In der Realſchulbuchhandlung.
Der Sandmann.
Nathanael an Lothar.
Gewiß ſeid ihr alle voll Unruhe, daß ich ſo
lange — lange nicht geſchrieben. Mutter zuͤrnt
wohl, und Clara mag glauben, ich lebe hier in
Saus und Braus und vergeſſe mein holdes En¬
gelsbild, ſo tief mir in Herz und Sinn einge¬
praͤgt, ganz und gar. — Dem iſt aber nicht ſo;
taͤglich und ſtuͤndlich gedenke ich Eurer Aller und
in ſuͤßen Traͤumen geht meines holden Claͤrchens
freundliche Geſtalt voruͤber und laͤchelt mich mit
ihren hellen Augen ſo anmuthig an, wie ſie wohl
pflegte, wenn ich zu Euch hineintrat. — Ach
wie vermochte ich denn Euch zu ſchreiben, in der
zerriſſenen Stimmung des Geiſtes, die mir bis¬
her alle Gedanken verſtoͤrte! — Etwas entſetzli¬
A
[2] ches iſt in mein Leben getreten! — Dunkle Ah¬
nungen eines graͤßlichen mir drohenden Geſchicks
breiten ſich wie ſchwarze Wolkenſchatten uͤber mich
aus, undurchdringlich jedem freundlichen Sonnen¬
ſtrahl. — Nun ſoll ich Dir ſagen, was mir
wiederfuhr. Ich muß es, das ſehe ich ein, aber
nur es denkend, lacht es wie toll aus mir her¬
aus. — Ach mein herzlieber Lothar! wie fange
ich es denn an, Dich nur einigermaßen empfinden
zu laſſen, daß das, was mir vor einigen Tagen
geſchah, denn wirklich mein Leben ſo feindlich zer¬
ſtoͤren konnte! Waͤrſt du nur hier, ſo koͤnnteſt
du ſelbſt ſchauen; aber jetzt haͤltſt Du mich gewiß
fuͤr einen aberwitzigen Geiſterſeher. — Kurz und
gut, das Entſetzliche, was mir geſchah, deſſen
toͤdtlichen Eindruck zu vermeiden ich mich verge¬
bens bemuͤhe, beſteht in nichts anderm, als daß
vor einigen Tagen, nehmlich am 30. October
Mittags um 12 Uhr, ein Wetterglashaͤndler in
meine Stube trat und mir ſeine Waare anbot.
Ich kaufte nichts und drohte, ihn die Treppe her¬
abzuwerfen, worauf er aber von ſelbſt fortging. —
[3]
Du ahneſt, daß nur ganz eigne, tief in mein
Leben eingreifende Beziehungen dieſem Vorfall
Bedeutung geben koͤnnen, ja, daß wohl die Per¬
ſon jenes ungluͤckſeligen Kraͤmers gar feindlich auf
mich wirken muß. So iſt es in der That. Mit
aller Kraft faſſe ich mich zuſammen, um ruhig
und geduldig Dir aus meiner fruͤhern Jugendzeit
ſo viel zu erzaͤhlen, daß deinem regen Sinn alles
klar und deutlich in leuchtenden Bildern aufgehen
wird. Indem ich anfangen will, hoͤre ich Dich
lachen und Clara ſagen: das ſind ja rechte Kin¬
dereien! — Lacht, ich bitte Euch, lacht mich
recht herzlich aus! — ich bitt' Euch ſehr! —
Aber Gott im Himmel! die Haare ſtraͤuben ſich
mir und es iſt, als flehe ich Euch an, mich aus¬
zulachen, in wahnſinniger Verzweiflung, wie
Franz Moor den Daniel. — Nun fort zur
Sache! —
Außer dem Mittagseſſen ſahen wir, ich und
mein Geſchwiſter, Tag uͤber den Vater wenig.
Er mochte mit ſeinem Dienſt viel beſchaͤftigt ſeyn.
Nach dem Abendeſſen, das alter Sitte gemaͤß
A 2[4] ſchon um ſieben Uhr aufgetragen wurde, gingen
wir alle, die Mutter mit uns, in des Vaters
Arbeitszimmer und ſetzten uns um einen runden
Tiſch. Der Vater rauchte Tabak und trank ein
großes Glas Bier dazu. Oft erzaͤhlte er uns viele
wunderbare Geſchichten und gerieth daruͤber ſo in
Eifer, daß ihm die Pfeife immer ausging, die
ich, ihm brennend Papier hinhaltend, wieder an¬
zuͤnden mußte, welches mir denn ein Hauptſpaß
war. Oft gab er uns aber Bilderbuͤcher in die
Haͤnde, ſaß ſtumm und ſtarr in ſeinem Lehnſtuhl
und blies ſtarke Dampfwolken von ſich, daß wir
alle wie im Nebel ſchwammen. An ſolchen Aben¬
den war die Mutter ſehr traurig und kaum ſchlug
die Uhr neun, ſo ſprach ſie: Nun Kinder! —
zu Bette! zu Bette! der Sandmann kommt, ich
merk' es ſchon. Wirklich hoͤrte ich dann jedes¬
mal Etwas ſchweren langſamen Tritts die Treppe
heraufpoltern; das mußte der Sandmann ſeyn.
Einmal war mir jenes dumpfe Treten und Pol¬
tern beſonders graulich; ich frug die Mutter, in¬
dem ſie uns fortfuͤhrte: Ei Mama! wer iſt denn
[5] der boͤſe Sandmann, der uns immer von Papa
forttreibt? — wie ſieht er denn aus? „Es gibt
keinen Sandmann, mein liebes Kind, erwiederte
die Mutter: wenn ich ſage, der Sandmann kommt,
ſo will das nur heißen, ihr ſeyd ſchlaͤfrig und
koͤnnt die Augen nicht offen behalten, als haͤtte
man Euch Sand hineingeſtreut.“ — Der Mut¬
ter Antwort befriedigte mich nicht, ja in meinem
kindiſchen Gemuͤth entfaltete ſich deutlich der Ge¬
danke, daß die Mutter den Sandmann nur ver¬
laͤugne, damit wir uns vor ihm nicht fuͤrchten
ſollten, ich hoͤrte ihn ja immer die Treppe her¬
aufkommen. Voll Neugierde, naͤheres von dieſem
Sandmann und ſeiner Beziehung auf uns Kinder
zu erfahren, frug ich endlich die alte Frau, die
meine juͤngſte Schweſter wartete: was denn
das fuͤr ein Mann ſei, der Sandmann? „Ei
Thanelchen, erwiederte dieſe, weißt du das
noch nicht? Das iſt ein boͤſer Mann, der kommt
zu den Kindern, wenn ſie nicht zu Bett' gehen
wollen und wirft ihnen Haͤndevoll Sand in die
Augen, daß ſie blutig zum Kopf herausſpringen,
[6] die wirft er dann in den Sack und traͤgt ſie in
den Halbmond zur Atzung fuͤr ſeine Kinderchen;
die ſitzen dort im Neſt und haben krumme Schnaͤ¬
bel, wie die Eulen, damit picken ſie der unartigen
Menſchenkindlein Augen auf. — Graͤßlich malte
ſich nun im Innern mir das Bild des grauſamen
Sandmanns aus; ſo wie es Abends die Treppe
heraufpolterte, zitterte ich vor Angſt und Entſetzen.
Nichts als den unter Thraͤnen hergeſtotterten Ruf:
der Sandmann! der Sandmann! konnte die
Mutter aus mir herausbringen. Ich lief darauf
in das Schlafzimmer, und wohl die ganze Nacht
uͤber quaͤlte mich die fuͤrchterliche Erſcheinung des
Sandmanns. — Schon alt genug war ich gewor¬
den, um einzuſehen, daß das mit dem Sand¬
mann und ſeinem Kinderneſt im Halbmonde, ſo
wie es mir die Wartefrau erzaͤhlt hatte, wohl
nicht ganz ſeine Richtigkeit haben koͤnne; indeſſen
blieb mir der Sandmann ein fuͤrchterliches Ge¬
ſpenſt, und Grauen — Entſetzen ergriff mich,
wenn ich ihn nicht allein die Treppe heraufkom¬
men, ſondern auch meines Vaters Stubenthuͤr
[7] heftig aufreiſſen und hineintreten hoͤrte. Manch¬
mal blieb er lange weg, dann kam er oͤfter hin¬
tereinander. Jahre lang dauerte das, und nicht
gewoͤhnen konnte ich mich an den unheimlichen
Spuk, nicht bleicher wurde in mir das Bild des
grauſigen Sandmanns. Sein Umgang mit dem
Vater fing an meine Fantaſie immer mehr und
mehr zu beſchaͤftigen: den Vater darum zu befra¬
gen hielt mich eine unuͤberwindliche Scheu zuruͤck,
aber ſelbſt — ſelbſt das Geheimniß zu erforſchen,
den fabelhaften Sandmann zu ſehen, dazu keimte
mit den Jahren immer mehr die Luſt in mir
empor. Der Sandmann hatte mich auf die Bahn
des Wunderbaren, Abenteuerlichen gebracht, das
ſo ſchon leicht im kindlichen Gemuͤth ſich einniſtet.
Nichts war mir lieber, als ſchauerliche Geſchich¬
ten von Kobolten, Hexen, Daͤumlingen u. ſ. w.
zu hoͤren oder zu leſen; aber obenan ſtand im¬
mer der Sandmann, den ich in den ſeltſamſten,
abſcheulichſten Geſtalten uͤberall auf Tiſche, Schraͤn¬
ke und Waͤnde mit Kreide, Kohle, hinzeichnete.
Als ich zehn Jahre alt geworden, wies mich die
[8] Mutter aus der Kinderſtube in ein Kaͤmmerchen,
das auf dem Corridor unfern von meines Vaters
Zimmer lag. Noch immer mußten wir uns,
wenn auf den Schlag Neun Uhr ſich jener Unbe¬
kannte im Hauſe hoͤren ließ, ſchnell entfernen.
In meinem Kaͤmmerchen vernahm ich, wie er
bei dem Vater hineintrat und bald darauf war
es mir dann, als verbreite ſich im Hauſe ein fei¬
ner ſeltſam riechender Dampf. Immer hoͤher mit
der Neugierde wuchs der Muth, auf irgend eine
Weiſe des Sandmanns Bekanntſchaft zu machen.
Oft ſchlich ich ſchnell aus dem Kaͤmmerchen auf
den Corridor, wenn die Mutter voruͤbergegangen,
aber nichts konnte ich erlauſchen, denn immer
war der Sandmann ſchon zur Thuͤre hinein,
wenn ich den Platz erreicht hatte, wo er mir
ſichtbar werden mußte. Endlich von unwiderſteh¬
lichem Drange getrieben, beſchloß ich, im Zimmer
des Vaters ſelbſt mich zu verbergen und den
Sandmann zu erwarten.
An des Vaters Schweigen, an der Mutter
Traurigkeit merkte ich eines Abends, daß der
[9] Sandmann kommen werde; ich ſchuͤtzte daher große
Muͤdigkeit vor, verließ ſchon vor neun Uhr das
Zimmer und verbarg mich dicht neben der Thuͤre
in einen Schlupfwinkel. Die Hausthuͤre knarrte,
durch den Flur ging es, langſamen, ſchweren,
droͤhnenden Schrittes nach der Treppe. Die Mut¬
ter eilte mit dem Geſchwiſter mir voruͤber. Leiſe —
leiſe oͤffnete ich des Vaters Stubenthuͤr. Er
ſaß, wie gewoͤhnlich, ſtumm und ſtarr den Ruͤcken
der Thuͤre zugekehrt, er bemerkte mich nicht,
ſchnell war ich hinein und hinter der Gardine,
die einem gleich neben der Thuͤre ſtehenden offnen
Schrank, worin meines Vaters Kleider hingen,
vorgezogen war. — Naͤher — immer naͤher
droͤhnten die Tritte — es huſtete und ſcharrte und
brummte ſeltſam draußen. Das Herz bebte mir
vor Angſt und Erwartung. — Dicht, dicht
vor der Thuͤre ein ſcharfer Tritt — ein heftiger
Schlag auf die Klinke, die Thuͤr ſpringt raſſelnd
auf! — Mit Gewalt mich ermannend gucke ich
behutſam hervor. Der Sandmann ſteht mitten in
der Stube vor meinem Vater, der helle Schein der
[10] Lichter brennt ihm ins Geſicht! — Der Sand¬
mann, der fuͤrchterliche Sandmann iſt der alte
Advokat Coppelius, der manchmal bei uns
zu Mittage ißt! —
Aber die graͤßlichſte Geſtalt haͤtte mir nicht
tieferes Entſetzen erregen koͤnnen, als eben dieſer
Coppelius. — Denke Dir einen großen breit¬
ſchultrigen Mann mit einem unfoͤrmlich dicken Kopf,
erdgelbem Geſicht, buſchigten grauen Augenbrau¬
en, unter denen ein paar gruͤnliche Katzenaugen
ſtechend hervorfunkeln, großer, ſtarker uͤber die
Oberlippe gezogener Naſe. Das ſchiefe Maul ver¬
zieht ſich oft zum haͤmiſchen Lachen; dann wer¬
den auf den Backen ein paar dunkelrothe Flecke
ſichtbar und ein ſeltſam ziſchender Ton faͤhrt durch
die zuſammengekniffenen Zaͤhne. Coppelius
erſchien immer in einem altmodiſch zugeſchnittenen
aſchgrauen Rocke, eben ſolcher Weſte und gleichen
Beinkleidern, aber dazu ſchwarze Struͤmpfe und
Schuhe mit kleinen Steinſchnallen. Die kleine
Peruͤcke reichte kaum bis uͤber den Kopfwirbel
heraus, die Kleblocken ſtanden hoch uͤber den
[11] großen rothen Ohren und ein breiter verſchloſſe¬
ner Haarbeutel ſtarrte von dem Nacken weg, ſo
daß man die ſilberne Schnalle ſah, die die gefaͤl¬
telte Halsbinde ſchloß. Die ganze Figur war
uͤberhaupt widrig und abſcheulich; aber vor allem
waren uns Kindern ſeine großen knotigten, haarigten
Faͤuſte zuwider, ſo daß wir, was er damit be¬
ruͤhrte, nicht mehr mochten. Das hatte er bemerkt
und nun war es ſeine Freude, irgend ein Stuͤck¬
chen Kuchen, oder eine ſuͤße Frucht, die uns die
gute Mutter heimlich auf den Teller gelegt, unter
dieſem, oder jenem Vorwande zu beruͤhren, daß wir,
helle Thraͤnen in den Augen, die Naͤſcherei, der
wir uns erfreuen ſollten, nicht mehr genießen
mochten vor Ekel und Abſcheu. Eben ſo machte
er es, wenn uns an Feiertagen der Vater ein
klein Glaͤschen ſuͤßen Weins eingeſchenkt hatte.
Dann fuhr er ſchnell mit der Fauſt heruͤber, oder
brachte wohl gar das Glas an die blauen Lippen
und lachte recht teufliſch, wenn wir unſern Aerger
nur leiſe ſchluchzend aͤußern durften. Er pflegte
uns nur immer die kleinen Beſtien zu nennen;
[12] wir durften, war er zugegen, keinen Laut von
uns geben und verwuͤnſchten den haͤßlichen, feind¬
lichen Mann, der uns recht mit Bedacht und
Abſicht auch die kleinſte Freude verdarb. Die
Mutter ſchien eben ſo, wie wir, den widerwaͤrti¬
gen Coppelius zu haſſen; denn ſo wie er ſich
zeigte, war ihr Frohſinn, ihr heiteres unbefange¬
nes Weſen umgewandelt in traurigen, duͤſtern
Ernſt. Der Vater betrug ſich gegen ihn, als ſei er
ein hoͤheres Weſen, deſſen Unarten man dulden
und das man auf jede Weiſe bei guter Laune er¬
halten muͤſſe. Er durfte nur leiſe andeuten
und Lieblingsgerichte wurden gekocht und ſeltene
Weine kredenzt.
Als ich nun dieſen Coppelius ſah, ging es
grauſig und entſetzlich in meiner Seele auf, daß
ja niemand anders, als er, der Sandmann ſeyn
koͤnne, aber der Sandmann war mir nicht mehr
jener Popanz aus dem Ammenmaͤhrchen, der dem
Eulenneſt im Halbmonde Kinderaugen zur Atzung
holt, — Nein! — ein haͤßlicher geſpenſtiſcher
Unhold, der uͤberall, wo er einſchreitet, Jam¬
[13] mer — Noth — zeitliches, ewiges Verderben
bringt.
Ich war feſt gezaubert. Auf die Gefahr ent¬
deckt, und, wie ich deutlich dachte, hart geſtraft
zu werden, blieb ich ſtehen, den Kopf lauſchend
durch die Gardine hervorgeſtreckt. Mein Vater
empfing den Coppelius feierlich. „Auf! —
zum Werk, rief dieſer mit heiſerer, ſchnarrender
Stimme und warf den Rock ab. Der Vater zog
ſtill und finſter ſeinen Schlafrock aus und beide
kleideten ſich in lange ſchwarze Kittel. Wo ſie
die hernahmen, hatte ich uͤberſehen. Der Vater
oͤffnete die Fluͤgelthuͤr eines Wandſchranks; aber
ich ſah, daß das, was ich ſo lange dafuͤr gehal¬
ten, kein Wandſchrank, ſondern vielmehr eine
ſchwarze Hoͤhlung war, in der ein kleiner Heerd
ſtand. Coppelius trat hinzu und eine blaue
Flamme kniſterte auf dem Heerde empor. Aller¬
lei ſeltſames Geraͤthe ſtand umher. Ach Gott! —
wie ſich nun mein alter Vater zum Feuer herab¬
buͤckte, da ſah er ganz anders aus. Ein graͤßli¬
cher krampfhafter Schmerz ſchien ſeine ſanften
[14] ehrlichen Zuͤge zum haͤßlichen widerwaͤrtigen Teu¬
felsbilde verzogen zu haben. Er ſah dem Coppe¬
lius aͤhnlich. Dieſer ſchwang die gluthrothe
Zange und holte damit hellblinkende Maſſen aus
dem dicken Qualm, die er dann aͤmſig haͤmmerte.
Mir war es als wuͤrden Menſchengeſichter rings¬
umher ſichtbar, aber ohne Augen — ſcheußliche,
tiefe ſchwarze Hoͤhlen ſtatt ihrer. „Augen her,
Augen her! rief Coppelius mit dumpfer droͤh¬
nender Stimme. Ich kreiſchte auf von wildem
Entſetzen gewaltig erfaßt und ſtuͤrzte aus meinem
Verſteck heraus auf den Boden. Da ergriff mich
Coppelius, kleine Beſtie! — kleine Beſtie!
meckerte er zaͤhnfletſchend! — riß mich auf und
warf mich auf den Heerd, daß die Flamme mein
Haar zu ſengen begann: „Nun haben wir Au¬
gen — Augen — ein ſchoͤn Paar Kinderaugen.
So fluͤſterte Coppelius, und griff mit den Faͤu¬
ſten gluthrothe Koͤrner aus der Flamme, die er
mir in die Augen ſtreuen wollte. Da hob mein
Vater flehend die Haͤnde empor und rief: Meiſter!
Meiſter! laß meinem Nathanael die Augen —
[15] laß ſie ihm! Coppelius lachte gellend auf und
rief: „Mag denn der Junge die Augen behalten
und ſein Penſum flennen in der Welt; aber nun
wollen wir doch den Mechanismus der Haͤnde und
der Fuͤße recht obſerviren. Und damit faßte er
mich gewaltig, daß die Gelenke knackten, und
ſchrob mir die Haͤnde ab und die Fuͤße und ſetzte
ſie bald hier, bald dort wieder ein. „'S ſteht
doch uͤberall nicht recht! 's gut ſo wie es war! —
Der Alte hat's verſtanden!“ So ziſchte und lis¬
pelte Coppelius; aber alles um mich her wurde
ſchwarz und finſter, ein jaͤher Krampf durchzuckte
Nerv und Gebein — ich fuͤhlte nichts mehr. Ein
ſanfter warmer Hauch glitt uͤber mein Geſicht,
ich erwachte wie aus dem Todesſchlaf, die Mutter
hatte ſich uͤber mich hingebeugt. „Iſt der Sand¬
mann noch da?“ ſtammelte ich. „Nein, mein
liebes Kind, der iſt lange, lange fort, der thut
dir keinen Schaden!“ — So ſprach die Mutter
und kuͤßte und herzte den wieder gewonnenen
Liebling. —
Was ſoll ich Dich ermuͤden, mein herzlieber
[16]Lothar! was ſoll ich ſo weitlaͤuftig Einzelnes
hererzaͤhlen, da noch ſo vieles zu ſagen uͤbrig
bleibt? Genug! — ich war bei der Lauſcherei
entdeckt, und von Coppelius gemißhandelt wor¬
den. Angſt und Schrecken hatten mir ein hitziges
Fieber zugezogen, an dem ich mehrere Wochen
krank lag. „Iſt der Sandmann noch da?“ —
Das war mein erſtes geſundes Wort und das
Zeichen meiner Geneſung, meiner Rettung. —
Nur noch den ſchrecklichſten Moment meiner Ju¬
gendjahre darf ich dir erzaͤhlen; dann wirſt du
uͤberzeugt ſeyn, daß es nicht meiner Augen Bloͤ¬
digkeit iſt, wenn mir nun alles farblos erſcheint,
ſondern, daß ein dunkles Verhaͤngniß wirklich
einen truͤben Wolkenſchleier uͤber mein Leben ge¬
haͤngt hat, den ich vielleicht nur ſterbend zer¬
reiſſe. —
Coppelius ließ ſich nicht mehr ſehen, es
hieß, er habe die Stadt verlaſſen.
Ein Jahr mochte vergangen ſeyn, als wir der
alten unveraͤnderten Sitte gemaͤß Abends an dem
runden Tiſche ſaßen. Der Vater war ſehr heiter
und[17] und erzaͤhlte viel Ergoͤtzliches von den Reiſen, die
er in ſeiner Jugend gemacht. Da hoͤrten wir
als es Neune ſchlug, ploͤtzlich die Hausthuͤr in
den Angeln knarren und langſame eiſenſchwere
Schritte droͤhnten durch den Hausflur die Treppe
herauf. „Das iſt Coppelius,“ ſagte meine
Mutter erblaſſend. „Ja! — es iſt Coppelius“
wiederholte der Vater mit matter gebrochener
Stimme. Die Thraͤnen ſtuͤrzten der Mutter aus
den Augen. „Aber Vater, Vater! rief ſie, muß
es denn ſo ſeyn?“ „Zum letztenmahle!“ erwiederte
dieſer, „zum letztenmahle kommt er zu mir, ich
verſpreche es Dir. Geh' nur, geh' mit den Kin¬
dern! — Geht — geht zu Bette! Gute Nacht!“
Mir war es, als ſei ich in ſchweren kalten
Stein eingepreßt — mein Athem ſtockte! —
Die Mutter ergriff mich beim Arm als ich un¬
beweglich ſtehen blieb: „Komm Nathanael,
komme nur!“ — Ich ließ mich fortfuͤhren, ich
trat in meine Kammer. „Sei ruhig, ſei ruhig,
lege Dich ins Bette! — ſchlafe — ſchlafe“, rief
mir die Mutter nach; aber von unbeſchreiblicher
B[18] innerer Angſt und Unruhe gequaͤlt, konnte ich
kein Auge zuthun. Der verhaßte abſcheuliche
Coppelius ſtand vor mir mit funkelnden Augen
und lachte mich haͤmiſch an, vergebens trachtete
ich ſein Bild los zu werden. Es mochte wohl
ſchon Mitternacht ſeyn, als ein entſetzlicher Schlag
geſchah, wie wenn ein Geſchuͤtz losgefeiert wuͤrde.
Das ganze Haus erdroͤhnte, es raſſelte und rauſchte
bei meiner Thuͤre voruͤber, die Hausthuͤre wurde
klirrend zugeworfen. „Das iſt Coppelius“ rief
ich entſetzt und ſprang aus dem Bette. Da
kreiſchte es auf in ſchneidendem troſtloſen Jam¬
mer, fort ſtuͤrzte ich nach des Vaters Zimmer,
die Thuͤre ſtand offen, erſtickender Dampf quoll
mir entgegen, das Dienſtmaͤdchen ſchrie: Ach, der
Herr! — der Herr! — Vor dem dampfenden
Heerde auf dem Boden lag mein Vater todt mit
ſchwarz verbranntem graͤßlich verzerrtem Geſicht,
um ihn herum heulten und winſelten die Schwe¬
ſtern — die Mutter ohnmaͤchtig daneben! —
„Coppelius, verruchter Satan, du haſt den
Vater erſchlagen!“ — So ſchrie ich auf; mir ver¬
[19] gingen die Sinne. Als man zwei Tage darauf
meinen Vater in den Sarg legte, waren ſeine
Geſichtszuͤge wieder mild und ſanft geworden, wie
ſie im Leben waren. Troͤſtend ging es in meiner
Seele auf, daß ſein Bund mit dem teufliſchen
Coppelius ihn nicht ins ewige Verderben ge¬
ſtuͤrzt haben koͤnne. —
Die Exploſion hatte die Nachbarn geweckt,
der Vorfall wurde ruchtbar und kam vor die Obrig¬
keit, welche den Coppelius zur Verantwortung
vorfordern wollte. Der war aber ſpurlos vom
Orte verſchwunden.
Wenn ich Dir nun ſage, mein herzlieber
Freund! daß jener Wetterglashaͤndler eben der
verruchte Coppelius war, ſo wirſt Du mir es
nicht verargen, daß ich die feindliche Erſcheinung
als ſchweres Unheil bringend deute. Er war an¬
ders gekleidet, aber Coppelius Figur und Ge¬
ſichtszuͤge ſind zu tief in mein Innerſtes einge¬
praͤgt, als daß hier ein Irrthum moͤglich ſeyn
ſollte. Zudem hat Coppelius nicht einmahl
ſeinen Namen geaͤndert. Er gibt ſich hier, wie
B 2[20] ich hoͤre, fuͤr einen piemonteſiſchen Mechanicus
aus, und nennt ſich Giuſeppe Coppola.
Ich bin entſchloſſen es mit ihm aufzunehmen
und des Vaters Tod zu raͤchen, mag es denn
nun gehen wie es will.
Der Mutter erzaͤhle nichts von dem Erſchei¬
nen des graͤßlichen Unholds — Gruͤße meine liebe
holde Clara, ich ſchreibe ihr in ruhigerer Ge¬
muͤthsſtimmung. Lebe wohl ꝛc. ꝛc.
Clara an Nathanael.
Wahr iſt es, daß Du recht lange mir nicht
geſchrieben haſt, aber dennoch glaube ich, daß Du
mich in Sinn und Gedanken traͤgſt. Denn mei¬
ner gedachteſt Du wohl recht lebhaft, als Du
Deinen letzten Brief an Bruder Lothar abſen¬
den wollteſt und die Aufſchrift, ſtatt an ihn, an
mich richteteſt. Freudig erbrach ich den Brief
und wurde den Irrthum erſt bei den Worten
inne: Ach mein herzlieber Lothar! — Nun haͤtte
ich nicht weiter leſen, ſondern den Brief dem Bru¬
[21] der geben ſollen. Aber, haſt Du mir auch ſonſt
manchmahl in kindiſcher Neckerei vorgeworfen,
ich haͤtte ſolch' ruhiges, weiblich beſonnenes Ge¬
muͤth, daß ich wie jene Frau, drohe das Haus
den Einſturz, noch vor ſchneller Flucht ganz ge¬
ſchwinde einen falſchen Kniff in der Fenſter¬
gardine glattſtreichen wuͤrde, ſo darf ich doch wohl
kaum verſichern, daß Deines Briefes Anfang mich
tief erſchuͤtterte. Ich konnte kaum athmen, es
flimmerte mir vor den Augen. — Ach, mein
herzgeliebter Nathanael! was konnte ſo ent¬
ſetzliches in Dein Leben getreten ſeyn! Trennung
von Dir, Dich niemahls wieder ſehen, der
Gedanke durchfuhr meine Bruſt wie ein gluͤhender
Dolchſtich. — Ich las und las! — Deine Schil¬
derung des widerwaͤrtigen Coppelius iſt graͤ߬
lich. Erſt jetzt vernahm ich, wie Dein guter alter
Vater ſolch' entſetzlichen, gewaltſamen Todes ſtarb.
Bruder Lothar, dem ich ſein Eigenthum zu¬
ſtellte, ſuchte mich zu beruhigen, aber es gelang
ihm ſchlecht. Der fatale Wetterglashaͤndler Giu¬
ſeppe Coppola verfolgte mich auf Schritt und
[22] Tritt und beinahe ſchaͤme ich mich, es zu geſte¬
hen, daß er ſelbſt meinen geſunden, ſonſt ſo ruhi¬
gen Schlaf in allerlei wunderlichen Traumgebilden
zerſtoͤren konnte. Doch bald, ſchon den andern
Tag, hatte ſich Alles anders in mir geſtaltet.
Sei mir nur nicht boͤſe, mein Inniggeliebter,
wenn Lothar Dir etwa ſagen moͤchte, daß ich
trotz Deiner ſeltſamen Ahnung, Coppelius
werde Dir etwas Boͤſes anthun, ganz heitern un¬
befangenen Sinnes bin, wie immer.
Gerade heraus will ich es Dir nur geſtehen,
daß, wie ich meine, alles Entſetzliche und Schreck¬
liche, wovon Du ſprichſt, nur in Deinem Innern
vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran
wohl wenig Theil hatte. Widerwaͤrtig genug mag
der alte Coppelius geweſen ſeyn, aber daß er
Kinder haßte, das brachte in Euch Kindern wah¬
ren Abſcheu gegen ihn hervor.
Natuͤrlich verknuͤpfte ſich nun in Deinem kin¬
diſchen Gemuͤth der ſchreckliche Sandmann aus
dem Ammenmaͤhrchen mit dem alten Coppelius,
der Dir, glaubteſt Du auch nicht an den Sand¬
[23] mann, ein geſpenſtiſcher, Kindern vorzuͤglich ge¬
faͤhrlicher, Unhold blieb. Das unheimliche Trei¬
ben mit Deinem Vater zur Nachtzeit war wohl
nichts anders, als daß beide insgeheim alchymi¬
ſtiſche Verſuche machten, womit die Mutter nicht
zufrieden ſeyn konnte, da gewiß viel Geld un¬
nuͤtz verſchleudert und obendrein, wie es immer
mit ſolchen Laboranten der Fall ſeyn ſoll, des Va¬
ters Gemuͤth ganz von dem truͤgeriſchen Drange
nach hoher Weisheit erfuͤllt, der Familie abwen¬
dig gemacht wurde. Der Vater hat wohl gewiß
durch eigne Unvorſichtigkeit ſeinen Tod herbeige¬
fuͤhrt, und Coppelius iſt nicht Schuld daran:
Glaubſt Du, daß ich den erfahrnen Nachbar Apo¬
theker geſtern frug, ob wohl bei chemiſchen Ver¬
ſuchen eine ſolche augenblicklich toͤdtende Exploſion
moͤglich ſei? Der ſagte: Ei allerdings und be¬
ſchrieb mir nach ſeiner Art gar weitlaͤuftig und
umſtaͤndlich, wie das zugehen koͤnne, und nannte
dabei ſo viel ſonderbar klingende Namen, die ich
gar nicht zu behalten vermochte. — Nun wirſt
Du wohl unwillig werden uͤber deine Clara,
[24] Du wirſt ſagen: in dies kalte Gemuͤth dringt
kein Strahl des Geheimnißvollen, das den Men¬
ſchen oft mit unſichtbaren Armen umfaßt; ſie er¬
ſchaut nur die bunte Oberflaͤche der Welt und
freut ſich, wie das kindiſche Kind uͤber die gold¬
gleißende Frucht, in deren Innerm toͤdtliches Gift
verborgen.
Ach mein herzgeliebter Nathanael! glaubſt
Du denn nicht, daß auch in heitern — unbefan¬
genen — ſorgloſen Gemuͤthern die Ahnung woh¬
nen koͤnne von einer dunklen Macht, die feindlich
Uns in Unſerm eignen Selbſt zu verderben
ſtrebt? — Aber verzeih' es mir, wenn ich ein¬
faͤltig' Maͤdchen mich unterfange, auf irgend eine
Weiſe mir anzudeuten, was ich eigentlich von
ſolchem Kampfe im Innern glaube. — Ich finde
wohl gar am Ende nicht die rechten Worte und
Du lachſt mich aus, nicht, weil ich was dummes
meine, ſondern weil ich mich ſo ungeſchickt an¬
ſtelle, es zu ſagen. —
Giebt es eine dunkle Macht, die ſo recht feind¬
lich und verraͤtheriſch einen Faden in unſer Inne¬
[25] res legt, woran ſie uns dann feſtpackt und fort¬
zieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege,
den wir ſonſt nicht betreten haben wuͤrden —
giebt es eine ſolche Macht, ſo muß ſie in Uns
ſich, wie wir ſelbſt geſtalten, ja unſer Selbſt
werden; denn nur ſo glauben wir an ſie und
raͤumen ihr den Platz ein, deſſen ſie bedarf, um
jenes geheime Werk zu vollbringen. Haben wir fe¬
ſten, durch das heitre Leben geſtaͤrkten, Sinn genug,
um fremdes feindliches Einwirken als ſolches ſtets zu
erkennen und den Weg, in den uns Neigung und
Beruf geſchoben, ruhigen Schrittes zu verfolgen,
ſo geht wohl jene unheimliche Macht unter in
dem vergeblichen Ringen nach der Geſtaltung, die
unſer eignes Spiegelbild ſeyn ſollte. Es iſt auch
gewiß, fuͤgt Lothar hinzu, daß die dunkle phy¬
ſiſche Macht, haben wir uns durch uns ſelbſt ihr
hingegeben, oft fremde Geſtalten, die die Außen¬
welt uns in den Weg wirft, in unſer Inneres
hineinzieht, ſo, daß wir ſelbſt nur den Geiſt ent¬
zuͤnden, der, wie wir in wunderlicher Taͤuſchung
glauben, aus jener Geſtalt ſpricht. Es iſt das
[26] Fantom unſeres eigenen Ichs, deſſen innige Ver¬
wandtſchaft und deſſen tiefe Einwirkung auf unſer
Gemuͤth uns in die Hoͤlle wirft, oder in den Him¬
mel verzuͤckt. — Du merkſt, mein herzlieber
Nathanael! daß wir, ich und Bruder Lothar
uns recht uͤber die Materie von dunklen Maͤchten
und Gewalten ausgeſprochen haben, die mir nun,
nachdem ich nicht ohne Muͤhe das Hauptſaͤchlichſte
aufgeſchrieben, ordentlich tiefſinnig vorkommt.
Lothar's letzte Worte verſtehe ich nicht ganz,
ich ahne nur, was er meint, und doch iſt es mir,
als ſei alles ſehr wahr. Ich bitte Dich, ſchlage
Dir den haͤßlichen Advokaten Coppelius und
den Wetterglasmann Giuſeppe Coppola ganz
aus dem Sinn. Sei uͤberzeugt, daß dieſe fremden
Geſtalten nichts uͤber Dich vermoͤgen; nur der
Glaube an ihre feindliche Gewalt kann ſie Dir
in der That feindlich machen. Spraͤche nicht aus
jeder Zeile Deines Briefes die tiefſte Aufregung
Deines Gemuͤths, ſchmerzte mich nicht Dein Zu¬
ſtand recht in innerſter Seele, wahrhaftig, ich
koͤnnte uͤber den Advokaten Sandmann und den
[27] Wetterglashaͤndler Coppelius ſcherzen. Sei hei¬
ter — heiter! — Ich habe mir vorgenommen,
bei Dir zu erſcheinen, wie Dein Schutzgeiſt, und
den haͤßlichen Coppola, ſollte er es ſich etwa
beikommen laſſen, Dir im Traum beſchwerlich zu
fallen, mit lautem Lachen fortzubannen. Ganz
und gar nicht fuͤrchte ich mich vor ihm und vor
ſeinen garſtigen Faͤuſten, er ſoll mir weder als
Advokat eine Naͤſcherei, noch als Sandmann die
Augen verderben.
Ewig, mein herzinnigſtgeliebter Natha¬
nael ꝛc. ꝛc. ꝛc.
Nathanael an Lothar.
Sehr unlieb iſt es mir, daß Clara neulich
den Brief an Dich aus, freilich durch meine Zer¬
ſtreutheit veranlaßtem, Irrthum erbrach und las.
Sie hat mir einen ſehr tiefſinnigen philoſophiſchen
Brief geſchrieben, worin ſie ausfuͤhrlich beweiſet,
daß Coppelius und Coppola nur in meinem
Innern exiſtiren und Fantome meines Ich's ſind,
[28] die augenblicklich zerſtaͤuben, wenn ich ſie als ſolche,
erkenne. In der That, man ſollte gar nicht glau¬
ben, daß der Geiſt, der aus ſolch' hellen hold¬
laͤchelnden Kindesaugen, oft wie ein lieblicher ſuͤßer
Traum, hervorleuchtet, ſo gar verſtaͤndig, ſo ma¬
giſtermaͤßig diſtinguiren koͤnne. Sie beruft ſich
auf Dich. Ihr habt uͤber mich geſprochen. Du
lieſeſt ihr wohl logiſche Collegia, damit ſie alles
fein ſichten und ſondern lerne. — Laß das blei¬
ben! — Uebrigens iſt es wohl gewiß, daß der
Wetterglashaͤndler Giuſeppe Coppola keines¬
weges der alte Advokat Coppelius iſt. Ich hoͤre
bei dem erſt neuerdings angekommenen Profeſſor
der Phyſik, der, wie jener beruͤhmte Naturforſcher,
Spalanzani heißt und italiaͤniſcher Abkunft iſt,
Collegia. Der kennt den Coppola ſchon ſeit
vielen Jahren und uͤberdem hoͤrt man es auch
ſeiner Ausſprache an, daß er wirklich Piemonteſer
iſt. Coppelius war ein Deutſcher, aber wie
mich duͤnkt, kein ehrlicher. Ganz beruhigt bin
ich nicht. Haltet Ihr, Du und Clara, mich
immerhin fuͤr einen duͤſtern Traͤumer, aber nicht
[29] los kann ich den Eindruck werden, den Coppe¬
lius verfluchtes Geſicht auf mich macht. Ich bin
froh, daß er fort iſt aus der Stadt, wie mir
Spalanzani ſagt. Dieſer Profeſſor iſt ein
wunderlicher Kauz. Ein kleiner rundlicher Mann,
das Geſicht mit ſtarken Backenknochen, feiner
Naſe, aufgeworfnen Lippen, kleinen ſtechenden Au¬
gen. Doch beſſer, als in jeder Beſchreibung, ſiehſt
Du ihn, wenn Du den Caglioſtro, wie er
von Chodowiecki in irgend einem Berliniſchen
Taſchenkalender ſteht, anſchaueſt. — So ſieht
Spalanzani aus. — Neulich ſteige ich die
Treppe herauf und nehme wahr, daß die ſonſt
einer Glasthuͤre dicht vorgezogene Gardine zur
Seite einen kleinen Spalt laͤßt. Selbſt weiß ich
nicht, wie ich dazu kam, neugierig durchzublicken.
Ein hohes, ſehr ſchlank im reinſten Ebenmaß ge¬
wachſenes, herrlich gekleidetes Frauenzimmer ſaß
im Zimmer vor einem kleinen Tiſch, auf den ſie
beide Aerme, die Haͤnde zuſammengefaltet, gelegt
hatte. Sie ſaß der Thuͤre gegenuͤber, ſo, daß ich
ihr engelſchoͤnes Geſicht ganz erblickte. Sie ſchien
[30] mich nicht zu bemerken, und uͤberhaupt hatten
ihre Augen etwas Starres, beinahe moͤcht' ich
ſagen, keine Sehkraft, es war mir ſo, als
ſchliefe ſie mit offnen Augen. Mir wurde ganz
unheimlich und deshalb ſchlich ich leiſe fort ins
Auditorium, das daneben gelegen. Nachher er¬
fuhr ich, daß die Geſtalt, die ich geſehen, Spa¬
lanzani's Tochter, Olimpia war, die er ſon¬
derbarer und ſchlechter Weiſe einſperrt, ſo, daß
durchaus kein Menſch in ihre Naͤhe kommen
darf. — Am Ende hat es eine Bewandniß mit
ihr, ſie iſt vielleicht bloͤdſinnig oder ſonſt. —
Weshalb ſchreibe ich Dir aber das alles? Beſſer
und ausfuͤhrlicher haͤtte ich Dir das muͤndlich er¬
zaͤhlen koͤnnen. Wiſſe nehmlich, daß ich uͤber
vierzehn Tage bey Euch bin. Ich muß mein
ſuͤßes liebes Engelsbild, meine Clara, wiederſeh¬
en. Weggehaucht wird dann die Verſtimmung
ſeyn, die ſich (ich muß das geſtehen) nach dem fata¬
len verſtaͤndigen Briefe meiner bemeiſtern wollte
Deshalb ſchreibe ich auch heute nicht an Sie.
Tauſend Gruͤße ꝛc. ꝛc. ꝛc.
[31]
Seltſamer und wunderlicher kann nichts erfun¬
den werden, als dasjenige iſt, was ſich mit mei¬
nem armen Freunde, dem jungen Studenten Na¬
thanael, zugetragen, und was ich Dir, guͤnſtiger
Leſer! zu erzaͤhlen unternommen. Haſt Du, Ge¬
neigteſter! wohl jemahls etwas erlebt, das Deine
Bruſt, Sinn und Gedanken ganz und gar erfuͤllte,
Alles Andere daraus verdraͤngend? Es gaͤhrte und
kochte in Dir, zur ſiedenden Gluth entzuͤndet
ſprang das Blut durch die Adern und faͤrbte hoͤh¬
er Deine Wangen. Dein Blick war ſo ſeltſam
als wolle er Geſtalten, keinem andern Auge ſicht¬
bar, im leeren Raum erfaſſen und die Rede zer¬
floß in dunkle Seufzer. Da frugen Dich die
Freunde: Wie iſt Ihnen, Verehrter? — Was
haben Sie, Theurer? Und nun wollteſt Du das
innere Gebilde mit allen gluͤhenden Farben und
Schatten und Lichtern ausſprechen und muͤhteſt
Dich ab, Worte zu finden, um nur anzufangen.
Aber es war Dir, als muͤßteſt Du nun gleich
im erſten Wort Alles Wunderbare, Herrliche,
Entſetzliche, Luſtige, Grauenhafte, das ſich zuge¬
[32] tragen, recht zuſammengreifen, ſo daß es, wie
ein elektriſcher Schlag, alle treffe. Doch jedes
Wort, Alles was Rede vermag, ſchien Dir farb¬
los und froſtig und todt. Du ſuchſt und ſuchſt,
und ſtotterſt und ſtammelſt, und die nuͤchternen
Fragen der Freunde ſchlagen, wie eiſige Windes¬
hauche, hinein in Deine innere Gluth, bis ſie ver¬
loͤſchen will. Hatteſt Du aber, wie ein kecker
Mahler, erſt mit einigen verwegenen Strichen,
den Umriß Deines innern Bildes hingeworfen, ſo
trugſt Du mit leichter Muͤhe immer gluͤhender und
gluͤhender die Farben auf und das lebendige Gewuͤhl
mannigfacher Geſtalten riß die Freunde fort und ſie
ſahen, wie Du, ſich ſelbſt mitten im Bilde, das
aus Deinem Gemuͤth hervorgegangen! — Mich
hat, wie ich es Dir, geneigter Leſer! geſtehen
muß, eigentlich niemand nach der Geſchichte des
jungen Nathanael gefragt; Du weißt ja aber
wohl, daß ich zu dem wunderlichen Geſchlechte
der Autoren gehoͤre, denen, tragen ſie etwas ſo
in ſich, wie ich es vorhin beſchrieben, ſo zu
Muthe wird, als frage jeder, der in ihre Naͤhe
kommt[33] kommt und nebenher auch wohl noch die ganze
Welt: Was iſt es denn? Erzaͤhlen Sie Lieb¬
ſter? — So trieb es mich denn gar gewaltig, von
Nathanaels verhaͤngnißvollem Leben zu Dir zu
ſprechen. Das Wunderbare, Seltſame davon er¬
fuͤllte meine ganze Seele, aber eben deshalb und
weil ich Dich, o mein Leſer! gleich geneigt machen
mußte, Wunderliches zu ertragen, welches nichts
geringes iſt, quaͤlte ich mich ab, Nathanaels
Geſchichte, bedeutend — originell, ergreifend, an¬
zufangen: „Es war einmahl“ — der ſchoͤnſte An¬
fang jeder Erzaͤhlung, zu nuͤchtern! — „In der
kleinen Provinzial-Stadt S. lebte“ — etwas beſ¬
ſer, wenigſtens ausholend zum Climax. — Oder
gleich medias in res: „Scheer' er ſich zum Teu¬
fel, rief, Wuth und Entſetzen im wilden Blick,
der Student Nathanael, als der Wetterglas-
Haͤndler Giuſeppe Coppola“ — Das hatte ich
in der That ſchon aufgeſchrieben, als ich in dem
wilden Blick des Studenten Nathanael etwas
poſſirliches zu verſpuͤren glaubte; die Geſchichte iſt
aber gar nicht ſpaßhaft. Mir kam keine Rede
C[34] in den Sinn, die nur im mindeſten etwas von
dem Farbenglanz des innern Bildes abzuſpiegeln
ſchien. Ich beſchloß gar nicht anzufangen. Nimm,
geneigter Leſer! die drei Briefe, welche Freund
Lothar mir guͤtigſt mittheilte, fuͤr den Umriß
des Gebildes, in das ich nun erzaͤhlend immer
mehr und mehr Farbe hineinzutragen mich bemuͤh¬
en werde. Vielleicht gelingt es mir, manche
Geſtalt, wie ein guter Portraitmahler, ſo aufzu¬
faſſen, daß Du es aͤhnlich findeſt, ohne das Ori¬
ginal zu kennen, ja daß es Dir iſt, als haͤtteſt
Du die Perſon recht oft ſchon mit leibhaftigen
Augen geſehen. Vielleicht wirſt Du, o mein Leſer!
dann glauben, daß nichts wunderlicher und toller
ſei, als das wirkliche Leben und daß dieſes der
Dichter doch nur, wie in eines matt geſchliffnen
Spiegels dunklem Widerſchein, auffaſſen koͤnne.
Damit klarer werde, was gleich Anfangs zu
wiſſen noͤthig, iſt jenen Briefen noch hinzuzufuͤ¬
gen, daß bald darauf, als Nathanaels Vater
geſtorben, Clara und Lothar, Kinder eines
weitlaͤuftigen Verwandten, der ebenfalls geſtorben
[35] und ſie verwaiſt nachgelaſſen, von Nathanaels
Mutter ins Haus genommen wurden. Clara
und Nathanael faßten eine heftige Zuneigung
zu einander, wogegen kein Menſch auf Erden
etwas einzuwenden hatte; ſie waren daher Ver¬
lobte, als Nathanael den Ort verließ um ſeine
Studien in G. — fortzuſetzen. Da iſt er nun
in ſeinem letzten Briefe und hoͤrt Collegia bei
dem beruͤhmten Profeſſor Phyſices, Spalan¬
zani.
Nun koͤnnte ich getroſt in der Erzaͤhlung fort¬
fahren; aber in dem Augenblick ſteht Clara's
Bild ſo lebendig mir vor Augen, daß ich nicht
wegſchauen kann, ſo wie es immer geſchah, wenn
ſie mich holdlaͤchelnd anblickte. — Fuͤr ſchoͤn
konnte Clara keinesweges gelten; das meinten
alle, die ſich von Amtswegen auf Schoͤnheit ver¬
ſtehen. Doch lobten die Architekten die reinen Ver¬
haͤltniſſe ihres Wuchſes, die Mahler fanden Nacken,
Schultern und Bruſt beinahe zu keuſch geformt,
verliebten ſich dagegen ſaͤmmtlich in das wunderbare
Magdalenenhaar und faſelten uͤberhaupt viel von
C 2[36] Battoniſchem Colorit. Einer von ihnen, ein wirk¬
licher Fantaſt, verglich aber hoͤchſtſeltſamer Weiſe
Clara's Augen mit einem See von Ruisdael,
in dem ſich des wolkenloſen Himmels reines Azur,
Wald- und Blumenflur, der reichen Landſchaft
ganzes buntes, heitres Leben ſpiegelt. Dichter
und Meiſter gingen aber weiter und ſprachen:
Was See — was Spiegel! — Koͤnnen wir denn
das Maͤdchen anſchauen, ohne daß uns aus ihrem
Blick wunderbare himmliſche Geſaͤnge und Klaͤnge
entgegenſtrahlen, die in unſer Innerſtes dringen,
daß da alles wach und rege wird? Singen wir
ſelbſt denn nichts wahrhaft geſcheutes, ſo iſt uͤber¬
haupt nicht viel an uns und das leſen wir denn
auch deutlich in dem um Clara's Lippen ſchwe¬
benden feinen Laͤcheln, wenn wir uns unterfan¬
gen, ihr etwas vorzuquinkeliren, das ſo thun will
als ſei es Geſang, unerachtet nur einzelne Toͤne
verworren durch einander ſpringen. Es war dem
ſo. Clara hatte die lebenskraͤftige Fantaſie des
heitern unbefangenen, kindiſchen Kindes, ein tie¬
fes weiblich zartes Gemuͤth, einen gar hellen ſcharf
[37] ſichtenden Verſtand. Die Nebler und Schwebler
hatten bei ihr boͤſes Spiel; denn ohne zu viel zu
reden, was uͤberhaupt in Clara's ſchweigſamer
Natur nicht lag, ſagte ihnen der helle Blick, und
jenes feine ironiſche Laͤcheln: Lieben Freunde! wie
moͤget ihr mir denn zumuthen, daß ich Eure ver¬
fließende Schattengebilde fuͤr wahre Geſtalten an¬
ſehen ſoll, mit Leben und Regung? — Clara
wurde deshalb von vielen kalt, gefuͤhllos, pro¬
ſaiſch geſcholten; aber andere, die das Leben in
klarer Tiefe aufgefaßt, liebten ungemein das ge¬
muͤthvolle, verſtaͤndige, kindliche Maͤdchen, doch
keiner ſo ſehr, als Nathanael, der ſich in Wiſ¬
ſenſchaft und Kunſt kraͤftig und heiter bewegte.
Clara hing an dem Geliebten mit ganzer Seele;
die erſten Wolkenſchatten zogen durch ihr Leben,
als er ſich von ihr trennte. Mit welchem Ent¬
zuͤcken flog ſie in ſeine Arme, als er nun, wie
er im letzten Briefe an Lothar es verheißen,
wirklich in ſeiner Vaterſtadt ins Zimmer der Mut¬
ter eintrat. Es geſchah ſo wie Nathanael ge¬
glaubt; denn in dem Augenblick, als er Clara
[38] wieder ſah, dachte er weder an den Advokaten
Coppelius, noch an Clara's verſtaͤndigen
Brief, jede Verſtimmung war verſchwunden.
Recht hatte aber Nathanael doch, als er
ſeinem Freunde Lothar ſchrieb, daß des wider¬
waͤrtigen Wetterglashaͤndlers Coppola Geſtalt
recht feindlich in ſein Leben getreten ſei. Alle
fuͤhlten das, da Nathanael gleich in den erſten
Tagen in ſeinem ganzen Weſen durchaus veraͤn¬
dert ſich zeigte. Er verſank in duͤſtre Traͤume¬
reien, und trieb es bald ſo ſeltſam, wie man es
niemahls von ihm gewohnt geweſen. Alles, das
ganze Leben war ihm Traum und Ahnung ge¬
worden; immer ſprach er davon, wie jeder Menſch,
ſich frei waͤhnend, nur dunklen Maͤchten zum
grauſamen Spiel diene, vergeblich lehne man ſich
dagegen auf, demuͤthig muͤſſe man ſich dem fuͤgen,
was das Schickſal verhaͤngt habe. Er ging ſo
weit, zu behaupten, daß es thoͤricht ſei, wenn
man glaube, in Kunſt und Wiſſenſchaft nach ſelbſt¬
thaͤtiger Willkuͤhr zu ſchaffen; denn die Begeiſte¬
rung, in der man nur zu ſchaffen faͤhig ſei,
[39] komme nicht aus dem eignen Innern, ſondern
ſei das Einwirken irgend eines außer uns ſelbſt
liegenden hoͤheren Prinzips.
Der verſtaͤndigen Clara war dieſe myſtiſche
Schwaͤrmerei im hoͤchſten Grade zuwider, doch
ſchien es vergebens, ſich auf Widerlegung einzu¬
laſſen. Nur dann, wenn Nathanael bewies,
daß Coppelius das boͤſe Prinzip ſei, was ihn in
dem Augenblick erfaßt habe, als er hinter dem Vor¬
hange lauſchte, und daß dieſer widerwaͤrtige Daͤ¬
mon auf entſetzliche Weiſe ihr Liebesgluͤck ſtoͤren
werde, da wurde Clara ſehr ernſt und ſprach:
„Ja Nathanael! Du haſt Recht, Coppelius
iſt ein boͤſes feindliches Prinzip, er kann Entſetz¬
liches wirken, wie eine teufliſche Macht, die ſicht¬
barlich in das Leben trat, aber nur dann, wenn
Du ihn n[i]cht aus Sinn und Gedanken verbannſt.
