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Das
Staatsrecht
des
Deutſchen Reiches.

Erſter Band.

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Das
Staatsrecht
des
Deutſchen Reiches.


Erſter Band.

Tübingen,: 1876.
Verlag der H. Laupp’ſchen Buchhandlung.

[[IV]]

Druck von H. Laupp in Tübingen.


[[V]]

Vorwort.


In den erſten Jahren nach Gründung des Norddeutſchen
Bundes wendete ſich das öffentliche Intereſſe naturgemäß der
politiſchen Würdigung der Neugeſtaltung Deutſchlands zu.
Die großen Ereigniſſe, welche dieſer Gründung vorangegangen
waren, hatten die politiſchen Leidenſchaften des Volkes in unge-
wöhnlichem Grade erregt. Die neue Verfaſſung war für Jeden,
der an dem politiſchen Leben der Nation Antheil nahm, ein Gegen-
ſtand der Sympathie oder Antipathie, alſo des Gefühls. Ob die
neue Schöpfung Beſtand haben werde oder nicht, ob ſie zur Ver-
einigung oder zur Zerreißung Deutſchlands führen werde, ob ſie
die Wohlfahrt des Deutſchen Volkes fördern oder hindern werde,
das waren die Fragen, welche Erörterung verdienten und fanden.
Von untergeordneter Wichtigkeit erſchien es dagegen, in welcher
Art die neuentſtandenen Zuſtände rechtlich zu definiren und welche
Rechtsbegriffe auf ſie anwendbar ſeien. Die nächſte Aufgabe be-
ſtand nicht in der Durchführung ſchulgerechter Conſtruktionen, ſon-
dern in der Vollbringung einer geſchichtlichen That.


Im Laufe der Zeit ändert ſich dies vollſtändig. Je längeren
und je feſteren Beſtand die neue Verfaſſungsform hat, deſto müßi-
ger erſcheinen die Betrachtungen darüber, ob ihre Einführung für
heilſam oder für ſchädlich zu erachten ſei. Die Errichtung des
Norddeutſchen Bundes und die Erweiterung deſſelben zum Deut-
ſchen Reich erſcheint immer mehr und mehr als eine unabänderliche
Thatſache, in welche auch derjenige ſich ſchicken muß, dem ſie un-
erwünſcht iſt. Die Verfaſſung des Reiches iſt nicht mehr der Gegen-
ſtand des Parteiſtreites, ſondern ſie iſt die gemeinſame Grundlage
für alle Parteien und ihre Kämpfe geworden; dagegen gewinnt
das Verſtändniß dieſer Verfaſſung ſelbſt, die Erkenntniß ihrer
[VI]Vorwort.
Grundprinzipien und der aus den letzteren herzuleitenden Folge-
ſätze und die wiſſenſchaftliche Beherrſchung der neu geſchaffenen
Rechtsbildungen ein immer ſteigendes Intereſſe. Mit dem Ausbau
der Verfaſſung und mit ihrer Durchführung gliedern ſich die Ver-
hältniſſe des neuen öffentlichen Rechts immer feiner und reicher,
es wird immer ſchwieriger, zugleich aber auch wichtiger, in den
einzelnen Erſcheinungen des öffentlichen Rechtslebens die einheit-
lichen Grundſätze und leitenden Principien feſtzuhalten; es ent-
ſtehen durch die Praxis ſelbſt in unerſchöpflicher Fülle neue Fragen
und Zweifel, welche nicht nach dem politiſchen Wunſch oder der
politiſchen Macht, ſondern nach den Grundſätzen des beſtehenden
Rechts entſchieden werden müſſen. Nachdem die That der Neuge-
ſtaltung Deutſchlands vollbracht iſt, entſteht das Bedürfniß, ſich
zum Bewußtſein zu bringen, worin dieſe That beſtanden hat, welchen
Erfolg ſie bewirkt hat.


Die Befriedigung dieſes Bedürfniſſes iſt eine Aufgabe der
Rechtswiſſenſchaft. Mit einer bloßen Zuſammenſtellung der Artikel
der Reichsverfaſſung und der Reichsgeſetze unter gewiſſen Ueber-
ſchriften kann ſie nicht gelöſt werden; ebenſowenig durch die Hin-
zufügung von Stellen aus den Motiven der Geſetzesvorlagen und
aus den Verhandlungen des Reichstages, welche meiſtens doch nur
Erwägungen de lege ferenda enthalten. Es handelt ſich vielmehr
um die Analyſe der neu entſtandenen öffentlich rechtlichen Ver-
hältniſſe, um die Feſtſtellung der juriſtiſchen Natur derſelben und
um die Auffindung der allgemeineren Rechtsbegriffe, denen ſie
untergeordnet ſind. Man darf ſich über dieſe Aufgabe nicht mit
der Verſicherung hinwegſetzen, daß die Verfaſſung des Deutſchen
Reiches ſo eigenartig ſei, daß ſie unter keine der herkömmlichen
juriſtiſchen Begriffskategorien paſſe. Eigenthümlich iſt der Deutſchen
Verfaſſung, ſowie jeder concreten Rechtsbildung, nur die thatſäch-
liche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe;
dagegen iſt die Schaffung eines neuen Rechtsinſtitutes, welches
einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht un-
tergeordnet werden kann, gerade ſo unmöglich wie die Erfindung
einer neuen logiſchen Kategorie oder die Entſtehung einer neuen
Naturkraft. Es kann ſchwierig ſein, bei einer neuen Erſcheinung
im Rechtsleben zu erkennen, aus welchen juriſtiſchen Elementen
das rechtliche Weſen derſelben zuſammengeſetzt iſt; aber die wiſſen-
[VII]Vorwort.
ſchaftliche Behandlung des Rechts beſteht eben darin, daß ſie die
Erſcheinungen des Rechtslebens nicht nur beſchreibt, ſondern er-
klärt und auf allgemeine Begriffe zurückführt.


Mit der Auffindung der allgemeinen Principien iſt die Auf-
gabe noch nicht vollſtändig gelöſt; es müſſen auch die, aus den
gefundenen Principien ſich ergebenden Folgerungen entwickelt werden
und es muß ihre Uebereinſtimmung mit den thatſächlich beſtehen-
den Einrichtungen und den poſitiven Anordnungen der Geſetze dar-
gethan werden.


Bei dem Verſuch, das Staatsrecht des Deutſchen Reiches in
der angegebenen Weiſe zu erörtern, zeigt ſich ſofort der innere,
unauflösliche Zuſammenhang des Verfaſſungsrechts mit den übrigen
Gebieten der Rechtswiſſenſchaft, namentlich mit dem Strafrecht,
und es macht ſich die Thatſache bemerkbar, daß ein erheblicher
Theil des Staatsrechts nicht in der Verfaſſung, ſondern in dem
Strafgeſetzbuch ſeinen geſetzlichen Ausdruck gefunden hat. Dieſe
ſtaatsrechtliche Seite der Strafgeſetze erfordert um ſo eingehendere
Berückſichtigung, als in der bisherigen Literatur die Publiciſten
gewöhnlich den Strafrechtslehrern, die Kriminaliſten den Staats-
rechtslehrern ſie überlaſſen haben. Es läßt ſich ferner die Unterſchei-
dung des Reichsſtaatsrechts von dem Landesſtaatsrecht nicht
ſtreng durchführen; beide ergänzen ſich gegenſeitig und ſtehen zu
einander in vielfachen Wechſelbeziehungen. Eine große Zahl von
wiſſenſchaftlichen Begriffen und Rechtsinſtituten iſt dem Reichsrecht
und dem Staatsrecht der einzelnen Bundesſtaaten gemeinſam, ſo
daß auch die theoretiſche Erörterung derſelben Reichsrecht und Landes-
ſtaatsrecht umfaſſen muß. Endlich ergiebt ſich, daß auf dem Ge-
biete des Staatsrechts zahlreiche Begriffe wiederkehren, welche
ihre wiſſenſchaftliche Feſtſtellung und Durchbildung zwar auf dem
Gebiete des Privatrechts gefunden haben, welche ihrem Weſen
nach aber nicht Begriffe des Privatrechts ſondern allgemeine Be-
griffe des Rechtes ſind. Nur müſſen ſie allerdings von den ſpezi-
fiſch privatrechtlichen Merkmalen gereinigt werden. Die einfache
Uebertragung civilrechtlicher Begriffe und Regeln auf die ſtaats-
rechtlichen Verhältniſſe iſt der richtigen Erkenntniß der letzteren
gewiß nicht förderlich; die „civiliſtiſche“ Behandlung des Staats-
rechts iſt eine verkehrte. Aber unter der Verurtheilung der civili-
ſtiſchen Methode verſteckt ſich oft die Abneigung gegen die juriſtiſche
[VIII]Vorwort.
Behandlung des Staatsrechts und indem man die Privatrechtsbegriffe
vermeiden will, verſtößt man die Rechtsbegriffe überhaupt, um ſie
durch philoſophiſche und politiſche Betrachtungen zu erſetzen. Im
Allgemeinen hat die Wiſſenſchaft des Privatrechts vor allen anderen
Rechtsdisciplinen einen ſo großen Vorſprung gewonnen, daß die
letzteren ſich nicht zu ſcheuen brauchen, bei ihrer reiferen Schweſter
zu lernen und bei dem heutigen Zuſtande der ſtaatsrechtlichen und
insbeſondere reichsrechtlichen Literatur iſt weit weniger zu fürchten,
daß ſie zu civiliſtiſch, als daß ſie unjuriſtiſch wird und auf das
Niveau der politiſchen Tagesliteratur hinabſinkt.


Von dieſen Geſichtspunkten aus iſt die folgende Darſtellung
des Staatsrechts des Deutſchen Reiches unternommen worden,
deren Anfang in dem vorliegenden erſten Bande veröffentlicht wird.
Derſelbe umfaßt diejenigen Lehren, welche die eigentliche rechtliche
Struktur des Reiches, ſein juriſtiſches Weſen, ſeine Grundlagen
und ſeine Organiſation betreffen. Die Darſtellung derjenigen Re-
geln, welche die Lebensthätigkeit des Reiches in formeller und
materieller Hinſicht beherrſchen, wird der zweite Band enthalten.


Von der bisherigen Literatur des Reichsrechts konnte die
zweite Auflage des Werkes von Ludwig v. Rönne, deren erſter
Band während des Druckes des vorliegenden Buches erſchienen iſt
(Leipzig 1876), nicht mehr berückſichtigt werden.


Mehr noch zu bedauern iſt es, daß die Ergebniſſe der Reichs-
tags-Seſſion 1875/76 keine Verwerthung mehr finden konnten. Je-
doch ſind die Veränderungen der Behörden-Organiſation, welche
mit dem 1. Januar 1876 eingetreten ſind, in den Nachträgen am
Schluſſe des Bandes aufgeführt worden.


[[IX]]

Inhalts-Verzeichniß.


  • Erſtes Kapitel.
    Die Entſtehungsgeſchichte des Deutſchen Reichs.
  • Seite
  • §. 1. Die Auflöſung des Deutſchen Bundes 3
  • §. 2. Die Gründung des norddeutſchen Bundes 9
  • §. 3. Das Verhältniß des norddeutſchen Bundes zu den ſüddeutſchen
    Staaten 34
  • §. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches 37
  • §. 5. Die Redaktion der Reichsverfaſſung 48
  • §. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen 52
  • Zweites Kapitel.
    Die rechtliche Natur des Reiches.
  • §. 7. Das Reich als Rechtsſubject 56
  • §. 8. Der Begriff des Bundesſtaates 70
  • Drittes Kapitel.
    Das Verhältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten.
  • §. 9. Das Subject der Reichsgewalt 85
  • §. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich 94
  • §. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten 109
  • §. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten 124
  • Viertes Kapitel.
    Die natürlichen Grundlagen des Reiches. Volk und Land.
  • I.Abſchnitt. Reichs-Angehörige.
  • §. 13. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur der Reichs-Angehörigkeit 130
  • §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen 137
  • §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts 148
  • §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat 156
  • §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit 162
  • §. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit 171
  • §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung 175
  • Seite
  • II.Abſchnitt. Bundes-Gebiet.
  • §. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur 182
  • §. 21. Gebiets-Veränderungen 186
  • §. 22. Der Schutz des Gebietes 192
  • §. 23. Die räumliche Begrenzung der Kompetenz der Behörden 200
  • Fünftes Kapitel.
    Die Organiſation der Reichsgewalt.
  • I.Abſchnitt. Der Kaiſer.
  • §. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums 206
  • §. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte 214
  • §. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte 220
  • II.Abſchnitt. Der Bundesrath.
  • §. 27. Allgemeine Erörterung ſeines Weſens 230
  • §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe 234
  • §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches 250
  • §. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes 272
  • §. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe 281
  • III.Abſchnitt. Die Reichsbehörden und Reichsbeamten.
  • A. Die Reichsbehörden.
  • §. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden 291
  • §. 33. Der Reichskanzler 306
  • §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden 313
  • §. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden 349
  • §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden 359
  • B. Die Reichsbeamten.
  • §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten 381
  • §. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten 401
  • §. 39. Die Amts-Kaution 410
  • §. 40. Die Pflichten und Beſchränkungen der Reichsbeamten 418
  • §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung 432
  • §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten 459
  • §. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche 475
  • §. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suſpenſion 478
  • §. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes 487
  • §. 46. Einfluß des Beamten-Verhältniſſes auf andere rechtliche Verhält-
    niſſe 495
  • IV.Abſchnitt. Der Reichstag.
  • §. 47. Allgemeine Charakteriſtik 498
  • §. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages 505
  • §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht 523
  • §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages 556
  • §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte 559
  • §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder 570
  • §. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft 575
  • Sechſtes Kapitel.
    Die Sonderſtellung Elſaß-Lothringens im Reiche.
  • §. 54. Bundesglied und Reichsland 578
  • §. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen 604
  • Nachträge 613

[[XII]][[1]]

Literatur-Ueberſicht *.


  • Archiv des Norddeutſchen Bundes von Glaſer. Berlin 1867.
  • Archiv des Norddeutſchen Bundes und des Zollvereins (reſp. des Reichs)
    von Koller Berlin Kortkampf ſeit 1868.
  • Annalen des Norddeutſchen Bundes und des Zollvereins (reſp. des deut-
    ſchen Reiches) von Hirth ſeit 1868 (Berlin u. Leipzig).
  • v. Martitz, Betrachtungen über die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes.
    Leipzg. 1868.
  • Hermann Schulze, Einleitung in das deutſche Staatsrecht. Leipz. 1867.
    S. 365—474.
  • R. Römer, Die Verf. des Nordd. Bundes und die ſüddeutſche, insbeſ.
    württemberg. Freiheit. Tübingen 1867.
  • Hierſemenzel, Die Verfaſſung des Nordd. Bundes. Berlin 1867.
  • — Das Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht des Nordd. Bundes und des
    Deutſchen Zoll- und Handelsvereins. 2 Bde. Berlin 1868—1870.
  • Gg. Meyer, Grundzüge des Norddeutſchen Bundesrechts. Lpzg. 1868.
  • Das Bundesſtaatsrecht der Nordamerik. Union, der Schweiz und des
    Nordd. Bundes zuſammengeſtellt von einem Juriſten. München 1868.
  • Fr. Thudichum, Verfaſſungsrecht des Norddeutſchen Bundes und des Deut-
    ſchen Zollvereins. Tübingen 1870.
  • v. Gerber, Grundzüge eines Syſtems des Deutſchen Staatsrechts. 2. Aufl.
    Leipz. 1869. Beilage IV. Der Norddeutſche Bund (S. 237—250).
  • v. Rönne, Das Staatsrecht der Preuß. Monarchie. 3te Aufl. I. Band
    2te Abth. S. 717—836. Leipzig 1870.
  • G. A. Grotefend, Das Deutſche Staatsrecht der Gegenwart. Berlin 1869.
    S. 784—812.

  • Fr. v. Holtzendorff, Jahrbuch für Geſetzgebung, Verwaltung und Rechts-
    pflege des Deutſchen Reiches. Leipzig ſeit 1871.
  • Zeitſchrift für Reichs- und Landesrecht mit beſonderer Rückſicht auf Bayern
    von Hauſer. Nördlingen ſeit 1874.
  • Zeitſchrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart von
    Grünhut. Wien ſeit 1874.
  • Auerbach, Das neue Deutſche Reich und ſeine Verfaſſung. Berlin 1871.
  • Hauſer, Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches. Nördl. 1871.
  • Riedel, Die Reichsverfaſſungsurkunde v. 16. April 1871. Nördl. 1871.
  • Gg. Meyer, Staatsrechtl. Erörterungen über die Deutſche Reichsverfaſſung.
    Leipz. 1872.
  • J. Pözl, Das Bayeriſche Verfaſſungsrecht auf der Grundlage des Reichs-
    rechtes. Supplem. zur IV. Aufl. des Bayr. Verfaſſungsr. München
    1872.
  • v. Rönne, Das Verfaſſungsrecht des Deutſchen Reiches. Leipz. 1872. (Auch
    in Hirth’s Annalen 1871 S. 1—312 und 1872 S. 421 fg.).
  • J. v. Held, Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches. Leipz. 1872.
  • M. Seydel, Commentar zur Verfaſſungs-Urkunde für das Deutſche Reich.
    Würzb. 1873.
  • J. Bender, Grundzüge des Verfaſſungs-Rechtes des Deutſchen Reiches.
    Caſſel u. Göttingen 1873.
  • Weſterkamp, Ueber die Reichsverfaſſung. Hannover 1873.
  • Hänel, Studien zum Deutſchen Staatsrechte. I. Die vertragsmäßigen Ele-
    mente der Deutſchen Reichsverfaſſung. Leipz. 1873.
  • Rob. von Mohl, Das deutſche Reichsſtaatsrecht. Tübingen 1873.
  • Koller, Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches. Erſtes Heft. Berlin 1875.
    Die Monographien, Abhandlungen und Kommentare einzelner Reichsge-
    ſetze werden bei den betreffenden Abſchnitten angegeben werden.


[[3]]

Erſtes Kapitel.
Die Entſtehungsgeſchichte des Deutſchen Reichs
1).


§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.


Als am 14. Juni 1866 die deutſche Bundesverſammlung auf
Antrag Oeſterreichs den Beſchluß gefaßt hatte, die Mobilmachung
des VII., VIII., IX. und X., d. h. ſämmtlicher nicht öſterreichiſchen
und nicht preußiſchen, Bundes-Armeecorps anzuordnen, obwohl
der Preußiſche Geſandte gegen jede geſchäftliche Behandlung des
Antrages, als formell und materiell bundeswidrig, Namens ſeiner
Regierung Proteſt eingelegt hatte, erklärte derſelbe Geſandte ſofort
nach der Beſchlußfaſſung im Namen und auf Befehl Seiner Majeſtät
des Königs:
„daß Preußen den bisherigen Bundesvertrag für gebrochen
und deshalb nicht mehr verbindlich anſieht, denſelben viel-
mehr als erloſchen betrachten und behandeln wird“
2).
An dieſen Vorgang knüpften ſich mehrere bundesrechtliche Streit-
fragen; ob der Antrag Oeſterreichs materiell zuläſſig geweſen, ob
ſeine geſchäftliche Behandlung im Einklang mit den Vorſchriften
1*
[4]§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.
des Bundesrechts ſich gehalten, ob die Abſtimmung und Beſchluß-
faſſung namentlich mit Rückſicht auf die Vota in der 16. Curie
ordnungsmäßig ſtattgefunden, ob der Austritt Preußens aus dem
Bunde rechtlich ſtatthaft war 1). Alle dieſe Fragen haben das
praktiſche Intereſſe vollſtändig verloren; der Fortbeſtand des deut-
ſchen Bundes war nicht mehr von der juriſtiſchen Löſung ſtaats-
rechtlicher Streitigkeiten, ſondern von dem Gange weltgeſchichtlicher
Ereigniſſe abhängig. Der Bund wurde von den letzteren zu Grabe
getragen. Aber die thatſächliche Beendigung des Bundesverhält-
niſſes hat auch ihre, nach allen Seiten hin vollkommene, formelle
rechtliche Sanction erhalten. Der deutſche Bund war ein völker-
rechtlicher Verein, der nach Art. I. der Bundesacte unauflöslich
war. Es konnte daher allerdings kein einzelner Staat willkührlich
aus demſelben ausſcheiden; durch übereinſtimmenden Willensent-
ſchluß aller, zu dem Bunde gehörenden Staaten war ſeine Auf-
löſung aber zuläſſig, da das Bundesverhältniß unbezweifelt den
Charakter eines völkerrechtlichen Vertragsverhältniſſes hatte 2).
Dieſe Willensübereinſtimmung ſämmtlicher Bundesmitglieder, ſo
weit ſie die Kataſtrophe von 1866 überdauert haben, iſt erfolgt
und in rechtswirkſamer Weiſe erklärt worden und zwar durch
nachſtehende Acte:


Zuerſt ſchied aus der Reihe der ſelbſtſtändigen Bundes-
mitglieder der König von Dänemark als Herzog von Holſtein
und Lauenburg aus; indem derſelbe durch den Wiener
[5]§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.
Frieden vom 30. Oktob. 1864 Art. 3 auf alle ſeine Rechte auf
die Herzogthümer Schleswig, Holſtein und Lauenburg zu Gunſten
des Königs von Preußen und des Kaiſers von Oeſterreich ver-
zichtete,
en s’engageant à reconnaître les dispositions, quel Leurs
dites Majestés prendront à l’égard de ces duchés.


Dadurch ſind allerdings die Herzogthümer Holſtein und Lauen-
burg aus dem deutſchen Bund nicht ausgeſchieden; die Wahrung
ihrer Rechte war aber fortan in die Hände der Souveräne von
Preußen und Oeſterreich, und nachdem Oeſterreich ſeine Rechte auf
Lauenburg durch die Gaſteiner Convention v. 14. Auguſt 1865
Art. IX. und auf Schleswig-Holſtein durch den Nikolsburger
Frieden Art. III. an Preußen abgetreten hatte, in die Preußens
allein gelegt.


Sodann beantragte in der Sitzung vom 19. Mai 1866 der
König der Niederlande die Entlaſſung des Herzogthums Limburg
aus dem deutſchen Bunde 1); der Antrag kam aber nicht mehr zur
ordnungsmäßigen Erledigung.


Nachdem Preußen am 14. Juni 1866 ſeinen Austritt aus
dem deutſchen Bunde erklärt hatte, folgten ſeinem Beiſpiele 2):


  • den 21. Juni Oldenburg und Lippe-Detmold.
  • den 23. Juni Sachſen-Altenburg.
  • den 25. Juni Anhalt, Schwarzburg-Sondershauſen, Waldeck.
  • den 29. Juni Schwarzburg-Rudolſtadt, Schaumburg-Lippe,
    Hamburg, Bremen, Lübeck.
  • den 1. Juli Coburg-Gotha, Reuß j. L., Mecklenburg.
  • den 5. Juli Sachſen Weimar.
  • den 26. Juli Sachſen-Meiningen.
  • den 2. Auguſt Baden.
  • den 4. Auguſt Braunſchweig.

Oeſterreich erkennt im Art. II. des Präliminarfriedens-
vertrages von Nikolsburg v. 26. Juli 1866 3)
„die Auflöſung des bisherigen deutſchen Bundes an und
[6]§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.
gibt ſeine Zuſtimmung zu einer neuen Geſtaltung Deutſch-
lands ohne Betheiligung des Oeſterreichiſchen Kaiſerſtaates.“


Die Beſtimmungen des Nikolsburger Friedens wurden aner-
kannt und der Beitritt zu denſelben, ſoweit ſie die Zukunft Deutſch-
lands betreffen, erklärt von


  • Württemberg im Berliner Frieden v. 13. Aug. 1866 Art. IX.1).
  • Baden im Berliner Frieden v. 17. Aug. 1866 Art. X.2).
  • Bayern im Berliner Frieden v. 22. Aug. 1866. Art. V.3).
  • Großh. Heſſen im Berliner Frieden v. 3. Spt. 1866 Art. XIII.4).
  • Reuß ä. L. im Berliner Frieden v. 26. Sept. 1866 Art. I.5).
  • Sachſen-Meiningen im Berliner Frieden v. 8. Oct. 1866 Art. I.6).
  • Königr. Sachſen im Berliner Frieden v. 21. Oct. 1866 Art. II.7).

Das Königreich Hannover, das Kurfürſtenthum Heſſen, das
Herzogthum Naſſau und die freie Stadt Frankfurt hatten durch
den Krieg ihre Exiſtenz als Staaten verloren und waren ebenſo
wie die Elbherzogthümer mit dem Preußiſchen Staate vereinigt
worden.


Luxemburg und Limburg hielten ſich von der Theilnahme an
den Bundestags-Verhandlungen ſeit der Austrittserklärung Preu-
ßens fern und erkannten die Auflöſung des deutſchen Bundes und
die neue politiſche Geſtaltung Deutſchlands im Londoner Vertrag
vom 11. Mai 1867 ausdrücklich an 8).


Von allen Mitgliedern des ehemaligen deutſchen Bundes mit
alleiniger Ausnahme Liechtenſtein’s liegt demnach, ſoweit ſie ihre
ſtaatliche Exiſtenz bewahrt haben, das ausdrückliche, in bindender
völkerrechtlicher Form abgegebene Einverſtändniß mit der Auf-
löſung des deutſchen Bundes vor 9).


[7]§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.

Aber nicht nur einzeln haben alle deutſche Staaten dieſe
Anerkennung abgegeben, ſondern auch der Bundestag ſelbſt, der
freilich ſeit dem Ausbruch der Feindſeligkeiten immer mehr einge-
ſchrumpft war, ſich aber immer noch als das verfaſſungsmäßige
Organ des Bundes anſah, faßte in ſeiner letzten Sitzung am
24. Auguſt 1866 zu Augsburg den Beſchluß:
„nachdem in Folge der Kriegsereigniſſe und Friedensverhand-
lungen der deutſche Bund als aufgelöſt betrachtet
werden muß, ſeine Thätigkeit mit der heutigen Sitzung zu
beendigen, auch hiervon die bei ihm beglaubigten Vertreter
auswärtiger Regierungen zu benachrichtigen.“


Der deutſche Bund war entſtanden nicht durch die völlig freie
Entſchließung ſeiner Mitglieder, ſondern unter der Mitwirkung
der beim Wiener Friedenscongreß vertretenen Europäiſchen Mächte.
Er war ein Theil der allgemeinen politiſchen Geſtaltung Europa’s,
die unter gegenſeitiger Zuſtimmung der Großmächte geſchaffen
worden war; die Bundesacte bildet einen Beſtandtheil der Wiener
Congreßacte von 1815 1).


Die Europäiſchen Großmächte hatten daher an der ſtaatlichen
Neubildung Deutſchlands nicht nur das politiſche Intereſſe, welches
alle Kulturſtaaten der Welt daran nahmen, ſondern es konnte aus
völkerrechtlichen Gründen ihre beſondere Zuſtimmung zur Auf-
löſung des — unter ihrer Mitwirkung begründeten — deutſchen
Bundes erforderlich erſcheinen. Auch dieſem Erforderniß iſt Ge-
nüge geſchehen durch den internationalen Londoner Vertrag
v. 11. Mai 1867 2), welcher die Neutralität Luxemburgs unter
die Collectivgarantie der Europäiſchen Großmächte mit Einſchluß
Italiens ſtellte, indem der Art. 6 dieſes Vertrages ausdrücklich
auf die Auflöſung des deutſchen Bundes Bezug nimmt.


9)


[8]§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.

Der deutſche Bund war kein ſtaatliches Gemeinweſen, ſondern ein
Gebilde des Völkerrechts; er ſtand in rechtlicher Beziehung lediglich
unter völkerrechtlichen Regeln. Auch ſeine Auflöſung iſt ausſchließlich
nach völkerrechtlichen Grundſätzen zu beurtheilen. Für Zweifel,
wie ſie die Beendigungsweiſe des alten deutſchen Reiches in Be-
treff der rechtlichen Würdigung des Vorganges hervorrief 1), bietet
die Auflöſung des deutſchen Bundes keinen Raum. Mag man
politiſch über die Ereigniſſe des Jahres 1866 denken wie man
wolle, mag man die Auflöſung des alten völkerrechtlichen Staaten-
verbandes vielleicht beklagen: für die rechtliche Beurtheilung kommt
nur die Thatſache in Betracht, daß die Auflöſung des Bundes-
verhältniſſes unter dem einſtimmigen Conſens aller Staaten erfolgt
iſt, welche einen Rechtsanſpruch auf deſſen Fortbeſtand hätten gel-
tend machen können.


Es ergiebt ſich zugleich noch ein anderes Reſultat. Man kann
die Auflöſung des deutſchen Bundes auch hinſichtlich ihrer recht-
lichen Wirkungen nicht mit der des alten deutſchen Reiches auf
gleiche Linie ſtellen 2). Das Reich hatte ſtaatliche Rechte, war
überhaupt ein ſtaatliches, formell mit ſouveräner Gewalt ausge-
ſtattetes Subject. In ſeine Rechte konnte daher eine Succeſſion
ſtattfinden und zwar ſuccedirte in der That jeder Staatsſouverän
für ſein Gebiet in diejenigen Hoheitsrechte, welche das Reich bis
zu ſeiner Auflöſung hatte. Das Reich konnte ferner Geſetze geben,
welche wegen ihres Urſprungs formell gemeinrechtliche Kraft und
Geltung hatten und welche trotz der Auflöſung des Reiches dieſe
Bedeutung behielten, bis ſie durch die ſouverain gewordene Landes-
ſtaatsgewalt beſeitigt wurden. Der deutſche Bund war ein völker-
rechtliches Verhältniß. Mit ſeiner Auflöſung war daſſelbe nach
allen Seiten hin beendet; es wurde freilich nicht „rückwärts“ an-
nullirt, aber für die Zukunft vollſtändig beſeitigt; es giebt
weder eine Succeſſion in Bundesrechte, noch eine Fortwirkung
von Bundesbeſchlüſſen, ſoweit nicht erworbene Rechte durch die-
ſelben zu Zeiten des Bundes ſchon begründet waren. Der Bund
[9]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
hatte keinerlei geſetzgebende Gewalt. Weder die Bundesacte noch
die Wiener Schlußacte ſind Geſetze, trotzdem ſie Grundgeſetze des
deutſchen Bundes hießen; kein Bundesbeſchluß war ein Geſetz,
ſelbſt wenn er Bundesgeſetz genannt wurde, ſondern nur eine Ver-
einbarung über die von den einzelnen Staaten zu erlaſſenden Ge-
ſetze oder über das völkerrechtliche Bundesverhältniß der Einzel-
ſtaaten ſelbſt. Der Mißbrauch, der mit dem Worte „Bundesrecht“
getrieben wurde, iſt allerdings weit verbreitet geweſen; für die
juriſtiſche Betrachtung iſt aber nicht der Klang des Wortes, ſondern
die rechtliche Natur der Sache maaßgebend. Ein, von dem Landes-
recht der einzelnen Staaten verſchiedenes Bundesrecht, das einen
anderen Inhalt als die vertragsmäßige Normirung des
Bundesverhältniſſes
und deren Ausführung im Einzelnen
hatte, gab es nicht. Alles, ſelbſt durch Bundesbeſchlüſſe provozirte
und in allen deutſchen Staaten gleichmäßig geltende Recht war
ohne Ausnahme nicht Bundesrecht ſondern Landesrecht1). Dieſes
Recht iſt daher auch durch die Auflöſung des deutſchen Bundes
nicht beſeitigt worden, eben weil es kein Bundesrecht war. Da-
gegen iſt alles Bundesrecht, d. h. der Inbegriff aller vertrags-
mäßigen und ſtatutariſchen Beſtimmungen über den völkerrechtlichen
Verein, welcher unter den deutſchen Staaten mit der Bezeichnung
deutſcher Bund beſtanden hat, mit der Auflöſung dieſes Vereins
gegenſtandslos geworden und vollſtändig und in allen Beziehungen
in Wegfall gekommen.


§ 2. Die Gründung des Norddeutſchen Bundes.


Die Vorgeſchichte des Norddeutſchen Bundes reicht in die
Zeiten des ehemaligen deutſchen Bundes hinauf. Schon im Jahre
1863 erklärte Fürſt Bismarck bei Erörterung des Oeſterreichiſchen
Reformprojects in einer Denkſchrift des Staatsminiſte-
riums vom 15. September 1863
2) für die wichtigſte und
weſentlichſte Reform der Bundesverfaſſung, die Einfügung
einer National-Vertretung
, welche berufen ſei, „die
Sonderintereſſen der einzelnen Staaten im Intereſſe der Geſammt-
heit Deutſchlands zur Einheit zu vermitteln“, und er verlangte
[10]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
im Gegenſatz zu der von Oeſterreich unter dem Beifall der Mittel-
ſtaaten in Vorſchlag gebrachten Delegirten-Verſammlung: „eine
Verſammlung, die aus dem ganzen Deutſchland nach dem Maß-
ſtabe der Bevölkerung durch direkte Wahlen hervorgeht“ 1). Eine
weitere Verfolgung dieſes politiſchen Programmes war durch die
Geſtaltung, welche die ſchleswig-holſteiniſche Angelegenheit durch
den am 15. November 1863 erfolgten Tod des Königs Friedrich VII.
von Dänemark erhielt, namentlich durch das Zuſammengehen der
beiden deutſchen Großmächte und durch den gemeinſamen Gegen-
ſatz, in welchem ſie ſich zur Mehrzahl der deutſchen Mittel- und
Kleinſtaaten befanden, zunächſt unthunlich. Als aber der Conflict
zwiſchen Preußen und Oeſterreich im Jahre 1866 drohender wurde,
ſtellte Fürſt Bismarck die Bundesreform wieder in den Vorder-
grund. Und mit Recht. Nicht um einen Länderzuwachs zum
Preußiſchen Staatsgebiet, und ſei er auch von ſolcher Wichtigkeit
wie die Elbherzogthümer, ſollte der gewaltige und gefährliche Kampf
unter den deutſchen Großmächten und der Krieg gegen die mit
Oeſterreich verbündeten deutſchen Bruderſtämme gewagt werden.
Wurde er glücklich zu Ende geführt, ſo mußte der auf Deutſch-
land laſtende Dualismus der beiden Großmächte, die Zerſplitterung
der Nation in ſtaatlich mit einander nicht verbundene Parcellen,
die darauf beruhende politiſche Ohnmacht nach Außen und Zer-
fahrenheit im Innern beſeitigt werden. Darin liegt die hiſtoriſch-
politiſche, die ſittliche Berechtigung des Krieges von 1866, daß er
nicht im Sonderintereſſe Preußens, ſondern in dem Geſammtin-
tereſſe Deutſchlands geführt wurde und daß von Anfang an nicht
die Vergrößerung Preußens, ſondern die Erlöſung Deutſchlands
von dem politiſchen Elend, welches die Verträge von 1815 über
daſſelbe gebracht haben, das hohe Ziel des Kampfes war 2).


[11]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.

Am 14. März 1866 berührte das offizielle Organ der Preu-
ßiſchen Regierung, die Provinzial-Correſpondenz, die Nothwendig-
keit, bei der Entſcheidung der ſchleswig-holſteiniſchen Angelegenheit
auch die Reform der Bundesverhältniſſe in Frage zu ziehen; ſie
erinnerte an die in der Denkſchrift vom 15. September 1863 vom
Preußiſchen Staatsminiſterium dargelegten Grundſätze und erklärte:
„die Preußiſche Regierung würde, falls jetzt die Nothwendigkeit
hervorträte, die Umbildung der Bundesverhältniſſe wieder ins Auge
zu faſſen, vermuthlich an ihre Vorſchläge in der erwähnten Denk-
ſchrift wieder anknüpfen“ 1).


Bald darauf, am 24. März 1866, richtete Fürſt Bismark an
die Vertreter Preußens bei den deutſchen [Regierungen] eine Cir-
cular-Depeſche 2), welche eine ſcharfe Kritik der Bundesverhältniſſe
enthält und die Nothwendigkeit einer Bundesreform den deutſchen
Regierungen dringend ans Herz legt 3).


Am 9. April 1866 ſtellte Preußen am Bundestage den An-
trag auf eine Reform des deutſchen Bundes 4). In der Erklärung
des Preußiſchen Bundestags-Geſandten wird die Nothwendigkeit
einer Umgeſtaltung der Bundesverfaſſung nachgewieſen, namentlich
aber darauf der größte Nachdruck gelegt, daß weder die einſeitigen
Verhandlungen unter den Regierungen, noch die Debatten und
Beſchlüſſe einer gewählten Verſammlung allein im Stande wären,
eine Neugeſtaltung des nationalen Verfaſſungswerkes zu ſchaffen,
2)
[12]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
daß vielmehr nur durch ein Zuſammenwirken beider Factoren das
Ziel erreicht werden könne. Für die zu wählende Verſammlung
ſchlug Preußen das allgemeine Stimmrecht und directe Wahlen
vor und demgemäß ging der Antrag dahin:


Hohe Bundesverſammlung wolle beſchließen:
„eine aus directen Wahlen und allgemeinem Stimm-
„recht der ganzen Nation hervorgehende Verſammlung für
„einen noch näher zu beſtimmenden Tag einzuberufen, um
„die Vorlagen der deutſchen Regierungen über eine Reform
„der Bundesverfaſſung entgegenzunehmen und zu berathen;
„in der Zwiſchenzeit aber, bis zum Zuſammentritt derſelben,
„durch Verſtändigung der Regierungen unter einander dieſe
„Vorlage feſtzuſtellen.“


Die Bundes-Verſammlung verwies den Antrag an eine Com-
miſſion von 9 Mitgliedern, die am 26. April gewählt wurde; ſchon
am 27. April erließ Fürſt Bismarck eine neue Circular-Depeſche
an die Preuß. Vertreter bei den deutſchen Regierungen 1), in welcher
er nochmals betonte, daß die Beſtimmung des Termins der Parla-
ments-Eröffnung vor Beginn der Regierungsverhandlungen über
die Reformvorlagen der Kern des Antrages vom 9. April ſei.
„Mit der Ablehnung dieſer Frage wäre die ernſtliche Behand-
lung der Bundesreform überhaupt thatſächlich abgelehnt.“


Als die Bundesreform-Commiſſion ihre Berathungen am
11. Mai 1866 begann, ſkizzirte der Preußiſche Geſandte die Reform-
Pläne ſeiner Regierung näher, indem er 8 Punkte formulirte 2).
Sie betrafen die Einführung einer periodiſch einzuberufenden National-
vertretung in den Bundesorganismus mit der Wirkung, daß die
bisher erforderliche Stimmeneinheit der Bundesglieder durch Beſchluß-
faſſung der Nationalvertretung auf ſpeciell bezeichneten Gebieten
der künftigen Bundesgeſetzgebung erſetzt werden ſolle (Nro. a);
ferner die Feſtſtellung der Kompetenz (Nro. b—e); endlich Organi-
ſation des Konſulatweſens, Gründung einer deutſchen Kriegsmarine
und Reviſion der Bundeskriegsverfaſſung (Nro. f—h). Dieſe
Preußiſchen Vorſchläge ſind darum von höchſter Bedeutung, weil
ſie die Grundlinien der ſpäteren Verfaſſung enthalten und gewiſſer-
[13]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
maſſen die rechtsgeſchichtliche Brücke zwiſchen der alten Bundes-
Verfaſſung und der neuen Bundesſtaats-Verfaſſung bilden. Es
war zum erſten Male, daß die Umriſſe des neu zu ſchaffenden
Bau’s deutlich entgegen traten.


Es war zugleich zum letzten Male, daß eine Bundes-
reform
angeſtrebt wurde. Zwiſchen den Preußiſchen Vorſchlägen
vom 11. Mai 1866 und den alsbald zu erwähnenden vom 10. Juni
1866 liegt eine ſtaatsrechtlich überaus bedeutſame Kluft. Die
erſteren haben die Fortdauer des Bundes, die letzteren ſeine
Auflöſung zur Vorausſetzung; wären die Reform-Vorſchläge
vom 11. Mai von Erfolg geweſen, ſo beſtünde zwiſchen dem alten
Bunde und dem heutigen Verfaſſungszuſtande rechtliche Con-
tinuität
; die Ereigniſſe vom 14. Juni 1866 haben dieſelbe zer-
ſtört; der Bund wurde vernichtet, nicht reformirt; und es mußte
erſt wieder die Grundlage zu einem ſtaatsrechtlichen Neubau ge-
ſchaffen werden.


Unmittelbar vor der Kataſtrophe, am 10. Juni 1866 richtete
Fürſt Bismarck an die deutſchen Regierungen eine Circular-Depeſche 1),
in welcher er ihnen „Grundzüge zu einer neuen Bundes-
verfaſſung
“ zur Erwägung mittheilte und ſie erſuchte, ſich zu-
gleich über die Frage ſchlüſſig machen zu wollen,
„ob ſie eventuell, wenn in der Zwiſchenzeit bei der
drohenden Kriegsgefahr die bisherigen Bun-
desverhältniſſe ſich löſen ſollten
, einem auf der
Baſis dieſer Modifikationen des alten Bundesvertrages
neu zu errichtenden Bunde beizutreten geneigt ſein
würden.“


Die „Grundzüge“ 2) gehen davon aus, daß das Bundesgebiet
aus denjenigen Staaten beſteht, welche bisher dem Bunde an-
gehört haben, mit Ausnahme der öſterreichiſchen und niederländi-
ſchen Landestheile (Art I). Es ſollten demnach die nicht zum ehe-
maligen Bunde gehörenden Landestheile Preußens und Schleswig
eingeſchloſſen werden, Oeſterreich und die niederländiſchen Landes-
theile 3) ausſcheiden. Die Beziehungen des Bundes zu den deutſchen
[14]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
Landestheilen des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates ſollten durch
beſondere Verträge geregelt werden (Art. X). Der Machtſtellung
Bayerns ſollte dadurch Rechnung getragen werden, daß die Land-
macht des Bundes in 2 Bundesheere, die Nordarmee und die Süd-
armee eingetheilt und in Krieg und Frieden der König von Preußen
Bundes-Oberfeldherr der Nordarmee, der König von Bayern
Bundes-Oberfeldherr der Südarmee ſein ſollte (Art. IX). Im
Uebrigen ſtimmen die Grundzüge nicht nur ſachlich, ſondern zum Theil
ſelbſt hinſichtlich des Ausdrucks ſo ſehr mit der ſpäteren Verfaſſung
des Norddeutſchen Bundes überein, daß man ſie mit Recht als
den erſten Entwurf der Norddeutſchen Bundesverfaſſung be-
zeichnen kann.


Der in der Note vom 10. Juni vorhergeſehene Fall trat ſehr
bald ein. Der Bundesbeſchluß vom 14. Juni 1866 bewirkte die
Sprengung des Bundesverhältniſſes. Der Preußiſche Bundestags-
Geſandte verband mit der Austritts-Erklärung Preußens aus dem
Bunde ſogleich die Aufforderung, eine neue „Form für die Einheit
der deutſchen Nation“ zu vereinbaren und erklärte die Bereitwil-
ligkeit der Preußiſchen Regierung
„einen neuen Bund mit denjenigen deutſchen Regierungen
zu ſchließen, welche ihr dazu die Hand reichen wollen“
1).


Die Verwirklichung dieſes Planes wurde durch den raſchen
und glücklichen Verlauf des Krieges in unerwarteter Weiſe ge-
fördert, zugleich aber in Beziehung auf die ſüddeutſchen Staaten
näher präciſirt. Die weſentliche Vorausſetzung des neuen Bundes,
der Ausſchluß Oeſterreichs, gleichzeitig aber die Unter-
ſcheidung zwiſchen den nördlich vom Main gelegenen und den ſüd-
lichen Staaten Deutſchlands wurde Oeſterreich gegenüber völker-
rechtlich feſtgeſtellt durch Art. II. des Präliminar-Friedens von
Nicolsburg vom 26. Juli 1866, mit welchem Art. IV. des Prager
Friedensvertrages vom 23. Auguſt 1866 abgeſehen von einem Zu-
3)
[15]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
ſatz am Schluß wörtlich gleichlautend iſt 1). Dieſer Artikel enthält
vier Sätze. Er lautet:


  • (I.) „Seine Majeſtät der Kaiſer von Oeſterreich erkennt die
    Auflöſung des bisherigen deutſchen Bundes an und
  • (II.) gibt ſeine Zuſtimmung zu einer neuen Geſtaltung Deutſch-
    lands
    ohne Betheiligung des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates.
  • (III.) Ebenſo verſpricht Seine Majeſtät das engere Bundes-
    verhältniß anzuerkennen, welches Seine Majeſtät der König
    von Preußen nördlich von der Linie des Mains
    begründen wird 2), und
  • (IV.) erklärt ſich damit einverſtanden, daß die ſüdlich von
    dieſer Linie
    gelegenen deutſchen Staaten in einen Verein
    zuſammentreten, deſſen nationale Verbindung mit
    dem norddeutſchen Bunde der näheren Verſtändigung
    zwiſchen beiden vorbehalten bleibt“ 3).

Der Prager Friedensvertrag ſetzt hinzu: und
der eine internationale unabhängige Exiſtenz haben wird.


Begriff und Name des Norddeutſchen Bundes erſcheint in
offiziellen Aktenſtücken zum erſten Male im Nikolsburger Präli-
minar-Vertrag.


Sämmtliche mit Preußen im Kriege befindlich geweſene Staaten
traten in den mit ihnen feſtgeſtellten Friedensverträgen dieſen Be-
ſtimmungen bei. (Siehe oben S. 6).


Damit war zunächſt nur die negative Vorausſetzung für
[16]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
die Errichtung des Norddeutſchen Bundes, die Beſeitigung des
Widerſpruchs der Mitglieder des ehemaligen deutſchen Bundes,
gegeben. Die poſitive Schöpfung erfolgte durch folgende That-
ſachen:


Am 16. Juni 1866, ſogleich nach dem Austritte Preußens
aus dem Bunde, wurde von Preußen mittelſt identiſcher Noten
ſämmtlichen norddeutſchen Staaten mit Ausnahme von Hannover,
Sachſen, Kurheſſen, Heſſen-Darmſtadt und Luxemburg der Vor-
ſchlag zu einem Bündniß gemacht, welches nur von Sachſen-
Meiningen und Reuß ältere Linie abgelehnt, von allen übrigen
angenommen wurde. Nach einem mit dieſen Staaten ſtattgehabten
Schriftenwechſel wurde durch eine Preußiſche Circular-Depeſche
vom 4. Auguſt 1) der Entwurf eines Bündniß-Vertrages vorgelegt
und am 18. Auguſt 1866 zu Berlin ein Bündniß-Vertrag definitiv
abgeſchloſſen 2).


Die urſprünglichen Contrahenten dieſes Vertrages waren
Preußen, Sachſen-Weimar, Oldenburg, Braunſchweig, Sachſen-
Altenburg, Sachſen-Coburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Sonders-
hauſen, Schwarzburg-Rudolſtadt, Waldeck, Reuß j. L., Schaum-
burg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen, Hamburg.


Dieſen 16 Staaten geſellten ſich ſofort am 21. Auguſt die
beiden Mecklenburg hinzu, unter dem Vorbehalte der ſtändiſchen
Genehmigung 3). Reuß ältere Linie trat durch den Friedensver-
trag vom 26. September Art. 1. 4), Sachſen-Meiningen durch den
Friedensvertrag vom 8. October Art. 1. 5), Königreich Sachſen
durch den Friedensvertrag vom 21. Oktober Art. 2 6) dem Bünd-
nißvertrage bei.


Heſſen-Darmſtadt endlich übernahm in dem Frieden vom
3. September 1866 7) Art. 14. Abſ. 2 die Verpflichtung, „mit
ſeinen ſämmtlichen nördlich des Mains liegenden Gebietstheilen
auf der Baſis der in den Reformvorſchlägen vom 10. Juni 1866
[17]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
aufgeſtellten Grundſätze in den Norddeutſchen Bund einzu-
treten.“


Dieſer Bündniß-Vertrag vom 18. Auguſt 1866 bildet
die völkerrechtliche Grundlage
für die Errichtung des
Norddeutſchen Bundes und ſein Verhältniß zu der nachmaligen
Bundesverfaſſung iſt für die geſammte ſtaatsrechtliche Auffaſſung
des Norddeutſchen Bundes und des deutſchen Reiches von ſo großer
Wichtigkeit, daß ein näheres Eingehen auf ſeinen Inhalt uner-
läßlich iſt.


Der Vertrag vom 18. Auguſt 1866 ſteht im ſchärfſten Gegen-
ſatz zu dem Bundesvertrage von 1815. Der letztere ſchuf eine
politiſche Organiſation Deutſchlands, ſein Inhalt war demgemäß
auf die Dauer berechnet; der Bund war ein „beſtändiger“ d. h.
ein unauflöslicher, von dem ſich kein Mitglied losſagen durfte, für
den kein vorausbeſtimmter Endtermin fixirt war; ſein Zweck zwar
nach Art. 2 und 6 der Bundes-Acte ein für alle Zeiten realiſir-
barer 1); die Bundesacte enthielt die Verfaſſung des Bundes, ſoweit
man den Ausdruck Verfaſſung von einem vertragsmäßigen Rechts-
verhältniß gebrauchen darf.


Das Bündniß vom 18. Auguſt 1866 iſt in allen dieſen Be-
ziehungen verſchieden. Die Dauer des Bündniſſes iſt durch Art. 6
auf ein Jahr feſtgeſetzt; mit Ablauf dieſes Zeitraumes erloſch
der Vertrag von ſelbſt, falls er nicht ſchon vorher durch Gründung
eines dauernden Bundesverhältniſſes erledigt wurde 2).


Die Pflichten, welche die Contrahenten gegen einander über-
nahmen, laſſen ſich auf zwei Punkte zurückführen.


1) Sie ſchloſſen ein Offenſiv- und Defenſiv-Bündniß zur Er-
haltung der Unabhängigkeit und Integrität, ſowie der inneren
und äußeren Sicherheit ihrer Staaten (Art. 1) und ſtellten ihre
Truppen unter den Oberbefehl des Königs von Preußen, mit dem
Vorbehalt, daß die Leiſtungen während des Kriegs durch beſondere
Verabredungen geregelt werden (Art. 4).


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 2
[18]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.

2) Sie verpflichteten ſich, die Zwecke des Bündniſſes definitiv
durch eine Bundesverfaſſung ſicher zu ſtellen (Art. 2) und verein-
barten in dieſer Beziehung vier Sätze:


  • a) Die Preußiſchen Grundzüge vom 10. Juni 1866 ſollten
    die Baſis der Bundesverfaſſung bilden (Art. 2).
  • b) Die Verfaſſung ſollte unter Mitwirkung eines gemeinſchaft-
    lich zu berufenden Parlaments feſtgeſtellt werden (Art. 2).
  • c) Zur Erreichung dieſes Zweckes verſprachen die Regierungen,
    gleichzeitig mit Preußen die auf Grund des Reichswahl-
    Geſetzes vom 12. April 1849 vorzunehmenden Wahlen der
    Abgeordneten zum Parlament anzuordnen und Letzteres ge-
    meinſchaftlich mit Preußen einzuberufen (Art. 5).
  • d) Sie verpflichteten ſich, Bevollmächtigte nach Berlin zu
    ſenden, um nach Maßgabe der Grundzüge vom 10. Juni
    den Entwurf der Bundesverfaſſung feſtzuſtellen, welcher dem
    Parlament zur Berathung und Vereinbarung vorgelegt werden
    ſollte (Art. 5).

Außerdem enthielt der Vertrag nur noch die Beſtimmung,
daß alle unter den Verbündeten beſtehenden Verträge und Ueber-
einkünfte in Kraft bleiben, ſoweit ſie nicht durch dieſes Bündniß
ſelbſt ausdrücklich modificirt werden (Art. 3).


Außer der für ein Jahr geſchloſſenen Offenſiv- und Defenſiv-
Allianz verpflichten ſich demnach die Contrahenten zu einer ein-
maligen
Leiſtung, zu einer, ihrer Natur nach nicht wiederkehren
könnenden Handlung, nämlich zur Herſtellung einer Bundes-
Verfaſſung. Sie gründen nicht einen Bund, ſondern ſie verpflichten
ſich, einen Bund zu gründen; ſie vereinbaren nicht eine Verfaſſung,
ſondern ſie vereinbaren einen Modus behufs Feſtſtellung einer Ver-
faſſung 1).


Der Art. 10 der Bundes-Acte behielt der Bundesverſammlung
die Abfaſſung der Grundgeſetze des Bundes und deſſen organiſche
Einrichtung vor oder — nach dem Wortlaute der Wiener Schluß-
acte vom 15. Mai 1820 — die deutſchen Staaten übernahmen
die Verpflichtung, den Beſtimmungen der Bundesakte „eine zweck-
mäßige Entwickelung“ und „mithin dem Bundesverein ſelbſt die
erforderliche Vollendung zu ſichern“. Der Art. 6 des Bündniß-
[19]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
Vertrages vom 18. Auguſt 1866 ſetzt die Dauer des Bünd-
niſſes bis zum Abſchluß des neuen Bundes-Verhält-
niſſes
feſt. Dieſer Abſchluß iſt nicht die Prolongation, nicht
die Entwicklung und Vollendung, ſondern die Beendigung des
Auguſt-Bündniſſes und zwar die Beendigung durch Erfüllung.
Der Norddeutſche Bund iſt nicht am 18. Auguſt 1866 gegründet
worden; Sachſen-Meiningen, Reuß. ä. L. und Königreich Sachſen
treten in den mit ihnen abgeſchloſſenen Friedensverträgen nicht
dem Norddeutſchen Bunde, ſondern dem Bündniß-Vertrage vom
18. Auguſt 1866 bei, und ebenſo verpflichtet ſich Heſſen-Darmſtadt
nicht, mit ſeinen nördlich des Mains gelegenen Gebietstheilen in
den ſchon beſtehenden Norddeutſchen Bund, ſondern in den zu
gründenden einzutreten.


Der Bündniß-Vertrag vom 18. Auguſt 1866 und die ihn er-
weiternden Friedensverträge begründen gegenſeitige völkerrecht-
liche
Pflichten und Rechte. Kam die Herſtellung des Bundes nach
Maßgabe der in dem Auguſtbündniß vereinbarten Modalitäten zu
Stande, ſo durfte keiner der Contrahenten von dieſem Bunde ſich
fern halten, keiner von demſelben ausgeſchloſſen werden. Die
Pflicht und das Recht der Antheilnahme ſowohl an den zur Her-
ſtellung des Bundes in Ausſicht genommenen Verhandlungen als
auch an dem Bunde ſelbſt waren für alle Contrahenten des Ver-
trages wechſelſeitig feſtgeſtellt.


Das Auguſt-Bündniß iſt die alleinige völkerrechtliche
Baſis für die Errichtung des Bundes, in keiner Hinſicht dagegen
die ſtaatsrechtliche Grundlage des Norddeutſchen Bundes ſelbſt.


Die Feſtſtellung dieſer Thatſache iſt von größter Bedeutung,
weil ihre Verdunkelung zur Rechtfertigung einer völlig haltloſen
Theorie über die rechtliche Natur des Norddeutſchen Bundes und
des deutſchen Reiches verwerthet worden iſt.


Die contrahirenden Regierungen begannen mit der Erfüllung
der ihnen obliegenden Verpflichtung, indem ſie ihren Landtagen
ein Wahlgeſetz für den Reichstag vorlegten, welches ſich ſo eng
als möglich an das Wahlgeſetz von 1849 anlehnte. Gleich an-
fangs ſtieß aber das Werk der Conſtituirung des Bundes auf eine
ſehr ernſtliche Schwierigkeit an einer Stelle, wo man ſie kaum er-
wartet hätte. Das Preußiſche Abgeordnetenhaus wollte
das gemeinſame Parlament nicht mit der Befugniß ausſtatten, die
2*
[20]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
Verfaſſung mit den Regierungen zu vereinbaren, ſondern nur
ſie zu berathen; die Majorität deſſelben konnte „die Neigung,
partikulariſtiſche Rechte dem geſammten Gemeinweſen gegenüber
zu verklauſuliren“ 1), nicht unterdrücken; es ſollte die zwiſchen dem
Parlament Norddeutſchlands und den norddeutſchen Regierungen
zu vereinbarende Verfaſſung noch einer Superreviſion und Ge-
nehmigung durch den Preußiſchen Landtag und mithin, da das
gleiche Recht jedem anderen norddeutſchen Staat nicht verſagt
werden konnte, durch mehr als 20 landſtändiſche Verſammlungen
vorbehalten werden. Durch das Auguſtbündniß waren die Re-
gierungen nur verpflichtet, eine mit dem Reichstage verein-
barte
Bundesverfaſſung anzunehmen; jeder Verſuch eines Einzel-
landtages an der Feſtſtellung dieſer Verfaſſung poſitiven Antheil
zu nehmen, hätte ſie ihrer vertragsmäßigen Verpflichtung entbun-
den. Die Hoffnung auf die Herſtellung des Bundes hing jetzt
nicht nur davon ab, daß die Vereinbarung zwiſchen den Regie-
rungen und dem Norddeutſchen Reichstage gelingen werde, ſondern
daß auch ſämmtliche Landtage der Verſuchung, die vereinbarte
Verfaſſung verbeſſern zu wollen, widerſtehen würden. Auch an
den Beſtimmungen des Wahlgeſetzes wurde amendirt 2), obwohl
die vertragsmäßige Verpflichtung der Regierungen ausdrücklich
darauf gerichtet war, die Wahlen auf Grund des Reichs-Wahlge-
ſetzes vom 12. April 1849 vornehmen zu laſſen.


Deſſenungeachtet fügte ſich die Regierung und vermochte auch
das Herrenhaus der von dem Abgeordneten-Hauſe beliebten Faſ-
ſung zuzuſtimmen 3); ſo daß am 15. Oktober 1866 das Wahlgeſetz
für Preußen publizirt und kurz darauf in dem Jadegebiet und in
den neuerworbenen Landestheilen durch königliche Verordnung ein-
geführt werden konnte 4). Auch in allen übrigen Staaten wurde
auf verfaſſungsmäßigem Wege das Wahlgeſetz für den Reichstag
zu Stande gebracht; in einigen, namentlich in Mecklenburg, dem
[21]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
vom Preußiſchen Abgeordneten-Hauſe gegebenen Beiſpiele folgend,
nicht ohne erhebliche Modifikationen des Reichswahlgeſetzes von
1849 1); und in der überwiegenden Mehrzahl wurde dem zu wählen-
den Reichstage nur die Befugniß zur „Berathung“ der Verfaſſung
ertheilt.


Es konnte mithin die eine, der im Art. 5 des Auguſtbünd-
niſſes übernommenen Verpflichtungen, die Parlamentswahlen an-
zuordnen und das Parlament gemeinſam einzuberufen, von allen
Staaten erfüllt werden.


Ebenſo wurde die zweite daſelbſt ſtipulirte Vereinbarung aus-
geführt. Bevollmächtigte Vertreter aller verbündeten Staaten
traten auf Grund von Einladungsſchreiben, welche die Preußiſche
Regierung am 21. November erlaſſen hatte, am 15. Dezember 1866
in Berlin zu Conferenzen zuſammen, um einen Entwurf einer Ver-
faſſung zu vereinbaren.


Fürſt Bismarck legte Namens der Preußiſchen Regierung
einen Entwurf vor 2), welcher eine weitere Ausführung der Grund-
züge vom 10. Juni 1866 iſt und im Hinblick auf die letzteren als
der II. Entwurf der Verfaſſung bezeichnet werden kann. Die
Verhandlungen über dieſen Entwurf waren vertrauliche; über
die Diskuſſion der einzelnen Artikel und die von den Regierungen
geſtellten Amendements ſind Protokolle nicht veröffentlicht worden.
Dagegen ſind die Reſultate der Berathungen in der Form von
Protokollen feſtgeſtellt und publizirt worden. Es giebt vier
ſolcher Protokolle.


Das erſte vom 18. Januar 1867 3) über die „erſte förmliche
Sitzung“ conſtatirt den einſtimmigen Beſchluß der Bevollmächtigten,
daß die Krone Preußen dem einzuberufenden Reichstage gegenüber
zur einheitlichen Vertretung der verbündeten Regierungen ermächtigt
[22]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
und zur Ausübung der in Art. 14 und 25 des Entwurfs er-
wähnten Rechte (Einberufung, Eröffnung, Vertagung, Schließung,
Auflöſung des Reichstages) befugt ſein ſolle.


Bei weitem wichtiger iſt das zweite Protokoll vom 28. Ja-
nuar 1867 1). Die Sitzung war anberaumt worden, „um die
vertraulich gepflogenen Berathungen zu einem vorläufigen Abſchluß
zu bringen.“ Zu dieſem Zwecke hatten die Preußiſchen Bevoll-
mächtigten ſich der Aufgabe unterzogen, „aus den von den übrigen
Herren Bevollmächtigten formulirten zahlreichen Amendements
diejenigen auszuwählen und zu bearbeiten, welche die Mehrzahl
der geäußerten Wünſche befriedigen dürften, ohne den Prin-
zipien des Entwurfs entgegenzulaufen
.“


Dieſe Arbeit hatte zu einer Umgeſtaltung des Entwurfs vom
15. Dezember 1866 geführt; war zunächſt aber auf den 8. Ab-
ſchnitt vom Poſtweſen und den 11. Abſchnitt vom Bundeskriegs-
weſen noch nicht erſtreckt worden. Der Preußiſche Bevollmächtigte
erklärte zugleich, „daß die königliche Regierung ſich in Betreff der
Abſchnitte, auf welche dieſe Arbeit ſich bezieht, zu ferneren Aende-
rungen nicht verſtehen könne.“


Das Protokoll berichtet nun weiter:


„Nachdem die bezeichneten, von Preußen angenommenen Amen-
dements vorgeleſen und discutirt waren, vereinigten die Herren
Bevollmächtigten ſich zu der Erklärung: daß ſie die auf dieſe Weiſe
amendirten Abſchnitte des Verf.-Entwurfs als vorläufig feſt-
geſtellt
betrachten und demgemäß deren Vorlegung an den Reichs-
tag genehmigen, unter dem Vorbehalte jedoch, daß es den hohen
verbündeten Regierungen unbenommen bleibe, wenn das vollſtändige
Reſultat der Conferenz vorliegen wird, in ihrer definitiven Er-
klärung auf die heute angenommenen Abſchnitte zurückzukommen 2).“


Das dritte Protokoll vom 7. Februar 1867 3) enthält
hinſichtlich der Abſchnitte über das Poſtweſen und das Kriegsweſen
[23]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
dieſelbe Feſtſtellung wie das 2. Protokoll hinſichtlich der übrigen
Theile des Entwurfes; ſo daß das zweite und dritte Protokoll
zuſammen den Entwurf, wie er dem Reichstage (mit neuer Numeri-
rung der Artikel) vorgelegt werden ſollte, definitiv feſtſtellten 1).
Dieſer Entwurf iſt demnach der III. Entwurf der Verfaſſung.


Neben dieſen, die Feſtſtellung des Entwurfs enthaltenden
Protokollen gibt es noch ein viertes, ebenfalls am 7. Februar
1867 aufgenommenes „Schlußprotokoll,“ welches Erklärungen
einzelner Bevollmächtigten enthält 2). Die überwiegende Mehr-
zahl derſelben betrifft Fragen vorübergehender Bedeutung, welche
inzwiſchen längſt erledigt ſind 3), einige andere enthalten politiſche
Wünſche, auf deren Durchführung die Staaten im Intereſſe des
baldigen Zuſtandekommens der Verfaſſung verzichten 4), einige end-
lich beziehen ſich auf die Auslegung einiger Artikel des Entwurfs 5).
Auch dieſes Protokoll conſtatirt aber, daß ſämmtliche Bevollmächtigte
trotz ihrer beſonderen Erklärungen darüber einverſtanden ſeien,
„daß der in amendirter Form definitiv feſtgeſtellte Ver-
faſſungs-Entwurf Namens der Geſammtheit der in der Con-
ferenz vertretenen Regierungen durch die Krone Preußen
dem Reichstage vorgelegt werde.“


Nachdem die allgemeinen Wahlen am 12. Februar 1867 ſtatt-
gefunden hatten, berief der König von Preußen in Ausführung
[24]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
des am 18. Januar gefaßten Beſchluſſes der Bevollmächtigten
ſämmtlicher Staaten durch Patent vom 13. Febr. 1867 den Reichs-
tag des norddeutſchen Bundes
auf Sonntag den 24. Februar
1867 nach Berlin.


In der Thronrede, mit welcher der Reichstag eröffnet wurde,
iſt der Entwurf, welcher Namens der Regierungen dem Reichstag
vorgelegt werden ſollte, dahin charakteriſirt,
„daß die verbündeten Regierungen, im Anſchluſſe an
gewohnte frühere Verhältniſſe
, ſich über eine An-
zahl beſtimmter und begrenzter, aber factiſch bedeutſamer
Einrichtungen verſtändigt haben, welche eben ſo im Bereiche
der unmittelbaren Möglichkeit, wie des zweifelloſen Bedürf-
niſſes liegen.“


Für das Verſtändniß der Verfaſſung iſt dieſer Geſichtspunkt
von größter Wichtigkeit; trotzdem rechtlich die Continuität mit
den Verhältniſſen des deutſchen Bundes gelöst war, iſt ſie den-
noch ſo viel wie möglich erhalten worden. Der Bundestag mit
ſeinem Plenum und mit ſeinen Ausſchüſſen und Matrikularbeiträgen,
der Zollverein und manche andere Inſtitution der älteren Zeit bilden
die Grundlage der zunächſt ins Leben gerufenen Einrichtungen;
die Einfügung des Parlaments, die Erſetzung der früher erforderten
Einſtimmigkeit durch Majoritätsbeſchlüſſe, die Erweiterung der Kompe-
tenz auf das geſammte Gebiet der Verkehrs-Verhältniſſe, die Organi-
ſation des Bundesheeres, der Marine, der Diplomatie, des Kon-
ſulatweſens — das ſind die weſentlichen Neuerungen.


Es iſt das Programm, welches der Preußiſche Antrag vom
9. April 1866 verfolgte, mit den durch die veränderten politiſchen
Verhältniſſe nothwendig gewordenen Modifikationen durchgeführt;
bei der Neugründung des Bundes blieben dieſelben Geſichts-
punkte maßgebend von denen aus die Bundesreform angeſtrebt
worden war.


Bei den Berathungen des Reichstages fehlte es nicht an einer
Fluth von Abänderungs-Vorſchlägen, unter denen ſich viele befan-
den, „die — wie Fürſt Bismark ſagte — von Allem, was wir
gethan und geleiſtet haben, abſtrahiren, von dem in der Geſchichte
unerhörten Fall, daß die Regierungen von 30 Millionen Deutſchen
ſich nicht blos dem Wortlaute nach, wie bei der alten Bundesacte,
ſondern auch dem Geiſte nach über einen ſolchen Entwurf geeinigt
[25]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
haben, keine Notiz nehmen.“ Der Werth recht zahlreicher An-
träge beſteht lediglich in den durch ſie hervorgerufenen Widerleg-
ungen Seitens der Bundescommiſſare; indem die letzteren Grund
und Tragweite der in dem Entwurf enthaltenen Beſtimmungen
entwickelten und dadurch theilweiſe dem Mangel an Motiven ab-
halfen, von deren Ausarbeitung theils aus Rückſicht auf den Zeit-
aufwand theils auf die Schwierigkeit ihrer Feſtſtellung Abſtand ge-
nommen worden war 1).


Im Allgemeinen aber hielt der Reichstag an den Grundge-
gedanken des Entwurfs feſt, lehnte alle mit demſelben in unverein-
barem Contraſt ſtehende Abänderungen ab und erwarb ſich das
Verdienſt, den Entwurf an einer bedeutenden Anzahl von Stellen
erheblich verbeſſert zu haben 2).


Am 16. April 1867 hat der Reichstag die Berathung des
Entwurfs zu Ende geführt und ihn in der Geſtalt, wie er aus
dieſer Berathung hervorgegangen iſt, mit 230 gegen 53 3) Stim-
men angenommen. An demſelben Tage traten die Commiſſarien
der verbündeten Regierungen zu einer Sitzung zuſammen und be-
ſchloſſen einſtimmig:
den Verfaſſungs-Entwurf, wie er aus der Schlußberathung
des Reichstages hervorgegangen iſt, anzunehmen
4).


Die rechtliche Lage, welche durch dieſe Beſchlüſſe geſchaffen
wurde, bedarf einer näheren Fixirung. Die Errichtung des
[26]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
norddeutſchen Bundes war noch nicht erfolgt; von
allen anderen Gründen abgeſehen ſchon deshalb nicht, weil dem
Reichstage durch die Mehrzahl der Wahlgeſetze nur die Befugniß
zur Berathung einer Bundesverfaſſung ertheilt worden war.
Unter den verbündeten Staaten beſtand vielmehr dasjenige Rechts-
verhältniß, welches durch das Auguſtbündniß und die daſſelbe in
Bezug nehmenden Friedensverträge geſchaffen war, im Weſentlichen
unverändert fort. Nur war der Art. 5 deſſelben erledigt durch
vollſtändige Erfüllung und der Art. 2 war inhaltlich näher be-
ſtimmt; die Verpflichtung und Berechtigung der Staaten, einem
Bunde anzugehören, deſſen Verfaſſung unter Mitwirkung eines
gemeinſchaftlich zu berufenden Parlaments vereinbart werden ſollte,
hatte ſich ſpezialiſirt zu der Pflicht und dem Recht, einem Bunde
mit der am 16. April 1867 feſtgeſtellten Verfaſſung anzugehören.
Es war nunmehr eine Verfaſſung den Beſtimmungen des Auguſt-
Bündniſſes gemäß vereinbart worden; die wechſelſeitige Pflicht,
einen Bund zu gründen, konnte jetzt durch dieſe Gründung ſelbſt
erfüllt werden.


Hierzu aber waren die Regierungen der verbündeten Staaten
nach dem Staatsrecht der letzteren ohne Zuſtimmung der Landes-
vertretungen nicht befugt. Sie konnten nicht in einen Bund ein-
treten, der nach Maaßgabe der Verfaſſung vom 16. April 1867
organiſirt war, ohne eine in der Form des verfaſſungsändernden
Geſetzes ertheilte Ermächtigung, weil durch dieſen Eintritt die
Verfaſſung jedes Einzelſtaates auf das Tiefſte verändert und dem
Staate wie ſeinen Angehörigen finanzielle Laſten auferlegt wurden.
Demgemäß bedurfte die von ihnen erklärte Annahme der Bundes-
verfaſſung mindeſtens der nachträglichen, ordnungsmäßigen Ge-
nehmigung der Geſetzgebungsfactoren ihrer reſp. Staaten 1).


In allen zum Norddeutſchen Bunde gehörenden Staaten iſt
dieſe Genehmigung unter Beobachtung der verfaſſungsmäßigen
Form-Vorſchriften ertheilt und in allen einzelnen Staaten iſt die
Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes in der für Geſetzes-Pub-
likationen vorgeſchriebenen Form verkündet worden 2). Alle dieſe
[27]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
Publikationspatente enthalten außer der Publikationsclauſel die
Beſtimmung, daß dieſe Verfaſſung in den betreffenden Staatsge-
bieten
„am 1. Juli 1867 in Kraft treten ſoll“ 1).


Die juriſtiſche Bedeutung dieſes legislativen Aktes iſt mehr-
fach mißverſtanden worden.


Seydel2) ſchließt aus dieſen Publikationen, daß die mit
dem norddeutſchen Reichstage vereinbarte Verfaſſung gleich-
mäßiges Landesgeſetz
ſämmtlicher verbündeten Staaten ge-
worden ſei 3). Die norddeutſche Bundesverfaſſung ſei Landesrecht
jedes Bundesſtaates geworden, nicht mehr, nicht weniger. Er zieht
daraus die Folgerung, daß alle auf Grund der Bundesverfaſſung
erlaſſenen Geſetze ihre Giltigkeit von einem Landesverfaſſungs-
geſetze
ableiten, alſo wieder Landesgeſetze ſeien und verwerthet
dieſe Sätze für die juriſtiſche Conſtruction des Reiches.


Die Unrichtigkeit dieſer Auffaſſung iſt in durchſchlagender
Weiſe von Hänel Studien I. S. 53 ff. 75 ff. dargethan worden.
Er macht mit Recht geltend, daß die Bundesverfaſſung einen für
das Landesgeſetz jedes einzelnen Staates unmöglichen Inhalt hat;
ſie ſetzt einen Verein von Staaten voraus, deſſen Organiſation ſie
beſtimmt, ein Landesgeſetz aber kann nur ſolche Gegenſtände recht-
lich regeln, welche in das Herrſchaftsgebiet dieſes Staates fallen,
nicht ſolche, welche die Coexiſtenz mehrerer Staaten vorausſetzen.
„Die rechtliche Regelung eines ſolchen Coëxiſtenzverhältniſſes liegt
über den Bereich des Herrſchaftsverhältniſſes jedes einzelnen
Staates und damit irgend eines Landesgeſetzes hinaus. Der nord-
deutſche Bund und ſeine Verfaſſung konnte darum auch nicht durch
[28]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
eine Summe übereinſtimmender Partikulargeſetze zur thatſächlichen
und rechtlichen Exiſtenz gelangen“.


Hänel a. a. O. S. 76 findet in der Mitwirkung der Landes-
vertretungen eine doppelte rechtliche Bedeutung; zunächſt die An-
erkennung, daß die Bundesverfaſſung den durch das Auguſtbünd-
niß begründeten Pflichten und Rechten entſpreche; „ſodann die
negative Funktion, diejenigen Beſtimmungen der Verfaſſung und
der Geſetze der Einzelſtaaten auf verfaſſungsmäßigem Wege außer
Wirkſamkeit zu ſetzen, welche den in Ausſicht genommenen unmit-
telbaren Wirkungen und Ermächtigungen des norddeutſchen Bundes
und ſeiner Verfaſſung im Wege ſtanden.“


Auch dieſe Auffaſſung iſt nicht zutreffend. Der erſte Punkt
iſt nicht nur unrichtig, ſondern auch unweſentlich. Die überwiegende
Mehrzahl der Landesvertretungen war nicht gehindert, die Bundes-
verfaſſung zu verwerfen, ſelbſt wenn ſie anerkannte, daß die Ver-
faſſung den Beſtimmungen des Auguſtbündniſſes entſpreche, indem
die Landtage ſich das Recht der Verwerfung ausdrücklich dadurch
vorbehalten hatten, daß ſie die Wahlen nur für einen „berathenden“
Reichstag genehmigten. Wofern man in der Genehmigung des
Wahlgeſetzes mit Hänel überhaupt eine Zuſtimmung der Landes-
vertretungen zu dem Auguſtbündniß erblicken will, iſt dieſe Zu-
ſtimmung jedenfalls nur mit dem Vorbehalt ertheilt worden, daß
über Annahme oder Verwerfung der Verfaſſung die Entſchließung
frei bleibe. Ebenſo wenig war aber ein Landtag gehindert, die
Bundesverfaſſung zu acceptiren, trotzdem ſie ſich ſeiner Anſicht nach
von den Beſtimmungen des Auguſtbündniſſes entfernte 1). Die Er-
klärung der Landtage ging auch gar nicht dahin, daß die Bundes-
verfaſſung der Prüfung unter dieſem Geſichtspunkte unterworfen
worden ſei; keines von allen Publikationspatenten enthält ein der-
artiges Urtheil.


Bei weitem beachtenswerther iſt der zweite, von Hänel betonte
[29]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
Geſichtspunkt. Darnach ſoll die Publikation der Verfaſſung in den
einzelnen Staaten eine lediglich negative Bedeutung haben,
nämlich die Aufhebung der entgegenſtehenden Beſtimmungen der
Landesgeſetze. In jedem Staate würde mithin dieſe Publikation
etwas Anderes bedeuten, da in jedem Staate ein anderer Inbegriff
von Rechtsſätzen aufgehoben wurde; nicht die Einführung der
Bundesverfaſſung, ſondern die Aufhebung eines Stückes der
Landesverfaſſung wäre der Sinn und Inhalt der Publikationsge-
ſetze. Damit hätte man aber Nichts erreicht, als in das Landes-
recht jedes einzelnen Staates ein ungeheures Loch geſchlagen, es
geradezu zerſtört; eine poſitive Schöpfung wäre nicht vollführt
worden. Es bleibt immer noch der Sprung über eine unüber-
brückte Kluft übrig. Wie gewann die Bundesverfaſſung eine poſi-
tive Grundlage der geſetzlichen Geltung? Die bloße Zerſtörung
des Landes-Verfaſſungsrechts aller einzelnen Staaten kann ihr die-
ſelbe doch nicht bieten.


Hänel a. a. O. antwortet hierauf, indem er die Gründung
des norddeutſchen Bundes darauf zurückführt, „daß diejenigen
Organe des Wollens und Handelns, welche die mit dem Reichstag
vereinbarte Bundesverfaſſung vorgeſehen hatte, in das
Leben treten mußten und der hiermit organiſirte Bund die
Bundesverfaſſung als ſeine oberſte rechtliche Willensbeſtimmung ſich
aneignen mußte.“ Dies iſt aber ein offenbarer Cirkel und ſchließ-
lich Nichts Anderes als eine ſchwach umhüllte generatio aequivoca.
Denn einerſeits ſoll die Bundesverfaſſung beſtimmen, welche „Organe
in das Leben treten müſſen“ und dann ſoll erſt wieder der „hier-
mit organiſirte“ Bund ſich die Bundesverfaſſung „aneignen.“


Das logiſche Verhältniß wird von Hänel geradezu umgekehrt.
Die Einführung der Norddeutſchen Verfaſſung hatte die Folge,
daß ſie in jedem einzelnen Deutſchen Staate das damit im Wider-
ſpruch ſtehende Landesrecht beſeitigte 1), aber die Aufhebung eines
noch ſo großen Beſtandtheiles des Landesrechts konnte niemals
[30]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
die Folge haben, daß nunmehr die Bundesverfaſſung Geltung
erlangte.


Die richtige Auffaſſung iſt wohl folgende: die Form des Ge-
ſetzes iſt bekanntlich im modernen Staatsrecht nicht blos dann an-
wendbar, wenn eine Rechtsregel in einem Staat ſanctionirt werden
ſoll, ſondern für jede Willenserklärung des Staates, für welche
die Uebereinſtimmung des Landesherrn und der Landesvertretung
erforderlich iſt. Das Wort Geſetz hat eine doppelte Bedeutung,
eine materielle und eine formelle. Das Geſetz im formellen Sinne
iſt eine Form der Willenserklärung des Staates, gleichviel worin
ihr Inhalt beſteht. Die Gründung des Norddeutſchen Bundes,
der gleichzeitige Eintritt der norddeutſchen Staaten in denſelben,
kann nicht als die Aufſtellung einer Rechtsregel oder eines Com-
plexes von Rechtsregeln angeſehen werden, ſondern als eine That,
als eine Rechtshandlung der norddeutſchen Staaten. Die
Staaten vollzogen als willens- und handlungsfähige Perſonen
durch Gründung des Norddeutſchen [Bundes] einen Willens-Ent-
ſchluß
. Die Art und Weiſe wie dieſer Entſchluß erklärt und
verwirklicht wurde, beſtand darin, daß jeder Staat in der Form
des Geſetzes
d. h. unter Conſtatirung der Uebereinſtimmung
der Krone und der Volksvertretung, ihn öffentlich bekundete und
dadurch zugleich ſeine Regierung ermächtigte und verpflichtete, alle
zur Ausführung dieſes Entſchluſſes erforderlichen Maßregeln zu
treffen.


Der Entſchluß in den Norddeutſchen Bund einzutreten, konnte
aber in keiner anderen Weiſe mit der erforderlichen Beſtimmtheit
ausgedrückt werden als durch Bezugnahme reſp. Mittheilung der
Verfaſſung deſſelben. In ihr allein war der präciſe Ausdruck
ſeines Zweckes, ſeines Mitgliederbeſtandes und Gebietsumfanges,
ſeiner Kompetenz, ſeiner Verfaſſungseinrichtungen u. ſ. w. gegeben.
Der Name Norddeutſcher Bund erhält nur durch die Bundesver-
faſſung einen concreten und feſt beſtimmten Inhalt. Sie mußte
daher mitpublicirt werden.


Die Klauſel: „Die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes tritt
in dem Gebiete des Staates X am 1. Juli 1867 in Kraft,“ welche
die Einführungspatente haben, iſt vollkommen identiſch mit dem
Satze:
[31]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
„Der Staat X tritt am 1. Juli 1867 in den Norddeutſchen
Bund ein.“


Denn die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes konnte in
einem Einzelſtaat gar nicht anders in Kraft treten, als durch
Gründung des Norddeutſchen Bundes, reſp. Eintreten in denſelben;
und kein Staat konnte anders in den Norddeutſchen Bund ein-
treten als dadurch, daß die Verfaſſung des letzteren in ſeinem Ge-
biete in Kraft trat.


Hieraus ergiebt ſich: Nicht die Norddeutſche Bundesverfaſſung
iſt ein übereinſtimmendes Landesgeſetz der Einzelſtaaten, nicht ihre
Sanction wird für jeden Staat beſonders von der Landesſtaats-
gewalt ertheilt, ſondern der Entſchluß des Staates, in den
durch dieſe Verfaſſung definirten Bund einzutreten, iſt in jedem
Einzelſtaat durch Landesgeſetz erklärt worden. Object der Publi-
kationsgeſetze vom Juni 1867 ſind nicht die Beſtimmungen der
Norddeutſchen Bundesverfaſſung an ſich, ſondern Object iſt die
Erklärung des Beitritts zu demjenigen Bunde, welcher in dieſer
Verfaſſung definirt iſt. Kein Staat war im Stande, dieſe Ver-
faſſung bei ſich als Landesgeſetz einzuführen, wol aber konnte jeder
Staat für ſeine (ideelle) Perſon in der Form des Geſetzes erklären,
daß er am 1. Juli 1867 an der Errichtung des Norddeutſchen
Bundes Theil nehmen werde. Nicht die zahlreichen Beſtimmungen
der Bundesverfaſſung ſind von jedem Einzelſtaat für ſein Gebiet
als Landesgeſetz eingeführt worden, ſondern die Publikationspatente
ſanctioniren nur einen einzigen Satz, der überall derſelbe iſt, und
der lautet: Der Staat X gehört vom 1. Juli 1867 an zum nord-
deutſchen Bunde.


Eben darum aber haben dieſe Publicationspatente keinen bloß
negativen Inhalt, wie Hänel annimmt, indem ſie das mit der
Norddeutſchen Bundesverfaſſung im Widerſpruch ſtehende Verfaſ-
ſungsrecht der Einzelſtaaten aufheben. Hänel will für den Nord-
deutſchen Bund erſt die Bahn frei machen, indem er die Hinder-
niſſe, welche die Landesverfaſſungen bieten, durch die Publikations-
geſetze beſeitigen und dann in den geſchaffenen freien Raum den
Norddeutſchen Bund eintreten läßt. Dies iſt undenkbar. Man
kann ſich keinen Staat auch nur während einer Secunde in einem
Zuſtande denken, in welchem ſein Verfaſſungsrecht in ſoweit auf-
gehoben iſt, als es mit der Bundesverfaſſung im Widerſpruch
[32]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
ſteht, und in welchem der Norddeutſche Bund doch noch nicht ins
Leben getreten iſt 1).


Der Eintritt in den Norddeutſchen Bund iſt das Frühere, iſt
Grund und Urſache, die Abänderung der damit unvereinbaren Be-
ſtimmungen der Landesverfaſſungen das Spätere, die Folge und
Wirkung. Die Publikationspatente haben überall einen poſitiven
und identiſchen Inhalt, die Erklärung des Beitritts zum Nord-
deutſchen Bunde, nicht einen negativen und in jedem Staate anderen
Inhalt, die Beſeitigung von Landesgeſetzen 2).


Die Publikationsgeſetze und die zu ihrer Durchführung er-
folgten Regierungshandlungen ſind die definitive und vollſtändige
Erfüllung des Auguſtbündniſſes. Sie ſtellen die Handlung dar,
zu welcher ſich die Staaten gegenſeitig verpflichtet hatten, nämlich
die Gründung des Bundes. Mit dieſer Gründung war das
Auguſtbündniß nach der ausdrücklichen Beſtimmung in Art. VI
deſſelben erloſchen. Am 1. Juli 1867 war der Norddeutſche Bund
errichtet, nicht früher und auch nicht ſpäter. Als am 14. Juli 1867
der König von Preußen den Grafen von Bismarck zum Bundes-
kanzler des Norddeutſchen Bundes ernannte, am 26. Juli 1867
die Einführung des Bundesgeſetzblattes anordnete und in der erſten
Nummer deſſelben die Verfaſſung deſſelben abdrucken ließ, war
der Norddeutſche Bund ſchon vorhanden und die Verfaſſung des-
ſelben bereits in Geltung. König Wilhelm handelte bereits auf
Grund derſelben Kraft der durch dieſe Verfaſſung ihm übertragenen
Rechte. Dieſe Publikation iſt keine Sanction der Verfaſſung;
das „Publikandum“ vom 26. Juli 1867, mit welchem das Bundes-
Geſetzblatt beginnt, enthält keine Clauſel, welche dieſer Verfaſſung
Geſetzeskraft beilegt, ſondern der König „thut kund und fügt
im Namen des Norddeutſchen Bundes zu wiſſen“, daß
[33]§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.
die Norddeutſche Bundesverfaſſung — folgt deren Wortlaut —
unter dem 25. Juni d. J. verkündet worden und am 1. Juli die
Geſetzeskraft erlangt hat.“ Indem der König dies „zur öffent-
lichen Kenntniß bringt,“ erklärt er zugleich, die durch die Verfaſ-
ſung ihm übertragenen Rechte, Befugniſſe und Pflichten zu über-
nehmen 1).


Der Vorgang der Gründung kann auch nicht Anders gedacht
werden. Der norddeutſche Bund konnte ohne eine beſtimmte Ver-
faſſung nicht zur Exiſtenz kommen und folglich konnte die Sanction
dieſer Verfaſſung nicht von ihm ausgehen. Das Problem, daß
ein erſt zu gründendes Staatsgebilde ſich ſelbſt die Bedingungen
ſeiner Entſtehung ſchafft, gleicht der Quadratur des Cirkels. Der
Bund wurde in das Leben gerufen von Staaten, die vor ihm da
waren und ſich zu dieſem Zwecke vereinigt hatten: ſie haben ihm
ſeine Verfaſſung gegeben; er hat gleich bei ſeiner Geburt ſeine
Konſtitution und Organiſation mit auf die Welt gebracht. Aber
ſie haben dieſe Verfaſſung ihm gegeben, nicht ſich ſelbſt; daraus
folgt, daß dieſe Gründung nicht unter den Geſichtspunkt des Lan-
desgeſetzes gebracht werden darf, ſondern als eine freie Willens-
that aller bei der Gründung betheiligter Staaten aufzufaſſen iſt.
Zur Vornahme derſelben war für den Souverain jedes Staates
die Zuſtimmung der Landesvertretung erforderlich, und aus dieſem
Grunde ergab ſich die Nothwendigkeit, daß der Willensentſchluß
des Staates in der Form des Geſetzes erklärt werden mußte 2).


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 3
[34]§. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den ſüdd. Staaten.

§ 3. Das Verhältniß des Norddeutſchen Bundes zu den
ſüddeutſchen Staaten.


Durch den Prager Frieden Art. IV hatte Preußen ſich
Oeſterreich gegenüber verpflichtet, das „engere Bundesverhältniß“
nach Süden hin nicht über die Linie des Mains auszudehnen;
den ſüddeutſchen Staaten ſollte vielmehr freiſtehen, in einen
Verein zuſammenzutreten, der mit dem norddeutſchen Bunde zwar
über eine „nationale Verbindung“ ſich ſollte „verſtändigen“ dür-
fen, aber „eine internationale, unabhängige Exiſtenz haben“ ſollte.


Zur Bildung des Südbundes kam es nicht und daher auch
nicht zur „näheren Verſtändigung“ des Südbundes und Nordbun-
des; wol aber gelang alsbald eine ſehr nahe Verſtändigung zwi-
ſchen dem Norddeutſchen Bunde und den einzelnen ſüddeutſchen
Staaten, welche ein ungleich feſteres Einheitsband um alle deut-
ſchen Staaten (mit Ausnahme Oeſterreichs) ſchlang als es jemals
zu den Zeiten des alten Deutſchen Bundes beſtanden hatte 1).
Da dieſe Zuſtände nur vorübergehende Bedeutung hatten, ſo ge-
nügt es, dieſelben ganz kurz zu ſcizziren.


2)


[35]§. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den ſüdd. Staaten.

Das Verhältniß des Norddeutſchen Bundes zu den vier ſüd-
deutſchen Staaten war, abgeſehen von der nationalen Baſis, ein
rein völkerrechtliches, vertragsmäßiges, und war begründet durch
folgende Verträge:


1) Gleichzeitig mit den Friedensverträgen wurden zwiſchen
Preußen und den ſüddeutſchen Staaten Schutz- und Trutz-
bündniſſe
geſchloſſen 1), durch welche ſich die Kontrahenten ge-
genſeitig die Integrität des Gebietes ihrer bezüglichen Länder
garantirten und ſich verpflichteten, im Falle eines Krieges ihre
volle Kriegsmacht zu dieſem Zwecke einander zur Verfügung zu
ſtellen. Für dieſen Fall wurde der Oberbefehl über die Truppen
der ſüddeutſchen Staaten dem Könige von Preußen übertragen.
Dadurch wurde der einzige Werth, welchen der ehemalige Bund
hatte, nämlich die Kollectivgarantie aller Deutſchen Staaten für
die Integrität des Bundesgebietes wieder hergeſtellt, zugleich aber
eine Einheitlichkeit des Oberbefehls über die Deutſche Armee für
den Kriegsfall begründet, wie ſie zu den Zeiten des Deutſchen
Bundes nicht einmal angeſtrebt werden konnte. Der franzöſiſche
Krieg brachte frühzeitig die Gelegenheit, um den hohen Werth
dieſer Feſtſetzungen zu erproben.


Um die Schutz- und Trutzbündniſſe wirkſam erfüllen zu kön-
nen, verabredeten die ſüddeutſchen Staaten auf einer in Stuttgart
abgehaltenen Conferenz am 5. Februar 1867 ihre Streitkräfte
den Prinzipien der Preußiſchen Wehrverfaſſung gemäß zu orga-
niſiren 2).


Zur Ergänzung des Zuſammenhanges des Defenſivſyſtems von
Süddeutſchland und dem des Norddeutſchen Bundes diente ferner
die Errichtung einer ſüddeutſchen Feſtungscommiſſion durch den
Münchener Vertrag vom 10. October 1868 und die Errichtung
3*
[36]§. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den ſüdd. Staaten.
einer gemeinſchaftlichen Inſpizirungscommiſſion für die Feſtungen
Ulm, Raſtatt, Landau und Mainz durch Protokoll vom 6. Juli
1869 1).


2) Nicht minder bedeutſam war der Zollvereins-Ver-
trag
vom 8. Juli 1867. Er erhielt nicht blos die Freiheit des
Waarenverkehrs und die Einheitlichkeit des Zollgebietes in Bezie-
hung auf Süddeutſchland in dem vor Ausbruch des Krieges vor-
handenen Umfange aufrecht, ſondern gab dem Vereine zum erſten
Male eine feſtere Organiſation und eine ſichere Gewähr der Dauer 2).
Die Verfaſſung des Zollvereins war der Verfaſſung des Nord-
deutſchen Bundes ſo völlig analog, daß ſie wie ein Schatten er-
ſcheint, den die Reichs verfaſſung vor ſich her warf.


3) Außerdem wurden die vor dem Kriege abgeſchloſſenen Ver-
träge und Uebereinkünfte, ſoweit ſie mit der neuen politiſchen
Geſtaltung Deutſchlands vereinbar waren, wieder in Kraft geſetzt 3)
und ergänzt durch den Vertrag über die Salzſteuer vom 8. Mai
1867, durch den Poſtvertrag vom 20. April 1868, durch Verträge
über die ſogenannte militäriſche Freizügigkeit und über die Ge-
währung der Rechtshülfe zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und
Baden u. ſ. w.


In der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes war überdies
der Eintritt ſüddeutſcher Staaten beſonders vorgeſehen, indem
Art. 79 Abſ. 2 beſtimmte:
Der Eintritt der ſüddeutſchen Staaten oder eines derſelben
in den Bund erfolgt auf den Vorſchlag des Bundes-Prä-
ſidiums im Wege der Bundesgeſetzgebung.


Einer der Abgeordneten, welche die Aufnahme dieſer Beſtim-
mung in die Verfaſſung beantragt haben, Lasker, erläuterte
dieſelbe durch die Erklärung 4): „Wir wollen durch unſer Amen-
dement ausdrücken, daß wir den Beitritt der ſüddeutſchen Staaten
nicht für eine Veränderung der Bundes-Idee halten, daß — — —
[37]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
alſo dieſer Beitritt nichts weiter iſt als eine innere Angelegenheit
welche geregelt wird nicht durch Aenderung der Verfaſſung, ſon-
dern durch Geſetze.“


Der Norddeutſche Bund war von Anfang an darauf ange-
legt, zum Deutſchen Reiche erweitert zu werden. Es hing ledig-
lich von den politiſchen Verhältniſſen Europa’s und den eigenen
Wünſchen der ſüddeutſchen Staaten und Bevölkerungen ab, wann
die Vollendung der ſtaatlichen Wiedergeburt Deutſchlands erfolgen
ſollte. Der glorreiche Krieg, welcher zur Abwehr des franzöſiſchen
Angriffs vom Norddeutſchen Bunde und den ſüddeutſchen Staaten
gemeinſchaftlich in treuer Erfüllung der Schutzbündniſſe geführt
wurde, beſeitigte nicht nur die Hinderniſſe, welche bis dahin dem
Beitritt der ſüddeutſchen Staaten entgegenſtanden, ſondern er
gab durch die Wiedererwerbung von Elſaß-Lothringen der politi-
ſchen Neugeſtaltung Deutſchlands einen Abſchluß, der die kühnſten
patriotiſchen Wünſche übertraf.


§ 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.


Ueber den äußeren Hergang der Verhandlungen, welche
zur Gründung des Deutſchen Reiches geführt haben, gab der
Präſident des Bundeskanzler-Amts, Staatsminiſter Delbrück
in der Sitzung des Norddeutſchen Reichstages vom 5. Dez. 1870
einen Bericht, der theils wegen ſeines offiziellen Charakters theils
wegen ſeiner Vollſtändigkeit und Klarheit in ſeinem eigentlich re-
ferirenden Theile hier wörtlich folgen mag:
„Die Initiative kam von Bayern. Die Königl. Baye-
riſche Regierung gab im Laufe des September dem Bundes-
präſidium zu erkennen, daß die Entwicklung der politiſchen
Verhältniſſe Deutſchlands, wie ſie durch die kriegeriſchen
Ereigniſſe herbeigeführt ſei, nach ihrer Ueberzeugung es
bedinge, von dem Boden der völkerrechtlichen Verträge,
welche bisher die ſüddeutſchen Staaten mit dem Norddeut-
ſchen Bunde verbanden, ab zu einem Verfaſſungsbündniſſe
überzugehen. Sie verband mit dieſer Mittheilung den
Ausdruck des Wunſches, mit einem Bevollmächtigten des
Präſidiums über die Vorſchläge in Beſprechung zu treten,
welche ſie zur Ausführung ihres Gedankens vorbereitet
hatte. Das Präſidium beeilte ſich, dieſem Wunſche zu ent-

[38]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
ſprechen, und es wurde mir der Befehl zu Theil, mich zu
dieſem Zwecke nach München zu begeben. Der Zweck war
nicht eine Verhandlung, ſondern eine Anhörung der Vor-
ſchläge, die von der Königl. Bayeriſchen Regierung vorbe-
reitet waren, eine Beſprechung dieſer Vorſchläge aus der
Kenntniß der Verhältniſſe heraus, die mir meiner Stellung
nach beiwohnte; die einzige Inſtruktion, welche ich erhielt,
war die, mich jeder Aeußerung zu enthalten, welche gedeu-
tet werden könnte, als ob das Präſidium im jetzigen Mo-
ment geſonnen ſei, auf die freien Entſchließungen eines
treuen und bewährten Alliirten auch nur den entfernteſten
Druck auszuüben. Die Beſprechungen in München fanden
ſtatt und wurden weſentlich gefördert dadurch, daß die
Königl. Württembergiſche Regierung durch eines ihrer Mit-
glieder an dieſen Beſprechungen theilnahm. Während das
Ergebniß dieſer Beſprechungen der Erwägung des Bundes-
Präſidiums unterlag, wurde von Stuttgart der Wunſch
ausgeſprochen, die in München eingeleiteten Beſprechungen
in Verſailles fortzuſetzen und zu ergänzen, namentlich nach
der militairiſchen Seite hin, indem der Königl. Württem-
bergiſche Vertreter in München nicht in der Lage geweſen
war, ſich über dieſen vorzugsweiſe wichtigen Theil der
Verfaſſung weiter, als in einigen allgemeinen Andeutungen
zu äußern. Gleichzeitig mit dieſer Anregung erfolgte der
offizielle Antrag Badens auf Eintritt in den Norddeutſchen
Bund.


Das Präſidium konnte nicht zögern, dieſen Anregungen
zu entſprechen, und ſowohl die Königl. Württembergiſche
als die Großherzogl. Badiſche Regierung zur Entſendung
von Bevollmächtigten nach Verſailles einzuladen. Es gab
gleichzeitig davon nach München Nachricht, indem es zur
Wahl ſtellte, entweder ebenfalls in Verſailles die Münche-
ner Beſprechungen fortzuſetzen, oder, wenn es vorgezogen
werden ſollte, das Ergebniß der Verhandlungen mit den
anderen dort vertretenen Deutſchen Staaten abzuwarten,
um ſodann die Verhandlungen in München wieder aufzu-
nehmen. Endlich erklärte auch die Großherzogl. Heſſiſche
Regierung ihren Entſchluß, mit dem ſüdlichen Theil ihres

[39]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
Gebietes in den Bund einzutreten, und ſo geſchah es, daß
in der zweiten Hälfte des Octobers Vertreter der ſämmt-
lichen ſüddeutſchen Staaten in Verſailles zuſammentraten,
um über die Gründung eines Deutſchen Bun-
des
zu verhandeln. Die Verhandlungen mit Württemberg,
mit Baden und mit Heſſen führten ſehr bald zu der Ueber-
zeugung, daß es ohne große Schwierigkeiten gelingen werde,
auf Grundlage der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes
zu einer Verſtändigung zu gelangen; die Verhandlungen
mit Bayern boten Anfangs größere Schwierigkeiten und
es war auf den eigenen Wunſch des Königl. Bayeriſchen
Bevollmächtigten, daß zunächſt die Verhandlungen mit den
drei anderen ſüddeutſchen Staaten fortgeſetzt wurden. Die
Königlich Bayeriſchen Bevollmächtigten fühlten das Bedürf-
niß, nicht ihrerſeits durch die ſich darbietenden Schwierig-
keiten den Abſchluß mit den anderen Staaten zu verzögern.
So kam es, daß gegen Mitte des November die Verſtän-
digung mit den drei anderen ſüddeutſchen Staaten zum
Abſchluß gekommen war. Ein unvorhergeſehener Zufall
verhinderte es, daß gleich am 15. November Württemberg
an der mit ihm bereits in allen Hauptpunkten feſtgeſetzten
Verſtändigung theilnahm. Es wurde deshalb zunächſt mit
Baden und mit Heſſen abgeſchloſſen. Während dem wur-
den die Verhandlungen mit Bayern wieder aufgenommen
oder fortgeſetzt; ſie führten raſcher, als es Anfangs er-
wartet werden durfte, zum Abſchluß, der in dem Vertrage
vom 23. November vorliegt. Am 25. November erfolgte
alsdann auf Grund der in Verſailles bereits feſtgeſtellten
Verſtändigung der Abſchluß mit Württemberg.“ — —


Die Reſultate der hier erwähnten Verhandlungen ſind nieder-
gelegt in folgenden Urkunden:


I.Vertrag zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde,
Baden und Heſſen
, geſchloſſen zu Verſailles, den 15. No-
vember 1870
1).


Dieſem Vertrage iſt beigegeben eine „Verfaſſung des Deut-
[40]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
ſchen Bundes“ 1), welche eine Redaction der Verfaſſung des Nord-
deutſchen Bundes mit einer Reihe von Abänderungen iſt, die theils
durch die Aufnahme Badens und Südheſſens von ſelbſt erforder-
lich waren, theils auf den in Verſailles gepflogenen Verhandlungen
beruhten. Der Vertrag ſelbſt enthält die Feſtſetzung, daß dieſe
Verfaſſung am 1. Januar 1871 in Wirkſamkeit treten ſoll und
daß der Vertrag nach erlangter Zuſtimmung der geſetzgebenden
Faktoren des Norddeutſchen Bundes, Badens und Heſſens im
Laufe des Monats Dezember ratifizirt werden ſoll.


Es iſt jedoch die Einſchränkung hinzugefügt worden, daß die
Gemeinſchaft der Ausgaben für das Landheer für Baden und
Heſſen und die Beſtimmungen der Art. 49—52 über die Poſten
und Telegraphen für Baden erſt mit dem 1. Januar 1872 in
Wirkſamkeit treten ſollen. Im Uebrigen wurden noch unter 9
Nummern beſondere Erklärungen über die Anwendung oder Aus-
legung einzelner Verfaſſungs-Artikel vereinbart.


II. Zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde, Baden und Heſſen
einerſeits und Württemberg andererſeits wurden abgeſchloſſen:


1. Der Vertrag von Berlin vom 25. Nov. 18702).
Derſelbe enthält im Art. 1 die Beſtimmung, daß Württemberg
dem Vertrage von Verſailles vom 15. November dergeſtalt bei-
tritt, daß alle in der dort vereinbarten Verfaſſung enthaltenen
Beſtimmungen auf Württemberg volle Anwendung finden. Art. 2
enthält einige auf Württemberg bezügliche Sonderbeſtimmungen.
Art. 3 betrifft die einzuholende Genehmigung der Volksvertretun-
gen und die Auswechſelung der Ratifikationen.


2. Das Schlußprotokoll von Berlin vom 25. Novem-
ber 1870 3) enthält die Ausdehnung der Mehrzahl der im Ver-
ſailler Protokoll niedergelegten Erklärungen auch auf Württemberg
und 2 Beſtimmungen, welche den Eiſenbahntarif und die Vorrechte
der Poſt betreffen.


3. Die Militair-Konvention zwiſchen dem Norddeutſchen
Bunde und Württemberg von den Nov. 1870 4).


[41]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.

III. Zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Bayern
wurden feſtgeſtellt:


1. Der Vertrag von Verſailles vom 23. Novem-
ber 1870
1). Derſelbe enthält 6 Artikel folgenden Inhalts:


  • a) Art. I. beſtimmt: die Staaten des Norddeutſchen
    Bundes und das Königreich Bayern ſchließen einen
    ewigen Bund
    , welchem Baden und Heſſen ſchon beigetreten
    ſind und zu welchem der Beitritt Württemberg’s in Ausſicht ſteht 2).
    Dieſer Bund heißt der Deutſche Bund.
  • b) Art. II enthält die Verfaſſung dieſes Bundes.
    Es iſt die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes mit einer erheb-
    lichen Anzahl von Abänderungen.
  • c) Art. III führt eine Anzahl von Sonderbeſtimmungen
    auf, welche ſich auf Bayern beziehen und die Anwendung der
    vereinbarten Verfaſſung auf dieſes Königreich beſchränken.
  • d) Art. IV enthält eine Uebergangsbeſtimmung über den
    Zeitpunkt, in welchem die Gemeinſchaft der Militair-Ausgaben
    und der Zölle und Verbrauchsſteuern beginnen ſoll.
  • e) Art. V reproduzirt eine, auch in dem Badiſch-Heſſiſchen
    Vertrage ſich findende Erklärung, daß Sonderrechte nur mit Zu-
    ſtimmung des berechtigten Bundesſtaates abgeändert werden können
    und ſichert insbeſondere die Anwendung dieſes Grundſatzes auf
    die im Art. III enthaltenen Beſtimmungen.
  • f) Art. VI ſetzt feſt, daß der Vertrag am 1. Januar 1871
    in Wirkſamkeit treten und nach eingeholter Genehmigung der
    Volksvertretungen im Laufe des Monats Dezember ratifizirt wer-
    den ſoll.

2. Das Schlußprotokoll von Verſailles vom
23. November 1870
3). Daſſelbe enthält eine Anzahl von
Erläuterungen, Beſchränkungen, Ergänzungen, welche ſich theils
auf die Bundesverfaſſung überhaupt theils auf deren Anwendung
auf Bayern beziehen. Art. 16 legt den Beſtimmungen dieſes
Protokolls dieſelbe verbindliche Kraft bei wie dem Vertrage vom
gleichen Datum.


[42]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.

Hinſichtlich des Verhältniſſes, in welchem dieſe verſchiedenen,
mit den ſüddeutſchen Staaten abgeſchloſſenen Verträge zu einander
ſtehen, iſt ein Umſtand von erheblicher Bedeutung, welchen Staats-
miniſter Delbrück in der oben in Bezug genommenen Rede in
folgender Weiſe angegeben hat:
„Als mit Württemberg, Baden und Heſſen verhandelt
wurde, waren die Wünſche Bayern’s bekannt. Es fand
von Seiten des Präſidiums keinen Anſtand, einer Zahl
dieſer Wünſche ſofort zu entſprechen. Es wurde davon,
wie es nicht anders ſein konnte, den übrigen verhandeln-
den Staaten Mittheilung gemacht; ſie eigneten ſich die
Bayeriſchen Amendements an, und ſo ſind in … die An-
lage des Protokolls vom 15. November eine Anzahl Be-
ſtimmungen aufgenommen, welche eigentlich, wenn ich ſo
ſagen darf, Bayeriſchen Urſprungs ſind, welche der Initia-
tive Bayerns ihren Urſprung verdankten.“


Aus dieſer Thatſache erklärt ſich, daß Baden und Heſſen
nicht einfach die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes mit den
in Folge ihres Beitritts ſelbſtverſtändlichen formellen Abänderun-
gen annahmen, ſondern daß dem Vertrage vom 15. Nov. 1870
eine Verfaſſung beigelegt wurde, welche von der des Norddeutſchen
Bundes mehrfach und zwar in der Tendenz abweicht, um den
von Bayern erhobenen Wünſchen zu genügen, obwohl die Zuge-
hörigkeit Bayerns zum Bunde in dieſer Verfaſſungsredaction ſelbſt
nicht vorausgeſetzt iſt.


IV. Endlich iſt am 8. Dezember 1870 noch ein Vertrag
zu Berlin
unterzeichnet worden, in welchem Württemberg, Baden
und Heſſen dem zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Bayern
geſchloſſenen Vertrage, und Bayern, ſoweit dies noch erforderlich
war, den zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Baden, Heſſen
und Württemberg abgeſchloſſenen Verträgen, nebſt Anlagen, Pro-
tokollen und Militair-Konvention zuſtimmten.


V. In formeller Beziehung erfuhr die unter den deutſchen
Staaten vereinbarte Verfaſſung dadurch eine wichtige Veränderung,
daß auf Anregung des Königs von Bayern einſtimmig vereinbart
wurde, daß der deutſche Bund den Namen „Deutſches Reich“ er-
halte und daß die Ausübung der Präſidialrechte des Bundes mit
[43]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
Führung des Titels eines Deutſchen Kaiſers verbunden
werde 1).


Es erhebt ſich nun die Frage nach der juriſtiſchen Bedeu-
tung und Wirkung
dieſer Vorgänge. Die Beantwortung
derſelben iſt durch die Ausführungen über die Gründung des
Norddeutſchen Bundes im Weſentlichen vorbereitet und erleichtert.


Die Verſailler November-Verträge finden ihre
Analogie in dem Berliner Auguſtbündniß von 1866
.
Sie ſind durchaus völkerrechtlicher Natur; ſie begründen ver-
tragsmäßige
Rechte und Pflichten. Der Inhalt derſelben
beſteht für den Norddeutſchen Bund in der Pflicht — und dem
dieſer Pflicht correſpondirenden Rechte — am 1. Januar 1871
die ſüddeutſchen Staaten unter den mit denſelben vereinbarten
Bedingungen in den Bund aufzunehmen, für jeden der Süddeut-
ſchen Staaten in der Pflicht — und dem dieſer Pflicht correſpon-
direnden Rechte — am 1. Januar 1871 dem Bunde beizutreten.
Verſchieden von den Auguſt-Verträgen von 1866 ſind die No-
vember-Verträge von 1870 nur in folgenden Beziehungen:


1) Während die Contrahenten der Auguſtbündniſſe lauter
von einander völlig unabhängige Staaten waren, welche über-
einkamen, unter ſich einen Bund zu errichten, wurden die No-
vember-Verträge geſchloſſen auf der einen Seite von dem Nord-
deutſchen Bunde
als Einheit und auf der anderen Seite von
den einzelnen ſüddeutſchen Staaten. Der unter den Norddeutſchen
Staaten bereits beſtehende Bund wird nicht beendigt und aufgelöſt,
um durch einen neuen Bund erſetzt zu werden, ſondern er wird
erweitert und modifizirt. Während zwiſchen dem alten
deutſchen Bunde und dem Norddeutſchen Bunde keine
Rechtscontinuität beſteht, iſt dieſelbe zwiſchen dem
Norddeutſchen Bunde und dem Reiche gewahrt
2).
Die Reichsgründung war keine Neuſchöpfung ſondern eine Reform
des Norddeutſchen Bundes, eine in der Verfaſſung des letzteren
ſelbſt vorgeſehene Erweiterung und Umbildung deſſelben. Im
Württemberger Vertrage heißt es ausdrücklich, daß die Contra-
[44]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
henten, von dem Wunſche geleitet, die Geltung der vereinbarten
Verfaſſung auf Württemberg „auszudehnen,“ verabreden, daß
Württemberg dieſer Verfaſſung „beitritt;“ und wenn auch der
Badiſch-Heſſiſche und der Bayriſche Vertrag von der „Gründung
eines deutſchen Bundes“ reden, ſo iſt doch nirgends angedeutet,
daß dieſer Gründung die Auflöſung des Norddeutſchen Bundes
vorhergehen ſolle, daß dieſelbe überhaupt etwas Anderes ſei als
die Ausdehnung, Erweiterung und Modification des Norddeutſchen
Bundes, der natürlich formell in ſeiner alten Geſtalt nicht
mehr fortdauern kann, neben der neuen größeren Geſtalt, zu der
er ſich fort entwickeln ſollte.


2) Die Auguſtbündniſſe verabredeten nicht eine beſtimmte
Verfaſſung, welche der Norddeutſche Bund haben ſollte, ſondern
zunächſt einen Modus, wie eine Verfaſſung für denſelben verein-
bart werden ſollte. Die November-Verträge bedurften dieſes
Vorſpiels nicht; die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes war
die von ſelbſt gegebene Grundlage auch für die Einrichtungen des
erweiterten Bundes. Man konnte daher ſofort die Verfaſſung
des letzteren entwerfen. Daraus ergiebt ſich folgender Satz: Das
Rechtsverhältniß zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und den
ſüddeutſchen Staaten war nach Abſchluß der November-Verträge
ganz analog dem Rechtsverhältniſſe, welches unter den norddeut-
ſchen Staaten ſeit dem 16. April 1867, d. h. ſeit Vereinbarung
des Verfaſſungs-Entwurfs unter den norddeutſchen Regierungen
nach Schluß der Berathungen des Reichstages, aber vor dem
1. Juli 1867 beſtand. Die Anlage zum Baden-Heſſiſchen Ver-
trage (nebſt den mit Württemberg vereinbarten Modificationen)
war ein Verfaſſungs-Entwurf, für den Fall, daß Bayern
dem Bunde nicht beitreten ſollte; der Art. II des Bayeriſchen
Vertrages war ein Verfaſſungs-Entwurf für den entgegen-
geſetzten Fall. Der Deutſche Bund ſelbſt war durch dieſe Ver-
träge und Verfaſſungsentwürfe noch nicht exiſtent geworden, ſon-
dern es war nur eine vollſtändige Willensübereinſtimmung erzielt
worden, wie dieſer Bund beſchaffen ſein ſollte. Das deutſche
Reich iſt nicht am 15/23. November 1870 gegründet worden mit
einem dies a quo (1. Januar 1871), ſondern es iſt am 15/23.
November 1870 vertragsmäßig ſtipulirt worden, daß am 1. Ja-
[45]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
nuar 1871 das deutſche Reich gegründet werden ſollte, daß an
dieſem Tage die Verfaſſung deſſelben in Kraft treten ſollte.


3) Die Genehmigung der Volksvertretungen des Norddeut-
ſchen Bundes und der 4 ſüddeutſchen Staaten beziehen ſich auf
dieſe „Gründung“ d. h. im Norddeutſchen Bunde auf die Erwei-
terung deſſelben durch Aufnahme der ſüddeutſchen Staaten, in den
ſüddeutſchen Staaten auf deren Eintritt in den Bund. Die Reichs-
verfaſſung iſt in den ſüddeutſchen Staaten nicht als „Landesgeſetz“
eingeführt worden; es wäre dies eben ſo unmöglich geweſen, wie
die Einführung der Norddeutſchen Bundesverfaſſung als Landes-
geſetze der Norddeutſchen Staaten 1). Der Eintritt der Süddeut-
ſchen Staaten in den Bund hat zwar eine höchſt eingreifende Ver-
änderung ihres Landesrechtes bewirkt und zur Folge gehabt, aber
nur dieſer Eintritt ſelbſt iſt ein Willensakt der ſüddeutſchen Staa-
ten geweſen, die Einrichtungen des Bundes ſind nicht Objecte der
Staatsgewalt und mithin auch nicht der Geſetzgebung der ſüddeut-
ſchen Staaten.


Auch formell war in den Süddeutſchen Staaten der Vorgang
dieſem Sachverhalt entſprechend, indem nicht die Bundesverfaſſung
als ſolche geſetzlich ſanctionirt wurde, ſondern die „Verträge“ un-
ter Conſtatirung der ihnen zu Theil gewordenen landſtändiſchen
Genehmigung und der erfolgten Ratifizirung verkündet wurden 2).


Dagegen hat die Zuſtimmung des Norddeutſchen Reichstages
eine etwas abweichende Bedeutung. Auch hier war ſie „Geneh-
migung der Verträge“ 3) und damit ſtaatsrechtliche Ermächtigung
der Bundesregierung, die zur Ausführung der Verträge erforder-
lichen Handlungen vorzunehmen. Aber zugleich gehörte zur Aus-
führung dieſer Verträge eine Veränderung der bisher geltenden
Bundesverfaſſung, und zwar nicht nur redactionell durch
[46]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
Erwähnung der neu aufgenommenen Staaten bei der Beſtimmung
des Bundesgebiets, der Stimmen im Bundesrath, der Reichstags-
Abgeordneten, und nicht nur ergänzend durch Aufnahme
der auf die neu aufgenommenen Staaten bezüglichen Sonderbe-
ſtimmungen hinſichtlich der Bier- und Branntweinſteuer, der Poſt-
und Telegraphen-Verwaltung, des Militairweſens u. ſ. w.; ſon-
dern es ſollte zugleich die Rechtsordnung, welche für die Mitglie-
der des Norddeutſchen Bundes galt, erheblich verändert werden,
z. B. durch Erweiterung der Bundeskompetenz auf Vereins- und
Preßweſen, durch Erſchwerung der Erforderniſſe für Verfaſſungs-
änderungen u. ſ. w. Die Abänderung der beſtehenden Bundes-
verfaſſung war die Bedingung der Erweiterung des Bundes. Die
Genehmigung der November-Verträge Seitens des Reichstages
des Norddeutſchen Bundes und Seitens des Bundesrathes deſſelben
war daher zugleich Zuſtimmung zu einer Aenderung der Ver-
faſſung, welche für dieſen Fall nach der beſonderen Beſtimmung
des Art. 79 der Verf. im Wege der einfachen Geſetzgebung er-
folgen konnte 1). Formell wurde aber auch im Norddeutſchen
Bunde derſelbe Weg beſchritten, wie in den Süddeutſchen Staaten.
Das zu Berlin am 31. Dez. 1870 ausgegebene Bundesgeſetzblatt
enthält lediglich die Verträge mit Baden-Heſſen und Württemberg
und die „Verfaſſung des Deutſchen Bundes“ nur als Beilage des
erſteren; das Bundesgeſetzblatt vom 31. Januar 1871 enthält in
derſelben Art den Bayriſchen Bündniß-Vertrag. Eine Umgeſtal-
tung der bisherigen Norddeutſchen Bundes-Verfaſſung zur neu
vereinbarten Reichsverfaſſung in der Form des Geſetzes
fehlte noch. Es war hier einmal das Gegenſtück gegeben zu dem
häufiger vorkommenden Falle, daß die Form des Geſetzes Anwen-
dung findet, wenn es ſich nicht um Acte der Geſetzgebung im ma-
teriellen Sinne handelt; die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes
war materiell abgeändert und die Zuſtimmung der dazu befugten
Bundesorgane war materiell ertheilt worden, aber die Form des
[47]§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.
Geſetzes hatte nicht Anwendung gefunden. Die Nachholung dieſer
Form war dem Reiche ſelbſt nach ſeiner definitiven Gründung
vorbehalten.


Die Gründung deſſelben erfolgte am 1. Januar 1871 und
zwar auch in Beziehung auf Bayern; denn obgleich die Bayriſche
Landesvertretung erſt am 21. Januar 1871 den Vertrag geneh-
migte und die Ratificationen deſſelben erſt am 29. Januar 1871
ausgetauſcht wurden, ſo enthält doch der Vertrag ſelbſt die Be-
ſtimmung, daß er am 1. Januar 1871 in Wirkſamkeit treten ſoll
und dieſe Beſtimmung wurde mit genehmigt 1). Die Verzögerung
der Genehmigung des Bayriſchen Landtages ſuspendirte nicht
die rechtzeitige Erfüllung des Vertrages, ſondern die Verſagung
der Genehmigung hätte ſie reſolvirt, die Erfüllung erfolgte
unter der ſelbſtverſtändlichen Vorausſetzung (iuris conditio) der
nachfolgenden Ratihabirung Seitens des bayriſchen Landtages.
Am 1. Januar 1871 iſt die in den November-Verträgen feſtge-
ſtellte Verfaſſung in geſetzliche Geltung getreten. Die Gründung
des Deutſchen Reiches ſtellt ſich — wie die Errichtung des Nord-
deutſchen Bundes — als eine Handlung dar, welche der Nord-
deutſche Bund, Heſſen, Baden, Württemberg und Bayern am
1. Januar 1871 vollzogen und durch welche ſie die November-
Verträge erfüllten. Am 18. Januar 1871 erließ der König
von Preußen vom Hauptquartier Verſailles aus eine Proklamation
an das deutſche Volk, worin er die Annahme des kaiſerlichen Ti-
tels bekannt machte.


Das rechtliche Intereſſe, welches Oeſterreich an der Vereini-
gung der ſüddeutſchen Staaten mit dem Norddeutſchen Bunde
wegen des Artikels 4 des Prager Friedens hatte, wurde auf
diplomatiſchem Wege gewahrt und erledigt, indem der Kanzler
des Norddeutſchen Bundes der kaiſ. Oeſterreichiſchen Regierung
am 14. Dezember 1870 formelle Anzeige machte und darauf
Oeſterreich durch eine Note vom 26. Dezember 1870 der Errich-
tung des Deutſchen Reiches ausdrücklich zuſtimmte und das Reich
formell anerkannte.


[48]§. 5. Die Redaction der Reichsverfaſſung.

§ 5. Die Redaktion der Reichsverfaſſung.


Das neugegründete Reich unterzog ſich alsbald der Aufgabe,
ſeine Verfaſſung ordnungsmäßig zu redigiren. Die Publikation
der Verträge enthielt zwei von einander ſehr abweichende Redac-
tionen, die eine, wie ſie im Badiſch-Heſſiſchen, die andere, wie
ſie im Bayeriſchen Vertrage vereinbart war, und überdies die im
Württembergiſchen Vertrage ſtipulirten Veränderungen und Vor-
behalte. Die Ausdrucksweiſe ließ die Conſequenz vermiſſen, indem
die Bezeichnungen Kaiſer und Reich zunächſt nur an zwei Stellen
vorläufig Aufnahme gefunden hatten. Es kam das ſchon vorhin
berührte Moment hinzu, daß formell der Reichstag nur einen
Vertrag über die Abänderung der Norddeutſchen Verfaſſung ge-
nehmigt hatte, die Abänderung ſelbſt aber nicht direct, ſondern
nur in dieſer Vertrags-Genehmigung ausgeſprochen war.


Dem erſten Reichstage wurde deshalb der Entwurf einer
Reichsverfaſſung vorgelegt; derſelbe wurde am 14. April 1871
von dem Reichstage genehmigt und am 16. April 1871 als Reichs-
geſetz verkündigt.


Das Reichsgeſetz vom 16. April enthält zwei von ein-
ander ſcharf getrennte Beſtandtheile, die Redaction der Verfaſſung
ſelbſt und das Publikationsgeſetz.


I.Die Verfaſſungs-Urkunde.


Dieſelbe ſchließt ſich an die im Bayeriſchen Vertrage
vereinbarte Faſſung an, modifizirt dieſelbe aber in folgenden
Punkten:


1) Die im Verſailler Schlußprotokoll unter Nr. XV vorſorg-
licher Weiſe getroffene Beſtimmung, daß, wenn ſich ergeben ſollte,
daß in Folge des mangelhaft (in Verſailles) vorliegenden Mate-
rials bei Aufführung des Wortlautes der Bundesverfaſſung ein
Irrthum unterlaufen iſt, die contrahirenden Theile ſich deſſen Be-
richtigung vorbehalten, iſt erledigt worden durch correcte Feſtſtel-
lung des Wortlautes.


2) Die im Art. 2 des Vertrages mit Württemberg die-
ſem Staate zugeſicherten Sonderrechte und die im Art. III des
Bayeriſchen Vertrages vereinbarten Beſchränkungen der An-
wendbarkeit der Verfaſſung auf Bayern ſind in den Text der
Verfaſſung ſelbſt aufgenommen worden. Dabei iſt eine Incon-
[49]§. 5. Die Redaktion der Reichsverfaſſung.
gruenz zwiſchen dem Württembergiſchen und Bayeriſchen Vertrage
betreffend das Recht zum Abſchluß von Poſtverträgen mit außer-
deutſchen Nachbarſtaaten im Art. 52 Abſ. 3 ausgeglichen worden;
nur der Württembergiſche Vertrag erwähnte dieſes Recht, der
Bayeriſche nicht; in der Reichsverfaſiung iſt es beiden Staaten
gleichmäßig zugeſtanden.


3) Die in dem Baden-Heſſiſchen Schlußprotokoll und in dem
Bayeriſchen Vertrage unter Nr. V enthaltene Erklärung, daß be-
ſtimmte Rechte einzelner Bundesſtaaten nur mit Zuſtimmung der
letzteren abgeändert werden können, iſt in die Verfaſſung ſelbſt
als Art. 78 Abſ. 2 aufgenommen worden.


4) Die Uebergangsbeſtimmungen über die Termine, an denen
Norddeutſche Bundesgeſetze in den ſüddeutſchen Staaten in Kraft
treten ſollten, welche als Art. 80 der Norddeutſchen Bundesverfaſ-
ſung angehängt worden waren, ſind aus der Reichsverfaſſung weg-
gelaſſen und in das Publikationsgeſetz aufgenommen worden.


5) Endlich enthält die Reichsverfaſſung eine materielle
Abänderung der vereinbarten Verfaſſung, indem der durch den
Bayriſchen Vertrag Art. II. § 6 geſchaffene Ausſchuß des Bundes-
rathes für die auswärtigen Angelegenheiten, außer den Bevoll-
mächtigten von Bayern, Sachſen und Württemberg, aus zwei vom
Bundesrath alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten anderer
Bundesſtaaten beſtehen ſoll.


II.Das Publikations-Geſetz.


1) Daſſelbe verfügt in § 1, daß die beigefügte Verfaſſungs-
urkunde für das Deutſche Reich an die Stelle der zwiſchen
dem Norddeutſchen Bunde und den Großherzogthümern Baden und
Heſſen vereinbarten Verfaſſung des Deutſchen Bundes, ſowie der
mit den Königreichen Bayern und Württemberg über den Beitritt
zu dieſer Verfaſſung geſchloſſenen Verträge vom 23. u. 25. No-
vember 1870 tritt.


Damit ſind dieſe Verträge als ſolche nicht aufgehoben oder
modifizirt 1); dieſelben bilden für alle Ewigkeit die völkerrechtliche
Grundlage, auf welcher die Gründung des Reiches erfolgt iſt.
Der Eingang der Reichsverfaſſung leiſtet vielmehr ausdrückliches
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 4
[50]§. 5. Die Redaction der Reichsverfaſſung.
Zeugniß für dieſe hiſtoriſche völkerrechtliche Grundlage der Reichs-
gründung durch Bezugnahme auf den Vertrag, den der Nord-
deutſche Bund mit den ſüddeutſchen Staaten geſchloſſen. Ebenſo
wenig wird das durch dieſe Verträge begründete Rechtsver-
hältniß
durch das Publikationsgeſetz tangirt, daſſelbe war
vielmehr ſchon am 1. Januar 1871 erloſchen durch vollſtändige
gegenſeitige Erfüllung. Schon am 1. Januar 1871 trat an die
Stelle des Vertrages die Verfaſſung und zwar diejenige Verfaſ-
ſung, welche in den Novemberverträgen vereinbart worden war.
Dagegen wird durch das Publikations-Geſetz die formelle Gel-
tung dieſer, am 1. Januar 1871 auf Grund der No-
vember-Verträge in Kraft getretenen Bundesver-
faſſung
beſeitigt und — bei materieller Aufrechterhaltung ihres
Inhalts — durch die formelle Geltung der Reichsverfaſſung
vom 16. April 1871 erſetzt.


Da das Bundesgeſetzblatt (Nr. 16), welches das Publikations-
geſetz enthält, zu Berlin den 20. April 1871 ausgegeben worden
iſt, ſo iſt nach Art 2 dieſe Ablöſung der alten (November-) Re-
daction durch die neue Redaction im ganzen Reiche am 4. Mai
1871 erfolgt.


Das Inkrafttreten dieſer Verfaſſungs-Redaktion iſt nicht
mehr als Vertrags-Erfüllung anzuſehen und beruht nicht auf den
vertragsmäßigen Vereinbarungen, ſondern es beruht auf der ge-
ſetzgebenden Gewalt des Reiches, wie dieſelbe durch die Verfaſſung
vom 1. Januar 1871 begründet worden war, Das Publikations-
Geſetz hat die gewöhnliche Eingangsformel der Reichsgeſetze: „Wir
Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutſcher Kaiſer, König von Preu-
ßen ꝛc. verordnen hiermit im Namen des Deutſchen Reiches,
nach erfolgter Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichs-
tages.“


2) Die im Art. 80 der in den November-Verträgen verein-
barten Verfaſſung enthaltenen Uebergangsbeſtimmungen über die
Einführung der im Norddeutſchen Bunde ergangenen Geſetze in
den ſüddeutſchen Staaten ſind durch § 2 des Publikations-Geſetzes
in Kraft erhalten worden. Es wird zugleich beigefügt: „Die dort
bezeichneten Geſetze ſind Reichsgeſetze.“ Es wird dadurch der
Rechtsgrund ihrer Geltung angegeben; ſie gelten nicht als gleich-
lautende Landesgeſetze, über deren Einführung die Deutſchen
[51]§. 5. Die Redaction der Reichsverfaſſung.
Staaten ſich verſtändigt haben, wie ehemals zur Zeit des früheren
Bundes über Wechſel-Ordnung und Handelsgeſetzbuch, ſondern
ſie gelten, weil das Reich ſie erlaſſen hat. Daſſelbe gilt auch
für das Königreich Bayern, in welchem durch das Reichsgeſetz vom
22. April 1871 (B.-G.-Bl. S. 87) zahlreiche Norddeutſche Bun-
desgeſetze „als Reichsgeſetze“ eingeführt worden ſind.


3) Endlich beſtimmt § 3: „Die Vereinbarungen in dem zu
Verſailles am 15. November 1870 aufgenommenen Protokoll, in
der Verhandlung zu Berlin vom 25. November 1870, dem Schluß-
protokoll vom 23. November 1870, ſowie unter IV des Vertrages
mit Bayern vom 23. November 1870 werden durch dieſes
Geſetz nicht berührt
.“ Als Grund, warum dieſe Beſtim-
mungen nicht in die Verfaſſung ſelbſt aufgenommen worden ſind,
wird in den Motiven 1) angegeben: „ihr theils vorübergehender,
theils erläuternder, theils adminiſtrativer Charakter;“ hinzugefügt
wird: „Ihre fortdauernde Geltung iſt durch § 3 des Einf. Geſ.
außer Zweifel geſtellt.“


Der § 3 verhält ſich aber dieſen Beſtimmungen gegenüber
ganz negativ; er conſtatirt nur, daß das Publikationsgeſetz der
Reichsverfaſſung „ſie nicht berührt;“ er ſtattet weder die Geltung
der Beſtimmungen mit einem neuen Rechtsgrunde, dem der ge-
ſetzlichen Sanctionirung aus, noch verändert er den urſprünglichen
Charakter ihrer Feſtſtellung 2). Soweit die Beſtimmungen der
Schlußprotokolle ꝛc. aus ſachlichen oder rechtlichen Gründen un-
wirkſam geworden oder ihre Kraft verloren haben, werden ſie
durch § 3 des Einf. Geſetzes nicht geſtützt und aufrecht erhalten
oder gar wieder hergeſtellt.


III. Das in der beſchriebenen Art zum formellen Abſchluſſe
gelangte Verfaſſungswerk des Deutſchen Reiches hat nachträglich
folgende Abänderungen erfahren:


  • Art. 28 Abſ. 2 wurde aufgehoben durch Geſ. v. 24. Febr.
    1873 (R.-G.-Bl. S. 45)
  • Art. 4 Nr. 9 erhielt einen Zuſatz durch Geſ. v. 3. März
    1873 (R.-G.-Bl. S. 47)

4*
[52]§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.
  • Art. 4 Nr. 13 wurde abgeändert durch Geſ. v. 20. Dezember
    1873 (R.-G.-Bl. S. 379)

abgeſehen von der Erweiterung des Reichsgebietes durch die Er-
werbung von Elſaß-Lothringen, welche noch einer beſonderen Er-
örterung bedarf.


§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.


I. Der völkerrechtliche Titel für die Zugehörigkeit
Elſaß-Lothringens zum Reiche iſt der Präliminar-Friedens-
Vertrag
von Verſailles vom 26. Febr 1871 1). Derſelbe iſt ab-
geſchloſſen zwiſchen dem Deutſchen Reich und Frankreich. Die
Miniſter der drei ſüddeutſchen Staaten, welche neben dem Reichs-
kanzler an dem Abſchluß des Vertrages Theil nahmen, werden
ſo wie der letztere durch den Zuſatz: représentant l’Empire ger-
manique
charakteriſirt. Die einzelnen Deutſchen Staaten hatten
durch die Reichsgründung, alſo ſeit dem 1. Januar 1871 die
Fähigkeit, Friedensverträge zu ſchließen, an das Reich abgegeben 2).
Im Artikel I verzichtet Frankreich auf die daſelbſt angeführten
Gebiete „zu Gunſten des Deutſchen Reichs (en faveur de l’Em-
pire allemand
)“ und es wird eben daſelbſt ausgeſprochen: „Das
Deutſche Reich
wird dieſe Gebiete für immer mit vollem
Souveränetäts- und Eigenthumsrechte beſitzen.“


Der definitive Friedensvertrag von Frankfurt
vom 10. Mai 1871
3), welcher zwiſchen dem Deutſchen Kaiſer
und der Franzöſiſchen Republik geſchloſſen worden iſt, beſtätigt
dieſe Abtretungen mit einer im Art. 1 näher feſtgeſtellten Abwei-
chung, der zu Folge einerſeits bei Belfort das bei Frankreich
verbleibende, andererſeits bei Thionville das an Deutſchland ab-
zutretende Gebiet erweitert wurde. Durch den Zuſatz-Artikel
3 zum Frankfurter Frieden 4) wurde das, an Frankreich zurück-
[53]§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.
übertragene Gebiet bei Belfort noch um eine Anzahl von Dör-
fern vermehrt.


Auch dieſem Vertrage ſind durch ein in Berlin am 15. Mai
1871 unterzeichnetes Protokoll die Bevollmächtigten der drei ſüd-
deutſchen Staaten Namens ihrer Souveraine beigetretreten 1).


Die Ratifikationen des Friedensvertrages ſind, nachdem die
Franzöſiſche National-Verſammlung am 18. Mai denſelben geneh-
migt hatte, am 20. Mai 1871 zu Frankfurt a/M. ausgetauſcht
worden 2).


Eine nachträgliche Abänderung hat der Umfang des an das
Deutſche Reich abgetretenen Gebietes erfahren durch den Zuſatz-
vertrag von Berlin vom 12. Oktober 1871 Art. 10 3), in welchem
ein Paar Gemeinden an Frankreich zurückgegeben wurden.


II.Staatsrechtlich beruht die Zugehörigkeit von Elſaß
und Lothringen zum Deutſchen Reiche auf dem Reichsgeſetz
vom 9. Juni 1871
4), deſſen erſter Paragraph beſtimmt, daß
die von Frankreich abgetretenen Gebiete in der — in den vor-
ſtehend aufgeführten Verträgen — feſtgeſtellten Begrenzung mit
dem Deutſchen Reiche für immer vereinigt werden
.
§ 3 deſſelben Geſetzes überträgt die Ausübung der Staatsgewalt
in Elſaß und Lothringen dem Kaiſer, der jedoch bis zum Eintritt
der Wirkſamkeit der Reichsverfaſſung bei Ausübung der Geſetz-
gebung an die Zuſtimmung des Bundesraths und bei der Auf-
nahme von Anleihen, durch welche irgend eine Belaſtung des
Reichs herbeigeführt wird, auch an die Zuſtimmung des Reichs-
tages gebunden wurde.


Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches ſollte in
Elſaß und Lothringen am 1. Januar 1873 in Wirkſamkeit treten;
durch Reichsgeſetz vom 20. Juni 1872 5) iſt dieſer Termin auf
den 1. Januar 1874 verlegt worden.


[54]§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.

Das Geſetz vom 9. Juni 1871 § 2 ertheilte aber die Er-
mächtigung, daß durch Verordnung des Kaiſers mit Zuſtimmung
des Bundesrathes einzelne Theile der Verfaſſung ſchon früher
eingeführt werden können und beſtimmte, daß Art. 3 der Reichs-
verfaſſung (Indigenat) ſofort in Wirkſamkeit trete.


Auf Grund dieſer Ermächtigung ſind in Elſaß und Lothrin-
gen eingeführt worden am 1. Januar 1872:


  • Art. 33 (Einheit des Zollgebiets) durch Verordnung vom 17.
    Juli 1871 1)
  • Abſchnitt VIII, betreffend das Poſt- und Telegraphenweſen,
    durch Verordnung vom 14. Oktober 1871 2)
  • Abſchnitt VII, betreffend das Eiſenbahnweſen, durch Verord-
    nung vom 11. Dezember 1871 3)

am 14. Februar 1872 4):


  • Die Art. 57. 58. 59. 61. 63—65 (Militairweſen) und das
    Kriegsdienſtgeſetz vom 9. November 1867 durch Verord-
    nung vom 23. Januar 1872 5).

Das Reichsgeſetz vom 25. Juni 1873 6) endlich führte die
Reichsverfaſſung als Ganzes vom 1. Januar 1874 ab in Elſaß
und Lothringen ein. Eine neue Redaktion der Verfaſſung, in
welcher auf das Reichsland Rückſicht genommen wäre, hat nicht
ſtattgefunden; es ſind lediglich die beiden Aenderungen, welche
die Geſetze vom 24. Februar 1873 und 3. März 1873 an dem
Wortlaut der Verfaſſung vorgenommen hatten, bei der Publikation
berückſichtigt worden 7).


[55]§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.

Dagegen hat das Einführungsgeſetz ſelbſt die Beſtimmung
getroffen, daß dem in Art. 1 bezeichneten Bundesgebiete das Ge-
biet des Reichslandes Elſaß-Lothringen hinzutritt, daß in Elſaß-
Lothringen 15 Abgeordnete zum Reichstage gewählt werden, daß
bis auf Weiteres die in Art. 35 erwähnte Beſteuerung des in-
ländiſchen Bieres der inneren Geſetzgebung vorbehalten bleibt und
daß bis auf Weiteres die durch Art. 40 aufrecht erhaltenen Be-
ſchränkungen, welchen die Erhebung von Kommunal-Abgaben nach
Art. 5 des Zollvereinsvertrages unterliegt, auf die in Elſaß-Loth-
ringen beſtehenden Beſtimmungen über das Octroi keine Anwen-
dung finden.


Schon das Reichsgeſetz vom 9. Juni 1871 § 3 hat die An-
ordnung getroffen, daß nach Einführung der Reichsverfaſſung bis
zu anderweitiger Regelung durch Reichsgeſetz das Recht der Geſetz-
gebung auch in den der Reichsgeſetzgebung in den Bundesſtaaten
nicht unterliegenden Angelegenheiten in Elſaß-Lothringen dem Reiche
zuſteht. Dieſe Beſtimmung iſt am 1. Januar 1874 in Geltung
getreten mit der Modifikation, daß der Kaiſer unter Zuſtimmung
des Bundesrathes, während der Reichstag nicht verſammelt iſt,
Verordnungen mit geſetzlicher Kraft erlaſſen kann, welche Nichts
enthalten dürfen, was der Verfaſſung oder den in Elſaß-Lothrin-
gen geltenden Reichsgeſetzen zuwider iſt. Solche Verordnungen ſind
dem Reichstage bei deſſen nächſtem Zuſammentritt zur [Genehmi-
gung]
vorzulegen und ſie treten außer Kraft, ſobald die Geneh-
migung verſagt wird 1).


Trotzdem die Reichsverfaſſung durch dieſe Geſetzgebungs-Acte
in Elſaß und Lothringen zur vollen und uneingeſchränkten for-
mellen Geltung gekommen iſt, ergiebt ſich dennoch bei näherer
Betrachtung für das Reichsland eine rechtliche Stellung im Reiche,
welche von derjenigen der Bundesſtaaten in den weſentlichſten
Beziehungen durchaus verſchieden iſt.


7)


[56]

Zweites Kapitel.
Die rechtliche Natur des Reiches.


§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.


Die Aufſuchung der höheren juriſtiſchen Begriffs-Kategorie,
welcher das Reich unterzuordnen iſt, fällt zuſammen mit der Frage:
Iſt das Reich ein Staat oder iſt es eine Ver-
einigung von Staaten zur gemeinſamen Er-
füllung ſtaatlicher Aufgaben?


Der begriffliche Gegenſatz, um den es ſich handelt, iſt genau
derſelbe, wie auf dem Gebiete des Privatrechtes der Gegenſatz
zwiſchen der juriſtiſchen Perſon und der Geſellſchaft. Die Orga-
niſation, die Dauer auf unbeſtimmte Zeit, die Fülle der dem
Reiche überwieſenen Machtmittel, die Zahl der ihm obliegenden
Aufgaben genügen nicht zur Entſcheidung dieſer Frage. Sowie
auf dem Gebiete des Privatrechtes in ſehr zahlreichen Fällen die-
ſelbe Aufgabe, derſelbe Zweck ſowohl in der Rechtsform der ju-
riſtiſchen Perſon als auch in der der Geſellſchaft erfüllt werden kann
und ſowie die innere Einrichtung einer Sozietät ſich der Verfaſſung
einer juriſtiſchen Perſon überaus nähern und andererſeits die
Verfaſſung einer juriſtiſchen Perſon Elemente aus der Sozietät
in bedeutendem Umfange in ſich aufnehmen kann, immerhin aber
juriſtiſche Perſon und Geſellſchaft begriffliche Gegenſätze ſind,
zwiſchen denen eine nicht zu überbrückende Kluft bleibt: ſo laſſen
ſich auch ſtaatliche Aufgaben von unermeßlicher Bedeutung nicht
nur durch Staaten, ſondern auch durch Verbände von Staaten
löſen, ſo kann im Verband von Staaten eine feſte Zuſammenfü-
gung der Theilnehmer, im Staat eine weitreichende Sonderberech-
tigung der einzelnen Glieder beſtehen. Aber trotz aller thatſächlich
vorhandenen Uebergänge und Mittelbildungen iſt niemals ein Staat
ein Staatenbund und niemals ein Staatenbund ein Staat; es
giebt kein politiſches Gebilde, das beides zugleich iſt, denn das
Eine iſt die Negation des Andern 1).


[57]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.

Der Gegenſatz zwiſchen juriſtiſcher Perſon und Sozietät läßt
ſich am Kürzeſten dahin formuliren: Die juriſtiſche Perſon iſt ein
Rechtsſubject, die Sozietät ein Rechtsverhältniß. So
iſt auch der Staatenbund ein Rechtsverhältniß unter Staaten,
alſo kein Rechtsſubject; der Staat dagegen eine organiſirte Ein-
heit, eine Perſon, alſo kein Rechtsverhältniß 1). Selbſtverſtändlich
ſchließt dies nicht aus, daß zwiſchen dem Staat und ſeinen Mit-
gliedern Rechtsverhältniſſe beſtehen, wie auch zwiſchen den Korpo-
rationen des Privatrechtes und ihren Mitgliedern.


Jeder Staatenverband, mögen demſelben noch ſo weitreichende
und wichtige ſtaatliche Aufgaben zugewieſen ſein, iſt ſeiner juri-
ſtiſchen Natur nach kein Gebilde des Staatsrechts, ſondern des
Völkerrechts; jeder Staat dagegen, mag ſein Gefüge noch ſo locker
und der Zuſammenhang ſeiner Glieder noch ſo loſe ſein, ſchließt,
ſoweit die ſtaatliche Organiſation reicht, die Anwendung völker-
rechtlicher Grundſätze aus. Die rechtliche Grundlage des Staaten-
verbandes wie der Sozietät iſt der Vertrag, die rechtliche Grund-
lage des Staates wie der Korporation des Privatrechts iſt die
Verfaſſung, das Statut.


Das Weſen der juriſtiſchen Perſon beſteht in der ſelbſt-
ſtändigen Rechtsfähigkeit
, welche ihrerſeits wieder eine
ſelbſtſtändige Willensfähigkeit vorausſetzt. Für die juriſtiſche Per-
ſon des Privatrechts ſind Rechtsfähigkeit und Willensfähigkeit be-
ſchränkt auf das Gebiet des Vermögensrechtes; für den Staat,
die juriſtiſche Perſon des öffentlichen Rechtes, erſtreckt ſich Rechts-
fähigkeit und Willensfähigkeit auf das Gebiet des öffentlichen
Rechts, der Herrſchafts- oder Hoheitsrechte 2).


1)


[58]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.

Die juriſtiſche Perſönlichkeit des Staates beſteht darin, daß
der Staat ſelbſtſtändige Herrſchaftsrechte behufs Durch-
führung ſeiner Aufgaben und Pflichten und einen ſelbſtſtändigen
Herrſchaftswillen hat. Grade darin liegt das Unterſcheidende
aller Arten von Staaten gegenüber allen Arten von Staaten-
Verbänden.


Bei dem Staatenverband iſt der Wille des Bundes nur der
Ausdruck des gemeinſamen Willens der Mitglieder; und zwar
auch dann, wenn die Einrichtung getroffen iſt, daß die Minorität
ihren Willen dem der Majorität unterwirft. Dagegen bei dem
Staate, auch dem zuſammengeſetzten, iſt der Wille des Staates
verſchieden von dem Willen ſeiner Mitglieder; er iſt nicht die
Summe ihrer Willen, ſondern ein ihnen gegenüber ſelbſtſtändiger
Wille, auch wenn die Mitglieder berufen ſind, an dem Zuſtande-
kommen des Staatswillens mitzuwirken.


Bei dem Staatenverbande ſtehen die öffentlichen Herrſchafts-
rechte der einzelnen verbundenen Staaten, jedem für ſein Gebiet
zu, wenngleich die Einrichtung beſteht, daß dieſe Rechte gemein-
ſchaftlich oder übereinſtimmend ausgeübt werden. Die dem Staate,
auch dem zuſammengeſetzten, zuſtehenden Hoheitsrechte ſind nicht
Rechte ſeiner Mitglieder, die der Staat gleichſam als gemein-
ſchaftlicher Verwalter für Alle ausübt, ſondern dieſe Rechte ſtehen
dem Staate ſelbſtſtändig zu; die Mitglieder haben keinen
Theil an ihnen, auch dann nicht, wenn ſie ſelbſt zur Ausübung
dieſer Rechte berufen ſind. Die Rechte des Staates ſind nicht
Rechte der Mitglieder, ſondern Rechte über die Mitglieder.


Die correcte Formulirung der Frage nach der juriſtiſchen
Natur des Deutſchen Reiches iſt daher die: Iſt das Reich eine
juriſtiſche Perſon des öffentlichen Rechts oder iſt es ein
Rechtsverhältniß unter den Deutſchen Staaten, welche das
Reich bilden oder ſich zum Reich verbunden haben?


Während die überwiegende Mehrzahl der Schriftſteller über
das Recht des Norddeutſchen Bundes und des Deutſchen Reiches
ſich für die ſtaatliche Natur entſcheidet 1), hat Seydel den
2)
[59]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
Verſuch unternommen, das Reich als einen Staatenbund aufzu-
faſſen und die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung von dieſem
Prinzip aus zu erklären.


Dieſer Verſuch iſt um ſo beachtenswerther als die Gründe,
welche man für den ſtaatlichen Charakter des Reiches anzuführen
pflegt, zum Theil in der That nicht zwingend ſind, ſondern ſich
mit dem Charakter des Reiches als Staatenbund vereinigen laſſen.


Seydel geht davon aus, daß der Staat die höchſte, voll-
kommene Einigung iſt für die Menſchen, die er umfaßt; daß der
ihn beherrſchende Wille ein einheitlicher ſein muß; daß mithin
der herkömmliche Begriff des Bundesſtaates, der eine Theilung
der Souveränetät vorausſetzt, ein wiſſenſchaftlich unmöglicher ſei,
weil er im Widerſpruch ſteht mit dem Weſen des Staates. Wenn
daher mehrere bisher ſelbſtſtändige Staaten ſich vereinigen, ſo
ſeien nur zwei Fälle denkbar. Entweder die Vereinigung ſei ein
Staat, dann hören die vereinigten Staaten auf, es zu ſein; oder
die vereinigten Staaten bleiben Staaten, dann könne die Verei-
nigung kein Staat, ſondern nur ein Staatenbund ſein 1). Mit
dieſem Oberſatz ſind wir, wie ſich aus dem folgenden Paragra-
phen näher ergeben wird, in einer weſentlichen Beziehung einver-
ſtanden.


Seydel2) argumentirt nun weiter: Aus der Entſtehungs-
geſchichte des Norddeutſchen Bundes und des Reiches ergebe ſich,
daß die Staaten, die ſich zu ihm vereinigten, einen Vertrag
ſchloſſen
zur gemeinſamen Ausübung einzelner beſtimmter
Souveränetätsrechte, daß ſie aber nicht ihre eigene ſtaatliche Exi-
ſtenz vernichten wollten. Dies werde beſtätigt durch den Wortlaut
der Verfaſſung, namentlich durch den Eingang derſelben, der die
vertragſchließenden Souveräne aufführt und das Deutſche Reich
als einen ewigen Bund bezeichnet und durch die in der Verfaſſung
mehrfach wiederkehrende Bezeichnung der Bundesglieder als Staa-
ten
. Ergiebt ſich hieraus, daß die Glieder des Reiches Staaten
geblieben ſind, ſo folge mit Nothwendigkeit, daß das Reich kein
Staat, ſondern ein Bündniß von Staaten ſei.


1)


[60]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.

Es ſind alſo zwei Gründe, auf welche dieſe Theorie ſich ſtützt;
erſtens die Entſtehungsart des Reiches 1) und zweitens die verfaſ-
ſungsmäßige Anerkennung der Bundesglieder als Staaten.


Die Berufung auf die Entſtehungsgeſchichte des Norddeutſchen
Bundes, beziehentl. des Deutſchen Reiches, iſt von Hänel2) in
ſo trefflicher Weiſe widerlegt worden, daß ſeinen Ausführungen
kaum etwas Weſentliches hinzugefügt werden kann. Aus der That-
ſache, daß die Norddeutſchen Staaten durch einen völkerrechtlichen
Vertrag ſich gegenſeitig verpflichtet haben, einen Bund zu gründen,
folgt ebenſo wenig, daß dieſer Bund ſelbſt einen vertragsmäßigen
völkerrechtlichen Charakter habe, wie auf privatrechtlichem Gebiete
daraus, daß mehrere Perſonen behufs Gründung einer juriſtiſchen
Perſon, z. B. eines Actienvereins, einen Vertrag unter einander
abſchließen, die Folgerung gerechtfertigt wäre, daß dieſer Verein
ſelbſt ein obligatoriſches Verhältniß der Gründer ſei 3). Die Ent-
ſtehungsgeſchichte des Norddeutſchen Bundes läßt, wie oben aus-
geführt worden iſt 4), eine andere Auffaſſung nicht zu als die, daß
durch die Errichtung des Norddeutſchen Bundes der Vertrag vom
18. Auguſt 1866 erfüllt wurde. Damit hörte das vertrags-
mäßige Verhältniß auf
und die ſtaatsrechtliche Organiſa-
tion trat an ſeine Stelle 5). Wenn Seydel 6) behauptet, der
Bündnißvertrag ſei nicht auf eine einmalige Leiſtung, ſondern
auf Begründung immerwährender gegenſeitiger Verpflichtungen
gegangen; durch das Zuſtandekommen der Verfaſſung ſei der Ver-
trag daher keineswegs vollſtändig erfüllt worden, er habe im Ge-
gentheil nun erſt thatſächliche Bedeutung erlangt, — ſo hat er
[61]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
für dieſe Auffaſſung nicht nur keine Gründe beigebracht, ſondern
der Wortlaut des Bündnißvertrages vom 16. Auguſt 1866, die
Beſchränkung der Dauer des Bündniſſes auf längſtens ein Jahr,
die Mitwirkung eines Reichstages bei Feſtſtellung der Verfaſſung,
ſtehen ihr entgegen 1).


Auch aus den Vorgängen bei Gründung des Deutſchen Rei-
ches iſt Nichts zu entnehmen, was für ein vertragsmäßiges Ver-
hältniß der Mitglieder zu einander in das Gewicht fiele. Die
November-Verträge begründeten allerdings vertragsmäßige Rechte
und Pflichten der Contrahenten; aber der Inhalt derſelben bezog
ſich nur auf den Eintritt und die Aufnahme der ſüddeutſchen
Staaten in den unter den Norddeutſchen Staaten bereits beſtehen-
den Bund. Mit dem erfolgten Eintritt waren dieſe vertragsmä-
ßigen Rechte und Pflichten durch Erfüllung erloſchen 2). Jeden-
falls wurde das für die Norddeutſchen Staaten bereits beſtehende
Bundesverhältniß nicht in ſeiner rechtlichen Natur verändert,
ſondern nur erweitert; hatte daher der Norddeutſche Bund den
Charakter eines Staates, ſo kommt derſelbe auch dem zum Deut-
ſchen Reiche erweiterten Bunde zu 3). Endlich wird die Annahme,
daß die Abſicht der vertragſchließenden Theile auf die Begründung
eines völkerrechtlichen Verhältniſſes von fortdauernd vertragsmä-
ßigem Charakter gerichtet war, durch die Thatſache widerlegt, daß
die definitive Redaction der Grundſätze, über welche man ſich bei
den Verhandlungen über die Aufnahme der ſüddeutſchen Staaten
geeinigt hatte, nicht in der Form eines Vertrages, ſondern in der
Form eines Verfaſſungs-Geſetzes erfolgte 4).


Man kann ſich daher auch nicht auf den Eingang der Ver-
faſſung berufen, um die Vertragsnatur des Reiches darzuthun.
Derſelbe conſtatirt nur, daß die Gründung des Reiches durch
den freien ungezwungenen Willen der ſouveränen Staaten, in
Folge eines unter ihnen abgeſchloſſenen Vertrages ſtattgefunden
hat 5). Man darf aber nicht das Rechtsverhältniß, welches zur
[62]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
Gründung des Reiches geführt hat, identifiziren mit der Inſtitu-
tion, welche durch dieſe Gründung geſchaffen worden iſt.


Es bleibt demnach — wenn die Berufung auf die Entſtehungs-
geſchichte des Reiches zurückgewieſen wird — nur das logiſche
Argument Seydel’s übrig, daß das Deutſche Reich deshalb kein
Staat ſein könne, weil die Mitglieder deſſelben Staaten ſeien.
Dieſes Argument enthält eine petitio principii und reduzirt ſich
auf einen Wortſtreit um den Ausdruck „Staat.“


Zuzugeben iſt, daß es eine oberſte und höchſte Gewalt geben
muß, die keiner anderen irdiſchen Gewalt unterworfen iſt, die in
Wahrheit die potestas suprema, ſouverän und folglich untheilbar
iſt. Es folgt allerdings aus dem Begriff der Souveränetät, daß
es keine doppelte und keine getheilte Souveränetät giebt 1). Da
nun in der politiſchen und ſtaatsrechtlichen Literatur der Einheits-
ſtaat als die einfachſte und regelmäßige Form gewöhnlich den
Erörterungen über den Staat zu Grunde gelegt und kurzweg mit dem
Staate überhaupt identifizirt wird, ſo iſt es erklärlich, daß man
regelmäßig den unabhängigen, iſolirten, alſo ſouveränen Staat in
das Auge faßt, um den logiſchen Begriff des Staates zu abſtrahiren
und mithin die Souveränetät als ein weſentliches Moment dieſes
Begriffes hinſtellt. So wenig man beſtreiten kann, daß in der
ſtaatsrechtlichen Theorie dieſe Begriffsbeſtimmung des Staates die
faſt ausſchließlich herrſchende iſt, ſo gewiß iſt es doch andererſeits,
daß der Sprachgebrauch dieſe doctrinäre Definition vom
Staate widerlegt. Zur Zeit des ehemaligen Deutſchen Reiches
hat man nicht angeſtanden, die nicht ſouveränen Deutſchen Landes-
herrſchaften Staaten zu nennen 2); die Mitglieder der Amerika-
niſchen Union heißen Staaten; Rumänien, Serbien, Tunis, Tri-
polis, Aegypten und andere nicht ſouveräne politiſche Gebilde be-
zeichnet man als Staaten. Es fehlt auch in der Literatur des
Deutſchen Staatsrechts nicht an gewichtigen Stimmen, welche die
[63]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
Souveränetät nicht zu den weſentlichen Merkmalen des Staats-
begriffes zählen 1).


Wenn mehrere bisher unabhängige Staaten in eine ſolche
Verbindung mit einander treten, daß ſie eine höhere Gewalt über
ſich haben, ſo hören ſie zwar auf, ſouverän zu ſein, aber ſie
brauchen nicht aufzuhören, Staaten zu ſein. Den bisher unabhän-
gigen Staaten kann eine ſolche Fülle von Herrſchafts- und Hoheits-
rechten, von Aufgaben für die Ordnung des Gemeinweſens und
von Machtmitteln zu ihrer Durchführung verbleiben, die neuer-
ſchaffene höhere Gewalt kann ſich auf ein ſo geringes Maaß von
Herrſchaftsrechten und ſtaatlichen Aufgaben beſchränken, die Glieder
können das, was ſie durch ihre Unterordnung unter die höhere
Gewalt einbüßen, dadurch, daß ſie an der Ausübung dieſer höheren
Gewalt ſelbſt Antheil erlangen, in ſo reichem Maaße erſetzt erhalten,
daß es dem allgemeinen Sprachgebrauch und den dem Volke ge-
läufigen Anſchauungen vollſtändig entſpricht, dieſe Glieder Staaten
zu nennen. Es iſt ganz erklärlich, daß man den bisher ſouverän
geweſenen Staaten, welche thatſächlich einen großen Theil ihrer
Herrſchaftsrechte und ihrer Aufgaben behalten und keineswegs ihre
politiſche Exiſtenz einbüßen, die Bezeichnung „Staaten“ läßt und
für die neu geſchaffene höhere Gewalt ein anderes Wort, wie
Bund oder Reich, anwendet, anſtatt daß man der Schuldefinition
[64]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
vom Staate zu Liebe für die bisherigen Staaten dieſen Ausdruck
außer Anwendung ſetzt 1). Und ſie heißen nicht bloß Staaten,
ſie ſind es auch; denn ſie ſind nicht zu bloßen Verwaltungs-
Diſtricten des Reiches herabgeſunken, ſondern ſelbſtſtändig berechtigte
Subjecte höchſt umfaſſender und wichtiger öffentlicher Hoheitsrechte
geblieben.


Es iſt mithin kein logiſcher Widerſpruch, daß ſowohl das
Reich als auch ſeine Glieder ſtaatlichen Charakter haben, ſofern
man nur nicht den Sinn unterſchiebt, daß beide gleichzeitig ſou-
verän
ſeien; man kann daher daraus, daß die Glieder des
Reiches Staaten ſind und verfaſſungsmäßig als ſolche bezeichnet
werden, nicht die Schlußfolgerung ziehen, daß das Reich kein
ſtaatliches Weſen ſein könne.


Wenden wir uns nach dieſer Widerlegung entgegenſtehender
Anſichten der poſitiven Beantwortung der Frage zu, ſo kömmt es
gemäß unſerer obenſtehenden Ausführung hierbei darauf an zu er-
mitteln, ob das Reich ſelbſtſtändige Rechte den Einzelſtaaten
gegenüber hat. Entſcheidend ſind nicht Umfang nnd Wichtigkeit der
vom Reiche gehandhabten Befugniſſe, ſondern die rechtliche Unab-
hängigkeit der dem Reiche zuſtehenden Willens- und Rechtsſphäre
von derjenigen der Einzelſtaaten. Dieſe Selbſtſtändigkeit ergiebt
fich aus Folgendem:


1. Das Reich hat zur Herſtellung ſeines Willens eigene Or-
gane, welche nicht eine Vereinigung der Willensorgane der
Einzelſtaaten und ebenſowenig gemeinſchaftliche Organe der
Regierungen und Bevölkerungen der Einzelſtaaten ſind 2). Ein
Beſchluß des Bundesraths kann nicht vertreten oder erſetzt werden
durch einen Austauſch von übereinſtimmenden Erklärungen ſämmt-
licher Einzelſtaats-Regierungen; ein Beſchluß des Reichstages kann
[65]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
nicht vertreten oder erſetzt werden durch übereinſtimmende Beſchlüſſe
ſämmtlicher Landtage der Einzelſtaaten. Ein in allen deutſchen
Staaten mit gleichem Wortlaut erlaſſenes Geſetz wird dadurch, daß
dieſe Staaten untereinander übereinkommen, nur nach gegenſeitiger
Verſtändigung und allſeitiger Zuſtimmung dieſes Geſetz zu verän-
dern oder aufzuheben, noch kein Reichsgeſetz und verlangt nicht die
Kraft eines ſolchen; es ſteht auf gleicher Stufe mit den Landes-
geſetzen und kann durch ein Reichsgeſetz, welches nur mit der ver-
faſſungsmäßigen Bundesraths-Majorität beſchloſſen worden iſt,
in allen Staaten beſeitigt werden. Andererſeits kann ein Reichs-
geſetz dadurch nicht weggeſchafft werden, daß ſämmtliche Staaten
ſeine Aufhebung beſchließen, falls der Reichstag in die Aufhebung
nicht einwilligt.


Bundesrath und Reichstag ſind daher nicht Apparate, um
den Sonderwillen der Einzelſtaaten zu ſammeln und das Reſultat
dieſer zuſammengezählten Einzelwillen herzuſtellen, ſondern ſie ſind
Organe für die Herſtellung eines ſelbſtſtändigen, einheitlichen Willens,
der in Contraſt treten kann ſelbſt mit den überein-
ſtimmenden Willens-Entſchlüſſen ſämmtlicher Ein-
zelſtaaten
. Das iſt der entſcheidende Punkt; an ihm allein
wird es völlig klar, daß der Wille des Reiches nicht die Summe
der Willen der Einzelſtaaten, auch nicht der Majorität derſelben, iſt.


2. Das Reich hat zur Durchführung ſeiner Wil-
lensentſchlüſſe
ſeine eigenen Organe, welche nicht gemeinſchaft-
liche Organe der verbündeten Einzelſtaaten ſind. Der Reichs-
kanzler
iſt weder dem Souverän noch dem Landtag irgend eines
Einzelſtaates verantwortlich, ſondern nur dem Kaiſer und Bundesrath
und dem Reichstage 1). Die Reichsbeamten ſind nicht Beamte
der verbündeten Regierungen 2); ſie werden nicht in ihrem Namen
ernannt und für ſie vereidigt, ſondern ſie werden vom Kaiſer er-
nannt und für das Reich vereidigt; ſie ſind keinerlei Disciplinar-
gewalt der Landesregierungen, ſondern ausſchließlich der Discipli-
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 5
[66]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
nargewalt der Reichsregierung unterworfen 1); ſie haben keinerlei
Anſprüche auf Gehalt und Penſionsbezüge gegen die Kaſſen der
Einzelſtaaten, ſondern allein gegen die Reichskaſſe 2). Der Reichs-
dienſt wird nicht als eine Abart des Staatsdienſtes, ſondern als
der Gegenſatz deſſelben bezeichnet 3). Das Reichs-Oberhan-
delsgericht
und das Bundesamt für das Heimath-
weſen
erlaſſen ihre Entſcheidungen „Im Namen des Deutſchen
Reichs,“ nicht im Namen der verbündeten deutſchen Souveräne 4).


3. Das Reich hat Hoheitsrechte, welche ihrem Inhalt nach
nicht Hoheitsrechte der Einzelſtaaten ſein können, die alſo auch
nicht gemeinſchaftlich ausgeübt werden, ſondern welche ſelbſtſtändige
Rechte des Reiches über die Einzelſtaaten ſind.


Bei der überwiegenden Mehrzahl der dem deutſchen Reiche
zuſtehenden Befugniſſe läßt ſich zwar theoretiſch die Anſchauung
durchführen, daß dieſelben de jure den einzelnen Staaten für ihre
Gebiete zuſtehen, dem Reiche nur die gemeinſame Ausübung über-
tragen ſei. Es fehlt aber an jedem formellen Grunde in dem
Wortlaut der Reichsverfaſſung 5) und an jedem materiellen Grunde
in den Einrichtungen des Reiches, um eine ſolche künſtliche Unter-
ſcheidung zwiſchen dem Recht ſelbſt und der Befugniß zur Aus-
übung deſſelben zu rechtfertigen. Wären die dem Reiche zuſtehen-
den Machtvollkommenheiten nicht Befugniſſe ex jure proprio, ſon-
dern ihm nur delegirt, ſo müßten ſie doch durch die eigentlich
Berechtigten irgend wie rechtlich vinkulirt, bedingt oder beſchränkt
ſein; dies iſt aber nicht der Fall und es erweiſt ſich daher die
Unterſcheidung zwiſchen dem Recht ſelbſt und der Befugniß zur
Ausübung deſſelben nicht nur als eine künſtliche, ſondern auch
[67]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
zugleich als eine willkührliche 1). Beſteht aber der Zweck jeder
juriſtiſchen Conſtruktion darin, ein einheitliches Prinzip für
die rechtliche Beurtheilung eines Inbegriffs von Thatbeſtänden und
Rechtsbeziehungen zu finden, ſo erweiſt ſich jene künſtliche und
willkührliche Conſtruktion als unmöglich, wenn unter den dem
Reich zuſtehenden Gerechtſamen auch ſolche ſich befinden, welche nicht
als die Ausübung fremder Rechte aufgefaßt werden können. Solche
Rechte hat das Reich in der That und zwar ſowohl gegen die
Angehörigen des Reiches als an dem Gebiet. Es wird unten
näher ausgeführt werden, daß es Unterthanenpflichten gegen das
Reich giebt, ſowohl zum ſtaatsbürgerlichen Gehorſam als zur ſtaats-
bürgerlichen Treue, die nach Inhalt und Weſen verſchieden ſind
von den Unterthanenpflichten gegen die Einzelſtaaten, und daß dem
Reiche am Bundesgebiet als Einheit eine Gebietshoheit zukömmt,
welche ſich ſehr beſtimmt unterſcheiden läßt von der Staatsgewalt
des Einzelſtaates an ſeinem Landesgebiete.


4. Endlich fällt für die ſelbſtſtändige Willens- und Rechts-
fähigkeit, alſo für die Perſönlichkeit des Reiches der Umſtand ins
Gewicht, daß daſſelbe durch einen Majoritätsbeſchluß und in der
Form eines Geſetzes ſeine eigene Zuſtändigkeit nach Art. 78 Abſ.
1. erweitern kann 2).


Schon die im Art. 4 dem Reiche zugewieſene Competenz iſt
eine ſo umfaſſende, daß es faſt keine Seite des ſtaatlichen Lebens
giebt, die nicht von ihr direct oder indirect betroffen wird. Für
die Annahme eines bloß vertragsmäßigen Verhältnißes der Deut-
ſchen Staaten zur gemeinſamen Ausübung gewiſſer Hoheitsrechte
iſt ſchon dieſe Kompetenz von zu unbeſtimmter Begrenzung, von
zu ungemeſſener Dehnbarkeit. Daß hier der Einzelſtaat auf ſeine
individuelle Einwilligung verzichtet und die Entſchließung der
Majorität von Bundesrath und Reichstag als die ihn bindende
Norm anerkennt, iſt bereits die Schaffung einer höheren, über
dem Willen des Einzelſtaates ſtehenden Willensmacht. Die Ge-
ſammtheit der im Art. 4 dem Reiche zugewieſenen Angelegenheiten
läßt ſich nicht mehr als eine Ausleſe einzelner Staatsaufgaben
5*
[68]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
und Hoheitsrechte auffaſſen, wie dies vom Zollverein, Poſtverein
u. ſ. w. mit Recht geſagt werden konnte, ſondern ſie ergreift den
Staat in allen Theilen ſeiner Lebensthätigkeit. Wenn bei einem
Sozietätsverhältniß das Majoritätsprinzip anerkannt iſt, was immer
nur als Ausnahme gelten kann, ſo iſt doch vertragsmäßig der
Geltungsbereich des Majoritätswillens auf ſo genau beſtimmte
Gegenſtände oder Zwecke beſchränkt, daß alle denkbaren Beſchlüſſe
der Majorität nur als Oscillationen innerhalb einer, von allen
Geſellſchaftern vertragsmäßig, d. h. einſtimmig feſtgeſtellten Linie
erſcheinen. Im Vergleiche zu den allgemeinen Lebenszwecken und
Lebensaufgaben der Geſellſchafter ſind die Zwecke und Aufgaben
der Sozietät untergeordnete oder wenigſtens feſtbeſtimmte und aus-
geſonderte; und innerhalb der vertragsmäßig feſtſtehenden und nur
mit Einſtimmigkeit abzuändernden Grundlagen der Sozietät, iſt
das den Majoritätsbeſchlüſſen überlaſſene Gebiet ein ſo geringfü-
giges, daß jeder Geſellſchafter durch den Abſchluß des Geſellſchafts-
vertrages es für nicht erheblich erklärt, wenn er mit ſeiner Anſicht
innerhalb dieſer Grenzen einmal nicht die Majorität erlangen ſollte.
Ein naheliegendes Beiſpiel eines öffentlich rechtlichen Sozietätsver-
hältniſſes bietet auch in dieſer Beziehung der Zollverein, bei wel-
chem ſeit 1867 das Majoritätsprinzip zwar anerkannt war, der
aber nicht nur auf eine Thätigkeit beſchränkt war, die verſchwin-
dend klein erſcheint gegen die Geſammtheit der Lebensaufgaben eines
Staates, ſondern der auch innerhalb dieſer Thätigkeit die Majori-
tät nur in den durch den Art. 3 und 7 des Vertrages feſtgezogenen
Grenzen entſcheiden ließ.


Wenn dagegen Art. 4 der Reichsverfaſſung allein in Nr. 13
das geſammte Civilrecht, Strafrecht und Prozeßrecht der Geſetzge-
bung des Reiches unterwirft, ſo iſt damit ſchon dem Reiche eine
Competenz zugewieſen, welche jede Lebensaufgabe, jeden Zweig
der Thätigkeit, jedes Recht und jede Pflicht aller Einzelſtaaten
treffen kann. Jeder Staat hat ſchon jetzt, bei dem im Art. 4
normirten Umfange der Reichskompetenz nicht einzelne, feſtbeſtimmte,
oder gar verhälnißmäßig untergeordnete Angelegenheiten, ſondern
ſich ſelbſt in ſeiner Totalität, in dem innerſten Kern ſeines Weſens,
ſeiner Aufgaben, ſeiner Zwecke einer Beſchlußfaſſung unterworfen,
die gegen ſeinen Willen ausfallen kann. Kein Staat kann er-
meſſen, welche Wege ihn die Reichsgeſetzgebung — lediglich unter
[69]§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
Beſchränkung auf die im Art. 4 begränzte Kompetenz — in ſeinen
wichtigſten wirthſchaftlichen und politiſchen Lebensfunktionen führen
kann. Bei einer ſo ausgedehnten Kompetenz das Prinzip der Ma-
joritätsbeſchlüſſe anerkennen, heißt nicht, ſich mit Gleichberechtigten
zur gemeinſamen Durchführung beſtimmter Zwecke und Willensent-
ſchlüſſe vergeſellſchaften, ſondern ſich dem Willen der Geſammtheit
als einem höheren Willen unterwerfen.


Wollte man aber auch darauf allein Gewicht legen, daß die
Kompetenz überhaupt begrenzt iſt, nicht auf die Art, wie ſie be-
grenzt iſt, wollte man die Fülle der im Art. 4 aufgeführten An-
gelegenheiten noch als einzelne und beſtimmte Hoheitsrechte gelten
laſſen, ſo macht doch Art. 78 auch dieſen Standpunkt unhaltbar.
Denn nach Art 78 iſt, ſoweit nicht der zweite Abſatz hinſichtlich
der Individualrechte einzelner Staaten eine für die Beurtheilung
des Ganzen unerhebliche Schranke zieht, dem Reich die rechtliche
Befugniß gegeben, durch Majoritätsbeſchluß ſeine Kompetenz ſchran-
kenlos auszudehnen, ſo weit nur der Bereich ſeiner phyſiſchen
Macht und ſeines vernunftgemäßen Wollens reicht. Daß die dazu
erforderliche Majorität eine verſtärkte iſt, wirkt politiſch als eine
ſtarke Sicherheit, rechtlich kommt es nur darauf an, daß nicht
Einſtimmigkeit der Bundesſtaaten erfordert iſt. Daß der einzelne
Staat in der Minderheit bleiben kann, daß er verfaſſungsmäßig
verpflichtet iſt, die Einwirkung des Reiches auf ſolche Hoheitsrechte
zu dulden, die bei der Gründung des Reiches demſelben nicht zu-
gewieſen worden ſind, ſelbſt wenn er dieſer Ausdehnung ſeinen
Widerſpruch entgegenſetzt, das macht ihn zum Object eines höheren
Willens. Der Einfluß, den der Einzelſtaat auf das Zuſtande-
kommen und die Durchführung dieſes höheren Willens hat, kann
politiſch nicht nur ein Erſatz für die verlorene Unabhängigkeit,
ſondern ein hoher Gewinn ſein; für die logiſch juriſtiſche Betrach-
tung iſt entſcheidend, daß der Einzelſtaat in der Minorität bleiben
kann, daß ſein Wille nicht der höchſte, letzte, endgültige iſt.


Nicht nur materiell iſt eine Kompetenz-Erweiterung des Reiches
von dem Erforderniß der Einſtimmigkeit frei, auch formell erfolgt
dieſelbe nicht durch einen Vertrag, ſondern durch ein Geſetz, nicht
in der Geſtalt der Bethätigung oder Ausübung des Willens der
Einzelſtaaten, ſondern in der Geſtalt einer ſie bindenden Rechts-
norm, der Bethätigung eines über ihnen ſtehenden Herrſchafts-
[70]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
willens. Es iſt eine unabweisbare Konſequenz aus Art. 78, daß
die geſammte Rechtsſphäre der Einzelſtaaten zur Dispoſition des
verfaſſungsmäßig erklärten Willens des Reiches ſteht.


Nimmt man zu dem Allen noch hinzu, daß die Zugehörigkeit
zum Reiche von keinem einzelnen Staate willkürlich gelöſt werden
darf, daß es keine rechtliche Möglichkeit des Ausſcheidens aus dem
Reiche giebt und es mithin nicht von dem Willen des Einzelſtaates
abhängig iſt, ob er dieſer dem Reiche übertragenen Machtfülle
unterworfen bleiben will oder nicht, ſo muß man den Beweis als
erbracht anerkennen, daß das Reich ein ſelbſtſtändiges Willens-
und Rechtsſubject, eine ſtaatsrechtliche Perſon iſt. Und da nach
dem Eingange der Verfaſſung das Reich gegründet iſt „zum
Schutze des Bundesgebiets und des innerhalb deſ-
ſelben gültigen Rechts, ſowie zur Pflege der
Wohlfahrt des deutſchen Volkes
,“ da dem Reiche daher
eine Willens- und Handlungsſphäre von ſolchem Umfange zuge-
wieſen iſt, wie er überhaupt nur möglich iſt für die Willens- und
Handlungsſphäre eines Staates, da die Bethätigung dieſes Wollens
und Handelns auf ein beſtimmtes Gebiet und eine beſtimmte Be-
völkerung ſich erſtreckt, da ſie rechtlich normirt und geordnet iſt,
ſo entſpricht das Reich allen begrifflichen Erforderniſſen und Merk-
malen eines Staates.


§ 8. Der Begriff des Bundesſtaates.


Im einfachen Staate ſind Land und Leute unmittelbar
der Herrſchaft, den Hoheitsrechten des Staates unterworfen, die
Staatsgewalt richtet ſich direct gegen das dem Staate zugehörige
Gebiet und die auf demſelben anſäſſigen Bewohner. Mitglieder
des Staates ſind die einzelnen Individuen, und als ſolche ſind
ſie das Object der dem Staate zuſtehenden öffentlichen Rechte (Un-
terthanen).


Der zuſammengeſetzte Staat unterſcheidet ſich hievon
dadurch, daß eine doppelte (oder mehrfache) Gliederung ſtattfindet.
Land und Leute ſind zunächſt einer Unter-Staatsgewalt unterworfen
und die Staaten einer Ober-Staatsgewalt, welche wir mit dem
Ausdruck Reichsgewalt bezeichnen. Das directe, unmittelbare Ob-
ject der in der Reichsgewalt enthaltenen Herrſchaftsrechte ſind die
Staaten; die Staaten als Einheiten, als juriſtiſche Perſonen
[71]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
des öffentlichen Rechts ſind die Mitglieder, die Unterthanen des
Reiches. Die Gebiete der Gliedſtaaten ſind mittelbar Reichsgebiet,
die Bürger der Gliedſtaaten ſind mittelbar Reichsunterthanen.
Das Weſen des Reiches beſteht in der Mediatiſirung der Staaten,
nicht in ihrer Unterdrückung oder Auflöſung; der Gliedſtaat iſt
nach Unten Herr, nach Oben Unterthan.


Es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß die Reichsgewalt in einzel-
nen
Beziehungen ihre Hoheitsrechte direct gegen das Reichsgebiet
oder gegen die einzelnen Angehörigen des Reichs ausübt; daß ſie
durch die Einzelſtaatsgewalt hindurch unmittelbar auf das natür-
liche Subſtrat jedes ſtaatlichen Gebildes, Land und Leute, einwirkt.
Hinſichtlich beſtimmter Bethätigungen der Reichsgewalt können die
Einzelſtaaten nicht blos mediatiſirt, ſondern gänzlich außer Func-
tion geſetzt ſein und für dieſe Hoheitsrechte des Reiches ſind
dann nicht die Staaten, ſondern die Bürger und das Reichsgebiet
die unmittelbaren Objecte.


Andererſeits iſt es ebenſo wenig erforderlich, daß die Staats-
gewalt der Einzelſtaaten in allen Beziehungen mediatiſirt iſt, die
Reichsgewalt auf allen Gebieten des ſtaatlichen Lebens Herrſchafts-
rechte entfaltet. Es kann den Gliedſtaaten ein Kreis von Aufga-
ben verbleiben, von welchem ſich das Reich in Folge bewußter
und gewollter Selbſtbeſchränkung fern hält und dieſen Aufgaben
entſprechend kann den Gliedſtaaten ein Inbegriff von Hoheits-
rechten zuſtehen, hinſichtlich deſſen ſie keine höhere ſtaatliche Ge-
walt über ſich haben, hinſichtlich deſſen ihre Mediatiſirung that-
ſächlich nicht durchgeführt
iſt.


Das Weſen des zuſammengeſetzten Staates wird dadurch aber
nicht verändert, daß ſein Begriff nicht ſchablonenmäßig verwirk-
licht wird. Das weſentliche Merkmal des Begriffes beſteht darin,
daß zwei (oder mehrere) Staatsgewalten übereinander auf-
gebaut ſind, ſo daß die Reichsgewalt Staaten zu Unterthanen
hat. Man kann daher den zuſammengeſetzten Staat treffend
Staatenſtaat nennen.


Nicht jeder zuſammengeſetzte Staat iſt Bundes-
ſtaat
. Die Reichsgewalt kann nämlich entweder von der Staats-
gewalt der Gliedſtaaten losgelöſt ſein, ſo daß die Gliedſtaaten
einem von ihnen oder einem Dritten unterworfen ſind. Dies iſt
der Fall bei der Unterordnung ſogen. Vaſſallenſtaaten unter einen
[72]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
Lehnsherrn 1). Ein Beiſpiel giebt das alte Deutſche Reich, inſo-
fern man die Landesherren als Träger der Territorial-Staatsge-
walt, den Kaiſer als Träger der Reichsgewalt gelten laſſen will.
Auf eine ſolche Staatsform wendet man die Bezeichnung Bundes-
ſtaat nicht an; die Staaten ſind nicht mit einander als prinzi-
piell gleichberechtigte verbunden, ſondern ſie ſtehen zu einem Su-
zerain im Verhältniß der Unterordnung 1). Die Reichsgewalt
kann aber auch der Geſammtheit der Gliedſtaaten, die letztere als
begriffliche Einheit gedacht, zu ſtehen. Die Träger der Landes-
Staatsgewalt bilden dann zuſammengenommen die juriſtiſche Per-
ſon des öffentlichen Rechts, welche das Subject der, unter dem
Namen Reichsgewalt zuſammengefaßten, Hoheits- oder Herrſchafts-
rechte iſt. Das nennt man einen Bundesſtaat. Die
einzelnen Gliedſtaaten ſind nicht in dem Sinne mediatiſirt, daß ſie
einem von ihnen oder einem Fremden unterworfen ſind, ſon-
dern ſie ſind vereinigt zur Herſtellung eines Gemeinweſens
höherer Ordnung. Sie ſind nicht einem, von ihnen verſchiedenen
phyſiſchen Herrn, ſondern einer ideellen Perſon, deren
Subſtrat ſie ſelbſt ſind,
ſtaatlich untergeordnet. So wie
in der einfachen Demokratie jeder Bürger Unterthan, d. h. Object
der Staatsgewalt, und doch zugleich mit betheiligt an der Sou-
veränetät, alſo Subject der Staatsgewalt iſt, ſo iſt in dem Bun-
desſtaat jeder Einzelſtaat für ſich betrachtet Object der Reichsge-
walt, als Mitglied der juriſtiſchen Perſon des Bundesſtaates be-
trachtet, antheilsmäßig berechtigtes Subject der Reichsgewalt. Der
Antheil iſt nicht nach Art der Sozietät oder des Miteigenthums
des Privatrechts Sonderrecht der Gliedſtaaten, die Hoheits-
rechte des Reiches ſtehen nicht pro diviso oder pro indiviso den
Einzelſtaaten zu, ſondern der Antheil der Einzelſtaaten beſteht
lediglich in der Mitgliedſchaft am Reich und in dem hierauf
beruhenden Recht, an dem Zuſtandekommen und der Bethätigung
des Willens des Reiches Theil zu nehmen und mitzuwirken.


Das iſt der juriſtiſche Begriff des Bundesſtaates, wie er in
[73]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
der Verfaſſung des Deutſchen Reiches ſeine Verwirklichung gefun-
den hat; von dieſem Prinzip aus iſt das ſtaatsrechtliche Ver-
hältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten einheitlich nach logiſchen
Regeln zu erklären und zu entwickeln.


Der hier gegebene Begriff des Bundesſtaates iſt ſehr abwei-
chend von der in der Theorie herrſchenden Definition. Die Ge-
genſätze beſtehen in folgenden Punkten:


1) Nach der von Waitz aufgeſtellten Begriffsbeſtimmung, die
bis in die neueſte Zeit die faſt ausſchließliche und unbeſtrittene
Herrſchaft behauptete 1), beſteht das Weſen des Bundesſtaates
in der Theilung der Souveränetät. Auf gewiſſen Gebieten
des ſtaatlichen Lebens ſei der Geſammtſtaat, auf gewiſſen anderen
Gebieten der Einzelſtaat ſouverän; Geſammtſtaat ſowohl wie
Einzelſtaat ſeien wirkliche Staaten und es ſei für jeden Staat das
erſte Erforderniß, daß er ſelbſtändig ſei, unabhängig von jeder
ihm ſelbſt fremden Gewalt. „Nur da iſt ein Bundesſtaat vor-
handen, wo die Souveränetät nicht dem einen und nicht dem
andern ſondern beiden, dem Geſammtſtaat (der Centralgewalt)
und dem Einzelſtaat (der Einzelſtaatsgewalt) jedem innerhalb ſeiner
Sphäre zuſteht.“ (Waitz Polit. S. 166.) Verſteht man unter der
Souveränetät im ſtaatsrechtlichen Sinne aber — wie dies allge-
mein geſchieht — die oberſte, höchſte, nur ſich ſelbſt beſtimmende
Macht, ſo ſchließt dieſer Begriff das Merkmal der Unbeſchränktheit
logiſch ein und folglich auch das Merkmal der Untheilbarkeit, denn
eine getheilte Souveränetät wäre eine beſchränkte Souveränetät,
eine halbe Souveränetät 2), die nicht, wie Heffter Völkerr. S. 19
ſagt „beinahe ein Widerſpruch,“ ſondern eine vollkommene con-
tradictio in adjecto
iſt. Bei allen Mängeln, welche den Ausfüh-
rungen Seydel’s anhaften, iſt es als ein Verdienſt ſeiner Ab-
handlung in der Zeitſchrift für die geſammten Staatswiſſenſchaften
[74]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
Bd. 28 und der Einleitung zu ſeinem Commentar der Reichsverf.
hervorzuheben, daß er gegen die Theilbarkeit der Souveränetät ſich
mit Entſchiedenheit erklärt und auf den Widerſpruch hingewieſen
hat, der in faſt allen neueren Darſtellungen des Staatsrechts ſich
findet, daß einerſeits die Einheit und Untheilbarkeit als zum Weſen
der Staatsgewalt und andererſeits die Theilung der Staatsgewalt
als zum Weſen des Bundesſtaats gehörig bezeichnet wird. Auch
Held1) erklärt „eine Theilung der Souveränetät nach Inhalt
und Innehabung für eine abſolute Unmöglichkeit. Denn
ſchon der Verſuch dazu müßte die Folge haben, daß jeder Theil
und ſein Inhaber ſich in jedem Falle einer Colliſion mit einem
andern Theil und deſſen Inhaber als ſolchem, entweder über dieſen
ſtellte und deſſen Souveränetät aufhöbe, oder unter denſelben ge-
riethe und ſonach ſeine eigene Souveränetät verlöre.“


Es iſt in der That eine Chimäre, die ſtaatlichen Aufgaben
dergeſtalt in zwei Theile zerlegen zu wollen, daß auf jedem dieſer
beiden Theile eine geſonderte Staatsgewalt unabhängig von der
andern herrſche. Das Geſammtleben der Nation läßt ſich ſo wenig
auseinanderreißen, wie das Leben des Menſchen; alle Aufgaben
und Zwecke des Staates und demgemäß alle Einrichtungen und
Herrſchaftsrechte des Staates ſtehen in Wechſelwirkung und be-
ſtimmen ſich gegenſeitig. Keine Seite des ſtaatlichen Lebens läßt
ſich iſoliren und ohne Rückſicht auf die geſammte Ordnung des
Staates für ſich verfolgen. Es erhebt ſich daher ſofort die Frage,
ob die Einzelſtaatsgewalt bei der Durchführung der ihr verbliebe-
nen ſtaatlichen Aufgaben ſich innerhalb der von der Geſammt-
ſtaatsgewalt aufgeſtellten Normen halten muß, oder ob um-
gekehrt die in den Einzelſtaaten beſtehenden Normen eine Schranke
bilden für die Ausübung der Centralſtaatsgewalt. Findet die
Einzelſtaatsgewalt an den von der Centralgewalt aufgeſtellten
Normen eine Schranke, welche ihr von Außen, von einem ihr frem-
den Willen geſetzt iſt, ſo iſt damit ihre Souveränetät verneint;
ſie iſt dann auch auf dem ihr verbliebenen Felde ſtaatlicher Thä-
tigkeit nicht mehr ſouverän, da ſie auch auf dieſem Gebiete un-
mittelbar oder mittelbar die Einwirkungen der Centralgewalt ver-
ſpürt und ſich ihnen zu fügen, rechtlich verbunden iſt 2).


[75]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.

Ebenſo iſt es eine Chimäre, die Competenz der Geſammt-
ſtaatsgewalt in der Art von der Competenz der Einzelſtaatsgewalt
abgränzen zu wollen, daß kein Gebiet übrig bleibt, für welches
es zweifelhaft iſt, welcher Staatsgewalt die Competenz zuſteht, und
daß die Abgränzung für alle Zeit unabänderlich dieſelbe bleibt.
Es entſteht alſo auch hier die Frage, wer hat den Zweifel über
die Competenzgränze zu entſcheiden, die Centralgewalt oder der
Einzelſtaat, und wer hat über eine Veränderung der Competenz
zu befinden. Weiſen die Einzelſtaaten durch ihren Willen dem
Bunde die Gränzen ſeiner ſtaatlichen Befugniſſe zu oder empfan-
gen ſie umgekehrt von der Centralgewalt die rechtliche Begränzung
ihrer Willensſphäre? Nur eins von beiden iſt möglich und die
Beantwortung der Frage enthält zugleich die Entſcheidung, wer
ſouverän iſt, die Centralgewalt oder der Einzelſtaat.


Vollkommen treffend ſagt Hänel S. 149: „In der Rechts-
macht des Staates über ſeine Competenz liegt die oberſte Bedin-
gung der Selbſtgenugſamkeit, der Kernpunkt ſeiner Souveränetät.“
In Anwendung auf das Reich kömmt Hänel S. 240 zu dem
Schluß, daß das Reich ausſchließlich ſouverän iſt „denn mit
der ſouveränen Beſtimmung ſeiner eigenen Competenz beſtimmt es
in endgültiger entſcheidender Weiſe über den Umfang der Compe-
tenz der Einzelſtaaten, die um deswillen ſouverän nicht
ſein können
. Damit iſt das Reich eine Potenz über den
Einzelſtaaten auch in der Rechtsſphäre, welche nach Maßgabe
der beſtehenden Beſtimmungen der Verfaſſung ihrer Selbſtändigkeit
und ihrer Wirkſamkeit nach der Weiſe von Staaten anheim fällt.“
Ebenſo haben ſchon vorher aus demſelben Grunde Auerbach
S. 92 und Meyer Erörter. S. 82 den Einzelſtaaten die Sou-
veränetät abgeſprochen 1).


In einer Theilung der Souveränetät iſt daher das Weſen
des Bundesſtaates nicht zu ſehen; die Souveränetät ſteht im Staa-
tenbund ganz den Einzelſtaaten, im Bundesſtaat ganz dem
Geſammtſtaat zu.


2) Im Zuſammenhange mit ſeiner Auffaſſung von dem We-
ſen des Bundesſtaates fordert Waitz, daß die Bundesſtaatsge-
[76]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
walt ihre Herrſchaftsrechte nicht durch Vermittlung der
Einzelſtaaten, ſondern direct gegen die Untertha-
nen ausübe
; er hält es daher für weſentlich für die Exiſtenz
eines Bundesſtaates, daß die Bundesgewalt Geſetze mit unmittel-
bar verpflichtender Kraft gebe und ſie auch ſelbſt ausführe 1). Er
verlangt nicht nur eine directe ſtaatsrechtliche Beziehung zwiſchen
der Centralgewalt und den einzelnen Staatsbürgern, ſondern er
erklärt gradezu eine Unterordnung der Einzelſtaaten unter den
Geſammtſtaat für grundſätzlich ausgeſchloſſen 2). „Ganz unrichtig“
iſt nach Waitz S. 166 die Anſicht: Das Weſen des Bundesſtaates
ſei, daß hier Staaten die Unterthanen ſeien und daß für die Re-
gierungen der Gliedſtaaten eine wahre Gehorſams- und Unter-
thanenpflicht beſtehe. Der Geſammtſtaat ſelbſt ſei nur ein Staat
wie die Einzelſtaaten, freilich nicht räumlich, aber dem Begriff
und Recht nach dieſem nebengeordnet3).


Verwirft man die Theilung der Souveränetät, ſo fällt auch
die Nebenordnung und Gleichberechtigung von Bundesſtaatsgewalt
und Einzelſtaatsgewalt fort; im Bundesſtaat ſind die Einzelſtaaten
der Centralgewalt untergeordnet4). Dies wird übrigens
von vielen Staatsrechts-Lehrern, die im Uebrigen der Waitz’ſchen
Auffaſſung folgen, anerkannt, wenngleich nicht immer mit derſelben
Beſtimmtheit und ohne Aufklärung, wie ſich die Souveränetät der
Einzelſtaaten mit ihrer Unterordnung verträgt 5).


[77]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.

Dagegen wird mit um ſo größerer Einmüthigkeit als weſent-
lich für den Bundesſtaatsbegriff das Erforderniß aufgeſtellt, daß
die obrigkeitlichen Hoheitsrechte der Centralgewalt unmittelbar
gegen die einzelnen Bürger gerichtet ſeien, nicht gegen die Glied-
ſtaaten und durch deren Vermittlung gegen die Individuen. v.
Gerber S. 24 Note 3 definirt den Bundesſtaat als „eine zwar
auf einen gewiſſen Kreis beſchränkte, innerhalb deſſelben aber
wirkliche Staatsgewalt mit unmittelbarer Beherrſchung des
Volks.“ v. Martitz beginnt ſeine „Betrachtungen über die Ver-
faſſung des Norddeutſchen Bundes“ mit der Bemerkung, daß, wie
man auch über den begrifflichen Unterſchied des Staatenbundes
vom Bundesſtaate denken möge, man unzweifelhaft das we-
ſentliche Moment deſſelben immer nur in der Art der Wirkſam-
keit ſuchen müſſe, welche die Bundesgewalt zugewieſen erhält,
worunter er die unmittelbare Ausübung der Hoheitsrechte
meint. G. Meyer Staatsr. Erörter. S. 13, welcher die Lehre
von der Theilung der Souveränetät verwirft, ſagt: „Man muß
jedes Bundesverhältniß, in welchem die Bundesgewalt nur eine
Herrſchaft über die Staatsgewalten der Einzelſtaaten ausübt, als
Staatenbund (!), ein ſolches, in welchem ſie unmittelbar über die
Staatsangehörigen herrſcht, als Bundesſtaat bezeichnen.“


H. Schulze Einleitung S. 432, und die Mehrzahl der
Schriftſteller über die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes und
Deutſchen Reiches ſchreiben dem Norddeutſchen Bunde grade des-
halb den Charakter des Bundesſtaates zu,
„weil die Bundesgewalt innerhalb ihrer Sphäre keineswegs
blos auf die Vermittelung der Einzelſtaaten, auf die Re-
quiſition der Einzelregierungen angewieſen iſt, ſondern weil
ſie ſich an die einzelnen Bürger wendet, unmittelbar ein-
greift und durch ihre eigenen Organe verwaltet
1).“


Unter den Anhängern der herrſchenden Theorie vom Bundes-
5)
[78]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
ſtaat ſind v. Mohl1) und v. Holtzendorff2) die einzigen,
welche die unmittelbare Herrſchaft der Centralgewalt über die ein-
zelnen Staatsangehörigen für nicht weſentlich und charakteri-
ſtiſch für den Bundesſtaatsbegriff erklären.


Man muß aber noch einen Schritt weiter gehen als dieſe
Schriftſteller. Grade das iſt weſentlich für den Begriff des Staa-
tenſtaats oder zuſammengeſetzten Staates und folglich auch für den
Bundesſtaat, der nur eine Art deſſelben iſt, daß ſich die Central-
gewalt zum Zweck der Erreichung der ſtaatlichen Aufgaben der
Gliedſtaaten bedient.


Es iſt begreiflich, daß man den Bundesſtaat vollkommen nach
dem Muſter des Einheitsſtaates organiſirt ſich denkt, wenn man
von der Theilung der Souveränetät ausgeht und ſowohl den
Bundesſtaat als den Einheitsſtaat als einen partiellen Staat
charakteriſirt. Im Gegenſatz zum Staatenbund fordert man dann für
den Bundesſtaat unmittelbare Vollſtreckung der Herrſchaftsrechte.
Erblickt man aber in dem Bundesſtaat einen Staat über den
Einzelſtaaten, ein ſouveränes politiſches Gemeinweſen, welchem
die Totalität der ſtaatlichen Aufgaben ſeinem idealen Zwecke gemäß
obliegt, und der ſich zur Durchführung dieſer Aufgaben der Glied-
ſtaaten bedient, ſo erlangt für die Begriffsbeſtimmung nicht die
Aehnlichkeit des Bundesſtaats mit dem Einheitsſtaat, ſondern
die Verſchiedenheit die weſentliche Bedeutung. Gegen den
Staatenbund hin iſt der Begriff des Bundesſtaates hinlänglich ab-
gegränzt dadurch, daß der letztere eben ein Staat d. h. ein Rechts-
ſubject iſt, der Staatenbund ein völkerrechtliches Geſellſchaftsver-
hältniß; gegen den Einheitsſtaat unterſcheidet er ſich dadurch, daß
er zwiſchen ſich und den einzelnen Angehörigen noch Staaten hat,
die ihm ſubordinirt ſind.


Die Geſetzgebung des Nordd. Bundes und des deutſchen Rei-
ches giebt zahlreiche Beiſpiele von der Ausübung ſtaatlicher Herr-
ſchafts-Rechte Seitens der Bundesgewalt gegen die Einzel-
ſtaaten
. Das Verbot, die Freizügigkeit zu beſchränken im Art.
3 Abſ. 2 der Verf., das Verbot, Eingangs- Durchgangs- oder
Ausgangszölle zu erheben, im Art. 33 Abſ. 2. Art. 35 der Verf.
[79]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
und im Zollgeſetz, das Verbot der Doppelbeſteuerung, der Erhebung
von Abgaben von der Flößerei, der Geſtattung von öffentlichen
Spielbanken, der Emiſſion von Papiergeld u. ſ. w. richten ſich
ganz direct und zweifellos gegen die Staaten. Aber ſo lange die
Einzelſtaaten die Gerichtsgewalt als ein ſelbſtſtändiges Recht haben,
iſt auch das Strafgeſetzbuch eine Norm, welche das Reich den Ein-
zelſtaaten
ſetzt, wie die Einzelſtaaten mittelſt ihrer Gerichts-
behörden die Strafjuſtiz wahrzunehmen haben, und ebenſo lange
iſt eine Reichsprozeß-Ordnung eine Norm für die Einzelſtaaten,
wie ſie durch ihre Gerichte für die Entſcheidung von Rechtsſtrei-
tigkeiten Sorge zu tragen haben 1). Daß dieſe Reichsgeſetze Seitens
der Einzelſtaaten nicht beſonders verkündet zu werden brauchen
und daß kein Einzelſtaat befugt iſt, mit rechtl. Wirkſamkeit An-
ordnungen zu treffen, welche den Reichsgeſetzen widerſprechen, ſteht
in keiner Weiſe dem Satze entgegen, daß die Reichsgeſetze ihrem
Inhalte nach zum großen Theil Rechtsnormen ſind, welche die
Lebensthätigkeit der Einzelſtaaten, ihre Befugniſſe, Rechte und
Pflichten, regeln.


Dem Reiche gegenüber ſtehen die Staaten dafür ein, daß
die Reichsgeſetze innerhalb des Staatsgebietes von den Verwaltungs-
Behörden und Gerichten befolgt und durchgeführt werden; eine
unmittelbare Abhängigkeit der Behörden von der Centralgewalt des
Reiches beſteht in der Regel nicht, auch auf den von der Geſetz-
gebung des Reiches beherrſchten Gebieten nicht. Werden Reichs-
geſetze in einem Bundesſtaat verletzt, ſo kann das Reich der Regel
nach keine unmittelbare Remedur eintreten laſſen, ſondern es kann
nur den Staat anhalten, das Reichsgeſetz zu beachten oder zu
vollziehen. Dem Staat gegenüber macht das Reich ſein obrigkeit-
liches Herrſchaftsrecht geltend, und wenn es zur zwangsweiſen
Durchführung kommt, wird die Execution gegen den widerſpenſtigen
Staat vollſtreckt. Von derſelben betroffen werden alle Mitglieder
deſſelben, ſchuldige und unſchuldige, ohne Rückſicht darauf, ob
ſie gerade an der Verletzung der Reichsgeſetze Theil genommen
[80]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
haben oder nicht. Sie werden von der Execution des Reiches be-
troffen, weil ſie Mitglieder des Staates ſind, der ſeine Bundes-
pflichten nicht erfüllt, und weil das Reich ſeine Herrſchaftsrechte
gegen dieſen Staat znr Geltung bringt. Bei einem Bundesſtaat
nach der herrſchenden Begriffsbeſtimmung wäre für eine Bundes-
execution gar kein Raum, denn wenn Bundesſtaat und Einzelſtaaten
ganz getrennte Sphären haben, partielle Staaten ſind, die neben
einander beſtehen und ihre Aufgaben mit eigenen Mitteln ver-
wirklichen, ſo müßte es ja an einem Gebiete fehlen, auf welchem
der Bundesſtaat den Einzelſtaat zur Pflichterfüllung anhalten
könnte.


Allerdings binden die Reichsgeſetze nicht nur die Staaten als
ſolche, ſondern auch deren Angehörige, ohne daß es einer Pu-
blikation der Geſetze von Seiten der Einzelſtaaten bedarf. Es iſt
aber nicht zuzugeben, daß hieraus eine unmittelbar Unterordnung
der Bevölkerung unter die Reichsgewalt in der Art folgt, daß die
einzelnen Individuen auf den der Reichsgeſetzgebung unterſtellten
Gebieten von dem Einzelſtaat emancipirt ſeien. Dieſe Vorſtellung
iſt wohl im Weſentlichen verſchuldet durch die doctrinäre Gegen-
überſtellung von Staatenbund und Bundesſtaat. Im Staatenbund
kann von einer geſetzgebenden Gewalt des Vereins keine Rede ſein;
Geſetze können nur die einzelnen Staaten geben; der Bund kann
nur die Grundſätze feſtſtellen, welche die einzelnen Staaten hierbei
befolgen ſollen. Wenn auch ein Bundesbeſchluß als Geſetz bezeichnet
wird, er iſt niemals etwas Anderes als eine Vereinbarung über
eine zu veranſtaltende Geſetzgebung. Erſt die Verkündigung als
Landesgeſetz und ſie allein iſt wirkliche Geſetzgebung.


Im Bundesſtaat iſt der Erlaß eines Bundesgeſetzes kein bloßes
Gebot an die Einzelſtaaten, daß ſie beſtimmte Rechtsnormen er-
laſſen ſollen, obwohl dies begrifflich wohl auch zuläſſig wäre,
ſondern in der Regel die Sanction eines Rechtsſatzes ſelbſt. Dieſer
Rechtsſatz bindet nicht bloß die Staaten als ſolche, ſondern auch
die Individuen, welche den Einzelſtaaten angehören, und zwar
gerade darum, weil ſie ihnen angehören. Er gilt nicht blos für
die Staaten, ſondern auch in den Staaten, weil die Staaten mit
Land und Leuten der Centralgewalt unterworfen ſind. Das Bun-
desgeſetz bildet einen Theil der Rechtsordnung nicht bloß des
Ganzen, ſondern auch ſeiner Beſtandtheile, nämlich der Einzel-
[81]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
ſtaaten 1). Eine Verkündigung der Reichsgeſetze Seitens der Ein-
zelſtaaten wäre im Bundesſtaate widerſinnig, wofern man unter
der Verkündigung nicht etwa bloß eine Bekanntmachung, ſondern
die Erklärung der Sanction verſteht. Denn ein Geſetz kann nicht
von demjenigen verkündigt werden, dem es gegeben iſt. Eine
Verkündigung der Bundesſtaats-Geſetze Seitens der Einzelſtaaten
hätte nicht mehr Sinn, als wenn die einzelnen Gemeinden ihren
Mitgliedern, die einzelnen Bürger ſich ſelbſt, ihren Familienge-
noſſen, Gewerbegehülfen u. ſ. w. die Staatsgeſetze und obrigkeit-
lichen Verordnungen verkündigen wollten.


Ganz richtig iſt es daher, daß im Bundesſtaat das Bundes-
geſetz direct und unmittelbar die Angehörigen der Einzelſtaaten
bindet; ganz unrichtig iſt es aber hieraus zu folgern, daß die
Angehörigen der Einzelſtaaten, losgelöſt von der Staatsgewalt der
letzteren, der Reichsgewalt unmittelbar unterworfen ſeien.


In Beziehung auf die Verwaltung und auf die Vollziehung
der Geſetze unterſcheidet ſich der Bundesſtaat vom Staatenbunde
ſehr beſtimmt dadurch, daß der letztere eine eigene Verwaltung
und Geſetzesvollziehung gar nicht haben kann, während der Bun-
desſtaat dazu befähigt iſt. Aber es iſt nicht nothwendig, daß er
von dieſer Befähigung überall und in allen Richtungen Gebrauch
macht; er hat vielmehr die Wahl, ob er ſelbſt für die Durchfüh-
rung der Geſetze und die Verwaltung ſorgen oder ob er dieſelbe
den Einzelſtaaten überlaſſen oder übertragen will.


Der eigentliche Beweis für die Richtigkeit der Anſicht, daß
ſich die Reichsgewalt regelmäßig an die Einzelſtaaten wendet und
durch deren Vermittlung Land und Leute beherrſcht, wird durch
die geſammte folgende Darſtellung erbracht werden.


3) Es iſt endlich als ein begriffliches Erforderniß des Bun-
desſtaates von Waitz und zahlreichen Anhängern ſeiner Theorie
hingeſtellt worden, daß die Einzelſtaaten von der Leitung der Ge-
ſammt-Angelegenheiten ausgeſchloſſen ſeien, daß die Regierung in
keiner Weiſe in Abhängigkeit von den Einzelſtaaten ſtehe. „Da-
rum ſei jede Delegation durch dieſe unbedingt ausgeſchloſſen;
weder die Regierungen der Einzelſtaaten noch ihre Volksvertretungen
können das Organ beſtellen, welches die Leitung der für die Ge-
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 6
[82]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
ſammtheit der Nation gemeinſamen Angelegenheiten beſorgen ſoll,
auf welche die Einzelſtaaten ihre Einwirkung gar nicht zu erſtrecken
haben.“


Ein durch die Einzelſtaaten beſtelltes Collegium von Bevoll-
mächtigten, wie es den Staatenbund charakteriſirt, hält Waitz für
allein genügend, um jeden Gedanken an einen Bundesſtaat aus-
zuſchließen 1).


Das gerade Gegentheil hievon iſt richtig. Da die norddeutſche
Bundesverfaſſung dieſem Erforderniß des doctrinären Bundesſtaats-
begriffs durch die Inſtitution des Bundesrathes direct widerſprach,
ſo haben ſehr zahlreiche Schriftſteller, welche trotzdem den Nordd.
Bund als wirklichen Bundesſtaat charakteriſirten, dieſes Erforder-
niß für kein weſentliches erachtet, es gleichſam von einem Essen-
tiale
zu einem Naturale degradirt, ſo daß es aus hiſtoriſch-poli-
tiſchen Zweckmäßigkeitsgründen abgeändert werden könne, oder ſie
haben die Organiſation der Bundesgewalt für begrifflich gleichgültig
erklärt 2). Dies iſt eine halbe Wahrheit, eine Verwechslung der
species mit dem genus, des Bundesſtaates mit dem zuſammen-
geſetzten Staat.


Der zuſammengeſetzte Staat oder Staatenſtaat verlangt eine
Staatsgewalt, welche über den Einzelſtaatsgewalten ſteht und
[folglich]begrifflich von den letzeren verſchieden iſt. Sowie aber
im Einheitsſtaat die Souveränetät nicht immer den gleichen Träger
hat, ſondern bald der Geſammtheit der Bürger bald einer einzel-
nen phyſiſchen Perſon zuſtehen kann und man darnach die Demo-
kratie, die Monarchie u. ſ. w. unterſcheidet, ſo kann auch die
Staatsgewalt im Staatenſtaat der Geſammtheit der Mitgliedsſtaaten
oder Einem von ihnen, (von andern denkbaren, aber nicht prak-
tiſchen Möglichkeiten abgeſehen) zuſtehen. Von einem Bunde
ſpricht man nur im erſten Falle. Es gibt kein einziges Beiſpiel
eines zuſammengeſetzten Staatsweſens, welches man als Bund oder
Bundesſtaat je bezeichnet hätte, in welchem nicht den Einzelſtaaten
ein Antheil an dem Zuſtandekommen und der Bethätigung des
Geſammtſtaats-Willens zugeſtanden hätte 3). Richtig iſt daher, daß
[83]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
für das genus, den zuſammengeſetzten Staat, eine beſtimmte Or-
ganiſation kein begriffliches Erforderniß iſt; dagegen die species,
der Bundesſtaat, wird gerade durch eine gewiſſe Form dieſer Or-
ganiſation, nämlich durch die Betheiligung der Einzelſtaaten an
der Herſtellung des Geſammtwillens, begrifflich beſtimmt 1).


4) Im Widerſpruch mit der herrſchenden Theorie hat Hänel
Studien I S. 63 fg. eine neue Begriffsbeſtimmung des Bundes-
ſtaates gegeben. Er erklärt ſich gegen die Theilung der Souve-
ränetät, gegen die mechaniſche Zerreißung der ſtaatlichen Aufgaben
durch eine Competenzlinie, auf deren einer Seite die Bundesgewalt
auf deren anderer Seite die Einzelſtaatsgewalt herrſche, als gingen
ſie ſich einander nichts an 2). Den Begriff des Staates findet er
„weder in dem Bundesſtaat noch in dem Einzelſtaat noch gleich-
zeitig in beiden in ihrer Sonderſtellung betrachtet, ſondern
nur in dem organiſchen Miteinander und dem planmäßigen
Zuſammenwirken beider.“ „Nicht der Einzelſtaat, nicht der Ge-
ſammtſtaat ſind Staaten ſchlechthin, ſie ſind nur nach der Weiſe
von Staaten organiſirte und handelnde politiſche Gemeinweſen.
Staat ſchlechthin iſt nur der Bundesſtaat als die
Totalität beider
3).“


So richtig dieſe Auffaſſung iſt, wenn man den Staat lediglich
als objective Inſtitution, als rechtliche Ordnung der Geſellſchaft
zur Erfüllung der Cultur-Aufgaben ſich denkt, ſo wenig iſt ſie
ausreichend als Prinzip für die juriſtiſche Entwicklung des Bundes-
3)
6*
[84]§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
ſtaatsrechts. Denn hiefür iſt es vor Allem nothwendig den Staat
als Subject von Rechten aufzufaſſen. Subjecte von Herrſchafts-
rechten, von obrigkeitlichen Befugniſſen, ſind ſowohl der Bundes-
ſtaat als der Einzelſtaat und für die Abgrenzung der beiderſeitigen
Rechtsſphäre iſt es daher unerläßlich ſie einander gegenüber
zu ſtellen
. Da auch der Einzelſtaat wichtige und umfaſſende
ſtaatliche Aufgaben zu erfüllen und zu dieſem Zweck kraft eigenen
Rechts
obrigkeitliche Herrſchaftsbefugniſſe ſeinen Unterthanen und
ſeinem Gebiete gegenüber hat, ſo ſind allerdings beide, ſowohl der
Bundesſtaat als der Einzelſtaat, „in ihrer Sonderſtellung
betrachtet,“ Staaten;
nur daß die Einzelſtaaten nicht ſou-
verain, ſondern dem Bundesſtaat unterworfen ſind. Wenn man
dagegen beide zuſammen nur als den Staat gelten laſſen will,
wenn man im Bundesſtaat einen Geſammtorganismus
erblickt, in welchem beſtimmte Funktionen den Einzelſtaaten zuge-
wieſen ſind, ſo geht der begriffliche Unterſchied zwiſchen dem
Bundesſtaat und dem dezentraliſirten Einheitsſtaat verloren und
es erſcheinen die Einzelſtaaten als Einrichtungen des Bun-
desſtaats, als Theile ſeiner Organiſation. Der Staat als An-
ſtalt zu Erfüllung des geſammten Inbegriffs ſeiner Kultur-Auf-
gaben iſt auch durch das Zuſammenwirken von Bundesſtaat und
Einzelſtaat noch nicht vollkommen gegeben; auch Kreiſe und Ge-
meinden, und andere Selbſtverwaltungskörper aller Art ſind
weſentliche Beſtandtheile des Geſammtorganismus, ſind „Glieder
des Ganzen.“ Zum „Staat ſchlechthin“ gehören auch ſie. Das
Weſen des Bundesſtaats aber beruht grade darauf, daß er Glie-
der mit individueller ſtaatlicher Sonderexiſtenz vorausſetzt.


Hänel verkennt den wahren Sachverhalt auch nicht; denn
er bezeichnet S. 66 als das Unterſcheidungsmerkmal des Bundes-
ſtaates vom Einheitsſtaate eine ſo loſe Gliederung des Ganzen


„daß die Einzelſtaaten, den Begriff der Selbſtverwaltung
durchbrechend, nach der Weiſe eines Staates d. h. zu
eigenem Rechte und nach eigenen Geſetzen ſtaatliche Aufgaben
vollziehen.“


Wenn die Einzelſtaaten aber nach der Weiſe eines Staates
ſtaatliche Aufgaben vollziehen, ſo iſt kein Grund vorhanden, ſich
gegen ihre Anerkennung als Staaten zu ſträuben. Bei einer
politiſchen Würdigung des Bundesſtaates als Form der geſell-
[85]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.
ſchaftlichen Organiſation iſt es genügend, die Einzelſtaaten als
Gliederungen des Geſammt-Organismus anzuſehen; für die recht-
lichen
Beziehungen iſt es erforderlich Bundesſtaat und Einzel-
ſtaat als Subjecte von ſtaatlichen Rechten und Pflichten aufzu-
faſſen. Bei der von Hänel gegebenen Begriffsbeſtimmung tritt
es aber insbeſondere nicht hervor, daß die dem Bundesſtaat zu-
kommenden Hoheitsrechte grade den Einzelſtaaten gegenüber wirk-
ſam werden, daß die Bundesſtaatsgewalt die Einzelſtaaten, die-
ſelben als Perſonen gedacht, beherrſcht, ihnen Rechtsnormen giebt,
welche ihr Handeln und Wirken rechtlich beſtimmen, und regel-
mäßig erſt durch ſie hindurch, alſo mittelbar, eine Beherrſchung
der einzelnen Staatsangehörigen bewirkt. Unter allen Schrift-
ſtellern aber, welche bisher den Begriff des Bundesſtaates feſtzu-
ſtellen verſucht haben, iſt Hänel der hier vertretenen Anſicht am
nächſten gekommen 1).


Drittes Kapitel.
Das Verhältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten.


§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.


Wenn man von dem Grundſatz ausgeht, daß der Staat eine
juriſtiſche Perſon des öffentlichen Rechts iſt, ſo kann die Frage,
[86]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.
wer das Subject der Staatsgewalt iſt, gar nicht anders beant-
wortet werden, als: der Staat ſelbſt. Alles, was man für
die juriſtiſche Conſtruction und wiſſenſchaftliche Durchbildung des
Staatsrechts durch die Perſonifikation des Staates gewinnt, opfert
man ſofort wieder auf, wenn man den Monarchen oder das Volk
oder wen ſonſt für das Subject der Staatsgewalt, für den eigent-
lichen Souverän erklärt. Denn man entzieht dadurch dem Staat
eben das, was ihn im Rechtsſinn zur Perſon macht, nämlich die
Eigenſchaft Subject von Rechten zu ſein, man macht ihn zum
Object eines fremden Rechts 1) oder löſt ihn auf in ein Aggregat
von Befugniſſen eines Menſchen oder einer Vielheit von Menſchen.
Man braucht nur an die juriſtiſchen Perſonen des Privatrechts
ſich zu erinnern, um ſofort zu begreifen, daß, wenn man nicht
die Privatrechts-Perſon ſelbſt als das Subject ihrer Vermögens-
rechte anſieht, ſondern etwa ihren Vorſtand oder ihre General-
verſammlung, oder die Deſtinatäre, denen das Vermögen zu Gute
kommt, man die Annahme der juriſtiſchen Perſon wieder aufhebt,
eine ſelbſtſtändige, durch logiſche Abſtraction erkannte Perſönlich-
keit nicht mehr übrig bleibt. Ebenſo verſchwindet die Perſönlich-
keit des Staates als das Subject von obrigkeitlichen Herrſchafts-
rechten, wenn man den Inbegriff aller dieſer Rechte, die Staats-
gewalt, nicht dem Staate, dem „organiſchen Gemeinweſen“ ſelbſt,
ſondern dem Fürſten oder dem Parlament oder beiden zuſammen
oder ſonſt einem, von dem Staate ſelbſt begrifflich verſchiedenen
Subjecte beilegt 2).


Wendet man dieſes allgemeine Prinzip auf das Deutſche
Reich an, ſo ergiebt ſich, daß das Subject der Reichsge-
walt nur das Reich ſelbſt ſein kann als ſelbſtſtän-
dige ideale Perſönlichkeit, deren Grundlage die
Geſammtheit der Deutſchen Einzelſtaaten iſt
3).


[87]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Im Gegenſatz dazu hat ſich die Anſchauung geltend gemacht,
daß den einzelnen Deutſchen Staaten als ſtaatsrechtliche Sozietät
verbunden gedacht, die Reichsgewalt zuſteht. Zu gemeinſchaftlicher
Ausübung beſtimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete
zuſtehender Befugniſſe ſeien ſie einen Bund eingegangen und die
Reichsgewalt ſtehe ihnen daher gemeinſchaftlich zu nach Art des
Condominium pro indiviso oder der Ganerbſchaft 1). Dieſe
Theorie leugnet überhaupt den ſtaatlichen Charakter des Reiches
und die Selbſtſtändigkeit der dem Reiche zuſtehenden Hoheitsrechte.
Für die Einzelſtaaten iſt ſie nur ſcheinbar günſtiger, denn die
Rechte der Einzelſtaaten ſind ihrem Inhalte nach keine größeren,
wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So-
zietät oder wenn man ſie als Mitglieder einer juriſtiſchen Per-
ſon denkt.


Jede juriſtiſche Perſon iſt nun aber an ſich willens- und
handlungsunfähig; ſie bedarf eines Vertreters, ſie bedarf willens-
und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand-
lungen als Wille und Rechtshandlungen der Perſon gelten. Dies
gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch
ergiebt ſich die Nothwendigkeit eines Trägers der ſtaatlichen Ge-
walt, der an und für ſich (von Natur) willens- und handlungs-
fähig iſt. Auch dieſer Träger der Staatsgewalt wird „Souverän“
genannt, indem er die dem Staat als gedachte Perſon zuſtehende
rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unſere Kulturperiode
allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieſer Träger
der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch ſein, oder
die Geſammtheit aller Mitglieder des Staates.


Im Deutſchen Reich iſt das letztere Prinzip adoptirt. Das
3)
[88]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.
Deutſche Reich iſt keine Monarchie, ſondern — wenn man den
Ausdruck auf eine Vielheit juriſtiſcher Perſonen anwenden
könnte — eine Demokratie. Das heißt: Träger der Souve-
ränetät des Reiches ſind die ſämmtlichen Mitglieder
des Reiches,
nicht der Kaiſer 1).


Hier zeigt es ſich zunächſt von Wichtigkeit, den Begriff des
Bundesſtaates feſt und ohne Schwanken im Auge zu behalten.
Mitglieder des Reiches ſind nicht die einzelnen Bürger und ſie ſind
auch nicht zuſammengenommen Träger der Reichsgewalt; Mit-
glieder des Reiches ſind vielmehr die einzelnen Staaten und
ſie ſämmtlich ſind an der Reichsgewalt mitbetheiligt, grade ſo
wie in der Demokratie die vollberechtigten Staatsbürger an der
Staatsgewalt. Das Deutſche Reich iſt nicht eine juriſtiſche Per-
ſon von 40 Millionen Mitgliedern, ſondern von 25 Mitgliedern 2).


Da nun dieſe Mitglieder ſelbſt wieder Staaten ſind, ſo wie-
derholt ſich bei ihnen das, aus der Natur der juriſtiſchen Perſon
ſich ergebende, Gebot nach einer Vertretung 3). Mit Ausnahme
der freien Städte ſind alle Deutſche Staaten Monarchien; die
Landesherrn ſind daher die allein berechtigten Träger der Staats-
gewalt und als ſolche üben ſie auch die Mitgliedſchaftsrechte im
Deutſchen Reich, den Antheil ihrer Staaten an der Reichsgewalt
aus. In den freien Städten ſind die freien Bürgerſchaften, als
[89]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.
Einheiten gedacht, das Subject der Staatsgewalt und als
ſolche Mitglieder des Reiches 1).


In dieſem Sinne kann man daher ſagen, daß die Deut-
ſchen Fürſten und freien Städte
in ihrer Geſammt-
heit die Träger oder Inhaber der Reichsſouveränetät ſind 2).
Der Ausdruck kann aber zu einer mißverſtändlichen Auffaſſung
führen 3). Denn die Deutſchen Fürſten ſind nicht für ihre Perſon,
ſondern nur als Oberhäupter und Vertreter ihrer Staaten
Mit-Träger der Reichsgewalt. Wenn ein Deutſcher Landesherr
abdankt oder ſonſt in rechtlicher Weiſe die Vertretung ſeines Staa-
tes verliert, ſo verliert er zugleich den Antheil an der Reichsge-
walt; im Falle einer Regentſchaft iſt nicht der nominelle Monarch
ſondern der Regent Mitſouverän des Reiches. Es kann im Deut-
ſchen Reiche keine Perſonaliſten geben 4). Das Deutſche Reich
iſt kein Fürſtenbund, ſondern ein aus den Deutſchen Staaten ge-
bildeter Staat. Daß nach dem Eingange der Verfaſſung die
Fürſten den Bund geſchloſſen haben, iſt ein Einwand, der
kaum ernſthaft erhoben werden kann, denn bei Errichtung des
Norddeutſchen Bundes und des Deutſchen Reiches handelten die
Deutſchen Souveräne nicht als Privatperſonen, ſondern als Staats-
Oberhäupter und die Deutſchen Staaten wurden, wie es in Mo-
narchien nicht anders ſein kann, durch ihre Landesherren vertreten.
Sollte in irgend einem Deutſchen Staate einmal eine Aenderung
der Verfaſſungsform eintreten, ſo bleibt der Staat mitberechtigt
an der Reichsgewalt, wenngleich er keinen Fürſten mehr hat, und
[90]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.
ſollten zwei Deutſche Staaten in einer Perſonal-Union verbunden
werden, ſo bleibt für jeden der Mitantheil an der Reichsgewalt
gewahrt und unverändert, wenngleich ſie beide nur einen Für-
ſten, d. h. einen identiſchen Vertreter, haben 1).


Aus dem Grundſatz, daß der Einzelſtaat als Mitglied
des Reichs mitberechtigt an der Reichsgewalt iſt, ergiebt ſich ferner,
daß die Ausübung dieſer Mitgliedſchaft eine Lebensthätigkeit des
Staates iſt, die im innigſten Zuſammenhange mit den übrigen
Bethätigungen des ſtaatlichen Lebens ſteht und daß der Landesherr
bei der Ausübung dieſer Seite des ſtaatlichen Handelns keine
andere Stellung hat, als ſie ihm das öffentliche Recht ſeines
Staates überhaupt anweiſt. Die Ausübung der Mitgliedſchaft am
Reich, die ſich namentlich, wenngleich nicht ausſchließlich, in der
Inſtruction der Vertreter des Staates im Bundesrath bethätigt,
kann daher nicht getrennt oder losgelöſt werden von der Regierung
des Staates; ſie iſt keine perſönliche Prärogative des Landesherren,
hinſichtlich deren er freier geſtellt oder willkührlicher zu handeln
befugt wäre, als ſonſt bei der Leitung der Regierungsgeſchäfte.
Die Inſtruction der Bundesrathsmitglieder gehört eben zu den Regie-
rungsgeſchäften des Einzelſtaats und Alles, was ſtaatsrechtlich oder
factiſch einen Einfluß hat auf das Zuſtandekommen des Staats-
willens, hat dieſen Einfluß auch hinſichtlich der Ausübung der
Reichsmitgliedſchaft. Der Landesherr muß ſich daher der verfaſ-
ſungsmäßigen Behörden bedienen, welchen die Centralleitung der
Regierungsgeſchäfte des Landes obliegt, um die Mitgliedſchaft am
Reiche auszuüben, d. h. die Inſtruction der Bundesmitglieder
muß entweder durch Vermittlung der Central-Staatsbehörde, des
Staats-Miniſteriums, erfolgen oder, falls der Landesherr direct
und perſönlich ſeine Vertreter am Bundesrath inſtruirt, ſo bedarf
dies, wie jeder andere landesherrliche Regierungsact, zu ſeiner
ſtaatsrechtlichen Gültigkeit der Contraſignatur eines verantwort-
lichen Miniſters 2). Die herrſchende Lehre von der völligen
[91]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.
Trennung der bundesſtaatlichen Sphäre von der einzelſtaatlichen
zeigt ſich auch an dieſem Punkte als verfehlt; die Einheitlichkeit
des Staats und die Untheilbarkeit ſeines Willens bewährt ſich
für den Einzelſtaat darin, daß die Führung der Landesregierung
und die Ausübung des Antheils an der Reichsgewalt nicht aus-
einandergeriſſen werden können, ſondern ſich gegenſeitig beſtimmen
und zuſammengenommen die volle Lebensthätigkeit des Staats
darſtellen.


Eine wichtige ſtaatsrechtliche Conſequenz dieſes Satzes beſteht
darin, daß die Regierung des Einzelſtaates nach Maßgabe
des Staatsrechts dieſes Staates
politiſch und rechtlich
verantwortlich bleibt für die Art und Weiſe, wie ſie die Mitglied-
ſchaft am Reich ausübt 1).


Man hat dies mehrfach mißverſtanden und dann in Folge
dieſes Mißverſtändniſſes den Rechtsſatz ſelbſt verworfen.


Zunächſt handelt es ſich nicht, um die Rechtsgültigkeit
der im Bundesrath abgegebenen Abſtimmung. Der Landesherr
iſt nach dem Staatsrecht der Monarchie der alleinige und aus-
ſchließlich befugte Vertreter des Staates Dritten gegenüber. Die
gültige Abgabe einer Stimme im Bundesrath hat keine andere
Vorausſetzung, als die formell ordnungsmäßige Legitimation des
Bevollmächtigten, welche demſelben von dem Landesherrn bez. von
dem Miniſter deſſelben ertheilt wird. Ganz unberührt von der
ausſchließlichen Befugniß des Landesherren, den Bevollmächtigten
im Bundesrath zu ernennen und mit einer Legitimation zu ver-
ſehen, und von der rechtlichen Wirkung der von einem gehörig
2)
[92]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.
legitimirten Bevollmächtigten abgegebenen Stimme bleibt die Frage,
nach welchen ſtaatsrechtlichen Grundſätzen die Inſtruction des
Bevollmächtigten zu beurtheilen iſt 1).


Die Verantwortlichkeit bezieht ſich ferner nicht auf die Be-
ſchlüſſe
des Bundesraths 2), noch viel weniger auf Reichsgeſetze,
bei denen der Bundesrath überdies durch die Zuſtimmung des
Reichstages gedeckt iſt. Der Einzelſtaat ſteht unter dem Reich;
weder hat die Einzelregierung den Beruf und die Verpflichtung
die Regierungshandlungen des Reiches zu rechtfertigen und zu
verantworten, noch hat der Einzellandtag die Berechtigung, eine
ſolche Rechtfertigung und Verantwortung zu fordern. Eine par-
lamentariſche Verantwortlichkeit beſteht für die Reichsregierung
einzig und allein dem Reichstage gegenüber.


Es handelt ſich vielmehr lediglich um die Verantwortung für
Regierungshandlungen des Einzelſtaates, d. h. um
die Verantwortung für die Inſtructions-Ertheilung an die Vertreter
des Staates im Bundesrath, reſp. für die Unterlaſſung einer In-
ſtructions-Ertheilung, wo eine ſolche durch das Intereſſe des Ein-
zelſtaates geboten geweſen wäre. Ob eine derartige Regierungs-
handlung oder Unterlaſſung überhaupt geeignet iſt, eine juriſti-
ſche
Verantwortlichkeit zu begründen, iſt ausſchließlich nach dem
Staatsrecht, insbeſondere nach dem Miniſter-Verantwortlichkeits-
Geſetz des einzelnen Staates zu entſcheiden 3).


Eine politiſche (parlamentariſche) Verantwortlichkeit iſt in
jedem Falle vorhanden und keine Regierung wäre berechtigt, eine
Rechtfertigung ihres Verhaltens und eine Darlegung der Gründe
[93]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.
deſſelben ihrer Landesvertretung gegenüber mit dem Hinweiſe ab-
zulehnen, daß die in Rede ſtehende Angelegenheit Reichsſache ſei;
denn die Inſtructions-Ertheilung an die Vertreter des Staates
im Bundesrath iſt in der That niemals Reichsſache, ſondern im-
mer eine Regierungs-Angelegenheit des Einzelſtaates 1). Ganz
unberührt von dieſem Grundſatz bleibt natürlich die materielle
Würdigung der Gründe, welche die Regierung eines Einzelſtaates
veranlaſſen können, im Intereſſe des Wohles der Geſammtheit ein
Opfer zu bringen. Es iſt eine aus der Reichsangehörigkeit des
Staats ſich von ſelbſt ergebende politiſche Pflicht, nicht lediglich
das partikulariſtiſche Intereſſe, ſondern gleichzeitig das allgemeine
Intereſſe des Reiches zu fördern.


Wenn man den Antheil der Einzelſtaaten an der Reichsge-
walt, wie er ſo eben entwickelt worden iſt, in Betracht zieht, ſo
ergiebt ſich zugleich, in welchem Sinne man den Einzelſtaaten den
Charakter der Souveränetät beilegen kann.


Der Einzelſtaat iſt dem Reich gegenüber, wie wir bereits
dargethan haben, nicht ſouverän, und da es keine Beſchränkung
und folglich auch keine Theilung der Souveränetät geben kann,
auch nicht „innerhalb ſeiner Sphäre“ ſouverän. Aber der Ein-
zelſtaat iſt an dieſer, über ihm ſtehenden Gewalt mitbetheiligt;
die Deutſchen Staaten ſind nicht Einem von ihnen oder einem
fremden Machthaber unterworfen, ſondern ſie ſind als einzelne
der von ihnen ſelbſt gebildeten Geſammtheit unterworfen. „Inner-
halb des Bundesraths findet die Souveränetät einer jeden Regie-
rung ihren unbeſtrittenen Ausdruck“ ſagte Fürſt Bismarck im ver-
faſſungber. Reichstage 2). Die Deutſchen Staaten ſind
als Geſammtheit ſouverän
.


[94]§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Daraus rechtfertigt es ſich vollkommen, daß die Landes-
herren
der Einzelſtaaten ihre perſönliche Souveränetät und alle
damit verbundenen ſtaatlichen und völkerrechtlichen Ehrenrechte
ungeſchmälert behalten haben und daß auch die Einzelſtaaten
als ſolche ebenfalls die völkerrechtlichen Ehrenrechte der ſouveränen
Staaten noch jetzt ausüben. Gegen die Bezeichnung der Einzel-
ſtaaten als ſouverän iſt daher vom ſtaatsrechtlichen Standpunkt
nichts einzuwenden, wenn man dabei nicht an das Verhältniß der
Einzelſtaaten dem Reiche gegenüber, ſondern an das Verhält-
niß der Mitbetheiligung der Einzelſtaaten an der Reichs-
gewalt denkt.


Von einer durchaus abweichenden Anſicht über das Subject
der Reichsgewalt gehen mehrere Schriftſteller 1) aus, welche als
„Träger der Reichsgewalt“ den Kaiſer, den Bundesrath und den
Reichstag bezeichnen. Es bedarf aber kaum einer weiteren Aus-
führung, daß hier der Träger der ſouveränen Gewalt mit den
Organen der Reichs-Regierung verwechſelt iſt 2).


§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.


Das Verhältniß der Unterordnung der Einzelſtaaten unter die
Reichsgewalt iſt ein dreifach verſchiedenes.


1) Für gewiſſe Hoheitsrechte ſind die Einzelſtaaten außer Funk-
tion geſetzt; das Reich erfüllt ſeine Aufgaben mit ſeinen eigenen Hülfs-
mitteln und macht die ihm zuſtehenden Rechte ſelbſtſtändig und direct
geltend. Das iſt zunächſt hinſichtlich der Geſetzgebung des Reiches
der Fall, indem die Reichs-Geſetze mit begrifflicher Nothwendigkeit
ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen er-
halten. Aber auch auf einzelnen Gebieten der Staatsverwaltung,
z. B. Conſulatweſen, auswärtige Angelegenheiten, Marine, obere
Poſt- und Telegraphenverwaltung u. ſ. w. hat das Reich ſich von den
Einzelſtaaten völlig emancipirt und ſich ſeinen eigenen Apparat
zur Ausübung ſeiner Lebensthätigkeit geſchaffen. Soweit dies ge-
[95]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
ſchehen iſt, iſt der Kreis der den Einzelſtaaten obliegenden Auf-
gaben und der dazu erforderlichen Befugniſſe verengt. Würde
das Reich die Geſammtheit der ſtaatlichen Aufgaben in dieſer Weiſe
ſelbſt übernehmen, ſo würde die Exiſtenz der Einzelſtaaten beendigt
ſein und die Fortdauer ihrer Namen wäre eine hiſtoriſche Remini-
ſcenz wie es heut die Namen der mittelalterlichen Herzogthümer
und Grafſchaften ſind. Höchſtens als Provinzen des Reichs könnten
die Gebiete der Einzelſtaaten eine Bedeutung behalten.


