ſtu-
dirt, lieſet Noten ohne Text, und an Pe-
trons Ausgabe in groß Quart uͤber ein
klein Fragment ſich wenigſtens zu einem
Doctor. Wer kein Fell uͤberm Auge hat,
fuͤr den hat Homer keine Decke. Wer
aber den hellen Tag noch nie geſehen, an
dem werden weder Didymus noch Eu-
ſtathius Wunder thun. — — Der Zorn
benimmt mir alle Ueberlegung, wenn ich
daran
[33] daran gedenke, wie ſolch eine edle Gabe
Gottes, als die Wiſſenſchaften ſind, ver-
wuͤſtet, von ſtarken Geiſtern zerriſſen, von
faulen Moͤnchen zertreten werden, und
wie es moͤglich, daß junge Leute in die
alte Fee, Gelehrſamkeit, ohne Zaͤhne und
Haare (etwa falſche) verliebt ſeyn koͤnnen.“
So ſpricht ein Eifrer fuͤr den guten
Gebrauch der Alten; und wie viel mehr
koͤnnte man davon ſagen! Aber wie Je-
mand iſt, ſo thut er; wie wir ſelbſt
denken, ſo nutzen wir die Alten.
[34]
94.
Die Nachſchrift Ihres Briefes hat mir
eine alte Wunde aufgeriſſen, die ziemlich
verharſcht war, naͤmlich, wie wir, inſon-
derheit mit unſrer Jugend, die Alten
leſen? „Das Salz der Gelehrſamkeit, ſagt
Ihr Apokryphus iſt ein gut Ding; wenn
aber das Salz tumm wird, womit ſoll
man ſalzen?“ — Bloße Gelehrſamkeit zer-
ſtreuet und ermuͤdet; alles macht ſie zu nack-
tem, vielleicht unnoͤthigem Wiſſen von Wor-
ten, Stellen und Gebraͤuchen; ſie wirft
die Seele hin und her. Das Gemuͤth der
Jugend will geſammlet, will auf den
[35] Kern gerichtet, will fuͤrs Leben gebildet
und geſtaͤrkt ſeyn.
Ich begreife ſelbſt, was fuͤr eine ſchwere
Aufgabe es iſt, ſo viele, ſo mannichfaltige
Schriftſteller der Griechen und Roͤmer,
Dichter, Redner, Geſchichtſchreiber und
Philoſophen mit unſrer Jugend nutzbar
zu leſen; der Grundſatz indeſſen, nach wel-
chem ſie geleſen werden muͤſſen, iſt außer
Zweifel. Es iſt der Sinn der Alten
ſelbſt, das Gefuͤhl vom Wahren, Gu-
ten und Schoͤnen, dieſe alle zu Einem
Syſtem verbunden, in Eine Geſtalt
geordnet. Man nenne dieſe Geſtalt das
Anſtaͤndige, das ſich Geziemende,
honeſtum, decorum, [...], [...] oder
wie man wolle; ſie iſt ein unterſcheidender
Zug der Compoſition und Denkart
der Alten in ihren beſten Schriftſtellern
und wuͤrdigſten Maͤnnern, auf welchen
C 2
[36] das Auge der Jugend ſich vorzuͤglich hef-
ten muͤßte.
In der Compoſition der Alten naͤm-
lich hat Alles Zweck, Plan und Ordnung.
Nichts ſtehet am unrechten Ort, nichts iſt
muͤßig und unſchicklich dahin geworfen;
und im Ganzen herrſcht, wo es irgend ſeyn
kann, lebendige Darſtellung und Handlung.
Die griechiſche Sprache z. B. iſt von der
Bildung der Worte an bis zum Bau ihrer
Sylbenmaaße und Perioden ein Muſter
des Wohlklanges, der Zuſammenfuͤgung,
der Bedeutſamkeit und Grazie des Aus-
drucks; die lateiniſche Sprache eifert ihr
nach. Wie in Statuen und Gebaͤuden die
Kunſt der Alten Einfalt und Wuͤrde,
Bedeutung und Anmuth zu vereini-
gen wußte; ſo vereinigen es die Meiſter-
werke ihrer Sprache. Wer in Homer
und Pindar, in Herodot, Plato,
[37]Cicero, Livius und Horaz dieſe
Schicklichkeit und Congruenz der Theile
zur Eurythmie des Ganzen weder zu finden,
noch anſchaulich zu machen weiß, der iſt des
Geiſtes, in dem ſie arbeiteten und dachten,
nicht inne geworden. In wenige Werke
der Neueren hat ſich dieſer organiſche Geiſt
ergoſſen; wo er erſcheint, macht er ein
Werk ſeiner Natur nach unſterblich. Ein-
falt alſo und Wuͤrde, Bedeutſamkeit und
Wohlordnung haben wir von den Alten
zu lernen, um unſrer Denkart und Spra-
che im Kleinſten und Groͤßeſten eine ſolche
Geſtalt zu geben.
Aber das Anſtaͤndige der Alten er-
ſtrecket ſich weiter, indem Charaktere,
Sitten, Grundſaͤtze und Meinungen
nicht etwa nur zu ſchildern, ſondern darzu-
ſtellen und zu verknuͤpfen der Zweck ihrer
erleſenſten Werke war. Die Tugend iſt ein
[38] [...], ein Anſtaͤndiges und Vortref-
liches, das mit Liebe geſucht werden will
und nur durch unablaͤßige Uebung erlangt
wird. Ihre beſten Schriftſteller jeglicher
Art zeigen darauf als auf das Zuͤnglein
der Waage menſchlicher Handlungen und
den edelſten Kampfpreis des menſchlichen
Lebens. Licht und Schatten ſtellen ſie dar;
ſie contraſtiren und gruppiren Geſtalten,
Sinnesarten und Meinungen ohne jene
neuere uͤberſpannende Heuchelei, die im
Grunde jede Anwendung verwirret und
zuletzt die ganze Sittlichkeit aufhebt. Ha-
ben wir das Gefuͤhl des Anſtaͤndigen,
des Großen, Schoͤnen, Anmuthigen und
Edlen verlohren, was haͤlt uns zuruͤck,
daß wir nicht aͤrger als Thiere wer-
den? Veraͤchtlicher ſind wir gewiß. Dies
Gefuͤhl moraliſcher Schicklichkeit, Wuͤrde
und Grazie durch Leſung der Alten in
[39] in uns zu wecken und zu erhalten, iſt um
ſo noͤthiger, da in der gegenwaͤrtigen Welt
eine Convenienz in niedertraͤchtigen, frechen
Meinungen, die fuͤr Grundſaͤtze gelten,
und im offenen Gebrauch ſind, daſſelbe
ganz zu erſticken drohen. Daß ſich zwi-
ſchen uns und Jenen einige aͤußere Um-
ſtaͤnde veraͤndert haben, und ſowohl der
Heroismus als der Patriotismus
eine andre Geſtalt gewonnen, darf jenem
Gefuͤhl, dem Charakter der Menſch-
heit, nicht ſchaden. Wir koͤnnen edlere
Heroë ſeyn, als Achill, ſchoͤnere Pa-
trioten als Horatius Cocles.
Hier alſo liegt meines Erachtens die
Regel; ſie iſt eine logiſche, poetiſche,
ethiſche Regel. Barbaren kennen ſie nicht;
losgebundene Willkuͤhr verachtet ſie, zer-
ſtreuende Gelehrſamkeit geht voruͤber. Wer
ſie fand, wer in ſeiner Jugend nach ihr
[40] gebildet wurde, der kann ſie nicht vergeſ-
ſen; ſie hat ſich ſeinem Gemuͤth einge-
druͤckt, als das Herz ſeines Herzens, als
die Seele ſeiner Seele. Id facere laus
eſt, quod decet, non quod licet. Quod
decet honeſtum eſt et quod honeſtum
eſt decet.
[41]
95.
Siebendes Fragment.
Schrift und Buchdruckerei.
Als bei den Griechen die Schrift noch
nicht, oder wenig im Gebrauch war, er-
klang die Sprache als ein lebendiges
Wort; die Stimme des Dichters und ſei-
nes Saͤngers war eine Aufbewahrerinn
aller menſchlichen Empfindungen und Ge-
danken. Daher die Geſtalt der aͤlteſten
[42] Poeſie in ihrem Reichthum an Bildern
und Toͤnen, in ihrer Naturpracht und Na-
turſchoͤnheit; aber auch in ihrer Wandel-
barkeit, ihrer Ungewißheit, ihren Fehlern
und Maͤngeln.
Mit Einfuͤhrung der Schrift ging
der groͤßeſte Theil dieſes alten Worts zu
Grabe; nur Weniges von ihm ward auf-
behalten und allmaͤhlich geregelt. Mit Ein-
fuͤhrung der Schrift kam Proſe auf, Ge-
ſchichte und Beredſamkeit wurden
ausgebildet; und wenn ſich jetzt die Poeſie
neben ihnen hervorthun wollte, ſo lief ſie
Gefahr, ſtolz, aufgeblaſen, und wo ſie
vom lebendigen Vortrage ganz entfernt
war, unverſtaͤndlich und ſchwindelnd zu
werden. Eben nur der lebendige Vortrag
hatte ſie ehmahls im Kreiſe einer ſchoͤ-
nen Anſchaulichkeit erhalten; auf dem
Theater, (die Choͤre ausgenommen,) erhielt
[43] er ſie noch lange in dieſem gluͤcklichen
Kreiſe.
Da indeſſen bei einem ſo lebhaften
Volk, wie die Griechen waren, auch das
Geſchriebene zum lebendigen Vortrage
geſchrieben war, indem Herodot z. B.
einige Buͤcher ſeiner Geſchichte zu Olympia
wie ein Gedicht vorlas, und in den grie-
chiſchen Republiken die oͤffentliche Bered-
ſamkeit jeder Art des Vortrages, ſelbſt
der Philoſophie den Ton angab: ſo mußte
nothwendig auch in Schriften der Grie-
chen ſich lange Zeit jene alte, wenn ich
ſo ſagen darf, poetiſche Weiſe erhalten:
zu ſchreiben als ob man ſpraͤche.
Schreibend trug man vor; man ſchrieb
gleichſam laut und oͤffentlich, als ob zu
jedem Buch ein Vorleſer, wie ſein Genius
gehoͤrte. Ohne Zweifel iſt dieſes die Urſache,
warum in der Proſe der griechiſche Periode
[44] ſo kuͤnſtlich und ſchoͤn, wie in keiner an-
dern Sprache ausgebildet worden; der offne
Mund der Griechen, die Poeſie die ihm
vorging und der oͤffentliche Redevortrag,
der den Rhapſodieen der Poeſie folgte,
hatten ihn geformet.
Bei den Roͤmern nicht anders: denn
auch bei ihnen herrſchte die Beredſam-
keit, und der oͤffentliche Vortrag.
Ihre Gedichte laſen ſie oͤffentlich vor; aus
Perſius, Juvenal, Plinius u. a.
wiſſen wir, mit welcher Sorgfalt, mit wel-
chem Aufwande von Kunſt, zuletzt von
Ziererei und Thorheit.
Bei Griechen und Roͤmern war das
Buͤcherweſen anders wie bei uns be-
ſtellt. Man las viel weniger: große Bi-
bliotheken waren ſelten und die Buͤcher-
materialien koſtbar. Man ſchrieb alſo auch
weniger. In Rom ſchrieb nicht jeder Sklave
[45] und Buͤrger; ſondern nur die zur Gelehr-
ſamkeit oder zu Geſchaͤften Erzogene; Men-
ſchen von gutem Ton, Feldherren, Staats-
maͤnner, Kaiſer. Man hielt das Schrei-
ben fuͤr etwas Edles, und aufs beſte zu
ſchreiben fuͤr einen Ruhm, der laͤnger als
ein Triumph waͤhrte.
Man nahm ſich daher im Schreiben
eine beſtimmte Bahn; Zeitgenoſſen und
Freunde theileten ſich in dieſes oder jenes
Feld der Bearbeitung, und wie die Roͤmi-
ſche Sprache imperatoriſch gebot, ſo liebte
ſie auch in der Schreibart die Kuͤrze, die
Beſtimmtheit. Oft kehrte man den Styl
um und loͤſchte aus; man glaͤttete und
zierte wie die Schreibtafel, ſo auch die
Gedanken.
Der muͤhſamere Weg, wie man damals
zu Buͤchern kommen konnte, machte Buͤ-
cher auch werther; bei einem hoͤheren Be-
[46] grif von dem, was ſie enthielten, wandte
man auch mehr Fleiß auf das, was ſie
enthalten ſollten. Welchen Werth legte
Horaz auf ſeine wenigen Schriften! lange
polirt ließ er Ein kleines Buch nach dem
andern erſcheinen, das bei uns wie ein
Tropfe in den Ocean fließen wuͤrde. Hoͤchſt
ausgearbeitet ſind Virgils Werke; und
dennoch war ihm die Aeneis nicht ausge-
arbeitet gnug. Er wollte, daß ſie ihn nicht
uͤberlebte. So ſorgfaͤltig hervorgetrieben
ſind faſt alle Schriften, inſonderheit die
Gedichte der Roͤmer. Mit drei kleinen
Buͤchern ſeiner Elegieen wollte Properz
vor der Proſerpina erſcheinen; in ſie alle
Schoͤnheiten der griechiſchen Elegie gebracht
zu haben, dieſe Ehre war der Zweck ſei-
nes Lebens. Setzet ihn, ſetzet Horaz
und wen ihr wollet, in unſre Buͤcherrei-
chen Zeiten; ſchwerlich haͤtten ſie mit ſo
[47] viel Zuverſicht, mit ſo umfaſſendem, tief-
dringendem Fleiße gedichtet. Bis zu Boë-
thius und Auſonius hin iſt faſt jedes
kleinſte Roͤmiſche Werk ein Moſaik, ein
gearbeitetes Freſko- oder Miniatur-
gemaͤhlde.
Jedermann iſt bekannt, daß in den
mittleren Zeiten die Barbarei eines Theils
auch vom Mangel an Buͤchern und
Schreibmaterialien herkam. Wie man-
che ſchoͤne Schrift der Alten ward von den
Moͤnchen unwiderbringlich verloͤſcht, da-
mit ſie auf das dadurch gewonnene Perga-
ment ihre Chorgeſaͤnge und Homilien ſchrei-
ben konnten. Heil dem Erfinder des Lum-
penpapiers; wo er begraben liege, Heil
ihm! Mehr als alle Monarchen der Erde
hat er fuͤr unſre Literatur gethan, de-
ren ganzer Betrieb von Lumpen ausgeht
und ſo oft in Maculatur endet! Wie der
[48] Sonnenſchein die Fliegen, ſo hat Er
Schriftſteller geweckt und die Soſien be-
reichert.
Denn man bemerke. Eben in dem
Jahrhunderte, in dem das Lumpenpapier
in Gebrauch kam, traten auch jene laͤnge-
ren Romane hervor, die vorher Jahr-
hunderte lang kurze Volksmaͤhrchen oder
Lieder und Fabeln geweſen waren. Wie ent-
fernt z. B. hatte Karl der groſſe vom
Erzbiſchof Turpin, Koͤnig Artus von
Gottfried von Monmouth, Wolf-
Dietrich von Eſchilbach und jeder an-
dre Romanheld von ſeinem Chronik- oder
Romanſchreiber gelebet! Keiner von dieſen
Schreibern erfand die Fabel, die er in
die Buͤcherſprache brachte; ſie war laͤngſt
im Munde der Saͤnger oder des Volks ge-
weſen und in ihm vielfach veraͤndert wor-
den. Jetzt nahm ſie der Genius der Un-
ſterb-
[49] ſterblichkeit auf: denn das Lumpenpapier
war erfunden. Allgemach lernte man le-
ſen, da man ſonſt den Saͤnger und Fabel-
erzaͤhler nur hatte hoͤren koͤnnen.
So vermehrten ſich Chroniken, Romane,
allmaͤlich auch Abſchriften der Alten. Waͤre
die Erfindung des Lumpenpapiers fruͤher
gekommen, wie viel weniger waͤre unter-
gegangen! wie viel Schaͤtzbares haͤtten wir
ihr zu danken! Und noch ſind wir ihr ſo-
wohl durch Ueberſchreibung aus aͤlteren
Pergamenten, als durch die von ihr veran-
laßte Umarbeitungen alter Sagen und ſonſt,
Viel ſchuldig.
Was indeſſen ehemals das Aegyptiſche
Schilf ( [...]) gethan hatte, daß es naͤm-
lich die Griechiſchen Rhapſoden allmaͤlich
verſtummen machte und ſtatt ihrer leben-
digen Geſaͤnge Buͤcher ( [...]) in die
Hand gab; das thaten mit der Zeit auch
Achte Samml. D
[50] die Baumwoll- und Lumpenſchrif-
ten. Provenzalen und Trobadoren, Fabel-
und Minneſinger ſchwiegen allmaͤlich: denn
man ſaß und las. Je mehr ſich Schrif-
ten vermehrten, deſto mehr verminderten
ſich ganz eigenthuͤmliche, freie Gedanken;
endlich ward der menſchliche Geiſt ganz in
Lumpen gekleidet. Auf dieſe ward geſchrie-
ben, was man leſen und nicht leſen wollte;
mochte es am Ende ſich ſelbſt leſen! —
Nun trat die Buchdruckerei hin-
zu, und gab beſchriebenen Lumpen Fluͤ-
gel. In alle Welt fliegen ſie; mit jedem
Jahr, mit jeder Tagesſtunde vom erſten
erwachenden Morgenſtral an wachſen die-
ſer literariſchen Fama die Schwingen,
bis an den Rand der Erde. Jenes
Orakel: „wenn Menſchen ſchweigen, ſo
werden die Steine ſchreien,“ iſt erfuͤllt;
woruͤber Menſchenſtimmen ſchweigen, dar-
[51] uͤber ſprechen und ſchreien gegoſſene Buch-
ſtaben, merkantiliſche Hefte.
Nach ſo vielen andern eine Lobrede der
Buchdruckerei zu halten, waͤre ein ſehr
unnoͤthiges Werk; wir wiſſen alle, was
wir an ihr haben. Nur durch ſie, erſt
durch ſie iſt zuſammenhangende und ver-
glichene Erfahrung des menſchlichen Ge-
ſchlechts, Kritik, Geſchichte, und eine Welt
der Wiſſenſchaften worden.
Aber auch was wir an ihr nicht ha-
ben, iſt zu bemerken: was ſie naͤmlich nicht
geben kann, ja worinn ſie ſtoͤret. Eignen
Geiſt naͤmlich kann ſie nicht geben; lebhaf-
teren, tieferen Genuß an der Quelle des
Wahren, Guten und Schoͤnen mag ſie
durch die unzaͤhlbare Concurrenz fremder
Gedanken hier befoͤrdern, dort aber auch
hindern.
D 2
[52]
Mit der Buchdruckerei naͤmlich kam
Alles an den Tag; die Gedanken aller
Nationen, alter und neuer, floſſen in ein-
ander. Wer die Stimmen zu ſondern und
Jede zu rechter Zeit zu hoͤren wußte, fuͤr
den war dies große Odeum ſehr lehrreich;
andre ergriff die Buͤcherwuth; ſie wurden
verwirrte Buchſtabenmaͤnner und zuletzt
ſelbſt in Perſon gedruckte Buchſtaben.
Von Anbeginn iſt dies nicht alſo ge-
weſen. Urſpruͤnglich dachte der Menſch,
er handelte und genoß, er ſprach und hoͤrte.