So lange Du an ihn glaubſt, iſt er auch und
wirkt, nur Dein Glaube iſt ſeine Macht.“ —
Nathanael, ganz erzuͤrnt, daß Clara die Exi¬
ſtenz des Daͤmons nur in ſeinem eignen Innern
ſtatuire, wollte dann hervorruͤcken mit der ganzen
[40] myſtiſchen Lehre von Teufeln und grauſen Maͤch¬
ten, Clara brach aber verdruͤßlich ab, indem ſie
irgend etwas gleichguͤltiges dazwiſchen ſchob, zu Na¬
thanaels nicht geringem Aerger. Der dachte,
kalten unempfaͤnglichen Gemuͤthern erſchließen ſich
ſolche tiefe Geheimniſſe, ohne ſich deutlich bewußt
zu ſeyn, daß er Clara eben zu ſolchen unter¬
geordneten Naturen zaͤhle, weshalb er nicht ab¬
ließ mit Verſuchen, ſie in jene Geheimniſſe ein¬
zuweihen. Am fruͤhen Morgen, wenn Clara
das Fruͤhſtuͤck bereiten half, ſtand er bei ihr und
las ihr aus allerlei myſtiſchen Buͤchern vor, daß
Clara bat: Aber lieber Nathanael, wenn ich
Dich nun das boͤſe Prinzip ſchelten wollte, das
feindlich auf meinen Kaffee wirkt? — Denn,
wenn ich, wie Du es willſt, alles ſtehen und lie¬
gen laſſen und Dir, indem Du lieſeſt, in die
Augen ſchauen ſoll, ſo laͤuft mir der Kaffee ins
Feuer und ihr bekommt alle kein Fruͤhſtuͤck! —
Nathanael klappte das Buch heftig zu und
rannte voll Unmuth fort in ſein Zimmer. Sonſt
hatte er eine beſondere Staͤrke in anmuthigen,
[41] lebendigen Erzaͤhlungen, die er aufſchrieb, und
die Clara mit dem innigſten Vergnuͤgen anhoͤrte;
jetzt waren ſeine Dichtungen duͤſter, unverſtaͤnd¬
lich, geſtaltlos, ſo daß, wenn Clara ſchonend es
auch nicht ſagte, er doch wohl fuͤhlte, wie wenig
ſie davon angeſprochen wurde. Nichts war
fuͤr Clara toͤdtender, als das Langweilige; in
Blick und Rede ſprach ſich dann ihre nicht zu
beſiegende geiſtige Schlaͤfrigkeit aus. Natha¬
nael's Dichtungen waren in der That ſehr lang¬
weilig. Sein Verdruß uͤber Clara's kaltes pro¬
ſaiſches Gemuͤth ſtieg hoͤher, Clara konnte ihren
Unmuth uͤber Nathanael's dunkle, duͤſtere,
langweilige Myſtik nicht uͤberwinden, und ſo ent¬
fernten beide im Innern ſich immer mehr von ein¬
ander, ohne es ſelbſt zu bemerken. Die Geſtalt
des haͤßlichen Coppelius war, wie Natha¬
nael ſelbſt es ſich geſtehen mußte, in ſeiner Fan¬
taſie erbleicht und es koſtete ihm oft Muͤhe, ihn
in ſeinen Dichtungen, wo er als grauſer Schickſals¬
popanz auftrat, recht lebendig zu coloriren. Es
kam ihm endlich ein, jene duͤſtre Ahnung, daß
[42]Coppelius ſein Liebesgluͤck ſtoͤren werde, zum Ge¬
genſtande eines Gedichts zu machen. Er ſtellte ſich
und Clara dar, in treuer Liebe verbunden, aber
dann und wann war es, als griffe eine ſchwarze
Fauſt in ihr Leben und riſſe irgend eine Freude her¬
aus, die ihnen aufgegangen. Endlich, als ſie ſchon
am Traualtar ſtehen, erſcheint der entſetzliche Cop¬
pelius und beruͤhrt Clara's holde Augen;
die ſpringen in Nathanaels Bruſt wie blu¬
tige Funken ſengend und brennend, Coppelius
faßt ihn und wirft ihn in einen flammenden Feuer¬
kreis, der ſich dreht mit der Schnelligkeit des
Sturmes und ihn ſauſend und brauſend fortreißt.
Es iſt ein Toſen, als wenn der Orkan grimmig
hineinpeitſcht in die ſchaͤumenden Meereswellen,
die ſich wie ſchwarze, weißhauptige Rieſen empor¬
baͤumen in wuͤthendem Kampfe. Aber durch dies
wilde Toſen hoͤrt er Clara's Stimme: Kannſt
Du mich denn nicht erſchauen? Coppelius hat
Dich getaͤuſcht, das waren ja nicht meine Augen,
die ſo in Deiner Bruſt brannten, das waren ja
gluͤhende Tropfen Deines eignen Herzbluts —
[43] ich habe ja meine Augen, ſieh' mich doch nur
an! — Nathanael denkt: das iſt Clara,
und ich bin ihr Eigen ewiglich. — Da iſt es,
als faßt der Gedanke gewaltig in den Feuerkreis
hinein, daß er ſtehen bleibt, und im ſchwarzen
Abgrund verrauſcht dumpf das Getoͤſe. Natha¬
nael blickt in Clara's Augen; aber es iſt der
Tod, der mit Clara's Augen ihn freundlich
anſchaut.
Waͤhrend Nathanael dies dichtete, war er
ſehr ruhig und beſonnen, er feilte und beſſerte
an jeder Zeile und da er ſich dem metriſchen
Zwange unterworfen, ruhte er nicht, bis alles
rein und wohlklingend ſich fuͤgte. Als er jedoch
nun endlich fertig worden, und das Gedicht fuͤr
ſich laut las, da faßte ihn Grauſen und wildes
Entſetzen und er ſchrie auf: Weſſen grauenvolle
Stimme iſt das? — Bald ſchien ihm jedoch
das Ganze wieder nur eine ſehr gelungene Dich¬
tung, und es war ihm, als muͤſſe Clara's
kaltes Gemuͤth dadurch entzuͤndet werden, wie¬
wohl er nicht deutlich dachte, wozu denn Clara
[44] entzuͤndet, und wozu es denn nun eigentlich fuͤh¬
ren ſolle, ſie mit den grauenvollen Bildern zu aͤng¬
ſtigen, die ein entſetzliches, ihre Liebe zerſtoͤrendes
Geſchick weiſſagten. — Sie, Nathanael und
Clara, ſaßen in der Mutter kleinem Garten,
Clara war ſehr heiter, weil Nathanael ſie ſeit
drei Tagen, in denen er an jener Dichtung ſchrieb,
nicht mit ſeinen Traͤumen und Ahnungen geplagt
hatte. Auch Nathanael ſprach lebhaft und
froh von luſtigen Dingen wie ſonſt, ſo, daß
Clara ſagte: Nun erſt habe ich Dich ganz wie¬
der, ſiehſt Du es wohl, wie wir den haͤßlichen
Coppelius vertrieben haben? Da fiel dem
Nathanael erſt ein, daß er ja die Dichtung
in der Taſche trage, die er habe vorleſen wollen.
Er zog auch ſogleich die Blaͤtter hervor und fing
an zu leſen: Clara, etwas langweiliges wie
gewoͤhnlich vermuthend und ſich darein ergebend,
fing an, ruhig zu ſtricken. Aber ſo wie immer
ſchwaͤrzer und ſchwaͤrzer das duͤſtre Gewoͤlk auf¬
ſtieg, ließ ſie den Strickſtrumpf ſinken und blickte
ſtarr dem Nathanael ins Auge. Den riß
[45] ſeine Dichtung unaufhaltſam fort, hochroth faͤrbte
ſeine Wangen die innere Gluth, Thraͤnen quollen
ihm aus den Augen — Endlich hatte er geſchloſ¬
ſen, er ſtoͤhnte in tiefer Ermattung — er faßte
Clara's Hand und ſeufzte wie aufgeloͤſt in troſt¬
loſem Jammer: Ach! — Clara — Clara! —
Clara druͤckte ihn ſanft an ihren Buſen und
ſagte leiſe, aber ſehr langſam und ernſt: Natha¬
nael — mein herzlieber Nathanael! — wirf
das tolle — unſinnige — wahnſinnige Maͤhrchen
ins Feuer. Da ſprang Nathanael entruͤſtet
auf und rief, Clara von ſich ſtoßend: Du leb¬
loſes, verdammtes Automat! Er rannte fort,
bittre Thraͤnen vergoß die tief verletzte Clara:
Ach er hat mich niemahls geliebt, denn er ver¬
ſteht mich nicht, ſchluchzte ſie laut. — Lothar
trat in die Laube; Clara mußte ihm erzaͤhlen
was vorgefallen; er liebte ſeine Schweſter mit
ganzer Seele, jedes Wort ihrer Anklage fiel wie
ein Funke in ſein Inneres, ſo, daß der Unmuth,
den er wider den traͤumeriſchen Nathanael
lange im Herzen getragen, ſich entzuͤndete zum
[46] wilden Zorn. Er lief zu Nathanael, er warf
ihm das unſinnige Betragen gegen die geliebte
Schweſter in harten Worten vor, die der auf¬
brauſende Nathanael eben ſo erwiederte. Ein
fantaſtiſcher, wahnſinniger Geck wurde mit einem
miſerablen, gemeinen Alltagsmenſchen erwiedert.
Der Zweikampf war unvermeidlich. Sie beſchloſ¬
ſen, ſich am folgenden Morgen hinter dem Garten
nach dortiger akademiſcher Sitte mit ſcharf ge¬
ſchliffenen Stoßrappieren zu ſchlagen. Stumm
und finſter ſchlichen ſie umher, Clara hatte den
heftigen Streit gehoͤrt und geſehen, daß der
Fechtmeiſter in der Daͤmmerung die Rappiere
brachte. Sie ahnte was geſchehen ſollte. Auf
dem Kampfplatz angekommen hatten Lothar und
Nathanael ſo eben duͤſterſchweigend die Roͤcke
abgeworfen, blutduͤrſtige Kampfluſt im brennenden
Auge wollten ſie gegen einander ausfallen, als
Clara durch die Gartenthuͤr herbeiſtuͤrzte.
Schluchzend rief ſie laut: Ihr wilden entſetzlichen
Menſchen! — ſtoßt mich nur gleich nieder, ehe
ihr Euch anfallt; denn wie ſoll ich denn laͤnger
[47] leben auf der Welt, wenn der Geliebte den Bru¬
der, oder wenn der Bruder den Geliebten er¬
mordet hat! — Lothar ließ die Waffe ſinken
und ſah ſchweigend zur Erde nieder, aber in Na¬
thanael's Innerm ging in herzzerreiſſender Weh¬
muth alle Liebe wieder auf, wie er ſie jemahls
in der herrlichen Jugendzeit ſchoͤnſten Tagen fuͤr
die holde Clara empfunden. Das Mordgewehr
entfiel ſeiner Hand, er ſtuͤrzte zu Clara's Fuͤßen.
Kannſt Du mir denn jemahls verzeihen, Du
meine einzige, meine herzgeliebte Clara! —
Kannſt Du mir verzeihen, mein herzlieber Bru¬
der Lothar! — Lothar wurde geruͤhrt von
des Freundes tiefem Schmerz; unter tauſend Thraͤ¬
nen umarmten ſich die drei verſoͤhnten Menſchen
und ſchwuren, nicht von einander zu laſſen in
ſteter Liebe und Treue.
Dem Nathanael war es zu Muthe, als
ſei eine ſchwere Laſt, die ihn zu Boden gedruͤckt,
von ihm abgewaͤlzt, ja als habe er, Widerſtand
leiſtend der finſtern Macht, die ihn befangen,
ſein ganzes Seyn, dem Vernichtung drohte, ge¬
[48] rettet. Noch drei ſelige Tage verlebte er bei
den Lieben, dann kehrte er zuruͤck nach G., wo
er noch ein Jahr zu bleiben, dann aber auf im¬
mer nach ſeiner Vaterſtadt zuruͤckzukehren gedachte.
Der Mutter war alles, was ſich auf Cop¬
pelius bezog, verſchwiegen worden; denn man
wußte, daß ſie nicht ohne Entſetzen an ihn den¬
ken konnte, weil ſie, wie Nathanael, ihm
den Tod ihres Mannes Schuld gab.
Wie erſtaunte Nathanael, als er in ſeine
Wohnung wollte und ſah, daß das ganze Haus
niedergebrannt war, ſo daß aus dem Schutthau¬
fen nur die nackten Feuermauern hervorragten.
Unerachtet das Feuer in dem Laboratorium des
Apothekers, der im untern Stocke wohnte, aus¬
gebrochen war, das Haus daher von unten her¬
auf gebrannt hatte, ſo war es doch den kuͤhnen,
ruͤſtigen Freunden gelungen, noch zu rechter Zeit
in Nathanael's im obern Stock gelegenes
Zimmer zu dringen, und Buͤcher, Manuſcripte,
In¬[49] Inſtrumente zu retten. Alles hatten ſie unver¬
ſehrt in ein anderes Haus getragen, und dort
ein Zimmer in Beſchlag genommen, welches
Nathanael nun ſogleich bezog. Nicht ſon¬
derlich achtete er darauf, daß er dem Profeſſor
Spalanzani gegenuͤber wohnte, und eben ſo
wenig ſchien es ihm etwas beſonderes, als er be¬
merkte, daß er aus ſeinem Fenſter gerade hinein in
das Zimmer blickte, wo oft Olimpia einſam ſaß,
ſo, daß er ihre Figur deutlich erkennen konnte,
wiewohl die Zuͤge des Geſichts undeutlich und ver¬
worren blieben. Wohl fiel es ihm endlich auf,
daß Olimpia oft Stundenlang in derſelben Stel¬
lung, wie er ſie einſt durch die Glasthuͤre ent¬
deckte, ohne irgend eine Beſchaͤftigung an einem
kleinen Tiſche ſaß und daß ſie offenbar unverwand¬
ten Blickes nach ihm heruͤberſchaute; er mußte
ſich auch ſelbſt geſtehen, daß er nie einen ſchoͤ¬
neren Wuchs geſehen; indeſſen, Clara im
Herzen, blieb ihm die ſteife, ſtarre Olimpia
hoͤchſt gleichguͤltig und nur zuweilen ſah' er fluͤch¬
tig uͤber ſein Compendium heruͤber nach der ſchoͤ¬
D[50] nen Bildſaͤule, das war Alles. — Eben ſchrieb
er an Clara, als es leiſe an die Thuͤre klopfte;
ſie oͤffnete ſich auf ſeinen Zuruf und Coppola's
widerwaͤrtiges Geſicht ſah hinein. Nathanael
fuͤhlte ſich im Innerſten erbeben; eingedenk deſſen,
was ihm Spalanzani uͤber den Landsmann
Coppola geſagt und was er auch Ruͤckſichts des
Sandmanns Coppelius der Geliebten ſo heilig
verſprochen, ſchaͤmte er ſich aber ſelbſt ſeiner kin¬
diſchen Geſpenſterfurcht, nahm ſich mit aller Ge¬
walt zuſammen und ſprach ſo ſanft und gelaſſen,
als moͤglich: „Ich kaufe kein Wetterglas, mein
lieber Freund! gehen Sie nur!“ Da trat aber
Coppola vollends in die Stube und ſprach mit
heiſerem Ton, indem ſich das weite Maul zum
haͤßlichen Lachen verzog und die kleinen Augen
unter den grauen langen Wimpern ſtechend her¬
vorfunkelten: „Ei, nix Wetterglas, nix Wetter¬
glas! — hab' auch ſkoͤne Oke — ſkoͤne Oke!“ —
Entſetzt rief Nathanael: „Toller Menſch, wie
kannſt Du Augen haben? — Augen — Augen? —“
Aber in dem Augenblick hatte Coppola ſeine
[51] Wetterglaͤſer bei Seite geſetzt, griff in die weiten
Rocktaſchen und holte Lorgnetten und Brillen
heraus, die er auf den Tiſch legte. — „Nu —
Nu — Brill' — Brill auf der Nas' ſu ſetze, das
ſeyn meine Oke — ſkoͤne Oke!“ — Und damit
holte er immer mehr und mehr Brillen heraus,
ſo, daß es auf dem ganzen Tiſch ſeltſam zu flim¬
mern und zu funkeln begann. Tauſend Augen
blickten und zuckten krampfhaft und ſtarrten auf
zum Nathanael; aber er konnte nicht weg¬
ſchauen von dem Tiſch, und immer mehr Bril¬
len legte Coppola hin, und immer wilder und
wilder ſprangen flammende Blicke durch einander
und ſchoſſen ihre blutrothe Strahlen in Natha¬
nael's Bruſt. Uebermannt von tollem Entſetzen
ſchrie er auf: halt ein! halt ein, fuͤrchterlicher
Menſch! — Er hatte Coppola, der eben in
die Taſche griff, um noch mehr Brillen herauszu¬
bringen, unerachtet ſchon der ganze Tiſch uͤber¬
deckt war, beim Arm feſtgepackt. Coppola
machte ſich mit heiſerem widrigen Lachen ſanft
los und mit den Worten: „Ah! — nie fuͤr Sie —
D 2[52] aber hier ſkoͤne Glas“ — hatte er alle Brillen
zuſammengerafft, eingeſteckt und aus der Seiten¬
taſche des Rocks eine Menge großer und kleiner
Perſpektive hervorgeholt. So wie die Brillen nur
fort waren, wurde Nathanael ganz ruhig und
an Clara denkend ſah' er wohl ein, daß der
entſetzliche Spuk nur aus ſeinem Innern hervor¬
gegangen, ſo wie daß Coppola ein hoͤchſt ehr¬
licher Mechanicus und Opticus, keinesweges aber
Coppelii verfluchter Doppeltgaͤnger und Reve¬
nant ſeyn koͤnne. Zudem hatten alle Glaͤſer, die
Coppola nun auf den Tiſch gelegt, gar nichts
beſonderes, am wenigſten ſo etwas geſpenſtiſches
wie die Brillen und, um alles wieder gut zu ma¬
chen, beſchloß Nathanael dem Coppola jetzt
wirklich etwas abzukaufen. Er ergriff ein kleines
ſehr ſauber gearbeitetes Taſchenperſpektiv und ſah,
um es zu pruͤfen, durch das Fenſter. Noch im
Leben war ihm kein Glas vorgekommen, das die
Gegenſtaͤnde ſo rein, ſcharf und deutlich dicht
vor die Augen ruͤckte. Unwillkuͤhrlich ſah' er
hinein in Spalanzani's Zimmer; Olimpia
[53] ſaß, wie gewoͤhnlich, vor dem kleinen Tiſch, die
Aerme darauf gelegt, die Haͤnde gefaltet. —
Nun erſchaute Nathanael erſt Olimpia's
wunderſchoͤn geformtes Geſicht. Nur die Augen
ſchienen ihm gar ſeltſam ſtarr und todt. Doch
wie er immer ſchaͤrfer und ſchaͤrfer durch das
Glas hinſchaute, war es, als gingen in Olim¬
pia's Augen feuchte Mondesſtrahlen auf. Es
ſchien, als wenn nun erſt die Sehraft entzuͤndet
wuͤrde; immer lebendiger und lebendiger flammten
die Blicke. Nathanael lag wie feſtgezaubert
im Fenſter, immer fort und fort die himmliſch-
ſchoͤne Olimpia betrachtend. Ein Raͤuspern und
Scharren weckte ihn, wie aus tiefem Traum.
Coppola ſtand hinter ihm: Tre Zechini —
drei Dukat — Nathanael hatte den Opticus
rein vergeſſen, raſch zahlte er das verlangte:
„Nick ſo? — ſkoͤne Glas — ſkoͤne Glas!“ frug
Coppola mit ſeiner widerwaͤrtigen heiſern Stim¬
me und dem haͤmiſchen Laͤcheln. „Ja ja, ja!“ er¬
wiederte Nathanael verdrießlich. „Adieu, lieber
Freund!“ — Coppola verließ nicht ohne viele
[54] ſeltſame Seitenblicke auf Nathanael, das Zim¬
mer. Er hoͤrte ihn auf der Treppe laut lachen.
„Nun ja, meinte Nathanael, er lacht mich
aus, weil ich ihm das kleine Perſpektiv gewiß
viel zu theuer bezahlt habe — zu theuer be¬
zahlt!“ — Indem er dieſe Worte leiſe ſprach,
war es, als halle ein tiefer Todesſeufzer grauen¬
voll durch das Zimmer, Nathanael's Athem
ſtockte vor innerer Angſt. — Er hatte ja aber
ſelbſt ſo aufgeſeufzt, das merkte er wohl. Clara,
ſprach er zu ſich ſelber, hat wohl Recht, daß ſie
mich fuͤr einen abgeſchmackten Geiſterſeher haͤlt;
aber naͤrriſch iſt es doch — ach wohl mehr, als
naͤrriſch, daß mich der dumme Gedanke, ich haͤtte
das Glas dem Coppola zu theuer bezahlt, noch
jetzt ſo ſonderbar aͤngſtigt; den Grund davon ſehe
ich gar nicht ein. — Jetzt ſetzte er ſich hin, um
den Brief an Clara zu enden, aber ein Blick
durchs Fenſter uͤberzeugte ihn, daß Olimpia
noch da ſaͤße und im Augenblick, wie von unwi¬
derſtehlicher Gewalt getrieben, ſprang er auf, er¬
griff Coppola's Perſpektiv und konnte nicht
[55] los von Olimpia's verfuͤhreriſchem Anblick, bis
ihn Freund und Bruder Sigemund abrief in's
Collegium bei dem Profeſſor Spalanzani.
Die Gardine vor dem verhaͤngnißvollen Zimmer
war dicht zugezogen, er konnte Olimpia eben
ſo wenig hier, als die beiden folgenden Tage hin¬
durch in ihrem Zimmer, entdecken, unerachtet er
kaum das Fenſter verließ und fortwaͤhrend durch
Coppola's Perſpektiv hinuͤberſchaute. Am
dritten Tage wurden ſogar die Fenſter verhaͤngt.
Ganz verzweifelt und getrieben von Sehnſucht und
gluͤhendem Verlangen lief er hinaus vor's Thor.
Olimpia's Geſtalt ſchwebte vor ihm her in
den Luͤften und trat aus dem Gebuͤſch, und guckte
ihn an mit großen ſtrahlenden Augen, aus dem
hellen Bach. Clara's Bild war ganz aus ſei¬
nem Innern gewichen, er dachte nichts, als Olim¬
pia und klagte ganz laut und weinerlich: Ach
Du mein hoher herrlicher Liebesſtern, biſt Du
mir denn nur aufgegangen, um gleich wieder zu
verſchwinden, und mich zu laſſen in finſtrer hoff[¬]
nungsloſer Nacht?
[56]
Als er zuruͤckkehren wollte in ſeine Wohnung,
wurde er in Spalanzani's Hauſe ein geraͤuſch¬
volles Treiben gewahr. Die Thuͤren ſtanden offen,
man trug allerlei Geraͤthe hinein, die Fenſter
des erſten Stocks waren ausgehoben, geſchaͤftige
Maͤgde kehrten und ſtaͤubten mit großen Haar¬
beſen hin und herfahrend, inwendig klopften
und haͤmmerten Tiſchler und Tapezierer. Natha¬
nael blieb in vollem Erſtaunen auf der Straße
ſtehen; da trat Siegmund lachend zu ihm
und ſprach: „Nun, was ſagſt Du zu unſerem
alten Spalanzani?“ Nathanael verſicherte,
daß er gar nichts ſagen koͤnne, da er durchaus
nichts vom Profeſſor wiſſe, vielmehr mit großer
Verwunderung wahrnehme, wie in dem ſtillen
duͤſtern Hauſe ein tolles Treiben und Wirthſchaf¬
ten losgegangen; da erfuhr er denn von Sieg¬
mund, daß Spalanzani morgen ein großes
Feſt geben wolle, Conzert und Ball, und daß die
halbe Univerſitaͤt eingeladen ſei. Allgemein ver¬
breite man, daß Spalanzani ſeine Tochter
Olimpia, die er ſo lange jedem menſchlichen
[57] Auge recht aͤngſtlich entzogen, zum erſtenmahl
erſcheinen laſſen werde.
Nathanael fand eine Einladungskarte und
ging mit hochklopfendem Herzen zur beſtimmten
Stunde, als ſchon die Wagen rollten und die
Lichter in den geſchmuͤckten Saͤlen ſchimmerten,
zum Profeſſor. Die Geſellſchaft war zahlreich
und glaͤnzend. Olimpia erſchien ſehr reich und
geſchmackvoll gekleidet. Man mußte ihr ſchoͤn¬
geformtes Geſicht, ihren Wuchs bewundern. Der
etwas ſeltſam eingebogene Ruͤcken, die wespen¬
artige Duͤnne des Leibes ſchien von zu ſtarkem
Einſchnuͤren bewirkt zu ſeyn. In Schritt und
Stellung hatte ſie etwas abgemeſſenes und ſteifes,
das manchem unangenehm auffiel; man ſchrieb es
dem Zwange zu, den ihr die Geſellſchaft auflegte.
Das Conzert begann. Olimpia ſpielte den
Fluͤgel mit großer Fertigkeit und trug eben ſo
eine Bravour-Arie mit heller, beinahe ſchneidender
Glasglockenſtimme vor. Nathanael war ganz
entzuͤckt; er ſtand in der hinterſten Reihe und
[58] konnte im blendenden Kerzenlicht Olimpia's
Zuͤge nicht ganz erkennen. Ganz unvermerkt
nahm er deshalb Coppola's Glas hervor und
ſchaute hin nach der ſchoͤnen Olimpia. Ach! —
da wurde er gewahr, wie ſie voll Sehnſucht nach
ihm heruͤberſah', wie jeder Ton erſt deutlich auf¬
ging in dem Liebesblick, der zuͤndend ſein Inneres
durchdrang. Die kuͤnſtlichen Rouladen ſchienen
dem Nathanael das Himmelsjauchzen des in
Liebe verklaͤrten Gemuͤths, und als nun endlich nach
der Cadenz der lange Trillo recht ſchmetternd
durch den Saal gellte, konnte er wie von
gluͤhenden Aermen ploͤtzlich erfaßt ſich nicht
mehr halten, er mußte vor Schmerz und Ent¬
zuͤcken laut aufſchreien: Olimpia! — Alle
ſahen ſich um nach ihm, manche lachten. Der
Domorganiſt ſchnitt aber noch ein finſtreres Geſicht,
als vorher und ſagte blos: Nun nun! — Das
Conzert war zu Ende, der Ball fing an. „Mit
ihr zu tanzen! — mit ihr! das war nun dem
Nathanael das Ziel aller Wuͤnſche, alles Stre¬
[59] bens; aber wie ſich erheben zu dem Muth, Sie,
die Koͤnigin des Feſtes, aufzufordern? Doch! —
er ſelbſt wußte nicht wie es geſchah, daß er, als
ſchon der Tanz angefangen, dicht neben Olim¬
pia ſtand, die noch nicht aufgefordert worden,
und daß er, kaum vermoͤgend einige Worte zu
ſtammeln, ihre Hand ergriff. Eiskalt war Olim¬
pia's Hand, er fuͤhlte ſich durchbebt von grau¬
ſigem Todesfroſt, er ſtarrte Olimpia ins Auge,
das ſtrahlte ihm voll Liebe und Sehnſucht ent¬
gegen und in dem Augenblick war es auch, als
fingen an in der kalten Hand Pulſe zu ſchlagen und
des Lebensblutes Stroͤme zu gluͤhen. Und auch
in Nathanael's Innerm gluͤhte hoͤher auf die
Liebesluſt, er umſchlang die ſchoͤne Olimpia und
durchflog mit ihr die Reihen. — Er glaubte ſonſt
recht taktmaͤßig getanzt zu haben, aber an der
ganz eignen rythmiſchen Feſtigkeit, womit Olim¬
pia tanzte und die ihn oft ordentlich aus der
Haltung brachte, merkte er bald, wie ſehr ihm
der Takt gemangelt. Er wollte jedoch mit keinem
[60] andern Frauenzimmer mehr tanzen und haͤtte
jeden, der ſich Olimpia naͤherte, um ſie aufzu¬
fordern, nur gleich ermorden moͤgen. Doch nur
zweimahl geſchah dies, zu ſeinem Erſtaunen blieb
darauf Olimpia bei jedem Tanze ſitzen und er
ermangelte nicht, immer wieder ſie aufzuziehen.
Haͤtte Nathanael außer der ſchoͤnen Olimpia
noch etwas anders zu ſehen vermocht, ſo waͤre
allerlei fataler Zank und Streit unvermeidlich
geweſen; denn offenbar ging das hableiſe, muͤh¬
ſam unterdruͤckte Gelaͤchter, was ſich in dieſem und
jenem Winkel unter den jungen Leuten erhob, auf
die ſchoͤne Olimpia, die ſie mit ganz kurioſen
Blicken verfolgten, man konnte gar nicht wiſſen,
warum? Durch den Tanz und durch den reich¬
lich genoſſenen Wein erhitzt, hatte Nathanael
alle ihm ſonſt eigne Scheu abgelegt. Er ſaß
neben Olimpia, ihre Hand in der ſeinigen und
ſprach hoch entflammt und begeiſtert von ſeiner
Liebe in Worten, die keiner verſtand, weder er,
noch Olimpia. Doch dieſe vielleicht; denn ſie
[61] ſah ihm unverruͤckt ins Auge und ſeufzte einmahl
uͤber's andere: Ach — Ach — Ach! — worauf
denn Nathanal alſo ſprach: „O Du herrliche,
himmliſche Frau! — Du Strahl aus dem ver¬
heißenen Jenſeits der Liebe — Du tiefes Gemuͤth,
in dem ſich mein ganzes Seyn ſpiegelt“ und noch
mehr dergleichen, aber Olimpia ſeufzte blos im¬
mer wieder: Ach, Ach! — Der Profeſſor Spa¬
lanzani ging einigemahl bei den Gluͤcklichen
voruͤber und laͤchelte ſie ganz ſeltſam zufrieden
an. Dem Nathanael ſchien es, unerachtet er
ſich in einer ganz andern Welt befand, mit einem¬
mahl, als wuͤrd' es hienieden beim Profeſſor
Spalanzani merklich finſter; er ſchaute um
ſich und wurde zu ſeinem nicht geringen Schreck
gewahr, daß eben die zwei letzten Lichter in dem
leeren Saal hernieder brennen und ausgehen woll¬
ten. Laͤngſt hatten Muſik und Tanz aufgehoͤrt.
„Trennung, Trennung“, ſchrie er ganz wild und
verzweifelt, er kuͤßte Olimpia's Hand, er
neigte ſich zu ihrem Munde, eiskalte Lippen be¬
[62] gegneten ſeinen gluͤhenden! — So wie, als er
Olimpia's kalte Hand beruͤhrte, fuͤhlte er ſich
von innerem Grauſen erfaßt, die Legende von
der todten Braut ging ihm ploͤtzlich durch den
Sinn; aber feſt hatte ihn Olimpia an ſich
gedruͤckt, und in dem Kuß ſchienen die Lippen
zum Leben zu erwarmen. — Der Profeſſor
Spalanzani ſchritt langſam durch den leeren
Saal, ſeine Schritte klangen hohl wieder und
ſeine Figur, von flackernden Schlagſchatten um¬
ſpielt, hatte ein grauliches geſpenſtiſches Anſehen.
„Liebſt Du mich — Liebſt Du mich Olimpia? —
Nur dies Wort! — Liebſt Du mich?“ So fluͤſterte
Nathanael, aber Olimpia ſeufzte, indem ſie
aufſtand, nur: „Ach — Ach!“ „Ja Du mein hol¬
der, herrlicher Liebesſtern, ſprach Nathanael,
biſt mir aufgegangen und wirſt leuchten, wirſt
verklaͤren mein Inneres immerdar!“ „Ach, ach!“
replizirte Olimpia fortſchreitend. Nathanael
folgte ihr, ſie ſtanden vor dem Profeſſor. „Sie
haben ſich außerordentlich lebhaft mit meiner Toch¬
[63] ter unterhalten“, ſprach dieſer laͤchelnd: „Nun, nun,
lieber Herr Nathanael, finden Sie Geſchmack
daran, mit dem bloͤden Maͤdchen zu converſiren,
ſo ſollen mir Ihre Beſuche willkommen ſeyn.“ —
Einen ganzen hellen ſtrahlenden Himmel in der
Bruſt ſchied Nathanael von dannen: Spa¬
lanzani's Feſt war der Gegenſtand des
Geſpraͤchs in den folgenden Tagen. Uner¬
achtet der Profeſſor alles gethan hatte, recht
ſplendid zu erſcheinen, ſo wußten doch die luſti¬
gen Koͤpfe von allerlei Unſchicklichem und Son¬
derbarem zu erzaͤhlen, das ſich begeben, und vor¬
zuͤglich fiel man uͤber die todtſtarre, ſtumme Olim¬
pia her, der man, ihres ſchoͤnen Aeußern uner¬
achtet, totalen Stumpfſinn andichten und darin
die Urſache finden wollte, warum Spalanzani
ſie ſo lange verborgen gehalten. Nathanael
vernahm das nicht ohne innern Grimm, indeſſen
ſchwieg er; denn, dachte er, wuͤrde es wohl ver¬
lohnen, dieſen Burſchen zu beweiſen, daß eben ihr
eigner Stumpfſinn es iſt, der ſie Olimpia's
[64] tiefes herrliches Gemuͤth zu erkennen hindert?
„Thu' mir den Gefallen Bruder, ſprach eines
Tages Siegmund, thu' mir den Gefallen und
ſage, wie es Dir geſcheuten Kerl moͤglich war,
Dich in das Wachsgeſicht, in die Holzpuppe da
druͤben zu vergaffen?“ Nathanael wollte zor¬
nig auffahren, doch ſchnell beſann er ſich und er¬
wiederte: „Sage Du mir Siegmund, wie
Deinem, ſonſt alles Schoͤne klar auffaſſenden Blick,
Deinem regen Sinn, Olimpia's himmliſcher
Liebreiz entgehen konnte? Doch eben deshalb habe
ich, Dank ſei es dem Geſchick, Dich nicht zum
Nebenbuhler; denn ſonſt muͤßte einer von uns
blutend fallen.“ Siegmund merkte wohl, wie
es mit dem Freunde ſtand, lenkte geſchickt ein
und fuͤgte, nachdem er geaͤußert, daß in der Liebe
niemahls uͤber den Gegenſtand zu rechten ſei,
hinzu: „Wunderlich iſt es doch, daß viele von uns
uͤber Olimpia ziemlich gleich urtheilen. Sie iſt
uns — nimm es nicht uͤbel. Bruder! — auf ſeltſame
Weiſe ſtarr und ſeelenlos erſchienen. Ihr Wuchs
iſt[65] iſt regelmaͤßig, ſo wie ihr Geſicht, das iſt wahr! —
Sie koͤnnte fuͤr ſchoͤn gelten, wenn ihr Blick nicht
ſo ganz ohne Lebensſtrahl, ich moͤchte ſagen, ohne
Sehkraft waͤre. Ihr Schritt iſt ſonderbar abge¬
meſſen, jede Bewegung ſcheint durch den Gang
eines aufgezogenen Raͤderwerks bedingt. Ihr
Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen
geiſtloſen Takt der ſingenden Maſchine und eben
ſo iſt ihr Tanz. Uns iſt dieſe Olimpia ganz
unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr
zu ſchaffen haben, es war uns als thue ſie nur
ſo wie ein lebendiges Weſen und doch habe es
mit ihr eine eigne Bewandniß“ — Nathanael
gab ſich dem bittern Gefuͤhl, das ihn bei dieſen
Worten Siegmund's ergreifen wollte, durchaus
nicht hin, er wurde Herr ſeines Unmuths und
ſagte blos ſehr ernſt: „Wohl mag Euch, ihr kalten
proſaiſchen Menſchen, Olimpia unheimlich ſeyn.
Nur dem poetiſchen Gemuͤth entfaltet ſich das
gleich organiſirte! — Nur mir ging ihr Lie¬
besblick auf und durchſtrahlte Sinn und Gedanken,
E[66] nur in Olimpia's Liebe finde ich mein Selbſt
wieder. Auch mag es nicht recht ſeyn, daß ſie
nicht in platter Converſation faſelt, wie die an¬
dern flachen Gemuͤther. Sie ſpricht wenig Worte,
das iſt wahr; aber dieſe wenigen Worte erſchei¬
nen als aͤchte Hieroglyphe der innern Welt voll
Liebe und hoher Erkenntniß des geiſtigen Lebens
in der Anſchauung des ewigen Jenſeits. Doch
fuͤr Alles das habt ihr keinen Sinn und alles
ſind verlorne Worte.“ „Behuͤte Dich Gott, Herr
Bruder,“ ſagte Siegmund ſehr ſanft, beinahe
wehmuͤthig, „aber mir ſcheint es, Du ſeiſt auf
boͤſem Wege. Auf mich kannſt Du rechnen, wenn
alles — Nein, ich mag nichts weiter ſagen! —“
Dem Nathanael war es ploͤtzlich, als meine
der kalte proſaiſche Siegmund es ſehr treu
mit ihm, er ſchuͤttelte daher die ihm dargebotene
Hand recht herzlich. —
Nathanael hatte rein vergeſſen, daß es eine
Clara in der Welt gebe, die er ſonſt geliebt; —
die Mutter — Lothar — Alle waren aus ſeinem
[67] Gedaͤchtniß entſchwunden, er lebte nur fuͤr Olim¬
pia, bei der er taͤglich Stundenlang ſaß und
von ſeiner Liebe, von zum Leben ergluͤhter Sym¬
pathie, von pſychiſcher Wahlverwandtſchaft fanta¬
ſirte, welches alles Olimpia mit großer Andacht
anhoͤrte. Aus dem tiefſten Grunde des Schreib¬
pults holte Nathanael alles hervor, was er
jemals geſchrieben. Gedichte, Fantaſien, Viſionen,
Romane, Erzaͤhlungen, das wurde taͤglich ver¬
mehrt mit allerlei ins Blaue fliegenden Sonnet¬
ten, Stanzen, Canzonen, und das alles las er
der Olimpia Stundenlang hinter einander vor,
ohne zu ermuͤden. Aber auch noch nie hatte er
eine ſolche herrliche Zuhoͤrerin gehabt. Sie ſtickte
und ſtrickte nicht, ſie ſah' nicht durch's Fenſter,
ſie fuͤtterte keinen Vogel, ſie ſpielte mit keinem
Schooshuͤndchen, mit keiner Lieblingskatze, ſie
drehte kein Papierſchnitzchen, oder ſonſt etwas in
der Hand, ſie durfte kein Gaͤhnen durch einen
leiſen erzwungenen Huſten bezwingen — Kurz! —
Stundenlang ſah ſie mit ſtarrem Blick unver¬
E 2[68] wandt dem Geliebten ins Auge, ohne ſich zu ruͤk¬
ken und zu bewegen und immer gluͤhender, immer
lebendiger wurde dieſer Blick. Nur wenn Na¬
thanael endlich aufſtand und ihr die Hand, auch
wohl den Mund kuͤßte, ſagte ſie: „Ach, Ach!“ —
dann aber: „Gute Nacht, mein Lieber!“ — „O
du herrliches, du tiefes Gemuͤth, rief Natha¬
nael auf ſeiner Stube: nur von Dir, von Dir
allein werd' ich ganz verſtanden.“ Er erbebte vor
innerm Entzuͤcken, wenn er bedachte, welch' wun¬
derbarer Zuſammenklang ſich in ſeinem und Olim¬
pia's Gemuͤth taͤglich mehr offenbare; denn es
ſchien ihm, als habe Olimpia uͤber ſeine Werke,
uͤber ſeine Dichtergabe uͤberhaupt recht tief aus ſei¬
nem Innern geſprochen, ja als habe die Stimme
aus ſeinem Innern ſelbſt herausgetoͤnt. Das
mußte denn wohl auch ſeyn; denn mehr Worte
als vorhin erwaͤhnt, ſprach Olimpia niemals.
Erinnerte ſich aber auch Nathanael in hellen
nuͤchternen Augenblicken, z. B. Morgens gleich
nach dem Erwachen, wirklich an Olimpia's
[69] gaͤnzliche Paſſivitaͤt und Wortkargheit, ſo ſprach
er doch: „Was ſind Worte — Worte! — Der
Blick ihres himmliſchen Auges ſagt mehr als jede
Sprache hienieden. Vermag denn uͤberhaupt ein
Kind des Himmels ſich einzuſchichten in den engen
Kreis, den ein klaͤgliches irdiſches Beduͤrfniß ge¬
zogen?“ — Profeſſor Spalanzani ſchien hoch
erfreut uͤber das Verhaͤltniß ſeiner Tochter mit
Nathanael; er gab dieſem allerlei unzweideutige
Zeichen ſeines Wohlwollens und als es Natha¬
nael endlich wagte von ferne auf eine Verbin¬
dung mit Olimpia anzuſpielen, laͤchelte dieſer
mit dem ganzen Geſicht und meinte: Er werde
ſeiner Tochter voͤllig freie Wahl laſſen. — Er¬
muthigt durch dieſe Worte, brennendes Verlangen
im Herzen, beſchloß Nathanael, gleich am fol¬
genden Tage Olimpia anzuflehen, daß ſie das
unumwunden in deutlichen Worten ausſpreche,
was laͤngſt ihr holder Liebesblick ihm geſagt, daß
ſie ſein Eigen immerdar ſeyn wolle. Er ſuchte
nach dem Ringe, den ihm beim Abſchiede die
[70] Mutter geſchenkt, um ihn Olimpia als Sym¬
bol ſeiner Hingebung, ſeines mit ihr aufkeimen¬
den, bluͤhenden Lebens darzureichen. Clara's,
Lothar's Briefe fielen ihm dabei in die Haͤnde;
gleichguͤltig warf er ſie bei Seite, fand den Ring,
ſteckte ihn ein und rannte heruͤber zu Olimpia.
Schon auf der Treppe, auf dem Flur, vernahm
er ein wunderliches Getoͤſe; es ſchien aus Spa¬
lanzani's Studirzimmer heraus zu ſchallen. —
Ein Stampfen ein Klirren — ein Stoßen —
Schlagen gegen die Thuͤr, dazwiſchen Fluͤche und
Verwuͤnſchungen. „Laß los — laß los — Infa¬
mer — Verruchter! — Darum Leib und Leben
daran geſetzt? — ha ha ha ha! — ſo haben wir
nicht gewettet — ich, ich hab' die Augen gemacht —
ich das Raͤderwerk — dummer Teufel mit dei¬
nem Raͤderwerk — verfluchter Hund von einfaͤl¬
tigem Uhrmacher — fort mit dir — Satan —
halt — Peipendreher — teufliſcher Beſtie! —
halt — fort — laß los! — Es waren Spalan¬
zani's und des graͤßlichen Coppelius Stimmen,
[71] die ſo durch einander ſchwirrten und tobten. Hin¬
ein ſtuͤrzte Nathanael von namenloſer Angſt
ergriffen. Der Profeſſor hatte eine weibliche Fi¬
gur bei den Schultern gepackt, der Italiaͤner
Coppola bei den Fuͤßen, die zerrten und zogen
ſie hin und her, ſtreitend in voller Wuth um den
Beſitz. Voll tiefen Entſetzens prallte Natha¬
nael zuruͤck, als er die Figur fuͤr Olimpia er¬
kannte; aufflammend in wildem Zorn wollte er
den Wuͤthenden die Geliebte entreiſſen, aber in
dem Augenblick wand Coppola ſich mit Rieſen¬
kraft drehend die Figur dem Profeſſor aus den
Haͤnden und verſetzte ihm mit der Figur ſelbſt
einen fuͤrchterlichen Schlag, daß er ruͤcklings uͤber
den Tiſch, auf dem Phiolen, Retorten, Flaſchen,
glaͤſerne Cylinder ſtanden, taumelte und hinſtuͤrzte;
alles Geraͤth klirrte in tauſend Scherben zuſam¬
men. Nun warf Coppola die Figur uͤber die
Schulter und rannte mit fuͤrchterlich gellendem
Gelaͤchter raſch fort die Treppe herab, ſo daß die
haͤßlich herunterhaͤngenden Fuͤße der Figur auf den
[72] Stufen hoͤlzern klapperten und droͤhnten. — Er¬
ſtarrt ſtand Nathanael — nur zu deutlich hatte
er geſehen, Olimpia's todterbleichtes Wachsge¬
ſicht hatte keine Augen, ſtatt ihrer ſchwarze Hoͤhlen;
ſie war eine lebloſe Puppe. Spalanzani waͤlzte
ſich auf der Erde, Glasſcherben hatten ihm Kopf,
Bruſt und Arm zerſchnitten, wie aus Springquel¬
len ſtroͤmte das Blut empor. Aber er raffte ſeine
Kraͤfte zuſammen. — „Ihm nach — ihm nach,
was zauderſt Du? — Coppelius — Cop¬
pelius, mein beſtes Automat hat er mir ge¬
raubt — Zwanzig Jahre gearbeitet — Leib
und Leben daran geſetzt — das Raͤderwerk —
Sprache — Gang — mein — die Augen — die
Augen Dir geſtohlen. — Verdammter — Ver¬
fluchter — ihm nach — hohl mir Olimpia —
da haſt Du die Augen! —“ Nun ſah Natha¬
nael, wie ein Paar blutige Augen auf dem Bo¬
den liegend ihn anſtarrten, die ergriff Spalan¬
zani mit der unverletzten Hand und warf ſie
nach ihm, daß ſie ſeine Bruſt trafen. — Da
[73] packte ihn der Wahnſinn mit gluͤhenden Krallen
und fuhr in ſein Inneres hinein Sinn und Ge¬
danken zerreiſſend. „Hui — hui — hui! —
Feuerkreis — Feuerkreis! dreh Dich Feu¬
erkreis — luſtig — luſtig! — Holzpuͤppchen hui
ſchoͤn' Holzpuͤppchen dreh Dich —“ damit warf er
ſich auf den Profeſſor und druͤckte ihm die Kehle zu.
Er haͤtte ihn erwuͤrgt, aber das Getoͤſe hatte viele
Menſchen herbeigelockt, die drangen ein, riſſen
den wuͤthenden Nathanael auf und retteten ſo
den Profeſſor, der gleich verbunden wurde. Sieg¬
mund, ſo ſtark er war, vermochte nicht den Ra¬
ſenden zu baͤndigen; der ſchrie mit fuͤrchterlicher
Stimme immer fort: „Holzpuͤppchen dreh' Dich“
und ſchlug um ſich mit geballten Faͤuſten. Endlich
gelang es der vereinten Kraft mehrerer, ihn zu
uͤberwaͤltigen, indem ſie ihn zu Boden warfen
und banden. Seine Worte gingen unter in ent¬
ſetzlichem thieriſchen Gebruͤll. So in graͤßlicher
Raſerei tobend wurde er nach dem Tollhauſe ge¬
bracht. —
[74]
Ehe ich, guͤnſtiger Leſer! Dir zu erzaͤhlen fort¬
fahre, was ſich weiter mit dem ungluͤcklichen Na¬
thanael zugetragen, kann ich Dir, ſollteſt Du
einigen Antheil an dem geſchickten Mechanikus und
Automat-Fabrikanten Spalanzani nehmen,
verſichern, daß er von ſeinen Wunden voͤllig geheilt
wurde. Er mußte indeß die Univerſitaͤt verlaſſen,
weil Nathanael's Geſchichte Aufſehen erregt
hatte und es allgemein fuͤr gaͤnzlich unerlaubten
Betrug gehalten wurde, vernuͤnftigen Theezirkeln
(Olimpia hatte ſie mit Gluͤck beſucht) ſtatt der
lebendigen Perſon eine Holzpuppe einzuſchwaͤrzen.
Juriſten nannten es ſogar einen feinen und um ſo
haͤrter zu beſtrafenden Betrug, als er gegen das
Publikum gerichtet und ſo ſchlau angelegt worden,
daß kein Menſch (ganz kluge Studenten ausge¬
nommen) es gemerkt habe, unerachtet jetzt alle
weiſe thun und ſich auf allerlei Thatſachen beru¬
fen wollten, die ihnen verdaͤchtig vorgekommen.
Dieſe letzteren brachten aber eigentlich nichts ge¬
ſcheutes zu Tage. Denn konnte z. B. wohl irgend
[75] jemanden verdaͤchtig vorgekommen ſeyn, daß nach
der Ausſage eines eleganten Theeiſten Olimpia
gegen alle Sitte oͤfter genießet, als gegaͤhnt hatte?
Erſteres, meinte der Elegant, ſei das Selbſtauf¬
ziehen des verborgenen Triebwerks geweſen, merk¬
lich habe es dabei geknarrt u. ſ. w. Der Profeſ¬
ſor der Poeſie und Beredſamkeit nahm eine Priſe,
klappte die Doſe zu, raͤusperte ſich und ſprach
feierlich: „Hochzuverehrende Herren und Damen!
merken Sie denn nicht, wo der Haſe im Pfeffer
liegt? Das Ganze iſt eine Allegorie — eine fort¬
gefuͤhrte Metapher! — Sie verſtehen mich! —
Sapienti sat!“ Aber viele hochzuverehrende Her¬
ren beruhigten ſich nicht dabei; die Geſchichte mit
dem Automat hatte tief in ihrer Seele Wurzel
gefaßt und es ſchlich ſich in der That abſcheuli¬
ches Mißtrauen gegen menſchliche Figuren ein.
Um nun ganz uͤberzeugt zu werden, daß man
keine Holzpuppe liebe, wurde von mehrern Lieb¬
habern verlangt, daß die Geliebte etwas taktlos
ſinge und tanze, daß ſie beim Vorleſen ſticke,
[76] ſtricke, mit dem Moͤpschen ſpiele u. ſ. w. vor allen
Dingen aber, daß ſie nicht bloß hoͤre, ſondern
auch manchmahl in der Art ſpreche, daß dies
Sprechen wirklich ein Denken und Empfinden
vorausſetze. Das Liebesbuͤndniß vieler wurde feſter
und dabei anmuthiger, andere dagegen gingen
leiſe aus einander. „Man kann wahrhaftig nicht
dafuͤr ſtehen,“ ſagte dieſer und jener. In den
Thees wurde unglaublich gegaͤhnt und niemahls
genießet, um jedem Verdacht zu begegnen. —
Spalanzani mußte, wie geſagt, fort, um der
Criminalunterſuchung wegen der menſchlichen Ge¬
ſellſchaft betruͤglicher Weiſe eingeſchobenen Auto¬
mats zu entgehen. Coppola war auch ver¬
ſchwunden. —
Nathanael erwachte wie aus ſchwerem, fuͤrch¬
terlichem Traum, er ſchlug die Augen auf und
fuͤhlte wie ein unbeſchreibliches Wonnegefuͤhl mit
ſanfter himmliſcher Waͤrme ihn durchſtroͤmte. Er
lag in ſeinem Zimmer in des Vaters Hauſe auf
dem Bette, Clara hatte ſich uͤber ihn hingebeugt
[77] und unfern ſtanden die Mutter und Lothar.
„Endlich, endlich, o mein herzlieber Natha¬
nael — nun biſt Du geneſen von ſchwerer Krank¬
heit — nun biſt Du wieder mein!“ — So ſprach
Clara recht aus tiefer Seele und faßte den
Nathanael in ihre Arme. Aber dem quollen
vor lauter Wehmuth und Entzuͤcken die hellen
gluͤhenden Thraͤnen aus den Augen und er ſtoͤhnte
tief auf: „Meine — meine Clara!“ — Sieg¬
mund, der getreulich ausgeharrt bei dem Freunde
in großer Noth, trat herein. Nathanael
reichte ihm die Hand: „Du treuer Bruder haſt
mich doch nicht verlaſſen.“ — Jede Spur des
Wahnſinns war verſchwunden, bald erkraͤftigte
ſich Nathanael in der ſorglichen Pflege der
Mutter, der Geliebten, der Freunde. Das Gluͤck
war unterdeſſen in das Haus eingekehrt; denn
ein alter karger Oheim, von dem niemand etwas
gehofft, war geſtorben und hatte der Mutter nebſt
einem nicht unbedeutenden Vermoͤgen ein Guͤt¬
chen in einer angenehmen Gegend unfern der
[78] Stadt hinterlaſſen. Dort wollten ſie hinziehen,
die Mutter, Nathanael mit ſeiner Clara, die
er nun zu heirathen gedachte, und Lothar. Na¬
thanael war milder, kindlicher geworden, als er
je geweſen und erkannte nun erſt recht Clara's
himmliſch reines, herrliches Gemuͤth. Niemand er¬
innerte ihn auch nur durch den leiſeſten Anklang an
die Vergangenheit. Nur, als Siegmund von
ihm ſchied, ſprach Nathanael: „bei Gott Bru¬
der! ich war auf ſchlimmen Wege, aber zu rech¬
ter Zeit leitete mich ein Engel auf den lichten
Pfad! — Ach es war ja Clara! —“ Sieg¬
mund ließ ihn nicht weiter reden, aus Beſorg¬
niß, tief verletzende Erinnerungen moͤchten ihm zu
hell und flammend aufgehen. — Es war an der
Zeit, daß die vier gluͤcklichen Menſchen nach dem
Guͤtchen ziehen wollten. Zur Mittagsſtunde gin¬
gen ſie durch die Straßen der Stadt. Sie hatten
manches eingekauft, der hohe Rathsthurm warf
ſeinen Rieſenſchatten uͤber den Markt. „Ei!
