zur
Architectonic,
Theorie
des
Einfachen und des Erſten
in der
philoſophiſchen und mathematiſchen
Erkenntniß,
bey Johann Friedrich Hartknoch.1771.
[[II]][[III]]
Vorrede.
Was ich hier unter dem Titel einer An-
lage zur Architectonic liefere, hat im
geringſten nicht die Abſicht, andere
Schriften aͤhnlichen Jnhalts ent-
behrlich zu machen. Man kann das ganze Werk
als eine durchaus aufs neue vorgenommene
Unterſuchung der metaphyſiſchen Grund-
lehren anſehen, dergleichen wohl auch kuͤnftig
noch von anderen werden angeſtellet werden.
Die Ordnung des Vortrages der metaphyſiſchen,
ſo wie anderer Lehren iſt lineaͤr, das will ſagen,
die Natur der Sprache bringt es mit, daß die
Begriffe ſo wie die Worte in einer ganz einfa-
chen Reihe auf einander folgen. Daher aber
iſt es unvermeidlich, daß Saͤtze, die in anderen
Abſichten zuſammen gehoͤren, in derjenigen Ab-
ſicht, welcher zu gefallen der Vortrag eingerich-
tet iſt, zerſtreuet ſind, ſo daß man, um ſie zu-
ſammen zu bringen, eine ganz andere Ordnung
des Vortrages waͤhlen muß. Da nun beſon-
a 2ders
[IV]Vorrede.
ders die erſten Grundbegriffe der Erkenntniß
nach unzaͤhlichen Abſichten anders und wieder-
um anders combinirt und zuſammen genommen
werden koͤnnen, ſo iſt ſichs gar nicht zu verwun-
dern, wenn bereits ſchon mehrere Lehrgebaͤude
der Grundlehre zum Vorſchein gekommen, wo
jeder Verfaſſer einen ihm eigenen Weg genom-
men, und wo der Unterſchied mehr in der Ord-
nung und der Wahl der Ausdruͤcke als in der
Sache ſelbſt liegt. Jndeſſen kann immer eines
beſſer ſeyn als das andere, und uͤberdieß fehlet
es noch an Klagen uͤber die Maͤngel der Meta-
phyſic nicht, daß nicht jeder, welcher ſelbſt dar-
uͤber nachdenken will, Stoff genug finden ſollte.
Beſonders ſind mehrere metaphyſiſche Begriffe
von ſolchem Umfange, daß man ſie in ſehr vielen
und ſehr verſchiedenen Faͤllen muß gefunden und
erkennet haben, ehe man ſagen kann, daß man
ſie genau kenne. Und ſo genau ſie auch jemand
kennen mag, ſo ſchwer iſt es, ſie andern eben
ſo genau beyzubringen, dafern man ſie nicht
in eben die Umſtaͤnde ſetzen, und ſie durch
alle die Faͤlle durchfuͤhren kann, die zur ge-
nauen Beſtimmung noͤthig ſind. Man begreift
hieraus, wie ſehr es leicht iſt, die Worte ohne
die Begriffe zu lernen. So hat uns Ariſtote-
les das Wort aber nicht den Begriff hinterlaſſen,
den er Entelechia nennete. Eben ſo mag der
erſte, ſo das Wort Subſtanz gebraucht hat, et-
was richtiges und erhebliches dabey gedacht ha-
ben.
[V]Vorrede.
ben. Man weiß aber, wie ſehr einige ſeiner
Nachfolger, z. E. Carteſius, Spinoſa ꝛc. den
eigentlichen Begriff verfehlten. Eben ſo iſt auch
das Wort Form mit Vieldeutigkeiten uͤberladen
worden, und man hat Muͤhe den urſpruͤnglich
damit verbundenen metaphyſiſchen Begriff wie-
der vorzufinden, zumal da einige Nebenbegriffe
ebenfalls erheblich ſind.
Betrachtungen von dieſer Art veranlaßten
mich, eigene Unterſuchungen anzuſtellen, und ich
kann ſie im engſten Verſtande eigene Unterſu-
chungen nennen. Jch ſchrieb dieſes Werk im
Jahre 1764, kurz nach dem ich zu Berlin ange-
kommen, und ohne damals ein ander metaphyſi-
ſches Buch, als Baumgartens ſeine Metaphy-
ſic bey der Hand zu haben. Jnzwiſchen wurde
mein Organon abgedruckt, und ſo konnte ich,
was ich daraus zu meinen Unterſuchungen
brauchbar fand, nachſchlagen, weil ich darinn
ſchon verſchiedenes vorgearbeitet hatte. Das
BaumgartenſcheCompendium wurde mir
waͤhrenden Unterſuchungen immer unbrauchba-
rer. Baumgarten giebt Definitionen von ſei-
nen ontologiſchen Begriffen und nicht viel an-
ders. Ueberdieß ſind mehrentheils nur einzelne
Woͤrter, ſelten die in ganzen Redensarten
liegende Begriffe definirt worden. Auch blieb
mir immer die Frage: woher die Begriffe ſind,
wie man dazu gelange, und wohin ſie end-
lich unmittelbar dienen? ſelbſt zu eroͤrtern.
a 3Die
[VI]Vorrede.
Die Arbeit war nicht leicht, und faſt jeder Be-
griff forderte eine beſondere Methode. Bald
mußte ich ihn aus ſehr vielen Beyſpielen, be-
ſondern Faͤllen und Redensarten herauszie-
hen. Bald gehoͤrete er mit mehrern andern Be-
griffen in eine Claſſe oder in ein beſonderes Sy-
ſtem, und da mußte das, was in der Claſſe oder
in dem Syſteme das Einfachſte, das Erſte,
das von dem uͤbrigen Unabhaͤngigſte war, her-
vorgeſuchet und dann auf die Probe geſetzt wer-
den. Bald mußte die Etymologie zu Rathe
gezogen werden, um mit der aͤchten Ableitung
und Bedeutung des Wortes die Herkunft und
erſte Entſtehensart des Begriffes zu finden,
und zu ſehen, wiefern man in den Sprachen da-
bey geblieben oder davon abgewichen. Bald
mußte ich aus der abſtracten Jntellectualwelt in
die Koͤrperwelt zuruͤcke kehren, und das Bild
genauer beſehen, deſſen Namen zur Bezeichnung
eines abſtracten Begriffes gebraucht worden.
Und ſo oft es dabey ſtufenweiſe gieng, ſo muß-
ten auch die verſchiedenen Stufen, durch welche
das Wort immer mehr metaphoriſch gewor-
den, aufgeſuchet werden. Zuweilen mußte ich
bey der Abſicht anfangen, wohin endlich die
Theorie des Begriffes dienen ſolle, um genauer
zu ſehen, ob die Abſicht etwas reelles hat, und
wiefern ſie den Umfang des Begriffes beſtimmt.
Nun kam es immer auf vorlaͤufige Verſuche
an, um endlich zu finden, welche von dieſen Me-
thoden
[VII]Vorrede.
thoden angehen wuͤrde. Zu dieſem Ende ſchrieb ich
in kurzen Saͤtzen bey jedem Begriffe auf, was mir
daruͤber erhebliches und zur Aufklaͤrung dienliches
in Sinn kam. Beyſpiele, beſondere Faͤlle, Re-
densarten, Saͤtze, Fragen, Zweifel, Viel-
deutigkeiten, Etymologie, Synonymen,
aͤhnliche Begriffe, Metaphern, Bilder ꝛc.
Alles dieſes wurde, ſo wie es mir beyfiel, kurz
aufgezeichnet, und ſo konnte ich es zuſammen
uͤberdenken, und ſehen, von welcher Seite her
die Sache ſich aufklaͤren wuͤrde. Dadurch
wurde zugleich die Art und die Anordnung
des Vortrages beſtimmt. Man wird daher zu
den erſt erwaͤhnten Methoden in dem Werke
ſelbſt mehrere Beyſpiele finden, und daraus auf
mehrere Arten ſehen koͤnnen, wie abſtracte Be-
griffe nach ihren verſchiedenen Entſtehens-
arten, Veranlaſſungen, Abſichten, Beſchaf-
fenheiten ꝛc. zu behandeln ſind. Man wird
ebenfalls daraus fehen, wie ſehr dieſes Verfah-
ren von demjenigen abgeht, wo man ſich begnuͤg-
te, mit Definitionen anzufangen, die meiſtens
Nominal oder von aͤußern Verhaͤltniſſen herge-
nommen waren, und die immer etwas willkuͤhr-
liches zu haben ſchienen. Beſonders wird man
die einfachen und erſten Begriffe unſerer Er-
kenntniß durch die haͤufige und nicht immer
voraus zu vermuthende Anwendung in ein
ſolches Licht geſetzt, und ſo nothwendig ge-
macht, auch die Abhaͤnglichkeit jeder Theile der
a 4Erkennt-
[VIII]Vorrede.
Erkenntniß von denſelben ſo angezeiget finden,
daß ich hoffen kann, man werde ſich kuͤnftig, um
ſie aufzuſuchen, kenntlich zu machen und anzu-
wenden, immer mehr Muͤhe geben. Man wird
finden, daß ohne dieſe Begriffe, die metaphyſi-
ſchen Knoten nicht aufgeloͤſet, ſondern zerſchnit-
ten oder gar noch mehr verwickelt werden.
Den Vorwurf, daß die Ontologie weiter
nichts als ein philoſophiſches Woͤrterbuch ſey,
habe ich am allerwenigſten zu beſorgen. Jch
ſehe indeſſen dieſen Vorwurf nicht als eine Be-
ſchimpfung an. Denn da ſehr viele ontologiſche
Woͤrter und Saͤtze ſelbſt im gemeinen Leben vor-
kommen, und dieſe Woͤrter in den grammati-
ſchen Woͤrterbuͤchern eben nicht erklaͤret werden,
ſo kann ein eigentliches ontologiſches Lexicon,
ſo wie uͤberhaupt ein philoſophiſches zum Nach-
ſchlagen immer gut gebraucht werden. Jndeſ-
ſen ſoll ein wiſſenſchaftlicher Vortrag der
Grundlehre allerdings mehr als eine bloße Liſte
von Definitionen enthalten. Daran aber feh-
lete es lange Zeit, und ſieht man genauer nach,
ſo findet man ſelbſt auch in neuern Ontologien,
daß kaum irgend ein Hauptſtuͤck zu der ihm
eigenen Abſicht eingerichtet, und oͤfters auch
das, wohin es unmittelbar dienen kann und
ſoll, gar nicht angezeiget iſt. Hingegen wur-
den die meiſten Hauptſtuͤcke der Ontologie zu
entferntern Abſichten eingerichtet, und dadurch
erhielten ſie eine etwas fremde Geſtalt. Viele
Defini-
[IX]Vorrede.
Definitionen waren ganz anders als man ſie na-
tuͤrlicher Weiſe, das will hier ſagen, wenn
man nur die im gemeinen Leben erlangte
Begriffe mit ſich zur Erlernung der Onto-
logie bringt, erwarten konnte. Legte man dieſe
aus dem gemeinen Leben mitgebrachte Begriffe
ab, um ſich an die Ontologiſche zu gewoͤhnen, ſo
war ſehr natuͤrlich der Erfolg dieſer, daß man
die neuerlangten Begriffe im gemeinen Le-
ben nicht brauchen konnte, und dann erſt in
der Pſychologie, Theologie ꝛc. ſahe, warum
die ontologiſchen Begriffe eine anfangs ſo
unerwartete Geſtalt hatten, und wie ſie oͤf-
ters mehr nach den willkuͤhrlichen und erkuͤn-
ſtelten Hypotheſen der Verfaſſer, als nach dem
gemeinen und ordentlichen Menſchenver-
ſtande eingerichtet waren.
Dieſes alles habe ich, und zwar nicht ohne
einige Muͤhe, zu vermeiden geſuchet. Man wird
in dieſem Werke wenige Definitionen, dage-
gen aber deſto haͤufiger die Art und Weiſe
angezeigt finden, wie man, ohne ſich immer
an die Worte zu kehren, zu den Begriffen
und der Kenntniß der Sachen ſelbſt gelan-
gen koͤnne. Und eben ſo habe ich mir Muͤhe
gegeben in jedem Hauptſtuͤcke anzuzeigen, wo-
hin die darinn aufgeklaͤrten und beſtimm-
ten Begriffe unmittelbar dienen koͤnnen.
Fuͤr Anfaͤnger habe ich freylich eigentlich nicht
geſchrieben. Die haͤufigen Beyſpiele aus andern
a 5Wiſſen-
[X]Vorrede.
Wiſſenſchaften, die oͤftern Anzeigen, wie die on-
tologiſchen Begriffe auf ganze Syſtemen fuͤhren
und angewandt werden koͤnnen, ſetzen immer Le-
ſer voraus, die wenigſtens ein philoſophiſches
Compendium durchgangen haben, und in an-
dern Wiſſenſchaften nicht ganz unbewandert ſind.
Denn um ſich in abſtracte Begriffe recht finden
zu koͤnnen, muß man ſich um die minder Abſtra-
cten ſchon gut umgeſehen haben.
Wer nun von ſolchen Leſern, ehe er ſich ent-
ſchließt das Werk ganz zu durchleſen, vorerſt auf
dasjenige ſehen will, was er zu ſeinen eigenen
Unterſuchungen am unmittelbarſten zu durchge-
hen und zu beurtheilen wuͤnſchte, der kann an-
fangen, das jedem Bande vorgeſetzte Verzeichniß
der Hauptſtuͤcke zu durchgehen, um diejenigen
aufzuſuchen, die er vor andern leſen moͤchte. Die
meiſten Hauptſtuͤcke koͤnnen als beſondere Syſte-
men betrachtet, und in ſo fern fuͤr ſich geleſen
werden. Jch kann alſo z. E. einem Liebhaber
der Naturlehre die beyden Hauptſtuͤcke, das 19te
ſo von Urſachen und Wirkungen, und das
21ſte ſo von Zeichen und Bedeutungen han-
delt, zum anfaͤnglichen Durchleſen vorſchlagen.
Er kann ſie immer mit dem, was in andern on-
tologiſchen Schriften davon geſaget wird, ver-
gleichen, und es wird ihm leicht ſeyn zu beur-
theilen, wie ſehr hier alles verſchieden iſt.
Einem Liebhaber der Mathematic werde ich den
ganzen vierten Theil, der die Groͤße zum Ge-
genſtande
[XI]Vorrede.
genſtande hat, nicht nur vorſchlagen, ſondern,
wenn er die Matheſin mit neuen Theilen berei-
chern will, anrathen. Er wird das, was er in
andern Metaphyſiken von der Groͤße geſaget
findet, kaum mehr erkennen, wiewohl ich es im
geringſten nicht durchaus verwerfe. Jn dem
dritten Theile habe ich mir immer angelegen ſeyn
laſſen, die Kraft zu Denken, zu Wollen und
zu Thun oder zu Wirken, jede beſonders zu
nehmen, um was ich daruͤber ſage, der wirkli-
chen Anwendung naͤher zu ruͤcken, und eben
dadurch auch die Grundlehre von Seiten ihrer
Brauchbarkeit zu zeigen. Bey den phyſiſchen
Kraͤften mache ich jedesmal den Anfang, und
ſuch das Tertium comparationis auf, um
ſodann aus der Koͤrperwelt deſto ſicherer und
mit deſto mehrerer Klarheit in die Geiſterwelt
hinuͤber gehen zu koͤnnen. Dieſe Vorerinnerung
machet es begreiflich, wie ich den Weg finde, die
Ontologie mit der Moral und Staatslehre
in eine ſehr unmittelbare Verbindung zu bringen.
Eben ſo wird auch daraus begreiflich, wie ich im
17ten Hauptſtuͤcke, wo das Zuſammenſetzen
unterſuchet wird, dieſe Lehre nicht bloß den ein-
fachen Dingen zugefallen vortrage, wie es in
den Metaphyſiken gewoͤhnlich geſchieht, ſondern
mich bey den Geſetzen zuſammengeſetzter Dinge
umſtaͤndlicher aufhalte, und dieſe Geſetze nicht
bloß auf die Koͤrper, ſondern auch zugleich auf
die zuſammengeſetzten Dinge der Jntelle-
ctual-
[XII]Vorrede.
ctualwelt, das will ſagen auf Gedenkensar-
ten, Glaubensbekenntniſſe, Lehrgebaͤude,
Geſellſchaften, Republiken, Lebensarten ꝛc.
anwende, und die Theorie durchaus von ihrer
brauchbaren Seite zeige. Eben dieſes wird man
auch in dem Zuſatze zum 19ten Hauptſtuͤcke fin-
den, wo von der Form die Rede iſt. Daß das
Recht der Natur eine ihm eigene Metaphy-
ſic habe, ſoll wenigſtens ſeit Puffendorfs Zei-
ten bekannt ſeyn, da derſelbe in ſeinem Natur-
und Voͤlkerrechte damit anfaͤngt, daß er die
Entia moralia betrachtet. Jch habe aber in
neuern Metaphyſiken oder Ontologien nichts er-
hebliches daruͤber gefunden.
Die Betrachtungen uͤber die ſogenannten ma-
teriellen Jdeen, oder uͤber den mit den abſtra-
ctern Begriffen harmonirendenMechanis-
musdes Gehirns finden ſich in dem Werke zer-
ſtreuet, weil ſie in jedem Falle beſonders gemacht
werden, wo es die Betrachtung jedes Begriffes
mit ſich brachte. Sie koͤnnen uͤbrigens als eine
Fortſetzung von dem angeſehen werden, was ich
in der Phaͤnomenologie bey Unterſuchung des
ſinnlichen und des moraliſchen Scheines
davon uͤberhaupt geſaget habe. Und wer
ſich zu ſolchen Unterſuchungen aufgelegt findet,
wird alles mit des Herrn BannetEſſai ana-
lytique ſur les facultés de l’ame vergleichen
koͤnnen.
Zer-
[XIII]Vorrede.
Zerſtreuete Saͤtze zu andern Theorien
wird man uͤbrigens bey Durchleſung des Wer-
kes noch mehrere finden. Sie erſcheinen hier
theils in Form von Beyſpielen, theils in
Form von beſondern Anwendungen, die
durch das, was ich an ſich zu ſagen hatte, ver-
anlaſſet worden.
Der Umſtand, daß ich das Werk bereits 1764
geſchrieben, und es erſt dermalen in Druck ge-
geben, mußte natuͤrlicher Weiſe einige Folgen
nach ſich ziehen. Man ſieht, daß an dem Ho-
raziſchen
‘— nonum prematur in annum’ ()
nicht mehr viel fehlte. Jndeſſen muß ich doch
ſagen, daß ich nur in den zwey erſten Jahren
oͤfterer daran gedacht habe, die mir etwann bey-
fallenden Gedanken noch einzuſchieben, und hin
und wieder noch einige Ausdruͤcke beſtimmter
oder auch zuweilen unbeſtimmter zu machen.
Die im §. 170. eingeſchaltete Anmerkung von
LangensNucleus Logicae Weiſianae iſt eine
der neueſten oder letzten. Jch ſchrieb ſie an
Rand des Papiers, und da der Raum zu enge
war, ſo werde ich hier noch beyfuͤgen, daß ich
kaum begreife, wie dieſes Werk Wolfen unbe-
kannt geblieben, der doch damals lebete, und dem
alles, was auch nur auf eine entferntere Art zu
Leibnitzens Zeichenkunſt dienen konnte, wich-
tig vorkommen mußte.
Die
[XIV]Vorrede.
Die geraume Zeit von ſechs bis ſieben Jah-
ren, da ich das Manuſcript zuruͤck behielt, hatte
aber noch den Erfolg, daß ich verſchiedene dar-
inn kurz angemerkte Theorien, inzwiſchen ſelbſt
ausgefuͤhret habe. So kann man z. E. was ich
im §. 95. ſeqq. und im 13ten Hauptſtuͤcke von
den Geſetzen der Bewegung ſage, viel ausfuͤhr-
licher und theils auch beſtimmter in den An-
merkungen vom Schießpulver, und im zwey-
ten Theile der Beytraͤge zur Mathematic
nachſehen, und eben dieſes habe ich auch von den
§. 842. 875. anzumerken, die ich in bemeldeten
Beytraͤgen in ausfuͤhrlichere Abhandlungen
verwandelt habe. Eben ſo habe ich die Zeich-
nungsarten §. 435 - 460. 479. 570. 586. 591.
in den Actis eruditorum Nov. et Dec. 1765
beſonders abgehandelt. Dieſes iſt auch in An-
ſehung des §. 750. und 764. in den Memoires
der koͤniglichen Akademie zu Berlin von mir
geſchehen.
Jn Anſehung des §. 419. 420. kann ich nun
hier anmerken, daß das daſelbſt aufgeloͤſte Pro-
blem vor einigen Jahren in den Actis erudito-
rum von Herrn Prof. Hennert, denen die das
Leibnitziſche Kraͤftenmaaß behaupten, aufge-
geben worden, ob ſie es aus dieſem Kraͤften-
maaße wuͤrden herleiten koͤnnen. Herr Prof.
Baͤrmann in Wittenberg nahm dieſes auf ſich,
und lieferte in eben den Actis eine Aufloͤſung,
die aber freylich nicht kurz ſeyn konnte. Von
allem
[XV]Vorrede.
allem dem war mir 1764 nichts bekannt, indeſ-
ſen koͤmmt meine Aufloͤſung mit der Hennert-
ſchen meiſtens uͤberein, ſo wie ſie uͤberhaupt ſich
am natuͤrlichſten darbiethet.
Den §. 161. habe ich ebenfalls nach bereits ge-
ſchriebenem Werke umgeaͤndert, da ich eine Weile
nicht finden konnte, warum alles, was ich uͤber
das Allgemeine und Beſondere zu ſagen fand,
vielmehr logiſch als ontologiſch war. Die
Antwort, ſo ich endlich gefunden, wurde am
fuͤglichſten in bemeldetem §. 161. eingeruͤcket, da
ſie mir zur Rechtfertigung dienen kann, warum
das fuͤnfte Hauptſtuͤck nicht anders aus-
gefallen iſt. Eine aͤhnliche Anmerkung muß
ich auch in Anſehung des ſiebenten Hauptſtuͤckes
machen, ſo fern naͤmlich das Seyn (eſſe) von
dem Seyn (exiſtere) verſchieden, und jenes
mehr logiſch, dieſes mehr phyſiſch und meta-
phyſiſch iſt.
Jn Anſehung des letzten Hauptſtuͤckes, welches
Betrachtungen uͤber das Unendliche enthaͤlt,
war ich lange unentſchloſſen, ob ich es beyfuͤgen
wollte, weil es mir vorkam, daß daſſelbe mehr in
der Mathematic als in der Metaphyſic von
einigem Gebrauche ſey. Der Unterſchied des
Gebrauches, den man in dieſen beyden Wiſſen-
ſchaften vom Unendlichen machet, und die Be-
muͤhung das Widerſinnige in den Ausdruͤcken
zu heben, machte endlich, daß ich ſo viel mit-
nahm,
[XVI]Vorrede.
nahm, als ich zu mehrerer Aufklaͤrung der
Sache dienlich fand. Die Metaphyſic iſt
ohnehin eine Wiſſenſchaft, die man ſich nicht an-
heiſchig machen kann, in einer fuͤrgegebenen
Zeit durchaus aufzuklaͤren, oder ſie bis auf
eine mit dem Verleger accordirte Leipziger Meſſe
ins reine zu bringen. Sie wird immer der
Nachwelt noch zu thun geben. Jnzwiſchen
kann man Materialien zu einem kuͤnftigen
Lehrgebaͤude derſelben liefern, und dabey iſt
es ſehr gut, wenn man unbeſtimmt laͤßt, was
man zur Zeit noch nicht beſtimmen kann.
Endlich gehoͤret auch der Begriff Form mit
unter diejenige, die ich mir nicht, ſo viel ich
wuͤnſchte, aufklaͤren konnte. Es war nicht ſo-
wohl darum zu thun, was die Form iſt, als
was zur Form gehoͤret. Der haͤufige Ge-
brauch, den ich ſelbſt auch von dem Worte Form
mache, zeigte mir, daß die Aufklaͤrung dieſes
Begriffes von gutem Nutzen ſeyn wuͤrde.
Da mir aber lange nichts dazu dienendes vor-
kam noch beyfiel, ſo ließ ich ganz natuͤrlicher
Weiſe, eine Theorie weg, die ich nicht finden
konnte. Jnzwiſchen fuhr ich fort auf alle Um-
ſtaͤnde Acht zu haben, worinn ich, ſelbſt auch im
gemeinen Umgange das Wort Form brauchte.
Was ich endlich aus ſolchen Bemerkungen her-
ausbringen konnte, habe ich dem neunzehnten
Hauptſtuͤcke als einen Zuſatz, oder in Form
eines
[XVII]Vorrede.
eines Zuſatzes angehaͤnget, und glaube, damit
das Brauchbare, ſo in dem Begriffe Form
liegt, ſo ziemlich mitgenommen zu haben. Uebri-
gens trugen theils die ſchwankende Bedeu-
tung des Wortes, theils die vielerley eben-
falls ſchwankenden Erklaͤrungen deſſelben,
nicht wenig dazu bey, daß ich Muͤhe hatte zu
finden, worinn eigentlich der Begriff zu ſu-
chen ſey. Piſcator in ſeinen Animaduerſio-
nibus in P. Rami Dialecticam gab mir den naͤ-
hern Anlaß, auf die Sache zu kommen. Der-
ſelbe hatte uͤberhaupt in abſtracten Dingen ſehr
aufgeklaͤrte Begriffe, und man kann ſagen, daß
Ramus eines ſolchen Auslegers bedurfte. Auch
eignet ſich Piſcator mit gutem Rechte zu, daß
er zuerſt eine Analy ſin Soritis gegeben. Von
der Form ſind ſeine Worte: Forma proprie
corporis eſt, et alias figura item ſpecies
nominatur. Graece μοϱφη`, χῄμα, [ϵ]ῖδος,
germanice, die Geſtalt. Quia autem formae
corporum maxime artificialium eis ſuum eſſe
dant; ita vt eiusdem materiae corpora formis
inter ſe eſſentialiter diſtinguantur: factum
hinc eſt vt dialectici per ſynecdochen ſpeciei,
formam appellarint omne id quod rei ſuum
eſſe dat, quoque res a ceteris rebus eſſentia-
liter diſtinguitur, \&c. Dieſes zeiget ganz nett
an, wie der Begriff Form erweitert, abſtract
und tranſcendent gemacht worden. Es iſt
auch gerade diejenige Ordnung, deren man in
Lamb. Archit.I.B. bAuf-
[XVIII]Vorrede.
Aufklaͤrung abſtracter und tranſcendenter Be-
griffe folgen muß, weil dadurch die Entſtehens-
art derſelben deutlich gemacht wird. Jn vor-
erwaͤhntem Nucleo Logicae Weiſianae ſieht
Lange die Form als eine Urſache an, und ſa-
get, ſie ſey materiam eſſentialiter modificatam
reddens. Alſo wuͤrde die Form in der Sache
ſelbſt der complexus modificationum eſſentia-
lium ſeyn. Die Hauptfrage war aber immer,
dieſe Modificationen ſelbſt kenntlich zu machen
und vorzuzaͤhlen. Denn darauf koͤmmt in
practiſchen Dingen das Brauchbare des Be-
griffes an.
Ueber den Begriff der Qualitaͤt hat ſich mir
nichts dargebothen, das zu einer beſondern und
brauchbaren Theorie deſſelben hinreichend waͤre.
Ariſtoteles erklaͤret die Qualitaͤt durch das
Quale, und hat darinn nicht ſo ganz unrecht.
Es liegt in dem Begriffe etwas ganz einfaches,
welches wir ſehr klar aber auch nicht mehr als
klar denken. Die Qualitaͤt wird der Quan-
titaͤt entgegengeſetzt, und ſowohl von den blo-
ßen Verhaͤltniſſen, als von der Sache und
ihren Theilen unterſchieden. Daraus folget,
daß die eigentlich ſogenannten Qualitaͤten die
einfachen und fuͤr ſich gedenkbaren Eigenſchaften
in den Dingen ſind. Man nimmt aber im ge-
meinen Gebrauche zu reden, die Sache nicht ſo
genau, und die wahren innern Eigenſchaften der
Dinge ſind noch viel zu unbekannt, als daß ſich
an
[XIX]Vorrede.
an eine aͤchte Theorie ſollte gedenken laſſen.
Jn den meiſten Faͤllen, wo das Wort gebraucht
wird, zeiget man dadurch hoͤchſtens nur ein Ge-
miſche von Qualitaͤten, Verhaͤltniſſen und Ver-
bindungen, nicht aber einzelne und wahre Qua-
litaͤten an. So geht es beſonders auch in der
Lehre von der Aehnlichkeit der Dinge, wenn
man ſaget, daß dieſe in der Jdentitate qualita-
tum beſtehe. Mir ſcheint dieſes nur in Anſe-
hung der Aehnlichkeit und Gleichartigkeit der ein-
fachen Beſtandtheile richtig zu ſeyn. Denn bey
zuſammengeſetzten Dingen traͤgt auch die Jden-
titaͤt der Zuſammenſetzungsart zu ihrer Aehnlich-
keit viel mit bey. Man wird uͤbrigens in vor-
hin erwaͤhntem Stuͤcke Act. Erudit. Nov. et
Dec. 1765. noch verſchiedenes hieher gehoͤriges
finden.
Jn dem ein und zwanzigſten Hauptſtuͤcke ha-
be ich gleich anfangs angezeiget, warum ich da-
ſelbſt nur von den ſogenannten natuͤrlichen
Zeichen gehandelt, weil ich die willkuͤhrlichen
bereits in dem Organon vorgenommen. Jn-
deſſen koͤmmt ſeit Wolfen in den Ontologien
gewoͤhnlich auch von der Leibnitziſchen Zei-
chenkunſt wenigſtens eine Worterklaͤrung, nebſt
dem Zuſatze vor, daß ſie ebenfalls ſtatt einer
philoſophiſchen Sprache dienen wuͤrde, wenn
ſie einmal erfunden waͤre, und daß ſie noch eine
Verbindungskunſt der Zeichen erfordere, end-
lich, daß die Algeber ein beſonderer Theil der-
b 2ſelben
[XX]Vorrede.
ſelben ſey. Kruͤger in ſeinen Gedanken von
der Algebra ſaget, daß er ſich einige, wiewohl
fruchtloſe, Muͤhe gegeben, in den ontologiſchen
Begriffen etwas dazu dienendes zu finden.
Herr Toennies gab ſich dieſe Muͤhe ebenfalls,
und machte in ſeiner Diſputation de Logica ad
exemplar arithmeticae inſtituenda verſchiede-
nes von dem, was er dabey gefunden, bekannt.
Er zeiget ſehr ausfuͤhrlich in einem Beyſpiele,
daß durch behoͤrige Combination einiger onto-
logiſchen Grundbegriffe, die uͤbrigen beſtimmt
und heraus gebracht werden koͤnnen. Darauf
giebt er eine andere Auswahl von Grundbegrif-
fen an, und bringt mehrere Bemerkungen bey,
die von vieler Aufmerkſamkeit auf die Sache
zeugen, und Stoff zu fernerm Nachdenken ge-
ben koͤnnen. Die Diſputation kam 1753 heraus.
Sie wurde mir aber erſt 1767 bekannt. Jm
folgenden Jahre 1768 erſchien ſeine Grammatica
vniuerſalis, woraus ich pag. 57. ſah, daß der
Herr Verfaſſer noch immer bey eben den Ge-
danken geblieben, und ſie in letzterer Schrift
beſonders auf die Sprache anwendet. Jn Pie-
mont fand ſich Herr Richer, der in den Mi-
ſcellaneis Taurinenſibus ebenfalls eine Probe
gegeben, wie er die ontologiſchen Begriffe durch
Zeichen auszudruͤcken verſuchet hat. Dieſe Pro-
be ſchien mir einige Anmerkungen zu verdienen,
die ich in den Actis eruditorum Mai. et Iun.
1767 bekannt machte.
Jndeſſen
[XXI]Vorrede.
Jndeſſen ſchien die Anwendung der Zeichen-
kunſt auf die Lehre von den Schluͤſſen beſſer zu
gelingen. Von LangensNucleus Log. Weiſſ.
habe ich bereits Erwaͤhnung gethan. Herr
von Segner hat in ſeinem Specimen Logicae
vniuerſaliter demonſtratae ebenfalls ſchickliche
Zeichnungen gebraucht. Herr Euler in ſeinen
Lettres à une Princeſſe d’allemagne verfaͤhrt
ungefaͤhr ſo wie Lange. Herr Ploucquet
nimmt in ſeinem Methodus calculandi in logi-
cis einen neuen Weg, und eben dieſes glaube
ich auch in dem Organon, ſo wie in den Actis
eruditorum a. a. O. gethan zu haben. Was
noch etwann mehr in der Sache geſchehen, iſt
mir nicht bekannt, wiewohl ich mich erinnere
eine alte ſcholaſtiſche Logic mit demonſtrativen
Figuren zu Zuͤrch auf der Waſſerkirche geſehen
zu haben, ohne daß ich ſagen kann, ob dieſe Fi-
guren wiſſenſchaftlich oder nur um der Einbil-
dungskraft zu helfen, in dem Buche gebraucht
werden.
Jch habe in dieſem Werke bey Durchmuſte-
rung der ontologiſchen Begriffe mein Augenmerk
ebenfalls auf ihre Verhaͤltniſſe zur Zeichenkunſt
und Verbindungskunſt der Zeichen gerichtet, in-
zwiſchen aber kein beſonderes Hauptſtuͤck dazu ge-
widmet, ſondern jedesmal, wo es die Sache mit
ſich brachte, angemerket, was dahin dienen kann.
Jnzwiſchen iſt die Sache wichtig genug, daß ich
b 3hier
[XXII]Vorrede.
hier noch einige Betrachtungen daruͤber beyfuͤge,
die die Sache uͤberhaupt betreffen.
Leibnitz ſcheint eigentlich Zeichen verlanget
zu haben, die in Abſicht auf das Quale eben den
Dienſt thun, den die Algeber mit ihren Zeichen
in Abſicht auf das Quantum thut. Es ſollen
alſo Dinge durch ſchickliche Zeichen an und fuͤr
ſich vorgeſtellet werden. Und dann verlanget
man auch Zeichen fuͤr ihre Verhaͤltniſſe, Ver-
bindungen, Beſtimmungen ꝛc. Und dieſe
Zeichen ſollen ſo beſchaffen ſeyn, daß ſie ſtatt der
Dinge ſelbſt dienen, ſo daß, was man mit den
Zeichen vornimmt und vermittelſt derſelben fin-
det, eben ſo gut gefunden ſey, als wenn man
die Dinge ſelbſt vorgenommen haͤtte. Man ſieht
leicht, daß eben dieſes auch von den Begriffen
kann verſtanden werden, und daß man in dieſer
Abſicht wiſſenſchaftliche Zeichen fuͤr die ge-
ſammte Erkenntniß verlangen kann.
Jn dieſer letztern Betrachtung theilen ſich nun
ſolche Zeichen in zwo allgemeine Claſſen. Die
eine gehoͤren zur Form, die andern zur Mate-
rie der Erkenntniß. Jn ſo fern ſind dieſe bey-
den Claſſen von einander auf mehrere Arten ver-
ſchieden. Fuͤr die Form laſſen ſich, ſo viel ich
die Sache einſehe, leichter Zeichen finden, als
fuͤr die Materie. Es ſcheint auch, die Materie
muͤſſe durch Zeichen vorgeſtellet werden, die ge-
wiſſer-
[XXIII]Vorrede.
wiſſermaßen die Sachen vorbilden oder Bilder
der Dinge ſind, weil ſie widrigen Falls ganz
willkuͤhrlich ſeyn wuͤrden, und dann keine andere
Anſpielung auf die Sache haͤtten, als die, ſo ſie
durch ihre Verbindung und durch die die Form
vorſtellende Zeichen erhalten wuͤrden. Die Form
beſtimmt ohnehin keine Materie, dafern ſie nicht
einer beſondern Materie eigen iſt. Sie kann
alſo meiſtens in abſtracto betrachtet werden, und
um ſo mehr iſt ſie allgemeiner Zeichen und einer
allgemeinen Theorie dieſer Zeichen faͤhig.
Die Frage iſt alſo, was zur Form der Er-
kenntniß gerechnet wird. Hieher muß nun be-
ſonders die logiſche Form derſelben gerechnet
werden, ſo fern dieſe, wie es in den neuern Ver-
nunftlehren geſchieht, ſchlechthin nur von den
Operationen des Verſtandes hergenommen
wird. Es giebt ferner ſowohl die Sprache als
der Schein der Dinge unſerer Erkenntniß eine
beſtimmte Form, die aber der Erfindung der
allgemeinen Zeichenkunſt vielmehr hinderlich,
und daher von Seiten dieſer Hinderniſſe zu be-
trachten iſt. Endlich glaube ich mit gutem Grun-
de, die ganze Topik, wenigſtens den groͤßten
Theil davon, theils zur Form der Erkenntniß,
theils zur Form der Dinge rechnen zu koͤnnen.
Jch habe daher in Anſehung der topiſchen Ta-
belle, ſo ich in den Actis eruditorum, Ian. 1768
ſo viel moͤglich vollſtaͤndig gegeben, angemerket,
b 4daß
[XXIV]Vorrede.
daß ſie einen ungezwungenen Anlaß und Stoff
zur Erfindung der Zeichenkunſt darbiethe.
Um noch ferner zu ſehen, was zu thun iſt; ſo
habe ich mir laͤngſt ſchon angelegen ſeyn laſſen, die
Frage von Erfindung der Zeichenkunſt und der
Verbindungskunſt der Zeichen, auf andere Fra-
gen zu reduciren, die theils ſpecialer ſind, theils
vorlaͤufig, oder auch an und fuͤr ſich bejahet oder
verneinet, oder mit behoͤrigen Unterſchieden be-
antwortet werden muͤſſen. Jch werde ſie und zwar
bloß als Fragen herſetzen, ungeachtet ich ſowohl
in dieſem Werke als in vorhin erwaͤhnten Orten
verſchiedenes zu ihrer Beantwortung dienendes
vorgetragen. Es ſind folgende:
- 1°. Ob die Zeichenkunſt in der Sprache
zu ſuchen? - 2°. Ob ein Syſtem der Begriffe dazu
dienen koͤnne? - 3°. Ob die Dinge nach derjenigen Art
koͤnnen gezeichnet werden, wie wir ſie
nach unſerer Vorſtellung zergliedern
und verbinden? - 4°. Wie die Zeichenkunſt nach den vier
Operationen +‒.: muͤßte beſchaffen
ſeyn? - 5°. Ob derCalculus logicus,oder die lo-
giſche Formeln (Man ſehe Act. Erud.
Nov. et Dec. 1767.) in den uͤbrigen
Wiſſen-
[XXV]Vorrede.
Wiſſenſchaften in Abſicht auf die
Form genugſam ſey, und mit Nu-
tzen gebraucht werden koͤnne? - 6°. Ob bey der Form der Erkenntniß
uͤberhaupt eine characteriſtiſche Zeich-
nung und Rechnung angebracht wer-
den koͤnne? - 7°. Ob man durch eine neue Sprache
und Sprachlehre zu einer Art der
Zeichenkunſt gelangen koͤnne? - 8°. Ob nicht dem allgemeinen Calcul eine
der RegelFalſiaͤhnliche Methode, be-
ſonders mit Hypotheſen umzugehen,
vorgehen muͤſſe? - 9°. Ob wir bereits in den nicht mathe-
matiſchen Wiſſenſchaften eineAnaly ſin
haben, welche einAbſtractumvon der-
jenigen ſey, ſo die griechiſchen Mathe-
matiker gebrauchten, (Man ſehe Pap-
pus am Anfange des 7ten Buches.) und
die noch dermalen außer der Algeber
gute Dienſte thut? - 10°. Ob die Abtheilung der Begriffe in
Arten und ſtufenweiſe hoͤhere Gattun-
gen zur allgemeinen Zeichenkunſt ge-
braucht werden koͤnne? - 11°. Ob die Zeichenkunſt bey Begriffen
anfangen muͤſſe, die nach allen Com-
b 5bina-
[XXVI]Vorrede.
binationen verbunden werden koͤn-
nen? - 12°. Ob die Theorie der Urſachen und
Wirkungen, und der Veraͤnderungen
uͤberhaupt die erſten Beyſpiele zum
allgemeinenCalculangeben werde? - 13°. Ob die Verwickelung und das Aus-
einanderleſen verwickelter Begriffe
nach ihren verſchiedenen Arten und
Formen einer Zeichenkunſt faͤhig ſey? - 14°. Ob dieſes nicht auch in Anſehung
verworrener Saͤtze, Beweiſe und Fra-
gen ſtatt habe?
Jch habe dieſe Fragen ſo kurz als moͤglich her-
geſetzt. Man kann ſie auf dieſe Art leichter uͤber-
ſehen, und was ich hin und wieder in dem Werke
ſelbſt vortrage, damit vergleichen, und auch ſelbſt
ſehen, was man zu deren Beantwortung und
fernern Aufklaͤrung oder Zergliederung dienliches
finde, und ſo auch, was bereits gefunden wor-
den. Man ſieht auch leicht, daß dieſe vierzehn
Fragen ungleich mehr beſtimmt ſind, als die von
der Zeichenkunſt uͤberhaupt, und daß ſie daher
auch viel beſtimmtern Stoff zum Nachdenken
geben koͤnnen. Daran ſchien es noch immer zu
fehlen.
Jndeſſen ſind dieſe Fragen eben nicht alle, die
man ſich bey der Sache vorſtellen kann. Man
kann mit leichter Muͤhe noch mehrere, theils da-
von
[XXVII]Vorrede.
von abſtrahiren, theils noch hinzudenken. So
z. E. wenn man in Anſehung der 12ten Frage,
anſtatt der Urſachen und Wirkungen, Mittel
und Abſichten ſetzet, ſo koͤnnen auch daher Bey-
ſpiele zum allgemeinen Calcul genommen wer-
den. Und ſo fern es nur Beyſpiele oder Anwen-
dungen des Calculs auf beſondere Faͤlle und Ar-
ten ſind, kann man ſich uͤberhaupt die Frage
vorlegen; ob man nicht, anſtatt gleich anfangs
den Calcul in ſeiner groͤßten Allgemeinheit auf-
zuſuchen, auf einzelne Theile deſſelben bedacht
ſeyn muͤſſe? Jn Anſehung der Veraͤnderun-
gen, davon in eben der Frage (N°. 12.) Mel-
dung geſchieht, laͤßt ſich die Anmerkung machen,
daß alle Veraͤnderungen eigentlich die Form be-
treffen. Und ſo verfaͤllt man auf das bereits
oben bemerkte, daß die Form leichter als die
Materie eines Calculs faͤhig ſey. Der Leib-
nitziſcheCalculus Situs gehoͤrt als ein beſonderer
Theil mit zur Anwendung des allgemeinen Cal-
culs auf die Form der Dinge, und deren Ver-
aͤnderungen. Man kann ſich auch eben ſo einen
Calcul der Qualitaͤten, des Moͤglichen, des
Wirklichen, des Nothwendigen, der Mittel und
Abſichten, der Anordnung ꝛc. gedenken. Man
kann auch fragen, ob ein ſolcher Calcul, und ſo
auch die Zeichenkunſt nicht immer in ſo beſtimm-
ten Beziehungen muͤſſe genommen und verſtan-
den werden? Denn nach dem §. 717. hat die-
ſes wenigſtens in Abſicht auf dasjenige ſtatt,
was
[XXVIII]Vorrede.
was auszumeſſen und der Groͤße nach zu be-
rechnen iſt.
Da ich mir beſonders Muͤhe gegeben, die in
dem Werke vorgetragene Saͤtze von Seiten ih-
rer Brauchbarkeit zu zeigen, ſo werde ich hier
uͤberhaupt noch anmerken, worinn ich dieſe ge-
ſuchet habe. Dahin gehoͤret demnach 1°. die
Anzeige der beſondern Wiſſenſchaften und ihrer
Theile, wo die vorgetragenen Saͤtze anwendbar
ſind. 2°. Eine Menge aus den beſondern Wiſ-
ſenſchaften genommene Beyſpiele, wodurch be-
meldete Anwendung erlaͤutert wird. 3°. Das
Practiſche, ſo fern die abgehandelten Materien
Aufgaben darbothen, die etwas zu thun ange-
ben. 4°. Das practiſche, ſo fern Aufgaben vor-
kommen, die etwas zu finden, eroͤrtern, un-
terſuchen, beſtimmen ꝛc. angeben. Dieſe
letztere Art von Aufgaben koͤmmt ſehr haͤufig
vor, und wenn man ſie zuſammen nimmt; ſo
machen ſie einen betraͤchtlichen Theil der ange-
wandten Vernunftlehre aus, und geben vie-
len Stoff dazu.
Ueber den Titel des Werkes habe ich nur
das zu bemerken, daß ich das Wort Archi-
tectonic aus Baumgartens Metaphyſic ge-
nommen. Es iſt in ſo fern ein Abſtractum
von der Baukunſt, und hat in Abſicht auf
das Gebaͤude der menſchlichen Erkennt-
niß eine ganz aͤhnliche Bedeutung, zumal,
wenn
[XXIX]Vorrede.
wenn es auf die erſten Fundamente, auf die
erſte Anlage, auf die Materialien und ihre
Zubereitung und Anordnung uͤberhaupt, und
ſo bezogen wird, daß man ſich vorſetzt daraus
ein zweckmaͤßiges Ganzes zu machen.
Da das Werk auswaͤrts abgedruckt worden,
ſo habe ich nicht jeden Bogen vor dem Abdrucke
nochmals uͤberſehen koͤnnen. Die zuruͤckgeblie-
bene Druck- und theils auch Schreibfehler ſind
indeſſen weder zahlreich noch erheblich, und die
meiſten verrathen die dabey noͤthige Aenderung
von ſelbſt. An drey Orten ſteht noch Cahos
anſtatt Chaos. Etlichemal habe ich den Aus-
druck: nicht ſo faſt (welcher in Sachſen nicht
uͤblich, indeſſen aber der Art der deutſchen Spra-
che ganz gemaͤß iſt, und dem Ausdrucke: non
tam,nicht ſo wohl, nicht ſo ſehr, nicht ſo
viel, am naͤchſten koͤmmt) gebraucht. Der
Setzer muß ihn nicht verſtanden haben, weil er
das faſt in feſt verwandelte. Jm 2ten Bande
S. 240. lin. 24. ſind die zwey Comma auszu-
ſtreichen, ſo wie S. 337. l. 11. das Comma nach:
betrachtet. S. 285. ſieht man offenbar, daß
der Punct wegbleiben muß. Und eben ſo muß
erſten Band S. 88. l. ult.werden, und erſten
B. S. 303. l. ult. ſo wie 2ten B. S. 290. l. 17.
ſich ausgeſtrichen werden. Daß S. 459. l. 18.
Vorſtellungen, S. 237. l. 1. Woͤrterbuͤchern,
erſten B. S. 85. §. 464. l. 19. wollenden gele-
ſen
[XXX]Vorrede.
ſen werden muͤſſe, wird man ohne Muͤhe ſehen.
Die uͤbrigen Aenderungen, ſo mir vorgekommen,
ſind folgende.
Jm erſten Bande.
S. 5. l. 10. lies: man an derſelben. S. 9. l. 15.
lies: lag. S. 26. l. 12. lies: Graden und der.
S. 27. l. 14. anſtatt Die lies Sie. S. 78. l. 6. an-
ſtatt angenommen lies angegeben. S. 90. §. 125.
l. 4. anſtatt darum lies darinn. S. 112. §. 155. l. 11.
anſtatt auf lies mit. S. 144. §. 182. l. 13. lies: ge-
waͤhlten. S. 162. §. 200. lin. 1. anſtatt waͤre lies
war. S. 176. l. 16. lies: ſolchen ungleichartigen.
S. 197. ganz unten, anſtatt ſetzte lies ſetzen.
Jm zweyten Bande.
S. 33. l. 17. lies: abcdef. S. 66. l. 4. anſtatt
engern lies eigenen. S. 116. §. 498. l. 8. anſtatt
Subject lies Object. S. 156. l. 4. anſtatt und
lies um. S. 183. l. 13. lies: beyden. S. 211.
§. 591. l. 10. anſtatt \frac{cn}{p} lies \frac{cn}{r}. S. 247. XXII.
l. 17. anſtatt ankoͤmmt lies vorkoͤmmt. S. 254.
§. 615. l. 1. lies: auf ihren. S. 331. l. 17. anſtatt
aus lies an. S. 361. l. 11. anſtatt von lies bey.
S. 364. lin. 1. lies: beſtund oder auch beſtand.
S. 378. §. 757. lin. 12. lies: wo man. S. 387.
§. 767. l. 11. lies: ſeyn. S. 419. §. 769. l. 2. an-
ſtatt Saͤtze lies Sache. S. 454. l. 13. anſtatt nur
lies nun. S. 473. §. 847. l. 5. anſtatt ſie lies ſo.
Jnhalt
[[XXXI]]
Jnhalt
des erſten Bandes.
- Erſter Theil.
Allgemeine Anlage zur Grundlehre.- Erſtes Hauptſtuͤck.
Erforderniſſe einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre. §. 1. - Zweytes Hauptſtuͤck.
Einfache Grundbegriffe und Theile der Grundlehre. §. 45. - Drittes Hauptſtuͤck.
Erſte Grundſaͤtze und Forderungen der Grundlehre. §. 76. - Viertes Hauptſtuͤck.
Grundſaͤtze und Forderungen der Jdentitaͤt. §. 124.
- Erſtes Hauptſtuͤck.
- Zweyter Theil.
Das Jdeale der Grundlehre.- Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
Das Allgemeine und Beſondere. §. 161. - Sechſtes Hauptſtuͤck.
Das Veraͤnderliche und Fortdauernde. §. 207. - Siebentes Hauptſtuͤck.
Das Seyn und das Nicht ſeyn. §. 231. - Achtes Hauptſtuͤck.
Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn. §. 254. - Neuntes Hauptſtuͤck.
Das Nothwendig ſeyn und das Nicht nothwendig ſeyn.
§. 268. - Zehntes Hauptſtuͤck.
Das Wahr ſeyn und das Nicht wahr ſeyn. §. 289. - Eilftes Hauptſtuͤck.
Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn. §. 307. - Zwoͤlftes Hauptſtuͤck.
Das Volle und das Durchgaͤngige. §. 351.
- Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
Erſter[[1]]
Erſter Theil.
Allgemeine Anlage zur Grundlehre.
Erſtes Hauptſtuͤck.
Erforderniſſe einer wiſſenſchaftlichen
Grundlehre.
§. 1.
Es giebt in der menſchlichen Erkenntniß
eine gute Menge von Begriffen, bey
denen man nicht ſagen kann, daß ſie
gewiſſen einzeln Theilen derſelben ei-
gen waͤren, oder nur in beſondern Wiſſenſchaften vor-
kaͤmen. Und eben dieſe Begriffe geben uns Saͤ-
tze und Fragen an, welche gleichfalls bey jeden ein-
zeln Theilen unſerer Erkenntniß anwendbar ſind, und
daher auch großentheils ſchon in der gemeinen oder
nicht wiſſenſchaftlichen Erkenntniß vorkommen.
Wir koͤnnen die Begriffe: Ding, ein, etwas,
moͤglich, wirklich, nothwendig, ganz, Theil,
Eigenſchaft, Groͤße, Ordnung, ſeyn, nicht
ſeyn ꝛc. ingleichem die Saͤtze: Etwas kann nicht
zugleich ſeyn und nicht ſeyn; ein Ding iſt was
Lamb. Archit.I.B. Aes
[2]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
es iſt; alles Wirkliche iſt an ſich moͤglich ꝛc.
und ſo auch die Fragen: Was? wie? warum?
ob? ꝛc. als eben ſo viele Beyſpiele hieher rechnen.
§. 2.
Ariſtoteles, welcher ſich damit beſchaͤfftigte, die
einzeln Theile der menſchlichen Erkenntniß, ſo gut
er nach der damaligen Zeit konnte, in eine wiſſen-
ſchaftliche Form zu bringen, bemerkte dieſe Allge-
meinheit einiger Begriffe, Saͤtze und Fragen, und
ſuchte ſie beſonders heraus zu nehmen, und ſie in ei-
nem Lehrgebaͤude vorzutragen, welches er, oder ſchon
einer ſeiner Vorgaͤnger, Metaphyſic nennete. Die-
ſen Namen hat das Lehrgebaͤude bisher behalten, un-
geachtet es theils der Form nach zuweilen Aenderun-
gen gelitten, theils mit einigen Stuͤcken vermehret
worden.
§. 3.
Die allgemeine Anwendbarkeit eines ſolchen Lehr-
gebaͤudes ſchien viele Vortheile zu verſprechen. Es
ſollte die erſten Gruͤnde der geſammten menſchlichen
Erkenntniß enthalten, und was darinn ein fuͤr alle-
mal ausgemacht und feſtgeſetzt war, das durfte nicht
mehr in jedem vorkommenden Falle aufs neue aus-
gemacht, ſondern ſchlechthin nur angewandt werden.
So ſind die Vorzuͤge der Algeber und Meßkunſt, und
ſo ſollten auch die Vorzuͤge der Metaphyſic ſeyn.
§. 4.
Ariſtoteles ſcheint unſtreitig dieſe Abſicht gehabt
zu haben. Die erſten Schritte ſind immer ſchwer,
und man kann ihm zum Ruhme nachſagen, daß er
die Bahn eroͤffnet, das Eis gebrochen habe. Seine
Nach-
[3]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
Nachfolger, welche die erſte Anlage haͤtten ins Fei-
nere ausarbeiten und weiter gehen ſollen, durften
ſich deswegen nicht daran wagen, weil ſie ſich den
Ariſtoteles, als ein untruͤgliches Orakel vorſtelle-
ten, welches ihnen lauter Wahrheiten und mit einem
Male alle angegeben habe. Sie verwandelten ſeine
Metaphyſic in ein Regiſter von Woͤrtern, Unter-
ſcheidungen und Fragen, welche ſaͤmmtlich mehr diene-
ten, die menſchliche Erkenntniß dunkeler, verworre-
ner und ungewiſſer zu machen, als ihre allgemeine
Gruͤnde in ein helleres Licht zu ſetzen, und ſie der
Anwendung naͤher zu bringen. So bliebe die Meta-
phyſic viele Jahrhunderte, und wurde endlich zum
Gegenſtande des Geſpoͤttes und der Verachtung.
Man ſah ſie, von einer andern und wichtigern Seite
betrachtet, als ein Meer an, wo, wer ſich darauf
wagete, weder ganz hinuͤber noch in den Port zuruͤcke
kommen konnte, und wo man entweder ſich gar nicht
darauf begeben oder ganz durchſetzen mußte.
§. 5.
Ungeachtet man nicht in Abrede ſeyn kann, daß
nicht einige Anhaͤnger des Ariſtoteles beſſeres Licht
ſuchten, ſo war doch Baco der erſte, der die Vor-
urtheile, wohin das von dem Anſehen des Ariſto-
teles mit gehoͤrete, genauer ins Licht ſetzte, und be-
ſonders in der Naturlehre die Erfahrungen, Be-
obachtungen und Verſuche, als Probierſteine und
Quellen einer zuverlaͤßigern Erkenntniß vorſchlug.
Man folgte hierinn ſeinem Vorſchlage, und ſetzte
die Natur an die Stelle des Ariſtoteles, zur Lehre-
rinn. Und dadurch kam die Naturlehre in den beſ-
ſern Zuſtand, in welchem wir ſie dermalen haben.
A 2§. 6.
[4]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
§. 6.
Carteſius gieng einen andern Weg. Er hatte
Dinge vorzutragen, von denen er voraus ſah, daß
man ihm nicht Gehoͤr geben wuͤrde, wenn er nicht
zeigete, daß die damalige Erkenntniß keine ſo durch-
gaͤngige Gewißheit habe, daß jeder Menſch die
Wahrheit, wie von neuem ſuchen muͤſſe, und daß
man damit nicht beſſer fortkomme, als wenn man ſich
bey jedem Satze die Frage vorlege, ob er wahr
oder durchaus wahr ſey? Carteſius erhielt ſeine
Abſicht, und verwandelte die Metaphyſiker in
Zweifler, die endlich auch das Kennzeichen verwar-
fen, woran man, nach Carteſens Meynung, jede
Wahrheit unmittelbar ſollte erkennen koͤnnen. Jn die-
ſer Abſicht hat Baco unſtreitige Vorzuͤge. Er ſchlug
eine Probe vor, die nicht triegen kann. Verſuche ſind
Fragen, die man der Natur vorleget. Die Natur ant-
wortet immer richtig. Man darf ſich nur verſichern,
ob man nicht mehr oder minder oder anders gefraget
habe, als man hatte fragen wollen; das will ſagen,
ob man die Umſtaͤnde des Verſuches richtig gewaͤhlet
habe? Carteſius hingegen zeigte zwar, daß man
in vielen Stuͤcken beſſeres zu ſuchen habe: allein, was
er dafuͤr angab, ſchien ſeinen Nachfolgern die Probe
nicht zu halten. Sie fanden Unſchicklichkeiten und
Widerſpruͤche darinn. Und dieſes iſt immer eine
Probe, daß man aͤndern muͤſſe. Sie giebt aber
nicht an, wie oder worinn die Aenderung vorzu-
nehmen ſey. Man ſehe hieruͤber Dianoiol. §. 379.
§. 7.
Nach dem Carteſius traten Locke und Leibnitz
auf. Jch werde hier dieſe beyde Gelehrten nur in ſo
fern in Vergleichung ſetzen, als von den erſten Gruͤn-
den
[5]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
den der menſchlichen Erkenntniß die Rede iſt, (§. 3.).
Und in dieſer Abſicht kann man ſagen, daß Locke
die menſchlichen Begriffe anatomirt, Leibnitz aber
dieſelben analyſirt habe. Leibnitz naͤmlich betrach-
tete ſie nach den verſchiedenen Stufen der Klarheit,
Deutlichkeit und Vollſtaͤndigkeit, und zeigte, daß
ſich dieſe nach der immer mehrern Entwickelung
der innern Merkmaale richte, ungefaͤhr, wie man
eine Sache um deſto deutlicher ſieht, je kleinere Theile
man derſelben unterſcheiden kann. Bey dieſer Vor-
ſtellungsart wird der Begriff mit der Sache, die
Merkmaale des Begriffes mit den Theilen der Sa-
che verglichen. Soll dieſe Vergleichung durchaus
angehen, ſo folget, daß ein Begriff in immer fei-
nere Merkmaale aufgeloͤſet werden koͤnne, und da
bleibt die Frage, wie weit man darinn gehen ſoll,
unentſchieden, dafern man nicht annimmt, daß die
Sprache aus Mangel der Woͤrter, nothwendig Graͤn-
zen ſetze. Bey dieſer Analyſe nimmt man die Be-
griffe, wie man ſie findet. Enthaͤlt demnach ein Be-
griff einen oder mehrere verſteckte Widerſpruͤche, ſo
koͤnnen dieſe dadurch gefunden werden, wenn man
im Stande iſt, die Analyſe ſo weit fortzuſetzen.
Sollte dieſe aber ins Unendliche fortgehen, ſo wird
der Anſtand, ob nicht noch Widerſpruͤche zu-
ruͤcke bleiben, dadurch nie ganz gehoben. Geht
ſie aber nicht ins Unendliche fort, ſo kann man auf
Merkmaale kommen, die keine fernere und innere
Unterſcheidungsſtuͤcke mehr haben, und die folglich
ſchlechthin einfach ſind. Solche Merkmaale koͤnnen
nun an ſich ſchon keinen innern Widerſpruch enthal-
ten. Denn da zum Widerſprechen mehrere, oder
wenigſtens zwey Stuͤcke erfordert werden, ſo waͤren
ſolche Merkmaale nicht einfach. Dadurch wuͤrde
A 3aber
[6]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
aber die Vorausſetzung, daß ſie einfach ſind, umge-
ſtoßen. Demnach bleibt jeder innere Widerſpruch
von denſelben weg, und ſie ſind fuͤr ſich moͤglich.
Man merke hiebey an, daß bey dieſer Leibnitzi-
ſchen Analyſe von innern Merkmaalen die Rede iſt,
oder wenigſtens ſeyn ſoll. Denn die aͤußern Merk-
maale ſind Verhaͤltnißbegriffe, wodurch ein Be-
griff vermittelſt eines andern allenfalls auch be-
ſtimmt werden kann. Durch dieſes Beſtimmen
aber wird der Begriff nicht analyſirt. Es kann
auch allerdings ins Unendliche fortgehen, weil ſich
von jedem Begriffe zu jedem andern Verhaͤltniſſe ge-
denken laſſe. Und wenn man nach den Regeln, ſo
man in den Vernunftlehren daruͤber giebt, die Be-
griffe durch ihre Gattung und Unterſchied der
Art definirt, ſo wird man dadurch gar leicht von den
innern Merkmaalen weg und auf bloße Verhaͤlt-
nißbegriffe gebracht, ſo daß man zuletzt dabey we-
der Anfang noch Ende findet.