2) Für einen großen Kreis von Hoheitsrechten des Reiches
ſind die Einzelſtaaten Selbſtverwaltungs-Körper. Der
Begriff der Selbſtverwaltung wird hier in einem Sinne genommen,
der von der herrſchenden Lehre erheblich abweicht, und da im
Folgenden dieſer Begriff vielfach Verwendung finden wird, ſo iſt
es unerläßlich, ſeinen Inhalt hier näher feſtzuſtellen.


Das Wort „Selbſtverwaltung“ iſt in Nachbildung des eng-
liſchen Ausdrucks selfgovernment vorzugsweiſe durch die zahlreichen
ausgezeichneten Schriften Gneiſt’s über das engliſche Verwal-
tungsrecht in allgemeinen Gebrauch gekommen und zu einem poli-
tiſchen Schlagworte geworden. Gneiſt ſelbſt hat faſt ausſchließlich
die politiſche Bedeutung der Verwaltung mittelſt unbeſoldeter
Ehrenämter entwickelt und den Gegenſatz einerſeits zu einer büreau-
kratiſchen Verwaltung durch beſoldete Berufsbeamte andererſeits
zu der Thätigkeit beſchließender, aber nicht verwaltender, Deputir-
ten-Collegien anſchaulich gemacht. Er hat ſtets mit dem größten
Nachdruck hervorgehoben, daß das Syſtem der Selbſtverwaltung
der „Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Geſellſchaft“ und das in
England bewährt gefundene Mittel ſei, um die collidirenden egoi-
ſtiſchen Intereſſen der verſchiedenen ſocialen Klaſſen einer ſtaatlichen
Rechtsordnung zu unterwerfen. Im Hinblick auf die poſitive Ge-
ſtaltung der engliſchen Einrichtungen definirt er den Begriff des
selfgovernment als
„eine innere Landesverwaltung der Kreiſe und Ortsge-
meinden nach den Geſetzen des Landes durch perſön-
liche Ehrenämter
, unter Aufbringung der Koſten
durch communale Grundſteuern“

(Selfgovernment, Communalverfaſſung. 3. Aufl. S. 882 fg.).


Gneiſt wird nicht müde, in allen ſeinen Schriften hervorzu-
heben, daß die Selbſtverwaltung nicht der Gegenſatz der Staats-
[96]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
verwaltung, ſondern eine Unterart der Staatsverwaltung iſt. „Alle
Aemter des selfgovernment haben den reinen Amtscharakter, —
alle Rechte und Ehren, — alle Pflichten und Verantwortlichkeiten
der Staatsämter 1). Nicht die Staatsverwaltung ſondern die „Mi-
niſterverwaltung,“ d. h. die Verwaltung durch beſoldete Berufs-
perſonen, bildet nach der Auffaſſung von Gneiſt den Gegenſatz zur
Selbſtverwaltung und in ſeiner Schrift: „Der Rechtsſtaat“ Berl.
1872 S. 161 fg. führt er aus, daß die Wiedereinführung oder
weitere Ausbildung des Ehrenamtes der „archimediſche Punkt
des Rechtsſtaates“ ſei, weil die Verwaltung durch beſoldete
Beamte wegen der Ernennungs- Beförderungs- und Abſetzungsbe-
fugniß des Chefs Parteiverwaltung ſei, während das Ehrenamt
ſich nicht parteimäßig behandeln laſſe.


Dieſe Auffaſſung des Begriffes der Selbſtverwaltung iſt ſchnell
herrſchend geworden und es könnten unzählige Zeugniſſe aus poli-
tiſchen Reden, Flugſchriften und Zeitungsartikeln dafür beigebracht
werden, daß man ſich faſt allgemein daran gewöhnt hat, Selbſt-
verwaltung und Verwaltung mittelſt Ehrenämtern zu identifiziren.


Indeß ſo wichtig in politiſcher Beziehung das Syſtem der
Ehrenämter iſt, ſo ſehr die Reaction gegen die übermäßige und
einſeitige Ausbildung der büreaucratiſchen Beamtenverwaltung ein
Merkmal unſerer Zeit iſt und in dem Worte „Selbſtverwaltung“
ein politiſches Schlagwort geſucht und gefunden hat, ſo erweiſt
ſich doch für die ſtaatsrechtliche, d. h. juriſtiſche, Betrachtung der
Organiſation des Staates der von Gneiſt zur Herrſchaft gebrachte
Begriff der Selbſtverwaltung als nicht hinlänglich beſtimmt und
nicht conſequent verwendbar.


Die Dotirung eines Amtes mit einer Beſoldung iſt weder
für den Begriff des Amtes noch für die amtlichen Pflichten und
Rechte maßgebend 2). Es fehlt vor Allem an einer feſten Grenze
zwiſchen Ehrenämtern und beſoldeten Aemtern; denn der Begriff
des Ehrenamtes ſchließt den Erſatz von Koſten, von Diäten und
Reiſegeldern, von Repräſentationsgebühren u. ſ. w. nicht aus;
auch nicht eine Remuneration mit einer Pauſchſumme, aus der
dergleichen Koſten zu tragen ſind. Wo iſt da die Grenze zwiſchen
[97]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
der Remuneration des Ehrenamtes und der Beſoldung des Berufs-
amtes? Die geſchichtliche Entwicklung des Brandenburgiſch-Preu-
ſiſchen Landrathsamtes 1) liefert ein höchſt bedeutſames und an-
ſchauliches Beiſpiel dafür, wie leicht das Ehrenamt in ein Berufs-
amt, die Koſtenentſchädigung mittelſt einer Pauſchſumme in einen,
mit dem Amt verbundenen Gehalt übergehen kann. Andererſeits
gibt es auch unbeſoldete Staatsämter. Iſt der unbeſoldete Gerichts-
oder Regierungs-Aſſeſſor ein Beamter der Selbſtverwaltung? Hat
der Geſandte, der doppelt ſo viel auszugeben genöthigt iſt, als
ſeine Amtseinkünfte betragen, ein Ehrenamt?


Auch Alles, was von der Selbſtverwaltung in der herrſchen-
den Bedeutung des Wortes ausgeſagt wird, die Unpartheilichkeit
in der Ernennung und Entlaſſung, die Ausübung der obrigkeit-
lichen Functionen nach Maßgabe der Geſetze, die Rechtscontrollen
in den Formen des contradictoriſchen Verfahrens vor unabhängi-
gen Gerichten, iſt auf die Verwaltung durch beſoldete Berufsbe-
amte anwendbar und nach den Grundſätzen des Rechtsſtaates von
jeder Form der Verwaltung geltend.


Ebenſowenig iſt die Decentraliſation ein für die Selbſtver-
waltung characteriſtiſches Moment, worauf mit vielen Andern
Schulze Preuß. Staatsr. § 127. 128 beſonderes Gewicht legt.
Bei völlig büreaucratiſcher Staatsverwaltung kann die Decentra-
liſation im größten Maaße erreicht werden durch Beſchränkung der
Beſchwerden und anderen Rechtsmitteln, durch Ausſtattung der
untern Inſtanzen mit weitreichenden Befugniſſen.


Die unjuriſtiſche Definition der Selbſtverwaltung als einer
Verwaltung durch Ehrenämter hat zu immer weiterer Abirrung
geführt. Man definirt die Selbſtverwaltung geradezu als „Selbſt-
thätigkeit“ der Bürger 2). Als ob bezahlte und berufsmäßige Thä-
tigkeit im Staatsdienſte keine „Selbſtthätigkeit“ wäre, als ob die
Hunderttauſende von Berufsbeamten der Militair- Finanz- Ge-
richts- Polizeiverwaltung u. ſ. w. ihre Geſchäfte ohne „Selbſtthä-
tigkeit“ erledigen könnten oder keine Staatsbürger wären.


Man betont aber nicht nur ein begrifflich ganz unerhebliches
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 7
[98]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
Moment, ſondern man verliert darüber das Weſen der Sache ganz
aus den Augen, indem man vergißt, daß es ſich um obrigkeit-
liche
Funktionen, um die Ausübung ſtaatlicher Hoheitsrechte
handelt.


Gneiſt unterſcheidet das Syſtem des obrigkeitlichen Self-
governments und das Syſtem der wirthſchaftlichen Selbſt-
verwaltung. Im Sinne des Selfgovernments, welches der eng-
liſchen Parlamentsverfaſſung zu Grunde liegt, in dem Sinne des
älteren, ungetrübten Verfaſſungsrechts ſind Gegenſtände der Selbſt-
verwaltung nach Gneiſt’s Worten (Preuß. Kreis-Ordn. S. 9., Self-
government
, Communalverf. und Verwaltungsger. in England
3. Aufl. S. 882): „nicht eigene Rechte, nicht geſellſchaftliche In-
tereſſen, ſondern die ſtaatlichen Funktionen der innern Landesver-
waltung; der Geſchworenendienſt, die Verwaltung der Sicherheits-
und Wohlfahrtspolizei, die Militäraushebungen und das Landwehr-
ſyſtem, die Armen- Schul- und Wegeverwaltung, die Erhebung
und Verwaltung der Communalſteuern und des communalen Stamm-
vermögens, wo ein ſolches vorhanden — doch ſo, daß alle Ver-
mögensverwaltung hier nur als Mittel zum Zweck der Erfüllung
ſtaatlicher Pflichten erſcheint. Dieſer Umfang der Selbſtverwaltung
ergiebt ſich aus der Natur der Staatsgeſchäfte. Es ſind
die Functionen der örtlich thätigen Staatsgewalt,
die ſich zur Handhabung im Nachbarverbande eignen“ 1).


Im Gegenſatz hierzu conſtruirt Gneiſt ein „Syſtem der
wirthſchaftlichen Selbſtverwaltung,“ welches „eine örtliche Gruppi-
rung von Intereſſen“ bedeute und welches ſeinen Ausdruck in ge-
wählten Localvertretungen und in der Verwaltung durch beſoldete
Unterbeamte der letzern finde. Gegenſtände dieſer Selbſtverwaltung
ſind nach Gneiſt (Communalverf. S. 941) nicht die Funktionen des
örtlich thätigen Staats, ſondern die wirthſchaftlichen In-
tereſſen
des Verbandes: an erſter Stelle die Verwaltung des
eigenen Vermögens, ſodann die Armenpflege, die Geſundheitspflege,
Wegeverwaltung, die Beſorgung des örtlichen Polizeidienſtes. Die
„eigentlichen“ Gegenſtände des selfgovernment dagegen: der Ge-
ſchworenendienſt, das Decernat der Sicherheits- und Wohlfahrts-
[99]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
polizei, die Militäraushebung und Einquartierung, die Steuer-
jurisdiction der directen Staats- und Communalſteuern, rechnet
die Geſellſchaft überhaupt nicht mehr zu ihrer Selbſtverwaltung.“


Aus einer Vergleichung dieſer beiden Stellen ergiebt ſich, daß
nur ſcheinbar die wirthſchaftliche Selbſtverwaltung im Sinne Gneiſt’s
auf andere Gegenſtände wie die obrigkeitliche Selbſtverwaltung ſich
erſtreckt. Das Verzeichniß der zu dem obrigkeitlichen Selfgovern-
ment gehörenden Functionen iſt nur größer; was der wirthſchaft-
lichen Selbſtverwaltung zugerechnet wird, nämlich Armenpflege,
Geſundheitspflege, die ja doch ein Theil der Sicherheits- und
Wohlfahrtspolizei und in einigen Beziehungen ein Theil der Ar-
menpflege iſt, — Wegeverwaltung, Ortspolizeiverwaltung, Ver-
waltung des Communalvermögens, findet ſich auch in dem von
Gneiſt aufgeſtellten Verzeichniß der Gegenſtände der obrigkeitlichen
Selbſtverwaltung. Es ſind auch in der That lauter Aufgaben,
denen ſich der Staat nicht entziehen kann, die ihrer Natur nach
Staatsgeſchäfte ſind. Wie alle großen Aufgaben des Staates haben
auch ſie eine wirthſchaftliche Bedeutung und können ſie ohne finan-
zielle Mittel nicht durchgeführt werden; ebenſo wenig aber iſt ihre
Durchführung möglich ohne die Staatsgewalt im Sinne einer obrig-
keitlichen Herrſchaft, ohne die Macht des Staates, zu befehlen und
zu verbieten. Auch in dieſen Gebieten der Verwaltung wird das
Hoheitsrecht des Staates wirkſam. Der von Gneiſt
betonte Gegenſatz berührt nicht ſowohl das Object der Selbſt-
verwaltung, als die Organiſation derſelben; ſeine Darſtellung
gipfelt in dem Nachweiſe, daß in den gewählten Verſammlungen
mehr die wirthſchaftlichen Intereſſen der geſellſchaftlichen Klaſſen
als die ſtaatlichen Intereſſen zur Geltung kommen, daß dem alten
engliſchen Friedensrichter-Amt ein anderes politiſches Syſtem als
den boards zu Grunde liegt. Am deutlichſten tritt dieſer Gedanke
hervor in ſeinen vortrefflichen Ausführungen in „Verwaltung, Juſtiz,
Rechtsweg“ S. 102 ff. In dieſer Hinſicht kann man ihm vollkom-
men zuſtimmen und ſein Urtheil über die politiſche Bedeutung ge-
wählter Lokalvertretungen adoptiren. Dagegen hört der Begriff
der Selbſtverwaltung auf, ein juriſtiſch begränzter zu ſein, wenn
man die Fähigkeit juriſtiſcher Perſonen zur Vermögens-Adminiſtra-
tion nach Maßgabe ihrer Korporationsverfaſſung und nach den
Regeln des Privatrechts dazu zählt. Dieſer Vorwurf trifft Gneiſt
7*
[100]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
ſelbſt nicht; ſeine Ausdrucksweiſe aber hat die Veranlaſſung gege-
ben, unter wirthſchaftlicher Selbſtverwaltung die Beſeitigung oder
Einſchränkung der Bevormundung von Gemeinde-Verbänden hin-
ſichtlich der Verwaltung ihres privatrechtlichen Vermögens zu ver-
ſtehen; ja ſelbſt die Handlungsfähigkeit der einzelnen Menſchen
innerhalb der rechtlichen Schranken als Selbſtverwaltung zu be-
zeichnen. Aus dieſem doctrinären Begriff der Selbſtverwaltung iſt
jede Spur von ſtaatsrechtlichem, überhaupt von juriſtiſchem, Inhalte
entſchwunden. Die äußerſte Linie iſt in dieſer Richtung wohl er-
reicht worden von Hermann Rösler das ſociale Verwaltungs-
recht. 1872. I. S. 43 fg. Er ſagt:


„Die Selbſtverwaltung im materiellen Sinne bedeutet die
rechtliche Anerkennung der Wahrheit, daß die Entwicklung der
Menſchen auf ihrer eigenen, geſellſchaftlich bedingten Thä-
tigkeit
beruht, und ſie beſteht in der rechtmäßigen Durchführung
der ſocialen Freiheit in allen Verhältniſſen des Culturlebens.
Die Selbſtverwaltung verleiht (sic!) den Einzelnen ein beſtimmtes
Gebiet unabhängiger Thätigkeit gegenüber den Verwal-
tungsorganen
und namentlich auch gegenüber dem Staate; ſie
verleiht aber zugleich den Einzelnen einen beſtimmenden Einfluß
auf die Bildung und die Thätigkeit der Verwaltungsorgane ſelbſt“ 1).


Für dieſe Charakteriſtik der Selbſtverwaltung beruft ſich der
Verf. auf Gneiſt, nur rectifizirt er ihn dahin, daß auch „eigene
Rechte und geſellſchaftliche Intereſſen“ Gegenſtand der Selbſtver-
waltung ſeien, indem er ihn auf den Mündel aufmerkſam macht,
„der mündig wird und zur Selbſtverwaltung übergeht.“ (!)


Welche Theorie der Selbſtverwaltung auf ſolcher Grundlage
erbaut wird, kann man wohl ahnen. Als „allgemeine Sätze“
ſtellt Rösler folgende hin:


1. Alle Selbſtverwaltung im materiellen Sinne beruht noth-
wendig auf der Freiheit des natürlichen (!) Lebens und des Ge-
wiſſens, ſowie auf Freiheit der Religion, der Wiſſenſchaft und
der Kunſt.


2. Die freie Entſcheidung und Thätigkeit müſſen in allen An-
[101]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
gelegenheiten gewahrt bleiben, in denen ſie als ſittliche Nothwendig-
keit empfunden werden. Dazu die Note: z. B. bei der Begründung
rein perſönlicher Verhältniſſe, namentlich bei der Eheſchlie-
ßung
, Wahl des Glaubensbekenntniſſes, geiſtiger
Mittheilung
und Verbindung mit andern.“ u. ſ. w.


Dahin führt die Begriffsbeſtimmung der Selbſtverwaltung als
freie, unbeſoldete Selbſtthätigkeit der Bürger, daß ſchließlich Hei-
rathen, Zeitungleſen, Briefſchreiben und vielleicht auch Eſſen,
Trinken und Tabakrauchen zum Bereich der Selbſtverwaltung
gehören, da der Staat freilich alles dieſes für ſeine Bürger nicht
beſorgen kann, und „die freie Entſcheidung und Thätigkeit“ in
dieſen Dingen gewiß von Jedem „als ſittliche Nothwendigkeit
empfunden wird.“


Um den Begriff der Selbſtverwaltung für das Staatsrecht zu
beſtimmen, muß man von einem andern Geſichtspunkt ausgehen.
Selbſtverwaltung iſt nicht der „Zwiſchenbau zwiſchen Staat und
Geſellſchaft“, ſondern der Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Unter-
than 1). Anſtatt daß der Staat ſeine obrigkeitlichen Herrſchafts-
rechte direct durchführt, überträgt er die Durchführung an Per-
ſonen, die ihm zwar unterworfen ſind, die aber ihm gegenüber eine
beſondere öffentliche Rechtsſphäre, eine begrifflich verſchiedene Exi-
ſtenz haben. Selbſtverwaltung beruht auf der Selbſtbeſchrän-
kung des Staates
hinſichtlich der Durchführung ſeiner Auf-
gaben und der Geltendmachung ſeiner obrigkeitlichen Herrſchaftsrechte
auf die Aufſtellung der dafür maßgebenden Normen und auf die
Controlle ihrer Befolgung, während die Handhabung dieſer Normen
ſelbſt Zwiſchengliedern übertragen wird. Es iſt ganz unrichtig,
in der Selbſtverwaltung die freie Thätigkeit der einzelnen Bürger
zu ſehen. Der einzelne Bürger ſteht auch den Organen der Selbſt-
verwaltung als Unterthan, als Object obrigkeitlicher Rechte gegen-
über; nicht die natürliche Freiheit des Einzelnen bethätigt ſich in
der Selbſtverwaltung, ſondern die ſtaatliche Herrſchaft, der obrig-
keitliche Zwang über den Einzelnen. Nur iſt es andererſeits nicht
[102]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
der Staat ſelbſt, der dieſen Zwang handhabt, ſondern ein öffent-
lich rechtliches Subject, das zwiſchen den Staat und den Einzelnen
geſtellt iſt und das vom Staat zur Durchführung ſeiner Aufgaben
verwendet wird.


Dieſer Zwiſchenbau zwiſchen Staatsgewalt und Staatsbürger
kann verſchieden organiſirt ſein. Es können die Mittelglieder
monarchiſch gebildet ſein; dies war der Fall bei den Immunitäts-
herren des Mittelalters, bei den zu Landesherren gewordenen Für-
ſten und Grafen des alten Reiches, bei den mit Gerichtsbarkeit
und Ortspolizeigewat ausgeſtatteten Grundherren. Dem feudalen
Staat entſpricht der patrimoniale Charakter der Selbſtverwaltungs-
Aemter. Patrimonialgerichtsbarkeit und gutsherrliche Polizei ſind
demnach nicht, wie man gewöhnlich ſagt, der Gegenſatz der
Selbſtverwaltung, ſondern eine Bethätigung, eine Form derſelben;
aber allerdings eine Form, die im Widerſpruch ſteht mit den Prin-
zipien des heutigen Staatsrechts und den ſein ganzes Weſen be-
herrſchenden Ideen.


Es können ferner die Mittelglieder in der Geſtalt der juriſti-
ſchen Perſonen des öffentlichen Rechts, alſo corporativ organiſirt
ſein, als örtlich begränzte Verbände, die ihre rechtlich normirte
Verfaſſung haben und als Subjecte von öffentlichen (obrigkeitlichen)
Rechten und Pflichten fungiren. Selbſtverwaltungskörper dieſer
Art waren in Deutſchland im Mittelalter die Städte und freien
Landgemeinden und auch in England nimmt die Geſchichte des Self-
governments ihren Ausgangspunkt von der Bildung öffentlich recht-
licher Corporationen. Vgl. Stein, Verwaltungslehre 2. Aufl. I.
2. S. 160 fg. Die Verwandlung der feudalen Selbſtverwaltungs-
ämter in corporative, beziehentlich die Neubildung corporativer
Verbände und die Beauftragung derſelben mit obrigkeitlichen Ge-
ſchäften, die bisher der Staat ſelbſt durch eigene Beamte ausge-
führt hat, das iſt die politiſche That unſerer Zeit, die man —
ſoweit es ſich um die Beſeitigung der gutsherrlichen Polizei dabei
handelte — ungenau die Einführung der Selbſtverwaltung nennt,
indem man eine Geſtalt der Selbſtverwaltung für den Begriff
derſelben nimmt.


Für das richtige Verſtändniß der Selbſtverwaltung hat Lo-
renz Stein
in der zweiten Auflage ſeiner Verwaltungslehre I.
Theil 2. Abth. (Stuttg. 1869) in ſo fern einen bedeutenden Fort-
[103]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
ſchritt angebahnt, als er den Begriff des Verwaltungskör-
pers
im Gegenſatz zum Regierungsorgan entwickelt, und die
öffentlich rechtliche (juriſtiſche) Perſönlichkeit des Verwaltungskör-
pers als begriffliches Erforderniß deſſelben dargethan hat 1). Dieſes
Reſultat wird aber theils dadurch verdüſtert, daß Stein die Selbſt-
verwaltungskörper mit den „Vertretungen“ und „Vereinen“ in
Zuſammenhang bringt und aus ihnen ein „Syſtem der freien
Verwaltung“ combinirt, theils in ſeinem ſtaatsrechtlichen Werth
verkümmert, indem er die Selbſtverwaltung ſtützt „auf die örtlich
begrenzte aber ſachlich unbegrenzte Gemeinſchaft, die durch
den Grundbeſitz und ſeine Intereſſen und Verhältniſſe
gegeben wird“ (S. 128). Die Rechtsſphäre der Selbſtverwaltungs-
körper iſt keine ſachlich unbegränzte, der Grundbeſitz iſt nicht die
alleinige Quelle der in dem Selbſtverwaltungskörper zur Erſchei-
nung kommenden Gemeinſchaft. Das natürliche Subſtrat
des Selbſtverwaltungskörpers iſt ganz daſſelbe wie
dasjenige des Staates
: ein örtlich begrenztes Gebiet und
die auf demſelben anſäſſigen Staatsbürger, und die recht-
liche Quelle ſeiner Befugniſſe iſt das ſouveräne
Herrſchaftsrecht des Staates
, welcher dem Selbſtverwal-
tungskörper die ſelbſtſtändige Handhabung obrigkeitlicher Rechte
und Pflichten übertragen reſp., wo er denſelben vorgefunden, über-
laſſen hat.


Selbſtverwaltung bedeutet ſeinem Wortſinn nach den Gegen-
ſatz zum Verwaltet-werden. Wird von einem politiſchen Körper
ausgeſagt, daß er ſich ſelbſt verwaltet, ſo ſetzt das begrifflich immer
eine höhere Macht voraus, von der er auch verwaltet werden
könnte. Das Wort iſt daher unanwendbar von der höchſten,
oberſten, wirklich ſouveränen Macht, da bei ihr ein Verwaltet-
werden unmöglich und undenkbar iſt 2). Dagegen findet der Begriff
[104]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
der Selbſtverwaltung überall da Anwendung, wo eine obere
Gewalt die ihr zuſtehenden Hoheitsrechte nicht unmittelbar mittelſt
eines eigenen, zu ihrer ausſchließlichen Dispoſition ſtehenden Appa-
rates durchführt, ſondern ſich darauf beſchränkt, die Normen für
die Ausübung dieſer Hoheitsrechte aufzuſtellen und ihre Durch-
führung zu beaufſichtigen, während die Durchführung ſelbſt niedern,
untergeordneten politiſchen Körpern übertragen oder überlaſſen iſt.
Ob die Verwaltung durch beſoldete Berufsbeamte oder durch unbe-
ſoldete Inhaber von Ehrenämtern beſorgt wird, iſt für den Be-
griff
der Selbſtverwaltung unerheblich. Die communale Ver-
waltung durch beſoldete, auf lange Zeit oder lebenslänglich ange-
ſtellte Bürgermeiſter bleibt Selbſtverwaltung; die Thätigkeit unbe-
ſoldeter Conſuln oder der unbeſoldeten Mitglieder der Reichsſchul-
denkommiſſion iſt unter keinem Geſichtspunkt Selbſtverwaltung.
Im einzelnen Staate iſt Selbſtverwaltung diejenige obrigkeitliche
Verwaltung, welche nicht durch Behörden und Beamte des Staates,
oder da dieſe Behörden nur Organe oder Apparate des Staates
ſind, nicht durch den Staat ſelbſt, ſondern durch ihm zwar
untergeordnete, aber innerhalb ihres Wirkungskreiſes ſelbſtſtändige
Corporationen oder Einzelperſonen verſehen wird.


Im Reich iſt der Einzelſtaat eine, innerhalb ſeines Wirkungs-
kreiſes ſelbſtſtändige Perſon (Corporation), welche unter der ſou-
veränen Geſetzgebung und Aufſicht des Reiches die Verwaltung
führt. Der Art. 4 der Reichsverfaſſung normirt prinzipiell das
Verhältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten in der Art, daß die
in dieſem Artikel aufgeführten Angelegenheiten „der Beaufſichtigung
Seitens des Reichs und der Geſetzgebung deſſelben unterliegen.“


Das Reich iſt demnach dem Prinzip nach auf diejenigen Be-
fugniſſe beſchränkt, welche der Selbſtverwaltung gegenüber be-
ſtehen, die das Complement der Selbſtverwaltung bilden, ſie nega-
tiv im Gegenſatz zur eigenen und directen Verwaltung durch die
ſouveräne Gewalt beſtimmen, nämlich auf die Aufſtellung der Nor-
men und die Beaufſichtigung ihrer Befolgung. Die Durchführung
und Handhabung der Geſetze dagegen iſt auf das Reich nicht
übergegangen, folglich den Einzelſtaaten verblieben. Jedoch hat
2)
[105]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
die Reichsverfaſſung ſelbſt dieſes Prinzip, wie bereits S. 94 ausge-
führt iſt, in einzelnen Beziehungen durchbrochen und kraft der
dem Reiche zuſtehenden ſouveränen Gewalt kann es durch ein, nach
Art. 78 zu Stande gekommenes, die Verfaſſung abänderndes Ge-
ſetz die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten für gewiſſe Angelegen-
heiten beſeitigen oder beſchränken. Das Maaß der den Einzel-
ſtaaten überlaſſenen Selbſtverwaltung iſt auf den verſchiedenen
Gebieten der ſtaatlichen Thätigkeit höchſt mannigfach beſtimmt.
Während z. B. die Handhabung der Gewerbepolizei den Einzel-
ſtaaten vollſtändig verblieben iſt und das Reich in der Gewerbe-
ordnung nur die Rechtsgrundſätze, nach denen die Verwaltung zu
führen iſt, aufgeſtellt hat, iſt die Selbſtverwaltung der Zölle an
feſte Formen und Regeln gebunden und einer ſtetigen, unmittel-
baren Controlle unterworfen. Bei der Darſtellung der einzelnen
Verwaltungszweige wird die Gränzlinie der Verwaltungscompetenz
des Reichs und der Einzelſtaaten näher feſtgeſtellt werden.


3) Neben den der Geſetzgebung und Aufſicht des Reichs un-
terſtellten Angelegenheiten iſt noch ein großer Kreis von öffentlich
rechtlichen Funktionen vorhanden, welche den Einzelſtaaten ver-
blieben ſind. Es gehört dahin zunächſt die Organiſation der Ein-
zelſtaaten ſelbſt, die Normirung des Thronfolgerechts, Wahlrechts,
der Beamtenverfaſſung, der Provinzial-, Kreis- und Gemeindever-
faſſung, ferner das geſammte Gebiet der directen Steuern, das
Unterrichtsweſen u. ſ. w. Hinſichtlich dieſer Angelegenheiten ſind
die Einzelſtaaten nicht Selbſtverwaltungskörper des Reiches, ſondern
ihre Stellung iſt eine freiere und unabhängigere, indem ſie
weder der Geſetzgebung noch der Oberaufſicht des
Reiches unterworfen ſind
. Freilich können dieſe Angelegen-
heiten nicht völlig getrennt und losgelöſt werden von denjenigen,
auf denen das Reich competent iſt; die verſchiedenen Lebensfunc-
tionen des Staates hängen innerlich ſo feſt zuſammen, durchdringen
und beſtimmen ſich gegenſeitig ſo vielfach, ſind ſo ineinander ge-
ſchlungen und verwickelt, daß es unmöglich iſt, ſie durch einen
tiefen Schnitt von einander zu trennen oder zwiſchen ihnen eine
Competenzgrenze wie eine chineſiſche Mauer aufzurichten. Die
Einzelſtaaten empfinden auf allen Gebieten des ſtaatlichen Lebens
die höhere Macht, der ſie unterworfen ſind, da ſie ſich nur inner-
halb des Raumes bewegen können, den die Reichsgeſetzgebung
[106]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
ihnen frei läßt. Aber ein ſolcher Raum iſt vorhanden; er iſt
durch das Reich begränzt, aber nicht abſorbirt.


Aus dieſem Grunde erweiſt es ſich als unrichtig, wenn man
ſagt, die Einzelſtaaten ſeien zu Verwaltungs-Diſtricten des Reiches
geworden, ſie hätten aufgehört, Staaten zu ſein. Sie haben viel-
mehr eine Fülle obrigkeitlicher Befugniſſe und öffentlich rechtlicher
Macht kraft eigenen Rechts; nicht durch Uebertragung vom
Reich; nicht als Organe, deren ſich das Reich bedient zur Erfül-
lung ſeiner Aufgaben, zur Durchführung ſeines Willens, ſon-
dern als ſelbſtſtändige Rechtsſubjecte mit eigener Rechtsſphäre, mit
eigener Willens- und Handlungsfreiheit. Dadurch eben unter-
ſcheidet ſich der zuſammengeſetzte Staat von dem decentraliſirten
Einheitsſtaat, beziehentlich der Gliedſtaat vom Selbſtverwaltungs-
Körper. Allerdings iſt eine Einſchränkung hinzuzufügen. Das
Reich hat nämlich nach Art. 78 ideell eine unbegrenzte Kompetenz;
es kann die verfaſſungsmäßig geſtellte Gränze zwiſchen ſeiner
Machtſphäre und der Machtſphäre der Einzelſtaaten in der Form
der Verfaſſungs-Aenderung einſeitig d. h. ohne Zuſtimmung der
einzelnen Gliedſtaaten verändern; es kann alſo den Gliedſtaaten
die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. In einem gewiſſen
Sinne kann man daher ſagen, daß die Einzelſtaaten ihre obrig-
keitlichen Rechte nur durch die Duldung des Reiches, nur preca-
rio,
haben, daß ideell das Reich die ſtaatliche Gewalt in voller
Integrität beſitze und daß die Einzelſtaaten auch diejenigen Rechte,
auf welche ſich die Kompetenz des Reiches nicht erſtreckt, ebenſo
wie diejenigen, welche ihnen das Reich innerhalb ſeiner Kompetenz
zuweiſt, nur durch den Willen des Reiches haben.


Damit iſt aber nur geſagt, was überhaupt von allen Rechten
gilt, auch von ſämmtlichen Berechtigungen des Privatrechts, daß
ſie nämlich nur beſtehen, ſo lange eine höhere ſtaatliche Macht ſie
duldet. Es iſt gewiß, daß der ſouveräne Staat Eigenthum, Lehn-
recht, die Gültigkeit gewiſſer Obligationen, die väterliche Ge-
walt u. ſ. w. abzuſchaffen vermag; daß jeder Staatsbürger jedes
einzelne Vermögensrecht nur hat in dem Umfange und ſo lange,
als der Staat es duldet. Aber deſſen ungeachtet wäre es eine
verkehrte Anſchauung, alle dinglichen und Forderungsrechte der
Individuen als vom Staate abgeleitete, von ihm übertragene
[107]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
Rechte zu bezeichnen; der Staat iſt nicht poſitiv Urſprung und
Quelle, Schöpfer und Träger dieſer Rechte, ſondern ſein Wille
iſt nur ein negatives Erforderniß, indem Rechte, welche der Staat
nicht duldet, nicht entſtehen oder fortbeſtehen können.


Ganz in derſelben Weiſe können die obrigkeitlichen Hoheits-
rechte der Einzelſtaaten allerdings nicht ausgeübt werden und
überhaupt nicht fortbeſtehen, ſo weit das Reich ihre Ausübung
oder Fortexiſtenz nicht ferner duldet; aber deſſenungeachtet wurzeln
dieſe Rechte der Einzelſtaaten nicht im Willen des Reiches und
ſind nicht aus der Machtfülle des Reiches abgeleitet, ſondern ſie
haben ihren poſitiven Grund in der hiſtoriſchen Thatſache, daß
die Einzelſtaaten älter ſind als das Reich, daß ſie ſouveräne
Gemeinweſen waren, bevor das Reich gegründet worden iſt.


Das Verhältniß der Einzelſtaaten zum Reich kann juriſtiſch
nicht darnach beſtimmt werden, wie es ſich im Laufe der geſchicht-
lichen Entwicklung einmal geſtalten könnte, ſondern darnach,
wie es nach dem gegenwärtig gültigen Recht geregelt iſt. Der
jetzige Rechtszuſtand aber iſt der, daß den Einzelſtaaten ein Gebiet
ſtaatlicher Thätigkeit und Macht verblieben iſt, auf welchem ſie,
und nicht das Reich, die Herren ſind.


Ebenſo unrichtig iſt es aber, die Einzelſtaaten hinſichtlich der
ihnen verbliebenen Sphäre als ſouverän zu bezeichnen 1).


Der Unterſchied dieſer Sphäre gegen diejenigen Gebiete, auf
denen das Reich nach Art. 4 competent iſt, beſteht nur darin, daß
die Einzelſtaaten nicht bloß die Selbſtverwaltung haben, ſondern
daß ſie auch die rechtlichen Normen dieſer Verwaltung aufſtellen,
die Ziele, Zwecke und Mittel der Verwaltung rechtlich beſtimmen.
Das iſt das weſentliche Unterſcheidungsmerkmal zwiſchen den zur
Kompetenz des Reiches gezogenen Gebieten und den nicht dazu
gehörigen, daß auf den erſteren das Reich die Rechtsnormen der
Verwaltung giebt, auf den letzteren der Einzelſtaat. Auf den
letzteren Gebieten hat der Einzelſtaat die Selbſtgeſetzgebung,
die Autonomie.


Der Begriff der Autonomie iſt dem der Selbſtverwaltung
analog und wird mit ihm nicht ſelten zuſammengeworfen. In
[108]§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
früherer Zeit verſtand man auch unter Autonomie, gerade wie
jetzt vielfach unter Selbſtverwaltung, die natürliche Freiheit des
Menſchen, ſeine Rechtsverhältniſſe durch Willensacte zu ordnen 1).


Dieſer Begriff iſt kein Rechtsbegriff, ſondern nur der Aus-
druck für die rechtlich anerkannte Willens- und Handlungsfähigkeit.
Autonomie iſt, im juriſtiſchen Sinne, immer eine geſetzgebende
Gewalt
. Aber ſie ſteht im Gegenſatz zur Souveränetät. Selbſt-
geſetzgebung kann man nur demjenigen Gemeinweſen als beſondere
Eigenſchaft zuſchreiben, dem die Geſetze auch von einer über ihm
ſtehenden Gewalt gegeben werden könnten; die wahrhaft ſou-
veräne Gewalt kann keine Geſetze von außen erhalten, es würde
daher eine ſelbſtverſtändliche Trivialität ſein, von ihr auszuſagen,
daß ſie die Befugniß habe, ſich ſelbſt Geſetze zu geben. Autono-
mie, als ein juriſtiſch relevanter Begriff ſetzt daher eine nicht
ſouveräne, öffentlich rechtliche Gewalt voraus, der die Befugniß
zuſteht, kraft eigenen Rechts, nicht auf Grund bloßer Delegation,
verbindliche Rechtsnormen aufzuſtellen. Der Mangel der Souveräne-
tät tritt bei dieſer Geſetzgebungsgewalt zu Tage, indem ſie ſich
innerhalb der Gränzen halten muß, die der Souverän der Auto-
nomie geſteckt hat, und indem ſie keine Rechtsnormen aufſtellen kann,
welche den vom Souverän aufgeſtellten widerſprechen. Die erſte
dieſer beiden Schranken iſt für die Einzelſtaaten aufgerichtet durch
Art. 78 Abſ. 1 der Reichsverfaſſung, welcher dem Reich die Be-
fugniß giebt, die Gränzlinien der Autonomie der Einzelſtaaten
nach ſeinem Belieben zu verrücken; die zweite Schranke enthält
Art. 2 der Reichsverfaſſung, wonach die Reichsgeſetze den Landes-
geſetzen vorgehen 2).


Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß ſoweit die
Autonomie der Einzelſtaaten reicht, ihnen auch die Verwaltung
(Regierung) im vollen Umfange zuſteht.


[109]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Faſſen wir das Reſultat dieſer Erörterungen zuſammen, ſo
ergiebt ſich, daß die Einzelſtaaten, abgeſehen davon, daß ſie Mit-
glieder des Reiches und als ſolche antheilsmäßig an der Reichs-
gewalt mitberechtigt ſind, dem Reiche unterworfen ſind


  • a) theils als Beſtandtheile, als bloß geographiſche Diſtricte,
    in denen die Reichsgewalt ſich direct und unmittelbar be-
    thätigt;
  • b) theils als Selbſtverwaltungskörper, welche die Durchführung
    und Handhabung der Reichsgewalt nach den vom Reich ge-
    gebenen Normen und unter Aufſicht des Reichs vermitteln;
  • c) als autonome, (nicht ſouveräne) Staaten.

§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten1).


Aus der Natur des Bundesſtaates als einer aus Staaten be-
ſtehenden öffentlich rechtlichen Corporation ergiebt ſich, daß die
Mitglieds-Staaten Rechte, ſowie auch Pflichten haben. Die Or-
ganiſation einer juriſtiſchen Perſon iſt ſelbſt ein Gegenſtand der
objectiven Rechtsordnung und ſie erzeugt ſubjective Berechtigungen,
Befugniſſe, die rechtlich begränzt und rechtlich geſchützt ſind, für
ihre Mitglieder. Den Rechten entſprechen dann öffentlichrechtliche
Pflichten.


Dieſe Rechte ſind aber nicht durchweg von gleicher juriſtiſcher
Natur; ihr Verhältniß zur Mitgliedſchaft an ſich iſt vielmehr ein
verſchiedenes und dadurch ergeben ſich Unterſchiede von practiſcher
Bedeutung für dieſe Rechte ſelbſt. Es laſſen ſich folgende Kate-
gorien unterſcheiden.


I.Mitgliedſchaftsrechte. Die Mitgliedſchaft bei jeder
juriſtiſchen Perſon iſt ein Complex von Rechten und Pflichten und
kann in einzelne Befugniſſe und Verpflichtungen aufgelöſt werden.
Dieſe Rechte und Pflichten ſind lediglich das Reſultat oder der
Reflex der Korporations-Verfaſſung, die Wirkung der Korporations-
Verfaſſung auf die einzelnen Mitglieder 2).


Dies gilt auch vom deutſchen Reich. Die dem Reiche oblie-
[110]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
genden ſtaatlichen Aufgaben involviren einerſeits Beſchränkungen
der Mitgliedſtaaten, indem die zur Erfüllung dieſer Aufgaben er-
forderlichen Hoheitsrechte dem Einzelſtaat entzogen und auf das
Reich übertragen ſind; ſie begründen aber andererſeits Rechte der
Einzelſtaaten und ihrer Angehörigen, daß das Reich dieſe Aufgaben
auch für ſie und zu ihren Gunſten erfüllt.


Rechte dieſer Art ſind der Anſpruch jedes Staates auf
den diplomatiſchen und militäriſchen Schutz gegen Rechtsverletzungen
Seitens des Auslandes und Seitens anderer Bundesſtaaten und
der Anſpruch, daß das Reich die ihm obliegende Pflege der Wohl-
fahrt des deutſchen Volkes allen zum Reiche gehörenden Theilen
gleichmäßig angedeihen läßt 1). Die Thätigkeit der Reichs-Geſandt-
ſchaften und Konſulate, der Reichsgerichte und anderen Reichsbehör-
den, die Einrichtung und die Verwaltung der Poſt und Telegraphie,
die Kontrole des Eiſenbahnweſens im Intereſſe des Verkehrs und
der militäriſchen Leiſtungsfähigkeit, die Förderung der Erwerbs-
fähigkeit der Nation durch Handels- und Schiffahrtsverträge und
durch Regelung und Handhabung des Zollweſens u. ſ. w. alles
dieſes liegt dem Reich für jeden zu ihm gehörenden Staat ob und
begründet nicht nur Beſchränkungen der dem einzelnen Staate zu-
ſtehenden Gewalt, ſondern in demſelben Maaße und Umfange auch
Anſprüche deſſelben auf die Fürſorge des Reiches.


Entſprechend dieſen Rechten der Einzelſtaaten auf den Schutz
und die Wohlfahrtspflege Seitens des Reiches ſind die Pflichten
des Einzelſtaates zur antheilsmäßigen Tragung der militäriſchen
und finanziellen Laſten.


Aber auch nach einer anderen Richtung involvirt die Mitglied-
ſchaft Rechte der Einzelſtaaten, indem dieſelben betheiligt ſind an
den Organen, durch welche das Reich ſeinen Willen äußert und
bethätigt. Hierhin gehört das Recht jedes Staates auf diejenige
Anzahl von Stimmen im Bundesrath, welche nach dem im Art.
6 feſtgeſtellten Grundſatz ihm zukommen, und der Anſpruch, daß
die von ihm abgegebene Abſtimmung bei der Feſtſtellung der Be-
ſchlüſſe des Bundesraths Berückſichtigung findet. Ferner das Recht
jedes Staates auf antheilsmäßige [Vertretung] ſeiner Bevölkerung
im Reichstage nach Maaßgabe des dem Reichswahlgeſetz zu Grunde
[111]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
liegenden Wahlſyſtems. Endlich das Recht jedes Staates, daß
ſeine Angehörigen unter den gleichen Bedingungen wie die Ange-
hörigen der andern Staaten zur Bekleidung von Reichsämtern be-
fähigt, daß ſie von denſelben nicht grundſätzlich ausgeſchloſſen
ſind.


Aus der Natur dieſer Rechte als unmittelbarer Wirkungen
der Reichsverfaſſung ergeben ſich zwei Rechtsſätze.


1. Die Rechte der Einzelſtaaten können ſich mit jeder Aende-
rung der Verfaſſung ändern, ja auch ohne Abänderung der Ver-
faſſungs-Urkunde in Folge der dem Reiche zuſtehenden Geſetzgebung.
So iſt z. B. durch das Geſ. über die Rechtsverhältniſſe der zum
dienſtlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung beſtimmten Gegen-
ſtände v. 28 Mai 1873 und durch das Geſ. über die Errichtung
eines Reichs-Eiſenbahn-Amtes vom 3. Juli 1873 eine ſolche Aen-
derung der Mitgliedſchafts-Rechte der Einzelſtaaten eingetreten.


Es iſt demgemäß der Inhalt der Mitgliedſchaftsrechte ein
wechſelnder. Beſtimmt wird derſelbe einſeitig vom Reich durch
die von ihm ausgehenden Willensakte, welche theils im Wege der
verfaſſungsändernden theils im Wege der einfachen Geſetzgebung
theils auch im Wege eines Beſchluſſes des Bundesraths, ſo weit
die Kompetenz des letzeren ſich erſtreckt, erfolgen können. Der
einzelne Staat kann nur durch ſeine Abſtimmung im Bundes-
rath auf die Erhaltung oder Erweiterung ſeiner Rechte oder auf
die Einſchränkung ſeiner Pflichten hinwirken; hat das Reich ſeinen
Willen in verfaſſungsmäßiger Weiſe erklärt, ſo iſt der Wille des
einzelnen Staates unerheblich. Die Geſammtheit der einzelnen
Staaten erſcheint tamquam unum corpus und der Theil wird durch
die Veränderung des Ganzen ohne Weiteres mitbetroffen.


Die einzelnen in der Mitgliedſchaft enthaltenen Rechte und
Pflichten der Staaten ſind daher dem Reiche gegenüber nicht iura
quaesita
, die nicht ohne Zuſtimmung der einzelnen Staaten ein-
geſchränkt oder beſeitigt werden können. Ebenſo wenig ſind die
in der Mitgliedſchaft begründeten Pflichten ihrem Umfange nach
definitiv begränzt, ſo daß ſie nicht ohne Zuſtimmung der einzelnen
Staaten erſchwert werden können. Wol aber können ſich aus der
Mitgliedſchaft einzelne Rechte und Pflichten ablöſen als perfekt ge-
wordene Wirkungen, als ſelbſtändig gewordene Rechte und Pflichten,
die man der Mitgliedſchaft gegenüber mit ſeparirten Früchten ver-
[112]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
gleichen kann 1). Dahin gehört z. B. der Anſpruch der einzelnen
Staaten auf die Poſtüberſchüſſe gemäß Art. 51 der R.-V. und §
3 des Geſ. vom 10. März 1870 oder auf die Vergütung der Er-
hebungskoſten für Zölle und Verbrauchsabgaben gemäß Art. 38
der R.-V. rückſichtlich der bereits abgelaufenen Zeit. Das Reich
kann allerdings jeder Zeit die angeführten Geſetzesbeſtimmungen
ändern; würde das Reich dies aber mit rückwirkender Kraft
thun, ſo würde es dadurch zweifellos in iura quaesita einzelner
Staaten eingreifen. Rückſichtlich der Pflichten der Staaten liefern
die Matrikular-Beiträge ein analoges Veiſpiel; das Reich kann
jeder Zeit für dieſelben einen neuen Vertheilungs-Maaßſtaab
einführen; für die Zeit aber bis zu dieſer Aenderung hat der
Einzelſtaat ein erworbenes Recht, daß die bis dahin fällig ge-
wordenen Beiträge nach den beſtehenden Grundſätzen berechnet
werden.


2. Die Mitgliedſchaftsrechte ſind grundſätzlich für alle Staaten
dieſelben, nicht etwa in dem Sinne, daß ſie für alle Staaten
abſolut gleich ſind, ſondern daß auf alle Staaten dieſelben
Rechtsregeln Anwendung finden. Bei der Begründung des Nord-
deutſchen Bundes und dem Hinzutritt der Süddeutſchen Staaten
ſtanden ſich die, bis dahin ſouveränen Deutſchen Staaten als
völlig gleichberechtigte Perſönlichkeiten gegenüber und auf der An-
erkennung dieſer Gleichberechtigung, der Koexiſtenz aneinander
ebenbürtiger ſtaatlicher Perſonen beruht das Bundesverhältniß,
der bundesſtaatliche Charakter des Reiches. Es iſt nicht ausge-
ſchloſſen, daß nicht einzelnen Staaten Sonderrechte eingeräumt
werden, durch welche die Laſten und Pflichten der übrigen nicht
erſchwert werden, wie z. B. die Kompetenz-Beſchränkungen des
Reiches hinſichtlich der ſüddeutſchen Staaten; es iſt ferner zu-
läſſig, einzelnen Staaten mit Zuſtimmung aller übrigen Prä-
rogativen beizulegen, wie z. B. die Präſidialrechte Preußens; es
iſt endlich vollkommen zuläſſig, einem Staat größere Laſten auf-
zuerlegen oder ihm größere Opfer an Hoheitsrechten zuzumuthen,
wie andern, aber es ſetzt dies ſeine ſpezielle Einwilligung vor-
aus 2).


[113]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Von dieſen Fällen abgeſehen hat die Reichsverfaſſung aber
den Grundſatz, daß alle Bundesſtaaten gleiche Rechte und Laſten
haben, überall durchgeführt, wenngleich er als ein allgemeines
Prinzip nicht ausgeſprochen worden iſt. Den deutlichſten Ausdruck
hat er im Art. 58 hinſichtlich der Koſten und Laſten des Kriegs-
weſens gefunden, ferner im Art. 70 hinſichtlich der Vertheilung
der Matrikular-Beiträge. Aber auch in allen andern Beziehungen
finden Belaſtungen und Beſchränkungen einzelner Staaten über das
Maaß hinaus, welches für Alle als Regel gilt, nicht ſtatt und
es muß als ein allgemeines Prinzip für die Reichsgeſetzgebung
überhaupt anerkannt werden, daß jede Abweichung von der Gleich-
berechtigung zu Ungunſten eines oder einzelner Mitglieder des
Reiches deren ſpezielle Zuſtimmung erfordert 1).


II.Sonderrechte einzelner Mitglieder (iura
singularia
)
. Unter Sonderrechten verſteht man beſtimmte Rechte
einzelner Bundesſtaaten in deren Verhältniß zur Geſammtheit, welche
Abweichungen von der ſonſt geltenden Regel zu Gunſten eines
oder einzelner Staaten bilden. Sie ergeben ſich nicht aus der An-
wendung der verfaſſungs- oder geſetzmäßigen Prinzipien, ſondern ſie
beruhen auf der Nichtanwendung derſelben; ſie ſind nicht Reflexwir-
kungen der Verfaſſung, ſondern Modifikationen derſelben 2). Immer
handelt es ſich dabei um Rechte der Mitglieder in deren Verhältniß
zur Geſammtheit, nicht um Rechte, welche den einzelnen Staaten
außer aller Beziehung zum Reiche zuſtehen. Man könnte daher
wohl auch die Sonderrechte als eine Unterart der Mitgliedſchafts-
2)
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 8
[114]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
rechte bezeichnen; jedoch ſind ſie nicht ohne Weiteres in der Mit-
gliedſchaft enthalten, ſondern ſie bedürfen eines beſonderen Titels.
Dieſer Titel kann entweder ein Vertrag zwiſchen dem Reich und
dem Einzelſtaat ſein oder ein legislatoriſcher Akt des Reiches, und
der letztere wieder in dreifacher Abſtufung, entweder eine Beſtim-
mung der Verfaſſung, oder ein einfaches Geſetz oder ein Beſchluß
des Bundesraths innerhalb der demſelben zuſtehenden Kompetenz 1).
Dieſe Form ihrer Begründung iſt von Einfluß hinſichtlich der Form,
welche zu ihrer Aufhebung erforderlich iſt.


Ihrem Inhalte nach ſind die Sonderrechte:


1. Beſchränkungen der Kompetenz des Reiches,
indem einzelnen Staaten Hoheitsrechte vorbehalten ſind, welche
hinſichtlich der übrigen dem Reiche zuſtehen. Dieſe Rechte nennt man
daher Reſervatrechte. In der Norddeutſchen Bundesverfaſſung
hatten lediglich die Hanſeſtädte das Reſervatrecht, daß ſie als
Freihäfen außerhalb der gemeinſchaftlichen Zollgränze bleiben, bis
ſie ihren Einſchluß in dieſelbe beantragen. Nachdem Lübeck den
Einſchluß beantragt hat, iſt im Art. 34 der Reichs-Verfaſſung für
Hamburg und Bremen dieſes Sonderrecht anerkannt worden 2).
Bei dem Hinzutritt der ſüddeutſchen Staaten zum Reiche haben
ſich dieſelben folgende Sonderrechte reſervirt:


  • Baden. Die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins
    und Bieres bleibt der Landesgeſetzgebung vorbehalten und
    der Ertrag dieſer Steuern verbleibt Baden 3).

[115]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Württemberg


  • a) Die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und
    Bieres
    bleibt der Landesgeſetzgebung vorbehalten und
    der Ertrag dieſer Steuern verbleibt Württemberg 1).
  • b) das Recht des Reiches gemäß Art. 45 der Reichsverfaſſung
    auf die Einführung des Einpfennigtarifs für
    den Eiſenbahn-Transport der in dieſem Artikel genannten
    Gegenſtände bei größeren Entfernungen hinzuwirken, iſt
    beſchränkt durch die Beſtimmung des Schlußprotokolls vom
    25. November 1870 Nr. 2 2).
  • c) die Einrichtung und Verwaltung des Poſt- und Tele-
    graphenweſens
    und die Einnahmen der Poſt und
    Telegraphie ſind Württemberg reſervirt. Ebenſo der Erlaß
    der reglementariſchen und Tarifbeſtimmungen für den in-
    ternen Verkehr Württembergs, ſowohl der Poſt als auch
    der telegraphiſchen Korreſpondenz. Desgleichen die ver-
    tragsmäßige Regelung des unmittelbaren Poſt- und Tele-
    graphen-Verkehrs Württembergs mit ſeinen dem Reiche
    nicht angehörenden Nachbarſtaaten d. h. mit der Schweiz 3).
    Endlich iſt die Geſetzgebungs-Kompetenz des Reiches hin-
    ſichtlich der Vorrechte der Poſt in Beziehung auf den
    internen Verkehr Württembergs in ſo weit beſchränkt, als
    nur mit Zuſtimmung Württembergs der Poſt Vorrechte
    beigelegt werden können, welche derſelben nach der gegen-
    wärtigen Geſetzgebung in Württemberg nicht zuſtehen 4).
  • d) Die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung über das Reichs-
    kriegsweſen
    (XI. Abſchnitt Art. 57 — 68) finden in
    Württemberg nach näherer Beſtimmung der Militär-Kon-
    vention vom 21/25. November 1870 Anwendung.

8*
[116]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Bayern.


  • a) Die Beaufſichtigung und Geſetzgebung des Reiches iſt aus-
    geſchloſſen hinſichtlich der Heimaths- und Niederlaſ-
    ſungsverhältniſſe
    1), wohin auch das Verehelichungs-
    weſen, ſoweit es mit den Heimaths- und Niederlaſſungs-
    verhältniſſen in Zuſammenhang ſteht, gehört 2).
  • b) Eine reichsgeſetzliche Regelung des Immobiliar-Ver-
    ſicherungsweſens
    kann in Bayern nur mit Zuſtim-
    mung der Bayeriſchen Regierung Geltung erlangen 3).
  • c) hinſichtlich der Beſteuerung des inländiſchen Branntweins
    und Bieres
    hat Bayern daſſelbe Reſervatrecht wie Ba-
    den und Württemberg 4).
  • d) Die dem Reiche in den Artikeln 42—46 der Reichsverfaſ-
    ſung beigelegten Rechte hinſichtlich des Eiſenbahn-We-
    ſens
    haben für Bayern keine Geltung; jedoch kann das
    Reich auch Bayern gegenüber im Wege der Geſetzgebung
    einheitliche Normen für die Konſtruktion und Ausrüſtung
    der für die Landesvertheidigung wichtigen Eiſenbahnen
    aufſtellen.
  • e) Hinſichtlich des Poſt- und Telegraphenweſens hat
    Bayern daſſelbe Reſervatrecht wie Württemberg, abgeſehen
    von dem Vorbehalt Württembergs wegen der Vorrechte
    der Poſt 5).
  • f) Die Beſtimmungen des XI. Abſchnitts (Art. 57—64) der
    Reichsverfaſſung über das Reichskriegsweſen kommen
    in Bayern nur nach Maaßgabe des Bündnißvertrages vom
    23. November 1870 unter III. §. 5 zur Anwendung.
  • g) Das Recht des Reiches zur Aufſtellung des Militär-Etats
    iſt Bayern gegenüber nur nach näherer Anordnung der
    Schlußbeſtimmung zum XII. Abſchnitt der Reichsverfaſſung
    auszuüben.
  • h) Die Kompetenz der Normal-Eichungskommiſſion iſt in
    Bayern ausgeſchloſſen gemäß §. 3 des Geſ. v. 26. Nov. 1871.

[117]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

2. Eine zweite Klaſſe von Sonderrechten beſteht in einer be-
vorzugten Stellung einzelner Staaten hinſichtlich der Organiſa-
tion des Reiches
. Solche Rechte haben


  • a) Preußen. Dem Könige von Preußen ſteht das Präſi-
    dium des Bundes zu; dies ſchließt alle in der Reichsver-
    faſſung oder den Reichsgeſetzen dem Kaiſer oder Präſidium
    beigelegten Vorrechte in ſich 1).
  • b) Bayern hat folgende Sonderrechte:
    • α) Es hat 6 Stimmen im Bundesrath, während ihm nach
      dem in der Reichsverfaſſung zu Grunde gelegten Prinzip,
      wonach jeder Staat ſo viele Stimmen im Bundesrath
      hat, als er in dem Plenum des ehemaligen Deutſchen
      Bundes hatte, nur 4 Stimmen zukommen würden 2).
    • β) Es hat einen ſtändigen Sitz in dem Bundesraths-Aus-
      ſchuß für das Landheer und die Feſtungen 3).
    • γ) Es führt den Vorſitz in dem Ausſchuß für die auswär-
      tigen Angelegenheiten 4).
    • δ) Bayern hat den Anſpruch auf die Stellvertretung im
      Vorſitz des Bundesrathes 5).
    • ε) Die Bayeriſchen Geſandten ſollen bevollmächtigt werden,
      die Reichsgeſandten in Verhinderungsfällen zu vertreten 6).
  • c) Württemberg und Sachſen haben ſtändige Sitze in
    den Bundesraths-Ausſchüſſen für das Landheer und die
    Feſtungen und für die auswärtigen Angelegenheiten 7).

3. Endlich giebt es noch Sonderrechte, welche in finan-
ziellen Begünſtigungen einzelner Staaten beſtehen. Dieſelben wer-
den an den betreffenden Stellen Erwähnung finden 8).


Das Weſen der Sonderrechte beſteht darin, daß ſie nur
mit Zuſtimmung
des berechtigten Staates aufgehoben werden
[118]§, 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
können. Es iſt dies in einzelnen Anwendungen anerkannt, z. B.
im Württembergiſchen Schlußprotokoll Z. 3, im Bayriſchen Schluß-
protokoll Z. IV, im Art. 34 der Reichsverfaſſung, welcher die
Aufnahme der Hanſeſtädte in das Zollgebiet von einem Antrage
derſelben abhängig macht. Auch die Beſtimmung des Art. 78
Abſ. 1, wonach Verfaſſungs-Aenderungen im Wege der Geſetzge-
bung zuläſſig ſind, läßt das materielle Erforderniß der Zuſtim-
mung des berechtigten Staates bei der Aufhebung von Sonder-
rechten unberührt. In dem Badiſch-Heſſiſchen Schlußprotokoll
Ziffer 8 wurde dies „allſeitig als ſelbſtverſtändlich“ conſtatirt;
dieſelbe Beſtimmung wurde in das Bayeriſche Verfaſſungs-Bünd-
niß Ziffer V aufgenommen und ſpäter bei der definitiven Redak-
tion der Reichsverfaſſung dieſer als Art. 78 Abſ. 2 beigefügt 1).
Das Erforderniß der Zuſtimmung des berechtigten Staates hat
damit Nichts zu thun, daß Vorſchriften der Verfaſſung geändert
werden, ſondern nur damit, daß „beſtimmte Rechte einzelner Bun-
desſtaaten in deren Verhältniß zur Geſammtheit“ verändert oder
beſeitigt werden ſollen. Daſſelbe gilt daher auch von Sonder-
rechten, welche nicht in der Verfaſſung feſtgeſtellt worden ſind 2).


Zu unterſcheiden von Sonderrechten ſind aber wider-
rufliche Begünſtigungen einzelner Staaten, z. B. der zeitweiſe
Aufſchub der Einführung von Reichsgeſetzen, wie er in den Bünd-
nißverträgen mit den ſüddeutſchen Staaten verabredet wurde, oder
finanzielle Begünſtigungen auf Widerruf.


[119]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Eine beſtimmte Form für die Aufhebung von Sonderrechten
iſt weder durch poſitives Recht vorgeſchrieben, noch aus der Natur
der Sonderrechte abzuleiten. Es genügt in vielen Fällen ein that-
ſächlicher Verzicht 1). Iſt das Sonderrecht aber gleichzeitig ein
Beſtandtheil der Verfaſſung, ſo bedarf es außer der Zuſtimmung
des berechtigten Staates auch der für Verfaſſungsänderungen im
Art. 78 Abſ. 1 vorgeſchriebenen Form. Ein förmlicher Staats-
vertrag zwiſchen dem Reich und dem Einzelſtaat iſt in keinem
Falle für erforderlich zu erachten, da das Reich wegen ſeiner ſou-
veränen Macht über ſeine Glieder ſich ſtets der Form des Ge-
ſetzes bedienen kann 2). Es iſt nur nothwendig, daß es bei Aus-
übung dieſer Macht die materiellen Schranken beobachtet, welche
ihm der Rechtsſatz zieht, daß wohlbegründete Rechte nicht ohne
Zuſtimmung des Berechtigten aufgehoben werden dürfen.


In der Zuſtimmung eines berechtigten Staates zu einem
Geſetz, welches ein Sonderrecht aufhebt oder beſchränkt, iſt zugleich
ein Verzicht auf dieſes Sonderrecht enthalten. Wenn daher im
Bundesrath die Stimme des berechtigten Staates unter der, dem
Geſetz zuſtimmenden Majorität ſich befindet, ſo iſt dies zur rechts-
gültigen Beſeitigung des Sonderrechts genügend 3). Ein Zuſtim-
mung des Landtages des berechtigten Einzelſtaates iſt nicht erfor-
derlich, weder eine vorgängige vor der Beſchlußfaſſung des Bun-
desrathes noch eine nachträgliche behufs der Ratihabition des
Reichsgeſetzes. Bei allen Geſetzgebungsacten des Reiches wird der
[120]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
Wille der Bundesſtaaten, welche bei dieſen Akten mit zu wirken
berufen ſind, durch ihre Abſtimmung im Bundesrath erklärt. Eine
andere Form, wie der einzelne Staat bei Beſchlüſſen des Reiches
ſeinen beſonderen Willen zu erklären habe, kennt die Reichsver-
faſſung nicht 1). Es ergiebt ſich dies aus dem oben entwickelten
Grundſatz, daß der Wille des Reiches nicht die Summe der Wil-
len der Einzelſtaaten iſt, ſondern ein einheitlicher, ſelbſtſtändiger
Geſammtwille, an deſſen Herſtellung die Bundesſtaaten antheils-
mäßig mitwirken und zwar mitwirken durch das Organ des Bun-
desrathes 2).


Ein Reichsgeſetz, welches unter Beobachtung der Vorſchriften
des Art. 78 Abſ. 1 und 2 zu Stande gekommen iſt, hat demnach
verbindliche Kraft, auch wenn der Landtag des Einzelſtaates, deſſen
Sonderrechte beſeitigt werden, gegen die Aufhebung derſelben pro-
teſtirt hat; und, da nach Art. 2 die Reichsgeſetze den Landesge-
ſetzen vorgehen, ſelbſt dann, wenn durch ein Landesgeſetz ange-
ordnet iſt, daß der Verzicht auf ein Sonderrecht nur nach vor-
gängiger Genehmigung des Landtages erfolgen dürfe 3).


Die Zuläſſigkeit eines ſolchen Landesgeſetzes kann jedoch nicht
verneint werden. Denn da das Reichsgeſetz nicht gültig zuſtande
[121]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
kommt, wenn der Einzelſtaat gegen daſſelbe ſich erklärt, und ebenſo
wenig, wenn er ſich der Abſtimmung enthält, ſondern nur, wenn
derſelbe poſitiv ſeine Einwilligung, alſo ſeinen Verzicht auf das
Sonderrecht ausſpricht, ſo handelt die Regierung des Einzelſtaates
bei ihrer zuſtimmenden Erklärung ſtets in doppelter Eigen-
ſchaft, einerſeits als Mitglied des Reiches, andererſeits als ein
dem Reiche ſelbſtſtändig gegenüberſtehendes Rechtsſubject, welches
an das Reich ein Recht aufopfert. In dieſer letzteren Eigenſchaft
führt die Regierung nicht ein ſtaatsrechtliches Geſchäft des Reiches,
ſondern ein ſtaatsrechtliches Geſchäft des Einzelſtaates und es iſt
daher auch Sache des Einzelſtaates, die Grundſätze aufzuſtellen,
nach denen dieſes Geſchäft zu führen iſt. Soll z. B. Hamburg in
das Zollgebiet oder Württemberg in die gemeinſame Poſtverwaltung
eintreten, ſo iſt dieſer Act ſowohl von dem Intereſſe des Reiches
aus, als auch von dem Intereſſe der genannten Einzelſtaaten aus
zu prüfen und zu beſchließen und es muß zwiſchen dem Reich und
dem betreffenden Einzelſtaat ein Conſens1) erzielt werden. So
weit es ſich um den Willensentſchluß des Reichs handelt, iſt der-
ſelbe von der Zuſtimmung und Mitwirkung der partikulären
Volksvertretungen emancipirt; ſoweit die ſpecielle Zuſtimmung des
Einzelſtaates erforderlich iſt, handelt es ſich um einen Willensact
des Einzelſtaates, bei welchem deſſen Regierung die Regeln des
Landesſtaatsrechts befolgen muß. Würde unter Verletzung dieſer
Regeln der Vertreter Hamburgs im Bundesrath der Aufnahme
Hamburgs in das Zollgebiet oder der Vertreter Württembergs
dem Anſchluß dieſes Staates an die Reichspoſtverwaltung zuſtim-
men, ſo wäre das in dieſer Art zu Stande gekommene Reichsgeſetz
auch für Hamburg und Württemberg verbindlich, weil die Reichs-
verfaſſung lediglich dieſe Zuſtimmung im Bundesrath erfordert; aber
die Regierungen dieſer Staaten könnten nach Maßgabe des betref-
fenden Landesrechts wegen ihres Verhaltens zur Verantwortung
gezogen werden 2).


III.Rechte der Bundesſtaaten als Einzelner.
(Jura singulorum.)
Die Mitgliedſchaft bei einer Corporation
[122]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
abſorbirt nicht die Rechtsſphäre der Mitglieder; die letzteren hören
dadurch, daß ſie Theile einer höheren Geſammtheit werden, nicht
auf Individual-Exiſtenzen zu ſein mit ſelbſtſtändiger Perſönlichkeit.
Es ergiebt ſich daraus eine Scheidung derjenigen Rechte, welche
durch die Mitgliedſchaft, d. h. durch das Verhältniß zur Geſammt-
heit hervorgerufen und begründet werden, und derjenigen Rechte,
welche den Mitgliedern ut singulis, als Sonder-Perſönlichkeiten,
zuſtehen. Dieſe Scheidung wird durch den Zweck und die Auf-
gabe der Korporation und durch die zur Erreichung dieſes Zwecks
der Korporation verfaſſungsmäßig zugewieſenen Mittel, oder mit
einem Worte: durch die Kompetenz der Korporation näher beſtimmt.
Alles, was der Kompetenz der Korporation entzogen iſt, bildet
den Bereich der iura singulorum ihrer Mitglieder 1).


Dieſe allgemeinen, aus der Natur der Korporation ſich erge-
benden Sätze finden auch auf das Deutſche Reich Anwendung.
Die Bundesſtaaten als ſolche, als einzelne, ſind nicht völlig im
Reich aufgegangen, ihre Rechtsſphäre iſt nicht vollſtändig vom
Reich aufgeſogen worden. Soweit das Reich competent iſt, bilden
die Staaten tamquam unum corpus und ſind an der rechtlichen
Gewalt des Reiches nur als Mitglieder betheiligt, ſoweit dagegen
die Kompetenz des Reiches ausgeſchloſſen iſt, ſind die Staaten als
individuelle Perſonen des öffentlichen Rechts, als Einzelne, Sub-
jecte der Staatsgewalt.


Der Kreis der iura singulorum wird daher beſtimmt durch
die der Reichskompetenz gezogenen Gränzen. Demnach gehören
dahin:


  • 1) Alle fiskaliſchen Rechte der Einzelſtaaten, ſoweit nicht die zu
    Zwecken der Verwaltung dienenden Gegenſtände mit der Verwaltung
    ſelbſt auf das Reich übergegangen ſind, nach näherer Beſtimmung
    des Reichsgeſetzes vom 28. Mai 1873.
  • 2) Die Selbſtverwaltungsbefugniſſe der Einzelſtaaten hinſicht-
    lich der, der Geſetzgebung und Beaufſichtigung des Reiches unter-
    liegenden Angelegenheiten.

[123]§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
  • 3) Die Autonomie der Einzelſtaaten hinſichtlich der außerhalb
    der Reichskompetenz liegenden Angelegenheiten.

Die Begränzung dieſer Jura singulorum iſt ausſchließlich
Sache des Reiches 1). Da das Reich ſeine Kompetenz unter Be-
obachtung der im Art. 78 aufgeſtellten Regeln erweitern kann, ſo
iſt es ihm anheimgeſtellt, den Kreis der iura singulorum einſeitig
enger oder weiter abzuſtecken. Nach der umfaſſenden Zweckbeſtim-
mung des Reiches im Eingange der Verfaſſung und der ſachlich
unbegränzten Zuläſſigkeit der Verfaſſungs-Aenderung, alſo auch
der Kompetenz-Erweiterung nach Art. 78, giebt es keine Hoheits-
rechte der Einzelſtaaten, welche iura singulorum bleiben müſſen,
die nach der Natur des Reiches den Character der iura singulo-
rum
haben. Die Jura singulorum in dem hier entwickelten Sinne
ſind demnach keine iura quaesita, welche dem Einzelſtaat nur mit
ſeiner Zuſtimmung entzogen werden könnten 2).


Aber ſo lange die Rechtsſphäre des Reiches durch eine be-
ſtimmte Linie abgegränzt iſt, kann jeder einzelne Staat verlangen,
daß ſich die Reichsgewalt eines Uebergriffs in das jenſeits dieſer
Linie liegende Gebiet enthalte. Dies gilt nicht nur von der ver-
faſſungsmäßig
feſtgeſtellten Kompetenz, über welche hinaus
auch die Reichsgeſetzgebung nicht ſich erſtrecken darf, ohne daß
den Erforderniſſen der Verfaſſungsänderung Rechnung getragen
wird; ſondern eben ſo auch von der durch gewöhnliche Reichsge-
ſetze näher beſtimmten Sphäre der Selbſtverwaltung und Landes-
geſetzgebung, welche der Bundesrath bei ſeinen Verordnungen und
[124]§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.
der Reichskanzler ſowie alle übrigen Reichsbehörden bei ihren
Verfügungen reſpektiren müſſen.


§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.


Das Reich als Bundesſtaat ſetzt nach dem von uns entwickelten
Begriff deſſelben autonome Staaten als Mitglieder voraus. Es
entſteht daher die Frage, in wie weit die Fortexiſtenz der einzelnen
Staaten durch die Reichsverfaſſung geboten oder gewährleiſtet iſt.
Bei der Beantwortung derſelben iſt aber zunächſt die Frageſtellung
ſelbſt näher zu präciſiren, denn es kommen hier ſehr verſchiedene
Geſichtspunkte in Betracht, deren Vermengung eine richtige Beant-
wortung unmöglich macht.


Man deducirt die verfaſſungsmäßige Garantie der Einzelſtaaten
öfters aus dem Weſen des Bundesſtaates und leitet daraus die
Nothwendigkeit einer Beſchränkung der Reichscompetenz auf ein
ſolches Maaß ab, daß für die Einzelſtaaten noch Raum genug übrig
bleibt, um wirklich als Staaten bezeichnet werden zu können. Dieſe
Deduction hat zunächſt mit unſerer Frage Nichts zu thun; denn
der Begriff des Bundesſtaates würde beſtehen bleiben, wenn auch
das eine oder andere der Mitglieder verſchwinden ſollte. Man
muß zugeben, daß das deutſche Reich als Bundesſtaat nicht gedacht
werden kann ohne autonome Staaten; aber es läßt ſich gewiß nicht
behaupten, daß das deutſche Reich aufhören würde ein Bundes-
ſtaat zu ſein, wenn es ſtatt aus 25 Staaten aus 24 oder aus 18
beſtünde. Aus dieſer Erwägung folgt daher niemals eine reichs-
verfaſſungsmäßige Garantie der thatſächlich vorhandenen einzelnen
Staaten. Ferner hat aber die Reichsverfaſſung nirgends eine
Grenze gezogen, wo die Kompetenz-Erweiterung des Reiches Halt
machen müſſe. Die Möglichkeit, daß im Laufe der Zeit die ein-
zelnen Staaten ſo feſt mit einander verwachſen, daß die ihnen
verbleibende Autonomie bis zur Inhaltsloſigkeit zuſammenſchrumpft,
iſt durch den Art. 78 allerdings gegeben. Die Kompetenz-Aus-
dehnung des Reiches hat keine begriffliche Schranke, ſondern nur
eine factiſche Erſchwerung durch die im Art. 78 für Verfaſſungs-
Aenderungen erforderte Majorität erhalten. Es iſt freilich wahr,
daß, wenn das Reich ſeine Kompetenz immer weiter und weiter
ausdehnt, es ſchließlich aufhören würde, ein Bundesſtaat zu ſein;
aber es iſt in der Verfaſſung ja nirgends ausgeſprochen, daß das
[125]§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.
Reich für alle Zeit ein Bundesſtaat ſein und bleiben müſſe. Die
Verfaſſung geſtattet ebenſo wohl die Fortentwicklung in decentrali-
ſirender, föderaliſtiſcher Richtung als die Conſolidirung zum Ein-
heitsſtaat 1).


Aus dem Weſen des Bundesſtaates ergibt ſich jedoch in einer
andern Richtung eine Garantie der Exiſtenz der Einzelſtaaten und
zwar aus der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Mitglieder 2).
Nach den oben S. 112 fg. entwickelten Grundſätzen muß es als
unzuläſſig erachtet werden, daß einzelnen Staaten ohne ihre Zu-
ſtimmung durch Reichsgeſetz Hoheitsrechte entzogen werden, welche den
übrigen Staaten verbleiben. Daraus folgt, daß um ſo weniger
einzelne Staaten ohne ihre Zuſtimmung ganz aufgehoben, etwa mit
andern vereinigt oder zu Reichsland erklärt, werden können 3).
Wenn die Frage daher etwa ſo geſtellt wird, ob die Exiſtenz des
zum Bunde gehörenden Staates X. durch die Reichsverfaſſung ge-
währleiſtet wird, ſo iſt dies in dem Sinne zu bejahen, daß dieſer
Staat als einzelner vor der Unterdrückung durch die Reichs-
gewalt allerdings geſchützt iſt; nicht aber in dem Sinne, daß der
Staat X. nicht gleichzeitig mit allen übrigen Bundes-
gliedern ſeine ſtaatliche Individualität verlieren und im Reichs-
ſtaat aufgehen könnte 4). Hiergegen haben die Staaten keinen andern
Schutz als den, daß 14 Stimmen im Bundesrath genügen, um
jede Kompetenz-Erweiterung des Reiches zu verhindern, und dieſer
Schutz dürfte ſich für ſehr lange Zeit als völlig genügend er-
weiſen.


Völlig zweifellos iſt es ferner, daß die Reichsverfaſſung jeden
Bundesſtaat vor gewaltſamen und widerrechtlichen Angriffen ſichert.
[126]§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.
Der Bund, der nach dem Eingange der Reichsverfaſſung „zum
Schutze des innerhalb des Bundesgebietes gültigen Rechts“ geſchloſſen
worden iſt, iſt dadurch zum Wächter der Exiſtenz und Integrität
ſeiner Gliedſtaaten geſetzt.


Die Frage, um welche es ſich handelt, iſt daher lediglich die,
ob die rechtmäßige Vereinigung mehrerer Staaten zu Einem,
ſei es in Folge des gültigen Thronfolgerechts, ſei es in Folge
rechtsgültiger Staatsverträge, nur unter der, in der Form der
Verfaſſungs-Aenderung auszuſprechenden Genehmigung des Reiches
erfolgen dürfe. Dieſe Frage würde zu bejahen ſein, wenn die
Reichsverfaſſung die Fortdauer derjenigen Staaten, welche bei der
Reichsgründung vorhanden waren und noch jetzt beſtehen, aus-
drücklich oder ſtillſchweigend anordnen würde. In dieſem Falle
würde jeder Rechtsſatz eines partikulären Thronfolgerechts, welcher
zur Vereinigung eines Staates mit einem andern oder zur Zer-
theilung eines Staates führen würde, der Reichsverfaſſung wider-
ſprechen und folglich nach Art. 2 der R.-V. aufgehoben ſein, und
aus demſelben Grunde würde jeder Staatsvertrag, durch welchen
zwei Bundesglieder zu einem Staate ſich vereinigen, unwirkſam
ſein, ſo lange das Reich ihn nicht ſanctionirt hat. Einen ſolchen
Rechtsſatz enthält die Reichsverfaſſung aber nicht.


Die deutſchen Staaten werden an 3 Stellen der Verfaſſung
namentlich aufgeführt; im Eingange, im Art. 1 und im Art. 6.


Der Eingang zur Verfaſſung berichtet, daß der König von
Preußen im Namen des Norddeutſchen Bundes und die ſüddeutſchen
Souveräne einen ewigen Bund ſchließen. Dieſe Eingangsformel
enthält überhaupt keinen Rechtsſatz, ſondern iſt bloß referirend;
ſie bekundet nur die Thatſache, daß das Reich durch den freien
Willensentſchluß der deutſchen Souveräne errichtet worden iſt 1).
Am wenigſten aber kann man aus dieſer Eingangsformel den Rechts-
[127]§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.
ſatz ableiten, daß die darin genannten Staaten fortbeſtehen müſſen,
da ja der Norddeutſche Bund gerade durch die Gründung des
deutſchen Reiches ſeine Exiſtenz als beſonderes ſtaatliches Gemein-
weſen verloren hat.


Art. 1 betrifft, was durch ſeine Ueberſchrift noch beſon-
ders hervorgehoben iſt, das Bundesgebiet und normirt, wie
weit es ſich erſtreckt. Anſtatt die Grenzen deſſelben zu beſchreiben,
zählt Art. 1 die Theile auf, aus denen es beſteht. Er nennt
demgemäß diejenigen Staaten, deren Staatsgebiete zuſam-
men das Bundesgebiet bilden
. Davon aber ſteht im
Art. 1 Nichts, daß dieſe Theile als ſolche fortbeſtehen müſſen.
Die innere Eintheilung des Bundesgebietes in 25 Staatsgebiete
iſt nicht Gegenſtand einer Anordnung des Art. 1, ſondern die
äußere Abgrenzung des Gebietes, welches den Territorialbeſtand
des Reiches bildet 1). Falls etwa einmal die beiden Mecklenburg
zu einem Staate vereinigt und Sachſen-Koburg-Gotha in zwei
Staaten getrennt werden ſollten, ſo würde zwar die Aufzählung
in Art. 1 den thatſächlichen Verhältniſſen nicht mehr entſprechend
ſein, aber die ſtaatsrechtliche Vorſchrift über die Ausdehnung und
den Beſtand des Bundesgebietes wäre nicht verletzt.


Der Ausdruck: „Das Bundesgebiet beſteht aus den Staa-
ten
Preußen u. ſ. w.“ iſt ein offenbar incorrecter 2); das Wort
Staat kann nur in dem Sinne von „Staatsgebiet“ verſtanden
werden 3). Ganz deutlich tritt dies hervor in dem Art. 1 der Verf.
des Nordd. Bundes: „Das Bundesgebiet beſteht aus den Staaten
Preußen u. ſ. w.... und aus den nördlich vom Main be-
legenen Theilen
des Großherzogth. Heſſen.“ Dieſe Theile
bildeten keinen Staat, wohl aber ein Gebiet.


Es wird dies ferner beſtätigt durch §. 2 des Geſ. v. 25. Juni
1873 „Dem im Art. 1 der Verf. bezeichneten Bundesgebiete tritt
das Gebiet des Reichslandes Elſaß-Lothringen hinzu“ 4).
[128]§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.
Der Art. 1 ſpricht daher nur den Rechtsſatz aus, daß das Gebiet
der in ihm aufgezählten Staaten dem Reiche nicht entzogen und
kein anderweitiges Gebiet dem Reiche einverleibt werden darf, ohne
daß das Reich ſelbſt in den Formen der Verfaſſungs-Aenderung
zuſtimmt; aber Art. 1 verfügt nicht, daß die in ihm erwähnten
Staaten „Staaten bleiben müſſen.“


Art. 6 endlich betrifft die Vertheilung der Stimmen im Bundes-
rath. Aus der Faſſung, welche dieſer Artikel in der Norddeutſchen
Bundesverfaſſung und ebenſo in der mit Baden, Heſſen und Würt-
temberg vereinbarten deutſchen Bundesverfaſſung gehabt hat, er-
giebt ſich zweifellos, daß der verfaſſungsmäßige Grund-
ſatz
, welchen Art. 6 normirt, nur der iſt, „daß die Stimmfüh-
rung ſich nach Maaßgabe der Vorſchriften für das Plenum des
ehemaligen Deutſchen Bundes vertheilt“ 1). Lediglich als Conſe-
quenz dieſes Prinzips wird das Regiſter der den einzelnen
Staaten zuſtehenden Stimmen beigefügt; durch die Worte „ſo daß,“
mit denen dieſes Regiſter beginnt, wird deutlich hervorgehoben,
daß die folgende Aufzählung der Staaten und der ihnen zuſtehen-
den Stimmen, nicht den Charakter einer ſelbſtſtändigen Rechts-
ſatzung hat, ſondern nur die factiſche Durchführung des ſanctio-
nirten Prinzips enthält.


Da Bayern im Zollbundesrath jedoch durch Zutheilung von
6 Stimmen begünſtigt wurde, ſo ließ man im Art. 8 §. 1 des
Zollvertrages vom 8. Juli 1867 das Prinzip ganz weg und ſtellte
nur das Regiſter der Stimmen auf und ebenſo wurde in dem Ver-
faſſungs-Bündniß mit Bayern die jetzige Faſſung des Artikels 6
verabredet, welche die ausdrückliche Erwähnung des für die Stim-
menvertheilung maaßgebenden Prinzips zwar vermeidet, es dadurch
aber doch als materiell fortwirkend anerkennt, daß die Preußen
zuſtehenden 17 Stimmen „mit den ehemaligen Stimmen
von Hannover, Kurheſſen, Holſtein, Naſſau und Frankfurt“ ge-
[129]§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.
rechtfertigt werden. Das Wort „ehemalig“ kann keinen andern
Sinn haben als die Bezugnahme auf den Bundestag.


Aus dieſen Erwägungen folgt, daß Art. 6 der Reichsverf.
in ſeinem dispoſitiven Beſtande eine Beſtimmung trifft über die
Stimmen der thatſächlich vorhandenen 25 Staaten, nicht aber eine
Anordnung über das Vorhandenſein der 25 in ihm ge-
nannten Staaten 1). Allerdings würde eine Aenderung in dem
vorhandenen Beſtande der deutſchen Bundesſtaaten eine formelle
Aenderung des Wortlautes des Art. 6 und möglicher Weiſe 2)
eine Modifizirung des dem Artikel zu Grunde liegenden Prinzips
der Stimmen-Vertheilung zur Folge haben; dagegen würde ſie
nicht in ihrer rechtlichen Gültigkeit von einer Aenderung des Art.
6 bedingt ſein.


Ergiebt ſich ſonach, daß die Reichsverfaſſung keine poſitive
Anordnung enthält, welche eine Aenderung in der Zahl und dem
Beſtande der Mitglieder des Reiches unterſagt, und iſt ebenſowenig
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 9
[130]§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.
aus dem Weſen des Reiches als Bundesſtaat eine ſolche Unver-
änderlichkeit des Mitglieder-Beſtandes herzuleiten, ſo folgt, daß
alle Rechtstitel, welche zur rechtmäßigen Verſchmelzung Deutſcher
Staaten mit einander führen könnten, nämlich Thronfolgerechte
und Verträge — nach dem Vorbilde der zwiſchen Preußen und
den Hohenzollern’ſchen Fürſtenthümern abgeſchloſſenen — mit
voller Wirkung fortbeſtehen und gerade nach dem Eingange der
Reichsverf. vom Reich „geſchützt“ werden ſollen 1).


Viertes Kapitel.
Die natürlichen Grundlagen des Reiches. (Volk
und Land).


Erſter Abſchnitt.
Reichs-Angehörige
*).


§. 13. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.


Die herrſchende Theorie vom Weſen des Bundesſtaates führt
nothwendig zur Annahme eines getheilten oder doppelten Bürger-
[131]§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.
rechts. Da der Geſammtſtaat und der Gliedſtaat zwei einander
nebengeordnete Staaten ſein ſollen, unter denen die Souveränetät
getheilt ſei, ſo ergiebt ſich, daß der Einzelne in gewiſſen Beziehungen
dem einen, in anderen Beziehungen dem anderen Staate angehört,
daß er Bürger zweier coordinirter Staaten iſt, daß aber ſein Bür-
gerrecht, da keiner dieſer beiden Staaten ein vollſtändiger Staat
iſt, in keinem derſelben ein volles Staatsbürgerrecht iſt. Am Be-
ſtimmteſten ſpricht ſchon v. Mohl Bundesſtaatsrecht der Vereinigten
Staaten S. 380 dies aus: „Da der Bund aus zweierlei Staaten
beſteht, dem Bundesſtaate und den einzelnen Bundesgliedern, ſo
ſteht auch den Bewohnern ein zweifaches Bürgerrecht zu, das des
ſpeziellen Staats, welchen ſie bewohnen, und dann das allgemeine
Bürgerrecht des Bundes.“ Waitz Politik S. 171 citirt mit voller
Zuſtimmung eine Aeußerung des Herrn von Radowitz, welcher
mit Beziehung auf die 1849 in Ausſicht genommene Verfaſſung
ſagt: „Daher ſteht in gewiſſen Beziehungen jeder Deutſche unter
der Centralgewalt, in anderen Beziehungen unter der einzelnen
Staatsgewalt, in keiner Beziehung aber unter beiden zugleich“1),
*)
9*
[132]§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.
und Waitz ſelbſt erklärt S. 200: „Die Angehörigen eines Bun-
desſtaates bilden Ein Volk, das eine doppelte ſtaatliche Organiſation
empfangen hat; an der einen nehmen ſie Theil, in welchem Ein-
zelſtaat ſie auch wohnen; denn nicht durch dieſen, ſondern
unabhängig von demſelben, ſind ſie Bürger des
Geſammtſtaates
.“


Dieſe Anſchauung iſt mit der Theorie vom Bundesſtaat zu
faſt allgemeiner Herrſchaft gelangt und die überwiegende Mehrzahl
aller Schriftſteller über das Recht des Nordd. Bundes und des
Deutſchen Reiches iſt nicht nur darüber vollkommen einverſtanden,
daß es neben dem Staatsbürgerrecht ein davon begrifflich verſchie-
denes Reichsbürgerrecht oder Reichs-Indigenat giebt, ſondern ſie
begründet auch gerade damit ihre Charakteriſtik des Reiches als
eines Bundesſtaates 1).


Sowie aber an der Verfaſſung des deutſchen Reichs die bis-
herige Theorie vom Weſen des Bundesſtaates überhaupt Schiffbruch
leidet, ſo auch insbeſondere in Beziehung auf das Reichs- und
Staatsbürgerrecht. Jeder Verſuch, den Inhalt dieſer beiden Bür-
gerrechte gegeneinander abzugränzen, erweiſt ſich ſofort und nach
allen Richtungen hin als unmöglich; es giebt nicht zwei Sphären
hinſichtlich des ſtaatlichen Lebens, von denen die eine durch das
Reichsbürgerthum, die andere durch das Landesbürgerthum aus-
gefüllt würde. Auf welches Gebiet ſtaatlichen Lebens man auch
den Blick richtet, faſt nirgends kann man beſtimmen, wo der Ein-
zelne Staatsbürger wo er Reichsbürger iſt; in der Regel iſt er
beides zugleich.


In das entgegengeſetzte Extrem verfällt Seydel. Er leugnet
ganz das Vorhandenſein eines Reichsbürgerrechts; in conſequenter
Durchführung ſeiner Grundanſchauung, daß das Reich ein Staaten-
bund ſei, nimmt er nur das einfache Unterthanenverhältniß dem
eigenen Staate gegenüber an. „Indem der Einzelne der Bundes-
gewalt gehorcht, gehorcht er ihr als der von ſeinem Staate be-
ſtellten Gewalt, er gehorcht ſeiner eigenen Staatsgewalt.“ (S. 43.)
1)
[133]§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.
Zur Begründung ſeiner Anſicht macht Seydel geltend, daß Art.
3 der Reichsverf. von einem Reichsbürgerrecht gar nicht handelt
und alle in dieſem Artikel gewährleiſteten Rechte nicht im Ver-
hältniß zum Reich begründet ſind, ſondern den Staatsbürgern
eines Bundesſtaates in den andern einzelnen [Bundesſtaaten] zu-
ſtehen, wie ſie ihnen ebenſo vertragsmäßig auch in außerdeutſchen
Staaten zugeſichert werden können. Seydel ſelbſt ſieht ſich aber
genöthigt, ſeine Theorie zu verleugnen, indem er S. 45 erklärt,
daß er „als praktiſchen Inhalt des Bundesbürgerrechts höchſtens
das Reichstagswahlrecht zu nennen wüßte,“ und unmittelbar da-
rauf unter 8 Nummern einen Katalog „der Rechte und Pflichten,
welche ſich allenfalls unter dem Begriffe eines Bundesindigenats
zuſammenfaſſen ließen,“ aufſtellt 1). Er kann ſich daher der That-
ſache doch nicht verſchließen, daß die Reichs-Angehörigkeit ein
ſtaatsrechtlich relevanter Begriff und die gemeinſame Vorausſetzung
oder der Rechtsgrund einer Reihe von Rechten und Pflichten iſt.


Das richtige Verhältniß des Landesbürgerrechts zum Reichs-
bürgerrecht ergiebt ſich aus dem von uns entwickelten Weſen des
Bundesſtaates. Der Bundesſtaat iſt ein zuſammengeſetzter Staat,
deſſen Mitglieder die Einzelſtaaten ſind, die Bundesſtaatsgewalt iſt
eine ſouveräne Gewalt über den Einzelſtaaten. Die Einzelſtaaten
können nicht getrennt von ihrem Subſtrat, ihren Angehörigen, dem
Reiche unterworfen ſein, ſondern natürlicher Weiſe nur mit Land
und Leuten. Die Herrſchaftsrechte des Reiches über die Staaten
involviren daher zugleich Herrſchaftsrechte über die Angehörigen
dieſer Staaten, gleichviel in welcher Form ſie geltend gemacht
werden; die Pflichten, welche das Reich den Einzelſtaaten abge-
nommen hat, um ſie ſelbſt an ihrer Stelle auszuüben, erfüllt es
für die Angehörigen der Staaten. Die Bürger des Einzelſtaates
haben daher gegen die Reichsgewalt Unterthanen-Pflichten und
ſtaatsbürgerliche Rechte. Weil der Einzelne ein Angehöriger des
Staates Preußen oder Sachſen iſt und weil der Staat Preußen
und der Staat Sachſen zum Reiche gehören und der Reichsgewalt
unterworfen ſind, darum iſt der Preuße und der Sachſe ein
[134]§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.
Angehöriger des Reichs und der Reichsgewalt unterthan. Man
braucht nur den oben angeführten Satz von Waitz umzukehren
und man erhält den vollkommen getreuen Ausdruck der Wahrheit.
Die Angehörigen eines Bundesſtaates ſind nicht
unabhängig von demſelben, ſondern durch dieſen
Bürger des Geſammtſtaates
. Der Einzelne hat nicht zwei
Staatsgewalten über ſich, welche einander nebengeordnet ſind
und von denen eine jede einen Theil der obrigkeitlichen Rechte
in ſich ſchließt; ſondern er hat zwei Staatsgewalten über ſich, welche
einander übergeordnet ſind. Man kann das Reich einer An-
zahl von Häuſern vergleichen, über welche eine gemeinſame Kuppel
gewölbt iſt; die Inſaſſen wohnen nicht theilweiſe unter dem Sepa-
rat-Dach ihres Hauſes und theilweiſe unter der gemeinſamen Kup-
pel, ſondern unter beiden zugleich. Die Reichsangehörigkeit iſt
keine ſelbſtſtändige Eigenſchaft, ſondern ſie drückt mit einem Worte
zwei verbundene Eigenſchaften aus, nämlich daß Jemand einem
Staate angehört, welcher dem Reiche angehört. Die Reichsunter-
thänigkeit iſt keine unmittelbare, ſondern eine mittelbare; die Ein-
zelſtaatsgewalt bildet das Medium.


Die herrſchende Theorie ſtützt ſich vorzüglich darauf, daß die
Reichsgeſetze ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von
Reichswegen erhalten. Hierin erblickt man den Ausdruck der un-
mittelbaren Herrſchaft des Reiches über die Angehörigen; während
man eine mittelbare Unterordnung nur dann annimmt, wenn eine
landesgeſetzliche Publikation hinzukommen muß, um den Bundes-
geſetzen Geltung zu verſchaffen. Es iſt oben S. 80 ff. bereits ge-
zeigt worden, daß dieſe Beweisführung unhaltbar iſt.


Der Erlaß des Reichsſtrafgeſetzbuchs, des Preßgeſetzes, der
Gewerbe-Ordnung iſt allerdings kein bloßer Beſchluß, wie die Ein-
zelſtaaten die Handhabung der Strafjuſtiz, des Preßweſens, des
Gewerbe-Weſens geſetzlich zu normiren haben, ebenſo wenig aber
eine Emanzipation des einzelnen Staatsbürgers von ſeiner
Staatsgewalt, und eine directe Unterwerfung unter die obrigkeit-
liche Hoheit des Reiches, ſondern eine Aufſtellung von Rechts-
normen über die Handhabung der Strafjuſtiz, des Preßweſens,
des Gewerbe-Weſens, die der Einzelſtaat als ſolcher, zugleich aber
auch alle ſeine Behörden und Angehörigen zu befolgen und zu be-
achten haben.


[135]§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.

Aus der verbindlichen Kraft der Reichsgeſetze, ohne daß die-
ſelben Seitens der Einzelſtaaten publizirt werden, folgt daher
Nichts für die Frage, ob die Individuen unmittelbar oder durch
Vermittlung der Einzelſtaaten der Reichsgewalt unterworfen ſind.
Ebenſo wenig kann dies daraus gefolgert werden, daß das Reich
für einige Zweige ſeiner Thätigkeit einen eigenen Behörden-Appa-
rat mit Exekutiv-Gewalt hat. Denn wie wir oben näher aus-
geführt haben, widerſpricht es dem Begriff des Bundesſtaates
nicht, wenn die Centralgewalt einzelne Befugniſſe der Selbſt-
verwaltung den Einzelſtaaten entzieht und ſich ſelbſt beilegt.


Geht man von der Anſchauung aus, daß das Reich eine
ſtaatliche Einigung der deutſchen Staaten iſt, ſo ergiebt ſich
für das Verhältniß von Staatsbürgerrecht und Reichsbürgerrecht
Folgendes:


1. Das Staatsbürgerrecht iſt das primäre Verhältniß; es
zieht ohne Weiteres das Reichsbürgerrecht nach ſich. Wer Bür-
ger eines zum Reich gehörenden Staates iſt, der bedarf keines
beſonderen Erwerbsactes um das Reichsbürgerrecht zu erlangen,
er nimmt als Mitglied ſeines Staates am Reiche Theil.
Er kann aber nicht Reichs-Angehöriger ſein ohne einem deutſchen
Einzelſtaat anzugehören; denn das unmittelbare Subſtrat des
Reiches ſind die deutſchen Staaten, nicht das deutſche Volk. (Siehe
oben S. 86 fg.) Das Staatsbürgerrecht iſt daher die weſentliche
Vorausſetzung zur Erlangung des Reichsindigenats. Es kann
Niemand Reichsbürger werden, der nicht in irgend einem deutſchen
Staat die Staatsangehörigkeit erworben hat; es giebt keine Natu-
raliſation durch das Reich unmittelbar 1). Ebenſo wenig kann die
Reichsangehörigkeit für denjenigen fortdauern, der aufgehört hat,
einem deutſchen Staate anzugehören; man kann nicht das Reichs-
bürgerrecht ſich vorbehalten, wenn man die Staatsangehörigkeit
aufgiebt oder verliert.


  • Reichsgeſ. v. 1. Juni 1870 § 1. Die Bundesangehörig-
    [136]§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.
    keit wird durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundes-
    ſtaate erworben und erliſcht mit deren Verluſt 1).

2. Die Staatsangehörigkeit kann wechſeln, während das
Reichsbürgerrecht unverändert bleibt, wenn der Einzelne nur nicht
aus dem Kreiſe der zum Reiche verbundenen Staaten ausſcheidet.
Der Wechſel der Staatsangehörigkeit innerhalb des Reiches löſt
das politiſche Band, in welchem ſich der Einzelne befindet, nicht
vollſtändig und begründet kein völlig neues; wer in einen anderen
deutſchen Staat überwandert, rückt nur an ein anderes Glied der-
ſelben feſtgeſchloſſenen Kette. Eine Veränderung der ſouve-
ränen
Staats-Gewalt, welcher er unterworfen iſt, vollzieht ſich
für ihn nicht; nur die mit Autonomie und Selbſtverwaltung aus-
geſtattete Unter-Staatsgewalt wird vertauſcht. Dies hat zwei ſehr
bedeutende Rechtsfolgen.


a) Jeder Angehörige eines deutſchen Staates kann in jedem
anderen deutſchen Staate, in welchem er ſeine Niederlaſſung be-
wirkt, die Aufnahme als Staatsbürger verlangen 2). Kein Staat
darf ſich gegen die Mitglieder der übrigen Staaten abſchließen
oder ihre Aufnahme an läſtige Bedingungen, Einzugsgelder, Ge-
bühren u. dgl. knüpfen. Die Gemeinſamkeit des Reichsverbandes
begründet unter den Angehörigen aller einzelnen Staaten die „po-
litiſche Freizügigkeit“ 3). Die wichtigſten ſtaatlichen Aufgaben
werden für das ganze Reich gemeinſchaftlich gelöſt und deshalb
kann derjenige, der dem Ganzen bereits angehört, von einem
einzelnen Theile nicht als ein Fremder abgeſtoßen werden 4).


b) Es kann Jemand gleichzeitig mehreren deutſchen Staaten
[317[137]]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
angehören. Da die weſentlichſten politiſchen Intereſſen für alle
dieſelben ſind, ſo kann die gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren
deutſchen Staaten keine erhebliche Colliſion der Pflichten der Treue
und des Gehorſams begründen. Es fallen daher die aus der
ethiſchen Natur des Staatsbürgerverhältniſſes entnommenen Gründe,
welche faſt regelmäßig es ausſchließen, daß Jemand gleichzeitig
mehreren Staaten angehört 1), für die im deutſchen Reich verbun-
denen Staaten fort.


§ 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.


Die Reichsangehörigen haben gegen das Reich dieſelben Pflich-
ten, welche in jedem Staate den Staatsangehörigen obliegen, näm-
lich zum verfaſſungsmäßigen Gehorſam und zur Treue.


1. Die Gehorſamspflicht.

Das Weſen der Zugehörigkeit zu einem ſtaatlichen Organis-
mus beſteht in der Unterthanenſchaft, d. h. in der Unterwerfung
unter die obrigkeitliche Herrſchermacht. Der Bürger iſt als Ein-
zelner Object der obrigkeitlichen Rechte des Staates; die Willens-
ſphäre des Staates richtet ſich gegen ihn und verpflichtet ihn zu
Handlungen, Leiſtungen und Unterlaſſungen behufs Durchführung
der dem Staate obliegenden Aufgaben 2). Der Angehörige eines
deutſchen Staates iſt nun der Staatsgewalt ſeines Staates und
mit dieſem Staat der darüber ſtehenden, ſouveränen Gewalt des
Reiches unterthan. Daraus ergiebt ſich, daß der Inhalt des
Staatsbürgerrechts und der des Reichsbürgerrechts
ſich zu einander ganz ſo verhalten, wie die Kom-

[138]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
petenz der Staatsgewalt zu der des Reiches. So-
weit das Reich ſeine eigene Kompetenz beſchränkt und die einzelnen
Staaten eine ſelbſtſtändige Lebensthätigkeit entfalten läßt, beſchränkt
das Reich auch das Maaß ſeiner obrigkeitlichen Herrſcher-Rechte
und läßt die Einzelſtaaten in deren Beſitz; in demſelben Umfange
iſt daher der Einzelne Object der Territorial-Staatsgewalt, Lan-
desunterthan, Staatsbürger. In allen Beziehungen dagegen, in
denen das Reich ſeine ſtaatliche Macht entfaltet, obrigkeitliche
Herrſchaftsrechte ausübt, iſt der Einzelne das Object der Reichs-
gewalt, ſei es nun daß das Reich ſeine Gewalt unmittelbar oder
durch Vermittlung und Verwendung der Staatsgewalt des Einzel-
ſtaates zur Geltung bringt. Die Reichangehörigkeit iſt weſentlich
Reichsunterthanenſchaft, d. h. die Pflicht den Geboten und Ver-
boten der Reichsgewalt, welche in geſetzlicher, dem Recht entſpre-
chender Weiſe erlaſſen werden, Gehorſam zu leiſten. Da nun die
Kompetenz des Reiches und die der Einzelſtaaten vielfach ineinander
geſchlungen iſt und die letzteren auch auf den dem Reich zugewie-
ſenen Gebieten des Staatslebens regelmäßig Selbſtverwaltung
haben, ſo läßt ſich die in der Reichsunterthanenſchaft liegende Ge-
horſamspflicht nicht von der in der Landesangehörigkeit begründeten
äußerlich abgrenzen. Wer einem ſtrafrichterlichen Erkenntniß oder
der Verfügung einer Zollbehörde nachkömmt, wer den Anordnungen
der Militärbehörde gemäß ſich zur Aushebung geſtellt, u. ſ. w.
der leiſtet gleichzeitig dem Reich Gehorſam, welches die
Straf- Zoll- und Militärgeſetze erlaſſen hat, und dem Einzel-
ſtaat
, welcher dieſe Geſetze handhabt 1). Es iſt daher unmöglich,
die Pflichten einzeln aufzuzählen, welche das Reichsbürgerrecht
involvirt und ihnen diejenigen gegenüber zuſtellen, welche mit
dem Staatsbürgerrecht verknüpft ſind. Auch die Pflichten, die
[139]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
Reichsſteuern zu entrichten und die vom Reich angeordneten Heer-
dienſte zu leiſten, ſind nicht von den Hoheitsrechten des Einzel-
ſtaates losgelöſt 1) und in keinem Falle erſchöpfen ſie die durch die
Reichsangehörigkeit begründete Unterthanen-Pflicht 2).


2. Die Treuverpflichtung.

Dieſelbe iſt juriſtiſch in ihrer negativen Richtung von
Bedeutung d. h. ſie involvirt die Rechtspflicht zur Unterlaſſung
von Handlungen, welche auf die Beſchädigung des Staates ab-
zielen.


Der Staat bedroht ſolche Handlungen zwar auch mit Strafe,
wenn ſie von einem Ausländer begangen werden; ja in den ſchwer-
ſten Fällen ſelbſt dann, wenn ſie ein Ausländer im Auslande
begeht 3). Aber es beruht dies nicht darauf, daß der Ausländer
durch ſeine Handlung eine Rechtspflicht verletzt, ſondern auf dem
politiſchen Intereſſe des Staates, ſich durch die Strafdrohungen
gegen feindliche Angriffe zu ſchützen, von wem dieſelben auch aus-
gehen.


Der „Verrath“ ſetzt nach dem Sinne des Wortes und dem
Rechtsbewußtſein des Volkes die Verletzung eines Treuverhält-
niſſes, der Hoch- und Landesverrath den Treubruch des Staats-
genoſſen gegen den Staat und das Vaterland voraus 4). In
[140]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
analoger Weiſe beruht die ſtrafrechtliche Ausſonderung der Maje-
ſtätsbeleidigung als eines beſonderen Delicts auf der Verpflichtung
des Staats-Angehörigen zur Treue und Pietät gegen den Träger
der Staatsgewalt oder den vornehmſten Vertreter des Staates 1).
Hoch- und Landesverrath und Majeſtätsbeleidigung enthalten, weil
ſie zu den Staatsverbrechen gehören, ein ſubjectives Moment von
ſtaatsrechtlicher Natur und ſo wie der Begriff des Bundesſtaates
ſich von Einfluß zeigt auf die geſetzliche Feſtſtellung ihres That-
beſtandes, ſo iſt auch umgekehrt aus den ſtrafrechtlichen Beſtim-
mungen über dieſe Delicte eine Beleuchtung des Unterthanen-
Verhältniſſes zu gewinnen 2).


Aus dem Begriffe des Bundesſtaates folgt nun, daß die
Verpflichtung zur Treue ſvwohl gegen den Gliedſtaat, dem Jemand
angehört, als auch gegen den Geſammtſtaat begründet iſt; daß
demnach feindſelige Handlungen ſowohl gegen jenen wie gegen dieſen
durch das ſubjective Moment des Treubruches zum Verrath im
eigentlichen Sinne geſtempelt werden. Ebenſo iſt die Beleidigung
des Oberhauptes des Reiches in gleicher Weiſe wie die Beleidigung
des eigenen Landesherrn eine Verletzung der mit der Unterthanen-
Treue verbundenen Pietätspflicht.


Dagegen fehlt es an dieſer ſubjectiven Treuverpflichtung im
Verhältniß zu den anderen Einzelſtaaten und ihren Landesherren.


Damit iſt natürlich nicht geſagt, daß eine ſolche Handlung
ſtraflos bleiben müſſe. Es ergiebt ſich vielmehr aus dem freund-
ſchaftlichen Verhältniß der Staaten, aus der Solidarität ihrer
Intereſſen und der ſogen. comitas nationum, daß feindliche Hand-
lungen gegen „befreundete“ Staaten und Beleidigungen ihrer Sou-
veräne unter der Bedingung der Reciprocität beſtraft werden.
4)
[141]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
Schon dieſes Prinzip würde genügen, um feindliche Handlungen
gegen irgend einen Bundesſtaat und Beleidigung irgend eines
Bundesfürſten unter Strafe zn ſtellen. Die bundesſtaatliche Eini-
gung derſelben hat aber noch weiter gehende Folgen. Die übrigen
Gliedſtaaten außer demjenigen, welchem der Thäter angehört, ſind
mehr als befreundete Staaten, ſie ſind verbündete d. h. Theile
des geſammtſtaatlichen Organismus 1). Daraus folgt zunächſt der
Wegfall der Bedingung der Reciprozität
. Durch das
gemeine Strafgeſetz, welches allgemein die feindliche Handlung
gegen jeden zum Bunde gehörenden Staat und die Beleidigung
der Bundesfürſten mit Strafe bedroht, iſt dieſe Bedingung von
ſelbſt erfüllt. Ueberdies rechtfertigt ſich aber auch eine höhere
Normirung des Strafmaaßes durch das enge ſtaatsrechtliche und
nationale Band, welches die Gliedſtaaten umſchlingt, durch die
höhere Gemeinſamkeit der Intereſſen, welche unter ihnen beſteht,
durch die größere Entwicklung des Verkehrs unter ihren Angehö-
rigen und durch den Antheil, welchen die Landesherren aller ein-
zelnen Staaten an der Reichsgewalt haben 2).


Es ergiebt ſich daher hinſichtlich der Unterthanen des Reiches
eine dreifache Abſtufung des Verbrechensbegriffs nach Maaßgabe
der Staats-Angehörigkeit:


  • a) Der eigentliche Landesverrath und die eigentliche Majeſtäts-
    beleidigung richtet ſich entweder gegen das Reich und deſſen
    Oberhaupt oder gegen den eigenen Staat und deſſen Lan-
    desherrn. Gleichgeſtellt iſt der Staat und deſſen Landes-
    herr in deſſen Gebiet man ſich unter dem Schutze deſſelben
    aufhält. (Siehe unten § 22. III.)
  • b) Feindliche Handlungen gegen andere Bundesſtaaten oder
    Beleidigungen anderer Bundesfürſten, als der unter a) ge-
    nannten.

[142]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
  • c) Feindliche Handlungen gegen befreundete, nicht zum Reiche
    gehörende Staaten und Beleidigungen ihrer Landesherren,
    deren Stafbarkeit unter der Bedingung der Reciprozität
    ſteht.

Dieſe dreifache Gliederung hat das Reichsſtrafgeſetzbuch in der
That durchgeführt bei dem hochverrätheriſchen Mordverſuch (§ 80.
81. 102.) und der Fürſten-Beleidigung. In dem zweiten Theile
des R.-Str.-G.-B.’-s behandelt der 2. Abſchnitt gleichmäßig die
Beleidigung des Kaiſers und des eigenen Landesherrn, der
3. Abſchnitt die Beleidigung anderer Bundesfürſten, der 4. Ab-
ſchnit § 103 die Beleidigung von Landesherren nicht zum deutſchen
Reiche gehörender Staaten, welche ſtrafbar iſt, wofern dem deut-
ſchen Reiche die Gegenſeitigkeit verbürgt iſt 1).


In dieſen Beſtimmungen ſpiegelt ſich das ſtaatsrechtliche Ver-
hältniß getreu wieder. Das Unterthanenverhältniß beſteht zum
eigenen Staate und zum Reiche und deshalb ſind in jedem Staate
der eigene Landesherr und der Kaiſer (als Oberhaupt des Reiches 2)
mit einem höheren ſtrafrechtlichen Schutze gegen Thätlichkeiten und
Beleidigungen ausgeſtattet wie die anderen deutſchen Landesherren,
während andererſeits die ſtaatliche Zuſammengehörigkeit der deutſchen
Staaten in der Unterſcheidung zwiſchen Bundesfürſten und fremden
Landesherren einen Ausdruck gefunden hat.


Was diejenigen Handlungen anlangt, welche den objectiven
Thatbeſtand des Hoch- und Landesverrathes bilden, ſo ergibt ſich
zunächſt aus dem ſtaatlichen Charakter des Reiches ein bemerkens-
werther Unterſchied gegen das zur Zeit des deutſchen Bundes gültig
[143]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
geweſene Recht. Gegen den deutſchen Bund konnte ein Hochverrath
oder Landesverrath nicht begangen werden; das Bundesverhältniß
war kein Gegenſtand eines Staatsverbrechens, der Bund hatte
keine Staatsangehörigen 1). Allerdings beſtimmte der, in allen
Bundesſtaaten publizirte Bundesbeſchluß v. 18. Auguſt 1836 2),
daß die gegen die Exiſtenz, Integrität, Sicherheit oder Verfaſſung
des deutſchen Bundes gerichteten Handlungen in dem Staate,
in dem der Thäter Unterthan iſt
, als Hochverrath, Lan-
desverrath oder unter einer anderen Benennung geſtraft werden
ſollen, unter welcher die gleiche Handlung, gegen den einzelnen
Staat ſelbſt begangen, zu ſtrafen ſein würde. In dieſem Beſchluß
ſelbſt aber wird als Grund angegeben, daß die Verfaſſung des
deutſchen Bundes auch ein Theil der Landesverfaſſung
ſei. Die Bundesinſtitutionen hatten daher keinen ſelbſtändigen
oder unmittelbaren Schutz, ſondern nur mittelbar durch den Schutz
der Verfaſſungs-Einrichtungen der einzelnen Staaten; Unterneh-
mungen gegen den Bund waren nur ſtrafbar als Hoch- oder Lan-
desverrath gegen den Einzelſtaat 3).


Durch den Art. 74 der Verfaſſung hat ſich dieſes Verhältniß
vollſtändig geändert. Zwar lehnt er ſich in ſeiner Faſſung an den
Wortlaut des Bundesbeſchluſſes von 1836 an, weil es zur Zeit
der Errichtung des Norddeutſchen Bundes noch kein gemeines Straf-
recht gab; aber er beſtimmt nicht, daß der Hochverrath oder Lan-
desverraty gegen das Reich als Hoch- oder Landesverrath gegen
den einzelnen Staat, in deſſen Gebiet die That verübt worden iſt,
anzuſehen ſei, ſondern daß er ebenſo wie der Hoch- oder Lan-
desverrath in den einzelnen Staaten zu beſtrafen ſei 4). Gegen-
ſtand des Verbrechens iſt nicht der Einzelſtaat in ſeiner Eigenſchaft
als Bundesglied, ſondern das Reich ſelbſt 5). Das Reichs-Straf-
Geſetz-Buch hat die partikulären Geſetze beſeitigt und die Beſtra-
fung des Hoch- und Landesverrathes ſowohl gegen das Reich als
[144]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
auch gegen die einzelnen Staaten geregelt. Im §. 81 wird das
Unternehmen, „die Verfaſſung des Deutſchen Reichs gewaltſam
zu ändern oder das Bundesgebiet ganz oder theilweiſe einem frem-
den Staate gewaltſam einzuverleiben oder einen Theil deſſelben
vom Ganzen loszureißen,“ als ein ſelbſtſtändiger Thatbeſtand des
Hochverraths anerkannt und völlig gleichartig neben den Fall ge-
ſtellt, daß ein gleiches Unternehmen gegen einen Bundesſtaat ge-
richtet wird. Ebenſo führt der §. 92 die Gefährdung des Wohles
und der Rechte des Deutſchen Reiches neben der Gefährdung des
Wohles und der Rechte eines Bundesſtaates auf. Das Reich
erſcheint auch in dieſer Beziehung als Staat, nicht als Staaten-
bund. Endlich ſind der Bundesrath und der Reichstag und ſeine
Mitglieder grade ebenſo wie die geſetzgebenden Verſammlungen
der einzelnen Staaten und deren Mitglieder gegen gewaltſame
Angriffe und gegen Beleidigungen geſchützt. Reichs-Straf-Geſetz-
Buch §. 105. 106. 196. 197.


Aber auch in einer anderen Beziehung hängt die ſtrafrecht-
liche Geſtaltung des Landesverrathes mit der bundesſtaatlichen
Verfaſſung des Reiches zuſammen. Die Kompetenz-Abgränzung
zwiſchen Reich und Einzelſtaat, welche, wie wir ausgeführt haben,
für die Beſtimmung der Unterthanen-Pflichten maßgebend iſt, hat
auch zur Folge, daß ein Landesverrath in gewiſſen Fällen nur
gegen das Reich, nicht gegen den Einzelſtaat verübt werden kann.


Bekanntlich theilt man den Landesverrath ein in den mili-
täriſchen und diplomatiſchen. Der militäriſche Landesver-
rath
beſteht in der Aufreizung eines fremden Staates zum Kriege
gegen das Vaterland oder in der Unterſtützung, Begünſtigung und
Vorſchubleiſtung des Feindes nach ausgebrochenem Kriege. Da nun
die einzelnen Staaten das Recht der Kriegsführung nicht haben,
dieſes vielmehr ausſchließlich dem Reich zuſteht, ſo kann ſich ein
ſogenannter militäriſcher oder Kriegs-Landesverrath niemals gegen
einen Gliedſtaat, ſondern immer nur gegen den Geſammtſtaat
richten 1) und es kömmt daher auch in ſubjectiver Beziehung le-
diglich die Reichsangehörigkeit, nicht die Staatsangehörigkeit in
[145]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
Betracht. Demgemäß bedrohen die §§. 87—90 „einen Deutſchen,“
welcher die daſelbſt angeführten Handlungen gegen das Deutſche
Reich oder deſſen Bundesgenoſſen verübt, mit Strafe 1).


In einem inneren Zuſammenhange damit ſteht die Beſtimmung
des Geſetzes über die Bundes- und Staatsangehörigkeit v. 1. Juni
1870 §. 20
„Deutſche, welche ſich im Auslande aufhalten, können ihrer
Staatsangehörigkeit durch einen Beſchluß der Centralbehörde
ihres Heimathsſtaates verluſtig erkärt werden, wenn ſie
im Falle eines Krieges oder einer Kriegsgefahr einer durch
das Bundespräſidium für das ganze Bundesgebiet anzu-
ordnenden ausdrücklichen Aufforderung zur Rückkehr binnen
der darin beſtimmten Friſt keine Folge leiſten.“


Auch dieſe Beſtimmung hat ihren Grund in der Verpflichtung
zur Treue aller Reichsangehörigen gegen das Reich in denjenigen
Angelegenheiten, die allgemeine Reichsintereſſen betreffen und iſt
für das Verhältniß von Staatsbürgerrecht und Reichsbürgerrecht
ſehr bezeichnend. Der Kriegszuſtand und die Kriegsgefahr bedro-
hen das Reich als Ganzes; der Aufenthalt von Deutſchen im
Auslande zu ſolcher Zeit kann daher nur mit der Unterthanen-
treue gegen das Reich, nicht gegen einen einzelnen Staat, colli-
diren. Deshalb iſt die Aufforderung zur Rückkehr vom Kaiſer, nicht
von den einzelnen Staaten zu erlaſſen. Die Aufforderung darf
ferner nicht für die Angehörigen eines oder einiger Staaten ge-
ſchehen, ſondern ſie iſt gleichzeitig für die Angehörigen aller Bun-
desſtaaten, oder wie das Geſetz ſehr ungeſchickt ſagt „für das
ganze Bundesgebiet“ 2), anzuordnen.


Aber das Reichsbürgerrecht kann nicht für ſich allein und
nicht unmittelbar entzogen werden: es kann nur verloren gehen
mit und durch den Verluſt der Staatsangehörigkeit in dem betref-
fenden Einzelſtaat. Deshalb droht das Reichsgeſetz für die dem
Reich gegenüber gezeigte Entfremdung vom Vaterland den Verluſt
der Staats angehörigkeit an und ermächtigt die Centralbehörde
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 10
[146]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
des Heimathsſtaates dieſen Verluſt durch einen Beſchluß zu
erklären. Die Entziehung der Reichsangehörigkeit wird dadurch
bewirkt, daß das Fundament, auf welchem ſie ruht, ihr genommen
wird. Die innere Einheit von Staats- und Reichsbürgerrecht tritt
hier mit beſonderer Deutlichkeit hervor und ebenſo wird es an-
ſchaulich, wie die Unterthanen-Pflicht gegen den Staat ſich an dem
Punkte von ſelbſt in die Unterthanen-Pflicht gegen das Reich ver-
wandelt, wo das Reich die Erfüllung der ſtaatlichen Zwecke dem
Einzelſtaate abgenommen hat.


Der ſogenannte diplomatiſche Landesverrath, wel-
cher in der Mittheilung von Staatsgeheimniſſen oder Urkunden,
in der Vernichtung von Aktenſtücken oder Beweismitteln behufs
Gefährdung ſtaatlicher Rechte oder in der Führung eines Staats-
geſchäfts mit einer andern Regierung zum Nachtheil des Staates,
welcher den Auftrag dazu ertheilt hat, beſteht, kann ſeinem objec-
tiven Thatbeſtande nach eben ſowohl gegen das Reich, wie gegen
jeden einzelnen Staat verübt werden und es hätte daher in dieſen
Fällen ſehr wohl ein Unterſchied gemacht werden können, ob die
feindliche (verrätheriſche) Handlung gegen das Reich reſp. den
eigenen Bundesſtaat oder ob ſie gegen einen anderen Bun-
desſtaat gerichtet iſt. Dieſe Unterſcheidung iſt aber natürlich nur
dann möglich, wenn man in ſubjectiver Beziehung überhaupt die
Angehörigkeit zum Deutſchen Reich als Requiſit des Verbrechens
erfordert. Dies iſt in dem Reichs-Straf-Geſetze weder beim Hoch-
verrath noch bei den erwähnten Fällen des Landesverrathes ge-
ſchehen. Der §. 92 ſagt nicht: „Ein Deutſcher, welcher vorſätzlich
u. ſ. w.“ ſondern: „Wer vorſätzlich u. ſ. w.“ 1) und hat ſomit
den Zuſammenhang der in dieſem Paragraphen aufgeführten Fälle
des Landesverrathes mit der in der Staatsangehörigkeit begrün-
deten Treuverpflichtung gelöſt 2); Inländer und Ausländer ſind
[147]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
einander völlig gleichgeſtellt 1); nur daß ein Inländer auch wegen
eines im Auslande begangenen Landesverrathes zur Strafe gezo-
gen werden kann. (Reichs-Straf-Geſetz-Buch §. 4 Z. 2.)


Dadurch war es von ſelbſt ausgeſchloſſen, den Landesverrath,
welchen ein Deutſcher gegen den eigenen Staat verübt, von dem
Landesverrath, welchen ein Deutſcher gegen einen anderen Bun-
desſtaat verübt, zu unterſcheiden, und der Staatsangehörigkeit
innerhalb des Deutſchen Reiches in dieſer Richtung eine ſtrafrecht-
liche Wirkſamkeit beizulegen. Das Reichsſtrafgeſetzbuch ignorirt
an dieſer Stelle — und zwar nach Ausweis der Motive S. 83 ff.
mit Bewußtſein und Abſicht — die Fortdauer eines beſonderen
ſtaatlichen Angehörigkeits-Verhältniſſes zwiſchen dem Einzelnen
und ſeinem Heimathsſtaate und geht davon aus, daß man im
ganzen Bundesgebiet jeden Bundesangehörigen als Inländer
auffaſſen müſſe. Dem ethiſchen und rechtlichen Bewußtſein des
Volkes dürfte es freilich anſtößig erſcheinen, „daß der Angehörige
des Einzelſtaates R, der ein Geheimniß des Einzelſtaates S ſeinem
eigenen Staate verrathen hat, überall in Deutſchland ebenſo ſtraf-
bar, alſo auch von ſeinem eigenen Heimathsſtaat ebenſo zur
ſtrafrechtlichen Verantwortung zu ziehen wäre, wie wegen irgend
eines Privatverbrechens 2).“


So wie die Strafe des Kriegs-Landesverraths eine Analogie
in dem oben erörterten Verluſt der Staatsangehörigkeit auf Grund
des §. 20 des Geſ. vom 1. Juni 1870 hat, ſo auch der ſogen.
diplomat. Landesverrath. Daſſelbe Geſetz beſtimmt im §. 22.


„Tritt ein Deutſcher ohne Erlaubniß ſeiner Regierung
in fremde Staatsdienſte, ſo kann die Centralbehörde ſeines
Heimathſtaates denſelben durch Beſchluß ſeiner Staatsan-

10*
[148]§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.
gehörigkeit verluſtig erklären, wenn er einer ausdrücklichen
Aufforderung zum Austritte binnen der darin beſtimmten
Friſt keine Folge leiſtet.“


Unter fremden Staatsdienſten ſind nur Dienſte bei einem
nicht zum Reiche gehörenden Staate zu verſtehen; weder der
Reichsdienſt noch der Dienſt bei einem andern Bundesſtaat iſt ein
fremder Staatsdienſt. Dagegen iſt ein feindliches Verhalten des
außerdeutſchen Staates nicht vorausgeſetzt, der fremde Staat kann
ein befreundeter (im Sinne des R.-St.-G.-B. Thl. II. Abſchn. 4)
ſein. Der Eintritt in ſeine Dienſte kann gleichwohl eine Ent-
fremdung vom Heimathsſtaat bekunden oder eine Colliſion der
übernommenen Amtspflichten mit der Treupflicht gegen den Hei-
mathsſtaat herbeiführen. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit
zieht zwar auch in dem Falle des §. 22 den Verluſt der Reichs-
angehörigkeit nach ſich, aber nur deshalb weil beide Eigenſchaften
mit einander untrennbar verbunden ſind; dagegen iſt das Reich
als ſolches bei der Entziehung der Staatsangehörigkeit nicht be-
theiligt, weder beim Erlaß der Aufforderung zur Rückkehr noch
bei dem Beſchluß der Expatriirung. „Wenn Jemand mit Erlaub-
niß ſeiner Regierung bei einer fremden Macht dient, ſo verbleibt
ihm ſeine Staatsangehörigkeit“ (§. 23 des angef. Geſetzes); d. h.
er kann von ſeiner Regierung nicht durch Androhung der Entzie-
hung der Staatsangehörigkeit zum Austritte genöthigt werden 1).


§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.


Vollkommen entſprechend den Unterthanenpflichten gegen das
Reich ſind die reichsbürgerlichen Rechte. Es ſind dies die
gewöhnlichen ſtaatsbürgerlichen Rechte innerhalb
der dem Reiche zugewieſenen Kompetenz
. Das Reichs-
bürgerrecht enthält Nichts, was nicht auch das Staatsbürgerrecht
in dem ſouveränen Einheitsſtaat enthalten würde; es iſt nichts
Anderes als das Staatsbürgerrecht in denjenigen Beziehungen, in
denen das Reich an die Stelle des Einzelſtaates getreten iſt.


Der Begriff des Staatsbürgerrechts wird in der Literatur
faſt durchweg in einem Sinne genommen, in welchem völlig Ver-
[149]§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.
ſchiedenes zuſammengeworfen wird. Man rechnet darunter theils
die ſogenannten politiſchen Rechte, theils die bürgerlichen Rechte,
das heißt die Vorrechte des Einheimiſchen vor den Fremden, theils
die ſogenannten Freiheitsrechte oder Grundrechte 1). Die beiden
letzten Kategorien ſind überhaupt keine Rechte im
ſubjectiven Sinne
. Die Vorrechte des Einheimiſchen vor den
Fremden ſind lediglich die Negation der Belaſtungen oder Be-
ſchränkungen, denen Fremde unterworfen ſind, haben aber keinen
poſitiven Inhalt und zerfließen ſofort in Nichts, wenn der Staat
Fremde den Einheimiſchen gleich behandelt. Die Freiheitsrechte oder
Grundrechte ſind Normen für die Staatsgewalt, welche dieſelbe
ſich ſelbſt giebt, ſie bilden Schranken für die Machtbefugniſſe der
Behörden, ſie ſichern dem Einzelnen ſeine natürliche Handlungs-
freiheit in beſtimmtem Umfange, aber ſie begründen nicht ſubjective
Rechte der Staatsbürger. Sie ſind keine Rechte, denn ſie haben
kein Object 2).


[150]§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.

Als Inhalt des Staatsbürgerrechts iſt vielmehr nur anzuer-
kennen, der Anſpruch des einzelnen Staatsbürgers auf die Er-
füllung der Aufgaben, welche der Staat ſeinen Angehörigen gegen-
über übernommen hat und zwar ſowohl nach Außen als im Innern
und auf die verfaſſungsmäßige Antheilnahme an dem ſtaatlichen
Leben ſelbſt. Dem entſprechend giebt es auch ein Reichsbürger-
recht, welches allen Angehörigen des Reiches ohne Rückſicht auf
den Einzelſtaat zuſteht und gegen das Reich unmittelbar gerichtet
iſt, mit dreifachem Inhalt: Schutz im Auslande, Schutz im Inlande
und Theilnahme am Verfaſſungsleben des Reiches.


1) Der Anſpruch auf Schutz im Auslande. Grade
in dieſer Beziehung iſt das Reich am Vollſtändigſten an die Stelle
der Einzelſtaaten getreten und hat ihnen ihre Pflichten abgenommen.
Die Reichsverfaſſung ſelbſt beſtimmt Art. 3 Abſ. 6
dem Auslande gegenüber haben alle Deut-
ſchen gleichmäßig Anſpruch auf den Schutz
des Reichs
.“


Nicht blos die Einzelſtaaten haben einen Anſpruch an das
Reich, daß dieſes ihre Angehörigen dem Auslande gegenüber
ſchützt 1), ſondern „alle Deutſchen“ haben dieſen Anſpruch unmittel-
bar. Durch den Art. 4 Nro. 7 der R.-Verf. iſt die Kompetenz des
Reiches dieſer Aufgabe gemäß erſtreckt auf „die Organiſation eines
gemeinſamen Schutzes des deutſchen Handels im Auslande, der
deutſchen Schifffahrt und ihrer Flagge zur See und Anordnung
gemeinſamer konſulariſcher Vertretung, welche vom Reiche ausge-
ſtattet wird.“ Zur Gewährung des Schutzes hat das Reich Ge-
ſandtſchaften eingerichtet und Konſulate organiſirt und zur wirkſamen
Durchführung verfügt es über das Heer und die Kriegsmarine.


Auch hier ſind die Einzelſtaaten übrigens nicht völlig elimi-
nirt und durch das Reich keineswegs gänzlich verdrängt. Eine
Trennung von Centralgewalt und Einzelſtaatsgewalt, wie ſie die
herrſchende Bundesſtaats-Theorie lehrt, daß auf gewiſſen Gebieten
nur das Reich, auf anderen nur der Einzelſtaat Hoheitsrechte hat,
beſteht nicht einmal hier, wo die Machtbefugniſſe des Reiches am
2)
[151]§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.
meiſten entwickelt ſind. Denn abgeſehen davon, daß es den Ein-
zelſtaaten unbenommen iſt, Landes-Geſandtſchaften zu unter-
halten, denen der Schutz und die Vertretung der Intereſſen der
Landes-Angehörigen zunächſt obliegt, beſtimmt auch hinſichtlich
der Konſulate, zu deren Errichtung das Reich ausſchließlich be-
fugt iſt 1), der §. 3 Abſ. 2 des Geſetzes v. 8. Nov. 1867
„In beſonderen, das Intereſſe (eines einzelnen Bundes-
ſtaates oder) einzelner Bundesangehörigen betreffenden Ge-
ſchäftsangelegenheiten berichten ſie an die Regierung des
Staates
, (um deſſen beſonderes Intereſſe es ſich handelt,
oder) dem die betheiligte Privatperſon ange-
hört
; auch kann ihnen in ſolchen Angelegenheiten die
Regierung eines Bundesſtaates Aufträge ertheilen und un-
mittelbare Berichtserſtattung verlangen“.


Hiernach iſt es den Einzelſtaaten unbenommen, ſich ſelbſt ihrer
Angehörigen im Auslande anzunehmen und kein Deutſcher iſt ge-
hindert, ſich an die Regierung ſeines Heimathsſtaates zu wenden
und ihre Fürſorge für ſeine Intereſſen zu verlangen. Aber er
iſt auf ſie nicht angewieſen. Die Organe des Reiches, Geſandt-
ſchaften und Konſulate, ſind ihm unmittelbar zugänglich, eben-
ſo das Auswärtige Amt des Reiches, und das Reich allein verfügt
über die Machtmittel, um den Schutz dem Auslande gegenüber
fühlbar und wirkſam zu machen.


2) In den inneren Angelegenheiten entſpricht der Pflicht des
Staatsbürgers zur Tragung der ſtaatsbürgerlichen Laſten, zum
Gehorſam und zur Treue ſein Recht, an den Wohlthaten des
ſtaatlichen Gemeinweſens Theil zu nehmen.


Die urſprünglichſte, natürlichſte und im Ganzen auch die
wichtigſte Seite des Staatsbürgerrechts in dem entwickelten Sinne
iſt der Anſpruch, im Staate — d. h. im Gebiet und unter dem
Schutz des Staates — leben zu dürfen. Das iſt der weſentliche
Unterſchied zwiſchen der rechtlichen Stellung des Staatsangehörigen
und derjenigen des Fremden, daß der letztere im Staat geduldet
wird, der erſtere berechtigt iſt, im Staate zu leben.


Zwar iſt die Duldung von Fremden, welche friedlich und
[152]§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.
den Geſetzen gemäß ſich halten, eine völkerrechtliche Pflicht; aber
es iſt unbezweifelt, daß jeder Staat ganz unabhängig und frei
prüfen kann, ob er den ferneren Aufenthalt eines Ausländers in
ſeinem Gebiet als mit ſeinem Intereſſe verträglich erachtet und
daß er, falls er dies verneint, jeden Ausländer aus ſeinem Ge-
biet verweiſen kann 1). Eine Landesverweiſung der
Staatsangehörigen dagegen giebt es nicht
2). Der
Staatsangehörige, der ſich gegen die Geſetze vergeht, kann nach
Maaßgabe derſelben beſtraft, aber niemals aus dem Staatsgebiete
verwieſen werden. Demgemäß kann kein Reichs angehöriger aus
dem Reichsgebiet verwieſen werden, weder aus polizeilichen
noch ſtrafrechtlichen Gründen. Durch das Geſetz über die
Freizügigkeit v. 1. Nov. 1867
§. 1 3) iſt dieſes ſtaatsbür-
gerliche Grundrecht gewährleiſtet. Das Strafgeſetzbuch kennt dem
entſprechend die Strafe der Landesverweiſung gegen Reichsange-
hörige nicht, wohl aber gegen Ausländer (§. 39 Abſ. 2 §. 284
Abſ. 2. §. 362 Abſ. 3). Das Geſetz, betreffend den Orden der
Geſellſchaft Jeſu, vom 4. Juli 1872 unterſcheidet im §. 2, ob die
Jeſuiten Ausländer oder Inländer ſind; im erſteren Falle können
ſie ausgewieſen, im letztern Falle internirt werden 4). Endlich das
[153]§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.
Geſetz vom 4. Mai 1874, betreffend die Verhinderung der unbe-
fugten Ausübung von Kirchenämtern, geſtattet zwar im äußerſten
Falle die Ausweiſung des renitenten Geiſtlichen, erfordert aber,
daß derſelbe zuvor ſeiner Staatsangehörigkeit durch Verfügung
der Centralbehörde ſeines Heimathsſtaates verluſtig erklärt werde
und ſichert durch den § 4 ausdrücklich die Conſequenz, daß dieſer
Verluſt der Staatsangehörigkeit den Verluſt der Reichsangehörig-
keit nach ſich zieht, indem er ſeine Wirkung gleichzeitig auf alle
einzelnen Bundesſtaaten erſtreckt 1).


Im engſten Zuſammenhange mit dem entwickelten Prinzip
ſteht der weitere Rechtsſatz: Ein Reichsangehöriger darf
in keinem Falle einem ausländiſchen Staat aus-
geliefert werden
. Auch dies iſt ein weſentlicher Beſtandtheil
des Reichsbürgerrechts, das Wort in ſeiner wahren, juriſtiſchen
Bedeutung genommen. Der Grundſatz, welcher ſeinen Platz in
der Reichsverfaſſung verdiente, iſt geſetzlich ſanktionirt im
Reichs-Strafgeſetzbuch § 9. Ein Deutſcher darf einer
ausländiſchen Regierung zur Verfolgung oder Beſtrafung
nicht überliefert werden
2).


Er iſt außerdem in ſämmtlichen völkerrechtlichen Verträgen,
welche das Reich mit auswärtigen Staaten über die Auslieferung
von Verbrechern abgeſchloſſen hat, ausnahmslos anerkannt wor-
den 3).


4)


[154]§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.

Das ſtaatsbürgerliche Recht, dem Staat auch thatſächlich ange-
hören zu dürfen, beſchränkt ſich aber nicht auf das bloße Exiſtiren
in dem Gebiet, in der Luft des Heimathsſtaates; ſondern es er-
hält ſeinen bedeutungsvollen Inhalt in dem Anſpruch, daß die
Fürſorge des Staates für Aufrechthaltung der Rechtsordnung und
zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt auch Jedem zu Theil
werde, d. h. daß die beſtehenden Geſetze, welche für ihn Rechte
begründen oder ſeinem Intereſſe förderlich ſind, auch wirklich zu
ſeinen Gunſten angewendet werden. Im Einzelnen läßt ſich dieſes
Recht ebenſo wenig ſpezialiſiren, wie die Gehorſamspflicht; beide
empfangen gleichmäßig ihren Inhalt durch die Lebensthätigkeit des
Staates ſelbſt. Dem Begriff des Bundesſtaates als eines zwei-
fach gegliederten Staates gemäß iſt dieſes Recht ſowohl gegen den
Einzelſtaat als gegen das Reich gerichtet, aber die Grenze zwiſchen
dem Reichsbürgerrecht und dem Staatsbürgerrecht läßt ſich auch
hier nicht anders fixiren, wie bei der Unterthanenpflicht d. h. ledig-
lich durch den Hinweis auf die Kompetenzgrenze. So wie die
Einzelſtaaten und das Reich auf allen Gebieten gemeinſam thätig
ſind und zuſammenwirken und ſich in ihrer Kompetenz gegenſeitig
ablöſen, ſo wie ſie zuſammen die Staatsaufgabe erfüllen, ſo
richtet ſich auch das Recht des einzelnen Staatsbürgers, von
dieſer Fürſorge nicht ausgeſchloſſen zu werden, bald gegen den
Einzelſtaat bald gegen das Reich. In letzterer Beziehung kann
man als Bethätigungen dieſes Rechts oder als Mittel ſeiner Gel-
tendmachung anſehen: die Appellation an die Reichsgerichte, die
Beſchwerdeführung bei den Reichsbehörden und die Einreichung von
Petitionen bei dem Reichstage.


In einer Hinſicht hat dieſes Recht einen prägnanten Ausdruck
in der Reichsverfaſſung gefunden. Nach der Einleitung zur R.-V.
gehört zu den Aufgaben des Reiches der Schutz des Rechtes in dem
Bundesgebiet; die Handhabung dieſes Schutzes iſt indeß zum größten
Theile den Einzelſtaaten überlaſſen. Wenn aber ein einzelner
Staat dieſer fundamentalſten Aufgabe nicht nachkommt und der
Fall einer Juſtizverweigerung eintritt, ſo liegt es nach Art. 77
3)
[155]§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.
der Reichs-Verfaſſung dem Bundesrathe ob 1), Beſchwerden anzu-
nehmen und zu prüfen,
„und darauf die gerichtliche Hülfe bei der Bundesregierung,
die zu der Beſchwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken.“


Dieſer Verfaſſungsſatz iſt die Ergänzung zu dem Art. 3 Abſ.
6, welcher dem Deutſchen den Schutz des Reiches dem Auslande
gegenüber verheißt und beide zuſammen bilden den Inhalt des
ſtaatlichen Rechts des Reichsbürgers auf Schutz, des Correlats
ſeiner Pflicht zur Treue.


3) Endlich begründet die Staatsangehörigkeit den Anſpruch
auf Antheilnahme an dem Verfaſſungsleben, der Willensthätigkeit
des Staates, oder wie man, im Anſchluß an die franzöſiſche Ter-
minologie gewöhnlich ſagt, die politiſchen Rechte. Es folgt dies
zwar nicht aus dem Begriff und Weſen des Staates ſelbſt, wohl
aber aus der Verfaſſungsform des ſogen. conſtitutionellen Staates,
welche das deutſche Reich angenommen hat. Es iſt auch dieſer
Anſpruch nicht durch die Thatſache der Staatsangehörigkeit allein
mit Nothwendigkeit gegeben, wie die Pflicht zum Gehorſam und der
Anſpruch auf Schutz; ſondern die Staatsangehörigkeit bildet nur
die weſentliche Vorausſetzung und das eigentliche Fundament dieſer
Rechte. Um zur Ausübung derſelben berechtigt zu ſein, kann das
Geſetz auch noch andere Vorausſetzungen, namentlich männliches
Geſchlecht, ein beſtimmtes Alter, Unbeſcholtenheit, Aufenthalt oder
Wohnſitz von beſtimmter Dauer u. dgl. verlangen.


Da das Reich, wie oben bereits ausgeführt worden iſt, ſeine
eigenen Organe zur Herſtellung und Ausführung ſeines Willens
hat, d. h. Organe, die nicht Organe der Einzelſtaaten ſind, ſondern
dem Reiche unmittelbar angehören; da insbeſondere der Reichstag
keine Delegirten-Verſammlung der Einzellandtage oder der Bevöl-
kerung der Einzelſtaaten iſt, ſo iſt auch das aktive Reichstags-
Wahlrecht unmittelbar auf die Reichsangehörigkeit gegründet und
die Ausübung dieſes Rechts iſt an keine territoriale Landes-
grenze innerhalb des Reiches gebunden. Ebenſo iſt das ſogen.
paſſive Wahlrecht oder richtiger die Qualification zum Reichstags-
mitglied im ganzen Reich durch die Reichsangehörigkeit gegeben.
In Preußen, Sachſen, Bayern iſt nicht bloß der Preuße, Sachſe
[156]§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.
oder Bayer, ſondern jeder Deutſche zur Theilnahme an den Reichs-
tagswahlen berechtigt und wählbar 1).


4) Regelmäßig wird zu den ſtaatsbürgerlichen oder politiſchen
Rechten auch die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter ge-
zählt, Allein dies iſt kein Recht im ſubjectiven Sinn, denn Nie-
mand hat einen Anſpruch darauf, im Staatsdienſt angeſtellt zu
werden und ein öffentliches Amt zu erhalten 2). Es handelt ſich
hier vielmehr lediglich um einen objectiven Rechtsſatz, welcher die
Vorausſetzungen betrifft, an welche die Qualifikation der Perſonen,
die im Staatsdienſt Verwendung finden dürfen, geknüpft iſt. Nicht
ein ſubjectives Recht des einzelnen Staatsangehörigen, ſondern
eine objectiv-rechtliche Schranke der Staatsregierung wird durch den
Rechtsſatz, daß nur Staatsangehörige im Staatsdienſt angeſtellt
werden dürfen, begründet. In die Lehre vom Staatsbürgerrecht
gehört dieſer Satz daher keinesfalls. Für das Reichsrecht beſteht
er aber überhaupt nicht; die Reichsregierung iſt nicht gehindert,
Ausländer in den Reichsdienſt zu berufen 3). Im Gegentheil be-
ſtimmt das Geſetz v. 1. Juni 1870 ausdrücklich, daß der Aus-
länder durch ſeine Anſtellung im Reichsdienſt die Staatsangehö-
rigkeit (mithin auch das Reichsbürgerrecht,) in demjenigen Bun-
desſtaate, erwirbt, in welchem er ſeinen dienſtlichen Wohnſitz
hat. Es iſt alſo das Reichsbürgerrecht nicht Vorausſetzung,
ſondern Wirkung der Anſtellung im Reichsdienſt; eine Natura-
liſation des Ausländers braucht ſeiner Anſtellung nicht voraus
zu gehen
, ſondern ſie wird durch ſeine Berufung zu dem Reichs-
amt erſetzt. Auch materiell iſt es daher unrichtig, die „Fähigkeit“
zur Bekleidung von Reichsämtern zum Inhalt des Reichsbürger-
rechts zu machen.


§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.


Die vorſtehenden Erörterungen ebnen den Weg, um nun auch
den Inhalt des Staatsbürgerrechts im Einzelſtaat und das Ver-
[157]§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.
hältniß deſſelben zum Reichsbürgerrecht näher zu beſtimmen. Nie-
mandem kann es entgehen, wie ſehr das Staats bürgerrecht durch
die Zuſammenfaſſung der deutſchen Staaten zu einem Geſammt-
ſtaat afficirt, in ſeinem Inhalt beſchränkt und an ſeiner Wichtig-
keit verringert worden iſt. Aber es iſt nicht beſeitigt worden; es
iſt im Gegentheil die unerläßliche Grundlage und Vorausſetzung
des Reichsbürgerrechts geworden. Die einzelnen Staaten wären
keine Staaten mehr, wenn ſie keine Staatsbürger hätten. Das
Reich wäre kein Bundesſtaat, ſondern ein Einheitsſtaat, wenn das
Staatsbürgerrecht in den Einzelſtaaten in dem Reichsbürgerrecht
untergegangen wäre. Der Satz, daß jeder Angehörige des Reiches
in jedem Einzelſtaate als Inländer zu behandeln iſt, deſſen recht-
liche Bedeutung wir bald näher feſtſtellen werden 1), iſt nicht identiſch
mit dem Satz, daß jeder Angehörige des Reiches in jedem dazu
gehörenden Staate Staatsbürger ſei.


Im Allgemeinen iſt für die Grenze zwiſchen Staats- und
Reichsbürgerrecht ſchon oben die Kompetenzgrenze zwiſchen Staats-
und Reichsgewalt als maaßgebend bezeichnet worden. Im Ein-
zelnen folgt daraus:


1) Soweit die Einzelſtaaten im Beſitz ſtaatlicher Hoheitsrechte
geblieben ſind, iſt der Staatsbürger ihnen unterworfen, zum
Gehorſam verpflichtet
, Object der Einzelſtaatsgewalt. Er
ſteht unter ihrer Jurisdiction, Polizei, Finanzhoheit. Aus der
ſouveränen Gewalt des Reiches über die einzelnen Staaten folgt
aber, daß die Einzelſtaaten ihre Hoheitsrechte nicht im Widerſpruch
mit den verfaſſungsmäßig erlaſſenen Anordnungen des Reiches
ausüben dürfen und daß jede Ausübung von Hoheitsrechten, die
mit den Anordnungen des Reiches collidirt, rechtsunwirkſam und
nichtig iſt.


2) Der Staatsbürger hat ſeinem Heimathsſtaat gegenüber
Anſpruch auf Schutz im Auslande und zwar auch in den Ge-
bieten der übrigen Bundesſtaaten, ſoweit der Einzelſtaat rechtlich
und factiſch noch in der Lage iſt, dieſen Schutz zu gewähren. Die
einzelnen Staaten können ſowohl im Reichs-Auslande als im Reichs-
Inlande bei den anderen Bundesſtaaten Geſandtſchaften halten,
was bekanntlich auch theilweiſe geſchieht. Denſelben liegt die
Vertretung der Privat-Intereſſen ihrer Staats-Angehörigen ob.
[158]§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.
Dieſer Schutz kann verwirklicht werden theils durch eine direkte
Reclamation bei der Regierung des auswärtigen oder verbündeten
Staates, theils durch eine Anregung bei der Centralbehörde des
Reiches, daß daſſelbe ſich des Angehörigen des reclamirenden Ein-
zelſtaates annehme, theils durch eine förmliche Beſchwerde einer
Bundesregierung bei dem Reich, wenn ein Einzelſtaat zum Nach-
theil der Angehörigen eines anderen Anordnungen der Reichsver-
faſſung oder anderer Reichsgeſetze verletzt.


3) Das Wohnrecht in dem Staate, dem man angehört,
hat durch das jedem Reichsangehörigen eingeräumte Wohnrecht im
ganzen Reichsgebiet ſehr weſentliche Modifikationen erfahren, und
zwar nicht blos eine bedeutungsvolle Erweiterung, ſondern auch
ſehr wichtige Einſchränkungen.


Für einen beſonderen Fall giebt es auch jetzt noch eine Aus-
weiſung von Reichsangehörigen aus dem Gebiete eines deutſchen
Staates, zu welchem ſie nicht ſtaatsangehörig ſind, ſo daß
ſich die Staatsangehörigkeit als das ſtärkere, wirkſamere Rechts-
verhältniß erweiſt. Da nämlich das Geſetz über den Unterſtützungs-
wohnſitz in Bayern nicht eingeführt worden und nach dem Schluß-
protokoll vom 23. November 1870 Ziffer III. der Gotha’er Ver-
trag vom 15. Juli 1851 für das Verhältniß Bayerns zu dem
übrigen Bundesgebiet in Geltung geblieben iſt, ſo können auf
Grund des §. 1 Lit. a. des gedachten Vertrages die andern Deut-
ſchen Staaten von Bayern und Bayern von den anderen Deut-
ſchen Staaten die Uebernahme von hülfsbedürftigen Staats-
angehörigen verlangen, was einer Ausweiſung von Reichsangehö-
rigen aus dem Einzelſtaatsterritorium gleichkömmt. Dagegen kann
kein Staat nach der gedachten Convention §. 1 Lit. b. von einem
andern die Uebernahme ſolcher Perſonen verlangen, welche ihm
ſelbſt angehörig geworden ſind.


Im Uebrigen aber hat das Wohnrecht im Bundesgebiet und
die durch das Freizügigkeits-Geſetz durchgeführte Einheitlichkeit des
Bundesgebiets in Beziehung auf Aufenthalt und Niederlaſſung
die Wirkung, daß in mehreren Fällen der Staatsangehörige aus
dem Gebiete ſeines eigenen Heimathsſtaates ausgewieſen werden
kann, dagegen nicht aus dem Bundesgebiete. Das Wohnrecht im
Bundesgebiet hat gleichſam das Wohnrecht in einem einzelnen
Theile deſſelben, nämlich im Gebiete des Heimathsſtaates, abſorbirt.
Dieſe Fälle ſind folgende:


[159]§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.

a) Das Freizügigkeits-Geſetz vom 1. Nov. 1867
§. 3 Abſ. 2 beſtimmt
„Solchen Perſonen, welche derartigen (nämlich polizeilichen)
Aufenthaltsbeſchränkungen in einem Bundesſtaate unterlie-
gen, oder welche in einem Bundesſtaate innerhalb der
letzten zwölf Monate wegen wiederholten Bettelns oder
wegen wiederholter Landſtreicherei beſtraft worden ſind,
kann der Aufenthalt in jedem anderen Bundes-
ſtaate
von der Landespolizeibehörde verweigert werden.“


Alſo nicht blos den Angehörigen eines anderen Bundes-
ſtaates 1), ſondern auch den eigenen Angehörigen kann der
Aufenthalt im Staatsgebiet verweigert werden, wenn dieſelben in
einem andern Bundesſtaate die in dieſem Artikel erwähnten Be-
ſtrafungen erlitten haben.


b) Ein zweiter Fall betrifft reichsangehörige Jeſuiten und
renitente Geiſtliche nach den Geſetzen vom 4. Juli 1872 §. 2 und
vom 4. Mai 1874 §. 1. Denſelben kann der Aufenthalt in be-
ſtimmten Bezirken oder Orten verſagt oder angewieſen werden.
Durch die ausdrückliche, unwiderſprochene Erklärung des Abg.
Meyer (Thorn), von welchem die zum Geſetz erhobene Faſſung
des Jeſuitengeſetzes vorgeſchlagen worden iſt, wurde in der Sitzung
des Reichstages vom 17. Juni 1872 „conſtatirt:“ „daß die Gren-
zen der einzelnen Bundesſtaaten hier nicht in Betracht kommen;
es ſoll alſo vollſtändig möglich ſein, daß Jemand, der in Mainz,
in Heſſen-Darmſtadt Inländer iſt, alſo ein Heſſe, von Heſ-
ſen ausgeſchloſſen
oder in einen andern Bundesſtaat hinein-
gewieſen werde. Es würde ſonſt bei der geringen Ausdehnung
vieler Bundesſtaaten die Maßregel leicht einen völlig illuſoriſchen
Charakter annehmen können“ 2). Zum Zweck der Internirung
ſteht der Landespolizeibehörde in dieſem Falle nicht nur das Lan-
desterritorium, ſondern das ganze Bundes gebiet zur Verfügung.


c) Sodann kann eine thatſächliche Ausweiſung von Staats-
angehörigen aus dem Staatsgebiet in ein anderes zum Reich ge-
höriges Gebiet auf Grund des Geſetzes über den Unter-
ſtützungswohnſitz
vorkommen. Wenn Jemand nämlich in
[160]§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.
ſeinem Heimathsſtaat das Staatsbürgerrecht behalten, in einem
andern Bundesſtaat dagegen den Unterſtützungswohnſitz erworben
hat und dann in hülfsbedürftigem Zuſtand in ſeinen Heimathsſtaat
zurückkehrt, ſo kann er zum Zweck ſeiner Verpflegung an den ver-
pflichteten Armenverband ausgewieſen, alſo aus dem Gebiet ſeines
Heimatsſtaats entfernt werden 1).


d) Vor Allem wichtig aber iſt der im §. 23 des Geſetzes
über die Gewährung der Rechtshülfe
vom 21. Juni 1869
ausgeſprochene Grundſatz, daß ein Bundesſtaat ſeine eigenen An-
gehörigen den Gerichten eines anderen Bundesſtaates zum Zweck
der Verfolgung oder Beſtrafung wegen einer im Gebiete des re-
quirirenden Bundesſtaates verübten, ſtrafbaren Handlung aus-
zuliefern
verpflichtet iſt. Hier iſt im Intereſſe der einheitlichen
Strafrechtspflege im Reich die Kraft des Staatsbürgerrechts in
den Einzelſtaaten völlig gebrochen 2).


[161]§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.

4) Die Fortdauer des Staatsbürgerrechts in den Einzelſtaaten
zeigt ſich beſonders deutlich und wirkſam hinſichtlich der ſogen.
politiſchen Rechte. In Beziehung auf das politiſche Sonderleben
der Einzelſtaaten, auf den Antheil der Bevölkerung an der ver-
faſſungsmäßigen Herſtellung und Ausführung des Staats-Willens
innerhalb der den Einzelſtaaten verbliebenen Sphäre, iſt die
Staatsangehörigkeit maaßgebend geblieben und die Angehörigen
der anderen Bundesſtaaten ſind in dieſer Hinſicht Ausländer,
Fremde. Es gilt dies namentlich von dem wichtigſten dieſer
Rechte, dem Wahlrecht; für die Landtage der Einzelſtaaten können,
falls nicht das partikuläre Staatsrecht eine Ausnahme zuläßt, nur
Angehörige des Staates wählen oder an ihnen als Mitglieder Theil
nehmen. An keinem Punkte kann man Reichsbürgerrecht und
Staatsbürgerrecht ſchärfer auseinanderhalten als durch den Gegen-
ſatz zwiſchen Reichstagswahlrecht und Landtagswahlrecht. Hier
allein ſind beide wirklich getrennt.


Der Autonomie der Einzelſtaaten iſt es auch überlaſſen, das
Maaß der politiſchen Rechte und die Vorausſetzungen ihrer Aus-
übung, welche außer der Staatsangehörigkeit ſelbſt erfordert werden,
wie Alter, Geſchlecht, Domizil, Entrichtung direkter Steuern u. ſ. w.
zu beſtimmen. Nur in Einer Hinſicht hat das Reich hier den
Einzelſtaaten eine Schranke aufgerichtet durch das Reichsgeſetz
vom 3. Juli 1869
:
„Alle noch beſtehenden, aus der Verſchiedenheit des reli-
giöſen Bekenntniſſes hergeleiteten Beſchränkungen der bür-
gerlichen und ſtaatsbürgerlichen Rechte werden hier-
durch aufgehoben. Insbeſondere ſoll die Befähigung zur
Theilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und
zur Bekleidung öffentlicher Aemter vom religiöſen Bekennt-
niß unabhängig ſein.“


Mit dem Reichsbürgerrecht hat der Inhalt dieſes Ge-
ſetzes gar nichts zu thun; im Norddeutſchen Bunde und im Reiche
hat es Beſchränkungen der reichsbürgerlichen Rechte wegen irgend
eines religiöſen Bekenntniſſes niemals gegeben; ſie konnten daher
auch nicht aufgehoben werden. Ein „Recht der Glaubensfreiheit“
oder der „Bekenntnißfreiheit“, das durch das Reichsindige-
nat
begründet und durch dieſes Geſetz gewährleiſtet worden ſei,
iſt ein juriſtiſches Unding; denn der Deutſche hat die Fähigkeit,
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 11
[162]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.
ſeine eigenen religiöſen Ueberzeugungen zu haben und zu bekennen,
von der Natur, nicht vom Recht. Um zu glauben, was man will,
bedarf man des Reiches nicht. Aufgehoben iſt vielmehr nur der
Mißbrauch der Staatsgewalt, an die Ausübung dieſer natür-
lichen Fähigkeit Strafen, Rechtsnachtheile und politiſche Be-
ſchränkungen zu knüpfen. Das Geſetz bezieht ſich nur auf die
Einzelſtaaten und ſtellt einen gemeinrechtlichen Grundſatz des öffent-
lichen Rechts auf, der ſeine praktiſche Anwendung innerhalb
der Einzelſtaaten
findet; für das Reich ſelbſt iſt das Geſetz
ganz gegenſtandslos.


Das Reich greift hier ausnahmsweiſe in das Verfaſſungsrecht
der Einzelſtaaten ein, indem es der Einzelſtaatsgewalt eine Schranke
ſetzt, die ſie hindert, die Gewiſſensfreiheit anzutaſten. Nicht das
Verfaſſungsrecht des Reichs wird durch dieſes Geſetz berührt,
ſondern es wird ein gemeinrechtlicher Grundſatz des Territorial-
Staatsrechts reichsgeſetzlich ſanctionirt. Es darf demgemäß kein
Staat ein beſtimmtes Glaubensbekenntniß zur Vorausſetzung für
die Ausübung des Wahlrechts und der anderen politiſchen Rechte
erklären. Im Uebrigen dagegen iſt es jedem Staate unbenommen,
die Vorausſetzungen der politiſchen Rechte nach eigener Willkühr
feſtzuſetzen 1).


§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.


Bei dem engen, untrennbaren Zuſammenhange zwiſchen
Staatsangehörigkeit und Reichsangehörigkeit war es erforderlich,
die rechtlichen Vorausſetzungen für den Erwerb und Verluſt der
Staatsangehörigkeit reichsgeſetzlich zu ordnen. Dies iſt geſchehen
durch das Reichsgeſetz vom 1. Juli 18702). Es iſt in
Geltung getreten am 1. Januar 1871. In Folge Geſetzes vom
21. Juli 1870 ſind aber die §§. 17 und 20 ſofort in Wirkſam-
keit geſetzt worden. In Baden, Südheſſen und Württemberg gilt
[163]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.
das Geſetz ſeit dem 1. Januar 1871. In Bayern iſt es einge-
führt durch das Reichsgeſetz vom 22. April 1871 und iſt, da dieſes
Geſetz in dem am 29. April 1871 ausgegebenen Reichsgeſetzblatt
verkündet worden iſt, am 13. Mai 1871 in Geltung getreten 1).
In Elſaß-Lothringen iſt das Geſetz eingeführt worden durch Ver-
ordnung vom 8. Januar 1873 Art. 2. Dieſelbe iſt im Reichs-
geſetzblatt
zwar erſt in der am 17. März 1873 ausgegebenen
Nummer, im Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen dagegen
ſchon in der am 14. Januar 1873 ausgegebenen Nummer publi-
cirt worden. Bei dieſen Publicationen iſt der §. 27, wonach das
Geſetz am 1. Januar 1871 in Kraft tritt, zwar unverändert mit
aufgenommen worden, es beruht dies aber lediglich auf einem
Redaktionsfehler der Einf.-Verordn. vom 8. Januar 1873; denn
man kann unmöglich annehmen, daß der Geſetzgeber dem Geſetz
rückwirkende Kraft und zwar bis auf einen Zeitpunkt, in welchem
Elſaß-Lothringen noch gar nicht zum Deutſchen Reiche gehörte,
habe beilegen wollen.


Nach den Vorſchriften dieſes Geſetzes wird die Staatsange-
hörigkeit begründet theils ipso iure durch familienrechtliche Ver-
hältniſſe theils durch einen ſtaatsrechtlichen Willensact, durch Ver-
leihung.


I. Auf Grund familienrechtlicher Verhältniſſe wird die Staats-
angehörigkeit erworben


1) Durch die Geburt; und zwar erwerben eheliche Kinder
eines Deutſchen die Staatsangehörigkeit des Vaters, uneheliche
Kinder einer Deutſchen die Staatsangehörigkeit der Mutter. (§. 3.)


Es iſt gleichgültig, ob die Geburt im Inlande oder Auslande
erfolgt; ebenſo iſt es unerheblich, ob die Geburt innerhalb Deutſch-
lands im Gebiet des Heimathsſtaates des Vaters (reſp. der Mut-
ter) oder in dem Gebiete eines andern Bundesſtaates ſtattgefunden
hat; und zwar macht auch die Begründung eines wirklichen Wohn-
ſitzes der Eltern außerhalb des Heimathsſtaates keinen Unterſchied
hinſichtlich der Staatsangehörigkeit der Kinder 2). Wenn daher
preußiſche Eheleute ihren Wohnſitz in Sachſen haben, ſo ſind die
11*
[164]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.
daſelbſt geborenen und erzogenen Kinder nicht Sachſen, ſondern
Preußen. Da nun die Staatsangehörigkeit durch den Aufenthalt
in dem Gebiet anderer Bundesſtaaten nicht verloren geht, gleich-
viel wie lange derſelbe dauert, und ebenſo wenig die Staatsange-
hörigkeit durch Aufenthalt oder Begründung eines Wohnſitzes er-
worben wird (§. 12 des Geſetzes), ſo können Familien, welche
aus einem Bundesſtaat in einen andern überſiedeln, ohne die
Staatsangehörigkeit zu ändern, für eine unabſehbare Reihe von
Generationen die Staatsangehörigkeit in demjenigen Staate behal-
ten, dem ſie am 1. Januar 1871 angehört haben. In Verbin-
dung mit der Freizügigkeit, welche innerhalb des ganzen Reichs-
gebietes beſteht, wird dieſer Grundſatz es daher im Lauf der Zeit
immer ſchwieriger machen, die Staatsangehörigkeit feſtzuſtellen,
und an großen Verkehrs-Mittelpunkten mit ſchnell wechſelnder
Bevölkerung wird bald in verhältnißmäßig kurzer Zeit auch die
anſäſſige Bevölkerung aus Staatsangehörigen der verſchiedenſten
Bundesſtaaten zuſammengeſetzt ſein, von denen Jeder ſeine Staats-
angehörigkeit in alle Ewigkeit vererben und in jeden beliebigen
Bundesſtaat mitnehmen kann. Es muß dies nothwendig dahin
führen, die Staatsangehörigkeit immer mehr der Reichsangehörig-
keit gegenüber zurücktreten zu laſſen 1).


Bei der Beurtheilung der Frage, ob ein Kind aus einer gül-
tigen oder aus einer nichtigen Ehe entſproſſen iſt, ob es alſo der
Staatsangehörigkeit des Vaters oder derjenigen der Mutter folgt,
kömmt nach allgemeinen Grundſätzen über die Herrſchaft der Rechts-
normen hinſichtlich der materiellen Erforderniſſe der Ehe das
Recht des erſten Ehedomizils, hinſichtlich der Form der Eheſchlie-
ßung das Recht des Orts, an welchem dieſelbe ſtattgefunden hat 2),
zur Anwendung.


[165]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.

2) Durch Legitimation eines unehelichen Kindes Seitens
eines Deutſchen erwirbt das Kind die Staatsangehörigkeit des
Vaters (§. 4) und verliert gleichzeitig ſeine bisherige Staatsan-
gehörigkeit (§. 13 Nr. 4.) Hat die Mutter des Kindes dieſelbe
Staatsangehörigkeit wie der Vater, ſo kann die Legitimation dieſe
Folge ſelbſtverſtändlich nicht haben, weil das Kind in dieſem Falle
die Staatsangehörigkeit des Vaters ſchon von Geburt an hat. Die
Legitimation hat nur dann Wirkſamkeit, wenn ſie „den geſetzlichen
Beſtimmungen gemäß erfolgt iſt.“ Entſcheidend ſind in dieſer
Hinſicht die Geſetze des Ortes, wo der Vater zur Zeit der Legi-
timation ſeinen Wohnſitz hat 1); und zwar gilt dies auch für die
Legitimation durch nachfolgende Ehe 2). Die Adoption bewirkt
den Erwerb der Staatsangehörigkeit nicht 3).


3) Die Verheirathung mit einem Deutſchen begründet
für die Ehefrau die Staatsangehörigkeit des Mannes (§. 5.) 4).


2)


[166]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.

II.Die Verleihung der Staatsangehörigkeit iſt ein
Verwaltungsact, zu deſſen Vornahme die „höhere“ Verwaltungs-
behörde des Staates competent iſt. Als ſolche gilt im Gegenſatz
zur Ortspolizei-Behörde die Verwaltungsbehörde zweiter Inſtanz,
die Bezirks- oder Kreisregierung 1).


Die Verleihung iſt ein ſtaatliches Rechtsgeſchäft, welches
die Form der Schriftlichkeit, d. h. eine von der competenten Be-
hörde ausgeſtellte Urkunde erfordert. (§. 6.) Das Rechtsgeſchäft
iſt ein zweiſeitiges, indem es die Acceptation der Staatsangehö-
rigkeit Seitens des aufzunehmenden Bürgers erfordert 2). Regel-
mäßig wird dieſe Acceptation ſchon vorher erklärt, indem die
Verleihung nur auf Grund eines Geſuches erfolgt (§. 7) 3); in
allen Fällen aber treten die Wirkungen der Verleihung erſt ein
mit dem Zeitpunkte der Aushändigung der Verleihungs-
urkunde (§. 10), durch deren Entgegennahme die Acceptation der
Verleihung in concludenter Weiſe erklärt wird 4). Da die Ehe-
frau und die noch unter väterlicher Gewalt ſtehenden minderjäh-
rigen Kinder der Regel nach die Statusverhältniſſe, insbeſondere
auch die Staatsangehörigkeit des Hausherrn theilen, ſo erſtreckt
ſich die Verleihung der Staatsangehörigkeit auch auf ſie mit 5).
[167]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.
Dieſer Satz iſt aber nur von dispoſitiver Kraft; die Contrahenten
können ihn durch eine entgegenſtehende Vereinbarung ausſchließen;
ſei es, daß der Ehemann oder Vater die Staatsangehörigkeit nicht
für alle ſeiner Gewalt unterworfenen Angehörigen erwerben will,
ſei es, daß die Verwaltungsbehörde ſie nicht allen ertheilen will 1).


Abgeſehen von dieſen allgemeinen Regeln ſind die Voraus-
ſetzungen der Verleihung verſchieden, je nachdem ein Angehöriger
eines Deutſchen Bundesſtaates oder ein Ausländer ſie verlangt.
Dieſe Verſchiedenheit hat ihren Ausdruck auch in der techniſchen
Bezeichnung gefunden, indem das Geſetz die Verleihung im erſten
Falle Aufnahme, im zweiten Falle Naturaliſation nennt.


1) Die Aufnahme eines Deutſchen ſetzt außer dem Geſuche
um Ertheilung und dem Nachweiſe, daß er einem deutſchen Bun-
desſtaate angehöre 2), alſo das Reichsindigenat bereits habe, nur
voraus, den Nachweis,
daß er in dem Bundesſtaate, in welchem er die Aufnahme
nachſucht, ſich niedergelaſſen habe. (Geſ. §. 7)
3).


Unter der Niederlaſſung iſt nach der feſtſtehenden Termino-
logie der Reichsgeſetzgebung die Begründung eines Wohnſitzes
(Domizils) im Gegenſatz zum bloßen Aufenthalt zu verſtehen. So
zweifellos es nun iſt, daß ein bereits begründeter Wohnſitz trotz
des Aufenthalts an anderen Orten fortbeſtehen kann, Wohnſitz
und Aufenthaltsort demnach verſchieden ſein können, ſo gewiß iſt
es doch andererſeits, daß die Begründung eines neuen Wohn-
ſitzes ohne Aufenthalt daſelbſt nicht erfolgen kann, und daß
namentlich derjenige, welcher an einem Orte ſich aufzuhalten gar
nicht befugt iſt, deſſen Aufenthalt dort nicht geduldet wird, ſich
daſelbſt auch nicht niederlaſſen kann. Soweit daher ein Bundes-
ſtaat befugt iſt, den Angehörigen anderer Bundesſtaaten in ſeinem
Gebiet den Aufenthalt zu verſagen, kann er auch eine Nie-
derlaſſung
derſelben in ſeinem Gebiete verwehren und mithin
[168]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.
den Eintritt der Vorausſetzung hindern, an welche das Geſetz das
Recht auf Verleihung der Staatsangehörigkeit knüpft. Die Gründe,
welche einen Bundesſtaat berechtigen, einem Angehörigen eines
anderen Bundesſtaates in ſeinem Gebiet den Aufenthalt zu ver-
ſagen, ſind reichsgeſetzlich feſtgeſtellt in dem Freizügigkeitsgeſ. v.
1. Nov. 1867 §§. 2 bis 5 1); dieſelben Gründe berechtigen ihn
demnach, einem Angehörigen eines anderen Bundesſtaates die Ver-
leihung der Staatsangehörigkeit zu verſagen. Dieſe Folgerung,
welche nach den vorſtehenden Erörterungen ſich von ſelbſt ergiebt,
iſt von dem Geſetz ausdrücklich gezogen worden, indem es im §. 7
die Clauſel hinzugefügt hat
„ſofern kein Grund vorliegt, welcher nach den §§. 2 bis 5
des Geſetzes über die Freizügigkeit vom 1. Nov. 1867 die
Abweiſung eines Neuanziehenden oder die Verſagung der
Fortſetzung des Aufenthalts rechtfertigt.“


Dieſer Zuſatz begründet aber, ebenſo wie die §§. 2 bis 5 des
Freizügigkeitsgeſetzes, für die Staaten nur eine Berechtigung, keine
Verpflichtung zur Abweiſung einwandernder Reichsbürger; er iſt
eine Beſchränkung ihrer reichsgeſetzlichen Pflicht, die An-
gehörigen anderer Bundesſtaaten als Staatsbürger aufzunehmen,
aber kein Verbot 2). Es iſt daher keinem Staate verwehrt, trotz-
dem einer der Verſagungs-Gründe des Geſetzes vorliegt, die Staats-
angehörigkeit, und damit auch das Recht zum Aufenthalt und der
Niederlaſſung, einem bisherigen Angehörigen eines anderen Bun-
desſtaates zu ertheilen.


2) Die Naturaliſation darf Ausländern nur ertheilt
werden, wenn die im §. 8 des Geſetzes aufgeführten Vorausſetzungen
[169]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.
begründet ſind. Die Einzelſtaaten dürfen demnach von keiner
dieſer Vorausſetzungen einen Ausländer dispenſiren; es iſt ihnen
vom Reich verboten, das Staatsbürgerrecht an Perſonen zu
ertheilen, welche den Erforderniſſen des §. 8 nicht genügen 1). Da-
gegen iſt es ihnen unbenommen, die Vorausſetzungen der Aufnahme
durch partikuläre Geſetze oder Verwaltungsvorſchriften zu er-
ſchweren
oder auch das Geſuch des Ausländers ohne Angabe
von Gründen abzuweiſen; da kein Ausländer ein Recht auf Natu-
raliſation, kein Bundesſtaat eine Pflicht zur Ertheilung derſelben
hat 2).


Die Vorausſetzungen der Naturaliſation ſind


  • a) Dispoſitionsfähigkeit des Aufzunehmenden nach dem Recht
    ſeiner bisherigen Heimath.

Der Mangel der Dispoſitionsfähigkeit kann ergänzt werden durch
die Zuſtimmung des Vaters, Vormunds oder Kurators.


[170]§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.
  • b) Unbeſcholtener Lebenswandel.
  • c) eigene Wohnung oder ein Unterkommen an dem Orte der
    beabſichtigten Niederlaſſung.
  • d) die Fähigkeit, an dieſem Orte nach den daſelbſt beſtehenden
    Verhältniſſen ſich und ihre Angehörigen zu ernähren.

Die Beweislaſt für das Vorhandenſein dieſer 4 Voraus-
ſetzungen trägt der Aufzunehmende; bevor aber die Verwaltungs-
behörde dieſen Beweis für geführt erachtet [und] demnach die
Naturaliſations-Urkunde ertheilt, iſt ſie verpflichtet, die Gemeinde,
beziehungsweiſe den Armenverband desjenigen Ortes, wo der
Aufzunehmende ſich niederlaſſen will, in Beziehung auf die Erfor-
derniſſe unter b. c. d. mit ihrer Erklärung zu hören. (§. 8 Abſ. 2.)
Ein contradictoriſches Verfahren mit förmlichem Urtheil findet
aber, im Falle die Gemeinde der Naturaliſation widerſpricht, nicht
ſtatt; die Entſcheidung erfolgt durch Beſchluß 1).


3) Sowohl die Aufnahme als die Naturaliſation kann ſtill-
ſchweigend
d. h. ohne Ertheilung einer Urkunde verliehen wer-
den, wenn Jemand, der dem Staate bisher nicht angehört hat,
„in dem unmittelbaren oder mittelbaren Staatsdienſt oder
in dem Kirchen- Schul- oder Kommunaldienſt“

angeſtellt wird und wenn er für dieſe Anſtellung:
„eine von der Regierung oder von einer Central- oder
höheren Verwaltungsbehörde eines Bundesſtaates vollzo-
gene oder beſtätigte Beſtallung erhält.“


Eine ſolche Urkunde gilt zugleich als Aufnahme- oder Natu-
raliſations-Urkunde; wenn nicht das Gegentheil in ihr ſelbſt durch
Vorbehalt der bisherigen Staatsangehörigkeit ausgedrückt wird.
(Art. 9 Abſ. 1) 2).


Wenn ein Ausländer im Reichsdienſt angeſtellt wird, ſo
wird derſelbe ſtillſchweigend naturaliſirt von demjenigen
[171]§. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.
Bundesſtaat, in welchem er ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat 1).
(Art. 9 Abſ. 2.) Für den Fall, daß der im Reichsdienſte ange-
ſtellte Ausländer ſeinen dienſtlichen Wohnſitz im Auslande hat, iſt
eine geſetzliche Regelung bisher nicht ergangen. Ein ſolcher Reichs-
beamter bleibt daher Ausländer.


§ 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.


Derſelbe erfolgt aus Gründen, die denen des Erwerbs analog
ſind; alſo entweder ipso iure durch Verhälniſſe des Familienrechts
oder durch zweiſeitiges Rechtsgeſchäft; dazu tritt aber noch der
Verluſt wegen langer Abweſenheit und die Entziehung zur Strafe.


I. Aus familienrechtlichen Gründen hört die Staats-
angehörigkeit auf


1) bei unehelichen Kindern durch eine den geſetzlichen Beſtim-
mungen gemäß erfolgte Legitimation, falls der Vater einem an-
dern Staate angehört als die Mutter. (§. 13 Nro. 4.)


2) bei einer Deutſchen durch Verheirathung mit dem Ange-
hörigen eines andern Bundesſtaates oder mit einem Ausländer.
(§. 13 Nro. 5.)


II. Die Entlaſſung iſt der contrarius actus der Verleihung
und in der juriſtiſchen Geſtaltung ihr völlig gleichartig. Auch die
Entlaſſung iſt ein zweiſeitiges, die Willensübereinſtimmung der
beiden Parteien erforderndes Rechtsgeſchäft, welches zu ſeiner Per-
fection der Schriftform, der Ausfertigung und Zuſtellung 2) einer
Urkunde Seitens der höheren Verwaltungsbehörde des Heimaths-
ſtaates, bedarf. (§ 13 Nr. 1, §. 14, §. 18 Abſ. 1.) Damit aber
die Entlaſſung nicht als Scheingeſchäft geſchloſſen werde, durch
welches Jemand ſich den ſtaatsbürgerlichen Pflichten entziehen
würde, ohne auf die Vortheile der Staatsgemeinſchaft zu verzichten,
ſo wird die Entlaſſung unwirkſam, wenn der Entlaſſene nicht
binnen 6 Monaten vom Tage der Aushändigung der Entlaſſungs-
[172]§. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.
Urkunde an entweder ſeinen Wohnſitz außerhalb des Bundes-
gebiets
verlegt oder die Staatsangehörigkeit in einem anderen
Bundesſtaate erwirbt, wozu — wie oben erörtert — die Nieder-
laſſung in dem Gebiete des letzteren erforderlich iſt. (§. 18 Abſ.
2) 1). Die Entlaſſung erſtreckt ſich, wie die Verleihung auf die
der familienrechtlichen Gewalt des Entlaſſenen unterworfenen Per-
ſonen, ſoweit nicht eine Ausnahme feſtgeſetzt iſt. (§. 19.)


In Betreff der Vorausſetzungen der Entlaſſung wird ähnlich
wie bei der Verleihung unterſchieden, ob der Staatsangehörige
nur in einen andern Bundesſtaat verzieht, alſo die Reichsange-
hörigkeit beibehält, oder ob er aus dem Reiche auswandert.


1) Die Entlaſſung zum Zweck der Ueberſieblung
innerhalb des Bundesgebietes „wird jedem Staatsangehörigen er-
theilt, welcher nachweiſt, daß er in einem anderen Bundesſtaate
die Staatsangehörigkeit erworben hat.“ (§. 15 Abſ. 1.) Wer
alſo die Verleihungs-Urkunde eines anderen Bundesſtaates vorlegt,
muß auf ſeinen Antrag 2) die Entlaſſungs-Urkunde ſeines bis-
herigen Heimathsſtaates erhalten und zwar koſtenfrei. (§. 24 Abſ. 1.)


2) Die Entlaſſung behufs Auswanderung d. h.
die Entlaſſung, welche das Aufhören der Reichsangehörigkeit zur
Folge hat, darf von den Einzelſtaaten nicht ertheilt werden ſol-
chen Perſonen, welche ſich durch die Entlaſſung ihrer Militärpflicht
entziehen wollen 3). Es darf daher an ſolche Perſonen die Ent-
[173]§. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.
laſſung nur dann ertheilt werden, wenn ſie nachweiſen, daß ſie
in einem andern Bundesſtaate die Staatsangehörigkeit erworben
haben. Von dieſer Vorſchrift darf kein Staat dispenſiren, ande-
rerſeits darf er die Entlaſſung nicht verweigern oder an erſchwerte
Bedingungen knüpfen (§. 17), auch für die Ertheilung der Ent-
laſſungs-Urkunde nicht mehr als höchſtens einen Thaler an Ge-
bühren erheben (§. 24 Abſ. 2) 1).


Ferner ermächtigt das Geſetz den Kaiſer, für die Zeit eines
Krieges oder einer Kriegsgefahr im Wege der Verordnung beſon-
dere Beſtimmungen zu erlaſſen. (§. 17).


III. Die Staatsangehörigkeit kann verloren gehen für einen
Deutſchen, wenn er ſich zehn Jahre lang ununterbrochen im
Auslande aufhält
. Dieſer Erlöſchungsgrund qualifizirt ſich
juriſtiſch als Nichtgebrauch2). So lange der Abweſende ſeine
Staatsangehörigkeit manifeſtirt, tritt der Erlöſchungsgrund nicht
ein; daher beginnt die Friſt, wenn der Austretende ſich im Beſitze
eines Reiſepapieres oder Heimathsſcheines befindet, erſt mit dem
Ablauf dieſer Papiere 3); ſie wird unterbrochen, wenn ſich der
Abweſende in die Matrikel eines Bundeskonſulats eintragen läßt,
und ihr Lauf beginnt von Neuem erſt mit dem auf die Löſchung
in der Matrikel folgenden Tage. (§. 21 Abſ. 1) 4). Der Verluſt
3)
[174]§. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.
der Staatsangehörigkeit erſtreckt ſich natürlich nicht mit auf die
Ehefrau und die minderjährigen Kinder des Abweſenden, wenn
die letzteren im Bundesgebiet zurückgeblieben ſind. Das Geſ. §.
21 Abſ. 2 aber ſagt: „der Verluſt erſtreckt ſich zugleich auf die
genannten Perſonen, ſoweit ſie ſich bei dem Ehemanne, bezie-
hungsweiſe Vater befinden.“ Dieſe poſitive Formulirung läßt den
Fall unentſchieden, wenn auch die Kinder zwar 10 Jahre lang
von Deutſchland abweſend ſind, aber ſich nicht bei dem Vater
befinden. Auf Grund des Abſ. 1 des §. 21 iſt auch bei ihnen
der Verluſt als eingetreten anzuſehen. Für die beim Erlaſſe dieſes
Geſetzes im Auslande ſich aufhaltenden Angehörigen derjenigen
Bundesſtaaten, nach deren Geſetzen die Staatsangehörigkeit durch
einen zehnjährigen oder längeren Aufenthalt im Auslande verloren
ging, wird der Lauf dieſer Friſt durch das Geſetz nicht unter-
brochen. (§. 25 Abſ. 1.) Dieſe Staaten ſind den Motiven zu
Folge Peußen (ältere Provinzen), Kgr. Sachſen, Mecklenburg,
Großh. Sachſen, Oldenburg, Anhalt, Schwarzb.-Rud., Waldeck,
Reuß, Lübeck und Hamburg. Für die Angehörigen der übrigen
Bundesſtaaten beginnt die Friſt mit dem Tage der Wirkſamkeit
dieſes Geſetzes. (§. 25 Abſ. 2.)


Weſentlich erleichtert iſt der Wiedererwerb der Staats-
(reſp. Reichs-) Angehörigkeit, welche durch bloßen Nichtgebrauch
erloſchen iſt. Es iſt nämlich jeder deutſche Staat, in deſſen
Gebiet ein Deutſcher ſich niederläßt, der ſeine Staatsangehörigkeit
durch 10jährige Abweſenheit im Auslande alſo ohne Entlaſſungs-
Vertrag verloren hat, verpflichtet, demſelben die Aufnahme-
Urkunde auf Verlangen zu ertheilen (§. 21 Abſ. 5); es ſind alſo
auf denſelben nicht die von Ausländern, ſondern die von Reichs-
angehörigen geltenden Beſtimmungen anzuwenden. Außerdem iſt
der frühere Heimathsſtaat1)berechtigt (aber nicht
verpflichtet), ſeinen ehemaligen Angehörigen, auch ohne daß ſie ſich
in ſeinem Gebiete niederlaſſen, die Staatsangehörigkeit wieder zu
verleihen, alſo ihnen gegen die Folgen der langen Abweſenheit eine
in integrum restitutio zu ertheilen. Vorausgeſetzt iſt jedoch in
dieſem Falle, daß ſie nicht inzwiſchen eine andere Staatsange-
hörigkeit erworben haben. (§. 21 Abſ. 4.)


[175]§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.

Die Reichsregierung iſt ermächtigt, durch Staatsvertrag
mit ausländiſchen Staaten die zehnjährige Friſt für Deutſche,
welche ſich in einem Staate des Auslandes 1) mindeſtens fünf Jahre
lang ununterbrochen aufhalten, bis auf eine fünfjährige zu ver-
mindern 2). (§. 21 Abſ. 3.)


IV. Durch einſeitigen Rechtsact der Staatsregierung
kann die Staatsangehörigkeit entzogen werden in den bereits oben
erörterten Fällen des §. 20 und §. 22 des Geſ. v. 1 Juni 1870 und
des Geſ. v. 4. Mai 1874. (Siehe S. 145. 147 fg. 153.) Die Entzie-
hung erfolgt im Verwaltungswege durch einen Beſchluß; competent
dazu iſt nur die Centralbehörde, nicht wie bei der Ertheilung der
Entlaſſung auf Antrag die höhere Verwaltungsbehörde. Ueber die
Wiederverleihung der Staatsangehörigkeit an Perſonen,
denen dieſelbe entzogen worden iſt, beſtimmt das Geſetz vom 1.
Juni 1870 Nichts. Dagegen enthält §. 4 des Geſ. v. 4. Mai 1874
die Anordnung, daß Perſonen, welche nach den Vorſchriften dieſes
Geſetzes ihrer Staatsangehörigkeit in einem Bundesſtaate verluſtig
erklärt worden ſind, ohne Genehmigung des Bundes-
raths in keinem Bundesſtaate die Staatsangehö-
rigkeit von neuem erwerben
können. Sollen die §§. 20
und 22 des Geſ. v. 1 Juni 1870 nicht illuſoriſch und wirkungs-
los ſein, ſo muß dieſes Prinzip auch auf diejenigen Perſonen aus-
gedehnt werden, welche nach Maaßgabe dieſer Paragraphen ihre
Staatsangehörigkeit verloren haben. Durch die völlige Analogie
der Fälle könnte die extenſive Interpretation des § 4 cit. gerecht-
fertigt erſcheinen, wenn ihr nicht der Charakter des Geſetzes vom
4. Mai 1874 als eines Ausnahmegeſetzes entgegen ſtände.


§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.


Der Artikel 3 der Reichsverfaſſung ſtellt den Grundſatz an
die Spitze:
[176]§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.
Für ganz Deutſchland beſteht ein gemeinſames
Indigenat mit der Wirkung, daß der Ange-
hörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden
Bundesſtaates in jedem anderen Bundesſtaate
als Inländer zu behandeln iſt
.


Dieſes Indigenat iſt in der Literatur faſt durchweg mit dem
Reichsbürgerrecht identifizirt worden und man hat vorzugsweiſe
in ihm den Inhalt des Reichsbürgerrechts zu finden geglaubt 1).


Aus den einzelnen Conſequenzen dieſes Prinzips hat man
reichsbürgerliche Grundrechte gemacht, namentlich das Recht zum
Wohnſitz, zum Gewerbebetrieb, zur Erwerbung von Grundſtü-
cken u. ſ. w.


Dies iſt unrichtig. Ein ſubjectives, individuelles Recht be-
gründet der Art. 3 überhaupt gar nicht; auch dann nicht, wenn
man ſelbſt zugeben könnte, daß die Aufhebung von Be-
ſchränkungen
der natürlichen Handlungsfähigkeit, z. B.
die ſogen. Zugfreiheit, Gewerbefreiheit, Preßfreiheit u. ſ. w.
als ſubjective Rechte der Einzelnen logiſch gedacht werden können.
Denn der Art. 3 enthält auch hiervon Nichts. Er ſagt nicht, jeder
Deutſche hat das Recht zum feſten Wohnſitz, zum Gewerbebetriebe
u. ſ. w. im ganzen Bundesgebiet; ſondern als Conſequenzen des
durch ihn begründeten Indigenats hebt er hervor, daß der Ange-
hörige eines jeden Bundesſtaates in jedem andern Bundesſtaate
„zum feſten Wohnſitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen
Aemtern, zur Erwerbung von Grundſtücken, zur Erlangung
des Staatsbürgerrechtes und zum Genuſſe aller ſonſtigen
bürgerlichen Rechte unter denſelben Vorausſe-
tzungen wie der Einheimiſche
zuzulaſſen, auch in
Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsſchutzes dem-
ſelben gleich
zu behandeln iſt.


Ueber die Vorausſetzungen und Bedingungen der Niederlaſſung,
des Gewerbebetriebes, der Anſtellung im Staatsdienſt, der Rechts-
verfolgung und des Rechtsſchutzes u. ſ. w. enthält der Art. 3 der
[177]§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.
Verf. demnach gar keine Anordnung; er verfügt nur die gleiche
Behandlung aller Reichsangehörigen wie der Angehörigen des
eigenen Staates. Er enthält daher keine poſitive Beſtimmung über
die Rechte der Reichsangehörigen, ſondern lediglich den negativen
Satz: Kein Deutſcher darf in rechtlicher Beziehung
ungünſtigeren Regeln unterworfen werden als der
Angehörige des eigenen Staates
1).


Der Art. 3 ſtellt demnach nur einen objectiven Rechts-
ſatz
hin, für deſſen Anwendung das Reich und folglich auch das
Reichsbürgerrecht gar keine logiſch-nothwendige Vorausſetzung iſt.
Auch jeder Einheitsſtaat kann den Grundſatz geſetzlich feſtſtellen,
daß alle rechtlichen Beſchränkungen der Ausländer aufgehoben wer-
den, daß Ausländer und Staatsangehörige vor dem Geſetze gleich
zu behandeln ſeien; ebenſo können völlig unabhängige Staaten
vertragsmäßig vereinbaren, daß ſie wechſelſeitig die Unterthanen
der andern wie die eigenen behandeln wollen. Deshalb konnte
Art. 3 der R.-V. in Elſaß-Lothringen durch das Geſ. v. 9. Juni
1871 ſofort in Wirkſamkeit geſetzt werden, lange Zeit vor Ein-
führung der Reichsverfaſſung, und es war ſeine Einführung gerade
dort wegen der rigoroſen Härte, mit welcher das franzöſiſche Recht
Ausländer behandelt, beſonders dringend geboten und von prak-
tiſcher Wirkſamkeit. Das Indigenat des Art. 3 iſt daher kein Aus-
fluß des Reichsbürgerrechts und kann andererſeits ebenſowenig
dazu dienen, das Reichsbürgerrecht zu conſtruiren 2).


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 12
[178]§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.

Es hat dies nicht mehr Berechtigung, als wenn man etwa
aus der Aufhebung des Paßzwanges für Ausländer 1) oder aus
der Pflicht der Ortsarmenverbände, hülfsbedürftige Ausländer
vorläufig zu unterſtützen 2), ein ſubjectives Nichtreichsbürger-Recht
herleiten wollte. Der Art. 3 war in materieller Beziehung völlig
wirkungslos, ſoweit bei Einführung der Verf. in den einzelnen
Staaten Angehörige anderer deutſcher Staaten oder überhaupt
Fremde den eigenen Staatsbürgern bereits gleich behandelt wurden
und er begründet auch jetzt nirgends einen Anſpruch der Deutſchen,
vor Ausländern bevorzugt oder begünſtigt zu werden, ſondern eben
nur nicht ſchlechter als die Angehörigen des Staates behandelt zu
werden. Seine praktiſche Bedeutung läßt ſich vielmehr in folgende
zwei Rechtsſätze zuſammenfaſſen:


1. Alle in den einzelnen deutſchen Staaten beſtehenden
Rechtsregeln, wonach Fremde ungünſtiger als die eigenen Staats-
angehörigen zu behandeln ſind, werden in Anſehung der Ange-
hörigen der übrigen Bundesſtaaten aufgehoben.


2. Kein deutſcher Staat darf künftig im Wege der Geſetz-
gebung oder Verwaltung Anordnungen treffen, durch welche recht-
liche Ungleichheiten zwiſchen den eigenen Angehörigen und den
Angehörigen der übrigen deutſchen Staaten begründet werden 3).


Der erſte dieſer Sätze brachte eine weitreichende Aenderung
der Partikularrechte der einzelnen Staaten hervor, der zweite
enthielt ein Verbot an die Einzelſtaaten, eine Beſchränkung ihrer
Autonomie und Regierungsgewalt. Eine gemeinrechtliche Norm
von poſitivem, materiellem Inhalt enthält keiner derſelben. Hätte
man den richtigen Sinn des Art. 3 von Anfang an feſtgehalten,
ſo würden viele der zahlreichen Zweifel, zu denen er Veranlaſſung
gegeben hat, gar nicht entſtanden ſein. Es iſt die Anſicht ver-
treten worden, daß der Art. 3 nur einen legislatoriſchen Grund-
2)
[179]§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.
ſatz enthalte, der für den Richter nicht anwendbar ſei, ſondern
erſt durch Ausführungsgeſetze anwendbar gemacht werden müſſe 1).


Dies iſt unrichtig; der Art. 3 war kraft des erſten von uns
entwickelten, in ihm enthaltenen Satzes ſofort anwendbar; er hob
in der That eine Reihe von Vorſchriften aller deutſchen Partikular-
rechte theilweiſe (nämlich in Anſehung der Angehörigen der übrigen
Bundesſtaaten) auf 2).


Aber ebenſo wenig hat der Art. 3 die Verſchiedenheit
der einzelnen Partikularrechte hinweggeſchafft und einheitliches,
gleiches Recht an deren Stelle geſetzt; auch für den Angehörigen
des Reiches waren Rechtsſchutz und Rechtsverfolgung, Niederlaſſung
und Gewerbebetrieb nicht überall im Reich gleich geordnet, ſondern
er begegnete überall denjenigen Bedingungen und Beſchränkungen,
welche das Landesrecht aufſtellt 3).


Es bleibt ferner für die Ausübung der ſtaatsbürgerlichen
Rechte im eigentlichen Wortſinne das Staatsbürgerrecht des betref-
fenden Staates nach Maaßgabe des Landesſtaatsrechts Voraus-
ſetzung; der Art. 3 ſtellt in dieſer Hinſicht die Reichsangehörigen
nicht in der Art einander gleich, daß „die Angehörigen des einen
Bundesſtaates zugleich als Angehörige der andern Bundesſtaaten
12*
[180]§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.
gelten.“ (Vgl. oben S. 177 Note 2.) Daher ſind z. B. in Meck-
lenburg
landesfremde, aber reichsangehörige, Rittergutsbeſitzer
von der Ausübung der Landſtandſchaft und der obrigkeitlichen, po-
lizeilichen oder gerichtsherrlichen Rechte ausgeſchloſſen 1).


Die Reichsangehörigkeit hat im Art. 3 demnach nur die Be-
deutung, daß ſie eine Grenze ſetzt für die durch den Art. 3 be-
wirkte Modifikation der Partikularrechte. Die Reichsverfaſſung hat
die Beſtimmungen der letzteren vollſtändig unangetaſtet gelaſſen in
Anſehung der nicht-reichsangehörigen Fremden; die Abänderung
der Partikularrechte kömmt nur den Angehörigen der Bundesſtaaten
zu Gute 2).


Aus dieſen Ausführungen ergiebt ſich, daß die praktiſche Be-
deutung des Art. 3 in materieller Beziehung die Fortdauer der
Partikularrechte der Einzelſtaaten zur weſentlichen Vor-
ausſetzung hat und daß die praktiſche Bedeutung in demſelben
Umfange aufhört, als die Ausbildung des gemeinen Rechts fort-
ſchreitet. Denn jedes Reichsgeſetz hebt nach Art. 2 von ſelbſt alle
collidirenden Landesgeſetze auf und ſetzt der Autonomie der Ein-
zelſtaaten eine unantaſtbare Schranke; es bedarf daher der beiden
im Art. 3 enthaltenen Rechtsſätze nicht, um die in einem Reichs-
geſetz
enthaltenen Rechtsregeln gleichmäßig für alle Deutſche in
jedem Einzelſtaate zur Geltung zu bringen.


Die Geſetze über die Freizügigkeit, über den Unterſtützungs-
wohnſitz, über die Gewährung der Rechtshülfe, über die Beſeitigung
der Doppelbeſteuerung, die Gewerbeordnung, das Strafgeſetzbuch
und die in Ausſicht ſtehenden Prozeß-Ordnungen haben materiell
die Vorausſetzungen und Bedingungen der Niederlaſſung, des Ge-
werbebetriebes, des Rechtsſchutzes und der Rechtsverfolgung für alle
Deutſche und für das ganze Reichsgebiet einheitlich und gleichmäßig
geregelt und es iſt daher in dieſen Materien die rechtliche Möglich-
[181]§. 19. Das Indigenat. des Art. 3 der Reichsverfaſſung.
keit gar nicht mehr vorhanden, daß für die Angehörigen eines
einzelnen Staates günſtigere oder überhaupt andere Vorſchriften
als für die Angehörigen der übrigen deutſchen Staaten beſtehen.
Soweit iſt daher der Art. 3 erledigt, für ſeine Anwendung kein
Raum mehr geblieben 1). Seine Bedeutung hat er aber noch nicht
verloren; denn abgeſehen von ſämmtlichen, noch nicht gemeinrecht-
lich (reichsgeſetzlich) normirten Gebieten, z. B. der direkten Steuern,
des Privatrechts u. ſ. w. 2), erweiſt er ſich wirkſam in einer
materiellen und in einer formellen Beziehung.


1. Materiell iſt er eine Schranke für die Autonomie
der Einzelſtaaten, ſoweit die oben erwähnten Reichsgeſetze dieſelbe
fortbeſtehen laſſen. Dies gilt namentlich von der Landesgeſetz-
gebung in Strafſachen und in Gewerbe-Angelegenheiten, welche
das Einf.-Geſ. zum Strafgeſetzb. §. 2, 5 und 8 und die Gewerbe-
Ordnung §. 7, 8, 9, 21, 23, 28 u. ſ. w. in großem Umfange
aufrecht erhalten haben.


2. Formell iſt er auch eine Schranke für die Reichs-
geſetzgebung
, welche zwar die oben erwähnten und ſpäter noch
zu erlaſſenden Geſetze im Wege der einfachen Geſetzgebung verändern
oder aufheben kann, welche aber den für Verfaſſungsänderungen
vorgeſchriebenen Erforderniſſen genügen müßte, wenn ein ſolches
ſpäteres Geſetz den Grundſatz der Rechtsgleichheit unter Einheimiſchen
und den Angehörigen anderer Bundesſtaaten etwa verletzen ſollte.


Hierauf beſchränkt ſich aber auch die ſtaatsrechtliche
Bedeutung des Art. 3. Die Einzelbeſtimmungen der Geſetze, zu
deren Erlaß er Veranlaſſung gegeben hat, namentlich der Geſetze
[182]§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.
über die Freizügigkeit, über den Unterſtützungswohnſitz, über die
Gewährung der Rechtshülfe, der Gewerbe-Ordnung u. ſ. w. ge-
hören nicht in eine Darſtellung des Reichsſtaatsrechts.


Zweiter Abſchnitt.
Bundesgebiet.


§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur.


Daß zum Begriff des Staates ein Gebiet erforderlich iſt, wird
in der Theorie nicht in Zweifel gezogen; ebenſo wenig daß die
Staatsgewalt eine Herrſchaft an dieſem Gebiet von öffentlich recht-
lichem Inhalt, die ſogen. Gebietshoheit, involvirt. Es ergiebt ſich
hieraus von ſelbſt, daß auch die Centralgewalt im Bundesſtaat
nicht ohne Gebietshoheit gedacht werden kann. Dagegen fehlt es
an einer wiſſenſchaftlichen Erörterung der Frage, wie ſich im
Bundesſtaat die Gebietshoheit der Bundesgewalt zu der Gebiets-
hoheit der Einzelſtaatsgewalt verhält. Für die Theorie von der
Theilung der Souveränetät wäre eine ſolche Unterſuchung auch
recht unbequem geweſen, da die Identität des Territoriums, auf
welches die beiden „nebengeordneten“ Staatsgewalten ſich erſtrecken,
ein ſehr erhebliches Hinderniß „für die völlige Trennung ihrer
beiden Sphären“ darbietet; und für die politiſchen Reformbeſtre-
bungen zur Zeit des deutſchen Bundes, denen die Erkenntniß des
begrifflichen Unterſchiedes zwiſchen Bundesſtaat und Staatenbund
ſo viel zu danken hat, lag kein praktiſcher Anlaß vor, dieſe Frage
a priori zu löſen.


Erſt die Reichsverfaſſung hat eine poſitive Grundlage für die
ſtaatsrechtliche Erörterung der hier in Betracht kommenden Rechts-
verhältniſſe geſchaffen und der Theorie die Aufgabe geſtellt, Be-
griff und Weſen der Reichsangehörigkeit nicht nur in Bezug auf
die Perſonen, ſondern auch in Bezug auf das Gebiet aufzuklären.
Die bisherigen Bearbeiter des deutſchen Staatsrechts ſind der
Löſung dieſer Aufgabe aber ausgewichen und haben bisweilen
zum Erſatz einige ſtatiſtiſche Notizen über Umfang, Flächeninhalt,
Bevölkerungszahl u. ſ. w. gegeben, als wollten ſie nicht ein Reichs-
ſtaatsrecht ſondern ein Lehrbuch der Geographie verfaſſen 1), bis-
[183]§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.
weilen die Frage nach dem Recht des Reichs am Reichsgebiet mit
der Frage nach dem Mitgliederbeſtande des Reiches verwechſelt
oder zuſammengeworfen 1).


Auch nach einer anderen Richtung hin iſt die Bedeutung der
Frage noch näher feſtzuſtellen. Es liegt in der Natur jeder poli-
tiſchen Einrichtung, daß ſie räumlich begränzt iſt, daß ſie ein Gebiet
hat 2). In dieſer Hinſicht iſt daher zwar auch der Staat auf ein
Gebiet begränzt; aber die Begriffe Staat und Gebiet brauchen
nicht zuſammenzufallen. Auch der Staatenbund hat ſein Bundes-
gebiet; man ſpricht von dem Deutſch-Oeſterreichiſchen Poſtgebiet,
vom Zollvereins-Gebiet u. ſ. w., und man kann andererſeits inner-
halb jedes Staates nach den verſchiedenſten Rückſichten Gebiete
unterſcheiden, z. B. Geltungsgebiete einzelner Geſetze oder Ver-
waltungs-Einrichtungen. Es iſt daher ſtaatsrechtlich völlig werth-
los, diejenigen Angelegenheiten aufzuzählen, in welchen das deutſche
Reich ein Gebiet bildet 3); denn nicht die territoriale Abgränzung
irgend einer Einrichtung iſt entſcheidend, ſondern das rechtliche
Verhältniß, welches ein räumlich begrenztes Stück der Erdober-
fläche zu einer rechtlich relevanten Einheit macht. Nicht daß die
zum deutſchen Reiche gehörenden Länder in vielen Beziehungen
zugleich die Grenzen für eine Reihe von Einrichtungen ſind und
den räumlichen Geltungsbereich einer Reihe von Geſetzen bilden,
iſt ſtaatsrechtlich erheblich, ſondern von Bedeutung iſt, daß das
Gebiet des Reiches das Object der ſtaatlichen Reichsgewalt iſt und
durch die letztere zu einer ſtaatsrechtlichen Einheit gemacht wird.


In Beziehung auf das Weſen der Gebietshoheit kann man
die ältere Anſicht, wonach die Gebietshoheit einen beſonderen Be-
[184]§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.
ſtandtheil der Staatsgewalt ausmacht und beſtimmte, einzelne
Befugniſſe involvirt, wohl als beſeitigt anſehen 1). Die Gebiets-
hoheit iſt die Staatsgewalt ſelbſt in ihrer Richtung auf das Land,
die Ausübung der dem Staate zuſtehenden Herrſchaftsrechte über
ſeinen räumlichen Machtbereich 2). Sie iſt analog dem Hoheits-
recht über die Staatsangehörigen. Land und Leute ſind zwei
weſentliche Vorausſetzungen, oder wenn man den Ausdruck vor-
zieht: Subſtrate des Staates; Land und Leute ſind die Objecte
der ſtaatlichen Herrſchaftsrechte. Die Staatsgewalt iſt ein Ge-
walt
verhältniß gegenüber den Unterthanen, ein ſtaatsrechtliches
Sachenrecht gegenüber dem Territorium 3).


[185]§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.

Wenn man von dieſem Begriffe ausgeht, ſo ergiebt ſich daß
im Reiche in ähnlicher Weiſe eine doppelte Gebietshoheit beſteht,
wie eine doppelte Unterthanen-Hoheit. Die Staaten ſind mit Land
und Leuten der Reichsgewalt unterthan. Ihre Gebietshoheit haben
ſie in ſoweit behalten, als ihnen Herrſchaftsrechte geblieben ſind;
ſie iſt auf das Reich übergegangen, ſo weit das Reich die Hoheits-
rechte der Einzelſtaaten auf ſich vereinigt hat 1). Die Kompetenz-
Grenze zwiſchen Reich und Einzelſtaat iſt zugleich
die Grenze, welche die Gebietshoheit des Reiches
am Reichsgebiet von der Gebietshoheit der Staaten
am Staatsgebiet ſcheidet
.


Es ſind zwei hiervon, nach verſchiedenen Richtungen abwei-
chende Anſichten geltend gemacht worden. Bei der Berathung der
neuen Redaktion der Reichsverf. äußerte Fürſt Bismarck in der
Sitzung des Reichstages v. 1. April 1871 2) hinſichtlich des An-
trages anſtatt Bundesgebiet den Ausdruck Reichsgebiet in der
Verf. zu ſetzen:


„Bei den Worten „Reichsgebiet“ und „Bundesgebiet“ gebe
ich gern zu, daß der Unterſchied ſich nicht nothwendig und ſcharf
fühlbar macht. Es kommt aber auf den ſprachlichen Begriff an,
den man mit „Reich“ und „Gebiet“ verbindet. Wir haben geglaubt,
daß auch da, weil die Souveränität, die Landeshoheit,
die Territorialhoheit bei den einzelnen Staaten
verblieben iſt
, bei Bezeichnung des Geſammtgebietes der Be-
griff des Bundesverhältniſſes in den Vordergrund zu ſtellen ſei.“


Auf dieſe Aeußerung berufen ſich manche Schriftſteller für die
Behauptung, daß das Reich als ſolches keine Gebietshoheit habe 3).


Andererſeits geht die Behauptung, daß „das Bundesgebiet ein
wahres einheitliches Staatsgebiet ſei, innerhalb deſſen von Aus-
land und Inland nicht mehr die Rede ſein könne“ 4), viel zu weit.
3)
[186]§. 21. Gebiets-Veränderungen.
Die Binnen-Grenzen der deutſchen Staaten ſind noch immer von
höchſt bedeutungsvoller Wichtigkeit.


Beſteht am deutſchen Land eine doppelte Gebietshoheit, ſo
iſt dies doch keine in der Art getheilte, daß gewiſſe Herrſchaftsbe-
fugniſſe dem Reich, gewiſſe andere dem Einzelſtaat in völliger
begrifflicher und praktiſcher Trennung zuſtehen. Sondern die Sou-
veränetät hat auch in dieſer Beziehung das Reich, die Einzelſtaaten
haben die Rechte der Autonomie und Selbſtverwaltung in ihren
Territorien.


Die oben dargelegte Verknüpfung von Reichsgewalt und
Staatsgewalt zeigt ſich grade in den Wirkungen der ſtaatlichen
Gewalt auf das Gebiet am deutlichſten.


Im Einzelnen beſtimmt ſich das Verhältniß von Reich und
Staat hinſichtlich des Gebietes durch folgende Rechtsſätze.


§. 21. Gebiets-Veränderungen.


I. Der Umfang des Bundesgebietes iſt durch die Verf.
Art. 1 reichsgeſetzlich beſtimmt. Nach dieſem Artikel giebt es kein
Bundesgebiet, welches nicht einem Staate angehört. Der Artikel
ſagt: Das Bundesgebiet beſteht aus den Staaten
Preußen u. ſ. w. Derſelbe Grundſatz, der die Reichsangehörigkeit
der Perſon von der Angehörigkeit zu einem Bundesſtaat abhängig
macht, gilt auch hinſichtlich des Gebietes. Durch die Erwerbung
von Elſaß-Lothringen iſt auch in dieſer Hinſicht eine Anomalie
begründet, die im Zuſammenhange mit der ſtaatsrechtlichen Stel-
lung des Reichslandes erörtert werden muß.


Der Art. 1 enthält aber auch noch ein anderes Prinzip. So
wie jeder Angehörige eines Bundesſtaates Reichsangehöriger iſt,
ſo iſt das ganze Gebiet jedes Einzelſtaates, welches ihm bei
Gründung des Reiches zuſtand, Bundesgebiet. Es giebt nach
Art. 1 kein Bundesgebiet, welches nicht Staatsgebiet, und kein
Staatsgebiet der Bundesſtaaten, welches nicht Bundesgebiet iſt.


Da nun die räumliche Erſtreckung einés Staates ohne deſſen
Willen nicht verändert werden kann, ſo ergiebt ſich, daß das
Bundesgebiet nicht ohne den in verfaſſungsmäßiger Form erklär-
ten Willen des Reiches abgeändert werden kann; d. h. daß ein
4)
[187]§. 21. Gebiets-Veränderungen.
in den Formen der Verfaſſungs-Aenderung (Art. 78 Abſ. 1) be-
ſchloſſenes Reichsgeſetz dazu erforderlich iſt. Hieraus ergeben ſich
zwei unzweifelhafte Rechtsſätze; nämlich:


1. Kein Staat darf Gebietstheile ohne Genehmigung des
Reiches an einen außerdeutſchen Staat abtreten oder aus dem
Reichsgebiet loslöſen; es iſt hierzu ein verfaſſungsänderndes
Reichsgeſetz erforderlich.


2. Erwerbungen von außerdeutſchem Lande, welche ein
Einzelſtaat macht, gehören nicht ipso iure zum Bundesgebiet; es
iſt hierzu ebenfalls ein verfaſſungsänderndes Reichsgeſetz erforderlich.


Zweifelhaft kann es dagegen erſcheinen, ob das Reich befugt
iſt, Gebietstheile eines Einzelſtaates ohne deſſen Zuſtimmung an
außerdeutſche Staaten abzutreten oder aus dem Bundesgebiet
auszuſchließen, und ob es dem Einzelſtaat verwehrt iſt, ohne Zu-
ſtimmung des Reiches außerdeutſche Gebietstheile zu erwerben,
welche nicht dem Bundesgebiet einverleibt werden.


1) Bei der erſten dieſer beiden Fragen iſt zu unterſcheiden
zwiſchen freiwilligen (im Frieden getroffenen) Maßregeln und ge-
zwungenen Abtretungen (Friedensbedingungen).


a) Das Recht des Reiches einzelne Theile eines Staates aus
dem Reichsgebiet auszuſchließen, ohne die Zuſtimmung dieſes
Staates z. B. der Gebietstheile Preußens mit polniſch redender
Bevölkerung iſt unbedingt zu verneinen. Jeder Staat hat ein
Recht auf die Mitgliedſchaft für ſeinen Geſammtbeſtand, in ſeiner
Integrität. Er kann weder ganz noch theilweiſe aus dem Reich
ausgeſchloſſen 1), er kann nicht in ſeinem Beſtande zerriſſen und zer-
ſplittert werden, indem ein Theil ſeines Gebietes aus der im
Reiche vollzogenen ſtaatlichen Einigung herausgeriſſen wird. Es
ergiebt ſich dies aus dem, was oben §. 11 über die Mitgliedſchafts-
rechte der Einzelſtaaten entwickelt worden iſt.


Ebenſo muß aber auch die Befugniß des Reiches, Gebiets-
theile eines Bundesſtaates ohne deſſen Zuſtimmung an einen
außerdeutſchen Staat freiwillig abzutreten, verneint werden. Das
Reich kann nicht einem einzelnen Staate das Opfer einer Einbuße
an Land und Leuten auferlegen, wenn dieſer Staat nicht freiwillig
es übernimmt. Es kömmt grade hier das in der Mitgliedſchaft
enthaltene Recht jedes Einzelſtaates auf gleichmäßige Behandlung
[188]§. 21. Gebiets-Veränderungen.
mit allen andern, die Unzuläſſigkeit ihm höhere Laſten und größere,
beſondere Opfer zuzumuthen, welches wir oben S. 112. 125 entwickelt
haben, zur Anwendung. Daher könnte z. B. das Deutſche Reich
nordſchleswigſche Diſtricte nicht ohne die beſondere Zuſtimmung
des Preußiſchen Staates an Dänemark abtreten, ſo wenig wie
bayriſche ohne die Zuſtimmung Bayerns an Oeſterreich.


In formeller Beziehung iſt zwiſchen den beiden Fällen der
Ausſchließung aus dem Reich und der Abtretung aber ein Unter-
ſchied. Soll ein Theil eines Staatsgebietes zwar dieſem Staat
verbleiben, aber aus dem Reich ausgeſchloſſen werden, ſo genügt
ein Reichsgeſetz nach Art. 78, welchem der davon betroffene Staat
im Bundesrath zuſtimmt; denn es handelt ſich hier lediglich um
eine Aenderung des Bundesgebietes, nicht um eine Aenderung des
Staatsgebietes. Soll dagegen ein Theil eines Staatsgebietes an
einen auswärtigen Staat abgetreten werden, ſo iſt ſowohl ein ver-
faſſungsänderndes Staatsgeſetz des Einzelſtaates als auch ein nach
Art. 78 zu Stande gekommenes Reichsgeſetz erforderlich; denn es
handelt ſich hier zugleich um eine Aenderung des Staatsgebietes
und des Bundesgebietes 1).


b) Anders geſtaltet ſich die Frage hinſichtlich der in einem
Friedensſchluß zugeſtandenen Abtretung von Bundesgebiet.
Hier iſt die Zuſtimmung des Staates, deſſen Gebiet abgetreten
werden muß, ſtaatsrechtlich nicht erforderlich. Zwar nicht aus
dem Grunde, weil im Falle des Krieges die Rechte der Einzel-
ſtaaten ruhten oder das Prinzip der Gleichberechtigung ſuspendirt
wäre. Das Reich hat vielmehr grade im Kriege die Pflicht, ſie
alle gleichmäßig zu ſchützen und zu vertreten. Aber die Erfüllung
dieſer Pflicht kann thatſächlich unmöglich ſein. Wenn nach einem
unglücklichen Kriege das Reich im Friedensſchluß zur Abtretung
von Bundesgebiet ſich entſchließt, ſo erklärt es eben dadurch, daß
[18[189]]§. 21. Gebiets-Veränderungen.
es ſeine Pflicht, das Bundesgebiet und alle zu ihm gehörenden
Einzelſtaaten zu ſchützen, nicht ferner erfüllen kann, oder daß es
dieſer Pflicht wegen der Größe der Opfer, wegen der Gefahr noch
größerer Verluſte oder aus anderen politiſchen Erwägungen nicht
weiter als geſchehen, nachkommen will1). Die höhere Gewalt,
welche die Abtretung erzwingt und welche nicht aus dem rechtlichen
Organismus des Reiches ſelbſt ſtammt, ſondern von Außen an
daſſelbe herantritt, iſt der Grund, wegen deſſen der Staat, deſſen
Gebiet ganz oder theilweiſe abgetreten wird, dieſen casus tragen
muß. Es bedarf keiner Ausführung der politiſchen Nachtheile, ja
der Abſurditäten, zu welchen der Satz führen würde, daß das
Reich in keinem Friedensſchluſſe Gebietstheile eines Bundesſtaates
ohne deſſen Zuſtimmung abtreten könne 2); es würde dies jedem
Einzelſtaat ein Recht darauf geben, in das eigene Unglück den
Ruin und Untergang des ganzen Reiches hineinzuziehen. Die
Reichsverfaſſung ſelbſt ſchließt aber eine ſolche Annahme auch
dadurch aus, daß ſie im Art. 11 Abſ. 1 dem Kaiſer die Be-
fugniß ertheilt, „Frieden zu ſchließen,“ ohne dieſer Befug-
niß irgend eine Einſchränkung hinzuzufügen, als daß nach Abſ. 3
in gewiſſen Fällen die Zuſtimmung des Bundesrathes und die
Genehmigung des Reichstages erforderlich iſt. Der Schutz der
Einzelſtaaten liegt in dieſem Falle nicht in einem formalen Rechts-
ſatz, ſondern in der thatſächlichen Solidarität der Intereſſen, da
jede erzwungene Abtretung von Bundesgebiet nicht blos den Ein-
zelſtaat, zu dem es gehört, ſondern ebenſo ſchwer auch das Reich
als Ganzes trifft.


2. Die zweite Frage, ob es einem Deutſchen Staate verwehrt
iſt, außerdeutſches Gebiet ohne Zuſtimmung des Reiches zu erwer-
ben, welches dem Reichsgebiet nicht einverleibt wird, iſt ohne
praktiſche Bedeutung. Da die Reichsverfaſſung an keiner Stelle dies
unterſagt und die Deduction, daß aus dem Weſen des Bundes-
ſtaates die Unzuläſſigkeit eines ſolchen Erwerbes ſich ergäbe, durch
die Hinweiſung auf die Stellung des Großherzogthums Heſſen im
Norddeutſchen Bunde ihre Widerlegung findet, ſo iſt dieſe Frage
zu verneinen 3). Zuzugeben iſt aber, daß ſowohl nach dem Art. 1
[190]§. 21. Gebiets-Veränderungen.
der R.-Verf. als nach dem Verfaſſungs-Organismus des Reiches
der Fall, daß ein Staat nicht mit ſeinem ganzen Gebiet dem Reich
angehört, als ein anormaler, wenn auch nicht verfaſſungsmäßig
verbotener, anzuſehen wäre.


II. Der Umfang der Staatsgebiete innerhalb des Reiches
iſt weder durch die Reichsverfaſſung beſtimmt noch unterliegen
Abänderungen der Verfügung und Genehmigung des Reiches.
Grade hier zeigt ſich die Gebietshoheit der Einzelſtaaten ſehr deut-
lich und ſie äußert ihre Wirkungen in negativer und poſitiver
Richtung.


1. Die negative Richtung, der Ausſchluß einer anderen Ver-
fügungsgewalt über das Staatsgebiet, äußert ſich dem Reiche
gegenüber in dem Satze: Das Reich iſt nicht befugt, die
Grenzen der einzelnen deutſchen Staaten ohne
deren Zuſtimmung zu verändern
; es darf nicht aus
Zweckmäßigkeitsgründen oder aus anderen Motiven die Gebiete der
einzelnen Staaten abrunden oder zuſammenlegen oder gar der
Größe nach ausgleichen. Die Integrität der Mitglieder des Reiches
ſteht nicht zur Verfügung der Reichsgewalt; die Mitglieder haben
vielmehr ein verfaſſungsmäßiges Recht, daß das Reich ihre Inte-
grität ſchütze. In dieſem Sinne verſtanden iſt die oben erwähnte
Aeußerung des Reichskanzlers, daß die Landeshoheit bei den ein-
zelnen Staaten geblieben iſt, richtig. Die Gebiete der Staaten
ſind eben nicht Provinzen, Verwaltungsdiſtricte des Reiches. Es
bewährt ſich hier die Behauptung, daß auch noch andere Maß-
regeln des Reiches als die im Art. 78 Abſ. 2 erwähnten Verfaſ-
ſungs-Aenderungen der beſonderen Zuſtimmung einzelner Staaten
bedürfen 1).


2. In poſitiver Richtung kommt die Gebietshoheit der Ein-
zelſtaaten zur Geltung, indem es den Einzelſtaaten frei-
ſteht, die Binnen-Grenzen ihrer Gebiete zu verän-

3)
[191]§. 21. Gebiets-Veränderungen.
dern, durch Abtretung oder Austauſch, ohne daß ſie
dazu der Zuſtimmung des Reiches bedürfen
. Eine
Gebiets-Abtretung unter den deutſchen Staaten hat an politiſcher
Bedeutung faſt den größten Theil eingebüßt; denn das abgetretene
Stück bleibt, wenn es auch die Staatsangehörigkeit wechſelt, der
ſouveränen Reichsgewalt, der Reichsgeſetzgebung, den vom Reich
erforderten Laſten und Leiſtungen u. ſ. w. in derſelben Weiſe wie
bisher unterworfen. Gebietsabtretungen unter den Bundesſtaaten
verhalten ſich zu Gebietsabtretungen unter den ſouveränen Staaten
etwa wie Ueberwanderungen zu Auswanderungen. Für das Reich
beſteht der Regel nach gar kein rechtliches Intereſſe, ob ein Stück
des Bundesgebietes zu dieſem oder jenem Einzelſtaat gehört. Selbſt-
verſtändlich iſt es, daß kein Stück des Bundesgebietes den Hoheits-
rechten des Reiches ohne Zuſtimmung des letzteren dadurch entzogen
werden kann, daß es an einen, mit Reſervatrechten ausgeſtatteten
Staat, z. B. an Bayern abgetreten wird; es könnte an Bayern
nur in derjenigen rechtlichen Lage, in welcher es ſich vor der Ab-
tretung befand, übergehen.


Ebenſo iſt es ſelbſtverſtändlich, daß, wenngleich die Abtretung
von Gebietstheilen an einen andern deutſchen Staat der Reichs-
genehmigung nicht bedarf, dennoch ein Reichsgeſetz in dem Falle
erforderlich iſt, wenn zugleich das Stimmen-Verhältniß im Bun-
desrath und die Abgränzung der Reichstags-Wahlkreiſe verändert
werden ſollen. Endlich iſt es zweifellos, daß, wenn Gebietsver-
änderungen zugleich eine Veränderung der Bevölkerungs-
zahlen
herbeiführen, die Berückſichtigung dieſes Umſtandes bei
allen Vertheilungen von Laſten und Rechten, welche nach Maaß-
gabe der Bevölkerungsziffern erfolgen, z. B. der Matrikular-Bei-
träge, der Rekruten-Geſtellung, der Reichskaſſenſcheine, nicht direkt
unter den Staaten, welche den Gebiets-Austauſch vornehmen, be-
wirkt werden kann, ſondern eines Bundesraths-Beſchluſſes bedarf 1).


Einzelne Schriftſteller gehen in Verkennung des wahren Sach-
verhältniſſes ſo weit, daß ſie zu Grenzveränderungen unter deutſchen
Staaten nicht blos Genehmigung des Reiches, ſondern ſogar die
[192]§. 22. Der Schutz des Gebietes.
Einwilligung ſämmtlicher Bundesglieder verlangen 1). Die richtige
Anſicht iſt jedoch nicht nur in der Theorie die herrſchende, ſondern
iſt auch in der Praxis befolgt worden, indem ſeit Gründung des
Norddeutſchen Bundes eine große Zahl von Gebietsveränderungen
und Gränzregulirungen unter den deutſchen Staaten ſtattgefunden
haben, ohne daß jemals die Zuſtimmung des Norddeutſchen Bundes
oder des Deutſchen Reiches ertheilt worden iſt 2).


§. 22. Der Schutz des Gebietes.


I. Der Zweck und die Aufgabe des Reiches iſt der Schutz
des Bundesgebiets. (Einl. der R.-V.) Dieſer Aufgabe und den
zu ihrer Durchführung dienenden Hoheitsrechten gegenüber iſt das
Bundesgebiet eine Einheit. Im Staatenbund beſteht zwar auch
die gemeinſame Aufgabe zum Schutz des Bundesgebietes; hier wird
ſie aber erfüllt durch eine Collectivgarantie für die Integrität
[193]§. 22. Der Schutz des Gebietes.
der einzelnen Staatsgebiete; jeder Staat iſt verpflichtet, den übrigen
behufs Vertheidigung ihrer Gebiete zu helfen; das Bundesgebiet
iſt lediglich die Summe der unter dieſen Schutz geſtellten Staats-
gebiete. Im Bundesſtaat wird durch einen feindlichen Angriff oder
durch einen unbefugten Eingriff eines auswärtigen Staates nicht
blos der Staat, deſſen Gebiet davon betroffen iſt, ſondern der
Bund ſelbſt als völkerrechtlich anerkanntes, ſtaatliches Rechtsſub-
ject verletzt. Das Reich vertheidigt ſein eigenes Recht, wenn
es Angriffe (oder Eingriffe) auf das Bundesgebiet zurückweiſt,
während im Staatenbund die nicht unmittelbar verletzten Staaten
durch Leiſtung der Bundeshülfe ihre vertragsmäßige Pflicht zur
Vertheidigung eines fremden Rechts erfüllen.


Dieſer Pflicht des Reiches, das Bundesgebiet als Einheit zu
ſchützen, entſpricht das ausſchließliche Recht des Reiches, auswär-
tigen Staaten gegenüber die Gebietshoheit über das ganze Bundes-
gebiet wahrzunehmen und im Inneren des Reiches alle Anordnungen
zu treffen, welche zur Vertheidigung des Bundesgebietes erforder-
lich ſind.


1. Dem Auslande gegenüber hat das Reich am Bun-
desgebiet alle diejenigen Rechte, welche nach den Grundſätzen des
Völkerrechts dem Souverän des Einheitsſtaates an ſeinem Staats-
gebiet zuſtehen und die in dem Satz ſich zuſammenfaſſen laſſen,
daß jeder andere Staat, ſoweit ihm nicht rechtsgültig Staatsſervi-
tuten beſtellt ſind, die Ausübung von Hoheitsrechten an dem Bun-
desgebiet unterlaſſen muß. Hier tritt aber der Unterſchied von
Bundesſtaat und Staatenbund und die dem erſteren zuſtehende
ſtelbſtſtändige Gebietshoheit in einer ſehr bemerkenswerthen Weiſe
hervor. Im Staatenbund kann jeder einzelne Staat einem aus-
wärtigen Staate Staatsſervituten beſtellen, ihm die Ausübung von
Hoheitsrechten erlauben, Truppen-Durchzüge durch das Land oder
Stationirung von Kriegsſchiffen in den Häfen ihm geſtatten, Kar-
tell-Konventionen zur Ermöglichung von Gränzüberſchreitungen be-
hufs Verfolgung von Schmugglern, Forſtfrevlern u. ſ. w. ab-
ſchließen. Die übrigen Staaten und die Bundes-Organe haben
kein Einſpruchsrecht gegen ſolche ſelbſtgewollte und bewilligte Be-
ſchränkungen der dem einzelnen Staate zuſtehenden Gebietshoheit;
ſie haben nur Bundeshülfe zu leiſten, bei feindlichen und wider-
rechtlichen Angriffen.


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 13
[194]§. 22. Der Schutz des Gebietes.

Im Reiche, als einem Bundesſtaate, kann kein Einzelſtaat
einem fremden Staate Eingriffe in die Gebietshoheit geſtatten; dies
kann nur das Reich ſelbſt. Die Beſtellung von Staatsſervituten,
die Erlaubniß von Truppendurchmärſchen, der Abſchluß von Kar-
tell-Konventionen, ſowie jede andere Einſchränkung der Gebiets-
hoheit zu Gunſten eines außerdeutſchen Staates kann für das
geſammte Bundesgebiet und jeden Theil deſſelben nur vom Reiche
gewährt werden. Die Reichsverfaſſung ſchließt zwar keineswegs
das Recht der Einzelſtaaten aus, auch mit auswärtigen Staaten
Verträge zu ſchließen; dieſe Verträge dürfen aber keinen Inhalt
haben, welcher mit der Souveränetät des Reiches im Widerſpruch
ſteht und ein ſolcher Widerſpruch würde vorhanden ſein, wenn
einem fremden Staate die Ausübung ſtaatlicher Hoheitsrechte in
einem Theile des Bundesgebietes eingeräumt werden würde.


Ebenſo wenig kann der Einzelſtaat feindliche Angriffe eines
auswärtigen Staates dulden oder verzeihen oder mit ihm über die
zu leiſtende Genugthuung ſich verſtändigen; denn nicht blos der Ein-
zelſtaat, ſondern das Reich ſelbſt erſcheint als verletzt und an-
gegriffen. Obwohl weder die Reichsverfaſſung noch die Reichsge-
ſetze das Prinzip ſelbſt allgemein ausſprechen, ſo tritt es doch in
einer Reihe von Anwendungsfällen zu Tage.


a) Nach R.-V. Art. 11 hat der Kaiſer das Recht, im Namen
des Reiches Krieg zu erklären, und zwar ohne daß die Zuſtimmung
des Bundesrathes erforderlich iſt, wenn ein Angriff auf das
Bundesgebiet
oder deſſen Küſten erfolgt. Dieſes Recht iſt
nicht nur unabhängig davon, daß der Einzelſtaat, gegen deſſen
Gebiet der Angriff erfolgt iſt, die Hülfe des Reiches verlangt;
ſondern es beſteht ſelbſt dann, wenn der Einzelſtaat gegen dieſe
Hülfe proteſtiren und ſich direct mit dem Gegner vergleichen wollte.


b) Der Eintritt von Angehörigen fremder Staaten in das
Bundesgebiet unterliegt der Geſetzgebung und Beaufſichtigung des
Reiches, indem Art. 4 Z. 1 der R.-V. das Paßweſen und die
Fremdenpolizei der Reichscompetenz zuweiſt. Das Geſetz über
das Paßweſen
v. 12. Oktob. 1867 §. 9 ermächtigt den Kaiſer
durch Verordnung die Paßpflichtigkeit überhaupt oder für einen
beſtimmten Bezirk oder zu Reiſen aus und nach beſtimmten Staaten
des Auslandes vorübergehend einzuführen, wenn die Sicherheit
des Bundes oder eines einzelnen Bundesſtaates oder die öffentliche
[195]§. 22. Der Schutz des Gebietes.
Ordnung durch Krieg, innere Unruhen oder ſonſtige Ereigniſſe
bedroht erſcheint. Die Einzelſtaaten haben keine Ermächtigung
dieſer Art für ihr Gebiet.


c) Ebenſo unterliegt der Waarenverkehr mit dem Auslande
der Regelung durch das Reich, welchem die ausſchließliche Befug-
niß zur Zollgeſetzgebung, zur Erhebung von Abgaben von fremden
Schiffen oder deren Ladungen gemäß Art. 54 Abſ. 6 der R.-V.,
zum Abſchluß von Handels- und Schifffahrtsverträgen und zur
Verfügung von Gränzſperren zuſteht 1).


d) Auch der Abſchluß von Verträgen mit auswärtigen Staaten
über die Herſtellung von Eiſenbahn-Verbindungen, würde, wenn
in ſolchen Verträgen zu Gunſten des Auslandes Beſchränkungen
der Gebietshoheit zugeſtanden werden ſollten, Sache des Reiches,
nicht des Einzelſtaates ſein 2).


13*
[196]§. 22. Der Schutz des Gebietes.

2. Im Innern des Bundesgebietes hat das Reich
entſprechend der ihm obliegenden Schutzpflicht das Recht, die zur
Vertheidigung und Sicherung erforderlichen Maaßregeln anzuordnen,
ohne Rückſicht auf die Landesgrenzen und die Gebietshoheit des
Einzelſtaates. Auch hier erſcheint das Bundesgebiet als Einheit.
Anwendungsfälle ſind folgende:


a) Der Kaiſer hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes
die kriegsbereite Aufſtellung eines jeden Theils des Reichsheeres
anzuordnen (R.-V. Art. 63 Abſ. 4), ſowie Feſtungen innerhalb
des Bundesgebietes anzulegen (R.-V. Art. 65). Die Zuſtimmung
des Einzelſtaates, in deſſen Gebiet die Anlage gemacht wird, iſt
nicht erforderlich, abgeſehen von Bayern, welchem in dem Vertrage
von Verſailles Z. III §. 5 Nro. V in dieſer Beziehung ein Son-
derrecht zugeſtanden worden iſt. In untrennbarem Zuſammenhange
damit ſteht die Befugniß, die zur Anlage fortifikatoriſcher Werke
erforderlichen Grundſtücke zu expropriiren und die in der Umge-
bung von Feſtungen liegenden Grundſtücke Gebrauchs-Beſchrän-
kungen zu unterwerfen 1).


b) Der Kaiſer kann, wenn die öffentliche Sicherheit in dem
Bundesgebiete bedroht iſt, einen jeden Theil deſſelben in Kriegs-
zuſtand erklären, R.-V. Art. 68. Auch dieſes Recht iſt für Bayern
bis zum Erlaß eines Reichsgeſetzes ausgeſchloſſen 2). Bei der
Abgränzung des in Kriegszuſtand zu erklärenden Theiles des
Bundesgebietes braucht der Kaiſer nicht die Gränzen der einzelnen
Staatsgebiete zu berückſichtigen; ſie ſind in dieſer Beziehung nicht
vorhanden 3).


c) Das Reich iſt befugt, Eiſenbahnen, welche im Intereſſe
der Vertheidigung Deutſchlands oder im Intereſſe des gemeinſamen
Verkehrs für nothwendig erachtet werden, anzulegen und zwar
auch gegen den Widerſpruch der Bundesglieder, deren Gebiet die
2)
[197]§. 22. Der Schutz des Gebietes.
Eiſenbahnen durchſchneiden. R.-V. Art. 41. Dem Reich ſteht
behufs Durchführung einer ſolchen Eiſenbahn-Anlage das Expro-
priationsrecht zu und, falls die Anlage einem Privat-Unternehmer
konzeſſionirt wird, kann das Reich denſelben mit dem Expropria-
tionsrechte ausſtatten. Wenn das Reich von dieſer Befugniß Ge-
brauch macht, wird die in Folge deſſen angelegte Eiſenbahn aber
keineswegs völlig von der Gebietshoheit des Staates eximirt und
gleichſam reichsunmittelbar; ſondern es beſteht auch ihr gegenüber
die Landeshoheit des Einzelſtaates in demjenigen Umfange fort,
in welchem die R.-V. ſie überhaupt hat beſtehen laſſen. Dies hat
der Art. 41 der R.-V. hervorgehoben durch die Clauſel: „unbe-
ſchadet der Landeshoheitsrechte.“ Grade hier zeigt ſich wieder, daß
einerſeits die Souveränetät des Reiches keine die Hoheitsrechte der
Einzelſtaaten vernichtende, erſchöpfende iſt und daß andererſeits
die Hoheitsrechte der Einzelſtaaten keine ſouveräne d. h. unbe-
ſchränkte ſind; denn eine Gebietshoheit ohne Widerſpruchsrecht gegen
Eingriffe einer andern Gewalt in das Gebiet iſt keine ſouveräne.