Wenn er ſchreiben konnte, ſchrieb er, nur
aber was zu ſchreiben war; nicht ward er
ſelbſt, ohne zu ſehen und zu hoͤren, ein
ſchreibender Buchſtab; jetzt — — —
Iſt deſſen die menſchliche Natur faͤhig?
kann ſie es ertragen? verwirren ſich in
dieſem gedruckten Babel nicht alle Gedan-
ken? Und wenn dir jetzt taͤglich nur zehn
[53] Tages- und Zeitſchriften zufliegen und in
jedem nur fuͤnf Stimmen zutoͤnen; wo haſt
du am Ende deinen Kopf? wo behaͤltſt du
Zeit zu eignem Nachdenken und zu Ge-
ſchaͤften? Offenbar hats unſre gedruckte Lite-
ratur darauf angelegt, den armen menſch-
lichen Geiſt voͤllig zu verwirren, und ihm
alle Nuͤchternheit, Kraft und Zeit zu einer
ſtillen und edlen Selbſtbildung zu rauben.
Selbſt in der Geſellſchaft ſind die menſch-
lichen Stimmen verhallet; Romane ſpre-
chen und Journale.
Diderot hat irgendwo die Frage an
ſich gethan, die wohl jeder thut, wenn er
aufs Land oder auf eine Reiſe gehet:
„welche Buͤcher er als Freunde mit ſich
nehmen moͤchte?“ Wie im Leben ſo hat
auch im Leſen der Mann von Herz nur
wenige gepruͤfte Freunde; und bei eigner
Compoſition bleibet er gern allein.
[54]
Wuͤrden Homer und Sophokles,
Horaz, Dante und Petrarca, wuͤr-
den Shakeſpeare und Milton ihre
Werke im Kreiſe unſrer Buͤcher- und Leſe-
welt gemacht haben? Schwerlich.
Denn unverkennbar iſts, daß jemehr
durch die Buchdruckerei die Werke aller
Nationen allen gemein wurden, der ruhige
Gang eigenthuͤmlicher Compoſition großen-
theils aufgehoͤrt hat. Wer fuͤrs Publicum
ſchreibt, ſchreibt ſelten mehr ganz fuͤr
ſich als den innerſten Richter; daher
Paſcal und Roußeau unter ſo vielen
Autoren ſo wenige Menſchen fanden. Wird
nun das Publikum gar wie ein blinder
Mauleſel gelenkt, und ſchmeichelt der
Schriftſteller der Zunft, die es aͤffet und
leitet: „wie biſt du vom Himmel gefallen,
du ſchoͤner Morgenſtern?“ moͤchte man ſo-
dann jedem Schriftſteller ſagen, der aus
[55] Noth oder Feigheit dem haͤßlichen Goͤtzen,
Modegeſchmack, dienet.
„Schreibe!“ ſprach jene Stimme und
der Prophet antwortete: fuͤr wen? Die
Stimme ſprach: „ſchreibe fuͤr die Todten!
fuͤr die, die du in der Vorwelt lieb haſt.“ —
„Werden ſie mich leſen?“ — „Ja: denn
ſie kommen zuruͤck, als Nachwelt.“ —
[56]
96.
„ [...], [...]! „Enthalte dich, dul-
de!“ Sind wir denn mit der Literatur
aller Welt vermaͤhlet? Iſt kein Riegel zu
finden, der uns gegen das Andringen
ſchwarzer Buchſtaben ſchuͤtze? kein Seil
zu finden, das uns am Maſtbaum halte,
indem wir mitten durch den Geſang Derer,
die da wiſſen, was war, iſt und ſeyn
wird, gerade hin durchfahren? Gehoͤrt
fremden Meinungen unſer Geſchmack und
Verſtand, unſer Wille und Gewiſſen ? Ge-
hoͤren den Seele-Verkaͤufern unſere
Seelen?
[57]
Wahr iſts. Mit der Buchdruckerei hat
ſich im Reich der Gedanken Vieles geaͤn-
dert, und es kann wohl ſeyn, daß wenn
die Wiſſenſchaften durch ſie ſteigen, der
Geſchmack ſich durch ſie verwirren, Genie,
und Sitten endlich vielleicht gar zu Grunde
gehen muͤßten, wenn ſich nicht ein huͤlf-
reicher Genius des menſchlichen Geſchlechts
annaͤhme. Laſſen Sie uns aber an die-
ſem huͤlfreichen Genius nicht zweifeln.
Ehe Buchdruckerei da war, ging jede
Europaͤiſche Nation in einem engeren Be-
zirk von Ideen umher; ihr Charakter war
vielleicht veſter. Durch Reiſen und Leſen
iſt allem Boͤſen und Guten fremder Na-
tionen die Thuͤr geoͤfnet, und wenn es ſich
durch den Namen Geſchmack, „neuer,
fremder Geſchmack“ Aufmerkſamkeit
erwerben kann, ſo hat es ohne weitere
Ueberlegung die Menge fuͤr ſich. Welchen
[58] Thorheiten haben wir nicht nachgeahmt?
welchen werden wir noch nachahmen! Nicht
etwa nur im Spaniſchen, Engliſchen, Fran-
zoͤſiſchen, Griechiſchen, Ebraͤiſchen, ſelbſt
im Arabiſchen, Tatariſchen, Sineſiſchen
Geſchmack haben wir Deutſche geſungen
und gedichtet. Die Sprache aller Wiſſen-
ſchaften, Bilder und Ausdruͤcke der ver-
ſchiedenſten Voͤlker ſind in unſre Poeſie,
in jeden Vortrag, der das Volk angehen
ſoll, gefloſſen, ſo daß von jener Tonhal-
tenden, gleichmuͤthigen Denk- und Schreib-
art, in welche Griechen und Roͤmer das We-
ſen der Schreibart ſetzten, wenige einen Be-
griff zu haben ſcheinen. Aus allen Voͤlkern
wird fuͤr alle Voͤlker, aus allen Sprachen
fuͤr alle Sprachen geſchrieben; die ſubtilſte
Abſtraction und die niedrigſte Popularitaͤt,
finden in demſelben Buch, oft auf derſel-
ben Seite neben einander Raum. Wenn
[59] wir das Richtmaas, das Emanuel John-
ſon an einige Engliſche, von ihm ge-
nannte metaphyſiſche Dichter ange-
legt hat, an jede Production unſrer Spra-
che anlegen wollten, wo ſtuͤnden Wir?
Vor der Buchdruckerei war es moͤglich,
dieſe und jene Schrift vor dieſen und jenen
Augen zu verbergen; kaum iſt dieſes jetzt
mehr moͤglich. Alles lieſet Alles, es moͤge
von ihm verſtanden werden, oder nicht;
nach der verbotnen Speiſe luͤſtet man am
meiſten. Und da die Thorheit Derer, die
dies zu fruͤhe, zu viele, zu vermiſchte Le-
ſen auf die unvorſichtigſte Art befoͤrdern,
mit dem Eigennutz, dem Stolz, der Eitel-
keit, dem Erwerb andrer im veſteſten und
ſchaͤdlichſten Bunde ſtehet; ſo kann nur
Eine Macht in der Welt dieſen Unfug
hemmen. Es iſt beſſere Erziehung,
die ihre Zoͤglinge nicht erſt durch Schaden
[60] klug werden laͤßt; und ein ſtiller Bund
aller Guten unter einander, nichts Un-
wuͤrdiges zu verbreiten, oder zu loben.
Moͤge Gift miſchen, wer da will, und das
am feinſten gemiſchte Gift die lauteſten
Ausrufer finden; von uns ſei der Giftmi-
ſcher, ſo wie der Ausrufer verachtet. Mit
der Verwirrung des Geſchmacks und dem
Deſpotismus fabricirender Schriftſtellerei
iſts ſo weit gekommen, daß da das
Schlechteſte ohn alles Erroͤthen auf die un-
verſchaͤmteſte Weiſe gelobt werden darf,
dieſer unverſchaͤmte Deſpotismus ſich ſelbſt
ſeinen Fall bereitet. Er muß ſich ſelbſt
einen Widerſtand erwecken, der ihn ein-
ſchraͤnke und bezaͤume; oder wir gehen
durch unſre Licenz zu Grunde: denn da
durch die Buchdruckerei die Kritik ſelbſt
feil geworden iſt; ſo hat ſie auch bei
den Niedrigſten ihr Anſehen verlohren.
[61] Ihre Faſcen gelten ſo wenig mehr als ihr
Lorbeer.
Ich komme zuruͤck auf meinen Bund
der Freunde. Wie die Buchdruckerei, ſo
wird die Kupferſtecherkunſt gemißbraucht;
jene hat den Geſchmack in Werken des
Geiſtes, dieſe in Werken der Kunſt bei-
nahe zu Grunde gerichtet. Nur Ein
Mittel iſt gegen ſie wirkſam, entſchloſſene
aͤußerſte Verachtung. Niemand kaufe ein
Buch, das ſchlechter Kupferſtiche wegen
da iſt; niemand beſudle mit dieſen Ver-
derberinnen des Geſchmacks ſeine Waͤnde:
denn ſo wie durch ſchlechte Buͤcher gute
verhindert werden, ſo wird durch ſchlechte
Kupferſtiche die wahre Kunſt getoͤdtet.
Aegyptiſche Schwarzkuͤnſtler wol-
len wir die heiſſen, die dieſe beiden
großen Erfindungen unſrer Nation zu
[62] einem niedrigen Erwerb entweihet ha-
ben, und Schwarzkuͤnſtlerknechte
diejenigen, die ihnen zu ihrer ſchaͤnd-
lichen Fabrikwaare artiſtiſch oder litera-
riſch helfen.
[63]
97.
Achtes Fragment.
Reformation, Handel und Wiſ-
ſenſchaften.
Großen Begebenheiten ſind immer Revo-
lutionen des Geſchmacks gefolget. Ohne
in die Geſchichte der Griechen und Roͤmer,
der Moͤnchs- und Ritterzeiten zuruͤck gehen
zu duͤrfen, ſehen wir dies inſonderheit in
den Jahrhunderten, die der Reformation
vorangingen und ihr folgten.
[64]
Europa ward allgemach ruhiger. Staͤdte,
Handel, Gewerbe, mit ihnen auch einige
Kuͤnſte fingen an zu bluͤhen; nach und nach
verfeinte ſich der Geſchmack mit ihnen.
Dante, Petrarca, Boccaz erſchienen;
es erwachten die Alten in ihren Graͤbern.
Conſtantinopel ward erobert; die Griechen
flohen nach Italien; und es entſtand ein
Enthuſiasmus ohne Seinesgleichen. Die
ſchoͤnen Kuͤnſte und die Literatur der Alten
war, wiefern es die Zeit geſtattete und
angab, auf ihrem hoͤchſten Gipfel.
Die Entdeckung fremder Welttheile, ein
veraͤnderter Zuſtand der Finanzen, des
Krieges, der Staͤnde folgte; die Buch-
druckerei kam in Gang; ihr folgten neue,
zumal Naturwiſſenſchaften; dies Alles laͤu-
tete der Poeſie der mittleren Zeiten voͤllig
zu Grabe. Die Entdeckung fremder Welt-
theile mochten ſpaͤterhin Camoens, Er-
cilla
[65]cilla u. a. ſingen; der Gegenſtand war
groß und neu; Wunder der Natur, unge-
ſehene Dinge wurden beſchrieben; in Wiſ-
ſenſchaften kam ein neues Univerſum zum
Anblick; und doch thaten die Geſaͤnge von
ihnen bei weitem nicht die Wirkung, die
einſt vielleicht ein kleiner Fabelgeſang ge-
than hatte. In dem Verhaͤltniß, als hie
und da der Reichthum, die Pracht und
Freigebigkeit alter großer Familien ſank,
erloſch auch der Glanz ihrer alten Thaten;
mit ihren Hofhaltungen gingen auch ihre
Lobgeſaͤnge hinunter. —
Die Reformation endlich und die Phi-
loſophie, die ihr folgte, ſchuffen der Poeſie
voͤllig eine andre Zeit. Jahrhunderte lang
hatte man Klagen angeſtimmt uͤber den
verderbten Zuſtand der Cleriſei und aller
Staͤnde; die Zeit war gekommen, da die
Erbitterung aufs hoͤchſte ſtieg, und nicht
Achte Samml. E
[66] minder in Verſen als in Proſe ihre ſchar-
fen Pfeile abſchoß. Eine Menge Satyren
dieſes Inhalts, zum Theil voll Geiſt und
Herz, erſchienen; Schade, daß ſie ſich mit
der Zeit ſelbſt uͤberlebt haben: denn dau-
rende Geſaͤnge konnten ſie nicht bleiben.
Die Reformation ſelbſt iſt weniger eines
heroiſchen Lob- als eines philoſophiſchen
Lehrgedichts faͤhig; die Verdienſte der Re-
formatoren zeigen ſich wuͤrdiger in ihren
Lebensbeſchreibungen und eignen Schriften
als in Heldengeſaͤngen und Oden. Ueber-
haupt verjagte das neue Licht und die zu-
gleich mit ihm aufkommende Streittheolo-
gie aller chriſtlichen Partheien in Europa
ſowohl die Schatten des Aberglaubens,
als manche ſchoͤne Einkleidungen, die fuͤr
die Einfalt der mittleren Zeiten ſehr weiſe
erſonnen waren.
[67]
Hier beginnet nun eine große Schei-
dung der Voͤlker. Nationen, die ihrem
alten Lehrſyſtem zugethan blieben, hielten
auch an ihrer alten Dichterweiſe, z. B.
Italiaͤner, Spanier und andre Katholiſche
Voͤlker. Je fruͤher ſie zum guten Geſchmack
gelangt waren, je vielſeitiger er ſich bei
ihnen eingewurzelt hatte, je groͤßere Vor-
bilder ſie beſaßen: deſto veſter hingen ſie
an ihren Stanzen und Reimen. Italien
ließ ſich ſeinen Dante und Petrarka;
Spanien ſeinen Lope, Garcilaſſo u. f.
nicht nehmen; auch hat ſich ſeitdem das
Aeußere ihrer Poeſie voͤllig erhalten, ob-
gleich deßwegen, wie man oft glaubt, der
Geiſt dieſer Nationen ſeitdem nicht ſtill-
ſtand. Die alten Formen duͤnkten ihnen
gut; und ſie goſſen darein, wenn der Ge-
nius ſie antrieb, neue Gedanken.
E 2
[68]
In der proteſtantiſchen Welt dagegen
kam eine neue Poeſie auf. Nicht etwa
nur Gegenſtaͤnde der Religion wurden
durch das Medium der neuen Aufklaͤrung
geſehen, ſondern die geſammte Vorwelt
ward durch eben dieſes Medium betrachtet.
In Spanien und Italien haͤtten Shake-
ſpeare, Milton, Buttler u. f. nicht
ſchreiben koͤnnen, wie ſie ſchrieben; eine
Freimuͤthigkeit im Denken, die ein Vor-
bote der Philoſophie war, hatte ſich in den
proteſtantiſchen Laͤndern uͤber Manches ſchon
verbreitet; andern Gegenſtaͤnden nahte ſie
ſich nach eben der Regel. Unvermerkt alſo
nahm die Poeſie der neuen Glaubens-
Verwandten eine philoſophiſche Huͤlle um
ſich, die der Sinnlichkeit vielleicht ſchadete,
dem menſchlichen Geiſt aber nothwendig
war. Ein Italiaͤner z. B. wird in den
meiſten Oden der Englaͤnder durchaus nichts
[69] lyriſches finden, da ihnen, ſeinem Ohr
und Auge nach, Wohlklang, Fortleitung
und Beſtandheit der Bilder, Zuſammen-
hang der Empfindung, kurz Melodie und
Harmonie fehlet. W. Jones zergliedert
hinter ſeinem Commentar uͤber die Poeſie
der Morgenlaͤnder den Anfang von Mil-
ton's Paradieſe und kann in ihm nach
morgenlaͤndiſcher Weiſe nichts poëtiſches
finden. Vielen Deutſchen Dichtern wuͤrde
es nicht beſſer ergehen: denn offenbar ſind
die meiſten nur durch Reflexion Dich-
ter. In den aͤltern Zeiten, in denen man
ſich der Natur freier hingab, dieſe in ſich
ſtehen und auf ſich unbefangen wirken ließ,
oder ſie, ſo gut mans vermochte, zur Kunſt
umſchuf, war und blieb man ein Natur-
faͤnger, der auf gleichgeſtimmte Gemuͤ-
ther ſeine Wirkung nicht verfehlte. In
mancher alten Engliſchen Ballade iſt viel-
[70] leicht mehr freier Wohlklang und poëtiſcher
Geiſt, als in Young und Pope mit ein-
ander. Durch Reflexion ſind dieſe
Poëten; eine denkende iſt die Brittiſche
Muſe.
Seit der Reformation und dem hell-
aufgegangnen Licht der Wiſſenſchaften ge-
langen alſo keine perſoͤnlichen Hel-
dengedichte mehr, mit dem Wunder-
baren der alten Zeit bekleidet. Arioſt
konnte die Maͤhrchen, die man ehemals
geglaubt hatte, ſeinen Italiaͤnern zierlich
in Stanzen kleiden; ihm und ihnen waren
ſie Zeitkuͤrzende Maͤhrchen, die niemand
glauben ſollte. Uns kann Wieland die
Geſchichte Huons mit allem Zauber der
Feenwelt darſtellen; in ſeinem Maͤhrchen
iſt Oberon eine ſo wahre Perſon wie
Huon und Karl der große. Wenn
aber Taſſo eine fuͤr wahr gehaltne Reli-
[71] gion mit in ſeine Dichtung miſchte: ſo
ſtehen beide ſchon nicht auf Einem Grunde;
ſelbſt dem Katholiſchen Glauben nach wird
er in dieſen zwiſchen Wahrheit und Trug
gemiſchten Scenen eine ſchwaͤchere Wir-
kung hervorbringen, als die ein reines
Maͤhrchen hervorbraͤchte. Proteſtanten wer-
den den Milton wie einen Bramante
und Michael Angelo bewundern; ſchwer-
lich aber ſein Gedicht mit ſo ungeſtoͤrtem
Glauben leſen, wie ſie ein reines Maͤhr-
chen leſen wuͤrden; das Religions-Syſtem
ſchadet ſeinem Gedichte. — Hiſtoriſche
Epopeen haben daher in der neueren Zeit
faſt keine Wirkung gethan, weil ihnen als
Gedichten durchaus der Glaube fehlet. Das
Zeitalter der Eliſabeth, ob ſie gleich ſelbſt
eine Dichterinn war und Schmeicheleien
ſehr liebte, ward nur in Sonnetten be-
ſungen, oder in Allegorieen; Cromwell
[72] und die Wiederherſtellung KarlsII.
nur in Oden geprieſen. Auch mit groͤße-
ren Talenten als Chapelain hatte, waͤre
ſeine Jeanne d' Arc ſo wenig die blei-
bende National-Heldinn einer Epopee ge-
worden, als wenig es Voltaire's Hein-
rich der vierte worden iſt. Nur in Stel-
len kann ſeine Henriade etwa als ein phi-
loſophiſches Lehrgedicht gelten: der Streit
zwiſchen Dichtung und Geſchichte iſt und
bleibt in ihr widrig. Auch kein Held
der Deutſchen hat hinter Ottnitt, Diet-
rich von Bern, dem Koͤnige Giebich
und dem Zwergenkoͤnige Laurin den Epi-
ſchen Lorbeer erlangen moͤgen, weder Hein-
rich der Befreier Deutſchlands, noch Ma-
ximilian, Guſtav Adolph u. f. Durch
eine aufrichtige Beſchreibung ihrer Thaten
werden ſie mehr geehrt, als durch eine mit
Wahrheit gemiſchte Fabel, der am Ende
[73] Niemand glaubet. Wir ſind aus dieſer
Daͤmmerung hinaus, und wollen durchaus
Maͤhrchen als Maͤhrchen, Geſchichte als
Geſchichte leſen. Ein Theil der platoni-
ſchen Geſetzgebung in Anſehung der Dich-
ter iſt alſo ohne Hinaustreibung derſelben
blos und allein durch die linde Hand der
Zeit bewirkt worden; eine verwirrte Mi-
ſchung der Fabel und Wahrheit widerſtehet
unſerm Gedankenkreiſe.