§. 8.
Da man demnach bey der Leibnitziſchen Analyſe
der Begriffe endlich auf einfache Merkmaale koͤmmt,
ſo bleibt dabey die Frage, ob und wie man dieſelben
erkennen und finden koͤnne? Es iſt fuͤr ſich klar, daß
ſie nicht nur nichts mannichfaltiges anbiethen, ſon-
dern auch in der That nichts mannichfaltiges ent-
halten muͤſſen. Erſteres wuͤrde ſie nur in Abſicht
auf uns einfach ſcheinen machen, letzteres aber machet
ſie an ſich einfach. Dieſes muß nun die Natur und
Art des Begriffes ſelbſt angeben. Aus der allge-
meinen Theorie der Begriffe laſſen ſich hoͤchſtens nur
Kennzeichen der einfachen Begriffe finden. Will
man aber jeden einzeln Begriff, der einfach iſt, auf-
ſuchen,
[7]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
ſuchen, ſo muß man die menſchlichen Begriffe ſaͤmmt-
lich durch die Muſterung gehen laſſen.
§. 9.
Dieſes iſt nun der Weg, den Locke eingeſchlagen.
Er ahmete den Zergliederern des menſchlichen Leibes,
auch in der Zergliederung der Begriffe nach. Er
nahm unſere Erkenntniß, ſo wie ſie iſt, vor ſich,
trennete darinn das Abſtracte, und eben daher bloß
ſymboliſche von dem, was wirklich Begriff und
klare Vorſtellung heißt, und beobachtete, welchen
Sinnen und Empfindungen wir jede Arten von Be-
griffen zu danken haben, und welche aus vermiſchten
Empfindungen entſtehen? Die Einfachen ſonderte er
von den uͤbrigen aus, und brachte ſie in gewiſſe Claſ-
ſen. Er bemerkete auch, daß in Benennung deſſen,
was ſie vorſtellen, ſelten oder nie Wortſtreite entſte-
hen, und daß jeder, der die Sprache verſteht, dar-
inn mit jeden eins iſt. Dieſe einfachen Begriffe
ſetzete er dergeſtalt zur Grundlage jeder menſchlichen
Begriffe und Erkenntniß, daß, was nicht in die-
ſelben aufgeloͤſet werden kann, aus unſerer
Erkenntniß nothwendig wegbleibt, wenn es
auch gleich zum Reiche der Wahrheiten gehoͤrete.
Man muß hiebey ſetzen, daß Locke unſere Erkennt-
niß mit der klaren Vorſtellung zu paaren gehen
laͤßt. Denn vermittelſt der Woͤrter und Zeichen iſt
es allerdings moͤglich, Wahrheiten heraus zu brin-
gen, die wir uns nicht klar oder wenigſtens nicht voll-
ſtaͤndig vorſtellen koͤnnen. Die eigentliche Klar-
heit iſtindiuidual, und demnach iſt unſere ganze all-
gemeine Erkenntniß ſchlechthin ſymboliſch, ungeachtet
die klaren Vorſtellungen, und beſonders die einfachen
Begriffe die Grundlage dazu ſind.
A 4§. 10.
[8]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
§. 10.
Locke blieb bey ſeiner Anatomie der Begriffe faſt
ganz ſtehen, und gebrauchte ſie wenigſtens nicht, ſo
weit es moͤglich geweſen waͤre. Es ſcheint ihm an
der Methode, oder wenigſtens an dem Einfalle gefeh-
let zu haben, das was die Meßkuͤnſtler in Abſicht
auf den Raum gethan hatten, in Abſicht auf die uͤbri-
gen einfachen ebenfalls zu verſuchen.
§. 11.
Die Ehre, eine Methode, eine richtige und brauch-
bare Methode in der Weltweisheit anzubringen, war
Wolfen vorbehalten. Wiewohl man eigentlich nur
ſagen kann, daß er darinn das Eis gebrochen, aber
auch verſchiedenes zuruͤcke gelaſſen. Wolf folgete
Leibnitzens Analyſe der Begriffe, und ſuchte auch
bald alles, was Leibnitz beſonders gedacht hatte, in
ſeiner Metaphyſic anzubringen. Er nimmt darinn
die meiſten Begriffe, oder vielmehr ihre Benennun-
gen, wie er ſie findet, und definirt ſie mehrentheils
durch Verhaͤltniſſe zu andern Begriffen. Die
Regeln, die er ſich vorſchrieb, waren ungefaͤhr fol-
gende: Jede mehr oder minder dunkele Woͤr-
ter muͤſſen definirt, und jede an ſich nicht ein-
leuchtende Saͤtze erwieſen werden. Diejenigen
Definitionen und Saͤtze muͤſſen vorgehen, auf
welche ſich die folgenden beziehen und gruͤnden.
Auf dieſe Art beſchaͤfftigte ſich Wolf mit Definitio-
nen und Beweiſen. Was in der Meßkunſt Poſtulata
(Forderungen) und Aufgaben heißt, davon koͤmmt in
Wolfens Metaphyſic wenig oder nichts vor. Und
wer mit ſeinen Lehrſaͤtzen nicht unbedingt zufrieden iſt,
wendet etwann ein, daß Wolf die Zweifel und
Schwierigkeiten, die man vorhin in der Me-
taphyſic
[9]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
taphyſic gefunden, ohne es zu wiſſen, und un-
vermerkt in die Definitionen geſchoben, oder
die Begriffe dergeſtalt definirt habe, daß ſich
gewiſſe Saͤtze, die er fuͤr wahr hielte, und die
eben dadurch bey ihm den Begriff ſo und nicht
anders bildeten, daraus herleiten ließen. Der
Vortheil, den die Wolfiſche Philoſophie hat, iſt
allerdings betraͤchtlich, daß naͤmlich die Methode,
die Wolf einfuͤhrte, oder anfienge einzufuͤhren, ſelbſt
auch zur Entdeckung und Ausbeſſerung der Fehler
dienet, die er noch zuruͤcke gelaſſen. Vor ihm war
in der Weltweisheit von einer richtigen und erweis-
baren Methode kaum die Rede, ungeachtet dieſe in
mathematiſchen Schriften ſchon von Euclides Zei-
ten an vor Augen lagen. Wer uͤbrigens aus Wol-
fens Werken den beſten Vortheil ziehen will, der
thut immer gut, allenfalls nur damit den Anfang
zu machen, und ſich ſodann auch um andere von
Wolfen mehr oder minder abgehende philoſophiſche
Schriften umzuſehen, unter denen ich Daries und
Cruſius zu nennen kein Bedenken trage.
§. 12.
Man kann nicht ſagen, daß Wolf die Euclidi-
ſche Methode ganz gebraucht habe. Jn ſeiner Me-
taphyſic bleiben die Poſtulata und Aufgaben faſt ganz
weg, und die Frage, was man definiren ſolle, wird
darinn nicht voͤllig entſchieden. Dieſes wollen wir
hier genauer auseinander ſetzen. Eucliden war es
leicht, Definitionen zu geben, und den Gebrauch ſei-
ner Woͤrter zu beſtimmen. Er konnte die Linien,
Winkel und Figuren vor Augen legen, und dadurch
Worte, Begriffe und Sache unmittelbar mit einan-
der verbinden. Das Wort war nur der Name der
A 5Sache,
[10]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
Sache, und weil man dieſe vor Augen ſah, ſo konnte
man an der Moͤglichkeit des Begriffes nicht zweifeln.
Dazu koͤmmt noch, daß Euclid die unumſchraͤnkte
Freyheit hatte, in der Figur, welche eigentlich nur
ein beſonderer oder einzelner Fall des allgemeinen
Satzes iſt, dabey aber ſtatt eines Beyſpieles dienet,
alles wegzulaſſen, was nicht dazu gehoͤret, oder was
nicht in dem Begriffe vorkoͤmmt. Die Figur ſtel-
lete demnach den Begriff ganz und rein vor. Hin-
gegen da ſie die allgemeine Moͤglichkeit deſſelben
nicht angiebt, ſo hatte Euclid die Sorgfalt, dieſe
genau zu eroͤrtern, und hiezu gebraucht er ſeine
Poſtulata, welche allgemeine, unbedingte und
fuͤr ſich gedenkbare, oder einfache Moͤglichkei-
ten, oder Thulichkeiten vorſtellen, und die er in
Form von Aufgaben vortraͤgt. Bey der Zuſam-
menſetzung ſolcher einfachen Moͤglichkeiten
kommen Einſchraͤnkungen vor, und dieſe be-
ſtimmet Euclid mehrentheils, vermittelſt ſeines
neunten und zwoͤlften Grundſatzes.
§. 13.
Man wird hieraus leicht den Schluß machen koͤn-
nen, daß in der Metaphyſic, die an ſich ab-
ſtracten Begriffe und Saͤtze durch Vorlegung
eines einzeln Falles oder eines wohlgewaͤhlten
Beyſpieles aufgeklaͤret, ihre Allgemeinheit und
ihr Umfang aber durchPoſtulataundAxiomata
beſtimmet werden ſollen, und daß beſonders
diePoſtulatawenigſtens allgemeine und unbe-
dingte Moͤglichkeiten angeben ſollen, Begriffe
zu bilden, und die Einſchraͤnkungen bey der
Moͤglichkeit zuſammengeſetzter Begriffe durch
Grundſaͤtze beſtimmet werden muͤſſen. Wie
dieſes
[11]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
dieſes angehen koͤnne, davon kommen in der Wol-
fiſchen Vernunftlehre wenige oder keine Regeln, in
der Metaphyſic wenige oder keine Beyſpiele vor.
Jn ſeiner Moral gebraucht er dieſe Methode, weil
er als ein Poſtulatum annehmen konnte: daß ſich
bey jeder von dem freyen Willen des Men-
ſchen abhaͤngenden Art der Vollkommenheit
eine Fertigkeit gedenken laſſe, welche unter
dem Namen von irgend einer Tugend vor-
kommen muͤſſe. Denn ſo hatte Wolf nur dieſe
Arten der Vollkommenheit aufzuſuchen. Hiezu hatte
er nun den ganzen Menſchen, als ein Datum, und
ſelbſt die Sprache both ihm Namen von Tugenden
an, die ihm zeigten, wo er zu ſuchen habe. Wolf
merket auch in ſeiner deutſchen Vernunftlehre an,
daß ihm dieſes in der Moral gelungen ſey. Es
haͤtte ihm auch in der Metaphyſic gelingen koͤnnen,
wenn er darinn den Menſchen, als ein Datum ange-
nommen, die einfachen Begriffe aufgeſuchet, und die
Grundſaͤtze und Forderungen, die ſie anbiethen, da-
zu angewandt haͤtte. Allein Wolf ſcheint es fuͤr
nothwendiger und moͤglicher angeſehen zu haben, ein-
fache Dinge, als aber einfache Begriffe aufzuſu-
chen, und ließe ſich es nicht in Sinn kommen, z. E.
die Ausdehnung und die Dauer, oder den Raum
und die Zeit, als einfache Begriffe anzuſehen, und
glaubete ſich vielmehr bemuͤßiget, von beyden Defi-
nitionen zu geben, indem er den Raum durch die
Ordnung außer oder neben einander liegender Din-
ge, die Zeit aber durch die Ordnung auf einander
folgender Dinge erklaͤrete. Dieſe beyden Definitio-
nen enthalten aber keine innere Merkmaale, ſondern
nur Verhaͤltnißbegriffe von Raum und Zeit zu
den Dingen, die ausgedehnet ſind und dauern, oder
auf
[12]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
auf einander folgen, und die Woͤrter außer, neben,
auf einander ꝛc. enthalten die Begriffe von Raum
und Zeit ſchon ganz in ſich.
§. 14.
Locke und Wolf blieben demnach auf eine ganz
entgegen geſetzte Art zuruͤcke. Locke hatte die einfa-
chen Begriffe aufgeſuchet, allein es fehlte ihm an
der Anwendung der Methode, Lehrgebaͤude darauf
zu gruͤnden. Wolf hingegen, der Lockens Werke
geleſen hatte, achtete dieſer einfachen Begriffe nicht,
und blieb bey dem, was er von der Methode gefun-
den, und bey deſſelben Anwendung auf zuſammenge-
ſetzte Begriffe ſtehen. Da er ferner die Forderungen
und Aufgaben aus ſeiner Metaphyſic ganz wegließe
und ſie eben dadurch nicht mitnehmen konnte, weil
ſie eigentlich nur bey den einfachen Begriffen vorkom-
men: ſo iſt es ſich auch nicht zu verwundern, wenn
darinn von gegebenen und geſuchten Stuͤcken keine
Rede iſt, wovon er doch in der Meßkunſt, deren
Methode er allgemein anwendbar machen wollte, ſo
haͤufige Beyſpiele fand. Haͤtte Wolf ſeine Methode
auch in dieſem Stuͤcke vollſtaͤndig zu machen geſuchet,
ſo waͤre er auf Lockens einfache Begriffe verfallen.
Oder haͤtte er bey dieſen angefangen, ſo wuͤrden ſie
ihm Forderungen, gegebene und geſuchte Stuͤcke dar-
gebothen haben. Jch halte mich nicht auf, dieſes
hier zu beweiſen, weil ich in gegenwaͤrtigem Werke
die Sache ſelbſt vor Augen lege. Hier wird es noth-
wendig ſeyn, noch einige Vorzuͤge der Meßkunſt, und
uͤberhaupt der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß, anzufuͤh-
ren, weil die Metaphyſic, und beſonders die Grund-
lehre, ſie ebenfalls haben ſoll.
§. 15.
[13]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
§. 15.
Wolf hatte ſich naͤmlich von der wiſſenſchaftlichen
Erkenntniß keinen andern Begriff gemacht, als daß
darinn alles muͤſſe aus Gruͤnden erwieſen wer-
den. Er ſetzte demnach die Vorzuͤge der wiſſenſchaft-
lichen Erkenntniß in die Ueberzeugung und Ge-
wißheit, die daraus entſteht. Wir muͤſſen aber
noch mehrere beyfuͤgen, damit man ſehe, was man
zu ſuchen habe, wenn die Grundlehre wiſſenſchaftlich
gemacht werden ſoll. Jede Wiſſenſchaft ſoll naͤm-
lich dahin fuͤhren, daß man in jedem vorkom-
menden Falle, wo ſie anwendbar iſt, aus der
geringſten Anzahl gegebener Stuͤcke die uͤbri-
gen finden koͤnne, die dadurch beſtimmt oder
damit in Verhaͤltniß ſind. Nun ſoll die Grund-
lehre in allen uͤbrigen Theilen der menſchlichen Er-
kenntniß anwendbar ſeyn (§. 3.). Man findet aber
darinn von dieſem Vorzuge noch ſehr wenige Bey-
ſpiele. Jn der ganzen Matheſi aber macht man ſich
ein Geſetz daraus, weder zu viel noch zu wenig Data
anzunehmen, und aus den Datis zu beſtimmen, was
zugleich mit gegeben iſt, oder daraus gefunden wer-
den kann. Jn der Trigonometrie ſind alle Faͤlle ab-
gezaͤhlet, wie man aus drey Stuͤcken eines Triangels
die drey uͤbrigen finden koͤnne. Soll dieſer Vorzug,
den Wolf ſelbſt als ein Muſter der Vollkommenheit
erhebt, auch in der Grundlehre vorkommen, ſo wer-
den darinnen die Forderungen, die Abzaͤhlung
zuſammengehoͤrender Begriffe und Dinge, und
die allgemeine Theorie und Abzaͤhlung der Ver-
bindungen und Verhaͤltniſſe unentbehrlich.
§. 16.
Da ferner die Ontologie aller Orten anwendbar
ſeyn ſoll, ſo muß darinnen, wie in jeden andern
Wiſſen-
[14]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
Wiſſenſchaften, alles, was allgemein in die
Kuͤrze gezogen werden kann, wirklich in die
Kuͤrze gezogen werden, damit man es nicht in
jedem beſondern Falle aufs neue thun muͤſſe. Auch
hievon giebt die Meßkunſt Beyſpiele, und ſie haben
allemal da etwas Vorzuͤgliches, wo man zwiſchen
zwoen oder mehrern Groͤßen ein unmittelbares Ver-
haͤltniß herausbringt, wo man Anfangs haͤtte glau-
ben ſollen, daß man, um eine aus den uͤbrigen zu
finden, noch andere Groͤßen und Verhaͤltniſſe zu Huͤlfe
nehmen muͤſſe. Von dieſer Art iſt unter den erſten
Saͤtzen der Meßkunſt derjenige, welcher zeiget, daß
man aus zween Winkeln eines geradelinichten Trian-
gels den dritten finden koͤnne, ohne von den Seiten
nichts zu wiſſen, imgleichen, daß ſich Cylinder mit
Kugeln ohne die Verhaͤltniſſe des Durchmeſſers zum
Umkreiſe vergleichen laſſen. Die trigonometriſchen
Tabellen ſind noch betraͤchtlichere Beyſpiele von ſol-
chen Abkuͤrzungen. Jn der Grundlehre laͤßt ſich
ohne die Theorie, wie Verhaͤltnißbegriffe mit
andern Begriffen oder mit den Dingen verbun-
den ſind, an dieſen Vorzug nicht gedenken.
§. 17.
Soll ferner die Grundlehre in jeden uͤbrigen Thei-
len unſerer Erkenntniß und in jeden vorkommenden
Faͤllen in der That anwendbar ſeyn, ſo muß ſie auf
alle Arten zuſammengehoͤrende Stuͤcke zuſam-
men nehmen, damit man in jeden einzeln Faͤllen,
wo man einige findet, vermoͤge der Saͤtze die-
ſer Wiſſenſchaft ſo gleich auf die mit dazu ge-
hoͤrenden den Schluß machen, und folglich
beſtimmen koͤnne, was noch ferner zu ſuchen
iſt, und wie man es finden koͤnne.
§. 18.
[15]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
§. 18.
Endlich ſollte die Grundlehre, wie jede Wiſ-
ſenſchaften, einen practiſchen Theil haben, weil
ſie ohne denſelben eine bloße Speculation bliebe. Die-
ſer Theil muß darinn vorkommen, es ſey, daß man
ihn mit dem theoretiſchen durchflechte, oder denſelben
beſonders beyfuͤge. Hiebey ſind nun die Poſtulata,
welche allgemeine und unbedingte Moͤglichkeiten oder
Thulichkeiten angeben, ſchlechthin unentbehrlich.
Wolf hatte den practiſchen Theil der Weltweisheit
nur in Abſicht auf die Faͤhigkeiten, Fertigkeiten und
Vollkommenheiten des Menſchen betrachtet, und das
Objective, was naͤmlich von den Dingen ſelbſt her-
genommen iſt, nicht weiter in Betrachtung gezogen,
als in ſo fern es unter dem Begriffe des moraliſchen
Guten und Uebels vorkoͤmmt. Das Practiſche
geht auf das Finden und Thun, und in ſo fern ſteht
es mit den Faͤhigkeiten des Verſtandes und des Lei-
bes in ungleich naͤherer Verbindung, als mit dem
Willen, welcher eigentlich der Gegenſtand der Moral
iſt. Jn der Grundlehre koͤmmt z. E. die Theorie der
Ordnung, der Vollkommenheit, der Urſachen, Wir-
kungen, Mittel und Abſichten, der Kraͤfte, Ver-
haͤltniſſe ꝛc. vor. Sie ſoll demnach allerdings ange-
ben, was hiebey in einzeln Faͤllen zu ſuchen, zu finden
und zu thun ſey?
§. 19.
Da der practiſche Theil der Grundlehre, und ſo
auch jeder Wiſſenſchaften auf der Theorie der Moͤg-
lichkeiten und Thulichkeiten beruht: ſo koͤnnen wir
noch anmerken, daß die Kennzeichen und Grundſaͤtze
der Moͤglichkeit, die bisher in der Ontologie vorkom-
men, dazu nicht hinreichend ſind. Man hat vornehm-
lich
[16]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
lich nur zween angegeben. 1°. Moͤglich ſey, was
keinen Widerſpruch in ſich halte. Dieſer Satz
iſt verneinend, und zeiget nur, wo das Moͤgliche nicht
iſt, naͤmlich, es iſt da nicht, wo ein Widerſpruch
vorkoͤmmt. Da wir aber nicht ſogleich jede Wider-
ſpruͤche finden koͤnnen, und widerſprechende Dinge
oͤfters Jahrhunderte durch geglaubt werden, ſo iſt
dieſer Satz, in Abſicht auf die poſitive Beſtimmung
des Moͤglichen, von wenigem Gebrauche. Der einige,
den ich in dieſer Abſicht davon habe machen koͤnnen,
iſt derjenige, den ich oben vorgetragen (§. 7.), daß
naͤmlich, weil zum Widerſprechen mehr als ein Stuͤck
erfordert wird, einfache Begriffe, wenn ſie innere
Widerſpruͤche haben ſollten, nicht einfach waͤren,
und daß ſie folglich ſchlechterdings und nothwendig
moͤglich ſind. Ein einfacher Begriff iſt demnach an
ſich ſchon und dadurch moͤglich, weil er einfach iſt;
und ſo viele einfache Begriffe es giebt, ſo viele poſitive
Moͤglichkeiten hat man, ohne daß man ſie ferner be-
weiſen muͤßte.
§. 20.
Der andere Satz, den man zur Beſtimmung der
Moͤglichkeit angegeben, iſt dieſer: Was iſt, das
iſt an ſich moͤglich, oder: vom Seyn kann man
auf das moͤglich Seyn ſchluͤßen. Dieſer Satz die-
net, wenn man a poſteriori oder vermittelſt der Er-
fahrung Moͤglichkeiten finden will, und daher aller-
dings auch bey zuſammengeſetzten Begriffen. Auf
dieſe Art dienet jedes Beyſpiel zum Beweiſe einer
oder mehrerer Moͤglichkeiten. Allein Erfahrungen
und Beyſpiele zeigen nicht ſo gleich, wie weit ſich
die Moͤglichkeit erſtreckt. Dazu gehoͤren Poſtulata,
wenn man die Moͤglichkeit der Zuſammenſetzung der
Begriffe a priori, allgemein und genau beſtimmen
will.
[17]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
will. Man kann zum Beyſpiele nachſehen, wie
Euclid in ſeiner erſten Propoſition die allgemeine
Moͤglichkeit eines geradelinichten und gleichſeitigen
Triangels beweiſt. Er zeiget denen, die daran zwei-
feln wollten, wie ſie ihn von jeder beliebigen Groͤße
machen koͤnnen. Und wer ihm ſeine Poſtulata und
beſonders ihre Allgemeinheit einraͤumet, muß ihm
dieſe, wie noch mehr andere Moͤglichkeiten, nothwen-
dig auch einraͤumen. Da bey jeden zuſammengeſetz-
ten Begriffen die Allgemeinheit, bey willkuͤhrlich
zuſammengeſetzten die Moͤglichkeit eroͤrtert werden
muß, ſo kommen diePoſtulataeigentlich nur bey
den einfachen Begriffen vor, und ſie muͤſſen
folglich bey jedem einfachen Begriffe beſonders
vorgebracht werden, wie Euclid es in Abſicht
auf den Raum gethan. Zu wirklichen Thulichkeiten
muß die Theorie der Kraͤfte die Grundlage angeben.
§. 21.
Man kann nicht in Abrede ſeyn, daß die bisher
erwaͤhnten Erforderniſſe und Vorzuͤge der Grundlehre
eben nicht ſo leichte zu erhalten ſind. Wir haben aber
noch eine Erforderniß anzufuͤhren, die allem Anſehen
nach die ſchwerſte iſt. Die Grundlehre ſoll un-
veraͤnderlich ſeyn, wie die Wahrheit. Dieſen
Vorzug hat die Meßkunſt bisher faſt ganz allein ge-
habt, da ſich inzwiſchen die Metaphyſic bald wie die
Moden in der Kleidung aͤnderte, und ihre wichtigere
Lehrſaͤtze wechſelsweiſe angenommen und verworfen
wurden. Hiebey werde ich mich etwas laͤnger auf-
halten muͤſſen, um zu unterſuchen, wie dieſer Ver-
aͤnderlichkeit, welche allerdings kein Kennzeichen des
Wahren iſt, abzuhelfen ſey. Die Hauptfrage koͤmmt
darauf an, daß man in der Grundlehre eine geo-
Lamb. Archit.I.B. Bmetri-
[18]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
metriſche Nothwendigkeit und Evidenz ein-
fuͤhre. Daran hatte nun Wolf allerdings auch ge-
dacht, und gefunden, daß ein betraͤchtlicher Theil die-
ſer Nothwendigkeit und Evidenz in der Methode lie-
ge, welche in der Meßkunſt gebraucht wird. Und ſo
geht auch in der Vernunftlehre die Theorie der Schluͤſſe
und der Nothwendigkeit der Schlußfolgen mit der
Theorie der Meßkunſt zu Paaren. Alle Schlußarten
ſind darinnen abgezaͤhlt, und mit einer voͤllig geome-
triſchen Evidenz erwieſen. Man kann demnach das
Wankende in der Metaphyſic nicht darinn ſuchen,
als ob man nicht im Stande waͤre, jede Schluͤſſe, in
Abſicht auf ihre Form, zu pruͤfen. Wolf hatte da-
her vorgeſchlagen, man ſolle zu den erſten Saͤtzen
lauter Grundſaͤtze gebrauchen, und zwar, weil
man dieſe zugiebt, ſo bald man die Worte verſteht.
Hiezu erforderte Wolf noch ferner, daß man die
Woͤrter, die einige Dunkelheit haben koͤnnten,
definiren muͤſſe, damit ihre Bedeutung beſtimmt
werde. Auf dieſe Art brachte man es ſo weit, daß
man ſich eine Ehre daraus machte, wenn man auch
zu ſolchen Woͤrtern, an deren Bedeutung kein Menſch
je gezweifelt hatte, und welche ehender die Sprache als
ihre Bedeutung aͤndern, Definitionen finden konnte.
Ueber dieß zeigete man die Mittel an, aus jeder De-
finition mehrere Grundſaͤtze herzuleiten, und folglich
einen guten Vorrath von Vorderſaͤtzen zu Schluß-
reden zu ſammeln.
§. 22.
Bey dieſer Art zu verfahren iſt viel Richtiges, es
iſt aber auch viel nicht allgemein Richtiges und nicht
genug Verſtandenes dabey. Um dieſes zu zeigen, wol-
len wir anfangen, die Schwierigkeiten anzufuͤhren, die
ſich hier einfinden. Einmal ſetzet jede Definition zwo
Erfor-
[19]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
Erforderniſſe voraus. Das definirte Wort muß
einen moͤglichen und richtigen Begriff vorſtel-
len, und die Definition muß dieſen Begriff ge-
nau angeben. Wo etwas hieran fehlt, da kommen
fruͤh oder ſpaͤt Widerſpruͤche und Ungereimtheiten her-
aus, dergleichen die Metaphyſic bisher noch immer
theils gehabt, theils zu haben geſchienen. Demnach
muͤſſen dieſe beyden Erforderniſſe bey jeder Definition
entweder erwieſen werden, oder fuͤr ſich einleuch-
tend ſeyn. Letzteres faͤllt weg, weil einfache Begriffe
nicht koͤnnen durch innere Merkmaale definirt werden,
zuſammengeſetzte aber ſchlechthin einen Beweis ihrer
Allgemeinheit und Moͤglichkeit fordern (§. 7. 20.).
Die Folge, die wir hieraus ziehen, iſt, daß, wenn
man in der Grundlehre nicht bey den einfachen
Begriffen anfaͤngt, ſondern ſie mit den andern
vermengt laͤßt, es immer das Anſehen habe,
als wenn des Definirens und Beweiſens kein
Ende waͤre. Denn die Beweiſe muͤßten ſich auf
Definitionen gruͤnden, und Definitionen bewieſen wer-
den. Dabey ſind nun logiſche Cirkel im Beweiſen
und Definiren nicht zu vermeiden, um ſo mehr, da
die Sprache nicht jede Woͤrter hat, die man allen-
falls zu ſolchen immer fortgeſetzten Definitionen ge-
brauchen muͤßte.
§. 23.
Wir haben bereits (§. 12. 13.) angemerket, wie
Euclid, dem Wolf nachzuahmen ſuchte, ganz an-
ders verfahren, und ſeine zuſammengeſetzte Begriffe
aus den einfachen gebildet und erwieſen habe, und
daß man ihm in der Grundlehre auch hierinn nach-
ahmen muͤſſe. So fern man dieſes thun kann, ver-
faͤhrt man auf eine ganz umgekehrte Art. Man
nimmt den Begriff, nicht wie man ihn findet, ſon-
B 2dern
[20]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
dern wie er ſich aus den einfachen Begriffen zu-
ſammenſetzen laͤßt. Und dabey wird nun das Wort
ſchlechthin nur der Name des Begriffes oder der
Sache, die der Begriff vorſtellet. Auf dieſe Art iſt
die Definition da, ehe man das Definitum oder das
Wort aufſuchet, welches die Sache vorſtellet, wenn
je die Sprache ein ſolches Wort bereits hat. Denn
widrigenfalls muß man ein Wort machen, wie es in
der Matheſi gar nicht ſelten iſt, oder man bleibt bey
der Definition, wenn die definirte Sache nicht erheb-
lich genug iſt, beſonders benennet zu werden. Denn
die Menge der Kunſtwoͤrter, zumal wo man die Sa-
che nicht vorlegen kann, wird dem Gedaͤchtniſſe zur
Laſt, und nicht jeder bequemt ſich gern, ſie alle zu
lernen, und mit unveraͤnderter Bedeutung im Sinne
zu behalten. Endlich iſt die Euclidiſche Methode von
der Wolfiſchen auch noch darinn verſchieden, daß
was man nach der letztern als Grundſaͤtze aus
den Definitionen herleitete, nach der erſtern
ſolche Saͤtze ſind, die der Definition bereits
vorgehen, und aus welchen die Definition ge-
bildet und erwieſen wird. Auf dieſe Art faͤllt
das willkuͤhrlich und hypothetiſch ſcheinende aus den
Definitionen ganz weg, und man iſt von der Moͤg-
lichkeit alles deſſen, was ſie enthalten, voraus ver-
ſichert. Ueberdieß muͤſſen wir anmerken, daß
Grundſaͤtze eigentlich wie diePoſtulata (§. 20.)
nur bey den einfachen Begriffen vorkommen.
Denn die Richtigkeit und die Einſchraͤnkung der Moͤg-
lichkeit zuſammengeſetzter Begriffe muß daraus er-
wieſen werden (§. 20. 12.). Und uͤberdieß ſind auch
nur die einfachen Begriffe ſchlechthin fuͤr ſich gedenk-
bar (Alethiol. §. 240. 161.).
§. 24.
[21]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
§. 24.
Die Definitionen, die man auf vorgedachte Art
herausbringt, erklaͤren die Sache ſelbſt, und ſo fern
man ſie aus den Grundbegriffen herausbringt, kann
man ſie Sacherklaͤrungen nennen, die im ſtrengſten
Verſtande a priori ſind. Hingegen ſind ſie a poſte-
riori, wenn man ſie auf Erfahrungsſaͤtze gruͤndet,
oder dieſe mit zu Huͤlfe nimmt. Beyde Arten hat
Wolf unter dem Worte Sacherklaͤrung zuſammen-
genommen, und ſie den Worterklaͤrungen entgegen-
geſetzet. Jhr Beweis zeiget die Entſtehensart der
Sache, wo naͤmlich bey dem Begriffe wirklich eine
Sache zum Grunde liegt. Hingegen bey bloßen Ver-
haͤltniſſen, welche man gewiſſermaßen den Sachen
ſelbſt entgegenſetzen und davon unterſcheiden muß, zei-
get der Beweis die Entſtehensart des Begriffes.
§. 25.
So weit man mit den Sacherklaͤrungen ausreicht,
koͤnnten die Worterklaͤrungen ganz wegbleiben, wenn
man nicht die Sprache nehmen muͤßte, wie ſie iſt,
um andern verſtaͤndlich zu bleiben. Denn da man
einfache Begriffe zuſammenſetzet, um andere daraus
zu bilden, ſo verfaͤllt man auf die Definition der
zuſammengeſetzten Begriffe, ehe man an die Benen-
nung derſelben denkt. Die Benennung iſt an ſich
willkuͤhrlich. Da man aber andern verſtaͤndlich blei-
ben ſoll, ſo muß man ſich allerdings umſehen, ob
nicht der Begriff bereits unter irgend einem Namen
vorkomme. Und dieſes macht die Worterklaͤrungen
mehr oder minder nothwendig, beſonders wo man
die Sache, die der Begriff vorſtellet, nicht im gan-
zen vorlegen, und das mit der Sache ſelbſt bereits
und unmittelbar verbundene Wort gebrauchen kann.
B 3§. 26.
[22]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
§. 26.
Mit den Worterklaͤrungen aber hat es eine ganz
andere Bewandniß, weil ſich dieſe eigentlich auf
die Structur der Sprache gruͤnden. Es giebt
eine gute Menge Woͤrter, deren Bedeutung, ſo lange
die Sprache bleibt, gar keiner Worterklaͤrung noͤ-
thig haben, und wo man die Sacherklaͤrung ſchwer-
lich oder niemals finden wird. Von dieſer Art ſind
die meiſten Namen der Dinge, ſo uns die Koͤrper-
welt vor Augen legt. Wir finden in der Sprache
bald jede Arten von Pflanzen, Thieren, Metallen,
Steinen ꝛc. benennet, und bey dieſen Benennungen
verſchwinden jede Wortſtreite, ſo bald man die Sache
vor Augen leget. Alle dieſe Woͤrter oder Namen
machen die Grundlage der Sprache aus, und ſind
eine beſondere Claſſe, ſo fern ſie keine Worterklaͤrung
noͤthig haben. Man muß ſie auch zum Grunde legen,
wenn man von den uͤbrigen Woͤrtern Worterklaͤrun-
gen geben will. Und hiezu hat die Sprache
bereits eine ihr eigene Einrichtung, welcher
man bey einem Syſteme von Worterklaͤrungen
ſchlechthin folgen muß. Denn ſie macht die Woͤr-
ter der erſten Claſſe ſtufenweiſe metaphoriſch, und
da giebt die Worterklaͤrung das ſo genannte Tertium
comparationis oder den Grund der Vergleichung und
die Vergleichungsſtuͤcke an. Jch habe dieſe Betrach-
tungen in der Semiotic und beſonders in dem letzten
Hauptſtuͤcke derſelben umſtaͤndlicher angefuͤhret, und
merke hier nur an, daß ein ſolches Syſtem von Wort-
erklaͤrungen theils wegen der Weitlaͤuftigkeit, theils
auch wegen der Schwierigkeit, die Ableitung und ur-
ſpruͤngliche Bedeutung der Woͤrter aufzuſuchen, eben
nicht ſo leicht vollſtaͤndig gemacht werden kann. Jn
Anſehung der Woͤrter der erſten Claſſe wuͤrde man
uͤbrigens
[23]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
uͤbrigens in des Comenii Orbc picto eine ziemliche
Vorbereitung finden.
§. 27.
Da man alſo in Anſehung der Worterklaͤrungen
noch nicht ſo ſyſtematiſch verfahren kann, ſo hat man
dazu andere Mittel geſucht, ſie in einzeln Faͤllen zu
machen, und dieß geſchieht beſonders durch Ver-
haͤltnißbegriffe. Man beſtimmt naͤmlich die Sa-
che, deren Namen man erklaͤren will, durch ihre Ver-
haͤltniß zu andern Sachen, deren Namen bekannter
ſind, oder als bekannter angenommen werden koͤnnen,
z. E. die Mittel durch die Abſichten, das Ganze durch
ſeine Theile, die Urſachen durch die Wirkungen, die
Handlungen durch die Werkzeuge, Gliedmaßen, Ab-
ſichten ꝛc. Und dabey iſt es genug, wenn man ſo
viel anzeiget, als hinlaͤnglich iſt, die durch das Wort
vorgeſtellte Sache oder den dadurch angedeuteten Be-
griff kenntlich zu machen. Da man voraus ſetzet,
daß die in der Nominaldefinition gebrauchten Woͤrter
eine bekanntere Bedeutung haben, als das Wort,
deſſen Bedeutung dadurch beſtimmt, kenntlich ge-
macht und angegeben werden ſoll; ſo laͤßt ſich auch
hiebey etwas Syſtematiſches gedenken, weil die ein-
mal definirten Woͤrter wiederum zum Definiren an-
derer Woͤrter koͤnnen gebraucht werden. Allein wenn
man logiſche Cirkel vermeiden und ein vollſtaͤndiges
und nettes Syſtem von Worterklaͤrungen herausbrin-
gen will, ſo verfaͤllt man nothwendig auf das vorhin
(§. 26.) beſchriebene, welches mehr Grammatiſches
und Charakteriſtiſches hat. Es faͤngt ganz von hin-
ten an, weil die erſte Grundlage dazu von den Sin-
nen hergenommen iſt. Hingegen muͤſſen die Sach-
erklaͤrungen ganz von vorn, das iſt, von den ein-
fachen Begriffen anfangen, wenn ſie ſyſtematiſch
B 4und
[24]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
und a priori auf einander folgen ſollen. Da man
dieſes in der Grundlehre fordert, ſo iſt ſichs nicht zu
verwundern, wenn die Definitionen, die darinn vor-
kamen, von derjenigen Art waren, die wir Anfangs in
gegenwaͤrtigem §. beſchrieben haben, und daß folglich
weder Anfang noch Ende darinn abzuſehen war. Die
Frage, wo man anfangen oder aufhoͤren ſolle,
zu definiren, bliebe dabey uneroͤrtert und kam im-
mer wieder vor.
§. 28.
Bey dieſem ſo durchaus entgegengeſetzten Wege,
den man bey Sacherklaͤrungen und Worterklaͤrungen
(§. 23. 24. 26.) zu nehmen hat, wenn man vollſtaͤndige
Syſteme errichten will, ſcheint es ſchwerer zu ſeyn,
beyde Syſteme in Verbindung zu bringen. Allein die
Betrachtung der Sache ſelbſt ruͤckt ſie naͤher zuſammen.
Denn ſo hat Locke bereits angemerket, daß die Na-
men der einfachen Begriffe in der Sprache, in An-
ſehung ihrer Bedeutung, die wenigſte oder vielmehr
gar keine Schwierigkeit haben. Demnach machen
die einfachen Begriffe in dem Syſteme der
Sacherklaͤrungen, und ihre Namen in dem
Syſteme der Worterklaͤrungen den erſten An-
fang aus, und dienen den uͤbrigen zum Grunde.
Jm Syſteme der Worterklaͤrungen ſollten aber frey-
lich, wenn es die Sprachen zuließen, die Namen der
einfachen Begriffe durchaus Wurzelwoͤrter ſeyn.
§. 29.
Da die Grundlehre in allen Theilen der menſchli-
chen Erkenntniß anwendbar ſeyn ſoll (§. 3.), ſo muß
ſie allerdings zu denſelben die erſten Grundbegriffe
angeben, und dieſe ſollen, ſo viel moͤglich iſt, jeder
in mehrern oder gar in allen Theilen angewandt wer-
den
[25]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
den koͤnnen. Wir wollen dieſe Theile hier nicht ein-
zeln anfuͤhren, ſondern ſie in zwo Hauptclaſſen ab-
ſondern. Einige betreffen die Jntellectualwelt, an-
dere aber die Koͤrperwelt. Die Benennungen der
Dinge der Jntellectualwelt ſind von den Dingen der
Koͤrperwelt hergenommen, ſo fern ſie nach unſerer
Vorſtellungsart eine Aehnlichkeit damit haben, und
wenn wir beyde mit einerley Namen benennen, ſo iſt
der abſtracte Begriff, den wir mit dem Worte ver-
binden, tranſcendent. Das Wort Kraft mag zum
Beyſpiele dienen. Urſpruͤnglich iſt es von den be-
wegenden Kraͤften der Koͤrperwelt hergenommen,
ſo fern etwas dadurch geſchehen kann. Wegen der
Aehnlichkeit der Vorſtellungsart aber eignen wir dem
Verſtande und dem Willen ebenfalls Kraͤfte zu,
ſo fern wir ſagen, der Verſtand koͤnne denken, der
Wille koͤnne begehren ꝛc. dadurch wird nun der Be-
griff Kraft nicht nur allgemeiner, ſondern ganz tran-
ſcendent, weil er bey Dingen vorkoͤmmt, die bald
nichts mit einander gemein haben. Nun kann in der
Grundlehre die Theorie der Kraͤfte entweder ſo vor-
genommen werden, daß man jede von dieſen drey
Gattungen beſonders betrachtet, oder man macht ſie
ganz tranſcendent, ſo daß ſie bey jeder Gattung an-
wendbar bleibt. Letzteres geht nur ſo fern an, als
die Sprache Woͤrter von gleich tranſcendentem Um-
fange darbeut. Wo dieſes anfaͤngt zu fehlen, da
muß man das erſtere vornehmen, und jede Gattung
der Kraͤfte beſonders betrachten. Das beſte aber iſt,
wenn man die ſpeciale Theorie eintheilungsweiſe mit
der tranſcendenten gleich Anfangs verbindet. Man
kann dabey zugleich die Anwendung mit vorlegen,
und indem man ſpecialer geht, bleibt man ver-
ſtaͤndlicher, und koͤmmt dem Practiſchen naͤher, als
B 5welches
[26]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
welches in einzeln Faͤllen nicht nur ſpecial, ſondern
vollends individual wird. Ueberdieß laſſen ſich zwi-
ſchen dieſen drey Gattungen von Kraͤften ſolche Ver-
gleichungen anſtellen, und Verhaͤltniſſe finden, die
aus der tranſcendenten Theorie nothwendig wegblei-
ben, weil dieſe nur auf das geht, was alle drey Gat-
tungen gemein haben. Was wir hier beyſpielsweiſe
von der Theorie der Kraͤfte geſagt haben, gilt eben-
falls von der Theorie jeder tranſcendenten Begriffe.
So iſt der Begriff Ordnung urſpruͤnglich von der
localen Ordnung hergenommen, und auf die Ord-
nung den Graden der Dauer nach ausgedehnet wor-
den. Endlich wies man auch den Gedanken einen
Ort an, und brachte den Begriff der Ordnung in
das Gedankenreich. Das unter und neben ein-
ander ordnen macht dabey zwo Claſſen aus, die mit
dem Begriffe der Ordnung tranſcendent geworden,
und wo man ſich Dimenſionen gedenken kann, da
laſſen ſich Ordnungen gedenken. Nun iſt der Begriff
Ordnung an ſich ein idealer Verhaͤltnißbegriff,
und in ſo fern iſt er minder tranſcendent, als der
von der Kraft, weil zwiſchen Dingen von ſehr ver-
ſchiedener Art einerley Verhaͤltniſſe ſeyn koͤnnen. Man
kann auch die Theorie davon leichter und weiter all-
gemein fortſetzen, ungeachtet es aus vorhin erwaͤhn-
tem Grunde nuͤtzlicher iſt, die Anwendung immer ſo
gleich auf die Hauptgattungen der Faͤlle zu machen,
wo eine Ordnung vorkommen kann.
§. 30.
Wir muͤſſen noch anmerken, daß man die Woͤrter,
deren allgemeinſter Begriff tranſcendent iſt, von denen
genau zu unterſcheiden habe, die in der That viel-
deutig ſind. Denn bey dieſen muͤſſen die Bedeutun-
gen
[27]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
gen unterſchieden, und jede beſonders betrachtet wer-
den. So z. E. iſt das lateiniſche Wort ratio, wel-
ches Vernunft, Grund und Verhaͤltniß bedeutet.
Man wird allerdings nicht ſagen koͤnnen, daß dieſe
drey Begriffe Arten einer Gattung ſeyn, oder daß
ein tranſcendenter Begriff gedacht werden koͤnne, der
ſie zuſammen faſſe, ungeachtet ſie viele Verhaͤltniſſe
unter ſich haben, und auf mehrerley Arten in Saͤtzen
als Subject und Praͤdicat vorkommen koͤnnen.
§. 31.
Zu den vielbedeutigen Woͤrtern koͤnnen wir beſon-
ders auch diejenigen rechnen, deren Bedeutung von
veraͤnderlichem Umfange iſt, und jedesmal aus dem
Zuſammenhange der Rede beſtimmt werden muß.
Solche Woͤrter laſſen ſich nicht wohl definiren. Die
ſind metaphoriſch, und das Tertium comparationis
dabey iſt ſtufenweiſe veraͤnderlich. Ueber dieß macht
der Mangel der Sprache an Woͤrtern, daß man die-
ſes Veraͤnderliche laſſen muß, zumal da es jedesmal
aus dem Zuſammenhange beſtimmt wird. Man
kann auch nicht ſagen, daß dieſer Mangel der Spra-
che durchaus ein Fehler ſey. Sie wird dadurch kuͤr-
zer und dem Gedaͤchtniſſe weniger zur Laſt. Wollte
man demnach die Bedeutung ſolcher Woͤrter durch
eine Definition feſte ſetzen, ſo wuͤrden viele Redens-
arten wegfallen, aus deren Zuſammenhange der Um-
fang der Bedeutung ſtufenweiſe weiter oder enger iſt,
als ihn die Definition angiebt. Solche Redensarten
ſind ungefaͤhr wie die Gleichungen in der Algeber.
Die Bedingung, daß dieſe gleich ſeyn, jene einen
Verſtand haben ſollen, beſtimmt bey den Gleichun-
gen die geſuchten Groͤßen, bey den Redensarten den
Umfang der Bedeutung ſolcher Woͤrter.
§. 32.
[28]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
§. 32.
Wir haben dieſe Betrachtung hier angefuͤhret, weil
ſie mit der bisher (§. 21. ſeq.) unterſuchten Frage von
der Unveraͤnderlichkeit der Grundlehre eine nothwen-
dige Verbindung hat, und die Anzahl der Worter-
klaͤrungen darinn vermindert. Denn dafern ein Wort
dergeſtalt definirt werden ſoll, daß die Definition in
jeden Redensarten ſtatt des Wortes ſoll koͤnnen ge-
ſetzet werden, ſo muͤßte die Definition veraͤnderlich
ſeyn, und ſich jedesmal nach dem Umfange der Be-
deutung richten, die das Wort aus dem Zuſammen-
hange der Redensart erhaͤlt, folglich muͤßte die De-
finition aus Woͤrtern von gleich veraͤnderlichem Um-
fange beſtehen. So abgemeſſen ſind aber die Spra-
chen noch nicht. Demnach bleiben ſolche Definitionen
beſſer weg, und ſtatt derſelben kann man ſich begnuͤ-
gen, das Tertium comparationis und deſſen Veraͤn-
derlichkeit anzuzeigen. Es iſt fuͤr ſich klar, daß die-
ſes in dem vorhin (§. 26.) erwaͤhnten Syſteme von
Worterklaͤrungen ebenfalls geſchehen muͤſſe.
§. 33.
Wenn man auf dieſe Art den veraͤnderlichen Um-
fang der Bedeutung einiger Woͤrter in der Grund-
lehre anzeiget, ſo erhaͤlt die Grundlehre dadurch eine
Unveraͤnderlichkeit von ganz anderer Art, oder beſſer
zu ſagen, ihre bisherige Veraͤnderlichkeit (§. 21.) wird
dadurch ganz oder wenigſtens groͤßtentheils aufgeho-
ben. Denn die Definitionen, die ſich nicht in jede
Redensarten ſchicken koͤnnen, worinn das Wort einen
erſt durch den Zuſammenhang der Rede beſtimmba-
ren Umfang der Bedeutung erhaͤlt, bleiben aus der
Grundlehre weg, und indem man anzeiget, daß der
Umfang veraͤnderlich iſt, und, ohne viele Redens-
arten
[29]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
arten unbrauchbar zu machen, nicht feſtgeſetzet wer-
den kann; ſo beugt man dadurch vor, daß nicht an-
dere, die ſich etwann nicht auf alle Redensarten,
worinn das Wort vorkoͤmmt, beſinnen, nur aus eini-
gen derſelben eine Definition machen, welche durch
die aus der Acht gelaſſene Redensarten leicht wieder
umgeſtoßen werden kann. Dieſes bisher faſt im-
mer vorgekommene Umſtoßen und Neues de-
finiren iſt es eben, was die Metaphyſic ſo ver-
aͤnderlich machte. Es iſt fuͤr ſich klar, daß es
auch da Statt finden mußte, wo verſteckte Vieldeu-
tigkeiten zuruͤck blieben, die nicht ſo ſtufenweiſe von
einander verſchieden waren, wie man z. E. nach vie-
len Streitigkeiten fuͤr und wider die Vernunft, end-
lich darauf verfiel, man muͤſſe das Erkenntnißver-
moͤgen, welches Vernunft heißt, von dem unterſchei-
den, was jeder dadurch findet oder zu finden glaubt,
und daher als der Vernunft gemaͤß ausgiebt.
§. 34.
Zu der Unveraͤnderlichkeit der Grundlehre muͤſſen
wir noch die Vollſtaͤndigkeit rechnen, als welche
nicht nur fuͤr ſich ein Vorzug iſt, ſondern auch zu der
Unveraͤnderlichkeit viel beytraͤgt. Die Vollſtaͤndigkeit
wird durch richtige Eintheilungen, durch Abzaͤh-
lung der Faͤlle, Claſſen, Arten, Glieder ꝛc. und
durch richtig angebrachte Combinationen und Per-
mutationen erhalten. Jch habe die Theorie davon
in der Dianoiologie um deſto umſtaͤndlicher abgehan-
delt, weil in beyden Wolfiſchen Vernunftlehren davon
nichts vorkoͤmmt, und dieſer Weltweiſe die Hoffnung
aufgegeben zu haben ſcheint, etwas Vollſtaͤndiges
und Brauchbares dabey zu finden, und die Regeln
davon in der Metaphyſic richtig anzuwenden. Jn-
deſſen
[30]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
deſſen iſt es unſtreitig, daß eine richtige Abzaͤhlung
der Faͤlle, Claſſen ꝛc. zur Deutlichkeit, Ordnung, und
beſonders zur Vollſtaͤndigkeit und Zuverlaͤßigkeit des
Vortrages ungemein viel beytraͤgt. Die Begriffe
der Gattungen koͤnnen allerdings richtiger beſtimmt
werden, wenn man die Arten abgezaͤhlt vor ſich hat.
Die diſiunctiven, copulativen und remotiven Saͤtze
und die aus ſolchen zuſammengeſetzten Schluͤſſe und
naͤchſten Umwege im Schließen, werden dadurch zu-
verlaͤßig und brauchbar. Was bey dem eingetheilten
Begriffe anwendbar iſt, laͤßt ſich ſogleich auch bey
den Gliedern der Eintheilung anwenden. Die ſpecia-
lere Beſtimmungen, die es dabey erhaͤlt, koͤnnen ſo-
gleich eroͤrtert und angegeben, und die Glieder der
Eintheilung in einer Abſicht, mit den Gliedern der
Eintheilung in andern Abſichten verglichen werden,
wie fern ſie in Jndividualfaͤllen beyſammen ſeyn koͤn-
nen oder nicht. Dadurch wird auch viel von den
oben (§. 15. 16. 17.) angefuͤhrten Erforderniſſen der
Grundlehre erhalten. Ueberdieß verſchwindet bey
richtigen und erwieſenen Abzaͤhlungen und Einthei-
lungen die Beſorgniß, es moͤchte noch etwas zuruͤck
bleiben, welches alles wieder umſtoße, und das will-
kuͤhrlich ſcheinende faͤllt dabey ganz weg.
§. 35.
Da das Reich der Wahrheiten ſich eben ſo, wie
das Reich der Moͤglichkeiten, in das Unendliche aus-
breitet, ſo bleibt in dieſer Abſicht betrachtet in den
menſchlichen Wiſſenſchaften immer eine Unvollſtaͤn-
digkeit zuruͤck. So z. E. koͤnnen wir etwa die ein-
fachen Begriffe aufſuchen und abzaͤhlen, darauf ſich
unſere ganze Erkenntniß gruͤndet. Allein es koͤnnen
uns viele eben ſo fehlen, wie den Blinden die Begriffe
der
[31]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
der Farben, und damit bleibt zugleich auch in der
Combination der einfachen Begriffe alles weg, was
von ſolchen uns etwann fehlenden Begriffen abhaͤngt,
weil wir nur die combiniren und mit einander ver-
gleichen koͤnnen, die wir wirklich haben, oder zu de-
ren Vorſtellung die menſchliche Natur eingerichtet iſt.
Und auch hierinn koͤnnen wir nur ſtuffenweiſe weiter
gehen, weil die allgemeinen und unbedingten Moͤg-
lichkeiten, die bey den einfachen Begriffen vorkom-
men, immer noch neuen Stoff angeben, ſo weit wir
es auch in Zuſammenſetzung der Begriffe, und Her-
leitung der Saͤtze bringen. Dieſe Art von Vollſtaͤn-
digkeit bleibt demnach aus unſern Wiſſenſchaften
weg, und muß mit der vorhin (§. 34.) erwaͤhnten,
welche nur auf die einfachern Theile geht, nicht ver-
wechſelt werden. So fern wir uͤbrigens aus den Be-
griffen, die wir haben, auf Luͤcken ſchluͤſſen koͤnnen,
die von den uns mangelnden Begriffen herruͤhren, ſo
fern iſt es auch moͤglich, das Mangelnde durch Woͤr-
ter und Zeichen anzudeuten, und dadurch wenig-
ſtens unſere ſymboliſche Erkenntniß vollſtaͤndiger und
brauchbarer zu machen.
§. 36.
Wir haben noch eine Schwierigkeit anzufuͤhren,
welche die Grundlehre ins beſondere und ihren Vor-
trag anzugehen und zu druͤcken ſcheint. Sie ruͤhret
wiederum vom Definiren her. So ferne naͤmlich
die Grundlehre, die erſten Anfaͤnge unſerer Erkennt-
niß und zwar a priori angeben ſolle (§. 3.), ſo ſcheint
es, als muͤſſe man mit einem Regiſter von Defini-
tionen anfangen, und man doͤrfe kein Wort gebrau-
chen, welches nicht in dieſen Definitionen vorkaͤme.
Daher ſcheint es auch gekommen zu ſeyn, daß man in
der
[32]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
der Ontologie auch die allerklaͤreſten Woͤrter zu defini-
ren, und die Definitionen ſo unter einander zu ordnen
ſuchte, daß keine logiſchen Cirkel darinnen vorkaͤmen,
die aber nach der Art, wie man dabey verfahren,
nicht wohl zu vermeiden waren, (§. 22. 27.). Die
Frage, wo man damit anfangen, und wie man fort-
ſetzen ſolle, war immer die ſchwerſte, und kam noth-
wendig vor, ſo lange man dem Definiren weder ein
Ziel ſetzte, noch daſſelbe kannte. Die Betrachtun-
gen, die wir oben uͤber die Syſteme von Sach-
erklaͤrungen und Worterklaͤrungen angeſtellet haben,
(§. 22-28.) zeigen, wie man anders verfahren muͤſſe,
und daß bey den einfachen Begriffen beyde Arten von
Definitionen ſchlechthin wegfallen, weil dieſe Begriffe
und ihre Namen der Anfang zu beyden Syſtemen
ſind. Auf dieſe Art laſſen ſich nun die logiſchen Cir-
kel vermeiden. Wir muͤſſen aber noch zeigen, daß
man in dem Vortrage der Grundlehre, und beſon-
ders im Anfange nicht nothwendig in den Worten
ſparſam ſeyn muͤſſe.
§. 37.
Zu dieſem Ende merken wir an, daß man in jeden
Wiſſenſchaften zwiſchen denen Woͤrtern, welche eigent-
lich die Grundlage derſelben ſind, und zwiſchen denen,
die man aus der gemeinen Erkenntniß entlehnet, al-
lerdings einen Unterſchied machen koͤnne. Die Wiſ-
ſenſchaft, ihre Erklaͤrungen, Lehrſaͤtze und Aufgaben
gehen eigentlich auf jene, und da ſie den Hauptgegen-
ſtand davon ausmachen, ſo werden ſie eben dadurch
ſchon von denen aus der gemeinen Erkenntniß ent-
lehnten, ohne Muͤhe unterſchieden. Auf dieſe Art
kann man z. E. uͤber die erſten Begriffe der Grund-
lehre Anmerkungen machen und Betrachtungen an-
ſtellen,
[33]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
ſtellen, ſo viel man noͤthig findet, und die Woͤrter
und Beyſpiele dazu aus der gemeinen Erkenntniß
borgen.
§. 38.
Sodann koͤnnen wir anmerken, daß es bey dem
wiſſenſchaftlichen Vortrage der Grundlehre eigentlich
um die Allgemeinheit der Begriffe und der Saͤtze zu
thun iſt, damit man ſie, ohne Beſorgniß zu fehlen,
ſicher anwenden koͤnne, wo das Subject derſelben,
oder auch das Praͤdicat vorkoͤmmt. Die haͤufigen
Streitigkeiten uͤber die Allgemeinheit des zureichen-
den Grundes moͤgen zum Beyſpiele dienen, daß man
ohne Bedenken Woͤrter genug gebrauchet, fuͤr oder
wider dieſen Satz zu ſtreiten, und dabey nicht ſo leicht
vergißt, daß derſelbe der Gegenſtand der Streitig-
keit iſt. Auf eine aͤhnliche Art koͤnnen die Saͤtze der
Grundlehre, wo es noͤthig oder nuͤtzlich iſt, mit Saͤ-
tzen aus der gemeinen Erkenntniß durchflochten wer-
den, ohne daß man dabey vergeſſe, daß jene zur
wiſſenſchaftlichen Grundlehre, dieſe aber zur gemei-
nen Erkenntniß gehoͤren, und dabey nur in Form von
Anmerkungen, Erlaͤuterungen ꝛc. vorkommen. Eine
Ontologie raiſonnée, oder eine mit logiſchen Anmer-
kungen und Beurtheilungen durchflochtene Grund-
lehre wuͤrde ein aͤhnliches Ausſehen haben, und nicht
von den ſchlechteſten ſeyn. Jch werde eben daher
auch im folgenden mit ſolchen Anmerkungen nicht
ſparſam ſeyn.
§. 39.
Jn Anſehung der Allgemeinheit der Saͤtze koͤnnen
beſonders diejenigen einige Schwierigkeiten verurſa-
chen, die auf eine tranſcendente Art allgemein ſind,
und daher auf die Jntellectualwelt und auf die Koͤrper-
Lamb. Archit.I.B. Cwelt
[34]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
welt zugleich ſollen koͤnnen angewandt werden. Da
ſolche Saͤtze aus tranſcendenten Begriffen beſtehen,
ſo laͤßt ſich daruͤber eben das anmerken, was wir von
dieſen Begriffen bereits vorhin (§. 29. ſeqq.) erin-
nert haben. Die Allgemeinheit mag beybehalten
werden, ſo lange die Sprache Woͤrter von gleich
tranſcendentem Umfange der Bedeutung angiebt.
Wo aber die Woͤrter fehlen, oder wo Vieldeutigkeit
und Misverſtaͤndniß zu befahren iſt, da iſt es aller-
dings beſſer, wenn man anfaͤngt den Satz auf die
Koͤrperwelt beſonders anzuwenden, um das Tertium
Comparationis deutlicher zu beſtimmen, welches ſodann
bey der Anwendung des Satzes auf die Jntellectual-
welt zum Grunde geleget werden kann. Dieſes iſt um
ſo viel rathſamer weil uns die Jntellectualwelt oh-
nehin nicht anders, als durch eine Art von Aehnlich-
keit mit der Koͤrperwelt bekannt iſt, und alle Woͤr-
ter, wodurch wir jene vorſtellen von dieſer hergenom-
men und metaphoriſch gemacht ſind. So z. E. wird
die Theorie der Kraͤfte ungleich deutlicher und ſiche-
rer |nach jeder von ihren drey Gattungen beſonders
abgehandelt (§. 29.), und ſo auch wird der Be-
griff der Ordnung beſſer entwickelt, wenn man bey
der localen Ordnung beſonders anfaͤngt, von welcher
der Begriff und im Deutſchen ſelbſt auch das Wort
hergenommen iſt. Denn ſonſt werden in ſolche
Begriffe, die auf ſo gar viele und ganz ver-
ſchiedene Dinge anwendbar ſind, unvermerkt
Beſtimmungen eingeſchoben, die nicht ſo all-
gemein vorkommen, und von beſondern Faͤl-
len hergenommen ſind. Man ſieht auch leicht, daß
man dieſes nur durch die genaue Abzaͤhlung der Faͤlle
(§. 34.) ſicher vermeiden kann. Die ontologiſchen
Verhaͤltnißbegriffe ſind mehrentheils von einer ſol-
chen
[35]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
chen allgemeinen und tranſcendenten Anwendbarkeit,
und die Abzaͤhlung der Faͤlle hat dabey betraͤchtliche
Vortheile, weil ſie dadurch nicht nur genauer be-
ſtimmt, ſondern fuͤr jeden Fall noch die beſonderen
Beſtimmungen beygefuͤget werden koͤnnen.