II. Im Verhältniß der einzelnen Bundesſtaaten zu
einander
iſt die Gebietshoheit derſelben am Staatsterritorium
zwar keineswegs beſeitigt, aber durch die Unterordnung unter die
ſouveräne Reichsgewalt ſehr erheblich an Kraft geſchwächt und ge-
lockert. Es gilt dies namentlich von der negativen Richtung der
Territorialgewalt, d. h. von der Abſchließung des Staatsgebiets
gegen Außen. Durch die Zollgeſetzgebung iſt das ganze Bundes-
gebiet dem Waaren-Verkehr frei gegeben und Reſte der Gebiets-
hoheit der einzelnen Staaten beſtehen in dieſer Beziehung nur, ſo
weit die ſüddeutſchen Staaten von der Bier- und Branntweinſteuer-
Gemeinſchaft eximirt ſind. Durch das Freizügigkeits- und Staats-
angehörigkeits-Geſetz iſt für den Perſonen-Verkehr das ganze Bun-
desgebiet zur Einheit geworden. Durch den 7. und 8. Abſchnitt
der Reichsverfaſſung iſt in Beziehung auf das Eiſenbahn- Poſt-
und Telegraphenweſen eine Abſchließung der einzelnen Staatsge-
biete gegen die übrigen deutſchen Gebiete unmöglich gemacht wor-
den. Daſſelbe iſt durch den Art. 54 der R.-V. geſchehen hinſicht-
lich der Seehäfen und aller natürlichen und künſtlichen Waſſer-
ſtraßen. Demgemäß iſt die Abſperrung ihres Gebietes den Ein-
zelſtaaten überhaupt nicht mehr geſtattet; gegen das Reichs-Ausland
nicht, weil das Reich hierzu ausſchließlich befugt iſt, gegen das
[198]§. 22. Der Schutz des Gebietes.
übrige Bundesgebiet nicht, weil dies mit der bundesſtaatlichen
Einigung unverträglich iſt.


In ihrer poſitiven Richtung dagegen beſteht die Gebietshoheit
der Einzelſtaaten in demſelben Umfange fort wie ihre Staatsgewalt
überhaupt, was z. B. in Anſehung der Enteignungs-Befugniß, der
Regalien, des Rechts auf herrenloſe oder verlaſſene Grundſtücke
deutlich zu Tage tritt.


Eine beſondere Betrachtung erfordert nur noch die Ausweiſung
und die Internirung.


1. Das Reichs-Strafgeſetzbuch geſtattet in einigen Fällen die
Ausweiſung von Ausländern aus dem Bundesgebiete. Nach §.
39 Nro. 2 iſt die höhere Landespolizeibehörde befugt, den Aus-
länder, gegen welchen auf Polizei-Aufſicht erkannt iſt, aus dem
Bundesgebiete zu verweiſen. Vgl. §. 284. 362. Obwohl die Aus-
weiſung von der Behörde des Einzelſtaates verfügt wird, erſtreckt
ſie ihre Wirkung auf das ganze Bundesgebiet. In der Staats-
gewalt des einzelnen Bundesſtaates kann unmöglich die Befugniß
enthalten ſein, Jemanden aus den Gebieten der übrigen Bundes-
ſtaaten auszuweiſen. Es handelt ſich vielmehr hier um eine An-
wendung der ſelbſtändigen Gebietshoheit des Reiches am Bundes-
gebiet; die Landespolizeibehörden üben ein Hoheitsrecht des Reiches,
nicht ihres Staates aus, welches ihnen durch §. 39 des St.-G.-B.
zur Handhabung übertragen iſt 1). Es ſteht damit im Einklang,
daß die in einem Staate verfügte Ausweiſung in den übrigen
Staaten keiner Beſtätigung für deren Gebiete bedarf und daß es
unzuläſſig iſt, daß die Landespolizei-Behörde eines Einzelſtaates
die Ausweiſung nur für das Gebiet dieſes Staates verfüge. Dieſer
Bedeutung der Verweiſung entſpricht es auch, daß dieſelbe in dem
vom Reichskanzler-Amt herausgegebenen Central-Blatt für das
deutſche Reich bekannt gemacht wird 2).


2. Die Internirung innerhalb des Bundesgebietes iſt im
Allgemeinen den Staatsbehörden nicht geſtattet; ſie ſteht im Wider-
ſpruch mit dem reichsgeſetzlich ſanctionirten Grundſatz der Frei-
zügigkeit und kann auch Fremden gegenüber wegen der §§. 5 und 6
[199]§. 22. Der Schutz des Gebietes.
des Einführungs-Geſetzes zum Strafgeſetzbuch nicht in Anwendung
gebracht werden. Nur ausnahmsweiſe iſt ſie zugelaſſen gegen
reichsangehörige Jeſuiten und renitente Geiſtliche auf Grund der
Reichsgeſ. v. 4. Juli 1872 und v. 4. Mai 1874 und zwar kann
auch hier die Landespolizeibehörde 1) die Internirung in dem Ge-
biete eines anderen Staates verfügen 2). Es bedarf keiner
Ausführung, daß auch hier die Landesbehörde kraft geſetzlicher
Delegation ein Hoheitsrecht des Reiches handhabt, obwohl nicht
verkannt werden kann, daß dieſe Anordnungen nicht ganz im Ein-
klang ſtehen mit den Grenzen, welche im Uebrigen zwiſchen der
Gebietshoheit des Reiches und der der Einzelſtaaten feſtgehalten
werden.


III. Neben dem Schutz des Gebiets gegen auswärtige Staaten
kömmt noch der Schutzdes Gebietes gegen verbrecheriſche
Unternehmungen
in Betracht. Auch hier zeigt ſich, daß das
Bundesgebiet weder die bloße Summe der Staatsgebiete iſt, noch
daß die Staatsgebiete ihre Sonderexiſtenz verloren und im Bun-
desgebiet aufgegangen ſind; vielmehr iſt das Bundesgebiet die
höhere Einheit, welche die Staatsgebiete umſchließt.


1. Der §. 81 des R.-St.-G. unterſcheidet zwei von einander
völlig getrennte, mit denſelben Strafen bedrohte Fälle des Hoch-
verrathes, die dem Gegenſatz von Bundesgebiet und Staatsgebiet
entſprechen: Er beſtimmt:


Wer es unternimmt: …


  • 3) Das Bundesgebiet ganz oder theilweiſe einem
    fremden Staate gewaltſam einzuverleiben oder einen
    Theil deſſelben vom Ganzen loszureißen, oder
  • 4) das Gebiet eines Bundesſtaates ganz oder theil-
    weiſe einem anderen Bundesſtaate gewaltſam einzuverlei-
    ben oder einen Theil deſſelben vom Ganzen loszureißen

wird wegen Hochverraths .... beſtraft.


Daß es ſich hier um zwei verſchiedene Objecte des
Hochverrathes handelt, daß das Reich ſelbſtſtändig einen Schutz
in Anſehung des Bundesgebietes und jeder Staat ſelbſtſtändig einen
Schutz in Anſehung ſeines Staatsgebiets erhalten hat, zeigt der
[200]§. 22. Der Schutz des Gebietes.
Wortlaut. Es handelt ſich aber keineswegs blos um eine begriff-
liche Unterſcheidung; ſondern es laſſen ſich ſehr wohl Unterneh-
mungen denken, in denen nicht gleichzeitig in ideeller Concurrenz
beide Fälle des Hochverraths vorliegen, ſondern nur entweder der
eine oder der andere. So würde z. B. das Unternehmen, die
Provinz Poſen zwar beim Königreich Preußen zu belaſſen, aber
ſie gewaltſam vom Reiche loszureißen, nur unter Nro 3 1); da-
gegen das Unternehmen, die Provinz Hannover zwar beim Reiche
zu belaſſen, aber ſie gewaltſam vom Königreich Preußen loszu-
reißen, nur unter Nro. 4 fallen.


2. In ähnlicher Weiſe wie beim Hochverrath kömmt das Ge-
biet in Betracht bei denjenigen ſtrafbaren Handlungen, zu deren
Thatbeſtand es gehört, daß ſie gegen das Oberhaupt des Reiches
oder eines Bundesſtaates 2) verübt werden. Der Kaiſer iſt gegen
hochverrätheriſche Mord-Unternehmungen und gegen Beleidigungen
im ganzen Bundesgebiet durch die gleichen Strafandrohungen ge-
ſchützt; dagegen ſind die Landesherren gegen dieſelben Verbrechen
nur dann mit einem ebenſo ſtarken ſtrafrechtlichen Schutz wie der
eigene Landesherr des Thäters umgeben, wenn die verbrecheriſche
That in dem Gebiete ihres Staates verübt worden iſt.
St.-G.-B. §. 80. 94 bis 97.


3. Endlich ſtellt auch Str.-G.-B. §. 361 Nro. 2 die Gebiets-
hoheit des Reiches und die der Einzelſtaaten dadurch unter gleichen
Schutz, daß er denjenigen mit Strafe bedroht: „der, nachdem er
des Bundesgebietes oder des Gebietes eines Bundes-
ſtaates
verwieſen iſt, ohne Erlaubniß zurückkehrt.“


§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.


Am deutlichſten markirt ſich das Nebeneinander-Beſtehen der
ſtelbſtſtändigen Gebietshoheit des Reiches am Bundesgebiet und
[201]§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.
der Gebietshoheit der Bundesglieder an ihren Staatsgebieten
an der Kompetenz der Behörden 1).


I.Soweit die eigene Verwaltung des Reiches
ſich erſtreckt, giebt es innerhalb des Bundesgebiets
keine Gränzen
. Es tritt dies nicht ſowohl dort hervor, wo
das ganze Bundesgebiet reſp. das ganze, nicht kraft beſonderer
Reſervatrechte eximirte Bundesgebiet überhaupt ein untheilba-
rer Bezirk iſt, z. B. hinſichtlich des Kompetenzbereiches des
Oberhandelsgerichts, des Bundesamtes für das Heimathsweſen,
des Eiſenbahn-Amtes u. ſ. w., als grade bei den Verwaltungs-
Reſſorts, bei denen das Bundesgebiet in Bezirke abgetheilt iſt.
Für die Abgränzung dieſer Bezirke ſind die Gränzen der einzelnen
Staaten nicht vorhanden; ſofern ſie dennoch zuſammenfallen, iſt
dies die Folge von Zweckmäßigkeits-Erwägungen nicht von Rechts-
gründen. Das Reich kann mehrere Staatsgebiete und Gebietstheile
verſchiedener Staaten zu einem Verwaltungsbezirk vereinigen und
in einem einzelnen Staate mehrere getrennte Verwaltungsbezirke
einrichten. Den umfaſſendſten Gebrauch hat das Reich von dieſer
Befugniß gemacht bei der Abgränzung der Oberpoſtbezirke
und der Bezirke der Telegraphen-Direktionen, der
Bezirke der Disciplinar-Kammern, ſowie der Armee-
Korps-Bezirke
. Die ſelbſtſtändige Verwaltung Bayern’s und
Württemberg’s hinſichtlich des Poſt- und Telegraphenweſens und
die ſelbſtſtändige Armeeverwaltung Bayern’s, Sachſen’s und
Württemberg’s verleihen hier den Gebietsgrenzen dieſer Staaten
eine Bedeutung, welche im Uebrigen den Staatsgrenzen völlig
ermangelt 2). Nur wird die Landeshoheit der Einzelſtaaten in
[202]§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.
ſo weit berückſichtigt, als den einzelnen Landesregierungen von
den Ernennungen der Reichs-Poſt- und Telegraphen-Beamten,
ſoweit dieſelben ihre Gebiete betreffen, und von den ihre Kontin-
gente betreffenden Veränderungen, Avancements und Ernennungen
Mittheilung erhalten. (R.-V. Art. 50. 66.)


Zu erwähnen iſt hier auch das Recht des Kaiſers, inner-
halb des Bundesgebietes
die Garniſonen zu beſtimmen
(R.-V. Art. 63 Abſ. 4) und andererſeits das Recht der Einzel-
ſtaaten, zu polizeilichen Zwecken nicht blos ihre eigenen Truppen
zu verwenden, ſondern auch alle anderen Truppentheile des Reichs-
heeres, welche in ihren Ländergebieten dislocirt ſind, zu
requiriren. (R.-V. Art. 66 Abſ. 2.)


Ueber die Bedeutung, welche für die Reichstags-Wahlbezirke
ausnahmsweiſe den Staatsgebieten zukömmt, vgl. unten §. 47.


II.Soweit die Selbſtverwaltung der Einzel-
ſtaaten ſich erſtreckt
— und zwar gleichviel, ob dem Reiche
die Geſetzgebung und Aufſicht zuſteht oder ob die Einzelſtaaten
auch die Autonomie haben — kömmt die Gebietshoheit
der Einzelſtaaten zu voller Geltung
.


Für die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchs-
Abgaben, für die Thätigkeit der Eichungsämter, der Strandämter,
für die Handhabung der Gewerbe-Ordnung, für die Zuſtändigkeit
der Gerichte auch in Handels- und Wechſelſachen, Strafſachen
und anderen reichsgeſetzlich geregelten Materien beſteht das Terri-
torialprinzip innerhalb der Einzelſtaaten in demſelben Umfange,
wie hinſichtlich der Erhebung directer Steuern, der Aufſicht über
Kirchen und Schulen, über Gemeinden, über Forſten und Berg-
werke. Dem Reiche iſt hier ein Eingriff in die Gebietshoheit
2)
[203]§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.
eines einzelnen Staates, eine Beſtimmung über die Abgränzung,
Zuſammenlegung oder Theilung der Verwaltungs-Diſtricte u. dgl.
entzogen. Es ſteht ihm frei, auf verfaſſungsmäßigem Wege den
Bereich der Selbſtverwaltung aller einzelnen Staaten einzuſchrän-
ken und den der Reichsverwaltung auszudehnen; aber nicht über
die von ihm reichsgeſetzlich gezogenen und für alle Staaten gelten-
den Grenzen der Selbſtverwaltung in die Gebietshoheit eines
oder mehrerer einzelnen Staaten überzugreifen. Es wäre dies
eine Verletzung von iura singulorum. (ſiehe oben S. 122 fg.)


Ebenſo wenig aber können die Behörden eines Bundesſtaates
Hoheitsrechte auf dem Gebiete eines andern ausüben, ſelbſt wenn
die Ausübung dieſer Hoheitsrechte für das ganze Bundesgebiet
einheitlich geregelt iſt. Denn die Landesbehörden ſind eben auch
hinſichtlich ſolcher Materien nicht Willens-Werkzeuge (Organe) des
Reiches, ſondern der Einzelſtaaten. Dagegen ergiebt ſich aus der
bundesſtaatlichen Einigung der Einzelſtaaten die gegenſeitige Pflicht
zur Hülfe, insbeſondere zur Erledigung ordnungsmäßig ergangener
Requiſitionen.


Dieſe Grundſätze ſind reichsgeſetzlich anerkannt und im Ein-
zelnen geregelt für die Handhabung der Rechtspflege durch das
Geſetz, betreffend die Gewährung der Rechtshülfe vom 21. Juni
1869. Die territoriale Begränzung der Zuſtändigkeit der Landes-
gerichte iſt das Prinzip, von welchem dieſes Geſetz ausgeht 1);
aber die Gerichte des ganzen Bundesgebietes haben ſich gegenſeitig
Rechtshülfe zu leiſten, gleichviel ob das erſuchende und das er-
ſuchte Gericht demſelben Bundesſtaate oder ob ſie verſchiedenen
Bundesſtaaten angehören. (§. 1 §. 20). Nur ausnahmsweiſe
geſtattet der §. 30 Abſ. 1 Sicherheitsbeamten eines Bundesſtaates,
inbeſondere Gendarmen, die einer ſtrafbaren Handlung verdächti-
gen Perſonen unmittelbar nach verübter That, oder unmittelbar
nachdem dieſelben betroffen worden ſind, im Wege der Nach-
eile
bis in benachbarte Staatsgebiete zu verfolgen und daſelbſt
feſtzunehmen.


Ganz ähnliche Grundſätze ſanctionirt das Zollcartel vom
11. Mai 1833 Art. 2—6, deſſen fortdauernde Geltung durch
[204]§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.
Art. 3 §. 7 des Zollvereinsvertrages vom 8. Juli 1867 und
R.-Verf. Art. 40 gewährleiſtet iſt 1).


Der Bundesrath hat ferner am 2. Februar 1874 beſchloſſen
(Protokolle §. 63), daß die Gemeindebehörden des Bundes-
gebietes einander zum Zwecke der vorläufigen Vollſtreckung ihrer
auf Grund des §. 108 der Gewerbe-Ordnung ergehenden Entſchei-
dungen nach den über die Rechtshülfe geltenden allgemeinen Grund-
ſätzen Beiſtand zu leiſten haben.


Im Weſentlichen geht auch der Entwurf des Gerichtsverfaſ-
ſungsgeſetzes von dieſen Prinzipien aus, obgleich die Faſſung
deſſelben eine ſo unklare iſt, daß ſie zu vielfachen Zweifeln Anlaß
bietet. §. 4 erklärt die Gerichte für „Staatsgerichte,“ ſie ſind
alſo nicht Organe des Reiches, ſondern der einzelnen Staaten;
§. 137 aber ſtellt den Grundſatz auf, daß ein Gericht Amtshand-
lungen außerhalb ſeines Bezirks ohne Zuſtimmung des Amtsge-
richts des Orts vornehmen darf, wenn Gefahr im Verzuge
obwaltet — in dieſem Falle alſo wol auch außerhalb des Staats-
gebietes. §. 127 verpflichtet die Gerichte, ſich in bürgerlichen
Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen Rechtshülfe zu leiſten und
§. 134 ordnet an, daß, wenn eine Freiheitsſtrafe in dem Bezirke
eines anderen Gerichts vollſtreckt oder ein in dem Bezirke eines
anderen Gerichts befindlicher Verurtheilter zum Zwecke der Straf-
verbüßung ergriffen und abgeliefert werden ſoll, der Staatsanwalt
bei dem Landgerichte des Bezirks um die Ausführung zu erſuchen
iſt. Die Sicherheitsbeamten eines Bundesſtaates ſind nach §. 138
ermächtigt, die Verfolgung eines Flüchtigen auf das Gebiet eines
benachbarten Bundesſtaates fortzuſetzen und den Flüchtigen
daſelbſt zu ergreifen; der Ergriffene muß aber unverzüglich an
die nächſte Polizeibehörde des Bundesſtaats, in welchem er ergrif-
fen wurde, abgeführt werden.


In ſofern ſtimmen die Beſtimmungen des Entwurfs mit den
bundesſtaatlichen Prinzipien und den bereits gegenwärtig gelten-
den Grundſätzen im Weſentlichen überein. Dazwiſchen aber findet
ſich der §. 131, welcher lautet:
[205]§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.
Die Herbeiführung der zum Zwecke von Vollſtreckungen,
Ladungen und Zuſtellungen erforderlichen Handlungen
erfolgt nach Vorſchrift der Prozeßordnungen ohne Rückſicht
darauf, ob die Handlungen in dem Bundesſtaate, welchem
das Prozeßgericht angehört, oder in einem anderen Bun-
desſtaate vorzunehmen ſind.


Der hier aufgeſtellte Satz führt auf den Einheitsſtaat oder
auf einen Bundesſtaat, in welchem die Rechtspflege Bundesſache
iſt und alle Gerichte Bundesgerichte ſind, zurück 1); abgeſehen von
der Schwierigkeit, was man ſich unter „Herbeiführung einer
Handlung, welche zum Zwecke von Vollſtreckungen u. ſ. w.
erforderlich iſt,“ zu denken habe.


Eine Aeußerung der fortdauernden Gebietshoheit der Einzel-
ſtaaten iſt auch das Recht derſelben, den von auswärtigen Staa-
ten beſtellten Konſuln für ihr Gebiet das Exequatur zu ertheilen.
Es handelt ſich hierbei nicht, wie bei der Ernennung von Konſuln
um die einheitliche Vertretung des Reiches dem Auslande gegen-
über, ſondern umgekehrt um die Wahrung der Intereſſen von
Angehörigen auswärtiger Staaten im Reichsgebiete. Die Erlaub-
niß, einen Konſul zur Wahrung ſolcher Intereſſen zu beſtellen
und die Anerkennung deſſelben, d. h. die Einräumung derjenigen
Rechte, welche nach Grundſätzen des Völkerrechts oder beſonderen
Verträgen, Konſuln zuſtehen, an die von dem auswärtigen Staate
für dieſes Amt auserſehene Perſon, kann jeder Staat für den
Umfang ſeines Gebietes ertheilen 2). Ein Hoheitsrecht des Rei-
ches wird dadurch nicht berührt. Nur kann ſelbſtverſtändlich kein
Einzelſtaat einem fremden Konſul Rechte beilegen, welche mit
Reichsgeſetzen, mit Verträgen, welche das Reich abgeſchloſſen hat,
oder mit der dem Reiche zuſtehenden, völkerrechtlichen Souveräne-
tät in Widerſpruch ſtehen.


[206]

Fünftes Kapitel.
Die Organiſation der Reichsgewalt.


Erſter Abſchnitt.
Der Kaiſer.


§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.


Die Norddeutſche Bundesverfaſſung kannte den kaiſerlichen
Titel oder einen, ihm in ſtaatsrechtlicher Beziehung entſprechenden
nicht. Diejenigen Rechte, welche nach der jetzigen Verfaſſung kai-
ſerliche ſind, ſtanden dem Oberhaupte des Norddeutſchen Bundes
unter drei Bezeichnungen zu. Die meiſten derſelben gehörten ihm
als Präſidium des Bundes; insbeſondere die völkerrechtliche
Vertretung des Bundes, die Berufung, Eröffnung und Schließung
des Bundesrathes und Reichstages, die Ernennung des Bundes-
kanzlers, die Ausfertigung und Verkündigung der Bundesgeſetze,
die Ernennung und Entlaſſung der Bundesbeamten und die Ober-
aufſicht über alle Zweige der Bundesverwaltung 1). Der Bundes-
feldherr
dagegen hatte den Oberbefehl über die geſammte Bundes-
armee, die Oberaufſicht über die Vollzähligkeit und Kriegstüchtig-
keit aller Truppentheile, das Recht zur Inſpection derſelben, die
Beſtimmung des Präſenzſtandes und der Gliederung der Contin-
gente, die Befugniß, innerhalb des Bundesgebietes Feſtungen an-
zulegen und die Mitglieder der Bundesraths-Ausſchüſſe für das
Landheer und die Feſtungen und für das Seeweſen zu ernennen 2).
Ebenſo ſtand ihm als Bundesfeldherrn das Recht zu, jeden Theil
des Bundesgebietes in Kriegszuſtand zu erklären, ſowie die Voll-
ſtreckung einer etwa erforderlichen Bundesexecution 3). Der König
von Preußen
endlich hatte den Oberbefehl über die Bundes-
Kriegsmarine und die Beſtimmung über Organiſation und Zuſam-
menſetzung derſelben 4).


[207]§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.

Dieſe Dreitheilung war nicht zufällig oder lediglich Folge
mangelhafter Faſſung, ſondern überlegt und beabſichtigt 1). Das
Bundespräſidium“ wird nach der Verfaſſung des Norddeut-
ſchen Bundes immer nur als die Spitze des Bundesrathes und in
engem Zuſammenhange mit demſelben gedacht 2); es iſt in ſehr
vielen Fällen in ſeinen Handlungen von der Zuſtimmung des
Bundesrathes und Reichstages abhängig; die vom Bundespräſidium
ernannten Beamten ſind Bundesbeamte 3); alle vom Bundesprä-
ſidium erlaſſenen Anordnungen bedürfen zu ihrer Gültigkeit der
Gegenzeichnung des Bundeskanzlers4). Die Rechte dagegen, welche
das Bundesoberhaupt als Bundesfeldherr oder in ſeiner Eigenſchaft
als König von Preußen ausübt, erſcheinen in weniger engem Zu-
ſammenhange mit der Bundesorganiſation. Die Offiziere, Beamten
und Mannſchaften der Marine wurden nach der Norddeutſchen
Bundesverfaſſung nicht für den Bund, ſondern „für Sr. Majeſtät
den König von Preußen“ vereidet 5); in den Fahneneid der Trup-
pen wurde die Clauſel aufgenommen, „den Befehlen des Bun-
desfeldherrn
unbedingt Folge zu leiſten 6);“ für die Anord-
nungen des Bundesfeldherrn war nach der Verf. des Nordd.
Bundes das Erforderniß der Contraſignatur des Bundeskanzlers
nicht vorgeſchrieben 7); die Geſchäfte der Marine- und Heeres-
verwaltung reſſortirten nicht vom Bundeskanzler-Amte. Eine ein-
heitliche Bezeichnung für den Träger dieſer Rechte hat erſt das
Norddeutſche Strafgeſetzbuch Art. 80. 94. 95 eingeführt,
welches ihn als „Bundesoberhaupt“ bezeichnet und zu den
in der Verfaſſung begründeten ſtaatsrechtlichen Befugniſſen deſſelben
[208]§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.
einen ausgezeichneten ſtrafrechtlichen Schutz gegen Beleidigungen
hinzufügte 1).


Bei Feſtſtellung der Verträge mit den ſüddeutſchen Staaten
iſt die oben berührte Dreitheilung nicht verſchwunden; es iſt zu-
nächſt nur an einer Stelle der Kaiſertitel eingefügt worden, nämlich
im Art. 11 Abſ. 1:


„Das Präſidium des Bundes ſteht dem Könige von
Preußen zu, welcher den Namen Deutſcher Kaiſer führt.“


In der am 31. Dezember 1870 publizirten Verfaſſung des
Deutſchen Bundes iſt zwar im Art. 19 der Ausdruck Bundesfeld-
herr durch den Ausdruck Bundespräſidium erſetzt, der Art. 53
aber erwähnt den „Preußiſchen“ Oberbefehl über die Marine und
beſtimmt, daß die Organiſation und Zuſammenſetzung derſelben
„Sr. Majeſtät dem Könige von Preußen“ zuſteht, und in den
Art. 62—68 erſcheint der „Bundesfeldherr“ wie in der früheren
Verfaſſung des Nordd. Bundes. Das Gleiche iſt der Fall in der
Würtembergiſchen Militär-Convention, welche an keiner Stelle das
Bundespräſidium erwähnt, ſondern nur von „Sr. Majeſtät dem
Könige von Preußen als Bundesfeldherrn“ oder dem „Bundes-
feldherrn“ ſchlechthin ſpricht, und in dem Vertrage mit Bayern
v. 23. Nov. 1870 unter III §. 5 III. IV, der ebenfalls nur den
Bundesfeldherrn in militäriſchen Angelegenheiten kennt 2).


Erſt die jetzt geltende Redaction der Reichsverfaſſung hat ſo-
wohl bei den Beſtimmungen über die Marine als bei denjenigen
über das Reichskriegsweſen die Bezeichnung „Kaiſer“ durchgeführt
und damit die frühere Dreitheilung, oder falls man den König
von Preußen mit dem Bundesfeldherrn für ganz identiſch halten
will, die frühere Zweitheilung der dem Bundesoberhaupte zuſtehen-
den Befugniſſe formell beſeitigt. Auch in der Redaction des Straf-
geſetzbuchs für das deutſche Reich iſt an die Stelle des Bundes-
oberhauptes der Kaiſer getreten.


[209]§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.

Die jetzige Reichsverfaſſung hat in den Artikeln 5 Abſ. 2,
7 Abſ. 2 und 3, 8 Abſ. 1 und 37 1) den Ausdruck „Präſidium“
beibehalten; im Uebrigen durchweg den Ausdruck „Kaiſer“ an die
Stelle geſetzt. Daß beide Ausdrücke ſachlich ganz daſſelbe bedeuten,
ergiebt ſich aus der oben erwähnten Faſſung des Art. 11 Abſ. 1.
Noch beſtimmter und klarer iſt dies ausgeſprochen in dem Schrei-
ben des Königs von Bayern an den König von Preußen, durch
welches die Anregung zur Wiederherſtellung des Kaiſertitels gegeben
wurde. In demſelben heißt es 2):


„Ich habe Mich daher an die deutſchen Fürſten mit dem
Vorſchlage gewendet, gemeinſchaftlich mit Mir bei Eurer Majeſtät
in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präſi-
dialrechte des Bundes
mit Führung des Titels eines deut-
ſchen Kaiſers verbunden werde3).


Durch die conſequente Durchführung der Bezeichnung „Kaiſer“
in der Reichsverfaſſung iſt indeß auch eine ſachliche Aenderung be-
wirkt worden, trotzdem nach der ausdrücklichen Angabe der Motive,
mit denen die neue Redaction dem Reichstage vorgelegt wurde 4),
„materielle Aenderungen des beſtehenden Verfaſſungsrechts nicht
beabſichtigt worden ſind“ und bei den Berathungen des Reichstages
die gleiche Intention vom Abg. Lasker und dem Fürſten Bismarck
ſehr beſtimmt betont worden iſt 5). Denn die Beſtimmung des
Art. 17, daß die Anordnungen und Verfügungen des Kaiſers im
Namen des Reiches erlaſſen werden und zu ihrer Gültigkeit der
Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen, erſtreckt ſich nunmehr
auch auf alle diejenigen Anordnungen des Kaiſers, welche ſich auf
die Marine beziehen oder welche nach der früheren Verfaſſung nicht
dem Bundespräſidium, ſondern dem Bundesfeldherrn zuſtanden.
La [...]and, Reichsſtaatsrecht. I. 14
[210]§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.
Alle Anordnungen, welche in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung
und den zu ihrer Durchführung erlaſſenen Geſetzen das Bundes-
präſidium betrafen, ſind nunmehr auf den geſammten Kreis der
kaiſerlichen Rechte und Pflichten ausgedehnt und verallgemeinert
worden.


Aber das iſt allerdings feſtzuhalten, daß eine neue ſtaats-
rechtliche Inſtitution durch die Wiederherſtellung der Kaiſerwürde
nicht geſchaffen worden iſt. Der Begriff des Bundespräſidiums iſt
durch die Verknüpfung deſſelben mit dem Kaiſertitel nicht verän-
dert worden. Aus den geſchichtlichen Vorgängen, die zur Wieder-
Aufrichtung des Kaiſertitels führten, aus den Motiven und Er-
klärungen, mit denen die Vorlage der jetzigen Verfaſſungs-Redac-
tion und deren Berathung begleitet wurde, und vor Allem aus
dem Art. 11 der Reichsverfaſſung ſelbſt, ergiebt ſich mit unzwei-
felhafter Gewißheit, daß das Kaiſerthum ganz und vollkommen
identiſch iſt mit dem Bundespräſidium, und daß es, abgeſehen
von dem Titel und den demſelben entſprechenden Inſignien keine
Rechte enthält als die Präſidialrechte 1).


Die Feſtſtellung der ſtaatsrechtlichen Natur des Kaiſerthums
iſt nicht ohne Schwierigkeiten, da ein aus Monarchien zuſammen-
geſetzter Bundesſtaat ohne Vorgang in der Geſchichte iſt. Aus
dem Umſtande, daß der Kaiſertitel bisher nur zur Bezeichnung
des Monarchenrechts verwendet worden iſt, können Schlüſſe nicht
gezogen werden, da Art. 11 der R.-V. ausdrücklich dem Kaiſer
nicht die Souveränetät des Reiches, ſondern das Präſidium des
Bundes beilegt. Es kann vielmehr dieſer Begriff nur aus der
Natur des Reiches als eines Bundesſtaates gefunden werden.


Er ergeben ſich ſofort zwei Sätze negativen Inhalts.


1. Der Kaiſer iſt nicht Monarch des Reich es d. h.
Souverän
deſſelben; die Reichsgewalt ſteht nicht ihm, ſondern
der Geſammtheit der Deutſchen Bundesfürſten und freien Städte,
alſo einem von ihm begrifflich verſchiedenen Subject zu 2); wo
er für das Reich Willenserklärungen abgiebt oder Handlungen
vornimmt, handelt er nicht im eigenen Namen, ſondern im Namen
[211]§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.
des Reiches 1); wo dem Reichstage gegenüber das Subject der
Reichsgewalt in Betracht kommt, alſo in dem ſtaatsrechtlichen
Verhältniß der Organe des Reiches zu einander, handelt er im
Namen der verbündeten Regierungen 2).


2. Der Kaiſer iſt nicht Präſident in dem Sinne, wie
dies Wort in democratiſchen Staaten genommen wird, d. h. Beam-
ter
des Reiches. Er wird nicht von dem Souverän des Reiches
ernannt, er iſt nicht abſetzbar, er iſt nicht verantwortlich; er iſt Nie-
mandes Unterthan; er hat die Präſidialrechte kraft eigenen Rechtes.


Auch eine „Theilung der Centralgewalt“ unter die Geſammt-
heit der Mitglieder und die Präſidialmacht, welche v. Martitz
Betrachtungen S. 48 annimmt, kann nicht zugegeben werden.
Eine Theilung der Souveränetät iſt begrifflich unmöglich 3).


Man darf daraus, daß der Kaiſer weder Souverän noch
Beamter des Reiches iſt, nicht mit Held4) ſchließen, daß das
Deutſche Kaiſerthum etwas Unfertiges und Widerſpruchsvolles iſt,
noch mit v. Mohl ganz davon abſehen, den Begriff des Kaiſer-
thums theoretiſch feſtzuſtellen und zu conſtruiren 5).


Dieſe Feſtſtellung des Begriffes läßt ſich gewinnen, wenn man
die Thatſache im Auge behält, daß der Kaiſer Mitglied des Rei-
ches
iſt. Er kann nicht Beamter ſein wie der Präſident einer Repu-
blik, weil er Mitſouverän iſt, und er kann nicht Monarch ſein,
weil er nicht alleiniger Souverän iſt. Aber er iſt kein Mitglied
des Reiches lediglich wie die übrigen Bundesfürſten, ſondern ein
bevorrechtetes, ein mit weitreichenden Sonderrechten6)
ausgeſtattetes Mitglied. Das Recht auf das Bundespräſidium iſt
ein Sonderrecht des Königs von Preußen, nur daß es ſich nicht
auf die Kompetenz des Reiches gegenüber der Einzelſtaatsgewalt
bezieht, wie die ſüddeutſchen Reſervatrechte, ſondern auf den An-
theil an der Willensthätigkeit des Reiches ſelbſt. Es ergeben ſich
hieraus eine Reihe der wichtigſten Rechtsſätze, ſowohl in Bezug
auf das Subject als auf den Inhalt der kaiſerlichen Rechte.


14*
[212]§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.

Vor Allem iſt klar, daß die Stellung des Kaiſers im Reiche
durch die kaiſerlichen Rechte allein gar nicht vollſtändig gegeben
iſt; ſie finden ihre nothwendige Ergänzung in den Mitglied-
ſchaftsrechten
Preußens. Nur wenn man die Mitgliedſchafts-
rechte, welche Preußen mit allen übrigen Deutſchen Staaten ge-
mein hat, mit dem Sonderrecht, welches durch ſeine Präſidial-
befugniſſe gebildet wird, zuſammenaddirt, erhält man die volle
Summe der dem Kaiſer zuſtehenden Rechte und ein vollſtändiges
Bild der Stellung des Kaiſers im Reiche. Denkt man ſich Je-
manden, der nicht zugleich Landesherr eines Deutſchen Staates,
alſo nicht Mitglied des Reiches iſt 1), ausgeſtattet mit allen kaiſer-
lichen Rechten der Reichsverfaſſung und der auf Grund derſelben
erlaſſenen Geſetze, ſo hat man ein Zerrbild des Kaiſers, das in
die Reichsverfaſſung nach keiner Richtung paßt. Denkt man ſich
den Landesherrn eines der kleineren Staaten mit den Präſidial-
befugniſſen ausgeſtattet, ſo könnte man formell juriſtiſch die von
dem Kaiſer geltenden Grundſätze auf ihn zwar anwenden, that-
ſächlich und politiſch betrachtet wäre das Kaiſerthum aber etwas
durchaus Verſchiedenes von dem, was es wirklich iſt. Nur dadurch
daß man die Präſidialbefugniſſe in untrennbaren Zuſammenhang
bringt mit den, der Krone Preußen zuſtehenden Mitgliedſchafts-
rechten, ja daß man das Recht auf die Ausübung dieſer
Präſidialbefugniſſe als ein zu dieſen Mitglied-
ſchaftsrechten acceſſoriſches Vorrecht (Sonderrecht)
Preußens
auffaßt, gewinnt man den ſtaatsrechtlichen Begriff
des Kaiſers. Wenn nach Art. 5 Abſ. 2 und Art. 37 „die Stimme
des Präſidiums,“ nach Art. 9 Abſ. 2 „die Präſidialſtimme“ bei
der Beſchlußfaſſung des Bundesraths den Ausſchlag giebt, wenn
nach Art. 8 in jedem der dauernden Bundesraths-Ausſchüſſe „das
Präſidium“ vertreten ſein muß, ſo iſt „Präſidium“ und „Preußen“
hier völlig identiſch; es iſt bei der ſchärfſten logiſchen Unterſchei-
dung unmöglich, einen begrifflichen Unterſchied zwiſchen der ſieb-
zehnfachen Stimme Preußens und der Präſidialſtimme aufzuſtellen
oder ſie im Gegenſatz zu einander zu denken. (Vgl. unten §. 28.)


Die wichtige Conſequenz dieſer Auffaſſung iſt der Satz, daß
die Ausübung der Mitgliedſchaftsrechte Preußens und die Hand-
[213]§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.
habung der kaiſerlichen Präſidialbefugniſſe unter keinen Umſtänden
und in keinem Falle getrennt und an verſchiedene Subjecte ver-
theilt ſein können.


Es ergiebt ſich ferner, in welchem Sinne der oft wiederholte
Satz richtig iſt, der Kaiſer ſei den Bundesfürſten nicht überge-
ordnet, ſondern primus inter pares. Richtig iſt dies nur hinſicht-
lich der Mitgliedſchaftsrechte, die der Kaiſer neben den Präſidial-
rechten hat; dieſe ſtehen allen Deutſchen Staaten prinzipiell gleich-
mäßig zu; in Beziehung auf ſie ſind die Bundesfürſten — von
den Sonderrechten abgeſehen — pares und der König von Preu-
ßen als Landesherr des hervorragendſten und größten der Mit-
gliedsſtaaten iſt unter ihnen primus. Hinſichtlich der eigentlichen
Kaiſerrechte giebt es keine pares, weil es überhaupt nicht mehrere
Berechtigte giebt. Die Präſidialrechte ſtehen nicht mehreren Bun-
desfürſten collectiv oder nach räumlich begränzten Theilen des
Bundesgebietes 1), ſondern dem Könige von Preußen allein zu.


Man muß nun aber ferner unterſcheiden zwiſchen dem Rechte
auf die kaiſerliche Stellung und dem Inhalt der letzteren ſelbſt.


Ihrem Inhalte nach ſind die Rechte des Kaiſers nicht Rechte
Preußens, ſondern des Reiches. Der Kaiſer übt als ein Organ
des Reiches die dem letzteren zuſtehenden Souveränetätsrechte aus,
ſoweit die Verfaſſung oder Geſetze des Reiches ihn dazu berufen.
Da die einzelnen Deutſchen Staaten und ihre Landesherren der
Souveränetät des Reiches untergeordnet ſind, ſo ſind ſie auch dem
Kaiſer, als dem verfaſſungsmäßigen Willensorgan des Reiches
untergeordnet; zwar nicht dem Kaiſer als phyſiſcher Perſon, ſon-
dern begrifflich nur dem Reich als ideeller oder juriſtiſcher Perſon,
wirkſam wird dieſe Unterordnung aber gegenüber dem Kaiſer inſo-
fern, als er einen bedeutenden Theil der dem Reiche zuſtehenden
ſtaatlichen Hoheitsrechte handhabt und verwaltet.


Hieraus und aus dem oben entwickelten Begriff des Bundes-
ſtaates folgt weiter, daß der Kaiſer nicht Collectiv-Mandatar der
einzelnen Deutſchen Bundesfürſten oder Bundesſtaaten iſt 2). Er
leitet ſeine Machtbefugniſſe und Hoheitsrechte nicht ab von den
[214]§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.
Bundesgliedern, welche als Einzelne unter der Souveränetät
des Reiches ſtehen, ſondern von dem Reiche ſelbſt, welches eine
ſouveräne Gewalt über den Bundesſtaaten iſt. Sind auch die
Bundesglieder in ihrer Geſammtheit Subject der Reichsgewalt,
ſo ſind ſie doch als Einzelne Unterthanen der Reichsgewalt, wäh-
rend der Kaiſer das Organ derſelben iſt. Und zwar iſt der
Kaiſer der einzige Bundesfürſt, welcher individuell einen Antheil
an der Regierung des Reiches hat. Alle übrigen Bundesfürſten
haben als einzelne keinerlei Functionen an der Lebensthätigkeit
des Reiches auszuüben, ſondern nur als Geſammtheit durch das
Inſtrument des Bundesraths. Der Kaiſer iſt das einzige Bun-
bes mitglied, welches zugleich Organ der Reichsgewalt iſt.


Es folgt endlich hieraus, daß zwar das Recht auf die Kai-
ſerwürde
ein Sonderrecht Preußens iſt, die einzelnen Präſi-
dialbefugniſſe ſelbſt dagegen nicht unter den Begriff der Sonderrechte
eines Mitgliedes fallen. Vielmehr bilden die Präſidialbefugniſſe
einen Theil der Organiſation, welchen die Reichsgewalt erhalten hat
und ſind mithin nicht ſubjective Rechte des Preußiſchen Staates
und ſeines Königs. Die Bezeichnungen „König von Preußen“
und „Deutſcher Kaiſer“ beziehen ſich zwar mit rechtlicher Nothwen-
digkeit ſtets auf dieſelbe Perſon, aber ſie charakteriſiren zwei ver-
ſchiedene ſtaatsrechtliche Stellungen derſelben. Hinſichtlich der
Ausübung und Handhabung der Präſidialbefugniſſe kann demnach
in keiner Beziehung das Staatsrecht der Preußiſchen Monarchie,
ſondern lediglich das Reichsrecht Anwendung finden. Für die
Beſchränkung oder Aufhebung einzelner Präſidial-Befugniſſe durch
ein Reichsgeſetz iſt der Satz, daß ſie keine Preußiſchen Sonder-
rechte ſind, inſofern, als die Präſidialbefugniſſe in der Verfaſſungs-
Urkunde ſelbſt ſanctionirt ſind, praktiſch unerheblich, da die Stimme
Preußens immer in der Lage iſt, eine Verfaſſungs-Aenderung
abzuwenden. Soweit aber durch einfache Reichsgeſetze dem Kaiſer
Rechte beigelegt werden, iſt es von Wichtigkeit, feſtzuhalten, daß
die von den Sonderrechten einzelner Staaten geltenden Regeln
auf dieſelben nicht anwendbar ſind.


§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.


Art. 11 der Norddeutſchen Bundesverfaſſung beſtimmte:
„Das Präſidium des Bundes ſteht der Krone Preußen zu;“ in
[215]§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.
der jetzigen Reichsverfaſſung lautet der Satz: „Das Präſidium
des Bundes ſteht dem Könige von Preußen zu.“ Dieſe Faſ-
ſungs-Aenderung war nothwendig, wegen der Hinzufügung des
Relativſatzes: „welcher den Namen Deutſcher Kaiſer führt.“ Man
hat in dieſer Faſſungsänderung auch eine materielle Aenderung
finden wollen, indem ſie die Anwendung der Preußiſchen Beſtim-
mungen über Regentſchaft auf das Reich ausſchließe 1); dieſe
Annahme iſt jedoch bereits mehrfach widerlegt worden 2). „König
von Preußen“ bedeutet genau daſſelbe wie „Krone Preußen“,
nämlich den Träger der Preuß. Krone.


Aber auch abgeſehen von dieſer Frage der Wort-Interpreta-
tion hat man die Anwendung der Preußiſchen Verfaſſungs-Beſtim-
mungen für den Fall der Nothwendigkeit einer Regentſchaft aus
ſachlichen Gründen für unzuläſſig erklärt. v. Rönne, Verfaſ-
ſungsrecht des Deutſchen Reichs S. 157 glaubt, „daß es nicht
zuläſſig ſein würde, wie die Art. 56 u. 57 der Preuß. V.-U.
beſtimmen, die beiden Häuſer des Preußiſchen Landtages zur Ent-
ſcheidung über die Nothwendigkeit der Regentſchaft für das Deutſche
Reich zu berufen, und, wenn kein volljähriger Agnat vorhanden
iſt, den Regenten durch die beiden Häuſer des Preußiſchen Land-
tages erwählen zu laſſen, ſo wie auch die Regierung des Deutſchen
Reiches proviſoriſch durch das Preußiſche Staatsminiſterium führen
zu laſſen.“ In weiterer Ausführung dieſes Gedankens und ſach-
lich ganz übereinſtimmend äußert ſich v. Mohl Reichsſtaatsrecht
S. 284 fg. 3).


Es liegt hier unſeres Ermeſſens eine vollſtändige Verkennung
des im Art. 11 der R.-V. ausgeſprochenen Rechtsprinzips vor.


Das Deutſche Kaiſerthum iſt kein Recht, welches ſelbſtſtändig
d. h. unabhängig von der Krone Preußens erworben oder ausge-
übt werden könnte; es iſt ein Acceſſorium der Preußiſchen Krone.
Das Reichsrecht enthält daher auch über den Erwerb der Kaiſer-
würde keinen einzigen Rechtsſatz und könnte keinen aufſtellen, ohne
den im Art. 11 der R.-V. enthaltenen Rechtsgrundſatz für gewiſſe
Eventualitäten zu beſeitigen. Würde der Erwerb der Kaiſerwürde
[216]§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.
irgend eine Vorausſetzung mehr oder weniger oder anders haben
als der Erwerb der Preußiſchen Krone, ſo wäre die Möglichkeit
gegeben, daß Deutſches Kaiſerthum und Preußiſches Königthum
auseinanderfallen. Ihre dauernde verfaſſungsmäßige Vereinigung
in demſelben Subject iſt nur möglich, wenn entweder das Reichs-
recht poſitiv die Grundſätze über den Erwerb der Kaiſerkrone
regelt und beſtimmt: „Wer Kaiſer iſt, iſt zugleich ipso iure immer
auch König von Preußen;“ oder wenn das Reich vollſtändig die
geſammte Ordnung des Rechts auf die Krone dem Preußiſchen
Staatsrecht überläßt und ſich auf den einfachen Rechtsſatz beſchränkt:
Die Kaiſerwürde folgt ipso iure der Preußiſchen Königskrone.
Daß das Letztere geſchehen, der Erwerb des Preußiſchen Throns
das prius, das Präſidium des Bundes das Acceſſorium iſt, kann
einem Zweifel nicht unterliegen.


In der That handelt es ſich daher bei Anwendung des Art.
11 der R.-V. gar nicht um eine Anwendung Preußiſcher Verfaſ-
ſungsſätze auf das Reich oder um eine Einwirkung Preußiſcher
Staatsorgane auf Reichsangelegenheiten. Dieſe Einwirkung iſt
eine faktiſche, keine rechtliche. Die Anordnungen der Preußiſchen
Verfaſſung über Thronfolgerecht und Regentſchaft finden nur in
Preußen Anwendung, der Preußiſche Landtag und das Preußiſche
Staatsminiſterium handeln nur für Preußen. Die Einrichtung
einer Regentſchaft in Preußen iſt eine ausſchließlich Preußiſche
Staatsaction. Aber das Reichsrecht knüpft kraft eines objectiven
Rechtsſatzes, deſſen Wirkung der Willensmacht des Preußiſchen
Landtages gänzlich entzogen iſt und ebenſo ohne jeden Willensact
und ohne jede Beſchlußfaſſung des Bundesraths und Reichstages
eintritt, an die Erlangung der Preußiſchen Krone die Folge des
Erwerbes der Kaiſerwürde an. Das rechtliche Intereſſe des Rei-
ches iſt auf den einen Punkt beſchränkt, daß dieſelbe Perſon die
Rechte der Preußiſchen Krone und die Präſidialbefugniſſe ausübe;
es erſtreckt ſich nicht auf die Normirung der Regeln, nach denen
die Preußiſche Krone erworben wird.


Dieſe Sätze werden unbeſtritten und unbezweifelt anerkannt
hinſichtlich des eigentlichen Thronfolgerechts. Es ergiebt ſich na-
mentlich aus ihnen die Conſequenz, daß eine Abänderung des
Preußiſchen Thronfolgerechts reſp. der Hausgeſetze des Königlichen
Hauſes Hohenzollern nach Maaßgabe des Preußiſchen Staatsrechts
[217]§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.
erfolgen kann und daß, wenn ſie verfaſſungsgemäß in Preußen
erfolgt iſt, ſie thatſächlich auch für die Succeſſion in die Kaiſer-
würde entſcheidend iſt, ohne daß ein Reichsgeſetz ihr Anerkennung
und Beſtätigung zu verleihen braucht. Das Preußiſche Thron-
folgerecht iſt formell kein Reichsrecht.


Es iſt nun durchaus nicht einzuſehen, warum dieſelben Grund-
ſätze nicht vollſtändig zur Geltung kommen ſollen, wenn eine Re-
gentſchaft in Preußen erforderlich wird 1). Die Präſidialbefug-
niſſe haften nicht an dem Titel eines Königs von Preußen und
ſind nicht Rechte, welche dem Könige für ſeine Perſon, d. h.
unabhängig von ſeiner ſtaatsrechtlichen Stellung in Preußen, zu-
kommen. Das Recht auf die Kaiſerwürde iſt ein Recht der Preu-
ßiſchen Krone; der König hat es in ſeiner Eigenſchaft als Monarch
des Preußiſchen Staates. Sowie der Staat Preußen eigentlich
das Mitglied des Reiches, ſein König nur der verfaſſungsmäßige
Vertreter iſt, ſo iſt auch das Sonderrecht auf die Kaiſerwürde
im letzten Grunde ein Recht des Preußiſchen Staates, zu deſſen
Geltendmachung und Ausübung der König von Preußen beru-
fen iſt.


Wenn alſo nach Grundſätzen des Preußiſchen Staatsrechts
der König durch einen Regenten vertreten werden muß, ſo iſt der
Vertreter berufen, ihn in allen Rechten und Pflichten der Krone
zu vertreten und mithin auch die Präſidialſtellung im Reiche ein-
zunehmen. Der Titel des Kaiſers, wird allerdings demjenigen
zukommen, welcher den Titel des Königs von Preußen führt und
dem quoad ius auch die Preußiſche Krone zuſteht; die Ausübung
der Preußiſchen Kronrechte aber iſt untheilbar und deshalb erſtreckt
ſie ſich auch im Falle der Regentſchaft nothwendig auf das, der
Preußiſchen Krone zuſtehende Präſidium des Bundes 2).


[218]§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.

Damit iſt dann aber von ſelbſt die Folge gegeben, daß über
die Normirung der Fälle, in welchen eine Regentſchaft eingerichtet
werden muß, über das Recht zur Uebernahme der Regentſchaft,
über die geſetzliche Fürſorge für den Fall, daß kein volljähriger
Agnat vorhanden iſt, über das eventuell eintretende Wahlrecht
des Landtages, über die interimiſtiſche Führung der Regierung
durch das Staatsminiſterium und über den Antritt der Regent-
ſchaft, einzig und allein die Beſtimmungen der Preußiſchen Ver-
faſſung (Art. 56—58) zur Anwendung kommen können. Die
Einrichtung einer Regentſchaft in Preußen iſt für das Reich ganz
ebenſo wie ein Thronwechſel in Preußen, der durch Todesfall
herbeigeführt wird, ein thatſächliches Ereigniß, deſſen Folgen es
hinnehmen muß.


Auch in einer anderen Richtung hat eine Beſtimmung der
Preußiſchen Verfaſſungs-Urkunde zu Bedenken hinſichtlich des Er-
werbes der kaiſerlichen Rechte Veranlaſſung gegeben. Im Art. 54
der Pr. V.-U. wird nämlich dem Könige von Preußen die Ablei-
ſtung eines Verfaſſungseides zur Pflicht gemacht. Hieraus folgert
nun v. Rönne a. a. O. S. 157, „daß, ſowie der Nachfolger
in der Preußiſchen Krone, wenn er es unterlaſſen oder ſich aus-
drücklich weigern ſollte, der Verpflichtung des Abſ. 2 des Art. 54
nachzukommen, rechtlich nicht befugt iſt, die durch die Preuß.
Verfaſſungsurk. mit der Preußiſchen Krone verbundenen Regie-
rungsrechte auszuüben, derſelbe auch rechtlich nicht die Befugniß
hat, die durch die Verfaſſung des deutſchen Reiches nur dem jedes-
maligen Inhaber der Preußiſchen Krone übertragenen Regierungs-
rechte auszuüben.“ Uebereinſtimmend hiermit iſt v. Mohl Reichs-
ſtaatsr. S. 284. Dieſe Folgerung für das Reichsrecht wäre richtig,
wenn der von v. Rönne angenomme Satz des Preußiſchen Staats-
rechtes begründet wäre. In ſeinem Staatsrecht der Preußiſchen
Monarchie I §. 185 1) führt er aus, daß die Ableiſtung des Eides
eine „Bedingung“ der Ausübung der verfaſſungsmäßigen Rechte
des Königs ſei und daß im Falle der Verweigerung des Ver-
faſſungseides die Regierung des Königs vorläufig eine rein that-
ſächliche, nicht aber eine rechtliche und verfaſſungsmäßige ſei 2).
[219]§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.
Dieſe Auffaſſung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die Preuß.
Verf.-Urk. ſie ausdrücklich beſtätigen würde; da dieſelbe aber über
die Folgen der Verweigerung oder Verzögerung der Eidesleiſtung
gar Nichts beſtimmt, ſo muß die von v. Rönne aufgeſtellte Theorie,
weil ſie mit den Grundſätzen des monarchiſchen Staatsrechts im
Widerſpruch ſteht, verworfen werden. Der Erwerb der Krone
erfolgt, wie allgemein anerkannt und auch von v. Rönne nicht
bezweifelt wird, ipso iure im Augenblick der Erledigung des
Thrones. Der Regierungs-Nachfolger wird daher König und
zwar mit allen verfaſſungsmäßigen Rechten aus-
geſtatteter
König, bevor er nur die Möglichkeit hat, den Eid
zu leiſten. Er muß mit Nothwendigkeit vor Leiſtung des Eides
Regierungshandlungen vornehmen, z. B. die Einberufung und
Eröffnung des Landtages, in deſſen Gegenwart er den Eid leiſten
ſoll. Er iſt auch ſchon vor Leiſtung des Eides und ohne denſelben
ſtaatsrechtlich zur unverbrüchlichen Beobachtung der Verfaſſung
verpflichtet. Die Leiſtung des Eides iſt eine verfaſſungsmäßige
Pflicht des Königs; die Verzögerung oder Verweigerung der Eides-
leiſtung eine Pflichtverſäumniß, eine Verfaſſungsverletzung. Die-
ſelbe iſt aber mit keiner andern Rechtsfolge bedroht als andere
Verfaſſungs-Verletzungen Seitens des Königs. Niemals hat eine
ſolche die Rechtswirkung, daß der König mit Verluſt der Krone
beſtraft werden könnte. Darauf läuft aber die Theorie v. Rönne’s
hinaus. Denn der im Moment des Anfalls ipso iure vollendete
Erwerb der Krone kann nicht rückwärts annullirt werden, ſondern
die Krone könnte nur, nachdem die Verweigerung oder ungebühr-
liche Verzögerung der Eidesleiſtung vom Landtage conſtatirt wor-
den, dem Könige entzogen werden. Dies iſt eine Theorie,
welche das Weſen des Monarchenrechts verleugnet und in dem
Prinzip der Volks- oder Parlaments- Souveränetät wurzelt 1).


Welche Mittel der Preußiſche Landtag nach Preußiſchem
Staatsrecht hat, um Verfaſſungs-Verletzungen Seitens des Königs
zu verhindern, reſp. die Ableiſtung des Verfaſſungseides zu erzwin-
gen, kann hier unerörtert bleiben; es genügt, daß er in keinem
Falle befugt iſt, den König abzuſetzen. Für das Reich iſt dies
[220]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.
allein von Bedeutung. Eine wirkliche oder angebliche Verletzung
der Preußiſchen Verfaſſung durch den König von Preußen iſt eine
innere Angelegenheit des preußiſchen Staates und dem Reiche ge-
genüber ohne Rechtswirkung. Der Art. 11 macht das Recht des
Königs von Preußen auf das Präſidium des Reiches nicht von der
Bedingung abhängig, daß derſelbe die Preußiſche Verfaſſung nicht
verletze. Eine Einmiſchung in innere Angelegenheiten des Preuß.
Staates ſteht dem Reiche nicht zu, es ſei denn, daß auf Grund
des Art. 76 Abſ. 2 der R.-V. die Vermittlung oder Regelung
einer Preuß. Verfaſſungsſtreitigkeit von Seiten des Reiches durch
Anrufen eines Theiles herbeigeführt wird.


Was die materielle Normirung des Preußiſchen Thronfolge-
rechts anlangt, ſo ſteht dieſelbe im Einklang mit den gemeinrecht-
lichen Grundſätzen, welche in allen deutſchen Fürſtenhäuſern zur
Anwendung kommen 1).


Ueber den Regierungs-Antritt des Kaiſers enthält die Reichs-
verfaſſung keine Vorſchrift; derſelbe iſt demnach an keinerlei Forma-
lität rechtlich gebunden.


§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.


Die mit dem Präſidium des Bundes verknüpften Rechte ſind
theils perſönliche oder Ehrenrechte theils Regierungsrechte.


I.Perſönliche Rechte.

Die Reichsverfaſſung iſt mit der Ausſtattung des Bundes-
oberhauptes mit perſönlichen und Ehrenrechten ſehr karg. Sie war
aus zwei Gründen dazu veranlaßt; erſtens weil der an die Spitze
des (Nordd. Bundes) Reiches berufene Bundesfürſt als Monarch
einer Europäiſchen Großmacht bereits im Beſitze aller Ehrenrechte
ſich befand, welche gekrönten Häuptern zukommen; und zweitens
weil man die übrigen Bundesfürſten ihm gegenüber nicht zurück-
ſetzen und die denſelben gebührende perſönliche Ehrenſtellung von
Souveränen nicht verletzen wollte. Die Norddeutſche Bundesver-
faſſung kannte überhaupt gar kein Ehrenrecht des Präſidiums; die
[221]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.
Reichsverfaſſung kennt nur ein einziges, den Titel: Deutſcher
Kaiſer
.


1. Dieſer Titel hat einen andern Charakter, als die ſonſt
üblichen, aus früherer Zeit herſtammenden Titel der Landesherren.
Die letzteren beziehen ſich auf den Beſitz eines Gebietes, ſind
Herrſchafts-Titel; ſie ſind ein Nachklang der patrimonialen oder
feudalen, d. h. der privatrechtlichen Auffaſſung des Staates. Der
Landesherr wird in derſelben Art bezeichnet, nur mit höherem
Titel, wie der Privatbeſitzer einer Standes-Herrſchaft oder eines
Ritterguts. Der Titel „Deutſcher Kaiſer“ iſt ein obrigkeitlicher
Titel, er bezieht ſich lediglich auf die ſtaatsrechtliche Stellung ſeines
Trägers; er iſt ſeinem Weſen nach — im Gegenſatz zu den ein
Beſitzrecht andeutenden Titulaturen — ein Amts-Titel1).


Aeußerlich zeigt ſich dieſer Unterſchied in der von der Regel
abweichenden Form; der Titel heißt nicht „Kaiſer von Deutſchland“
ſondern „Deutſcher Kaiſer;“ es fehlt die ſachenrechtliche Beziehung
auf ein Gebiet als Object. Wichtiger iſt die materielle Verſchie-
denheit. Die ſonſt üblichen Titel der Souveräne werden von den-
ſelben, ebenſo wie Namen, ganz allgemein d. h. für alle denkbaren
Beziehungen und Verhältniſſe geführt. Dagegen ſollte nach dem
Wortlaut des Briefes des Königs von Bayern, welcher
die Annahme des Kaiſertitels in Anregung brachte, „die Ausübung
der Präſidialrechte des Bundes“ mit Führung des Titels eines
Deutſchen Kaiſers verbunden werden und in der Proclama-
tion
von Verſailles vom 18. Januar 1871 erklärte der Kaiſer
bei Verkündigung der Annahme der Kaiſerwürde:
„Demgemäß werden Wir und Unſere Nachfolger an der
Krone Preußen fortan den Kaiſerlichen Titel in allen
Unſeren Beziehungen und Angelegenheiten
des Deutſchen Reiches
führen.“


Es iſt demgemäß ſtreng genommen und dem Charakter des
kaiſerlichen Titels als eines obrigkeitlichen entſprechend, die Füh-
rung deſſelben beſchränkt auf die Angelegenheiten des Reiches,
auf die Ausübung der Präſidialbefugniſſe, alſo auf diejenigen
Fälle, in denen kaiſerliche Funktionen verrichtet werden; dagegen
[222]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.
iſt er nicht anwendbar, wenn der Kaiſer in ſeiner [Eigenſchaft] als
König von Preußen oder als Herzog von Lauenburg u. ſ. w. in
Betracht kommt 1).


Thatſächlich wird dies zwar nicht durchweg beobachtet. Jeder
Titel, auch der reine Amtstitel, dient nicht blos zur Bezeichnung
eines Kreiſes von Rechten und Pflichten, einer Stellung oder eines
Wirkungskreiſes, ſondern ſeine Führung iſt ein perſönliches
Ehrenrecht
. Darauf beruht der allgemeine Gebrauch, daß man
Titel zur individualiſirenden Bezeichnung einer beſtimmten Perſon
verwendet, ohne die ſachliche Bedeutung des Titels in Betracht
zu ziehen. Ebenſo wie man einem Beamten ſeinen Amtstitel auch
in allen nicht amtlichen Verhältniſſen und Beziehungen beilegt,
lediglich als ehrende Bezeichnung ſeiner Perſon, ſo wird auch der
kaiſerliche Titel ganz allgemein zur Bezeichnung ſeines Trägers
angewendet, wenngleich derſelbe nicht in ſeiner Eigenſchaft als
Oberhaupt des Reiches in Betracht kommt.


Die Natur des kaiſerlichen Titels zeigt ſich aber darin, daß
neben demſelben der Titel des Königs von Preußen nicht außer
Anwendung gekommen iſt, wie dies ſonſt regelmäßig der Fall iſt,
wenn ein höherer Titel zu einem gleichartigen, niedrigeren hinzu-
tritt. Der Titel „Deutſcher Kaiſer“ deckt den Titel „König von
Preußen“ nicht; er iſt nicht der höhere; er iſt ihm überhaupt nicht
homogen; er bezeichnet nur einen Theil der Rechte und eine be-
ſondere Ehrenſtellung des Königs von Preußen. Deshalb wird
in offiziellen Aktenſtücken der Titel „Deutſcher Kaiſer“ nicht allein
und ſelbſtſtändig gebraucht, ſondern der Titel „König von Preußen“
hinzugefügt 2), ſelbſt wenn es ſich um Reichs-Angelegenheiten, z. B.
die Verkündigung von Reichsgeſetzen oder den Abſchluß von völ-
kerrechtlichen Verträgen des Reiches handelt 3), während anderer-
ſeits in Angelegenheiten des Preußiſchen Staates der Titel „König
von Preußen“ ſelbſtſtändig geführt wird.


[223]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.

2. Die Erblichkeit der Kaiſerwürde, welche ſich aus dem Art.
11 der R.-V. ergiebt, findet einen Ausdruck theils in der Formel
„von Gottes Gnaden,“ theils darin, daß der Kronprinz von
Preußen den Titel „Kronprinz des deutſchen Reiches“ und das
Prädikat „Kaiſerliche Hoheit“ führt, neben welchen Bezeichnungen
die Benennungen „Kronprinz von Preußen“ und reſp. „König-
liche Hoheit“ beibehalten werden. Dieſe Würde und das damit
verbundene Prädikat geht auf jeden künftigen Thronfolger an der
Preußiſchen Krone ohne Weiteres über 1).


3. Nicht nur der Kaiſer für ſeine Perſon, ſondern auch die
von ihm kraft ſeiner Präſidial-Befugniſſe ernannten Behörden und
Beamten ſind als kaiſerliche zu bezeichnen. Es iſt dies ausdrück-
lich beſtimmt worden durch den Allerh. Erlaß vom 3. Aug. 1871
Nro. 1 (R.-G.-Bl. 1871 S. 318) und entſpricht der Uebung.
Ebenſo können das Prädikat „Kaiſerlich“ die in der kaiſerlichen
Hofhaltung angeſtellten Privatbeamten und Diener, Hoflieferanten
und dergleichen Perſonen führen 2). Dagegen werden die preußi-
ſchen Staatsbehörden und Beamten nicht als kaiſerliche, ſondern
lediglich als königliche bezeichnet.


4. Mit dem Kaiſerlichen Titel iſt die Kaiſerkrone, die Führung
des Kaiſerlichen Wappens und der Kaiſerlichen Standarte verbunden.
Dieſe Inſignien ſind feſtgeſtellt worden durch einen Allerhöchſten
Erlaß vom 3. Auguſt 1871 Nro 2 und 3 3).


[224]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.

5. Das Kaiſerliche Wappen iſt durch die Beſtimmung des Reichs-
Strafgeſetzb. Art. 360 Z. 7 gegen den Mißbrauch durch unbefugte
Abbildung zur Bezeichnung von Waaren auf Aushängeſchildern
oder Etiketten verwendet zu werden, geſchützt. Durch einen Allerh.
Erl. v. 16. März 1872 1) hat der Kaiſer aber allen „Deutſchen
Fabrikanten
2) den Gebrauch und die Abbildung des kaiſer-
lichen Adlers in der durch den Erlaß vom 3. Aug. 1871 feſtge-
ſtellten Form geſtattet; ausgeſchloſſen iſt jedoch die Form eines
Wappenſchildes 3).


6. Pekuniäre Vorrechte, insbeſondere eine ſogen. Civilliſte,
ſind mit der Kaiſerwürde nicht verbunden. In Beziehung auf die
Hofhaltung und auf die ſogenannte Repräſentation iſt ein Unter-
ſchied zwiſchen den durch die Stellung als König von Preußen
und den durch die Stellung als Deutſcher Kaiſer verurſachten
Koſten nicht durchführbar; es läßt ſich nicht einmal die Behaup-
tung begründen, daß durch die kaiſerliche Würde größere Reprä-
ſentationskoſten verurſacht werden, als ſie auch durch die Stellung
eines Königs von Preußen geboten ſind. Die Dotation der Krone
iſt ausſchließlich Sache des Preußiſchen Staates. Die Erhabenheit
der kaiſerlichen Würde wird dadurch, daß ſie mit keinen pekuniären
Vortheilen verbunden iſt, noch erhöht.


II.Regierungsrechte.

Eine Erörterung der einzelnen Befugniſſe, welche die Reichs-
verfaſſung und die Reichsgeſetze dem Kaiſer auf den verſchiedenen
Gebieten der Staatsthätigkeit beilegen, kann nur bei der ſpeziellen
Darſtellung dieſer Gebiete gegeben werden; denn die kaiſerlichen
Befugniſſe ſtehen überall im engſten Zuſammenhange mit den Funk-
tionen der übrigen Organe des Reiches und der materiellen Rege-
lung der einzelnen Reichsverwaltungszweige 4). Welche Rechte d.
3)
[225]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.
d. h. ſtaatliche Funktionen der Kaiſer z. B. in Zollſachen, Militär-
ſachen, Angelegenheiten der Poſt- und Telegraphie u. ſ. w. hat,
läßt ſich nur bei der Darſtellung des Zoll- Militär- Poſt- und
Telegraphen-Weſens u. ſ. w. entwickeln, wenn nicht der innere,
ſachliche Zuſammenhang zerſtört werden ſoll. Dagegen iſt es von
weſentlicher Bedeutung, die Stelle, welche der Kaiſer im Organis-
mus des Reiches einnimmt, juriſtiſch zu beſtimmen und gerade
dieſe Aufgabe iſt in der bisherigen Literatur des Reichsſtaatsrechts
ganz vernachläſſigt worden.


Den Ausgangspunkt muß auch hier die rechtliche Natur des
Reiches und das Weſen des Bundesſtaates bilden. Das Reich iſt
— wie oben entwickelt worden iſt — eine Corporation des öffent-
lichen Rechts, deren Mitglieder die einzelnen Deutſchen Staaten,
beziehungsweiſe deren Landesherren als Vertreter der Staaten
ſind. In der Reichsverfaſſung kehren demgemäß die allgemeinen
Grundzüge der Korporationsverfaſſung wieder und die Organe des
Reiches haben ihr Analogon in den Organen der Privatcorporation;
nur daß ihre Stellung von den Prinzipien des öffentlichen Rechts,
nicht von denen des Privatrechts beherrſcht wird, alle ihre Rechte
auf die Ausübung von Hoheits- oder Herrſchaftsrechten ſich beziehen
und in untrennbarem Zuſammenhange mit den Pflichten zur Er-
füllung der ſtaatlichen Aufgaben des Reiches ſtehen. In dieſer
öffentlichrechtlichen Korporation, welche das Reich iſt, iſt der Kaiſer
dasjenige Organ, welches man bei der Privatcorporation den Vor-
ſtand oder Director nennt, und ſeine Befugniſſe und Pflichten,
ſeine — ſozuſagen amtlichen — Funktionen entſprechen im Weſent-
lichen den Befugniſſen und Pflichten, welche der Vorſtand oder
Director einer juriſtiſchen Perſon überhaupt hat.


Es ſind dies im Weſentlichen folgende:


1. Der Kaiſer iſt der alleinige, ausſchließliche
Vertreter des Reiches Dritten gegenüber
.


Damit iſt natürlich nicht geſagt, daß der Umfang ſeiner
Vertretungsbefugniß, ſeiner Vollmacht, ein unbegrenzter,
4)
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 15
[226]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.
allumfaſſender iſt; daß der Kaiſer rechtlich befugt ſei, mit verbind-
licher Kraft für das Reich, jeden Vertrag abzuſchließen, der ihm
beliebt. Er kann hierin ſehr wohl an die Zuſtimmung des Bun-
desrathes und Reichstages gebunden oder durch Reichsgeſetze mate-
riell beſchränkt ſein, was in der That der Fall iſt 1).


Aber das Reich hat keinen andern Vertreter als
den Kaiſer
, beziehentlich die von ihm ernannten Beamten als
deſſen Gehülfen. Weder der Bundesrath allein noch Bundesrath
und Reichstag zuſammen, noch die einzelnen deutſchen Landes-
herren in Perſon können für das Reich einen Vertrag abſchließen;
der Kaiſer allein iſt zur Vertretung des Reiches befugt; für das
Reich kann kein Vertrags-Verhältniß begründet werden, ohne daß
der Kaiſer es contrahirt.


Es folgt ferner aus dieſem Grundſatz, daß alle vom Kaiſer
im Namen des deutſchen Reiches innerhalb ſeiner verfaſſungs-
mäßigen Vertretungsbefugniß abgeſchloſſenen Verträge für das
Reich rechtswirkſam ſind, Rechte und Pflichten für das Reich be-
gründen.


Dieſe Funktion des Kaiſers als Vertreter des Reiches iſt in
der Reichsverfaſſung Art. 11 Abſ. 1 für die völkerrechtlichen
Beziehungen anerkannt:
Der Kaiſer hat das Reich völkerrechtlich zu
vertreten
, im Namen des Reiches Krieg zu erklären und
Frieden zu ſchließen, Bündniſſe und andere Verträge mit
fremden Staaten einzugehen.“


Allein es iſt unrichtig, die Vertretung des Reiches durch den
Kaiſer auf die völkerrechtlichen Beziehungen des Reiches zu be-
ſchränken. Der Kaiſer iſt auch in allen übrigen Beziehungen, in
welche das Reich zu dritten Perſonen treten kann, ſein Vertreter.
Insbeſondere auch bei allen privatrechtlichen (fiskaliſchen)
Erwerbungen für das Reich und Belaſtungen des Reiches. Zur
Aufnahme von Anleihen und zur Uebernahme von Garantien zu
Laſten des Reiches, zur Veräußerung von Reichsvermögen, zur
Erwerbung von Vermögen für das Reich und zu allen anderen
privatrechtlichen Geſchäften des Reichsfiskus mit Dritten iſt allein
der Kaiſer, beziehentlich der von ihm zu ſeiner Vertretung ermäch-
[227]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.
tigte und von ihm ernannte Reichsbeamte, der auf ſeinen Befehl
und in ſeinem Namen handelt, befugt. Nicht minder iſt der Kaiſer
der Vertreter des Reiches bei allen Rechtsbeziehungen zwiſchen dem
Reiche und den Einzelſtaaten. Bei der Begründung oder Geltend-
machung von Rechten und Pflichten zwiſchen dem Reich und einem
Gliedſtaat wird der letztere durch ſeinen Landesherrn, die Ge-
ſammtheit (das Reich) durch den Kaiſer vertreten.


Auch bei der Ernennung der Reichsbeamten handelt der Kaiſer
als Vertreter des Reiches, in ſoweit dadurch der Beamte vermö-
gensrechtliche Anſprüche gegen die Reichskaſſe erwirbt. Wenn das
Reich im Wege der Geſetzgebung Rechtsnormen aufſtellt, ſo iſt es
der Kaiſer, der ſie „im Namen des Reiches verordnet,“ wie die
Eingangsformel jedes Reichsgeſetzes lehrt. Der Kaiſer iſt alſo der
Vertreter des Reiches nicht nur in völkerrechtlicher, ſondern auch
in ſtaatsrechtlicher und privatrechtlicher Beziehung.


2. Dem Kaiſer liegt die Regierung des Reiches
ob
. Es entſpricht dies der Befugniß und Verpflichtung des Vor-
ſtandes einer Privatcorporation zur Geſchäftsführung. Be-
grifflich beruht der Gegenſatz der Geſchäftsführung und der Ver-
tretung darauf, das die erſtere eine lediglich innere Angelegenheit
der Corporation iſt, welche die Vornahme aller, zur Erfüllung der
Zwecke der Corporation erforderlichen Handlungen und Maßregeln
umfaßt, während die Vertretung nur Dritten gegenüber in Betracht
kommt und darin beſteht, daß für die Corporation Dritten gegen-
über durch den Vertreter Rechts-Verhältniſſe begründet werden.


Dieſer Unterſchied iſt auch für das Staatsrecht von ſehr großer
Bedeutung. Was man gewöhnlich Verwaltung oder auch in un-
paſſender Weiſe „Executive“ nennt und woraus die frühere Theorie
irrthümlich eine „executive Gewalt“ gemacht hat, entſpricht dieſem
Begriff der Geſchäftsführung, der für die Corporationen und Geſell-
ſchaften des Privatrechts längſt erkannt und feſtgeſtellt iſt. Er
unterſcheidet ſich von ihm nur durch die Art der Geſchäfte; die
Geſchäfte des Staates ſind öffentlichrechtlichen Inhalts, ſie betreffen
die Erfüllung der Aufgaben und Zwecke des Staates, die Hand-
habung der ihm zukommenden Hoheitsrechte, die Förderung ſeines
Gedeihens; ſie ſind Regierungsgeſchäfte.


Bei einem Theile dieſer Geſchäfte iſt der Kaiſer durch Ver-
faſſung oder Geſetz an die Mitwirkung anderer Organe gebunden,
15*
[228]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.
nämlich des Bundesrathes und des Reichstages oder auch an die
der Einzelſtaaten. Es iſt ferner nicht zweifelhaft, daß bei Füh-
rung der Regierungsgeſchäfte die Reichsgeſetze nicht verletzt werden
dürfen; daß vielmehr die letzteren theils poſitiv den Inhalt der
Regierungsthätigkeit beſtimmen, theils negativ rechtliche Schranken
für die Handlungsfreiheit des Kaiſers bei der ihm obliegenden
Regierungsthätigkeit ſind.


Im Allgemeinen aber iſt der Kaiſer das mit der Führung
der Regierungsgeſchäfte betraute Organ des Reiches. Es äußert
ſich dieſe, dem Kaiſer obliegende Funktion in folgenden Haupt-
richtungen:


a) Die Thätigkeit der übrigen Organe des Reiches, des Bun-
desrathes und Reichstages, wird von dem Kaiſer in Gang erhalten
und gewiſſermaßen regulirt 1). Im ſteht es zu, den Bundesrath
und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu
ſchließen (Art. 12); er ernennt den Vorſitzenden des Bundesrathes
(Art. 15); er bringt die von den Bundesgliedern gemachten Vor-
ſchläge im Bundesrathe zur Berathung (Art. 7 Abſ. 2); in ſeinem
Namen werden die Beſchlüſſe des Bundesrathes an den Reichstag
gebracht (Art. 16); und nach erzielter Uebereinſtimmung zwiſchen
Bundesrath und Reichstag ſteht ihm die Ausfertigung und Ver-
kündigung der Reichsgeſetze zu. (Art. 17.)


b) Dem Kaiſer liegt die Ueberwachung der Ausführung der
Reichsgeſetze ob (Art. 17, 36 Abſ. 2) und theils die Reichsver-
faſſung ſelbſt theils eine bedeutende Anzahl von Reichsgeſetzen er-
mächtigen ihn zum Erlaß von Adminiſtrativ-Verordnungen, welche
zur Ausführung einzelner Reichsgeſetze erforderlich ſind.


c) Der Kaiſer ernennt nach freiem Belieben den Reichskanz-
ler, den verantwortlichen Miniſter des Reiches, und kann ihn nach
freiem Belieben in den Ruheſtand verſetzen 2). Dadurch iſt dem
Kaiſer die oberſte Leitung der Regierung übertragen; er beſtimmt
[229]§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.
die Richtung der Politik, die Zielpunkte der ſtaatlichen Geſchäfts-
führung des Reiches. Wenn auch thatſächlich die Führung der
Geſchäfte dem Reichskanzler obliegt, ſo iſt derſelbe doch rechtlich
lediglich das Willenswerkzeug und der Gehülfe des Kaiſers.


Auch die übrigen Reichsbeamten werden der Regel nach vom
Kaiſer ernannt und erforderlichen Falles entlaſſen oder in den
Ruheſtand verſetzt 1). (R.-V. Art. 18.)


d) Dem Kaiſer liegt die Wahrnehmung der auswärtigen Be-
ziehungen des Reiches ob, die Aufrechthaltung des diplomatiſchen
Verkehrs 2), die Anbahnung und Führung von Verhandlungen
über abzuſchließende völkerrechtliche Verträge, die Wahrnehmung
der Intereſſen des Reiches, ſeiner Mitglieder und ſeiner Ange-
hörigen fremden Staaten gegenüber. R.-V. Art. 11. 56.


3. Der Kaiſer iſt der Verwalter der Machtmittel
des Reiches
.


Auch in dieſer Beziehung iſt ſeine Stellung derjenigen analog,
welche der Vorſtand einer privatrechtlichen Korporation hat. Nur
darf man nicht vergeſſen, daß eine Privatrechts-Korporation keine
anderen Machtmitteln hat als pekuniäre und keine andere Admini-
ſtration als Vermögensverwaltung. Für den Vorſtand einer Privat-
korporation äußert ſich die hier in Betracht kommende Funktion
etwa darin, daß er die Vereinskaſſe unter ſeinem Verſchluß hat.
Der Staat dagegen gebietet auch über Machtmittel öffentlich recht-
licher Natur, über die ſtaatlich organiſirten Streitkräfte. Die Ver-
waltung dieſer Machtmittel findet ihren ſchärfſten Ausdruck in dem
Oberbefehl über das Heer und die Kriegsmarine und in der
Ausübung dieſes Oberbefehls nicht nur zur Bekämpfung äußerer
Feinde, ſondern, wenn es erforderlich iſt, auch zur Vollſtreckung
der Execution gegen Bundesglieder, welche ihre verfaſſungsmäßigen
Bundespflichten nicht erfüllen (Art. 19), und zur Aufrechthaltung
der öffentlichen Sicherheit im Innern, wenn dieſelbe in einem
[230]§. 27. Weſen des Bundesrathes.
Theile des Bundesgebiets bedroht iſt, durch Erklärung deſſelben
in Kriegszuſtand. (Art. 68.)


4. Endlich hat der Kaiſer die — dem Reiche zuſtehende —
Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen auszuüben1).
Es iſt dies eine Funktion des Kaiſers, welche zwar durch die Orga-
niſation des Reiches ſelbſt nicht gegeben und in der Reichsverfaſ-
ſung ſelbſt in keiner Art vorgeſehen iſt; welche aber mit ihr auch
nicht im Widerſpruch ſteht, ſondern ſich mit der Befugniß des
Kaiſers zur Leitung der Regierung, zur Führung der Geſchäfte
des Reiches leicht und ungezwungen verbindet. Bei der ſehr ano-
malen Rechtsſtellung des Reichslandes im Vergleich zu den Bun-
desgliedern kann auch das ſtaatsrechtliche Verhältniß des Kaiſers
zum Reichslande ſeine nähere Erörterung erſt in dem, Elſaß-Loth-
ringen gewidmeten, beſonderen Abſchnitte finden.


Zweiter Abſchnitt.
Der Bundesrath.


§. 27. Allgemeine Erörterung ſeines Weſens.


Der Bundesrath iſt die eigenthümlichſte Inſtitution des deut-
ſchen Reiches. Man hat ihn vielfach angegriffen, weil er weder
mit der herkömmlichen Theorie vom Bundesſtaat vereinbar iſt,
noch in die Schablone der konſtitutionellen Monarchie paßt; und
man hat ihn andererſeits als die kühnſte und glücklichſte Schöp-
fung des Gründers des Norddeutſchen Bundes bezeichnet, als die
geiſtvollſte Erfindung ſeiner politiſchen Geſtaltungskraft gerühmt 2).
Beide Auffaſſungen ſind nicht begründet. Daß die Verfaſſung des
deutſchen Reiches weder der früher herrſchenden Theorie vom Bun-
desſtaat noch der doctrinären Form der konſtitutionellen Monarchie
entſpricht, iſt wahr, aber kein Vorwurf; und andererſeits iſt der
Bundesrath bei der Gründung des Nordd. Bundes überhaupt nicht
[231]§. 27. Weſen des Bundesrathes.
erdacht und erfunden worden, ſondern gleichſam von ſelbſt ent-
ſtanden, hiſtoriſch gegeben geweſen. Die politiſche Genialität des
Fürſten Bismarck zeigte ſich nicht ſowohl in der Schöpfung des
Bundesrathes, ſondern darin, daß er ihn nicht verwarf, trotzdem
derſelbe mit der Theorie vom Bundesſtaate und der konſtitutio-
nellen Doctrin in unverſöhnbarem Contraſt zu ſtehen ſchien. Wenn
für irgend ein Inſtitut des jetzigen deutſchen Reichsſtaatsrechtes
die hiſtoriſchen Wurzeln klar erkennbar ſind und für das juriſtiſche
Verſtändniß verwerthet werden können, ſo iſt es der Bundes-
rath 1).


Es iſt hier daran zu erinnern, daß vor der Gründung des
Norddeutſchen Bundes die Preußiſche Regierung die Reform des
deutſchen Bundes durch Einfügung einer Volksvertretung, Abſchaf-
fung des Prinzips der Einſtimmigkeit und Erweiterung der Com-
petenz angeſtrebt hat. Dieſer Gedanke wurde bei der Neugründung
des Norddeutſchen Bundes feſtgehalten. Er führte von ſelbſt zu
den Grundlinien der Organiſation des letzteren und dieſe Grund-
linien waren ſchon vor der Errichtung des Norddeutſchen Bundes
in Folge des Auguſtbündniſſes verwirklicht, gleichſam proviſoriſch
eingeführt. Die Commiſſäre der deutſchen Regierungen, welche im
Winter 1866 in Berlin zuſammentraten, um den Verfaſſungsent-
wurf zu berathen, bildeten zuſammen ein Collegium, welches im
Weſentlichen dem alten Bundestags-Plenum entſprach, d. h. ſie
waren zu einem Kongreß vereinigte, nach Inſtructionen ſtimmende
und beſchließende Bevollmächtigte völkerrechtlich verbundener Re-
gierungen, das Präſidium und die Leitung der Geſchäfte fiel natur-
gemäß dem erſten Vertreter Preußens zu und man hatte in dem
in Ausſicht genommenen und im Februar 1867 zuſammentretenden
Reichstage das Zuſammenwirken von Bundesrath und Reichstag
vor Augen. Man brauchte in der That keine Organiſation zu
erfinden, ſondern nur die Einrichtungen, welche ſchon vorhanden
waren und welche gleichſam der natürliche Ausdruck der gegebenen
Verhältniſſe, der Reflex der hiſtoriſch entſtandenen Thatſachen
waren, rechtlich zu fixiren und näher zu beſtimmen 2).


[232]§. 27. Weſen des Bundesrathes.

Dies iſt nicht nur für die politiſche Würdigung, ſondern in
höherem Grade noch für die Erkenntniß des juriſtiſchen Weſens
des Bundesrathes von Bedeutung. Der Bundesrath vereinigt in
ſich zwei Eigenſchaften, er hat eine Doppelnatur; die eine entſpricht
ſeiner hiſtoriſchen Abkunft vom alten Bundestage; die andere ent-
ſpringt aus der Natur und den Bedürfniſſen des neu gegründeten
Bundesſtaates. In dieſer Doppelnatur liegt die Schwierigkeit für
die ſtaatsrechtliche Begriffsbeſtimmung des Bundesrathes, die Un-
möglichkeit ihn mit den herkömmlichen Inſtitutionen zu identifiziren.
Dieſe Doppelnatur entſpricht aber vollkommen dem Grundbau des
deutſchen Reiches; ſie correſpondirt vollſtändig mit der Doppel-
ſtellung des Kaiſers. Sowie der Kaiſer theils Mitgliedſchaftsrechte
hat als König von Preußen theils Organ des Reiches iſt und als
ſolches die Präſidialbefugniſſe ausübt; ſo dient auch der Bundes-
rath theils zur Ausübung und [Geltendmachung] der Mitglied-
ſchaftsrechte
der einzelnen Bundesſtaaten theils als
ein Organ des Reiches, das letztere als begriffliche Einheit,
als ſtaatliche Perſon genommen.


Man hat den Bundesrath mit einem Oberhauſe oder Staaten-
hauſe verglichen 1). Der Bundesrath ſteht aber zu jeder Art von
parlamentariſcher Körperſchaft im ſchroffſten Gegenſatz; denn die
Mitglieder des Bundesrathes ſtimmen nicht nach freier, indivi-
dueller Ueberzeugung, ſondern nach den ihnen ertheilten Inſtruc-
tionen und ſind ihrer Regierung verantwortlich für ihr Verhalten
im Bundesrath. Gleichwohl iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß der
Bundesrath thatſächlich im Reich in einzelnen Richtungen ähn-
liche Dienſte wohl zu leiſten vermag, wie ſie von einem Oberhauſe
oder Staatenhauſe geleiſtet werden können. Jede Vergleichung
zwiſchen dem Bundesrathe und einem Staatenhauſe ſieht aber gänz-
lich ab von dem Weſen der Inſtitution, von dem ſtaatsrechtlichen
Charakter derſelben und faßt nur factiſche, zufällige Aehnlichkeiten
ins Auge.


Man hat den Bundesrath und ſeine Ausſchüſſe andererſeits mit
Miniſterien verglichen 2). Von dieſem Vergleiche gilt ganz daſſelbe.
[233]§. 27. Weſen des Bundesrathes.
Der Bundesrath vermag thatſächlich in vereinzelten Beziehungen
ähnliche Dienſte dem Reiche zu leiſten, wie ſie anderswo wohl
von Miniſterien geleiſtet werden; ſeinem Begriffe und juriſtiſchen
Weſen nach ſteht er zu einem Miniſterium in nicht minder ſcharfem
Contraſt wie zu einem Parlament, denn er wird nicht von dem
oberſten Chef der Regierung, vom Kaiſer, ernannt und ſeine Auf-
gabe beſteht nicht darin, die Führung der Regierungsgeſchäfte im
Namen und Auftrage des Kaiſers zu beſorgen, ſondern er ſteht
dem Kaiſer als ein zweites Organ des Reiches, ebenſo wie der
Reichstag, in voller Unabhänigkeit gegenüber 1).


Will man Vergleichungen zum beſſeren Verſtändniß der Natur
des Bundesrathes verwerthen, ſo bietet ſich hierzu der Reichstag
des alten deutſchen Reiches dar 2). Freilich thatſächlich kann
die Verſchiedenheit zwiſchen beiden Körperſchaften größer kaum ge-
dacht werden, als ſie wirklich iſt; in ſeinem juriſtiſchen Weſen aber
entſprach der alte Reichstag dem jetzigen Bundesrath, denn er war
einerſeits ein Willensorgan des Reiches als des ſouveränen deut-
ſchen Staates und andererſeies kamen in ihm und durch ihn die
individuellen Mitgliedſchaftsrechte der Glieder des Reiches, der
Stände, zur Geltung und Ausübung.


In dem Bundesrath ſind dieſe beiden, hervorgehobenen Func-
tionen mit einander zwar in enge Verbindung und Wechſelwirkung
geſetzt; für die theoretiſche Erkenntniß ſeines juriſtiſchen Weſens
aber iſt ihre begriffliche Unterſcheidung geboten.


2)


[234]§. 26. Die Staatenrechte im Bundesrathe.

§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.


I. „Innerhalb des Bundesrathes findet die Souveränetät einer
jeden Regierung ihren unbeſtrittenen Ausdruck“, ſagte Fürſt Bis-
marck in dem zur Berathung der Nordd. Bundesverfaſſung einbe-
rufenen Reichstage am 27. März 1867 1). Die Souveränetät der
einzelnen Staaten iſt in Wahrheit — wie oben ausgeführt worden
iſt — ein Antheil an der Souveränetät des Reiches und dieſer
Antheil wird ausgeübt durch die Theilnahme der einzelnen Staaten
am Bundesrathe. Jedes Mitglied des Reiches hat als ſolches ein
Anrecht auf Theilnahme am Bundesrathe und andererſeits iſt die
Mitgliedſchaft am Bunde das unerläßliche Fundament für die
Theilnahme am Bundesrathe. Hieraus folgt:


1. Der Kaiſer als ſolcher, d. h. als Organ des Reiches,
hat nicht die Befugniß, Mitglieder des Bundesrathes zu ernennen
oder in irgend einer anderen Art an der Thätigkeit des Bundes-
rathes Theil zu nehmen; nur der König von Preußen als
Mitglied des Reiches hat einen Antheil am Bundesrath. Die
Reichsverfaſſung ſpricht zwar an mehreren Stellen (Art. 5 Abſ. 2.
Art. 7 Abſ. 3. Art. 37) von einer „Stimme des Präſidiums“ oder
einer „Präſidialſtimme,“ und im Art. 8 von einer Vertretung des
„Präſidiums“ in den Bundesraths-Ausſchüſſen; allein der Bundes-
rath hat nach Art. 6 der Verf. keine anderen Mitglieder als „Ver-
treter der Mitglieder des Bundes“ und außer den Stimmen,
welche „Preußen“ nach Art. 6 im Bundesrathe führt, giebt es
keine, dem Kaiſer zuſtehende Stimmen. Die Präſidialſtimme iſt
ſonach nicht die kaiſerliche Stimme, ſondern die preußiſche2).


2. Elſaß-Lothringen hat keine Stimme im Bundes-
rathe und kann keine haben. Es beruht dies nicht auf den prak-
tiſchen Schwierigkeiten, wie die Vertreter von Elſaß-Lothringen
ernannt und mit Inſtruktionen verſehen werden ſollen, ſondern
[235]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
auf dem prinzipiellen Grunde, daß Elſaß-Lothringen nicht Mitglied
des Reiches, ſondern Reichsland iſt 1).


3. Der Bundesrath bietet keinen Raum für die Aufnahme
von Vertretern einzelner Bevölkerungsklaſſen oder von Individuen
von hervorragender Stellung oder ausgezeichneten Verdienſten,
ſondern einzig und allein von Vertretern von Staaten des Bun-
des. Darum iſt z. B. der Anſpruch der ehemals reichsunmittel-
baren Landesherren (der ſogen. Mediatiſirten oder Standesherren)
auf eine Theilnahme am Bundesrath mit dem Weſen des letzteren
gänzlich unvereinbar 2).


4. Die Stimmen der einzelnen Staaten im Bundesrathe ſind
nach demſelben Verhältniß vertheilt wie im ehemaligen Plenum
des Bundestages 3), mit der alleinigen Ausnahme, daß Bayern
ſtatt vier Stimmen ſechs Stimmen erhalten hat 4).


Für Preußen nebſt Lauenburg ergeben ſich daraus 17 Stim-
men, indem es die „ehemaligen“ Stimmen von Preußen (4),
Hannover (4), Kurheſſen (3), Holſtein-Lauenburg (3) 5), Naſſau (2)
[236]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
und Frankfurt (1) in Folge der im Jahre 1866 erfolgten Ge-
biets-Erwerbungen vereinigt. Sachſen und Württemberg führen
je 4, Baden und Heſſen je 3, Mecklenburg-Schwerin und Braun-
ſchweig je 2 Stimmen, die übrigen 17 Staaten je eine Stimme;
ſo daß die Geſammtzahl der Stimmen 58 beträgt. So wenig es
im Bundesrathe eine Stimme giebt, die nicht einem Mitgliede
des Bundes angehört, ſo wenig giebt es ein Mitglied des Bundes,
welchem eine Stimme im Bundesrathe verſagt wäre.


II. Die verfaſſungsmäßige Stimmenzahl im Bundesrathe
iſt für jeden Deutſchen Staat Inhalt eines ſubjectiven Rechts,
deſſen Ausübung von ſeiner individuellen Willensent-
ſchließung
beſtimmt wird.


Dieſes Prinzip ſchließt eine große Reihe von wichtigen Con-
ſequenzen in ſich.


1) Zunächſt bedarf die Frage einer Unterſuchung, in wiefern
dem Rechte eines Einzelſtaates auf eine Stimme im Bundesrathe
die Pflicht correſpondirt, dieſes Recht auch auszuüben und an
den Beſchlüſſen des Bundesrathes wirklichen Antheil zu nehmen.
Eine Beantwortung dieſer Frage iſt nur möglich, wenn man zwei
rechtliche Beziehungen, die hier zugleich in Betracht kommen kön-
nen, ſcharf auseinanderhält, nämlich die Beziehung der Regie-
rung
eines Einzelſtaates zu dieſem Einzelſtaate ſelbſt und die
Beziehung des Einzelſtaates zum Reich.


In der erſten Richtung iſt nicht zu bezweifeln, daß zu den
Pflichten der Regierung auch die Wahrnehmung der Rechte des
Staates im Bundesrath gehört. Ein Miniſter, der es unterlaſſen
würde, einen Bevollmächtigten im Bundesrath zu ernennen oder
denſelben mit Inſtruktionen zu verſehen, würde die ihm obliegende
Sorgfalt in der Führung der Regierungsgeſchäfte verletzen: er
würde bei fortgeſetzter Nichtausübung ſeines Rechts die Intereſſen
ſeines Staates tief ſchädigen und ihn ſeines berechtigten Einfluſſes
auf die Reichsangelegenheiten berauben. Er würde wegen eines
ſolchen Verhaltens innerhalb des Einzelſtaates, deſſen Regie-
rung er führt, nach Maaßgabe des Staatsrechts deſſelben verant-
wortlich gemacht, alſo nach Umſtänden auch durch Anklage verfolgt
werden können. Es entſpricht alſo dem Recht der Regierung,
die Mitgliedſchaftsrechte des Staates im Bundesrathe auszuüben,
in Anſehung des berechtigten Staates die Pflicht, die Mitglied-
[237]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
ſchaftsrechte im Intereſſe des Staates auszuüben, weil dieſe Aus-
übung ein Theil der Regierungsthätigkeit und der dabei zu be-
obachtenden Sorgfalt iſt.


In dem Verhältniß zwiſchen Reich und Einzelſtaat beantwor-
tet ſich die Frage dagegen in entgegengeſetzter Richtung. Zwar
iſt vom politiſchen Geſichtspunkt aus gewiß nicht zu verkennen,
daß jeder Deutſche Staat die Pflicht hat, die Intereſſen des Rei-
ches zu fördern und dies durch Antheilnahme an den Berathungen
und Beſchlüſſen des Bundesrathes zu bethätigen. Das eigene
politiſche Intereſſe des Einzelſtaates wird auch dahin drängen,
daß dieſes Gebot der Staatsklugheit von ſeiner Regierung nicht
verletzt wird. Aber eine rechtliche Pflicht des Einzelſtaates dem
Reiche gegenüber, für eine Vertretung und Stimmabgabe im Bun-
desrathe Sorge zu tragen beſteht nicht. Es verhält ſich hier ganz
ebenſo wie mit den Reichstags-Mitgliedern, welche zwar ein Recht,
und gewiß auch eine politiſche, ethiſche, Pflicht haben, an den Ar-
beiten und Beſchlüſſen des Reichstages Theil zu nehmen, aber
keine Rechtspflicht dieſes Inhalts. Ein Staat, der ſich vom Bun-
desrath, oder ein Reichstags-Abgeordneter, der ſich vom Reichstag
fern hält, verübt kein juriſtiſches Unrecht. Es beruht dies bei
beiden auf demſelben Grunde. Der einzelne Staat iſt ebenſo
wenig wie der einzelne Abgeordnete ein Organ des Reiches, übt
keine Lebens- oder Willensfunctionen des Reiches aus; und mit
dieſem Mangel eines Rechts, für das Reich zu handeln, entfällt
auch die Pflicht, es zu thun. Nur der Bundesrath als Ganzes
wie der Reichstag als Ganzes ſind Organe des Reiches und des-
halb ſtaatsrechtlich verbunden, die ihnen übertragenen Functionen
auch auszuüben 1).


Hinſichtlich des Bundesrathes iſt es in der Reichs-Verfaſſung
ausdrücklich anerkannt, daß es von dem freien, nur durch politiſche
Rückſichten beſtimmten Willensentſchluß der Einzelſtaaten abhängig
[238]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
iſt, ob ſie ihre Mitgliedſchaftsrechte im Bundesrathe ausüben wol-
len oder nicht. Denn Art. 7 ſagt in Beziehung auf die Beſchluß-
faſſung des Bundesrathes:
Nicht vertretene oder nicht inſtruirte Stim-
men werden nicht gezählt
.“


Hier iſt ausdrücklich die Möglichkeit hingeſtellt, daß ein Staat
entweder gar nicht ſich vertreten läßt oder daß er ſeinen Vertreter
im einzelnen Falle nicht inſtruirt, alſo ſein Stimmrecht nicht aus-
übt. Es iſt auch die Rechtsfolge eines ſolchen Verhaltens beſtimmt
normirt. Sie beſteht nicht darin, daß der Einzelſtaat vom Reiche
angehalten werden könnte, ſeine Stimme abzugeben; ſondern darin
daß der Staat, welcher auf die Ausübung ſeines Stimmrechts
verzichtet, bei der Beſchlußfaſſung des Bundesraths unberückſichtigt
bleibt 1). Im Zuſammenhange damit ſteht der Grundſatz, daß zur
Beſchlußfähigkeit des Bundesrathes keine beſtimmte Anzahl
von Stimmen erforderlich iſt 2). Damit entfällt das rechtliche
Intereſſe
des Reiches daran, daß die Einzelſtaaten von ihren
Mitgliedſchaftsrechten im Bundesrath Gebrauch machen. Der
Bundesrath, als ein unentbehrliches Organ des Reiches, deſſen
Funktionen es nicht miſſen kann, wird in ſeiner Thätigkeit dadurch
nicht gehemmt, daß ein oder einige Einzelſtaaten ihr Stimmrecht
nicht ausüben.


2) Die Theilnahme an dem Bundesrath wird Seitens der
Einzelſtaaten ausgeübt durch Geſchäftsträger, welche die R.-V.
in demſelben Art. 6 als „Vertreter“ und „Bevollmächtigte“ be-
zeichnet. Beide Ausdrücke bedeuten daſſelbe; ſie beziehen ſich auf
den Gegenſatz zu den an Aufträge und Inſtruktionen nicht gebun-
denen Reichstags-Abgeordneten. In der Abſtimmung des Bevoll-
mächtigten kommt nicht ſein ſubjectiver Wille, auch nicht die per-
[239]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
ſönliche Anſicht ſeines Landesherrn, ſondern der ſtaatliche Wille
des Bundesgliedes zum Ausdrucke 1).


Hieraus ergeben ſich folgende Sätze:


a) Da nicht die einzelnen Bevollmächtigten als Individuen,
ſondern die Staaten im Bundesrathe Stimmen haben, ſo kann
jedes Mitglied des Reiches, welches mehrere Stimmen im Bundes-
rath führt, die Geſammtheit der zuſtändigen Stimmen nur ein-
heitlich abgeben. Es iſt dies im Art. 6 der R.-V. beſonders aus-
geſprochen; verſteht ſich aber von ſelbſt, da es vernunftwidrig iſt,
daß ein Staat gleichzeitig zwei oder mehr ſich widerſprechende
Willen habe.


b) Die Anzahl der Stimmen, welche ein Staat im Bundes-
rath führt, iſt ganz unabhängig von der Anzahl der Bevollmäch-
tigten, welche als ſeine Vertreter an der Bundesrathsſitzung Theil
nehmen. Nach Ausweis der Protokolle des Bundesrathes iſt die
Anzahl der Perſonen, welche an den Sitzungen Theil nehmen, ſehr
viel geringer als die Anzahl der Stimmen, welche im Bundesrath
geführt werden; indem von den größeren Staaten in der Regel
nur ein oder zwei Bevollmächtigte anweſend ſind und die kleineren
ſehr häufig durch einen, mit Subſtitutions-Vollmacht verſehenen
Vertreter eines anderen Bundesgliedes ihre Stimmen abgeben.
Für die Berathung und Discuſſion iſt dies unter Umſtänden von
[240]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
Belang, für die Abſtimmung iſt es völlig unerheblich 1); denn
nicht die Bevollmächtigten, ſondern die Staaten ſtimmen ab.


c) Aus der Stellung, welche den Bundesraths-Bevollmäch-
tigten zukömmt, ergiebt ſich ferner der im Art. 9 der Verfaſſung
ausgeſprochene Satz, daß Niemand gleichzeitig Mitglied des Bun-
desrathes und des Reichstages ſein kann. Denn derjenige, welcher
beiden Körperſchaften angehört, müßte als Mitglied des Bundes-
rathes nach der ihm ertheilten Inſtruktion, als Mitglied des
Reichstages nach freier perſönlicher Ueberzeugung ſtimmen. Es
könnte daher Jemand, der beiden Körperſchaften angehört, in die
Lage kommen, im Reichstage diejenige Maßregel zu bekämpfen,
welcher er im Bundesrathe zugeſtimmt hat, und umgekehrt.


Dagegen ſteht es jedem Mitgliede des Bundesrathes frei, im
Reichstage die Anſichten ſeiner Regierung zu vertreten
und zwar auch dann, wenn dieſelben von der Majorität des Bun-
desrathes nicht adoptirt worden ſind. R.-Verf. Art. 9.


d) Die Mitglieder des Bundesrathes ſind nicht Beamte des
Reiches. Sie beziehen aus Reichsmitteln keinen Gehalt; ſie ſind
nicht der Disciplinargewalt des Reiches unterworfen; ſie können
für ihre Abſtimmungen und ihre anderweitige Thätigkeit im Bun-
desrathe weder vom Bundesrathe ſelbſt noch vom Kaiſer oder vom
Reichstage in irgend einer Form zur Rechenſchaft gezogen werden.
Sie ſind vielmehr bevollmächtigte Geſchäftsträger der Einzelſtaaten.
Eine indirecte Anerkennung hat dieſer, aus der Natur des Bun-
desrathes ſich ergebende Satz in der R.-V. Art 10 gefunden:
„Dem Kaiſer liegt es ob, den Mitgliedern des Bundes-
rathes den üblichen diplomatiſchen Schutz zu ge-
währen.“


Dadurch iſt ihnen und dem zu ihrer Hülfe ihnen beigegebenen
Perſonal, ſoweit ſie nicht Preußiſche Staatsangehörige ſind, die
Exterritorialität der Preußiſchen (Landes-) Staatsgewalt gegenüber
gewährleiſtet 2) und ihnen der Genuß derjenigen Vorrechte zuge-
[241]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
ſichert, welche nach der Uebung des Völkerrechts diplomatiſchen
Geſchäftsträgern zukommen 1).


e) Dagegen iſt der Bundesraths-Bevollmächtigte Mandatar
und in der Regel auch Beamter des Einzelſtaates, welchen er
vertritt. Er iſt daher ſeiner Regierung verantwortlich dafür, daß
er ſeinen Inſtruktionen gemäß geſtimmt habe; nicht minder aber
für ſeine anderweitige amtliche Thätigkeit, namentlich für die ihm
obliegende Bericht-Erſtattung an die Regierung über die Vorgänge
am Bundesrathe.


Wenn der Bevollmächtigte — was die Regel iſt — zugleich
Beamter des von ihm vertretenen Staates iſt, ſo beſtimmt ſich ſeine
Verantwortlichkeit nach dem, in dieſem Staate geltenden Beamten-
geſetz 2); er iſt ferner der Disciplinargewalt ſeiner Regierung unter-
worfen und er bezieht aus den Mitteln des Einzelſtaates ſeinen
Gehalt.


f) Da die Anzahl der Bevollmächtigten weder das Stimmen-
verhältniß im Bundesrath noch die Finanzen des Reiches berührt,
ſo iſt es prinzipiell den Einzelſtaaten überlaſſen, wie viele Be-
vollmächtigte zum Bundesrathe ſie ernennen wollen. Da aber eine
unbegränzte Anzahl von Bevollmächtigten eine große Beläſtigung
und Erſchwerung des Geſchäftsganges herbeiführen könnte, ſo hat
die R.-V. Art. 6 Abſ. 2 ein Maximum feſtgeſetzt durch die Beſtim-
mung:
„Jedes Mitglied des Bundes kann 3)ſo viel Bevollmächtigte
zum Bundesrathe ernennen, wie es Stimmen hat.“


Ueberdies ſteht es jedem Bundesſtaate frei, Stellvertreter
für die Bevollmächtigten zum Bundesrathe zu ernennen.


3) Die Ertheilung der Inſtruktion an die Bevollmächtigten
iſt ein Regierungs-Geſchäft des Einzelſtaates und ſteht unter
den Regeln des Landesſtaatsrechts4).


Daß bei der Inſtruktionsertheilung die Geſammt-Intereſſen
des Reiches berückſichtigt werden, iſt eine patriotiſche Pflicht, ja
eine politiſche Nothwendigkeit; rechtlich iſt es aber jedem Staate
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 16
[242]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
unverwehrt, ſein egoiſtiſches, partikuläres Intereſſe dabei allein
im Auge zu behalten.


Der Miniſter, welcher die Inſtruktion ertheilt oder gegenge-
zeichnet hat, iſt für dieſe Regierungshandlung nach Maaßgabe des
öffentlichen Rechts ſeines Staates verantwortlich 1). Man kann
es daher auch nicht für unzuläſſig erachten, wenn in einer beſon-
ders wichtigen und das Intereſſe eines einzelnen Staates in hohem
Grade berührenden Angelegenheit die Regierung dieſes Staates
dadurch ihre Verantwortlichkeit zu erleichtern, und ſich zu decken
ſucht, daß ſie vor Ertheilung der Inſtruktion an den Bundesraths-
Bevollmächtigten die Anſicht des Landtages einholt und im Einver-
ſtändniß mit demſelben ihr Verhalten im Bundesrath beſtimmt.
Ja es kann dies unter Umſtänden für eine Regierung eine poli-
tiſche oder auch rechtliche Pflicht ſein; jedenfalls ſteht das Reichs-
recht in keiner Weiſe dem entgegen, daß in den einzelnen Staaten
die Regierungen wichtige Staatsgeſchäfte, zu denen die Ertheilung
der Inſtruktionen an die Bundesraths-Bevollmächtigten gehören
kann, nur in Uebereinſtimmung mit der Volksvertretung vornehmen.


Hiernach beantwortet ſich auch die mehrfach erörterte Frage,
ob es zuläſſig iſt, daß durch ein partikuläres Staatsgeſetz die In-
ſtruirung des Bundesraths-Bevollmächtigten von der vorgängigen
Zuſtimmung des Landtages abhängig gemacht werde.


Die Reichsverfaſſung ſelbſt beſtimmt darüber Nichts. Sie
begnügt ſich mit der Abſtimmung des Bevollmächtigten im Bundes-
rath, ohne die materiellen Vorausſetzungen zu berühren, unter wel-
chen der Bevollmächtigte zur Abgabe ſeiner Stimme befugt ſei.
Das Reich iſt weder berechtigt noch verpflichtet zu prüfen, ob die
Inſtruktion dem Staatsrecht des Einzelſtaates gemäß ertheilt oder
dem politiſchen Intereſſe deſſelben entſprechend ſei. Ganz unrichtig
aber iſt das argumentum a contrario, daß, weil das Reich über
die materiellen Erforderniſſe einer rechtsgültigen Inſtruktion keine
Vorſchriften aufſtellt und ſich überhaupt um dieſelben nicht be-
kümmert, es den Einzelſtaaten unterſagt ſei, für die Inſtruktions-
Ertheilung materielle Bedingungen aufzuſtellen und insbeſondere
eine Mitwirkung der Landtage anzuordnen 2). Die Reichsverfaſ-
[243]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
ſung normirt lediglich die Abſtimmung im Bundesrathe, aber mit
keinem Worte die Inſtruktionsertheilung, welche res interna jedes
einzelnen Staates iſt. Sie enthält daher auch weder ausdrücklich
noch ſtillſchweigend den Grundſatz, daß die Ertheilung der In-
ſtruktion an die Bevollmächtigten ausſchließlich den Landesherren,
beziehentlich den Staatsregierungen zuſtehen müſſe.


Die ganze Frage hat übrigens, abgeſehen von der Aufhebung
von Individualrechten von Bundesgliedern, ein lediglich theoreti-
ſches Intereſſe. Praktiſch dürfte es wohl nicht leicht ſich ereignen,
daß ein Staat ein Geſetz erließe, welches dem Landtage eine
Mitwirkung bei der Inſtruktion der Bevollmächtigten einräumte.
Denn abgeſehen davon, daß die Landesherren kaum geneigt ſein
werden, ein ſo wichtiges Regierungsrecht aufzuopfern, würde das
Geſetz keine andere Wirkung haben, als daß der Staat ſein Stimm-
recht im Bundesrathe in allen Fällen einbüßen würde, in denen
es unthunlich iſt, den Landtag vorher zu befragen, oder in denen
die Regierung dem Votum des Landtages nicht beipflichten könnte.
Der Bevollmächtigte des Staates wäre dann nicht inſtruirt und
die Stimme deſſelben würde bei der Beſchlußfaſſung des Bundes-
rathes einfach nicht gezählt werden. Ein ſolches Geſetz würde
nicht den Einfluß des Landtages des Einzelſtaates auf die Wil-
lensentſchlüſſe des Reiches erhöhen, ſondern den Einfluß des Ein-
zelſtaates auf die Bundesraths-Beſchlüſſe überhaupt vernichten;
der gegen die Regierung geführte Streich träfe den Staat.
Auch iſt nicht zu verkennen, daß auch aus anderen politiſchen
Gründen ein ſolches Geſetz verwerflich wäre, da das Volk in ſeiner
Geſammtheit durch den Reichstag eine Vertretung erhalten hat,
neben welcher die Volksvertretungen der einzelnen Staaten zurück-
treten müſſen.


Anders verhält es ſich bei der Aufopferung von Sonderrech-
ten oder der Uebernahme beſonderer Laſten und Beſchränkungen,
überhaupt bei Beſchlüſſen des Bundesrathes, welche nur „mit Zu-
ſtimmung“ eines einzelnen Staates gefaßt werden können. Da hier
eine poſitive Erklärung des betreffenden Staates erforderlich
iſt, kann der Beſchluß des Bundesrathes nicht rechtswirkſam ge-
faßt werden, ſo lange der Bevollmächtigte nicht in der Lage iſt,
die zuſtimmende Erklärung abzugeben. Eine landesgeſetzliche Vor-
ſchrift, daß die Regierung ohne Genehmigung des Landtages nicht
16*
[244]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
befugt ſei, ihren Bevollmächtigten im Bundesrathe zu inſtruiren,
der Aufhebung von Sonderrechten zuzuſtimmen, würde daher von
praktiſchem Erfolge ſein und eine Erſchwerung der reichsgeſetzlichen
Aufhebung der Sonderrechte bilden 1).


4) Die Ausübung der den Einzelſtaaten zuſtehenden Rechte
im Bundesſtaate bedarf noch nach einer anderen Richtung einer
näheren juriſtiſchen Beſtimmung. Die Bundesraths-Mitglieder
ſind „Vertreter“ der Einzelſtaaten, „Bevollmächtigte“ derſelben.
In der rechtswiſſenſchaftlichen Literatur herrſchte bis in die neuere
Zeit eine verwirrende Identifizirung von Vollmacht und Mandat
oder Auftrag. Erſt ſeit verhältnißmäßig kurzer Zeit iſt auf dem
Gebiete des Civilrechts, namentlich des Handelsrechts, der Gegen-
ſatz beider Begriffe ſcharf feſtgeſtellt worden. Die Vollmacht oder
Vertretung bezieht ſich auf das Verhältniß zu Dritten, auf die
Fähigkeit des Stellvertreters, Willenserklärungen mit rechtlicher
Wirkung für den Principal abzugeben; der Auftrag betrifft die
innere Seite, das Rechtsverhältniß des Mandatars zum Auftrag-
geber; die Uebernahme des Auftrags begründet die Pflicht des
Beauftragten, für den Auftraggeber und ſeinem Willen gemäß
Rechtsgeſchäfte zu erledigen.


In der Stellung der Bundesraths-Bevollmächtigten ſind eben-
falls dieſe beiden Rechtsbeziehungen zu unterſcheiden. Dem Reiche
und den übrigen Bundesgliedern gegenüber kommt die Vollmacht
und nur ſie allein in Betracht; gegenüber dem Heimathsſtaate der
Auftrag. Die Vertretungsbefugniß oder Vollmacht iſt lediglich
die formelle Ermächtigung, daß der Bevollmächtigte die Stimme
des Staates im Bundesrath führen ſoll, ohne darüber Auskunft
zu geben, wie er ſie abgeben ſoll; der Auftrag kann nicht blos
dahin gehen, wie der Bevollmächtigte ſtimmen ſoll, ſondern auch,
daß er nicht ſtimmen, ſich der Abſtimmung enthalten ſoll.


Es ergeben ſich aus dieſer Unterſcheidung folgende Rechtsſätze:


a) Der Bundesrath hat das Recht und die Pflicht, die Voll-
macht
oder Legitimation ſeiner Mitglieder zu prüfen 2). Dieſe
Prüfung erſtreckt ſich in der Regel nur darauf, daß in einer for-
mell ordnungsmäßigen Urkunde die Vertretung des Staates im
[245]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
Bundesrathe und die Führung der Stimmen Demjenigen über-
tragen worden iſt, welcher ſich als Bevollmächtigter des Staates
gerirt. Sie kann aber auch darauf ſich erſtrecken, ob die Voll-
macht von dem befugten Vertreter des Staates ausgeſtellt iſt.
Falls in einem Bundesſtaate etwa mehrere Prätendenten um den
Thron ſtreiten oder wenn ein Uſurpator deſſelben ſich bemächtigt
hat, ſo kann der Bundesrath die ſich meldenden Vertreter dieſes
Staates entweder ſämmtlich zurückweiſen wegen nicht gehörig er-
folgter Legitimation oder einen von ihnen zulaſſen und dadurch
implicite den Vollmachtsgeber deſſelben als den zur Vertretung des
Staates befugten Landesherrn anerkennen 1).


Der Reichskanzler als der Vorſitzende des Bundesrathes und
Miniſter des Kaiſers prüft die Vollmacht der Bundesrathsmitglie-
der, ſoweit dieſe Prüfung nicht materielle Rechtsfragen, ſondern
nur die formelle Legitimation betrifft, und bringt die Ernennungen
der Bundesraths-Bevollmächtigten durch das Reichsgeſetzblatt zur
öffentlichen Kenntniß.


b) Der Bundesrath hat weder die Pflicht noch das Recht,
den Auftrag oder die Inſtruktion ſeiner Mitglieder zu prü-
fen 2). Er hat nicht darüber zu wachen, daß die Bevollmächtigten
ihrer Inſtruktion gemäß ſtimmen und es hat auf die Wirkung der
Abſtimmung gar keinen Einfluß, falls ſich etwa herausſtellen ſollte,
daß ein Bevollmächtigter ohne Inſtruktion oder gar gegen die ihm
ertheilte Inſtruktion geſtimmt habe 3). Die [Abſtimmung] iſt ein
Formal-Akt, deſſen rechtsverbindliche Kraft theils auf der Voll-
macht
theils auf der geſchäftsordnungs mäßigen Behandlung
der Angelegenheit beruht, deſſen Rechtswirkſamkeit aber von den
Motiven der Abſtimmung gelöſt und ihnen gegenüber ſelbſtſtändig iſt.
Die Inſtruktion erſcheint lediglich als ein Motiv für die Abſtim-
mung und es iſt daher für die Rechtswirkſamkeit der letzteren un-
[246]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
erheblich, ob die Abſtimmung, ſo wie ſie erfolgt iſt, wirklich durch
die erhaltene Inſtruktion gerechtfertigt erſcheint oder nicht 1).


5) Der Antheil der einzelnen Staaten an der, dem Bundes-
rathe zugewieſenen Thätigkeit erſtreckt ſich gleichmäßig für alle
Staaten auf die geſammte, dem Bundesrath zuſtehende Kompetenz.
Auch wenn ein Beſchluß des Bundesrathes, ſei es über eine Ge-
ſetzesvorlage, ſei es über eine Einrichtung oder eine Verwaltungs-
maaßregel, thatſächlich nur einen Theil des Bundesgebietes oder
der Bundesglieder betrifft, ſo iſt doch die Geſammtheit aller Staaten
berechtigt, an der Beſchlußfaſſung Theil zu nehmen. Denn es
handelt ſich auch bei ſolchen Angelegenheiten um das Intereſſe
des Reiches als eines Ganzen, nicht um das zufällig gemeinſame
Intereſſe einiger Bundesglieder.


Dieſes Princip erleidet jedoch eine Modifikation in Folge der,
den Süddeutſchen Staaten zugeſtandenen Reſervatrechte. Inſoweit
das Reich von der Ausübung einzelner Hoheitsrechte in den Süd-
deutſchen Staaten ausgeſchloſſen iſt, ſind auch die Süddeutſchen
Staaten von der Theilnahme an dieſer Ausübung ausgeſchloſſen.
Die Beſchränkung der Reichsgewalt einzelnen Mitgliedern gegen-
über hat ihr Correlat in der Beſchränkung des Antheils dieſer
Mitglieder an der Reichsgewalt. Die R.-V. gibt dieſem Gedanken
in Art. 7 Abſ. 4. einen Ausdruck durch die Beſtimmung:
„Bei der Beſchlußfaſſung über eine Angelegenheit, welche
nach den Beſtimmungen dieſer Verfaſſung nicht dem ganzen
Reiche gemeinſchaftlich iſt, werden die Stimmen nur der-
jenigen Bundesſtaaten gezählt, welchen die Angelegenheit
gemeinſchaftlich iſt
2).“


Die Beſchränkung des Stimmrechts tritt nach dem klaren
Wortlaut dieſer Beſtimmung nur ein bei denjenigen Angelegen-
heiten, welche nach der Verfaſſung nicht gemeinſchaftlich ſind;
dagegen nicht bei Bundesraths-Beſchlüſſen, welche ſich thatſächlich
nur auf einen Theil des Bundesgebietes oder der Bundes-Mit-
glieder beſchränken, oder welche ſich auf Reichsgeſetze beziehen,
welche nicht für das ganze Bundesgebiet erlaſſen worden ſind 3).


[247]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.

Ausgeſchloſſen iſt demgemäß das Stimmrecht Bayerns,
Württembergs und Badens in allen, die Branntwein- und Bier-
ſteuer betreffenden Angelegenheiten (R.-V. Art. 35. 38.), das
Stimmrecht Bayerns und Württembergs in denjenigen Angelegen-
heiten, welche die Verwaltung der Reichs-Poſt- und Telegraphen-
Anſtalt betreffen (R. V. Art. 52), das Stimmrechts Bayerns in
Angelegenheiten, welche die Beaufſichtigung und Geſetzgebung des
Reiches über die Heimaths- und Niederlaſſungsverhältniſſe angehen
(R.-V. Art 4 Nro 1), und welche zu den, dem Reiche in den
Art. 42—46 Abſ. 1 der R.-V. eingeräumten Hoheitsrechten hin-
ſichtlich des Eiſenbahnweſens gehören.


Nichtausgeſchloſſen iſt das Stimmrecht Hamburgs und
Bremens in Zoll- und Steuer-Angelegenheiten; denn abgeſehen
davon, daß Gebietstheile des Hamburger Staates in das Zoll-
Gebiet eingeſchloſſen ſind, entrichten dieſe Staaten an Stelle der
indirekten Steuern Averſa an das Reich 1) und haben nach Art.
35 der R.-V. die Autonomie über das geſammte Zollweſen und
die in dieſem Artikel aufgeführten Steuern verloren. Ebenſowenig
iſt das Stimmrecht Bayerns in Angelegenheiten der Heeresver-
waltung ausgeſchloſſen, da der vom Reiche aufgeſtellte Militär-
Etat auch die, für das Bayeriſche Contingent zu verwendenden
Geldbeträge, wenngleich in einer Geſammtſumme, feſtſetzt und
für die Verwendung dieſer Geldſumme die Anſätze des Reichsetats
zur Richtſchnur dienen 2), und weil auch im Uebrigen Bayern ver-
pflichtet iſt, in Bezug auf Organiſation, Formation, Ausbildung
und Gebühren und hinſichtlich der Mobilmachung volle Ueberein-
ſtimmung mit den für das Bundesheer beſtehenden Normen her-
zuſtellen 3).


3)


[248]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.

III. Dadurch, daß in dem Bundesrathe die einzelnen deut-
ſchen Staaten als Individuen zur Geltung kommen und die Bun-
desraths-Mitglieder die Stellung von bevollmächtigten Geſchäfts-
trägern der Regierungen der Bundesſtaaten haben, ergibt ſich,
daß der Bundesrath den Gliedern des Reiches ſehr weſentliche
Dienſte als Communikations-Mittel zu leiſten vermag.
Die deutſchen Regierungen müſſen unter einander in fortwähren-
dem Meinungs-Austauſche ſtehen; ſie müſſen über alle Fragen
des Staatslebens, welche in die Kompetenz der Reichsgewalt ein-
ſchlagen oder Geſammt-Intereſſen des Reiches berühren, ihre An-
ſichten und Abſichten ſich gegenſeitig mittheilen. Nur dadurch kann
es verhütet werden, daß einzelne Staaten oder Staatengruppen
eine Sonderpolitik treiben, daß Meinungsdifferenzen zu Conflikten
ausarten, daß unter den Regierungen Mißtrauen und Verdächti-
gungen aufkommen und daß der Zwang der Majoritäten-Tyrannei
an die Stelle aufrichtiger Verſtändigung und freudigen Zuſam-
menwirkens tritt. In dieſer Beziehung iſt der Bundesrath, was
die ehemalige Bundesverſammlung hätte ſein ſollen, ein zweck-
mäßiger Erſatz für eine unüberſehbare Menge von Cirkular-
depeſchen und identiſchen Noten, welche jede Bundesregierung an
alle übrigen in jeder ſchwebenden Angelegenheit richten müßte.
Das Bundesraths-Mitglied iſt das Sprachrohr, durch welches jede
Regierung gleichzeitig zu allen übrigen ſpricht und zugleich das
Hörrohr, durch welches ſie die Erklärungen aller übrigen ver-
nimmt 1).


In einer ſpeziellen Richtung hat dieſe Fähigkeit des Bundes-
rathes, den Regierungen als Communikations-Mittel zu dienen,
eine Verwerthung und verfaſſungsmäßige Regelung gefunden, durch
die Bildung des Bundesraths-Ausſchuſſes für die aus-
wärtigen Angelegenheiten
.


Dieſer Ausſchuß iſt geſchaffen worden durch den Bayeriſchen
Vertrag v. 23 Nov. 1870 Art. II §. 6, und ſollte nach demſelben
aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachſen und
Württemberg unter dem Vorſitze Bayerns beſtehen. Bei der Re-
[249]§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.
daktion der Reichsverfaſſung wurde er aber verſtärkt durch zwei,
vom Bundesrathe alljährlich zu wählende Bevollmächtigte anderer
Bundesſtaaten 1).


Dieſer Ausſchuß iſt durchaus verſchieden von den übrigen,
durch die Norddeutſche Bundesverfaſſung bereits vorgeſehenen Bun-
desraths-Ausſchüſſen und entſpricht einer ganz anderen Funktion
des Bundesrathes wie die letzteren, obwohl er im Art. 8 der R.-V.
neben denſelben Platz gefunden hat. In allen, den übrigen Aus-
ſchüſſen zugewieſenen Funktionen erſcheint der Bundesrath durchweg
als ein Willensorgan des Reiches, als ein Theil des Regierungs-
Apparates des Reiches; in dem Ausſchuſſe für die auswärtigen
Angelegenheiten dagegen als ein Communikations-Mittel der Einzel-
ſtaaten
. Dieſer Ausſchuß hat Nichts zu thun mit der Inſtruirung
der diplomatiſchen Geſchäftsträger, mit dem Abſchluß internationaler
Verträge, mit der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten; er
kann nicht Namens des Reiches wollen oder handeln, beſchließen
oder verfügen oder Beſchlüſſe des Bundesrathes in auswärtigen
Angelegenheiten vorbereiten. Er iſt nur dazu da, um Mittheilun-
gen über die auswärtigen Beziehungen des Reiches zu empfangen
und die Anſichten der Einzel-Regierungen über dieſe Mittheilun-
gen auszutauſchen; er dient lediglich zur Information der Bun-
desregierungen über den Stand der auswärtigen Politik und zur
Discuſſion dieſer Politik, ihrer Zielpunkte und Wege 2).


Daraus erklärt es ſich, daß in dieſem Ausſchuſſe und zwar
nur in dieſem, Preußen nicht vertreten iſt, da eine Informirung
des Kaiſers über den Stand der auswärtigen Politik, deren oberſte
Leitung ihm ſelbſt zuſteht, widerſinnig wäre 3).


[250]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

Dieſer Ausſchuß bildet aber keineswegs ein Hinderniß, daß
nicht auch dem Plenum des Bundesrathes unmittelbar Mittheilun-
gen über die auswärtigen Angelegenheiten des Reiches gemacht
werden, wie dies bereits vor Bildung dieſes Ausſchuſſes wieder-
holt geſchehen iſt 1).


§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.


Ein völlig anderes Bild gewährt die Inſtitution des Bundes-
rathes, wenn man denſelben als Ganzes betrachtet. Das Recht
des Einzelſtaates conſumirt ſich durch die im Bundesrath erfolgte
Abſtimmung; nur bis zu dieſem Moment erſcheint die Individua-
lität des einzelnen Staates als maaßgebend 2). Sobald der Bun-
desrath einen Beſchluß gefaßt hat oder ſofern er in irgend einer
Beziehung als Einheit, als Geſammtheit rechtlich in Betracht kommt,
iſt er ein Willens- und Handlungs-Organ des Reiches, übt er die
ſouveräne, über den Einzſtaaten ſtehende Reichsgewalt aus. Ein
Bundesraths-Beſchluß entſteht zwar durch die Willens-Entſchlüſſe
der einzelnen Staaten, aber er iſt nicht eine übereinſtimmende
Willenserklärung der letzteren oder der Majorität derſelben, ſon-
3)
[251]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
dern er iſt die Willenserklärung eines ſelbſtſtändigen, öffentlich
rechtlichen Subjekts, welchem die ſtaatliche Herrſchaft über die Ein-
zelſtaaten zuſteht, das aber durch die Geſammtheit der letzteren
gebildet wird.


Es mag hier nochmals daran erinnert werden, was oben
S. 388 fg. bereits ausgeführt worden iſt, daß dem Bundesrath nicht
die Souveränetät zuſteht, daß er nicht Subjekt der Reichsgewalt
iſt 1). Er iſt nur ein Organ, deſſen ſich dieſes Subjekt zur Aus-
übung gewiſſer Funktionen bedient. Sowie in dieſem ideellen
Subjekt die Perſonen der Mitglieder, aus denen es gebildet iſt,
als Individuen verſchwinden, ſo erſcheint auch der Bundesrath
als Einheit, ſobald er an der Ausübung der Reichsgewalt und
an der Durchführung der dem Reiche obliegenden Aufgaben Antheil
nimmt.


Man kann daher auch nicht behaupten, die Souveränetät
des Reiches ſei zwiſchen Bundesrath und Kaiſer getheilt. Die
ſouveräne Gewalt iſt untheilbar und weder dem Bundesrath noch
dem Kaiſer ſteht ein Theil derſelben zu; ſie gehört vielmehr ganz
und vollſtändig der Geſammtheit der deutſchen Staaten. Aber
die Funktionen der Staatsthätigkeit, die Leiſtung der ſtaatlichen
Arbeit im Reich, die Handhabung der ſouveränen Gewalt auf
verſchiedenen Gebieten des ſtaatlichen Lebens ſind an mehrere
Organe vertheilt und von dem Zuſammenwirken derſelben abhän-
gig gemacht. Die Art dieſer Vertheilung beruht oft mehr auf
politiſchen Gründen und Zweckmäßigkeits-Erwägungen als auf juri-
ſtiſchen Principien und logiſchen Conſequenzen. Mit einer Defini-
tion des Bundesrathes den Wirkungskreis deſſelben ſo zu beſtim-
men, daß Alles was ihm obliegt, eingeſchloſſen, und alles Andere
ausgeſchloſſen iſt, erweiſt ſich als unmöglich.


Wohl aber kann man die Stellung des Bundesrathes im Or-
ganismus des Reiches näher beſtimmen, namentlich im Gegenſatz
zu der Stellung des Kaiſers.


Schon aus den dem Kaiſer zugewieſenen Funktionen ergibt
ſich, was für den Bundesrath übrig bleibt. Dem Kaiſer ſteht zu:
[252]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
die Vertretung nach Außen, die Führung der Regierungsgeſchäfte,
die Verwaltung der Machtmittel (Oberbefehl). Daraus folgt, daß
der Schwerpunkt der dem Bundesrath zugewieſenen Thätigkeit in
der Aufſtellung der Rechtsregeln und der allgemeinen Verwaltungs-
normen ruht. Der Bundesrath iſt das Geſetzgebungs-
organ des Reiches;
ſeine Thätigkeit übt er aus theils unter
Mitwirkung des Reichstages (Geſetze), theils ſelbſtſtändig (Ver-
ordnungen).


Hierauf iſt er aber allerdings nicht beſchränkt, es ſteht ihm
vielmehr bei den wichtigſten Verwaltungsgeſchäften und Regie-
rungshandlungen eine Mitwirkung zu. Der Bundesrath iſt daher
nicht blos Geſetzgebungs-Organ, ſondern auch Verwaltungs-
Organ
des Reiches. In einzelnen Fällen iſt er auch berufen,
für die Aufrechthaltung der Rechts-Ordnung im Reiche mit-
zuwirken. Aber es beſteht zwiſchen dieſen Aufgaben des Bundes-
rathes eine große Verſchiedenheit. Daß der Bundesrath die Ge-
ſetze und Verordnungen beſchließt, iſt die Regel; ſollen für das
Reich gültige Rechtsnormen ohne Beſchlußfaſſung des Bundes-
rathes zu Stande kommen, z. B. durch Allerh. Erlaß des Kaiſers,
ſo muß dies durch ein Geſetz beſonders beſtimmt ſein. Da-
gegen daß der Bundesrath eine Mitwirkung an den eigentlichen
Regierungsgeſchäften hat, iſt die Ausnahme; die Mitwirkung
des Bundesrathes und die daraus reſultirende Beſchränkung des
Kaiſers, beziehentlich des Reichskanzlers, erſtreckt ſich nur ſoweit,
als ſie durch geſetzliche Beſtimmung angeordnet iſt. Dadurch recht-
fertigt ſich die principielle Charakteriſirung des Bundesrathes als
des für die Geſetzgebung beſtimmten Organs des Reiches 1).


Wenn man die Stellung, welche der Kaiſer im Reich ein-
nimmt, vergleichen kann mit der Stellung des Vorſtandes einer
(privatrechtlichen) Korporation, ſo laſſen ſich die Funktionen des
Bundesrathes vergleichen mit den Funktionen der Generalverſamm-
lung und des von ihr eingeſetzten Ausſchuſſes, des ſogen. Ver-
waltungsrathes. Der Bundesrath iſt die Verſammlung ſämmtlicher
Mitglieder des Reiches, reſp. deren Bevollmächtigten, entſpricht
alſo dem Begriff der Generalverſammlung; und wie regelmäßig
[253]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
der letzteren die Beſchlußfaſſung zuſteht über alle Statuten-Aende-
rungen, über den Wirthſchaftsplan und die Rechnungslegung, und
über alle wichtigen Unternehmungen und Geſchäfte, ſo erſtreckt ſich
auch die Kompetenz des Bundesrathes auf die Geſetzgebung, auf
die Finanzwirthſchaft des Reichs und auf wichtige Verwaltungs-
akte, ſowie auf den Abſchluß völkerrechtlicher Verträge. Man darf
aber dieſer Vergleichung des Bundesrathes mit der General-Ver-
ſammlung einer Korporation keine größere Bedeutung beilegen,
als ſie beanſprucht, nämlich eines Mittels zur allgemeinen Charakte-
riſirung der ſtaatsrechtlichen Stellung des Bundesrathes im Reich.


I.Der Bundesrath als Organ der Geſetzgebung.

Die Reichsverfaſſung weiſt dieſe Funktion dem Bundesrathe
zu theils im Art. 5 theils im Art. 7. In dem zuerſt erwähnten
Artikel wird der allgemeine Grundſatz ausgeſprochen: „Die Reichs-
geſetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrath und den Reichs-
tag“; es werden demnach hier die Requiſite eines Reichsgeſetzes
im formellen Wortſinne aufgeführt. Der Art. 7 dagegen behan-
delt das Recht des Bundesrathes zur Geſetzgebung im materiellen
Sinne, d. h. zur Aufſtellung allgemeiner Normen, und er unter-
ſcheidet demgemäß zwiſchen Geſetzen (im formellen Sinne) und
Verordnungen. Er ſtellt 3 Kategorien von Gegenſtänden auf,
welche der Beſchlußfaſſung des Bundesrathes unterliegen, von
denen die erſten beiden vollſtändig, die dritte wenigſtens zum Theil
die Aufſtellung von Rechtsſätzen berühren.


Nach dem Art. 7 beſchließt der Bundesrath:


1) über die dem Reichstage zu machenden Vorla-
gen und die von demſelben gefaßten Beſchlüſſe
.


Dieſe Kategorie fällt mit der Geſetzgebung im formellen Sinne
zuſammen, da zu einem „Geſetz“ die Uebereinſtimmung von Bun-
desrath und Reichstag gehört 1).


2) über die zur Ausführung der Reichsgeſetze er-
forderlichen allgemeinen Verwaltungsvorſchriften
und Einrichtungen
.


[254]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

Hierdurch wird dem Bundesrathe die ſogenannte Verord-
nungs-Gewalt
übertragen; d. h. er hat die Befugniß und
Obliegenheit, die Verwaltungs-Verordnungen zur Ausführung der
Reichsgeſetze zu erlaſſen 1). Andere als Ausführungs-Verordnungen,
Verordnungen mit interimiſtiſcher Geſetzeskraft oder Noth-Verordnun-
gen kennt die Reichsverfaſſung nicht 2). Die „allgemeinen“ Verwal-
tungsvorſchriften und Einrichtungen ſtehen im Gegenſatz zu den
„Verfügungen“ im einzelnen Falle, d. h. zu der Erledigung ſpezieller
Verwaltungs- oder Regierungs-Geſchäfte, welche Sache des Kaiſers
und der Reichsbehörden iſt. Derartige Verfügungen werden aber
auch Verordnungen genannt, namentlich wenn ſie vom Kaiſer
ſelbſt vollzogen werden. Der begriffliche Gegenſatz beruht darin,
daß die allgemeine, d. h. eigentliche, Verordnung die Aufſtellung
einer Regel, die Verfügung die Erledigung eines ſtaatlichen
Geſchäftes iſt, z. B. die Einberufung und Schließung der Sitzungen
des Bundesrathes und Reichstages.


Der Grundſatz, daß Adminiſtrativ-Verordnungen vom Bun-
desrathe zu erlaſſen ſind, geſtattet aber Ausnahmen 3). Der Art.
7 fügt daher der Nro. 2 die Clauſel zu:
ſofern nicht durch Reichsgeſetz etwas Anderes
beſtimmt iſt
.“


Dieſes Andere kann darin beſtehen:


  • a) daß die Zuſtimmung des Reichstages vorbehalten, alſo ein
    Reichsgeſetz erforderlich iſt;
  • b) daß dem Kaiſer der Erlaß der Ausführungsverordnung
    übertragen wird;
  • c) daß der Reichskanzler oder eine andere Reichsbe-
    hörde
    die erforderlichen Vorſchriften erlaſſen ſoll;
  • d) daß die Einzelſtaaten die zur Ausführung der Reichs-
    geſetze nothwendigen Anordnungen zu treffen haben.

Im Allgemeinen hat die Reichsgeſetzgebung an dem Grund-
ſatz feſtgehalten, daß Ausführungs-Verordnungen und überhaupt
allgemeine Regeln für die Verwaltung vom Bundesrathe zu er-
[255]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
laſſen ſind; deſſen ungeachtet enthält die Reichsgeſetzgebung für
jede der 4 angegebenen Abweichungen von der Regel des Art. 7
Ziff. 2 nicht wenige Anwendungsfälle, welche in ihrem ſachlichen
Zuſammenhange bei der Darſtellung der einzelnen Verwaltungs-
zweige zur Erörterung gelangen werden.


II.Der Bundesrath als Organ der Verwaltung.

Der Bundesrath iſt nicht in dem Sinne eine Verwaltungs-
behörde des Reiches, daß er ſelbſtſtändig Verfügungen erlaſſen und
ihre Ausführung unmittelbar erzwingen könnte. Die thatſächliche
Durchführung aller Verwaltungsmaaßregeln des Reiches iſt viel-
mehr Sache des Kaiſers und der von ihm ernannten Behörden.
Eine materielle Betheiligung des Bundesrathes an der Führung
der Verwaltung des Reiches findet aber ſtatt entweder in der
Form, daß für einen Verwaltungsact der Weg der Geſetzgebung
vorgeſchrieben iſt, z. B. zur Aufnahme einer Anleihe, oder in der
Art, daß der Kaiſer zu einer von ihm vorzunehmenden Regierungs-
handlung der Zuſtimmung des Bundesrathes bedarf, oder ſie einem
Beſchluß des Bundesrathes gemäß vornehmen muß.


Die Fälle, in denen dem Bundesrathe in dieſer Art ein An-
theil an der Verwaltung eingeräumt iſt, können durch jedes neue
Geſetz von Jahr zu Jahr ſich vermehren oder verändern. Eine
prinzipielle, aus dem Weſen des Bundesrathes logiſch abzuleitende
Abgränzung derſelben, giebt es nicht. Andererſeits braucht man
ſich aber nicht darauf zu beſchränken, einen bloßen Katalog dieſer
Fälle, wie er ſich aus dem Wort- und Sachregiſter des Reichs-
geſetzblattes ergiebt, zuſammenzuſtellen; ſondern es iſt eine Grup-
pirung der dem Bundesrathe zugewieſenen Verwaltungs-Funktionen
nach allgemeineren Geſichtspunkten möglich.


1) Die weitreichendſte Bedeutung hat in dieſer Richtung die
in der R.-V. Art. 7 unter Z. 3 enthaltene Beſtimmung. Den
beiden bereits erwähnten Kategorien von Gegenſtänden, welche der
Beſchlußfaſſung des Bundesrathes unterliegen, wird als dritte hin-
zugefügt: Der Bundesrath beſchließt
über Mängel, welche bei der Ausführung der
Reichsgeſetze oder der vorſtehend erwähnten
Vorſchriften oder Einrichtungen hervortreten
.


Der Sinn dieſer Beſtimmung iſt wegen der ſehr ſchlechten
[256]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
Faſſung derſelben ſchwer zu ermitteln. In den beiden erſten Kate-
gorien des Art. 7 iſt das Object des Beſchluſſes angegeben, die
an den Reichstag zu bringende Vorlage oder die Genehmigung
oder Verwerfung des vom Reichstage gefaßten Beſchluſſes und die
zu erlaſſende Adminiſtrativ-Verordnung; bei der dritten Kategorie
iſt das Motiv oder die Veranlaſſung des Beſchluſſes hervorge-
hoben. Denn der Bundesrath beſchließt nicht die Mängel, welche
hervortreten, ſondern er faßt einen Beſchluß wegen der Mängel,
welche hervortreten. Auch die Abſtellung dieſer Mängel 1) iſt nicht
der Inhalt, ſondern der Zweck ſeines Beſchluſſes.


Werden die Mängel hervorgerufen durch ein Reichsgeſetz ſelbſt,
indem ſich bei richtiger Anwendung deſſelben zeigt, daß es auf die
thatſächlich beſtehenden Lebensverhältniſſe nicht paßt, ſo kann nicht
anders abgeholfen werden als durch eine Abänderung des Geſetzes,
zu welcher die Genehmigung des Reichstages erforderlich iſt. In-
halt des Bundesrathsbeſchlußes iſt demnach in dieſem Falle eine
dem Reichstage zu machende Vorlage und ein ſolcher Beſchluß fällt
mithin unter die erſte Kategorie des Art. 7.


Wenn die Mängel aber hervorgerufen werden durch die zur
Ausführung des Geſetzes erlaſſenen Verordnungen oder durch das
Fehlen derſelben, beziehentlich durch ihre Unvollſtändigkeit oder
Undeutlichkeit, ſo kann der Bundesrath Adminiſtrativ-Verordnungen
erlaſſen oder ſie ändern, ergänzen, verbeſſern. Ein derartiger
Beſchluß fällt unter die zweite Kategorie des Art. 7.


Soll die unter Ziffer 3 aufgeführte Kategorie nicht völlig
überflüſſig und nichtsſagend ſein, ſo müſſen dem Bundesrathe noch
weitergehende Befugniſſe zuſtehen, als die durch Z. 1 und Z. 2
bereits gegebenen; er muß aus Anlaß von Mängeln noch andere
Beſchlüſſe zu faſſen berechtigt ſein, als Geſetzesvorlagen und Aus-
führungs-Verordnungen.


Von welcher Art dieſe Beſchlüſſe ſein können, ergiebt ſich nicht
aus dem Wortlaut des Art. 7, wohl aber aus ſeiner Entſtehungs-
geſchichte.


In der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes fehlt ein ent-
ſprechender Artikel. Dagegen gewährt dieſe Verfaſſung dem Bun-
desrath in Beziehung auf Zölle und Verbrauchsſteuern eine eigen-
[257]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
thümliche Stellung im Verwaltungs-Organismus, welche ſich hiſto-
riſch erklärt.


In dem alten Zollverein waren alle dabei betheiligten Staaten
von einander unabhängig und ſouverän und es verſtand ſich daher
von ſelbſt, daß die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Ab-
gaben ihnen zuſtand. Bei dem Intereſſe, welches jeder einzelne
Staat daran hatte, daß dieſe Verwaltung überall den Zollvereins-
verträgen entſprechend und übereinſtimmend geführt wurde, traf
man die Einrichtung, die Zoll- und Steuerbehörden der Vereins-
ſtaaten durch Bevollmächtigte controliren zu laſſen. Wurden von
dieſen Bevollmächtigten Anzeigen erſtattet über unrichtige Anwen-
dung oder über Mängel, welche bei der Ausführung der Zoll-
vereinsverträge hervortraten, ſo wurde die Angelegenheit, falls
ſie nicht durch eine Entſcheidung der Centralbehörde des betreffenden
Staates erledigt wurde, auf den Zollvereins-Conferenzen erörtert
und eine gleichmäßige Handhabung des Tarifs oder eine überein-
ſtimmende Einrichtung vereinbart. Ein ſolcher Beſchluß der Zoll-
vereins-Conferenz hatte, grade wie ein Beſchluß des Frankfurter
Bundestages, den Charakter einer völkerrechtlichen Vertragsſchlie-
ßung. Da ſich aus der Natur des Zollvereins das Erforderniß
der Einſtimmigkeit für die Beſchlüſſe der Zollconferenz ergab, ſo
war eine präciſe Abgränzung ihrer Competenz kein Bedürfniß.
Man begnügte ſich daher, der Verſammlung der Konferenz-Bevoll-
mächtigten zuzuweiſen: „Die Verhandlung über alle Beſchwer-
den und Mängel
welche in Beziehung auf die Ausführung des
Grundvertrages . . . . . wahrgenommen … worden ſind 1).


Auch bei Gründung des Norddeutſchen Bundes blieb die im
Zollverein ausgebildete Verwaltungs-Organiſation im Weſentlichen
unverändert; abgeſehen davon, daß die zur Controle der Zoll-
und Steuerbehörden der einzelnen Staaten dienenden Bevollmäch-
tigten vom Präſidium ernannt wurden. Dem Bundesrathe wurde
daher im Art. 37 zugewieſen unter Z. 1 die Mitwirkung bei dem
Erlaß von Zoll- und Steuergeſetzen und dem Abſchluſſe von
Handelsverträgen, unter Z. 2 der Erlaß von Adminiſtrativ-Ver-
ordnungen, und unter Z. 3. die Beſchlußfaſſung:
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 17
[258]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
„über Mängel, welche bei der Ausführung der gemein-
ſchaftlichen Geſetzgebung (Art. 35) hervortreten“

alſo mit ausdrücklicher, durch die Anführung des Art. 35 bewirkter
Beſchränkung auf die Zoll- und Steuergeſetze und im Anſchluß an
die Faſſung des Art. 34 des Zollvereins-Vertrages von 1865.


Auch der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 Art. 8 §. 12
wiederholt dieſelbe Beſtimmung und in der Reichsverfaſſung iſt
nur eine redactionelle Aenderung eingetreten. Der Zoll-Bundes-
rath war gleichſam der Erbe der Zollconferenz, nur befreit von
dem Drucke des Unanimitätsprinzips 1).


Art. 36 Abſ. 2 der Reichsverfaſſung verleiht dem Kaiſer
das Recht und die Pflicht, die Einhaltung des geſetzlichen Ver-
fahrens Seitens der Landesbehörden durch Reichsbeamte, welche
er den Zoll- und Steuerämtern und den Directivbehörden beiordnet,
zu überwachen. Abſ. 3 fügt hinzu:
„Die von dieſen Beamten über Mängel bei der Ausführung
der gemeinſchaftlichen Geſetzgebung (Art. 35) gemachten An-
zeigen werden dem Bundesrathe zur Beſchlußnahme vor-
gelegt.“


Das Verhältniß zwiſchen Kaiſer und Bundesrath iſt daher
hier nicht zweifelhaft. Der Kaiſer hat hinſichtlich der Ueberwachung
der Einzelſtaaten das formelle Recht der Ernennung und Beiord-
nung der Reichszollcontroleure und Bevollmächtigten. Die materielle
Entſcheidung aber über die von ihnen erſtatteten Anzeigen und die
Sicherung gleichmäßiger Auslegung und Handhabung der Zoll-
und Steuergeſetze iſt dem Bundesrath zugewieſen. Er iſt in dieſer
Hinſicht an die Stelle der alten Zollvereins-Conferenz getreten,
nur daß ſeine Beſchlüſſe nicht mehr den Charakter des völkerrecht-
lichen Vertrages, ſondern den der Entſcheidung einer oberſten
Behörde haben. Der Bundesrath iſt in Zoll- und Steuerſachen
eine Central-Verwaltungsbehörde des Reiches, die über
den Selbſtverwaltungs-Behörden der Einzelſtaaten ſtehende Control-
behörde, welche wie ein höchſter Verwaltungsgerichtshof dafür
[259]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
Sorge trägt, daß die den Einzelſtaaten überlaſſene Selbſtverwal-
tung in Zoll- und Steuerſachen nicht zu ungleichartiger Auslegung
und Handhabung der Reichsgeſetze führt. Dem Kaiſer bezieh. den
von ihm ernannten Reichsbeamten, insbeſondere dem Reichskanzler,
liegt es dann wieder ob, die Befolgung der vom Bundesrath ge-
troffenen Entſcheidungen Seitens der Landesbehörden zu veranlaſſen
und zu überwachen.


Bei der Redaction der Reichsverfaſſung, welche bei den Ver-
handlungen in Verſailles mit den ſüddeutſchen Staaten vereinbart
worden iſt, wurde im Anſchluß an die im Zollvereins-Vertrage
enthaltene Beſtimmung der Art. 7 über die der Beſchlußfaſſung
des Bundesrathes unterliegenden Angelegenheiten feſtgeſtellt, der
in der jetzigen Redaction wiederkehrt.


Schon vor dem Abſchluß der Verträge mit den Süddeutſchen
Staaten hatte ſich im Nordd. Bunde die Praxis Eingang verſchafft,
daß Zweifel über die Anwendung von Reichsgeſetzen und Bedenken,
welche bei Handhabung derſelben entſtanden, dem Bundesrathe
zur Beſchlußfaſſung vorgelegt wurden. Bei der Generaldebatte
über dieſe Verträge im Reichstage von 1870 konnte daher Staats-
miniſter von Delbrück nicht ohne Grund von der neuen For-
mulirung des Art. 7 ſagen 1), daß „ſie eine ins Gewicht fallende
materielle Bedeutung nicht habe.“ Er fügte hinzu:
„Es wurde Werth gelegt auf dieſe Zuſammenfaſſung, um
an einem Ort klar zu ſtellen die eigentlichen Zuſtändig-
keiten des Bundesraths, deren Ergründung aus der Bun-
desverfaſſung ſelbſt nicht ohne ein gewiſſes Studium mög-
lich war. Eine materielle Aenderung des Beſtehenden iſt
damit kaum herbeigeführt.“


Wenn nach dieſer Ausſage demnach thatſächlich die Befugniſſe
des Bundesrathes durch Art. 7. Ziffer 3 der Reichsverfaſſung
nicht weſentlich erweitert worden ſind, ſo iſt es doch unzweifelhaft,
daß ſie dadurch erſt ein ſtaatsrechtliches Fundament erhalten haben,
welches nach der Nordd. Bundesverfaſſung nur in Bezug auf Zoll-
und Steuer-Angelegenheiten vorhanden war.


Die Tragweite dieſer Beſtimmung zeigt ſich namentlich in
dem Verhältniß des Bundesrathes zum Kaiſer und ſeinem Miniſter,
17*
[260]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
dem Reichskanzler. Nach Art. 17 der Reichsverfaſſung ſteht dem
Kaiſer die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgeſetze zu.
Nach dem Urſprunge des Art 7. in dem Zollvereinsvertrage und
dem Art. 37 der Norddeutſchen Bundesverfaſſung kann es nun
keinem Zweifel unterliegen, daß Art. 7 Ziff. 3 ſich zu Art. 17
gerade ebenſo verhält, wie der 3. Abſatz des Art. 36 zu dem
zweiten Abſatz deſſelben Artikels; d. h. dieſelbe Abgränzung der
Kompetenz, welche für Zoll- und Steuerſachen, in Art. 36 erfolgt
iſt, iſt durch Art. 7 Ziff. 3 und 17 auf alle der Reichsgeſetzgebung
unterliegenden Gegenſtände ausgedehnt worden 1).


Dem Kaiſer liegt es daher ob, die zur Controle der Einzel-
ſtaaten etwa erforderlichen und durch Reichsgeſetze vorgeſehenen
Beamten zu ernennen, namentlich aber gehen vom Kaiſer d. h.
von dem von ihm ernannten Reichskanzler oder den Reſſortbehör-
den des Reiches die Verfügungen aus, welche zur Durchfüh-
rung der vom Bundesrathe getroffenen Entſcheidungen erforderlich
ſind. Der Bundesrath dagegen fällt die materielle Entſcheidung
über die Auslegung oder Handhabung der Reichsgeſetze oder über
eine allgemeine Einrichtung behufs Abhülfe der Mängel, welche
bei der Ausführung der Reichsgeſetze hervorgetreten ſind 2).


Es ſteht dieſe, dem Bundesrath zugewieſene Kompetenz im
engſten Zuſammenhange mit der ihm übertragenen Geſetzgebungs-
Funktion und die Beſchlußfaſſung über Mängel, d. h. über die
richtige Handhabung der Reichsgeſetze und über Abhülfe der her-
[261]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
vorgetretenen Uebelſtände fließt in unmerklichen Abſtufungen und
Uebergängen an der einen Grenzlinie mit dem Erlaß allgemeiner
Verwaltungsverordnungen, an der anderen mit der Fällung eines
verwaltungsgerichtlichen Urtheils zuſammen.


Daraus ergeben ſich aber auch zugleich die Schranken, welche der
durch Art 7 Ziff. 3 begründeten Kompetenz des Bundesrathes geſetzt
ſind. Dem Bundesrath ſteht keine Entſcheidung zu in allen denjeni-
gen Angelegenheiten, die durch Reichsgeſetz einer Reichsbehörde
überwieſen ſind. Dazu gehören vor Allem die eigentlichen Rechts-
ſtreitigkeiten, welche eine richterliche Entſcheidung d. h. eine lediglich
durch Rechtsſätze beſtimmte Beurtheilung erfordern, alſo insbeſondere
die, der Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Heimaths-
amts, des Reichs-Eiſenbahnamts, nach §. 5 Ziff. 4 des Geſ. v.
27. Juni 1873 (Rg.-Bl. S. 165) u. ſ. w. unterliegenden Streit-
fälle. Ebenſo aber auch diejenigen Angelegenheiten, deren Erledi-
gung zum Reſſort der Reichs-Verwaltungsämter gehört. Es iſt
ferner die durch Art. 7 Ziff. 3 für den Bundesrath begründete
Kompetenz ausgeſchloſſen, ſoweit die Reichsverfaſſung ſelbſt eine
Ausnahme macht, was namentlich durch Art. 63 Abſ. 3. hinſicht-
lich der Militär-Angelegenheiten zu Gunſten des Kaiſers geſchehen
iſt. Andererſeits findet die Kompetenz des Bundesrathes eine
Schranke an dem Selbſtverwaltungsrecht der Einzelſtaaten. Der
Bundesrath bildet keine Inſtanz über den Centralbehörden der
Einzelſtaaten, ſo daß an ihn im Wege der Beſchwerde oder des
Rekurſes der einzelne Fall zur definitiven Entſcheidung gezogen
werden könnte 1). Der Bundesrath kann keine von den Behörden
der Einzelſtaaten getroffene Entſcheidung caſſiren, nicht auf Ver-
urtheilung oder Freiſprechung erkennen, den Behörden der Einzel-
ſtaaten keine Anweiſung ertheilen; der Bundesrath kann nur darüber
einen Ausſpruch thun, welchen Inhalt die allgemeine Pflicht aller
Bundesſtaaten, die Reichsgeſetze zu beobachten, in Anſehung des
ſpeziellen, den Gegenſtand des Beſchluſſes bildenden Punkt hat.


2) Ein ähnliches Verhältniß zwiſchen Bundesrath und Kaiſer
wie es durch Art. 7 Abſ. 3. und Art. 17 und durch Art. 36 Abſ. 2
und Art. 36 Abſ. 3. normirt iſt, beſteht auch hinſichtlich der Er-
nennung gewiſſer Reichsbeamten
. Die Ernennung ſelbſt
[262]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
erfolgt in allen Fällen vom Kaiſer R.-V. Art. 18.; formell kann
der Bundesrath niemals einen Beamten anſtellen. Aber materiell
ſteht ihm für gewiſſe Beamten-Kategorien eine Entſcheidung zu,
indem er entweder die Beamten geradezu wählt, ſo daß der Kaiſer
auf die bloße Form der Ernennung der vom Bundesrath gewähl-
ten Individuen beſchränkt iſt, oder indem der Kaiſer die Beamten
„nach Vernehmung“ des Bundesrathes oder eines Ausſchuſſes deſſel-
ben anſtellt. Das Letztere iſt vorgeſchrieben im Art. 36 der R.-V.,
wonach der Kaiſer die zur Controlle der Zoll- und Steuerbehörden
beſtimmten Reichsbeamten nach Vernehmung des Ausſchuſſes des
Bundesrathes für Zoll- und Steuerweſen den Bundesbehörden
beiordnet, und im Art. 56, welcher beſtimmt, daß der Kaiſer die
Konſuln nach Vernehmung des Ausſchuſſes für Handel und Ver-
kehr anſtellt.


Ein Wahlrecht oder Vorſchlagsrecht hat der Bundesrath hin-
ſichtlich der Mitglieder des Rechnungshofes 1), des Oberhandels-
gerichts 2), des Bundesamtes für das Heimathsweſen 3), der Dis-
ciplinarkammern und des Disciplinarhofes 4), der Verwaltung des
Reichs-Invalidenfonds 5) und des Reichsbank-Direktoriums 6).


3) Auch bei gewiſſen Regierungsacten, welche eine hervor-
ragende politiſche Bedeutung entweder ihrer Natur nach immer
haben oder doch unter Umſtänden haben können, iſt die Entſchlie-
ßung des Kaiſers gebunden. Ihm ſteht es zwar zu, den Regie-
rungsact ſelbſt und formell ohne Mitwirkung des Bundesrathes
zu vollziehen; aber er iſt dazu nur befugt, nachdem er die Zu-
ſtimmung des Bundesrathes eingeholt hat.


Bei Ausübung der Vertretungsbefugniß für das Reich
bedarf der Kaiſer dieſer Zuſtimmung:


  • a) zur Erklärung des Krieges, es ſei denn, daß ein Angriff
    auf das Bundesgebiet oder deſſen Küſten erfolgt. R.-V.
    Art. 11 Abſ. 1.
  • b) zum Abſchluß von Verträgen mit fremden Staaten, inſoweit
    [263]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
    ſie ſich auf ſolche Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4
    der R.-V. in den Bereich der Reichsgeſetzgebung gehören.
    R.-V. Art. 11 Abſ. 2.

Auf dem Gebiete der inneren Politik bedarf der Kaiſer
eines zuſtimmenden Beſchluſſes des Bundesrathes


  • a) zur Vollſtreckung der Execution gegen Bundesglieder. R.-V.
    Art. 19.
  • b) zur Auflöſung des Reichstages während der Legislatur-
    Periode. R.-V. Art. 24.

4) Eine beſondere Stellung nimmt der Bundesrath ein bei
allen die Finanzwirthſchaft des Reiches betreffenden An-
gelegenheiten. Hier ſind ihm zum Theil Funktionen beigelegt,
welche auf anderen Gebieten der Kaiſer oder der Reichskanzler
ausüben oder welche nach anderen Verfaſſungen die Landtage den
geſchäftsführenden Regierungs-Behörden gegenüber wahrnehmen,
während nach der Reichsverfaſſung Bundesrath und Reichstag gleich-
mäßig daran Antheil nehmen.


Die Feſtſtellung des Reichshaushalts-Etats in der, dem Reichs-
tage vorzulegenden Geſtalt, ſowie die Beſchlußfaſſung über die von
dem Reichstage vorgenommenen Abänderungen, ferner die Geneh-
migung einer Anleihe ſowie der Uebernahme einer Garantie zu
Laſten des Reiches ſteht dem Bundesrathe zu, weil der Weg der
Geſetzgebung vorgeſchrieben iſt. Der Bundesrath hat aber über-
dies die Abrechnungen der Einzelſtaaten über die von ihnen für
Rechnung des Reiches erhobenen Zölle und Abgaben zu prüfen und
den von der Kaſſe jedes Bundesſtaates der Reichskaſſe ſchuldigen Be-
trag feſtzuſtellen (Art. 39). Der Bundesrath iſt auch in dieſer Hin-
ſicht an die Stelle der ehemaligen Generalzollconferenz getreten 1).


Ferner iſt der Reichskanzler verpflichtet über die Verwendung
aller Einnahmen des Reiches dem Bundesrathe zur Entlaſtung
jährlich Rechnung zu legen. (Art. 72.) In Durchführung des
Princips, daß die Finanz-Angelegenheiten des Reiches zur Kompe-
tenz des Bundesrathes gehören hat das Geſ. v. 19. Juni 1868
§. 4 (B.-Bl. S. 339) beſtimmt, daß 3 Mitglieder des Bundes-
rathes zur Bundesſchulden-Kommiſſion gehören und in §. 7 die-
ſelben Verpflichtungen der Bundesſchulden-Kommiſſion dem Bun-
[264]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
desrathe gegenüber auferlegt, welche der preußiſchen Staatsſchulden-
Kommiſſion dem preuß. Landtage gegenüber obliegen. Der Bun-
desrath ernennt ferner drei Mitglieder des Reichsbank-Kuratoriums.
Geſ. v. 14. März 1875 §. 25 (Rg.-Bl. S. 184).


Es iſt ſchon erwähnt worden, daß zufolge Geſ. vom 4 Juli
1868 §. 2 (B.-Bl. S. 433) die zum Rechnungshof des deutſchen
Reiches neu hinzutretenden Mitglieder vom Bundesrathe gewählt
werden. Ebenſo hat der Bundesrath die Mitglieder der „Ver-
waltung des Reichs-Invalidenfonds“ zu wählen. Geſ. v. 23. Mai
1873 §. 11 (Rg.-Bl. S. 120).


Ferner kann der Kaiſer über den Reichskriegsſchatz nur unter
vorgängig oder nachträglich einzuholender Zuſtimmung des Bundes-
rathes verfügen; ſeine Anordnungen über Verwaltung des Reichs-
kriegsſchatzes unterliegen der Zuſtimmung des Bundesrathes und
die Reichsſchulden-Kommiſſion hat jährlich dem Bundesrathe über
den Beſtand des Reichskriegsſchatzes Bericht zu erſtatten. Geſ. v.
11. Nov. 1871 §. 1. 3. (Rg.-Bl. S. 403 1).


Auch die vom Reichskanzler zu erlaſſenden Verfügungen über
die Ausprägung von Goldmünzen ſind an die Zuſtimmung des
Bundesrathes geknüpft. Geſ. v. 4. Dezbr. 1871 §. 6 Abſ. 2.
(R.-Bl. S. 405).


Das Bankgeſetz vom 14. März 1875 §. 36. 40. 41. 44. 47
legt dem Bundesrath eine höchſt umfaſſende Zuſtändigkeit bei.


Einnahmen aus der Veräußerung entbehrlich werdender Fe-
ſtungs-Grundſtücke oder anderer im Beſitz der Reichsverwaltung
befindlicher Grundſtücke dürfen nur unter Genehmigung des Bun-
desrathes verausgabt werden. Geſ. v. 8. Juli 1872 Art. IV. (Rg.-Bl.
S. 290) und Geſ. v. 25. Mai 1873 §. 11 (Rg.-Bl. S. 115).


Andererſeits ſind dem Bundesrath hinſichtlich der Vergütung
von Kriegsleiſtungen weitgehende Befugniſſe eingeräumt durch das
Geſ. v. 13. Juni 1873 (Rg.-Bl. S. 129 2).


Daß in Finanz-Angelegenheiten dem Bundesrath eine ſo aus-
[265]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
gedehnte Kompetenz zugewieſen wird, erklärt ſich daraus, daß die
Regierung des Reiches auf Koſten aller Bundesſtaaten geführt
wird und in ihrem finanziellen Reſultat jeden Einzelſtaat mittelſt
der von ihm zu zahlenden Matrikularbeiträge berührt. Deshalb
ſind der Kaiſer und der von ihm ernannte Reichskanzler in der
Freiheit der Geſchäftsführung, welche ihnen im Uebrigen gelaſſen
iſt, gerade in finanzieller Beziehung beſchränkt und an die Con-
trole und Zuſtimmung des Bundesrathes — und wie unten näher
ausgeführt werden wird, des Reichtages — gebunden.


5) Neben den vorſtehend erörterten 4 Kategorien von Ver-
waltungsbefugniſſen des Bundesrathes, die ſich auf beſtimmte all-
gemeinere Geſichtspunkte zurückführen laſſen, enthalten die Reichs-
geſetze noch eine Anzahl von ſpeziellen Punkten, über welche dem
Bundesrath die Beſchlußfaſſung zugewieſen iſt, ohne daß man aus
denſelben ein einheitliches Princip für die Kompetenzbeſtimmung
des Bundesrathes abſtrahiren kann. So unterliegt z. B. der Be-
ſchlußfaſſung
des Bundesrathes die Abgränzung der elſaß-
lothringen’ſchen Wahlkreiſe für den deutſchen Reichstag 1); die
Bezirke der Disciplinarkammern werden vom Kaiſer im Einver-
nehmen
mit dem Bundesrathe abgegrenzt 2); die Jurisdictions-
bezirke der einzelnen Conſuln werden vom Reichskanzler nach Ver-
nehmung
des Bundesraths-Ausſchuſſes für Handel und Verkehr
beſtimmt 3).


Ferner ſteht die Aufhebung beſtehender Zollausſchlüſſe dem
Bundesrath zu 4).


Zu erwähnen iſt ferner die Beſtimmung in Art. 46 der R.-V.
Die Zuſtimmung des Bundesrathsausſchuſſes für das Landheer und
die Feſtungen iſt auch erforderlich zu einer Abweichung von dem
vorgeſchriebenen Vertheilungsmaaßſtaabe des Rekrutenbedarfs 5).


Dergleichen Beſtimmungen werden im ſpeziellen Theil bei der
Darſtellung der einzelnen Verwaltungszweige Erwähnung finden 6).


[266]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
III.Der Bundesrath als Organ der Rechtspflege.

Die Funktionen, welche dem Bundesrath behufs Aufrechthal-
tung der Rechts-Ordnung zugewieſen ſind, haben zum Theil ſchon
Erwähnung gefunden. Es ſind folgende:


1. Die dem Bundesrathe in Art. 7 Abſ. 3 übertragene Be-
ſchlußfaſſung über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichs-
geſetze hervortreten, ſchließt in gewiſſem Grade eine Verwaltungs-
Jurisdiktion in ſich, indem der Beſchluß ein Urtheil darüber ent-
halten kann, ob eine Beſtimmung eines Reichsgeſetzes oder einer
Bundesraths-Verordnung richtig oder falſch ausgelegt reſp. ange-
wendet worden iſt. Gewöhnlich hat ein ſolcher Beſchluß aber nicht
die formelle Kraft einer Entſcheidung. Die Angelegenheit, welche
Veranlaſſung zu dem Beſchluß gegeben, kann längſt definitiv er-
ledigt ſein oder aus Gründen, welche mit der vom Bundesrath
beſchloſſenen Geſetzes-Auslegung in keinem Zuſammenhange ſtehen,
ihre Erledigung finden. Auch erfolgt dieſelbe formell der Regel
nach durch die competenten Behörden des Einzelſtaates oder, ſo
weit das Reich die Verwaltung ſelbſt führt, durch die Central-
Verwaltungsbehörden des Reiches. Der Beſchluß des Bundes-
rathes dient den oberſten Verwaltungsbehörden eben nur als
Richtſchnur 1).


In einzelnen Fällen ſteht dem Bundesrath oder Bundesraths-
Ausſchüſſen aber eine formell wirkſame, verwaltungsgerichtliche
Entſcheidung zu.


So beſtimmt das Geſ. v. 30. Mai 1873 Art. IV Abſ. 2
[267]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
(R.-G.-Bl. S. 124) in Beziehung auf das Recht der Feſtungsſtädte,
die für den öffentlichen Verkehr nothwendige Erweiterung der Thore
und Thorbrücken, ſoweit ein fortifikatoriſches Intereſſe nicht ent-
gegenſteht, auf Koſten des Reiches zu verlangen:
„Die Entſcheidung darüber, ob und welche Erweiterungen
im Intereſſe des Verkehrs nothwendig und fortifikatoriſch
zuläſſig ſind, wird in letzter Inſtanz durch die vereinigten
Ausſchüſſe des [Bundesraths] für Handel und Verkehr und
für das Landheer und die Feſtungen getroffen.“


Hinſichtlich der Zuerkennung von Penſionen weiſt das Reichs-
Beamtengeſetz vom 31. Mai 1873 §. 39, 51, 52, 68 dem Bundes-
rath eine Beſchlußfaſſung zu, welche ebenfalls hierher gerechnet
werden kann. Insbeſondere aber beſtimmt §. 66 des erwähnten
Geſetzes, daß die definitive Entſcheidung über die zwangsweiſe Ver-
ſetzung eines Reichsbeamten in den Ruheſtand bei denjenigen Be-
amten, welche keine kaiſerliche Beſtallung erhalten, vom Bundes-
rathe
, bei denjenigen, welche eine kaiſerlich Beſtallung erhalten,
vom Kaiſer im Einvernehmen mit dem Bundesrathe er-
folgt 1). Bis zum Erlaß des Reichsbeamten-Geſetzes hatte der Bun-
desrath über die Berufskonſuln eine Zuſtändigkeit als Disziplinar-
hof 2).


2. Auch der nach Art. 19 der R.-V. dem Bundesrath zuſtehende
Beſchluß, daß gegen ein Bundesglied die Execution vollſtreckt wer-
den ſoll, involvirt eine richterliche Sentenz, indem er ein Urtheil
darüber enthält, daß das Bundesglied ſeine verfaſſungsmäßigen
Bundespflichten nicht erfüllt hat 3). Es kann die Bundes-Execution
nicht anders als ein Act der Adminiſtrativ-Juſtiz aufgefaßt werden,
die dem Reich gegen die Einzelſtaaten als nothwendiges Correlat
der den Einzelſtaaten gewährten, umfaſſenden Selbſtverwaltung
zuſteht.


3. Gemäß Art. 77 der R.-V. bildet der Bundesrath die oberſte
Rekurs-Inſtanz, wenn in einem Bundesſtaate der Fall einer Juſtiz-
[268]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
verweigerung eintritt 1). Ueber eine Beſchwerde dieſer Art hat der
Bundesrath lediglich nach Rechtsgrundſätzen zu entſcheiden und
zwar iſt ihm im Art. 77 zur Pflicht gemacht, „die Beſchwerde nach
der Verfaſſung und den beſtehenden Geſetzen des betreffenden Bun-
desſtaates zu beurtheilen“ 2). Desgleichen iſt die Würdigung der
Frage, ob die in der Beſchwerde vorgebrachten Thatſachen erwieſen
ſind, eine richterliche. Mit dem vom Bundesrathe gefällten Ur-
theile,
daß der Fall verweigerter oder gehemmter Rechtspflege
vorliege, verbindet ſich dann die weitere Funktion, bei der Bun-
desregierung, die zu der Beſchwerde Anlaß gegeben hat, „die
gerichtliche Hülfe zu bewirken.“


4. Nach Art. 76 Abſ. 1 der R.-V. iſt der Bundesrath berufen,
„Streitigkeiten zwiſchen verſchiedenen Bundesſtaaten, ſofern die-
ſelben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten
Gerichtsbehörden zu entſcheiden ſind, auf Anrufen des einen Theiles
zu erledigen.“ Er iſt in den von dieſem Artikel berührten Fällen
an die Stelle der Auſträgal-Inſtanz des ehemaligen Bundes ge-
treten. Wenngleich dem Bundesrath keinerlei Vorſchriften gegeben
ſind über die Art der Erledigung ſtaatsrechtlicher Streitigkeiten
unter den Bundesgliedern und ſein Beſtreben naturgemäß auf Her-
beiführung eines Vergleiches gerichtet ſein wird, ſo iſt doch das
äußerſte und definitive Mittel der Erledigung ein Richterſpruch,
der zwangsweiſe vollſtreckt werden kann. Der Art. 76 Abſ. 1 iſt
ſo weit gefaßt, daß er es dem Bundesrath überläßt, ob er den
Richterſpruch, falls ein gütlicher Vergleich nicht gelingt, ſelbſt
fällen will oder ob er ein Gerichtscollegium, eine Juriſten-Fakultät
oder andere Sachverſtändige mit der Fällung des Urtheils betrauen
will 3). Aber auch wenn der Bundesrath den letzteren Weg wählt,
[269]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
bildet er die eigentliche Inſtanz; das Collegium, welchem er die
Entſcheidung der Streitfrage aufträgt, hat keine eigene Competenz,
ſondern erſtattet nur ein ſachverſtändiges Gutachten, welches nur
dadurch bindende Kraft und rechtliche Bedeutung erlangt, daß es
der Bundesrath beſtätigt.


Aus der Natur der Sache ergiebt ſich, daß es den ſtreitenden
Staaten unbenommen iſt, durch Compromiß oder durch irgend eine
Form der Austräge ihren Zwiſt zu entſcheiden. Der Art. 76 will
nicht dem Bundesrath eine ausſchließende richterliche Kompetenz
bei Streitigkeiten unter den deutſchen Staaten beilegen, ſondern
er will nur ein Mittel gewähren, um den Landfrieden für alle
Fälle aufrecht halten zu können. Da der Krieg unter den im
Reiche ſtaatlich verbundenen Gliedern abſolut ausgeſchloſſen iſt, ſo
muß eine Inſtanz vorhanden ſein, welche Streitigkeiten zu erledigen
vermag, wenn alle ſonſt zuläſſigen Mittel einer friedlichen Ent-
ſcheidung erſchöpft ſind. Deshalb iſt die Kompetenz des Bundes-
rathes dann nicht begründet, wenn keiner der ſtreitenden Staaten
ſeine Einmiſchung anruft.


Ueber das Verfahren, welches der Bundesrath einzuſchlagen
hat, wenn derſelbe angerufen wird, hat weder die Geſetzgebung
noch die Praxis bisher Regeln aufgeſtellt. Es ſteht aber nichts
im Wege und würde ſich aus praktiſchen Gründen wohl empfehlen,
diejenigen Vorſchriften zur Anwendung zu bringen, welche zu Zeiten
des deutſchen Bundes für das Bundes-Auſträgal-Verfahren beſtanden
haben 1).


Auch in dem, in der Wiener Schlußacte Art. 30 vorgeſehenen
Falle, daß Forderungen von Privatperſonen deshalb nicht befrie-
digt werden können, weil die Verpflichtung, denſelben Genüge zu
leiſten, zwiſchen mehreren Bundesgliedern zweifelhaft oder beſtritten
iſt 2), wird der Bundesrath regelmäßig entweder wegen Art. 76
Abſ. 1 oder wegen Art 77 zur Erledigung der Streitfrage com-
petent ſein 3), ſoweit nicht in Folge des Geſetzes vom 6. Juni
[270]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.
1870 §. 37 ff. das Reichsamt für das Heimathsweſen zur Ent-
ſcheidung berufen oder etwa die Kompetenz des Reichs-Oberhandels-
gerichts begründet iſt.


5. An der äußerſten Grenze einer richterlichen oder quaſirich-
terlichen Thätigkeit ſteht endlich die durch Art. 76 Abſ. 2 dem
Bundesrath zugewieſene Aufgabe.


„Verfaſſungsſtreitigkeiten 1)in ſolchen Bundesſtaaten, in
deren Verfaſſung nicht eine Behörde zur Entſcheidung ſolcher
Streitigkeiten beſtimmt iſt, hat auf Anrufen eines Theiles
der Bundesrath gütlich auszugleichen oder, wenn das
nicht gelingt, im Wege der Reichsgeſetzgebung zur
Erledigung zu bringen.“


Nach dieſem Artikel iſt die Berechtigung des Bundesrathes
zur Einmiſchung in die Verfaſſungsſtreitigkeit in einem Einzelſtaat
davon abhängig gemacht, daß einer der ſtreitenden Theile ihn
anruft. Es iſt aber zweifellos, daß, wenn die Verfaſſungsſtreitig-
keit dahin führen ſollte, daß die Regierung des Bundesſtaates ihre
Bundespflichten nicht erfüllt, insbeſondere wenn ſie verhindert wird,
die Matrikularbeiträge zu entrichten oder für die Handhabung der
Reichsgeſetze Sorge zu tragen, der Bundesrath aus eigenem Ent-
ſchluß auf Grund des Art. 19 einſchreiten kann. Ferner iſt das
Reich, alſo zunächſt der Bundesrath als deſſen Organ, auch ohne
Anrufen der ſtreitenden Theile zu einem Einſchreiten nicht nur
berechtigt, ſondern ſogar genöthigt, wenn in einem Bundesſtaat
der Thron ſelbſt unter mehreren Prätendenten ſtreitig iſt; weil die
Mitgliedſchaft dieſes Staates durch das Oberhaupt deſſelben aus-
geübt wird, der Landesherr daher der Anerkennung als Bundes-
Mitglied bedarf und das Reich formelle Gewißheit haben muß,
wer der berechtigte Monarch des Bundesſtaates iſt.


3)


[271]§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

In allen Fällen aber, in denen die Verfaſſungsſtreitigkeit das
Verhältniß des Einzelſtaates zum Reich nicht berührt, ſondern eine
innere Angelegenheit des erſteren bleibt, iſt das Reich nur competent,
wenn es angerufen wird. So lange das Staatsrecht 1) des betref-
fenden Bundesgliedes ſelbſt die Mittel zu einer rechtlichen Löſung
des Streites bietet, iſt die Intervention des Reiches ausgeſchloſſen.
Ebenſo wenn die ſtreitenden Theile auf Schiedsrichter ſich einigen.
Das Reich tritt nur ſubſidiär zur Löſung des Conflictes ein.


Zunächſt iſt es nun Sache des Bundesrathes, den gütlichen Aus-
gleich zu verſuchen. In den Verhältniſſen iſt es gegeben, daß der
Bundesrath ſeinen Einfluß vorzüglich auf die Regierung auszuüben
im Stande iſt; in ſehr viel geringerem Grade auf die Landesver-
tretung. Doch iſt die Bedeutung der Thatſache, daß der Bundes-
rath entweder vollſtändig oder wenigſtens bis zu einer gewiſſen
Linie auf der Seite der Regierung ſteht, auch für die von der
Landesvertretung einzunehmende Haltung nicht zu unterſchätzen.


Wenn der Verſuch gütlicher Ausgleichung nicht gelingt, ſo hat
der Bundesrath im Einverſtändniß mit dem Reichstage, alſo im
Wege der Reichsgeſetzgebung die Streitigkeit zu erledigen. Daraus,
daß die Form der Geſetzgebung vorgeſchrieben iſt, folgt keines-
wegs, daß die Entſcheidung nicht materiell die Bedeutung eines
Richterſpruches habe. Es muß im Gegentheil als ein ideelles
Poſtulat eines ſolchen Geſetzes aufgeſtellt werden, daß es das be-
ſtehende
Recht declarirt. Denn es handelt ſich um „Erledigung
von Verfaſſungsſtreitigkeiten“ d. h. von Rechtsſtreitigkeiten und
die Organe des Reiches treten nur dann in Function, wenn nicht
verfaſſungsmäßig eine Behörde zur Entſcheidung ſolcher Streitig-
keiten beſtimmt iſt, ſie haben alſo offenbar eine Aufgabe, wie ſie
einer ſolchen Behörde obliegt, d. h. eine richterliche. Es laſſen
ſich auch wohl Fälle von Verfaſſungsſtreitigkeiten denken, in denen
das Recht ſo zweifellos iſt, daß Bundesrath und Reichstag über-
einſtimmend es zur Geltung bringen.


Der „Weg der Geſetzgebung“ geſtattet aber ganz anderen Mo-
tiven als juriſtiſchen und ganz anderen Erwägungen als richter-
lichen einen ſehr erheblichen Einfluß 2). Bundesrath und Reichs-
[272]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
tag haben andere Aufgaben im Reich zu erfüllen, als Recht zu
ſprechen und ſind deshalb auch in einer Weiſe eingerichtet, die
am wenigſten auf die Bedürfniſſe der Rechtspflege berechnet iſt.
Die Bundesraths-Mitglieder ſtimmen nach Inſtruktionen, die
Reichstags-Mitglieder unter dem Einfluß politiſcher Anſchauungen
und Tendenzen. Wenn zwei ſolche Körperſchaften, von denen keine
ihrer allgemeinen Anlage nach geeignet iſt, die Rolle eines Gerichts-
hofes zu übernehmen, ſich zu einem übereinſtimmenden Votum
vereinigen müſſen, um die Entſcheidung eines Rechtsſtreites zu
finden, ſo iſt die Wahrſcheinlichkeit, daß dieſe Entſcheidung lediglich
nach Rechtsgrundſätzen erfolgen werde, keine ſehr große.


Die Reichsverfaſſung verlangt auch nicht, daß dieſe Entſchei-
dung eine, der Sache nach, richterliche ſein müſſe.


Die „Erledigung“ der Verfaſſungsſtreitigkeit kann auch er-
folgen durch Veränderung der Verfaſſung oder durch Außerkraft-
ſetzung des beſtehenden Verfaſſungsrechts für den einzelnen Fall.
Die im Art. 2 der R.-V. den Reichsgeſetzen beigelegte Wirkung,
daß ſie den Landesgeſetzen vorgehen, kömmt auch einem auf Grund
des Art. 76 Abſ. 2 erlaſſenen Reichsgeſetze zu, welches das bis-
herige Staatsrecht eines Bundesgliedes modifizirt.


Es iſt dies in zweifacher Beziehung bemerkenswerth. Erſtens
ergiebt ſich auch hieraus, daß nicht der einzelne Bundesſtaat auf
dem ſeiner Autonomie überlaſſenen Gebiete ſouverän iſt, ſondern
daß über ihm die Reichsgewalt als die wirklich höchſte, ſouveräne
Gewalt ſteht. Zweitens zeigt ſich an der hier erörterten Function
der Reichsorgane, ſowie überhaupt an der Geſammtheit der dem
Bundesrathe zugewieſenen Thätigkeit, daß Geſetzgebung, Verwal-
tung und Rechtspflege nicht von einander ſcharf abgegränzte Ge-
biete haben, ſondern daß ſie lediglich Formen ſind, in welchen
die eine und untheilbare, der einheitlichen Perſönlichkeit des Staa-
tes entſprechende, Staatsgewalt zur Erſcheinung kommt und wirk-
ſam wird.


§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.


Die hier in Betracht kommenden Rechtsſätze ſind theils in
der Verfaſſung ſelbſt enthalten, theils in der Geſchäfts-Ord-
nung für den Bundesrath
des Deutſchen Reiches formulirt.
Dieſelbe iſt in der Sitzung des Bundesrathes vom 27. Febr. 1871
[273]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
beſchloſſen worden 1). Geſetzliche Kraft kömmt derſelben nicht zu;
ſie iſt daher auch im Reichsgeſetzblatt nicht verkündet worden und
ſie unterliegt der Abänderung und Ergänzung durch Bundesraths-
Beſchluß.


I. Der Bundesrath iſt keine ſtändige Verſammlung, wie es
der Bundestag in Frankfurt a. M. war oder wie es dem Begriff
eines Reichsminiſteriums entſprechen würde, ſondern er tritt nur
zeitweiſe auf Berufung zuſammen.


1. Die Berufung des Bundesrathes und ebenſo die Er-
öffnung, Vertagung und Schließung deſſelben ſteht dem Kaiſer
zu. R.-V. Art. 12. Der Bundesrath kann ſich demgemäß nicht
aus eigener Initiative verſammeln und ein Beſchluß, welchen
derſelbe etwa faſſen würde vor ſeiner Eröffnung oder nach ſeiner
Vertagung oder Schließung durch den Kaiſer, wäre verfaſſungs-
widrig und deshalb nichtig.


2. Im Allgemeinen iſt es in die freie Entſchließung des Kai-
ſers geſtellt, ob er den Bundesrath berufen will oder nicht; hier-
von giebt es aber zwei Ausnahmen, indem eine Berufung des
Bundesrathes erfolgen muß,


a) wenn der Reichstag einberufen wird. R.-V. Art. 13.
So lange der Reichstag verſammelt iſt, muß auch der Bundesrath
einberufen ſein, da der Bundesrath über die dem Reichstage zu
machenden Vorlagen und die vom Reichstage gefaßten Beſchlüſſe
zu beſchließen hat. Es kann aber der Bundesrath allein ohne den
Reichstag, einberufen werden, was namentlich wegen der Vorberei-
tung der dem Reichstage zu machenden Vorlagen erforderlich iſt.


b) wenn ein Drittel der Stimmenzahl des Bundesrathes die
Berufung verlangt. R.-V. Art. 14. Da der Bundesrath 58
Stimmen zählt, 19 Stimmen alſo nicht vollſtändig ein Drittel
ausmachen, ſo müſſen, wenn der Kaiſer nicht kraft eigener Befug-
niß den Bundesrath einberufen will, 20 Stimmen zu dem Ver-
langen auf Berufung ſich vereinigen.


3. Da der Reichstag und mithin auch der Bundesrath all-
jährlich berufen werden müſſen (R.-V. Art. 13), ſo unterſcheidet
man ordentliche und außerordentliche Sitzungsperioden des Bun-
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 18
[274]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
desrathes. Die erſteren ſind diejenigen, welche mit den ordent-
lichen Sitzungsperioden des Reichstages zuſammenfallen, unbeſcha-
det der Abweichung, daß ſie früher eröffnet und ſpäter geſchloſſen
werden können. Außerordentliche Seſſionen ſind alle übrigen
Fälle, in denen der Bundesrath berufen wird. Eine ſtaatsrecht-
liche Bedeutung hat die Unterſcheidung nicht. Zwiſchen den ver-
ſchiedenen Seſſionen des Bundesrathes beſteht das ſogen. Prinzip
der Kontinuität
; d. h. Angelegenheiten, welche in einer
Sitzungs-Periode nicht völlig erledigt ſind, werden in einer fol-
genden Sitzungs-Periode an dem Punkte, bis zu welchem ſie ge-
diehen ſind, fortgeführt. Es iſt nicht erforderlich, daß ſie den
geſchäftsordnungsmäßigen Weg der Behandlung nochmals von
Anfang an durchmachen.


II.Der Vorſitz im Bundesrathe und die Lei-
tung der Geſchäfte ſteht dem Reichskanzler zu, wel-
cher vom Kaiſer zu ernennen iſt
. R.-V. Art. 15 Abſ. 1.


1) Der Vorſitz im Bundesrathe iſt ein von der Prä-
ſidialſtellung des Königs von Preußen abgeleitetes Recht. Dem
Präſidium Preußens im Bunde entſpricht das Präſidium des
ſtimmführenden Bevollmächtigten Preußens im Bundesrathe. Die
Reichsverfaſſung giebt dieſem Verhältniß keinen unmittelbaren und
beſtimmten Ausdruck; denn ſie knüpft den Vorſitz im Bundes-
rathe nicht an die Eigenſchaft, Preußiſcher Bevollmächtigter zu
ſein, ſondern an die Eigenſchaft, Reichskanzler zu ſein. Sachlich
beſteht aber kein Unterſchied, da der Reichskanzler immer zugleich
Preußiſcher Bevollmächtigter zum Bundesrathe ſein muß; denn
der Kaiſer als ſolcher kann keine Bundesraths-Mitglieder ernen-
nen, ſondern nur der König von Preußen 1), der Reichskanzler
aber muß zu Folge Art. 15 Mitglied des Bundesrathes ſein und
zwar ein vom Kaiſer ernanntes, woraus ſich von ſelbſt ergiebt,
daß der Reichskanzler immer zu den vom Kaiſer als König von
Preußen ernannten Bevollmächtigten gehören muß, oder mit an-
deren Worten, daß der Reichskanzler immer zugleich auch der
(ſtimmführende) Bevollmächtigte des Preußiſchen Staates iſt 2).
In der alsbald zu erwähnenden Beſtimmung des Bayer. Schluß-
[275]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
protokolls über die Stellvertretung im Vorſitz hat das juriſtiſche
Weſen des Verhältniſſes einen concreten Ausdruck gefunden.


2) Der Reichskanzler kann ſich durch jedes andere Mitglied
des Bundesrathes vermöge ſchriftlicher Subſtitution vertreten
laſſen. R.-V. Art. 15 Abſ. 2.


Es iſt hierzu weder die Genehmigung des Kaiſers erforder-
lich, noch iſt eine beſtimmte Rangordnung unter den Staaten oder
unter den Bevollmächtigten, in Bezug auf das Vicepräſidium ver-
faſſungsmäßig vorgeſchrieben. Das Bayr. Schlußprotok. vom 23.
Nov. 1870 Ziff. IX. beſtimmt aber:
„Der Königl. preuß. Bevollmächtigte erkannte es als ein Recht
der Bayeriſchen Regierung an, daß ihr Vertreter im Falle
der Verhinderung Preußens den Vorſitz im Bundesrathe
führe.“


Hier iſt zuvörderſt ausgeſprochen, daß der Vorſitz im Bun-
desrathe nicht auf dem Amte des Reichskanzlers ruht, ſondern
ein Recht „Preußens“ iſt, ſo wie das Vicepräſidium ein Recht
Bayerns iſt. Demgemäß tritt der Anſpruch Bayerns auf den
ſtellvertretenden Vorſitz nicht ein im Falle der Verhinderung des
Reichskanzlers; ſondern im Falle der Verhinderung Preußens 1).
Der Reichskanzler kann daher einen anderen Preußiſchen Be-
vollmächtigten ſich ſubſtituiren, aber nicht mit Uebergehung Bayerns
den Bevollmächtigten eines anderen Staates.


Sodann aber ergiebt ſich, daß das Recht Bayerns lediglich
auf einer Zuſicherung Preußens beruht, welchen Gebrauch der
Reichskanzler als Preuß. Bevollmächtigter von ſeiner Subſtitutions-
befugniß machen werde, während der verfaſſungsrechtliche Grund-
ſatz ſelbſt, daß der Reichskanzler ſich durch jedes andere Mitglied
des Bundesrathes vertreten laſſen könne, unverändert fortbeſteht.
Demnach kann der Reichskanzler mit Uebergehung der übrigen
Preußiſchen Bevollmächtigten den Bayeriſchen ſich ſubſtituiren
und falls die Bayeriſchen Bevollmächtigten nicht anweſend oder
verhindert ſind, den Bevollmächtigten jedes anderen Staates.


18*
[276]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.

Endlich iſt feſtzuhalten, daß die Krone Bayern nicht das Vice-
präſidium des Bundes, ſondern der Bayeriſche Bevollmächtigte
den ſtellvertretenden Vorſitz im Bundesrathe zu beanſpru-
chen hat.


3) Die Leitung der Geſchäfte, welche nach dem Art. 15
der R.-V. dem Reichskanzler zuſteht, iſt in der Geſchäftsordnung
des Bundesrathes näher ſpezialiſirt. Demnach hat der Reichs-
kanzler die Sitzungen anzuberaumen und zu eröffnen 1). An ihn
gelangen die Mittheilungen des Reichstages, die Anträge der ein-
zelnen Bundesſtaaten und alle ſonſtigen an den Bundesrath gerich-
teten Eingaben 2). „Der Reichskanzler kann Eingaben, die un-
zweifelhaft nicht zum Geſchäftskreiſe des Bundesrathes gehören,
ſofort ſelbſt in geeigneter Weiſe erledigen und Beſchwerden, aus
denen nicht erhellt, daß der geſetzliche Inſtanzenzug erſchöpft iſt,
zur Zeit zurückweiſen“ 3).


Die in dieſer Weiſe nicht erledigten Angelegenheiten werden
vom Reichskanzler entweder auf die Tages-Ordnung der nächſten
Sitzung gebracht oder, wenn ſie ſich auf eine, bereits einem Aus-
ſchuß überwieſene Vorlage beziehen, dieſem Ausſchuß vorgelegt,
wovon dem Bundesrath in der nächſten Sitzung Anzeige gemacht
wird 4). Der Reichskanzler hat die zur Ausführung der Beſchlüſſe
des Bundesrathes erforderlichen Verfügungen zu treffen 5).


III. Ueber die Sitzungen des Bundesrathes und die Ord-
nung des Geſchäftsganges beſtehen folgende Regeln.


1) Die Bevollmächtigten werden ſchriftlich zu den Sitzungen
eingeladen. Die Einladungen werden vorbehaltlich ganz dringender
Fälle am Tage vor der Sitzung den Mitgliedern des Bundes-
rathes zugeſtellt 6).


2) Außer der Adreſſe und der Zeit der Sitzung ſind in der
Einladung, ſoweit als möglich, die Gegenſtände der Berathung
[277]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
anzugeben. Es iſt daher nicht ausgeſchloſſen, daß Gegenſtände zur
Berathung kommen, welche in der, in der Einladung enthaltenen
Tages-Ordnung nicht aufgeführt ſind. Ausgenommen iſt jedoch
die Wahl für einen Ausſchuß; ſie darf nur vorgenommen werden,
wenn ſie in der Einladung ausdrücklich angekündigt iſt 1).


3) Jeder Bevollmächtigte, welcher im Bundesrathe eine Stimme
führt, iſt befugt einen andern Bevollmächtigten ſich zu ſubſtituiren.
Dem Reichskanzler wird von jeder Subſtitution unverzüglich Mit-
theilung gemacht. Die Subſtitution bleibt, wenn der Bevollmäch-
tigte, welcher ſie ertheilt hat, ſtirbt, ſo lange in Kraft, bis der
Vollmachtgeber (Landesherr, Senat) des Verſtorbenen wegen Füh-
rung der Stimme eine andere Verfügung getroffen hat 2).


4) Die Eröffnung der Sitzung durch den Reichskanzler kann
erfolgen, ſobald die beſtimmte Stunde geſchlagen hat 3).


5) Die Ordnung der Sitze richtet ſich nach der Reihenfolge,
in welcher die Bundesſtaaten im Art. 6 der R.-V. aufgeführt ſind.
In derſelben Ordnung erfolgt die Abſtimmung. Wenn ein Be-
vollmächtigter die Stimmen mehrerer Bundesſtaaten führt, ſo hat
derſelbe ſie einzeln an der, jedem Staate zukommenden Stelle ab-
zugeben 4).


6) Den Anfang der Sitzung macht die Feſtſtellung des Pro-
tokolls der letzten Sitzung. Hierauf folgen die vom Reichskanzler
und den einzelnen Bevollmächtigten Namens ihrer Regierungen zu
machenden Mittheilungen und einzubringenden Anträge; ſodann
die Vornahme der weiter auf die Tagesordnung geſetzten oder
ſonſt, dem Antrage des Reichskanzlers gemäß zu verhandelnden
Gegenſtände und endlich findet Verabredung über die nächſte Sitzung
und vorläufige Anzeige der Gegenſtände ſtatt, welche darin vor-
kommen dürften 5).


7) Ueber jede Sitzung wird ein Protokoll aufgenommen.


Daſſelbe muß enthalten:


[278]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
  • a) die Namen der anweſenden Bevollmächtigten und des Pro-
    tokollführers
  • b) die Gegenſtände der Berathung
  • c) die geſtellten Anträge und
  • d) die gefaßten Beſchlüſſe 1).

Protokollführer iſt ein Beamter, welchen der Bundesrath auf
Vorſchlag des Reichskanzlers wählt. Wird der Vorſchlag des
Reichskanzlers vom Bundesrath nicht angenommen, ſo erfolgt ein
neuer Vorſchlag 2).


Ein Bericht, welcher die Gegenſtände der Verhandlung und
den weſentlichen Inhalt der Beſchlüſſe kurz zuſammenfaßt, wird
unmittelbar nach jeder Sitzung des Bundesrathes durch den Reichs-
Anzeiger zur allgemeinen Kenntniß gebracht 3).


Außerdem iſt eine, in größern Zeitabſchnitten erfolgende, für
die Oeffentlichkeit beſtimmte Ausgabe der Bundesraths-Verhandlun-
gen, welche den Inhalt der Protokolle und der Druckſachen, ſoweit
ſich dieſelben zur Veröffentlichung eignen, enthält, in Ausſicht ge-
nommen. Die Veranſtaltung dieſer Ausgabe ſoll durch das Reichs-
kanzleramt im Einvernehmen mit dem Ausſchuſſe für die Geſchäfts-
ordnung erfolgen.


Nicht für die Oeffentlichkeit beſtimmte Abdrücke der Protokolle,
werden für den Gebrauch der Reichs- und Landesbehörden angefer-
tigt. Sie ſind in Paragraphen abgetheilt, welche immer durch ein
Jahr fortlaufende Nummern haben. Sie führen den Titel:


Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrathes
des Deutſchen Reiches. Seſſion . . . . Berlin. Geh. Ober-Hof-
buchdruckerei. Fol.


Dazu gehört eine Sammlung der Anträge, Motive, Berichte,
und anderen Anlagen, welche in derſelben Ausſtattung wie die
Protokolle erſcheint unter dem Titel:


Druckſachen zu den Verhandlungen des Bundesrathes des
Deutſchen Reiches. Seſſion . . . . Berlin. Geh. Ober.-Hofbuch-
druckerei. Fol.


Die auf Elſaß-Lothringen bezüglichen Verhandlungen werden
[279]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
beſonders geſammelt und gedruckt mit beſonderer Zählung der
Bundesraths-Sitzungen und der Paragraphen der Protokolle.


8) Der Beſchlußnahme des Bundesrathes unterliegt zunächſt
die geſchäftliche Behandlung des Gegenſtandes. Dieſelbe kann in
dreifacher Art erfolgen 1):


  • a) der Bundesrath entſcheidet ſich dafür, über die Sache ſelbſt
    ſofort oder nach einer zu beſtimmenden Friſt zu berathen
    und zu beſchließen.
  • b) Der Bundesrath verweiſt die Angelegenheit an einen der
    ſtändigen Ausſchüſſe. In dieſem Falle kann der Bundes-
    rath gleichzeitig die Form, in welcher der Ausſchuß Bericht
    zu erſtatten hat, bezeichnen 2).
  • c) Der Bundesrath beſchließt, die Angelegenheit einem beſon-
    ders zu wählenden (außerordentlichen) Ausſchuß zu über-
    weiſen. Alsdann iſt gleichzeitig darüber Beſchluß zu faſſen,
    aus wie vielen Mitgliedern dieſer Ausſchuß beſtehen ſoll.

Wenn wegen Mangels an Inſtruktion die Ausſetzung einer
Abſtimmung beantragt wird, ſo entſcheidet der Bundesrath über
dieſen Antrag, eventuell über den Tag, an welchem die ausgeſetzte
Abſtimmung erfolgen ſoll.


IV. Ueber die Beſchlußfaſſung des Bundesrathes gilt
im Allgemeinen die Regel 3), daß dieſelbe mit einfacher Mehr-
heit
erfolgt und daß bei der Stimmengleichheit die Präſidial-
ſtimme entſcheidet, d. h. daß dasjenige Votum zum Beſchluß er-
hoben iſt,[] für welches die 17 Stimmen Preußens ſich erklärt
haben 4).


Bei der Berechnung der Majorität kommen nur die wirklich
abgegebenen
Stimmen in Betracht. Es werden daher nicht
[280]§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
gezählt die Stimmen der Staaten, welche im einzelnen Falle nicht
ſtimmberechtigt ſind, wenn über eine Angelegenheit zu beſchließen
iſt, welche nach den Beſtimmungen der Verfaſſung nicht dem ganzen
Reiche gemeinſchaftlich iſt, und ferner diejenigen Stimmen, welche
nicht vertreten oder nicht inſtruirt ſind.


Von dem Grundſatz, daß die einfache Stimmenmehrheit ent-
ſcheidet, gibt es aber zwei Ausnahmen1):


1) Veränderungen der Verfaſſung ſind abgelehnt,
wenn ſie 14 Stimmen gegen ſich haben. Art. 78 Abſ. 1. Die
Vorfrage, ob der Geſetzesvorſchlag eine Veränderung der Verfaſ-
ſung enthält oder nicht, wird durch dieſe Vorſchrift nicht berührt;
denn dieſe Vorfrage betrifft nicht eine Abänderung, ſondern eine
Auslegung der Verfaſſung. Sie wird daher durch einfache Mehr-
heit entſchieden 2).


2) In einer Anzahl von Fällen genügt die Mehrheit der
Stimmen nur dann zur Faſſung eines Beſchluſſes, wenn in dieſer
Mehrheit die Präſidialſtimme, d. h. die Stimme Preußens ent-
halten iſt. In dieſen Fällen beſteht nicht, wie man gewöhnlich
ſagt 3), ein Veto des Kaiſers gegenüber einem Bundesrathsbeſchluß;
ſondern es liegt die Annahme eines Vorſchlages von Seiten des
Bundesrathes überhaupt nicht vor 4). Trotzdem ſich die Mehrheit für
den Vorſchlag erklärt hat, iſt der Vorſchlag von dem Bundesrath
verworfen worden, weil die Annahme deſſelben an die zweifache
Vorausſetzung gebunden iſt, daß die Mehrheit der Stimmen ſich
dafür erklärt und daß in dieſer Mehrheit die Preußiſchen Stimmen
enthalten ſind 5). Dieſes zweifache Erforderniß iſt durch die Ver-
faſſung aufgeſtellt in folgenden Fällen 6):


[281]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.

a) bei Beſchlüſſen über Geſetzes-Vorſchläge, welche
Aenderungen in den beſtehenden Einrichtungen des Militärweſens
und der Kriegsmarine herbeiführen 1).


b) bei Beſchlüſſen über Geſetzes-Vorſchläge, welche
Aenderungen in dem Zollweſen, oder in der Beſteuerung des im
Bundesgebiete gewonnenen Salzes und Tabaks, bereiteten Brannt-
weins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländiſchen Er-
zeugniſſen dargeſtellten Zuckers und Syrups herbeiführen 2).


c) bei Beſchlüſſen über die Abänderung von Verwal-
tungs-Vorſchriften und Einrichtungen
, welche zur Aus-
führung der unter b aufgeführten Zoll- und Steuergeſetze ſowie
derjenigen Reichsgeſetze beſtehen, welche den gegenſeitigen Schutz
der in den einzelnen Bundesſtaaten erhobenen Verbrauchsabgaben
gegen Hinterziehungen oder die in den Zollausſchlüſſen zur Siche-
rung der gemeinſammen Zollgrenze erforderlichen Maaßregeln be-
treffen 3).


d) Endlich kann man noch hierher rechnen die Beſchlußfaſſung
über die Auflöſung des Reichstages während der Dauer
der Legislatur-Periode 4). Die Geſchäfts-Ordn. des Bundesrathes
Art. 3. Ziff. 3. ſtellt dieſen Fall hierher 5); die Reichsverfaſſung
führt ihn im Art. 5 nicht auf. Im praktiſchen Erfolge iſt dies
gleichgültig; für die theoretiſche Betrachtung beſteht aber allerdings
der Unterſchied, daß zu der Auflöſung des Reichstages die Zu-
ſtimmung des Kaiſers als eines vom Bundesrath verſchie-
denen
, ſelbſtſtändigen Organs des Reiches erforderlich iſt, bei
der Beſchlußfaſſung über die in Art. 5. 35 und 37 aufgeführten
Gegenſtände die Stimme des Präſidiums d. h. die Stimme Preußens
im Bundesrathe den Ausſchlag gibt, wenn ſie ſich für die
Aufrechthaltung der beſtehenden Einrichtungen ausſpricht.


§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.


I. Die Bundesraths-Ausſchüſſe ſind Kommiſſionen des Bun-
desrathes zur Vorbereitung der Bundesrathsbeſchlüſſe. Der Regel
[282]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.
nach ſind die Ausſchüſſe nicht competent, Angelegenheiten definitiv
zu erledigen oder Adminiſtrativ-Verordnungen zu erlaſſen, ſondern
ihre Hauptaufgabe beſteht in der Bericht-Erſtattung an das Ple-
num; ausnahmsweiſe iſt aber einzelnen Ausſchüſſen die ſelbſtſtän-
dige Erledigung gewiſſer Sachen übertragen.


Wenn der Vergleich des Bundesrathes mit einem Reichs-
Miniſterium oben S. 233 als gänzlich unpaſſend bezeichnet werden
mußte, ſo iſt die Charakteriſirung der Bundesraths-Ausſchüſſe, als
verſähen dieſelben Funktionen von Miniſterien 1), noch um Vieles
irriger und ungerechtfertigter, obwohl ſie durch eine gelegentliche
Bemerkung des Fürſten Bismarck in der Sitzung des Reichstages
v. 16. April 1869 ſcheinbar beſtätigt wird. Denn ſie ſind keine
Behörden, am wenigſten ſolche, denen die Oberleitung der laufen-
den Verwaltung obliegt. — Die Ausſchüſſe ſtehen vielmehr im All-
gemeinen zu dem Bundesrath in einem ähnlichen Verhältniß wie
die Kommiſſionen des Reichstages zu dem Plenum deſſelben 2).


Die Ausſchüſſe werden entweder für eine einzelne Angelegen-
heit beſonders niedergeſetzt und heißen alsdann außerordent-
[283]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.
liche1), oder ſie beſtehen für gewiſſe Kategorien von Geſchäften
als dauernde, ſtändige, ordentliche 2). Unter den letzteren iſt
der Ausſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten durchaus
anomal und eigenthümlich, da derſelbe wie bereits oben ausge-
führt worden iſt, lediglich zur Information der Bundesregierungen
über den Stand der auswärtigen Politik dient. Wenn von die-
ſem Ausſchuß hier zunächſt abgeſehen wird, ſo laſſen ſich über die
dauernden Ausſchüſſe folgende allgemeine Rechtsſätze auf-
ſtellen.


1) Die Ausſchüſſe werden gebildet „aus der Mitte“ des Bun-
desrathes 3) d. h. es kann Niemand Mitglied eines Ausſchuſſes
ſein, welcher nicht Bevollmächtigter zum Bundesrath iſt.


2) Die Zuſammenſetzung der Ausſchüſſe erfolgt bei Beginn
jeder Seſſion des Bundesrathes; beziehentlich alljährlich, wenn
außerordentliche Bundesraths-Sitzungen nicht ſtattfinden. Nach der
Geſch.-Ordn. des Bundesraths §. 17 erfolgt die Erneuerung der
Ausſchüſſe nur bei dem Beginn jeder ordentlichen Seſſion des
Bundesrathes, alſo von Jahr zu Jahr. Die ausſcheidenden Mit-
glieder ſind wieder wählbar 4).


3) In jedem dauernden Ausſchuſſe müſſen mindeſtens 5 Staaten
vertreten ſein und unter dieſen muß ſich „das Präſidium“ oder
richtiger ausgedrückt Preußen befinden. Nach einem Bundes-
rathsbeſchluß von 1871 5) und der Geſchäftsordnung des B.-R.
§. 16 iſt die Zahl von 5 Mitgliedern aber nur für den Ausſchuß
für das Seeweſen beibehalten worden; alle übrigen Ausſchüſſe
[284]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.
beſtehen aus 7 Mitgliedern 1). Neben den Mitgliedern können
auch Stellvertreter ernannt werden.


4) Innerhalb der Ausſchüſſe führt jeder Staat nur Eine
Stimme. R.-V. Art. 8. Wenn jedoch mehrere Ausſchüſſe zu ge-
meinſchaftlicher Berathung zuſammentreten, ſo hat jedes Mitglied
eine Stimme 2).


5) Die Zuſammenſetzung der Ausſchüſſe erfolgt durch Wahl
des Bundesrathes, abgeſehen von den Ausſchüſſen für das Land-
heer und die Feſtungen und für das Seeweſen, für welche beſon-
dere Regeln gelten. Der Art. 8 der R.-V. ſagt: „die Mitglieder
der anderen Ausſchüſſe werden von dem Bundesrathe gewählt.“
Da unter „Mitgliedern des Ausſchuſſes“ unmöglich „Mitglieder
des Bundes“ verſtanden werden können, ſondern diejenigen Bun-
desraths-Bevollmächtigten, welche den Ausſchuß bilden ſollen, ſo
ergiebt ſich nach dem Wortlaute der Verf., daß der Bundesrath
diejenigen Perſonen zu wählen hat, welche den Ausſchuß bilden
ſollen, wobei er nur die Vorſchrift beachten muß, daß in jedem
Ausſchuß Preußen und noch mindeſtens 4 andere Staaten ver-
treten ſind. Wenn demnach ein Staat mehrere Bundesraths-Be-
vollmächtigte ernannt hat, ſo iſt nach dem Wortlaut des Art. 8.
durch die Wahl des Bundesrathes zu beſtimmen, welcher von die-
ſen Bevollmächtigten in einen gewiſſen Ausſchuß eintreten ſolle.


In der Geſchäfts-Ordnung des Bundesrathes iſt das Verfahren
aber abgeändert worden. Es iſt der Grundſatz daſelbſt anerkannt,
daß die in einem Ausſchuſſe vertretenen Staaten die Mitglieder
des Ausſchuſſes aus ihren Bevollmächtigten oder den für die letz-
teren ernannten Stellvertretern ernennen 3). Daraus ergiebt ſich,
daß in Beziehung auf die preußiſchen Bevollmächtigten jede Wahl
des Bundesrathes ganz wegfällt; der König von Preußen (das
Präſidium) ernennt aus den preuß. Bevollmächtigten für jeden
Ausſchuß ſeinen Vertreter. Daſſelbe gilt von Bayern hinſichtlich
ſeines Vertreters in dem Ausſchuſſe für das Landheer und die
Feſtungen. In Betreff der übrigen Mitglieder findet die Wahl
des Bundesrathes in der Art ſtatt, daß ſie auf die Bundesſtaaten
[285]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.
gerichtet iſt, welche bei dem Ausſchuſſe durch Mitglieder oder Stell-
vertreter betheiligt ſein ſollen 1).


Die Wahl erfolgt durch geheime Abſtimmung. Es iſt für
die Wahlen keine Ausnahme gemacht hinſichtlich der Anzahl der
Stimmen, welche jeder Staat im Bundesrathe führt; ebenſo-
wenig hinſichtlich des Verfaſſungs-Grundſatzes, daß dieſe Stimmen
nur einheitlich abgegeben werden können. Da nun bei einer
geheimen Ahſtimmung dies nicht zu conſtatiren wäre, wenn jeder
Bevollmächtigte eines mit mehreren Stimmen ausgeſtatteten Staates
an der Wahl Theil nehmen würde, ſo folgt, daß für diejenigen
Staaten, welche mehrere Stimmen haben, nur der „ſtimmführende“
Bevollmächtigte Stimmzettel abzugeben hat, und zwar ſo viele,
als dem Staate Simmen zukommen 2).


Für die Wahl gilt principiell das Erforderniß der abſoluten
Stimmen-Mehrheit; ergiebt ſich dieſelbe bei der erſten Abſtimmung
nicht, ſo findet eine zweite Wahl ſtatt, bei welcher die relative
Stimmen-Mehrheit und im Falle der Stimmengleichheit, ſoweit
nöthig, das Loos entſcheidet 3).


6) Den Vorſitz in den dauernden Ausſchüſſen (immer den
achten ausgenommen) führt der Bevollmächtigte Preußens 4). Die
Mitglieder der Ausſchüſſe verſammeln ſich auf Einladung des Vor-
ſitzenden zur Erledigung ihrer Geſchäfte am Sitze des Bundesrathes 5).
Die Wahl der Referenten erfolgt auf Vorſchlag des Vorſitzenden
mittelſt Vereinbarung, oder in Ermangelung einer ſolchen durch
Abſtimmung des Ausſchuſſes 6).


7) Die Geſchäfte der Ausſchüſſe beſtehen hauptſächlich in der
Abfaſſung der Berichte an den Bundesrath. Ob der Bericht münd-
lich oder ſchriftlich erſtattet werden ſoll, iſt von dem Ausſchuſſe
ſelbſt zu beſtimmen, ſofern nicht der Bundesrath bei Ueberweiſung
[286]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.
der Sache die Form der Berichterſtattung bereits vorgeſchrieben
hatte 1).


Den Ausſchüſſen werden die zu ihren Arbeiten nöthigen Be-
amten zur Verfügung geſtellt 2). Auch ſind die Mitglieder des
Ausſchuſſes befugt, bei den Berathungen deſſelben ſich der Hülfe
geeigneter Beamten, (Regierungs-Kommiſſare, Dezernenten der
Miniſterien, und anderer Sachverſtändigen) zu bedienen; die letz-
teren dürfen aber nicht ſelbſtſtändig die Stimme ihres Staates
führen, ſondern haben nur die Aufgabe, Auskunft zu ertheilen.
Solche, von den Ausſchuß-Mitgliedern zu ihrer Hülfe zugezogene
Beamte, ſowie ſtellvertretende Bevollmächtigte, können auch Theil
nehmen an den Berathungen des Bundesrathes über diejenigen
Gegenſtände, bei deren Berathung im Ausſchuſſe ſie mitgewirkt
haben 3).


Die definitive Erledigung durch den Ausſchuß ſelbſt iſt, ab-
geſehen von den durch Reichsgeſetze einem Ausſchuß zugewieſenen
Geſchäften, der Regel nach ausgeſchloſſen. Es gilt dies ausnahms-
los hinſichtlich der Beſchlüſſe des Reichstages und der Anträge
einer Bundesregierung. Nur „Eingaben“ an den Bundesrath,
die nach Inhalt und Form zum Vortrag im Plenum nicht geeignet
erſcheinen, kann der Ausſchuß einfach zu den Akten geben 4).


8) Die dauernden Ausſchüſſe können auch dann in Thätigkeit
treten, wenn der Bundesrath nicht verſammelt iſt, alſo in der
Zwiſchenzeit zwiſchen den Seſſionen des Bundesrathes 5). Die Aus-
ſchuß-Mitglieder werden alsdann von dem Vorſitzenden des Aus-
ſchuſſes nach Berlin einberufen. Wenn in der Zwiſchenzeit von
dem Ausſchuß ſchriftliche Berichte feſtgeſtellt werden, ſo bleiben
dieſelben nicht bis zur Eröffnung der Bundesrathsſitzung liegen,
ſondern ſie werden ſofort gedruckt und vertheilt 6).


II. Neben dieſen allgemeinen Regeln gelten für die einzelnen
dauernden Ausſchüſſe noch folgende, beſondere Vorſchriften:


[287]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.

1. Der Ausſchuß für das Landheer und die Fe-
ſtungen
. (7 Mitglieder.)


Ein Mitglied deſſelben ernennt Bayern, die übrigen der
Kaiſer 1). Durch die Württembergiſche Militär-Konvention Art. 15
Abſ. 2 und durch die Sächſiſche Militär-Konvention Art. 2 iſt den
beiden Königreichen die Zuſicherung ertheilt worden, „jederzeit in
dem Ausſchuſſe vertreten zu ſein.“ Das Ernennungsrecht
hat daher der Kaiſer auch hinſichtlich des Württembergiſchen und
Sächſiſchen Mitgliedes 2), nur die Ausübung dieſes Rechtes iſt
beſchränkt. Thatſächlich erfolgt jedoch dieſe Ausübung in der Art,
daß der Kaiſer die Staaten bezeichnet, dieſen die Ernennung der
Bevollmächtigten überlaſſend 3). Die Selbſtſtändigkeit der Militär-
Verwaltung des Württembergiſchen und Sächſiſchen Armeecorps
würde übrigens auch ohne beſondere Zuſicherung eine Vertretung
dieſer beiden Staaten in dem Ausſchuſſe als geboten erſcheinen
laſſen.


Neben der Bericht-Erſtattung an den Bundesrath in allen,
das Militärweſen und die Feſtungen angehenden Angelegenheiten
liegt dieſem Ausſchuß die Vermittelung der laufenden dienſtlichen
Beziehungen zwiſchen der Königl. Preußiſchen Militär-Verwaltung
und den Bundesſtaaten mit ſelbſtſtändiger Militär-Verwaltung ob 4).


[288]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.

Die durch das Geſ. v. 2. Mai 1874 §. 9 dieſem Ausſchuß
zugewieſene Beſchlußfaſſung über Abweichungen von dem geſetzlichen
Maßſtabe der Vertheilung des Rekrutenbedarfs, ſowie die ihm in
Gemeinſchaft mit dem vierten Ausſchuß zuſtehende Entſcheidung
über die Erweiterung von Feſtungs-Thoren ꝛc. nach dem Geſ. v.
30. Mai 1873 Art. IV ſind bereits oben erwähnt worden.


2. Der Ausſchuß für das Seeweſen. (5 Mit-
glieder.)


Die Mitglieder deſſelben werden vom Kaiſer ernannt 1) und
zwar ebenfalls in der Art, daß der Kaiſer die Staaten be-
zeichnet, welche in dieſem Ausſchuß vertreten ſein ſollen 2). Zu
den Geſchäften, welche dieſem Ausſchuſſe obliegen gehört nach §. 9
des Geſ. vom 9. Nov. 1867 die Vertheilung der für die Kriegs-
marine erforderlichen Rekruten auf die einzelnen Bundesſtaaten.


Der Ausdruck „für das Seeweſen“ läßt eine Mißdeutung zu,
indem er auch die Handelsmarine mit umfaßt. Es iſt aber zwei-
fellos, daß dieſer Ausſchuß für die Kriegs-Marine beſtimmt iſt,
was ſchon daraus ſich ergiebt, daß nach der Terminologie der
Nordd. Bundesverfaſſung ſeine Mitglieder von dem „Bundesfeld-
herrn“ ernannt werden. Die Angelegenheiten der Handesmarine
gehören im Allgemeinen zu dem Geſchäftskreis des vierten Aus-
ſchuſſes, was nicht ausſchließt, daß bei den zahlreichen Berührungs-
punkten zwiſchen der Kriegs- und Handels-Marine beide Ausſchüſſe
vereinigt berathen 3).


3. Der Ausſchuß für Zoll- und Steuerweſen.
(7 Mitglieder, 1 Stellvertreter.)


Dieſem Ausſchuß iſt durch die Reichsverf. Art. 36 eine Mit-
wirkung bei der Ernennung der Reichsbeamten zur Controlle der
Zoll- und Steuerverwaltung zugewieſen. Im Zuſammenhange
damit ſteht die Beſtimmung der Geſch.-Ordn. §. 21 Abſ. 1, daß
der Ausſchuß von dem Reichskanzler in fortlaufender Kenntniß
von den Berichten dieſer Reichsbeamten gehalten und über die
Aenderungen in dem Perſonal dieſer Beamten vernommen wird.


Der Ausſchuß hat aber eine noch weiterreichende Kompetenz.
[289]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.
Es iſt oben näher dargelegt worden, welche Stellung der Bundes-
rath nach Art. 36 Abſ. 3 bei der Verwaltung der Zölle und Ver-
brauchsſteuern einnimmt. Die Wahrnehmung dieſer Funktion iſt,
wenn der Bundesrath nicht verſammelt iſt, in dringenden Fällen
dem dritten Ausſchuß im Einvernehmen mit dem vierten unter
Vorbehalt der Genehmigung des Plenums übertragen. Die Geſch.-
Ordn. §. 21 Abſ. 2 beſtimmt: „Er (der dritte Ausſchuß) iſt, wenn
der Bundesrath nicht verſammelt iſt, befugt, über die zur Aus-
führung der im Art. 35 der Bundesverf. bezeichneten Geſetze die-
nenden Verwaltungs-Vorſchriften und Einrichtungen in dringlichen
Fällen und nach Einvernehmen mit dem Ausſchuß für Handel
und Verkehr Beſchluß zu faſſen. Er hat ſolche Beſchlüſſe dem
Bundesrathe bei deſſen nächſtem Zuſammentreten zur nachträglichen
Genehmigung vorzulegen.“


4. Der Ausſchuß für Handel und Verkehr. (7 Mit-
glieder 1 Stellvertreter.)


Das Zuſammenwirken dieſes Ausſchuſſes mit dem erſten,
zweiten und dritten hat bereits Erwähnung gefunden; ebenſo oben
S. 265 ſeine Theilnahme an der Abgränzung der Jurisdictions-
Bezirke der Konſuln. Nach Art. 56 Abſ. 1 der R.-V. ſtellt der
Kaiſer die Konſuln nach Vernehmung dieſes Ausſchuſſes an 1).


5. Der Ausſchuß für Eiſenbahnen, Poſt und
Telegraphen
. (7 Mitglieder.)


Wenn auf Grund des Art. 46 der R.-V. bei eintretenden
Nothſtänden der Kaiſer einen niedrigeren Spezialtarif für den
Eiſenbahn-Transport von Lebensmitteln anordnet, ſo iſt der Tarif
auf Vorſchlag dieſes Ausſchuſſes feſtzuſtellen 2).


6. Der Ausſchuß für Juſtizweſen. (7 Mitglieder,
1 Stellvertreter.)


7. Der Ausſchuß für Rechnungsweſen. (7 Mit-
glieder, 1 Stellvertreter.)


Dieſem Ausſchuß liegt in Bezug auf das Finanzweſen des
Reiches eine ſehr bedeutende Thätigkeit ob.


Die Reichsverfaſſung ſelbſt hat im Art. 39 ihm eine Controle
hinſichtlich der finanziellen Reſultate der Zoll- und Steuerverwal-
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 19
[290]§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.
tung zugewieſen, indem die Quartal- und Jahres-Abſchlüſſe in
überſichtlichen Zuſammenſtellungen von den Directivbehörden der
Bundesſtaaten ihm einzuſenden ſind, worauf er von drei zu drei
Monaten den von der Kaſſe jedes Bundesſtaates der Reichskaſſe
ſchuldigen Betrag vorläufig feſtſetzt, von dieſer Feſtſtellung den
Bundesrath (durch Vermittelung des Reichskanzlers) 1) und die
Bundesſtaaten in Kenntniß ſetzt und dem Bundesrathe Bericht
abſtattet. In dieſer Beziehung iſt der Ausſchuß an die Stelle
des ehemaligen Centralbureaus des Zollvereins getreten. Art. 39
der R.-V. zeigt durch ſeine ganze Faſſung ſeinen Urſprung aus
dem Art. 29 des Zollvereins-Vertrages v. 16. Mai 1865.


Ueberdies aber iſt dieſer Ausſchuß gewiſſermaßen die Budget-
Kommiſſion
des Bundesrathes. Sowohl der Entwurf des Reichs-
haushalts-Etats als auch die Jahresrechnung über die Verwendung
der Einnahmen des Reiches werden ihm vom Reichskanzler vor-
gelegt, von ihm geprüft und zur Beſchlußnahme des Bundesrathes
vorbereitet 2). Bei der Prüfung des Etats-Entwurfes haben aber
die bei den einzelnen Etatstiteln betheiligten anderen Ausſchüſſe
mitzuwirken; der 7. Ausſchuß vertritt den Bedürfniſſen der Ver-
waltungszweige gegenüber im Allgemeinen die ſpezifiſch finanziellen
Geſichtspunkte.


Damit im Zuſammenhange ſteht die Aufgabe dieſes Aus-
ſchuſſes, ſich von dem Kaſſen- und Rechnungsweſen des Reiches in
Kenntniß zu erhalten 3).


Ferner ſind die 3 aus der Mitte des Bundesrathes zu ent-
nehmenden Mitglieder der Bundesſchulden-Kommiſſion der jedes-
malige Vorſitzende und zwei Mitglieder dieſes Ausſchuſſes 4).


8. Der Ausſchuß für die auswärtigen Angele-
genheiten
.


Bei dieſem allein iſt die Anzahl der Mitglieder durch die
Verfaſſung Art. 8 Abſ. 3 feſtbeſtimmt; er beſteht aus den Bevoll-
mächtigten Bayerns, Sachſens und Württembergs und zweier vom
Bundesrath zu wählenden Staaten. In dieſer Art wenigſtens
wird nach der Geſch.-Ordn. die Vorſchrift der Verf., daß die Be-
[291]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
vollmächtigten zu wählen ſind, ausgeführt. In Bezug auf die
Zuſammenſetzung unterſcheidet ſich dieſer Ausſchuß von den übrigen
ferner dadurch, daß die Verfaſſung ſelbſt die Wahl der beiden
Mitglieder alljährlich, nicht bei jeder Seſſion des Bundesrathes
in Ausſicht nimmt 1). Ueber die ihm zugewieſenen Funktionen ſiehe
S. 249.


9. Der Ausſchuß für Elſaß-Lothringen. (7 Mit-
glieder, 2 Stellvertreter.)


Die Einrichtung dieſes Ausſchuſſes beruht auf einem Bundes-
raths-Beſchluß vom 27. Mai 1871 2). Die Thätigkeit, welche dem-
ſelben obliegt, iſt eine ſehr vielſeitige, da dem Reichslande gegen-
über der Bundesrath bei weitem umfaſſendere Regierungs-Funk-
tionen wahrzunehmen hat, wie gegenüber den Bundesſtaaten 3).
Der Ausſchuß für Elſaß-Lothringen unterſcheidet ſich von allen
übrigen Bundesraths-Ausſchüſſen dadurch ganz ſpezifiſch, daß er
nicht für ein ſachlich abgegrenztes Reſſort, ſondern für ein räum-
lich begränztes Gebiet beſtellt iſt. Alle Zweige der ſtaatlichen
Ordnung und der Verwaltung können den Gegenſtand ſeiner Be-
rathung und Beſchlußfaſſung bilden. Aus dieſem Grunde aber
kömmt es grade bei dieſem Ausſchuß beſonders häufig vor, daß
er mit einem der übrigen Ausſchüſſe, zu deren Reſſort die betref-
fende Angelegenheit in ſachlicher Beziehung gehört, vereinigt beräth
und beſchließt.


Dritter Abſchnitt.
Die Reichsbehörden und Reichsbeamten.


A.Die Reichsbehörden4).


§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.

I. Dem bundesſtaatlichen Charakter des Reiches und dem oben
dargelegten Verhältniß der Einzelſtaaten zum Reich entſprechend,
19*
[292]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
iſt im Allgemeinen die Durchführung der ſtaatlichen Aufgaben und
die Beſorgung der einzelnen ſtaatlichen Geſchäfte der Selbſt-
verwaltung der Einzelſtaaten
überlaſſen, das Reich da-
gegen auf die Aufſtellung der Normen für dieſe Verwaltung und
auf ihre Kontrole beſchränkt. Daraus ergiebt ſich, daß das Reich
einen viel geringeren Apparat von Behörden und Aemtern bedarf,
als Einzelſtaaten von ähnlicher Größe ihn bei dem heutigen Um-
fange und der Vielgeſtaltigkeit der ſtaatlichen Geſchäfte nöthig
haben; daß man aber andererſeits einen ſehr großen Theil der
Behörden und Beamten der Einzelſtaaten in demſelben Sinne als
mittelbare Reichsbehörden und Reichsbeamte bezeichnen kann,
wie man die Behörden und Beamten der Gemeinden, der Kreiſe
oder anderer Selbſtverwaltungs-Körper innerhalb der Einzelſtaaten
mittelbare Staatsbehörden und Staatsbeamte nennt. Sowie der
„Deutſche Staat“ im vollen Sinne des Wortes und im vollen
Umfange ſeiner Aufgaben nur durch Reich und Einzelſtaat zu-
ſammen verwirklicht wird (ſiehe oben S. 83 fg.), ſo werden auch
die zur Durchführung dieſer Aufgaben dienenden Geſchäfte nur
durch das Zuſammenwirken von Reichs- und Landesbehörden er-
ledigt und die letzteren bilden einen ſehr großen Beſtandtheil des
kunſtvollen Apparates von Behörden, mittelſt deſſen das Reich
ſeine Lebensfunktionen ausübt. Aber grade ſo wie es für die
ſtaatsrechtliche Beſtimmung des Verhältniſſes von Reich und Ein-
zelſtaat weſentlich iſt, beide in ihrem Gegenſatz zu einander auf-
zufaſſen, als von einander unabhängige Subjecte verſchiedener
Hoheitsrechte, ſo iſt es auch für die Darſtellung der Behörden-
Organiſation geboten, die Reichsbehörden im Gegenſatz zu den
Landesbehörden zu nehmen und nur diejenigen Aemter darunter
zu verſtehen, welche unmittelbar dem Reiche angehören und
diejenigen ſtaatlichen Geſchäfte des Reiches erledigen, welche nicht
der Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten übertragen oder überlaſ-
ſen ſind.


Der Kreis der dem Reiche obliegenden ſtaatlichen Geſchäfte
hat ſich ſeit der Gründung des Norddeutſchen Bundes fortwährend
vermehrt und demgemäß iſt die Zahl der zu ihrer Erledigung be-
ſtimmten Aemter von Jahr zu Jahr gewachſen.


Nach der Verfaſſung, wie ſie bei Gründung des Norddeutſchen
Bundes feſtgeſtellt wurde, ſtand dem Reiche außer der Aufſicht
[293]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
über die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten eine eigene Verwaltung
nur zu hinſichtlich der Poſt- und Telegraphie, und auf Grund der
Art. 11 und 56 die Möglichkeit, eine eigene Verwaltung der aus-
wärtigen Angelegenheiten und des Konſulatsweſens einzurichten.
Mit der Ausübung der dem Reiche zuſtehenden Geſetzgebungsbe-
fugniß, mit der Ausdehnung der Reichsfinanzwirthſchaft, mit dem
Erwerb von Elſaß-Lothringen, mit der Herſtellung einheitlicher
Einrichtungen haben ſich auch zahlreiche laufende Geſchäfte, die
das Reich unmittelbar beſorgen muß, herausgebildet und in Folge
davon hat ſich der Behörden-Organismus des Reiches mehr und
mehr verzweigt. Zu einem prinzipiellen Abſchluß iſt dieſe Ent-
wicklung noch nicht gelangt; ſie trägt, wie alles Hiſtoriſch-Entſtan-
dene den Charakter des Zufälligen, des Willkührlichen und Ver-
änderlichen.