Was vom Lobe geſagt iſt, gilt auch
vom Tadel; die echte Muſe haſſet auch
in ihm alles zu Bittere, geſchweige die
Verlaͤumdung. Warum fallen perſoͤnliche
Satyren ſobald in Vergeſſenheit oder Ver-
achtung? Ihrer Ungerechtigkeit und Ueber-
treibung, kurz des unedlen Gemuͤths we-
gen, das der Begeiſtrung einer Muſe nicht
werth war. Es giebt z. B. kaum ein
witzigeres, ein lehrreicheres Gedicht gegen
[74] die Schwaͤrmerei, als Butlers Hudi-
bras iſt; auch hat es zur damaligen Zeit
ſeinen Zweck mehr erreicht, als wenn der
Dichter auf den koͤniglichen Maͤrty-
rer das froͤmmſte Heldengedicht geſchrieben
haͤtte; wer indeſſen wird es jetzt ohne eini-
gen Ueberdruß, wenigſtens ohne den Wunſch
leſen, daß ſein Verfaſſer die Gabe der
Muſe, die er beſaß, edler angewandt haͤt-
te? — Swift, vielleicht der ſtrengſte Ver-
ſtandesmann, den England unter ſeine
Schriftſteller zaͤhlet, der unbeſtochenſte Rich-
ter in Sachen des Geſchmacks und der
Schreibart, gab ſich von boͤſen Zeitverbin-
dungen gelockt, ins Feld der Satyre; —
wer aber iſt, der von Anfange bis zu Ende
ſeines Lebens ihn deßwegen nicht bitter
beklaget? So treffend ſeine Streiche, ſo
vernuͤnftig ſeine Raſerei in Einkleidungen
und Gleichniſſen ſeyn mag, wie anders ſind
[75] ſeine Saͤtze und Spruͤche, wo er reine
Vernunft redet! Alles, was die Eng-
laͤnder Humour nennen, iſt Uebertrei-
bung; ein verzeihlicher Fehler der Natur,
der hie und da zur Schoͤnheit werden kann,
nur aber zu einer National- und Zeit-
ſchoͤnheit. Die Alten kannten das Rei-
zende eines kleinen Eigenſinnes auch; ſie
waren aber weit entfernt, die ganze Ge-
ſtalt eines Menſchen als Unform dieſem
Einen Zuge aufzuopfern. Nur dahin iſt
Humour zu ſparen, wohin er gehoͤret; und
die gemeine humoriſtiſche Poeſie hat das
Ungluͤck, daß ſie ſich mit der Stunde ſelbſt
uͤberlebet.
Was vom Lobe und Tadel gilt, gilt
auch von der ſogenannten poetiſchen
Beſchreibung. Alle Poeſie iſt von der
Zeit abgedankt oder wird von ihr abge-
dankt werden, die durch Bilder und Gleich-
[76] niſſe die Sache ſelbſt, die durch Farben
und Zierrath das Bild verdunkelt. So
manche poetiſche Landbeſchreibung der
Englaͤnder ſteht da, daß ſie uns mit ſehen-
den Augen blind mache; ſo manche andre,
daß wir bei Umſchreibungen bekann-
ter Gegenſtaͤnde oder Begriffe gar
nichts denken ſollen. Die meiſten meta-
phyſiſchen Gedichte aller Nationen
hat ein neues Syſtem der Folgezeit ſanft
in Vergeſſenheit gebracht; die Dichtkunſt
vollends, die unter dem Vorwande, neue
Erfindungen zu ſchildern, und das Woͤr-
terbuch neuer Kuͤnſte und Handwerke poë-
tiſch zu ergaͤnzen ſich anmaaßt, ſie gehoͤrt
voͤllig unter die unfreien Kuͤnſte. Der
Muſe ſind beſſere Schilderungen angewieſen,
als die, worinn ſie der Handwerker ſelbſt
durch eine ſchlichte Erzaͤhlung bei Vorzei-
gung der Inſtrumente uͤbertreffen moͤchte.
[77]
Endlich das Unmoraliſche des Dich-
ters. Hier hat die Zeit gewaltſam den
Vorhang aufgezogen und in ihrem ſtren-
gen Gericht keiner falſchen Grazie geſcho-
net. Wo ſind die — — —? Wo ſind ſie?
Wer will, wer mag ſie leſen? Und nicht
auf unzuͤchtige Dichter allein geht dies Ur-
theil des Rhadamanthus, ſondern auch
auf jeden widernatuͤrlichen, wahre Ver-
haͤltniſſe des Lebens zerſtoͤrenden Dichter.
Wie manches Beiſpiel haben wir auch hier-
uͤber ſchon erlebet! Dies Licht, dieſen Tag
haben Reformation, Philoſophie und der
unbeſtechliche Zeuge in uns, das reine
Menſchengefuͤhl verbreitet.
[78]
98.
Der Unterſchied, den das Fragment zwi-
ſchen Poeſie aus Reflexion und (wie
ſoll ich ſie nennen?) der reinen Fabel-
poeſie macht, iſt mir aus der Geſchichte
der Zeiten, auf die das Fragment weiſet,
ganz erklaͤrlich worden. So lange naͤmlich
der Dichter nichts ſeyn wollte, als Min-
ſtrel, ein Saͤnger, der uns die Begeben-
heit ſelbſt phantaſtiſch vors Auge bringt
und ſolche mit ſeiner Harfe faſt unmerk-
lich begleitet, ſo lange ladet der gleichſam
blinde Saͤnger uns zum unmittelbaren
Anſchauen derſelben ein. Nicht auf ſich
[79] will er die Blicke ziehen, weder auf ſein
graues Haar, noch auf ſein Gewand, noch
auf den Schmuck ſeiner Harfe; er ſelbſt
iſt in der Viſion der Welt gegenwaͤrtig,
die er uns ins Gemuͤth ruft.
Dies war der Ton aller Romanzen-
und Fabelſaͤnger der mittleren Zeit, und
(um bei der Engliſchen Geſchichte zu blei-
ben, aus der das Fragment Beiſpiele ho-
let) es war noch der Ton Gottfried
Chaucers, Edmund Spenſers und
ihres Gleichen. Der erſte in ſeinen Can-
terbury-Tales erzaͤhlt voͤllig noch als ein
Troubadour; er hat eine Reihe ergoͤz-
zender Maͤhrchen zu ſeinem Zweck der Zeit-
kuͤrzung und Lehre, charakteriſtiſch fuͤr alle
Staͤnde und Perſonen, die er erzaͤhlend
einfuͤhrt, geordnet; Er ſelbſt erſcheint nicht
eher, als bis an ihn zu erzaͤhlen die Reihe
kommt, da er denn ſeinem Charakter nach
[80] als ein Dritter auftritt. So Spenſer,
obgleich Er ſchon weit kuͤnſtlicher ſinget,
indem er die Geſtalten ſeiner Welt ſchon
emblematiſch ordnet. Der Fehler, den
man ihm zur Laſt gelegt hat, *) daß jedes
ſeiner Buͤcher ein fuͤr ſich beſtehendes Ganze
ſei, iſt ja eben die Natur und der Zweck
ſeiner Erzaͤhlung; uͤbrigens hat er ſeine
Ritter- und Feengeſtalten viel vorſichtiger,
als Arioſt geordnet. — —
Zur
[81]
Zur Zeit der Reformation verſchwand
mit der Welt ſolcher Geſaͤnge, der Ritter-
und Feenwelt, auch die Art ihrer Dar-
ſtellung; die Dichter waren nicht mehr
einfache Saͤnger fremder Begebenheiten,
ſondern gelehrte Maͤnner, die uns
das Gebaͤude ihres eignen Kopfs zur
Schau bringen wollten, indem ſie daſſelbe
wohl durchdacht niederſchrieben, damit wirs
leſen. Dies giebt allem eine andre Art
und Geſtalt. Laſſen Sie mich zu dem
Zweck einige Engliſche Dichter Partheilos
durchgehn.
Von Shakeſpeare fangen wir an.
Er ſtehet zwiſchen der alten und neuen
Dichtkunſt, als ein Inbegriff beider da.
Die Ritter und Feenwelt, die ganze Eng-
liſche Geſchichte, und ſo manch anderes
intereſſantes Maͤhrchen lag vor ihm auf-
geſchlagen; er braucht, erzaͤhlt, handelt
Achte Samml. F
[82] ſie ab, ſtellet ſie dar mit aller Lieblichkeit
eines alten Novellen- und Fabeldichters.
Seine Ritter und Helden, ſeine Koͤnige
und Staͤnde treten in der ganzen Pracht
ihrer und ſeiner Zeit vor, die in ſo man-
chen Geſinnungen, und dem ganzen Ver-
haͤltniß der Staͤnde gegen einander uns
jetzt wie eine aus den Graͤbern erſtehende
Welt vorkommt. Wie oft muͤſſen wir uͤber
die wunderſame Einfalt und Befangenheit
jener Zeiten laͤcheln! In dem Allen iſt er
ein darſtellender Minſtrel, der Perſonen,
Auftritte, Zeiten giebt, wie ſie ſich ihm
gaben, und zu ſeinem Zweck dienten. Nun
aber wenn er in dieſen Scenen der alten
Welt uns die Tiefen des menſchlichen Her-
zens eroͤfnet, und im wunderbarſten, jedoch
durchaus charakteriſtiſchen Ausdruck eine
Philoſophie vortraͤgt, die alle Staͤnde und
Verhaͤltniſſe, alle Charaktere und Situa-
[83] tionen der Menſchheit beleuchtet, ſo milde
beleuchtet, daß allenthalben das Licht aus
ihnen ſelbſt zuruͤckzuſtrahlen ſcheinet: da
iſt er nicht nur ein Dichter der neuern
Zeit, ſondern ein Spiegel fuͤr theatraliſche
Dichter aller Zeiten. Laßt dem alten gu-
ten W. Shakeſpeare alles was ihm
und ſeinen Zeiten gehoͤrt; gebt uns aber mit
ſeiner unendlichen Beſcheidenheit, die nir-
gend in Perſon repraͤſentirt, in welchen
Geſtalten es ſei, ſo viel innere Charakte-
riſtik, ſo viel tiefe und ſchneidende Wahr-
heit, als Er aus ſeiner alten Welt uns
darbrachte.
Mit Milton faͤngt ſich die neuere
Engliſche Dichtkunſt an; mich duͤnkt, er
zeige die Summe deſſen, was Reflexion
in der Dichtkunſt zu leiſten vermoͤge.
Der ungluͤckliche blinde Mann war in Zei-
ten gefallen, in uͤble Zeiten
F 2
[84]
fall'n on evil days,On evil days though fall'n and evil
tongues,In darkneſs and with dangers com-
paſſ'd round,And ſolitude; yet not alone —
Er rief ſeine Urania vom Himmel, die
ihn im naͤchtlichen Schlummer oder am
fruͤhen Morgen beſuchte und ſeinen Geſang
beherrſchte. Dem gelehrten, ſtarkmuͤthi-
gen Mann ſtand bei einer großen Kaͤnnt-
niß der alten und Italiaͤniſchen Dichter
auch eine Welt voll Sachen, inſonderheit
aber ſeine Sprache dergeſtalt zu Gebot, daß
er bei ſeinem erwaͤhlten Thema, an wel-
chem Er ſich etwas ſehr Großes dachte, in
jedem Wort und Laut, in jeder Zuſammen-
ſtellung und Verknuͤpfung der Worte ſich
eine eigene alt - neue claſſiſche Sprache
nach Muſtern der Alten als Philoſoph und
[85] Meiſter ausſchuf. Sein großes Gedicht
ſollte kein Maͤhrchen der alten Zeit, ſon-
dern in Form der Erzaͤhlung ein heiliges
Gedicht uͤber Himmel und Hoͤlle, uͤber
Paradies, Unſchuld und Suͤnde, mithin
eine Ausſicht uͤber unſer ganzes Geſchlecht
werden. Nicht wollte er etwa blos Zeit-
kuͤrzend vergnuͤgen, ſondern belehrend er-
bauen, und ſeine Encyklopaͤdie von Wahr-
heiten in einer heiligen Sprache veſtſtellend
verewigen. Daher waͤhlte er weder Chau-
cers Reime, noch Spenſers Stanzen;
den praͤchtigen Jambus waͤhlte er, der
in manchem Engliſchen Pſalm und alten
Volksgeſange wie zur Trompete ertoͤnt,
auch in Shakeſpear's tragiſchen Stuͤk-
ken auf der Buͤhne viel Wirkung gethan
hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie
Shakeſpear leicht und flieſſend; ſondern,
dem Inhalt ſeines Gedichts und ſeinem
[86] Geiſt angemeſſen, wie in heroiſchem Schritt,
obwohl abwechſelnd und mannigfaltig, den-
noch eintoͤnig, praͤchtig und edel. Weder
Young, noch Thomſon, weder Glo-
ver noch Akenſide haben ihn hierinn
erreichet. Jede Cadenz, jedes Bild und
Gleichniß, jede ungewohnte Redart iſt von
dem blinden Mann ſorgfaͤltig ausgedacht
und an ihre Stelle geordnet. Vielleicht
giebts keinen Engliſchen Dichter, der die
viel- und einſylbigen Woͤrter dieſer faſt
einſylbigen Sprache angenehmer zu wech-
ſeln und die barbariſche Diſſonanz ſeiner
Zeiten
— the barbarous diſſonance
of Bacchus and his revelers
kunſtvoller von ſich zu treiben gewußt
haͤtte, als Milton. Und wie in ſeinen
beiden Paradieſen ward er in ſeinem Ly-
cidas und Comus, in ſeinem Allegro
[87] und Penſeroſo, ſelbſt im Samſon und
andern Gedichtarten in Anſehung der Spra-
che und Anordnung der Gedanken, inſon-
derheit in ſeinem muſikaliſchen Versbau,
ein von ſeiner Nation noch unerreichtes
Muſter. So lange die Engliſche Sprache
lebt, wird Milton der Anfuͤhrer ihres
Chorgeſangs in Jamben, der erzaͤh-
lenden Naturbeſchreibung in eben
dieſem Sylbenmaaße, und im Ausdruck
des Affects jener monodiſchen Klage
bleiben, die ſeine Nation nach ihm ſo viel-
fach gebraucht hat. In jeder Zeile des
Geſanges iſt Er der Vater eines poë-
tiſchen Numerus und Rhythmus, den der
blinde Barde mit Ueberlegung erfand
und ſeiner unharmoniſchen Sprache mit
ſehr harmoniſchem Ohr gleichſam aufzwang.
Neben Milton lebte Cowley, ein
gleichfalls gelehrter, von ihm aber ſehr
[88] verſchiedener Dichter. Geuͤbt in der Spra-
che der Roͤmer, durchdrungen von der
Schoͤnheit der Natur, deren Pflanzen und
Baͤume er mit liebendem Fleiß beſang;
noch mehr durchdrungen von der prakti-
ſchen Philoſophie der Alten (wovon ſeine
ſchoͤnen Verſuche in Verſen und Proſe zei-
gen,) hatte er dennoch das Ungluͤck, mit
ſeiner ſogenannten Pindariſchen Ode ein
glaͤnzend boͤſes Beiſpiel aufzuſtellen, dem
man nur zu oft nachgefolgt iſt. Pindar
naͤmlich in ſeiner Ode iſt nie trunken;
jedes Bild, jede mythologiſche Geſchichte,
ja jeder Spruch in ihm ſtehet umſchrieben
da, und der ganze Gang des Geſanges
iſt weiſe geordnet. Der boͤſe Geſchmack,
der zu Cowley's Zeiten, inſonderheit
an Hofe herrſchte, verfuͤhrte ihn, ſowohl
in ſeinen Anakreontiſchen als Pindariſchen
Oden ſtatt des Ausdrucks der Empfindung
[89] Pfeile des Witzes zu werfen, und hiezu
Versart und Reim anzuwenden. Unter
ſeinen witzigen ſind oft auch große Ge-
danken, ja verſchiedne Oden waͤren ohne
dieſe geſuchte Manier Muſter ſchoͤner
Phantaſieen: denn es iſt in ihnen viele
Wiſſenſchaft und viel Scharfſinn. Die
Ode Cowley's iſt nachher von andern,
Maſon, Grey, Akinſide u. f. ſittſa-
mer, wohl auch gelehrter gemacht worden;
ich zweifle aber, ob auch harmoniſcher im
Sinne der Alten. Sie iſt und bleibt ein
gothiſches Gebaͤude, unzuſammenhaͤngend
und unuͤberſehbar in ihren Theilen, uͤber-
trieben in Bildern, mit Zierrath uͤberla-
den, in der Abwechslung des Rhythmus
ungleich und unharmoniſch. Seitdem ſich
gar die Laune oder Satyre derſelben be-
dient hat, mißgoͤnnet man ihr den Name
Ode ganz; Brittiſches Capriccio ſollte ſie
[90] heiſſen. — Cowley war alſo ſelbſt im
Fehlerhaften ein Dichter aus Reflexion,
oft nur ein witziger Dichter; demohnge-
achtet aber iſt er ein guter Geſellſchafter,
von dem man angenehm lernet.
Mit Cowley lebte Waller, und gab
einer andern Manier den Namen, die den
franzoͤſiſchen Artigkeiten nahe kommt; aber
warum iſt ſie nur artig? Galanterie iſt
eine Modeſchoͤnheit; ſie aͤndert ſich mit den
Zeiten. Auch ſind von Waller faſt nur
noch die Stuͤcke beliebt, die Empfindung
verrathen. Von Prior, Littleton und
wer auf eben dem Wege ging, gilt daſ-
ſelbe. Die faſhionable Poetry der Eng-
laͤnder hat ſich in Ausdruͤcken und Wen-
dungen dergeſtalt wiederholet, daß man
nicht nur bei jedem Reim den folgenden,
ſondern oft auch bei der erſten Zeile des
Stuͤcks die letzte zuvor weiß.
[91]
Mit dem verderbten Hofe Karls II.
ging die Herrſchaft des ſpielenden Witzes
zu Ende; die brittiſche Muſe ward, was
ſie Anfangs geweſen war, eine denkende
Muſe.
Ich uͤbergehe die Beitraͤge Den-
hams, Roskommons, Dorſet,
Garths, zu Gruͤndung eines beſſern Ge-
ſchmacks; Dryden voran, Pope nach
ihm zeigten, worinn die Poeſie der Neue-
ren am natuͤrlichſten beſtehe, naͤmlich in
verſificirtem geſundem Verſtande.
Beide Dichter, (mit ihnen Gay, Par-
nell, Prior u. a.) haben faſt alle Ein-
kleidungen verſucht, deren ihre Sprache
faͤhig war; ſie konntens aber nicht weiter
bringen, als geſunden Verſtand in nach-
geahmten, hie und da ſelbſt erfundnen
Einfaſſungen zu reimen. Pope brachte
es darinn aufs hoͤchſte. In ſeiner unſang-
[92] baren Sprache hat er in Engliſcher Ma-
nier das gethan, was Metaſtaſio in
einer Sprache, die ganz Geſang iſt, auf
eine ungleich angenehmere Weiſe that;
er brachte naͤmlich alle ſchoͤne Sentenzen,
philoſophiſche Grundſaͤtze und Lebensregeln
aufs kuͤrzeſte und zierlichſte in Reime und
wird darinn ſchwerlich uͤbertroffen werden.