§. 40.
Bisher habe ich die Erforderniſſe (Requiſita) der
Grundlehre angezeiget, die ſie haben muß, wenn ſie
wiſſenſchaftlich ſeyn ſoll. Jch will nicht beſtim-
men, ob es alle ſind. Aber die angebrachten ſind
ſchon genug, und bald mehr als zu viel, wenn man
ſie bey Auffuͤhrung des Lehrgebaͤudes nie aus den
Augen ſetzen, ſondern ſie immer verbinden und in je-
den Theilen zugleich erhalten ſoll. Jch haͤtte mehrere
angefuͤhret, wenn ſie mir beygefallen waͤren, ohne
mich durch die Aufhaͤufung der Schwierigkeiten ab-
ſchrecken zu laſſen. Denn es iſt allerdings beſſer, daß
man durchaus und genau wiſſe, was man eigentlich
verlanget, wenn man eine im ſtrengern Verſtande
wiſſenſchaftliche Grundlehre verlanget, und wie man
zuruͤcke bleibt, wenn man nicht alle Erforderniſſe der-
ſelben mitnimmt, ſondern diejenigen unterdruͤckt, oder
nach dem meminiſſe horret aus dem Sinne ſchlaͤgt,
deren Schwierigkeit etwann ehender abſchrecken als
aufmuntern kann. Durch die Abzaͤhlung ſolcher Er-
forderniſſe findet man auch genauer den Leitfaden,
dem man zu folgen hat, weil man ſich die Ziele, und
alle vorſtellet, dahin er fuͤhren ſoll. Ein ſolcher Leit-
faden iſt von den gemeinen Topiken, ganz verſchie-
den. Der Stoff und die Ordnung des Vortrages
in jeder einzeln Wiſſenſchaft muß aus den Abſichten
beſtimmet werden, zu welchen ſie dienen ſoll, und
dieſe Abſichten haben fuͤr jede etwas beſonders, wel-
C 2ches
[36]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
ches keinen ſo allgemeinen Model zulaͤßt, in welchen
ſie ſaͤmmtlich gegoſſen werden koͤnnten, um ihre aͤchte
Form zu haben.
§. 41.
Nach den angegebenen Erforderniſſen erhaͤlt auch
die Grundlehre eine ganz andere Geſtalt, als ſie
bisher gehabt hat. Sie wird vollſtaͤndiger und die
Ordnung verſchieden. Jch merke dieſes hier an, weil
dadurch auch nicht wenige von den uͤber dieſe Wiſſen-
ſchaft gemachte Fragen theils wegfallen, theils um-
gekehret oder ſonſt geaͤndert werden und werden muͤſ-
ſen. So z. E. um davon eine ziemlich allgemeine
Formel zu geben, wird die Frage: Wie gruͤndet
ſichAaufB? umgekehrt in die verwandelt: Wie
gruͤndet ſichBaufA? Die oben gemachten An-
merkungen (§. 23-29.) erlaͤutern dieſes zureichend,
und geben die Faͤlle an, wo dieſe Aenderung vor-
koͤmmt. Sodann wird dieſen Fragen, und auch de-
nen, ſo man uͤber das Definiren machet, ein An-
fang geſetzt, und daher fallen die Fragen weg, die
man vor dieſem Anfange noch vorher machte. Auf
eine andere Art fallen die Fragen weg, deren Auf-
loͤſung und deutliche Entwickelung in der wiſſenſchaft-
lichen Grundlehre wirklich angegeben wird. Durch
eine ſolche Entwickelung werden auch die Fragen ge-
aͤndert, welche wegen verſteckter Vieldeutigkeiten,
aus der Acht gelaſſener Bedingungen ꝛc. gemacht
worden ſind, und ſie fallen ganz weg, wenn die Be-
dingungen, die ſie voraus ſetzen, durch die richtigern
Saͤtze der Grundlehre ins ungereimte und unmoͤgli-
che verwieſen werden. Dieſe Anmerkungen habe
ich noch beyfuͤgen ſollen, damit man genauer finden
koͤnne, was man bey einer wiſſenſchaftlichen Grund-
lehre
[37]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
lehre zu fragen habe? Jn der Grundlehre ſind bis-
her auch Fragen vorgekommen, die durch Saͤtze ver-
anlaſſet worden ſind, welche man aus ontologiſchen
Gruͤnden gerne erwieſen oder umgeſtoßen haͤtte, und
ſolchen Saͤtzen zu gefallen, haben die ontologiſchen
Definitionen oͤfters Anderungen gelitten. Solche
Fragen muͤſſen bey einer richtigen und wiſſenſchaftli-
chen Grundlehre ſchlechthin wegfallen. Denn ſie ſind
ungefaͤhr von der Art, als wenn man in der Mathe-
matic fragete: ob man nicht dem Ptolomaͤiſchen
Weltbaue, oder dem Perpetuo mobili, oder der
Quadratur des Cirkels zu Liebe, einige Begriffe, und
Saͤtze der Geometrie aͤndern wolle, damit ſie ſich
daraus erweiſen und herleiten laſſen. Die Grund-
lehre ſoll in ein wiſſenſchaftliches Lehrgebaͤude ge-
bracht werden, ohne daß man darauf ſehe, ob man,
was daraus folget, erwartet oder anders geglaubet
habe? Und iſt ſie in der That wiſſenſchaftlich, ſo
koͤmmt nichts darinn vor, welches ſich in den Folgen
umſtoßen, oder ad abſurdum deduciren laſſen koͤnnte,
ſondern dieſe Folgen ſtoßen die Saͤtze um, welche den-
ſelben zuwider laufen.
§. 42.
Man kann aber leicht zeigen, warum man ſich
ehender hat in den Sinn kommen laſſen, in den on-
tologiſchen Begriffen und Saͤtzen den Folgen zu ge-
fallen Aenderungen vorzunehmen. Denn die Defi-
nitionen der Grundlehre wurden aus dieſen Folgen,
oder durch die Saͤtze beſtimmet, die man daraus her-
leiten wollte. Dieſes hieße man: eine Sache dem
Wortgebrauche gemaͤß erklaͤren. Dieſer Wort-
gebrauch war aber oͤfters nur derjenige, ſo bey vor-
gefaßten Meynungen und Hypotheſen ein oder ande-
C 3rer
[38]I. Hauptſtuͤck. Erforderniſſe
rer Secte vorkam. Man kann die verſchiedenen De-
finitionen von der Subſtanz, imgleichen die von
Raum und Zeit, als Beyſpiele anſehen. Der
Wortgebrauch iſt eben kein untrieglicher Maaßſtab
von der Richtigkeit einer Erklaͤrung, weil verſteckte
Vieldeutigkeiten und veraͤnderliche Schranken in dem
Umfange der Bedeutung (§. 30-33.) dabey vorkom-
men koͤnnen, und oͤfters auch vorkommen, wo man
ſie kaum vermuthete. Wir haben oben (§. 23.) ver-
ſchiedene andere Unrichtigkeiten bey ſolchen Definitio-
nen angemerket, und beſonders (§. 27.) gezeiget,
daß ſie eigentlich weder Sacherklaͤrungen noch Wort-
erklaͤrungen, ſondern ein Mittelding zwiſchen beyden
waren, weil ſie aus Verhaͤltnißbegriffen beſtun-
den, und daß man dabey, wenn auch alles andere
richtig iſt, die logiſchen Cirkel im definiren nicht
wohl vermeiden koͤnne. Jn der Geometrie liegt im-
mer die Sache ſelbſt zum Grunde, und Wort und
Begriffe richten ſich nach derſelben, (§. 12.). Und
dieſes ſoll in der Grundlehre von Rechts wegen auch
ſeyn.
§. 43.
Hier aber iſt man darauf verfallen, eine Schwie-
rigkeit zu finden, die wir noch beruͤhren muͤſſen. Sie
betrifft die Unterſcheidung der Sachen ſelbſt von
dem Scheine. Und dabey iſt man in der Ontologie
ſehr weit gegangen, indem man den Raum, die
Zeit, die Bewegung und bewegende Kraͤfte und
damit die ganze Koͤrperwelt, unter den Namen
von Phaenomenis, fuͤr nichts beſſer, als einen bloßen
Schein ausgegeben, und die ontologiſchen Definitio-
nen dazu eingerichtet. Nun kann man allerdings
beweiſen, daß ſich die Koͤrperwelt unſern Sinnen
nur nach dem Scheine zeiget, und daß es wenige
Faͤlle
[39]einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre.
Faͤlle giebt, wo die Sprachen des Scheines und des
Wahren zuſammen treffen. Dieſes habe ich in der
Phaͤnomenologie umſtaͤndlich ausgefuͤhret. Daraus
aber folget noch nicht, daß die Koͤrperwelt ein ganz
leerer Schein ſey. Wenn es aber auch waͤre ſo muͤß-
ten die von dem Scheine hergenommene Begriffe im-
mer zum Grunde geleget werden, bis man aus den-
ſelben ſo viel finden kann, daß ſich das Reale und
Wahre dadurch beſtimmen laͤßt. Dieſe Methode,
welche die Aſtronomen laͤngſt ſchon gebrauchet haben,
findet ſich in der Phaͤnomenologie gleichfalls ange-
zeigt. Man hat aber in der Grundlehre anders ver-
fahren. Denn indem man von der Realitaͤt, wegen
der Beſorgniß des Scheines abſtrahirte, und an-
ſtatt von der Sache ſelbſt hergenommene Axiomata zu
gebrauchen, ſich nur an Principia hielt, die nicht den
Stoff, ſondern nur die Form der Erkenntniß be-
traffen, ſo blieben hoͤchſtens nur Verhaͤltnißbegriffe.
Da ſich aber aus bloßen Verhaͤltniſſen keine Sache
beſtimmen laͤßt, ſo war die Schwierigkeit immer
noch ganz da, wie man nach der in der Ontologie
angenommenen Ordnung zum Realen kommen koͤn-
ne? Man ſetze aber auch, daß wir unaufloͤslich an
den Schein gebunden waͤren, ſo muͤßte und koͤnnte
die menſchliche Grundlehre nur die erſten Grund-
geſetze des Scheines enthalten, und ihre Theorie zum
Gebrauche bequem machen.
§. 44.
Jch fuͤhre dieſe Betrachtungen hier an, um zu
zeigen, daß die Beſorgniß des Scheines im gering-
ſten nicht hindert, in der Grundlehre bey den einfa-
chen Begriffen den Anfang zu machen, ſo wie man
wegen der Wort- und Sacherklaͤrungen dabey den
C 4Anfang
[40]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
Anfang machen muß, (§. 28.). Wer dazu Luſt hat,
mag ſie, als vom Scheine hergenommene Begriffe,
annehmen. Der Schein verraͤth ſich immer in den
Folgen, und dieſe muͤſſen zeigen, ob der Schein vom
Realen abgehe, und wie ferne? Man kann aber
aus allen bisher angefuͤhrten Betrachtungen uͤber die
Erforderniſſe der Grundlehre leicht und auf eine viel-
fache Art ſehen, daß man dieſe Folgen anders ziehen
muͤſſe, als man ſie bisher mehrentheils gezogen hat.
Und da duͤrfte eben nicht ſo vielem die Realitaͤt ab-
zuſprechen ſeyn, als man es vermuthet hatte.
Zweytes Hauptſtuͤck.
Einfache Grundbegriffe und Theile der
Grundlehre.
§. 45.
Was ich in vorhergehendem Hauptſtuͤcke von den
Erforderniſſen der Grundlehre angefuͤhret ha-
be, iſt meiſtens aus meinem Organon genommen, und
theils in die Kuͤrze gezogen, theils auf die Grund-
lehre beſonders angewandt worden. Ein aͤchtes Or-
ganon ſoll bey jeden Wiſſenſchaften zum Leitfaden die-
nen, und die topiſche Kunſt, nach welcher man ſie
vortragen zu koͤnnen glaubte, entbehrlich machen,
(§. 40.). Jch habe auch das, ſo in gegenwaͤrtigem
Hauptſtuͤcke vorkoͤmmt, in dem letzten Hauptſtuͤcke
der Dianoiologie und in den beyden erſten Hauptſtuͤ-
cken der Alethiologie, in Abſicht auf die Methode und
die Wahrheit betrachtet. Hier werde ich es in Ab-
ſicht
[41]und Theile der Grundlehre.
ſicht auf die Sache ſelbſt umſtaͤndlicher anfuͤhren,
weil die einfachen Begriffe in allwegen den An-
fang der Grundlehre ausmachen ſollen, (§. 28. 44.).
Da ſowohl dieſe Begriffe, als ihre Namen keiner Er-
klaͤrung beduͤrfen, ſo werde ich ſchlechthin nur die
Verzeichniß, oder das Regiſter derſelben herſetzen,
und die Anmerkungen beyfuͤgen, die ſie natuͤrlicher
Weiſe darbiethen.
§. 46.
Es ſind demnach, ſo viel mir beygefallen, folgende:
- I°. Einfache Grundbegriffe.
- 1°. Die Soliditaͤt.
- 2°. Die Exiſtenz.
- 3°. Die Dauer.
- 4°. Die Ausdehnung.
- 5°. Die Kraft.
- 6°. Das Bewußtſeyn.
- 7°. Das Wollen.
- 8°. Die Beweglichkeit.
- 9°. Die Einheit.
- 10°. Die Groͤße.
- II°. Von dem ſinnlichen Scheine hergenommene.
- 11°. Licht, Farben, Schall, Waͤrme ꝛc.
- III°. Verba, oder Zeitwoͤrter.
- 12°. Seyn, werden, haben, koͤnnen, thun.
- IV°. Aduerbia, oder Zuwoͤrter.
- 13°. Nicht, gleich, einerley, zugleich, was?
wie? ob? warum?
- 13°. Nicht, gleich, einerley, zugleich, was?
- V°. Praepoſitiones, oder Vorwoͤrter, Verhaͤltniſſe.
- 14°. Zu, vor, bey, aus, nach, auf, durch ꝛc.
- VI°. Coniunctiones, oder Bindewoͤrter, Zuſam-
menhang.- 15°. Weil, warum, auch, ſondern, aber,
wenn, doch ꝛc.
- 15°. Weil, warum, auch, ſondern, aber,
C 5§. 47.
[42]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
§. 47.
Das erſte, was wir hiebey anzumerken haben, iſt,
daß wir dieſe Woͤrter, ſo fern ſie einfache Begriffe
vorſtellen, ſaͤmmtlich in ihrer eigentlichen Bedeu-
tung nehmen, weil viele darunter metaphoriſch wer-
den koͤnnen, und es bereits ſchon ſind.
§. 48.
Sodann iſt aus der Betrachtung dieſes Verzeich-
niſſes leicht zu ſehen, daß die Vergleichung der Jn-
tellectualwelt und der Koͤrperwelt bereits ſchon bey
den einfachen Begriffen anfaͤngt. Wir vergleichen das
Wollen mit der Kraft und mit der Bewegung.
Dem Verſtande geben wir gleichfalls eine Kraft,
und den Gedanken eine Ausdehnung und Soli-
ditaͤt, ſo fern naͤmlich die Soliditaͤt mit der Fe-
ſtigkeit eine Verbindung hat. Die Begriffe Exi-
ſtenz, Dauer, Einheit, Groͤße ſind ohnehin tran-
ſcendent, und kommen in der Jntellectualwelt ſo gut
als in der Koͤrperwelt vor. Da wir die meiſten oder
gar alle Ausdruͤcke, ſo wir bey dem Verſtande und
Willen gebrauchen, aus der Koͤrperwelt borgen und
metaphoriſch machen, ſo werden ſich die Gruͤnde zur
Vergleichung, und die Vergleichungsſtuͤcke immer ge-
nauer und leichter finden laſſen, je beſſer uns die
Koͤrperwelt, oder die Theile derſelben, woher wir die
Vergleichung nehmen koͤnnen, bekannt iſt. Daher
werden wir dem oben in dieſer Abſicht angegebenen
Leitfaden folgen, (§. 29. 39.).
§. 49.
Jch habe ferner in dieſem Verzeichniſſe die einfa-
chen Begriffe in Claſſen getheilet. Die erſten bey-
den Claſſen hat Locke in ſeinem Werke von dem
menſchlichen Verſtande bereits durch eine ſorgfaͤl-
tige Anatomie heraus gebracht, und ſie auf eine aͤhn-
liche
[43]und Theile der Grundlehre.
liche Art abgeſondert. Daher konnte ich ſie in der
Alethiologie kuͤrzer vortragen, wo ich ſie ungefaͤhr,
wie Locke nach Anleitung der Sinnen und Empfin-
dungen, wodurch dieſe Begriffe in uns veranlaſſet
werden, aufſuchete. Jn der Phaͤnomenologie aber
habe ich auf eine umſtaͤndlichere Art angezeiget, war-
um ich die Begriffe der Farben, des Schalles,
der Waͤrme ꝛc. welche die eigene und unmittelbare
Gegenſtaͤnde der Sinnen und Empfindungen ſind,
als Begriffe anſehe, die von dem Scheine der Koͤr-
perwelt herruͤhren. Daher ſondere ich hier ohne Be-
denken die zweyte Claſſe von der erſten ab, um ſo
mehr, da ſie viel zu ſpecial ſind, als daß ſie in der
Grundlehre, jeder beſonders betrachtet, vorkommen
ſollten, (§. 3.).
§. 50.
Hingegen benennete ich die erſte Claſſe Grund-
begriffe, weil ſie eben ſo viele Gegenſtaͤnde der
Grundlehre ſind, und weil ſich die folgenden Claſſen
auf dieſe beziehen, und dabey angewandt werden koͤn-
nen. Die vier letzten Claſſen habe ich unvollſtaͤndig
gelaſſen, weil die Woͤrter derſelben, wegen der Ver-
bindung, ſo ſie mit der erſten Claſſe haben, bey naͤ-
herer Betrachtung dieſer Claſſe, ſich ohnehin von
ſelbſt darbiethen, und da ſie theils vieldeutig, theils
von veraͤnderlichem Umfange der Bedeutung ſind, ſo
wird der Begriff, der damit verbunden iſt, jedesmal
genauer aus dem Zuſammenhange der Rede be-
ſtimmet. Jn Anſehung der drey letzten Claſſen be-
ſonders kann ich mich hier Kuͤrze halber auf das ſech-
ſte Hauptſtuͤck der Semiotic beziehen, welches dar-
uͤber gemachte Anmerkungen enthaͤlt. Aus der vier-
ten Claſſe aber wird der Begriff einerley, Jdentitaͤt,
eine beſondere Betrachtung verdienen, und kann mit
zu
[44]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
zu den Grundbegriffen gerechnet werden, ungeachtet
er von ganz anderer Art, als die Begriffe der erſten
Claſſe iſt.
§. 51.
Von allen dieſen Begriffen werde ich keine Defi-
nition geben. Vielleicht lieſſen ſich einige durch Ver-
haͤltniſſe zu andern Begriffen ſo weit beſtimmen oder
kenntlich machen, als man voraus ſetzet, jemand,
dem man ſie auf dieſe Weiſe kenntlich machen will,
habe dieſe Begriffe nicht, er habe aber die Begriffe,
die man zu der Definition gebraucht. Es iſt aber
bey ſolchen Definitionen nichts ſyſtematiſches, und die
logiſchen Cirkel finden ſich unvermeidlich dabey ein,
wenn man ſie fortſetzen ſoll, (§. 27. 7.). So z. E.
kann man etwann ſagen: Das Solide iſt das Dichte
in der Materie, welches den Raum ausfuͤllet, oder
das Reale Etwas ꝛc. damit habe ich aber keinen
klaͤrern Begriff von dieſem Etwas, welches in der
Materie ſolid iſt. So hat man auch die Exiſtenz
durch ein Etwas definiren wollen, welches noch zur
Moͤglichkeit hinzukommen muͤſſe, um wirklich zu
ſeyn, oder durch ein poſitives und abſolutes ſe-
tzen, welches ſo viel iſt, als exiſtiren machen ꝛc.
Bey allem dieſem iſt Locke gluͤcklicher verfahren. Er
zeiget ſchlechthin nur die Art der Empfindungen an,
wodurch wir zu dieſen Begriffen gelangen. Carte-
ſius mit ſeinem Cogito, ergo ſum, waͤre auf glei-
chem Wege geweſen, und ſelbſt Wolf, der doch
alles wollte definirt wiſſen, verfiel darauf, da er eine
Erklaͤrung von der Luſt ſuchete. Er konnte nur an-
geben, wie ſie in uns entſteht, oder wodurch ſie
erreget wird. Vielleicht haͤtte er ſie, nach ſeiner Art
durch Verhaͤltniſſe zu definiren, den Trieb zum
Wollen nennen koͤnnen, und zwar den Subjectiven,
weil
[45]und Theile der Grundlehre.
weil der Objective von der Vorſtellung des Guten
herkoͤmmt. Jch kann uͤberhaupt noch anmerken, daß
man durch ſolche verſuchte Definitionen immer noch
zu hoͤhern Gruͤnden hinauf zu kommen ſuchte, und
aus denſelben noch mehr herleiten zu koͤnnen glaubte.
Da man aber bey dem eigentlichen Analyſiren der
Begriffe endlich auf die einfachen koͤmmt (§. 7.), wel-
che ſich nach der Lockiſchen Anatomie der Begriffe
leichter, und allem Anſehen nach nicht anders, als
nach derſelben, finden laſſen (§. 9. 8.), ſo iſt es ver-
nuͤnftiger, daß man dabey anfange, dieſe Begriffe
zum Grunde zu legen, und anſtatt hoͤhere Gruͤnde zu
ſuchen, ihre Folgen brauchbar zu machen.
§. 52.
Ehe ich zur Vergleichung dieſer einfachen Grund-
begriffe fortſchreite, werde ich anmerken, daß ich den
fechſten und ſiebenten, oder das Bewußtſeyn und
das Wollen bey dieſer Vergleichung weglaſſe. Denn
erſteres koͤmmt bey allen vor, letzteres aber hat ein
eigenes Object, naͤmlich das gute, und gehoͤret da-
her beſonders in die Agathologie, oder die Lehre vom
Guten, ſo wie das Bewußtſeyn, ſo fern es auf
das Wahre geht, in dem Organon zum Gegenſtan-
de dienet. Beyde aber werden in einer andern Ab-
ſicht in der Pſychologie oder Theorie des denkenden
Weſens betrachtet. Die Vergleichung des Wah-
ren, des Guten und des Moͤglichen, wie auch ihrer
Gruͤnde und der dazu erforderlichen Kraͤfte wird
ſich im folgenden beſſer vortragen laſſen.
§. 53.
Auf dieſe Art bleiben noch: die Soliditaͤt, Exi-
ſtenz, Dauer, Ausdehnung, Kraft, Beweg-
lichkeit, Einheit, (wohin wir auch die Groͤße rech-
nen),
[46]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
nen), und Jdentitaͤt. Man ſieht uͤberhaupt leicht,
daß ſich zwiſchen dieſen Begriffen mehrerley Ver-
haͤltniſſe gedenken laſſen, und daß ſie theils einzeln,
theils mehrere mit einander in Vergleichung koͤn-
nen gebracht werden. Jch lege demnach einen jeden
zum Grunde, und ſehe, welche von den andern damit
ganz oder zum Theil, nothwendig oder willkuͤhrlich
verbunden ſind. Was ich dabey gefunden, ſtellet
folgende Figur vor Augen, welcher ich die Erklaͤrung
beyfuͤgen werde.
Correlatader Grundlehren.
[47]und Theile der Grundlehre.
Jn dieſer Tabelle bedeutet
- * der zum Grunde gelegte Begriff,
- = damit nothwendig verbundene,
- + der Gegenſtand des Hauptbegriffes,
-  nur zum Theil verbundene Begriffe,
- ‒ verglichene Begriffe.
§. 54.
Dieſe Tabelle habe ich nur hieher geſetzet, um die
Combinationen, die ſie enthaͤlt, mit einem Male vor
Augen zu ſtellen. Sie gruͤndet ſich auf die acht ein-
fachen Begriffe, die vor den Verticalcolumnen her-
unter geſetzet ſind. Wollte man dieſe acht Begriffe
zu zween und zween, zu drey und drey ꝛc. combini-
ren, ſo wuͤrde man in allem 255 Combinationen her-
aus bringen. Allein, die naͤhere Betrachtung die-
ſer Begriffe laͤßt ſo viele Combinationen nicht zu,
und vermindert ihre Anzahl ſehr merklich. Jch
werde ſie daher nach der Ordnung der Columnen
betrachten.
§. 55.
Jn der erſten Columne liegt der Begriff der Jden-
titaͤt zum Grunde, wohin ich die damit verwandten
Begriffe aͤhnlich, verſchieden, gleich, ungleich ꝛc.
rechne. Da ſich nun der Begriff einerley mit jeden
der andern einfachen Grundbegriffe verbinden laͤßt,
ſo findet ſich in der erſten Columne keine leere Zelle.
Jm Gegentheile habe ich die neben Soliditaͤt und
Kraft ſtehende Zelle mit + bezeichnet, weil dieſe
drey Begriffe die Grundlage zu dem allgemeinen
Calculo qualitatum ſind, ſo fern dieſer dem Calculo
quantitatum entgegen geſetzt wird. Jch merke die-
ſes hier nur im Vorbeygehen an, um anzuzeigen,
warum ich unter die erſte Columne die Worte: Calcul
der
[48]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
der Qualitaͤten, geſetzet habe. Die Jdentitaͤt ver-
dienet im Folgenden in der Grundlehre eine beſondere
Theorie um deſto mehr, weil ſie ſo allgemein an-
wendbar iſt.
§. 56.
Jn der zweyten Columne liegt der Begriff der
Einheit zum Grunde, und da habe ich wiederum
keine leere Zelle gelaſſen, weil dieſer Begriff nebſt
den damit verwandten Begriffen der Groͤße, Men-
ge, Zahl, Grade, Dimenſion ꝛc. bey jeden der
uͤbrigen Grundbegriffe anwendbar iſt. Jch habe da-
her unter die zweyte Columne die Worte: allgemeine
Matheſis geſetzet, welche in der Grundlehre in viẽ-
len Abſichten eine eigene Theorie erfordert, und ganz
etwas anders iſt, als was man bisher dafuͤr aus-
gegeben. Vielleicht laͤßt ſie ſich am fuͤglichſten durch
die Worte: Organon quantorum ausdruͤcken, welche
ich hier nicht weiter erklaͤren werde, weil es im Fol-
genden vorkommen wird.
§. 57.
Jn der dritten Columne liegt der Begriff Soli-
ditaͤt zum Grunde. Da hiebey die uͤbrigen Begriffe
ſaͤmmtlich vorkommen koͤnnen, ſo ſind in dieſer Co-
lumne ebenfalls alle Zellen ausgefuͤllt oder bezeichnet
worden. Aus gleichem Grunde habe ich das Wort
Ding unter dieſe Columne geſetzet, welches zwar an
ſich betrachtet, allgemeiner gebraucht wird, dabey aber
dennoch den Begriff Soliditaͤt zum Grunde haben
muß, dafern es etwas Reales bedeuten, und nicht
etwan bloße Hirngeſpinnſter vorſtellen ſoll. Die Theo-
rie eines Dinges uͤberhaupt betrachtet, wird dem buch-
ſtaͤblichen Verſtande nach Ontologie genennet. End-
lich habe ich in dieſer Columne die Zelle neben dem
Begriffe
[49]und Theile der Grundlehre.
Begriffe Ausdehnung beſonders bezeichnet, weil
man in der Ontologie zwiſchen ausgedehnter und
nicht ausgedehnter Soliditaͤt einen Unterſchied
gemacht hat.
§. 58.
Jn der vierten und fuͤnften Columne liegt wiederum
der Begriff Soliditaͤt zum Grunde, und zwar in
der vierten, ſo fern der Begriff der Kraͤfte damit
verbunden wird, und ſo fern das ſolide exiſtiren und
fortdauern kann. Dieſe Begriffe zuſammen ge-
nommen, kommen bey der Theorie der Subſtanz
vor, welches Wort ich daher auch unter die vierte
Columne geſetzet habe, und im Folgenden wird be-
trachtet werden.
§. 59.
Jn der fuͤnften Columne aber finden ſich mit dem
Begriffe der Soliditaͤt die Begriffe der Ausdeh-
nung, Kraft und Einheit verbunden. Denn bey
ausgedehnten Soliditaͤten laͤßt ſich eine Mehrheit
der Theile, und vermittelſt der Kraͤfte eine Ver-
bindung dieſer Theile gedenken: und das Ganze
macht ein Syſtem aus. Dieſes fordert ebenfalls eine
beſondere Theorie, welche Syſtematologie heißen
mag, wie ich denn dieſes Wort unter die fuͤnfte Co-
lumne geſchrieben. Der tranſcendente Theil dieſer
Theorie dehnt ſich auf die Syſtemen der Jntellectual-
welt aus (§. 48. 29. 39.) und uͤberhaupt koͤmmt auch
die Theorie der Ordnung und Vollkommenheit
dabey vor, oder wird dabey vorausgeſetzt und ange-
wandt. Man ſieht auch leicht, daß in dieſen beyden
Columnen die Subſtanzen erſtlich an und fuͤr
ſich, ſodann in Verbindung mit einander be-
trachtet werden. Da nun dieſes alle Faͤlle begreift,
Lamb. Archit.I.B. Dwo
[50]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
wo der Begriff der Soliditaͤt zum Grunde gelegt
werden kann, ſo findet ſich auch in der Tabelle keine
Columne mehr, worinn die erſte Zelle mit [*] be-
zeichnet waͤre.
§. 60.
Daher ſchreibe ich in der ſechſten Columne zum
Begriffe der Exiſtenz, ſo fern dieſer zum Grunde
gelegt werden kann. Die Exiſtenz iſt eine abſolute
Einheit, welche keine Grade zulaͤßt. Sie ſetzt etwas
Solides und Kraͤfte oder uͤberhaupt etwas Sub-
ſtantiales ſchlechthin voraus, und eine Dauer, ſo
klein man auch dieſe nehmen will. Endlich iſt, was
exiſtirt, ein und eben daſſelbe (numero idem).
Daher ſind in der ſechſten Columne die bezeichneten
Zellen mit = bezeichnet. Die leer gelaſſenen Zellen
kommen bey der Theorie der Exiſtenz weder noth-
wendig noch allgemein vor. Jch habe demnach nur
eine Columne gebraucht, fuͤr welche der Begriff der
Exiſtenz zumal a priori und allgemein zum Grunde
gelegt iſt. Uebrigens verdient das Wirkliche, ſo
fern es dem Moͤglichen und Nothwendigen ent-
gegen geſetzt wird, eine beſondere Theorie.
§. 61.
Der Begriff der Dauer ließe ſich auf eine drey-
fache Art zum Grunde legen. Mit den Begriffen
der Soliditaͤt und Kraft verbunden, geht er auf das,
was ſubſiſtiren kann, und dieſes giebt die ſiebente
Columne.
§. 62.
Hingegen giebt die Dauer mit den Begriffen der
Soliditaͤt, Exiſtenz, Ausdehnung und Jden-
titaͤt verbunden, ſpeciale Grundſaͤtze an, welche die
Zuſam-
[51]und Theile der Grundlehre.
Zuſammenſetzung oder Verbindung an ſich un-
bedingter Moͤglichkeiten einſchraͤnken, und da-
her zur Syſtematologie und Theorie des zugleich
Moͤglichen gehoͤren, z. E. daß ein und eben das
Solide nicht zugleich an mehrern Orten, und
hinwiederum verſchiedenes Solide nicht zu-
gleich an eben demſelben Orte ſeyn koͤnne ꝛc.
Das Tranſcendente von ſolchen Grundſaͤtzen dehnt
ſich auf die Jntellectualwelt aus (§. 59. 48. 39. 29.).
Man ſehe auch §. 13.
§. 63.
Jn der neunten Columne wird die Dauer, weil
ſie eine Dimenſion hat, ſchlechthin nur mit der Ein-
heit verbunden, und dieſes giebt die Chronometrie,
oder die Theorie von der Ausmeſſung der Zeit, welche
ungemein ſchwer ſeyn wuͤrde, wenn uns nicht die
Natur die Bewegung und bey dieſer allgemeine Ge-
ſetze darboͤthe, weil uns die Zeit bald lang bald kurz
vorkoͤmmt. Auch dieſe ſcheinbare Laͤnge der Zeit hat
ihre Gruͤnde, welche in der allgemeinen Chronometrie
vorkommen muͤſſen. Jch merke hiebey nur gelegent-
lich an, daß diejenigen, welche die Zeit nur fuͤr ein
Phaͤnomenon ausgeben (§. 43.), hiebey geneigt ſind,
die ſcheinbare Dauer mit der wahren umzuwechſeln.
§. 64.
Der Begriff der Ausdehnung giebt uns eben-
falls drey Columnen an, wenn er zum Grunde gelegt
wird. Jn der zehenten wird er mit der Einheit
verbunden, und dieß giebt die Geometrie, eine ſeit
Euclids Zeiten ſchon auf Gruͤnde gebrachte Wiſſen-
ſchaft und Theil der Grundlehre.
D 2§. 65.
[52]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
§. 65.
Mit den Begriffen der Soliditaͤt, Kraft und
Einheit verbunden, wie in der eilften Columne,
giebt der Begriff der Ausdehnung die allgemeine
Static oder Theorie des Ruhe- und Behar-
rungsſtandes bey Syſtemen an, wovon verſchie-
denes auch auf die Jntellectualwelt ausgedehnet wer-
den kann (§. 59.). Man beſtimmt darinn, wie ferne
die Kraͤfte in einem Syſteme einander das Gleich-
gewicht halten, und die Anwendung der Matheſis
vniuerſalis (§. 56.) zeiget, daß dabey die ſo genann-
ten Maxima und Minima vorkommen, und dieſes
giebt ſodann Anlaß, die Theorie der Ordnung und
Vollkommenheit (§. 59.) dabey anzuwenden. Jch
merke dieſes hier nur gelegentlich an.
§. 66.
Wird, wie es in der zwoͤlften Columne geſchieht,
der Begriff der Ausdehnung oder des Raums mit
dem ſoliden verglichen, ſo fern dieſes den Raum
ausfuͤllt, und der Begriff der Einheit noch mitge-
nommen, ſo ergeben ſich die Grade und Ausmeſſung
der Dichtigkeit, und mit Zuziehung des Begriffes
der Kraͤfte der Dauer und Beweglichkeit die all-
gemeine Hydroſtatic, eine Wiſſenſchaft, welche
beſtimmt, wie fern in einem Syſteme die Ungleich-
heit der Kraͤfte nicht jede beliebige Anordnung zulaͤßt,
ſondern das willkuͤhrlich angeordnete Syſtem ſo aͤn-
dert, daß es in den Ruhe- oder Beharrungsſtand
komme. Hieruͤber kann man die vorhin gemachte
Anmerkung (§. 65.) wiederholen.
§. 67.
Da der Begriff der Kraft die Soliditaͤt voraus-
ſetzet, ſo laͤßt er ſich nur in ſo ferne zum Grunde legen,
als
[53]und Theile der Grundlehre.
als man die Kraft entweder fuͤr ſich, als den Grund
der realen oder poſitiven Moͤglichkeit und Thulichkeit
(§. 20.) oder in Abſicht auf die Bewegung, betrach-
tet, und die Grade dabey beſtimmt werden. Erſteres
giebt die dreyzehente, letzteres aber die vierzehente
Columne, welche die Mechanic angiebt, und zwar,
in ſo ferne Syſteme als Maſchinen koͤnnen be-
trachtet werden.
§. 68.
Denn die Theorie der Bewegung, ſo fern naͤmlich
die Beweglichkeit zum Grunde gelegt wird, giebt
zwo andere und allgemeinere Wiſſenſchaften an. Mit
dem Begriffe der Beweglichkeit ſind die Begriffe
der Ausdehnung und der Dauer nothwendig ver-
bunden, und dieſes haben wir in der funfzehenten und
ſechzehenten Columne angezeiget. Jn der funfzehen-
ten wird noch der Begriff der Einheit mit dazu ge-
nommen, und dieſes giebt die Phoronomie oder
die Theorie der localen Bewegung an ſich betrachtet,
ſo fern naͤmlich nur Zeit, Raum und Geſchwin-
digkeit mit einander zu vergleichen ſind. Nimmt
man aber, wie es in der ſechzehenten Columne ge-
ſchieht, noch die Begriffe der Soliditaͤt und Kraft
dazu, ſo hat man die Dynamic, oder die Lehre der
bey der Bewegung vorkommenden Kraͤfte. Jn der
Mechanic betrachtet man die Maſchine oder das Sy-
ſtem, ſo ferne die Structur oder Einrichtung bleibt,
in der Dynamic aber, ſo fern ſie durch Einwirkung
der Kraͤfte geaͤndert wird. Doch iſt dieſer Unter-
ſchied etwas willkuͤhrlich, weil das Wort Mechanic
hier in ſeiner engſten und erſten Bedeutung genom-
men wird. Es unterſcheidet ſich aber die Sache
ſelbſt von einander und zugleich auch von der Static
und Hydroſtatic §. 65. 66. Da der Begriff der Kraͤfte
D 3tran-
[54]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
tranſcendent iſt, ſo dehnt ſich die Theorie des Mecha-
niſmi und die Dynamic auf eine tranſcendente Art
auch auf die Jntellectualwelt aus (§. 29. 39. 48. 59.)
§. 69.
Dieß ſind nun die Combinationen, die ich heraus-
gebracht habe. Ungeachtet ich ſie Kuͤrze halber in
ſechzehen Columnen gebracht, ſo enthaͤlt die Tafel in
der That doch mehrere. Denn in den drey erſten
Columnen kann man von denen mit — bezeichneten
Zellen weglaſſen, welche man will, doch mit dem
Bedinge, daß mit der Beweglichkeit die Ausdeh-
nung und Dauer, mit der Kraft die Soliditaͤt,
und mit der Exiſtenz die Soliditaͤt, Dauer, Ein-
heit und Jdentitaͤt zugleich bleiben. Sodann kann
man in den acht letzten Columnen ſtatt der Einheit
die Jdentitaͤt ſetzen, oder beyde weglaſſen. Jm er-
ſten Falle werden die uͤbrigen in dieſen Columnen be-
zeichneten Begriffe, oder die Sache, die ſie vorſtel-
len, ohne Ausmeſſung mit einander und mit aͤhnlichen
verglichen, im andern Falle aber fuͤr ſich betrachtet.
Da aber beydes ohnehin geſchehen muß, wenn man
Ausmeſſungen beſtimmen will, ſo habe ich Kuͤrze
halber die Zelle der Einheit bezeichnet. Ueberhaupt
giebt es auch die Methode an, daß wo in einer Co-
lumne mehrere Begriffe bezeichnet ſind, man ſie in
der Theorie, die man daruͤber errichten will, nicht
ſogleich alle mit einem male, ſondern Anfangs jeden
fuͤr ſich, und ſodann ihre einfachſten Verbindungen
betrachte, wie man es in Anſehung der zwoͤlften Co-
lumne (§. 66.) erlaͤutert finden kann.
§. 70.
Man kann aus dieſer Art zu verfahren ohne Muͤhe
ſehen, daß die in vorhergehendem Hauptſtuͤcke ange-
gebene
[55]und Theile der Grundlehre.
gebene Erforderniſſe der Grundlehre dadurch erhalten
werden. Jede Columne beut uns ſolche Begriffe an,
die zuſammen genommen ein Ganzes ausmachen, in
Verbindung mit einander ſtehen, und daher aller-
dings Data und Quaeſita angeben (§. 15. 14.). Wo
das Tranſcendente vorkomme, haben wir bey der
Erlaͤuterung der Columnen bereits angezeiget. Der
Begriff der Kraft, als des eigentlichen Grundes der
Thulichkeit (§. 20.), koͤmmt faſt in allen Columnen
vor, und die Theorie der uͤbrigen, wo er nicht vor-
koͤmmt, giebt zu Finden, und baͤhnt zum Thun den
Weg. Um deſto allgemeiner koͤmmt hier das Practi-
ſche (§. 18.) vor. Die Grundſaͤtze und Forderungen,
ſo die einfachen Begriffe angeben, werden wir im
Folgenden vortragen, da wir (§. 62.) nur einige bey-
ſpielsweiſe angefuͤhret haben, um die achte Columne
zu erlaͤutern.
§. 71.
Ueberdieß beut uns jede Columne eine beſondere
Theorie und Wiſſenſchaft an. Um dieſe heraus zu
bringen, habe ich mich der oben (§. 34. 17.) angege-
benen Combination bedienet, und die einfachen Be-
griffe, die zuſammen genommen werden muͤſſen oder
koͤnnen (§. 69.) zuſammen genommen. Nun koͤnnte
ich als ein Poſtulatum annehmen (§. 52.) daß zuſam-
mengehoͤrende Begriffe eine Theorie oder wiſ-
ſenſchaftliche Erkenntniß angeben. Demnach
bliebe nichts weiters zu thun, als jeder Columne den
Namen einer Wiſſenſchaft zu geben, und hierinn folgte
ich den oben (§. 23. 25. 26.) angegebenen Erforder-
niſſen und Regeln. Und merkte dabey an, wie fern
ich die Namen, z. E. Static, Hydroſtatic, all-
gemeine Matheſis ꝛc. vermoͤge des Tertii compara-
tionis abſtracter oder auch gar tranſcendent mache.
D 4§. 72.
[56]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe
§. 72.
Da ferners die einfachen Begriffe an ſich unveraͤn-
derlich ſind, und ſelbſt auch die Sprache ihre Namen
beybehaͤlt, ſo hatte ich weiter nichts zu thun, als ihre
Combinationen | vorzunehmen, ſo fern ſich jeder zum
Grunde legen und mit mehr oder minder von den
uͤbrigen ſo verbinden laͤßt, daß ein Ganzes heraus-
komme, welches einer Theorie faͤhig ſey, und dieſe
Combinationen in einer Tabelle vor Augen zu legen,
damit man ſie mit einem male uͤberſehen koͤnne.
Klaͤrer laͤßt es ſich nicht machen, und da die Moͤg-
lichkeiten ſolcher Combinationen zugleich mit den ein-
fachen Begriffen unveraͤnderlich bleiben, ſo wird offen-
bar dadurch |auch eine Unveraͤnderlichkeit in die
Grundlehre gebracht und die Evidenz erhalten (§. 21.)
Jn Anſehung der Beſorgniß des Scheins, welcher
allerdings auch evident ſeyn kann, habe ich bereits
(§. 44.) angemerket, daß man ſich dadurch im gering-
ſten nicht duͤrfe irre machen laſſen, und der (§. 36-38.)
angemerkten Freyheit, in Anſehung des Gebrauchs
der gemeinen oder auch bloß hiſtoriſchen Erkennt-
niß, bediene ich mich ohne Bedenken, weil die zur
wiſſenſchaftlichen Grundlehre gehoͤrende Begriffe und
Saͤtze klar und auf eine eminente Art vor Augen liegen.
§. 73.
Da ich endlich ſchon bey den einfachen Begriffen,
als der Grundlage unſerer ganzen Erkenntniß, an-
fange, ſie, auf ſo vielerley Arten es angeht, zuſam-
men zu nehmen, ſo iſt klar, daß was bey ſolchen ein-
fachſten Syſtemen ſchon in die Kuͤrze gezogen werden
kann, es in jeden beſondern Faͤllen an ſich ſchon iſt.
Dadurch erhaͤlt man die (§. 16.) angegebene Erfor-
derniß,
[57]und Theile der Grundlehre.
derniß, und es iſt leicht voraus zu ſehen, daß die be-
ſondere Theorie dieſer Syſtemen noch mehrere Anlaͤſſe
dazu geben werde.
§. 74.
Hier koͤnnen wir nun den Begriff der Grundlehre
auf eine wiſſenſchaftliche Art feſt ſetzen. Da die ein-
fachen Begriffe die erſte Grundlage unſerer Erkennt-
niß ſind, und bey den zuſammen geſetzten Begriffen,
ſo fern wir ſie uns ſollen vorſtellen koͤnnen (§. 9.), ſich
alles in ſolche aufloͤſen laͤßt; ſo machen dieſe einfachen
Begriffe einzeln und unter einander combinirt, zu-
ſammen genommen ein Syſtem aus, welches noth-
wendig jede erſten Gruͤnde unſerer Erkenntniß enthaͤlt.
Von dieſem Syſteme laͤßt ſich eine wiſſenſchaftliche
Erkenntniß gedenken (§. 71.), und die Sprache beut
uns dem buchſtaͤblichen Verſtande nach die Woͤrter
Grundlehre, Grundwiſſenſchaft, Architectonic,
Urlehre ꝛc. als Namen dazu an. Demnach laͤßt ſich
leicht der Schluß machen, daß die unter jede Co-
lumnen geſetzten Wiſſenſchaften einzelne Theile der
Grundlehre ſind, und daß die Ontologie, dem Buch-
ſtaben nach genommen, nur einen Theil davon aus-
mache (§. 57.). Die Tabelle ſelbſt ſtellet zugleich die
Verbindung dieſer einzeln Theile, welche die Grund-
lage jeder ſpecialen Wiſſenſchaften ſind, mit einem
male vor Augen. Man ſieht daraus, wie ferne ſie
ſchon in den einfachen oder erſten Grundbegriffen un-
ſerer Erkenntniß etwas gemeinſames und etwas
eigenes haben. Auf eine evidentere und minder
willkuͤhrliche Art laͤßt ſich dieſe Verbindung nicht vor-
ſtellen. Um ſie aber vollſtaͤndig zu machen, muß
man die Anmerkung des §. 52. und das Tranſcendente
mitnehmen.
D 5§. 75.
[58]II. Hauptſt. Einfache Grundbegriffe ꝛc.
§. 75.
Jch habe noch die (§. 41. ſeq.) angemerkte Aende-
rung und das Wegfallen der Fragen zu beruͤhren.
Man faͤngt in der Ontologie gemeiniglich mit den
Begriffen und Definitionen des Nichts, Etwas,
Moͤglich Unmoͤglich, Grund, Determiniren,
Ding, Realitaͤt, Weſen, Eigenſchaft, Zufaͤllig-
keit, nothwendig ꝛc. an, und ſucht dadurch die On-
tologie nach der oben (§. 11. 19. 20. 22. 27. 33. 36. 43.)
beſchriebenen Methode, ſo gut man konnte, (§. cit. et
12. 15=18. 23=26. 31. 39.) in einen Zuſammenhang zu
bringen. Davon iſt nun der hier vorkommende Vor-
trag der Grundlehre ganz verſchieden, und von dieſen
Begriffen koͤmmt in der Tabelle (§. 53.) wenig oder
nichts vor. Und zwar, weil es Begriffe ſind, die
theils bey den einfachen vorkommen, theils aus den
einfachen erſt muͤſſen hergeleitet werden. So z. E.
ſetzet das Determiniren den Begriff der Kraft vor-
aus, und iſt von gleich tranſcendentem Umfange. Es
ſetzet Poſtulata voraus, welche Moͤglichkeiten zu De-
terminiren angeben; dieſe aber muͤſſen erſt aus den
einfachen Begriffen genommen werden (§. 20.). Die
Theorie des Moͤglichen, ſo fern es ſchlechthin nur
nicht widerſprechend iſt (§. 20.), kann ebenfalls
erſt nach der Theorie der Entſtehungsart der Saͤtze
vorkommen ꝛc. Jch merke dieſes hier nur deswegen
an, damit ich verſchiedenen Fragen vorbeuge, die
durch den bisherigen Vortrag der Ontologie leicht
veranlaſſet werden koͤnnen.
Drittes
[59]
Drittes Hauptſtuͤck.
Erſte Grundſaͤtze und Forderungen der
Grundlehre.
§. 76.
Nach der Vorzaͤhlung und unmittelbaren Ver-
gleichung der einfachen Begriffe, werden wir
nun die Grundſaͤtze und Poſtulata anfuͤhren, die ſie
uns angeben, weil ohne dieſe keine wiſſenſchaftliche
Form erhalten werden kann (§. 12. 20. 23.). Von ſol-
chen Grundſaͤtzen und Forderungen habe ich in dem
zweyten Hauptſtuͤcke der Alethiologie, wo es um die
Beſtimmung der erſten Gruͤnde des Wahren zu thun
waͤre, mehrere angegeben. Hier aber iſt der Ort, ſie
ausfuͤhrlicher vorzutragen, weil ſie die erſten Gruͤnde
unſeres Wiſſens und Thuns ſind. Das erſte, was
ſich demnach hier voraus anzumerken darbeut, iſt
dieſes: daß es bey den Grundſaͤtzen und Forderungen
nicht ſo feſt um die Erklaͤrung der Begriffe oder
der Woͤrter, ſondern um die Allgemeinheit derſelben
zu thun iſt. Sie kommen bey den einfachen Begrif-
fen vor (§. 23.) und dieſe, ſowohl als ihre Namen,
beduͤrfen keiner Erklaͤrung, und man wuͤrde auch ohne
logiſche Cirkel keine Erklaͤrung davon geben koͤnnen
(§. 28. 27. 51.). Hingegen hat die Verſicherung, daß
die Grundſaͤtze und Forderungen allgemein ſind, deſto
mehr zu ſagen. Die Allgemeinheit der Grundſaͤtze
macht ihre Anwendung ſicher und zuverlaͤßig, und
die Poſtulata muͤſſen allgemeine Moͤglichkeiten an-
geben, dafern die Beſorgniß der Einſchraͤnkung ihre
Anwendung nicht ungewiß machen ſolle (§. 20.).
§. 77.
[60]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
§. 77.
Die Einheit, nebſt den aus ihrer Wiederholung
erwachſenden Zahlen, iſt der Gegenſtand der Arith-
metic, und darinn laͤngſt wiſſenſchaftlich abgehandelt.
Die Grundſaͤtze ſind folgende:
- 1°. Jede Zahl iſt ſich ſelbſt gleich.
- 2°. Jede Zahl iſt von jeder groͤßern oder kleinern
nothwendig verſchieden. - 3°. Jede Zahl bezieht ſich auf ihre Einheit, aus
deren Wiederholung ſie erwaͤchſt. - 4°. Zwo Zahlen, deren jede einer dritten Zahl
gleich iſt, ſind unter ſich gleich. - 5°. Zwo Zahlen, die ein gleicher Theil einer drit-
ten ſind, ſind unter ſich gleich. - 6°. Die Einheit iſt die Baſis der Grade.
Die Poſtulata aber ſind folgende:
- 1°. Jede Zahl kann ſo vielmal genommen werden,
als man will. - 2°. Jede Zahl kann als eine groͤßere Einheit an-
geſehen werden. - 3°. Zu jeder Zahl laſſen ſich noch Einheiten und
Zahlen hinzuſetzen. - 4°. So groß man eine Zahl nimmt, laſſen ſich
noch groͤßere nehmen.
§. 78.
Auf dem zweyten von dieſen Poſtulatis beruht das
characteriſtiſche Zahlengebaͤude, weil man in demſel-
ben die Zahlen 10, 100, 1000 ꝛc. als neue Einheiten
anſieht, und ihren Werth durch die Stelle oder Rang-
ordnung andeutet. Auf eben dieſem Poſtulato beruht
auch die Theorie der ſo genannten Dignitaͤten und
Dimenſionen. Denn nimmt man z. E. die Zahl 6
ſechs-
[61]und Forderungen der Grundlehre.
ſechsmal, das iſt eben ſo vielmal als dieſe Zahl Ein-
heiten hat, ſo erhaͤlt man die zweyte Dignitaͤt. Da iſt
naͤmlich 6 als die Einheit vom erſten Range, 6 mal 6,
oder 36, als die Einheit vom zweyten Range, 6 mal 36
oder 216 als die Einheit vom dritten Range anzu-
ſehen ꝛc. Dieſe Einheiten werden daher auch ſo ge-
zeichnet 6′, 6″, 6‴, 6⁗ ꝛc. oder 61, 62, 63, 64 ꝛc. Da
nun eine kleinere Zahl, z. E. 4 nur ein Theil der Ein-
heit vom erſten Range der Zahl 6 iſt, naͤmlich ⅔
von 6′: ſo iſt auch 4 mal 6 nur ⅔ von 6″, oder ⅔ der
Einheit vom zweyten Range. Und eben ſo wird
3 mal 4, nur ⅓ von 6″ ſeyn ꝛc. Wir merken dieſes
hier in Abſicht auf die Dimenſionen an, welche vor-
kommen, wo Einheiten von verſchiedener Art ver-
bunden ſind, und wo folglich auch die Zahlen der
einen mit den Zahlen der andern verbunden werden
muͤſſen, welches durch das Multipliciren geſchieht.
Wie verſchieden aber die Einheiten ſeyn koͤnnen, das
wird aus der Betrachtung der andern einfachen Be-
griffe erhellen, weil ſich bey jedem derſelben eine oder
mehrere verſchiedene Einheiten und daher auch eine
oder mehrere Dimenſionen gedenken laſſen. Die
ausfuͤhrliche Theorie der Einheiten und der Dimen-
ſionen gehoͤret in die allgemeine Matheſin (§. 56.).
§. 79.
Die Ausdehnung oder der Raum, ſo fern er
ausgemeſſen wird, iſt der Gegenſtand der Geometrie,
einer Wiſſenſchaft, welche Euclid ſchon in eine wiſ-
ſenſchaftliche Form gebracht, und dadurch ein aͤchtes
Muſter dieſer Form gegeben hat. Dabey kommen
nun folgende Grundſaͤtze vor:
- 1°. Die Theile des Raums ſind außer einander,
oder der Raum iſt ausgedehnt.
2°. Der
[62]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
- 2°. Der Raum hat keine beſtimmte Einheit.
- 3°. Der Raum hat drey Dimenſionen, naͤmlich
Linien, Flaͤchen, und koͤrperlichen Raum. - 4°. Jeder Punct des Raums iſt ein Ort.
- 5°. Jeder Ort iſt außer dem andern.
- 6°. Jeder Punct, jede Linie, jede Flaͤche hat eine
eigene Lage. - 7°. Ein Punct ſchließt keinen Raum, zwo gerade
Linien keinen Flaͤchenraum, drey ebene Flaͤchen
keinen Koͤrperraum.
Poſtulata aber ſind folgende:
- 1. Jeder Theil des Raums kann als eine Einheit
angenommen werden, und vergroͤßert werden,
ſo viel man will. - 2. Von jedem Puncte laͤßt ſich nach jeder Lage eine
gerade Linie von jeder beliebigen Laͤnge ziehen. - 3. Von jedem Puncte zu jedem andern kann eine
gerade Linie gezogen, und ſo weit man will,
verlaͤngert werden. - 4. Jede drey Puncte koͤnnen als in einer ebenen
Flaͤche liegend gedacht werden. - 5. Jeder Punct kann als ein Anfang einer Linie,
Flaͤche, und koͤrperlichen Raumes angenommen
werden.
§. 80.
Man ſieht leicht, daß wir hier den Raum an ſich,
und folglich den ſo genannten abſoluten Raum be-
trachten. Jn der Geometrie wird alles dieſes ideal
genommen. Man traͤgt darinn eine Linie von einem
Orte an den andern, und dieſes geſchieht in Gedan-
ken. Daher kommen ſodann die Grundſaͤtze; daß
Linien, Flaͤchen, koͤrperliche Raͤume, deren
Ende zuſammenpaſſen, einander gleich ſind.
Jn
[63]und Forderungen der Grundlehre.
Jn der Natur ſelbſt traͤgt man auch Puncte, Linien,
Flaͤchen, Koͤrper hin und her. Dieſes ſind aber
keine Theile des abſoluten Raums, als welche an
ihrem Orte bleiben, weil mit den Koͤrpern der Raum
nicht weggetragen wird, ſondern der Koͤrper nur in
andere Oerter des abſoluten Raums koͤmmt, und an-
dere Theile deſſelben ausfuͤllt. Da dieſes Herumtra-
gen in der Geometrie in Gedanken geſchieht, ſo iſt
es zwiſchen dieſem phyſiſchen Herumtragen wirklicher
Koͤrper, und zwiſchen dem an ſich unmoͤglichen Her-
umtragen der Theile des abſoluten Raumes ein Mittel-
ding, und ſo fern man es nur zur Vergleichung der
Groͤßen gebraucht, allerdings zulaͤßig, um ſo mehr, da
in der Geometrie von dem abſoluten Raume gar nicht,
ſondern nur von dem idealen, welcher ſich naͤmlich in
Gedanken herumtragen laͤßt, die Rede iſt. Das
Bild von dieſem letztern iſt aber immer von dem ab-
ſoluten Raume hergenommen. Dieſer dreyfache Un-
terſchied war hier anzumerken, weil Zeno und an-
dere, in Anſehung des Raums, und der Bewegung
aus der Vermengung dieſer Begriffe, Schwierig-
keiten gemacht haben.
§. 81.
Wir haben bereits ſchon (§. 48.) angemerket, daß
die von der Ausdehnung und dem Raume hergenom-
mene Woͤrter und Begriffe metaphoriſch und tran-
ſcendent werden. So geben wir den Gedanken und
Begriffen eine Ausdehnung, und ſetzen ſie vor,
in, neben, außer und unter einander. Dadurch
wird ihnen gleichſam ein Ort angewieſen, und dabey
laͤßt ſich ein Abſtand gedenken. Den allgemeinen
Grund zu ſolchen Vergleichungen habe ich in dem
erſten Hauptſtuͤcke der Alethiologie ausfuͤhrlich ange-
geben.
[64]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
geben. Was wir in der Koͤrperwelt finden,
eignen wir den daher genommenen Begriffen
zu, und dehnen es ſodann auch auf die ab-
ſtracten Begriffe aus. Auf dieſe Art entwickeln
wir mit der Sache auch die Begriffe oder Empfin-
dungen der bey der Entwickelung zum Vorſcheine
kommenden und aus einander gelegten Theile der
Sache. Und ſo koͤmmt uns auch vor, daß wir ab-
ſtracte und nicht unter die Sinnen fallende Begriffe
entwickeln, und ihre Theile aus einander ſetzen.
Sind nun ſolche Vergleichungen richtig getroffen, und
allgemein, ſo laͤßt ſich die Sache umkehren, und es
koͤnnen auch abſtracte Begriffe unter ſinnlichen Bil-
dern und etwann gar wiſſenſchaftlich vorgeſtellet wer-
den. Auf dieſe Art habe ich in der Dianoiologie die
Ausdehnung der Begriffe durch Linien vorgeſtellet,
und ſie ganz oder zum Theil unter und neben ein-
ander gezeichnet, und die Theorie der Schluͤſſe darauf
gegruͤndet, und gleichſam vor Augen gemahlet. Da-
bey habe ich gleichfalls angemerket, daß die Verhaͤlt-
niſſe in und außer einander noch eine andere Dimen-
ſion von Begriffen angeben, wozu aber unſere derma-
lige Erkenntniß noch zu unreif iſt.
§. 82.
Jnſonderheit aber wird alles, was eine oder meh-
rere Dimenſionen hat, vermittelſt der Dimenſionen
des Raumes auf eine in die Augen fallende Art vor-
geſtellet. Und darauf gruͤndet ſich ein großer Theil der
angewandten Mathematik. Wo die Zeit, die Ge-
ſchwindigkeit, das Gewicht, die Dichtigkeit, die Staͤrke
und Groͤße des Lichtes ꝛc. durch Linien und Raͤume
vorgeſtellet, und die Saͤtze der Geometrie dabey ange-
wandt werden. Und dieſes geht allerdings an, weil
man dabey nur auf die Dimenſion ſieht.
§. 83.
[65]und Forderungen der Grundlehre.
§. 83.
Die Dauer und die Zeit, ſo fern ſie ausgemeſſen
werden, geben uns die Chronometrie an (§. 63.).
Die Grundſaͤtze ſind folgende:
- 1°. Die Theile der Zeit ſind außer einander, oder
die Zeit hat eine Dauer, oder die Theile der
Zeit ſind nicht zugleich. - 2°. Die Zeit hat keine beſtimmte Einheit.
- 3°. Jede Zeit hat ihren beſtimmten Anfang.
- 4°. Die Dauer und Zeit haben nur eine Dimenſion.
Die Poſtulata aber folgende:
- 1°. Jedes Moment laͤßt ſich zum Anfange einer
Zeit ſetzen. - 2°. Jede Dauer kann als eine Einheit genommen,
und vor und nachwaͤrts, ſo weit man will,
verlaͤngert oder vielfach genommen werden. - 3°. Jede Zeit kann durch eine Linie vorgeſtellet,
und wie die Linie vor und nachwaͤrts verlaͤn-
gert werden, ſo weit man will.
§. 84.
Die Zeit iſt nicht ſo in die Sinne fallend, wie der
Raum. Sie giebt uns daher auch weniger meta-
phoriſche und tranſcendente Ausdruͤcke und Begriffe.