ſagte Clara: ſteigen wir doch noch einmal her¬
[79] auf und ſchauen in das ferne Gebirge hinein!“
Geſagt, gethan! Beide, Nathanael und Clara,
ſtiegen herauf, die Mutter ging mit der Dienſt¬
magd nach Hauſe, und Lothar, nicht geneigt,
die vielen Stufen zu erklettern, wollte unten war¬
ten. Da ſtanden die beiden Liebenden Arm in
Arm auf der hoͤchſten Gallerie des Thurmes und
ſchauten hinein in die duftigen Waldungen, hin¬
ter denen das blaue Gebirge, wie eine Rieſen¬
ſtadt, ſich erhob.
„Sieh' doch den ſonderbaren kleinen grauen
Buſch, der ordentlich auf uns los zu ſchreiten
ſcheint“, frug Clara. — Nathanael faßte
mechaniſch nach der Seitentaſche; er fand Cop¬
pola's Perſpektiv, er ſchaute ſeitwaͤrts — Clara
ſtand vor dem Glaſe! — Da zuckte es krampfhaft
in ſeinen Pulſen und Adern — todtenbleich ſtarrte
er Clara an, aber bald gluͤhten und ſpruͤhten
Feuerſtroͤme durch die rollenden Augen, graͤßlich
bruͤllte er auf, wie ein gehetztes Thier; dann
ſprang er hoch in die Luͤfte und grauſig dazwi¬
[80] ſchen lachend ſchrie er in ſchneidendem Ton:
„Holzpuͤppchen dreh' Dich — Holzpuͤppchen dreh'
Dich“ und mit gewaltiger Kraft faßte er Clara
und wollte ſie herabſchleudern, aber Clara krallte
ſich in verzweifelnder Todesangſt feſt an das
Gelaͤnder. Lothar hoͤrte den Raſenden toben,
er hoͤrte Clara's Angſtgeſchrei, graͤßliche Ah¬
nung durchflog ihn, er rannte herauf, die Thuͤr
der zweiten Treppe war verſchloſſen — ſtaͤrker
hallte Clara's Jammergeſchrei. Unſinnig vor
Wuth und Angſt ſtieß er gegen die Thuͤr, die end¬
lich aufſprang — Matter und matter wurden nun
Clara's Laute: „Huͤlfe — rettet — rettet —“
ſo erſtarb die Stimme in den Luͤften. Sie iſt
hin — ermordet von dem Raſenden, ſo ſchrie
Lothar. Auch die Thuͤr zur Gallerie war zu¬
geſchlagen. — Die Verzweiflung gab ihm Rie¬
ſenkraft, er ſprengte die Thuͤr aus den Angeln.
Gott im Himmel — Clara ſchwebte von dem
raſenden Nathanael erfaßt uͤber der Gallerie
in den Luͤften — nur mit einer Hand hatte ſie
noch[81] noch die Eiſenſtaͤbe umklammert. Raſch wie der
Blitz erfaßte Lothar die Schweſter, zog ſie hin¬
ein, und ſchlug in demſelben Augenblick mit ge¬
ballter Fauſt dem Wuͤthenden in's Geſicht, daß
er zuruͤckprallte und die Todesbeute fahren ließ.
Lothar rannte herab, die ohnmaͤchtige Schwe¬
ſter in den Armen. — Sie war gerettet. —
Nun raste Nathanael herum auf der Gallerie
und ſprang hoch in die Luͤfte und ſchrie „Feuer¬
kreis dreh' dich — Feuerkreis dreh' dich“ —
Die Menſchen liefen auf das wilde Geſchrei zu¬
ſammen; unter ihnen ragte rieſengroß der Advo¬
kat Coppelius hervor, der eben in die Stadt
gekommen und gerades Weges nach dem Markt
geſchritten war. Man wollte herauf, um ſich des
Raſenden zu bemaͤchtigen, da lachte Coppelius
ſprechend: „ha ha — wartet nur, der kommt ſchon
herunter von ſelbſt,“ und ſchaute wie die uͤbrigen
hinauf. Nathanael blieb ploͤtzlich wie erſtarrt
ſtehen, er buͤckte ſich herab, wurde den Coppe¬
lius gewahr und mit dem gellenden Schrei:
F[82] „Ha! Skoͤne Oke — Skoͤne Oke,“ ſprang er uͤber
das Gelaͤnder. —
Als Nathanael mit zerſchmettertem Kopf
auf dem Steinpflaſter lag, war Coppelius
im Gewuͤhl verſchwunden. —
Nach mehreren Jahren will man in einer ent¬
fernten Gegend Clara geſehen haben, wie ſie
mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand
vor der Thuͤre eines ſchoͤnen Landhauſes ſaß und
vor ihr zwei muntre Knaben ſpielten. Es waͤre
daraus zu ſchließen, daß Clara das ruhige haͤus¬
liche Gluͤck noch fand, das ihrem heitern lebens¬
luſtigen Sinn zuſagte und das ihr der im Innern
zerriſſene Nathanael niemals haͤtte gewaͤhren
koͤnnen.
[83]
Ignaz Denner.
Vor alter laͤngſt verfloßner Zeit lebte in einem
wilden einſamen Forſt des Fuldaiſchen Gebiets
ein wackrer Jaͤgersmann, Andres mit Namen.
Er war ſonſt Leibjaͤger des Herrn Grafen Aloys
von Vach geweſen, den er auf weiten Reiſen
durch das ſchoͤne Welſchland begleitet, und ein¬
mal, als ſie auf den unſichern Wegen in dem
Koͤnigreich Neapel von Straßenraͤubern angefal¬
len wurden, durch ſeine Klugheit und Tapferkeit
aus großer Lebensgefahr gerettet hatte. In dem
Wirthshauſe zu Neapel, wo ſie eingekehrt waren,
befand ſich ein armes, bildſchoͤnes Maͤdchen, die
von dem Hauswirth, der ſie als eine Waiſe auf¬
genommen, gar hart behandelt und zu den nie¬
F 2[84] drigſten Arbeiten in Hof und Kuͤche gebraucht
wurde. Andres ſuchte ſie, ſo gut er ſich ihr ver¬
ſtaͤndlich machen konnte, mit troſtreichen Worten
aufzurichten, und das Maͤdchen faßte ſolche Liebe
zu ihm, daß ſie ſich nicht mehr von ihm tren¬
nen, ſondern mitziehen wollte nach dem kalten
Deutſchland. Der Graf von Vach, geruͤhrt von
Andres Bitten und Giorgina's Thraͤnen, er¬
laubte, daß ſie ſich zu dem geliebten Andres
auf den Kutſchenbock ſetzen, und ſo die beſchwer¬
liche Reiſe machen durfte. Schon ehe ſie uͤber
die Graͤnzen von Italien hinausgekommen, ließ
ſich Andres mit ſeiner Giorgina trauen und
als ſie dann nun endlich zuruͤckgekehrt waren auf
die Guͤter des Grafen von Vach, glaubte dieſer
den treuen Diener recht zu belohnen, da er ihn
zu ſeinem Revierjaͤger ernannte. Mit ſeiner
Giorgina und einem alten Knecht zog er in
den einſamen rauhen Wald, den er ſchuͤtzen ſollte
wider die Freijaͤger und Holzdiebe. Statt des
gehofften Wohlſtandes, den ihm der Graf von
[85]Vach verheißen, fuͤhrte er aber ein beſchwerli¬
ches, muͤhſeliges, duͤrftiges Leben und gerieth
bald in Kummer und Elend. Der kleine Lohn
an baarem Gelde, den er von dem Grafen er¬
hielt, reichte kaum hin, ſich und ſeine Gior¬
gina zu kleiden; die geringen Gefaͤlle, die ihm
bei Holzverkaͤufen zukamen, waren ſelten und
ungewiß und den Garten, auf deſſen Bebau¬
ung und Benutzung er angewieſen, verwuͤſteten
oft die Woͤlfe und die wilden Schweine, er mochte
mit ſeinem Knecht auf der Hut ſeyn, wie er
wollte, ſo daß bisweilen in einer Nacht die
letzte Hoffnung des Lebensunterhalts vereitelt
ward. Dabei war ſein Leben ſtets bedroht von
den Holzdieben und Freiſchuͤtzen. Jeder Lockung
widerſtand er als ein wackrer frommer Mann,
der lieber darben, als ungerechtes Gut an ſich
bringen wollte und verwaltete ſein Amt getreulich
und tapfer, deshalb ſtellten ſie ihm nach auf ge¬
faͤhrliche Weiſe, und nur ſeine treuen Doggen
ſchuͤtzten ihn vor naͤchtlichem Ueberfall des Raubge¬
[86] ſindels. Giorgina, des Clima's und der Le¬
bensweiſe in dem wilden Forſt ganz ungewohnt,
welkte zuſehends hin. Ihre braͤunliche Geſichts¬
farbe verwandelte ſich in fahles Gelb, ihre leb¬
haften blitzenden Augen wurden duͤſter, und ihr
voller, uͤppiger Wuchs magerte mit jedem Tage
mehr ab. Oft erwachte ſie in mondheller Nacht.
Schuͤſſe krachten in der Ferne durch den Wald,
die Doggen heulten, leiſe erhob ſich der Mann
vom Lager und ſchlich mit dem Knecht murmelnd
hinaus in den Forſt. Dann betete ſie inbruͤnſtig
zu Gott und zu den Heiligen, daß ſie und ihr
treuer Mann errettet werden moͤchten aus dieſer
ſchrecklichen Einoͤde und aus der ſteten Todesge¬
fahr. Die Geburt eines Knaben warf Giorgina
endlich auf das Krankenlager, und immer ſchwaͤ¬
cher und ſchwaͤcher werdend, ſah ſie ihr Ende vor
Augen. Dumpf in ſich hinbruͤtend, ſchlich der un¬
gluͤckliche Andres umher; alles Gluͤck war mit
der Krankheit ſeines Weibes von ihm gewichen.
Wie neckendes, geſpenſtiſches Weſen guckte das
[87] Wild aus den Buͤſchen; ſo wie er ſein Gewehr
abdruͤckte, war es verſtoben in der Luft. Er
konnte kein Thier mehr treffen und nur ſein
Knecht, ein geuͤbter Schuͤtze, beſchaffte das Wild,
welches er dem Grafen von Vach zu liefern ge¬
halten war. Einſt ſaß er an Giorgina's
Bette, den ſtarren Blick auf das geliebte Weib
gerichtet, die ermattet zum Tode kaum mehr ath¬
mete. In dumpfem, lautloſem Schmerz hatte er
ihre Hand gefaßt und hoͤrte nicht das Aechzen des
Knaben, der nahrungslos verſchmachten wollte.
Der Knecht ging ſchon am fruͤhen Morgen nach
Fulda, um fuͤr das letzte Erſparniß einige Erquik¬
kung fuͤr die Kranke herbeizuſchaffen. Kein
menſchliches troͤſtendes Weſen war weit und breit
zu finden, nur der Sturm heulte in ſchneidenden
Toͤnen des entſetzlichen Jammers durch die ſchwar¬
zen Tannen und die Doggen winſelten, wie in
troſtloſer Klage, um den ungluͤcklichen Herrn.
Da hoͤrte Andres auf einmal es vor dem Hauſe
daher ſchreiten, wie menſchliche Fußtritte. Er
[88] glaubte, es waͤre der zuruͤckkehrende Knecht, un¬
erachtet er ihn nicht ſo fruͤh erwarten konnte,
aber die Hunde ſprangen heraus und bellten hef¬
tig. Es mußte ein Fremder ſeyn. Andres
ging ſelbſt vor die Thuͤr: da trat ihm ein lan¬
ger, hagerer Mann entgegen, in grauem Mantel,
die Reiſemuͤtze tief ins Geſicht gedruͤckt. „Ei,“
ſagte der Fremde: „wie bin ich doch hier im
Walde ſo irre gegangen! Der Sturm tobt von den
Bergen herab, wir bekommen ein ſchrecklich Wet¬
ter. Moͤchtet ihr nicht erlauben, lieber Herr!
daß ich in Euer Haus eintreten und mich von
dem beſchwerlichen Wege erholen und erquicken
duͤrfte zur weitern Reiſe?“ „Ach Herr,“ erwie¬
derte der betruͤbte Andres, „ihr kommt in ein
Haus der Noth und des Elends und außer dem
Stuhl, auf dem ihr ausruhen koͤnnt, vermag ich
kaum Euch irgend eine Erquickung anzubieten;
meinem armen kranken Weibe mangelt es ſelbſt
daran, und mein Knecht, den ich nach Fulda ge¬
ſchickt, wird erſt am ſpaͤten Abend etwas zur
[89] Labung herbeibringen.“ Unter dieſen Worten wa¬
ren ſie in die Stube getreten. Der Fremde legte
ſeine Reiſemuͤtze und ſeinen Mantel ab, unter
dem er ein Felleiſen und ein Kiſtchen trug. Er
zog auch ein Stilet und ein Paar Terzerole her¬
vor, die er auf den Tiſch legte. Andres war an
Giorgina's Bett getreten, ſie lag in bewußt¬
loſem Zuſtande. Der Fremde trat ebenfalls hin¬
zu, ſchaute die Kranke lange mit ſcharfen, bedaͤch¬
tigen Blicken an und ergriff ihre Hand, den
Puls ſorglich erforſchend. Als nun Andres
voll Verzweiflung ausrief: „Ach Gott, nun
ſtirbt ſie wohl!“ da ſagte der Fremde: „Mit
nichten, lieber Freund! ſeid ganz ruhig. Euerm
Weibe fehlt nichts als kraͤftige, gute Nahrung,
und vor der Hand wird ihr ein Mittel, das
zugleich reizt und ſtaͤrkt, die beſten Dienſte thun.
Ich bin zwar kein Arzt, ſondern vielmehr ein
Kaufmann, allein doch in der Arzneiwiſſenſchaft
nicht unerfahren, und beſitze aus uralter Zeit her
manches Arcanum, welches ich mit mir fuͤhre
[90] und auch wohl verkaufe.“ Damit oͤffnete der
Fremde ſein Kiſtchen, holte eine Phiole heraus,
troͤpfelte von dem ganz dunkelrothen Liquor etwas
auf Zucker und gab es der Kranken. Dann holte
er aus dem Felleiſen eine kleine geſchliffene Fla¬
ſche koͤſtlichen Rheinweins und floͤßte der Kranken
ein Paar Loͤffel voll ein. Den Knaben, befahl
er, nur dicht an der Mutter Bruſt gelehnt ins
Bette zu legen und beide der Ruhe zu uͤberlaſ¬
ſen. Dem Andres war es zu Muthe, als ſei
ein Heiliger herabgeſtiegen in die Einoͤde, ihm
Troſt und Huͤlfe zu bringen. Anfangs hatte ihn
der ſtechende, falſche Blick des Fremden abge¬
ſchreckt, jetzt wurde er durch die ſorgliche Theil¬
nahme, durch die augenſcheinliche Huͤlfe, die er
der armen Giorgina leiſtete, zu ihm hingezo¬
gen. Er erzaͤhlte dem Fremden unverholen, wie
er eben durch die Gnade, die ihm ſein Herr, der
Graf von Vach, angedeihen laſſen wollen, in
Noth und Elend gerathen ſei und wie er wol
Zeit ſeines Lebens nicht aus druͤckender Armuth
[91] und Duͤrftigkeit kommen werde. Der Fremde
troͤſtete ihn dagegen und meinte, wie oft ein un¬
verhofftes Gluͤck dem Hoffnungsloſeſten alle Guͤter
des Lebens bringe, und daß man wol etwas wagen
muͤſſe, das Gluͤck ſelbſt ſich dienſtbar zu machen.
„Ach lieber Herr!“ erwiederte Andres,“ ich
vertraue Gott und der Fuͤrſprache der Heiligen,
zu denen wir, ich und mein treues Weib, jeden
Tag mit Inbrunſt beten. Was ſoll ich denn
thun, um mir Geld und Gut zu verſchaffen? Iſt
es mir nach Gottes Weisheit nicht beſchieden, ſo
waͤre es ja ſuͤndlich, darnach zu trachten; ſoll ich
aber noch in dieſer Welt zu Guͤtern gelangen,
welches ich meines armen Weibes halber wuͤnſche,
die ihr ſchoͤnes Vaterland verlaſſen, um mir in
dieſe wilde Einoͤde zu folgen, ſo kommt es wol,
ohne daß ich Leib und Leben wage um ſchnoͤdes,
weltliches Gut. Der Fremde laͤchelte bei dieſen
Reden des frommen Andres auf ganz ſeltſame
Weiſe und war im Begriff, etwas zu erwiedern,
als Giorgina mit einem tiefen Seufzer aus
[92] dem Schlaf, in den ſie verſunken, erwachte. Sie
fuͤhlte ſich wunderbarlich geſtaͤrkt; auch der Knabe
laͤchelte hold und lieblich an ihrer Bruſt. An¬
dres war außer ſich vor Freude, er weinte, er
betete, er jubelte durch das Haus. Der Knecht
war indeſſen zuruͤckgekommen und bereitete, ſo
gut er es vermochte, von den mitgebrachten Le¬
bensmitteln das Mahl, an dem nun der Fremde
Theil nehmen ſollte. Der Fremde kochte ſelbſt
eine Kraftſuppe fuͤr Giorgina, und man ſah,
daß er allerlei Gewuͤrz und andere Ingredienzien
hineinwarf, die er bei ſich getragen. Es war
ſpaͤter Abend worden, der Fremde mußte daher
bei dem Andres uͤbernachten, und er bat, daß
man ihm in derſelben Stube, wo Andres und
Giorgina ſchliefen, ein Strohlager bereiten
moͤge. Das geſchah. Andres, den die Be¬
ſorgniß um Giorgina nicht ſchlafen ließ, be¬
merkte, wie der Fremde beinahe bei jedem ſtaͤr¬
keren Athemzuge Giorgina's auffuhr, wie
er ſtuͤndlich aufſtand, leiſe ſich ihrem Bette
[93] naͤherte, ihren Puls erforſchte und ihr Arznei
eintroͤpfelte.
Als der Morgen angebrochen, war Gior¬
gina wieder zuſehends beſſer geworden. Andres
dankte dem Fremden, den er ſeinen Schutzengel
nannte, aus der Fuͤlle ſeines Herzens. Auch
Giorgina aͤußerte, wie ihn wol, auf ihr
inbruͤnſtiges Gebet, Gott ſelbſt geſendet habe
zu ihrer Rettung. Dem Fremden ſchienen dieſe
lebhaften Ausbruͤche des Danks in gewiſſer Art
beſchwerlich zu fallen; er war ſichtlich verlegen
und aͤußerte einmal uͤber das andere, wie er
ja ein Unmenſch ſeyn muͤſſe, wenn er nicht der
Kranken mit ſeiner Kenntniß und den Arznei¬
mitteln, die er bei ſich fuͤhre, habe beiſtehen ſol¬
len. Uebrigens ſei nicht Andres, ſondern er
zum Dank verpflichtet, da man ihn, der Noth
unerachtet, die im Hauſe herrſche, ſo gaſtlich
aufgenommen, und er wolle auch keinesweges dieſe
Pflicht unerfuͤllt laſſen. Er zog einen wohlgefuͤll¬
ten Beutel hervor und nahm einige Goldſtuͤcke
[94] heraus, die er dem Andres hinreichte. „Ei
Herr“, ſagte Andres, „wie und wofuͤr ſollte
ich denn ſo vieles Geld von Euch annehmen?
Euch in meinem Hauſe zu beherbergen, da ihr
Euch in dem wilden weitlaͤuftigen Forſt verirrt
hattet, das war ja Chriſtenpflicht, und duͤnkte
Euch das irgend eines Dankes werth, ſo habt ihr
mich ja uͤberreich, ja mehr, als ich es nur mit
Worten ſagen mag, dadurch belohnt, daß ihr
als ein weiſer kunſterfahrner Mann mein liebes
Weib vom augenſcheinlichen Tode rettetet. Ach
Herr! was Ihr an mir gethan, werde ich Euch
ewiglich nicht vergeſſen, und Gott moͤge es
mir verleihen, daß ich die edle That Euch
mit meinem Leben und Blut lohnen koͤnne.“
Bei dieſen Worten des wackern Andres fuhr es
wie ein raſcher funkelnder Blitz aus den Augen
des Fremden. „Ihr muͤßt, braver Mann,“ ſprach
er, „durchaus das Geld annehmen. Ihr ſeid das
ſchon Euerm Weibe ſchuldig, der ihr damit beſ¬
ſere Nahrungsmittel und Pflege verſchaffen koͤnnt;
[95] denn dieſer bedarf ſie nunmehro, um nicht wieder
in ihren vorigen Zuſtand zuruͤckzufallen, und
Euerm Knaben Nahrung geben zu koͤnnen.“ „Ach
Herr,“ erwiederte Andres, „verzeiht es, aber
eine innere Stimme ſagt mir, daß ich Euer un¬
verdientes Geld nicht nehmen darf. Dieſe innere
Stimme, der ich, wie der hoͤhern Eingebung
meines Schutzheiligen, immer vertraut, hat mich
bisher ſicher durch das Leben gefuͤhrt und mich
beſchuͤtzt vor allen Gefahren des Leibes und der
Seele. Wollt ihr großmuͤthig handeln und an
mir Armen ein Uebriges thun, ſo laßt mir ein
Flaͤſchlein von Eurer wundervollen Arznei zuruͤck,
damit durch ihre Kraft mein Weib ganz geneſe.“
Giorgina richtete ſich im Bette auf, und der
ſchmerzvolle wehmuͤthige Blick, den ſie auf An¬
dres warf, ſchien ihn anzuflehen, diesmal nicht
ſo ſtrenge auf ſein inneres Widerſtreben zu ach¬
ten, ſondern die Gabe des mildthaͤtigen Mannes
anzunehmen. Der Fremde bemerkte das und
ſprach: „Nun wenn ihr denn durchaus mein
[96] Geld nicht annehmen wollt, ſo ſchenke ich es
Euerm lieben Weibe, die meinen guten Willen,
Euch aus der bittern Noth zu retten, nicht ver¬
ſchmaͤhen wird.“ Damit griff er noch einmal in
den Beutel, und ſich der Georgina naͤhernd,
gab er ihr wol noch einmal ſo viel Geld, als
er vorhin dem Andres angeboten hatte. Gior¬
gina ſah das ſchoͤne funkelnde Gold mit vor
Freude leuchtenden Augen, ſie konnte kein Wort
des Danks herausbringen, die hellen Thraͤnen
ſchoſſen ihr die Wangen herab. Der Fremde
wandte ſich ſchnell von ihr weg, und ſprach zu
Andres: „Seht, lieber Mann! Ihr koͤnnet
meine Gabe getroſt annehmen, da ich nur etwas
von großem Ueberfluß Euch mittheile. Geſtehen
will ich Euch, daß ich das nicht bin, was ich
ſcheine. Nach meiner ſchlichten Kleidung, und da
ich wie ein duͤrftiger wandernder Kraͤmer zu Fuß
reiſe, glaubt Ihr gewiß, daß ich arm bin und
mich nur kuͤmmerlich von kleinem Verdienſt auf
Meſſen und Jahrmaͤrkten naͤhre: ich muß Euch
jedoch[97] jedoch ſagen, daß ich durch gluͤcklichen Handel
mit den trefflichſten Kleinodien, den ich ſeit vie¬
len Jahren treibe, ein ſehr reicher Mann gewor¬
den, und nur die einfache Lebensweiſe aus alter
Gewohnheit beibehalten habe. In dieſem kleinen
Felleiſen und dem Kiſtchen bewahre ich Juwelen
und koͤſtliche, zum Theil noch im grauen Alterthum
geſchnittene Steine, welche viele, viele Tauſende
werth ſind. Ich habe diesmal in Frankfurt ſehr
gluͤckliche Geſchaͤfte gemacht, ſo daß das wol
noch lange nicht der hundertſte Theil des Ge¬
winns ſeyn mag, was ich Euerm lieben Weibe
ſchenkte. Ueberdem gebe ich Euch das Geld kei¬
nesweges umſonſt, ſondern verlange von Euch da¬
fuͤr allerlei Gefaͤlligkeiten. Ich wollte, wie ge¬
woͤhnlich, von Frankfurt nach Caſſel gehen und
kam von Schuͤchtern aus vom richtigen Wege ab.
Indeſſen habe ich gefunden, daß der Weg durch
dieſen Forſt, den ſonſt die Reiſenden ſcheuen,
gerade fuͤr einen Fußgaͤnger recht anmuthig iſt,
weshalb ich denn kuͤnftig auf gleicher Reiſe immer
G[98] dieſe Straße einſchlagen und bei Euch einſprechen
will. Ihr werdet daher mich jaͤhrlich zweimal
bei Euch eintreffen ſehen; nehmlich zu Oſtern,
wenn ich von Frankfurt nach Caſſel wandere, und
im ſpaͤten Herbſt, wenn ich von der Leipziger
Michaelis-Meſſe nach Frankfurt und von dort
nach der Schweiz und wol auch nach Welſchland
gehe. Dann ſollt ihr mich fuͤr gute Bezahlung —
einen — zwei auch wol drei Tage bei Euch be¬
herbergen und das iſt die erſte Gefaͤlligkeit, um
die ich Euch erſuche.“
„Ferner bitte ich Euch, dieſes kleine Kiſtchen,
worin Waaren ſind, die ich in Caſſel nicht brau¬
che, und das mir beim Wandern hinderlich iſt, zu
behalten, bis ich kuͤnftigen Herbſt wieder bei
Euch einſpreche. Nicht verhehlen will ich, daß
die Waaren viele Tauſende werth ſind, aber ich
mag Euch deshalb doch kaum groͤßere Sorglichkeit
empfehlen, da ich nach der Treue und Froͤmmig¬
keit, die Ihr an den Tag legt, Euch zutraue, daß
Ihr auch das Geringſte, was ich Euch zuruͤckließe,
[99] ſorgfaͤltig aufbewahren wuͤrdet; zumal werdet
Ihr das bei Sachen von ſolch' großem Werthe,
als die ſind, welche in dem Kiſtchen verſchloſſen,
ſicherlich thun. Seht, das iſt der zweite Dienſt,
den ich von Euch fordere. Das dritte, was ich
verlange, wird Euch wohl am ſchwerſten fallen,
unerachtet es mir jetzt am noͤthigſten thut. Ihr
ſollt Euer liebes Weib nur auf dieſen Tag ver¬
laſſen und mich aus dem Forſt bis auf die
Straße nach Hirſchfeld geleiten, wo ich bei Be¬
kannten einſprechen und dann meine Reiſe nach
Caſſel fortſetzen will. Denn außer dem, daß ich
des Weges im Forſt nicht recht kundig bin und
mich daher zum zweitenmal verirren koͤnnte, ohne
von einem ſo wackern Mann, wie ihr es ſeid,
aufgenommen zu werden, iſt es auch in der Gegend
nicht recht geheuer. Euch als einem Jaͤgersmann
aus der Gegend wird man nichts anhaben, aber
ich, als einſamer Wanderer, koͤnnte wohl gefaͤhrdet
werden. Man ſprach in Frankfurt davon, daß
eine Raͤuberbande, die ſonſt die Gegend von
G 2[100] Schaffhauſen unſicher machte und ſich bis nach
Strasburg herauf ausdehnte, nunmehr ſich ins
Fuldaiſche geworfen haben ſoll, da die von Leip¬
zig nach Frankfurt reiſenden Kaufleute ihnen rei¬
cheren Gewinnſt verſprachen, als ſie dort finden
konnten. Wie leicht waͤr' es moͤglich, daß ſie
mich ſchon von Frankfurt aus als reichen Juwe¬
lenhaͤndler kennten. Hab' ich alſo ja durch die
Rettung Eures Weibes Dank verdient, ſo koͤnnt
ihr mich dadurch reichlich lohnen, daß Ihr aus
dieſem Forſte mich auf Weg und Steg leitet.
Andres war mit Freuden bereit, Alles zu er¬
fuͤllen, was man von ihm verlangte, und machte
ſich gleich, wie es der Fremde wuͤnſchte, zur
Wanderung fertig, indem er ſeine Jaͤgeruniform
anzog, ſeine Doppelbuͤchſe und ſeinen tuͤchtigen
Hirſchfaͤnger umſchnallte und dem Knecht befahl,
zwei von den Doggen anzukuppeln. Der Fremde
hatte unterdeſſen das Kiſtchen geoͤffnet und die
praͤchtigſten Geſchmeide, Halsketten — Ohrringe —
Spangen herausgenommen, die er auf Giorgi¬
[101]na's Bette ausbreitete, ſo daß ſie ihre Verwun¬
derung und Freude gar nicht bergen konnte. Als
nun aber der Fremde ſie aufforderte, doch eine
der ſchoͤnſten Halsketten umzuhaͤngen, die reichen
Spangen auf ihre wunderſchoͤn geformten Aerme
zu ſtreifen, und ihr dann einen kleinen Taſchen¬
ſpiegel vorhielt, worin ſie ſich nach Herzensluſt
beſchauen konnte, ſo daß ſie in kindiſcher Luſt
aufjauchzte, da ſagte Andres zu dem Fremden:
„Ach lieber Herr! wie moͤget ihr doch in mei¬
nem armen Weibe ſolche Luͤſternheit erregen, daß
ſie ſich mit Dingen putzt, die ihr nimmermehr
zukommen, und auch gar nicht anſtehen. Nehmt
mir es nicht uͤbel, Herr! aber die einfache rothe
Korallenſchnur, die meine Giorgina um den
Hals gehaͤngt hatte, als ich ſie zum erſtenmal
in Neapel ſah, iſt mir tauſendmal lieber, als
das funkelnde blitzende Geſchmeide, das mir recht
eitel und truͤgeriſch vorkommt.“ „Ihr ſeid auch
gar zu ſtrenge,“ erwiederte der Fremde hoͤhniſch
laͤchelnd, „daß Ihr Euerm Weibe nicht einmal in
[102] ihrer Krankheit die unſchuldige Freude laſſen wollt,
ſich mit meinen ſchoͤnen Geſchmeiden herauszu¬
putzen, die keinesweges truͤgeriſch, ſondern wahr¬
haft aͤcht ſind. Wißt Ihr denn nicht, daß eben
den Weibern ſolche Dinge rechte Freude verur¬
ſachen? Und was Ihr da ſagt, daß ſolcher Prunk
Eurer Giorgina nicht zukomme, ſo muß ich
das Gegentheil behaupten. Euer Weib iſt huͤbſch
genug, ſich ſo herauszuputzen und Ihr wißt ja
nicht, ob ſie nicht einmal auch noch reich genug
ſeyn wird, dergleichen Schmuck ſelbſt zu beſitzen
und zu tragen.“ Andres ſprach mit ſehr ern¬
ſtem nachdruͤcklichen Ton: „Ich bitte Euch, Herr!
fuͤhrt nicht ſolche geheimnißvolle verfaͤngliche Re¬
den! Wollt Ihr denn mein armes Weib bethoͤ¬
ren, daß ſie von eitlem Geluͤſt nach ſolchem
weltlichem Prunk und Staat nur druͤckender un¬
ſere Armuth fuͤhle und um alle Lebensruhe, um
alle Heiterkeit gebracht werde? Packt nur Eure
ſchoͤne Sachen ein, lieber Herr! ich will ſie Euch
treulich bewahren, bis ihr zuruͤckkommt. Aber
[103] ſagt mir nun, wenn, wie es der Himmel verhuͤ¬
ten moͤge! Euch unterdeſſen ein Ungluͤck zuſtoßen
ſollte, ſo daß ihr nicht mehr zuruͤckkehrtet in
mein Haus, wohin ſoll ich dann das Kiſtchen
abliefern, und wie lange ſoll ich auf Euch war¬
ten, ehe ich die Juwelen dem einhaͤndige, den
ihr mir nennen werdet, ſo wie ich Euch jetzt um
Euern Namen bitte?“ „Ich heiße,“ erwiederte
der Fremde, „Ignaz Denner, und bin, wie
ihr ſchon wiſſet, Kauf- und Handelsmann. Ich
habe weder Weib, noch Kinder, und meine Ver¬
wandte wohnen im Walliſer Lande. Die kann
ich aber keinesweges lieben und achten, da ſie
ſich, als ich noch arm und beduͤrftig war, um
mich gar nicht gekuͤmmert haben. Sollte ich
in drei Jahren mich nicht ſehen laſſen, ſo behal¬
tet das Kiſtchen ruhig an Euch und, da ich wohl
weiß, daß beide, Ihr und Giorgina, Euch
ſtraͤuben werdet, das reiche Vermaͤchtniß von mir
anzunehmen, ſo ſchenke ich in jenem Fall das
Kaͤſtchen mit Kleinodien Euerm Knaben, dem ich,
[104] wenn Ihr ihn firmeln laßt, den Namen Igna¬
tius beizugeben bitte.“ Andres wußte in der
That nicht, was er aus der ſeltenen Freigebigkeit
und Großmuth des fremden Mannes machen ſoll¬
te. Er ſtand ganz verſtummt vor ihm, indeß
Giorgina ihm fuͤr ſeinen guten Willen dankte
und verſicherte, zu Gott und den Heiligen fleißig
beten zu wollen, daß ſie ihn auf ſeinen weiten
beſchwerlichen Reiſen beſchuͤtzen und ihn ſtets
gluͤcklich in ihr Haus zuruͤckfuͤhren moͤchten. Der
Fremde laͤchelte, ſo wie es ſeine Art war, auf
ſeltſame Weiſe und meinte, daß wol das Gebet
einer ſchoͤnen Frau mehr Kraft haben moͤge, als das
ſeinige. Das Beten wolle er daher ihr uͤberlaſ¬
ſen und uͤbrigens ſeinem kraͤftigen abgehaͤrteten
Koͤrper und ſeinen guten Waffen vertrauen.
Dem frommen Andres mißfiel dieſe Aeuße¬
rung des Fremden hoͤchlich; indeſſen verſchwieg
er das, was er darauf zu erwiedern ſchon im
Begriff ſtand, und trieb vielmehr den Fremden
an, jetzt die Wanderung durch den Forſt zu
[105] beginnen, da er ſonſt erſt in ſpaͤter Nacht in ſein
Haus zuruͤckkehren und ſeine Giorgina in
Furcht und Angſt ſetzen wuͤrde.
Der Fremde ſagte beim Abſchiede noch Gior¬
ginen: daß er ausdruͤcklich ihr erlaube, ſich,
wenn es ihr Vergnuͤgen mache, mit ſeinen Ge¬
ſchmeiden zu ſchmuͤcken, da es ihr ja ohnedies in
dieſem einſamen wilden Forſt an jeder Beluſti¬
gung mangle. Giorgina erroͤthete vor innerm
Vergnuͤgen, da ſie freilich die ihrer Nation eigne
Luſt an glaͤnzendem Staat und vorzuͤglich an koſt¬
baren Steinen nicht unterdruͤcken konnte. — Nun
ſchritten Denner und Andres raſch vorwaͤrts
durch den finſtern oͤden Wald. In dem dickſten
Gebuͤſch ſchnupperten die Doggen umher und klaff¬
ten, den Herrn mit klugen beredten Augen an¬
ſchauend. „Hier iſt es nicht geheuer,“ ſprach
Andres, ſpannte den Hahn ſeiner Buͤchſe und
ſchritt mit den Hunden bedaͤchtig vor dem frem¬
den Kaufmann her. Oft war es ihm, als rau¬
ſche es in den Baͤumen und bald erblickte er in
[106] der Ferne finſtre Geſtalten, die gleich wieder in
dem Gebuͤſch verſchwanden. Er wollte ſeine Dog¬
gen loskuppeln. „Thut das nicht, lieber Mann!“
rief Denner, „denn ich kann Euch verſichern,
daß wir nicht das mindeſte zu fuͤrchten haben.“
Kaum hatte er dieſe Worte geſprochen, als nur
wenige Schritte von ihnen ein großer ſchwarzer
Kerl mit ſtruppigen Haaren und großem Knebel¬
bart, eine Buͤchſe in der Hand, aus dem Gebuͤſch
heraustrat. Andres machte ſich ſchußfertig;
„ſchießt nicht, ſchießt nicht!“ rief Denner;
der ſchwarze Kerl nickte ihm freundlich zu und
verlor ſich in den Baͤumen. Endlich waren ſie
aus dem Walde heraus, auf der lebhaften Land¬
ſtraße. „Nun danke ich Euch herzlich fuͤr Euer
Geleite,“ ſprach Denner; „kehrt nur jetzt in
Eure Wohnung zuruͤck; ſollten Euch wieder ſolche
Geſtalten aufſtoßen, wie wir ſie geſehen, ſo zieht
ruhig Eure Straße fort, ohne Euch darum zu
kuͤmmern. Thut, als wenn Ihr gar nichts be¬
merktet, behaltet Eure Doggen am Strick, Ihr
[107] werdet ohne alle Gefahr Eure Wohnung errei¬
chen.“ Andres wußte nicht, was er von dem
Allen und von dem wunderlichen Kaufmann den¬
ken ſollte, der, wie ein Geiſterbeſchwoͤrer, den
Feind zu bannen und von ſich abzuhalten ſchien.
Er konnte nicht begreifen, warum er denn erſt
ſich habe durch den Wald geleiten laſſen. Getroſt
ſchritt Andres durch den Forſt zuruͤck, es ſtieß
ihm durchaus nichts verdaͤchtiges auf und er kam
wohlbehalten in ſein Haus, wo ihm ſeine Gior¬
gina, die ſich munter und kraͤftig aus dem Bette
gemacht, voll Freude in die Arme fiel. —
Durch die Freigebigkeit des fremden Kauf¬
manns bekam die kleine Haushaltung des An¬
dres eine ganz andere Geſtalt. Kaum war
nehmlich Giorgina ganz geneſen, als er mit
ihr nach Fulda ging und außer den noͤthigſten
Beduͤrfniſſen noch manches Stuͤck einkaufte, das
ihrer haͤuslichen Einrichtung abging und wodurch
dieſe das Anſehen eines gewiſſen Wohlſtandes er¬
hielt. Dazu kam, daß ſeit dem Beſuch des
[108] Fremden die Freijaͤger und Holzdiebe aus der
Gegend gebannt ſchienen, und Andres ſeinem
Poſten ruhig vorſtehen konnte. Auch ſein Jagd¬
gluͤck war wiedergekehrt, ſo daß er, wie ſonſt,
beinahe niemals einen Fehlſchuß that. Der
Fremde ſtellte ſich zu Michaelis wieder ein und
blieb drei Tage. Der hartnaͤckigen Weigerung
der Wirthsleute unerachtet war er doch wieder
ſo freigebig, wie das erſtemal. Er verſicherte, es
ſei nun einmal ſeine Abſicht, ſie in Wohlſtand
zu verſetzen, und ſo ſich ſelbſt das Abſteigequartier
im Walde freundlicher und angenehmer zu ma¬
chen.
Nun konnte die bildhuͤbſche Giorgina ſich
beſſer kleiden; ſie geſtand dem Andres, daß ſie
der Fremde mit einer zierlich gearbeiteten goldnen
Nadel, wie ſie die Maͤdchen und Weiber in man¬
cher Gegend Italiens durch das in Zoͤpfen zuſam¬
mengeflochtene aufgewirbelte Haar zu ſtecken pfle¬
gen, beſchenkt habe. Andres zog ein finſtres
Geſicht, aber in dem Augenblick war Giorgina
[109] zur Thuͤr herausgeſprungen und nicht lange dau¬
erte es, ſo kehrte ſie zuruͤck ganz ſo gekleidet und
geſchmuͤckt, wie Andres ſie in Neapel geſehen
hatte. Die ſchoͤne goldne Nadel prangte in dem
ſchwarzen Haar, in das ſie mit maleriſchem Sinn
bunte Blumen geflochten, und Andres mußte
ſich nun ſelbſt geſtehen, daß der Fremde ſein
Geſchenk recht ſinnig gewaͤhlt hatte, um ſeine
Georgina wahrhaft zu erfreuen.
Andres aͤußerte dies unverholen und Gior¬
gina meinte, daß der Fremde wol ihr Schutz¬
engel ſei, der ſie aus der tiefſten Duͤrftigkeit zum
Wohlſtande erhebe, und daß ſie gar nicht be¬
greife, wie Andres ſo wortkarg, ſo verſchloſſen
gegen den Fremden und uͤberhaupt ſo traurig, ſo
in ſich gekehrt, bleiben koͤnne. „Ach, liebes Her¬
zensweib!“ ſprach Andres, „die innere Stimme,
welche mir damals ſo laut ſagte, daß ich durch¬
aus nichts von dem Fremden annehmen duͤrfe, die
ſchweigt bis jetzt keinesweges. Ich werde oft von
innern Vorwuͤrfen gemartert; es iſt mir, als ob
[110] mit dem Gelde des Fremden unrechtes Gut in
mein Haus gekommen ſei und deshalb kann mich
nichts recht freuen; was dafuͤr angeſchafft wurde.
Ich kann mich jetzt wol oͤfter mit einer kraͤftigen
Speiſe, mit einem Glaſe Wein erlaben; glaube
mir aber, liebe Giorgina! war einmahl ein
guter Holzverkauf vorgefallen und hatte mir der
liebe Gott ein paar ehrlich verdiente Groſchen
mehr beſcheert, als gewoͤhnlich, dann ſchmeckte mir
ein Glas geringen Weins viel beſſer, als jetzt
der gute Wein, den der Fremde uns mitbringt.
Ich kann mich mit dieſem ſonderbaren Kaufmann
durchaus nicht befreunden, ja es iſt mir in ſeiner
Gegenwart oft ganz unheimlich zu Muthe. Haſt
Du wohl bemerkt, liebe Giorgina! daß er nie¬
manden feſt anzuſchauen vermag? Und dabei blitzt
es zuweilen aus ſeinen tiefliegenden kleinen Augen ſo
ſonderbar heraus, und dann kann er bei unſern
ſchlichten Reden oft ſo — buͤbiſch moͤcht' ich ſagen,
lachen, daß es mich eiskalt uͤberlaͤuft. — Ach,
moͤchten nur nicht meine innern Gedanken wahr
[111] werden, aber oft iſt es mir, als liege allerlei
ſchwarzes Unheil im Hintergrunde, das nun der
Fremde mit einemmahl hervorrufen werde, nach¬
dem er uns in ſeinen kuͤnſtlichen Schlingen ge¬
fangen.“
Giorgina ſuchte ihrem Mann die ſchwar¬
zen Vorſtellungen auszureden, indem ſie verſicher¬
te, wie ſie oft in ihrem Vaterlande und vorzuͤg¬
lich bei ihren Pflegeaͤltern im Wirthshauſe, Per¬
ſonen kennen gelernt, deren Aeußeres noch viel
widriger geweſen ſey, unerachtet es am Ende
grundgute Menſchen waren. Andres ſchien ge¬
troͤſtet, im Innern beſchloß er aber auf der Hut
zu ſeyn.
Der Fremde ſprach bei Andres wieder ein,
als ſein Knabe, ein wunderſchoͤnes Kind, ganz
der Mutter Ebenbild, gerade neun Monate alt
geworden. Es war Giorgina's Namenstag;
ſie hatte den Kleinen fremdartig und ſonderbar
herausgeputzt, ſich ſelbſt in ihre liebe neapolitani¬
ſche Tracht geworfen und ein beſſeres Mahl, als
[112] gewoͤhnlich, bereitet, wozu der Fremde eine Fla¬
ſche koͤſtlichen Weins aus dem Felleiſen hergab.
Als ſie nun froͤhlich bei Tiſche ſaßen und der
kleine Knabe mit ſolch' wunderbar verſtaͤndigen
Augen umherblickte, hub der Fremde an: „Euer
Kind verſpricht in der That mit ſeinem beſondern
Weſen ſchon jetzt recht viel und es iſt Schade, daß
Ihr nicht im Stande ſeyn werdet, es gehoͤrig zu
erziehen. Ich haͤtte Euch wol einen Vorſchlag zu
thun, Ihr werdet ihn aber verwerfen wollen, un¬
erachtet Ihr bedenken moͤchtet, daß er nur Euer
Gluͤck, Euern Wohlſtand bezweckt. Ihr wißt,
daß ich reich und ohne Kinder bin, ich fuͤhle
eine ganz beſondere Liebe und Zuneigung zu Eu¬
erm Knaben — Gebt mir ihn! — Ich bringe
ihn nach Strasburg, wo er von einer Freundin
von mir, einer alten ehrbaren Frau, auf das beſte
erzogen werden und mir ſo wie Euch große Freude
machen ſoll. Ihr werdet mit Euerm Kinde einer
großen Laſt frei; doch muͤßt Ihr Euern Entſchluß
ſchnell faſſen, da ich genoͤthigt bin, noch heute
Abend[113] Abend abzureiſen. Auf meinen Armen trage
ich das Kind bis in das naͤchſte Dorf; dort
nehme ich dann ein Fuhrwerk.“ Bei dieſen
Worten des Fremden riß Giorgina das Kind,
das er auf ſeinen Knien geſchaukelt hatte, haſtig
fort und druͤckte es an ihren Buſen, indem ihr
die Thraͤnen in die Augen traten. „Seht, lieber
Herr!“ ſprach Andres, „wie meine Frau Euch
auf Euern Vorſchlag antwortet, und eben ſo bin
auch ich geſinnt. Eure Abſicht mag recht gut
ſeyn; aber wie moͤget Ihr doch uns das Liebſte
rauben wollen, das wir auf Erden beſitzen? wie
moͤget Ihr doch das eine Laſt nennen, was unſer
Leben aufheitern wuͤrde, waͤren wir auch noch in
der tiefſten Duͤrftigkeit, aus der uns Eure Guͤte
geriſſen? „Seht, lieber Herr! Ihr ſagtet ſelbſt,
daß Ihr ohne Frau und ohne Kinder waͤret; Euch
iſt daher wohl die Seligkeit fremd, die gleichſam
aus der Glorie des offnen Himmelreichs herab¬
ſtroͤmt auf Mann und Weib bei der Geburt
eines Kindes. Es iſt ja die reinſte Liebe und
H[114] Himmelswonne ſelbſt, von der die Eltern erfuͤllt
werden, wenn ſie ihr Kind ſchauen, das ſtumm
und ſtill an der Mutter Bruſt liegend, doch mit
gar beredten Zungen von ihrer Liebe, von ihrem
hoͤchſten Lebensgluͤck ſpricht. — Nein, lieber
Herr! ſo groß auch die Wohlthaten ſind, die Ihr
uns erzeigt habt, ſo wiegen ſie doch lange nicht
das auf, was uns unſer Kind werth iſt; denn
wo gaͤbe es Schaͤtze der Welt, die dieſem Beſitz
gleich zu ſtellen? Scheltet uns daher nicht un¬
dankbar, lieber Herr! daß wir Euch Euer Anſin¬
nen ſo ganz und gar abſchlagen. Waͤret Ihr
ſelbſt Vater, ſo beduͤrfte es weiter gar keiner
Entſchuldigung fuͤr uns.“ — „Nun, nun,“ erwie¬
derte der Fremde, indem er finſter ſeitwaͤrts
blickte, „ich glaubte Euch wohl zu thun, indem
ich Euern Sohn reich und gluͤcklich machte. Seid
Ihr nicht damit zufrieden, ſo iſt davon weiter
nicht die Rede.“ — Giorgina kuͤßte und
herzte den Knaben, als ſei er aus großer Gefahr
errettet, und ihr wiedergegeben worden. Der
[115] Fremde ſtrebte ſichtlich wieder unbefangen und
heiter zu ſcheinen; man merkte es indeſſen doch
nur zu deutlich, wie ſehr ihn die Weigerung ſei¬
ner Wirthsleute, ihm den Knaben zu geben, ver¬
droſſen hatte. Statt, wie er geſagt, noch den¬
ſelben Abend fortzureiſen, blieb er wieder drei
Tage, in welchen er jedoch nicht ſo, wie ſonſt bei
Giorgina[verweilte], ſondern mit Andres auf
die Jagd zog und ſich bei dieſer Gelegenheit viel
von dem Grafen Aloys von Vach erzaͤhlen
ließ. Als in der Folge Ignaz Denner wie¬
der bei ſeinem Freunde Andres einſprach, dachte
er nicht mehr an ſeinen Plan, den Knaben mit
ſich zu nehmen. Er war nach ſeiner Art freund¬
lich wie vorher, und fuhr fort, Giorgina
reichlich zu beſchenken, die er noch uͤberdem wie¬
derholt aufforderte, ſo oft ſie Luſt habe ſich mit
den Juwelen aus dem Kiſtchen, das er Andres
in Verwahrung gegeben, zu ſchmuͤcken, welches
ſie auch wol dann und wann heimlich that.
Oft wollte Denner, wie ſonſt mit dem Knaben
H 2[116] ſpielen; dieſer ſtraͤubte ſich aber und weinte,
durchaus mochte er nicht mehr zu dem Fremden
gehen, als wiſſe er etwas von dem feindlichen
Anſchlag, ihn ſeinen Eltern zu entfuͤhren. — Zwei
Jahre hindurch hatte der Fremde nun auf ſeinen
Wanderungen den Andres beſucht, und Zeit und
Gewohnheit hatten die Scheu, das Mißtrauen
wider Denner endlich uͤberwunden, ſo daß An¬
dres ſeinen Wohlſtand ruhig und heiter genoß.
Im Herbſt des dritten Jahres, als die Zeit, in
der Denner gewoͤhnlich einzuſprechen pflegte,
ſchon voruͤber war, pochte es in einer ſtuͤrmiſchen
Nacht hart an Andres Thuͤr, und mehrere
rauhe Stimmen riefen ſeinen Namen. Erſchrok¬
ken ſprang er aus dem Bette; als er aber zum
Fenſter herausfrug, wer ihn in finſtrer Nacht
ſo ſtoͤre und wie er gleich ſeine Doggen loslaſſen
werde, um ſolche ungebetene Gaͤſte wegzuhetzen,
da ſagte einer, er moͤge nur aufmachen, ein
Freund ſei da, und Andres erkannte Den¬
ner's Stimme. Als er nun mit dem Licht in
[117] der Hand die Hausthuͤr oͤffnete, trat ihm Den¬
ner allein entgegen. Andres aͤußerte, wie es
ihm vorgekommen, als ob mehrere Stimmen ſei¬
nen Namen gerufen haͤtten; Denner meinte
dagegen, daß den Andres das Heulen des
Windes getaͤuſcht haben muͤſſe. Als ſie in die
Stube traten, erſtaunte Andres nicht wenig,
als er den Denner naͤher betrachtete und ſeinen
ganz veraͤnderten Anzug gewahr wurde. Statt
der grauen ſchlichten Kleidung und des Mantels
trug er ein dunkelrothes Wamms und einen brei¬
ten ledernen Gurt, in dem ein Stilet und vier
Piſtolen ſtaken; außerdem war er noch mit einem
Saͤbel bewaffnet, ſelbſt das Geſicht ſchien veraͤn¬
dert, indem auf der ſonſt glatten Stirn nun
buſchichte Augenbrauen lagen und ein ſtarker
ſchwarzer Bart ſich uͤber Lippe und Wangen zog.
„Andres!“ ſprach Denner, indem er ihn mit
ſeinen funkelnden Augen anblitzte, „Andres!
als ich vor beinahe drei Jahren dein Weib vom
Tode errettet hatte, da wuͤnſchteſt Du, daß Gott
[118] es Dir verleihen moͤge, mir die Dir erzeigte
Wohlthat mit Deinem Blut und Leben lohnen zu
koͤnnen. Dein Wunſch iſt erfuͤllt; denn es iſt
nunmehr der Augenblick gekommen, in dem du
mir Deine Dankbarkeit, Deine Treue beweiſen
kannſt. Kleide Dich an; nimm Deine Buͤchſe
und komme mit mir, nur wenige Schritte von
Deiner Wohnung ſollſt Du das uͤbrige erfahren.“
Andres wußte nicht, was er von Denners
Zumuthung halten ſollte; der Worte, die er ihm
vorhielt, indeſſen wohl eingedenk, verſicherte er,
wie er bereit ſei, alles nur moͤgliche fuͤr ihn zu
unternehmen, ſo bald es nicht der Rechtſchaffen¬
heit, Tugend und Religion zuwider laufe.
„Daruͤber kannſt Du ganz ruhig ſeyn,“ rief
Denner, indem er ihm laͤchelnd auf die Schul¬
ter klopfte; und da er bemerkte, daß Giorgina
aufgeſprungen war, und vor Angſt zitternd und
bebend ihren Mann umklammerte, nahm er ſie
bei den Armen und ſprach, ſie ſanft zuruͤckziehend:
„Laßt Euern Mann nur immer mit mir ziehen,
[119] in wenigen Stunden iſt er wieder geſund bei Euch,
und bringt Euch vielleicht was Schoͤnes mit. Hab'
ich es denn jemals boͤſe mit Euch gemeint? Habe
ich ſelbſt dann, wenn Ihr mich verkanntet, nicht
immer Euch Gutes erzeigt? Wahrhaftig, Ihr
ſeid recht beſondere mißtrauiſche Leute.“ Andres
zauderte noch immer ſich anzukleiden, da wandte
Denner ſich zu ihm und ſprach mit zornigem
Blick: „Ich hoffe Du wirſt Deine Zuſage halten,
denn es gilt nunmehr, das zu beweiſen mit der
That, was Du geſprochen!“ Schnell war nun
Andres angekleidet, und indem er mit Denner
zur Thuͤre herausſchritt, ſprach er noch einmal:
„Alles, lieber Herr! will ich fuͤr Euch thun,
doch etwas Unrechtes werdet Ihr wol von mir
nicht fordern, da ich auch das Kleinſte, was
wider mein Gewiſſen liefe, nicht vollbringen
wuͤrde.“ Denner antwortete nichts, ſondern
ſchritt raſch vorwaͤrts. Sie waren durch das
Dickicht gedrungen bis auf einen ziemlich geraͤu¬
migen Raſenplatz; da pfiff Denner dreimal,
[120] daß der Ton ringsumher aus den ſchaurigen
Kluͤften wiederhallte und uͤberall in den Buͤſchen
flackerten Windlichter auf und es rauſchte und
klirrte in den dunklen Gaͤngen, bis ſich ſchwarze
graͤßliche Geſtalten geſpenſtiſch hervordraͤngten und
den Denner im Kreiſe umringten. Einer aus
dem Kreiſe trat hervor und ſprach auf Andres
hindeutend: „das iſt ja wol unſer neuer Geſelle,
nicht wahr Hauptmann?“ „Ja,“ antwortete Den¬
ner, „ich hab' ihn aus dem Bette geholt, er ſoll
ſein Probeſtuͤck machen, es kann nun gleich vor¬
waͤrts gehen.“ Andres erwachte bei dieſen
Worten wie aus dumpfer Betaͤubung, kalter
Schweiß ſtand ihm auf der Stirne; aber er er¬
mannte ſich und rief heftig. „Was, Du ſchaͤnd¬
licher Betruͤger, fuͤr einen Kaufmann gabſt Du
Dich aus, und treibſt ein hoͤlliſches verruchtes
Gewerbe, und biſt ein verworfener Raͤuber?