Zehn Dichter hatten ihm hierinn vorgear-
beitet; er kam zu rechter Zeit und brach
die Blume. Bolingbrocke, Shaftes-
buri, King und Leibnitz gaben ihm zu
ſeinem Eſſai on Man Philoſophie in die
Hand; er reimte ihre Syſteme ſo gut er
konnte und hat ſie faſt durchgehends vor-
treflich gereimet. Auch Charaktere reimte
er meiſtens in Gegenſaͤtzen, ſcharf und
ſchneidend, inſonderheit wo der Affect ihm
die Feder ſchaͤrfte; alſo daß Pope's Ge-
dichte fuͤr eine gereimte Bluͤthenſammlung
[93] aller Moral, auch vieler Weltkaͤnntniß und
Weltklugheit dienen koͤnnen. Hoͤher hin-
aus aber reichte ſein Genius nicht. Von
Horaz liebenswuͤrdiger Satyre, geſchwei-
ge von ſeiner praktiſchen Welt- und Le-
bensweisheit hatte Pope's Gemuͤthsart
keinen Begriff; und man muß durchaus
Englaͤnder ſeyn, um in ſeinem Homer den
alten oder gar den beſſern Homer zu
finden. Die von ihm den Roͤmern nach-
geahmten Stuͤcke zeigen den fuͤrchterlichen
Unterſchied, der zwiſchen ihrer und unſrer,
wenigſtens ihrer und Pope's Poeſie war.
Ihre Muſe geht im natuͤrlichen Gange der
Sprache edeldenkend melodiſch einher; die
Popiſche Muſe geht Zwangvoll und ge-
brechlich, oft ſogar unedel daher, uͤber- und
uͤber bedeckt mit einem Geklingel von
Reimen.
[94]
Noch zwei vorzuͤgliche Dichter folgen
auf Pope, Young und Thomſon. Je-
ner, der durchaus ein Original ſeyn wollte,
wetteiferte in ſeinen Nachtgedanken mit
Shakeſpear, Milton, Pope und allen
Lehrdichtern der Welt, in ſeinen Satyren
mit Swift, (den er ſehr unwerth behan-
delt,) mit Pope und allen Satyrendich-
tern, in ſeinen Trauerſpielen mit Sha-
keſpeare, Otway u. f. Ein kuͤhner
Verſuch, original zu ſeyn, mit welchem
er aber doch am Ende nichts als Ser-
mons, Predigten zu Stande brachte,
er mochte ſie Nachtgedanken, oder Oden,
Satyren oder Trauerſpiele uͤberſchreiben.
Seine hoͤchſte und liebſte Figur in den
Nachtgedanken heißt Parenthyrſus,
(Uebertreibung) die zwar allenthalben
die witzigſten Tiraden, Eine aus der An-
dern hervortreibt und unſaͤglich viel ſchoͤne
[95] Sachen ſaget, am Ende aber doch nichts
thut, als den menſchlichen Verſtand uͤber
ſeine natuͤrliche Hoͤhe ſchrauben. Mich
wundert, daß man Young je fuͤr einen
tiefſinnigen Dichter gehalten hat; ein aͤußerſt
witziger, parenthyrſiſch- beredter, nach Ori-
ginalitaͤt aufſtrebender Dichter iſt er auf
allen Seiten. Reich an Gedanken und Bil-
dern, wußte er in ihnen weder Ziel noch
Maas; wie er auf Popes ſcherzhaften
Rath in Thomas von Aquino die Eng-
liſche Theologie ſtudirte, ſo wuͤrde er dieſe
allenfalls auch im Koran ſtudirt haben.
Wenige Dichter ſind daher mit ſo viel Vor-
ſichtigkeit, wie Er, zu leſen; in ſeinen
Nachtgedanken, wie der Name ſagt, iſt er
als ein Denker zu pruͤfen und jede Co-
quetterie des Witzes fuͤr das zu halten,
was ſie iſt, wenn ſie auch die heiligſten
Sachen betraͤfe.
[96]
Thomſon, wie unſer Geßner und
Kleiſt, ein liebenswuͤrdiger Name. Er-
funden hatte er ſeine Gedichtart nicht, ob
ſein Verehrer Aikin ihm gleich dieſen
Ruhm zuſchreibt; in Milton u. a. lag
ſie, vielleicht in einem Keime, der kuͤnftig
einer noch ſchoͤneren Entwickelung faͤhig
iſt, laͤngſt da. Thomſon aber hat den
Keim uͤberlegend erzogen; deſſen gebuͤhret
ihm die Ehre. Zu gut wußte er ſelbſt,
daß Jahrszeiten ſich in Worten und ein-
foͤrmigen Jamben nicht mahlen laſſen;
er behandelt alſo ſein Thema, wie er die
Freiheit, die Burg der Traͤgheit
und andre Gegenſtaͤnde behandelte, phi-
loſophiſch. Schildernde Lehrgedichte ſind
ſeine Jahreszeiten: denn mit Empfindung
zur Lehre muß eine Gegend geſchildert wer-
den, wenn ſie als Poeſie in die Seele des
Hoͤrenden wirken ſoll; eine Kunſt, die alle
Nach-
[97] Nachahmer Thomſons nicht eben verſtan-
den haben moͤgen. Er verſtand ſie, und
ſo wird aus dem, was ich beigebracht habe,
ziemlich klar, daß die Poeſie der Englaͤnder
von Miltons Zeiten an eine reflecti-
rende Poeſie geweſen. Die Italiaͤniſche
ſinget; die franzoͤſiſche Proſa-Poeſie rai-
ſonnirt und erzaͤhlet, die Engliſche in ihrer
aͤußerſt unmuſikaliſchen Sprache denket.
[98]
99.
Das wahre Feld der Engliſchen Poeſie
haben Sie nicht beruͤhret; es iſt die ein-
kleidende Proſe. Sobald Chaucers
Reime und die alten Balladen abgekommen
waren, man auch merkte, daß Spen-
ſers Stanzen dieſer Sprache eben ſo
ſchwer als langweilig werden muͤßten, ſuchte
man nach dem Beiſpiel Frankreichs die
leichteſte Auskunft, Proſe.
Auch hier gab den Englaͤndern ein Eng-
laͤnder, Shakeſpeare Art und Weiſe.
Er hatte Charaktere und Leidenſchaften ſo
tief aus dem Grunde geſchildert, die ver-
[99] ſchiedenen Staͤnde, Alter, Geſchlechter und
Situationen der Menſchen ſo weſentlich
und energiſch gezeichnet, daß ihm der Wech-
ſel des Ortes und der Zeit, Griechenland,
Rom, Sicilien und Boͤhmen durchaus
keine Hinderniſſe in den Weg legten, und
er mit der leichteſten Hand dort und hier
hervorgerufen hatte, was er wollte. In
jedem ſeiner dramatiſchen Stuͤcke lag alſo
nicht nur ein Roman, ſondern auch ein
in ſeiner Art aufs vollkommenſte nicht et-
wa beſchriebener ſondern dargeſtellter phi-
loſophiſcher Roman fertig, in dem
die tiefſten Quellen des Anmuthigen, Ruͤh-
renden, wie andern Theils des Laͤcherlichen,
Ergetzlichen geoͤfnet und angewandt waren.
Sobald alſo jene alten Ritter- und Lie-
besgeſchichten, von denen zuletzt Philipp
Sidney's Arkadia ſehr beruͤhmt war,
einer neueren Denkart Platz machten: ſo
G 2
[100] konnte man in England kaum andre als
Romane in Shakeſpear's Manier,
d. i. Philoſophiſche Romane erwarten.
Der Weg zu ihnen war freilich ein be-
ſchwerlicher Weg; er ging durch Politik
und Geſchichte. Da England das erſte
Land in Europa war, in welchem der
dritte Stand uͤber Angelegenheiten des
Reichs mitſprechen dorfte und von den Zei-
ten der Eliſabeth an es ein ſo bewerbſa-
mer Handelsſtaat geworden war: ſo gin-
gen die eigenthuͤmlichen Sitten ſeiner Ein-
wohner natuͤrlicher Weiſe freier aus
einander. Nicht alles war und blieb
blos Koͤnig, Baron, Ritter, Prieſter,
Moͤnch, Sklave. Jeder Stand zeichnete
ſich in ſeinen Sitten ungeſtoͤrt aus, und
dorfte nicht eben, um der Verachtung zu
entgehen, Sitten und Sprache ſeiner hoͤ-
hern Mitſtaͤnde nachahmen; kurz, er dorfte
[101] ſich auch in ſeinem humour zeigen.
Ohne Zweifel iſt dies der Grund, warum
die Englaͤnder dieſe Eigenſchaft ſo eifrig
zu einem Zuge ihres Nationalcharakters
gemacht haben; ihr humour naͤmlich war
ein Sohn der Freimuͤthigkeit und eines
eignen Betragens in allen Staͤnden.
Witz, Eigenſinn, gute und boͤſe Laune,
tolle Einfaͤlle u. f. haben andre Nationen
wie ſie, oft beſſer als ſie; nur keine Na-
tion, (ehemals vielleicht die Hollaͤnder und
einige Deutſche Reichsſtaͤdte ausgenom-
men,) glaubte ſie ſo offenbar aͤuſſern zu
muͤſſen, weil jede andre Nation das Ge-
ſetz der Gleichſtellung mit andern zu hoch
hielt. Wie aber der Italiaͤner ſeinen Ca-
pricci, der Franzoſe ſeiner Gaskonade freien
Lauf laͤßt, ſo gab der Englaͤnder ſeinem
traͤgeren humour nach; ein großes Feld fuͤr
Komoͤdien und Romane —
[102]
Wie die Parlamente in England das
oͤffentliche Reden in Gang brachten: ſo die
oͤffentlichen Blaͤtter das Schreiben uͤber
Meinungen und Charaktere. Zeitungen
und Pamphlets, Wochenblaͤtter und
Monatſchriften hatten Einkleidungen
und Schreibart dem Engliſchen Roman
gleichſam zugebildet, daher es kein Wun-
der iſt, daß der Franzoͤſiſche, Spaniſche
und Italiaͤniſche Roman eine ganz andre
Straße nahm. Inſonderheit iſt der Engli-
ſche Roman den Triumvirn der Engliſchen
Proſe, Swift, Addiſon und Steele
den groͤßeſten Dank ſchuldig Der erſte
ſchrieb ſeine Sprache in der hoͤchſten Ge-
nauigkeit (Proprietaͤt,) die er in einer Men-
ge von Einkleidungen zu erhalten wußte.
Sein Roman der Menſchenfeindſchaft, Gul-
liver, iſt vielleicht vom menſchenfreund-
lichſten, aber kranken, tiefverwundeten und
[103] ſeines Geſchlechts uͤberdruͤßigen Denker ge-
ſchrieben. Der gluͤckliche Addiſon war
von einer froheren Gemuͤthsart. Er und
ſein Gehuͤlfe, Steele, beſaßen eben die
goldne Mittelmaͤßigkeit, die zu guten
Proſe-Schriftſtellern gehoͤret. Als Maͤn-
ner von Geſchmack und von Weltkenntniß
hatten ſie das Richtmaas in ſich, fuͤr die
Menge zu ſchreiben, in keine Materie zu
tief zu dringen und zu rechter Zeit ein Ende
zu finden. Sie haben der Engliſchen Proſe
Curs gemacht und ihr das Mittelmaas
gegeben, uͤber und unter welchem man
nicht ſchreibet.
Nun konnten alſo nach und nach (viele
andre Vorarbeiten ungerechnet) die drei
gluͤcklichen Romanhelden auftreten, Fiel-
ding, Richardſon, Sterne, die zu
ihrer Zeit Epoche machten. So verſchie-
den ihre Manier iſt, ſo wenig ſchließen ſie
[104] andre gluͤckliche Formen aus, wie Smol-
lets, Goldſmiths, Cumberlands
und in andern Nationen andre ſchaͤtzbare
Originale zeigen. Keine Gattung der Poe-
ſie iſt von weiterem Umfange, als der Ro-
man; unter allen iſt er auch der verſchie-
denſten Bearbeitung faͤhig: denn er
enthaͤlt oder kann enthalten nicht etwa nur
Geſchichte und Geographie, Philoſophie und
die Theorie faſt aller Kuͤnſte, ſondern auch
die Poeſie aller Gattungen und Arten —
in Proſe. Was irgend den menſchlichen
Verſtand und das Herz intereſſiret, Leiden-
ſchaft und Charakter, Geſtalt und Gegend,
Kunſt und Weisheit, was moͤglich und
denkbar iſt, ja das Unmoͤgliche ſelbſt kann
und darf in einen Roman gebracht wer-
den, ſobald es unſern Verſtand oder un-
ſer Herz intereſſiret. Die groͤßeſten Diſpa-
[105] raten laͤßt dieſe Dichtungsart zu: denn ſie
iſt Poeſie in Proſe.
Man ſagt zwar, daß in ihren beſten
Zeiten die Griechen und Roͤmer den Ro-
man nicht gekannt haben; dem ſcheint aber
nicht alſo. Homers Gedichte ſelbſt ſind
Romane in ihrer Art; Herodot ſchrieb
ſeine Geſchichte, ſo wahr ſie ſeyn mag,
als einen Roman; als einen Roman hoͤr-
ten ſie die Griechen. So ſchrieb Xeno-
phon die Cyropaͤdie und das Gaſtmahl;
ſo Plato mehrere ſeiner Geſpraͤche; und
was ſind Lucians wunderbare Reiſen?
Wie jeder andern haben alſo auch der ro-
mantiſchen Einkleidung die Griechen Ziel
und Maas gegeben. Daß mit der Zeit
der Roman einen groͤßeren Umfang, eine
reichere Mannichfaltigkeit bekommen, iſt
natuͤrlich. Seitdem hat ſich das Rad der
Zeiten ſo oft umgewaͤlzt und mit neuen
[106] Begebenheiten auch neue Geſtalten der
Dinge zum Anſchauen gebracht; wir ſind
mit ſo vielen Weltgegenden und Nationen
bekannt worden, von denen die Griechen
nicht wußten; durch das Zuſammentreffen
der Voͤlker haben ſich ihre Vorſtellungen
an einander ſo abgerieben, und uͤberhaupt
iſt uns der Menſchen Thun und Laſſen
ſelbſt ſo ſehr zum Roman worden, daß
wir ja die Geſchichte ſelbſt beinah nicht
anders als einen philoſophiſchen Roman zu
leſen wuͤnſchen. Waͤre ſie immer auch nur
ſo lehrreich vorgetragen, als Fieldings,
Richardſons, Sterne's Romane! —
Viel denkende Dichter hat alſo England
in Poeſie und Proſe hervorgebracht, und
die Nation iſt auf ſie unermeßlich ſtolz;
die Dichter ſelbſt aber ſtarben meiſtens eines
elenden, wohl gar des Hungertodes.
[107]
100.
Der poetiſche Himmel Britanniens hat
mich erſchreckt. Wo ſind unſre Shake-
ſpeare, unſre Swifts, Addiſons,
Fieldings, Sterne? Wo iſt jene Menge
von Edlen, die vorangingen oder wenigſtens
mit am Werk waren, die Philipp Sid-
ney, Walter Raleigh, Baco, Ros-
common, Dorſet, Algernon Sid-
ney, Shaftesburi, Halifax, Som-
mers, Bolingbrocke, Littleton, Wal-
pole u. f.? Wir wachten auf, da es allent-
halben Mittag war und bei einigen Natio-
nen ſich gar ſchon die Sonne neigte. Kurz,
wir kamen zu ſpaͤt.
[108]
Und weil wir ſo ſpaͤt kamen, ahmten
wir nach: denn wir fanden viel Vortref-
liches nachzuahmen. Franzoſen, Spaniern,
Italiaͤnern, Britten, ſelbſt Hollaͤndern ahm-
ten wir nach; und wußten nie recht, wozu
und weßwegen? Unſer verdiente Opitz war
mehr Ueberſetzer, als Dichter. In Weck-
herlin u. a. iſt der groͤßeſte Theil fremdes
Gut. So ſind wir fortgeſchritten; und
wer ahmt uns nach? Wenn in Italien die
Muſe ſingend converſirt, wenn ſie in Frank-
reich artig erzaͤhlt und vernuͤnftelt, wenn
ſie in Spanien ritterlich imaginirt, in Eng-
land ſcharf- oder tiefſinnig denket; was thut
ſie in Deutſchland? Sie ahmt nach.
Nachahmung waͤre alſo ihr Charakter,
eben weil ſie zu ſpaͤt kam. Die Originalfor-
men waren alle verbraucht und vergeben.
[109]
101.
So uͤbel ſtehet's nicht mit der Deutſchen
Muſe, wie Sie fuͤrchten. Es iſt vielleicht
der Hauptfehler unſrer Nation, daß ſie
aus zu großer Gefaͤlligkeit gegen Fremde
ſich ſelbſt nicht kennet und achtet.
Wahr iſts, wir kamen ſpaͤt; deſto juͤn-
ger aber ſind wir. Wir haben noch viel
zu thun, indeß andre ruhn, weil ſie das
Ihrige geleiſtet haben.
Und waren wir in jenen Zeiten muͤßig?
Nichts weniger; durch andre, vielleicht
wichtigere Geſchaͤfte wurden wir von einer
Bahn zuruͤckgehalten, die uns immer noch
[110] blieb. Fuͤr ganz Europa ſtanden wir da-
mahls vor den Riß, ſowohl gegen Roms
Deſpotie, als gegen eindringende Hunnen
und Tataren. Daß Europa nicht zum
Kalmuckenlande oder zur Tuͤrkei ward,
haben Deutſche verhindert; Raum zu
dem friedlichen Garten, den die Muſen
lieben, haben ſie mit ihrem Blut erfochten.
Unſre Sprache iſt im Beſitz aͤlterer
Poeſie, als deren ſich Spanier, Italiaͤner,
Franzoſen und Britten ruͤhmen koͤnnen; *)
einzig nur unſre Verfaſſung war Schuld,
daß wir Jahrhunderte lang dies Feld un-
gebauet ließen. Wir zogen nach Italien,
und ſonſt in der Welt umher; haben aber
doch, ſelbſt in dieſen fuͤrchterlichen Zeiten,
fuͤr ganz Europa manches Nuͤtzliche erfun-
den. Endlich, da die Reformation aus
[111] unſrer Mitte hervorbrach, und uns nach
vielem andern Ungemach mit dem dreiſſig-
jaͤhrigen Kriege eine faſt allgemeine Ver-
wuͤſtung und die ſo gefaͤhrliche Bekannt-
ſchaft mit fremden Nationen auf den Hals
zog; — muͤſſen wir, wenn wir die Ge-
ſchichte Deutſchlands durchgehn, uns nicht
wundern, daß noch ſo viel ward, als ge-
worden iſt?
Denn nun reiſeten die Fuͤrſten, die
Edeln. Sie ſtaunten das Ausland an,
und ſprachen, laſen, ſchrieben fremde Spra-
chen. Und unſre gutherzigen Dichter freue-
ten ſich jeder neuen Sonne, die aufging,
fanden ſich geehrt, wenn ſie Geſaͤnge auch
nur zueignen durften, ohne daß ſie ge-
leſen wurden. In Siebenbuͤrgen dichtete
der gute Opitz, Weckherlin in Eng-
land und Frankreich, Flemming am
Caſpiſchen Meer Deutſche Gedichte; nie-
[112] mand dankte es ihnen, daß ſie es thaten.