Selbſt das ideale Verſetzen der Theile der Zeit, um
ihre Gleichheit zu beſtimmen, faͤllt in das Ungewoͤhn-
liche, und wir wuͤrden allemal ehender nach dem drit-
ten Poſtulato eine Linie dafuͤr gebrauchen. Da wir
ferner den Begriff der Zeit von der Succeſſion un-
ſerer Gedanken haben, ſo machen wir die Zeit un-
vermerkt dieſer Succeſſion dergeſtalt anhaͤngig, daß,
da wir nicht alles mit einem male denken koͤnnen, der
Begriff der Zeit ſich auch da einſchleicht, wo er gar
Lamb. Archit.I.B. Enicht
[66]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
nicht vorkommen ſollte. So iſt die ſogenannte Prio-
ritas temporis mit der prioritate rationis vermenget,
wenn wir die Ordnung der goͤttlichen Decreten be-
trachten. Bey der Frage von der unendlichen Theil-
barkeit der Materie, menget ſich der Begriff der Zeit
leicht ein, wo er wegbleiben ſollte. Und das Argu-
mentum achilleum des Zeno wider die Bewegung
fehlet ebenfalls darinn, daß er die Zeit nach der Suc-
ceßion und Dauer ſeiner Schluͤſſe maß, anſtatt daß
er ſie bey jedem Schluſſe wie den Raum haͤtte ver-
kuͤrzen ſollen, den Achilles noch zu durchlaufen hatte.
§. 85.
Es wird aber die Zeit noch auf eine andere Art
mit dem Raume verglichen, und dieß geſchieht ver-
mittelſt der Bewegung. So fern dieſe nur an ſich
betrachtet wird, koͤmmt ihre Theorie in der Phoro-
nomie vor (§. 68.) die Grundſaͤtze ſind:
- 1°. Die Bewegung iſt Linear.
- 2°. Jede Bewegung hat eine Dauer.
- 3°. Bey jeder Bewegung wird eine Linie durch-
laufen. - 4°. Je laͤnger dieſe Linie bey gleicher Dauer iſt,
oder je kuͤrzer die Dauer bey Durchlaufung einer
gleich langen Linie iſt, deſto geſchwinder iſt die
Bewegung. - 5°. Die Geſchwindigkeit hat keine determinirte
Einheit.
Die Poſtulata aber ſind:
- 1°. Von jedem Puncte zu jedem Puncte laͤßt ſich
eine Bewegung von jeder beliebiger Geſchwin-
digkeit gedenken.
2°. Jede
[67]und Forderungen der Grundlehre.
- 2°. Jede Geſchwindigkeit kann als eine Einheit
angenommen werden. - 3°. Jede Dauer der Bewegung kann als eine Ein-
heit angenommen werden. - 4°. Jede Laͤnge der Linie kann als eine Einheit an-
genommen werden.
§. 86.
Hiebey koͤmmt nun das Jdeale wiederum vor,
wenn man naͤmlich Bewegungen in Gedanken erdich-
tet. So z. E. drehet man Linien um einen Punct,
oder man beweget jedes Ende derſelben mit einer an-
genommenen aber verſchiedenen Geſchwindigkeit ꝛc.
Auf dieſe Art hat man laͤngſt ſchon die Entſtehensart
der geometriſchen Figuren erklaͤret, jedoch ohne die
Zeit und Geſchwindigkeit mit in Betrachtung zu zie-
hen. Dieſes gehoͤret in die Phoronomie, welche wie
die Geometrie ſchlechthin nur ideal iſt, und deſſen uner-
achtet, ſodann bey den wirklichen Bewegungen an-
gewandt werden kann, weil ſie ihre idealen Bilder
von dieſen hernimmt.
§. 87.
Da wir den Begriff der Dauer und Zeit von der
Succeſſion der Gedanken haben, ſo koͤmmt der Be-
griff der Geſchwindigkeit ebenfalls in dem Gedan-
kenreiche vor. Die Redensarten: ſich nicht lange
beſinnen, ſich geſchwinde entſchließen ꝛc. geben
den Begriff dieſer Geſchwindigkeit an. Am allge-
meinſten aber gruͤndet ſich dieſer Begriff auf den
oben (§. 81.) ſchon angemerkten Ort und Abſtand
der Gedanken, und auf die Zeit, die wir an-
wenden, von einem auf den andern zu kommen.
Bey gleichem Abſtande der Gedanken, richtet ſich
E 2dieſe
[68]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
dieſe Geſchwindigkeit nach der Kuͤrze der Zeit. Und
dadurch wird die Methode geſchaͤtzet, nach welcher
wir verfahren, ob ſie den Weg kuͤrzer und leichter
machet. Hingegen bey gleicher Zeit, richtet ſich dieſe
Geſchwindigkeit, nach dem Abſtande der Gedanken,
und dadurch ſchaͤtzen wir die Fertigkeit deſſen, der
den Weg zuruͤcke leget, ſo fern er in gleicher Zeit
weiter geht. Ueberhaupt aber tragen die Methode
und die Fertigkeit zugleich dazu bey, die Zeit abzu-
kuͤrzen, oder in gleicher Zeit weiter zu gehen.
§. 88.
Der Begriff der Soliditaͤt giebt uns ebenfalls
einige Grundſaͤtze, die bey dem materiellen Soliden
ohne Widerrede angewandt werden.
- 1°. Das Solide fuͤllet einen Raum aus, ſo weit
es geht. - 2°. Das Solide ſchleußt anderes Solides von dem
Orte aus, da es iſt. - 3°. Das Solide hat die drey Dimenſionen des
Raumes. - 4°. Der Raum kann mit Solidem nicht mehr als
ausgefuͤllet ſeyn. - 5°. Das Solide hat eine abſolute Dichtigkeit, und
daher iſt es eine Einheit, die unveraͤnderlich iſt,
(§. 91.).
Die Poſtulata aber ſind:
- 1°. Jeder Raum laͤßt ſich ganz oder zum Theil
mit Solidem angefuͤllet gedenken, ſo wenig
man will, aber nicht mehr als ganz. - 2°. Das Solide in einem nicht ganz ausgefuͤllten
Raume, laͤßt ſich als in einen kleinern zuſam-
men gebracht gedenken, den es ganz ausfuͤllet.
§. 89.
[69]und Forderungen der Grundlehre.
§. 89.
Dieſes letztere Poſtulatum leget zu der Beſtim-
mung der Grade der Dichtigkeit den Grund, weil
der kleinere Raum, den das Solide ganz ausfuͤllet,
zu dem Groͤßern, den eben das Solide nicht ganz
ausfuͤllet, die Verhaͤltniß hat, wie die Dichtigkeit
in dem groͤßern Raume zu der abſoluten Dichtigkeit
in dem kleinern. Wir merken hier wegen des zu
Ende des §. 78. geſagten, gelegentlich an, daß die
Dichtigkeit, an ſich betrachtet, eine Einheit von der-
jenigen Art iſt, die nicht groͤßer ſeyn kann, aber
Bruͤche admittirt, ſo klein man will. Hingegen iſt
die Duͤnnigkeit (Raritas) eine Einheit, die keine
Bruͤche admittirt, dagegen aber vielfach genommen
werden kann, ſo viel mal man will.
§. 90.
Da ich in dem erſten der angefuͤhrten Grundſaͤtze
jedem Solidem eine Ausdehnung zugebe, ſo klein
man ſie auch gedenken will, ſo werden die, welche die
Leibnitziſchen Monaden annehmen, und ſo auch
die, welche bey der unendlichen Theilbarkeit der Ma-
terie Schwierigkeiten finden, damit nicht ſo unbe-
dingt einig ſeyn. Jn Anſehung der erſtern beziehe
ich mich ſchlechthin auf das (§. 43. 44.) geſagte, weil
hier von der materiellen Soliditaͤt die Rede iſt.
Denn von der Geiſterwelt haben wir keine unmittel-
bare einfache Begriffe, was Geiſter fuͤr Subſtanzen
ſind. Dieſes muß erſt durch Schluͤſſe heraus ge-
bracht werden, dazu uns Woͤrter und Zeichen aller-
dings behuͤlflich ſind, (§. 9.). Jn dieſer Abſicht
werde ich zuweilen das Wort Soliditaͤt, auch ſo weit
ausgedehnet gebrauchen, daß es nebſt dem Materiel-
len auch die Subſtanzen der Geiſterwelt begreift.
E 3Dieſes
[70]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
Dieſes muß ſodann, wo ich es nicht ausdruͤcklich an-
merke, aus dem Zuſammenhange und Verſtande der
Rede beſtimmet werden. Jn Anſehung der Theil-
barkeit der Materie iſt hier der Ort noch nicht, dieſe
zu unterſuchen. Jch kann daher nur beylaͤufig an-
merken, daß wer die Moͤglichkeit der Vernichtung
und der Schoͤpfung aus Nichts zugiebt, an der
wirklich unendlichen Theilbarkeit der Materie keine
ſo große Schwierigkeit finden wird, wenn der Be-
griff der Zeit ſich dabey nicht einmenget, oder unfuͤg-
lich angebracht wird.
§. 91.
Eine andere Frage aber, die hiebey vorkoͤmmt,
iſt dieſe: Ob ein ganz ausgefuͤllter Raum nicht noch
intenſiue mehr ausgefuͤllet, oder das Solide, das
ihn ausfuͤllet, in einen noch kleinern Raum gebracht
werden koͤnne, oder ob alles Solide in ſich gleich
dichte, und in dieſer Abſicht eine abſolute und unver-
aͤnderliche Einheit ſey? Dieſe Fragen betreffen den
zweyten, vierten und fuͤnften Grundſatz, welche ſich
auf den bekannten und auch in der Mechanic ange-
nommenen Begriff der Undurchdringbarkeit der
Materie gruͤnden. Deſſen unerachtet aber koͤnnen
dieſe Fragen dennoch dabey vorkommen. Wir ha-
ben den Begriff der Soliditaͤt durch das Gefuͤhl, und
dieſes giebt uns die innere Unterſchiede deſſelben nicht
an. Jn dem Begriffe den wir davon haben, ſcheint
auch keine Unmoͤglichkeit zu liegen, daß das Solide
nicht verſchiedene Grade der innern Dichtigkeit ha-
ben koͤnne. Dadurch wuͤrden die angefuͤhrten Grund-
ſaͤtze in ſo weit geaͤndert, daß die Soliditaͤt keine ab-
ſolute und unveraͤnderliche Einheit waͤre, daß ein
ganz ausgefuͤllter Raum mit mehr oder minder dich-
tem
[71]und Forderungen der Grundlehre.
tem Soliden ausgefuͤllet ſeyn koͤnne ꝛc. Dieſe Un-
terſuchung hat einen Einfluß in die Frage vom lee-
ren Raume, und uͤberdieß auch haͤngt die Beſtim-
mung der bewegenden Kraͤfte davon ab, weil dieſe
ſich nach der Dichtigkeit richten.
§. 92.
Das Wort Soliditaͤt iſt bereits auf verſchiedene
Arten metaphoriſch und tranſcendent gemacht. Da
das Solide einen Raum ausfuͤllet, ſo verſteht man
in der Geometrie dadurch einen koͤrperlichen Raum,
und die Redensart, die Soliditaͤt finden: Will
darinn nichts anders ſagen, als die Groͤße des koͤr-
perlichen Raumes finden. Denn in der Geometrie
ſind Raum, Koͤrper, Soliditaͤt ſchlechthin ideale
Begriffe.
§. 93.
Sodann verſteht man durch Soliditaͤt ſo viel, als
Feſtigkeit, und dieſer Begriff iſt von der Undurch-
dringbarkeit der Materie oder des Soliden herge-
nommen. Man dehnet ihn auch auf den Fall aus, wo
die Theile des Soliden feſte zuſammen haͤngen, wie bey
den harten Koͤrpern. Und in ſo ferne transferirt man
den Begriff von der Sache in die Vorſtellung der-
ſelben, welche man nicht weiter trennen ſoll, als die
Theile des feſten Koͤrpers koͤnnen getrennet werden.
Dadurch wird nun der Begriff der Soliditaͤt tran-
ſcendent, und man nennet die Erkenntniß ſolid, ſo
fern ſie nicht bloß ertraͤumet, ſondern real, wiſſen-
ſchaftlich und gruͤndlich iſt, und ſo fern die Nothwen-
digkeit der Schluͤſſe und Folgen darinn durchgaͤngig
vorkoͤmmt. Da wir ohnehin auch den Begriffen
Ausdehnung, Ort und Abſtand zueignen, ſo iſt kein
Zweifel, daß ſich das Tertium Comparationis dabey
E 4noch
[72]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
noch weiter treiben, und die Soliditaͤt derſelben mit
der Ausdehnung ꝛc. vergleichen laſſe. Der Begriff
der abſoluten und relativen Dichtigkeit wird ſich da-
bey ebenfalls anbringen und brauchbar machen laſſen.
§. 94.
Wir haben bereits (§. 29.) angemerket, wie der
Begriff der Kraft tranſcendent geworden. Wir
haben derſelben, ſo wie den Begriff der Soliditaͤt,
vom Gefuͤhle, weil wir empfinden, daß wir mehr
oder minder Kraft anwenden muͤſſen, einen Koͤrper
oder das Solide in Bewegung zu ſetzen, oder die
Bewegung deſſelben zu aͤndern, oder ganz aufzuhal-
ten. Daraus fließen folgende Grundſaͤtze, welche
man in der Dynamic angenommen, welche aber,
wie wir es im Folgenden werden anmerken koͤnnen,
mehrerer Aufklaͤrung bedoͤrfen, inzwiſchen aber, ſo
wie wir ſie herſetzen, in der Phyſic gar wohl gebraucht
werden koͤnnen.
- 1°. Das Solide iſt an ſich in Ruhe, oder ohne
Bewegung. - 2°. Das Solide wird durch anderes Solides in
Bewegung geſetzt. - 3°. Jede Aenderung in der Bewegung des Soli-
den wird durch anderes Solides verurſacht, wel-
ches das bewegte Solide unmittelbar beruͤhret. - 4°. Jm freyen Raume behaͤlt das einmal in Be-
wegung geſetzte Solide ſeine Richtung und Ge-
ſchwindigkeit. - 5°. Die Bewegung iſt in Verhaͤltniß der Kraft,
womit das Solide in Bewegung geſetzet wird,
und folget der Richtung, nach welcher die Kraft
angebracht wird.
§. 95.
[73]und Forderungen der Grundlehre.
§. 95.
Dieſen Grundſaͤtzen hat man in der Dynamic noch
einige andere beygefuͤget, welche aber mehr von den
phyſiſchen Erfahrungen und Verſuchen hergenommen
zu ſeyn ſcheinen. Der erſte, welcher noch am leich-
teſten zugegeben werden kann, iſt: daß die Kraft
eines in Bewegung geſetzten Koͤrpers, ſeiner
Maße proportional iſt, und dieſes nennet man
die Groͤße der Kraft. Dieſes iſt uͤberhaupt betrach-
tet ohne Widerrede richtig. Will man aber dieſen
Satz bey dem Stoſſe der Koͤrper anwenden, ſo
koͤmmt ſo gleich die Frage vor, ob der Koͤrper ſeine
Figur bey dem Anſtoßen aͤndere, weil auf dieſe Aen-
derung der Figur ein Theil der Kraft verwendet wird.
Der andere Satz, welcher die Staͤrke der Kraft be-
trifft: daß die Kraft des bewegten Koͤrpers
ſich nach dem Quadrate der Geſchwindigkeit
richte, folglich bey doppelter Geſchwindigkeit
vier mal ſtaͤrker ſey, hat haͤufige Streitigkeiten
veranlaßt, wobey der Begriff der Kraft, ſo fern wir
ihn von dem Gefuͤhle haben (§. 94.), nicht immer
beybehalten worden. So viel giebt die Erfahrung,
daß man in der Theorie der Bewegung, das Qua-
drat der Geſchwindigkeit ſehr gut gebrauchen kann,
ohne daß man eben noͤthig habe, das Wort Kraft
dabey zu gebrauchen.
§. 96.
Die meiſten Regeln, die man fuͤr den Stoß der
ſo genannten elaſtiſchen Koͤrper aus Verſuchen ge-
funden, werden bey ſchnellern Bewegungen unzurei-
chend. So z. E. wenn eine Kugel gegen eine offen-
ſtehende Thuͤr geworfen wird, ſo mag ſie dieſelbe in
Bewegung ſetzen und etwann auch zuſchließen. Wird
E 5ſie
[74]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
ſie aus Flinten oder Stuͤcken dagegen geſchoſſen, ſo
bohret ſie ein Loch durch die Thuͤr, und die Thuͤr bleibt
offen ſtehen. Man ſieht leicht, daß hiebey die Co-
haͤſionskraͤfte der kleinſten Theile der Thuͤr in Be-
trachtung gezogen werden muͤſſen, welches bey lang-
ſamern Bewegungen nicht immer nothwendig iſt.
Ein ſehr harter Koͤrper iſt gegen eine abgeſchoſſene
Flintenkugel, was ein weicher Thon gegen eine lang-
ſam geworfene Kugel iſt. Jn beyden Faͤllen aͤndert
ſich die Figur, und der Begriff der Elaſticitaͤt faͤllt
weg, vermoͤge welcher in andern Faͤllen der Koͤrper
zuruͤck wirket, und ſeine erſte Figur wieder annimmt.
Die Bewegung ganzer Koͤrper iſt immer die Sum-
me der Bewegung der kleinſten wirklich ſoliden Thei-
le, und bey dem Stoffe der Koͤrper muͤſſen auch die
Kraͤfte mit in Betrachtung gezogen werden, wodurch
dieſe Theile mit einander verbunden ſind, und deren
Gleichgewicht bey dem Stoße gehoben wird.
§. 97.
Wenn wir bey dem an ſich ganz einfachen Begriffe
der Kraft, wie wir ihn durch das Gefuͤhl erlangen,
bleiben, ſo beſteht die Kraft ſchlechthin in dem Dru-
cke, den wir empfinden, wenn wir einen Koͤrper in
Bewegung ſetzen, oder einen bewegten Koͤrper, oder
auch nur eine Laſt aufhalten. So fern wir die Groͤ-
ße der Kraft nach der Empfindung zu ſchaͤtzen uns
begnuͤgen wollen, ſo kommen unter allen dieſen
dreyerley Faͤllen ſolche vor, wobey wir einen gleichen
Druck empfinden, oder gleiche Kraft anwenden
muͤſſen. Ein kleinerer Koͤrper, den ich im Fallen
aufhalte, kann mir eine eben ſo große Kraft fordern,
als ein groͤßerer, den ich ſchlechthin nur auf der
Hand halte. Sollte dieſes genauer, als nach der
bloßen
[75]und Forderungen der Grundlehre.
bloßen Schaͤtzung des Gefuͤhles, beſtimmet werden,
ſo ſcheint allerdings eine Wage das beſte Jnſtrument
dazu zu ſeyn. Ein Koͤrper der in die leere Wagſchale
faͤllt, und den in der andern Wagſchale liegenden
ſchwerern Koͤrper aufzuheben vermag, wird dieſem-
nach eine eben ſo große Kraft durch den Fall erhal-
ten haben, als der andere durch den bloßen Druck
aͤußert. Der Unterſchied iſt groͤßtentheils nur, daß
dieſe letztere Wirkung fortdauert, erſtere aber augen-
blicklich iſt.
§. 98.
Wir koͤnnen noch einige Grundſaͤtze anfuͤhren, wel-
che die Kraft beſonders angehen.
- 1°. Die Kraft hat keine beſtimmte Einheit.
- 2°. Gleiche Kraͤfte, die einander entgegen wirken,
halten einander auf, oder ſie ſind im Gleich-
gewichte. - 3°. Eine Kraft kann nicht zugleich doppelt oder
vielfach angewandt werden.
§. 99.
Dem dritten dieſer Grundſaͤtze iſt derjenige aͤhnlich,
den man in der Mechanic angenommen, daß naͤm-
lich der Wirkung die Gegenwirkung gleich,
aber entgegengeſetzt ſey. Dieſer Satz will nicht
mehr ſagen, als daß die Kraft, die man anwenden
muß, um einen Koͤrper in Bewegung zu ſetzen, oder
um ſeine vim inertiae zu uͤberwaͤltigen, nicht ferner
angewandt werden koͤnne, ſondern zu jeder neuen Be-
ſchleunigung der Bewegung ein neuer Zuſatz von
Kraft erfordert werde.
§. 100.
Jn Anſehung des zweyten Grundſatzes wollen wir
beylaͤufig anmerken, daß das Gleichgewicht ein
foͤrm-
[76]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
foͤrmlicher Ruheſtand ſey, oder daß es fortdauere,
wenn ein Maximum oder ein Minimum dabey vor-
koͤmmt. Widrigenfalls waͤhret es nur einen Augen-
blick, wie z. E. bey dem Stoße elaſtiſcher Koͤrper.
Man ſehe auch §. 65.
§. 101.
Wir haben in Anſehung der Kraft und der daher
ruͤhrenden Bewegung noch einige Poſtulata anzu-
fuͤhren.
- 1°. Die Kraft kann von jeder Groͤße und Staͤrke
angenommen werden. - 2°. Jedes Solide kann nach jeder beliebigen Rich-
tung und mit jeder beliebigen Geſchwindigkeit
in Bewegung geſetzet werden. - 3°. Jede Kraft laͤßt ſich durch eine gleich große
und entgegengeſetzte aufhalten. - 4°. Jede Kraft kann durch eine groͤßere entgegen-
geſetzte uͤberwaͤltiget werden. - 5°. Jede Kraft laͤßt ſich durch eine kleinere ent-
gegengeſetzte vermindern oder unwirkſamer
machen. - 6°. Die Kraft laͤßt ſich ſowohl der Groͤße als der
Staͤrke nach durch Linien vorſtellen, (§. 82.).
§. 102.
Man ſieht leicht, daß dieſe Poſtulata Moͤglichkei-
ten an ſich betrachtet angeben, und daß ſie eben da-
durch allgemein und unbedingt ſind. Wir koͤnnen ſie
allerdings nicht ſo unbedingt anwenden, weil wir un-
ſere Kraͤfte und die Welt nehmen muͤſſen, wie ſie
bereits ſchon iſt. Denn werden von dieſen Moͤglich-
keiten einige beſtimmet, ſo werden die andern da-
durch mehr oder minder eingeſchraͤnket, und laſſen
ſich
[77]und Forderungen der Grundlehre.
ſich nicht mehr ſo unbedingt anbringen. Und dieſes
findet in der Welt ſtatt, wo die Kraͤfte und Solidi-
taͤten durchaus abgemeſſen und zum Beharrungs-
ſtande eingerichtet ſind, welcher eben nicht jede belie-
bige Aenderung zulaͤßt. Uebrigens, um es hier ge-
legentlich anzumerken, iſt die Kraft, ſo tranſcendent
wir dieſen Begriff nehmen (§. 29.), die eigentliche
Grundlage zu jeden Verbindungen, Verhaͤltniſ-
ſen, Beſtimmungen, Zuſammenſetzungen, po-
ſitiven Moͤglichkeiten ꝛc. ſowohl der Jntellectual-
welt, als der Koͤrperwelt.
§. 103.
Der Begriff der Exiſtenz beut uns ebenfalls eini-
ge Grundſaͤtze an.
- 1°. Die Exiſtenz iſt eine abſolute unveraͤnderliche
Einheit. - 2°. Ohne Solides und Kraͤfte, oder uͤberhaupt ohne
etwas Subſtantiales exiſtirt nichts, (§. 60. 90.) - 3°. Was exiſtirt dauert.
- 4°. Das Exiſtirende iſt an einem Orte.
- 5°. Einerley Solides exiſtirt nicht zugleich an mehr
als einem Orte. - 6°. Verſchiedenes Solides exiſtirt nicht zugleich an
einem Orte. - 7°. Was exiſtirt, iſt nicht zugleich verſchieden, oder
was exiſtirt iſt ein und eben daſſelbe, (numero
idem).
§. 104.
Der erſte dieſer Grundſaͤtze will ſagen: Von meh-
reren exiſtirenden iſt keines exiſtirender als das
andere, oder die Exiſtenz hat keine Gradus intenſi-
tatis. Nimmt man aber ſolche erdichtungsweiſe an,
ſo aͤndert ſich der Begriff der Exiſtenz in den Be-
griff
[78]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
griff der Wahrſcheinlichkeit der Exiſtenz der
Sache, welcher man zum Beyſpiele eine halbe, ein
Drittel ꝛc. Exiſtenz beylegt. Man ſehe hieruͤber das
fuͤnfte Hauptſtuͤck der Phaͤnomenologie, wo ich die
Gruͤnde zu dieſer Berechnung des Wahrſcheinlichen
angenommen habe. Was der zweyte dieſer Grund-
ſaͤtze eigentlich ſagen will, wird ſich im folgenden
deutlicher aufklaͤren laſſen, wo wir vom Wahren und
von dem Subſtantialen werden zu handeln haben.
§. 105.
Jn Anſehung der Exiſtenz haben wir, ſo lange
wir nur bey dem bloß idealen bleiben, ein ſehr all-
gemeines Poſtulatum, naͤmlich, daß bey jeden vor-
hin in Anſehung der uͤbrigen einfachen Be-
griffe angefuͤhrtenPoſtulatis,die Moͤglichkei-
ten, ſo ſie unbedingt angeben, als Moͤglich-
keiten zu exiſtiren angeſehen werden koͤnnen.
Denn das bloße Moͤgliche iſt nichts, wenn es nicht
exiſtiren kann. Dieſes Poſtulatum iſt aber nur ideal.
Denn wir haben bereits in Anſehung der Kraft
(§. 102.) angemerket, daß wir die in der That exiſti-
rende Welt nehmen muͤſſen, wie ſie iſt, und da lei-
den die an ſich unbedingten Moͤglichkeiten, ſo wie bey
den meiſten Zuſammenſetzungen (§. 12. 13.) merkliche
Einſchraͤnkungen, wozu die bisher angefuͤhrten Grund-
ſaͤtze Anleitung geben. Die naͤhere Anleitung dazu
koͤmmt in der Syſtematologie, und beſonders in der
Lehre von der Zuſammenſetzung vor, wo die poſiti-
ven Moͤglichkeiten und das poſitive zugleich
Moͤgliche beſtimmt werden muͤſſen.
§. 106.
Das Wort Seyn hat in ſeiner engern Bedeutung
genommen, mit dem Worte Exiſtiren einerley Be-
deutung,
[79]und Forderungen der Grundlehre.
deutung, und geht davon eigentlich nur in der gegen-
waͤrtigen Zeit ab. Denn wenn wir ſagen: es war,
es iſt geweſen, es waͤre geweſen, es wird ſeyn,
ſo geht es auf die Exiſtenz in dieſer Welt, und iſt
gleichſam hiſtoriſch oder vorherſagend. Hingegen,
wenn wir ſagen: es iſt, ſo geht es auf das wirk-
lich ſeyn und auf das wahr ſeyn ohne Unterſchied,
und die Bedeutung wird durch den Zuſammenhang
der Rede beſtimmet, weil bey bloß idealen und moͤg-
lichen Saͤtzen die letztere Bedeutung allein vorkoͤmmt.
§. 107.
Uebrigens beut uns der Begriff der Exiſtenz we-
nig metaphoriſches an. Er iſt an ſich tranſcendent,
weil er auf die Jntellectualwelt und auf die Koͤrper-
welt ohne Unterſchied geht. Bey den Erdichtun-
gen koͤmmt er vor, in ſo fern man dabey als exiſti-
rend anſieht oder ausgiebt, was nicht exiſtirt, oder
nicht ſo exiſtirt, wie man es dichtet, oder auch traͤumet.
§. 108.
Das Bewußtſeyn und das damit in Verbindung
ſtehende Wahre habe ich bereits in dem Organon,
und beſonders in der Alethiologie betrachtet, und in
dem fuͤnften Hauptſtuͤcke der Phaͤnomenologie ſeine
drey Dimenſionen angegeben, um ſie zur Beſtim-
mung der Grade der Gewißheit zu gebrauchen. So
habe ich bereits auch oben (§. 52.) angemerket, war-
um es aus der daſelbſt vorgelegten Tabelle weggeblie-
ben iſt. Jndeſſen koͤmmt es in der Grundlehre auf
eine andere Art vor, weil wir ſehr viele Begriffe
von den Dingen haben, die ſchlechthin von ihrer Ver-
haͤltniß zu dem denkenden Weſen hergenommen
ſind. So ſetzen wir die Gedenkbarkeit zum Merk-
male
[80]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
male der Moͤglichkeit, und den Widerſpruch
der in den Dingen ſelbſt nicht ſeyn kann, ſondern
ſchlechthin ideal und ſymboliſch iſt, zum Merkmale
des nicht gedenkbaren und an ſich unmoͤglichen.
Wir beſtimmen unſere Begriffe von Dingen, die an
ſich laͤngſt ſchon beſtimmt ſind. Die Begriffe der
Ordnung, Vollkommenheit, Schoͤnheit ꝛc. haben
ebenfalls ideales, und Verhaͤltniſſe zu dem denkenden
Weſen, und die Begriffe der Arten, Gattungen, des
Weſens, der Eigenſchaften, Modificationen ꝛc. kom-
men in der Vernunftlehre, wie in der Grundlehre
vor. Jn dieſer letztern Wiſſenſchaft muͤſſen wir oh-
nehin immer auf uns zuruͤcke denken, um unſere Be-
griffe und Woͤrter nach den Dingen einzurichten, und
dadurch das ſubjective mit dem Objectiven in Har-
monie und Uebereinſtimmung zu bringen.
§. 109.
Da uͤberdieß das Bewußtſeyn, das Wahre, und
das Gedenkbare, ſo fern es gedenkbar iſt, nebſt den
damit verbundenen Begriffen zur Jntellectualwelt
gehoͤret, ſo ſind auch die Woͤrter, die wir dabey ge-
brauchen, metaphoriſch, indem ſie von der Koͤrper-
welt hergenommen ſind. Das Tertium Compara-
tionis wird daher klaͤrer und leichter kennbar, wenn
die Betrachtung der letztern vorgeht, (§. 29. 39.).
Wir haben daher bey den vorhin betrachteten einfa-
chen Begriffen immer auch das Augenmerk darauf
gerichtet, und angezeiget, wie ſie tranſcendent wer-
den, und ſo auch unter den Poſtulatis verſchiedene an-
gefuͤhret, die ideal ſind, und ſich ſchlechthin auf die
Kraͤfte des Verſtandes gruͤnden, und eben ſolche wer-
den wir auch im folgenden anfuͤhren, ohne ſie hier
beſonders aufzuhaͤufen, weil wir hier nicht das Wahre
an
[81]und Forderungen der Grundlehre.
an ſich, ſondern die Gegenſtaͤnde, worinn das Wahre
iſt, betrachten.
§. 110.
Der Wille oder die Begehrungskraft hat das
Gute zum Gegenſtande, welches unter einer drey-
fachen Geſtalt vorkoͤmmt. Jn Abſicht auf den Ver-
ſtand die Ordnung und Vollkommenheit. Jn
Abſicht auf die Empfindungen das Angenehme und
Schoͤne. Jn Abſicht auf die Kraͤfte uͤberhaupt,
das leichte oder minder Muͤhſame. Alles dieſes,
ſowohl in ſo fern es Abſichten, als in ſo fern es
Mittel ſind. So fern ſich der Wille durch ſolche
Vorſtellungen, Empfindungen und Triebe bewegen
laͤßt, hat er an ſich eine Vim inertiae, und dieſe
Vorſtellungen ꝛc. ſind Kraͤfte, die ihn treiben, und
ihm gleichſam die Richtung und Geſchwindigkeit
geben. Wir gebrauchen hier dieſe Ausdruͤcke, um
zu zeigen, daß die Theorie der Soliditaͤt, der Be-
wegung und der Kraft auch in Abſicht auf den
Willen haͤufige Tertia Comparationis anbeut, und
tranſcendent gemacht werden kann. Wird hiebey
genau verfahren, ſo iſt es nicht unmoͤglich, dieſe
Tertia Comparationis bis zu den Gruͤnden der Aus-
meſſung weiter zu treiben, und dadurch die Agatho-
logie in eine foͤrmliche Agathometrie zu verwandeln,
und dieſer Wiſſenſchaft ihre wahre Vollkommenheit
zu geben, ohne welche ſie immer weit zuruͤcke bleibt.
Daß dem Verſtande eine Vis inertiae zugeeignet wer-
den koͤnne, haben wir bereits in der Alethiologie an-
gemerket.
§. 111.
Das Gute ſelbſt beut uns zum Behufe der Aga-
thologie verſchiedene Grundſaͤtze an.
Lamb. Archit.I.B. F1°. Das
[82]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
- 1°. Das Gute hat keine beſtimmte Einheit.
- 2°. Das Gute hat drey Dimenſionen, die Groͤße,
die Staͤrke und die Dauer. - 3°. Ohne Realitaͤt iſt kein poſitives Gutes.
- 4°. Der Wille an ſich geht auf das Beſſere.
Die Poſtulata aber ſind:
- 1°. Bey jedem Gutem laͤßt ſich ein Groͤßeres ge-
denken. - 2°. Das Gute laͤßt ſich als eine Kraft gedenken,
die auf den Willen wirken kann. - 3°. Das Gute laͤßt ſich ſeinen Dimenſionen nach
durch Linien vorſtellen.
§. 112.
Der erſte von den angefuͤhrten Grundſaͤtzen giebt
einen merklichen Unterſchied des Guten und des
Wahren an. Das Wahre iſt eine abſolute Einheit,
und unter allen Wahrheiten iſt keine mehr oder min-
der wahr, als die andere. Hingegen geht das Gute
nach ſeinen drey Dimenſionen ſtuffenweiſe von 0 bis
ins Unendliche. Daher kann der Wille immer noch
auf beſſers gelenket werden, da hingegen der Verſtand
bey dem Wahren einen abſoluten Ruheplatz findet,
und ſeinen Beyfall ſchlechthin giebt, verſaget, oder
aufſchiebt, und die Gruͤnde zum Beyfalle nur bey
dem Wahrſcheinlichen ausmiſſet, und zuſammen-
rechnet, bis ihre Summe = 1 iſt, oder der abſoluten
Einheit gleich wird, bey welcher ſich der Verſtand
beruhiget. Wir haben in dem fuͤnften Hauptſtuͤcke
der Phaͤnomenologie angezeiget, daß das Bewußt-
ſeyn in Abſicht auf die Gewißheit, eben ſo eine
abſolute Einheit hat, wenn es intenſiue genommen
wird.
§. 113.
[83]und Forderungen der Grundlehre.
§. 113.
Nun bliebe noch der Begriff der Jdentitaͤt zu be-
trachten, und die dabey vorkommenden Grundſaͤtze
und Poſtulata anzufuͤhren. Dieſes wird aber fuͤgli-
cher im folgenden geſchehen koͤnnen, weil dieſer Be-
griff, wie wir es bereits oben (§. 50. 55.) angemerket
haben, eine beſondere Theorie erfordert, um ſo mehr,
weil ſich dieſe bey allen bisher betrachteten einfachen
Begriffen anwenden laͤßt, und weil ſie zu vielen an-
dern Begriffen der Grundlehre den Weg bahnet, um
dieſe in einen wiſſenſchaftlichen Zuſammenhang und
Verbindung mit den einfachen Begriffen zu bringen.
Hier werde ich demnach uͤber das bisher vorgetrage-
ne noch einige Anmerkungen beyfuͤgen.
§. 114.
Einmal wird man ohne Muͤhe finden, daß ich
auch in dieſem Hauptſtuͤcke, den in dem erſten ange-
gebenen Vorſchriften gefolget habe, um die Erfor-
derniſſe einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre zu erhal-
ten. Das tranſcendente iſt aller Orten mitgenom-
men, und die Tertia Comparationis, ſo viel hier noͤ-
thig war, angezeiget. Man wird ebenfalls bey je-
dem einfachen Begriffe ſehen, daß ſie Poſtulata an-
geben, und eben ſo viele Quellen von poſitiven, ein-
fachen und unbedingten Moͤglichkeiten ſind, von wel-
chen man Data in Menge hernehmen kann (§. 14. 15.),
ingleichem, daß die Grundſaͤtze, wodurch die Moͤg-
lichkeiten bey den Zuſammenſetzungen eingeſchraͤnket
werden, ebenfalls von den einfachen Begriffen ſelbſt
an die Hand gegeben werden, (§. 13. 105.). Jn
Anſehung der Beforgniß des Scheines habe ich
mich gar nicht aufgehalten, und zwar aus den oben
(§. 43. 44.) angegebenen Gruͤnden, und bey der An-
F 2fuͤhrung
[84]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
fuͤhrung der Grundſaͤtze und Forderungen vornehm-
lich auf ihre Allgemeinheit geſehen, ohne die Be-
griffe oder Woͤrter weitlaͤuftig zu erklaͤren, (§. 76.).
Jndeſſen ſind, wo es noͤthig war, die Vieldeutig-
keiten angezeiget, und die aller Orten beygefuͤgten
Anmerkungen moͤgen zur Erlaͤuterung zureichend bey-
tragen, (§. 37. 38.). Jn dieſen Anmerkungen habe
ich noch beygefuͤget, was ich nicht ſo unbedingt unter
die Grundſaͤtze glaubte rechnen zu koͤnnen, oder, wo
etwann die Moͤglichkeit ſich noch weiter auszudehnen
ſchiene, (§. 91. 95.).
§. 115.
Die Ordnung des Vortrages iſt ebenfalls nicht
willkuͤhrlich. Diejenigen Begriffe mußten zuerſt be-
trachtet werden, deren Grundſaͤtze und Poſtulata bey
den folgenden angewandt werden konnten, oder auch
dabey Einſchraͤnkungen angaben. So z. E. laͤßt ſich
die Einheit fuͤr ſich betrachten, ſie koͤmmt aber bey
jeden der uͤbrigen einfachen Begriffe vor. So kann
auch der Raum und die Dauer fuͤr ſich betrachtet
werden, der Raum koͤmmt aber bey dem Soliden,
die Dauer bey der Exiſtenz, beyde bey der Be-
wegung und Kraft vor. Demnach mußte die Be-
trachtung des Raumes und der Dauer vorgehen,
und zwar der Raum zuerſt, weil er klaͤrere Begriffe
von den Dimenſionen und ihrer Verſchiedenheit, und
uͤberdieß Metaphern und Reductionen giebt, (§. 81.).
Nach dieſen beyden konnte die Betrachtung der Be-
wegung, worinn nur Raum und Zeit mit einan-
der verglichen werden, unmittelbar folgen. Sodann
konnten die Soliditaͤt und die Kraft ohne Ruͤckſicht
auf die Exiſtenz betrachtet werden. Die Exiſtenz
folgte demnach zuletzt, und darauf das Bewußtſeyn
und
[85]und Forderungen der Grundlehre.
und das Wollen, weil dieſes Begriffe von ganz
anderer Art ſind, und zu der Jntellectualwelt gehoͤ-
ren, (§. 29. 39.).
§. 116.
Jndem ich in dem vorhergehenden Hauptſtuͤcke die
einfachen Begriffe in gegenwaͤrtigem aber die Poſtu-
lata und Grundſaͤtze zuſammen aufgehaͤufet habe; ſo
hatte ich dabey einerley Abſicht und Grund. Und
uͤberdieß habe ich dabey weiter nichts gethan, als
daß ich, was Euclid in Abſicht auf den Raum that,
in Abſicht auf die ſaͤmmtlichen einfachen Grundbe-
griffe vornahm. Die Vergleichung faͤllt in die Au-
gen. Die Euclidiſchen Grundſaͤtze habe ich nicht
alle mitgenommen, weil ſie hier zu ſpecial waren.
Hingegen mußte ich andere beyfuͤgen, die nicht den
idealen geometriſchen, ſondern den wirklichen und ab-
ſoluten Raum angiengen, (§. 80.). Sie geben aber
den Euclidiſchen nichts nach, und dieſe Aehnlich-
keit findet auch bey denen ſtatt, die ich bey den uͤbri-
gen einfachen Begriffen angebracht habe.
§. 117.
Jndeſſen hatte ich naͤhere Gruͤnde, die einfachen
Begriffe und ihre Grundſaͤtze, und Poſtulata ſo auf-
zuhaͤufen, oder ohne Ruͤckſicht auf den Unterſchied
der Wiſſenſchaften, worinn ſie eigentlich vorkommen,
ſie hier beyſammen vorzutragen. Die Grundlehre
ſoll nicht nur die Anlage zu dieſen Wiſſenſchaften, als
einzele Theile enthalten, ſondern zugleich auch auf
ihre allgemeine Verbindung gehen. Letzteres kann
nun nicht Statt finden, daferne man nicht ihre ein-
fachen Grundbegriffe, Grundſaͤtze und Poſtulata ge-
gen einander haͤlt, und gleichſam mit einem Anblicke
F 3uͤber-
[86]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
uͤberſehen kann. Jn Abſicht auf die Grundbegriffe
iſt dieſes in dem vorgehenden Hauptſtuͤcke, auf eine
in die Augen fallende Art, und dergeſtalt geſchehen,
daß ſich alle dieſe einzele Theile der Grundlehre aus
der Combination ihrer Grundbegriffe a priori herlei-
ten und vorzaͤhlen ließen, und die (§. 53.) vorgelegte
Tafel ſtellet die Verbindung, das eigene und gemein-
ſame dieſer Theile der Grundlehre mit einem Male
vor Augen, (§. 74.). Wie etwas aͤhnliches mit den
Grundſaͤtzen und Poſtulatis vorzunehmen ſey, das
haben wir noch anzugeben.
§. 118.
Hiebey koͤmmt nun die ganze Sache darauf an,
daß wir ſehen, wiefern wir vermittelſt der angefuͤhr-
ten Grundſaͤtze und Forderungen durch das ganze
Reich der Moͤglichkeiten kommen koͤnnen, oder wie
ferne auch hier das Ciceroniſche:Si dederis, omnia
danda ſunt, ſtatt finde, und zwar nicht nur wegen
der Nothwendigkeit, ſondern auch wegen der Voll-
ſtaͤndigkeit der Folgerungen. Jch fordere demnach
weiter nichts, als daß mir die angefuͤhrten Grund-
ſaͤtze und Poſtulata eingeraͤumet werden. Das heißt:
Si dederis.
§. 119.
Dieſes Zugeben oder Einraͤumen voraus geſetzt,
ſo haben wir Zahl, Raum und Dauer ohne Ein-
ſchraͤnkung, (§. 77. Poſtul. 4. §. 70. Poſt. 1. §. 83.
Poſt. 2.). Jeden Theil des Raumes koͤnnen wir ganz
oder zum Theil mit Solidem ausfuͤllen (§. 88. P. 2.),
und folglich Solides von jeder Figur und Groͤße an
jeden Ort ſetzen. Dabey koͤmmt die einige Bedin-
gung vor, daß es nicht zugleich an einerley Orte ſeyn
koͤnne,
[87]und Forderungen der Grundlehre.
koͤnne, (§. 88. Axiom. 2. §. 103. Axiom. 6.). Sollte
uͤberdieß noch das Solide innere Unterſchiede der
Dichtigkeit und der Art haben (§. 91.), ſo wuͤrden
die Moͤglichkeiten dadurch noch vervielfaͤltiget, weil
ſich dabey Combinationen und Permutationen anſtel-
len ließen.
§. 120.
Bis dahin iſt noch jedes von dieſen Compoſitis in
Ruhe, (§. 94. Axiom. 1.). Da aber immer Raum
zur Bewegung bleibt (§. 70. Poſt. 1.), ſo koͤnnen wir
jede Theile des Soliden mit beliebiger Geſchwindig-
keit und Direction in Bewegung bringen, welche
ſich bey jedem Anſtoße des einen an das andere aͤn-
dert, (§. 101. Poſt. 2. §. 94. Axiom. 3.). Hieraus ent-
ſtehen nun allerdings Mannichfaltigkeiten, die in je-
den Abſichten ſtuffenweiſe von 0 bis ins Unendliche
gehen.
§. 121.
Da ſich ferner ohne Solides nichts exiſtirendes ge-
denken laͤßt (§. 103. Axiom. 2.), ſo haben wir bey den
hier angenommenen Mannichfaltigkeiten des Soliden
zugleich auch die ganze Grundlage zu jeden Verhaͤlt-
niſſen der ſoliden Theile unter ſich, und in Abſicht
auf denkende Weſen. Und dieſes macht demnach
den Umfang des Reiches der Moͤglichkeiten aus, ſo
weit wir nach den in der menſchlichen Erkenntniß vor-
kommenden einfachen Grundbegriffen denſelben uͤber-
ſehen koͤnnen. Jch fuͤge dieſes letztere bey, weil ich
eben nicht gedenke, vermittelſt der in dieſem Haupt-
ſtuͤcke angefuͤhrten Grundſaͤtze und Forderungen wirk-
liche Weltſyſtemen zu errichten. Nach des Carteſius
fehlgeſchlagenem Verſuche laͤßt man dieſes ein fuͤr
allemal bleiben.
F 4§. 122.
[88]III. Hauptſtuͤck. Erſte Grundſaͤtze
§. 122.
Da wir bey der Zuſammenſetzung der Dinge oh-
nehin ſchon gewoͤhnet ſind, die Begriffe ihrer Theile
ebenfalls zuſammen zu ſetzen, und den Eindruck
und die Vorſtellung des Ganzen, als zuſammenge-
ſetzt anzuſehen (§. 81.), ſo entſtehen hier eben ſo
viele und ſo mannichfaltige zuſammengeſetzte Begrif-
fe, als mit dem Soliden Zuſammenſetzungen und
Veraͤnderungen vorgenommen werden koͤnnen, und
ſo viel dabey zuſammengeſetzte Verhaͤltniſſe entſtehen,
(§. 115-117.). Das will nun ſagen: So viel man
zuſammengeſetzte Begriffe gedenken will, laſ-
ſen ſich noch mehrere gedenken, und ſie ſind
den Graden und der Art nach ſtuffenweiſe
von 0 bis ſo viel man will, von einander ver-
ſchieden. Denn ſo ſind die vorhin (§. cit.) ange-
fuͤhrten und durchaus poſitiven Moͤglichkeiten ſelbſt,
und folglich auch ihre Begriffe, weil dieſe jene vor-
ſtellen, und daher denſelben genau entſprechen muͤſſen.
§. 123.
Wir muͤſſen hier anmerken, daß wir zwiſchen Be-
griffen von Dingen und zwiſchen Begriffen von Be-
griffen einen Unterſchied machen. Hier iſt eigent-
lich von den erſtern die Rede, weil die andern ſchlecht-
hin ideal und logiſch ſind, und auf die Vergleichung
der erſtern gehen. Dergleichen ſind z. E. die Be-
griffe der Gattung, Art, Weſen, Eigenſchaft ꝛc.
und uͤberhaupt bald alle abſtracte Begriffe, die man
bisher in der Ontologie faſt allein vortrug. Wir
werden ſie ebenfalls mitnehmen, (§. 75.). Es muß
aber vorerſt zu dem Beweiſe ihrer Entſtehungsart
(§. 24.), und ihrer Allgemeinheit (§. 38.), der Weg
werden gebahnet werden. Und hiezu wird der erſt
erwie-
[89]und Forderungen der Grundlehre.
erwieſene Satz dienen, welcher dabey ſo viel als ein
Poſtulatum gilt, weil er eine allgemeine und unein-
geſchraͤnkte Moͤglichkeit angiebt. Solche abſtracte
Begriffe muͤſſen nun allerdings denen in vorhergehen-
dem Hauptſtuͤcke vorgezaͤhlten ſpecialen Theilen der
Grundlehre vorgehen, weil ſie ſich bey allen anwen-
den laſſen. Jch fuͤhre dieſes hier vorlaͤufig an, um
zu bemerken, daß auch hierinn die Ordnung des Vor-
trages der Grundlehre nicht willkuͤhrlich bleibt, und
um zugleich verſchiedenen Fragen (§. 41. 75.) vorzu-
beugen, die theils wegfallen, theils geaͤndert wer-
den muͤſſen.
Viertes Hauptſtuͤck.
Grundſaͤtze und Forderungen der
Jdentitaͤt.
§. 124.
Bey der ſo unendlichen Mannichfaltigkeit der zu-
ſammengeſetzten Begriffe und Dinge (§. 122.)
koͤmmt es auf die Vergleichung derſelben an, wenn
wir anders ſie nicht als ein bloßes Chaos anſehen ſol-
len, darinn weder Anfang noch Ende zu finden waͤre.
Dabey wird nun der Begriff der Jdentitaͤt zum
Grunde gelegt, welcher wegen ſeiner allgemeinen An-
wendbarkeit eine beſondere Theorie verdienet. Dieſe
Anwendbarkeit iſt ſo uneingeſchraͤnkt, daß ſie ſich bald
ohne Unterſchied auf Wahres, Scheinbares, Jrriges,
Ungereimtes, Moͤgliches ꝛc. erſtreckt, weil man bey
allem dem, Vergleichungen von mehrern anſtellen, und
fragen kann, ob und wie fern eines mit dem andern
F 5einerley
[90]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
einerley oder verſchieden ſey. Ueberdieß machen ſich
die Vergleichungen zur Bereicherung unſerer Erkennt-
niß unentbehrlich. Wir kommen nicht weit, wenn
wir ein Ding nur fuͤr ſich betrachten, ſondern muͤſſen
bald darauf denken, wie wir es mit andern, oder
ſeine Theile unter ſich, oder in Abſicht auf uns oder
auf ein denkendes und wollendes Weſen, betrachten
koͤnnen.
§. 125.
Der Begriff der Jdentitaͤt iſt, in Abſicht auf die
Grundlehre uͤberhaupt, was der Begriff der Gleich-
heit in Abſicht auf die Mathematic iſt, und thut
darum aͤhnliche Dienſte. Wir koͤnnen keinen Schluß
machen, ohne uns von der Jdentitaͤt des Mittelgliedes
in beyden Vorderſaͤtzen, und ſo auch von der Jden-
titaͤt der aͤußerſten Glieder in den Vorderſaͤtzen und
dem Schlußſatze zu verſichern, weil es ohne dieſes
ungewiß bliebe, ob nicht mehr als drey Glieder in
dem Schluſſe vorkommen, wodurch er fehlerhaft und
unzuverlaͤßig ſeyn wuͤrde. Jn der Meßkunſt, wo
nur von Groͤßen die Rede iſt, ſind die Vergleichun-
gen das einige Mittel, ihre Saͤtze herauszubringen,
und mit einander zu verbinden, und die meiſten Eucli-
diſchen Grundſaͤtze ſind unmittelbar von dem Begriffe
der Gleichheit hergenommen, weil ſie angeben, woran
man das Gleiche und das Groͤßere und Kleinere
erkennen koͤnne, und wodurch es beybehalten werde.
Jn Anſehung der Jdentitaͤt muß eben ſo verfahren
werden.
§. 126.
Den Begriff der Jdentitaͤt haben wir unmittel-
bar von den Empfindungen und Gedanken, ſo fern
wir dieſe wiederholen. Jch denke A, und denke
noch-
[91]und Forderungen der Jdentitaͤt.
nochmals A, ſo denke ich einerley. Die Jdentitaͤt
iſt auch an ſich nur ein idealer Begriff, und giebt
und benimmt den verglichenen Dingen nichts, dafern
wir uns nicht vorſetzen, ſie ſo zu aͤndern, bis ſie
einerley werden.
§. 127.
Die Jdentitaͤt iſt eine Einheit von derjenigen
Art, daß ſie Bruͤche admittirt, die von 0 bis
auf 1 gehen, aber nicht weiter. Zwey Dinge
koͤnnen mehr oder minder verſchieden, aber nicht mehr
als einerley ſeyn, und wird dieſes nach aller Schaͤrfe
genommen, ſo ſind es nicht mehr zwey Dinge, ſon-
dern ein und eben daſſelbe Ding (Numero idem).
Dieſe Jdentitaͤt iſt abſolut, oder die voͤllige Einheit,
die der Jntenſitaͤt nach nicht groͤßer werden kann.
§. 128.
Die Sprache ſcheint auch dieſen Unterſchied anzu-
zeigen. Jm Deutſchen wird das Wort einerley bey
jeden Graden der Jdentitaͤt gebraucht, dahingegen
der Ausdruck ein und eben daſſelbe nur bey der
abſoluten Jdentitaͤt vorkoͤmmt. Jm Lateiniſchen
finden ſich zwiſchen vnum idemque, idem, eadem,
aͤhnliche Unterſchiede.
§. 129.
Es ſeyn nun zwey Dinge, dieſe koͤnnen, die
Jdentitaͤt der Zahl nach ausgenommen, und
an ſich betrachtet, durchaus einerley ſeyn. Jch
ſage erſtlich, die Jdentitaͤt der Zahl nach aus-
genommen. Denn ſonſt waͤren es nicht mehr zwey,
ſondern ein und eben das Ding. Sodann ſage ich:
an ſich betrachtet. Denn jedes kann in andern
Verhaͤltniſſen ſtehen, zu einer andern Zeit exiſtiren,
und
[92]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
und wenn ſie zugleich ſind, ſo ſind ſie nicht an gleichem
Orte (§. 103.). Dieſe Art von Jdentitaͤt iſt eben-
falls eine Einheit, aber in gewiſſen Abſichten be-
trachtet, welche der Satz angiebt. Jn dieſen Ab-
ſichten aber iſt ſie abſolut, und admittirt nur Bruͤche,
die von 0 bis auf 1 gehen. Die Moͤglichkeit einer
ſolchen Jdentitaͤt kann man nicht in Abrede ſeyn,
man muͤßte denn eine Unmoͤglichkeit finden, daß Gott
nicht nach einem und eben demſelben Vorbilde zwey
oder mehrere Dinge erſchaffen koͤnnte.
§. 130.
Ob aber eine ſolche Jdentitaͤt in der wirklichen
Welt vorkomme, iſt eine ganz andere Frage. Da
ſage ich nein, und wenn ſie auch einmal zutraͤfe, ſo
waͤre es nur fuͤr einen Augenblick, weil die Urſa-
chen, welche alle Dinge der Welt beſtaͤndig
aͤndern, viel zu haͤufig ſind, und viel zu ſehr
durch einander laufen, als daß eine Jdentitaͤt
nach ſolcher Schaͤrfe genommen laͤnger dauern
koͤnnte. Aus dieſem Grunde laſſe ich das Leibnitzi-
ſche Principium indiſcernibilium, in Abſicht auf die
wirkliche Welt, durchaus gelten. Und in eben die-
ſer Abſicht kann es allenfalls auch durch teleologiſche
Gruͤnde bekraͤftiget werden, weil die Mannichfaltig-
keit ein weſentliches Stuͤck der Vollkommenheit der
Welt ausmacht. Hingegen in Abſicht auf moͤgliche,
und wenn man ſo will, minder vollkommene Welten,
ſcheint es mir nicht durchaus anwendbar (§. 129.).
§. 131.
Jch werde hier noch gelegentlich eine andere An-
merkung beyfuͤgen, welche die Platoniſche Apocata-
ſtaſin oder Progreſſum rerum circularem betrifft.
Plato
[93]und Forderungen der Jdentitaͤt.
Plato hatte auf eine aſtrologiſche Art aus dem Um-
laufe der Planeten geſchloſſen, daß nach einigen tau-
ſend Jahren die Planeten wieder ſaͤmmtlich in gleiche
Lage, und damit auch auf der Erdflaͤche alles wieder-
kommen werde, wie es vorher war. Es ſind aber
die Zeiten des Umlaufs der Planeten nicht nur in-
commenſurabel, ſondern dieſe Jncommenſurabilitaͤt
aͤndert ſich durch unendlich kleine Stufen, ſo daß
wenn auch zwo oder mehrere von dieſen Zeiten einmal
commenſurabel waͤren, ſie es nicht einen Augenblick
lang ſeyn wuͤrden. Nun iſt es ſchlechthin unmoͤglich,
daß zwo incommenſurable Perioden genau wieder zu-
ſammentraͤfen; um ſo viel weniger alle, die in der
Welt vorkommen, zugleich. Demnach iſt auch der
Progreſſus rerum circularis, ſo lange die Welt bleibt,
ſchlechthin unmoͤglich, weil es gar zu uͤberhaͤuft viele
incommenſurable und durch einander perturbirte Pe-
rioden in der Welt giebt.
§. 132.
Ungeacht demnach eine ſo abſolute Jdentitaͤt nur
im Reiche der Moͤglichkeit vorkoͤmmt (§. 129. 130.)
ſo werden wir ſie dennoch zum Maßſtabe annehmen,
weil ſie die Einheit iſt, mit welcher die mindere Grade
der Jdentitaͤt, als Bruͤche zu vergleichen ſind. Man
nennet die Dinge, die nur der Zahl nach verſchieden,
im uͤbrigen aber einerley ſind, der Art nach einerley
(eadem ſpecie). Und ſie ſind abſolute von einerley
Art, wenn ſie, die Jdentitaͤt der Zahl nach ausge-
nommen, und an ſich betrachtet durchaus einerley
ſind (§. 129.) Wir koͤnnen hiebey anmerken, daß
man in der Vernunftlehre und in der Ontologie die
Begriffe des Einzeln, der Art, der Gattung ein-
ander ſubordinirt hat, um ihre Rangordnung gleich-
ſam
[94]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
ſam local zu machen (§. 81.). Die Indiuidua ſetzet
man zu unterſt, weil ſie gleichſam der Grund oder
das Fundament zu dem Gebaͤude ſind. Zunaͤchſt
daruͤber werden die Arten und uͤber dieſe die Gat-
tungen geſetzet. Und da man mit drey Stufen nicht
ausreicht, und die Sprache nicht mehrere Namen
hat, ſo macht man die Begriffe von Arten und Gat-
tungen relativ, und ſpricht von hoͤhern Gattungen,
von niedrigern Arten. Die erſt betrachtete Art
(§. 129. ſeqq.) iſt demnach ſchlechthin oder abſolute die
unterſte, weil ſie von den Indiuiduis nur dem Unter-
ſchiede der Zahl nach verſchieden iſt. Und die Indiui-
dua, die nur der Zahl nach verſchieden ſind, machen
zuſammen genommen ſolche abſolute unterſte Arten
aus. An ſich betrachtet differiren ſolche Indiuidua in
nichts, als daß es mehrere ſind.
§. 133.
Jn Anſehung der Begriffe, ſo fern ſie einerley
oder verſchieden ſind, haben wir den Unterſchied zu
machen, ob man ſie an ſich betrachtet, und zwar nicht
weiter, als man ſie ſich klar vorſtellet, oder ob ſie in
Abſicht auf die Sache betrachtet werden, die ſie vor-
ſtellen. Denn ſo iſt es gar wohl moͤglich, daß man
ſich unter verſchiedenen Begriffen eine und eben die-
ſelbe Sache vorſtellet, und daher aus dem Unter-
ſchiede der Begriffe nicht ſo unbedingt auf den Unter-
ſchied der Sache einen Schluß machen kann. So
z. E. ſtelle ich mir eine und eben die Sache vor, wenn
ich einen gleichſeitigen, oder wenn ich einen gleich-
winklichten Triangel gedenke. Hingegen kann ein
und eben der Begriff mehrere, aber nur der Zahl
nach verſchiedene Dinge vorſtellen, und wenn es ein
Begriff einer hoͤhern Gattung iſt, ſo ſtellet er auch
der
[95]und Forderungen der Jdentitaͤt.
der Art nach verſchiedene Dinge, aber nicht complet
vor, weil die Unterſchiede der Art daraus wegbleiben.
Jm erſtern Falle aber ſtellen die beyden Begriffe die
Sache auch nicht vollſtaͤndig, ſondern nur ſolche Theile
und Verhaͤltniſſe vor, die ſich in der Sache beyſam-
men finden, und wobey es gar wohl moͤglich iſt, und
auch oͤfters geſchieht, daß man lange Zeit nicht weiß,
daß ſie eine und eben dieſelbe Sache vorſtellen. Jn
Anſehung der Benennungen kommen aͤhnliche Un-
terſchiede und noch oͤfters vor.
§. 134.
Die einfachen Begriffe und die Sachen, ſo
ſie vorſtellen, ſind an ſich verſchieden, und
zwar weil ſie einfach, und weil ſie nicht ein
und eben derſelbe Begriff ſind. Denn da ſie
einfach ſind, ſo haben ſie nicht mehrere und von ein-
ander verſchiedene innere Merkmale, daher kann
man auch nicht ſagen, ſie moͤchten einige gemeinſame
innere Merkmale haben, wodurch ſie nicht durchaus
verſchieden waͤren. Da ſie demnach ſich ſelbſt ihr
einiges inneres Merkmal ſind, ſo muͤßten ſie, dafern
ſie nicht darinn ganz verſchieden waͤren, ein und eben
derſelbe Begriff ſeyn. Und dieſes geht nicht an.
Denn die Exiſtenz iſt nicht der Raum, dieſer iſt nicht
die Dauer, dieſe iſt nicht die Soliditaͤt ꝛc.
§. 135.