II. Ein Staatsamt iſt ein durch das öffentliche Recht be-
gränzter Kreis von ſtaatlichen Geſchäften 1). Ein Staatsamt iſt
niemals ein Rechtsſubject und hat niemals Befugniſſe irgend
welcher Art; es iſt vielmehr ſtets eine objective Inſtitution, ein
Inbegriff von Geſchäften. Da aber ſtaatliche Geſchäfte
nur durchgeführt werden können durch Ausübung der dem Staate
zuſtehenden Hoheitsrechte 2), ſo enthält der Auftrag zur Führung
ſtaatlicher Geſchäfte zugleich immer auch eine Delegation derjenigen
Hoheitsrechte des Staates, welche zur Führung der Geſchäfte er-
forderlich ſind. Wer daher ein obrigkeitliches Staatsamt führt,
[294]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
der übt immer zugleich die Staatsgewalt aus; aber nicht als ein
ſubjectives, ihm perſönlich zuſtehendes Recht, ſondern lediglich als
Correlat der ihm obliegenden Geſchäfte. Die Delegation der
Staatsgewalt oder einzelner, in derſelben enthaltenen Machtbefug-
niſſe kann niemals getrennt gedacht werden von der Pflicht, die-
jenigen Geſchäfte zu führen, welche den Wirkungskreis eines Amtes
bilden. Es gehört demnach zu einem Amte nicht nur ein Kreis
von ſtaatlichen Geſchäften, ſondern auch ein entſprechender Kreis
von öffentlich-rechtlichen Befugniſſen (Hoheitsrechten), eine Amts-
gewalt. Man kann deshalb das Amt ſelbſt perſonifiziren und als
das dauernde Subject von ſtaatlichen Hoheitsrechten und ſtaatlichen
Pflichten ſich denken, im Gegenſatz zu dem Beamten, dem das Amt
zeitweilig übertragen iſt. In dieſem Sinne nennt man das Amt
eine Behörde. Auch der Ausdruck Behörde bedeutet nicht eine
Perſon (Beamten), ſondern eine Inſtitution; aber im Gegenſatz
zum Amt nicht einen Kreis von Geſchäften, ſondern das ideelle
Subject derjenigen Rechte und Pflichten, welche mit der Führung
der, zu einem Amte geeinigten Geſchäfte verknüpft ſind.


Allein auch die Behörde iſt niemals ſelbſtſtändig berechtig-
tes Subject, ſondern nur der Staat ſelbſt iſt das wirkliche Rechtsſub-
ject aller Hoheitsrechte. Die Staatsgewalt iſt nicht getheilt
unter die Behörden, ſo daß jeder der letzteren ein, ihrer Kompe-
tenz entſprechender Antheil an der Staatsgewalt zuſtünde, ſondern
die Behörden ſind nur Apparate des Staates, mittelſt deren er
ſeine Staatsgewalt ausübt. Das Verhältniß der Behörden zum
Staat iſt auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts genau daſſelbe
wie das Verhältniß der einzelnen Staatskaſſen (ſogen. fiskaliſchen
Stationen) zum Fiskus auf dem Gebiet des Privatrechts. Daß
man die einzelnen fiskaliſchen Stationen äußerlich und rechnungs-
mäßig wie ſelbſtſtändige juriſtiſche Perſonen behandelt, beruht
lediglich auf techniſchen Gründen der Zweckmäßigkeit; ſie werden
dadurch nicht zu wirklichen juriſtiſchen Perſonen des Privatrechts.
Ebenſo beruht die formelle Behandlung der Behörden als wären
ſie Inhaber von ſtaatlichen Hoheitsrechten nur auf Gründen tech-
niſcher Art, auf Rückſichten der Zweckmäßigkeit. Sie fungiren äußer-
lich ſo, als wären ſie Subjecte von Befugniſſen, welche in der
Staatsgewalt enthalten ſind; in Wirklichkeit ſind ſie aber nicht
[295]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
berechtigte Subjecte, ſondern nur der Staat ſelbſt iſt das alleinige
Subject der geſammten und ungetheilten Staatsgewalt. Amtsge-
walt iſt Nichts anderes als Staatsgewalt. Es folgt hieraus, daß
niemals eine Behörde dem Staate gegenüber ein ſubjectives
Recht hat. Dadurch iſt der begriffliche Gegenſatz zwiſchen einer
Staatsbehörde und einem Selbſtverwaltungs-Körper, oder dem
Inhaber eines patrimonialen (feudalen) Hoheitsrechts gegeben. Nur
den Unterthanen gegenüber erſcheint die Behörde als Subject
von Hoheitsrechten, indem ſie gewiſſermaſſen die concrete Mani-
feſtation des Staates darſtellt und mit dem Staate ſelbſt identiſch
wird. Im Verhältniß zum Staate dagegen hat die Behörde nur
etwa die Bedeutung wie ein Rad oder eine Schraube an einer
Maſchinerie.


Es kann daher der Staat nach freiem Ermeſſen den Geſchäfts-
kreis einer Behörde verändern, erweitern oder verengern, auf
eine andere Behörde übertragen u. ſ. w. und dadurch die öffentlich-
rechtlichen Befugniſſe, welche eine Behörde bis dahin ausgeübt
hat, ihr ganz oder theilweiſe entziehen, ohne daß die Behörde ein
Widerſpruchsrecht dagegen hat. Wenn ein gewiſſer Kreis von
Geſchäften einer Behörde abgenommen und einer anderen über-
tragen wird, ſo finden darauf in keiner Beziehung die Grund-
ſätze von der Succeſſion in Rechte Anwendung, weder von der
Univerſal-Succeſſion noch von der Singular-Succeſſion, denn es
hat ein Uebergang ſubjectiver Rechte überhaupt nicht ſtattgefunden.
Wenn Jemand, ſei es eine Privatperſon oder eine andere Staats-
behörde unbefugter Weiſe oder mit Ueberſchreitung ihrer Kompetenz
in den Geſchäftskreis einer Behörde eingreift, ſo iſt dies nicht die
Verletzung eines ſubjectiven Rechts dieſer Behörde oder ihrer
Mitglieder, ſondern eine Verletzung der objectiven Rechts-Ordnung.
Es kann weder durch Privat-Transactionen unter den betheiligten
Behörden oder Beamten eine derartige Störung der objectiven
Grundſätze über die planmäßige Vertheilung der ſtaatlichen Ge-
ſchäfte geſühnt oder legaliſirt werden, noch hat andererſeits die
Behörde oder der Beamte wegen eines Eingriffes in die Kompe-
tenz einen ſubjectiven Anſpruch auf eine Genugthuung irgend wel-
cher Art.


III. Auf Grund dieſer allgemeinen Sätze über das Weſen
[296]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
der Staatsämter und Staatsbehörden läßt ſich nun der juriſtiſche
Begriff der Reichsbehörden und ihre ſtaatsrechtliche Stellung im
Verfaſſungsbau des Reiches beſtimmen 1).


1) Reichsbehörden ſind diejenigen Behörden, welche Geſchäfte
des Reiches
führen und ihre Autorität unmittelbar von der
Reichsgewalt ableiten.


Dadurch iſt das unterſcheidende Merkmal zwiſchen Reichs- und
Landesbehörden gegeben.


Nicht entſcheidend iſt der Umſtand, ob die Mitglieder der
Behörde Reichsbeamte im Sinne des Reichsbeamten-Geſetzes vom
31. März 1873 ſind oder nicht. Der Begriff der Reichsbeamten
wie ihn dieſes Geſetz aufſtellt, reicht zum Theil viel weiter 2), zum
Theil giebt es Reichsbehörden, deren Mitglieder nicht Reichsbeamte
ſind 3). Der Regel nach ſind aber die Mitglieder der Reichsbe-
hörden zugleich Reichsbeamte.


Ebenſo wenig iſt der Umſtand entſcheidend, ob die Mitglieder
der Behörden vom Kaiſer oder in deſſen Auftrage ernannt werden
oder nicht. Denn es iſt völlig zuläſſig, daß der Bundesrath oder
Reichstag Mitglieder der Behörden ernennt 4) oder daß die
Einzelſtaaten befugt ſind, Reichsbehörden zu beſetzen 5). Die
Regel iſt aber auch hier, daß der Kaiſer die Reichsämter be-
ſetzt und dieſe Regel iſt verfaſſungsmäßig anerkannt durch den
[297]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
Satz des Art. 18 der R.-V. „der Kaiſer ernennt die Reichsbeam-
ten“ 1).


Begrifflich unerheblich iſt es ferner, daß die Thätigkeit der Be-
hörden durch Geſetze und Verordnungen des Reiches geregelt wird.
Denn auch die Landesbehörden haben die Reichsgeſetze zu handhaben
und können in ihrer amtlichen Thätigkeit durch die vom Reiche er-
gangenen Vorſchriften ebenſo vollſtändig wie die Reichsbehörden ge-
bunden ſein; während andererſeits das Reichs-Oberhandelsgericht
neben dem Reichsrecht auch die partikulären Prozeß-Ordnungen und
Civilrechts-Geſetze der einzelnen Staaten zur Geltung bringt. Im
Allgemeinen gilt aber der Grundſatz, daß die Thätigkeit der Reichs-
behörden nicht durch die Autonomie der Einzelſtaaten geregelt wird,
wohl aber die Landesbehörden derſelben unterworfen ſind.


Endlich iſt es von Wichtigkeit feſtzuhalten, daß Reichsbehörden
und Landesbehörden nicht in der Art Gegenſätze ſind, daß nicht
eine Behörde beides zugleich ſein kann. Freilich nicht hinſichtlich
deſſelben Geſchäfts; ein Geſchäft kann immer nur entweder ein
Geſchäft des Reiches oder ein Geſchäft des einzelnen Staates, nicht
beides zugleich ſein. Aber es beſteht kein Hinderniß, daß nicht
einer Behörde eines Einzelſtaates neben dem ihr übertragenen Kreiſe
von Staatsgeſchäften auch noch ein Kreis von Reichsgeſchäften zu-
wieſen wird und ihr die dazu erforderliche Reichsgewalt delegirt
wird. Beſonders häufig tritt der Fall bei preuß. Staatsbehörden
ein, daß ſie gleichzeitig Reichsbehörden ſind 2).


Dagegen iſt für den Unterſchied zwiſchen Reichsbehörden und
Landesbehörden entſcheidend das Recht der Einzelſtaaten auf Selbſt-
verwaltung. Soweit dem Einzelſtaate nach der Verfaſſung und
den Geſetzen des Reiches die Verwaltung als eigenes Recht zuſteht,
iſt die Führung dieſer Verwaltung ein Geſchäft des Einzelſtaates,
nicht des Reiches, und die Ausſtattung einer Behörde mit der zur
Führung dieſer Geſchäfte erforderlichen Amtsgewalt hat ihre
Quelle in der Staatsgewalt des Einzelſtaates. Deshalb ſind die
[298]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
Gerichte, welche das Reichsſtrafgeſetzbuch, das Reichshandelsgeſetz-
buch u. ſ. w. anwenden, die Zollbehörden mit Ausnahme der
kaiſerlichen Zollämter in Hamburg und Bremen, die Eichungsämter,
Strandämter, Heimathsämter u. ſ. w. Landesbehörden.


Aus demſelben Grunde ſind alle Militär-Verwaltungs-Behör-
den nicht Reichsbehörden, ſondern Landesbehörden, und zwar nicht
nur in Bayern, ſondern im ganzen Reiche. Denn die Reichsverf.
überträgt zwar den Oberbefehl auf den Kaiſer, ſtattet das Reich
mit der uneingeſchränkten Befugniß zur Militärgeſetzgebung aus
und macht die geſammten Koſten des Militärweſens zu einem
Theile der Reichsfinanzwirthſchaft; aber ſie entzieht den einzelnen
Staaten weder die ſogen. Militärhoheit noch die eigene Militär-
Verwaltung. Soweit durch Militär-Konventionen die Deutſchen
Staaten auf dieſe Rechte verzichtet haben, iſt die Ausübung der-
ſelben auf Preußen übergegangen; das preußiſche Kriegsmini-
ſterium iſt aber ebenſo wenig eine Reichsbehörde wie das württem-
bergiſche und das ſächſiſche 1) und von dieſen Landesbehörden iſt
das Bayeriſche Kriegsminiſterium nur durch die größere Selbſt-
ſtändigkeit und Unabhängigkeit dem Reiche gegenüber, aber nicht
hinſichtlich des Rechtsgrundes ſeiner Amtsgewalt, verſchieden. Nur
in Bezug auf das preußiſche Kreigsminiſterium iſt dies in ſoweit
einzuſchränken, daß daſſelbe in einigen Beziehungen zugleich als
Reichsbehörde fungirt, indem es zur Ausübung der dem Reiche
zuſtehenden oberſten Leitung und Kontrole in Angelegenheiten der
Heeresverwaltung dient.


2) Da ein Reichsamt ein durch Rechtsvorſchriften begränzter
Kreis von Geſchäften des Reiches iſt, ſo ergiebt ſich hieraus auch
das Verhältniß der Reichsbehörden zu den übrigen Organen des
Reiches.


Der Geſchäftsführer des Reiches iſt der Kaiſer. Daraus
folgt, daß alle Inhaber von Reichsämtern Gehülfen des Kaiſers
ſind, da ſie Geſchäfte beſorgen, welche ideell dem Kaiſer obliegen.
[299]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
Dies iſt nicht in dem Sinne zu verſtehen, als ob es in das will-
kürliche Belieben des Kaiſers geſtellt wäre, die Geſchäfte unter
die Reichsbehörden zu vertheilen, oder nach Luſt und Laune Ge-
ſchäfte untergeordneter Art bald ſelbſt zu erledigen bald ſie Reichs-
behörden zu überlaſſen. Die Reichsbehörden ſind vielmehr von
Rechtswegen dem Kaiſer beigeordnet, damit er ſich ihrer bei der
Führung der Reichsgeſchäfte bediene, ſo daß er die Geſchäfte nicht
anders als durch die vermittelnde Thätigkeit der Behörden führen
kann und darf. Es iſt ferner der Kreis derjenigen Geſchäfte,
welche die einzelnen Behörden zu erledigen haben, durch Rechts-
Vorſchriften abgegrenzt, ſo daß ihre Kompetenz-Beſtimmung ein
Theil der ſtaatlichen Rechtsordnung iſt, welche der Kaiſer einſeitig
nicht ändern kann. Auch empfangen die Behörden die Anweiſung,
nach welchen Geſichtspunkten ſie die zu ihrem Reſſort gehörenden
Geſchäfte zu erledigen haben, zum größten Theil durch die Ge-
ſetze des Reiches, und auch in den, nicht geſetzlich normirten Be-
ziehungen nicht von dem perſönlichen (privaten) Willen des Kaiſers,
ſondern von dem in ſtaatsrechtlichen Formen erklärten, (ſtaatlichen)
Willen deſſelben.


Aber die Behörden haben kein ſubjectives Recht darauf, daß
ihnen die Erledigung und Führung von Geſchäften des Reiches
zuſtehe; ein ſolches Recht hat nur der Kaiſer, welchem nach der
R.-V. Art. 17 „die Ueberwachung der Ausführung der Reichsge-
ſetze“ zuſteht. Dem Bundesrath und dem Reichstage gegenüber
erſcheint der Inbegriff aller Befugniſſe, welche ſämmtlichen Reichs-
behörden zuſtehen, als ein Antheil des Kaiſers an dem Verfaſſungs-
leben des Reiches. Wenn andererſeits in einem Reichsgeſetze die
Erledigung ſtaatlicher Geſchäfte oder der Erlaß von Anordnungen
dem Kaiſer zugeſchrieben wird, ſo bedeutet dies die Erledigung
dieſer Geſchäfte durch die Reichsbehörden, mit Ausſchluß nicht
nur der Einzelſtaaten, ſondern auch des Bundesrathes und des
Reichstages.


In dieſer Art ſind alle den Reichsbehörden zuſtehenden Be-
fugniſſe enthalten und umſchloſſen von dem einheitlichen Rechte
des Kaiſers, der kaiſerlichen Prärogative, und das Recht des
Kaiſers zur Geſchäftsführung für das Reich kömmt anders nicht
zur Erſcheinung und Wirkung als in der Differenzirung durch
[300]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
die amtliche Thätigkeit der verſchiedenen Reichsbehörden 1). Mit
Recht werden daher alle Reichsbehörden als Kaiſerliche Behörden
bezeichnet.


Dieſem Grundſatz iſt es vollkommen entſprechend, daß der
Regel nach alle Reichsbeamten vom Kaiſer ernannt und entlaſſen
werden. Durch die Ernennung ertheilt der Kaiſer den Auftrag,
diejenigen Geſchäfte zu führen, welche zu dem geſetzlich beſtimmten
Wirkungskreiſe des verliehenen Amtes gehören; und ſelbſt, wenn
der Kaiſer durch ein Vorſchlagsrecht des Bundesrathes hinſichtlich
der Auswahl der Perſonen, welche zu einem Reichsamt berufen
werden ſollen, beſchränkt iſt, ſo geht doch formell der öffentlich
rechtliche Auftrag in der Regel von ihm aus.


Insbeſondere aber kömmt die rechtliche Stellung der Reichs-
beamten als Gehülfen des Kaiſers dadurch zur Geltung, daß die
wichtigſten derſelben, und zwar gerade diejenigen, deren Geſchäfts-
führung am wenigſten durch Geſetze normirt iſt, folglich am meiſten
vom freien Ermeſſen beſtimmt wird, durch Kaiſerliche Verfügung
einſtweilig in den Ruheſtand verſetzt werden können 2).


3) Die Stellung der Reichsbehörden zum Kaiſer iſt aber un-
geachtet des im Vorſtehenden entwickelten Satzes nicht dieſelbe
wie die Stellung der Landesbehörden zum Landesherrn. Es iſt
oben hervorgehoben worden, daß zu einem Amt außer einem Kreiſe
von Geſchäften auch ein Kreis ſtaatlicher Machtbefugniſſe gehört;
daß in der Ertheilung eines Amtes neben dem Auftrage zur Er-
ledigung der Geſchäfte auch eine Delegation von Hoheitsrechten
enthalten iſt, daß in jedem Amt die Staatsgewalt ſich manifeſtirt.
In der Monarchie iſt der Monarch der alleinige Träger der Staats-
gewalt; von ihm geht daher nicht nur der Auftrag zur Geſchäfts-
führung ſondern auch die Delegation der Staatsgewalt aus. Nach
der Reichsverfaſſung ſteht die Reichsgewalt nicht dem Kaiſer zu,
ſondern der Geſammtheit der Deutſchen Staaten (reſp. deren Lan-
desherren). Die Delegation der Amtsgewalt der Reichsbehörden
[301]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
iſt daher nicht einfach auf den Kaiſer zurückzuführen wie die Er-
theilung des Amtsauftrages; ſondern auf das ideelle Subjekt der
Reichsgewalt. Die Amtsgewalt der Reichsbehörden iſt nicht kaiſer-
liche Gewalt, ſondern Reichsgewalt. Während in den monarchiſchen
Staaten landesherrliche Gewalt und Staatsgewalt daſſelbe iſt, iſt
der Kaiſer Mitglied und Organ des Reiches, aber nicht Souverän
deſſelben.


Im Einklange mit dieſer theoretiſchen Unterſcheidung ſteht
der Rechtsſatz, daß alle Verordnungen des Bundesrathes,
welche derſelbe innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit beſchließt, von den
Reichsbehörden befolgt und ausgeführt werden müſſen, ohne daß
der Kaiſer die Befolgung derſelben zu genehmigen braucht oder
auch nur zur Ertheilung dieſer Genehmigung ermächtigt wäre.
Dies gilt auch in dem Falle, daß der Bundesrath ſeinen Beſchluß
gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Kaiſers gefaßt hat.
Im monarchiſchen Einheitsſtaat kann es keine für die Behörden
maßgebenden Vorſchriften geben, welche nicht wenigſtens formell
und in letzter Quelle auf dem Willen und der Sanction des
Landesherrn beruhen; im Reiche werden ſolche Vorſchriften fort-
während von einem Organe, welches dem Kaiſer gegenüber völlig
unabhängig iſt und ſeine Beſchlüſſe im Widerſpruch mit dem
Willen des Kaiſers faſſen kann, aufgeſtellt und ſind für den Wir-
kungskreis und die Machtbefugniſſe der Behörden mitbeſtimmend.
Daher ſind die Reichsbehörden nicht ſchlechthin kaiſerliche Behörden.


IV. Das im Art 18 der R.-V. dem Kaiſer zuertheilte Recht,
die Reichsbeamten zu ernennen und erforderlichen Falles zu ent-
laſſen, ſchließt keineswegs eine Befugniß des Kaiſers ein, Reichs-
ämter
zu errichten oder aufzuheben. Die Frage, wer befugt iſt,
eine Aenderung des Aemter-Organismus anzuordnen, iſt nicht mit
einem einzigen Satze zu beantworten, ſondern erfordert folgende
Unterſcheidungen.


Zunächſt iſt es zweifellos, daß das Finanzrecht von Einfluß
auf die Befugniß zur Schaffung neuer Aemter iſt. Schon bei der
Berathung des Bundeshaushalts-Geſetzes für 1868 faßte der Reichs-
tag die Reſolution, daß die Errichtung neuer Behörden oder Be-
amtenſtellen, ſowie die Erhöhung von Beamtengehalten nicht ohne
vorgängige Bewilligung des Reichstages [durch] den Staatshaushalts-
[302]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
Etat oder durch ein beſonderes Kreditgeſetz erfolgen dürfe 1). Die
Reichsregierung hat ſich dieſer Auffaſſung angeſchloſſen; in der
Praxis iſt ſie befolgt worden und der Geſetz-Entwurf über die
Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches v. 29.
Okt. 1874 hat dieſelbe geſetzlich ſanctioniren wollen, indem §. 8
die Beſtimmung enthält 2):
„Gehalt und andere ſtändige Dienſtemolumente dürfen nur
auf Grund des Etats oder eines ſonſtigen Geſetzes verliehen
werden.“


Aus dieſem Princip ergeben ſich zwei Rechtsſätze.


1) Der Kaiſer iſt nicht befugt, und ebenſowenig der Bundes-
rath, ohne Genehmigung des Reichstages neue Reichsämter mit
Fonds zu dotiren.


2) Die Genehmigung des Reichstages zur Errichtung neuer
oder zur Erweiterung beſtehender Reichsämter braucht nicht in
einem beſonderen Geſetz ausgeſprochen zu werden, ſondern das
Etatsgeſetz eines Jahres kann die dauernde geſetzliche Grundlage
für die Organiſation und Dotirung einer Reichsbehörde ſein 3).


Mit dieſen zwei Sätzen iſt die Frage aber nur geſtreift, nicht
erſchöpfend gelöſt. Es bleibt daneben noch die Möglichkeit
zur Schaffung unbeſoldeter Aemter, zur Aufhebung be-
ſtehender Aemter, zur Veränderung des Wirkungskreiſes und
der Geſchäftsvertheilung der Behörden; überhaupt zu allen Ver-
änderungen des Behörden-Syſtems, welche keine Etats-Ueberſchrei-
tungen verurſachen.


Als Ausgangspunkt zur Beantwortung dieſer Fragen muß man
den Grundſatz anerkennen, daß jede Behörde ſowohl für den ihr oblie-
genden Geſchäftskreis als für die ihr delegirte Staatsgewalt eine ge-
ſetzliche Beſtimmung zur Grundlage bedarf. Das Geſetz kann dieſe
Grundlage aber in zweifacher Weiſe darbieten. Entweder unmittelbar,
indem es die Errichtung einer beſtimmten Behörde von feſt normirter
Organiſation und Wirkſamkeit anordnet, oder mittelbar, indem es der
Reichsregierung Aufgaben zuweiſt, zu deren Durchführung die Errich-
tung von Aemtern erforderlich iſt. Auf ſpezieller geſetzlicher Anordnung
[303]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
beruhen z. B. das Oberhandelsgericht, das Bundesamt für das
Heimathweſen, die entſcheidenden Disciplinarbehörden, die Ver-
waltung des Invalidenfonds u. ſ. w.; auf einer mittelbaren geſetz-
lichen Grundlage die Reichs-Zoll-Kontrolbehörden, die Poſt- und
Telegraphen-Behörden, die Bankſtellen, die Geſandtſchaften, Kon-
ſulate u. ſ. w.


Iſt nun in einem Geſetze die Errichtung einer oder mehrerer
beſtimmter Behörden angeordnet, ſo daß unmittelbar durch Ver-
fügung
die Bildung derſelben erfolgen kann, ſo gehört es zu
der Machtvollkommenheit des Kaiſers 1), die Behörden in das
Leben zu rufen, da es ſich in dieſem Falle lediglich um die Aus-
führung eines Verwaltungsgeſchäftes handelt. Wenn dagegen nur
mittelbar durch Reichsgeſetze die Bildung von Behörden ange-
ordnet iſt, inſofern die letzteren zur Ausführung der Reichsgeſetze
erforderlich ſind, ſo tritt die Regel in Art 7 Ziff. 2 der R.-V.
ein, daß der Bundesrath beſchließt, „über die zur Ausführung
der Reichsgeſetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorſchriften
und Einrichtungen“. Die Errichtung von Behörden gehört
zu den zur Ausführung der Reichsgeſetze erforderlichen Einrichtun-
gen. Die Verfügung des Kaiſers, welche eine ſolche Behörde in
das Leben ruft, ſetzt daher außer der mittelbaren Grundlage,
welche das Geſetz gibt, die unmittelbare Grundlage eines Bundes-
raths-Beſchluſſes (Ausführungs-Verordnung) voraus 2).


Da die Regel des Art 7 Ziff. 2 aber nur eintritt, „ſofern
nicht durch Reichsgeſetz etwas Anderes beſtimmt iſt“, ſo ergiebt ſich,
daß die Befugniß des Bundesrathes ausgeſchloſſen ſein und daß
dem Kaiſer das Recht, Reichsämter — innerhalb der durch das
Finanzrecht gezogenen Schranken — zu errichten, zwar zuſtehen
kann, daß dies aber eine beſondere geſetzliche Beſtimmung
erfordert. Eine ſolche iſt z. B. enthalten im Art 53 der R.-V.
hinſichtlich der Marine, ferner in Art. 48 Abſ. 2 verbunden mit
[304]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
Art. 50 Abſ. 2 hinſichtlich der Poſt- und Telegraphen-Behörden,
im Art 11 hinſichtlich der Beglaubigung von Geſandten; ferner
wohl auch in dem Geſetz wegen Errichtung eines R.-Eiſenbahn-
Amtes v. 27. Juni 1873 hinſichtlich der Ernennung von Reichs-
Eiſenbahn-Kommiſſaren u. a.


Dieſelben Grundſätze müſſen auch hinſichtlich der Aufhebung
von Aemtern gelten. Behörden, welche unmittelbar auf geſetzlicher
Anordnung beruhen, können nur auf Grund eines Geſetzes aufge-
hoben werden. Wenn die Errichtung einer Behörde auf Grund
eines Bundesraths-Beſchluſſes erfolgt iſt, ſo erfordert auch die
Wieder-Aufhebung derſelben einen Bundesraths-Beſchluß. Soweit
endlich dem Kaiſer die Organiſation und adminiſtrative Einrichtung
eines Verwaltungszweiges übertragen iſt, ſteht demſelben auch die
Befugniß zu, Behörden aufzuheben 1).


V. Für die Gliederung des Behördenſyſtems des Reiches iſt
das Prinzip der Centraliſation in der ſtrengſten Art durchgeführt.
Die Reichsverfaſſung ſanctionirt dieſes Prinzip zwar nicht direct,
aber dennoch in zwingender Weiſe. Nach dem Art. 17 bedürfen
nämlich alle Anordnungen und Verfügungen des Kaiſers zu
ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, wel-
cher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Da nun der Kaiſer
für ſämmtliche Geſchäftszweige des Reiches die oberſte Spitze
bildet und für alle Anordnungen und Verfügungen deſſelben die
Gegenzeichnung des Reichskanzlers erforderlich iſt, ſo ergiebt ſich,
daß der Reichskanzler der einzige und alleinige Miniſter des Kai-
ſers iſt, und daß es kein Reſſort der Reichsverwaltung geben kann,
deſſen oberſter Chef nicht der Reichskanzler wäre. Der Reichs-
kanzler hat unter allen Beamten des Reiches keinen Collegen,
ſondern nur Gehülfen. Unter den Arten der Reichsbeamten, die
man unterſcheiden kann, bildet der Reichskanzler eine Art für ſich,
ausgezeichnet durch das Merkmal der ſogenannten politiſchen Ver-
antwortlichkeit, d. h. der oberſten, ſelbſtſtändigen Entſcheidung,
ſo lange ihn der Kaiſer an der Spitze der Geſchäfte beläßt.


Die Reichsgeſchäfte ſind nach ſachlichen Rückſichten zu Reichs-
ämtern gruppirt und Reichsbehörden überwieſen, von denen zwar
[305]§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.
jede wieder einen Vorſtand (Präſident, Director, Staatsſekretär)
hat, die aber ſämmtlich dem Reichskanzler untergeordnet ſind.


Unter dieſen Reichsämtern oder Reichsbehörden laſſen ſich
aber zwei, von einander ſehr verſchiedene Arten unterſcheiden,
nämlich Behörden für die Verwaltung und Behörden für die
Rechtſprechung.


Den Gegenſatz zwiſchen dieſen beiden Arten von Behörden in
Beziehung auf den Behörden-Organismus kann man dahin formu-
liren, daß die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers rückſichtlich
der Verwaltungsbehörden einen poſitiven, rückſichtlich der recht-
ſprechenden Behörden einen negativen Inhalt hat.


Bei den erſteren erſtreckt ſich die Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers auf den materiellen Inhalt ihrer Verfügungen und An-
ordnungen. Er kann daher in wichtigen Angelegenheiten materiell
ſelbſt entſcheiden und beſtimmen, was geſchehen ſoll. Die Reichs-
behörden ſind gewiſſermaßen nur ſeine Bureaus und haben eine
Selbſtſtändigkeit des Dezernates nur inſoweit, als der Reichskanzler
ſie ihnen geſtattet. Bei den rechtſprechenden Behörden erſtreckt ſich
die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nur darauf, daß die
Thätigkeit derſelben nicht geſtört und gehindert wird, daß insbe-
ſondere Einwirkungen der Verwaltungsbehörden nicht in rechts-
widriger Weiſe ſich geltend machen; dagegen nicht auf den Inhalt
der Entſcheidungen, für welche ausſchließlich das geltende Recht
maaßgebend iſt. Daher kann der Reichskanzler in die Geſchäfte
dieſer Behörden materiell nicht eingreifen oder ſtatt ihrer ſelbſt
entſcheiden. Seine Verantwortlichkeit geht dahin, daß dieſe Be-
hörden im Stande ſind, ihre Funktionen in verfaſſungsmäßiger
Unabhängigkeit auszuüben, aber nicht dahin, wie ſie dieſelben
ausüben. Für die Beſchlußfaſſung dieſer Behörden gilt demgemäß
auch das Kollegialſyſtem. Hinſichtlich ihres geſchäftlichen Wirkungs-
kreiſes ſind daher die rechtſprechenden Reichsbehörden dem Reichs-
kanzler überhaupt nicht untergeordnet; dagegen hat der Reichs-
kanzler ihnen gegenüber diejenigen Befugniſſe, welche nach den
Grundſätzen des deutſchen Landesſtaatsrechts dem Juſtizminiſter
den Landesgerichten gegenüber zukommen, d. h. die Oberaufſicht
über die Juſtiz verwaltung, die Aufſtellung des Etats, die Ge-
genzeichnung der kaiſerlichen Anſtellungs- und Entlaſſungs-Dekrete
für die Mitglieder.


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 20
[306]§. 33. Der Reichskanzler.

Zwiſchen den verwaltenden und den rechtſprechenden Behörden
giebt es aber noch eine Mittelſtufe, die von einer Anzahl von
Finanzbehörden gebildet wird, welche zwar unter der oberen Lei-
tung des Reichskanzlers ſtehen, für die Geſetzmäßigkeit ihrer Amts-
handlungen aber ſelbſtſtändig und unbedingt verantwortlich ſind.


Sonach zerfallen die Reichsbehörden in Beziehung auf ihre
Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit in 4 Klaſſen:


  • 1. Der Reichskanzler.
  • 2. Verwaltungsbehörden.
  • 3. Selbſtſtändige Finanzbehörden.
  • 4. Richterliche Behörden.

§. 33. Der Reichskanzler.

Die juriſtiſche Definition der Stellung, welche der Reichs-
kanzler einnimmt, bietet ganz ähnliche Schwierigkeiten dar, wie
die juriſtiſche Begriffsbeſtimmung von Kaiſer und Bundesrath,
denn der Reichskanzler vereinigt in ſeiner Perſon ſo verſchieden-
artige Amtsbefugniſſe und Amtspflichten, daß es unmöglich er-
ſcheint, eine der herkömmlichen ſtaatsrechtlichen Kategorien aufzu-
finden, unter welche er vollkommen paßt. Die Schwierigkeiten
ſind aber ganz in derſelben Weiſe zu löſen, wie dies hinſichtlich
des Kaiſers und des Bundesrathes geſchehen iſt. Der Reichs-
kanzler vereinigt in ſich eine Doppelſtellung; er iſt theils das
Organ, durch welches der König von Preußen ſeine Mitglied-
ſchaftsrechte im Reiche ausübt, theils der oberſte Reichs-Beamte,
der kaiſerliche Reichsminiſter. Nur wenn man beide Stellungen
auseinanderhält, verſchwindet das ſcheinbar Widerſpruchsvolle und
gewinnt namentlich auch die verwickelte Lehre von der Verant-
wortlichkeit des Reichskanzlers 1) Klarheit.


I.Der Reichskanzler als Bevollmächtigter des
Königs von Preußen
.

1. Durch den Art. 15 der R.-V. iſt die rechtliche Nothwen-
digkeit gegeben, daß der Reichskanzler Preußiſcher Bevollmäch-
tigter im Bundesrathe iſt. Zwar läßt der Wortlaut auf den
[307]§. 33. Der Reichskanzler.
erſten Blick die Deutung zu, daß der Kaiſer auch einen Bevoll-
mächtigten eines andern Staates zum Reichskanzler ernennen und
ihm den Vorſitz im Bundesrathe und die Leitung der Geſchäfte
übertragen kann; bei näherer Erwägung erweiſt ſich dieſe Deutung
aber als rechtlich unmöglich, ganz abgeſehen von den thatſäch-
lichen
Gründen, welche es als völlig unzuläſſig erſcheinen laſſen,
daß der Reichskanzler nicht zugleich Preußiſcher Bevollmächtigter
ſei. Denn jedes Bundesmitglied kann jederzeit ſeine Bevollmächtigten
aus dem [Bundesrathe] abberufen, den Reichskanzler aber ernennt
der Kaiſer und kann nur der Kaiſer entlaſſen. Wäre es nun
möglich, daß der Kaiſer den Bevollmächtigten eines anderen Staates
zum Reichskanzler ernennt, ſo könnte ſich der Fall ereignen, daß
dieſer Staat die Ernennung zum Bundesraths-Mitglied zurücknimmt,
der Kaiſer dagegen die Entlaſſung dem Reichskanzler nicht ertheilt;
es würde alsdann der Reichskanzler nicht zugleich Mitglied des
Bundesrathes ſein, was nach Art. 15 der Verfaſſung unzuläſ-
ſig iſt. Der Reichskanzler führt demnach mit rechtlicher Nothwen-
digkeit im Bundesrathe die Präſidialſtimme Preußens als Bevoll-
mächtigter des Königs. Vgl. oben S. 274.


2. Die Bundesraths-Mitglieder ſind keine Reichsbeamten und
haben in keiner Hinſicht die Rechten und Pflichten derſelben; eben-
ſowenig hat das einzelne Mitglied des Bundesrathes in irgend
einer Beziehung die Funktionen einer Reichsbehörde. Dies gilt
vollſtändig auch vom Reichskanzler. Weder als Mitglied des Bun-
desrathes noch als Vorſitzender deſſelben iſt der Reichskanzler
Reichsbeamter und wenn er im Bundesrathe die Präſidial-Befug-
niſſe ausübt, handelt er nicht als Reichsbehörde, ſondern als Be-
vollmächtigter des Königs von Preußen. Er iſt daher an die In-
ſtructionen gebunden, welche ihm der König von Preußen ertheilt
und dieſem gegenüber verantwortlich dafür, daß er ſeiner Inſtruc-
tion gemäß gehandelt hat 1). Von einer Verantwortlichkeit des
Reichskanzlers gegen den Bundesrath und Reichstag für die Art
und Weiſe, wie er die Präſidialſtimme führt oder die übrigen
Preußiſchen Rechte im Bundesrathe handhabt, kann daher ebenſo
20*
[308]§. 33. Der Reichskanzler.
wenig die Rede ſein, wie von einer derartigen Verantwortlichkeit
des Bevollmächtigten irgend eines andern Bundesgliedes.


3. Die Bevollmächtigten der einzelnen Staaten brauchen nicht
nothwendig auch Beamte derſelben zu ſein; ebenſo iſt es nicht
nothwendig, daß der Reichskanzler Preußiſcher Beamter, insbeſon-
dere Preußiſcher Staatsminiſter iſt. Man kann im Gegentheil
behaupten, daß die wachſende Geſchäftslaſt des Reichskanzlers —
als Reichsminiſter — es immer mehr verbieten wird, daß er zu-
gleich in Wirklichkeit Chef eines preußiſchen Miniſteriums iſt.
Staatsrechtlich iſt es auch keineswegs erforderlich, daß der
Reichskanzler zugleich Preußiſcher Miniſter der Auswärtigen An-
gelegenheiten iſt; denn nachdem die geſammte Leitung der aus-
wärtigen Angelegenheiten auf das Reich übergegangen iſt, bedarf
der Preußiſche Staat eines Miniſters der auswärtigen Angelegen-
heiten gar nicht mehr. Dieſe Stelle iſt neben der des Reichs-
kanzlers eine faſt bloß nominelle 1), welche aus dem Behördenor-
ganismus des Preußiſchen Staates jeden Augenblick geſtrichen
werden und dadurch ihre Scheinexiſtenz verlieren kann, ſo daß es
unmöglich ſein würde, daß der Reichskanzler zugleich Preußi-
ſcher
Miniſter des Auswärtigen wäre. Thatſächliche, poli-
tiſche Gründe zwingender Natur machen es aber nothwendig, daß
der Reichskanzler, gerade weil er der ſtimmführende Bundesraths-
Bevollmächtigte Preußens iſt, an den Berathungen des Preußiſchen
Staatsminiſteriums Antheil zu nehmen befugt iſt, daß ihm der
Ehrenvorſitz bei dieſen Berathungen zuſteht, und daß nicht nur
der Deutſche Kaiſer und der König von Preußen, ſondern auch
der kaiſerliche Reichsminiſter und der erſte, leitende preußiſche
Staatsminiſter identiſch ſind.


Hiernach beantwortet ſich die Frage, nach der Verantwortlich-
keit des Reichskanzlers gegenüber dem Preußiſchen Landtage.
Sollte einmal der Fall eintreten, daß der Reichskanzler nicht zu-
gleich Preuß. Staatsminiſter iſt, daß er vielmehr ſeine Inſtruk-
tionen vom Preußiſchen Staatsminiſterium einfach zugeſchickt erhält,
ſo würden die Grundſätze von der parlamentariſchen Miniſter-
Verantwortlichkeit auf ihn ganz und gar unanwendbar ſein; ſeine
[309]§. 33. Der Reichskanzler.
Verantwortlichkeit beſtände vielmehr nur dem Preußiſchen Staats-
miniſterium gegenüber und wäre darauf beſchränkt, daß er ſeinen
Inſtruktionen gemäß geſtimmt habe. Iſt aber der Reichskanzler
ſelbſt Preußiſcher Staatsminiſter und nimmt er folglich ſelbſt
Antheil an der Feſtſtellung der Vorſchriften, wie ſich die Preu-
ßiſchen Bevollmächtigten im Bundesrathe zu verhalten haben, ſo
iſt er nach Maaßgabe des Preußiſchen Staatsrechts hierfür ebenſo
verantwortlich, wie dies oben ganz allgemein hinſichtlich der In-
ſtruktions-Ertheilung für die Regierungen aller Bundesſtaaten
entwickelt worden iſt. Dagegen kann von einer Verantwortlichkeit
des Reichskanzlers für ſeine Thätigkeit als Reichs miniſter dem
Preuß. Landtage gegenüber in keiner Art die Rede ſein; als
ſolcher führt er nicht preußiſche Staatsgeſchäfte, ſondern Reichs-
geſchäfte.


II.Der Reichskanzler als Reichsminiſter des
Kaiſers
.

Während der Reichskanzler im Bundesrathe preu-
ßiſcher Bevollmächtigter iſt, iſt der Reichskanzler außerhalb
des Bundesrathes
Reichsbehörde und zwar iſt er, wie bereits
ausgeführt worden iſt, der einzige verantwortliche Miniſter des
Reiches. Die Miniſterialbefugniſſe im Reiche ſind nun aber wegen
des bundesſtaatlichen Charakters deſſelben nicht ganz dieſelben
wie im Einheitsſtaate. Das allgemeine Grundprinzip läßt ſich
dahin beſtimmen, daß der Reichskanzler als der Miniſter und
Gehülfe des Kaiſers alle diejenigen Geſchäfte auszuführen hat,
welche die Prärogative des Kaiſers bilden. Die Funktionen des
Reichskanzlers ſind demnach auf folgende Kategorien zurückzu-
führen:


1) Da der Kaiſer der Vertreter des Deutſchen Reiches
iſt, ſo iſt der Reichskanzler auswärtigen Staaten und überhaupt
allen Dritten gegenüber, mit denen das Reich in Rechts-
verhältniſſen ſteht oder mit denen es in ein Rechtsverhältniß
treten will, legitimirt, die Rechte des Reiches wahrzunehmen, Ver-
handlungen zu führen, Verträge zu vereinbaren, Leiſtungen ent-
gegenzunehmen und zu gewähren. Der Reichskanzler bedarf hierzu
regelmäßig keiner Spezial-Vollmacht, wenngleich es nicht ausge-
ſchloſſen iſt, daß der Kaiſer ihm bei beſonders wichtigen Verhand-
[310]§. 33. Der Reichskanzler.
lungen eine ſolche ertheilt. Soll dagegen nicht der Reichskanzler,
ſondern irgend ein anderer Bevollmächtigter das Reich (den Kai-
ſer) Dritten gegenüber vertreten, ſo iſt dazu regelmäßig eine be-
ſondere Vollmacht erforderlich, welche entweder der Kaiſer ſelbſt
unter Contraſignatur des Reichskanzlers ertheilt oder welche der
Reichskanzler kraft ſeiner General-Vollmacht ausſtellt (Subſtitu-
tionsvollmacht). Ausgenommen ſind nur diejenigen Geſchäfte,
welche zu dem geſetzlichen oder herkömmlichen Geſchäfts-
kreiſe der, dem Reichskanzler unterſtellten Reichsbehörden (Geſandt-
ſchaften, Konſulate, Verwaltungsbehörden, Finanzbehörden) gehö-
ren; für dieſe Geſchäfte haben die reſſortmäßigen Behörden die
Vollmacht, ſie in rechtswirkſamer Weiſe für das Reich abzuſchlie-
ßen und es liegt in der Anſtellung eines Reichsbeamten zugleich
die Ertheilung der Vollmacht, das Reich innerhalb ſeiner Amts-
befugniſſe zu vertreten. So wie aber die Verwaltungsbehörden
des Reiches dem Reichskanzler als ihrem Chef untergeordnet ſind,
ſo iſt auch ihre Vollmacht zur Vertretung des Reiches von der
General-Vollmacht des Reichskanzlers abgezweigt und ihr gleichſam
untergeordnet.


Dies Alles gilt nicht nur von internationalen Verträgen und
Verträgen ſtaatsrechtlichen Inhaltes ſondern auch von den vermö-
gensrechtlichen Geſchäften des Reichsfiskus.


2) Da der Kaiſer die Thätigkeit der übrigen Organe des
Reiches im Gange zu erhalten und zu reguliren hat, ſo liegen
dem Reichskanzler die hierzu erforderlichen Geſchäfte ob. Er hat
die erforderlichen Veranſtaltungen zu treffen, damit der Bundes-
rath und der Reichstag, wenn ſie einberufen ſind, ihre Sitzungen
halten können; er hat die Verfügungen zu erlaſſen, welche
zur Ausführung der Beſchlüſſe des Bundesrathes erforderlich
ſind 1), er prüft die Legitimation der Bevollmächtigten 2); er über-
mittelt die von dem Bundesrathe beſchloſſenen Vorlagen dem
Reichstage 3); ebenſo werden die Beſchlüſſe des Reichstages, In-
terpellationen, Erledigungen von Reichstags-Mandaten dem Reichs-
[311]§. 33. Der Reichskanzler.
kanzler angezeigt 1) und es liegt dem Reichskanzler ob, ſie zur
Kenntniß des Bundesrathes zu bringen reſp. dem Kaiſer über
die Beſchlüſſe des Bundesrathes und des Reichstages Vortrag zu
halten.


3) Soweit die eigene Verwaltung des Reiches ſich erſtreckt,
iſt der Reichskanzler als Gehülfe und Vertreter des Kaiſers der
oberſte Chef und Leiter. In dieſer Beziehung iſt ſeine Stellung
völlig entſprechend der Stellung eines Miniſters im Einzelſtaate 2).
Jedoch iſt er nicht auf ein einzelnes Reſſort beſchränkt; er hat
nicht gleichberechtigte Collegen neben ſich, mit denen er ſich in die
Geſchäfte theilt, ſondern ſeine Kompetenz hat denſelben Umfang
wie die Verwaltungskompetenz des Reiches.


4) Soweit das Recht der Einzelſtaaten auf Selbſtverwaltung
reicht, liegt dem Kaiſer die Ueberwachung der Ausführung
der Reichsgeſetze ob (R.-V. Art. 17) und ebenmäßig dem Reichs-
kanzler die hiezu erforderliche Thätigkeit. Beſchwerden und An-
zeigen über Verletzungen der Reichsgeſetze in den einzelnen Staa-
ten ſind demnach an den Reichskanzler zu richten; er hat die er-
forderlichen thatſächlichen Feſtſtellungen zu machen und die Ver-
fügungen an die Regierungen zu erlaſſen. Inſoweit der Bundes-
rath nach Art. 7 Z. 3 in ſolchen Fällen zur Beſchlußfaſſung kom-
petent iſt, hat der Reichskanzler an den Bundesrath eine Vorlage
gelangen zu laſſen und für die Ausführung und Befolgung des
vom Bundesrathe gefaßten Beſchluſſes Sorge zu tragen 3).


5) Endlich iſt der Reichskanzler der verantwortliche leitende
Miniſter für Elſaß-Lothingen, da durch das Geſetz vom 9. Juni
1871 die Ausübung der Staatsgewalt im Reichslande dem Kaiſer
übertragen iſt. Im §. 4 des angef. Geſetzes iſt ausdrücklich an-
geordnet, daß alle Anordnungen und Verfügungen des Kaiſers in
Ausübung dieſer Staatsgewalt zu ihrer Gültigkeit der Gegen-
[312]§. 33. Der Reichskanzler.
zeichnung des Reichskanzlers bedürfen, der dadurch die Verant-
wortlichkeit übernimmt.


6) Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, von welcher
Art. 17 der R.-V. ſpricht, bezieht ſich ſelbſtverſtändlich nur auf
ſeine Thätigkeit als Reichsminiſter, nicht als BundesrathsBevoll-
mächtigter. Dieſe Verantwortlichkeit iſt nicht zu einem Rechtsin-
ſtitut geſtaltet; es fehlt an Anordnungen, worauf ſie ſich erſtreckt,
wer befugt iſt, ſie geltend zu machen, welches Verfahren dabei
einzuhalten iſt, welche Wirkungen mit ihr verknüpft ſind. Die
Verantwortlichkeit des Reichskanzlers iſt daher nur ein politiſches
Prinzip, das ſeiner Verwirklichung durch Rechtsſätze noch harrt,
welches aber doch als ſolches nicht ganz wirkungslos iſt, ſondern
die ſogenannte politiſche oder moraliſche Verantwortlichkeit des
Reichskanzlers begründet. Die praktiſche Folge derſelben beſteht
im Weſentlichen darin, daß der Reichskanzler ſich der politiſchen
Nothwendigkeit nicht entziehen kann, auf Angriffe gegen ſeine
Geſchäftsführung im Bundesrath und Reichstag Rede zu ſtehen.
Für die Beantwortung der Frage nach dem Umfange dieſer Ver-
antwortlichkeit ſind nun die vorſtehenden Erörterungen von Belang
und es ergiebt ſich daraus der Unterſchied zwiſchen der Verant-
wortlichkeit des Reichskanzlers und der Verantwortlichkeit des
Miniſters eines Einzelſtaates. Die Verantwortlichkeit reicht ſo
weit wie die Kompetenz. Auf dem Gebiete der eigenen Verwal-
tung des Reiches iſt daher der Reichskanzler verantwortlich dafür,
daß die geſammte amtliche Thätigkeit der Reichsbehörden den
Geſetzen des Reiches gemäß geſchieht und von den einheitlichen
Grundgedanken der äußeren und inneren Politik, welche das Reich
verfolgt, durchdrungen iſt. Dagegen auf dem Gebiete der Selbſt-
verwaltung der Einzelſtaaten iſt der Reichskanzler nur dafür ver-
antwortlich, daß die dem Reiche zuſtehende Ueberwachung
wirkſam gehandhabt wird 1). Die Amtsthätigkeit der Landesbe-
hörden innerhalb des den Einzelſtaaten überlaſſenen Selbſtverwal-
tungs-Bereiches hat der Reichskanzler nicht zu vertreten; hier
kommen vielmehr die Grundſätze des Landesſtaatsrechts über die
[313]§. 34. Die Reichsverwaltungs-Behörden.
Verantwortlichkeit der Miniſter für ihre Geſchäftsführung zur An-
wendung 1).


§. 34. Die Reichsverwaltungs-Behörden.

Die Verwaltungsgeſchäfte des Reiches ſind in folgender Art
zu Aemtern gruppirt und beſonderen Behörden übertragen.


I.Das Reichskanzler-Amt.

Durch den Allerhöchſten Präſidial-Erlaß v. 12. Auguſt 1867
(B.-G.-Bl. S. 29) iſt unter dem Namen „Bundeskanzler-Amt“
eine Behörde errichtet worden
„für die dem Bundeskanzler obliegende Verwaltung und
Beaufſichtigung der, durch die Verfaſſung des Norddeutſchen
Bundes zu Gegenſtänden der Bundesverwaltung gewordenen,
beziehungsweiſe unter die Aufſicht des Bundes-Präſidiums
geſtellten Angelegenheiten, ſowie für die dem Bundeskanzler
zuſtehende Bearbeitung der übrigen Bundes-Angelegen-
heiten.“


Durch das Etatsgeſetz für 1868 wurden die Geldmittel für
dieſe Behörde bewilligt und in den Etatsgeſetzen der folgenden
Jahre die Bewilligungen im Verhältniß der fortſchreitenden Ver-
größerung dieſer Behörde erhöht. An Stelle der urſprünglichen
Bezeichnung wurde durch Allerh. Erlaß v. 12. Mai 1871 (R.-G.-
Bl. S. 102) der Name „Reichskanzler-Amt“ geſetzt.


Dem Allerh. Erl. v. 12. Auguſt 1867 gemäß war der Ge-
ſchäfts-Umfang des Bundeskanzler-Amtes ein ganz umfaſſender und
erſtreckte ſich auf alle Obliegenheiten, welche dem Bundeskanzler
zugewieſen waren. Dieſelben werden in dieſem Erlaß ganz richtig
in 3 Kategorien getheilt:


  • a) die Verwaltung der Angelegenheiten, welche zu Gegenſtän-
    den der Bundesverwaltung geworden waren; (un-
    mittelbare
    Bundesverwaltung)

[314]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
  • b) Die Beaufſichtigung der Selbſtverwaltung der
    Einzelſtaaten.
  • c) Die Bearbeitung der übrigen Regierungsgeſchäfte,
    insbeſondere die Vorbereitung von Geſetzentwürfen, der ge-
    ſchäftliche Verkehr mit dem Bundesrath und Reichstag, die
    Wahrnehmung der handelspolitiſchen Intereſſen bei Ver-
    handlungen mit auswärtigen Staaten über Handels- Zoll-
    Schiffahrts-Verträge, Aufſtellung des Bundeshaushaltsetats
    und Führung der Bundes-Finanzwirthſchaft u. ſ. w.

Ausgenommen von dem Geſchäftskreis des Bundeskanzler-
Amtes waren die Auswärtigen Angelegenheiten, weil dieſelben zur
Zeit der Errichtung des Bundeskanzler-Amtes einen Zweig der
Preußiſchen Staatsverwaltung bildeten; nur das Bundes-Konſu-
latsweſen wurde dem Bundeskanzler-Amt zugewieſen, von der
Kompetenz deſſelben aber wieder getrennt, als das Reich die Aus-
wärtigen Angelegenheiten vollſtändig in eigene Verwaltung über-
nahm.


Ausgenommen waren ferner die Marine-Angelegenheiten, weil
nach der Verf. des Nordd. Bundes Art. 53 die Verwaltung der-
ſelben und der Oberbefehl über die Kriegsmarine nicht dem Bun-
des-Präſidium, ſondern dem Könige von Preußen zugewieſen war.
Daſſelbe gilt von dem Oberbefehl über das Heer und von der
Ober-Aufſicht über die Verwaltung deſſelben. (Art. 63 fg.)


Endlich waren ſelbſtverſtändlich ausgenommen von dem Ge-
ſchäftskreiſe des Bundeskanzler-Amtes alle diejenigen Angelegen-
heiten, welche durch beſondere Geſetze oder Verordnungen anderen
Behörden zugewieſen wurden.


Dieſe Grundſätze ſind noch jetzt maaßgebend für die Kompe-
tenz des Reichskanzler-Amtes und für ſein Verhältniß zu den
anderen oberſten Reichsbehörden.


Sieht man von der Verwaltung des Konſulatsweſens ab,
welche nur vorübergehend dem Bundeskanzler-Amt übertragen war,
ſo gab es für die eigene Verwaltung des Reiches urſprünglich
[nur] 2 Reſſorts, Poſt und Telegraphie. Durch den Allerh. Erlaß
vom 18. Dezemb. 1867 (B.-G.-Bl. S. 328) wurden daher zwei
beſondere Abtheilungen (I und II) des Bundeskanzler-Amtes für
dieſe Geſchäfte unter den Bezeichnungen „General-Poſtamt“ und
„General-Direktion der Telegraphen“ gebildet; die übrigen Ge-
[315]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
ſchäfte, welche das Bundeskanzler-Amt zu verſehen hat, wurden
unter dem Namen „Central-Abtheilung“ zuſammengefaßt.


In Folge der Erwerbung des Reichslandes und der dem
Reichskanzler durch das Geſ. v. 9. Juni 1871 zugewieſenen Leitung
der Landesverwaltung wurde eine neue (III) Abtheilung für Elſaß-
Lothringen gebildet und endlich ſeit dem 1. Januar 1875 nach
vorgängiger Genehmigung im Reichshaushalts-Etat eine IV Ab-
theilung unter der Bezeichnung „Reichsjuſtiz-Amt“ errichtet.


An der Spitze des Reichskanzler-Amts ſteht ein Präſident,
welcher als der ſtändige Vertreter des Reichskanzlers anzuſehen iſt;
an der Spitze jeder Abtheilung ein Direktor. Obgleich dieſe ver-
ſchiedenen Abtheilungen des Reichskanzler-Amtes im Weſentlichen
getrennte Geſchäfts-Sphären haben, ſo haben ſie doch keineswegs
den ſtaatsrechtlichen Charakter verſchiedener Behörden, die gegen
einander ſelbſtſtändig wären. Bei vielen Angelegenheiten iſt ein
Zuſammenwirken der verſchiedenen Abtheilungen unerläßlich und
bei allen iſt es dem Ermeſſen des Präſidenten überlaſſen, welchem
Dezernat er dieſelben zuweiſen will. Die Geſchäftsvertheilung
unter die Abtheilungen des Reichskanzler-Amtes hat keinen ſtaats-
rechtlichen
, ſondern einen techniſchen Charakter; die Abtheilungen
ſind nicht anzuſehen wie verſchiedene Miniſterien, ſondern wie
Abtheilungen deſſelben Miniſteriums. Juriſtiſch gelten alle
Verfügungen des Reichskanzler-Amtes als Verfügungen des Reichs-
kanzlers und werden auch der Regel nach mit dieſer Firma ge-
zeichnet; der Präſident des Reichskanzler-Amtes, die Direktoren
und die ein eigenes Dezernat führenden Räthe ſind immer nur
„Vertreter“ des Reichskanzlers.


1. Die Central-Abtheilung.


Der generelle Umfang des Geſchäfts-Auftrages, den der Erl.
vom 12. Auguſt 1867 für das Bundeskanzler-Amt feſtſetzte, iſt
der Central-Abtheilung deſſelben verblieben und es reſſortiren von
derſelben deshalb auch alle Reichsbehörden, die nicht ausdrücklich
ausgenommen ſind.


Zu den Geſchäften der Central-Abtheilung gehört demnach:
die Aufſicht über die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten; die Ver-
mittelung des geſchäftlichen Verkehrs zwiſchen Bundesrath, Reichs-
tag und Reichskanzler; die Aufſtellung des Etats-Entwurfs und
die Ausführung des geſetzlich feſtgeſtellten Etats, ſowie die ge-
[316]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
ſammte Finanzwirthſchaft und Vermögensverwaltung des Reiches;
die Bearbeitung der handelspolitiſchen Angelegenheiten; die Aus-
führung und die Controle der Ausführung der Reichsgeſetze über
Maaß, Gewicht, Münzweſen, Papiergeld, Banken; die Kontrole
der Erhebung der Zölle und Verbrauchsſteuern, ſowie die Abrech-
nung mit den Einzelſtaaten 1), die Bearbeitung der Perſonalien
für die von der Central-Abtheilung reſſortirenden Behörden und
in gleichem Umfange das Penſionsweſen. Eine vollſtändige Auf-
zählung der Competenz läßt ſich aber nicht geben, da die Central-
Abtheilung ſubſidiär alle Geſchäfte zu erledigen hat, welche nicht
einem anderen Reichsamt zugewieſen ſind.


Diejenigen Verwaltungs-Behörden, welche von der Central-
Abtheilung reſſortiren, ſind folgende:


a) Die Reichshauptkaſſe. Die Wahrnehmung der Cen-
tral-Kaſſengeſchäfte des Norddeutſchen Bundes wurde auf Grund
einer, mit der Preuß. Regierung getroffenen Vereinbarung der
Königl. Preuß. General-Staatskaſſe in Berlin übertragen, welche
in Bundes-Angelegenheiten den amtlichen Verkehr unter der Be-
nennung „Generalkaſſe des Norddeutſchen Bundes“ führte 2). Dieſe
Bezeichnung wurde ſeit dem 1. Juni 1871 durch die Benennung
„Reichshauptkaſſe“ erſetzt 3).


Ueber die Abrechnungen zwiſchen der Reichshauptkaſſe und
den Landeskaſſen der Bundesſtaaten ſind unter dem 13. Januar
1872 vom Reichskanzler im Einverſtändniß mit dem Ausſchuſſe
des Bundesrathes für Rechnungsweſen Beſtimmungen erlaſſen
worden 4).


b) Die Verwaltung des Reichskriegsſchatzes. Dieſelbe
iſt durch das Geſ. vom 11. Nov. 1871 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 403)
dem Reichskanzler übertragen, welcher dieſelbe nach den darüber
mit Zuſtimmung des Bundesrathes ergehenden Anordnungen des
Kaiſers unter Kontrole der Reichsſchulden-Kommiſſion zu führen
hat. Dieſe Anordnungen ſind getroffen worden in der Verordn.
v. 22. Januar 1874 (R.-G.-Bl. S. 9). Die Beſtände, Ausgaben
[317]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
und Einnahmen des Reichskriegsſchatzes werden verwaltet von der
Rendantur des Reichskriegsſchatzes, deren Beamte der Reichs-
kanzler ernennt und über welche ein vom Reichskanzler beſtellter
Kurator die Aufſicht führt 1).


Ohne beſondere Anweiſung des Reichskanzlers darf bei dem
Reichskriegsſchatze nichts verausgabt oder vereinnahmt werden 2).


c) Das Statiſtiſche Amt3). Die Entſtehungsgeſchichte
deſſelben knüpft an das, ſeit dem Jahr 1834 in Thätigkeit geweſene
„Central-Bureau“ des Zollvereins an, welchem von der I. Gene-
ralzollconferenz im Jahre 1836 die Zuſammenſtellung einer Statiſtik
des Handelsverkehrs im Zollvereine übertragen wurde 4). Da weder
die Einrichtungen noch die Leiſtungen dieſes Centralbureaus den
geſteigerten Anſprüchen an die Statiſtik genügten, ſo trat auf Anord-
nung des Zollbundesrathes v. 2 Juni 1869 im Jan. 1870 eine Kom-
miſſion zuſammen, welche Vorſchläge über die weitere Ausbildung
der Zollvereins-Statiſtik machen ſollte. Während der Berathungen
dieſer Kommiſſion erweiterte und modifizirte ſich die derſelben geſtellte
Aufgabe durch die Gründung des Deutſchen Reiches. Auf Grund
der von der Kommiſſion erſtatteten Gutachten 5) und eines die
Vorſchläge der Kommiſſion befürwortenden Berichtes der Bundes-
raths-Ausſchüſſe für Zoll- und Steuerweſen und für Handel und
Verkehr v. 14. Nov. 1871 6) beſchloß der Bundesrath, daß ein
zugleich das Centralbureau erſetzendes ſtatiſtiſches Centralorgan
für das Deutſche Reich zur techniſchen und wiſſenſchaftlichen Ver-
arbeitung des einlaufenden Materials und zur Begutachtung ſtati-
ſtiſcher Fragen ins Leben gerufen werde 7).


Mit dem Entwurf eines Nachtrags-Etats-Geſetzes f. 1872
wurde dem Reichstage eine „Denkſchrift betreffend den Etat für
das ſtatiſtiſche Amt“ vorgelegt, in welcher die von dieſem Amte
[318]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
zu erfüllenden Aufgaben näher dargelegt werden 1). Nach dem
der Reichstag dieſe Vorſchläge genehmigt hatte und durch das
Nachtrags-Etatsgeſetzes v. 20. Juni 1872 Kap. 1. Tit. 6.) die
erforderlichen Geldmittel fortdauernd bewilligt worden waren 2), trat
das ſtatiſtiſche Amt am 21. Juli 1872 in Thätigkeit.


Die Geſchäfts-Inſtruktion, deren Erlaß durch einen Beſchluß
des Bundesrathes v. 9. März 1872 (Protok. §. 57) dem Reichs-
kanzler übertragen worden war, iſt vom 23. Juni 1872 3). Die
Aufgaben des Statiſt. Amtes ſind darnach von doppelter Art; erſtens
die Sammlung, Prüfung und wiſſenſchaftliche Bearbeitung des für
die Reichsſtatiſtik zu liefernden Materials und geeignetenfalls die
Veröffentlichung der Ergebniſſe; zweitens hat das ſtatiſtiſche Amt
auf Anordnung des Reichskanzleramtes ſtatiſtiſche Nachweiſungen
aufzuſtellen und über ſtatiſtiſche Fragen Gutachten zu erſtatten.


Es iſt zur Vereinfachung des Geſchäftsverfahrens dem Statiſt.
Amte der unmittelbare Verkehr mit den ſtatiſtiſchen Central-
behörden der Bundesſtaaten und inſofern dergleichen nicht beſtehen,
mit den Landesbehörden, von denen es direkte Einſendungen er-
hält, geſtattet. Nur zur Erledigung von Anſtänden, welche durch
direkte Correſpondenz nicht ausgeglichen werden können, iſt die Ver-
mittlung des Reichskanzleramtes nachzuſuchen 4).


Das Statiſtiſche Amt beſteht zur Zeit aus einem Direktor
und zwei ſtändigen Mitgliedern, ſowie den erforderlichen Bureau-
beamten.


d) Die Normal-Eichungs-Kommiſſion. Die geſetz-
liche Grundlage dieſer Behörde bildet Art. 18 der Maaß- und
Gewichts-Ordnung v. 17. Aug. 1868 (B.G.Bl. S. 476). In Aus-
führung dieſes Geſetzes wurde die in Rede ſtehende Reichsbehörde
am 16. Februar 1869 errichtet 5) und derſelben am 21. Juli 1869
vom Reichskanzler eine Inſtruktion ertheilt 6). Die geſetzlichen
[319]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
Aufgaben der N.-E.-K. ſind nach dem cit. Art. 18 folgende. Ihr
liegt ob:


  • Die Aufſicht darüber, daß im geſammten Reichsgebiet 1)
    das Eichungsweſen nach übereinſtimmenden Regeln und
    dem Intereſſe des Verkehrs entſprechend gehandhabt werde;
  • die Anfertigung und Verabfolgung der Normale (§. 9
    des Geſetzes) und ſoweit nöthig auch der Eichungsnormale
    (§. 15 eod.) an die Eichungsſtellen der Bundesſtaaten;
  • der Erlaß der näheren Vorſchriften über Material, Ge-
    ſtalt, Bezeichnung und ſonſtige Beſchaffenheit der Maaße
    und Gewichte, Waagen, Meßwerzeuge;
  • der Erlaß von Anordnungen über das bei der Eichung
    und Stempelung zu beobachtende Verfahren, der Taxen
    für die von den Eichungsſtellen zu erhebenden Gebühren
    und über alle die techniſche Seite des Eichungsweſens be-
    treffenden Gegenſtände 2).

Die von der Normal-Eich.-Kommiſſion erlaſſenen Anordnun-
gen werden nicht mit der Firma des Reichskanzlers gezeichnet,
ſondern unter ihrem eigenen Namen erlaſſen.


Die Eichungsbehörden der [Bundesſtaaten] ſind Landesbehör-
den; die N.-E-K. ſteht aber mit den oberen Eichungsbehörden
der Staaten in direktem Geſchäftsverkehr und kann innerhalb ihrer
Kompetenz ſie mit Anweiſung verſehen; den Verkehr mit den ein-
zelnen (unteren) Eichungsſtellen vermitteln die Landesbehörden.


Nur in Elſaß-Lothringen beſteht ein etwas abweichendes Ver-
hältniß; indem die „Eichungs-Inſpektion in Straßburg
in Beziehung auf die techniſche Geſchäftsführung der Normal-
Eichungs-Kommiſſion, im Uebrigen dem Oberpräſidenten, unmittel-
bar untergeordnet iſt 3).


Für Bayern iſt der Wirkungskreis der N.-E.-K. formell
ganz ausgeſchloſſen; es iſt für dieſen Bundesſtaat eine beſondere
N.-E.-K. in Beſtand erhalten. Die bayeriſche N.-E.-K. muß aber
[320]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
„die von ihr anzuwendenden Normale von der N.-E.-K. des Deut-
ſchen Reiches beziehen; die Vorſchriften über Material, Geſtalt, Be-
zeichnung und ſonſtige Beſchaffenheit der Maaße und Gewichte,
über die Bedingungen der Stempelfähigkeit der Waagen, über die
Einrichtung der ſonſtigen Meßwerkzeuge, ſowie über die Zulaſſung
anderweiter Geräthſchaften zur Eichung und Stempelung gleich-
förmig mit denen der N.-E-.K. des Reiches erlaſſen, und das
bei der Eichung und Stempelung zu beobachtende Verfahren, ſowie
die von Seiten der Eichungsſtellen inne zu haltenden Fehlergren-
zen gleichmäßig beſtimmen“ 1).


Die Normal-Eichungs-Kommiſſion des Reiches beſteht nur
aus dem Direktor, einem ſtändigen Hülfsbeamten, und dem Bureau-
und Kanzleiperſonal. Außerdem aber werden der Kommiſſion vom
Reichskanzler auf Vorſchlag des Direktors Mitglieder beigeordnet,
welche immer auf 5 Jahre ernannt werden und ihr Amt als un-
beſoldetes Ehrenamt führen 2). Sie treten nur bei beſonderen
Anläſſen mit dem Direktor zu gemeinſamer Berathung zuſammen
und bilden alsdann mit ihm die ſog. „Plenar-Verſammlung“. Die
erwähnte Inſtruktion vom 21. Juli 1869 beſtimmt die zur Bera-
thung und Beſchlußfaſſung der Plenar-Verſammlung gehörenden
Gegenſtände und die Geſchäfts-Ordnung derſelben 3).


e) Das Zoll- und Steuer-Rechnungs-Bureau.


Die Abrechnung über die erhobenen Zoll- und Steuerbeträge
unter den einzelnen Staaten beſorgte das Centralbureau des Zoll-
Vereins. Seit der im Jahre 1872 erfolgten Aufhebung dieſes
Bureau’s hat das preußiſche Finanzminiſterium, Abtheilung für die
Verwaltung der indirekten Steuern, die Zoll- und Steuer-Rech-
nungsarbeiten des Reiches übernommen und läßt ſie durch das
erwähnte Bureau ausführen. In Beziehung auf dieſe Arbeiten
fungirt das Preußiſche Finanzminiſterium ſonach als Reichsbehörde
und wird von der principiellen Unterordnung aller verwaltenden
Reichsbehörden unter den Reichskanzler mit betroffen.


[321]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

f) Reichs-Bevollmächtigte und Stationskon-
troleure für die Kontrole der Zölle und Verbrauchs-
ſteuern
.


Dieſelben ſind an die Stelle der ehemaligen Zollvereins-Be-
vollmächtigten und Kontroleure getreten. Ueber ihre Aufgaben und
Befugniſſe ſind noch jetzt maaßgebend die im Art. 20 des Zoll-
Vereins-Vertrages enthaltenen Beſtimmungen 1). Die Reichsbe-
vollmächtigten ſind den Direktivbehörden der einzelnen Staaten
beigeordnet; ſie haben ſich eine vollſtändige Kenntnißnahme von
der Art und Weiſe, wie die Geſchäfte der Zoll- und Steuerver-
waltung von den Landesbehörden geführt werden, zu verſchaffen und
Fehler und Mängel, welche dabei zu Tage treten, zu moniren 2).
Die Stations-Kontroleure ſind den Zoll- oder Steuerämtern bei-
geordnet; ſie ſind den Bevollmächtigten dienſtlich untergeben und
empfangen von ihnen amtliche [Aufträge]3).


Ueber die Kaiſerl. Hauptzollämter in Hamburg u. Bremen
vgl. Hirth’s Annalen 1873 S. 471 Note 2.


g) Der Reichskommiſſarius für das Auswande-
rungsweſen in Hamburg
.


Die Vorkommniſſe auf dem Auswandererſchiffe „Leibnitz“
gaben im Jahre 1868 dem Bundesrathe Veranlaſſung, die dem
Reiche nach R.-V. Art. 4 Ziff. 1 a. E. zuſtehende Beaufſichtigung
der Beſtimmungen über die Auswanderung nach außerdeutſchen
Ländern zu verwirklichen. Die Verordnungen der einzelnen Re-
gierungen, zu deren Staatsgebieten die Auswanderungshäfen ge-
hören, wurden unter Einverſtändniß des Bundesrathes revidirt
und es wurde ein Reichskommiſſarius ernannt, welcher die Aus-
führung dieſer Verordnungen zu beaufſichtigen hatte. In den erſten
Jahren wurden die Koſten des Amtes aus dem Dispoſitionsfonds
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 21
[322]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
beſtritten; durch das Reichsetatsgeſetz für 1874 vom 5. Juli 1873
wurden ſie als fortdauernde Ausgabe bewilligt. (Kapit 1.
Tit. 10.) 1).


Der Reichskommiſſarius hat ſeinen Wohnſitz in Hamburg;
ſeine Thätigkeit erſtreckt ſich aber auch auf Bremen und Stettin
und die anderen Auswanderungshäfen. Die Handhabung der das
Auswanderungsweſen betreffenden Vorſchriften iſt zunächſt Sache
der Landesbehörden; der Reichskommiſſarius hat aber in ganz
ähnlicher Art wie die Reichszollbevollmächtigten ſich zunächſt über
alle Anordnnungen und Maaßregeln in vollſtändiger Kenntniß
zu erhalten, dann eine fortwährende Kontrole zu üben über die
Art und Weiſe, wie die Verordnungen ausgeführt werden, Revi-
ſionen der in Expedition begriffenen Auswanderungsſchiffe vorzu-
nehmen, ferner, ſobald er hinſichtlich des Raumes, der Sorge für
die Geſundheit, der Vorräthe an Nahrungsmitteln, Arzneimitteln
u. ſ. w. Mängel bemerkt, den zuſtändigen Behörden Anzeige zu
machen und auf Abhülfe zu dringen, endlich wenn eine ſolche Ab-
hülfe nicht erfolgt, ſeinerſeits dem Reichskanzler zu berichten 2).


h) Inſpektoren für die Steuermanns- und Schif-
ferprüfungen
.


Die Gewerbe-Ordnung v. 21. Juni 1869 §. 31 (B.G.-Bl.
S. 253) hat den Bundesrath ermächtigt, die Vorſchriften über den
Nachweis der Befähigung für Seeſchiffer, Seeſteuerleute und
Lootſen zu erlaſſen. Dieſe Vorſchriften ſind ergangen durch die
Verordnung des Bundesrathes vom 25. Sept. 1869 (B.G.-Bl.
S. 660 fg.). In dem §. 21 derſelben iſt der Erlaß von Anord-
nungen über das Prüfungsverfahren und über die Zuſammenſetzung
der Prüfungskommiſſionen vorbehalten worden und dieſer Vorbe-
halt hat durch die Bekanntmachung v. 30. Mai 1870 (B.G.-Bl.
S. 314 ff.) ſeine Erledigung gefunden 3). Nach den Anordnun-
gen über die Prüfung der Seeſchiffer und Seeleute für große
[323]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
Fahrt §. 23 und über die Prüfung der Seeſchiffer für kleine Fahrt
§. 20 (B.G.-Bl. 1870 S. 320. 325) beſtellt der Reichskanzler nach
Anhörung des Bundesraths-Ausſchuſſes für Handel und Verkehr
die erforderliche Anzahl von Inſpektoren, welche darauf zu achten
haben, daß die in Bezug auf die Prüfungen erlaſſenen Vorſchriften
befolgt und daß überall gleichmäßige Anforderungen an die Prüf-
linge geſtellt werden. Die Prüfungskommiſſionen ſelbſt werden
von den Landesregierungen beſtellt; die Reichs-Inſpektoren ſind
aber befugt, den Prüfungen und den Verhandlungen der Prüfungs-
kommiſſionen beizuwohnen und von den ſchriftlichen Prüfungs-
Arbeiten Einſicht zu nehmen, bei der mündlichen Prüfung einzelne
Materien zu bezeichnen, aus welchen den Prüflingen Fragen vor-
zulegen ſind, ſowie gegen die Entſcheidung der Prüfungskommiſſion
Einſpruch zu erheben, falls dieſe den beſtehenden Vorſchriften zuwider
einem Prüflinge das Prädikat „beſtanden“ oder „mit Auszeichnung
beſtanden“ ſtatt des Prädikats „nicht beſtanden“ zu ertheilen be-
abſichtigt. Gelingt es in einem ſolchen Falle nicht, eine Verſtän-
digung herbeizuführen, ſo hat der Inſpektor ſofort dem Reichs-
kanzler Bericht zu erſtatten, welcher demnächſt in der Sache end-
gültig entſcheidet.


Zur Zeit beſtehen drei Inſpektionsbezirke, nämlich für die in
der Provinz Hannover, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg und
Bremen, für die in Schleswig-Holſtein, Lübeck und Hamburg,
und für die in den Provinzen Preußen und Pommern abzuhal-
tenden Prüfungen 1).


i) Inſpektoren für das Schiffsvermeſſungs-
weſen
.


Die auf Grund des Art. 54 der R.-V. vom Bundesrathe
erlaſſene Schiffsvermeſſungs-Ordnung v. 5. Juli 1872 (R.-G.-Bl.
S. 270 ff.) 2) hat zwar den Einzelſtaaten die Beſtellung ſowohl
der Vermeſſungsbehörden als der Reviſionsbehörden übertragen,
dem Reichskanzler aber die Aufſicht über das Schiffs-Vermeſſungs-
weſen zugewieſen (§. 21).


Der Reichskanzler übt dieſelbe aus durch Inſpektoren, welche
er nach Anhörung der Bundesraths-Ausſchüſſe für das Seeweſen
21*
[324]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
und für Handel und Verkehr beſtellt. Die Inſpektoren ſind befugt,
der Aufnahme der Meſſungen beizuwohnen, die Richtigkeit der
Maaße zu prüfen, von den Aufzeichnungen und Berechnungen der
Vermeſſungs- und Reviſions-Behörden Einſicht zu nehmen und
auf vorgefundene Mängel aufmerkſam zu machen.


Es ſind zwei Inſpektions-Bezirke gebildet worden, von denen
der eine die Oſtſeehäfen, der andere die Nordſeehäfen umfaßt 1).


k) Kommiſſionen für einmalige Aufgaben.


Aus der generellen Natur der der Central-Abtheilung des
Reichskanzleramts zuſtehenden Kompetenz ergiebt ſich, daß von ihr
der Regel nach auch diejenigen Kommiſſionen reſſortiren, welche
zur Erledigung einzelner Aufgaben Seitens des Reiches eingeſetzt
werden und denen der Charakter organiſcher Reichsbehörden ab-
geht. Solche Kommiſſionen ſind ſchon wiederholt niedergeſetzt
worden; ſo z. B. die Reichskommiſſion für die Wiener Weltaus-
ſtellung, die Cholera-Kommiſſion, Kommiſſion für Medizinalſtatiſtik,
für Forſt-Statiſtik, für das Apotheker-Weſen, die Kommiſſionen
für die Ausarbeitung der großen Juſtizgeſetze, für die Weltaus-
ſtellung in Philadelphia u. ſ. w.


Eine dauernd errichtete, aber nicht ſtändig arbeitende, ſondern
nur von Zeit zu Zeit zuſammentretende Kommiſſion iſt die Reichs-
Schulkommiſſion
, welche die Klaſſifizirung und die Kon-
trole der zur Ausſtellung der Qualifikationszeugniſſe für die Be-
rechtigung zum einjährigen Militärdienſte befugten höheren Lehr-
anſtalten auszuüben hat 2). Die Kommiſſion beſteht aus 6 Mit-
gliedern 3), Preußen, Bayern, Sachſen und Württemberg ernennen
je ein Mitglied; ein Mitglied wird alternirend von Baden, Heſſen,
Elſaß-Lothringen und Mecklenburg-Schwerin in der angegebenen
Reihenfolge jedesmal auf zwei Jahre ernannt; ein Mitglied wird
alternirend von den übrigen Bundesſtaaten und zwar nach der
Reihenfolge im Art. 6 der Verf. jedesmal auf zwei Jahre ernannt 4).


[325]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

2) Die I. Abtheilung oder das General-Poſtamt1).


Dieſelbe ſteht unter der Leitung des General-Poſt-Direktors
und zerfällt nach der Allerh. Ordre v. 16. Nov. 1872 in zwei
Geſchäfts-Abtheilungen, nämlich:


Die techniſche Abtheilung, welcher das Inſtruktions-Bureau,
das Auslandsbureau, das Kontrol-Bureau der Poſtanweiſungen,
das Kurs-Bureau, das Poſt-Zeug-Amt und das Bureau für Poſt-
Statiſtik zugewieſen ſind; und


Die Abtheilung für das Etats- und Kaſſenweſen,
zu welcher das Rechnungs-Bureau, das Perſonal-Bureau, das
Bau-Bureau, das Poſt-Abrechnungs-Bureau mit dem Auslande
und das Poſt-Zeitungsamt gehören.


Da nach dem Art. 48 der R.-V. das Poſtweſen für das
geſammte Gebiet des Deutſchen Reiches als einheitliche Staats-
Anſtalt verwaltet wird, ſo ſteht auch das Poſtweſen in Elſaß-Loth-
ringen unter dem General-Poſtamt, nicht unter der Abtheilung
für Elſ.-Lothr. Die amtlichen Befugniſſe des General-Poſtamts
ergeben ſich aus dem Art. 50 der R.-V., da diejenigen Rechte,
welche in dieſem Artikel dem Kaiſer zugeſchrieben werden, durch
die geſchäftliche Wirkſamkeit des General-Poſtamtes ausgeübt wer-
den 2). Hinſichtlich Bayerns und Württembergs erſtreckt ſich die Kom-
petenz des General-Poſtamtes, da dieſen Staaten die ſelbſtſtändige
Verwaltung ihrer Poſtanſtalten durch Art. 52 der R.-V. gewähr-
leiſtet iſt, nur auf die Wahrnehmung der Geſchäfte, welche ſich
auf die Geſetzgebung und auf das Verhältniß zu anderen Poſt-
verwaltungen beziehen.


Von dem General-Poſtamt reſſortiren:


a) Die Ober-Poſt-Direktionen. Dieſelben ſind die
mittleren Behörden; ſie ſind dem General-Poſtamt untergeordnet und
führen ihrerſeits die Aufſicht über die Lokal-Poſtanſtalten. Die
Grundlage für die Abgrenzung ihrer Bezirke bildet für Preußen
die Eintheilung des Staates in Regierungsbezirke; mit Gründung
des Norddeutſchen Bundes ſind aber durch Allerh. Erlaße zahl-
[326]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
reiche Abänderungen der Ober-Poſtdirektions-Bezirke vorgenommen
worden 1). Zur Zeit beſtehen in dem Gebiete der Reichs-Poſtver-
waltung 37 Ober-Poſtdirektionen 2). Außerdem ſind dem Gene-
ral-Poſtamt unmittelbar untergeordnet das Ober-Poſtamt in Lübeck
und das Deutſche Reichs-Poſtamt in Conſtantinopel.


b) Von den Ober-Poſtdirektionen reſſortiren die Poſtanſtal-
ten
, welche nach dem Umfange ihres Geſchäftsbetriebs in Poſt-
ämter, Poſtverwaltungen und Poſt-Expeditionen zerfallen 3). Ueber-
dies ſind an kleinen Orten, an denen der Dienſtbetrieb ein ſehr
einfacher iſt, Poſt-Agenturen eingerichtet worden, deren Ver-
waltung von Ortseinwohnern gegen geringe Entſchädigung als
Nebengeſchäft übernommen wird 4)


3) Die II. Abtheilung oder die General-Direk-
tion der Telegraphen
.


Die Beſtimmungen der Art. 48—50 der R.-V. beziehen ſich
gleichmäßig auf das Poſt- und Telegraphenweſen, ebenſo umfaßt
das in Art. 52 anerkannte Sonderrecht Bayerns und Württembergs
die Telegraphen-Verwaltung mit, ſo daß die Kompetenz dieſer
Abtheilung im Allgemeinen derjenigen des General-Poſtamtes
analog iſt.


Der General-Direktion der Telegraphen ſind unmittelbar
untergeordnet


a) Die Telegraphen-Direktionen. Die Bezirke der-
ſelben ſind nicht abgegrenzt im Anſchluß an die Grenzen der
Staaten und Regierungsbezirke, wie dies im allgemeinen für die
Abgränzung der Bezirke der Ober-Poſtdirektionen als Princip und
Ausgangspunkt gilt, ſondern maaßgebend ſind die großen Haupt-
[327]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
Eiſenbahnen-Linien, da denſelben die wichtigſten Telegraphen-Linien
und deren Verzweigungen folgen. Die Bezirke der Telegraphen-
Direktionen ſind demnach nicht nur meiſtens bedeutend größer als
die der Ober-Poſtdirektionen, ſondern auch viel unabhängiger von
den politiſchen Grenzen. Zur Zeit beſtehen in dem Gebiet der
Reichs-Telegraphen-Verwaltung 12 Telegraphen-Direktionen 1).


b) Den Telegraphen-Direktionen ſind wieder untergeordnet
die Telegraphen-Stationen, welche je nach ihrem Geſchäfts-
umfange in 3 Klaſſen zerfallen. In der Regel hat der Vorſteher
einer Station 1. Klaſſe den Titel Telegraphen-Inſpektor, der
Vorſteher einer Station 2. Klaſſe den Titel Telegraphen-Sekretär,
der Vorſteher einer Station 3. Klaſſe den Titel Obertelegraphiſt.
An kleinen Orten mit unbedeutendem Depeſchenverkehr ſind die
Telegraphenſtationen ſehr häufig mit Poſtanſtalten kombinirt; auch
können Privat-Perſonen d. h. Perſonen, die weder Beamte der
Poſt- noch der Telegraphenverwaltung ſind, zur Beſorgung der
Geſchäfte einer Telegraphenſtation engagirt werden.


4) Die III. Abtheilung oder Abtheilung für El-
ſaß-Lothringen

bearbeitet alle dem Reichskanzler zugewieſenen Geſchäfte der Lan-
des
verwaltung von Elſaß-Lothringen. Sie bildet unter der
Leitung und Verantwortlichkeit des Reichskanzlers das Miniſterium
für die Verwaltung des Reichslandes mit der oben bereits her-
vorgehobenen Modifikation, daß die Abtheilungen des Reichskanz-
leramtes in keiner Hinſicht als völlig geſonderte Behörden an-
zuſehen ſind, ſondern bei zahlreichen Geſchäften zuſammenwirken.


Abgeſehen von der Betheiligung der Central-Abtheilung bei
allen Angelegenheiten von allgemeinerem politiſchen, handelspoli-
tiſchen oder finanziellen Intereſſe, gehört das Dezernat in den
Angelegenheiten des Poſt- Telegraphen- und Juſtizweſens Elſaß-
Lothringen zu dem Geſchäftskreis der I. II. und IV. Abtheilung.
Dagegen iſt andererſeits der III. Abtheilung überwieſen die Lei-
tung der Verwaltung der Reichs-Eiſenbahnen. Von dieſer Abthei-
lung reſſortiren:


a) Der Oberpräſident von Elſaß-Lothringen in Straß-
[328]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
burg. Die amtlichen Befugniſſe deſſelben ſind im Allgemeinen
durch das Geſetz vom 30. Dez. 1871 über die Einrichtung der
Verwaltung von Elſaß-Lothringen geregelt 1).


Nach §. 4 und 5 dieſes Geſetzes ſteht der Ober-Präſident
unmittelbar unter dem Reichskanzler, deſſen Bureau für die
elſaß-lothringiſchen Verwaltungsgeſchäfte aber die III. Abtheilung
des Reichskanzleramtes iſt. Der Ober-Präſident iſt die oberſte
Verwaltungsbehörde in Elſaß-Lothringen; er führt die Aufſicht
über die Behörden der Landesverwaltung, ſowie über die zu denſelben
gehörigen und denſelben unterſtellten Beamten. Außer denjenigen
Geſchäften, welche nach §. 6 des citirten Geſetzes oder durch An-
ordnungen der ſpeziellen Geſetze, welche über einzelne Vewaltungs-
Zweige ergangen ſind, der unmittelbaren Verwaltung und Ent-
ſcheidung des Oberpräſidenten überwieſen ſind, hat derſelbe für
die gleichmäßige Ausführung der Geſetze und Verordnungen, ſowie
der Anordnungen des Reichskanzlers zu ſorgen und darüber zu
wachen, daß die Verwaltung regelmäßig und nach übereinſtimmen-
den Grundſätzen gehandhabt werde.


b) Die Kaiſerliche General-Direktion der Eiſen-
bahnen in Elſaß-Lothringen
. Dieſelbe iſt errichtet wor-
den auf Grund des Allerh. Erl. v. 9. Dezemb. 1871 2), in wel-
chem angeordnet iſt, daß dieſe Behörde vom Reichskanzleramte
unmittelbar reſſortiren ſoll und daß ihre Aufgabe in dem voll-
ſtändigen Ausbau, der Verwaltung und dem Betriebe der Reichs-
Eiſenbahnen in E.-L. beſteht. Durch die Uebereinkunft v. 11. Juni
1872 3) iſt dieſer Behörde auch die Verwaltung und der Betrieb
der Wilhelm-Luxemburg-Eiſenbahnen übertragen worden. Für die
ſpezielle Leitung dieſes Betriebes beſtellt die General-Direktion
einen Beamten in Luxemburg, welcher befugt iſt, ſie in allen den
Betrieb der Bahnen betreffenden Angelegenheiten zu vertreten 4).


5) Das Reichs-Juſtiz-Amt. (IV. Abtheilung.)


In dem Entwurfe eines Etatsgeſetzes für 1875 wurde die
Errichtung einer Abtheilung des Reichskanzleramtes für das Juſtiz-
[329]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
weſen in Ausſicht genommen und dieſer Vorſchlag in einer Denk-
ſchrift begründet 1), welche den Wirkungskreis der neu zu errichtenden
Abtheilung angab. Nachdem der Reichstag dieſer Erweiterung des
Reichskanzleramtes ſeine Zuſtimmung ertheilt hatte 2) und in dem
Etats-Geſetz vom 27. Dezember 1874 die erforderlichen Geldmittel
bewilligt worden waren, trat im Jahre 1875 die neue Abtheilung
in Thätigkeit. Ihre Aufgaben beziehen ſich theils auf das ganze
Reich theils auf die Angelegenheiten von Elſaß-Lothringen.


Für das Reich liegt der Juſtiz-Abtheilung ob die Vorberei-
tung der in das Gebiet der Rechtspflege einſchlagenden Geſetzent-
würfe, womit zugleich die Vertretung derſelben in den Bundes-
raths-Ausſchüſſen, ſowie in Verbindung mit den Bundesraths-Be-
vollmächtigten im Reichstage, verknüpft iſt. Auch die nicht in das
Gebiet der Rechts-Pflege einſchlagenden Geſetzentwürfe hat das
Reichs-Juſtizamt zu begutachten, ſoweit eine Prüfung derſelben
vom juridiſchen Standpunkte aus geboten erſcheint. Ferner hat dieſe
Behörde die Ausführungsbeſtimmungen zu den Juſtizgeſetzen zu
bearbeiten und die Ausführung der Reichsjuſtizgeſetze Seitens der
Einzelſtaaten zu überwachen.


Von eigentlichen Verwaltungsgeſchäften iſt dem Reichs-Juſtiz-
amt zugewieſen die Bearbeitung der Angelegenheiten, welche das
Reichs-Oberhandels-Gericht, den Disciplinarhof und die Discipli-
narkammern betreffen.


Für Elſaß-Lothringen hat das Reichs-Juſtizamt diejenigen
Geſchäfte zu erledigen, welche gewöhnlich dem Juſtizminiſterium
obliegen. Die Geſchäfte, welche lediglich die Juſtizverwaltung be-
treffen, gehören demnach ausſchließlich zu dem Dezernat dieſer
Abtheilung, während diejenigen Angelegenheiten, welche zugleich
das Finanzweſen oder die allgemeine Landesverwaltung berühren,
alſo die Juſtiz-, Etats- und Kaſſenſachen, die Ablöſung der ver-
käuflichen Stellen im Juſtizdienſt, die Gerichts-Organiſation, Kom-
petenzſtreitigkeiten zwiſchen Juſtiz- und Verwaltungsbehörden und
Geſetzentwürfe, gemeinſchaftlich von dem Reichs-Juſtizamt und der
(III.) Abtheilung für Elſaß-Lothringen zu bearbeiten ſind.


[330]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

Von dieſer Abtheilung reſſortiren demnach in Beziehung auf
die Juſtiz-Verwaltung das Appellationsgericht und
die General-Prokuratur zu Colmar und die dieſen Behör-
den untergeordneten elſaß-lothringiſchen Juſtizbehörden.


II.Das Auswärtige Amt.

In der erſten Zeit nach Gründung des Norddeutſchen Bun-
des wurden die auswärtigen Angelegenheiten deſſelben von dem
Preußiſchen Miniſterium verſehen. Nachdem aber das Preußiſche
Abgeordneten-Haus bei der Berathung des Preußiſchen Staats-
haushalts-Etats für 1868 und wiederholt im folgenden Jahre
beſchloſſen hatte, die Regierung aufzufordern, dafür Sorge zu
tragen, daß das Miniſterium der auswärtigen Angelegenheiten,
die Geſandtſchaften und Conſulate auf den Etat des Norddeutſchen
Bundes übernommen werden, und nachdem der Reichstag des
Norddeutſchen Bundes am 17. Juni 1868 einen übereinſtimmen-
den Beſchluß gefaßt hatte 1), ſtimmte auch der Bundesrath dieſer
Maaßregel zu und es wurden in den Bundes-Haushalts-Etat für
1870 die Koſten aufgenommen 2). Seit dem 1. Januar 1870 iſt
demnach das bisherige Preußiſche Miniſterium der auswärtigen
Angelegenheiten in eine unmittelbare Bundesbehörde umgewan-
delt worden. Es wurde nicht mit dem Reichskanzler-Amt ver-
bunden, ſondern ſteht unter dem Namen „Auswärtiges Amt des
Deutſchen Reiches“ ſelbſtſtändig neben dem Reichskanzler-Amt;
es iſt der verantwortlichen Leitung des Reichskanzlers unterſtellt,
hat aber einen beſonderen Präſidenten vom Range eines Miniſters,
welcher den Titel Staats-Sekretär führt.


Für die Geſchäfts-Vertheilung und die dienſtlichen Funktionen
des Auswärtigen Amtes ſind ſeinem Urſprunge entſprechend die
Vorſchriften maaßgebend geblieben, welche für das Preuß. Mini-
ſterium der auswärtigen Angelegenheiten erlaſſen worden ſind 3).
Danach zerfällt das Auswärtige Amt in 2 Abtheilungen.


[331]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

Die erſte Abtheilung, welche unmittelbar von dem
Staats-Sekretär geleitet wird, bearbeitet die Angelegenheiten der
höheren Politik, die kirchlichen Angelegenheiten, die Generalien,
Perſonalien, alle das Cäremoniell betreffenden Fragen, den Verkehr
mit den Geſandtſchaften anderer Staaten, die Etats- und Kaſſen-
Sachen.


Die zweite Abtheilung, an deren Spitze ein Direktor
ſteht, bearbeitet die Angelegenheiten des Handels und Verkehrs,
das Konſulatsweſen, die ſtaatsrechtlichen und civilrechtlichen Ge-
ſchäfte, die Privatangelegenheiten der Deutſchen im Auslande, die
Gegenſtände, welche das Juſtiz-, Polizei- und Poſtweſen, die Aus-
wanderung, die Schiffs-Angelegenheiten, die Grenzſachen und
Ausgleichungen mit fremden Staaten betreffen 1).


Von dem auswärtigen Amte reſſortiren:


1) Die Geſandtſchaften des Deutſchen Reiches
im Auslande
2). Dem Range nach zerfallen die Vorſteher der
diplomatiſchen Miſſionen in Botſchafter, Geſandte, Miniſter-Reſi-
denten und Geſchäftsträger.


Wenn der Fall eintritt, daß auf Grund des Schlußprotok.
vom 23. November 1870 Z. VII (R.-G.-Bl. 1871 S. 24) die
Bayeriſchen Geſandten zur Vertretung der Reichsgeſandten bevoll-
mächtigt werden, ſo ſind ſie verpflichtet, den vom Auswärtigen
Amte erhaltenen Inſtruktionen Folge zu leiſten und demſelben
für ihre amtliche Thätigkeit Rede zu ſtehen; den Charakter von
Reichsbeamten erhalten ſie aber durch die Vertretungsvollmacht
nicht, da ſie nicht eine Anſtellung im Reichsdienſte haben, ſondern
nur interimiſtiſch die Wahrnehmung von Geſchäften des Reichs
übernehmen. Sie ſind daher nicht der Disciplinar-Gewalt des
Reichs unterworfen und ihre Verantwortlichkeit kann nur durch
Vermittlung der Königl. Bayeriſchen Regierung geltend gemacht
werden.


2) Die Reichskonſulate3). Die Organiſation derſelben,
ſowie die Amtsrechte und Pflichten der Reichskonſuln ſind ge-
[332]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
regelt durch das Geſetz vom 8. November 1867 (B.-G.-Bl. 1867).
Nach dieſem Geſetz beſteht die allgemeine Aufgabe der Reichskon-
ſuln darin, das Intereſſe des Reiches, namentlich in Bezug auf
Handel, Verkehr und Schifffahrt thunlichſt zu ſchützen und zu
fördern und die Beobachtung der Staatsverträge zu überwachen.
Sie haben ferner den Angehörigen des Reiches und anderer be-
freundeter Staaten in ihren Angelegenheiten Rath und Beiſtand
zu gewähren. Die ihnen obliegenden amtlichen Pflichten ſind im
Einzelnen aufgeführt in den §§. 12—38 des erwähnten Geſetzes,
welches durch das Geſetz vom 4. Mai 1870 betreffend die Ehe-
ſchließung und die Beurkundung des Perſonenſtandes von Reichs-
angehörigen im Auslande 1) und durch die Seemanns-Ordnung
vom 27. Dezember 1872 §. 4 2) ergänzt worden iſt. Eine aus-
führliche Dienſt-Inſtruktion für die Reichskonſuln hat der Reichs-
kanzler am 6. Juni 1871 erlaſſen 3), ferner eine beſondere In-
ſtruktion über die Gewährung des Schutzes im Türkiſchen Reiche
mit Einſchluß von Aegypten, Rumänien und Serbien, ſowie in
China und Japan am 1. Mai 1872 4). Außerdem beſtimmt ſich
der Geſchäftskreis der Reichskonſuln durch den Inhalt der vom
Reiche abgeſchloſſenen Conſular-Verträge 5).


Die Konſuln ſind entweder Wahlkonſuln, welche ihr
Amt als unbeſoldetes Ehrenamt verwalten und deren Anſtellung
jederzeit ohne Entſchädigung widerruflich iſt 6), oder Berufs-
konſuln
, welche beſoldete Reichsbeamte ſind 7). Alle Reichs-
konſuln erhalten eine Kaiſerliche Beſtallung 8).


3)


[333]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

Die Reichskonſulate ſind entweder Generalkonſulate oder Kon-
ſulate oder Vizekonſulate. In einer Anzahl von Bezirken ſind
einem Generalkonſulate mehrere Konſulate und Vizekonſulate, oder
auch einem Konſulate Vizekonſulate untergeordnet, ſo daß die Ober-
leitung und Ueberwachung der zu ihrem Sprengel gehörigen Kon-
ſulate und Vizekonſulate dem Generalkonſul reſp. Konſul zuſteht 1).
Ueberdies haben die Reichs-Geſandtſchaften, falls im Lande der
Reſidenz des Conſuls eine ſolche beſteht, die Aufſicht über die
Geſchäftsführung zu handhaben. Berichte allgemeinen Inhalts
haben die Konſuln daher in der Regel, wenn im Lande ihrer
Reſidenz ein Kaiſerl. Geſandter beglaubigt iſt, durch deſſen Hand
zu ſenden und ebenſo haben diejenigen Conſuln und Vicekonſuln,
welche einem Generalconſul unterſtehen, ihre Berichte allgemeinen
Inhaltes durch die Hand des Generalkonſuls gehen zu laſſen.


Den Konſuln iſt es geſtattet nach zuvor eingeholter Geneh-
migung des Reichskanzlers in ihrem Amtsbezirke Konſular-
Agenten
zu beſtellen. Dieſelben ſind aber keine ſelbſtſtändigen
Organe des Reiches, ſie haben vielmehr nur die Beſtimmung, dem
Conſul bei Ausübung ſeiner Funktionen zur Hand zu gehen 3).
Sie handeln daher ſtets nur im Auftrage des Konſuls und unter
deſſen Verantwortlichkeit und es können ihnen nur ſolche Amts-
handlungen übertragen werden, welche keine obrigkeitlichen
Befugniſſe vorausſetzen 4).


3. Wiſſenſchaftliche Inſtitute des Reiches im Aus-
lande, insbeſondere die archäologiſchen Anſtalten in Rom und in
Athen 5).


III.Die Admiralität.

Die Verfaſſung des Nordd. Bundes Art. 53 beſtimmte, daß
die Bundes-Kriegsmarine eine einheitliche iſt und daß der zur
2)
[334]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
Gründung und Erhaltung der Kriegsflotte und der damit zuſam-
menhängenden Anſtalten erforderliche Aufwand aus der Bundes-
kaſſe beſtritten wird; ſie ſtellte aber die Kriegsmarine nicht unter
den Oberbefehl und die Verwaltung des Präſidiums, ſondern ſie
enthielt die Anordnung, daß die Bundeskriegsmarine unter Preu-
ßiſchem
Oberbefehl ſteht und daß die Organiſation und Zuſam-
menſetzung derſelben Seiner Majeſtät dem Könige von
Preußen
obliegt, welcher die Offiziere und Beamten der Marine
ernennt. In Folge dieſer Verfaſſungs-Beſtimmungen wurden ſeit
Gründung des Nordd. Bundes die für die Kriegs-Marine erforder-
lichen Ausgaben zwar in den Etat des Bundes aufgenommen; es
wurden aber weder für den Oberbefehl noch für die Verwaltung
der Marine Bundesbehörden errichtet, ſondern die dafür beſtehen-
den Preußiſchen Behörden blieben in Wirkſamkeit. Für Preu-
ßen waren zur Zeit der Gründung des Nordd. Bundes in dieſer
Beziehung die Anordnungen des Allerh. Erl. v. 16. April 1861 1)
und des vom Könige vollzogenen Regulatives v. 30. April 1861 2)
maaßgebend. Nach dem Erl. v. 16. April 1861 beſtanden für die
Marine-Angelegenheiten zwei geſonderte Behörden, die eine für
den Oberbefehl, unter der Bezeichnung: Oberkommando der
Marine
, die andere für die Verwaltung unter dem Namen:
Marine-Miniſterium. Das erwähnte Regulativ ordnete das
gegenſeitige Verhältniß der beiden Behörden. Der Oberbefehls-
haber der Marine hatte dieſelbe Stellung wie ein kommandirender
General; er ſtand unter dem unmittelbaren Befehl des Königs;
er war zugleich General-Inſpekteur der Marine; ihm waren unter
eigener Verantwortlichkeit alle im activen Dienſte befindlichen ma-
ritimen Streitkräfte direct untergeordnet; er hatte dem Marine-
Miniſter gegenüber dieſelbe Stellung wie ein kommandirender
General dem Kriegsminiſterium gegenüber. Der Marine-Miniſter
war der Chef der Marine-Verwaltung und hatte als ſolcher die-
ſelben Pflichten und Rechte, welche dem Kriegsminiſter als Chef
der Armee-Verwaltung überwieſen ſind. Einige Anſtalten reſſor-
[335]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
tirten gemeinſchaftlich von dem Oberkommando und dem Miniſte-
rium. Das Marine-Miniſterium war durch Allerh. Erl. v. 16.
April 1861 dem damaligen Kriegs-Miniſter v. Roon neben ſeinem
bisherigen Reſſort übertragen. Unter ſeiner Oberaufſicht und Ver-
antwortlichkeit leitete die Geſchäfte des Marine-Miniſteriums ein
„Präſes“, welcher die Rechte und Pflichten eines Departements-
Direktors im Kriegs-Miniſterium hatte.


Dieſe Organiſation beſtand unverändert bis zum Jahre 1871
fort. Nachdem aber die Stelle des Oberbefehlshabers der Marine
erledigt war und durch eine Königl. Ordre v. 29. Juli 1870 in-
terimiſtiſch die Funktionen des Oberkommando’s dem Marine-
Miniſterium übertragen worden waren, erging am 15. Juni 1871
ein Allerh. Erlaß, welcher beſtimmte, daß das Oberkommando der
Marine als geſonderte Behörde aufgehoben bleibt und ſeine Funk-
tionen auf das Marine-Miniſterium übergehen. Gleichzeitig wurde
das Regulativ v. 30. April 1861, welches das Nebeneinander-
Beſtehen zweier Marine-Behörden vorausſetzt, durch ein neues, auf
die vereinfachte Organiſation paſſendes Regulativ erſetzt. Dieſer
Allerh. Erl. iſt gerichtet an den Reichskanzler und an den (Preu-
ßiſchen) Marine-Miniſter, iſt von dieſen beiden gegengezeichnet,
und iſt ſowohl im Reichsgeſetzblatt (S. 272) als auch in der Preuß.
Geſetzſammlung veröffentlicht. Es war dies auch erforderlich, denn
er betraf die Organiſation einer Preußiſchen Behörde, deren
Koſten aber im Reichshaushalts-Etat normirt waren und welche
in der Reichsverfaſſung wenigſtens z. Th. ihre geſetzliche Grund-
lage hatte. Da die Verbindung der Stellung des Preußiſchen
Kriegsminiſters und der des Preuß. Marineminiſters fortdauerte,
ſo wurde auch der Präſes als unmittelbarer Leiter der Geſchäfte
des Marine-Miniſteriums beibehalten. Nach dem Regulativ v. 15.
Juni 1871 Z. 3 iſt derſelbe in allen Beziehungen der ſtetige Ver-
treter des Miniſters, ihm iſt das geſammte Perſonal des Marine-
Miniſteriums untergeben, ſowie ſämmtliche Perſonen und Behörden
der Marine-Verwaltung. „Derſelbe iſt mitverantwortlich
für eine geregelte, einheitliche und ſachgemäße Behandlung der
Geſchäfte der geſammten Marine-Verwaltung. Er entſcheidet nnd
unterzeichnet ſelbſtſtändig in allen den Angelegenheiten, in denen
der Miniſter ſich die Entſcheidung nicht vorbehalten hat.“


Von einer Oberaufſicht und Oberleitung des Reichskanzlers
[336]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
und einer Verantwortlichkeit deſſelben iſt weder in dem Erl. v. 15.
Juni 1871 noch in dem Regulativ die Rede; die Verantwortlich-
keit des Reichskanzlers beſtand aber jedenfalls für die Beobachtung
des durch Reichsgeſetz feſtgeſtellten Etats. Die Reorganiſation der
oberſten Marinebehörde, welche durch den Allerh. Erl. v. 1871
angeordnet worden war, kam in dem Reichshaushalts-Etat für
1872 zur Erſcheinung 1) und erhielt durch die Bewilligung des
Etats Seitens des Reichstages deſſen Zuſtimmung.


War ſchon nach der Verf. des Nordd. Bundes die völlige
Trennung der Marine-Verwaltung von der Verwaltung des Bun-
des und ihre vollſtändige Uebertragung auf eine Preußiſche Behörde
anomal, ſo war dieſe Einrichtung nach der Redaktion der Reichs-
verfaſſung vom 16. April 1871 gradezu verfaſſungswidrig. Denn
der Art. 53 derſelben kennt keinen Preußiſchen Oberbefehl und
keine Verwaltungsbefugniſſe des Königs von Preußen mehr, ſon-
dern ſpricht lediglich vom Kaiſer. Der Kaiſer aber hat nur einen
verantwortlichen Miniſter und das iſt der Reichskanzler. Dieſer
Mißſtand wurde beſeitigt durch den Allerh. Erlaß v. 1. Januar
1872, der lediglich an den Reichskanzler gerichtet, von ihm gegen-
gezeichnet und nur durch das Reichsgeſetzblatt (1872 S. 5) ver-
öffentlich worden iſt. Nach dieſem Erlaß ſoll die durch das Regu-
lativ v. 15. Juni 1871 geſchaffene, einheitliche, obere Marinebe-
hörde fortdauern, aber fortan den Namen „Kaiſerliche Admiralität“
führen und einen Chef zum Vorſtande erhalten, welcher die Ver-
waltung unter der Verantwortlichkeit des Reichskanz-
lers
und den Oberbefehl nach den Anordnungen des Kaiſers zu
führen hat.


Seit dieſem Erlaß iſt die Admiralität eine Reichsbehörde,
welche neben dem Reichskanzler-Amte und dem Auswärtigen Amte,
beiden coordinirt, unter dem Reichskanzler ſteht und welche ebenſo,
wie die beiden anderen großen Centralbehörden des Reiches einen
Chef von Rang und Stellung eines (Preußiſchen) Staatsminiſters
[337]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
hat. Für die Einrichtung und den Geſchäftskreis der Admiralität
iſt das Regulat. v. 15. Juni 1871 noch in Geltung.


Der Chef der Admiralität vereinigt in ſeiner Perſon
die Dienſtbefugniſſe des Oberkommando’s und die Rechte und
Pflichten des Verwaltungschefs. Behufs der Kontrole über die
Ausführung der Kaiſerl. Befehle und der reglementar. Miniſterial-
vorſchriften werden die Theile der Marine regelmäßigen Inſpizi-
rungen unterworfen, die entweder im Namen des Kaiſers durch
den General-Inſpekteur der Marine, oder im Auftrage des
Marineminiſters durch einen älteren Seeoffizier wahrzunehmen ſind.
Der General-Inſpekteur hat über das Reſultat der Inſpizirungen
dem Kaiſer direct zu berichten 1). Außerdem kann der Chef der
Admiralität zur Löſung ſchwieriger Fragen organiſatoriſcher und
techniſcher Natur einen Admiralitätsrath berufen und dieſem
die Fragen zur Begutachtung vorlegen. Den Vorſitz des Admira-
litätsrathes führt der Chef; der General-Inſpekteur iſt ſtändiges
Mitglied; außerdem beſteht derſelbe aus den vom Chef bezeich-
neten Mitgliedern der Admiralität und anderen, von ihm dazu
berufenen Seeoffizieren, Beamten und Technikern.


Der doppelte Urſprung und Geſchäftskreis der Admiralität
zeigt ſich ſowohl in ihrer Einrichtung als in den von ihr reſſorti-
renden Behörden. Die der Admiralität obliegenden Geſchäfte ſind
in Dezernate eingetheilt, von denen die militäriſchen zu einer
Abtheilung und die techniſchen ebenfalls zu einer Abtheilung (De-
partement) zuſamengefaßt ſind.


An der Spitze der militäriſchen Abtheilung ſteht unter dem
Chef der Admiralität der „Chef des Stabes,“ an der Spitze des
techniſchen Departements ein „Direktor der Admiralität.“ Außer-
dem gehören zum Geſchäftskreiſe der Admiralität noch eine Anzahl
von „Allgemeinen Dezernaten“ 2) und das „Hydrographiſche Bu-
reau.“


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 22
[338]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

Für die von der Admiralität reſſortirenden Behörden iſt das
Prinzip entſcheidend, daß die geſammte Marine in 2 Flottenſta-
tionen getheilt iſt, welche man den Diviſionen eines Armeecorps
vergleichen kann. Die eine iſt die der Oſtſee mit dem Reichskriegsha-
fen Kiel, die andere iſt die der Nordſee mit dem Reichskriegshafen
Wilhelmshaven. Die maritime Grenze zwiſchen den beiden Bezir-
ken bildet das Breiten-Parallel von Skagen. Zu beiden Flotten-
ſtationen gehören ſowohl Kommando-Behörden als auch Verwal-
tungs-Behörden nebſt Schiffswerften, Bildungs- und wiſſenſchaft-
lichen Anſtalten.


Dieſem allgemeinen Organiſations-Prinzip gemäß gliedern
ſich die, von der Admiralität reſſortirenden Behörden in folgen-
der Art 1).


1. Kommando-Behörden.


  • a) Die beiden Marine-Stations-Kommandos zu Kiel
    und Wilhelmshaven, an deren Spitze als Marine-Stations-
    Chef je ein See-Offizier mit den Befugniſſen eines Divi-
    ſions-Kommandeurs der Armee ſteht. Dieſelben verſehen
    die Funktionen eines militäriſchen Befehlshabers aller zur
    Station gehörenden Perſonen, Befeſtigungen, Schiffe und
    Fahrzeuge, ſowie eines Inſpekteurs der techniſchen und
    Bildungs-Inſtitute.
  • b) Die beiden Matroſen-Diviſionen in Kiel und in
    Wilhelmshaven. Zu jeder derſelben gehören 4 Abtheilungen;
    der Kommandeur hat im Allgemeinen die Rechte und Pflichten
    eines Regiments-Kommandeurs, der Abtheilungsführer die
    eines Bataillons-Kommandeurs.
  • c) Die beiden Werft-Diviſionen in Kiel und in Wil-
    helmshaven. Sie beſtehen aus einer Maſchiniſten-Abthei-
    lung und einer Handwerker-Abtheilung; bezüglich des Kom-
    mandeurs und der Abtheilungsführer gilt das bei den
    Matroſen-Diviſionen Geſagte.
  • d) Die Schiffsjungen-Abtheilung zu Friedrichsort. Sie
    hat den Zweck, Matroſen und Unteroffiziere heranzubilden;
    [339]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
    der Kommandeur hat die Rechte und Pflichten eines deta-
    chirten Bataillons-Kommandeurs.
  • e) Das Seebataillon, mit dem Stabe und 4 Kompagnien
    in Kiel, 2 Kompagnien in Wilhelmshaven. Daſſelbe iſt
    vorzugsweiſe für den Wacht- und Garniſondienſt in den
    Marine-Etabliſſements und an Bord der Kriegsſchiffe be-
    ſtimmt. Der Kommandeur hat die Rechte und Pflichten
    eines Regiments-Kommandeurs.
    Attachirt iſt die Stabswache, welche den Polizei-
    dienſt auf den Werften zu verſehen hat.
  • f) Die See-Artillerie-Abtheilung, mit dem Stabe
    und 2 Kompagnien in Friedrichsort, 1 Komp. in Wilhelms-
    haven, zur Vertheidigung der Hafen- und Küſtenbefeſti-
    gungen und zur Ausführung artilleriſtiſcher Arbeiten. Der
    Kommandeur hat die Rechte und Pflichten eines Regiments-
    Kommandeurs.
  • g) Die Kommandantur zu Kiel. Von derſelben reſſortirt
    der Garniſondienſt, die Garniſon-Polizei, die Aufſicht über
    die Garniſon- und Lazareth-Anſtalten und die Handhabung
    der Gerichtsbarkeit über die Garniſon.

2. Verwaltungs-Behörden.


  • a) Die beiden Marine-Stations-Intendanturen
    zu Kiel und zu Wilhelmshaven. Ihre Einrichtung beruht auf dem
    Allerh. Erlaß v. 18. Juni 1872 (R.-G.-Bl. S. 361); ſie ſind ſeit
    dem 1. Okt. 1872 an die Stelle der ehemal. Preuß. Marine-In-
    tendantur getreten. Jede Intendantur zerfällt in zwei Abtheilungen,
    von denen die erſte das Kaſſenweſen der Schiffe und Marine-
    theile, die Gehalts- und Löhnungs-Kompetenzen, das Proviant-
    weſen und Bekleidungsweſen, die zweite die Garniſon-Verwal-
    tungen, die ökonomiſche Verwaltung der Lazarethe und Bildungs-
    Anſtalten, die Garniſon-Bauſachen, die Servis- und Naturalquar-
    tier-Angelegenheiten zu bearbeiten hat.
  • b) Die drei Werften zu Danzig, Kiel und Wilhelmshaven.
    Dieſelben ſind der Admiralität unmittelbar untergeordnet. Ihr
    Geſchäftskreis umfaßt Schiffbau, Maſchinenbau, Hafenbau, Aus-
    rüſtung, Armirung, ſowie alle Verwaltungs-Angelegenheiten
    der Werft. An der Spitze jeder Werft ſteht ein See-Offizier
    als Ober-Werft-Direktor. Unter ihm fungiren für die einzelnen
    22*
    [340]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
    Geſchäftszweige als Referenten und Vorſteher je 6 Werft-Direk-
    toren 1), denen die Ingenieure zugeordnet ſind.
  • c) Die beiden Marine-Artillerie-Depots zu Kiel und
    zu Wilhelmshaven.

3. Wiſſenſchaftliche Anſtalten.


  • a) Die Marine-Akademie zu Kiel hat die Aufgabe, den
    See-Offizieren Gelegenheit zu einer höheren wiſſenſchaftlichen
    Ausbildung in den Berufsfächern zu geben.
  • b) Die Marine-Schule zu Kiel. Dieſelbe bildet die Ka-
    detten zur See-Kadetten-Prüfung und die in der erſten See-Offi-
    ziers-Prüfung beſtandenen Unter-Lieutenants zur See zur „See-
    Offizier-Berufs-Prüfung“ vor.
  • c)Das Hydrographiſche Büreau der Kaiſerlichen Ad-
    miralität 2).
  • d) Die Deutſche Seewarte in Hamburg3).

Unter dieſem Namen beſtand ſeit 1868 in Hamburg eine
Privat-Anſtalt, welche ſich die Erforſchung der meteorologiſchen und
phyſikaliſchen Verhältniſſe des Meeres zur Aufgabe geſtellt hatte
und für die Handelsmarine ungefähr daſſelbe leiſtete, was das
„hydrographiſche Büreau“ der Admiralität für die Kriegsmarine
zu thun beſtimmt war. Seit dem Jahre 1870 ſind dieſem Inſtitute
Jahreszuſchüſſe aus Reichsmitteln gewährt worden, um ſeine Er-
haltung zu ſichern. Da dieſes Inſtitut jedoch den Bedürfniſſen
nicht zu genügen vermochte, was durch eine im Jahre 1873 auf
Veranlaſſung des Reichskanzler-Amtes zuſammenberufene Kommiſ-
ſion nautiſcher und meteorologiſcher Sachverſtändiger beſtätigt wurde,
ſo beſchloß die Reichsregierung, daſſelbe in eine Reichs-Anſtalt
umzuwandeln und legte zu dieſem Zwecke dem Reichstage am 18.
Nov. 1874 einen beſonderen Geſetz-Entwurf vor.


In dem Geſetz v. 9. Januar 1875 §. 1 (R.-G.-Bl. S. 11)
wird die Aufgabe dieſer Anſtalt dahin beſtimmt: „Die Kenntniß
[341]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
der Naturverhältniſſe des Meeres, ſoweit dieſe für die Schifffahrt
von Intereſſe ſind, ſowie die Kenntniß der Witterungserſcheinungen
an den Deutſchen Küſten zu fördern und zur Sicherung und Er-
leichterung des Schifffahrtsverkehrs zu verwerthen.“ Im Uebrigen
ſoll der Geſchäftskreis der Seewarte, ihre Einrichtung und Ver-
waltung im Einvernehmen mit dem Bundesrathe durch Kaiſerliche
Verordnung feſtgeſtellt werden. (§. 4.) Es iſt aber im §. 2 des
Geſetzes ausdrücklich angeordnet, daß die Seewarte zum Reſſort
der Kaiſerlichen Admiralität gehört.


Untergeordnet ſind ihr die an geeigneten Küſtenplätzen errich-
teten Beobachtungs- und Signalſtellen.


IV.Das Reichs-Eiſenbahn-Amt.

Durch das Geſetz v. 27. Juni 1873 (R.-G.-Al. S. 164) iſt
unter dieſem Namen eine Reichsbehörde in Berlin eingerichtet
worden, welche im §. 1 des Geſetzes als „eine ſelbſtſtändige Cen-
tralbehörde“ bezeichnet wird und über welche §. 3 eod. beſtimmt,
daß ſie ihre Geſchäfte unter Verantwortlichkeit und nach den An-
weiſungen des Reichskanzlers führt. Durch dieſe Beſtimmungen iſt
dem Reichs-Eiſenbahn-Amt eine Stelle nicht innerhalb des
Reichskanzler-Amts gegeben worden, wie dem Reichs-Juſtiz-Amt,
ſondern neben demſelben, wie dem Auswärtigen Amte und der
Admiralität.


Die Behörde beſteht aus einem Vorſitzenden, welcher nach der
im Geſetz vom 30. Juni 1873 gegebenen Klaſſifikation der Reichs-
beamten (R.-G.-Bl. S. 169) den Direktoren im Reichskanzleramt
gleichgeſtellt iſt, und der erforderlichen Anzahl von Räthen.
Außerdem können im Falle des Bedürfniſſes Reichs-Eiſenbahn-
Kommiſſare
beſtellt werden, welche vom Reichs-Eiſenbahn-Amte
ihre Inſtructionen empfangen. Ihre Abſendung iſt für den Fall
vorbehalten, daß die dem Reiche zuſtehende Aufſicht an Ort und
Stelle gehandhabt werden ſoll. Der Vorſitzende und die Mitglieder
des Reichs-Eiſenbahn-Amtes, ſowie die Kommiſſare werden vom
Kaiſer ernannt, die Ernennung der Subaltern- und Unterbeamten
iſt dem Reichskanzler übertragen. (§. 2 Abſ. 1 des cit. Geſ.)


Das Reichs-Eiſenbahn-Amt hat die Aufgabe, die in den Art.
41—47 der R.-V. dem Reiche zugeſchriebenen Befugniſſe hinſicht-
lich des Eiſenbahnweſens zu handhaben. Das Verhältniß des
[342]§. 34. Der Reichs-Verwaltungsbehörden.
Reichs-Eiſenbahn-Amtes zum Bundesrath iſt daſſelbe, welches
zwiſchen anderen Verwaltungsbehörden des Reiches, z. B. dem
Generalpoſtamt, und dem Bundesamt beſteht. An der dem Bun-
desrath nach Art. 7 der Reichs-Verfaſſung zuſtehenden Kompetenz,
allgemeine Anordnungen zu erlaſſen, iſt durch die Errichtung des
Reichs-Eiſenbahn-Amtes Nichts geändert worden; das Reichs-Eiſen-
bahn-Amt verwaltet vielmehr als ſelbſtſtändige Behörde nur ſolche
Geſchäfte, welche, falls das Reichs-Eiſenbahn-Amt nicht exiſtiren
würde, der Central-Abtheilung des Reichskanzler-Amtes kraft ihres
univerſellen und ſubſidiären Geſchäftsauftrages obliegen würden.


In Folge des im Art. 46 Abſ. 2 der Reichs-Verfaſſung be-
gründeten Sonderrechts Bayern’s ergiebt ſich, daß die Thätigkeit
des Reichs-Eiſenbahn-Amtes Bayern gegenüber im Weſentlichen aus-
geſchloſſen iſt. Nur ſoweit die Art. 41. 46 Abſ. 3 und 47 der
Reichs-Verfaſſung Veranlaſſung zu einem Einſchreiten des Reichs-
Eiſenbahn-Amtes oder zu einer Vorbereitung oder Begutachtung
von Geſetz-Entwürfen geben ſollten, würde die Kompetenz des
Reichs-Eiſenbahn-Amtes auch auf Bayern ſich erſtrecken.


Da die im Art. 41 und 46 Abſ. 3 erwähnten Befugniſſe des
Reiches nur im Wege der Geſetzgebung ausgeübt werden können,
ſo erſtreckt ſich die Verwaltungscompetenz (Oberaufſicht) des Reiches
nur auf folgende Punkte: Aufſtellung einheitlicher Normen für
die Anlage und Ausrüſtung im Intereſſe des Verkehrs und der
Sicherheit, Erlaß eines Bau-Reglements, Betriebs-Reglements,
Bahnpolizei-Reglements (Art. 42. 43); Controle der Fahrpläne
für den Perſonen- und Güterverkehr (Art. 44); das Tarifweſen
(Art. 45. 46); Leiſtungen für militäriſche Zwecke. (Art. 47) 1).
In allen dieſen Beziehungen können allgemeine Verordnungen
nur vom Bundesrathe erlaſſen werden; dem Reichs-Eiſenbahn-Amt
aber liegt es ob, die allgemeine, dem Reiche nach Art. 4 der
Reichs-Verfaſſung zuſtehende Aufſicht über das Eiſenbahn-Weſen
wahrzunehmen und auf Abſtellung der hervortretenden Mängel und
Mißſtände hinzuwirken, ſodann aber namentlich: „für die Aus-
führung
der in der Reichsverfaſſung enthaltenen Beſtimmungen,
[343]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
ſowie der ſonſtigen auf das Eiſenbahn-Weſen bezüglichen Geſetze
und verfaſſungsmäßigen Vorſchriften — (zu denen die verfaſſungs-
mäßigen Bundesraths-Verordnungen gehören) — Sorge zu tra-
gen“ 1). Zu dieſem Zwecke iſt das Reichs-Eiſenbahn-Amt befugt,
innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit über alle Einrichtungen und Maaß-
regeln von den Eiſenbahn-Verwaltungen Auskunft zu fordern.


Die ſouveräne Reichsgewalt in Eiſenbahn-Angelegenheiten
wird auf 3 verſchiedenen Wegen zur Geltung gebracht, je nach-
dem ſich eine Verfügung des Reichs-Eiſenbahn-Amtes gegen die
Verwaltung von Reichs-Eiſenbahnen, von Staats-Eiſenbahnen oder
von Privat-Eiſenbahnen richtet. Am einfachſten geſtaltet ſich die
Sache den Reichseiſenbahnen gegenüber, da die Verwaltung
derſelben in letzter Inſtanz dem Reichskanzler zuſteht 2); derſelbe
bringt daher die Verfügungen des Reichs-Eiſenbahn-Amtes unmit-
telbar zum Vollzuge, indem er die ihm untergeordneten Verwal-
tungsbehörden mit der erforderlichen Anweiſung verſieht.


Den Privatbahnen gegenüber iſt das Reichs-Eiſenbahn-
Amt ausgeſtattet worden mit allen denjenigen Befugniſſen, welche
den Aufſichtsbehörden der betreffenden Bundesſtaaten nach Maaß-
gabe der einzelnen Partikularrechte zuſtehen. Jedoch kann das
Reichs-Eiſenbahn-Amt keine direkten Zwangsmaaßregeln verfügen,
ſondern es muß ſich an die Eiſenbahn-Aufſichtsbehörden der Ein-
zelſtaaten
wenden, welche nach §. 5 Z. 1 des Geſetzes v. 27.
Juni 1873 gehalten ſind, den deshalb an ſie ergehenden Requi-
ſitionen zu entſprechen.


Endlich den Staats-Eiſenbahn-Verwaltungen gegen-
über hat das Reich keine anderen Mittel als ihm überhaupt gegen
die Regierungen der Einzelſtaaten zuſtehen; nämlich einen Beſchluß
des Bundesraths nach Art. 7 Nro. 3 oder eine Verfügung des
Kaiſers auf Grund des Art. 17 der Reichs-Verfaſſung und äußerſten
Falles die Vollſtreckung der Exekution nach Art. 19 der Reichs-
Verfaſſung.


Ueber den Recurs gegen Verfügungen des Reichs-Eiſenbahn-
Amtes ſiehe unten §. 36.


[344]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
V.Die Reichsbank-Behörden1).

Die auf Grund des Reichsgeſetzes vom 14. März 1875
(R.G.-Bl. S. 177) errichtete Reichsbank 2) iſt eine von dem Fis-
kus des Reiches verſchiedene, ihm gegenüber ſelbſtſtändige juri-
ſtiſche Perſon privatrechtlichen Charakters
3). Die
ihr zugewieſene Aufgabe, „den Geldumlauf im geſammten Reichs-
gebiete zu regeln, die Zahlungs-Ausgleichungen zu erleichtern und
für die Nutzbarmachung verfügbaren Kapitals zu ſorgen“, greift
aber zugleich ein in die dem Reiche obliegende öffentlich rechtliche
Pflicht zur Pflege der Wohlfahrt des deutſchen Volkes“ (Einl. zur
R.-V.) Daſſelbe gilt von dem ihr übertragenen Rechte zur Ausgabe
von Banknoten. Das Reich ſteht demgemäß in einem doppelten
Verhältniß zur Reichsbank, in einem privatrechtlichen und einem
öffentlich rechtlichen. Das privatrechtliche Verhältniß beruht da-
rauf, daß der Reichsfiskus Mitglied der, den Namen Reichs-
bank führenden, juriſtiſchen Perſon iſt, an dem Reingewinn der-
ſelben einen Antheil hat und zur Vertretung und Geſchäftsführung
für dieſe juriſtiſche Perſon befugt iſt. Das öffentlich rechtliche
Verhältniß kann man im Anſchluß an die ältere ſtaatsrechtliche
Ausdrucksweiſe als Bankhoheit bezeichnen; es beſteht in der
ſtaatlichen Aufſicht über den Wirkungskreis und die Tendenzen
der Bank, in der Wahrnehmung der volkswirthſchaftlichen, handels-
politiſchen, finanziellen Intereſſen des Reiches der Reichsbank ge-
genüber. Der Gegenſatz dieſer beiden Verhältniſſe läßt ſich auch
in der Art ausdrücken, daß in der erſten Beziehung das Reich
innerhalb der juriſtiſchen Perſon, welche Reichsbank heißt, eine
rechtliche Stellung hat, in der zweiten Beziehung über dieſer
privatrechtlichen Perſon ſteht. Das Reich hat innerhalb der
Reichsbank Rechte deſſelben Charakters, wie ſie der Direktor oder
[345]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
Vorſtand irgend einer Aktiengeſellſchaft ebenfalls hat; über die
Reichsbank aber übt das Reich als Perſon des öffentlichen Rechts
Hoheitsrechte aus, wie ſie ihm auch Privat-Banken gegenüber
zuſtehen 1).


Dieſem doppelten Verhältniß des Reiches zur Reichsbank
entſpricht es, daß zwei verſchiedene Reichsbank-Behörden beſtehen,
von denen die eine das Hoheitsrecht des Reiches, die Aufſicht
über die Reichsbank, die andere das privatrechtliche Mitgliedſchafts-
recht des Reiches, die Leitung der Reichsbank, wahrzunehmen
hat. Die begriffliche Verſchiedenheit beider Behörden und der
ihnen obliegenden Funktionen wird nur dadurch thatſächlich etwas
verdunkelt, daß dieſelbe Perſon, nämlich der Reichskanzler, an der
Spitze beider ſteht.


1. Das Bank-Kuratorium2).


Dies iſt die Behörde zur Handhabung des ſtaatlichen Hoheits-
rechtes. Mit der Führung der Bankgeſchäfte und der Vertretung der
Reichsbank hat ſie Nichts zu thun; ihr liegt vielmehr ob „die dem
Reiche zuſtehende Aufſicht über die Reichs-Bank auszuüben“ 3).


Den Vorſitz dieſer Behörde führt der Reichskanzler. Sie
beſteht außerdem aus vier Mitgliedern, von denen eines der Kaiſer
ernennt, die drei anderen der Bundesrath wählt. Das Kurato-
rium iſt keine ſtändig arbeitende Behörde; es verſammelt ſich viel-
mehr nur vierteljährlich einmal und empfängt in dieſen Verſamm-
lungen einen Bericht über den Zuſtand der Bank und alle darauf
Bezug habenden Gegenſtände und es wird ihm eine allgemeine
Rechenſchaft von allen Operationen und Geſchäftseinrichtungen der
Bank ertheilt 4).


Von einer Beſchlußfaſſung des Bank-Kuratoriums ſchweigt
das Geſetz vollſtändig. Anordnungen, welche für die Leitung der
Reichsbank verbindliche Kraft hätten, kann das Bank-Kuratorium
als ſolches nicht treffen; wohl aber kann der Reichskanzler als
[346]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
Direktor der Reichsbank Anſichten oder Wünſche, welche bei einer
Sitzung des Kuratoriums geäußert worden ſind, ohne Weiteres
zur Geltung bringen — wenn er will.


Dagegen iſt nicht zu bezweifeln, daß das Bank-Kuratorium,
wenn es hinſichtlich der Geſchäftsleitung der Reichsbank Mängel
oder Unzuträglichkeiten oder gar Geſetzeswidrigkeiten bemerkt, da-
rüber dem Bundesrath einen Bericht erſtatten und dadurch ein
Einſchreiten des Bundesrathes nach Art. 7 der R.-V hervorrufen
kann. Hierzu bedarf es aber allerdings eines förmlichen Beſchluſſes
des Bank-Kuratoriums gar nicht. Die vom Bundesrath gewähl-
ten Mitglieder können die Bemerkungen, zu welchen ihnen der
Bericht über den Zuſtand und die Operationen der Reichsbank
etwa Veranlaſſung giebt, der Regierung des Staates, den ſie im
Bundesrathe vertreten, mittheilen und es ſteht dann nach Art. 7
Abſ. 2 der R.-V. jedem Bundesgliede frei, Vorſchläge dem Bun-
desrathe zu machen.


Der praktiſche Zweck des Bank-Kuratoriums iſt jedenfalls
vorzugsweiſe darin zu ſehen, den Regierungen der Einzelſtaaten
einen Einblick in die Geſchäftslage und Einrichtungen der Bank
zu ermöglichen.


2. Das Bank-Direktorium1).


Die Reichsbank iſt organiſirt nach der allgemeinen Schablone,
nach welcher die Verfaſſung faſt aller Korporationen und insbe-
ſondere aller Aktien-Vereine gebildet iſt.


Die Organe der juriſtiſchen Perſon ſind einerſeits die Gene-
ral-Verſammlung
der Mitglieder und ein von derſelben ge-
bildeter, mit der Wahrnehmung ihrer Rechte betrauter Ausſchuß,
der gewöhnlich Aufſichtsrath oder Verwaltungsrath heißt,
für die Kontrole, Beſchlußfaſſung über allgemeine Einrichtungen,
Anordnungen wichtiger Maßregeln, Statutenänderungen u. dgl.
und andererſeits der Vorſtand oder Direktor für Vertretung und
Geſchäftsführung. Bei der Reichsbank iſt dieſe Organiſation in
der Art durchgeführt, daß die Eigenthümer der Bank-Antheile
(Aktionäre) die Generalverſammlung bilden und aus ihrer
Mitte den Centralausſchuß (Aufſichtsrath) wählen 2), daß das
[347]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
Reich dagegen die Funktionen des Vorſtandes oder Direktors
ausübt und zwar unter dem Namen „Bank-Direktorium“.


Das Bank-Direktorium iſt demnach keine Behörde mit
öffentlich rechtlicher Amtsgewalt, ſondern eine Vertetung
des Reichsfiskus; dadurch aber unterſchieden von allen anderen
fiskaliſchen Behörden oder Stationen, daß der Reichsfiskus durch
ſie nicht unmittelbar als Perſon des Privatrechtes dem Publikum
gegenüber vertreten, reſp. berechtigt und verpflichtet wird, ſondern
daß der Reichsfiskus nur als Mitglied und Vorſtand einer ande-
ren privatrechtlichen Perſon, nämlich der Bank, auftritt. Das
Bank-Direktorium iſt demnach der Reichs-Bank gegenüber Ver-
treter des Reichsfiskus
und befugt, alle Rechte auszuüben,
welche dem Reichsfiskus als Mitglied der Reichsbank zuſtehen;
dagegen dem Publikum gegenüber iſt das Bank-Direktorium Ver-
treter der Reichsbank
. „Das Reichsbank-Direktorium iſt
die verwaltende und ausführende, ſowie die, die Reichsbank nach
außen vertretende Behörde“ 1).


Das Direktorium beſteht aus einem Präſidenten und Mit-
gliedern, welche auf den Vorſchlag des Bundesrathes vom Kaiſer
auf Lebenszeit ernannt werden. Es faßt ſeine Beſchlüſſe zwar nach
Stimmenmehrheit, iſt aber keine unabhängige, collegialiſche Behörde,
ſondern „es hat bei ſeiner Verwaltung überall den Vorſchriften
und Weiſungen des Reichskanzlers Folge zu leiſten 2)“.


Der eigentliche Direktor der Reichsbank iſt der Reichskanzler;
das Bank-Direktorium iſt nur ſein Bureau, ſein Hülfsperſonal,
deſſen er ſich in ſeiner Eigenſchaft als Bank-Direktor bedient 3).


„Die dem Reiche zuſtehende Leitung der Bank wird vom
Reichskanzler
, und unter dieſem von dem Reichsbank-
Direktorium ausgeübt 4)“. „Der Reichskanzler leitet die geſammte
Bankverwaltung innerhalb der Beſtimmungen des Bankgeſetzes
2)
[348]§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
und Bankſtatutes. Er erläßt die Geſchäftsanweiſungen für das
Reichsbank-Direktorium und für die Zweiganſtalten, ſowie die
Dienſtinſtruktionen für die Beamten der Bank, und verfügt die
erforderlichen Abänderungen der [beſtehenden] Geſchäftsanweiſungen
und Dienſtinſtruktionen“ 1).


Es kann demnach keinem Zweifel unterliegen, daß die ſtaats-
rechtliche und politiſche Verantwortlichkeit für die geſammte
Leitung der Reichsbank nicht dem Reichsbank-Direktorium, ſondern
dem Reichskanzler obliegt.


In Behinderungsfällen des Reichskanzlers wird die Leitung
durch einen vom Kaiſer hierfür ernannten Stellvertreter wahrge-
nommen. — Die Subſtitutions-Befugniß des Reichskanzlers iſt
ſonach ausgeſchloſſen.


Den Beamten der Reichsbank ſind die Rechte und Pflichten
der Reichsbeamten beigelegt 2); ſtreng genommen ſind ſie aber
nicht Beamte des Reiches, ſondern Beamte der vom Reich ver-
ſchiedenen juriſtiſchen Perſon, welche Reichsbank heißt. Man könnte
nur den vieldeutigen Namen der „mittelbaren“ Reichsbeamten auf
ſie anwenden, wegen der Rechte des Reiches an der Reichsbank.
In finanzieller Hinſicht tritt das wahre juriſtiſche Verhältniß klar
hervor, indem die Beſoldungen, Penſionen und ſonſtigen Dienſtbe-
züge, ſowie die Penſionen und Unterſtützungen für ihre Hinter-
bliebenen nicht von der Reichskaſſe, ſondern von der Reichsbank
getragen werden 3).


Von dem Bank-Direktorium reſſortiren die Zweig-Nieder-
laſſungen
der Reichsbank, welche nach Größe und Bedeutung
ihres Geſchäfts-Umfanges in 3 Klaſſen zerfallen:


a)Reichsbank-Hauptſtellen. Sie ſind an, vom Bun-
desrathe zu beſtimmenden, größeren Plätzen zu errichten und ſtehen
unter Leitung eines aus wenigſtens 2 Mitgliedern beſtehenden
Vorſtandes und unter Aufſicht eines vom Kaiſer ernannten Bank-
Kommiſſarius. Sie ſind dadurch ausgezeichnet, daß in Nachbil-
[349]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
dung des Centralausſchuſſes und der Bankdeputirten bei ihnen
Bezirksausſchüſſe gebildet und Beigeordnete ernannt werden 1).


d)Reichsbank-Stellen. Dieſelben ſind dem Bank-
Direktorium unmittelbar untergeordnet und werden auf Anordnung
des Reichskanzlers errichtet 2).


c)Reichsbank-Kommanditen oder Agenturen.
Sie ſind einer andern Zweig-Niederlaſſung der Bank unterge-
ordnet. Ihre Errichtung ſteht dem Bank-Direktorium zu 3).


§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.

I.Die Reichsſchulden-Verwaltung.

Der Preußiſchen „Hauptverwaltung der Staatsſchulden“
iſt die Wahrnehmung der mit der Verwaltung der Reichsſchulden
verbundenen Geſchäfte unter der angegebenen Benennung über-
tragen, jedoch mit der Maaßgabe, daß „die obere Leitung dem
Reichskanzler zuſteht.“ Es iſt dieſe Anordnung zuerſt getroffen
worden durch das Geſetz vom 19. Juni 1868 über die Verwaltung
der auf Grund des Geſetzes vom 9. Nov. 1867 aufzunehmenden
Bundes-Anleihe §§. 1 und 2 (B.-G.-Bl. S. 339); ſie iſt dann
hinſichtlich aller ſpäteren Anleihen 4) und Emiſſionen von Schatz-
ſcheinen wiederholt worden. Auch die Ausfertigung der Reichs-
kaſſenſcheine iſt dieſer Behörde übertragen durch das Geſ. v. 30.
Apil 1874 §. 6. (R.-G.-Bl. S. 41.)


Auf die amtliche Thätigkeit und ſtaatsrechtliche Stellung der
Reichsſchulden-Verwaltung findet das Preuß. Geſetz vom 24.
Februar 1850 (Preuß. Geſ.-Samml. S. 57) Anwendung. Durch
den §. 6 dieſes Geſetzes iſt feſtgeſetzt, daß die Hauptverwaltung
der Staatsſchulden für eine Reihe der wichtigſten, ihr obliegenden
Geſchäfte „unbedingt verantwortlich“ iſt; in allen übrigen
Beziehungen aber iſt es ihr zur Pflicht gemacht, den Anordnungen
und Anweiſungen des Finanzminiſters Folge zu leiſten 5). Der
[350]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
Direktor und die Mitglieder der Hauptverwaltung der Staats-
ſchulden müſſen vor Antritt ihres Amtes in öffentlicher Sitzung
des Obertribunals einen Eid ſchwören, daß ſie ſich von Erfüllung
ihrer Pflichten und der ihnen mit eigener Verantwortlichkeit über-
tragenen Obliegenheiten durch keine Anweiſungen oder Verord-
nungen irgend einer Art abhalten laſſen wollen 1).


Für die Reichsſchulden-Verwaltung iſt an die Stelle des Preuß.
Finanzminiſters der Reichskanzler getreten; es iſt aber der
Kreis der im §. 6 cit. aufgeführten Geſchäfte noch darauf erſtreckt
worden, daß eine Konvertirung der Schuldverſchreibungen nur auf
Grund eines Geſetzes, und nachdem die etwa erforderlichen Mittel
bewilligt ſind, vorgenommen werden darf 2).


Der Direktor und die Mitglieder der Hauptverwaltung der
Staatsſchulden haben zu Protokoll zu erklären, daß ſie den von
ihnen nach §. 9 des Preuß. Geſetzes geleiſteten Eid auch für die
Verwaltung der Reichsſchulden als maaßgebend [anerkennen]3)


Durch die im Vorſtehenden erwähnten geſetzlichen Beſtim-
mungen iſt einerſeits die Reichsſchulden-Verwaltung hinſichtlich des
ihr obliegenden Geſchäftskreiſes mit einer Unabhängigkeit dem
Reichskanzler gegenüber ausgeſtattet, welche anderen Verwaltungs-
behörden nicht zukommt, indem ſie Anordnungen des Reichskanz-
lers, welche mit den geſetzlichen Vorſchriften nicht in Einklang
ſtehen, keine Folge leiſten darf; andererſeits iſt die Verantwort-
lichkeit des Reichskanzlers ausgeſchloſſen, ſoweit die eigene, unbe-
dingte Verantwortlichkeit der Reichsſchulden-Verwaltung reicht.


Die Stellung dieſer Finanzbehörde zum Reichskanzler iſt daher
verſchieden ſowohl von der Stellung der Verwaltungsbehörden als
von der Stellung der richterlichen Behörden. Auf die Geſchäfts-
führung der erſteren hat der Reichskanzler vollen und entſcheiden-
den Einfluß, ſie ſind ſtaatsrechtlich lediglich ſeine Büreaus; auf
die Geſchäftsführung der letzteren hat der Reichskanzler materiell
gar keinen Einfluß, ſie entſcheiden ganz ſelbſtſtändig nach Maaß-
gabe der Geſetze. Die Reichsſchulden-Verwaltung dagegen ſteht
unter der „oberen Leitung“ des Reichskanzlers und kann daher
von ihm Anweiſungen erhalten, welche von ihr befolgt werden
[351]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
müſſen; aber die Reichsſchulden-Verwaltung hat das Recht und
die Pflicht, ſelbſtſtändig und unabhängig zu prüfen, ob
die Anordnung des Reichskanzlers in Uebereinſtimmung mit den
geſetzlichen Vorſchriften ſich befindet.


Man kann daher auch nicht ſagen, daß die Reichsſchulden-
Verwaltung vom Reichskanzler-Amt reſſortirt; da ſie hinſicht-
lich ihrer amtlichen Thätigkeit von demſelben nicht abhängig
iſt. Nur die Koſten, welche für die Verwaltung der Reichsſchulden
an Preußen zu vergüten ſind, werden im Etats-Geſetz bisher bei
dem Etat des Reichskanzler-Amtes angeſetzt, die Zahlungen aus
dieſem Etats-Fonds werden vom Reichskanzler-Amt angewieſen und
kommen bei dieſem Fonds zur Verrechnung 1).


II.Die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds.

In dem Geſetz vom 23. Mai 1873 (R.-G.-Bl. S. 117), durch
welches die Gründung des Invalidenfonds im Betrage von 187
Millionen Thalern erfolgt iſt, wird zur Verwaltung deſſelben die
Errichtung einer Behörde angeordnet (§. 11), „welche von der
allgemeinen Finanzverwaltung abgeſondert und ſelbſtſtändig ſein,
jedoch der oberen Leitung des Reichskanzlers inſoweit unterliegen
ſoll, als dies mit der ihr nach §. 12 dieſes Geſetzes beigelegten
Unabhängigkeit vereinbar iſt.“ Der hier erwähnte §. 12 erklärt,
daß der Vorſitzende und die Mitglieder der Verwaltung des Reichs-
Invalidenfonds für die geſetzmäßige Anlage, Verrechnung und
Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds unbedingt verant-
wortlich
ſind, und er fordert von ihnen vor Antrit ihres Amtes
die Ableiſtung eines beſonderen Eides, der in öffentlicher Sitzung
des Reichs-Oberhandelsgerichts zu ſchwören iſt, „daß ſie ſich von
Erfüllung dieſer ihnen mit eigener Verantwortlichkeit obliegenden
Pflichten durch keine Anweiſung oder Verordnungen
irgend einer Art abhalten laſſen wollen
.“


[352]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.

Das Geſetz v. 23. Mai 1873 ſchließt ſich demnach vollkommen
an die Grundſätze an, welche das Preuß. Geſetz v. 23. Februar
1850 ſanktionirt hat, und der Verwaltung des Reichs-Inva-
lidenfonds iſt eine durchaus ähnliche Stellung wie der Reichs-
Schuldenverwaltung gegeben worden. Die „obere Leitung“ des
Reichskanzlers ermächtigt denſelben, verbindliche Anordnungen und
Verfügungen zu erlaſſen, welche die Verwaltung des Reichs-In-
validen-Fonds befolgen muß 1); aber die „unbedingte Verant-
wortlichkeit“ der Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds ermäch-
tigt und verpflichtet dieſelbe, zunächſt unabhängig und ſelbſtſtändig
zu prüfen, ob die vom Reichskanzler ertheilte Anordnung mit den
für die Anlage, Verrechnung und Verwaltung des Reichs-Invali-
den-Fonds gegebenen geſetzlichen Beſtimmungen vereinbar iſt. Nur
wenn dieſe Frage bejahend entſchieden wird, iſt die Anordnung des
Reichskanzlers von der Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds
zur Ausführung zu bringen. Es ergiebt ſich hieraus zugleich, daß
der Reichskanzler für die Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds
die Verantwortlichkeit nur in demſelben Umfange trägt wie hin-
ſichtlich der Verwaltung der Reichsſchulden.


Im Einklang mit dieſer Unabhängigkeit der Verwaltung des
Reichs-Invaliden-Fonds ſteht die Regel, daß für die Beſchlüſſe
dieſer Behörde das Collegialſyſtem gilt, d. h. daß ſie nach Stim-
menmehrheit gefaßt werden und der Vorſitzende nur im Falle der
Stimmengleichheit den Ausſchlag giebt 2).


Der Vorſitzende wird vom Kaiſer auf Lebenszeit ernannt.
Sein Amt iſt ein beſoldetes Berufsamt und es iſt ihm die Ueber-
nahme von Nebenämtern oder mit Remunerationen verbundenen
Nebenbeſchäftigungen unterſagt. Die Mitglieder werden vom Bun-
desrath jedesmal auf 3 Jahre gewählt; es ſind Bundesraths-Mit-
glieder, welche das Amt als beſoldetes Nebenamt verwalten 3).
Die Ernennung des Bureauperſonals iſt dem Vorſitzenden über-
tragen.


Die Geſchäfts-Inſtruktion, welche nach §. 11 des Geſetzes
[353]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
vom Reichskanzler im Einvernehmen mit dem Bundesrath zu er-
laſſen und im Reichsgeſetzblatt zu veröffentlichen war, iſt am
11. Juli 1874 ergangen. (R.-G.-Bl. S. 104 ff.)


Die Selbſtſtändigkeit dieſer Behörde dem Reichskanzler-Amte
gegenüber iſt auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß über die
im Etatsgeſetz für die Verwaltung des Invalidenfonds bewilligten
Beträge dem Vorſitzenden die Verfügung nach Maßgabe des Spe-
zialetats zuſteht 1); d. h. daß er alle aus dieſem Fonds zu lei-
ſtenden Zahlungen anweiſt und daß eine beſondere Kaſſenführung
und Verrechnung dieſes Fonds ſtattfindet, welche der Reichs-Haupt-
kaſſe obliegt 2).


Außer dem Reichs-Invalidenfonds verwaltet dieſe Behörde,
im Weſentlichen nach gleichen Grundſätzen und Formen:
den Reichs-Feſtungs-Baufonds 3)
den Fonds zur Errichtung des Reichstags-Gebäudes
4).


Zur Ausführung der ihr obliegenden Geſchäfte bedient ſich
die in Rede ſtehende Behörde der Rendantur des Reichs-
Invalidenfonds
, beſtehend aus dem Rendanten und dem
Buchhalter. Die Obliegenheiten der Rendantur ſind durch eine
Geſchäfts-Anweiſung geregelt, welche die Verwaltung des R.-J.-F.’s
unter vorheriger Zuſtimmung des Reichskanzlers zu erlaſſen ermäch-
tigt worden iſt 5).


Im Uebrigen iſt die Verwaltung des R.-J.-F’s. durch das
R.-G. vom 23. Mai 1873 angewieſen, theils die Vermittelung
der Reichs-Hauptkaſſe theils die Vermittelung von Bank-
häuſern
, welche der Reichskanzler im Einvernehmen mit dem
Bundesrath bezeichnet, in Anſpruch zu nehmen 6).


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 23
[354]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
III.Die Reichsſchuldenkommiſſion.

Auch dieſe Behörde iſt eine vollkommene Nachbildung der
Preußiſchen Staats-Schulden-Kommiſſion 1). In den Behörden-
Organismus des Reiches iſt ſie eingeführt worden durch das Ge-
ſetz vom 19. Juni 1868. Sie beſteht aus drei Mitgliedern des
Bundesrathes und zwar aus dem jedesmaligen Vorſitzenden und
zwei Mitgliedern des Ausſchuſſes für das Rechnungsweſen, aus
drei Mitgliedern des Reichstages und aus dem Chefpräſidenten
des Rechnungshofes 2). Der Bundesrath wählt die von ihm zu
deputirenden Mitglieder von Seſſion zu Seſſion, was darauf beruht,
daß die Ausſchüſſe des Bundesrathes für jede Seſſion neu gebildet
werden; die aus dem Reichstage zu ernennenden Mitglieder der
Kommiſſion werden — entſprechend der Legislatur-Periode des
Reichstages — auf drei Jahre gewählt 3).


Wie ſich aus der Zuſammenſetzung der Kommiſſion bereits
entnehmen läßt, iſt dieſelbe völlig unabhängig und ſelbſtſtändig
und keiner Reichsbehörde in irgend einer Beziehung untergeordnet.
Nur dem Bundesrath und dem Reichstage gegenüber hat die
Kommiſſion amtliche Pflichten und Verantwortlichkeit 4). Für die
Beſchlüſſe der Kommiſſion gilt deshalb auch das Collegialſyſtem,
d. h. Beſchlußfaſſung nach Stimmen-Mehrheit; zur Beſchlußfähig-
keit iſt die Anweſenheit von wenigſtens 5 Mitgliedern erforderlich;
den Vorſitz führt der Vorſitzende des Bundesraths-Ausſchuſſes
für Rechnungsweſen oder bei deſſen Behinderung ein anderes,
dem Bundesrathe angehöriges Mitglied der Kommiſſion 5).


Der Reichs-Schuldenkommiſſion liegt ob die Aufſicht:


  • 1) über die Reichs-Schulden-Verwaltung 6)

6)


[355]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
  • 2) über die Verwaltung des Reichs-Kriegsſchatzes 1)
  • 3) über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds 2), ein-
    ſchließlich des Reichs-Feſtungsbaufonds und des Fonds
    für den Bau des Reichstagsgebäudes 3)
  • 4) über die An- und Ausfertigung, Einziehung und Vernich-
    tung der Reichsbank-Noten 4) und Reichskaſſenſcheine 5).

Außer der fortwährenden Kontrole über die angeführten
Verwaltungen und den einzelnen, zum Zwecke dieſer Kontrole der
Reichs-Schuldenkommiſſion obliegenden Funktionen 6), hat dieſe
Kommiſſion vorzüglich die Aufgabe, alljährlich bei dem regelmä-
ßigen Zuſammentritt des Reichstages über ihre Thätigkeit, ſowie
über die Ergebniſſe der unter ihre Aufſicht geſtellten Verwaltun-
gen in dem verfloſſenen Jahre einen Bericht zu erſtatten 7).


IV.Der Rechnungshof des Deutſchen Reiches8).

Durch das Geſetz vom 4. Juli 1868 (B.-G.-Bl. S. 433)
wurde die Kontrole der Staatsrechnungen des Nordd. Bundes
für die Jahre 1867—1869 der Preußiſchen Oberrechnungs-
kammer
unter der Benennung „Rechnungshof des Norddeutſchen
Bundes“ übertragen, indem zu dieſem Zwecke eine dem Bedürf-
niß entſprechende Vermehrung ihrer Mitglieder in der Art vor-
geſehen wurde, daß die neu hinzutretenden Mitglieder vom Bun-
desrathe gewählt und vom Bundespräſidium angeſtellt werden.
Das preußiſche Recht über die Reviſion der Rechnungen wurde auf
den Bund übertragen. Zu Folge §. 3 des erwähnten Geſetzes
führt die Ober-Rechnungskammer die ihr obliegende Kontrole des
23*
[356]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
Bundeshaushalts nach Maaßgabe derjenigen Vorſchriften, welche
für ihre Wirkſamkeit als Preußiſche Rechnungs-Reviſionsbehörde
gegenwärtig (1868) gelten. „Dieſelben Rechte und Pflichten,
welche ihr in dieſer letzteren Eigenſchaft den Preußiſchen Behör-
den und Beamten gegenüber beigelegt ſind, ſtehen ihr in ihrer
Eigenſchaft als Rechnungshof des Norddeutſchen Bundes den Bun-
desbehörden und Beamten gegenüber zu.“ Der Bundeskanzler
erläßt im Einvernehmen mit dem Bundesrathe eine Inſtruktion
für die Oberrechnungskammer als Rechnungshof des Nordd. Bun-
des (§. 5 des cit. Geſetzes).


Die Beſtimmungen des Geſetzes vom 4. Juli 1868 ſind dann
von Jahr zu Jahr wiederholt und erſtreckt worden 1); unter Ver-
änderung der Benennung in „Rechnungshof des Deutſchen Reiches.“


Nachdem jedoch in Preußen ein Geſetz vom 27. März 1872
über die Ober-Rechnungskammer erlaſſen worden iſt 2), ſind die
Beſtimmungen dieſes Geſetzes an die Stelle der älteren, im §. 3
des Geſetzes vom 4. Juli 1868 aufgeführten Vorſchriften getre-
ten 3). Eine in Uebereinſtimmung mit dieſen geſetzlichen Beſtimmun-
gen ſtehende Inſtruktion iſt am 5. März 1875 vom Reichskanzler
erlaſſen worden 4).


Die ſtaatsrechtliche Stellung des Rechnungshofes im Behörden-
Organismus des Reiches beſtimmt ſich demnach nach Analogie
der im Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 enthaltenen Anord-
nungen. §. 1 deſſelben bezeichnet die Oberrechnungskammer als
eine dem Könige unmittelbar untergeordnete, den Miniſtern gegen-
über ſelbſtſtändige Behörde. Demgemäß ſteht der Rechnungshof
nicht unter der „oberen Leitung“ des Reichskanzlers; er iſt ihm
gegenüber vielmehr völlig unabhängig und nur dem Kaiſer un-
mittelbar untergeben.


Für die Prüfung der dem Reichstage vorzulegenden allgemeinen
Rechnungen und die von dem Rechnungshof aufzuſtellenden Bemer-
[357]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
kungen über dieſelben trägt der Rechnungshof nach §. 18 a. a. O.
„die ſelbſtſtändige, unbedingte Verantwortlichkeit,“ wodurch die
Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für die vom dem Rechnungs-
hof geführten Geſchäfte ausgeſchloſſen iſt.


Der Rechnungshof hat demnach dem Reichskanzler und den
übrigen Reichsbehörden gegenüber eine ebenſo unabhängige Stel-
lung wie ein oberſter Gerichtshof.


Dieſelbe iſt dadurch geſichert, daß die Mitglieder des Rech-
nungshofes in Beziehung auf die Verſetzung in ein anderes Amt,
über die einſtweilige und über die zwangsweiſe Verſetzung in den
Ruheſtand, über Disciplinarbeſtrafung und über vorläufige Dienſt-
enthebung von den Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes vom
31. März 1873 ausgenommen 1) und den richterlichen Beamten
gleichgeſtellt ſind 2).


Auch in finanzieller Hinſicht iſt der Rechnungshof von den
Verwaltungsbehörden vollſtändig emancipirt, indem dem Präſiden-
ten des Rechnungshofes die Verwaltung der Gelder, Grundſtücke,
Gebäude, Inventarienſtücke und Materialien, welche für den Dienſt
des Rechnungshofes beſtimmt ſind, desgleichen die Vertretung des
Fiskus bei den auf dieſe Vermögensverwaltung bezüglichen Ver-
trägen und Prozeſſen übertragen iſt 3).


Für die Amtsthätigkeit des Rechnungshofes gilt das Colle-
gial-Syſtem. Der Vorſitzende giebt nur bei gleicher Theilung
der Stimmen den Ausſchlag. Zwar wird die Reviſion und Prü-
fung der einzelnen Rechnungen durch allgemeine Feſtſtellungen auf
die Beamten möglichſt gleichmäßig und dauernd vertheilt, und
zwar dergeſtalt, daß die Geſchäftskreiſe der einzelnen Departe-
mentsräthe nach den verſchiedenen Verwaltungszweigen und die-
jenigen der einzelnen Reviſionsbeamten nach Bezirken oder nach
Materien abgegrenzt werden, und daß der Regel nach kein Re-
viſionsbeamter in zwei verſchiedenen Bureau’s beſchäftigt und der
Uebergang der Beamten von einem Geſchäftskreiſe zu einem an-
deren möglichſt vermieden wird 4). Für alle wichtigeren Angele-
heiten iſt aber die kollegialiſche Berathung und Beſchlußfaſſung
[358]§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
angeordnet theils durch das Preuß. Geſetz vom 27. März 1872
§. 8 1) theils durch die Inſtruktion vom 5. März 1875 §. 8 2).
Es finden daher regelmäßige Sitzungen des Kollegiums ſtatt, bei
denen die Mitglieder zu erſcheinen verpflichtet ſind. Die Ab-
ſtimmungen erfolgen in der durch das Dienſtalter beſtimmten
Reihenfolge, ſo daß zuerſt der jüngſte Rath und zuletzt der Vor-
ſitzende ſeine Stimme abgiebt. Ueber die Stellung der Fragen
ſowie über das Ergebniß der Abſtimmung entſcheidet im Falle
einer Meinungsverſchiedenheit das Kollegium. Bei getheilten
Stimmen bleibt es der Minderheit oder den einzelnen Mitgliedern
derſelben überlaſſen, ihr abweichendes Votum ſchriftlich zu begrün-
den und den betreffenden Akten beizufügen 3). Der Präſident iſt
berechtigt, die Ausführung eines Beſchluſſes des Kollegiums einſt-
weilen zu beanſtanden, muß jedoch in einem ſolchen Falle binnen
14 Tagen, vom Tage der erſten Beſchlußfaſſung an gerechnet, die
Angelegenheit zur nochmaligen Berathung und Abſtimmung brin-
gen und die Mitglieder des Kollegiums hiervon ſpäteſtens drei
Tage vor der diesfälligen Sitzung in Kenntniß ſetzen. Bei dem
durch die zweite Abſtimmung feſtgeſtellten Beſchluſſe behält es
ſein Bewenden 4).


Der Geſchäftskreis des Rechnungshofes erſtreckt ſich auf die
Prüfung und Feſtſtellung der Rechnungen


  • 1) über den geſammten Haushalt des Deutſchen Reiches 5)
  • 2) über den Zugang und Abgang von Reichs-Eigenthum und
  • 3) über die Reichsſchulden-Verwaltung 6)
  • 4) über die Verausgabung und beſtimmungsmäßige Verwen-
    [359]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
    dung der den einzelnen Regierungen aus der franzöſiſchen
    Kriegskoſten-Entſchädigung zu gewährenden Beträge für
    gemeinſame Kriegs-Ausgaben 1).
  • 5) über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds (mit Ein-
    ſchluß des Feſtungsbaufonds und des Fonds für das
    Reichstags-Gebäude) 2).
  • 6) über die Verwaltung des Reichskriegsſchatzes 3).
  • 7) über die Verwaltung der Reichsbank 4).
  • 8) über den geſammten Landeshaushalt von Elſaß-Lothrin-
    gen 5), ſo wie die Reviſion über die Rechnungen der De-
    poſiten-Verwaltung in Elſaß-Lothringen 6).

Die Erörterung der verſchiedenen Richtungen, in welchen der
Rechnungshof dieſe Prüfungen vorzunehmen hat, der Mittel, welche
ihm zur Durchführung der ihm obliegenden Kontrole zu Gebote
ſtehen, und der ſtaatsrechtlichen Bedeutung der von ihm gefaßten
Beſchlüſſe wird in der ſpeziellen Darſtellung des Finanzrechtes
ihren Platz finden.


§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

Das weſentliche Merkmal der richterlichen Behörden iſt nicht
in der geſicherten Stellung ihrer Mitglieder gegen Entlaſſung,
Verſetzung in den Ruheſtand, Verſetzung in eine andere Stelle,
disciplinariſche Maaßregelung u. ſ. w. zu ſehen, ſondern in der
Unabhängigkeit ihrer Entſcheidungen von Anordnungen der vor-
geſetzten Behörden, insbeſondere des Reichskanzlers, in dem Rechte
und der Pflicht, die Entſcheidungen lediglich nach eigener ſachlicher
Würdigung und rechtlicher Ueberzeugung zu geben, und folgeweiſe
in dem Ausſchluß jeder Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für
den Inhalt dieſer Entſcheidungen 7). Die unabhängigere Stellung
[360]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
der richterlichen Beamten iſt nur ein Mittel, um die unabhängige
Amtsthätigkeit der rechtſprechenden Behörden zu garantiren; aber
ſie iſt keineswegs weſentlich und unerläßlich; es giebt zahlreiche,
zur Rechtſprechung berufene Behörden, welche nicht aus richterlichen
Beamten beſtehen. Die rechtſprechenden Behörden ſind ebenſowenig
auf das Gebiet der eigentlichen Juſtiz beſchränkt; es laſſen ſich
vielmehr drei Kategorien derſelben unterſcheiden: Juſtizgerichte,
Disciplinargerichte, Verwaltungsgerichte.


A.Reichsjuſtizgerichte.

I. Das Reichs-Oberhandelsgericht1).

Als durch das im Jahre 1869 dem Reichstage vorgelegte
Geſetz die deutſche Wechſel-Ordnung und das deutſche Handels-
Geſetzbuch zu Bundesgeſetzen erklärt und dadurch vor partikulari-
ſtiſchen Abänderungen mittelſt der Landesgeſetzgebung geſchützt wer-
den ſollten, erwies ſich die Einſetzung eines gemeinſamen oberſten
Gerichtshofes für Wechſel- und Handelsſachen als nothwendig,
„um der Gefahr einer abweichenden Entwickelung des einheitlichen
Rechts durch die Praxis und Judikatur vorzubeugen 2)“.


Auf Antrag der Königl. Sächſiſchen Regierung wurde daher
die Errichtung eines oberſten Gerichtshofes für den Norddeutſchen
Bund in Ausſicht genommen, welcher in Handels- und Wechſel-
ſachen an die Stelle der oberſten Gerichtshöfe der einzelnen Staa-
ten treten ſollte 3). Eine alsbaldige Verwirklichung fand dieſer
[361]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
Entſchluß durch das Bundesgeſetz vom 12. Juni 1869
(B.-G.-Bl. S. 201), welches die Errichtung dieſes Gerichshofes in
Leipzig anordnete und über die Organiſation und Kompetenz
deſſelben die erforderlichen Anordnungen traf. Durch V. v. 22.
Juni 1870 (B.-G.-Bl. S. 418) wurde der Beginn ſeiner Wirk-
ſamkeit auf den 5. Auguſt 1870 feſtgeſetzt. Bei dem Hinzutritt
der Süddeutſchen Staaten wurde das Geſetz auf Süddeutſchland
ausgedehnt; auf Bayern durch Geſ. vom 22. April 1871 §. 5
(R.-G.-Bl. S. 89).


Seit dem 2. Sept. 1871 führt der Gerichtshof den Namen
„Reichs-Oberhandelsgericht“ und zwar auf Grund der im R.-Geſ.
v. 16. April 1871 §. 2 Abſ. 2 enthaltenen Beſtimmung 1). Dieſer
Gerichtshof erkennt nicht Namens der einzelnen oberſten Landes-
gerichte, an deren Stelle er getreten iſt, beziehentlich Namens der
einzelnen Landesherren, aus deren Staaten die Rechtsſachen an ihn
devolvirt ſind, ſondern durch ihn kömmt die Gerichtsgewalt des
Reiches zur Ausübung 2). Die einzelnen Staaten haben demge-
mäß auch kein Präſentations- oder Mitbeſetzungsrecht, ſondern die
Präſidenten und Mitglieder werden auf Vorſchlag des Bundes-
rathes vom Kaiſer ernannt 3) und ſind Reichsbeamte 4).


Der Gerichtshof kann auf Grund eines Beſchluſſes des Bun-
desrathes in mehrere Senate getheilt werden 5). Gegenwärtig iſt
3)
[362]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
derſelbe in drei Senategetheilt 1), deren Vorſitz dem Präſidenten, dem
erſten und dem zweiten Vicepräſidenten zuſteht, vorbehaltlich der
Befugniß des Präſidenten, den Vorſitz in einzelnen Sitzungen des
zweiten oder dritten Senats zu übernehmen 2). Jedes Mitglied
muß einem Senat als ſtändiges Mitglied angehören und jeder
Senat einſchließlich des Vorſitzenden aus mindeſtens 7 Mitgliedern
beſtehen 3). Zur Faſſung gültiger Beſchlüſſe iſt die Theilnahme
von mindeſtens ſieben Mitgliedern, einſchließlich des Vorſitzenden
erforderlich 4). Die Beſchlußfaſſung erfolgt nach Majorität, ohne
daß der Vorſitzende einen Stich-Entſcheid hat; die Zahl der Mit-
glieder, welche bei der Faſſung eines Beſchlußes eine entſcheidende
Stimme führen, muß daher in allen Fällen eine ungerade ſein 5).


Die Zuſammenſetzung der Senate erfolgt durch den Präſiden-
ten, mindeſtens auf die Dauer eines Gerichtsjahres; ebenſo die
Bezeichnung der Mitglieder, denen für die Verhinderungsfälle die
Vertretung obliegt 6). Auch die Vertheilung der Sachen unter
die Senate iſt vorläufig für jeden einzelnen Fall dem Präſidenten
übertragen 7).


Jeder Senat bearbeitet die ihm zugetheilten Sachen ſelbſtſtän-
dig 8). In einer Reihe von Fällen iſt aber eine Entſcheidung
des Plenums erforderlich. Insbeſondere muß, wenn die Anſicht
eines Senates über eine Rechtsfrage von einer früheren Anſicht
deſſelben Senats oder eines anderen Senats oder des Plenums
abweicht, dieſe Rechtsfrage vor der Sachentſcheidung vor das Ple-
[363]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
num gebracht werden, deſſen Anſicht für die Entſcheidung der
Sache, welche zu der Plenarberathung Veranlaſſung gegeben hat,
maaßgebend iſt 1). Ferner iſt ein Plenarbeſchluß erforderlich in
Disciplinarſachen oder bei der unfreiwilligen Verſetzung eines Mit-
gliedes in den Ruheſtand 2). Ueberdies ſind in dem Geſchäfts-
Regulativ §. 8 auf Grund der im Geſetz v. 12. Juni 1869 §. 11
ertheilten Ermächtigung eine Reihe von Angelegenheiten vor das
Plenum verwieſen. Ueber die Plenar-Entſcheidungen wird ein be-
ſonderes Präjudizien-Buch in drei gleichlautenden, zum Gebrauche
der drei Senate [beſtimmten] Exemplaren geführt 3).


Durch dieſe Anordnungen ſoll trotz der Theilung des Gerichts-
hofes in drei Senate die Einheitlichkeit deſſelben und die Gleich-
artigkeit ſeiner Rechtſprechung geſichert werden.


Dem Gerichtshof iſt die Abfaſſung ſeines Geſchäfts-Regula-
tivs übertragen; daſſelbe bedarf jedoch der Beſtätigung des Bun-
desrathes 4).


Die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichtes iſt wäh-
rend ſeines Beſtehens fortwährend erweitert worden. Sie umfaßt
gegenwärtig folgende Rechtsangelegenheiten:


  • 1) bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten über Handelsſachen5).

Zu den Handelsſachen gehören:


  • a) Die im §. 13 des Geſetzes vom 12. Juni 1869 aufgeführ-
    [364]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
    ten Rechtsſachen; jedoch mit der Erweiterung, daß, wenn nach den
    Landesgeſetzen die Klage noch in anderen als den in dieſem
    Paragraphen bezeichneten bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten vor das
    Handelsgericht erſter Inſtanz gewieſen iſt, auch dieſe Sachen im
    Sinne des Geſetzes v. 12. Juni 1869 als Handelsſachen anzu-
    ſehen ſind.
  • b) Der urſprüngliche Begriff der Handelsſachen iſt erweitert
    worden durch das Geſ. v. 11. Juni 1870 Art. 174 u. Art. 208 1),
    indem Kommanditgeſellſchaften auf Aktien und Aktiengeſellſchaften,
    auch dann, wenn der Gegenſtand des Unternehmens nicht in Han-
    delsgeſchäften beſteht, als „Handelsgeſellſchaften gelten“; das ſoll
    heißen: dem Handelsrecht und insbeſondere „den in Betreff der
    Kaufleute gegebenen Beſtimmungen unterworfen ſind.“ (H.-G.-B.
    Art. 5.)
  • c) Durch das Geſetz über Markenſchutz v. 30. Nov. 1874
    §. 19 (R.-G.-Bl. S. 146) iſt beſtimmt worden, daß alle bürger-
    liche Rechtsſtreitigkeiten, in welchen durch die Klage ein Anſpruch
    auf Grund dieſes Geſetzes erhoben wird, im Sinne der Reichs-
    und Landesgeſetze als Handelsſachen gelten.
  • d) Das Bankgeſetz v. 14. März 1875 §. 50 (R.-G.-Bl.
    S. 193) erklärt den Rechtsſtreit über die Entziehung der Befug-
    niß einer Privatbank zur Ausgabe von Noten für eine Handels-
    ſache im Sinne der Reichs- und Landesgeſetze.
  • 2) Entſchädigungs-Anſprüche gegen den Reichsfiskus auf Grund
    des Geſetzes v. 1. Juni 1870 über die Aufhebung der Abgaben
    von der Flößerei werden in letzter Inſtanz von dem R.-O.-H.-G.
    entſchieden 2).
  • 3) Bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche
    nach dem Reichsgeſetz über das Urheberrecht v. 11 Juni 1870
    zu beurtheilen ſind 3).
  • 4) Die Entſcheidung letzter Inſtanz in allen vor den Kon-
    ſulargerichten
    verhandelten Rechtsſachen, ſowohl bürgerlichen
    als ſtrafrechtlichen 4).
  • 5) Entſchädigungs-Anſprüche wegen der bei dem Betriebe von
    [365]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
    Eiſenbahnen, Bergwerken u. ſ. w. herbeigeführten Töd-
    tungen und Körperverletzungen 1).
  • 6) Das Reichsbeamten-Geſetz v. 31. Mai 1873 hat die
    Zuſtändigkeit der R.-O.-H.-G. in letzter Inſtanz begründet bei
    Rechtsſtreitigkeiten:
  • a) über vermögensrechtliche Anſprüche der Reichs-Beamten
    aus ihrem Dienſtverhältniß, insbeſondere auf Beſoldung, Wartegeld
    oder Penſion, ſowie über die den Hinterbliebenen der Reichs-Be-
    amten geſetzlich gewährten Rechts-Anſprüche auf Bewilligungen 2).
  • b) über vermögensrechtliche Anſprüche gegen Reichsbeamte
    wegen Defekten und wegen Ueberſchreitung ihrer amtlichen Befug-
    niſſe oder pflichtwidriger Unterlaſſung von Amtshandlungen 3).
  • 7) Die Strandungs-Ordnung v. 17 Mai 1873 §. 44 (R.-G.-
    Bl. S. 82) hat die Beſtimmungen des Geſ. v. 12. Juni 1869
    ausgedehnt auf bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten, welche auf die Ber-
    gung außer dem Falle der Seenoth ſich beziehen.
  • 8) Als Disciplinar-Behörde entſcheidet das Reichs-Oberhan-
    delsgericht theils über die eigenen Mitglieder auf Grund des Geſ.
    v. 12. Juni 1869 §. 23—26, theils gegen die Rechtsanwalte
    und Advokaten, welche in den bei demſelben anhängigen Rechts-
    ſachen thätig ſind, auf Grund des Reichsgeſ. v. 29. März 1873.
    (R.-G.-Bl. S. 60) 4).
  • 9) Endlich iſt das R.-O.-H.-G. als oberſter Gerichtshof
    für Elſaß-Lothringen
    an die Stelle des Kaſſationshofes
    zu Paris getreten 5). In dieſer Eigenſchaft iſt es nicht im ſtren-
    gen Sinne Reichsgericht, ſondern ebenſo wie alle Gerichte der
    unteren Inſtanzen in Elſaß-Lothringen Landesgericht 6); jedoch
    iſt im Reichsland das Reich zugleich Subjekt der Landesſtaats-
    gewalt. Seine Kompetenz beſtimmt ſich nach den in Elſaß-Loth-
    ringen für den oberſten Gerichtshof geltenden Geſetzen, alſo vor-
    läufig nach dem franz. Recht 7).

[366]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

In formeller Hinſicht gilt die Vorſchrift, daß das R.-O.-H.-G.
alle Urtheile auf Grund des Geſ. v. 14. Juni 1871 unter der
Bezeichnung: „Das Reichs-Oberhandelsgericht als oberſter Gerichts-
hof für Elſaß und Lothringen“ erläßt 1).


II.Die Reichs-Konſular-Gerichte.

1) Den Reichskonſuln ſteht eine volle Gerichtsbarkeit ſowohl
in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten als in Strafſachen mit Einſchluß
der Polizei-Jurisdiktion zu, wenn ſie in Ländern reſidiren, in
welchen ihnen durch Herkommen oder durch Staatsverträge die
Ausübung der Gerichtsbarkeit geſtattet iſt 2).


Die Ausübung der Konſulargerichtsbarkeit ſteht jedoch nur
denjenigen Konſuln zu, denen ſie vom Reichskanzler unter Anwei-
ſung eines Jurisdiktionsbezirkes ſpeziell übertragen wird 3). Die
Jurisdiktionsbezirke der einzelnen Konſuln werden von dem Reichs-
kanzler nach Vernehmung des Bundesraths-Ausſchuſſes für Han-
del und Verkehr beſtimmt 4).


Unterworfen ſind der Konſulargerichtsbarkeit alle in den Kon-
ſular-Jurisdiktionsbezirken wohnenden oder ſich aufhaltenden Reichs-
angehörigen und Schutzgenoſſen 5).


Für die Ausübung der Konſular-Gerichtsbarkeit iſt bis zum
Erlaſſe eines Reichsgeſetzes das Preußiſche Geſetz über die
Gerichtsbarkeit der Konſuln v. 29. Juni 1865 für maaßgebend
[367]§. 26. Die richterlichen Reichsbehörden.
erklärt, demſelben alſo die Kraft eines Reichsgeſetzes beigelegt
worden 1), jedoch ſind die den preußiſchen Miniſtern und Geſand-
ten übertragenen Befugniſſe auf den Reichskanzler übergegangen 2).


Die Konſulargerichtsbarkeit wird von dem Vorſteher eines
Konſulates ausgeübt; in Ermangelung eines Konſuls von dem
Kanzler der Geſandtſchaft, falls eine ſolche in dem Jurisdiktions-
bezirk beſteht 3). Auf die mit Gerichtsbarkeit verſehenen Kon-
ſuln und Geſandtſchaftskanzler ſind die für die richterlichen Beam-
ten beſtehenden Vorſchriften über Befähigung, Ernennung, Dauer
der Anſtellung, Amtsverluſt, Dienſtentlaſſung, Verſetzung in den
Ruheſtand und Amtsſuspenſion nicht anwendbar 4).


Die Gerichtsbarkeit wird ausgeübt entweder von dem Kon-
ſul allein, oder von dem Konſulargericht. Daſſelbe beſteht aus
dem Konſul als Vorſitzenden und zwei Beiſitzern, welche der Kon-
ſul am Anfang jedes Jahres für die Dauer deſſelben aus den
achtbaren Gerichtseingeſeſſenen oder in Ermangelung ſolcher aus
ſonſtigen achtbaren Einwohnern ſeines Bezirkes ernennt. Für die
Beiſitzer ſind zugleich Stellvertreter zu ernennen. Die Beiſitzer und
deren Vertreter werden vor dem Antritt ihres Amtes auf unpar-
teiiſche und gewiſſenhafte Erfüllung ihrer Amtspflichten beeidigt.
Den Beiſitzern ſteht unbeſchränktes Stimmrecht zu 5).


Der Konſul hat die Perſonen zu beſtimmen und in ein Ver-
zeichniß einzutragen, welche in den zu ſeiner Gerichtsbarkeit ge-
hörigen Sachen die Funktionen der Rechtsanwalte auszuüben haben 6).


Sowohl für die materielle Entſcheidung als für das Verfahren
ſind in Ermangelung von Reichsgeſetzen die in dem Geltungsge-
biete des Preuß. Allg. Landrechts erlaſſenen Preußiſchen Rechts-
vorſchriften zur Anwendung zu bringen 7).


[368]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

Auch hinſichtlich der Gerichtskoſten iſt der dem Preuß. Geſ.
v. 29. Juni 1865 angehängte Tarif vom 24. Okt. 1865 durch
das Reichsgeſ. v. 1. Juli 1872 §. 8 (R.-G.-Bl. S. 426) in Kraft
erhalten worden.


Für alle zur Zuſtändigkeit der Konſuln gehörigen Rechtsſachen,
ſowohl Civilſachen als Criminalſachen, wird die Gerichtsbarkeit
der zweiten Inſtanz von dem Appellationsgericht in Stet-
tin
ausgeübt 1), welches ſeit Gründung des Reiches als Reichs-
Oberkonſulargericht fungirt. Die Entſcheidung dritter Inſtanz,
ſoweit eine ſolche nach den in Betracht kommenden Prozeß-Vor-
ſchriften zuläſſig iſt, hat das Reichsgeſ. v. 22 April 1871 §. 3
(R.-G.-Bl. S. 88) von dem Preuß. Obertribunal auf das Reichs-
Oberhandelsgericht
übertragen.


2) Auch in denjenigen Staaten, in denen eine Konſular-Ju-
risdiktion nicht beſteht, können die Reichskonſuln einzelne ge-
richtliche Handlungen
vornehmen und zwar nach folgenden
Regeln:


a) Allen Reichskonſulaten liegen die Amtsfunktionen der
Seemanns-Aemter ob 2); es ſind ihnen ferner Unterſuchungen und
Beſcheinigungen richterlichen Charakters übertragen in dem Han-
delsgeſetzbuch Art. 499 bei dem Verkauf eines Schiffes und Art.
686 bei der Ausſtellung eines Bodmereibriefes, und in dem Geſ.
v. 25. Okt. 1867 §. 16 (R.-G.-B. S. 38) in Betreff der Aus-
ſtellung interimiſtiſcher Schiffs-Certifikate 3); endlich ſind ſie er-
mächtigt Verklarungen aufzunehmen 4).


7)


[369]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

b) Einzelnen Reichs-Konſuln kann vom Reichskanzler die
Befugniß zur Abhörung von Zeugen und zur Abnahme von Eiden
beigelegt werden, mit der Wirkung, daß die von dieſen Konſuln
aufgenommenen Verhandlungen den Verhandlungen der zuſtändigen
inländiſchen Behörden gleichſtehen 1).


III.Die Marine-Strafgerichte.

Die zur Kaiſerlichen Marine gehörenden Militärperſonen, ſo-
wohl die Perſonen des Soldatenſtandes als die Beamten, ſind der
Strafgerichtsbarkeit der ordentlichen Gerichte entzogen und der-
jenigen der militäriſchen Marinegerichte unterworfen. Da die
Marine der Staatsgewalt der Bundesglieder, auch der Preußens,
völlig entzogen iſt, Verwaltung, Oberbefehl, Ernennung aller Offi-
ziere und Beamten dem Kaiſer zuſteht, und alle in Marine-Ange-
legenheiten zur Ausübung gelangenden Hoheitsrechte auch Bethäti-
gungen der Reichsgewalt ſind, ſo ergiebt ſich, daß die Marine-
Gerichte im ſtaatsrechtlichen Sinne Reichsſtrafgerichte ſind.


Die Gerichtsbarkeit wird ausgeübt von der Kommandatur in
Kiel und von den Stationschefs der beiden Marineſtationen der
Oſtſee und Nordſee in Kiel und Wilhelmshaven unter Zuziehung
eines Stations-Auditeurs, ferner von den Kommandanten der in
Dienſt geſtellten Schiffe unter Zuziehung des Geſchwader-Auditeurs,
ſowie von der Kaiſerlichen Admiralität, in welcher ein beſonderes
Dezernat (J.) für Militär-Juſtizgeſchäfte beſteht. Als oberſter
Marine-Gerichtshof fungirt das Königl. Preuß. General-Audito-
riat in Berlin.


B.Reichs-Disciplinar-Gerichte.

Dieſelben ſind keine ſtändigen Behörden; ſie treten nur zu-
ſammen im Falle des Bedürfniſſes. Die Mitglieder verſehen ihr
Amt als ein unbeſoldetes Nebenamt; erhalten jedoch, wenn ſie an
dem Orte, an welchem das Gericht zuſammentritt, nicht wohnhaft
ſind, Reiſegelder und Diäten. Aus dem §. 93 des Reichsbeamten-
Geſetzes v. 31. März 1873 ergiebt ſich, daß zu Mitgliedern der
entſcheidenden Disciplinarbehörden nur Beamte im Reichs- oder
Staatsdienſt ernannt werden können, indem daſelbſt angeordnet
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 24
[370]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
iſt, daß die Mitglieder der Disciplinargerichte das ihnen über-
tragene Nebenamt ſo lange innehaben, wie das „zur Zeit ihrer
Ernennung von ihnen bekleidete Reichs- oder Staatsamt“ 1).


Dadurch iſt der, der richterlichen Stellung entſprechende Cha-
rakter der Inamovibilität für die Mitglieder der Disciplinargerichte
inſoweit gewahrt, als dies bei einem Nebenamte thunlich iſt. Die
Mitglieder werden vom Bundesrath gewählt, vom Kaiſer ernannt
und für die Erfüllung der Obliegenheiten ihres Amtes ver-
pflichtet 2).


Die Geſchäfts-Ordnung der Disciplinarbehörden wird durch
ein vom Disciplinarhof zu entwerfendes und vom Bundesrath zu
beſtätigendes Regulativ normirt 3). Daſſelbe iſt ohne Datum
veröffentlicht im Centralblatt f. d. Deutſche Reich v. 19. Dezember
1873 S. 390 ff. Die prozeßualiſchen Grundſätze des Disciplinar-
verfahrens ſind in dem Reichs-Beamten-Geſetz §. 80 ff. beſonders
§. 94 ff., feſtgeſtellt.


Als Reichs-Disciplinar-Gerichte fungiren folgende Behörden.


I.Disciplinar-Untergerichte.

1) Die Disciplinarkammern.

Die Errichtung von Disciplinarkammern iſt durch §. 87 des
citirten Geſetzes angeordnet an folgenden Orten: Potsdam, Frank-
furt a. O., Königsberg, Danzig, Stettin, Köslin, Bromberg, Poſen,
Magdeburg, Erfurt, Breslau, Liegnitz, Oppeln, Münſter, Arnsberg,
Düſſeldorf, Köln, Trier, Darmſtadt, Frankfurt a. M., Kaſſel,
Hannover, Schleswig, Leipzig, Karlsruhe, Schwerin, Lübeck und
Bremen 4).


Es iſt aber dem kaiſer das Recht vorbehalten, im Einver-
nehmen mit dem Bundesrath auch an anderen Orten Disciplinar-
kammern zu errichten. In Ausübung dieſes Rechtes ſind Disci-
plinar-Kammern in Stuttgart und Straßburg errichtet worden 5).


[371]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

Den einzelnen Disciplinarkammern ſind beſtimmte Jurisdik-
tions-Bezirke zugewieſen, welche vom Kaiſer im Einvernehmen
mit dem Bundesrathe abgegrenzt werden. (§. 88 Abſ. 1.) Die
Feſtſtellung dieſer Bezirke iſt erfolgt durch die Verordnung v. 11.
Juli 1873. (R.-G.-Bl. S. 293.) Zuſtändig iſt diejenige Kammer,
in deren Bezirk der Angeſchuldigte zur Zeit der Einleitung des
förmlichen Disciplinarverfahrens ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat.
(§. 88 Abſ. 2) 1).


Für Reichsbeamte, welche ihren dienſtlichen Wohnſitz im Aus-
lande haben, iſt die Disciplinarkammer in Potsdam zuſtändig;
ausgenommen ſind die Beamten der Reichs-Eiſenbahn-Verwaltung,
für welche die Disciplinarkammer in Straßburg competent iſt 2).


Iſt die Zuſtändigkeit verſchiedener Disciplinarkammern ſtrei-
tig, ſo entſcheidet der Disciplinarhof über dieſelbe. Ebenſo wird,
wenn eine Disciplinarkammer rekuſirt wird, vom Disciplinarhof
eine andere an deren Stelle ernannt 3).


Hinſichtlich der Perſonen erſtreckt ſich die Zuſtändigkeit der
Disciplinarkammern auf alle Reichsbeamte im Sinne des Geſetzes
v. 31. März 1873 §. 1, welche nicht durch eine beſondere geſetz-
liche Vorſchrift davon ausgenommen ſind.


Jede Disciplinarkammer beſteht aus ſieben Mitgliedern, von
denen der Präſident und wenigſtens drei andere Mitglieder in
richterlicher Stellung in einem Bundesſtaate ſein müſſen. Die
Verhandlung und Entſcheidung in den einzelnen Disciplinarſachen
erfolgt aber durch fünf Mitglieder. Der Vorſitzende und wenig-
ſtens zwei Beiſitzer müſſen zu den richterlichen Mitgliedern gehören 4).
5)
24*
[372]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
Ueber die Reihenfolge, in welcher die richterlichen Mitglieder berufen
werden, enthält das Regulativ §. 4 genaue Vorſchriften. Die
Reihenfolge beſtimmt ſich nach dem Dienſtalter, ſo daß die älteren
Mitglieder vor den jüngeren zur Theilnahme berufen ſind 1). Die
nicht richterlichen Mitglieder beruft der Präſident für die einzelnen
Sitzungen thunlichſt aus dem Verwaltungszweige, welchem der
Angeſchuldigte angehört 2). Bei Entſcheidungen und Beſchlüſſen,
welche auf Grund einer mündlichen Verhandlung erlaſſen werden,
dürfen nur Mitglieder mitwirken, vor welchen die mündliche Ver-
handlung ſtattgefunden hat 3).


Der Präſident führt in allen Sitzungen den Vorſitz; ernennt
den Dezernenten oder Referenten und nach Befinden einen Kor-
referenten; ihm liegt die Leitung und Beaufſichtigung des ganzen
Geſchäftsganges ob; er zeichnet die Konzepte aller Verfügungen,
vollzieht alle Reinſchriften und dekretirt in allen, das Kollegium
als ſolches betreffenden Angelegenheiten 4).


Alle Beſchlüſſe und Entſcheidungen werden nach Stimmen-
Mehrheit gefaßt 5); im Falle einer Meinungs-Verſchiedenheit über
die Stellung der Fragen oder über das Ergebniß der Abſtimmung
entſcheidet das Kollegium. Die Ausfertigungen der Entſcheidungen
ſind mit der Ueberſchrift zu verſehen: „Im Namen des Deutſchen
Reiches 6).


2) Die Militär-Disciplinar-Kommiſſionen7).

In Betreff der Militärbeamten, welche ausſchließlich unter
4)
[373]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
Militärbefehlshabern ſtehen, tritt an die Stelle der Disciplinar-
kammer die Disciplinarkommiſſion. (Geſetz vom 31. März 1873
§. 121.)


Die Kompetenz derſelben ergiebt ſich aus folgenden Sätzen:


Die Kompetenz iſt ausgeſchloſſen hinſichtlich aller Per-
ſonen des Soldatenſtandes (Geſ. §. 157), über welche die mili-
täriſchen Vorgeſetzten die Disciplinar-Strafgewalt ausüben gemäß
der Disciplinar-Strafordnung für das deutſche Heer vom 31. Okto-
ber 1872 und der Disciplinar-Strafordnung für die Kaiſerliche
Marine vom 23. November 1872. Ferner hinſichtlich der richter-
lichen Militär-Juſtizbeamten, Auditeure, (Geſ. §. 158), hin-
ſichtlich deren die Vorſchriften der Landesgeſetze Anwendung finden 1).
Sodann hinſichtlich derjenigen Beamten des Militärs und der
Marine, welche ſich in einem doppelten Unterordnungs-Ver-
hältniß, einerſeits zu einem Militär-Befehlshaber, andererſeits zu
einer ihnen vorgeſetzten Verwaltungsbehörde befinden. Dieſelben
ſtehen „bei Verletzung der Dienſt-Vorſchriften, welche die Grund-
lage ihrer Amtswirkſamkeit bilden,“ unter der Disciplinar-Gewalt
der vorgeſetzten Verwaltungsbehörde; hinſichtlich aller übrigen zur
Disciplinar-Beſtrafung geeigneten Handlungen iſt der vorgeſetzte
Militär-Befehlshaber zuſtändig 2). Wenn gegen ſolche Militär-
oder Marine-Beamte im Wege des Disciplinarverfahrens auf Amts-
Entſetzung erkannt werden ſoll, ſo iſt die Disciplinar-Kammer
zuſtändig und es finden alle, in dem Geſetz vom 31. März 1873
gegebenen Vorſchriften über die Zuſammenſetzung der Disciplinar-
Kammern volle Anwendung 3). Hinſichtlich derjenigen Militär-
[374]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
Beamten, welche ausſchließlich unter Militär-Befehlshabern
ſtehen, treten hinſichtlich aller Strafen, welche nicht in Entlaſſung
beſtehen, die Vorſchriften der Militär- (reſp. Marine-) Disciplinar-
Straf-Ordnungen ein. (Geſetz §. 123) 1).


Es bleiben mithin für die Kompetenz der Disciplinar-Kom-
miſſionen lediglich die Fälle übrig, in welchen es ſich um die dis-
ciplinariſche [Amtsentſetzung] eines Militär- oder Marine-Beamten
handelt, welcher ausſchließlich unter Militärbefehlshabern ſteht 2).


Die Disciplinarkommiſſionen werden gebildet:


  • für jedes Armee-Korps am Garniſonorte des General-Kom-
    mando’s,
  • für jede der beiden Flottenſtationen an dem Stationsort.

Jede Disciplinar-Kommiſſion für das Heer beſteht aus einem
Oberſten als Vorſitzenden und ſechs anderen Mitgliedern, von denen
3 zu den Stabs-Offizieren, Hauptleuten oder Rittmeiſtern, die
übrigen zu den oberen Beamten der Militär-Verwaltung gehören
müſſen. Jede Disciplinar-Kommiſſion für die Marine beſteht aus
einem Kapitän zur See als Vorſitzenden und ſechs anderen Mit-
gliedern, von denen 3 zu den Stabs-Offizieren der Marine oder
zu den Kapitän-Lieutenants, die übrigen zu den oberen Beamten
der Marine-Verwaltung gehören müſſen 3).


Die Mitglieder der Kommiſſion werden von der oberſten Reichs-
behörde ernannt 4).


Der kommandirende General des Armeekorps, beziehungsweiſe
[375]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
der Chef der Kaiſerl. Admiralität verfügt die Einleitung der Unter-
ſuchung und ernennt den Vorunterſuchungs-Beamten; die Verrich-
tungen der Staatsanwaltſchaft werden von dem Korps-Auditeur,
beziehungsweiſe dem Marine-Stations-Auditeur wahrgenommen 1).
Im Uebrigen finden die Vorſchriften, welche für die Disciplinar-
Kammern gegeben ſind, analoge Anwendung 2).


II.Oberſte Disziplinar-Gerichte.

1. Der Disciplinarhof.

Derſelbe entſcheidet in zweiter und letzter Inſtanz in allen
denjenigen Disciplinar-Prozeſſen, welche in erſter Inſtanz vor die
Disciplinar-Kammern oder vor die Militär-Disciplinar-Kommiſ-
ſionen gehören 3).


Auch der Disciplinarhof iſt keine ſtändige Behörde; er tritt
im Falle des Bedürfniſſes am Sitze des Reichs-Oberhandelsgerichts
zuſammen 4). Er beſteht aus elf Mitgliedern. Unter denſelben
müſſen wenigſtens vier zu den Bevollmächtigten zum Bundesrathe,
der Präſident und wenigſtens fünf zu den Mitgliedern des Reichs-
Oberhandelsgerichts gehören 5). Ueber die Ernennung derſelben
gelten dieſelben Regeln wie bei den Disziplinarkammern. (§. 93.)


In den einzelnen Disciplinarſachen erfolgt die mündliche Ver-
handlung und Entſcheidung durch 7 Mitglieder. Der Vorſitzende
und wenigſtens drei Beiſitzer müſſen zu den richterlichen Mitglie-
dern gehören 6). Soweit ſich hieraus nicht Abänderungen ergeben,
[376]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
gelten für den Geſchäftsgang beim Disciplinarhof dieſelben Vor-
ſchriften, welche für die Disciplinarkammern erlaſſen ſind.


2. Das Reichs-Oberhandelsgericht und
Das Bundesamt für das Heimathweſen

entſcheiden in erſter und letzter Inſtanz über ihre Mitglieder1)
in denjenigen Fällen, in welchen nach den §§. 23—26 des Geſetzes
vom 12. Juni 1869 Amtsverluſt, Suspenſion vom Amte oder
unfreiwillige Verſetzung in den Ruheſtand zuläſſig iſt 2). Das
Reichs-Oberhandelsgericht iſt außerdem gegen die Rechtsanwalte
und Advokaten, welche in den bei demſelben anhängigen Rechts-
ſachen thätig ſind, mit denjenigen Disciplinarbefugniſſen ausge-
ſtattet, welche dem oberſten Gerichtshofe des Bundesſtaates, an
deſſen Stelle das Reichs-Oberhandelsgericht getreten iſt, unter
gleichen Umſtänden zuſtehen würden 3).


Ueber das Preuß. General-Auditoriat als Disciplinarhof für
die Auditeure der Kaiſerl. Marine ſiehe oben S. 373 Note 1.


C.Reichs-Verwaltungsgerichte.

Hierher gehören diejenigen Behörden des Reiches, welche über
die Anwendung und Auslegung von Verwaltungsgeſetzen Urtheile
von rechtlicher Wirkſamkeit abgeben und hinſichtlich dieſer Thätigkeit
der oberen Leitung des Reichskanzlers oder einer anderen Verwal-
tungsbehörde nicht unterworfen ſind, ſondern ihre Entſcheidungen
nach unabhängiger individueller Rechtsüberzeugung fällen. Hiermit
iſt von ſelbſt auch die eigene Verantwortlichkeit dieſer Behörden
für ihre amtliche Wirkſamkeit und der Ausſchluß der Verantwort-
[377]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
lichkeit des Reichskanzlers gegeben. Es ſcheiden daher aus dieſem
Begriffe aus, ſowohl die oberen Verwaltungsbehörden, welche zwar
ebenfalls thatſächlich über die Anwendung und Auslegung von
Verwaltungsvorſchriften fortwährend zu entſcheiden haben, jedoch den
Anordnungen des Reichskanzlers Folge zu leiſten verpflichtet ſind,
als auch der Bundesrath ſelbſt, der vielfach die Funktionen eines
oberſten Verwaltungsgerichtshofes des Reiches ausübt 1), deſſen
Mitglieder aber nach den ihnen ertheilten Inſtruktionen ſtimmen
müſſen. An einem Reichs-Verwaltungsgerichte von genereller Zu-
ſtändigkeit fehlt es; die bisher errichteten Behörden zur Entſchei-
dung der hierher gehörenden Rechtsfragen ſind Specialgerichte von
eng umgränzter Kompetenz.


Es ſind folgende:


I.Das Bundesamt für das Heimathweſen.

Daſſelbe iſt errichtet durch das Bundesgeſetz über den Unter-
ſtützungswohnſitz vom 6. Juni 1870 §. 42 ff. (B.-G.-Bl. S. 368.)
Es iſt eine ſtändige und kollegiale Behörde, welche ihren Sitz in
Berlin hat. Sie beſteht aus einem Vorſitzenden und mindeſtens
vier Mitgliedern; der Vorſitzende ſowohl als auch mindeſtens die
die Hälfte der Mitglieder muß die Qualifikation zum höheren
Richteramte im Staate ihrer Angehörigkeit beſitzen 2). Der Vor-
ſitzende und die Mitglieder werden auf Vorſchlag des Bundesrathes
vom Kaiſer auf Lebenszeit ernannt und ſind den Mitgliedern des
[378]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
Reichs-Oberhandelsgerichtes in Beziehung auf Verſetzung in ein
anderes Amt, die einſtweilige und die zwangsweiſe Verſetzung in
den Ruheſtand, Disziplinar-Beſtrafung und vorläufige Die iſt-Ent-
hebung gleichſtellt 1).


Jedoch kann das Amt als Mitglied dieſer Behörde als ein
Nebenamt verliehen werden. Daſſelbe unterſcheidet ſich aber von
der, ebenfalls als Nebenamt zu ertheilenden Mitgliedſchaft eines
Disciplinargerichts dadurch, daß es nicht erliſcht, wenn der In-
haber aus dem zur Zeit ſeiner Ernennung von ihm bekleideten
Hauptamt ausſcheidet, ſondern daß es auf Lebenszeit ertheilt wird 2).
In allen Fällen, gleichviel ob das Amt als ein volles oder als
ein Nebenamt übertragen wird, iſt es ein beſoldetes3).


Die Kompetenz des Bundesamtes für das Heimathweſen er-
gibt ſich aus §. 41 und §. 52 des Geſetzes vom 6. Juni 1870.
Das Bundesamt entſcheidet nach §. 41 in letzter Inſtanz in Strei-
tigkeiten zwiſchen verſchiedenen Armenverbänden über die öffentliche
Unterſtützung Hülfsbedürftiger, ſofern die ſtreitenden Armenver-
bände verſchiedenen Bundesſtaaten angehören. Soweit jedoch
die Organiſation oder örtliche Abgrenzung der einzelnen Armen-
verbände Gegenſtand des Streites iſt, bewendet es endgültig bei
der Entſcheidung der höchſten landesgeſetzlichen Inſtanz. Da das
Geſetz vom 6. Juni 1870 in Bayern und in Elſaß-Lothringen
nicht eingeführt iſt, ſo ergiebt ſich, daß die Kompetenz des Bun-
desamtes für das Heimathweſen für dieſe Gebiete ausgeſchloſ-
ſen iſt.


Nach §. 52 cit. iſt es ferner den Einzelſtaaten überlaſſen, im
Wege der Landesgeſetzgebung zu beſtimmen, daß die Entſcheidung
letzter Inſtanz in Streitigkeiten zwiſchen Armenverbänden deſſel-
ben Staates
über die Pflicht zur Unterſtützung Hülfsbedürf-
[379]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
tiger dem Bundesamt übertragen werde. Von dieſer Ermächtigung
haben Gebrauch gemacht: Preußen, Heſſen, Sachſen-Weimar-
Eiſenach, Braunſchweig, Sachſen-Altenburg, Sachſen-Coburg-Gotha,
Anhalt, beide Schwarzburg, Reuß j. L., Lippe, Lübeck und Lauen-
burg 1).


Sowohl die materiellen Rechtsgrundſätze als das zu beobach-
tende Prozeßverfahren ſind durch das Geſetz vom 6. Juni 1870
geregelt 2); der Geſchäftsgang iſt durch ein Regulativ geordnet,
welches das Bundesamt ſelbſt zu entwerfen und dem Bundesrathe
zur Beſtätigung einzureichen hatte 3).


Eine gültige Entſcheidung des Bundesamtes erfordert die An-
weſenheit von mindeſtens drei Mitgliedern, von denen mindeſtens
Eines die richterliche Qualifikation haben muß. Die Zahl iſt ſo-
nach keine geſchloſſene; in allen Fällen aber muß die Zahl der
Mitglieder, welche bei der Faſſung eines Beſchluſſes eine entſchei-
dende Stimme führen, eine ungerade ſein 4).


Die Entſcheidung des Bundesamtes erfolgt gebührenfrei in
öffentlicher Sitzung nach erfolgter Ladung und Anhörung der Par-
teien 5). Die Vorſchriften über den Geſchäftsgang, die Leitung des
Verfahrens, die Frageſtellung und Abſtimmung, Protokollführung,
die Geſchäftscontrolen u. ſ. w., welche das erwähnte Regulativ
aufſtellt, entſprechen den für collegialiſche Gerichtsbehörden üblichen
Anordnungen.


Die endgültigen Entſcheidungen werden „Im Namen des
Deutſchen Reichs“ erlaſſen 6). Die wichtigeren derſelben werden
im Centralblatt für das deutſche Reich veröffentlicht 7).


[380]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
II.Das verſtärkte Reichs-Eiſenbahn-Amt.

Das Geſetz vom 27. Juni 1873 §. 5 Z. 4 (R.-G.-Bl. S.
165) hat folgende Beſtimmung:


„Wird gegen eine von dem Reichs-Eiſenbahn-Amte verfügte
Maßregel Gegenvorſtellung erhoben auf Grund der Behauptung,
daß jene Maßregel in den Geſetzen und rechtsgültigen Vorſchriften
nicht begründet ſei, ſo hat das durch Zuziehung von richterlichen
Beamten zu verſtärkende Reichs-Eiſenbahn-Amt über die Gegen-
vorſtellung immer ſelbſtſtändig und unter eigener Verant-
wortlichkeit
in kollegialer Berathung und Beſchlußfaſſung
zu befinden.“


Die Gegenvorſtellung kann erhoben werden entweder von der
Kaiſerl. Verwaltung der Reichs-Eiſenbahnen (reſp. dem Reichs-
kanzler-Amt als der vorgeſetzten Behörde derſelben), oder von der
Verwaltung einer Staats-Eiſenbahn (reſp. derjenigen Bundesre-
gierung, von welcher dieſelbe reſſortirt), oder von der Verwaltung
einer Privat-Eiſenbahn. Sie iſt gerichtet gegen eine vom Reichs-
Eiſenbahnamt verfügte Anordnung; die Entſcheidung betrifft aber
niemals die Frage der Zweckmäßigkeit oder irgend eine Frage tech-
niſcher Natur, ſondern lediglich die Rechtsfrage, ob die vom
Reichs-Eiſenbahn-Amt erlaſſene Verfügung in den Geſetzen und
rechtsgültigen Vorſchriften begründet ſei. Die Entſcheidung hat
demnach immer den Charakter eines verwaltungs-gerichtlichen Ur-
theils und das verſtärkte Reichs-Eiſenbahn-Amt hat bei Fällung
dieſes Urtheils die Stellung eines Gerichtshofes. Ueber den kol-
legialiſchen Geſchäftsgang und die dem Präſidenten zuſtehenden
Befugniſſe hat der Bundesrath auf Grund des Geſetzes vom 27.
Juni 1873 ein Regulativ erlaſſen 1), welches die ſehr lückenhaften
Anordnungen des Geſetzes ergänzt.


Die Einleitung des Verfahrens ſteht dem Reichskanzler zu.
Bei demſelben iſt die „Gegenvorſtellung“ d. h. die Beſchwerde
über die Rechtswidrigkeit einer Verfügung des Reichs-Eiſenbahn-
Amtes zu erheben und der Reichskanzler überweiſt die Sache an
das verſtärkte Reichs-Eiſenbahn-Amt 2). Ebenſo wird der endgültig
[381]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
gefaßte Beſchluß in formeller Ausfertigung dem Reichskanzler zur
weiteren Veranlaſſung überreicht 1).


Thatſächliche Erhebungen, welche zur Klarſtellung des Sach-
verhältniſſes zuvörderſt erforderlich ſcheinen, werden von dem
Präſidenten angeordnet 2). Für die kollegiale Berathung und Be-
ſchlußfaſſung ernennt der Präſident einen Referenten und Correfe-
renten, von denen einer aus den hinzugezogenen richterlichen Be-
amten gewählt werden muß. Die Berichte ſind ſchriftlich zu er-
ſtatten. Nach Eingang derſelben beraumt der Präſident eine Si-
tzung an, zu welcher ſämmtliche Mitglieder des Reichs-Eiſenbahn-
Amtes und die zur Verſtärkung deſſelben zugezogenen richterlichen
Beamten einzuladen ſind. Zur Beſchlußfähigkeit gehört die An-
weſenheit von mindeſtens drei Mitgliedern des Reichs-Eiſenbahn-
Amtes (einſchließlich des Präſidenten) und zweier richterlicher Be-
amter. Iſt einer der letzteren verhindert, ſo tritt ſein Stellver-
treter für ihn ein, der ein für allemal ernannt wird 3). Der
Präſident leitet die Verhandlungen; ſtellt die Fragen und ſammelt
die Stimmen. Ueber eine Meinungsverſchiedenheit in Betreff der
Frageſtellung oder über das Ergebniß der Abſtimmung entſcheidet
das Kollegium nach Stimmenmehrheit. Die Stimme des Präſi-
denten giebt bei Stimmengleichheit den Ausſchlag. Der von dem
Kollegium endgültig gefaßte Beſchluß iſt mit den Gründen von
ſämmtlichen Mitgliedern in der Urſchrift zu vollziehen; die Aus-
fertigung iſt von dem Präſidenten zu unterſchreiben 4).


Die beiden richterlichen Beamten und deren Stellvertreter
werden vom Kaiſer ernannt 5). Sie verwalten ihr Amt als unbe-
ſoldetes Nebenamt, erhalten aber für die Theilnahme an den
Sitzungen Reiſekoſten und Diäten 6).


III.Die Reichs-Rayonkommiſſion.

Nach dem Geſetze vom 21. Dezember 1871 über die Beſchrän-
kungen des Grundeigenthums in der Umgebung von Feſtungen
[382]§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
(R.-G.-Bl. S. 459) iſt innerhalb ſämmtlicher Rayons zur Vornahme
baulicher Veränderungen, zu allen, die Terrain-Oberfläche modifi-
zirenden Anlagen, Aufſtapelungen u. ſ. w. nach näherer Vorſchrift
der §§. 13—25 die vor dem Beginn der Ausführung einzuholende
Genehmigung der Feſtungs-Kommandantur erforderlich 1).


„Gegen die Entſcheidung der Kommandantur, wie gegen alle
Anordnungen derſelben, iſt in Rayon-Angelegenheiten binnen einer
vierwöchentlichen Präkluſivfriſt von der Zuſtellung ab, der Rekurs
zuläſſig. Die Entſcheidung auf den Rekurs erfolgt endgültig
durch die Reichs-Rayonkommiſſion“ 2).


Außer dieſer Entſcheidung in der Rekurs-Inſtanz iſt die
Rayonkommiſſion, auch ohne daß es eines Rekurſes bedarf, zuſtän-
dig, die Projekte größerer Anlagen (Chauſſeen, Deiche, Eiſenbahnen
u. ſ. w.), welche in den Rayons der Feſtungen und feſten Plätze
ausgeführt werden ſollen, zu prüfen und in Gemeinſchaft mit der
betreffenden Centralverwaltungsbehörde definitiv feſtzuſtellen 3).


Die Reichs-Rayonkommiſſion iſt eine ſtändige Militärkommiſ-
ſion; ſie wird vom Kaiſer berufen und alle Bundesſtaaten, in deren
Gebieten Feſtungen liegen, müſſen in derſelben vertreten ſein 4).


B.Die Reichsbeamten5).


§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.

I. Das Geſetz vom 31. März 1873 gibt keine Definition des
Begriffes „Beamter“, ſondern ſetzt denſelben voraus; es beſtimmt
[383]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
im §. 1 lediglich, welche Beamte als Reichsbeamte anzuſehen ſeien.
Es muß daher zunächſt dieſer allgemeinere Begriff, über den
weder in der Literatur Uebereinſtimmung beſteht, noch der Sprach-
gebrauch Sicherheit gewährt, feſtgeſtellt werden. Die Bildung des
Wortes weiſt auf den Begriff des „Amtes“ zurück 1) und es er-
ſcheint als ſehr naheliegend, denjenigen dem ein Staatsamt über-
tragen iſt, einen Staatsbeamten 2), und dem entſprechend denjeni-
gen, dem ein Reichsamt übertragen iſt, einen Reichsbeamten zu
nennen. Dies iſt aber nur in einer Beziehung zutreffend, inſo-
fern nämlich die Anſtellung eines Beamten nicht anders erfolgen
kann, als zu dem Zwecke der Uebertragung eines Amtes und in
der Regel die Ernennung zum Beamten und die Uebertragung
eines Geſchäftskreiſes gleichzeitig erfolgen.


Es iſt richtig, daß die Ablegung einer Staatsprüfung Nie-
manden zum Beamten macht, ſondern nur die Qualifikation ver-
ſchafft, um gewiſſe Aemter erlangen zu können; daß ebenſo wenig
die Verleihung eines Beamten-Titels die Eigenſchaft als Beamter
begründet; daß endlich der Bezug eines dauernden Einkommens
aus Staatsmitteln, z. B. einer Penſion oder Rente, nicht genügend
iſt, um Jemanden als Beamten erſcheinen zu laſſen 3). Aber es
kann Jemand ſehr wohl Beamter bleiben, ohne daß er ein
Amt verwaltet, indem er zur Dispoſition geſtellt, vom Amte ſus-
pendirt oder beurlaubt iſt. Es iſt auch möglich, daß Jemand
zum Beamten ernannt wird, die Uebertragung eines beſtimm-
ten Amtes aber noch vorbehalten bleibt. Es iſt ſomit die Mög-
lichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß es Beamte ohne Amt gibt.


Noch weniger aber decken ſich der Begriff des Amtes und
derjenige des Beamten in der Richtung, daß jeder, welcher ein
Staatsamt übernimmt, dadurch zum Staatsbeamten würde. Der
Begriff des Amtes iſt weiter als der des Beamten; es gibt Be-
[384]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
hörden, deren Mitglieder nicht Beamte zu ſein brauchen. Ein
Schwurgericht iſt zweifellos eine Behörde und die Funktionen eines
Geſchworenen ſind ein Amt, aber ein Geſchworener iſt deſſen un-
geachtet kein Beamter. Es gehört vielmehr zum Begriff eines
Staats-Beamten außer der Uebernahme eines Staats-Amtes
noch ein zweites Begriffs-Moment, nämlich der Eintritt in ein
Dienſtverhältniß zum Staate.


Eine ausdrückliche Anerkennung hat dieſe Begriffs-Verſchie-
denheit in der Reichsgeſetzgebung gefunden und zwar im Straf-
Geſetzbuch.


§. 359. „Unter Beamten im Sinne dieſes Strafgeſetzes
ſind zu verſtehen alle im Dienſte des Reiches oder in unmittel-
barem Dienſte eines Bundesſtaates, auf Lebenszeit, auf Zeit oder
nur vorläufig angeſtellte Perſonen, ohne Unterſchied, ob ſie
einen Dienſteid geleiſtet haben oder nicht, ingleichen Notare, nicht
aber Advokaten und Anwalte.“


Dagegen lautet §. 31 Abſ. 2: „Unter öffentlichen Aem-
tern
im Sinne dieſes Strafgeſetzes ſind die Advokatur, die An-
waltſchaft ünd das Notariat, ſowie der Geſchworenen- und Schöf-
fendienſt mitbegriffen.“


Das Strafgeſetzbuch gibt an dieſen beiden Stellen allerdings
keine allgemein gültigen Begriffsbeſtimmungen, ſondern erklärt
nur „Beamte“ und „Aemter“ im Sinne dieſes Strafge-
ſetzes
; aber es conſtatirt doch, daß dieſe Begriffe von verſchiede-
nem Umfange ſind.


Im Einklange hiermit ſteht, daß die mit Uebernahme eines
Amtes verbundenen Pflichten nicht identiſch ſind mit den Pflichten
eines Beamten. Das Strafgeſetzbuch behandelt im 28. Abſchnitt
(§. 331 ff.) die Verbrechen und Vergehen, „im Amte“. Es
ſpricht im §. 333 von der Verleitung eines Mitgliedes der be-
waffneten Macht zu einer Verletzung einer Amts- oder Dienſt-
pflicht, im §. 334 von Amtsverletzungen der Schiedsrichter, Ge-
ſchworenen und Schöffen, im §. 337 und 338 von Geiſtlichen und
anderen Religionsdienern, im §. 352 und 356 von Advokaten,
Anwalten und anderen Rechtsbeiſtänden.


Alle dieſe Perſonen-Klaſſen ſind keine Staats-Beamten, aber
ſie haben ein Amt und können deßhalb Verbrechen und Vergehen
„im Amte“ verüben. Dagegen ſprechen die Disciplinargeſetze
[385]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
ſtets nur von Dienſtvergehen der Beamten, ſo auch §. 72 des
Reichs-Beamtengeſetzes, und daſſelbe Geſetz erklärt im §. 119, daß
die Vorſchriften der §§. 84—118 auch in Anſehung der einſt-
weilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten gelten. Ein Dienſt-
vergehen
kann daher auch derjenige begehen, welcher kein Amt
hat, wofern er nur Beamter iſt, d. h. im Staatsdienſte ſteht.


Da es ſonach Beamte gibt, welche kein Amt verwalten, und
andererſeits Verwalter von öffentlichen Aemtern, welche nicht
Beamte ſind, ſo folgt, daß nicht das Amt für den Begriff des
Beamten ausſchlaggebend iſt. Charakteriſtiſch iſt vielmehr das
Dienſtverhältniß.


Hiermit iſt der Begriff eines Staatsbeamten aber noch nicht
genügend beſtimmt, weil nicht jedes Dienſtverhältniß zum Staate
die Beamten-Eigenſchaft begründet, ſondern ein beſonders gearte-
tes Dienſtverhältniß erforderlich iſt. Die Pflicht zur Leiſtung von
Dienſten kann nämlich auf einem dreifachen Rechtsgrunde be-
ruhen. Sie kann nach Analogie der Dienſtmiethe des Privatrechts
durch einen Vertrag begründet werden, bei welchem die Contra-
henten gleichberechtigt und unabhängig einander gegenüber ſtehen.
In dieſem Falle beſteht keine Unterordnung desjenigen, der die
Dienſte leiſtet, gegen denjenigen, dem ſie geleiſtet werden; es wird
kein weitergehendes Recht unter den Contrahenten begründet als
der Anſpruch auf Erfüllung der verſprochenen Dienſtleiſtung und
der Gegenanſpruch auf den dafür zugeſicherten Lohn. Auch der
Staat kann Dienſtverträge dieſer Art abſchließen, z. B. mit Bau-
Unternehmern, welche die Herſtellung von Feſtungswerken, Eiſen-
bahnen, Wegen u. ſ. w. übernehmen, mit Lithographen, welche den
Druck von Staatspapiergeld beſorgen u. ſ. w. Der Inhalt eines
ſolchen Vertrages braucht nicht mit Nothwendigkeit privatrecht-
lich zu ſein; auch die Beſorgung von obrigkeitlichen Geſchäften kann
gegen Entgeld in der Art der privatrechtlichen Dienſtmiethe über-
tragen werden, z. B. die Erhebung von Abgaben oder Gebühren
für die Staatskaſſe u. dgl., obwohl aus Gründen der Politik nur
höchſt ſelten die Führung von obrigkeitlichen Geſchäften im Wege
des Contrakts übertragen werden wird.


Wer ein Dienſtverhältniß der angegebenen Art 1) mit dem
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 25
[386]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
Staate eingeht, ſo daß er dem letzteren als gleichberechtigter Con-
trahent gegenüber ſteht, wird kein Staatsbeamter.


Die Pflicht zur Leiſtung von Dienſten kann ferner beruhen
auf einem Gewalts-Verhältniß, welches nicht durch den freien
Willens-Entſchluß der Betheiligten begründet iſt, ſondern ohne
denſelben beſteht. Auf dem Gebiete des Privatrechts liefert die
väterliche Gewalt und das in derſelben enthaltene Recht des Vaters
auf häusliche oder gewerbliche Dienſtleiſtungen der Hauskinder
das deutlichſte Beiſpiel. In ähnlicher Art begründet die Hoheit
des Staates über ſeine Angehörigen das Recht des Staates auf
Dienſte und die Pflicht der Angehörigen, dieſelben zu leiſten. Die
Erfüllung dieſer Unterthanen- oder Bürger-Pflichten erzeugt aber
ebenfalls nicht das Beamten-Verhältniß. Wer dem Staate Dienſte
leiſtet als Soldat durch Erfüllung der allgemeinen Wehrpflicht,
als Geſchworener oder Schöffe durch Erfüllung der Gerichtspflicht,
durch Uebernahme von Vormundſchaften, als Mitglied von Steuer-
Einſchätzungskommiſſionen u. dgl. iſt kein Beamter, trotzdem er
einen Kreis ſtaatlicher, ja ſogar obrigkeitlicher, Geſchäfte verſieht,
alſo ein Amt hat, und dem Staate dient. Der Grund iſt nicht
darin zu ſehen, daß er ſein Amt nicht dauernd verwaltet, ſondern
darin, daß ſeine Dienſtpflicht nichts Anderes iſt als die Unter-
thanenpflicht und in derſelben enthalten iſt.


Es giebt nun aber eine dritte Klaſſe von Dienſtverhältniſſen,
bei welchen die beiden charakteriſtiſchen Momente der eben erörter-
ten Klaſſen verbunden ſind, d. h. welche einerſeits durch freie
Willens-Uebereinſtimmung, alſo durch Vertrag begründet wer-
den, andererſeits aber ihrem Inhalte nach ein Gewalts-Verhält-
niß ſind.


Die Geſchichte des Privatrechts liefert hiefür ein klaſſiſches
Beiſpiel durch die Vaſſallität. Die Commendation des mittelalter-
1)
[387]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
lichen Rechtes war ein Vertrag, aber kein Vertrag des Obligatio-
nenrechts; zwiſchen Senior und Vaſſall, dem Lehnsherrn und
Lehnsmann beſtand ein Gewaltsverhältniß, welches ethiſcher Natur
war, auf beſonderer Treue und Ergebenheit beruhte, eine beſon-
dere Dienſtpflicht begründete. Die Commendation erzeugte kein
(obligatoriſches) Contractsverhältniß, ſondern ein Verhältniß der
Ueber- und Unterordnung, eine potestas. Eine Verletzung der
Dienſtpflicht des Lehnsmannes war nicht die Nichterfüllung einer
Obligation, ſondern ein Vergehen, eine Felonie; die Rechte des
Lehnsherrn waren keine Forderungs-Rechte, ſondern Hoheitsrechte.
Seine Gegenleiſtungen beſtanden weſentlich in der Pflicht zum Schutze.
Die Gewährung eines beneficium war urſprünglich nicht weſentlich,
wenngleich von jeher üblich. Der Inhalt des Verhältniſſes wird
nicht durch gegenſeitiges dare facere praestare oportere, ſondern
durch mundeburdium (defensio) und fides gebildet.


Von derſelben Art iſt das Dienſtverhältniß des Staats-
beamten zum Staate, nur daß es nicht privatrechtlicher, ſon-
dern öffentlich rechtlicher Natur iſt 1). Es ſetzt voraus die
Begründung durch einen Vertrag, d. h. durch einen ſpeziellen
Conſens für jeden einzelnen Fall. Der Staat muß den Willen
erklären, die individuell beſtimmte Perſon in ſeinen Dienſt zu
nehmen, und der Beamte muß einwilligen, in dieſen Dienſt zu
treten. Aber dieſer Vertrag iſt kein Contract des Obligationen-
rechts, ſondern er begründet ein Gewaltsverhältniß des Staates,
eine beſondere Gehorſams-Treue- und Dienſtpflicht des Beamten,
andererſeits eine Pflicht des Staates zum Schutze und zur Ge-
währung des zugeſicherten Dienſteinkommens.


Weſentlich iſt auch hier die Verpflichtung des Staates,
den Beamten in Ausübung ſeiner Dienſtpflicht zu ſchützen; die
Gewährung eines Dienſteinkommens iſt die Regel, aber iſt nicht
weſentlich. Eine Verletzung der Dienſtpflicht Seitens des Beamten
iſt kein Contractsbruch, ſondern ein Vergehen (Disciplinarvergehen)
entſprechend der Felonie des Lehnsmanns.


Die Erfüllung der Beamtenpflichten iſt nicht Contracts-Er-
25*
[388]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
füllung, ſondern Erfüllung der übernommenen Treue und Gehor-
ſamspflicht 1).


Mithin unterſcheidet ſich der Dienſt des Beamten dadurch
von dem Dienſt des Unterthanen, daß der letztere ihn leiſten muß,
ohne daß er ſich durch ſeinen freien Willensentſchluß dazu ver-
pflichtet hat, und dadurch von dem Dienſt desjenigen, den der
Staat gemiethet hat, daß der letztere dem Staate als gleichberech-
tigter Contrahent gegenüber ſteht. Die, durch dieſen doppelten
Gegenſatz beſtimmte Art des Dienſtverhältniſſes liefert das ent-
ſcheidende, weſentliche Kriterium des juriſtiſchen Begriffes des
Beamten.


Iſt dieſe Definition richtig, ſo folgt zugleich daraus, daß eine
Reihe von anderen Kriterien, welche in der Literatur öfters als
begriffsbeſtimmend angegeben werden, nicht von Erheblichkeit iſt.


Nicht entſcheidend iſt der Anſpruch auf Gehalt 2); es gibt
auch unbeſoldete Staatsbeamte z. B. Wahlkonſuln, ſogen. Hono-
rar-Profeſſoren u. ſ. w.


Das Reichsbeamtengeſetz erwähnt im Art. 16 Abſ. 2 und
[389]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
Art. 21 Abſ. 2 ausdrücklich die Wahlkonſuln als eine Art der
Reichsbeamten; desgleichen ſind die im auswärtigen Dienſte des
Reiches unentgeldlich beſchäftigten Attachés Reichsbeamte. An-
dererſeits ſind z. B. die Mitglieder der Reichs-Schulkommiſſion,
obgleich ſie aus Reichsmitteln eine Remuneration erhalten, nicht
Reichsbeamte.


Ebenſowenig entſcheidend iſt die Dauer der Amts-Ueber-
tragung. Es kömmt ſehr häufig vor, daß einem Beamten ein
amtlicher Wirkungskreis auf ganz kurze Zeit übertragen wird, daß
ein Amt überhaupt nur vorübergehend beſteht oder nur interimi-
ſtiſch von einer gewiſſen Perſon verwaltet wird. Die Beamten-
qualität der letzteren bleibt davon ganz unberührt 1).


Auch das iſt unerheblich, ob die Geſchäfte, welche einem Be-
amten obliegen, obrigkeitlicher Natur oder techniſcher Art ſind.
Eine feſte Grenze zwiſchen beiden Arten iſt ſehr ſchwer zu ziehen,
da bei ſehr vielen Aemtern techniſche und obrigkeitliche Geſchäfte mit
einander verbunden ſind. Die ganze Unterſcheidung, auf welche in
[390]§. 37. Der Begriff des Reichsbeamten.
allen Darſtellungen des Staatsrechts ein großes Gewicht gelegt
wird, iſt aber gänzlich unpraktiſch. Die im Staatsdienſte
angeſtellten Perſonen, welche die Domänen und Forſten, die Eiſen-
bahnen und Bergwerke, die Magazine und induſtriellen Etabliſſe-
ments des Staates verwalten, welche an den Univerſitäten und
Gymnaſien Unterricht ertheilen, oder welche als Geſandte den
diplomatiſchen Dienſt leiſten, ſind nicht weniger als Staatsbeamte
zu erachten, wie Polizeibeamte und Richter 1).


Sodann macht es für den Beamten-Begriff keinen Unterſchied,
ob die Dienſte höherer oder niederer Art ſind, d. h. ob ſie ver-
bunden ſind mit einer Dekretur, mit der Fällung von Entſcheidun-
gen und dem Erlaß von Verfügungen, oder ob ſie lediglich in
der Ausführung von dienſtlichen Befehlen beſtehen. Von Wichtig-
keit kann dies ſein für die Klaſſifizirung der Beamten und für
das Maaß von Rechten, melches dem Beamten zukömmt; denn
es iſt ſelbſtverſtändlich, daß keineswegs alle Beamte dieſelbe recht-
liche Stellung dem Staate gegenüber haben. Aber für den Be-
griff der Staatsbeamten iſt es unerheblich, von welcher Gattung
die Geſchäfte ſind, welche der Staat verlangt. Auch die Boten,
Heizer, Portiers und Kaſtellane in den Dienſtgebäuden des Staa-
tes ſind Staatsbeamte, wenngleich ſie als Unterbeamte „eine be-
ſondere Klaſſe derſelben bilden“, wofern ſie nur „angeſtellt ſind“,
d. h. nicht in einem privatrechtlichen Miethsverhältniß zum Fiskus
ſtehen 2).


[391]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.

Für das Reichsrecht iſt es durch das durch Verord. v. 30.
Juni 1873 publizirte Verzeichniß der Reichsbeamten (R.-G.-Bl.
S. 169 fg.) unzweifelhaft, daß auch die Unterbeamten zu den
Reichsbeamten gehören.


Endlich iſt zu erwähnen, daß der Staatsbeamte in der Wahr-
nehmung ſeiner Amtsgeſchäfte nicht nothwendig ſeinen weſent-
lichen oder gar ausſchließlichen Lebensberuf zu haben braucht.
Der Geſichtspunkt, daß der Beamte ſich regelmäßig dem Staats-
dienſt berufsmäßig widmet, daß er in der Erfüllung ſeiner dienſt-
lichen Pflichten ſeine Lebensaufgabe erblickt, daß das Beamtenrecht
demgemäß ein Berufs- und Standesrecht iſt, hat politiſch ſeine
hohe Berechtigung und vielſeitige Bedeutung und iſt auch juriſtiſch
in mehrfacher Hinſicht von Wichtigkeit 1). Aber wenn es ſich
2)
[392]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
darum handelt, einen rechtswiſſenſchaftlichen, für juriſtiſche Deduk-
tionen brauchbaren Begriff aufzuſtellen, ſo iſt es ein Gebot der
Logik, die weſentlichen Momente ſcharf auszuſcheiden von Allem,
was für den Begriff kein essentiale iſt. Für den Begriff des
Beamten iſt es nun keineswegs weſentlich, daß der dem Beamten
übertragene Geſchäftskreis einen ſo großen Umfang hat, daß er
die Leiſtungskraft des Beamten abſorbirt, ſeine Thätigkeit ausfüllt,
den ausſchließlichen oder weſentlichen Beruf deſſelben bildet. Ein
[Staatsamt] kann ſehr wohl eine Nebenbeſchäftigung des Beam-
ten bilden.


Für das Reichsrecht iſt auch hier jeder Zweifel ausgeſchloſſen
durch das Reichsbeamtengeſetz §. 38, welches ausdrücklich Reichs-
beamte erwähnt, „deren Zeit und Kräfte durch die ihnen über-
tragenen Geſchäfte nur nebenbei in Anſpruch genommen werden.“


Wenngleich das Reichsbeamten-Geſetz den Begriff des Beam-
ten nicht definirt, ſo ergiebt ſich doch aus den im Vorſtehenden
angeführten Beſtimmungen deſſelben, daß zu den weſentlichen
Momenten dieſes Begriffes nicht gehören: eine Beſoldung, die
dauernde Uebertragung eines Amtes, Handhabung obrigkeitlicher
Hoheits-Rechte, Selbſtſtändigkeit der Verfügung oder Entſchei-
dung, Ausfüllung des Lebensberufes durch die Bekleidung des
Amtes — alſo gerade diejenigen Momente, welche regelmäßig als
die erheblichen und weſentlichen angeführt werden. Das öffent-
lichrechtliche Dienſtverhältniß bleibt vielmehr als das allein weſent-
liche Begriffs-Moment übrig.


Daſſelbe bedarf indeß noch einer näheren jnriſtiſchen Beſtim-
mung. Es iſt bereits hervorgehoben worden, daß daſſelbe weder
auf einer obligatoriſchen Verpflichtung noch auf einer Unterthänig-
keit beruht. Hiermit iſt der Gegenſatz gegen die bisher in der
Literatur herrſchenden Theorien gegeben. In der älteren Zeit
dachte man ausſchließlich an ein Dienſtverhältniß nach Art des
Privatrechtes 1). Man begann, im Einklang mit den politiſchen
Zuſtänden, wie ſie bis zum vorigen Jahrhundert herrſchend waren,
mit der Auffaſſung des Rechtsverhältniſſes als Prekarium2).
[393]ß. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
Die Einſicht aber, daß der Beamte ein Recht auf Belohnung haben
müſſe, führte dahin, eine Dienſtmiethe anzunehmen 1). Bald
fand man auch dies unpaſſend und unwürdig, weil der Staats-
dienſt nicht zu den operae illiberales zu zählen ſei, und ging zum
Mandat über 2). Da auch dies als durchaus unzutreffend ſich
erwies, nahm man ſeine Zuflucht zu der nichtsſagenden Formel
des Innominat-Contracts und man kam ſchließlich dazu,
einen eigenthümlichen, beſonders gearteten „Staatsdienſt-Ver-
trag
“ aufzuſtellen 3).


Einen Wendepunkt bildet die geiſtreiche Schrift von Gönner
„Der Staatsdienſt aus dem Geſichtspunkte des Rechts und der
National-Oekonomie betrachtet“ (1808). Er widerlegt die privat-
rechtliche Auffaſſung des Staatsdienſtverhältniſſes in allen ihren
Färbungen in energiſcher Weiſe und ſtützt das Dienſtverhältniß
auf die Staatsgewalt, auf die Unterthanenpflicht 4). Dieſe Anſicht
2)
[394]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
wurde ſeitdem die vorwiegende. Die Dienſtpflicht des Staatsbe-
amten wurde als potenzirte Unterthanen-Pflicht erklärt und dem
Staat das Recht beigelegt, die Unterthanen zum Eintritt in den
Staatsdienſt zu zwingen 1). Heffter a. a. O. S. 126 nimmt
ein ſolches Recht des Staates im Princip an, ſtellt aber einige
auf Billigkeitsgründen beruhende Einſchränkungen ſeiner Ausübung
auf 2). Perthes a. a. O. S. 52 fg., beſ. S. 55, führt dieſe
Anſicht noch prinzipieller durch und ſieht nur in dem Andrange
zum Staatsdienſt einen Grund, ſtatt den Unwilligen zu zwingen,
lieber den ſich freiwillig Meldenden zu nehmen. Völlig auf dem-
ſelben Standpunkte ſteht Dahlmann Politik (3. Aufl.) S. 271 ff.
(§. 251—255) und in der neueſten Literatur klingt dieſe Theorie
noch fort, indem die Anſtellung des Staatsbeamten faſt allgemein
als ein einſeitiger Akt des Staates angeſehen wird 3).