Und wer verdankte es dem Andreas
Gryphius, dem von Lohenſtein, daß
ſie unter ihrer Buͤrde buͤrgerlicher Geſchaͤfte
fuͤr Sprache und Poeſie das thaten, was
ſie gethan haben?
Dank alſo auch dem guten von Logau,
daß er in den wilden Zeiten des dreiſſig-
jaͤhrigen Krieges ſeine dreitauſend Sinn-
und andre Gedichte aufſchrieb, ob er gleich
ein Deutſcher Baron war. Dank einem
Dietrich von dem Werder, daß er
den Taſſo uͤberſetzte, und gleichwohl Hof-
marſchall ſeyn konnte, ja gar ein Regi-
ment commandirte. Dank — o wie tief
haben wir Deutſche anfangen, aus wel-
cher druͤckenden Barbarei uns hervorarbei-
ten muͤſſen, die uns noch allenthalben ſo-
gar als Ehre, als Vorzug, als Stam-
mes- und Nationalruhm anklebt! „Wel-
cher
[113] cher Mann von Ahnen wird ein Poete,
ein Savant, ein Philoſophe ſeyn wollen,
wenn er auch ein Taſſo, ein Baco,
ein Shaftesburi werden koͤnnte?“ —
Solon und Alexander, Caͤſar und
Auguſtus, ſo viele Fuͤrſten und Edle in
Italien, Spanien, Frankreich, England
dachten anders.
„Weil wir alſo ſpaͤt kamen, ſo ahm-
ten wir freilich viel nach: denn wir fan-
den viel Vortrefliches nachzuahmen.“ Dies
war Natur der Sache, nichts mehr und
nichts minder; wer zuletzt kommt, thaͤte ſehr
unrecht, wenn er nicht nachahmte. So folg-
ten die Roͤmer den Griechen, den Roͤmern
die Moͤnche, Moͤnchen und Arabern die Pro-
venzalen, den Provenzalen mittel- oder un-
mittelbar alle gebildete Nationen Europa's;
warum ſollten dieſen nicht die Deutſchen
folgen? Alle Kunſt iſt Nachahmung; nur
Achte Samml. H
[114] durch Nachahmung iſt der Menſch zur
Kunſt gelanget; nur durch ſie iſt er Menſch
worden. Waͤre alſo auch Nachahmung
der Charakter unſrer Nation, und wir
ahmten nur mit Beſonnenheit nach: ſo
gereichte dieſes Wort uns zur Ehre. Wenn
wir von allen Voͤlkern ihr Beſtes uns
eigen machten: ſo waͤren wir unter ihnen
das, was der Menſch gegen alle
die Neben- und Mitgeſchoͤpfe iſt,
von denen er Kuͤnſte gelernt hat.
Er kam zuletzt, ſah Jedem ſeine Art ab,
und uͤbertrift oder regiert ſie alle.
Zu dieſem Zweck haben wir ein vor-
trefliches Mittel in unſrer Gewalt, unſre
Sprache; ſie kann uns das ſeyn, was
dem Kunſt-nachahmenden Menſchen die
Hand iſt. Man ruͤhmt den Sklavoni-
ſchen Sprachen nach, daß ſie zur Nachbil-
dung fremder Idiome in jeder Wendung,
[115] in jedem Uebergange geſchickt ſeyn; die
deutſche Sprache hat dieſe Faͤhigkeit vor
allen Toͤchtern der lateiniſchen, ſelbſt vor
der Engliſchen Sprache. Alle dieſe ſind
von Zwitternatur; aus ihren engeren oder
weiteren Schranken koͤnnen ſie nicht hin-
aus, um ſich einer fremden Sprache nur
einigermaaſſen zu bequemen. Vor allen
iſt die Franzoͤſiſche Sprache die gebunden-
ſte, die gleichſam gar nicht uͤberſetzen, gar
nicht nachbilden kann; eine ewig Unge-
treue, muß ſie alles nur auf ihre, d. i.
auf eine ſehr mangelhafte Weiſe ſagen.
Die Deutſche Sprache, unvermiſcht mit
andern, auf ihrer eignen Wurzel bluͤhend
und eine Stiefſchweſter der vollkommen-
ſten, der griechiſchen Sprache, hat eine
unglaubliche Gelenkigkeit, ſich dem Aus-
drucke, den Wendungen, dem Geiſt, ſelbſt
den Sylbenmaaßen fremder Nationen, ſo-
H 2
[116] gar Griechen und Roͤmern anzuſchlieſſen
und zu fuͤgen. Unter der Bearbeitung jedes
eigenthuͤmlichen Geiſtes wird ſie gleichſam
eine neue, ihm eigne Sprache.
Mithin halte ichs nicht nur fuͤr keine
Schande, wenn man uns Nachahmung
vorwirft; vielmehr vermehrt es den Reich-
thum unſrer Gedanken und Wendungen,
unſrer Vorſtellungs- und Sprachweiſen,
wenn wir, wie keine andre Nation thun
kann, die Geſtalt fremder Idiome mit
uͤberlegendem Verſtande und weiſer Hand
nachbilden. Moͤge Hagedorn dem Ho-
raz, dem Pope, Chaulieu und vielen
andern, die er nicht verſchwiegen, moͤge
Gleim dem Anakreon und wenn man
will, auch dem Aeſop, Phaͤdrus, Tyr-
taͤus, Moncrif, Bernard u. f. nach-
geahmt haben; ahmten ſie als Maͤnner
nach, alſo daß ihre Nachbildung in unſrer
[117] Sprache ein Werk war, um ſo beſſer; ſo
haben ſie ihre Nation mit vortreflichen
Denkweiſen mehrerer Geiſter und Voͤlker
bereichert. Einem reichen Dichter unſrer
Sprache hat man nachgerechnet, daß er in
Homers, Pindars, Xenophons,
Lucians, Arioſts, Cervantes, Po-
pe, Fieldings, Sterne, ſogar des
Koͤniges Davids und der Sultanin Sche-
herazade Art und Manier Pſalmen und
Maͤhrchen, Helden- und Lehrgedichte, Epi-
ſche Geſaͤnge und Romane geſchrieben, ge-
dichtet und geſungen habe. Deſto beſſer!
Um ſo reicher ſind wir durch ihn worden.
Die Ananas, die tauſend feine Gewuͤrze
in ihrem Geſchmack vereint, traͤgt nicht
umſonſt eine Krone.
[118]
102.
Und waͤre es denn wahr, daß die Deut-
ſchen ſo ganz Charakterlos nachahmen?
Das mindeſte Gefuͤhl des Genius unſrer
Sprache und unſrer Schriften zeigt etwas
anders von den uraͤlteſten Zeiten her.
Leſet Otfried, leſet das alte Siegs-
lied unter Ludwig; der gutmuͤthige und
biedre Charakter der Nation iſt ſchon
durchaus kennbar. Er iſts in den lateini-
ſchen Schriftſtellern der mittleren Zeiten,
wie in unſern altdeutſchen Spruͤchwoͤrtern,
Apophthegmen und Reimen. Allenthalben
findet ihr Altdeutſchen Witz und
[119] Verſtand in den kuͤrzeſten ungekuͤn-
ſtelten Worten. Wer am Charakter der
Deutſchen Nation zweifelt, darf irgend
nur ein Woͤrter- oder Spruͤchwoͤrterbuch,
Agrikola, Frank, Zinkgraͤf, Leh-
mann, oder eine Sammlung von Geſchich-
ten, Lehrſpruͤchen, Liedern, Fabeln und
Erzaͤhlungen durchgehen. In Trimberg,
Kaiſersberg, Brandt, Luther, Rol-
lenhagen, Opitz, Logau, Dach,
Tſcherning u. f. ſpricht dieſer Ver-
ſtand- und Lehrreiche Genius auf
allen Seiten. Vergleicht unſre Deutſche
Minneſinger mit den Provenzalen. Nicht
nur von Seiten der Sitte gewinnen die
unſern, ſondern oft auch in Ruͤckſicht der
innigen Empfindung. In Suͤden, wenn
ihr wollt, iſt mehr Luſtigkeit und Frech-
heit; hier mehr Liebe und Ehre, Beſchei-
denheit und Tugend, Verſtand und Herz.
[120]
Rechtliche Ehrlichkeit alſo, Richtigkeit
in Gedanken, Staͤrke im Willen und Aus-
druck, dabei Gutmuͤthigkeit, Bereitſchaft
zu helfen und zu dienen; dies iſt die
Gemuͤthsart unſres Volks, die es auch
im Nachahmen, ſelbſt im ungeſchickten
Nachahmen des Fremden nie verlaͤugnen
konnte. Denn woher fiel das Nachahmen
der Deutſchen oft ſo ungeſchickt aus? Weil
ſie es allenthalben zu ehrlich meinten,
ſo wurden ſie oft getaͤuſcht und betrogen.
Die ganze Nachahmungsſucht der Deut-
ſchen ruͤhrt von ihrer Gutmuͤthigkeit
her. Sie dachten zu beſcheiden von ſich,
und wollten immer lernen, auch wo ſie
allenfalls lehren konnten. Der uͤble Ge-
ſchmack, in den ſie ſich zu Hofmanns-
waldau und Lohenſteins, zu Talan-
ders, Weiſe und Menantes Zeiten
ſtuͤrzten, ruͤhrte von ihrer gutmuͤthigen Ge-
[121] faͤlligkeit gegen die ſogenannten Leute
von Welt, gegen ihre Großen und
Hofleute her, die in dieſem uͤbeln Ge-
ſchmack das Paradies fanden. Beſſers,
Koͤnigs, Heraͤus, Neukirchs Canzlei-
poeſieen gingen auf eben dieſem plattge-
tretenen Hofwege ins Verderben.
Sobald aber der Deutſche Verſtand
wieder zu Kraͤften kommen konnte, zeigte
ſich ſogleich unſere Gemuͤthsart wieder;
Ueberlegung, Biederkeit und Herz. Wel-
che kindliche Gutmuͤthigkeit herrſcht z. B.
in Brockes Schriften! Wie ein Liebha-
ber an der Geliebten haͤngt er an einer
Blume, an einer Frucht, an einem Gar-
tenbeet, einem Thautropfen! Mit uͤber-
ſtroͤmender Wortfuͤlle mahlt er ſeinen Ge-
genſtand voll Liebe und Bewunderung,
um ja keine andre als gutmuͤthige Em-
pfindungen zu erregen. Gegen Cowleys
[122] Beſchreibung von Pflanzen und Blumen
werden wir unſern Brockes nicht tauſchen.
Die Poeſie der Niederſachſen ging auf
eben dem Wege fort. Hagedorn iſt ihr
ſchoͤner claſſiſcher Gipfel. Lege man mir
Waller, Denham, Gay, Roscom-
mon, Dorſet und noch eine Reihe ſol-
cher Helden zuſammen; Hagedorn bleibt
mir. Wir haben in ihm die Bluͤthe von
hundert lehrreichen, angenehmen, mora-
liſchen, froͤhlichen Dichtern.
Ihm gegenuͤber ſteht Haller, der eine
Alpen-Laſt der Gelehrſamkeit auf ſich
trug. Was von Haller mit Pope ver-
glichen werden kann, iſt uͤber Pope; was
aus Pope's lebendiger Welt an ſeinen
Satyren und Charakteren in ſeinem Reim-
geklingel daſteht, wuͤrde Haller redlicher
aufgeſtellt haben. Bewahre uns die Muſe
vor Dichtern, bei denen Verſtand ohne
[123] Herz, oder Herz ohne Verſtand iſt. Zwei
Popiſche Gedichte wuͤnſchte ich indeſſen
meinem Vaterlande wohl eigen, ſeinen
Verſuch uͤber den Menſchen und
uͤber die Kritik. Ich habe nicht den
mindeſten Zweifel, daß wir beide beſſer,
als Pope ſie ſchrieb, zu ihrer Zeit bekom-
men werden. Unſres Hallers Gedichte
ſind ein Richtmaas der Sitten, ſo wie
der Wiſſenſchaft und Gedenkart. Man
kann von ihnen und den Werken mehrerer
Deutſcher Dichter ſagen, daß kein falſcher
Gedanke (Religionsvorſtellungen etwa aus-
genommen) in ihnen ſei; welches man von
wenig auslaͤndiſchen Dichtern ſagen moͤchte.
Wie Hallers Ode auf die Ewigkeit iſt,
erſcheint nichts Aehnliches in Pope.
Und noch hatte Haller außer ſeinen
großen Verdienſten um mehrere Wiſſen-
ſchaften ein Gluͤck, deſſen ſich der Englaͤn-
[124] der nicht ruͤhmen konnte, er ward wie
Opitz der Vater eines beſſeren Geſchmacks
in Deutſchland, da Pope nichts anders
als Drydens und mehrerer Vorgaͤnger
feinerer Nachgaͤnger war. —
Ohne Zweifel erwarten Sie nicht, daß
ich jede gutmuͤthige Bemuͤhung der Deut-
ſchen nach Jahren durchgehen ſoll, wie ſie
z. B. den Verſtand und Witz ihrer Lan-
desleute bald beluſtigten, bald erwei-
terten, oder dazu hieher und dorther bei-
trugen. Jeder that was er thun konnte;
und Gellerts, Cramers, der beiden
Schlegels, Rabners, u. a. guter
Wille wird dabei gewiß aufwiegen koͤnnen,
was die Richer, la Motte, und J. B.
Roußeau, oder die King's, Philipp's
u. f. auswaͤrts geleiſtet haben. In ihrer
Lage ſind mir die Namen Lange und
[125]Pyra werther, als hundert ſchreibſelige
Namen ſpaͤterer Zeiten.
Kleiſt kommt; und wer verkennete an
ihm ſein Deutſches Herz, ſeinen edeln
Charakter? Als Kuͤnſtler der Poeſie, dazu
in mancherlei Arten, moͤchte ich lieber
Thomſon ſeyn, Thomſon inſonderheit
ſeit er Italien geſehen hatte; aber als
Menſch und Dichter gilt es keine Frage.
Kleiſts Herz lebt in ſeinen Gedichten, in
ſeinem Fruͤhlinge, in mehreren ſeiner
Oden, in ſeinem Geburts- und Gra-
besliede, in ſeiner Sehnſucht nach
Ruhe, in Cißides und Paches. Nach
ſeinem Seneka wollen wir ihn nicht
meſſen; aber den edlen Geiſt, das patrio-
tiſch-menſchliche Gemuͤth, das mitten un-
ter Kriegesſcenen in dieſe kleinen Gedichte
wie in ein Aſylum floh und jetzt darinn,
wie in einer zerſtuͤckten Urne ſein ewiges
[126] Denkmal findet, wollen wir werth halten
und lieben.
Ihm fuͤge ich Leßing und Gleim
bei. Des Erſten Genius lebt in jeder
Zeile ſeiner Schriften, zumal in ſeinem
Nathan; und in Gleims Schriften
ſchlaͤget gewiß ein Herz vom wahreſten
Deutſchen Charakter. Zu ſeinen Kriegs-
liedern war Leßing der Vorredner; in
ſeinen Fabeln, Liedern, und mehreren ſei-
ner Gedichte verbinden ſich Muth und
Treue, Freundesgefuͤhl, Einfalt und Staͤrke.
Klopſtocks Ode an Gleim iſt ein Bild
des Dichters und ſeiner Gedichte.
Man iſt gewohnt, Klopſtock den Deut-
ſchen Milton zu nennen; ich wollte, daß
beide nie zuſammen genannt wuͤrden, und
wohl gar daß Klopſtock den Milton
nie gekannt haben moͤchte. Beide Dichter
haben heilige Gedichte geſchrieben; ihre
[127] Muſe aber iſt nicht dieſelbe. Wie Moſes
und Chriſtus, wie das alte und neue
Teſtament ſtehen ſie einander gegenuͤber.
Miltons Gedicht ein auf alten Saͤulen
ruhendes durchdachtes Gebaͤude; Klop-
ſtocks Gedicht ein Zaubergemaͤhlde, das
in den zarteſten Menſchenempfindungen und
Menſchenſcenen von Gethſemane aus uͤber
Erd' und Himmel ſchwebet. Die Muſe
Miltons iſt eine maͤnnliche Muſe, wie
ſein Jambus; die Muſe Klopſtocks eine
zaͤrtere Muſe, die in Erzaͤhlungen, Elegieen
und Hymnen unſre ganze Seele, den Mit-
telpunkt ihrer Welt durchſtroͤmet. In An-
ſehung der Sprache hat Klopſtock auf ſeine
Nation mehr gewirkt, als Milton vielleicht
auf die Seinige wirken konnte; wie er
denn auch ungleich vielſeitiger als der Britte
uͤber dieſelbe gedacht hat. Eine ſeiner
Oden im Geſchmack des Horaz iſt nach
[128] dem Richtmaas der Alten mehr werth,
als ſaͤmmtliche hochaufgethuͤrmte Brittiſche
Odengebaͤude. — Daß Klopſtock zu ſei-
nem Hermann einen Gluck fand, daß
er durch ſeine Geſaͤnge ihn und andre
ſeines Geiſtes zu dieſer Gattung einfacher
Muſik weckte, gehoͤret mit zu den gluͤckli-
chen Begegniſſen ſeines Lebens; dem blin-
den Barden in Britannien ward mit ſei-
nem Lycidas und Samſon dies Gluͤck
nicht. Wenn uͤberhaupt die Muſe der Ton-
kunſt in der Einfalt und Wuͤrde, die ihr
gebuͤhret, zu uns zuruͤckzukehren wuͤrdigte;
weſſen Worte wuͤrden ſie freundlicher her-
nieder zaubern, als Klopſtocks? —
Wollten wir die goldnen philoſophiſchen
Oden unſres Uz gegen die Oden des Cow-
ley; Hagedorn gegen Waller; Cro-
negks beſſere Gedichte gegen Prior;
Witthof (in ſeiner erſten Ausgabe) gegen
Aken-
[129]Akenſide; Gerſtenberg ſelbſt gegen
Otway und Waller vertauſchen? Ich
bleibe bei meinen Landesleuten; bei weni-
germ Glanze der Kunſt iſt in ihnen mehr
Gemuͤth, mehr wahre Empfindung.
In allen Liedern, die von unſrer Jugend
geſungen werden, ſo verſchieden der Ge-
nius der Dichter ſei, in Claudius,
Hoͤlty, Stolberg, Jakobi, Voß,
Schiller iſt der Charakter unſrer Nation,
Gemuͤth, kennbar. —
Selbſt die Art, wie ſich die Deutſchen
fremder Erſcheinungen angenommen haben,
zeigt die Herzlichkeit ihres Charakters.
Wo iſt dem Milton und Oßian waͤr-
mer gehuldigt worden, als in Deutſchland?
Stand in England jemand auf, der ſich
des Galiſchen Saͤngers angenommen haͤtte,
wie Denis? den er beſeelt haͤtte, wie
z. B. Koſegarten und mehrere unſerer
Achte Samml. I
[130] Landsleute? Nehmet eine ausgewaͤhlte
Sammlung Deutſcher Lieder und ſtellet
ſie der beſten Engliſchen entgegen; an inne-
rem Werthe, wohin wird die Waage ſin-
ken? Ihre Geſaͤnge der Empfindung ſind
meiſtens Schottiſche Lieder.