Es geht aber dieſer abſolute Unterſchied der ein-
fachen Begriffe und der Dinge, die ſie vorſtellen, nicht
ſo weit, daß ſie nicht ſollten Verhaͤltniſſe und Ver-
bindungen unter einander haben, beyſammen ſeyn,
und aͤhnliche Beſtimmungen haben koͤnnen. Die oben
(§. 53.) vorgelegte Tafel ſtellet mit einem male vor
Augen,
[96]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
Augen, auf wie vielerley Arten die einfachen Grund-
begriffe zuſammen genommen und in Verbindung ge-
bracht werden koͤnnen. Und in dem vorhergehenden
Hauptſtuͤcke haben wir dieſe Verbindung in den
Grundſaͤtzen und Forderungen auf eine beſtimmtere
Art vorgelegt. Wir merken dieſes hier an, weil
darinn die erſte Grundlage zu der Aehnlichkeit und
Verſchiedenheit der Dinge vorkoͤmmt.
§. 136.
Die Begriffe der Aehnlichkeit und der Gleich-
heit ſetzen immer eine Jdentitaͤt voraus. Da man
aber, in dem gemeinen Gebrauche zu reden, dieſe Woͤr-
ter nicht in ſo genau beſtimmter Bedeutung nimmt,
und ſie oͤfters mit einander verwechſelt, ſo laͤßt ſich
auch keine ſo beſtimmte Worterklaͤrung davon geben.
Vielleicht laſſen ſie ſich am fuͤglichſten noch ſo an-
geben, daß zwey oder mehrere Dinge dem Stoffe
nach einerley oder verſchieden, der Groͤße nach
gleich oder ungleich, den uͤbrigen Beſtimmungen
nach aͤhnlich oder unaͤhnlich ſind. So genau aber
wird beſonders das Wort gleich nicht genommen,
und ſelbſt die Art der deutſchen Sprache giebt ihm
eine ausgedehntere Bedeutung. Es ſcheint aus den
beyden Ableitungstheilchen ge und lich zuſammenge-
ſchlungen, davon letzters eine Nota ſimilitudinis, er-
ſteres aber ein Collectiuum iſt, und auf dieſe Art
geht das Wort gleich auf die Zuſammenfaſſung aller
Aehnlichkeiten, die in zwoen oder mehrern vergliche-
nen Sachen ſind. Jn dieſer Bedeutung koͤmmt es
auch in den Ausdruͤcken: vergleichen, Gleichniß,
gleich groß, gleich viel, das iſt mir gleich,
laſſet uns ein Bild machen, das uns gleich
ſey, verglich ꝛc. vor. Es zeiget die Jdentitaͤt an,
ſo
[97]und Forderungen der Jdentitaͤt.
ſo weit ſie ſich erſtreckt. Das Wort aͤhnlich hin-
gegen hat ſchon eine beſtimmtere Bedeutung. Es iſt
aus den zwey Ableitungstheilchen an und lich zu-
ſammengeſetzet, wovon erſteres ein Vorwort (Prae-
poſitio), und daher ein localer Verhaͤltnißbegriff iſt,
welchen man auf vielerley Arten metaphoriſch und
tranſcendent gemacht hat. Daher geht das Wort
aͤhnlich auf die Gleichheit oder Jdentitaͤt der Ver-
haͤltniſſe und Beſtimmungen. So ſagen wir z. E.
auf eine aͤhnliche Art, eine aͤhnliche Geſtalt,
aͤhnliche Figur ꝛc. Das Veraͤnderliche in der Be-
deutung dieſer Woͤrter wird aber leichter jedesmal
aus dem Zuſammenhange der Rede beſtimmt, wo
ſie gebraucht werden (§. 33.).
§. 137.
Auf dieſe Art haben folgende Grundſaͤtze keine
Schwierigkeit.
- 1°. Jede Sache iſt ſich ſelbſt gleich, aͤhnlich, einerley.
- 2°. Wenn zwey Dinge in einerley Stuͤcken mit
einem dritten gleich aͤhnlich, einerley ſind, ſo
ſind ſie in eben dieſen Stuͤcken unter ſich gleich,
aͤhnlich, einerley. - 3°. Wenn zwey Dinge in einerley Stuͤcken auf
einerley Art von einem dritten verſchieden ſind;
ſo ſind ſie in eben dieſen Stuͤcken unter ſich
einerley, oder nicht verſchieden. - 4°. Wenn zwey Dinge in einerley Stuͤcken auf
eine verſchiedene oder ungleiche Art von einem
dritten verſchieden ſind; ſo ſind ſie in eben
dieſen Stuͤcken unter ſich verſchieden, und hin-
gegen unter ſich einerley, ſo fern ſie in einerley
Stuͤcken verſchieden ſind.
Lamb. Archit.I.B. G5°. Wenn
[98]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
- 5°. Wenn in zweyen Dingen einerley Stuͤcke auf
einerley Art veraͤndert werden, ſo bleiben ſie
auch nach der Veraͤnderung in eben dieſen
Stuͤcken einerley. - 6°. Wenn in zweyen Dingen einerley Stuͤcke auf
eine verſchiedene oder ungleiche Art veraͤndert
werden, ſo werden ſie in eben dieſen Stuͤcken
verſchieden, oder unaͤhnlich. - 7°. Wenn zwey Dinge zu einem dritten einerley
Verhaͤltniß haben, ſo ſind ſie unter ſich ein-
ander aͤhnlich, und ſie ſind einerley, ſo fern
ſie zu dem dritten in allen Abſichten einerley
Verhaͤltniß haben. - 8°. Wenn zwey Dinge zu einem dritten in einerley
Abſicht ungleiche Verhaͤltniß haben, ſo ſind
ſie in eben dieſer Abſicht von einander verſchie-
den, oder einander unaͤhnlich. - 9°. Das Ganze iſt mit ſeinen Theilen zuſammen-
genommen einerley. - 10°. Das Ganze iſt mit einem ſeiner Theile nicht
durchaus einerley. - 11°. Was ohne die Verhaͤltniſſe zu dem uͤbrigen
zu aͤndern an die Stelle eines Theils kann ge-
ſetzet werden, iſt in ſo fern und in Abſicht auf
das Ganze einerley oder gleichguͤltig, und wi-
drigenfalls nicht oder nicht durchaus.
§. 138.
Jn Anſehung dieſer Grundſaͤtze verſteht ſich es von
ſelbſt, daß wir die Folgen nur angegeben haben, ſo
fern ſie aus den vorausgeſetzten Bedingungen be-
ſtimmet werden koͤnnen. Denn ſo iſt es z. E. in
Anſehung des dritten Grundſatzes wohl moͤglich, daß
die
[99]und Forderungen der Jdentitaͤt.
die zwey verglichenen Dinge noch in mehrern Stuͤcken
oder auch voͤllig einerley ſeyn koͤnnen. Es iſt aber
auch moͤglich, daß ſie es nicht weiter ſind, als es die
Folge angiebt. So weit aber ſind ſie es nothwendig.
Uebrigens wird man aus dieſen Grundſaͤtzen in Ab-
ſicht auf die Groͤßen und derſelben Gleichheit und
Ungleichheit die Euclidiſchen ohne Muͤhe herleiten
koͤnnen, welche wir oben (§. 79.) nicht mitgenommen
haben (§. 80. 116. 125.). Und ſo verſteht es ſich auch
von ſelbſt, daß in dem ſechſten dieſer Grundſaͤtze
(§. 137.) unter dem Worte Veraͤndern auch das
Zuſetzen und Wegnehmen mit begriffen iſt. End-
lich haben wir, in Anſehung des eilften oder letzten
Grundſatzes, wenn er im gemeinen Leben und in der
Praxi angewandt wird, noch anzumerken, daß wir
einerley, gleich, gleichguͤltig nennen, an deſſen
Unterſchied uns nichts gelegen iſt. Und in ſo fern
nehmen wir oͤfters eines fuͤr das andere, ohne uns
an die theoretiſche Jdentitaͤt ſo genau zu binden.
§. 139.
Außer den erſt angefuͤhrten Grundſaͤtzen von der
Jdentitaͤt, welche durchaus allgemein ſind, giebt es
in jeden Wiſſenſchaften beſondere, welche Anwendun-
gen von dieſen ſind. Jn den Wiſſenſchaften betrach-
tet man einzelne Syſteme von zuſammen genom-
menen und zuſammen gehoͤrenden Dingen, und
da wird folgender Grundſatz auf die beſondere Theile
angewandt.
Wenn in einem Syſteme dasjenige, was
verſchieden ſeyn, oder abgeaͤndert, oder
anders beſtimmet werden kann, einerley
iſt; ſo iſt auch dasjenige einerley, was
davon abhaͤngt, es mag nun daraus fol-
G 2gen,
[100]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
gen, oder dabey voraus geſetzet werden
muͤſſen, oder damit in nothwendiger Ver-
bindung ſtehen.
§. 140.
So z. E. in der Optic und Photometrie wird dieſer
Grundſatz ſo angewandt: Das Sehen (Vifio) iſt
einerley, wenn einerley Auge auf einerley Art
afficirt wird. Jn der Mechanic aber folgender-
maßen: Wenn einerley Koͤrper mit einerley Ge-
ſchwindigkeit und Richtung bewegt wird und
anſtoͤßt; ſo iſt die Bewegung, der Stoß,
Kraft ꝛc. einerley. Man ſieht leicht, daß ſolche
Grundſaͤtze die erſte Anlage zu Vergleichungen und
Schluͤſſen ſind, und daß man, um ſie genau anzu-
geben, die zuſammen gehoͤrenden und von einander
abhangenden Stuͤcke richtig beſtimmen und abzaͤhlen
muͤſſe. Denn dieſe zuſammen genommen machen
das Syſtem aus. Jch habe in der Phaͤnomenologie,
in Abſicht auf jede Sinnen, den erſten dieſer Grund-
ſaͤtze allgemeiner vorgetragen, und ſeine Anwendung
erlaͤutert (§. 45. l. cit.), um ihn zur Beurtheilung des
von den Sinnen und Empfindungen herruͤhrenden
Scheins zu gebrauchen. Denn der Schein iſt die
Urſache, warum man aus der Jdentitaͤt der Empfin-
dung nicht unbedingt auf die Jdentitaͤt der empfun-
denen Sache einen Schluß machen kann.
§. 141.
Es werden ferner die vorhin angefuͤhrten Grund-
ſaͤtze bey folgenden angewandt, und auf ſpecialere
Begriffe und Benennungen gebracht.
- 1°. Dinge, die einerley innere Merkmaale, Theile,
Praͤdicate, Beſtimmungsſtuͤcke haben, ſind in
ſo
[101]und Forderungen der Jdentitaͤt.
ſo ferne einerley und einander aͤhnlich, und
dieſe Aehnlichkeit kann bis zur voͤlligen Jden-
titaͤt gehen. - 2°. Dinge, die einerley aͤußere Merkmaale, Ver-
haͤltniſſe, Praͤdicate haben, gehoͤren in eine
Claſſe, ſind einander aͤhnlich, und dieſe Aehn-
lichkeit kann bis zur voͤlligen Jdentitaͤt gehen. - 3°. Was auf einerley Art gedenkbar iſt, iſt in ſo
fern aͤhnlich, und aͤhnliche Dinge kann man
ſich auf einerley Art vorſtellen. - 4°. Dinge, die nur der Groͤße nach verſchieden
ſind, ſind gleichartig (homogenea) und haben
eine Aehnlichkeit, die der Art nach abſolut
oder = 1 iſt. - 5°. Dinge, die den Eigenſchaften nach verſchieden
ſind, ſind ungleichartig (heterogenea), in ſo
fern ſie verſchiedene oder nicht einerley Eigen-
ſchaften haben.
§. 142.
Der Begriff der Jdentitaͤt beut uns ebenfalls eini-
ge Poſtulata oder Forderungen an, deren Gebrauch
ſowohl in der Theorie als in der Ausuͤbung ſehr haͤufig
iſt, und beſonders auch in der Theorie des Calculi
qualitatum (§. 55.) vorkoͤmmt.
- 1°. Dinge, die einerley ſind, koͤnnen fuͤr einander
geſetzet, einander ſubſtituirt und verwechſelt
werden, ſo fern ſie einerley ſind. - 2°. Jeden zween Begriffen kann man Merkmaale
zuſetzen und benehmen, bis ſie einerley werden. - 3°. Gleichartige Dinge laſſen ſich veraͤndern, bis
ſie einerley werden.
G 34°. Jede
[102]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
- 4°. Jede zwey Dinge laſſen ſich, in Abſicht auf die
Jdentitaͤt und Aehnlichkeit, mit einander ver-
gleichen, oder gegen einander halten (§. 124.). - 5°. Gleichartige Dinge laſſen einerley Beſtimmun-
gen, Verhaͤltniſſe und Vergleichungen zu.
§. 143.
Jn Anſehung des vierten Grundſatzes (§. 141.)
koͤnnen wir hier beylaͤufig anmerken, daß man den-
ſelben fuͤrnehmlich in der Mathematic gebraucht, weil
man darinn die Dinge, deren Groͤßen man aus-
meſſen will, als gleichartig annimmt, ſie moͤgen es
nun in der That ſeyn, oder in Abſicht auf die Groͤße
allein betrachtet, als ſolche angenommen werden koͤn-
nen. Die Gleichartigkeit iſt aber nirgends abſoluter,
als in den Theilen des Raums und der Zeit, und
dieſes macht eigentlich, daß Raum und Zeit durch
keine innere Merkmaale definirt werden koͤnnen. Ob
auch das Solide eine ſolche abſolute Gleichartigkeit
habe, z. E. von einer abſoluten Dichtigkeit ſey, ha-
ben wir oben (§. 91.) dahin geſtellt gelaſſen, und wer-
den auch im Folgenden jedesmal die Betrachtungen
uͤber das Solide ſo einrichten, daß beyde Faͤlle da-
bey bedingungsweiſe vorkommen, bis ſich etwan aus
den Folgen entſcheiden laſſe, welcher in der wirk-
lichen Welt oder auch im Reiche der Moͤglichkeit
Statt finde.
§. 144.
Der dritte Grundſatz (§. 141.) giebt uns zum Theil
die Anlage zu der Theorie der Analogie, welche von
ſehr ausgedehntem Gebrauche iſt. Aehnliche Faͤlle
laſſen ſich auf einerley Art vorſtellen, und hin-
wiederum: Faͤlle, die ſich auf einerley Art vor-
ſtellen
[103]und Forderungen der Jdentitaͤt.
ſtellen laſſen, ſind aͤhnlich, und zwar, ſo weit die
Jdentitaͤt der Vorſtellung oder die Aehnlichkeit der
Faͤlle reicht. Die gemeinſamern Merkmaale oder Be-
ſtimmungen ſolcher aͤhnlichen Faͤlle machen immer
einen allgemeinen Begriff aus, ſtatt deſſen, weil
man ihn noch nicht beſonders herausgenommen noch
benennet hat, die Analogie gebraucht wird. Auf
dieſe Art ſind die meiſten abſtracten Begriffe
Anfangs Analogien geweſen. Die Erheblichkeit
der Analogie werden wir durch folgende Saͤtze anzei-
gen und naͤher beſtimmen.
- 1°. Die Analogie oder der aͤhnliche Fall beweiſt die
Moͤglichkeit des fuͤrgegebenen Falls, ſo weit
die Aehnlichkeit geht. - 2°. Die Analogie oder die Aehnlichkeit mehrerer
Faͤlle bahnt den Weg, ein allgemeines Geſetz
oder mehrere zu vermuthen, aufzuſuchen und
zu beſtimmen. - 3°. Jn dem Beweiſe eines aͤhnlichen Falles liegt
oͤfters der Beweis des fuͤrgegebenen Falles,
und zwar nothwendig, ſo oft dieſer Beweis
ſich nicht auf die Jndividualien des erſtern
gruͤndet. Auf dieſe Art geben auch Fa-
beln Beweiſe. - 4°. Die Analogie giebt Anlaß zu Verſuchen und
zu Reductionen. - 5°. Die Analogie behaͤlt das Allgemeine der Form
bey geaͤnderter Materie oder Sache. - 6°. Die Analogie erſetzet die Maͤngel der Sprache
und allgemeiner Woͤrter, indem ſie das Ter-
tium comparationis angiebt. - 7°. Die Analogie iſt zur ſchicklichen Benennung
der Dinge der Jntellectualwelt ſchlechthin un-
entbehrlich.
G 48°. Die
[104]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
- 8°. Die Analogie geht auf Dinge, welche, ſo weit
ſie dabey anwendbar iſt, in eine Claſſe oder
unter einen allgemeinern Begriff gehoͤren, deſ-
ſen Umfang und Jngredientien ſie beſſer, klaͤ-
rer und vollſtaͤndiger angiebt, als wenn der
Begriff einen Namen hat und nach demſelben
definirt wird.
§. 145.
Der fuͤrnehmſte und haͤufigſte Gebrauch, den man
ſelbſt im gemeinen Leben von der Analogie macht,
und eigentlich zuverlaͤßig ſollte machen koͤnnen, iſt
dieſer, daß man aus der Aehnlichkeit zweener
oder mehrerer Faͤlle, ſo fern man ſie weiß, auf
die Aehnlichkeit, die man noch nicht weiß, den
Schluß macht. Dieſer Schluß geht nun aller-
dings ſo unbedingt nicht an, weil ſonſt zween Faͤlle,
die in einigen Stuͤcken aͤhnlich ſind, durchaus aͤhnlich
ſeyn muͤßten. Da ſich aber die Aehnlichkeit auch
weiter erſtrecken kann, als wir ſie wiſſen; ſo entſteht
natuͤrlicher Weiſe die Frage, wie weit ſie gehe? Und
hiebey laͤßt ſich der vorhin (§. 139.) angefuͤhrte Grund-
ſatz anwenden. Denn die Aehnlichkeit beyder Faͤlle,
ſo weit ſie an ſich betrachtet geht, macht ein Ganzes
aus. Wiſſen wir demnach nur einige Stuͤcke davon,
ſo koͤnnen wir auf die noch mangelnden oder unbe-
kannten ſchließen, ſo fern dieſe von jenen abhaͤngen,
oder bey denſelben vorausgeſetzt werden muͤſſen,
oder damit in nothwendiger Verbindung ſind. Die
Methode, von dem Theile auf das Ganze zu ſchließen,
habe ich in der Dianoiologie (§. 394. ſeqq.) angege-
ben, wohin ſie eigentlich gehoͤret. Da ferner die Ana-
logie bey Verhaͤltniſſen vorkoͤmmt (§. 137. 144. N°. 5.)
und dieſe mehrentheils ohne Ruͤckſicht auf die Sache
unter
[105]und Forderungen der Jdentitaͤt.
unter ſich verglichen und beſtimmet werden koͤnnen
(Dianoiol. §. 480.), ſo giebt auch dieſes ein Mittel an,
bey aͤhnlichen Faͤllen die Analogie weiter auszudehnen,
als man ſie Anfangs weiß, und zeiget zugleich an, wie
man ſich durch die in den verglichenen Faͤllen vorkom-
menden Verſchiedenheiten weniger ſoll irre machen
laſſen. (Dianoiol. §. 488.). Uebrigens iſt ohne mein
Erinnern klar, daß, da man oͤfters Faͤlle finden kann,
die ſtufenweiſe mehr Aehnlichkeit mit dem fuͤrgege-
benen Falle haben, man ſich die Muͤhe nicht muͤſſe
reuen laſſen, einen ſolchen zu finden und auszuwaͤhlen,
der an ſich am klaͤrſten ſey, mehr in die Sinnen falle,
und deſſen Aehnlichkeit erweisbar ſey. Die Betrach-
tung der Geſetze des Beharrungsſtandes wird uns
im Folgenden hievon ein lehrreiches Beyſpiel geben.
Hat man eine allgemeine Theorie vor ſich, ſo iſt un-
ſtreitig, daß man den aͤhnlichſten Fall in einem wohl-
gewaͤhlten und mit fremden Umſtaͤnden am wenigſten
durchflochtenen Beyſpiele findet. Solche Beyſpiele
ſind z. E. bey geometriſchen Beweiſen die Figuren.
Sie legen uns die ganze Theorie vor Augen, und
dienen zum Leitfaden, wenn die Theile und ihre
Verhaͤltniſſe gefunden werden ſollen.
§. 146.
Die Verſchiedenheit der Dinge hat mit der
Aehnlichkeit derſelben einerley Stufen, doch
ſo, daß ſich die Stufen der Verſchiedenheit
vermindern, wenn die Stufen der Aehnlichkeit
zunehmen, und hinwiederum nehmen jene zu,
wenn dieſe geringer werden, und die Summe iſt
immer = 1. Die aͤußerſten Grade der Vergleichung
ſind, wo die Verſchiedenheit = 0, und wo ſie = 1 iſt,
und beyde Faͤlle ſind ſchlechthin ideal. Denn iſt die
G 5Ver-
[106]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
Verſchiedenheit durchaus = 0, ſo vergleicht man nicht
zwey Dinge, ſondern eine und eben dieſelbe Sache
mit ſich ſelbſt, und ſo ſtellet man ſie ſich in Gedanken
doppelt vor. Jſt aber die Verſchiedenheit durch-
aus = 1, ſo vergleicht man wiederum nicht zwey Din-
ge, ſondern etwas mit nichts. Dieſes iſt dadurch
offenbar, daß wenn es zwey in allen Stuͤcken
und in allen Abſichten durchaus verſchiedene
Dinge geben ſollte, von dem einen alles po-
ſitive des andern verneint werden muͤßte, und
ſo waͤre es z. E. nicht moͤglich, nicht gedenk-
bar ꝛc. das will ſagen, es waͤre nichts. Da es
demnach nicht zwey durchaus und in allen Abſichten
verſchiedene Dinge giebt, ſo iſt der Fall, wo die Ver-
ſchiedenheit = 1 geſetzet wird, ſchlechthin nur ideal,
weil ſich etwas mit nichts nur auf eine ideale und
bloß ſymboliſche Art vergleichen laͤßt.
§. 147.
Ungeachtet aber dieſe beyden aͤußerſten Stufen nur
ideal ſind, ſo koͤnnen ſie deſſen unerachtet zum Grunde
gelegt werden, um die uͤbrigen oder die Mittelſtufen
mit einander zu vergleichen. Von dieſen haben wir
folgende Arten:
- 1°. Dinge, die nur der Zahl nach verſchieden ſind,
und folglich die abſolute unterſte Arten aus-
machen (§. 129. 132.). Dieſe ſind, wenn ſie
exiſtiren, nicht zugleich an einem Orte (§. 129.). - 2°. Dinge, die nur den Graden oder der Groͤße
nach verſchieden ſind. Dieſe ſind zugleich auch
der Zahl nach verſchieden, und gleichartig, und
abſolute aͤhnlich. - 3°. Dinge, die nur der Art der Zuſammenſetzung
nach verſchieden ſind. Dieſe ſind gleichartig,
ſo
[107]und Forderungen der Jdentitaͤt.
ſo fern ſie naͤmlich aus einerley Stoff beſtehen;
hingegen ſind ſie unaͤhnlich, ſo fern ſie anders
zuſammen geſetzet ſind. - 4°. Dinge, die den innern Eigenſchaften nach
verſchieden ſind, z. E. aus ungleichartigem
Stoffe beſtehen ꝛc. Dieſe ſind ungleichartig
(heterogenea).
§. 148.
Da wir es noch dahin geſtellt ſeyn laſſen, wie fern
das Solide innere Unterſchiede der Art nach haben
koͤnne (§. 143.), ſo bleibt der letzte dieſer vier Faͤlle
auf Bedingungen geſetzet. Denn waͤre alles Solide
durchaus von einerley Art, ſo wuͤrde in dieſer Abſicht
der vierte Fall von dem dritten nicht verſchieden ſeyn,
und der Begriff des ungleichartigen Stoffes waͤre
nur vergleichungsweiſe zu verſtehen, ſo fern naͤmlich
aus kleinern Theilen, die an ſich ſchon auf verſchie-
dene Art zuſammen geſetzet ſind, groͤßere zuſammen
geſetzet werden.
§. 149.
Wir haben vorhin (§. 146.) die Summe der Ver-
ſchiedenheiten und der Aehnlichkeiten zweyer Dinge = 1
geſetzet. Man ſieht leicht, daß durch dieſe Einheit
die Summe derjenigen Stuͤcke angezeiget wird, in
welchen die beyden Dinge einander aͤhnlich und von
einander verſchieden ſind. Dieſe Einheit und die
Rechenkunſt, die dabey vorkoͤmmt, ſcheinen nun von
ganz beſonderer Art zu ſeyn, indem ſich letztere an
ſich betrachtet nicht weiter als auf das erſtrecket, was
man in der Arithmetic numeriren nennet. Denn
die Vergleichungsſtuͤcke koͤnnen jedes von beſonderer
Art ſeyn, und ſo kann man ſie nicht wie Dinge von
gleicher Art zuſammen rechnen. Jndeſſen laſſen ſie
ſich
[108]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
ſich abzaͤhlen, und indem man beſtimmet, ob die
zwey verglichenen Dinge in jedem dieſer Stuͤcke aͤhn-
lich oder verſchieden ſind, ſo kann man die Aehnlich-
keiten beſonders, und ſo auch die Verſchiedenheiten
beſonders nehmen. Auf dieſe Weiſe wird man
z. E. wenn man Gold mit Silber, und Gold mit
Holz vergleicht, allerdings leicht finden, daß das
Gold mit dem Silber mehrere Aehnlichkeiten habe
als mit dem Holze. Solches Vorzaͤhlen der Aehn-
lichkeiten und Verſchiedenheiten zweyer oder mehrerer
Dinge wird in der franzoͤſiſchen Sprache Parallele
genennet. Jn ſo fern dabey vorgezaͤhlt und die
Summe der aͤhnlichen und verſchiedenen Stuͤcke ge-
ſchaͤtzet und gegen einander gehalten wird, ge-
hoͤret die Theorie davon in die allgemeine Matheſin
(§. 78. 56.).
§. 150.
Wir haben bey der Betrachtung des Aehnlichen
und Verſchiedenen noch einiger ſehr bekannter Aus-
druͤcke zu erwaͤhnen, die uns im Lateiniſchen gelaͤufiger
ſind als im Deutſchen. Der erſte iſt das mutatis
mutandis, und dieſen gebrauchen wir, wo mit Bey-
behaltung des Stoffes die Formalien, oder mit Bey-
behaltung der Formalien der Stoff, oder beydes in
ſo ferne geaͤndert werden muß, als es die Abſichten,
Umſtaͤnde ꝛc. der Sache, und wohin ſie dienen ſoll,
erfordern. Dieſer Ausdruck geht auf das Practiſche,
und ſetzet ein Vorbild, Modell, Formel, aͤhnlichen
Fall ꝛc. voraus, nach welchem eine Sache, jedoch
mit den behoͤrigen Aenderungen, die ihre beſon-
dere Umſtaͤnde, Abſicht, Beſchaffenheit ꝛc. erfordern,
gemacht, nachgebildet, nachgeahmet, in ihre Form
gebracht werden ꝛc. ſolle.
§. 151.
[109]und Forderungen der Jdentitaͤt.
§. 151.
Der andere Ausdruck iſt das ceteris paribus, und
dieſer wird gebraucht, wo man mit Beybehaltung
aller uͤbrigens gleicher Umſtaͤnde, Beſtimmun-
gen, Eigenſchaften ꝛc. eine oder die andere abwech-
ſelt, veraͤndert, verſchieden oder ungleich ſetzet ꝛc.
und den Erfolg dieſer Abaͤnderung beſtimmet, Ur-
theile daruͤber faͤllet, Vergleichungen der Sache vor
und nach der Aenderung, oder zwoer nur in einem
ſolcher Stuͤcke verſchiedener Sachen anſtellet ꝛc.
§. 152.
Der dritte Ausdruck iſt das abſtrahendo oder prae-
ſcindendo, wo man naͤmlich einen oder einige Unter-
ſchiede, oder auch einige Aehnlichkeiten zwoer Sachen
gleichſam fuͤr eine Weile bey, Seite ſetzet, um
die uͤbrigen Verſchiedenheiten und Aehnlichkeiten,
beſonders zu betrachten, und zwar ohne Ruͤckſicht auf
den Einfluß, den jene in dieſe haben oder haben koͤn-
nen. Dieſes bey Seite ſetzen, koͤmmt ebenfalls auch
bey der Betrachtung von einer Sache vor, in ſo fern
man naͤmlich von einigen ihrer Merkmale, Beſtim-
mungen, Verhaͤltniſſe ꝛc. abſtrahirt, um die uͤbri-
gen allein und ohne Ruͤckſicht auf den Einfluß der er-
ſtern zu betrachten, vergleichen, beurtheilen ꝛc.
§. 153.
Die bisher angefuͤhrten Grundſaͤtze, Forderungen
und daruͤber gemachte Anmerkungen (§. 136. ſeqq.),
ſehen nun allerdings ziemlich metaphyſiſch aus.
Die Woͤrter: einerley, aͤhnlich, verſchieden,
gleich, gleichartig, unaͤhnlich, ungleichartig,
gleichguͤltig, gleichfoͤrmig ꝛc. ſind metaphoriſch,
abſtract, tranſcendent und von veraͤnderlichem Um-
fange
[110]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
fange der Bedeutung, welche erſt in beſondern Faͤl-
len aus dem Verſtande der Redensarten beſtimmet
werden muß, und darinn individualere und genauere
Beſtimmungen erhaͤlt. Sie taugen daher uͤber-
haupt auch beſſer zu Praͤdicaten, als zu Sub-
jecten. Denn wo ſie in einzeln Faͤllen als Praͤdi-
cate, beſonders bejahender Saͤtze, gebraucht werden,
da giebt der Begriff des Subjectes die naͤhern Be-
ſtimmungen ihrer Bedeutung an, weil dieſe ſich in
ſolchen Saͤtzen juſt ſo weit erſtrecket, als es der Be-
griff des Subjectes jedesmal erfordert. Nimmt
man ſie hingegen als Subjecte an, ſo wird immer
der Begriff Ding mit verſtanden, welcher gleichſam
eine metaphyſiſche Einheit iſt, womit ſich alles
multipliciren laͤßt. Bey ſolchen Subjecten liegt aber
kein determinirter klarer Begriff zum Grunde, da-
ferne nicht die Einbildungskraft Beyſpielsweiſe einen
individualen Begriff dargiebt, wie es denn gemeinig-
lich geſchieht, (§. 33. Dianoiol. §. 566. Phaͤnomenol.
§. 123.). Solche individuale Beyſpiele und Bilder
ſollten aber wegbleiben, wenn wir den abſtracten Be-
griff rein denken wollen, und da habe ich an an-
gezogenem Orte der Phaͤnomenologie bereits ange-
merket, daß wir uns ſodann ſchlechthin nur
die Worte vorſtellen, und zwar mit dem Be-
wußtſeyn, daß ſie etwas Wahres und Allge-
meines ausdruͤcken oder anzeigen, welches ſich
auf jede durch die Worte vorgeſtellte Faͤlle
anwenden laſſe. Und auf dieſe Art iſt unſere ab-
ſtracte Erkaͤnntniß, dafern ſie anders rein iſt, ſchlecht-
hin ſymboliſch, (§. 9.). Bey den abſtracten Ver-
haͤltnißbegriffen, dergleichen die in gegenwaͤrtigem
Hauptſtuͤcke betrachtete ſind, iſt dieſes auf eine emi-
nonte Art wahr, weil Verhaͤltnißbegriffe auch
in
[111]und Forderungen der Jdentitaͤt.
in individualen Faͤllen kein unmittelbares Bild
zum Gegenſtande haben, ſondern die Bilder
der Dinge mitgenommen werden muͤſſen, zwi-
ſchen welchen das Verhaͤltniß ſtatt findet.
Das nothwendige Wegbleiben jeder individualen Bil-
der bey den abſtracten Begriffen, wenn ſie anders
rein ſeyn ſollen, mag allem Anſehen nach den Ari-
ſtoteles, oder auch einen ſeiner Vorgaͤnger, bewo-
gen haben, die Metaphyſic mit dieſem Namen zu
benennen. Nach unſerer Art zu abſtracten Begrif-
fen zu gelangen, verdienet ſie dieſen Namen noch
aus einem andern Grunde. Denn da unſere Er-
kaͤnntniß, und ſelbſt auch die Sprache bey den Sin-
nen und ſinnlichen individualen Bildern anfaͤngt, ſo
gehen dieſe nothwendig vor. Demnach mag man
durch μετα entweder trans oder poſt verſtehen, ſo iſt
dieſe Benennung richtig getroffen.
§. 154.
Bey den erſt angefuͤhrten Verhaͤltnißbegriffen,
einerley, aͤhnlich, gleich ꝛc. koͤmmt eben ſo, wie
bey jeden abſtracten Verhaͤltniſſen, noch ein Umſtand
vor, der ſie von dem individualen am meiſten ent-
fernet, und dieſes iſt, die ſo gar große Mannich-
faltigkeit der Faͤlle, wobey dieſe Begriffe vor-
kommen. Da dieſe Mannichfaltigkeit durchaus
uneingeſchraͤnkt iſt (§. 124.), ſo haben wir die An-
wendbarkeit dieſer Begriffe unter die Poſtulata gerech-
net, (§. 142. Poſtul. 4.). Dieſe Mannichfaltigkeit
aber verwirret die Einbildungskraft bey dem ſymbo-
liſchen und tranſcendenten Vortrage der Lehre von
der Jdentitaͤt, weil ſie ſich nicht zugleich Bilder von
allen Arten der Faͤlle vorſtellen kann, und auch nicht
ſogleich alle dieſe Arten abzaͤhlet oder ſich deren er-
innert.
[112]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
innert. Man klaget daher bey ſolchem Vortrage
uͤber den Mangel der Evidenz, welche in ſo fern
wegfaͤllt, als man keine Bilder bey ſolchem Vortra-
ge beſtimmet hat, oder in ſo fern die Vielheit der
Bilder die Einbildungskraft verwirret.
§. 155.
Um dieſem Mangel abzuhelfen, werden wir nun
zu den in beyden vorhergehenden Hauptſtuͤcken be-
trachteten einfachen Grundbegriffen zuruͤcke keh-
ren, und die Lehre von der Jdentitaͤt, Aehnlich-
keit, Gleichartigkeit ꝛc. dabey anwenden, die wir
bisher ohne die Faͤlle der Anwendbarkeit kenntlich zu
machen, ganz abſtract vorgetragen haben. Daraus
wird ſich ohne Muͤhe ergeben, wo Aehnlichkeiten
und Verſchiedenheiten vorkommen, worinn ſie
beſtehen, wie vielerley beſondere Arten es giebt,
wie ſie ſich auf einander combiniren laſſen,
welche Mannichfaltigkeiten daraus entſtehen ꝛc.
Dieſes geſchieht nun folgendermaßen auf eine in die
Augen fallende Art.
§. 156.
Es koͤmmt naͤmlich hiebey auf die naͤhern Beſtim-
mungen des oben (§. 122.) angefuͤhrten Satzes von der
uneingeſchraͤnkten Mannichfaltigkeit zuſammenge-
ſetzter Begriffe und Dinge an, weil die einfachen
Begriffe an ſich verſchieden ſind, und die erſten Gruͤn-
de zu der Ungleichartigkeit geben, (§. 134.). Da
ſie ſich aber zuſammen ſetzen, beſtimmen und verbin-
den laſſen, ſo iſt die Frage, wie fern hierinn eine
Wahl bleibt, vermittelſt deren man bey der Zuſam-
menſetzung einerley oder verſchiedene Beſtimmungen,
Verbindungen und Verhaͤltniſſe beybehalten koͤnne,
oder wie fern man ſie beybehalten muͤſſe?
§. 157.
[113]und Forderungen der Jdentitaͤt.
§. 157.
Dieſe Frage, welche an ſich ſchon metaphyſiſch und
abſtract genug iſt, werden wir hier nicht durch eben
ſo abſtracte Unterſuchungen eroͤrtern, ſondern via facti
gehen, und die einfachen Begriffe ſelbſt in dieſer Ab-
ſicht betrachten. Da ohne Solides nichts exiſtirt,
oder als exiſtirend gedacht werden kann (§. 103. Ax. 2.),
ſo legen wir hiebey den Begriff des Soliden zum
Grunde, und ſo haben wir die dritte Columne der
(§. 53.) vorgelegten Tabelle, (§. 57.). Jeden der
uͤbrigen Grundbegriffe werden wir nun als eine Be-
ſtimmung des Soliden betrachten, und dabey ſehen,
welche eine Auswahl in ihren eigenen Beſtimmungen
leiden, und wie ferne. Dieſe eigene Beſtimmungen
nehmen wir ebenfalls von den einfachen Begriffen
her, weil wir daraus erſt noch zuſammengeſetzte bil-
den muͤſſen. Jch werde nun, was ich hieruͤber ge-
funden in folgender Tabelle vorſtellen, und ſodann
die Erklaͤrung beyfuͤgen.
[114]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
Jn dieſer Tabelle bedeutet nun:
- * den Hauptbegriff der Soliditaͤt,
- + den dazu genommenen Beſtimmungsbegriff,
- = Begriffe, ſo bey + voraus geſetzet werden,
- ‒ Begriffe, die bey + als Beſtimmungen vor-
kommen, - · Begriffe, die bey ‒ und = als Beſtimmungen
vorkommen.
§. 158.
Dieſe Tabelle, oder das, was ſie vorſtellet, mit
Worten ausgedruͤcket, giebt nun, nach der Ordnung
der Columnen, die folgende.
- I°. Das Solide in Abſicht auf die Exiſtenz be-
trachtet.- 1°. Die Exiſtenz iſt eine abſolute Einheit
(§. 103. Axiom. 1.).- α) Demnach laͤßt das Solide in Abſicht auf
die Exiſtenz keine andere Beſtimmung,
oder Verſchiedenheit dem Grade
nach zu, als daß es exiſtire, oder
nicht exiſtire. - β) Die Grade der Exiſtenz ſind ideal,
und fuͤhren aufs Wahrſcheinliche,
(§. 104.).
- α) Demnach laͤßt das Solide in Abſicht auf
- 2°. Das Exiſtirende iſt der Zahl nach einerley,
(§. 103. Axiom. 7. §. 127.).- α) Daher iſt es ſelbſt nicht vielfach.
- β) Es kann aber, den Unterſchied der Zahl
nach allein beybehalten, vielfach genom-
men werden, (§. 129.). - γ) Und dabey iſt die Aehnlichkeit abſolute
vollſtaͤndig, (§. 132.).
- 3°. Das Exiſtirende dauert, (§. 103. Axiom. 3.).
- α) Demnach kommen dabey die Aehnlich-
keiten und Verſchiedenheiten vor,
welche die Dauer in ihren Beſtimmun-
gen zulaͤßt, (§. 83.).
- α) Demnach kommen dabey die Aehnlich-
- 1°. Die Exiſtenz iſt eine abſolute Einheit
- II°. Das Solide in Abſicht auf die Dauer.
- 1°. Die Dauer hat keine beſtimmte Einheit,
(§. 83. Axiom. 2.).- α) Demnach kann ſie von jeder Groͤße, und
bey verſchiedenem dauernden von
gleicher oder ungleicher Groͤße, von
gleichem oder ungleichem Anfang
genommen werden, (§. 83. Poſtul. 2. 1.).
- α) Demnach kann ſie von jeder Groͤße, und
- 2°. Die Theile der Zeit ſind nicht zugleich,
(§. 83. Axiom. 1.).- α) Daher iſt hier eine nothwendige Ver-
ſchiedenheit.
- α) Daher iſt hier eine nothwendige Ver-
- 1°. Die Dauer hat keine beſtimmte Einheit,
- III°. Das Solide in Abſicht auf die Ausdeh-
nung.- 1°. Die Ausdehnung oder der Raum hat keine
beſtimmte Einheit, (§. 79. Axiom. 2.).- α) Demnach kann ſie bey dem ausgedehnten
Soliden von jeder gleichen oder un-
gleichen Groͤße und Lage angenommen
werden, (§. 88. Poſtul. 1.).
- α) Demnach kann ſie bey dem ausgedehnten
- 2°) Die Theile des Raumes ſind außer einan-
der, (§. 79. Axiom. 1.).
H 2%03B1;) Da-
[116]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze- α) Daher laͤßt ſich einerley Solides nicht
zugleich an verſchiedenem Orte, noch
verſchtedenes Solides zugleich an ei-
nem Orte gedenken, (§. 103. Ax. 5. 6.). - β) Hiebey iſt demnach eine nothwendige
Verſchiedenheit.
- α) Daher laͤßt ſich einerley Solides nicht
- 1°. Die Ausdehnung oder der Raum hat keine
- IV°. Das Solide in Abſicht auf die Kraft.
- 1°. Die Kraft hat keine beſtimmte Einheit,
(§. 98. Axiom. 1.).- α) Demnach kann ſie der Groͤße, Staͤrke
und Dauer nach gleich oder ungleich
angenommen werden, (§. 101. Poſt. 1.).
- α) Demnach kann ſie der Groͤße, Staͤrke
- 2°. Eine Kraft kann nicht zugleich vielfach
angewandt werden, (§. 98. Axiom. 3.).- α) Daher iſt hier eine nothwendige Ver-
ſchiedenheit, der Zahl, der Zeit und
dem Orte nach.
- α) Daher iſt hier eine nothwendige Ver-
- 1°. Die Kraft hat keine beſtimmte Einheit,
- V°. Das Solide, in Abſicht auf die Bewegung.
- 1°. Die Bewegung hat, in Abſicht auf die Rich-
tung und Geſchwindigkeit und Dauer,
jede beliebige Beſtimmung, (§. 85. Ax. 1.
Poſtul. 1. 2. 3. 4. §. 101. Poſtul. 2.).- α) Demnach bleibt hier in Abſicht auf die
Aehnlichkeit und Verſchiedenheit
jede Auswahl. Und zwar - β) mit der einigen Einſchraͤnkung, daß ei-
nerley Solides ſich nicht zugleich an
mehrern Orten, noch verſchiedenes
Solides an einerley Ort zugleich be-
wegen oder ſeyn koͤnne, (§. 94. Axiom. 3.
§. 103. Axiom. 5. 6.).
- α) Demnach bleibt hier in Abſicht auf die
- 1°. Die Bewegung hat, in Abſicht auf die Rich-
VI°. Das
[117]und Forderungen der Jdentitaͤt.
- VI°. Das Solide in Abſicht auf die Einheit.
- 1°. Das Solide iſt in Abſicht auf die Dichtig-
keit eine abſolute Einheit, (§. 88. Ax. 5.).- α) Dieſes machet eine abſolute Aehnlich-
keit. Man ſehe aber §. 91.
- α) Dieſes machet eine abſolute Aehnlich-
- 1°. Das Solide iſt in Abſicht auf die Dichtig-
§. 159.
Dieſe beyden Tabellen enthalten demnach die erſte
Grundlage zu jeden Aehnlichkeiten und Verſchie-
denheiten, nebſt ihren verſchiedenen Arten, wel-
che ſich nun leicht vorzaͤhlen laſſen. Denn
- 1°. Das Solide hat Aehnlichkeiten, ſo fern bey
jedem die uͤbrigen einfachen Begriffe als Be-
ſtimmungen vorkommen. - 2°. So fern aber dieſe Beſtimmungen dem Grade
nach verſchieden ſeyn koͤnnen, kann auch ein
Solides von dem andern verſchieden ſeyn. - 3°. Dieſer Unterſchied faͤllt aber nothwendig weg,
wo die Einheit abſolut iſt. Denn da kommen
keine Grade vor. - 4°. Die einfachen Begriffe ſind an ſich ſchlechthin
ungleichartig, (§. 134.). - 5°. Hingegen iſt das, was jeder beſonders vorſtel-
let, an ſich betrachtet, oder in ſeinen Theilen,
und ſo auch in jedem Solidem, wo er vor-
koͤmmt, ſchlechthin gleichartig, weil der Be-
griff bey jedem Theile einfach bleibt, (§. 143.). - 6°. Beſonders zieht das außereinanderſeyn der
Theile der Zeit und des Raumes, an ſich, mit
einander verglichen, und mit der Bewegung
und Kraft verglichen eine nothwendige Ver-
H 3ſchie-
[118]IV. Hauptſtuͤck. Grundſaͤtze
ſchiedenheit nach ſich. (§. 158. II. 2. III. 2.
IV. 2. V. 1.). - 7°. Dagegen hat alles exiſtirende darinn eine
nothwendige Aehnlichkeit, daß es das So-
lide zum Grunde hat. Und dieſe Aehnlichkeit
wird noch groͤßer, dafern alles Solide gleich-
artig iſt, (§. 143. 91.).
§. 160.
Wir haben hiebey aus den oͤfters ſchon angefuͤhr-
ten Gruͤnden (§. 29. 39. 48. 59. 62. 68. 109.), das
tranſcendente, oder die Dinge der Jntellectualwelt
nicht mitgenommen, weil wir hier eigentlich nur die
erſte Anlage zu den in unſerer Erkenntniß vorkom-
menden Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten betrach-
tet haben, und weil wir die Jntellectualwelt durch-
aus nur nach der Aehnlichkeit mit der Koͤrperwelt
kennen, die Namen dazu von dieſer entlehnen und
metaphoriſch machen. Dieſe Aehnlichkeit liegt da-
bey in unſerer Erkenntniß zum Grunde, und ſie fin-
det Statt, ſo ſehr auch beyde verglichene Dinge,
naͤmlich der Koͤrperwelt und der Jntellectualwelt,
ungleichartig ſind. Wir haben aber in beyden vor-
hergehenden Hauptſtuͤcken bey jedem einfachen Be-
griffe angezeiget, welche tertia comparationis da-
her koͤnnen genommen werden, um die Analogie
(§. 144.) zwiſchen beyden Welten in eine ſyſtemati-
ſche und wiſſenſchaftliche Form zu bringen, (§. 26. 29.).
Und dazu haben wir (§. 81.) den erſten und allgemei-
nen Grundſatz angefuͤhret, welcher von der Aehn-
lichkeit des Eindruckes der Dinge beyder Wel-
ten hergenommen iſt, und wodurch wir ſelbſt auch
die von dem ſinnlichen Scheine entlehnte Begriffe
zur
[119]und Forderungen der Jdentitaͤt.
zur Benennung der Dinge der Jntellectualwelt ge-
brauchen. Man ſieht auch leicht, daß hiebey der
dritte Grundſatz des 141ſten §. vorkoͤmmt, daß naͤm-
lich Dinge, die man ſich auf einerley Art vorſtellen
kann, in ſo fern einander aͤhnlich ſind, und daß hin-
wiederum aͤhnliche Dinge ſich auf einerley Art vor-
ſtellen laſſen. Denn ſo fern die Gegenſtaͤnde ver-
ſchiedener Sinnen, und ſo auch die Gegenſtaͤnde der
Jntellectualwelt, nach unſerer Art ſie uns vorzuſtel-
len, einerley oder auch nur aͤhnliche Eindruͤcke ma-
chen, ſtellen wir ſie uns allerdings unter einerley
oder aͤhnlichen Bildern vor. Dieſes giebt ſodann die
Grundlage zu der Fortſetzung der Analogie, die wir
uns zwiſchen der Jntellectualwelt und Koͤrperwelt ge-
denken, und wozu ſelbſt auch die Sprache ganz ein-
gerichtet iſt, (§. 26. 28.). Man wird auch dieſe
Analogie um deſto ſicherer und weiter fortſetzen koͤn-
nen, je beſſer man ſich die tertia comparationis be-
kannt gemacht hat, die uns die Koͤrperwelt, wobey
ohnehin unſere ganze Erkenntniß anfaͤngt, dazu
darbeut.
Zweyter
[120]V. Hauptſtuͤck.
Zweyter Theil.
Das Jdeale der Grundlehre.
Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
Das Allgemeine und Beſondere.
§. 161.
Wir ſind in dem bisherigen Vortrage der
Grundlehre noch nicht weiter gekommen,
als daß wir die einfachen Grundbegriffe
vorgeleget, ihre unmittelbaren Verhaͤlt-
niſſe aufgeſuchet, die daraus fließenden Grundſaͤtze| und
Forderungen angegeben, und alles mit eingeſtreuten
und in verſchiedenen Abſichten nothwendigen Anmer-
kungen durchflochten haben. Jch wende mich nun
zu denjenigen Hauptſtuͤcken der Grundlehre, welche
vielmehr unſere Vorſtellungsart der Dinge, als die
Dinge ſelbſt betreffen, wobey aber dennoch das ideale
fuͤrnehmlich in Beziehung auf die Sachen ſelbſt in
Betrachtung gezogen werden muß. Das erſte, was
ſich hier anbeut, iſt die Lehre vom Allgemeinen und
Beſondern. Dieſe nimmt man in den Ontologien noch
immer mit, ungeachtet der Grund, den man von
dem 11ten bis zum 15ten Jahrhunderte dazu hatte,
ſo viel als ganz aufgehoͤret hat. Jn dieſen dunkeln
Jahrhunderten zog man die von einander abgehenden
Lehren des Plato, des Ariſtoteles, des Zeno und
anderer alten Weltweiſen wiederum herfuͤr, und ver-
anlaßte dadurch einen lange dauernden mit Federn,
Faͤuſten,
[121]Das Allgemeine und Beſondere.
Faͤuſten, Pruͤgeln und Degen gefuͤhrten gelehrten
Krieg, wodurch entſchieden werden ſollte, ob die
ſo genannten Entia uniuerſalia außer den einzeln
Dingen an ſich, oder in dem goͤttlichen Verſtan-
de, oder unter dem Bilde von Formen oder ſonſt
auf eine Art, etwann wie Geſpenſter oder andere
Abentheuer exiſtiren? Der Streit hoͤrete endlich
ſo auf, daß man anfieng in der Ontologie ſo ziemlich
einmuͤthig, und in Form einer definitiven Sentenz,
zu ſprechen: daß die allgemeinen Dinge ſchlecht-
hin nur in den ihnen untergeordneten einzeln
Dingen exiſtiren. Dadurch wurde aber das onto-
logiſche Hauptſtuͤck vom Allgemeinen und Beſon-
dern ſehr entbloͤßt, weil außer dieſer Sentenz und der
Erklaͤrung der Woͤrter, allgemein, beſonder, ein-
zeln, Gattung, Art ꝛc. nicht viel anderes darinn
vorkommen konnte. Ja da dieſe Erklaͤrungen eigent-
lich zur Form der Erkenntniß gehoͤren, und daher
bereits in der Vernunftlehre vorkommen mußten, ſo
blieb außer der erſt angefuͤhrten Sentenz weiter nichts
mehr zu ſagen. Wie reichhaltig wuͤrde hingegen die-
ſes Hauptſtuͤck geworden ſeyn, wenn die Reales ih-
ren Satz von der Exiſtenz vorbemeldeter Abentheuer
haͤtten behaupten koͤnnen. Da demnach, was wir
uͤber das Allgemeine und Beſondere zu ſagen ha-
ben, vielmehr logiſch, als ontologiſch iſt, ſo werde
ich mich auch auf dieſe Seite wenden, und die Lehre
vom Allgemeinen und Beſondern, von den Ar-
ten und Gattungen in Abſicht auf die daher ruͤh-
rende Form unſerer geſammten Erkenntniß be-
trachten. Die daruͤber anzuſtellende Unterſuchung
wird daher groͤßtentheils logiſch ſeyn. Sie wird
aber dadurch wichtig, weil ſie auf die Frage geht;
wie fern die Eintheilung der Begriffe und Dinge,
H 5wenn
[122]V. Hauptſtuͤck.
wenn ſie nach Aehnlichkeiten, und folglich nach
Gattungen und Arten eingerichtet wird, brauch-
bar ſey, ob jemals dabey ein vollſtaͤndiges Ganzes
zu hoffen ſtehe, und wie fern wir dadurch von der
eigentlich wiſſenſchaftlichen Anordnung unſerer
Erkenntniß abgeleitet werden?
§. 162.
Wir nehmen demnach aus dem obigen folgende
Saͤtze und Forderungen vor.
- 1°. So viel man zuſammengeſetzte Begriffe und
Dinge gedenken will, laſſen ſich noch mehrere
gedenken, und ſie ſind den Graden und der Art
nach ſtuffenweiſe von 0 bis ſo viel man will von
einander verſchieden, (§. 122.). - 2°. Es giebt nicht zwey durchaus und in allen
Abſichten verſchiedene Dinge oder Begriffe,
(§. 146.). - 3°. Jede zwey Dinge, oder deren Begriffe, laſſen
ſich in Abſicht auf die Jdentitaͤt und Aehnlich-
keit mit einander vergleichen, (§. 142. Poſtul. 4.
§. 124.).
Dieſen fuͤgen wir noch als ein Poſtulatum bey,
(§. 109.).
- 4°. Das Aehnliche zweyer oder mehrerer Dinge
oder Begriffe kann fuͤr ſich gedacht, und mit
einem Namen benennet werden.
§. 163.
Der zweyte dieſer Saͤtze giebt in einer beſondern
Abſicht betrachtet eine Art von Einſchraͤnkung des
erſten, und zugleich auch den Unterſchied zwiſchen
Etwas und Nichts an, (§. 146.). So lange naͤm-
lich Begriffe noch Begriffe, und Dinge noch Dinge
bleiben, behalten ſie noch Aehnlichkeiten, und dieſe
hoͤren
[123]Das Allgemeine und Beſondere.
hoͤren nur da auf, wo der Begriff nicht mehr gedenk-
bar, und ein Ding nicht mehr real oder poſitiv iſt,
das will ſagen, wo beyde nichts, widerſprechend,
ſchlechthin unmoͤglich ꝛc. ſind. Solche Nichts
ſind leere Einbildungen, und ſie koͤnnen vorkommen,
wenn wir reale Begriffe zuſammenſetzen, die ſich
nicht zuſammenſetzen laſſen, wie z. E. runde Vier-
ecke, oder in der Algeber √ (1 ‒ 2). Wir druͤcken
ſie indeſſen auch mit Worten und andern Zeichen aus,
und in dieſer Abſicht ſind ſie dennoch brauchbar, weil
ſolche Ungereimtheiten ſich zuweilen unter einander
aufheben. Denn ſo z. E. kann das morndrige Ge-
ſtern ſo viel als heute vorſtellen, weil das Heute
ſich Morgen in Geſtern verwandelt. So geben
die Bruͤche der Exiſtenz Grade der Wahrſcheinlich-
keit, (§. 104.). Und (√ ‒ 3) ‒ 1 zur dritten Digni-
taͤt erhoben, giebt 8, als eine reale Zahl ꝛc.
§. 164.
Auf eine aͤhnliche Art haben wir in der Sprache
die Subſtantiua abſtracta, z. E. Vollkommenheit, Tu-
gend, Verſtand ꝛc. welche eine ganz beſondere Claſſe
ausmachen, und nicht Subſtanzen, aber etwas den
Subſtanzen aͤhnliches vorſtellen. Wir merken dieſes
hier um deſto mehr an, weil das vorangefuͤhrte Poſtu-
latum (§. 162. Poſtul. 4.) durchaus auf dieſe Art ge-
braucht wird. Denn indem wir das Aehnliche zweyer
oder mehrerer Dinge fuͤr ſich gedenken, ſo abſtrahi-
ren wir in Gedanken von allem uͤbrigen, worinn dieſe
Dinge verſchieden ſind, und ſehen das Aehnliche in
denſelben erdichtungsweiſe und auf eine bloß ideale
Art, als etwas fuͤr ſich beſtehendes an, und benen-
nen es ebenfalls, als wenn es fuͤr ſich und ohne die je-
desmal damit verbundene Verſchiedenheiten exiſtirte.
§. 165.
[124]V. Hauptſtuͤck.
§. 165.
Dieſes geſchieht nun nicht fuͤr die lange Weile,
ſondern wir legen dadurch den Grund, unſere Er-
kenntniß von den zuſammengeſetzten Dingen allge-
mein zu machen. Soll es nun auf eine ganz wiſſen-
ſchaftliche Art geſchehen, ſo bleibt uns auch ſo wohl
in der Zuſammenfaſſung der Aehnlichkeiten, als in
derſelben Benennung weniger willkuͤhrliches. Wir
werden dieſes ſtuͤckweiſe aus einander ſetzen.
§. 166.
Man gedenke ſich einige z. E. drey zuſammenge-
ſetzte Begriffe P, Q, R. Sollen dieſe nun nicht ein
und eben derſelbe Begriff ſeyn, ſo ſind ſie nothwendig
in einigen Stuͤcken von einander verſchieden. Sie
ſind es aber auch nicht durchaus, ſondern koͤnnen,
je nachdem man ſie anders waͤhlet, ſtuffenweiſe mehr
oder minder Aehnliches haben, (§. 162. N°. 2. 1.).
Man faſſe dieſes Aehnliche zuſammen, und benenne
es mit einem Namen A, ſo ſtellet A einen Begriff vor,
der ſich fuͤr ſich gedenken laͤßt, (§. 162. N°. 4.). Die-
ſer Begriff liegt nun in jedem der Begriffe P, Q, R;
aber außer demſelben hat jeder noch etwas ihm eige-
nes, welches wir p, q, r, nennen wollen. Demnach
machen Ap, Aq, Ar die ganzen Begriffe P, Q, R aus,
und wir haben folgende Saͤtze.
| P iſt A, | P iſt p, | P iſt Ap, |
| Q iſt A, | Q iſt q, | Q iſt Aq, |
| R iſt A. | R iſt r. | R iſt Ar. |
Kaͤme nun der Begriff A nicht nur in den vorge-
nommenen Begriffen P, Q, R, ſondern noch in meh-
rern andern S, T, V ꝛc. vor; ſo wuͤrden auch in An-
ſehung dieſer Begriffe und ihrer eigenen, oder nicht
allen den andern gemeinſamen, Merkmalen s, t, v ꝛc.
eben
[125]Das Allgemeine und Beſondere.
eben dergleichen Saͤtze Statt finden. Man ſieht auch
leicht, daß ſich dieſe Betrachtung auf alle die Be-
griffe ausdehnet, in welchen der Begriff A vorkoͤmmt,
ſo viel auch ihrer ſeyn moͤgen.
§. 167.
Sodann haben auch alle dieſe Begriffe P, Q, R,
S, T, V ꝛc. ſchlechthin nur den Begriff A gemein-
ſam; und zwar, weil die anfangs vorgenommene
Begriffe P, Q, R außer dem A weiter nichts gemein-
ſames haben. Denn was auch nur zweenen von die-
ſen Begriffen nicht gemeinſam iſt, das iſt eben da-
durch ſchon nicht allen gemeinſam.
§. 168.
Hieraus folget nun aber noch nicht, daß die Merk-
male p, q, r, s, t, v ꝛc. welche in jedem der Begriffe
P, Q, R, S, T, V ꝛc. das nicht allen gemeinſame
vorſtellen, an ſich durchaus von einander verſchieden
ſind, ungeachtet jedes dieſer Merkmale etwas beſon-
ders hat. Letzteres erhellet daraus, daß wenn z. E.
p mit q einerley waͤre, auch Ap mit Aq, und folg-
lich P mit Q einerley ſeyn muͤßte. Dieſes waͤre aber
der Vorausſetzung zuwider, weil wir hier die Be-
griffe P, Q, R, S, T, V ꝛc. als von einander verſchie-
den annehmen. Hingegen aber koͤnnen p, q, r, s, t, v ꝛc.
ſehr zuſammengeſetzte Merkmale ſeyn (§. 162. N°. 1.),
und zu zwey und zwey, zu drey und drey genommen,
gemeinſame Merkmale haben. Man ſetze z. E. die
gemeinſamen Merkmale von p, r, t waͤren a, die ei-
genen π ϱ τ; ſo haben wir wiederum aͤhnliche Saͤ-
tze, wie vorhin,
| p iſt a, | p iſt π, | p iſt aπ, |
| r iſt a, | r iſt ϱ, | r iſt aϱ, |
| t iſt a. | t iſt τ. | t iſt aτ. |
und
[126]V. Hauptſtuͤck.
und nebſt dieſen noch
| P iſt A, a, π, |
| R iſt A, a, ϱ, |
| T iſt A, a, τ. |
§. 168.
Jn dieſer Betrachtung haben wir die Merkmale
p, q, r, s, t, v ꝛc. nur noch in ſo ferne genommen,
daß 1°. keines derſelben mit einem andern einerley
ſey. 2°. Daß ſie kein Merkmal in ſich haben, wel-
ches allen, und daher auch den Begriffen P, Q, R,
S, T, V ꝛc. zukaͤme. Jndeſſen iſt es an ſich moͤg-
lich, daß z. E. s in v ganz enthalten waͤre, und da-
her v außer dem s noch einige beſondere Merkmale
u haͤtte, (§. 162.). Man ſetze dieſen Fall; ſo haben
wir die Saͤtze
| v iſt u, | V iſt A, v, u, s; |
| v iſt s, | S iſt A, s, und As iſt S, |
| v iſt us. | V iſt S. |
Demnach wuͤrde in dieſem Falle auch der Begriff
S in V ganz enthalten ſeyn, hingegen V nicht ganz
in S, weil V außer den Merkmalen A, s, welche zu-
ſammen genommen den Begriff S ausmachen, noch
das Merkmal u hat. Dieſe Moͤglichkeit zeiget, daß
ungeachtet die Begriffe P, Q, R, S, T, V ꝛc. imglei-
chem p, q, r, s, t, v ꝛc. nicht einerley, ſondern ver-
ſchieden ſind, man ſie eben nicht ſo unbedingt von
einander verneinen koͤnne. Dieß wird nur angehen,
wenn z. E. p nicht ganz in r, und hinwiederum r nicht
ganz in p enthalten iſt. Denn ſo iſt p nicht r,
r nicht p, und eben ſo iſt in ſolchem Falle auch P
nicht R, und R nicht P.