Nimmermehr will ich Dein Geſelle ſeyn und
theilnehmen an Deinen Schandthaten, zu denen
Du mich, wie der Satan ſelbſt, auf kuͤnſtliche haͤ¬
[121] miſche Weiſe verlocken wollteſt? — Laß mich
gleich fort, Du frevelicher Boͤſewicht, und raͤu¬
me mit Deiner Rotte dies Gebiet, ſonſt ver¬
rathe ich Deine Schlupfwinkel der Obrigkeit, und
Du bekommſt den Lohn fuͤr Deine Schandthaten;
denn nun weiß ich es wohl, daß Du ſelbſt der
ſchwarze Ignaz biſt, der mit ſeiner Bande an
der Graͤnze gehauſet und geraubt, und gemordet
hat. — Gleich laſſe mich fort, ich will Dich
nie mehr ſchauen.“ Denner lachte laut auf.
„Was, Du feiger Bube?“ ſprach er: „Du unter¬
ſtehſt Dich, mir zu trotzen, Dich meinem Willen,
meinem Machtwort entziehen zu wollen? Biſt
Du nicht laͤngſt ſchon unſer Geſelle? lebſt Du
nicht ſchon ſeit beinahe drei Jahren von unſerm
Gelde? ſchmuͤckt ſich Dein Weib nicht mit unſerm
Raube? Nun ſtehſt Du unter uns und willſt
nicht arbeiten dafuͤr was Du genoſſen? Folgſt
Du uns nun nicht, zeigſt Du Dich nicht gleich
als unſern ruͤſtigen Kumpan, ſo laſſe ich Dich
gebunden in unſere Hoͤhle werfen und meine Ge¬
[122] ſellen ziehen nach deiner Wohnung, zuͤnden
ſie an und ermorden dein Weib und deinen Knaben.
Doch ich werde wol dieſe Maßregel, die nur
eine Folge Deiner Halsſtarrigkeit ſeyn wuͤrde,
nicht ergreifen duͤrfen. Nun! — waͤhle! — es
iſt Zeit, wir muͤſſen fort!“ — Andres ſah nun
wohl ein, daß die mindeſte Weigerung ſeiner
geliebten Giorgina und dem Knaben das Le¬
ben koſten wuͤrde; den verraͤtheriſchen buͤbiſchen
Denner im Innern zur Hoͤlle verfluchend, be¬
ſchloß er daher, in ſeinen Willen ſich ſcheinbar zu
fuͤgen, rein von Diebſtahl und Mord zu bleiben
und das tiefere Eindringen in die Schlupfwinkel
der Bande nur dazu zu benutzen, bei der erſten
guͤnſtigen Gelegenheit ihre Aufhebung und Ein¬
ziehung zu bewirken. Nach dieſem im Stillen
gefaßten Entſchluß erklaͤrte er dem Denner,
wie trotz ſeines innern Widerſtrebens doch die
Dankbarkeit fuͤr Giorgina's Rettung ihn ver¬
pflichte, etwas zu wagen, und er wolle daher die
Expedition mitmachen, wobei er nur bitte, ihn
[123] als einen Neuling, ſo viel moͤglich mit dem thaͤ¬
tigen Antheil daran zu verſchonen. Denner
lobte ſeinen Entſchluß, indem er hinzufuͤgte, wie
er keinesweges verlange, daß er foͤrmlich zur
Bande uͤbertreten ſolle, vielmehr muͤſſe er Revier¬
jaͤger bleiben; denn ſo waͤre er ihm und der
Bande ſchon jetzt von großem Nutzen geweſen,
was denn auch kuͤnftig der Fall ſeyn wuͤrde.
Es war auf nichts geringeres abgeſehen, als
die Wohnung eines reichen Pachters, die von
dem Dorfe abgelegen, unfern dem Walde, ſtand,
zu uͤberfallen und auszupluͤndern. Man wußte,
daß der Pachter außer dem vielen Gelde und
den Koſtbarkeiten, die er beſaß, eben jetzt fuͤr er¬
kauftes Getraide eine ſehr bedeutende Summe ein¬
genommen hatte, die er bei ſich bewahrte und um ſo
mehr verſprachen ſich die Raͤuber einen reichen Fang.
Die Windlichter wurden ausgeloͤſcht und ſtill zogen
die Raͤuber durch die engen Schleichwege, bis ſie
dicht an dem Gebaͤude ſtanden, welches einige von
der Bande umringten. Andere dagegen ſtiegen uͤber
[124] die Mauer, und ſprengten von innen das Hof¬
thor; einige wurden auf Wache ausgeſtellt, und
unter dieſen befand ſich Andres. Bald hoͤrte
er, wie die Raͤuber die Thuͤren erbrachen und ins
Haus ſtuͤrmten, er vernahm ihr Fluchen, ihr
Geſchrei, das Geheul der Gemißhandelten. Es
fiel ein Schuß; der Pachter, ein beherzter Mann,
mochte ſich zur Wehre ſetzen — dann wurde es
ſtiller — aufgeſprengte Schloͤſſer klirrten, Raͤuber
ſchleppten Kiſten zum Hofthor heraus. Einer von
des Pachters Leuten mußte in der Finſterniß ent¬
wiſcht und ins Dorf gerannt ſeyn; denn auf ein¬
mal toͤnte die Sturmglocke durch die Nacht, und
bald darauf ſtroͤmten Haufen mit hellauflodernden
Lichtern die Straße herauf nach der Pachterwoh¬
nung. Nun fiel Schuß auf Schuß, die Raͤuber
ſammelten ſich im Hofe und ſtreckten alles nieder,
was ſich der Mauer naͤherte. Sie hatten ihre
Windfackeln angezuͤndet. Andres, der auf
einer Anhoͤhe ſtand, konnte alles uͤberſehen. Mit
Entſetzen erblickte er unter den Bauern, Jaͤger
[125] in der Liverei ſeines Herrn, des Grafen von
Vach! — Was ſollte er thun? — Sich zu ihnen
zu begeben, war unmoͤglich, nur die ſchnellſte
Flucht konnte ihn retten; aber wie feſtgezaubert
ſtand er da hinſtarrend in den Pachterhof, wo
das Gefecht immer moͤrderiſcher wurde; denn
durch eine kleine Pforte an der andern Seite
waren die Vachſchen Jaͤger gedrungen und mit
den Raͤubern handgemein geworden. Die Raͤuber
mußten zuruͤck, ſie draͤngten ſich fechtend durch
das Thor nach der Gegend hin, wo Andres
ſtand. Er ſah Dennern, der unaufhoͤrlich lud
und ſchoß und niemals fehlte. Ein junger reich¬
gekleideter Mann, von Vachſchen Jaͤgern um¬
geben, ſchien den Anfuͤhrer zu machen; auf ihn
legte Denner an, aber noch ehe er abdruͤckte,
ſtuͤrzte er von einer Kugel getroffen mit einem
dumpfen Schrei nieder. Die Raͤuber flohen —
ſchon ſtuͤrzten die Vachſchen Jaͤger herbei, da ſprang,
wie von unwiderſtehlicher Macht getrieben, An¬
dres herbei und rettete Dennern, den er, ſtark
[126] wie er war, auf die Schultern warf und ſchnell
forteilte. Ohne verfolgt zu werden, erreichte er
gluͤcklich den Wald. Nur einzelne Schuͤſſe fie¬
len hin und wieder und bald wurde es ganz ſtill;
ein Zeichen, daß es den Raͤubern, die nicht ver¬
wundet auf dem Platze liegen geblieben, gegluͤckt
war, in den Wald zu entkommen und daß es den
Jaͤgern und Bauern nicht rathſam ſchien, in das
Dickicht einzubrechen: „Setze mich nur nieder,
Andres!“ ſprach Denner, „ich bin in den Fuß
verwundet und verdammt, daß ich umſtuͤrzte,
denn, unerachtet mich die Wunde ſehr ſchmerzt,
glaub' ich doch nicht einmal, daß ſie bedeutend
iſt.“ Andres that es, Denner holte eine kleine
Phiole aus der Taſche und als er ſie oͤffnete,
ſtrahlte ein helles Licht heraus, bei dem Andres
die Wunde genau unterſuchen konnte: Denner
hatte Recht; nur ein ſtarker Streifſchuß hatte
den rechten Fuß getroffen, der ſtark blutete. An¬
dres verband die Wunde mit ſeinem Schnupf¬
tuch, Denner ließ ſeine Pfeife ertoͤnen, aus
[127] der Ferne wurde geantwortet und nun bat er den
Andres, ihn ſachte den ſchmalen Waldweg her¬
aufzufuͤhren, denn bald wuͤrden ſie an Ort und
Stelle ſeyn. Wirklich dauerte es auch nicht lange,
ſo ſahen ſie den Schein von Windlichtern durch das
dunkle Gebuͤſch brechen und hatten jenen Raſen¬
platz erreicht, von dem ſie ausgegangen und wo
ſie die uͤbriggebliebenen Raͤuber bereits verſammelt
fanden. Alle jauchzten vor Freude auf, als Den¬
ner unter ſie trat und ruͤhmten den Andres,
der, tief in ſich gekehrt, kein Wort vorzubringen
vermochte. Es fand ſich, daß uͤber die Haͤlfte
der Bande todt, oder hart verwundet auf dem
Platze liegen geblieben war; indeſſen hatten einige
von den Raͤubern, die dazu beſtimmt waren,
den Raub in Sicherheit zu bringen, mitten im
Gefecht wirklich mehrere Kiſten mit koſtbarem
Geraͤth, ſo wie eine anſehnliche Summe Geld,
fortzuſchaffen gewußt, ſo daß, unerachtet das Un¬
ternehmen ſchlimm ausgegangen, doch die Beute
anſehnlich blieb. Als nun das Noͤthige beſprochen,
[128] wandte ſich Denner, den man unterdeſſen
ordentlich verbunden hatte, und der kaum irgend
einen Schmerz mehr zu fuͤhlen ſchien, zu Andres
und ſprach: „Ich habe dein Weib vom Tode er¬
rettet, Du haſt mich in dieſer Nacht der Gefan¬
genſchaft entzogen und mich folglich auch von
dem mir gewiſſen Tode befreit, wir ſind quit!
Du kannſt in Deine Wohnung zuruͤckkehren. In
den naͤchſten Tagen, vielleicht ſchon morgen, verlaſ¬
ſen wir die Gegend; Du magſt daher ganz ruhig
daruͤber ſeyn, daß wir Dir aͤhnliches, ſo wie heu¬
te, zumuthen werden. Du biſt ja ſo ein gottes¬
fuͤrchtiger Narr und uns nicht brauchbar. Es iſt
indeſſen billig, daß Du Theil am heutigen Raube
nehmeſt und uͤberdem fuͤr meine Rettung belohnt
werdeſt. Nimm daher dieſen Beutel mit Gold und
behalte mich in gutem Andenken; denn uͤber's
Jahr hoffe ich bei Dir einzuſprechen. „Gott der
Herr ſoll mich behuͤten,“ erwiederte Andres
heftig, daß ich auch nur einen Pfennig von Eurem
ſchaͤndlichen Raube nehmen ſollte. Habt Ihr mich
doch[129] doch nur durch die abſcheulichſten Drohungen ge¬
zwungen mitzugehen, welches ich ewiglich bereuen
werde. Wol mag es Suͤnde geweſen ſeyn, daß
ich Dich, Du ſchaͤndlicher Boͤſewicht! der gerech¬
ten Strafe entzogen habe; aber Gott im Himmel
mag es mir nach ſeiner Langmuth verzeihen. Es
war, als flehe in dem Augenblick meine Gior¬
gina um Dein Leben, da Du das ihrige erret¬
tet, und ich konnte nicht anders, als daß ich
Dich mit Gefahr meines Lebens und meiner
Ehre, ja das Wohl und Weh meines Weibes
und meines Kindes auf's Spiel ſetzend, der Gefahr
entriß. Denn ſprich, was waͤre aus mir, wenn
man mich verwundet, ja was waͤre aus meinem
armen Weibe, meinem Knaben geworden, wenn
man mich erſchlagen unter Deiner verruchten Moͤr¬
derbande gefunden haͤtte? — Aber ſei uͤberzeugt,
daß, wenn Du die Gegend nicht verlaͤſſeſt, wenn
nur ein einziger hier geſchehener Raub, oder Mord
mir kund wird, ich augenblicklich nach Fulda
gehe und der Obrigkeit Deine Schlupfwinkel ver¬
I[130] rathe.“ — Die Raͤuber wollten uͤber den An¬
dres herfallen, um ihn fuͤr ſeine Reden zu zuͤch¬
tigen; Denner verbot es ihnen jedoch, indem
er ſagte, „laßt doch den albernen Kerl ſchwatzen,
was thut das uns? — Andres,“ fuhr Den¬
ner fort, „Du biſt in meiner Gewalt, ſo wie
Dein Weib und Dein Knabe. Du ſo wol, als
dieſe, ſollen aber ungefaͤhrdet bleiben, wenn Du
mir verſprichſt, Dich ruhig in Deiner Wohnung
zu halten und uͤber Deine Mitwiſſenſchaft von
dem Vorfall dieſer Nacht gaͤnzlich zu ſchweigen.
Das Letzte rathe ich Dir um ſo mehr, als meine
Rache Dich furchtbar treffen und uͤberdem die
Obrigkeit Dir ſelbſt wol Deine Huͤlfe bei der
That, ſo wie, daß Du ſchon lange von meinem
Reichthum genoſſeſt, nicht ſo hingehen laſſen
wuͤrde. Dagegen verſpreche ich Dir noch einmal,
daß ich die Gegend gaͤnzlich raͤumen will und we¬
nigſtens von mir und meiner Bande hier kein
Unternehmen mehr ausgefuͤhrt werden ſoll.“ Nach¬
dem Andres nothgedrungen dieſe Bedingungen
[131] des Raͤuberhauptmanns eingegangen war und fei¬
erlich verſprochen hatte zu ſchweigen, wurde er
von zwei Raͤubern durch wildverwachsne Fußſteige
auf den breiten Waldweg gefuͤhrt und es war
laͤngſt heller Morgen worden, als er in ſein
Haus trat und die vor Sorge und Angſt todten¬
bleiche Giorgina umarmte. Er ſagte ihr nur
im Allgemeinen, daß ſich ihm Denner als der
verruchteſte Boͤſewicht offenbart, und er daher alle
Gemeinſchaft mit ihm abgebrochen habe; nie ſolle
er mehr ſeine Schwelle betreten. „Aber das Ju¬
welenkaͤſtchen?“ unterbrach ihn Giorgina. Da
fiel es dem Andres wie eine ſchwere Laſt auf's
Herz. An die Kleinodien, die Denner bei ihm
zuruͤckgelaſſen, hatte er nicht gedacht, und uner¬
klaͤrlich ſchien es ihm, daß Dennern auch nicht
ein Wort daruͤber entfallen war. Er ging mit
ſich zu Rathe, was er wol mit dieſem Kaͤſtchen
anfangen ſolle. Zwar dachte er daran, es nach
Fulda zu bringen und der Obrigkeit zu uͤbergeben;
wie ſollte er aber den Beſitz deſſelben beſchoͤnigen,
I 2[132] ohne ſich wenigſtens dringender Gefahr auszu¬
ſetzen, das dem Denner einmal gegebene Wort
zu brechen? — Er beſchloß endlich, dieſen Schatz
getreulich zu bewahren, bis der Zufall ihm Gele¬
genheit darbieten wuͤrde, es Dennern wieder
zuzuſtellen, oder beſſer noch, es, ohne ſein Wort
zu brechen, an die Obrigkeit zu bringen. —
Der Ueberfall der Pachterwohnung hatte nicht
geringen Schreck in der ganzen Gegend verur¬
ſacht; denn es war das kuͤhnſte Wageſtuͤck, das die
Raͤuber ſeit Jahren unternommen und ein ſichrer
Beweis, daß die Bande, welche ſich erſt durch
gemeine Diebereien, dann durch das Anhalten
und Berauben einzelner Reiſenden kund that, be¬
deutend verſtaͤrkt haben mußte. Nur dem Zufall,
daß der Neffe des Grafen von Vach, von meh¬
reren Leuten ſeines Oheims begleitet, eben in dem
Dorfe, das unfern der Pachterwohnung lag, uͤber¬
nachtete und auf den erſten Laͤrm den Bauern,
die gegen die Raͤuber auszogen, zu Huͤlfe eilte,
hatte der Pachter die Rettung ſeines Lebens und
[133] des groͤßten Theils ſeiner Baarſchaft zu verdan¬
ken. Drei von den Raͤubern, die auf dem Platz
geblieben waren, lebten noch den andern Tag und
gaben Hoffnung, von ihren Wunden zu geneſen.
Man hatte ſie ſorgfaͤltig verbunden und in das
Dorfgefaͤngniß geſperrt; als man indeſſen am
fruͤhen Morgen des dritten Tages ſie abfuͤhren
wollte, fand man ſie durch viele Stiche ermor¬
det, ohne daß man haͤtte errathen koͤnnen, wie
das zugegangen. Jede Hoffnung der Gerichte,
von den Gefangenen naͤheren Aufſchluß uͤber die
Bande zu erhalten, war daher vereitelt. An¬
dres ſchauderte im Innern, als er das Alles er¬
zaͤhlen hoͤrte, als er vernahm, wie mehrere Bau¬
ern und Jaͤger des Grafen von Vach zum Theil
getoͤdtet, zum Theil ſchwer verwundet worden. —
Starke Patrouillen von Fuldaiſchen Reitern
durchſtreiften den Wald, und ſprachen oͤfters bei
ihm ein; jeden Augenblick mußte Andres be¬
fuͤrchten, daß man Dennern ſelbſt, oder wenig¬
ſtens einen von der Bande einbringen, und dieſer
[134] ihn dann als Genoſſe jener kuͤhnen Frevelthat er¬
kennen und angeben werde. Zum erſtenmal in
ſeinem Leben fuͤhlte er die folternde Quaal des
boͤſen Gewiſſens, und doch hatte ihn nur die
Liebe zu ſeinem Weibe, zu dem Knaben, gezwun¬
gen, dem frevelichen Anſinnen Denners nach¬
zugeben.
Alle Nachforſchungen blieben fruchtlos, es
war unmoͤglich den Raͤubern auf die Spur zu
kommen, und Andres uͤberzeugte ſich bald, daß
Denner Wort gehalten und die Gegend mit
ſeiner Bande verlaſſen hatte. Das Geld, wel¬
ches er noch von Denner's Geſchenken uͤbrig
behalten, ſo wie die goldene Nadel, legte er zu
den Kleinodien in das Kiſtchen; denn er wollte
nicht noch mehr Suͤnde auf ſich laden und von
geraubtem Gelde ſich guͤtlich thun. So kam es
denn, daß Andres bald wieder in die vorige
Duͤrftigkeit und Armuth gerieth; aber immer mehr
erheiterte ſich ſein Inneres, je laͤngere Zeit ver¬
ſtrich, ohne daß irgend etwas ſein ruhiges Leben
[135] verſtoͤrt haͤtte. Nach zwei Jahren gebar ihm
ſein Weib noch einen Knaben, ohne jedoch, wie
das erſtemal, zu erkranken, wiewol ſie ſich herzlich
nach jener beſſern Koſt und Pflege ſehnte, die
ihr damals ſo wohl gethan. Andres ſaß einſt
in der Abenddaͤmmerung traulich mit ſeinem Wei¬
be zuſammen, die den juͤngſtgebornen Knaben an
der Bruſt hatte, waͤhrend der Aeltere ſich mit
dem großen Hunde herumbalgte, der, als Liebling
ſeines Herrn, wol in der Stube ſeyn durfte. Da
kam der Knecht hinein, und ſagte, wie ein
Menſch, der ihm ganz verdaͤchtig vorkomme, ſchon
ſeit beinahe einer Stunde um das Haus herum¬
ſchleiche. Andres war im Begriff mit ſeiner
Buͤchſe hinauszugehen, als er vor dem Hauſe
ſeinen Namen rufen hoͤrte. Er oͤffnete das Fen¬
ſter und erkannte auf den erſten Blick den ver¬
haßten Ignaz Denner, der ſich wieder in den
grauen Kaufmannshabit geworfen hatte, und ein
Felleiſen unter dem Arme trug. „Andres,“ rief
Denner, „Du mußt mir dieſe Nacht Herberge
[136] geben in Deinem Hauſe, morgen ziehe ich weiter.“
„Was? Du unverſchaͤmter verruchter Boͤſewicht?“
rief Andres in vollem Zorn, „Du wagſt es
Dich wieder hier ſehen zu laſſen? Habe ich Dir
nicht treulich Wort gehalten, nur damit Du Dein
Verſprechen erfuͤllen und auf immer dieſe Gegend
verlaſſen ſollteſt? Du darfſt nicht mehr meine
Schwelle betreten entferne Dich ſchnell, oder
ich ſchieße Dich moͤrderiſchen Buben nieder! —
Doch warte, ich will Dir Dein Gold, Dein Ge¬
ſchmeide, womit Du Satan mein Weib verblen¬
den wollteſt, hinabwerfen; dann magſt Du ſchnell
forteilen. Ich laſſe Dir drei Tage Zeit, ſpuͤre
ich aber dann nur auf irgend eine Weiſe Deine
und Deiner Bande Gegenwart, ſo eile ich ſchnell
nach Fulda und entdecke Alles, was ich weiß, der
Obrigkeit. Magſt Du nun Deine Drohungen
gegen mich und mein Weib erfuͤllen wollen, ich
verlaſſe mich auf den Beiſtand Gottes, und werde
Dich Boͤſewicht mit meinem guten Gewehr zu
treffen wiſſen.“ Nun holte Andres ſchnell das
[137] Kaͤſtchen herbei, um es hinabzuwerfen; als er
aber an's Fenſter trat, war Denner verſchwun¬
den, und unerachtet die Doggen die ganze Ge¬
gend rings ums Haus durchſpuͤren mußten, war
es doch nicht moͤglich ihn aufzufinden. Andres
ſah nun wohl ein, wie er, Denner's Bosheit
ausgeſetzt, nun in großer Gefahr ſchwebe; er war
daher allnaͤchtlich auf ſeiner Hut, indeſſen blieb
alles ruhig und Andres uͤberzeugte ſich, daß
Denner nur allein den Wald durchſtrichen hatte.
Um indeſſen ſeinen aͤngſtlichen Zuſtand zu enden,
ja um ſein Gewiſſen zu beruhigen, das ihn mit
Vorwuͤrfen quaͤlte, beſchloß er nun nicht laͤnger
zu ſchweigen, ſondern dem Rath in Fulda ſein
ganzes unverſchuldetes Verhaͤltniß mit Denner
zu berichten und zugleich das Kiſtchen mit den
Kleinodien abzuliefern. Andres wußte wohl,
daß er ohne Strafe nicht abkommen wuͤrde,
jedoch verließ er ſich auf ſein reuiges Bekenntniß
eines Fehltritts, zu dem ihn der verruchte Ignaz
Denner, wie der Satan ſelbſt, verlockt und ge¬
[138] zwungen, ſo wie auf die Fuͤrſprache ſeines Herrn,
des Grafen von Vach, der dem treuen Diener
ein guͤnſtiges Zeugniß nicht verſagen konnte. Er
hatte mit ſeinem Knechte mehrmals den Wald
durchſtreift und nie war ihm etwas verdaͤchtiges
aufgeſtoßen; fuͤr ſein Weib war daher jetzt keine
Gefahr vorhanden und er wollte nun ungeſaͤumt
nach Fulda gehen, um ſeinen Vorſatz auszufuͤhren.
An dem Morgen, als er ſich zur Reiſe bereit
gemacht, kam ein Bote von dem Grafen von
Vach, der ihn augenblicklich auf das Schloß
ſeines Herrn mitgehen hieß. Statt nach Fulda
wanderte er alſo fort mit dem Boten nach dem
Schloß, nicht ohne Bangigkeit, was wol dieſer
ganz ungewoͤhnliche Ruf ſeines Herrn zu bedeu¬
ten haben werde. Als er in dem Schloß ange¬
kommen, mußte er gleich in das Zimmer des
Grafen treten. „Freue Dich, Andres rief die¬
ſer ihm entgegen, Dich hat ein ganz unerwarte¬
tes Gluͤck getroffen. Erinnerſt Du Dich wol
noch unſers alten muͤrriſchen Hauswirths in Nea¬
[139] pel, des Pflegevaters Deiner Giorgina? Der
iſt geſtorben; aber auf dem Sterbebette hatte ihn
noch das Gewiſſen geruͤhrt wegen der abſcheuli¬
chen Behandlung des armen verwaiſ'ten Kindes,
und deshalb hat er ihr zweitauſend Dukaten ver¬
macht, die bereits in Wechſelbriefen in Frankfurt
angekommen ſind und die Du bei meinem Bankier
heben kannſt. Willſt Du Dich gleich nach Frank¬
furt aufmachen, ſo laſſe ich Dir auf der Stelle
das noͤthige Certifikat ausfertigen, damit Dir das
Geld ohne Anſtand ausgezahlt werde.“ Den
Andres machte die Freude ſprachlos, und der
Graf von Vach ergoͤtzte ſich nicht wenig an dem
Entzuͤcken ſeines treuen Dieners. Andres be¬
ſchloß, als er ſich gefaßt hatte, ſeinem Weibe
eine unvermuthete Freude zu bereiten; er nahm
daher ſeines Herrn gnaͤdiges Anerbieten an, und
machte ſich, nachdem er die Urkunde zu ſeiner
Legitimation erhalten, auf den Weg nach Frankfurt.
Seinem Weibe ließ er ſagen, wie ihn der
Graf mit wichtigen Auftraͤgen verſchickt habe,
[140] und er daher einige Tage ausbleiben werde. —
Als er in Frankfurt angekommen, wies ihn der
Bankier des Grafen, bei dem er ſich meldete, an
einen andern Kaufmann, der mit der Auszahlung
des Legats beauftragt ſeyn ſollte. Andres fand
ihn endlich und erhielt die anſehnliche Summe
wirklich ausgezahlt. Immer nur an Giorgina
denkend, immer darnach trachtend, ihre Freude
recht vollkommen zu machen, kaufte er fuͤr ſie
allerlei ſchoͤne Sachen und auch eine goldene Na¬
del, der ganz gleich, welche ihr Denner
geſchenkt hatte, und da er nun das ſchwere Fell¬
eiſen nicht wohl als Fußgaͤnger fortbringen konnte,
verſchaffte er ſich ein Pferd. So trat er nun,
nachdem er ſechs Tage abweſend geweſen, wohlge¬
muth ſeine Ruͤckreiſe an. Bald hatte er den
Forſt und ſeine Wohnung erreicht. Er fand das
Haus feſt verſchloſſen. Laut rief er den Knecht,
ſeine Giorgina, niemand antwortete: die Hunde
winſelten im Hauſe eingeſperrt. Da ahnete er
großes Ungluͤck und ſchlug heftig an die Thuͤr
[141] und ſchrie laut: Giorgina! — Giorgina! —
Nun rauſchte es am Bodenfenſter, Giorgina
ſchaute heraus und rief: „Ach Gott! — Ach Gott!
Andres, biſt Du es? — Geprieſen ſei die
Macht des Himmels, daß Du nur wieder da
biſt.“ Als Andres nun durch die geoͤffnete
Thuͤr eintrat, fiel ihm ſein Weib todtenbleich und
laut heulend in die Arme. Regungslos ſtand er
da; endlich faßte er ſein Weib, die mit erſchlaff¬
ten Gliedern zu Boden ſinken wollte, und trug
ſie in die Stube. Aber wie mit eiſigen Krallen
packte ihn das Entſetzen bei dem graͤßlichen An¬
blick. Die ganze Stube voller Blutflecke an dem
Boden, an den Waͤnden, ſein juͤngſter Knabe
mit zerſchnittener Bruſt, todt auf ſeinem Bett¬
chen! — „Wo iſt George, wo iſt George?“
ſchrie Andres endlich auf in wilder Verzweif¬
lung, aber in dem Augenblick hoͤrte er, wie der
Knabe die Treppe herabtrippelte und nach dem
Vater rief. — Zerbrochene Glaͤſer, Flaſchen,
Teller lagen umher. Der große ſchwere Tiſch,
[142] ſonſt an der Wand ſtehend, war in die Mitte
des Zimmers geruͤckt, eine ſonderbar geformte
Kohlpfanne, mehrere Phiolen und eine Schuͤſſel
mit geronnenem Blut ſtanden auf demſelben.
Andres nahm ſein armes Knaͤblein aus dem
Bette. Giorgina verſtand ihn, ſie holte Tuͤ¬
cher herbei, in die ſie den Leichnam wickelten und
im Garten begruben. Andres ſchnitt ein klei¬
nes Kreuz aus Eichenholz und ſetzte es auf den
Grabhuͤgel. Kein Wort, kein Laut entfloh den
Lippen der ungluͤcklichen Eltern. In dumpfem
duͤſterem Schweigen hatten ſie die Arbeit vollen¬
det und ſaßen nun vor dem Hauſe in der Abend¬
daͤmmerung, den ſtarren Blick in die Ferne ge¬
richtet. Erſt den andern Tag konnte Giorgina
den Verlauf deſſen, was ſich in Andres Ab¬
weſenheit zugetragen, erzaͤhlen. Am vierten Tage,
nachdem Andres ſein Haus verlaſſen, hatte der
Knecht zur Mittagszeit wieder allerlei verdaͤchtige
Geſtalten durch den Wald wanken geſehen, und
Giorgina deshalb des Mannes Ruͤckkehr herz¬
[143] lich gewuͤnſcht. Mitten in der Nacht wurde ſie
durch lautes Toben und Schreien dicht vor dem
Hauſe aus dem Schlafe geweckt, der Knecht
ſtuͤrzte herein und verkuͤndete voller Schreck, daß
das ganze Haus von Raͤubern umringt und an
eine Gegenwehr gar nicht zu denken ſei. Die
Doggen wuͤtheten, aber bald ſchien es, als wuͤr¬
den ſie beſchwichtigt und man rief laut: Andres!
— Andres! — Der Knecht faßte ſich ein
Herz, oͤffnete ein Fenſter und rief herab, daß
der Revierjaͤger Andres nicht zu Hauſe ſei.
„Nun, es thut nichts,“ antwortete eine Stimme
von unten herauf, „oͤffne nur die Thuͤr, denn wir
muͤſſen bei Euch einkehren, Andres wird bald
nachfolgen.“ Was blieb dem Knecht uͤbrig, als
die Thuͤr zu oͤffnen; da ſtroͤmte der helle Haufe
der Raͤuber herein und begruͤßte Giorgina
als die Frau ihres Cameraden, dem der Haupt¬
mann Freiheit und Leben zu danken habe. Sie
verlangten, daß Giorgina ihnen ein tuͤchtiges
Eſſen bereiten moͤge, weil ſie Nachts ein ſchwe¬
[144] res Stuͤck Arbeit vollbracht, das aber herrlich,
gelungen ſei. Zitternd und bebend machte Gior¬
gina in der Kuͤche ein großes Feuer an und
bereitete das Mahl, wozu ſie Wildpret, Wein
und allerlei andere Ingredienzien von einem der
Raͤuber empfing, der der Kuͤchen- und Keller¬
meiſter der Bande zu ſeyn ſchien. Der Knecht
mußte den Tiſch decken und das Geſchirr herbei¬
bringen. Er nahm den Augenblick wahr und
ſchlich ſich fort zu ſeiner Frau in die Kuͤche.
„Ach wißt ihr wol,“ fing er voller Entſetzen an,
„was fuͤr eine That die Raͤuber in dieſer Nacht
veruͤbt haben? Nach langer Abweſenheit und
nach langer Vorbereitung haben ſie vor etlichen
Stunden das Schloß des Herrn Grafen von
Vach uͤberfallen, und nach tapferer Gegenwehr
mehrere ſeiner Leute und ihn ſelbſt getoͤdtet, das
Schloß aber angezuͤndet.“ Giorgina ſchrie un¬
aufhoͤrlich: „ach mein Mann, wenn mein Mann
nur auf dem Schloſſe geweſen waͤre — Ach, der
arme Herr!“ — Die Raͤuber tobten und ſangen
unter¬[145] unterdeſſen in der Stube und ließen ſich den
Wein wohl ſchmecken, bis ihnen das Mahl auf¬
getragen wurde. Der Morgen fing ſchon an zu
daͤmmern als der verhaßte Denner erſchien;
nun wurden die Kiſten und Felleiſen, die ſie auf
ihren Packpferden mitgebracht hatten, geoͤffnet.
Giorgina hoͤrte, wie ſie vieles Geld zaͤhlten
und wie die Silbergeſchirre klirrten; es ſchien alles
verzeichnet zu werden. Endlich als es ſchon lich¬
ter Tag geworden, brachen die Raͤuber auf, nur
Denner blieb zuruͤck. Er nahm eine freundliche
leutſelige Miene an, und ſprach zu Giorgina:
„Ihr ſeid wohl recht erſchreckt worden, liebe Frau;
denn Euer Mann ſcheint Euch nicht geſagt zu
haben, daß er ſchon ſeit geraumer Zeit unſer
Camerad geworden. Es thut mir in der That leid,
daß er nicht zu Hauſe gekommen iſt; er muß
einen andern Weg eingeſchlagen und uns verfehlt
haben. Er war mit uns auf dem Schloſſe des
Boͤſewichts, des Grafen von Vach, der uns
vor zwei Jahren auf alle nur moͤgliche Weiſe
K[146] verfolgt hat und an dem in voriger Nacht wir
Rache nahmen — Er fiel, kaͤmpfend, von Eures
Mannes Hand. Beruhigt Euch nur, liebe Frau,
und ſagt dem Andres, daß er mich nun ſo bald
nicht wieder ſehen wuͤrde, da die Bande ſich auf
einige Zeit trennt. Heute Abend verlaſſe ich
Euch. — Ihr habt lauter huͤbſche Kinder, liebe
Frau! Das iſt ja wieder ein herrlicher Knabe.“
Mit dieſen Worten nahm er den Kleinen von
Giorgina's Arm und wußte mit ihm ſo freund¬
lich zu ſpielen, daß das Kind lachte und jauchzte
und gern bei ihm blieb, bis er es wieder der
Mutter zuruͤckgab. Schon war es Abend gewor¬
den, als Denner zu Giorgina ſagte: „Ihr
merkt wohl, daß ich, unerachtet ich kein Weib
und keine Kinder habe, welches mir manchmal
recht nahe geht, doch gar zu gern mit kleinen
Kindern ſpiele und taͤndle. Gebt mir doch Euern
Kleinen auf die wenigen Augenblicke, die ich noch
bei Euch zubringe. Nicht wahr? der Kleine iſt
jetzt gerade neun Wochen alt.“ Giorgina be¬
[147] jahte das und gab, jedoch nicht ohne inneres
Widerſtreben, den kleinen Knaben Dennern
hin, der ſich mit ihm vor die Hausthuͤr ſetzte
und Giorgina bat, ihm nun das Abendeſſen zu
bereiten, weil er in einer Stunde fortmuͤßte.
Kaum war Giorgina in die Kuͤche getreten,
als ſie ſah, wie Denner mit dem Kinde auf
dem Arm in die Stube ging. Bald darauf ver¬
breitete ſich ein ſeltſam riechender Dampf durch
das Haus, der aus der Stube zu quillen ſchien.
Giorgina wurde von unbeſchreiblicher Angſt er¬
griffen; ſie lief ſchnell nach der Stube und fand
die Thuͤr von innen verriegelt. Es war ihr, als
hoͤre ſie das Kind leiſe wimmern. „Rette, rette
mein Kind aus den Klauen des Boͤſewichts!“ ſo
ſchrie ſie, eine graͤßliche That ahnend, dem Knecht
entgegen, der eben in das Haus trat. Dieſer
ergriff ſchnell die Axt und ſprengte die Thuͤr.
Dicker ſtinkender Dampf ſchlug ihnen entgegen.
Mit einem Sprunge war Giorgina im Zim¬
mer; der Knabe lag nackt uͤber einer Schuͤſſel, in
K 2[148] die ſein Blut troͤpfelte. Sie ſah nur noch, wie
der Knecht mit der Axt ausholte, um den Den¬
ner zu treffen, wie dieſer dem Schlage auswich,
den Knecht unterlief und mit ihm rang. Es
war ihr, als hoͤre ſie jetzt mehrere Stimmen
dicht vor den Fenſtern, bewußtlos ſank ſie zu
Boden. Als ſie wieder erwachte, war es finſtre
Nacht worden, aber ganz betaͤubt vermochte ſie
nicht die erſtarrten Glieder zu regen. Endlich
wurde es Tag und nun ſah ſie mit Entſetzen,
wie das Blut im Zimmer ſchwamm. Stuͤcke
von Denner's Kleidern lagen uͤberall umher —
ein ausgeriſſener Schopf von des Knechts Haa¬
ren — die Axt blutig daneben — der Knabe
vom Tiſche herabgeſchleudert mit zerſchnittener
Bruſt. Auf's neue wurde Giorgina ohnmaͤchtig,
ſie glaubte zu ſterben, aber ſie erwachte wie aus
dem Todesſchlummer, als es ſchon Mittag gewor¬
den. Sie raffte ſich muͤhſam auf, ſie rief laut
den Georg, aber als niemand antwortete, glaubte
ſie, auch Georg ſei ermordet. Die Verzweif¬
[149] lung gab ihr Kraͤfte, ſie floh aus dem Zimmer in
den Hof und ſchrie laut: „Georg! — Georg!“
Da antwortete es mit matter klaͤglicher Stimme
vom Bodenfenſter herab: „Mutter, ach liebe Mut¬
ter, biſt Du denn da? Komm herauf zu mir!
mich hungert ſehr!“ — Schnell ſprang jetzt
Giorgina hinauf und fand den Kleinen, der vor
Angſt bei dem Laͤrm im Hauſe in die Bodenkam¬
mer gekrochen war und nicht gewagt hatte her¬
auszukommen. Mit Entzuͤcken druͤckte Giorgi¬
na den Kleinen an die Bruſt. Sie verſchloß
das Haus und wartete nun von Stunde zu
Stunde in der Bodenkammer auf Andres, den
ſie auch verloren glaubte. Der Knabe hatte von
oben herab geſehen, wie mehrere Maͤnner ins
Haus gingen und mit Denner'n einen todten
Menſchen heraustrugen. — Endlich bemerkte auch
Giorgina das Geld und die ſchoͤnen Sachen,
die Andres mitgebracht hatte. „Ach, ſo iſt es
doch wahr?“ ſchrie ſie entſetzt auf, „ſo biſt Du
doch“ — Andres ließ ſie nicht ausreden, ſon¬
[150] dern erzaͤhlte ausfuͤhrlich, welches Gluͤck ſie be¬
troffen und wie er in Frankfurt geweſen ſei, wo
er ſich ihre Erbſchaft habe auszahlen laſſen. Der
Neffe des ermordeten Grafen von Vach war
nun Beſitzer der Guͤter worden; bei dieſem wollte
ſich Andres melden, getreulich alles Geſchehene
erzaͤhlen, Denner's Schlupfwinkel entdecken
und bitten, ihn ſeines Dienſtes zu entlaſſen, der
ihm ſo viel Noth und Gefahr bringe. Gior¬
gina durfte mit dem Knaben im Hauſe nicht
zuruͤckbleiben. Andres beſchloß daher, ſeine beſten
leicht fortzuſchaffenden Sachen auf einen kleinen
Leiterwagen zu packen, das Pferd vorzuſpannen
und ſo mit ſeinem Weibe und Kinde eine Gegend
auf immer zu verlaſſen, die ihm nur die ſchreck¬
lichſten Erinnerungen erregen und uͤberdem nie¬
mals Ruhe und Sicherheit gewaͤhren konnte.
Der dritte Tag war zur Abreiſe beſtimmt, und
eben packten ſie einen Kaſten, als ein ſtarkes
Pferdegetrappel immer naͤher und naͤher kam.
Andres erkannte den Vachſchen Foͤrſter, der
[151] bei dem Schloſſe wohnte; hinter ihm ritt ein
Commando Fuldaiſcher Dragoner. „Nun da fin¬
den wir ja den Boͤſewicht gerade bei der Arbeit,
ſeinen Raub in Sicherheit zu bringen,“ rief der
Commiſſarius des Gerichts, der mitgekommen.
Andres erſtarrte vor Staunen und Schreck.
Giorgina war halb ohnmaͤchtig. Sie fielen
uͤber ihn her, banden ihn und ſein Weib mit
Stricken und warfen ſie auf den Leiterwagen,
der ſchon vor dem Hauſe ſtand. Giorgina
jammerte laut um den Knaben und flehte um Got¬
tes willen, daß man ihn ihr mitgeben moͤge. „Da¬
mit Du Deine Brut auch noch ins hoͤlliſche Ver¬
derben bringen kannſt?“ ſprach der Commiſſarius
und riß den Knaben mit Gewalt aus Giorgina's
Armen. Schon ſollte es fortgehen, da trat der
alte Foͤrſter, ein rauher aber biederer Mann, noch
einmal an den Wagen und ſagte: „Andres,
Andres, wie haſt Du Dich denn von dem Sa¬
tan verlocken laſſen, ſolche Frevelthaten zu begehen?
Immer warſt Du ja ſonſt ſo fromm und ehrlich!“
[152] „Ach lieber Herr!“ ſchrie Andres auf im hoͤch¬
ſten Jammer, „ſo wahr Gott im Himmel lebt,
ſo wie ich dereinſt ſelig zu ſterben hoffe, ich bin
unſchuldig. Ihr habt mich ja gekannt von fruͤher
Jugend her; wie ſollte ich, der ich niemals Un¬
rechtes gethan, ſolch ein abſcheulicher Boͤſewicht
geworden ſeyn? — denn ich weiß wohl, daß Ihr
mich fuͤr einen verruchten Raͤuber und Theilneh¬
mer an der Frevelthat haltet, die auf dem Schloſſe
meines geliebten ungluͤcklichen Herrn veruͤbt wor¬
den iſt. Aber ich bin unſchuldig bei meinem Le¬
ben und meiner Seligkeit!“ „Nun“ ſagte der alte
Foͤrſter, „wenn Du unſchuldig biſt, ſo wird das
an den Tag kommen, mag auch noch ſo viel wi¬
der Dich ſprechen. Deines Knaben und des Be¬
ſitzthums, was Du zuruͤcklaͤſſeſt, will ich mich ge¬
treulich annehmen, ſo daß, wenn Deine und
Deines Weibes Unſchuld erwieſen, Du den Jun¬
gen friſch und munter und Deine Sachen unver¬
ſehrt wiederfinden ſollſt.“ Das Geld nahm der
Commiſſarius des Gerichts in Beſchlag. Unter¬
[153] weges frug Andres Giorginen, wo ſie denn
das Kaͤſtchen verwahrt habe; ſie geſtand, wie es
ihr jetzt leid thue, daß ſie es dem Denner
uͤberliefert, da es jetzt der Obrigkeit haͤtte uͤber¬
geben werden koͤnnen. In Fulda trennte man
den Andres von ſeinem Weibe und warf ihn
in ein tiefes finſtres Gefaͤngniß. Nach einigen
Tagen wurde er zum Verhoͤr gefuͤhrt. Man be¬
ſchuldigte ihn der Theilnahme an dem im Vach¬
ſchen Schloſſe veruͤbten Raubmorde und ermahnte
ihn die Wahrheit zu geſtehen, da ſchon alles wi¬
der ihn ſo gut als ausgemittelt ſei. Andres
erzaͤhlte nun getreulich Alles, was ſich mit ihm
zugetragen, von dem erſten Eintritt des abſcheu¬
lichen Denners in ſein Haus bis zu dem Au¬
genblick ſeiner Verhaftung. Er klagte ſich ſelbſt
voll Reue des einzigen Vergehens an, daß er, um
Weib und Kind zu retten, bei der Pluͤnderung
des Pachters zugegen war, und den Denner
von der Gefangennehmung befreite, und betheu¬
erte ſeine gaͤnzliche Unſchuld Ruͤckſichts des letzten
[154] von der Dennerſchen Bande veruͤbten Raub¬
mordes, da er zu eben derſelben Zeit in Frankfurt
geweſen ſei. Jetzt oͤffneten ſich die Thuͤren des
Gerichtsſaals und der abſcheuliche Denner wur¬
de hereingefuͤhrt. Als er den Andres erblickte,
lachte er auf in teufliſchem Hohn und ſprach:
„Nun, Kamerad, haſt Du Dich auch erwiſchen laſ¬
ſen? Hat Dir Deines Weibes Gebet denn nicht
herausgehlofen?“ Die Richter forderten Den¬
ner'n auf, ſein Bekenntniß Ruͤckſichts des An¬
dres zu wiederholen und er ſagte aus, daß eben
der Vachſche Revierjaͤger Andres, der jetzt vor
ihm ſtehe, ſchon ſeit fuͤnf Jahren mit ihm ver¬
bunden und das Jaͤgerhaus ſein beſter und ſicher¬
ſter Schlupfwinkel geweſen ſei. Andres habe
immer den ihm gebuͤhrenden Antheil vom Raube
erhalten, wiewol er nur zweimal thaͤtig bei den
Raͤubereien mitgewirkt. Einmahl nehmlich bei
der Beraubung des Pachters, wo er ihn, den
Denner, aus der dringendſten Gefahr errettet,
und dann bei dem Unternehmen gegen den Gra¬
[155] fen Aloys von Vach, der eben durch einen
gluͤcklichen Schuß des Andres getoͤdtet worden
ſei. Andres gerieth in Wuth, als er dieſe
ſchaͤndliche Luͤge hoͤrte. „Was?“ ſchrie er, „Du
verruchter teufliſcher Boͤſewicht, Du wagſt es,
mich der Ermordung meines lieben armen Herrn
anzuklagen, die Du ſelbſt veruͤbt? — Ja! ich
weiß es, nur Du ſelbſt biſt ſolcher That faͤhig;
aber Deine Rache verfolgt mich, weil ich aller
Gemeinſchaft mit Dir entſagt habe, weil ich
drohte, Dich als einen verruchten Raͤuber und
Moͤrder niederzuſchießen, ſo wie Du meine
Schwelle betreten wuͤrdeſt. Darum haſt Du mit
Deiner Bande mein Haus uͤberfallen, als ich
abweſend war; darum haſt Du mein armes un¬
ſchuldiges Kind und meinen braven Knecht er¬
mordet! — Aber Du wirſt der ſchrecklichen
Strafe des gerechten Gottes nicht entgehen, ſollte
ich auch Deiner Bosheit unterliegen.“ Nun wie¬
derholte Andres ſein voriges Bekenntniß unter
den heiligſten Betheurungen der Wahrheit; aber
[156]Denner lachte hoͤhniſch und meinte, warum er
denn aus allzugroßer Furcht vor dem Tode noch
erſt das Gericht zu beluͤgen ſich unterfange, und
daß es ſich ſchlecht mit der Froͤmmigkeit, von der
er ſo viel Aufhebens mache, vereinbare, daß er
Gott und die Heiligen zur Bekraͤftigung ſeiner
falſchen Ausſagen anrufe. — Die Richter wu߬
ten in der That nicht, was ſie von dem Andres,
deſſen Miene und Sprache die Wahrheit ſeiner
Ausſage zu beſtaͤtigen ſchien, ſo wie von Den¬
ner's kalter Feſtigkeit denken ſollten. — Nun
wurde Giorgina vorgefuͤhrt, die in namenlo¬
ſem Jammer laut weinend auf den Mann zu¬
ſtuͤrzte. Sie wußte nur Unzuſammenhaͤngendes
zu erzaͤhlen, und unerachtet ſie den Denner des
entſetzlichen Mordes ihres Knaben anklagte, ſchien
Denner doch keinesweges entruͤſtet, ſondern be¬
hauptete, wie er ſchon fruͤher gethan, daß
Giorgina nie etwas von den Unternehmungen
ihres Mannes gewußt habe, ſondern ganz un¬
ſchuldig ſei. Andres wurde in ſein Gefaͤngniß
[157] zuruͤckgefuͤhrt. Einige Tage nachher ſagte ihm
der ziemlich gutmuͤthige Gefangenwaͤrter, daß ſein
Weib, da ſowol Denner, als die uͤbrigen Raͤu¬
ber fortwaͤhrend ihre Unſchuld behauptet, ſonſt auch
nichts wider ſie ausgemittelt worden, der Haft
entlaſſen ſei. Der junge Graf von Vach, ein
edelmuͤthiger Herr, der ſogar an ſeiner, des An¬
dres, Schuld zu zweifeln ſcheine, habe Caution
geſtellt, und der alte Foͤrſter Giorginen in
einem ſchoͤnen Wagen abgeholt. Vergebens habe
Giorgina gebeten, ihren Mann ſehen zu duͤr¬
fen; das ſei ihr vom Gericht gaͤnzlich abgeſchla¬
gen worden. Den armen Andres troͤſtete dieſe
Nachricht nicht wenig, da mehr, als ſein Ungluͤck
ihm ſeines Weibes elender Zuſtand im Gefaͤngniß
zu Herzen ging. Sein Prozeß verſchlimmerte
ſich indeſſen von Tage zu Tage. Es war erwie¬
ſen, daß eben, wie Denner es angegeben, ſeit
fuͤnf Jahren Andres in einen gewiſſen Wohl¬
ſtand gerieth, deſſen Quelle nur die Theilnahme
an den Raͤubereien ſeyn konnte. Ferner geſtand
[158]Andres ſelbſt ſeine Abweſenheit von Hauſe
waͤhrend der auf dem Vachſchen Schloſſe ver¬
uͤbten That, und ſeine Angabe wegen ſeiner Erb¬
ſchaft und ſeines Aufenthalts in Frankfurt blieb
verdaͤchtig, weil er den Namen des Kaufmanns,
von dem er das Geld ausgezahlt erhalten haben
wollte, durchaus nicht anzugeben wußte. Der
Bankier des Grafen von Vach, ſo wie der
Hauswirth in Frankfurt, bei dem Andres ein¬
gekehrt war, verſicherten einſtimmig, wie ſie ſich
des beſchriebenen Revierjaͤgers gar nicht erinnern
koͤnnten; der Gerichtshalter des Grafen von
Vach, der das Certifikat fuͤr den Andres aus¬
gefertigt hatte, war geſtorben, und niemand von
den Vachſchen Dienern wußte etwas von der
Erbſchaft, da der Graf nichts davon geaͤußert,
Andres aber auch davon geſchwiegen, weil er,
aus Frankfurt zuruͤckkehrend, ſein Weib mit dem
Gelde uͤberraſchen wollte. So blieb alles, was
Andres vorbrachte, um nachzuweiſen, daß er zur
Zeit des Raubes in Frankfurt geweſen und das
[159] Geld ehrlich erworben ſei, unausgemittelt. Den¬
ner blieb dagegen bei ſeiner fruͤhern Behauptung
und ihm ſtimmten ſaͤmmtliche Raͤuber, die eingefan¬
gen worden, in allem bei. Alles dieſes haͤtte aber
die Richter noch nicht ſo von der Schuld des
ungluͤcklichen Andres uͤberzeugt, als die Aus¬
ſage von zwei Vachſchen Jaͤgern, die bei dem
Schein der Flammen ganz genau den Andres
erkannt und geſehen haben wollten, wie von ihm
der Graf niedergeſtreckt wurde. Nun war An¬
dres in den Augen des Gerichts ein verſtockter
heuchleriſcher Boͤſewicht und geſtuͤtzt auf das Re¬
ſultat aller jener Ausſagen und Beweiſe wurde
ihm die Tortur zuerkannt, um ſeinen ſtarren
Sinn zu beugen, und ihn zum Geſtaͤndniß zu
bringen. Schon uͤber ein Jahr ſchmachtete An¬
dres im Kerker, der Gram hatte ſeine Kraͤfte
aufgezehrt, und ſein ſonſt robuſter ſtarker Koͤrper
war ſchwach und ohnmaͤchtig geworden. Der ſchreck¬
liche Tag, an dem die Pein ihm das Geſtaͤndniß
einer That, welche er niemals begangen, abdrin¬
[160] gen ſollte, kam heran. Man fuͤhrte ihn in die
Folterkammer, wo die entſetzlichen mit ſinnreicher
Grauſamkeit erfundenen Inſtrumente lagen, und
die Henkersknechte ſich bereiteten, den Ungluͤcklichen
zu martern. Nochmals wurde Andres ermahnt,
die That, deren er ſo dringend verdaͤchtig, ja deren
er durch das Zeugniß jener Jaͤger uͤberfuͤhrt wor¬
den, zu geſtehen. Er betheuerte wiederum ſeine
Unſchuld, und wiederholte alle Umſtaͤnde ſeiner
Bekanntſchaft mit Dennern in denſelben Wor¬
ten, wie er es im erſten Verhoͤr gethan. Da er¬
griffen ihn die Knechte, banden ihn mit Stricken
und marterten ihn, indem ſie ſeine Glieder aus¬
renkten und Stacheln einbohrten in das gedehnte
Fleiſch. Andres vermochte nicht die Quaal zu
ertragen: vom Schmerz gewaltſam zerriſſen, den
Tod wuͤnſchend, geſtand er alles was man wollte,
und wurde ohnmaͤchtig in den Kerker zuruͤckge¬
ſchleppt. Man ſtaͤrkte ihn, wie es nach erlitte¬
ner Tortur gewoͤhnlich, mit Wein und er fiel in
einen zwiſchen Wachen und Schlafen hinbruͤtenden
Zuſtand.[161] Zuſtand. Da war es ihm als loͤsten ſich die
Steine aus der Mauer, und als fielen ſie kra¬
chend herab auf den Boden des Kerkers. Ein
blutrother Schimmer drang durch und in ihm
trat eine Geſtalt hinein, die, unerachtet ſie Den¬
ner's Zuͤge hatte, ihm doch nicht Denner zu
ſeyn ſchien. Gluͤhender funkelten die Augen,
ſchwaͤrzer ſtarrte das ſtruppige Haar auf der
Stirn empor und tiefer ſenkten ſich die finſtern
Augenbrauen in die dicke Muskel herab, die uͤber
der krummgebogenen Habichtsnaſe lag. Auf graͤ߬
lich ſeltſame Weiſe war das Geſicht verſchrumpft
und verzerrt, und die Kleidung fremd und aben¬
theuerlich, wie er Dennern niemals geſehen.