Gern nenne ich noch zuſammen Wie-
land und Geßner. Den erſten hat man
ſehr unzeitig mit Voltaire verglichen, mit
Voltaire, der bei dem helleſten Kopf und
der ſchlaueſten Gewandtheit doch nur ein
witziger Satyr war, und zwar im Grunde
nur in Einer Manier des Witzes, die er
tauſendfach zu veraͤndern und nach dem
Geſchmack ſeines Zeitalters, ja wo moͤg-
lich jeder Perſon in demſelben zu modifici-
ren wußte. Die Muſe unſres Landsman-
nes iſt ein reinerer Genius, der in jeder
Geſtalt, die er annimmt, gewiß einen
edleren Zweck hatte, als uns blos witzig
[131] zu amuſiren. Ein echter Juͤnger jener alten
gaya ciencia, ob er uns nach Delphi
oder Tarent, nach Sicilien oder Sa-
lerno, ins Faß des Diogenes oder an
die Tafelrunde, nach Bagdad oder
ins Feenland geleite. Der Geiſt der So-
kratiſchen Schule verließ ihn ſelten: denn
ſeine oft mißverſtandene Philoſophie iſt am
Ende doch Weisheit des Lebens.
Warum iſt Geßner von allen Natio-
nen, die ihn kennen lernten, mit Liebe
empfangen worden? Er iſt bei der feinſten
Kunſt Einfalt, Natur und Wahr-
heit. In Darſtellung einer reinen Huma-
nitaͤt ſollte ihn ſelbſt das Sylbenmaas
nicht binden; wie auf einem Faden, der
in der Luft ſchwebt, laͤßet er ſich in ſeiner
poëtiſchen Proſe oder proſaiſchen Poeſie
jetzt auf bluͤhende Fluren hinab, jetzt ſchwin-
get er ſich in die goldnen Wolken der
I 2
[132] Abend- und Morgenroͤthe, bleibet aber im-
mer in unſerm blauen Horizont geſellig,
froh und gluͤcklich. Mit Kindern ward er
ein Kind, mit den erſten Menſchen Einer
der erſten Schuldloſen Menſchen, liebend
mit den Liebenden und ſelbſt geliebt von
der ganzen Natur, die ihm in ſeiner Un-
ſchuld ihren Schleier wegzog. Gerade der
einfachſte Dichter, deſſen ganze Manier
Verbergung der Kunſt war, iſt unſer be-
ruͤhmteſter Dichter worden, und hat man-
che Auslaͤnder mit dem ſuͤßen Wahne ge-
taͤuſcht, als ſei alle unſre Poeſie reine
Humanitaͤt, Einfalt, Liebe und
Wahrheit.
[133]
103.
Bei der gutmuͤthigen Lehrhaftigkeit, die
Sie den Deutſchen zuſchreiben, vergeſſen
Sie, daß Form das Weſen der Poeſie
iſt; und wer begreift ſchwerer, was Form
ſei, wer kann ſich in ſie minder fuͤgen,
geſchweige ſich dieſelbe an- und zubilden,
als ein Deutſcher? Unſer Leben, unſre
ganze Verfaſſung iſt ja Unform.
Ihr gelehrter Opitz uͤberſetzte aus allen
Sprachen; aber wie ſchwer! wie einfoͤr-
mig! Leſen Sie ſeine Antigone, ſeine
Trojanerinnen, ſeinen Apoll und
[134] Daphne, (eine Italiaͤniſche Oper,) ſeine
Sonnette und Sinngedichte; wie ſchwer,
und einfoͤrmig!
Zweitens. Kritik muß die Poeſie als
Kunſt ausbilden; was iſt aber Kritik bei
den Deutſchen? Eine verpachtete Bude,
eine verachtete Laͤſterſchule. Was iſt vom
Geſchmack einer Nation zu halten, die auf
ihren Richterſtuͤhlen des Geſchmacks Na-
menloſe feile Lictoren verehret? Was iſt
von ihrer Gutmuͤthigkeit zu halten, wenn
ſie falſch Maas und Gewicht des Urtheils
oͤffentlich duldet?
Endlich ſcheinets, daß die Deutſche
Poeſie auf die von Ihnen angezeigte Weiſe
eine Kinderpoeſie ſei und ſeyn werde.
Sie unterhaͤlt uns mit ſchoͤnen Bildern
und Abſtractionen; oder zaubert uns in
ein Arkadien voll Unſchuld, Liebe und Ein-
falt, das nirgend iſt, als in der Phan-
[135] taſie der Dichter. Es iſt alſo leicht zu
begreifen, daß Maͤnner von Geſchaͤften
und reell-denkende Menſchen ſich mit
Fantaſtereien ſolcher Art wenig abgeben
werden. Sie ſind Spielwerke der Weiber
und Kinder, uͤberhaupt aber eccentriſcher,
muͤßiger Menſchen.
[136]
104.
Form iſt Vieles bei der Kunſt; aber nicht
Alles. Die ſchoͤnſten Formen des Alter-
thums belebet ein Geiſt, ein großer Ge-
danke, der die Form zur Form macht,
und ſich in ihr wie in ſeinem Koͤrper offen-
baret. Nehmt dieſe Seele hinweg; und
die Form iſt eine Larve.
Vollends poëtiſche Form iſt vom Ge-
danken und von der Empfindung dergeſtalt
abhaͤngig, daß ohne dieſe ſie wie ein ſchoͤn-
gezimmerter Block daſtehet: denn Poeſie
wirkt durch Rede. Rede aber enthaͤlt
nicht nur, ſondern ſie iſt eine Folge von
[137] Gedanken. Ohne dieſe iſt das ſchoͤnſte
Sonnet ein Klinggedicht; nichts weiter.
Soll ich waͤhlen, Gedanken ohne Form,
oder Form ohne Gedanken: ſo waͤhle ich
das Erſte. Die Form kann meine Seele
ihnen leicht geben.
Und waͤren die Deutſchen denn von
jeher ſo Formlos geweſen? Bei den Min-
neſingern finde ich dies nicht; bei Reineke
dem Fuchs noch minder. Ihre alten Lie-
der, Spruͤche und Erzaͤhlungen haben eine
ſo gedrungene, oft ſo geiſtige Form, daß
es ſchwer ſeyn wuͤrde, ein Wort hinzuzu-
thun oder hinwegzunehmen. Opitzens
Manier iſt freilich einfoͤrmig; Dank ihm
aber fuͤr dieſe Einfoͤrmigkeit, die zum Zweck
hatte, uns bei der Skanſion der Syl-
benmaaße veſtzuhalten. Haͤtte er ſich wie
ſeine Vorgaͤnger an der bloßen Decla-
mation gereimter Verſe begnuͤgt: ſo waͤre
[138] er freilich abwechſelnder worden; er haͤtte
uns aber auch auf den Irrweg aller der
Nationen gefuͤhrt, die bis auf den heuti-
gen Tag noch keine echte Quantitaͤt der
Sylben haben. Unſre Sprache gebietet
gleichſam Form, mehr als irgend eine
andre; die Franzoͤſiſche, die Engliſche Spra-
che ſind, mit ihr verglichen, in der Poeſie
Formlos: denn nur Willkuͤhr und Ueber-
einkunft hat bei ihnen hier dieſe Art des
Reims, dort jene Regel des Geſchmacks
feſtgeſtellt, die der Sprache ſelbſt nach un-
beſtimmt waren. Unſre Sprache ſtrebt der
ſchwerſten, zugleich aber auch der ſchoͤnſten
und beſtimmteſten Form nach, der Form
der Alten.
Zuerſt verſuchten wir dieſes lyriſch;
wer iſt, der eine Ode Uz, Klopſtocks,
Ramlers Formlos nennen doͤrfte? Der
letzgenannte Dichter hat in dem, was Form
[139] der Sprache iſt, in Oden, Liedern, Can-
taten, Idyllen und Sinngedichten ſo viel
geleiſtet, und an den beliebteſten Formen
eigner und fremder Werke ſo oft gebeſſert,
daß des Boileau Feile gegen die ſeinige
ein ſtumpfes Werkzeug ſcheinet. Klop-
ſtocks kleinſte Ode, Gerſtenbergs klein-
ſtes Gedicht iſt eine lebendige Form; und
wer hat uns mehrere, und angenehmere
Formen gegeben, als unſer Goͤtz? den
man den vielfoͤrmigen nennen koͤnnte.
Auf jedem Huͤgel des Helikons ſuchte ſeine
Muſe die zarteſten Blumen, und band
ſie auf die vielfachſte zierlichſte Weiſe in
Kraͤnze und Straͤuschen. Sanft ruhe die
Aſche dieſes waͤhrend ſeines Lebens unbe-
kannt gebliebenen Dichters! mit jedem
Fruͤhlinge bluͤhe fortan ſein Andenken auf.
Sind Kleiſts ſaͤmmtliche kleine Ge-
dichte ohne Form? Sind Wielands Er-
[140] zaͤhlungen, vom leichteſten Maͤhrchen bis
zu ſeinem Agathon und Oberon hinauf
Formlos? Leßings Stuͤcke vom Epi-
gramm und Liede bis zu ſeiner Minna
und Emilie, Philotas und Nathan,
jede Fabel und Parabel, ja ich moͤchte
ſagen, jedes Urtheil und Fragment dieſes
ſcharfſinnigen Weiſen hat Form und iſt
Form, auch wo er vielleicht irret, auch wo
er nur lernte.
Ein andrer Dichter hat ſich der Form
der Alten auf einem neuen Wege genahet.
Durch eine Theilnahmloſe genaue Schil-
derung der Sichtbarkeit und durch eine
thaͤtige Darſtellung ſeiner Charaktere, Goe-
the. Sein Berlichingen iſt ein Deut-
ſches Stuͤck, groß und unregelmaͤßig wie das
Deutſche Reich iſt; aber voll Charaktere,
voll Kraft und Bewegung. In jedem ſei-
ner ſpaͤteren Stuͤcke hat er eine einzelne
[141] gewaͤhlte Form im leichteſten Umriß zu ih-
rer Art vollendet. So ſein Clavigo, ſeine
Stella, ſein Egmont, Taſſo und jene ſchoͤne
Griechiſche Form, Iphigenia in Tauris.
In ihr hat er wie Sophokles den Euri-
pides uͤberwunden. Auch aus dem Reich
der Unformen rief er Formen hervor, wie
ſein Fauſt, ſein Kophtha; auch andre Ge-
dichtarten ſind nach Form der Alten gluͤck-
lich von ihm bearbeitet worden. Wer
nach dieſen und andern Productionen auch
in Ueberſetzungen aus fremden Sprachen
die Poeſie der Deutſchen Formlos nen-
nen will, der zeige mir unter Italiaͤnern,
Spaniern, Franzoſen und Englaͤndern beſ-
ſere Formen. Wenn an mehrere ihrer
Dichter das Richtmaas gelegt wuͤrde, das
Leßing in einigen Stuͤcken an Corneille
und Voltaire legte; wo bliebe Form
und Umriß?
[142]
Bei dem Allen aber komme ich auf
den Anfang meines Briefes zuruͤck: Form
iſt nicht Alles in der Dichtkunſt; auch muß
man einer Nation Formen nicht aufdrin-
gen, die ihr durchaus fremd ſind. Was
in der Welt ſchadete es uns, wenn wir
keine Italiaͤniſche Oper oder keine Engli-
ſche Komoͤdie haͤtten? Dieſe mit allen ihren
humoriſtiſchen Launen und Charakteren iſt
bei uns in der Natur nicht da; und ich
ſehe kein Uebel darinn, daß ſie fehle; auch
iſt die ganze Wirthſchaft dieſer Komoͤdie
keine Deutſche Haushaltung. Wer ver-
baͤnde uns alſo fremde Caricaturen anzu-
ſtaunen, und aus ihnen ein erzwungenes
Vergnuͤgen zu ſchoͤpfen? So die kleine
Italiaͤniſche Oper; ſie will in Italien ge-
ſungen und geſpielt ſeyn. Wo ſie dies
nicht werden kann, was iſt natuͤrlicher,
als daß, Trotz der beſten Muſik, ein frem-
[143] des Volk, an ihrem fremden oft unbe-
deutenden Inhalt, an Raͤnken, und Scher-
zen, die bei ihm nicht in Gebrauch ſind,
keinen Geſchmack findet? Der angenehme
Muͤßiggang, das dolce far niente, bei
dem man ſich oͤffentlich auch an Poſſen,
als an Kunſtſtuͤcken vergnuͤgt und die Zeit
hintaͤndelt, iſt unter unſerm haͤrtern Him-
mel nicht zu Hauſe. Wer aus einem muͤh-
ſeligen Leben ins Schauſpiel tritt, will ſich
nicht blos an der Form als an einem
Kunſtſtuͤck freuen, ſondern durch etwas
Innigeres geweckt ſeyn. Viele Kunſtpro-
ducte fremder Nationen ſind Kinder der
Ueppigkeit und eines Verderbens der Sit-
ten, von dem gluͤcklicher Weiſe manche
Provinz unſrer arbeitſeligen Nation noch
nicht weiß; ſollen wir ihr dieſe Producte
mit den Urſachen wuͤnſchen, die ſie erzeug-
ten? und den Geſchmack an ihnen ver-
[144] breiten? Fuͤhret einen geſunden jungen
Mann, ein geſundes keuſches Maͤdchen,
in die Kammer des abgelebten Luͤſtlings
oder der feilen Unzucht; werden ſie, denen
ein beſſerer Trieb im Herzen ſchlaͤgt, oder
ſich in leiſen Wuͤnſchen reget, an den fre-
chen Reizungsmitteln dieſer Ausgearteten
und Abgeſtorbenen Vergnuͤgen finden? oder
ſie mit Entzuͤcken anſehn? Schonet der
Unſchuld unſrer Nation, wenn ihr ſie auch
eine dumme Unſchuld nennen ſolltet; beim
belohnenden Gefuͤhl ihrer Geſundheit will
ſie gern mancher luͤſternen Form entbehren.
Jedes Volk hat ſeinen Kreis des Wohl-
anſtaͤndigen in ſittlichen Begriffen und
Gefuͤhlen, aus welchem es keine erjagte
Licenz eines fremden Volks reißen muß.
Daß uͤbrigens die feine Komoͤdie bei
uns manche Schwierigkeiten findet, iſt un-
laͤngbar, aber auch ſehr erklaͤrlich. Erziehet
die
[145] die Nation, und ſie wird auch an feine-
ren Zuͤgen der Sittlichkeit Geſchmack fin-
den. Da jetzt Alles ſich leſend vergnuͤ-
gen will, meiſtens aber das Schlechtſte lie-
ſet; waͤren nicht hundert Mittel da, dieſe
Leſereien aufs Beſſere zu leiten? Bedienet
Euch nur einiger dieſer Mittel, und das
Verderben iſt noch abwendbar. Sehr un-
deutſch waͤre es, wenn bei uns die Mo-
ralitaͤt ein verſpotteter Name wuͤrde;
der alten Sitte nach gehoͤrt ſie mit zu un-
ſerm Charakter und kann uns durch nichts
erſetzt werden. Uns fehlet Witz und leichte
Natur, uns fehlt ein ſchoͤner Himmel, die
Unmoralitaͤten nur einigermaaſſen luſtig
und leidlich zu machen; Deutſche Ueppig-
keit war daher von jeher grob, weil ſie
in unſer Klima, in unſre Lebensart und
uͤberhaupt zum Deutſchen Charakter nicht
gehoͤret.
Achte Samml. K
[146]
Laſſen Sie mich dieſen Brief noch mit
dem Andenken eines froͤhlichen Dichters
ſchlieſſen, der uns unvergeſſen ſeyn ſollte,
Zachariaͤ. Seine comiſchen Epopeen,
ſeine lyriſchen und muſicaliſchen Gedichte
enthalten in einer leichten Form ſo viel
Schoͤnes, und bei einer gluͤcklichen Na-
tur ein ſo geſelliges Leben, daß ich
ſie ſtatt mancher neueren Ziererei jungen
Leuten in die Hand wuͤnſchte. Und nun
zur Kritik der Deutſchen.
[147]
105.
Mangel an Kritik ſollte die Krankheit
nicht ſeyn, an der der Deutſche litte; unſre
Langſamkeit, unſre ruhige Ueberlegung
macht uns, daͤchte ich, zu gebohrnen Kunſt-
richtern.
Geſunder Verſtand war von jeher
das Lob, nach welchem der Deutſche ſtrebte.
Hundert Spruͤchwoͤrter und Redarten unſ-
rer Sprache zeigen, daß wir auch im gemei-
nen Leben es auf ein Richtmaas der Sit-
ten treu und ehrlich anlegten.
Und wir hatten Muth, unſer Urtheil
zu ſagen. Die Reformation, die von
K 2
[148] Deutſchland ausging, war eine laut- und
ſcharfgeſagte Kritik uͤber eine Menge da-
mals geltenden Unfugs. So lange dieſe
Streitigkeiten dauerten, uͤbten wir Kritik
Angrifs- und Vertheidigungsweiſe; andre
Nationen folgten uns nach.
Und zwar thaten wir dies, (wenige
vielleicht noͤthige Faͤlle ausgenommen) mit
einer Beſcheidenheit, in der uns andre Na-
tionen eben nicht nachfolgten. Unter allen
Reformatoren der Philoſophie z. B. war
Leibnitz der beſcheidenſte Reformator.
Alle Syſteme der Alten, glaubte er, ließen
ſich vereinigen, weil in Jedem Etwas
Wahres und Vorzuͤgliches ſei; eine ſolche
friedliche Vereinigung war von Jugend
auf der Lieblingsplan unſres Weiſen.
Mit unuͤberwindlicher Gelaſſenheit ſtellete
er ſeine Meinungen mit den Meinungen
Des-Cartes, Shaftesburi, Locke,
[149]Newton's zuſammen; vor ſo partheiiſchen
Ohren der letzte Streit gefuͤhrt ward, blieb
ſeine Kritik dennoch eben ſo veſt als be-
ſcheiden. Ich bewundere die Geduld, die
er ſich zu Vereinigung der Kirchen in Be-
antwortung theologiſcher Zweifel nahm;
er antwortete Jedem, wie Ers faſſen und
ertragen konnte.
Mit Leibnitz ſtarb dieſer Geiſt philo-
ſophiſcher, friedlicher Kritik nicht aus;
auch Wolf und ſeine Schuͤler erwieſen
ihn ſelbſt gegen ihre bitterſten Feinde.
Allen Freunden der Leibnitziſchen Denkart
iſt eine geſunde Kritik heilig, weil ſie ſich
in der Mathematik an Genauigkeit der
Begriffe und des Ausdrucks gewoͤhnt ha-
ben und keine menſchliche Wiſſenſchaft ver-
achten. Der friedliche Alexander Gott-
lieb Baumgarten ward mit ſeiner ſel-
tenen faſt aͤngſtlichen Praͤciſion, ohne daß
[150] ers wußte und wollte, der Vater einer
Schule aͤchter Kritik, auch der ſchoͤnen
Wiſſenſchaften und Kuͤnſte in Deutſchland.
Lambert und Kant haben ihre Archi-
tektonik und Kritik an ſeinen Lehrbuͤchern
geſchaͤrfet. —
Wie nun? und dennoch haͤtte Ihr
Vorwurf Grund, daß eben in dieſem Felde,
der Region des Geſchmacks und Vortra-
ges in Deutſchland eine partheiiſche Kritik
mit falſchem Maas und Gewicht handle?
Sie klagen die Gutmuͤthigkeit unſrer Na-
tion an, die ſich Alles gefallen laſſe, Alles
ertrage und dulde. — Mich duͤnkt, die
Geſchichte der Zeit gebe hieruͤber einige
Auskunft.