§. 169.
[127]Das Allgemeine und Beſondere.
§. 169.
Hier bieten ſich nun von ſelbſt verſchiedene Anmer-
kungen an, die wir, ohne noch dieſe Betrachtungen
weiter fortzuſetzen, daruͤber machen koͤnnen. Einmal
erhellet daraus, daß die (§. 164.) erwaͤhnte Erdich-
tung und Moͤglichkeit, das Aehnliche mehrerer Be-
griffe fuͤr ſich zu betrachten, die Vergleichung zuſam-
mengeſetzter Begriffe leichter und vielfacher macht,
und uns auf eine Menge von Saͤtzen fuͤhret, welche
bey dieſer Vergleichung Abkuͤrzungen angeben, und
Verhaͤltniſſe entwickeln, welche man Anfangs nicht
vorausſahe, oder wenigſtens nicht bemerkte. So-
dann ſieht man daraus ebenfalls, daß was man auch
nur von den einzeln Merkmalen p, q, r, s, t, v ꝛc. weiß,
mehr oder minder auf die Begriffe P, Q, R, S, T, V ꝛc.
gezogen werden koͤnne. Und hievon haben wir die
zween Faͤlle, die ſich dabey aͤußern koͤnnen, vorgeſtellet.
Denn 1°. aus der Vorausſetzung, s ſey ganz in v ent-
halten, folgte, daß auch S ganz in V enthalten ſey.
Und 2°. folgte aus der Vorausſetzung, daß weder p
in r, noch r in p ganz enthalten ſey, der Schluß, daß
auch P und R nicht ganz in einander enthalten waͤren.
§. 170.
Sodann haben wir oben (§. 81.) bereits angemer-
ket, daß die figuͤrlichen Ausdruͤcke, in und nicht in
einander enthalten ſeyn, die Moͤglichkeit angeben,
dieſe Vergleichung und Verhaͤltniſſe der Begriffe zu
zeichnen. Man wird dabey ohne Muͤhe auf den Ein-
fall kommen, jeden Begriff durch den Raum einer
Figur vorzuſtellen, und eine Figur ganz oder nicht
ganz in die andere zu zeichnen, je nachdem die da-
durch vorgeſtellten Begriffe ganz oder nicht ganz in
einander enthalten ſind. So wird man z. E. bey
den
[128]V. Hauptſtuͤck.
den vorhin angegebenen Vorausſetzungen die Figur s
in die Figur v, ſo ebenfalls S in V, hingegen weder
die Figuren p, r noch P, R ganz in einander zeichnen
muͤſſen, um die Saͤtze
| v iſt s, | p iſt nicht r, | P iſt nicht R, |
| V iſt S. | r iſt nicht p. | R iſt nicht P. |
vorzuſtellen. Ob man zu ſolchen Figuren Triangel,
Vierecke, Cirkel oder andere waͤhlen ſoll, das bleibt
hiebey noch gleichguͤltig, ungeachtet es, wenn man
alle oder wenigſtens mehrere Verhaͤltniſſe von jeden
und mehreren zuſammen geſetzten Begriffen auf dieſe
Art zeichnen wollte, allerdings nicht gleichguͤltig blei-
ben wuͤrde. Jch werde indeſſen gelegentlich hier an-
merken, daß mir vor weniger Zeit des ehemaligen
oͤffentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Gießen, Jo-
hann Chriſtian Langens,Nucleus Logicae Wei-
ſianae zu Geſichte gekommen, wo die ganze Syllogiſtic
durch in und nicht in einander gezeichnete Cirkel, ſo
wie auch durch vor, nach und unter einander ge-
zeichnete Vierecke und andere figuͤrliche Vorſtellungen
vor Augen gemalt iſt. Das Buch kam bereits 1712.
heraus, und iſt der Koͤnigl. Preußiſchen Societaͤt der
Wiſſenſchaften, und damit Leibnitzen, ihrem da-
mals noch lebenden Praͤſidenten, dedicirt. Ob es
Wolfen unbekannt geblieben, ſteht dahin.
§. 171.
Ferner haben wir bisher nur die nicht allen den
Begriffen P, Q, R, S, T, V ꝛc. gemeinſame Merk-
male p, q, r, s, t, v ꝛc. betrachtet, ohne den Be-
griff A, welcher allen gemeinſam iſt, beſonders vor-
zunehmen. Wir merken demnach an, daß der Aus-
druck alleA, die Begriffe P, Q, R, S, T, V ꝛc. gleich-
ſam
[129]Das Allgemeine und Beſondere.
ſam zuſammenfaſſe, ſo daß was man von allenA ſa-
gen kann, von jedem dieſer Begriffe P, Q, R, S,
T, V ꝛc. ſo viel ihrer naͤmlich das Merkmal A ge-
meinſam haben, beſonders koͤnne geſagt werden.
Man ſetze, der Begriff A beſtehe aus ſehr vielen
Merkmalen, ſo wird jedes derſelben von jedem der
Begriffe P, Q, R ꝛc. geſagt, oder als ebenfalls in
denſelben befindlich angeſehen werden koͤnnen. Hin-
gegen faſſet der Ausdruck: EtlicheA, nicht alle die
Begriffe P, Q, R, S, T, V ꝛc. zuſammen, und zwar,
weil etliche, nicht alle ſind. Man ſetze z. E. wie
vorhin (§. 167.) a ſey ein gemeinſames Merkmal von
p, q, r, oder von P, Q, R, ohne zugleich ein gemeinſa-
mes Merkmal von den uͤbrigen Begriffen S, T, V ꝛc.
zu ſeyn: ſo wird man nicht von allen, ſondern nur
von etlichen A ſagen koͤnnen, daß ſie a ſind, oder daß
der Begriff a ihnen ganz zukomme, oder in denſelben
ganz enthalten ſey. Von den uͤbrigen A hingegen
wird man ſagen koͤnnen, daß ſie nicht a ſind, oder
daß a ihnen wenigſtens nicht ganz zukomme, oder
wenigſtens nicht ganz in denſelben enthalten ſey.
§. 172.
Waͤren nun bey eben dieſer Vorausſetzung P, Q, R,
die einigen Begriffe, denen a als ein gemeinſames
Merkmal zukaͤme, ſo wuͤrde man allerdings ſagen
koͤnnen, daß alle a, A ſind. Denn ſo koͤnnte man durch
allea nicht mehr, als die drey Begriffe P, Q, R,
verſtehen, und dieſe haben ſaͤmmtlich das gemein-
ſame Merkmal A. Hingegen wuͤrde man nur von
etlichena ſagen koͤnnen, daß ſie A ſind, ſo bald a
auch ein Merkmal von ſolchen Begriffen waͤre, in
welchen A nicht oder nicht ganz vorkoͤmmt.
Lamb. Archit.I.B. J§. 173.
[130]V. Hauptſtuͤck.
§. 173.
Wir haben ferner den Begriff A ſo genommen,
daß er die in den Anfangs willkuͤhrlich vorgenomme-
nen dreyen Begriffen P, Q, R vorkoͤmmt, und die
dieſen dreyen Begriffen gemeinſame Merkmale zu-
ſammenfaſſet (§. 166.). Dieſes geht ohne alle Ein-
ſchraͤnkung an, weil bey der an ſich auch uneinge-
ſchraͤnkten Mannichfaltigkeit zuſammen geſetzter Be-
griffe keiner mit dem andern weder durchaus einerley
noch durchaus verſchieden iſt (§. cit.), und ſich folg-
lich, ſo viel man derſelben auch willkuͤhrlich zuſam-
men nimmt, noch immer Merkmale gedenken laſſen,
die den zuſammen genommenen gemeinſam ſind. Da
es aber geſchehen kann, daß außer den drey Be-
griffen P, Q, R, noch mehrere ſind, die die Merkmale
des A haben, oder in welchen A ganz vorkoͤmmt, ſo
haben wir auch dieſen Fall betrachtet, und zu dieſen
drey Begriffen noch andere S, T, V ꝛc. mitgenommen,
deren Anzahl wir unbeſtimmt ließen. So groß wir
aber dieſe Anzahl gedenken, ſo laſſen ſich noch mehrere
und ſtufenweiſe verſchiedene gedenken (§. 162. N°. 1.).
Nehmen wir demnach zu den Begriffen P, Q, R, S,
T, V ꝛc. die ſaͤmmtlich A ſind, noch andere H, I, K ꝛc.
hinzu; ſo wird nun A nicht mehr allen dieſen gemein-
ſam, ſondern nur in den erſtern ganz enthalten ſeyn,
und der Begriff, der nunmehr die allen dieſen Be-
griffen gemeinſame Merkmale zuſammenfaſſet, und
den wir B nennen wollen, enthaͤlt nun nothwendig
minder Merkmale in ſich, als A enthielte. Denn
ſo fallen von A alle die weg, die nicht in jedem der
Begriffe H, I, K ꝛc. ganz enthalten ſind, weil B in
jedem der nunmehr zuſammen genommenen Begriffe
ganz enthalten ſeyn ſolle. Auf dieſe Art dehnt ſich
der Begriff B weiter aus, als der Begriff A, weil
derſelbe
[131]Das Allgemeine und Beſondere.
derſelbe in mehrern Begriffen vorkoͤmmt, als A.
Und da eben ſo A in mehrern Begriffen vorkoͤmmt,
als a (§. 167.), ſo hat auch A eine groͤßere Ausdeh-
nung, als a.
§. 174.
Man ſieht hieraus, daß unter den Begriffen, die
wir in mehrern zuſammengeſetzten Begriffen gemein-
ſam finden, und ſie von denſelben abſtrahiren (§. 162.
N°. 4.), eine Art von Rangordnung ſtatt findet, ſo
fern ſie nicht nur der Ordnung nach in einander ent-
halten, ſondern auch ſtufenweiſe von groͤßerer Aus-
dehnung ſind. Zu dieſen beyden figuͤrlichen Vor-
ſtellungen der Verhaͤltniſſe zuſammengeſetzter und da-
von abſtrahirter Begriffe, beut uns die Sprache, als
welche laͤngſt ſchon dazu eingerichtet iſt, noch andere
Ausdruͤcke an, die dieſe Rangordnung figuͤrlich ma-
chen, und dieſe ſind; daß ein Begriff unter den
andern, oder nicht unter den andern gehoͤre. So
haben wir, um bey eben den Vorausſetzungen zu
bleiben, die Saͤtze:
- 1°. Alle AſindB.
- 2°. B iſt inA ganz enthalten.
- 3°. B hat eine groͤßere Ausdehnung als A, oder
- 4°. B koͤmmt in mehrern Begriffen ganz vor als A.
- 5°. A gehoͤret ganz unterB, oder
- 6°. Jedes A gehoͤret unter die Dinge, die B ſind.
§. 175.
Jn Anſehung dieſer Saͤtze koͤnnen wir nun anmer-
ken, daß die Ausdehnung der Begriffe ſich ſowohl
auf den zweyten als auf den fuͤnften beziehen laͤßt.
Die figuͤrliche Vorſtellung leidet beydes. Denn eine
Ausdehnung kann ein Theil einer groͤßern Ausdeh-
J 2nung,
[132]V. Hauptſtuͤck.
nung, und folglich in dieſer enthalten ſeyn. Hiezu
haben wir oben (§. 170.), wo wir dieſer Zeichnungs-
art Erwaͤhnung gethan haben, die Ausdehnung nur
dem Flaͤchenraume nach genommen. Eben ſo laͤßt
ſich eine Ausdehnung nach jeder von ihren drey Di-
menſionen uͤber oder unter der andern gedenken, weil
dieſe Praͤpoſitionen in ihrer urſpruͤnglichen Bedeu-
tung Verhaͤltnißbegriffe des Ortes ſind. Hingegen
paſſet der zweyte und fuͤnfte Satz nicht ſo gut, weil
das in einander und das unter einander nicht zu-
gleich ſeyn koͤnnen, wenn man naͤmlich durch unter
nicht inter, ſondern ſub verſteht. Wir haben dem-
nach hiebey zwey an ſich verſchiedene tertia compara-
tionis, und ihr Unterſchied erſtrecket ſich allerdings
auch auf die verglichene Sache, und die Verhaͤltniſſe,
welche dadurch vorgeſtellet werden. Dieſer Unter-
ſchied laͤßt ſich leicht aufklaͤren, wenn wir den Be-
griff der Ausdehnung bey dem zweyten und fuͤnften
Satze beſonders anwenden. Denn ſo iſt ſie im zwey-
ten Satze bey dem Begriffe A groͤßer, weil BinA
enthalten iſt. Hingegen in dem fuͤnften Satze iſt die
Ausdehnung bey dem Begriffe B groͤßer, weil A ganz
unter B gehoͤret, oder weil B ſich noch auf mehrere
Begriffe erſtreckt, oder in mehrern vorkoͤmmt, als A
(§. 173.). Vermittelſt der Vorſtellungsart des zwey-
ten Satzes fuͤllen wir gleichſam mit den Merkmalen
des A zuſammen genommen einen Raum aus, und
in dieſem Raume ſind nun die ſaͤmmtlichen Merkmale
des B, oder welches einerley iſt, der Begriff B ſchon
ganz enthalten. Hingegen bey der Vorſtellungsart
des fuͤnften Satzes iſt eigentlich von den Merkmalen
des A und B die Rede nicht; ſondern von allen und
jeden Begriffen P, Q, R ꝛc. H, I, K ꝛc. in welchen A
oder B ganz vorkommen. Dieſe Begriffe oder die
Dinge,
[133]Das Allgemeine und Beſondere.
Dinge, ſo ſie vorſtellen, nehmen wir gleichſam in
einen Haufen zuſammen, oder wir ſtellen ſie uns wie
in einer Reihe vor. Und indem wir auf dieſe Art
alle B zuſammen nehmen, ſo finden wir an ſich ſchon
alle A unter denſelben, weil alle A, B ſind. Es iſt
fuͤr ſich klar, daß dieſe Reihe deſto laͤnger werde, je
groͤßer die Anzahl der Begriffe iſt, die B ſind. Und
da bey den obigen Vorausſetzungen nicht alle von die-
ſen Begriffen A ſind, ſo gehoͤren auch weniger Be-
griffe unter A, und die Reihe derer, die A ſind, iſt
kuͤrzer. Auf dieſe Art geben wir dem Begriffe B eine
groͤßere, dem Begriffe A eine kleinere Ausdehnung.
Da hiebey nur eine Dimenſion in Betrachtung koͤmmt,
ſo iſt die lineare Vorſtellung dazu hinreichend, und um
die Verhaͤltniſſe vorzuſtellen, iſt es ebenfalls genug,
die Linie des A kuͤrzer zu nehmen, und unter die Linie
des B zu zeichnen. Jch habe dieſe Zeichnungsart
auch in der Dianoiologie nur in ſo weit vorgenom-
men, und dabey gezeiget, daß ſie zugleich mit unſerer
Erkenntniß noch viel beſtimmter werden koͤnnte, daß
ſie aber, ſo unbeſtimmt dieſe noch dermalen iſt, zum
Beweiſe der Theorie der Schluͤſſe und auch anderer
zuſammengeſetzterer Methoden gebraucht werden koͤn-
ne, und das eigene Merkmal durchaus wiſſenſchaft-
licher Zeichen an ſich habe (Dianoiol. §. 194. 201. ſeqq.
Semiot. §. 29. Phaͤnomenol. §. 180.).
§. 176.
Wir haben ferner die Begriffe A, B bisher nur ſo
betrachtet, wie ſie aus einer ganz willkuͤhrlichen Zu-
ſammenfaſſung mehrerer zuſammengeſetzten Begriffe
P, Q, R, S, T, V ꝛc. H, I, K ꝛc. entſtehen. Dieſes
Willkuͤhrliche iſt nun in ſo ferne uneingeſchraͤnkt, als
man von den zuſammengeſetzten Begriffen mit einem
J 3male
[134]V. Hauptſtuͤck.
male zuſammenfaſſen kann, ſo viel man will (§. 161.
N°. 1.). Man wird immer noch Merkmale finden,
die den zuſammen genommenen Begriffen gemeinſam
ſind (§. 161. N°. 2.). Man ſtelle ſich dieſe gemein-
ſamen Merkmale unter dem Begriffe B vor, ſo
kommt B in jedem dieſer Begriffe ganz vor. Ob er
aber nicht in noch mehrern Begriffen ebenfalls ganz
vorkomme, iſt eine ganz andere Frage, die ſich faſt
nothwendig bejahen laͤßt. Wenn man die Begriffe
P, Q, R ꝛc. in der That willkuͤhrlich, und gleichſam,
wie ſie ſich angebothen haben, zuſammen genommen,
ohne alle Begriffe aufzuſuchen, in welchen B ganz
vorkoͤmmt. Der Begriff B iſt demnach in ſo fern will-
kuͤhrlich, als man die Begriffe P, Q, R ꝛc. H, I, K,
willkuͤhrlich zuſammen nimmt. Hat man aber B ein-
mal angenommen, ſo bleibt bey dem Aufſuchen aller
Begriffe, die B ſind, oder in denen B ganz vorkoͤmmt,
keine. Auswahl mehr, ſo fern man ſie naͤmlich alle
haben will. Man wird hiebey eine ſehr allgemeine
Anwendung der Erforderniß der Grundlehre finden,
wie naͤmlich mit einigen fuͤrgegebenen Stuͤcken
nothwendig mehrere gegeben, das will ſagen,
in einer ſolchen Verbindung ſind, daß man
dieſe nicht mehr als von jenen unabhaͤngig an-
ſehen kann (§. 15.). Wir haben aber dieſe Erfor-
derniß an angefuͤhrtem Orte noch beſtimmter vorge-
tragen, weil die Anzahl der fuͤrgegebenen Stuͤcke die
geringſte ſeyn ſolle. Auch dieſes aber laͤßt ſich hier
erhalten, weil man naͤmlich, um aus den Begriffen
P, Q, R, S, T, V ꝛc. H, I, K ꝛc. den allen denſelben
gemeinſamen Begriff B zu finden, von dieſen Begrif-
fen nur die zween herausnimmt, die unter ſich mehr
als von jeden der uͤbrigen verſchieden ſind. Denn
dieſe zween Begriffe haben außer dem Begriffe B
nichts
[135]Das Allgemeine und Beſondere.
nichts Gemeinſames mehr. Daher laͤßt ſich B aus
denſelben am unmittelbarſten abſtrahiren. Man ſehe
auch oben (§. 16.) und (Dianoiol. §. 41. 42.).
§. 177.
Es iſt aber die oben (§. 17.) angegebene Erfor-
derniß noch ungleich betraͤchtlicher, daß man naͤm-
lich auf alle Arten zuſammengehoͤrende Stuͤcke
zuſammen nehmen muͤſſe. Nun koͤnnen zuſammen
geſetzte Begriffe auf ſo vielerley Arten zuſammen ge-
nommen werden, als ſich Begriffe B gedenken laſſen,
die den zuſammen genommenen gemeinſam ſind.
Man ſieht leicht, daß hiebey Abwechſelungen und
Mannichfaltigkeiten vorkommen, die bis in das Un-
endliche gehen, und daß man daher wenigſtens in ſo
weit auf allgemeine Abkuͤrzungen denken muͤſſe, (§. 16.)
als ſich, in Anſehung der Rangordnung und folglich
der Subordination und Coordination der Begriffe,
allgemeine Regeln, Geſetze und Verhaͤltniſſe beſtim-
men laſſen (§. 38.). Dieſes iſt nun in Abſicht auf
die Begriffe in den Vernunftlehren, in Abſicht auf
die dadurch vorgeſtellten Dinge in der Ontologie,
man kann ſagen, gewiſſermaßen, geſchehen. Man
hat die Lehre von den einzeln Dingen, von den Ar-
ten und Gattungen (§. 132.) in dieſen beyden Wiſ-
ſenſchaften uͤberhaupt betrachtet, die Gattungen in
ſtufenweiſe hoͤhere, und die Arten in ſtufenweiſe
niedrigere unterſchieden, und einige allgemeinere
Verhaͤltniſſe dabey angemerket. Die unmittelbarſte
Veranlaſſung dazu gab die Natur ſelbſt, indem ſie
uns in den Thieren, Pflanzen, Steinen ꝛc. Aehnlich-
keiten und Verſchiedenheiten vorlegt, die wir ſtufen-
weiſe groͤßer finden, und da wir die Aehnlichkeiten
mit beſondern Namen benennen, ſo theilen wir dadurch
J 4unver-
[136]V. Hauptſtuͤck.
unvermerkt dieſe Gattungen in Arten ein. Die Aehn-
lichkeiten in den Handlungen und Veraͤnderungen ga-
ben zugleich mit ihren Benennungen aͤhnliche Anlaͤſſe
zu Eintheilungen, und auf dieſe Art wurde die
Moͤglichkeit, Gattungen und Arten zu finden, auch
auf das Gedankenreich und auf die Jntellectualwelt
ausgedehnt.
§. 178.
So fern man hierinn nur bey den allgemeinen
Aehnlichkeiten, Verhaͤltniſſen, Geſetzen ꝛc. ſtehen
bleibt, laͤßt ſich alles ſehr ordentlich und auf eine Art
aus einander ſetzen, die, ſo weit ſie reicht, brauchbar
iſt. Wir koͤnnen das Allgemeinſte davon in folgen-
den Saͤtzen vortragen.
- 1°. Man gedenkt ſich einzelne Dinge (Indiui-
dua), ſo viele und ſo verſchieden man will;
und dieſes geht an, es ſey daß man fie unmittel-
bar aus der Erfahrung und folglich a poſteriori
nehme, wie ſie die Natur uns darbeut, oder
daß man ihre uneingeſchraͤnkte Mannichfaltig-
keit aus den Poſtulatis herleite, die uns die ein-
fachen Begriffe angeben (§. 118-123.). - 2°. DieſeIndiuiduatheilet man ſaͤmmtlich in
Claſſen, ſo daß in jeder Claſſe die beyſam-
men ſeyn, welche die groͤßte Aehnlichkeit
haben. Dieſes geſchieht, in Abſicht auf die
wirkliche Welt, in der Naturgeſchichte, ſo
daß man bey den einzeln Arten von Pflanzen,
Thieren ꝛc. anfaͤngt. Jm Reiche der Moͤg-
lichkeit aber faͤngt man um eine Stufe tiefer
an, weil man in dieſe unterſte Claſſen Indiuidua
nimmt, die nur der Zahl nach verſchieden ſind
(§. 129. 130. 132.).
3°. Von
[137]Das Allgemeine und Beſondere.
- 3°. Von dieſen unterſten Arten nimmt man
wiederum diejenigen zuſammen, die die
groͤßte Aehnlichkeit haben, und benennet
ſie dieſen Aehnlichkeiten nach mit beſon-
dern Namen, welche dieſe Aehnlichkeiten
andeuten, und den allen den zuſammen
genommenen Arten gemeinſamen Begriff
der Gattung vorſtellen. Die jeder Art eige-
nen Merkmale, wodurch ſie ſich von den uͤbrigen
unterſcheidet, machen zuſammen genommen den
Unterſchied der Art (Differentia ſpecifica)
aus. Und dieſe wird ſo beſtimmet, daß der
Begriff der Gattung nebſt dem Begriffe
des Unterſchiedes der Art, den ganzen
Begriff der Art erſchoͤpfen. - 4°. Von den auf dieſe Weiſe gefundenen er-
ſten oder unterſten Gattungen werden ſo-
dann wiederum die aͤhnlichſten zuſammen
genommen. Der Begriff, der ihre Aehn-
lichkeiten zuſammenfaſſet, ſtellet die naͤchſt hoͤ-
here Gattung vor, und die jeder Gattung
eigene Merkmale werden daraus weggelaſſen.
An ſich betrachtet und bey jeder Gattung zu-
ſammen genommen machen ſie den Unterſchied
der Gattung (Differentia generica) aus. - 5°. Auf dieſe Art faͤhrt man fort, hoͤhere
Gattungen aufzuſuchen, bis man zu ſol-
chen Aehnlichkeiten koͤmmt, die ſchlecht-
hin jeden einzeln Dingen gemeinſam ſind,
und daher den Begriff der hoͤchſten Gat-
tung ausmachen. - 6°. Da man in dem Begriffe jeder hoͤhern Gat-
tung die Unterſchiede der niedrigern weglaͤßt, ſo
J 5abſtra-
[138]V. Hauptſtuͤck.
abſtrahirt man dieſen Begriff von ſeinen nie-
drigern Arten oder Gattungen, und der Begriff
ſelbſt wird ein abgezogener oder abſtracter
Begriff genennet. - 7°. Da ferner dieſer Begriff in jeder ſeiner niedri-
gern Gattungen, Arten und einzeln Dingen, die
darunter gehoͤren, vorkoͤmmt, ſo nennet man
ihn einen allgemeinern, ausgedehntern oder
hoͤhern Begriff. - 8°. Da wir endlich durch das Wort Ding bald
alles, was ſich benennen laͤßt, vorſtellen, es
mag nun moͤglich, wirklich, eingebildet, unge-
reimt ꝛc. ſeyn; ſo hat man auch das, was jeder
allgemeine Begriff vorſtellet, ein Ding genennet.
Und zwar ein allgemeines Ding (Ens vniuer-
ſale), um es von den einzeln Dingen (Indiui-
duum, Ens ſingulare) zu unterſcheiden. - 9°. Dieſen Unterſchied hat man daher zu machen
fuͤr dienlich erachtet, weil man in der Ontologie
die Dinge (Ens), in Abſicht auf die Exiſtenz,
betrachtet. Und daher iſt der Satz entſtanden,
daß allgemeine Dinge nirgends als in den
einzeln exiſtiren. Es zeiget aber dieſer Satz
nur eine Vieldeutigkeit des Wortes Ding oder
Ens an, und wenn man ihn auf die Begriffe
der Art und Gattung bezieht, indem man
ſagt, daß die Arten und Gattungen nur
in denIndiuiduisexiſtiren, ſo will man da-
durch auch nicht mehr ſagen, als daß zum
Exiſtiren mehr als etwas bloß Jdeales und Er-
dichtetes erfordert werde (§. 164. 169.), und daß
aus der Moͤglichkeit, einige Merkmale von
exiſtirenden Dingen, ohne Ruͤckſicht auf die
uͤbrigen
[139]Das Allgemeine und Beſondere.
uͤbrigen zu denken und ſie mit einem Namen
zu benennen (§. 162. N°. 4.), noch nicht folge,
daß dieſe Merkmale fuͤr ſich und ohne Ruͤckſicht
auf die uͤbrigen exiſtiren koͤnnen. Man ſieht
leicht, daß dieſes mit dem Unterſchiede, den
man in der Ontologie zwiſchen Subſtanzen
und Accidenzen macht, ungefaͤhr auf eines
hinauslaͤuft, nur daß das Wort Ding mehrere
Vieldeutigkeiten hat, die bald ehender gram-
matiſch als ontologiſch ſind. - 10°. Da demnach die Eintheilung und Subordi-
nation der Gattungen in niedrigere und hoͤhere
ideal iſt, und ſich dabey dennoch auf wirkliche
Unterſchiede der Dinge gruͤndet, wodurch wir
ſie abkuͤrzungsweiſe in Claſſen eintheilen; ſo
laͤßt ſich vorgedachte Ordnung allerdings dabey
gedenken, und beut uns verſchiedene brauchbare
Saͤtze an. Denn ſo gelten folgende. - 11°. Die Begriffe der Gattungen und Arten ſtellen
uns mit einem male die Aehnlichkeiten von gan-
zen Claſſen einzelner Dinge vor. - 12°. Was von einer ganzen Gattung geſagt werden
kann, gilt auch von jeden ihrer Arten, und
uͤberhaupt von jedem einzeln Dinge, ſo unter
dieſe Gattung oder ihre Arten gehoͤret. - 13°. Jn dem Begriffe jeder Gattung iſt der Be-
griff jeder hoͤhern Gattung enthalten. Denn
ſie iſt daraus abſtrahirt. - 14°. Wenn alle A, B ſind: ſo laͤßt ſich B als eine
hoͤhere Gattung anſehen, unter welche A gehoͤret. - 15°. Wenn A unter eine hoͤhere Gattung B gehoͤret,
ſo gehoͤret entweder A unter eine der niedrigern
Arten von B, oder A iſt ſelbſt eine dieſer niedri-
gern Arten.
16°. Wenn
[140]V. Hauptſtuͤck.
- 16°. Wenn B eine Gattung iſt, ſo bedeutet der
Ausdruck jedesB, jede niedrigere Arten und
jede Indiuidua, ſo darunter gehoͤren. Denn
alle dieſe ſind B. - 17°. Hingegen bedeutet der Ausdruck: EtlicheB,
nicht jede, ſondern nur etliche dieſer Arten, oder
gar nur einige unter B gehoͤrende Indiuidua. - 18°. Die Arten einer Gattung ſchließen einander
aus, oder eine iſt nicht die andere. Denn jede
hat ihre eigene Merkmale, welche den Unter-
ſchied der Art ausmachen. - 19°. Die naͤchſten Arten einer Gattung zuſammen
genommen, haben mit der Gattung ſelbſt eine
gleiche Ausdehnung, oder es gehoͤren weder
mehr noch minder Indiuidua unter die Gattung,
als zuſammen genommen unter ihre naͤchſte Ar-
ten gehoͤren. - 20°. Was die eigenen Merkmale einer Art oder
einer Gattung hat, gehoͤret unter dieſelbe. Was
ſie aber nicht hat, oder auch nur nicht alle hat,
gehoͤret nicht unter dieſelbe. - 21°. Was unter eine Gattung gehoͤret, und man
weiß, daß es auch nur eines von den eigenen
Merkmalen einer ihren naͤchſten Arten hat, das
gehoͤret unter dieſe naͤchſte Art, und hat ihre
uͤbrigen eigenen Merkmale ebenfalls, wenn deren
mehrere ſind. - 22°. Wenn A unter eine der Arten von der Gat-
tung B gehoͤret, ſo ſind etliche B, A, und etliche B
ſind nicht A. - 23°. Hinwiederum wenn nur etliche B, A ſind: ſo ge-
hoͤret A unter eine der Arten von der Gattung B. - 24°. Was unter eine der Arten einer Gattung ge-
hoͤret, das gehoͤret nicht unter eine ihrer Neben-
arten,
[141]Das Allgemeine und Beſondere.
arten, ſondern wird davon verneint. Denn es
hat die eigenen Merkmale der Art, unter welche
es gehoͤret. - 25°. Wenn man von einer der naͤchſten Arten einer
Gattung ein Merkmal findet, welches nicht ein
Merkmal der Gattung iſt; ſo iſt es ein eigenes
Merkmal der Art, in welcher man es gefunden.
Denn jede der naͤchſten Arten einer Gattung
hat außer ihren eigenen Merkmalen keine an-
dere, als ſolche, die ihren Nebenarten ſaͤmmt-
lich gemeinſam, und folglich Merkmale der gan-
zen Gattung ſind. - 26°. Der Begriff der Gattung wird von jeder ih-
rer Arten allgemein bejaht, der Begriſſ einer
jeden der Arten wird von dem Begriffe der
Gattung particular ſowohl bejaht als verneint.
Hingegen werden die Begriffe der Nebenarten
einer Gattung allgemein von einander verneint. - 27°. Das Aufſteigen von den Arten zu den Gat-
tungen iſt determinirt, hingegen das Herunter-
ſteigen von den Gattungen indeterminirt. Denn
jede Art hat nur eine naͤchſt hoͤhere Gattung;
hingegen hat jede Gattung mehrere naͤchſt nie-
drigere Arten unter ſich, weil ſie aus ihren ge-
meinſamen Merkmalen beſteht. - 28°. Demnach wenn eine Art gegeben iſt, ſo ſind
ihre hoͤhere Gattungen zugleich mit gegeben.
Hingegen wenn eine Gattung gegeben iſt, ſo iſt
dieſe oder jene von ihren Arten noch nicht zu-
gleich mit gegeben. - 29°. Was nur einige von den eigenen Merkmalen
einer fuͤrgegebenen Art oder Gattung hat, gehoͤ-
ret nicht unter dieſelbe, ſondern unter eine ihrer
hoͤhern
[142]V. Hauptſtuͤck.
hoͤhern Gattungen. Hat es außer dieſen Merk-
malen keine andere mehr, ſo iſt es ſelbſt eine der
hoͤhern Gattungen. Hat es aber noch andere
Merkmale, ſo gehoͤret es in eine andere Ablei-
tungslinie von einer der hoͤhern Gattungen,
oder iſt mit der fuͤrgegebenen Art oder Gattung
mehr oder minder verwandt. - 30°. Was nicht unter eine fuͤrgegebene Gattung
gehoͤret, das gehoͤret auch unter keine von ihren
Arten. Und hinwiederum, was nicht unter eine
der Arten einer fuͤrgegebenen Gattung gehoͤret,
das gehoͤret auch unter die Gattung ſelbſt nicht.
§. 179.
Dieſe Saͤtze zeigen nun auf eine umſtaͤndlichere
Art an, wie die Abtheilung der Dinge und der zu-
ſammen geſetzten Begriffe in Arten und Gattungen
ausſehen ſollte, und wie ſie ſodann zu gebrauchen
waͤre. Wir haben allerdings noch lange kein voll-
ſtaͤndiges Syſtem jeder Arten und Gattungen. So
unvollſtaͤndig wir es aber noch dermalen haben, ſo
laſſen ſich dennoch die meiſten von dieſen Saͤtzen dabey
anwenden, den ein und zwanzigſten und den fuͤnf und
zwanzigſten allein ausgenommen, als welche nur da
ſicher anwendbar ſind, wo die Eintheilung nach aller
Schaͤrfe richtig und genau getroffen worden. Dieſe
beyden Saͤtze ſind aber gerade diejenigen, die ſich
am vortheilhafteſten gebrauchen ließen, wie es aus
dem im fuͤnften Hauptſtuͤcke der Phaͤnomenologie
(§. 176. ſeqq.) angefuͤhrten Beyſpiele erhellet. Denn
beyde geben ein Mittel an, vom Theile auf das Ganze
zu ſchließen, und ſolche Mittel ſind an ſich allemal ein
Vorzug der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß, (§. 15.).
§. 180.
[143]Das Allgemeine und Beſondere.
§. 180.
Es ſind aber unſere bisherigen Eintheilungen von
der hier angegebenen noch auf eine andere Art ver-
ſchieden, weil wir einerley Begriffe in verſchiedenen
und ſehr vielerley Abſichten eintheilen. Man kann
die Abtheilungen der Menſchen, in Abſicht auf ihr
Geſchlecht, Alter, Talente, Vermoͤgen, Berufs-
umſtaͤnde, Beſchaͤfftigungen, Begierden und Ge-
muͤthsart ꝛc. zum Beyſpiele nehmen. Daher koͤmmt
es, daß die Arten, ſo man nach der Eintheilung in
einer Abſicht findet, eine ganz andere Vertheilung
von den Indiuiduis fordern, als die Arten, ſo man
nach der Eintheilung in einer andern Abſicht heraus-
bringt. Dieſes verurſacht auch, daß wir Particular-
ſaͤtze haben, die gerade und umgekehrt particular blei-
ben. Solche aber finden ſich nach der erſt beſchrie-
benen Geſchlechtstafel der Begriffe (§. 178.) nicht.
Denn die in dem ſechs und zwanzigſten Satze ange-
fuͤhrte Particularſaͤtze werden umgekehrt allgemein
bejahend.
§. 181.
Hiebey entſtehen nun allerdings verſchiedene Zwei-
fel und Fragen. Man kann vermuthen, dieſe Ein-
theilungen eines Begriffes in vielerley Abſichten ſeyn
nur Huͤlfsmittel, den Mangel einer vollſtaͤndigen
Geſchlechtstafel der zuſammen geſetzten Begriffe ſtuͤck-
weiſe zu erſetzen, oder ſie dienen als Abkuͤrzungen,
oder das Willkuͤhrliche der Sprache, die uns nicht
zu jeden Begriffen eigene Woͤrter giebt, ziehe ſie als
eine Folge nach ſich, oder es fehle zu dieſen Einthei-
lungen in gewiſſen Abſichten, noch die weſentliche Ein-
theilung, welche auf die vorhin angezeigte Art ein-
gerichtet ſeyn wuͤrde, oder wenn die Eintheilungen
noth-
[144]V. Hauptſtuͤck.
nothwendig nur in gewiſſen Abſichten geſchehen muͤſ-
ſen, ſo gebe es nicht eine ſo einfache Geſchlechtstafel,
wie ſie vorhin beſchrieben worden (§. 178.), ſondern
es gebe derſelben unzaͤhlige, die ſaͤmmtlich mit einan-
der durchflochten werden muͤſſen, weil bey allen, wenn
ſie vollſtaͤndig ſind, einerley Indiuidua, naͤmlich alle
moͤgliche, zum Grunde liegen ꝛc.
§. 182.
Jn allen dieſen Vermuthungen iſt nun etwas Wah-
res, und etwas Unvollſtaͤndiges, welches in denſel-
ben einen Mangel des Zuſammenhanges nach ſich
zieht, und zugleich fordert, daß die Natur der Ein-
theilungen noch genauer muͤſſe entwickelt werden.
Einmal, ſo wie unſere Sprachen und mit denſelben
auch viele, beſondere abſtracte, Begriffe eingerichtet
ſind, koͤnnen wir die Eintheilungen in verſchiedenen
Abſichten, ſo unvollſtaͤndig wir auch dieſe noch haben,
dennoch gebrauchen, und wenn eine Abſicht bey der
Eintheilung zum Grunde geleget iſt; ſo geht die Ein-
theilung nach der vorhin beſchriebenen Art (§. 178.)
vor ſich. Jede Art kann wiederum in gewaͤhlte
Abſichten eingetheilet werden, und ſo koͤmmt man
endlich auf Indiuidua. Man kann hieruͤber das
zweyte Hauptſtuͤck der Dianoiologie nachſehen, wo
dieſe Theorie der Eintheilungen abgehandelt iſt, und
zugleich gezeiget wird, wie die Eintheilungen in ver-
ſchiedenen Abſichten mit einander durchflochten ſind,
und combinirt werden koͤnnen.
§. 183.
Wir koͤnnen aber aus der vorhin gegebenen Be-
ſchreibung der Art, wie die Eintheilungen gemacht
werden, leicht ſehen, daß wir darinn etwas unbe-
ſtimmt
[145]Das Allgemeine und Beſondere.
ſtimmt gelaſſen haben, (§. 178.). Denn ſo z. E.
um die unterſten Arten, oder auch aus dieſen ihre
naͤchſt hoͤhere Gattung zu finden, wird dabey ge-
fordert, daß man auf die groͤßte Aehnlichkeiten
ſehen muͤſſe, damit man naͤmlich die Indiuidua, oder
die Arten nach ſolchen groͤßten Aehnlichkeiten in be-
ſondere Claſſen bringen koͤnne. Hiezu aber haben
wir allerdings noch den Maaßſtab nicht, daß wir
damit die Groͤße des Unterſchiedes beſtimmen, und
den kleinſten Unterſchied finden ſollten. Und es muß
nothwendig dabey etwas willkuͤhrliches bleiben, ſo
bald dieſe Unterſchiede den Stuffen nach von 0 bis
auf 1 gehen, weil man bey den Graden Abtheilun-
gen machen kann ſo viel man will. Auf dieſe Art
aber muͤſſen wir uns nach der Sprache und denen
Woͤrtern richten, die ſie uns zur Benennung ſolcher
Aehnlichkeiten und Unterſchiede darbeut. Und je
nachdem dieſe Woͤrter in ihrer Bedeutung mehr oder
minder Merkmale zuſammenfaſſen, erhalten wir
auch Arten und Gattungen, die nicht ſo faſt ſtuffen-
weiſe, als vielmehr ſprungsweiſe einander ſubordi-
nirt werden. Auf dieſe Art z. E. ſehen wir das Praͤ-
dicat eines jeden allgemein bejahenden Satzes, wenn
er nicht identiſch iſt, als eine Gattung, und das
Subject deſſelben, als eine Art dieſer Gattung an,
ohne dabey beſtimmen zu koͤnnen, um wie viele
Stuffen dieſe Gattung hoͤher iſt, als die naͤchſt hoͤhere
Gattung des Subjectes. Auf eine aͤhnliche Art ſe-
hen wir Subject und Praͤdicat eines allgemein vernei-
nenden. Satzes als Arten an, die unter verſchiedene
Gattungen gehoͤren, weil wir nicht dabey ſo gleich
beſtimmen koͤnnen, ob ſie nicht unter eine naͤchſt hoͤ-
here Gattung gehoͤren. Jn Anſehung des 21ſten und
25ſten Satzes des §. 178. haben wir bereits ange-
Lamb. Archit.I.B. Kmerket,
[146]V. Hauptſtuͤck.
merket, daß wir ſie aus dieſem Grunde ſelten ſicher
gebrauchen koͤnnen, (§. 179.).
§. 184.
Sodann nehmen wir bey der Eintheilung einer
Gattung in ihre Arten einen dem vorhin (§. 178.)
beſchriebenen Abſtrahiren ganz entgegengeſetzten Weg.
Denn um aus den Arten die Gattung zu finden,
laſſen wir die eigene Merkmale, Beſtimmungen und
Verhaͤltniſſe der Arten ganz weg, damit nur die ge-
meinſamen bleiben. Hingegen, wenn aus der Gat-
tung die Arten gefunden werden ſollen; ſo muͤſſen
wir alle dieſe Merkmale, Beſtimmungen und Ver-
haͤltniſſe wiederum zuſetzen. Dieſes thun wir nun
gemeiniglich nur ſtuͤckweiſe, und eben daher entſtehen
auch unſere Eintheilungen in einzeln Abſichten. Wir
nehmen einen Theil oder ein Merkmal des Begrif-
fes beſonders heraus, und ſehen wie vielerley Be-
ſtimmungen es leidet, ſo daß wenn dieſes Merkmal
die eine von dieſen Beſtimmungen hat, es nicht zu-
gleich die andere haben koͤnne. Jſt dieſes geſche-
hen, ſo ſehen wir den ganzen Begriff als eingetheilet
an, und machen ſo viele Arten, als wir Beſtimmun-
gen des Merkmales gefunden. Dieſes Verfahren
ſcheint nun ſehr ordentlich zu ſeyn. Die Gewohn-
heit, die Einrichtung der Sprache und etwann auch
das Bewußtſeyn einiger Faͤlle, wo es mag angehen,
helfen ſaͤmmtlich, die dabey vorkommenden Unvoll-
ſtaͤndigkeiten, Luͤcken, Verwirrungen und Fehler zu
bedecken, und machen zugleich, daß ſich der Begriff
von weſentlichen Eintheilungen ſchwerer entwickeln
laͤßt. Wir werden demnach ſehen, wie ferne ſich in
dieſer Sache Licht und Ordnung finden laſſe. Die
Aufgabe iſt zwar, wie verſchiedene bisherige Be-
trach-
[147]Das Allgemeine und Beſondere.
trachtungen, bloß logiſch. Man kann ſie aber als
ein logiſches Lemma anſehen, dergleichen in den Wiſ-
ſenſchaften haͤufiger vorkommen ſollten, (Dianoiol.
§. 444-467.).
§. 185.
Um hiebey den einfachſten Fall vorzunehmen, ſo
ſey der Begriff der Gattung A, ſeine Merkmale,
Theile, oder Verhaͤltniſſe B, C. Man nehme nun B
beſonders vor, und ſetze, daß es die Beſtimmungen
m, n, p zulaſſe, und folglich mB, nB, pB ſeyn koͤnne,
ſo ſetzen wir auf erſtbeſchriebene Art, daß A die Ar-
ten mA, nA, pA habe. Dieſer Schluß iſt nun zu-
weilen wirklich falſch und unrichtig. Denn iſt B eine
hoͤhere Gattung von A, ſo iſt es moͤglich, daß mB,
nB, pB ſolche Arten dieſer Gattung ſind, unter deren
eine die Art A ganz gehoͤret, und folglich von den
uͤbrigen ausgeſchloſſen iſt. So z. E. wenn A einen
Cirkel,B eine Figur bedeutet, ſo iſt allerdings B ein
Merkmal von A. Man theile nun die Figuren in
geradlinichte und krummlinichte, und in ſolche die
beydes zugleich ſind: ſo wuͤrde man ungereimt
auch A oder einen Cirkel in ſolche Claſſen eintheilen,
weil A nur unter eine dieſer Arten gehoͤret. Ein ge-
radlinichter und ſo auch ein vermiſchtlinichter Cirkel
iſt ein unmoͤglich Ding. Haͤtte man aber fuͤr A den
Begriff eines Triangels genommen, ſo waͤre die Ein-
theilung angegangen. Man ſieht demnach, daß
nicht jede Beſtimmungen, die ein Merkmal B an
ſich betrachtet zulaͤßt, demſelben in dieſem oder jenem
Begriffe A, in welchem B vorkoͤmmt, zugeſetzet wer-
den koͤnnen. Denn in A koͤnnen bereits andere Be-
ſtimmungen ſeyn, die einige an ſich gar wohl moͤg-
liche Beſtimmungen des B nicht zulaſſen.
K 2§. 186.
[148]V. Hauptſtuͤck.
§. 186.
Wenn es aber auch in einem vorgegebenen Falle
angeht, daß jede Beſtimmungen des B auch dem A
beygeleget werden koͤnnen, ſo weiß man nunmehr nur
ſo viel, daß A die Arten mA, nA, pA habe, oder
ſich in Abſicht auf das Merkmal B in ſolche einthei-
len laſſe. Damit iſt aber der Begriff von dieſen Ar-
ten noch ſehr unvollſtaͤndig und unbeſtimmt, weil noch
in Abſicht auf die Merkmale C und ihre Verhaͤltniſſe
zu B, m, n, p gar nichts ausgemacht iſt. Nimmt
man demnach C beſonders vor, und findet, daß es
an ſich betrachtet die Beſtimmungen μ ν π leidet,
ſo koͤmmt ebenfalls die Frage vor, ob C auch in dem
Begriffe A dieſe Beſtimmungen μ ν π leide? Und
da koͤnnen wiederum einige wegfallen. Wenn ſie
aber auch alle bleiben; ſo entſteht die fernere Frage,
ob die Beſtimmungen μ ν π ohne Unterſchied bey
jeder der Beſtimmungen m, n, p ſeyn koͤnnen? Die-
ſes geht nun ſelten ohne Einſchraͤnkung an. Wie
aber hiebey zu verfahren, das habe ich in dem zwey-
ten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie umſtaͤndlich ange-
zeiget.
§. 187.
Bey allem dieſem haben wir noch ununterſucht ge-
laſſen, ob die Merkmale B, C einfache oder zuſam-
mengeſetzte Begriffe ſind? Denn ſind ſie zuſammen-
geſetzt, ſo geſchieht es wiederum und zwar faſt im-
mer, daß die z. E. dem Merkmale B zugeſetzten Be-
ſtimmungen m, n, p, nicht dem ganzen Begriffe B,
ſondern nur einem von ſeinen Merkmalen b zugeſetzt
werden, und folglich ſeine uͤbrigen Merkmale β noch
unbeſtimmt bleiben. Denn die Sprache iſt ſo ein-
gerichtet, daß wir die Beſtimmungen einzeler Theile
und
[149]Das Allgemeine und Beſondere.
und Merkmale dem ganzen Begriffe beylegen, und
z. E. eine Uhr guͤlden nennen, obgleich hoͤchſtens nur
das Gehaͤuſe von Gold iſt. Die Redensart: A po-
tiori fit denominatio, erhaͤlt ihre Wahrheit von dieſer
Einrichtung der Sprache. Wo man aber in einzeln
vorkommenden Faͤllen nicht weiß, daß die Benen-
nung nur a potiori iſt, oder die einem Begriffe bey-
gelegte Beſtimmungen nur eines ſeiner Theile, Merk-
male oder Verhaͤltniſſe angeht, da entſtehen Verwir-
rungen, Luͤcken und Widerſpruͤche. Denn gehoͤren
die Beſtimmungen m, n, p in der That nur dem
Merkmale b, nicht aber dem ganzen Begriffe B zu;
ſo gehen die Begriffe mβ, nβ, pβ nicht an. Man
kann daher die Begriffe mB, nB, pB im ganzen be-
trachtet, und nach dem Sprachgebrauche, richtig, hin-
gegen in den einzeln Theilen mβ, nβ, pβ unrichtig
finden, ohne daß man ſogleich bemerket, woher die-
ſer Unterſchied entſteht. Laͤßt man es aber bey den
Beſtimmungen mb, nb, pb bewenden, ſo fehlen noch
die Beſtimmungen, welche die Merkmale β haben
ſollten, und die Begriffe der Arten mA, nA, pA blei-
ben dadurch unvollſtaͤndig, und in Abſicht auf die
Merkmale β unbeſtimmt.
§. 188.
Dieſe Luͤcken koͤnnen nun nicht wohl anderſt gefun-
den und ausgefuͤllet werden, als wenn man den vor-
gegebenen Begriff der Gattung A in ſeine einfache
Merkmale und Partes integrantes aufloͤſet, und die
Beſtimmungen, deren jedes dieſer Merkmale fuͤr
ſich betrachtet faͤhig iſt, beſonders vornimmt, um
ſodann zu ſehen, wie fern die Beſtimmungen des ei-
nen, mit den Beſtimmungen der uͤbrigen verbunden,
beyſammen ſeyn koͤnnen. Von ſolchen Combinatio-
K 3nen
[150]V. Hauptſtuͤck.
nen fallen nun faſt immer einige weg, weil ſie nicht
angehen. Andere fallen zwiſchen gewiſſe Schranken
der Moͤglichkeit, und dadurch werden allerdings die
Arten, die man ſuchte, auf eine genaue und vorge-
zaͤhlte Art getroffen. Man wird dieſes Verfahren
in der Vernunftlehre bey der Beſtimmung der Schluß-
figuren und ihrer beſondern Schlußarten, als in
einem einfachen Beyſpiele genau beobachtet finden.
§. 189.
So fern man die Eintheilungen in vorgegebe-
nen oder gewaͤhlten Abſichten den weſentlichen
entgegenſetzet; hat man durch letztere ohne Zweifel
ſolche verſtanden, welche den ganzen Begriff A, nicht
aber ſeine einzeln Merkmale B, C angehen. Dem-
nach ſetzet man, der Begriff A koͤnne Beſtimmungen
M, N, P haben, die ſich nicht nur auf eines oder
etliche ſeiner Merkmale, ſondern auf den ganzen Be-
griff, oder auf alle ſeine innere Merkmale erſtrecken.
Denn gehen ſie nur auf eines oder auf einige ſeiner
Merkmale, ſo wird A auch nur in Abſicht auf dieſe
eingetheilet, und zu dieſer Eintheilung koͤnnen noch
andere in Abſicht auf die uͤbrigen Merkmale kom-
men, welche von gleichem Werthe, naͤmlich Ein-
theilungen in einzeln Abſichten ſind. Wie ferne aber
alle Merkmale B, C eines Begriffes A einerley Be-
ſtimmungen M, N, P leiden, oder ob, wenn ſie auch
ſolche leiden, nicht immer jedes Merkmal andere
ihm eigene Beſtimmungen haben muͤſſe, das iſt eine
ganz andere Frage. Erſteres kann ſeyn, letzeres
aber iſt nothwendig, weil die Merkmale ſonſt nicht
verſchieden waͤren. Damit aber verfallen wir auf
die vorhin (§. 188.) angezeigte Art, Eintheilungen
zu machen. Naͤmlich wenn man einen Begriff
in
[151]Das Allgemeine und Beſondere.
in ſeine Arten richtig eintheilen und die Be-
griffe dieſer Arten, ohne Luͤcken darinn zu
laſſen, vollſtaͤndig beſtimmen will; ſo muß
man anfangen, den Begriff in ſeine einfachen
Merkmale oderpartes integrantesaufzuloͤſen, die
Beſtimmungen, deren jedes an ſich faͤhig iſt,
vornehmen, und nach vorgenommener Com-
bination derſelben ſehen, wie fern jede Beſtim-
mung des einen Merkmales mit den Beſtim-
mungen der andern Merkmale zugleich ſeyn,
oder in einem zuſammengeſetzten Begriffe vor-
kommen koͤnne. So vielerley Moͤglichkeiten
hiebey allgemein bleiben, ſo viele Arten wird
man herausbringen. Demnach beſteht die we-
ſentliche Eintheilung eines Begriffes in der Ausfin-
dung und Vorzaͤhlung der Moͤglichkeiten, die Be-
ſtimmungen, ſo jedes ſeiner Merkmale leidet, mit
den Beſtimmungen der uͤbrigen Merkmale, ſo fern
zu combiniren, daß ſie beyſammen ſeyn koͤnnen. So
z. E. (§. 186.) ſieht man, ob μm, μn, μ, νm, νn, νp,
πm, πn, πp moͤgliche Begriffe ſind, und laͤßt die
unmoͤglichen weg, ſo werden die uͤbrigen die geſuch-
ten Arten von A angeben. Man ſieht leicht, daß
wo ein Begriff ſehr viele Merkmale und partes inte-
grantes hat, dieſes Verfahren ungemein weitlaͤuftig
wird, und daß daher die Eintheilungen in einzeln
Abſichten in der That Abkuͤrzungen ſind, mit welcher
wir uns in Ermangelung vollſtaͤndiger Eintheilungen
begnuͤgen muͤſſen.
§. 190.
Wir haben hiebey gefordert, daß man den Be-
griff, den man in ſeine Arten eintheilen will, in ſei-
ne einfachen Merkmale aufloͤſen oder zerfallen muͤſſe,
um die Beſtimmungen, die jedes derſelben fuͤr ſich
K 4leidet,
[152]V. Hauptſtuͤck.
leidet, mit einander zu combiniren. Dieſe Forde-
rung machet ſich dadurch nothwendig, daß, wenn
man einige Merkmale ungetrennet laͤßt, und ſie ſich
zuſammen genommen unter einem Begriffe vorſtel-
let, man gar leicht dieſem Begriffe Beſtimmungen
zuſetzet, die in der That nur Beſtimmungen von ei-
nem ſeiner einfachen Merkmale ſind, oder daß man
die Beſtimmungen ſolcher einfachen Merkmale mit
einander vermenget, ohne ſie genau vorzaͤhlen noch
finden zu koͤnnen, wie weit jedes reichet. Demnach
wuͤrde bey dieſem Verfahren die genaue und erweis-
bare Richtigkeit wegfallen, und ſtatt einer durchgaͤn-
gigen Ordnung und Deutlichkeit haͤtte man nur eine
mehr oder minder verwirrte Eintheilung.
§. 191.
Setzen wir nun, B, C waͤren zwey ſolche einfache
Merkmale, B laſſe die Beſtimmungen m, n, p; hin-
gegen C die Beſtimmungen μ ν π zu: ſo ſind uͤber-
haupt betrachtet, die Combinationen mμ, nμ, pμ,
mν, nν, pν, mπ, nπ, pπ moͤglich. Hingegen koͤn-
nen dieſe Beſtimmungen in beſondern Faͤllen von ſol-
cher Art ſeyn, daß dieſe Combinationen nicht ſaͤmmt-
lich angehen. Dieſes muß nun jedesmal aus ihrer
beſondern Beſchaffenheit eroͤrtert werden. So fern
wir nun annehmen koͤnnen, daß die Anzahl einfacher
Begriffe, und ſo auch die Anzahl der Beſtimmungs-
arten, die bey jedem vorkommen, nicht gar groß
ſey; ſo laͤßt ſich dieſe Combination, und wie fern da-
bey ſolche vorkommen, die nicht angehen, ein fuͤr
allemal und uͤberhaupt abzaͤhlen, und die unzulaͤßi-
gen Combinationen werden durch Grundſaͤtze beſtim-
met und kenntlich gemacht, die von dieſen einfachen
Begriffen unmittelbar hergenommen ſind.
§. 192.
[153]Das Allgemeine und Beſondere.
§. 192.
So weit haben wir nun die an ſich bloß logiſche
Aufgabe von der Beſchaffenheit weſentlicher Einthei-
lungen und von ihren Verhaͤltniſſen zu den Einthei-
lungen in einzeln Abſichten hier in Form eines Lem-
ma vorgetragen und entwickelt. Es wird nun nicht
ſchwer ſeyn, die Anwendung davon auf die Grund-
lehre zu machen, und zuſehen, wie weit wir damit
reichen. Zu dieſem Ende merken wir an, daß wir
die einfachen Grundbegriffe unſerer Erkenntniß im
vorgehenden bereits ſchon vorgetragen, und dabey
gezeiget haben, auf wie vielerley Arten ſie ſich zu-
ſammen nehmen laſſen. Dieſes ſtellet die (§. 53.)
angegebene Tabelle nebſt der beygefuͤgten Erklaͤrung
vor. Sodann haben wir jeden dieſer Begriffe be-
ſonders vorgenommen, und die an ſich uneingeſchraͤnk-
ten Moͤglichkeiten der Beſtimmungen, die er leidet,
auf Poſtulata gebracht, und ſo auch unter den Grund-
ſaͤtzen diejenigen mit angegeben, welche die Zuſam-
menſetzung ſolcher Moͤglichkeiten einſchraͤnken, oder
als ganz unthunlich angeben. Ferner haben wir
(§. 118. ſeqq.) das Product von den Moͤglichkeiten,
die dabey noch ſtatt haben, uͤberhaupt angegeben,
und die uneingeſchraͤnkte Mannichfaltigkeit zuſam-
mengeſetzter Begriffe daraus hergeleitet. Endlich
konnten wir (§. 157. ſeqq.) die Grundlage zu den noth-
wendigen und moͤglichen Aehnlichkeiten und Verſchie-
denheiten, welche ebenfalls die Grundlage zu den
Eintheilungen iſt, in Tabellen vor Augen ſtellen.
Wir haben demnach nun die daraus entſtehende
Moͤglichkeit weſentlicher Eintheilungen, und wie weit
wir damit reichen koͤnnen, hier noch etwas umſtaͤnd-
licher zu betrachten.
K 5§. 193.
[154]V. Hauptſtuͤck.
§. 193.
Zu dieſem Ende merken wir an, daß die Mathe-
matiker, wie in allem, was Methode heißt, ſo auch
hierinn den Philoſophen mit einem guten Beyſpiele
vorgegangen. Um dieſes zu zeigen, werde ich die
in dem zweyten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie (§. 110.)
gemachte Anmerkung hier wiederholen. Die Ma-
thematiker ſuchen naͤmlich allerdings auch ihre Be-
griffe, Saͤtze und Aufgaben allgemeiner zu machen,
allein dieß geſchieht nicht ſo, daß ſie im abſtrahiren
bald alles wegließen, ſondern ſie nehmen ehender
noch mehr Umſtaͤnde dazu, und dadurch ſehen ihre
allgemeinen Formeln viel zuſammengeſetzter aus, als
die ſpecialen, weil ſie in jenen alle Varietaͤten bey-
behalten, die in beſondern Faͤllen vorkommen, und
in vielen von dieſen zum Theil wegbleiben. Man
kann die allgemeinen Gleichungen fuͤr jede krumme
Linien vom zweyten, dritten, vierten ꝛc. Grade, die
Newtoniſche Binomialformel ꝛc. zum Beyſpiele
nehmen.
§. 194.
Hingegen wird bey dem philoſophiſchen Abſtrahi-
ren von den ſpecialeñ Begriffen deſto mehr ganz weg-
gelaſſen, je abſtracter oder je allgemeiner man ſie
machet. Und dieſer Weg iſt dem erſtbeſchriebenen
ſo entgegengeſetzt, daß da die Mathematiker ihre Be-
griffe und Formeln mit vieler Muͤhe und Sorgfalt
allgemeiner machen, um die ſpecialern nicht nur alle
zu haben, ſondern ſie leicht daraus herleiten zu koͤn-
nen; den Philoſophen hingegen das Abſtrahiren ſehr
leicht, dagegen aber die Beſtimmung des Specialen
aus dem Allgemeinen deſto ſchwerer wird. Denn
bey dem Abſtrahiren laſſen ſie alles Speciale derge-
ſtalt
[155]Das Allgemeine und Beſondere.