Ein feuerrother mit Gold ſtark verbraͤmter weiter
Mantel hing in bauſchichten Falten der Geſtalt
uͤber die Schultern, ein breiter niedergekrempter
ſpaniſcher Hut mit herabhaͤngender rother Feder
ſaß ſchief auf dem Kopfe, ein langer Stoßdegen
hing an der Seite, und unter dem linken Arm
trug die Geſtalt ein kleines Kiſtchen. So ſchritt
L[162] der geſpenſtiſche Unhold auf Andres zu in hoh¬
lem dumpfen Tone ſprechend: „Nun, Camerad,
wie hat Dir die Folter geſchmeckt? Du haſt das
Alles blos Deinem Eigenſinn zu verdanken; haͤtteſt
Du Dich als zur Bande gehoͤrig bekannt, ſo
waͤrſt Du nun ſchon gerettet. Verſprichſt Du
aber, Dich mir und meiner Leitung ganz zu er¬
geben, und gewinnſt Du es uͤber Dich, von die¬
ſen Tropfen zu trinken, die aus Deines Kindes
Herzblut gekocht ſind, ſo biſt Du augenblicklich
aller Quaal entledigt. Du fuͤhlſt Dich geſund und
kraͤftig, und fuͤr Deine weitere Rettung will ich
dann ſorgen.“ — Andres konnte vor Schreck,
Angſt und Ermattung nicht ſprechen; er ſah, wie
ſeines Kindes Blut in der Phiole, die ihm die
Geſtalt hinhielt, in rothen Flaͤmmchen ſpielte; in¬
bruͤnſtig betete er zu Gott und den Heiligen, daß
ſie ihn retten moͤchten aus den Klauen des Sa¬
tans, der ihn verfolge und um die ewige Selig¬
keit bringen wolle, die er zu erlangen hoffe, ſollte
er auch eines ſchimpflichen Todes ſterben. Nun
[163] lachte die Geſtalt, daß es im Kerker widergellte,
und verſchwand im dicken Dampf. Andres er¬
wachte endlich aus dumpfer Betaͤubung, er ver¬
mochte ſich aufzurichten vom Lager; aber wie ward
ihm, als er ſah, daß das Stroh, was unter
ſeinem Haupte gelegen, ſich ſtaͤrker und ſtaͤrker
zu ruͤhren begann und endlich weggeſchoben wurde.
Er gewahrte, daß ein Stein aus dem Fußboden von
unten herausgedraͤngt worden und hoͤrte mehrmals
ſeinen Namen leiſe rufen. Er erkannte Denner's
Stimme und ſprach: „Was willſt Du von mir?“
Laß mich ruhen, ich habe mit Dir nichts zu
ſchaffen! „Andres,“ ſprach Denner, „ich
bin durch mehrere Gewoͤlbe gedrungen, um Dich
zu retten; denn, wenn Du auf den Richtplatz
kommſt, von dem ich errettet wurde, biſt Du
verloren. Bloß um Deines Weibes willen, die
mir mehr angehoͤrt, als Du wohl denken magſt,
helfe ich Dir. Du biſt ein muthloſer Feigling.
Was hat Dir nun Dein erbaͤrmliches Laͤugnen
gefruchtet? Blos, daß Du vom Vachſchen
L 2[164] Schloß nicht zu rechter Zeit nach Hauſe zuruͤck¬
kehrteſt und ich mich zu lange bei Deinem Weibe
aufhielt, iſt Schuld, daß man mich auffing.
Da! — nimm die Feile und die Saͤge, befreie
Dich in kuͤnftiger Nacht von den Ketten und durch¬
ſaͤge das Schloß der Kerkerthuͤre; ſchleiche durch
den Gang! Die aͤußere Thuͤr linker Hand wird
offen ſtehn, und draußen wirſt Du einen von uns
finden, der Dich weiter geleitet. Halte Dich
gut!“ Andres nahm die Saͤge und die Feile,
die ihm Denner hineinreichte und hob dann
den Stein wieder in die Oeffnung. Er war ent¬
ſchloſſen, das zu thun, wozu ihn die innere
Stimme des Gewiſſens aufforderte. — Als es
Tag geworden und der Gefangenwaͤrter hineintrat,
da ſagte er, wie er ſehnlich wuͤnſche vor den
Richter gefuͤhrt zu werden, indem er Wichtiges zu
entdecken habe. Noch an demſelben Vormittage
wurde ſein Verlangen erfuͤllt, weil man nicht
anders glaubte, als daß Andres neue, bisher noch
unbekannt gebliebene, Frevelthaten der Bande ge¬
[165] ſtehen werde. Andres uͤberreichte den Richtern
die von Dennern erhaltenen Inſtrumente, und
erzaͤhlte den Vorgang der Nacht. „Unerachtet
ich gewiß und wahrhaftig unſchuldig leide, ſo ſoll
mich doch Gott behuͤten, daß ich darnach trachten
ſollte, meine Freiheit auf unerlaubte Weiſe zu er¬
langen; denn das wuͤrde mich ja dem verruchten
Denner, der mich in Schande und Tod geſtuͤrzt
hat, in die Haͤnde liefern und ich dann erſt durch
mein ſuͤndliches freveliches Unternehmen die Strafe
verdienen, die ich jetzt unſchuldig leiden werde.“
So beſchloß Andres ſeinen Vortrag. Die Rich¬
ter ſchienen erſtaunt und von Mitleid fuͤr den
Ungluͤcklichen durchdrungen, wiewol ſie durch die
mannichfachen Thatſachen, die wider ihn ſprachen,
zu ſehr von ſeiner Schuld uͤberzeugt waren, um
ſein jetziges Benehmen nicht auch fuͤr zweifelhaft
zu halten. Die Aufrichtigkeit des Andres und
vorzuͤglich der Umſtand, daß nach jener Anzeige
der von Denner beabſichtigten Flucht, in der
Stadt und zwar in der naͤchſten Umgebung des
[166] Gefaͤngniſſes wirklich noch einige von der Bande
ertappt und aufgegriffen wurden, hatte jedoch den
wohlthaͤtigen Einfluß auf ihn, daß er aus dem
unterirdiſchen Kerker, in den er geſperrt geweſen,
herausgenommen wurde, und eine lichte Gefaͤng¬
nißſtube neben der Wohnung des Gefangenwaͤrters
erhielt. Da brachte er ſeine Zeit mit Gedanken
an ſein treues Weib, an ſeinen Knaben, und mit
gottſeligen Betrachtungen hin, und bald fuͤhlte
er ſich ermuthig, das Leben auch auf ſchmerzliche
Weiſe, wie eine Buͤrde, abzuwerfen. Nicht genug
konnte ſich der Gefangenwaͤrter uͤber den from¬
men Verbrecher wundern und er mußte nothge¬
drungen beinahe an ſeine Unſchuld glauben.
Endlich, nachdem beinahe noch ein Jahr ver¬
floſſen, war der ſchwierige verwickelte Prozeß
wider Denner und ſeine Mitſchuldigen geſchloſ¬
ſen. Es hatte ſich gefunden, daß die Bande bis
an die Graͤnze von Italien ausgebreitet war und
ſchon ſeit geraumer Zeit uͤberall raubte und mor¬
dete. Denner ſollte gehaͤngt, und dann ſein
[167] Koͤrper verbrannt werden. Auch dem ungluͤckli¬
chen Andres war der Strang zuerkannt; ſeiner
Reue halber, und da er durch das Bekenntniß
der ihm von Denner gerathenen Flucht die
Entdeckung des Anſchlags der Bande, durchzubre¬
chen, veranlaßt hatte, durfte jedoch ſein Koͤrper
herabgenommen, und auf der Gerichtsſtaͤtte ver¬
ſcharrt werden.
Der Morgen, an dem Denner und An¬
dres hingerichtet werden ſollten, war angebro¬
chen; da ging die Thuͤr des Gefaͤngniſſes auf,
und der junge Graf von Vach trat hinein zum
Andres, der auf den Knien lag und ſtill betete.
„Andres,“ ſprach der Graf, „Du mußt ſter¬
ben. Erleichtere Dein Gewiſſen noch durch ein
offnes Geſtaͤndniß! Sage mir, haſt Du Deinen
Herrn getoͤdtet? Biſt Du wirklich der Moͤrder
meines Oheims?“ — Da ſtuͤrzten dem Andres
die Thraͤnen aus den Augen, und er wiederholte
nochmals Alles, was er vor Gericht ausgeſagt,
ehe ihm die unleidliche Quaal der Tortur eine
[168] Luͤge auspreßte. Er rief Gott und die Heiligen
an, die Wahrheit ſeiner Ausſage und ſeine gaͤnz¬
liche Unſchuld an dem Tode des geliebten Herrn
zu bekraͤftigen.
„So iſt hier,“ fuhr der Graf von Vach fort,
„ein unerklaͤrliches Geheimniß im Spiele. Ich
ſelbſt, Andres, war von Deiner Unſchuld uͤber¬
zeugt, unerachtet vieles wider Dich ſprach; denn
ich wußte ja, daß Du von Jugend auf der treuſte
Diener meines Oheims geweſen biſt, und ihn
ſelbſt einmal in Neapel mit Gefahr Deines Le¬
bens aus Raͤuberhaͤnden errettet haſt. Allein nur
noch geſtern haben mir die beiden alten Jaͤger
meines Oheims Franz und Nikolaus geſchwo¬
ren, daß ſie Dich leibhaftig unter den Raͤubern
geſehen und genau bemerkt haͤtten, wie Du ſelbſt
meinen Oheim niederſtreckteſt.“ Andres wurde
von den peinlichſten, ſchrecklichſten Gefuͤhlen durch¬
bohrt; es war ihm, als wenn der Satan ſelbſt ſeine
Geſtalt angenommen habe, um ihn zu verderben;
denn auch Denner hatte ja ſogar im Kerker davon
[169] geſprochen, daß er den Andres wirklich geſehen,
und ſo ſchien ſelbſt die falſche Beſchuldigung vor
Gericht auf innerer wahrer Ueberzeugung zu be¬
ruhen. Andres ſagte dies Alles unverholen,
indem er hinzuſetzte, daß er ſich der Schickung
des Himmels ergebe, nach welcher er den ſchmaͤh¬
lichen Tod eines Verbrechers ſterben ſolle, daß
aber, ſei es auch lange Zeit nachher, ſeine Un¬
ſchuld gewiß an den Tag kommen werde. Der
Graf von Vach ſchien tief erſchuͤttert; er konnte
kaum noch dem Andres ſagen, daß, nach ſeinem
Wunſche, der Tag der Hinrichtung ſeinem ungluͤck¬
lichen Weibe verſchwiegen geblieben ſei, und daß
ſie ſich nebſt dem Knaben bei dem alten Foͤrſter
aufhalte. Die Rathhausglocke erklang dumpf
und ſchauerlich in abgemeſſenen Pulſen. Andres
wurde angekleidet und der Zug ging mit den ge¬
woͤhnlichen Feierlichkeiten unter dem Zuſtroͤmen
unzaͤhlichen Volks nach der Richtſtaͤtte. Andres
betete laut und ruͤhrte durch ſein frommes Betra¬
gen alle, die ihn ſahen. Denner hatte die Miene
[170] des trotzigen verſtockten Boͤſewichts. Er ſchaute
munter und kraͤftig um ſich, und lachte oft den
armen Andres tuͤckiſch und ſchadenfroh an.
Andres ſollte zuerſt hingerichtet werden; er be¬
ſtieg gefaßt mit dem Henker die Leiter, da kreiſchte
ein Weib auf und ſank ohnmaͤchtig einem alten
Mann in die Arme. Andres blickte hin, es
war Giorgina; laut erflehte er vom Himmel
Faſſung und Staͤrke. „Dort, dort, ſehe ich
Dich wieder, mein armes ungluͤckliches Weib, ich
ſterbe unſchuldig!“ rief er, indem er den Blick
ſehnſuchtsvoll zum Himmel erhob. Der Richter
rief dem Henker zu, er moͤge ſich foͤrdern, denn
es entſtand ein Murren unter dem Volke und es
flogen Steine nach Dennern, der ebenfalls
ſchon die Leiter beſtiegen hatte und die Zuſchauer
verhoͤhnte ob ihres Mitleids mit dem frommen
Andres. Der Henker legte dem Andres den
Strick um den Hals, da ſcholl es aus der Ferne
her: „Halt — halt — um Chriſtus willen halt! —
Der Mann iſt unſchuldig! — ihr richtet einen
[171] Unſchuldigen hin!“ — „Halt — halt!“ ſchrieen
tauſend Stimmen und kaum vermochte die Wache
zu ſteuern dem Volk, das hinzudrang und den
Andres von der Leiter herabreiſſen wollte.
Naͤher ſprengte nun der Mann zu Pferde, der
erſt gerufen hatte, und Andres erkannte auf
den erſten Blick in dem Fremden den Kaufmann,
der ihm in Frankfurt Giorgina's Erbſchaft
ausgezahlt hatte. Seine Bruſt wollte zerſprin¬
gen vor Freude und Seligkeit, kaum konnte er
ſich aufrecht erhalten als er von der Leiter herab¬
geſtiegen. Der Kaufmann ſagte dem Richter,
daß zu derſelben Zeit, als der Raubmord im
Vachſchen Schloſſe veruͤbt worden, Andres in
Frankfurt, alſo viele Meilen davon entfernt, ge¬
weſen ſei, und daß er dies vor Gericht auf die
unzweifelhafteſte Weiſe durch Urkunden und Zeu¬
gen darthun wolle. Da rief der Richter: „Die
Hinrichtung des Andres kann keinesweges ge¬
ſchehen; denn dieſer hoͤchſtwichtige Umſtand bewei¬
ſet, wenn er ausgemittelt wird, die voͤllige Un¬
[172] ſchuld des Angeklagten. Man fuͤhre ihn ſogleich
nach dem Gefaͤngniſſe zuruͤck.“ Denner hatte
alles von der Leiter herab ruhig angeſehen; als
aber der Richter dieſe Worte geſprochen, da rollten
ſeine gluͤhenden Augen, er knirſchte mit den Zaͤh¬
nen, er heulte in wilder Verzweiflung, daß es
graͤßlich, wie der namenloſe Jammer des wuͤthenden
Wahnſinns, durch die Luͤfte hallte: „Satan,
Satan! Du haſt mich betrogen — weh mir!
weh mir! es iſt aus — aus — Alles verloren!“
Man brachte ihn von der Leiter herab, er fiel
zu Boden und roͤchelte dumpf: „ich will alles be¬
kennen — ich will alles bekennen!“ Auch ſeine
Hinrichtung wurde verſchoben und er ins Gefaͤng¬
niß zuruͤckgefuͤhrt, wo ihm jedes Entſpringen
unmoͤglich gemacht worden. Der Haß ſeiner
Waͤchter war die beſte Schutzwehr gegen die
Schlauheit ſeiner Verbuͤndeten. — Wenige Au¬
genblicke nachher, als Andres bei dem Gefan¬
genwaͤrter angekommen, lag Giorgina in ſei¬
nen Armen. „Ach Andres, Andres,“ rief
[173] ſie, „nun habe ich Dich ganz wieder, da ich weiß,
daß Du unſchuldig biſt; denn auch ich habe an
Deiner Redlichkeit, an Deiner Froͤmmigkeit ge¬
zweifelt!“ — Unerachtet man Giorginen
den Tag der Hinrichtung verſchwiegen, war ſie
doch von unbeſchreiblicher Angſt, von ſeltſamer
Ahnung getrieben, nach Fulda geeilt, und gerade
auf die Richtſtaͤtte gekommen, als ihr Mann
die verhaͤngnißvolle Leiter beſtieg, die ihn zum
Tode fuͤhren ſollte. Der Kaufmann war die ganze
lange Zeit der Unterſuchung uͤber auf Reiſen in
Frankreich und Italien geweſen, und jetzt uͤber
Wien und Prag zuruͤckgekehrt. Der Zufall, oder
vielmehr eine beſondere Schickung des Himmels,
wollte, daß er gerade in dem entſcheidendſten Au¬
genblick auf dem Richtplatze ankam, und den
armen Andres von dem ſchmaͤhlichen Tode des
Verbrechens rettete. Im Gaſthofe erfuhr er die
ganze Geſchichte des Andres und es fiel ihm
gleich ſchwer aufs Herz, daß Andres wol der¬
ſelbe Revierjaͤger ſeyn koͤnne, der vor zwei Jahren
[174] eine Erbſchaft, die ſeinem Weibe von Neapel
aus zugefallen, erhob. Schnell eilte er fort
und uͤberzeugte ſich, als er nur Andres ſah,
ſogleich von der Wahrheit ſeiner Vermuthung.
Durch die eifrigen Bemuͤhungen des wackern Kauf¬
manns und des jungen Grafen von Vach wurde
Andres Aufenthalt in Frankfurt bis auf die
Stunde ausgemittelt, dadurch aber ſeine voͤllige
Unſchuld an dem Raubmorde dargethan. Den¬
ner ſelbſt geſtand nun die Richtigkeit der Angabe
des Andres uͤber das Verhaͤltniß mit ihm und
meinte nur, der Satan muͤſſe ihn geblendet ha¬
ben; denn in der That haͤtte er geglaubt, An¬
dres fechte auf dem Vachſchen Schloß an ſeiner
Seite. Fuͤr die erzwungene Theilnahme an der
Auspluͤnderung des Pachterhofes, ſo wie fuͤr die
geſetzwidrige Rettung Denner's, hatte, nach dem
Ausſpruch der Richter, Andres genug gebuͤßt
durch das lange harte Gefaͤngniß und durch die
ausgeſtandene Marter und Todesangſt; er wurde
daher durch Urtel und Recht von jeder weiteren
[175] Strafe freigeſprochen und eilte mit ſeiner Gior¬
gina auf das Vachſche Schloß, wo ihm der
edle wohlthaͤtige Graf im Nebengebaͤude eine
Wohnung einraͤumte, von ihm nur die geringen
Jagddienſte fordernd, die des Grafen perſoͤnliche
Liebhaberei nothwendig machte. Auch die Ge¬
richtskoſten bezahlte der Graf, ſo daß Andres
und Giorgina in dem ungekraͤnkten Beſitz ihres
Vermoͤgens blieben.
Der Prozeß wider den verrruchten Ignaz
Denner nahm jetzt eine ganz andere Wendung.
Die Begebenheit auf der Gerichtsſtaͤtte ſchien ihn
ganz umgewandelt zu haben. Sein hoͤhnender
teufliſcher Stolz war gebeugt, und aus ſeinem
zerknirſchten Innern brachen Geſtaͤndniſſe hervor,
die den Richtern das Haar ſtraͤubten. Denner
klagte ſich ſelbſt mit allen Zeichen tiefer Reue des
Buͤndniſſes mit dem Satan an, das er von ſeiner
fruͤhen Jugendzeit unterhalten, und ſo wurde
vorzuͤglich hierauf die fernere Unterſuchung mit
dem Zutritt dazu verordneter Geiſtlichkeit gerich¬
[176] tet. Ueber ſeine fruͤheren Lebensverhaͤltniſſe
erzaͤhlte Denner ſo viel Sonderbares, daß man
es fuͤr das Erzeugniß wahnſinniger Ueberſpannung
haͤtte halten muͤſſen, wenn nicht durch die Erkun¬
digungen, die man in Neapel, ſeinem angeblichen
Geburtsort, einziehen ließ, alles beſtaͤtigt worden
waͤre. Ein Auszug aus den von dem geiſtlichen
Gericht in Neapel verhandelten Akten ergab uͤber
Denner's Herkunft folgende merkwuͤrdige Um¬
ſtaͤnde.
Vor langen Jahren lebte in Neapel ein alter
wunderlicher Doktor, Trabacchio mit Namen,
den man ſeiner geheimnißvollen ſtets gluͤcklichen
Curen wegen insgemein den Wunder-Doktor zu
nennen pflegte. Es ſchien, als wenn das Alter
nichts uͤber ihn vermoͤge; denn er ſchritt raſch
und jugendlich daher, unerachtet mehrere Einge¬
borne ihm nachrechnen konnten, daß er an die
achtzig Jahre alt ſeyn muͤßte. Sein Geſicht war
auf eine ſeltſame grauſige Weiſe verzerrt und
verſchrumpft, und ſeinen Blick konnte man kaum
ohne[177] ohne innern Schauer ertragen, wiewol er oft den
Kranken wohl that, ſo daß man ſagte, blos durch
den ſcharf auf den Kranken gehefteten Blick heile
er oftmals ſchwere hartnaͤckige Uebel. Ueber ſei¬
nen ſchwarzen Anzug warf er gewoͤhnlich einen
weiten rothen Mantel mit goldnen Treſſen und
Troddeln, unter deſſen bauſchichten Falten der
lange Stoßdegen hervorragte. So lief er mit
einer Kiſte ſeiner Arzneien, die er ſelbſt bereitete,
durch die Straßen von Neapel zu ſeinen Kran¬
ken, und jeder wich ihm ſcheu aus. Nur in der
hoͤchſten Noth wandte man ſich an ihn, aber nie¬
mals ſchlug er es aus einen Kranken zu beſuchen,
hatte er dabei auch nicht ſonderlichen Gewinn zu
hoffen. Mehrere Weiber ſtarben ihm ſchnell;
immer waren ſie ausnehmend ſchoͤn und insge¬
mein Landdirnen geweſen. Er ſperrte ſie ein und
erlaubte ihnen, nur unter Begleitung einer alten
ekelhaft haͤßlichen Frau die Meſſe zu hoͤren.
Dieſe Alte war unbeſtechlich; jeder noch ſo liſtig
angelegte Verſuch junger Luͤſtlinge, den ſchoͤnen
M[178] Frauen des Doktor Trabacchio naͤher zu kom¬
men, blieb fruchtlos. Unerachtet Doktor Tra¬
bacchio von Reichen ſich gut bezahlen ließ, ſo
ſtand doch ſeine Einnahme mit dem Reichthum
an Geld und Kleinodien, den er in ſeinem Hauſe
aufgehaͤuft hatte und den er niemanden verheelte,
in keinem Verhaͤltniß. Dabei war er zu Zeiten
freigebig bis zur Verſchwendung, und hatte die
Gewohnheit jedesmal, wenn ihm eine Frau ge¬
ſtorben, ein Gaſtmahl zu geben, deſſen Aufwand
wol doppelt ſo viel betrug, als die reichſte Ein¬
nahme, die ihm ſeine Praxis ein ganzes Jahr
hindurch verſchaffte. Mit ſeiner letzten Frau hatte
er einen Sohn erzeugt, den er eben ſo einſperrte,
wie ſeine Weiber; niemand bekam ihn zu ſehen.
Nur bei dem Gaſtmahl, das er nach dem Tode
dieſer Frau gab, ſaß der kleine dreijaͤhrige Knabe
an ſeiner Seite, und alle Gaͤſte waren uͤber die
Schoͤnheit und die Klugheit des Kindes, das
man, verrieth ſein koͤrperliches Anſehen nicht ſein
Alter, ſeinem Benehmen nach wenigſtens fuͤr
[179] zwoͤlfjaͤhrig haͤtte halten koͤnnen. Eben bei dieſem
Gaſtmahl aͤußerte der Doktor Trabacchio, daß,
da nunmehr ſein Wunſch, einen Sohn zu haben,
erreicht ſei, er nicht mehr heirathen werde. Sein
uͤbermaͤßiger Reichthum, aber noch mehr ſein
geheimnißvolles Weſen, ſeine wunderbaren Curen,
die bis ins Unglaubliche gingen, da blos einigen
von ihm bereiteten und eingefloͤßten Tropfen, ja
oft blos ſeiner Betaſtung, ſeinem Blick, die hart¬
naͤckigſten Krankheiten wichen, gaben endlich An¬
laß zu allerlei ſeltſamen Geruͤchten, die ſich in
Neapel verbreiteten. Man hielt den Doktor
Trabacchio fuͤr einen Alchymiſten, fuͤr einen
Teufelsbeſchwoͤrer, ja man gab ihm endlich Schuld,
daß er mit dem Satan im Buͤndniß ſtehe. Die
letzte Sage entſtand aus einer ſeltſamen Begeben¬
heit, die ſich mit einigen Edelleuten in Neapel
zutrug. Dieſe kehrten einſt ſpaͤt in der Nacht
von einem Gaſtmahl zuruͤck und geriethen, da
ſie im Weinrauſch den Weg verfehlt, in eine ein¬
ſame verdaͤchtige Gegend. Da rauſchte und ra¬
M 2[180] ſchelte es vor ihnen und ſie wurden mit Entſetzen
gewahr, daß ein großer leuchtendrother Hahn,
ein zackicht Hirſchgeweihe auf dem Kopfe tragend,
mit ausgebreiteten Fluͤgeln daher ſchritt, und ſie
mit menſchlichen funkelnden Augen anſtarrte. Sie
draͤngten ſich in eine Ecke, der Hahn ſchritt vor¬
uͤber, und ihm folgte eine große Figur im glaͤn¬
zendem goldverbraͤmten Mantel. So wie die Ge¬
ſtalten voruͤber waren, ſagte einer von den Edel¬
leuten leiſe: Das war der Wunderdoktor Tra¬
bacchio. Alle, nuͤchtern geworden durch den ent¬
ſetzlichen Spuk, ermuthigten ſich und folgten dem
angeblichen Doktor mit dem Hahn, deſſen Leuch¬
ten den genommenen Weg zeigte. Sie ſahen, wie
die Geſtalten wirklich auf das Haus des Doktors,
das auf einem fernen leeren oͤden Platze ſtand, zu¬
ſchritten. Vor dem Hauſe angekommen, rauſchte
der Hahn in die Hoͤhe, und ſchlug mit den Fluͤgeln
an das große Fenſter uͤber dem Balkon, das ſich
klirrend oͤffnete; die Stimme eines alten Weibes
meckerte: „Kommt — kommt nach Haus — kommt
[181] nach Haus — warm iſt das Bett, und Liebchen
wartet lange ſchon — lange ſchon!“ Da war es,
als ſtiege der Doktor auf einer unſichtbaren Lei¬
ter empor, und rauſche nach dem Hahn durch das
Fenſter, welches zugeſchlagen wurde, daß es die
einſame Straße entlang klirrte und droͤhnte. Alles
war im ſchwarzen Dunkel der Nacht verſchwun¬
den und die Edelleute ſtanden ſtumm und ſtarr
vor Grauſen und Entſetzen. Dieſer Spuk, die
Ueberzeugung der Edelleute, daß die Geſtalt, der
der teufliſche Hahn vorleuchtete, niemand anders,
als der verrufene Doktor Trabacchio geweſen,
war fuͤr das geiſtliche Gericht, dem Alles zu
Ohren kam, genug, dem ſataniſchen Wundermann
ſorglich in aller Stille nachzuſpuͤren. Man brachte
in der That heraus, daß in den Zimmern des
Doktors ſich oft ein rother Hahn befand, mit
dem er auf wunderliche Weiſe zu ſprechen und zu
disputiren ſchien, als ſpraͤchen Gelehrte uͤber
zweifelhafte Gegenſtaͤnde ihres Wiſſens. Das
geiſtliche Gericht war im Begriff den Doktor
[182]Trabacchio einzuziehen als einen verruchten
Hexenmeiſter; aber das weltliche Gericht kam
dem geiſtlichen zuvor und ließ den Doktor durch
die Sbirren aufheben und ins Gefaͤngniß ſchleppen,
da er eben von dem Beſuch eines Kranken heim¬
kehrte. Die Alte war ſchon fruͤher aus dem
Hauſe geholt worden, den Knaben hatte man
nicht finden koͤnnen. Die Thuͤren der Zimmer wur¬
den verſchloſſen und verſiegelt, Wachen ringsum das
Haus geſtellt. — Folgendes war der Grund dieſes
gerichtlichen Verfahrens. Seit einiger Zeit ſtarben
mehrere angeſehene Perſonen in Neapel und in der
umliegenden Gegend und zwar nach der Aerzte
einſtimmigem Urtheil an Gift. Dies hatte viele
Unterſuchungen veranlaßt, die fruchtlos blieben,
bis endlich ein junger Menſch in Neapel, ein
bekannter Luͤſtling und Verſchwender, deſſen Oheim
vergiftet worden, die graͤßliche That mit dem
Zuſatz eingeſtand, daß er das Gift von dem alten
Weibe, der Haushaͤlterin Trabacchio's, gekauft
habe. Man ſpuͤrte der Alten nach, und ertappte
[183] ſie, als ſie eben ein feſtverſchloſſenes kleines Kiſt¬
chen forttragen wollte, in dem man kleine Phio¬
len fand, die mit den Namen von allerlei Arz¬
neimitteln verſehen waren, unerachtet ſie fluͤſſi¬
ges Gift enthielten. Die Alte wollte nichts ein¬
geſtehen; als man ihr indeſſen mit der Tortur
drohte, da bekannte ſie, daß der Doktor Tra¬
bacchio ſchon ſeit vielen Jahren jenes kuͤnſtliche
Gift, das unter dem Namen Aqua Toffana
bekannt ſei, bereite, und daß der geheime Ver¬
kauf dieſes Gifts, der durch ſie bewirkt worden,
beſtaͤndig ſeine reichſte Erwerbsquelle geweſen.
Ferner ſei es nur zu gewiß, daß er mit dem
Satan im Buͤndniß ſtehe, der in verſchiedenen
Geſtalten bei ihm einkehre. Jedes ſeiner Weiber
habe ihm ein Kind geboren, ohne daß es jemand
außer dem Hauſe geahnet. Das Kind habe er
denn allemal, nachdem es neun Wochen, oder
neun Monate alt worden, unter beſonderen Zu¬
ruͤſtungen und Feierlichkeiten auf unmenſchliche
Weiſe geſchlachtet, indem er ihm die Bruſt auf¬
[184] geſchnitten und das Herz herausgenommen. Je¬
desmal ſei der Satan bei dieſer Operation, bald
in dieſer, bald in jener Geſtalt, meiſtens aber
als Fledermaus mit menſchlicher Larve, erſchienen,
und habe mit breiten Fluͤgeln das Kohlfeuer ange¬
facht, bei dem Trabacchio aus des Kindes
Herzblut koͤſtliche Tropfen bereitet, die jeder
Siechheit kraͤftig widerſtaͤnden. Die Weiber haͤtte
Trabacchio bald nachher auf dieſe, oder jene
heimliche Weiſe getoͤdtet, ſo daß der ſchaͤrfſte
Blick des Arztes wohl nie auch die kleinſte Spur
der Ermordung habe auffinden koͤnnen. Nur
Trabacchio's letztes Weib, die ihm einen Sohn
geboren, der noch lebe, ſei des natuͤrlichen Todes
geſtorben. —
Der Doktor Trabacchio geſtand alles unver¬
holen ein und ſchien eine Freude daran zu finden,
das Gericht mit den ſchauerlichen Erzaͤhlungen
ſeiner Unthaten und vorzuͤglich der naͤhern Um¬
ſtaͤnde ſeines entſetzlichen Buͤndniſſes mit dem
Satan in Verwirrung zu ſetzen. Die Geiſtlichen,
[185] welche dem Gericht beiwohnten, gaben ſich alle
nur erſinnliche Muͤhe, den Doktor zur Reue und
zur Erkenntniß ſeiner Suͤnden zu bringen; aber es
blieb vergebens, da Trabacchio ſie nur verhoͤhn¬
te und verlachte. Beide, die Alte und Trabac¬
chio, wurden zum Scheiterhaufen verurtheilt. —
Man hatte unterdeſſen das Haus des Doktors un¬
terſucht und alle ſeine Reichthuͤmer hervorgeholt,
die, nach Abzug der Gerichtskoſten, an die Hoſpi¬
taͤler vertheilt werden ſollten. In Trabacchio's
Bibliothek fand man nicht ein einziges verdaͤchti¬
ges Buch und noch viel weniger gab es Geraͤth¬
ſchaften, die auf die ſataniſche Kunſt, die der Doktor
getrieben, haͤtten hindeuten ſollen. Nur ein ver¬
ſchloſſenes Gewoͤlbe, deſſen viele durch die Mauer
herausragende Roͤhren das Laboratorium verriethen,
widerſtand, als man es oͤffnen wollte, aller Kunſt
und aller Gewalt. Ja, wenn Schloſſer und Mau¬
rer unter der Aufſicht des Gerichts ſich eifrig be¬
muͤhten, endlich durchzubrechen, ſo daß wohl der
Zweck erreicht worden waͤre, da kreiſchten im Innern
[186] des Gewoͤlbes entſetzliche Stimmen, es rauſchte
auf und nieder, wie mit eiskalten Fluͤgeln ſchlug
es an die Geſichter der Arbeiter und ein ſchnei¬
dender Zugwind pfiff in gellenden graͤßlichen Toͤnen
durch den Gang, ſo daß von Grauſen und Ent¬
ſetzen ergriffen alle flohen, und am Ende niemand
mehr ſich an die Thuͤr des Gewoͤlbes wagen wollte,
aus Furcht wahnſinnig zu werden vor Angſt und
Schrecken. Den Geiſtlichen, die ſich der Thuͤr
nahten, ging es nicht beſſer und es blieb nichts
uͤbrig, als die Ankunft eines alten Dominikaners
aus Palermo zu erwarten, deſſen Standhaftig¬
keit und Froͤmmigkeit bisher alle Kuͤnſte des Sa¬
tans weichen mußten. Als dieſer Moͤnch ſich
nun in Neapel befand, war er bereit den teufli¬
ſchen Spuk in Trabacchio's Gewoͤlbe zu be¬
kaͤmpfen, und verfuͤgte ſich hin, ausgeruͤſtet mit
Kreuz und Weihwaſſer, begleitet von mehreren
Geiſtlichen und Gerichtsperſonen, die aber weit
von der Thuͤr entfernt blieben. Der alte Domi¬
nikaner ging betend auf die Thuͤr los; aber da
[187] erhob ſich heftiger das Rauſchen und Brauſen,
und die entſetzlichen Stimmen verworfener Gei¬
ſter lachten gellend heraus. Der Geiſtliche ließ
ſich jedoch nicht irre machen; er betete kraͤftiger
das Cruzifix emporhaltend und die Thuͤr mit
Weihwaſſer beſprengend. „Man gebe mir ein
Brecheiſen!“ rief er laut; zitternd reichte es
ihm im Maurerbuſche hin, aber kaum ſetzte
es der alte Moͤnch an die Thuͤre, als ſie mit
furchtbar erſchuͤtterndem Knall aufſprang. Blaue
Flammen leckten uͤberall an den Waͤnden des
Gewoͤlbes herauf und eine betaͤubende erſtickende
Hitze ſtroͤmte aus dem Innern. Demunerachtet
wollte der Dominikaner hineintreten; da ſtuͤrzte der
Boden des Gewoͤlbes ein, daß das ganze Haus er¬
droͤhnte und Flammen praſſelten aus dem Ab¬
grunde hervor, die wuͤthend um ſich griffen und
alles rings umher erfaßten. Schnell mußte der
Dominikaner mit ſeiner Begleitung fliehen, um
nicht zu verbrennen, oder verſchuͤttet zu werden.
Kaum waren ſie auf der Straße, als das ganze
[188] Haus des Doktor Trabacchio in Flammen
ſtand. Das Volk lief zuſammen und jauchzte
und jubelte, als es des verruchten Hexenmeiſters
Wohnung brennen ſah, ohne auch nur das min¬
deſte zur Rettung zu thun. Schon war das
Dach eingeſtuͤrzt, das inwendige Holzwerk flammte
zu den Waͤnden heraus und nur die ſtarken Bal¬
ken des obern Stocks widerſtanden noch der Ge¬
walt des Feuers. Aber vor Entſetzen ſchrie das
Volk auf, als es Trabacchio's zwoͤlfjaͤhrigen
Sohn mit einem Kiſtchen unter dem Arm einen
dieſer glimmenden Balken entlang ſchreiten ſah.
Nur einen Moment dauerte dieſe Erſcheinung,
ſie verſchwand ploͤtzlich in den hochaufſchlagenden
Flammen. — Der Doktor Trabacchio ſchien
ſich herzinniglich zu freuen, als er dieſe Begeben¬
heit erfuhr und ging mit verwegener Frechheit
zum Tode. Als man ihn an den Pfahl band,
lachte er hell auf und ſagte zu dem Henker, der
ihn mordluſtig recht feſt anſchnuͤrte: „Sieh Dich
vor, Geſelle, daß dieſe Stricke nicht an Deinen
[189] Faͤuſten brennen.“ Dem Moͤnch, der ſich ihm
zuletzt noch nahen wollte, rief er mit fuͤrchterli¬
cher Stimme zu: „Fort! — zuruͤck von mir!
Glaubſt Du denn, daß ich ſo dumm ſeyn werde,
Euch zu Gefallen einen ſchmerzlichen Tod zu lei¬
den? — noch iſt meine Stunde nicht gekom¬
men.“ — Nun fing das angezuͤndete Holz an zu
praſſeln; kaum erreichte aber die Flamme den
Trabacchio, als es hell aufloderte, wie Stroh¬
feuer und von einer fernen Anhoͤhe ein gellendes
Hohngelaͤchter ſich hoͤren ließ. Alles ſchaute hin
und Grauſen ergriff das Volk, als den Doktor
Trabacchio leibhaftig in dem ſchwarzen Kleide,
dem goldverbraͤmten Mantel, den Stoßdegen an
der Seite, den niedergekrempten ſpaniſchen Hut
mit der rothen Feder auf dem Kopfe, das Kiſt¬
chen unter dem Arm, ganz wie er ſonſt durch
die Straßen von Neapel zu laufen pflegte, er¬
blickte. Reiter, Sbirren, hundert andere aus
dem Volk ſtuͤrzten hin nach dem Huͤgel, aber
Trabacchio war und blieb verſchwunden. Die
[190] Alte gab ihren Geiſt auf unter den entſetzlich¬
ſten Quaalen, unter den graͤßlichſten Verwuͤn¬
ſchungen ihres verruchten Herrn, mit dem ſie
unzaͤhlige Verbrechen getheilt. —
Der ſogenannte Ignaz Denner war nun
kein anderer, als eben der Sohn des Doktors,
der ſich damals durch die hoͤlliſchen Kuͤnſte ſeines
Vaters mit einem Kiſtchen der ſeltenſten und
geheimnißvollſten Koſtbarkeiten aus den Flammen
rettete. Schon ſeit der fruͤheſten Jugend unter¬
richtete ihn der Vater in den geheimen Wiſſen¬
ſchaften und ſeine Seele war dem Teufel ver¬
ſchrieben, noch ehe er ſein volles Bewußtſeyn
erlangt. Als man dem Doktor Trabacchio in's
Gefaͤngniß warf, blieb der Knabe in dem ge¬
heimnißvollen verſchloſſenen Gewoͤlbe unter den
verworfenen Geiſtern, die des Vaters hoͤlliſcher
Zauber hineingebannt; da aber endlich dieſer Zau¬
ber der Macht des Dominikaners weichen mußte,
ließ der Knabe die verborgenen mechaniſchen
Kraͤfte wirken, und Flammen entzuͤndeten ſich,
[191] die in wenigen Minuten das ganze Haus in
Brand ſteckten, waͤhrend der Knabe ſelbſt unver¬
ſehrt durch das Feuer fort zum Thore hinaus in
den Wald eilte, den ihm der Vater bezeichnet
hatte. Nicht lange dauerte es, ſo erſchien auch
Doktor Trabacchio, und floh ſchnell mit dem
Sohne, bis ſie wol an drei Tagereiſen von Nea¬
pel in die Ruinen eines alten roͤmiſchen Gebaͤudes
kamen, wo der Eingang zu einer weiten geraͤu¬
migen Hoͤle verſteckt lag. Hier wurde der Doktor
Trabacchio von einer zahlreichen Raͤuberbande,
mit der er laͤngſt in Verbindung geſtanden, und
der er durch ſeine geheime Wiſſenſchaft die we¬
ſentlichſten Dienſte geleiſtet, mit lautem Jubel
empfangen. Die Raͤuber wollten ihn mit nichts
geringerem lohnen, als mit der Kroͤnung zum
Raͤuberkoͤnige, wodurch er ſich zum Oberhaupt
aller Banden, die in Italien und dem ſuͤdlichen
Deutſchland verbreitet waren, aufgeſchwungen
haͤtte. Der Doktor Trabacchio erklaͤrte, dieſe
Wuͤrde nicht annehmen zu koͤnnen, da er der
[192] beſondern Conſtellation wegen, die uͤber ihn
walte, nunmehr ein ganz unſtetes Leben fuͤhren
muͤſſe, und von keinem Verhaͤltniß gebunden wer¬
den koͤnne; doch werde er noch immer den Raͤu¬
bern mit ſeiner Kunſt und Wiſſenſchaft beiſtehn,
und ſich dann und wann ſehen laſſen. Da be¬
ſchloſſen die Raͤuber, den zwoͤlfjaͤhrigen Trabac¬
chio zum Raͤuberkoͤnige zu waͤhlen und damit
war der Doktor hoͤchlich zufrieden, ſo daß der
Knabe von Stund an unter den Raͤubern blieb,
und, als er funfzehn Jahr alt worden, ſchon als
wirkliches Oberhaupt mit ihnen auszog. Sein
ganzes Leben war von nun an ein Gewebe von
Greuelthaten und Teufelskuͤnſten, in welche ihn
der Vater, der ſich oftmals blicken ließ und zu¬
weilen Wochenlang einſam mit ſeinen Sohne in
der Hoͤle blieb, immer mehr einweihte. Die kraͤf¬
tigen Maßregeln des Koͤnigs von Neapel gegen
die Raͤuberbanden, die immer kecker und verwege¬
ner wurden, noch mehr aber die entſtandenen
Zwiſtigkeiten der Raͤuber hoben endlich das ge¬
faͤhr¬[193] faͤhrliche Buͤndniß unter einem Oberhaupte auf
und den Trabacchio ſelbſt, der ſich durch ſeinen
Stolz und durch ſeine Grauſamkeit verhaßt ge¬
macht hatte, konnten ſeine vom Vater erlernte
Teufelskuͤnſte nicht vor den Dolchen ſeiner Unter¬
gebenen ſchuͤtzen. Er floh nach der Schweiz, gab
ſich den Namen Ignaz Denner, und beſuchte
als reiſender Kaufmann die Meſſen und Jahr¬
maͤrkte in Deutſchland, bis ſich aus den zerſtreu¬
ten Gliedern jener großen Bande eine kleinere
bildete, die den vormaligen Raͤuberkoͤnig zu ihrem
Oberhaupt waͤhlte. Trabacchio verſicherte, wie
ſein Vater noch zur Stunde lebe, ihn noch
im Gefaͤngniß beſucht, und Rettung von der Ge¬
richtsſtaͤtte verſprochen habe. Nur dadurch, daß,
wie er nun wol einſehe, goͤttliche Schickung den
Andres vom Tode errettet, ſei die Macht ſei¬
nes Vaters entkraͤftet worden, und er wolle nun
als reuiger Suͤnder allen Teufelskuͤnſten abſchwoͤ¬
ren und geduldig die gerechte Todesſtrafe erlei¬
den. —
N[194]
Andres, der alles dieſes aus dem Munde des
Grafen von Vach erfuhr, zweifelte keinen Augen¬
blick, daß es wol eben Trabacchio's Bande
geweſen, die ehemals im Neapolitaniſchen ſeinen
Herrn anfiel, ſo wie er uͤberzeugt war, daß der alte
Doktor Trabacchio ſelbſt im Gefaͤngniß ihm wie
der leibhaftige Satan erſchien und verlocken wollte
zum boͤſen Beginnen. Nun ſah er erſt recht ein,
in welch' großer Gefahr er geſchwebt hatte ſeit
der Zeit, als Trabacchio in ſein Haus getreten;
wiewol er noch immer nicht begreifen konnte,
warum es denn der Verruchte ſo ganz und gar
auf ihn und ſein Weib gemuͤnzt hatte, da der
Vortheil, den er aus ſeinem Aufenthalt in dem
Jaͤgerhauſe zog, nicht ſo bedeutend ſeyn konnte.
Andres befand ſich nach den entſetzlichen
Stuͤrmen nun in ruhiger gluͤcklicher Lage, allein zu
erſchuͤtternd hatten jene Stuͤrme getobt, um nicht
in ſeinem ganzen Leben dumpf nachzuhallen. Außer
dem, daß Andres, ſonſt ein ſtarker kraͤftiger Mann,
durch den Gram, durch das lange Gefaͤngniß, ja
[195] durch den unſaͤglichen Schmerz der Tortur koͤr¬
perlich zu Grunde gerichtet, ſiech und krank da¬
her ſchwankte und kaum noch die Jagd treiben
konnte, ſo welkte auch Giorgina, deren ſuͤdliche
Natur von dem Grame, von der Angſt, von dem
Entſetzen, wie von brennender Gluth aufgezehrt
wurde, zuſehends hin. Keine Huͤlfe war fuͤr ſie
mehr vorhanden, ſie ſtarb wenige Monate nach
ihres Mannes Ruͤckkehr. Andres wollte ver¬
zweifeln und nur der wunderſchoͤne kluge Knabe,
der Mutter getreues Ebenbild, vermochte ihn
zu troͤſten. Um dieſes willen that er alles, ſein
Leben zu erhalten, und ſich ſo viel als moͤglich zu
kraͤftigen, ſo daß er nach Verlauf von beinahe zwei
Jahren wol an Geſundheit zugenommen und
manchen luſtigen Jaͤgergang in den Forſt unter¬
nehmen konnte. — Der Prozeß wider den Tra¬
bacchio hatte endlich ſein Ende erreicht und er
war, ſo wie vor alter Zeit ſein Vater, zum Tode
durchs Feuer verdammt worden, den er in weni¬
ger Zeit erleiden ſollte. —
N 2[196]
Andres kam eines Tages, als die Abend¬
daͤmmerung ſchon eingebrochen, mit ſeinem Kna¬
ben aus dem Forſt zuruͤck; ſchon war er dem
Schloſſe nahe, als er ein klaͤgliches Gewimmer
vernahm, das aus dem ihm nahen ausgetrockne¬
ten Feldgraben zu kommen ſchien. Er eilte naͤher
und erblickte einen Menſchen, der in elende
ſchmutzige Lumpen gehuͤllt, im Graben lag und
unter großen Schmerzen den Geiſt aufgeben zu
wollen ſchien. Andres warf Flinte und Buͤchſen¬
ſack ab, und zog mit Muͤhe den Ungluͤcklichen
heraus; aber als er nun dem Menſchen in's
Geſicht blickte, erkannte er mit Entſetzen den Tra¬
bacchio. Zuruͤckſchaudernd ließ er von ihm ab;
aber da wimmerte Trabacchio dumpf. „An¬
dres, Andres, biſt Du es? um der Barm¬
herzigkeit Gottes willen, der ich meine Seele
empfohlen, habe Mitleid mit mir! Wenn Du
mich retteſt, retteſt Du eine Seele von ewiger
Verdammniß; denn bald ereilt mich ja der Tod,
und noch nicht vollendet iſt meine Buße!“ „Ver¬
[197] dammter Heuchler,“ ſchrie Andres auf; „Moͤr¬
der meines Kindes, meines Weibes, hat Dich
nicht der Satan wieder hergefuͤhrt, damit Du
mich vielleicht noch verderbeſt? Ich habe mit
Dir nichts zu ſchaffen. Stirb' und vermodere wie
ein Aas, Verruchter!“ Andres wollte ihn zu¬
ruͤckſtoßen in den Graben; da heulte Trabacchio
in wildem Jammer: „Andres! Du retteſt den
Vater Deines Weibes, Deiner Giorgina, die
fuͤr mich betet am Throne des Hoͤchſten!“ An¬
dres ſchauderte zuſammen; mit Giorgina's
Namen fuͤhlte er ſich von ſchmerzlicher Wehmuth
ergriffen. Mitleid mit dem Moͤrder ſeiner Ruhe,
ſeines Gluͤcks, durchdrang ihn, er faßte den Tra¬
bacchio, lud ihn mit Muͤhe auf und trug ihn
nach ſeiner Wohnung, wo er ihn mit ſtaͤrkenden
Mitteln erquickte. Bald erwachte Trabacchio
aus der Ohnmacht, in die er verſunken. —
In der Nacht vor der Hinrichtung ergriff
den Trabacchio die entſetzlichſte Todesangſt; er
war uͤberzeugt, daß ihn nichts mehr von der
[198] namenloſen Marter des Feuertodes retten wuͤrde.
Da faßte und ruͤttelte er in wahnſinniger Ver¬
zweiflung die Eiſenſtaͤbe des Gitterfenſters und
zerbroͤckelt blieben ſie in ſeinen Haͤnden. Ein
Strahl der Hoffnung fiel in ſeine Seele. Man
hatte ihn in einen Thurm dicht neben dem trock¬
nen Stadtgraben geſperrt; er ſchaute in die Tiefe
und der Entſchluß ſich hinabzuſtuͤrzen, und ſo ſich
zu retten, oder zu ſterben, war auf der Stelle
gefaßt. Der Ketten hatte er ſich bald mit gerin¬
ger Anſtrengung entledigt. Als er ſich hinauswarf,
vergingen ihm die Sinne, er erwachte, als die
Sonne hell ſtrahlte. Da ſah er, wie er zwiſchen
Strauchwerk in hohes Gras gefallen, aber an
allen Gliedern verſtaucht und verrenkt, vermochte
er ſich nicht zu regen und zu ruͤhren. Schmei߬
fliegen und anderes Ungeziefer ſetzten ſich auf ſei¬
nen halbnackten Koͤrper und ſtachen und leckten
ſein Blut, ohne daß er ſie abwehren konnte. So
brachte er einen martervollen Tag hin. Erſt des
Nachts gelang es ihm weiter zu kriechen und er
[199] war gluͤcklich genug, an eine Stelle zu kommen,
wo ſich etwas Regenwaſſer geſammelt hatte, wel¬
ches er begierig einſchluͤrfte. Er fuͤhlte ſich ge¬
ſtaͤrkt und vermochte muͤhſam hinanzuklimmen und
ſich fortzuſchleichen, bis er den Forſt erreichte, der
unfern von Fulda anhob und ſich beinahe bis an
das Vachſche Schloß erſtreckte. So war er bis
in die Gegend gekommen, wo ihn Andres mit
dem Tode ringend fand. Die entſetzliche Anſtren¬
gung der letzten Kraft hatte ihn ganz erſchoͤpft
und wenige Minuten ſpaͤter haͤtte ihn Andres
ſicherlich todt gefunden. Ohne daran zu denken,
was kuͤnftig mit dem Trabacchio, der der Obrig¬
keit entflohen, werden ſollte, brachte ihn Andres
in ein einſames Zimmer und pflegte ihn auf alle
nur moͤgliche Weiſe, aber ſo behutſam ging er
dabei zu Werke, daß niemand die Anweſenheit
des Fremden ahnte; denn ſelbſt der Knabe, ge¬
wohnt dem Vater blindlings zu gehorchen, ver¬
ſchwieg getreulich das Geheimniß. Andres
frug nun den Trabacchio, „ob er denn gewiß
[200] und wahrhaftig Giorgina's Vater ſei.“ „Al¬
lerdings bin ich das,“ erwiederte Trabacchio.
„In der Gegend von Neapel entfuͤhrte ich einſt
ein bildſchoͤnes Maͤdchen, die mir eine Tochter
gebar. Nun weißt Du ſchon, Andres, daß
eines der groͤßten Kunſtſtuͤcke meines Vaters die
Bereitung jenes koͤſtlichen wunderſamen Liquors
war, wozu das Hauptingredienz das Herzblut
von Kindern iſt, die neun Wochen, neun Monate,
oder neun Jahre alt und von den Eltern dem
Laboranten freiwillig anvertraut ſeyn muͤſſen.
Je naͤher die Kinder mit dem Laboranten in
Beziehung ſtehen, deſto wirkungsvoller entſteht
aus ihrem Herzblut Lebenskraft, ſtete Verjuͤngung,
ja ſelbſt die Bereitung des kuͤnſtlichen Goldes.