Dieſe Theorie beruht einfach darauf, daß man ſich keinen anderen
Vertrag denken konnte als einen obligatoriſchen, und daß man daher
eine Dienſtpflicht, welche nicht als contraktliche aufgefaßt werden kann,
nur als Unterthanenpflicht zu conſtruiren vermochte. Ihr liegt ferner
eine Verwechslung zu Grunde zwiſchen der Begründung des Staats-
diener-Verhältniſſes und der Verleihung eines Amtes. Ein Amt kann
auch auferlegt werden ohne Begründung des Staatsdiener-Verhältniſ-
ſes, als ſtaatsbürgerliche Laſt, als Reihedienſt. Die Pflicht, Vormund-
[395]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
ſchaften zu führen, Geſchworener oder Schöffe zu ſein, Aemter der
Selbſtverwaltung zu übernehmen u. ſ. w. ſind Beiſpiele, die jede
weitere Erörterung überflüſſig machen. Sie zeigen deutlich, daß
es neben der contractlichen privatrechtlichen Dienſtverpflichtung
gegen den Staat noch zwei Arten des Dienſtverhältniſſes zum
Staate giebt, die Uebernahme eines Staatsamtes auf Grund der
Staats-Unterthänigkeit und die Uebernahme eines Staatsamtes auf
Grund des Eintrittes in den Staatsdienſt. Die erſtere iſt das
Gegentheil des Staatsbeamten-Verhältniſſes, ſie erfolgt unfreiwillig
d. h. ohne Nothwendigkeit der Zuſtimmung, die letztere freiwillig,
d. h. auf Grund eines Conſenſes. Beide Arten haben Manches
mit einander gemein: die Delegation der Staatsgewalt auf den
Inhaber des Amtes, ſoweit die Zuſtändigkeit des letzteren reicht;
die Verantwortlichkeit für die geſetzmäßige Handhabung der Amts-
gewalt; die Pflicht zum amtlichen Gehorſam gegen rechtmäßige
Verfügungen der vorgeſetzten Behörde; der Schutz bei Ausübung
der amtlichen Geſchäfte gegen Angriffe, Beleidigungen, Wider-
ſtand; die Anwendbarkeit der ſtrafgeſetzlichen Vorſchriften über
Verbrechen und Vergehen im Amte.


Aber das rechtliche Verhältniß zwiſchen dem Staate und dem
Inhaber des Amtes iſt in den beiden Fällen ein verſchiedenes.
Es zeigt ſich dies ſchon darin, daß der Staatsdiener in einem
Rechtsverhältniß zum Staate auch dann ſteht, wenn er thatſächlich
kein Amt verwaltet; derjenige dagegen, welcher ſtaatliche Geſchäfte
in Erfüllung ſeiner Unterthanenpflicht führt, die mit dieſer Ge-
ſchäftsführung verbundenen Rechte und Pflichten nur ſo lange hat,
als er das Amt bekleidet.


Das Dienſtverhältniß des Staatsbeamten beruht auf einem
Vertrage, durch welchen, ganz ähnlich wie bei der alten Commendation,
der Beamte ſich dem Staate „hingibt“, eine beſondere Dienſt-
pflicht und Treue übernimmt, eine beſondere Ergebenheit und
einen beſonderen Gehorſam angelobt, und durch welchen der
Staat dieſes Verſprechen ſowie das ihm angebotene beſondere Ge-
waltsverhältniß annimmt und dem Beamten dafür Schutz und
gewöhnlich auch Lebens-Unterhalt zuſichert.


Von der lehnrechtlichen Commendation und anderen analogen
Verträgen des Privatrechts unterſcheidet ſich der Eintritt in den
Staatsdienſt aber durch Beſtimmung und Zweck der verſprochenen
[396]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
Dienſte. Der Staatsbeamte verſpricht Dienſte nicht im Privat-
Intereſſe irgend eines Herrn und zur Förderung der individuellen
Vortheile deſſelben, ſondern er gelobt ſeine Dienſte zur Förderung
und Durchführung ſtaatlicher Aufgaben, zum Wohle des allge-
meinen Beſten. Nicht ohne Grund beginnt das Preuß. Allgem.
Landr. Thl. II. Tit. 10 §. 1 die Regelung des Staatsdienerrechts
mit dem Satze:
„Militär- und Civilbediente ſind vorzüglich beſtimmt, die
Sicherheit, die gute Ordnung und den Wohlſtand des
Staates unterhalten und befördern zu helfen.“


Aber nicht nur objektiv oder paſſiv ſind ſie hierzu beſtimmt,
ſondern ſie haben ſich ſelbſt durch eigenen Entſchluß dazu be-
ſtimmt. Sie haben ſich dem Staate freiwillig angeboten, ihm zur
Förderung ſeines Wohlſtandes zu helfen. Die Dienſte derſelben
empfangen daher nach Inhalt und Umfang ihre Regelung durch
das Intereſſe und durch die Rechts-Ordnung des Staates, nicht
durch contractmäßige Fixirung und andererſeits nicht durch indi-
viduelles Belieben und perſönliche Willkühr. Für Zwecke, die der
Staat nicht als die ſeinigen anerkennt, für Geſchäfte, die in der
Geſetzgebung und Einrichtung des Staates keine Rechtfertigung
finden, für Dienſte, die außer Zuſammenhang mit der Förderung
des öffentlichen Wohles ſtehen, hat der Staatsbeamte ſich nicht
verpflichtet; noch viel weniger für Handlungen oder Zwecke, die
der Staat unterſagt oder ausſchließt. Hierin liegt das Princip,
um die Grenzen beſtimmen zu können, wie weit der dienſtliche
Gehorſam des Beamten reicht; hierin liegt zugleich die Vermitt-
lung der beiden Sätze, daß die Dienſtpflicht des Beamten eine
unbeſtimmte, ungemeſſene, ſeine ganze Perſönlichkeit erfaſſende iſt,
und daß er dennoch nicht verbunden iſt, irgend welche andere Dienſte
als „amtliche“ zu leiſten. Durch dieſe Zweckbeſtimmung der an-
gelobten Dienſte gehört der Staatsbeamten-Vertrag dem öffentlichen
Recht an; wegen ihr iſt er der Beurtheilung nach ſtaatsrechtlichen
Geſichtspunkten unterworfen und ſie allein unterſcheidet das Rechts-
verhältniß der Staatsbeamten von dem der techniſchen und wirth-
ſchaftlichen Beamten der juriſtiſchen und phyſiſchen Privat-Per-
ſonen.


III. Wenn man die vorſtehende Begriffsbeſtimmung auf die
Reichsbeamten anwendet, ſo ergibt ſich, daß nicht Jeder, welcher
[397]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
ein Reichsamt bekleidet, Reichsbeamter iſt. Es ſcheiden vielmehr
aus der Zahl der Reichsbeamten aus, weil ein Dienſtverhältniß
zum Reich nicht begründet iſt:


  • 1) Die vom Reichstage und Bundesrathe gewählten Mitglieder
    der Reichsſchuldenkommiſſion 1).
  • 2) Die vom Bundesrathe erwählten Mitglieder der Verwal-
    tung des Reichs-Invalidenfonds 2).
  • 3) Die vom Bundesrathe erwählten Mitglieder des Bank-
    kuratoriums 3).
  • 4) Die Mitglieder der Preußiſchen Behörden, welche zugleich
    Reichsgeſchäfte führen, (mit Ausnahme des Rechnungshofes), alſo
    des Preuß. Finanzminiſteriums 4), der General-Staatskaſſe 5), der
    Hauptverwaltung der Staatsſchulden 6), des Appellationsgerichtes
    zu Stettin 7), des General-Auditoriats 8).
  • 5) Die Bayeriſchen Geſandten, welche zur Vertretung von
    Reichsgeſandten bevollmächtigt werden. Siehe oben S. 331.
  • 6) Die Mitglieder der Reichs-Schulkommiſſion 9).
  • 7) Die Mitglieder der Reichs-Rayonkommiſſion 10).
  • 8) Diejenigen Mitglieder der Normal-Eichungskommiſſion,
    welche derſelben zur Bildung der ſogen. Plenar-Verſammlung
    beitreten 11).

III. Das Reichsgeſetz vom 31. März 1873 §. 1. 12) beſtimmt:
„Reichs-Beamter im Sinne dieſes Geſetzes iſt jeder Be-
[398]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
amte, welcher entweder vom Kaiſer angeſtellt oder nach Vorſchrift
der Reichsverfaſſung den Anordnungen des Kaiſers Folge zu
leiſten verpflichtet iſt“ 1).


Es gibt ſonach zwei Klaſſen von Reichs-Beamten im Sinne
dieſes Geſetzes.


1. Die erſte Klaſſe bilden die vom Kaiſer oder in ſeinem
Auftrage kraft Delegation angeſtellten Beamten des Reiches. Da
der Art. 18 der Reichsverf. beſtimmt: „Der Kaiſer ernennt die
Reichsbeamten“, ſo iſt die Begriffs-Beſtimmung dieſer Klaſſe nichts-
ſagend. Es kann zwar — wie ſoeben ausgeführt worden iſt —
Reichsbehörden geben, welche der Kaiſer nicht oder nicht aus-
ſchließlich beſetzt; aber nach dem Art. 18 verſteht es ſich für die
Reichsbeamten von ſelbſt, daß ſie vom Kaiſer oder in deſſen
Namen kraft kaiſerlicher Ermächtigung ernannt ſind. Die erſte Kate-
gorie des §. cit. ſagt weiter Nichts als: Reichsbeamter im Sinne
dieſes Geſetzes iſt jeder Beamte, welcher Reichsbeamter iſt.


Eine praktiſche Bedeutung erlangt die Definition des §. 1
lediglich wegen der Hinzufügung der zweiten Kategorie.


2. Die zweite Klaſſe umfaßt Perſonen, welche nicht Reichs-
beamte, ſondern Beamte der Einzelſtaaten ſind, trotzdem aber
nach Vorſchrift der Reichsverfaſſung den Anordnungen des Kaiſers
Folge zu leiſten verpflichtet ſind. Der §. 1 will ſagen: Dieſes
Geſetz findet Anwendung nicht nur auf die Reichsbeamten, ſondern
auch auf diejenigen Beamten der Einzelſtaaten, welche u. ſ. w.
Durch die Geſetze vom 2. Juni 1869 und vom 31. März 1873
ſind die praktiſchen Uebelſtände zum Theil beſeitigt worden, welche
ſich aus den Anordnungen der Reichsverf. über die Anſtellung
der Beamten der Poſt- nnd Telegraphen-Verwaltung und über
das Heerweſen ergeben mußten. Die im Art 50. Abſ. 5 der
R.-V. aufgeführten Poſt- und Telegraphen-Beamten werden nicht
vom Kaiſer, ſondern von den Landesherren ernannt, ſoweit nicht
beſondere Conventionen eine Ausnahme begründen. Sie ſind
mithin Landesbeamte
2). Ebenſo iſt die Militär-Ver-
[399]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
waltung und die Ernennung der Militärbeamten den Einzelſtaaten
überlaſſen, ſoweit nicht beſondere Conventionen ein Anderes be-
ſtimmen. (Art. 66.) Trotzdem ſind dieſe Beamten dem Reichs-
beamten-Geſetz unterworfen, wofern ſie „nach Vorſchrift der Reichs-
verfaſſung den Anordnungen des Kaiſers Folge zu leiſten ver-
pflichtet ſind.“ Durch dieſe Klauſel werden ausgenommen die Poſt-
und Telegraphenbeamten in Bayern und Württemberg und die
Militärbeamten in Bayern, wegen der dieſen Staaten verfaſſungs-
mäßig eingeräumten Sonderrechte hinſichtlich der Poſt- und Tele-
graphen-Verwaltung und reſp. Heeresverwaltung.


Der Art. 50 der Reichs-Verfaſſung enthält ausdrücklich die
Beſtimmung, daß ſämmtliche Beamte der Poſt- und Telegra-
phenverwaltung verpflichtet ſind, den Kaiſerlichen Anordnungen
Folge zu leiſten. Dagegen findet ſich eine ähnliche Beſtimmung
hinſichtlich der Militärbeamten in der Reichs-Verfaſſung nicht.
Der Art. 63 überträgt dem Kaiſer in Krieg und Frieden den
„Befehl“ über die geſammte Landmacht des Reiches und Art. 64
verpflichtet alle „Deutſchen Truppen“ den Befehlen des Kaiſers
unbedingte Folge zu leiſten. Der militäriſche Oberbefehl iſt aber
nicht identiſch mit der Leitung der Verwaltung des Heerweſens.
Deſſen ungeachtet iſt es zweifellos, daß die Geſetze vom 2. Juni
1869 und 31. März 1873 auf die Militärbeamten (ausgenommen
die bayeriſchen) Anwendung finden 1).


Unter die Anordnungen des Reichsbeamtengeſetzes gehören
2)
[400]§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.
dagegen nicht diejenigen Beamten der Einzelſtaaten, welche zwar
die Reichsgeſetze und Bundesrathsbeſchlüſſe handhaben und deren
Amtsführung der Oberaufſicht des Reiches unterliegt, welche aber
in keinem dienſtlichen Unterordnungs-Verhältniß zu den oberen
Reichsbehörden und ſomit zum Kaiſer ſtehen, alſo beiſpielsweiſe
die Beamten der Zollverwaltung, der Eiſenbahn-Verwaltung, der
Seemanns-Aemter u. ſ. w. 1).


Die Verordnung vom 29. Juni 1871 (R.-G.-Bl. S. 303)
bezeichnet in der Ueberſchrift die Reichsbeamten, deren Anſtellung
vom Kaiſer ausgeht, als unmittelbare2); der Allerh. Erlaß
vom 3. Auguſt 1871 (R.-G.-Bl. S. 318) als kaiſerliche. Im
Gegenſatz hierzu ergiebt ſich für die Beamten der zweiten, im §. 1
des Reichsbeamten-Geſetzes aufgeführten Kategorie die Bezeichnung:
„mittelbare Reichsbeamte“ 3), welche für dieſelben üblich gewor-
den iſt 4).


Die mittelbaren Reichsbeamten ſind daher wohl zu unterſchei-
den von denjenigen Beamten der Einzelſtaaten, welche in einem
Verwaltungszweige thätig ſind, hinſichtlich deſſen das Reich auf
die Geſetzgebung und Oberaufſicht beſchränkt iſt 5).


3) Durch beſondere geſetzliche Anordnungen ſind die Rechte und
Pflichten der Reichsbeamten beigelegt worden:


  • a) den Reichstags-Beamten. Geſetz vom 31. März 1873
    §. 156.
  • b) den Beamten der Reichsbank. Geſetz vom 14. März
    1875 §. 28.

4) Zu den Reichsbeamten gehören begrifflich auch die Elſaß-
Lothringiſchen Landes-Beamten. Das Geſetz vom 31. März
1873 iſt auf die Rechtsverhältniſſe der elſaß-lothringiſchen Lan-
desbeamten, welche ein Dienſteinkommen aus der Landeskaſſe
[401]§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.
beziehen, ſowie der Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen
ausgedehnt worden durch das Geſetz vom 23 Dezember 1873 1).
Die Unterſcheidung zwiſchen Reichsbeamten und elſaß-lothringiſchen
Landesbeamten iſt nur in finanzieller Hinſicht von rechtlicher Be-
deutung. Vgl. hierüber unten §§ 54. 55.


5) Auf Perſonen des Soldatenſtandes findet das Reichsgeſetz
vom 31. März 1873 keine Anwendung, ausgenommen die in den
§§. 134—148 enthaltenen Beſtimmungen über Defekte 2). Obwohl
Offiziere dem allgemeinen Begriff eines Staatsbeamten ſich unter-
ordnen, ſo iſt es doch in der militäriſchen Disciplin und der Or-
ganiſation des Heeres begründet, daß das dienſtliche Verhältniß
der Offiziere und Unteroffiziere anderen Regeln unterworfen iſt,
wie dasjenige der Civil- und Militärbeamten.


§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.

I. Die herrſchende Theorie führt die Begründung des Staats-
diener-Verhältniſſes auf einen einſeitigen Akt des Staats zu-
rück. Gönner, Heffter, Perthes, Dahlmann an den
oben angegebenen Orten haben in conſequenter Durchführung ihrer
Anſicht, daß die Uebernahme eines Amtes eine Pflicht ſei, die
Anſtellung eines Beamten als Ausfluß der ſtaatlichen Herrſchaft
angeſehen 3). Aber auch diejenigen Juriſten, welche prinzipiell das
Zwangsrecht des Staates zum Eintritt in den Staatsdienſt ver-
werfen, halten daran feſt, daß die Anſtellung eines Beamten kein
Vertrag, ſondern ein einſeitiger Willensakt des Staates ſei. Das
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 26
[402]§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.
Anſtellungsdecret, ſagt man, habe den juriſtiſchen Charakter eines
Privilegiums, einer lex specialis1).


Allein, wenn man auch davon abſehen will, daß bei den An-
ſtellungs-Dekreten die Form der Geſetzgebung nicht Anwendung
findet, ſo iſt doch nicht zu verkennen, daß auch materiell die An-
ſtellung von Staatsbeamten kein Act der Geſetzgebung, ſondern ein
Rechtsgeſchäft iſt.


Der Landesherr, welcher die für den Staatsdienſt erforder-
lichen Arbeitskräfte durch Anſtellung von Beamten anſchafft, er-
ledigt dadurch ſtaatliche Verwaltungs-Geſchäfte, aber er ſtellt nicht
für jeden einzelnen Fall eine beſondere Rechtsnorm auf. Wie faſt
alle Verwaltungsgeſchäfte werden auch die Anſtellungen in der Form
der Verfügung erledigt; aber eine ſolche Verfügung iſt keine Ver-
ordnung im techniſchen Sinne. Man verkehrt doch wahrlich den
materiellen Begriff des Geſetzes einer ſcholaſtiſchen Formel zu Liebe
in ſein Gegentheil, wenn man annimmt, daß die Millionen von
Anſtellungsdekreten der Beamten ebenſo viele Spezialgeſetze ſeien.
Man kömmt mit dieſer Formel aber überhaupt nur aus bei den
Staatsbeamten, da nur der Staat Geſetze erlaſſen kann, während
doch die Anſtellung von Staatsbeamten und die Anſtellung von
Privatbeamten unter eine gemeinſame Begriffs-Kategorie fallen.
Die Anſtellung eines Eiſenbahn-Beamten an einer Privatbahn iſt
ein Rechtsgeſchäft, an einer Staatsbahn ſoll ſie ein Geſetzgebungs-
Akt ſein! Der königl. Förſter ſoll durch lex specialis ſein Amt
haben, der Förſter des Standesherrn durch Vertrag! Den Beamten
der Städte und Landgemeinden ſchreibt man die Eigenſchaft mit-
telbarer Staatsbeamten zu und in jedem Falle ſind ſie öffentliche
Beamte. Haben nun auch die Gemeinden die Befugniß, Spezial-
geſetze zu erlaſſen und machen ſie von derſelben bei der Ernennung
[403]§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.
der Communalbeamten Gebrauch oder ſchließen ſie bei Anſtellung
ihrer Beamten Rechtsgeſchäfte mit denſelben ab? Da unzweifel-
haft das Letztere der Fall iſt, ſo paßt die Theorie von der lex
specialis
auf die mittelbaren Staatsbeamten gewiß nicht.


Man beruft ſich für dieſe Theorie darauf, daß bei der An-
ſtellung eines Staatsbeamten der Regel nach kein Raum für freie
Vereinbarung der Contrahenten ſei; Obliegenheiten und Pflichten
des Amtes einerſeits und die Rechte des Beamten auf Gehalt und
Penſion, auf Titel und Rang u. ſ. w. andererſeits ſtünden durch
objective Regeln feſt und können nicht durch ſpezielle Verabredungen
verändert werden; es werde alſo kein Vertrag geſchloſſen, ſondern
ein ideell bereits geſchaffenes Amt werde dem Beamten verliehen 1).
Hier iſt zunächſt zu entgegnen, was bereits oben ausgeführt
wurde, daß die Uebertragung eines Amtes etwas Anderes iſt als
die Anſtellung Jemandes im Staatsdienſt; und daß es ferner doch
Beamte giebt, mit welchen die ihnen zuzugeſtehenden Rechte in
jedem einzelnen Falle wenigſtens theilweiſe vereinbart werden.
Insbeſondere aber iſt es für die rechtliche Natur des Anſtellungs-
Aktes ganz unerheblich, welcher Spielraum der freien Willens-
Einigung über den Inhalt des Rechtsverhältniſſes gegeben iſt.
Wer einen Brief der Poſt zur Beförderung übergiebt, ſchließt doch
ſicherlich einen Vertrag mit derſelben ab und doch iſt der Inhalt
dieſes Vertrages nach allen Beziehungen unabänderlich feſtgeſtellt.
Nur darauf kommt es für den Begriff des Vertrages an, daß der
freie übereinſtimmende Wille der Contrahenten zum Abſchluß
des Rechtsgeſchäftes erforderlich ſei; der Inhalt des dadurch be-
gründeten Rechtsverhältniſſes kann ſtereotyp und unabänderlich
feſtſtehen 2).


Grade gegen die Theorie von der lex specialis ſpricht es aber,
26*
[404]§ 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.
daß bei der Anſtellung jedes einzelnen Beamten beſondere und
eigenthümliche Grundſätze nicht aufgeſtellt werden dürfen, daß viel-
mehr Rechte und Pflichten des Beamten objectiv feſtſtehen und für
ihre Beurtheilung aus dem Anſtellungs-Decret regelmäßig Nichts,
aus den allgemeinen Staatsgeſetzen Alles zu entnehmen iſt.


Ein gewöhnlicher Vertrag des Obligationenrechts iſt die An-
ſtellung eines Staatsbeamten allerdings nicht; das daraus hervor-
gehende Rechtsverhältniß iſt kein privatrechtliches, contraktliches;
aber deſſen ungeachtet beruht der Eintritt eines Beamten und die
Aufnahme deſſelben in den Staatsdienſt auf dem von beiden Seiten,
in rechtsverbindlicher Form erklärten Conſenſe, iſt alſo ein
zweiſeitiges Rechtsgeſchäft, d. h. ein Vertrag 1).


Eine Analogie zu dieſem ſtaatsrechtlichen Vertrage liefert die
oben §. 17 dargeſtellte Verleihung der Staats-Angehörigkeit. Beide
begründen ein Unterordnungs- und Gewalts-Verhältniß, nur daß
das letztere bei dem Anſtellungs-Vertrage einen viel intenſiveren
Inhalt hat. Das Anſtellungs-Dekret entſpricht der Aufnahme-
oder Naturaliſations-Urkunde und hat für die Perfektion des Ge-
ſchäftes ganz dieſelbe Bedeutung wie dieſe.


II. Ueber die Anſtellung der unmittelbaren Reichsbeamten
gelten folgende Rechtsregeln.


1. Befugt im Namen des Reiches Beamte anzuſtellen, iſt der
Kaiſer als der Geſchäftsführer des Reiches. R.-V. Art. 18. Er
iſt wie bei allen Regierungsgeſchäften hierbei an die Beobachtung
der Reichsgeſetze gebunden; er kann daher den Anſtellungsvertrag
nicht unter willkührlichen Bedingungen abſchließen, er kann den
Reichsbeamten keine größeren Rechte zugeſtehen und andererſeits
ihnen keine ungünſtigere Stellung anweiſen, als mit den Reichs-
geſetzen vereinbar iſt. Der Anſtellungs-Vertrag ſelbſt kann nur
vom Kaiſer oder in deſſen Auftrag abgeſchloſſen werden; dies
ſchließt aber nicht aus, daß nicht der Bundesrath ein Vorſchlags-
[405]§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.
recht habe oder wegen der Anſtellung gewiſſer Beamten vorher
gehört werden muß 1).


So wie der Kaiſer hinſichtlich aller Regierungsgeſchäfte die
Befugniß hat, dieſelben den geſetzlich errichteten Behörden zu dele-
giren, ſo kann auch die Anſtellung von Reichsbeamten durch Dele-
gation Reichsbehörden übertragen ſein 2). Der Reichskanzler als
der kaiſerliche Miniſter iſt auch für dieſe Geſchäfte zuſtändig, ſo-
weit nicht entweder der Kaiſer dieſelben zu eigener Entſcheidung
ſich vorbehalten hat oder durch ſpezielle Vorſchrift eine andere
Reichsbehörde mit ihnen beauftragt iſt.


Durch die Verordnung vom 23. Nov. 1874 §. 2 (R.-G.-Bl.
S. 135) iſt beſtimmt, daß eine Kaiſerliche Beſtallung er-
halten:


a) Die Mitglieder der höheren Reichsbehörden 3), ſowie die-
jenigen Reichsbeamten, welche nach ihrer dienſtlichen Stellung den-
ſelben vorgehen oder gleichſtehen;


b) die Konſuln — ſowohl Berufskonſuln als Wahlkonſuln.


Dagegen werden nach §. 3 a. a. O. die Anſtellungs-Urkunden
der übrigen Reichsbeamten im Namen des Kaiſers vom Reichs-
kanzler
oder von den durch denſelben dazu ermächtigten Behör-
den ertheilt. Der Reichskanzler hat ſonach in dieſer Hinſicht eine
generelle Subſtitutions-Vollmacht. Soweit durch Reichsgeſetz oder
vertragsmäßig 4) eine abweichende Beſtimmung getroffen iſt, bleibt
dieſelbe ſelbſtverſtändlich in Kraft. (§. 4.) Die Reichsgeſetze ent-
halten mehrfach Anordnungen, welche theils dem Reichskanzler
theils den Chefs von Behörden die Ernennung gewiſſer Beamter
übertragen 5).


[406]§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.

2. Bezüglich der Perſon des Anzuſtellenden gilt als ein all-
gemeiner Grundſatz nur die Vorſchrift des Strafgeſetzbuches, daß
die Verurtheilung zur Zuchthausſtrafe die dauernde Unfähigkeit zur
Bekleidung öffentlicher Aemter von Rechtswegen zur Folge hat
(§. 31) und daß die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte,
während der im Urtheil beſtimmten Zeit die Unfähigkeit bewirkt,
öffentliche Aemter zu erlangen. (§. 34.) Die Unfähigkeit, ein
öffentliches Amt zu erlangen, ſchließt aber die Unfähigkeit, im
Staatsdienſt angeſtellt zu werden, in ſich; weil dieſe Anſtellung
eben nur zu dem Zwecke erfolgen darf, daß der Angeſtellte ein
öffentliches Amt bekleide.


Im Uebrigen iſt die Befähigung, im Reichsdienſt angeſtellt
zu werden, an beſondere Vorausſetzungen nicht gebunden; insbe-
ſondere iſt weder Reichsangehörigkeit, noch Großjährigkeit noch
Freiheit von der väterlichen Gewalt erforderlich 1).


Dagegen iſt für die Uebertragung einzelner Aemter eine ſpe-
zielle Qualifikation erforderlich, nämlich für die Berufskonſuln
(Geſ. v. 8. Nov. 1867 §. 7), für die Mitglieder des Oberhandels-
gerichts (Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 6), des Bundesamtes für das
Heimathsweſen (Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 42), der Disciplinar-
Behörden (Reichsbeamtengeſ. §. 89, 91, 121), der zur Verſtär-
kung des Reichs-Eiſenbahn-Amtes hinzu zu ziehenden Beamten (Geſ.
5)
[407]§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.
v. 27. Juni 1873 §. 5 Nro. 4) und für die richterlichen Militär-
reſp. Marine-Juſtizbeamten (Geſ. v. 2. Mai 1874 §. 7.)


3. Die Form, in welcher der Anſtellungs-Vertrag geſchloſſen
wird, beſtimmt ſich durch §. 4 des Beamtengeſetzes. „Jeder Reichs-
beamte erhält bei ſeiner Anſtellung eine Anſtellungs-Ur-
kunde
.“ Dadurch iſt der mündliche Abſchluß des Rechtsgeſchäfts
ausgeſchloſſen. Die Anſtellungs-Urkunde heißt „Beſtallung“ 1).
Soweit einer Behörde die Ernennungs-Befugniß delegirt iſt, iſt
eine ſchriftliche Eröffnung dieſer Behörde an den Beamten genü-
gend 2). Die Ausſtellung einer ſchriftlichen Erklärung des Beamten
über ſeinen Eintritt in den Reichsdienſt findet nicht Statt. Der
Vertrag wird vielmehr abgeſchloſſen durch die Aushändigung der
Anſtellungs-Urkunde, d. h. durch die vorbehaltsloſe Annahme der-
ſelben Seitens des Beamten. Correſpondenzen über den Eintritt
in den Reichsdienſt und über die Bedingungen deſſelben, welche
zwiſchen dem anzuſtellenden Beamten und der zuſtändigen Reichs-
behörde ſtattgefunden haben, ſind lediglich Vorverhandlungen und
begründen niemals einen rechtlichen Anſpruch weder für die Reichs-
regierung auf Uebernahme des Amtes noch für den Beamten auf
Anſtellung. Erſt mit der Ausſtellung und der Annahme der Be-
ſtallung wird der Vertrag perfekt.


4. Die Wirkungen des Vertrages beginnen im Allgemeinen
mit dem Moment der Perfektion des Vertrages; alſo mit dem
Empfange des Anſtellungs-Dekretes
3). Von dieſem
Zeitpunkte an entſteht für den Beamten die Pflicht zum dienſtlichen
Gehorſam, zur Befolgung der Disciplinar-Vorſchriften, die Be-
ſchränkung hinſichtlich der Uebernahme anderer Aemter u. ſ. w. und
ebenſo die Befugniß zur Führung des Amtstitels und der übrigen
mit der Beamtenſtellung verbundenen Vorrechte, z. B. der Steuer-
Bevorzugungen. Hiervon giebt es aber 2 Ausnahmen:


[408]§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.

a) Der Anſpruch auf ein Dienſt-Einkommen beginnt in Er-
mangelung beſonderer Feſtſetzungen mit dem Tage des Amts-
Antritts
, falls mit dem übertragenen Amte ein Dienſteinkommen
verbunden iſt. Reichsgeſ. §. 4 1).


b) Für die Berechnung der Dienſtzeit behufs Feſtſtellung der
Penſion kömmt weder das Datum der Beſtallung noch der Tag
der Aushändigung derſelben in Betracht; es beſtehen vielmehr ſpe-
zielle Beſtimmungen in den §§. 45 ff. Vgl. darüber unten §. 42.


5. Die Ableiſtung eines Dienſt-Eides iſt zur Perfektion
des Anſtellungs-Vertrages nicht erforderlich, wohl aber zur Ueber-
nahme eines Reichsamtes 2).


„Vor dem Dienſt-Antritt iſt jeder Reichs-Beamte auf die
Erfüllung aller Obliegenheiten des ihm übertragenen Amtes
eidlich zu verpflichten.“ (§. 3 des Reichsgeſ.)


Die Möglichkeit, daß ein Beamter auch ſchon vor Ableiſtung
des Eides im Reichsdienſte Verwendung findet, iſt nicht ausge-
ſchloſſen; ſie wird im §. 45 Abſ. 2 des Reichsgeſetzes ausdrücklich
erwähnt. Die Verwendung eines nicht vereideten Beamten zur
Erledigung amtlicher Geſchäfte iſt aber ordnungswidrig und bewirkt,
ſoweit es ſich um richterliche Geſchäfte handelt, nach einem
allgemein anerkannten Prozeß-Grundſatze die Nichtigkeit des Ver-
fahrens 3).


Wenn ein Beamter vor ſeiner Vereidigung bereits ein Amt
verwaltet, ſo iſt ſeine Verantwortlichkeit ganz dieſelbe, als hätte
er den Dienſteid abgeleiſtet. Ausdrücklich iſt dies in Beziehung
auf die ſtrafrechtliche Verantwortlichkeit für Verbrechen und Ver-
gehen im Amte durch das Strafgeſetzb. §. 359 anerkannt 4).


[409]§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.

Die allgemeine Formel des Dienſteides der unmittelbaren
Reichsbeamten iſt durch Verordn. v. 29. Juni 1871 (R.-G.-Bl.
1871 S. 303) feſtgeſtellt worden. Sie lautet:


Ich N. N. ſchwöre zu Gott dem Allmächtigen und Allwiſ-
ſenden, daß, nachdem ich zum Beamten des Deutſchen
Reichs beſtellt worden bin, ich in dieſer meiner Eigenſchaft
Seiner Majeſtät dem Deutſchen Kaiſer treu und gehorſam
ſein, die Reichsverfaſſung und die Geſetze des Reiches be-
obachten und alle mir vermöge meines Amtes obliegenden
Pflichten nach meinem beſten Wiſſen und Gewiſſen genau
erfüllen will, ſo wahr mir Gott helfe u. ſ. w.


Durch ſpezielle geſetzliche Vorſchriften ſind aber andere Eides-
formeln angeordnet für die Konſuln 1) und für den Vorſitzenden
und die Mitglieder der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds 2).


Hinſichtlich der mittelbaren Reichsbeamten beſtimmt Art.
50 der Reichs-Verfaſſung, daß in den Dienſteid der Poſt- und
Telegraphen-Verwaltung die Verpflichtung aufzunehmen iſt, „den
Kaiſerlichen Anordnungen Folge zu leiſten.“ Durch einen Bundes-
raths-Beſchluß iſt dieſelbe Formel auch für die anderen mittelbaren
Reichsbeamten (Militärbeamte) angeordnet worden 3).


6. Die öffentliche Bekanntmachung der Ernennung von Reichs-
beamten oder der Uebertragung eines Reichsamtes iſt geſetzlich nicht
vorgeſchrieben; dieſelbe findet aber in jedem Falle Statt. Für die
Begründung des Dienſtverhältniſſes iſt die Bekanntmachung un-
weſentlich; hinſichtlich der Uebertragung eines Amtes muß dieſelbe
aber für erforderlich erachtet werden, wofern mit dem Amte obrig-
keitliche Befugniſſe oder eine Vertretungsbefugniß zum Abſchluß
von Rechtsgeſchäften verbunden iſt, um den Beamten Dritten gegen-
über zu legitimiren. Ueber die Form der Bekanntmachung fehlt
es ſowohl an geſetzlichen Vorſchriften als an feſten Grundſätzen
der Praxis. Manche Ernennungen wurden bis incl. 1872 durch
4)
[410]§. 39. Die Amts-Kaution.
das Reichsgeſetzblatt bekannt gemacht 1), nämlich außer der des
Reichskanzlers die der Konſuln, der Zollbevollmächtigten und Kon-
troleure, der Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Bun-
desamts für das Heimathweſen. Seit der Schöpfung des Central-
blattes des Deutſchen Reiches (1873) dient daſſelbe zur Publikation
von Ernennungen; außerdem werden Perſonal-Veränderungen im
Reichs-Anzeiger und in den von den einzelnen Reſſort-Verwaltungen
herausgegebenen Amtsblättern zur öffentlichen Kenntniß gebracht.


§. 39. Die Amts-Kaution.

Schon vor Erlaß des Reichsbeamten-Geſetzes iſt durch ein
Bundesgeſetz vom 2. Juni 1869 (B.-G.-Bl. S. 161 ff.), welches
bei der Reichsgründung auf Süddeutſchland ausgedehnt und durch
Geſetz vom 11. Dezember 1871 (Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen
S. 386) in Elſaß-Lothringen eingeführt worden iſt, das Kautions-
weſen der unmittelbaren und mittelbaren Reichsbeamten geregelt
worden. Die Grundſätze, welche dieſes Geſetz und die zur Aus-
führung deſſelben ergangenen Verordnungen aufſtellen, ſind fol-
gende:


I.Nothwendigkeit der Kautionsbeſtellung.

„Beamte, welchen die Verwaltung einer dem Reiche gehörigen
Kaſſe oder eines dem Reiche gehörigen Magazins, oder die An-
nahme, die Aufbewahrung oder der Transport von, dem Reiche
gehörigen oder ihm anvertrauten Geldern oder geldwerthen Ge-
genſtänden obliegt, haben dem Reiche für ihr Dienſtverhältniß
Kaution zu leiſten“ 2). (§. 2 des Geſetzes.)


[411]§. 39. Die Amts-Kaution.

Der Grund für die Kautionsleiſtung iſt nicht die Anſtellung
im Staatsdienſt, ſondern die mit dieſer Anſtellung gleichzeitig
übertragene Vermögens-Verwaltung oder Aufbewahrung, alſo ein
mit der Anſtellung im Staatsdienſt verbundenes Accidens. Es iſt
daher falſch und vielfach irreführend, von einer Kautions-
pflicht
der Reichsbeamten oder gewiſſer Klaſſen derſelben zu
reden 1). Die Leiſtung einer Kaution iſt nicht die Erfüllung einer
Beamtenpflicht, ſondern eine Vorbedingung zur Erlangung eines
gewiſſen Amtes und mithin zur Anſtellung behufs Uebernahme
dieſes Amtes. Ein Beamter, welcher die vorgeſchriebene Kaution
nicht erlegt, begeht keine Pflichtverletzung, ſondern er erfüllt eine
Bedingung, unter welcher ſeine Anſtellung geſchehen iſt, nicht.
Nicht aus der Uebertragung eines Amtes ergiebt ſich die Pflicht,
Kaution zu beſtellen, ſondern vor der Uebertragung gewiſſer
Aemter iſt die Kautionsleiſtung erforderlich. Die Regeln über die
Kautionen gehören nicht zur Lehre von den Pflichten der Beamten,
ſondern von der Anſtellung der Beamten.


Dieſer Geſichtspunkt iſt für die rechtliche Beurtheilung des
ganzen Verhältniſſes von großer Bedeutung. Zunächſt wird der-
ſelbe durch folgende Sätze beſtätigt:


1) „Die Beſtellung der Amtskaution iſt vor der Einfüh-
rung
des Beamten in das kautionspflichtige Amt zu bewirken.“
(§. 7 Abſ. 1.)


2)


[412]§. 39. Die Amts-Kaution.

Es kann jedoch ausnahmsweiſe durch die vorgeſetzte Dienſt-
behörde dem Beamten geſtattet werden, die Beſchaffung der Kau-
tion durch Anſammlung von Gehaltsabzügen zu bewirken. Die
nähere Beſtimmung der Fälle, in denen dies ſtattfinden darf und
der Art, wie die Anſammlung zu erfolgen hat, iſt einer kaiſer-
lichen, im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlaſſenden
Verordnung vorbehalten 1).


[413]§. 39. Die Amts-Kaution.

2) Wenn ein Reichsbeamter zu der Zeit, zu welcher für die
Erlangung gewiſſer Aemter die Beſtellung einer gewiſſen Kaution
vorgeſchrieben wird, bereits ein von dieſen Vorſchriften berührtes
Amt bekleidet, für welches es der Kautionsleiſtung nach den bis
dahin geltenden Vorſchriften entweder überhaupt nicht, oder nur
in einer geringeren Höhe oder in einer andern als der nunmehr
vorgeſchriebenen Art bedurfte, ſo kann er wider ſeinen Willen nicht
angehalten werden, eine Kaution zu ſtellen oder die geſtellte Kau-
tion zu erhöhen, beziehungsweiſe durch eine den nachträglich er-
laſſenen Vorſchriften entſprechende Kaution zu erſetzen 1). Auch
dieſer Rechtsſatz beruht darauf, daß die Erlegung einer Kaution
keine Pflicht iſt, die aus der Amtsführung erwächſt, ſondern eine
Bedingung für die Erlangung eines Amtes.


Falls einem ſolchen Beamten aber eine Gehalts-Erhöhung zu
Theil wird, ſo kann der Mehrbetrag des Gehaltes ganz oder
zum Theil zur Anſammlung der Kaution verwendet werden. Die
näheren Beſtimmungen darüber ſind durch Verordnung zu erlaſſen 2).


3) Es iſt durchaus gleichgültig, ob die Kaution von dem Be-
amten ſelbſt beſtellt wird, oder ob ſie ein Anderer für ihn leiſtet,
1)
[414]§. 39. Die Amts-Kaution.
wofern nur dem Reiche an der Kaution dieſelben Rechte zugeſichert
werden, welche ihm an einer durch den Beamten ſelbſt geſtellten
Kaution zugeſtanden haben würden 1).


Im Zuſammenhange hiermit ſteht der Satz, daß wenn „ein
kautionspflichtiger Reichsbeamter gleichzeitig ein kautionspflichtiges
Amt im Dienſte eines Bundesſtaates bekleidet“, die dem Bundes-
ſtaate beſtellte Kaution mit Zuſtimmung der zuſtändigen Behörde
des Bundesſtaates und nach vorgängiger Vereinbarung darüber,
wie viel von dem Geſammtbetrage der Kaution auf jedes der beiden
Aemter zu rechnen iſt, zugleich für die Verwaltung des Reichs-
amtes haftbar erklärt werden kann 2).


Auch braucht ein Beamter, welcher gleichzeitig mehrere Reichs-
ämter verwaltet, nur einmal Kaution zu leiſten und zwar in dem
Betrage, daß er den Anforderungen desjenigen von ihm bekleide-
ten Reichsamtes genügt, für welches der höchſte Kautionsſatz vor-
geſchrieben iſt 3).


4) Endlich iſt zu erwähnen, daß die Leiſtung einer Kaution
nicht bloß den Reichsbeamten obliegt, ſondern auch den kon-
traktlichen Dienern
, falls ihnen die Aufbewahrung oder der
Transport von Geldern oder geldwerthen Sachen des Reiches über-
tragen iſt 4); woraus ebenfalls ſich ergiebt, daß die Kautionsbe-
ſtellung keine im Beamtenverhältniß begründete Pflicht iſt.


II.Rechtliche Natur der Kautionsbeſtellung.

Die Beſtellung einer Kaution iſt entweder ein Nebenvertrag
privatrechtlichen Inhaltes, welcher mit dem Anſtellungsvertrage
des Beamten verbunden reſp. von ihm bei der Uebernahme eines
Amtes abgeſchloſſen wird, oder ein ſelbſtſtändiger Vertrag, den ein
Dritter mit dem Reiche abſchließt, um die Anſtellung eines Beam-
ten zu ermöglichen. Da die Kaution nur durch Fauſtpfand beſtellt
werden kann (§. 5 Abſ. 2 des Geſ.), ſo charakteriſirt ſich dieſer
Vertrag als ein Unterpfands-Vertrag (contract. pigneraticius).


Im Einzelnen gelten darüber folgende Regeln:


[415]§. 39. Die Amts-Kaution.

1) Object des Fauſtpfandes dürfen nur ſein auf den Inha-
ber lautende Obligationen über Schulden des Reiches oder eines
einzelnen Bundesſtaates, welche zu ihrem Nennwerthe angerechnet
werden 1). Dem Kautionsbeſteller werden die Zinsſcheine für einen
4 Jahre nicht überſteigenden Zeitraum belaſſen, beziehungsweiſe
nach Ablauf dieſes Zeitraums oder nach Ausreichung neuer Zins-
ſcheine verabfolgt 2).


2) Die Form des Pfandvertrages richtet ſich nach Vorſchrift
der Landesgeſetze; in der Regel bedarf es daher einer ſchriftlichen
Erklärung nicht, ſondern es genügt die Uebergabe der zu hinter-
legenden Werthpapiere. Wenn aber die Kautionsbeſtellung nicht
von dem Beamten ſelbſt, ſondern von einem Dritten erfolgt, ſo
wird die Ausſtellung einer beſonderen Kautions-Verſchreibung er-
fordert 3). Wenn der Beſteller der Kaution minderjährig iſt
oder unter väterlicher Gewalt ſteht oder in ehel. Gütergemein-
ſchaft lebt, ſo bedarf es zur Abſchließung des Vertrages der Zu-
ſtimmung des Vormunds, Vaters oder der Ehefrau 4).


Der Kautionsvertrag wird erſt völlig abgeſchloſſen, wenn die
zuſtändige Behörde die hinterlegten Papiere geprüft und als ge-
nügend und ordnungsmäßig befunden hat. Erſt jetzt iſt die Ueber-
gabe derſelben durch die Empfangnahme Seitens der Reichsbehörde
rechtlich vollendet. Ueber den Empfang dieſer Papiere ertheilt
die Behörde dem Beſteller der Kaution eine Beſcheinigung. So-
bald der Empfangsſchein über die Niederlegung ertheilt iſt, iſt das
Fauſtpfandrecht an den niedergelegten Werthpapieren mit voller
rechtlicher Wirkung erworben 5).


3) „Die Amtskaution haftet dem Reiche für alle von
[416]§. 39. Die Amts-Kaution.
dem Beamten aus ſeiner Amtsführung zu vertretenden Schäden
und Mängel an Kapital und Zinſen, ſowie an gerichtlichen und
außergerichtlichen Koſten der Ermittelung des Schadens 1).“


Dem Beamten gegenüber hat das Reich an der Kaution alle
diejenigen Rechte, welche an dem Orte, wo der Beamte innerhalb
des Reichsgebietes ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat oder zuletzt ge-
habt hat, kraft der dort geltenden Landesgeſetzgebung der Landes-
regierung an den Amtskautionen ihrer Beamten beigelegt ſind 2).
Liegt der betreffende Ort im Auslande, ſo ſind diejenigen Beſtim-
mungen maaßgebend, welche in Anwendung gekommen wären,
wenn der Beamte ſeinen dienſtlichen Wohnſitz in Berlin gehabt
hätte 3).


Dritten Perſonen gegenüber, welche an den hinterlegten In-
haber-Papieren ein früher gegründetes Eigenthum, Pfandrecht oder
ſonſtiges dingliches Recht behaupten, kommen die Vorſchriften im
Handelsgeſetzbuch Art. 306 Abſ. 2 Art. 307 zur Anwen-
dung, da hinſichtlich des redlichen Erwerbs von Inhaber-Papieren
dieſe Regeln auch dann gelten, wenn ſie nicht von einem Kauf-
mann in deſſen Handelsbetrieb verpfändet werden 4).


Im Falle des Konkurſes des Kautionsbeſtellers iſt das Reich
nicht verpflichtet, die verpfändeten Werthpapiere in die Konkurs-
maſſe einzuliefern 5).


4) Die Geltendmachung des Pfandrechts erfolgt, wenn
eine Forderung, für welche die Kaution haftet, zur Execution
ſteht 6), in der Art, daß die vorgeſetzte Dienſtbehörde des Beam-
ten die Werthpapiere bis zur Höhe der Forderung an einer inner-
[417]§. 39. Die Amts-Kaution.
halb des Bundesgebietes belegenen, von ihr zu beſtimmenden Börſe
außergerichtlich verkaufen läßt. Der Kautionsbeſteller iſt
in ſolchem Falle zur Ausantwortung der ihm belaſſenen noch nicht
fälligen Zinsſcheine verpflichtet, event. zur Erlegung des Geld-
werthes derſelben 1).


Die vorgeſetzte Dienſtbehörde iſt jedoch, falls ſie es vorziehen
ſollte, nicht gehindert, das Pfandrecht in den gewöhnlichen Formen
des Civilrechts, insbeſondere alſo durch gerichtlichen, exekutiviſchen
Verkauf der Werthpapiere geltend zu machen. Dagegen iſt ſie nicht be-
rechtigt zu einem außergerichtlichen Verkauf außerhalb einer Börſe z. B.
unmittelbar an einen Banquier in dem Geſchäftslokale deſſelben.


5) Das Reich iſt verpflichtet, die empfangenen Kau-
tionen aufzubewahren. Die oberſte Reſſortbehörde beſtimmt
diejenigen Kaſſen, welchen die Aufbewahrung, beziehungsweiſe An-
ſammlung der Kautionen obliegt 2). Das Reich haftet für ſorg-
fältige custodia nach den vom Fauſtpfand-Vertrage geltenden Re-
geln. Der Kaſſe, welcher die Aufbewahrung übertragen iſt, liegt
auch die Einziehung der neuen Zinsſcheine ob, dagegen nicht die
Verpflichtung, die Auslooſung der niedergelegten Werthpapiere
zu überwachen 3). Nachtheile, welche dem Eigenthümer der Kau-
tion daraus erwachſen, daß er die erfolgte Verlooſung oder Kün-
digung des Papiers nicht rechtzeitig zur Kenntniß bringt, ſind von
dem Reich nicht zu vertreten 4).


6) Wird das Dienſtverhältniß, für welches die Kaution ge-
leiſtet worden iſt, beendet, ſo iſt das Reich verpflichtet, die Kau-
tion dem Kautionsbeſteller oder deſſen Erben oder deſſen Rechts-
nachfolger zurückzugeben5). Die Rückgabe ſetzt voraus:


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 27
[418]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.

a) Die amtliche Feſtſtellung, daß aus dem Dienſtverhältniß
Erſatz für Schäden und Koſten nicht mehr zu leiſten iſt 1).


b) Die Aushändigung des quittirten Empfangsſcheines. Iſt
derſelbe verloren, ſo iſt das gerichtliche Amortiſationsverfahren
einzuleiten und an Stelle des Empfangsſcheines das Amortiſations-
Dokument einzureichen. Von der Beibringung deſſelben kann
jedoch nach Ermeſſen der vorgeſetzten Dienſtbehörde abgeſehen
werden und es iſt alsdann von dem Kautionsbeſteller eine Urkunde
auszuſtellen, in welcher er verſichert, daß er den Empfangsſchein
weder zedirt noch verpfändet habe, daß derſelbe ihm vielmehr ab-
handen gekommen ſei, und in welcher er den Schein für kraftlos
und alle Anſprüche aus demſelben für erloſchen erkärt.


c) wenn die Kaution einem Andern, als dem Beſteller zurück-
gegeben werden ſoll, die Beifügung der Urkunden, aus denen ſich
der Uebergang des Forderungsrechtes auf Reſtitution der Kaution
ergibt, alſo des Erbes-Legitimations-Atteſtes, der Ceſſions-Ur-
kunde u. dgl.


§. 40. Die Pflichten und Beſchränkungen der Reichsbeamten.

Aus dem Anſtellungsvertrage ergeben ſich für den Beamten
drei Pflichten, die Pflicht zur Verwaltung des übertragenen Amtes,
die Pflicht zur Treue und zum geſetzmäßigen Gehorſam gegen die
vorgeſetzte Behörde, und die Pflicht eines achtungswürdigen Ver-
haltens. Außerdem ſind mit der Beamtenſtellung einige Beſchrän-
kungen der Handlungsfreiheit verbunden.


[419]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
I.Die Pflicht zur Amtsführung.

„Jeder Reichsbeamte hat die Verpflichtung, das ihm über-
tragene Amt der Verfaſſung und den Geſetzen entſprechend gewiſ-
ſenhaft wahrzunehmen“. R.-G. §. 10.


Die Pflicht zur Amtsführung iſt eine Pflicht zur Arbeits-
leiſtung. Dieſelbe iſt nicht fixirt, ſondern beſtimmt ſich quantitativ
nach dem wechſelnden Geſchäfts-Umfange des Amtes, qualitativ
durch die dem Beamten obliegende Treuverpflichtung, welche von
ihm die Aufwendung des größten Fleißes, der größten Sorgfalt,
die Anſpannung aller Kräfte erfordert.


Die Pflicht kann, abgeſehen von unvollkommener Erfüllung
durch langſame oder ſchlechte Erledigung der Amtsgeſchäfte, theils
durch die Weigerung einzelne, zum amtlichen Geſchäfts-Kreiſe
gehörige Geſchäfte zu erledigen, theils durch generelle Nichterledi-
gung der Geſchäfte (Verlaſſen des Amtes) verletzt werden.


1) Von der Vornahme einzelner amtlicher Geſchäfte kann der
Beamte auf ſeinen Antrag von der vorgeſetzten Dienſtbehörde
dispenſirt werden. Die, den Vorſtehern der einzelnen Be-
hörden zugewieſene Funktion der Geſchäftsvertheilung ſchließt die
Befugniß in ſich, Beamten einzelne Geſchäfte, die ihnen ſpeziell
zugewieſen ſind oder nach dem allgemeinen, für die Geſchäftsver-
theilung erlaſſenen Anordnungen zufallen, abzunehmen 1).


Ein Recht auf Dispenſation iſt für die Beamten in dem
Falle anzunehmen, wenn das von ihnen zu erledigende Geſchäft
ihr eigenes Privat-Intereſſe oder dasjenige ihrer Angehörigen be-
rührt. Für die Richter iſt es ein gemeinrechtlich anerkannter,
unbezweifelter Grundſatz, daß ſie von der Ausübung des Richter-
amtes kraft Geſetzes in allen ſolchen Sachen ausgeſchloſſen ſind 2).


Die analoge Anwendung des gleichen Grundſatzes auf andere
Beamte, denen in Verwaltungsſachen ein Verfügungs- oder Ent-
ſcheidungsrecht zuſteht, erſcheint ebenſowohl durch das Intereſſe
des Staates als durch das des Beamten, der nicht unnöthiger
Weiſe in eine Kolliſion gebracht werden ſoll, geboten.


27*
[420]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.

2) Zum zeitweiſen Verlaſſen des Amtes bedarf der Beamte
eines Urlaubs. „Die Vorſchriften über den Urlaub der Reichs-
beamten und deren Stellvertretung werden vom Kaiſer erlaſſen.“
(§. 14 Abſ. 1 des R.-G.)


Die hier vorbehaltene Verordnung iſt am 2. Nov. 1874 er-
gangen. (R.-G.-Bl. S. 129.) Dieſelbe ſtellt folgende Grund-
ſätze auf:


Die Anträge auf Urlaubsbewilligung ſind unter Angabe der
Veranlaſſung und des Zweckes der unmittelbar vorge-
ſetzten Behörde oder dem unmittelbar vorgeſetzten Beamten einzu-
reichen. Dieſe Behörde iſt aber nicht nothwendig zur Ertheilung
des Urlaubs zuſtändig; vielmehr beſtimmt der Reichskanzler die
Stellen, welche zur Ertheilung von Urlaub berechtigt ſind, ſowie
die Zeiträume, für welche von denſelben Urlaub gewährt werden
darf 1). Wird ein Urlaub zur Wiederherſtellung der Geſund-
heit nachgeſucht, ſo iſt dem Antrage eine ärztliche Beſcheinigung
beizufügen; die Beibringung dieſer Beſcheinigung kann aber von
der Stelle, welcher die Entſcheidung über den Antrag zuſteht, aus-
nahmsweiſe erlaſſen werden.


Die Stelle, welche den Urlaub ertheilt, hat für die Vertre-
tung des beurlaubten Beamten Sorge zu tragen und zugleich feſt-
zuſetzen, in wie weit die dem Beurlaubten zur Beſtreitung von
Dienſtaufwandskoſten (nicht zu verwechſeln mit dem Dienſteinkom-
men) bewilligten Bezüge dem Vertreter zu überweiſen ſind.


Der beurlaubte Beamte hat dafür zu ſorgen, daß ihm wäh-
rend der Abweſenheit von ſeinem Wohnort Verfügungen der vor-
geſetzten Behörden zugeſtellt werden können. Die Urlaubsbewilli-
[421]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
gung kann jederzeit zurückgenommen werden, wenn das dienſtliche
Intereſſe es erheiſcht. Für Militär- und Marine-Beamte erliſcht
jede Urlaubsbewilligung, wenn die Kriegsbereitſchaft oder die Mo-
bilmachung der bewaffneten Macht oder einer Abtheilung der-
ſelben angeordnet wird, mit der Bekanntmachung dieſer An-
ordnung.


In Krankheitsfällen findet ein Abzug vom Gehalte nicht ſtatt;
die Stellvertretungskoſten fallen der Reichskaſſe zur Laſt 1). Daſ-
ſelbe gilt, wenn der Urlaub 1½ Monate oder weniger beträgt.
Bei einem Urlaub von mehr als 1½ bis 6 Monaten (außer in
Krankheitsfällen) findet für den anderthalb Monate überſteigenden
Zeitraum ein Abzug von dem Dienſteinkommen des Beurlaubten
im Betrage der Hälfte deſſelben ſtatt; bei fernerem Urlaub wird
das ganze Dienſteinkommen einbehalten 2). Bei Berechnung der
Abzüge für Theile von Monaten werden die letzteren ſtets zu
30 Tagen angenommen.


Von dieſen Regeln darf nur mit Genehmigung der oberſten
Reichsbehörde eine Abweichung bewilligt werden 3).


Ein Beamter, welcher ſich ohne den vorſchriftsmäßigen Urlaub
von ſeinem Amte entfernt hält, oder den ertheilten Urlaub über-
ſchreitet, iſt, wenn ihm nicht beſondere Entſchuldigungsgründe zur
Seite ſtehen, für die Zeit der unerlaubten Entfernung ſeines (vol-
len) Dienſteinkommens verluſtig 4).


Die Reichsbeamten haben das Recht, ohne Nachſuchung von
Urlaub ihr Amt zu verlaſſen, um in den Reichstag einzutreten.
Reichsverf. Art. 21 Abſ. 1. In dieſem Falle findet ein Abzug
vom Gehalte nicht ſtatt; die Stellvertretungskoſten fallen der Reichs-
kaſſe zur Laſt 5).


Wird ein Beamter zum Verlaſſen ſeines Amtes dadurch ge-
nöthigt, daß er zur perſönlichen Erfüllung einer ſtaatsbürgerlichen
Pflicht berufen wird, z. B. als Geſchworener, Landwehr-Offizier,
Zeuge u. dgl., ſo bedarf er zwar keines Urlaubs, iſt aber
[422]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
verpflichtet, ſeinem unmittelbaren Vorgeſetzten davon Anzeige zu
machen.


II.Die Pflicht zur Treue und zum Gehorſam.

Da dieſe Pflicht einen vorzugsweiſe ethiſchen Charakter hat,
ſo wird das eidliche Gelöbniß ihrer Erfüllung erfordert und da-
durch eine moraliſche Garantie ihrer Erfüllung geſucht. Rechtlich
läßt ſich ihr Inhalt nicht erſchöpfend darſtellen und ihre volle Er-
füllung nicht wirkſam erzwingen; nur offenkundige Verletzungen
derſelben können eine Ahndung finden. Für die rechtliche Beur-
theilung dieſer Pflicht laſſen ſich folgende Sätze aufſtellen.


1. In der Pflicht zur Treue iſt die Pflicht zur Verſchwie-
genheit
enthalten. §. 11 des Reichsgeſetzes beſtimmt: „Ueber
die vermöge ſeines Amtes ihm bekannt gewordenen Angelegen-
heiten, deren Geheimhaltung ihrer Natur nach erforderlich oder
von ſeinem Vorgeſetzten vorgeſchrieben iſt, hat der Beamte Ver-
ſchwiegenheit zu beobachten, auch nachdem das Dienſtverhältniß
aufgelöſt iſt.“ Im Zuſammenhange hiemit ſtehen die im §. 12
a. a. O. enthaltenen Vorſchriften, daß ein Reichsbeamter, bevor
er als Sachverſtändiger ein außergerichtliches Gutachten abgiebt,
dazu die Genehmigung ſeiner vorgeſetzten Behörde einholen muß,
und daß er, auch wenn er nicht mehr im Dienſte iſt, ein Zeugniß
in Betreff derjenigen Thatſachen, auf welche die Verpflichtung zur
Amtsverſchwiegenheit ſich bezieht, inſoweit zu verweigern verpflichtet
iſt, als er nicht dieſer Verpflichtung in dem einzelnen Falle durch
die vorgeſetzte oder zuletzt vorgeſetzt geweſene Dienſt-Behörde ent-
bunden iſt.


2. Die Pflicht zum Gehorſam findet in der oben entwickelten
rechtlichen Natur des Staatsdienſt-Vertrages ebenſowohl ihre Be-
gründung als ihre Beſchränkung. Das ſyſtematiſche, oder wenn
man den Ausdruck vorzieht, das organiſche Zuſammenwirken der
Behörden, die Einheit und Ordnung in der Verrichtung der ſtaat-
lichen Geſchäfte, die Leitung der Regierung durch den Kaiſer und
den von ihm ernannten Reichskanzler und die anderen Chefs
der Reſſort-Verwaltungen könnten ohne die Pflicht aller Reichs-
beamten, den vorgeſetzten Behörden oder Beamten gehorſam zu
ſein, nicht beſtehen. Durch den Staatsdienſtvertrag wird für den
Staat nicht ein Forderungsrecht, ſondern eine Gewalt begründet
[423]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
und der Beamte verpflichtet ſich nicht blos Arbeit zu leiſten, ſon-
dern zu gehorchen.


Aber die Verpflichtung des Beamten iſt beſchränkt auf die
Erfüllung amtlicher Geſchäfte; er dient nicht dem Vorgeſetz-
ten
, ſondern mit dieſem gemeinſam dem Staate; er tritt in
den Staatsdienſt ein, um ein ſtaatliches Amt zu übernehmen;
welche Geſchäfte aber einem Amte zufallen, normirt der Staat.
Der Beamte iſt daher nicht verpflichtet, Geſchäfte auszuführen,
welche entweder thatſächlich oder aus Rechtsgründen keine amtlichen
ſind oder ſein können 1). Der §. 10 des Reichsbeamten-Geſetzes
beſchränkt demgemäß die Verpflichtung des Beamten dahin, daß er
das ihm übertragene Amt der Verfaſſung und den Geſetzen
entſprechend
gewiſſenhaft wahrnehme.


Geringe Schwierigkeiten macht die Einſchränkung, daß der
Beamte ſolchen Anordnungen der vorgeſetzten Behörde nicht nach-
zukommen braucht, welche thatſächlich nicht amtliche Geſchäfte zum
Inhalte haben; z. B. Anforderungen eines höheren Beamten an
Unterbeamte zur Leiſtung von häuslichen Dienſten, oder Anord-
nungen, die in das Privatleben des Beamten eingreifen, z. B.
eine gewiſſe Zeitung zu halten oder nicht zu halten oder die Kirche
zu beſuchen u. dgl. Die Nichtbefolgung ſolcher Vorſchriften iſt
keine Verletzung der Dienſtpflicht; ebenſo wenig iſt aber dem Be-
amten ihre freiwillige Befolgung verwehrt oder für ihn mit Rechts-
nachtheilen verbunden.


Bei weitem wichtiger und ſchwieriger iſt die juriſtiſche Fixi-
rung der anderen Einſchränkung, daß der Beamte Anordnungen
der vorgeſetzten Behörde nicht zu befolgen verbunden iſt, welche
zwar ihrem Inhalte nach Amtsgeſchäfte betreffen, welche aber aus
Rechtsgründen ihm nicht aufgetragen werden dürfen. Geſchäfte,
zu deren Vornahme eine Behörde nach den beſtehenden Rechtsvor-
ſchriften nicht befugt iſt oder die ihr ausdrücklich unterſagt ſind,
können keine Amtsgeſchäfte ſein, da das Amt ſeinem
Begriffe nach ein vom Staate zugewieſener und begränzter Inbe-
griff von Geſchäften iſt. Die Befolgung ſolcher Befehle iſt daher
für den Beamten keine res merae facultatis. Denn wenn er die
mit ſeinem Amte verbundene Amtsgewalt zur Durchführung rechts-
[424]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
widriger Befehle gebraucht, ſo treten die Rechtsfolgen gegen ihn
ein, welche ſich aus dem im §. 13 des Beamtengeſetzes ausge-
ſprochenen Grundſatze ergeben: „Jeder Reichsbeamte iſt für die
Geſetzmäßigkeit ſeiner amtlichen Handlungen verantwortlich.“ (Siehe
unten §. 41.)


Wenn andererſeits der Beamte geſetzmäßige Befehle nicht be-
folgt, weil er ſie für geſetzwidrig hält, ſo begeht er eine Verletzung
der Dienſtpflicht, ein Dienſtvergehen, und kann überdies eine ſtraf-
rechtliche oder privatrechtliche Verantwortlichkeit wegen der Unter-
laſſung auf ſich laden.


Die Prüfung der Geſetzmäßigkeit aller dienſtlichen Anordnungen
muß daher von jedem Beamten und zwar aufeigene Gefahr
vorgenommen werden.


Darum iſt es von Wichtigkeit feſtzuſtellen, worauf ſich dieſe
Prüfung zu erſtrecken hat 1). Würde man dieſelbe auf die Frage
[425]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
ausdehnen, ob die vorgeſetzte Behörde die beſtehenden Rechtsvor-
ſchriften materiell richtig ausgelegt und angewendet hat, ſo würde
man das Syſtem der Behörden-Organiſation und die Unterord-
nung der niederen Behörden unter die oberen nicht nur zerſtören,
ſondern geradezu auf den Kopf ſtellen. Die untere Behörde und
der niedriger geſtellte Beamte hätte das Recht und die Pflicht, die
Entſcheidungen und Verfügungen der oberen Behörde und des
vorgeſetzten Beamten einer Ueberprüfung zu unterziehen und es
würde demnach nicht das Reichs-Oberhandelsgericht, ſondern der
Kreisgerichts-Executor, nicht das Finanzminiſterium oder die Ober-
zolldirektion ſondern der Zolleinnehmer in Wahrheit die letzte In-
ſtanz ſein. In allen Fällen, in welchen die höhere Inſtanz eine
andere Rechtsanſicht wie die niedere feſthält, müßte ſie auch die
Durchführung unmittelbar und ohne Mitwirkung der niederen
Inſtanz übernehmen oder gewärtigen, daß die letztere ihre Dienſte
verweigert. Ein ſolches Syſtem iſt keineswegs undenkbar oder
unerhört: es beſtand wenigſtens theilweiſe im Mittelalter, wo ein
Urtheil der unteren Inſtanz nur angefochten werden konnte durch
die ſogen. Urtheilsſchelte d. h. durch eine Klage gegen den Richter
und die Urtheilsfinder wegen Rechtsverletzung oder Amtsmiß-
brauchs bei dem höheren Richter, und wo der letztere ſein Erkennt-
niß ſelbſt zur Vollſtreckung brachte. Das unbedingte und unbe-
ſchränkte Prüfungsrecht bringt eben die unbedingte und unbe-
ſchränkte Verantwortlichkeit als Correlat mit ſich.


In dem heutigen Staate dagegen wird in den verſchiedenen,
einander übergeordneten oder auch nebengeordneten Behörden die
einheitliche Staatsgewalt thätig; die Behörden ſind durchweg auf
ein Zuſammenwirken angewieſen und es iſt daher eine Vollziehung
der ſtaatlichen Geſchäfte gar nicht denkbar, wenn nicht jeder Be-
amte Entſcheidungen, Verfügungen und Requiſitionen befolgt, ohne
die materielle Richtigkeit und Rechtmäßigkeit ſeinerſeits nochmals
zu prüfen und ohne von dem Ausfall dieſer Prüfung es abhängig
zu machen, ob er ſeine Mitwirkung leiſten oder verſagen will.


Die Prüfungspflicht des Beamten erſtreckt ſich vielmehr ledig-
1)
[426]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
lich auf die formelle Rechtmäßigkeit der ihm ertheilten Vorſchriften
und zerlegt ſich in 3 Fragen: Iſt die befehlende Behörde compe-
tent, den Befehl zu erlaſſen? Iſt der beauftragte Beamte compe-
tent, die ihm aufgetragene Handlung vorzunehmen? Iſt der Be-
fehl in der vorſchriftsmäßigen Form ertheilt worden?


1) Der letzte dieſer drei Punkte iſt praktiſch gewöhnlich von
untergeordneter Wichtigkeit und giebt zu Zweifeln ſelten Anlaß.
In der Theorie und Geſetzgebung beſteht, wenn die Frage über-
haupt berührt wird, kaum eine Meinungs-Verſchiedenheit darüber,
daß Befehle oder Verfügungen, welche nicht in vorſchriftsmäßiger
amtlicher Form ertheilt werden, keine verbindliche Kraft haben 1).
Es iſt jedoch feſt zu halten, daß eine allgemeine Regel über die
Form amtlicher Verfügungen nicht beſteht, daß vielmehr in zahl-
reichen Fällen mündliche Anordnungen des Vorgeſetzten an die
ihm untergebenen Beamten völlig zuläſſig ſind 2).


2) Der Beamte hat ſelbſtſtändig und mit eigener Verantwort-
lichkeit zu prüfen, ob die ihm zuſtehende Amtsgewalt ihn ermächtigt,
die ihm aufgetragene Handlung vorzunehmen. Wenn die Vor-
nahme der aufgetragenen Handlung nicht zum Geſchäftskreiſe des
beauftragten Beamten gehört oder ihm nach den für ihn geltenden
Rechtsvorſchriften unterſagt iſt, ſo iſt er weder berechtigt noch ver-
pflichtet, dem Befehl Folge zu leiſten. Dieſe Prüfung erſtreckt
ſich aber auch nur auf die formelle Seite, d. h. nicht darauf, ob
durch die ihm aufgetragene Handlung materiell das geltende Recht
verwirklicht oder verletzt wird, ſondern ob er zur Vornahme der-
artiger Handlungen überhaupt befugt iſt, ſowohl mit Rückſicht auf
die territoriale Begrenzung ſeiner Amtsgewalt als auch mit Rück-
ſicht auf die ſachliche Begrenzung derſelben.


Ein Erkenntniß des Preuß. Obertribunals v. 17. Nov.
1871 hat den richtigen Grundſatz aufgeſtellt, daß ein vollſtrecken-
[427]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
der Beamter nur dann in der rechtmäßigen Ausübung ſeines Amtes
ſich befand, „wenn demſelben ſowohl in örtlicher als in ſachlicher
Beziehung die Zuſtändigkeit beigewohnt habe, daß er alſo im All-
gemeinen befugt geweſen ſei, Vollſtreckungshandlungen der frag-
lichen Art am betreffenden Orte vorzunehmen.“


Der Rechtsſatz beruht darauf, daß der vorgeſetzte Beamte
nicht im Stande iſt, die geſetzlich feſtgeſtellte Kompetenz der ihm
untergebenen Beamten zu erweitern und deshalb demſelben auch
keine dienſtlichen Befehle mit verbindlicher Kraft zu ertheilen ver-
mag, welche außerhalb des Umfanges dieſer geſetzlichen Zuſtändig-
keit fallen 2). Die Pflicht zu prüfen, ob ein Beamter zur Vor-
nahme ſolcher Handlungen, wie die ihm aufgetragene, im Allge-
meinen befugt ſei, muthet demſelben auch keine Entſcheidung zu,
welche ſeine geiſtigen Kräfte überſteigt, da im Allgemeinen jeder
Beamte ſeine formelle (abſtracte) Zuſtändigkeit kennen muß. In
allen Fällen aber, in denen eine Behörde geſetzlich berufen
iſt, über die Zuſtändigkeit einer Behörde oder eines Beamten eine
Entſcheidung zu fällen, namentlich alſo in denjenigen Fällen,
in welchen ein Juſtiz-Gerichtshof oder ein Verwaltungsgericht über
die hinſichtlich der Zuſtändigkeit beſtehenden Rechtsvorſchriften mit
formeller Wirkſamkeit zu urtheilen berufen iſt, ſchafft ein ergan-
genes Urtheil formelle Gewißheit und ſchließt für den beauftragten
Beamten ebenſowohl das Recht zu ſelbſtſtändiger Prüfung als die
Verantworlichkeit für die Vollziehung des ihm ertheilten Befehls
aus 3).1)



[428]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.

3) Die ſelbſtſtändige Prüfung des beauftragten Beamten er-
ſtreckt ſich endlich darauf, ob die Stelle, welche ihm den Befehl
ertheilt hat, dazu kompetent war. Dieſer Rechtsſatz beruht darauf,
daß Behörden und Beamte durch ihre Verfügungen nicht im Stande
ſind, ihre eigene Kompetenz zn erweitern und daß deshalb Anord-
nungen, welche außerhalb dieſer Kompetenz liegen, rechtlich nicht
als amtliche gelten können. Die Pflicht der Beamten, den Ver-
fügungen der ihnen vorgeſetzten Behörden Folge zu leiſten, wird
in vielen Geſetzen darauf beſchränkt, daß die Behörde den Befehl
innerhalb der Grenzen ihrer Zuſtändigkeit erlaſſen hat 1), und auch
in der Literatur wird dieſe Schranke öfters erwähnt. Soweit aber
ein Beamter, einem Befehle nachzukommen, nicht verpflichtet iſt,
handelt er auf eigene Gefahr, wenn er ihm dennoch nachkömmt;
man darf daher nicht blos negativ von einer Beſchränkung der
Gehorſamspflicht reden, ſondern der Beamte trägt poſitiv die Ver-
antwortlichkeit, daß der von ihm zur Ausführung gebrachte Befehl
ihm von der zuſtändigen Behörde ertheilt worden iſt.


Auch hier handelt es ſich aber nur um die Prüfung der for-
mellen oder abſtrakten Zuſtändigkeit. Ein Erk. des Preuß. Ober-
Tribunals
v. 19. Januar 1872 führt aus 2):


„In dem Merkmal der Rechtmäßigkeit iſt das Poſtulat ent-
halten, daß der Befehl um deſſen Vollſtreckung es ſich handelt,
an den untergeordneten Beamten von der örtlich und ſachlich zu-
ſtändigen Behörde erlaſſen, daß Behörde oder Beamter, von dem
er ausgegangen, bei deſſen Erlaß im Allgemeinen (in abstracto)
innerhalb des Kreiſes ihrer Befugniſſe ſich gehalten. Ob dies der
Fall ſei, hat der untergebene Beamte zu prüfen; dagegen hat er
nicht zu unterſuchen, ob die vorgeſetzte Behörde im einzelnen Fall
von ihren Amtsbefugniſſen einen angemeſſenen Gebrauch gemacht.“


Ebenſo gilt hier das oben Bemerkte, wenn eine richterliche
Inſtanz zur rechtlichen Entſcheidung der Zuſtändigkeit vorhanden
iſt 3).


1)


[429]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
III.Die Pflicht eines achtungswürdigen Verhaltens.

Das Dienſtverhältniß, welches zwiſchen dem Staat und dem
Beamten beſteht, begründet für den Staat ein rechtliches Intereſſe,
daß der Beamte auch abgeſehen von ſeiner amtlichen Thätigkeit
ſich ſo beträgt, wie es Ehre und Sitte erfordern. Der Beamte,
welcher Hoheitsrechte des Staates handhabt und mit einer Ver-
tretungsbefugniß für den Staat ausgeſtattet iſt, darf nicht einen
Lebenswandel führen, der ihn um Anſehen und Achtung bringt.
Denn das Volk kann die abſtracte Unterſcheidung zwiſchen dem
Beamten als Vertreter des Staates und dem Beamten als Privat-
perſon nicht feſthalten; es erblickt in dem Beamten den einheit-
lichen Menſchen; es zollt ihm in ſeiner ſtaatlichen Stellung keine
Achtung, wenn er dieſelbe in ſeinem Privatleben verloren hat,
und es geht von der natürlichen Vorausſetzung aus, daß der Be-
amte für ſeine amtlichen Geſchäfte keine größere ſittliche Feſtigkeit,
keinen höheren Grad von Ernſt, Fleiß und Gewiſſenhaftigkeit auf-
wendet, als er in ſeinem außeramtlichen Lebenswandel bethätigt.
Deshalb leidet der Staat ſelbſt darunter, wenn ſeine Beamten ſich
nicht achtungswürdig führen, abgeſehen von der Gefahr, daß ein
Beamter von unehrenhaftem oder unſittlichem Betragen auch vor
Amtsvergehen weniger Scheu haben könnte.


Der Staat verlangt daher von ſeinen Beamten mit Recht,
daß ſie nicht nur in ihrer amtlichen Thätigkeit ſondern in ihrem
geſammten Lebenswandel den Anforderungen der Ehre und Sitte
genügen und der Beamte übernimmt durch den Eintritt in den
Staatsdienſt die Pflicht, dieſem Verlangen zu entſprechen. Das
Reichsbeamten-Geſetz §. 10 beſtimmt demgemäß: „Jeder
Reichsbeamte hat die Verpflichtung, . . . . durch ſein Verhalten in
und außer dem Amte der Achtung, die ſein Beruf erfordert, ſich
würdig zu zeigen.“ Es ergiebt ſich hieraus, daß ein Beamter
trotz tadelloſer Erfüllung der amtlichen Obliegenheiten durch ſein
außeramtliches Verhalten ſeine Dienſtpflicht verletzen kann 1).


3)


[430]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.

Auch hier iſt aber feſtzuhalten, daß es ſich nicht um die Nicht-
erfüllung einer obligatoriſchen (contractlichen) Pflicht, ſondern um
die Verletzung eines Treu- und Gewaltsverhältniſſes handelt.
Der Staatsbeamte verletzt durch unehrenhaftes Betragen ſeine
Dienſtpflicht in ähnlicher Art wie ehemals der Vaſſall durch ehr-
loſe Verbrechen, die nicht gegen den Lehnsherrn gerichtet waren
(Quaſifelonie), ſeine Lehnstreue und ſeine Lehnspflicht verletzte.


IV.Die Beſchränkungen der Reichs-Beamten.

Zu unterſcheiden von den aus dem Anſtellungs-Vertrage ſich
ergebenden Pflichten, deren Erfüllung dem Reichsbeamten ob-
liegt, ſind mit der Stellung eines Reichsbeamten einige Beſchrän-
kungen des letzteren verknüpft, welche zur Sicherung voller Pflicht-
erfüllung oder zur Verhütung von Kolliſionen zwiſchen verſchiedenen
Pflichten ihm auferlegt ſind. Außer der bereits erwähnten Vor-
ſchrift, daß ein Reichsbeamter, bevor er als Sachverſtändiger ein
1)
[431]§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
außergerichtliches Gutachten abgiebt, dazu die Genehmigung ſeiner
vorgeſetzten Behörde einzuholen hat, ſind folgende Beſtimmungen
hier zu erwähnen:


1) Jeder Reichsbeamte bedarf zur Annahme von Geſchenken
oder Belohnungen in Bezug auf ſein Amt der Genehmigung der
oberſten Reichsbehörde. Geſ. §. 15 Abſ. 2.


2) Die vom Kaiſer angeſtellten Beamten dürfen Titel,
Ehrenzeichen, Geſchenke, Gehalts-Bezüge oder Remunerationen von
andern Regenten oder Regierungen nur mit Genehmigung des
Kaiſers annehmen. Geſ. §. 15 Abſ. 1.


Unter dem vom Kaiſer angeſtellten Beamten ſind auch die
in ſeinem Auftrage angeſtellten, alſo alle unmittelbaren Reichs-
beamten zu verſtehen, ſo daß die in Rede ſtehende Beſtimmung
einen rechtlichen Unterſchied zwiſchen unmittelbaren und mittelbaren
Reichsbeamten begründet. Die letzteren bedürfen zur Annahme
von Titeln und Ehrenzeichen, ſowie von Geſchenken oder Remune-
rationen, welche ihnen nicht mit Bezug auf ihr Amt gegeben wer-
den, von anderen Regenten oder Regierungen der Genehmigung
des Kaiſers nicht; in wiefern ſie die Erlaubniß ihres Landesherrn
dazu bedürfen, beſtimmt ſich nach den darüber beſtehenden landes-
geſetzlichen Vorſchriften, welche durch die Anordnung des §. 15
des Reichsgeſetzes nicht berührt werden 1). Die unmittelbaren
Reichsbeamten dürfen auch von ihrem eigenen Landesherrn Titel,
Ehrenzeichen u. ſ. w. nur mit Genehmigung des Kaiſers an-
nehmen.


3) Mit Ausnahme der Wahl-Konſuln und der einſtweilen in
in den Ruheſtand verſetzten Beamten darf „kein Reichsbeamter
ohne vorgängige Genehmigung der oberſten Reichsbehörde ein Neben-
amt oder eine mit fortlaufender Remuneration verbundene Neben-
beſchäftigung übernehmen oder ein Gewerbe betreiben 2). Dieſelbe
[432]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Genehmigung iſt zu dem Eintritt eines Reichsbeamten in den
Vorſtand, Verwaltungs- oder Aufſichtsrath einer jeden auf Erwerb
gerichteten Geſellſchaft erforderlich 1); ſie darf jedoch nicht er-
theilt werden, ſofern die Stelle mittelbar oder unmittelbar mit
einer Remuneration verbunden iſt. Die ertheilte Genehmigung
iſt jederzeit widerruflich.“ Geſ. §. 16 2).


4) Für Militärbeamte finden überdies Anwendung die in §§. 40.
41. 43. 47. des Militärgeſetzes v. 2. Mai 1874 getroffenen Be-
ſtimmungen; für Reichsbankbeamte die Vorſchrift im §. 28 des
Geſ. v. 14. März 1875, daß ſie Antheilſcheine der Reichsbank
nicht beſitzen dürfen.


§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.

Die Verletzung der den Beamten obliegenden Pflichten kann
Rechtsfolgen dreifacher Art herbeiführen, nämlich ſtrafrechtliche,
privatrechtliche und disciplinariſche. Die letzteren ſind die eigent-
lich ſtaatsrechtlichen Folgen der Pflichtverletzung; ſie beruhen
auf der ſtaatlichen Natur des Beamten-Verhältniſſes und haben
keine anderweitigen Vorausſetzungen, als die Verletzung der
durch den Staatsdienſt begründeten Pflichten. Dagegen treten
die privatrechtlichen Folgen nur ein, wenn mit der Pflichtverletzung
noch eine Vermögensbeſchädigung verbunden iſt und die ſtrafrecht-
lichen Folgen treten ebenfalls nicht wegen jeder Art von Pflicht-
verletzung ein, ſondern nur wegen ſolcher, welche zugleich den
Thatbeſtand eines ſtrafbaren Delictes bilden. Andererſeits treten
die disciplinariſchen Folgen einer Pflichtverletzung nur bei eigent-
lichen Beamten ein, während die ſtrafrechtliche und privatrechtliche
Verantwortlichkeit auch Platz greifen kann bei Verletzungen der
Amtspflicht Seitens ſolcher Perſonen, die ein Amt haben ohne
Staatsdiener (Beamte) zu ſein. (Siehe oben S. 384). Die drei Arten
2)
[433]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
von Rechtsfolgen ſchließen ſich einander nicht gegenſeitig aus, ſie
ſtehen nicht in alternativer Konkurrenz, ſondern ſie können gleichzeitig
neben einander eintreten, wofern in dem pflichtwidrigen Verhalten
des Beamten die Vorausſetzungen für alle 3 Arten von Rechts-
folgen enthalten ſind.


I.Die ſtrafrechtlichen Folgen.

Welche Pflichtverletzungen eines Beamten eine öffentliche
Strafe nach ſich ziehen, läßt ſich nicht aus dem Begriff des Staats-
amtes logiſch herleiten oder a priori conſtruiren 1). Es iſt dies
vielmehr nur nach den poſitiven Beſtimmungen des Strafgeſetzes
feſtzuſtellen und Gründe der Geſetzgebungspolitik allein entſcheiden
darüber, welche Handlungen oder Unterlaſſungen eines Beamten
als ſo ſchwere Verletzungen der Rechtsordnung oder als ſo ge-
fährliche Bedrohungen der öffentlichen Wohlfahrt erſcheinen, daß
der Staat mit den Mitteln des Strafrechtes ſich gegen ſie wen-
den muß. Es verſteht ſich nach dem Grundſatz nulla poena sine
lege
von ſelbſt, daß eine öffentliche Beſtrafung eines Beamten
nur dann eintreten kann, wenn ſeine Handlung den Vorausſetzungen
einer beſtimmten Strafandrohung entſpricht; daß dagegen die fri-
volſte Verletzung der Amtspflicht und das unwürdigſte Verhalten
eines Beamten keine ſtrafrechtliche Ahndung finden kann, wenn
der Thatbeſtand eines ſpeziellen Delicts dadurch nicht gegeben iſt.
Dadurch unterſcheidet ſich in höchſt charakteriſtiſcher Art die öffent-
liche Beſtrafung von der disciplinariſchen. Es giebt kein (crimi-
nelles) Verbrechen oder Vergehen der Amtspflicht-Verletzung; ſon-
dern es giebt nur einzelne, beſtimmt normirte Verletzungen der
Amtspflicht, welche nicht blos das zwiſchen dem Staat und dem
Beamten beſtehende Dienſtverhältniß, ſondern die allgemeine ſtaat-
liche Ordnung, das geſellſchaftliche Zuſammenleben im Staate
ſtören und deshalb mit öffentlicher Strafe bedroht ſind. Im Ge-
genſatz dazu giebt es kein Syſtem der Disciplinar-Vergehen, keine
durch feſtbeſtimmte Thatbeſtände charakteriſirte Arten von Discipli-
nar-Vergehen, ſondern nur ein einziges, generelles, nämlich die
Verletzung der Amtspflicht, und nur graduell verſchieden kann die
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 28
[434]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Schwere der Verletzung ſein und dem entſprechend die Größe der
Disciplinarſtrafe abgeſtuft werden.


Die criminell ſtrafbaren Verletzungen der Amtspflicht zer-
fallen aber wieder in zwei Klaſſen 1). Sie können nämlich ent-
weder beſtehen in Handlungen, welche an ſich und allgemein ſtraf-
bar ſind, welche aber mit einer größeren Strafe bedroht ſind, falls ein
Beamter ſie verübt, ſo daß der Umſtand, daß ein Beamter der Thäter
iſt, einen Qualifikationsgrund, einen erſchwerenden Umſtand, bildet.
Oder ſie können in Handlungen beſtehen, welche nur dann ſtrafbar
ſind, wenn ein Beamter ſie verübt, oder welche thatſächlich nur von
Beamten verübt werden können, ſo daß es zum weſentlichen Thatbe-
ſtand des Delicts gehört, daß ein Beamter Thäter iſt. Die erſteren
nennt man uneigentliche, die letzteren eigentliche Amtsdelicte 2).


1. Die uneigentlichen Amtsdelicte.


Die Unmöglichkeit, durch eine logiſche Begriffsbeſtimmung die
Grenze der Amtsdelicte zu beſtimmen, tritt bei den uneigentlichen
Amtsdelicten am deutlichſten hervor; denn bei jeder ſtrafbaren
Handlung ohne Ausnahme kann der Umſtand, daß ein Staatsbe-
amter ſie verübt hat, für den Richter ein Strafausmeſſungsmoment,
und mithin auch ein Erſchwerungsgrund ſein. Der Geſetzgeber
wird es daher bei vielen, ja bei den meiſten Kategorien von ſtraf-
baren Handlungen dem Ermeſſen des Richters überlaſſen können,
in wie weit dem Umſtande, daß ein Staatsbeamter der Thäter iſt,
für die Würdigung der ſubjektiven Schuld Gewicht beizulegen ſei.
Nur wenn der Geſetzgeber für dieſen Fall eine erheblich ſchwerere
Strafe androhen will, als ſie ſonſt auf die ſtrafbare Handlung
geſetzt iſt, insbeſondere die Nebenſtrafe der Unfähigkeit zur Be-
kleidung öffentlicher Aemter, oder wenn er auf den Richter einen
[435]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Zwang ausüben will, die Beamtenqualität des Thäters unbedingt mit
in Betracht zu ziehen, wird er neben die allgemeine Strafbeſtim-
mung über eine gewiſſe Handlung noch eine ſpezielle Strafbeſtim-
mung für den Fall ſetzen, daß ein Beamter ſie verübt. Dadurch
entſteht neben dem allgemeinen Delict ein Amtsdelict von iden-
tiſchem oder ähnlichem Thatbeſtand aber mit höherer Strafdrohung.
Es ergiebt ſich hieraus, daß die uneigentlichen Amtsdelicte durch
ihren objektiven Thatbeſtand keinerlei Beziehung zum Staats-
recht haben; in dieſer Hinſicht vielmehr die ſtrafrechtlichen Geſichts-
punkte ausſchließlich und vollſtändig zur Anwendung gelangen.
Nur der ſubjektive Thatbeſtand, die Thäterſchaft eines Beamten,
verleiht dieſen Delikten eine ſtaatsrechtliche Bedeutung. Die im
Reichsſtrafgeſetzbuch formulirten uneigentlichen Amtsdelicte laſſen
ſich nach folgenden Geſichtspunkten gruppiren:


a) Handlungen ſtrafbarer Natur werden dadurch beſonders
qualifizirt und in höherem Grade ſtrafbar, daß ein Beamter ſie
gegen Perſonen oder Sachen verübt, welche demſelben in Folge
ſeines Amtes zur Fürſorge oder Obhut anvertraut ſind. Dies
iſt das übereinſtimmende und charakteriſtiſche Merkmal des größten
Theiles der uneigentlichen Amtsdelicte.


Solche beſondere, ſchwerere Strafdrohungen ſind gerichtet:


  • α) gegen einen Beamten, der mit Perſonen, gegen welche er
    eine Unterſuchung zu führen hat oder welche ſeiner
    Obhut anvertraut
    ſind, unzüchtige Handlungen vor-
    nimmt; ſowie gegen einen Beamten, welcher in Gefängniſſen
    oder öffentlichen … Anſtalten beſchäftigt oder angeſtellt iſt,
    wenn er mit den in das Gefängniß oder in die Anſtalt
    aufgenommenen Perſonen unzüchtige Handlungen vornimmt.
    §. 174 Z. 2. und 3 1);
  • β) gegen einen Beamten, welcher einen Gefangenen, deſſen
    Beaufſichtigung, Begleitung oder Bewachung ihm anver-
    traut
    iſt, ſchuldbarer Weiſe entweichen läßt oder deſſen
    Befreiung bewirkt oder befördert. §. 347 verglichen mit
    §. 121.
  • γ) gegen einen Beamten, welcher eine ihm amtlich anver-
    traute
    oder zugängliche Urkunde vorſätzlich vernichtet, bei
    28*
    [436]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
    Seite ſchafft, beſchädigt oder verfälſcht. §. 348 Abſ. 2.
    349. vergl. mit §. 133.
  • δ) gegen einen Beamten, welcher Gelder oder andere Sachen,
    die er in amtlicher Eigenſchaft empfangen oder
    in Gewahrſam hat, unterſchägt. §. 350 vrgl. mit §. 246.
  • ε) gegen einen Poſtbeamten, welcher die der Poſt anver-
    trauten
    Briefe oder Packete in anderen, als den im
    Geſetze vorgeſehenen Fällen eröffnet oder unterdrückt ꝛc.
    §. 354 vrgl. mit §. 299.
  • ζ) gegen einen Telegraphenbeamten, welcher die einer Tele-
    graphen-Anſtaltanvertrauten
    Depeſchen verfälſcht
    oder rechtswidrig eröffnet, unterdrückt, mittheilt ꝛc. §. 355.
    vrgl. mit §. 299.
  • η) gegen einen Advokaten, welcher bei den ihm vermöge
    ſeiner amtlichen Eigenſchaft anvertrauten
    An-
    gelegenheiten in derſelben Rechtsſache beiden Parteien durch
    Rath oder Beiſtand pflichtwidrig dient. §. 356. vrgl. mit
    §. 266.

b) Einige andere ſtrafbare Handlungen, die auf Anwendung
phyſiſcher Gewalt beruhen, werden deshalb an einem Beamten
härter beſtraft, als an anderen Perſonen, weil die ihm anver-
traute Amtsgewalt ihm die Begehung der That erleichtert und
weil die auf den Widerſtand gegen Beamte, die ſich in recht-
mäßiger
Ausübung ihres Amtes befinden, geſetzte Strafe den
Widerſtand gegen Mißbrauch der Amtsgewalt erſchwert und
gefährlich macht. Der hiedurch gegebene Anreiz zur Verübung
der That ſoll durch die Verſchärfung der Strafandrohung wieder
ausgeglichen werden. Die hierher gehörenden Fälle ſind Körper-
verletzung, Freiheitsberaubung und Hausfriedensbruch. §. 340.
341. 342 verglichen mit §. 223 fg., §. 239 und §. 123.


c) Endlich wird für gewiſſe Handlungen, falls ſie von Be-
amten verübt werden, der Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung
öffentlicher Aemter oder gewiſſer Aemter als Nebenſtrafe angedroht,
nämlich für die Theilnahme an verbotenen Verbindungen §. 128.
Abſ. 2. §. 129 Abſ. 2., ferner gegen Eiſenbahn- und Telegra-
phen-Beamte, welche durch Vernachläſſigung der ihnen obliegenden
Pflichten den Transport auf einer Eiſenbahn in Gefahr ſetzen
oder die Benutzung der Telegraphen-Anſtalt verhindern oder ſtören
[437]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
§. 316 Abſ. 2. §. 318 Abſ. 2. §. 319., endlich in den im §. 358 auf-
geführten Fällen, ſoweit dieſelben zu den uneigentlichen Amsdelicten
gehören.


2. Die eigentlichen Amtsdelicte.


Die hierher gehörenden Verbrechen und Vergehen haben nicht
nur durch ihren ſubjektiven, ſondern auch durch ihren objektiven
Thatbeſtand eine ſtaatsrechtliche Bedeutung. Es ſind Principien
des Staatsrechts oder der Politik, welche in ihnen enthalten ſind
und welche eine rechtliche Anerkennung und rechtlichen Schutz da-
durch eben empfangen, daß Handlungen, die mit ihnen im Wider-
ſpruch ſtehen, mit Strafe bedroht ſind. Man kann aus den ein-
zelnen Vorſchriften des Strafgeſetzes durch Abſtraction dieſe Grund-
ſätze gewinnen, welche logiſch im Vergleich zu den ſtrafrechtlichen
Beſtimmungen das prius ſind, da die letzteren nur zu ihrem Schutze
gegeben ſind. Im Anſchluß an die von Binding gewählte Aus-
drucksweiſe kann man ſagen, die Normen, welche den Strafbe-
ſtimmungen über die eigentlichen Amtsdelicte zu Grunde liegen,
ſind ſtaats rechtlichen Inhaltes. Eine Aufſuchung und Formuli-
rung dieſer Normen iſt aber rechtlich nicht von erheblichem Werth.


Denn ſolche Normen ſind in ihrer Allgemeinheit keine
Rechtsſätze
, weder ſtaatsrechtliche noch ſtrafrechtliche 1). Nur
in ſoweit, als einzelne, beſtimmte Arten ihrer Verletzung zum That-
beſtand eines Delictes erklärt worden ſind, erlangen dieſe allge-
meineren Principien rechtliche Bedeutung; der ganze übrige
Inhalt hat nur den Charakter eines moraliſchen oder politiſchen
Princips, eines Geſetzgebungs-Motives. Solche Principien, welche
an ſich nicht zu Rechtsſätzen erklärt ſind, aber ſpeziellen Rechts-
Vorſchriften zur gemeinſamen Grundlage dienen, ſind folgende:


1) Kein Beamter ſoll aus dem ihm anvertrauten Amt rechts-
widrigen Gewinn ziehen.


Darum iſt mit Strafe bedroht die Annahme von Geſchenken
für amtliche Handlungen (§. 331), die Paſſiv-Beſtechung (§. 332.
334), die Erhebung übermäßiger Gebühren oder Abgaben oder
die Rückbehaltung ungerechtfertigter Abzüge (§. 352. 353).


2) Kein Beamter ſoll die ihm übertragene Amtsgewalt miß-
[438]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
brauchen. Unter der Amtsgewalt iſt hier aber nicht nur die Exe-
kutivgewalt verſtanden, ſondern auch die amtliche Funktion der
richterlichen Beamten, durch Urtheile formelles Recht zu ſchaffen,
und die amtliche Funktion Beamter, durch Notariats-Akte, Rechts-
verhältniſſe zu begründen oder zu bekunden oder rechtlich erhebliche
Thatſachen feſtzuſtellen.


Darum iſt mit Strafe bedroht die widerrechtliche Nöthigung
Jemandes zu einer Handlung, Duldung oder Unterlaſſung durch
Mißbrauch der Amtsgewalt oder durch Androhung eines beſtimmten
Mißbrauchs (§. 339); die Erpreſſung von Geſtändnißen in einer
Unterſuchung durch Anwendung von Zwangsmitteln (§. 343); die
widerrechtliche Eröffnung einer Unterſuchung (§. 344) oder die
widerrechtliche Vollſtreckung von Strafen, von denen der Beamte
weiß, daß ſie überhaupt nicht oder nicht der Art oder dem Maaße
nach vollſtreckt werden dürfen (§. 345); ebenſo ein Beginnen,
welches darauf abzielt, Jemanden rechtswidrig der geſetzlichen Strafe
zu entziehen oder eine erkannte Strafe nicht dem Geſetz gemäß
zum Vollzuge zu bringen (§. 346). Ferner aber die vorſätzliche
Beugung des Rechts zu Gunſten oder zum Nachtheil einer Partei
Seitens eines Beamten oder Schiedsrichters bei der Leitung oder
Entſcheidung einer Rechtsſache (§. 336) und die vorſätzliche falſche
Beurkundung einer rechtlich erheblichen Thatſache, wenn die Be-
urkundung Seitens eines Beamten, welcher zur Aufnahme öffent-
licher Urkunden befugt iſt, innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit erfolgt.
§. 348. Hierher kann man auch die Fälle der §§. 337. 338. 351
ſtellen.


3) Kein Beamter ſoll die Gehorſamspflicht der ihm unterge-
benen Beamten mißbrauchen.


Deshalb iſt mit Strafe bedroht ein Amtsvorgeſetzter, welcher
dieſen Grundſatz poſitiv dadurch verletzt, daß er ſeine Untergebenen
zu einer ſtrafbaren Handlung im Amte vorſätzlich verleitet oder
zu verleiten unternimmt; ebenſo ein Beamter, der ihn negativ
d. h. durch Unterlaſſungen verletzt, indem er eine ſolche ſtrafbare
Handlung ſeiner Untergebenen wiſſentlich geſchehen läßt oder durch
Nichtausübung der ihm übertragenen Aufſicht oder Kontrole ermög-
licht. §. 357 1).


[439]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
II.Die privatrechtlichen Folgen.

Ein Beamter kann durch Pflichtverletzungen eine Verbind-
lichkeit zum Schadens-Erſatz auf ſich laden; aber nicht jede Pflicht-
verletzung hat dieſe Folge. Vor allem muß die Pflichtverletzung
des Beamten eine Vermögens-Beſchädigung eines Anderen herbei-
geführt haben, weil es ſonſt an der weſentlichen Vorausſetzung
der Schadens-Erſatzpflicht mangelt 1); überdies aber begründet
nicht jedes pflichtwidrige Verhalten eines Beamten, durch welches
eine Vermögensbeſchädigung entſtanden iſt, in allen Fällen eine
Erſatz-Verbindlichkeit, ſondern nur diejenigen welche den im Civil-
recht aufgeſtellten Vorausſetzungen der Schadens-Erſatzpflicht ent-
ſpricht.


Bei der rechtlichen Beurtheilung dieſer Frage, ſind nun zwei
Fälle oder Rechtsbeziehungen zu unterſcheiden; der Beamte kann
durch ſein Verſchulden in Führung der amtlichen Geſchäfte den
Fiskus ſelbſt beſchädigen oder einen Dritten. Mit Dritten
ſteht der Beamte als ſolcher in keinerlei Rechtsverhältniß; es kann
demnach keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn er durch ein Ver-
ſehen einen Dritten beſchädigt, nur die Grundſätze von der außer-
kontractlichen
Entſchädigungspflicht zur Anwendung kommen
können. Zu dem Staate, der ihn angeſtellt, ſteht der Beamte da-
gegen in einem Dienſtverhältniß; die ſorgfältige Führung der
Amtsgeſchäfte gehört zu den, durch den Anſtellungsvertrag über-
nommenen Pflichten; ein Verſehen in der Amtsführung könnte
daher, ſoweit es die Vermögens-Verwaltung des Staates angeht,
als contractliche culpa, nach Analogie der vom Mandat oder der
Dienſtmiethe geltenden Regeln aufgefaßt werden. Indeß hier
zeigt ſich die praktiſche Conſequenz des oben näher ausgeführten
Grundſatzes, daß die Anſtellung eines Beamten kein privatrecht-
licher Contract und das dadurch begründete Verhältniß kein obli-
gatoriſches iſt. Auch darf man nicht zu der Hypotheſe ſeine Zu-
flucht nehmen, daß neben der ſtaatsrechtlichen Anſtellung durch
die Zuweiſung eines mit Vermögensverwaltung verbundenen Amtes
ein Mandat oder Quaſi-Mandat ertheilt werde und daß demge-
gemäß der Beamte theils in einem öffentlichrechtlichen theils in
einem kontractlichen Verhältniß zum Staate ſtehe. Die Uebertra-
[440]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
gung einer Vermögensverwaltung oder gewiſſer, auf das Staats-
Vermögen Einfluß habender Geſchäfte iſt kein Nebenvertrag,
ſondern die unmittelbare Rechtsfolge der Anſtellung behufs Ueber-
nahme eines gewiſſen Amtes 1).


Nur iſt allerdings zuzugeben, daß ein Mandatsverhältniß im
einzelnen Falle durch beſondere Willenserklärung zwiſchen dem
Staat und einem Beamten begründet werden kann; daß z. B.
ein Beamter, der den Auftrag übernommen hat, für den Staat
ein Grundſtück oder ein Kriegsſchiff oder Materialien anzuſchaffen,
oder den Bau von Gebäuden, Brücken, Wegen u. dgl. zu leiten,
oder mit einer anderen Verwaltung eine Abrechnung vorzunehmen,
unter Umſtänden zum Fiskus in dem Rechtsverhältniß eines Man-
datars ſtehen kann. Daraus allein aber, daß zu einem amtlichen
Geſchäftskreiſe auch Geſchäfte von vermögensrechtlicher Bedeutung
gehören, ergiebt ſich noch kein privatrechtliches Verhältniß zwiſchen
dem Staat und dem Beamten.


Hieraus folgt, daß auch dem Fiskus gegenüber die Pflicht des
Beamten zum Schadenserſatz für Verſehen in der Amtsführung
im privatrechtlichen Sinne eine außerkontractliche
iſt und mithin unter denſelben Grundſätzen ſteht, wie die Schadens-
erſatzpflicht gegen Dritte. Dies wird auch anerkannt im Preuß.
Allg. Ldr. II. 10 §. 90, woſelbſt die Haftung des Beamten gegen
den Staat und die Haftung deſſelben „gegen einzelne Privatper-
ſonen“ ganz gleichgeſtellt werden.


Eine Ausnahme von den allgemeinen Regeln macht nur die Haf-
tung der Beamten für ſogenannte Defekte, für welche in dem Reichs-
beamten-Geſetz Spezialbeſtimmungen erlaſſen ſind. Es iſt demnach zu
unterſcheiden zwiſchen der Schadenserſatzpflicht für Verſchuldung im
Allgemeinen und der Haftung für Defecte insbeſondere.


1. Schadenserſatz-Pflicht der Beamten im All-
gemeinen
.


Das Reichsbeamtengeſetz hat darüber nur zwei Beſtimmungen,
nämlich im §. 13 den allgemeinen Grundſatz, daßjeder Beamte
für die Geſetzmäßigkeit ſeiner amtlichen Handlun-

[441]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
gen verantwortlich iſt, und im §. 154 Vorſchriften über die
Zuſtändigkeit der Gerichte und über das Verfahren in Rechtsſtrei-
tigkeiten über Vermögensanſprüche gegen Reichsbeamte.


a) Der im §. 13 ausgeſprochene Satz ſchneidet dem Beamten
bei Anſprüchen, welche gegen ihn wegen geſetzwidriger Hand-
lungen und Unterlaſſungen erhoben werden, den Einwand ab,
daß er die Handlung oder Unterlaſſung auf Befehl des dienſtlichen
Vorgeſetzten begangen habe. Die Tragweite dieſes Satzes iſt bereits
oben S. 424 fg. erörtert worden. So weit die Gehorſamspflicht des
untergebenen Beamten reicht, iſt er auch vor der civilrechtlichen
Verantwortlicheit für die ihm befohlenen Handlungen gedeckt; ſo-
weit er nicht zum Gehorſam verpflichtet iſt, handelt er auf eigene
Verantwortlichkeit. Der Reichs-Beamte, welcher auf Grund eines
ihm ertheilten, dienſtlichen Befehls eine amtliche Handlung vor-
nimmt oder unterläßt, haftet demnach, wie oben ausgeführt wor-
den iſt, für die formelle Geſetzmäßigkeit ſeines Verhaltens.
Der dienſtliche Befehl befreit ihn von dieſer Haftung nicht.


Der §. 13 erkennt außerdem aber poſitiv an, ganz abgeſehen
davon, ob der Beamte auf Grund eines Befehls oder aus eigener
Initiative gehandelt hat, daß eine Ungeſetzmäßigkeit eines
Beamten ſtets von ihm vertreten werden muß, gleichviel ob der
Beamte mit dem Bewußtſein der Ungeſetzmäßigkeit (dolo) gehan-
delt hat oder ſich darüber im Irrthum befand. Ein Irrthum
über die Ungeſetzmäßigkeit ſeines amtlichen Verhaltens iſt ſtets
ein unentſchuldbarer und gilt als ein von ihm zu vertretendes
Verſehen.


Dies findet ſeine volle Beſtätigung durch die Faſſung des
§. 154, welcher die Erhebung von Vermögens-Anſprüchen gegen
Reichsbeamte „wegen Ueberſchreitung ihrer amtlichen Befugniſſe
oder pflichtwidriger Unterlaſſung von Amtshandlungen“ als zu-
läſſig vorausſetzt.


b) Die Pflichtwidrigkeit des Beamten braucht aber nicht noth-
wendig eine Geſetzwidrigkeit zu ſein; ſie kann auch in einer Ver-
letzung der ihm obliegenden Sorgfalt beſtehen, insbeſondere in
einem techniſchen Fehler1). In wie weit der Beamte für
[442]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
ſolche Verſehen haftet, hat das Reichsgeſetz nicht beſtimmt. Es
entſcheiden daher die Grundſätze der Partikularrechte, welche für
die Beurtheilung der Schadenserſatzpflicht zur Anwendung kom-
men 1). Ueberall haftet der Beamte für dolus und culpa lata;
in wie weit er auch für mäßiges und geringes Verſehen einſteht,
iſt in den einzelnen Partikularrechten ſehr verſchieden beſtimmt 2).
Hat der Beamte auf Befehl ſeines Vorgeſetzten oder in genauer
Befolgung der ihm ertheilten Inſtruktion gehandelt, ſo trifft die
Verantwortlichkeit nicht ihn, ſondern denjenigen Beamten, welcher
den Befehl oder die Inſtruktion ertheilt hat; denn der Beamte
muß dieſem Befehle, wofern er kein geſetzwidriger iſt, gehorchen;
er iſt daher in dieſem Falle niemals in culpa.


c) Ebenſo wenig hat das Reichsgeſetz Beſtimmungen darüber
getroffen, ob der Beamte nur den poſitiven Schaden (damnum
emergens
) oder das volle Intereſſe zu erſetzen hat; ob er nur für
die unmittelbaren oder auch für die mittelbaren Folgen ſeiner
Handlung oder Unterlaſſung einſtehen muß; ob und in wie weit
er durch ein concurrirendes Verſehen des Beſchädigten befreit
wird; wann die Klage auf Schadenserſatz verjährt; ob der Beamte
nur ſubſidiär oder direct haftet; ob Mitglieder collegialiſcher Be-
hörden ſolidariſch oder pra rata haften u. ſ. w. In allen dieſen
Beziehungen kommen daher ebenfalls die Grundſätze des Civil-
rechts zur Anwendung 3); ſo daß die Haftbarkeit der Reichsbeam-
ten in den verſchiedenen Rechtsgebieten ſehr ungleich iſt.


d) Das Reichsgeſetz beſtimmt im §. 154, daß bei vermögens-
[443]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
rechtlichen Anſprüchen gegen Reichs-Beamte, ſowohl dasjenige Ge-
richt zuſtändig iſt, in deſſen Bezirk der Beamte zur Zeit der Ver-
letzung ſeiner Amtspflicht ſeinen Wohnſitz hatte, als dasjenige, in
deſſen Bezirk derſelbe zur Zeit der Erhebung der Klage ſeinen
Wohnſitz hat. Es normirt ferner die Zuläſſigkeit der Rechtsmittel;
eine Beſtimmung, welche nur bis zur Einführung der Reichs-Civil-
prozeß-Ordnung Bedeutung hat. Endlich erklärt es in letzter In-
ſtanz das Reichs-Oberhandels-Gericht für zuſtändig.


Alle dieſe Beſtimmungen des §. 154 ſind aber nur gegeben
für Rechtsſtreitigkeiten über Vermögens-Anſprüche gegen Reichs-
beamte
„wegen Ueberſchreitung ihrer amtlichen Befugniſſe oder
pflichtwidriger Unterlaſſung von Amtshandlungen.“


Nach dieſem Wortlaut treten demnach die Regeln des §. 154
und namentlich die Zuſtändigkeit des Oberhandelsgerichts nur ein,
wenn die Klage geſtützt iſt entweder auf eine geſetzwidrige
Handlung
(Kompetenz-Ueberſchreitung) oder auf eine pflicht-
widrige Unterlaſſung
; dagegen wird der Fall nicht mit
eingeſchloſſen, wenn der Beamte innerhalb ſeiner amtlichen Be-
fugniſſe, alſo ohne Verletzung des Geſetzes aber mit Verletzung der
erforderlichen Sorgfalt gehandelt hat 1).


2. Erſatz-Pflicht für Defekte.


Für dieſen ſpeziellen Theil der Lehre von der Erſatzpflicht iſt
durch die §§. 134 bis 148 des Reichsbeamten-Geſetzes, im engſten
Anſchluß an die Preuß. Verordnung vom 24. Januar 1844 (Geſ.-
Samml. S. 52), hinſichtlich der Reichsbeamten gemeines Recht ge-
ſchaffen und insbeſondere ein eigenthümliches Verfahren zur Feſt-
ſtellung und Beitreibung des Erſatzes für Defekte eingeführt worden.


a) Der Begriff der Defekte iſt geſetzlich nicht definirt; aber
in der Praxis des Verwaltungsrechts feſtgeſtellt. Man verſteht
[444]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
darunter den Fall, daß der thatſächliche Beſtand einer Kaſſe oder
eines Magazins geringer iſt als der rechnungsmäßige Sollbeſtand.
Der Begriff des Defektes iſt daher weiter als der der Unterſchla-
gung; er umfaßt auch das Manco, welches durch Sorgloſigkeit
des Beamten, welchem die Obhut über die Kaſſe oder das Ma-
gazin obliegt, entſtanden iſt. Andererſeits fällt aber nicht darunter
der Fall, wenn der Beamte aus der Kaſſe oder dem Magazin
Ausgaben gemacht hat, welche nicht hätten gemacht werden ſollen,
oder wenn er ſie an einen nicht gehörig legitimirten Empfänger
gemacht hat u. dergl., wofern nur die Zahlung oder Verausga-
bung rechnungsmäßig erfolgt und mit Belägen nachgewieſen iſt 1).
Keinen Unterſchied macht es, ob der Defekt Reichsvermögen be-
trifft oder Privatvermögen, welches von einer Reichsbehörde ver-
waltet wird 2), oder welches vermöge beſonderer amtlicher Anord-
nung in den Gewahrſam eines Reichsbeamten gekommen iſt 3).


b) Die Feſtſtellung der Defekte iſt zunächſt von derjenigen
Behörde zu bewirken, zu deren Geſchäftskreiſe die unmittelbare
Aufſicht über die Kaſſe oder das Magazin gehört. Dieſe Feſt-
ſtellung erſtreckt ſich zugleich darauf, ob ein Reichsbeamter und
event. welcher Beamte für den Defekt zu haften hat und wie hoch
bei einem Defekt an Materialien die zu erſtattende Summe in
Gelde zu berechnen iſt 4).


Die Behörde hat einen motivirten Beſchluß über den Betrag
des Defektes, den zum Erſatz verpflichteten Beamten und den
Grund ſeiner Verpflichtung abzufaſſen. Sind alle dieſe Punkte
hinſichtlich eines Theiles des Defektes klar, während hinſichtlich
eines anderen Theiles noch weitere Ermittelungen erforderlich ſind,
ſo kann der Beſchluß zunächſt über den Theil abgefaßt werden
unter Vorbehalt weiterer Beſchlüſſe. Der Beſchluß iſt vollſtreckbar,
falls die Behörde die Eigenſchaft einer höheren Reichsbehörde hat;
in allen anderen Fällen bedarf der Beſchluß der Prüfung und
Genehmigung der vorgeſetzten höheren Reichsbehörde. Von dem
[445]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Beſchluſſe iſt der oberſten Reichsbehörde unverzüglich Kenntniß
zu geben und es bleibt derſelben in allen Fällen unbenommen,
einzuſchreiten und den Beſchluß ſelbſt abzufaſſen oder zu berich-
tigen 1).


c) Der Beſchluß kann auf die unmittelbare Verpflichtung
zum Erſatz des Defekts gerichtet werden gegen jeden Beamten,
welcher der Unterſchlagung als Thäter oder Theilnehmer
nach der Ueberzeugung der Reichsbehörde überführt iſt; ferner,
ſofern der Defekt nach der Ueberzeugung der Reichsbehörde durch
grobes Verſehen entſtanden iſt, gegen diejenigen Beamten,
welchen die Kaſſe u. ſ. w. zur Verwaltung übergeben war, auf
Höhe des ganzen Defektes, und gegen jeden anderen Beamten,
der an der Einnahme oder Ausgabe, der Erhebung, der Abliefe-
rung oder dem Transport von Kaſſengeldern oder anderen Gegen-
ſtänden vermöge ſeiner dienſtlichen Stellung theilzunehmen hatte,
auf Höhe des in ſeinen Gewahrſam gekommenen Betrages 2).


Trifft aber den Beamten ein nur mäßiges oder geringes
Verſehen, ſo iſt er zwar von der Pflicht zum Erſatz nicht frei,
falls er nach den civilrechtlichen Beſtimmungen dafür haftet; aber
es muß der Weg des gewöhnlichen Prozeſſes beſchritten werden.
Ebenſo iſt das Defekten-Verfahren unzuläſſig gegen die Erben
des Beamten oder gegen Dritte, welche in Folge des Defektes
bereichert ſind. Dagegen macht es keinen Unterſchied, ob der
Beamte noch im aktiven Dienſte oder bereits penſionirt iſt.


d) Der von der zuſtändigen Behörde abgefaßte Beſchluß iſt
vollſtreckbar. In dem Beſchluſſe iſt zugleich zu beſtimmen,
welche Vollſtreckungs- oder Sicherheitsmaaßregeln behufs des Er-
ſatzes des Defekts zu ergreifen ſind. Entſcheidend dafür ſind die
Geſetze des Bundesſtaates, in welchem dieſe Maaßregeln erfolgen 3).
Verbleibt der zum Erſatz verpflichtete Beamte in der Verwaltung
des Amtes, ſo iſt die Kaution deſſelben zunächſt nicht in Angriff
zu nehmen, ſondern er hat anderweite Sicherheit zu leiſten, wi-
drigenfalls die Exekution in ſein übriges Vermögen vollſtreckt
wird 4).


[446]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.

Die Verwaltungsbehörde erſucht die zuſtändigen Gerichte,
Vollſtreckungsbeamten oder Hypothekenbehörden um Vollſtreckung.
Dieſelben haben der Requiſition ſchleunig, ohne vorgängiges Zah-
lungsmandat zu genügen, falls kein Anſtand obwaltet; auf eine
Beurtheilung der Rechtmäßigkeit des Beſchluſſes einzugehen, ſind
ſie nicht befugt 1). Iſt der Reichsbeamte im Konkurſe oder neh-
men andere Gläubiger Vermögensobjekte deſſelben in Anſpruch,
aus denen das Reich Erſatz des Defektes zu erlangen ſucht, ſo
hat das Reich daſſelbe Vorzugsrecht, welches nach dem an dem
dienſtlichen Wohnort des Beamten geltenden Rechte dem Staate
am Vermögen der Staatsbeamten zuſteht 2).


e) Dem Beamten, welcher durch Beſchluß zur Erſtattung des
Defectes für verpflichtet erklärt wird, ſteht ſowohl hinſichtlich des
Betrages als hinſichtlich der Erſatzverbindlichkeit außer der Be-
ſchwerde im Inſtanzenzug der Rechtsweg zu.


Für die Anſtellung der Klage beſteht eine Präcluſivfriſt von
einem Jahre, die mit dem Tage beginnt, an welchem der Beſchluß
dem Beamten bekannt gemacht iſt, oder falls der Beamte an ſeinem
Wohnorte nicht zu treffen iſt, an welchem der Beſchluß abgefaßt
iſt. Ueber die Wahrheit der thatſächlichen Behauptungen der
Parteien hat das Gericht nach ſeiner freien aus dem Inbegriff
der Verhandlungen und Beweiſe geſchöpften Ueberzeugung zu ent-
ſcheiden; jedoch bleiben die Vorſchriften der Landesgeſetze über
den Beweis durch Eid, ſowie über die Beweiskraft öffentlicher
Urkunden unberührt 3). Auf Antrag des Beamten hat das Ge-
richt darüber Beſchluß zu faſſen, ob die Zwangsvollſtreckung fort-
zuſetzen oder einſtweilen einzuſtellen ſei. Die Einſtellung erfolgt,
wenn die Fortſetzung der Zwangsvollſtreckung für den Beamten
einen ſchwer erſetzlichen Nachtheil zur Folge haben würde; jedoch
ſind in dieſem Falle auf Antrag der Reichsbehörde vom Gericht
die erforderlichen Sicherheitsmaaßregeln herbeizuführen 4).


Der Reichsfiskus wird in dem Rechtsſtreit vertreten durch
[447]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
die höhere Reichsbehörde, welche den Defektbeſchluß abgefaßt oder
für vollſtreckbar erklärt hat; eventuell durch die oberſte Reichsbe-
hörde. Ohne Rückſicht auf die Beſchwerdeſumme kann der Rechts-
ſtreit bis in die dritte Inſtanz verfolgt werden; dieſelbe wird
vom Reichs-Oberhandelsgericht gebildet 1).


f) Wenn eine nahe und dringende Gefahr vorhanden iſt, daß
ein Beamter, gegen welchen die Zwangsvollſtreckung zuläſſig iſt,
ſich auf flüchtigen Fuß ſetzen oder ſein Vermögen der Verwendung
zum Erſatz des Defekts entziehen werde, ſo kann die unmittelbar
vorgeſetzte Behörde, auch wenn ſie nicht die Eigenſchaft einer hö-
heren Reichsbehörde hat, oder der unmittelbar vorgeſetzte Beamte
das abzugsfähige Gehalt und nöthigenfalls das übrige bewegliche
Vermögen des Beamten vorläufig in Beſchlag nehmen. Der vor-
geſetzten höheren Reichsbehörde iſt ungeſäumt Anzeige davon zu
machen und deren Genehmigung einzuholen 2).


Auf Antrag des von der Beſchlagnahme betroffenen Beamten
hat das Gericht, in deſſen Bezirk die Beſchlagnahme ſtattgefunden
hat, anzuordnen, daß binnen einer zu beſtimmenden Friſt der
ordnungsmäßige Defekt-Beſchluß beizubringen ſei. Wird dieſer
Anordnung nicht Folge geleiſtet, ſo iſt auf weiteren Antrag des
Beamten die Beſchlagnahme ſofort aufzuheben. Erfolgt der De-
fektbeſchluß rechtzeitig, ſo kann das Gericht des Beſchlagnahme-
Ortes den Arreſt nicht aufheben, ſondern es bleibt alsdann dem
Beamten überlaſſen, den Rechtsſtreit nach Vorſchrift des §. 144,
alſo bei dem ordentlichen Richter des Reichsfiskus, zu erheben 3).


g) Für das Defekten-Verfahren im Verwaltungswege werden
Gebühren und Stempel nicht berechnet 4).


h) Die Vorſchriften des Reichs-Beamten-Geſetzes über das
Defekten-Verfahren (§§. 134—148) finden auch auf Perſonen des
Soldatenſtandes Anwendung 5).


III.Die disciplinariſchen Folgen.

In der Disciplinar-Beſtrafung der Beamten wegen Verletzung
ihrer Dienſtpflicht kömmt die juriſtiſche Natur des Beamten-Ver-
[448]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
hältniſſes am reinſten zum Ausdruck. Wenn man von der oben
dargelegten Auffaſſung des Anſtellungs-Vertrages ausgeht, ſo er-
giebt ſich von ſelbſt der Rechtsgrund, der Inhalt und Umfang
und der Zweck der Disciplinargewalt. In der ſtaatsrechtlichen
und ſtrafrechtlichen Literatur und in zahlreichen von ihr beeinfluß-
ten Geſetzen wird die Disciplinar-Beſtrafung in Zuſammenhang
gebracht mit der öffentlichen Strafgewalt und es ergeben ſich als-
dann große Schwierigkeiten hinſichtlich der Beſtimmung des gegen-
ſeitigen Verhältniſſes derſelben.


Das Disciplinarrecht erſcheint nach der herrſchenden Auffaſ-
ſung als ein Spezial-Strafrecht für Beamte; Disciplinar-Ver-
gehen ſind eine Klaſſe von Amts-Vergehen; Disciplinar-Strafen
treten als Ergänzung zu dem Syſtem der öffentlichen Strafen
hinzu; das Disciplinar-Verfahren erſcheint als eine Abart des
Straf-Prozeſſes 1). Von dieſem Geſichtspunkte aus macht die alte
Regel ne bis in idem große Schwierigkeiten; denn man kann nur
in der gezwungenſten Weiſe es erklären, daß ein Beamter wegen
derſelben ſtrafbaren Handlung ſowohl kriminell als auch dis-
ciplinariſch verfolgt und beſtraft werden kann. Nicht minder ſchwie-
rig iſt es, ſich mit der Lehre von der Strafverjährung abzufinden
und die Thatſache zu erklären, daß die Verjährung der Strafverfol-
gung nicht nothwendig die Disciplinar-Beſtrafung ausſchließt. Völlig
unmöglich aber erſcheint es, zwiſchen den kriminellen Amtsvergehen
und den Disciplinar-Vergehen eine Gränzlinie aufzuſtellen; beide
[449]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
können die öffentliche Ordnung verletzen, beide können gegen die
Wohlfahrt und Sicherheit des Staates gerichtet ſein, beide können
mit Vorſatz oder aus Fahrläſſigkeit begangen werden; die Schwere
des Vergehens unterſcheidet ſie nicht, denn es giebt geringfügige
Amtsvergehen, welche mit öffentlicher Strafe bedroht ſind; für den
Thatbeſtand der Amtsvergehen und für den Thatbeſtand der Dienſt-
vergehen giebt es keinen logiſchen Gegenſatz, der beide Begriffe von
einander zu ſcheiden vermag. Die Verfolgung der ſtrafbaren Hand-
lungen iſt eine Pflicht des Staates, welcher ſich die dazu beſtellten Be-
hörden nicht entziehen dürfen; die Handhabung der Disciplin iſt in
das Ermeſſen der Behörden geſtellt; ſie können Nachſicht üben und
Pflichtverletzungen hingehen laſſen; Disciplinarvergehen können
demnach keine Unterart der Kriminalvergehen ſein.


Alle dieſe Schwierigkeiten ſind die Folgen des falſchen Aus-
gangspunktes, den man wählt. Trotzdem zwiſchen dem Kriminal-
recht und dem Disciplinarrecht äußerlich eine große Aehnlichkeit
beſteht, in dem beide durch das Mittel der Strafe verwirklicht
werden, darf man den Begriff des Disciplinarrechts nicht im Ge-
genſatz und in der Vergleichung zum Strafrecht, ſondern zum
Privatrecht ſuchen. Er fällt zuſammen mit dem Gegenſatz der
obligatoriſchen Vertragsverhältniſſe und der Gewaltsverhältniſſe.


In contractlichen Verhältniſſen hat jeder Theil gegen den
andern eine Klage auf Erfüllung oder auf Erſatz des Intereſſe
wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung. Jedes
doloſe oder culpoſe Verhalten eines Kontrahenten, durch welches
er die ordnungsmäßige oder vertragsmäßige Leiſtung vereitelt,
begründet für den andern Kontrahenten eine Klage auf das
Intereſſe.


Bei den Dienſtverhältniſſen oder Gewaltverhältniſſen dagegen
tritt an die Stelle der Forderung der Befehl und an die Stelle
der Klage der Zwang. Die Disciplinargewalt iſt das Recht zur
Ausübung dieſes Zwanges. Es beſtand im Mittelalter gegen
Lehnsmannen und gegen Miniſterialen; es beſtand bis in die
neuere Zeit gegen Leibeigene und gegen Dienſtboten; es beſteht
noch jetzt in dem Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrherren, in
dem Recht des Schiffsführers gegen die Mannſchaft, im Heere
und in der Marine. Hierin liegt auch das Weſen der Discipli-
nargewalt des Staates gegen ſeine Beamte; es iſt das Mittel,
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 29
[450]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
um die Erfüllung der Dienſtpflicht zu erzwingen. Der Staat be-
darf hierzu keiner Klage vor den Gerichten, denn er ſteht ſeinen
Beamten nicht als gleichberechtigte Partei, ſondern als Dienſtherr
gegenüber. Die privatrechtliche Klage würde ihm auch nichts
nützen, denn der Schaden, der ihm durch Nichterfüllung oder nicht
ordnungsmäßige Erfüllung erwächſt, iſt nur ſelten in Geld zu
ſchätzen und durch Leiſtung des pekuniären Intereſſes auszugleichen.
Andererſeits iſt der Staat auf ſeine Disciplinargewalt beſchränkt;
er hat keine privatrechtliche Klage gegen ſeine Beamten auf Erfül-
lung der Dienſtpflicht; es giebt keine Exekution, durch welche die-
ſelben zur Leiſtung ihrer amtlichen Dienſte angehalten werden
können 1).


Alſo nicht ſtatt der Ahndung von Verbrechen und Vergehen
durch die Strafjuſtiz tritt die Disciplinarſtrafe ein, ſondern ſie
ſteht an Stelle der Kontraktsklage auf Leiſtung. Die Regel ne
bis in idem
wird nicht dadurch verletzt, daß die Disciplinargewalt
neben der öffentlichen Beſtrafung geltend gemacht wird, ſondern
ſie würde dadurch verletzt werden, wenn der Staat neben der
Handhabung des Disciplinarzwanges noch eine vermögensrechtliche
Contractsklage auf Erfüllung der Amtspflichten hätte. Die Straf-
mittel der Disciplin bewegen ſich in dem Rahmen der durch das
Dienſtverhältniß begründeten Gewalt und haben nichts gemein
mit dem Syſtem der öffentlichen Strafen; nur zufällig gehört die
[451]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Geldſtrafe beiden an. Die Verjährung der Strafverfolgung be-
rührt ſich nicht mit dem Disciplinarzwang zur Pflichterfüllung.
Ferner iſt der Thatbeſtand der ſogenannten Disciplinarvergehen
kein ſtrafrechtlicher; es giebt kein erſchöpfendes Syſtem und keine
ſpezifiſch verſchiedenen Arten der Disciplinarvergehen; man kann
keinen Katalog derſelben aufſtellen, wie ein Strafgeſetzbuch die
Verbrechen und Vergehen mit abſchließender Vollſtändigkeit aufzu-
zählen vermag, wenngleich man oft Verſuche gemacht hat, derglei-
chen aufzuſtellen, ſo wenig wie es ein Syſtem von privatrechtlichen
Vertrags-Verletzungen und geſetzlich zu normirende Thatbeſtände
der letzteren gibt. Jede ſchuldbare Nichterfüllung der Dienſtpflicht
iſt ein Disciplinar-Vergehen, oder beſſer geſagt, iſt geeignet, eine
Reaktion des Dienſtherrn vermittelſt ſeiner Disciplinargewalt her-
vorzurufen. Nur zufällig kann eine und dieſelbe That gleichzeitig
unter das Strafgeſetz fallen und eine Verletzung der Dienſtpflicht
enthalten. Endlich iſt die Ausübung des Disciplinarzwanges ein
Recht, keine juriſtiſche Pflicht des Staates, wie die Geltendmachung
einer Forderung ein Recht, aber keine Pflicht des Gläubigers
iſt 1).


Von dieſen Geſichtspunkten aus laſſen ſich die Vorſchriften
des Reichsbeamten-Geſetzes über die Disciplinar-Vergehen in einen
inneren wiſſenſchaftlichen Zuſammenhang bringen.


1) Der Begriff wird in §. 72 des Geſetzes dahin formu-
lirt: „Ein Reichsbeamter, welcher die ihm obliegenden Pflichten
(§. 10) verletzt, begeht ein Dienſtvergehen und hat die Disciplinar-
Beſtrafung verwirkt.“ Dieſe Definition iſt zwar nicht ſchön for-
mulirt, aber richtig. Dienſtvergehen iſt Verletzung der Dienſtpflicht.
Aus dem Umfang der Dienſtpflicht läßt ſich daher entnehmen,
welche Handlungen oder Unterlaſſungen den Thatbeſtand eines
Dienſtvergehens bilden können; entſprechend den 3 Pflichten, welche
aus dem Anſtellungsvertrage hervorgehen, kann man die Dienſt-
vergehen klaſſifiziren.


a)Verletzungen der Pflicht zur Amtsführung.
Hierhin gehört die ſchuldbare Weigerung, Geſchäfte zu erledigen;
29*
[452]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Unfleiß, Sorgloſigkeit, Saumſeligkeit u. dgl. in der Führung der
Amtsgeſchäfte; insbeſondere Verlaſſen des Amtes ohne Urlaub oder
Ueberſchreiten des Urlaubs ohne entſchuldigende Gründe.


b)Verletzungen der Pflicht zur Treue und zum
Gehorſam
. Hierunter fallen Widerſpänſtigkeit und Ungehorſam
gegen amtliche Befehle welche, innerhalb der Zuſtändigkeit der vorge-
ſetzten Behörde ertheilt ſind; Verletzung der Amtsverſchwiegenheit;
Veruntreuung von Geldern und Materialien. Ebenſo kann hierher
ein Verhalten des Beamten in ſeinem Amte fallen, welches darauf ab-
zielt, den von der Reichsregierung angeſtellten Erfolg gewiſſer Maaß-
regeln zu vereiteln und die Pläne und Abſichten der Regierung
durch bewußtes Entgegenwirken oder durch Läſſigkeit in der
Ausführung der Anordnungen zu durchkreuzen. Zweifellos kann
aber die Ausübung des Wahlrechtes oder die Thätigkeit als Land-
tags- oder Reichstags-Mitglied, bei welcher ſich der Beamte aus-
ſchließlich nach ſeiner ſubjektiven Ueberzeugung zu beſtimmen hat,
niemals als ſchuldbare Verletzung der Treue erachtet und discipli-
nariſch beſtraft werden.


c)Verletzungen der Pflicht eines achtungswürdi-
gen Verhaltens
. Hierhin gehört jedes Benehmen des Beam-
ten, ſowohl in ſeinem Amte als außerhalb deſſelben, welches der
Sitte und Ehre widerſpricht und geeignet iſt, ihn in der allge-
meinen Achtung herabzuſetzen, gleichviel ob die Handlung zugleich
unter die Strafgeſetze fällt oder nicht. Es kann eine Handlung
ſtrafbar ſein und dennoch kein Disciplinarvergehen, z. B. fahr-
läſſige Brandſtiftung durch Wegwerfen eines Zündhölzchens, fahr-
läſſige Körperverletzung oder Tödtung bei einer Jagd u. dgl.; es
kann andererſeits eine Handlung oder Unterlaſſung ein ſchweres
Dienſtvergehen ſein, ohne nach Strafrecht verfolgbar zu ſein, z. B.
Trunkenheit, leichtſinniges Schuldenmachen, Hazardſpiel u. dgl.,
wenn dadurch öffentliches Aergerniß gegeben und das allgemeine
Sittlichkeits-Gefühl verletzt wird.


d) Hierzu kommen noch Verletzungen der den Beamten aufer-
legten Beſchränkungen durch unbefugte Annahme von Remu-
nerationen, Orden, Nebenämtern, durch Betrieb eines Gewerbes
u. dgl.


2) Die Disciplinarſtrafen ſind keine öffentlichen Strafen;
ſie bewegen ſich in dem Rahmen des durch die Anſtellung begrün-
[453]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
deten Dienſtverhältniſſes. Sie beſtehen entweder in Ordnungs-
ſtrafen oder in Entfernung aus dem Amte. (§. 73) 1).


a) Die Ordnungsſtrafen (§. 74) ſind in aufſteigender
Reihenfolge Warnung, Verweis und Geldſtrafe. Warnung und
Verweis ſind zu unterſcheiden von Ermahnungen, Zurechtweiſungen
oder Rügen, welche der Vorgeſetzte gegen den untergebenen Be-
amten kraft der ihm zuſtehenden Geſchäftsleitung und Oberaufſicht
ausſpricht 2). Warnung und Verweis unterſcheiden ſich hiervon
dadurch, daß ſie dem Unterbeamten gegenüber eine von ihm be-
gangene Verletzung der Dienſtpflicht conſtatiren und ſich als Folge
dieſer Verletzung, als Reaktion dagegen, kundgeben; während bei
der kraft der Oberaufſicht ertheilten Ermahnung oder Rüge grade
die formelle Conſtatirung des Dienſtvergehens dem Unterbeamten
erlaſſen wird.


Für Geldſtrafen iſt ein Maximum geſetzt, welches bei beſolde-
ten Beamten in dem Betrage des einmonatlichen Dienſtein-
kommens
, bei unbeſoldeten Beamten im Betrage von 30 Thlr.
beſteht 3).


Geldſtrafe kann mit Verweis verbunden werden.


b) Die Entfernung aus dem Amte (§. 75) iſt entweder
Strafverſetzung oder Dienſtentlaſſung 4). Die Strafverſetzung
erfolgt durch Uebertragung eines anderen Amtes von gleichem
[454]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Range 1), aber mit Verminderung des Dienſt-Einkommens um
höchſtens ein Fünftel. Indeß kann der Beamte in ein Amt von
gleichem Dienſteinkommen verſetzt und ihm ſtatt der Verminderung
des Gehaltes eine Geldſtrafe auferlegt werden, welche ein Drittel
des Dienſteinkommens eines Jahres nicht überſteigt. Die Beſtim-
mung des Amtes, in welches der Beamte verſetzt werden ſoll,
liegt nicht der entſcheidenden Disciplinar-Behörde ob, ſondern die
oberſte Reichsbehörde hat die Strafverſetzung in Ausführung zu
bringen.


Die Dienſtentlaſſung hat den Verluſt des Titels und
Penſions-Anſpruchs zur Folge. Wenn das Amtsverhältniß vor
Beendigung des Disciplinar-Verfahrens bereits aufgehört hat, ſo
wird ſtatt auf Dienſtentlaſſung auf Verluſt von Titel und Pen-
ſions-Anſpruch erkannt, falls nicht der Beamte freiwillig darauf
verzichtet. Wenn beſondere Umſtände eine mildere Beurtheilung
zulaſſen, ſo kann die Disciplinar-Behörde in ihrer Entſcheidung
feſtſetzen, daß dem Angeſchuldigten ein Theil des geſetzlichen Pen-
ſions-Betrages auf Lebenszeit oder auf gewiſſe Jahre zu belaſſen
ſei. Dieſe Grundſätze können auch den einſtweilig in den Ruhe-
ſtand verſetzten Beamten gegenüber zur Anwendung kommen.
(§. 119.)


3) Aus der juriſtiſchen Natur der Disciplinar-Gewalt als
Folge des Dienſtverhältniſſes ergiebt ſich ferner, daß dieſelbe mit
der Löſung des Dienſtverhältniſſes ihr Ende findet und kein
weitergehendes Strafübel als die völlige Aufhebung des Dienſtver-
hältniſſes dem Beamten zugefügt werden kann. Demnach muß die
Einſtellung des Disciplinar-Verfahrens erfolgen, ſobald der Ange-
ſchuldigte ſeine Entlaſſung aus dem Reichsdienſte mit Verzicht auf
Titel, Gehalt und Penſionsanſpruch nachſucht, vorausgeſetzt, daß
er ſeine amtlichen Geſchäfte bereits erledigt und über eine ihm
etwa anvertraute Verwaltung von Reichsvermögen vollſtändige
Rechnung gelegt hat. Die Verhängung einer Ordnungsſtrafe iſt
in dieſem Falle ebenſowenig zuläſſig, wie die Entlaſſung aus dem
Dienſte durch Erkenntniß. Die Koſten des eingeſtellten Verfahrens
fallen dem Angeſchuldigten zur Laſt. (§. 75 und §. 100.)


4) Auch in Betreff der Strafausmeſſung kömmt in
[455]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Betracht, daß die Disciplinarſtrafe nicht die öffentliche Strafe er-
gänzen oder vertreten, ſondern die Erfüllung der Dienſtpflicht
ſichern und deren Verletzung ahnden ſoll. Deshalb iſt die Strafe
mit beſonderer Rückſicht auf die geſammte Führung des An-
geſchuldigten zu ermeſſen. (§. 76.) Denn ſowie ſich die Erfüllung
der Dienſtpflicht nicht aus einer Anzahl einzelner Handlungen
zuſammenſetzt, ſondern das geſammte Leben des Beamten umſchließt,
ſo iſt auch die Handlung, durch welche die Dienſtpflicht verletzt wird,
nicht als vereinzelte That, ſondern im Zuſammenhang mit dem
allgemeinen dienſtlichen Verhalten zu beurtheilen.


5) Ueber das Verhältniß des Disciplinar-Ver-
fahrens zu dem öffentlichen Strafverfahren
gelten
folgende Regeln. Begrifflich beſteht zwiſchen ihnen gar kein innerer
Zuſammenhang; beide ſind in ihren Vorausſetzungen, Zwecken
und Wirkungen von einander ganz unabhängig und es iſt daher
ebenſowohl möglich, daß das eine Verfahren eintritt ohne das
andere nach ſich zu ziehen, als daß beide mit einander cumulirt
werden 1). Aus Zweckmäßigkeits-Rückſichten iſt es aber ausge-
ſchloſſen, daß beide Verfahren gleichzeitig neben einander ſtatt-
finden. Es liegt ſowohl in dem Intereſſe des Beamten als in
dem der Strafjuſtiz, daß nicht dieſelbe Handlung zum Gegenſtand
einer doppelten Unterſuchung gemacht wird; abgeſehen davon, daß
die ſtrafrichterliche Entſcheidung jedes Disciplinar-Verfahren über-
flüſſig machen kann. Es iſt demnach im §. 77 des R.-G. ange-
ordnet worden, daß im Laufe einer gerichtlichen Unterſuchung ge-
gen den Angeſchuldigten ein Disciplinarverfahren wegen der
nämlichen Thatſachen nicht eingeleitet werden darf, und daß das
Disciplinarverfahren, wenn im Laufe deſſelben wegen der nämlichen
Thatſachen eine gerichtliche Unterſuchung gegen den Angeſchuldigten
[456]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
eröffnet wird, bis zur Beendigung des gerichtlichen Verfahrens
ausgeſetzt werden muß 1).


Führt das Strafverfahren zu einer Verurtheilung des Ange-
ſchuldigten, ſo bleibt in denjenigen Fällen für ein nachfolgendes
Disciplinar-Verfahren kein Raum, in welchen die Verurtheilung
den Verluſt des Amtes nach ſich zieht (Strafgeſetzb. §. 33. 35.)
oder direkt den Verluſt des Amtes ausſpricht. Hat die Verur-
theilung dagegen den Verluſt des Amtes nicht zur Folge gehabt,
ſo bleibt es dem freien Ermeſſen der zuſtändigen Behörde über-
laſſen, ob außerdem noch das Disciplinarverfahren einzuleiten oder
fortzuſetzen ſei (§. 78 Abſ. 2). Es beſteht durchaus kein Hinder-
niß, daß der Beamte nicht neben der kriminellen Beſtrafung noch
disciplinariſch wegen derſelben Handlung oder Unterlaſſung be-
ſtraft wird.


Führt das Strafverfahren zu einer Freiſprechung, ſo beſteht
ebenfalls kein Hinderniß, ein Disciplinarverfahren einzuleiten. Nur
würde es dem oben angeführten Weſen deſſelben völlig wider-
ſprechen, wenn es dazu verwendet werden ſollte, um eine kriminelle
Strafe nachzuholen oder zu erſetzen, welche der Strafrichter zu ver-
hängen abgelehnt hat. Niemals kann daher das Disciplinarver-
fahren eine nochmalige Feſtſtellung und Prüfung der Frage be-
zwecken, ob die Handlung des Beamten dem geſetzlichen Thatbe-
ſtande eines Verbrechens oder Vergehens entſpricht und deshalb
ſtrafbar ſei. Das Disciplinar-Verfahren kann vielmehr nur da-
rauf gerichtet ſein, ob die Handlungsweiſe des Beamten — gleich-
viel, wie ſie dem Strafrecht gegenüber zu beurtheilen iſt — eine
Verletzung ſeiner Dienſtpflicht ſei (§. 78 Abſ. 1). Trotz Frei-
ſprechung vor dem Strafrichter kann der Beamte wegen derſelben
Handlung mit der ſchwerſten Disciplinar-Strafe, der Dienſtent-
laſſung, belegt werden 2).


6) Das Verhältniß der Disciplinar-Beſtrafung
zu der privatrechtlichen Erſatzpflicht
ergiebt ſich aus den
oben entwickelten Grundſätzen. Die Disciplinargewalt ſchließt jede
[457]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
Klage des Staates gegen den Beamten auf Leiſtung der Dienſt-
pflichten oder auf Leiſtung des Intereſſe wegen Nichterfüllung oder
nicht ordentlicher Erfüllung der Dienſtpflichten aus. Dagegen
bleibt von ihr unberührt die Pflicht des Beamten zum Schadens-
erſatz wegen pflichtwidriger Handlungen oder Unterlaſſungen. Dieſe
Schadens-Erſatzpflicht iſt, wie oben S. 439 fg. dargethan, auch dem
Fiskus gegenüber eine außerkontraktliche und hat Nichts zu
thun mit den aus dem Anſtellungs-Vertrage hervorgehenden Pflich-
ten. Durch das Disciplinar-Verfahren wird daher weder die Klage
auf Schadens-Erſatz vor den Civilgerichten noch das Defektenver-
fahren berührt; die Erſatzpflicht wird durch die Disciplinarſtrafe
nicht ausgeſchloſſen, ſie kann aber auch nicht von der Disciplinar-
behörde rechtskräftig feſtgeſtellt werden. (RG. §. 79.)


7) Die Kompetenz zur Verhängung von Disciplinar-
ſtrafen iſt nach der Größe der Strafe verſchieden beſtimmt.


a)Warnungen und Verweiſe kann jeder Dienſt-
vorgeſetzte den ihm untergeordneten Reichsbeamten ertheilen (§. 80).


b)Geldſtrafen können verhängt werden von der ober-
ſten Reichsbehörde gegen alle Reichsbeamten bis zum höchſten zu-
läſſigen Betrage; von den derſelben unmittelbar untergeordneten
Behörden und Vorſtehern von Behörden bis zum Betrage von
10 Thlr.; von den den letzteren untergeordneten Behörden und
Vorſtehern von Behörden bis zum Betrage von 3 Thlr. (§. 81.)


c)Entfernung aus dem Amte kann nur durch ein
Erkenntniß der entſcheidenden Disciplinarbehörden, Disciplinar-
kammern und Disciplinarhof, ausgeſprochen werden. (§. 84.)


8) Das Verfahren1) iſt ebenfalls verſchieden, je nach-
dem nur eine Ordnungsſtrafe verhängt oder die Entfernung aus
dem Amte betrieben wird.


a) Für Ordnungsſtrafen gelten die Formen
der Verwaltungsgeſchäfte
, d. h. ſie werden durch Ver-
fügung
verhängt. Die Verfügung iſt mit Gründen verſehen
entweder ſchriftlich auszufertigen, oder zu Protokoll zu erklären.
Vor der Verhängung einer Ordnungsſtrafe iſt dem Beamten Ge-
legenheit zu geben, ſich über die ihm zur Laſt gelegte Verletzung
[458]§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
ſeiner amtlichen Pflichten zu verantworten 1). Gegen die Ver-
hangung von Ordnungsſtrafen findet nur Beſchwerde im Inſtanzen-
zuge ſtatt. (§. 82. 83.)


b) Die Entfernung aus dem Amte ſetzt ein contra-
diktoriſches, nach den Formen des accuſatoriſchen Strafprozeſſes
normirtes Verfahren voraus, welches aus einer ſchriftlichen Vor-
unterſuchung und einer mündlichen Verhandlung beſteht. Die
oberſte Reichsbehörde verfügt die Einleitung, ernennt den unter-
ſuchungsführenden Beamten und diejenigen Beamten, welche die
Verrichtungen der Staatsanwaltſchaft wahrzunehmen haben. (§. 84.
85) 2). Nach Beendigung der Vorunterſuchung werden die Akten
an die oberſte Reichsbehörde eingeſandt, nachdem dem Angeſchul-
digten der Inhalt der erhobenen Beweismittel mitgetheilt worden
iſt. Die oberſte Reichsbehörde kann mit Rückſicht auf den Aus-
fall der Vorunterſuchung das Verfahren einſtellen und geeigneten
Falles eine Ordnungsſtrafe verhängen oder die Verweiſung der
Sache vor die Disciplinarkammer beſchließen. Im letzteren Falle
iſt von dem Beamten der Staats-Anwaltſchaft eine Anſchuldigungs-
ſchrift anzufertigen, welche dem Angeſchuldigten abſchriftlich mit-
zutheilen iſt. Der Angeſchuldigte kann ſich des Beiſtandes eines
Advokaten oder Rechtsanwalts bedienen. Ueber die mündliche Ver-
handlung gelten die gewöhnlichen Vorſchriften des Strafprozeſſes.
Sie iſt öffentlich; aus beſondern Gründen kann durch Be-
ſchluß der Disciplinarkammer die Oeffentlichkeit ausgeſchloſſen oder
auf beſtimmte Perſonen beſchränkt werden. Sowohl der Staats-
anwaltſchaft als dem Angeſchuldigten ſteht gegen das Erkenntniß
der Disciplinarkammer die Berufung an den Disciplinarhof offen,
welche binnen einer vierwöchentlichen Friſt anzumelden iſt. (§. §. 94
bis 117.)


9) Der Kaiſer hat das Recht, die von den Disciplinarbe-
[459]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
hörden verhängten Strafen zu erlaſſen oder zu mildern. (§. 118.)
Durch dieſen Satz wird das Begnadigungsrecht des Kaiſers nicht
nur auch in Beziehung auf die mittelbaren Reichsbeamten aner-
kannt, ſondern zugleich das Begnadigungsrecht der betreffenden
Landesherren, welche die mittelbaren Reichsbeamten angeſtellt haben,
ausgeſchloſſen 1).


10) Für das Disciplinar-Verfahren werden weder Gebühren
noch Stempel, ſondern nur baare Auslagen in Anſatz gebracht.
Die durch das förmliche Disciplinar-Verfahren entſtehenden baaren
Auslagen 2) (Zeugengebühren u. dgl.) hat der Angeſchuldigte, wenn
er verurtheilt wird, ganz oder theilweiſe zu erſtatten. Ueber die
Erſtattungspflicht entſcheidet das Disciplinar-Erkenntniß (§. 124).
Zur Dekung der Koſten kann derjenige Theil des Gehalts oder
Wartegeldes verwendet werden, welcher nach Vorſchrift der §.§.
128. 132 innebehalten wird.


11) Ueber die Specialvorſchriften, welche hinſichtlich der
Marine- und Militärbeamten erlaſſen ſind, vgl. oben S. 372 ff.


12) Auf die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des
Bundesamts für das Heimathsweſen, des Rechnungshofes des
deutſchen Reiches und auf richterliche Militär-Juſtizbeamte finden
die Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes über Disciplinarbe-
ſtrafung keine Anwendung. R.-G. §. 158 Abſ. 1.


§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.

Aus dem Anſtellungs-Vertrage erlangt der Beamte das Recht
auf Schutz in Ausübung ſeiner dienſtlichen Thätigkeit, ferner auf
Erſatz der von ihm gemachten Auslagen und Verwendungen bei
Beſorgung der Amtsgeſchäfte, endlich der Regel nach (aber nicht
nothwendig) auf Gewährung des Lebens-Unterhaltes durch den
Staat. Auch die Befugniß, die dem Amte entſprechenden Titel zu
führen, kann allenfalls hieher gezählt werden.


[460]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.

In allen dieſen Beziehungen erweist ſich das Staatsdienſt-
Verhältniß vollkommen gleichartig mit anderen Gewalt- und Dienſt-
Verhältniſſen und namentlich liegt die Analogie mit der Vaſſalität
in ihrer urſprünglichen Form vor Augen, welche ebenfalls weſent-
lich
die Verpflichtung des Herrn zum Schutz und regelmäßig,
aber nicht nothwendig, zur Gewährung des Unterhaltes (in der
Form des Beneficium) begründete.


Dagegen iſt die weitverbreitete Lehre 1), daß der Beamte ein
Recht auf das Amt oder auf die mit dem Amt verbundene Gewalt
und auf die Ausübung obrigkeitlicher Befugniſſe habe, völlig un-
richtig. Die obrigkeitlichen Rechte, welche der Beamte handhabt,
ſind nicht ſeine Rechte, ſondern Rechte des Staates; mit ihrer
Handhabung bethätigt er nicht ein ihm zuſtehendes Recht, ſondern
er erfüllt eine ihm obliegende Pflicht; er iſt nicht das Subjekt
dieſer Rechte, ſondern das Inſtrument, vermittelſt deſſen der Staat
dieſelben ausübt 2).


I.Das Recht auf Schutz.

Da der heutige Staat ſeiner weſentlichen Aufgabe gemäß alle
ſeine Angehörigen vor rechtswidrigen Angriffen ſchützt, ſo bedarf
es keines hierauf gerichteten ſpeciellen Rechtes der Beamten. So
weit aber der Staat von ſeinen Beamten ſtaatliche Dienſte erfor-
dert, iſt er verbunden, ſie in Ausübung dieſer Dienſte zu
ſchützen. Hieraus ergiebt ſich ein beſonderer Schutz, der mit der
dienſtlichen Stellung des Beamten im engſten Zuſammenhange
ſteht und ſich von dem allgemeinen Schutz aller Staatsangehörigen
(ſiehe oben S. 150 fg.) unterſcheidet. Es iſt zwar nicht zu verkennen,
daß der Staat durch Gewährung dieſes Schutzes nicht blos den
Beamten, ſondern zugleich ſich ſelbſt ſchützt und daß man deßhalb
wohl berechtigt iſt, alle Angriffe gegen die Beamten in Beziehung
[461]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
auf die Ausübung ihres Amtes als Angriffe gegen die Staats-
gewalt
ſelbſt aufzufaſſen. Allein nicht blos der Staat, ſondern
auch der Beamte für ſeine Perſon, der amtliche Hand-
lungen vorzunehmen verpflichtet iſt, wird das Objekt des Angriffes
und folgeweiſe das Objekt des Schutzes.


Der Staat befriedigt dieſen Anſpruch des Beamten, in Aus-
übung ſeines Amtes geſchützt zu werden, vermittelſt der Strafge-
walt, indem er Verletzungen des Beamten in Beziehung auf ſein
Amt unter Strafdrohungen ſtellt. Hieher gehören folgende Be-
ſtimmungen:


Mit Strafe iſt bedroht im §. 113 des R.-St.-G.-B’s., wer
einen Beamten, welcher zur Vollſtreckung von Geſetzen, von
Befehlen und Anordnungen der Verwaltungsbehörden oder von
Urtheilen und Verfügungen der Gerichte berufen iſt, in der
rechtmäßigen Ausübung ſeines Amtes
durch Gewalt
oder durch Bedrohung mit Gewalt Widerſtand leiſtet 1). Vgl.
Zollgeſetz v. 1. Juli 1869 §. 161. (BG. Bl. S. 363).


2) „Wer es unternimmt, durch Gewalt oder Drohung eine
Behörde oder einen Beamten zur Vornahme oder Unterlaſſung
einer Amtshandlung zu nöthigen, wird mit Gefängniß beſtraft.“
R.-St.-G.-B. §. 114 2).


3) Die Beleidigung eines Beamten in Beziehung auf ſeinen
Beruf iſt zwar im Reichsgeſetzb. nicht mehr wie im Preuß. St.-
G.-B. §. 102 zu einem beſonderen Delict gemacht und mit einer
höheren Strafe bedroht wie die Beleidigung überhaupt. Wohl
aber kann der Umſtand, daß ein Beamter in Beziehung auf ſein
Amt beleidigt worden iſt, als Strafzumeſſungsgrund in Betracht
kommen 3). Außerdem hat aber das R.-St.-G.-B. §. 196 beſtimmt,
daß, wenn die Beleidigung gegen eine Behörde oder einen Beamten,
während ſie in der Ausübung ihres Berufes begriffen ſind, oder
in Beziehung auf ihren Beruf, begangen iſt, außer den unmittel-
bar Betheiligten auch deren amtliche Vorgeſetzte das Recht haben,
den Strafantrag zu ſtellen.


[462]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
II.Der Anſpruch auf Erſatz der Auslagen und
Verwendungen
.

Nach den Grundſätzen der modernen ſtaatlichen Finanzwirth-
ſchaft kömmt der Beamte der Regel nach nicht in die Lage, aus
eigenen Mitteln Auslagen für den Staat zu machen; vielmehr
ſind für die finanziellen Bedürfniſſe der einzelnen Verwaltungs-
ſtellen durch den Etat Fonds ausgeworfen, welche von den dafür
eingerichteten Klaſſen verwaltet werden und auf welche alle, zur
Beſtreitung von Amtsbedürfniſſen erforderlichen Zahlungen anzu-
weiſen ſind. Trotzdem giebt es gewiſſe Bezüge der Beamten,
welche rechtlich durchaus verſchieden ſind von dem Gehalte, indem
ſie nicht eine Rente für den Lebens-Unterhalt des Beamten, ſondern
ein Aequivalent für Auslagen und Verwendungen deſſelben in
Ausübung ſeines Amtes ſind. Sie kommen daher weder bei der
Verſetzung in ein anderes Amt, noch bei der einſtweiligen Ver-
ſetzung in den Ruheſtand, noch bei der Penſionirung in Anrech-
nung 1). Thatſächlich können die Beträge, welche dem Beamten
erſetzt werden, zwar die von ihm wirklich gemachten baaren Aus-
lagen überſchreiten und deshalb können derartige Bezüge einen
Theil des Dienſteinkommens bilden, der thatſächlich eine Gehalts-
Erhöhung darſtellt: im Rechtsſinne aber ſind ſie nicht Einnahmen
des Beamten, ſondern lediglich Erſatz von Auslagen. Hierhin ge-
hören folgende Arten:


1) Pauſchſummen für Bureaubedürfniſſe, Portokoſten und
andere im Dienſte zu machende Ausgaben. Durch den Reichs-
Etat werden diejenigen Fälle, in denen Pauſchquanta bezahlt
werden, ſowie die Beträge derſelben feſtgeſtellt.


2) Repräſentations-Gelder. Mit gewiſſen Aemtern
iſt die Pflicht verbunden, einen Aufwand zu treiben, der nicht in
dem Intereſſe des Beamten, ſondern vorzugsweiſe in dem des
Staates liegt. So wie die Hofhaltung nicht nur ein perſönliches
Bedürfniß des Landesherrn, ſondern ein politiſches Bedürfniß des
Staates befriedigt, ſo iſt auch die Haushaltung gewiſſer Beamter
nicht blos auf die Befriedigung ihrer perſönlichen Lebensbedürfniſſe
gerichtet, ſondern zugleich durch Bedürfniſſe der amtlichen Stellung
beeinflußt. Deshalb wird ſolchen Beamten abgeſondert von ihrem
[463]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
Gehalte ein Betrag zur Beſtreitung dieſer, durch die Repräſen-
tationspflicht gebotenen Mehrausgaben zugewieſen. Für die Reichs-
beamten ſind die Fälle, in denen Repräſentations-Koſten zu er-
ſetzen ſind, ſowie die Höhe der Beträge durch den Reichsetat feſt-
geſtellt.


3) Tagegelder und Fuhrkoſten bei dienſtlicher Beſchäfti-
gung der Beamten außerhalb ihres Wohnorts und Umzugs-
koſten
im Falle ihrer Verſetzung. Die Höhe der Beträge, welche
zur Vergütung dieſer Koſten zu entrichten ſind, wird durch eine,
im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlaſſende Verordnung
des Kaiſers geregelt. Reichsbeamtengeſ. §. 18. Zur Ausführung
dieſer Beſtimmung ſind folgende Verordnungen ergangen:


a) Die Verordnung v. 21. Juni 1875 (R.-G.-Bl. S.
249). Dieſelbe unterſcheidet hinſichtlich der Höhe der Tage-
gelder
7 Klaſſen von Reichsbeamten. (§. 1.) Erfordert eine
Dienſtreiſe einen außergewöhnlichen Koſtenaufwand, ſo kann der
Tagegelderſatz von der oberſten Reichsbehörde angemeſſen er-
höht werden. (§. 2.) Andererſeits erhalten etatsmäßig angeſtellte
Beamte, welche vorübergehend außerhalb ihres Wohnorts bei
einer Behörde beſchäftigt werden, nur für den erſten Monat dieſer
Beſchäftigung die vollen Tagegelder neben ihrer etatsmäßigen
Beſoldung. Für die fernere Zeit, ſowie bei der Verwendung nicht
etatsmäßig angeſtellter Beamten werden die Beträge der zu ge-
währenden Tagegelder von der vorgeſetzten Behörde beſtimmt.
(§. 3.) Für die Dauer der Hin- und Rückreiſe ſind in jedem Falle
die vollen Tagegelder zu zahlen.


Hinſichtlich der Fuhrkoſten wird unterſchieden, ob die
Dienſtreiſen auf Eiſenbahnen oder Dampfſchiffen gemacht werden
können oder nicht. Hiernach und nach dem Range der Beamten
beſtimmt ſich die für das Kilometer zu zahlende Vergütung. (§.
4—7.) Beamte, welche zum Zweck von Reiſen innerhalb ihres
Amtsbezirks eine Pauſchſumme für Tagegelder oder Fuhrkoſten
oder Unterhaltung von Fuhrwerk oder Pferden beziehen, können
Tagegelder oder Fuhrkoſten nach Maßgabe dieſer Verordnung nur
liquidiren, wenn ſie Dienſtgeſchäfte außerhalb ihres Amtsbezirkes
ausgeführt haben. (§. 8.)


Für die Umzugskoſten iſt maaßgebend theils der Rang
des Beamten theils die Entfernung. Die Koſten beſtehen theils
[464]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
in allgemeinen Koſten der Domizil-Verlegung theils in Trans-
portkoſten. Bei Berechnung der Entfernung wird die kürzeſte,
fahrbare Straßen-Verbindung zu Grunde gelegt; bei Beſtimmung
des Ranges die Stellung, aus welcher — nicht in welche — der
Beamte verſetzt wird. Beamte ohne Familie erhalten nur die Hälfte
der regulären Vergütung. Iſt mit der Verſetzung eine Einkom-
mensverbeſſerung verbunden, ſo kömmt die Hälfte des Jahresbe-
trages derſelben von der Vergütungsſumme in Abzug.


Außer dieſen Umzugskoſten wird dem Beamten der Mieths-
zins
vergütet, welchen er für die Wohnung an ſeinem bisherigen
Aufenthaltsorte für die Zeit von dem Verlaſſen des letzteren bis
zu dem Zeitpunkt hat aufwenden müſſen, mit welchem die Auf-
löſung des Miethsverhältniſſes möglich wurde; längſtens jedoch für
einen neunmonatlichen Zeitraum. Hat der Beamte im eigenen
Hauſe gewohnt, ſo kann demſelben eine Entſchädigung höchſtens
bis zum halbjährigen Betrage des ortsüblichen Miethswerthes der
von ihm benutzten Wohnung gewährt werden.


Eine Vergütung für Umzugskoſten findet nicht ſtatt, wenn
die Verſetzung lediglich auf den Antrag des Beamten erfolgte. Die
nicht etatsmäßig angeſtellten Beamten erhalten bei Verſetzungen
nur perſönliche Fuhrkoſten und Tagegelder. Perſonen, welche,
ohne vorher im Reichsdienſt geſtanden zu haben, in denſelben
übernommen werden, kann eine durch die oberſte Reichsbehörde
feſtzuſetzende Vergütung für Umzugskoſten gewährt werden, welche
den für Reichsbeamte beſtehenden Satz nicht überſteigen ſoll.
(§§. 10—18.)


b) Die Verordnung v. 5. Juli 1875 (R.-G.-Bl. S. 253)
enthält ſpezielle Beſtimmungen über die Höhe der Tagegelder,
Fuhrkoſten und Umzugskoſten, welche den Beamten der Reichs-
Eiſenbahnverwaltung und der Poſtverwaltung zu vergüten ſind.
Mit Rückſicht auf die dieſen Beamten zu gewährende freie Fahrt
und Gepäckbeförderung und die in ihrem Berufe ſelbſt liegende
Veranlaſſung zu häufigen Dienſtreiſen ſind die Entſchädigungs-
ſätze theils niedriger bemeſſen theils iſt gar keine Entſchädigung
zu ertheilen.


4) Unter dem Namen Funktionszulagen erhalten nach
Maaßgabe des Etats mehrere Reichsbeamte Geldbeträge, welche
theils Pauchſummen für Bureaukoſten u. dgl. Auslagen theils
[465]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
Vergütungen für beſondere Mühewaltungen ſind, denen ſich der
Beamte neben den eigentlichen Geſchäften ſeines Amtes unterzieht.
Denſelben Charakter haben die ſogenannten Remunerationen.
Von dem Gehalt unterſcheiden ſie ſich dadurch, daß ſie eine Ver-
gütung für aufgewendete Arbeit ſind. Ferner erhalten Beamte,
denen eine Kaſſen-Verwaltung obliegt, Mancogelder zum Er-
ſatz für kleine Verluſte, für welche ihnen Vertretung obliegt. End-
lich werden in gewiſſen Fällen den Beamten ſogen. Lokalzulagen
gewährt; ſie ſind ein Erſatz dafür, daß der Beamte ein noth-
wendiges Domizil hat, mithin den Theuerungsverhältniſſen des
Ortes, wo ſein dienſtlicher Wohnſitz iſt, ſich nicht entziehen kann.


III.Der Anſpruch auf Lebens-Unterhalt.

1) Da die Beamten gewöhnlich ihre ganze Lebensthätigkeit dem
Dienſte widmen, daher neben dem Staatsdienſt keinen Erwerbsberuf
haben können, ſo übernimmt der Staat regelmäßig die Ver-
pflichtung, ſie ſtandesmäßig zu unterhalten. Für den
Begriff des Staatsdiener-Verhältniſſes iſt dies zwar nicht weſent-
lich, es giebt auch unbeſoldete Staats- und Reichsbeamte; die
überwiegende Mehrzahl der Reichsbeamten, ſowie der Staatsbe-
amten, erhält jedoch eine Beſoldung. Es bedarf gegenwärtig keiner
Ausführung mehr, daß die Beſoldung keine Lohnzahlung iſt, wie
ſie der Dienſtmiethe entſpricht; die Beſoldung iſt vielmehr eine
mit der Verwaltung eines Amtes verbundene Rente, mittelſt
deren der Staat den Beamten alimentirt 1). Die Höhe dieſer
Rente beſtimmt ſich nicht nach dem Maaße oder der Schwierigkeit
der Arbeit und iſt nicht nach dem Umfange der Geſchäfte wechſelnd,
ſondern ſie beſtimmt ſich theils nach der ſocialen Stellung, welche
der Träger eines Amtes einnimmt, theils nach dem Geſichtspunkt,
ob das Amt den Lebensberuf deſſelben erfüllt oder ein ſogenanntes
Nebenamt iſt, welches noch für eine andere Erwerbsthätigkeit neben
ſich Raum läßt. Mit der blos negativen Bemerkung aber, daß
die Beſoldung keine Lohnzahlung ſei, wird der juriſtiſche Charakter
derſelben ebenſowenig beſtimmt, wie mit der Angabe, daß ſie auf
einem öffentlich rechtlichen Titel beruhe; vielmehr iſt charakteriſtiſch
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 30
[466]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
für ſie, daß ſie eine ſtandesgemäße Alimentirung des
Beamten iſt 1). Aus dieſer juriſtiſchen Natur der Rente ergeben
ſich folgende Rechtsſätze, die bei jeder anderen Auffaſſung nicht
als Conſequenzen, ſondern als Singularitäten erſcheinen 2).


a) Die Forderung iſt nicht bedingt durch wirkliche Leiſtung
der amtlichen Dienſte. Die Beſoldung iſt dem Beamten auch dann
zu zahlen, wenn er durch Krankheit oder durch Mitgliedſchaft im
Reichstage an der Wahrnehmung des Dienſtes verhindert iſt 3)
oder bei kürzerem Urlaub 4). Bei pflichtwidrigem Verlaſſen des
Amtes ohne Urlaub iſt der Beamte aber für die Zeit der uner-
laubten Entfernung des Dienſteinkommens verluſtig 5). Die For-
derung beſteht ferner wenn auch in gemindertem Betrage fort, wenn
der Beamte einſtweilig oder definitiv in den Ruheſtand verſetzt wird.
(Siehe unten S. 470 fg.)


b) Die Gehaltsbezüge ſind dem Beamten im Voraus zu be-
zahlen, wie dies dem Weſen der Alimentation entſpricht 6). Die
Bezahlung erfolgt der Regel nach monatlich im Voraus; dem
Bundesrath iſt es aber überlaſſen, diejenigen Beamten zu beſtimmen,
an welche die Gehaltszahlung vierteljährlich ſtattfinden ſoll 7).


c) Wenn der Beamte bei Beginn des Monats im Dienſte
[467]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
war, ſo iſt der Beſoldungs-Anſpruch für den ganzen Monat er-
worben. (Sterbemonat) 1).


d) Die Beſoldung der Beamten kann von Gläubigern derſel-
ben nicht völlig mit Beſchlag belegt werden. Daß ſie theilweiſe
als Befriedigungsobjekt in Anſpruch genommen werden kann, be-
ruht darauf, daß ſie dem Beamten mehr als nothdürftigen, daß
ſie ihm ſtandesgemäßen Unterhalt gewährt. Soweit ſie zu dem
nothdürftigen Unterhalt erforderlich, iſt ſie überhaupt kein Exe-
kutions-Objekt. Das Reichsgeſetz §. 19 hat vorläufig die Beſtim-
mungen der Landesgeſetze über die Beſchlagnahme der Beſoldungen
der Staatsbeamten auf die Reichsbeamten ausgedehnt 2); die
Reichs-Civilprozeß-Ordnung wird auch in dieſer Beziehung gemeines
Recht ſchaffen 3).


d) Im engſten Zuſammenhange mit dieſem Satz ſteht die
Rechtsregel, daß die Reichsbeamten den auf die Zahlung von
Dienſteinkünften, Wartegeldern oder Penſionen ihnen zuſtehenden
Anſpruch mit rechtlicher Wirkung nur in ſoweit cediren, verpfänden
oder ſonſt übertragen können, als dieſe Dienſteinkünfte der Be-
ſchlagnahme unterliegen 4). Denn ſoweit die Beſoldung zur „Noth-
durft“ des Beamten gehört, iſt ſie unübertragbar 5).


Soweit die Gehaltsforderung übertragbar bleibt, iſt zur Siche-
rung der Reichskaſſe, welche das Gehalt auszuzahlen hat, vorge-
ſchrieben, daß die Benachrichtigung an die Kaſſe durch eine der-
ſelben auszuhändigende öffentliche Urkunde erfolgen muß 6).


2) Das Recht auf den Bezug der Beſoldung beginnt mit dem,
in dem Anſtellungsvertrage vereinbarten Tage; iſt ein ſolcher nicht
feſtgeſetzt, mit dem Tage des Amtsantritts 7). Wenn in dem
Reichshaushalts-Etat Gehalts-Erhöhungen vorgeſehen werden, ſo
30*
[468]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
begründet dies für die betreffenden Beamten keinen rechtlichen
Anſpruch auf den erhöhten Gehalt, ſondern nur für die Reichs-
regierung die Ermächtigung, Gehaltserhöhungen zu bewilligen. Der
Beamte erlangt dem Reichsfiskus gegenüber einen Rechtsanſpruch
auf Gehaltszulagen erſt mit dem Tage dieſer Bewilligung 1). Das
Gleiche gilt aber auch in dem Falle, wenn die Regierung die Ge-
haltszulage bewilligt hat, ohne nach dem Etat dazu ermächtigt zu
ſein. Der Reichsregierung bleibt es dann überlaſſen, dem Bun-
desrath und Reichstage gegenüber ihr Verhalten zu rechtfertigen;
die Rechte des Beamten werden durch eine etwaige Meinungs-
Verſchiedenheit zwiſchen den Organen des Reiches über Etats-An-
gelegenheiten nicht berührt 2).


3) Das Dienſteinkommen der Reichsbeamten ſetzt ſich aus
zwei Beſtandtheilen zuſammen, einem feſten und einem veränder-
lichen.


a) Der feſte Beſtandtheil, die eigentliche Beſoldung richtet
ſich nach der dienſtlichen Stellung der Beamten und unter den Beam-
ten gleicher Stellung nach dem Dienſtalter, inſofern ſie derartig in
Klaſſen abgetheilt ſind, daß die jüngſten Beamten derſelben Kate-
gorie weniger, die älteſten mehr als den Durchſchnitts-Gehalt
beziehen.


b) Der veränderliche Beſtandtheil iſt der Wohnungsgeld-
zuſchuß
, über deſſen Bewilligung und Abmeſſung das Geſetz
vom 30. Juni
1873 (R.-G.-Bl. S. 166 fg.) Vorſchriften erlaſſen
hat. Die Bedingungen für den Anſpruch auf dieſen Zuſchuß be-
beſtehen darin, daß die Reichsbeamten ihren dienſtlichen Wohn-
ſitz in Deutſchland haben, daß ſie eine etatsmäßige Stelle be-
kleiden, und daß ſie eine Beſoldung aus der Reichskaſſe beziehen.
(§. 1.) Ausgeſchloſſen ſind demnach alle Geſandten, diplomat.
Agenten, Konſuln und andere Reichsbeamte, welche im Auslande
ihren dienſtlichen Wohnſitz haben, weil in den Beſoldungen und
den Repräſentationsgeldern, welche denſelben gewährt werden, auf
[469]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
die beſonderen Preisverhältniſſe ihrer Aufenthaltsorte bereits Rück-
ſicht genommen iſt. Ferner ſind alle diejenigen Reichsbeamten
ausgenommen, denen gegenüber das Reich die Pflicht, für ihren
Lebensunterhalt zu ſorgen, nicht trägt. Hierhin gehören ſowohl
die unbeſoldeten Beamten als auch die nur kommiſſariſch beſchäf-
tigten Hülfsarbeiter, welche keine „etatsmäßige Stelle“ haben, ſon-
dern „Remunerationen“ beziehen. Endlich ſind durch die ausdrück-
liche Anordnung des §. 9 des Reichsgeſetzes die Beamten der
Reichs-Eiſenbahnverwaltung ausgenommen und zwar aus demſelben
Grunde, wie diejenigen Beamten, welche ihren dienſtlichen Wohn-
ſitz außerhalb des Bundesgebietes haben 1).


Die Höhe des Wohnungsgeld-Zuſchuſſes beſtimmt ſich theils
nach dem, mit einem Amte verbundenen Range — nicht nach dem
einem Beamten etwa perſönlich beigelegten höheren Range — theils
nach den Wohnungspreiſen der Orte, in welchen die Behörden
ihren Sitz haben. In der erſten Beziehung ſind die Reichsbeamten
in 5 Klaſſen (Direktoren der oberſten Behörden, vortragende
Räthe der oberſten Behörden, Mitglieder der übrigen Behörden,
Subalternbeamte, Unterbeamte) und die Wohnorte ebenfalls in
5 Klaſſen getheilt, über welchen noch Berlin als eine Klaſſe für
ſich ſteht.


Beamte, welche mehr als eine Stelle bekleiden, erhalten den Woh-
nungsgeldzuſchuß nur für diejenige Stelle, welche auf den höchſten
Satz Anſpruch giebt. (§. 5.) Wird die Beſoldung eines Beamten
theils aus Reichsmitteln theils aus Staatsmitteln bezahlt, ſo er-
hält der Beamte auch nur diejenige Quote des tarifmäßigen Woh-
nungsgeldes, welche dem auf die Reichskaſſe übernommenen Be-
ſoldungstheile entſpricht. (§. 6.) Falls der Beamte eine Dienſt-
wohnung inne hat oder eine beſonders bewilligte Miethsentſchädi-
gung bezieht, ſo fällt der Wohnungsgeldzuſchuß fort. (§. 7.)


Der Wohnungsgeldzuſchuß gilt in rechtlicher Beziehung als
ein Beſtandtheil der Beſoldung; er unterſcheidet ſich von dem feſten
Betrage derſelben nur in drei Punkten. Bei einer Verſetzung tritt
an die Stelle des Satzes, der dem bisherigen Wohnort entſpricht,
der dem neuen Wohnorte entſprechende; wenn ſich der Betrag
deſſelben dadurch vermindert, hat der Beamte keinen Entſchädi-
[470]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
gungs-Anſpruch. Ferner bleibt bei Berechnung der Umzugskoſten-
Vergütungen der Wohnungsgeldzuſchuß außer Anſatz; d. h. es
gilt nicht als abzugsfähige Einkommensverbeſſerung, wenn mit der
Stelle, in welche ein Beamter verſetzt wird, ein höheres Wohnungs-
geld verbunden iſt. Endlich wird bei Bemeſſung des Wartegeldes und
der Penſion nicht derjenige Betrag des Wohnungsgeldzuſchuſſes in
Anſatz gebracht, den der Beamte thatſächlich zuletzt gehabt hat, ſon-
dern der Durchſchnittsſatz der 5 Servisklaſſen 1). (Geſ. §. 4 und 8.)
Derſelbe Betrag wird in Anſchlag zu bringen ſein bei Be-
rechnung der Höhe der etwa zu leiſtenden Amtskaution 2).


c) Ausnahmsweiſe können zu dem Dienſteinkommen auch noch
Einnahmen von unbeſtimmter, wechſelnder Höhe treten, z. B. Ge-
bühren, Erträge von Grundſtücken, Tantiemen u. dgl. 3).


4) Der Anſpruch auf das Dienſteinkomm en hört nicht auf,
wenn das Reich dem Beamten die Verwaltung des Amtes entzieht.
Denn, wie bereits oben ausgeführt, iſt das Staatsdienerverhältniß
nicht gleichbedeutend mit der Führung eines Amtes und die letztere
nicht die weſentliche Vorausſetzung für den Anſpruch des Beamten
auf Lebens-Unterhalt. Auch der einſtweilig in den Ruheſtand
verſetzte Beamte hat demnach dieſen Anſpruch; indeß ermäßigt ſich
der Regel nach die Höhe deſſelben 4). Der Betrag des Dienſt-
Einkommens, welcher den einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten
Beamten zu zahlen iſt, heißt das Wartegeld. Daſſelbe beträgt
drei Viertheile des Gehalts 5), jedoch nicht weniger als 150 Thlr.
und nicht mehr als 3000 Thlr. jährlich 6). Das Wartegeld ſteht
im Uebrigen vollkommen unter den vom Dienſteinkommen über-
haupt ſtehenden Regeln 7). Das Recht auf den Bezug des Warte-
[471]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
geldes ruht, wenn und ſo lange der Beamte in Folge einer
Wiederanſtellung oder Beſchäftigung im Reichs- oder im Staats-
dienſte ein Dienſteinkommen bezieht, inſoweit als der Betrag dieſes
neuen Dienſteinkommens unter Hinzurechnung des Wartegeldes
dem Betrage des von dem Beamten vor der einſtweiligen Ver-
ſetzung in den Ruheſtand bezogenen Dienſteinkommens überſteigt 1).
Das Recht auf das Wartegeld erliſcht, wenn der Beamte im Reichs-
dienſte ein Amt wieder erhält, mit welchem ein dem früher von
ihm bezogenen Dienſteinkommen mindeſtens gleiches Dienſteinkom-
men verbunden iſt, oder wenn der Beamte entlaſſen wird. Außer-
dem wird der Beamte des Wartegeldes verluſtig, wenn er die
Reichs-Angehörigkeit verliert oder ohne Genehmigung des Reichs-
kanzlers ſeinen Wohnſitz außerhalb des Bundesgebietes nimmt 2).


5) Der Anſpruch auf Lebens-Unterhalt erliſcht nicht mit
dem Staatsdienſt-Verhältniß ſelbſt, wenn die Beendigung deſſelben
ohne Schuld des Beamten herbeigeführt wird. Da dem Beamten
andere Erwerbsquellen der Regel nach verſchloſſen ſind, er daher
in der Regel für ſein Alter ein Kapital nicht erſparen kann, ſo
dauert die Pflicht des Staates zur Gewährung des Lebensunter-
haltes fort, wenngleich der Beamte wegen Dienſtunfähigkeit dauernd
in den Ruheſtand verſetzt wird. Der Betrag iſt auch hier ver-
mindert und führt die Bezeichnung: Penſion. Bedingung iſt, daß
der Beamte eine Dienſtzeit von wenigſtens 10 Jahren zurückgelegt
hat 3) oder daß er bei Ausübung des Dienſtes oder aus Veran-
laſſung deſſelben ohne eigene Verſchuldung dienſtunfähig geworden
iſt 4). Beamte, welche keine in den Beſoldungs-Etats aufgeführte
Stelle bekleiden oder welche nur ein Nebenamt bekleiden 5) oder
ausdrücklich nur für eine beſtimmte Zeit oder für ein ſeiner Na-
tur nach vorübergehendes Geſchäft angenommen werden, haben
keinen geſetzlichen Anſpruch auf Penſion. Auch wenn es an
[472]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
den Bedingungen des Penſions-Anſpruches fehlt, kann dem Beamten
bei vorhandener Bedürftigkeit durch Beſchluß des Bundesrathes
eine Penſion entweder auf beſtimmte Zeit oder lebenslänglich be-
willigt werden 1). Die Penſion beträgt nach vollendetem 10. Dienſt-
jahre 20/80 2) und ſteigt von da ab mit jedem weiter zurückgeleg-
ten Dienſtjahre um 1/80 des Dienſteinkommens; der höchſte Betrag
aber iſt ¾ dieſes Einkommens 3).


Das Dienſteinkommen iſt das zuletzt von dem Beamten be-
zogene 4); jedoch nur das wirkliche Einkommen, nicht die Summen,
welche für Repräſentations- oder Dienſtaufwands-Koſten vergütet
werden, ebenſowenig Ortszulagen und Remunerationen 5).


Ueber die Berechnung der Dienſtzeit ſind in den §§. 45—52
des Beamtengeſetzes eine Reihe von detaillirten Vorſchriften ge-
geben. Sie beginnt der Regel nach mit dem Tage der erſten
eidlichen Verpflichtung für den Reichsdienſt; es wird ihr aber bis-
weilen ein Zeitraum hinzugerechnet, während deſſen der Beamte
nicht im Reichsdienſt thätig war 6), theils wird eine Zeit doppelt
oder ſonſt in höherem Betrage angerechnet 7), theils bleibt ein
Theil außer Anſatz 8).


Das Recht auf die Penſion ruht, wenn ein Penſionär die
Reichsangehörigkeit verliert, bis zu etwaiger Wiedererlangung der-
ſelben, und wenn ein Penſionär in den Reichsdienſt oder in den
Staatsdienſt eines Bundesgliedes wieder eintritt, inſoweit der Be-
trag ſeines neuen Dienſteinkommens unter Hinzurechnung der Pen-
ſion den Betrag des von ihm vor der Penſionirung bezogenen
Dienſteinkommens überſteigt 9).


[473]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.

Für die Mitglieder des Oberhandelsgerichts kommen hinſicht-
lich der Penſion an Stelle der Vorſchriften des Beamtengeſetzes
die ſpeziellen Beſtimmungen im §. 25 des Geſ. v. 12. Juni 1869
zur Anwendung.


6) Endlich erſtreckt ſich die Pflicht des Reiches zum Unter-
halte ſeiner Beamten theilweiſe auch auf die Hinterbliebenen der-
ſelben, welche nicht im Augenblicke des Todes des Beamten in
eine hilfloſe Lage verſetzt werden ſollen. Unter den Hinterbliebenen
ſind nicht die Erben zu verſtehen, ſondern Verwandte, für welche
der Beamte der muthmaßliche Ernährer war. Ein geſetzliches Recht
auf die zu gewährenden Leiſtungen haben nur die Wittwe und
eheliche Nachkommen; es kann jedoch mit Genehmigung der
oberſten Reichsbehörde in Ermangelung dieſer Angehörigen die
Leiſtung auch dann gewährt werden, wenn der Verſtorbene Eltern,
Geſchwiſter, Geſchwiſterkinder oder Pflegekinder, deren Ernährer er
war, in Bedürftigkeit hinterläßt, oder wenn der Nachlaß nicht
ausreicht, um die Koſten der letzten Krankheit und der Beerdigung
zu decken 1). Die vorgeſetzte Dienſtbehörde beſtimmt, an wen die
Zahlung zu leiſten iſt. Da auch dieſe Leiſtungen den rechtlichen
Charakter der Alimente oder der Unterſtützung haben, ſo ſind ſie
der Beſchlagnahme nicht unterworfen. In Betreff der Höhe der-
ſelben ſind drei Fälle zu unterſcheiden.


a) War der Beamte zur Zeit ſeines Todes im Dienſte, d. h.
mit der Wahrnehmung einer etatsmäßigen Stelle betraut, ſo er-
halten die Hinterbliebenen für das auf den Sterbemonat folgende
Vierteljahr noch die volle Beſoldung des Verſtorbenen; das
ſogen. Gnadenquartal2). Als Beſoldung iſt nur das wirk-
liche Dienſteinkommen, nicht Vergütung für baare Auslagen an-
zuſehen.


Während derſelben Zeit iſt die hinterbliebene Familie noch im
Genuſſe der von dem verſtorbenen Beamten bewohnten Dienſt-
wohnung zu belaſſen; hinterläßt der Beamte keine Familie, ſo
haben die Erben eine vom Todestage an zu rechnende dreißig-
tägige Friſt zur Räumung der Dienſtwohnung. Arbeits- und
[474]§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
Seſſionszimmer, ſowie ſonſtige für den amtlichen Gebrauch be-
ſtimmte Lokalitäten müſſen ſofort geräumt werden 1).


b) Wenn der Beamte zur Zeit des Todes einſtweilig in den
Ruheſtand verſetzt war, ſo erhalten die Hinterbliebenen das Gnaden-
quartal von dem Wartegeld2).


c) War der Beamte bei ſeinem Tode penſionirt, ſo wird den
Hinterbliebenen die Penſion noch für den auf den Sterbemonat
folgenden Monat gezahlt 3).


IV.Perſönliche Ehrenrechte.

1) Die Reichsbeamten haben das Recht auf die Führung des,
ihrer Dienſtſtellung entſprechenden oder ihnen beſonders beigelegten
Titels; die unmittelbaren Reichsbeamten auch auf die Bezeich-
nung als „kaiſerliche“ 4).


Gehört zu ihrer Stellung eine Amtskleidung, ſo haben ſie die
Befugniß, reſp. die Verpflichtung, ſoweit dies im dienſtlichen In-
tereſſe vorgeſchrieben iſt, dieſelbe zu tragen.


Das unbefugte Tragen einer Uniform, ſowie die unbefugte
Annahme eines Titels ſind Uebertretungen und nach §. 360 Nr. 8
des R.-St.-G.-B’s. ſtrafbar. Auch iſt im Reichsbeamtengeſ. der
Titel dadurch als ein ſubjectives Recht des Beamten anerkannt,
daß es im §. 100 einen „Verzicht“ auf den Titel erfordert und daß
nach §. 75 Nr. 2 die Dienſtentlaſſung im Disciplinarverfahren
den „Verluſt“ des Titels von Rechtswegen zur Folge hat.


Titel und Uniform der Reichsbeamten werden durch kaiſerliche
Verordnung beſtimmt. Reichsbeamtengeſ. §. 17.


2) Das eben citirte Geſetz erwähnt auch den Rang. In
dieſer Beziehung iſt aber wohl zu unterſcheiden zwiſchen dem Rang
der Behörden und dem perſönlichen Rang der Beamten. Der
Rang einer Behörde iſt der Ausdruck der Stellung der-
ſelben im Behörden-Organismus, das Verhältniß der Unterord-
nung oder Gleichordnung zu anderen Behörden. Der Rang der
[475]§. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche.
Behörden iſt in amtlicher Beziehung auch maßgebend für den Dienſt-
rang der Beamten, welche Subalterne, Mitglieder oder Direktoren
dieſer Behörden ſind und rechtlich von Erheblichkeit für die Höhe
der Diäten, Fuhrkoſten, Umzugskoſten und Wohnungsgeldzuſchüſſe.


Davon begrifflich verſchieden iſt der perſönliche Rang der
Beamten. Obwohl durch das Amt der Regel nach ein beſtimmter
Perſonal-Rang begründet wird, ſo kann doch theils ein Amt zur
Verwaltung übertragen werden, ohne daß zugleich Titel und Rang
verliehen wird, und es kann andererſeits ein höherer Rang einem
Beamten beigelegt werden, als an und für ſich mit ſeinem Amte
verknüpft iſt. Der Rang iſt ſtreng genommen kein Recht, welches
eine Ausübung geſtattet, ſondern ſo wie Alter, Geſchlecht und Stand
eine Eigenſchaft, die möglicher Weiſe die Vorausſetzung für Rechte
iſt. Für das Reichsrecht iſt dies nicht der Fall; der perſönliche
Rang begründet keinerlei Rechte und es iſt überhaupt zweifelhaft,
ob das Reichsrecht eine andere Klaſſifizirung der Reichsbeamten
als nach dem Range der von ihnen bekleideten Stellen kennt 1).


§. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche.

Ueber vermögensrechtliche Anſprüche der Reichsbeamten aus
ihrem Dienſtverhältniß findet der Rechtsweg ſtatt 2).


Wegen dieſes Rechtsſatzes wird ſehr häufig das Staatsdiener-
Verhältniß als ein gemiſchtes, d. h. theils öffentlich rechtliches
theils privatrechtliches bezeichnet 3). Es beruht dies auf einer
[476]§. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche.
Verwechslung von klagbaren Anſprüchen mit civilrechtlichen 1).
Wenn man aber auch der erwähnten Auffaſſung beiſtimmt, ſo iſt
damit ein poſitiver Rechtsſatz nicht gewonnen. Denn es iſt ſicher,
daß der vermögensrechtliche Anſpruch der Beamten ſich nicht nach
den Regeln irgend eines, im Privatrecht normirten contractlichen
oder quaſicontractlichen Rechtsverhältniſſes beurtheilen läßt; daß er
vielmehr ſeinen Rechtsgrund in dem öffentlich rechtlichen, durch den
Anſtellungsvertrag begründeten Rechtsverhältniß hat und aus ihm
ſeinen Inhalt empfängt. Die Frage reduzirt ſich im letzten Grunde
auf einen Schulſtreit über die richtige Definition des Gegenſatzes
von öffentlichem Recht und Privatrecht und iſt praktiſch nicht von
Belang.


Andererſeits haben manche Deutſche Partikularrechte für die
Geltendmachung der vermögensrechtlichen Anſprüche der Staats-
diener den Rechtsweg ausgeſchloſſen, weil das Rechtsverhältniß
kein privatrechtliches ſei. Auch dies iſt nicht ſchlüſſig; denn aus
öffentlich rechtlichen Verhältniſſen können ſubjektive Rechte hervor-
gehen, welche im Wege des Prozeſſes geltend gemacht und geſchützt
werden können. Daß der Staat gegen den Beamten keine Klage
auf Erfüllung der Dienſtpflicht hat, iſt kein Grund, dem Beamten
die Klage gegen den Staat auf Erfüllung ſeiner pekuniären Ver-
pflichtungen zu verſagen. Denn der Staat hat zum Erſatz ſeiner
Klage die Disciplinargewalt, der Beamte nicht 2).


Ueber die prozeßualiſche Geltendmachung der vermögensrecht-
lichen Anſprüche hat das Reichsgeſetz folgende Regeln aufgeſtellt.


1) Im §. 149 werden hervorgehoben die Anſprüche auf Be-
ſoldung, Wartegeld oder Penſion und die geſetzlich gewährten An-
ſprüche der Hinterbliebenen auf Bewilligungen. Dieſe Aufzählung
iſt aber nicht ausſchließend, ſondern nur exemplifikativ, wie deut-
lich aus dem Worte „insbeſondere“ hervorgeht. Es iſt daher der
Rechtsweg auch zuläſſig über die Anſprüche auf Diäten, Fuhr-
3)
[477]§. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche.
koſten und Umzugskoſten, ſowie über zugeſicherte Repräſentations-
gelder, Ortszulagen und andere Dienſtemolumente. Ebenſo über
die Zuläſſigkeit von Gehaltsabzügen. (§. 14.) Dagegen iſt eine Cog-
nition der Gerichte ausgeſchloſſen in allen Fällen, in denen es von
der Entſchließung der oberſten Reichsbehörden oder des Bundes-
rathes abhängig gemacht iſt, ob einem Reichsbeamten oder ſeinen
Hinterbliebenen etwas bewilligt reſp. in Abzug gebracht werden
ſoll oder nicht; alſo in den Fällen der §§. 8. 37. 39. 52. 68
Abſ. 2 1) 128 Abſ. 2. des Beamtengeſetzes, und der §§. 5. Abſ.
2 und 6 Abſ. 2 der V. v. 2. Nov. 1874.


2) Bevor eine Klage zuläſſig iſt, muß zunächſt feſtſtehen, daß
die Reichsregierung die Anſprüche des Beamten nicht anerkennen
will, d. h, es muß die Entſcheidung der oberſten Reichsbehörde
eingeholt werden, da die Verfügungen der unteren Inſtanzen nicht
die definitive Weigerung der Reichsregierung enthalten, den
Anſprüchen des Beamten gerecht zu werden. (§. 150.)


3) Für die Anſtellung der Klage beſteht eine präkluſiviſche,
d. h. den Verluſt des Klagerechts bewirkende, Friſt von 6 Monaten,
welche von dem Tage an zu berechnen iſt, an welchem dem Be-
theiligten die Entſcheidung der oberſten Reichsbehörde bekannt ge-
macht worden iſt. (§. 150.)


4) Der Reichsfiskus wird vertreten durch die höhere (d. h.
mittlere) Reichsbehörde, unter welcher der Reichsbeamte ſteht oder
geſtanden hat, oder falls er direkt unter der oberſten Reichsbe-
hörde ſteht oder geſtanden hat, durch die oberſte Reichsbehörde.
§. 151 Abſ. 1.


5) Die Klage iſt bei demjenigen Gerichte anzubringen, in
deſſen Bezirke die betreffende Behörde ihren Sitz hat; in letzter
Inſtanz entſcheidet an Stelle des nach den Landesgeſetzen zuſtän-
digen oberſten Gerichtshofes das Reichs-Oberhandelsgericht. §. 151
Abſ. 2. 152 Abſ. 2.


6) Bis zum Erlaß einer gemeinen Civil-Prozeß-Ordnung ſind
Beſtimmungen über die Rechtsmittel getroffen, welche ohne Rückſicht
auf die Größe des Streitgegenſtandes die Verfolgung des Pro-
zeſſes durch drei Inſtanzen ermöglichen. §. 152 Abſ. 1.


[478]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.

7) Die in dem Gewaltsverhältniß des Reiches gegen den
Beamten begründeten Befugniſſe in Beziehung auf einſtweilige oder
definitive Verſetzung in den Ruheſtand, Suſpenſion, Verſetzung in
ein anderes Amt, Dienſtentlaſſung, Verhängung von Ordnungs-
ſtrafen u. ſ. w. unterliegen der richterlichen Beurtheilung nicht;
es ſind vielmehr die von der zuſtändigen Verwaltungs- oder
Disciplinarbehörde hierüber ergangenen Entſcheidungen für die Be-
urtheilung der vor dem Gerichte geltend gemachten vermögens-
rechtlichen Anſprüche maßgebend §. 155.


§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.

Aus der begrifflichen Unterſcheidung zwiſchen dem, durch den
Anſtellungsvertrag begründeten Dienſtverhältniß und der Führung
eines Amtes ergiebt ſich, daß die Verwaltung eines beſtimmten
Amtes weder zu den Rechten des Beamten gehört noch für die
Fortdauer des Staatsdienerverhältniſſes weſentlich iſt. Die herr-
ſchende Theorie, welche das Weſen der Anſtellung in der Ver-
leihung eines Amtes ſieht, führt zu dem Reſultate, daß in allen
Fällen, in welchem einem Beamten das Amt entzogen wird, zu-
gleich das Staatsdiener-Verhältniß ſein Ende findet. Die ſelbſt-
verſtändliche Folge davon wäre, daß auch der Anſpruch des Be-
amten auf Gehalt aufhört; da nun unbezweifelt der Beamte kein
Recht auf das Amt hat, der Staat vielmehr jederzeit ihm die
amtlichen Geſchäfte entziehen kann, ſo müßte ſich conſequenter Weiſe
der Schluß ergeben, daß dem Beamten gleichzeitig mit dem Amte
auch die Beſoldung genommen werden kann. Dieſes praktiſche
Reſultat aber widerſpricht zu ſehr dem wirklich beſtehenden Rechte.
Man hilft ſich deshalb in der Theorie mit der Annahme, entweder
daß aus Billigkeits-Rückſichten der Beamte zu entſchädigen ſei oder
daß die „privatrechtliche Seite“ des Verhältniſſes fortdauere, wäh-
rend die ſtaatsrechtliche erlöſche.


Eine Aufhebung des Staatsdienſt-Verhältniſſes wird der
herrſchenden Theorie zufolge dadurch herbeigeführt, daß das Amt,
welches ein Staatsdiener bisher bekleidet hat, ganz beſeitigt wird 1).
Konſequenter Weiſe müßte ſie aber bei jeder Verſetzung in ein
[479]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.
anderes Amt eine Aufhebung des bisherigen Verhältniſſes und die
gleichzeitige Neubegründung eines anderen, alſo ein Analogon zur
Novation, annehmen. Hinſichtlich der einſtweiligen Verſetzung in
den Ruheſtand endlich iſt vom Standpunkte dieſer Theorie aus
jede juriſtiſche Erklärung unmöglich, da hier offenbar Rechte
und Pflichten der Beamten fortdauern, trotzdem die Führung eines
Amtes aufhört; man begnügt ſich daher mit einigen politiſchen
Erwägungen de lege ferenda oder mit dem einfachen Hinweiſe
auf die poſitiven Beſtimmungen der Staatsdiener-Geſetze 1).


Es iſt vielmehr davon auszugehen, daß die Führung eines
Amtes nur der Zweck iſt, zu welchem Beamte angeſtellt werden
und daß die aus der Anſtellung ſelbſt hervorgehenden Rechte und
Pflichten unabhängig davon, daß der Beamte ein beſtimmtes Amt
thatſächlich führt, fortbeſtehen können. Sowie aber die Regierung
gehindert iſt, Beamte anzuſtellen, namentlich beſoldete, die ſie nicht
bedarf oder für welche etatsmäßige Stellen nicht beſtehen, ſo iſt
ſie auch beſchränkt darin, angeſtellten Beamten die Führung der
Amtsgeſchäfte abzunehmen. Nicht rechtliche, ſondern politiſche,
namentlich finanzielle Gründe 2) ſind es, auf denen dieſe Beſchrän-
kungen beruhen. Die Rückſicht auf das Intereſſe des Beamten
ſelbſt, auf die Wahrung ſeiner Unabhängigkeit, auf die Sicherung
ſeiner Lebensſtellung kömmt dabei wohl weſentlich mit in Betracht;
aber das Recht des Staates ſeinen Beamten die ihnen übertra-
genen Aemter zu entziehen, iſt nicht durch das ihm gegenüberſtehende
ſubjektive Recht des Beamten beſchränkt, ſondern durch den eigenen
Willen des Staates, durch eine auf politiſchen Erwägungen be-
ruhende, geſetzlich ausgeſprochene Selbſtbeſchränkung des Staates,
welche für die Regierung allerdings maaßgebend und bindend
iſt wie jeder geſetzlich erklärte Staatswille.


Von dieſem Geſichtspunkte aus ergiebt ſich eine Unterſcheidung
zwiſchen den rechtlichen Schranken, welche der Dispoſition der Re-
gierung über die Beamten aus Gründen des öffentlichen Rechtes
[480]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.
gezogen ſind, und den thatſächlichen Schranken, welche durch die
auf dem Anſtellungsvertrage beruhenden Rechte des Beamten
gegeben ſind. Dieſe thatſächlichen Schranken beſtehen nun darin,
daß die Regierung dem Beamten, falls ſie ihm das Amt abnimmt,
das ihm gebührende Dienſteinkommen fortgewähren muß und daß
ſie ſeine Ehre nicht durch eine Degradation antaſten darf; die
rechtlichen Schranken dagegen beſtimmen die geſetzlichen Voraus-
ſetzungen
, unter denen der Regierung es geſtattet oder geboten
iſt, einem Beamten die Führung eines Amtes zu entziehen. Es
ſind in dieſer Beziehung folgende Fälle zu unterſcheiden.


I.Verſetzung in ein anderes Amt.

1) Jeder Reichsbeamte muß ſich die Verſetzung in ein anderes
Amt gefallen laſſen, wenn daſſelbe von nicht geringerem Range
und etatsmäßigem Dienſteinkommen iſt. R.-G. §. 23. Die Um-
zugskoſten ſind dem Beamten zu vergüten, falls nicht die Ver-
ſetzung auf ſeinen eigenen Antrag erfolgt iſt.


Unter dem Range iſt der dienſtliche Rang des Amtes zu
verſtehen; der ſogen. perſönliche Rang iſt auch hier rechtlich uner-
heblich und der Beamte iſt nicht genöthigt, in eine niedrigere Stelle
einzutreten, wenngleich ihm zugeſichert wird, daß er perſönlich auch
fortan zu den Räthen der oder jener „Klaſſe“ gehören ſoll. Unter
dem Dienſteinkommen iſt, wie oben ausgeführt wurde, die
Entſchädigung für beſondere Dienſtunkoſten nicht mit begriffen und
ebenſo wenig kommt es in Betracht, ob dem Beamten durch die
Verſetzung die Gelegenheit zur Verwaltung von Nebenämtern ent-
zogen wird.


2) Die Regierung iſt berechtigt, die Verſetzung zu verfügen,
„wenn es das dienſtliche Bedürfniß erfordert“, d. h. ſie iſt hierin
unbeſchränkt, da ſie allein über die Bedürfniſſe des Dienſtes zu
entſcheiden hat.


3) Das Recht der Reichsregierung iſt auch den mittelbaren
Beamten gegenüber ohne Einſchränkung anerkannt; ſie haben da-
her kein Recht des Widerſpruchs, wenn ſie in das Gebiet eines
anderen Bundesſtaates verſetzt werden. Zu unterſcheiden davon iſt
das Verhältniß des Reiches zur Regierung des Einzelſtaates. Der
Staat, aus deſſen Gebiet der Beamte verſetzt wird, hat kein Wider-
ſpruchsrecht, daß ihm der Beamte durch Verſetzung nicht entzogen
werde; dagegen kann die Verſetzung nicht in ein ſolches Amt er-
[481]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.
folgen, deſſen Beſetzung dem Einzelſtaat, nicht dem Reich zuſteht,
ohne Zuſtimmung des Einzelſtaats.


4) Die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Bundes-
Amts für das Heimathsweſen und des Rechnungshofes und richter-
liche Militär-Juſtizbeamte können nicht ohne ihre Zuſtimmung in
ein anderes Amt verſetzt werden 1).


5) Ueber die Vorausſetzungen und Wirkungen der Straf-
verſetzung
vrgl. oben S. 453 fg.


II.Einſtweilige Verſetzung in den Ruheſtand.
(Stellung zur Dispoſition)
.

1) Die Reichsregierung iſt befugt


a)jeden Reichsbeamten einſtweilig in den Ruheſtand zu
verſetzen, wenn das von ihm verwaltete Amt in Folge einer Um-
bildung der Reichsbehörden aufhört. R.-G. §. 24.


Soweit zu einer ſolchen Umbildung ein Geſetz erforderlich iſt,
bildet der Erlaß deſſelben daher eine Vorausſetzung für die Stel-
lung zur Dispoſition.


b) Jederzeit, auch ohne daß die erwähnte Vorausſetzung ge-
geben iſt, können durch kaiſerliche Verfügung gewiſſe Beamte einſt-
weilig in den Ruheſtand verſetzt werden, „bei denen eine fort-
dauernde Uebereinſtimmung in principiellen Anſichten mit der leiten-
den Autorität nothwendig iſt“ 2). Nach dem §. 25 des Geſetzes
ſind es folgende:


  • Der Reichskanzler;
  • Der Präſident des Reichskanzler-Amts, der Chef der Ad-
    miralität, der Staatsſekretär im Auswärtigen Amte;
  • Die Direktoren und Abtheilungschefs im Reichskanzleramte
    und in den einzelnen Abtheilungen deſſelben, ſowie im
    Auswärtigen Amte und in den Miniſterien, die vor-
    tragenden Räthe und etatsmäßigen Hülfsarbeiter im
    AuswärtigenAmte;
  • Die Militär- und Marine-Intendanten;
  • Die diplomatiſchen Agenten einſchließlich der Konſuln.

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 31
[482]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.

Außerdem der Vorſitzende des Reichs-Eiſenbahn-Amtes. (Geſ.
v. 27. Juni 1873 §. 2 Abſ. 2.)


2) Die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten haben
folgende Rechte:


  • a) ſie behalten die perſönlichen Ehrenrechte.
  • b) ſie beziehen das geſetzliche Wartegeld.
  • c) ſie erhalten, falls ſie ihren dienſtlichen Wohnſitz im Aus-
    lande haben, die Entſchädigung für die Koſten des Umzugs
    nach dem innerhalb des Reiches von ihnen gewählten Wohn-
    orte (R.-G. §. 40) und ebenſo, falls ſie wieder ein Amt er-
    halten, die Umzugskoſten wie im Falle einer Verſetzung
    (R.-G. §. 28).

3) Hinſichtlich der Pflichten entſcheidet das Princip, daß
alle Pflichten und Beſchränkungen der Reichsbeamten auch für die
einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten fortdauern, welche nicht ledig-
lich auf der Führung eines Amtes (dem aktiven Dienſt) beruhen.
Im Einzelnen ergeben ſich hieraus folgende Conſequenzen:


a)Die Pflicht zur Amtsführung iſt ſuſpendirt, aber
nicht aufgehoben. Die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten
Beamten ſind darum verpflichtet, ein ihrer Berufsbildung entſpre-
chendes Reichsamt unter denſelben Vorausſetzungen zu übernehmen,
unter denen ein im aktiven Dienſt ſtehender Reichsbeamter die
Verſetzung in ein anderes Amt ſich gefallen laſſen muß, widrigen-
falls ſie des Wartegeldes verluſtig ſind 1).


Hierauf beruht die weitere Pflicht dieſer Beamten, die Reichs-
angehörigkeit und den Wohnſitz im Bundesgebiete beizubehalten.
Wollen ſie ihren Wohnſitz außerhalb des Bundesgebietes nehmen,
ſo bedürfen ſie dazu der Genehmigung des Reichskanzlers, alſo
gleichſam eines Urlaubs. Die Verletzung dieſer Pflicht zieht,
entſprechend dem Verlaſſen des Amtes ohne Urlaub oder mit
Ueberſchreitung deſſelben, den Verluſt des Gehaltes (Wartegeldes)
nach ſich 2) und kann möglicher Weiſe Veranlaſſung zu discipli-
nariſchem Einſchreiten geben.


b) Die Pflicht zur Treue dauert unverändert fort und
demgemäß die Pflicht zur Amtsverſchwiegenheit. Die in
den §§. 11 und 12 des Reichsbeamtengeſetzes enthaltenen Vorſchrif-
[483]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.
ten finden daher auf die zur Dispoſition geſtellten Reichsbeamten
volle Anwendung.


c) Die Pflicht eines achtungswürdigen Verhaltens
beſteht ebenfalls unvermindert fort. R.-G. §. 10.


d) In Anſehung der Beſchränkungen, denen Reichsbe-
amte unterliegen, gelten die in §. 15 Abſ. 1. des Geſetzes aufge-
ſtellten Vorſchriften über die Annahme von Titeln, Ehrenzeichen,
Geſchenken u. ſ. w. auch für die einſtweilig in den Ruheſtand ver-
ſetzten Reichsbeamten; dagegen iſt die Vorſchrift des §. 15 Abſ. 2
auf ſie unanwendbar, weil dieſelbe die actuelle Verwaltung eines
„Amtes“ vorausſetzt. Von der Beſchränkung hinſichtlich der Ueber-
nahme von Nebenämtern oder remunerirten Nebenbeſchäftigungen
oder des Betriebes eines Gewerbes ſind die einſtweilig in den
Ruheſtand verſetzten Beamten durch die ausdrückliche Anordnung
des §. 16 Abſ. 3 befreit.


e) Die Verletzung der Dienſtpflichten kann auch für die zur
Dispoſition geſtellten Reichsbeamten disciplinariſche Folgen haben.
Allein da ſie ein Amt nicht verwalten, ſo ſind ſie auch der Discipli-
nargewalt einer vorgeſetzten Dienſtbehörde nicht unter-
worfen; wohl aber kann das förmliche Disciplinar-Verfahren vor
den entſcheidenden Disciplinarbehörden gegen ſie eingeleitet werden.
Für die Zuſtändigkeit iſt der letzte dienſtliche Wohnſitz der Be-
amten entſcheidend 1).


4) Da die einſtweilige Verſetzung in den Ruheſtand das Be-
amtenverhältniß nicht löst, ſo kömmt bei Berechnung der Dienſt-
zeit die Zeit mit in Anrechnung, während welcher ein Beamter
zur Dispoſition geſtellt war 2), und die Vorſchriften über Sus-
penſion, Dienſtentlaſſung, Penſionirung und Dienſtentſetzung ſind
auch auf die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten an-
wendbar 3).


5) Auf die im §. 158 des Reichsbeamtengeſetzes aufgeführten
Beamten finden die Beſtimmungen über die einſtweilige Verſetzung
in den Ruheſtand keine Anwendung.


III.Vorläufige Dienſtenthebung. (Suspenſion.)

1) Hinſichtlich der Zuläſſigkeit derſelben ſind drei Fälle
31*
[484]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.
zu unterſcheiden, indem die Suspenſion vom Amte theils von Rechts-
wegen
eintritt, theils im ordentlichen Wege verfügt werden
kann, theils mit beſchränkten Wirkungen außerordentlicher
Weiſe ſtatthaben kann.


a)Kraft des Geſetzes tritt die Suspenſion vom Amte
ein:


α) wenn im gerichtlichen Strafverfahren die Verhaftung
des Reichsbeamten beſchloſſen worden iſt. Sie dauert bis zum
Ablauf des zehnten Tages nach Wiederaufhebung des Verhaftungs-
Beſchluſſes 1).


β) wenn gegen den Beamten ein noch nicht rechtskräftig ge-
wordenes gerichtliches Urtheil erlaſſen iſt, welches den Verluſt des
Amtes kraft des Geſetzes nach ſich zieht 2). Die Suspenſion dauert
ſo lange, bis entweder das Urtheil ſeine Rechtskraft erlangt oder
bis zum Ablauf des zehnten Tages nach eingetretener Rechtskraft
desjenigen Urtheils höherer Inſtanz, durch welches der angeſchul-
digte Beamte zu einer anderen Strafe als der bezeichneten ver-
urtheilt wird; falls aber das rechtskräftige Urtheil auf Freiheits-
ſtrafe lautet, bis das Urtheil vollſtreckt iſt 3).


γ) wenn im Disciplinar-Verfahren eine noch nicht rechts-
kräftige Entſcheidung ergangen iſt, welche auf Dienſtentlaſſung
lautet. Die Suspenſion dauert bis die in der Disciplinarſache
ergangene Entſcheidung die Rechtskraft erlangt 4).


δ) Gegen die Mitglieder des Oberhandelsgerichtes und des
Bundesamtes für das Heimathweſen tritt von Rechtswegen die
vorläufige Dienſtenthebung nur ein, wenn die Unterſuchungshaft
gegen ſie verhängt wird 5).


Hinſichtlich der Mitglieder des Rechnungshofes kommen die
Vorſchriften des Preuß. Geſ. v. 27. März 1872, hinſichtlich der
[485]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.
richterlichen Militär-Juſtiz-Beamten die Vorſchriften der betreffenden
Particularrechte in Anwendung 1).


b)Durch Verfügung der oberſten Reichsbehörde
kann ein Beamter vorläufig des Dienſtes enthoben werden, wenn
gegen ihn ein gerichtliches Verfahren eingeleitet oder die Einleitung
eines förmlichen Disciplinar-Verfahrens (§. 84) verfügt wird. Auch
im Laufe des einen oder anderen Verfahrens bis zur rechtskräftigen
Entſcheidung kann dieſe Verfügung noch getroffen werden 2).


Gegen ein Mitglied des Oberhandelsgerichtes kann, falls eine
Unterſuchung gegen daſſelbe eingeleitet wird, das Oberhandels-
Gericht mittelſt Plenarbeſchluſſes die Suspenſion vom Amte für
die Dauer der Unterſuchung ausſprechen 3). Für die Mitglieder
des Bundesamtes für das Heimathweſen ſteht dieſelbe Befugniß
dem Plenum des Bundesamtes zu 4).


c)Wenn Gefahr im Verzuge iſt, kann einem Beamten
auch von ſolchen Vorgeſetzten, die ſeine Suspenſion zu verfügen
nicht ermächtigt ſind, die Ausübung der Amtsverrichtungen vor-
läufig unterſagt werden. Es iſt aber darüber ſofort an die oberſte
Reichsbehörde zu berichten, von deren Entſcheidung und Maßnahme
es abhängt, ob ſich die Unterſagung der Amtsverrichtungen in eine
ordentliche Suspenſion verwandelt oder ob ſie hinwegfällt 5).


2) Die Wirkungen der vorläufigen Dienſtenthebung ſind
folgende:


a) Die Pflicht des Beamten zur Führung der Amtsgeſchäfte
wird nicht nur ſuspendirt, ſondern gleichzeitig ihm auch die mit
dieſer Pflicht verbundene Handhabung der Staatsgewalt und Ver-
tretungsbefugniß (die Amtsgewalt) entzogen, ſo daß die von ihm
dennoch vorgenommenen Dienſtgeſchäfte rechtlich nicht als Amts-
handlungen anzuſehen ſind. Ob zugleich der Thatbeſtand eines ſtraf-
baren Mißbrauchs der Amtsgewalt oder eines anderen Verbrechens
oder Vergehens vorliegt, iſt nur nach Lage des einzelnen Falles
zu beurtheilen.


b) Der Anſpruch des Beamten auf Gehalt wird durch die
[486]§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.
vorläufige Dienſtenthebung nicht berührt 1), wohl aber findet eine
theilweiſe Innebehaltung des Gehaltes ſtatt vom Ablauf des Monats
ab, in welchem die Suspenſion verfügt iſt 2). Die Innebehaltung
betrifft in der Regel die Hälfte des wirklichen Dienſteinkommens
d. h. ohne die für Dienſtunkoſten beſtimmten Beträge; in Fällen
der Noth des Beamten kann die oberſte Reichsbehörde die Inne-
behaltung des Dienſteinkommens auf den vierten Theil beſchränken 3).
Den einſtweilen in den Ruheſtand verſetzten Beamten wird ein
Viertel des Wartegelds inne behalten, wenn im Disciplinarver-
fahren eine noch nicht rechtskräftige Entſcheidung ergangen iſt, welche
auf Dienſtentlaſſung lautet 4).


Wird ein Mitglied des Oberhandelsgerichts oder des Bundes-
amtes für das Heimathweſen vom Amte ſuspendirt, ſo wird das
Recht auf den Genuß des vollen Gehalts während der Dauer der
Suspenſion nicht berührt 5).


Die Gehaltskürzung tritt ferner nicht ein, wenn die Voll-
ſtreckung eines auf Freiheitsſtrafe lautenden Urtheils ohne Schuld
des Verurtheilten aufgehalten oder unterbrochen wird, für die Zeit
des Aufenthalts oder der Unterbrechung; ebenſo für die zehntägige
Friſt nach Aufhebung der Haft reſp. nach der Verurtheilung, wenn
nicht vor Ablauf derſelben die Suspenſion vom Amte im Wege
des Disciplinarverfahrens beſchloſſen wird 6).


Auch die vorläufige Unterſagung der Ausübung von Amts-
Verrichtungen bewirkt keine Innebehaltung des Dienſteinkommens 7).


c) Im Uebrigen dauern die Rechte und Pflichten des Beamten
während der Zeit ſeiner vorläufigen Dienſtenthebung unverändert
fort 8).


[487]§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

3) Die Suspenſion vom Amte hört auf entweder
mit der Entfernung des Beamten aus dem Amte oder mit dem
Wieder-Eintritt deſſelben in die Amtsgeſchäfte; im letzteren Falle
iſt jedoch zu unterſcheiden, ob der Beamte gänzlich frei geſprochen
worden iſt, oder ob die entſcheidende Disciplinarbehörde ihn mit
einer Ordnungsſtrafe belegt hat.


a) wenn der Beamte freigeſprochen worden iſt, ſo muß ihm
der innebehaltene Theil des Gehaltes vollſtändig nachgezahlt
werden 1).


b) wenn der Beamte mit einer Ordnungsſtrafe belegt wird,
ſo iſt ihm der innebehaltene Theil inſoweit auszuzahlen, als der-
ſelbe nicht zur Deckung der ihn treffenden Unterſuchungskoſten und
der Ordnungsſtrafe erforderlich iſt. Für Stellvertretungskoſten
findet ein Abzug nicht ſtatt 2).


c) wenn der Beamte aus dem Amte entfernt wird, ſo iſt der
innebehaltene Theil des Gehaltes zu den Stellvertretungskoſten
und der Reſt zu den Unterſuchungskoſten des Disciplinarverfahrens
zu verwenden 3). Dem Beamten iſt auf Verlangen ein Nachweis
über die Verwendung zu machen; jedoch kann er Erinnerungen
dagegen im Rechtswege nicht geltend machen, ſondern nur im Wege
der Beſchwerde. Der durch die erwähnten Koſten nicht aufge-
brauchte Theil des zurückbehaltenen Einkommens wird dem Be-
amten nachgezahlt 4).


§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

Die Beendigungsarten zerfallen ihrer praktiſchen Bedeutung
nach in zwei Klaſſen, indem entweder mit der Aufhebung des Dienſt-
verhältniſſes alle durch daſſelbe begründeten Rechte des Beamten,
ſowohl die Ehrenrechte als die Vermögensrechte, aufhören, oder
Titel und Rang und Anſpruch auf Lebensunterhalt (Penſion) fort-
dauern.


8)


[488]§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

I.Ohne Anſpruch auf Penſion und Amtstitel
wird das Dienſtverhältniß beendigt:


1) Auf Antrag des Beamten, welcher ſeine Entlaſſung
fordert. Dieſelbe kann demſelben nicht verweigert werden. Obwohl
das Reichsgeſetz dieſen Grundſatz nicht ausdrücklich ausſpricht, ſo
beruht er nicht nur auf einer allgemeinen Rechtsüberzeugung 1),
einem wirklichen gemeinen Gewohnheitsrecht, ſondern er ergiebt
ſich aus der Natur des Beamten-Verhältniſſes 2). Daſſelbe er-
fordert von dem Beamten nicht beſtimmt begränzte Leiſtungen,
ſondern die Hingabe ſeiner ganzen Perſönlichkeit an den Staat
zur Förderung des Staatswohls, Treue, Opferwilligkeit, Berufs-
freudigkeit; es kann daher Niemand gezwungen in einem ſolchen
Dienſt gehalten werden. Aber das Recht des Beamten, das Dienſt-
verhältniß jeder Zeit aufzulöſen, wird auch noch dadurch begründet,
daß es das Correlat zu der Disciplinargewalt des Staates iſt.
Staat und Beamter ſtehen einander nicht wie gleichberechtigte
Parteien, ſondern wie Herr und Diener gegenüber; der Staat
hat ſein Hoheitsrecht, ſeine Disciplinargewalt, um den Diener zu
zwingen; der Beamte hat den Schutz ſeiner Freiheit und Perſön-
lichkeit in dem Recht, den Dienſt zu kündigen und ſich dem dadurch
begründeten Zwange zu entziehen. Ohne dieſes Recht wäre der
Staatsdienſt Sclaverei.


Wenn ein Beamter von dieſem Rechte Gebrauch macht, ſo
hat er bis zur Ertheilung der Entlaſſung noch alle Rechte und
Pflichten des Beamten und er hat daher die Amtsgeſchäfte noch
bis zu dieſem Zeitpunkte zu führen. Die Entlaſſung der Reichs-
beamten verfügt der Kaiſer, beziehentl. die von ihm dazu ermächtigte
Reichsbehörde 3). Hinſichtlich der mittelbaren Reichsbeamten kann es
aber keinem Zweifel unterliegen, daß ſie ihre Entlaſſung von dem
Staate (Landesherrn) zu erhalten haben, der ſie angeſtellt hat.


[489]§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

2) Der Staat hat dagegen der Regel nach nicht das Recht,
das Dienſtverhältniß einſeitig zu löſen. Zahlreiche praktiſche
Gründe ſprechen gegen dieſes Recht 1). Juriſtiſch iſt die Folge-
rung nicht begründet, daß, weil der Beamte jederzeit aus dem
Dienſte zu ſcheiden berechtigt iſt, auch der Staat befugt ſein müſſe,
ihn jederzeit zu entlaſſen; denn durch den Anſtellungsvertrag ent-
ſtehen durchaus ungleiche Rechte und Pflichten für Staat und
Beamten. Der Staat hat im Weſentlichen keine andere Leiſtung
als die Zahlung des Gehaltes zu gewähren, der Beamte ſetzt ſeine
Perſönlichkeit und in der Mehrzahl der Fälle ſeine ganze Lebens-
thätigkeit ein; das Intereſſe des Staates iſt überdies gewahrt
durch das Recht, einſeitig das Dienſtverhältniß im Wege des
Disciplinarverfahrens aufzuheben. Das Reichsbeamten-Geſetz hat
daher im §. 2 die Beſtimmung getroffen, daß die Reichsbeamten
als auf Lebenszeit angeſtellt gelten, ſoweit die Anſtellung der
Reichsbeamten nicht unter dem ausdrücklichen Vorbehalt
des Widerrufs oder der Kündigung erfolgt 2).


Von dieſem Vorbehalt wird nach einer aus der Preußiſchen
Verwaltungspraxis 3) herübergenommenen Regel Gebrauch gemacht
bei denjenigen Unterbeamten, deren Dienſt keine Ausbildung er-
fordert, ſondern größtentheils nur mechaniſch iſt 4). Außerdem
giebt es einige Kategorien von Beamten im Reſſort des Auswärtigen
Amtes, der Marine- und Militär-Verwaltung, der Poſt- und Tele-
graphen-Verwaltung und der Verwaltung der Reichseiſenbahnen,
welche auf Probe, Kündigung oder Widerruf angeſtellt werden 5).


[490]§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

Die Entlaſſung von Beamten, welche unter einem ſolchen
Vorbehalte angeſtellt ſind, erfolgt durch diejenige Behörde, welche
die Anſtellung verfügt hat; in Anſehung der mittelbaren Reichsbe-
amten alſo durch die Landesbehörde 1).


3) Von Rechtswegen hört das Dienſtverhältniß auf durch
ein rechtskräftiges richterliches Erkenntniß, wenn durch daſſelbe der
Beamte zu einer Zuchthausſtrafe verurtheilt wird 2) oder wenn
ihm die bürgerlichen Ehrenrechte oder die Fähigkeit zur Bekleidung
öffentlicher Aemter aberkannt werden 3), oder wenn auf den Ver-
luſt der von dem Verurtheilten bekleideten öffentlichen Aemter er-
kannt wird 4).


Strengere Vorſchriften beſtehen für die Mitglieder des Reichs-
Oberhandelsgerichts und des Bundesamtes für das Heimathsweſen.
Ihr Dienſtverhältniß hört auf durch rechtskräftige Verurtheilung
zum Amtsverluſte, zu einer entehrenden Strafe, zu einer nicht
entehrenden Freiheitsſtrafe von längerer als ein-
jähriger Dauer oder wegen eines entehrenden Ver-
brechens oder Vergehens
zu einer Strafe. Entſteht Zweifel
darüber, [ob] einer der angeführten Fälle vorliege, ſo wird hier-
über im Plenum des Oberhandelsgerichts, beziehentlich des Bun-
desamtes, entſchieden 5).


4) Dienſtentlaſſung im Disciplinarverfahren6).


II.Mit Anſpruch auf Penſion und Amtstitel
wird das Beamten-Verhältniß beendigt durch Verſetzung des
Beamten in den Ruheſtand wegen Dienſtunfähigkeit
.
Sowohl der Beamte als der Staat ſind berechtigt im Falle der
Dienſtunfähigkeit des Beamten die Verſetzung deſſelben in den
Ruheſtand zu verlangen und es ſind demgemäß zwei Fälle zu unter-
ſcheiden:


1) Penſionirung auf Antrag des Beamten.


a)Jeder Reichsbeamte, welcher ſein Dienſteinkommen aus
der Reichskaſſe bezieht, iſt berechtigt ſeine Penſionirung zu
[491]§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.
verlangen, wenn er nach einer Dienſtzeit von wenigſtens zehn
Jahren in Folge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche
ſeiner körperlichen oder geiſtigen Kräfte zu der Erfüllung ſeiner
Amtspflichten dauernd unfähig wird 1).


Daſſelbe Recht haben auch die unter dem Vorbehalte des
Widerrufs angeſtellten Beamten, wenn ſie eine etatsmäßige Stelle
bekleiden; iſt die von ihnen bekleidete Stelle in den Beſoldungs-
Etats nicht aufgeführt, ſo haben ſie zwar keinen geſetzlichen An-
ſpruch auf Penſion, es kann ihnen aber bei ihrer Verſetzung in
den Ruheſtand eine Penſion bewilligt werden 2).


b) Jeder Reichsbeamte iſt auch ſchon vor Ablauf einer zehn-
jährigen Dienſtzeit berechtigt, ſeine Penſionirung zu verlangen,
wenn die Dienſtunfähigkeit die Folge einer Krankheit, Verwundung
oder ſonſtigen Beſchädigung iſt, welche der Beamte bei Ausübung
des Dienſtes oder aus Veranlaſſung deſſelben ohne eigene Ver-
ſchuldung ſich zugezogen hat 3).


Wenn außer dieſem Falle die Dienſtunfähigkeit vor Vollen-
dung des zehnten Dienſtjahres eintritt, ſo hat der Beamte zwar
keinen geſetzlichen Anſpruch auf Penſion 4); bei vorhandener Be-
dürftigkeit kann ihm aber durch Beſchluß des Bundesrathes eine
Penſion auf beſtimmte Zeit oder lebenslänglich bewilligt werden 5).


c) Der Reichskanzler, der Präſident des Reichskanzler-Amtes,
der Chef der Kaiſerlichen Admiralität und der Staatsſekretär im
Auswärtigen Amte können auch ohne eingetretene Dienſt-
unfähigkeit
ihre Entlaſſung fordern und haben einen Anſpruch
auf die geſetzliche Penſion, wenn ſie mindeſtens zwei Jahre das
betreffende Amt bekleidet haben 6).


d) Der Beamte, welcher ſeine Penſionirung nachſucht, muß
den Beweis ſeiner Dienſtunfähigkeit und, ſoweit es erforderlich,
den Beweis, daß die Dienſtunfähigkeit in Folge des Dienſtes ein-
[492]§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.
getreten iſt (§. 36), erbringen. Es iſt jedoch im Allgemeinen ge-
nügend, wenn die unmittelbar vorgeſetzte Dienſtbehörde des ſeine
Penſionirung nachſuchenden Beamten die Erklärung abgiebt, daß
ſie nach pflichtmäßigem Ermeſſen den Beamten für unfähig halte,
ſeine Amtspflichten ferner zu erfüllen. Dieſe Erklärung iſt aber
für die Behörde, welche über die Verſetzung in den Ruheſtand zu
entſcheiden hat, nicht bindend; die letztere Behörde kann theils
andere Beweismittel erfordern, theils die beigebrachten Beweismittel
der vorgeſetzten Dienſtbehörde entgegen für ausreichend erachten 1).


e) Ueber das Verlangen des Beamten, penſionirt zu werden,
findet ein Verfahren im Rechtswege nicht ſtatt. Die oberſte Reichs-
behörde hat vielmehr zu entſcheiden, ob und zu welchem Zeitpunkte
dem Antrage ſtattzugeben iſt, ſowie ob und welche Penſion dem
Beamten zuſteht. Bei denjenigen Beamten, welche eine Kaiſerliche
Beſtallung erhalten haben, iſt die Genehmigung der Kaiſers zur
Verſetzung in den Ruheſtand erforderlich 2). Die Entſcheidung
der oberſten Verwaltungsbehörde iſt, wenn der Beamte ſeinen
Anſpruch auf Penſion vor Gericht verfolgt, für die Beurtheilung
dieſes Anſpruchs maßgebend 3).


2. Penſionirung auf Verlangen der Reichsre-
gierung
.


a) Ohne eingetretene Dienſtunfähigkeit können jederzeit ent-
laſſen werden der Reichskanzler, der Präſident des Reichskanzler-
Amtes, der Chef der Kaiſerlichen Admiralität und der Staats-
Sekretär im Auswärtigen Amte. Sie haben den Anſpruch auf
Penſion, wenn ſie mindeſtens zwei Jahre das betreffende Amt be-
kleidet haben 4).


b) Jeder Reichsbeamte kann von dem Zeitpunkte ab, mit
welchem die Penſionsberechtigung für ihn eingetreten iſt, wider
ſeinen Willen penſionirt werden, wenn er durch Blindheit, Taub-
heit oder ein ſonſtiges Gebrechen oder wegen Schwäche ſeiner
körperlichen oder geiſtigen Kräfte zu der Erfüllung ſeiner Amts-
pflichten dauernd unfähig iſt 5). Das Verlangen der Regierung
[493]§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.
iſt dem Beamten, reſp. einem demſelben hierzu beſonders zu be-
ſtellenden Kurator, von der vorgeſetzten Dienſtbehörde unter An-
gabe der Gründe und des zu gewährenden Penſionsbetrages mit-
zutheilen. Erhebt der Beamte innerhalb ſechs Wochen keine Ein-
wendung, ſo wird ebenſo verfahren, als hätte der Beamte ſeine
Penſionirung beantragt; er erhält jedoch den vollen Gehalt noch
bis zum Ablauf desjenigen Vierteljahres, welches auf den Monat
folgt, in dem ihm die Verfügung über die erfolgte Verſetzung in
den Ruheſtand mitgetheilt iſt 1).


Erhebt der Beamte jedoch Widerſpruch, ſo findet ein ver-
waltungsgerichtliches Verfahren mit Ausſchluß des Rechtsweges 2)
ſtatt. Die oberſte Reichsbehörde hat zu beſchließen, ob daſſelbe
eintreten ſoll, und den Beamten zu ernennen, welchem die Inſtruk-
tion der Sache obliegt. Der letztere hat die ſtreitigen Thatſachen
zu erörtern und die Zeugen und Sachverſtändigen zu vernehmen.
Zu den Verhandlungen iſt ein vereideter Protokollführer zuzuziehen.
Der Beamte, welcher in den Ruheſtand verſetzt werden ſoll, oder
deſſen Kurator, kann den Verhandlungen beiwohnen und zum
Schluß ſeine Erklärung abgeben und ſeinen Antrag ſtellen. Die
geſchloſſenen Akten werden der oberſten Reichsbehörde eingereicht,
welche eine Vervollſtändigung der Ermittelungen anordnen kann 3).


Die Entſcheidung erfolgt in Betreff derjenigen Beamten,
welche eine Kaiſerliche Beſtallung erhalten haben, vom Kaiſer im
Einvernehmen mit dem Bundesrathe; in Betreff der übrigen Be-
amten von der oberſten Reichsbehörde, gegen deren Entſcheidung aber
dem Beamten binnen einer Friſt von vier Wochen nach dem
Empfang derſelben der Rekurs an den Bundesrath zuſteht 4).


Die Zahlung des vollen Gehaltes dauert bis zum Ablauf
des Vierteljahres das auf den Monat folgt, in welchem dem in
Ruheſtand verſetzten Beamten die Entſcheidung des Kaiſers oder
der oberſten Reichsbehörde zugeſtellt worden iſt 5).


[494]§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

Die baaren Auslagen für die durch die Schuld des zu pen-
ſionirenden Beamten veranlaßten erfolgloſen Ermittelungen fallen
demſelben zur Laſt; andere Koſten werden für das Verfahren nicht
in Anſatz gebracht 1).


c) Vor dem Zeitpunkte, mit welchem die Penſionsberechtigung
eintreten würde, kann ein dienſtunfähig gewordener Reichsbeamter
nach denſelben Vorſchriften unfreiwillig in den Ruheſtand verſetzt
werden, wenn ihm diejenige Penſion bewilligt wird, welche ihm
bei Erreichung des vorgedachten Zeitpunktes zuſtehen würde. Hierzu
iſt aber eine mit Zuſtimmung des Bundesrathes zu erlaſſende
Verfügung der Reichsbehörde erforderlich 2).


Wird dem Beamten dieſe Penſion nicht gewährt, ſo kann er
gegen ſeinen Willen nur unter Beobachtung derjenigen Formen,
welche für das förmliche Disciplinar-Verfahren vorgeſchrieben
ſind, in den Ruheſtand verſetzt werden 3).


d) Die Vorſchriften des Reichsbeamtengeſetzes über die un-
freiwillige Verſetzung in den Ruheſtand finden keine Anwendung
auf die im §. 158 dieſes Geſetzes aufgeführten Reichsbeamten.
Statt ihrer gelten die Beſtimmungen des Preuß. Geſ. v. 7. Mai
1851 §. 56—63 4). Sie weichen darin ab, daß der Beſchluß über
die Verſetzung in den Ruheſtand, ſowohl was die Einleitung des
Verfahrens als die Entſcheidung nach Feſtſtellung des Thatbeſtan-
des anlangt, nicht von der oberſten Verwaltungsbehörde reſp. dem
Bundesrathe, ſondern von dem Plenum des Oberhandelsgerichts
und des Bundesamtes für das Heimathweſen hinſichtlich der Mit-
glieder dieſer Behörden, des Preuß. Obertribunals hinſichtlich der
Mitglieder des Rechnungshofes 5) und General-Auditoriats 6), und
vom Preuß. General-Auditoriat hinſichtlich der Marine-Auditeure
und der Auditeure der unter Preußiſcher Verwaltung ſtehenden
Kontigente 7) zu faſſen iſt.


[495]§. 46. Einfluß des Beamten-Verhältniſſes auf and. rechtl. Verhältniſſe.
§. 46. Einfluß des Beamten-Verhältniſſes auf andere rechtliche
Verhältniſſe.