ſtalt weg, daß ſie es nachher bald nicht mehr wieder
finden, und noch weniger die Abwechſelungen, die
es leidet, genau abzaͤhlen koͤnnen. Um dieſes augen-
ſcheinlich zu machen, doͤrfen wir nur aus dem §. 81.
der Dianoiologie wiederholen, wie vielerley bey dem
Abſtrahiren weggelaſſen wird, wenn man aus den
Begriffen der Arten den Begriff ihrer Gattung ab-
ſtrahirt, und in dieſem nur die gemeinſamen Merk-
male der Arten beybehaͤlt. Das Weggelaſſene beſteht
- 1°. in den eigenen Merkmalen jeder Art;
- 2°. in den beſondern Beſtimmungen der gemein-
ſamen Merkmale in jeder Art; - 3°. in den Verhaͤltniſſen der gemeinſamen Merk-
male mit den eigenen Merkmalen jeder Art; - 4°. in den Verhaͤltniſſen, ſo die gemeinſamen
Merkmale in jeder Art unter ſich beſonders
haben; - 5°. in jeden Verhaͤltniſſen gegen andere Dinge, ſo
jede Art ſowohl in Abſicht auf die gemeinſamen,
als eigenen Merkmale, beſonders hat.
§. 195.
Die Begriffe der Gattungen kommen demnach in
den Arten und Indiuiduis lange nicht ſo abſtract vor,
und indem man ſie abſtrahirt, laͤßt man gar zu viel
weg, weil man fuͤglich noch mehr beybehalten koͤnnte,
und in der That auch ſollte, um aus dem Begriffe
der Gattung die Begriffe der Arten leichter finden
und vollſtaͤndiger beſtimmen zu koͤnnen. Warum
das meiſte weggelaſſen wird, davon laſſen ſich einige
Gruͤnde angeben, und dieſe ſind 1°. die Kuͤrze des
Ausdruckes. 2°. Der Mangel an Woͤrtern, und 3°.
oͤfters auch die Schwierigkeit, alles was in dem Be-
griffe der Gattung beybehalten werden ſollte, genau
zu
[156]V. Hauptſtuͤck.
zu finden. Zu dieſen Urſachen koͤmmt etwann auch
noch, daß man Arten zuſammen nimmt, die nicht
zuſammen gehoͤren, und das Vieldeutige in den Wor-
ten von dem wirklich allgemeinen nicht behoͤrig un-
terſcheidet. Wenn aber auch dieſes letztere wohl hin-
geht, oder dieſe Urſache nicht vorkoͤmmt, ſo machen
doch die drey erſtern, daß in den Definitionen nicht
alles ausgedruͤcket wird, was der Begriff in ſich
ſchleußt. Denn ſo habe ich an angefuͤhrtem Orte
der Dianoiologie bereits angemerket, daß wenn uns
die unter eine Gattung gehoͤrenden Indiuidua recht
bekannt ſind, der Begriff, den wir von der Gattung
haben, auch noch bis in den kleinern Theilen uns
gleichſam das Modell, Bild, Formular, oder wie
man es nennen will, von den Indiuiduis vorſtellet.
(Dianoiol. §. 111. 112.). Das Allgemeine in den be-
ſondern Beſtimmungen und Verhaͤltniſſen ſollte in
der Definition der Gattung noch mit beybehalten
werden, und es koͤnnte geſchehen, wenn es genau aus-
geſondert wuͤrde, und die Sprache Woͤrter dazu haͤtte.
§. 196.
Wenn aber auch dieſes immer erhalten werden
koͤnnte, ſo wuͤrden die Begriffe der Gattungen da-
durch zwar weitlaͤuftiger und vollſtaͤndiger, als ſie der-
malen ſind; ſie wuͤrden aber noch nicht weitlaͤuftiger,
als die Begriffe von den beſondern Arten und Indiui-
duis, ſo darunter gehoͤren, weil dieſe noch immer eini-
ge Beſtimmungen, und zwar der Zahl nach, mehr
haben wuͤrden. Dieſes wuͤrde ſie demnach noch im-
mer von den mathematiſchen allgemeinen Begriffen
und Formeln verſchieden machen, als welche zugleich
mit der groͤßern Allgemeinheit weitlaͤuftiger werden,
weil ſie ſich auf mehrere Faͤlle ausdehnen. Wir wer-
den den Grund dieſes Unterſchiedes leicht darinn fin-
den,
[157]Das Allgemeine und Beſondere.
den, daß die Mathematiker Mittel haben, auch die
Beſtimmungen und Verhaͤltniſſe allgemein auszu-
druͤcken, welche hingegen bey dem philoſophiſchen Ab-
ſtrahiren ganz weggelaſſen werden. Man giebt da-
fuͤr den Grund an, daß die Beſtimmungen der be-
ſondern Arten gar zu verſchieden ſind, als daß man
ſie, oder etwas allgemeines davon beybehalten koͤnnte.
Dieſer Grund will aber, genauer betrachtet, nicht
mehr ſagen, als daß entweder die Arten, aus wel-
chen man den Begriff der Gattung abſtrahirt, uͤbel
getroffen worden, oder die Sprache nicht Woͤrter ha-
be, die das Allgemeine in den beſondern Beſtim-
mungen und Verhaͤltniſſen genau ausdruͤcken. Denn
die beſondern Beſtimmungen ſollten nur Modifica-
tionen dieſes Allgemeinen ſeyn, wie z. E. die beſon-
dern Beſtimmungen des Ortes und der Zeit nur Mo-
dificationen des allgemeinen Begriffes des Ortes
oder der Zeit, und deren Verhaͤltniſſe ſind.
§. 197.
Wenn wir hiebey, ohne auf das tranſcendente der
Jntellectualwelt mit zu ſehen, bey den erſten Grund-
begriffen ſtehen bleiben, ſo koͤnnen wir uns ein Sy-
ſtem von Arten und Gattungen vorſtellen, welches
nach der hier verlangten Art eingerichtet iſt. Jedes
einzele oder einfache Indiuiduum, dabey iſt ein Soli-
des, und dieſes leidet Beſtimmungen der Figur,
Lage, Groͤße, Dauer des Ortes und der Zeit,
der Bewegung, Direction, Geſchwindigkeit
und Kraft, welche nach den oben angegebenen Po-
ſtulatis angenommen werden koͤnnen, ſo fern naͤmlich
jedes als eins und fuͤr ſich betrachtet wird. Man
gedenke ſich derer nun zwey: ſo ſieht man leicht, daß
eben dieſe Beſtimmungen bey jedem vorkommen,
und
[158]V. Hauptſtuͤck.
und daß nunmehr bereits auch Verhaͤltniſſe zwiſchen
beyden gedacht werden koͤnnen. Dieſe Verhaͤltniſſe
aͤndern ſich, je nach dem man die Beſtimmungen
eines jeden der beyden Soliden anders annimmt.
Sie ſind auch an ſich die einfachſten, weil wir nur
noch zwey Solide annehmen. Sodann wird auch
die Auswahl der Beſtimmungen beyder Soliden
durch einige bereits oben angezeigte Grundſaͤtze ein-
geſchraͤnket, z. E. daß ſie nicht zugleich an einem
Orte ſeyn koͤnnen ꝛc. Man gedenke ſich nun drey
Solide, ſo kommen hier die Beſtimmungen, Ver-
haͤltniſſe und Einſchraͤnkungen dreyfach vor, weil ſie
ſich zwiſchen jeden zweyen gedenken laſſen. Auf eine
aͤhnliche Art kann man ſich 4, 5, 6 ꝛc. und uͤber-
haupt jede beliebige Anzahl von Soliden gedenken,
aus denſelben ganze Syſtemen machen, und von die-
ſen Syſtemen wiederum eine jede beliebige Anzahl
zuſammen nehmen und mit einander in Verbindung
bringen. Es iſt unſtreitig, daß man dabey Aehn-
lichkeiten und Verſchiedenheiten, Gleichartigkeiten
und Ungleichartigkeiten heraus bringen kann, ſo viel
man will. Die dabey vorkommenden Geſetze ſind
aber zu weitlaͤuftig, als daß wir auch nur einige der
allgemeinſten und einfachſten hier ſollten anfuͤhren
koͤnnen. Wir merken daher nur an, daß die Theorie
ſolcher einzeln Syſteme deſto allgemeiner wird, je
mehrere Solide man zu einem Syſteme nimmt, und
daß die Theorie eines einfachern Syſtemes in der
Theorie eines zuſammengeſetztern oder aus mehrern
Soliden beſtehenden Syſtemes nicht nur ganz, ſon-
dern auf eine vielfache Art enthalten iſt, weil erſtere
aus dieſer hergeleitet wird, ſo bald man in dieſer die
behoͤrige Anzahl von Soliden = 0 ſetzet. Dieſes = 0
ſetzen iſt aber von dem Weglaſſen bey dem philoſo-
phiſchen
[159]Das Allgemeine und Beſondere.
phiſchen Abſtrahiren ganz verſchieden. Denn wer-
den einige Solide in dem Syſteme = 0 geſetzet, ſo
fallen ihre Beſtimmungen, Verhaͤltniſſe und Ein-
ſchraͤnkungen, und alles, was ſie nach ſich zogen,
aus dem Syſteme ganz weg, und die Theorie des
Syſtemes verwandelt ſich in eine andere, welche
auf weniger Solide geht, und daher einfacher
und weniger allgemein iſt, weil ſie ſich nicht mehr
ſo weit erſtrecket.
§. 198.
Von dieſer Art Theorie kommen in der Mechanic
bereits die erſten Anfaͤnge vor, wenigſtens ſo fern
man darinn die Geſetze der Bewegung von Syſte-
men von Soliden oder Koͤrpern betrachtet. Die
Vernunftlehre verfaͤhret auf eine aͤhnliche Art in Ab-
ſicht auf einige Stuͤcke der Jntellectualwelt. Sie
nimmt anfangs nur einen Begriff, und betrachtet
die Beſtimmungen, die er haben kann. Sodann
vergleichet ſie zween Begriffe und ihre Verhaͤltniſſe.
Von dieſen ſchreitet ſie zu dreyen, und ſodann zu
mehrern fort, und die Theorie wird allgemeiner, auf
je mehrere Begriffe, der Zahl nach, ſie ſich aus-
dehnet. Wie dabey die Lehre von den Combinatio-
nen gebraucht werde, um alle Arten und Faͤlle abzu-
zaͤhlen, habe ich in der Dianoiologie ſo fern gezeiget,
als es ſich, ohne nicht zu weitlaͤuftig zu werden, thun
ließe. Bey dieſer Art zu verfahren, kommen nicht
nur Arten, ſondern genau beſtimmte und abgezaͤhlte
Arten zum Vorſcheine. Man kann die vier Arten
von Saͤtzen (Dianoiol. §. 123.), die neunzehn Schluß-
arten (Dianoiol. §. 218.), die fuͤnf, zwanzig oder gar
achtzig Arten bedingter Saͤtze (Dianoiol. §. 265.), die
ſieben Arten zuſammengeſetzter Schluͤſſe, und die
zwanzig
[160]V. Hauptſtuͤck.
zwanzig Arten von naͤchſten Umwegen im Schließen
(Dianoiol. §. 281. 306. 307.) ꝛc. zum Beyſpiele neh-
men. Denn dabey iſt alles abgezaͤhlet. Die Ver-
nunftlehre hat ihre Unveraͤnderlichkeit ſolchen ge-
nauen und vorgezaͤhlten Beſtimmungen der Arten
großentheils zu danken, weil auf dieſe Art Verwir-
rungen, Luͤcken und Widerſpruͤche ein fuͤr allemal
gehoben werden, und ganz wegfallen. Und wenn
die metaphyſiſche Erkenntniß unveraͤnderlich werden
ſoll; ſo wird es nicht wohl anders, als auf eben
die Art geſchehen koͤnnen.
§. 199.
Wir haben bereits ſchon einige mal angemerket,
daß die Eintheilungen in einzeln Abſichten, wenn ſie
richtig gemacht ſind, als Abkuͤrzungen dienen koͤn-
nen, und dieſes hat beſonders ſtatt, wo wir, wie es
in ſpecialen Theorien geſchieht, die Dinge nicht in
allen, ſondern nur in den dahin dienenden Abſichten
betrachten, ſo wie ſie z. E. in der Meßkunſt in Ab-
ſicht auf die Groͤße, in der Dynamic in Abſicht auf
die Kraͤfte ꝛc. betrachtet werden. Will man aber
einen Begriff, oder die Sache, die er vorſtellet,
von allen Seiten betrachten, und die Theorie davon
in jeden Theilen vollſtaͤndig machen; ſo iſt es noth-
wendig, die Eintheilungen in jeden Abſichten vorzu-
nehmen. Nun laſſen ſich dieſe Abſichten fuͤglich in
allgemeine Claſſen bringen, deren Vorzaͤhlung in der
Grundlehre vorkommen ſoll, ungeachtet ſie darinn
nur unter ſehr allgemeinen Begriffen vorgeſtellet wer-
den koͤnnen. Wir merken demnach folgende an.
- 1°. Wenn die Sache ein aus ſoliden Theilen zu-
ſammengeſetztes Ganzes iſt; ſo wird ſie an ſich
in dieſe Theile zerfaͤllt oder zergliedert.
2°. Jedes
[161]Das Allgemeine und Beſondere.
- 2°. Jedes dieſer Theile iſt der vorhin (§. 197.) er-
waͤhnten Beſtimmungen, und deren Modi-
ficationen (§. 196.) und Verhaͤltniſſe faͤhig.
Die Modificationen jeder Beſtimmung geben
Eintheilungen fuͤr jeden Theil, ihre Com-
binationen aber leiden Einſchraͤnkungen
(§. 197.), welche ſich ebenfalls auf die dabey
vorkommenden Verhaͤltniſſe erſtrecken. Die
naͤhern Einſchraͤnkungen ſolcher Combinationen
ergeben ſich aus den fuͤr die Zuſammenſetzung
der Theile angenommenen oder dabey vorkom-
menden Bedingungen. - 3°. Wenn die Sache nicht aus phyſiſchen Theilen,
ſondern Merkmalen beſteht, ſo wird ſie in dieſe
aufgeloͤſt oder analiſirt. Und ſo fern jedes
Merkmal naͤhere Beſtimmungen und Modifica-
tionen derſelben leidet, koͤnnen dadurch Einthei-
lungen gemacht, und auf eine aͤhnliche Art, wie
N°. 2. Combinationen vorgenommen, Verhaͤlt-
niſſe und Einſchraͤnkungen beſtimmet werden. - 4°. Da das Solide die Grundlage zu jedem Ab-
ſtracten iſt, ſo ſtehen die beyden erſt betrachteten
Faͤlle ſo in Verhaͤltniß, daß welchen von beyden
man vor ſich hat, der andere mit dabey vorge-
nommen werden kann. - 5°. Die Verhaͤltniſſe der Theile, des Ganzen,
der Merkmale und Beſtimmungen, ſowohl un-
ter ſich als zu andern damit vergleichbaren Din-
gen, geben ebenfalls wiederum Abſichten, in
welchen eine Sache oder mehrere eingetheilet
werden koͤnnen, und die Beſtimmungen und
Modificationen eines jeden Verhaͤltniſſes, wel-
ches vorkoͤmmt oder angenommen wird, kann
Lamb. Archit.I.B. Lin
[162]V. Hauptſtuͤck.
in den Dingen und in den andern mit dazu
kommenden Verhaͤltniſſen oder dabey vorkom-
menden Theilen, Merkmalen und Beſtimmun-
gen ꝛc. Einſchraͤnkungen der Auswahl nach ſich
ziehen.
§. 200.
Dieſes waͤre hier uͤberhaupt und gleichſam voraus
anzuzeigen, um die Mannichfaltigkeit der Abſichten,
in welchen Eintheilungen gemacht werden koͤnnen,
mit einem Anblicke zu uͤberſehen. Die Frage, wie
fern die fuͤr jede beſondere Eintheilung gefundene
Glieder mit den Gliedern jeder der uͤbrigen Einthei-
lungen in einem Indiuiduo beyſammen ſeyn koͤnnen,
wird dabey allerdings ſehr weitlaͤuftig, und man
muß, um ſie jedesmal zu eroͤrtern, bey den einfachern
und einzeln Einſchraͤnkungen der Moͤglichkeit ſolcher
Combinationen anfangen, um nicht alles zugleich in
die Rechnung zu ziehen, und weil, was davon fuͤr
ſich betrachtet ſchon ausgeſchloſſen bleibt, auch im
Ganzen betrachtet nicht vorkoͤmmt. Ueberdieß ziehen
auch mehrentheils einige angenommene Beſtimmun-
gen andere nach ſich, oder ſetzen ſie voraus, und in
Anſehung dieſer faͤllt ſodann jede fernere Auswahl
weg. Wir begnuͤgen uns aber, alles dieſes hier nur
uͤberhaupt anzuzeigen, weil die Theorie der Beſtim-
mungen und Verhaͤltniſſe, ſo wie die von dem Zu-
ſammenhange, Verbindung, Einfluſſe, Zuſam-
menſetzung ꝛc. in der Grundlehre beſonders vokom-
men, und ſich auf die beſondern Arten ausdehnen
muß, wenn ſie recht brauchbar gemacht werden ſollen.
Uebrigens ſo ferne man eine Sache fuͤr ſich betrachtet,
kann man von ihren Verhaͤltniſſen zu andern Dingen
abſtrahiren, und dadurch wird die Theorie davon
nicht nur abgekuͤrzt, ſondern mehrentheils auf eine
beſtimmte
[163]Das Allgemeine und Beſondere.
beſtimmte und ſehr geringe Anzahl von Haupttheilen
gebracht. Man bleibt bey den Theilen und innern
Beſtimmungen der Sache ſelbſt, da hingegen, ſo
bald man auf aͤußere Verhaͤltniſſe verfaͤllt, die Ab-
zaͤhlungen derſelben ſo gleich in das Unendliche hin-
auslaͤuft, weil jede andere Sache andere Verhaͤltniſſe
angiebt. Man verfaͤllt aber auf ſolche aͤußere Ver-
haͤltniſſe, wenn man den Begriff der Sache durch
ihre Aehnlichkeit und Verſchiedenheit mit andern Din-
gen beſtimmet. Da man bisher mehrentheils auf
dieſe Art verfahren, ſo erhellet auch hieraus, wie es
gekommen, daß man bey dem Definiren weder An-
fang noch Ende gefunden, weil man vermittelſt ſol-
cher Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten durch das
ganze Reich der Moͤglichkeit gleichſam in einem un-
endlich großen Cirkel herumwandern kann.
Sechſtes Hauptſtuͤck.
Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
§. 201.
Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke die
Begriffe und damit zugleich auch die dadurch
vorgeſtellten Dinge in ſo ferne betrachtet, als ſie ihrer
Aehnlichkeit und Verſchiedenheit nach in Claſſen ge-
bracht, und dadurch in Arten und Gattungen unter-
ſchieden und vertheilt werden koͤnnen. Ungeachtet nun
die Begriffe der Arten und Gattungen ideale Ver-
haͤltnißbegriffe ſind; ſo legen wir dadurch dennoch den
Grund zu dem Allgemeinen in unſerer Erkenntniß,
ſo wie eben dadurch auch in der Vernunftlehre der
Grund zu der Theorie dieſes Allgemeinen gelegt
L 2wird.
[164]VI. Hauptſtuͤck.
wird. Wir koͤnnen aber dabey nicht ſtehen bleiben,
die Begriffe und Dinge nur mit andern zu verglei-
chen, ſondern in jedem Begriffe und Dinge ſelbſt
bieten ſich noch verſchiedene Stuͤcke an, die von ein-
ander zu unterſcheiden ſind, und zwiſchen welchen ſich
ebenfalls ideale Verhaͤltniſſe gedenken laſſen.
§. 202.
Wir fangen hier bey den Indiuiduis an, und da
iſt das erſte, ſo ſich uns darbeut, ihre Veraͤnder-
lichkeit und Veraͤnderungen, wir moͤgen ſie nun
ſo betrachten, wie die Erfahrung ſie angiebt, oder ſie
aus den oben zum Grunde gelegten Poſtulatis herlei-
ten, ſo fern ſie an ſich betrachtet moͤglich ſind. Wir
werden beydes thun, weil die daraus fließenden Fol-
gen von mehr oder minder Erheblichkeit ſind, wenn
unſere Erkenntniß auf eine genaue Art wiſſenſchaftlich
gemacht werden ſoll. Denn da wir, um andern ver-
ſtaͤndlich zu bleiben, einerley Sache mit einerley Na-
men benennen, und, ſo lange die Sache bleibt, was
ſie iſt, den Namen beybehalten ſollen; ſo entſteht
allerdings die Frage, wie fern dieſes der Veraͤnde-
rungen, die eine Sache leidet, unerachtet geſchehen
koͤnne? Denn Worte, Begriffe und Sache ſollen, ſo
viel nur moͤglich iſt, immer mit einander zu Paaren
gehen. Dieſe Frage habe ich in dem erſten Haupt-
ſtuͤcke der Dianoiologie, wo von der Beſtimmung
des Umfanges der Begriffe die Rede war, kuͤrzlich
beruͤhrt. Hier aber iſt der Ort, ſie umſtaͤndlicher
abzuhandeln, wo wir die Dinge ſelbſt zum Haupt-
gegenſtande der Betrachtung machen.
§. 203.
Man ſieht leicht, daß es hiebey auf die naͤhere
Unterſuchung der Veraͤnderungen ankoͤmmt, die eine
Sache
[165]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
Sache leidet. Der Begriff der Veraͤnderung giebt
es an ſich mit, daß, wenn eine Sache veraͤndert wird,
ſie nicht mehr durchaus, in allen Theilen, Beſtim-
mungen und Verhaͤltniſſen eben dieſelbe Sache ſey,
die ſie vor der Veraͤnderung war. Jch ſage in allen
Theilen, Beſtimmungen und Verhaͤltniſſen, weil es
gar wohl moͤglich iſt, daß die Veraͤnderung nicht in
allen vorgegangen, und folglich die Sache in einigen,
und wenn die Veraͤnderung geringe war, in den mei-
ſten und fuͤrnehmſten dieſer Stuͤcke noch eben dieſelbe
ſeyn kann. Wie aber auch immer die Veraͤnderung
mag geweſen ſeyn, ſo erſtreckt ſie ſich auch ganz auf
die Vorſtellung oder den Begriff der Sache, wenn
wir naͤmlich dieſen durchaus und in allen Abſichten
vollſtaͤndig ſetzen. Denn da muß der Begriff immer
nach der Sache eingerichtet ſeyn. Unſere Begriffe
ſind es allerdings nicht immer, weil wir die kleinern
Veraͤnderungen nicht bemerken, andere nicht achten ꝛc.
Wie ferne hingegen die Veraͤnderungen der Sache
auch die Veraͤnderung des Namens nach ſich ziehen,
iſt eine ganz andere Frage, weil wir den Namen nicht
nach jeden kleinern Veraͤnderungen richten.
§. 204.
Wir merken demnach an, daß die Verhaͤltniſſe
einer Sache zu andern geaͤndert werden, es ſey, daß
dieſe andern Sachen, oder die Sache ſelbſt, oder
beyde ſich aͤndern. Demnach zieht nicht jede Aende-
rung der Verhaͤltniſſe eine Aenderung in der Sache
ſelbſt nach ſich, und in ſo fern haben wir den Begriff
der Sache, an ſich betrachtet, von dem Begriffe der-
ſelben, in Verhaͤltniß mit andern Sachen betrachtet,
zu unterſcheiden, und werden daher fuͤrnehmlich die
in | der Sache ſelbſt vorgehenden Veraͤnderungen in
Betrachtung ziehen.
L 3§. 205.
[166]VI. Hauptſtuͤck.
§. 205.
Dabey haben wir nun 1°. die Theile der Sache.
2°. Die Geſetze oder Regeln, nach welchen ſie zuſam-
mengeſetzet und mit einander verbunden ſind. 3°. Mo-
dificationen oder kleinere Abaͤnderungen, die dieſe Ge-
ſetze leiden. 4°. Fremde Theile, die bey den Theilen
der Sache ſeyn, oder wegſeyn oder durch andere erſetzet
werden koͤnnen. Wir koͤnnen den menſchlichen Leib
zum Beyſpiele nehmen. Er beſteht aus Theilen,
daran etwas Fortdauerndes iſt, und dieſe ſind nach
gewiſſen allgemeinen Geſetzen zuſammengeſetzet, doch
ſo, daß unzaͤhlige Bewegungen und Stellungen dabey
moͤglich bleiben. Ueberdieß ſind auch lange nicht alle
Theile ſo fortdauernd, daß ihr Abgang nicht beſtaͤn-
dig durch andere muͤßte erſetzet werden. Dieſe Ab-
wechſelungen gehen ſo weit, daß wir anſtehen koͤnnen,
wie viel von dem Stoffe, daraus unſer Leib beſteht,
nach einigen Jahren noch da ſey, der nicht mit neuem
waͤre verwechſelt worden. Man wird in den Abaͤn-
derungen ganzer Staͤdte, einzelner Haͤuſer und Ma-
ſchinen, woran immer etwas zu erneuern iſt, aͤhnliche
Beyſpiele finden. So ſpricht man von hundert und
mehr jaͤhrigem Weine, ungeachtet aus dem Faſſe
immer getrunken, und der Abgang mit neuerm er-
ſetzet worden, daß von dem wirklich hundertjaͤhrigen
wenig mehr darinn iſt. Die Chymie beut uns eben-
falls Veraͤnderungen an, indem ſie die Zuſammen-
ſetzung der Koͤrper bis in die kleinern Theile zerſtoͤret
und wiederherſtellet. Die Verwandlung der Nah-
rung in Blut, Milch, Gebeine, Fleiſch ꝛc. Holz,
Blaͤtter, Fruͤchte ꝛc. geht durch eine noch feinere
Chymie der Natur von ſtatten, und macht, daß
man anſtehen kann, ob nicht alle Koͤrper aus einerley
Grundſtoffe beſtehen, ſo verſchieden ſie uns dem erſten
Anblicke
[167]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
Anblicke nach vorkommen? Man ſieht leicht, daß ſich
dieſe Frage in die oben ſchon einige male betrachtete
aufloͤßt (§. 91. 119. 143. 148. 159.), ob naͤmlich das
Solide innere Unterſchiede der Art und der Dichtig-
keit habe?
§. 206.
Dieſe Frage wird nun hier von Wichtigkeit. Denn
hat das Solide keine innere Unterſchiede der Art oder
der Dichtigkeit; ſo beſtehen alle daraus zuſammen-
geſetzte Indiuidua aus einerley oder abſolute gleicharti-
gem Grundſtoffe (§. 159. N°. 7.), und die Ungleichartig-
keit derſelben beſteht nur in dem Unterſchiede der Art
ihrer Zuſammenſetzung und Verbindung der Theile.
Wird dieſe geaͤndert, ſo laͤßt ſich jede Art von zuſam-
mengeſetztem Soliden in jede andere verwandeln, und
dieſe Verwandlung iſt an ſich ſchlechthin moͤglich.
Hat aber das Solide innere Unterſchiede der Art, ſo
koͤnnen zwar ebenfalls aus gleichartigem Soliden ſol-
che Indiuidua zuſammengeſetzet werden, die bloß we-
gen dem Unterſchiede der Zuſammenſetzung dennoch
ungleichartig genennet werden koͤnnen. Hingegen
kann zu dieſer Ungleichartigkeit noch die hinzu kom-
men, die von der innern Ungleichartigkeit des Soli-
den herruͤhrt, und bey dieſer letztern faͤllt die bey der
erſtern moͤgliche Verwandlung weg, weil wir ſetzen
muͤſſen, ſolche innere Ungleichartigkeit des Soliden
ſey ſo beſchaffen, daß das Solide von einer Art ſich
eben ſo wenig in Solides von einer andern Art ver-
wandeln laſſe, als z. E. die Zeit in den Raum ver-
wandelt werden, oder eine Zahl eine andere, naͤmlich
groͤßere oder kleinere, ſeyn koͤnne, (§. 159. N°. 4.).
§. 207.
Welcher von dieſen beyden Faͤllen nun Statt habe,
das iſt allerdings ſchwerer zu eroͤrtern. Man ſieht
L 4leicht,
[168]VI. Hauptſtuͤck.
leicht, daß bey beyden, beſonders aber bey dem letz-
tern, die Frage von der unendlichen Theilbarkeit des
Soliden vorkoͤmmt, (§. 90.). Denn laͤßt ſich das
Solide nicht unendlich theilen, wie der Raum, ſo
kommen die epicuriſchen Atomen vor, und ſo fern
dieſe der Figur nach verſchieden ſeyn koͤnnen, ſind ſie
wenigſtens in dieſer Abſicht nothwendig der Art nach
verſchieden, weil an der Figur eines jeden nichts mehr
geaͤndert werden kann. Sie haben gleichſam eine
unendliche Haͤrtigkeit. Und wie ſie ſich auch durch
eine unendliche Kraft nicht mehr in kleinere Theile
trennen laſſen, ſo laſſen ſie ſich auch weder theilsweiſe
noch ganz vernichten. Laͤßt ſich aber das Solide un-
endlich theilen, ſo kann jedes Solide, das eine Groͤße
hat, als zuſammengeſetzet angeſehen werden, und die
Dichtigkeit kann von 0 bis auf 1 gehen. Die Feſtig-
keit aber wird nach den Kraͤften geſchaͤtzet, mit wel-
chen es in Theile getrennet werden muß. Jn dieſer
Abſicht betrachtet, koͤnnen die kleinern Theile feſter
mit einander verbunden ſeyn, als die groͤßern, und
dieſe Moͤglichkeit hat, in Abſicht auf chymiſche Pro-
ceſſe, ihre Folgen, wenn dabey die Frage vorkoͤmmt,
wie fern vermittelſt fuͤrgegebener Kraͤfte eine Art von
Koͤrpern in eine andere verwandelt werden koͤnne?
Denn ſo z. E. mag das Feuer die Koͤrper aufloͤßen,
ſo weit es deren Theile trennen, und zwiſchen dieſe
hineindringen mag. Dieſes geht aber nicht bis in
das unendlich Kleine. Demnach werden die kleinern
Theile, die nothwendig enger beyſammen ſind, von
dem Feuer nicht nur nicht getrennet, ſondern ehender
ſtaͤrker zuſammengedruͤckt, weil das Feuer nicht zwi-
ſchen dieſelbe hinein, ſondern nur auf ihre aͤußere
Flaͤche ſeine Kraft aͤußert. So loͤßt auch z. E. das
Scheidewaſſer das Silber zwar auf, aber nicht ſo,
daß
[169]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
daß es aufhoͤrte Silber zu ſeyn, weil dieſes auch noch
bis in die kleinern Theilchen, in welche das Scheide-
waſſer nicht dringen mag, Silber bleibt.
§. 208.
Aus dieſen verſchiedenen Graden der Kraͤfte, durch
welche die Theilchen des Soliden verbunden ſind, laͤßt
ſich allerdings begreifen, wie in einem Soliden frem-
de Theile ſeyn, mit andern fremden Theilen verwech-
ſelt oder wiederum weggebracht werden koͤnnen. Es
koͤmmt nur darauf an, daß die fremden Theilchen
mit den eigenen Theilchen des Soliden minder zuſam-
menhaͤngen, als dieſe unter ſich. Denn ſo koͤnnen die
fremden Theilchen durch geringere oder ſolche Kraͤfte
von den eigenen Theilchen getrennet werden, die we-
der ſtark noch fein genug ſind, dieſe zu trennen. Wir
betrachten dieſes hier nur als eine Moͤglichkeit fuͤr ſich.
Die Chymie zeiget in einigen Verſuchen, daß es in
den wirklichen Koͤrpern angeht, ungeachtet die Aus-
wahl der Mittel, ſolche Verbindungen, Trennungen
und Affinitaͤten zu erhalten und zu beſtimmen, fuͤr
jede einzelne Faͤlle ſchlechthin aus der Erfahrung und
angeſtellten Proben erlernet werden muß, weil wir
die Structur und den Mechaniſmum in den kleinſten
Theilchen nicht ſehen, und die Koͤrper in der Welt
nehmen muͤſſen, wie ſie ſind. Wir werden uns hier
auch weiter nicht in umſtaͤndlichere Betrachtungen
daruͤber einlaſſen, weil alles bisher Angefuͤhrte nur
einzelne Beyſpiele ſind, wodurch wir ungleich allge-
meinere Unterſuchungen erlaͤutern koͤnnen.
§. 209.
Wir haben naͤmlich in vorhergehendem Hauptſtuͤcke
gezeiget, nach welchen Regeln wir uns richten, um
jede zuſammengeſetzte Begriffe in Claſſen, Arten und
L 5Gat-
[170]VI. Hauptſtuͤck.
Gattungen zu vertheilen, (§. 177. ſeqq.). Wir haben
dabey angemerket, daß man bey den Indiuiduis an-
faͤngt, die aͤhnlichſten beſonders zuſammennimmt, und
dadurch ſolche Claſſen herausbringt, die die unterſten
Arten ausmachen: ferner, wie man vermittelſt der
Aehnlichkeiten dieſer Arten die naͤchſt hoͤhern Gattun-
gen, und aus dieſen die ſtufenweiſe hoͤhern findet ꝛc.
Die uͤber dieſes Verfahren beſonders in Abſicht auf die
weſentliche Vertheilung von den Indiuiduis gemachten
Anmerkungen werden wir hier nicht wiederholen: ſon-
dern nur anmerken, daß dabey gleichſam ſtill-
ſchweigend angenommen wird, als wenn die
Indiuiduaſaͤmmtlich unveraͤnderlich waͤren, und
ein fuͤr allemal blieben, was ſie ſind. Dieſes
findet nun einmal in der Natur nicht ſtatt, und iſt
auch, in Abſicht auf die bloße Moͤglichkeit betrachtet,
nicht abſolut nothwendig, weil die oben angefuͤhrten
Poſtulata zu ſo vielen und vielerley Veraͤnderungen
Moͤglichkeiten angeben, als man nur immer will,
(§. 120. ſeqq.). Die erſt angeſtellten Betrachtungen
machen nun ferner begreiflich, daß die Veraͤnde-
rung einesIndiuiduiſo weit gehen koͤnne, daß
es in der in vorgehendem Hauptſtuͤcke angege-
benen Geſchlechtstafel aus einer Claſſe in die
andere gleichſam verſetzet werden muͤſſe; daß
aber auch nicht jede Veraͤnderung ſich in ihren
Folgen ſo weit erſtrecke, und einIndiuiduum
vieler Veraͤnderungen unerachtet, nicht nur
von gleicher Art bleiben, ſondern als eben daſ-
ſelbe angeſehen werden, und daher auch aller-
dings ſeinen Namen behalten koͤnne. Man ſieht
leicht, daß dieſe Betrachtung andere nach ſich zieht,
die zwar von den in vorhergehendem Hauptſtuͤcke
gemachten ganz verſchieden, aber deſſen unerachtet
damit
[171]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
damit in genauer Verbindung ſind. Wir koͤnnen ſie
in Form von Aufgaben vortragen.
- 1°. Zu beſtimmen, welche Veraͤnderungen eines
Indiuidui vorgehen muͤſſen, wenn es aufhoͤren
ſoll, eben daſſelbe zu ſeyn, und hingegen welche
Veraͤnderungen es eben daſſelbe ſeyn laſſen? - 2°. Zu beſtimmen, durch welche Veraͤnderungen
ein Indiuiduum aufhoͤret, unter eine Art oder
Gattung zu gehoͤren, und hingegen welche Ver-
aͤnderungen es der Art oder Gattung nach nicht
aͤndern? - 3°. Wenn einige Stuͤcke in einem Indiuiduo ver-
aͤndert werden, zu beſtimmen, welche andere
dadurch mit veraͤndert werden, und welche hin-
gegen unveraͤndert bleiben? oder die Abhaͤng-
lichkeit der veraͤnderlichen Stuͤcke in einem In-
diuiduo zu beſtimmen.
Dieſe Aufgaben kann man ſehr leicht und auf vieler-
ley Arten ſo betrachten, daß in der Vorſtellung, die
man ſich davon macht, immer Verwirrung zuruͤck
bleibt. Die Hauptfrage dabey koͤmmt darauf an,
daß man vor erſt beſtimme, was man zu einem
Indiuiduorechnet, oder was man als zu dem-
ſelben gehoͤrend anſehen ſolle? Da dieſes nun
ſchlechthin willkuͤhrlich iſt; ſo iſt ſich es nicht zu ver-
wundern, wenn die Sprache oder der eingefuͤhrte
Gebrauch zu reden dabey ſolche Anomalien mit ein-
mengt, daß man Muͤhe hat, zu finden, welche
Woͤrter und Begriffe dabey zur Richtſchnur
und zum Maßſtabe der Bedeutung der uͤbri-
gen genommen werden ſollen, zumal da ſich,
wenn man a poſteriori geht, die Sprache auch nach
dem Scheine richtet.
§. 210.
[172]VI. Hauptſtuͤck.
§. 210.
Wir fangen demnach bey dem |Poſtulato an:
Unter dem Begriffe eines zuſammengeſetz-
tenIndiuiduikoͤnnen ſo viele und ſo vieler-
ley und auf jede Art mit einander verbun-
dene ſolide Theile zuſammen genommen
werden, als man will.
Man ſieht leicht, daß dieſes Poſtulatum durchaus
Statt hat, wenn man in Gedanken und a priori In-
diuidua bildet oder zuſammenſetzet. Die wenigen
Einſchraͤnkungen, ſo dabey vorkommen, haben wir
bereits §. 118. ſeqq. angezeiget. Das Solide und
die Kraͤfte ſind die Anlage zur Exiſtenz, und ſo auch
zur Jndividualitaͤt, weil ſich ohne Solides und Kraͤfte
nichts Exiſtirendes gedenken laͤßt (§. 103. Axiom. 2.),
und weil ohne die Jndividualitaͤt ebenfalls nichts
exiſtiren kann, und alles, was nicht das Solide ſelbſt
iſt, ſich dennoch darauf bezieht. Fragt man aber,
ob dieſes Poſtulatum ebenfalls ſo unbedingt ſey, wenn
man a poſteriori geht, und die Indiuidua nimmt,
wie ſie wirklich in der Natur ſind, ſo laͤßt ſich Fol-
gendes daruͤber anmerken, welches die Einſchraͤn-
kungen angiebt.
- 1°. Koͤnnen wir allerdings das Solide nicht ver-
nichten, und anders an ſeiner Stelle erſchaffen. - 2°. Um die Theile deſſelben zu trennen, zu verſetzen,
andere an ihre Stelle zu bringen ꝛc. haben wir
keine anderen Kraͤfte, als die, ſo in der Natur
da ſind, und dieſe ſind der Art, den Graden
und ihren Modificationen nach beſtimmet. Wir
wiſſen ſie auch noch weder alle, noch koͤnnen wir
ſie alle gebrauchen. - 3°. Koͤnnen wir zwar, wenigſtens in Gedanken,
oder auf eine bloß ideale Art, von dem Soliden
der
[173]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
der wirklichen Welt Theile zuſammen nehmen,
ſo viel und welche wir wollen. - 4°. Da aber ein Indiuiduum ein Ganzes ſeyn ſoll,
ſo koͤmmt dabey ſowohl a priori als a poſteriori
immer die Frage vor, ob die willkuͤhrlich
zuſammen genommenen Theile nicht noch
andere erfordern, die damit in nothwen-
diger oder wenigſtens in gleicher Verbin-
dung ſind?
§. 211.
Man wird ohne Muͤhe zwiſchen dieſen zween letzten
Saͤtzen und dem im §. 176. vorgetragenen eine voͤllige
Aehnlichkeit des Verfahrens finden. Denn daſelbſt
betrachteten wir willkuͤhrlich zuſammen genommene
Begriffe, in Abſicht auf ihre gemeinſamen Merk-
male, und die Frage kam dabey vor, ob nicht noch
mehrere mit dazu genommen werden muͤſſen, wenn
die Claſſe, in welche ſie, in Abſicht auf dieſe gemein-
ſame Merkmale, gehoͤren, vollzaͤhlig gemacht werden
ſoll. Hier aber betrachten wir willkuͤhrlich zuſammen
genommene Theile, ſo fern dieſe ein Indiuiduum aus-
machen ſollen, und da koͤmmt die Frage vor, ob nicht
noch mehrere mit dazu genommen werden muͤſſen,
wenn anders das Indiuiduum ein Ganzes ſeyn ſoll.
Man ſieht auch leicht, daß wenn unter den zuſammen
genommenen Theilen einige die uͤbrigen erfordern,
oder als mit dazu gehoͤrend vorausſetzen, jene an ſich
ſchon zur Beſtimmung von dieſen zureichend ſind.
Wir merken dieſes hier, eben ſo wie in dem §. 176.
in Abſicht auf die oben (§. 15.) vorgetragene Erfor-
derniß einer wiſſenſchaftlichen Grundlehre an, weil
ſie aller Orten die geringſte Anzahl vonDatis
angeben ſoll, aus welchen das uͤbrige gefun-
den und beſtimmet werden koͤnne.
§. 212.
[174]VI. Hauptſtuͤck.
§. 212.
Auf eine ganz aͤhnliche Art koͤmmt hier, wie in
dem §. 177. die noch ungleich betraͤchtlichere Erfor-
derniß vor, daß man naͤmlich auf alle Arten zu-
ſammen gehoͤrende Stuͤcke wirklich zuſammen
nehmen muͤſſe. Nun koͤnnen a priori die Theile
des Soliden, a poſteriori die Theile der wirklichen
Welt, auf ſo vielerley Arten zuſammen genommen
werden, als ſie ihrer Verbindung nach ein Ganzes
ausmachen. Man ſieht leicht, daß man hier Ab-
wechſelungen und Mannichfaltigkeiten findet, die bis
in das Unendliche gehen, und daß man daher wenig-
ſtens in ſo ferne auf Abkuͤrzungen denken muͤſſe
(§. 16.), als ſich in Anſehung der Rangordnung und
folglich der Subordination ſolcher Ganzen allgemeine
Regeln, Geſetze und Verhaͤltniſſe beſtimmen laſſen.
Denn da man in der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß
uͤberhaupt auf die Allgemeinheit der Begriffe und
Saͤtze zu ſehen hat, ſo hat man es am allerwenigſten
da zu verſaͤumen, wo unbedingte Poſtulata, derglei-
chen das vorangefuͤhrte iſt (§. 210.), uns die freye
Wahl geben, dieſes Allgemeine auf eine ſyſtematiſche
und brauchbare Art einzurichten.
§. 213.
Nun koͤnnen in einem Indiuiduo die Theile nur in
ſo ferne zuſammengehoͤren, als ſie durch Kraͤfte mit
einander verbunden ſind, und in dieſer Verbindung,
ohne Zuziehung mehrerer oder dazwiſchen kommender
Theile verbleiben koͤnnen, ſo daß, wenn auch ſolche
Theile dabey ſind, ſie nicht nothwendig dazu gehoͤren,
und als fremde Theile koͤnnen angeſehen werden, wel-
che eben ſowohl wegſeyn, als mit andern verwechſelt
werden koͤnnen. Dieſe fremden Theile koͤnnen nun
aller-
[175]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
allerdings auch mit den eigenen Theilen des Indiuidui
verbunden ſeyn. Es iſt aber die Verbindung von
verſchiedener Art, und ſie beruht auf ungleich großen
und anders angebrachten zuſammenhaͤngenden Kraͤf-
ten. Was aber in einemIndiuiduomit gerin-
gern Kraͤften zuſammenhaͤngt, kann auch mit
geringern Kraͤften getrennet und weggebracht
werden, ohne daß das, ſo mit ſtaͤrkern Kraͤf-
ten darinn verbunden iſt, dadurch getrennet
oder aufgeloͤſt werde. So fern man aber ſetzen
kann, daß nichts mit unendlichen Kraͤften zuſammen-
haͤngt, ſondern ſo groß ſie auch ſind, immer noch
groͤßere und feinere gedacht werden koͤnnen; ſo iſt
auch die Verbindung der Theile in den Indiuiduis
nur vergleichungsweiſe groͤßer oder kleiner, und wenn
wir demnach ſagen, daß ſie zuſammengehoͤren oder
nicht zuſammengehoͤren, ſo iſt dieſes nur hypothetiſch
oder bedingungsweiſe zu verſtehen, ſo fern wir naͤm-
lich von groͤßern oder feinern Kraͤften, wodurch auch
die kleinſten Theilchen noch getrennet werden koͤnnen,
abſtrahiren. Dieſen allgemeinen Betrachtungen wer-
den wir nun noch einige beyfuͤgen, welche die wirk-
liche Welt naͤher angehen, wo wir die Indiuidua dem
Sprachgebrauche und ſo auch dem Scheine nach neh-
men, und das, was darinn eigen oder fremd iſt,
erſt durch Erfahrung, Verſuche und Schluͤſſe be-
ſtimmen muͤſſen.
§. 214.
Hier finden wir nun ſchon gemachte und ausgebil-
dete Ganze vor uns, und dieſe koͤnnen wir durch die
in der Natur vorkommende Kraͤfte, ſo weit wir es
wiſſen, und ſo weit es in unſerer Gewalt iſt, theils
trennen, theils auch zuſammenſetzen. Die chymiſchen
Verſuche
[176]VI. Hauptſtuͤck.
Verſuche haben uns beſonders ſolche Kraͤfte entdecket,
wodurch feinere Trennungen geſchehen. Wir wollen
nicht ausmachen, wie weit man darinn noch kommen
koͤnne, ſondern merken nur an, daß man ſo vielerley
chymiſche Elemente oder Principia oder Grundſtoffe
in den Koͤrpern finden wird, als ſich Arten von Theil-
chen finden, welche ſich durch chymiſche Kraͤfte nicht
ferner mehr trennen laſſen. Die Kraͤfte der Natur
ſind in allwegen beſtimmet, und ſo kann es ſeyn, daß
wir damit nicht bis in das unendlich Kleine reichen,
ſondern irgendwo ſtehen bleiben muͤſſen, und die letz-
ten Arten von Theilchen, in welche wir die Koͤrper
aufloͤßen koͤnnen, moͤgen chymiſche Elementa oder Prin-
cipia oder Beſtandtheilchen genennet werden. Nun
zeigen die chymiſchen Verſuche, daß jede Koͤrper ſich
in ſolchem ungleichartigem Grundſtoffe aufloͤßen laſ-
ſen, und man ſchließt daraus, daß ſie aus ſolchem
zuſammengeſetzet ſind. Wenigſtens aber ſind ſie aus
Theilchen zuſammengeſetzet, welche durch chymiſche
Proceſſe in ſolche Arten des Grundſtoffes verwandelt
werden koͤnnen, (§. 206.). Durch neue Zuſammen-
ſetzungen ſolcher Arten des Grundſtoffes bringt nun
die Chymie Koͤrper zu Stande, die von den in der
Natur ſelbſt vorkommenden Koͤrpern verſchieden ſind,
weil die Natur ihre Materialien nicht auf eine ſo
willkuͤhrliche, ſondern mehr mechaniſche und theils
auch zufaͤllige Art mit einander vermiſcht, dagegen
aber auch Kraͤfte hat, die die Chymie noch nicht
durchaus hat nachahmen koͤnnen.
§. 215.
Wir koͤnnen ferner anmerken, daß Theile, die
durch ſtaͤrkere Kraͤfte der Natur verbunden bleiben,
wenn auch gleich andere Theile hinzukommen und
wieder
[177]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
wieder weggehen, das ausmachen, was in einem
Indiuiduofortdauernd iſt, und ſo lange dieſe Ver-
bindung bleibt, bleibt auch das Indiuiduum der Zahl
und der Art nach eben daſſelbe. Die einzeln Men-
ſchen, Thiere, Pflanzen, Steine ꝛc. geben uns hie-
von Beyſpiele, weil die Kraͤfte, wodurch die beſtaͤn-
digen Theile daran fortdauern, ſich dem Laufe der
Natur nach, das will ſagen, ohne aͤußere Gewalt
und Zufaͤlle, laͤngere oder kuͤrzere Zeit erhalten. Wel-
che Theile aber bey jedem Indiuiduo eigentlich blei-
ben, welche hingegen dabey fremd ſind, oder abge-
aͤndert werden koͤnnen, das iſt eine Frage, die jedes-
mal ehender a poſteriori und durch eigentlich dazu
angeſtellte Verſuche eroͤrtert werden muß. Denn
da wir die Ganzen, ſo uns die Natur vorleget, an-
fangs immer dem aͤußerlichen Schein und Geſtalt
nach nehmen, und auch die Benennung darnach ein-
richten, ſo laſſen wir dabey unausgemacht, welche
Theile zu den Fortdauernden gerechnet werden muͤſ-
ſen, und welche hingegen wegbleiben oder abgewech-
ſelt werden koͤnnen. Dieſes koͤmmt ſchlechthin auf
den Unterſchied der verbindenden oder zuſam-
menhaͤngenden Kraͤfte an (§. 213.), wodurch auch
in der Chymie das Fixe von dem mehr oder minder
Volatiliſchen unterſchieden wird. So laͤßt es ſich
auch gedenken, daß die Theile, die in einem Indiui-
duo ab- und zugehen, dennoch zur Verbindung des
Ganzen dienen, und folglich, ſo lange das Ganze
bleiben ſoll, nicht durchaus wegbleiben koͤnnen, un-
geachtet es, weil ſie nur zur Verbindung dienen,
gleichguͤltig iſt, ob jedesmal dieſe oder andere an
deren Statt ſind. Solche Abwechſelungen finden
wir in den Koͤrpern der Thiere und Pflanzen in An-
ſehung des Wachsthumes und der Nahrungsſaͤfte.
Lamb. Archit.I.B. MWir
[178]VI. Hauptſtuͤck.
Wir finden ſie ebenfalls bey Societaͤten, Staͤdten
und Laͤndern, als ſolchen Ganzen, die durch morali-
ſche Kraͤfte verbunden ſind. Das gemeinſame Band
bleibt, ungeachtet beſtaͤndige Abwechslungen in den
einzeln Theilen vorgehen; es bleibt aber auch nur ſo
lange, als ſolche Abwechslungen vorgehen, oder vor-
gehen koͤnnen.
§. 216.
Da die Koͤrper und Dinge, welche ſowohl die
Natur als die Chymie, und ſo auch die Mechanic
und Moral verbindet und zuſammen ſetzet, ſolche
Ganze ausmachen, die theils in dem Grundſtoffe,
theils in der Art der Zuſammenſetzung und Verbin-
dung, und uͤberhaupt auch dem aͤußerlichen Anſchei-
ne nach verſchieden ſind; ſo hat man ſolche Ganzen,
wie wir in vorgehendem Hauptſtuͤcke geſehen haben,
dieſen Verſchiedenheiten nach in Arten und Gattun-
gen eingetheilet, und dieſen Arten und Gattungen
Namen gegeben. Dieſe Namen ſind nun ſelten von
den Beſtandtheilchen und ihrer Zuſammenſetzungsart
hergenommen, ſondern weil die Sprache bey Benen-
nung der in die Sinnen fallenden Ganzen anfaͤngt,
ſo ſind es mehrentheils Wurzelwoͤrter, und die mei-
ſten uͤbrigen gruͤnden ſich auf aͤußerliche Verhaͤltniſ-
ſe, die etwann auch nur von dem Scheine der Dinge
hergenommen ſind. Dieſe Anmerkung hat ihre Fol-
gen, wenn man beurtheilen ſoll, ob ein Indiuiduum
durch erlittene Veraͤnderungen zugleich von einer an-
dern Art geworden ſey? Denn ſo giebt die Sprache
etwann Arten an, die man wegen der Woͤrter bey-
behaͤlt, die aber der Sache nach beſſer koͤnnten ge-
waͤhlet werden. Und da die Woͤrter die Sachen im
Ganzen und ohne genaue Unterſcheidung der eigenen
und
[179]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
und fremden Theile und Verbindungen benennen, ſo
entſteht daher oͤfters auch die Schwierigkeit, unter
welche Art ein Indiuiduum muͤſſe gezaͤhlet werden,
zumal, wo die Arten nur den Stufen nach von ein-
ander verſchieden ſind. Ueberdieß hat die Sprache
nicht Woͤrter genug, die Indiuidua und ihre Arten
nach jeder Aenderung anders zu benennen, und die
Aenderungen fallen auch nicht immer ſo gleich in die
Sinnen.
§. 217.
Wir haben hiebey uͤberhaupt zwo Regeln, nach
welchen wir uns richten. Die erſte iſt: daß ein zu-
ſammengeſetztesIndiuiduumeiniger Veraͤnde-
rungen ungeachtet, in andern Abſichten ge-
nommen, dennoch eben daſſelbeIndiuiduum
bleiben kann. Denn es iſt fuͤr ſich klar, daß es
nicht in allen Abſichten eben daſſelbe bleibt, (§. 203.).
Daher wird auch die Jdentitaͤt von den Indiuiduis
von uns mehrentheils nur, in gewiſſen Abſichten be-
trachtet, ſo wie wir auch gewohnt ſind, Eintheilun-
gen nur in gewiſſen Abſichten zu machen. Beydes
fuͤrnehmlich wegen der Abkuͤrzung des Ausdruckes,
und theils weil wir die Dinge auch nur in beſondern
Abſichten betrachten, theils weil es auch nicht im-
mer ſo leicht angeht, alle mitzunehmen. Die andere
Regel iſt das oben (§. 187.) ſchon angefuͤhrte: A po-
tiori fit denominatio, oder: daß wir in Benen-
nung der Dinge die kleinern Abweichungen
von dem eigentlichen Umfange der Bedeutung
der Woͤrter nicht achten, ſondern das Ganze
nach den mehrern oder erheblichern Theilen be-
nennen. Und ſo laſſen wir etwann einem Indiuiduo
eben den Namen, ſo lange es nicht in derjenigen Ab-
M 2ſicht
[180]VI. Hauptſtuͤck.
ſicht geaͤndert wird, von welcher der Name herge-
nommen iſt.
§. 218.
Es koͤmmt ferner auch viel darauf an, ob das In-
diuiduum einen eigenen Namen hat, oder ob es nur
nach der Art benennet wird, unter welche es gehoͤret,
oder nach der Abſicht, zu welcher es dienet, oder
nach der Art, wie es zuſammengeſetzt iſt ꝛc. Denn
einmal haben Indiuidua, denen wir gewohnt ſind,
eigene Namen zu geben, vor den andern, die wir
nur der Art nach benennen, etwas voraus, welches
machet, daß wir ſie nicht unter dem gemeinen Hau-
fen vermenget laſſen, ſondern ſie gleichſam hervor-
ziehen. Und da die Anzahl der Dinge, denen wir
eigene Namen geben muͤßten, ſehr groß iſt, ſo ha-
ben wir auch Mittel, durch Combination allgemeiner
Benennungen mit den eigenen mehrere Indiuidua und
leichter kenntlich zu machen, als wenn jedes einen
eigenen Namen haben muͤßte, zumal da die Namen
an ſich ſchon nur aus Combinationen und Permuta-
tionen von einer gewiſſen Anzahl Buchſtaben und
Sylben beſtehen. Dieſe Mittel ſind folgende:
- 1°. Da die Zeit und jede von ihren Theilen der-
geſtalt abſolut iſt, daß jeder Augenblick eine
abſolute Jndividualitaͤt hat, ſo ſetzen wir dar-
inn einen beliebigen Anfang, und von da an
zaͤhlen wir vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts Jahre, Ta-
ge, Stunden, Minuten ꝛc. und auf dieſe Art
koͤnnen wir die merkwuͤrdigern Jndividualien
eines jeden Augenblickes benennen, ſo oft die
Zeit allein zureichend iſt, ſie von jeden andern
zu unterſcheiden. Z. E. der kalte Winter von
A°. 1709, die große Sonnenfinſterniß vom 12ten
May 1706. ꝛc.
2°. Jn
[181]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
- 2°. Jn Anſehung des Ortes haben wir aͤhnliche
Benennungen, welche das Jndividuale ange-
ben, ungeachtet, weil die Ausmeſſung nicht ſo
bekannt iſt, die genauern Beſtimmungen den
Mathematikern uͤberlaſſen werden, als welche
z. E. in der Geographie und Aſtronomie die La-
ge jeder Oerter und Sterne durch Zahlen be-
ſtimmen, da man ſich hingegen in dem gemeinen
Leben mit der beylaͤufigen Anzeige der Gegend
und der Entfernung in Meilen, Tagereiſen ꝛc.
begnuͤget. - 3°. Dagegen aber hat man deſto mehrere eigene
Namen eingefuͤhret, um die Oerter, beſonders
auf der Erdflaͤche kenntlich zu machen, und auf
dieſer iſt keine Stadt, Dorf, Fluß ꝛc. und in
Europa bald kein Feld Landes, das nicht ſeinen
Namen haͤtte, den ihm etwann der Eigenthuͤ-
mer gegeben. - 4°. Daß jeder Menſch erheblich genug ſey, einen
eigenen Namen zu haben, wird wohl niemand
in Abrede ſeyn. Man hat aber auch da Mittel
gefunden, durch Combination von Taufnamen
und Geſchlechtsnamen auf eine leichtere Art,
jeden Menſchen und zugleich verſchiedene Ver-
haͤltniſſe deſſelben zu andern Menſchen zu be-
nennen. - 5°. Da endlich die Menſchen jede andere Indiuidua,
ſo fern ſie in ihrer Gewalt ſind, unter ſich ver-
theilet haben, ſo werden durch das genug be-
kannte Mein und Dein unzaͤhlige eigene Na-
men erſparet, weil wir hoͤchſtens nur die uns
zugehoͤrenden Indiuidua des Hundesgeſchlechtes
mit eigenen und Geſchlechtsnamen benennen.
M 3§. 219.
[182]VI. Hauptſtuͤck.
§. 219.
Ueberhaupt beziehen wir die Indiuidua, die keinen
eigenen Namen haben, auf diejenigen, welche eigene
Namen haben, ſo oft wir ſie beſonders kenntlich ma-
chen muͤſſen. Und wo dieſes nicht erfordert wird,
oder erſteres nicht angeht, da muͤſſen wir es bey dem
Namen der Art bewenden laſſen, oder dem Indiui-
duo einen eigenen Namen geben, oder die Beſchrei-
bung unvollſtaͤndig laſſen, oder die Sache ſelbſt vor-
zeigen, oder die Anlaͤße angeben, bey welchen ſie
geſehen werden kann ꝛc. Man ſieht leicht, daß hie-
bey Luͤcken bleiben, die theils von der Einrichtung
der Sprache, theils von den verſchiedenen Stufen
der Kenntlichkeit eines Indiuidui herruͤhren.
§. 220.
Wir koͤnnen den bisherigen Betrachtungen noch
folgende Saͤtze beyfuͤgen.
- 1°. Eben das Solide aͤndert ſeine Art, wenn die
Zuſammenſetzung geaͤndert wird, ſo fern naͤm-
lich die Art von der Zuſammenſetzung ihren
Namen hat. - 2°. Bey gleicher Zuſammenſetzung, aber mit Ver-
wechslung des Soliden gegen ungleichartiges,
bleibt die von der Zuſammenſetzung her benen-
nete Art, hingegen veraͤndert ſich die von dem
Soliden her benennete. - 3°. Ein Indiuiduum, in Abſicht auf die Theile be-
trachtet, kann unvermerkt in ein anderes ver-
aͤndert werden, wenn die Soliden Theilchen
nach und nach weg, und andere an ihre Stelle
kommen. - 4°. Das gemeinſame Band des Ganzen, be-
ſonders, wo es nicht in die Sinnen faͤllt, kann
weg-
[183]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
wegfallen, ohne daß das Ganze dadurch ſogleich
zerruͤttet werde, das will ſagen, der Schein
kann noch eine Zeitlang fortdauern, und dieſes
kann noch mehr geſchehen, wenn die Theile
durch aͤußere Gewalt in Verbindung, oder bey-
ſammen zu bleiben, gezwungen werden, weil
dadurch oͤfters auch das Band ſelbſt noch bleibt,
ungeachtet alle Gruͤnde zur Trennung oder Auf-
loͤſung deſſelben da waͤren. - 5°. Die fremden Theile in einem Indiuiduo ma-
chen, daß ein Indiuiduum in dem andern gleich-
ſam verſtecket iſt, und es Muͤhe gebraucht, was
zu jedem gehoͤret, zu unterſcheiden. - 6°. Das Solide iſt immer die Anlage zur Jndi-
vidualitaͤt, es ſey, daß man individuales So-
lides, oder individuale Verhaͤltniſſe, Verbin-
dungen, Zuſammenhang, Kraͤfte ꝛc. gedenket.