Deshalb ſchlachtete mein Vater ſeine Kinder und
ich war froh, das Toͤchterlein, das mir mein
Weib geboren, auf ſolche verruchte Weiſe hoͤheren
Zwecken opfern zu koͤnnen. Noch kann ich nicht
begreifen, auf welche Weiſe mein Weib die boͤſe
Abſicht ahnte; aber ſie war vor Ablauf der neun¬
[201] ten Woche verſchwunden und erſt nach mehrern
Jahren erfuhr ich, daß ſie in Neapel geſtorben
ſei und ihre Tochter Giorgina bei einem graͤm¬
lichen geizhalſigen Gaſtwirth erzogen wuͤrde. Eben
ſo wurde mir ihre Verheirathung mit Dir und
Dein Aufenthalt bekannt. Nun kannſt Du Dir
erklaͤren, Andres, warum ich Deinem Weibe
gewogen war und warum ich, ganz erfuͤllt von
meinen verruchten Teufelskuͤnſten, Deinen Kindern
ſo nachſtellte. — Aber Dir, Andres, Dir allein
und Deiner wunderbaren Rettung durch Gottes
Allmacht verdanke ich meine tiefe Reue, meine
innere Zerknirſchung. Uebrigens iſt das Kiſtchen
mit Kleinodien, das ich Deinem Weibe gab,
dasjenige, welches ich auf des Vaters Geheiß
aus den Flammen rettete, Du kannſt es getroſt
aufbewahren fuͤr Deinen Knaben.“ „Das Kiſt¬
chen,“ fiel Andres ein, „hat Euch ja Gior¬
gina wieder gegeben an jenem ſchrecklichen Tage,
da ihr den graͤßlichen Mord veruͤbtet?“
„Allerdings,“ erwiederte Trabacchio: „allein
[202] ohne daß es Giorgina wußte, kam es wieder
in Euern Beſitz. Seht nur nach in der großen
ſchwarzen Truhe, die in Euerm Hausflur ſteht, da
werdet ihr das Kiſtchen auf dem Boden finden.“
Andres ſuchte in der Truhe und fand das
Kiſtchen wirklich ganz in dem Zuſtande wieder,
wie er es damals zum erſtenmal von Trabac¬
chio in Verwahrung erhalten. —
Andres fuͤhlte in ſich unheimlichen Unmuth,
ja er konnte ſich des Wunſches nicht erwehren,
daß Trabacchio todt geweſen ſeyn moͤge, als er
ihn im Graben fand. Freilich ſchien Trabac¬
chio's Reue und Buße wahrhaft zu ſeyn; denn
ohne ſeine Clauſe zu verlaſſen, brachte er ſeine
Zeit nur damit hin, in andaͤchtigen Buͤchern zu
leſen und ſeine einzige Ergoͤtzlichkeit war die Un¬
terhaltung mit dem kleinen Georg, den er uͤber
Alles zu lieben ſchien. Andres beſchloß indeſſen
doch auf ſeiner Hut zu ſeyn und eroͤffnete bei
erſter Gelegenheit das ganze Geheimniß dem Gra¬
fen von Vach, der uͤber das ſeltene Spiel des
[203] Schickſals nicht wenig verwundert war. So ver¬
gingen einige Monate, der Spaͤtherbſt war ein¬
getreten und Andres mehr auf der Jagd, als
ſonſt. Der Kleine blieb gewoͤhnlich bei dem
Großvater und einem alten Jaͤger, der um das
Geheimniß wußte. Eines Abends war Andres
von der Jagd zuruͤckgekehrt, als der alte Jaͤger
hineintrat und nach ſeiner treuherzigen Weiſe an¬
fing: „Herr, ihr habt einen boͤſen Kumpan im
Hauſe. Zu dem kommt der Gott ſei bei uns!
durch's Fenſter und geht wieder ab in Rauch und
Dampf.“ Dem Andres wurde es bei dieſer
Rede zu Muth, als haͤtt' ihn ein Blitzſtrahl ge¬
troffen. Er wußte nur zu genau, was das zu
bedeuten hatte; als ihm der alte Jaͤger weiter er¬
zaͤhlte, wie er ſchon mehrere Tage hinter einan¬
der in ſpaͤter Abenddaͤmmerung in Trabacchio's
Zimmer ſeltſame Stimmen gehoͤrt, die wie im
Zank durch einander geplappert, und heute zum
zweitenmal habe es ihm, indem er Trabacchio's
Thuͤre ſchnell geoͤffnet, geſchienen, als rauſche eine
[204] Geſtalt im rothen goldverbraͤmten Mantel zum
Fenſter hinaus. In vollem Zorn eilte Andres
herauf zum Trabacchio, hielt ihm vor, was
ſein Jaͤger ausgeſagt und kuͤndigte ihm an, daß
er ſich's gefallen laſſen muͤſſe, in's Schloßgefaͤng¬
niß geſperrt zu werden, wenn er nicht allen boͤſen
Tritten entſage. Trabacchio blieb ruhig, und
erwiederte im wehmuͤthigen Ton: „Ach, lieber
Andres! nur zu wahr iſt es, daß mein Vater,
deſſen Stuͤndlein noch immer nicht gekommen,
mich auf unerhoͤrte Weiſe peinigt und quaͤlt. Er
will, daß ich mich ihm wieder zuwende, und der
Froͤmmigkeit, dem Heil meiner Seele entſage,
allein ich bin ſtandhaft geblieben, und glaube
nicht, daß er wiederkehren wird, da er geſehen,
daß er nicht mehr uͤber mich Macht hat. Bleibe
ruhig, lieber Sohn Andres! und laß mich bei Dir
als ein frommer Chriſt verſoͤhnt mit Gott ſterben!“
In der That ſchien auch die feindliche Geſtalt
auszubleiben, indeſſen war es, als wuͤrden Tra¬
bacchio's Augen wieder gluͤhender, er laͤchelte
[205] zuweiſen ſo ſeltſam hoͤhniſch, wie ſonſt. Waͤhrend
der Betſtunde, die Andres jeden Abend mit
ihm zu halten pflegte, ſchien er oft krampfhaft
zu erzittern; zuweilen ſtrich eine ſeltſam pfeifende
Zugluft durch das Zimmer, welche die Blaͤtter
der Gebetbuͤcher raſchelnd umſchlug, ja die Buͤcher
ſelbſt dem Andres aus den Haͤnden warf.
„Gottloſer Trabacchio, verruchter Satan! Du
biſt es, der hier hoͤlliſchen Spuk treibt! Was
willſt Du von mir? hebe Dich weg, denn Du
haſt keine Macht uͤber mich! — hebe Dich weg!“
— So rief Andres mit ſtarker Stimme! Da
lachte es hoͤhniſch durch das Zimmer hin, und
ſchlug wie mit ſchwarzen Fittigen an das Fenſter.
Und doch war es nur der Regen, der an das
Fenſter geſchlagen, und der Herbſtwind, der durch
das Zimmer geheult, wie Trabacchio meinte,
als das Unweſen wieder einmal recht arg war
und Georg vor Angſt weinte.
„Nein,“ rief Andres: „Euer gottloſer Vater
koͤnnte hier nicht ſo herumſpuken, wenn Ihr aller
[206] und jeder Gemeinſchaft mit ihm entſagt haͤttet.
Ihr muͤßt fort von mir. Eure Wohnung iſt
Euch laͤngſt bereitet. Ihr muͤßt fort in's Schlo߬
gefaͤngniß; dort moͤget ihr Euern Spuk treiben
wie ihr wollt. Trabacchio weinte heftig, er bat
um aller Heiligen willen ihn im Hauſe zu dulden
und Georg, ohne zu begreifen, was das Alles
wohl bedeute, ſtimmte in ſeine Bitten ein. „So
bleibt denn noch morgen hier,“ ſagte Andres,
„ich will ſehen, wie es mit der Betſtunde gehen
wird, wenn ich heimkomme von der Jagd.“ Am
andern Tage gab es herrliches Herbſtwetter, und
Andres verſprach ſich eine reiche Beute. Als
er von dem Anſtand zuruͤckkehrte, war es ganz
finſter geworden. Er fuͤhlte ſich im innerſten Ge¬
muͤth beſonders bewegt; ſeine merkwuͤrdigen Schick¬
ſale, Giorgina's Bild, ſein ermordeter Knabe
traten ihm ſo lebendig vor Augen, daß er tief
in ſich gekehrt, immer langſamer und langſamer
den Jaͤgern nachſchlenderte, bis er ſich endlich
unverſehends auf einem Nebenwege allein im
[207] Forſt befand. Im Begriff zuruͤckzukehren in den
breiten Waldweg, wurde er ein blendendes Licht
gewahr, welches durch das dickſte Gebuͤſch flackerte.
Da ergriff ihn eine wunderbare verworrene Ah¬
nung großer Greuelthat, die veruͤbt werde; er
drang durch das Dickicht, er war dem Feuer nahe,
da ſtand des alten Trabacchio Geſtalt im gold¬
verbraͤmten Mantel, den Stoßdegen an der Seite,
den niedergekrempten Hut mit rother Feder auf
dem Kopfe, das Arzneikiſtchen unterm Arm.
Mit gluͤhenden Augen blickte die Geſtalt in das
Feuer, das wie in roth und blau flammenden
Schlangen unter einer Retorte hervorloderte. Vor
dem Feuer lag Georg nackt ausgebreitet auf
einer Art Roſt und der verruchte Sohn des ſata¬
niſchen Doktors hatte hoch das funkelnde Meſſer
erhoben zum Todesſtoß. Andres ſchrie auf vor
Entſetzen; aber ſo wie der Moͤrder ſich umblickte,
ſauſte ſchon die Kugel aus Andres Buͤchſe und
Trabacchio ſtuͤrzte mit zerſchmettertem Gehirn
uͤber das Feuer hin, das im Augenblick erloſch.
[208] Die Geſtalt des Doktors war verſchwunden.
Andres ſprang hinzu, ſtieß den Leichnam bei
Seite, band den armen Georg los und trug
ihn ſchnell fort bis ins Haus. Dem Knaben
fehlte nichts; nur die Todesangſt hatte ihn ohn¬
maͤchtig gemacht. Den Andres trieb es heraus
in den Wald, er wollte ſich von Trabacchio's
Tode uͤberzeugen und den Leichnam gleich verſchar¬
ren; er weckte daher den alten Jaͤger, der in tie¬
fen, wahrſcheinlich von Trabacchio bewirkten
Schlaf geſunken, und beide gingen mit Laterne,
Hacke und Spaten an die nicht weit entlegene
Stelle. Da lag der blutige Trabacchio; aber
ſo wie Andres ſich naͤherte, richtete er ſich mit
halbem Leibe auf, ſtarrte ihn graͤßlich an und roͤ¬
chelte dumpf: „Moͤrder! Moͤrder des Vaters Dei¬
nes Weibes, aber meine Teufel ſollen Dich quaͤlen!“
„Fahre zur Hoͤlle, Du ſataniſcher Boͤſewicht,“
ſchrie Andres, der dem Entſetzen, das ihn uͤber¬
mannen wollte, widerſtand; „fahre hin zur Hoͤlle,
Du, der Du den Tod hundertfaͤltig verdient haſt,
dem[209] dem ich den Tod gab, weil er verruchten Mord
an meinem Kinde, an dem Kinde ſeiner Tochter
veruͤben wollte! Du haſt nur Buße und Froͤm¬
migkeit geheuchelt um ſchaͤndlichen Verraths willen,
aber nun bereitet der Satan manche Quaal Dei¬
ner Seele, die Du ihm verkauft. Da ſank
Trabacchio heulend zuruͤck und immer dumpfer
und dumpfer wimmernd gab er ſeinen Geiſt auf.
Nun gruben die beiden Maͤnner ein tiefes Loch,
in das ſie Trabacchio's Koͤrper warfen. „Sein
Blut komme nicht uͤber mich!“ ſprach Andres,
„aber ich konnte nicht anders, ich war dazu aus¬
erſehen von Gott, meinen Georg zu retten und
hundertfaͤltige Frevel zu raͤchen. Doch will ich
fuͤr ſeine Seele beten und ein kleines Kreuz auf
ſein Grab ſtellen.“ Als andern Tages Andres
dieſes Vorhaben ausfuͤhren wollte, fand er die
Erde aufgewuͤhlt, der Leichnam war verſchwun¬
den. Ob das nun von wilden Thieren, oder wie
ſonſt bewirkt, blieb in Zweifel. Andres ging
mit ſeinem Knaben und dem alten Jaͤger zum
O[210] Grafen von Vach, und berichtete treulich die gan¬
ze Begebenheit. Der Graf von Vach billigte die
That des Andres, der zur Rettung ſeines Soh¬
nes einen Raͤuber und Moͤrder niedergeſtreckt hatte
und ließ den ganzen Verlauf der Sache niederſchrei¬
ben und im Archiv des Schloſſes aufbewahren. —
Die ſchreckliche Begebenheit hatte den An¬
dres tief im Innerſten erſchuͤttert, und wol
mochte er ſich deshalb, wenn die Nacht eingebro¬
chen, ſchlaflos auf dem Lager waͤlzen. Aber
wenn er ſo zwiſchen Wachen und Traͤumen hin¬
bruͤtete, da hoͤrte er es im Zimmer kniſtern und
rauſchen, und ein rother Schein fuhr hindurch
und verſchwand wieder. So wie er anfing zu
horchen und zu ſchauen, da murmelte es dumpf:
„Nun biſt Du Meiſter — Du haſt den
Schatz — Du haſt den Schatz — gebeut
uͤber die Kraft, ſie iſt Dein! —“ Dem An¬
dres war es, als wolle ein unbekanntes Ge¬
fuͤhl ganz eigner Wohlbehaglichkeit und Lebensluſt
in ihm aufgehen; aber ſo wie die Morgenroͤthe
[211] durch die Fenſter brach, da ermannte ſich An¬
dres und betete, wie er es zu thun gewohnt,
kraͤftig und inbruͤnſtig zu dem Herrn, der ſeine
Seele erleuchtete. „Ich weiß was nun noch mei¬
nes Amts und Berufs iſt, um den Verſucher zu
bannen und die Suͤnde abzuwenden von meinem
Hauſe!“ — So ſprach Andres, nahm Tra¬
bacchio's Kiſtchen und warf es, ohne es zu
oͤffnen, in eine tiefe Bergſchlucht. Nun genoß
Andres eines ruhigen heitern Alters, das keine
feindliche Macht zu zerſtoͤren vermochte.
O 2[212]
Die Jeſuiterkirche in G.
In eine elende Poſtchaiſe gepackt, die die Motten,
wie die Ratten Prospero's Fahrzeug, aus Inſtinkt
verlaſſen hatten, hielt ich endlich, nach halsbrechen¬
der Fahrt, halbgeraͤdert, vor dem Wirthshauſe
auf dem Markte in G. Alles Ungluͤck, das mir
ſelbſt begegnen koͤnnen, war auf meinen Wagen
gefallen, der zerbrochen bei dem Poſtmeiſter der
letzten Station lag. Vier magere abgetriebene
Pferde ſchleppten nach mehrern Stunden endlich
mit Huͤlfe mehrerer Bauern und meines Bedien¬
ten das baufaͤllige Reiſehaus herbei; die Sachver¬
ſtaͤndigen kamen, ſchuͤttelten die Koͤpfe und mein¬
ten, daß eine Hauptreparatur noͤthig ſei, die
zwei, auch wol drei Tage dauern koͤnne. Der Ort
[213] ſchien mir freundlich, die Gegend anmuthig und
doch erſchrak ich nicht wenig uͤber den mir ge¬
drohten Aufenthalt. Warſt Du, guͤnſtiger Leſer!
jemals genoͤthigt, in einer kleinen Stadt, wo Du
niemanden — niemanden kannteſt, wo Du jedem
fremd bliebſt, drei Tage zu verweilen, und hat
nicht irgend ein tiefer Schmerz den Drang nach
gemuͤthlicher Mittheilung in Dir weggezehrt, ſo
wirſt Du mein Unbehagen mit mir fuͤhlen. In
dem Wort geht ja erſt der Geiſt des Lebens auf
in Allem um uns her; aber die Kleinſtaͤdter ſind
wie ein in ſich ſelbſt veruͤbtes, abgeſchloſſenes
Orcheſter eingeſpielt und eingeſungen, nur ihre
eignen Stuͤcke gehen rein und richtig, jeder Ton
des Fremden diſſonirt ihren Ohren und bringt ſie
augenblicklich zum Schweigen. — Recht mißlau¬
nig ſchritt ich in meinem Zimmer auf und ab;
da fiel mir ploͤtzlich ein, daß ein Freund in der
Heimath, der ehemals ein paar Jahre hindurch
in G. geweſen, oft von einem gelehrten geiſtrei¬
chen Manne ſprach, mit dem er damals viel um¬
[214] gegangen. Auch des Namens erinnerte ich mich:
es war der Profeſſor im Jeſuiter-Collegio Aloy¬
ſius Walter. Ich beſchloß hinzugehen und
meines Freundes Bekanntſchaft fuͤr mich ſelbſt zu
nutzen. Man ſagte mir im Collegio, daß Pro¬
feſſor Walter zwar eben leſe, aber in kurzer
Zeit endigen werde, und ſtellte mir frei, ob ich
wiederkommen, oder in den aͤußeren Saͤlen ver¬
weilen wolle. Ich waͤhlte das letzte. Ueberall
ſind die Kloͤſter, die Collegien, die Kirchen der
Jeſuiten in jenem italieniſchen Styl gebaut, der
auf antike Form und Manier geſtuͤtzt, die An¬
muth und Pracht dem heiligen Ernſt, der reli¬
gioͤſen Wuͤrde vorzieht. So waren auch hier die
hohen, luftigen, hellen Saͤle mit reicher Architek¬
tur geſchmuͤckt, und ſonderbar genug ſtachen gegen
Heiligenbilder, die hie und da an den Waͤnden
zwiſchen ioniſchen Saͤulen hingen, die Superporten
ab, welche durchgehends Genientaͤnze, oder gar
Fruͤchte und Leckerbiſſen der Kuͤche darſtellten. —
Der Profeſſor trat ein, ich erinnerte ihn an
[215] meinen Freund, und nahm auf die Zeit meines
gezwungenen Aufenthalts ſeine Gaſtlichkeit in
Anſpruch. Ganz, wie ihn mein Freund beſchrie¬
ben, fand ich den Profeſſor; hellgeſpraͤchig —
weltgewandt — kurz, ganz in der Manier des
hoͤheren Geiſtlichen, der wiſſenſchaftlich ausgebil¬
det, oft genug uͤber das Brevier hinweg in das
Leben geſchaut hat, um genau zu wiſſen, wie es
darin hergeht. Als ich ſein Zimmer auch mit
moderner Eleganz eingerichtet fand, kam ich auf
meine vorigen Bemerkungen in den Saͤlen zu¬
ruͤck, die ich gegen den Profeſſor laut werden
ließ. „Es iſt wahr,“ erwiederte er, „wir haben
jenen duͤſtern Ernſt, jene ſonderbare Majeſtaͤt des
niederſchmetternden Tyrannen, die im gothiſchen
Bau unſere Bruſt beklemmt, ja wol ein unheimli¬
ches Grauen erregt, aus unſeren Gebaͤuden ver¬
bannt, und es iſt wol verdienſtlich, unſern Werken
die regſame Heiterkeit der Alten anzueignen.“
„Sollte aber,“ erwiederte ich, „nicht eben jene hei¬
lige Wuͤrde, jene hohe zum Himmel ſtrebende Ma¬
[216] jeſtaͤt des gothiſchen Baues recht von dem wahren
Geiſt des Chriſtenthums erzeugt ſeyn, der, uͤber¬
ſinnlich, dem ſinnlichen, nur in dem Kreis des
Irdiſchen bleibenden Geiſte der antiken Welt ge¬
radezu widerſtrebt?“ — Der Profeſſor laͤchelte.
„Ei,“ ſprach er, „das hoͤhere Reich ſoll man
erkennen in dieſer Welt und dieſe Erkenntniß
darf geweckt werden durch heitere Symbole, wie
ſie das Leben, ja der aus jenem Reich ins irdi¬
ſche Leben herabgekommene Geiſt, darbietet. Un¬
ſere Heimath iſt wohl dort droben; aber ſo lange
wir hier hauſen, iſt unſer Reich auch von dieſer
Welt.“ Ja wohl, dachte ich: in Allem was
Ihr thatet, bewieſet ihr, daß Euer Reich von
dieſer Welt, ja nur allein von dieſer Weit iſt.
Ich ſagte aber das, was ich dachte, keinesweges
dem Profeſſor Aloyſius Walter, welcher
alſo fortfuhr: „Was Sie von der Pracht unſerer
Gebaͤude hier am Orte ſagen, moͤchte ſich wol
nur auf die Annehmlichkeit der Form beziehen.
Hier, wo der Marmor unerſchwinglich iſt, wo
[217] große Meiſter der Mahlerkunſt nicht arbeiten
moͤgen, hat man ſich, der neuern Tendenz gemaͤß,
mit Surrogaten behelfen muͤſſen. Wir thun viel,
wenn wir uns zum polirten Gips verſteigen, meh¬
rentheils ſchafft nur der Mahler die verſchiedenen
Marmorarten, wie es eben jetzt in unſerer Kirche
geſchieht, die, Dank ſei es der Freigebigkeit un¬
ſerer Patronen, neu dekorirt wird.“ Ich aͤußerte
den Wunſch, die Kirche zu ſehen; der Profeſſor
fuͤhrte mich hinab, und als ich in den korinthi¬
ſchen Saͤulengang, der das Schiff der Kirche
formte, eintrat, fuͤhlte ich wohl den nur zu
freundlichen Eindruck der zierlichen Verhaͤltniſſe.
Dem Hochaltare links war ein hohes Geruͤſte er¬
richtet, auf dem ein Mann ſtand, der die Waͤnde
in Giallo antik uͤbermahlte. „Nun wie geht es,
Berthold?“ rief der Profeſſor hinauf. Der
Mahler wandte ſich nach uns um, aber gleich
fuhr er wieder fort zu arbeiten, indem er mit
dumpfer beinahe unvernehmbarer Stimme ſprach:
„Viel Plage — krummes verworrenes Zeug —
[218] Kein Lineal zu brauchen — Thiere — Affen —
Menſchengeſichter — Menſchengeſichter — o ich
elender Thor!“ Das letzte rief er laut mit einer
Stimme, die nur der tiefſte im Innerſten wuͤh¬
lende Schmerz erzeugt; ich fuͤhlte mich auf die
ſeltſamſte Weiſe angeregt, jene Worte und der
Ausdruck des Geſichts, der Blick, womit er zuvor
den Profeſſor anſchaute, brachten mir das ganze
zerriſſene Leben eines ungluͤcklichen Kuͤnſtlers vor
Augen. Der Mann mochte kaum uͤber vierzig
Jahr alt ſeyn; ſeine Geſtalt, war ſie auch durch
den unfoͤrmlichen ſchmutzigen Mahleranzug ent¬
ſtellt, hatte was unbeſchreiblich edles, und der
tiefe Gram konnte nur das Geſicht entfaͤrben,
das Feuer, was in den ſchwarzen Augen ſtrahlte,
aber nicht ausloͤſchen. Ich frug den Profeſſor,
was es mit dem Maler wol fuͤr eine Bewandt¬
niß haͤtte. „Es iſt ein fremder Kuͤnſtler,“ er¬
wiederte er, „der ſich gerade zu der Zeit hier
einfand, als die Reparatur der Kirche beſchloſſen
worden. Er unternahm die Arbeit, die wir ihm
[219] antrugen, mit Freuden, und in der That war
ſeine Ankunft ein Gluͤcksfall fuͤr uns; denn weder
hier, noch in der Gegend weit umher haͤtten wir
einen Mahler auftreiben koͤnnen, der fuͤr alles,
deſſen es hier zu mahlen bedarf, ſo tuͤchtig gewe¬
ſen waͤre. Uebrigens iſt es der gutmuͤthigſte
Menſch von der Welt, den wir alle recht lieben,
und ſo kommt es denn, daß er in unſerm Colle¬
gio gut aufgenommen wurde. Außer dem an¬
ſehnlichen Honorar, das er fuͤr ſeine Arbeit erhaͤlt,
verkoͤſtigen wir ihn; dies iſt aber fuͤr uns ein
ſehr geringer Aufwand, denn er iſt beinahe zu
maͤßig, welches freilich ſeinem kraͤnklichen Koͤrper
zuſagen mag.“
„Aber,“ fiel ich ein, „er ſchien heute ſo muͤr¬
riſch — ſo aufgeregt.“ „Das hat ſeine beſondere
Urſache,“ erwiederte der Profeſſor, „doch laſſen
Sie uns einige ſchoͤne Gemaͤhlde der Seiten-Al¬
taͤre anſchauen, die vor einiger Zeit ein gluͤckli¬
cher Zufall uns verſchaffte. Nur ein einziges
Original, ein Dominichino, iſt dabei, die anderen
[220] ſind von unbekannten Meiſtern der italieniſchen
Schule, aber, ſind Sie vorurtheilsfrei, ſo werden
Sie geſtehen muͤſſen, daß jedes den beruͤhmteſten
Namen tragen duͤrfte.“ Ich fand es ganz ſo,
wie der Profeſſor geſagt hatte. Es war ſeltſam,
daß das einzige Original gerade zu den ſchwaͤchern
Stuͤcken gehoͤrte, war es nicht wirklich das
ſchwaͤchſte, und daß dagegen die Schoͤnheit man¬
cher Gemaͤhlde ohne Namen mich unwiderſtehlich
hinriß. Ueber das Gemaͤhlde eines Altars war
eine Decke herabgelaſſen; ich frug nach der Ur¬
ſache. „Dies Bild,“ ſprach der Profeſſor, „iſt
das ſchoͤnſte was wir beſitzen, es iſt das Werk
eines jungen Kuͤnſtlers der neueren Zeit — gewiß
ſein letztes, denn ſein Flug iſt gehemmt — Wir
mußten in dieſen Tagen das Gemaͤhlde aus ge¬
wiſſen Gruͤnden verhaͤngen laſſen, doch bin ich
vielleicht morgen, oder uͤbermorgen im Stande, es
Ihnen zu zeigen.“ — Ich wollte weiter fragen,
indeſſen ſchritt der Profeſſor raſch durch den Gang
fort, und das war genug, um ſeine Unluſt zu
[221] zeigen, mir weiter zu antworten. Wir gingen in
das Collegium zuruͤck, und gern nahm ich des
Profeſſors Einladung an, der mit mir Nachmit¬
tags einen nahgelegenen Luſtort beſuchen wollte.
Spaͤt kehrten wir heim, ein Gewitter war auf¬
geſtiegen, und kaum langte ich in meiner Woh¬
nung an, als der Regen herabſtroͤmte. Es
mochte wol ſchon Mitternacht ſeyn, da klaͤrte
ſich der Himmel auf, und nur noch entfernt mur¬
melte der Donner. Durch die geoͤffneten Fenſter
wehte die laue, mit Wohlgeruͤchen geſchwaͤngerte,
Luft in das dumpfe Zimmer, ich konnte der Ver¬
ſuchung nicht widerſtehen, unerachtet ich muͤde
genug war, noch einen Gang zu machen; es
gluͤckte mir, den muͤrriſchen Hausknecht, der ſchon
ſeit zwei Stunden ſchnarchen mochte, zu erwecken,
und ihn zu bedeuten, daß es kein Wahnſinn ſei, noch
um Mitternacht ſpatzieren zu gehen, bald befand
ich mich auf der Straße. Als ich bei der Je¬
ſuiterkirche voruͤberging, fiel mir das blendende
Licht auf, das durch ein Fenſter ſtrahlte. Die
[222] kleine Seitenpforte war nur angelehnt, ich trat
hinein und wurde gewahr, daß vor einer hohen
Blende eine Wachsfackel brannte. Naͤher gekom¬
men bemerkte ich, daß vor der Blende ein Netz
von Bindfaden aufgeſpannt war, hinter dem eine
dunkle Geſtalt eine Leiter hinauf und hinunter
ſprang, und in die Blende etwas hineinzuzeichnen
ſchien. Es war Berthold, der den Schatten
des Netzes mit ſchwarzer Farbe genau uͤberzog.
Neben der Leiter auf einer hohen Staffelei ſtand
die Zeichnung eines Altars. Ich erſtaunte uͤber
den ſinnreichen Einfall. Biſt Du, guͤnſtiger Le¬
ſer, mit der edlen Mahlerkunſt was weniges
vertraut, ſo wirſt Du ohne weitere Erklaͤrung
ſogleich wiſſen, was es mit dem Netz, deſſen
Schattenſtriche Berthold in die Blende hinein¬
zeichnete, fuͤr eine Bewandtniß hat. Berthold
ſollte in die Blende einen hervorſpringenden Altar
mahlen. Um die kleine Zeichnung richtig in das
Große zu uͤbertragen, mußte er beides, den Ent¬
wurf und die Flaͤche, worauf der Entwurf aus¬
[223] gefuͤhrt werden ſollte, dem gewoͤhnlichen Verfahren
gemaͤß mit einem Netz uͤberziehn. Nun war es aber
keine Flaͤche, ſondern eine halbrunde Blende, wor¬
auf gemahlt werden ſollte; die Gleichung der Qua¬
drate, die die krummen Linien des Netzes auf
der Hoͤlung bildeten, mit den geraden des Ent¬
wurfs und die Berichtigung der architektoniſchen
Verhaͤltniſſe, die ſich herausſpringend darſtellen
ſollten, war daher nicht anders zu finden, als auf
jene einfache geniale Weiſe. Wol huͤtete ich mich
vor die Fackel zu treten, und mich ſo durch mei¬
nen Schlagſchatten zu verrathen, aber nahe ge¬
nug zur Seite ſtand ich, um den Mahler genau
zu beobachten. Er ſchien mir ganz ein anderer,
vielleicht war es nur Wirkung des Fackelſcheins,
aber ſein Geſicht war geroͤthet, ſeine Augen blitz¬
ten wie vor innerm Wohlbehagen, und als er
ſeine Linien fertig gezeichnet, ſtellte er ſich mit
in die Seite geſtemmten Haͤnden vor die Blende
hin, und pfiff, die Arbeit beſchauend, ein mun¬
tres Liedchen. Nun wandte er ſich um und riß
[224] das aufgeſpannte Netz herunter. Da fiel ihm
meine Geſtalt ins Auge, „he da! he da!“ rief
er laut: „ſeid ihr es Chriſtian?“ — Ich trat
auf ihn zu, erklaͤrte ihm was mich in die Kirche
gelockt, und, den ſinnreichen Einfall mit dem
Schattennetz hochpreiſend, gab ich mich als Ken¬
ner und Ausuͤber der edlen Mahlerkunſt zu er¬
kennen. Ohne mir darauf weiter zu antworten,
ſprach Berthold: „Chriſtian iſt auch wei¬
ter nichts, als ein Faulenzer; treu wollte er aus¬
halten bei mir die ganze Nacht hindurch, und
nun liegt er gewiß irgendwo auf dem Ohr! —
Mein Werk muß vorruͤcken, denn morgen mahlt
ſich's vielleicht hier in der Blende teufelmaͤßig
ſchlecht — und allein kann ich doch jetzt nichts
machen.“ Ich erbot mich ihm behuͤlflich zu ſeyn.
Er lachte laut auf, faßte mich bei beiden Schultern
und rief: „das iſt ein excellenter Spaß; was wird
Chriſtian ſagen, wenn er morgen merkt, daß
er ein Eſel iſt, und ich ſeiner gar nicht bedurft
habe? Nun ſo kommt, fremder Geſelle und Bru¬
der,[225] der, helft mir erſt fein bauen.“ Er zuͤndete einige
Kerzen an, wir liefen durch die Kirche, ſchlepp¬
ten Boͤcke und Breter herbei und bald ſtand ein
hohes Geruͤſt in der Blende. „Nun friſch zu¬
gereicht,“ rief Berthold, indem er heraufſtieg.
Ich erſtaunte uͤber die Schnelligkeit, mit der Bert¬
hold die Zeichnung ins Große uͤbertrug; keck zog
er ſeine Linien, niemals gefehlt, immer richtig
und rein. An dergleichen Dinge in fruͤherer
Zeit gewoͤhnt, half ich dem Mahler treulich, in¬
dem ich, bald oben, bald unter ihm ſtehend, die
langen Lineale in die angedeuteten Punkte ein¬
ſetzte und feſthielt, die Kohlen ſpitz ſchliff und
ihm zureichte u. ſ. w. „Ihr ſeid ja gar ein
wackerer Gehuͤlfe,“ rief Berthold ganz froͤhlich,
„und Ihr,“ erwiederte ich, „in der That einer
der geuͤbteſten Architektur-Mahler, die es geben
mag; habt Ihr denn bei Eurer fertigen kecken
Fauſt nie andere Mahlerei getrieben, als dieſe? —
Verzeiht meine Frage.“ „Was meint Ihr denn
eigentlich?“ ſprach Berthold. „Nun,“ erwiederte
P[226] ich, „ich meine, daß ihr zu etwas beſſerem taugt,
als Kirchenwaͤnde mit Marmorſaͤulen zu bemah¬
len. Architektur-Mahlerei bleibt doch immer et¬
was untergeordnetes; der Hiſtorien-Mahler, der
Landſchafter ſteht unbedingt hoͤher. Geiſt und
Fantaſie, nicht in die engen Schranken geome¬
triſcher Linien gebannt, erheben ſich in freiem
Fluge. Selbſt das einzige Fantaſtiſche Eurer
Mahlerei, die ſinnetaͤuſchende Perſpektive, haͤngt
von genauer Berechnung ab, und ſo iſt die Wir¬
kung das Erzeugniß, nicht des genialen Gedan¬
kens, ſondern nur mathematiſcher Spekulation.“
Der Mahler hatte, waͤhrend ich dies ſprach,
den Pinſel abgeſetzt, und den Kopf in die Hand
geſtuͤtzt. „Unbekannter Freund,“ fing er jetzt mit
dumpfer feierlicher Stimme an: „Unbekannter
Freund, Du frevelſt, wenn Du die verſchiedenen
Zweige der Kunſt in Rangordnung ſtellen willſt,
wie die Vaſallen eines ſtolzen Koͤnigs. Und noch
groͤßerer Frevel iſt es, wenn Du nur die Ver¬
wegenen achteſt, welche taub fuͤr das Klirren
[227] der Sclavenkette, fuͤhllos fuͤr den Druck des Ir¬
diſchen, ſich frei, ja ſelbſt ſich Gott waͤhnen und
ſchaffen und herrſchen wollen uͤber Licht und Le¬
ben. — Kennſt Du die Fabel von dem Prome¬
theus, der Schoͤpfer ſeyn wollte, und das Feuer
vom Himmel ſtahl, um ſeine todten Figuren zu
beleben? — Es gelang ihm, lebendig ſchritten
die Geſtalten daher, und aus ihren Augen ſtrahlte
jenes himmliſche Feuer, das in ihrem Innern
brannte; aber rettungslos wurde der Frevler, der
ſich angemaßt Goͤttliches zu fahen, verdammt zu
ewiger fuͤrchterlicher Qual. Die Bruſt, die
das Goͤttliche geahnt, in der die Sehnſucht nach
dem Ueberirdiſchen aufgegangen, zerfleiſchte der
Geier, den die Rache geboren und der ſich nun
naͤhrte von dem eignen Innern des Vermeſſenen.
Der das Himmliſche gewollt, fuͤhlte ewig den
irdiſchen Schmerz.“ — Der Mahler ſtand in
ſich verſunken da. „Aber,“ rief ich: „Aber
Berthold, wie beziehen Sie das Alles
auf Ihre Kunſt? Ich glaube nicht, daß irgend
P 2[228] jemand es fuͤr vermeſſenen Frevel halten kann,
Menſchen zu bilden, ſei es durch Mahlerei, oder
Plaſtik.“ Wie in bitterm Hohn lachte Ber¬
thold auf: „Ha ha — Kinderſpiel iſt kein Fre¬
vel! — Kinderſpiel iſt's wie Sie's machen, die
Leute, die getroſt ihre Pinſel in die Farbentoͤpfe
ſtecken und eine Leinwand beſchmieren, mit der
wahrhaftigen Begier, Menſchen darzuſtellen; aber
es kommt ſo heraus, als habe, wie es in jenem
Trauerſpiele ſteht, irgend ein Handlanger der
Natur verſucht Menſchen zu bilden, und es ſei
ihm mißlungen. — Das ſind keine freveliche
Suͤnder, das ſind nur arme unſchuldige Narren!
Aber Herr! — wenn man nach dem Hoͤchſten
ſtrebt — nicht Fleiſchesluſt, wie Titian — nein
das Hoͤchſte der goͤttlichen Natur, der Prometheus¬
funken im Menſchen — Herr! — es iſt eine
Klippe — ein ſchmaler Strich, auf dem man
ſteht — der Abgrund iſt offen! — uͤber ihm
ſchwebt der kuͤhne Segler und ein teufliſcher Trug
laͤßt ihn unten — unten das erblicken, was er
[229] oben uͤber den Sternen erſchauen wollte!“ —
Tief ſeufzte der Mahler auf, er fuhr mit der
Hand uͤber die Stirn, und blickte dann in die
Hoͤhe. „Aber was ſchwatze ich mit Euch, Geſelle,
da drunten fuͤr tolles Zeug, und mahle nicht wei¬
ter? — Schaut her Geſelle, das nenne ich treu
und ehrlich gezeichnet. Wie herrlich iſt die Re¬
gel! — alle Linien einen ſich zum beſtimmten
Zweck, zu beſtimmter deutlich gedachter Wirkung.
Nur das Gemeſſene iſt rein menſchlich; was druͤ¬
ber geht, vom Uebel. Das Uebermenſchliche muß
Gott, oder Teufel ſeyn; ſollten beide nicht in der
Mathematik von Menſchen uͤbertroffen werden?
Sollt' es nicht denkbar ſeyn, daß Gott uns aus¬
druͤcklich erſchaffen haͤtte, um das, was nach ge¬
meſſenen erkennbaren Regeln darzuſtellen iſt, kurz,
das rein Commenſurable, zu beſorgen fuͤr ſeinen
Hausbedarf, ſo wie wir unſrerſeits wieder Saͤge¬
muͤhlen und Spinnmaſchinen bauen, als mecha¬
niſche Werkmeiſter unſeres Bedarfs. Profeſſor
Walther behauptete neulich, daß gewiſſe Thiere
[230] blos erſchaffen waͤren, um von andern gefreſſen
zu werden, und das kaͤme doch am Ende zu un¬
ſerm Nutzen heraus, ſo wie z. B. die Katzen
den angebornen Inſtinkt haͤtten, Maͤuſe zu freſſen,
damit dieſe uns nicht den Zucker, der zum Fruͤh¬
ſtuͤck bereit laͤge, wegknappern ſollten. Am Ende
hat der Profeſſor Recht — Thiere und wir ſelbſt
ſind gut eingerichtete Maſchinen, um gewiſſe
Stoffe zu verarbeiten, und zu verkneten fuͤr den
Tiſch des unbekannten Koͤnigs — Nun friſch —
friſch, Geſelle — reiche mir die Toͤpfe! — Alle
Toͤne hab' ich geſtern beim lieben Sonnenlicht
abgeſtimmt, damit mich der Fackelſchein nicht truͤge,
ſie ſtehn numerirt im Winkel. Reich' mir Nu¬
mero eins, mein Junge! — Grau in Grau! —
Und was waͤre das trockne muͤhſelige Leben, wenn
der Herr des Himmels uns nicht ſo manches
bunte Spielzeug in die Haͤnde gegeben haͤtte! —
Wer artig iſt, trachtet nicht, wie der neugierige
Bube, den Kaſten zu zerbrechen, in dem es orgelt,
wenn er die aͤußere Schraube dreht. — Man
[231] ſagt, es iſt ganz natuͤrlich, daß es drinnen klingt;
denn ich drehe ja die Schraube! — Indem ich
dies Gebaͤlk richtig aus dem Augenpunkt aufge¬
zeichnet, weiß ich beſtimmt, daß es ſich dem Be¬
ſchauer plaſtiſch darſtellt — Numero zwei herauf¬
gereicht, Junge! — Nun mahle ich es aus in
den regelrecht abgeſtimmten Farben — es erſcheint
vier Ellen zuruͤcktretend. Das weiß ich alles ge¬
wiß; o! man iſt erſtaunlich klug — Wie kommt
es, daß die Gegenſtaͤnde in der Ferne ſich ver¬
kleinern? Die einzige dumme Frage eines Chineſen
koͤnnte ſelbſt den Profeſſor Eytelwein in Ver¬
legenheit ſetzen; doch koͤnnte er ſich mit dem or¬
gelnden Kaſten helfen und ſprechen, er habe
manchmal an der Schraube gedreht, und immer
dieſelbe Wirkung erfahren — Violett Numero
eins, Junge! — ein anderes Lineal — dicken
ausgewaſchenen Pinſel! Ach, was iſt all' unſer
Ringen und Streben nach dem Hoͤheren anderes,
als das unbeholfene bewußtloſe Handthieren des
Saͤuglings, der die Amme verletzt, die ihn wohl¬
[232] thaͤtig naͤhrt! — Violett Numero zwei — friſch
Junge! — das Ideal iſt ein ſchnoͤder luͤgneriſcher
Traum vom gaͤhrenden Blute erzeugt. — Die
Toͤpfe weg, Junge — ich ſteige herab. — Der
Teufel narrt uns mit Puppen, denen er Engels¬
fittige angeleimt.“ — Nicht moͤglich iſt es mir,
alles das woͤrtlich zu wiederholen, was Ber¬
thold ſprach, indem er raſch fortmahlte, und mich
ganz wie ſeinen Handlanger brauchte. In der
angegebenen Manier fuhr er fort, die Beſchraͤnkt¬
heit alles irdiſchen Beginnens auf das bitterſte
zu verhoͤhnen; ach er ſchaute in die Tiefe eines
auf den Tod verwundeten Gemuͤths, deſſen Klage
ſich nur in ſchneidender Ironie erhebt. Der Mor¬
gen daͤmmerte, der Schein der Fackel verblaßte
vor den hereinbrechenden Sonnenſtrahlen. Ber¬
thold mahlte eifrig fort, aber er wurde ſtiller und
ſtiller und nur einzelne Laute — zuletzt nur Seuf¬
zer, entflohen der gepreßten Bruſt. Er hatte den
ganzen Altar mit gehoͤriger Farbenabſtufung an¬
gelegt, und ſchon jetzt, ohne weiter ausgefuͤhrt zu
[233] ſeyn, ſprang das Gemaͤhlde wunderbar hervor.
„In der That herrlich — ganz herrlich,“ rief ich
voll Bewunderung aus. „Meinen Sie,“ ſprach
Berthold mit matter Stimme: „Meinen Sie,
daß etwas daraus werden wird? — Ich gab
mir wenigſtens alle Muͤhe richtig zu zeichnen;
aber nun kann ich nicht mehr.“ — „Keinen
Pinſelſtrich weiter, lieber Berthold!“ ſprach
ich: „es iſt beinahe unglaublich, wie Sie mit
einem ſolchen Werk in wenigen Stunden ſo weit
vorruͤcken konnten; aber Sie greifen Sich zu ſehr
an, und verſchwenden Ihre Kraft.“ „Und doch,“
erwiederte Berthold, „ſind das meine gluͤcklich¬
ſten Stunden. — Vielleicht ſchwazte ich zu viel,
aber es ſind ja nur Worte, in die ſich der das
Innere zerreiſſende Schmerz aufloͤſt.“ „Sie ſchei¬
nen Sich ſehr ungluͤcklich zu fuͤhlen, mein armer
Freund,“ ſprach ich: „irgend ein furchtbares Er¬
eigniß trat feindlich zerſtoͤrend in ihr Leben!“ —
Der Mahler trug langſam ſeine Geraͤthſchaften
in die Capelle, loͤſchte die Fackel aus, kam dann
[234] auf mich zu, faßte meine Hand und ſprach mit
gebrochener Stimme: „Koͤnnten Sie einen Augen¬
blick ihres Lebens ruhigen, heitern Geiſtes ſeyn,
wenn Sie Sich eines graͤßlichen, nie zu ſuͤhnen¬
den Verbrechens bewußt waͤren?“ — Erſtarrt
blieb ich ſtehen. Die hellen Sonnenſtrahlen fielen
in des Mahlers leichenblaſſes zerſtoͤrtes Geſicht, und
er war beinahe geſpenſtiſch anzuſehen, als er fort¬
wankte durch die kleine Pforte in das Innere
des Collegiums. —
Kaum erwarten konnte ich am folgenden Tage
die Stunde, die mir Profeſſor Walther zum
Wiederſehen beſtimmt hatte. Ich erzaͤhlte ihm
den ganzen Auftritt der vorigen Nacht, der mich
nicht wenig aufgeregt hatte; ich ſchilderte mit den
lebendigſten Farben des Mahlers wunderliches
Benehmen, und verſchwieg kein Wort, das er ge¬
ſprochen, ſelbſt das nicht, was ihn ſelbſt betroffen.
Je mehr ich aber auf des Profeſſors Theilnahme
hoffte, deſto gleichguͤltiger ſchien er mir, ja er
laͤchelte ſelbſt uͤber mich auf eine hoͤchſt widrige
[235] Weiſe, als ich nicht nachließ, von Berthold zu
reden und in ihn zu dringen, mir ja alles, was
er von dem Ungluͤcklichen wuͤßte, zu ſagen. „Es
iſt ein wunderlicher Menſch, dieſer Mahler,“ fing
der Profeſſor an: „ſanft — gutmuͤthig — arbeit¬
ſam — nuͤchtern, wie ich Ihnen ſchon fruͤher
ſagte, aber ſchwachen Verſtandes; denn ſonſt haͤtte
er ſich nicht durch irgend ein Ereigniß im Leben,
ſei es ſelbſt ein Verbrechen, das er beging, herab¬
ſtimmen laſſen vom herrlichen Hiſtorienmahler
zum duͤrftigen Wandpinsler.“ Der Ausdruck
Wandpinsler aͤrgerte mich ſo wie des Profeſſors
Gleichguͤltigkeit uͤberhaupt. Ich ſuchte ihm darzu¬
thun, daß noch jetzt Berthold ein hoͤchſt ach¬
tungswerther Kuͤnſtler, und der hoͤchſten regſa¬
men Theilnahme werth ſei. „Nun,“ fing der
Profeſſor endlich an: „wenn Sie einmal unſer
Berthold in ſolch hohem Grade intereſſirt, ſo
ſollen Sie Alles, was ich von ihm weiß, und
das iſt nicht wenig, ganz genau erfahren. Zur
Einleitung deſſen, laſſen Sie uns gleich in die
[236] Kirche gehen! Da Berthold die ganze Nacht
hindurch mit Anſtrengung gearbeitet hat, wird
er heute Vormittags raſten. Wenn wir ihn in
der Kirche faͤnden, waͤre mein Zweck verfehlt.“
Wir gingen nach der Kirche, der Profeſſor ließ
das Tuch von dem verhaͤngten Gemaͤhlde herun¬
ternehmen und in zauberiſchem Glanze ging vor
mir ein Gemaͤhlde auf, wie ich es nie geſehen.
Die Compoſition war wie Raphaels Styl, einfach
und himmliſch erhaben! — Maria und Eliſabeth
in einem ſchoͤnen Garten auf einem Raſen ſitzend,
vor ihnen die Kinder Johannes und Chriſtus mit
Blumen ſpielend, im Hintergrunde ſeitwaͤrts eine
betende maͤnnliche Figur! — Maria's holdes
himmliſches Geſicht, die Hoheit und Froͤmmigkeit
ihrer ganzen Figur erfuͤllten mich mit Staunen
und tiefer Bewunderung. Sie war ſchoͤn, ſchoͤ¬
ner als je ein Weib auf Erden, aber ſo wie Ra¬
phaels Maria in der Dresdner Gallerie ver¬
kuͤndete ihr Blick die hoͤhere Macht der Gottes-
Mutter. Ach! mußte vor dieſen wunderbaren,
[237] von tiefem Schatten umfloſſenen Augen nicht in
des Menſchen Bruſt die ewigduͤrſtende Sehnſucht
aufgehen? Sprachen die weichen halbgeoͤffneten
Lippen nicht troͤſtend, wie in holden Engels Me¬
lodien, von der unendlichen Seligkeit des Him¬
mels? — Nieder mich zu werfen in den Staub
vor ihr, der Himmels Koͤnigin, trieb mich ein un¬
beſchreibliches Gefuͤhl — keines Wortes maͤchtig
konnte ich den Blick nicht abwenden von dem
Bilde ohne Gleichen. Nur Maria und die
Kinder waren ganz ausgefuͤhrt, an der Figur
Eliſabeths ſchien die letzte Hand zu fehlen,
und der betende Mann war noch nicht uͤbermahlt.
Naͤher getreten erkannte ich in dem Geſicht die¬
ſes Mannes Berthold's Zuͤge. Ich ahnte,
was mir der Profeſſor gleich darauf ſagte: Die¬
ſes Bild, ſprach er, iſt Berthold's letzte Ar¬
beit, das wir vor mehreren Jahren aus N. in
Oberſchleſien, wo es von einem unſerer Collegen
in einer Verſteigerung gekauft wurde, erhielten.
Unerachtet es nicht vollendet iſt, ließen wir es
[238] doch ſtatt des elenden Altarblatts, das ſonſt
hier ſtand, einfuͤgen. Als Berthold angekom¬
men war und dies Gemaͤhlde erblickte, ſchrie er
laut auf und ſtuͤrzte bewußtlos zu Boden. Nach¬
her vermied er ſorgfaͤltig, es anzublicken und ver¬
traute mir, daß es ſeine letzte Arbeit in dieſem
Fache ſei. Ich hoffte ihn nach und nach zur
Vollendung des Bildes zu uͤberreden, aber mit
Entſetzen und Abſcheu wies er jeden Antrag der
Art zuruͤck. Um ihn nur einigermaßen heiter
und kraͤftig zu erhalten, mußte ich das Bild ver¬
haͤngen laſſen, ſo lange er in der Kirche arbeitet.
Fiel es ihm nur von ungefaͤhr ins Auge, ſo lief
er wie von unwiderſtehlicher Macht getrieben hin,
warf ſich laut ſchluchzend nieder, bekam ſeinen
Paroxysmus, und war auf mehrere Tage un¬
brauchbar.“ — „Armer — armer ungluͤcklicher
Mann!“ — rief ich aus, „welch' eine Teufelsfauſt
griff ſo grimmig zerſtoͤrend in dein Leben.“ „O!“
ſprach der Profeſſor: „die Hand ſammt dem Arm
iſt ihm an den Leib gewachſen — Ja ja! — er
[239] ſelbſt war gewiß ſein eigner Daͤmon — ſein
Luzifer, der in ſein Leben mit der Hoͤllen¬
fackel hineinleuchtete. Wenigſtens geht das aus
ſeinem Leben ſehr deutlich hervor.“ Ich bat
den Profeſſor, mir doch nur jetzt gleich Alles
zu ſagen, was er uͤber des ungluͤcklichen Mah¬
lers Leben wuͤßte. „Das wuͤrde viel zu weit¬
laͤuftig ſeyn, und viel zu viel Athem koſten,“
erwiederte der Profeſſor. „Verderben wir uns den
heitern Tag nicht mit dem truͤben Zeuge! Laſſen
Sie uns fruͤhſtuͤcken, und dann nach der Muͤhle
gehen, wo uns ein tuͤchtig zubereitetes Mittags¬
mahl erwartet.“ Ich hoͤrte nicht auf, in den
Profeſſor zu dringen, und nach vielem Hin- und
Herreden kam es endlich heraus, daß gleich nach
der Ankunft Berthold's ſich ein Juͤngling, der
auf dem Collegio ſtudirte, mit voller Liebe an ihn
anſchloß, daß dieſem Berthold nach und nach
die Begebenheiten ſeines Lebens vertraute, die der
junge Mann ſorglich aufſchrieb und dem Profeſſor
Walther das Manuſcript uͤbergab. „Es war.“
[240] ſprach der Profeſſor: „ſolch ein Enthuſiaſt, wie
Sie, mein Herr, mit Ihrer Erlaubniß! Aber das
Aufſchreiben der wunderlichen Begebenheiten des
Mahlers diente ihm in der That zur treflichen
Styluͤbung. Mit vieler Muͤhe erhielt ich von
dem Profeſſor das Verſprechen, daß er mir Abends
nach geendeter Luſtpartie das Manuſcript anver¬
trauen wolle. Sei es, daß es die geſpannte Neu¬
gierde war, oder war der Profeſſor wirklich ſelbſt
daran Schuld, kurz, niemals hab' ich mehr Lan¬
geweile empfunden, als den Tag. Schon die
Eiskaͤlte des Profeſſors Ruͤckſichts Bertholds
war mir fatal; aber ſeine Geſpraͤche, die er mit
den Collegen, die an dem Mahl Theil nahmen,
fuͤhrte, uͤberzeugten mich, daß, trotz aller Gelehr¬
ſamkeit, aller Weltgewandtheit, ſein Sinn fuͤr's
Hoͤhere gaͤnzlich verſchloſſen, und er der kraſſeſte
Materialiſt war, den es geben konnte. Das
Syſtem von dem freſſen und gefreſſen werden,
wie es Berthold anfuͤhrte, hatte er wirklich
adoptirt. Alles geiſtige Streben, Erfindungs¬
Schoͤ¬[241] Schoͤpfungskraft leitete er aus gewiſſen Conjunc¬
turen der Eingeweide und des Magens her, und
dabei kramte er noch mehr naͤrriſche abnorme
Einfaͤlle aus. Er behauptete z. B. ſehr ernſt¬
haft, daß jeder Gedanke durch die Begattung
zweier Faͤſerchen im menſchlichen Gehirne erzeugt
wuͤrde. Ich begriff, auf welche Weiſe der Pro¬
feſſor mit ſolchen tollen Dingen den armen Ber¬
thold, der in verzweifelnder Ironie alle guͤnſtige
Einwirkung des Hoͤheren anfocht, quaͤlen, und in
die noch blutenden Wunden ſpitze Dolche einſetzen
mußte. Endlich am Abend gab mir der Pro¬
feſſor ein paar beſchriebene Bogen mit den Wor¬
ten: „Hier, lieber Enthuſiaſt, iſt das Studenten-
Machwerk. Es iſt nicht uͤbel geſchrieben, aber
hoͤchſt ſonderbar und wider alle Regel ruͤckt der
Herr Verfaſſer, ohne es weiter anzudeuten, Reden
des Mahlers woͤrtlich in der erſten Perſon ein.