Das Staatsdiener-Verhältniß kann rechtliche Erheblichkeit in
mehrfachen Beziehungen haben, welche nicht mit dem Anſtellungs-
Vertrage und den durch denſelben begründeten Rechten und Pflich-
ten in nothwendigem, logiſchem Zuſammenhang ſtehen. Es können
nämlich für Beamte Rechtsregeln aufgeſtellt ſein, welche das zwi-
ſchen dem Staate und dem Beamten beſtehende Rechtsverhältniß
nicht zum Objekt haben, ſondern nur zum Motiv; ſei es, daß ſie die
Anwendbarkeit allgemeiner Rechtsſätze auf Beamte ausſchließen, weil
durch dieſelben die volle Erfüllung der Beamtenpflichten beinträchtigt
werden könnte, ſei es, daß ſie ſpezielle Rechtsſätze aufſtellen, für
deren Anwendung die Beamten-Eigenſchaft Vorausſetzung iſt, um
den thatſächlichen Verhältniſſen Rechnung zu tragen, welche bei
Gelegenheit der Amtsführung entſtehen können. Die hier in Be-
tracht kommenden Rechtsſätze betreffen theils den Gerichtsſtand der
Beamten, theils Befreiungen derſelben von allgemeinen ſtaatsbür-
gerlichen Laſten, theils Beſchränkungen oder Begünſtigungen der-
ſelben in privatrechtlichen Verhältniſſen.


Hinſichtlich des Gerichtsſtandes beſteht die Nothwendigkeit, für
den Fall, daß der Beamte im Auslande ſeinen Amtsſitz hat, die
Zuſtändigkeit eines inländiſchen Gerichtes anzuordnen, und es kann
ferner im Inlande für den Beamten ein dienſtlicher Wohnſitz
(domicilium necessarium) mit der Wirkung beſtehen, daß derſelbe
einen allgemeinen Gerichtsſtand begründet, ſelbſt wenn der Beamte
thatſächlich ſeinen Wohnſitz in einem andern Gerichtsſprengel, etwa
in einem Nachbarorte ſeines Amtsſitzes hat.


In Betreff der Befreiungen von allgemeinen Laſten kommen
in Betracht Begünſtigungen oder Befreiungen rückſichtlich der Be-
ſteuerung, der Verpflichtung zur Uebernahme von Vormundſchaften,
von Gemeindeämtern, des Geſchworenen-Dienſtes.


In privatrechtlichen Verhältniſſen betreffen die für Beamte ge-
gebenen Spezialvorſchriften Beſchränkungen der Zwangsvollſtreckung
und der Arreſtlegung auf das Dienſteinkommen, die Aufhebung von
Mieths-Verträgen im Falle der Verſetzung, die Mitwirkung einer
Staatsbehörde bei der Siegelung des Nachlaſſes eines Staatsbe-
amten, die Nothwendigkeit von Eheconſenſen, die Vorrechte des
[496]§. 46. Der Einfluß des Beamten-Verhältniſſes.
Fiskus bei vermögensrechtlichen Anſprüchen gegen den Beamten in
und außerhalb des Concurſes.


In allen dieſen Beziehungen hat das Reichsbeamten-Geſetz
§. 19 den Grundſatz aufgeſtellt, daß, ſofern nicht durch Reichsge-
ſetz Beſtimmung getroffen iſt, die aktiven und die aus dem Dienſt
geſchiedenen Reichsbeamten nach denſelben Rechtsvorſchriften zu
beurtheilen ſind, welche an ihren Wohnorten für die aktiven, be-
ziehungsweiſe aus dem Dienſte geſchiedenen Staatsbeamten gelten.
In den verſchiedenen Rechtsgebieten Deutſchlands ſind demnach die
rechtl. Verhältniſſe der Reichsbeamten verſchieden normirt; dagegen
ſind Reichsbeamte und Landesbeamte in jedem einzelnen Rechtsge-
biet gleichgeſtellt.


„Für diejenigen Reichsbeamten, deren Wohnort außerhalb
der Bundesſtaaten ſich befindet, kommen hinſichtlich dieſer Rechts-
verhältniſſe vor Deutſchen Behörden die geſetzlichen Beſtimmungen
ihres Heimathsſtaates und in Ermangelung eines ſolchen, die
Vorſchriften des Preußiſchen Rechts zur Anwendung“ 1). Unter
dem Heimathsſtaat iſt derjenige Deutſche Staat zu verſtehen, in
welchem der Reichsbeamte die Staatsangehörigkeit hat. Unter der
„Ermangelung eines Heimathsſtaates“ iſt daher gemeint „in
Ermangelung der Reichsangehörigkeit“; ſo daß nicht etwa das
Recht des Heimathsſtaates eines im Reichsdienſt angeſtellten Aus-
länders Anwendung finden darf, was nach der Wortfaſſung des
§. 19 allerdings bei buchſtäblicher Interpretation nicht ausgeſchloſſen
iſt. Für den anderen Fall, der wohl öfter vorkommen mag 2),
daß ein Reichsbeamter in mehreren Deutſchen Staaten ſtaats-
angehörig iſt, hat das Geſetz keine Beſtimmung getroffen, welches
Staates Geſetzgebung alsdann maaßgebend iſt, und ebenſo wenig,
was unter den „Vorſchriften des Preußiſchen Rechts“ zu verſtehen
iſt, wenn in den verſchiedenen Rechtsgebieten Preußens verſchiedene
Vorſchriften gelten 3).


[497]auf andere rechtliche Verhältniſſe.

Hinſichtlich des Gerichtsſtandes derjenigen Reichs-
beamten, deren dienſtlicher Wohnſitz ſich im Auslande befindet,
hat das Reichs-Beamtengeſetz §. 21 1) folgende Anordnungen ge-
troffen:


Sie behalten den ordentlichen perſönlichen Gerichtsſtand,
welchen ſie in ihrem Heimathsſtaate hatten 2). In Ermange-
lung eines ſolchen Gerichtsſtandes iſt ihr ordentlicher perſönlicher
Gerichtsſtand in der Hauptſtadt des Heimathsſtaates begründet 3).
Hat der Reichsbeamte keinen Heimathsſtaat d. h. mangelt ihm die
Reichsangehörigkeit, ſo iſt ſein Gerichtsſtand vor dem Stadtgericht
zu Berlin begründet. Ausgenommen von dieſen Beſtimmungen
ſind die Wahlkonſuln, welche an dem Orte ihres Wohnſitzes
ihren ordentlichen Gerichtsſtand haben. Befindet ſich der dienſtliche
Wohnſitz des Reichsbeamten in einem Lande, in welchem Reichs-
Konſular-Gerichtsbarkeit beſteht, ſo kann der Beamte zugleich dieſer
Gerichtsbarkeit nach Maßgabe des Geſetzes vom 8. Nov. 1867
unterliegen 4).


In Betreff der Militärbeamten ſind die Vorſchriften
der Landesgeſetze durch die im Reichsmilitärgeſetz v. 2. Mai 1874
§. 39 ff. getroffenen Anordnungen theils aufgehoben theils aus-
drücklich in Kraft erhalten z. B. in den §§. 45. 46. 48.


Hinſichtlich des Eheconſenſes iſt im §. 40 des citirten
Geſetzes angeordnet, daß die Militärperſonen des Friedensſtandes
zu ihrer Verheirathung der Genehmigung ihrer Vorgeſetzten be-
dürfen; im Reichsgeſetz über die Eheſchließung v. 6. Febr. 1875
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 32
[498]§ 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
§. 38 ſind die Vorſchriften, welche die Ehe der Militärper-
ſonen
, der Landesbeamten und der Ausländer von einer
Erlaubniß abhängig machen, in Kraft erhalten worden. Für die
Civil-Beamten des Reiches iſt demnach ein Conſens nicht erfor-
derlich 1).


Eine weitere Ausgleichung der gegenwärtig noch beſtehenden
Verſchiedenheiten wird durch die allgemeine Civilprozeß- 2) und
Konkurs-Ordnung 3) bewirkt werden.


Im Übrigen iſt die Thatſache, daß die Rechtsverhältniſſe der
Reichsbeamten in einzelnen Beziehungen durch die Landesgeſetze
normirt werden, ebenſo eine Folge des bundesſtaatlichen
Charakters des Reiches, wie die gegenüberſtehende Thatſache, daß
die Rechtsverhältniſſe der Landesbeamten in zahlreichen Punkten
durch Reichsgeſetze geregelt ſind.


Vierter Abſchnitt.
Der Reichstag.


§. 47. Allgemeine Charakteriſtik.


Die Inſtitution des Reichstages des Deutſchen Reiches bietet
ſtaatsrechtlich keine Schwierigkeiten dar wie Kaiſerthum und Bun-
desrath, da ſie keine neue und der Reichsverfaſſung eigenthümliche
Einrichtung iſt, ſondern dem im conſtitutionellen Staatsrecht längſt
wiſſenſchaftlich erörterten Begriff der ſogenannten Volksvertretung
entſpricht. In politiſcher Beziehung nimmt das Deutſche Reich
zwar unter allen großen Staaten auch in dieſer Hinſicht eine be-
ſondere Stellung ein, weil hier das Einkammerſyſtem mit einem
[499]§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
allgemeinen, faſt unbeſchränkten Wahlrecht verbunden und dem
Reichstage eine höchſt ausgedehnte Kompetenz eingeräumt iſt; ſo
daß die Forderungen der demokratiſchen Partei in der Deutſchen
Reichsverfaſſung in ungewöhnlichem Grade befriedigt worden ſind.
Für die ſtaatsrechtliche Conſtruktion des Reichstages als eines
Organs des Reiches und für die rein juriſtiſche Beſtimmung der
ihm obliegenden Funktionen iſt dies aber nicht von erheblicher Be-
deutung. Seinem Begriff und Weſen und ſeiner Stellung im
Verfaſſungsbau des Reiches nach unterſcheidet ſich der Reichstag
nicht von anderen Volksvertretungen, Parlamenten, Kammern,
Landtagen 1).


Eine beſondere Unterſuchung erfordert allein die Frage, welchen
Einfluß der bundesſtaatliche Charakter des Reiches auf die
Inſtitution des Reichstages ausübt. Es wäre an und für ſich
möglich geweſen, das für die Bildung des Bundesrathes maaß-
gebende Princip auf den Reichstag inſofern anzuwenden, daß die
Bevölkerungen der Einzelſtaaten Abgeordnete wählen, welche im
Reichstage zwar zu einem einheitlichen Collegium ſich vereinigen,
32*
[500]§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
welche aber nicht das Deutſche Volk als Geſammtheit, ſondern das
Volk der einzelnen Staaten, in denen ſie gewählt ſind, zu vertreten
haben. Auf dieſem Gedanken beruhte der in dem Oeſterreichiſchen
Reformprojekt von 1863 enthaltene Vorſchlag einer ſogenannten
Delegirten-Verſammlung. Schon damals hob der Bericht des
Preußiſchen Staatsminiſteriums v. 15. Sept. 1863 hervor, daß
eine ſolche Verſammlung „auf die Vertretung von Partikular-
Intereſſen, nicht von Deutſchen Intereſſen hingewieſen iſt“ und
„daß das Spiel und Widerſpiel dynaſtiſcher und partikulariſtiſcher
Intereſſen ſein Gegengewicht und ſein Correctiv in einer wahren,
aus direkter Betheiligung der ganzen Nation hervorgehenden
National-Vertretung finden muß“ 1).


Derſelbe Geſichtspunkt wurde bei den Preußiſchen Reform-
Vorſchlägen von 1866 entſchieden betont und feſtgehalten und er
hat in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung einen klaren und un-
zweideutigen Ausdruck im Art. 29 gefunden:
„Die Mitglieder des Reichstages ſind Vertreter des ge-
ſammten Volkes und an Aufträge und Inſtruktionen nicht
gebunden.“


Bei der Erweiterung des Norddeutſchen Bundes zum Deutſchen
Reiche wurde dieſer Charakter des Reichstages zwar beibehalten
und der Art. 29 deshalb unverändert gelaſſen, es wurde aber
zu Art. 28 der Zuſatz beigefügt:
Bei der Beſchlußfaſſung über eine Angelegenheit, welche
nach den Beſtimmungen dieſer Verfaſſung nicht dem ganzen
Bunde gemeinſchaftlich iſt, werden die Stimmen nur der-
jenigen Mitglieder gezählt, die in Bundesſtaaten gewählt
ſind, welchen die Angelegenheit gemeinſchaftlich iſt.


Dieſe Beſtimmung war analog der im Art. 7 Abſ. 4. vom
Bundesrath getroffenen Anordnung. Während die letztere aber
mit dem Weſen des Bundesrathes, der aus Vertretern der ein-
zelnen Bundesglieder beſteht, vollkommen übereinſtimmt 2), ſtand
Art. 28 Abſ. 2 im ſchärfſten Widerſpruch mit dem Weſen des
Reichstages, deſſen Mitglieder nach Art. 29 nicht Vertreter der
Bevölkerungen einzelner Staaten, ſondern des geſammten Volkes
[501]§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
ſind 1). Da die logiſche Inconſequenz auch praktiſche Uebelſtände
mit ſich brachte, ſo wurde bereits durch das Reichsgeſetz vom 24.
Febr. 1873 (R.-G.-Bl. S. 45.) dieſe, den 2. Abſatz des Art. 28
bildende, Verfaſſungsbeſtimmung wieder beſeitigt 2).


In dem Reichstage hat ſomit die dem Deutſchen Reiche an-
gehörende Bevölkerung als Geſammtheit eine einheitliche Vertre-
tung gefunden. Mitgliedſchaftsrechte der einzelnen Bun-
desglieder kommen in keiner Beziehung mittelſt des Reichstages
zur Ausübung, ſondern der Reichstag iſt ausſchließlich ein Organ
des Reiches als einer über den Einzelſtaaten ſtehenden ſtaatlichen
Ordnung. Demgemäß iſt es auch keineswegs inconſequent, daß
Elſaß-Lothringen nicht im Bundesrathe, wohl aber im Reichstage
vertreten iſt. Im Bundesrathe kann es nicht vertreten ſein,
weil es nicht Mitglied des Bundes iſt; zum Reichstage muß es
Abgeordnete zu wählen berechtigt ſein, weil die Bevölkerung von
Elſaß-Lothringen ſtaatsrechtlich ein Theil des Deutſchen Volkes iſt.


Dem Weſen des Reichstages als einer Vertretung des geſamm-
ten Deutſchen Volkes entſprechend iſt die Beſtimmung des Wahl-
geſetzes vom 31. Mai 1869 §. 1. (B.-G.-Bl. S. 145):
„Wähler für den Deutſchen Reichstag iſt jeder Deutſche
— — — — in dem Bundesſtaate, wo er ſeinen Wohnſitz
hat.“


Wären die in Preußen, Sachſen, Bayern gewählten Reichs-
tags-Abgeordneten Vertreter der Angehörigen dieſer Staaten, ſo
könnten landesfremde Reichsangehörige an den Wahlen keinen
Antheil nehmen 3); iſt der Reichstags-Abgeordnete aber ein Ver-
treter des geſammten Deutſchen Volkes, ſo genügt die Reichs-An-
gehörigkeit zur Begründung des Wahlrechts und es kann daſſelbe
[502]§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
ausgeübt werden, wo immer der Reichs-Angehörige im Deutſchen
Reichsgebiete ſeinen Wohnſitz hat.


Nur in einer Beziehung erweiſt ſich der bundesſtaatliche
Charakter des Reiches auch hinſichtlich des Reichstages als wirk-
ſam und zwar in Bezug auf die Abgränzung der Wahlkreiſe. Das
Princip, daß der Reichstag eine Vertretung des geſammten Volkes
iſt, würde bei conſequenter Durchführung die Wirkung äußern,
daß die Wahlkreiſe ohne Rückſicht auf die Gränzen der Einzel-
ſtaaten ausſchließlich nach der Einwohnerzahl und nach örtlichen
Verhältniſſen abgegränzt würden. Dieſe Conſequenz iſt jedoch nicht
gezogen worden. Nach dem Wahlgeſetz v. 31. Mai 1869 §. 5
werden die Abgeordneten gewählt „in jedem Bundesſtaate.“ Kein
Wahlkreis umfaßt Gebiete verſchiedener Staaten. In einem Bun-
desſtaate, deſſen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, wird
trotzdem Ein Abgeordneter gewählt. Der Grundſatz, daß jeder
Wahlkreis einen räumlich zuſammenhängenden, möglichſt abgerunde-
ten Bezirk bilden ſolle, erleidet eine Ausnahme hinſichtlich der
Enclaven. In dem Wahlgeſetz, dem dazu erlaſſenen Reglement
v. 28. Mai 1870 Anlage C. (B.-G.-Bl. S. 289) und dem Art.
20 der R.-V. wird ein Katalog aufgeſtellt, wie viele Abgeordnete
auf die einzelnen Staaten kommen. Hiernach kommt, wäh-
rend in ſubjektiver Beziehung die Staatsangehörigkeit der Wähler
für die Wahlberechtigung juriſtiſch unerheblich iſt, in räumlicher
Beziehung die Staatsangehörigkeit des Gebietes in Betracht und
da thatſächlich die überwiegende Maſſe der Bevölkerung eines Ge-
bietes die Staatsangehörigkeit des letzteren theilt, ſo iſt in Rückſicht
auf die Bildung der Wahlkörper die Gliederung des „geſammten“
Deutſchen Volkes in Bevölkerungen der Einzelſtaaten keineswegs
ganz wirkungslos.


II. Von den Mitgliedern des Reichstages wird im Art. 29
derſelbe Ausdruck gebraucht wie im Art. 6 von den Mitgliedern
des Bundesrathes, ſie ſind „Vertreter.“ Während aber die Bun-
desrathsmitglieder grade darum, weil ſie Vertreter der Bundes-
glieder ſind, an ihre Aufträge und Inſtruktionen ſich halten müſſen,
ſind die Mitglieder des Reichstages als Vertreter des „geſammten
Volkes“ an Aufträge und Inſtruktionen nicht gebunden. Die
praktiſche Tendenz dieſer Beſtimmung iſt zwar nur die, den Ge-
danken auszuſchließen, daß der einzelne Reichstags-Abgeordnete
[503]§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
ein Bevollmächtigter oder Mandatar desjenigen Wahlkörpers ſei,
dem er ſeine Berufung in den Reichstag verdankt; für die theore-
tiſche Betrachtung ergiebt ſich aber dieſer Satz lediglich als eine
logiſche Conſequenz eines viel tiefer liegenden, allgemeinen Princips.
Ebenſo wenig wie die Reichstagsmitglieder an Aufträge und
Inſtruktionen der einzelnen Wahlkörper gebunden ſind, ebenſowenig
ſind ſie an Aufträge und Inſtruktionen des „geſammten Volkes“
gebunden; ſie ſind überhaupt keine Vertreter in dem Sinne, wie
dieſer Ausdruck im Art 6 von den Bundesraths-Mitgliedern und
wie er in der Rechtswiſſenſchaft techniſch gebraucht wird; ſie haben
keine Vollmacht und keinen Auftrag und zwar deshalb nicht, weil
es an einem Rechtsſubjekt fehlt, welches ihnen Vollmacht oder
Auftrag ertheilen könnte. Die einzelnen Staaten ſind Rechts-
ſubjekte, deshalb können ſie im Bundesrath durch Vertreter ihre
Rechte und ihren Willen geltend machen. Das geſammte Deutſche
Volk hat keine vom Deutſchen Reiche verſchiedene und ihm gegen-
über ſelbſtſtändige Perſönlichkeit, iſt kein Rechtsſubjekt und hat
juriſtiſch keinen Willen; es iſt daher außer Stande, eine Vollmacht
oder einen Auftrag zu ertheilen und Rechte oder Willensacte durch
Vertreter auszuüben. Eine poſitive juriſtiſche Bedeutung hat die Be-
zeichnung der Reichstagsmitglieder als Vertreter des geſammten
Volkes daher nicht; im juriſtiſchen Sinne ſind die Reichstagsmit-
glieder Niemandes Vertreter; ihre Befugniſſe ſind nicht von einem
anderen Rechtsſubjekt abgeleitete; es giebt keinen einzigen Punkt
in der ganzen Rechtsſtellung der Reichstagsmitglieder, der von
den Rechtsgrundſätzen über Stellvertretung, Vollmacht oder Man-
dat beherrſcht würde. Der Sinn der Redewendung, daß die Mit-
glieder des Reichstages Vertreter des geſammten Volkes ſind, iſt
vielmehr ausſchließlich ein politiſcher. Der Ausdruck will ſagen:
Der Reichstag iſt dasjenige Organ, durch welches der Antheil der
Reichsangehörigen an den Willensentſchlüſſen und der Lebensthätig-
keit des Reiches vermittelt und ausgeübt wird. Außer dem Kaiſer
und Bundesrath hat das Reich noch ein drittes Organ, durch
welches jeder einzelne (wahlberechtigte) Reichsangehörige auf
die Politik des Reiches mittelbar einen Einfluß ausüben kann, in-
dem er nach den Regeln des Wahlgeſetzes bei der Zuſammen-
ſetzung dieſes Organes perſönlich mitzuwirken befugt iſt. Mit
dieſer Befugniß iſt ſein Recht aber erſchöpft, mag er von ihr bei
[504]§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
der anberaumten Wahl Gebrauch gemacht haben oder nicht. Nur
bei der Bildung des Reichstages hat das Volk, d. h. die Ge-
ſammtſumme aller einzelnen wahlberechtigten Reichsangehörigen
eine rechtliche Mitwirkung am ſtaatlichen Leben des Reiches; es
iſt bei jeder Wahl nur ein einmaliger Akt, durch welchen der
Reichsangehörige ſein politiſches Recht bethätigt. Als unjuriſtiſch
muß dagegen die Auffaſſung bezeichnet werden, daß das Volk durch
den Reichstag als ſeine Vertretung fortlaufend einen Antheil
an den Staatsgeſchäften des Reiches ausübt. Sowie die Wahl
erfolgt iſt, hört jeder Antheil, jede Mitwirkung, jeder rechtlich
relevante Einfluß des „geſammten Volkes“, d. h. aller einzelnen
Reichsangehörigen auf die Willensentſchlüſſe des Reiches auf. Der
Reichstag iſt innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit ebenſo ſelbſtſtändig be-
rechtigt wie der Kaiſer; er iſt in keinem anderen Sinne Vertreter
des geſammten Volkes als ſo, wie auch der Kaiſer es iſt. Nur
die Berufung erfolgt in verſchiedener Weiſe; die Berufung zum
Kaiſerthum iſt allen menſchlichen Willens-Entſchlüſſen entzogen, die
Berufung zum Reichstage erfolgt durch Willenshandlungen aller
einzelnen (wahlberechtigten) Reichsangehörigen. Die philoſophiſch-
hiſtoriſch-politiſche Betrachtung mag ſich daran halten, daß das
„Volksethos“, „der lebendig wirkende Nationalgeiſt,“ „das ſitt-
liche Bewußtſein des Volkes“ durch den Reichstag zum Ausdruck
kommen; die juriſtiſche Beſtimmung des Weſens des Reichstages
darf nicht durch die irreführende Bezeichnung Volksvertretung be-
einflußt werden, ſondern man muß feſthalten, daß der Reichstag
nur in dem Sinne und nur deshalb eine Volksvertretung heißt,
weil jeder einzelne Reichsangehörige, der den Erforderniſſen des
Wahlgeſetzes genügt, an der Bildung dieſes Organes des Reiches
ſich zu betheiligen vermag. Oder mit anderen Worten: eine Volks-
vertretung iſt der Reichstag nicht mit Rückſicht auf ſeine Rechte
und Pflichten, ſondern nur mit Rückſicht auf ſeine Bildung und
Zuſammenſetzung. Hieraus ergiebt ſich, daß die Reichstags-Abge-
ordneten an Inſtruktionen und Aufträge nicht gebunden ſind, daß
ſie weder ihren Wählern noch dem Vorſtande einer Partei oder
Fraction rechtlich Rechenſchaft ſchuldig ſind für die Ausübung
ihrer öffentlichen Befugniſſe und deshalb auch nicht zur Verant-
wortung darüber gezogen werden können, ferner daß ihnen die
Mitgliedſchaft im Reichstage von ihren Wählern nicht ent-
[505]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
zogen werden darf, daß ſie gegen ihre Wähler keine Anſprüche auf
Erſatz von Koſten und Auslagen haben u. ſ. w.


§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.


In Uebereinſtimmung mit den allgemeinen Grundſätzen des
conſtitutionellen Staatsrechts iſt der Reichstag ein Organ des
Reiches, welchem zwar eine ſehr weſentliche und wichtige Mitwir-
kung bei den Willenshandlungen des Reiches zuſteht, welches aber
regelmäßig nicht befugt iſt, dieſe Handlungen ſelbſt vorzunehmen,
die Staatsgewalt des Reiches zu handhaben, das Reich zu ver-
treten. Die ſtaatsrechtlichen Befugniſſe des Reichstages beſtehen
demnach nicht darin, daß ein Theil der dem Reiche zuſtehenden
Staatsgewalt von dem Reichstage ausgeübt oder die Machtvollkom-
menheit des Reiches durch ihn beſchränkt wird; ſondern Kaiſer
und Bundesrath ſind bei der geſammten Regierung des Reiches
theils an die Zuſtimmung theils an die Controle des Reichstages
gebunden. Es läßt ſich die dem Reichstage zuſtehende Kompetenz
grade aus dieſem Grunde nicht in eine Anzahl einzelner, beſtimmter
Befugniſſe auflöſen; alle Kataloge 1) der Rechte, welche dem Reichs-
tage zuſtehen, geben ein ungenaues und ſchiefes Bild ſeiner ſtaats-
rechtlichen und politiſchen Stellung; ſeine Theilnahme am Leben
des Reiches durchdringt dieſes Leben in allen Beziehungen und
nach allen Richtungen. Keine Aufgabe, welche das Reich als der
ſouveräne Deutſche Staat zu erfüllen hat, kein Gebiet des natio-
nalen Geſammtlebens, auf welches die Fürſorge des Reiches ſich
erſtreckt, bleibt von der Theilnahme und Mitwirkung des Reichs-
tages ausgenommen. Materiell reicht die Zuſtändigkeit des
Reichstages genau ebenſoweit wie die Zuſtändigkeit des Reiches.


Die Frage nach der Kompetenz des Reichstages iſt vielmehr
zurückzuführen auf die Unterſuchung, welche Formen für die
Willensthätigkeit des Reiches vorgeſchrieben ſind, um dem Reichs-
tage die Mitwirkung und Theilnahme an dieſer Willensthätigkeit
zu ſichern. Soweit die Faſſung eines rechtlich verbindlichen Ent-
ſchluſſes, die Ausübung eines ſtaatlichen Hoheitsrechts an eine
Form gebunden iſt, welche die Zuſtimmung und Mitwirkung des
Reichstages in ſich ſchließt, ſoweit iſt der Reichstag an dieſer
[506]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
Willens-Entſcheidung und an dieſem Hoheitsrechte mitbetheiligt.
Dieſe Formen geben die Gränzlinien an, durch welche diejenigen
Acte der Reichsgewalt, zu deren Gültigkeit die Zuſtimmung des
Reichstages erforderlich iſt, von denen getrennt werden, welche
dieſer Zuſtimmung nicht bedürfen.


In dieſer Beziehung kommen folgende Punkte in Betracht:


I. Der Cardinalſatz, welcher für die ſtaatsrechtliche Stellung
des Reichstages das eigentliche Fundament bildet, iſt der, daß zu
einem Reichsgeſetz ein Reichstagsbeſchluß erforderlich iſt. R.-V.
Art. 5. Keine Rechtsſatzung erlangt geſetzliche Gültigkeit, wenn
ſie nicht der Reichstag genehmigt hat, es ſei denn, daß ſie eine
bloße Ausführungsbeſtimmung eines Geſetzes iſt. (R.-V. Art. 7
Ziff. 2.) Durch dieſen Grundſatz iſt der Regierung des Reiches
jede Abänderung des beſtehenden Rechtszuſtandes, jede Maßregel,
welche die Herſtellung eines neuen Rechtsſatzes erfordert, jede Auf-
hebung geſetzlich begründeter Einrichtungen ohne die Zuſtimmung
des Reichstages unmöglich gemacht. Die Wirkung dieſes Prin-
cips erſtreckt ſich gleichmäßig auf alle Gebiete der ſtaatlichen
Thätigkeit, Rechtspflege, Wohlfahrtspflege, Schutz gegen das Aus-
land, Finanzweſen. Die Geſetzgebung iſt nicht ein Theil der
Staatsgewalt ſondern eine Form, in welcher ſie ſich äußert; es
giebt keine legislative Gewalt, ſondern nur eine Bethätigung der
Staatsgewalt in legislativer Form 1).


Die Zuſtimmung des Reichstages zu Geſetzen kann nicht nur
erfolgen, wenn die letzteren vom Bundesrathe vorgeſchlagen ſind,
ſondern der Reichstag kann auch ſeinerſeits Geſetze vorſchlagen;
er hat das ſogenannte Recht der Initiative. R.-V. Art. 23.


II. Die Form des Geſetzes iſt nicht nur anwendbar bei der
Aufſtellung von Rechtsnormen, ſondern auch bei der Beſchlußfaſ-
ſung über Verwaltungsgeſchäfte im umfaſſendſten Sinne dieſes
Ausdrucks. Soll der Reichstag eine poſitive Mitwirkung an der
Erledigung dieſer Geſchäfte, reſp. an der Entſcheidung, ob und
wie ſie vorgenommen werden ſollen, erhalten, ſo wird dieſes Re-
ſultat dadurch erreicht, daß der Weg der Geſetzgebung vor-
geſchrieben wird. Dies iſt in folgenden Fällen geſchehen:


1) Der Reichshaushalts-Etat wird durch ein Geſetz feſtgeſtellt.
[507]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
R.-V. Art. 69. Dadurch hat der Reichstag nicht nur Gelegenheit,
die Finanzwirthſchaft des Reiches mit zu beherrſchen, und in Aus-
ſicht genommene Regierungshandlungen oder Einrichtungen durch Be-
willigung oder Verſagung der dazu erforderlichen Geldmittel zu ge-
nehmigen oder zu verhindern, ſondern auch die geſammte Verwaltung,
die Organiſation und Thätigkeit aller Behörden und alle hervortre-
tenden Bedürfniſſe bei der Berathung über die einzelnen Anſätze des
Etats ſeiner Controle und Kritik zu unterziehen. Die Vorſchrift, daß
der Reichshaushalts-Etat mit Genehmigung des Reichstages feſt-
geſtellt werden ſoll, ermöglicht dem Reichstage indirekt eine Ein-
wirkung auf alle diejenigen Akte der Reichsregierung, für welche
an ſich die Form des Geſetzes nicht vorgeſchrieben iſt. Das Nähere
wird bei der Lehre vom Finanzrecht dargeſtellt werden.


2) Die Aufnahme einer Anleihe, ſowie die Uebernahme einer
Garantie zu Laſten des Reiches kann nur erfolgen „im Wege der
Reichsgeſetzgebung.“ R.-V. Art. 73.


3) Das Geſetz vom 4. Dez. 1871 §. 8 (R.-G.-Bl. S. 414)
beſtimmte: „Die Verwendung der von Frankreich gezahlten Kriegs-
entſchädigung wird durch Reichsgeſetz geregelt.“ In Folge deſſen
ſind die Geſetze v. 15. Juni und 8. Juli 1872 ergangen. Das
letztere reſervirt 1 ½ Milliarden und ordnet im Art. VI. (R.-G.-Bl.
S. 292) an, daß über dieſen Betrag „im Wege der Reichsgeſetz-
gebung Beſtimmung getroffen wird,“ und enthält im Art. VII.
(R.-G.-Bl. S. 292) die Beſtimmung, daß über die dem ehemaligen
Norddeutſchen Bunde in Gemäßheit dieſes Geſetzes zufallende Ein-
nahme „im Wege des Reichsgeſetzes“ verfügt wird.


In einer Reihe von Geſetzen iſt auf Grund dieſer Beſtimmun-
gen dann ſowohl die Verwendung des reſervirten Reſtbetrages von
1 ½ Milliarden 1), als die Verwendung und Vertheilung des auf
den Norddeutſchen Bund entfallenden Antheils 2) geregelt oder ge-
ſetzliche Anordnung vorbehalten worden 3). Dieſe ganze Geſetz-
gebung iſt ihrem Inhalte nach theils eine Auseinanderſetzung der
an der Kriegskoſten-Entſchädigung betheiligten Intereſſenten, (iu-
[508]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
dicium communi dividundo), theils ein Complex von Verfügungen,
welche die Finanzwirthſchaft des Reiches betreffen. Die Form des
Geſetzes hatte lediglich den Zweck, dem Reichstage hierbei die Mit-
wirkung zu ſichern.


Der eben beſprochene Fall, in welchem ein großartiges Ver-
waltungsgeſchäft in der Form des Geſetzes erledigt worden iſt,
hat aber nur die Bedeutung eines Beiſpiels. Es iſt bis jetzt der
bedeutendſte und wichtigſte Fall ſeit der Gründung des Norddeutſchen
Bundes, in welchem die Form des Geſetzes in dieſer Art Anwen-
dung gefunden hat. Principiell beſteht kein Hinderniß, jede denk-
bare Verwaltungsmaßregel im Wege der Reichsgeſetzgebung anzu-
ordnen, wenn ſie von ſolcher Wichtigkeit iſt, daß es angemeſſen
erſcheint, den Reichstag an derſelben zu betheiligen 1).


4) Verfaſſungsſtreitigkeiten in den Einzelſtaaten ſind nach Art.
76 Abſ. 2 der R.-V. unter den daſelbſt aufgeführten Voraus-
ſetzungen „im Wege der Reichsgeſetzgebung“ d. h. unter Mitwir-
kung des Reichstages zur Erledigung zu bringen. Vrgl. hierüber
oben §. 29 S. 270 fg.


III. Neben der Form des Geſetzes ſteht als faſt ebenſo weit-
reichend die Form der Genehmigung. Wo die Genehmigung
des Reichstages geſetzlich erfordert wird, iſt demſelben politiſch
kein geringeres Mitwirkungsrecht zugeſtanden als bei der Geſetz-
gebung. Allein ſtaatsrechtlich beſteht zwiſchen den beiden Formen
ein ſehr erheblicher Unterſchied. Für ein Geſetz iſt die Zuſtim-
mung des Reichstages begriffliche Vorausſetzung; fehlt es an
derſelben, ſo iſt das Geſetz nicht etwa blos unter Verletzung des
öffentlichen Rechtes zu Stande gekommen, ſondern es iſt überhaupt
gar kein Geſetz. Ein ohne Zuſtimmung des Reichstages erlaſſenes
Reichsgeſetz iſt eine contradictio in adjecto. In dem Geſetz er-
ſcheinen der Wille des Bundesrathes und der Wille des Reichs-
tages nicht getrennt; es enthält nicht zwei Willenserklärungen von
identiſchem Inhalt; ſondern das Geſetz nimmt die übereinſtimmenden
Mehrheitsbeſchlüſſe von Bundesrath und Reichstag in ſich auf, es
verbindet ſie zu einem einheitlichen Akt, zu einer Willenserklärung
der einen einheitlichen Reichsgewalt. Im Gegenſatz hierzu iſt die
[509]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
Genehmigung des Reichstages alsdann vorgeſchrieben, wenn
es ſich um Regierungsacte handelt, zu deren Vornahme formell
der Bundesrath oder der Kaiſer, reſp. die Reichsbehörden, befugt
ſind, die ihrem Weſen nach auch ohne die Zuſtimmung des Reichs-
tages vorgenommen werden könnten, deren Vornahme aber den
dazu befugten Organen ohne dieſe Zuſtimmung unterſagt iſt. Wer-
den dieſe Handlungen deſſen ungeachtet vorgenommen, ſo ſind ſie
keineswegs nichtig. Wären ſie es, ſo könnten ſie auch durch nach-
trägliche Genehmigung des Reichstages nicht wirkſam werden; ſo
wenig wie ein „Geſetz,“ das etwa nach ſeiner eigenen Angabe ohne
Zuſtimmung des Reichstages erlaſſen wäre, dadurch gültig werden
könnte, daß der Reichstag nachträglich durch eine Reſolution ſich
mit ihm einverſtanden erklärt. Vielmehr bedürfen dieſe Handlungen
zu ihrer formellen Rechtsbeſtändigkeit nicht der Zuſtimmung des
Reichstages. In ſehr zahlreichen Fällen kann die Zuſtimmung
des Reichstages gar nicht der Regierungshandlung vorausgehen,
ſondern nur ihr nachfolgen.


Die ſtaatsrechtliche Bedeutung der Vorſchrift, daß zu einer
Handlung der Regierung die Genehmigung des Reichstages er-
forderlich iſt, kann nach Lage des Falles ſehr verſchieden ſein.
Es kommt dabei im Weſentlichen auf den Inhalt der Verfügung
an; namentlich aber darauf, ob die Zuſtimmung des Reichs-
tages im Voraus ertheilt war oder nachträglich einzuholen iſt.
War dieſelbe ſchon vorher ertheilt, ſo wird die Regierungshand-
lung unbedingt und definitiv wirkſam. Wenn die Genehmigung
des Reichstages nachträglich noch einzuholen iſt, ſo erfolgt die Re-
gierungshandlung unter dem ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden
Vorbehalt dieſer Genehmigung. Wird dieſelbe ertheilt, ſo er-
ledigt ſich dieſer Vorbehalt — und die Regierungshandlung wird
in derſelben Art wirkſam, als wäre ſie unbedingt vorgenommen
worden. Wenn dagegen die Genehmigung verſagt wird, ſo iſt
die Bedingung nicht eingetreten, und die von der Regierung unter
dieſer Bedingung abgegebenen Willenserklärungen erlangen ent-
weder keine Wirkſamkeit oder verlieren, wenn ſie interimiſtiſch
wirkſam waren, durch die Verſagung der Genehmigung (alſo ex nunc)
ihre Wirkſamkeit 1). In beiden Fällen aber, mag die Zuſtimmung
[510]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
des Reichstages vorausgehen oder nachfolgen, ſteht dieſelbe ſelbſt-
ſtändig und unabhängig neben der Willenserklärung der Regie-
rung; ſie bildet nicht, wie bei dem Geſetz, einen integrirenden Be-
ſtandtheil des ſtaatlichen Willensactes, ſondern eine Willenserklä-
rung für ſich. Bei dem Geſetze erklärt der Staat ſeinen Willen
in einer Form, welche die Willenserklärungen ſeiner Organe mit
einander verſchmilzt; im Falle der Genehmigung einer Regierungs-
handlung durch den Reichstag werden die Willenserklärungen der
Organe formell getrennt erhalten. Dadurch wird der praktiſche
Zweck erreicht, daß Dritten gegenüber das Reich ſeinen Willen durch
ſeine zur Vertretung befugten Regierungsorgane erklären kann und
daß die ganze Frage, ob die Genehmigung des Reichstages ertheilt
worden iſt, ob ſie überhaupt erforderlich iſt, ob ſie unter Einſchrän-
kungen oder unter Gegenzugeſtändniſſen der Regierung zu erlangen
iſt u. ſ. w. eine gleichſam innere Angelegenheit der Organe des
Reiches bleibt.


Man muß es der traditionellen Darſtellung des conſtitutio-
nellen Staatsrechts zum Vorwurf machen, daß ſie bei Erörterung
der Kompetenz der Volksvertretung neben der Geſetzgebung die
Form der Genehmigung ganz außer Betracht läßt 1), und zwar
umſomehr als der Bereich der Anwendung dieſer Form ein ſehr
bedeutender iſt. Für das Reichsſtaatsrecht gehören hierher folgende
Fälle:


1) „Inſoweit die Verträge mit fremden Staaten ſich auf
ſolche Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4. in den Bereich
der Reichsgeſetzgebung gehören, iſt zu ihrem Abſchluß die Zuſtim-
mung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Ge-
nehmigung des Reichstages
erforderlich.“ R.-V. Art. 11
Abſ. 3.


1)


[511]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

Ein völkerrechtlicher Vertrag wird, ſelbſt wenn er die Rechts-
ordnung und die geſetzlich begründeten Einrichtungen des Reiches
berührt und verändert, nicht in der Form des Geſetzes, ſondern
in der Form der Uebereinkunft verkündet und durch dieſe Verkün-
digung verbindlich. Zum Abſchluß von Verträgen mit fremden
Staaten iſt der Kaiſer berechtigt; er ertheilt die Vollmacht zur
Verhandlung des Vertrages und zur Ratificirung deſſelben.


Es könnte demnach die Abſchließung eines völkerrechtlichen
Vertrages zur Umgehung der Form des Geſetzes verwendet werden,
indem man eine Abänderung der Rechtsordnung, für welche vor-
ausſichtlich die Einwilligung des Reichstages nicht zu erlangen iſt,
zum Inhalt eines Vertrages mit irgend einem fremden Staate
macht. Gäbe es für die Mitwirkung des Reichstages bei der Auf-
ſtellung von Rechtsſätzen keine andere Form als die des Geſetzes
und will man völkerrechtliche Verträge nicht in dieſe Form zwängen,
ſo hätte die Regierung es in der Hand, die Mitwirkung des Reichs-
tages an der Feſtſtellung und Abänderung der Rechtsordnung
illuſoriſch zu machen. Hier tritt als eine der Reichsgeſetzgebung
gleichſam parallele Form die „Genehmigung“ des Reichstages
ein. Der Vertrag braucht nicht in ein Geſetz verwandelt zu werden,
ſondern er bleibt, was er ſeinem Urſprung und Weſen nach iſt;
und dennoch verbleibt dem Reichstage derſelbe Antheil, den ihm
die Form des Geſetzes zutheilt. Da Alles, was Gegenſtand der
Geſetzgebung ſein kann, möglicher Weiſe auch zum Gegenſtande
eines internationalen Vertrages gemacht werden kann, ſo erſtreckt
ſich ideell das Erforderniß der Genehmigung des Reichstages grade
ſoweit wie das Erforderniß der Zuſtimmung des Reichstages zu
einem Geſetze, wenngleich thatſächlich natürlich die Form des Ge-
ſetzes viel ausgedehntere Anwendung findet wie die Form des
„genehmigten Staatsvertrages“ 1). Erforderlich iſt die Genehmigung
des Reichstages bei allen Verträgen über Gegenſtände, welche in
den Bereich der Reichsgeſetzgebung
gehören 2).


[512]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

2) Eine vielfache Anwendung findet die Form der Genehmi-
gung ſtatt des Geſetzes in Finanz-Angelegenheiten. Zwar fehlt
in der Reichsverfaſſung eine Beſtimmung, wie ſie Art. 104 Abſ. 1
der Preuß.-Verf.-Urk. enthält: „Zu Etats-Ueberſcheitungen iſt die
nachträgliche Genehmigung der Kammern erforderlich,“ durch welche
für dieſe Genehmigung ein völliges Parallelgebiet zu der Feſt-
ſtellung des jährlichen Etats in der Form der Geſetzgebung ge-
ſchaffen wird. Dadurch, daß dieſe Form nicht ausdrücklich in der
Verfaſſung erwähnt wird, ſie iſt aber keineswegs ausgeſchloſſen.
In der Praxis des Reichsrechts hat in der That neben der Form
eines Nachtrags-Etats-Geſetzes, durch welches der geſetzlich feſtge-
ſtellte Etat ergänzt oder verändert wird, die Form der „Genehmi-
gung“ der Etats-Ueberſchreitungen unter Uebereinſtimmung der
Regierung und des Reichstages ſeit 1872 Anwendung gefunden 1)
und der im Jahr 1873 und ſpäter wiederholt vorgelegte Geſetz-
entwurf über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des
Reiches beabſichtigte, dieſe Praxis zu ſanctioniren, indem er im
§. 6 vorſchrieb, daß in der, dem Bundesrathe und dem Reichs-
tage vorzulegenden Ueberſicht die Etats-Ueberſchreitungen und die
außeretatsmäßigen Ausgaben „behufs deren nachträglicher Ge-
nehmigung“ beſonders nachzuweiſen ſind.


Auch das Geſetz v. 30. Mai 1873 über den Feſtungsbau
Art. VII. (R.-G.-Bl. S. 125) beſtimmt, daß eine Nachweiſung
der Ueberſchreitung ſolcher Etats und der außeretatsmäßigen Ein-
nahmen und Ausgaben jedesmal ſpäteſtens in dem auf das Etats-
jahr folgenden zweiten Jahre dem Bundesrathe und dem Reichs-
tage „zur nachträglichen Genehmigung“ vorzulegen iſt. Eine ähn-
liche Beſtimmung enthält das Geſetz über das Verwaltungs-Ver-
mögen des Reiches vom 25. Mai 1873 §. 10 u. §. 11 (R.-G.-Bl.
S. 15) 2) hinſichtlich der Einnahmen aus der Veräußerung von
Gegenſtänden, welche ſich im Beſitz der Reichsverwaltung befinden.


2)


[513]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

Aber nicht nur bei Abweichungen vom Etat, ſondern auch
bei anderen Verwaltungs-Angelegenheiten von finanzieller Bedeu-
tung iſt dieſelbe Form zur Anwendung gelangt. So erfordert
z. B. das Bankgeſetz v. 14. März 1875 §. 41 (R.-G.-Bl. S. 189)
zur Verlängerung des Privilegiums der Reichsbank über den 1.
Januar 1891 hinaus, d. h. zur Unterlaſſung der Kündi-
gung
, die „Zuſtimmung“ des Reichstages. Auch das Geſ. v.
5. Juni 1869 über die Aufhebung der Portofreiheiten §. 13 Abſ.
2 (B.-G.Bl. S. 143) überließ die Beſtimmungen über die Be-
rechnung und Verwendung der dadurch erwachſenden Poſtüber-
ſchüſſe der „Verſtändigung“ im Bundesrathe „unter Zuſtimmung
des Reichstages“, es wurde alſo die Form der Geſetzgebung für
nicht erforderlich erklärt, wohl aber die Uebereinſtimmung von
Bundesrath und Reichstag 1).


3) Ein ferneres Gebiet für die Anwendung der „Genehmigung“
liefern die Verordnungen, welche mit interimiſtiſcher Geſetzeskraft
erlaſſen werden. Die Reichsverfaſſung ſelbſt kennt zwar keine ſo-
genannten Nothſtands-Verordnungen nach Analogie des Art. 63
der Preuß. Verf.-Urk., welcher die Klauſel enthält, „daß dieſelben
den Kammern bei ihrem nächſten Zuſammentritt zur Genehmigung
ſofort vorzulegen ſind.“ Wohl aber hat das Geſ. v. 25. Juni 1873
über die Einführung der Reichsverf. in Elſaß-Lothringen §. 8
(R.-G.-Bl. S. 162) dem Kaiſer das Recht beigelegt, unter Zu-
ſtimmung des Bundesrathes, während der Reichstag nicht ver-
ſammelt iſt, Verordnungen mit geſetzlicher Kraft zu erlaſſen, und
hinſichtlich derſelben die Anordnung getroffen, daß ſie dem Reichs-
tage bei deſſen nächſtem Zuſammentritt zur Genehmigung
vorzulegen ſind
. Sie treten außer Kraft, ſobald die Geneh-
migung verſagt wird 2). Es findet alſo bei dieſen Verordnungen
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 33
[514]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
durch die Ertheilung der Genehmigung formell keine Verwandlung
in Geſetze ſtatt; ſie werden namentlich nicht nochmals als Geſetze
publizirt; ſie bleiben Verordnungen, die der Kaiſer mit Zuſtim-
mung des Bundesrathes erlaſſen hat. Formell ganz getrennt von
ihnen ſteht die Reſolution des Reichstages, welche die Genehmigung
ausſpricht; durch den Reichskanzler wird im Geſetzblatt für Elſaß-
Lothringen lediglich bekannt gemacht, daß die Genehmigung ertheit
worden iſt 1). Anderſeits ſind ſie nur erlaſſen unter dem Vor-
behalt der Genehmigung; die Verſagung derſelben entzieht ihnen
analog dem Eintritt einer ex nunc wirkenden Reſolutivbedingung
die Geſetzeskraft.


In einzelnen Fällen iſt auch für die Reichsgeſetzgebung eine
ähnliche Anordnung getroffen. So ermächtigt z. B. das Brau-
ſteuer-Geſetz v. 31. Mai 1872 §. 1. den Bundesrath „vorbehaltlich
der nachträglichen Genehmigung des Reichstages“ den gewöhnlichen
Steuerſatz von 1 Thlr. 10 Sgr. von Malzſurrogaten für einzelne
Stoffe nach Maßgabe ihres Brauwerthes zu ermäßigen.


4) Ein beſonders deutliches Beiſpiel für den Unterſchied zwi-
ſchen der Form des Geſetzes und der der Genehmigung des Reichs-
tages liefert ferner das Wahlgeſetz vom 31. Mai 1869. Im
§. 15 iſt dem Bundesrath der Erlaß des Wahlreglements über-
tragen; daſſelbe iſt eine Ausführungs-Verordnung zum Wahlge-
ſetz. Auch die Abänderung deſſelben kann daher in der Form
der Verordnung erfolgen. Aber §. 15 Abſ. 2 des Wahlgeſetzes
beſtimmt, daß das Wahlreglement nur unter Zuſtimmung
des Reichstages abgeändert werden kann. Das heißt nicht, daß
die Abänderung durch ein Reichsgeſetz erfolgen müſſe, eine
Bundesraths-Verordn. iſt vielmehr ausreichend, und auch die eigent-
lich angemeſſene correcte Form. Jedoch darf der Bundesrath eine
ſolche Verordnung nur erlaſſen, nachdem der Reichstag zu dem
Inhalt derſelben ſeine Genehmigung ertheilt hat. Dagegen ent-
hält §. 6 des Wahlgeſetzes die Anordnung, daß ein Reichsge-
2)
[515]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
ſetz die Abgrenzung der Wahlkreiſe beſtimmen wird und bis dahin
die gegenwärtigen Wahlkreiſe beizubehalten ſind. Jede Verände-
rung derſelben erfordert daher nicht nur eine mit Genehmigung
des Reichstages erlaſſene Bundesraths-Verordnung, ſondern ein
förmliches Geſetz 1).


5) Endlich iſt hier noch zu erwähnen, daß die von dem Kaiſer
(R.-V. Art. 12) zu verfügende Vertagung des Reichstages der „Zu-
ſtimmung“ des letzteren bedarf, wenn ſie die Friſt von 30 Tagen
überſteigt oder während derſelben Seſſion wiederholt wird. R.-V.
Art. 26 2).


IV. Eine andere Reihe von Befugniſſen des Reichstages läßt
ſich unter dem gemeinſamen Geſichtspunkte zuſammenfaſſen, daß ſie
dem Reichstage eine Controle der geſammten Reichsverwaltung
ermöglichen. Abgeſehen von der Berathung des Etats, welche in-
direct dieſem Zwecke dient, ſind es folgende ſtaatsrechtliche Formen,
in denen der Reichstag die Controle über die Regierung des Reiches
übt und durch welche ihm die Ausübung dieſer Funktion geſichert
wird.


1) Art. 72 der R.-V. beſtimmt, daß über die Verwendung
aller Einnahmen des Reiches durch den Reichskanzler dem Bundes-
rathe und dem Reichstage zur Entlaſtung jährlich Rechnung zu
legen iſt. Bei der Darſtellung des Finanzrechtes wird dieſer
wichtige Verfaſſungs-Grundſatz im Einzelnen erörtert werden; hier
genügt es, im Allgemeinen die Stellung zu charakteriſiren, welche
durch denſelben dem Reichstage den übrigen Reichsorganen gegen-
über gewährt wird. Sowohl die vorläufige „Ueberſicht ſämmtlicher
Einnahmen und Ausgaben“, als die definitive, nach erfolgter Prü-
fung durch den Rechnungshof vorzulegende „Allgemeine Rechnung“
erweiſen ſich, wie jede Rechnungslegung, als eine Berichter-
ſtattung
und zwar als ein Bericht der Reichsregierung über
die geſammte Verwaltung in finanzieller Beziehung. Dieſer Be-
richt hat einerſeits den Zweck, dem Reichstag den Nachweis zu
erbringen, daß die Verwaltung den beſtehenden Vorſchriften und
33*
[516]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
dem Reichshaushalts-Etat gemäß geführt worden iſt, reſp. die
thatſächlichen Gründe darzulegen, aus denen Abweichungen von
dem Etatsgeſetz ſich ergeben haben, andererſeits die Beweisſtücke und
die kalkulatoriſche Feſtſtellung darüber zu liefern, daß die Ein-
nahmen und Ausgaben des Reiches in der angegebenen Höhe
wirklich ſtattgefunden haben; alſo vulgär ausgedrückt: die Geſetz-
lichkeit und Ehrlichkeit der Verwaltung darzulegen 1). Der Reichs-
tag hat das Recht und die Pflicht, dieſen Bericht zu prüfen und,
wenn er keine Ausſtellungen gegen denſelben zu erheben hat, der
Regierung das Anerkenntniß geſetzmäßiger, ehrlicher und ordent-
licher Verwaltung auszuſprechen, indem er ihr „Entlaſtung ertheilt“.


Reichstag und Bundesrath ertheilen dieſes Anerkenntniß nicht
gemeinſchaftlich und ebenſo wenig wird die Uebereinſtimmung beider
Organe durch einen einheitlichen Akt erklärt, ſondern jedes der-
ſelben giebt ſeine Erklärung ſelbſtſtändig und für ſich ab, beide
dem Reichskanzler gegenüber als dem verantwortlichen Chef der
Verwaltungsbehörden 2).


2) Im engſten Zuſammenhange hiermit ſtehen Berichte
finanziellen Inhalts, welche dem Reichstage über diejenigen Ver-
mögensmaſſen des Reiches zu erſtatten ſind, welche nicht durch die
regelmäßige Etatswirthſchaft verbraucht werden, nicht gleichſam durch
die Reichskaſſe während des Verwaltungsjahres blos durchlaufen
und daher auch nicht durch die allgemeinen Jahresrechnungen nach-
gewieſen werden. Dieſe Berichterſtattung liegt ob der Reichs-
ſchuldenkommiſſion, welche nach dem Vorbild der Preußiſchen Staats-
ſchuldenkommiſſion durch das Geſ. v. 19. Juni 1868 (R.-G.-Bl.
S. 339) gebildet worden iſt und zu welcher der Reichstag immer
auf 3 Jahre drei Mitglieder zu wählen hat. Dem Reichstage
[517]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
(u. Bundesrathe) gegenüber hat die Reichsſchuldenkommiſſion die-
ſelben Pflichten, welche die Preuß. Staatsſchuldenkommiſſion nach
dem Geſetz v. 24. Febr. 1850 dem Preuß. Landtage gegenüber
hat 1). Demnach findet der §. 15 dieſes Preußiſchen Geſetzes ana-
loge Anwendung, wonach die Schuldenkommiſſion dem Reichstage
bei dem jährlichen regelmäßigen Zuſammentritt Bericht zu erſtatten
hat über ihre Thätigkeit, ſowie über die Ergebniſſe der unter ihre
Aufſicht geſtellten Verwaltung des Schuldenweſens in dem ver-
floſſenen Jahre.


Außer dem Berichte über die Reichsſchulden hat die Reichs-
ſchuldenkommiſſion dem Reichstage jährlich Berichte zu erſtatten


  • über den Beſtand des Reichs-Kriegsſchatzes 2),
  • über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds 3),
  • über die Verwaltung des Reichs-Feſtungs-Baufonds 4)
  • und des Fonds für Errichtung des Reichstagsgebäudes 5).

Die Stellung des Reichstages dieſen Berichten gegenüber und
die ihm über dieſelbe zuſtehende Beſchlußfaſſung iſt eine doppelte.
Die Verwaltung der bezeichneten Vermögensmaſſen ſelbſt iſt nicht
Sache der Reichsſchuldenkommiſſion, die eigentliche Verwaltung
ſteht beſonderen, dafür eingeſetzten Behörden zu; die Reichsſchulden-
kommiſſion iſt vielmehr nur eine gemiſchte Kommiſſion des Bundes-
rathes und Reichstages zur Controlirung dieſer Behörden und zur
Vorprüfung der von denſelben gelegten Rechnungen und Nachweiſe.


Die Entlaſtung dieſer Behörden kann nicht die Reichsſchulden-
kommiſſion ertheilen, ſondern nur Bundesrath und Reichstag ſelbſt;
die Kommiſſion kann lediglich über den Ausfall ihrer Prüfung be-
richten und falls ſich dabei keine Erinnerungen ergeben haben, die
Ertheilung der Entlaſtung beantragen. Der Reichstag hat demnach
eine doppelte Entſcheidung abzugeben, einerſeits darüber, ob die
Reichsſchuldenkommiſſion durch Erſtattung ihres Berichts ihre ge-
ſetzliche Pflicht ordnungsmäßig erfüllt hat, und andererſeits auf
Grund dieſes Berichtes darüber, ob die betreffende Finanzbehörde
[518]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
die ihr obliegende Verwaltung ordnungsmäßig geführt und darüber
ordnungsmäßig Rechnung gelegt hat. Wenn der Reichstag beide
Fragen bejahend entſcheidet, ſo geſchieht dies in der Form 1), daß
er erſtens erklärt:
daß die Reichsſchuldenkommiſſion durch Ueberreichung des
. . . . Berichtes der Beſtimmung des Geſetzes vom . . . .
Genüge gethan habe
2)
und daß er ferner beſchließt:
der Reichsſchulden-Verwaltung (Verwaltung des Reichskriegs-
ſchatzes, Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds) für die im
Berichte erörterten Rechnungen Entlaſtung zu ertheilen.


Der rechtliche Charakter dieſer Beſchlüſſe iſt derſelbe, wie bei
der Ertheilung der Entlaſtung auf Grund der Jahres-Rechnung.
Bundesrath und Reichstag ſtehen auch hier der Finanzverwaltung
und der Reichsſchuldenkommiſſion völlig gleichberechtigt und mit
denſelben Funktionen gegenüber und geben das Anerkenntniß ordent-
licher und geſetzmäßiger Verwaltung getrennt und unabhängig von
einander ab.


3) Das Mittel der Berichterſtattung, um dem Reichstag eine
Kontrole der Verwaltung zu ermöglichen und zu ſichern, iſt nicht
auf die Finanz-Angelegenheiten beſchränkt. Es kann bei allen
größeren Verwaltungsoperationen Anwendung finden und die Re-
gierung kann ſich aus politiſchen Rückſichten dieſer Berichterſtattung
in der Regel kaum entziehen, wenn der Reichstag ſie verlangt.


Eine ſtaatsrechtliche Pflicht der Regierung zur Erſtattung
von periodiſchen Berichten beſteht aber nur, wenn dieſelbe durch
eine beſondere Geſetzes-Beſtimmung ausdrücklich vorgeſchrieben iſt.
Dies iſt z. B. geſchehen durch das Geſetz über die Vereinigung
von Elſaß-Lothringen v. 9. Juni 1871 §. 3 Abſ. 3, wonach dem
Reichstage bis zur Einführung der R.-V. über die erlaſſenen Ge-
ſetze und allgemeinen Anordnungen und über den Fortgang der
Verwaltung jährlich Mittheilung zu machen war; ferner durch das
Geſ. v. 4. Dez. 1871 §. 11 Abſ. 3 (R.-G.Bl. S. 406) über die
[519]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
Einziehung der bisherigen Münzen, und durch das Militärgeſetz
§. 37 über die Ergebniſſe des Ergänzungsgeſchäfts. (R.-G.-Bl.
1874 S. 55.) Ueberdies hat der Reichstag in der Seſſion von
1872 den Wunſch ausgedrückt, daß der Bundesrath ihm regel-
mäßig Mittheilungen mache über die von demſelben gefaßten Ent-
ſchließungen auf die von dem Reichstage beſchloſſenen Geſetzent-
würfe und Anträge. Der Bundesrath hat beſchloſſen, dieſem
Wunſche zu entſprechen 1). Auch dieſe „Ueberſichten der Ent-
ſchließungen des Bundesrathes“ ſind periodiſche Berichte.


Ferner wird die für den Rechnungshof erlaſſene Inſtruktion
dem Reichstage bei deſſen nächſten Zuſammentritt „mitgetheilt“ 2).


Auch wenn der Kaiſer auf Grund des Art. 68 der R.-V.
einen Theil des Bundesgebietes in Kriegszuſtand erklärt, iſt nach
§. 17 des Preuß. Geſ. v. 4. Juli 1851, welches bis zum Erlaß
eines Reichsgeſetzes für dieſen Fall Geltung hat, dem Reichstage
ſofort, beziehungsweiſe bei ſeinem nächſten Zuſammentreten Rechen-
ſchaft zu geben.


Die Rechenſchaft giebt dem Reichstage Gelegenheit zu erklären,
ob er die Verhängung des Kriegszuſtandes für gerechtfertigt erachte
oder nicht, ohne daß freilich von dieſem Urtheil ſtaatsrechtliche
Folgen abhängen 3).


4) Außer den Berichten, welche dem Reichstage von den
Reichsbehörden zu erſtatten ſind, iſt demſelben ein Mittel der
Kontrole der Reichsverwaltung durch den Art. 23 der R.-V. ge-
geben, indem er befugt iſt, an ihn gerichtete Petitionen dem Bun-
desrathe reſp. Reichskanzler zu überweiſen 4). Es liegt in dieſer
[520]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
Ueberweiſung zugleich ein Urtheil über die Berechtigung der
vorgelegten Bitte und, wenn dieſe Bitte thatſächlich auf die Dar-
legung von Handlungen oder Unterlaſſungen der Reichsbehörden
geſtüzt iſt, eine vom Reichstage gefällte Kritik über das Verfahren
der letzteren. Daher gewährt der Art. 23 ein conſtitutionelles
Recht des Reichstages, Verletzungen der Geſetze Seitens der Reichs-
verwaltung oder der Staatsbehörden auf dem den Einzelſtaaten
überlaſſenen Gebiete der Selbſtverwaltung zu rügen und thatſäch-
liche Uebelſtände oder Mängel, welche Abhülfe erfordern, in amt-
licher Weiſe zu erörtern. Den ſtaatsrechtlichen Inhalt des „Peti-
tionsrechts“ bildet nicht die Befugniß der Einzelnen, ſich an den
Reichstag mit einer Bitte zu wenden, ſondern die Befugniß des
Reichstages zur Ueberweiſung der an ihn gerichteten Petitionen
an die Regierungsorgane des Reiches. Wenngleich der vom Reichs-
tage gefaßte Beſchluß weder unmittelbar Abhülfe ſchaffen kann,
noch für die anderen Organe des Reiches und die Verwaltungs-
behörden der Staaten formell bindend iſt, ſo verleiht doch das im
Art. 23 der R.-V. anerkannte Recht dem Reichstage gewiſſermaßen
die Stellung eines öffentlichrechtlichen Rügegerichts den Verwal-
tungsbehörden gegenüber.


V. Die eigentlich ſtaatsrechtlichen Befugniſſe des Reichstages
in Bezug auf die Lebensthätigkeit des Reiches ſind durch die im
Vorſtehenden aufgezählten Rechte erſchöpft. Hinzuzufügen bleibt
nur noch, daß die Ausübung dieſer Befugniſſe des Reichstages
den anderen Reichsorganen gegenüber dadurch geſichert iſt, daß
dem Reichstage die Regelung ſeiner eigenen, internen Angelegen-
heiten zuſteht. Nach Art. 27 der R.-V. hat der Reichstag die
Befugniß:


  • 1) die Legitimation ſeiner Mitglieder zu prüfen und darüber
    zu entſcheiden.

4)


[521]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
  • 2) durch eine Geſchäfts-Ordnung ſeinen Geſchäftsgang und
    ſeine Disciplin zu regeln.
  • 3) ſeinen Präſidenten, ſeine Vicepräſidenten und Schriftführer
    zu wählen.
  • 4) Hierzu kömmt noch das im Geſ. v. 31. März 1873 §. 156
    (R.-G.-Bl. S. 90) anerkannte Recht, daß der Reichstags-Präſident
    die Reichstags-Beamten anſtellt und die vorgeſetzte Behörde der-
    ſelben bildet.

VI. In der ſtaatsrechtlichen Literatur werden faſt allgemein
den Volksvertretungen noch einige andere Rechte zugeſchrieben,
welche bei näherer Betrachtung keine Rechte ſind, weil ſie keinen
rechtlichen Inhalt und keine rechtliche Wirkung haben. Auch in
den meiſten Darſtellungen des Reichsrechts haben ſolche Pſeudo-
rechte des Reichstages einen Platz gefunden 1). Es ſind nament-
lich folgende zwei:


1) Das Recht, Interpellationen an die Reichsregierung zu
richten 2). Wäre die Regierung verpflichtet, eine Antwort zu er-
theilen, wäre alſo der Reichstag befugt, durch ſolenne Frageſtellung
die Regierung zur Ertheilung einer Auskunft, zur Ablegung einer
Rechenſchaft zu zwingen, ſo wäre das Interpellationsrecht in der
That ein Recht von weitreichender ſtaatsrechtlicher Bedeutung 3).
Allein da unzweifelhaft die Reichsregierung dieſe Verpflichtung
nicht hat, ſo iſt das Interpellationsrecht des Reichstages, oder
richtiger der Reichstagsmitglieder, weiter nichts als die allgemeine,
recht vielen Menſchen zukommende Fähigkeit, an die Regierung
Fragen zu ſtellen, welche dieſelbe ja nach ihrem Belieben einer Ant-
wort würdigen oder unbeantwortet laſſen kann 4). Politiſch mag
eine im Reichstage geſtellte Interpellation von der höchſten Wichtig-
keit ſein; ſtaatsrechtlich iſt ſie vollſtändig wirkungslos und ohne alle
Bedeutung.


[522]§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

Man könnte vielleicht darauf Gewicht legen, daß in der Ge-
ſchäfts-Ordnung des Reichstages §. 30. 31. die Behandlung der
Interpellationen geregelt iſt und dadurch die Stellung von Inter-
pellationen ein juriſtiſch beſtimmtes Inſtitut des öffentlichen Rechts
geworden ſei. Eine ſolche Auffaſſung würde aber auf einer un-
richtigen Würdigung der Geſchäftsordnung beruhen.


Im Laufe jeder Verhandlung des Reichstages kann jedes
Reichstagsmitglied über jeden, mit dem Gegenſtande der Verhand-
lung in Zuſammenhang ſtehenden Punkt Fragen an den Reichs-
kanzler oder den Präſidenten des Reichskanzler-Amts oder einen
Regierungskommiſſar richten, ohne daß es irgend welcher Förmlich-
keiten bedarf und ohne daß die §§. 30. 31 der Geſch.-Ordn. An-
wendung finden. Von dieſer Befugniß iſt in unzähligen Fällen Ge-
brauch gemacht worden. Eine Interpellation unterſcheidet ſich von
einer ſolchen Anfrage aber dadurch, daß ſie einen Gegenſtand betrifft,
der nicht anderweitig zur Verhandlung ſteht, daß ſie einen beſonderen
Punkt der Tagesordnung bildet. Es kann nun nicht jedem einzelnen
Mitgliede des Reichstages frei ſtehen, beliebige Gegenſtände zur
Sprache zu bringen und die Zeit und Arbeitskraft des Reichstages
in Anſpruch zu nehmen. Eine Garantie gegen willkührliche und
unangemeſſene Interpellationen und einen Schutz der Geſchäfts-
Oekonomie hat der Reichstag deshalb durch die Beſtimmung geſucht,
daß die Interpellation von 30 Mitgliedern unterzeichnet ſein und
dem Präſidenten des Reichstages beſtimmt formulirt überreicht
werden muß; ſowie, daß eine Beſprechung des Gegenſtandes nur
dann ſtattfindet, wenn mindeſtens 50 Mitglieder darauf antragen.
Die Geſchäfts-Ordnung begründet demnach kein Recht des Reichs-
tages oder der Reichstagsmitglieder, was ſie ja überhaupt nicht
vermag, ſondern ſie legt den Mitgliedern des Reichstages eine
Schranke auf, die Zeit des Reichstages durch Fragen an die
Regierung zu verbrauchen und die Erledigung der dem Reichstage
obliegenden Geſchäfte zu verzögern. Dieſe, im Intereſſe der Ge-
ſchäfsordnung gezogenen Beſchränkungen geben aber der Stellung
von Interpellationen an den Reichskanzler keinen poſitiven Rechts-
Inhalt. Ueberdies iſt noch hervorzuheben, daß niemals vom
Reichstage als ſolchem, ſondern immer nur von einem oder mehreren
einzelnen Reichstags-Abgeordneten interpellirt wird. Die Stellung
eines Antrages bei Gelegenheit einer Interpellation iſt in der
[523]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Geſch.-Ordn. §. 31 ausdrücklich für unzuläſſig erklärt, folglich kann
auch keine Beſchlußfaſſung ſtattfinden. Niemals übt daher der
Reichstag, auch wenn ſich an die Interpellation eine Beſprechung
anſchließt, eine ſtaatsrechtliche Funktion aus.


2) Von dem Recht, Adreſſen an den Kaiſer zu richten 1), gilt
im Weſentlichen daſſelbe. Es beſteht keine Pflicht des Kaiſers,
auf die Adreſſe eine Antwort zu ertheilen oder ſie überhaupt auch
nur entgegen zu nehmen 2). So groß die politiſche Bedeutung
einer Adreſſe des Reichstages unter Umſtänden ſein kann, eine
ſtaatsrechtliche kömmt ihr niemals zu 3). Jede Verſammlung, wel-
cher nicht durch poſitive Rechtsvorſchrift die Erörterung politiſcher
Angelegenheiten unterſagt iſt, kann ebenſogut wie der Reichstag
Adreſſen an den Kaiſer verfaſſen. Eine ſtaatsrechtliche Funk-
tion
wird durch den Erlaß einer Adreſſe nicht ausgeübt 4) und
daran ändert auch der Umſtand Nichts, daß die Geſch.-Ordn.
§. 64. 65. die geſchäftliche Behandlung eines Antrages auf Erlaß
einer Adreſſe geregelt hat.


§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.


„Der Reichstag geht aus allgemeinen und direk-
ten Wahlen mit geheimer Abſtimmung hervor.“
R.-V.
Art. 20 Abſ. 1.


In dieſem Verfaſſungsſatz ſind die wichtigſten Grundprincipien
für die Zuſammenſetzung des Reichstages enthalten. Die näheren
Anordnungen ſind durch das Wahlgeſetz vom 31. Mai 1869
[524]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
(B.-G.-Bl. S. 145) gegeben 1). Daſſelbe iſt in Folge der Bündniß-
Verträge mit den ſüddeutſchen Staaten in den Gebieten derſelben
als Reichsgeſetz eingeführt 2) und durch den Abſ. 2 des Art. 20
der R.-V. hinſichtlich der Zahl der in den ſüddeutſchen Staaten
zu wählenden Abgeordneten ergänzt worden. In der, dem Reichs-
geſetz v. 16. April 1871 entſprechenden Faſſung iſt ſodann das
Wahlgeſetz gleichzeitig mit der Reichsverfaſſung ſelbſt durch das
Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 6 (R.-G.-Bl. S. 162) in Elſaß-Loth-
ringen eingeführt worden und daſelbſt am 1. Januar 1874 in
Kraft getreten, indem daſſelbe Einführungsgeſetz §. 13 die Zahl
der in Elſaß-Lothringen zu wählenden Allgeordneten auf 15 feſt-
ſetzte.


Auf Grund der im §. 15 des Wahlgeſetzes ertheilten Ermächti-
gung hat der Bundesrath das Wahlreglement v. 28. Mai
1870 (B.-G.-Bl. S. 275) erlaſſen. Die durch den Hinzutritt der
ſüddeutſchen Staaten und Elſaß-Lothringens erforderlichen Nach-
träge ſind ergangen am 27. Febr. 1871 (R.-G.-Bl. S. 35) und
1. Dez. 1873 (R.-G.-Bl. S. 374 3). Da die Prüfung der Wahlen
dem Reichstage zuſteht, ſo enthalten die Reichstagsverhandlungen
ein ſehr umfangreiches Material für die Auslegung und Anwen-
dung des Wahlgeſetzes und Wahlreglements, welches in Bezug
auf die Caſuiſtik einen ähnlichen Werth hat, wie Entſcheidungen
eines oberſten Gerichtshofes, wenngleich der Reichstag bei ſeinen
[525]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Beſchlüſſen nicht ausſchließlich durch juriſtiſche Erwägungen geleitet
wird 1).


I.Das active Wahlrecht.

Wähler für den Reichstag iſt jeder Deutſche,
welcher das fünf und zwanzigſte Lebensjahr zurückge-
legt hat
2). Da das Geſetz unzweifelhaft 3) nur Männer für
wahlberechtigt erklären wollte, ſo ergiebt ſich, daß das Wahlrecht
an drei Vorausſetzungen geknüpft iſt, Reichsangehörigkeit, Alter von
mindeſtens 25 Jahren und männliches Geſchlecht. Andere Voraus-
ſetzungen, welche zugleich Beſchränkungen des Wahlrechts ſein
würden, kennt das Reichsrecht nicht. Jedoch fällt in gewiſſen Fällen
die Ausübung des Wahlrechts fort, theils in der Art, daß die
Berechtigung zum wählen ruht, d. h. quoad ius fortdauert, theils
in der Art, daß ſie zeitweilig ganz aufgehoben (ſuspendirt) iſt.


1) Die Berechtigung zum Wählen iſt quoad ius vorhanden,
ihre Ausübung aber ruht:


a) für Perſonen des Soldatenſtandes des Heeres und der
Marine ſo lange, als dieſelben ſich bei der Fahne befinden 4). Unter
den Perſonen des Soldatenſtandes ſind zu verſtehen „die zum
aktiven Heere gehörigen Militärperſonen, mit Ausnahme der Mili-
tärbeamten 5).“


b) für Perſonen, welche ſich zur Zeit der Wahl nicht in einem
Wahlbezirke aufhalten, in welchem ſie ihren Wohnſitz haben. Nur
wenn eine Gemeinde in mehrere Wahlbezirke getheilt iſt, genügt es,
wenn der Wähler in einem derſelben zur Zeit der Wahl ſeinen
Wohnſitz hat 6). Eine beſtimmte Dauer des Wohnſitzes wird nicht
[526]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
erfordert; andererſeits genügt bloßer Aufenthalt nicht um die Aus-
übung des Wahlrechts zu begründen, auch wenn er von längerer
Dauer iſt.


c) für Perſonen, welche nicht in die Wahlliſten aufgenommen
ſind 1).


2) Von der Berechtigung zum Wählen ſind nicht blos quoad
exercitium,
ſondern quaod ius ausgeſchloſſen folgende 4 Kategorien 2).


a) „Perſonen, welche unter Vormundſchaft oder Kuratel
ſtehen“, alſo, da Minderjährige ohnehin nicht wahlberechtigt ſind,
gerichtlich erklärte Verſchwender, Geiſteskranke und Gebrechliche,
welche unter Kuratel geſtellt ſind. Unter welchen Vorausſetzungen
dies eintritt, beſtimmt ſich nach den Partikularrechten.


b) „Perſonen, über deren Vermögen Konkurs- oder Fallit-
zuſtand gerichtlich eröffnet worden iſt und zwar während der Dauer
des Konkurs- oder Fallit-Verfahrens.“ Da der Ausſchluß der
Wahlberechtigung abhängig iſt von der Dauer des Verfahrens,
ſo ergiebt ſich, daß die Wahlberechtigung wieder auflebt nicht blos
in dem Falle, daß der Konkurs durch Befriedigung der Gläubiger
oder durch Akkord beendigt wird, ſondern auch dann, wenn das
Verfahren wegen gänzlichen Mangels einer Aktiv-Maſſe eingeſtellt
wird oder das vorhandene Aktiv-Vermögen vollſtändig zur Ver-
theilung gebracht iſt 3). Auch eine Verurtheilung wegen Banke-
rutts ändert hieran Nichts, wenn durch dieſelbe nicht zugleich die
bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt ſind, was jedoch in den Fällen
des §. 283 des R.-St.-G.-B.’s nicht zuläſſig iſt.


c) „Perſonen, welche eine Armen-Unterſtützung aus öffentlichen
oder Gemeinde-Mitteln beziehen, oder im letzten der Wahl vorher-
gegangenen Jahre bezogen haben 4).“


[527]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

d) „Perſonen, denen in Folge rechtskräftigen Erkenntniſſes
der Vollgenuß der ſtaatsbürgerlichen Rechte entzogen iſt, für die
Zeit der Entziehung, ſofern ſie nicht in dieſe Rechte wieder einge-
ſetzt ſind.“ Vgl. Reichsſtrafgeſetzbuch §. 34 Nr. 4.


Von dieſer Beſtimmung iſt aber hinſichtlich der Zeitdauer eine
Ausnahme gemacht, wenn der Vollgenuß der ſtaatsbürgerlichen
Rechte wegen politiſcher Vergehen oder Verbrechen ent-
zogen iſt. Alsdann tritt die Berechtigung zum Wählen wieder
ein, ſobald die außerdem erkannte Strafe vollſtreckt oder durch Be-
gnadigung erlaſſen iſt 1). Für das Verſtändniß der Gründe, aus
denen dieſe Ausnahme hinzugefügt worden iſt, kömmt die That-
ſache in Betracht, daß das Wahlgeſetz vor dem Strafgeſetzbuch
erlaſſen worden iſt und ſonach noch auf die älteren Landes-Straf-
geſetzbücher ſich bezieht. Nach vielen derſelben zogen gewiſſe Strafen,
insbeſondere die Zuchthausſtrafe, mit Nothwendigkeit den Verluſt
der ſtaatsbürgerlichen Rechte nach ſich und bei ſchweren Fällen des
Hochverraths und Landesverrathes, der Majeſtätsbeleidigung, der
Verbrechen in Beziehung auf die Ausübung der ſtaatsbürgerlichen
Rechte u. ſ. w. mußte auf Zuchthausſtrafe erkannt werden, theils
unbedingt, theils wenn nicht mildernde Umſtände angenommen
wurden 2). Derartige Beſtimmungen der Strafgeſetze ließen es
angemeſſen erſcheinen hinſichtlich des Wahlrechts eine Ausnahme
zu machen, wofern das Verbrechen oder Vergehen nicht aus einer
ehrloſen Geſinnung, ſondern aus politiſchen Beweggründen ent-
ſprungen iſt.


Da eine Aufzählung derjenigen Verbrechen oder Vergehen,
bei denen dieſe Ausnahme Platz greifen ſollte, ſchon wegen der
Mannigfaltigkeit der herrſchenden Strafgeſetzbücher nicht möglich
war, ſo bezeichnete man ſie allgemein als „politiſche Vergehen oder
Verbrechen.“ Das iſt nun allerdings kein feſtbeſtimmter Rechts-
begriff und weder die älteren Geſetze noch das Reichsſtrafgeſetzbuch
bezeichnen beſtimmte Delicte oder Kategorien derſelben als politiſche.
Nach dem objektiven Thatbeſtande des Delicts läßt ſich dieſer Begriff
4)
[528]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
auch gar nicht beſtimmen, ſondern nur nach dem Motive des Thä-
ters. Ein ſehr großer Theil, vielleicht die Mehrzahl, aller Verbre-
chensarten kann aus politiſchen Beweggründen verübt werden und
andererſeits brauchen die „gegen den Staat“ gerichteten Verbrechen,
wie Hochverrath und Landesverrath u. ſ. w., durchaus nicht immer
politiſch zu ſein, da ſie auch aus höchſt egoiſtiſchen und ehrloſen
Motiven begangen werden können. Da nun die Motive der ver-
brecheriſchen That nicht durch rechtskräftiges Erkenntniß feſtgeſtellt
werden, ſo fehlt es an einem juriſtiſchen Kriterium dafür, ob eine
Verurtheilung wegen eines politiſchen Verbrechens oder Ver-
gehens ſtattgefunden hat. Die Handhabung der in Rede ſtehenden
Beſtimmung des Wahlgeſetzes müßte daher in der Praxis große
Schwierigkeiten machen, wenn nicht das Reichsſtrafgeſetzbuch ihr den
größten Theil ihrer praktiſchen Wichtigkeit indirekt entzogen hätte.


Nach dem R.-St.-G.-B. zieht niemals irgend eine Strafe,
auch die Zuchthausſtrafe nicht, den Verluſt der bürgerlichen Ehren-
rechte nach ſich, ſondern es muß auf dieſe acceſſoriſche Strafe immer
beſonders erkannt werden. Neben der Gefängnißſtrafe kann dies
nur in den im §. 32 angeführten beiden Fällen geſchehen. Neben
der Zuchthausſtrafe kann zwar immer auf den Verluſt der bürger-
lichen Ehrenrechte erkannt werden, in allen Fällen aber, wo das
Geſetz die Wahl zwiſchen Zuchthaus oder Feſtungshaft geſtattet,
darf auf Zuchthaus nur dann erkannt werden, wenn feſtgeſtellt wird,
daß die ſtrafbar befundene Handlung aus einer ehrloſen Geſinnung
entſprungen iſt 1). Da nun politiſche Verbrechen und Vergehen
grade darin ihr charakteriſtiſches Weſen haben, daß ſie nicht aus
einer ehrloſen Geſinnung entſpringen, und der Richter, ſelbſt in
den Fällen, in denen er auf Zuchthaus erkennen muß, weil Fe-
ſtungshaft nicht alternativ angedroht iſt, nicht genöthigt iſt, zu-
gleich die bürgerl. Ehrenrechte abzuerkennen 2), ſo ſichert dieſe Be-
ſtimmungen des R.-St.-G.-Buchs im Weſentlichen das Reſultat,
daß bei allen politiſchen Verbrechen und Vergehen der Verluſt der
bürgerlichen Ehrenrechte überhaupt gar nicht durch richterliches Er-
kenntniß verhängt wird, und daß andererſeits in den Fällen, in
[529]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
welchen auf dieſe Strafe erkannt wird, regelmäßig von dem Straf-
richter feſtgeſtellt ſein muß, daß die That aus ehrloſer Geſinnung
entſprungen ſei, alſo nicht als ein politiſches Verbrechen oder Ver-
gehen qualifizirt werden könne.


Für die mit der Aufſtellung der Wählerliſten betrauten Be-
hörden ergiebt ſich hieraus die einfache Regel, aus den Liſten
alle Perſonen fortzulaſſen, welchen durch rechtskräftiges Erkennt-
niß die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt ſind, ohne auf eine
Unterſuchung darüber einzugehen, ob die Verurtheilung wegen eines
„politiſchen“ Verbrechens oder Vergehens erfolgt ſei.


Zu demſelben Reſultat führt auch die Erwägung, daß §. 34
des R.-St.-G.-B.’s ohne zwiſchen politiſchen und gemeinen Ver-
brechen oder Vergehen einen Unterſchied zu machen, an die Aber-
kennung der bürgerlichen Ehrenrechte die Wirkung knüpft, daß
während der im Urtheile beſtimmten Zeit die Unfähig-
keit, in öffentlichen Angelegenheiten zu ſtimmen, zu wählen oder
gewählt zu werden, eintritt, und daß das Reichsſtrafgeſetzbuch als
das jüngere Reichsgeſetz dem Wahlgeſetz vorgeht. Indeß läßt
ſich hier das Bedenken erheben, ob nicht die Anordnung im §. 13
des Wahlgeſetzes als lex specialis von der Modificirung durch das
Strafgeſetzbuch als lex generalis ausgenommen ſei; ein Bedenken,
welches durch das Einführungs-Geſetz zum Strafgeſetzbuch §. 2 ſich
nicht erledigt.


Der praktiſche Schwerpunkt der Beſtimmung des Wahlgeſetzes
liegt aber allerdings nicht in dem aktiven Wahlrecht, ſondern in
der davon abhängigen Wählbarkeit. Ueber dieſelbe hat der Reichs-
tag zu entſcheiden, da ihm die Prüfung der Legitimation ſeiner
Mitglieder zuſteht. Hierbei iſt er formell an juriſtiſche Gründe
nicht gebunden; er kann vielmehr der Erwägung Raum geben, ob
der von einer großen Wählerzahl ernannte Abgeordnete nicht zu-
zulaſſen ſei, wenngleich ein rechtskräftiges Erkenntniß demſelben
die Ehrenrechte abgeſprochen hat, und er kann in dieſer Erwägung
den Begriff der politiſchen Verbrechen und Vergehen ſo verſtehen
und dehnen, wie es der einzelne Fall etwa erfordert.


II.Die Wählbarkeit.

Wählbar iſt jeder Wahlberechtigte, welcher einem zum Bunde
gehörigen Staate ſeit mindeſtens einem Jahre angehört hat 1). Da
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 34
[530]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
nicht die Ausübung der Funktionen eines Abgeordneten, ſondern
die Wählbarkeit in Frage ſteht, ſo ergiebt ſich, daß die ein-
jährige Friſt von dem Tage des Wahlactes an zu berechnen iſt,
nicht von dem Tage des Zuſammentritts des Reichstages oder
gar der Wahlprüfung an, und daß die Wahl Jemandes, der zur
Zeit derſelben den Bedingungen des §. 4 des Wahlgeſetzes nicht
entſprochen hat, nachträglich durch Ablauf der einjährigen Friſt
nicht gültig wird. Erforderlich iſt nur die Reichsangehörigkeit,
nicht Aufenthalt oder Wohnſitz im Bundesgebiet.


Außer dem Erforderniß einjähriger Reichs-Angehörigkeit hat
die Wählbarkeit ganz dieſelben Vorausſetzungen wie das Wahlrecht.
Hier wird es daher von praktiſcher Wichtigkeit, ob Jemand (nach
§. 3 des Wahlgeſ.) von der Berechtigung zum Wählen ausge-
ſchloſſen iſt, oder ob dieſe Berechtigung nur ruht oder nicht aus-
geübt werden kann 1). Die im §. 3 aufgeführten Klaſſen von
Perſonen ſind nicht wählbar, da ſie nicht wahlberechtigt ſind; wohl
aber die Perſonen des ſtehenden Heeres ſowie die zur Zeit der
Wahl von ihrem Wohnſitz abweſenden oder in den Liſten über-
gangenen Wahlberechtigten.


Eine Beſchränkung der Ausübung der Funktionen eines Reichs-
tags-Mitgliedes und mithin eine indirekte Beſchränkung der Wähl-
barkeit iſt durch die Beſtimmung des Art. 9 der R.-V., daß Nie-
mand gleichzeitig Mitglied des Bundesrathes und des Reichstages
ſein kann, gegeben. Zwar iſt die Wahl eines Bundesraths-Mit-
gliedes zum Abgeordneten an ſich gültig, der Gewählte kann ſie
aber nur annehmen, wenn er aus dem Bundesrathe ausſcheidet;
auch der Reichskanzler iſt wählbar, kann die Wahl aber nur an-
nehmen, wenn er ſein Amt niederlegt, da der Reichskanzler noth-
wendig Mitglied des Bundesrathes ſein muß.


Für nicht wählbar muß man dagegen die Landesherren
der Deutſchen Staaten erachten, da ſie die Vollmachtsgeber der
Bundesraths-Mitglieder ſind; abgeſehen von dem in der allgemeinen
conſtitutionellen Theorie begründeten Bedenken, ob die Deutſchen
Landesherren als Träger der ſouveränen Reichsgewalt zugleich
Mitglieder des Reichstages ſein können 2).


[531]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
III.Die Zahl der Mitglieder

des Reichstages beſtimmt
ſich durch den Grundſatz, daß in jedem Bundesſtaate auf je 100,000
Seelen der Bevölkerungszahl Ein Abgeordneter gewählt wird. Dieſe
principielle Regel erleidet aber folgende Modifikationen:


1) Da niemals ein Wahlkreis Gebiete verſchiedener Staaten
umfaßt 1), ſo wird in einem Bundesſtaate, deſſen Bevölkerung
100,000 Seelen nicht erreicht, Ein Abgeordneter gewählt. Aus
demſelben Grunde wird ein Ueberſchuß von mindeſtens 50,000
Seelen der Geſammtbevölkerung eines Bundesſtaates vollen 100,000
Seelen gleichgerechnet, während ein Ueberſchuß von weniger als
50,000 Seelen unberückſichtigt bleibt 2).


2) In den zum ehemaligen Norddeutſchen Bunde gehörigen
Staaten bleibt bis auf weitere geſetzliche Anordnung für die Zahl
der Abgeordneten diejenige Bevölkerungszahl maaßgebend, welche
den Wahlen zum verfaſſungsgebenden Reichstage zu Grunde gelegen
hat. Wahlgeſ. §. 5. Abſ. 1.


In Folge dieſer Beſtimmung iſt für jeden Staat die in dem-
ſelben zu wählende Zahl von Abgeordneten fixirt, d. h. nicht
von dem Reſultate der periodiſchen Volkszählungen abhängig. Für
die Staaten des Norddeutſchen Bundes enthält §. 5 Abſ. 2 des
Wahlgeſetzes das Regiſter der auf ſie kommenden Zahlen 3); die
Geſammt-Summe der Abgeordneten betrug im Norddeutſchen
Bunde 297.


3) Dieſen im Norddeutſchen Bunde zur Geltung gelangten
Grundſätzen entſprechend iſt auch für die Süddeutſchen Staaten
2)
34*
[532]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
und Elſaß-Lothringen die Zahl der in dieſen Gebieten zu wählenden
Abgeordneten fixirt worden; für die ſüddeutſchen Staaten im Art.
20 Abſ. 2 der R.-V. auf zuſammen 85 1), für Elſaß-Lothringen
in dem R.-G. v. 25. Juni 1873 §. 3 auf 15.


Demnach beträgt die Geſammtzahl der Reichstags-Abgeordne-
ten 397 2).


4) In der Reichsverfaſſung ſelbſt iſt das Princip, nach welchem
ſich die Geſammtzahl der Abgeordneten und ihre Vertheilung auf
die Einzelſtaaten ergiebt, nicht ſanktionirt worden; es iſt formell
kein Verfaſſungsrecht, ſondern einfaches Geſetzesrecht und kann daher
ohne die erſchwerenden Vorſchriften des Art. 78 Abſ. 1 verändert
werden. Das Wahlgeſetz ſelbſt macht im §. 5. Abſ. 3 den Vor-
behalt, daß eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten in Folge
der ſteigenden Bevölkerung durch das Geſetz beſtimmt wird. Dieſe
Befugniß iſt ſelbſtverſtändlich und bedurfte keines Vorbehaltes; es
ſollte dadurch nur hervorgehoben werden, daß die Vermehrung der
Bevölkerung nicht ipso iure, alſo ohne Geſetz, eine Steigerung der
in den Einzelſtaaten zu wählenden Abgeordneten mit ſich bringt.
Aber nicht nur eine Vermehrung, ſondern auch eine Herabſetzung
oder anderweitige Vertheilung der Anzahl der Abgeordneten kann
durch ein (einfaches) Reichsgeſetz angeordnet werden. Hieran hat
ſich auch durch den Art. 20 Abſ. 2 der Reichsverfaſſung, der ledig-
lich eine Ergänzung des §. 15 Abſ. 2 des Wahlgeſetzes iſt,
Nichts geändert; denn derſelbe enthält ausdrücklich die Klauſel:
Bis zu der geſetzlichen Regelung, welche im §. 5
des Wahlgeſetzes vom 31. Mai 1869 vorbehalten iſt“ 3), erklärt
ſonach für ſeine Abänderung die Vorausſetzungen der Verfaſſungs-
Aenderung für nicht erforderlich.


5) Die auf die einzelnen Staaten entfallenden Zahlen von
[533]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Abgeordneten bilden nicht den Gegenſtand von Sonderrechten
(iura singularia); ſie ſind vielmehr lediglich das Ergebniß der
Anwendung eines allgemeinen Princips 1). Zu einer Aufhebung
oder Veränderung dieſes Princips iſt daher nicht die individuelle
Zuſtimmung der einzelnen Staaten erforderlich, auch nicht der im
Art. 20 Abſ. 2 aufgeführten vier ſüddeutſchen Staaten. R.-V. Art. 78
Abſ. 2 iſt hierauf nicht anwendbar 2). Dagegen iſt in dem Princip
der Gleichberechtigung aller Mitglieder des Reiches der Satz ent-
halten, daß nicht einem oder einigen Staaten ohne ihre Zuſtim-
mung diejenige Anzahl von Abgeordneten geſchmälert werden kann,
welche ſich für ſie aus der gleichmäßigen Anwendung des allgemeinen
Princips ergiebt 3).


IV.Die Wahlkreiſe.

„Jeder Abgeordnete wird in einem
beſonderen Wahlkreiſe gewählt“ 4). Für die Bildung der Wahlkreiſe
gilt der Grundſatz, daß ſie räumlich abgegrenzt und thunlichſt
abgerundet ſein müſſen 5), d. h. jeder Wahlkreis bildet einen
geographiſchen Bezirk, in welchem alle, in demſelben wohnenden
Wahlberechtigten zu einer Wählerſchaft verbunden ſind ohne Unter-
ſchied des Standes oder der ſocialen Klaſſe 6). Die räumliche
Abgeſchloſſenheit und Abrundung der Wahlkreiſe erleidet eine Aus-
nahme nur durch die Rückſicht auf die Gebietshoheit der Einzel-
ſtaaten in Anſehung der Enclaven. (Siehe oben S. 502.)


„Ein Reichsgeſetz wird die Abgrenzung der Wahlkreiſe beſtim-
men“ 7). Bis dahin ſind die Wahlkreiſe ſo beizubehalten, wie ſie
beim Erlaß des Wahlgeſetzes waren, mit Ausnahme derjenigen,
welche damals nicht örtlich abgegrenzt und zu einem räumlich zu-
[534]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
ſammenhängenden Bezirke abgerundet waren. Die letzteren mußten
bis zu den nächſten allgemeinen Wahlen der Vorſchrift des §. 6
Abſ. 3 gemäß gebildet werden. Durch dieſe Anordnungen ſind
folgende Rechtsſätze gegeben: Diejenige Abgrenzung der Wahlkreiſe,
welche bei den erſten Reichstagswahlen im Nordd. Bunde durch
Verordnungen der Landes-Regierungen getroffen wurde, vorbe-
haltlich der Berichtigung derjenigen Kreiſe, welche nicht räumlich
zuſammenhängende Bezirke bildeten, iſt reichsgeſetzlich aufrecht er-
halten und zu einer dauernden Einrichtung gemacht worden. Die-
ſelbe kann weder durch den Beſchluß des Bundesrathes oder durch
kaiſerliche Verordnung noch durch Geſetze oder Verordnungen der
Einzelſtaaten abgeändert werden. Jede Abänderung der Wahl-
kreiſe erfordert vielmehr ein Reichsgeſetz.


Ein Verzeichniß der Wahlkreiſe, welches den Beſtimmungen
des §. 6 des Wahlgeſetzes entſpricht, iſt als Anlage C dem Wahl-
reglement vom 28. Mai 1870 beigegeben und im Bundesgeſetzbl.
1870 S. 289 ff. publizirt worden. Eine Abänderung hat daſſelbe
dadurch erfahren, daß der ehemalige landräthl. Kreis Beuthen,
welcher den 5. u. 6. Wahlkreis des Reg.-Bez. Oppeln umfaßte, in vier
landräthliche Kreiſe getheilt worden iſt, von denen nunmehr
zwei (Beuthen und Tarnowitz) den 5. und zwei (Kattowitz und
Zabrze) den 6. Wahlkreis bilden 1).


Nach der Gründung des Deutſchen Reiches wurde durch Be-
ſchluß des Bundesrathes vom 27. Febr. 1871 das Verzeichniß
der Reichstags-Wahlkreiſe durch Feſtſtellung der ſüddeutſchen er-
gänzt und dies im R.-G.-Bl. 1871 S. 35 fg. publizirt. Die Kompe-
tenz des Bundesrathes zu dieſem Beſchluß gründet ſich auf §. 15
des Wahlgeſetzes. In Bayern war aber durch den Vertrag vom
23. Nov. 1870 III. §. 2 die Abgrenzung der Wahlkreiſe der Lan-
des-Regierung überlaſſen, ſo daß das Nachtrags-Verzeichniß vom
27. Febr. 1871 hinſichtlich Bayern’s nur die von der Bayeriſchen
Regierung getroffenen Beſtimmungen aufgenommen hat.


Die Abgrenzung der Wahlkreiſe in Elſaß-Lothringen wurde
durch das Geſetz von 25. Juni 1873 §. 6 Abſ. 2 dem Bundes-
rathe übertragen und iſt durch Beſchluß vom 1. Dezember 1873
(R.-G.-Bl. S. 373) erfolgt.


[535]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
V.Die Wahlbezirke.

Jeder Wahlkreis wird zum Zweck
der Stimmabgabe in kleinere Bezirke getheilt, welche ebenfalls
räumlich abgegrenzt ſein müſſen 1). Die Abgrenzung dieſer Bezirke
iſt den Behörden der Einzelſtaaten überlaſſen 2). Die hierzu nach
Maaßgabe der Aemter-Organiſation der einzelnen Staaten zuſtän-
digen Behörden führt das als Anlage D dem Wahlreglement bei-
gefügte Verzeichniß auf 3). Wenngleich die Abgrenzung unter Be-
rückſichtigung der lokalen Verhältniſſe nach dem Ermeſſen der
kompetenten Behörden vorzunehmen und erforderlichen Falles ab-
zuändern iſt, ſo ſind doch beſtimmte Grundſätze vorgeſchrieben,
nach welchen die Behörden verfahren müſſen. Als Regel gilt der
Satz, daß jede Ortſchaft (Ortsgemeinde) einen Wahlbezirk für
ſich bildet 4).


Dieſe Regel erleidet aber nach 2 Richtungen hin Ausnahmen.
Große Ortſchaften können in mehrere Wahlbezirke getheilt wer-
den, und da kein Wahlbezirk mehr als 3500 Seelen nach
der letzten allgemeinen Volkszählung enthalten darf, ſo iſt eine
Theilung großer Ortſchaften vielfach nothwendig 5). Die Er-
ſtreckung eines Wahlbezirks über die Grenzen der Ortſchaft hinaus
iſt geſtattet für einzelne bewohnte Beſitzungen und kleine Ort-
ſchaften; eine Minimalgröße der Einwohnerzahl eines Wahlbezirks
iſt jedoch nicht vorgeſchrieben. Ueberdies können ſolche Ortſchaften,
in welchen Perſonen, die zur Bildung des Wahlvorſtandes geeignet
ſind, ſich nicht in genügender Anzahl vorfinden, mit benachbarten
Ortſchaften zu einem Wahlbezirke vereinigt werden 6).


VI.Das Wahlverfahren.

1) Die Anordnung der Wahlen und die Feſtſetzung des
Tages, an welchem ſie vorzunehmen ſind, erfolgt durch kaiſerliche
Verordnung 7). Iſt die Legislatur-Periode abgelaufen, ſo ergiebt
[536]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
ſich eine indirecte Begränzung der Friſt, binnen welcher die Vor-
nahme der Wahlen angeordnet werden muß, aus der Vorſchrift
des Art. 13 der R.-V., daß die Berufung des Reichstages alljährlich
ſtattfindet. Iſt aber der Reichstag aufgelöſt worden, ſo müſſen
die Neuwahlen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen ſtatt-
finden 1).


Die Wahlen ſind nach dem Art. 20 der R.-V. allgemeine,
das heißt, ſie ſind der Regel nach im ganzen Bundesgebiete an
demſelben Tage vorzunehmen 2). Von dieſem Grundſatz ſind, ab-
geſehen von der Nothwendigkeit einer engeren Wahl, welche ledig-
lich als Fortſetzung der Wahlhandlung zu betrachten iſt, nur fol-
gende Fälle ausgenommen


  • a) wenn der Gewählte ablehnt,
  • b) wenn der Reichstag die Wahl für ungültig erklärt,
  • c) wenn ein Abgeordneter während des Laufes der Legisla-
    turperiode aus dem Reichstage ausſcheidet.

In dieſen Fällen finden partielle Wahlen (Erſatzwahlen) in
den betreffenden Wahlkreiſen ſtatt. Dieſelben werden nicht vom
Kaiſer oder dem Reichskanzler, ſondern von der zuſtändigen Lan-
desbehörde 3) anberaumt und zwar ſind ſie von derſelben ſofort
zu veranlaſſen 4).


[537]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

Das Geſetz kennt nur Fälle, in denen einzelne Wahlkreiſe an
einem beſonderen Tage eine Wahl vorzunehmen haben, dagegen
geſtattet es nicht, daß in einzelnen Wahlbezirken innerhalb eines
Wahlkreiſes die Wahlhandlung an einem anderen Tage vorge-
nommen werde, als an demjenigen, welcher für den ganzen Wahl-
kreis feſtgeſetzt iſt. Wenn daher die Wahl in einem Wahlbezirke
nicht vorgenommen werden kann, weil z. B. der Wahlort oder
das Wahllokal an dem betreffenden Tage unzugänglich iſt oder
weil weder der Wahlvorſteher noch deſſen Stellvertreter ſich ein-
findet u. drgl., ſo kann die Abſtimmung in dieſem Bezirke nicht
rechtswirkſam nachgeholt werden 1).


2) Eine nothwendige Vorbereitung der Wahl beſteht in der
Anfertigung der Wählerliſten. Für jeden Wahlbezirk iſt eine
beſondere Wählerliſte anzulegen, in welche die zum Wählen Be-
rechtigten nach Zu- und Vornamen, Alter, Gewerbe und Wohnort
eingetragen werden 2). Da der Regel nach jede Gemeinde einen
Wahlbezirk bildet, ſo wird gewöhnlich in jeder Gemeinde nur eine
Liſte anzufertigen ſein. Iſt die Gemeinde in mehrere Bezirke ge-
theilt, ſo erfolgt die Aufſtellung der Wählerliſten nach den einzel-
nen Bezirken, ſo daß für jeden Bezirk eine beſondere Liſte gefer-
tigt wird 3). Beſteht der Wahlbezirk aus mehreren Ortskommunen,
ſelbſtſtändigen Gutsbezirken u. ſ. w., ſo wird zunächſt für jeden
Kommunal- oder Gutsbezirk die Liſte beſonders angelegt und die
Wählerliſte des Wahlbezirkes dadurch gebildet, daß die Wahlvor-
ſteher die Wählerliſten der einzelnen zu dem Bezirke gehörigen
Gemeinden zuſammenheften 4).


Die Pflicht, die Wählerliſten anzulegen, liegt dem Gemeinde-
Vorſtande
(Ortsvorſtande, Inhaber eines ſelbſtſtändigen Guts-
bezirks, Magiſtrat u. ſ. w.) ob. Die Liſte iſt in zwei gleichlau-
[538]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
tenden Exemplaren aufzuſtellen [und] in derſelben ſind die Wahl-
berechtigten in alphabetiſcher Ordnung zu verzeichnen. In den
Städten aber iſt es geſtattet, die Wähler zunächſt nach den Straßen
und Häuſern zu gruppiren und nur innerhalb jedes Hauſes die
Wähler alphabetiſch zu ordnen 1).


Späteſtens 4 Wochen vor dem zur Wahl beſtimmten Tage
ſind dieſe Liſten zu Jedermanns Einſicht auszulegen und zwar
während eines Zeitraumes von mindeſtens 8 Tagen 2). Der Tag,
an welchem die Auslegung der Wählerliſten beginnt, wird von
der Staatsbehörde feſtgeſetzt 3); der Gemeinde-Vorſtand aber iſt
verpflichtet, noch vor dem Anfange der Auslegung dieſen Termin
unter Angabe des Lokals, in welchem die Auslegung ſtattfindet,
und unter Hinweis auf die Befugniß, Reclamationen zu erheben,
in ortsüblicher Weiſe bekannt zu machen. Auf der Wählerliſte
ſelbſt muß der Gemeinde-Vorſtand beſcheinigen, daß und wie lange
die Auslegung geſchehen und daß die vorgeſchriebenen Bekannt-
machungen erfolgt ſind 4).


Jeder, der die Liſte für unrichtig oder unvollſtändig hält,
kann die Berichtigung oder Ergänzung derſelben beantragen 5).
Der Antrag kann gerichtet ſein entweder auf Streichung von ein-
getragenen Perſonen, welche in dem betreffenden Wahlbezirke zur
Ausübung des Wahlrechts nicht befugt ſind, oder auf nachträgliche
Eintragung von Wahlberechtigten 6).


Activ legitimirt zur Stellung derartiger Anträge iſt Jeder,
auch derjenige, der in dem Wahlbezirk nicht mit zu ſtimmen befugt
iſt, ja der überhaupt kein Wahlrecht hat. Auch Weiber, Kinder,
Nichtdeutſche können Anträge auf Berichtigung der Wahlliſte ſtellen 7).
Denn es handelt ſich hier nicht um die Geltendmachung eines
[539]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
ſubjectiven Rechts, ſondern um eine Mitwirkung bei Erfüllung der, den
Ortsvorſtänden obliegenden Pflicht, die Wählerliſten ſo correct
wie möglich herzuſtellen. Selbſt wenn ein Wahlberechtigter, der
in der Liſte übergangen iſt, ausdrücklich erklärt, daß er in dieſelbe
nicht aufgenommen werden wolle, ſo kann doch von jedem Anderen
ſeine Aufnahme verlangt werden. Es ſteht ſomit Wahlvereinen
oder einzelnen, für die Wahlen ſich intereſſirenden Perſonen frei,
die Liſten einer umfaſſenden Reviſion zu unterwerfen und alle da-
bei entdeckten Unrichtigkeiten und Unvollſtändigkeiten zur Anzeige
zu bringen.


Der Antrag iſt binnen 8 Tagen nach dem Beginn der vor-
ſchriftsmäßig bekannt gemachten Auslegung der Liſten zu ſtellen.
Später erhobene Reclamationen brauchen nicht berückſichtigt zu
werden. Die Anträge ſind bei dem mit der Anfertigung der Liſte
betrauten Gemeindevorſtand zu ſtellen, dem es freiſteht, dafür einen
Kommiſſar zu ernennen oder eine Kommiſſion niederzuſetzen. Die
Anträge müſſen ſchriftlich eingereicht 1) oder zu Protokoll erklärt
werden und ſoweit ſie ſich auf Behauptungen ſtützen, welche nicht
notoriſch (ortskundig) ſind, mit den erforderlichen Beweismitteln
verſehen ſein.


Wird die Erinnerung ſofort für begründet erachtet, ſo erfolgt
ohne Weiteres die Berichtigung der Liſte. Iſt eine Prüfung er-
forderlich, ſo erfolgt eine Entſcheidung über den Antrag durch die
zuſtändige Behörde 2). Ein contradictoriſches Verfahren iſt in
keinem Falle vorgeſchrieben; jedoch iſt es nicht ausgeſchloſſen, den-
jenigen deſſen Streichung beantragt worden iſt, ſofern es thunlich
iſt, zu Gehör zu verſtatten. Die Entſcheidung iſt durch Vermitt-
lung des Gemeindevorſtandes den Betheiligten bekannt zu machen 3).
Unter den Betheiligten ſind wohl die Reclamanten und die auf
[540]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Grund der Reclamation nachträglich in die Liſten aufgenommenen
oder aus denſelben geſtrichenen Perſonen zu verſtehen. Eine Rechts-
wirkung iſt an die Unterlaſſung der Benachrichtigung übrigens
nicht geknüpft.


Gegen die Entſcheidung der zuſtändigen Behörde giebt es kein
Rechtsmittel. Die Entſcheidung über alle Reclamationen muß inner-
halb drei Wochen, vom Beginn der Auslegung der Wählerliſte an
gerechnet, erfolgen 1). Die Gründe der Streichungen und Nach-
träge ſind in beiden Exemplaren der Wahlliſte am Rande unter
Angabe des Datums kurz zu vermerken und die Belegſtücke, auf
Grund deren die Berichtigung erfolgt iſt, ſind dem Haupt-Exem-
plare beizuheften.


Am 22ten Tage nach dem Beginne der Auslegung wird die
Wählerliſte mittelſt Unterſchrift des Gemeinde-Vorſtandes abge-
ſchloſſen und auf dem zweiten Exemplar die völlige Uebereinſtim-
mung deſſelben mit dem Haupt-Exemplare beſcheinigt. Nach dem
Abſchluß der Wählerliſte iſt jede ſpätere Aufnahme von Wäh-
lern in dieſelbe unterſagt 2). Es iſt ſonach die Berückſichtigung
von Reclamationen, welche nach Ablauf der achttägigen Friſt ein-
gehen, ſowie die nachträgliche Ergänzung der Wahlliſte von Amts-
wegen geſetzlich nicht verboten, wofern die Hinzufügung der Wahl-
berechtigten nur bis zum 22ten Tage nach Beginn der Auslegung
erfolgt 3). Berichtigungen der Liſte durch Streichungen 4) ſtehen,
ſelbſt wenn ſie nach Abſchluß der Wählerliſte erfolgen, nicht im
Widerſpruch mit dem Wortlaut des Wahlreglements (§. 4 Abſ. 3);
ſie müſſen aber überhaupt außer dem Falle rechtzeitiger Recla-
mation für höchſt bedenklich erachtet werden, da ſonſt der Zweck
der Auslegung der Liſten völlig vereitelt werden könnte.


Von den beiden Exemplaren der Wählerliſte hat der Gemeinde-
vorſtand das Hauptexemplar ſorgfältig aufzubewahren, das zweite
[541]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Exemplar dem Wahlvorſteher Behufs Benutzung bei der Wahl
zuzuſtellen 1).


Vor jeder Wahl iſt die Aufſtellung und Auslegung der Liſte
zu wiederholen; ausgenommen ſind nur einzelne Neuwahlen (Er-
ſatzwahlen), welche innerhalb eines Jahres nach der letzten allge-
meinen Wahl ſtattfinden 2).


Die Kontrole über die ordnungsmäßige Aufſtellung, Aus-
legung und Berichtigung der Wählerliſten ſteht denjenigen Behör-
den zu, welche die allgemeine Aufſicht über die Gemeindevorſtände
und Ortsvorſtände führen.


3. Zur Vorbereitung der Wahlhandlung gehört außer der
Feſtſtellung der Wählerliſten noch die Beſtimmung des Lokals
und die Ernennung eines Wahlvorſtehers und eines Stell-
vertreters deſſelben für jeden Wahlbezirk 3). Es liegt dies der
zuſtändigen Behörde ob, über welche die Anlage D zum Wahl-
reglement für die Einzelſtaaten Auskunft giebt 4). Mindeſtens
8 Tage vor dem Wahltermin iſt die Abgrenzung der Wahlbezirke,
ferner für jeden Wahlbezirk das Wahllokal, der Wahlvorſteher
und Stellvertreter, und die Beſtimmung, daß die Wahlhandlung
um 10 Uhr Vormittags beginnt und um 6 Uhr Nachmittags ge-
ſchloſſen wird, durch die zu amtlichen Publikationen dienenden Blätter
zu veröffentlichen und von den Gemeindevorſtänden in ortsüblicher
Weiſe bekannt zu machen 5).


Mindeſtens zwei Tage vor dem Wahltermin ernennt der Wahl-
vorſteher aus der Zahl der Wähler ſeines Bezirkes einen Proto-
tokollführer und 3 bis 6 Beiſitzer, indem er ſie einladet, beim Be-
ginn der Wahlhandlung im Wahllokal zur Bildung des Wahl-
vorſtandes zu erſcheinen 6). Ihre Funktion iſt ein unentgeltliches
Ehrenamt. Wahlvorſteher, Beiſitzer und Protokollführer dürfen
kein unmittelbares Staatsamt bekleiden 7). Der Wahlvorſtand
[542]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
wird in der Art konſtituirt, daß der Wahlvorſteher bei Eröffnung
der Wahlhandlung den Protokollführer und die Beiſitzer mittelſt
Handſchlags an Eidesſtatt verpflichtet 1). Der Wahlvorſtand nimmt
an einem Tiſche Platz, der ſo aufgeſtellt wird, daß derſelbe von
allen Seiten zugänglich iſt. Auf dieſen Tiſch wird ein verdecktes
Gefäß (Wahlurne) zum Hineinlegen der Stimmzettel geſtellt. Vor
dem Beginn der Abſtimmung hat ſich der Wahlvorſtand davon zu
überzeugen, daß daſſelbe leer iſt 2). Zu keiner Zeit der Wahlhand-
lung dürfen weniger als drei Mitglieder des Wahlvorſtandes ge-
genwärtig ſein. Der Wahlvorſtand und der Protokollführer dürfen
ſich während der Wahlhandlung nicht gleichzeitig entfernen 3).


4) Die Stimmabgabe erfolgt durch Stimmzettel, welche
in die Wahlurne niedergelegt werden. Die Reichsverfaſſung Art. 20
ſchreibt „geheime Abſtimmung“ vor 4); eine Reihe von Beſtim-
mungen, welche Wahlgeſetz und Wahlreglement enthalten, haben
den Zweck, die Durchführung dieſes Verfaſſungs-Prinzips zu ſichern
und gleichzeitig der damit leicht verbundenen Gefahr von Fäl-
ſchungen und Betrug vorzubeugen 5). Die erheblichſten ſind fol-
gende 6):


a) Das Wahlrecht muß in Perſon ausgeübt werden. Abwe-
ſende können weder durch Stellvertreter, noch in irgend einer an-
dern Art an der Wahl theilnehmen 7). Der Wähler tritt an den
Wahltiſch und giebt ſeinen Namen, beziehungsweiſe ſeine Wohnung
an. Erſt wenn der Protokollführer den Namen des Wählers in
der Wählerliſte aufgefunden hat, wird derſelbe zur Ausübung des
Wahlrechts zugelaſſen. Der Protokollführer vermerkt neben dem
[543]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Namen des Wählers in der Wählerliſte in einer hiezu beſtimmten
Rubrik derſelben durch ein Zeichen, daß das Wahlrecht ausgeübt
worden ſei, theils um die Anzahl der abgegebenen Stimmen feſt-
zuſtellen, theils um einer wiederholten Ausübung des Wahlrechts
Seitens deſſelben Wählers vorzubeugen 1).


b) Der Wähler giebt ſeinen Stimmzettel dem Wahlvorſteher
oder deſſen Stellvertreter, welcher denſelben uneröffnet in die Wahl-
urne legt. Die Stimmzettel müſſen von weißem Papier ſein;
ſie dürfen mit keinem äußeren Kennzeichen verſehen ſein; ſie dürfen
nicht im Wahllokale geſchrieben werden, ſondern ſind außerhalb
des Wahllokals mit dem Namen des Kandidaten, welchem der
Wähler ſeine Stimme geben will, handſchriftlich oder im Wege
der Vervielfältigung zu verſehen 2); ſie dürfen keine Unterſchrift
tragen; ſie müſſen derart zuſammengefaltet ſein, daß der auf ihnen
verzeichnete Name verdeckt iſt 3).


c) Der Wahlvorſteher hat Stimmzettel, welche hiergegen ver-
ſtoßen, zurückzuweiſen und darauf zu achten, daß nicht ſtatt eines
mehrere Stimmzettel abgegeben werden 4). Wenn über die Zu-
laſſung eines Stimmzettels Zweifel entſtehen oder zwiſchen dem
Wahlvorſteher und dem Wähler eine Meinungs-Verſchiedenheit
herrſcht, ſo kann der Wahlvorſtand darüber durch Beſchluß eine
Entſcheidung treffen 5).


d) Um 6 Uhr Nachmittags wird die Wahl geſchloſſen. Es
geſchieht dies durch eine Erklärung des Wahlvorſtehers. Nachdem
[544]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
dieſelbe erfolgt iſt, dürfen keine Stimmzettel mehr angenommen
werden. Der Wahlvorſtand ſtellt hierauf das Reſultat der Stimm-
abgabe feſt. Zunächſt erfolgt eine Zählung der uneröffneten Stimm-
zettel und der Wähler, welche zu Folge der in der Wählerliſte
gemachten Bemerkungen ihr Stimmrecht ausgeübt haben; falls
ſich trotz wiederholter Zählung eine Verſchiedenheit ergiebt, ſo iſt
dies nebſt dem etwa zur Aufklärung Dienlichen im Protokolle an-
zugeben 1). Ein Beiſitzer entfaltet die Stimmzettel, der Vorſteher
lieſt dieſelben laut vor, ein anderer bewahrt die Stimmzettel bis
zum Ende der Wahlhandlung auf; der Protokollführer nimmt den
Namen jedes Kandidaten in das Protokoll auf und vermerkt neben
demſelben jede dem Kandidaten zufallende Stimme; in gleicher
Weiſe führt ein Beiſitzer eine Gegenliſte 2). Ungültig ſind Stimm-
zettel,


  • welche nicht von weißem Papier oder welche mit einem
    äußeren Kennzeichen verſehen ſind;
  • welche keinen oder keinen lesbaren Namen enthalten;
  • aus welchen die Perſon des Gewählten nicht unzweifelhaft
    zu erkennen iſt;
  • auf welchen mehr als Ein Name oder der Name einer nicht
    wählbaren Perſon verzeichnet iſt 3);
  • welche einen Proteſt oder Vorbehalt enthalten 4).

Bei Feſtſtellung des Wahlreſultats kommen ungültige Stimmen
nicht in Anrechnung. Wird über die Gültigkeit von Stimmzetteln
ein Beſchluß des Wahlvorſtandes gefaßt 5), ſo wird dies im Pro-
tokoll mit kurzer Angabe der Gründe bemerkt und die Stimmzettel
werden, mit fortlaufenden Nummern verſehen, dem Protokoll bei-
geheftet. Alle übrigen Stimmzettel werden, in Papier eingeſchlagen
und verſiegelt, vom Wahlvorſteher ſo lange aufbewahrt, bis der
Reichstag die Wahl definitiv für gültig erklärt hat 6). Das über
[545]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
die Wahlhandlung aufgenommene Protokoll 1) iſt von dem Wahl-
vorſteher, den Beiſitzern und dem Protokollführer zu unterſchreiben;
ebenſo die Wählerliſte und die Gegenliſte 2).


5) Die Feſtſtellung des Wahlreſultats erfolgt in
einer öffentlichen Verhandlung für den ganzen Wahlkreis. Zu
dieſem Behufe wird von der zuſtändigen Behörde 3) für jeden Wahl-
kreis ein Wahlkommiſſär ernannt und dies öffentlich bekannt ge-
macht. An denſelben haben die Wahlvorſteher die Wahlprotokolle
mit ſämmtlichen zugehörigen Schriftſtücken ungeſäumt einzureichen,
jedenfalls ſo frühzeitig, daß ſie ſpäteſtens im Laufe des 3. Tages
nach dem Wahltermin in deſſen Hände gelangen 4).


Der Termin zur Ermittlung des Wahlergebniſſes iſt der
4. Tag nach dem Wahltermine. Der Wahlkommiſſär beruft zu
demſelben in ein von ihm zu beſtimmendes Lokal mindeſtens 6 und
höchſtens 12 Wähler aus dem Wahlkreiſe. Dieſelben dürfen
ein unmittelbares Staatsamt nicht bekleiden. Außerdem iſt ein
Protokollführer, der ebenfalls Wähler ſein muß, zuzuziehen. Bei-
ſitzer und Protokollführer werden mittelſt Handſchlags an Eides-
ſtatt verpflichtet 5).


Aus den Protokollen, welche aus den einzelnen Abſtimmungs-
bezirken eingegangen ſind, werden die Reſultate der Wahlen zu-
ſammengeſtellt 6). Aus dem darüber aufzunehmenden Protokoll
muß die Zahl der Wähler, der gültigen und der ungültigen Stim-
men und die Zahl der auf die einzelnen Kandidaten gefallenen
Stimmen für jeden einzelnen Wahlbezirk erſichtlich ſein. Auch ſind
diejenigen Bedenken zu erwähnen, zu denen die Wahlen in einzelnen
Bezirken etwa Veranlaſſung gegeben haben.


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 35
[546]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

Das Ergebniß wird verkündet, und durch die zu amtlichen
Publikationen dienenden Blätter bekannt gemacht 1).


Die Wahl erfolgt durch abſolute Stimmenmehrheit aller
in einem Wahlkreiſe abgegebenen Stimmen 2). Hat ſich dieſelbe
auf einen Candidaten vereinigt, ſo wird derſelbe als gewählt
proklamirt 3).


6) Engere Wahl. Wenn eine abſolute Stimmenmehrheit
ſich nicht ergeben hat, ſo findet unter den beiden Candidaten, welche
die meiſten Stimmen erhalten haben, eine engere Wahl ſtatt 4).
Der Termin für dieſelbe wird von dem Wahlkommiſſar feſtgeſetzt
und darf nicht länger hinausgeſchoben werden als höchſtens 14 Tage
nach der Ermittlung des Ergebniſſes der erſten Wahl (alſo 18
Tage nach dem erſten Wahltermine) 5). Die engere Wahl iſt
lediglich als Fortſetzung der erſten, reſultatlos gebliebenen
Wahl anzuſehen; es bedarf daher nicht der Wiederholung der
zur Vorbereitung der Wahl dienenden Maaßregeln. Wahlbezirke,
Wahllokale, Wahlvorſteher bleiben unverändert; dieſelben Wähler-
liſten werden angewendet; eine wiederholte Auslage und Berich-
tigung derſelben findet nicht ſtatt 6).


Alle Stimmen, welche bei der engeren Wahl auf andere
Kandidaten fallen als auf die beiden, unter denen zu wählen iſt,
ſind ungültig. Es iſt in der wegen Vornahme der engeren Wahl
zu erlaſſenden Bekanntmachung ausdrücklich darauf hinzuweiſen 7).


Tritt bei der engeren Wahl Stimmengleichheit ein, ſo ent-
ſcheidet das Loos, welches durch die Hand des Wahlkommiſſars
gezogen wird 8).


[547]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

7) Von dem Reſultat der Wahl iſt der Gewählte durch den
Wahlkommiſſar in Kenntniß zu ſetzen und zugleich aufzufordern:


  • a) über die Annahme der Wahl ſich zu erklären,
  • b) nachzuweiſen, daß er nach Maaßgabe des Geſetzes wähl-
    bar ſei.

Dem Gewählten ſteht eine Deliberationsfriſt von 8 Tagen
zu, welche von der Zuſtellung der Benachrichtigung an läuft. Der
Nachweis der Wählbarkeit iſt für den Erwerb der Reichstags-
Mitgliedſchaft nicht weſentlich; derſelbe kann, wenn die Wählbar-
keit beſtritten werden ſollte, noch nachträglich geführt werden. Da-
gegen muß die Erklärung der Annahme eine ausdrückliche ſein;
das Ausbleiben einer Erklärung bis zum Ablauf der Friſt gilt
als Ablehnung 1). Die Annahme muß ferner eine uneingeſchränkte
ſein; Annahme unter Proteſt oder Vorbehalt gilt ebenfalls als
Ablehnung 2).


Im Falle der Ablehnung oder Ungültigkeits-Erklärung der
Wahl iſt von der zuſtändigen Behörde ſofort eine neue Wahl zu
veranlaſſen 3).


8) Die geſammten Koſten des Wahlverfahrens werden von
den Gemeinden getragen. Ausgenommen ſind allein die Koſten
für die Druckformulare zu den Wahlprotokollen der Wahlbezirke
und die Koſten für die Ermittlung des Wahlergebniſſes in den
Wahlkreiſen, welche den Bundesſtaaten zur Laſt fallen 4).


VII.Vorſchriften zur Sicherung der Ausübung des
Wahlrechts
.

Unter dieſen Geſichtspunkt fallen eine Anzahl von Rechtsſätzen,
welche in verſchiedenen Geſetzen aufgeſtellt worden ſind. Für ihre
allgemeine Beurtheilung und Auffaſſung iſt es von Wichtigkeit,
daß ſie weit weniger dem Zwecke dienen, das ſubjective Recht des
einzelnen Wahlberechtigten zu ſchützen, obwohl auch dies theilweiſe
mit in Betracht kommt, als vielmehr eine Sicherheit dafür zu ge-
währen, daß der Reichstag als ein für das Reich ſo weſentliches
Organ den für ſeine Zuſammenſetzung aufgeſtellten Verfaſſungs-
35*
[548]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Prinzipien gemäß auch wirklich gebildet werde. Das durch die
in Rede ſtehenden Vorſchriften zu ſchützende Object iſt demnach in
erſter Reihe nicht die Wahlberechtigung des Einzelnen, ſondern
die verfaſſungsmäßige Organiſation des Reiches, das allgemeine
Wahlrecht als Beſtandtheil derſelben, als objective Inſtitution des
Verfaſſungsrechts.


Hierher gehören folgende Sätze:


1) „Die Wahlberechtigten haben das Recht, zum Betrieb der
den Reichstag betreffenden Wahl-Angelegenheiten Vereine zu
bilden und in geſchloſſenen Räumen unbewaffnet öffentliche Ver-
ſammlungen
zu veranſtalten“ 1). Das hier begründete „Recht
der Wahlberechtigten“ iſt, juriſtiſch ausgedrückt, die durch Reichs-
geſetz erfolgte theilweiſe Aufhebung der landesgeſetzlichen Beſchrän-
kungen der natürlichen Fähigkeit, Vereine zu bilden und Verſamm-
lungen zu veranſtalten. Nicht dieſe Fähigkeit iſt eine Schöpfung
des Rechts, ſondern ihre Beſchränkung 2). Den Einzelſtaaten iſt
es demnach durch Reichsgeſetz verboten, in Bezug auf Vereine und
Verſammlungen, welche zum Betrieb der Reichstags-Wahlangele-
genheiten gebildet und veranſtaltet werden, dieſe natürliche Hand-
lungsfähigkeit der Wahlberechtigten zu beſchränken 3). Abgeſehen
davon, daß dieſe Beſchränkungen nur für Vereine und für öffentliche
Verſammlungen, welche in geſchloſſenen Räumen und unbe-
waffnet
veranſtaltet werden, beſeitigt worden ſind, ſpricht das
Reichsgeſetz nur von Wahlberechtigten, ſo daß alſo z. B. Perſonen,
welche das 25. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, und Perſonen
weiblichen Geſchlechts, ſowie Nicht-Reichsangehörige, wenn dieſelben
an Wahlvereinen und Wahlverſammlungen Theil nehmen, den ge-
wöhnlichen Vorſchriften der Partikularrechte über Vereine und
öffentliche Verſammlungen unterliegen.


[549]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

Außerdem hat das Reichsgeſetz ausdrücklich in Kraft erhalten
die Beſtimmungen der Landesgeſetze über die Anzeige der Ver-
ſammlungen und Vereine, ſowie über die Überwachung der-
ſelben 1).


2) Sowohl die Wahlhandlung und die Ermittelung des Wahl-
ergebniſſes in den Wahlbezirken als die Feſtſtellung des Wahl-
reſultates für die Wahlkreiſe ſind öffentlich2). Es wird da-
durch die Ordnungsmäßigkeit und Redlichkeit des Verfahrens unter
die Controle der Wahlberechtigten geſtellt. Andererſeits wird die
Ordnung und Ruhe der Wahlhandlung dadurch geſichert, daß
während derſelben im Wahllokal weder Diskuſſionen ſtattfinden,
noch Anſprachen gehalten, noch Beſchlüſſe gefaßt werden dürfen,
außer den durch die Leitung des Wahlgeſchäfts bedingten Dis-
kuſſionen und Beſchlüſſen des Wahlvorſtandes.


3) Unberechtigten Einwirkungen der Regierung auf die Stim-
menabgabe und Feſtſtellung des Wahlergebniſſes und der Mög-
lichkeit eines Verdachtes, daß dergleichen vorgekommen ſei, iſt durch
die Vorſchrift vorgebeugt, daß die Funktion der Vorſteher, Bei-
ſitzer und Protokollführer bei der Wahlhandlung in den Wahlbe-
zirken und der Beiſitzer bei der Ermittelung des Wahlergebniſſes
in den Wahlkreiſen ein unentgeltliches Ehrenamt iſt und nur von
Perſonen ausgeübt werden kann, welche kein unmittelbares Staats-
amt bekleiden 3).


4) Das Reichs-Strafgeſetzbuch hat die freie und ordnungs-
mäßige Vornahme der Wahlen durch vier ſpezielle Strafſatzungen
geſchützt.


a) Wer einen Deutſchen durch Gewalt oder durch Bedrohung
mit einer ſtrafbaren Handlung verhindert, in Ausübung ſeiner
ſtaatsbürgerlichen Rechte zu wählen oder zu ſtimmen, wird mit
Gefängniß nicht unter 6 Monaten oder mit Feſtungshaft bis zu
5 Jahren beſtraft. Der Verſuch iſt ſtrafbar. §. 107 4).


b) Ein Beamter unterliegt dieſer Beſtrafung ſelbſt dann,
wenn er die im §. 107 verbotene Handlung ohne Gewalt oder
[550]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Drohung, aber durch Mißbrauch ſeiner Amtsgewalt oder Andro-
hung eines beſtimmten Mißbrauchs derſelben begangen hat 1).
§. 339, Abſ. 3.


c) Wer ein unrichtiges Ergebniß der Wahlhandlung vorſätz-
lich herbeiführt, wird, wenn er mit der Sammlung von Wahl-
zetteln oder mit der Führung der Beurkundungsverhandlung be-
auftragt iſt, mit Gefängniß von 1 Woche bis zu 3 Jahren beſtraft;
wenn er nicht mit der Sammlung der Zettel oder einer anderen
Verrichtung bei dem Wahlgeſchäfte beauftragt iſt, ſo tritt Gefäng-
nißſtrafe bis zu zwei Jahren ein. Auch kann auf Verluſt der
bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. §. 108 2).


d) Wer in einer öffentlichen Angelegenheit ein Wahlrecht
kauft oder verkauft3), wird mit Gefängniß von einem Monat
bis zu zwei Jahren beſtraft; auch kann auf Verluſt der bürger-
lichen Ehrenrechte erkannt werden. §. 109 4).


Alle nicht unter dieſe 4 Kategorien fallende Handlungen,
welche eine Beeinflußung der Wähler bezwecken, ſind, ſofern ſie
nicht gegen die allgemeinen Strafgeſetze verſtoßen, erlaubt 5). Die
Freiheit der Wahlbeeinflußung iſt das Correlat des allgemeinen,
directen Wahlrechts und ohne ſie iſt die Erzielung einer abſoluten
Stimmenmehrheit der Wähler eines Kreiſes kaum zu erwarten.
[551]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Moraliſch mögen die Mittel, welche zur Beeinflußung der Wähler
verwendet werden, oft recht verwerflich ſein; rechtlich iſt ein Mittel
nur unſtatthaft, wenn es geſetzlich verboten iſt. Die Praxis des
Reichstages bei Prüfung der Wahlen iſt auch im Weſentlichen von
dem Grundſatz ausgegangen, daß ſolche Beeinflußungen von Wah-
len, welche nicht gegen Strafgeſetze verſtoßen, für die Gültigkeit
der Wahl ohne Belang ſind 1).


5) Endlich iſt hierher zu zählen die Beſtimmung des Art. 21,
Abſ. 1 der Reichsverf.: „Beamte bedürfen keines Urlaubs zum
Eintritt in den Reichstag“. Dieſe Beſtimmung ſtellt das allge-
meine Wahlrecht in der Richtung ſicher, daß der durch dasſelbe
zum Mitglied des Reichstages Berufene nicht durch die ihm dienſt-
lich vorgeſetzte Behörde gehindert werden darf, die ihm übertragene
Function auszuüben. Die Beſtimmung enthält keinen anderen
Satz, als daß der Beamte, welcher ſeinen Dienſt verläßt, um der
auf ihn gefallenen Wahl Folge zu leiſten, keine unbefugte und
ſchuldbare Verletzung der Dienſtpflichten verübt und daß er keiner
Erlaubniß ſeiner vorgeſetzten Behörde zum Eintritt in den
Reichstag bedarf. Dagegen enthält dieſer Artikel gar nichts über
anderweitige Rechtsfolgen, welche ſich für den Beamten an den
Eintritt in den Reichstag knüpfen können, namentlich keine Ent-
ſcheidung der Frage, ob ein Abzug vom Gehalte ſtattfindet oder
dem Beamten die Stellvertretungskoſten zur Laſt fallen 2). Für
[552]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
die Reichsbeamten iſt dieſe Entſcheidung aber durch das Reichsgeſ.
v. 31. März 1873 §. 14, Abſ. 2 (Rg.-Bl. S. 63) dahin getrof-
fen, daß ein Abzug vom Gehalte nicht ſtattfindet und die Stellver-
tretungskoſten der Reichskaſſe zur Laſt fallen. Vgl. S. 421.


Zu Zweifeln hat der Ausdruck „Beamte“ in Art. 21, Abſ. 1
Anlaß gegeben. Aus den Verhandlungen des zur Vereinbarung
der Verfaſſung berufenen Reichstages iſt Nichts dafür zu entneh-
men, welchen Sinn man an dieſer Stelle mit dem Worte „Beamte“
verbunden hat; ebenſo wenig giebt die Reichsverfaſſung ander-
wärts eine Definition dieſes Ausdruckes. Sicher iſt nur, daß er
außer den Reichsbeamten jedenfalls auch die Beamten der Einzel-
ſtaaten mit umfaßt. Es wird daher nach der Behördenverfaſſung
und dem öffentlichen Rechte der einzelnen Staaten zu entſcheiden
ſein, wer als Beamter derſelben anzuſehen iſt 1).


VIII.Die Wahlprüfungen.

„Der Reichstag prüft
die Legitimation ſeiner Mitglieder und entſcheidet darüber“.
R.-V. Art. 27. Die Entſcheidung erfolgt ohne Mitwirkung und
Betheiligung des Bundesrathes oder des Reichskanzlers und ſie
iſt definitiv; es giebt kein Mittel, wenn der Reichstag einmal eine
Wahl für gültig oder für ungültig erklärt hat, dieſe Entſcheidung
anzufechten, weder innerhalb noch außerhalb des Reichstages. Daß
2)
[553]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
die Entſcheidung materiell den Charakter eines Urtheils hat, alſo
nach Grundſätzen des Rechts und der Billigkeit, nicht nach dem
politiſchen Partei-Intereſſe, erfolgen ſollte, bedarf keiner Ausfüh-
rung; die Gründe für die Abſtimmung der einzelnen Reichstags-
Mitglieder ſind aber nicht controllirbar.


Um dem Reichstage die Prüfung der Wahlen zu ermöglichen,
ſind von dem Wahlkommiſſar ſämmtliche Wahlakten, ſowohl über
die Wahlen in den Bezirken als über die Zuſammenſtellung der
Ergebniſſe im Wahlkreiſe, der Staatsbehörde einzureichen und alle
dieſe Akten werden durch Vermittelung der Central-Verwaltungs-
behörde der Einzelſtaaten dem Reichstage vorgelegt 1).


Über das Verfahren hat die Geſchäftsordnung des
Reichstages §§. 3—6 die erforderlichen Beſtimmungen getroffen 2).
Nach denſelben zerfällt daſſelbe in die Vorprüfung und in die
Entſcheidung.


1) Die Vorprüfung geſchieht in den Abtheilungen. Der
Reichstag wird durch das Loos in ſieben Abtheilungen gleicher
Mitgliederzahl getheilt, welche ſich ihren Vorſitzenden und Schrift-
führer wählen und ohne Rückſicht auf die Zahl der anweſenden
Mitglieder beſchlußfähig ſind 3). Jeder Abtheilung wird eine mög-
lichſt gleiche Anzahl der einzelnen Wahlverhandlungen durch das
Loos zugetheilt. Die Entſcheidung erfolgt auf den Bericht
der Abtheilung durch das Plenum des Reichstages.


2) Eine Entſcheidung des Plenums muß erfolgen


  • a) wenn die Abtheilung ein erhebliches Bedenken findet,
  • b) wenn eine Wahlanfechtung (Proteſt) vorliegt4),
  • c) wenn ein Reichstags-Mitglied Einſprache erhebt.

Für die Wahlanfechtungen und Einſprachen beſteht eine prä-
[554]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
cluſiviſche Friſt von 10 Tagen, welche von der Eröffnung des
Reichstages, — bei Nachwahlen, die während einer Seſſion ſtatt-
finden, von der Feſtſtellung des Wahlergebniſſes an, — läuft.
Später eingehende Proteſte und Einſprachen bleiben unberück-
ſichtigt 1).


Die Entſcheidung kann auf Gültigkeitserklärung, Ungültigkeits-
erklärung oder Beanſtandung gehen und im letzteren Falle können
die erforderlichen thatſächlichen Feſtſtellungen durch Vermittelung
des Reichskanzlers erhoben werden.


Wenn keiner der 3 angegebenen Fälle vorliegt, bedarf es einer
Entſcheidung des Plenums nicht. Solche Wahlen werden nach der
Vorprüfung durch die Abtheilung vom Präſidenten nachrichtlich
zur Kenntniß des Hauſes gebracht, und wenn bis dahin die für
Anfechtungen gegebene Friſt von 10 Tagen noch nicht verfloſſen
iſt, einſtweilen als gültig betrachtet; nach Ablauf dieſer Friſt ſind
ſie definitiv gültig 2).


3) Bis zur Ungültigkeits-Erklärung einer Wahl hat der Ge-
wählte Sitz und Stimme im Reichstage 3). Ein beſtimmter Termin,
bis zu welchem die Vorprüfung der Wahlen oder die Definitiv-
Entſcheidung über dieſelben erfolgt ſein müſſe, iſt nicht vorge-
ſchrieben.


IX.Erlöſchen der Mitgliedſchaft.

Die Reichstags-Mitgliedſchaft hört auf:


1) durch Ablauf der Legislatur-Periode, welche drei Jahre
dauert. R.V. Art. 24 4).


2) durch Auflöſung des Reichstages während der Legislatur-
Periode. R.-V. Art. 24.


3) durch freiwilliges Ausſcheiden eines Mitgliedes. (Sogen.
Mandats-Niederlegung) 5).


[555]§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

4) Wenn ein Mitglied des Reichstages ein beſoldetes
Reichsamt
oder in einem Bundesſtaate ein beſoldetes
Staatsamt
annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienſte in ein
Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres
Gehalt verbunden iſt, ſo verliert es Sitz und Stimme in dem
Reichstage und kann ſeine Stelle in demſelben nur durch neue
Wahl wieder erlangen. R.-V. Art. 21 Abſ. 2 1). Die Entſchei-
dung der Frage, ob in einem gegebenen Falle eine dieſer Vor-
ausſetzungen thatſächlich vorliegt oder nicht, gehört zur Prüfung
der Legitimation der Reichstags-Mitglieder und ſteht deßhalb dem
Reichstage allein zu.


5) Die Reichsverfaſſung kennt keinen Fall, in welchem einem
Mitgliede Sitz und Stimme im Reichstage zur Strafe entzogen
werden kann. Weder durch ſtrafrichterliches Erkenntniß kann der
Verluſt der Mitgliedſchaft verhängt werden, noch iſt der Reichstag
befugt, wegen dauernder Nichttheilnahme an den Geſchäften des
Reichstages oder wegen unehrenhaften Verhaltens ein Mitglied
auszuſchließen 2). Dagegen kann man die Frage erheben, ob nicht
ein Mitglied des Reichstages, welches die Wählbarkeit einbüßt,
dadurch von ſelbſt Sitz und Stimme im Reichstage verliert 3). Die
Beantwortung der Frage kann zweifelhaft ſein, weil die Beding-
ungen, um Mitglied des Reichstages zu werden, nicht dieſelben
zu ſein brauchen, wie die Bedingungen, um es zu bleiben.


Allein aus der Natur der Sache darf man wohl unbedenklich
die Bejahung der Frage herleiten. Es ergiebt ſich dies zunächſt
für den Fall, daß ein Reichstags-Mitglied auswandert und mithin
5)
[556]§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.
aufhört, Angehöriger des deutſchen Reiches zu ſein. Wer nicht
zum deutſchen Volke gehört, kann auch nicht „Vertreter“ deſſelben
ſein. Wenn man aber anerkennt, daß der Wegfall einer Vor-
ausſetzung der Wählbarkeit, nämlich der Verluſt der Reichsange-
hörigkeit, den Verluſt der Reichstagsmitgliedſchaft nach ſich zieht,
ſo muß man conſequenter Weiſe dieſelbe Wirkung auch dann an-
nehmen, wenn einer der 4 im Wahlgeſ. §. 3 erwähnten Fälle
eintritt, durch welche Wahlrecht und Wählbarkeit zeitweiſe ausge-
ſchloſſen werden. Ausdrücklich durch Geſetz entſchieden iſt dies für
den Fall, daß einem Reichstags-Mitgliede die bürgerlichen Ehren-
rechte aberkannt werden. Denn nach §. 33 des R.-St.-G.-B’s.
iſt hiermit der dauernde Verluſt der aus öffentlichen Wahlen für
den Verurtheilten hervorgegangenen Rechte verbunden. Ebenſo
muß man aber annehmen, daß ein Mitglied des Reichstages Sitz
und Stimme in demſelben verliert, wenn über ſein Vermögen der
Konkurs eröffnet wird oder wenn er eine Armenunterſtützung aus
öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln bezieht.


Die Entſcheidung im einzelnen Falle würde, da es ſich auch
hier um die Legitimation der Mitglieder handelt, dem Reichstage
ſelbſt zuſtehen.


§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.


1) Der Reichstag darf ſich nicht verſammeln und ſeine
Thätigkeit beginnen, ohne vom Kaiſer berufen und ohne
vom Kaiſer perſönlich oder durch einen von ihm dazu beauftragten
Stellvertreter eröffnet zu ſein. R.-V. Art. 12 1).


Nach dem Art. 13 der R.-V. „findet die Berufung des Reichs-
tages alljährlich ſtatt“; es muß alſo der Reichstag in jedem Jahre
mindeſtens einmal einberufen werden. Die Befugniß des Kaiſers,
den Reichstag mehrmals in einem Jahre einzuberufen, iſt in der
Verfaſſung zwar nicht ausdrücklich anerkannt, abgeſehen von dem
Falle einer Auflöſung des Reichstages (R.-V. Art. 25); ſie beruht
aber auf einem allgemeinen, unzweifelhaften Gewohnheitsrecht und
iſt unbeſtritten 2). Man unterſcheidet demnach beim Reichstage,
[557]§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.
wie beim Bundesrathe, ordentliche und außerordentliche Sitzungs-
perioden.


2) Der Reichstag darf nicht gegen den Willen des Kaiſers
verſammelt bleiben und ſeine Thätigkeit fortſetzen. Dem
Kaiſer ſteht es vielmehr zu, den Reichstag zu vertagen und zu
ſchließen. R.-V. Art. 12. Dieſes Recht iſt jedoch in ſo weit
eingeſchränkt, daß ohne Zuſtimmung des Reichstages die Vertagung
deſſelben die Friſt von 30 Tagen nicht überſteigen und während
derſelben Seſſion nicht wiederholt werden darf. R.-V. Art. 26.


Über den rechtlichen Unterſchied der Vertagung und Schließung
enthält die Reichsverfaſſung zwar Nichts; nach dem feſtſtehenden
parlamentariſchen Sprachgebrauch und der conſtitutionellen Praxis
beſteht derſelbe aber darin, daß die Vertagung die Continuität
der Reichstagsgeſchäfte nicht unterbricht, wohl aber die Schließung 1).
Im Falle einer Vertagung bedarf es daher keiner wiederholten
Einberufung und Eröffnung, keiner neuen Conſtituirung des Reichs-
tages, keiner neuen Einbringung der unerledigt gebliebenen Vor-
lagen und Anträge. Die Geſchäfte werden vielmehr während der
Vertagungsfriſt nur ſuspendirt, bei dem Wiederzuſammentritt des
Reichstages daher an dem Punkte aufgenommen und fortgeſetzt,
an welchem ſie liegen geblieben ſind.


Im Falle der Schließung tritt dagegen das Prinzip der Dis-
continuität ein; die neue Sitzung iſt keine Fortſetzung der vorher-
gehenden; alle in der letzteren nicht zum Abſchluß gekommenen
Reichstagsgeſchäfte müſſen von Anfang an wieder begonnen werden.
Daher können auch Reichstags-Kommiſſionen nach Schluß der
Sitzungsperiode ihre vorberathende Thätigkeit nicht fortſetzen. Ob-
wohl dieſer Satz reichsgeſetzlich nicht direct ausgeſprochen iſt, ſo
ſteht er doch in ſo unbezweifelter Geltung 2), daß eine Abweichung
von demſelben nur auf Grund eines beſonderen Reichsgeſetzes zu-
läſſig erſcheint. Eine ſolche Ausnahme iſt durch das Geſetz v.
2)
[558]§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.
23. Dezember 1874 (Rg.-Bl. S. 194. 195.) gemacht worden. Die
vom Reichstage zur Vorberathung der Entwürfe eines Gerichts-
verfaſſungsgeſetzes, einer Strafproceß-Ordnung und einer Civil-
proceß-Ordnung eingeſetzte Kommiſſion wurde ermächtigt, ihre Ver-
handlungen nach dem Schluſſe der Seſſion des Reichstages
bis zum Beginn der nächſten ordentlichen Seſſion deſſelben fortzu-
ſetzen, und im §. 4 deſſelben Geſetzes wurde beſtimmt, daß der
Reichstag in einer der folgenden Seſſionen der gegenwärtigen Le-
gislaturperiode in die weitere Berathung der genannten Geſetz-
entwürfe eintritt. Es ſind alſo hier in Bezug auf die geſchäftliche
Behandlung dieſer Vorlagen ausnahmsweiſe die mit der Schließung
des Reichstages verbundenen Wirkungen auf das Maaß zurückgeführt
worden, welches ſonſt denen der Vertagung des Reichstages zukömmt.


3) Der Reichstag darf ohne Genehmigung des Kaiſers ſich
nicht trennen oder ſeine Thätigkeit unterbrechen. Das Recht
der Vertagung und Schließung ſteht ausſchließlich dem Kaiſer zu.
Nur im nicht techniſchen Sinne wird der Ausdruck „Vertagung“
auch angewendet, wenn der Reichstag eine einzelne Sitzung vor
völliger Erledigung der Tagesordnung abbricht oder die nächſte
Sitzung um einige Tage hinausſchiebt 1).


4) Der Reichstag kann vor Ablauf der Legislatur-Periode
aufgelöſt werden. Die Auflöſung erfolgt durch eine kaiſerliche
Verordnung, welche nur auf Grund eines vom Bundesrathe unter
Zuſtimmung des Kaiſers gefaßten Beſchluſſes erlaſſen werden
kann 2). Wird der Reichstag aufgelöſt, ſo müſſen innerhalb eines
Zeitraumes von 60 Tagen nach der Auflöſung die Neuwahlen
ſtattfinden und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach
der Auflöſung muß der Reichstag verſammelt werden 3). Die
Wirkung der Auflöſung beſteht darin, daß dadurch die ſogenannten
Reichstagsmandate erlöſchen, d. h. daß die durch die Wahl erfolgte
Berufung zum Reichstags-Mitgliede ein Ende findet. Die Auf-
löſung kann daher auch erfolgen, wenn der Reichstag nicht ver-
ſammelt iſt. Iſt derſelbe verſammelt, ſo hat die Auflöſung ipso
[559]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
iure und mit Nothwendigkeit die Schließung deſſelben zur Folge;
denn es giebt von dem Moment der Auflöſung an keine Reichs-
tagsmitglieder mehr, bis durch die Neuwahlen wieder ſolche er-
nannt werden. Es folgt hieraus zugleich, daß der einmal aufge-
löſte Reichstag nicht nochmals einberufen werden kann 1).


§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.


Die Reichsverfaſſung hat über die Art und Weiſe, wie der
Reichstag ſeine Geſchäfte zu erledigen habe, nur 2 Beſtimmungen
getroffen, die eine im Art. 22 über die Öffentlichkeit der Verhand-
lungen, die andere im Art. 28 über die Beſchlußfaſſung. Im
Übrigen iſt durch den Art. 27 ausgeſprochen, daß der Reichstag
ſeinen Geſchäftsgang und ſeine Disciplin durch eine Geſchäfts-
Ordnung regelt und ſeinen Präſidenten, ſeine Vicepräſidenten und
Schriftführer erwählt. Die formelle Ordnung der Geſchäftsbe-
handlung unterliegt daher im Weſentlichen der ſtatutariſchen Feſt-
ſtellung des Reichstages. Daraus folgt einerſeits, daß weder der
Bundesrath noch die Reichsregierung ein Mitwirkungs- und Ein-
ſpruchsrecht bei Feſtſtellung der Geſchäftsordnung haben, ſondern
das Belieben des Reichstages allein entſcheidet; andererſeits, daß
die Geſchäftsordnung nur die Mitglieder des Reichstages ſelbſt
verpflichtet und unter ihnen ſtatutariſches Recht erzeugt, aber
keine Rechtsſätze ſanctioniren kann, denen über den Kreis der
Reichstagsgenoſſen hinaus in irgend einer Beziehung Kraft und
Wirkung zukäme. Namentlich darf man die Geſchäfts-Ordnung
nicht paralleliſiren mit einer Verordnung des Kaiſers oder Bun-
desrathes 2); bei der letzteren handelt es ſich um eine Bethätigung
der Reichsgewalt, um die Ausübung eines ſtaatlichen Hoheitsrechts,
die einem Organe des Reiches delegirt iſt; bei der Feſtſtellung der
Geſchäftsordnung des Reichstages um eine ſtatutariſche Regelung
der internen Angelegenheiten dieſes Organes.


Es folgt ferner daraus, daß die Geſchäftsordnung immer nur
für denjenigen Reichstag bindend iſt, der ſie ſich gegeben hat und
nur ſo lange, als ſie der Majorität deſſelben behagt. Die Ein-
führung, Abänderung und Ergänzung der Geſchäfts-Ordnung iſt
[560]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
aber an die allgemeinen Bedingungen geknüpft, welche der Art. 28
der R.-V. für alle Beſchlüſſe des Reichstags aufſtellt. Hat der
Reichstag alſo einmal eine Geſchäfts-Ordnung angenommen, ſo iſt
ſie für ihn als Geſammtheit und für jedes einzelne Mitglied ſo
lange bindend, bis ein ordnungsmäßig gefaßter Beſchluß ſie ab-
ändert. Da die vom Reichstage des Norddeutſchen Bundes an-
genommene Geſchäfts-Ordnung vom 12. Juni 1868 ſich als zweck-
mäßig erwieſen hat, ſo iſt ſie von den folgenden Reichstagen
immer wieder angenommen worden und bis auf geringfügige
und untergeordnete Punkte unverändert geblieben 1). Man darf
daher annehmen, da die parlamentariſche Praxis ebenſo wenig wie
die gerichtliche und Verwaltungs-Praxis geneigt iſt, hergebrachte
und als brauchbar bewährte Übungen ohne dringenden Grund zu
verlaſſen und zu verändern, daß mindeſtens die Grundlinien der
jetzigen Geſchäfts-Ordnung eine dauerndere Bedeutung für das
Recht des Reiches haben, als ihnen theoretiſch nach der Art des
Zuſtandekommens der Geſchäftsordnung zugeſchrieben werden kann 2).


Im Einzelnen gilt über die Geſchäftsformen des Reichstages
Folgendes:


1) Die Verhandlungen des Reichstages ſind öf-
fentlich
. R.-V. Art. 22 Abſ. 1. Die Öffentlichkeit und die durch
dieſelbe vermittelte, fortwährende Wechſelwirkung zwiſchen dem
Reichstage und der öffentlichen Meinung gehört zum Weſen aller
parlamentariſchen Thätigkeit. Die Öffentlichkeit der Verhandlungen
des Reichstages iſt aber wieder doppelter Art:


a) Dem Publikum iſt geſtattet, bei den Sitzungen des Reichs-
tages zugegen zu ſein. Die Handhabung der Polizei im Sitzungs-
Gebäude und in den Zuhörer-Räumen ſteht dem Präſidenten zu;
er kann Perſonen, welche von der Tribüne Zeichen des Beifalls
oder Mißfallens geben oder ſonſt die Ordnung oder den Anſtand
verletzen, entfernen laſſen und, wenn eine ſtörende Unruhe auf
[561]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
der Tribüne entſteht, anordnen, daß Alle, die ſich zur Zeit darauf
befinden, die Tribüne räumen 1).


b) „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den
öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant-
wortlichkeit frei“. R.-V. Art. 22 Abſ. 2. Reichsſtr.-Geſ.-B. §. 12.
Im Falle einer Anklage iſt vom Richter feſtzuſtellen, ob ein Bericht
„wahrheitsgetreu“ iſt; auszugsweiſe Berichte über die Verhand-
lungen können in ſo tendenziöſer Art verfaßt ſein, daß ſie, ob-
gleich ſie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge-
ſprochen oder geſchehen iſt, dennoch den Sinn der gethanen
Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zuſammenhange fälſchen
und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten ſind. Noch viel
weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur
Verleſung gekommenen Aktenſtückes oder eines Satzes aus einer
Rede als ein „Bericht über Verhandlungen“ erachtet werden 2).


Der Satz der Verfaſſung ſchließt nicht nur eine gerichtliche
Verfolgung, ſondern „jede Verantwortlichkeit“ aus, mithin auch eine
disciplinariſche, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt iſt.
Er bezieht ſich ferner auf jede Art von Berichten, alſo insbeſondere
auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Verſammlungen
erſtattet werden. Seine wichtigſte Anwendung aber findet er in
Anſehung der durch die Preſſe verbreiteten Berichte.


Nach vielen Verfaſſungen iſt es dem Landtage überlaſſen, durch
einen Beſchluß die Oeffentlichkeit auszuſchließen; ſo z. B. auch durch
die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfaſſung hat eine
ſolche Beſtimmung nicht. Die Geſchäfts-Ordnung §. 33 ſucht dies
zwar nachzuholen, indem dieſer Paragraph faſt wörtlich dem Art.
79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen iſt; gegenüber der beſtimmten
Vorſchrift des Art. 22 der R.-V. aber iſt dieſe Beſtimmung der
Geſchäfts-Ordnung rechtsunwirkſam. Es ſteht zwar nichts ent-
gegen, daß ſich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be-
ſprechung unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit verſammeln, der ſtaats-
rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmt
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 36
[562]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
einer ſolchen Beſprechung aber nicht zu 1). Auch aus der Faſſung
des Art 22 Abſ. 2, welcher von Berichten über Verhandlungen
„in den öffentlichen Sitzungen“ des Reichstages ſpricht, läßt ſich
nicht das argumentum e contrario herleiten, daß es auch „nicht
öffentliche Sitzungen des Reichstages“ gebe. Denn theils bilden
den Gegenſatz zu den „öffentlichen Sitzungen des Reichstages“ die
„nicht öffentlichen Sitzungen der Reichstags-Kommiſſionen und Ab-
theilungen“ 2), theils iſt die Faſſung des Abſ. 2 dem Preuß. Preß-
geſetz vom 12. Mai 1851 §. 38 entnommen und es iſt bereits
hervorgehoben worden, daß in Preußen allerdings auch nicht öffent-
liche Sitzungen der beiden Häuſer des Landtages zuläſſig ſind.
Abſ. 1 u. Abſ. 2 des Art. 22 würden miteinander in directem
Widerſpruch ſtehen, wenn Abſ. 2 auch nicht öffentliche Sitzungen
des Reichstages als zuläſſig vorausſetzen würde.


2) Ueber die Beſchlußfaſſung des Reichstages enthält
Art. 28 der R.-V. zwei Rechtsſätze:


a) „Der Reichstag beſchließt nach abſoluter Stimmenmehr-
heit“. Dadurch iſt der Stichentſcheid des Präſidenten ausge-
ſchloſſen; im Falle der Stimmengleichheit iſt der Antrag abge-
lehnt 3).


[563]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.

b) „Zur Gültigkeit der Beſchlußfaſſung iſt die Anweſenheit
der Mehrheit der geſetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich.“
Die „geſetzliche Anzahl“ iſt, gleichviel ob Sitze erledigt ſind oder
nicht, 397 1). Beſchlußfähig iſt der Reichstag daher nur, wenn
mindeſtens 199 Mitglieder anweſend ſind. Die Anweſenheit einer
ſo großen Anzahl von Mitgliedern braucht aber nicht bei jeder
Beſchlußfaſſung conſtatirt zu werden; die Beſchlußfähigkeit wird
in allen Fällen präſumirt, in denen nicht durch Auszählung oder
namentliche Abſtimmung das Gegentheil feſtgeſtellt wird. Nur zur
Beſchlußfaſſung, nicht zu Verhandlungen des Reichstages iſt die
Anweſenheit einer beſtimmten Anzahl von Mitgliedern erforderlich.
Debatten können daher fortgeſetzt werden, ſelbſt wenn die Beſchluß-
Unfähigkeit des Hauſes conſtatirt iſt 2).


3) „Dem Reichstag ſteht es zu, ſeinen Präſidenten, ſeine
Vicepräſidenten und Schriftführer zu wählen
.“
R.-V. Art. 27. Dieſelben führen die Geſammtbezeichnung „Vor-
ſtand des Reichstages.“ Beim Eintritt einer neuen Legislatur-
Periode übernimmt zunächſt interimiſtiſch das älteſte Mitglied den
Vorſitz, es wird ſodann ein Beſchluß des Reichstages gefaßt 3),
an welchem folgenden Tage die Wahlen erfolgen ſollen. Die Wahl
der Präſidenten und von zwei Vicepräſidenten erfolgt das erſte
Mal auf 4 Wochen, dann aber für die übrige Dauer der Seſſion.
Sie geſchieht unter Namens-Aufruf durch Stimmzettel nach ab-
ſoluter
Majorität.


In den folgenden Seſſionen einer Legislatur-Periode ſetzen
die Präſidenten der vorangegangenen Seſſion ihre Functionen bis
3)
36*
[564]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
zur vollendeten Wahl des Präſidenten fort und die Präſidenten-
wahlen erfolgen ſofort für die ganze Dauer der Seſſion 1). Die
Conſtituirung des Reichstags und das Ergebniß der Vorſtands-
Wahlen wird durch den Präſidenten dem Kaiſer angezeigt 2).


Der Präſident und in ſeiner Vertretung die Vicepräſidenten
nach der Reihenfolge ihrer Erwählung haben die Verhandlungen
zu leiten, die Ordnung zu handhaben und den Reichstag nach
Außen zu vertreten. Der Präſident befördert die Vorlagen des
Bundesrathes und die Anträge der Mitglieder zum Druck und zur
Vertheilung, er ſtellt die gefaßten Beſchlüſſe zuſammen, er ver-
kündigt die Tages-Ordnung für die nächſte Plenarſitzung, er er-
öffnet und ſchließt die Sitzung und verkündet Tag und Stunde der
nächſten Sitzung; er vollzieht das Protokoll 3).


Der Präſident handhabt die Rede-Ordnung 4), führt die Redner-
liſte, ertheilt das Wort, er iſt befugt, den Redner auf den Gegen-
ſtand der Verhandlung zurückzuweiſen, und zur Ordnung zu rufen 5).
Gegen den Ordnungsruf kann das Mitglied jedoch ſchriftlich Ein-
ſprache thun, worauf der Reichstag in der nächſtfolgenden Sitzung
darüber ohne Discuſſion entſcheidet, ob der Ordnungsruf gerecht-
fertigt iſt 6).


Vor der Abſtimmung ſtellt der Präſident die Fragen; jedoch
kann das Wort darüber begehrt werden und im Falle eines Wider-
ſpruchs gegen die vom Präſidenten formulirte Frageſtellung be-
ſchließt der Reichstag darüber; unmittelbar vor der Abſtimmung
läßt der Präſident die Frage verleſen, ſtellt im Verein mit den
Schriftführern das Ergebniß der Abſtimmung feſt und verkündet
daſſelbe 7).


Den Verkehr zwiſchen dem Reichstage und dem Reichskanzler
[565]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
vermittelt der Präſident; ſoll eine Adreſſe dem Kaiſer durch eine
Deputation überreicht werden, ſo iſt der Präſident der alleinige
Wortführer der Deputation 1).


Der Präſident hat endlich über die Annahme und Entlaſſung
des für den Reichstag erforderlichen Verwaltungs- und Dienſtper-
ſonals zu beſchließen 2). Die Anſtellung deſſelben erfolgt nicht auf
ſeinen Antrag durch den Kaiſer oder den Reichskanzler, ſondern ſie
erfolgt durch den Reichstags-Präſidenten ſelbſt, welcher zugleich die
vorgeſetzte Behörde iſt 3). Auch über die im Etat ausgeworfene
Summe für die Ausgaben zur Deckung der Bedürfniſſe des Reichs-
tages ſteht dem Präſidenten die Verfügung zu und er ernennt für
die Dauer ſeiner Amtsführung zwei Reichstags-Mitglieder zu
„Quäſtoren“ für das Kaſſen- und Rechnungsweſen 4).


4) Die Behandlung aller dem Reichstage gemachten Vorlagen
des Bundesrathes und derjenigen von Mitgliedern geſtellten An-
träge 5), welche Geſetzesentwürfe enthalten, beſteht der Regel
nach in drei, durch feſte Friſten von einander getrennten, und in
ihrer Bedeutung verſchiedenen Berathungen.


a) Die erſte Berathung erfolgt früheſtens am dritten Tage,
nachdem der Geſetzesentwurf gedruckt und in die Hände der Mit-
glieder gekommen iſt 6). Bei Anträgen, welche von Mitgliedern
ausgehen, wird die erſte Berathung damit eröffnet, daß der Antrag-
ſteller das Wort zur Begründung erhält. Die erſte Berathung
iſt auf eine allgemeine Erörterung der Grundſätze des Entwurfs
beſchränkt. Der Beſchluß des Reichstages iſt lediglich darauf ge-
richtet, ob eine Kommiſſion mit der Vorberathung des Entwurfs
oder einzelner Theile deſſelben zu betrauen iſt oder nicht 7). Mate-
rielle Beſchlüſſe über den Inhalt der Vorlage können in dieſem
Stadium nicht gefaßt werden. Daher darf auch nicht die Ueber-
weiſung an eine Kommiſſion, mit dem Auftrage, den Geſetzentwurf
[566]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
in einer beſtimmten Richtung zu amendiren oder zu ergänzen, be-
ſchloſſen werden 1).


b) Die zweite Berathung erfolgt früheſtens am zweiten
Tage nach dem Abſchluſſe der erſten, und wenn eine Kommiſſion
eingeſetzt iſt, am zweiten Tage, nachdem die Kommiſſions-Anträge
gedruckt und in die Hände der Mitglieder gekommen ſind. Mit
Stimmenmehrheit kann der Reichstag aber eine Abkürzung dieſer
Friſt, insbeſondere auch die Vornahme der erſten und zweiten
Berathung in derſelben Sitzung beſchließen; indeß muß dieſer
Beſchluß an einem früheren Tage als an dem der Berathung ge-
faßt werden 2).


Die Discuſſion betrifft die einzelnen Artikel und die zu den-
ſelben geſtellten Abänderungs-Vorſchläge. Die letzteren bedürfen
keiner Unterſtützung; ſie können in der Zwiſchenzeit und im Laufe
der Verhandlung eingebracht werden.


Die Abſtimmung erfolgt über die einzelnen Artikel und Amen-
dements. Nach dem Schluſſe der zweiten Berathung ſtellt der
Präſident mit Zuziehung der Schriftführer die gefaßten Beſchlüſſe
zuſammen. Wird der Entwurf in allen ſeinen Theilen abgelehnt,
ſo findet eine weitere Berathung nicht ſtatt 3).


c) Die dritte Berathung hat die eben erwähnte Zuſammen-
ſtellung zur Grundlage und findet ſtatt früheſtens am zweiten
Tage nach der Vertheilung derſelben, oder, wenn keine abändern-
den Beſchlüſſe gefaßt worden ſind, nach dem Abſchluſſe der zweiten
Berathung 4).


Die Discuſſion betrifft zunächſt die allgemeinen Grundſätze
des Entwurfs (Generaldebatte), ſodann die einzelnen Artikel (Spe-
zialdebatte). Abänderungs-Vorſchläge dürfen eingebracht werden;
ſie bedürfen aber der Unterſtützung von 30 Mitgliedern.


Die Abſtimmung erfolgt über die einzelnen Artikel und Amen-
dements. Nach Beendigung der Berathung wird über die Annahme
oder Ablehnung des Geſetzesentwurfs im Ganzen abgeſtimmt. Wenn
[567]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
in dritter Berathung Verbeſſerungs-Anträge angenommen worden
ſind, ſo iſt die Schlußabſtimmung auszuſetzen, bis das Büreau die
Beſchlüſſe zuſammengeſtellt hat 1).


5) Eine einfachere Behandlung finden Anträge von Mitglie-
dern, welche keine Geſetzesentwürfe enthalten 2). Bei denſelben ge-
nügt einmalige Berathung und Abſtimmung; Abänderungsvorſchläge
bedürfen der Unterſtützung von 30 Mitgliedern. Über den Zeit-
punkt, in welchem die Berathung ſtattfinden kann, gilt zwar im
Allgemeinen dieſelbe Regel wie bei Geſetzentwürfen, jedoch kann
über einen derartigen Antrag, und zwar auch ohne daß er gedruckt
vorliegt, in derſelben Sitzung, in welcher er eingebracht iſt, unter
Zuſtimmung des Antragſtellers die Berathung und Abſtimmung
ſtattfinden, wenn kein Mitglied widerſpricht 3).


Auf Anträge des Bundesrathes, welche keine Geſetzesentwürfe
enthalten, kann dieſes, im §. 21 der G.-O. normirte, Verfahren
nur mit Zuſtimmung des Bundesrathes angewendet werden 4).


6) Über die Behandlung von Interpellationen und Adreſſen
ſiehe oben S. 522 5).


7) Abtheilungen und Kommiſſionen. Die vom
Reichstage zu behandelnden Angelegenheiten können zur Vorbe-
reitung der Plenarberathung und Beſchlußfaſſung Ausſchüſſen über-
wieſen werden. Von denſelben giebt es zwei, von einander ſehr
verſchiedene Arten.


a) Abtheilungen. Der Reichstag zerfällt in ſieben Ab-
theilungen von möglichſt gleicher Mitgliederzahl. Dieſelben werden
durch das Loos gebildet; es gehört daher jedes Mitglied einer
Abtheilung und nur einer an. Eine Neubildung der Abtheilungen
findet nur ſtatt, wenn der Reichstag auf einen durch 50 Unter-
ſchriften unterſtützten Antrag dies beſchließt. Die Abtheilungen
ſind ohne Rückſicht auf die Zahl der anweſenden Mitglieder be-
ſchlußfähig 6).


[568]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.

Den Abtheilungen liegt ob die Vorprüfung der Wahlen 1)
und die Wahl von Kommiſſionsmitgliedern 2).


b) Kommiſſionen. Dieſelben werden gewählt. Es
können daher einzelne Mitglieder mehreren Kommiſſionen ange-
hören, andere gar keiner. Die Wahl erfolgt — wenigſtens ſchein-
bar — durch die Abtheilungen, indem jede derſelben die gleiche
Zahl von Kommiſſions-Mitgliedern durch Stimmzettel nach abſo-
luter Mehrheit der anweſenden Mitglieder erwählt 3). In Wirk-
lichkeit iſt dies eine leere Form, da die Wahl der Mitglieder der
Kommiſſionen von den Vorſtänden der Fractionen vereinbart wird 4).
Die Kommiſſionen können entweder für eine einzelne Angelegen-
heit oder für ganze Gruppen von Geſchäften gewählt werden 5).
Die Aufgabe der Kommiſſion iſt die Vorberathung des ihr über-
wieſenen Gegenſtandes und die Berichterſtattung an das Plenum.
Der Bericht kann mündlich oder ſchriftlich erſtattet werden; ſchrift-
liche Berichte werden gedruckt und an die Mitglieder vertheilt.
Der Reichstag kann in jedem Falle einen ſchriftlichen Bericht ver-
langen 6).


Die Kommiſſionen ſind nur dann beſchlußfähig, wenn min-
deſtens die Hälfte der Mitglieder anweſend iſt. Für das Publikum
ſind die Sitzungen der Kommiſſionen nicht öffentlich 7); die Reichs-
tagsmitglieder ſind aber befugt, auch wenn ſie einer Kommiſſion
nicht angehören, den Sitzungen derſelben beizuwohnen. Eine
Ausſchließung der Oeffentlichkeit der Kommiſſions-Verhandlungen
für Reichstags-Mitglieder kann nur der Reichstag beſchließen 8).
Die Mitglieder des Bundesrathes und Kommiſſare deſſelben können
den Abtheilungen und Kommiſſionen mit berathender Stimme bei-
[569]§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
wohnen. Dem Reichskanzler wird daher auch von dem Zuſam-
mentritt der Kommiſſionen und von dem Gegenſtande der Ver-
handlungen Kenntniß gegeben 1).


Abtheilungen und Kommiſſionen conſtituiren ſich ſelbſtſtändig,
wählen ihre Vorſitzenden und Schriftführer und deren Stellver-
treter und regeln ihre Tagesordnung ſelbſt. Für die Abtheilungen
kann auch der Präſident Sitzungen anberaumen 2).


8) Protokolle. Auch von dieſen giebt es zwei verſchiedene
Arten:


a) Die offiziellen Sitzungsprotokolle3). Das Protokoll
jeder Sitzung liegt während der nächſten Sitzung zur Einſicht aus
und wird, wenn dagegen bis zum Schluß der Sitzung kein Ein-
ſpruch erhoben iſt, als genehmigt erachtet. Wird aber Einſpruch
erhoben, welcher ſich durch die Erklärung der darüber zu hörenden
Schriftführer nicht heben läßt, ſo entſcheidet der Reichstag darüber 4).
Wird der Einſpruch für begründet erachtet, ſo muß noch während
der Sitzung eine neue Faſſung der betreffenden Stelle vorgelegt
werden. Das Protokoll muß enthalten


  • die gefaßten Beſchlüſſe in wörtlicher Anführung;
  • die Interpellationen in wörtlicher Faſſung nebſt der Be-
    merkung, ob ſie beantwortet ſind;
  • die amtlichen Anzeigen des Präſidenten.

Das Protokoll wird von dem Präſidenten und zwei Schrift-
führern vollzogen und im Archiv des Reichstages aufbewahrt. Durch
den Druck werden dieſe Protokolle nicht veröffentlicht. Sie allein
haben den Charakter öffentlicher Urkunden über die Reichstags-
Beſchlüſſe.


b) Die Stenographiſchen Berichte über die Verhand-
lungen. Die Ueberwachung der Reviſion derſelben liegt den Schrift-
führern ob 5). Sie enthalten einen vollſtändigen Bericht der ge-
[570]§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.
ſammten Verhandlungen und einen Abdruck der, den Verhandlungen
zu Grunde liegenden ſchriftlichen Vorlagen, Anträge und Berichte
unter der Bezeichnung „Anlagen“. Jedes Mitglied iſt außerdem
befugt, bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abſtimmungen
ſeine von dem Mehrheitsbeſchluſſe abweichende Abſtimmung kurz
motivirt ſchriftlich dem Büreau zu übergeben und deren Aufnahme
in die ſtenographiſchen Berichte, ohne vorgängige Verleſung in
dem Reichstage, zu verlangen 1). Die ſtenographiſchen Berichte
werden gedruckt und erſcheinen nach Legislatur-Perioden und Seſ-
ſionen und in chronologiſcher Reihenfolge der Sitzungen geordnet
im Buchhandel 2).


§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.


Den Mitgliedern des Reichstages die freie und unabhängige
Ausübung der ihnen obliegenden Funktionen zu ſichern, iſt der
gemeinſame Zweck einer Reihe von Rechtsvorſchriften. In der
Literatur faßt man dieſelben gewöhnlich unter dem Geſichtspunkte
auf, daß es ſich hierbei um perſönliche Rechte der Reichs-
tagsmitglieder
handle 3). Dies iſt indeß unrichtig. Alle
dieſe Vorſchriften begründen keine ſubjectiven Berechtigungen; ſie
ſind vielmehr ihrem Inhalte nach Rechtsſätze des Strafrechts und
des Prozeſſes, welche auf politiſchen und ſtaatsrechtlichen
Motiven
beruhen. Es ſind objective Spezial-Rechtsſätze, nicht
durch Privileg begründete ſubjective Rechte, welche beſtimmten
Individuen zuſtehen. Die Mitgliedſchaft im Reichstage iſt zwar
die Vorausſetzung für die Anwendung dieſer Rechtsvorſchriften,
aber die Anwendung derſelben hängt nicht von dem Willen des
Mitgliedes ab 4). Es iſt dies für die allgemeine theoretiſche Auf-
[571]§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.
faſſung dieſer Rechtsſätze von Bedeutung. Die Grundſätze vom
Erwerb und Verluſt der ſubjectiven Rechte finden keine Anwendung;
kein Reichstags-Mitglied kann wirkſam darauf verzichten oder ſie
abtreten; es giebt keine Klage zu ihrer Geltendmachung u. ſ. w.
Dagegen unterliegen ſie den Regeln von den objectiven Rechts-
ſätzen; insbeſondere können ſie durch ein verfaſſungsmäßig zuſtande
gekommenes Geſetz jederzeit verändert oder aufgehoben werden,
ohne daß die einzelnen Mitglieder des Reichstages, welche davon
betroffen werden, ihre Zuſtimmung zu ertheilen brauchten oder
Anſpruch auf Entſchädigung hätten. Die Tendenz aller dieſer
Vorſchriften iſt auch in ihrem Endziel nicht, den Mitgliedern des
Reichstages eine Rechtswohlthat zu erweiſen, ſondern die ungeſtörte
Thätigkeit eines für das Verfaſſungsleben des Reiches ſo wichtigen
Organes, wie es der Reichstag iſt, zu ſichern 1); nur kommt das
Mittel, durch welches dieſes Ziel erreicht wird, unter Umſtänden
den einzelnen Reichstags-Mitgliedern zu ſtatten.


Die hierher gehörenden Vorſchriften ſind folgende:


1) „Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit
wegen ſeiner Abſtimmung oder wegen der in Ausübung ſeines
Berufes gethanen Aeußerungen gerichtlich oder disciplinariſch ver-
folgt oder ſonſt außerhalb der Verſammlung zur Verantwortung
gezogen werden“. R.-V. Art. 30 2).


Es iſt dies ein allgemeiner Grundſatz des Strafrechts; er
kehrt daher auch in Anwendung auf die Mitglieder der Landtage
der Einzelſtaaten im R.-Strafgeſetzb. §. 11 wieder. Er läßt aus-
drücklich die geſchäftsordnungsmäßige Disciplin innerhalb des Reichs-
tages (Ordnungsruf) zu. Wenn der Wortlaut des Artikels unter-
ſagt, ein Reichstags-Mitglied gerichtlich oder disciplinariſch oder
ſonſt“ zur Verantwortung zu ziehen, ſo iſt dies nur von einem
obrigkeitlichen Ziehen zur Verantwortung zu verſtehen, weil
nur dieſes einen rechtlichen Charakter hat 3).


[572]§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.

2) „Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied
deſſelben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe
bedrohten Handlung zur Unterſuchung gezogen oder verhaftet wer-
den, außer wenn es bei Ausübung der That oder im Laufe des
nächſtfolgenden Tages ergriffen wird.“ R.-V. Art. 31 Abſ. 1.


Dies iſt eine Regel des Strafprozeſſes. Die Genehmigung
des Reichstages iſt eine ſtrafprozeßualiſche Vorausſetzung oder Be-
dingung, ohne welche die Behörden eine ſtrafgerichtliche Unterſuchung
nicht eröffnen reſp. die Verhaftung nicht vornehmen dürfen1). Dieſe
Bedingung beſteht nur „während der Sitzungsperiode“; d. h. vom
Momente der Eröffnung bis zum Momente der Schließung des
Reichstages. Wird der Reichstag vertagt, ſo währt die Sitzungs-
periode noch fort; die Regel des Art. 31 Abſ. 1 beſteht daher
auch während der Vertagungsfriſt.


Auf die Feſtnahme eines Reichstags-Mitgliedes zum Zwecke
der Vollſtreckung einer rechtskräftig erkannten Freiheitsſtrafe kann
die Vorſchrift des Art. 31 Abſ. 1 ſeinem Wortlaute nach keine
Anwendung finden. Ein rechtskräftiges Erkenntniß iſt keine „mit
Strafe bedrohte Handlung“ eines Reichstags-Mitgliedes; die Zu-
ſammenſtellung der „Verhaftung“ mit dem „Ziehen zur Unter-
ſuchung“ deutet darauf hin, daß der Artikel nur von der Unter-
ſuchungshaft redet, und namentlich kann die Ausnahme, welche ſich
gleichmäßig auf das Ziehen zur Unterſuchung und die Verhaftung
erſtreckt, nämlich der Fall der Ergreifung, „bei Ausübung der
That“ oder im Laufe des nächſtfolgenden Tages nur von der Unter-
ſuchungshaft nicht von der Strafvollſtreckung verſtanden werden.
Sodann wird dies auch durch die Analogie der im Abſ. 3 deſſelben
Artikels enthaltenen Vorſchrift beſtätigt, wo nur von einer Unterbre-
chung der Unterſuchungshaft, nicht der Strafvollſtreckung die Rede iſt.


Daſſelbe Reſultat ergiebt auch die Entſtehungsgeſchichte dieſes
3)
[573]§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.
Artikels. In dem verfaſſungsberathenden Reichstage wurde zu
Art. 28 des Entw. ein Zuſatz-Artikel von zwei verſchiedenen Seiten
beantragt; der Abgeordnete Ausfeld wünſchte die Aufnahme
eines dem §. 117 der Reichsverf. v. 28. März 1849 entſprechenden
Zuſatzes, der Abgeordnete Lette empfahl die Anlehnung an die
Faſſung des Art. 84 der Preuß. Verf.-Urk. v. 31. Januar 1850.
Die letztere Formulirung wurde angenommen, nachdem der Abg.
Lette die zwiſchen beiden Faſſungen beſtehenden Unterſchiede her-
vorgehoben hatte. (Stenogr. Ber. des verfaſſungg. Reichstages
1867 S. 468.) In Betreff der hier in Betracht kommenden Frage
beſteht aber zwiſchen beiden Faſſungen kein Unterſchied. Die
Reichsverfaſſung von 1849 §. 117 unterſagt nur die Verhaftung
wegen „ſtrafrechtlicher Anſchuldigung“ und die Verhandlungen der
Preuß. Rationalverſammlung von 1848 über den jetzigen Artikel
84 laſſen keinen Zweifel, daß der Ausdruck verhaftet, in dieſem
Art. auf die Strafvollſtreckung ſich nicht erſtreckt; auch iſt niemals
in Preußen in der ſtaatsrechtlichen Praxis die entgegengeſetzte Be-
hauptung auch nur erhoben worden 1).


Bei der Vereinbarung der Reichsverfaſſung wurde daher von
keiner Seite daran gedacht, den Reichstags-Mitgliedern ein Privi-
legium in Beziehung auf die Verbüßung rechtskräftig erkannter
Strafen zu ertheilen 2).


[574]§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.

3) „Die gleiche Genehmigung iſt bei einer Verhaftung eines
Reichstags-Mitgliedes wegen Schulden erforderlich.“ R.-V. Art. 31
Abſ. 2. Dieſer Satz enthält eine Regel des Civilprozeſſes 1).
Nach dem R.-G. vom 29. Mai 1868 §. 1 (B.-G.-Bl. S. 237)
iſt der Perſonalarreſt als Executionsmittel in bürgerlichen Rechts-
ſachen nur inſoweit für unſtatthaft erklärt, als dadurch die Zahlung
einer Geldſumme oder die Leiſtung einer Quantität vertretbarer
Sachen oder Werthpapiere erzwungen werden ſoll. Vorſchriften
der partikulären Prozeßordnungen, welche den Perſonal-Arreſt zu-
laſſen als Exekutionsmittel, um die Leiſtung unvertretbarer (indi-
viduell beſtimmter) Sachen oder von Handlungen zu erzwingen,
beſtehen noch fort. Ferner hat das erwähnte Reichsgeſetz §. 2
ausdrücklich aufrecht erhalten die geſetzlichen Vorſchriften, welche
den Perſonalarreſt geſtatten, um die Einleitung oder Fortſetzung
des Prozeßverfahrens oder die gefährdete Exekution in das Ver-
mögen des Schuldners zu ſichern (Sicherungsarreſt). Alle dieſe
partikulären Prozeßregeln werden durch Art. 31 Abſ. 2 der R.-V.
modificirt.


4) „Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren
gegen ein Mitglied deſſelben und jede Unterſuchungs- oder Civil-
haft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben.“ R.-V. Art. 31
Abſ. 3. Durch dieſe Vorſchrift wird dem Reichstage die Befug-
niß gegeben, die Unterbrechung eines Strafverfahrens, ſowie einer
Unterſuchungs- oder Civilhaft zu verlangen 2). Auf eine Straf-
vollſtreckung kann der Artikel nicht bezogen werden, weil dieſelbe
erſt nach Beendigung des Strafverfahrens eintritt, nicht mehr
zum Strafverfahren ſelbſt gehört und weil die ausdrückliche Her-
vorhebung „jeder Unterſuchungs- oder Civilhaft“ es unzweifelhaft
macht, daß die „Strafhaft“ dieſer Regel nicht mit unterworfen
werden ſollte 3). Die Unterbrechung des Strafverfahrens u. ſ. w.
[575]§. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft.
tritt nicht ipso jure ein und kein Gericht iſt verpflichtet, eine
gegen ein Reichstags-Mitglied ſchwebende Unterſuchung bis nach
der Schließung der Sitzungsperiode von Amts wegen auszuſetzen;
ſondern es muß der Reichstag aus eigener Initiative von dem
Recht des Art. 31 Abſ. 3 Gebrauch machen und die Unterbrechung
des Strafverfahrens „verlangen.“ Die Erfüllung dieſes Verlangens
erfolgt durch die Vermittelung des Reichskanzlers.


5) Wer ein Mitglied des Reichstages durch Gewalt oder
durch Bedrohung mit einer ſtrafbaren Handlung verhindert, ſich
an den Ort der Verſammlung zu begeben oder zu ſtimmen, wird
mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Feſtungshaft von gleicher
Dauer beſtraft. Sind mildernde Umſtände vorhanden, ſo tritt
Feſtungshaft bis zu zwei Jahren ein 1) R.-St.-G.-B. §. 106.
Vgl. R.-V. Art. 74.


Dieſe Strafe tritt auch dann ein, wenn die Handlung von
einem Beamten, wenn auch ohne Gewalt oder Drohung, aber durch
Mißbrauch ſeiner Amtsgewalt oder Androhung eines beſtimmten
Mißbrauchs derſelben begangen iſt. R.-St.-G.-B. §. 339 Abſ. 2.


§. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft.


„Die Mitglieder des Reichstags dürfen als ſolche keine Be-
ſoldung oder Entſchädigung beziehen.“ R.-V. Art 32. Die Mit-
gliedſchaft im Reichstag ſoll nach dieſem Verfaſſungs-Grundſatz den
Charakter einer ehrenamtlichen Funktion haben; die mit Ueber-
nahme deſſelben verbundenen pekuniären Opfer und Laſten ſollen
den einzelnen Mitgliedern zufallen. Der Art. 32 iſt aber eine
lex imperfecta2); er droht keine Rechtsnachtheile demjenigen an,
welcher als Mitglied des Reichstages eine Beſoldung oder Ent-
ſchädigung annimmt, oder welcher einem Mitgliede des Reichstages
eine Vergütung gewährt. Weder iſt der Verluſt der Reichstags-
Mitgliedſchaft oder eine andere ſtaatsrechtliche Folge an die Ver-
letzung des Art. 32 geknüpft, noch hat das Strafgeſetzbuch aus
dieſer Verletzung den Thatbeſtand einer ſtrafbaren Handlung ge-
macht 3). Wenn daher Mitglieder einer politiſchen Partei, ein
[576]§. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft.
Verein, eine einzelne Perſon u. ſ. w. einem Mitgliede des Reichs-
tages in der juriſtiſchen Form einer Schenkung oder irgend eines
anderen Rechtsgeſchäfts eine Vermögenszuwendung als Entgelt
für die Thätigkeit deſſelben im Reichstage machen und das Reichs-
tagsmitglied dieſe Vermögenszuwendung annimmt, ſo knüpfen ſich
an dieſen Vorgang weitere Rechtsfolgen nicht an als die in dem
Civilrecht begründeten 1).


Deſſen ungeachtet iſt die Vorſchrift des Art. 32 keine wirkungs-
loſe. Aus ihr ergeben ſich vielmehr folgende Rechtsſätze:


1) Ein civilrechtlicher Vertrag, durch welchen einem Reichstags-
Mitgliede eine Beſoldung oder Entſchädigung für ſeine Thätigkeit
im Reichstage verſprochen oder zugeſichert wird, iſt rechts-
unwirkſam und klaglos. Daſſelbe gilt von teſtamentariſchen An-
ordnungen oder von Stiftungen zu dem Zwecke, um Reichstags-
Mitgliedern als ſolchen Beſoldungen oder Entſchädigungen zu ge-
währen.


2) Die Regierungen der Einzelſtaaten ſind nicht befugt, aus
Staatsmitteln den in ihren Gebieten gewählten Reichstagsmitgliedern
eine Beſoldung oder Entſchädigung zu gewähren. Denn hierzu
könnte die Regierung nur ermächtigt werden entweder dauernd
durch ein ſpecielles Landesgeſetz oder für eine einzelne Wirthſchafts-
3)
[577]§. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft.
periode durch das Etatsgeſetz. In beiden Fällen aber wäre die
landesgeſetzliche Beſtimmung wegen des Art. 2 der R.-V. ungültig,
da ihr die Anordnung des Art. 32 der Reichsverfaſſung vorgehen
würde.


3) Die Hauptwirkung des Art. 32 beſteht darin, daß die
Reichsregierung nicht befugt iſt, aus Reichsmitteln den Mitgliedern
des Reichstages eine Beſoldung oder Entſchädigung zu zahlen und
daß, ſo lange der Art. 32 nicht in verfaſſungsmäßiger Form auf-
gehoben iſt, keine Geldmittel dafür in den Reichs-Haushalts-Etat
aufgenommen werden dürfen. Man hat es indeß für vereinbar
mit dieſem Grundſatz erachtet, den Reichstagsmitgliedern während
der Sitzungsperioden, ſowie acht Tage vor Beginn und nach Schluß
derſelben, freie Fahrt auf den Staats- und Privat-Eiſenbahnen zu
gewähren und den letzteren dafür eine Entſchädigung aus Reichs-
mitteln zu zahlen, für welche die erforderliche Summe im Reichs-
Haushalts-Etat angeſetzt iſt 1).


LabandI.
[578]

Sechſtes Kapitel.
Die Sonderſtellung Elſaß-Lothringens im Reich
1).


§. 54. Bundesglied und Reichsland.


Eine eigenartige Stellung im Verfaſſungsbau des Reiches
nimmt Elſaß-Lothringen ein, deren juriſtiſche Betrachtung nicht
nur zur Vervollſtändigung der Darſtellung des Reichsſtaatsrechts
erforderlich, ſondern zum Verſtändniß der Reichsverfaſſung über-
haupt von weſentlichem Nutzen iſt.


Der Bundesſtaat iſt, wie oben ausgeführt wurde, eine öffent-
lich rechtliche juriſtiſche Perſon, deren Mitglieder Staaten ſind;
er ſetzt voraus eine doppelte Staatsgewalt über Land und Volk,
den mit Selbſtverwaltung und Autonomie ausgeſtatteten Einzel-
ſtaat und über demſelben den ſouveränen Geſammtſtaat. Die
Verfaſſung des Deutſchen Reiches kennt demnach keine Beſtand-
theile des Reiches, welche der Central-Gewalt unmittelbar unter-
worfen ſind oder — was daſſelbe bedeutet — welche lediglich als
Objecte der Reichsgewalt in Betracht kommen, ſondern ſie ſetzt
durchweg voraus, daß zwiſchen den einzelnen Territorien reſp.
ihren Bevölkerungen und der Reichsgewalt eine Staatsgewalt ſteht
und daß dieſe Einzelſtaaten, in welche Gebiet und Bevölkerung
des Reiches gegliedert ſind, als Mitglieder des Reiches, als Rechts-
ſubjecte
oder Perſonen Antheil an dem Reiche haben. Nach
dem Art. 1 der R.-V. beſteht das Bundesgebiet aus den in dieſem
Artikel genannten Staaten; Artikel 3 der R.-V. und das
[579]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Geſ. v. 1. Juni 1870 über die Erwerbung und den Verluſt der
Bundes- und Staatsangehörigkeit ſetzen voraus, daß jeder Reichs-
angehörige Angehöriger eines Bundesſtaates iſt; nach Art. 6 ff.
beſteht der Bundesrath aus den Vertretern der Mitglieder
des Bundes
; Art. 19 ſpricht von der zwangsweiſen Anhaltung
der Bundesglieder zur Erfüllung ihrer verfaſſungsmäßigen
Bundespflichten. Art. 36 überläßt jedem Bundesſtaate
die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern,
ſoweit derſelbe ſie bisher ausgeübt hat; nach dem Wortlaut des
Art. 42 „verpflichten ſich die Bundes-Regierungen“,
die deutſchen Eiſenbahnen im Intereſſe des allgemeinen Verkehrs
wie ein einheitliches Netz verwalten zu laſſen. Art. 51 normirt die
zeitweiſe Vertheilung der Poſtüberſchüſſe unter die einzelnen
Staaten
. Art. 54 erwähnt die Kauffahrteiſchiffe, Seehäfen und
Waſſerſtraßen aller Bundesſtaaten. Nach Art. 58 ſind die
Koſten und Laſten des geſammten Kriegsweſens des Reichs von
allen Bundesſtaaten
gleichmäßig zu tragen; nach Art. 62
u. 70 ſind die Beiträge zu den Ausgaben des Reiches von den
einzelnen Staaten des Bundes zu entrichten. Alle dieſe
Anordnungen und noch zahlreiche andere 1) beruhen auf der völlig
ſelbſtverſtändlichen Vorausſetzung, daß das Reich lediglich aus
Staaten beſteht.


Die Einführung der Reichs-Verfaſſung in Elſaß-Lothringen,
nicht blos dem Buchſtaben, ſondern dem Weſen nach, war daher
nicht denkbar und nicht möglich, wenn nicht auch hier eine von
der Reichsgewalt verſchiedene Staatsgewalt aufgerichtet wurde,
d. h. wenn nicht entweder das Gebiet einem oder mehreren deutſchen
Staaten zugetheilt oder ein beſonderer Staat aus demſelben ge-
macht wurde. Beides iſt aus zwingenden Gründen der Politik
nicht geſchehen 2); die von Frankreich abgetretenen Gebiete wurden
vielmehr als ſogen. Reichsland 3) mit dem deutſchen Reiche ver-
37*
[580]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
einigt. Deſſen ungeachtet iſt die Verfaſſung des deutſchen Reiches
mit wenigen, durch die thatſächliche Erweiterung des Reiches noth-
wendig geweſenen Ergänzungen durch das Reichsgeſ. v. 25. Juni
1873 in Elſaß-Lothringen vom 1. Januar 1874 ab eingeführt
worden und es iſt dadurch ein Rechtszuſtand geſchaffen worden,
welcher für Theorie und Praxis bedeutende Schwierigkeiten darbietet.


Mit Leichtigkeit würden dieſelben zwar beſeitigt werden, wenn
man zu der Fiction ſeine Zuflucht nehmen könnte, daß Elſaß-
Lothringen ein Staat geworden ſei, wie die anderen deutſchen
Gliedſtaaten. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte dieſe Löſung
wegen ihrer Einfachheit vielleicht Beifall finden. Da das Reichs-
land thatſächlich in vielen Beziehungen ganz analog behandelt wird
wie die Gliedſtaaten, ſo kann in der Praxis der tiefe Gegenſatz,
welcher zwiſchen Gliedſtaat und Reichsland beſteht, ſehr leicht über-
ſehen oder als nicht erheblich erachtet werden, und für die Theorie
ſteht auf der Annahme der erwähnten Fiktion ein ſo hoher Preis
in der durch ſie gewonnenen Einheitlichkeit der Grundprinzipien
des Verfaſſungsrechts für das geſammte Reichsgebiet, daß es ver-
lockend iſt, ſich ihrer zu bedienen. Eine Fiktion kann aber hier
ſo wenig wie auf anderen Gebieten die wirklich vorhandenen Un-
gleichheiten wegſchaffen, ſie kann Praxis und Theorie nicht auf-
klären, ſondern nur verwirren, und ſie iſt in keinem Falle eine
Löſung, ſondern höchſtens eine Umgehung der Schwierigkeiten.


Elſaß-Lothringen iſt weder dem Reiche noch dem Auslande
gegenüber ein ſelbſtſtändig berechtigtes Subjekt von Hoheitsrechten,
von ſtaatlichen Befugniſſen und Pflichten, folglich kein Staat,
ſondern es iſt ein Beſtandtheil, ein Verwaltungsdiſtrikt des Reiches.
Man braucht ſich nur vorzuſtellen, daß ſämmtliche deutſche Staa-
ten zu Reichsländern erklärt und in dieſelbe rechtliche Stellung
gebracht würden, in welcher ſich Elſaß-Lothringen befindet, um
ſofort einzuſehen, daß dadurch die Verfaſſung des Reiches völlig
verändert wäre und daß kein Abſchnitt derſelben in ſeinem wahren
und urſprünglichen Sinne anwendbar bliebe.


Der Gegenſatz zwiſchen dem Reichslande und
3)
[581]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
den Gliedſtaaten des Reiches fällt vollſtändig zu-
ſammen mit dem begrifflichen Gegenſatze zwiſchen
dem dezentraliſirten Einheitsſtaate und dem Bun-
desſtaate
. Würden alle deutſchen Staatsgebiete zu Reichsland
erklärt, ſo wäre Deutſchland kein Bundesſtaat mehr und die Staats-
gebiete wären einfach Provinzen des Reichs, auch wenn Geſetz-
gebung und Verwaltung noch weniger centraliſirt wären wie ge-
genwärtig; bleibt in den deutſchen Einzel-Staaten dagegen eine
ſelbſtſtändige, nicht in der Reichsgewalt wurzelnde Landeshoheit
und Staatsgewalt beſtehen, ſo wird auch der bundesſtaatliche Cha-
rakter des Reiches bewahrt, wenngleich die Kompetenz der Reichs-
gewalt auf Koſten der Selbſtverwaltung und Autonomie der Ein-
zelſtaaten erweitert werden ſollte. Das Maaß der Dezentraliſation
kann in dem Einheitsſtaat und in dem Bundesſtaat genau daſſelbe,
ja es kann in dem erſteren bedeutend größer ſein; die aus dem
Begriffe ſich ergebenden Gegenſätze zwiſchen Einheitsſtaat und
Bundesſtaat bleiben beſtehen.


Die Vergleichung zwiſchen dem Verhältniß Elſaß-Lothringens
zum Reiche und dem Verhältniß der Gliedſtaaten zum Reiche iſt
daher deshalb ſo lehrreich und von ſo weitreichender ſtaatsrecht-
licher Bedeutung, weil ſie dazu dient, den Begriff des Bundes-
ſtaates nach der Seite des dezentraliſirten Einheitsſtaates hin ab-
zugrenzen, während bisher die Theorie ſich ausſchließlich mit der
Abgrenzung des Bundesſtaates gegen den Staatenbund beſchäf-
tigt hat.


Dieſe Gegenüberſtellung enthält zugleich die Widerlegung
eines Einwandes, den man gegen die von uns durchgeführte Theorie,
daß im Bundesſtaate die Souveränetät nicht zwiſchen Centralge-
walt und Einzelſtaat getheilt iſt, ſondern der Centralgewalt un-
getheilt zuſteht, erheben könnte, nämlich daß dadurch der Gegenſatz
zwiſchen Bundesſtaat und Einheitsſtaat begrifflich aufgehoben werde.
Die Widerlegung dieſes Einwandes wäre überaus erſchwert, wenn
ſie rein theoretiſch ſein müßte; durch die Stellung von Elſaß-
Lothringen im Reich können nun aber die logiſchen Schlußfolge-
rungen zugleich als praktiſch verwirklichte Rechtsſätze dargelegt
werden. Beſonders beachtenswerth iſt dabei der Umſtand, daß
dieſe Gegenſätze zwiſchen dem Bundesſtaat und dem dezentraliſirten
Einheitsſtaat ſich mit der unbezwinglichen Kraft, welche in der
[582]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Natur der Dinge liegt, durchgeſetzt und verwirklicht haben, ob-
gleich die bisherige Theorie des Staatsrechts und der Politik ſie
nicht formulirt und die poſitive Geſetzgebung des Reiches ſie nir-
gends mit Bewußtſein anerkannt hat. Das Reich hat im Gegen-
theil ſeine Verfaſſung und die Mehrzahl ſeiner Geſetze in Elſaß-
Lothringen eingeführt, als wäre der Unterſchied zwiſchen Bundes-
glied und Reichsland thatſächlich ohne Bedeutung.


Die ſtaatliche Stellung des Reichslandes unterſcheidet ſich
von der ſtaatsrechtlichen Stellung der Gliedſtaaten des Reiches in
folgenden Beziehungen.


I. Die Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen iſt ihrem
Weſen nach von durchaus anderer Natur als die Staatsgewalt in
den deutſchen Bundesſtaaten. Die letztere, welche wir der Kürze
wegen Landeshoheit nennen, iſt ihrem Grund und Urſprunge nach
völlig unabhängig von der Reichsgewalt. Sie wurzelt nicht in
der Souveränetät des Reiches und iſt nicht von ihr abgeleitet; ſie
iſt vielmehr älter als die Reichsgewalt. Nicht das Reich hat die
Einzelſtaaten conſtituirt, ſondern die Einzelſtaaten haben durch den
Act der Reichsgründung die Reichsgewalt in das Leben gerufen;
das Reich hat nicht den Landesherren und freien Städten einen
Kreis von Hoheitsrechten delegirt, ſondern die Einzelſtaaten haben
durch den Eintritt in das Reich ihre Souveränetät auf die Ge-
ſammtheit übertragen und ihre Landeshoheit in dem durch die
Reichsverfaſſung begrenzten Umfang zurückbehalten.


In allen dieſen Beziehungen gilt vom Reichsland das Gegen-
theil. Daſſelbe war vor ſeiner Vereinigung mit dem Reiche kein
ſtaatliches Subject, ſondern ein Gebietstheil des franzöſiſchen Staa-
tes. Durch den Präliminar-Frieden vom 26. Febr. 1871 Art. 1
„verzichtet Frankreich zu Gunſten des Deutſchen Reiches
auf alle ſeine Rechte und Anſprüche auf diejenigen Gebiete, welche
öſtlich von der nachſtehend verzeichneten Grenze belegen ſind“.
— — „Das Deutſche Reich wird dieſe Gebiete für immer mit
vollem Souveränetäts- und Eigenthumsrechte beſitzen“.


Hierdurch wurde die volle Souveränetät über dieſe Gebiete
im völkerrechtlichen und ſtaatsrechtlichen Sinne auf das Reich über-
tragen 1). Es gab kein dem Reich gegenüber ſelbſtſtändiges und
[583]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
unabhängiges Subject, welchem die Landes-Hoheit über Elſaß-
Lothringen als eigenes Recht zuſtand, ſondern das Reichsland war
lediglich Object der Reichsgewalt, welches zur unbeſchränkten Ver-
fügung des letzteren ſtand.


Es wäre nun allerdings möglich geweſen, daß das Reich vor
der Aufnahme Elſaß-Lothringens in den Reichsverband oder gleich-
zeitig mit derſelben, das Reichsland zu einem Staate conſtituirt,
ihm eine öffentlich rechtliche Perſönlichkeit beigelegt hätte. Dies
iſt aber nicht geſchehen. Das Reich hat vielmehr ſeine Hoheitsrechte
uneingeſchränkt und ungeſchmälert behalten. Bei der Vereinigung
von Elſaß-Lothringen mit dem Reiche waren Regierung und Reichs-
tag darüber völlig einverſtanden, daß das Reichsland den recht-
lichen Charakter eines Staates nicht erhalten ſolte 1).


Das Reichsgeſetz vom 9. Juni 1871 §. 3 Abſ. 1 verfügt:
„Die Staatsgewalt in Elſaß und Lothringen übt der Kaiſer aus.“
Dies iſt eine Delegation; es iſt die Beſtimmung desjenigen Organes,
deſſen ſich das Reich behufs Ausübung ſeiner Staatsgewalt be-
dient. Der Kaiſer iſt nicht Landesherr von Elſaß-Lothringen wie
1)
[584]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
er Landesherr von Preußen und von Lauenburg iſt 1); Elſaß-
Lothringen ſteht nicht in Perſonal-Union mit dieſen beiden Staaten.
Der Kaiſer iſt nicht als Vertreter Elſaß-Lothringens Mitglied des
Reiches, ſondern er iſt als Vertreter des Reiches Verwalter der
ſtaatlichen Hoheitsrechte über Elſaß-Lothringen. Die Staatsgewalt
in Elſaß-Lothringen wurzelt in der Reichsgewalt, iſt der Ausfluß
der letzteren, welche ihr Fundament in dem Friedensvertrage mit
Frankreich hat; ſie bildet nicht den Gegenſtand eines dem Reich
ſelbſtſtändig gegenüber ſtehenden, von ihm unabhängigen Rechtes
eines Landesherrn 2). Elſaß-Lothringen iſt demnach keine Mo-
narchie 3), denn es hat keinen perſönlichen Landesherrn, und es
iſt ebenſowenig eine Republik, denn die Geſammtheit der Elſaß-
Lothringer iſt nicht das Subject der Staatsgewalt. Es iſt Beſtand-
theil oder Provinz des Reiches. Das Subjekt der Staatsgewalt
in Elſaß-Lothringen iſt das Reich, d. h. die Geſammtheit der zum
Reich vereinigten Staaten in ihrer begrifflichen Einheit, in ihrer
ſtaatlichen Perſönlichkeit 4).


Deshalb ſind neben dem Kaiſer auch die übrigen Organe des
Reiches an der Ausübung der Staatsgewalt mit betheiligt. Schon
das Geſetz vom 9. Juni 1871 §. 3 band den Kaiſer bei Ausübung
der Geſetzgebung an die Zuſtimmung des Bundesrathes und ſchrieb
vor, daß dem Reichstage über die erlaſſenen Geſetze und allge-
meinen Anordnungen und über den Fortgang der Verwaltung
[585]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
jährlich Mittheilung gemacht werde, und ſeit Einführung der Reichs-
verfaſſung hat auch der Reichstag ſeinen Antheil an der Geſetzge-
bung erhalten 1).


Der Bundesrath bearbeitet die Landes-Angelegenheiten von
Elſaß-Lothringen und hat einen eigenen ſtändigen Ausſchuß dafür
eingeſetzt. Der Reichskanzler iſt der verantwortliche Chef der
geſammten Verwaltung; das Reichs-Oberhandelsgericht iſt der
oberſte Gerichtshof für das Reichsland; der Etat des Landes wird
vom Reiche feſtgeſtellt und ſeine Durchführung vom Rechnungshofe
des Reiches controlirt.


Es fehlt demnach im Reichslande nicht nur an einem Landes-
herrn, ſondern auch an einem ſelbſtſtändigen, vom Organismus
des Reichs getrennten Regierungs-Apparate, wie ihn die Einzel-
ſtaaten beſitzen und bedürfen. Wenn das für Elſaß-Lothringen
beſtehende Behörden-Syſtem auch in ſeinen Verzweigungen auf
das Reichsland beſchränkt iſt, in ſeinen Spitzen mündet es überall
in die Inſtitutionen des Reiches ein und es erweist ſich als ein nur
weiter ausgebildeter und reicher gegliederter Beſtandtheil derſelben.


Die Unterſcheidung zwiſchen Reichsgewalt und Staatsgewalt
in Elſaß-Lothringen iſt aber deſſenungeachtet nicht gegenſtandslos,
ſie hat nur einen anderen ſtaatsrechtlichen Sinn, wie im übrigen
Reich. Die Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen bedeutet den In-
begriff derjenigen obrigkeitlichen Hoheitsrechte, welche im übrigen
Reichsgebiet nicht dem Reiche, ſondern den Einzelſtaaten zuſtehen,
im Gegenſatz zu denjenigen ſtaatsrechtlichen Befugniſſen, welche
nach der Reichsverfaſſung der Centralgewalt zuſtehen. Objektiv
fällt die Unterſcheidung zwiſchen Reichsgewalt und Staatsgewalt
in Elſaß-Lothringen vollſtändig zuſammen mit der verfaſſungsmäßi-
gen Kompetenz-Abgränzung zwiſchen Reich und Einzelſtaat; ſub-
jectiv
aber ſtehen beide Klaſſen von obrigkeitlichen Befugniſſen
im Reichslande demſelben Berechtigten, nicht wie im übrigen
Reichsgebiete zwei verſchiedeneu Berechtigten zu.


II. In allen internationalen Beziehungen erſcheint das
Reichsland nicht als Staat, ſondern als Beſtandtheil des Reiches.
Das Reichsland kann keine Geſandte oder diplomatiſche Geſchäfts-
träger empfangen noch entſenden und es kann keine internationalen
[586]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Verträge ſchließen, weder mit einem auswärtigen Staate noch mit
einem Staate des Reiches. Das Reich allein kann für das Ge-
biet des Reichslandes
, aber ſtets nur im eigenen Namen,
Staatsverträge ſchließen 1). Der Regierung des Reichslandes ſteht
es nur zu, mit den Verwaltungen anderer Staaten Vereinbarungen
zu treffen über Verwaltungsgegenſtände, z. B. den Bau und
die Unterhaltung von Brücken über den Rhein, die Anlage von
Straßen, Kanälen, Eiſenbahnen, u. dgl. 2), wie dies auch ſonſt inner-
halb deſſelben Staates unter verſchiedenen Reſſortverwaltungen
oder unter benachbarten Kreis- und Provinzialverbänden häufig
vorkommt 3).


Soweit dadurch Rechte begründet oder Pflichten übernommen
werden, handeln die zum Abſchluß ſolcher Vereinbarungen compe-
tenten Behörden Elſaß-Lothringens in Vertretung des Reiches
und wenn die Verabredungen mit Verwaltungsſtellen auswärtiger
Staaten getroffen werden, ſo erhalten ſie ihren völkerrechtlichen
Schutz lediglich durch das Reich.


III. Eine Selbſtverwaltung in dem Sinne, wie ſie die
Einzelſtaaten nach den oben S. 95 ff. gegebenen Ausführungen
haben, hat das Reichsland nicht und kann das Reichsland nicht
haben. Denn dieſe Selbſtverwaltung iſt ein Recht der Einzelſtaaten
gegenüber dem Reiche. Die Beamten, welche die Selbſtverwal-
tung in den Einzelſtaaten des Reiches handhaben, führen nicht
Geſchäfte des Reiches, ſondern Geſchäfte ihres Staates; ſie ſind
für die Geſetzmäßigkeit ihrer Verwaltung ihrem Staate verantwort-
lich; ſie unterliegen zwar der Oberaufſicht des Reiches durch Ver-
mittelung
ihrer Staatsgewalt, aber ſie haben nicht in einem
Beamten des Reiches ihren Reſſortchef. Im Reichsland dagegen
kann die Verwaltung zwar decentraliſirt ſein in demſelben
[587]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Maße, wie im übrigen Reiche; den oberſten Behörden im Reichs-
lande kann ein ganz ebenſo weiter Wirkungskreis mit ſelbſtſtändiger
definitiver Entſcheidung zugewieſen ſein, wie er den Regierungen
der Einzelſtaaten zuſteht; aber dieſe decentraliſirte Verwaltung iſt
und bleibt Reichsverwaltung, nicht Selbſtverwaltung. Das Reich
führt nicht nur die Oberaufſicht über dieſe Verwaltung, ſondern
die Verwaltung ſelbſt. Dem Kaiſer ſteht in Elſaß-Lothringen die
geſammte Verwaltung ganz in derſelben Weiſe zu, wie ihm im
übrigen Reichsgebiete die Verwaltung in denjenigen Angelegenheiten
zuſteht, in denen die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten ausge-
ſchloſſen iſt. Er ernennt die Beamten der Landesverwaltung. Der
Reichskanzler als Miniſter des Kaiſers iſt der Chef der geſamm-
ten
Verwaltung, auch auf den Gebieten, welche in den Gliedſtaaten
nicht zur Verwaltungs-Kompetenz des Reiches gehören 1). Es giebt
für dieſe Verwaltung keine geſonderte, reichsländiſche Verantwort-
lichkeit, ſondern ſie fällt vollſtändig zuſammen mit der allgemeinen,
im Art. 17 der R.-V. begründeten Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers 2).


Deſſen ungeachtet iſt die Unterſcheidung von Reichsverwaltung
und Landesverwaltung auch für Elſaß-Lothringen nicht bedeutungs-
los. Sie äußert ſich in einer ſehr praktiſchen Beziehung in der
Finanzwirthſchaft. Die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten iſt nicht
nur ein Recht, ſondern zugleich eine Laſt derſelben, indem ſie die
Koſten aus der Landeskaſſe beſtreiten müſſen. Auf das Reichsland
iſt dieſer Grundſatz analog angewendet worden, indem es in
finanzieller Hinſicht vollkommen wie ein Gliedſtaat des Reiches
behandelt wird und deshalb die Koſten aller derjenigen Verwal-
tungszweige, welche nach der Reichsverfaſſung von den Einzelſtaaten
zu tragen ſind, aus Landesmitteln beſtreiten muß. Theoretiſch
[588]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
aber bedeutet die Unterſcheidung zwiſchen Reichsverwaltung und
Landesverwaltung das Maaß der Decentraliſation der Verwaltung.
Es wird dies ſofort anſchaulich, wenn man ſich denkt, daß das
Reich noch andere reichsländiſche Gebiete hätte, welche es in der-
ſelben Weiſe wie Elſaß-Lothringen verwalten würde. Alsdann
wären die Zweige der Reichsverwaltung für das ganze Gebiet
des Reiches centraliſirt und nur nach Reſſorts vertheilt, die
Zweige der Landesverwaltung dagegen für jedes einzelne Reichs-
land geſondert und nach dem Provinzialſyſtem gegliedert, wie
dies noch bis in den Anfang dieſes Jahrhunderts theilweiſe in der
Preußiſchen Monarchie der Fall war 1). Der Umſtand allein, daß
das Reich nur ein einziges Reichsland hat, verhüllt die Thatſache,
daß die Landesverwaltung von Elſaß-Lothringen decentraliſirte
Reichsverwaltung, daß ſie nicht Staatsverwaltung eines Bundes-
gliedes, ſondern Provinzialverwaltung des Reiches iſt 2).


IV. Ganz ähnliche Grundſätze gelten hinſichtlich der Geſetz-
gebung
. Eine Autonomie in dem Sinne von Selbſtgeſetz-
gebungs-Recht, wie ſie den Einzelſtaaten zuſteht, hat das Reichs-
land nicht und es iſt unmöglich, ihm dieſelbe zu verleihen, ſo lange
es eben Reichsland iſt. Elſaß-Lothringen giebt ſich ſeine Geſetze
nicht ſelbſt, ſondern es empfängt ſie von dem Reiche. Das Ver-
einigungsgeſetz vom 9. Junt 1871 §. 3 Abſ. 4 erklärt dies mit
größter Beſtimmtheit:
„Nach Einführung der Reichsverfaſſung 3)ſteht bis zu
anderweitiger Regelung durch Reichsgeſetz das Recht der
Geſetzgebung auch in den der Reichsgeſetzgebung in den
Bundesſtaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten dem
Reiche zu.“


Es iſt nicht nothwendig, daß die Geſetzgebung für Elſaß-
[589]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Lothringen an die Formen gebunden iſt, welche nach der Reichs-
verfaſſung für die Reichsgeſetzgebung beſtehen. Der Reichstag und
ſelbſt der Bundesrath könnten von der Theilnahme daran ausge-
ſchloſſen und eine Vertretung der elſaß-lothringiſchen Bevölkerung
könnte zur Theilnahme daran berufen ſein; immerhin aber bliebe
das Reich oder der Kaiſer als Stellvertreter und im Namen des
Reiches Geſetzgeber d. h. Subjekt des Geſetzgebungsrechts. Es kann
mit anderen Worten auch die Reichsgeſetzgebung für die beſonderen
Angelegenheiten des Reichslandes decentraliſirt ſein.


Durch das Geſetz v. 3. Juli 1871 §. 1 (G.-Bl. S. 2) iſt
angeordnet, daß die für Elſaß-Lothringen erlaſſenen Geſetze und
Kaiſerlichen Verordnungen ihre verbindliche Kraft durch ihre Ver-
kündigung in einem Geſetzblatt erhalten, welches den Titel „Ge-
ſetzblatt für Elſaß-Lothringen“ führt. So lange der Art. 2 der R.-V.
im Reichslande keine Geltung hatte, war die Publikation der Ge-
ſetze in dem Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen die einzige Art,
wie Geſetze des Reiches im Reichsland verkündigt werden konnten.
Es iſt dadurch ein äußeres Kriterium geſchaffen, welches die für
das Reich und die für das Reichsland erlaſſenen Geſetze von ein-
ander ſcheidet. Seit Einführung der Reichsverfaſſung erhalten
die vom Reiche erlaſſenen Geſetze, ihre verbindliche Kraft durch
ihre Verkündigung im Reichsgeſetzblatte auch in Elſaß-Lothringen.
Es werden aber auch jetzt noch im Reichsgeſetzblatt nur diejenigen
Reichsgeſetze publizirt, welche „nach Maßgabe des Inhalts der
Reichsverfaſſung“ (Art. 2 der R.-V.) erlaſſen werden; dagegen
nicht diejenigen Geſetze, welche in den „der Reichsgeſetzgebung in
den Bundesſtaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten“ auf Grund
des Geſ. v. 9. Juni 1872 für Elſaß-Lothringen erlaſſen werden.
Die letzteren werden im Geſetzbl. für Elſaß-Lothringen publizirt.
Man unterſcheidet daher [auch] jetzt noch in Elſaß-Lothringen Geſetze,
welche innerhalb der verfaſſungsmäßigen Kompetenz des
Reiches, und Geſetze, welche außerhalb dieſer Kompetenz erlaſſen
werden und nennt die letzteren, mit einem nicht ganz zutreffenden
Ausdrucke: Landesgeſetze.


Das Geſetz vom 25. Juni 1873, betreffend die Einführung
der Verf. des Deutſchen Reiches in Elſaß-Lothringen, ſelbſt be-
ſtimmt in §. 4 Abſ. 1:
„Die in Art. 35 der Verf. erwähnte Beſteuerung des in-
[590]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
ländiſchen Bieres bleibt der inneren Geſetzgebung bis auf
Weiteres vorbehalten.“


Was „innere Geſetzgebung“ bedeutet, iſt zwar nicht geſagt,
in jedem Fall ſoll der Ausdruck aber einen Gegenſatz zur Reichs-
geſetzgebung bezeichnen. Daſſelbe Geſetz ermächtigt im §. 8 den
Kaiſer, unter Zuſtimmung des Bundesrathes, während der Reichs-
tag nicht verſammelt iſt, Vorordnungen mit interimiſtiſcher, geſetz-
licher Kraft zu erlaſſen, welche nichts beſtimmen dürfen, was der
Verfaſſung oder den in Elſaß-Lothringen geltenden Reichsgeſetzen
zuwider iſt.


Der Ausdruck „Reichsgeſetz“ ſteht hier im Gegenſatz zu den
für Elſaß-Lothringen erlaſſenen Partikular-Geſetzen, alſo zu der
„inneren Geſetzgebung“ des §. 4.


Der Allerhöchſte Erlaß v. 29. Oktob. 1874 (G.-Bl. S. 37)
verfügt die Einrichtung eines Landes-Ausſchuſſes für Elſaß-Loth-
ringen, „um die Verwaltung bei der Vorbereitung der Landes-
geſetze
durch die Erfahrung und Sachkunde von Männern be-
rathen zu ſehen, welche durch das Vertrauen ihrer Mitbürger aus-
gezeichnet ſind.“ Dieſem Ausſchuſſe ſind Entwürfe von Geſetzen
für Elſaß-Lothringen über ſolche Angelegenheiten, welche der Reichs-
geſetzgebung durch die Verfaſſung nicht vorbehalten ſind, einſchließ-
lich des Landeshaushalts-Etats, vorzulegen.


Auch gegenwärtig iſt daher für Elſaß-Lothringen die innere
oder Landesgeſetzgebung von der Reichsgeſetzgebung zu unterſchei-
den 1) und bei fortſchreitender Verſchmelzung des Reichslandes
mit Deutſchland wird es gewiß möglich ſein, bei dieſer Landesge-
ſetzgebung an Stelle des Reichstages eine Vertretung der Bevölke-
rung des Reichslandes zur Mitwirkung zu berufen. Aber auch
dann wird dieſe Landesgeſetzgebung, wenn Elſaß-Lothringen Reichs-
land bleibt, keine Autonomie in dem oben S. 108 entwickelten
Sinne, ſondern — wie gegenwärtig — eine Provinzial-Geſetzgebung
des Reiches ſein.


Zu dem elſaß-lothringiſchen Provinzialrecht gehört ferner der
geſammte, bei der Erwerbung des Landes vorhanden geweſene Be-
[591]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
ſtand an Rechtsſätzen, ſoweit derſelbe nicht entweder durch die
Trennung des Landes von Frankreich und die Einverleibung in
Deutſchland thatſächlich unanwendbar geworden oder durch die
vom Reich (Kaiſer) erlaſſenen Landes- oder Reichsgeſetze rechtlich
aufgehoben oder verändert worden iſt. Dies gilt nicht blos hin-
ſichtlich des Privatrechts und Prozeſſes, ſondern in demſelben Um-
fange auch von dem Verwaltungsrecht und überhaupt von den Vor-
ſchriften, welche den Inhalt, die Ausübung und die Gränzen der
Staatsgewalt betreffen 1).


V. Der Gegenſatz zwiſchen dem Reichslande und den Einzel-
ſtaaten, welche Mitglieder des Reiches ſind, zeigt ſich in höchſt
prägnanter Weiſe darin, daß Elſaß-Lothringen keine Mitglied-
ſchaftsrechte
hat. Die Aufgaben, welche das Reich zu erfüllen
hat, nämlich das Bundesgebiet und das innerhalb deſſelben gültige
Recht zu ſchützen und die Wohlfahrt des Deutſchen Volkes zu
pflegen, erfüllt es auch für Elſaß-Lothringen; das Reichsland nimmt
an dem ſtaatlichen Leben des Deutſchen Reiches materiell einen
uneingeſchränkten Antheil, aber formell nicht als Bundesglied ſon-
dern wie eine Provinz. Die Mitgliedſchaftsrechte kommen vorzugs-
weiſe zur Geltung und Ausübung im Bundesrathe und es giebt
deshalb keinen Mitgliedſtaat, der nicht im Bundesrathe eine Stimme
hätte. Das Reichsland dagegen führt im Bundesrath keine Stimme.


Bei der Vereinigung Elſaß-Lothringens mit dem Reiche hatte
die Regierung die Abſicht, Elſaß-Lothringen in irgend einer Art
einen Antheil am Bundesrathe zu gewähren 2). Dieſe Abſicht
iſt aber unausgeführt geblieben und wird mit Nothwendigkeit ſo
lange unausgeführt bleiben müſſen, als Elſaß-Lothringen Reichs-
land bleibt. Zwar iſt laut Bekanntmachung v. 14. Mai 1875 3)
der Kaiſerliche Ober-Präſident von Elſaß-Lothringen vom Könige
[592]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
von Preußen zum Bundesraths-Bevollmächtigten ernannt worden
und es iſt dadurch eine neue Gewähr gegeben worden, daß es bei
den Verhandlungen und Beſchlüſſen des Bundesrathes weder an
genauer Kenntniß der Verhältniſſe des Reichslandes noch an einer
wirkſamen Geltendmachung ſeiner Intereſſen fehle; man darf aber
ſtaatsrechtlich dieſe Thatſache nicht in der Art auffaſſen, als hätte
Preußen von den ihm zuſtehenden 17 Stimmen eine an das Reichs-
land abgetreten, deren Inſtruktion vom Kaiſer als ſolchem d. h.
im Gegenſatz zum Könige von Preußen ausgehe. Denn nach der
Reichsverfaſſung Art. 6 müſſen die den einzelnen Staaten zuſtehen-
den Stimmen einheitlich abgegeben werden. Es iſt daher verfaſ-
ſungsmäßig unmöglich, daß im Bundesrath jemals die 17 Stimmen
Preußens ſich in 16 preußiſche und eine elſaß-lothringiſche zer-
legen. Logiſch unmöglich iſt es aber, daß man für Elſaß-Loth-
ringen eine oder einige neue Stimmen im Bundesrath errichtet
und die Führung derſelben dem Kaiſer als ſolchem zuweiſt. Denn
der Kaiſer als ſolcher iſt ein Organ des Reiches; das Reich kann
aber ſich ſelbſt gegenüber keinerlei Mitgliedſchaftsrechte ausüben,
ſowenig wie irgend eine andere juriſtiſche Perſon ihr eigenes Mit-
glied ſein kann.


VI. Ebenſowenig wie das Reichsland Mitgliedſchaftsrechte
hat, ebenſowenig hat es auch Sonderrechte1). Dagegen iſt
es nicht ausgeſchloſſen, daß für das Reichsland Ausnahmen von
reichsverfaſſungsmäßigen Grundſätzen beſtehen, durch welche es
thatſächlich in dieſelbe Lage verſetzt wird, wie ſie für einzelne
Bundesſtaaten durch die ihnen zuſtehenden Sonderrechte begründet
wird. Dies iſt in der That der Fall. Das Geſ. v. 25. Juni
1873 §. 4 ſchließt Elſaß-Lothringen von der Bierſteuer-Gemein-
ſchaft aus und §. 5 deſſelben Geſetzes geſtattet bis auf Weiteres die
Forterhebung des Octroi in Elſaß-Lothringen. Durch dieſe An-
ordnungen iſt das Reichsland aber nicht in diejenige ſtaatsrechtliche
Stellung in Betreff der Bierſteuer verſetzt worden, in welcher ſich
[593]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
die drei ſüddeutſchen Staaten, oder Hamburg und Bremen befinden,
ſondern etwa in diejenige, in welcher die Preußiſchen Zollausſchlüſſe
oder die thüringiſchen Bezirke Oſtheim und Königsberg ſind 1),
d. h. die beſonderen für Elſaß-Lothringen geltenden Beſtimmungen
bilden nicht den Inhalt eines ſubjektiven Rechts, ſondern ſie
ſind lediglich beſondere Rechtsſätze. Staatsrechtlich äußert ſich
dieſer Unterſchied darin, daß, wenn die Sonderſtellung von Elſaß-
Lothringen durch ein Reichsgeſetz aufgehoben wird, die Vorſchrift
des Art. 78 Abſ. 2 der R.-V., wonach „die Zuſtimmung des be-
rechtigten Bundesſtaates“ erforderlich iſt, keine Anwendung finden
kann 2).


VII. Dem Mangel an ſubjectiven Rechten entſpricht es, daß
das Reichsland dem Reiche gegenüber auch keine ſubjektiven Pflich-
ten
hat. Es trägt zwar in demſelben Maaße wie die übrigen
Theile des Reiches die militäriſchen und finanziellen Laſten, welche
zur Durchführung der dem Reiche obliegenden Aufgaben dienen;
aber es trägt dieſe Laſten nicht in der ſtaatsrechtlichen Form wie
ein Glied eines Bundesſtaates, ſondern wie ein Landestheil eines
Einheitsſtaates 3).


Es zeigt ſich dies praktiſch in der Unanwendbarkeit des Art. 19
der R.-V.; eine Execution gegen das Reichsland iſt unmöglich
und undenkbar; es wäre dies eine Execution des Reiches gegen
ſich ſelbſt. Nur Bundesglieder, welche dem Reiche gegenüber eine
ſelbſtſtändige ſtaatliche Exiſtenz, eine eigene Perſönlichkeit haben,
können zur Erfüllung ihrer verfaſſungsmäßigen Bundespflichten
im Wege der Execution angehalten werden, nicht aber das Reichs-
land, welches ſich ſchon in ſeinem normalen Rechtszuſtand in der-
jenigen Lage befindet, in die ein Bundesglied erſt gebracht werden
würde, wenn die Execution bis zu ihrem äußerſten Grade gegen
daſſelbe zum Vollzuge käme.


Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 38
[594]§. 54. Bundesglied und Reichsland.

VIII. Wenn es richtig iſt, daß das Reichsland kein Staat iſt,
ſo ergiebt ſich als nothwendige Folge, daß es auch keine elſaß-
lothringiſche Staatsangehörigkeit giebt. Der begriffliche Unter-
ſchied zwiſchen Staats-Bürgerrecht und Reichs-Bürgerrecht, der
für alle Deutſche Staaten oben §. 13 fg. durchgeführt worden iſt,
hat für das Reichsland keinen Raum; die Elſaß-Lothringer ſind
Deutſche in derſelben Art, wie die Pommern oder Brandenburger
Preußen ſind.


Dieſem Satze ſcheint es zu widerſprechen, daß das Reichsge-
ſetz über die Erwerbung und den Verluſt der Bundes- und Staats-
angehörigkeit vom 1. Juni 1870 durch Geſ. v. 8. Januar 1873
in Elſaß-Lothringen eingeführt worden iſt, da nach §. 1 dieſes
Geſetzes die Bundesangehörigkeit durch die Staatsangehörigkeit
in einem Bundesſtaate erworben wird und mit deren Verluſt er-
liſcht. Die Einführung dieſes Geſetzes in Elſaß-Lothringen hat aber
materiell nur die Folge, daß dieſelben Thatſachen, welche
in den Bundesſtaaten den Erwerb oder Verluſt der Staatsange-
hörigkeit und in untrennbarem Zuſammenhange damit den der
Reichsangehörigkeit begründen, in Elſaß-Lothringen unmittelbar
den Erwerb oder Verluſt der Reichsangehörigkeit bewirken, und
daß formell die Behörden des Reichslandes daſſelbe Verfahren
beobachten, wie im übrigen Reichsgebiet die Behörden der Einzel-
ſtaaten 1).


Dagegen giebt es kein vom Reichsbürgerrecht verſchiedenes
Staatsbürgerrecht von Elſaß-Lothringen mit eigenem Inhalt und
ſpezifiſchen Rechtswirkungen. Wir haben oben im §. 16 für die
Bundesſtaaten als die ſpezifiſchen Rechtswirkungen des Staats-
bürgerrechts im Einzelſtaate vier nachgewieſen.


1) Die Gehorſamspflicht gegen die Einzelſtaats-
Gewalt
. Da in Elſaß-Lothringen die Staatsgewalt mit der
[595]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Reichsgewalt zuſammenfällt, eine von der Reichsgewalt verſchiedene
Einzelſtaatsgewalt nicht exiſtirt, ſo giebt es auch neben der in der
Reichsangehörigkeit begründeten Gehorſamspflicht gegen das Reich
keine davon begrifflich oder thatſächlich zu unterſcheidende Gehor-
ſamspflicht gegen eine partikuläre Staatsgewalt.


2) Der Anſpruch auf Schutz im Auslande. Den-
ſelben kann Elſaß-Lothringen, da es keine internationale Exiſtenz
hat, auch nicht in dem ſehr begränzten Maaße geben, in welchem
dies den Gliedſtaaten des Deutſchen Reiches noch möglich iſt;
vielmehr iſt das Reich allein im Stande für die Angehörigen von
Elſaß-Lothringen einzutreten, ſo daß auch hier die Landesange-
hörigkeit von Elſaß-Lothringen vollkommen in der Reichsangehörig-
keit aufgeht.


3) Das Wohnrecht im Staatsgebiete. Daſſelbe iſt,
wie oben S. 158 ff. dargethan worden iſt, durch das Freizügig-
keitsgeſ. v. 1. Nov. 1867, welches auch in Elſaß-Lothringen Gel-
tung erlangt hat, vollſtändig von dem Wohnrecht im Reichs-
gebiete
abſorbirt worden.


4) Die Ausübung der politiſchen Rechte, insbe-
ſondere des Wahlrechts
. An dieſem Punkte vor Allem zeigt
ſich, wie oben S. 161 dargelegt worden iſt, die Fortdauer des
Staatsbürgerrechts in den Einzelſtaaten; Wahlrecht und Wählbar-
keit zu den innerhalb der einzelnen Staaten beſtehenden politiſchen
Vertretungen bilden den eigenthümlichen Inhalt deſſelben. Eine
durch unmittelbare Wahlen gebildete Landesvertretung von Elſaß-
Lothringen giebt es zur Zeit noch nicht; wohl aber Bezirksvertre-
tungen, Kreisvertretungen und Gemeinderäthe. Bei dieſen Wahlen
könnte ein elſaß-lothringiſches Staatsbürgerrecht im Gegenſatz zu
der Reichsangehörigkeit zur Geltung kommen, wenn ein ſolches
exiſtirte. Das Geſetz v. 24. Januar 1873 §. 3 u. §. 6 beſtimmt
aber in dieſer Beziehung:
„Wähler iſt jeder Deutſche, welcher das 25. Lebens-
„jahr zurückgelegt hat und ſich im Vollbeſitz der ſtaatsbürger-
„lichen Rechte befindet, in der Gemeinde, wo er ſeinen
„Wohnſitz hat
1).“


38*
[596]§. 54. Bundesglied und Reichsland.

Alſo nicht die Landesangehörigkeit, ſondern die Reichsange-
hörigkeit iſt entſcheidend. Jeder Deutſche, gleichviel welchem Ein-
zelſtaat er angehört, iſt zur Ausübung des Wahlrechts in Elſaß-
Lothringen befugt, wofern er nur im Reichslande wohnt. Es iſt
demnach für das Reichsland formell zwar das Reichsgeſetz vom
1. Juni 1870 eingeführt, materiell aber gerade das entgegenge-
ſetzte, in Nordamerika geltende Princip verwirklicht worden, wo-
nach das Bundesbürgerrecht das primäre Recht und das Staats-
bürgerrecht im Einzelſtaat die Folge und Wirkung deſſelben iſt,
d. h. der Bundesbürger iſt befugt in demjenigen Staate, in welchem
er wohnt, das Wahlrecht und die ſonſt etwa beſtehenden ſtaats-
bürgerlichen Rechte auszuüben 1).


Es ergiebt ſich hieraus, daß das elſaß-lothringiſche Staats-
bürgerrecht im Gegenſatz zur Reichsangehörigkeit oder zum Reichs-
bürgerrecht genommen, ein völlig inhaltsloſes Recht ohne Rechts-
wirkungen wäre; ein ſolches Recht zu fingiren, widerſpricht aber
allen Regeln einer vernunftmäßigen juriſtiſchen Conſtruktion.


Zu demſelben Reſultate führt auch eine andere Erwägung. Als
Elſaß-Lothringen im Frankfurter Frieden an Deutſchland abgetreten
wurde, gab es unzweifelhaft keinen Elſaß-Lothringen’ſchen Staat und
keine Elſaß-Lothringen’ſchen Staatsbürger. Die Bewohner dieſer
Gebiete waren bis zum Frieden Franzoſen und wurden durch den
Frieden, der die Souveränität über Land und Leute an das Deutſche
Reich abtrat, Deutſche, ſoweit ſie nicht von der ihnen vorbe-
haltenen Auswanderungsfreiheit (ſogen. Option) Gebrauch machten.
Durch den Frieden ſelbſt wurde unzweifelhaft ein elſaß-lothringiſcher
Staat nicht gebildet und ebenſowenig durch das Vereinigungsgeſetz
v. 9. Juni 1871.