Als Opitz, Logau, Tſcherning
u. f. im beſſern Geſchmack zu ſchreiben
anfingen, warfen ſie ſich nicht zu Richtern
jedes fremden Geſchmacks auf; ihre Werke
[151] waren Kritik; die Anweiſungen, die Opitz
und ſeine Nachfolger gaben, betrafen mei-
ſtens nur Sprache und Verskunſt.
Und ſie haben hierinn auf eine fried-
liche Art viel geleiſtet. Wenn ich Schot-
tels, Stielers, Friſch, Boͤdikers,
Wachters, Haltaus u. a. ſtille Ver-
dienſte um unſre Sprache mit den hefti-
gen und Nutzloſen Streitigkeiten unwiſſen-
der Schriftſteller in den folgenden Zeiten
vergleiche: ſo ſehe ich dort fleißige Ameiſen
und Bienen zuſammentragen, hier laute
Weſpen ſchwirren und ſtechen. Es iſt
wahr, man lobte ſich damals etwas zu
viel unter einander; die Glieder der Frucht-
bringenden Geſellſchaft, des Blumen- und
Schwanen-Ordens u. f. munterten ſich
einander durch gegenſeitiges, oft zu reiches
Lob auf. War dies indeſſen nicht ſehr ver-
zeihlich? Nach ſo langen Truͤbſalen theo-
[152] logiſcher Streitigkeiten und des dreiſſig-
jaͤhrigen Krieges freueten ſich dieſe alten
Kinder, daß ſie auch eine Sprache haͤtten,
in der ſie ſchreiben und reimen koͤnnten;
und iſt nicht viel, viel Gutes durch die
Mitglieder dieſer Geſellſchaften bewirkt
worden? Wie viele ſchreiben denn jetzt in
Proſe, wie Zinkgraͤf, Opitz, Hars-
doͤrfer, Riſt, Lohenſtein u. a. ſchrie-
ben? — Laſſet uns doch die guten Bemuͤ-
hungen unſrer Vorfahren nicht verkennen!
auch uͤber uns wird man einſt als uͤber
Vorfahren richten.
Es iſt ſchon bemerkt worden, daß an
der franzoͤſiſchen Sprachenmengerei und
an dem Italiaͤniſch-falſchen Geſchmack,
der im Anfange unſres jetzt abgehenden
Jahrhunderts einriß, eigentlich die Deut-
ſchen Hoͤfe Schuld waren. Ihnen be-
quemten ſich die Schriftſteller; und auch
[153]Leibnitz, der zu Fortbildung der Deut-
ſchen Sprache ſo vortrefliche Grundſaͤtze
nicht nur hatte, ſondern auch bei der Aka-
demie in Gang bringen wollte, auch Er
ſchrieb ein Deutſch, das ſeiner Zeit gemaͤß
war. Noch mehr frohnten Chriſtian
Thomaſius, Tenzel u. a dieſem Ge-
ſchmack, der damals fuͤr Artigkeit galt;
daher Thomaſius die geſunde Kritik,
die er an die Rechtswiſſenſchaft, und an-
dre Scienzen wandte, auf den Geſchmack
nicht anwenden konnte. Canitz, als Hof-
mann, gab nur durch ſeine Gedichte, de-
ren wenigſte leider zu uns gekommen ſind,
ein beſſeres Muſter.
Der Erſte, der mit ſcharfen Pfeilen
auf den Lohenſteiniſchen Geſchmack losging,
war meines Wiſſens Wernike, ein Preuße.
In England und Frankreich an einen beſ-
ſern Geſchmack gewoͤhnt, wollte er ſowohl
[154] durch ſeine Sinngedichte, (Ueberſchriften)
als durch die Anmerkungen, mit denen er
ſie begleitete, dieſen auch den Deutſchen
zu koſten geben. Nicht mit vielem Erfolg:
denn ſeine Ueberſchriften waren hart, und
die Anmerkungen doch nur Spoͤttereien.
Sollte man an Jene, die Ueberſchriften
naͤmlich, das Maas der Griechen und Roͤ-
mer legen, wie viel Ueberwitz, wie man-
cher falſche, erzwungene Zierrath muͤßte
hinweggethan werden, auf welchen er doch,
wie die verſchiedenen Ausgaben derſelben
zeigen, ſelbſt den muͤhſamſten Fleiß gewen-
det. Alſo war auch ſein Geſchmack bei
weitem nicht rein und vollendet.
Die Hofverſe dauerten fort, bis fern
von Hoͤfen in ſeinem Garten Brockes
die Natur und eben ſo fern von Hoͤfen
Bodmer und Breitinger Sitten mahl-
ten. Immer bleibt Deutſchland dieſen Re-
[155] formatoren des Geſchmacks, ſo wie den
Hamburgiſchen Patrioten Dank ſchul-
dig; ſie thaten, was ſie zu ihrer Zeit thun
konnten. Breitingers Dichtkunſt und
Abhandlungen zeigen durchaus einen Ken-
ner der Alten, der ſeinen Geſchmack an
ihnen bewaͤhrt hat; auch Bodmers Be-
muͤhungen aus neueren ſowohl auslaͤndi-
ſchen, als unſrer alten Deutſchen Sprache
uns einen groͤßeren Reichthum an Gedan-
ken, Bildern, Fabeln, Einkleidungen und
Ausdruͤcken als Kunſtrichter und Dich-
ter zuzufuͤhren, haben ihren Zweck nicht
verfehlet. Er hat viel aufgeregt, und ſich
faſt uͤber Vermoͤgen bemuͤhet, indem er
bis in ſein greiſes Alter wie der friſcheſte
Juͤngling an jedem neuen Product unſrer
Sprache Theil nahm.
Warum aber mußte dieſe Kritik, die doch
Philoſophie iſt, und ein beſſerer Ge-
[156] ſchmack am Schoͤnen und Guten durch
einen unwuͤrdigen Federkrieg eingefuͤhrt
werden? That nicht auch Gottſched was
er thun konnte? Die Weiſeſten in dieſem
Streit, Haller und Hagedorn, ſchwie-
gen. Der Erſte hat auch als Proſaiſt ſo
viel Verdienſt um den beſſern Geſchmack
im Vortrage der Wiſſenſchaften, daß ihm
auch die Deutſche Kritik vielleicht den Er-
ſten Kranz reichet. Mitten unter ſtuͤrmi-
ſchen Faktionen brachte er ein ſchmales
Blatt Deutſcher Kritik unter den Schutz
einer Societaͤt der Wiſſenſchaften
ſelbſt und gruͤndete ihm dadurch nicht
nur Unpartheilichkeit, Billigkeit und Gleich-
muth, ſondern auch Theilnahme am Fort-
gange des menſchlichen Geiſtes in allen
Weltgegenden und Sprachen. Seitdem
ſind die Goͤttingiſchen gelehrten An-
zeigen nicht nur Annalen, ſondern auch
[157]Befoͤrderinnen und, ohne ein Tribunal
zu ſeyn, conſulariſche Faſten und
Huͤlfsquellen der Wiſſenſchaft worden,
zu denen man, wenn manche einſeitige
Kritik verſtummt iſt, wie durch Lybiſche
Wuͤſten zum ſtillen Kaͤnntnißgebenden Ora-
kel der Wiſſenſchaft reiſet, und dabei im-
mer noch Hallers und ſeiner Nachfolger
Namen ſegnet.
Die Trommete war erklungen; es war
beſtimmt, daß der beſſere Geſchmack der
Deutſchen im Schlachtgetuͤmmel empfan-
gen und gebohren werden ſollte. Wo zwei
ſtreiten, gewinnet der Dritte. Nikolai
ſchrieb ſeine Briefe uͤber den Zuſtand der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften in Deutſchland, mit
Ueberſicht der Fehler von beiden Seiten:
denn ſchon hatten waͤhrend dieſes langen
Streits mehrere Schrifſteller von Genie
das, woruͤber man ſtritt, durch die That
[158] entſchieden. Leßing war Einer von ihnen.
Seine mancherlei Vorzuͤge an Kaͤnntniſſen,
Geſchmack und Schreibart gaben ihm ohne
ſein Wollen das natuͤrliche und erworbene
Recht, durch ein Weniges, der Anfang
zu Vielem zu ſeyn, das wohl nicht ſein
Plan war. Durch Nicolai, Mendel-
ſohn und Ihn fing die Bibliothek der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften, durch Ihn,
Mendelſohn und Nicolai fingen die
Literaturbriefe an; unſtreitig mit einem
Urtheil von feinerer Beſtimmtheit, in einem
groͤßeren Umfang von Ideen und einer
ſchaͤrferen Unpartheilichkeit als jene Par-
theien geaͤußert hatten. Der Bibliothek
nahm ſich, nachdem ihre Urheber vom
Werk abtraten, ein Schriftſteller an, der
als Dramatiſcher und Lyriſcher Dichter
unſrer Nation werth geworden iſt, Weiße.
Winkelmann, Hagedorn, Heyne,
[159]Garve u. a. machten ſie, eine Reihe von
Jahren hindurch, (in den neueſten Jahren
kenne ich ſie nicht) zu einer Leiterin des
guten Geſchmacks, die uns zugleich das
Merkwuͤrdigſte fremder Nationen bekannt
machte. Die Literaturbriefe, zu welchem
nach Leßings Entfernung Abbt beitrat,
thaten dadurch einen merklichen Schritt
weiter, daß ſie bei ſtrengem Tadel ſelbſt
oft eigene beſſere Ideen entwickelten und
in der gewaͤhlten Form einer Privatcorre-
ſpondenz keine Orakel der Welt ſeyn woll-
ten. Leßing inſonderheit war ein beſcheid-
ner, gegen andre, auch wo er es nicht
ſeyn dorfte, ein nachgebender Mann und
Mendelſohn, wenn ihn die Juͤnger der
zehnten neueren Philoſophie als Philoſo-
phen ganz zum Kinde werden gemacht ha-
ben, wird in der philoſophiſchen Kritik
[160] Deutſchlands lange noch als ein ſchaͤtzba-
rer, verdienter Name gelten.
Was nach dieſen Zeiten geſchehen ſei,
weiß ich nicht; da ich außer einem kleinen
Blatt gewoͤhnlich kein kritiſches Deutſches
Journal leſe. Vernommen habe ich, daß
man ſeitdem alles umfaſſet und dazu aus
allen Ecken Kunſtrichter verſammelt habe;
wie ſie gerichtet haben, wie ſie richten und
richten werden, iſt mir voͤllig fremde. Zu
beklagen waͤre es freilich, wenn auf die-
ſem Wege alle Kritik in Deutſchland Ge-
wicht und Glauben verlohren haͤtte, wel-
ches ich aber weder hoffe noch glaube.
Laß es ſeyn, daß zuweilen unbaͤrtge Juͤng-
linge, denen, von denen ſie gelernt hat-
ten, das Kinn raſiren, um doch auch an
ihnen beruͤhmt zu werden; jeder honette
Mann, der da ſieht, wie mit ſeinem Nach-
bar gehandelt wird und wer alſo handelt,
wird
[161] wird ſich allmaͤhlich aus dieſen anonymi-
ſchen Becken-Stuben zuruͤckziehen, und
ſo thut auch hier die Zeit ihr Werk; ſie
uͤbt eine ſcharfe Kritik an der Kritik der
Zeiten.
Wir, meine Freunde, die wir nicht
zu Dictatoren der ſinkenden Republik we-
gen beſtellet ſind, wollen von uns ſelbſt,
von den Alten, von unſern Freunden und
Feinden und von Jedem lernen, der Gruͤn-
de giebt und mit offnem Viſier redet.
[162]
106.
Auch die Kritik iſt ohne Genius nichts.
Nur ein Genie kann das Andre beurthei-
len und lehren. Nur der, der ſelbſt Kaͤnnt-
niſſe hat und Kraͤfte zeigt, kann Kraͤfte
wecken und Kaͤnntniſſe befoͤrdern.
Seit geraumer Zeit, wie unbekannt
ſind wir z. B. mit den ſchaͤtzbarſten Pro-
dukten des Auslandes ſelbſt im Felde der
Kritik geblieben! Leßing uͤberſetzte War-
tons Verſuch uͤber Pope; der zweite
Theil, im Jahr 1782 erſchienen, iſt uns
auch nicht im Auszuge bekannt worden.
[163]
Eſchenburg gab in ſeinem Britti-
ſchen Muſeum ein paar Abhandlungen
aus Wartons Geſchichte der Eng-
liſchen Dichtkunſt; einen Auszug des gan-
zen Werks, ſo wie andrer nuͤtzlichen Werke
uͤber dieſen Gegenſtand, konnte er nicht ge-
ben: denn ſein Muſeum ſelbſt verſchloß ſich.
Blankenburg gab den Anfang von
Johnſons Lebensbeſchreibungen der Eng-
liſchen Dichter, ein Werk voll Kritik, lehr-
reich auch fuͤr uns Deutſche, obgleich
nichts weniger als unpartheilich; die Fort-
ſetzung unterblieb.
Eſchenburg gab uns Browns Buch
uͤber die Verbindung der Poeſie und Mu-
ſik; Browns wichtigeres Werk uͤber die
Sitten, das bereits im Jahr 1757. her-
auskam und als ein ſchreckender Spiegel
viel Aufſehen erregte, iſt noch nicht uͤber-
ſetzt worden.
L 2
[164]
So viel intereſſante Aufſaͤtze aus Hen-
ry's, aus Littletons Geſchichte, manche
auch fuͤr uns merkwuͤrdige Abhandlung
aus den Societaͤten der Alterthumsforſcher,
imgleichen von Dublin, Edinburg,
Mancheſter, den Transactionen u. f.
ſind da, als ob ſie fuͤr uns nicht waͤren.
Auch mit Georg Forſter wie viel iſt
uns in dieſem Betracht geſtorben! Ein
boͤſer Genius ſcheint ſein Spiel zu ha-
ben, indem er (und wogegen?) den Faden
zu zerreiſſen ſucht, der uns mit den Ge-
danken andrer Nationen verknuͤpfet. Wir
ſollen auf unſerm eignen Grunde meta-
phyſiciren, oder uns damit bemuͤhen, wo-
mit ſich andre laͤngſt bemuͤhet haben.
Hierhin ſollte die Kritik wirken! uns
ins Univerſum ſaͤmmtlicher gebildeten Na-
tionen verſetzen, und auf unſerm einſamen
Gange von ihnen uns Licht und Huͤlfe
[165] zufoͤrdern. Ueberhaupt glaube ich, daß
dem Charakter unſrer Nation nach die
Kritik durchaus belehrend, foͤrdernd, gut-
muͤthig, human ſeyn muͤßte; nur auf
dieſem Wege kann ſie etwas und wuͤrde
gewiß viel erreichen. Unſrer gelehrten Re-
publik mangelt aͤußere Aufmunterung und
Achtung; wollte ſie ſich zum Spott der
Unwiſſenden, und zur allgemeinen Verach-
tung machen, indem ſie ſich ſelbſt verſpot-
tet, wuͤrget und auffrißt?
Gnug von der Kritik. Sie aͤuſſerten
den merkwuͤrdigen Gedanken, daß die Poe-
ſie der Deutſchen eine Kinderpoëſie
ſei; ich hoffe, ſie ſoll es bleiben. So
ihr (im guten Verſtande) nicht werdet
wie die Kinder: ſo iſt weder Tempe
noch Elyſium fuͤr euch.
Vor allen Dingen verſchonen Sie die
Poeſie mit Staatsmaͤnnern, die uͤber ſie
[166] richten; das Reich der Poeſie iſt nicht die
Staatswelt.
Wenn Sophokles ſeinen Oedipus
mit der Scene des flehenden Volks eroͤf-
net; die Peſt wuͤthet; ein geheimes Ver-
brechen ruht auf dem Vaterlande; Juͤng-
linge und Greiſe jammern: ſo iſt dieſe
Situation ganz menſchlich. Ob Oedipus
oder Lajus regiere, kuͤmmert mich nicht;
daß aber um Eines Verbrechers willen
das ganze Volk leide, dieſe Scene eroͤfnet
ein Trauerſpiel wuͤrdig.
Wenn Ariſtophanes Scenen der
Menſchheit darſtellt, weßwegen Friede ge-
macht werden muͤſſe: ſo iſt dies ein Ge-
genſtand der Muſe. Ob aber Kreon der
Wurſtmacher, oder Kreon der Riemen-
ſchneider das Volk lenke; dieſe politiſche
Wichtigkeit iſt der poetiſchen Muſe ſehr
gleichguͤltig.
[167]
Nichts verunreinigt den heiligen Quell
mehr, als politiſcher Partheigeiſt; er macht
die Muſe zur Luͤgnerin, partheiiſch, uͤber-
treibend, am jetzigen Augenblick als an
einer Ewigkeit hangend, und ihm damit die
Ewigkeit ertheilend. Die Tochter des Him-
mels wird unter den Haͤnden der Politik
eine kurzſichtige, leidenſchaftliche Verlaͤum-
derin, ein Kind der Erde. Die politiſche
Poeſie der Englaͤnder ſei davon ein Bei-
ſpiel. Warum hat Butler den Ruhm
nicht erlangt, den ſein Hudibras ſo
ſehr verdienet? Das Witzreiche Gedicht iſt
fuͤr ein bloßes Geſpoͤtt zu lang, fuͤr die
darinn enthaltene Lehre und Warnung zu
ſehr mit Zeit-Anſpielungen uͤberhaͤuft, zu
politiſch. Jenes gewaltige Vernunft-
Genie, Swift, was hat ihn fuͤr den
groͤßeſten Theil der Nachwelt unbrauchbar
gemacht? Die politiſchen Umſtaͤnde, aus
[168] welchen er ſein Geſpinnſt zog, und in wel-
che er ſeine koͤſtlichen Gedanken webte.
Die Politik der damaligen Zeit iſt ein
Traum worden; es macht uns Muͤhe, je-
den ſeiner tiefen bleibenden Gedanken von
einem verlebten Traume zu ſondern. Wer
lieſet jetzt Churchills Gedichte? und
wer wird Peter Pindar mit reinem
Vergnuͤgen leſen, wenn unſere Zeit vor-
bei iſt? Beklagen wird man ſo viel ver-
ſchwendete goldne Talente.
Mit Unwillen hoͤre ichs alſo, wenn
man unſrer Nation einen Swift wuͤn-
ſchet, einen Bedaurens- und Hochachtungs-
wuͤrdigen Mann, der nur durch Misfaͤlle
ward, was er geworden iſt, und vom
Gluͤck begleitet ein Genius der Gerechtig-
keit und der Klugheit geworden waͤre.
Und ein Swift in Deutſchland? —
[169]
Hinweg alſo Politik aus dem Gebiet
der Muſen! und verwuͤnſcht ſei jede After-
Muſe, die der Politik froͤhnet. Treue und
Glauben, Unſchuld der Sitten, Biederkeit
und Einfalt — das ſeyn unſre Kaſtaliden!
alles andre iſt vergaͤngliche Thorheit. Zur
Italiaͤniſchen acutezza, zur Spaniſchen
grandezza, zur Franzoͤſiſchen legereté, zum
Brittiſchen high-ſpirit wird ſich der Deut-
ſche nie hinauf ſchwingen; was er aber
iſt und von jeher geweſen, davon iſt ſeine
eigne Geſchichte eine durch Jahrhunderte
erprobte Stimme der Wahrheit. Was
alle Dichter ſingen, wohin ſie wider Wil-
len ſtreben, was ihnen am meiſten gluͤckt,
was bei denen, die ſie leſen und hoͤren, die
groͤßeſte Wirkung hervorbringt, das iſt
Charakter der Nation, wenn er auch als
eine unbehauene Statue noch im Mar-
morblock dalaͤge. Dies iſt Vernunft,
[170]reine Humanitaͤt, Einfalt, Treue
und Wahrheit. Wohl uns, daß uns
dies ſittliche Gefuͤhl ward, daß dieſer Cha-
rakter gleichſam von unſrer Sprache un-
abtrennlich iſt, ja daß uns nichts gelingen
will, wenn wir aus ihm ſchreiten. Lehr-
geld in erzwungenen Nachaͤffungen haben
wir gnug gegeben.