Uebrigens mache ich Ihnen mit dem Aufſatz, uͤber
den ich von Amtswegen verfuͤgen kann, ein Geſchenk,
da ich weiß, daß ſie kein Schriftſteller ſind. Der
Q[242] Verfaſſer der Fantaſieſtuͤcke in Callots Manier
haͤtte es eben nach ſeiner tollen Manier arg zu¬
geſchnitten und gleich drucken laſſen, welches ich
nicht von ihnen zu erwarten habe.“
Der Profeſſor Aloyſius Walther wußte
nicht, daß er wirklich den reiſenden Enthuſiaſten vor
ſich hatte, wiewol er es haͤtte merken koͤnnen, und
ſo gebe ich Dir, mein guͤnſtiger Leſer! des Je¬
ſuiten Studenten kurze Erzaͤhlung von dem Mah¬
ler Berthold. Die Weiſe, wie er ſich mir
zeigte, wird dadurch ganz erklaͤrt, und Du, o
mein Leſer! wirſt dann auch gewahren, wie des
Schickſals wunderliches Spiel uns oft zu verderb¬
lichem Irrthum treibt.
„Laßt Euern Sohn nur getroſt nach Italien
reiſen! Schon jetzt iſt er ein wackrer Kuͤnſtler,
und es fehlt ihm hier in D. keinesweges an Ge¬
legenheit, nach den treflichſten Originalen jeder
Art zu ſtudiren, aber dennoch darf er nicht hier
bleiben. Das freie Kuͤnſtlerleben muß ihm in
[243] dem heitern Kunſtlande aufgehen, ſein Studium
wird dort ſich erſt lebendig geſtalten, und den
eignen Gedanken erzeugen. Das Copiren allein
hilft ihm nun nichts mehr. Mehr Sonne muß
die aufſprießende Pflanze erhalten, um zu gedei¬
hen und Bluͤth' und Frucht zu tragen. Euer
Sohn hat ein reines wahrhaftiges Kuͤnſtlergemuͤth,
darum ſeid um Alles Uebrige unbeſorgt.“ So
ſprach der alte Mahler Stephan Birkner zu
Bertholds Aeltern. Die rafften alles zuſam¬
men was ihr duͤrftiger Haushalt entbehren konn¬
te, und ſtatteten den Juͤngling aus zur langen
Reiſe. So ward Bertholds heißeſter Wunſch,
nach Italien zu gehen, erfuͤllt.
„Als mir Birkner den Entſchluß meiner
Aeltern verkuͤndete, ſprang ich hoch auf vor Freu¬
de und Entzuͤcken. — Wie im Traum ging ich
umher die Tage hindurch, bis zu meiner Abreiſe.
Es war mir nicht moͤglich, auf der Gallerie einen
Pinſel anzuſetzen. Der Inſpektor, alle Kuͤnſtler,
die in Italien geweſen, mußten mir erzaͤhlen von
Q 2[244] dem Lande, wo die Kunſt gedeiht. Endlich war
Tag und Stunde gekommen. Schmerzlich war
der Abſchied von den Aeltern, die von duͤſtrer
Ahnung gequaͤlt, daß ſie mich nicht wieder¬
ſehen wuͤrden, mich nicht laſſen wollten. Selbſt
der Vater, ſonſt ein entſchloſſener feſter Mann,
hatte Muͤhe, Faſſung zu erringen. „Italien —
Italien wirſt Du ſehen,“ riefen die Kunſtbruͤder,
da loderte von tiefer Wehmuth nur ſtaͤrker
entzuͤndet das Verlangen auf und raſch ſchritt
ich fort — vor der Aeltern Hauſe ſchien mir die
Bahn des Kuͤnſtlers zu beginnen. —
Berthold, in jedem Fache der Mahlerei vorbe¬
reitet, hatte ſich doch vorzuͤglich der Landſchaftsmah¬
lerei ergeben, die er mit Liebe und Eifer trieb. In
Rom glaubte er reiche Nahrung fuͤr dieſen Zweig
der Kunſt zu finden; es war dem nicht ſo. Ge¬
rade in dem Kreis der Kuͤnſtler und Kunſtfreunde,
in dem er ſich bewegte, wurde ihm unaufhoͤrlich
vorgeredet, daß der Hiſtorienmahler allein auf
der hoͤchſten Spitze ſtehe, und ihm Alles Uebrige
[245] untergeordnet ſey. Man rieth ihm, wolle er ein
bedeutender Kuͤnſtler werden, doch nur gleich von
ſeinem Fach abzugehen und ſich dem Hoͤheren zu¬
zuwenden, und, dies, verbunden mit dem nie ſonſt
gefuͤhlten Eindruck, den Raphaels maͤchtige Fresko-
Gemaͤhlde im Vatikan auf ihn machten, beſtimm¬
te ihn wirklich, die Landſchaft zu verlaſſen. Er
zeichnete nach jenen Raphaels, er kopirte kleine
Oelgemaͤlde anderer beruͤhmter Meiſter; alles
fiel bei ſeiner tuͤchtigen Praktik recht wohl und
ſchicklich aus, aber nur zu ſehr fuͤhlte er, daß
das Lob der Kuͤnſtler und Kenner ihn nur troͤ¬
ſten, aufmuntern ſollte. Er ſah es ja ſelbſt, daß
ſeinen Zeichnungen, ſeinen Copien alles Leben des
Originals fehle. Raphael's, Correggio's
himmliſche Gedanken begeiſterten (ſo glaubte er)
zum eignen Schaffen, aber ſo wie er ſie in der
Fantaſie feſt halten wollte, verſchwammen ſie wie
im Nebel, und alles, was er auswendig zeichnete,
hatte, wie jedes nur undeutlich, verworren Ge¬
dachte, kein Regen, keine Bedeutung. Ueber
[246] dieſes vergebliche Ringen und Streben ſchlich
truͤber Unmuth in ſeine Seele, und oft entrann
er den Freunden, um in der Gegend von Rom
Baumgruppen — einzelne landſchaftliche Partien
heimlich zu zeichnen und zu mahlen. Aber auch
dies gerieth nicht mehr wie ſonſt, und zum erſten¬
mal zweifelte er an ſeinem wahren Kuͤnſtlerberuf.
Die ſchoͤnſten Hoffnungen ſchienen untergehn zu
wollen. „Ach mein hochverehrter Freund und
Lehrer,“ ſchrieb Berthold an Birkner, „Du
haſt mir Großes zugetraut, aber — hier, wo
es erſt recht licht werden ſollte in meiner Seele,
bin ich inne worden, daß das, was Du wahr¬
haftes Kuͤnſtlergenie nannteſt, nur etwa Talent —
aͤußere Fertigkeit der Hand war. Sage meinen
Aeltern, daß ich bald zuruͤckkehren wuͤrde, um
irgend ein Handwerk zu erlernen, das mich kuͤnf¬
tig ernaͤhre u. ſ. w.“ Birkner ſchrieb zuruͤck:
„O, koͤnnte ich doch bei Dir ſeyn, mein Sohn!
um Dich aufzurichten in Deinem Unmuth. Aber
glaube mir, Deine Zweifel ſind es gerade, die
[247] fuͤr Dich, fuͤr Deinen Kuͤnſtlerberuf ſprechen.
Der, welcher in ſtetem unwandelbaren Vertrauen
auf ſeine Kraft immer fortzuſchreiten gedenkt, iſt
ein bloͤder Thor, der ſich ſelbſt taͤuſcht; denn ihm
fehlt ja der eigentliche Impuls zum Streben, der
nur in dem Gedanken der Mangelhaftigkeit ruht.
Harre aus! — Bald wirſt Du Dich erkraͤftigen,
und dann ruhig, nicht durch das Urtheil, durch
den Rath der Freunde, die Dich zu verſtehen
vielleicht gar nicht im Stande, gezuͤgelt, den
Weg fortwandeln, den Dir Deines Ichs eigne
Natur vorgeſchrieben. Ob Du Landſchafter blei¬
ben, ob Du Hiſtorienmahler werden willſt, wirſt
Du dann ſelbſt entſcheiden koͤnnen, und an keine
feindliche Abſonderung der Zweige eines Stam¬
mes denken.“
Es begab ſich, daß gerade zu der Zeit, als
Berthold dieſen troͤſtenden Brief von ſeinem
alten Lehrer und Freunde erhielt, ſich Philipp
Hackert's Ruhm in Rom verbreitet hatte. Einige
von ihm dort aufgeſtellte Stuͤcke von wunderbarer
[248] Anmuth und Klarheit bewaͤhrten des Kuͤnſtlers
Ruf und ſelbſt die Hiſtorienmahler geſtanden, es
laͤge auch in dieſer reinen Nachahmung der Na¬
tur viel Großes und Vortreffliches. Berthold
ſchoͤpfte Athem — er hoͤrte nicht mehr ſeine Lieb¬
lingskunſt verhoͤhnen, er ſah einen Mann, der
ſie trieb, hochgeſtellt und verehrt; wie ein Funke
fiel es in ſeine Seele, daß er nach Neapel
wandern und unter Hackert ſtudiren muͤſſe.
Ganz jubilirend ſchrieb er an Birkner und an
ſeine Aeltern, daß er nun nach hartem Kampf
den rechten Weg gefunden habe, und bald in ſei¬
nem Fach ein tuͤchtiger Kuͤnſtler zu werden hoffe.
Freundlich nahm der ehrliche deutſche Hackert
den deutſchen Schuͤler auf, und bald ſtrebte dieſer
dem Lehrer in regem Schwunge nach. Bert¬
hold erlangte große Fertigkeit, die verſchiedenen
Baum- und Geſtraͤucharten der Natur getreu dar¬
zuſtellen; auch leiſtete er nicht Geringes in dem
Dunſtigen und Duftigen, wie es auf Hackert¬
ſchen Gemaͤhlden zu finden. Das erwarb ihm vieles
[249] Lob, aber auf ganz eigene Weiſe ſchien es ihm
bisweilen, als wenn ſeinen, ja ſelbſt den Land¬
ſchaften des Lehrers etwas fehle, das er nicht zu
nennen wußte, und das ihm doch in Gemaͤhlden
Claude Lorrains, ja ſelbſt in Salvator
Roſa's rauhen Wuͤſteneien entgegentrat. Es
erhoben ſich allerlei Zweifel gegen den Lehrer in
ihm, und er wurde vorzuͤglich ganz unmuthig,
wenn Hackert mit angeſtrengter Muͤhe todtes
Wild mahlte, das ihm der Koͤnig zugeſchickt.
Doch uͤberwand er bald dergleichen, wie er glaub¬
te, freveliche Gedanken und fuhr fort, mit from¬
mer Hingebung und deutſchem Fleiß nach ſeines
Lehrers Muſter zu arbeiten, ſo daß er in kurzer
Zeit es ihm beinahe gleich that. So kam es
denn, daß er auf Hackerts ausdruͤcklichen An¬
laß eine große Landſchaft, die er treu nach der
Natur gemahlt hatte, zu einer Ausſtellung, die
mehrentheils aus Hackertſchen Landſchaften und
Stilleben beſtand, hergeben mußte. Alle Kuͤnſt¬
ler und Kenner bewunderten des Juͤnglings treue
[250] ſaubre Arbeit und prieſen ihn laut. Nur ein
aͤltlicher, ſonderbar gekleideter Mann ſagte ſelbſt
zu Hackerts Gemaͤhlden kein Wort, ſondern
laͤchelte nur bedeutſam, wenn die Lobeserhebun¬
gen der Menge recht ausgelaſſen und toll daher
brauſten. Berthold bemerkte deutlich, wie der
Fremde, als er vor ſeiner Landſchaft ſtand, mit
einer Miene des tiefſten Bedauerns den Kopf
ſchuͤttelte und dann ſich entfernen wollte. Ber¬
thold etwas aufgeblaͤht durch das allgemeine Lob,
das ihm zu Theil geworden, konnte ſich des innern
Aergers uͤber den Fremden nicht erwehren. Er
trat auf ihn zu und frug, indem er die Worte
ſchaͤrfer betonte, als gerade noͤthig. „Ihr ſcheint
mit dem Bilde nicht zufrieden, mein Herr, un¬
erachtet es doch wackre Kuͤnſtler und Kenner
nicht ganz uͤbel finden wollen? Sagt mir ge¬
faͤlligſt, woran es liegt, damit ich die Fehler nach
Euerm guͤtigen Rath abaͤndere und beſſere.“ Mit
ſcharfem Blicke ſchaute der Fremde Berthold an,
und ſprach ſehr ernſt: „Juͤngling, aus Dir haͤtte
[251] viel werden koͤnnen.“ Berthold erſchrak bis ins
Innerſte vor des Mannes Blick und ſeinen Wor¬
ten; er hatte nicht den Muth, etwas weiter zu
ſagen, oder ihm zu folgen, als er langſam zum
Saale hinausſchritt. Hackert trat bald darauf
ſelbſt hinein, und Berthold eilte, ihm den Vor¬
fall mit dem wunderlichen Mann zu erzaͤhlen.
„Ach!“ rief Hackert lachend: „Laß Dir das ja
nicht zu Herzen gehen! Das war ja unſer brum¬
mige Alte, dem nichts recht iſt, der alles tadelt;
ich begegnete ihm auf dem Vorſaal. Er iſt auf
Maltha von griechiſchen Aeltern geboren, ein rei¬
cher wunderlicher Kauz, gar kein uͤbler Mahler;
aber alles was er macht, hat ein fantaſtiſches
Anſehen, welches wol daher ruͤhrt, weil er uͤber
jede Darſtellung durch die Kunſt ganz tolle ab¬
ſurde Meinungen und ſich ein kuͤnſtleriſches Sy¬
ſtem gebaut hat, das den Teufel nichts taugt.
Ich weiß recht gut, daß er gar nichts auf mich
haͤlt, welches ich ihm gern verzeihe, da er mir
wohlerworbnen Ruhm nicht ſtreitig machen wird.“
[252] Dem Berthold war es zwar, als habe der
Maltheſer irgend einen wunden Fleck ſeines In¬
nerſten ſchmerzhaft beruͤhrt, aber ſo wie der
wohlthaͤtige Wundarzt, um zu forſchen und zu
heilen; indeſſen ſchlug er ſich das bald aus dem
Sinn und arbeitete froͤlich fort, wie zuvor.
Das große, wohlgelungene, allgemein bewun¬
derte Bild hatte ihm Muth gemacht, das Gegen¬
ſtuͤck zu beginnen. Einen der ſchoͤnſten Punkte in
Neapels reicher Umgebung waͤhlte Hackert ſelbſt
aus, und ſo wie jenes Bild den Sonnenuntergang
darſtellte, ſollte dieſe Landſchaft im Sonnenauf¬
gang gehalten werden. Berthold bekam viel
fremde Baͤume, viele Weinberge, vorzuͤglich aber
viel Nebel und Duft zu mahlen.
Auf der Platte eines großen Steins, eben
in jenem von Hackert gewaͤhlten Punkte, ſaß
Berthold eines Tages, den Entwurf des großen
Bildes nach der Natur vollendend. „Wohl ge¬
troffen in der That!“ ſprach es neben ihm. Ber¬
thold blickte auf, der Maltheſer ſah' in ſein Blatt
[253] hinein, und fuͤgte mit ſarkaſtiſchem Laͤcheln hinzu:
„Nur eins habt Ihr vergeſſen, lieber junger Freund!
Schaut doch dort heruͤber nach der gruͤn berankten
Mauer des fernen Weinbergs! Die Thuͤre ſteht
halb offen; das muͤßt Ihr ja anbringen mit gehoͤ¬
rigem Schlagſchatten — die halbgeoͤffnete Thuͤre
macht erſtaunliche Wirkung!“ „Ihr ſpottet,“ er¬
wiederte Berthold, „ohne Urſache, mein Herr!
Solche Zufaͤlligkeiten ſind keinesweges ſo veraͤcht¬
lich wie Ihr glaubt und deshalb mag ſie mein
Meiſter wol anbringen. Erinnert Euch doch
nur des aufgehaͤngten weißen Tuchs in der Land¬
ſchaft eines alten niederlaͤndiſchen Mahlers, das
nicht fehlen darf, ohne die Wirkung zu verderben.
Aber Ihr ſcheint uͤberhaupt kein Freund der Land¬
ſchaftsmahlerei, der ich mich nun einmal ganz
ergeben habe mit Leib und Seele, und darum
bitt' ich Euch, laßt mich ruhig fortarbeiten.“ „Du
biſt in großem Irrthum befangen, Juͤngling,“ ſprach
der Maltheſer. „Noch einmahl, ſage ich, aus
Dir haͤtte viel werden koͤnnen; denn ſichtlich zeu¬
[254] gen Deine Werke das raſtloſe Beſtreben nach dem
Hoͤheren, aber nimmer wirſt Du Dein Ziel er¬
reichen, denn der Weg, den Du eingeſchlagen, fuͤhrt
nicht dahin. Merk wohl auf, was ich Dir ſagen wer¬
de! Vielleicht gluͤckt es mir, die Flamme in Deinem
Innern, die Du, Unverſtaͤndiger! zu uͤberbauen
trachteſt, anzufachen, daß ſie hell auflodert und
Dich erleuchtet; dann wirſt Du den wahren Geiſt,
der in Dir lebt, zu erſchauen vermoͤgen. Haͤltſt Du
mich denn fuͤr ſo thoͤrigt, daß ich die Landſchaft dem
hiſtoriſchen Gemaͤhlde unterordne, daß ich nicht
das gleiche Ziel, nach dem beide, Landſchafter und
Hiſtorienmahler, ſtreben ſollen, erkenne? — Auf¬
faſſung der Natur in der tiefſten Bedeutung des
hoͤhern Sinns, der alle Weſen zum hoͤheren Le¬
ben entzuͤndet, das iſt der heilige Zweck aller
Kunſt. Kann denn das bloße genaue Abſchreiben
der Natur jemals dahin fuͤhren? — Wie aͤrm¬
lich, wie ſteif und gezwungen ſieht die nachge¬
mahlte Handſchrift in einer fremden Sprache aus,
die der Abſchreiber nicht verſtand und daher den
[255] Sinn der Zuͤge, die er muͤhſam abſchnoͤrkelte,
nicht zu deuten wußte. So ſind die Landſchaften
deines Meiſters correkte Abſchriften eines in ihm
fremder Sprache geſchriebenen Originals. — Der
Geweihte vernimmt die Stimme der Natur, die
in wunderbaren Lauten aus Baum, Gebuͤſch,
Blume, Berg und Gewaͤſſer von unerforſchlichem
Geheimniß ſpricht, die in ſeiner Bruſt ſich zu
frommer Ahnung geſtalten; dann kommt, wie der
Geiſt Gottes ſelbſt, die Gabe uͤber ihn, dieſe Ah¬
nung ſichtlich in ſeine Werke zu uͤbertragen. Iſt
Dir, Juͤngling! denn bei dem Beſchauen der
Landſchaften alter Meiſter nicht ganz wunderbar¬
lich zu Muthe geworden? Gewiß haſt Du nicht
daran gedacht, daß die Blaͤtter des Lindenbaums,
daß die Pinien, die Platanen der Natur getreuer,
daß der Hintergrund duftiger, das Waſſer klarer
ſeyn koͤnnte; aber der Geiſt, der aus dem Ganzen
wehte, hob Dich empor in ein hoͤheres Reich,
deſſen Abglanz Du zu ſchauen waͤhnteſt. — Da¬
her ſtudire die Natur zwar auch im Mechaniſchen
[256] fleißig und ſorgfaͤltig, damit Du die Praktik des
Darſtellens erlangen moͤgeſt, aber halte die Prak¬
tik nicht fuͤr die Kunſt ſelbſt. Biſt Du einge¬
drungen in den tiefern Sinn der Natur, ſo wer¬
den ſelbſt in Deinem Innern ihre Bilder in hoh¬
er glaͤnzender Pracht aufgehen.“ — Der Mal¬
theſer ſchwieg; als aber Berthold lief ergriffen,
gebuͤckten Hauptes, keines Wortes maͤchtig da
ſtand, verließ ihn der Maltheſer mit den Wor¬
ten: „Ich habe Dich durchaus nicht verwirren
wollen in Deinem Beruf; aber ich weiß, daß
ein hoher Geiſt in Dir ſchlummert: ich rief ihn
an mit ſtarken Worten, damit er erwache und
friſch und frei ſeine Fittige rege. Lebe wohl!“ —
Dem Berthold war es ſo, als habe der
Maltheſer nur dem, was in ſeiner Seele gaͤhrte
und brauſte, Worte gegeben; die innere Stimme
brach hervor — Nein! Alles dieſes Streben —
dieſes Muͤhen iſt das ungewiſſe, truͤgeriſche Umher¬
tappen des Blinden, weg — weg mit Allem, was
mich geblendet bis jetzt! — Er war nicht im
Stande[257] Stande auch nur einen Strich weiter an dem
Bilde zu zeichnen. Er verließ ſeinen Meiſter,
und ſtreifte voll wilder Unruhe umher und flehte
laut, daß die hoͤhere Erkenntniß, von der der
Maltheſer geſprochen, ihm aufgehen moͤge. —
„Nur in ſuͤßen Traͤumen war ich gluͤcklich —
ſelig. Da wurde Alles wahr, was der Malthe¬
ſer geſprochen. Ich lag von zauberiſchen Duͤften
umſpielt im gruͤnen Gebuͤſch, und die Stimme
der Natur ging vernehmbar im melodiſch klin¬
genden Wehen durch den dunklen Wald. —
„Horch — horch auf — Geweihter! — Vernimm
die Urtoͤne der Schoͤpfung, die ſich geſtalten zu
Weſen deinem Sinn empfaͤnglich.“ — Und indem
ich die Akkorde deutlicher und deutlicher erklingen
hoͤrte, war es, als ſei ein neuer Sinn in mir
erwacht, der mit wunderbarer Klarheit das er¬
faßte, was mir unerforſchlich geſchienen. — Wie
in ſeltſamen Hieroglyphen zeichnete ich das mir
aufgeſchloſſene Geheimniß mit Flammenzuͤgen in
die Luͤfte; aber die Hieroglyphen-Schrift war
R[258] eine wunderherrliche Landſchaft, auf der Baum,
Gebuͤſch, Blume, Berg und Gewaͤſſer, wie in
lautem wonnigem Klingen ſich regten und be¬
wegten. —
Doch eben nur im Traume kam ſolche Selig¬
keit uͤber den armen Berthold, deſſen Kraft
gebrochen, und der im Innerſten verwirrter war,
als in Rom, da er Hiſtorienmahler werden wollte.
Schritt er durch den dunklen Wald, ſo uͤberfiel
ihn ein unheimliches Grauen; trat er heraus,
und ſchaute in die fernen Berge, ſo griff es wie
mit eiskalten Krallen in ſeine Bruſt — ſein
Athem ſtockte — er wollte vergehen vor innerer
Angſt. Die ganze Natur, ihm ſonſt freundlich
laͤchelnd, ward ihm zum bedrohlichen Ungeheuer,
und ihre Stimme, die ſonſt in des Abendwindes
Saͤuſeln, in dem Plaͤtſchern des Baches, in dem
Rauſchen des Gebuͤſches mit ſuͤßem Wort ihn be¬
gruͤßte, verkuͤndete ihm nun Untergang und Ver¬
derben. Endlich wurde er, je mehr ihn jene
holden Traͤume troͤſteten, deſto ruhiger, doch mied
[259] er es im Freien allein zu ſeyn, und ſo kam es,
daß er ſich zu ein paar muntern deutſchen Mah¬
lern geſellte, und mit ihnen haͤufig Ausfluͤge
nach den ſchoͤnſten Gegenden Neapels machte.
Einer von ihnen, wir wollen ihn Florentin
nennen, hatte es in dem Augenblick nicht ſowol
auf tiefes Studium ſeiner Kunſt, als auf heitern
Lebensgenuß abgeſehen, ſeine Mappe zeugte da¬
von. — Gruppen tanzender Bauermaͤdchen —
Prozeſſionen — laͤndliche Feſte — Alles das wußte
Florentin, ſo wie es ihm aufſtieß, mit ſichrer
leichter Hand ſchnell auf's Blatt zu werfen.
Jede Zeichnung, war ſie auch kaum mehr als
Skizze, hatte Leben und Bewegung. Dabei
war Florentin's Sinn keinesweges fuͤr
das Hoͤhere verſchloſſen; im Gegentheil drang
er mehr, als je ein moderner Mahler, tief ein
in den frommen Sinn der Gemaͤhlde aller Mei¬
ſter. In ſein Mahlerbuch hatte er die Fresko-
Gemaͤhlde einer alten Kloſterkirche in Rom, ehe
die Mauern eingeriſſen wurden, in bloßen Um¬
R 2[260] riſſen hineingezeichnet. Sie ſtellten das Marty¬
rium der heiligen Katharina dar. Man konnte
nichts herrlicheres, reiner aufgefaßtes ſehen, als
jene Umriſſe, die auf Berthold einen ganz
eignen Eindruck machten. Er ſah Blitze leuchten
durch die finſtre Oede, die ihn umfangen, und
es kam dahin, daß er fuͤr Florentins heiteren
Sinn empfaͤnglich wurde, und, da dieſer zwar
den Reiz der Natur, in ihr aber beſtaͤndig
mehr das menſchliche Princip mit reger Lebendig¬
keit auffaßte, eben dieſes Princip fuͤr den Stuͤtz¬
punkt erkannte, an den er ſich halten muͤſſe, um
nicht geſtaltlos im leeren Raum zu verſchwimmen.
Waͤhrend Florentin irgend eine Gruppe, der
er begegnete, ſchnell zeichnete, hatte Berthold
des Freundes Mahlerbuch aufgeſchlagen, und ver¬
ſuchte Katharina's wunderholde Geſtalt nach¬
zubilden, welches ihm endlich ſo ziemlich gluͤckte,
wiewol er, ſo wie in Rom vergebens darnach
ſtrebte, ſeine Figuren dem Original gleich zu be¬
leben. Er klagte dies dem, wie er glaubte, an
[261] wahrer Kuͤnſtlergenialitaͤt ihm weit uͤberlegenen
Florentin, und erzaͤhlte zugleich, wie der Mal¬
theſer zu ihm uͤber die Kunſt geſprochen. „Ei,
lieber Bruder Berthold!“ ſprach Florentin:
„der Maltheſer hat in der That recht, und ich
ſtelle die wahre Landſchaft den tief bedeutſamen
heiligen Hiſtorien, wie ſie die alten Mahler dar¬
ſtellen, voͤllig gleich. Ja, ich halte ſogar dafuͤr,
daß man erſt durch das Darſtellen der uns naͤher
liegenden organiſchen Natur ſich ſtaͤrken muͤſſe, um
Licht zu finden in ihrem naͤchtlichen Reich. Ich
rathe Dir Berthold, daß Du Dich gewoͤhnſt
Figuren zu zeichnen, und in ihnen Deine Gedan¬
ken zu ordnen; vielleicht wird es dann heller um
Dich werden. Berthold that ſo wie ihm der
Freund geboten, und es war ihm, als zoͤgen die
finſtern Wolkenſchatten, die ſich uͤber ſein Leben
gelegt, voruͤber.
„Ich muͤhte mich, das, was nur wie dunkle
Ahnung tief in meinem Innern lag, wie in je¬
nem Traum hieroglyphiſch darzuſtellen, aber die
[262] Zuͤge dieſer Hieroglyphen-Schrift waren menſch¬
liche Figuren, die ſich in wunderlicher Verſchlin¬
gung um einen Lichtpunkt bewegten. — Dieſer
Lichtpunkt ſollte die herrlichſte Geſtalt ſeyn, die
je eines Bildners Fantaſie aufgegangen; aber ver¬
gebens ſtrebte ich, wenn ſie im Traume von
Himmelsſtrahlen umfloſſen mir erſchien, ihre
Zuͤge zu erfaſſen. Jeder Verſuch, ſie darzuſtellen,
mißlang auf ſchmaͤhliche Weiſe, und ich verging
in heißer Sehnſucht. — Florentin bemerkte
den bis zur Krankheit aufgeregten Zuſtand des
Freundes, er troͤſtete ihn, ſo gut er es vermochte.
Oft ſagte er ihm, daß dies eben die Zeit des
Durchbruchs zur Erleuchtung ſey; aber wie ein
Traͤumer ſchlich Berthold einher, und alle
ſeine Verſuche blieben nur ohnmaͤchtige Anſtren¬
gungen des kraftloſen Kindes.
Unfern Neapel lag die Villa eines Herzogs,
die, weil ſie die ſchoͤnſte Ausſicht nach dem Veſuv
und in's Meer hinein gewaͤhrte, den frem¬
den Kuͤnſtlern, vorzuͤglich den Landſchaftern gaſt¬
[263] lich geoͤffnet war. Berthold hatte hier oͤfters
gearbeitet, oͤfter noch in einer Grotte des Parks
zur guten Zeit ſich dem Spiel ſeiner fantaſtiſchen
Traͤume hingegeben. Hier in dieſer Grotte ſaß
er eines Tages, von gluͤhender Sehnſucht, die
ſeine Bruſt zerriß, gemartert, und weinte heiße
Thraͤnen, daß der Stern des Himmels ſeine
dunkle Bahn erleuchten moͤge; da rauſchte es im
Gebuͤſch, und die Geſtalt eines hochherrlichen
Weibes ſtand vor der Grotte.
„Die vollen Sonnenſtrahlen fielen in das
Engelsgeſicht. — Sie ſchaute mich an mit un¬
beſchreiblichen Blick. — Die heilige Kathari¬
na — Nein, mehr als ſie — mein Ideal, mein
Ideal war es! — Wahnſinnig vor Entzuͤcken
ſtuͤrzte ich nieder, da verſchwebte die Geſtalt
freundlich laͤchelnd! — Erhoͤrt war mein heiße¬
ſtes Gebet! —“
Florentin trat in die Grotte, er erſtaunte
uͤber Berthold, der mit verklaͤrtem Blick ihn
an ſein Herz druͤckte. — Thraͤnen ſtuͤrzten ihm
[264] aus den Augen — Freund — Freund! ſtammelte
er: ich bin gluͤcklich — ſelig — ſie iſt gefunden —
gefunden! Raſch ſchritt er fort, in ſeine Werk¬
ſtatt — er ſpannte die Leinwand auf, er fing
an zu mahlen. Wie von goͤttlicher Kraft beſeelt,
zauberte er mit der vollen Gluth des Lebens das
uͤberirdiſche Weib, wie es ihm erſchienen, her¬
vor. — Sein Innerſtes war von dieſem Augen¬
blicke ganz umgewendet. Statt des Truͤbſinns,
der an ſeinem Herzmark gezehrt hatte, erhob ihn
Frohſinn und Heiterkeit. Er ſtudirte mit Fleiß
und Anſtrengung die Meiſterwerke der alten Mah¬
ler. Mehrere Copien gelangen ihm vortrefflich,
und nun fing er an ſelbſt Gemaͤhlde zu ſchaffen,
die alle Kenner in Erſtaunen ſetzten. An Land¬
ſchaften war nicht mehr zu denken, und Hackert
bekannte ſelbſt, daß der Juͤngling nun erſt ſeinen
eigentlichen Beruf gefunden habe. So kam es,
daß er mehrere große Werke, Altarblaͤtter fuͤr
Kirchen, zu mahlen bekam. Er waͤhlte mehren¬
theils heitere Gegenſtaͤnde chriſtlicher Legenden,
[265] aber uͤberall ſtrahlte die wunderherrliche Geſtalt
ſeines Ideals hervor. Man fand, daß Geſicht
und Geſtalt der Prinzeſſin Angiola T.... zum
Sprechen aͤhnlich ſei, man aͤußerte dies dem jun¬
gen Mahler ſelbſt, und Schlaukoͤpfe gaben ſpoͤt¬
tiſch zu verſtehen, der deutſche Mahler ſei von
dem Feuerblick der wunderſchoͤnen Donna tief
in's Herz getroffen. Berthold war hoch er¬
zuͤrnt uͤber das alberne Gewaͤſch der Leute, die
das Himmliſche in das Gemeinirdiſche herabziehen
wollten. „Glaubt Ihr denn,“ ſprach er, „daß
ſolch' ein Weſen wandeln koͤnne hier auf Erden?
In einer wunderbaren Viſion wurde mir das
Hoͤchſte erſchloſſen; es war der Moment der
Kuͤnſtlerweihe.“ — Berthold lebte nun froh
und gluͤcklich, bis nach Bonapartes Siegen in
Italien ſich die franzoͤſiſche Armee dem Koͤnig¬
reich Neapel nahte, und die alle ruhigen gluͤckli¬
chen Verhaͤltniſſe furchtbar zerſtoͤrende Revolution
ausbrach. Der Koͤnig hatte mit der Koͤnigin
Neapel verlaſſen, die Citta war angeordnet.
[266] Der General-Vikar ſchloß mit dem franzoͤſiſchen
General einen ſchmachvollen Waffenſtillſtand, und
bald kamen die franzoͤſiſchen Commiſſarien, um
die Summe, die gezahlt werden ſollte, in Em¬
pfang zu nehmen. Der General-Vikar entfloh,
um der Wuth des Volks, das ſich von ihm, von
der Citta, von allen, die ihm Schutz gewaͤhren
konnten gegen den andringenden Feind, verlaſſen
glaubte, zu entgehen. Da waren alle Bande
der Geſellſchaft aufgeloͤſt; in wilder Anarchie ver¬
hoͤhnte der Poͤbel Ordnung und Geſetz, und un¬
ter dem Geſchrei: viva la santa fede rannten
ſeine wahnſinnigen Horden durch die Straßen,
die Haͤuſer der Großen, von welchen ſie ſich an
den Feind verkauft waͤhnten, pluͤndernd und in
Brand ſteckend. Vergebens waren die Bemuͤhun¬
gen Moliterno's und Rocca Romana's,
Guͤnſtlinge des Volks und zu Anfuͤhrern gewaͤhlt,
die Raſenden zu baͤndigen. Die Herzoge della
Torre und Clemens Filomarino waren
ermordet, aber noch war des wuͤthenden Poͤbels
[267] Blutdurſt nicht geſtillt. — Berthold hatte
ſich aus einem brennenden Hauſe nur halb ange¬
kleidet gerettet, er ſtieß auf einen Haufen des
Volks, der mit angezuͤndeten Fackeln und blin¬
kenden Meſſern nach dem Pallaſt des Herzogs von
T. eilte. Ihn fuͤr ihres gleichen haltend, draͤng¬
ten ſie ihn mit ſich fort — viva la santa fede
bruͤllten die Wahnſinnigen, und in wenigen Mi¬
nuten waren der Herzog — die Bedienten, alles
was ſich widerſetzte, ermordet, und der Pallaſt
loderte hoch in Flammen auf. — Berthold
war immer fort und fort in den Pallaſt hinein¬
gedraͤngt. — Dicker Rauch wallte durch die lan¬
gen Gaͤnge. — Er lief ſchnell durch die aufge¬
ſprengten Zimmer, auf's neue in Gefahr, in den
Flammen umzukommen — vergebens den Aus¬
gang ſuchend. — Ein ſchneidendes Angſtgeſchrei
ſchallt ihm entgegen — er ſtuͤrzt durch den
Saal. — Ein Weib ringt mit einem Lazzarone,
der es mit ſtarker Fauſt erfaßt hat, und im Be¬
griff iſt ihm das Meſſer in die Bruſt zu ſtoßen —
[268] Es iſt die Prinzeſſin — es iſt Berthold's
Ideal! — Bewußtlos vor Entſetzen, ſpringt
Berthold hinzu — den Lazzarone bei der
Gurgel packen — ihn zu Boden werfen, ihm
ſein eignes Meſſer in die Kehle ſtoßen — die
Prinzeſſin in die Arme nehmen — mit ihr flie¬
hen durch die flammenden Saͤle — die Treppen
hinab — fort fort, durch das dickſte Volksge¬
wuͤhl — Alles das iſt die That eines Mo¬
ments! — Keiner hielt den fliehenden Ber¬
thold auf, mit dem blutigen Meſſer in der
Hand, vom Dampfe ſchwarz gefaͤrbt, in zerriſſe¬
nen Kleidern ſah das Volk in ihm den Moͤrder
und Pluͤnderer, und goͤnnte ihm ſeine Beute.
In einem oͤden Winkel der Stadt unter einem
alten Gemaͤuer, in das er, wie aus Inſtinkt, ſich
vor der Gefahr zu verbergen gelaufen, ſank er
ohnmaͤchtig nieder. Als er erwachte, kniete die
Prinzeſſin neben ihm, und wuſch ſeine Stirne
mit kaltem Waſſer. „O Dank!“ — liſpelte ſie
mit wunderlieblicher Stimme; „Dank den Heili¬
[269] gen, daß Du erwacht biſt, Du mein Retter,
mein Alles!“ — Berthold richtete ſich auf,
er waͤhnte zu traͤumen, er blickte mit ſtarren
Augen die Prinzeſſin an — ja ſie war es ſelbſt —
die herrliche Himmelsgeſtalt, die den Goͤtterfun¬
ken in ſeiner Bruſt entzuͤndet. — „Iſt es moͤg¬
lich — iſt es wahr — lebe ich denn?“ rief er
aus. „Ja, Du lebſt,“ ſprach die Prinzeſſin —
„Du lebſt fuͤr mich; was Du nicht zu hoffen wag¬
teſt, geſchah wie durch ein Wunder. O, ich kenne
Dich wohl, Du biſt der deutſche Mahler Ber¬
thold, Du liebteſt mich ja, und verherrlichteſt
mich in Deinen ſchoͤnſten Gemaͤhlden. — Konnte
ich denn Dein ſeyn? — Aber nun bin ich es
immerdar und ewig. — Laß uns fliehen, o laß
uns fliehen!“ — Ein ſonderbares Gefuͤhl, wie
wenn jaͤhlinger Schmerz ſuͤße Traͤume zerſtoͤrt,
durchzuckte Berthold bei dieſen Worten der
Prinzeſſin. Doch als das holde Weib ihn mit
den vollen ſchneeweißen Armen umfing, als er ſie
ungeſtuͤm an ſeinen Buſen druͤckte, da durchbeb¬
[270] ten ihn ſuͤße nie gekannte Schauer und im Wahn¬
ſinn des Entzuͤckens hoͤchſter Erdenluſt rief er
aus: — „O, kein Trugbild des Traumes —
nein! es iſt mein Weib, das ich umfange, es nie
zu laſſen — das meine gluͤhende duͤrſtende Sehn¬
ſucht ſtillt!“
Aus der Stadt zu fliehen war unmoͤglich:
denn vor den Thoren ſtand das franzoͤſiſche Heer,
dem das Volk, war es gleich ſchlecht bewaffnet
und ohne alle Anfuͤhrung, zwei Tage hindurch
den Einzug in die Stadt ſtreitig machte. End¬
lich gelang es Berthold mit Angiola von
Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel, und dann aus
der Stadt zu fliehen. Angiola, von heißer Liebe
zu ihrem Retter entbrannt, verſchmaͤhte es in
Italien zu bleiben, die Familie ſollte ſie fuͤr todt
halten, und ſo Bertholds Beſitz ihr geſichert
bleiben. Ein diamantnes Halsband und koſtbare
Ringe, die ſie getragen, waren hinlaͤnglich, in Rom
(bis dahin waren ſie langſam fortgepilgert) ſich mit
[271] allen noͤthigen Beduͤrfniſſen zu verſehen, und ſo
kamen ſie gluͤcklich nach M. im ſuͤdlichen Deutſch¬
land, wo Berthold ſich niederzulaſſen, und
durch die Kunſt ſich zu ernaͤhren gedachte. —
War's denn nicht ein nie getraͤumtes, nie ge¬
ahnetes Gluͤck, daß Angiola, das himmliſch-
ſchoͤne Weib, das Ideal ſeiner wonnigſten Kuͤnſt¬
lertraͤume ſein werden muͤßte, unerachtet ſich alle
Verhaͤltniſſe des Lebens, wie eine unuͤberſteigbare
Mauer zwiſchen ihm und der Geliebten aufthuͤrm¬
ten? — Berthold konnte in der That dies
Gluͤck kaum faſſen, und ſchwelgte in namenloſen
Wonnen, bis lauter und lauter die innere Stimme
ihn mahnte, ſeiner Kunſt zu gedenken. In M.
beſchloß er ſeinen Ruf durch ein großes Gemaͤhlde
zu begruͤnden, das er fuͤr die dortige Marien¬
kirche mahlen wollte. Der einfache Gedanke,
Maria und Eliſabeth in einem ſchoͤnen Gar¬
ten auf einem Raſen ſitzend, die Kinder Chriſtus
und Johannes vor ihnen im Graſe ſpielend, ſollte
der ganze Vorwurf des Bildes ſeyn, aber verge¬
[272] bens war alles Ringen nach einer reinen geiſtigen
Anſchauung des Gemaͤhldes. So wie in jener
ungluͤcklichen Zeit der Criſis, verſchwammen ihm
die Geſtalten, und nicht die himmliſche Maria,
nein, ein irdiſches Weib, ach ſeine Angiola
ſelbſt ſtand auf graͤuliche Weiſe verzerrt, vor ſei¬
nes Geiſtes Augen. — Er gedachte Trotz zu bie¬
ten der unheimlichen Gewalt, die ihn zu erfaſſen
ſchien, er bereitete die Farben, er fing an zu
mahlen; aber ſeine Kraft war gebrochen, all' ſein
Bemuͤhen, ſo wie damals, nur die ohnmaͤchtige
Anſtrengung des unverſtaͤndigen Kindes. Starr
und leblos blieb was er mahlte, und ſelbſt An¬
giola — Angiola, ſein Ideal, wurde, wenn ſie
ihm ſaß und er ſie mahlen wollte, auf der Lein¬
wand zum todten Wachsbilde, das ihn mit glaͤſernen
Augen anſtierte. Da ſchlich ſich immer mehr und
mehr truͤber Unmuth in ſeine Seele, der alle
Freude des Lebens wegzehrte. Er wollte — er
konnte nicht weiter arbeiten, und ſo kam es, daß er
in Duͤrftigkeit gerieth, die ihn deſtomehr nieder¬
beugte,[273] beugte, je weniger Angiola auch nur ein Wort
der Klage hoͤren ließ.
„Der immer mehr in mein Innerſtes herein¬
zehrende Gram, erzeugt von ſtets getaͤuſchter
Hoffnung, wenn ich immer vergebens Kraͤfte auf¬
bot, die nicht mehr mein waren, verſetzte mich
bald in einen Zuſtand, der dem Wahnſinne gleich
zu achten war. Mein Weib gebar mir einen
Sohn, das vollendete mein Elend und der lange
verhaltene Groll brach aus in hell aufflammen¬
den Haß. Sie Sie allein ſchuf mein Ungluͤck.
Nein — Sie war nicht das Ideal, das mir er¬
ſchien, nur mir zum rettungsloſen Verderben
hatte ſie truͤgeriſch jenes Himmelsweibes Geſtalt
und Geſicht geborgt. In wilder Verzweiflung
fluchte ich ihr und dem unſchuldigen Kinde. — Ich
wuͤnſchte beider Tod, damit ich erloͤſt werden
moͤge von der unertraͤglichen Quaal, die wie mit gluͤ¬
henden Meſſern in mir wuͤhlte! — Gedanken der
Hoͤlle ſtiegen in mir auf. Vergebens las ich in
Angiola's leichenblaſſem Geſicht, in ihren Thraͤ¬
S[274] nen mein raſendes freveliches Beginnen — Du
haſt mich um mein Leben betrogen, verruchtes
Weib, bruͤllte ich auf, und ſtieß ſie mit dem Fuße
von mir, wenn ſie ohnmaͤchtig niederſank, und
meine Knie umfaßte.“ —
Berthold grauſames wahnſinniges Betra¬
gen gegen Weib und Kind erregte die Aufmerk¬
ſamkeit der Nachbaren, die es der Obrigkeit an¬
zeigten. Man wollte ihn verhaften, als aber
die Polizeidiener in ſeine Wohnung traten, war
er ſammt Frau und Kind ſpurlos verſchwunden.
Berthold erſchien bald darauf zu N. in Ober¬
ſchleſien; er hatte ſich ſeines Weibes und Kindes
entledigt, und fing voll heitern Muthes an, das
Bild zu mahlen, das er in M. vergebens begon¬
nen hatte. Aber nur die Jungfrau Maria und
die Kinder Chriſtus und Johannes konnte er voll¬
enden, dann fiel er in eine furchtbare Krankheit,
die ihn dem Tode, den er wuͤnſchte, nahe brachte.
Um ihn zu pflegen, hatte man alle ſeine Geraͤth¬
ſchaften und auch jenes unvollendete Gemaͤhlde
[275] verkauft, und er zog, nachdem er nur einiger¬
maßen ſich wieder erkraͤftigt, als ein ſiecher elen¬
der Bettler von dannen. — In der Folge naͤhrte
er ſich duͤrftig durch Wandmahlerei, die ihm hie
und da uͤbertragen wurde.
Bertholds Geſchichte hat etwas Entſetzli¬
ches und Grauenvolles, ſprach ich zu dem Profeſſor,
ich halte ihn, unerachtet er es nicht geradezu
ausgeſprochen, fuͤr den ruchloſen Moͤrder ſeines
unſchuldigen Weibes und ſeines Kindes. „Es iſt
ein wahnſinniger Thor,“ erwiederte der Profeſ¬
ſor, „dem ich den Muth zu ſolcher That gar nicht
zutraue. Ueber dieſen Punkt laͤßt er ſich niemals
deutlich aus, und es iſt die Frage, ob er ſich nicht
blos einbildet, an dem Tode ſeiner Frau und ſei¬
nes Kindes Schuld zu ſeyn; er mahlt eben wie¬
der Marmor, erſt in kuͤnftiger Nacht vollendet
er den Altar, dann iſt er bei guter Laune, und
S 2[276] Sie koͤnnen vielleicht mehr uͤber jenen kitzlichen
Punkt von ihm heraus bekommen. — Ich muß
geſtehen, daß, dachte ich es mir lebhaft, um Mit¬
ternacht mit Berthold allein in der Kirche mich
zu befinden, mir, nachdem ich ſeine Geſchichte
geleſen, ein leiſer Schauer durch die Glieder lief.
Ich meinte, er koͤnnte mitunter was weniges der
Teufel ſeyn, trotz ſeiner Gutmuͤthigkeit und ſei¬
nes treuherzigen Weſens, und wollte mich des¬
halb lieber gleich Mittags im lieben heitern Son¬
nenſchein mit ihm abfinden.
Ich fand ihn auf dem Geruͤſte muͤrriſch und
in ſich gekehrt, Marmoradern ſprenkelnd; zu ihm
heraufgeſtiegen, reichte ich ihm ſtillſchweigend die
Toͤpfe. Erſtaunt ſah er ſich nach mir um, „ich
bin ja ihr Handlanger,“ ſprach ich leiſe, das
zwang ihm ein Laͤcheln ab. Nun fing ich an von
ſeinem Leben zu ſprechen, ſo daß er merken mußte,
ich wiſſe Alles, und er ſchien zu glauben, er
habe mir Alles ſelbſt in jener Nacht erzaͤhlt.
Leiſe — leiſe kam ich auf die graͤßliche Kataſtro¬
[277] phe, dann ſprach ich ploͤtzlich: Alſo in heilloſem
Wahnſinn mordeten Sie Weib und Kind? —
Da ließ er Farbentopf und Pinſel fallen, und
rief, mich mit graͤßlichem Blick anſtarrend und
beide Haͤnde hoch erhebend: „Rein ſind dieſe Haͤnde
vom Blute meines Weibes, meines Sohnes!
Noch ein ſolches Wort, und ich ſtuͤrze mich
mit Euch hier vom Geruͤſte herab, daß unſere
Schaͤdel zerſchellen auf dem ſteinernen Boden
der Kirche!“ — Ich befand mich in dem Au¬
genblick wirklich in ſeltſamer Lage, am beſten
ſchien es mir mit ganz Fremden hineinzu¬
fahren. „O ſehn Sie doch, lieber Berthold“
ſprach ich ſo ruhig und kalt, als es mir moͤglich
war, wie das haͤßliche Dunkelgelb auf der Wand
dort ſo verfließt. Er ſchauete hin, und indem er
das Gelb mit dem Pinſel verſtrich, ſtieg ich leiſe
das Geruͤſte herab, verließ die Kirche, und ging
zum Profeſſor, um mich uͤber meinen beſtraf¬
ten Vorwitz tuͤchtig auslachen zu laſſen.
Mein Wagen war reparirt und ich verließ G.,
[278] nachdem mir der Profeſſor Aloyſius Walther
feierlich verſprochen, ſollte ſich etwas beſonderes
mit Berthold ereignen, mir es gleich zu
ſchreiben.
Ein halbes Jahr mochte vergangen ſeyn, als
ich wirklich von dem Profeſſor einen Brief erhielt,
in welchem er ſehr weitſchweifig unſer Beiſammen¬
ſeyn in G. ruͤhmte. Ueber Berthold ſchrieb
er mir folgendes: Bald nach Ihrer Abreiſe trug
ſich mit unſerm wunderlichen Mahler viel ſonder¬
bares zu. Er wurde ploͤtzlich ganz heiter, und voll¬
endete auf die herrlichſte Weiſe das große Altar¬
blatt, welches nun vollends alle Menſchen in Er¬
ſtaunen ſetzt. Dann verſchwand er, und da er
nicht das mindeſte mitgenommen, und man ein
paar Tage darauf Hut und Stock unfern des
O — Stromes fand, glauben wir alle, er habe
ſich freiwillig den Tod gegeben.
[279]
Das Sanctus.
Der Doktor ſchuͤttelte bedenklich den Kopf. —
Wie, rief der Kapellmeiſter heftig, indem er vom
Stuhle aufſprang, wie! ſo ſollte Bettina's
Catarrh wirklich etwas zu bedeuten haben? —
Der Doktor ſtieß ganz leiſe drey oder viermahl
mit ſeinem ſpaniſchen Rohr auf den Fußboden,
nahm die Doſe heraus und ſteckte ſie wieder ein
ohne zu ſchnupfen, richtete den Blick ſtarr empor,
als zaͤhle er die Roſetten an der Decke und
huͤſtelte mißtoͤnig ohne ein Wort zu reden.