Die Zuſatzconvention zum Frankfurter Frieden vom 11. Dez.
1871 unterſcheidet an ſämmtlichen, die Nationalität betreffenden
Artikeln zwiſchen der Deutſchen und der franzöſiſchen Nationali-
tät; die im Art. 2. im deutſchen Text erwähnten „Angehörigen
der abgetretenen Gebietstheile“ werden im franzöſiſchen Text be-
zeichnet als »individus originaires des territoires cédés«
alſo nicht dem Staatsverbande nach, ſondern der Abſtammung oder
1)
[597]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Herkunft nach angehörig 1); im Art. 6 a. E. iſt ausdrücklich die
Rede von „Angehörigen der abgetretenen Gebiete, welche deutſche
Unterthanen
geworden ſind“ 2). Die Angehörigen des Reichs-
landes waren ſonach zunächſt unmittelbare Unterthanen des Reiches,
nicht wie die Angehörigen der anderen Staaten Unterthanen des
Heimathsſtaates und mit und durch dieſen Reichsunterthanen. Erſt
durch die Einführung des Geſ. v. 1. Juni 1870 in Elſaß-Lothr.
durch Geſ. v. 8. Januar 1873 hat die Annahme einer Staats-
angehörigkeit im Gegenſatz zur Reichsangehörigkeit in Elſaß-Lothr.
eine ſcheinbare geſetzliche Rechtfertigung gewonnen. Dieſes Geſetz
erklärt aber im §. 3, daß durch die Geburt eheliche Kinder
eines Deutſchen die Staatsangehörigkeit des Vaters, uneheliche Kinder
einer Deutſchen die Staatsangehörigkeit der Mutter erwerben;
es verleiht alſo Niemandem, der zur Zeit des Erlaſſes dieſes Ge-
ſetzes bereits geboren war, eine Staatsangehörigkeit, die er nicht
bis dahin ſchon hatte. Ebenſo ſetzen die §§. 4 u. 5 voraus, daß
der Vater, welcher ein uneheliches Kind legitimirt, oder der Mann,
welcher ſich verheirathet, eine Staatsangehörigkeit bereits hat.
Keine Beſtimmung des Geſetzes aber ſagt, daß alle Perſonen,
welche bereits vor Einführung deſſelben von Bewohnern Elſaß-
Lothringens erzeugt oder legitimirt worden ſind, reſp. einen Be-
wohner des Reichslandes geheirathet haben, die elſaß-lothringiſche
Staatsangehörigkeit erhalten. Die §§. 3 bis 5 ſind daher in
Elſaß-Lothringen überhaupt nur anwendbar, abgeſehen von den in
Elſaß-Lothringen eingewanderten Angehörigen der übrigen Bundes-
ſtaaten, wenn man „Staatsangehörigkeit“ durch Reichsangehörig-
keit erſetzt. Deutſche, Reichsangehörige, ſind die Einwohner des
Reichslandes durch den Verſailler oder Frankfurter Frieden gewor-
den, nicht durch irgend einen der im Geſetz v. 1. Juni 1870 auf-
geführten Erwerbsgründe und dieſe deutſche Reichsangehörigkeit
übertragen ſie gemäß §. 3—5 des erwähnten Geſetzes auf Kin-
der und Ehefrauen. Es könnte daher von einem Erwerbe der
elſaß-lothringiſchen Staatsangehörigkeit nach Maaßgabe des Geſ.
[598]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
v. 1. Juni 1870 nur die Rede ſein, bei denjenigen Perſonen,
denen dieſelbe durch Aufnahme, Naturaliſation oder Anſtellung
verliehen worden iſt.


Hiernach würde nur ein höchſt unbedeutender Bruchtheil der
elſaß-lothringenſchen Bevölkerung die ſpezielle Staatsangehörigkeit
neben der Reichsangehörigkeit haben, und es würde überdies der
Sinn des Geſetzes v. 2. Juni 1870 völlig entſtellt werden. Denn
die in demſelben anerkannten Erwerbsgründe der Staatsangehörig-
keit würden nicht, wie es die Abſicht des Geſetzes iſt, die gleiche
Rechtswirkung haben, ſondern die familienrechtlichen Erwerbsgründe
hätten eine völlig andere Wirkung wie die Aufnahme und Natu-
raliſation. Auch in dem Geſ. v. 1. Juni 1870 iſt demnach die
Angehörigkeit von Elſaß-Lothringen nicht als Staatsangehörigkeit
aufzufaſſen, ſondern ganz ſo wie es das Geſ. v. 24. Januar 1873
hinſichtlich des Wahlrechts gethan hat, als Reichsangehörigkeit,
verbunden mit dem Wohnſitz im Reichslande. Die Reichsange-
hörigkeit geht aber nach den Vorſchriften dieſes Geſetzes nicht ver-
loren durch Verlegung des Wohnſitzes in einen andern Bundes-
ſtaat oder durch Aufenthalt im Auslande, wenn er nicht zehn
Jahre lang ununterbrochen fortdauert. Es kann daher Jemand,
welcher in Elſaß-Lothringen die Reichsangehörigkeit erworben hat
und dann ſeinen Wohnſitz außerhalb des Reichslandes nimmt,
Reichsangehöriger ſein, ohne einem Deutſchen Staate anzugehören,
wodurch das dem Geſ. v. 1 Juni 1870 zu Grunde liegende Princip
erheblich modifizirt wird. Es zeigt ſich an dieſem Geſetze grade
wie an der Reichsverfaſſung, daß ein Geſetz, welches Staaten voraus-
ſetzt und für ſie berechnet iſt, nicht kurzweg in einem Reichslande
eingeführt werden kann, ohne daß ſich juriſtiſche Unterſchiede und
Inconſequenzen ergeben.


Der Begriff eines Angehörigen von Elſaß-Lothringen iſt aber
noch in anderen Beziehungen als nur hinſichtlich des Staats-
bürgerrechts
von Wichtigkeit. Die franzöſiſche Geſetzgebung
knüpft an die Eigenſchaft eines Franzoſen zahlreiche Rechts-
folgen und dieſe Geſetzgebung hat zum Theil im Reichslande ihre
Geltung behalten. Es entſteht daher die Frage, was im Reichs-
lande in denjenigen Fällen, in denen das franzöſiſche Recht la
qualité de Français
erfordert, an Stelle der letzteren zu ſetzen iſt.
[599]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Für die Entſcheidung dieſer Frage kommen folgende Erwägungen
in Betracht.


Nach der im Art. 7 und Art. 8 des Code civ. feſtgehaltenen
Unterſcheidung zwiſchen droits civils und droits politiques ſteht
jeder Franzoſe im Genuß der droits civils, dagegen ſind die
droits politiques abhängig: »de la qualité de citoyen, laquelle
ne s’acquiert et ne se conserve, que conformément à la loi
constitutionelle«.
Nicht jeder Franzoſe iſt zugleich citoyen; es
iſt demgemäß »Français« nicht „Staatsbürger“, ſondern „Inlän-
der“ zu überſetzen. Die Vorſchriften des Code civ. über Erwerb
und Verluſt der Eigenſchaft eines Franzoſen (Elſaß-Lothringers)
haben bis zur Einführung des Reichsgeſetzes vom 1. Juni 1870
im Reichsland in partikulärer Geltung geſtanden; der Erwerb und
Verluſt der Eigenſchaft eines citoyen dagegen iſt durch die fran-
zöſiſchen Verfaſſungs-Geſetze normirt, welche bereits durch den
Friedensſchluß mit Deutſchland und die Abtretung des reichslän-
diſchen Gebietes ihre Anwendbarkeit verloren haben. Ein Nicht-
Franzoſe
kann niemals die droits politiques ausüben, denn er
kann niemals citoyen ſein; wohl aber kann er die droits civils
wie ein Franzoſe ausüben, wenn er mit Erlaubniß des Staates
ſeinen Wohnſitz in Frankreich hat und ſich daſelbſt aufhält. Code
civ.
Art. 13. Das franzöſiſche Recht ſetzt aber allerdings voraus,
daß jeder Franzoſe auch Unterthan des franzöſiſchen Staates iſt;
wer einem andern Staatsverbande beitritt, verliert nicht blos die
Eigenſchaft eines franzöſiſchen citoyen, ſondern auch die Eigenſchaft
eines Français. Code civ. Art. 17 1).


Auch für das Reichsland iſt demgemäß die Eigenſchaft eines
Inländers davon abhängig, daß man ein Unterthan der im Reichs-
lande beſtehenden Staatsgewalt iſt. Daraus folgt aber keines-
wegs, daß es eine beſondere elſaß-lothringiſche Staatsgewalt geben
müſſe. Das Subject der Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen iſt
[600]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
vielmehr das Deutſche Reich. Vorausſetzung für die Eigenſchaft
eines Inländers in Elſaß-Lothringen iſt ſonach nicht ein von der
Reichs-Angehörigkeit verſchiedenes Unterthanen-Verhältniß, ſondern
nur, daß man Unterthan des Deutſchen Reiches iſt.


Andererſeits iſt der Ausdruck »Français«, wo er ſich in fran-
zöſiſchen Geſetzen findet, für das Reichsland nicht wiederzugeben
mit „jeder Deutſche“. Denn die franzöſiſchen Geſetze ſind für das
Reichsland im Verhältniß zu dem für ganz Deutſchland geltenden
Recht Partikulargeſetze und deshalb ſind für die von dieſem Par-
tikularrecht normirten Rechtsſätze die Begriffe „Inland“ und „In-
länder“ nach dem Geltungsbereich dieſes Partikularrechts zu be-
ſtimmen. Dem Geltungsbereich eines Rechts ſind aber diejenigen
Perſonen unterworfen, welche in dem Gebiet deſſelben ihren Wohn-
ſitz haben. Hieraus folgt, daß wo in franzöſiſchen Geſetzen die
Rede iſt von »Français«, darunter für Elſaß-Lothringen diejenigen
Deutſchen zu verſtehen ſind, welche im Reichslande woh-
nen
. Durch Einführung des Art. 3 der Reichsverf. in Elſ.-Lothr.
iſt nun zwar im Weſentlichen die völlige Gleichſtellung aller
Deutſchen hinſichtlich der droits civils im Reichslande hergeſtellt
und dadurch die Unterſcheidung von elſaß-lothringiſchen Inländern
und anderen Deutſchen in den wichtigſten Beziehungen gegenſtands-
los geworden.


Immerhin aber ſtehen doch noch geſetzliche Beſtimmungen in
Kraft, die keineswegs auf alle Deutſchen, ſondern nur auf elſaß-
lothringiſche Angehörige Anwendung finden. Die Angehörigkeit
bezieht ſich in dieſen Fällen nicht auf einen Staatsverband,
ſondern auf ein Rechtsgebiet.


Auch innerhalb eines Einheits-Staates kann es bekanntlich
mehrere Rechtsgebiete geben und die Angehörigkeit zu einem dieſer
Rechtsgebiete von rechtlicher Erheblichkeit ſein. Elſaß-Lothringen
verhält ſich zum Deutſchen Reich in dieſer Hinſicht ganz ebenſo
wie die Rheinprovinz zum Preußiſchen Staate und gerade wie in der
Rheinprovinz Français zu überſetzen iſt mit „Rheinpreuße“, d. h. ein
in der Rheinprovinz wohnender Preuße, ohne daß es deshalb eine
„rheinpreußiſche Staatsangehörigkeit“ giebt, ſo iſt im Reichsland Fran-
çais
auszulegen als „ein in Elſaß-Lothringen wohnender Deutſcher“.


Anwendungsfälle bieten folgende Geſetze:


Code civ. Art 14: L’étranger, même non résidant en
[601]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
France, pourra être cité devant les tribunaux français pour l’exé-
cution des obligations par lui contractées en France avec un
Français
; il pourra être traduit devant les tribunaux de France
pour les obligations par lui contractées en pays etranger en-
vers des Français
1).


Der Art. 3 der R.-V. ändert an der Geltung dieſer Be-
ſtimmung, ſoweit ſie den Gerichtsſtand von Nichtdeutſchen be-
trifft, Nichts. Ein Angehöriger eines Deutſchen Bundesſtaates,
der nicht in Elſaß-Lothringen wohnt, kann auf Grund des Art. 14
nicht im Reichsland belangt werden, denn er iſt kein »étranger«;
er kann aber ebenſo wenig auf Grund des Art. 14 gegen einen
Ausländer eine Klage vor einem elſaß-lothringiſchen Gerichte an-
ſtellen; denn der Art. 14 ſtellt die poſitive Bedingung auf, daß
der Ausländer die Verbindlichkeit gegen einen Inländer (Français),
d. h. alſo im Reichslande gegen einen Elſaß-Lothringer übernom-
men hat 2). Jeder in Elſaß-Lothringen wohnende Deutſche iſt
berechtigt, den Gerichtsſtand auf Grund des Art. 14 in Anſpruch
zu nehmen; keineswegs iſt es erforderlich, daß er nach den Regeln
des Geſetzes vom 1. Juni 1870 die „elſaß-lothringiſche Staatsan-
[602]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
gehörigkeit“ erworben habe. Eine ſolche Auslegung würde unter
den im Reichslande wohnenden Reichsangehörigen eine Rechtsun-
gleichheit bewirken, welche ebenſowohl mit dem Sinne des Art. 14
als mit dem Geſ. v. 1. Juni 1870 in Widerſpruch ſtehen würde.


Das franzöſiſche Geſetz vom 27. Juni 1866 hat dem Art. 5
des Code d’instruction criminelle eine Faſſung gegeben, wonach
der Abſ. 2 deſſelben lautet:


Tout Français qui, hors du territoire de France, s’est
rendu coupable d’un fait qualifié délit par la loi française peut
être poursuivi et jugé en France, si le fait est puni par la
législation du pays où il a été commis.


Dieſes Geſetz iſt in Geltung geblieben 1), ſoweit das Einf.-
Geſetz zum Reichsſtrafgeſetzbuch das partikuläre Landesſtrafrecht
beſtehen gelaſſen hat 2). Es begründet nicht nur einen Gerichts-
ſtand, ſondern außerdem die Anwendung des elſaß-lothringiſchen
(franzöſiſchen) Strafgeſetzes auf alle in den Bereich des Landes-
ſtrafrechts fallende Vergehen, welche ein Angehöriger von Elſaß-
Lothringen außerhalb des Reichslandes verübt hat, wofern die
That nach dem Recht des Ortes überhaupt ſtrafbar war.


Derſelbe Grundſatz iſt für weitaus die meiſten und wichtigſten
Materien, für welche das Landesſtrafrecht in Geltung erhalten wor-
den iſt, in dem erwähnten Geſetz vom 27. Juni 1866 ſogar auch
auf alle Uebertretungen ausgedehnt worden 3):


Tout Français, qui s’est rendu coupable de délits et
contraventions en matière forestière, rurale, de pêche, de douanes
ou de contributions indirectes, sur le territoire de l’un des
Etats limitrophes peut être poursuivi et jugé en France d’après
la loi française, si cet État autorise la poursuite de ses régni-
coles pour les mêmes faits commis en France.


Daß in dieſen Geſetzesſtellen tout Français nicht zu erſetzen
iſt durch „jeder Deutſche“, iſt ſo ſelbſtverſtändlich, daß es keiner
Ausführung bedarf; würde man aber an Stelle von tout Français
[603]§. 54. Bundesglied und Reichsland.
ſetzen: „Jeder Staatsangehörige von Elſaß-Lothringen“, ſtatt:
„Jeder in Elſaß-Lothringen wohnende Deutſche“, ſo käme man zu
dem ſonderbaren Reſultate, daß wenn zwei Deutſche, welche ihren
Wohnſitz im Reichsland haben, von denen aber nur einer die elſaß-
lothringiſche Staatsangehörigkeit nach den Vorſchriften des Geſetzes
v. 1. Juni 1870 erworben hat, in Baden, der Pfalz oder Luxem-
burg ein Vergehen oder eine Uebertretung gegen die Forſtgeſetze
gemeinſam verübt haben, der Eine von dem elſäſſiſchen Gericht
nach den ſtrengen Vorſchriften des franzöſiſchen Forſtgeſetzes be-
ſtraft werden könnte, der Andere nicht.


Endlich iſt noch ein vom Reich erlaſſenes Geſetz zu erwähnen,
in welchem der Ausdruck „Angehörige von Elſaß-Lothringen“ vor-
kömmt, aber ebenfalls ohne alle Beziehung auf die Staats-An-
gehörigkeit. Nach dem Geſ. v. 23. Januar 1872 §. 2 1) findet
das Geſetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienſte „auf die vor
dem 1. Januar 1851 geborenen Angehörigen von Elſaß-Lothringen“
keine Anwendung; ebenſo wenig das Landſturmgeſetz v. 12. Febr.
1875 gemäß der im §. 9 deſſelben enthaltenen Anordnung 2).
Dieſes Geſetz ertheilt dieſe Begünſtigung aber nur denjenigen Per-
ſonen, welche bereits damals Elſaß-Lothringen angehörten 3).
Weder wird von Deutſchen, welche nach Elſaß-Lothringen über-
wandern und ſich dort eine Aufnahme-Urkunde ertheilen laſſen,
dieſe Begünſtigung erworben, noch geht ſie denjenigen Perſonen,
denen ſie nach dem Geſetz zuſteht, durch Ueberwanderung in einen
deutſchen Staat und Erwerbung des Staatsbürgerrechts in dem-
ſelben verloren 4)


[604]§. 54. Bundesglied und Reichsland.

IX. Der Gegenſatz zwiſchen dem Reichslande und den Einzel-
ſtaaten tritt mit großer Deutlichkeit in Beziehung auf die Ge-
bietshoheit
entgegen; hier iſt er ganz unverkennbar. Eine
Gebietshoheit an den von Frankreich abgetretenen Ländern, welche
von der dem Reiche zuſtehenden Gebietshoheit in ähnlicher Art
unterſchieden werden könnte, wie die Gebietshoheit der Einzelſtaa-
ten an ihren Staatsgebieten, giebt es nicht. Das Reich hat die
rechtliche Befugniß, das Reichsland in mehrere, ganz getrennte
Verwaltungsbezirke zu zerlegen; Theile deſſelben an benachbarte
Bundesſtaaten oder an einen auswärtigen Staat abzutreten oder
auszutauſchen; es einem Deutſchen Gliedſtaat einzuverleiben; und
überhaupt an dem Reichslande nicht nur diejenigen Hoheitsrechte,
welche nach der Reichsverfaſſung zur Kompetenz des Reiches
gehören, ſondern in vollem Umfange alle Hoheitsrechte, welche in
der Souveränetät enthalten ſind, auszuüben 1). Die Bezeichnung
Elſaß-Lothringen’s als eines unmittelbaren Reichslandes hebt grade
dieſen Unterſchied von der rechtlichen Stellung der übrigen Theile
des Bundesgebietes hervor 2). Wäre Elſaß-Lothringen nicht das
einzige Reichsland, wäre es namentlich nicht in der ganzen Länge
ſeiner Binnengränze eingeſchloſſen von Gebieten, die einer Landes-
hoheit unterliegen, ſo würde noch deutlicher zu Tage treten, daß
Elſaß-Lothringen nicht das Staats-Gebiet eines Bundesgliedes,
ſondern eine Provinz, ein Verwaltungsdiſtrikt des Reiches iſt, in-
dem alsdann aus Zweckmäßigkeits-Gründen vielleicht Theile des
Reichslandes mit angränzenden Gebieten zu Verwaltungsdiſtrikten
verbunden werden würden.


§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.


Während in den angegebenen Beziehungen zwiſchen dem Reichs-
land und den Einzelſtaaten ein tiefgehender Gegenſatz beſteht, wird
das Reichsland in finanzieller Hinſicht den Einzelſtaaten voll-
4)
[605]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
kommen gleich behandelt 1). Es beruht dies darauf, daß es ſich
in den hier in Betracht kommenden Beziehungen nicht um ſtaat-
liche Hoheits
rechte und ſtaatliche Aufgaben, ſondern um ver-
mögensrechtliche
Anſprüche und Leiſtungen handelt. Jeder
Staat iſt zwar nothwendig auch vermögensrechtliches Subject, aber
nicht umgekehrt jeder öffentlich rechtliche Verband mit ſelbſtſtändi-
ger privatrechtlicher Perſönlichkeit ein Weſen ſtaatlicher Natur.
Grade weil jede Provinz, jeder Bezirk eben ſo gut wie der Staat
ein ſelbſtſtändiges Vermögensſubject ſein kann, iſt es möglich, das
Reichsland in allen die Finanzwirthſchaft betreffenden Angelegen-
heiten vollkommen wie ein Bundesglied zu behandeln 2).


Es wird demgemäß die Landeskaſſe von dem Reichsfis-
kus unterſchieden und ebenſo das Landesvermögen von dem im
Reichslande befindlichen Reichsvermögen 3). Das Reichs-Geſ. v.
25. Mai 1873 über die Rechts-Verhältniſſe der zum dienſtlichen
Gebrauch einer Reichsverwaltung beſtimmten Gegenſtände iſt durch
Geſ. v. 8. Dezember 1873 (G.-Bl. S. 387) im Reichslande ein-
geführt worden und dadurch nicht nur hinſichtlich des Finanzver-
mögens, ſondern auch hinſichtlich des Verwaltungsvermögens das
Reichsland in völlig dieſelbe Lage gebracht worden, in welcher die
Bundesſtaaten in dieſer Beziehung ſich befinden. Dem activen
Landes-Vermögen entſprechend giebt es auch Landes-Schulden 4),
welche einerſeits von Schulden der Bezirke oder Kreiſe, andererſeits
von Schulden des Reiches verſchieden ſind. Das Subject dieſer
[606]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
Schulden iſt die Landeskaſſe (der Landesfiskus) von Elſaß-Lothrin-
gen, das Reichsland als vermögensrechtliches Rechtsſubject.


Dieſe Trennung der Finanzwirthſchaft Elſaß-Lothringens von
der Finanz-Wirthſchaft des Reiches äußert ihre Wirkungen nach
vielen Seiten hin und erweckt bisweilen den Anſchein, als wenn
Elſaß-Lothringen nicht Reichsland, ſondern ein wirklicher Staat
wäre. Es kommen hier folgende Punkte in Betracht:


I.Staatsverträge, welche das Reich mit Rückſicht auf
Elſaß-Lothringen ſchließt, und welche Gegenſtände betreffen, welche
nicht zu der reichsverfaſſunsmäßigen Kompetenz der Centralver-
waltung gehören, werden in ihren finanziellen Wirkungen ſo be-
handelt, als wären ſie von Elſaß-Lothringen contrahirt worden.
Staatsrechtlich und völkerrechtlich ſind ſie Verträge des Reiches 1),
vermögensrechtlich werden ſie wie Verträge der elſaß-lothringiſchen
Landeskaſſe behandelt. Das wichtigſte Beiſpiel iſt die mit Frank-
reich am 11. Dez. 1871 zu Frankfurt a. M. geſchloſſene Zuſatz-
konvention zum Friedensvertrage. Dieſelbe regelt im Art. 2 die
Pflicht zur Zahlung von Penſionen, im Art. 5 die Auszahlung
von Gerichtskoſten, ſowie die Einziehung von Geldſtrafen und
Koſten, im Art. 8 die Auslieferung von Urkunden, Regiſtern,
Schriftſtücken u. ſ. w., im Art. 13 die Erfüllung von Kontrakten,
welche die franzöſiſche Regierung mit Bau-Unternehmern u. ſ. w.
geſchloſſen hatte 2), im Art. 14 die Uebernahme der Koſten für
Anlage und Erhaltung der Kanäle u. ſ. w. In derſelben Weiſe
ſind die mit Baden getroffenen Verabredungen wegen des Baues
und der Erhaltung von Brücken über den Rhein und die Beſol-
dung des Aufſichts-Perſonals, die mit Preußen geſchloſſene Ver-
einbarung wegen der Unterhaltungskoſten der gemeinſchaftlichen
Saar-Kanalſtrecke von Saargemünd bis Güdingen, die Verträge,
welche die Rheinſchifffahrt, insbeſondere die Koſten der Rhein-
ſchifffahrts-Central-Kommiſſion betreffen, in Beziehung auf die
[607]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
Perſon der Contrahenten Verträge des Reiches, in Beziehung auf
die pekuniären Wirkungen Verträge der Landeskaſſe 1).


II. Die Landesverwaltung wird auf Koſten der Landes-
kaſſe geführt und in dieſer Beziehung ganz ſcharf von der Reichs-
verwaltung getrennt. Demgemäß hat das Reich in Elſaß-Lothringen
keine andere Einnahme-Quellen als diejenigen, welche es auch in
den übrigen Theilen des Reiches hat, abgeſehen von den im Finanz-
vermögen des Reiches ſtehenden Eiſenbahnen, und andererſeits
werden aus der Landeskaſſe alle diejenigen Ausgaben beſtritten,
welche auch den Einzelſtaaten wegen der ihnen zuſtehenden Selbſt-
verwaltung zur Laſt fallen 2).


Dieſer Grundſatz wird auch hinſichtlich derjenigen Behörden
durchgeführt, welche gleichzeitig Geſchäfte der Centralverwaltung
des Reichs und der Landesverwaltung des Reichslandes führen
und es zahlt daher einerſeits die Landeskaſſe einen Beitrag zu den
Koſten des Reichskanzler-Amts, Oberhandelsgerichts, Rechnungs-
hofes, und anderſeits die Reichskaſſe einen Beitrag zu den Koſten
[608]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
der Bezirks-Hauptkaſſe zu Straßburg für die Beſorgung der Ge-
ſchäfte als Korps-Zahlungsſtelle des 15. Armee-Korps 1).


Die finanzielle Trennung der Reichsverwaltung und Landes-
verwaltung kömmt in ſehr erheblicher Weiſe in dem Unterſchiede
zwiſchen Reichsbeamten und elſaß-lothringiſchen Landesbe-
amten
zur Geltung. Nach der Definition der Reichsbeamten im
§. 1 des Geſ. v. 31. März 1873 iſt jeder Beamte, welcher vom
Kaiſer angeſtellt iſt, ein Reichsbeamter; dieſe Begriffsbeſtimmung
umfaßt daher auch die zum Zwecke der Landesverwaltung des
Reichslandes angeſtellten Beamten. Im ſtaatsrechtlichen Sinne
ſind auch in der That dieſe Beamte Reichsbeamte, denn das Reich
iſt ihr Dienſtherr. Das Reichsgeſetz v. 31. März 1873 findet
demgemäß zufolge Geſ. v. 23. Dezbr. 1873 unveränderte Anwen-
dung auf die Rechtsverhältniſſe der elſaß-lothringiſchen Landesbe-
amten: nur iſt es ergänzt worden durch einige Anordnungen, deren
Hinzufügung faſt durchweg dadurch veranlaßt worden iſt, daß die
Provinzial-Verwaltung von Elſaß-Lothringen viele Verwaltungs-
zweige umfaßt, welche der Central-Verwaltung des Reiches fehlen.
In finanzieller Beziehung aber beſteht der wichtige Unterſchied, daß
alle zum Zweck der Landesverwaltung angeſtellten Beamten An-
ſprüche auf Gehalt, Penſion, Wartegelder, Erſatz von Reiſekoſten
und Diäten u. ſ. w. nicht gegen die Reichskaſſe, ſondern gegen die
Landeskaſſe haben, und ebenſo für Defekte und Schadenserſatz der
letzteren haften. Dem entſprechend haben ſie auch der Landeskaſſe,
nicht der Reichskaſſe, Kaution zu leiſten 2). Abgeſehen von den
Lehrern und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen, auf deren
Rechtsverhältniſſe die Beſtimmungen dieſes Geſetzes ebenfalls An-
wendung finden, ergiebt ſich demnach für die elſaß-lothring. Landes-
beamten folgende Begriffsbeſtimmung: Elſaß-lothringiſche Landes-
beamte ſind diejenigen Reichsbeamten, welche ein Dienſtein-
kommen aus der Landeskaſſe beziehen. Sie beziehen nicht
deßhalb ihr Dienſteinkommen aus der Landeskaſſe, weil ſie keine
Reichsbeamten ſind, ſondern ſie ſind eine Unterart der Reichsbe-
amten. Würde aus irgend einem Grunde die Trennung der
Finanzwirthſchaft des Reiches von der Finanzwirthſchaft des Reichs-
[609]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
landes verſchwinden, ſo würde auch ohne Weiteres der Unterſchied
zwiſchen den elſaß-lothringiſchen Landesbeamten und den Reichs-
beamten in Wegfall kommen.


Die für Elſaß-Lothringen erlaſſenen Geſetze brauchen regel-
mäßig für den reichsländiſchen Fiskus die Bezeichnung „Landes-
kaſſe“; an einzelnen Stellen wird jedoch auch der Ausdruck „Staat“
gebraucht; z. B. im Geſ. 30. Dezemb. 1871 §. 19 Abſ. 2 1) und
in dem Geſ. v. 15. Oktob. 1873 über die Amts-Kautionen. Man
darf hieraus nicht ſchließen, daß die Reichsgeſetzgebung Elſaß-
Lothringen als Staat anerkannt habe; denn es handelt ſich an
dieſen Stellen nicht um den Staat als Subjekt von obrigkeitlichen
Hoheitsrechten, ſondern um den Staat als Subjekt von Ver-
mögensrechten, d. h. als Fiskus.


III. Auch die Koſten der Provinzial-Geſetzgebung,
welche mit der den Einzelſtaaten zuſtehenden Autonomie correſpon-
dirt, werden aus der Landeskaſſe getragen, nämlich die Her-
ſtellungskoſten für das Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen und die
durch den Landes-Ausſchuß verurſachten Ausgaben 2). Es iſt
ferner die Feſtſtellung des Landeshaushalts-Etats
ſelbſt ein Gegenſtand dieſer Geſetzgebung. Der Etat von Elſaß-
Lothringen iſt kein Beſtandtheil des Reichs-Etats; er wird dem
Landes-Ausſchuß zur Berathung vorgelegt, durch ein beſon-
deres Geſetz feſtgeſtellt und im Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen
verkündet.


IV. Obwohl das Reichsland, da es nicht Bundesglied iſt,
weder Mit gliedſchaftsrechte, noch Sonderrechte, noch
Pflichten dem Reiche gegenüber hat, ſo wird doch in allen ver-
mögensrechtlichen Beziehungen die Landeskaſſe von Elſaß-Lothringen
ganz ebenſo behandelt, als wäre ſie der Fiskus eines Bundes-
gliedes. Den Mitgliedſchaftsrechten entſprechend hat ſie den auf
das Reichsland entfallenden Antheil an den Reichskaſſenſcheinen
erhalten 3); den Sonderrechten entſprechend zahlt die Landeskaſſe
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 39
[610]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
das Averſum für die Brauſteuer; den Bundespflichten entſprechend
entrichtet ſie an die Reichskaſſe die Matrikularbeiträge.


V. Endlich kömmt in finanzieller Hinſicht auch die Ange-
hörigkeit
zu Elſaß-Lothringen in Betracht und zwar in doppelter
Hinſicht.


1) Gewiſſe Laſten und Rechte werden nach dem Verhältniß
der Bevölkerung auf die einzelnen Bundesglieder vertheilt;
die Bevölkerung des Reichslandes iſt demnach maßgebend für die
Höhe der Matrikularbeiträge und des Bierſteuer-Averſums und
ebenſo für die Höhe des auf Elſaß-Lothringen entfallenden Betrages
an Reichs-Kaſſenſcheinen. Seitdem die Vertheilung der Matri-
kularbeiträge nicht mehr nach der ortsanweſenden ſtaatsangehörigen
Bevölkerung, ſondern nach der faktiſchen Bevölkerung erfolgt 1),
bedeutet die Angehörigkeit zu Elſaß-Lothringen in dieſer Hinſicht
nicht ein ſtaatsrechtliches Verhältniß, ſondern lediglich die That-
ſache des Aufenthalts im Reichsland 2).


2) Das Geſetz über den Unterſtützungswohnſitz iſt im Reichs-
lande nicht eingeführt worden; vielmehr iſt der im §. 7 des Frei-
zügigkeits-Geſetzes in Bezug genommene Gotha’er Vertrag vom
15. Juli 1851, als Beilage zu dem Einführungsgeſ. v. 8. Januar
1873 im Geſetzbl. f. Elſ.-Lothr. 1873 S. 5 verkündet worden.
Im Verhältniß zwiſchen Elſaß-Lothringen einerſeits und Bayern
[611]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
und den zum Gebiet des Geſetzes über den Unterſtützungswohnſitz
gehörenden Staaten andererſeits entſcheiden daher die Beſtimmungen
dieſes Vertrages 1). Der Wortlaut deſſelben ſetzt Staaten und
Staats-Angehörige (Unterthanen) voraus, da er ja von lauter
ſouveränen Staaten vereinbart worden iſt. An dieſem Wortlaute
ſind bei der Einführung in Elſ.-Lothr. Veränderungen nicht vor-
genommen worden. Indeß iſt für die Pflicht zur Uebernahme
Hülfsbedürftiger die Unterthanen-Eigenſchaft der letztern nicht
weſentlich; auch der Aufenthalt und ſelbſt die Geburt kann
nach §. 2 des Vertrags die Uebernahme-Pflicht begründen. Ueber-
dies aber ſchließt die Gotha’er Uebereinkunft ſelbſtverſtändlich nicht
aus, daß auch ſolche Individuen übernommen werden müſſen,
welche nicht Staatsunterthanen ſind, wofern im Uebrigen durch
die Geſetze des Landes eine Pflicht zur Unterſtützung derſelben
begründet iſt. In der Verwaltungs-Praxis kömmt dieſer Punkt
faſt ausſchließlich in Betracht und es iſt demnach die Pflicht zur
Uebernahme eines hülfsbedürftigen Individuum thatſächlich nicht
davon abhängig, ob daſſelbe in Elſaß-Lothringen Staatsbürger-
recht hat, ſondern ob es daſelbſt einen ſogenannten Unterſtützungs-
Wohnſitz hat. Gleichviel aber, in welchem Umfange man die Pflicht
zur Uebernahme anerkennen will, jedenfalls hat ſie einen weſentlich
vermögensrechtlichen Inhalt und ſo wie es innerhalb eines Staates
mehrere Landarmen-Verbände geben kann, ſo kann auch das Reichs-
land oder jeder Bezirk deſſelben den andern deutſchen Staaten
gegenüber wie ein Landarmen-Verband behandelt werden, ohne
daß daraus irgend ein Schluß auf die ſtaatsrechtliche Natur des
Reichslandes gezogen werden darf.


Die Gleichſtellung der elſaß-lothringiſchen Landeskaſſe mit dem
Fiskus der einzelnen Staaten begründet keineswegs eine Ausnahme
von der allgemeinen rechtlichen Stellung des Reichslandes, denn
ſie betrifft nur die vermögensrechtliche Seite der Finanzwirthſchaft,
dagegen nicht die finanziellen Hoheitsrechte. In Elſaß-Lothringen
[612]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
kann keine Steuer eingeführt oder aufgehoben werden als auf
Grund eines vom Reiche erlaſſenen Geſetzes; es kann der Be-
völkerung keine Leiſtung auferlegt oder erlaſſen, es kann keine
Einnahmequelle und kein Rechtsgrund für Ausgaben geſchaffen
werden ohne einen Willensakt des Reiches oder der Organe des-
ſelben. Das Reich muß, wenn es erforderlich iſt, zu Ausgaben
der Landesverwaltung Zuſchüſſe geben, wie dies z. B. hinſichtlich
der Univerſität Straßburg geſchehen iſt, und das Reich iſt an-
dererſeits rechtlich befugt, Ueberſchüſſe der Landesverwaltung der
Reichskaſſe zu überweiſen. Die Finanzwirthſchaft Elſaß-Lothringens
iſt nicht die ſelbſtſtändige Finanzwirthſchaft eines Gliedſtaates, ſon-
dern es iſt die abgeſonderte Provinzial-Finanzwirthſchaft des Reiches.


Die Löſung des hohen politiſchen Problems, die deutſchen
Völker und Länder dergeſtalt zu einigen, daß die Geſammtheit
Lebensfähigkeit und Kraft gewinne und die einzelnen Theile dabei
doch ihre individuelle Beſonderheit nicht verlieren und die in ihrer
Eigenartigkeit begründeten Intereſſen Berückſichtigung und Pflege
finden können, war in zwei verſchiedenen ſtaatsrechtlichen Formen
möglich; in der des Bundesſtaates und der des dezentraliſirten
Einheitsſtaates. Die Annahme der Reichsverfaſſung hat die erſte
Form, die Erklärung Elſaß-Lothringens zum Reichslande die zweite
Form verwirklicht. Obgleich die Reichsverf. im Reichslande ein-
geführt worden iſt, ſo bildet doch die Exiſtenz des Reichslandes
geradezu den Gegenſatz zu dem Prinzip der Reichsverfaſſung.


Ob das deutſche Reich dieſen Dualismus auf die Dauer ver-
tragen wird, oder ob das Reichsland im Laufe der Zeit ſich zu
einem Staate umwandeln wird, der den andern Gliedſtaaten des
Reiches gleichartig iſt und auf den die Reichsverfaſſung nicht nur
dem Klang der Worte, ſondern der Sache nach angewendet werden
kann, oder ob endlich die Stellung des Reichslandes bereits als
der Vorbote einer neuen Verfaſſungsform des deutſchen Reiches
anzuſehen iſt, zu welcher ſich die jetzt beſtehende bundesſtaatliche
Form fortentwickeln wird, das ſind Fragen, welche nicht in den
Kreis des Staatsrechts fallen. Bemerkenswerth iſt aber die That-
ſache, daß dieſelben ruhmreichen Ereigniſſe, welche die Erweiterung
des Norddeutſchen Bundes zum deutſchen Reiche ermöglichten und
die Wiederaufrichtung des deutſchen Staates zum Abſchluß brachten,
zugleich dieſem deutſchen Reich durch das Reichsland ein Element
[613]§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
zuführten, welches den ſtaatsrechtlichen Gegenſatz der Reichsver-
faſſung darſtellt und vielleicht beſtimmt iſt, den Ausgangspunkt
zu einer allmählichen Umgeſtaltung dieſer Reichsverfaſſung ſelbſt
zu bilden.


Nachträge.


zu §. 11 S. 109 ff. Der hier entwickelte begriffliche Unter-
ſchied zwiſchen Mitgliedſchaftsrechten und Sonderrechten und der
Grundſatz daß die letzteren nicht durch Majoritäts-Beſchlüſſe ohne
Zuſtimmung des Berechtigten aufgehoben werden können, hat eine
erneute Anerkennung gefunden in dem Urth. des Reichs-Ober-
handelsgerichts
v. 12. Febr. 1875. Entſcheidungen Bd. XVII.
S. 131 ff. beſ. 147. 148.


zu §. 17. S. 168 ff. Nach dem Reichsgeſ. v. 1. Juli 1870
erlangt ein Ausländer, welcher im Reichsdienſt angeſtellt wird und
ſeinen dienſtlichen Wohnſitz im Auslande hat, durch die Anſtellung
ſelbſt die Reichsangehörigkeit nicht (ſiehe oben S. 171); aber er
konnte dieſelbe auch nicht auf ſeinen Antrag durch Verleihung er-
langen, da den Einzelſtaaten die Naturaliſation von Ausländern
nach §. 8 des erwähnten Geſetzes nur geſtattet iſt, wenn dieſe ſich
in dem Gebiete des Staates niederlaſſen. Dieſer Grundſatz des
§. 8 hat eine Abänderung erfahren durch das Reichsgeſetz v.
20. Dez. 1875 (R.-G.-Bl. S. 342). Daſſelbe ermächtigt nicht
nur, ſondern verpflichtet die Bundesſtaaten, Ausländern, welche
im Reichsdienſte angeſtellt ſind und ihren dienſtlichen Wohnſitz im
Auslande haben, wenn ſie die Verleihung der Staatsangehörigkeit
nachſuchen, die Naturaliſations-Urkunde zu ertheilen. Dieſer Grund-
ſatz iſt aber beſchränkt auf diejenigen Reichsbeamten, welche ein
Dienſteinkommen aus der Reichskaſſe beziehen; ſo daß alſo nament-
lich die Wahlkonſuln (vrgl. S. 332) dieſes Rechtes nicht theilhaf-
tig ſind.


zu §. 29 S. 250 ff. Den hier dargelegten Rechtsſatz, daß der
Bundesrath regelmäßig, d. h. wenn nicht reichsgeſetzlich etwas
Anderes beſtimmt iſt, zum Erlaß von Ausführungs-Verordnungen
[614]Nachträge.
zu den Reichsgeſetzen befugt und verpflichtet iſt, vertheidigt auch
Seydel in Hirth’s Annalen 1876 S. 11 fg.


zu §. 34 S. 316. Die Geſchäfte der Reichshauptkaſſe ſind
vom 1. Januar 1876 ab der Preuß. General-Staatskaſſe entzogen
und auf Grund des §. 22 des Bankgeſetzes v. 14. März 1875,
nach welchem die Reichsbank verpflichtet iſt, ohne Entgelt für Rech-
nung des Reiches Zahlungen anzunehmen und bis auf Höhe des
Reichsguthabens zu leiſten, und auf Grund des §. 11 des Statutes
der Reichsbank v. 21. Mai 1875 (R.-G-.Bl. S. 205) der Reichs-
bank-Hauptkaſſe zu Berlin übertragen. Für dieſe Geſchäftsführung
bleibt die bisherige Bezeichnung „Reichshauptkaſſe“ beſtehen. Be-
kanntmachung des Reichskanzlers
v. 29. Dez. 1875.
Centralblatt S. 821.


zu §. 34 S. 318 ff. Auf Grund des Reichshaushalts-Geſetzes
für 1876. Ausgabe Kapit. 7 Tit. 1 iſt bei der Normal-Eichungs-
kommiſſion
eine Stelle für einen zweiten wiſſenſchaftlich gebilde-
ten Hülfsarbeiter errichtet worden. Vrgl. die Erläuterung in den
Anlagen zum Etat I S. 17.


zu §. 34 S. 320. Für das Zoll- und Steuer-Rechnungs-
Bureau
des Reichskanzler-Amtes ſind ſeit 1874 zwei Beamte an-
geſtellt, welche ausſchließlich für das Bureau thätig ſind, während
die Stellen des Bureau-Vorſtehers und Buchhalters von Beamten
des Preuß. Finanzminiſteriums als Nebenämter verſehen werden.
Erläuterungen zum Etat für 1874 Anlage I S. 9. Vrgl. Etat
für 1876 Anlage I S. 10. 11.


zu §. 34 S. 320. Durch das Reichshaushalts-Geſetz für 1876
Ausgabe Kapit. 8 (R.-G.-Bl. S. 330) ſind die Geldmittel für die
Errichtung eines Geſundheitsamtes bewilligt worden. Eine
Denkſchrift, welche in der Anlage I zum Etat für 1876 S. 41
abgedruckt iſt, giebt über die beabſichtigte Einrichtung dieſer Behörde
Aufſchluß. Darnach „ſoll dieſelbe dem Reichskanzler-Amte
unmittelbar untergeordnet ſein und einen lediglich berathenden
Karakter tragen.“ Verwaltungsgeſchäfte hat dieſe Behörde nicht
zu erledigen, ſie ſoll vielmehr eine techniſche Unterſtützung des
Reichskanzleramtes ſein bei der Ausübung des nach Art. 4 Ziff. 15
[615]Nachträge.
der R.-V. dem Reiche zugewieſenen Rechtes der Beaufſichtigung
und Geſetzgebung in Angelegenheiten der Medicinal- und Veteri-
närpolizei. Zu dieſem Zwecke ſollen die Mitglieder des Geſund-
heitsamtes von den hierfür in den einzelnen Bundesſtaaten beſtehen-
den Einrichtungen Kenntniß nehmen, die Wirkungen der im Intereſſe
der öffentlichen Geſundheitspflege ergriffenen Maßnahmen beobachten
und in geeigneten Fällen den Staats- und den Gemeindebehörden
Auskunft ertheilen, ſowie eine genügende mediziniſche Statiſtik
für Deutſchland herſtellen. Auch ſollen ſie die Entwickelung der
Medizinal-Geſetzgebung in außerdeutſchen Ländern verfolgen. Das
Geſundheitsamt hat im Behörden-Organismus des Reiches ſeinen
Platz neben dem Statiſtiſchen Amt und der Normal-Eichungskom-
miſſion und dem entſprechend ſind auch die Rang- und Beſol-
dungs-Verhältniſſe des Directors, der Mitglieder und Subaltern-
Beamten normirt.


zu §. 34 S. 325 ff. Durch die Kaiſerl. Verordnung vom
22. Dez. 1875 (R.-G.-Bl. S. 379), welche ihrem Inhalte nach
und ſoweit ſie das Finanzweſen des Reiches berührt, durch das
Reichshaushaltsgeſetz für 1876 die Genehmigung des Bundesrathes
und Reichstags erhalten hat, iſt die Stellung der Poſt- und Tele-
graphen-Verwaltung im Behördenſyſtem des Reiches weſentlich ver-
ändert worden. Beide Verwaltungen ſind ſeit dem 1. Januar 1876
aus dem Reſſort des Reichskanzler-Amtes ausgeſchieden, deſſen
bisherige I. und II. Abtheilung mithin aufgehoben ſind. Dagegen
ſind beide Verwaltungen einer Centralbehörde unterſtellt, deren
Leitung dem General-Poſtmeiſter unter der Verantwortlich-
keit des Reichskanzlers übertragen iſt 1). (§. 1.) Der General-
Poſtmeiſter hat demgemäß die Befugniſſe einer „oberſten“ Reichs-
behörde (§. 2.) und hat nicht mehr ſeine Stellung innerhalb des
Reichskanzler-Amtes, ſondern die oberſte Poſt-Behörde ſteht ebenſo
wie Auswärtiges Amt, Admiralität und Eiſenbahnamt neben dem
Reichskanzler-Amt. Dieſe Central-Behörde zerfällt in zwei Abthei-
[616]Nachträge.
lungen, von denen die eine unter der Bezeichnung „General-
Poſtamt
“ die Angelegenheiten der Poſtverwaltung, die andere
unter dem Namen „General-Telegraphenamt“ die Ange-
legenheiten der Telegraphen-Verwaltung bearbeitet. (§. 3.) An
der Spitze jeder der beiden Abtheilungen ſteht ein Direktor.


Durch die Vereinigung der beiden Verwaltungen iſt das Neben-
einander-Beſtehen von Ober-Poſt-Direktionen und Telegraphen-
Direktionen beſeitigt; die Mittelbehörden für beide Verwaltungs-
zweige führen die Bezeichnung als Oberpoſt-Direktionen
und ſind in Angelegenheiten der Poſtverwaltung dem General-
Poſtamt, in Angelegenheiten der Telegraphenverwaltung dem Ge-
neral-Telegraphenamt zunächſt untergeordnet. (§. 4.) In Anbe-
tracht des dadurch gewachſenen Geſchäftsumfanges ſind einige neue
Oberpoſt-Direktionen errichtet, beziehentlich wieder errichtet worden,
nämlich in Minden und Bromberg (Erl. v. 15. Okt. 1875 R.-G.-Bl.
S. 388) und Aachen (Erl. v. 22. Nov. 1875 ebendaſ. S. 389 1).


Der Ortsbetrieb des Poſt- und Telegraphendienſtes wird von
Poſtämtern wahrgenommen, welche je nach der Bedeutung des
Dienſtes als Poſtämter I. II. oder III. Klaſſe bezeichnet werden.
Wo die Verhältniſſe ſolches erfordern, können ſie auch getrennt
unter der Bezeichnung Poſtamt und Telegraphenamt fungiren 2).


zu §. 34 S. 340. Die im Geſ. v. 9. Januar 1875 §. 4 vor-
behaltene Kaiſerl. Verordnung über die Seewarte iſt, nachdem
der Reichstag die zu ihrer Durchführung erforderlichen Geldmittel
im Etatsgeſetz für 1876 Ausgabe Kapit. 47 bewilligt hat 3), am
26. Dezember 1875 (R.-G.-Bl. S. 385) ergangen. Darnach ſteht
an der Spitze des Inſtitutes ein Direktor; die Geſchäfte werden
in vier Abtheilungen bearbeitet, von denen jede einen Vorſtand
hat. Die Vertheilung der Geſchäfte iſt lediglich nach wiſſenſchaft-
lichen Geſichtspunkten geregelt. Der erſten Abtheilung liegt im
Allgemeinen die Sammlung von Beobachtungen über die phyſi-
[617]Nachträge.
kaliſchen Verhältniſſe des Meeres, über die meteorologiſchen Erſchei-
nungen, die Anſchaffung der wichtigeren Schriften und Karten u. dgl.
ob; der zweiten Abtheilung iſt insbeſondere die literariſche Thätig-
keit des Inſtitus zugewieſen; die dritte hat die Bearbeitung des
Sturmwarnungsweſens; die vierte endlich hat es ausſchließlich mit
der Prüfung der Chronometer zu thun.


Von der Seewarte reſſortiren die Agenturen, welche den
Verkehr zwiſchen der Seewarte und den Schiffern und Rhedern zu
vermitteln, und die Intereſſen der Seewarte wahrzunehmen haben.
Sie zerfallen in Agenturen I. und II. Ranges 1).


Ferner reſſortiren von der Seewarte die an geeigneten Punk-
ten der Deutſchen Küſte nach Bedarf zu errichtenden Beobach-
tungs
- und Signalſtationen, von denen jene den meteorolo-
giſchen Zwecken der Seewarte, dieſe dem Sturmwarnungs-Weſen
dienen 2).


Der Erlaß der zur Ausführung dieſer Verordnung erforder-
lichen Inſtruktionen iſt der Kaiſerl. Admiralität übertragen. (§. 6.)


zu §. 34 S. 341 ff. Der Geſchäftskreis des Reichseiſen-
bahn-Amtes
hat eine Erweiterung erfahren durch Art. 10 des
Reichsgeſ. v. 20. Dez. 1875 (R.-G.-Bl. S. 321.)


zu §. 34 S. 348. 349. Das Verzeichniß der v. 1. Jan. 1876
ab errichteten Reichsbank-Hauptſtellen und Reichsbank-
Stellen
iſt durch Bekanntmachung des Reichskanzlers v. 17. Dez.
1875 veröffentlicht worden. Centralblatt S. 802.


zu §. 36 S. 366. Ueber die Einſchränkung der Gerichts-
barkeit der Deutſchen Konſuln
in Egypten iſt auf Grund
des Geſ. v. 30. März 1874 die Verordn. v. 23. Dez. 1875 (R.-G.-Bl.
S. 381 fg.) ergangen.


zu §. 38 S. 405. Die Beamten der Reichsbank, ſoweit
ſie nicht nach §§. 27 und 36 des Bankgeſ. vom Kaiſer zu ernennen
39*
[618]Nachträge.
ſind, werden von dem Reichskanzler oder auf Grund der von dem
letzteren ertheilten Ermächtigung von dem Präſidenten des Reichs-
bank-Direktoriums angeſtellt. Verordn. v. 19. Dez. 1875 §. 1.
(R.-G.-Bl. S. 378.)


zu §. 39 S. 410 fg. Ueber die Kautionsleiſtung der
Reichsbank-Beamten
ſind die erforderlichen Vorſchriften er-
gangen durch die Verordn. v. 23. Dez. 1875. (R.-G.-Bl. S. 380. 381.)


zu §. 42 S. 466 Note 7. Eine Ausdehnung des Kreiſes der
Beamten, deren Gehälter vierteljährlich zahlbar ſind, iſt durch einen
am 27. Dez. 1875 veröffentlichten Beſchluß des Bundesrathes er-
folgt. [Centralblatt] S. 819.


zu §. 45 S. 491. Die reichsgeſetzlichen Vorſchriften über die
Penſionsverhältniſſe der Reichsbeamten ſind auf die Reichsbank-
beamten durch die Verordn. v. 23. Dez. 1875 §. 1 (R.-G.-Bl.
S. 380) ausgedehnt worden.


[[619]]

Appendix A [Berichtigungen].


  • S. 25 Note 4 iſt anſtatt „1866“ zu leſen „1867“.
  • S. 96 Note 〃 〃 „der Niederlande“ zu leſen „den Niederlanden“.
  • S. 209 Z. 2 〃 〃 „8 Abſ. 1“ 〃 〃 „8 Abſ. 2“.
  • S. 251 Z. 6 〃 〃 „S. 388“ 〃 〃 „S. 88“.
  • S. 267 Z. 11 〃 〃 „31. Mai“ 〃 〃 „31. März“.
  • S. 342 Z. 3 〃 〃 „Bundesamt“ 〃 〃 „Bundesrath“.
  • [S.] 397 Z. 22 〃 〃 „III“ 〃 〃 „IV“.

[][][][][][]
Notes
1).
Das urkundliche Material für die Gründungsgeſchichte des Nordd. Bun-
des iſt enthalten in Glaſer’s Archiv des Nordd. Bundes. Berlin 1867.
Aegidi und Klauhold, das Staatsarchiv. Bd. 10 und folgende. Ham-
burg 1866 ff. Am Vollſtändigſten und Ueberſichtlichſten L. Hahn. Zwei
Jahre preußiſch-deutſcher Politik 1866—1867. Berlin 1868. Für die Grün-
dung des Deutſchen Reiches findet ſich das Wichtigſte in den Druckſachen
des Reichstages
des Nordd. Bundes von 1870. Ferner in Koller’s
Archiv des Nordd. Bundes und Zollvereins, in Hirth’s Annalen des Nordd.
Bundes (reſp. des Deutſchen Reichs); in v. Bezold’s Materialien der
Deutſchen Reichsverfaſſung. 3 Bde. 1872 und L. Hahn, der Krieg Deut-
ſchlands gegen Frankreich und die Gründung des Deutſchen Kaiſerreichs. Die
Deutſche Politik 1867—1871. Berlin 1871.
2).
Hahn, Zwei Jahre S. 124 fg. Glaſer, Archiv I, 1. S. 27.
1).
Vgl. darüber Schulze, Einleit. in das deutſche Staatsrecht (Neue
Ausgabe 1867) S. 379 fg.
2).
Auf die Austritts-Erklärung Preußens in der Sitzung der Bundesver-
ſamml. v. 14. Juni 1866 erwiderte das Präſidium: „Der deutſche Bund iſt
nach Art. I. der Bundesacte ein unauflöslicher Verein, auf deſſen ungeſchmä-
lerten Fortbeſtand das geſammte Deutſchland, ſowie jede ein-
zelne Bundesregierung ein Recht hat
, und nach Art. V. der
Wiener Schlußacte kann der Austritt aus dieſem Vereine keinem Mitgliede
deſſelben freiſtehen.“ Dies iſt im Weſentlichen richtig; abgeſehen davon, daß
„das geſammte Deutſchland“ kein ſtaatliches Gemeinweſen, überhaupt kein Rechts-
ſubject war und deshalb auch kein „Recht“ haben konnte; Rechte hatten nur
die einzelnen Bundesglieder. Das Gleiche gilt von dem „unveräußerlichen
und unverjährbaren Recht des deutſchen Volkes auf eine ganz Deutſch-
land umfaſſende politiſche Verbindung“, von welchem Zachariä in der Vor-
rede der 3ten Auflage (1866) ſeines deutſchen Staats- und Bundesrechts Bd. II.
ſpricht.
1).
Staatsarchiv XI. Nro. 2227.
2).
Wir entnehmen dieſe chronologiſche Zuſammenſtellung Schulze’s Ein-
leitung in das deutſche Staatsrecht. (Neue Ausg. 1867). S. 399 Note 3, dem
auch Thudichum, Verfaſſungsr. des Nordd. Bundes S. 3 folgt.
3).
Staatsarch. XI. 2364. Hahn S. 188. Glaſer S. 32.
1).
Staatsarch. XI. 2372. Hahn S. 198. Glaſer S. 41.
2).
Staatsarch. XI. 2374. Hahn S. 199. Glaſer S. 49.
3).
Staatsarch. XI. 2373. Hahn S. 200. Glaſer S. 44.
4).
Staatsarch. XI. 2375. Hahn S. 202. Glaſer S. 61.
5).
Staatsarch. XI. 2430. Glaſer S. 72.
6).
Staatsarch. XI. 2432. Glaſer S. 70.
7).
Staatsarch. XI. 2434. Hahn S. 205. Glaſer S. 52.
8).
Schon die Rede des Prinzen-Statthalters Heinrich bei Eröffnung der
Luxemburger Ständeverſammlung v. 29. Oktober 1866 ſprach die Anerkennung
der Auflöſung des deutſchen Bundes aus. Sie iſt auszugsweiſe abgedruckt im
StaatsarchivXII. 2449.
9).
Eine ernſthafte Unterſuchung, ob Liechtenſtein der Auflöſung des
deutſchen Bundes ein Veto entgegenzuſetzen berechtigt geweſen wäre, verbietet
1).
Die erſten elf Artikel wurden ſogar der Congreßakte ſelbſt einverleibt,
außerdem wurde die Bundesacte in ihrem vollſtändigen Umfange als Beilage
für einen Beſtandtheil der Wiener Congreßakte erklärt.
2).
Hahn, S. 586. Glaſer, Arch. I. 4. S. 125 ff.
9).
ſich von ſelbſt, da die Exiſtenz eines ſouverainen Gemeinweſens wie Liech-
tenſtein eine Ironie des Staatsbegriffes iſt. Für das juriſtiſche Gewiſſen aber,
welches für die Auflöſung des deutſchen Bundes Einſtimmigkeit erfordert,
mag es genügen, daß Liechtenſtein gegen die Auflöſung des Bundesverhält-
niſſes keinen Widerſpruch erhoben, ſich thatſächlich gefügt und in concludenter
Weiſe ſeine Einwilligung ſtillſchweigend erklärt hat.
1).
Vgl. H. Schulze, Einleitung S. 281 Note 10.
2).
So namentlich Zachariä in der angef. Vorrede S. IV. u. Schulze
a. a. O. S. 403. Im Weſentlichen auch v. Rönne Reichsverfaſſung S. 27.
u. Preuß. Staatsr. I. 2 S. 740 (3. Aufl.).
1).
Thudichum S. 6.
2).
Auszugsweiſe auch bei Hahn S. 60. Anm.
1).
Vergl. die Darſtellung des öſterreich. Reformprojekts und ſeines Schick-
ſals bei Schulze Einleitung S. 337 ff. und ebendaſelbſt (2. Ausg.) S. 406 ff.
die Erörterung über „die deutſche Politik des Grafen Bismarck 1862—1866.“
2).
Es mag hier daran erinnert werden, daß Fürſt Bismarck in der Sitzung
des Preuß. Abg.-Hauſes vom 13. Juni ausdrücklich erklärte, daß die Idee der
Annexion der Elbherzogth. hervorgerufen werde, „durch die Weigerung, Preußen
billige, ja im Intereſſe Deutſchlands ſogar ganz nothwendige
Zugeſtändniſſe zu machen“ und daß Preußen noch am 14. Juni 1866 den deutſchen
Staaten, welche ſich mit ihm zur Herſtellung einer deutſchen Verfaſſung ver-
1).
Hahn S. 37.
2).
Hahn S. 43 ff.
3).
Bemerkenswerth iſt folgende Stelle: „Wenn wir Deutſchlands nicht ſicher
ſind, iſt unſere Stellung gerade wegen unſerer geographiſchen Lage gefährdeter,
als die der meiſten andern europäiſchen Staaten; das Schickſal Preußens aber
wird das Schickſal Deutſchlands nach ſich ziehen, und wir zweifeln nicht, daß,
wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutſchland an der Politik der
europäiſchen Nationen nur noch paſſiv betheiligt bleiben würde. .... Wenn
der deutſche Bund in ſeiner jetzigen Geſtalt und mit ſeinen jetzigen politiſchen
und militäriſchen Einrichtungen den großen, europäiſchen Kriſen, die aus mehr
als einer Urſache jeden Augenblick auftauchen können, entgegen gehen ſoll, ſo
iſt nur zu ſehr zu befürchten, daß er ſeiner Aufgabe erliegen und Deutſch-
land vor dem Schickſale Polens nicht ſchützen werde
.“
4).
Hahn S. 60—65.
2).
einigen würden, die Integrität ihres Gebietes gewährleiſtete. Vgl. Hahn
S. 128 ff. Staatsarch. XI. Nr. 2322 und 2324. (An Hannover, Sachſen
und Kurheſſen gerichtete, ſogenannte Sommationen.)
1).
bei Hahn S. 67.
2).
Hahn S. 69.
1).
Hahn S. 123.
2).
Hahn S. 121. GlaſerI. 1. S. 29.
3).
d. h. Limburg; denn Luxemburg ſteht mit Holland nur in Perſonal-
1).
Hahn S. 126. Vgl. die Preuß. Proclamation „An das deutſche Volk“
vom 16. Juni 1866. (Hahn S. 134.)
3).
Union, iſt alſo kein niederländiſcher Landestheil. Daß die Abſicht Preußens
nur auf den Austritt Limburgs gerichtet war, ergiebt ſich auch aus der, dem
Art. I. beigefügten Parentheſe: „Für dieſe iſt der Austritt aus dem Bunde
ſchon vor Kurzem beantragt worden“, was ſich nur auf Limburg beziehen
konnte. Siehe oben S. 5.
1).
Die Provinzial-Correſpondenz vom 5. Sept. 1866 ſagt: „Mit
Recht erkennen erleuchtete deutſche Patrioten vom national-deutſchen, wie vom
Preußiſchen Standpunkte in dem Artikel des Friedensvertrages, durch welchen
eine neue Geſtaltung Deutſchlands ohne Betheiligung des öſterreichiſchen Kaiſer-
ſtaates anerkannt iſt, die höchſte Errungenſchaft, den edelſten Siegespreis der
Preußiſchen Waffen.“ Vergl. Herm. Schulze, die Friedensbeſtimmungen in
ihrem Verhältniß zur Neugeſtaltung Deutſchlands. Breslau 1866.
2).
Vgl. Nikolsb. Fr. Art. V. und Prager Frieden Art. VI. Ver-
ſprechen Preußens, den Territorialbeſtand Sachſens zu erhalten. „Dagegen
verſpricht S. Majeſtät der Kaiſer von Oeſterreich, die von S. Majeſtät dem
Könige von Preußen in Norddeutſchland herzuſtellenden neuen Einrichtungen,
einſchließlich der Territorial-Veränderungen, anzuerkennen.“
3).
Vergl. über die Bedeutung dieſes 4. Satzes Aegidi, die völkerrechtl.
Grundlagen einer neuen Geſtaltung Deutſchlands, in der Zeitſchrift für
deutſches Staatsrecht. 1867. S. 522 ff. und Römer Verf. des nordd. Bundes
(Tübingen 1867) S. 68 ff.
1).
Hahn S. 462.
2).
Hahn S. 463. GlaſerI, 1. S. 78.
3).
Hahn S. 464. Glaſer S. 79.
4).
Staatsarchiv XI. 2430. Glaſer S. 72.
5).
Staatsarch. XI. 2432. Glaſer S. 70.
6).
Staatsarch. XI. 2434. Glaſer S. 52.
7).
Staatsarch. XI. 2375. Glaſer S. 61.
1).
Art. 2. „Der Zweck des Bundes iſt Erhaltung der äußeren und in-
neren Sicherheit Deutſchlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit
der einzelnen deutſchen Staaten.“ Art. 6 erwähnt „gemeinnützige Anordnungen.“
2).
Vgl. die Rede des Fürſten Bismarck in der Reichstags-Sitzung vom
4. März 1867. (Sten. Ber. S. 41.)
1).
Hänel Studien zum deutſchen Staatsrechte. Leipzig 1873. I. S. 69 fg.
1).
Vgl. die Rede des Fürſten Bismarck in der Sitzung des Preuß. Abg.-
Hauſes vom 12. September 1866.
2).
Vgl. den Commiſſionsbericht des Abg.-Hauſes (Berichterſtatter Tweſten)
v. 4. Sept. 1866. (auch bei Hahn S. 467 ff.)
3).
Vgl. die Erklärung des Regierungs-Commiſſars im Herrenhauſe vom
17. September 1866. Auch bei Hahn S. 478.
4).
Preuß. Geſetz S. 1866. S. 735. 738. 891. 895.
1).
Eine vollſtändige Sammlung aller dieſer Wahlgeſetze und der zu ihrer
Ausführung ergangenen Verordnungen und Reglements enthält das 2. Heft
des I. Bandes von Glaſer’s Archiv des Nordd. Bundes.
2).
Veröffentlicht zuerſt von Hänel in den Studien zum deutſchen Staats-
recht (Leipzig 1873) I. S. 270 ff.; über den Entwurf brachte aber bereits die Pro-
vinzial-Correſpondenz vom 19. Dezember 1866 ausführliche Mittheilungen.
Vgl. Hahn S. 483—485.
3).
Stenogr. Berichte des verfaſſungber. Reichstags. Anlage Nr. 8.
und 10. Hahn S. 486. Glaſer I, 3. S. 1. Staatsarchiv XII. 2725 (S. 353).
1).
Stenograph. Berichte des verf. Reichstags. Anlagen S. 19. Hahn
S. 487. GlaſerI, 3. S. 6. Staatsarch. XII. S. 357.
2).
Außerdem gaben beide Mecklenburg noch eine Erklärung ab in Be-
ziehung auf die Uebergangs-Beſtimmungen, welche hinſichtlich des Einſchluſſes
dieſer Staaten in die Zollgränze u. ſ. w. erforderlich wären.
3).
Stenogr. Berichte Anlagen S. 21. GlaſerI. 3. S. 10. Hahn
488. Staatsarch. XII. S. 358.
1).
Vgl. Stenogr. Berichte a. a. O. S. 22.
2).
Stenogr. Berichte a. a. O. S. 23. GlaſerI. 3. S. 15. Hahn
489. StaatsarchivXII. S. 359.
3).
Derartige Vorbehalte und Erklärungen gaben ab: Heſſen wegen
Kaſtel und Koſtheim, wegen des Waaren-Verkehrs mit Südheſſen, wegen Ver-
theilung der Poſtüberſchüſſe, wegen einer Militär-Convention; Mecklenburg
wegen einer Entſchädigung für Aufhebung des Elbzolles, wegen des Mecklenb.-
Franzöſ. Handelsvertrages, wegen des Fahnen-Eides; Braunſchweig wegen
des Dislocationsrechts des Bundesfeldherrn; die meiſten thüringiſchen
Staaten
wegen der Militairlaſten; die Hanſeſtädte wegen des Averſums,
der Bundesflagge und des Conſulatsweſens, der Koſten der Lokal-Poſt-Ein-
richtungen.
4).
Beſonders Oldenburg und Sachſen-Coburg-Gotha, welche
ein Oberhaus, Bundesminiſterien, Vereinbarung des Militair-Etats ſtatt des
Pauſchquantums und ein Bundesgericht wünſchten.
5).
Namentlich über die Bedeutung des Wortes „Bevölkerung“ in Art. 57
(Sachſen und die Hanſeſtädte) und über die Fortdauer der Auſträgalgerichte
trotz Art. 68 (Heſſen und Hamburg.)
1).
Erklärung des Fürſten Bismarck v. 11. März 1867. Stenogr. Berichte
S. 135.
2).
Fürſt Bismarck gab in der Sitzung vom 15. April 1867 (Stenogr.
Berichte S. 695) eine Ueberſicht der etwa 40 Punkte, in denen der Reichstag
Abänderungen beſchloſſen hatte und erklärte, daß die Regierungen darin „zum
Theil zweifelloſe Verbeſſerungen erkannt haben“, während ihnen bei einem
andern Theile „die Annahme nicht leicht geworden.“ — Eine erhebliche Diffe-
renz blieb nur beſtehen hinſichtlich der Sicherſtellung der Heereseinrichtungen
und der Bewilligung von Diäten. In Beziehung auf den erſten Punkt einigte
man ſich über eine temporäre Fixirung des Präſenzſtandes mit einem Pauſch-
quantum, in dem zweiten Punkt gab der Reichstag nach.
3).
Darunter 11 Polen und — — 5 Abgeordnete der Stadt Berlin!!
(Hahn S. 599).
4).
Das Protokoll iſt dem Reichstag am 17. April 1866 mitgetheilt worden.
(Stenogr. Berichte S. 731.) Noch an demſelben Tage wurde der Reichstag
mit einer Thronrede geſchloſſen, welche dem Gefühle aufrichtiger Genugthuung
über das Zuſtandekommen des nationalen Werkes beredten Ausdruck gab.
1).
Voraus war die landſtändiſche Genehmigung ertheilt worden in Braun-
ſchweig und Bremen.
2).
Sämmtliche Publikations-Patente ſind abgedruckt in Glaſer’s Archiv
des Nordd. Bundes I. Heft 4. S. 117 ff.
1).
Dieſe Klauſel fehlt nur in dem Braunſchweigiſchen Patent vom
15. Juni 1867, welches ſich auf die bloße „Verkündigung zur Nachachtung“
beſchränkt. (Siehe S. 26. Note 1).
2).
Commentar z. Verf.-Urkunde S. 5 fg.
3).
Einigen Publikationspatenten liegt dieſelbe Rechts-Anſchauung
zu Grunde; ſo wurde die Verf. in Oldenburg verkündet „als Geſetz für das
Großherzogthum“, in Schwarzburg-Rudolſtadt „als Landesgeſetz“;
das Lübecker Patent erwähnt die Zuſtimmung der [Bürgerſchaft] „zu deren
geſetzlicher Geltung für den Lübeckiſchen Freiſtaat.“ Auch H. Schulze Ein-
leitung S. 473 nimmt an, daß „die Bundesverfaſſung durch die Pu-
blikation Landesgeſetz und integrirender Theil der Landesverfaſſung
geworden iſt.“
1).
Dies iſt in der That der Fall, indem die Verfaſſung die Competenz
des Bundes viel weiter beſtimmt als dies die Grundzüge v. 10. Juni 1866
thaten. Dies hob ſchon bei den Berathungen der Bevollmächtigten der Ver-
treter Hamburgs in Beziehung auf die Flagge der Handelsſchiffe hervor. Vgl.
die Anlage vom 15. Januar zu dem Schlußprotokoll vom 7. Februar 1867.
(Stenogr. Berichte des verfaſſ. Reichst. Anlagen S. 26. Glaſer I, 3 S. 22.
Staatsarchiv XII. S. 366.)
1).
Die meiſten Publikationspatente erwähnen dieſe Folge als ſelbſt-
verſtändlich gar nicht; diejenigen, welche darauf hinweiſen, nämlich die von
Weimar und Schwarzburg-Sondershauſen, erklären, daß „durch dieſe Ver-
faſſung
die beſtehenden Landesgeſetze ..... als abgeändert zu betrachten
ſind.“
1).
Nach Hänel S. 77 trat erſt am 26. Juli 1867 durch das Publikan-
dum des Königs von Preußen der neue Bund an die Stelle des Bündnißver-
trages vom 18. Auguſt 1866; der Nordd. Bund datirt erſt vom 26. Juli 1867.
Dagegen die Aufhebung der partikulären Landesverfaſſungs-Rechtsſätze, welche
mit der Nordd. Bundesverfaſſung collidirten, trat am 1. Juli 1867 ein; ſo
daß ein Zwiſchenraum von 26 Tagen bleibt.
2).
Auch in der Preuß. Thronrede vom 24. Juni 1867 wird dies ange-
deutet: „Durch die Zuſtimmung der Preuß. Landesvertre-
tung zur Errichtung des Nordd. Bundes
ſind nunmehr alle Vor-
bedingungen für die Geltung der Verfaſſung deſſelben — in Preußen erfüllt.
1).
Vgl. auch G. Meyer Staatsr. Erörterungen S. 60. 61.
2).
Thudichum S. 51 conſtruirt die Entſtehung des Nordd. Bundes in
anderer Art. Er ſagt: „Dieſer Bundesſtaat iſt am 1. Juli 1867 ins Leben
getreten vermöge Vereinbarung aller betheiligten Regierungen mit dem aus
allgemeinen directen Wahlen hervorgegangenen Reichstag des Bundes, eine
Vereinbarung, welche für jedes Bundesland ihre beſondere Gültigkeit erlangt
hat durch die verfaſſungsmäßige Zuſtimmung der Landesvertretung deſſelben
und die Verkündigung im Landesgeſetzblatt.“ Dies beruht auf einem höchſt
ſonderbaren Mißverſtändniß. Darnach ſoll nämlich der Norddeutſche Bund
beruhen auf einer Vereinbarung, welche zwiſchen den verbündeten Regierungen
einerſeits und dem berathenden Reichstage andererſeits zu Stande gekommen
iſt. Der Reichstag aber konnte nicht contrahiren, er war kein Rechtsſubject,
er vertrat keinen Staat, er vertrat nicht einmal im eigentlichen Sinne des
Staatsrechts das Volk; denn eine ſtaatsrechtlich wirkſame Vertretung des
Volkes ſetzt die ſtaatliche Organiſation deſſelben ſchon voraus. Politiſch
kam dem berathenden Reichstage die Autorität eines Parlaments im vollſten
1).
Von den zahlloſen verläumderiſchen Vorwürfen, mit denen die Preu-
ßiſche Politik von 1866 überſchüttet wurde, iſt keiner von der Wahrheit weiter
entfernt, als der, daß die Mainlinie eine Zerreißung Deutſchlands bewirkt
habe; ſie bedeutete nur einen graduellen Unterſchied in der Vereinigung
Deutſchlands, in dem die Staaten nördlich des Mains enger unter einander
verbunden waren, als mit den Staaten ſüdlich des Mains und dieſe unter
ſich. Im Vergleich zu dem, was der Deutſche Bund gewährte, war auch dieſe
weniger enge Verbindung ein unermeßlicher Fortſchritt.
2).
Maaße zu; rechtlich war er nur eine Verſammlung, vom Volke gewählter
politiſcher Vertrauensmänner oder Sachverſtändiger, welche über den von den
verbündeten Regierungen vorgelegten Verfaſſungsentwurf ein Gutachten abzu-
geben hatte. Die „Vereinbarung“ zwiſchen den Bundesregierungen und dem
Reichstage war nur die Ausgleichung der Anſichten über die dem Bunde
zu gebende Verfaſſung, welche aber allerdings für die Erfüllung des Auguſt-
bündniſſes eine weſentliche Vorausſetzung war. Eine Vereinbarung im Sinne
des Vertrages ſchloſſen lediglich die Regierungen unter einander. In derſelben
Richtung wie Thudichum argumentirt Weſterkamp S. 21 u. 28; er
nimmt aber 3 Klaſſen von „Kontrahenten bei der Norddeutſchen Bundesver-
faſſung“ an, nämlich „1. die Fürſten und die freien Städte. 2. die Bevöl-
kerungen der einzelnen Staaten, repräſentirt durch ihre geſetzlichen Vertreter;
3. das Norddeutſche Volk in ſeiner Geſammtheit, repräſentirt durch den kon-
ſtituirenden Reichstag.“ Richtig betont die blos berathende Function des
Reichstages G. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen S. 57 Note 3; eine
entgegengeſetzte Theorie verſucht HänelI. S. 71 zu begründen.
1).
Sie tragen, mit Ausnahme des Heſſiſchen, daſſelbe Datum, wie die be-
treffenden Friedensverträge, wurden zunächſt aber geheim gehalten und erſt im
April 1867 veröffentlicht. Ihr Wortlaut iſt gedruckt bei Hahn S. 212;
GlaſerI, 3 S. 39 fg. 53. StaatsarchivXII, 2734. Sie wurden in den
ſüddeutſchen Staaten, außer in Bayern, den Landtagen zur Genehmigung vor-
gelegt und dieſe wurde ihnen überall ertheilt. Siehe die näheren Angaben
bei Thudichum S. 29. 30.
2).
Die Vereinbarung iſt gedruckt bei GlaſerI, 3 S. 42 und im Staats-
archiv XII, 2733.
1).
Beide Urkunden ſind gedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1579 ff.
2).
Vgl. den Bericht der vereinigten Ausſchüſſe für Zoll- und Steuerweſen
und für Handel und Verkehr des Nordd. Bundesrathes v. 24. Auguſt 1867.
(Hirth’s Annalen 1868 S. 1 ff.) und Thudichum a. a. O. S. 39 fg.
3).
Ausdrücklich iſt dies vereinbart im Friedensſchluß mit Bayern Art. 8
und mit Heſſen Art. 8.
4).
Stenogr. Berichte des verfaſſ. Reichst. S. 685.
1).
Bundesgeſ.-Bl. 1870 S. 650.
1).
ebendaſ. S. 627.
2).
Bundes-Geſ.-Bl. 1870 S. 654.
3).
Bundes-Geſ.-Bl. 1870 S. 657.
4).
Bundes-Geſ.-Bl. 1870 S. 658.
1).
Reichs-Geſ.-Bl. 1871 S. 9.
2).
Der Vertrag mit Württemberg iſt zwei Tage ſpäter unterzeichnet
worden.
3).
Reichs-Geſ.-Bl. 1871 S. 23.
1).
Vgl. die Stenogr. Ber. des Nordd. Reichstages vom 5., 8. u. 9. De-
zember 1870 S. 76. 150. 167.
2).
Vgl. Auerbach S. 56. 59 fg. Meyer Erörterungen S. 61. Hä-
nel
S. 82. v. Mohl S. 51. Anderer Anſicht iſt nur Riedel S. 77.
1).
Siehe oben S. 27 ff.
2).
Badiſches u. Heſſiſches Regierungsblatt v. 31. Dezem-
ber 1870. Württemberg Regierungsbl. 1871 Nr. 1. Bayeriſches
Geſetzbl
. 1871 Nr. 22 S. 149. In den 3 erſten Staaten wurde dann noch
beſonders der Bayeriſche Vertrag verkündigt. Vgl. Thudichum in v. Hol-
zendorffs Jahrb. I S. 5 Note 2.
3).
Der Reichstag nahm an dem Vertrage mit Bayern drei unerhebliche
Faſſungs-Aenderungen vor, welche ſowohl vom Bundesrath und von Bayern
als auch von den anderen ſüddeutſchen Staaten acceptirt wurden.
1).
Die Vorlage der Verträge, ſowie die nachträgliche Aenderung derſelben
durch Aufnahme der Worte „Kaiſer“ und „Reich“ wurde als Geſetzes-
Vorlage behandelt, d. h. einer dreimaligen Berathung unterzogen. Vgl. auch
die Bemerkung des Präſidenten Simſon Stenogr. Ber. des II. außer-
ordentl. Reichst. 1870 S. 151.
1).
Vgl. Verhandlungen des Reichstages 1871 Stenogr. Berichte S. 787 ff.
Thudichum in Holzendorff’s Jahrb. I. 1 S. 5. v. Rönne S. 25. Rie-
del
S. 4.
1).
So Hänel S. 87—90 und die meiſten Schriftſteller.
1).
Reichstag 1871. Druckſachen Nr. 4.
2).
Vgl. Hänel Studien I. S. 89.
1).
R.-G.-Bl. 1871 S. 215 fg.
2).
Der Beitritt der ſüddeutſchen Bevollmächtigten zu dem Vertrage wird
in einer Schlußbemerkung zu demſelben damit motivirt, „daß die Königreiche
Bayern und Württemberg und das Großherzogthum Baden als Verbün-
dete Preußens
an dem gegenwärtigen Kriege theilgenommen haben und
jetzt zum Deutſchen Reiche gehören.“
3).
R.-G.-Bl. 1871 S. 223 fg.
4).
R.-G.-Bl. 1871 S. 237.
1).
R.-G.-Bl. 1871 S. 238 fg.
2).
R.-G.-Bl. 1871 S. 240.
3).
R.-G.-Bl. 1871 S. 367. 368. Vgl. auch die von der Grenzregulirungs-
Kommiſſion vereinbarten Conventionen vom 24/27 und 28/31. Auguſt 1872
im Geſetzbl. f. Elſaß-Lothringen 1873 S. 283. 287.
4).
R.-G.-Bl. 1871 S. 212.
5).
R.-G..Bl. 1872 S. 208.
1).
Geſetzbl. f. Elſaß-Lothr. 1871 S. 247.
2).
ebendaſ. S. 347.
3).
ebendaſ. S. 371.
4).
vgl. Geſ. v. 3. Juli 1871 § 2 (ebendaſ. S. 2). Die Muſterung begann
aber erſt im Oktober 1872.
5).
ebendaſ. 1872 S. 83 fg.
6).
R.-G.-Bl. 1873 S. 161. Geſ. Bl. f. Elſ.-Lothr. S. 131.
7).
Die durch Geſ. v. 20. Dez. 1873 erfolgte Abänderung des Art. 4 Nr.
13 der Verf. konnte natürlich nicht berückſichtigt werden. Eine beſondere Pu-
blikation dieſes Geſetzes für Elſaß-Lothringen hat damals nicht ſtattgefunden;
die am 20. Dez. 1873 im Reichsgeſetzblatt erfolgte hatte für Elſaß-Lothringen
keine ſtaatsrechtliche Wirkung, da Art. 2 der Reichsverf. daſelbſt erſt am 1.
Januar 1874 in Geltung trat. So ergab ſich das ſonderbare Reſultat, daß
die durch Geſ. v. 20. Dezember 1873 feſtgeſtellte Abänderung des Textes der
Reichsverfaſſung in Elſaß-Lothringen keine geſetzliche Kraft erlangt hatte. Erſt
1).
Geſ. v. 25. Juni 1873 § 8.
7).
durch das Geſ. v. 8. Febr. 1875 (Geſetzbl. f. Elſ.-Lothr. S. 9) iſt das Verſe-
hen beſeitigt worden.
1).
Sehr treffend äußert ſich bereits Welcker wichtige Urkunden für den
Rechtszuſtand der Deutſchen Nation 1844 S. 43 über die logiſche Unmöglich-
keit einer Miſchung von Bundesſtaat und Staatenbund. Dagegen wirft Gro-
1).
Ganz abweichend iſt die Auffaſſung Hänel’s. Er ſagt, Studien I.
S. 42: „Auch der Staatenbund iſt juriſtiſche Perſon,“ gleichzeitig aber ſoll er
„ein vertragsmäßiges Verhältniß der Einzelſtaaten unter einander darſtellen.“
2).
Ueber die Perſönlichkeit des Staates als den Ausgangspunkt für die
juriſtiſche Behandlung des Staatsrechts iſt auf die vortrefflichen Ausfüh-
1).
tefend Deutſches Staatsrecht § 18. 19 bei ſeiner Charakteriſirung des Nord-
deutſchen Bundes beide Begriffe völlig durcheinander. Nach ihm „haben die
Bundesſtaaten ſich nur verpflichtet, gewiſſe Angelegenheiten des öffentlichen
Lebens gemeinſam regeln zu wollen,“ deſſenungeachtet ſei dieſer Bund „ein
wirklicher Bundesſtaat mit durchaus ſtaatlichem Charakter;“ und
doch wird dann hinzugefügt: „allein es iſt dieſer Bundesſtaat kein wirklicher
Staat.“
1).
Aufgeführt ſind dieſe Schriftſteller bei G. Meyer Erörterungen S. 81
2).
rungen v. Gerber’s Grundzüge S. 2 u. S. 219 fg. (Beilage II) hinzu-
weiſen.
1).
Seydel Kommentar S. 8.
2).
a. a. O. S. 9 fg.
1).
und Brie Bundesſtaat I S. 81 fg. Hinzuzufügen iſt noch Koller Verf.
des D. R. S 76 ff.
1).
In dieſer Hinſicht ſtimmt mit Seydel überein G. Meyer Staatsrechtl.
Erörterungen S. 56 ff.
2).
Studien zum Deutſchen Staatsrechte I S. 31 fg. 68 fg.
3).
Hänel S. 32 fg. beſonders S. 34.
4).
Vgl. oben S. 17 ff. 30.
5).
Logiſch ungenau iſt die Ausdrucksweiſe v. Rönne’s S. 36: „der
Vertrag der Deutſchen Staaten hat .... die rechtliche Natur einer
paktirten Verfaſſung erhalten, wodurch die Vertragseigenſchaft in die
zweite Linie getreten iſt.“ Der Vertrag kann nicht die Natur einer Ver-
faſſung erhalten; der Bund kann nicht in erſter Linie Staatseigenſchaft und
in zweiter Linie Vertragseigenſchaft haben. Das vertragsmäßige Verhält-
niß
(nicht der Vertrag ſelbſt) hat vielmehr durch Erfüllung aufgehört. Vgl.
Seydel S. 6.
6).
a. a. O. S. 5.
1).
Vgl. Hänel S. 69 ff. und oben S. 19. 26.
2).
Siehe oben S. 43.
3).
Hänel S. 79 fg.
4).
Hänel S. 89. Siehe oben S. 49. 50.
5).
v. Mohl Reichsſtaatsrecht S. 49.
1).
Siehe den folgenden Paragraphen.
2).
Zahlreiche, leicht zu vermehrende Belege giebt Brie S. 28 fg. (Note
17—26). Für die ältere Zeit iſt auch zu vergleichen LimnänsJus public.
imp. Rom. I, 1, 10. I, 7, 65 sqq. IV,
7 u. a. In der doctrinären Termi-
nologie des Reichsrechts wird der Ausdruck status urſprünglich grade im Ge-
genſatz zu der ſouveränen Reichsgewalt gebraucht.
1).
v. Mohl Encyclop. der Staatswiſſenſch. (2. Aufl.) S. 86: „Unrichtig
iſt die Forderung der Souveränetät, wenn darunter vollſtändige Unabhängig-
keit von äußeren Einflüſſen verſtanden ſein ſoll.... Die tägliche Erfahrung
zeigt, daß es politiſche Geſtaltungen giebt, welche in jeder Beziehung die Auf-
gabe eines Staates erfüllen und die Rechte eines ſolchen ausüben, aber doch
nicht ganz unabhängig von einer außer ihnen ſtehenden Gewalt ſind. Sol-
chen Verbindungen iſt die Bezeichnung als Staat niemals
verweigert worden
.“ — Auch v. Gerber Grundz. S. 22 rechnet die
Souveränetät nicht zu den weſentlichen Merkmalen des Staatsbegriffes,
trotzdem er in der Regel als ein Vertreter dieſer Anſicht citirt wird. Er ſagt
nur: „Soll die Staatsgewalt ganz ihrer Idee entſprechen .... ſo muß
ſie ſouverän ſein“ und in der Anm. 5 fügt er erläuternd hinzu: „Souveräne-
tät iſt nicht ſelbſt Staatsgewalt, ſondern bezeichnet nur eine Eigenſchaft der
vollkommenen Staatsgewalt.“ Er giebt daher die Exiſtenz einer unvoll-
kommenen, nicht ſouveränen Staatsgewalt zu. Am beſtimmteſten erklärt ſich
G. Meyer, Erörterungen S. 4 fg., gegen das Erforderniß der Souveräne-
tät. Vgl. auch v. Pözl im Staatswörterbuch von Bluntſchli und Brater II.
S. 285. Hartmann Inſtitutionen des Völkerrechts S. 23.
1).
Auch die Frankfurter Reichsverf., die doch unzweifelhaft die Cen-
tralgewalt mit der Souveränetät ausſtatten wollte, ſpricht von den „einzelnen
Deutſchen Staaten“ z. B. § 5. 12. 13. 17. 186 und oft.
2).
Der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 nennt im Art. 7 den
Bundesrath des Zollvereins „das gemeinſchaftliche Organ der Regierungen“ und
das Zollparlament „die gemeinſchaftliche Vertretung der Bevölkerungen.“ In
dem entſprechenden Art. 5 der Nordd. Bundesverf. und der jetzigen Reichsverf.
fehlen dieſe Charakteriſirungen, welche den Zweck hatten, die vertragsmäßige
Natur des Zollvereins im Gegenſatz zu einem ſtaatlichen Organismus her-
vorzuheben.
1).
Siehe unten §. 33
2).
Während z. B. im Zollverein die Vereinsbevollmächtigten und Kon-
trolleure „Beamte der einzelnen Vereinsſtaaten“ waren, die nur für gemein-
ſame Zwecke vom Präſidium verwendet wurden. Vgl. Zollvereinsvertr. vom
8. Juli 1867. Schlußprotokoll Ziff. 15 Abſ. 1 zum Art. 20.
1).
Reichsbeamtengeſetz § 80 ff.
2).
Reichsbeamtengeſetz § 151.
3).
Reichsbeamtengeſetz § 30. 46. 52 Z. 3. 57 Z. 2 u. a.
4).
Wäre das Reichs-Oberhandelsgericht ein gemeinſchaftliches Gericht der
Deutſchen Staaten, wie das Ober-Appell.-Gericht zu Jena es für die thürin-
giſchen Staaten iſt, ſo müßte es in jeder Sache im Namen desjenigen Sou-
veräns erkennen, deſſen Gerichte in den Vorinſtanzen erkannt haben.
5).
Art. 2 und Art. 5 ſprechen zwar von der Ausübung der Ge-
ſetzgebung, aber nur um die Wirkungen und die Art des Zuſtandekommens
der Reichsgeſetze zu beſtimmen. Nach Art. 4 u. 35 hat das Reich die „Geſetz-
gebung,“ nach Art. 50 gehört dem Kaiſer die obere Leitung der Poſt- und
Telegraphen-Verwaltung an. Vgl. Hänel Studien I. S. 52.
1).
Hänel a. a. O.
2).
Vgl. über dieſe Befugniß des Reiches, die demſelben eine Zeit lang
beſtritten worden iſt, unten bei der Lehre von der Reichsgeſetzgebung.
1).
Nach v. Mohl Reichsſtaatsrecht S. 43. 44 beſteht eine derartige Ver-
faſſung in Japan.
1).
Vgl. über den Gegenſatz des Bundesverhältniſſes und des Suzeräne-
tätsverhältniſſes Heffter, Europ. Völkerr. § 19. 20. Meyer, Erörter.
S. 11.
1).
Ueber die Dogmengeſchichte des Bundesſtaatsbegriffes vgl. Brie der
Bundesſtaat I. Abtheilung. Leipzig 1874.
2).
v. Mohl Encycl. (2. Aufl.) S. 367 ſagt zwar: „Es beſteht für die
Gliedſtaaten keine beſchränkte, ſondern eine getheilte Souveräne-
tät,“ aber er ſagt nicht, wie man ſich eine Theilung der Souveränetät ohne
Beſchränkung denken könne. Waitz S. 166 ſagt: „Nur der Umfang nicht
der Inhalt der Souveränetät iſt beſchränkt;“ aber er ſagt nicht, wodurch
ſich eine Beſchränkung des Umfangs von einer Beſchränkung des Inhalts un-
terſcheide; eine Souveränetät von beſchränktem Umfang hat doch auch einen
beſchränkten Inhalt.
1).
Verf. des Deutſchen Reichs. Leipzig 1872 S. 19. 22 ff. Vgl. Held
Syſtem des Verfaſſungsrechtes I. 392 fg. und dazu Brie 145.
2).
Sehr gut äußert ſich darüber v. Held 163.
1).
Meyer nimmt zwar die Reſervatrechte aus und erklärt hinſichtlich
dieſer die Einzelſtaaten für ſouverän; indeß wird hier der Begriff der
Souveränetät verwechſelt mit der Zuſicherung der Unentziehbarkeit eines Rechts.
1).
Waitz Polit. S. 186 ff. vgl. Brie 110.
2).
Vgl. auch H. Schulze Einleitung in das Deutſche Staatsr. 206.
3).
Waitz S. 213. Vgl. Brie 117.
4).
Richtig ſagt ſchon Welcker, Wichtige Urkunden für den Rechts-
zuſtand der Deutſchen Nation 1844 S. 36: „Die Natur des Bundesſtaates
beſteht darin, daß er ſeiner rechtlichen Weſenheit nach noch ein
ſtaatsrechtlicher Verein von Staaten, ein Staat in höherer
Inſtanz oder ein Oberſtaat iſt
.“ In dieſem Sinne ſchreibt er den
Gliedſtaaten S. 38: „eine beſchränkte, eine halbe Souveränetät“ d. h.
gar keine Souveränetät zu.
5).
Hierher gehören Zachariä, Pözl, Eſcher. Ferner Zöpfl,
Meyer, v. Mohl
. Nachweiſungen giebt Brie I. S. 133 Note 60. 134 Note
70. 136 fg. 143 Note 118. 144 Note 122. 163 Note 18. Am beſtimmte-
ſten äußert ſich Stahl in ſeiner Abhandlung über „Die Deutſche Reichsver-
faſſung.“ Berlin 1849 S. 78: „Im Bundesſtaat iſt die Souveränetät bei der
Centralgewalt, dieſe iſt daher eine obrigkeitliche Gewalt über die
1).
Ganz in derſelben Weiſe erklärt Zachariä „die Verf.-Aender. nach
Art. 78“ S. 19 den Nordd. Bund, „trotzdem er nicht vollſtändig und nicht rein
die Prinzipien des Bundesſtaats verwirklicht,“ deshalb für einen Bundesſtaat,
weil er die Befugniß hat, für die Glieder (Individuen) unmittelbar verbind-
liches Recht zu ſchaffen.
5).
Einzelſtaaten und deren Regierungen, wenn dieſen auch eine große Sphäre
der Selbſtſtändigkeit belaſſen iſt.“
1).
Encycl. der Staatsw. 376 Note 9 (2. Aufl.) Reichsſtaatsr. S. 29 Note 1.
2).
Encycl. der Rechtsw. (2. Aufl.) I. 792. Vgl. Brie 174.
1).
Auch das Verbot der Schuldhaft, der Beſchlagnahme von Arbeitslöh-
nen, das Rechtshülfe-Geſetz, die Gewerbe-Ordnung, das Geſetz über Erwerb
und Verluſt der Staatsangehörigkeit und zahlreiche andere Geſetze ſind ganz
oder theilweiſe Rechtsnormen für die Staaten.
1).
Dies iſt wol auch die Auffaſſung Welcker’s a. a. O. S. 37.
1).
Politik S. 173 fg.
2).
Nachweiſungen aus der Literatur in großer Zahl bei Brie S. 175 ff.
3).
Vgl. oben S. 72. Auch in der Schweizer-Verf. v. 1848, auf welche
man ſich gewöhnlich für die entgegengeſetzte Anſicht beruft, ſind die Kantone
1).
Welcker, a. a. O., welcher Bundesſtaat und zuſammengeſetzten Staat
identifizirt, erachtet S. 41. 42 einen Bundesrath oder einen Senat zwar für
erforderlich, aber mehr aus politiſchen, als begrifflichen Gründen.
2).
Rüttimann Nordamerik. Bundesſtaatsr. I. § 54 S. 49 drückt die
herrſchende Vorſtellung am ſchärfſten aus, in dem er ſagt: „Jeder Theil bewegt
ſich in der ihm zugewieſenen Sphäre mit der gleichen Freiheit, wie wenn der
andere Theil gar nicht vorhanden wäre.“ (!)
3).
Eine ähnliche Auffaſſung entwickelt Fricker in der Tübinger Zeit-
ſchrift für die geſammte Staatswiſſ. Bd. 28 S. 351 ff.
3).
an der Bundesgewalt betheiltigt, indem nach Art. 69 der Ständerath aus 44
Abgeordneten der Kantone beſteht, von denen jeder Kanton 2 Abgeordnete
wählt und nach Art. 114 eine revidirte Bundesverf. Kraft erlangt, wenn ſie
nicht nur von der Mehrheit der ſtimmenden Schweizerbürger, ſondern von der
Mehrheit der Kantone angenommen iſt. Desgl. nach der Verfaſſung
der Vereinigten Staaten, Sect. 3 Art. 1, indem der Senat aus zwei Depu-
tirten eines jeden Staates zuſammengeſetzt iſt.
1).
Neuerdings hat auch von Treitſchke in einer Abhandlung in den
Preuß. Jahrb. Novemb. 1874 (Bd. 34 S. 513) ſich von der herrſchenden
Anſicht über den Begriff des Bundesſtaates losgeſagt und anerkannt, daß die
Souveränetät allein und ungetheilt dem Geſammtſtaat, nicht den Gliedſtaaten
zuſteht. Seine Ausführungen, die übrigens mehr auf hiſtoriſchen und politi-
ſchen Erwägungen, als auf juriſtiſchen Deduktionen beruhen, beziehen ſich aber
vorzugsweiſe auf den Nordamerikaniſchen und Schweizeriſchen Bundesſtaat.
Für Deutſchland verſucht v. Treitſchke den Begriff des Reiches im Gegenſatz
zum Bundesſtaat zu conſtruiren und dieſen Gegenſatz findet er in der prä-
valirenden Macht Preußens und der monarchiſchen Spitze des Reiches in dem
Könige von Preußen als Kaiſer. So wenig verkannt werden kann, von wie
überaus großer Bedeutung dieſe Thatſachen in politiſcher Hinſicht ſind und dem
Deutſchen Reiche für alle ſeine Lebensfunktionen einen Charakter aufprägen,
der von der Vereinigung der Nordamerikaniſchen Staaten und Schweizeriſchen
Kantone weit verſchieden iſt, ſo iſt doch für die ſtaatsrechtliche Betrachtung
feſtzuhalten, daß der Kaiſer nicht Souverän, nicht Monarch des Reiches iſt.
1).
So ſagt z. B. Seydel Comment. S. 99. „Der Staat iſt der Gegen-
ſtand der Souveränetät.“
2).
Für die Begründung der Staatsſouveränetät in dem entwickelten Sinne
ſind zu vgl. Zachariä Deutſch. Staatsr. I. § 18. Schulze Einleitung in
das Deutſche Staatsr. § 49. 53. Bluntſchli Allgem. Staatsr. II. S. 10 fg.
v. Mohl Encyclopäd. (2. Aufl.) S. 116 u. beſonders v. Gerber Grundzüge
§ 7 Note 1 und S. 219 ff. (Beilage II.) Abweichender Anſicht iſt namentlich
ZöpflI. § 54.
3).
So v. Gerber S. 244. Nur nimmt er, ſeinem Begriffe des Bundes-
1).
So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des
Reiches mit der Zuſammenlegung mehrerer, verſchiedenen Perſonen gehörigen
Grundſtücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht.
3).
ſtaates gemäß, als Grundlage „das in den Einzelſtaaten gruppirte (Nord)-
Deutſche Volk an.“ Nach unſerer Auffaſſung iſt das deutſche Volk allerdings
das letzte natürliche Subſtrat, jedoch zunächſt und unmittelbar nur für die
Einzelſtaaten und erſt dieſe, als öffentlichrechtliche Perſonen ſind das Subſtrat
des Reiches. An v. Gerber ſchließt ſich faſt wörtlich an v. Rönne S. 29,
jedoch mit dem komiſchen Mißverſtändniß, daß er die Einzelſtaaten des Reiches
„als natürliche Grundlage des Deutſchen Volkes“ (!) erklärt. Vgl. ferner v.
Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.
1).
Fürſt Bismarck: „Die Souveränetät ruht nicht beim Kaiſer, ſie
ruht bei der Geſammtheit der verbündeten Regierungen“ (Stenogr. Bericht d.
Reichst. I. Sitzungsper. 1871 S. 299.) In der Literatur herrſcht darüber
volles Einverſtändniß, daß der Kaiſer nicht Souverän des Reiches iſt. Trotz-
dem beruht nach v. Rönne S. 29 Note 4 die Deutſche Reichsverfaſſung
„auf dem ſogen. monarchiſchen Prinzip in der richtigen (!) Auffaſſung dieſes
Ausdruckes.“ Auch v. Treitſchke a. a. O. S. 538 ſchreibt dem Kaiſer
„eine wirkliche monarchiſche Gewalt“ zu; „ſie zeigt ſich formell in der Kriegs-
herrlichkeit und der Vertretung des Reichs nach Außen, thatſächlich in der
Leitung der geſammten Reichspolitik.“ Richtig Grotefend Staatsr. § 751;
jedoch erklärt derſelbe im § 767 den Bundesrath (!) als das Subject der
ſouveränen Macht des Bundes.
2).
Reichsverf. Art. 6 zählt die „Mitglieder des Bundes“ auf. Vgl. Art.
7. 19. 41 Abſ. 1.
3).
Auf dem Gebiete des Privatrechts würde man ein vollſtändiges Ana-
logon haben, wenn die Aktien eines beſtimmten Aktienvereins im Beſitz von
lauter Aktienvereinen wären.
1).
Der Hamburger iſt ſowenig wie der Anhaltiner Reichsmitglied; die
Hamburger Bürgerſchaft iſt es in derſelben Weiſe wie der Fürſt von Anhalt.
2).
So v. Martitz 45 ff. G. Meyer Nordd. Bundesr. 60 (vgl. deſſen Er-
örterungen S. 43.). Grotefend § 751 S. 785.
3).
Thudichum Verf.-R. des Nordd. B. S. 60 Note 1 ſpricht dieſes
Mißverſtändniß ausdrücklich aus, indem er ſagt, daß unter den Bundesglie-
dern oder Mitgliedern des Bundes nicht die Bundesſtaaten, ſondern
die Bundesfürſten und die Senate der 3 Hanſeſtädte zu verſtehen ſeien. (Vgl.
jedoch denſelben im Jahrb. I. S. 21 Note 3). Ebenſo ſagt Meyer
S. 65 Note 1, die preuß. Vertreter im Bundesrathe ſeien „keine Vertreter
des Staates Preußen, ſondern des Königs von Preußen“ (!). Auch Seydel
S. 15 u. 97 verwerthet dieſes Mißverſtändniß zu Schlußfolgerungen. Richtig
und treffend v. Held S. 103. 104.
4).
Vgl. v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 10.
1).
Daß Lauenburg im Bundesrathe keine Stimme führt, beruht nicht,
wie Geo. Meyer Nordd. Bundesrecht S. 65 Note 1 und ihm faſt wörtlich
folgend v. Rönne 148 Note 2 irrthümlich meinen, darauf, daß die Preuß. Ver-
treter im Bundesrath gleichzeitig auch Mandatare des Herzogs von Lauenburg
ſind, ſondern auf einem davon durchweg verſchiedenen Grunde. Siehe unten
§. 28.
2).
Vgl. Grotefend Staatsr. §. 754. Daß dieſe Contraſignatur durch die
1).
Am Beſtimmteſten und ganz unzweideutig iſt dies ausgeſprochen wor-
den von Fürſt Bismarck im Verfaſſungberathenden Reichstage Sten. Ber.
393. 397. Vgl. ferner Lasker u. nochmals Fürſt Bismarck im Reichstag
v. 1867 Sten. Ber. 135. 137. Vgl. Hierſemenzel II. 293 fg. In der Litera-
tur wird dieſe Verantwortlichkeit anerkannt von Hauſer S. 35. v. Bezold
im Jahrb. II. (1873) S. 334. Auerbach 102 Note. Grotefend §. 754
S. 788. v. Mohl S. 277 fg. Die entgegengeſetzte Anſicht vertreten nament-
lich Hänel S. 221; ferner v. Rönne Staatsr. d. Preuß. M. I. 2. S. 699 ff.
(3. Aufl.) Meyer Grundz. 85. Thudichum 117. Riedel 26.
2).
Reichsverfaſſung nicht vorgeſchrieben iſt, was Meyer Grundzüge S.
85 hervorhebt, iſt gänzlich unerheblich. Ueber die Frage, ob die Inſtruction
der Bundesraths-Bevollmächtigten von der Zuſtimmung der Landtage landes-
geſetzlich abhängig gemacht werden darf, vgl. unten §. 28.
1).
Vgl. unten §. 28.
2).
Auf dieſem Mißverſtändniß beruhen die Ausführungen von Hierſe-
menzel
II. 300, Meyer Grundzüge 85 ff., Thudichum Verf. der Nordd.
B. S. 117 u. v. Treitſchke in den Preuß. Jahrb. Bd. 34 S. 538.
3).
Vgl. auch v. Mohl 64 fg. Wo eine Miniſter-Anklage geſtattet iſt
wegen Handlungen, welche dem Landeswohl nachtheilig ſind, kann ſehr wohl
auch das Verhalten der Landesregierung im Bundesrath den Grund einer
ſolchen Anklage abgeben; ebenſo die Thatſache, daß eine Regierung lange Zeit
hindurch die Ernennung eines Vertreters im Bundesrath ganz unterläßt. So
geſtattet das Badiſche Geſ. über die Verantw. der Miniſter v. 20. Febr.
1868 §. 67 a die Miniſter.-Anklage „wegen ſchwerer Gefährdung der Sicherheit
oder Wohlfahrt des Staates.“ Vgl. Samuely Miniſterverantwortl. 80. 81.
Hinſichtl. Bayerns vgl. Pözl S. 598 Note 5.
1).
Auch der Hinweis auf die parlamentar. Controlle durch den Reichstag
iſt gänzlich unpaſſend. Der Reichstag iſt niemals in der Lage, die Regierun-
gen der Einzelſtaaten zur Darlegung der Gründe ihres Verhaltens zu veran-
laſſen. Die Vertreter des einzelnen Staates können ſich immer darauf beru-
fen, daß ſie lediglich ihrer Inſtruction gemäß abzuſtimmen haben und daß
ſie die Motive der ihnen ertheilten Inſtructionen nicht zu prüfen befugt ſind,
ja dieſelben gar nicht zu kennen brauchen. Eine Discuſſion über die Inſtruc-
tion der Vertreter im Bundesrath iſt eine häusliche Angelegenheit der Einzel-
ſtaaten und kann lediglich zwiſchen den verantwortlichen Leitern der Regierung
und der Volksvertretung des Einzelſtaates ſtatt haben.
2).
Stenogr. Ber. 388.
1).
Thudichum Verf.-Recht S. 101 fg. v. Mohl S. 50. Vgl. auch
Pözl 106 Note 2.
2).
Es iſt ein ähnlicher Irrthum als wollte man in der Nordamerik.
Union oder in der Schweiz nicht das Amerikaniſche Volk oder das Schweizer
Volk, ſondern die parlamentariſchen Körperſchaften und Präſidenten dieſer
Bundesſtaaten als Träger der Souveränetät erklären.
1).
a. a. O. S. 883. Vgl. Gneiſt Preuß. Kreis-Ordnung 1870 S. 9 u.
Verwaltung, Juſtiz, Rechtsweg 1869 S. 98 fg.
2).
Vgl. unten §. 32. §. 37 ff.
1).
Vgl. die literar. Nachweiſungen bei v. Rönne Preuß. Staatsr. II.
1. §. 265.
2).
Gneiſt Preuß. Kreis-Ordn. S. 11. „Das an jedem Punkt Entſchei-
dende iſt die gewohnheitsmäßige Selbſtthätigkeit im Staatsberuf.“
1).
Vgl. auch die anſchauliche Darſtellung in Gneiſt’s Verwaltung, Ju-
ſtiz, Rechtsweg S. 95 ff.
1).
Keineswegs richtiger, ſondern noch unklarer ſind die Bemerkungen in
Tellkampfs Schrift „Die Selbſtverwaltung“ Berlin 1872 S. 15 ſg. 31 fg.
über das „Weſen der Selbſtverwaltung“ und über „ihre Bedeutung für den
Rechts- und Verfaſſungsſtaat.“
1).
Die bürgerliche „Geſellſchaft“ oder „ſociale Gemeinſchaft“ iſt weder
Rechtsſubject noch Object von Rechten noch ein rechtlich beſtimmtes Verhältniß;
ſie iſt überhaupt kein Rechtsbegriff, mithin auch kein Begriff des Staatsrechts.
So bedeutſam der Begriff für Volkswirthſchaftslehre und Politik ſein mag, ſo
unbrauchbar und verwirrend iſt er für die Rechtswiſſenſchaft.
1).
Auch H. Schulze Preuß. Staatsr. II. S. 3 hebt die juriſtiſche Per-
ſönlichkeit der korporativen Verbände, denen die Selbſtverwaltung übertragen
iſt, mit Nachdruck hervor. Zu den beſten Erörterungen über das Weſen der
Selbſtverwaltung gehören die kurzen Ausführungen von Ernſt Meier in v.
Holtzendorff’s Encyclopädie I. 2. Aufl. S. 853 fg.
2).
Eine Folge der herrſchenden Lehre von der Selbſtverwaltung iſt die,
daß man ſelbſt die Volksvertretung dahin rechnet. So ſagt z. B. Weſter-
kamp
Reichsverfaſſung S. 232: „die Selbſtverwaltung innerhalb des Deut-
2).
ſchen Reiches beſteht in der ausgedehnten Einwirkung, welche der aus Vertre-
tern des Deutſchen Volkes beſtehende Reichstag auf alle Reichsangelegenheiten
ausübt.“
1).
Vgl. oben S. 74 ff.
1).
Vgl. darüber v. Gerber Geſ. Juriſt. Abh. I. S. 36.
2).
Ein Beiſpiel dafür, daß ſelbſt hinſichtlich des Landes verfaſſungs-
rechtes die Einzelſtaaten zwar Autonomie haben, jedoch nicht ſouverän ſind,
giebt der §. 49 des Reichsmilitärgeſetzes vom 2. Mai 1874 (R.-G.-Bl. S. 59),
welcher ausſpricht, daß für Militärperſonen die Berechtigung zum Wählen
in Betreff der einzelnen Landesvertretungen ruht und daß beſondere Militär-
Wahlbezirke nicht gebildet werden dürfen. Hierdurch iſt namentlich das Preuß.
Wahlgeſetz vom 30. Mai 1849 § 9 verändert worden.
1).
Vgl. meine Abhandlung in Hirth’s Annalen 1874. S. 1487—1524.
Eine ausführliche Entgegnung auf dieſelbe hat Löning ebendaſelbſt 1875
S. 337 ff. veröffentlicht, welche in ihren weſentlichen Reſultaten mit der von
Hänel Studien I. S. 183 ff. entwickelten Theorie übereinſtimmt.
2).
Laband a. a. O. S. 1501. 1502.
1).
Eingang zur Reichs-Verfaſſung.
1).
Laband a. a. O. S. 1502.
2).
Beiſpiele ſind die Ausantwortung der Preuß. Marine und aller Ma-
rine-Etabiſſements an das Reich ohne Entſchädigung, die Abfindung des Für-
1).
Laband a. a. O. S. 1514. 1515. Wenn Löning a. a. O. S.
359 ff. gegen die Annahme eines ſolchen Sonderrechts polemiſirt, ſo iſt
ſeine Polemik inſofern gegenſtandslos, als ich den Anſpruch jedes Einzelſtaates
auf gleiche Behandlung gerade für das Gegentheil eines Sonderrechts, für den,
allen Mitgliedern gleichmäßig zu Gute kommenden Ausfluß der Mitgliedſchaft,
für ein Mitgliedſchafts-Recht erklärt habe. Wenn er aber den Rechts-
ſatz ſelbſt, daß die Verletzung dieſes Mitgliedſchafts-Rechtes ohne Zuſtimmung
des Berechtigten nicht zuläſſig ſei, beſtreitet, ſo hätte es m. E. dafür gewich-
tigerer Gründe bedurft, als daß der Rechtsſatz in der Regel entbehrlich ſei,
weil ſeine Verletzung ſchon durch die „Ehrlichkeit und Gerechtigkeit“ ſich ver-
biete, und daß er unter Umſtänden unbequem ſein könne.
2).
Laband a. a. O. S. 1502. 1503.
2).
ſten Thurn-Taxis für ſein Poſtregal auf Koſten Preußens, die zeitweiſe Ver-
wendung preußiſcher Beamtenkräfte, namentlich in den Miniſterien, für Reichs-
zwecke u. dgl.
1).
Vgl. zu dem Folgenden Laband a. a. O. S. 1507 fg. Ein Beiſpiel
für die Begründung von Sonderrechten durch einen Bundesraths-Be-
ſchluß
liefert die Reichsſchulkommiſſion. Durch einen Beſchluß vom 19. Fe-
bruar 1875 (Protok. §. 143 S. 131) hat der Bundesrath beſtimmt, daß von
den 6 Mitgliedern, aus denen dieſe Kommiſſion beſteht, Preußen, Bayern,
Sachſen und Württemberg je ein Mitglied ernennen; ferner daß ein Mitglied
alternirend von Baden, Heſſen, Elſaß-Lothringen und Mecklenburg-Schwerin in
der angegebenen Reihenfolge jedesmal auf zwei Jahre ernannt wird; endlich
daß ein Mitglied alternirend von den übrigen Bundesſtaaten und zwar nach
der Reihenfolge im Art. 6 der R.-V. jedesmal auf zwei Jahre ernannt wird.
2).
Daß dieſes Recht unter dem Schutz des Art. 78 Abſ. 2 ſteht, zeigt
ſehr treffend gegen Hänel a. a. O. S. 200, der ſich auf die Aufnahme Lü-
becks durch Bundesrathsbeſchluß als Präzedenzfall beruft, Löning a. a. O.
S. 365 fg.
3).
Reichsverf. 35 Abſ. 2. 38.
1).
Reichsverf. 35 Abſ. 2. 38.
2).
„Zu Art. 45 der Verfaſſung wurde anerkannt, daß auf den Württemb.
Eiſenbahnen bei ihren Bau-, Betriebs- und Verkehrsverhältniſſen nicht alle in
dieſem Art. aufgeführten Transportgegenſtände in allen Gattungen von Ver-
kehren zum Einpfennig-Satz befördert werden können.“ Der praktiſche Sinn
dieſer Beſtimmung iſt der, daß die Einführung des Einpfennig-Satzes in
Württemberg nicht ohne die Zuſtimmung der Württembergiſchen Regierung
erfolgen kann.
3).
Art. 52 der Reichsverf.
4).
Schlußprotok. vom 25. November 1870 Nr. 3.
1).
R.-V. Art. 4 Nr. 1.
2).
Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. I.
3).
Schlußprotokoll Z. IV.
4).
R.-V. Art. 35 Abſ. 2. Art. 38.
5).
R.-V. Art. 52.
1).
R.-R. Art. 11.
2).
R.-V. Art. 6.
3).
R.-V. Art. 8. Abſ. 2.
4).
R.-V. Art. 8 Abſ. 3.
5).
Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. IX.
6).
Schlußprotokoll Z. VII.
7).
R.-V. Art. 8 Abſ. 2. Württemb. Milit.-Konv. Art. 15 Abſ. 2. Sächſ.
Militärconvent. Art. 2.
8).
Sie ſind zuſammengeſtellt bei Laband a. a. O. S. 1512 ff.
1).
Ueber die Controverſe, welche ſich an dieſen Satz der Verfaſſung an-
knüpft, vgl. Laband a. a. O. S. 1487 u. 1516 ff.
2).
Dies beſtreiten Hänel und Löning an den oben angeführten Stel-
len. — Die Großherzogl. Heſſiſche Regierung hat mit Bezug auf die im Pro-
tokoll vom 15. Nov. 1870 Ziffer 4 enthaltene Beſtimmung über die Vergütung
für die poſtaliſche Benutzung der Eiſenbahnen, bei der Beſchlußfaſſung im Bun-
desrathe über einen Geſetzentwurf, betreffend Abänderung des §. 4 des Poſt-
geſetzes, mit Recht den Standpunkt feſtgehalten, daß die Leiſtungen der Eiſen-
bahnen des Großherzogthums für Poſtzwecke ꝛc. durch weitere Verſtändi-
gung
mit der Heſſiſchen Regierung geregelt werden müſſen. In den verei-
nigten (V. u. VI.) Bundesraths-Ausſchüſſen ergab ſich bei der Abſtimmung
über einen darauf bezüglichen Antrag Stimmengleichheit; im Plenum des
Bundesrathes kam die Frage nicht zur Entſcheidung, da Heſſen ſich eventuell
mit den in dem Geſetzentwurfe enthaltenen Beſtimmungen einverſtanden erklärte.
Protokolle des Bundesrathes 1875 §. 70 S. 63.
1).
So z. B. wenn Württemberg auf ſeinen Eiſenbahnen den Einpfennig-
Tarif einführen oder der Poſt dieſelben Vorrechte beilegen würde, die ihr nach
dem Reichspoſtgeſetz zuſtehen.
2).
Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Hänel S. 236 ff., dem Löning
S. 347 beiſtimmt, ſo weit dieſe Sonderrechte in der Form des Vertrages ge-
gründet worden ſind, d. h. ſoweit ſie in Beſtimmungen der Schlußprotokolle
enthalten ſind, die nicht in die jetzige Redaction der Reichsverfaſſung Aufnahme
gefunden haben und durch §. 3 des Publikationsgeſetzes zur Reichsverf. in
Geltung erhalten worden ſind.
3).
Es wurde auch praktiſch demgemäß verfahren, als das Reichs-Poſtge-
ſetz vom 28. Oktober 1871 das Vorrecht der Poſt auf ausſchließliche Beför-
derung politiſcher Zeitungen in Württemberg, wo es bis dahin nicht beſtand,
einführte, alſo die im Württemb. Protokoll vom 25. Nov. 1870 unter 3 ent-
haltene Feſtſetzung abänderte. Hänel a. a. O. S. 237. Vgl. ferner den
S. 118 Note 2 mitgetheilten Fall aus dem Protokoll des Bundesrathes vom
1875 §. 70.
1).
Vgl. Hänel S. 211 und in Betreff der Verhandlungen über dieſe
Frage im Reichstage und den ſüddeutſchen Kammern S. 214 ff. Die Litera-
tur ebendaſelbſt S. 220 Note 116. Ferner die ausführliche Erörterung bei
Seydel S. 266 ff.
2).
In dieſem Sinne äußert ſich auch ein Bericht des Bundesraths-Aus-
ſchuſſes für Zoll- und Steuerweſen vom 9. Febr. 1875 betreffend den Anſchluß
der Bremiſchen Gebiete Vegeſack und Aumund an das Zollgebiet. (Druckſachen
des Bundesr. Seſſion 1874/75 Nr. 26.) „Der Senat der freien Stadt Bremen
wird nach der abgegebenen Erklärung einem Beſchluſſe des Bundesrathes, wel-
cher der Anſicht des Ausſchuſſes entſpricht, nicht widerſprechen (d. h. zuſtimmen).
Der gemachte Zuſatz „das Einverſtändniß der Bremer Bürgerſchaft vorausge-
ſetzt,“ hat nicht die Bedeutung einer eigentlichen Bedingung, ſo daß die abge-
gebene Erklärung, ſo lange dieſe Bedingung nicht erfüllt wäre, nicht ertheilt
oder bei der Nichterfüllung wieder erloſchen wäre. Es kann damit nur auf
ein internes Verhältniß hingedeutet ſein, welches nach der Anſicht des
Senats geordnet werden muß, und von welchem die Beſchlüſſe des
Bundesrathes nicht weiter abhängig ſein können
.“
3).
Auch in dieſer Beziehung beſteht kein Unterſchied zwiſchen den in der
Verfaſſung ſelbſt erwähnten Sonderrechten und den neben der Verf. beſtehenden,
in den Schlußprotokollen feſtgeſetzten Sonderrechten.
1).
Was nicht zu verwechſeln iſt damit, daß formell ein Vertrag geſchloſ-
ſen werden müſſe.
2).
In dieſem Reſultate iſt Hänel a. a. O. S. 222 im Weſentlichen
übereinſtimmend. Vgl. unten §. 28.
1).
Dies iſt auch der techniſche Begriff der iura singulorumim Gegen-
ſatz
zu Sonderrechten (iura singularia) im alten Deutſchen Reichsrecht.
Laband a. a. O. S. 1489 fg. Vgl. namentlich Häberlin Handbuch des
Teutſchen Staatsrechts I. S. 585 ff.
1).
Vgl. Laband a. a. O. S. 1505.
2).
Im Gegenſatz zu den Sonderrechten einzelner Staaten in dem sub. II
entwickelten Sinne. Die zu Gunſten einzelner Staaten beſonders feſtgeſetzten
Kompetenz-Beſchränkungen des Reiches begründen zugleichiura quaesita
und iura singularia. Es könnte auffallend erſcheinen, daß grade dieſe Ho-
heitsrechte mit einem ſo viel wirkſameren Schutz umgeben ſind, als alle übri-
gen, z. Th. doch viel erheblicheren obrigkeitlichen Rechte derſelben Staaten.
Dies erklärt ſich aber ſehr wohl. Bei jeder anderen Kompetenz-Erweiterung
des Reiches wird allen Staaten gleichmäßig eine Einbuße von Rechten zu-
gemuthet und es erſcheint daher als ein ausreichender Schutz, daß 14 Stimmen
im Bundesrath im Stande ſind, ſie abzulehnen; bei der Aufhebung von Son-
derrechten brauchen die anderen Staaten nur zuzuſtimmen, daß Befugniſſe,
die ſie ſelbſt bereits dem Reiche abgetreten haben, nun auch dem Sonderbe-
rechtigten entzogen werden.
1).
Abweichender Anſicht ſcheint v. Gerber zu ſein, indem er Grundz.
S. 245 Note 2 eine Erweiterung der Kompetenz nur für zuläſſig erklärt,
„ſofern es ſich nicht um eine grundſätzliche Aenderung der Bundesanlage (?)
und Verſchiebung der Gewaltverhältniſſe (?), ſondern nur um eine Entwicklung
der ſchon in der Bundesverf. liegenden Prinzipien handelt.“
2).
Vgl Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1515.
3).
G. Meyer Erörterungen S. 65 hat daher Unrecht, wenn er ſagt,
daß derjenige, der den Vertragscharakter der Bundesverfaſſung gänzlich leugnet,
conſequenter Weiſe der Reichsgewalt das Recht zuſprechen müßte, die Exiſtenz
der einzelnen Staaten ſelbſt gegen deren Willen — durch Abänderungen des
Artikels 1 — aufzuheben.
4).
Dieſen Unterſchied überſieht Riedel S. 8.
1).
v. Martitz S. 9 folgert aus der vertragsmäßigen Vereinigung der
Deutſchen Fürſten zur Gründung des Nordd. Bundes, daß die Verſchmelzung
zweier Bundesſtaaten zu einem nur unter Genehmigung ſämmtlicher
Bundesſtaaten
rechtlich zuläſſig ſei. Ihm folgen G. Meyer Grundzüge
47. (der aber Erörterungen S. 65 Note 1 ſeine Anſicht modifizirt) und im
Weſentlichen, wenngleich ſehr unklar, Riedel 77. 80. Beſonders lebhaft ver-
tritt Seydel Commentar S. 16. 30 dieſe Anſicht. Vgl. dagegen: Thu-
dichum
S. 62 Note 3. v. Rönne 38. HänelI. S. 92 ff. u. oben S. 49. 50.
1).
Thudichum S. 61.
2).
Er ſtammt her aus den „Grundzügen vom 10. Juni 1866.“ Siehe
oben S. 13.
3).
Der Art. 1 lautet nicht: „Der Bund beſteht aus den Staaten;“ er
betrifft nicht die Mitglieder des Bundes, ſondern das Gebiet deſſelben.
4).
Elſaß-Lothringen iſt nicht Mitglied des Bundes, wohl aber Bundes-
gebiet.
1).
Löning a. a. O. S. 368 wendet zwar ein, es enthalte dieſer Satz
nicht die Aufſtellung eines allgemeinen Grundgeſetzes, ſondern nur die Angabe
des hiſtoriſchen Grundes. Aber es iſt nicht abzuſehen, warum nicht ein Ver-
faſſungs-Grundſatz ebenſo wohl hiſtoriſchen Verhältniſſen wie rationellen Er-
wägungen entnommen werden könne. Das Princip für die Vertheilung der
Stimmen iſt allerdings nicht logiſch geboten, ſondern hiſtoriſch gegeben; aber
daraus folgt doch nicht, daß es überhaupt kein Prinzip iſt.
1).
Eingehende und intereſſante Erörterungen über dieſe Frage fanden mit
Bezug auf den Acceſſions-Vertrag mit Waldeck in der Sitzung des Preuß.
Abg.-Hauſes vom 11. Dez. 1867 Statt. Der Reichskanzler bemerkte, (Stenogr.
Ber. I. S. 338): „daß die Waldeck’ſche Stimme und deren Bezeichnung, ſowie
die bisherige Stimmenzahl einen integrirenden Theil der Bundesverf. bilden,
daß alſo um eine dieſer Stimmen verſchwinden zu laſſen, eine Aenderung
der Bundesverf. unvermeidlich wäre.“ Allein wenn die Stimme eines Staates
auf einen andern mit dem Staate ſelbſt übergeht, ſo „verſchwindet“ weder die
Stimme noch ändert ſich die Stimmenzahl. Auch die Bemerkungen des Reichs-
kanzlers (ebendaſ. S. 341), daß ein Vertrag unzuläſſig ſei, durch welchen ein
Bundesfürſt ſich verpflichte, ſeine Stimme ruhen zu laſſen, treffen nicht den
Fall, daß zwei Staaten mit einander verſchmelzen und in Folge deſſen ein
Fürſt zwei oder mehrere Stimmen cumulire.
2).
Tritt keine Aenderung des Art. 6 ein, ſo würde die Stimme des un-
tergegangenen Staates auf den Staat übergehen, in welchen er einverleibt
worden iſt. Dadurch könnte allerdings ein immer noch ſehr kleiner Staat 2
oder 3 Stimmen erlangen, oder Preußen eine große Stimmenzahl vereinigen,
überhaupt das Verhältniß der Stimmführung verändert werden; dies iſt aber
nur die Folge davon, daß das Prinzip der Stimmenvertheilung von einer
hiſtoriſchen Thatſache, der Stimmführung im Plenum des ehemaligen Deutſchen
Bundes entnommen iſt. Thudichum S. 62 meint, daß bei einer Vereini-
gung zweier Staaten die Stimme des einverleibten Staates wegfallen würde,
giebt aber für ſeine Anſicht keinen Grund an. Unbeſtimmt äußert ſich v. Mohl
S. 10. Die richtige Anſicht hat der Abg. Waldeck im Preuß. Abg.-Hauſe
am 11. Dez. 1867 entwickelt. (Stenogr. Ber. I. 343.)
1).
Auch die Succeſſionsrechte Deutſcher Bundesfürſten an außerdeutſchen
Territorien und die Succeſſionsrechte von Perſonen, die nicht zu den Deutſchen
Bundesfürſten gehören, an Deutſchen Territorien ſind durch die Reichsverfaſ-
ſung rechtlich nicht beſeitigt worden. Nur verſteht es ſich von ſelbſt, daß
durch den Eintritt derartiger Succeſſionsfälle die Vorſchrift des Art. 1 über
das Bundes gebiet nicht alterirt werden würde. Was v. Mohl S. 19 ff.
im entgegengeſetzten Sinne ausführt, beſteht lediglich aus politiſchen, nicht aus
juriſt. Erwägungen. Im Nordd. Bunde lieferte Heſſen-Darmſtadt ein
Beiſpiel für die Möglichkeit, daß ein Bundesfürſt auch ein Territorium be-
herrſchen könne, welches nicht zum Bundesgebiet gehört. Es wird dadurch
am ſchlagendſten die Behauptung widerlegt, daß die Unzuläſſigkeit der Real-
union mit einem auswärtigen Staat „aus der Natur des Bundes“ folgt und
daß „dies ſo einleuchtend ſei wie die Regel, daß Niemand zwei Herren dienen
kann“. So Thudichum S. 63. Dagegen erachtet derſelbe Schriftſteller eine
Perſonal-Union für geſtattet. Ebenſo v. Rönne S. 39. Riedel 76 fg. Die
richtige Anſicht findet ſich bei HirſemenzelI. S. 5 (Note 4 zu Art. 1).
*)
Literatur.
v. Flottwell, Was bedeutet das Deutſche Heimathweſen. Potsdam 1867.
1).
Vgl. auch die bei Waitz S. 172 angeführte Aeußerung Tocque-
ville
’s. In ähnlicher Art ſagt Schulze Preuß. Staatsr. II. 358: „Wäh-
rend in einem Einheitsſtaate ein doppeltes Indigenat in dieſem und zugleich
in einem fremden Staate ſich als Irregularität darſtellt, hat in einem Bun-
*)
  • Brückner, Ueber das gemeinſame Indigenat. Gotha 1867.
  • v. Groß im Gerichtsſaal. Zeitſchr. f. Strafrecht u. Strafprozeß. Bd. XIX.
    S. 330 ff. (1867).
  • [Goltdammer] Archiv für Preußiſches Strafrecht. Bd. XVI. S. 449 ff.
    (1868).
  • Landgraff in den Preuß. Jahrbüchern. 1869. S. 226 ff.
  • Derſelbe Ausführungen zu dem Reichs- und Staatsangehörigkeits-Geſetz in
    Hirth’s Annalen. Bd. III. S. 625 ff. 1870.
  • Kletke, Das norddeutſche Bundes-Indigenat. Berlin 1871.
  • Stolp, Deutſche Reichsangehörigkeits- u. Heimathsgeſetzgebung. Berlin 1872.
  • Auch Arnoldt, Freizügigkeit und Unterſtützungswohnſitz. Berlin 1872 iſt
    hier anzuführen.
  • Riedel, Reichsverfaſſungs-Urkunde. Nördl. 1871. S. 84 ff. S. 249—279
    (Kommentar zum Reichsgeſetz v. 1. Juni 1870).
  • Böhlau, Die Wandelung des Heimathsrechts in Mecklenburg-Schwerin.
    Jena 1873. (Separat-Abdruck aus Hildebrand’s Jahrbüchern f. Natio-
    nalökon. u. Statiſtik. Bd. XIX.)
  • v. Martitz, Das Recht der Staatsangehörigkeit im internationalen Verkehr.
    In Hirth’s Annalen 1875. S. 793 ff. 1113 ff.
1).
Vgl. z. B. Schulze Einleitung in das d. Staatsr. S. 432. 443. v.
Gerber Grundz. S. 240. v. Rönne Verf. des Deutſch. Reichs S. 32.
1).
desſtaate jeder Bürger mit Nothwendigkeit ein doppeltes Indigenat, wie
ſich ſein ganzes politiſches Leben in einer zweifachen Sphäre, der des
Centralſtaates und der des Einzelſtaates, bewegt.“
1).
Daß Seydel hier Bundesindigenat in demſelben Sinne wie Bundes-
bürgerrecht nimmt, ergiebt ſich außer aus dem Zuſammenhange auch daraus,
daß er dieſe Aufzählung mit dem aktiven und paſſiven Reichstagswahlrecht be-
ginnt.
1).
Bekanntlich beſteht in der Nordamerikaniſchen Union das umgekehrte
Verhältniß. Das Bundesbürgerrecht iſt das primäre Verhältniß; wer Bun-
desbürger iſt erwirbt durch den Wohnſitz das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.
Der Fremde kann demnach nur von der Union naturaliſirt werden, nicht vom
Einzelſtaat.
1).
Landgraff S. 627 „Beide Rechte ſind wie ein Recht mit einander
verbunden, ſie werden ipso iure gemeinſam erworben und verloren, ſie machen
zwei Theile eines untheilbaren Ganzen aus.“ Wörtlich gleichlautend iſt
die Aeußerung v. Rönne’s S. 104.
2).
Reichsgeſ. vom 1. Juni 1870 §. 7. Siehe unten §. 17.
3).
Der Ausdruck rührt her von dem Heſſiſchen Bundesbevollmächtigten
Hofmann. (Stenogr. Berichte des Reichstages 1870 S. 82.)
4).
Der Rechtsgrund iſt nicht mit John in v. Holtzendorff’s Handbuch
des Deutſchen Strafrechts III. 1. S. 9 Note 7 in dem ſubjectiven Reichsbür-
gerrecht des Einzelnen zu ſehen, welches für ihn einen wohlerworbenen Rechts-
anſpruch gegen jeden deutſchen Einzelſtaat auf Verleihung der Staatsange-
hörigkeit begründe, ſondern in der Unterordnung aller Einzelſtaaten unter
das Reich, in ihrer Verbindung zu einem Geſammtſtaat.
1).
Vgl. v. Martitz in Hirth’s Annalen 1875 S. 805.
2).
Dieſe Auffaſſung u. juriſt. Formulirung des Verhältniſſes der Staats-
gewalt zur Perſon des Staatsbürgers iſt mit voller Klarheit hingeſtellt wor-
den von v. Gerber Grundz. §. 15—17. Sie hat mehrfachen Widerſpruch
erfahren, in der Tübinger Zeitſchrift f. d. geſ. Staatsw. Bd. 22 S.
434, in Haimerl’s Oeſterr. Vierteljahresſchr. Bd. 17 (Literaturbl. S. 19 ff.),
und namentlich von Schulze in Aegidi’s Zeitſchr. I. S. 424 ff. Hierauf
hat v. Gerber in der zweiten Aufl. S. 222 ff. (Beilage II.) ſo meiſterhaft
replicirt, daß es genügt, auf dieſe Ausführungen hinzuweiſen. Die Analogie
auf privatrechtlichem Gebiete darf allerdings nicht in den Inſtituten des
Sachenrechts, ſondern nur in den Gewaltverhältniſſen des Familien-
rechts
geſucht werden.
1).
Vom Standpunkte der herrſchenden Bundesſtaatstheorie aus bleibt
einem conſequent denkenden Juriſten gegenüber dieſer durchweg hervortreten-
den Verquickung und Verbindung von Staatsbürger- und Reichsbürger-Pflich-
ten Nichts Anderes übrig, als einfach die Augen vor ihr zu verſchließen.
Nur ſo kann man es erklären, wenn v. Gerber S. 240 ſagt: „Der Bürger
des Nordd. Bundes ſteht unter einer doppelten Regierung, der ſeines Einzel-
ſtaates und des Bundesſtaates; aber jede dieſer beiden Regierungen hat ihre
beſondern, im Ganzen vollſtändig getrennte Sphäre
der
Wirkſamkeit.“ (!)
1).
Aus der Einheit des Deutſchen Heeres nach Art. 63 der R.-V. ergiebt
ſich aber, daß jeder Deutſche nicht blos in ſeinem Heimathsſtaat, ſondern auch
in jedem anderen Bundesſtaate, in welchem er zur Zeit des Eintritts in das
militärpflichtige Alter ſeinen Wohnſitz hat oder in welchen er vor erfolgter
endgültigen Entſcheidung über ſeine aktive Dienſtpflicht verzieht, ſeine Militär-
pflicht erfüllen kann und daß er ſeinem Heimathsſtaate gegenüber von der
militäriſchen Dienſtpflicht frei wird, wenn er dieſelbe in irgend einem Bundes-
ſtaate erfüllt hat. R.-V. Art. 3 Abſ. 5. Geſ. vom 9. November 1867 §. 17.
Man nennt dies „die militäriſche Freizügigkeit.“
2).
Gewöhnlich werden nur dieſe Pflichten, die doch nur Anwendungsfälle
der allgemeinen Gehorſamspflicht ſind, hervorgehoben. So Thudichum
V.-R. S. 73. G. Meyer Grundzüge S. 109. v. Rönne S. 103. Von
den richtigen Geſichtspunkten geht aus Pözl, das Bayr. Verf.-Recht auf den
Grundl. des Reichsrechts S. 31 fg.
3).
R.-Str.-G.-B. §. 4 Nr. 1.
4).
Wenngleich das Strafgeſetzbuch Inländer und Ausländer wegen der-
jenigen Handlungen, welche den objectiven Thatbeſtand des Hochverrathes und
Landesverathes bilden, z. Th. mit der gleichen Strafe bedroht, und dieſe
1).
Schütze S. 225 fg. 245. 247.
2).
Vgl. Heinze Staatsrechtl. u. ſtrafrechtl. Erörterungen zu dem Entw.
1870 S. 53 flg. 61 fg. Knitſchky das Verbrechen des Hochverraths Jena
1874 S. 123 ff.
4).
Handlungen gemeinſam mit dem Namen Hochverrath reſp. Landesverrath be-
zeichnet, ſo bleibt doch in ſubjectiver Hinſicht immerhin der Unterſchied
beſtehen, daß der Staatsangehörige die ſeinem Staate ſchuldige Treue bricht,
der Ausländer nicht. Vgl. Schütze Lehrbuch des Deutſchen Strafrechts S.
230 Note 5. Schwarze Kommentar S. 286. Manche wollen allerdings
hiervon ganz abſehen, ſo Berner Lehrb. S. 231. John in Holtzendorff’s
Handb. III. 1. S. 15.
1).
Vgl. Schwarze Kommentar zum St.-G.-B. Allgem. Bemerk. zu
§§. 80—93. John a. a. O. III. 1. S. 5.
2).
Eine völlige Gleichſtellung des Hoch- und Landesverrathes gegen den
eigenen Staat mit dem (Quaſi-) Hoch- u. Landesverrath gegen einen andern
Deutſchen Staat iſt dadurch aber noch nicht geboten. Was John a. a. O.
S. 7 ff. in dieſer Richtung ausführt, iſt von der Idee des Einheitsſtaates,
nicht der des Bundesſtaates beherrſcht. Andererſeits geht Knitſchky a. a. O.
S. 127. 128 ganz fehl, wenn er meint, daß das Verhältniß zwiſchen den einzel-
nen Gliedern des Reiches nur als ein völkerrechtliches aufgefaßt werden kann.
1).
Hinſichtlich der Abſtufung des Strafmaaßes beſtimmt beiſpielsweiſe
§. 95 für die Beleidigung des Kaiſers oder des eigenen Landesherren Gefäng-
niß oder Feſtungshaft von 2 Monaten bis zu 5 Jahren, §. 99 für die Be-
leidigung eines Landesfürſten Gefängiß oder Feſtungshaft von 1 Monat bis
zu 3 Jahren, §. 103 für die Beleidigung des Landesherrn eines fremden
Staates Gefängniß oder Feſtungshaft von 1 Monat bis zu 2 Jahren.
2).
Der Kaiſer iſt zwar nicht der Souverän des Reiches, hat aber in der
Reichsverfaſſung eine ſo hervorragende Stellung, daß er als Oberhaupt des
Reiches denſelben ſtrafrechtlichen Schutz genießt, als wäre er der Souverän.
Der Deutſche, der nicht zugleich Preuße iſt, iſt zwar nicht Unterthan des Kai-
ſers, aber Unterthan des Reichs. Vollſtändig verkennt dies Knitſchky
a. a. O. S. 125 u. 129 fg.
1).
Klüber Oeffentl. Recht §. 184 Note 6 S. 240 (4. Aufl.).
2).
Sitz XVI. Prot. §. 226.
3).
Vgl. Heffter im N. Arch. des Criminalrechts 1840 S. 223 ff. und
Lehrbuch des Strafr. §. 203 Note 5.
4).
„Nach Maßgabe der in den letzteren beſtehenden oder künftig in Wirk-
ſamkeit tretenden Geſetze.“
5).
Schütze Lehrbuch S. 228.
1).
Der von einigen Kommentatoren zum R.-Str.-G.-B., z. B. Oppen-
hoff
zu §. 88 Note 1. Schütze Lehrb. S. 240 Note 37 erwähnte Fall, daß
nur ein Bundesſtaat mit einem ausländiſchen Staate ſich im Kriege befindet,
iſt aus ſtaatsrechtlichen Gründen unmöglich. Vgl. John a. a. O. S. 47.
1).
John a. a. O. S. 48.
2).
Da die Aufforderung an die im Auslande ſich aufhaltenden Deutſchen
gerichtet iſt, ſo hat ſie keine Beziehung auf das Bundesgebiet. Nicht in
territorialer, ſondern in perſonaler Hinſicht ſoll ſie eine generelle, d. h. an die
Angehörigen aller Staaten gerichtete ſein.
1).
Trotz dieſer allgemeinen Faſſung nimmt Berner Lehrb. §. 239 an,
daß nur ein Inländer einen diplomatiſchen Landesverrath begehen könne.
Auch John in Holtzendorff’s Handbuch des d. Strafr. III. 1. S. 53 ſagt
ohne Angabe eines Grundes, daß für die Fälle des §. 92 Nr. 1 u. 2 als
Subject ein Deutſcher vorausgeſetzt ſei. Vgl. dagegen Schütze S. 243.
Oppenhoff zu §. 92 Note 2. Rudorff zu §. 92 Note 1. Schwarze
S. 286.
2).
Ueber das Bedenkliche dieſes Verfahrens vergl. Heinze a. a. D.
S. 64 ff.
1).
Dadurch wird natürlich nicht ausgeſchloſſen, daß bei der Straf-
Ausmeſſung vom Richter das ſubjective Moment gewürdigt und der Verrath
des eigenen Staates ſtrenger beſtraft wird, als die gleiche Handlung eines
Ausländers beſtraft werden würde. Vgl. auch Schütze S. 231.
2).
Vgl. Heinze a. a. O. S. 65. Wenn John a. a. O. S. 54
zur Rechtfertigung des Strafgeſetzb. ſich auf die Anſchauung beruft, daß durch
die Verletzung des Theils das Ganze verletzt erſcheint, ſo iſt zu erwidern:
1) daß dieſe Anſchauung falſch iſt, in ſo weit das Intereſſe des Theils ver-
ſchieden iſt von dem Intereſſe des Ganzen und 2) daß es ſtrafrechtlich nicht
gleichgültig iſt, ob Jemand denjenigen Theil des Ganzen, dem er ſelbſt an-
gehört, verletzt oder einen andern Theil deſſelben Ganzen.
1).
Riedel S. 269.
1).
Ueber die gemeinrechtliche Theorie vgl. die ausführlichen Darſtel-
lungen bei Klüber §. 257 (4. Aufl. S. 364). Maurenbrecher Grund-
ſätze §. 57 (S. 79). Weiß Syſtem des Deutſchen Staatsrechts §. 273 ff.
ZöpflII. §. 281 ff. und beſonders ZachariäI. §. 85 ff. (3. Aufl. S.
430—558). Von denſelben Gedanken gehen die Darſteller der Partikular-
rechte aus, unter ihnen ſind hervorzuheben v. Mohl Staatsr. des Königreichs
Württemberg I. §. 69 (2. Aufl. S. 323 ff.). v. Pözl bayer. Verfaſſungsr.
§. 27 ff. (4. Aufl. S. 61—98). v. Rönne Staatsr. der Preuß. Monarchie I.
§. 89 ff. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 376 ff.
2).
Vgl. die vortrefflichen Ausführungen v. Gerbers Ueber öffentliche
Rechte (Tübingen 1852) S. 76 ff. beſonders S. 79 und Grundzüge des Staats-
rechts §. 10 Note 5 und §. 17. Auch Zachariä Staatsr. I. S. 443 (§. 87
Note 1) erkennt an, daß es ſich bei den ſogen. Freiheits- oder Grundrechten
nicht um ſubjective Rechte der Einzelnen, ſondern um Schranken der Regie-
rungsgewalt handelt; behält jedoch die alte Sitte bei, dieſe objectiven Regie-
rungs-Normen als Rechte der Staatsbürger darzuſtellen. Dieſe Sitte iſt die
herrſchende geblieben und hat ſich auch in der Literatur des Bundes- und
Reichsrechts eingeniſtet und ſo findet man bei Thudichum, G. Meyer,
Riedel
und anderen Schriftſtellern das reichsbürgerliche Recht auf Paß- und
Gewerbefreiheit, auf freie Verehelichung, auf Briefgeheimniß u. ſ. w.; alſo
das ſubjective Recht, bei Reiſen keinen Paß, beim Gewerbebetrieb keine
Conceſſion, bei der Verehelichung keinen polizeilichen Conſens zu bedürfen!
Wenn Thudichum S. 524 unter den „Freiheitsrechten“ ſogar auch die Ein-
ſchränkung der Beſchlagnahme von Arbeitslöhnen und der Schuldhaft aufführt,
ſo iſt nicht einzuſehen, warum nicht auch der geſammte Inhalt des Handelsgeſetz-
buches und der Wechſelordnung hierher gezogen werden könnte und weshalb
1).
Siehe oben S. 110.
2).
man z. B. die „Freiheitsrechte“ eines Deutſchen, Wechſel zu traſſiren und zu
acceptiren, zu domiziliren und zu indoſſiren, aus dem Syſtem des Staatsrechts
ſo erbarmungslos ausſtößt.
1).
Nur interimiſtiſch ließ Art. 56 der R.-V. Landesconſulate beſtehen bis
die Organiſation der Deutſchen Konſulate vollendet war.
1).
Es iſt ſchon oft hervorgehoben worden, daß der weſentlichſte Inhalt
des Indigenats oder der Staatsangehörigkeit in dem Wohnrecht beſteht.
Vgl. z. B. ZöpflII. §. 298 und beſonders v. Bar International. Privat-
u. Strafrecht S. 83 fg. Auch [Goldammer] Archiv für Preuß. Strafrecht
Bd. XVI. S. 453. Indeß iſt feſtzuhalten, daß ein Wohnrecht vertragsmä-
ßig auch einem Fremden eingeräumt werden kann, was in früherer Zeit
z. B. hinſichtlich der Juden öfters vorkam. (Vgl. Otto Stobbe die Juden
in Deutſchl. während des Mittelalters S. 23 ff.), und daß andererſeits das
Wohnrecht den Inhalt der durch die Staatsangehörigkeit begründeten Rechte
nicht erſchöpft.
2).
Im früheren Recht kam dieſelbe allerdings vor; mit dem modernen
Staatsbegriff iſt ſie ganz unvereinbar. Vgl. auch ZachariäII. S. 301.
Die bei ZöpflII §. 298 Note 3 angeführten Verfaſſungsbeſtimmungen.
v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 2 §. 335. v. Martitz in Hirth’s Annalen
1875 S. 800.
3).
„Jeder Bundesangehörige hat das Recht, innerhalb des Bundes-
gebietes an jedem Orte ſich aufzuhalten oder niederzulaſſen, wo er
eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen ſich zu verſchaffen im Stande iſt.“
4).
Der Regierungs-Entwurf wollte allerdings Reichsangehörige und aus-
ländiſche Jeſuiten gleichſtellen; auf den Antrag des Abgeordneten Meyer (Thorn)
1).
„Perſonen, welche nach den Vorſchriften dieſes Geſetzes ihrer Staats-
angehörigkeit in einem Bundesſtaate verluſtig erklärt worden ſind, verlieren
dieſelbe auch in jedem anderen Bundesſtaate und können ohne Geneh-
migung des Bundesraths in keinem Bundesſtaate die Staatsangehörigkeit
von neuem erwerben.“
2).
Auch zu anderen Zwecken nicht. Wenn z. B. im Falle eines Krieges
eine befreundete Regierung ſich erbieten würde, verwundete Deutſche Krieger
zur Verpflegung und Heilung zu übernehmen, ſo dürften doch Deutſche Sol-
daten wider ihren Willen nicht an ausländiſche Lazarethe abgeliefert
werden.
3).
Vertr. mit Nordamerika vom 16. Juni 1852 Art. 3 reſp. vom
22. Februar 1868 Art. 3 (B.-G.-Bl. 1868 S. 229. 234); mit Belgien vom
9. Februar 1870 Art. 2 (B.-G.-Bl. 1870 S. 57); mit Italien vom 31.
Oktober 1871 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1871 S. 449) u. Uebereinkunft v. 8. Auguſt
4).
aber, welcher hervorhob, „daß ein ſolcher Verluſt des Indigenats den Grund-
ſätzen des modernen Rechts überall widerſtreitet,“ verbeſſerte der Reichstag
das Geſetz in dem angegebenen Sinne.
3).
1873 wegen Uebernahme von Auszuweiſenden Art. 4 (Centralbl. I. S. 282);
mit Großbritannien vom 14. Mai 1872 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1872 S. 232);
mit der Schweiz vom 24. Januar 1874 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1874 S. 115).
1).
Siehe unten §. 29 III.
1).
Vgl. unten §. 47 und §. 49.
2).
Richtig hervorgehoben im Verfaſſunggeb. Reichstage von dem Heſſ.
Bundescommiſſar Hofmann. (Sten. Ber. 244.)
3).
Das Geſetz über Errichtung des Oberhandelsgerichts für den Nordd.
Bund vom 12. Juni 1869 §. 6 behielt ausdrücklich die Ernennung von öffent-
lichen Lehrern des Rechts an einer Deutſchen Univerſität vor; alſo auch von
ſüdd. Profeſſoren, welche damals für den Nordd. Bund „Ausländer“ waren.
1).
Vgl. unten §. 19.
1).
So verſteht, wie es ſcheint, Thudichum S. 534 dieſes Geſetz.
2).
Stenogr. Ber. 1872 S. 1061. Vgl. Hirth’s Annalen 1872 S. 1188.
1).
Freizügigkeitsgeſ. vom 1. November 1867 §. 5. Unterſtützungswohn-
ſitzgeſetz vom 6. Juni 1870 §. 6 und §. 55. Vgl. auch Riedel S. 258.
2).
Es ergiebt ſich hier aber eine, durch die Faſſung des §. 25 des gedach-
ten Geſetzes hervorgerufene, ſchwierige Frage. Nach dem §. 25 findet nämlich
„bis zum Erlaſſe eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs“ die Auslieferung in
einer Reihe von Fällen nicht ſtatt, insbeſondere nach Nr. 2, wenn die Hand-
lung nach den Geſetzen des Staates, in deſſen Gebiete der Beſchuldigte oder
Verurtheilte ſich befindet, nicht mit Strafe bedroht iſt. Es frägt ſich nun, ob
ſeit dem Erlaß des Strafgeſetzbuchs die Auslieferung auch verlangt werden
kann, wenn die Handlung nicht nach dem Strafgeſetzbuch und ebenſowenig
nach den Landesgeſetzen des requirirten Staates, ſondern nur nach den
Landesgeſetzen des requirirenden Staates ſtrafbar iſt. Faßt man
die Worte „bis zum Erlaſſe eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs“ als eine
bloße Feſtſtellung eines fixen terminus ad quem, ohne auf den Grund dieſer
Beſtimmung zu achten, ſo wäre die Auslieferungspflicht mit dem Tage des
Inkrafttretens eine unbeſchränkte geworden. Geht man aber davon aus, daß
der Sinn der Beſtimmung der iſt, daß kein Staat Perſonen zum Zweck der
Beſtrafung ausliefern ſoll, denen eine nach dem Recht dieſes Staates ſtrafbare
Handlung überhaupt nicht zur Laſt fällt, ſo haben die Worte: „bis zum Er-
laſſe eines gemeinſamen [Stafgeſetzbuchs]“ den Sinn: „ſo lange das materielle
Strafrecht in den Bundesſtaaten nicht einheitlich normirt iſt.“ Bei dieſer
Auslegung beſteht daher die Beſtimmung des §. 25 Z. 2 noch in Kraft hin-
ſichtlich derjenigen Materien, welche das R.-St.-G.-B. nicht einheitlich geregelt
hat und hinſichtlich deren die Einzelſtaaten die ſtrafrechtliche Autonomie behal-
ten haben. Die Auslieferung könnte daher nur gefordert werden, wenn die
Handlung ſowohl nach dem Landesgeſetz des requirirenden, als auch nach dem
Landesgeſetz des requirirten Staates ſtrafbar iſt.
1).
Eine ausdrückliche Anerkennung hat dieſer Rechtsſatz in dem Bayer.
Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. II. gefunden.
2).
Das Geſetz enthielt einige beſondere Beſtimmungen hinſichlich der ſüd-
deutſchen Staaten (§. 1 Abſ. 2 §. 8 Abſ. 3 §. 16), welche durch den Hinzu-
tritt derſelben zum Reich ihre Anwendbarkeit verloren haben und formell auf-
gehoben worden ſind durch das R.-G. vom 22. April 1871 §. 9. (R.-G.-B.
S. 89.)
1).
Riedel S. 271.
2).
Der §. 3 des Geſetzes ſagt ganz allgemein: „Durch die Geburt,
auch wenn dieſe im Auslande erfolgt, erwerben ꝛc.“
1).
Vgl. unten den Abſchnitt über Elſaß-Lothringen. Daſelbſt gilt bereits
ein durchaus anderes Prinzip.
2).
Stobbe Deutſches Privatr. I. 203. 204. Förſter Preuß. Privatr. I.
§. 11 Nr. 5. Beſeler Deutſches Privatr. I. S. 115 (3. Aufl.). Böhlau
Mecklenb. Landr. I. S. 441. 469 ff. Hinſchius Kommentar zum Perſonen-
ſtandsgeſ. S. 163 ff. Abw. Anſicht v. Savigny Syſtem Bd. 8 S. 357. v.
Gerber Privatr. §. 32 Note 18. Zu bemerken iſt jedoch, daß Kinder aus einer
formell gültig eingegangenen, aus materiellen Gründen anfechtbaren Ehe, welche
vor der gerichtlichen Nichtigkeits-Erklärung geboren ſind, als eheliche gelten.
Roth u. Meibom Kurheſſ. Privatr. I. S. 354 Note 25. S. 477. In
1).
Eine Zuſammenſtellung der in den verſchiedenen Rechtsgebieten Deutſch-
lands geltenden Grundſätze über die Legitimation giebt Hinſchius Kommen-
tar zum Perſonenſtandsgeſetz S. 82 ff.
2).
Vgl. Roth Bayer. Civilr. I. S. 140 Note 47.
3).
Ueber den Grund vgl. die Motive zu §. 2 des Geſetzes (S. 157).
4).
Auf Kinder aus einer früheren Ehe oder auf uneheliche Kinder erſtreckt
die Verheirathung der Mutter ihre Wirkung nicht. — Da in Bayern das Bun-
desgeſ. vom 4. Mai 1868 über die Aufhebung der polizeilichen Beſchränkungen
der Eheſchließung keine Geltung erlangt hat, ſo begründet in Bayern die Ver-
heirathung einer Nichtbayerin mit einem Bayer für die erſtere nur dann die
bayeriſche Staatsangehörigkeit, wenn das im bayer. Geſ. vom 16. April 1868
Art. 33 u. 39 vorgeſchriebene Verehelichungszeugniß erholt worden iſt. Siehe
Riedel S. 255 fg. Hinſchius a. a. O. S. 159 fg.
2).
Betreff der Frage, ob Kinder, welche während der Ehe geboren, aber vor
Eingehung derſelben erzeugt worden ſind, als eheliche gelten, wie nach dem
Preuß. Landr. II. 2 §. 1, oder als uneheliche, wie nach dem gemeinen Recht,
vgl. Hinſchius Kommentar zum Perſonenſtandsgeſetz von 1875 S. 71 ff.,
oder endlich ob ihre Ehelichkeit von einer ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden
Anerkennung des Ehemannes abhängig gemacht iſt, wie nach dem Königl.
Sächſ. Bürgerl. Geſetzb. §. 1776, vgl. auch Code civil Art. 314, entſcheidet der
Wohnort des Ehemannes (Vaters) zur Zeit der Geburt des Kindes. Das
Kind hat aber in allen Fällen die Staatsangehörigkeit des Ehemanns, da ſeine
Mutter ſeit ihrer Verheirathung die Staatsangehörigkeit des letztern theilt;
dem Kinde alſo, mag es als ehelich oder unehelich gelten, dieſelbe Staatsan-
gehörigkeit, im einen Falle wegen des Vaters, im andern wegen der Mutter,
zu Theil wird.
1).
Die Inſtruction der Sache, die Entgegennahme der Geſuche, protokol-
lariſche Vernehmung u. ſ. w. kann jedoch von der Lokalbehörde erfolgen
2).
Seine Analogie findet dieſer ſtaatsrechtliche Vertrag auf dem Gebiete
des Privatrechts natürlich nicht in den Contracten des Obligationenrechts,
ſondern in den familienrechtlichen Verträgen, insbeſondere in der Adoption.
3).
Minderjährige bedürfen demgemäß zur Stellung des Geſuchs der vä-
terlichen oder vormundſchaftlichen Genehmigung. Vgl. Landgraff S. 635.
4).
Das Geſetz begnügt ſich nicht mit der Ausfertigung der Urkunde
ſondern es verlangt deren Aushändigung. Ob dieſelbe ſtattgefunden hat
oder nicht, iſt nach den allgemeinen Grundſätzen über die Inſinuation
obrigkeitlicher Verfügungen zu beurtheilen; ſie kann demnach ſtatt an den Auf-
zunehmenden ſelbſt auch an deſſen Angehörige oder legitimirte Bevollmächtigte
erfolgen. Kann jedoch eine Aushändigung thatſächlich nicht ſtattfinden, ſo wird
die Verleihung der Staatsangehörigkeit nicht perfekt und kann demnach auch
keine Rechtswirkungen haben. Vgl. über die frühere preußiſche Praxis v.
Rönne Preuß. Staatsr. I. 2 S. 125 Note 3 (3. Aufl.)
5).
Auf großjährige Kinder, welche ſich unter väterlicher Gewalt befinden,
erſtreckt ſich die Verleihung nicht mit; denſelben muß vielmehr die Staatsan-
gehörigkeit beſonders verliehen werden. Die Motive geben als Grund an,
daß die Feſtſtellung der Thatſache, daß ſie unter väterlicher Gewalt ſtehen,
häufig ſehr zweifelhaft iſt. Vgl. Landgraff S. 634. 635. Riedel 262.
1).
§. 11. „Die Verleihung der Staatsangehörigkeit erſtreckt ſich, inſofern
nicht dabei eine Ausnahme gemacht wird
, zugleich auf die Ehe-
frau und die noch unter väterlicher Gewalt ſtehenden minderjährigen Kinder.“
2).
Geſ. über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 §. 2.
3).
Die Verleihung der Staatsangehörigkeit an Deutſche, welche ſich nicht im
Staatsgebiete niederlaſſen, z. B. die Ertheilung eines Ehren-Staatsbürger-
rechts, iſt demnach unzuläſſig. Vgl. auch Riedel S. 258 unter 3 b.
1).
Dieſe Gründe ſind: bei unſelbſtſtändigen, d. h. einer familienrechtlichen
Gewalt unterworfenen Perſonen Mangel der Genehmigung des Gewalthabers,
(§. 2), polizeiliche Aufenthaltsbeſchränkungen beſtrafter Perſonen (§. 3), Man-
gel hinreichender Kräfte zur Beſchaffung des nothdürftigen Lebensunterhalts,
wobei das Geſetz unterſcheidet, zwiſchen der Geſtattung, an einem Orte anzu-
ziehen (§. 4), und der Entziehung der Erlaubniß nach erfolgtem Anzuge den
Aufenthalt fortzuſetzen (§. 5). Eine eingehende Erläuterung dieſer Beſtimmun-
gen giebt Arnoldt. Die Freizügigkeit und der Unterſtützungswohnſitz.
Berlin 1872. S. 33—60.
2).
§. 7 des Geſ. ſagt: „die Aufnahme-Urkunde wird jedem Angehörigen
eines anderen Bundesſtaates ertheilt“ d. h. ſie muß ertheilt werden, der
Staat darf die Verleihung nicht verſagen, „ſofern kein Grund vorliegt“ ꝛc.
1).
Der Grund iſt der, daß die Staatsangehörigkeit in einem Bundes-
ſtaate das Recht begründet, in jedem andern Bundesſtaate die Aufnahme
zu verlangen; der Ausländer könnte ſich daher in einem Bundesſtaate unter
erleichterten Bedingungen naturaliſiren, und dann in einem anderen Bun-
desſtaate aufnehmen laſſen. Deshalb iſt das im §. 8 des Geſ. aufgeführte
Minimum von Erforderniſſen ius cogens.
2).
Riedel S. 259. 260. Thatſächlich wird ein Staat von dieſer Be-
fugniß nicht leicht Gebrauch machen, da die von ihm eingeführten Erſchwerun-
gen der Naturaliſation auf dem in der vorigen Note angegebenen Wege um-
gangen werden können. Indeß iſt es z. B. einem Staate unverwehrt, für die
Ertheilung von Naturaliſations-Urkunden Stempel- und Ausfertigungs-
gebühren zu erheben, während die Ertheilung von Aufnahme-Urkunden
koſtenfrei erfolgen muß. §. 24 Abſ. 1. Ueber die Höhe der für die Natu-
raliſation zu zahlenden Koſten, ſagt das Geſetz Nichts; ihre Normirung iſt
daher den Einzelſtaaten überlaſſen. Die Annahme von Landgraff S. 648,
daß die Naturaliſations-Urkunde wie die Entlaſſungsurkunde zu behandeln ſei,
weil die Nichterwähnung der dafür zuläſſigen Gebühren angeblich auf einem
Redaktionsverſehen beruht, iſt unbegründet. Auch iſt zu beachten, daß beide
Fälle nicht analog ſind; denn hohe Gebühren für die Entlaſſungs-Ur-
kunde kämen einer Auswanderungs-Steuer gleich; hier handelt es ſich um
Zahlungen, die Inländer leiſten, bei der Naturaliſation um Zahlungen, welche
von Ausländern erhoben werden. In Bayern iſt von der Befugniß, die
Naturaliſation von Ausländern an erſchwerende Bedingungen zu knüpfen in-
ſofern Gebrauch gemacht worden, als der Miniſt.-Erl. vom 9. Mai 1871
Nr. 5 (bei Riedel S. 274) verfügt, daß Ausländern die Naturaliſation in der
Regel nur dann zu ertheilen ſei, wenn ſie nachweiſen, daß ſie für den Fall
der Naturaliſation, ſofort die Heimat in einer bayeriſchen Gemeinde erhalten.
1).
Trotz dieſes Gehörs, welches die Gemeinde bei den Verhandlungen
über die Naturaliſation findet, ſind aber Naturaliſation und Aufnahme in einen
beſtimmten Gemeindeverband oder Erwerb des Gemeindebürgerrechts von ein-
ander völlig unabhängig. Landgraff S. 639.
2).
Landgraff S. 633 verkennt das Weſen dieſes Erwerbsgrundes, wenn
er ihn nicht mit der Verleihung, ſondern mit den familienrechtlichen Erwerbs-
gründen zuſammenſtellt. Im Geſetz hat er ſeine richtige Stelle in dem von
der Verleihung handelnden Theile gefunden.
1).
d. h. ſeinen erſten Dienſtwohnſitz. Bei einer Verſetzung in das Ge-
biet eines andern Bundesſtaates ändert ſich die Staatsangehörigkeit des Reichs-
beamten nicht; denn zu dieſer Zeit iſt er nicht mehr Ausländer, ſondern
Reichsangehöriger. Wenn ein Deutſcher im Reichsdienſt angeſtellt wird,
ſo ändert ſich ſeine Staatsangehörigkeit nicht, wenngleich ſein dienſtlicher Wohn-
ſitz außerhalb ſeines Heimathsſtaates iſt. Die entgegengeſetzte Anſicht von
Riedel S. 261 Nr. 6 iſt irrig.
2).
Siehe oben S. 166 Note 4.
1).
Das Geſetz ſagt: „Die Entlaſſung wird unwirkſam, wenn“. Eine
Unwirkſamkeits-Erklärung der Entlaſſung iſt nicht vorgeſchrieben und auch
nicht ſachlich erforderlich. Es kann daher auch nicht bezweifelt werden, daß
die Entlaſſung von Anfang an unwirkſam geweſen iſt, nicht erſt es nachträglich
wird und daß mithin auch in der Zwiſchenzeit die ſtaatsbürgerlichen Pflichten
erfüllt werden müſſen. Vgl. Landgraff S. 643. Die Annahme Böhlau’s
a. a. O. S. 35 Note 168, daß während der ſechsmonatl. Friſt pendente
conditione resolutiva
die Bundesangehörigkeit ohne Staatsan-
gehörigkeit ſelbſtſtändig fortbeſteht
, wird durch das Geſetz in keiner
Weiſe gerechtfertigt.
2).
Wenn er dieſen Antrag nicht ſtellt, verbleibt ihm die Staatsangehörig-
keit ſeines bisherigen Heimathsſtaates; es kann daher ein Deutſcher gleichzeitig
mehreren, ja ſogar allen Bundesſtaaten als Staatsbürger angehören.
3).
Das Geſ. §. 15 Abſ. 2 führt drei Kategorien ſolcher Perſonen auf,
nämlich: 1) Wehrpflichtige, im Alter vom vollendeten 17. bis zum voll-
endeten 20. Lebensjahre, wenn ſie nicht ein Zeugniß der Kreis-Erſatz-Kommiſ-
ſion beibringen, daß ſie die Entlaſſung nicht blos in der Abſicht nachſuchen,
um ſich der Dienſtpflicht zu entziehen. 2) Militärperſonen, welche zum
1).
Man nennt dieſe, den Einzelſtaaten gegebene Rechtsnorm bisweilen die
„Auswanderungs-Freiheit“ und ſtempelt ſie zu einem ſogen. Grundrecht.
2).
Das Geſetz knüpft den Verluſt an den 10 jährigen Aufenthalt, auch
ohne daß ein neuer Wohnſitz begründet wird, alſo an ein rein thatſäch-
liches
Verhältniß. Daher kömmt die Willens- und Handlungs fähigkeit
nicht in Betracht, welche wol für die Niederlaſſung, nicht aber für den Aufent-
halt erforderlich iſt. Demgemäß fehlt es an jedem Grunde, für Minder-
jährige
die Friſt erſt mit dem Eintritt der Vollfährigkeit beginnen zu laſſen,
wie Landgraff S. 645 annimmt. Man muß im Gegentheil ſogar auch für
Geiſteskranke an den 10 jährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Auslande
den Verluſt der Staatsangehörigkeit knüpfen.
3).
Den Landesregierungen iſt die Feſtſetzung ihrer Gültigkeits-Dauer
überlaſſen.
4).
Vgl. Konſulats-Geſetz v. 8. Nov. 1867 §. 12 (R.-G.-Bl. S. 139).
3).
ſtehenden Heere oder zur Flotte gehören, Offiziere des Beurlaubtenſtandes und
Beamte, bevor ſie aus dem Dienſte entlaſſen ſind. 3) Die zur Reſerve des
ſtehenden Heeres oder zur Flotte und die zur Landwehr und Seewehr ge-
hörigen und nicht als Offiziere angeſtellten Perſonen, nachdem ſie zum activen
Dienſt einberufen worden ſind. Vgl. ferner Reichsmilitärgeſetz vom
2. Mai 1874 §. 60 (R.-G.-Bl. S. 61.)
1).
In dieſer Hinſicht erweiſt ſich demnach die Staatsangehörigkeit im
Gegenſatz zur Reichsangehörigkeit wirkſam.
1).
Nicht im Auslande ſchlechtweg, ſondern in demſelben Staate wäh-
rend der ganzen Friſt.
2).
Veranlaſſung hierzu war der Art. 1 des Vertrages mit Nordamerika
vom 22. Februar 1868 (G.-Bl. S. 228). Es ſollte nicht nur dieſer Vertrag
in Kraft bleiben, ſondern der Reichsregierung auch die Möglichkeit gewährt
werden, ähnliche Verträge mit anderen Staaten zu ſchließen. Ueber dieſen
Vertrag vgl. Thudichum S. 94 ff. und v. Martitz in Hirth’s Annalen
1875 S. 827 ff.
1).
Riedel S. 85 fg. u. v. Pözl S. 7 ff. unterſcheiden zwar im An-
ſchluß an die im Bayeriſchen Staatsrecht längſt übliche Auseinanderhaltung
von Indigenat und Staatsbürgerrecht dem Begriffe nach richtig das Reichs-
indigenat von den reichsbürgerlichen Rechten und Pflichten, nicht aber in Hinſicht
auf den Inhalt beider.
1).
Nicht einmal ein Wohnrecht im Bundesgebiet hat der Art. 3 ge-
währt; denn wofern das Landesgeſetz die Ausweiſung von Inländern ge-
ſtattete, konnten alle Bundesangehörigen ausgewieſen werden. Erſt das Frei-
zügigkeitsgeſetz
hat dem Reichsangehörigen das Recht, im ganzen Bun-
desgebiet ſich aufzuhalten und ſich niederzulaſſen, gewährleiſtet. Daher iſt die
Ausführung in Goltdammer’s Archiv Bd. XVI. S. 466 nicht ganz correct.
2).
Im Weſentlichen richtig Rud. Brückner Ueber das gemeinſ. Indi-
genat. Gotha 1867 und Seydel Commentar S. 44. Auch bei den Ver-
handlungen im verfaſſungberathenden Reichstage wurde die wahre Bedeutung des
Art. 3 ſehr richtig charakteriſirt; namentlich von v. Wächter (Sten. Ber.
S. 251) und von Braun-Wiesbaden (S. 253). Dagegen kann man den
Sinn des Art. 3 kaum unrichtiger wiedergeben, als dies in einem Bericht des
Bundes-Ausſchuſſes für Juſtizweſen v. 12. Dezember 1868 (Hirth’s Annalen II.
S. 14) in dem an die Spitze geſtellten Satze geſchehen iſt: „Nach Art. 3 ſollen
kraft des in der Verf. anerkannten Bundes-Indigenats die Angehörigen des einen
1).
Geſetz vom 12. Oktober 1867 §. 2.
2).
Geſetz vom 6. Juni 1870 §. 60.
3).
Im Art. 3 iſt die praktiſche Tragweite des im Abſ. 1 ausgeſprochenen
Grundſatzes noch beſonders im Abſ. 2 hervorgehoben. „Kein Deutſcher darf
in der Ausübung dieſer Befugniß durch die Obrigkeit ſeiner Heimath oder
durch die Obrigkeit eines andern Bundesſtaates beſchränkt werden.“
2).
Bundesſtaats zugleich als Angehörige der anderen Bundes-
ſtaaten gelten
.“
1).
Dieſe Anſicht entwickelt ausführlich v. Groß im Gerichtsſaal Bd. 19
(1867) S. 329 ff., beſ. 340 und ein Erk. des Appellations-Gerichts
zu Gotha
in Goltdammer’s Archiv Bd. XVI. S. 472.
2).
z. B. die Verpflichtung der Ausländer, Kaution für Prozeßkoſten
zu erlegen, die Eigenſchaft eines Ausländers als causa arresti, ferner
namentlich die Zuläſſigkeit, Ausländer aus dem Lande zu verweiſen. Vgl.
die „Zuſammenſtellung der Streitfragen,“ welche dem oben
S. 177 Anm. 2 erwähnten Ausſchußbericht beigegeben iſt, in Hirth’s Annalen II.
S. 25 fg. Auch die nur für Ausländer begründeten beſonderen Gerichts-
ſtände ſind für Reichsangehörige nicht mehr maaßgebend. Urth. des Reichs-
Oberhandels-Gerichts
Bd. 2 S. 206 ff., Bd. 3 S. 395 ff., Bd. 5
S. 368, Bd. 12 S. 138 ff., Bd. 15 S. 1 ff. Der in den Fürſtenthümern
Schwarzburg beſtehende Territorial-Retract wird von den Landesgerich-
ten für aufgehoben erachtet (Hirth’s Annalen II. S. 28 Nr. 11); der in
Mecklenburg beſtehende Orts-Einwohner-Retract (ex iure incolatus) bleibt
von Art. 3 unberührt. Böhlau Heimathsrecht S. 28.
3).
Eine Vertheidigung der hier bekämpften Anſicht hat namentlich in Be-
ziehung auf die ſtrafprozeſſualiſchen Kompetenz-Regeln verſucht Spinola in
Goltdammer’s Archiv Bd. XX. S. 321 ff. Gegen ihn erklären ſich mit aus-
führlicher Widerlegung ſeiner Gründe Schwarze und Francke ebendaſelbſt
Bd. XXI. S. 64 fg. u. S. 73 ff.
1).
Mecklenb. Verordn. vom 28. Dezember 1872 §. 5. Böhlau
a. a. O. S. 30 Note 141. S. 33 Note 155.
2).
Daß dies begrifflich etwas weſentlich Anderes iſt als die Conſtituirung
ſubjectiver Rechte, bedarf wol keiner Ausführung. Der volksmäßige
Sprachgebrauch kann hier allerdings leicht irre führen. Wenn z. B. die für
Ehefrauen beſtehenden Beſchränkungen für Handelsfrauen aufgehoben werden,
ſo ſagt man wol, die Handelsfrauen haben das Recht, ſelbſtändig Prozeſſe
zu führen u. ſ. w.; in Wahrheit aber handelt es ſich nicht um Rechte, ſondern
um Rechtsregeln.
1).
Man kann auch nicht ſagen, daß das Reichsbürgerrecht im ſubj. Sinn
wenn nicht durch Art. 3, ſo doch jedenfalls jetzt durch dieſe Geſetze, gleichſam
die Ausführungsgeſetze des Art. 3, einen materiellen Rechtsinhalt bekommen
habe. Nach Maßgabe der Gewerbe-Ordnung ein Gewerbe betreiben oder nach
Maßgabe des Freizügigkeitsgeſetzes einen Wohnſitz begründen zu dürfen, iſt
ebenſo wenig ein Recht im ſubjectiven Sinn, als nach Maaßgabe des Civil-
rechts Darlehnsgläubiger, Miether, Servitutberechtigter oder Eigenthümer
werden zu dürfen. Will man hier von einem Rechte reden, ſo iſt es nur das
eine, weit umfaſſende Recht, unter dem Schutz der Geſetze zu ſtehen, welches wie
oben S. 154 ausgeführt, allerdings in dem Staats- reſp. Reichsbürgerrecht ent-
halten iſt.
2).
Ueber die Auslegung des Wortes „Ausländer“ im Art. 84 der Wechſ.-
Ordn. vgl. Urth. des Reichs-Oberhandelsgerichts Bd. 6 S. 357 ff.
1).
So namentlich Thudichum S. 53 ff. v. Mohl Reichsſtaatsrecht
S. 8 ff. Bluntſchli Staatslehre für Gebildete (1874) S. 345 fg.
1).
So v. Rönne S. 33 fg. auch Seydel Comment. S. 29 fg. u. a.
Ebenſo giebt Grotefend deutſches Staatsr. §. 324 nicht viel mehr als eine
Aufzählung der im Art. 1 der Verf. genannten Staaten.
2).
Zu den ſonderbarſten Curioſitäten der Literatur des Reichsſtaatsrechts
gehört die Schrift von H. Beta Das Neue Deutſche Reich. 1871, in welcher
es dem Deutſchen Reiche zum Vorwurf gemacht wird, daß es ein räumlich
begränztes Gebiet habe und nicht alle in der ganzen Welt zerſtreut lebenden
Deutſche umfaſſe, überhaupt nicht „kosmopolitiſch“ ſei.
3).
So z. B. Riedel S. 9 ff., der dahin nicht blos die räumliche Com-
petenz der Normal-Eichungskommiſſion, des Oberhandelsgerichts und des Bun-
desamts für das Heimathsweſen, ſondern ſogar Marine, Schifffahrt und Con-
ſulatweſen zählt.
1).
Sie wird noch vertreten von ZöpflII. §. 443, der auf dieſelbe 5
„Rechte“ und 2 „Ausflüſſe“ (nämlich die Anwendung der statuta realia und
den Gerichtsſtand der Forenſen, den ſogen. Landſaſſiat) zurückführt.
2).
Am ſchärfſten iſt dieſer Begriff präciſirt von v. Gerber Grundzüge
§. 22. Vgl. auch den Artikel „Staatsgebiet“ von Brockhaus in v. Holtzen-
dorffs Rechtslexicon Bd. II.
3).
Die Gebietshoheit iſt kein Eigenthum im Sinne des Privatrechts, ſo
wenig wie die Staatsgewalt über die Unterthanen privatrechtliche potestas
oder mundium iſt. Der Satz, daß die Gebietshoheit nicht dominium ſondern
imperium ſei, iſt faſt zum ſtaatsrechtlichen Gemeinplatz geworden. Ihrem
Inhalte nach iſt die Gebietshoheit nur ſtaatsrechtlicher Natur, es ſind nur
obrigkeitliche Hoheitsrechte, welche ſie involvirt. Aber ſo wie das Herrſchafts-
recht über die Unterthanen eine Analogie findet an den familienrechtlichen
Gewaltverhältniſſen; ſo die Gebietshoheit an dem ſachenrechtlichen Eigenthum.
Die allgemeine Begriffskategorie der ausſchließlichen und totalen
Herrſchaft über eine körperliche Sache iſt dieſelbe, nur die Art der Herrſchaft, ihr
Zweck und Inhalt, ſind verſchieden. Die Analogie tritt am deutlichſten hervor
im Völkerrecht, wo das Territorium eines Staates im Verhältniß zu an-
deren Staaten in völlig gleichartiger Weiſe wie das Eigenthum in privatrecht-
licher Beziehung behandelt wird. Vgl. Klüber Völkerr. §. 128. Heffter
Völkerr. §. 64 ff. Hartmann Inſtitut. des prakt. Völkerrechts (Hannover
1874) §. 58 fg. Die Analogie zwiſchen der Gebietshoheit und dem Eigen-
thumsrecht wird zwar in Abrede geſtellt von Fricker Vom Staatsgebiet.
Tübingen 1867, aber ſeine Gründe ſind nicht ſtichhaltig. Er beruft ſich darauf,
daß der Staat nur einen kleinen Theil der Bodenfläche zu ſeiner Benutzung
ergreift, die Hauptmaſſe dagegen dem Eigenthum des Einzelnen überläßt. (S.
15 ff.) Allein grade die Verſchiedenheit der öffentl. und der privatrechtlichen
Herrſchaft geſtattet, daß beide Herrſchaften gleichzeitig an demſelben Ob-
ject beſtehen; dagegen giebt es an demſelben Grund und Boden gleichzeitig
weder zwei Eigenthumsrechte noch zwei Staatsherrſchaften und ſo weit der
Staat Eigenthum im Privatrechtsſinne hat, iſt er nicht Perſon des öffentlichen
Rechts ſondern Fiskus. Ebenſo wenig kann die begriffliche Analogie zwiſchen
1).
Vgl. auch Rüttimann Nordamerik. Bundesſtaatsr. I. §. 58.
2).
Stenogr. Ber. S. 95.
3).
So beſonders Seydel Comment. S. 28 fg.
4).
So äußert ſich z. B. Schulze Einleit. S. 441. Ganz ähnlich „Das
3).
Eigenthum und Gebietshoheit damit widerlegt werden, daß das Gebiet ein
weſentliches Moment im Begriff des Staates ſei und daß deshalb es kein
Recht des Staates an ſeinem Gebiet geben könne. (S. 17 fg. 23 fg.) Grade
dieſes ausſchließliche Herrſchaftsrecht am Gebiet iſt für den Staatsbegriff we-
ſentlich.
4).
Bundesſtaatsr. der Nordamerik. Union, der Schweiz und des Nordd. Bundes
zuſammengeſtellt von einem Juriſten.“ München 1868 S. 14.
1).
Vgl. auch v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 11.
1).
Sollte einmal ein Theil von Schleswig an Dänemark abgetreten wer-
den, ſo müßte demnach zuerſt der Preuß. Landtag in verfaſſungsmäßiger
Weiſe einem Geſetz zuſtimmen, welches die abzutretenden Gebiete zum Zweck
ihrer Abtretung aus dem Preuß. Staate ausſcheidet oder welches die Preuß.
Regierung ermächtigt, einem Reichsgeſetz zuzuſtimmen, welches dieſe Abtre-
tung anordnen wird. Vgl. die Verhandlungen des verfaſſungsgebenden Reichs-
tages vom 18. März 1867 (Stenogr. Ber. I. 219. 220) u. Seydel S. 33 fg.
Unklar HierſemenzelI. S. 6 und ihm nachſchreibend v. Rönne S. 40
Note 4. Abweichender Anſicht Thudichum S. 57.
1).
Vgl. Hartmann Inſtitut. des Völkerrechts S. 170.
2).
Dies behauptet Seydel S. 29.
3).
Vgl. Hierſemenzel S. 4. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37.
1).
Siehe oben S. 113. 118 fg.
3).
Seydel S. 30. Abweichender Anſicht ſind G. Meyer Staatsrechtl. Erörter.
(1872) S. 68 und v. Mohl S. 22. 25. Daß politiſche Bedenken im einzelnen
Falle entgegenſtehen können, iſt dem Letzteren zuzugeben; indeß doch nicht
immer. Was würde es dem Deutſchen Reich ſchaden, wenn ein Deutſcher
Landesherr etwa einmal kraft Erbrechts oder Kaufes ſouveräner Fürſt von
Lichtenſtein oder Monaco würde? In keinem Falle genügen politiſche Beden-
ken zur Aufſtellung eines Rechtsſatzes.
1).
Vgl. z. B. Bundesraths-Protok. 1874 §. 348 S. 244 fg., über den
Preuß.-Oldenburg. Gebiets-Austauſch vom 8. April 1873 und Bundesraths-
Protok. 1875 §. 229 S. 194 wegen Wolde und der Theilung des Kommunion-
harzes.
1).
Namentlich v. Martitz S. 10 u. G. Meyer Grundz. S. 47, der
jedoch ſpäter, Staatsr. Erörter. S. 65 ſeine Anſicht dahin modifizirt hat, daß
er nicht Zuſtimmung aller Einzelſtaaten, ſondern nur die des Reiches verlangt.
Dieſe Schriftſteller berufen ſich auf die „Vertrags-Natur“ des Bundes; dagegen
verwirft der entſchiedenſte Vertheidiger dieſer Theorie, Seydel S. 30 aus-
drücklich die in Rede ſtehende Conſequenz. Die richtige Anſicht haben auch
Thudichum S. 61. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37.
2).
Gebietsveränderungen in Deutſchland ſeit 1867: vgl. Ernſt Meier.
Ueber den Abſchluß von Staatsverträgen (1874) S. 253 ff.
  • 1. Preuß. Geſ. vom 23. März 1873 über die veränderte Abgrenzung des
    Jadegebietes.
  • 2. Vertrag zwiſchen Preußen und Sachſen-Altenburg vom 9. Juni 1868 und
    das Preuß. Geſetz vom 3. April 1869, wodurch die zu Altenburg gehörigen
    Theile der Dörfer Willſchütz und Gräfendorf gegen den unter preuß. Lan-
    deshoheit ſtehenden Theil von Königshofen ausgetauſcht wurden.
  • 3. Vertrag zwiſchen Preußen und Bremen v. 8. Dezember 1869 wegen Er-
    weiterung des Bremerhaven-Diſtricts.
  • 4. Rezeß zwiſchen Preußen und Mecklenb.-Schwerin über Regulirung der
    Landeshoheitsgrenzen in den Dörfern Suckow, Drenikow und Prorep vom
    12. Oktober 1872.
  • 5. Gebiets-Austauſch zwiſchen Sachſen-Weimar und Sachſen-Coburg-Gotha.
    (Geogr. Jahrbuch III. S. 17. Petermann’s Mittheilungen. Ergänzungs-
    heft 33 S. 11 Anm. 24 u. 30.)
  • 6. Theilung des Communions-Gebietes am Unterharz zwiſchen Braunſchweig
    und Preußen durch Vertrag vom 9. März 1874. Preuß. Geſetz-Samml.
    S. 295 ff.
1).
In Bezug auf den letzten Punkt hat das Geſetz vom 7. April 1869
die Verwaltungsbehörden der einzelnen Staaten „verpflichtet und er-
mächtigt
“, wenn die Einſchleppung der Rinderpeſt zu befürchten iſt, Beſchrän-
kungen und Verbote der Einfuhr zu erlaſſen. Sobald eine Regierung in die
Lage kommt, ein Einfuhrverbot zu erlaſſen, zu verändern oder aufzuheben,
muß ſie dem Bundespräſidium davon Mittheilung machen und erforderlichen
Falls kann der Reichskanzler ſelbſtſtändig Anordnungen treffen. (Geſ. §. 1. 2.
9. 12.) Die Behörden der Einzelſtaaten erlaſſen das Einfuhrverbot daher
nicht in Ausübung eines Hoheitsrechtes des Einzelſtaates, ſondern kraft beſon-
derer Delegation in Ausübung eines Hoheitsrechtes des Reiches und nach
Maaßgabe der vom Reich erlaſſenen Inſtruktion. Vgl. die Revid. Inſtr. v.
9. Juni 1873 §. 1—10. (R.-G.-Bl. S. 147). Anwendungsfälle dieſer Gebiets-
hoheit des Reiches ſind ferner das vom Kaiſer erlaſſene Verbot der Einfuhr von
Reben zum Verpflanzen v. 11. Febr. 1873. (R.-G.-Bl. S. 43) und das Verbot
der Einfuhr von Kartoffeln aus Amerika v. 26. Febr. 1875 (R.-G.-Bl. S. 135.)
Auch Ausfuhrverbote kann nur das Reich erlaſſen, ſo wie im Nordd.
Bunde dieſelbe nur von dem Bundespräſidium verordnet werden konnten. Die
Beſtimmungen des Art. 4 des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867 ſind
durch den Eintritt der ſüddeutſchen Staaten in das Reich unanwendbar ge-
worden, da ſie von einander unabhängige, ſouveräne Staaten vorausſetzen.
Auch das Pferde-Ausfuhrverbot v. 4. März 1875 (R.-G.-Bl. S. 159) iſt im
Namen des Deutſchen Reichs verordnet worden, jedoch in einer dem Deut-
ſchen Reichsrecht gänzlich unbekannten Form, nämlich: „nach erfolgter Zuſtim-
mung der Bundesregierungen.“
2).
Der Sächſ.-Oeſterreich. Eiſenbahn-Vertrag vom 29. September 1869,
in der Königl. Sächſ. Geſetzſammlung publicirt am 15. Mai 1871, begründet
nur Rechte Sachſens im Böhmiſchen Gebiet, keine Beſchränkungen der Sächſ.
Gebietshoheit zu Gunſten Oeſterreichs. Die Eiſenbahnverträge mit dem Aus-
1).
Geſ. vom 21. Dezember 1871 (Rayon-Geſetz) R.-G.-Bl. S. 459.
2).
Vertr. v. Verſailles Z. III. §. 5 Nr. VI.
3).
Die Verordnung vom 21. Juli 1870 erklärte in Kriegszuſtand „die
Bezirke des 8., 11., 10., 9., 2. und 1. Armeekorps.“
2).
lande, welche Preußiſches Gebiet betreffen, ſind ſeit der Gründung des Reiches
im Namen des Reiches geſchloſſen worden; nämlich der Vertrag mit Rußland
vom 8. Juli 1871, mit der Niederlande vom 18. Auguſt 1871, mit Oeſterreich
vom 21. Mai 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 23. 39. 353) u. ſ. w. Vgl. Ernſt
Meier
Abſchluß von Staatsverträgen S. 272.
1).
Es verhält ſich hier alſo ebenſo wie mit dem Recht, Einfuhrverbote
auf Grund des Geſ. vom 7. April 1869 zu erlaſſen.
2).
Ueber die ſeltenen Fälle, in denen eine Ausweiſung von Reichsange-
hörigen aus dem Gebiet des Einzelſtaates vorkommen kann, vgl. oben S. 158.
1).
Bundesrathsbeſchl. vom 5. Juli 1872 Nr. 3. (R.-G.-Bl. S. 254). Geſ.
vom 4. Mai 1874 §. 1.
2).
Siehe oben S. 159.
1).
Die Aufzählung bei John in Holtzendorff’s Handb. des Deutſchen
Strafrechts III, 1 S. 14, wonach der Hochverrath gegen das Bundesgebiet
in doppelter Weiſe begangen werden kann, indem entweder ein Theil des
Bundesgebiets einem fremden Staat einverleibt werden oder aus demſelben ein
neuer ſelbſtändiger, dem Reich nicht angehöriger Staat gemacht werden ſoll,
iſt nicht erſchöpfend.
2).
Beziehentl. gegen den Regenten oder gegen ein Mitglied des landes-
herrlichen Hauſes.
1).
Vollkommen analoge Grundſätze gelten von der Befugniß zum Erlaß
von Geſetzen und Verordnungen.
2).
Beiſpiele für die Zuſammenlegung von Gebietstheilen verſchiedener
Staaten zu einem Oberpoſt-Bezirk enthält das Reichsgeſetzblatt in großer
Zahl; z. B. die Allerh. Erlaſſe vom 25. Nov. 1868, 24. April 1869, 14. März
1871, 14. Nov. 1871, 5. März 1873, 4. Dez. 1873; nicht minder ſind in
Preußen Oberpoſtbezirke vereinigt, in Sachſen und Baden die Staatsgebiete
unter zwei Oberpoſtdirektionen getheilt worden.
Hinſichtlich der Telegraphen-Verwaltung iſt z. B. das Mecklenb.
Gebiet der Direktion in Hamburg, das Hohenzollernſche Gebiet der Direktion
in Carlsruhe unterſtellt. Erl. vom 16. April 1870 und vom 19. Dez. 1871.
(R.-G.-Bl. 1870 S. 274. 1872 S. 1); Gebietstheile Preußens gehören zum
Bezirk der Direktion in Dresden u. ſ. w.
2).
Ueber die Abgränzung der Bezirke der Disciplinarkammern vgl.
die Verordn. vom 11. Juli 1873 (R.-G.-Bl. S. 293), welche nicht blos die
kleineren Staaten benachbarten Bezirken zulegt, ſondern auch ſie an verſchie-
dene Bezirke weiſt, z. B. der Heſſiſche Kreis Wimpfen gehört nicht nach Darm-
ſtadt, ſondern nach Karlsruhe u. ſ. w. Die Eintheilung des Bundesgebietes
in Armee-Korps-Bezirke, derſelben in Diviſions- und Brigade-Bezirke
und derſelben — „je nach Umfang und Bevölkerungszahl“ — in Landwehr-
Bataillons- und Landwehr-Kompagniebezirke überläßt das Reichs-Militärgeſetz
vom 1. Mai 1874 §. 5 dem Reiche. Eine Ueberſicht der Armeekorps-Bezirke
und ihrer Bevölkerungszahlen findet man in Hirth’s Annalen 1874 S. 500 fg.
1).
Einzelne Anwendungsfälle enthalten §. 30 Abſ. 2. §. 40 Abſ. 2.
1).
Vgl. auch das Geſetz zur Sicherung der Zollgrenze vom 1. Juli 1869
Art. 17. (B.-G.-Bl. S. 374) und das Brauſteuer-Geſetz vom 31. Mai 1872
§. 42 (R.-G.-Bl. S. 166.)
1).
Die Motive (Druckſachen des Reichstages von 1874/5 Bd. I. Nr. 4)
S. 193 ſagen ausdrücklich: „Ein Unterſchied, ob er Gerichtsvollzieher und
das in Betracht kommende Prozeßgericht, vor welches zu laden iſt oder deſſen
Entſcheidungen zu vollſtrecken ſind, demſelben oder verſchiedenen Bundesſtaaten
angehören, iſt nicht gemacht.“
2).
Es iſt dies ausdrücklich „allſeitig“ anerkannt worden im Bayriſchen
Schlußprotokoll Nr. XII. R.-G.-Bl. 1871 S. 25.
1).
Nordd. B.-V. Art. 11. 12. 15. 17. 18. 36 Abſ. 2. 50. 56 u. ſ. w.
2).
Nordd. B.-V. Art. 62. 63. 64. 65. 8 Abſ. 2.
3).
ebenda Art. 68. 19.
4).
Art. 53.
1).
Bei der Berathung der Verfaſſung wurde allerdings die Anſicht ge-
äußert, daß dieſe Ausdrücke identiſch ſeien. Vgl. v. Rönne Verf.-R. S. 151
Note 7. Meyer Grundz. S. 80.
2).
Vgl. beſonders Art. 7 und Art. 8 Abſ. 2. Art. 11 Abſ. 2. Art. 16.
Art. 37 Abſ. 2. Art. 56 Abſ. 1. Art. 61 Abſ. 2.
3).
Art. 18.
4).
Art. 17.
5).
Art. 53 Abſ. 1
6).
Art. 64. Cabinets-Ordre vom 14. Dez. 1867. Koller Archiv I, 678.
Thudichum Bundesverf. 382 Note 2.
7).
Hierſemenzel Verf. des Nordd. Bundes S. 77. Grotefend
Staatsr. §. 771 Note 3, Die Frage war übrigens controvers; vgl. Meyer
Grundzüge S. 83 und Erörterungen S. 48.
1).
Die Annahme Knitſchky’s Hochverrath S. 125, daß dadurch eine
Aenderung der ſtaatsrechtlichen Stellung des Königs von Preußen begründet
und er als „Inhaber der Landeshoheit im Reiche“ angeſehen werde, iſt nicht
gerechtfertigt.
2).
Dagegen wird in dem Schlußprotokoll Z. VII. die Bevollmächtigung der
Bayer. Geſandten zur Bertretung der Bundesgeſandten zugeſichert „von Sr.
Majeſtät dem Könige von Preußen kraft der Allerhöchſtihnen zuſtehenden
Präſidialrechte.“
1).
Die Zuſammenſtellung von Thudichum in v. Holzendorff’s Jahrb.
I. S. 11 iſt nicht ganz vollſtändig.
2).
St.-B. des Nordd. Reichstages 1870. II. außerord. Seſſ. S. 76.
3).
Uebereinſtimmend damit iſt die Erklärung des St.-Min. Delbrück
vom 8. Dez. 1870 bei Einbringung des Geſ.-Entw. über die Aufnahme der
Bezeichnung Kaiſer und Reich. Die Bezeichnung „Kaiſer“ ſollte darnach zu-
nächſt nur aufgenommen werden: „an der Stelle der Bundesverfaſſung, welche
die Präſidialſtellung der Krone Preußen bezeichnet.“ Stenogr. Ber.
II. außerord. Seſſ. 1870. S. 167.
4).
I. Seſſion 1871. Druckſachen Nr. 4.
5).
Stenogr. Berichte S. 95.
1).
Man ſollte es kaum für nöthig halten, darauf aufmerkſam zu machen,
daß „Bundespräſidium“ etwas ganz Anderes iſt, als „Bundesrathspräſidium“;
und doch hat Grotefend Staatsrecht §. 769 es fertig gebracht, den König
von Preußen zum Vorſitzenden des Bundesraths (!) zu erklären.
2).
Siehe oben §. 9.
1).
R.-V. Art. 17.
2).
So z. B. bei Eröffnung und Schließung des Reichstages.
3).
Vgl. Meyer Grundz. S. 63 Erörter. S. 47.
4).
Verf. des Deutſchen Reichs S. 86—102, beſ. S. 98.
5).
Deutſches Reichsſtaatsrecht 282. 289.
6).
iura singularia, nicht iura singulorum. Siehe oben S. 113. 117.
1).
in dem oben S. 88 fg. entwickelten Sinne.
1).
Bekanntlich ſollte nach den Preuß. Reformvorſchlägen vom 10. Juni
1866 der König von Preußen Bundes-Oberfeldherr der Nordarmee, der Kö-
nig von Bayern Bundes-Oberfeldherr der Südarmee werden.
2).
Dies iſt die Auffaſſung Seydel’s Commentar S. 91. 112.
1).
Auerbach S. 106. Vgl. auch v. Mohl S. 285.
2).
Riedel S. 103. Thudichum in Holtzendorff’s Jahrbuch I. S. 25
Note 4 und beſonders Seydel Comm. S. 112 fg.
3).
Vgl. auch v. Pözl Supplement zum Bayr. Verf.-Recht S. 106 Note 3.
1).
v. Gerber Grundz. §. 34 Note 4. (S. 101): „Der Fall des Ein-
tritts der Regentſchaft iſt ein unvollkommener Fall der Thronerledigung. Es
iſt zwar ein Monarch vorhanden, aber ein ſolcher, der das Monarchenrecht
nicht ausüben kann; inſoweit iſt der Thron leer.“
2).
Vgl. Seydel S. 114. „Iſt einmal das Präſidium ein Recht der
Krone Preußen, dann kann es von Niemand Anderem ausgeübt werden als
von dem, der die anderen Kronrechte wahrnimmt. Eine Vertheilung dieſer
Rechte an Verſchiedene wäre dem Geiſte der Reichsverfaſſung entgegen; denn
das Präſidium ſteht mit der preußiſchen Königskrone nicht in Perſonalunion,
ſondern es iſt ein preußiſches Recht im Bunde.“
1).
(3. Aufl. I. 2 S. 588 fg.)
2).
Die Theorie beruht auf den Ausführungen v. Mohl’s in deſſen
Württemb. Staatsr. I. S. 172 ff.
1).
Vgl. Held Syſtem des Verfaſſungsr. II. S. 272 Note 2 u. S. 295
Note 1. Zachariä Staatsr. I. §. 56 Note 8 (S. 302). Schulze Preuß.
Staatsr. I. §. 63 S. 203 fg.
1).
Vgl. darüber Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 178 ff. Preuß. V.-U.
Art. 53. „Die Krone iſt den Königl. Hausgeſetzen gemäß erblich in dem
Mannsſtamme des Königl. Hauſes nach dem Rechte der Erſtgeburt und nach
der agnatiſchen Linealfolge.“
1).
Es ſoll damit natürlich nicht geſagt werden, daß der Kaiſer ein Reichs-
beamter ſei (ſiehe oben S. 211), ſondern nur die Natur des Titels charac-
teriſirt werden.
1).
Bei dem Erlaß Preußiſcher Staatsgeſetze, Königl. Verordnungen für
Preußen, Beſtallungs- und Entlaſſungs-Urkunden für Preuß. Beamte u. ſ. w.
wird demgemäß der Titel „Deutſcher Kaiſer“ nicht gebraucht.
2).
Ebenſo auf den auf Preuß. Münzſtätten geprägten Reichsgoldmünzen.
3).
Eine Ausnahme macht die Eidesformel für den Dienſteid der unmit-
telbaren Reichsbeamten. R.-G.-Bl. 1871 S. 303.
1).
Allerh. Erlaß des Kaiſers vom 18. Januar 1871. Preuß. Min.-Bl.
der inneren Verw. 1871 S. 2. Thudichum im Jahrb. von v. Holtzendorff I.
S. 6. v. Rönne S. 156 Note 1 b.
2).
Die unbefugte Führung des Prädicats „Kaiſerlich“ fällt nicht unter
R.-Str.-G.-B. §. 360 Nr. 8, wenn nicht zugleich die unbefugte Annahme
eines Titels damit verbunden iſt.
3).
R.-G.-Bl. 1871 S. 318 mit der Berichtigung S. 458. Das Kaiſer-
liche Wappen iſt der ſchwarze, einköpfige, rechtsſehende Adler mit rothem
Schnabel, Zunge und Klauen, ohne Scepter und Reichsapfel, auf dem Bruſt-
ſchilde den mit dem Hohenzollern-Schilde belegten Preußiſchen Adler, über
demſelben die Krone in der Form der Krone Karl’s des Großen, jedoch mit
zwei ſich kreuzenden Bügeln. Die Kaiſerl. Standarte enthält in gelbem
Grunde das eiſerne Kreuz, belegt mit dem Kaiſerlichen, von der Kette des
Schwarzen Adler-Ordens umgebenen Wappen im gelben Felde und in den
vier Eckfeldern des Fahnentuchs abwechſelnd den Kaiſerlichen Adler und die
Kaiſerliche Krone. Vgl. Graf Stillfried. Die Attribute des Neuen
1).
R.-G.-Bl. S. 90.
2).
Alſo nicht Fremden und ebenſo wenig Deutſchen Kaufleuten, welche
die Waaren nicht fabriziren, ſondern ſie nur detailliren und verpacken. Jedoch
wird die Beſtimmung thatſächlich nicht ſtrict interpretirt.
3).
Bekanntm. des Reichskanzlers v. 11. April 1872. (R.-G.-Bl. S. 93.)
4).
In der Literatur des Deutſchen Reichsſtaatsrechts iſt es üblich gewor-
den, Kataloge der kaiſerlichen Rechte aufzuſtellen. So z. B. bei Thudichum
3).
Deutſchen Reiches. Abgebildet, beſchrieben und erläutert. Mit 16 Tafeln
2. Aufl. Berlin 1874.
4).
Nordd. Bundesverf. S. 125, v. Gerber S. 246, Hauſer S. 72 ff., Rie-
del
S. 29 ff., Meyer Erörter. S. 52, Weſterkamp S. 145, v. Rönne
S. 157 ff. u. beſ. v. Mohl S. 283 ff. Dieſe Aufzählungen ſind unvollſtändig
und meiſtens ohne dogmatiſche Geſichtspunkte; ſie bieten kaum den Nutzen, wie
das Wortregiſter des Reichsgeſetzblattes von 1871 unter dem Wort: Kaiſer.
1).
Vgl. R.-V. Art. 11 Abſ. 3.
1).
Auch in dieſer Hinſicht bietet die Einwirkung des Kaiſers auf die
Thätigkeit des Bundesrathes und Reichstages vielfache Analogien zu dem Ein-
fluß des Vorſtandes einer juriſtiſchen Perſon des Privatrechts auf die Func-
tionen des Verwaltungsrathes oder Curatoriums oder der Generalverſammlung
in Beziehung auf die Einberufung, den Vorſitz, die Ausfertigung und Feſt-
ſtellung der Beſchlüſſe u. ſ. w.
2).
R.-V. Art. 15. Reichsbeamten-Geſetz §. 25.
1).
Siehe unten die Lehre von den Reichsbehörden und den Reichs-
beamten.
2).
Natürlich nur, inſofern der Kaiſer denſelben für erforderlich oder nütz-
lich erachtet. Aus dieſer, in der Natur der Regierungsthätigkeit liegenden
Handlungsfreiheit macht v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 310 ein beſonderes, dem
Kaiſer zuſtehendes „unbeſchränktes Recht der Abbrechung des diplomatiſchen
Verkehres.“
1).
Geſ. vom 9. Juni 1871 §. 3.
2).
Unter den kritiſchen Beurtheilungen des Bundesrathes ſind aus
der wiſſenſchaftlichen Literatur hervorzuheben: v. Martitz Betrachtungen
S. 45 fg. Thudichum Verf.-Recht S. 118 fg. Meyer Grundz. S. 102 fg.
Seydel Commentar S. 99. v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 239 fg. Weſter-
kamp
S. 97 fg., 110 fg., 153 fg. v. Held Verf. des Deutſchen Reichs
S. 103—118. — Die Schrift von Auguſt Winter Der Bundesrath und
die Reichsoberhausfrage. Tübingen 1872 halte ich für durchweg verfehlt.
1).
Grade im Gegenſatz hierzu nennt ihn v. Mohl S. 228. 230 „eine
ganz eigenthümlich kühne Schöpfung“ und eine „proles sine matre creata.“
2).
Auch für die Neugeſtaltung des Zollvereins im Jahre 1867 ergab ſich
dieſelbe Organiſation von ſelbſt.
1).
Am breiteſten führt dies aus Winter a. a. O. S. 58 ff.
2).
v. Gerber Grundz. S. 248 ſcheint an eine Verbindung beider Func-
tionen zu denken, in dem er ſagt: „Der Bundesrath iſt keineswegs mit einem
bloßen Oberhauſe zu vergleichen, vielmehr hat er auch den Charakter eines
1).
Man kann den Bundesrath des Deutſchen Reiches daher auch nicht in
Parallele ſtellen mit dem Schweizeriſchen Bundesrath, der ein Regierungs-
collegium iſt, noch mit dem Schweizeriſchen Ständerath, der ein Staatenhaus,
eine parlamentariſche Körperſchaft iſt. Bundesverf. vom 29. Mai 1874 Art.
95 fg. Art. 80 fg.
2).
Vgl. auch v. Mohl S. 230 und Gierke das alte und das neue
Deutſche Reich S. 25. 26. (Deutſche Zeit- und Streit-Fragen. III. Jahrgang
Heft 35. 1874.)
2).
höchſten Regierungscollegiums ꝛc. ꝛc.“ v. Rönne S. 148 hat dies wörtlich nach-
geſchrieben. Allein der Bundesrath iſt keines von beiden. Auch nach der
„von einem Juriſten“ gemachten Zuſammenſtellung des Bundesſtaatsrechts
der Nordamerik. Union, der Schweiz und des Norddeutſchen Bundes, Mün-
chen 1868, S. 35 ſind die Befugniſſe des Bundesrathes theils die eines Ober-
hauſes, theils die eines Staatsrathes, theils die eines Bundesminiſteriums.
Vgl. auch v. Held S. 113 Nr. 63.
1).
Stenogr. Ber. S. 388.
2).
Fürſt Bismarck im Nordd. Reichstage am 16. April 1869: „Die
Inſtruktion des Preußiſchen Bevollmächtigten wird beſchloſſen in dem Preu-
ßiſchen Miniſterium ebenſo wie die des Sächſiſchen Bevollmächtigten im Säch-
ſiſchen Miniſterium; letztere geht aus von Sr. Maj. dem Könige von Sachſen,
und die meinige in letzter Inſtanz nicht von dem Präſidium des
Bundes, ſondern von Sr. Maj. dem Könige von Preußen
.“
1).
Vgl. unten §. 54.
2).
Dies iſt verkannt von Prof. Biſchof. Denkſchrift betreffend das fürſtl.
und gräfl. Geſammthaus Schönburg und deſſen Anrecht auf Einräumung
von Sitz und Stimme im hohen Bundesrathe des Norddeutſchen Bundes.
Gießen 1871.
3).
Vgl. oben S. 128.
4).
Dies iſt alſo ein Sonderrecht (ius singulare) zu Gunſten Bayerns.
Siehe oben S. 117 und Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1510 fg.
Wenn Löning ebendaſ. 1875 S. 369 die Stimmrechte ſämmtlicher
Staaten als Sonderrechte erklärt, ſo beruht dies auf einem Verkennen des
Begriffes „Sonderrecht.“ Ein ſolches muß immer einer Regel als Aus-
nahme gegenüber ſtehen. Andererſeits kann ich aber auch der von v. Mohl
S. 234 aufgeſtellten Anſicht nicht beitreten, daß einzelnen Staaten ohne deren
Zuſtimmung durch ein verfaſſungsänderndes Geſetz ihre Stimmrechte entzogen
oder daß ſie zu Kurien vereinigt werden können. Denn aus der prinzipiellen
Gleichheit der Mitgliedſchaftsrechte folgt, daß, ſo lange das dem Art. 6
zu Grunde liegende Prinzip verfaſſungsmäßig beſteht, es auf alle Staaten
gleichmäßig Anwendung finden muß. Vgl. Laband a. a. O. S. 1511.
5).
Das Holſtein im ehemaligen Bundestage zukommende Stimmrecht be-
ruhte gemäß dem Protokoll der Bundesverſ. vom 5. November 1816 §. 3 pro
indiviso
auch auf Lauenburg. Dies iſt der Grund, warum für Lauenburg,
trotzdem es mit dem Preuß. Staate nicht vereinigt iſt, im Bundesrathe keine
beſondere Stimme geführt wird. Vgl. über abweichende Auffaſſungen oben
S. 90 Note 1.
1).
Es iſt zwar zuzugeben, daß wenn alle einzelnen Bundesſtaaten ihre
Thätigkeit im Bundesrath und alle einzelnen Abgeordneten ihre Thätigkeit
im Reichstage einſtellen würden, auch Bundesrath und Reichstag als Ganzes
nicht mehr in Funktion treten könnten; ein ſolcher Fall ſetzt aber eine ſolche
Erſchütterung der thatſächlichen Grundlagen, auf denen die Reichsverfaſſung
beruht, voraus, daß dieſe Verfaſſung ſelbſt nicht mehr fortdauern könnte; und
es iſt daher begreiflich, daß ſie für dieſen Fall keine Rechtsnormen enthält.
1).
Auch Fürſt Bismarck hat bei der Verhandlung über den Waldeck’-
ſchen Acceſſions-Vertrag im Preuß. Abgeordneten-Hauſe am 11. Dezember
1867 (Stenogr. Berichte I. S. 341) anerkannt, daß es dem Fürſten von
Waldeck völlig frei ſtehe, die ihm zuſtehende Stimme im Bundesrath ruhen
zu laſſen.
2).
In der Reichsverfaſſung dadurch anerkannt, daß im Gegenſatz zu den
Beſtimmungen über den Reichstag für die Bundesrathsbeſchlüſſe kein Minimum
der Stimmenzahl angeordnet iſt. v. Rönne S. 149. Weſterkamp S. 100.
Seydel S. 105.
1).
Fürſt Bismarck charakteriſirte in ſeiner berühmten Rede im Reichs-
tage vom 19. April 1871 die Stimmen im Bundesrathe in folgender Art:
„Nach der Erfurter Verfaſſung ſtimmte im Staatenhauſe nicht der Staat,
ſondern das Individuum; es war Jemand ernannt worden (ich weiß nicht,
ob auf Lebenszeit oder limitirt), aber er ſtimmte nicht nach Inſtruktionen,
ſondern nach ſeiner Ueberzeugung. So leicht wiegen die Stimmen im Bun-
desrathe nicht; da ſtimmt nicht der Freiherr v. Frieſen, ſondern das König-
reich Sachſen ſtimmt durch ihn, nach ſeiner Inſtruktion giebt er ein Votum
ab, was ſorgfältig deſtillirt iſt aus all den Kräften, die zum öffentlichen Leben
in Sachſen mitwirken. In dem Votum iſt die Diagonale aller der Kräfte,
die in Sachſen thätig ſind, um das Staatsweſen zu bilden. — — — Analog
iſt es in den Hanſeſtädten, in den republikaniſchen Gliedern; es iſt das ganze
Gewicht einer reichen, großen, mächtigen, intelligenten Handelsſtadt, was ſich
Ihnen in dem Votum der Stadt Hamburg im Bundesrath darſtellt, und nicht
das Votum eines Hamburgers, der nach ſeiner perſönlichen Ueberzeugung ſo
oder ſo votiren kann. Die Vota im Bundesrath nehmen für ſich die Achtung
in Anſpruch, die man dem geſammten Staatsweſen eines der Bundesglieder
ſchuldig iſt.“
1).
Nehmen mehrere Vertreter deſſelben Staates an der Bundesrathsſitzung
Theil, ſo iſt einer von ihnen mit der Stimmführung betraut; führt ein Mit-
glied des Bundesrathes die Stimmen mehrerer Staaten, ſo giebt er das Vo-
tum jedes Staates beſonders ab.
2).
Was in Folge der Reichsangehörigkeit von geringer praktiſcher Bedeu-
tung iſt, abgeſehen von der Exemtion von direkten Steuern.
1).
Thudichum Verf.-Recht S. 106. Seydel Comment. S. 111. v.
Mohl S. 276.
2).
v. Mohl S. 277 fg.
3).
„kann“, nicht „muß“.
4).
Vgl. oben §. 9 S. 90 fg.
1).
Siehe oben S. 91 Note 1.
2).
Dies iſt die Beweisführung Seydel’s Comment. S. 97. 270. Vgl.
auch Hänel Studien I. S. 219.
1).
Vgl. oben S. 120 fg.
2).
v. Pözl S. 112 Note 1. v. Rönne S. 149.
1).
Siehe unten §. 29.
2).
Thudichum Verf.-R. S. 102. Seydel S. 97. Weſterkamp
S. 98. v. Mohl S. 253.
3).
Dadurch wird natürlich nicht ausgeſchloſſen, daß der Bundesrath nicht
aus einem ſolchen Vorgange Veranlaſſung nehmen könnte, den gefaßten Be-
ſchluß aus freien Stücken wieder aufzuheben, wofern dies nicht aus andern
Gründen unmöglich iſt. v. Rönne S. 149. 150. v. Mohl S. 254.
1).
Dies gilt auch von der im Bundesrath erklärten Zuſtimmung zur Auf-
hebung von Sonderrechten. Siehe oben S. 119—121.
2).
Vgl. hierüber Thudichum in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 23.
3).
Vgl. Staatsmin. Delbrück im II. Außerordentl. Reichstage 1870.
1).
Staatsmin. Delbrück a. a. O. S. 123.
2).
Staatsmin. Delbrück a. a. O. S. 122.
3).
Bayer. Bündniß-Vertrag III. §. 5 sub III. Abſ. 2. (R.-G.-Bl. 1871
S. 20.)
3).
Stenogr. Ber. S. 125. — Völlig unrichtig iſt die von Seydel Comment.
S. 105 aus Art. 7 Abſ. 4 gezogene Folgerung: „Wo daher die Gemeinſam-
keit der Angelegenheit für das einzelne Bundesglied aufhört, hört auch der
Bundesrath auf Organ für Wahrnehmung der Intereſſen dieſes Bundesgliedes
zu ſein.“ Nicht die Gemeinſamkeit des Intereſſes, ſondern die verfaſſungs-
mäßige Kompetenz des Reiches iſt maßgebend.
1).
Hierauf beruht es, daß, obwohl rechtlich der Bevollmächtigte nach der,
von ſeiner Regierung ihm ertheilten Inſtruktion zu ſtimmen hat, thatſäch-
lich
er durch ſeine Berichte die Entſchließungen ſeiner Regierung beeinfluſſen
kann, ſo daß er mehr ſeine Regierung inſtruirt, als er von ihr inſtruirt wird.
1).
In den Motiven (I. Seſſ. 1871 Druckſ. 4) wird darüber bemerkt,
daß dieſe Beſtimmung auf den Wunſch mehrerer Bundesſtaaten unter voller
Zuſtimmung der beiden Kontrahenten des Vertrages vom 23. November ge-
troffen worden ſei.
2).
Staatsmin. Delbrück im Nordd. Reichst. 1870. II. Aufl. Seſſion.
Sten. Ber. S. 140.
3).
Es iſt im Nordd. Reichstage bei der Diskuſſion über den Bayeriſchen
Vertrag von dem Abgeordneten Lasker die Frage angeregt worden, ob
der Vorſitzende dieſes Ausſchuſſes berechtigt ſei, ihn außerhalb Berlins zuſam-
mentreten zu laſſen. Darauf erwiederte Staatsminiſter Delbrück, er glaube
daß aus der Verf. ſelbſt unzweifelhaft folge, daß der Ausſchuß einer Körper-
ſchaft, deren Berufung dem Präſidium zuſteht, nur an dem Orte tagen kann,
1).
Vgl. z. B. Protokolle des Bundesrathes von 1871 §. 52. 93. 121.
2).
Nicht im Widerſpruch hiermit ſteht die Beſtimmung des Art. 9 der
R.-V., daß jedes Mitglied des Bundesrathes das Recht hat, im Reichstage
die Anſichten ſeiner Regierung zu vertreten, auch dann, wenn dieſelben von
der Majorität des Bundesrathes nicht adoptirt worden ſind. Denn überall,
wo zu einem Willensact des Reiches die Zuſtimmung des Reichstages erfor-
derlich iſt, hat die Beſchlußfaſſung des Bundesrathes über die zu machende
Vorlage nur die Bedeutung eines präparatoriſchen Actes.
3).
wo die Körperſchaft ſelbſt tagt. (Stenogr. Ber. a. a. O. S. 141.) „Unzwei-
felhaft“ dürfte dies wohl nicht ſein. Dagegen ergiebt ſich aus der thatſäch-
lichen Bedeutung dieſes Ausſchuſſes, daß er an keinem Orte Informationen
über die auswärtige Politik des Reiches erhalten kann, als da, wo der Reichs-
kanzler in der Lage und Willens iſt, ihm dieſelbe zu geben und daß ebenſo
wenig eine Diskuſſion dieſer Politik in Abweſenheit des Reichskanzlers auf
denſelben Eindruck zu machen im Stande iſt. Daß aber gerade nur Berlin
der Verſammlungsort dieſes Ausſchuſſes ſein könne, läßt ſich ſchwerlich behaup-
ten. Was hätte z. B. im Wege geſtanden, wenn ein ſolcher Ausſchuß ſchon
vor dem Ausbruch des franzöſ. Krieges beſtanden hätte, denſelben nach Ems
einzuberufen oder ſpäter nach Verſailles? Im Allgemeinen beſteht aber auch
für den Ausſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten die im §. 20 der Ge-
ſchäfts-Ordnung des Bundesrathes ausgeſprochene Regel, daß die Bundes-
raths-Ausſchüſſe ſich „am Sitze des Bundesrathes“ verſammeln.
1).
Das Verhältniß iſt daſſelbe wie bei privatrechtlichen Korporationen
das Verhältniß der Beſchlüſſe der General-Verſammlung zu den Abſtimmungen
und anderen Willensbethätigungen der einzelnen Mitglieder.
1).
Vgl. auch v. Martitz S. 52 fg. v. Gerber Grundzüge S. 248.
Thudichum S. 107.
1).
Dieſe Beſtimmung reicht aber noch etwas weiter als die Geſetzgebung,
indem auch die, dem Reichstage vorzulegenden Rechnungen, Berichte und dgl.
der Beſchlußfaſſung des Bundesraths unterliegen. Seydel S. 101.
1).
Thudichum in v. Holtzendorffs Jahrb. I. S. 22 Note 1 Seydel
Commentar S. 102 und in Hirth’s Annalen 1874 S. 1143 fg.
2).
Ueber Elſaß-Lothringen ſiehe unten §. 54.
3).
v. Rönne S. 159 freilich kehrt das Verhältniß gradezu um und be-
ruft ſich dafür (Note 7) ganz naiv auf Art. 7 Nr. 2 der R.-V.
1).
So umſchreibt z. B. Riedel S. 24 dieſe Verfaſſungs-Beſtimmung.
1).
Zollvereinsv. vom 16. Mai 1865 Art. 34 sub a.
1).
Schlußprotokoll v. 8. Juli 1867 Nr. 9 zu Art. 8 §. 12 des Zollver-
eins-Vertrages: „Die Functionen, welche durch die im §. 1 des gegenwärtigen
Protokolls bezeichneten Beſtimmungen, Abreden und Vereinbarungen der Ge-
neral-Conferenz
übertragen ſind, gehen auf den Bundesrath des
Zollvereins über.“
1).
II. Außerord. Seſſ. 1870. Stenogr. Ber. S. 68.
1).
Im Weſentlichen beſteht daſſelbe Verhältniß auch zwiſchen Art. 7 Ziff.
1 und Art. 16. Der Bundesrath beſchließt, welche Vorlagen dem Reichstage
zu machen ſind; der Kaiſer läßt dieſelben nach Maßgabe der Beſchlüſſe des
Bundesrathes an den Reichstag bringen.
2).
Sehr richtig äußerte ſich der Abg. Lasker im Reichstag 1870. II.
auß. Seſſ. Stenogr. Ber. S. 122: „Den zweiten Theil, welcher die Abhilfe
der Mängel dem Bundesrathe überweiſt, verſtehe ich dahin, daß die thatſäch-
liche Exekution allein durch das Bundeskanzler-Amt vermittelt wird, daß der
Bundesrath irgend welche Mängel als vorhanden konſtatirt und Abhilfe be-
ſchließt und daß dieſe dann durch die Beamten des Bundeskanzlers oder
durch das Bundeskanzler-Amt unter der Leitung des Bundeskanzlers erfolgen
muß. Ich glaube die Beſtimmungen der Verfaſſung nicht mißzuverſtehen und
in dieſer Einſchränkung begrüße ich ſie als eine vortheilhafte Organiſation.“
Weſterkamp S. 157 findet das Verhältniß des Bundesrathes und des
Kaiſers „nicht völlig klar;“ freilich, wenn ſeine Darſtellung deſſelben richtig
wäre, ſo wäre es völlig unklar.
1).
Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 484.
1).
Geſ. v. 4. Juli 1868 §. 2 (B.-G.-Bl. S. 433.)
2).
Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 3 (B.-G.-Bl. S. 201.)
3).
Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 42 (B.-G.-Bl. S. 368.)
4).
Geſ. v. 31. März 1873 §. 39 (R.-G.-Bl. S. 68.)
5).
Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 11 (R.-G.-Bl. S. 120.)
6).
Bankgeſ. v. 14. März 1875 §. 27 Abſ. 3 (R.-G.-Bl. S. 184.)
1).
Zollv.-Vertr. v. 16. Mai 1865 Art. 34 sub b).
1).
Daſſelbe gilt von dem Bericht über die Verwaltung des Reichs-Inva-
lidenfonds. Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 14 (R.-G. Bl. S. 121.)
2).
Die Bekanntmachung v. 19. Juni 1871 §. 10 (R.-G.-Bl. S. 258) über
die Inhaberpapiere mit Prämien ermächtigte das Reichskanzler-Amt zum Er-
laß von Ergänzungs-Vorſchriften, „nach Anhörung des Ausſchuſſes für Rech-
nungsweſen.“
1).
Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 6 (R.-G.-Bl. S. 162.)
2).
Geſ. v. 31. März 1873 §. 88 (R.-G.-Bl. S. 77.)
3).
Geſ. v. 8. Nov. 1867 §. 23 (B.-G.-Bl. S. 141.)
4).
Zollv.-Vertrag v. 8. Juli 1867 Art. 6.
5).
Reichs-Militär-Geſetz v. 2. Mai 1874 §. 9 (R.-G.-Bl. S. 47.)
6).
Daß nach §. 4 des Geſ. v. 4. Mai 1874 (R.-G.-Bl. S. 44) zur Wie-
dererwerbung der Staats-Angehörigkeit die Genehmigung des Bundesrathes
erforderlich iſt, wurde bereits oben S. 175 erörtert.
1).
Ein anſchauliches Beiſpiel liefert folgender Vorgang: In der Bundes-
raths-Sitzung vom 27. Febr. 1871 (Protok. §. 48) theilte der Vorſitzende mit,
daß zwiſchen dem Bundeskanzler-Amt einerſeits und dem Senat zu Bremen
andererſeits eine Meinungsverſchiedenheit darüber obwaltet, ob eine in Bremen
erlaſſene, das Betreten von Privathäuſern durch Hauſirer verbietende Verord-
nung mit der Reichs-Gewerbe-Ordnung im Widerſpruch ſtehe oder nicht. Auf
ſeinen Antrag wurde beſchloſſen, den IV. Ausſchuß mit der Berichterſtattung
zu beauftragen.
Auf den Bericht des Ausſchuſſes beſchloß der Bundesrath am 12. Nov.
1871 (Protok. §. 553), daß die Verordn. mit den Abſichten, welche zur Feſt-
ſtellung des Titels 3 der Gew.-Ordn. in ſeiner jetzigen Faſſung geführt haben,
nicht im Einklange ſtehe. Der Bevollmächtigte für Bremen erklärte darauf,
daß der Senat die Verordn. wieder aufheben werde.
1).
Materiell entſcheidet alſo auch hier der Bundesrath. Daß der Form
nach der Kaiſer entſcheidet iſt unerläßlich wegen des von ihm unterzeichneten
Anſtellungs-Patentes.
2).
Geſ. v. 8. Nov. 1867 §. 8 (B.-G.-Bl. S. 139.)
3).
Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 485. 486.
1).
Der Artikel iſt wörtlich gleichlautend mit dem Art. 29 der Wiener
Schlußakte, mit der alleinigen Abänderung, daß ſtatt „Bundesverſammlung“
Bundesrath geſetzt worden iſt. In die Verfaſſung des Nordd. Bundes wurde
er auf Antrag des Abg. Wiggers aufgenommen. Vgl. Sten. Ber. des ver-
faſſungber. Reichstages 1867 S. 672. Ueber den Art. 29 cit. ſind zu verglei-
chen Klüber Oeff. R. §. 169. ZöpflI. §. 156. ZachariäII. §. 281.
2).
Es ſteht dabei dem Bundesrathe frei, ſich das Gutachten eines oberſten
Gerichtshofes oder anderer Sachverſtändigen ertheilen zu laſſen.
3).
Vgl. die Erklärung des Bundescommiſſ. v. Savigny im Verfaſ-
ſungber. Reichstag v. 1867 S. 664 und die Bemerkungen des Abg. Dr.Za-
chariä
ebendaſ. S. 670. Vgl. ferner Thudichum S. 110.
1).
Vgl. über das Bundes-Auſträgal-Verfahren Klüber §. 172 ff. Zöpfl
I. §. 159 ff. ZachariäII. §. 267. 270 fg., woſelbſt auch die Literatur an-
gegeben iſt.
2).
Das Nähere bei Klüber §. 176. ZöpflI. §. 157. ZachariaII.
§. 273.
3).
Es iſt allerdings zuzugeben, daß Fälle denkbar ſind, welche weder
1).
Nicht jede Behauptung, daß ein Geſetzgebungs- oder Verwaltungs-Akt
einer Bundesregierung verfaſſungs widrig ſei, begründet eine Verfaſſungs-
Streitigkeit. Mit Recht iſt in dem Protokoll des Bundesrathes 1874
§. 94 (S. 70) hervorgehoben, „daß die von einer Korporation (im con-
creten Falle: der Magiſtrat der Stadt Roſtock) aufgeſtellte Behauptung, daß
ein von den verfaſſungsmäßigen Faktoren der Landesgeſetzgebung vereinbartes
Geſetz der Landesverfaſſung nicht entſpreche, eine Verfaſſungsſtreitigkeit im
Sinne des Art. 76 Abſ. 2 überhaupt nicht begründe.“
3).
unter Art. 76 Abſ. 1 noch unter Art. 77 fallen; derartige Fälle werden aber
gewiß in der Praxis höchſt ſelten vorkommen.
1).
Der Art. 76 ſagt „Verfaſſung“; es braucht dies aber nicht gerade
die „Verfaſſungs-Urkunde“ oder das Verfaſſungs-Geſetz zu ſein.
2).
Vgl. v. Martitz Betrachtungen ꝛc. S. 29 fg.
1).
Gedruckt 1871 in der Königl. Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei zu Ber-
lin. 18 Seiten.
1).
Siehe oben S. 234.
2).
Vgl. auch unten §. 33.
1).
In der Bundesraths-Sitzung vom 18. Dezember 1874, in welcher nur
ein einziger Preußiſcher Bevollmächtigter, der Staats-Miniſter Delbrück
anweſend war, trat derſelbe während der Sitzung wegen anderweiter Dienſt-
geſchäfte den Vorſitz an den Bayeriſchen Staats-Miniſter v. Pfretzſchner ab.
Protok. 1874 §. 563.
1).
Geſch.-Ordn. §. 1. 4.
2).
Geſch.-Ordn. §. 7. 8.
3).
Geſch.-Ordn. §. 8 Abſ. 2.
4).
Geſch.-Ordn. §. 7. 8 Abſ. 1 u. 3. Die auf Grund des §. 66 al. 2
des Reichsbeamten-Geſetzes eingehenden Rekurſe werden von dem Vorſitzenden
ohne Vortrag im Plenum, unmittelbar dem Ausſchuß für Juſtizweſen über-
wieſen. Protok. 1874 §. 116 (S. 82.)
5).
Geſch.-Ordn. §. 15.
6).
Geſch.-Ordn. §. 1.
1).
Geſch.-Ordn. ebenda. Auch für andere Wahlen, z. B. der Mitglieder
der Reichsſchulden-Kommiſſion u. dgl., wird in der Regel vorher der Tag, an
welchem ſie vorgenommen werden ſollen, feſtgeſetzt.
2).
Geſch.-Ordn. §. 2.
3).
Geſch.-Ordn. §. 4.
4).
Geſch.-Ordn. §. 5.
5).
Geſch.-Ordn. §. 11. 12. 13.
1).
Geſch.-Ordn. §. 14 Abſ. 1.
2).
Geſch.-Ordn. §. 14 Abſ. 2.
3).
Geſch.-Ordn. §. 23 Abſ. 1. Protok. 1872 §. 424.
1).
Geſch.-Ordn. §. 12.
2).
Protok. 1872 §. 87. Geſch.-Ordn. §. 18 Abſ. 5.
3).
R.-V. Art. 5.
4).
v. Mohl S. 236 nimmt an, daß wenn an einer Beſchlußfaſſung gar
kein preußiſcher Bevollmächtigter Theil nimmt, ſo daß Bayern den Vorſitz in
Vertretung führte, die Bayriſchen Stimmen im Falle der Stimmengleichheit den
Ausſchlag geben. Dies iſt zweifellos unrichtig. Denn das Schlußprotok. Z. IX
ſpricht nur von dem Vorſitz im Bundesrathe, nicht von einer ſtellvertretenden
Ausübung anderer Präſidialrechte. Die „Präſidialſtimme“ iſt nicht identiſch
mit der Stimme des Vorſitzenden im Bundesrathe, ſondern mit der Stimme
des Bundespräſidiums d. i. Preußens. Vgl. S. 234 u. 276.
1).
Art. 78 Abſ. 2 bildet keine Ausnahme von den Regeln über die Be-
ſchlußfaſſung des Bundesrathes. Die Zuſtimmung des einzelnen Bundesſtaa-
tes zur Aufhebung eines ihm zuſtehenden Sonderrechts iſt ein neben dem
Bundesrathsbeſchluß ſtehendes (materielles) Erforderniß. Anderer Anſicht
v. Mohl S. 236.
2).
Anderer Anſicht Seydel S. 104. 105.
3).
So z. B. v. Martitz Betrachtungen S. 42. HierſemenzelI. S.
39 Note 6. Riedel S. 28. 97. v. Rönne S. 154.
4).
Vgl. Meyer Grundzüge S. 69 Erörterungen S. 51. Weſterkamp
S. 95.
5).
Correct iſt die Faſſung des §. 3 der Geſch.-Ordn. des Bundesrathes.
6).
R.-V. Art. 7 Abſ. 3.
1).
R.-V. Art. 5 Abſ. 2. Vgl. Geſch.-Ordn. §. 3 Ziffer 1.
2).
R.-V. Art. 5 Abſ. 2. Art. 35.
3).
R.-V. Art. 37 verglichen mit Art. 35.
4).
R.-V. Art. 24.
5).
Ebenſo Thudichum V.-R. S. 104. Riedel S. 28. v. Rönne
S. 151. v. Mohl S. 237.
1).
So z. B. v. Martitz S. 66. Hauſer S. 71. Auerbach S. 64.
2).
Richtig Weſterkamp S. 159. Vgl. auch Tweſten im Verfaſſ.
Reichstag 1867. Stenogr. Berichte S. 355 und Miniſter Delbrück in der
Reichstagsſitzung vom 29. Mai 1873. Stenogr. Ber. S. 899. Die vollſtän-
digſte Begriffs-Verwirrung ſpricht ſich in der Beſchreibung aus, welche v.
Rönne S. 152 von den Bundesraths-Ausſchüſſen zum Beſten giebt. Er
ſagt: „die Ausſchüſſe des Bundesrathes haben im Weſentlichen nur berathende
oder rein geſchäftliche (!?) Funktionen; es wird ihre Thätigkeit wenn der
Gegenſtand der Berathung zur Kompetenz des Bundesrathes gehört, von die-
ſem, ſonſt (?) aber von dem Kaiſer vorgeſchrieben (!). In allen übrigen (?)
Beziehungen ſind die Mitglieder der Ausſchüſſe nur ſachverſtändige Ver-
trauensmänner (!).“ Abgeſehen davon, daß nicht abzuſehen iſt, wo der Gegen-
ſatz zu „geſchäftlichen“ Funktionen zu ſuchen iſt, haben daher nach v. Rönne
die Ausſchüſſe des Bundesrathes auch über ſolche Gegenſtände zu berathen,
die gar nicht zur Kompetenz des Bundesrathes gehören und zwar ſoll ihnen
dieſe Thätigkeit vom Kaiſer vorgeſchrieben werden. Und neben dieſen beiden
Kreiſen von Gegenſtänden, die entweder zur Kompetenz des Bundesrathes ge-
hören oder nicht, kennt v. Rönne noch „übrige Beziehungen,“ in denen die
Mitglieder der Ausſchüſſe angeblich ſachverſtändige Vertrauensmänner ſind.
Weſſen Vertrauen ſie in dieſen „Beziehungen“ auf ſich vereinigen, hütet ſich
v. Rönne zu ſagen; „ſachverſtändig“ aber brauchen die Mitglieder des Aus-
ſchuſſes ſo wenig zu ſein, daß ſie gerade bei techniſchen Fragen bei ihren Be-
rathungen Sachverſtändige zuzuziehen pflegen.
1).
Zu dieſer Klaſſe gehören auch der Ausſchuß für die Verfaſſung und
der Ausſchuß für die Geſchäfts-Ordnung, welche 1871 „für die gegenwärtige
Seſſion“ gebildet wurden Protok. 1871 §. 6; dann aber in jeder Seſſion er-
neuert wurden. Vgl. z. B. Protok. 1874 §. 15. 1875 §. 179 (S. 155).
2).
Fürſt Bismarck im verf. Reichstage 26. März 1867. (Sten. Ber.
S. 355): „Was den Ausdruck „dauernd“ anbelangt, ſo iſt derſelbe dahin
gemeint geweſen, daß dies nicht Ausſchüſſe ſein ſollen, die Einmal ad hoc zu
einem beſtimmten Zweck gewählt werden, ſondern ſolche Ausſchüſſe, welche ſtets
exiſtiren ſollen. Ob ſie immer verſammelt ſein ſollen, ob ſie auch dann
in Thätigkeit ſein ſollen, wenn der Bundesrath nicht verſammelt iſt, hängt
von den Beſchlüſſen des Bundesrathes ab und von der Bedürfnißfrage.“
3).
R.-V. Art. 8 Abſ. 1.
4).
R.-V. Art. 8 Abſ. 2.
5).
Protokoll §. 21.
1).
Von dem 8. Ausſchuß wird hier abgeſehen. Auch die Ausſchüſſe für
die Verfaſſung und für die Geſchäftsordn. beſtehen aus ſieben Mitgliedern.
2).
Geſch.-Ordn. §. 18 Abſ. 1.
3).
Geſch.-Ordn. §. 17 Abſ. 3.
1).
Die Wahl der Ausſchuß-Mitglieder erfolgt alſo gewiſſermaßen indirect;
der Bundesrath wählt den Staat und die Regierung des gewählten Staates
deſignirt aus der Zahl ihrer Bevollmächtigten ihren Vertreter im Ausſchuß.
2).
Ob dieſes Verfahren in der That bei den im Bundesrath ſtattfinden-
den Wahlen beobachtet wird, iſt aus der Geſch.-Ordn. nicht mit Beſtimmtheit
zu entnehmen; ebenſo wenig aus den Protokollen des Bundesraths.
3).
Geſch.-Ordn. §. 17 Abſ. 2. Protok. 1872 §. 87.
4).
Geſch.-Ordn. §. 18 Abſ. 2.
5).
Geſch.-Ordn. §. 20 Abſ. 2.
6).
Geſch.-Ordn. §. 18 Abſ. 3.
1).
Geſch.-Ordn. §. 18 Abſ. 5.
2).
R.-V. Art. 8 Abſ. 4.
3).
Geſch.-Ordn. §. 18 Abſ. 6 §. 19. In den Protokollen des Bundes-
rathes wird die Theilnahme ſolcher Beamter oder Stellvertreter jedesmal
regiſtrirt.
4).
Geſch.-Ordn. §. 18 Abſ. 4.
5).
F. Bismarck im Verfaſſungber. Reichst. Stenogr. Ber. S. 356.
6).
Geſch.-Ordn. §. 20.
1).
R.-B. Art. 8 Abſ. 2.
2).
R.-V. a. a. O. Bayern hat einen ſtändigen Sitz; „die übrigen
Mitglieder . . . . werden vom Kaiſer ernannt.“
3).
Protok. 1871 §. 32: „der Vorſitzende brachte ferner zur Kenntniß, daß
durch Erlaß des Kaiſers für die diesjährige Seſſion des Bundesrathes ernannt
ſind zu Mitgliedern und zwar:
  • 1. des Ausſch. des Bundesr. f. das Landh. u. die Feſtungen, in welchem
    Preußen und Bayern auf Grund der Verf. vertreten ſind:
    Königreich Sachſen, Württemberg, Mecklenburg-Schwerin, Sachſen-
    Koburg, Anhalt.
  • 2. des Ausſch. des B. für das Seeweſen, in welchem Preußen auf Grund
    der Verf. vertreten iſt:
    Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Lübeck, Bremen.“