Mit dieſem Charakter wieviel koͤnnen
wir entbehren! Wenn andre Nationen ſich
im Geſchmack hie und dorthin verirrten,
ſo wird unſre Regel feſtſtehn, die im
Mannichfaltigſten die wahreſte Einfalt
ſucht und uns die Poeſie ſeyn laͤßt,
was ſie ſeyn ſoll, ein Spiegel der Na-
tur und Sitten, Humanitaͤt im gefaͤl-
ligſten reinſten Gewande, Philoſophie des
Lebens. Dies war einſt Orpheus und
Apollo's Kunſt.
[171]
107.
Neuntes Fragment.
Reſultat
der Vergleichung der Poeſie verſchie-
dener Voͤlker alter und neuer Zeit.
Die Poeſie iſt ein Proteus unter den
Voͤlkern; ſie verwandelt ihre Geſtalt nach
Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach
dem Temperament und Klima, ſogar nach
dem Accent der Voͤlker.
[172]
Wie Nationen wandern, wie ſich die
Sprachen miſchen und aͤndern, wie neue
Gegenſtaͤnde die Menſchen ruͤhren, wie
ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre
Uebungen ein andres Ziel nehmen, wie in
der Zuſammenſetzung der Bilder und Be-
griffe, neue Vorbilder auf ſie wirken,
ſelbſt wie die Zunge, dies kleine Glied, ſich
anders beweget und das Ohr ſich an an-
dre Toͤne gewoͤhnt: ſo veraͤndert ſich die
Dichtkunſt nicht nur bei verſchiedenen Na-
tionen, ſondern auch bei demſelben Volke.
Die Poeſie zu Homers Zeiten war bei
den Griechen ein andres Ding als zu
Longins Zeiten, ſelbſt dem Begriff nach.
Ganz ein andres wars, was ſich der Roͤ-
mer und der Moͤnch, der Araber und der
Kreuzritter, oder was nach wiedergefun-
denen Alten der Gelehrte, und in ver-
ſchiednen Zeitaltern verſchiedner Nationen
[173] der Dichter und das Volk ſich an Poeſie
denken. Der Name ſelbſt iſt ein abge-
zogner, ſo vielfaſſender Begriff, daß wenn
ihm nicht einzelne Faͤlle deutlich unterge-
legt werden, er wie ein Trugbild in den
Wolken verſchwindet. Sehr leer war da-
her der Streit uͤber den Vorzug der
Alten oder der Neuern, bei welchem
man ſich wenig Beſtimmtes dachte.
Er ward noch leerer dadurch, daß man
keinen oder einen falſchen Maasſtab der
Vergleichung annahm: denn was ſollte
hier uͤber den Rang entſcheiden? Die
Kunſt der Poeſie, als Object? wie viel
feine Beſtimmungen gehoͤrten dazu, das
Hoͤchſte der Vollkommenheit in jeder Art
und Gattung nach Ort und Zeit, nach
Zweck und Mitteln auszufinden, und auf
jedes Verglichene unpartheiiſch anzuwen-
den! Oder ſollte die Kunſt des Dichters
[174] nach dem Subject betrachtet werden, wie
viel Dieſer vor Jenem gluͤckliche Gaben
der Natur, eine guͤnſtigere Lage der Um-
ſtaͤnde, mehreren Fleiß in Nutzung deſſen,
was vor ihm geweſen war, und um ihn
lag, ein edleres Ziel, einen weiſeren Ge-
brauch ſeiner Kraͤfte dies Ziel zu erreichen
zu ſeinem Eigenthum machte; welch ein
andres Meer der Vergleichung! So man-
chen Maasſtab der Dichter Einer Na-
tion oder verſchiedener Voͤlker man auf-
geſtellt hat, ſo manche vergebliche Arbeit
hat man uͤbernommen. Jeder ſchaͤtzt und
ordnet ſie nach ſeinen Lieblingsbegriffen,
nach der Art, wie Er ſie kennen lernte,
nach der Wirkung, die Der und Jener auf
ihn machte. Der gebildete Menſch traͤgt,
wie ſein Ideal der Vollkommenheit, ſo auch
ſeinen Maasſtab dieſe zu erreichen in ſich, den
er nicht gern mit einem fremden vertauſchet.
[175]
Keiner Nation doͤrfen wirs alſo ver-
argen, wenn ſie vor allen andern ihre
Dichter liebt und ſie gegen fremde nicht
hingeben moͤchte; ſie ſind ja ihre Dichter.
In ihrer Sprache haben ſie gedacht,
im Kreiſe ihrer Gegenſtaͤnde imaginirt;
ſie fuͤhlten die Beduͤrfniſſe der Nation, in
welcher ſie erzogen wurden, und kamen
dieſen zu Huͤlfe. Warum ſollte die Nation
alſo nicht auch mit ihnen fuͤhlen, da
Ein Band der Sprache, Gedanken, Be-
duͤrfniſſe und Empfindungen ſie veſt an
einander knuͤpfet.
Italiaͤner, Franzoſen und Englaͤnder
ſchaͤtzen ihre Dichter, oft mit ungerechter
Verachtung andrer Voͤlker partheiiſch hoch;
der einzige Deutſche hat ſich verfuͤhren
laſſen, das Verdienſt fremder Voͤlker, in-
ſonderheit der Englaͤnder und Franzoſen,
unmaͤßig zu uͤbertreiben und daruͤber ſich
[176] ſelbſt zu vernachlaͤßigen. Zwar einem
Young, (denn von Shakeſpeare, Mil-
ton, Thomſon, Fielding, Goldſmith,
Sterne iſt hier nicht die Rede) goͤnne
ich ſeine vielleicht etwas uͤberſpannte Ver-
ehrung bei uns gern, da er durch Eberts
Ueberſetzung eingefuͤhrt ward; eine Ueber-
ſetzung, die nicht nur alles Verdienſt eines
Originals hat, ſondern auch die Uebertrei-
bungen ihres Engliſchen Originals durch
den Bau einer harmoniſchen Proſe und
durch die reichen moraliſchen Anmerkungen
aus andern Nationen gleichſam zurecht fuͤ-
get und mildert. Sonſt aber wird es den
Deutſchen immer den Vorwurf einer unent-
ſchloſſenen Lauigkeit zuziehn, daß die rein-
ſten Dichter ihrer Sprache in Schulen und
bei Erziehung der Jugend uͤberhaupt ſo
vergeſſen und hintangeſetzt werden, wie
keine benachbarte Nation es thut. Wo-
durch
[177] durch ſoll ſich unſer Geſchmack, unſre
Schreibart bilden? wodurch unſre Spra-
che beſtimmen und regeln, als durch die
beſten Schriftſteller unſrer Nation? Ja wo-
durch ſollen wir Patriotismus und Liebe
zu unſerm Vaterlande erlangen, als durch
ſeine Sprache, durch die vortreflichſten Ge-
danken und Empfindungen, die in ihr aus-
gedruͤckt, die wie ein Schatz in ſie gelegt
ſind. Gewiß irrten wir nicht nach einem
Jahrtauſend, in dem unſre Sprache ge-
ſchrieben iſt, in manchen Wortfuͤgungen
noch jetzt zweifelnd umher, wenn wir von
Jugend auf unſre beſten Schriftſteller kenn-
ten und ſie uns zu Fuͤhrern waͤhlten.
Indeſſen ſoll keine Liebe zu unſrer Na-
tion uns hindern, allenthalben das
Gute zu erkennen, das nur im großen
Gange der Zeiten und Voͤlker fort-
ſchreitend bewirkt werden konnte. Je-
Achte Samml. M
[178] ner Sultan freuete ſich uͤber die vielen
Religionen, die in ſeinem Reich, jede auf
ihre Weiſe Gott verehrten; es kam ihm
wie eine ſchoͤne, bunte Aue vor, auf der
mancherlei Blumen bluͤhten. So iſts mit
der Poeſie der Voͤlker und Zeiten auf un-
ſerm Erdrunde; in jeder Zeit und Sprache
war ſie der Inbegriff der Fehler und Voll-
kommenheiten einer Nation, ein Spiegel
ihrer Geſinnungen, der Ausdruck des Hoͤch-
ſten, nach welchem ſie ſtrebte (oratio ſen-
ſitiva animi perfecta.) Dieſe Gemaͤhlde,
(minder und mehr vollkommene, wahre
und falſche Ideale) gegen einander zu ſtel-
len, giebt ein lehrreiches Vergnuͤgen. In
dieſer Galerie verſchiedner Denkarten, An-
ſtrebungen und Wuͤnſche lernen wir Zeiten
und Nationen gewiß tiefer kennen als auf
dem taͤuſchenden Troſtloſen Wege ihrer
politiſchen und Kriegsgeſchichte. In die-
[179] ſer ſehen wir ſelten mehr von einem Volke,
als wie es ſich regieren und toͤdten ließ;
in jener lernen wir, wie es dachte, was
es wuͤnſchte und wollte, wie es ſich er-
freute, und von ſeinen Lehrern oder von
ſeinen Neigungen gefuͤhrt ward Freilich
aber mangeln uns noch viel Huͤlfsmittel
zu dieſer Ueberſicht in die Seelen der Voͤl-
ker. Griechen und Roͤmer beiſeite geſetzt,
hangen uͤber dem Mittelalter, aus wel-
chem bei uns Europaͤern doch Alles hervor-
ging, noch dunkle Wolken. Meinhards
ſchwacher Verſuch uͤber die Italiaͤ-
niſchen Dichter iſt nicht einmal bis auf
Taßo forgeſetzt, geſchweige Etwas aͤhn-
liches bei andern Nationen ausgefuͤhrt
worden. Ein Verſuch uͤber die Spa-
niſchen Dichter iſt mit dem gelehrten
Kenner dieſer Literatur, dem Herausgeber
des Velasquez, Diez, geſtorben.
M 2
[180]
Auf drei Wegen kann man ſich eine
Ueberſicht dieſes Blumen- und Fruchtrei-
chen Feldes menſchlicher Gedanken verſchaf-
fen, und jeder iſt betreten worden.
Eſchenburgs beliebte Beiſpielſamm-
lung waͤhlet, ſeiner Theorie gemaͤß, den
Weg der Gattungen und Arten; fuͤr
Juͤnglinge ein lehrreicher Weg bei einem
geſchickten Fuͤhrer: denn oft kann ihn Ein
Name, der ſehr verſchiedene Dinge be-
zeichnet, ganz irre leiten. Homers, Vir-
gils, Arioſts, Miltons, Klopſtocks
Werke tragen Einen Namen der Epopee,
und ſind doch ſelbſt nach dem Kunſtbegriff,
der in den Werken liegt, geſchweige nach
dem Geiſt, der ſie beſeelet, ganz verſchie-
dene Productionen. Sophokles, Cor-
neille und Shakeſpeare haben als
Trauerſpieldichter nur den Namen gemein;
der Genius ihrer Darſtellungen iſt ganz
[181] verſchieden. So bei allen Gattungen der
Dichtkunſt, bis zum Epigramm hinun-
ter. —
Andre haben die Dichter nach Empfin-
dungen geordnet, da denn inſonderheit
Schiller*) viel Feines und Vortrefliches
geſagt hat. Allein, wie ſehr laufen die
Empfindungen in einander! welcher Dich-
ter bleibt Einer Empfindungsart dergeſtalt
treu, daß ſie ſeinen Charakter, zumal in
verſchiednen Werken bezeichnen koͤnnte?
Oft ruͤhret er ein Saitenſpiel von vielen,
ja von allen Toͤnen, die ſich eben durch
Disharmonieen heben. Die Welt der Em-
pfindungen iſt ein Geiſter- oft ein Atomen-
reich; nur die Hand des Schoͤpfers ver-
mag daraus Geſtalten zu ordnen.
[182]
Die Dritte, wenn ich ſo ſagen darf,
Naturmethode iſt, jede Blume an ihrem
Ort zu laſſen, und dort ganz wie ſie iſt,
nach Zeit und Art, von der Wurzel bis
zur Krone zu betrachten. Das demuͤthig-
ſte Genie haſſet Rangordnung und Verglei-
chung. Es will lieber der Erſte im Dorf
ſeyn, als der Zweite nach Caͤſar. Flechte,
Moos, Farrenkraut und die reichſte Ge-
wuͤrzblume; jedes bluͤhet an ſeiner Stelle
in Gottes Ordnung.
Man hat die Dichtkunſt ſubjectiv
und objectiv, nach den Gegenſtaͤnden, die
ſie ſchildert, und nach den Empfindungen,
mit denen ſie Gegenſtaͤnde darſtellt, geord-
net; ein wahrhafter und nuͤtzlicher Geſichts-
punkt, der auch zu Charakteriſirung ein-
zelner Dichter z. B. Homers und Oßi-
ans, Thomſons und Kleiſts u. a. der
rechte ſcheinet. Homer naͤmlich erzaͤhlt
[183] die Geſchichten ſeiner Vorwelt ohne merk-
liche beſondre Theilnehmung; Oßian ſin-
get ſie aus ſeinem verwundeten Herzen,
aus ſeiner traurig-froͤhlichen Erinnerung.
Thomſon ſchildert Jahrszeiten, wie die
Natur ſie giebt; Kleiſt ſinget ſeinen Fruͤh-
ling, mit oft einbrechenden Gedanken an
ſich und ſeine Freunde als eine Rhapſodie
von Anſichten mit Empfindungen beſeelet.
Indeſſen auch dieſer Unterſchied bezeichnet
Dichter und Zeiten der Dichtkunſt ſehr
leiſe: denn auch Homer nimmt Theil an
ſeinen Gegenſtaͤnden, als Grieche, als Er-
zaͤhler, wie in den mittleren Zeiten die
Balladenſaͤnger und Fabliers, wie in neue-
ren Zeiten Arioſt und Spenſer, Cer-
vantes und Wieland. Ein Mehreres
zu thun waͤre außer ſeinem Beruf gewe-
ſen und haͤtte ſeine Erzaͤhlung geſtoͤret.
In Anordnung und Bezeichnung ſeiner
[184] Geſtalten aber ſingt auch Homer auf die
hoͤchſte Weiſe menſchlich; wo es uns nicht
alſo ſcheinet, liegt der Unterſchied an der
Denkart der Zeiten und iſt ſehr erklaͤrbar.
Ich getraue mich, in den Griechen jede
reine menſchliche Geſinnung, vielleicht im
ſchoͤnſten Maas und Ausdruck, aufzufin-
den; nur alles an Ort und Stelle. Ari-
ſtoteles Poëtik hat Fabel, Charak-
tere, Leidenſchaften, Geſinnungen
unuͤbertreflich geordnet.
Zu allen Zeiten war der Menſch der-
ſelbe; nur er aͤußerte ſich jedesmal nach
der Verfaſſung, in der er lebte. Sehr
mannichfaltig iſt die Poeſie der Griechen
und Roͤmer! in ihren Wuͤnſchen und Kla-
gen, in ihren Beſchreibungen voll Luſt
und Freude. So die Poeſie der Moͤnche,
der Araber, der Neueren. Den großen
Unterſchied, der zwiſchen dem Morgen-
[185] und Abendlande, zwiſchen Griechen und
uns eintrat, hat keine neue Kategorie,
ſondern die Vermiſchung der Voͤlker, der
Religionen und Sprachen, endlich der
Fortgang der Sitten, der Erfindungen,
der Kaͤnntniße und Erfahrungen, bewirket;
ein Unterſchied, der ſchwerlich mit Einem
Wort auszudruͤcken ſeyn moͤchte. Wenn
ich bei einigen Neuern das Wort Dich-
ter aus Reflexion gebrauchte, ſo war
auch dies unvollkommen: denn ein Dichter
aus bloßer Reflexion iſt eigentlich
kein Dichter.
Der Poeſie Grund und Boden iſt
Einbildungskraft und Gemuͤth, das
Land der Seelen. Ein Ideal der
Gluͤckſeligkeit, der Schoͤnheit und Wuͤrde,
das in deinem Herzen ſchlummert, wecket
ſie auf durch Worte und Charaktere; ſie
iſt der Sprache, der Sinne und des Ge-
[186] muͤths vollkommenſter Ausdruck. Kein
Dichter kann dem Geſetz entgehen, das
in ihr liegt; er zeigt, was er hat und
nicht habe.
Auch kann man in ihr Ohr und Auge
nicht ſondern. Die Poeſie iſt keine bloße
Malerei oder Statuiſtik, die Gemaͤhlde
wie ſie ſind, ohne Abſicht darſtellen koͤnnte;
ſie iſt Rede und hat Abſicht. Auf den
innern Sinn wirket ſie, nicht auf das
aͤußere Kuͤnſtlerauge; und zu jenem innern
Sinn gehoͤrt bei einem gebildeten oder zu
bildenden Menſchen Gemuͤth, morali-
ſche Natur, mithin bei dem Dichter
vernuͤnftige und humane Abſicht.
Die Rede hat etwas Unendliches in
ſich; ſie macht tiefe Eindruͤcke, die ja eben
die Poeſie durch ihre harmoniſche Kunſt
verſtaͤrket. Nie kann alſo der Dichter blos
ein Mahler ſeyn wollen. Er iſt Kuͤnſtler
[187] vermoͤge der eindringenden Rede, die das
Object, das ſie mahlt, oder darſtellt, auf
einen geiſtigen, moraliſchen, gleich-
ſam unendlichen Grund, ins Gemuͤth,
in die Seele mahlet.
Sollte alſo nicht auch bei dieſer, wie
bei allen Reihen fortgeſetzter Naturwir-
kungen ein Fortgang unumgaͤnglich ſeyn?
Ich zweifle daran, (den Fortgang recht
verſtanden,) gar nicht. In Sprache und
Sitten werden Wir nie Griechen und Roͤ-
mer werden; wir wollen es auch nicht
ſeyn. Ob aber der Geiſt der Poeſie durch
alle Schwingungen und Eccentricitaͤten,
in denen er ſich bisher Nationen und Zei-
tenweiſe periodiſch bemuͤhet hat, nicht dahin
ſtrebe, immer mehr und mehr, ſo wie jede
Grobheit des Gefuͤhls, ſo auch jeden fal-
ſchen Schmuck abzuwerfen und den Mittel-
punkt aller menſchlichen Bemuͤhungen zu
[188] ſuchen, naͤmlich die echte, ganze, mo-
raliſche Natur des Menſchen, Phi-
loſophie des Lebens? dieſes wird mir
durch Vergleichung der Zeiten ſehr glaub-
haft. Auch in Zeiten des groͤßeſten Unge-
ſchmacks koͤnnen wir uns nach der großen
Regel der Natur ſagen: tendimus in Ar-
cadiam, tendimus! Nach dem Lande der
Einfalt, der Wahrheit und Sitten geht
unſer Weg.
[[189]][[190]][[191]]
Wenn wir den gelehrten Fleiß betrachten,
den die Englaͤnder auf ihre alten Dichter z. B.
Warton auf Spenſer, Tyrwhit auf
Chaucer, Percy auf die Balladen, und
ſo viele, viele der beleſenſten Maͤnner auf ih-
ren Shakeſpeare und ihr altes Theater
gewandt haben; und ſodann Uns betrachten —
was ſagen wir?
Januar 1796.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Briefe zu Beförderung der Humanität. Briefe zu Beförderung der Humanität. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnc2.0