Das brachte den Kapellmeiſter außer ſich, denn
er wußte ſchon, ſolches Gebehrdenſpiel des Dok¬
tors hieß in deutlichen lebendigen Worten nichts
anders, als: ein boͤſer boͤſer Fall — und ich weiß
[280] mir nicht zu rathen und zu helfen, und ich ſteure
umher in meinen Verſuchen, wie jener Doktor
im Gilblas di Santillana. „Nun, ſo ſag' er
es denn nur geradezu heraus,“ rief der Kapell¬
meiſter erzuͤrnt, „ſag' er es heraus, ohne ſo ver¬
dammt wichtig zu thun mit der ſimplen Heiſer¬
keit, die ſich Bettina zugezogen, weil ſie un¬
vorſichtiger Weiſe den Schawl nicht umwarf, als
ſie die Kirche verließ — das Leben wird es ihr
doch eben nicht koſten, der Kleinen.“ „Mit nich¬
ten,“ ſprach der Doktor, indem er nochmahls
die Doſe herausnahm, jetzt aber wirklich ſchnupfte,
„mit nichten, aber hoͤchſt wahrſcheinlich wird ſie
in ihrem ganzen Leben keine Note mehr ſingen!“
Da fuhr der Kapellmeiſter mit beiden Faͤuſten ſich
in die Haare, daß der Puder weit umherſtaͤubte
und rannte im Zimmer auf und ab, und ſchrie
wie beſeſſen: „Nicht mehr ſingen? — nicht mehr
ſingen? — Bettina nicht mehr ſingen? —
Geſtorben all' die herrlichen Canzonette —
die wunderbaren Bollero's und Seguidilla's, die
[281] wie klingender Blumenhauch von ihren Lippen
ſtroͤmten? — Kein frommes Agnus, kein troͤ¬
ſtendes Bènedictus, von ihr mehr hoͤren. — O!
o! — Kein Miserere, das mich reinbuͤrſtete von
jedem irdiſchen Schmutz miſerabler Gedanken —
das in mir oft eine ganze reiche Welt makelloſer
Kirchenthema's aufgehen ließ? — Du luͤgſt
Doktor, Du luͤgſt! — Der Satan verſucht Dich,
mich auf's Eis zu fuͤhren. — Der Dom-Orga¬
niſt, der mich mit ſchaͤndlichem Neide verfolgt,
ſeitdem ich ein achtſtimmiges qui tollis aus¬
gearbeitet zum Entzuͤcken der Welt, der hat
Dich beſtochen! Du ſollſt mich in ſchnoͤde Ver¬
zweiflung ſtuͤrzen, damit ich meine neue Meſſe
in's Feuer werfe, aber es gelingt ihm — es
gelingt Dir nicht! — Hier — hier trage ich
ſie bei mir, Bettina's Soli (er ſchlug auf
die rechte Rocktaſche, ſo daß es gewaltig darin
klatſchte) und gleich ſoll herrlicher, als je, die
Kleine ſie mir mit hocherhabener Glockenſtimme
vorſingen.“ Der Capellmeiſter griff nach dem
[282] Hute und wollte fort, der Doktor hielt ihn zu¬
ruͤck, indem er ſehr ſanft und leiſe ſprach: Ich
ehre ihren werthen Enthuſiasmus, holdſeeligſter
Freund! aber ich uͤbertreibe nichts und kenne
den Dom-Organiſten gar nicht, es iſt nun ein¬
mahl ſo! Seit der Zeit, daß Bettina in der
katholiſchen Kirche bei dem Amt die Solos im
Gloria und Credo geſungen, iſt ſie von einer
ſolch' ſeltſamen Heiſerkeit oder vielmehr Stimm¬
loſigkeit befallen, die meiner Kunſt trotzt und die
mich, wie geſagt, befuͤrchten laͤßt, daß ſie nie
mehr ſingen wird. „Gut denn,“ rief der Ka¬
pellmeiſter wie in reſignirter Verzweiflung, „gut
denn, ſo gieb ihr Opium — Opium und ſo lange
Opium bis ſie eines ſanften Todes dahinſcheidet,
denn ſingt Bettina nicht mehr, ſo darf ſie
auch nicht mehr leben, denn ſie lebt nur, wenn
ſie ſingt — ſie exiſtirt nur im Geſange, — himm¬
liſcher Doktor, thu' mir den Gefallen, vergifte
ſie jeher deſto lieber. Ich habe Connektionen im
Criminal-Collegio, mit dem Praͤſidenten ſtudirte
[283] ich in Halle, es war ein großer Horniſt, wir blie¬
ſen Bizinien zur Nachtzeit mit einfallenden Choͤren
obligater Huͤndelein und Kater! — Sie ſollen
Dir nichts thun des ehrlichen Mords wegen —
Aber vergifte ſie — vergifte ſie —“ „Man iſt,“
unterbrach der Doktor den ſprudelnden Kapellmei¬
ſter, „man iſt doch ſchon ziemlich hoch in Jahren,
muß ſich das Haar pudern ſeit geraumer Zeit und
doch noch vorzuͤglich die Muſik anlangend vel
quasi ein Haſenfuß. Man ſchreie nicht ſo, man
ſpreche nicht ſo verwegen vom ſuͤndlichen Mord
und Todſchlag, man ſetze ſich ruhig hin dort in
jenen bequemen Lehnſtuhl und hoͤre mich gelaſſen
an.“ Der Kapellmeiſter rief mit ſehr weinerlicher
Stimme: „Was werd' ich hoͤren und that uͤbri¬
gens wie ihm geheißen. „Es iſt, fing der Dok¬
tor an, es iſt in der That in Bettina's Zu¬
ſtand etwas ganz ſonderbares und verwunderliches.
Sie ſpricht laut, mit voller Kraft des Organs,
an irgend eines der gewoͤhnlichen Halsuͤbel iſt gar
nicht zu denken, ſie iſt ſelbſt im Stande einen
[284] muſikaliſchen Ton anzugeben, aber ſo wie ſie die
Stimme zum Geſange erheben will, laͤhmt ein
unbegreifliches Etwas, das ſich durch kein Ste¬
chen, Prickeln, Kitzeln oder ſonſt als ein affir¬
matives krankhaftes Prinzip darthut, ihre Kraft,
ſo daß jeder verſuchte Ton ohne gepreßt-un¬
rein, kurz katarrhaliſch zu klingen, matt und
farblos dahin ſchwindet. Bettina ſelbſt ver¬
gleicht ihren Zuſtand ſehr richtig demjenigen im
Traum, wenn man mit dem vollſten Bewußtſeyn
der Kraft zum Fliegen doch vergebens ſtrebt in
die Hoͤhe zu ſteigen. Dieſer negative krankhafte
Zuſtand ſpottet meiner Kunſt und wirkungslos
bleiben alle Mittel. Der Feind, den ich bekaͤm¬
pfen ſoll, gleicht einem koͤrperloſen Spuck, gegen
den ich vergebens meine Streiche fuͤhre. Darin
habt Ihr Recht Kapellmeiſter, daß Bettina's
ganze Exiſtenz im Leben durch den Geſang be¬
dingt iſt, denn eben im Geſange kann man ſich
den kleinen Paradiesvogel nur denken, deshalb
iſt ſie aber ſchon durch die Vorſtellung, daß ihr
[285] Geſang und mit ihr ſie ſelbſt untergehe, ſo im
Innerſten aufgeregt, und faſt bin ich uͤberzeugt,
daß eben dieſe fortwaͤhrende geiſtige Agitation ihr
Uebelbefinden foͤrdert und meine Bemuͤhungen
vereitelt. Sie iſt, wie ſie ſich ſelbſt ausdruͤckt,
von Natur ſehr apprehenſiv, und ſo glaube ich,
nachdem ich Monate lang, wie ein Schiffbruͤchi¬
ger, der nach jedem Splitter haſcht, nach dieſem,
jenem Mittel gegriffen und daruͤber ganz verzagt
worden, daß Bettina's ganze Krankheit mehr
pſychiſch als phyſiſch iſt.“ „Recht Doktor,“ rief
hier der reiſende Enthuſiaſt, der ſo lange ſchwei¬
gend mit uͤber einander geſchlagenen Aermen im
Winkel geſeſſen, „recht Doktor, mit einem Mahl
habt Ihr den richtigen Punkt getroffen, mein
vortrefflicher Arzt! Bettina's krankhaftes Ge¬
fuͤhl iſt die phyſiſche Ruͤckwirkung eines pſychi¬
ſchen Eindrucks, eben deshalb aber deſto ſchlim¬
mer und gefaͤhrlicher. Ich ich allein kann Euch
Alles erklaͤren, Ihr Herren!“ „Was werd' ich
hoͤren,“ ſprach der Kapellmeiſter noch weinerlicher
[286] als vorher, der Doktor ruͤckte ſeinen Stuhl naͤher
heran zum reiſenden Enthuſiaſten und guckte ihm
mit ſonderbar laͤchelnder Miene in's Geſicht.
Der reiſende Enthuſiaſt warf aber den Blick in
die Hoͤhe und ſprach ohne den Doktor oder den
Kapellmeiſter anzuſehen. „Kapellmeiſter! ich ſah
einmahl einen kleinen buntgefaͤrbten Schmetter¬
ling, der ſich zwiſchen den Saiten Eures Dop¬
pelclavichords eingefangen hatte. Das kleine
Ding flatterte luſtig auf und nieder und mit den
glaͤnzenden Fluͤgelein um ſich ſchlagend beruͤhrte es
bald die obern bald die untern Saiten, die dann
leiſe leiſe nur dem ſchaͤrfſten geuͤbteſten Ohr ver¬
nehmbare Toͤne und Akkorde hauchten ſo daß zu¬
letzt das Thierchen nur in den Schwingungen wie
in ſanftwogenden Wellen zu ſchwimmen oder viel¬
mehr von ihnen getragen zu werden ſchien. Aber
oft kam es, daß eine ſtaͤrker beruͤhrte Saite, wie
erzuͤrnt in die Fluͤgel des froͤhlichen Schwimmers
ſchlug, ſo daß ſie wund geworden den Schmuck
des bunten Bluͤthenſtaubs von ſich ſtreuten, doch
[287] deſſen nicht achtend kreiſte der Schmetterling fort
und fort im froͤhlichen Klingen und Singen bis
ſchaͤrfer und ſchaͤrfer die Saiten ihn verwundeten,
und er lautlos hinab ſank in die Oeffnung des
Reſonanzbodens.“ „Was wollen wir damit ſagen,“
frug der Kapellmeiſter, „Fiat applicatio mein
Beſter!“ ſprach der Doktor. „Von einer beſonde¬
ren Anwendung iſt hier nicht die Rede,“ fuhr
der Enthuſiaſt fort, „ich wollte, da ich obbeſagten
Schmetterling wirklich auf des Kapellmeiſters
Clavichord ſpielen gehoͤrt habe, nur im Allgemei¬
nen eine Idee andeuten, die mir damals einkam,
und die alles das, was ich uͤber Bettina's
Uebel ſagen werde, ſo ziemlich einleitet. Ihr
koͤnnet das Ganze aber auch fuͤr eine Allegorie
anſehen, und es in das Stammbuch irgend einer
reiſenden Virtuoſin hineinzeichnen. Es ſchien
mir nehmlich damals, als habe die Natur ein
tauſendchoͤrigtes Clavichord um uns herum gebaut,
in deſſen Saiten wir herum handthierten, ihre
Toͤne und Akkorde fuͤr unſere eigne willkuͤhrlich
[288] hervorgebrachte haltend und als wuͤrden wir oft
zum Tode wund, ohne zu ahnden, daß der un¬
harmoniſch beruͤhrte Ton uns die Wunde ſchlug.“
„Sehr dunkel,“ ſprach der Kapellmeiſter. „O,“ rief
der Doktor lachend, „o nur Geduld, er wird gleich
auf ſeinem Steckenpferde ſitzen und geſtreckten
Gallops in die Welt der Ahnungen, Traͤume,
pſychiſchen Einfluͤſſe, Sympathien, Idioſynkraſien
u. ſ. w. hineinreiten, bis er auf der Station des
Magnetismus abſitzt und ein Fruͤhſtuͤck nimmt.“
„Gemach gemach, mein weiſer Doktor,“ ſprach der
reiſende Enthuſiaſt, ſchmaͤht nicht auf Dinge, die
ihr, ſtraͤuben moͤcht Ihr Euch auch wie ihr wollt,
doch mit Demuth anerkennen und hoͤchlich beach¬
ten muͤßt. Habt Ihr es denn nicht ſelbſt eben
erſt ausgeſprochen, daß Bettina's Krankheit
von pſychiſcher Anregung herbeigefuͤhrt oder viel¬
mehr nur ein pſychiſches Uebel iſt? „Wie
kommt,“ unterbrach der Doktor den Enthuſia¬
ſten, „wie kommt aber Bettina mit dem un¬
gluͤckſeeligen Schmetterling zuſammen? „Wenn
man[289] man,“ fuhr der Enthuſiaſt fort, „wenn man nun
alles haarklein auseinander ſieben ſoll, und jedes
Koͤrnchen beaͤugeln und bekucken, ſo wird das eine
Arbeit, die ſelbſt langweilig Langeweile verbreitet! —
Laßt den Schmetterling im Clavichordkaſten des
Kapellmeiſter ruhen! — Uebrigens, ſagt ſelbſt,
Kapellmeiſter! iſt es nicht ein wahres Ungluͤck, daß
die hochheilige Muſik ein integrirender Theil un¬
ſerer Converſation geworden iſt? Die herrlichſten
Talente werden herabgezogen in das gemeine duͤrf¬
tige Leben! Statt daß ſonſt aus heiliger Ferne
wie aus dem wunderbaren Himmelsreiche ſelbſt,
Ton und Geſang auf uns herniederſtrahlte, hat
man jetzt alles huͤbſch bey der Hand und man
weiß genau, wie viel Taſſen Thee die Saͤngerin
oder wie viel Glaͤſer Wein der Baſſiſt trinken
muß, um in die gehoͤrige Tramontane zu kommen.
Ich weiß wohl, daß es Vereine giebt, die ergrif¬
fen von dem wahren Geiſt der Muſik ſie unter¬
einander mit wahrhafter Andacht uͤben, aber jene
miſerablen geſchmuͤckten, geſchniegelten — doch ich
T[290] will mich nicht aͤrgern! — Als ich voriges Jahr
hieher kam, war die arme Bettina gerade recht
in der Mode — ſie war, wie man ſagt, recherchirt,
es konnte kaum Thee getrunken werden ohne Zu¬
that einer ſpaniſchen Romanze, einer italiaͤniſchen
Canzonetta oder auch wohl eines franzoͤſiſchen Lied¬
leins: Souvent l'amour etc. zu dem ſich Bet¬
tina hergeben mußte. Ich fuͤrchtete in der That,
daß das gute Kind mit ſammt ihrem herrlichen
Talent untergehen wuͤrde in dem Meer von
Theewaſſer, das man uͤber ſie ausſchuͤttete, das
geſchah nun nicht, aber die Kataſtrophe trat ein.“
„Was fuͤr eine Kataſtrophe?“ riefen Doktor
und Kapellmeiſter. „Seht liebe Herren!“ fuhr der
Enthuſiaſt fort, „eigentlich iſt die arme Betti¬
na — wie man ſo ſagt, verwuͤnſcht oder verhext
worden, und ſo hart es mir ankommt es zu be¬
kennen, ich — ich ſelbſt bin der Hexenmeiſter,
der das boͤſe Werk vollbracht hat, und nun gleich
dem Zauberlehrling den Bann nicht zu loͤſen ver¬
mag.“ „Poſſen — Poſſen, und wir ſitzen hier
[291] und laſſen uns mit der groͤßten Ruhe von dem
ironiſchen Boͤſewicht myſtifiziren.“ So rief der
Doktor, indem er aufſprang. „Aber zum Teufel
die Kataſtrophe — die Kataſtrophe,“ ſchrie der
Kapellmeiſter. „Ruhig ihr Herren,“ ſprach der
Enthuſiaſt, „jetzt kommt eine Thatſache, die ich
verbuͤrgen kann, haltet uͤbrigens meine Hexerei
fuͤr Scherz, unerachtet es mir zuweilen recht
ſchwer aufs Herz faͤllt, daß ich ohne Wiſſen und
Willen einer unbekannten pſychiſchen Kraft zum
Medium des Entwickelns und Einwirkens auf
Bettina gedient haben mag. Gleichſam als
Leiter mein' ich, ſo wie in der elektriſchen Reihe
einer den andern ohne Selbſtthaͤtigkeit und eignen
Willen pruͤgelt.“ „Hop hop,“ rief der Doktor,
„ſeht wie das Steckenpferd gar herrliche Cour¬
betten verfuͤhrt.“ „Aber die Geſchichte — die
Geſchichte,“ ſchrie der Kapellmeiſter dazwiſchen!
„Ihr erwaͤhntet,“ fuhr der Enthuſiaſt fort,
„ihr erwaͤhntet Kapellmeiſter ſchon zuvor, daß
Bettina das letztemal, ehe ſie die Stimme
T 2
[292] verlor, in der katholiſchen Kirche ſang. Erinnert
Euch, daß dies am erſten Oſterfeiertage vorigen
Jahres geſchah. Ihr hattet Euer ſchwarzes Eh¬
renkleid angethan und dirigirtet die herrliche
Haydnſche Meſſe aus dem D Moll. In dem
Sopran that ſich ein Flor junger anmuthig geklei¬
deter Maͤdchen auf, die zum Theil ſangen, zum
Theil auch nicht; unter ihnen ſtand Bettina,
die mit wunderbar ſtarker voller Stimme die
kleinen Soli vortrug. Ihr wißt, daß ich mich
im Tenor angeſtellt hatte, das Sanctus war ein¬
getreten, ich fuͤhlte die Schauer der tiefſten An¬
dacht mich durchbeben, da rauſchte es hinter mir
ſtoͤrend, unwillkuͤhrlich drehte ich mich um, und
erblickte zu meinem Erſtaunen Bettina, die
ſich durch die Reihen der Spielenden und Sin¬
genden draͤngte um den Chor zu verlaſſen.“ „Sie
wollen fort?“ redete ich ſie an. „Es iſt die
hoͤchſte Zeit,“ erwiederte ſie ſehr freundlich, „daß
ich mich jetzt nach der *** Kirche begebe, um
noch, wie ich verſprochen, dort in einer Cantate
[293] mitzuſingen, auch muß ich noch Vormittag ein
Paar Duetts probiren, die ich heute Abend
in dem Singethee bei *** vortragen werde,
dann iſt Souper bei ***. Sie kommen doch
hin? es werden ein Paar Choͤre aus dem Haͤn¬
del'ſchen Meſſias und das erſte Finale aus Figa¬
ro's Hochzeit gemacht.“ Waͤhrend dieſes Ge¬
ſpraͤchs erklangen die vollen Akkorde des Sanctus,
und das Weihrauchopfer zog in blauen Wolken
durch das hohe Gewoͤlbe der Kirche. „Wiſſen
Sie denn nicht,“ ſprach ich, „daß es ſuͤndlich iſt,
daß es nicht ſtraflos bleibt, wenn man waͤhrend
des Sanctus die Kirche verlaͤßt? — Sie wer¬
den ſo bald nicht mehr in der Kirche ſingen!“ —
Es ſollte Scherz ſeyn, aber ich weiß nicht, wie
es kann, daß mit einemmal meine Worte ſo
feierlich klangen. Bettina erblaßte und verließ
ſchweigend die Kirche. Seit dieſem Moment ver¬
lor ſie die Stimme — Der Doktor hatte ſich
waͤhrend der Zeit wieder geſetzt, und das Kinn
auf den Stockknopf geſtuͤtzt, er blieb ſtumm, aber
[294] der Kapellmeiſter rief: „Wunderbar in der That,
ſehr wunderbar!“ „Eigentlich“ fuhr der Enthuſiaſt
fort, „eigentlich kam mir damals bei meinen
Worten nichts beſtimmtes in den Sinn und eben
ſo wenig ſetzte ich Bettina's Stimmloſigkeit
mit dem Vorfall in der Kirche nur in den min¬
deſten Bezug. Erſt jetzt, als ich wieder hieher¬
kam und von Euch Doktor erfuhr, daß Betti¬
na noch immer an der verdrießlichen Kraͤnklich¬
keit leide, war es mir, als haͤtte ich ſchon da¬
mals an eine Geſchichte gedacht, die ich vor meh¬
reren Jahren in einem alten Buche las, und die
ich Euch, da ſie mir anmuthig und ruͤhrend
ſcheint, mittheilen will.“ „Erzaͤhlen Sie,“ rief
der Kapellmeiſter, „vielleicht liegt ein guter Stoff
zu einer tuͤchtigen Oper darin.“ „Koͤnnt' ihr,“
ſprach der Doktor, „koͤnnt' ihr, Kapellmeiſter,
Traͤume — Ahnungen — magnetiſche Zuſtaͤnde in
Muſik ſetzen, ſo wird Euch geholfen, auf ſo was
wird die Geſchichte doch wieder herauslaufen.“
Ohne dem Doktor zu antworten raͤusperte ſich
[295] der reiſende Enthuſiaſt und fing mit erhabener
Stimme an: „Unabſehbar breitete ſich das Feldla¬
ger Iſabellen's und Ferdinand's von Arra¬
gonien vor den Mauern von Granada aus.“ „Herr
des Himmels und der Erden,“ unterbrach der
Doktor den Erzaͤhler, „das faͤngt an als wollt' es
in neun Tagen und neun Naͤchten nicht endigen,
und ich ſitze hier und die Patienten lamentiren.
Ich ſcheere mich den Teufel um Eure mauriſchen
Geſchichten, den Gonzalvo von Cordova habe ich
geleſen, und Bettina's Seguidillas ge¬
hoͤrt, aber damit Baſta, alles was recht iſt —
Gott befohlen!“ Schnell ſprang der Doktor zur
Thuͤre heraus, aber der Kapellmeiſter blieb ruhig
ſitzen, indem er ſprach: „Es wird eine Geſchichte
aus den Kriegen der Mauren mit den Spaniern,
wie ich merke, ſo was haͤtt' ich laͤngſt gar zu
gern komponirt. — Gefechte — Tumult —
Romanzen — Aufzuͤge — Cymbeln — Choraͤle —
Trommeln und Pauken — ach Pauken! — Da
wir nun einmal ſo zuſammen ſind, erzaͤhlen Sie,
[296] liebenswuͤrdiger Enthuſiaſt, wer weiß, welches
Saamenkorn die erwuͤnſchte Erzaͤhlung in mein
Gemuͤth wirft und was fuͤr Rieſenlilien daraus
entſprießen.“ „Euch wird,“ erwiederte der Enthu¬
ſiaſt, „Euch wird nun Kapellmeiſter! alles ein¬
mal gleich zur Oper und daher kommt es denn
auch, daß die vernuͤnftigen Leute, die die Muſik
behandeln wie einen ſtarken Schnaps, den man
nur dann und wann in kleinen Portionen genießt
zur Magenſtaͤrkung, Euch manchmahl fuͤr toll
halten. Doch erzaͤhlen will ich Euch, und keck
moͤget ihr, wandelt Euch die Luſt an, manchmal
ein Paar Akkorde dazwiſchen werfen.“ — Schrei¬
ber dieſes fuͤhlt ſich gedrungen, ehe er dem En¬
thuſiaſten die Erzaͤhlung nachſchreibt, Dich guͤnſti¬
gen Leſer zu bitten, Du moͤgeſt ihm der Kuͤrze
halber zu Gute halten, wenn er den dazwiſchen
anſchlagenden Akkorden den Kapellmeiſter vor¬
zeichnet. Statt alſo zu ſchreiben: Hier ſprach
der Kapellmeiſter, heißt es blos der Kapell¬
meiſter.
[297]
Unabſehbar breitete ſich das Feldlager Iſa¬
bellens und Ferdinand's von Arragonien
vor den feſten Mauern von Granada aus. Ver¬
gebens auf Huͤlfe hoffend, immer enger und
enger eingeſchloſſen, verzagte der feige Boabdil
und im bittern Hohn vom Volk das ihn den
kleinen Koͤnig nannte, verſpottet, fand er nur in
den Opfern blutduͤrſtiger Grauſamkeit augenblick¬
lichen Troſt. Aber eben in dem Grade, wie die
Muthloſigkeit und Verzweiflung taͤglich mehr Volk
und Kriegsheer in Granada erfaßte, wurde leben¬
diger Siegeshoffnung und Kampfesluſt im ſpani¬
ſchen Lager. Es beduͤrfte keines Sturms. Fer¬
dinand begnuͤgte ſich die Waͤlle zu beſchießen,
und die Ausfaͤlle der Belagerten zuruͤckzutreiben.
Dieſe kleinen Gefechte glichen mehr froͤlichen Tur¬
nieren als ernſten Kaͤmpfen und ſelbſt der Tod
der im Kampfe Gefallnen konnte die Gemuͤther
nur erheben, da ſie hochgefeiert im Gepraͤnge
des kirchlichen Cultus wie in der ſtrahlenden Glo¬
rie des Maͤrtyrthums fuͤr den Glauben erſchienen.
[298] Gleich nachdem Iſabella in das Lager einge¬
zogen, ließ ſie in deſſen Mitte ein hohes hoͤlzer¬
nes Gebaͤude mit Thuͤrmen auffuͤhren, von deren
Spitzen die Kreuzesfahne herabwehte. Das In¬
nere wurde zum Kloſter und zur Kirche eingerich¬
tet, und Benediktiner-Nonnen zogen ein, taͤgli¬
chen Gottesdienſt uͤbend. Die Koͤnigin, von ihrem
Gefolge, von ihren Rittern begleitet, jeden Mor¬
gen, die Meſſe zu hoͤren, die ihr Beichtvater las,
von dem Geſange der im Chor verſammelten
Nonnen unterſtuͤtzt. Da begab es ſich, daß
Iſabella an einem Morgen eine Stimme ver¬
nahm, die mit wunderbarem Glockenklang die
andern Stimmen im Chor uͤbertoͤnte. Der Ge¬
ſang war anzuhoͤren wie das ſiegende Schmettern
einer Nachtigall, die, die Fuͤrſtin des Hains, dem
jauchzenden Volk gebietet. Und doch war die
Ausſprache der Worte ſo fremdartig und ſelbſt
die ſonderbare ganz eigenthuͤmliche Art des Ge¬
ſanges that kund, daß eine Saͤngerin des kirchli¬
chen Styls noch ungewohnt, vielleicht zum erſten¬
[299] mahl das Amt ſingen muͤſſe. Verwundert ſchaute
Iſabella um ſich und bemerkte, daß ihr Ge¬
folge von demſelben Erſtaunen ergriffen worden;
doch ahnen mußte ſie wohl, daß hier ein beſon¬
deres Abentheuer im Spiel ſeyn muͤſſe, als ihr
der tapfere Heerfuͤhrer Aguillar, der ſich eben
im Gefolge befand, ihr in's Auge fiel. Im
Betſtuhl kniend, die Haͤnde gefaltet, ſtarrte er
zum Gitter des Chors herauf, gluͤhende inbruͤn¬
ſtige Sehnſucht im duͤſtern Auge. Als die Meſſe
geendet war, begab ſich Iſabella nach Donna
Maria's, der Priorin, Zimmern und frug nach
der fremden Saͤngerin. „Wollet Euch o Koͤni¬
gin,“ ſprach Donna Maria, „wollet Euch
erinnern, daß vor Mondesfriſt Don Aguil¬
lar jenes Außenwerk zu uͤberfallen und zu er¬
obern gedachte, das mit einer herrlichen Terraſſe
geziert den Mauren zum Luſtort dient. In jeder
Nacht ſchallen die uͤppigen Geſaͤnge der Heiden
in unſer Lager heruͤber wie verlockende Syrenen¬
ſtimmen und eben deshalb wollte der tapfere
[300]Aguillar das Neſt der Suͤnde zerſtoͤren.
Schon war das Werk genommen, ſchon wurden
die gefangenen Weiber waͤhrend des Gefechts ab¬
gefuͤhrt, als eine unvermuthete Verſtaͤrkung ihn
tapferer Wehr unerachtet noͤthigte, abzulaſſen und
ſich zuruͤckzuziehen in das Lager. Der Feind
wagte nicht ihn zu verfolgen und ſo kam es, daß
die Gefangenen und reiche Beute ſein blieben.
Unter den gefangenen Weibern befand ſich eine,
deren troſtloſes Jammern, deren Verzweiflung
Don Aguillar's Aufmerkſamkeit erregte. Er
nahte ſich der Verſchleierten mit freundlichen
Worten, aber als haͤtte ihr Schmerz keine andere
Sprache als Geſang, fing ſie, nachdem ſie auf der
Zither, die ihr an einem goldnen Bande um den
Hals hing, einige ſeltſame Akkorde gegriffen hatte,
eine Romanze an, die in tiefaufſeufzenden herzzer¬
ſchneidenden Lauten die Trennung von dem Ge¬
liebten, von aller Lebensfreude klagte. Aguil¬
lar tief ergriffen von den wunderbaren Toͤnen,
beſchloß das Weib zuruͤckbringen zu laſſen nach
[301] Granada; ſie ſtuͤrzte vor ihm nieder, indem ſie
den Schleier zuruͤckſchlug. Da rief Aguillar
wie außer ſich: Biſt Du denn nicht Zulema,
das Licht des Geſanges in Granada? — Zulema,
die der Feldherr bei einer Sendung an Boab¬
dil's Hof geſehen, deren wunderbarer Geſang
ſeitdem tief in ſeiner Bruſt wiederhallte, war es
wirklich. „Ich gebe Dir die Freiheit,“ rief
Aguillar, aber da ſprach der ehrwuͤrdige Va¬
ter Agoſtino Sanchez, der das Kreuz in der
Hand mitgezogen: „Erinnere Dich, Herr! daß
Du, indem Du die Gefangene frei laͤſſeſt, ihr
großes Unrecht thuſt, da ſie dem Goͤtzendienſt
entriſſen, vielleicht bei uns von der Gnade des
Herrn erleuchtet, in den Schooß der Kirche zu¬
ruͤckgekehrt waͤre.“ Aguillar ſprach, „Sie mag
bei uns bleiben einen Monat hindurch und dann,
fuͤhlt ſie ſich nicht durchdrungen von dem Geiſt
des Herrn, zuruͤckgebracht werden nach Granada.“
So kam es, o Herrin! daß Zulema von uns in
dem Kloſter aufgenommen wurde. Anfangs uͤber¬
[302] ließ ſie ſich ganz dem troſtloſeſten Schmerz und
bald waren es wild und ſchauerlich toͤnende,
bald tiefklagende Romanzen, mit denen ſie das
Kloſter erfuͤllte, denn uͤberall hoͤrte man ihre
durchdringende Glockenſtimme. Es begab ſich,
daß wir einſt um Mitternacht im Chor der Kir¬
che verſammelt waren und die Hora nach jener
wundervollen heiligen Weiſe abſangen, die der hohe
Meiſter des Geſanges, Ferreras, uns lehrte.
Ich bemerkte im Schein der Lichter Zulema
in der offnen Pforte des Chors ſtehend und mit
ernſtem Blick ſtill und andaͤchtig hineinſchauend;
als wir Paarweiſe daherziehend den Chor ver¬
ließen, kniete Zulema im Gange unfern eines
Marienbildes. Den andern Tag ſang ſie keine
Romanze, ſondern blieb ſtill und in ſich gekehrt.
Bald verſuchte ſie auf der tiefgeſtimmten Zither
die Akkorde jenes Chorals, den wir in der Kirche
geſungen, und dann fing ſie an leiſe leiſe zu ſin¬
gen, ja ſelbſt die Worte unſers Geſanges zu ver¬
ſuchen, die ſie freilich wunderlich wie mit gebun¬
[303] dener Zunge ausſprach. Ich merkte wohl, daß
der Geiſt des Herrn mit milder troͤſtender Stimme
im Geſange zu ihr geſprochen, und daß ſich ihre
Bruſt oͤffnen wuͤrde ſeiner Gnade, daher ſchickte
ich Schweſter Emanuela, die Meiſterin des
Chors, zu ihr, daß ſie den glimmenden Funken
anfache, und ſo geſchah es, daß im heiligen Ge¬
ſange der Kirche der Glaube in ihr entzuͤndet
wurde. Noch iſt Zulema nicht durch die hei¬
lige Taufe in den Schooß der Kirche aufgenom¬
men, aber vergoͤnnt wurde es ihr unſerm Chor
ſich beizugeſellen, und ſo ihre wunderbare Stimme
zur Glorie der Religion zu erheben. Die Koͤni¬
gin wußte nun wohl, was in Aguillar's In¬
nerm vorgegangen, als er auf Agoſtino's Ein¬
rede Zulema nicht zuruͤckſandte nach Granada,
ſondern ſie im Kloſter aufnehmen ließ und um ſo
mehr war ſie erfreut uͤber Zulema's Bekeh¬
rung zum wahren Glauben. Nach wenigen Ta¬
gen wurde Zulema getauft und erhielt den Na¬
men Julia. Die Koͤnigin ſelbſt, der Marquis
[304] von Cadix, Heinrich von Gusman, die
Feldherren Mendoza, Villena, waren die Zeu¬
gen des heiligen Akts. Man haͤtte glauben ſol¬
len, daß Julia's Geſang nun noch inniger und
wahrer die Herrlichkeit des Glaubens haͤtte ver¬
kuͤnden muͤſſen und ſo geſchah es auch wirklich
eine kurze Zeit hindurch, indeſſen bemerkte Ema¬
nuela bald, daß Julia oft auf ſeltſame Weiſe
von dem Choral abwich, fremdartige Toͤne ein¬
miſchend. Oft hallte urploͤtzlich der dumpfe Klang
einer tiefgeſtimmten Zither durch den Chor.
Der Ton glich dem Nachklingen vom Sturm
durchrauſchter Saiten. Dann wurde Julia un¬
ruhig und es geſchah ſogar, daß ſie wie willkuͤhr¬
los in den lateiniſchen Hymnus ein mohriſches
Wort einwarf. Emanuela warnte die Neube¬
kehrte, ſtandhaft zu widerſtehen dem Feinde, aber
leichtſinnig achtete Julia deſſen nicht und zum Aer¬
gerniß der Schweſtern ſang ſie oft, wenn eben die
ernſten heiligen Choraͤle des alten Ferreras er¬
klungen, taͤndelnde mohriſche Liebeslieder zur Zither,
die[305] die ſie wieder hoch geſtimmt hatte. Sonderbarer
Weiſe klangen jetzt die Zithertoͤne, die oft durch
den Chor ſauſten, auch hoch und recht widrig
beynahe wie das gellende Gepfeife der kleinen
mohriſchen Floͤten.
Der Kapellmeiſter. Flauti piccoli —
Oktavfloͤtchen. Aber, mein Beſter, noch bis jetzt
nichts, gar nichts fuͤr die Oper — keine Expo¬
ſition und das iſt immer die Hauptſache, doch
mit der tiefen und hohen Stimmung der Zither,
das hat mich angeregt. Glaubt ihr nicht, daß
der Teufel ein Tenoriſt iſt? Er iſt falſch wie —
der Teufel, und daher macht er alles im Fal¬
ſet!
Der Enthuſiaſt. Gott im Himmel! —
ihr werdet von Tage zu Tage witziger, Kapellmei¬
ſter! Aber ihr habt Recht, laſſen wir dem teufli¬
ſchen Prinzip alles uͤberhohe unnatuͤrliche Ge¬
pfeife, Gequieke ꝛc. Doch weiter fort in der Er¬
zaͤhlung, die mir eigentlich blutſauer wird, weil
ich jeden Augenblick Gefahr laufe, uͤber irgend
U[306] einen wohl zu beachtenden Moment wegzuſprin¬
gen.
Es begab ſich, daß die Koͤnigin, begleitet von
den edlen Feldherren des Lagers, nach der Kirche
der Benediktiner-Nonnen ſchritt, um wie ge¬
woͤhnlich die Meſſe zu hoͤren. Vor der Pforte
lag ein elender zerlumpter Bettler, die Traban¬
ten wollten ihn fortſchaffen, doch halb erhoben
riß er ſich wieder los und warf ſich heulend nie¬
der, ſo daß er die Koͤnigin beruͤhrte. Ergrimmt
ſprang Aguillar hervor und wollte den Elenden
mit dem Fuße fortſtoßen. Der richtete ſich aber
mit halbem Leibe gegen ihn empor und ſchrie:
„Tritt die Schlange — tritt die Schlange, ſie
wird dich ſtechen zum Tode!“ und dazu griff er
in die Saiten der unter den Lumpen verſteckten
Zither, daß ſie im gellenden widrig pfeifenden
Tone zerriſſen und alle von unheimlichem Grauen
ergriffen, zuruͤckbebten. Die Trabanten ſchafften
das widrige Geſpenſt fort und es hieß: der Menſch
ſey ein gefangener wahnſinniger Mohr, der aber
[307] durch ſeine tollen Spaͤße und durch ſein verwun¬
derliches Zitherſpiel die Soldaten im Lager belu¬
ſtige. Die Koͤnigin trat ein und das Amt be¬
gann. Die Schweſtern im Chor intonirten das
Sanctus, eben ſollte Julia mit maͤchtiger Stim¬
me wie ſonſt eintreten: Pleni sunt coeli gloria
tua, da ging ein gellender Zitherton durch
den Chor, Julia ſchlug ſchnell das Blatt zu¬
ſammen und wollte den Chor verlaſſen. „Was
beginnſt du?“ rief Emanuela, O! ſagte
Julia, hoͤrſt du denn nicht die praͤchtigen Toͤne
des Meiſters? — dort bey ihm, mit ihm muß
ich ſingen! damit eilte Julia nach der Thuͤre,
aber Emanuela ſprach mit ſehr ernſter feierli¬
cher Stimme: Suͤnderin, die du den Dienſt des
Herrn entweihſt, da du mit dem Munde ſein
Lob verkuͤndeſt und im Herzen weltliche Gedanken
traͤgſt, flieh von hinnen, gebrochen iſt die Kraft
des Geſanges in dir, verſtummt ſind die wunder¬
baren Laute in deiner Bruſt die der Geiſt des
Herrn entzuͤndet!“ — Von Emanuela's Wor¬
U 2[308] ten wie vom Blitz getroffen, ſchwankte Julia
fort. — Eben wollten die Nonnen zur Nachtzeit
ſich verſammeln, um die Hora zu ſingen, als
ein dicker Qualm ſchnell die ganze Kirche erfuͤllte.
Bald darauf drangen die Flammen ziſchend und
praſſelnd durch die Waͤnde des Nebengebaͤudes
und erfaßten das Kloſter. Mit Muͤhe gelang
es den Nonnen ihr Leben zu retten, Trompeten
und Hoͤrner ſchmetterten durch das Lager, aus
dem erſten Schlaf taumelten die Soldaten auf;
man ſah den Feldherrn Aguillar mit verſeng¬
tem Haar, mit halbverbrannten Kleidern aus
dem Kloſter ſtuͤrzen, er hatte Julia, die man
vermißte, vergebens zu retten geſucht, keine
Spur von ihr war zu finden. Fruchtlos blieb
der Kampf gegen das Feuer, das von dem Sturm,
der ſich erhoben, angefacht, immer mehr um ſich
griff; in kurzer Zeit lag Iſabellens ganzes
reiches herrliches Lager in Aſche. Die Mauren
im Vertrauen, daß der Chriſten Ungluͤck ihnen
Sieg bringen wuͤrde, wagten mit einer bedeuten¬
[309] den Macht einen Ausfall, glaͤnzender war aber
fuͤr die Waffen der Spanier nie ein Kampf ge¬
weſen, als eben dieſer, und als ſie unter dem
jauchzenden Schall der Trompeten ſieggekroͤnt
in ihre Verſchanzungen zuruͤckzogen, da beſtieg
die Koͤnigin Iſabella den Thron, den man im
Freyen errichtet hatte und verordnete, daß an der
Stelle des abgebrannten Lagers eine Stadt ge¬
baut werde! Zeigen ſollte dies den Mauren in
Granada, daß niemals die Belagerung aufgeho¬
ben werden wuͤrde.
Der Kapellmeiſter. Duͤrfte man ſich
nur mit geiſtlichen Dingen auf das Theater wa¬
gen, hat man nicht ſchon ſeine Noth mit dem
lieben Publikum, wenn man hie und da ein bis¬
chen Choral anbringt. Sonſt waͤr' die Julia
gar keine uͤble Partie. Denkt Euch den doppel¬
ten Styl, in welchem ſie glaͤnzen kann, erſt die
Romanzen, dann die Kirchengeſaͤnge. Einige
allerliebſte ſpaniſche und mohriſche Lieder hab' ich
bereits fertig, auch iſt der Sieges-Marſch der
[310] Spanier gar nicht uͤbel, ſo wie ich das Gebot der
Koͤnigin melodramatiſch zu behandeln Willens bin,
wie indeſſen das Ganze ſich zuſammenfuͤgen ſoll,
das weiß der Himmel! — Aber erzaͤhlt weiter,
kommen wir wieder auf Julia, die hoffentlich
nicht verbrannt ſeyn wird.
Der Enthuſiaſt. Denkt Euch, liebſter
Kapellmeiſter, daß jene Stadt, die die Spanier
in ein und zwanzig Tagen aufbauten und mit
Mauern umgaben, eben das heute noch ſtehende
Santa Fe iſt. Doch indem ich das Wort ſo un¬
mittelbar an Euch richte, falle ich aus dem feier¬
lichen Ton, der allein ſich zu dem feierlichen
Stoffe paßt. Ich wollte Ihr ſpieltet eins von
Paleſtrina's Reſponſorien, die dort auf dem Pult
des Fortepiano's aufgeſchlagen liegen.
Der Kapellmeiſter that es und hierauf fuhr
der reiſende Enthuſiaſt alſo fort:
Die Mauren unterließen nicht, die Spanier
waͤhrend des Aufbaues ihrer Stadt auf mannig¬
fache Weiſe zu beunruhigen, die Verzweiflung
[311] trieb ſie zur verwogenſten Kuͤhnheit und ſo wur¬
den die Gefechte ernſter als jemals. Aguillar
hatte einſt ein mauriſches Geſchwader, das die
ſpaniſchen Vorwachen uͤberfallen, bis in die Mau¬
ern von Granada zuruͤck getrieben. Er kehrte mit
ſeinen Reitern zuruͤck, und hielt unſern den er¬
ſten Verſchanzungen bey einem Myrthenwaͤldchen,
ſein Gefolge fortſchickend, um ſo ernſtem Gedan¬
ken und wehmuͤthiger Erinnerung ſich mit ganzem
Gemuͤth hingeben zu koͤnnen. Julia's Bild ſtand
lebendig vor ſeines Geiſtes Augen. Schon waͤh¬
rend des Gefechts hoͤrte er ihre Stimme bald
drohend bald klagend ertoͤnen und auch jetzt war
es ihm als ſaͤusle ein ſeltſamer Geſang, halb
mohriſches Lied halb chriſtlicher Kirchen-Geſang,
durch die dunklen Myrthen. Da rauſchte ploͤtz¬
lich ein mohriſcher Ritter im ſilbernen Schuppen¬
harniſch auf leichtem arabiſchen Pferde aus dem
Walde hervor und gleich ſauſte auch der gewor¬
fene Speer dicht bey Aguillars Haupt vorbey.
Er wollte mit gezogenem Schwert auf den Feind
[312] losſtuͤrzen, als der zweyte Speer flog und ſeinem
Pferde tief in der Bruſt ſtecken blieb, daß es
ſich vor Wuth und Schmerz hoch emporbaͤumte
und Aguillar ſich ſchnell von der Seite herab¬
ſchwingen mußte, um ſchwerem Falle nicht zu erlie¬
gen. Der Mohr war herangeſprengt und hieb herab
mit der Sichelklinge nach Aguillars entbloͤſtem
Haupt. Aber geſchickt parirte Aguillar den
Todesſtreich und hieb ſo gewaltig nach, daß der
Mohr ſich nur rettete, indem er tief vom Pferde
niedertauchte. In demſelben Augenblick draͤngte
ſich des Mohren Pferd dicht an Aguillar, ſo
daß er keinen zweyten Hieb fuͤhren konnte, der
Mohr riß ſeinen Dolch hervor, aber noch ehe er
zuſtoßen konnte, hatte ihn Aguillar mit Rieſen¬
ſtaͤrke erfaßt, vom Pferde heruntergezogen und
ringend zu Boden geworfen. Er kniete auf des
Mohren Bruſt und indem er mit der linken
Fauſt des Mohren rechten Arm ſo gewaltig ge¬
packt hatte, daß er regungslos blieb, zog er ſei¬
nen Dolch. Schon hatte er den Arm erhoben,
[313] um des Mohren Kehle zu durchſtoßen, als dieſer
tief aufſeufzte: Zulema! — Zur Bildſaͤule
erſtarrt vermochte Aguillar nicht die That zu
vollenden. „Unſeliger,“ rief er, „welch' einen
Namen nannteſt du?“ Stoße zu, ſtoͤhnte der
Mohr, ſtoße zu, du toͤdteſt den, der dir Tod
und Verderben geſchworen hat. Ja! wiſſe, ver¬
raͤtheriſcher Chriſt, wiſſe, daß es Hichem der
letzte des Stammes Alhamar iſt, dem du Zulema
raubteſt! — Wiſſe, daß jener zerlumpte Bettler,
der mit den Gebehrden des Wahnſinns in eurem
Lager umherſchlich, Hichem war, wiſſe daß es
mir gelang, das dunkle Gefaͤngniß, in dem ihr
Verruchte das Licht meiner Gedanken eingeſchloſ¬
ſen, anzuzuͤnden, und Zulema zu retten. —
„Zulema — Julia lebt?“ rief Aguillar.
Da lachte Hichem gellend auf im grauſigen
Hohn: Ja ſie lebt, aber Euer blutiges dornen¬
gekroͤntes Goͤtzenbild hat mit fluchwuͤrdigem Zau¬
ber ſie befangen und die duftende gluͤhende Blume
des Lebens eingehuͤllt in die Leichentuͤcher der wahn¬
[314] ſinnigen Weiber, die ihr Braͤute Eures Goͤtzen
nennt. Wiſſe, daß Ton und Geſang in ihrer
Bruſt wie angeweht vom giftigen Hauch des
Samums erſtorben iſt. Dahin iſt alle Luſt des
Lebens mit Zulema's ſuͤßen Liedern, darum
toͤdte mich — toͤdte mich, da ich nicht Rache zu
nehmen vermag an dir, der du mir ſchon mehr
als mein Leben entriſſeſt.“ Aguillar ließ ab
von Hichem und erhob ſich, ſein Schwert von
dem Boden aufnehmend langſam. „Hichem,“
ſprach er: „Zulema, die in heiliger Taufe den
Namen Julia empfing, wurde meine Gefan¬
gene im ehrlichen offenen Kampf. Erleuchtet von
der Gnade des Herrn, entſagte ſie Mahoms
ſchnoͤdem Dienſt und was du verblendeter Mohr
boͤſen Zauber eines Goͤtzenbildes nennſt, war nur
die Verſuchung des Boͤſen, dem ſie nicht zu wi¬
derſtehen vermochte. Nennſt du Zulema deine
Geliebte, ſo ſey Julia, die zum Glauben be¬
kehrte, die Dame meiner Gedanken, und ſie im
Herzen, zur Glorie des wahren Glaubens will
[315] ich gegen dich beſtehen im wackern Kampf. Nimm
deine Waffen und falle gegen mich aus wie du
willſt nach deiner Sitte.“ Schnell ergriff Hi¬
chem Schwert und Tartſche, aber auf Aguil¬
lar losrennend, wankte er laut aufbruͤllend zuruͤck,
warf ſich auf das Pferd, das neben ihm ſtehen
geblieben und ſprengte geſtreckten Galopps davon.
Aguillar wußte nicht was das zu bedeuten
haben koͤnnte, aber in dem Augenblick ſtand der
ehrwuͤrdige Greis Agoſtino Sanchez hinter
ihm und ſprach ſanft laͤchelnd: Fuͤrchtet Hichem
mich oder den Herrn, der in mir wohnt und
deſſen Liebe er verſchmaͤht? Aguillar erzaͤhlte
alles was er von Julia vernommen und beyde
erinnerten ſich nun wohl an die prophetiſchen
Worte Emanuela's, als Julia verlockt von
Hichems Zithertoͤnen alle Andacht im Innern
ertoͤdtend, den Chor waͤhrend des Sanctus ver¬
ließ.
Der Kapellmeiſter. Ich denke an keine
Oper mehr, aber das Gefecht zwiſchen dem Moh¬
[316] ren Hichem im Schuppenharniſch und dem Feld?
herrn Aguillar ging mir auf in Muſik. —
Hol' es der Teufel! — wie kann man nun beſſer
gegen einander ausfallen laſſen als es Mozart im
Don Giovanni gethan hat. Ihr wißt doch —
in der erſten —
Der reiſende Enthuſiaſt. Still Ka¬
pellmeiſter! Ich werde nun meiner ſchon zu lan¬
gen Erzaͤhlung den letzten Ruck geben. Noch
allerley kommt vor, und es iſt noͤthig die
Gedanken zuſammen zu halten, um ſo mehr, da
ich immer dabey an Bettina denke, welches
mich nicht wenig verwirrt. Vorzuͤglich moͤcht' ich
gar nicht, daß ſie jemals etwas von meiner ſpa¬
niſchen Geſchichte erfuͤhre und doch iſt es mir ſo,
als wenn ſie dort an jener Thuͤre lauſchte, wel¬
ches natuͤrlicher Weiſe pure Einbildung ſeyn muß.
Alſo weiter. —
Immer und immer geſchlagen in allen Ge¬
fechten, von der taͤglich-ſtuͤndlich zunehmenden
Hungersnoth gedruͤckt, ſahen ſich die Mauren
[317] endlich genoͤthigt, zu kapituliren und im feſtlichen
Gepraͤnge unter dem Donner des Geſchuͤtzes zogen
Ferdinand und Iſabella in Granada ein.
Prieſter hatten die große Moſchee eingeweiht zur
Cathedrale und dorthin ging der Zug, um in
andaͤchtiger Meſſe, im feyerlichen Te deum lau¬
damus dem Herrn der Heerſchaaren zu danken
fuͤr den glorreichen Sieg uͤber die Diener Ma¬
homs, des falſchen Propheten. Man kannte die
nur muͤhſam unterdruͤckte, immer neu aufgeifernde
Wuth der Mohren und daher deckten Truppenab¬
theilungen, die durch entferntere Straßen ſchlag¬
fertig zogen, die durch die Hauptſtraße ſich be¬
wegende Proceſſion. So geſchah es, daß Aguil¬
lar an der Spitze einer Abtheilung Fußvolks
eben auf entfernterem Wege ſich nach der Cathe¬
drale, wo das Amt ſchon begonnen, begeben
wollte, als er ſich ploͤtzlich durch einen Pfeilſchuß
an der linken Schulter verwundet fuͤhlte. In
demſelben Augenblick ſtuͤrzte ein Haufen Mohren
aus einem dunkeln Bogengange hervor, und
[318] uͤberfiel die Chriſten mit verzweifelnder Wuth.
Hichem an der Spitze rannte gegen Aguillar
an, dieſer nur leicht verletzt, kaum den Schmerz
der Wunde fuͤhlend, parirte geſchickt den gewal¬
tigen Hieb und in demſelben Augenblick lag auch
Hichem mit geſpaltenem Kopf zu ſeinen Fuͤßen.
Die Spanier drangen wuͤthend ein auf die ver¬
raͤtheriſchen Mohren, die bald heulend flohen und
ſich in ein ſteinernes Haus warfen, deſſen Thor
ſie ſchnell verſchloſſen. Die Spanier ſtuͤrmten
heran, aber da regnete es Pfeile aus den Fen¬
ſtern, Aguillar befahl Feuerbraͤnde hinein zu
werfen. Schon loderten die Flammen aus dem
Dache hoch auf, als durch den Donner des Ge¬
ſchuͤtzes eine wunderbare Stimme aus dem bren¬
nenden Gebaͤude erklang: Sanctus — Sanctus
Dominus deus Sabaoth. Julia — Julia!
rief Aguillar in troſtloſem Schmerz, da oͤfne¬
ten ſich die Pforten, und Julia im Gewande
der Benedictiner-Nonne trat hervor mit ſtarker
Stimme ſingend: — Sanctus — Sanctus Dominus
deus[319]deus Sabaoth, hinter ihr zogen die Mohren in
gebeugter Stellung die Haͤnde auf der Bruſt zum
Kreuz verſchraͤnkt. Erſtaunt wichen die Spanier
zuruͤck und durch ihre Reihen zog Julia mit
den Mohren nach der Cathedrale — hineintre¬
tend intonirte ſie das: Benedictus qui venit in
nomine domini. Unwillkuͤhrlich, als komme die
Heilige vom Himmel geſendet, Heiliges zu verkuͤnden
den Geſegneten des Herrn, beugte das Volk die
Knie. Feſten Schrittes, den verklaͤrten Blick
gen Himmel gerichtet, trat Julia vor den Hoch¬
altar zwiſchen Ferdinand und Iſabellen,
das Amt ſingend und die heiligen Gebraͤuche mit
inbruͤnſtiger Andacht uͤbend. Bey den letzten
Lauten des: Dona nobis pacem, ſank Julia
entſeelt der Koͤnigin in die Arme. Alle Mohren,
die ihr gefolgt, empfingen, zum Glauben bekehrt,
ſelbigen Tages die heilige Taufe.
So hatte der Enthuſiaſt ſeine Geſchichte geen¬
det, als der Doktor mit vielem Geraͤuſch eintrat,
heftig mit dem Stock auf die Erde ſtieß und zor¬
X[320] nig ſchrie: „da ſitzen ſie noch und erzaͤhlen ſich
tolle fantaſtiſche Geſchichten ohne Ruͤckſicht auf
Nachbarſchaft und machen die Leute kraͤnker.“ —
„Was iſt denn nun wieder geſchehen, mein Wer¬
theſter,“ ſprach der Kapellmeiſter ganz erſchrocken.
„Ich weiß es recht gut,“ fiel der Enthuſiaſt ganz
gelaſſen ein. „Nichts mehr und nichts weniger, als
daß Bettina uns ſtark reden gehoͤrt hat, dort
ins Cabinet gegangen iſt und alles weiß.“ „Das
habt ihr nun,“ ſprudelte der Doktor, „von Euren
verdammten luͤgenhaften Geſchichten, wahnſinniger
Enthuſiaſt, daß ihr reizbare Gemuͤther vergiftet
— ruinirt, mit Eurem tollen Zeuge; aber ich
werde Euch das Handwerk legen.“ — „Herrlicher
Doktor!“ unterbrach der Enthuſiaſt den Zornigen,
„ereifert Euch nicht und bedenkt, daß Bettina's
pſychiſche Krankheit pſychiſche Mittel erfordert und
daß vielleicht meine Geſchichte“ — „Still ſtill“ fiel
der Doktor ganz gelaſſen ein, „ich weiß ſchon, was
ihr ſagen wollt.“ — „Zu einer Oper taugt es
nicht, aber ſonſt gab es darin einige ſonderbar
[321] klingende Akkorde.“ So murmelte der Kapellmei¬
ſter, indem er den Hut ergriff und den Freunden
folgte.
Als drey Monat darauf der reiſende Enthu¬
ſiaſt der geſundeten Bettina, die mit herrlicher
Glocken-Stimme Pergoleſes Stabat mater (jedoch
nicht in der Kirche, ſondern im maͤßig großen
Zimmer) geſungen hatte, voll Freude und andaͤch¬
tigen Entzuͤckens die Hand kuͤßte, ſprach ſie: „Ein
Hexenmeiſter ſind Sie gerade nicht, aber zuweilen
etwas widerhaarigter Natur.“ „wie alle Enthuſia¬
ſten.“ ſetzte der Kapellmeiſter hinzu.
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- TextGrid Repository (2025). Hoffmann, E. T. A.. Nachtstücke. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn9b.0