Vgl. Protok. 1874 §. 5. 1875 §. 177.
4).
R.-V. Art. 63 Abſ. 5. Sächſ. u. Württemb. Milit.-Convent. a. a. O.
Abweichend davon beſtimmt das Bayer. Verfaſſungsbündniß III. §. 5 Z. III.
Abſ. 6: Zur ſteten gegenſeitigen Information in den durch dieſe Vereinbarung
geſchaffenen militäriſchen Beziehungen erhalten die Militär-Bevoll-
mächtigten
in Berlin und München über die einſchlägigen Anordnungen
entſprechende Mittheilung durch die reſp. Kriegsminiſterien.
1).
R.-V. Art. 8 Abſ. 2.
2).
Siehe S. 287 Note 3.
3).
Vgl. Fürſt Bismarck im verfaſſungber. Reichstag. Stenogr. Ber.
S. 355.
1).
Siehe oben Seite 262.
2).
R.-V. Art. 46 Abſ. 1.
1).
Geſch.-Ordn. §. 22 Ziff. 2.
2).
Geſch.-Ordn. §. 22 Z. 1.
3).
Geſch.-Ordn. §. 22 Z. 3. Vgl. unten den Abſchnitt vom Finanzweſen
4).
Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 4. (B.-G.-Bl. S. 339.)
1).
Vgl. oben S. 283.
2).
Protok. 1871 §. 272. Die Wahl von 2 Stellvertretern wurde erſt
etwas ſpäter beſchloſſen. Protok. 1871 §. 307.
3).
Vgl. unten den Abſchnitt über das Reichsland.
4).
Eine Ueberſicht über dieſelben gewährt das im Reichskanzler-Amt be-
arbeitete „Handbuch des Deutſchen Reiches für 1874.“ Berlin v. Decker.
1).
Vgl. Pözl in Bluntſchli und Brater’s Staatswörterb. I. S. 204 ff.
Artikel „Amt.“ v. Seybold Das Inſtitut der Aemter. München 1854
und dazu Zöpfl in den Heidelberger Jahrbüchern 1854 S. 760 fg.
2).
Unter Staatsamt verſteht man zwar oft auch einen Kreis von Ge-
ſchäften rein wirthſchaftlichen Inhalts, z. B. behufs der Verwaltung
von Forſten, Domänen, Bergwerken, Fabriken, Eiſenbahnen u. ſ. w., welche
dem Fiskus gehören. Der ſtaatliche Charakter kömmt bei dieſen Aemtern
nur dann in Betracht, wenn ſie zugleich die Handhabung der Polizei, der
öffentlichen Wohlfahrtspflege mit einſchließen. Sonſt ſind dieſe Aemter ſtreng
genommen nicht ſtaatliche, ſondern fiskaliſche und rückſichtlich des Wir-
kungskreiſes nicht unterſchieden von der Verwaltung von Forſten, Bergwerken,
Eiſenbahnen u. ſ. w., welche Privatperſonen gehören. Man nennt ja auch
allgemein Perſonen, welche zur Führung von wirthſchaftlichen Geſchäften von
Privatleuten dauernd angeſtellt ſind, Beamte. Vgl. Bluntſchli Allgemeines
Staatsr. II. S. 121 (4. Aufl.)
1).
Die bisherige Literatur des Reichsſtaatsrechts bietet hierfür Nichts.
In der überwiegenden Mehrzahl aller hierher gehörenden Werke wird dieſe
Lehre völlig übergangen. Die kurze Darſtellung in Thudichum’s Verfaſ-
ſungsr. des Nordd. Bundes S. 219 iſt durch die inzwiſchen erfolgte Fortbil-
dung des Reichsrechts antiquirt. Die dürftigen Bemerkungen bei v. Rönne
S. 181 ff. ſind völlig unbrauchbar; eine ſtaatsrechtliche Erörterung des Be-
hörden-Organismus fehlt bei ihm gänzlich. v. Held Verf. des Deutſchen
Reiches S. 168 ff. beſchränkt ſich auf eine politiſche Kritik und vermag
auch hier in der Reichsverfaſſung faſt Nichts als ein widerſpruchsvolles Chaos
zu erblicken.
2).
Siehe unten §. 37.
3).
z. B. Die Reichsſchulden-Kommiſſion, das Kuratorium der Reichs-
bank u. a.
4).
Nicht blos ſie zur Ernennung dem Kaiſer vorſchlägt. Auch hier bieten
die Reichsſchulden-Kommiſſion und das Bank-Kuratorium Beiſpiele; ferner
die Reichstags-Beamten u. a.
5).
z. B. die unteren Aemter der Poſt- und Telegraphen-Verwaltung.
1).
Man darf aber Reichsbeamte und Reichsbehörden nicht völlig identi-
fiziren. (Siehe unten § 37).
2).
Die Oberrechnungskammer als Rechnungshof des Deutſchen Reichs,
die Hauptverwaltung der Staatsſchulden als Reichsſchulden-Verwaltung, die
Generalſtaatskaſſe als Reichshauptkaſſe, das General-Auditoriat als Marine-
Juſtizbehörde, das Appellationsgericht in Stettin als Ober-Konſulargericht u. ſ. w.
1).
In dem „Verzeichniß der Reichsbehörden“ im R.-G-Bl. 1874 S. 136
werden dieſe 3 Kriegsminiſterien zwar als oberſte Reichsbehörden bezeichnet
und ebenſo werden hier die übrigen Militärbehörden aufgeführt. Dieſes Ver-
zeichniß bezieht ſich aber auf das Reichsbeamten-Geſetz und es iſt deshalb der
Ausdruck Reichsbehörde in demjenigen Sinne genommen, welcher der in dem
cit. Geſetz gegebenen Definition von Reichs beamten entſpricht.
1).
Vgl. über die Stellung der Staatsdiener zum Monarchen im monar-
chiſchen Einheitsſtaat Gönner Vom Staatsdienſt S. 30 ff. v. Gerber
Grundzüge S. 227 fg. (Beilage II.) Die dagegen von Schulze in Aegidi’s
Zeitſchrift für Deutſches Staatsr. I. S. 445 erhobenen Einwendungen ſcheinen
mir nicht ſtichhaltig zu ſein.
2).
Reichsbeamtengeſetz §. 25.
1).
Stenogr. Ber. 1867 S. 118 fg. Vgl. Thudichum S. 220.
2).
Druckſachen des Reichstages II. Seſſ. 1874 Nr. 9.
3).
Dies iſt vielfach der Fall, z. B. hinſichtlich des Reichskanzler-Amtes,
der Admiralität u. ſ. w.
1).
Vorausgeſetzt, daß die erforderlichen Geldmittel durch den Etat oder
ein beſonderes ſogen. „Kredit-Geſetz“ bewilligt ſind.
2).
So kann z. B. der Kaiſer außer den geſetzlich angeordneten Discipli-
narkammern, auch noch andere „im Einvernehmen mit dem Bundesrath“ er-
richten. Geſ. vom 31. März 1873 §. 87. Ferner beſtimmt der Bundesrath
die Plätze, an denen Reichsbank-Hauptſtellen zu errichten ſind. Bankgeſ. vom
14. März 1875 §. 36 u. ſ. w.
1).
Dies iſt z. B. hinſichtlich einiger Oberpoſt-Direktionen, Telegraphen-
Direktionen, Marine-Behörden u. ſ. w. geſchehen.
1).
Die Darſtellung dieſer Lehre bei v. Rönne S. 181 ff. kann als ein
unübertroffenes Muſter von Verworrenheit gelten.
1).
Vgl. die Aeußerungen des Fürſten Bismark im Verfaſſungberathenden
Reichstage von 1867 Stenogr. Ber. S. 376 und beſ. 393; ferner im Nordd.
Reichstage von 1869 am 16. April S. 401 ff. (Siehe oben S. 234 Note 2).
1).
Das Preuß. Miniſterium der auswärt. Angel. hat nur noch die Be-
ziehungen Preußens zu den anderen Bundes ſtaaten wahrzunehmen und die
Aufſicht über die Preuß. Geſandten an den Deutſchen Höfen zu führen.
1).
Geſch.-Ordn. des Bundesrathes §. 15.
2).
oben S. 245.
3).
Es folgt dies daraus, daß dieſe Vorlagen „im Namen des Kaiſers an
den Reichstag gebracht werden.“ R.-V. Art. 16.
1).
Geſch.-Ordn. des Reichstages §. 30. 63. 66.
2).
Es gehört hierher der Erlaß von Adminiſtrativ-Verordnungen, ſoweit
derſelbe durch die Verfaſſung oder Reichsgeſetze dem Kaiſer oder dem Reichs-
kanzler direct übertragen iſt; der Erlaß von Inſtruktionen an die Behörden; die
Vorbereitung der vom Kaiſer zu vollziehenden Ernennungen und Entlaſſungen
von Reichsbeamten; die definitive Entſcheidung auf Beſchwerden über Unter-
behörden des Reiches; die Verfügung auf Berichte der Behörden; die Vorbe-
reitung der Geſetzesvorlagen und Etats-Entwürfe u. ſ. w.
3).
Siehe oben S. 259 fg.
1).
Vgl. die Rede des Fürſten Bismarck in der Reichstags-Sitzung
vom 1. Dezember 1874. Stenogr. Ber. S. 421.
1).
Dieſelbe beſteht neben der Ueberwachung Seitens des Reiches fort,
jedoch mit der ſelbſtverſtändlichen Modification, daß ein Verfahren einer Bun-
desregierung, welches vom Reich als im Einklang ſtehend mit den Reichsge-
ſetzen anerkannt worden iſt, von den Organen des Einzelſtaates nicht als
Verletzung der Reichsgeſetze erklärt werden kann.
1).
Vgl. den Allerh. Erl. v. 16. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. 1868 S. 9).
2).
Bekanntm. vom 21. Januar 1868 (B.-G.-Bl. S. 1).
3).
Bekanntm. vom 1. Juni 1871 (R.-G.-Bl. S. 126).
4).
Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1489 ff.
1).
Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 2 u. 3.
2).
Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 6 Abſ. 1.
3).
Vgl. über die Statiſtik des Deutſchen Reiches die trefflichen Abhand-
lungen von Meitzen in v. Holtzendorffs Jahrb. des Deutſchen Reiches I.
S. 527 ff. II. S. 277—317 und beſ. III. S. 375—412
4).
Hauptprotok. §. 19.
5).
Vgl. Hirth’s Annalen 1870 S. 21 ff. u. namentlich 1872 S. 69 ff.
6).
Druckſachen des Bundesrathes 1871 Nr. 170.
7).
Protokolle 1871 §. 643 Z. X. (S. 304.)
1).
Druckſachen d. Deutſchen Reichstages 1872 Nr. 8. Ein Auszug daraus
auch in Hirth’s Annalen 1872 S. 1547 ff.
2).
R-G.-Bl. 1872 S. 206.
3).
Vgl. Meitzen im Jahrb. des Deutſchen Reichs III. S. 380.
4).
Vgl. Bundesraths-Protok. 1873 §. 215.
5).
Bekanntm. des Bundeskanzlers. B.-G.-Bl. 1869 S. 46.
6).
v. Rönne S. 194. Nach einer daſelbſt Note 2 befindlichen Notiz iſt
dieſelbe im Preuß. Min.-Bl. der inneren Verw. 1869 S. 171 abgedruckt.
1).
mit Ausnahme Bayern’s.
2).
Die von der Normal-Eich.-Komm. erlaſſenen Verordnungen werden im
Reichsgeſetzbl. und im Centralbl. für das Deutſche Reich veröffentlicht. Die
neue Redaktion der Eichgebühren-Taxe iſt vom 24. Dezember 1874. (Central-
blatt 1875 S. 94 ff.)
3).
R.-G. vom 19. Dez. 1874 §. 7. (R.-G.-Bl. 1875 S. 3.)
1).
R.-G. v. 22. Nov. 1871 §. 3. (R.-G.-Bl. S. 397).
2).
Nach dem „Handbuch f. das Deutſche Reich“ von 1874 S. 50 ſind 9
Beigeordnete ernannt.
3).
v. Rönne a. a. O. S. 194.
1).
Vgl. darüber meine Darſtellung des Reichsfinanzrechts in Hirth’s
Annalen 1873 S. 474 ff.; ſowie v. Aufſeß ebendaſ. S. 299 ff. u. 1874
S. 99.
2).
Bevollmächtigte ſind beſtellt in Königsberg, Stettin, Breslau, Magde-
burg, Altona, Hannover, Cöln, München, Dresden, Carlsruhe, Darmſtadt,
Schwerin und Straßburg.
3).
Verzeichniſſe der Reichs-Kontrol-Beamten enthält das Centralblatt des
Deutſchen Reiches 1873 S. 29 fg. u. 1875 S. 337 ff. In demſelben Blatte
werden auch alle Veränderungen im Perſonal und den Amtsbezirken bekannt
gemacht.
1).
R.-G.-Bl. 1873 S. 304.
2).
Vgl. die Erkl. des Bundesraths-Kommiſſar Geh. R. Michaelis in
der Sitzung des Reichstages v. 9. Juni 1873. (Sten. Ber. S. 1015.) Ein
Bericht über die Thätigkeit des Reichskommiſſars von 1869 bis 1874 iſt ab-
gedruckt in Hirth’s Annalen 1875 S. 1107 ff.
3).
Vgl. über die Vorverhandlungen Romberg in v. Holtzendorff’s
Jahrb. des D. R. I. S. 365 ff.
1).
Handbuch des Deutſchen Reiches 1874 S. 37.
2).
Vgl. darüber Romberg in v. Holtzendorff’s Jahrb. III. S. 313 ff.
1).
Centralbl. des Deutſchen Reiches 1873 S. 35.
2).
Beſchluß des Bundesrathes vom 21. Dez. 1868 (Protok. §. 337). Die
Koſten der Kommiſſion wurden bis 1873 aus dem Dispoſitionsfonds des
Reichskanzlers beſtritten; das Etatsgeſetz für 1874 hat dieſelben unter den
fortdauernden Ausgaben angeſetzt. (Kapitel 1 Titel 11).
3).
Bundesrathsbeſchluß v. 31. Januar 1875 (Protok. §. 68.)
4).
Bundesrathsbeſchl. vom 19. Februar 1875 (Protok. §. 143).
1).
Allerh. Präſidialerlaß vom 18. Dez. 1867. B.-G.-Bl. S. 328. Vgl.
Fiſcher in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 428 ff.
2).
Dem General-Poſt-Amt ſteht außerdem die Verwaltung der Kaiſer-
Wilhelm-Stiftung zu. Geſ. v. 20. Juni 1872 (R.-G.-Bl. S. 210.) Allerh.
Erl. vom 29. Auguſt 1872 (R.-G.-Bl. S. 373 fg.)
1).
Dieſelben ſind im Bundes- reſp. Reichsgeſetzblatt veröffentlicht.
2).
Arnsberg, Berlin, Braunſchweig, Bremen, Breslau, Carlsruhe, Caſſel,
Coblenz, Cöln, Cöslin, Conſtanz, Danzig, Darmſtadt, Dresden, Düſſeldorf, Er-
furt, Frankfurt a. M., Frankfurt a. O., Gumbinnen, Halle, Hamburg, Hannover,
Kiel, Königsberg i. Pr., Leipzig, Liegnitz, Magdeburg, Metz, Münſter, Olden-
burg, Oppeln, Poſen, Potsdam, Schwerin, Stettin, Straßburg, Trier.
3).
Verzeichniſſe derſelben enthalten das Centralblatt für das D. R.;
das Handbuch für das Deutſche Reich und das Poſthandbuch. Auch
werden in dem zuerſt genannten Blatte Quartal-Ueberſichten über die im
Deutſchen Poſtgebiete eingerichteten u. aufgehobenen Poſtanſtalten veröffentlicht.
4).
Vgl. die Inſtruktion für Poſtagenturen vom 1. Mai 1871 im Poſt-
Amtsblatt 1871 S. 52 ff.
1).
Berlin, Breslau, Carlsruhe, Cöln, Dresden, Frankfurt a. M., Halle,
Hamburg, Hannover, Königsberg, Stettin, Straßburg.
1).
Geſetzblatt für Elſaß-Lothr. 1872 S. 49 ff.
2).
R.-G.-Bl. 1871 S. 480. Geſetzbl. für Elſatz-Lothr. 1872 S. 4.
3).
R.-G.-Bl. S. 330 ff.
4).
Uebereinkunft vom 11. Juni 1872 §. 4.
1).
Dieſelbe iſt gedruckt in der Anlage I. S. 19 zum Reichs-Haushalts-
Etat für 1875.
2).
Die Verhandlungen darüber ſtehen in den Stenogr. Berichten 1874/75
Bd. I. S. 418 ff.
1).
Die näheren Angaben bei v. Rönne S. 57 Note 3.
2).
Vgl. die Verhandlungen darüber in den Stenogr. Ber. des Reichsta-
ges 1869 I. S. 505—519.
3).
Die Grundlage bildet die Preuß. Verordn. vom 27 Oktober 1810
(Preuß. Geſ. S. 1810 S. 21.) Vgl. v. Rönne S. 198 und derſelbe
Preuß. Staatsr. II. 1 S. 135 ff. und I. 2 S. 810.
1).
Ich entnehme dieſe Aufzählung der Geſchäfte, welche den beiden Ab-
theilungen obliegen, dem Handbuch für das Deutſche Reich 1874 S. 51.
2).
Die Preußiſchen Geſandtſchaften an den Deutſchen Höfen ſind dem
Preußiſchen Miniſterium der Auswärtigen Angelegenheiten unterſtellt.
3).
Vgl. Reitz Das Deutſche Conſularweſen im Dezemberheft 1871 der
1).
B.-G.-Bl. 1870 S. 599. Aufrecht erhalten und zum Theil erweitert
durch das R.-G. vom 6. Februar 1875 §. 85.
2).
R.-G.-Bl. 1872 S. 409.
3).
Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1871 S. 607 ff.
4).
Gedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1263 ff.
5).
Vgl. Reitz in Hirth’s Annalen 1872 S. 1281 ff.
6).
Konſulatsgeſetz §. 9. 10. Es ſollen vorzugsweiſe dazu Kaufleute
ernannt werden, welchen das Reichsindigenat zuſteht.
7).
Konſulatsgeſetz §. 7—8.
8).
Verordn. vom 23. November 1874 §. 2. R.-G.-Bl. S. 135.
3).
Zeitſchrift: Im Neuen Reich. Derſelbe in Hirth’s Annalen 1874 S. 70 fg.
Lammers in v. Holtzendorffs Jahrb. I. S. 239 ff. II. S. 127. III. S. 290.
Döhl Das Conſularweſen des Deutſchen Reiches. Bremen 1873. Hänel
und Leſſe. Geſetzgeb. des Deutſchen Reiches über Konſularweſen und See-
ſchifffahrt. Berlin 1875.
1).
Inſtrukt. vom 6. Juni 1871 §. 2. Beiſpiele dafür ſind die General-
konſulate in Livorno, Neapel, Trieſt, Peſt, Riga, Alexandrien, Jeruſalem,
New-York u. ſ. w., die Konſulate in Dünkirchen, Marſeille, Amſterdam,
Rotterdam, Gothenburg u. ſ. w. Eine Ueberſicht gewährt das Verzeichniß der
Konſulate im Handbuch des Deutſchen Reiches.
3).
Konſulargeſetz §. 11.
4).
Inſtrukt. zu §. 11 cit. Döhl a. a. O. S. 46.
5).
Die Anſtalt in Athen iſt eine Zweiganſtalt der in Rom. Vgl. Etat
für das Auswärtige Amt für 1875 S. 38.
2).
Inſtruktion vom 6. Juli 1871 §. 3.
1).
Preuß. Geſ. S. 1861 S. 205.
2).
Preuß. Min.-Bl. d. inneren Verw. 1861 S. 153. Die Darſtellung
bei v. Rönne Pr. Staatsr. II. 1 S. 144 und die Mittheilung in Hirth’s
Annalen 1870 S. 188 fg. ſind im Weſentlichen Auszüge aus dieſem Re-
gulativ.
1).
Insbeſondere durch die Erhöhung der im Titel 1 aufgeführten Aus-
gaben für das Miniſterium, indem die Zahl der Räthe und Geh. Sekretäre
vermehrt wurde, und durch eine entſprechende Verminderung der im Titel 8
unter a. enthaltenen Poſitionen für das Militär-Perſonal. Haupt-Etat für 1872
Anlage V S. 16. 36.
1).
Die näheren Beſtimmungen enthält das Regulat. vom 15. Juni 1871
Ziff. 7.
2).
Für Bauweſen; für Etats- und Kaſſen-Angelegenheiten; für Garniſon-
Verwaltung ꝛc.; für Servis, Reiſekoſten und Tagegelder; für Juſtiz-Angele-
genheiten; für Rechnungs-Reviſion. Ueber das Dezernat für Rechnungs-Re-
viſion, welches bis zum 1. Okt. 1872 zu den Geſchäften der Marine-Intendan-
tur gehörte, vgl. den Allerh. Erl. vom 18. Juni 1872. R.-G.-Bl. S. 361.
1).
Die folgenden Angaben entnehme ich dem Handbuch [des] Deutſchen
Reiches 1874 S. 98 ff.
1).
Der Ausrüſtungs-Direktor (See-Offizier), der Artillerie-Direktor, der
Schiffbau-Direktor, der Maſchinenbau-Direktor, der Hafenbau-Direktor, der
Verwaltungs-Direktor.
2).
Ueber Einrichtung und Geſchäfts-Umfang deſſelben giebt der Hauptetat
der Kaiſerlichen Marine für 1875 S. 24 u. S. 30 den erforderlichen Aufſchluß.
Von ihm reſſortirt das Obſervatorium zu Wilhelmshaven.
3).
Vgl. Druckſachen des Reichstages II. Seſſion 1874 Nr. 57.
1).
Nach dem „vorläufigen Entwurf eines Eiſenbahn-Geſetzes“ vom April
1875 Art. 2 u. 3 ſoll die geſammte unmittelbare Aufſicht über das Ei-
ſenbahnweſen dem Reiche übertragen werden und den Landesregierungen nur
ein engbegränzter Kreis einzelner Befugniſſe überlaſſen bleiben.
1).
R.-G. vom 27. Juli 1873 §. 4 Z. 2.
2).
Die Verwaltung der Reichs-Eiſenbahnen iſt, wie oben S. 328 bereits
erwähnt worden, dem Reichskanzleramte, Abtheilung für Elſaß-Lothringen,
unterſtellt.
1).
Vgl. Bamberger Materialien zum Bankgeſ. In Hirth’s Annalen
1875 S. 835 ff. Sonnemann Bemerkungen zum Reichs-Bankgeſ. Ebenda
S. 1027 ff.
2).
Da die Errichtung der Reichsbank im Weſentlichen eine Umwandlung
der Preußiſchen Bank in eine Reichsbank war, ſo trägt die Reichsbank hin-
ſichtlich ihrer Organiſation ſehr deutlich den Stempel dieſes Urſprungs und
viele Beſtimmungen des Reichsbankgeſetzes lehnen ſich eng an die Preuß.
Bank-Ordnung
vom 5. Oktober 1846 an. Vgl. über dieſelbe v. Rönne
Preuß. Staatsr. II. 1 S. 146 ff.
3).
Bankgeſetz §. 12.
1).
Ueber die dem Reichskanzler zuſtehende ſtaatliche Aufſicht über die
Privatbanken, welche Noten ausgeben, enthält das Bankgeſetz §. 48 ff. die
erforderlichen Beſtimmungen.
2).
Ueber das ehemalige Preuß. Bank-Kuratorium vgl. die Königl. Ver-
ordnung vom 3. November 1817 (Preuß. Geſ.-Samml. S. 295) §§. 5—8
und die Cab.-Ordre vom 11. April 1846 (Preuß. Geſ.-Samml. S. 153).
3).
Bankgeſetz §. 25 Abſ. 1.
4).
Bankgeſetz §. 25 Abſ. 2.
1).
Vgl. die Preuß. Bank-Ordnung vom 5. Oktober 1846 §§. 55 ff.
2).
Bankgeſ. §§. 30—34. Bankſtatut v. 21. Mai 1875 §. 16 ff. (R.-G.-Bl.
S. 206). Von dem Central-Ausſchuß werden wieder zum Zweck der fortlau-
1).
Bankgeſetz §. 27 Abſ. 1.
2).
Bankgeſetz §. 27 Abſ. 2.
3).
Der Reichskanzler iſt an die Stelle des ehemaligen „Chefs der Preuß.
Bank“, nämlich des Preuß. Handels-Miniſters, getreten. Vgl. v. Rönne
Preuß. Staatsr. II. 1 S. 149 Note 3.
4).
Bankgeſetz §. 26 Abſ. 1.
2).
fenden ſpeciellen Kontrole drei Deputirte und ebenſoviele Stellvertreter
gewählt. Bankgeſetz §. 34. Bankſtatut §. 24.
1).
Bankgeſetz §. 26 Abſ. 2.
2).
Bankgeſetz §. 28 Abſ. 1.
3).
Bankgeſetz §. 28 Abſ. 2. Jedoch iſt ebendaſelbſt beſtimmt, daß der
Beſoldungs- und Penſionsetat des Reichsbank-Direktoriums jährlich durch den
Reichshaushalts-Etat, der der übrigen Beamten jährlich vom Kaiſer im Ein-
vernehmen mit dem Bundesrath auf den Antrag des Reichskanzlers feſtge-
ſetzt wird.
1).
Bankgeſetz §. 36. Bankſtatut §. 27—29. Auch hier lieferte die Preuß.
Bank-Ordnung von 1846 §§. 104—111 das Vorbild.
2).
Bankgeſetz §. 37.
3).
Bankgeſetz a. a. O.
4).
Insbeſondere auch in dem Geſetz vom 27. Januar 1875 (R.-G.-Bl.
S. 18). Die früheren Anleihen des Nordd. Bundes ſind getilgt.
5).
Vgl. v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 1 S. 449 ff.
1).
Preuß. Geſetz vom 24. Februar 1850 §. 9. (Geſ.-Samml. S. 59.)
2).
Geſetz vom 19. Juni 1868 §. 1.
3).
Geſetz vom 19. Juni 1868 §. 3
1).
In dem Handb. für das Deutſche Reich für 1874, welches im Reichs-
kanzler-Amt bearbeitet worden iſt, wird die Reichs-Schulden-Verwaltung unter
dem Reſſort der Central-Abtheilung des Reichskanzler-Amtes aufgeführt;
ebenſo z. B. das Heimathsamt, der Disziplinarhof und die Disziplinarkam-
mern u. ſ. w. Es beruht dies aber nur darauf, daß in dieſem Handbuch die
Behörden nicht nach irgend einem ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkte gruppirt ſind,
ſondern wie es ſcheint in allgemeiner Anlehnung an das Etatsgeſetz unſyſte-
matiſch [aufgeführt] werden.
1).
Fälle dieſer Art ergeben ſich aus §. 5 u. 8 des Geſetzes vom 23. Mai
1873 ſelbſt; ferner aus §. 10 Abſ. 2; §. 11. 12. 13. 14 Abſ. 3 des Regula-
tivs vom 11. Juni 1874. (R.-G.-Bl. S. 104.)
2).
Geſetz §. 11 Abſ. 2. Vgl. Regulativ §. 4.
3).
Vgl. Etat für 1874 Anlage XIV., für 1875 Anlage X.
1).
Regul. vom 11. Juni 1874 §. 10.
2).
„Derſelben wird alljährlich über den Verwaltungskoſtenfonds ein auf
Grund des Reichshaushalts-Etats und ſeiner Unterlagen aufgeſtellter, vom
Kaiſer vollzogener Spezialetat als Grundlage für die Buchführung und Rech-
nungslegung zugefertigt.“ Regul. a. a. O.
3).
Geſ. vom 30. Mai 1873 Art. III. (R.-G.-Bl. S. 123).
4).
Geſ. vom 8. Juli 1873 §. 1 Abſ. 2. (R.-G.-Bl. S. 217. 218).
5).
Regulat. §. 8.
6).
Geſ. vom 23. Mai 1873 §. 5 §. 7. Die vom Reichskanzler urſprüng-
lich bezeichneten Bankhäuſer ſind die Preuß. Bank (Reichsbank), die Seehand-
lung und die Königl. Bayer. Bank in Nürnberg. — Bundesraths-Protokoll
1873 §. 620. — Vgl. Wagner in v. Holtzendorffs Jahrb. III. S. 139 fg.
1).
Vgl. das Preuß. Geſetz vom 24. Februar 1850 §. 1.
2).
Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 4.
3).
Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 5. Bgl. Preuß. Geſetz vom 24. Februar
1850 §. 11.
4).
Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 7 verglichen mit dem Preuß. Geſetz vom
24. Februar 1850 §. 1.
5).
Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 6.
6).
Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 1 u. 4 vergl. mit dem Preuß. Geſetz vom
24. Febr. 1850 §. 1 Abſ. 2 u. §. 14.
6).
Es ſind jedoch ſpäter noch mehrere andere hinzugefügt worden. Protokoll des
Bundesr. 1874 §. 467. 495.
1).
Geſ. vom 11. Nov. 1871 §. 3. Verordn. vom 22. Jan. 1874 §. 15.
2).
Geſ. vom 23. Mai 1873 §. 13.
3).
Geſ. vom 30. Mai 1873 Art. III. u. Geſ. vom 8. Juli 1873 §. 1.
4).
Bankgeſ. vom 14. März 1875 §. 16. Zu dieſem Zwecke tritt der
Kommiſſion ein vom Kaiſer ernanntes Mitglied hinzu.
5).
Geſ. vom 30. April 1874 §. 7.
6).
z. B. ihrer Theilnahme bei der Außerkursſetzung und Wiederinkurs-
ſetzung der für den Invalidenfonds erworbenen Schuldverſchreibungen. Geſetz
vom 23. Mai 1873 §. 4.
7).
Preuß. Geſ. vom 24. Februar 1850 §. 15. Geſ. vom 11. Nov. 1871
§. 3 Abſ. 3. Geſ. vom 23. Mai 1873 §. 14. Vgl. den Abſchnitt über den
Reichstag.
8).
Vgl. Laband Finanzrecht des Deutſchen Reichs Kap. IV Abſchn. 3
(in Hirth’s Annalen 1873 S. 552 ff.
1).
Geſetze v. 11. März 1870, 28. Oktober 1871, 5. Juli 1872, 22. Juni
1873, 11. Februar 1875.
2).
Preuß. Geſ.-Samml. 1872 S. 278 ff.
3).
Reichsgeſ. vom 11. Februar 1875 (R.-G.-Bl. S. 61).
4).
Abgedruckt im Centralblatt für das Deutſche Reich 1875 S. 157 ff.
Durch dieſelbe iſt die ältere Inſtruktion für den Rechnungshof des Nordd.
Bundes vom 28. Mai 1869 aufgehoben worden. (§. 40.)
1).
Reichsbeamten-Geſetz §. 158.
2).
Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 §. 5.
3).
Inſtrukt. vom 5. März 1875 §. 18 (Centralbl. S. 160).
4).
Inſtrukt. §. 3.
1).
Nämlich bei Berichten an den Kaiſer, an Bundesrath und Reichstag,
bei Aufſtellung oder Abänderung allgemeiner Grundſätze oder Inſtruktionen
und bei der Abgabe von Gutachten über Anordnungen der oberſten Verwal-
tungsbehörden.
2).
Unter 5 Nummern von ſehr weitreichender Faſſung ſind hier die Fälle
gruppirt. Zur Ergänzung kömmt außerdem noch §. 15 der Inſtruktion in
Betracht.
3).
Inſtruktion §. 7.
4).
Inſtruktion §. 16.
5).
Vgl. die oben S. 356 Note 1 citirten Geſetze und die Erörterungen in
meiner Darſtellung des Finanzrechts a. a. O. S. 553 fg.
6).
R.-G. vom 4. Juli. 1868 §. 1 (B.-G.-Bl. S. 433). Preuß. Geſ. von
27. März 1872 §. 1 u. §. 10.
1).
R.-G. vom 8. Juli 1872 Art. V. letzter Abſ. (R.-G.-Bl. S. 291).
2).
R.-G. vom 23. Mai 1873 §. 14 (R.-G.-Bl. S. 122). Inſtrukt. vom
11. Juni 1874 §. 15. 16 (R.-G.-Bl. S. 107).
3).
Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 16 (R.-G.-Bl. S. 12).
4).
R.-G. vom 14. März 1875 §. 29 (R.-G.-Bl. S. 185).
5).
Geſetze für [Elſ.-Lothr.] vom 30. Dezember 1871 §. 20 (G.-Bl. 1872
S. 55) u. vom 6. Oktober 1873 (G.-Bl. S. 261) R.-G. vom 11. Febr. 1875
(R.-G.-B. S. 61).
6).
Elſ.-Lothr.-Geſetz vom 4. November 1872 §. 3 (G.-Bl. S. 766).
7).
Siehe oben S. 305.
1).
Vgl. Leſſe in der Zeitſchr. für das geſammte Handelsr. Bd. XIV.
S. 59 ff. Endemann in Buſch’s Archiv für Theorie u. Praxis des Han-
delsr. Bd. 17 S. XLVII ff. Niſſen in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 496 ff.
II. S. 261 ff. Sachs ebendaſ. III. S. 341 fg. und beſ. Goldſchmidt
Handbuch des Handelsrechts. I. Bd. 2. Aufl. §. 20 S. 147—155.
2).
Reichstagsverhandl. 1869. Anlagen S. 250. Vgl. auch die Erklärung
des Bundesraths-Bevollmächtigten Pape im Reichstag am 10. April 1869.
Stenogr. Berichte I. S. 285 fg.
3).
Ueber die Vorgeſchichte dieſes Antrages vgl. Goldſchmidt a. a. O.
S. 147. 148 und Behrend in ſeiner Zeitſchrift für Geſetzgebung und
Rechtspflege in Preußen III. S. 200 ff. — Der im Auftrage der Sächſi-
ſchen Regierung von dem Ober-Appellationsrath Tauchnitz ausgearbei-
tete Geſetz-Entwurf wurde nebſt Motiven am 23. Februar 1869 dem Bundes-
rath vorgelegt. Der Juſtiz-Ausſchuß empfahl mittelſt Berichtes vom 22. März
1869 deſſen Annahme und der Bundesrath trat dieſem Antrage bei. Nachdem
1).
Der Plenarbeſchl. vom 2. September 1871 iſt mitgetheilt in den Ent-
ſcheidungen des Oberhandelsger. II. S. 448.
2).
Des Landesherren findet in der Urtheils-Ausfertigung keine Erwäh-
nung ſtatt. Die Urtheils-Ausfertigungen werden mit der Ueberſchrift verſehen:
„Im Namen des Deutſchen Reiches.“ Sofern nach den Landesgeſetzen die
Vollſtreckungsklauſel im Namen des Landesherrn ertheilt wird, wird ſtatt des
Landesherrn gleichfalls das Deutſche Reich bezeichnet, z. B. „Im Namen des
Deutſchen Reiches ſofort vollſtreckbar.“ Regulativ vom 9. Juli 1874 §.
13. 14. (Centralblatt 1874 S. 277). Vgl. auch Goldſchmidt a. a. O.
S. 152.
3).
Geſ. vom 12. Juni 1869 §. 3.
4).
ebenda §. 5.
5).
ebenda §. 8 Abſ. 1.
3).
auch der Reichstag dem Geſetzentwurf mit einigen Abänderungen zugeſtimmt
hatte (die Verhandlungen darüber finden ſich in den Stenogr. Berichten des
Reichstages von 1869 I. S. 285 ff. II. S. 784 ff., 983 ff.), ſanctionirte ihn
der Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität, was von Erheblichkeit war wegen
der durch dieſes Geſetz bewirkten Kompetenz-Erweiterung.
1).
Bis zum 31. Auguſt 1871 beſtand der Gerichtshof aus einem Senat;
vom 1. September 1871 bis zum 31. Auguſt 1874 aus zwei Senaten. Vgl.
Entſcheidungen II. S. 449 u. XII. S. 441. Bundesraths-Protok. 1874 §. 336.
2).
Regulativ vom 9. Juli 1874 §. 4. Außerdem wird für die Zeit der
Gerichtsferien (1. Juli bis 1. September) zur Bearbeitung der Ferienſachen
ein ſogenannter Ferienſenat gebildet. Regulativ §. 30.
3).
Regulativ §. 5. Vgl. Geſetz §. 8 Abſ. 3.
4).
Die Anzahl iſt daher keine geſchloſſene, feſt beſtimmte, ſondern nur die
Minimalzahl iſt feſtgeſetzt.
5).
Geſetz vom 12. Juni 1869 §. 7. Auch im Falle einer Meinungsver-
ſchiedenheit über die Stellung der Fragen oder über das Ergebniß der Ab-
ſtimmung entſcheidet der Gerichtshof. Regulativ §. 22.
6).
ebenda §. 8 Abſ. 2.
7).
Regulativ §. 6.
8).
Regulativ §. 7.
1).
Geſ. §. 9.
2).
Geſ. §. 23. 24. 25 Abſ. 4.
3).
Auch jeder Senat führt ein Präjudizienbuch, in welches die von ihm
getroffenen wichtigeren Entſcheidungen eingetragen werden. Die in das Prä-
judizienbuch eines Senats eingetragenen Entſcheidungen ſind in den beiden
anderen Senaten durch deren Vorſitzende zum Vortrag zu bringen und in eine
beſondere Abtheilung der Präjudizienbücher dieſer Senate abſchriftlich zu über-
tragen. Regulativ §. 9.
4).
Geſetz vom 12. Juni 1869 §. 11. Das Geſchäftsregulativ v. 11. Mai
1871 iſt abgedruckt in den Entſcheidungen des O.-H.-G. II. S. 7 ff., das
neue Regulativ vom 9. Juli 1874 im Centralblatt des Deutſchen Reiches
S. 275 ff. und in Hirth’s Annalen 1874 S. 1537 ff.
5).
Geſetz vom 12. Juni 1869 §. 1. So lange es an einer gemeinſamen
Reichs-Prozeß-Ordnung fehlt, erſtreckt ſich die Kompetenz des Reichsgerichts
in Handelsſachen in jedem Rechtsgebiet ſo weit, als nach der Gerichtsverfaſſung
und dem Rechtsmittelſyſtem deſſelben das oberſte Landesgericht zuſtändig
ſein würde. Geſetz §. 12. Vgl. dazu Endemann a. a. O. S. LXXXV. u.
Goldſchmidt a. a. O. S. 152. 153.
1).
B.-G.-Bl. S. 376. 378.
2).
R.-G. vom 1. Juni 1870 §. 2 Abſ. 3 (B.-G.-Bl. S. 313).
3).
R.-G. vom 11. Juni 1870 §. 32 (B.-G.-Bl. S. 346).
4).
R.-G. v. 22. April 1871 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 88). Siehe unten S. 366 fg.
1).
R.-G. vom 7. Juni 1871 §. 10 (R.-G.-Bl. S. 209).
2).
Geſ. vom 31. März 1873 §. 149 ff. (R.-G.-Bl. S. 88).
3).
Geſ. vom 31. März 1873 §. 153. 154 (R.-G.-Bl. S. 89).
4).
Zu dem letzteren Geſetz iſt zu vergleichen Kanngießer Recht der
Deutſchen Reichsbeamten S. 270 ff.
5).
Geſ. vom 14. Juni 1871 (R.-G.-Bl. S. 315).
6).
Vgl. unten den Abſchnitt über das Reichsland. §. 54.
7).
Geſ. vom 14. Juni 1871 §. 2.
1).
Regulativ vom 9. Juli 1874 §. 35. (Centralblatt S. 281.)
2).
Konſulatsgeſetz vom 8. November 1867 §. 22 Abſ. 1. Dieſe Länder
ſind die Türkei nebſt den ihrer Oberhoheit unterworfenen Ländern, vgl.
jedoch für Egypten das R.-G. vom 30. März 1874 (R.-G.-Bl. S. 23);
ferner Perſien, (Vertrag vom 11. Juni 1873 Art 13 R.-G.-Bl. S. 358);
China, Siam, Japan (Vertr. v. 20. Febr. 1869 B.-G.-Bl. 1870 S. 1).
3).
Allgem. Dienſt-Inſtruktion für die Konſuln vom 6. Juni 1871 zu
§§. 22—24 in Hirth’s Annalen 1871 S. 630.
4).
Konſulatsgeſetz §. 23. Vgl. Reichsgeſetzbl. 1871 S. 373. 374.
5).
Konſulatsgeſetz §. 22 Abſ. 2. Für politiſche Verbrechen und Vergehen
welche innerhalb des Deutſchen Reiches oder in Beziehung auf daſſelbe verübt
ſind, beſteht jedoch die ſpezielle Zuſtändigkeit des Preuß. Staatsgerichtshofes.
Preuß. Geſetz vom 25. April 1853 (Geſetz-Samml. S. 162). Preuß. Geſetz
über die Konſulargerichtsbarkeit vom 29. Juni 1865 §. 45 (B.-G.-Bl. 1867
S. 153). Reichskonſulargeſetz a. a. O. Ueber den Begriff der Schutzge-
noſſen
vgl. Beſchluß des Reichs-Oberhandelsgerichts vom 2. Febr. 1875.
Entſcheidungen Bd. XVI. S. 17 ff. Auch abgedruckt im Centralblatt 1875
S. 283 ff.
1).
Es iſt abgedruckt im B.-G.-Bl. 1867 S. 144 ff. Zu dieſem Geſetze
iſt eine Inſtruktion des Miniſters der auswärt. Angel. und des Juſtiz-Mini-
ſters am 6. November 1865 ergangen, welche noch jetzt von Bedeutung iſt.
Sie iſt gedruckt im Preuß. Juſt.-Miniſt.-Bl. 1865 S. 235 ff. u. bei
Döhl Konſularweſen S. 194 ff.
2).
Konſulatsgeſetz §. 24.
3).
Preuß. Geſetz vom 29. Juni 1865 §§. 3. 5.
4).
ebenda §. 6.
5).
ebenda §. 8—12.
6).
ebenda §. 15.
7).
Konſulatsgeſetz §. 24 Abſ. 2. Darnach beginnt die verbindliche
1).
Preuß. Geſetz §. 23. 50. Ausgenommen ſind nur Schwurgerichts-
Sachen in dem Falle, wenn ein inländiſches Schwurgericht competent iſt.
Ebenda §. 43.
2).
Seemanns-Ordnung vom 27. Dezember 1872 §. 4. Hierher
gehört namentlich die von dem Seemanns-Amt zu treffende „vorläufige Ent-
ſcheidung“ von Rechtsſtreitigkeiten zwiſchen Schiffsleuten und Schiffer §. 105.
(R.-G.-Bl. S. 409 und 431).
3).
Vgl. Konſulatsgeſetz §. 37.
4).
Konſulatsgeſetz §. 36. In Deutſchland ſind hierzu nur die Gerichte
zuſtändig. Handelsgeſetzbuch Art. 492.
7).
Kraft der Reichsgeſetze in den Konſular-Jurisdiktionsbezirken nach Ablauf von
6 Monaten, von dem Tage gerechnet, an welchem dieſelben durch das R.-G.-Bl.
verkündet worden ſind. Preuß. Geſetz vom 29. Juni 1865 §. 16. 17. 20.
35. 36. In Handelsſachen kommt jedoch vor dem Preuß. Partikularrecht zu-
nächſt das in den Konſulatsbezirken geltende Handelsgewohnheitsrecht zur An-
wendung. Handelsgeſetzbuch Art. 1. Preuß. Geſetz §. 16.
1).
Konſulatsgeſetz §. 20.
1).
Bei den zu Mitgliedern des Disciplinarhofes ernannten Mitgliedern
des Bundesrathes iſt unter dem „von ihnen bekleideten Staatsamt“ die Be-
vollmächtigung zum Bundesrathe zu verſtehen.
2).
Geſetz vom 31. März 1873 §. 93.
3).
cit. Geſetz §. 92.
4).
Das Verzeichniß der Mitglieder ſämmtlicher Disciplinar-Kammern iſt
veröffentlicht im Centralblatt 1873 S. 238 ff.
5).
Die Kaiſerliche Verordnung vom 7. Januar 1874 wegen Errichtung
1).
Das „förmliche Disciplinar-Verfahren“ iſt der auf Entfernung aus
dem Amte gerichtete Disciplinar-Prozeß. Die Einleitung deſſelben geſchieht
durch Verfügung der oberſten Reichsbehörde. Reichsbeamten-Geſetz §. 84.
2).
Geſetz vom 5. November 1874 (R.-G.-Bl. S. 128.) Es ſind dies
namentlich die im Großh. Luxemburg ſtationirten Eiſenbahnbeamten und die
Stationsbeamten in Baſel.
3).
Reichsbeamtengeſetz §. 90.
4).
cit. Geſetz §. 89. Die Zahl der in der Sitzung mitwirkenden Mitglie-
5).
der Kammer in Straßburg mit dem Bezirk Elſaß-Lothringen iſt im Reichs-
Geſetzblatt von 1874 S. 3 publicirt. Die Kaiſerl. Verordnung wegen Errich-
tung der Kammer in Stuttgart iſt nicht publizirt worden; die Kammer in
Stuttgart wird aber in der Verordn. vom 11. Juli 1873 über die Abgrenzung
der Bezirke der Disciplinarkammern mit aufgeführt und die Ernennung ihrer
Mitglieder iſt veröffentlicht im Centralblatt 1873 S. 389.
1).
Die übrigen Vorſchriften des §. 4 beziehen ſich auf die Vertretung
richterlicher Mitglieder, wenn ſie verhindert oder an Stelle des verhinderten
Präſidenten zur Uebernahme des Vorſitzes berufen ſind.
2).
Regulativ §. 5 Abſ. 2.
3).
Regulativ §. 6.
4).
Regulativ §. 9. 13. 18.
5).
Die Stimme des Präſidenten giebt bei Stimmengleichheit den Aus-
ſchlag; bei mündlichen Verhandlungen und Entſcheidungen kann dieſer Fall
nicht vorkommen (Geſetz §. 89), wohl aber bei anderen Beſchlüſſen. (Regulativ
§. 2. 7. 9 Abſ. 4.)
6).
Regulativ §. 15.
7).
Vgl. die Motive zu dem Geſetz-Entwurf vom 8. April 1872. Druckſ.
des Reichstages 1872 Bd. I. Nr. 9 S. 47 ff. Die Darſtellung bei Kann-
gießer
Recht der Reichsbeamten S. 214 lehnt ſich eng an die Motive an.
4).
der iſt eine feſt geſchloſſene und darf einſchließlich des Vorſitzenden nicht mehr
als fünf betragen. Vgl. Regulativ §. 3.
1).
In Betreff der Auditeure der unter Preußiſcher Verwaltung ſte-
henden Kontingente und der Marine-Auditeure finden die Vorſchriften des
Preuß. Geſetzes vom 7. Mai 1851 über die Dienſtvergehen der Richter (Geſ.-
Sammlung S. 218), insbeſondere §. 70. 72 Anwendung. Darnach iſt das
General-Auditoriat das zuſtändige Disciplinar-Gericht für die Auditeure, das
Ober-Tribunal das zuſtändige Disciplinar-Gericht für die Mitglieder des Ge-
neral-Auditoriats. Vgl. auch Militär-Strafgerichts-Ordn. §. 86 ff. (B.-G.-Bl.
1867 S. 248.) Ausführliche Mittheilungen aus den Motiven des Reichsbe-
amtengeſetzes bei Kanngießer S. 245 ff.
2).
Motive a. a. O. S. 48. Daſelbſt wird hinzugefügt: „Wo die Gren-
zen dieſer beiden Subordinations-Verhältniſſe zweifelhaft ſein ſollten, müſſen
bei Ausübung der Disciplinarſtrafgewalt die für dieſe Beamten ertheilten be-
ſonderen Dienſtvorſchriften und Inſtruktionen berückſichtigt werden.“
3).
Motive a. a. O. Kanngießer S. 215.
1).
Vgl. Militär-Disciplinar-Ordnung §§. 32. 33. Marine-Disciplinar-
Ordnung §§. 16. 17 und 32. 33.
2).
Im Bundesgeſetzblatt von 1867 S. 289 unter Z. 1 findet ſich ein
Verzeichniß derjenigen Militär-Beamten, welche in einem doppelten
Unterordnungsverhältniß ſtehen; dabei iſt die Bemerkung hinzugefügt, „daß
alle anderen Militärbeamten nur ihren vorgeſetzten Militär-Befehlshabern
untergeordnet ſind.“ Das letztere iſt alſo die Regel. Bei der Marine findet das
umgekehrte Verhältniß ſtatt. Regelmäßig ſtehen alle Marine-Beamten in
einem doppelten Unterordnungs-Verhältniß; es kann aber auch das Gegentheil
vorkommen, z. B. ein Marinedepot-Beamter der Disciplin des Intendanten
entzogen und derjenigen eines Seeoffiziers unterſtellt werden. Vgl. Motive
a. a. O. S. 48. 49.
3).
Geſetz §. 121 Abſ. 2. 3.
4).
ebendaſ. Abſ. 3. Darunter iſt zu verſtehen gemäß der Verordn. vom
23. November 1874 (R.-G.-Bl. S. 136) die Kaiſerl. Admiralität und das
preußiſche, ſächſiſche, württembergiſche Kriegsminiſterium.
1).
Geſetz §. 120. 122.
2).
Der Ausdruck „Disciplinar-Behörde“ umfaßt beide Arten.
3).
Geſetz §. 121 Abſ. 1 ſetzt nur in erſter Inſtanz an Stelle der Dis-
ciplinar-Kammern die Kommiſſionen; die allgemeine, im §. 86 enthaltene Vor-
ſchrift über die zweite Inſtanz bleibt unberührt.
4).
Geſetz §. 87 Abſ. 3.
5).
Geſetz §. 91 Abſ. 1. Die Bundesraths-Mitglieder nehmen ihre Stelle
im Disciplinarhof gleich nach dem Präſidenten oder deſſen Vertreter, alſo vor
den übrigen Mitgliedern ein und rangiren unter einander nach der Reihen-
folge, welche für ſie im Bundesrathe beſteht. Zur Vertretung des Präſidenten
iſt aber der Vice-Präſident des Reichs-Oberhandelsgerichts, eventuell das äl-
teſte, dem Disciplinarhofe angehörende Mitglied des Reichs-Oberhandelsgerichts
berufen. Regulativ §. 23 Nr. 4.
6).
Geſetz §. 91 Abſ. 2. Die Zahl iſt eine geſchloſſene. Vgl. Regulativ
§. 23 Nr. 2.
1).
Hinſichtlich der übrigen Beamten dieſer Behörden iſt die Kompetenz
der Disciplinarkammern und des Disciplinarhofes nicht beſchränkt.
2).
Geſetz vom 12. Juni 1869 a. a. O. Geſetz vom 6. Juni 1870 §. 43.
Geſetz vom 31. März 1873 §. 158. Die Mitglieder und Beamten des Rech-
nungshofes
unterliegen der Disciplinar-Gewalt des Reiches oder einer
Reichsbehörde überhaupt gar nicht, ſondern derjenigen Preußens, welche
durch das Obertribunal für den Präſidenten und die Mitglieder, durch die
Ober-Rechnungskammer für die übrigen Beamten ausgeübt wird. Preuß.
Geſetz vom 27. März 1872
§. 5 u. §. 6. (Preuß. Geſ.-Samml. S. 278.)
Nur übt hinſichtlich der vom Reiche angeſtellten Mitglieder der Reichskanzler
die im §. 5 cit. dem Preuß. Staatsminiſterium und Juſtizminiſter zugewie-
ſene Zuſtändigkeit aus. Vgl. Kanngießer a. a. O. S. 249.
3).
Die näheren Anordnungen enthält das Geſetz vvm 29. März 1873.
(R.-G.-Bl. S. 60. 61.)
1).
Siehe oben S. 266 fg. u. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 484 ff.
2).
§. 42 cit. Der Ausdruck des Geſetzes: „im Staate ihrer Angehörig-
keit“ iſt ein redactioneller Mißgriff, indem er bei wörtlicher Interpretation
den Sinn ergiebt, daß das einzelne Mitglied des Bundesamtes in demjenigen
Staate die Qualifikation zum höheren Richteramte beſitzen muß, zu welchem es
nach dem Geſetz vom 1. Juni 1870 ſtaatsangehörig iſt. Der Sinn iſt aber
der, daß der Beamte, welcher Mitglied des Bundesamtes werden ſoll, in dem-
jenigen Staat, aus deſſen Dienſt er in den Reichsdienſt berufen wird,
die Qualifikation zum höheren Richteramte haben muß. Denn nach dem Art 3
der R.-V. und dem Geſetz vom 1. Juni 1870 iſt nicht die Staats-Angehörig-
keit, ſondern die Reichsangehörigkeit für die Qualifikation zum Staatsdienſt
in den Bundesſtaaten von Belang. Der §. 42 des cit. Geſetzes will ſicherlich
keine andere Beſtimmung aufſtellen als der §. 89 des Reichsbeamtengeſetzes
in Betreff der Disciplinarbehörden, wo es heißt: „Der Präſident und wenig-
ſtens 3 andere Mitglieder müſſen in richterlicher Stellung in einem Bundes-
ſtaate ſein.“
1).
§. 43 cit. Geſetz vom 31. März 1873 §. 158.
2).
Da aber das Bundesamt in Berlin ſeinen Sitz hat, ſo geht die
Mitgliedſchaft verloren, wenn ein Mitglied ein Amt annimmt, mit welchem
ein außerhalb Berlins gelegener dienſtlicher Wohnſitz verbunden iſt. Vgl.
Protokoll des Bundesraths 1875 §. 73.
3).
Nach dem Reichs-Etat für 1875 iſt die Stelle des Präſidenten und
die eines Mitgliedes voll beſoldet; die drei anderen Stellen werden als Ne-
benämter verwaltet und ſind mit 1,500 Mark jährlich dotirt. Anlage I. zum
Etat S. 10. 11. Ebenſo nach dem Etat für 1876. Anlage I. S. 12.
1).
Handbuch des Deutſchen Reiches für 1874 S. 37.
2).
Vgl. Eger in Gruchot’s Beiträgen zur Erläuterung des Deutſchen
Rechts. Bd 19 (Neue Folge Bd. 4) S. 87 ff.
3).
Geſetz §. 45. Das Regulativ iſt vom 6. Januar 1873 datirt und im
Centralblatt für das Deutſche Reich 1873 S. 4 ff. gedruckt.
4).
Geſetz §. 44. „Iſt die Zahl der bei der Erledigung einer Sache mit-
wirkenden Mitgliedern eine gerade, ſo führt dasjenige Mitglied, welches zuletzt
ernannt iſt, und bei gleichem Dienſtalter dasjenige, welches der Geburt nach
das jüngere iſt, nur eine berathende Stimme.“
5).
Geſetz §. 50 Abſ. 1.
6).
Regulativ §. 9.
7).
Eine Sammlung der Entſcheidungen des Bundesamtes,
herausgegeben von Wohlers, erſcheint ſeit 1873 in Berlin (Vahlen).
1).
Daſſelbe iſt vom 5. Januar 1874. Abgedruckt im Centralblatt S.
27 ff.
2).
Regulativ §. 1.
1).
Regulativ §. 9.
2).
Regulativ §. 2.
3).
Regulativ §. 3. 4.
4).
Regulativ §. 5. 7.
5).
Centralblatt 1874 S. 74.
6).
Vgl. Etat für 1875 Anl. VI Ausgabe Titel 3 Poſ. 1. Etat für 1876
Kapitel 65 Titel 7.
1).
Die näheren Vorſchriften über das Geſuch und über die von der Kom-
mandantur auszufertigende Genehmigung ſind in dem cit. Geſetz §§. 26—28
gegeben.
2).
§. 29 Abſ. 1 des cit. Geſ.
3).
§. 30 a. a. O.
4).
§. 31 a. a. O. Da die Kommiſſion eine Militär-Kommiſſion iſt,
ſo geht die Vertretung derjenigen Staaten, welche ihre geſammte Militär-Ver-
waltung auf Preußen übertragen haben, dadurch auf Preußen mit über. Des-
halb ſind Baden (Raſtatt) und Heſſen (Mainz) nicht in der Rayonkommiſſion
vertreten, ſondern nur Preußen, Bayern, Württemberg und Sachſen. Die
Mitglieder derſelben ſind in dem Handbuch des Deutſchen Reiches für 1874
S. 50 aufgeführt.
5).
Frh. v. Zedlitz-Neukirch Die Rechtsverhältniſſe der Reichsbeamten.
Geſetz vom 31. März 1873. Berlin 1874. Kanngießer Das Recht der
Deutſchen Reichsbeamten. Geſetz vom 31. März 1873. Berlin 1874.
1).
über denſelben oben S. 293 fg.
2).
In der Literatur iſt dieſe Begriffsbeſtimmung ſehr üblich; vgl; z. B.
Leiſt Staatsr. §. 99 Maurenbrecher Grundſätze des heutigen Deutſchen
Staatsr. §. 159 (S. 278). Zöpfl Bd. II. §. 513 Ziff. III. (S. 772) v. Pözl
in Bluntſchli und Braters Staatswörterbuch IX S. 686. Grotefend §. 668
Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 315 u. v. a.
3).
So definirt z. B. das Königl. Sächſ. Staatsdienergeſ. v. 7. März 1835
§. 1 als Staatsdiener „alle, welche aus der Staatskaſſe einen beſtimmten
jährlichen Gehalt beziehen.“ Vgl. Maurenbrecher a. a. O. Weiß Staatsr. S. 795.
1).
Die Art der Dienſte iſt nicht entſcheidend; dieſelben Dienſte, welche
1).
feſt angeſtellte Beamte leiſten, kann der Staat in anderen Fällen durch einen
Arbeits-Vertrag ſich verſchaffen; der angeſtellte Baumeiſter und der nicht an-
geſtellte Bau-Unternehmer, der Syndikus einer Behörde, der Mitglied derſelben
iſt, und der Rechts-Anwalt, der von ihr zur Durchführung eines fiskaliſchen
Rechtsanſpruchs engagirt iſt, der Kanzlei-Beamte und der zur Aushülfe hin-
zugezogene Schreiber u. ſ. w. unterſcheiden ſich nicht von einander durch die
Art ihrer Dienſte, ſondern durch die Art des rechtlichen Verhältniſſes zum
Staate, welches ſie zur Leiſtung der Dienſte verpflichtet.
1).
v. Gerber Grundzüge §. 36 Note 1 weiſt zwar auf dieſe Analogie
hin; im Uebrigen iſt aber ſeine Auffaſſung des juriſtiſchen Verhältniſſes eine
von der hier vorgetragenen ſehr abweichende.
1).
Die richtige Auffaſſung des Beamten-Verhältniſſes finde ich in der
neueren ſtaatsrechtlichen Literatur bei Schmitthenner Grundlinien des
allgemeinen oder idealen Staatsr. Gießen 1845 S. 509. Er ſagt: „Das or-
ganiſche Verhältniß des Staatsdienſtes wird, wo nicht Jemand ein Amt durch
Geburt erwirbt, durch Vertrag eingegangen. Der Staatsdienſt iſt nicht, wie
etwa der gemeine Militärdienſt, eine Pflicht, welche der Regent durch Befehl
und Geſetz auferlegen kann. — Wenn Manche, wie z. B. Hegel (Rechtsphiloſ.
§. 75. 294) ſich hiergegen erklären, ſo beruht dies einfach auf dem Irrthum,
daß ſie den Vertrag im Allgemeinen mit einer bloßen Art deſſelben, dem Ver-
trag des abſtracten Vermögensrechts, namentlich dem obligatoriſchen gleich-
ſetzen. Es iſt freilich kein Obligationsverhältniß, ſondern ein beſonderes öffent-
liches, folglich ein organiſches Subjectionsverhältniß, welches durch den Staats-
dienſtvertrag gegründet wird, wie ſchon daraus hervorgeht, daß der Staat
nicht ein bloßes Klagerecht, ſondern das Recht zu Befehl und Zwang erhält.“
Auch Welcker in ſeinem Staatslexikon Bd. 12 S. 300 im Art. „Staats-
dienſt“ hat eine ſehr ähnliche Auffaſſung; jedoch bezeichnet er das Rechtsver-
hältniß des Beamten zum Staat als ein „gemiſchtes“, nämlich theils privat-
rechtliches theils öffentlichrechtliches, was ich für unrichtig halte.
2).
In der älteren Literatur wird durchweg hierauf das entſcheidende
Gewicht gelegt; aber auch die neueſten Darſtellungen gehen faſt ausnahmslos
von der Anſchauung aus, daß eine Beſoldung nicht blos ein Naturale, ſondern
ein Essentiale des Beamten-Verhältniſſes ſei. Vgl. z. B. Schulze a. a. O.
I. S. 336. — Richtig Bluntſchli Allgemeines Staatsr. S. 125.
1).
Sehr verbreitet iſt in der neueren Staatsrechts-Theorie die Behaup-
tung, daß die dauernde Uebertragung eines Amtes für den Begriff des
Beamten weſentlich ſei. Vgl. z. B. ZachariäII. §. 133. 134. v. Gerber
S. 109. Die Dauer iſt nicht einmal für den Begriff des Amtes weſentlich;
es können vorübergehende Bedürfniſſe des Staates vorübergehende Geſchäfte
erzeugen, zu deren Erledigung zeitweilig Aemter eingerichtet werden. Wenn
man aber auch zugeben will, daß das Wort „Amt“ nur einen dauernd ab-
gegränzten ſtaatlichen Geſchäftskreis bezeichnet, ſo iſt es doch eine offenkun-
dige Begriffs-Verwechslung, wenn man für den Staatsdiener die dauernde
Uebertragung eines beſtimmten Amtes erfordert. Alsdann wären der Regie-
rungsrath, welcher interimiſtiſch als Hülfsarbeiter in das Miniſterium berufen
wird, oder der Aſſeſſor, welcher mit der Vertretung eines in den Reichstag
gewählten Landrathes beauftragt wird, keine Beamten. Das Staatsdiener-
Verhältniß kann ein dauerndes, lebenslängliches ſein; ebenſo kann das Amt
ein dauerndes ſein; ohne daß der Schluß daraus gerechtfertigt wäre, daß die
Uebertragung eines beſtimmten Amtes an einen beſtimmten Staatsdiener eine
dauernde ſein müſſe. Allein es iſt auch nicht einmal zuzugeben, daß das
Staatsdiener-Verhältniß ſeiner Natur nach nothwendig ein dauerndes ſei. Vgl.
Maurenbrecher §. 160. Grotefend §. 668. ZöpflII. §. 516. Das
Staatsrecht aller Deutſchen Staaten und insbeſondere auch das Reichsbe-
amtengeſetz
§. 32 kennt Beamte, welche auf Probe, Kündigung oder Wie-
derruf angeſtellt ſind und im §. 38 ſogar „Beamte, welche für ein ſeiner Natur
nach vorübergehendes Geſchäft angenommen werden.“ Vgl. auch Strafgeſetz-
buch §. 359.
1).
Richtig ZöpflII. §. 513 Note 3. Das Reichsbeamtengeſetz
macht keinen Unterſchied zwiſchen Beamten mit obrigkeitlichen Funktionen und
ſolchen mit techniſchen oder wirthſchaftlichen Funktionen. Die bei der Ver-
waltung der Reichs-Eiſenbahnen oder der Reichsbank, bei der Seewarte in
Hamburg oder dem Archäolog. Inſtitut in Rom angeſtellten Perſonen ſind
Reichsbeamte, ſo gut wie die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts oder
des Reichskanzleramts.
2).
Die Thatſache, daß das Unterperſonal der Behörden ſehr häufig nur
nach Art der Dienſtboten gemiethet wird, ſowie daß die Rechte, welche die
Staatsdienergeſetze der Einzelſtaaten den Staatsbeamten zuſichern, meiſtens
nur den höheren Beamten eingeräumt wurden, hatte die Wirkung, daß man
in der Literatur ſich vielfach abmühte, zwiſchen den „eigentlichen“ Staatsbe-
amten und dem Hülfsperſonal einen begrifflichen Gegenſatz aufzuſtellen. Vgl.
namentlich Heffter Beiträge S. 113 ff. Ferner Marquardſen in Rot-
teck’s Staatslexicon 3. Aufl. I. S. 483. BluntſchliII. S. 122. Pözl
in
Bluntſchli und Braters Staatswörterbuch IX. S. 687. Zachariä §. 133
1).
Im politiſchen Kampfe gegen das abſolutiſtiſche Syſtem des perſönlichen
Regiments, welches in den Beamten nur fürſtliche Civil- und Militär-Bediente
erblickte, iſt die Anerkennung dieſes Grundſatzes errungen worden. Nachdem
er in der Literatur ſchon öfters angedeutet worden war, insbeſondere auch in
der verdienſtlichen Abhandlung Heffter’s in ſeinen Beiträgen zum Deutſchen
Staatsrecht S. 106 ff., fand er eine glänzende und höchſt feſſelnd geſchriebene
Darlegung in der trefflichen Schrift von Perthes Der Staatsdienſt in Preu-
ßen. (Hamburg 1838), insbeſondere S. 44 ff. Dieſe mehr politiſch als juri-
ſtiſch gehaltene Monographie war von nachhaltigem Einfluß auf die ſpätere
Literatur. Seitdem kehrt der Satz immer und immer wieder in allen Erör-
terungen über den Staatsdienſt; auch in ſolchen, die ſtreng juriſtiſch gehalten
ſind, wie z. B. bei v. Gerber §. 36. Mit übermäßigem Pathos iſt dieſer
Grundſatz betont und als der eigentliche Kernpunkt des ganzen Beamtenbegrif-
fes ausgegeben worden von Lorenz Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 207 ff.,
dem hierin Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 315. 323 ff. ſich anſchließt. Für
das Staatsrecht aber iſt zur Zeit nichts dringender nöthig als die Erkenntniß,
daß ſich eine juriſtiſche Deduktion nicht erſetzen läßt durch hiſtoriſch-politiſche,
ethiſche und ſociale „Betrachtungen.“
2).
(II. S. 19). SchulzeI. S. 315. v. Gerber S. 110 Note 11. Mau-
renbrecher
§. 160 ſagt: „Sie ſind durchaus als Staatsdiener nicht zu be-
trachten, obgleich ſie dem Namen nach und der Formen ihrer Anſtellung wegen
häufig als ſolche paſſiren.“ (!) Dem bureaukratiſchen Dünkel mochte es nicht
behagen, daß der Herr Rath und der Bote unter dieſelbe juriſtiſche Begriffs-
Kategorie gehören ſollten. Aber es iſt ſchon oben S. 385 Note 1 hervorgehoben,
daß nicht die Art der Dienſte, ſondern die Art des Dienſtverhältniſſes (der
Anſtellung) für die Eigenſchaft eines Beamten entſcheidend iſt. Das Reichs-
beamtengeſetz
unterſcheidet zwiſchen oberen und unteren Reichsbeamten
nicht und die Motive vom 8. April 1872 (Druckſachen des Reichstages von
1872 Nr. 9 S. 30. 31) erklären ſich ausdrücklich gegen eine ſolche Unter-
ſcheidung.
1).
Ueber die verſchiedenen Anſichten vgl. Gönner S. 13 ff. Heffter
a. a. O. S. 128 ff. Zachariä Staatsrecht II. §. 135. Daſelbſt S. 15 ff.
iſt die ſehr reiche Literatur angegeben.
2).
Als Vertreter dieſer Anſicht werden vorzugsweiſe citirt Lud. Hugo
1).
z. B. Strube Rechtl. Bedenken Th. III. Nr. 144 S. 510. Dieſelbe
Auffaſſung findet ſich noch in einem Erk. des Appellat.-Gerichts zu
Leipzig vom 3. September 1863. Wochenbl. für merkw. Rechtsfälle von
1864 S. 81 ff.
2).
z. B. Harprecht Consil. respons. 93 Nr. 77. Ebenſo noch das
Erk. des Preuß. Obertribunals vom 17. März 1865. Entſcheidungen
Bd. 52 S. 321 ff.
3).
Am eingehendſten, unter Widerlegung der anderen Anſichten, Seuffert
Vom Verhältniß des Staats und der Diener des Staates (Würzburg 1793)
S. 16 fg. und v. der Becke Von Staatsämtern und Staatsdienern (Heilbronn
1797) S. 36 ff. Ferner Leiſt Staatsr. §. 100. Jordan Lehrbuch §. 72 II.
(Vgl die bei Grotefend §. 669 Note 2 mitgetheilte Stelle daraus.) Klüber
Oeffentl. Recht §. 492 S. 720. Auch Buddeus in Weiske’s Rechtslexik. I.
S. 744 hält noch an der Annahme eines privatrechtlichen Staatsdienſtvertra-
ges feſt; ebenſo Feuerbach Lehrb. des peinl. R §. 477. Schwankend und
unbeſtimmt Mittermaier in Erſch und Gruber’s Encyclop. Art. „Amt.“
4).
Gönner a. a. O. S. 27. „Jede Arbeit für den Staat, welche der
Unterthan leiſtet, iſt Staatsdienſt.“ S. 49 ff. „Die Leiſtung der Staatsdienſte
haftet auf der vereinigten Kraft der Unterthanen.“ „Dienſte ſtehen wie die
Steuern unter den Regeln der Finanzwiſſenſchaft.“ S. 56 ff. und beſ. 83 ff.
„Staatsdienſte ſind eine Staatslaſt; ſie werden von den Einzelnen nach Maß-
gabe ihrer Kräfte, Talente und Kenntniſſe gefordert.“
2).
de statu region. Germ. c. III. §. 34 Myler ab Ehrenbach Hypar-
cholog. cap. III. §. 32. Böhmer Exercit. ad Pandectas p.
767 fg.
und derſelbe in der Dissert. de iure princip. circa dimiss. ministr. Halae
1716 cap. II.
§. 16, wo die älteren Vertreter angeführt ſind.
1).
Der Beamte ſchließe keinen Vertrag mit dem Staate, ſondern erfülle
ſeine Pflicht. Eine Ausnahme ſei nur vorhanden, wenn ein Ausländer
zu einem Staatsdienſt berufen werde; hier werde ein Vertrag geſchloſſen.
Gönner S. 93 ff.
2).
Derſelbe faßt dann das durch Ausübung dieſes Zwangsrecht entſtehende
Rechtsverhältniß wieder ganz privatrechtlich auf, als eine Obligation quasi ex
contractu,
nach Analogie der Tutel, ſo daß der Staat dem Beamten leiſten
ſolle quod ex bona fide dare facere oportet. S. 130 ff. Conſequenter Weiſe
müßte dies doch auch für den Beamten gelten und ſo gelangt man wieder
völlig in die privatrechtliche Contractslehre. Da auch ſchon Seuffert a. a. O.
S. 9 ff., die Pflicht jedes Unterthanen zum Staatsdienſte behauptet und dem-
gemäß annimmt, daß Jeder, den der Staat in ſeinen Dienſt beruft, den „An-
ſtellungsvertrag“ abſchließen muß, ſo iſt dieſe Anſicht von der Heffters nicht
weſentlich verſchieden. Zwangsvertrag oder Quaſivertrag iſt bloßer Wortſtreit.
3).
ZachariäII. S. 30 (§. 136) will das Zwangsrecht des Staates als
Regel
nicht anerkennen, wohl aber im Falle eines Nothſtandes nach den
Grundſätzen des ius eminens. Im Prinzip geſteht er alſo doch das Zwangs-
recht dem Staate zu und beſchränkt nur deſſen Ausübung.
1).
Siehe oben S. 354.
2).
Siehe oben S. 352. Vgl. Kanngießer S. 19.
3).
Siehe oben S. 354.
4).
als Zoll- und Steuer-Rechnungsbureau. Siehe S. 320.
5).
als Reichs-Hauptkaſſe. Siehe S. 316.
6).
als Reichs-Schulden-Verwaltung. Siehe S. 349.
7).
als Ober-Konſulargericht. Siehe S. 368.
8).
als oberſtes Marinegericht. Siehe S. 369.
9).
Siehe oben S. 324.
10).
Siehe oben S. 381. fg.
11).
Siehe oben S. 320.
12).
Dieſes Geſetz iſt zuerſt 1869, dann 1870, dann 1872, endlich 1873
dem Reichstage vorgelegt worden. Vgl. über die Schickſale des Geſetzentwurfs
Kanngießer a. a. O. S. 3 ff. Die Berathung, in welcher der Wortlaut
des Geſetzes im Weſentlichen feſtgeſtellt wurde, iſt die des Jahres 1872. Die
von der Regierung ausgearbeiteten Motive finden ſich in den Druckſachen
des Deutſchen Reichstages 1872 Bd. I. Nr. 9.
1).
Dieſe Definition iſt wörtlich entnommen dem Geſetz vom 2. Juni
1869 über die Kautionen der Bundesbeamten §. 1 (B.-G.-Bl. S. 161); nur
daß hier ſelbſtverſtändlich ſtatt „Kaiſer“ „Bundespräſidium“ ſtand.
2).
Es iſt dies vom Präſidenten des Reichskanzler-Amtes ausdrücklich an-
erkannt worden bei der Berathung des Beamten-Geſetzes im Reichstage von 1868
1).
Vgl. die Motive von 1872 S. 30. Das R.-G. vom 31. März 1873
§. 120 ff. erwähnt ſie ausdrücklich; ebenſo das Verz. der Reichsbeamten vom
30. Juni 1873 (R.-G.-Bl. S. 169); vgl. ferner die Verordn. v. 5. Juli 1871
(R.-G.-Bl. S. 308) u. ſ. w.
2).
(Stenogr. Ber. S. 556). Ferner in einem Erlaß des Preuß. Miniſters des
Innern vom 9. Juli 1869 (Min.-Bl. für die Preuß. innere Verwaltung 1869
S. 161.) In demſelben Sinne hat das Preuß. Kammergericht entſchieden
durch Urtheil vom 1. November 1869 (in demſelben Miniſt.-Blatt 1870 S. 52).
Nach Erlaß des Reichsbeamten-Geſetzes iſt derſelbe Satz mit ſeinen Con-
ſequenzen feſtgehalten worden von dem Kaiſerl. Disciplinarhofe in
der Entſcheidung vom 2. April 1874 (Centralbl. für das Deutſche Reich 1874
S. 145 fg.) Der II. Senat des Reichs-Oberhandelsger. hat zwar in dem
Urth. vom 5. März 1874 (Entſcheidungen Bd. 13 S. 29 ff.) ausgeführt, daß
mit dem Tage der Geſetzeskraft des Geſetzes vom 31. März 1873 die nicht
vom Kaiſer ernannten Poſtbeamten Reichsbeamte wurden; aber es iſt hier die
Einſchränkung hinzuzufügen: „im Sinne dieſes Geſetzes.“
1).
Die Motive a. a. O. ſagen: Es handelt ſich (im §. 1) nur um dieje-
nigen Beamten, welche in einem vom Reiche unmittelbar geleiteten Verwaltungs-
zweige thätig ſind.
2).
ebenſo ſchon die Verordn. vom 3. Dez. 1867 (B.-G.-Bl. S. 327.)
3).
Man könnte auch ſagen: „landesherrliche Reichsbeamte.“
4).
Vgl. das oben citirte Erk. des Disciplinarhofes im Centralbl. 1874
S. 145.
5).
Die Bezeichnung „mittelbare Reichsbeamte“ wäre an und für ſich auch
auf dieſe Beamten anwendbar. Vgl. oben S. 292.
1).
Geſetzbl. für Elſ.-Lothr. S. 479. Ausgenommen von der Geltung
deſſelben ſind die Lehrer an der Univerſität Straßburg und Mitglieder geiſt-
licher Kongregationen, welche Stellen im Staatsdienſte oder in öffentlichen
Lehranſtalten verſehen. Geſetz vom 23. Dezember 1873 Art. IX.
2).
Reichsgeſ. vom 31. März 1873 §. 157. Siehe unten §. 41.
3).
Perthes a. a. O. S. 55: „Nicht auf einem Vertrage ruht die Ue-
bernahme des Amtes, denn die Pflicht hört nicht auf Pflicht zu ſein, wenn
der, welchem ſie obliegt, mit Freuden erfüllt .... So iſt auch der vom Lan-
desherrn Auserleſene verpflichtet das Amt zu übernehmen, auf ſeine Einwilli-
gung kömmt es hier ſo wenig, wie bei der Entrichtung der Steuern oder Er-
füllung ſonſtiger Unterthanenpflichten an.“
1).
So Zöpfl Staatsr. II. §. 515. ZachariäII. §. 135 (S. 27.)
v. Gerber §. 37. Bluntſchli Allgem. Staatsr. II. S. 124 (der jedoch
den Ausdruck Specialgeſetz deshalb vermieden wiſſen will, weil die Anſtel-
lung in der Regel nicht durch den geſetzgebenden Körper erfolgt). Pözl im
Staatswörterbuch Bd. IX S. 688 und Bayr. Verfaſſungsr. §. 199 Note 2
(S. 495). v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 §. 328. Vgl. ferner Mau-
renbrecher
§. 161. Grotefend §. 673. Schulze Preuß. Staatsr. I.
§. 99. Selbſt Schmitthenner, der die Anſtellung richtig als einen Ver-
trag des öffentlichen Rechts auffaßt, legt deſſenungeachtet S. 506 dem Anſtel-
lungsdekret „den Charakter einer lex specialis bei.“
1).
Gönner S. 84. 87. Heffter a. a. O. S. 129. 130: „Das Amt
… wird nicht erſt durch einen Vertrag, eine conventio geſchaffen, es iſt ſchon
vorhanden und wird nur jedesmal durch einen Regierungsakt bei einer neuen
Anſtellung für ein beſtimmtes Individuum ins Leben gerufen.“ Vgl. ferner
L. Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 239 ff.
2).
Wenn Bluntſchli a. a. O. S. 124 Note 5 behauptet, „daß die An-
frage, ob jemand ein Amt annehmen würde und die Zuſage deſſelben noch
keinen Vertrag bewirkt,“ ſo darf man wohl fragen, warum nicht, da doch
ſonſt Offerte und Annahme das Zuſtandekommen eines Vertrages bewirken.
1).
v. Gerber §. 37 Note 1 hebt trotz ſeiner Behauptung, daß die An-
ſtellung „in die Claſſe der Privilegien gehört,“ ganz richtig hervor, daß die
Bedeutung, welche der Vertrag bei der Begründung des Staatsdienſtverhält-
niſſes hat, derjenigen ähnlich iſt, welche dem Vertrage bei der Eingehung einer
Ehe zukömmt. Der Inhalt des ehelichen Verhältniſſes iſt kein vertragsmäßig
normirter, aber deſſen ungeachtet bleibt doch die Eheſchließung ein
Vertrag.
1).
Siehe oben S. 262.
2).
Ein Verbot oder eine Beſchränkung dieſer Delegationsbefugniß iſt im
Art. 18 der R.-V. nicht enthalten.
3).
Das Verzeichniß derſelben ſteht im R.-G.-Bl. 1874 S. 136 ff.
4).
Dies bezieht ſich nur auf die ſogen. mittelbaren Reichsbeamten (Mili-
tär- Poſt- Telegraphen-Beamte).
5).
Beiſpiele: Das Geſetz vom 12. [Juni] 1869 §. 4 überträgt beim
R.-O.-H.-G. die Ernennung der Sekretäre dem Reichskanzler, die Ernen-
nung der übrigen Subaltern- und Unterbeamten dem Präſiden-
ten des Gerichtshofes. Das Geſetz vom 23. März 1873 §. 11 Abſ. 2 über-
trägt dem Vorſitzenden der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds die Ernen-
nung des Bureauperſonals (alſo mit Einſchluß der Sekretäre). Dage-
1).
Vgl. Kanngießer S. 24. Auch männliches Geſchlecht iſt reichsge-
ſetzlich nicht erforderlich; der Anſtellung von Frauen und Mädchen im Poſt-
und Telegraphendienſt ſteht kein rechtliches Hinderniß entgegen. Das Verzeich-
niß der Reichsbeamten im R.-G.-Bl. 1874 S. 179 erwähnt vielmehr ausdrück-
lich die „Telegraphen-Gehülfinnen“ im Großherzogth. Baden.
5).
gen das Geſetz vom 27. Juni 1873 §. 2 überträgt die Ernennung der Sub-
altern- und Unterbeamten
bei dem Reichs-Eiſenbahn-Amt dem Reichs-
kanzler
. — Ein Prinzip ſcheint alſo nicht zu beſtehen, da bei den drei an-
gegebenen Behörden drei verſchiedene Anordnungen erlaſſen worden ſind. —
Bei der Ober-Rechnungskammer ernennt der Präſident alle Beamten mit Aus-
nahme der Mitglieder. (Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 §. 6 Abſ. 1.
Geſ.-Samml. S. 279.) Dies findet auch auf den Rechnungshof des Reiches
Anwendung. Inſtrukt. vom 5. März 1875 §. 17. Centralbl. S. 160. —
Bisweilen iſt dem Reichskanzler die Ernennung von Reichsbeamten
übertragen, jedoch nach Anhörung von Bundesraths-Ausſchüſſen; ſo z. B. hin-
ſichtlich der Inſpectoren für die Steuermanns- und Schifferprüfungen (B.-G.-Bl.
1870 S. 320. 325) und der Inſpektoren für das Schiffsvermeſſungsweſen.
(Verordn. vom 5. Juli 1872 §. 21. R.-G.-Bl. S. 277).
1).
Verordn. vom 31. März 1873. R.-G.-Bl. S. 135.
2).
Motive S. 31.
3).
Die herrſchende Anſicht, welche in der Anſtellungs-Urkunde eine lex
specialis
erblickt, läßt die Wirkungen mit dem Datum des Decrets beginnen.
Vgl. z. B. ZachariäII. S. 33 und v. Gerber S. 117. Wie ſollen aber
für den Beamten Pflichten erwachſen, ſo lange er von ſeiner Anſtellung noch
Nichts weiß? Man hilft ſich damit, daß man die Pflichten ſpäter entſtehen
läßt, als die Rechte des Beamten! Vgl. Pözl im Staatswörterbuch IX.
S. 692.
1).
Es kann demnach in der Beſtallung der Zeitpunkt, von dem an das
Gehalt zu zahlen iſt, hinausgeſchoben oder auf einen ſchon vergangenen Tag,
z. B. den Anfang des Vierteljahres oder Monats, zurückdatirt werden. Ent-
hält die Beſtallung darüber Nichts, ſo entſcheidet der Tag, an dem die Amts-
geſchäfte thatſächlich übernommen worden ſind. Unter Umſtänden — wenn
z. B. der Beamte ſogleich um Urlaub bittet — kann dies erheblich ſpäter ſein,
als der Beginn der Beamten-Eigenſchaft.
2).
In den Motiven S. 31 wird richtig hervorgehoben, daß die Eigen-
ſchaft eines Beamten als Reichsbeamter nicht durch die vorherige Ableiſtung
des Eides bedingt wird. Gewöhnlich wird die Anſtellung und die Uebernahme
eines Amtes nicht genügend unterſchieden.
3).
Vgl. Zachariä a. a. O. II. S. 34.
4).
„Unter Beamten im Sinne dieſes Strafgeſetzes ſind zu verſtehen alle
1).
Geſetz vom 8. November 1867 §. 4. (B.-G.-Bl. S. 138).
2).
Geſetz vom 23. Mai 1873 §. 12 (R.-G.-Bl. S. 121). Siehe oben S.
351. Ueber die Mitglieder der Reichsſchulden-Verwaltung ſiehe oben S. 349 fg.
3).
Er wird — ohne Angabe des Datums — erwähnt in den Motiven
zum Reichsbeamten-Geſetz S. 31.
4).
...... Perſonen, ohne Unterſchied, ob ſie einen Dienſteid geleiſtet haben
oder nicht.“
1).
Wäre die Theorie richtig, daß jede Anſtellung eines Beamten eine lex
specialis
ſei, ſo würde ſie, da Art. 2 der R.-V. keine Ausnahme kennt, nur
durch Verkündigung im Reichsgeſetzblatte
und zwar erſt von
dem in dieſem Art. angegebenen Termine an verbindliche Kraft erlangen.
Auch hieran erweiſt ſich die Unrichtigkeit der Theorie.
2).
Durch Kaiſerl. Verordn., welche im Einvernehmen mit dem Bundes-
rathe zu erlaſſen iſt, ſollen die Klaſſen der Beamten, welche Kaution zu ſtellen
haben, und die Beträge der Kautionen beſtimmt werden. (Geſ. §. 3.) Zur
Ausführung dieſes Geſetzes ſind folgende Kaiſerl. Verordnungen er-
gangen:
  • a) vom 29. Juni 1869 (G.-Bl. S. 285) über die Beamten der Poſt- und
    Telegraphenverwaltung und des Eichungsweſens. Dieſelbe iſt abgeän-
1).
So z. B. Thudichum S. 233. v. Rönne Verfaſſungsr. des Deut-
ſchen Reiches S. 203. Der Ausdruck „Kautionspflicht“ oder auch „Kautions-
pflichtigkeit“ entſpricht zwar der allgemeinen, vulgären Redeweiſe; um ſo mehr
iſt es aber geboten, das juriſtiſche Weſen des Verhältniſſes feſt im Auge zu
behalten. Die Reichsgeſetze ſprechen nicht nur von „kautionspflichtigen Beam-
ten,“ ſondern auch häufig von „kautionspflichtigen Aemtern“ (!) und im Geſ.
vom 2. Juni 1869 begegnet man ſogar einem „kautionspflichtigen Bundes-
Dienſtverhältniß“ (!!) z. B. §. 9. 13.
2).
  • dert und ergänzt worden durch Verordn. v. 14. Juli 1871 (R.-G.-Bl.
    S. 316) und durch Verordn. vom 12. Juli 1873 (R.-G.-Bl. S. 298).
  • b) vom 5. Juli 1871 (R.-G.-Bl. S. 308) über die Beamten der Militär-
    und Marine-Verwaltung.
  • c) vom 27. Februar 1872 (R.-G.-Bl. S. 59) über die Beamten der Reichs-
    Eiſenbahn-Verwaltung.
  • d) vom 6. Juli 1874 (R.-G.-Bl. S. 109) über die bei dem Auswärtigen
    Amte, der Verwaltung des Invalidenfonds und im Bureau des Reichs-
    tags angeſtellten Beamten.
1).
Die Verordn. v. 29. Juni 1869 Art. 4 (B.-G.-Bl. S. 287) ge-
ſtattet bei den Unterbeamten und kontraktl. Dienern der Poſt- und Tele-
graphen-Verwaltung
die Anſammlung der Kaution durch Gehalts-Ab-
züge im Betrage von 1 bis 3 Thlr. monatlich nach Ermeſſen der vorge-
ſetzten Dienſtbehörde
. Außerdem ermächtigt die V. vom 14. Juli
1871
Art. 2 (R.-G.-Bl. S. 316) das General-Poſtamt „ſolchen Beam-
ten, welche in Folge der eingetretenen Veränderung in den Perſonalverhält-
niſſen und im Dienſtbetriebe der Poſtverwaltung eine mit Kautionspflicht, be-
ziehentlich mit höherer Kautionspflicht verbundene Dienſtſtellung erhalten und
die für dieſe Stellung erforderliche Kaution auf einmal zu beſchaffen außer
Stande ſind, die nachträgliche Beſchaffung der Kaution durch Anſammlung
von angemeſſenen Gehaltsabzügen zu geſtatten.“ Durch die Verordn. vom
12. Juli 1873 (R.-G.-Bl. S. 298) ſind dann generell das General-Poſt-
amt
ſowie die General-Direktion der Telegraphen ermächtigt worden,
die nachträgliche Anſammlung von Kautionen durch Gehalts-Abzüge von min-
deſtens 50 Thlr. jährlich ausnahmsweiſe zu geſtatten; jedoch findet dies keine
Anwendung auf Beamte, welche an der Verwaltung einer Ober-Poſtkaſſe oder
Ober-Telegraphen-Kaſſe theilnehmen oder die Vorſteherſtelle eines Poſtamtes
bekleiden.
Für die Beamten der Militär- und Marine-Verwaltung iſt
durch V. vom 5. Juli 1871 Art. 3 (R.-G.-Bl. S. 313) angeordnet, daß
die vorgeſetzte Dienſtbehörde die ſucceſſive Anſammlung von Kau-
tionen geſtatten darf durch Gehaltsabzüge, welche bei Unterbeamten (und kon-
traktlichen Dienern) nicht weniger als 1—3 Thlr. monatlich, bei anderen Be-
amten nicht weniger als 50 Thlr. jährlich betragen. Dieſe Beſtimmungen
finden aber keine Anwendung auf Beamte in Rendanten- oder in Vorſtands-
ſtellungen, ſowie auf ſolche Beamte, deren Kaution den einjährigen Betrag
ihres Dienſteinkommens überſteigt. Außerdem hat die V. v. 14. Januar 1873
(R.-G.-Bl. S. 37) verfügt, daß Feldbeamten der Militär-Verwaltung von
dem vorgeſetzten Feldintendanten unter deſſen eigener Verantwortlichkeit
die nachträgl. Anſammlung der Kaution durch Gehaltsabzüge von mindeſtens
50 Thlr. jährlich geſtattet werden darf.
In Beziehung auf die bei der Verwaltung der Reichseiſenbah-
nen
angeſtellten Beamten beſtimmt die Verordn. vom 27. Februar 1872 §. 3
(R.-G.-Bl. S. 60), „daß denjenigen Beamten, welche die Hälfte ihres penſions-
fähigen Jahresgehalts oder diätariſchen Jahreseinkommens oder einen geringe-
1).
R.-G. vom 2. Juni 1869 §. 16.
2).
Die Verordnung vom 14. Dezember 1872 Art. 1 (R.-G.-Bl. S. 434)
ordnet an, daß Kautionserhöhungen, zu welchen Beamte lediglich in Folge
einer mit Beförderung nicht verbundenen Gehaltserhöhung verpflichtet ſind,
durch Anſammlung angemeſſener Gehaltsabzüge aufgebracht werden, deren
Höhe die vorgeſetzte Dienſtbehörde beſtimmt. — Im Art. 3 dieſer Verordn.
wird Art. 4 der V. vom 5. Juli 1871 ausdrücklich aufgehoben; aber auch
Art. 5 der V. vom 29. Juni 1869 und §. 4 der V. vom 27. Febr. 1872 ſind
ebenfalls aufgehoben.
1).
ren Betrag als Kaution zu beſtellen haben, von der Generaldirektion
der Reichs-Eiſenbahnen geſtattet werden kann, die Kaution nachträglich durch
Anſammlung von Gehaltsabzügen aufzubringen, welche nicht weniger als
1 Thlr monatlich betragen.“
Die Verodn. vom. 6. Juli 1874 Art. 3 (R.-G.-Bl. S. 110) läßt die
Geſtattung einer nachträglichen Kautions-Anſammlung zu bei dem Buchhalter
und Kaſſendiener bei der Legationskaſſe und bei dem Buchhalter und Kaſſen-
diener bei der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds (aber nicht bei dem
Rendanten), ſo daß die Gehaltsabzüge bei den Buchhaltern mindeſtens 50 Thlr.
jährlich, bei den Kaſſendienern mindeſtens 1—3 Thlr. monatlich betragen.
Die Erlaubniß iſt von dem Auswärt. Amte, beziehentlich der Verwaltung des
Reichs-Invalidenfonds zu ertheilen.
1).
R.-G. vom 2. Juni 1869 §. 4.
2).
R.-G. §. 9. Einige hierauf bezügliche Preußiſche Miniſterial-Verfü-
gungen ſind abgedruckt bei Kanngießer S. 277.
3).
R.-G. § 8.
4).
Vgl. z. B. die Verordn. vom 29. Juni 1869 Art. 4 und Verordn. v.
5. Juli 1871 Art. 3.
1).
Geſ. §. 5 Abſ. 1. Es kann jedoch die Einzahlung von baarem Gelde
zum Ankauf eines Werthpapieres geſtattet werden, ſo daß der Staat (z. B.
die Ober-Poſtkaſſe oder Telegraphenkaſſe) den Einkauf vermittelt. Vgl. In-
ſtruktion vom 16. Juni 1869 über die Kautionen der Poſtbeamten §. 9.
(Kanngießer S. 286).
2).
Geſetz §. 6 Abſ. 3.
3).
Vgl. die citirte Inſtruktion vom 16. Juni 1869 (und die gleichlautende
für die Telegraphen-Beamten vom 28. Juli 1869) §. 7. Es iſt zugleich ein
Formular für dieſe Verſchreibungen beigefügt.
4).
Die Behörden haben auch dieſe Genehmigungen ſich in ſchriftlicher
Form ertheilen zu laſſen.
5).
Geſetz §. 6 Abſ. 2.
1).
Geſetz §. 10.
2).
Geſetz vom 2. Juni 1869 §. 12 Abſ. 1 und v. 31. März 1873 §. 20.
3).
Geſetz vom 2. Juni 1869 §. 12 Abſ. 2. Dieſe ſpecielle Beſtimmung
iſt durch die allgemeine Vorſchrift im Geſetz vom 31. März 1873 §. 19 nicht
aufgehoben.
4).
H.-G.-B. Art. 307 enthält eine Rechtsregel des allgem. bürgerlichen
Rechts, nicht blos des Handelsrechts. Vgl. Goldſchmidt Zeitſchrift für
Handelsr. IX. S. 57. 58. Anſchütz u. v. Völderndorff Komment. zum
H.-G.-B. III. S. 161. v. Hahn Komment. II. S. 151 (2. Aufl.).
5).
Geſetz vom 2. Juni 1869 §. 11 Abſ. 2.
6).
Gleichviel ob auf Grund eines rechtskräftigen Erkenntniſſes oder eines
vollſtreckbaren, adminiſtrativen Beſchluſſes. Vgl. Geſetz vom 31. März 1873
§. 139. 143. 144.
1).
Geſetz §. 11 Abſ. 1. Für die Beitreibung dieſes Betrages kommen
die Regeln zur Anwendung, welche für die exekutiviſche Beitreibung öffentlicher
Abgaben gelten.
2).
Geſetz §. 6 Abſ. 1. Denſelben Behörden, denen die Aufbewahrung
der Werthpapiere obliegt, iſt auch die Anſammlung der Kautionen durch Ge-
halts-Abzüge übertragen. Verordn. vom 29. Juni 1869 Art. 6. Verordn.
vom 5. Juli 1871 Art. 7. Verordn. vom 27. Febr. 1872 Art. 5. Verordn.
vom 6. Juli 1874 Art. 5.
3).
Geſetz §. 6 Abſ. 3.
4).
Vgl. über das im Falle der Verlooſung zu beobachtende Verfahren
die Inſtrukt. vom 16/28. Juli 1869 §. 11. (Kanngießer S. 287).
5).
Geſetz. § 13.
1).
In dieſer Hinſicht beſtimmen die erwähnten Inſtruktionen §. 21, daß
bei den Rendanten, Buchhaltern und Hülfs-Buchhaltern der Ober-Poſtkaſſen
gewartet werden muß, bis von dem Rechnungshof die Decharge über die Jahres-
Rechnung für dasjenige Jahr ertheilt worden iſt, in welchem die betreffenden
Beamten aus dem Dienſte geſchieden ſind. Bei den übrigen Beamten, Unter-
beamten und kontraktl. Dienern iſt zu warten, bis ſeit Vornahme der letzten
dienſtlichen Handlung des Beamten ein Jahr und ein Monat verſtrichen iſt.
Hinſichtlich der Vorſteher der Poſt-Anſtalten und Telegraphen-Stationen, welche
zugleich Führer der Hauptkaſſen bei denſelben ſind, muß nach Ablauf der
dreizehnmonatlichen Friſt event. noch das Ergebniß der Rechnungs-Reviſion
in Bezug auf dasjenige Jahr abgewartet werden, in welchem der betreffende
Beamte aus dem Dienſte getreten iſt.
1).
Vgl. z. B. die Inſtrukt. für den Rechnungshof vom 5. März 1875
§. 14 Nr. 2 (Centralbl. S. 159).
2).
Vgl. Entwurf der Civilprozeß-Ordn. §. 41. Entw. der Strafprozeß-
Ordnung §. 16.
1).
Specielle, durch die Verordn. vom 2. Nov. 1874 §. 8 in Geltung er-
haltene Beſtimmungen über Urlaubs-Bewilligungen ſind getroffen in dem Re-
gulativ für das Bundesamt für das Heimathsweſen vom 6. Januar 1873 §. 3
(Centralbl. S. 5); in dem Regulat. für die Disciplinarbehörden vom 12. Dez.
1873 §. 8 (Centralbl. S. 391); in dem Regulativ für das Oberhandelsgericht
vom 9. Juli 1874 §. 30. 31 (Centralbl. S. 280); vgl. auch das Regulat. für
den Rechnungshof vom 5. März 1875 §. 17 (Centralbl. S. 160); in der In-
ſtrukt. für die Konſuln vom 6. Juni 1871 zu §. 6. (Hirth’s Annalen 1871
S. 613.) Ferner in dem Reglement über die Serviskompetenz der Truppen
im Frieden vom 20. Februar 1868 §§. 48—61 und in der Beilage 3 zu dem
Reglement vom 9. Dezember 1873 hinſichtlich des Marine-Zahlmeiſter-Per-
ſonals.
1).
Reichsbeamtengeſetz §. 14 Abſ. 2.
2).
Verordn. vom 2. Nov. 1874 §. 6 Abſ. 1.
3).
ebendaſ. Abſ. 2. Dies gilt auch von den mittelbaren Reichsbeamten,
da dieſelben ihren Gehalt auf Reichskoſten beziehen.
4).
Reichsbeamtengeſetz §. 14 Abſ. 3.
5).
Reichsbeamtengeſ. §. 14 Abſ. 2.
1).
Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S. 375 ff.
1).
In der neueren Staatsrechts-Literatur begegnet man öfters der Lehre,
daß der Beamte, welchem ein geſetzwidriger Befehl ertheilt worden iſt, bei der
Oberbehörde zu remonſtriren verpflichtet ſei, wenn aber ſeine Vorſtellung
fruchtlos bleibe, dann den Befehl ausführen müſſe. So namentlich Gönner
S. 202 („mit beſcheidener Freimüthigkeit“). Bluntſchli Allgem. Staatsr. II.
S. 138. v. Mohl Württemb. Staatsr. I. S. 775. 780. v. Rönne Preuß.
Staatsr. II. 1 S. 428. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 326 ff. v. Gerber
S. 113.
Dieſe Theorie, obwohl ſie in manche kleinſtaatliche Verfaſſungen ſich ein-
geſchlichen hat, iſt keine Löſung der Frage, ſondern eine praktiſch werthloſe
Umgehung derſelben. Ein rechtswidriger und an ſich nichtiger Befehl kann
dadurch nicht Rechtswirkſamkeit erlangen, daß er zweimal ertheilt wird; ein
Beamter, dem die Befolgung eines Befehles unterſagt iſt, kann nicht dadurch,
daß er dies der Oberbehörde gegenüber ausgeſprochen hat, nunmehr zur Aus-
führung dieſes Befehles verpflichtet und befugt werden. Würde die Theorie
wirklich Geltung haben, ſo könnte ſich jeder Beamte durch eine zum Schein
vorgebrachte Remonſtration decken, oder es könnte die vorgeſetzte Behörde
ihrem Befehl gleich eine Klauſel beifügen, welche der Unterbehörde andeutet,
daß Remonſtrationen fruchtlos ſein würden. Uebrigens würde es aber wol
keine Behörde für angemeſſen erachten, mit den Unterbehörden ſich in einen
fortwährenden Meinungs-Austauſch darüber einzulaſſen, ob und aus welchen
Gründen ihre Entſcheidungen dem Recht und den Geſetzen gemäß ſind. Das
Reichsbeamten-Geſetz ſchließt die Anwendung jener Theorie ſicherlich
aus, denn es legt dem Beamten weder eine Pflicht zu ſolchen Vorſtellungen
an die vorgeſetzte Behörde auf, noch macht der §. 13 eine Ausnahme für den
Fall, daß der Beamte dergleichen Remonſtrationen erhoben hat.
Die Löſung der Frage iſt nicht darin zu ſuchen, daß man dem Beamten
1).
eine Zwiſchenverhandlung mit dem Vorgeſetzten auferlegt, alſo gewiſſermaaßen
ſtatt eines prompten, einen ſchleppenden Gehorſam von ihm verlangt, ſondern
dadurch, daß man feſt beſtimmt, wieweit ſich die eigene, ſelbſtſtändige Verant-
wortlichkeit des Beamten erſtreckt.
1).
Einige Verfaſſungen, welche dieſen Rechtsſatz enthalten, ſtellt Zachariä
II. §. 137 Note 14 zuſammen. Vgl. ferner Bluntſchli a. a. O. II. S. 137.
v. Mohl a. a. O. v. Pözl Bayr. Verfaſſungsr. S. 510. Schulze a. a. O.
S. 327.
2).
Für alle ſchriftlichen Verfügungen iſt die Unterſchrift des zur Vertre-
tung der Behörde legitimirten Beamten erforderlich; für Erkenntniſſe die Be-
obachtung der für die Urtheils-Ausfertigungen vorgeſchriebenen Formen; für
Verfügungen des Kaiſers die Gegenzeichnung des Reichskanzlers.
2).
Wenn durch Inſtruktionen oder andere dienſtliche Anordnungen einer
vorgeſetzten Behörde der Geſchäftskreis eines Beamten begränzt iſt, ſo kann
er durch Anordnungen der vorgeſetzten Behörde, ſo weit deren Zuſtändigkeit
reicht, erweitert oder verändert werden und ſoweit ſind daher auch dienſtliche
Befehle verbindlich.
3).
Vgl. das Erk. des Preuß. Obertribunals vom 1. Juni 1872
bei Oppenhoff a. a. O. Note 16. Mit der Pflicht eines Beamten, Befehlen
der vorgeſetzten Behörde nachzukommen, hat die Pflicht einer Behörde, den
Requiſitionen anderer Behörden zu genügen, eine unverkennbare Analogie;
zur Unterſtützung der hier entwickelten Rechtsſätze können daher die §§. 37 u.
38 des Geſ. über Gewährung der Rechtshülfe (B.-G.-Bl. 1869
S. 313) in Bezug genommen werden, wonach das requirirte Gericht zu prüfen
hat, ob es zur Vornahme der beantragten Handlung kompetent ſei, und eine
rechtliche Entſcheidung dieſer Frage von den Gerichten des Staates, welchem
1).
Oppenhoff Strafgeſetzb. §. 113 Note 12.
1).
Vgl. die von Zachariä a. a. O. angegebenen Geſetze.
2).
Vgl. Goltdammer’s Archiv Bd. XX. S. 94. Kanngießer
S. 48.
3).
Uebereinſtimmend hiermit verordnet das Rechtshülfe-Geſetz §. 1,
1).
das erſuchte Gericht angehört, im geordneten Inſtanzenzuge herbeigeführt
werden kann.
1).
In der ſtaatsrechtlichen Literatur iſt eine andere Begründung herkömm-
3).
daß das erſuchte Gericht die Rechtshülfe ſelbſt dann nicht verweigern darf,
wenn es die Zuſtändigkeit des erſuchenden Gerichts nicht für begründet hält.
Dagegen wird das erſuchte Gericht prüfen müſſen, ob die requirirende Behörde
überhaupt ein Gericht iſt, ob die verlangte Handlung eine Prozeßhandlung
iſt u. ſ. w.
1).
lich. Man geht davon aus, daß der Staatsdienſt ein Lebensberuf iſt, die
Staatsbeamten zuſammen einen „Ehrenſtand“ bilden und daß deshalb jeder
Beamte neben ſeiner Dienſtpflicht noch eine „Standespflicht“ habe, welche er
durch ſeinen außeramtlichen Wandel nicht verletzen dürfe. Vgl. Perthes
S. 44 fg. L. Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 235 fg. (2. Aufl.) Schulze
Preuß. Staatsr. I. S. 323. Kanngießer S. 49.
Dieſe Auffaſſung iſt nicht zutreffend. Aus ihr würde nicht ein Recht des
Staates zum disciplinariſchen Einſchreiten gegen Beamte wegen ihres außer-
amtlichen Verhaltens, ſondern ein Recht der Berufsgenoſſen auf Beſtra-
fung oder Ausſchließung von der Standesgemeinſchaft folgen. Sodann aber
iſt die Annahme, daß der Beamtenſtand ein beſonderer Ehrenſtand ſei, nicht
juriſtiſch durchführbar, da alle anſtändigen Berufsarten rechtlich gleiche Ehre
haben. Warum ſollte der vom Staate angeſtellte Eiſenbahn-Beamte oder
Bankbuchhalter einen ehrenvolleren Stand haben als der von einer Privat-Ge-
ſellſchaft angeſtellte Eiſenbahn- oder Bankbeamte? Der Rechtsſatz gilt aber
auch gar nicht nur für Staatsbeamte; er gilt auch für Beamte der Privatge-
ſellſchaften, die ebenfalls durch unſittlichen Lebenswandel ihre Dienſtpflicht
verletzen; ja jeder Handlungsgehülfe kann vom Prinzipal entlaſſen werden,
wenn er ſich einem unſittlichen Lebenswandel ergiebt (Handelsgeſetzb. Art. 64
Nr. 6); das Gleiche gilt von gewerblichen Geſellen und Gehülfen, Lehrlingen
und Fabrikarbeitern (Gewerbe-Ordn. §. 111. 120. 127), ſowie von Dienſtboten.
Es handelt ſich demnach nicht um einen beſonderen Rechtsſatz, der nur für den
Stand der Staatsdiener gilt, ſondern um die Anwendung eines allgemei-
nen Rechtsprinzips
, welches nur dadurch modifizirt wird, daß der Staat
ſeinen Beamten nicht als gleichberechtigte Partei, ſondern als Herr gegen-
über ſteht.
1).
Vgl. die Motive zum Entwurf dieſes Geſetzes S. 32.
2).
Berufskonſuln dürfen keine kaufmänniſchen Geſchäfte betreiben.
Geſ. vom 8. November 1867 §. 8 Abſ. 5 (B.-G.-Bl. S. 139.) Dem Vor-
ſitzenden
der Verwaltung des Invalidenfonds dürfen Neben-
ämter oder mit Remunerationen verbundene Nebenbeſchäftigungen weder über-
tragen noch von ihm übernommen werden. Geſ. vom 23. Mai 1873 §. 11
(R.-G.-Bl. S. 120) Das Gleiche gilt von dem Präſidenten und den Mitgliedern
des Rechnungshofes. Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 §. 4. Vgl. ferner
1).
Daß die Erwerbs- und Wirthſchafts-Genoſſenſchaften auch hierunter
fallen, iſt nicht zweifelhaft. Ein Antrag, ſie auszunehmen, wurde vom Reichs-
tage abgelehnt. (Stenogr. Berichte 1872 S. 904.)
2).
Auszüge aus den Verhandlungen des Reichstages, welche dieſer Feſt-
ſtellung des Paragraphen vorausgingen, giebt Kanngießer S. 73 ff.
2).
Geſetz vom 27. Juni 1873 §. 2 Abſ. 3, wonach Perſonen, welche bei der Ver-
waltung einer Deutſchen Eiſenbahn betheiligt ſind, keinerlei Thätigkeit bei dem
Reichs-Eiſenbahn-Amt oder als Reichs-Eiſenbahn-Kommiſſare ausüben können.
1).
Vgl. auch Schütze Lehrbuch des Deutſchen Strafrechts S. 522 und
derſelbe in v. Holtzend. Rechtslexikon I. S. 62 (2. Aufl.)
1).
Vgl. Dollman im Bluntſchli-Brater’ſchen Staatswörterb. I. S. 219.
Ueber die ſyſtematiſche Stellung der Amtsvergehen iſt zu vgl. Alois Zucker
Skizze zu einer Monographie der Amtsverbrechen. Prag 1870. — Für die
ſtaatsrechtliche Seite dieſer Lehre enthält die Schrift Nichts.
2).
Die Grenzlinie zwiſchen beiden iſt aber eine ſchwankende und es hängt
vielfach von ſubjectiven Auffaſſungen ab, ob ein Delict zu der einen oder an-
deren Klaſſe gezählt wird, da man jede Qualification eines verbreche-
riſchen Thatbeſtandes auch als beſondere Verbrechens-Art bezeichnen und be-
handeln kann. Vgl. Rüdorff Kommentar zum St.-G.-B. S. 450. Meves
in v. Holtzend. Handb. des Strafrechts III. S. 946. Ferner Schütze a. a. O.
Berner Lehrbuch des Deutſchen Strafrechts S. 548 ff.
1).
Vgl. auch §. 181 Abſ. 2.
1).
Insbeſondere ſind ſie auch keine „Rechtsſätze des ungeſetzten Rechts“
oder „durch konkludente Handlungen erklärte Rechtsſätze“ — wie Binding
Die Normen I. S. 66 fg. annimmt.
1).
Ueber das Verhältniß dieſes Paragraphen zu §. 48 (Anſtiftung) vgl.
Meves a. a. O. S. 1012.
1).
Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausführungen III. S. 372.
1).
Der entgegengeſetzten Anſicht würde derſelbe Irrthum zu Grunde liegen,
wie der älteren Theorie über die ehel. Gütergemeinſchaft, welche neben der
Eheſchließung noch den Abſchluß einer societas omnium bonorum unter den
Ehegatten fingirte.
1).
z. B. Unachtſamkeit bei der Aufbewahrung von Urkunden oder Akten
oder bei dem Verſchluß der Amtslokale, techniſche Fehler bei Bauten, beim
Betriebe der Eiſenbahn, Poſt oder Telegraphie u. drgl.
1).
Dies ſind die Geſetze des Ortes, an welchem die pflichtwidrige Hand-
lung vorgenommen worden iſt oder die pflichtwidrig unterlaſſene Handlung
hätte vorgenommen werden müſſen (statuta loci delicti commissi).
2).
Dieſe Frage kann als eine rein privatrechtliche hier unerörtert bleiben.
Vgl. Preuß. Landr. II. 10 §. 88 ff. und dazu Förſter Preuß. Privatr.
II. §. 154 Sächſ. Geſetzb. §. 1506. 1507 u. dazu Siebenhaar, Pöſch-
mann
Comm. II. S. 385. Code civ. Art. 1382. 1383. Für das ſogen.
gemeine Recht Pfeiffer Prakt. Ausführungen Bd. II. S. 363 ff. Schlayer
Zeitſchr. für Civilrecht und Prozeß N.-F. Bd. 13 S. 120 ff. Buddeus
in Weiske’s Rechtslex. I. S. 229 ff. und Windſcheid Pandekten II. §. 470,
woſelbſt weitere Literatur-Angaben. Ferner Zöpfl Staatsr. II. §. 519.
3).
Dagegen ſind unanwendbar die Vorſchriften über Erhebung des Kom-
petenzconflictes, alſo namentlich die Vorſchriften des Preuß. Geſetzes vom
13. Februar 1854.
1).
Wird z. B. gegen einen Reichseiſenbahn-Beamten auf Schadenserſatz
geklagt, weil er ein vorgeſchriebenes Signal überhaupt nicht gegeben hat, ſo
iſt der §. 154 anwendbar; wird aber die Klage darauf gegründet, daß er ein
unrichtiges Signal gegeben hat, ſo iſt der §. 154 nicht anwendbar, denn
es liegt weder eine Ueberſchreitung der amtlichen Befugniſſe noch eine
Unterlaſſung von Amtshandlungen vor. Im erſten Falle wäre demnach
das R.-O.-H.-G. zuſtändig; im zweiten Falle nicht. Ob dies wirklich die Ab-
ſicht des Geſetzgebers geweſen iſt, muß dahin geſtellt bleiben.
1).
Erk. des Preuß. Gerichtshofes zur Entſcheid. der Kom-
petenz-Konflikte
v. 25. Oktober 1856 (Juſt.-Min.-Bl. S. 54). Kann-
gießer
S. 231.
2).
Reichsbeamtengeſ. §. 134.
3).
ebendaſ. §. 136.
4).
§. 134. 135 des Geſetzes.
1).
§. 137—139 a. a. O.
2).
§. 141 a. a. O.
3).
§. 140 a. a. O.
4).
§. 142 a. a. O.
1).
§. 143 a. a. O.
2).
§. 20 Nr. 2 a. a. O.
3).
§. 144 a. a. O. Ueber die [Vertheilung] der Beweislaſt entſcheiden die
allgemeinen Rechtsgrundſätze; daß der Beamte die Kläger-Rolle übernehmen
muß, ändert in dieſer Beziehung nichts.
4).
§. 145 a. a. O.
1).
§. 152. 153 a. a. O.
2).
§. 146 a. a. O.
3).
§. 147 a. a. O.
4).
§. 148 a. a. O.
5).
§. 157 a. a. O.
1).
Von Einfluß auf die Doctrin wurde insbeſondere ein Aufſatz von
Heffter im Neuen Arch. des Kriminalrechts Bd. 13 (1832) S. 48 ff., wo-
ſelbſt Disciplinarvergehen und Vergehen im Amt völlig vermengt ſind. Ganz
ähnlich Buddeus in Weiske’s Rechtslexikon I. S. 220 fg. Ferner Mitter-
maier
zu Feuerbach’s Lehrb. §. 477 Note I. u. IV. (14. Aufl. S. 749 ff.)
Berner Lehrb. S. 548 behandelt die Disciplinarvergehen als leichtere, mit
Kriminalſtrafe verſchonte Amtsvergehen. Schütze Lehrb. S. 522 u. in v.
Holtzendorff’s Rechtslexikon I. S. 62 (2. Aufl.) erklärt ausdrücklich, daß
ſich Amtsdelicte und Disciplinarvergehen nicht begrifflich oder grundſätzlich
unetrſcheiden. Auf demſelben Standpunkte ſteht auch Meves in v. Holtzend.
Handb. des Strafrechts III. S. 939 fg. Vgl. ferner Bülau im Bluntſchli-
Brater’ſchen
Staatslex. Bd. III. S. 140 und v. Pölz ebendaſ. Bd. IX.
S. 696 ff., welche zwar die thatſächlichen Unterſchiede zwiſchen Disciplinargewalt
und Strafgewalt richtig charakteriſiren, beide aber als im Weſentlichen gleich-
artig anſehen.
1).
Von dieſen Grundſätzen beſteht in Deutſchland lediglich in Mecklen-
burg
eine Ausnahme, welche durch die feudalen (patrimonialen) Elemente, die
ſich in der Verfaſſung dieſes Staates erhalten haben, begründet iſt. In zahl-
reichen Fällen können nach Mecklenburgiſchem Recht die Obrigkeiten zur Er-
füllung ihrer amtlichen Pflichten durch ein, in den Formen des Civilprozeſſes
ſich bewegendes gerichtliches Verfahren angehalten werden, welches auf Klage
eines Fiskals eingeleitet wird. Das Gericht entſcheidet wie unter gleichſtehenden
Parteien in contraktlichen Verhältniſſen. So weit das fiskaliſche gerichtliche
Prozeßverfahren ſtattfindet, iſt aber das Disciplinarverfahren gegen
die Beamten ausgeſchloſſen
und es wird daher durch dieſe Ausnahme
die juriſtiſche Natur des Disciplinarverfahrens und ſein Verhältniß zum
Klagerecht des Privatrechts recht deutlich beſtätigt. Vgl. darüber Trotſche
Mecklenb. Civilpr. Bd. II. S. 225 ff. (1868) und beſonders die Motive zur
Reichs-Civilprozeß-Ordn. von 1874 S. 487. In der Literatur findet ſich ein
Anklang an die richtige juriſtiſche Begriffsbeſtimmung der Disciplinargewalt
bei Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S. 401 ff.
1).
Heffter a. a. O. S. 177 nennt die Disciplinargewalt „ein Privat-
recht des Staates
, dem ſich der Diener bei Eingehung des Dienſtverhält-
niſſes ſtillſchweigend unterwirft, kein allgemeines Recht der ganzen Staatsge-
meinde, wie das Strafrecht.“
1).
Mit Rückſicht hierauf unterſcheidet man gewöhnlich die niedere oder
blos correktive und die höhere oder reinigende Disciplinargewalt. So Heffter
a. a. O. S. 75. Buddeus Rechtslexikon I. S. 223, Schaper in von
Holtzendorff’s Rechtslex. I. S. 389. Auch die Motive zu §. §. 72 bis
124 des R.Beamtengeſetzes unterſcheiden die „korrektive“ und die „epurirende„
Disciplin vermittelſt Strafen, „die außerhalb des Gebietes der Kriminalität
liegen“.
2).
In der Literatur werden Ermahnungen und Verwarnungen öfters gar
nicht unterſchieden, z. B. Heffter a. a. O. S. 73. 79. Buddeus a. a.
S. 224. Vgl. dagegen Kanngießer S. 157.
3).
Da der Regel nach die Reichsbeamten beſoldet ſind, ſo iſt durch das
Maximum auch die Geldſtrafe in rechtliche Beziehung zu dem durch die An-
ſtellung begründeten Rechtsverhälniſſe geſetzt.
4).
Eine ſcholaſtiſch-canoniſtiſche Darſtellung der Arten der Amtsentſetzung
bei Heffter a. a. O. S. 53 ff. Buddeus S. 225. Vgl. ferner Bülau
im Staatswörterb. III. S. 141. 142 und v. Pözl ebendaſ. IX. S. 713 ff.
1).
Degradation iſt demnach ausgeſchloſſen. Vgl. Motive S. 42.
1).
Beachtenswerthe, wenngleich das wahre Verhältniß nicht völlig treffende
Bemerkungen darüber finden ſich in den Vorarbeiten zum Preuß. Strafgeſetzb.;
nämlich in dem Promemoria v. 13. Oktob. 1847 v. Madihn,
v. Ammon und Grimm
. Auszüge daraus bei Beſeler Kommentar
zum Preuß. St.-G.-B. S. 547. Vgl. ferner Goltdammer Materialien
I. S. 137 ff. II. S. 667. Auch Binding in ſeiner Beſprechung des Oeſterr.
Entwurfes eines Strafgeſetzes von 1874 (in Grünhut’s Zeitſchrift für. d.
Privat- und öffentl. R. der Gegenw. Bd. II. S. 684) erklärt den Grundſatz
für richtig, daß eine Disciplinarſtrafe nicht eine Strafe im Rechtsſinne ſei.
1).
Vgl. Motive S. 43.
2).
Wenn z. B. ein Beamter im Amtslokale oder auf öffentlicher Straße
in vollſtändiger Trunkenheit ein Vergehen verübt, aber wegen mangelnder Zu-
rechnungsfähigkeit freigeſprochen worden iſt.
1).
Ueber die früher in dieſer Beziehung herrſchenden Rechts-Anſichten vgl.
Heffter a. a. O. S. 181 fg.
1).
„Iſt eine Geldſtrafe für den Fall der Nichterledigung einer ſpe-
ciellen
dienſtlichen Verfügung binnen einer beſtimmten Friſt angedroht, ſo kann
nach Ablauf der Friſt die Geldſtrafe ohne Weiteres feſtgeſtellt werden“. (§. 82
Abſ. 3.)
2).
Da das Disciplinarverfahren zwar dem Strafverfahren nachgebildet,
aber keine Abart deſſelben iſt und niemals zu einer öffentlichen Strafe führen
kann, ſo iſt die Verhaftung, vorläufige Feſtnahme oder Vorführung des An-
geſchuldigten unzuläſſig. (§. 94 Abſ. 2.)
1).
Ob für die Württembergiſchen Militärbeamten durch Art.
5 der Militair-Convention v. 21/25. Nov. 1870 eine Ausnahme begründet iſt,
oder ob das daſelbſt erwähnte Begnadigungsrecht des Königs ſich hinſichtlich
der Militairbeamten auf ſtrafrechtliche Erkenntniſſe beſchränkt, iſt zweifelhaft.
2).
Die Tagegelder und Reiſekoſten der zu Sitzungen der entſcheidenden
Disciplinarbehörde reiſenden Mitglieder ſind nicht hierzu zu rechnen. Kann-
gießer
S. 219.
1).
Vgl. u. A. Seuffert Verhältn. des Staates §. 64. S. 115. Gönner
S. 219 ff. Leiſt Staatsr. §. 101. S. 314. Perthes S. 110 ff. Pözl
im Staatswörterb. IX. S. 701. ZachariäII. §. 139 S. 51. Grotefend
§. 690. (S. 713.) Bluntſchli Allg. Staatsr. (4. Aufl.) II. S. 132. 133.
Auch Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 334. (woſelbſt die Amtsbefugniſſe den
„eigenen“ Rechten der Beamten zwar gegenüber geſtellt, aber doch als Rechte
der Beamten behandelt werden.)
2).
Vgl. oben S. 293 ff.
1).
Vgl. John in v. Holtzendorff’s Handb. des Strafrechts Bd. III.
S. 115 ff. Hiller Die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung. Würzb. 1873.
2).
Vgl. Heinze in Goldtammer’s Archiv Bd. XVII. S. 738 ff.
John a. a. O. S. 125 ff.
3).
Oppenhoff Kommentar Note 1 zu §. 196.
1).
Vgl. auch Pfeiffer Prakt. Ausführ. Bd. V. S. 263 fg.
1).
Vgl. v. Gerber Grundzüge §. 36 Note 11. BluntſchliII. S.
134. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 336. Förſter Preuß. Privatr.
II. §. 141. Note 66.
1).
In der früheren Literatur iſt ſtatt deſſen der Geſichtspunkt herrſchend,
daß die Beſoldung eine Entſchädigung dafür ſei, daß derjenige Staatsbürger,
der ein Amt verwaltet, dem Staate mehr Dienſte leiſtet, als er bei gleicher
Vertheilung der erforderlichen Dienſte auf alle Staatsbürger zu leiſten haben
würde. So namentlich Gönner S. 101 ff.
2).
In faſt allen Darſtellungen des Staatsrechts laſſen die Erörterungen
über die Beſoldungen der Beamten feſte rechtliche Geſichtspunkte und principielle
Conſtruction vermiſſen. Man vgl. z. B. ZöpflII. §. 517. ZachariäII.
§. 139. Grotefend §. 691. fg. v. Mohl Württemb. Staatsr. II. §. 163
S. 114 ff. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 §. 336 S. 450 ff. Eine überſicht-
liche Darſtellung der Rechtsvorſchriften in den einzelnen deutſchen Staaten giebt
Pözl im Staatswörterb. Bd IX. S. 702 ff.
3).
Reichsgeſ. §. 14 Abſ. 2. Vgl. Förſter a. a. O.
4).
V. v. 2. Nov. 1874. (R.-G.-Bl. S. 129) Siehe oben S. 421.
5).
Reichsgeſ. §. 14 Abſ. 3. Auch privatrechtliche Alimenten-Anſprüche fallen
bekanntlich wegen Pflichtverletzungen fort. Vgl. Windſcheid Pandekten II.
§. 475 Note 8.
6).
Vgl. Preuß. Allg. Landr. I. 16 §. 61.
7).
Reichsgeſ. §. 5 Abſ. 1. Die Bundesraths-Verordnung iſt am 5. Juli
1873 ergangen. Centralbl. 1873 S. 211.
1).
Vgl. Reichsgeſ. §. 7. 27. 55. 60. 69. 128.
2).
Vgl. die Motive S. 34.
3).
Entw. der Civilpr.-Ordn. §. 696 Nro. 8.
4).
Reichsgeſ. §. 6 Abſ. 1.
5).
Vgl. Pr. Allg. L.-R. I. 19 §. 22. Förſter a. a. O. §. 99. S. 630.
Die gewöhnliche Angabe der Lehrbücher, daß der Anſpruch auf die Beſoldung
unübertragbar ſei, weil er ein „höchſt perſönlicher“ ſei, iſt keine Erklärung oder
Begründung, ſondern eine Tautologie, ein idem per idem und überdies unrichtig.
6).
Reichsgeſ. §. 6 Abſ. 2. Aus den Verhandlungen des Reichstages hier-
über giebt Kanngießer S. 235 ausführliche Excerpte.
7).
R.-G. §. 4.
1).
R.-G. ebendaſ.
2).
Vgl. Laband Das Budgetrecht. Berlin 1871 S. 33 fg. Dem
Bundesrath und Reichstag gegenüber kann die Reichsregierung dadurch ihre
Befugniſſe überſchreiten; vgl. oben S. 301 fg. Dem Beamten gegenüber hat ſie
kraft der ihr zuſtehenden Geſchäftsführung und Vertretung den Reichsfiskus ver-
pflichtet. Anderer Anſicht iſt Ernſt Meier Abſchluß von Staatsverträgen.
1874 S. 53 fg.
1).
Motive S. 12. (Druckſ. des Reichstages von 1873 Bd. III. Nro. 125.)
1).
Berlin bleibt demnach bei der Berechnung des Durchſchnitts außer
Anſatz.
2).
Für Preußen iſt jedoch entſchieden, daß der Wohnungsgeldzuſchuß hier-
bei ganz außer Anſatz bleibt. Kanngießer S. 32 Nr. 4.
3).
Vgl. Reichsbeamtengeſ. §. 42 Nr. 2. u. 3.
4).
Es beruht dies darauf, daß die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten
Beamten von der Beſchränkung befreit ſind, Nebenämter zu übernehmen oder
Gewerbe zu betreiben. Reichsbeamtengeſ. §. 16. Abſ. 3.
5).
mit Hinzurechnung des Wohnungsgeldzuſchuſſes. Geſ. v. 30. Juni
1873 §. 8.
6).
Reichsbeamtengeſ. §. 26.
7).
Reichsbeamtengeſ. §. 27. 31.
1).
Reichsgeſ. §. 30. Jedoch findet bei vorübergehender Beſchäftigung
gegen Tagegelder oder Remunerationen für die erſten 6 Monate keine Ver-
kürzung des Wartegeldes ſtatt.
2).
Reichsgeſ. §. 29.
3).
ebendaſ. §. 34.
4).
ebendaſ. §. 36.
5).
ausgenommen, wenn eine etatsmäßige Stelle als Nebenamt blei-
bend
verliehen iſt. Reichsgeſ. §. 44.
1).
ebendaſ. §. 39.
2).
eben ſo viel in dem im §. 36 cit. erwähnten Falle.
3).
Reichsgeſ. §. 41.
4).
beziehentl. das zur Zeit der Verſetzung in den einſtweiligen Ruheſtand
bezogene Reichsgeſ. §. 42 letzter Abſ.
5).
Die näheren Beſtimmungen enthält das Reichsgeſ. §. 42. 44. vgl. dazu
Kanngießer S. 131 ff.
6).
z. B. im Dienſt eines Bundesſtaates oder im aktiven Militärdienſt; vgl.
§. 46. 47. Fakultativ in den Fällen des §. 52.
7).
z. B. Feldzüge, Aufenthalt in ſchädlichem Klima; vgl. §. 49. 51.
8).
z. B. Dienſt vor Beginn des 18. Lebensjahres, Kriegsgefangenſchaft
oder Feſtungs-Arreſt; nach Vorſchrift der §.§. 48. 50.
9).
Reichsgeſ. §. 57—60.
1).
Reichsgeſ. §. 8. 31. 69 Abſ. 2.
2).
R.-G. §. 7. Es kann jedoch vertragsmäßig dem Beamten reſp. ſeinen
Hinterbliebenen vor Eintritt in den Reichsdienſt ein weitergehendes Recht zu-
geſichert ſein.
1).
R.-G. §. 9.
2).
R.-G. § 31.
3).
R.-G. §. 69. An wen die Zahlung erfolgt, beſtimmt die oberſte Reichs-
behörde, nicht die vorgeſetzte Dienſtbehörde, wie bei dem Gnadenquartal, weil
penſionirte Beamte keine vorgeſetzte Dienſtbehörde haben.
4).
Erl. v. 3. Aug. 1871 Nr. 1. (R.-G-Bl. S. 318.)
1).
Byzantiniſche Einrichtungen, die ſich im Preußiſchen und anderen Staaten
conſervirt haben, ſind nicht ganz ohne Einfluß geblieben. Nach der Verordn. v. 7.
Febr. 1817 (Geſ.-Samml. S. 61) zerfallen die Preuß. Beamten in eine große Zahl
von „Klaſſen“. Vgl. von Rönne Preuß. Staatsr. II. 1. S. 442 fg. und
Kanngießer S. 79. 80. Das Reichsrecht kennt nun zwar keine ſolche
„Klaſſen“, trotzdem beſtimmt ein kaiſerl. Erl. vom 1. April 1871 (R.-G.-Bl.
S. 103), daß die Poſträthe und die Ober-Poſträthe der vierten Rathsklaſſe
angehören, die Oberpoſträthe jedoch vor den Poſträthen rangiren ſollen. Ein
Allerh. Erl. v. 27. Dez. 1871 (R.-G.-Bl. S. 7) ferner verleiht den Telegraphen-
Direktoren „den Rang der Ober-Regierungsräthe und Ober-Forſtmeiſter“. Ober-
Regierungsräthe und Ober-Forſtmeiſter gibt es aber im Behörden-Organismus
des Reiches gar nicht, abgeſehen von Elſ.-Lothr.
2).
Reichsgeſ. §. 149.
3).
Vgl. z. B. Heffter S. 131. Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S.
352 ff. Welcker Staatslexikon Bd. 12 S. 300. ZöpflII. §. 514 (S.
776) ZachariäII. §. 135 v. Gerber Grundz. §. 36 Note 11. v. Pözl
1).
Vgl. Förſter a. a. O. (§. 141 Note 66).
2).
Auch bei privatrechtlichen Gewaltverhältniſſen kann der Untergebene den
Anſpruch auf Alimentirung im Wege der Klage geltend machen, ſo die Ehe-
frau und die Kinder, ebenſo im älteren Recht der Lehensmann ſeine Anſprüche
auf das Beneficium u. ſ. w.
3).
im Staatswörterb. IX. S. 689 und Verf.-R. §. 198 Nr. 3. (S. 494). Schulze
I. S. 316 u. v. a.
1).
Auch die Beſtimmung im letzten Abſatz des §. 75 kömmt hier in Be-
tracht.
1).
Leiſt §. 102 Nr. 8. Heffter a. a. O. S. 136 Maurenbrecher
§. 163 Nr. 2.
1).
ZachariäII. §. 143—145. v. MohlII. §. 164 fg. v. Pözl
§. 205. SchulzeI. 102. Faſt ohne Ausnahme werden in allen Darſtel-
lungen des Staatsdiener-Rechts die Verſetzung in den Ruheſtand und die Suſ-
penſion als Beendigungs- Arten des Staatsdiener-Verhältniſſes behandelt,
wodurch ſie unter einen ganz unrichtigen Geſichtspunkt gebracht werden.
2).
Vgl. auch v. Gerber Grundz. §. 38.
1).
Reichsbeamtengeſ. §. 158. Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 23. Geſ. v. 6. Juni
1870 §. 43. Pr. Geſ. vom 27. März 1872 §. 5 (über die Ober-Rechnungs-
kammer).
2).
So ſagen die Motive zum Beamtengeſetz. S. 35.
1).
R.-G. §. 28.
2).
R.-G. §. 29 Nro. 2. und 3.
1).
R.-G. §. 119.
2).
R.-G. §. 46. Nro. 1.
3).
Vgl. R.-G. §. 42 letzter Abſ. §. 119. §. 132.
1).
§. 125 Nro. 1. §. 126. Zur Rechtfertigung der zehntägigen Friſt ſagen
die Motive S. 49: „Der in ein Strafverfahren verwickelte Beamte kann,
ohne daß das Anſehen des Amtes leidet, nicht unmittelbar aus der Unter-
ſuchungs- oder Strafhaft in ſein Amt zurücktreten. Die Friſt dient dann auch
dazu, Zeit zu einer Entſchließung zu laſſen, ob nicht das Disciplinarverfahren
einzuleiten und die Suspenſion zu verfügen iſt.“
2).
§. 125 Nro. 1. Vgl. den folgenden §.
3).
§. 126 Abſ. 1. u. 2.
4).
§. 125 Nro. 2. §. 126 Abſ. 3.
5).
Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 24 Abſ. 2. v. 6. Juni 1870 §. 43.
1).
Reichsbeamtengeſ. §. 158.
2).
R.-G. §. 127.
3).
Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 24 Abſ. 1.
4).
Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 43.
5).
R.-G. §. 131.
1).
Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausführungen III. S. 360 ff. 518 fg.
2).
R.-G. §. 128 Abſ. 1. Wenn der Gehalt vierteljährlich vorausbezahlt
iſt, ſo kann eine theilweiſe Wiedereinziehung nicht ſtattfinden; denn das Geſetz
ſpricht nur vom „Innebehalten“ des Gehaltes. Es iſt eine Beſchlagnahme oder
Retention des Gehaltes zur Deckung der Koſten oder Geldſtrafen angeordnet,
welche vorausſetzt, daß der Gehalt noch nicht ausgezahlt iſt. Anderer Anſicht
Kanngießer S. 223 Nro. 2.
3).
§. 128 Abſ. 1. u. 2.
4).
R.-G. §. 132.
5).
Geſ. v. 12. Juni 1868 §. 24 Abſ. 3. Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 43.
6).
R:-G. §. 126 Abſ. 2.
7).
R.-G. §. 131 Abſ. 2.
8).
Er darf ſich daher auch nicht eigenmächtig von ſeinem Amtsſitze ent-
1).
R.-G. §. 130 Abſ. 1.
2).
R.-G. §. 130 Abſ. 2.
3).
R.-G. §. 128 Abſ. 4. Zu den Stellvertretungskoſten iſt der Beamte
nicht verpflichtet, einen weiteren Beitrag zu leiſten, für die Koſten des Disciplinar-
Verfahrens haftet er dagegen mit ſeinem Vermögen. §. 124 Abſ. 2.
4).
R.-G. §. 129.
8).
fernen. Vgl. die Entſch. des Appellat.-Gerichts zu Leipzig im Wochenbl. f.
merkw. Rechtsf. von 1864 S. 81 fg.
1).
Vgl. Pözl im Staatswörterb. Bd. IX. S. 713. ZachariäII
§. 142 S. 63 ff. SchulzeI. S. 346 fg.
2).
Nur diejenigen Juriſten, welche in der Uebernahme eines Staatsamtes
lediglich die Erfüllung einer Unterthanenpflicht finden, erklären die Niederle-
gung des Amtes für unſtatthaft, z. B. Gönner S. 258. Auch in dieſem
Punkte zeigt ſich aber der Gegenſatz zwiſchen der Erfüllung von Unter-
thanenpflichten durch Uebernahme eines Amtes und dem freiwilligen Eintritt
in das Staatsdiener-Verhältniß.
3).
Reichsverf. Art. 18 Abſ. 1.
1).
Es bedarf keiner Wiederholung derſelben, da die Frage für das Reichs-
recht entſchieden iſt. In älterer Zeit iſt ſie Gegenſtand der vielſeitigſten Er-
örterungen geworden. Eine Ueberſicht der Literatur und der in derſelben auf-
geſtellten Anſichten giebt ZachariäII. §. 143 ff; kürzer auch SchulzeI.
S. 349. Vgl. ferner Welcker’s Artikel „Staatsdienſt“ in ſeinem Staats-
lexikon und L. v. Stein Verwaltungslehre I. 1. S. 241 fg. 246.
2).
Auch bei den Beamten der Einzelſtaaten ſpricht eine Rechtsvermuthung
für die Lebenslänglichkeit der Anſtellung, vgl. Pfeiffer Prakt. Ausf. Bd. V.
S. 259 Nro. 9.
3).
Regierungs-Inſtrukt. v. 23. Oktob. 1817 §. 12. Vgl. von Rönne
Preuß. Staatsr. II. 1 S. 410. (§. 330 IV.)
4).
Stenogr. Berichte des Reichstags 1872. I. S. 133. 134.
5).
Der Reichskanzler hat dem Reichstage 1872 das Verzeichniß dieſer
Beamten vorgelegt. Druckſachen des Reichstages Nro. 144.
1).
Reichsgeſ. §. 32.
2).
R.-St.-G.-B. §. 31.
3).
R.-St.-G.-B. §§. 33. 35. 36. 358. Vgl. 319.
4).
R.-St.-G.-B. §§. 81. 83. 84. 87—91. 94. 95.
5).
Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 23. Geſ. v. 6. Juni 1870. §. 43.
6).
R.-G. §. 75. Nro. 2. Vgl. oben S. 454.
1).
R.-G. §. 34.
2).
R.-G. §. 37.
3).
R.-G. § 36.
4).
ausgenommen die Mitglieder des Oberhandelsgerichts. Geſ. v. 12. Juni
1869. §. 25. Reichsbeamtengeſ. §. 158 Abſ. 2.
5).
R.-G. §. 39.
6).
R.-G. §. 35. Der Mindeſtbetrag der Penſion beträgt ein Viertel des
etatsmäßigen Gehalts; im Uebrigen kommen die allgemeinen Vorſchriften über
die Penſion zur Anwendung.
1).
R.-G. §. 53.
2).
R.-G. §. 54.
3).
R.-G. §. 155.
4).
R.-G. §. 35.
5).
R.-G. §. 61.
1).
R.-G. §. 63.
2).
R.-G. §. 155.
3).
R.-G. §. 64. 65. Abſ. 1.
4).
R.-G. §. 66. Die oberſte Reichsbehörde kann jedoch des Rekursrechtes
ungeachtet, dem Beamten die weitere Amtsverwaltung unterſagen, nicht aber
den Gehalt ihm verkürzen.
5).
R.-G. §. 67. Alſo nicht das Datum der Entſcheidung, ſondern das
der Inſinuation iſt maßgebend.
1).
R.-G. §. 65 Abſ. 2.
2).
R.-G. §. 68 Abſ. 2.
3).
R.-G. §. 68 Abſ. 1. Die Disciplinarbehörde hat in dieſem Falle über
den Betrag der zu gewährenden Penſion zu entſcheiden. §. 75 letzter Abſ.
4).
B.-G.-Bl. v. 1869 S. 209. (Anlage zum Geſ. v. 12. Juni 1869.)
5).
Preuß. Geſ. v. 27. März 1872 §. 5.
6).
Preuß. Geſ. v. 7. Mai 1851 §. 75.
7).
Preuß Geſ. v. 7. Mai 1851 a. a. O
1).
Reichsgeſ. §. 19 Abſ. 1.
2).
Siehe oben S. 137.
3).
Nach Analogie des §. 12 des Kautionsgeſ. v. 2. Juni 1869 und des
§. 21 des Beamtengeſetzes iſt in dieſem Falle unter dem Preußiſchen Recht
wohl das in Berlin geltende Recht zu verſtehen. Warum man ſich bei §
19 nicht an die beſſere Faſſung des §. 12 des Kautionsgeſetzes angeſchloſſen
hat, iſt nicht erfindlich.
1).
Wiederholt im Entw. der Civilprozeß-Ordn. §. 16.
2).
Wenn demnach Jemand in den diplomatiſchen Dienſt des Reiches ein-
tritt, und ſogleich im Auslande verwendet wird, ſo behält er, wie lange er
auch außerhalb des Reiches ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat, immer denjenigen
Gerichtsſtand bei, welchen er in ſeinem Heimathsſtaat vor ſeinem Eintritt in
den Reichsdienſt hatte. Ein Gerichtsſtand in Berlin wird für ihn nicht da-
durch begründet.
3).
Dieſe Beſtimmung kann zu ſonderbaren Conſequenzen führen. Ein
Sachſe, welcher ſeinen Wohnſitz in Hamburg oder Stettin ſeit langer Zeit ge-
habt hat, wird als Berufskonſul in das Ausland geſchickt. Sein Heimaths-
ſtaat iſt Sachſen, ſeinen ordentlichen perſönlichen Gerichtsſtand hatte er dem-
nach nicht in ſeinem Heimathsſtaat; mithin wird für ihn durch ſeine Ueber-
ſiedlung in den ausländiſchen Wohnort ſein bisheriger Gerichtsſtand von Ham-
burg oder Stettin nach Dresden übertragen!
4).
R.-G. §. 22.
1).
Hinſchius Kommentar zu dieſem Geſetz S. 131 Note 88. Ganz
zweifellos iſt dieſe Auslegung übrigens nicht. Man könnte auch argumentiren:
Die Reichsbeamten unterliegen nach §. 19 des Beamtengeſetzes den Rechtsvor-
ſchriften, welche an ihrem Domizil für die Landesbeamten beſtehen, folglich
auch den nach §. 38 des Geſ. v. 6. Febr. 1875 in Kraft erhaltenen Vorſchriften
über die Nothwendigkeit eines Eheconſenſes. Aus den Motiven zu dieſem Ge-
ſetz (Druckſ. des Reichstages 1874/75 III. Nro. 153 S. 33 zu §. 37 des Entw.)
ergiebt ſich aber deutlich, daß durch den Ausdruck „Landesbeamte“ die Reichs-
beamten ausgeſchloſſen werden ſollten.
2).
Entw. der Civilpr.-Ordn. v. 1874 §. 664 Nro. 6 und 7. §. 682. 696.
736. 757.
3).
Entw. der Konk.-Ordn. v. 1875 §. 54 Nro. 5.
1).
Daß der Reichstag keine eigenartige Schöpfung iſt, zeigt ſich äußerlich
ſchon darin, daß der ihn betreffende Abſchnitt der Reichsverfaſſung die Origi-
nalität vermiſſen läßt, welche die übrigen Abſchnitte derſelben in ſo hohem
Grade auszeichnet. Alle Artikel dieſes Abſchnittes ſind Artikeln der Preuß.
Verf.-Urkunde v. 31. Januar 1850 nachgebildet, z. Th. ihnen wörtlich ent-
nommen, wie folgende Zuſammenſtellung zeigt.
Reichsverf.Preuß. Verf.
2178 Abſ. 2. 3.
22 Abſ. 1.79
— Abſ. 2.Preßgeſ. v. 12. Mai 1851 §. 38.
23(81 Abſ. 3.)
2473
2551
2652
2778 Abſ. 1.
2880
2983
3084 Abſ. 1.
3184 Abſ. 2—4.
32(85)
Hinſichtlich dieſes Theils des Reichsrechts kömmt daher dem Preuß. Staats-
recht für die hiſtoriſche und dogmatiſche Erörterung eine erhöhte Bedeutung zu.
1).
Hahn Zwei Jahre Preuß.-deutſch. Politik S. 60.
2).
Ganz und gar verkannt wird dieſer Unterſchied von Weſterkamp
S. 108. 109. Note.
1).
Dies wurde ſehr richtig hervorgehoben vom Abg. Freih. von Hover-
beck
und dem Abg. Hirſch im Nordd. Reichstage von 1870. II. Seſſ. Stenogr.
Ber. S. 123. 124.
2).
Seydel Kommentar S. 139—142 verwerthete Art. 28 Abſ. 2 zur Be-
gründung der Theorie, daß die Abgeordneten Vertreter der Bevölkerung des
Staates ſind, in dem ſie gewählt wurden, und glaubte Art 29 für eine „poli-
tiſche Phraſe“ erklären zu dürfen. Durch die Aufhebung des Art. 28 Abſ. 2
iſt dieſer Deduction der Boden entzogen worden.
3).
Seydel S. 142 ſetzt ſich über die Beſtimmung des §. 1 mit der
Bemerkung hinweg, daß ſie „eine aus praktiſchen Gründen ſehr wohl zu
rechtfertigende Anomalie enthält.“
1).
vgl. z. B. Thudichum S. 212 fg. v. Rönne S. 170 fg. Riedel
S. 35 fg. v. Pözl S. 126 fg.
1).
Die nähere Darſtellung der Lehre von der Geſetzgebung wird im II.
Bande folgen.
1).
Geſ. v. 29. März, 23. Mai, 30. Mai, 12. Juni, 18. Juni und 8. Juli
1873. Geſ. v. 25. Januar, 9. Februar, 10. Februar 1875.
2).
Geſ. v. 2. Juli 1873 (R.-G.-Bl. S. 185.) Geſ. v. 23. Febr. 1874
§. 4. Geſ. v. 16. Febr. 1875.
3).
Geſ. v. 2. Juli 1873 Art. 2 §. 4. 5. Geſ. v. 10. Febr. 1875 §. 2 u.
v- 16. Febr. 1875 §. 3.
1).
So ſchreibt z. B. auch das Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 15 für die Ver-
wendung der etwa entbehrlich werdenden Aktivbeſtände des Reichs-Invaliden-
fonds eine Beſtimmung „durch Reichsgeſetz“ vor.
1).
Man nennt ſehr häufig, auch in Geſetzen, die vorhergehende Zuſtimmung
„Ermächtigung“, die nachfolgende „Ratihabition“. Die Analogie mit dem Man-
1).
Es beruht dies offenbar darauf, daß in politiſcher Beziehung beide
Formen beinahe gleichwerthig erſcheinen.
1).
dat und der Ratihabition des Civilrechts liegt auch ziemlich nahe; dennoch
muß man ſich hüten, dieſe Begriffe des Civilrechts hier einzumengen. Die Re-
gierung handelt niemals als Mandatar oder negotiorum gestor des Reichs-
tages ſondern nur für das Reich. Die Regierung und der Reichstag ſind
nicht zwei, einander ſelbſtſtändig gegenüber ſtehende Rechtsſubjecte wie Man-
datar und Mandant oder wie Geſchäftsführer und Prinzipal, ſondern ſie ſind
zwei Organe derſelben einheitlichen und untheilbaren juriſtiſchen Perſon, des
Reiches.
1).
Die Lehre vom Abſchluß von Staatsverträgen wird im II. Bande ein-
gehender erörtert werden.
2).
Die Hinzufügung der Worte „nach Art 4“ im Art. 11 der R.-V. enthält
keine Einſchränkung und iſt überflüſſig. Denn der Art. 4 gränzt nicht, die
Geſetzgebung gegen die Verwaltungs-Verordnung, die Kompetenz des Reichs-
tages gegen die Kompetenz des Kaiſers und Bundesraths, ſondern die Kom-
1).
Vgl. über dieſen Punkt die Verhandlungen im Reichstage am 23. Juni
1873. Stenogr. Ber. S. 1344 ff.
2).
Vgl. auch Geſ. v. 8. Juli 1872 Art. IV. (R.-G.-Bl. S. 290) und den
Geſetzentw. über die Verwaltung der Einnahmen u. Ausgaben des Reiches
§. 2. und §. 3.
2).
petenz des Reiches gegen die der Einzelſtaaten ab. Es giebt keinen Bereich
der Reichsgeſetzgebung als den nach Art 4, der jedoch nach Art. 78 ſelbſt wieder
veränderlich iſt. Vgl. auch v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 335 Note 1.
1).
In ganz ähnlicher Art beſtimmt das Geſetz v. 8. Juli 1872 Art. V.
(R.-G.Bl. S. 291): „Die Feſtſtellung der von den betheiligten Staaten . . . .
liquidirten Beträge erfolgt durch den Bundesrath und den Reichstag.“ Vgl.
dazu den Bericht der Reichstags-Kommiſſion in den Stenogr. Berichten 1874/5
Anlagen S. 845 ff. (Aktenſtück Nro. 89.) Der Reichstag beſchloß (Stenogr.
Ber. S. 1189), die liquidirten Beträge „feſtzuſtellen“; ein Geſetz darüber
iſt nicht ergangen.
2).
Die Genehmigung muß pure ertheilt werden. Genehmigung einer
ſolchen Verordnung unter Abänderung derſelben gilt als Verwerfung verbunden
mit der Aufſtellung eines neuen Geſetz-Entwurfes. Es ergiebt ſich dies aus
1).
Vgl. Verordn. v. 17. Sept. 1874 über die Geſchäftsſprache der Gerichte
(Geſetzbl. f. E.-L. S. 31) und dazu die Bekanntmachung vom 15. November
1874 (ebendaſ. S. 52.) Verordn. v. 5. März 1875 (Geſetzbl. S. 61.) und
dazu die Bekanntmachung vom 10. Novemb. 1875 (ebendaſ. S. 188).
2).
dem formalen Charakter der Genehmigung. Vgl. Stenogr. Berichte des Reichs-
tages v. 1874/5 S. 123 fg. 139. 141.
1).
Vgl. das Geſ. v. 20. Juni 1873 (R.-G.-Bl. S. 144) über die Wahl-
kreiſe Beuthen und Kattowitz.
2).
Die in Art. 31 der R.-V. erwähnte Genehmigung des Reichstages zur
ſtrafrichterlichen Verfolgung oder Verhaftung eines Mitgliedes hat einen an-
deren rechtlichen Charakter; vgl. darüber unten §. 52.
1).
Eine Ergänzung findet dieſer Bericht durch eine Angabe der im Laufe
des Jahrs ſtattgehabten Veränderungen im Grundbeſitz des Reiches. Geſ. v.
25. Mai 1873 §. 12. (R.-G.-Bl. S. 116.)
2).
Entſprechend der regelmäßigen Rechnungslegung über die jährliche
Verwaltung iſt die einmalige Rechnungslegung über die Kriegskoſten und deren
Erſatz, ſowie über die Verwendung der Kriegskoſten-Entſchädigung. Der Reichs-
kanzler war durch das Geſ. v. 2. Juli 1873 §. 4 (R.-G.-Bl. S. 186) ver-
pflichtet worden, dem Reichstag hierüber „bei der nächſten ordentlichen Zu-
ſammenkunft Rechenſchaft zu geben.“ Ebenſo durch das Geſ. v. 27. Ja-
nuar 1875 §. 5 über die Anleihe für die Marine und Telegraphenverwaltung.
(R.-G.-Bl. S. 19.)
1).
Geſ. v. 19. Juni 1868 §. 7 (B.-G.-Bl. S. 340.) Vgl. oben S. 354.
2).
Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 404.)
3).
Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 14 (R.-G.-Bl. S. 121.)
4).
G[e]ſ. v. 30. Mai 1873 Art. III. (R.-G.-Bl. S. 124.)
5).
Geſ. v. 8. Juli 1873 §. 1 Abſ. 2. (R.-G.-Bl. S. 218.)
1).
Vgl. z. B. Stenogr. Berichte 1873 S. 1190.
2).
Dieſe Erklärung kann aber vom Reichstage auch ſtillſchweigend
abgegeben werden, indem gegen den Bericht keine Ausſtellung erhoben und
dem darin enthaltenen Antrage gemäß die Entlaſtung ausgeſprochen wird.
Vgl. Stenogr. Berichte 1874/5 S. 1190.
1).
Vgl. das Schreiben des Reichskanzlers v. 14. März 1873. Stenogr.
Berichte 1873. Anlagen Nro. 14. S. 60.
2).
Geſ. v. 4. Juli 1868 §. 5 (B.-G.-Bl. S. 434.)
3).
Anderer Anſicht in Bezug auf das Preußiſche Recht v. Rönne Preuß.
Staatsr. I. §. 101 S. 219 ff.
4).
Man ſpricht deshalb ſehr häufig von einem „Petitionsrecht“, welches
allen Deutſchen auf Grund ihrer Reichsangehörigkeit zuſtehe; z. B. Thu-
dichum
S. 523. G. Meyer Grundzüge S. 116. v. Rönne S. 171.
Seydel S. 151. Riedel S. 48 und beſonders v. Mohl in der Tüb.
Zeitſchr. f. Staatswiſſenſch. 1875 Bd. 31 S. 99 ff. Allein abgeſehen, daß das
„Recht zu petitioniren“ ein „natürliches“ Recht von ähnlichem Inhalte iſt wie
das Recht, Briefe zu ſchreiben oder Lieder zu ſingen, iſt der Reichstag nach
Art. 23 keineswegs darauf beſchränkt, Petitionen von Reichsangehörigen ent-
4).
gegenzunehmen. Auch Ausländer ſind durch Nichts gehindert, bei dem Reichs-
tag Petitionen einzureichen, und der Reichstag iſt nach Art. 23 befugt, auch
ſie dem Bundesrathe oder Reichskanzler zu überweiſen. Das Recht beim
Deutſchen Reichstage zu petitioniren, wäre daher, wenn überhaupt ein Recht,
kein Recht der Deutſchen Reichsbürger, ſondern aller „Weltbürger.“ Nur von
einem Rechte des Reichstags in dem im Text entwickelten Sinne kann man
ſprechen, wenn man nicht „Recht“ jede Thätigkeit nennen will, welche nicht
verboten iſt.
1).
Vgl. zu dem Folgenden die Verhandlungen des verfaſſungberathenden
Reichstages v. 29. März 1867. Stenogr. Ber. S. 443 ff.
2).
Thudichum S. 213 fg. Riedel S. 36 unter 6c. v. Rönne S. 172.
v. Mohl S. 336. Meyer Erörterungen S. 50.
3).
Viele Verfaſſungen haben ein ſolches Recht anerkannt, insbeſondere
auch die Preußiſche Art. 81 Abſ. 3 in Beziehung auf Beſchwerden, welche
beim Landtage eingehen.
4).
Seydel S. 152, der dieſes Sachverhältniß richtig erkennt, nennt das
„Recht der Interpellation“ ein „natürliches“.
1).
Riedel S. 36 unter 6d. v. Rönne S. 173. v. Mohl S. 336.
Meyer Erörter. S. 50.
2).
Nach der Preuß. Verf. Art. 81 Abſ. 1 hat jede Kammer für ſich
das Recht, Adreſſen an den König zu richten. Dieſem Recht entſpricht dann
allerdings die Pflicht des Königs, Adreſſen eines der beiden Häuſer entgegen
zu nehmen.
3).
Deshalb iſt auch nicht einzuſehen, warum es dem Reichstage nicht ge-
ſtattet ſei, an den Bundesrath Adreſſen zu erlaſſen, wie Seydel S. 151. 152
meint. Vgl. auch v. Held S. 125. Es iſt dies nur nicht üblich.
4).
Mit demſelben Grunde könnte man von einem Rechte des Reichstages
reden, ein Hoch auf den Kaiſer auszubringen oder ihm zum Geburtstage Glück-
wünſche auszudrücken, oder dem Reichstags-Präſidenten für die Leitung der
Geſchäfte zu danken u. ſ. w.
1).
Dieſes Geſetz beruht im Weſentlichen auf dem Reichswahlgeſetz vom
12. April 1849, welches in dem Bündniß v. 18. Aug. 1866 als Grundlage
für die Wahlen zum verfaſſunggebenden Reichstage vereinbart war. Auf dem-
ſelben beruhen zunächſt die Wahlgeſetze der Staaten, welche ſich zur Gründung
des Nordd. Bundes vereinigt hatten. Siehe oben S. 20 fg. Der Art. 20 der
Verf. des Nordd. Bundes erhielt dieſe verſchiedenen Geſetze in Geltung bis
zum Erlaß eines Reichsgeſetzes, welches nunmehr an die Stelle derſelben ge-
treten iſt.
2).
Mit Baden und Heſſen vereinbarte Verfaſſung Art. 80. I. Nro. 13.
Württemb. Vertr. Art. 2 Nro. 6. Bayer. Vertrag III. §. 8. Vgl. Reichsgeſ.
v. 16. April 1871 §. 2. (R.-G.-Bl. S. 63.) Im §. 1 u. §. 4 des Wahlge-
ſetzes iſt in Folge deſſen ſtatt „jeder Norddeutſche“ „jeder Deutſche“ zu ver-
ſtehen.
3).
Außerdem eine redactionelle Abänderung, welche durch eine Verände-
rung der Verwaltungs-Organiſation in Lübeck erforderlich wurde, vom 24. Ja-
nuar 1872. (R.-G.Bl. S. 38.)
1).
Eine gute Bearbeitung dieſes Materials enthält die Schrift von Rob.
von Mohl. Kritiſche Bemerkungen über die Wahlen zum Deutſchen Reichs-
tage. Tübingen 1874. (Abdruck aus der Zeitſchr. für die geſ. Staatswiſſen-
ſchaft Bd. 30.)
2).
Wahlgeſ. §. 1.
3).
v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 342.
4).
Wahlgeſ. §. 2.
5).
Militärgeſ. v. 2. Mai 1874 §. 49. Welche Perſonen zum aktiven Heere
gehören, definirt daſſelbe Geſetz im §. 38.
6).
Wahlgeſ. §. 7. „Wer das Wahlrecht in einem Wahlbezirke ausüben
will, muß in demſelben oder, im Falle eine Gemeinde in mehrere Wahlbezirke
getheilt iſt, in einem derſelben zur Zeit der Wahl ſeinen Wohnſitz haben. —
Jeder darf nur an Einem Orte wählen.“ Wahlbezirk iſt nicht identiſch mit
Wahlkreis, ſondern mit Abſtimmungsbezirk. Siehe unten.
1).
Wahlgeſ. §. 8 Abſ. 2. „Nur diejenigen ſind zur Theilnahme an der
Wahl berechtigt, welche in die Liſte aufgenommen ſind.“ Vrgl. unten.
2).
Wahlgeſ. §. 3.
3).
Unter Umſtänden iſt der Gemeinſchuldner, der gar keine Aktiva beſitzt,
in dieſer Hinſicht daher beſſer daran, wie derjenige, deſſen Gläubiger faſt volle
Befriedigung erhalten, jedoch erſt nach Beendigung einer langwierigen Liqui-
dation. Gegen die Beſtimmung überhaupt ſpricht ſich v. Mohl a. a. O.
S. 20 aus.
4).
Ueber die Bedenken, zu welchen dieſe Faſſung Veranlaſſung giebt, und
über die Zweifel, welche Mittel als öffentliche auzuſehen ſeien, vrgl. v. Mohl
a. a. O. und Reichsſtaatsr. S. 346 fg. Darüber, daß die Gewährung unent-
1).
Wahlgeſ. §. 3 Z. 4 Abſ. 2.
2).
Dies galt namentlich auch vom Preuß. Strafgeſetzbuch; vgl. z. B.
§§. 63 ff. 74 ff. 78. 82. 83. 91 Abſ. 2 u. ſ. w.
4).
geldlichen Schulunterrichts keine Armenunterſtützung ſei, vgl. Stenogr. Ber.
1874 I. Seſſ. S. 276.
1).
R.-St.-G.-B. §. 20.
2).
Ausgenommen bei Verurtheilungen wegen Meineids (R.-St.-G.-B. §. 161)
und der ſchweren Fälle der Kuppelei des §. 181, die hier nicht in Betracht
kommen können.
1).
Wahlgeſ. §. 4.
1).
Dieſer Unterſchied wird überſehen von Thudichum S. 152.
2).
Eine kurze Erörterung der Frage, ob der Deutſche Kaiſer wählbar ſei,
findet ſich in den Stenogr. Berichten des Reichstages 1874/75 S. 579. Da
1).
Siehe oben S. 502.
2).
Wahlgeſ. §. 5 Abſ. 1.
3).
Nämlich Preußen 235, Sachſen 23, Heſſen 3, Mecklenburg-Schwerin 6,
Sachſen-Weimar 3, Mecklenburg-Strelitz 1, Oldenburg 3, Braunſchweig 3, Sach-
ſen-Meiningen 2, Sachſen-Altenburg 1, Sachſen-Koburg-Gotha 2, Anhalt 2,
Schwarzburg-Rudolſtadt 1, Schwarzburg-Sondershauſen 1, Waldeck 1, Reuß
ä. L. 1, Reuß j. L. 1, Schaumburg-Lippe 1, Lippe 1, Lauenburg 1, Lübeck 1,
Bremen 1, Hamburg 3.
2).
der Kaiſer zugleich König von Preußen iſt, ergiebt ſich die Verneinung der
Frage. Es iſt dies nicht ganz ohne praktiſche Wichtigkeit; denn wenn es auch
höchſt unwahrſcheinlich iſt, daß jemals ein Wahlkreis den Kaiſer oder einen
Landesherrn wählen wird, ſo können doch eine Anzahl von Stimmzettel für
ihn abgegeben werden und es kann von Bedeutung für das Wahlreſultat wer-
den, ob dieſe Stimmzettel als ungültig zu erklären oder bei der Berech-
nung der abſoluten Majorität mit in Anſatz zu bringen ſind.
1).
Es werden in Bayern 48, in Württemberg 17, in Baden 14, in Heſſen
ſüdlich des Main 6 Abgeordnete gewählt.
2).
Die mißlungene Faſſung des Art. 20 Abſ. 2, welcher nur die Zahlen
der in den ſüddeutſchen Staaten zu wählenden Abgeordneten anführt und
trotzdem hinzufügt: „und beträgt demnach die Geſammtzahl der Abgeordneten
382“ und ſeine thatſächliche Unrichtigkeit ſeit der Ausdehnung der R.-V. auf
Elſaß-Lothringen iſt von mir ſchon bei anderer Gelegenheit hervorgehoben
worden. Hirth’s Annalen 1874 S. 1512 Note 1.
3).
Einen ähnlichen Vorbehalt enthält das Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 3
hinſichtlich der auf Elſaß-Lothringen kommenden Anzahl.
1).
Noch viel weniger paſſen ſie unter den Begriff der iura singulorum
im eigentl. Sinne, wie er oben S. 121 fg. entwickelt worden iſt.
2).
Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1512.
3).
Siehe oben S. 112 und Hirth’s Annalen 1874 S. 1514 fg.
4).
Wahlgeſ. §. 6 Abſ. 1.
5).
Wahlgeſ. §. 6 Abſ. 3.
6).
Die Veranlaſſung zu der ſcharfen Hervorhebung dieſes Grundſatzes bot
das in Mecklenburg bei den erſten Reichstagswahlen eingeſchlagene Verfahren,
die Wahlkörperſchaften nach Domanium, Rittergütern und Städten zu bilden.
Staatsminiſter Delbrück bemerkte im Reichstage am 13. Dez. 1869, daß
durch die in Rede ſtehende Anordnung des Wahlgeſetzes der Wiederholung dieſes
Verfahrens vorgebeugt werden ſollte. Stenogr. Berichte 1869 S. 41.
7).
Wahlgeſ. §. 6 Abſ. 4.
1).
Geſ. v. 20. Juni 1873. R.-G.-Bl. S. 144.
1).
Wahlgeſ. §. 6. Abſ. 2 u. 3.
2).
Wahlreglem. §. 6.
3).
R.-G.-Bl. 1870. S. 306 fg. Es ſind regelmäßig für das Land die
Kreis behörden (Landrath, Kreisamt), in Bayern die Bezirksämter, in Würt-
temberg der Oberamtmann, in Baden die Bezirksräthe; bisweilen auch die
Gemeinde- oder Ortsbehörden (z. B. in Sachſen, Mecklenburg-Schwerin, Sach-
ſen-Weimar, Braunſchweig); für die Städte regelmäßig die Magiſtrate.
4).
Wahlgeſ. §. 6 Abſ. 2. Wahlreglem. §. 7 Abſ. 1.
5).
Wahlreglem. §. 7 Abſ. 3.
6).
Wahlreglem. §. 7 Abſ. 2.
7).
Wahlgeſ. §. 14. Wahlreglem. §. 9 Abſ. 1.
1).
R.-V. Art. 25. Der Ausdruck: „die Wähler müſſen verſammelt wer-
den“, den dieſer Artikel gebraucht, iſt kein glücklicher. Er ſtammt aus dem
Art. 51 der Preuß. Verf.-Urk. Nach dem Preuß. Wahlverfahren werden aller-
dings die Wähler in den einzelnen Urwahlbezirken verſammelt, nach dem Reichs-
Wahlgeſetz bringt Jeder einzeln ſeinen Stimmzettel zur Wahlurne.
2).
Wahlgeſ. §. 14. Eine einmalige Ausnahme fand bei den erſten Reichs-
tagswahlen in Elſaß-Lothringen ſtatt. Denn da die Reichsverf. und das Wahl-
geſetz dort erſt am 1. Jan. 1874 in Kraft traten, ſo mußte mindeſtens noch
die im §. 8 des Wahlgeſetzes vorgeſchriebene Friſt von 4 Wochen abgewartet
werden. Während im übrigen Reichsgebiet die Wahlen am 10. Januar 1874
ſtattfanden, mußten daher die Wahlen im Reichslande auf den 1. Februar 1874
gelegt werden. R.-G.-Bl. 1873 S. 372. 380. Der Fall könnte als Präcedenz
dienen, falls einmal durch außerordentliche Ereigniſſe wie feindliche Occupation,
Aufruhr oder drgl. zur Zeit der allgemeinen Wahlen in einem Theil des Bun-
desgebietes die regelrechte und freie Vornahme von Wahlen unmöglich ſein ſollte.
3).
d. ſind in Preußen die Bezirks-Regierungen, reſp. Landdroſteien, ebenſo
in Bayern die Kreis-Regierungen, Kammer des Innern, und in Elſ.-Lothringen
die Bezirkspräſidenten, in den übrigen Staaten die Central-Behörde (Miniſte-
rium des Innern, Staatsminiſterium, Senat.) Wahlreglem. Anlage D.
4).
Wahlreglement §. 34.
1).
Dem Reichstage bleibt aber die Möglichkeit, wenn ein erheblicher Theil
aller Wahlberechtigten durch Elementar-Ereigniſſe an der Ausübung der Wahl
gehindert war, die Wahl des ganzen Kreiſes als vereitelt zu erklären und das
Wahlreſultat zu kaſſiren. Vgl. über ſolche Fälle die Stenogr. Berichte v. 1871
S. 27 fg. 389 ff. von 1874/75 S. 564 ff. und von Mohl, kritiſche Be-
merkungen S. 42 fg.
2).
Wahlgeſ. §. 8 Abſ. 1. Das Formular dafür enthält die Anlage A
des Wahlreglements. (B.-G.-Bl. 1870 S. 283.)
3).
Wahlreglem. §. 1 Abſ. 2.
4).
Wahlreglem. §. 5 Abſ. 2.
1).
Wahlreglem. §. 1 Abſ. 1.
2).
Wahlgeſetz §. 8. Abſ. 2. Wahlreglem. §. 2 Abſ. 1.
3).
Zuſtändig iſt durchweg das Miniſterium des Innern oder die entſpre-
chende Centralbehörde; in Elſaß-Lothringen der Oberpräſident. Anlage D zum
Wahlreglement.
4).
Wahlregl. §. 2 Abſ. 2. 3. — Das Formular in B.-G.-Bl. 1870 S. 284.
5).
Wahlgeſ. §. 8. Wahlreglem. §. 3.
6).
Von Correcturen der Liſte in Bezug auf die Angabe der Vornamen,
des Alters oder Gewerbes u. dgl. kann hier abgeſehen werden.
7).
Mit Unrecht beſchränkt Thudichum S. 140 dieſe Befugniß auf die
Bundesangehörigen.
1).
Daß ſie eine Namens-Unterſchrift haben, kann nicht als erforderlich
erachtet werden, da die Befugniß zur Stellung ſolcher Anträge an keine Vor-
ausſetzung gebunden iſt, es ſonach unerheblich iſt, von wem der Antrag aus-
geht.
2).
Welche Behörde dies iſt, ergiebt ſich aus der Anlage D zum Wahl-
reglement. In den ländlichen Bezirken iſt es regelmäßig die Kreisbehörde
(Landrath, Amtmann, Kreisdirector, Bezirksamt), in den ſtädtiſchen der Magi-
ſtrat; in den Stadtkreiſen in Elſaß-Lothringen der Bezirkspräſident.
3).
Wahlreglem. §. 3 Abſ. 3.
1).
Wahlreglem. §. 3. Es enthält dieſer § eine authentiſche Interpretation
der Vorſchrift in §. 8 des Wahlgeſetzes, daß Einſprachen „innerhalb der näch-
ſten
14 Tage zu erledigen ſind“, nämlich nach Ablauf der achttägigen Friſt
für die Auslegung der Liſten.
2).
Wahlreglement §. 4.
3).
Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Thudichum S. 140.
4).
Wenn z. B. Jemand, der in die Liſte eingetragen iſt, vor der Wahl
in Koncurs geräth oder die ſtaatsbürgerl. Rechte verliert.
1).
Wahlreglem. §. 5 Abſ. 1.
2).
Wahlgeſ. §. 8 Abſ. 2. Wahlreglem. §. 34 Abſ. 3.
3).
Wahlreglem. §. 8 Abſ. 1.
4).
Es ſind meiſtens die Kreisbehörden und für die Städte die Magiſtrate;
doch iſt vielfach die Beſtimmung des Wahllokals den Ortsbehörden oder den
Wahlvorſtehern ſelbſt übertragen.
5).
Wahlreglem. §. 8 Abſ. 2.
6).
Wahlreglem. §. 10.
7).
Wahlgeſetz §. 9 Abſ. 2.
1).
Wahlregl. §. 12.
2).
Wahlreglem. §. 11.
3).
Wahlregl. §. 12 Abſ. 2. 3.
4).
Die Annahme v. Mohl’s Krit. Bemerk. S. 69, daß die Reichsverfaſſ.
die Abſtimmung des einzelnen Wählers nicht als eine geheime bezeichnet, be-
ruht wohl auf einem Verſehen.
5).
Dieſe Beſtimmungen ſind meiſtens dem franzöſiſchen décret réglemen-
taire
vom 2. Febr. 1852 wörtlich entnommen. v. Mohl a. a. O.
6).
Das in der Verfaſſung ſanctionirte Prinzip hat aber noch vielfach an-
dere Conſequenzen; insbeſondere iſt jede obrigkeitliche, namentlich zeugeneidliche
Vernehmung von Wählern, wie ſie gewählt haben, unzuläſſig. Vgl. auch
Stenogr. Berichte 1874. I. Seſſ. S. 724 fg.
7).
Wahlgeſ. §. 10. Wahlregl. §. 14.
1).
Wahlreglem. §. 15. 16.
2).
Gedruckte Stimmzettel brauchen nicht den Namen des Druckers zu
tragen. Reichspreßgeſetz §. 6 Abſ. 2; ja ſie dürfen es nicht wegen
Wahlreglem. §. 19 Nr. 4.
3).
Wahlgeſetz §. 10. 11. Wahlregl. §. 15 Abſ. 3. Ueber caſuiſtiſche
Streitfragen vgl. v. Mohl a. a. O. S. 78 fg. u. Stenogr. Ber. 1874/75
S. 1178 ff.
4).
Wahlreglem. §. 15 Abſ. 4.
5).
Wahlreglem. §. 13 Abſ. 2. Dieſe Vorſchrift verpflichtet den Wahlvor-
ſteher zwar nicht, einen Beſchluß des Wahlvorſtandes herbeizuführen, aber ſie
geſtattet dieſes Verfahren und es wird durch daſſelbe der von v. Mohl a. a. O.
S. 82 erörterte Uebelſtand vermieden, daß ein Stimmzettel vom Vorſteher
zuerſt als fehlerhaft zurückgewieſen, dann aber doch auf das Verlangen des
Wählers in die Urne gelegt und ſchließlich bei der Stimmenzählung vom Wahl-
vorſtand als ungültig erklärt wird.
1).
Wahlregl. §. 17.
2).
Wahlregl. §. 18.
3).
Wegen Angabe des Druckers ſiehe oben S. 543 Note 2.
4).
Wahlreglem. §. 19 und dazu v. Mohl a. a. O. S. 78 fg.
5).
Dieſer Beſchluß wird mit Stimmen-Mehrheit gefaßt und iſt, vorbe-
haltlich der Prüfung des Reichstages, unanfechtbar. Wahlgeſetz §. 13 Abſ. 1.
6).
Wahlreglem. §. 20. 21. Wahlgeſ. §. 13 Abſ. 2.
1).
Das Formular dazu liefert Anlage B des Wahlreglem. B.-G.-Bl. 1870
S. 285 fg.
2).
Wahlregl. §. 16; 18 Abſ. 2; 22.
3).
Vgl. Anlage D zum Wahlreglem. In Preußen und Bayern die Be-
zirksregierungen (reſp. Landdroſteien), in den andern Staaten das Miniſterium
des Innern oder Staatsminiſterium, in Elſaß-Lothringen der Bezirkspräſident.
4).
Wahlregl. §. 25.
5).
Wahlregl. §. 26.
6).
Die in den einzelnen Wahlbezirken getroffenen Entſcheidungen über
die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Stimmzetteln können von dem Wahl-
kommiſſarius und ſeinen Beiſitzern nicht abgeändert werden. Siehe S. 544
Note 5. Vgl. Stenogr. Berichte 1874. I. Seſſ. S. 699 ff u. 1874/5.
S. 1154 fg.
1).
Wahlregl. §. 27.
2).
Wahlgeſ. §. 12.
3).
Wahlregl. §. 28 Abſ. 1.
4).
Wahlgeſ. §. 12 Abſ. 1. Wenn mehrere Kandidaten gleich viele Stim-
men haben, ſo entſcheidet das Loos, welches durch die Hand des Wahlkom-
miſſars gezogen wird, darüber, welche beiden Kandidaten auf die engere Wahl
zu bringen ſind. Wahlregl. §. 30 Abſ. 1.
5).
Wahlregl. §. 29.
6).
Wahlregl. §. 31. Jedoch iſt eine Verlegung der Wahllokale und Er-
ſetzung der Wahlvorſteher, wenn ſie nach dem Ermeſſen der zuſtändigen Behörde
geboten erſcheint, geſtattet.
7).
Wahlregl. §. 30 Abſ. 2.
8).
Wahlgeſ. §. 12 Abſ. 2. Wahlregl. §. 32.
1).
Dem Reichstage bleibt es aber allerdings unbenommen, eine verſpätete
Annahme-Erklärung noch als wirkſam anzuſehen.
2).
Wahlregl. §. 33.
3).
Wahlregl. §. 34.
4).
Wahlgeſetz §. 16.
1).
Wahlgeſ. §. 17 Abſ. 1.
2).
Wo es gar keine Rechtsſätze über Vereine und Verſammlungen
giebt, iſt das ſogen. Vereins- und Verſammlungsrecht am vollſtändigſten und
unbeſchränkteſten, weil es eben ſeinem Inhalte nach überhaupt kein Recht iſt.
3).
Im Übrigen ſind dieſe Beſchränkungen und die auf Verle tzungen der-
ſelben geſetzten Strafen aufrecht erhalten. Einf.-Geſ. zum St.-G.-B. §. 2 Abſ. 2.
Die Uebertretung ſolcher Beſchränkungen wird hier „Mißbrauch des Vereins-
und Verſammlungsrechts“ genannt. Ebenſo Einf.-Geſ. für Elſ.-Lothr. vom
30. Aug. 1871 Art. II. Abſ. 2.
1).
Wahlgeſ. §. 17 Abſ. 2.
2).
Wahlgeſ. §. 9 Abſ. 1. Wahlreglem. § 26 Abſ. 3.
3).
Wahlgeſ. §. 9 Abſ. 2. Wahlreglem. §. 10. 26.
4).
Vgl. Drenkmann in Goltdammer’s Arch. Bd. 17 S. 168 ff. John
in v. Holtzendorff’s Handb. des D. Strafr. III. S. 83 ff.
1).
Vrgl. hiezu Oppenhoff St.-G.-B. Note 9 zu §. 339 und Meves
in v. Holtzendorff’s Handb. III. S. 973 ff. und oben S. 438.
2).
Vergl. v. Mohl krit. Bemerk. S. 57 fg. Drenkmann a. a. O.
John a. a. O. S. 87 ff.
3).
Die civilrechtlichen Begriffe des Kaufs und Verkaufs kommen hier nicht
zur Anwendung. Drenkmann a. a. O. S. 178. John S. 89. Oppen-
hoff
Strafgeſetzb. Note 3 zu §. 109 und insbeſondere Schwarze Kommen-
tar zum St.-G.-B. zu §. 109.
4).
Vgl. v. Mohl a. a. O. S. 61 fg.
5).
Dahin gehört namentlich die Verbreitung von Lügen; die Erregung
phantaſtiſcher Hoffnungen; die Verſicherung, daß die Wahl eines beſtimmten
Kandidaten Gott wohlgefällig ſei, die eines anderen Krankheiten und Mißernte
u. dergl. Unglücksfälle als Strafen Gottes herbeiführen werde; Bedrohung mit
Verluſt der Kundſchaft oder mit Dienſtentlaſſung oder mit Kündigung von
Pachtverträgen u. drgl. Alles dies mag man tadeln und beklagen, man muß
es aber als Conſequenz des allgemeinen Wahlrechts mit hinnehmen. Andere
zu beeinfluſſen und ſich von ihnen beeinfluſſen zu laſſen, iſt ein „unantaſtbares
Menſchenrecht“, welches freilich in den Katalogen der „natürlichen Rechte“ oder
„Grundrechte“ gewöhnlich übergangen wird.
1).
Eingehende Details bei v. Mohl a. a. O. S. 49 ff. Vergl. auch
Bamberger in v. Holtzend. Jahrb. I. S. 160 ff. Sehr empfindlich hat ſich
aber der Reichstag wiederholt in dem Falle gezeigt, wenn ein Gensdarm die,
jedem andern Menſchen freiſtehende Befugniß, Stimmzettel zu vertheilen, aus-
geübt hat. Vgl. z. B. Stenogr. Berichte 1874 I. Seſſ. S. 689 ff. 187⅘
S. 870 ff.
2).
Der verfaſſungsber. Reichstag von 1867 hat einen Antrag, die Befrei-
ung der Beamten von den Stellvertretungskoſten auszuſprechen, verworfen.
Stenogr. Berichte S. 711. Daraus folgt nicht, daß die einzelnen Regierungen
den Beamten Gehalts-Abzüge machen oder von ihnen die Stellvertretungskoſten
einziehen müſſen oder auch nur dürfen, wie HierſemenzelI. S. 84. Thu-
dichum
S. 155. Auerbach S. 112 annehmen; ſondern die Frage iſt in
jedem einzelnen Staat und für jede Kategorie von Beamten nach dem parti-
kulären Staats- und Verwaltungsrechte zu entſcheiden. Vgl. v. Martitz Be-
trachtungen S. 82 Note 77. Meyer, Grundz. S. 100. Riedel S. 112.
v. Rönne S. 165 Note c.Seydel S. 145. v. Mohl S. 352. In
Preußen werden die Stellvertretungskoſten für die aus Staatsfonds be-
1).
v. Pözl S. 125 Note 3 ſagt: „Bedienſtete von Privatperſonen oder
von Privatgeſellſchaften können weder im Hinblick auf den Wortlaut noch auf
die ratio legis unter dieſen Artikel ſubſumirt werden.“ Riedel S. 112 meint
dagegen: Der Ausdruck Beamte muß hier im weiteſten Sinne genommen
werden. Hierſemenzel S. 84 und v. Rönne S. 164 Note b) verſtehen
unter Beamten auch die „mittelbaren Staatsbeamten“; Thudichum S. 154
behauptet dagegen, daß Gemeinde- und Kirchenbeamte keine Befreiung von der
Pflicht der Urlaubs-Einholung genießen. Die entgegengeſetzte Anſicht verthei-
digt Seydel S. 144. 145. v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 351 iſt ſogar ge-
neigt, auch auf die Angeſtellten von Privat-Eiſenbahnen und Dampfſchifffahrts-
Linien (ſoll wohl heißen: Geſellſchaften) den Art. 21 anzuwenden. — Aus der
Zuſammenſtellung des Abſ. 1 und des Abſ. 2 des Art. 21 in einem und dem-
ſelben Artikel läßt ſich vielleicht folgern, daß der Ausdruck „Beamte“ auf die
„im Reichs- oder Staatsdienſte“ Angeſtellten zu beſchränken iſt, da Abſ. 2 von
dieſen handelt.
2).
ſoldeten Beamten, welche in den Reichstag eintreten, auf Grund des Staats-
miniſt.-Beſchluſſes v. 4. Oktober 1867 (v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2. S. 786)
bis auf Weiteres aus Staatsmitteln beſtritten. In Bayern werden eben-
falls keine Abzüge für Stellvertretungskoſten gemacht. Riedel a. a. O.
1).
Wahlreglem. §. 35 und dazu Anlage D.
2).
Eine eingehende Darſtellung und kritiſche Beleuchtung dieſes Verfahrens
giebt v. Mohl krit. Bemerkungen ꝛc. S. 85 fg. Eine Abänderung iſt bereits
im Reichstage von 1874/75 beantragt worden. Vgl. Stenogr. Berichte. An-
lagen II. Nr. 215. (S. 1275).
3).
Geſch.-O. §. 2.
4).
Über die Frage, ob zur Anfechtung einer Wahl jeder oder nur ein dem
betreffendem Wahlkreiſe angehöriger Wähler legitimirt ſei, enthält die Geſch.-
Ordn. keine Beſtimmung. Eine Erörterung darüber enthalten die Stenogr.
Berichte 1874 I. Seſſ. S. 721 ff., zu einer Entſcheidung aber iſt der Reichstag
nicht gelangt.
1).
Geſch.-Ordn. §. 4.
2).
Geſch.-Ordn. §. 5.
3).
Nur dürfen Mitglieder, deren Wahl beauſtandet wird, natürlich nicht
an der Abſtimmung über die Gültigkeit ihrer eigenen Wahl Theil nehmen,
wohl aber alle ihnen nöthig ſcheinenden Aufklärungen geben. Geſch.-Ordn. §. 6.
4).
Die Friſt beginnt mit dem Tage der allgemeinen Wahlen. Soll die
Legislatur-Periode im einzelnen Falle verlängert werden, ſo iſt dazu ein Geſetz
erforderlich, welches den für Verfaſſungs-Aenderungen aufgeſtellten Erforder-
niſſen genügt. Vgl. das Geſ. v. 21. Juli 1870. B.-G.-Bl. S. 498.
5).
Vrgl. Wahlreglem. §. 34 Abſ. 2; hier wird die Zuläſſigkeit des Aus-
1).
Da dieſe Verfaſſungsbeſtimmung dem Art. 78 Abſ. 3 der Preuß. Verf.-
Urk. entnommen iſt, ſo kann in Betreff der Caſuiſtik die ſtaatsrechtl. Praxis
Preußens Verwerthung finden. Ueber dieſelbe ſtellt ein reichhaltiges Material
zuſammen v. Rönne Preuß. Staatsr. § 118. (3. Aufl. I. 2. S. 394 fg.)
2).
Vrgl. über dieſe Frage die Stenogr. Berichte 1868. S. 296. 454 ff.
Thudichum S. 197. 198.
3).
Dafür erklären ſich auch, wenngleich ohne Begründung, v. Pözl S. 126,
v. Rönne S. 167, Schwarze Commentar zum St.-G.-B. S. 104.
5).
ſcheidens, die auf einem allgemeinen Gewohnheitsrecht beruht, implicite aner-
kannt. Die Niederlegung des Mandats muß ausdrücklich erklärt werden;
aus der Thatſache, daß ein Mitglied ohne Entſchuldigung und ohne ſogen. Ur-
laub ſich fortgeſetzt von den Reichstags-Geſchäften fern hält, kann der Verzicht
auf die Mitgliedſchaft nicht gefolgert werden.
1).
Vrgl. oben S. 273 die Ausführungen über den gleichen Rechtsſatz hin-
ſichtlich des Bundesrathes.
2).
Im Jahre 1870 wurde der Reichstag dreimal einberufen durch Verordn.
v. 6. Febr., 15. Juli und 12. November; im Jahre 1871 zweimal durch Ver-
1).
Vrgl. darüber v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 122 (I. 2 S. 405. ff.)
2).
Die Geſch.-Ordn. §. 67 ſcheint ihn beſtätigen zu wollen, indem ſie be-
ſtimmt, daß Geſetzes-Vorlagen, Anträge und Petitionen mit dem Ablaufe der
Sitzungs-Periode, in welcher ſie eingebracht und noch nicht zur Beſchlußnahme
gediehen ſind, für erledigt (!?) zu erachten ſind.
2).
ordn. v. 26. Febr. und 5. Oktober; im Jahre 1874 ebenfalls zweimal durch
Verordn. v. 20. Januar und v. 20. Oktober.
1).
Geſch.-Ordn. §. 34. „Der Präſident eröffnet und ſchließt die Sitzung;
er verkündet Tag und Stunde der nächſten Sitzung.“
2).
R.-V. Art. 24. Vrgl. die Eingangsformel zur Verordn. v. 29. Nov.
1873. (RG.-Bl. S. 371).
3).
R.-V. Art. 25.
1).
Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Thudichum S. 165. 166. Gegen
denſelben erklärt ſich auch Seydel S. 153.
2).
Dies thut ausdrücklich v. Mohl krit. Bemerkungen ꝛc. S. 12.
1).
Unter den Ergänzungen und Abänderungen, welche dieſelbe erfahren
hat, ſind hervorzuheben die Beſchlüſſe vom 9. April 1874 über die Art der
Abſtimmung und Zählung (Geſch.-O. §. 52. 52a). Stenogr. Ber. 1874 S. 680 ff.
und vom 11. Nov. 1874 (Stenogr. Ber. 1874/75 S. 98).
2).
Abdrücke der Geſchäfts-Ordnung des Reichstages finden ſich in Hirth’s
Annalen 1868. I. T. 913 ff., in deſſelben Parlaments-Almanach 1869 S. 256 fg.
und in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 87 ff. (1871).
1).
Geſch.-Ordn. §§. 59—61.
2).
Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entſprechen-
den §. 38 des Pr. Preßgeſetzes v. 12. Mai 1851 bei HierſemenzelI.
S. 85 ff. Ferner Oppenhoff, R.-Strafgeſetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12.
1).
Vrgl. Hierſemenzel S. 85. Seydel S. 146. Wenn Seydel
aber glaubt, daß ein in geheimer Sitzung gefaßter Beſchluß deshalb nicht als
nichtig anzuſehen ſei, weil Art. 22 dieſe Folge nicht ausdrücklich aus-
ſpreche, vielmehr eine lex imperfecta ſei, ſo iſt dies unrichtig. Ein in gehei-
mer Sitzung von Reichstags-Mitgliedern gefaßter Beſchluß iſt überhaupt kein
„Reichstags-Beſchluß“ im Sinne der Verfaſſung, ſondern ein Beſchluß von
Privatperſonen. Auch Hierſemenzel geht nicht weit genug, wenn er aus
dem Art. 22 nur folgert, daß ein in geheimer Schluß-Berathung gefaßter
Plenar-Beſchluß des Reichstags ungültig ſein würde. Denn Art. 22
ſchreibt die Oeffentlichkeit nicht blos für die Beſchlußfaſſung, ſondern allgemein
für die Verhandlungen des Reichstages vor. Eine unter Ausſchluß der
Oeffentlichkeit abgehaltene Beſprechung iſt nur eine Verhandlung von Reichs-
tags-Mitgliedern, aber keine Verhandlung des Reichstags im Sinne der Ver-
faſſung. Die entgegengeſetzte Anſicht vertreten Thudichum S. 192, Riedel
S. 112. v. Rönne S. 176. v. Pözl S. 132. Auf die nach Art. 27 dem
Reichstage zuſtehende Autonomie kann aber der §. 27 der Geſch.-Ordn. nicht
geſtützt werden, weil autonomiſche Feſtſetzungen Verfaſſungsſätze nicht aufheben
können.
2).
Vgl. auch v. Mohl Zeitſchr. f. Staatswiſſenſch. Bd. 31 S. 61.
3).
Geſch.-Ordn. §. 48 a. E. Auf Wahlen, die der Reichstag vorzunehmen
1).
Siehe oben S. 531 fg.
2).
Vrgl. v. Mohl Zeitſchr. f. Staatswiſſenſch. Bd. 31. S. 94 fg.
3).
Hierzu iſt demnach die Anweſenheit einer beſchlußfähigen Anzahl er-
forderlich, zur Wahl ſelbſt dagegen nicht. Geſch.-Ordn. §. 7. Denn man kann
eine Wahl doch kaum als einen „Beſchluß“ bezeichnen. Die Praxis des Reichs-
tages hat ſich aber dafür entſchieden, nur ſolche Wahlen für gültig zu erachten,
bei welcher eine beſchlußfähige Anzahl von Stimmen abgegeben worden iſt.
Vrgl. namentlich Stenogr. Ber. 1874/75 I. S. 14.
3).
hat, finden dieſe Beſtimmungen keine Anwendung. Sie können nach relativer
Stimmenmehrheit erfolgen, z. B. die Wahl der Schriftführer, und bei Stim-
mengleichheit entſcheidet das Loos. Geſch.-Ordn. §. 7. 8. Für die Wahl der
Mitglieder der Reichsſchulden-Komm. iſt abſolute Stimmenmehrheit vorgeſchrie-
ben im Geſ. v. 19. Juni 1868 §. 5 (B.-G.-Bl. S. 340).
1).
Geſch.-Ordn. §. 1. 7—9.
2).
Geſch.-Ordn. §. 10.
3).
Geſch.-Ordn. §. 11. 15. 17. Abſ. 4. 32. 34. 38.
4).
Dieſelbe kann natürlich in keiner Weiſe den Satz der Reichsverf. Art. 9
beſchränken oder modifiziren, daß jedes Mitglied des Bundesrathes im Reichs-
tage auf Verlangen jederzeit gehört werden muß.
5).
Geſch.-Ordn. §. 39 ff. Sehr ausführliche Erörterungen darüber bei
v. Mohl a. a. O. S. 64—80, woſelbſt eine förmliche Theorie des „Rechts
zu ſprechen“ entwickelt iſt.
6).
Geſch.-Ordn. §. 57.
7).
Geſch.-O. §. 48. 51—56.
1).
Geſch.-Ordn. § 63. 65—66.
2).
Geſch.-Ordn. §. 12.
3).
Geſetz v. 31. März 1873 §. 156. (Rg.-Bl. S. 90.)
4).
Geſch.-Ordn. §. 12. 14.
5).
Alle von Reichstags-Mitgliedern ausgehenden Anträge müſſen von min-
deſtens 15 Mitgliedern unterzeichnet ſein. Geſch.-Ordn. §. 20 Abſ. 1.
6).
Eine Abkürzung dieſer Friſt kann nur dann beſchloſſen werden, wenn
ihr nicht 15 anweſende Mitglieder widerſprechen. Geſch.-Ordn. §. 19.
7).
Geſch.-Ordn. §. 16. 20.
1).
Vrgl. hierzu die ſehr eingehenden Debatten des Reichstages v. 18. Nov.
1874 Stenogr. Berichte 1874/75 I. S. 220—233.
2).
Geſch.-Ordn. §. 19.
3).
Geſch.-Ordn. §. 17.
4).
Eine Abkürzung dieſer Friſt kann ebenfalls nur dann beſchloſſen werden,
wenn ihr nicht 15 anweſende Mitglieder widerſprechen. Geſch.-O. §. 19.
1).
Geſch.-O. §. 18.
2).
Ueber Petitionen vgl. v. Mohl a. a. O. S. 99 ff.
3).
Geſch.-O. §. 21.
4).
Geſch.-O. §. 23.
5).
Vgl. Geſch.-Ordn. §§. 30. 31 und §. 64.
6).
Geſch.-Ordn. §. 2.
1).
Geſch.-Ordn. §. 3. Siehe oben S. 553.
2).
Geſch.-Ordn. §. 24. Abſ. 3.
3).
Geſch.-O. §. 24. Abſ. 3.
4).
S. darüber v. Mohl in der Zeitſchr. f. Staatswiſſenſch. Bd. 31 S. 57 ff.
5).
Der §. 24 erwähnt 6 ſolche Gruppen; es iſt aber weder erforderlich,
daß ſtets dieſe 6 Kommiſſionen gebildet werden, noch iſt es unzuläſſig, für ein-
zelne unter dieſe Kategorie fallende Gegenſtände beſondere Kommiſſionen ein-
zuſetzen.
6).
Geſch.-Ordn. §. 25.
7).
Auch der §. 12 des R.-St.-G.-B.’s findet auf Kommiſſions-Verhand-
lungen keine Anwendung. Oppenhoff Note 5 zu dieſem §.
8).
Geſch.-Ordn. §. 25 Abſ. 5. Vgl. v. Mohl a. a. O. S. 60 fg.
1).
Geſch.-Ordn. §. 27.
2).
Geſch.-Ordn. §. 2. 25. 28. Ueber ſog. „freie Kommiſſionen“ vergl.
v. Mohl a. a. O. S. 56.
3).
Geſch.-Ordn §§. 35—38.
4).
Von einem Einſpruch gegen die Richtigkeit des Protokolls iſt wohl zu
unterſcheiden ein Einſpruch gegen die (materielle) Richtigkeit einer im Protokoll
richtig wiedergegebenen Erklärung. Vgl. Stenogr. Berichte 1874. 1. Seſſ S. 113.
5).
Geſch.-Ordn. §. 13.
1).
Geſch.-Ordn. §. 56. Beiſpiele: Stenogr. Berichte 1874 I. Seſſion.
S. 110 und 111.
2).
Von dem verfaſſunggebenden Reichstage von 1867 an im Verlage der
Buchdruckerei der „Norddeutſchen Allgem. Zeitung“ in Berlin. Eine offizielle
Autorität kömmt den Stenogr. Berichten nicht zu. Thudichum S. 196.
3).
Vrgl. z. B. v. Pözl S. 129. v. Rönne S. 174. Weſterkamp
S. 109. Vgl. ferner ZöpflII. §. 386 fg.
4).
Man könnte mit demſelben Grunde aus jeder Vorſchrift der Prozeß-
Ordnungen und des Strafrechts ſubjective Rechte für alle diejenigen herleiten,
welche einmal in die Lage kommen, daß dieſe Vorſchrift auf ſie Anwendung
findet.
1).
Dies wird auch ganz richtig hervorgehoben von v. Rönne Preuß.
Staatsr. I. 2. S. 436 fg. (3. Aufl.)
2).
Eine Zuſammenſtellung der Literatur über die ſtrafrechtliche Unverfolg-
barkeit der Parlamentsmitglieder wegen ihrer berufsmäßigen Aeußerungen findet
ſich bei v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 129 Rote 1. (3. Aufl. I. 2. S. 428).
Vgl. ferner v. Bar die Redefreiheit der Mitglieder der geſetzgebenden Ver-
ſammlungen. Lpz. 1868 und Schulze Preuß. Staatsr. II. S. 165 ff.
3).
Im Gegenſatz dazu ſteht eine politiſche Verantwortung, welche von
1).
Daſſelbe gilt von der im §. 197 des R.-St.-G.-B. geforderten „Ermäch-
tigung“, welche der Reichstag, wenn eine Beleidigung gegen ihn begangen
worden iſt, zur ſtrafrechtlichen Verfolgung derſelben zu ertheilen hat.
3).
dem Reichstags-Mitgliede von Fraktionen, Wahlcomitees, Wählerverſammlungen,
politiſchen Vereinen, Organen der Preſſe u. ſ. w. etwa gefordert wird. Eine
ſolche Forderung kann rechtlich nicht erzwungen werden, iſt rechtlich aber auch
nicht unterſagt. Siehe oben S. 504. Ausgeſchloſſen iſt dagegen durch Art. 30
eine gerichtliche Verfolgung im Wege des Eivilprozeſſes wegen Leiſtung von
Schadens-Erſatzes.
1).
Vrgl. v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2. S. 436—439 und den treff-
lichen Bericht des Abg. Harnier in der Sitzung des Reichstages v. 16. Dez.
1874. Stenogr. Bericht S. 725 ff.
2).
Auch das Berliner Kammergericht hat durch Beſchluß v. 18. Novemb.
1874 die richtige Anſicht zur Geltung gebracht, als es ſich um die Vollſtreckung
einer rechtskräftig erkannten Gefängnißſtrafe gegen ein Reichstags-Mitglied,
Namens Majunke, handelte. In der dieſerhalb geführten Verhandlung des
Reichstages iſt außer der angeführten Berichterſtattung von Harnier nament-
lich die vorzügliche Auseinanderſetzung von Gneiſt (Stenogr. Berichte S. 750 ff.)
zu beachten. Auch der Reichstag ſelbſt erkannte die richtige Anſicht dadurch
indirect an, daß er unter Ablehnung aller andern Anträge eine Reſolution
annahm, nach welcher „behufs Aufrechthaltung der Würde des Reichstages“ (!?)
es nothwendig ſei, im Wege der Deklaration reſp. Abänderung der Verfaſſung
die Möglichkeit auszuſchließen, daß ein Abgeordneter während der Dauer der
Sitzungsperiode ohne Genehmigung des Reichstages verhaftet werde. Der
Bundesrath beſchloß, dieſer Reſolution eine Folge nicht zu geben. Reichs-An-
zeiger v. 8. Nov. 1875. Ein in der Sitzungs-Periode von 1875/76 eingebrachter
Antrag auf Abänderung des Art. 31 der R.-V. wurde vom Reichstage am
9. Dez. 1875 verworfen. Stenogr. Ber. S. 471 ff.
1).
Vrgl. den Entw. der R.-Civilproc.-Ordn. §. 731.
2).
Ueber die Unterbrechung der Civilhaft vgl. die übereinſtimmende An-
ordnung im Entw. der R.-Civilpr.-Ordn. §. 732 Nr. 1.
3).
Dies iſt auch durch eine conſtante Praxis des Reichstages anerkannt,
welche z. B. in den Sitzungen vom 12. März 1874 (Stenogr. Ber. S. 305 ff.)
und v. 21. Nov. 1874 (Stenogr. Ber. 1874/75 S. 244 ff.) beſtätigt wurde
und welche ſich an die feſtſtehende Auslegung, die der mit Art. 31 Abſ. 3 über-
einſtimmende Art. 84 Abſ. 4 der Preuß. Verf.-Urk. im Preußiſchen Landtage
gefunden hat, anlehnt.
1).
Vgl. hierzu John in v. Holtzendorff’s Handbuch des Strafr. III.
S. 81 fg.
2).
Vgl. v. Martitz Betrachtungen S. 77. 78.
3).
Durch Nichts begründet iſt die Behauptung Thudichum’s S. 209,
1).
Sehr treffend ſagte in dieſer Beziehung Fürſt Bismarck im ver-
faſſungsgeb. Reichstage (Stenogr. Ber. S. 727), „daß die Regierungen ohne
eine ſtrafgeſetzliche Unterlage nur denen etwas verbieten können, denen ſie über-
haupt zu befehlen haben.“ Nur hinſichtlich der Beamten iſt dieſe Erklärung
wie HierſemenzelI. S. 102 ſagt, „nicht eindeutig.“
3).
daß ein Abgeordneter, welcher eine ihm angebotene Beſoldung oder Entſchä-
digung nicht zurückgewieſen hat, als auf ſein Mandat verzichtend ange-
ſehen werden müſſe. Ein ſtillſchweigender Verzicht auf das Mandat exiſtirt
überhaupt nicht, (ſiehe oben S. 554 Note 5) und überdies widerſtreitet dieſe
Fiction der wahren Sachlage durchaus. Ein ſolcher Abgeordneter will erſt
recht ſein Mandat behalten und er will zugleich, was er freilich nicht ſoll, eine
Beſoldung dafür erhalten. Noch weiter verirrt ſich v. Mohl Reichsſtaatsr.
S. 369, welcher Annahme und Anerbieten von Entſchädigungen oder Beſol-
dungen für ſtrafbar hält und die §§. 332. 333 des R.-St.-G.-B.’s darauf an-
wenden will. Denn dieſe Beſtimmungen des Reichsſtrafgeſetzbuches handeln,
ganz abgeſehen von allen anderen, ihre Anwendbarkeit ausſchließenden Gründen,
nur von Beamten, und zwar von Beſtechung derſelben, Reichstags-Mitglieder
ſind aber keine Beamte und die Zahlung von Entſchädigungen oder Diäten iſt
keine Beſtechung.
1).
Nachtrag zum Etat für 1874. Geſ. vom 18. Febr. 1874. (R.-G.-Bl.
S. 15. 16) und Etat für 1875. Fortdauernde Ausgaben. Kapitel 3. (R.-G.-
Bl. 1874 S. 175.) Etat für 1876 Kap. 10 a. Mit einer Buchſtaben-Interpretation
des Art. 32 läßt ſich dies in Einklang bringen; mit dem Sinne und der ge-
ſetzgeberiſchen Tendenz deſſelben nicht. So gut wie auf den Eiſenbahnen freie
Fahrt könnte man den Abgeordneten auf Reichskoſten auch in Berlin ſelbſt
Fuhrwerke zur unentgeltlichen Benutzung zur Verfügung ſtellen; ſodann aber
auch Hotels zur unentgeltlichen Wohnung und Verpflegung, Eintrittskarten in
die Theater u. ſ. w. Alles dieſes wäre weder Beſoldung noch Entſchädigung
im buchſtäblichen Sinne. Soll aber die Diätenloſigkeit der Abgeordneten, wie
dies bei Feſtſtellung dieſes Artikels die beſtimmt ausgeſprochene Abſicht war,
ein Correctiv des allgemeinen gleichen Wahlrechts ſein, ſo darf die Reichsregie-
rung den Abgeordneten die Koſten, welche ihnen aus der Mitgliedſchaft im
Reichstage erwachſen, nicht abnehmen, weder durch Geld noch durch Verſchaffung
von Natural-Leiſtungen, wenn nicht die beabſichtigte Wirkung dieſer Verfaſſungs-
beſtimmung vereitelt werden ſoll. Bei den Berathungen im Reichstage am
13. Febr. 1874 (Stenogr. Ber. S. 60 fg.) wurde von dem Staatsminiſter
Delbrück darauf Gewicht gelegt, daß die Eiſenbahnen feſte Averſional-Ent-
ſchädigungen erhalten, gleichviel ob und in welchem Umfange die einzelnen Mit-
glieder des Reichstages von der Fahrkarte Gebrauch machen, dadurch ſeien die
Zahlungen „von den Perſonen der Herren vollſtändig losgelöſt.“ Dieſer Um-
ſtand ändert aber Nichts an der Thatſache, daß die Reichskaſſe Koſten trägt
für „Mitglieder des Reichstages als ſolche“, welche dieſelben ſonſt aus eigenen
Mitteln beſtreiten müßten.
1).
Aus der Elſaß-Lothringen betreffenden Literatur ſind nur wenige Schrif-
ten zu nennen, welche das ſtaatsrechtl. Verhältniß des Reichslands er-
örtern. Hervorzuheben ſind in dieſer Beziehung: Löning Die Verwaltung
des General-Gouvernements im Elſaß. Straßb. 1874 S. 178—265 und Mit-
ſcher
Elſaß-Lothringen unter deutſcher Verwaltung (in den Preuß. Jahr-
büchern Bd. XXXIII. S. 269 ff. 388 ff. 552 ff. XXXIV. S. 1 ff. Auch im
Separat-Abdruck erſchienen Berlin 1874). Die Aufſätze von Lehfeldt über
die Verwaltungs-Einrichtungen von Elſaß und Lothringen in v. Holtzendorff’s
Jahrb. I. S. 557 ff. II. S. 455 ff. berühren ſtaatsrechtliche Fragen nicht. Die
Materialien (Entwurf, Motive, Kommiſſionsberichte, Reichstags-Verhand-
lungen) zu dem Vereinigungs-Geſetz vom 9. Juni 1871 ſind abgedruckt in
Hirth’s Annalen Bd. IV. 1871 S. 845—958.
1).
Z. B. Art. 33. 35. 38. 39. 41. 56. 59. 66. 67. 76. 77. 78. Abſ. 2.
2).
Vgl. den Kommiſſionsbericht des Reichstages v. 16. Mai 1871. Druck-
ſachen I. Seſſ. 1871 Nr. 133. S. 3 fg.
3).
Der Ausdruck „Reichsland“, „unmittelbares Reichsland“ wird offiziell
zuerſt gebraucht in den Motiven zum Entwurf des Vereinigungs-Geſetzes.
Druckſachen I. Seſſion 1871, Nr. 61. S. 6. Vgl. auch Mitſcher a. a. O.
S. 272. Daß man über den ſtaatsrechtlichen Begriff eines Reichslandes ſich
3).
nicht [vollkommen] klar war, iſt vielfach offen bekannt worden, am unumwun-
denſten von dem Berichterſtatter des Reichstages, Abg. Lamey am 20. Mai
1871. (Stenogr. Berichte 1871. I. Seſſ. S. 833.)
1).
Der Zeitpunkt, an welchem die Souveränetät überging, iſt der 2. März
1).
Motive zum Vereinigungs-Geſetz sub I: „Das von Frankreich ab-
getretene Gebiet iſt nicht beſtimmt einen mit eigner Staatshoheit bekleideten
Bundesſtaat zu bilden; die Landeshoheit über daſſelbe ruht im Reiche.“ Ferner
Kommiſſionsbericht des Reichstags S. 3 fg. u. S. 16. Staatsmini-
ſter Delbrück in der Reichstagsſitzung vom 20. Mai 1871. (Stenogr. Ber.
S. 826): „Die formellen Schwierigkeiten, die in der Stellung eines Landes
liegen, welches nicht Theil eines Bundesſtaates und welches auch ſelbſt
kein Bundesſtaat iſt
— dieſe formellen Schwierigkeiten, die ich nicht ver-
kenne, können an ſich unmöglich davon abhalten, dem Lande eine ſolche Stel-
lung zu geben, wenn man der Ueberzeugung iſt, dieſe Stellung iſt an ſich
richtig.“ Vgl. ferner die Aeußerungen der Reichstags-Mitglieder v. Treitſchke,
Wagener, Lasker in derſelben Sitzung des Reichstags. (Stenogr. Berichte 1871.
I. Seſſ. S. 815. 819. 828.) Auch Fürſt Bismarck erklärte in der Com-
miſſion des Reichstages: „Der Begriff eines Reichslandes ſei mit dem eines
ſelbſtſtändigen Staatsweſens nicht congruent.“ (Zweiter Bericht v. 1. Juni 1871.
Druckſachen Nr. 169. S. 6.) In der Literatur des Deutſchen Reichsrechts
vertritt nur Seydel Comment. S. 31 die Anſicht, daß das Reichsland ein
Staat ſei. Da er davon ausgeht, daß das Deutſche Reich kein Geſammt-
ſtaat, ſondern eine Verbindung von Staaten ſei, ſo war es für ihn ein Gebot
der Logik, auch das Reichsland als Staat aufzufaſſen.
1).
1871, der Tag der Ratiſikation des Präliminar-Friedens. Vgl. Löning a. a. O.
S. 182 fg.
1).
Eine Folge dieſes [Unterſchiedes] iſt die, daß Beleidigungen eines Mit-
gliedes des Preußiſchen Königshauſes, welche von Nicht-Preußen in Elſaß-
Lothringen verübt werden, nicht nach §§. 96. 97 des R.-St.-G.-B.’s, ſondern
nach §. 185 ff. zu beurtheilen ſind. Vgl. das Urtheil des R.-Oberhan-
dels-Gerichts
als Kaſſationshofes für E.-L. vom 15. Mai 1874 in
Puchelt’s Zeitſchrift f. franzöſ. Civilrecht Bd. V. S. 128 fg.
2).
Löning a. a. O. S. 185. Mitſcher a. a. O. S. 273.
3).
Auch nicht „eine Art Monarchie“, wie Mitſcher S. 279 ſagt und
einige Mitglieder des Reichstages bei der Berathung des Vereinigungs-Geſetzes
anzunehmen ſchienen, ſo namentlich v. Treitſchke und Römer. Mit dieſem
Ausdrucke ſollte wohl nur der Gegenſatz gegen die republikaniſche Verfaſſungs-
form angedeutet werden.
4).
Vgl. auch Meyer Erörterungen S. 49; aber nicht, wie Seydel
S. 31. 93 annimmt, die deutſchen Souveräne als socii. Derſelbe begriffliche
Gegenſatz wie zwiſchen Bundesgliedern und Reichsland beſteht in dem Staats-
recht der Nordamerikaniſchen Union zwiſchen Staaten und Territorien. Vrgl.
darüber Rüttimann Nordamer. Bundesſtaatsr. II. 2. S. 236 fg.
1).
Geſ. v. 9. Juni 1871 §. 3. Abſ. 4. Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 8.
1).
Beiſpiele ſind der Vertrag mit Luxemburg v. 3. Juli 1872 über die
Auslieferung flüchtiger Verbrecher. (G.-Bl. S. 565); die Vereinbarung mit
Oeſterreich-Ungarn über die Verpflegung erkrankter und die Uebernahme aus-
gewieſener Landesangehöriger v. 29. April 1874 (G.-Bl. S. 13); das Protok.
v. 7. Okt. 1874 über die Feſtſetzung der Diöceſangrenzen zwiſchen Deutſchland
und Frankreich (G.-Bl. S. 33).
2).
Hierhin gehört z. B. eine Vereinbarung mit Preußen über die Reviſion
der zwiſchen Saarbrücken und Elſaß-Lothringen cirkulirenden Schiffe.
3).
Von Bedeutung wird in dieſer Beziehung die finanzielle Selbſtſtändig-
keit des Reichslandes. Vgl. unten §. 55. S. 606.
1).
Geſ. v. 9. Juni 1871 §. 4. — Der Oberpräſident von Elſaß-Lothringen
ſteht unter dem Reichskanzler. Geſ. v. 30. Dezbr. 1871 §. 4 (G.-Bl. f. E.-L.
1872 S. 51.) — Der Reichskanzler iſt die oberſte Forſtbehörde. Geſetz vom
30. Dez. 1871 §. 1. (G.-Bl. f. E.-L. 1872 S. 57.) — Die Univerſität Straßburg
ſteht unter der oberen Leitung und Aufſicht des Reichskanzlers. Geſ. v. 28. April
1872 §. 3. (G.-Bl. S. 166.) — Der Reichskanzler iſt die oberſte Bergbehörde.
Geſ. v. 16. Dez. 1873 §. 167. (G.-Bl. S. 426.)
2).
Der §. 4 des Geſ. v. 9. Juni 1871 iſt wörtlich dem Art. 17 der R.-V.
entnommen, nur mit Hinweglaſſung der Vorſchrift, daß die Anordnungen und
Verfügungen des Kaiſers „im Namen des Reiches erlaſſen werden.“
1).
Vgl. oben S. 291 über den Unterſchied, welcher zwiſchen dem Geſchäfts-
kreis des Bundesraths-Ausſchuſſes für E.-L. und den Geſchäftskreiſen der übri-
gen Ausſchüſſe beſteht.
2).
Das Geſ. v. 30. Dez. 1871 über die Einrichtung der Verwaltung (G.-
Bl. 1872 S. 49) ſpricht im §. 5 ganz richtig von „Behörden der Landesver-
waltung“; d. h. es ſind Reichs behörden zum Zwecke der Landesverwal-
tung.
3).
Bis zu dieſem Zeitpunkt war die Geſetzgebung dem Kaiſer delegirt,
welcher bei Ausübung dieſes Rechtes an die Zuſtimmung des Bundesrathes
gebunden war. Geſ. v. 9. Juni 1871 §. 3. Abſ. 2.
1).
Es iſt hier nur die Rede von der Geſetzgebungs-Gewalt; das Verhält-
niß der Reichsgeſetze zu den Landesgeſetzen in Elſaß-Lothringen bietet noch zu
anderen Fragen Anlaß, über welche unten das Kapitel von der Geſetzgebung
des Reiches zu vergleichen iſt.
1).
Vrgl. Löning a. a. O. S. 189 fg. Mitſcher a. a. O. S. 277.
Eine ausdrückliche geſetzliche Anerkennung, daß franzöſ. Geſetze, welche die
Befugniſſe der Miniſterien regeln, in Elſaß-Lothringen „in Geltung ſtehen“,
enthält das Geſ. v. 30. Dez. 1871 §. 6 letzter Abſatz. (G.-Bl. 1872 S. 52.)
2).
Vgl. die Motive zum Vereinigungs-Geſetz unter II. und den Kom-
miſſionsbericht
des Reichstags zu Abſ. 3 des §. 2. Ferner erklärte Fürſt
von Bismarck in der Reichstagsſitzung v. 3. Juni 1871, es ſei ſein Wunſch,
daß die verbündeten Regierungen im Bundesrathe Elſäßer Mitglieder mit
conſultativem Votum
zulaſſen. (Stenogr. Ber. S. 1001.)
3).
R.-G.-Bl. S. 219.
1).
Der Beſchluß des Bundesrathes v. 19. Febr. 1875 giebt jedoch Elſaß-
Lothringen einen Antheil an der Zuſammenſetzung der Reichsſchulkommiſſion.
Siehe oben S. 324. Es iſt dies bis jetzt der einzige Fall, in welchem das
Reichsland in nicht finanziellen Angelegenheiten wie ein Gliedſtaat behandelt
wird; er beruht nicht auf einem ſtaatsrechtlichen Prinzip, ſondern iſt eine
Anomalie.
1).
Auch in finanzieller Beziehung macht ſich dieſer Unterſchied geltend.
Vgl. meine Abhandlung über das Finanzrecht des Deutſchen Reichs in Hirth’s
Annalen 1873 S. 512. Seine praktiſche Bedeutung hat er indeſſen eingebüßt,
ſeitdem die Matrikularbeiträge nach der ortsanweſenden Bevölkerung vertheilt
werden. Vgl. §. 55 S. 610.
2).
Urſprünglich war das Reichsland auch von der Branntweinſteuer-Ge-
meinſchaft ausgenommen. Das Geſ. v. 16. Mai 1873 (Geſetzbl. f. Elſ.-Lothr.
S. 67) hat dieſe Sonderſtellung beſeitigt.
3).
Ueber die Matrikularbeiträge ſiehe unten §. 55.
1).
Nach dem im Bezirke Unter-Elſaß im Gebrauche befindlichen Formular
für die Entlaſſungs-Urkunde, wird dem Auswanderer „die Entlaſſung aus der
Landesangehörigkeit von Elſ.-Lothr. ertheilt“; nach dem Formular für die
Naturaliſation: „die Naturaliſation als Landesangehöriger von Elſ.-Lothr.“
In den Formularen für die Benachrichtigungsſchreiben an das Bezirks-Com-
mando heißt es dagegen, daß die Entlaſſung aus der elaß-lothringiſchen Staats-
angehörigkeit ertheilt, reſp. N.N. in den elſaß-lothringiſchen Staatsver-
band
aufgenommen worden ſei.
1).
Entſprechend iſt die Wählbarkeit beſtimmt. „Wählbar iſt jeder Wähler,
welcher in dem Bezirke beziehungsweiſe Kreiſe ſeinen Wohnſitz hat, ſowie jeder
Deutſche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat und ſich im Vollbeſitz
1).
S. oben S. 135. Rüttimann Nordamerikan. Bundesſtaatsr. I. §. 94.
1).
der ſtaatsbürgerlichen Rechte befindet, ſofern er im Bezirke beziehungsweiſe
Kreiſe eine direkte Steuer zahlt.“
1).
An der Mehrzahl der Stellen ſpricht auch der deutſche Text von „Per-
ſonen, welche aus den abgetretenen Landestheilen herſtammen“. Z. B. Art. 2
Abſ. 3. Art. 4. Art. 10. Schlußprotok. Ziff. 1.
2).
Franzöſ. Text: individus originaires des territeires cédés qui seront
devenus sujets allemands.
Aehnlich Art. 15.
1).
Demgemäß hat die franzöſ. Praxis ſtets angenommen, daß, wenn ein
Theil des franzöſiſchen Gebietes an einen andern Staat abgetreten wird, die
Bewohner des abgetretenen Gebietes die Eigenſchaft von Franzoſen verlieren,
wenn ſie ihren Wohnſitz in dem abgetretenen Gebiete beibehalten. Vgl. Dalloz
et Vergé, Code civ. annoté.
Nr. 97 ff zu Art. 17. (Vol. I. p. 65.) Ferner
Löning a. a. O. S. 197, woſelbſt zahlreiche Literatur-Nachweiſungen ge-
geben ſind.
1).
Ueber die Frage, vor welchem Gericht ein Ausländer, der in Frank-
reich weder Domizil noch Aufenthalt (résidence) hat, zu belangen iſt, vgl.
Dalloz et Vergé a. a. O. zu Art. 14 Note 108—115. (Vol I. p. 54.)
2).
Ein Erk. des Kaiſerl. Appell-Hofes zu Colmar vom 5. Novbr.
1874 (Puchelt, Zeitſchr. Bd. V. S. 717) nimmt an, daß alle Deutſchen auf
Grund des Art. 14 Ausländer im Reichslande belangen können, und hat die
Klage eines Handlungshauſes in Mannheim gegen ein Handlungshaus in Lüne-
ville bei dem Handelsgericht in Straßburg für zuläſſig erachtet. Mit demſelben
Rechte könnte ein Deutſcher, der in Leipzig oder Bremen wohnt und in London
mit einem Engländer ein Geſchäft abgeſchloſſen hat, den Engländer vor die
elſäſſ.-lothr. Gerichte ziehen. Es beruht dies auf einer unrichtigen Auslegung
des Art. 3 der R.-V. Dagegen hat der Königl. Appellhof zu Köln
ganz richtig ſtets feſtgehalten, daß das im Art. 14 gewährte Recht nicht jedem
Preußen
, ſondern nur dem Rheinpreußen zuſtehe. Vgl. die Entſchei-
dungen v. 17. Nov. 1842, 27. Januar 1843, 29. April 1844 und beſonders
v. 29. März 1853. (Archiv f. das Civil- und Criminalrecht der preuß. Rhein-
prov. Bd. XXXIV. 1. 83. XXXV. 1. 62. XXXVII. 2. A. 52. XLVIII. 1. 187).
Die Anwendung des Art. 14 gegen Angehörige der Deutſchen Bundesſtaaten
war in Rheinpreußen bereits durch Geſ. v. 2. Mai 1823 (G.-S. S. 106) §. 1
und 7 unter der Bedingung der Reciprocität ausgeſchloſſen worden; es beſtand
daher thatſächlich daſelbſt derſelbe Rechtszuſtand wie er durch den Art. 3 der
R.V. in Elſaß-Lothringen hergeſtellt iſt.
1).
Herr Landgerichtsrath Mitſcher in Straßburg hatte die Güte, mich
auf dieſes Geſetz aufmerkſam zu machen.
2).
Vgl. Heinze Verhältn. des Reichsſtrafrechts zu dem Landesſtrafrecht
S. 45. Uebrigens hat das R.-St.-G.-B. §. 4 Ziff. 3 denſelben Rechtsgrund-
ſatz aufgeſtellt.
3).
Vgl. R.-St.-G.-B. §. 6.
1).
Geſ.-Bl. f. Elſ.-Lothr. S. 85.
2).
R.-G.-Bl. S. 64. Vgl. Stenogr. Berichte des Reichstages. II. Seſſ.
1874/75. S. 956.
3).
Ob zur Zeit der Abtretung des Reichslandes oder zur Zeit des Erlaſſes
jenes Geſetzes kann zweifelhaft ſein. Eine Buchſtaben-Interpretation des Ge-
ſetzes würde zu der letzteren Anſicht führen; ſachliche Gründe ſprechen aber
dafür, unter den Angehörigen v. Elſ.-Lothr. diejenigen Reichsangehörigen zu
verſtehen, welche zur Zeit der Abtretung des Reichslandes in demſelben
ihren Wohnſitz hatten und franzöſiſche Unterthanen waren.
4).
Ebenſo wenig Zuſammenhang mit einer elſaß-lothringiſchen Staats-
angehörigkeit hat die Anordnung im Geſ. v. 24. Januar 1873 §. 3. c, daß das
Wahlrecht und die [Wählbarkeit] ruht: „für Elſaß-Lothringer, welche ſich für die
franzöſ. Nationalität erklärt haben, aber nicht ausgewandert ſind“. Es iſt
1).
Dahin gehört auch das Expropriationsrecht. Vgl. z. B. Geſ. v. 2. Febr.
1872 über die Kriegergrabſtätten §. 4. (G.-Bl. f. Elſ.-Lothr. S. 124.) Ueber
den Umfang, in welchem das Reich in den Gebieten der Einzelſtaaten das Ent-
eignungsrecht hat, vgl. oben §. 22.
2).
Vgl. auch Mitſcher a. a. O. S. 275.
4).
dies eine Strafe für eine politiſche Demonſtration, denn eine Option ohne Aus-
wanderung iſt ohne Rechtswirkung. Vgl. Mitſcher a. a. O. Bd. 34 S. 34.
1).
Vgl. meine Erörterungen hierüber in Hirth’s Annalen 1873 S. 562 ff.
Daſelbſt bin ich jedoch noch der herrſchenden Theorie vom Bundesſtaate, welche
das Weſen derſelben in einer Theilung der Staatsgewalt findet, gefolgt.
Gerade bei der Finanzwirthſchaft tritt die Unrichtigkeit dieſer Theorie am we-
nigſten zu Tage, weil die Souveränetät keine weſentliche Vorausſetzung für
eine eigene Finanzwirthſchaft iſt.
2).
Vgl. Löning a. a. O. S. 187.
3).
Die elſaß-lothringiſchen Eiſenbahnen ſind Reichseigenthum; da-
gegen ermächtigt das Geſ. v. 11. Nov. 1872 (G.-Bl. S. 773) den Reichskanzler
die Tabackfabrik in Straßburg für Rechnung der Landesver-
waltung
zu veräußern.
4).
Geſ. v. 10. Juni 1872 über die Entſchädigung der Inhaber verkäuf-
licher Stellen im Juſtizdienſte. (G.-Bl. S. 171 fg.). §. 20: „Die Entſchä-
digung wird in Obligationen gegeben, welche auf die Landeskaſſe von Elſaß-
Lothringen geſtellt ſind.“ Löning a. a. O. S. 188.
1).
Siehe oben S. 586.
2).
Einen Fall dieſer Art betrifft das Urtheil des Landgerichts Mülhauſen
v. 20. Nov. 1872 in Puchelt’s Zeitſchrift f. Franzöſ. Civilr. IV. S. 189 ff.
Ueber die Frage, in wie weit durch die Abtretung Elſaß-Lothringens Forde-
rungen und Schulden der franzöſ. Staatskaſſe auf die elſ.-lothr. Landeskaſſe
übergegangen ſind, iſt zu vgl. Löning a. a. O. S. 232 ff.
1).
Das Gleiche gilt von der mit der Stadt Lauterburg getroffenen Feſt-
ſetzung wegen Unterhaltung der dortigen Rheinfähre, ſowie von dem zwiſchen
der Landeskaſſe und der Aktien-Geſellſchaft für Boden- und Kommunal-Credit
zu Straßburg beſtehenden Rechtsverhältniß. Wenn das Geſ. v. 7. Dez. 1873
(G.-Bl. S. 393) den zwiſchen der Staatsregierung und der Stadt
Enſisheim am 5. Januar 1870 abgeſchloſſenen Vertrag über den Austauſch von
Grundſtücken der Stadt Enſisheim und des Staats genehmigt, ſo iſt auch hier
in vermögensrechtl. Beziehung an die Stelle des (franzöſiſchen) Staats der
elſaß-lothringiſche Landesfiskus getreten.
2).
Da die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern im Reichsland
größere Koſten verurſacht als die Reichskaſſe dafür erſtattet, ſo iſt der Mehr-
betrag aus der Landeskaſſe zu zahlen. Man iſt auf den Gedanken gekommen,
dies damit abzuwälzen, daß der Art. 36 der R.-V. auf Elſaß-Lothringen nicht
paſſe. Derſelbe ſagt: „Die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Ver-
brauchsſteuern bleibt jedem Bundesſtaate, ſoweit derſelbe ſie bis-
her ausgeübt hat
, innerhalb ſeines Gebietes überlaſſen.“ Das Reichs-
land, ſagt man, ſei kein Bundesſtaat und in keinem Falle habe daſſelbe vor
der Einverleibung in das Reich die Zollverwaltung ausgeübt. Der Art. 36
der R.-V. paßt allerdings ebenſowenig auf das Reichsland, wie die meiſten
anderen Artikel der R.-V., aber die Landeskaſſe von Elſaß-Lothringen hat in
demſelben Umfange die Koſten der Provinzial-Verwaltung zu tragen, wie die
Bundesſtaaten die Koſten der ſtaatlichen Selbſtverwaltung, und Art. 36 der R.-V.
weiſt dem Bereich der letzteren die Erhebung und Verwaltung der Zölle und
Verbrauchsſteuern zu.
1).
Vgl. Etat für Elſaß-Lothringen für 1876. Anlage XII. Einnahme.
Titel 2.
2).
Geſ. v. 15. Okt. 1873. G.-Bl. S. 273.
1).
G.-Bl. 1872 S. 55: „In die Bezirkshauptkaſſe fließen ſämmtliche dem
Staate zukommende Einnahmen des Bezirks.“ Der Grund iſt hier offenbar
ein ſtyliſtiſcher. Man wollte nicht ſagen: In die Bezirkshauptkaſſe fließen
ſämmtliche der Landeshauptkaſſe zukommende Einnahmen.
2).
Etat für 1876. Ausgaben. Kapit. 4 Tit. 4. und Kapit. 13 Tit. 3.
3).
Vgl. Geſ. v. 25. Dez. 1874. §. 4. (G.-Bl. S. 58.)
1).
Vgl. Bundes raths-Protokoll 1874 §. 179.
2).
Bei den Volkszählungen wird allerdings auch die ſtaatsangehörige Be-
völkerung gezählt und auch für Elſaß-Lothringen iſt bei der Volkszählung am
1. Dez. 1875 dieſe Ermittelung vorgenommen worden. Dieſelbe iſt aber völlig
unzuverläſſig und werthlos. Denn die Beantwortung der Frage, welchem
Staate man angehört, ſetzt juriſtiſche Kenntniſſe voraus, die nur ein verſchwin-
dend kleiner Theil der Perſonen, welche darüber Auskunft geben ſollen, oder
der Zähler, welche dieſe Auskunft fordern, beſitzt. Die mit der Controle der
Zählung beauftragten Behörden ſind aber nur in ſehr ſeltenen Fällen im
Stande, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Angabe in den Zählkarten zu
prüfen. Uebrigens legt die Regierung ſelbſt auf die juriſtiſch richtige Beant-
wortung dieſer Frage offenbar kein Gewicht, denn in der Inſtruktion für
die Zähler, welche der Oberpräſident für die Volkszählung in Elſaß-Lothringen
am 26. Sept. 1875 erlaſſen hat, iſt im §. 8 angeordnet, daß alle Landes-
beamten
als Elſaß-Lothringer einzutragen ſind, während es doch
unzweifelhaft iſt, daß der Angehörige eines Deutſchen Staates durch ſeine An-
ſtellung in der elſaß-lothringiſchen Landesverwaltung keine Aenderung ſeiner
Staatsangehörigkeit erfährt.
1).
Daſſelbe gilt von der Eiſenacher Konvention vom 11. Juli 1853.
Bekanntmachung des Reichskanzlers v. 16. Januar 1874. (G.-Bl. S. 1.) Auch
Oeſterreich gegenüber kommen dieſelben Grundſätze zur Anwendung. Be-
kanntm. v. 29. April 1874. (G.-Bl. S. 13.)
1).
Ueber die Gründe, aus denen die Vereinigung der beiden Verwaltungen
erfolgt iſt, giebt eine Denkſchrift Auskunft, welche dem Etats-Geſetzentwurf
f. 1876 Anlage XIII. S. 35 fg. beigefügt iſt. Der Hauptgrund iſt das un-
günſtige finanzielle Ergebniß der Reichs-Telegraphen-Verwaltung. Die Denk-
ſchrift iſt auch im Deutſchen Poſtarchiv 1875 Nr. 17 S. 509 ff. abgedruckt.
1).
Dieſe 3 Behörden treten demnach den S. 326 Note 2 aufgeführten Be-
hörden zu, während die S. 327 Note 1 erwähnten Behörden ſeit dem 1. Jan.
1876 in Wegfall gekommen ſind. Auch iſt die beſondere Stellung, welche bis-
her das Oberpoſtamt in Lübeck hatte, beſeitigt worden.
2).
Vgl. die erwähnte Denkſchrift.
3).
Der Entwurf der Verordnung iſt dem Reichstage mit dem Etat ſelbſt
vorgelegt worden. Anlage V. S. 91.
1).
Nach dem Etat für 1876 (Anlage V. S. 15) ſind in Ausſicht genommen
3 Agenturen I. Ranges in Neufahrwaſſer, Swinemünde und Bremerhafen und
12 Agenturen II. Ranges.
2).
Nach dem Etat für 1876 a. a. O. ſollen 4 Normal-Beobachtungs-Sta-
tionen und 42 Signalſtationen errichtet werden.
Notes
*
Ausführliche Literatur-Angaben über den Norddeutſchen Bund und das
deutſche Reich enthalten die „deutſchen Monatshefte des Reichsan-
zeigers
.“ Bd. III. (1874) S. 55 fg.
Ferner Mühlbrecht, Allgemeine Bibliographie der Staats- und Rechts-
wiſſenſchaft.
W. N. Schulze, Die reichsrechtl. Literatur ſeit Entſtehung des norddeutſchen
Bundes, 1867 bis Ende 1874. Leipz. 1875.
Eine treffliche zuſammenfaſſende Darſtellung der Literatur des Reichsrechts
hat v. Pözl in der kritiſchen Vierteljahresſchrift Bd. XVI. S. 63 ff. 161 ff.
gegeben.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn90.0