Denn bey dieſen abſtrahirt man von dem Soli-
den auf eine bloß ideale Art. - 7°. Jn der Koͤrperwelt kann man ſtatt des Soli-
den an ſich betrachtet, diejenigen zuſammen-
geſetzten Theilchen des Soliden, als die Anla-
ge zur Jndividualitaͤt anſehen, welche durch
die in der Natur wirklich vorhandene und be-
ſtimmte Kraͤfte nicht ferner getrennet werden
koͤnnen, (§. 214.). Denn in ſolchen bleibt So-
lides und Zuſammenſetzung, und in ſo ferne
bleiben ſie der Art und der Zahl nach ſchlecht-
hin eben dieſelbe. - 8°. Was aber aus ſolchen Theilchen oder Elemen-
ten zuſammengeſetzt iſt, kann ſich der Zuſam-
menſetzung nach aͤndern, und die Theilchen mit
andern ſo wohl gleichartigen als ungleichartigen
verwechſelt werden. So lange ſie aber bleiben,
M 4bleiben
[184]VI. Hauptſtuͤck.
bleiben einerley individuale Theilchen auf einer-
ley individuale Art verbunden, und ſo lange iſt
auch das Ganze, als ein Indiuiduum betrachtet
einerley, oder ein und eben daſſelbe. - 9°. Dieſe Dauer iſt in der wirklichen Welt, we-
gen den beſtaͤndig durch einander wirkenden
Kraͤften ſehr ungleich. Und da, was in einem
Ganzen groͤßere Kraͤfte trennen, von kleinern
ungetrennt bleibt, ſo ſind wir auch ſchon ge-
wohnt, die fremden und abwechſelnden Theil-
chen von den eigenen und beſtaͤndigen zu unter-
ſcheiden. - 10°. Da aber dieſe eigenen und beſtaͤndigen Theil-
chen nur ſo lange ſolche ſind, ſo lange ſie nicht
durch die groͤßern oder ſtaͤrkern und feinern
Kraͤfte getrennet werden; ſo hat auch dieſer Un-
terſchied nur bedingungsweiſe ſtatt. Denn
wird das gemeinſame Band durch dieſe Kraͤfte
getrennet, ſo zerruͤttet ſich das Ganze, und die
von kleinern Kraͤften in demſelben hervorge-
brachten Modificationen fallen zugleich mit
weg, und koͤnnen nicht mehr auf daſſelbe gezo-
gen werden. - 11°. Das gemeinſame Band machet, daß meh-
rere ſolide Theile, die fuͤr ſich ſchon individual
ſind, zuſammen genommen, als einIndiui-
duum koͤnnen angeſehen werden, ſo lange es
dauert. Dieſes Zuſammengeſetzte, oder aus
einzeln ſoliden Theilen verbundene Indiuiduum
bleibt eben daſſelbe, ſo lange das gemeinſame
Band einerley bleibt, und die einzeln ſoliden
Theile bleiben, oder hoͤchſtens nur mit gleich-
artigen verwechſelt werden.
12°. Da
[185]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
- 12º. Da ferne fremde und ungleichartige Theile in
einem ſolchen Indiuiduo das gemeinſame Band
der eigenen nicht aͤndern, noch mit den eigenen
verwechſelt werden, oder an deren Stelle kom-
men, bleibt das Indiuiduum an ſich betrach-
tet eben daſſelbe. Widrigenfalls aber wird es
geaͤndert. - 13º. Damit aber ein zuſammengeſetztes Indiui-
duum eben daſſelbe bleibe, wird erfordert,
1º. daß das gemeinſame Band nicht geaͤndert
werde, noch ganz wegfalle. 2º. Daß die ein-
zeln Theile von gleicher Art bleiben, und hoͤch-
ſtens nur mit gleichartigen verwechſelt werden.
3º. Daß dieſe Verwechslung nicht auf einmal
mit allen geſchehe, weil bey ſolcher durchgaͤngi-
gen Verwechslung auch das gemeinſame Band
wegfiele, und mit den durchaus neuen Theilen
gleichſam neu geſchaffen werden muͤßte. - 14º. Ein in ſeinen eigenen Theilen verbundenes
Indiuiduum kann auch mit andern gleichartigen
und ungleichartigen ſo verbunden ſeyn, daß mit
Aufhebung dieſes allgemeinern Bandes das
dem Indiuiduo eigene Band entweder dennoch
bleibt, oder aufgehoben wird, oder vermittelſt
einer neuen allgemeinern Verbindung in ſeinem
Eſſe oder bey Kraͤften erhalten werden muß.
Jn den beyden letzten Faͤllen ſubſiſtirt das Indi-
uiduum nicht durchaus fuͤr ſich, ungeachtet es
oͤfters den Schein davon haben kann. - 15º Die Aenderung der Zeit und des Ortes hat in
Abſicht auf das Indiuiduum fuͤr ſich, oder in
Abſicht auf das ihm eigene Band betrachtet,
nichts zu ſagen; hingegen kann ſolche Aende-
rung in Abſicht auf die Verbindung mit andern
M 5Indiui-
[186]VI. Hauptſtuͤck.
Indiuiduis Folgen haben; und dieſe Folgen ge-
hen auf das Indiuiduum ſelbſt, wenn ſein eige-
nes Band nicht fuͤr ſich ſubſiſtirt, ſondern von
dieſen andern Indiuiduis mehr oder minder ab-
haͤngt.
§. 221.
Wir haben dieſe Saͤtze hier zuſammen angefuͤhret
und gleichſam aufgehaͤufet, um ſie mit einem An-
blicke uͤberſehen zu koͤnnen, weil ſie zuſammen genom-
men eine der verworrenſten Materien der Metaphyſic
ins reine zu bringen dienen koͤnnen, (§. 209.). Sie
geben die erſte Anlage zu der Ordnung (§. 212.),
nach welcher das anfangs (§. 210.) angefuͤhrte und
an ſich ganz unbedingte Poſtulatum ſo gebraucht wer-
den kann, daß unſere Erkenntniß von den Indiuiduis
und ihren vielfaͤltigen Veraͤnderungen wiſſenſchaftlich
gemacht werden koͤnne, (§. 211. 212.). Man theile
nun die Kraͤfte in logiſche, die von dem Verſtan-
de herruͤhren, in moraliſche, die von dem Willen
herruͤhren, und in phyſiſche, die von der Koͤrper-
welt herruͤhren (§. 29. 48. 102.), und letztere aus
beſondern und unſerer Erkenntniß eigenen Gruͤnden
in mechaniſche und chymiſche ein (Dianoiolog.
§. 535.), ſo wird man eben ſo viele allgemeine Gat-
tungen des Bandes finden, wodurch einzele Indiuidua
auf vielfaͤltige Weiſe, zuſammen genommen, als ein
Indiuiduum angeſehen werden koͤnnen, dergleichen
z. E. ganze Staaten, einzele Provinzen, Staͤdte,
Societaͤten, Familien ꝛc. Pflanzen, Thiere, Stei-
ne, Haͤuſer, Maſchinen ꝛc. einzele Lehrgebaͤude, Hy-
potheſen, Gedenkensarten, Glaubensbekenntniſſe, Le-
bensarten ꝛc. ſind, und welche zu den erſt vorgetra-
genen Saͤtzen haͤufige Beyſpiele geben. Da wir aber
die
[187]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
die beſondere Theorie der Kraͤfte erſt im folgenden
werden vornehmen koͤnnen, ſo mag es dermalen ge-
nug ſeyn, dieſes hier nur uͤberhaupt angemerkt zu
haben.
§. 222.
So fern ein Indiuiduum Veraͤnderungen leidet,
ohne daß es aufhoͤre, eben daſſelbe zu ſeyn, werden
ſolche Veraͤnderungen mit einem beſondern Namen
Modificationen, Zufaͤlligkeiten oder zufaͤllige
Beſtimmungen genennet. Dieſe dehnen ſich dem-
nach ſo weit aus, als das gemeinſame Band nicht
dadurch wegfaͤllt, (§. 220. Nº. 11-15.). Hingegen
nennet man das gemeinſame Band, nebſt allem dem-
jenigen, ohne welches dieſes Band ganz oder zum
Theil wegfallen wuͤrde, die weſentlichen Stuͤcke,
welche demnach in einem Indiuiduo beyſammen blei-
ben, ſo lange das gemeinſame Band nicht wegfaͤllt,
oder durch groͤßere Kraͤfte getrennet wird. Man
ſieht aus den bißherigen Betrachtungen, daß dieſe
Benennungen nur abgekuͤrzte Ausdruͤcke ſind, wo-
durch man ſich weitlaͤuftigere erſparet. Die Be-
griffe, ſo man ſich darunter vorzuſtellen hat, werden
aber dadurch nicht abgekuͤrzet, und man muß ſie in
aller Ausfuͤhrlichkeit beybehalten, wenn man das
Weſentliche von dem Zufaͤlligen genau unterſchei-
den will.
§. 223.
Wir koͤnnen ferner anmerken, daß dieſer Unter-
ſchied zwiſchen dem Weſentlichen und Zufaͤlligen in
ſo ferne hypothetiſch iſt, als man dabey von den groͤ-
ßern Kraͤften abſtrahirt, wodurch das gemeinſame
Band getrennet werden kann. Denn nur in ſo ferne
bleiben die Stuͤcke, welche vermittelſt des ihnen ge-
mein-
[188]VI. Hauptſtuͤck.
meinſamen Bandes ein Indiuiduum ausmachen, in
ihrer Verbindung. Wenn man demnach in der Me-
taphyſic ſaget, daß das Weſen der Dinge ewig,
unveraͤnderlich, abſolute nothwendig ꝛc. ſey:
ſo kann man dadurch weiter nichts, als die bloße
Moͤglichkeit verſtehen, oder man verfaͤllt auf den
Satz: So langeA, Aiſt, ſo lange iſt esA;
welcher fuͤr ſich klar iſt, und nicht ſo paradox klingt,
als die erſt angefuͤhrten von dem Weſen der Dinge.
Auf eine aͤhnliche Art will der Satz: daß die We-
ſen der Dingeincommunicabelſind, oder andern
Dingen nicht mitgetheilet werden koͤnnen, nicht
mehr ſagen als: ſo lange ein Ding, das geaͤndert
werden kann, nicht geaͤndert wird, bleibt es,
was es iſt, oder: Begriffe und Dinge, die auf
eine Art verbunden ſind, ſind auf dieſe, und
nicht auf eine andere mit dieſer nicht compa-
tible Art verbunden.
§. 224.
Solche etwas ſchwuͤlſtige Saͤtze ſind in der Meta-
phyſic aus der Vermiſchung von Begriffen entſtan-
den, die etwas genauer unterſchieden werden ſollten,
wobey aber, weil ſie gar zu ſehr verworren waren,
der genaue Unterſchied nicht ſo leicht konnte getroffen
werden. Sie ſind in der That vieldeutig, und da
jede Bedeutung etwas Wahres hat, ſo ließe man ſie
in dieſer Verwirrung, als durchaus wahr gelten.
Damit bleibt aber die Deutlichkeit und Evidenz,
auf die man doch in der Metaphyſic, man kann ſagen,
mehr als in andern Wiſſenſchaften Acht zu haben hat,
faſt ganz zuruͤcke. Es wird demnach nicht vergebens
ſeyn, wenn wir uns noch etwas dabey aufhalten, um
die Unterſchiede, die ſich hiebey aͤußern, aus einan-
der zu ſetzen.
§. 225.
[189]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
§. 225.
Man frage demnach, z. E. ob ſich Zeit und Raum
in einander verwandeln laſſen? Die Antwort wird
leicht ſeyn, daß es ſchlechthin unmoͤglich ſey; und
dieſe Unmoͤglichkeit faͤllt nicht nur auf den Begriff,
ſondern geradehin auch auf die Sache ſelbſt. Druͤ-
cket man nun dieſe Unmoͤglichkeit ſo aus; das We-
ſen der Zeit laſſe ſich dem Raume, und hinwiederum
das Weſen des Raumes laſſe ſich der Zeit ſchlecht-
hin nicht mittheilen: ſo hat dieſer Satz ſeine Rich-
tigkeit, man mag nun durch das Weſen den Be-
griff der Sache, oder die Sache ſelbſt, oder auch
nur ihre Moͤglichkeit verſtehen. Man wird eben
ſo finden, daß auch die uͤbrigen einfachen Grundbe-
griffe Dinge vorſtellen, die ſich nicht in einander
verwandeln laſſen, obwohl einige Beſtimmungen von
andern ſeyn und damit verbunden werden koͤnnen,
(§. 134. 135. 159. Nº. 4.)
§. 226.
Fraget man aber, ob ſich Holz in Aſche, Nah-
rung in Fleiſch und Blut, Stein in Glas oder Kalk,
eine Regierungsform in eine andere, ein ſilberner
Becher in eine ſilberne Schuͤſſel ꝛc. verwandeln laſſe?
ſo wird die Antwort ebenfalls leicht ſeyn, daß es an-
gehe, daß dieſen Moͤglichkeiten nichts im Wege ſte-
he ꝛc. Will man nun hiebey dennoch ſagen; das We-
ſen des Holzes laſſe ſich der Aſche, oder das Weſen
der Aſche dem Holze nicht mittheilen: ſo verſteht man
dadurch offenbar nicht mehr, als daß das Holz, ſo
lange es Holz iſt, nicht Aſche ſey, oder daß, wenn
auch die Verwandlung der Aſche in Holz moͤglich iſt,
ſie vorerſt vorgehen muͤſſe, ehe man ſagen koͤnne,
daß die Aſche in Holz verwandelt ſey. Das Hypo-
thetiſche
[190]VI. Hauptſtuͤck.
thetiſche in dieſen Faͤllen faͤllt hiebey in die Augen.
Denn was mit geringern Kraͤften zuſammen geſetzet
iſt, hat theils in dem von der Anwendung dieſer
Kraͤfte herruͤhrenden gemeinſamen Bande und in den
Theilen oder in dem Soliden, ohne welches dieſes
Band nicht ſeyn kann, allerdings ſein Weſen,
(§. 222.). Die Moͤglichkeit dieſes Weſens gruͤndet
ſich auf die Moͤglichkeit dieſer Kraͤfte und der da-
durch verbundenen ſoliden Theile, und ſo lange dieſe
bleiben, behaͤlt auch das Indiuiduum ſein Weſen.
Hingegen bleibt auch die Moͤglichkeit dieſes zu aͤn-
dern und dem Indiuiduo ein anderes zu geben, weil
erſteres nur ſo lange bleibt, als das gemeinſame
Band nicht durch groͤßere Kraͤfte getrennet wird.
§. 227.
Die beyden erſt angefuͤhrten Faͤlle ſind demnach in
Abſicht auf das, was man von dem Weſen ſagen
kann, merklich von einander verſchieden. Denn im
letztern Falle kann man in gewiſſer Abſicht ſagen,
daß das Weſen der Aſche ſich dem Holze mittheilen
laſſe, naͤmlich mit dem Bedinge, daß es aufhoͤret,
Holz zu ſeyn, indem es in Aſche verwandelt wird.
Hingegen daß ſich Raum in Zeit, oder Zeit in Raum
verwandeln laſſe, dieß geht ſchlechthin nicht an, und
die Frage von der Mittheilung des Weſens faͤllt hier
ganz weg. Um dieſe Verwirrung zu heben, koͤnnen
wir aus dem 222ſten §. wiederholen, daß man auch
im gemeinen Gebrauche zu reden, das Weſentliche
oder Eſſentiale dem Zufaͤlligen oder den Modi-
ficationen entgegen ſetzet, und den Unterſchied dar-
rinn beſtehen machet, was in der vorgeſetzten oder
gewaͤhlten Abſicht, bey der Sache wegbleiben oder
anders ſeyn, und was hingegen nicht wegbleiben oder
nicht
[191]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
nicht anders ſeyn kann. Letzteres gehoͤret zum We-
ſentlichen oder zum Seyn und Seyn koͤnnen der
Sache, und zwar nothwendig, erſteres bleibt
willkuͤhrlich, oder es hat nichts auf ſich. Wollte
man nun die Bedeutung des Wortes Weſen oder
weſentlich nicht weiter ausdehnen, ſo wuͤrde es nur
da gebraucht werden koͤnnen, wo zugleich auch Modifi-
cationen vorkommen, das will ſagen, wo Nothwen-
diges und Willkuͤhrliches durchmenget iſt. Da
aber des Willkuͤhrlichen bald mehr bald minder ſeyn
kann, und uͤberhaupt die Bedeutung der Woͤrter
leicht ausgedehnter gemacht wird, ſo hat man ſich
auch hiebey nicht ſo genau daran gebunden, ſondern
den Begriff des Weſentlichen, welcher eigentlich nur
das betrifft, was zu Erfuͤllung vorausgeſetzter Be-
dingungen nothwendig iſt, auch auf das ausgedeh-
net, wo von Bedingungen die Rede gar nicht vor-
koͤmmt. Wo demnach dieſe Vieldeutigkeit Folgen
nach ſich ziehen kann, da thut man allerdings beſſer,
wenn man die Ausdruͤcke aͤndert, oder die behoͤrigen
Beſtimmungen beyfuͤget. Denn da muß man nach
dem Unterſchiede der Sache ſelbſt die Auswahl der
Worte treffen, die man, um ſie nett auszudruͤcken,
gebrauchen ſoll, und nicht ſolche gebrauchen, die we-
gen ihrer Vieldeutigkeit verſchiedene Auslegungen
und Erklaͤrungen leiden.
§. 228.
Wir koͤnnen ferner anmerken, daß in demjenigen,
was die einfachen Grundbegriffe vorſtellen, nicht
mehrere weſentliche Stuͤcke vorkommen. Denn eben
das iſt es, was dieſe Begriffe einfach machet, weil
ſie ſonſten nothwendig zuſammengeſetzt ſeyn muͤßten,
ſo bald in der dadurch vorgeſtellten Sache mehrere
weſent-
[192]VI. Hauptſtuͤck.
weſentliche Stuͤcke waͤren. Da demnach einfache Be-
griffe ein einziges weſentliches Stuͤck vorſtellen, ſo
koͤmmt dabey auch von dem gemeinſamen Bande die
Rede nicht vor, weil dieſes nothwendig mehr als ein
weſentliches Stuͤck vorſtellet. Aus gleichem Grunde
iſt auch dabey weder von Abaͤnderung des Bandes
noch von Verwechslung der weſentlichen Stuͤcke die
Rede, ſondern das, was die einfachen Grundbegriffe
vorſtellen, bleibt, was es iſt, und laͤßt ſich nicht in
anderes verwandeln, (§. 225.).
§. 229.
Hingegen iſt das, was die einfachen Grundbegriffe
vorſtellen, mehr oder minder ganz willkuͤhrlicher Be-
ſtimmungen faͤhig, dergleichen diejenigen ſind, die
wir oben bey der ſpecialen Betrachtung dieſer Be-
griffe, als Poſtulata vorgetragen haben. Alle aber
beziehen ſich zuletzt auf das Solide und die Kraͤfte,
weil dieſe die erſte Anlage zur Exiſtenz, und ſo auch
zur Jndividualitaͤt ſind, (§. 210. 157. 158. 118. ſeqq.).
Betrachtet man ſie aber fuͤr ſich, in abſtracto, ohne
Ruͤckſicht auf die Exiſtenz und Jndividualitaͤt, und
ohne alle hiezu noͤthige Beſtimmungen mitzuneh-
men, ſo werden ſie gleichſam nur als im Reiche
der Wahrheiten, oder als Moͤglichkeiten be-
trachtet, und indem man bald von einigen abſtra-
hirt, bald mehrere mitnimmt, ſo laͤßt ſich dabey
ſtufenweiſe gehen, indem man von dem Einfachern
zu dem Zuſammengeſetztern fortſchreitet. Hieruͤber
koͤnnen wir nun folgende Saͤtze anfuͤhren.
- 1º. Man nehme von den Beſtimmungen, ſo die
einfachen Begriffe leiden, einige willkuͤhrlich
zuſammen, ſo koͤmmt ſogleich die Frage vor,
ob
[193]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
ob dieſe noch einige andere erfordern, voraus-
ſetzen oder nach ſich ziehen? Dieſe muß man
gleichfalls mitnehmen, damit ein Ganzes her-
auskomme. - 2º. Ferner koͤmmt bey den Anfangs willkuͤhrlich
zuſammen genommenen die Frage vor, ob nicht
einige derſelben von den uͤbrigen ohnehin ſchon
erfordert, vorausgeſetzet oder nach ſich gezogen
werden? Jſt dieſes, ſo nimmt man ſchlechthin
nur die, welche die uͤbrigen alle erfordern, vor-
ausſetzen oder nach ſich ziehen, beſonders. Denn
dieſe ſind in Abſicht auf das Ganze, welches
man bey dieſem an ſich willkuͤhrlichen Verfahren
herausbringt, die weſentlichen Stuͤcke, weil
ſie die Anlage zu den uͤbrigen ſind, und weil
ohne dieſelbe das Ganze ein anderes Ganze ſeyn
wuͤrde. So z. E. faͤllt mit dem Begriffe dreyer
Seiten oder der Einſchließung eines Raumes,
und eben ſo auch mit beyden zugleich der Begriff
eines Triangels weg. - 3º. Nach dieſer Art zu verfahren findet man mit
den weſentlichen Stuͤcken die geringſte Anzahl
von Datis, aus welchen die uͤbrigen beſtimmet
werden koͤnnen, und eben dieſe geringſte Anzahl
iſt es, warum man ſie, zuſammen genommen
die weſentliche Stuͤcke, oder das Weſen des
Ganzen nennet, oder uͤberhaupt ihnen einen
eigenen Namen giebt. - 4º. So| willkuͤhrlich dieſe Art zu verfahren iſt, ſo
iſt es doch nur in Abſicht auf uns willkuͤhrlich.
Denn einmal muͤſſen die zuſammen genomme-
nen Beſtimmungen ſich koͤnnen zuſammenneh-
men laſſen, und folglich nicht nur den Poſtulatis
gemaͤß, ſondern auch den einſchraͤnkenden Grund-
Lamb. Archit.I.B. Nſaͤtzen,
[194]VI. Hauptſtuͤck.
ſaͤtzen, in Anſehung ihrer Verbindung, nicht zu-
wider ſeyn, (§. 13. 105. 118. ſeqq. 159.). Unter
dieſen Bedingungen kommen Moͤglichkeiten her-
aus, und ſo fern man ſich dieſe in dem Reiche
der Wahrheiten als bereits durchaus in Ord-
nung gebracht vorſtellen kann, iſt nichts Will-
kuͤhrliches dabey, als welches nur in Abſicht auf
uns Statt hat, weil dieſe Moͤglichkeiten uns
eine Auswahl zulaſſen. - 5º. Sodann hoͤret dieſes Willkuͤhrliche auch in Ab-
ſicht auf uns auf, ſo bald wir einige Beſtim-
mungen zuſammen genommen haben, und da-
bey bleiben wollen. Denn dieſe ziehen ſodann
andere nach ſich, die mit den angenommenen
in nothwendiger Verbindung ſind, und dieſe
muͤſſen wir gleichfalls mitnehmen, wenn das
Ganze bleiben ſoll, was es iſt. Ueberhaupt
wenn wir einmal im Reiche der Wahrheit ſind,
ſo haben wir nichts mehr zu aͤndern. Die
Wahrheiten bleiben, was ſie ſind, und die we-
ſentlichen Stuͤcke der einen laſſen ſich der andern
nicht mittheilen. Und da das Reich der Moͤg-
lichkeiten von gleicher Art und Umfange iſt, ſo
iſt ebenfalls auch darinn alles unveraͤnderlich,
ewig, abſolut nothwendig ꝛc. welches wir vom
Reiche der Wirklichkeiten nicht ſo ſchlechthin
ſagen koͤnnen, weil darinn beſtimmte und durch
einander wirkende Kraͤfte vorkommen, und in
jeden endlichen Indiuiduis beſtaͤndige Veraͤnde-
rungen herfuͤrbringen. - 6º. Wollen wir aber auch gleich Anfangs nicht will-
kuͤhrlich verfahren, ſo muͤſſen wir die weſent-
lichen Stuͤcke, ohne Einmengung derer, die ſie
nach ſich ziehen, allein nehmen, und beſonders
auch
[195]Das Veraͤnderliche und Fortdauernde.
auch durch eine genaue Combination der Be-
ſtimmungen, ſo einfache Begriffe leiden, vor-
erſt ausmachen, auf wie vielerley Arten ſie als
weſentliche Stuͤcke zuſammen genommen wer-
den koͤnnen. Hiezu geben nun die oben (§. 53.
157. 158.) vorgelegten Tabellen, in Abſicht auf
die Grundlehre, die erſte Anlage.
§. 230.
Wir werden nun noch zu der in dem §. 209. ge-
machten Anmerkung zuruͤck kehren, und gegenwaͤr-
tiges Hauptſtuͤck mit dem vorhergehenden in Verbin-
dung bringen. Denn da wir bisher die Bedingun-
gen angegeben haben, unter welchen ein Indiuiduum
ſeiner Veraͤnderungen unerachtet eben daſſelbe ver-
bleibt, und ſeinen Namen behaͤlt; ſo koͤnnen wir nun
anmerken, daß man bey der Eintheilung der einzeln
Dinge in Arten und Gattungen von dieſen Modi-
ficationen und Varietaͤten abſtrahirt, und in den Be-
griff des Indiuidui nicht mehr nimmt, als die weſent-
lichen Stuͤcke, weil dieſe, ſo lange ſie bleiben, ma-
chen, daß das Indiuiduum als eben daſſelbe angeſehen
wird. Man ſieht ſie als das, wenigſtens bedingungs-
weiſe, Fortdauernde in dem Indiuiduo an, und ſo
fern ſie, auch nur als bloß moͤglich, oder ohne Ruͤck-
ſicht auf die Exiſtenz betrachtet, ein Ganzes vorſtellen,
ſo gehoͤren ſie in das Reich der Wahrheiten, und
in dieſem werden ſie als unveraͤnderlich angeſehen,
(§. 229. Nº. 5.). Jn dieſer Geſtalt laſſen ſich die
Indiuidua allerdings, in Abſicht auf ihre Aehnlichkeit
und Verſchiedenheit, mit einander vergleichen, und
in Arten und Gattungen vertheilen; und die Begriffe
dieſer Arten | und Gattungen werden als ebenfalls in
das Reich der Wahrheiten gehoͤrend, und folglich
N 2als
[196]VII. Hauptſtuͤck.
als unveraͤnderlich angeſehen. Man ſieht leicht, daß
alles dieſes zum Behufe der Allgemeinheit der wiſſen-
ſchaftlichen Erkenntniß ſo genommen wird. Man
unterſcheidet in den Indiuiduis das beſtaͤndig Abwech-
ſelnde von dem Fortdauernden oder laͤnger Dauern-
den nach den verſchiedenen Arten, Combinationen
und Stufen der Kraͤfte, damit man jenes auf dieſes
beziehen koͤnne. Letzteres nimmt man ſodann beſon-
ders vor, um die Aehnlichkeiten und Verſchiedenhei-
ten aufzuſuchen, um dadurch Arten und Gattungen
herauszubringen, deren Theorie allgemeiner und auf
mehrere Indiuidua anwendbar iſt. Das Fortdauernde
und die Aehnlichkeiten laſſen ſich beſonders betrachten,
weil das Abwechſelnde abwechſelt, und das Verſchie-
dene verſchieden iſt, das will ſagen, weil erſteres
ohne das letztere ſeyn kann, oder weil letzteres in
dem erſtern keine nothwendige und unzertrennliche
Beſtimmung iſt.
Siebentes Hauptſtuͤck.
Das Seyn und das Nicht ſeyn.
§. 231.
Jn beyden vorhergehenden Hauptſtuͤcken verglichen
wir die Begriffe und Dinge, in Abſicht auf ihre
Aehnlichkeit und Verſchiedenheit, und zwar im er-
ſtern, ſo fern ſie aͤhnlich und verſchieden ſind, im
letztern aber, ſo fern ſie aͤhnlich und verſchieden wer-
den koͤnnen. Beydes geſchah in der Abſicht, das
Allgemeine in der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß ge-
nauer zu beſtimmen, und es kenntlicher zu machen.
Wir
[197]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
Wir bleiben aber bey der Vergleichung mehrerer Din-
ge nicht ſo ſchlechthin bey dem Aehnlichen und Ver-
ſchiedenen ſtehen, ſondern das in und unter einander
enthalten ſeyn (§. 170. 174.), giebt uns noch eine an-
dere Art von Vergleichung an, worauf ſich die Theorie
der Urtheile und Saͤtze gruͤndet, deren Form zwar
in der Vernunftlehre betrachtet wird, die Quellen und
Entſtehensart, imgleichen die ſo genannte objective Be-
ſtimmung ihrer Ausdehnung eigentlich in die Grund-
lehre gehoͤret. Die Vernunftlehre naͤmlich begnuͤgt
ſich damit, daß die Form der Saͤtze, die ſie betrach-
tet, moͤglich ſey, und um die bloße Moͤglichkeit zu
beweiſen, ſind einzelne Beyſpiele hinreichend. Hin-
gegen abſtrahirt ſie ganz von der Materie, und be-
ſtimmet daher auch nicht, wo ſolche Form zu finden,
und welche Arten von Materien zu jeder Art der Form
gehoͤren. Dieſes gehoͤret fuͤr die Grundlehre. Daher
werden wir nun die Quellen zu jeder Art von Saͤtzen
aufzudecken und gleichſam vorzuzaͤhlen ſuchen. Das
Symboliſche unſerer Erkenntniß mengt ſich hier mit
ein, weil wir die Urtheile durch Saͤtze vorſtellen, und
da die Widerſpruͤche weder im Reiche der Wahr-
heiten, noch im Reiche der Moͤglichkeiten, noch im
Reiche der Wirklichkeiten vorkommen, und daher
ſchlechthin nur ſymboliſch ſind; ſo koͤnnen wir auch
die Theorie davon nicht ehender vortragen, bis wir
die Gruͤnde zu ihrer Entſtehensart aus einander ge-
ſetzet haben, und bis dahin muͤſſen wir auch die
Theorie des Nothwendigen verſchieben, weil die
Theorie des Gegentheils und der Oppoſition eben-
falls viel Symboliſches hat, und aus der Theorie
der Entſtehensart der Saͤtze fuͤglicher hergeleitet wird.
Denn bey allem dieſen haben wir nicht ſo feſt auf die
bloße Moͤglichkeit dieſer Begriffe, wozu einzelne Bey-
N 3ſpiele
[198]VII. Hauptſtuͤck.
ſpiele hinreichend waͤren, als auf ihren Umfang, Aus-
dehnung und Allgemeinheit zu ſehen.
§. 232.
Nun iſt in der Theorie der Form der Saͤtze das
meiſte ziemlich abgezaͤhlt, (§. 198.). Bey den ein-
fachen Saͤtzen hat man das Subject, das Praͤ-
dicat und das Bindwoͤrtchen. Daher entſtehen
die verſchiedenen Arten von Saͤtzen aus den Beſtim-
mungen, die jedes dieſer drey Stuͤcke leidet, und aus
der Combination dieſer Beſtimmungen, (§. 189.).
Von ſolchen Beſtimmungen hat man nun in der Ver-
nunftlehre einige ſehr allgemeine angenommen, und
die Arten von Saͤtzen dadurch beſtimmet, ſo fern die
Lehre der Schluͤſſe darauf gebauet werden kann. Wir
koͤnnen hieruͤber folgende Saͤtze anfuͤhren.
- 1º. Das Bindwoͤrtchen hat man durch iſt und iſt
nicht uͤberhaupt vorgeſtellet, und viele von den
Beſtimmungen, die es leidet, in das Praͤdicat
oder auch in das Subject geſchoben, damit das
iſt und iſt nicht in Form ganz einfacher Ver-
haͤltnißbegriffe allein bliebe, weil man dieſe
zween Begriffe ſchlechthin, und ohne daß es da-
zwiſchen ein Mittel oder ein ſo genanntes Ter-
tium gebe, einander entgegengeſetzet fand. - 2º. Da ferner das Seyn eine abſolute Einheit iſt,
ſo ſind die Bruͤche, die man dem iſt und iſt
nicht beyfuͤgen kann, nur ideal, und bezeichnen
die Grade der Wahrſcheinlichkeit. Denn
im Reiche des Wahren und des Wirklichen
kommen ſolche Bruͤche nicht vor. - 3º. Das Wort iſt hat eine Art von Zweydeutigkeit
(§. 106.), weil es zuweilen ſo viel als exiſtiren
bedeutet, und in ſo ferne dem Moͤglichen und
dem
[199]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
dem Nothwendigen entgegen geſetzet wird.
Man kann daher auch folgende drey Arten von
Bindwoͤrtchen ſetzen:
- 1º. Jſt moͤglich oder kann ſeyn.
- 2º. Jſt wirklich oder exiſtirt.
- 3º. Jſt nothwendig oder muß ſeyn.
Und ſo auch in Abſicht auf das Verneinen:
- 1º. Jſt nicht moͤglich oder kann nicht ſeyn.
- 2º. Jſt nicht wirklich oder exiſtirt nicht.
- 3º. Jſt nicht nothwendig oder muß nicht
ſeyn.
Wobey wir anmerken, daß die lateiniſche Spra-
che durch die in derſelben moͤgliche Verſetzung
der Woͤrter hiebey noch einige Unterſchiede an-
zeigen kann, welche in dem poteſt non eſſe,
non poteſt eſſe, eſſe nequit, beſtehen.
- 4º. Sodann giebt es Faͤlle, wo das Bindwoͤrtchen
ohne Praͤdicat vorkoͤmmt, z. E. eine Sache
iſt, oder ſie iſt nicht. Das weggelaſſene
Praͤdicat iſt aber entweder der Begriff wahr,
oder der Begriff wirklich, (§. 106.). - 5º. Dem Subjecte fuͤgt man die Beſtimmungen;
alle, nicht alle, etliche, nur etliche, ein,
dieſes, kein, bey, welche ſaͤmmtlich arithme-
tiſch ſind. Unter dieſen iſt nun nur alle und
kein abſolute beſtimmet. Ein iſt es, wenn es
ſo viel als nur eines bedeutet, und dieſes, in
ſo fern man darauf deutet, und ſo auch in ſo
fern oder wenn es das einige iſt. Hingegen
ſollte man anſtatt etliche, nur etliche, nicht
alle, anzeigen koͤnnen, wie viele? und dieſes
durch Bruͤche anzeigen, z. E. ¾ von allen ꝛc.
N 4Denn
[200]VII. Hauptſtuͤck.
Denn ſo ließe ſich die Lehre von den Schluͤſſen
noch vielmehr in eine Art von Rechenkunſt ver-
wandeln, als ſie es dermalen iſt. - 6º. Die uͤbrigen Beſtimmungen, die dem Sub-
jecte beygefuͤget werden, ſieht man mit dem
Subjecte zuſammen genommen als ein ſpecia-
leres Subject an, z. E. ein rechtwinklichter
Triangel, weiß man aber noch nicht, ob ſie
beygefuͤget werden koͤnnen, ſo fuͤget man ſie nur
bedingnißweiſe bey, um die Zulaͤßigkeit aus
den Folgen zu beurtheilen. - 7º. Zuweilen wird auch das Woͤrtchen nicht dem
Subjecte beygefuͤget, und dadurch verſteht man,
was nichtAiſt. - 8º. Dem Praͤdicate koͤnnen ebenfalls Bruͤche bey-
gefuͤget werden, wenn naͤmlich nur einigen ſei-
ner Merkmale dem Subjecte zukommen, und
ſolche Bruͤche zeigen ſodann die Verwandtſchaft
und Aehnlichkeit zwiſchen dem Subjecte und
Praͤdicate an. Weiß man aber, daß dem
Subjecte einige Merkmale des Praͤdicats zu-
kommen, und zwar ſo, daß es ganz unausge-
macht iſt, ob ihm die uͤbrigen zukommen oder
nicht, ſo dienen ſolche Bruͤche theils zur Beſtim-
mung der Aehnlichkeit und Verwandtſchaft, ſo
fern dieſe bekannt iſt, theils zur Berechnung
der Wahrſcheinlichkeit, in Abſicht auf das ganze
Praͤdicat. - 9º. Die uͤbrigen Beſtimmungen, die das Praͤdicat
haben kann, werden mit demſelben in einen
Begriff zuſammen genommen, und dieſes muß
ſeyn, wenn das Praͤdicat dadurch ſpecialer ge-
macht, oder wenn ihm etwas von ſeiner Specia-
litaͤt benommen werden muß, damit der Satz
wahr
[201]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
wahr ſey. Widrigenfalls koͤnnen die Beſtim-
mungen wegbleiben, und beſonders genommen
werden. - 10º. Zuweilen wird auch das Woͤrtchen nicht dem
Praͤdicate beygefuͤget, und das Praͤdicat dadurch
in einen ſo genannten Terminum infinitum ver-
wandelt.
§. 233.
Von dieſen Beſtimmungen hat man nun in der
Vernunftlehre, in Abſicht auf das Subject, nur das
alle, etliche, kein, in Abſicht auf das Bindwoͤrt-
chen, das iſt und iſt nicht, genommen, und bey dem
Praͤdicate hoͤchſtens nur den Terminum infinitum
gelten laſſen. Und zwar alles dieſes, weil man
darinn nur auf die Form ſieht, und von der Materie,
welche naͤhere Beſtimmungen angeben kann, abſtra-
hirt. Dafern man nun dabey auf eine bloß ſymbo-
liſche Art verfaͤhrt, kann man allerdings jede Beſtim-
mungen des Subjects mit jeden Beſtimmungen des
Bindwoͤrtchens und des Praͤdicats combiniren. Die
Saͤtze, ſo man auf dieſe Art herausbringt, werden
immer eine Geſtalt von Saͤtzen haben. Ob ſie aber
einen Verſtand haben, ob ſie irgend vorkommen, und
wie weit ſie ſich ausdehnen, das muß aus andern
Gruͤnden beſtimmet werden. Jm Deutſchen laͤßt
ſich das Woͤrtchen nicht nicht ſo allgemein und ver-
ſtaͤndlich verſetzen, wie im Lateiniſchen. Man findet
unter den Saͤtzen
- 1º. Alle A ſind nicht B.
- 2º. Nicht alle A ſind B.
- 3º. Alle nicht ‒ A ſind B.
- 4º. Alle A ſind nicht ‒ B.
einen Unterſchied, und in der Bedeutung etwas Ver-
wirrtes. Der dritte klingt undeutſch, und der erſte
N 5kann
[202]VII. Hauptſtuͤck.
kann ſowohl die Bedeutung des zweyten als des vier-
ten haben, je nachdem man ihn anders ausſpricht.
Den vierten ſieht man uͤberhaupt als mit dem Satze
Kein A iſt B.
uͤbereinſtimmend an. Man hat daher lieber folgende
vier Formen
- 1. Alle A ſind B.
- 2. Etliche A ſind B.
- 3. Etliche A ſind nicht B.
- 4. Kein A iſt B.
angenommen, um die Lehre der Schluͤſſe darauf zu
bauen. Und bey der zweyten und dritten ließ man
unbeſtimmt, wie viele A, B ſind, und wie viele es
nicht ſind, weil dieſes ſchon eine genauere Kenntniß
der Materie erfordert. Auf dieſe Art dehnt ſich die
logiſche Arithmetic nur auf das alle, etliche, kein
aus. Alle iſt = 1, kein iſt = 0, etliche iſt ein
Bruch, der zwiſchen 1 und 0 faͤllt, den man aber un-
beſtimmt laͤßt. Ungeachtet man nun aber die Ver-
ſetzung des Woͤrtchens nicht hiebey weglaͤßt, und ſo
auch die Folgen nicht beſtimmet, die dieſe Verſetzung
nach ſich zieht; ſo werden wir doch im Folgenden
ſehen, daß man dieſe Theorie vornehmen muß, wenn
man die Lehre von der Oppoſition und Contradiction
genau entwickeln will, wobey man doch in der Meta-
phyſic gewoͤhnlich anfaͤngt.
§. 234.
Wir merken ferner an, daß wir bey dieſer ſo ein-
fachen und kurzen logiſchen Rechenkunſt eigentlich nur
drey Arten von Saͤtzen haͤtten, naͤmlich:
- 1º. Alle A ſind B.
- 2. Nur etliche A ſind B.
- 3. Kein A iſt B.
Da-
[203]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
Daferne wir den zweyten nicht unbeſtimmter laſſen
muͤßten. Denn ſo koͤnnten z. E. alle A, B ſeyn.
Wenn wir aber nur noch von etlichen A wiſſen, daß
ſie B ſind, ſo ſagen wir ſchlechthin:
Etliche A ſind B.
und dabey laſſen wir es dahingeſtellt, ob nicht alle
A, B ſind. Auf gleiche Art ſagen wir:
Etliche A ſind nicht B.
und laſſen unausgemacht, ob nicht kein A, B iſt?
Die logiſche Theorie von der Form der Saͤtze und
Schluͤſſe nimmt die Saͤtze nur, ſo wie wir ſie, ohne
uns in die Unterſuchung der Materie tief einzulaſſen,
am leichteſten haben koͤnnen. Nehmen wir aber die
drey erſt angegebene Saͤtze an, ſo iſt unter demſelben
in jedem Falle nothwendig nur einer wahr, und zwar,
weil nach der Natur dieſer logiſchen Rechenkunſt,
alle, nur etliche, kein, ſchlechthin nicht beyſammen
beſtehen koͤnnen. Hingegen wenn wir die vier vorhin
angefuͤhrten
- 1º. Alle A ſind B.
- 2º. Etliche A ſind B.
- 3º. Etliche A ſind nicht B.
- 4º. Kein A iſt B.
ſo unbeſtimmt ſie genommen werden (§. 233.), gelten
laſſen, ſo hat mit dem erſten der zweyte, mit dem
vierten der dritte, zugleich ſtatt, hingegen kann der
erſte mit dem dritten, der vierte mit dem zweyten,
nicht zugleich ſtatt haben, und der zweyte kann mit
dem dritten zugleich wahr, aber nicht zugleich falſch,
und der erſte mit dem vierten nicht zugleich wahr ſeyn.
§. 235.
Da wir hier nicht ſowohl die Form als die Ma-
terie der Saͤtze betrachten, ſo koͤnnen wir auch anzei-
gen,
[204]VII. Hauptſtuͤck.
gen, in welchen Faͤllen ſie beſtimmter werden, und
hinwiederum, wenn man einen beſtimmtern Satz
vor ſich hat, wohin er gehoͤret, und was man folg-
lich mit der beſtimmtern Form zugleich weiß. Die
Grundlehre ſoll ohnehin die Erforderniß der wiſſen-
ſchaftlichen Erkenntniß haben, daß ſie angeben, was
mit jeden Datis zugleich beſtimmet iſt, (§. 15.). Und
dieſes wird hier deſto vorzuͤglicher, weil die Form der
Saͤtze ein an ſich ſehr kenntliches Datum iſt. Dahin
dienen nun folgende Saͤtze:
- 1º. Es ſey A eine Art, B eine ihrer hoͤhern Gattun-
gen. Da nun B in allen A vorkoͤmmt, oder A
ganz unter B gehoͤret: ſo gilt der Satz: AlleA
ſindB, und folglich an ſich ſchon auch der Satz:
EtlicheAſindB. - 2º. Da aber B außer A noch andere Arten unter
ſich hat, ſo kann man nicht von allen B ſagen,
daß ſie A ſeyn. Demnach gilt der Satz: Nur
etlicheBſindA, und folglich auch die beyden
Saͤtze: EtlicheAſindB, und etlicheAſind
nichtB. - 3º. Es ſey B ein eigenes Merkmal von A, ſo
koͤmmt B außer A nirgends vor. Demnach
gelten die Saͤtze: AlleAſindB, und alleB
ſindA, welche man zum Unterſchiede der er-
ſtern (Nº. 1.) identiſche Saͤtze nennet, und dieſe
koͤnnen an ſich ſchon auch gerade und umgekehrt
particular bejahend genommen werden. - 4º. Hinwiederum, wenn man einen Satz vor ſich
hat, der gerade und umgekehrt allgemein be-
jahend bleibt, ſo iſt derſelbe identiſch, und das
Praͤdicat und Subject dienen einander als eige-
ne Merkmale. Und wo eines iſt, da iſt auch
das andere.
5º. Hat
[205]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
- 5º. Hat man hingegen einen nicht identiſchen Satz,
alleAſindB, vor ſich, und dieſes findet man,
wenn auch nur ein B nicht A iſt, ſo laͤßt ſich A
als eine Art, B als eine Gattung oder Claſſe
anſehen, unter welche A ganz gehoͤret. Und
dabey ſind die oben (§. 178.) vorgetragene Saͤtze
anwendbar. - 6º. Es ſey A eine Art, B eine ihrer Nebenarten,
oder eine Art von einer andern Gattung, ſo iſt
weder A unter B, noch B unter A enthalten.
Demnach gelten die Saͤtze: KeinAiſtB, und
keinBiſtA, und daher an ſich auch die Saͤtze:
EtlicheAſind nichtB, und etlicheBſind
nichtA. - 7º. Hinwiederum, wenn man einen allgemeinen
verneinenden Satz: KeinAiſtB, vor ſich hat,
ſo iſt auch keinB, A. Und B und A ſind ent-
weder Nebenarten, oder ſie gehoͤren unter ver-
ſchiedene Gattungen, weil in jedem dieſer Be-
griffe oder Dinge Merkmale oder Beſtimmun-
gen vorkommen, die in dem andern nicht vor-
kommen oder anders ſind. - 8º. Es ſeyn M, N Modificationen, die in einem
Indiuiduo beyſammen und nicht beyſammen ſeyn
koͤnnen, ſo daß beydes vorkoͤmmt oder wenig-
ſtens moͤglich iſt: ſo gelten die Saͤtze: Nur
etlicheMſindN,nur etlicheNſindM,
und folglich auch, etlicheMſindN,etlicheM
ſind nichtN,etlicheNſindM,etlicheN
ſind nichtM. Man ſehe auch §. 180. - 9º. Hinwiederum, wenn man einen Particularſatz
vor ſich hat, der gerade und umgekehrt particu-
lar iſt: ſo kann man Subject und Praͤdicat als
Modificationen eines allgemeinern Begriffes A
anſehen,
[206]VII. Hauptſtuͤck.
anſehen, und dieſer laͤßt ſich wenigſtens in drey
Arten theilen, naͤmlich in die A, welche M ſind,
in die, welche N ſind, und in die, welche M
und N zugleich ſind. Zu dieſen drey Arten
koͤmmt zuweilen noch die vierte, welche die A
betrifft, die weder M noch N ſind. Ob aber
dieſe in einem fuͤrgegebenen Falle vorkomme,
muß aus andern Gruͤnden erwieſen werden. - 10º. Jſt hingegen ein fuͤrgegebener Particularſatz
nicht gerade und umgekehrt particular; ſo iſt er
entweder gerade oder umgekehrt allgemein be-
jahend, oder gerade und umgekehrt allgemein
verneinend, oder gerade und umgekehrt allge-
mein bejahend, (Nº. 1. 2. 3. 6.). Und dieſes
entſcheidet ſich jedesmal aus den Gruͤnden, aus
welchen man findet, daß der Satz weder gerade
noch umgekehrt particular bleibe. - 11º. Bleibt der Satz gerade particular bejahend,
ſo iſt der umgekehrte weder identiſch noch allge-
mein verneinend, (Nº. 3. 6.). - 12º. Ueberhaupt wird leichter entſchieden, ob ein
Satz nicht allgemein ſey, weil ein einiges Exem-
plum in contrarium dazu hinreichend iſt. - 13º. Nach dieſem wird leichter entſchieden, ob ein
Satz allgemein verneinend iſt. Denn wenn
kein A, B iſt; ſo hat man die Wahl, ob man
alle A oder alle B aufſuchen wolle, weil es hie-
bey gleich viel iſt, ob man A in keinem B, oder B
in keinem A findet. Und uͤberhaupt wird kein
A, B ſeyn, wenn man auch nur ein Merkmal
des B in keinem A findet, und hiezu kann man
das Merkmal nehmen, welches in jedem A
leichter und nothwendig zu erkennen waͤre, wenn
es darinn vorkaͤme ꝛc.
14º. Hin-
[207]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
- 14º. Hingegen bey identiſchen Saͤtzen muß man
ſowohl das Subject A als das Praͤdicat B vor-
nehmen, um in jedem A das eigene Merkmal
des B, und in jedem B das eigene Merkmal
des A zu finden, wenn anders der Satz identiſch
ſeyn ſoll.
§. 236.
Dieſe Saͤtze betreffen noch alle die Form von ein-
fachen Saͤtzen, ſo fern darinn zween Begriffe A, B
verglichen werden, ob einer von dem andern particu-
lar oder allgemein bejaht oder verneint werden muͤſſe?
Die bedingten Saͤtze (§. 232. Nº. 6.) fließen aus
verſchiedenen Quellen, und entſtehen mehrentheils aus
der ſymboliſchen Form unſerer Erkenntniß. Denn
die Sprachen ſind ſo eingerichtet, daß wir auf eben
die Art, wie wir Woͤrter zuſammenfuͤgen, deren Ver-
bindung etwas Moͤgliches oder Wahres vorſtellet,
ebenfalls andere zuſammenfuͤgen koͤnnen, deren Ver-
bindung etwas Unmoͤgliches oder Falſches vorſtellet.
Und uͤberhaupt ſind Unmoͤglichkeiten und Jrrthuͤmer
ſchlechthin ſymboliſch, weil ſie weder moͤglich noch
gedenkbar ſind. Dieſe Einrichtung der Sprache aber
macht, daß die Moͤglichkeit, Woͤrter zuſammen zu
ſetzen, weiter geht, als die Moͤglichkeit, Begriffe zu-
ſammen zu ſetzen, und daß folglich, ſo oft wir erſteres
willkuͤhrlich thun, die Frage vorkoͤmmt, ob letzteres
auch dabey ſtatt habe? Hiebey kommen nun, in Ab-
ſicht auf den bedingten Ausdruck,
Wenn A, B iſt, ſo ꝛc.
folgende Faͤlle vor:
- 1º. Koͤnnen in der That etliche A, B ſeyn, und
findet ſich dieſes, ſo iſt die Bedingung moͤglich,
und erſt angefuͤhrter Ausdruck unterſcheidet die
Faͤlle,
[208]VII. Hauptſtuͤck.
Faͤlle, in welchen A, B iſt; von denen, in wel-
chen A nicht B iſt. Man ſieht leicht, daß jeder
Satz, der nur particular bejahend iſt, ſolche
bedingte Saͤtze angeben kann, und die Moͤg-
lichkeit der Bedingung erweiſet. Man kann
ſie aber in categoriſche verwandeln, ſo oft die
Sprache ein Wort angiebt, welches diejenigen
A, die wirklich B ſind, beſonders anzeiget, oder
benennet. Waͤren aber alle A, B: ſo iſt die
Bedingung nur ſcheinbar, weil es ſodann keine
A giebt, die nicht B ſind. - 2º. Kann B eine veraͤnderliche oder abwechſelnde
Modification von A ſeyn; und da iſt zum Be-
weiſe der Moͤglichkeit der Bedingung genug,
daß A die Beſtimmung B haben, oder in Zeit
und Orte B ſeyn koͤnne. - 3º. Koͤnnen ſich auch Faͤlle eraͤugnen, wo in der
That A weder B iſt, noch B werden kann, und
da koͤnnen aus der Bedingung wennA, Biſt,
immer Folgen gezogen werden, welche die Un-
moͤglichkeit der Bedingung angeben.
§. 237.
Wir koͤnnen hierbey anmerken, daß das eigentlich,
oder im ſtrengſten Verſtande categoriſche, nur bey
den einfachen Begriffen vorkoͤmmt. Denn da die Zu-
ſammenſetzung der Begriffe nicht allgemein moͤglich
iſt, ſo iſt ſie eben dadurch ſchon auf Bedingungen
geſetzet, und der Umſtand, daß die Sprache Woͤr-
ter hat, zuſammengeſetzte Begriffe auszudruͤcken, er-
ſparet uns die Muͤhe, ihre Moͤglichkeit zu beweiſen,
im geringſten nicht, weil man auch Ungereimtheiten
eigene Namen geben kann.
§. 238.
[209]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
§. 238.
Es giebt uns ferner die Sprache vermittelſt der
Woͤrter: und, ſowohl, als; entweder, oder;
weder, noch, Mittel an die Hand, in einem Sa-
tze mehrere Begriffe in Verbindung zu bringen. Die
einfachern Formen davon ſind folgende:
- 1º. SowohlAalsBſindC. Hier ſind zween
Saͤtze: AiſtC, BiſtC, zuſammen gezogen. - 2º. AundBzuſammen genommen iſtC.
Dieſer Satz hat ein wirklich copulatives
Subject, und zeiget an, daß die Merkmale
des C in den Begriffen A, B vertheilet ſind,
und folglich beyde, oder wenn mehrere ſind,
alle zuſammen in einen Begriff genommen wer-
den muͤſſen. - 3º. DieA,welcheBſind, ſindC. Hier wird B
nicht als ein beſonderer Begriff, ſondern als
eine Beſtimmung des A, mit A in einen ſpe-
cialern Begriff zuſammen gezogen. - 4º. Aiſt ſowohlBalsC, oder AiſtBundC.
Dieſer Satz iſt ebenfalls nur zuſammen gezo-
gen, wie Nº. 1. - 5º. Aiſt entwederBoderC. Dieſer Satz iſt
vieldeutig. Denn- α) kann A eine Gattung, B, C ihre Arten
ſeyn, und da ſtellet der Satz die Einthei-
lung vor. - β) Kann A ein Indiuiduum der Gattung,
B, C ihre Arten ſeyn, und da iſt der Satz
wirklich disiunctiv, weil B und C nicht bey-
ſamen, ſondern nur eines davon in A vor-
koͤmmt. - γ) Kann A ein Indiuiduum B, C Modifica-
tionen ſeyn, deren eine es haben muß,
und da iſt der Satz ebenfalls disiunctiv,
weil beyde Modificationen nicht zugleich
ſeyn koͤnnen.
- α) kann A eine Gattung, B, C ihre Arten
- 6º. EntwederAoderBiſtC. Dieſer Satz
hat an ſich gewoͤhnlich die vollſtaͤndigere Form:
EntwederA,oderB,oder beydes oder kei-
nes iſtC, wobey man anfaͤngt die beyden letzten
Moͤglichkeiten auszuſchließen, um die Disjun-
ction auf die Glieder A, B, oder wenn deren meh-
rere P, Q, ꝛc. ſind, auf jedes fuͤr ſich zu brin-
gen. Hiebey koͤnnen nun A, B, P, Q ꝛc. Merk-
male eines Begriffes, oder Indiuidua ſeyn, und
C iſt ein Praͤdicat, welches einem derſelben zu-
kommen muß. - 7º. Aiſt wederBnochC, iſt ein aus den Saͤ-
tzen: Aiſt nichtB, Aiſt nichtC zuſammen-
gezogener Satz. - 8º. WederAnochBiſtC, iſt ebenfalls aus
den Saͤtzen: Aiſt nichtC, Biſt nichtC zu-
ſammengezogen. Dieſe beyden Arten von Saͤ-
tzen (Nº. 7. 8.) koͤnnen wir remotiv nennen, um
ſie von den Copulativen zu unterſcheiden.
§. 239.
Um nun die vorhin (§. 233.) beruͤhrte Verwirrung
in der Bedeutung der Saͤtze:
- 1º. Alle A ſind nicht B.
- 2º. Nicht alle A ſind B.
- 3º. Alle Nicht ‒ A ſind B.
- 4º. Alle A ſind Nicht ‒ B.
- 5º. Kein A iſt B.
genauer
[211]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
genauer zu betrachten, merken wir an, daß eigent-
lich das Bindwoͤrtchen ein Urtheil zum Urtheile,
und einen Satz zum Satze machet, und folglich das
Sprechen und das Widerſprechen, darauf an-
koͤmmt, ob man iſt oder iſt nicht ſaget. Naͤmlich
iſt widerſpricht dem iſt nicht, und dieſes jenem, und
bey einerley Subject und Praͤdicat kann nicht
beydes zugleich und in | einerley Sinne ſtatt
haben. Nicht zugleich, ſo fern Verwandlungen
das iſt in iſt nicht, und hinwiederum das iſt nicht
in iſt veraͤndern koͤnnen. Nicht in einerley Sinne,
ſo fern in einer Abſicht das iſt, in einer andern Ab-
ſicht das iſt nicht ſtatt haben kann. Dieſes iſt nun
der ſogenannte Satz des Widerſpruches, mit
welchem man gemeiniglich in der Metaphyſic an-
faͤngt. Wir haben ihn auch bisher ſchon oͤfters ge-
braucht, ohne ihn eben ausdruͤcklich in Form eines
Grundſatzes, oder des erſten Grundſatzes der ge-
ſammten Erkenntniß vorzutragen. Hier fuͤhren wir
ihn an, um ſeine Verbindung mit andern Wahrhei-
ten umſtaͤndlicher aus einander zu ſetzen, und ſeinen
aͤchten Gebrauch von dem Misbrauche genauer zu
unterſcheiden.
§. 240.
Das erſte, was wir demnach daruͤber anzumerken
haben, iſt, daß der Satz des Widerſpruches eigent-
lich das Bindwoͤrtchen der Saͤtze angeht, welches
nicht zugleich und in einerley Sinne iſt und iſt nicht
ſeyn kann. Man traͤgt daher dieſen Satz auch meh-
rentheils ohne Praͤdicat vor, und da lautet er folgen-
dermaßen:
Ein und eben daſſelbe DingAkann nicht
zugleich ſeyn, und nicht ſeyn;
O 2oder:
[212]VII. Hauptſtuͤck.
oder:
Es iſt unmoͤglich, daß ein DingAzugleich
ſey, und nicht ſey.
Und dieſer Vortrag iſt um deſto ſicherer, weil man,
wenn ein beſtimmtes Praͤdicat beygefuͤget wird, gar
leicht das nicht von dem Bindwoͤrtchen iſt weg-
nimmt, und es dem Praͤdicat beyſetzet, wodurch aber
das Praͤdicat nicht eben daſſelbe bleibt, ſondern in
einen Terminum infinitum verwandelt wird. Z. E.
Akann nicht zugleichBſeyn und nichtB
ſeyn;
oder:
Aiſt nichtBund Nicht ‒ Bzugleich.
§. 241.
Eigentlich aber beſteht der Widerſpruch in zweyen
Saͤtzen, in deren einem das Bindwoͤrtchen iſt, in
dem andern das Bindwoͤrtchen iſt nicht vorkoͤmmt,
Subject aber und Praͤdicat in einerley Sinne ge-
nommen werden. Solche zween Saͤtze koͤnnen nun
nicht zugleich wahr ſeyn, und ſie werden wider-
ſprechend genennet, weil das Bindwoͤrtchen in
jedem Satze den Ausſpruch thut (§. 239.), und weil
iſt dem iſt nicht ſchnurſtracks und abſolute zuwider
oder entgegen iſt.
§. 242.
Sodann koͤnnen wir anmerken, daß, wenn ein
Satz genau und richtig ausgedruͤcket wird,
der Ausſpruch des Bindwoͤrtchens ſich ein-
foͤrmig auf den ganzen Satz ausdehnet, oder
das Praͤdicat ganz von dem ganzen Subjecte,
das will ſagen, durchaus bejahet oder vernei-
net.
[213]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
net. Jn dieſem Verſtande ſaget man, ein Satz
ſey dem andern durchaus widerſprechend, wenn
auch ſchlechthin nur das iſt in iſt nicht, oder dieſes
in jenes verwandelt wird. Der Ausſpruch des Binde-
woͤrtchens muß ſich naͤmlich gleichfoͤrmig auf jede un-
ter dem Subjecte begriffene Indiuidua, und bey jedem
Indiuiduo auf alle Theile, und ſo auch auf jede Merk-
male des Praͤdicates ausdehnen. Wo dieſes iſt, da
iſt der Satz genau, richtig und rein oder nett ausge-
druͤcket; widrigenfalls iſt er mehr oder minder ver-
wirret, unrichtig, und durchmenget, und muß ge-
aͤndert werden, wenn man ihn genau, richtig und
rein haben will. Dieſe Aenderung beſteht nun in
folgendem.
- 1º. Wenn das Bindwoͤrtchen nicht einfoͤrmig auf
alle unter dem Subjecte begriffene Indiuidua
geht, ſo faͤllt die Allgemeinheit mehr oder minder
weg, und man muß die Indiuidua, denen das
Praͤdicat gar nicht oder anders zukoͤmmt, be-
ſonders nehmen. - 2º. Wenn das Bindwoͤrtchen in jedem Indiuiduo
nicht auf alle Theile deſſelben geht, ſo iſt es
auch beſſer, ſtatt des ganzen Subjectes die
Theile zu benennen, auf welche ſich das Bind-
woͤrtchen bezieht. - 3º. Wenn das Bindwoͤrtchen nicht auf jede Merk-
male des Praͤdicates einfoͤrmig geht, ſondern
jedes Merkmal dem Subject in einer beſondern
Abſicht, oder auf eine beſondere Art zukoͤmmt;
ſo thut man auch beſſer, jedes Merkmal beſon-
ders zu benennen. - 4º. Jſt die Verwirrung noch groͤßer, oder kom-
men jedem Indiuiduo des Subjectes, oder je-
O 3dem
[214]VII. Hauptſtuͤck.
dem Theile des Indiuidui andere Merkmale des
Praͤdicates zu, ſo abſtrahirt man beſſer von
dem ganzen Satze, ließet das Chaos aus ein-
ander, und traͤgt es ſtuͤckweiſe vor. Noch mehr
muß dieſes geſchehen, wenn das Praͤdicat ein
vieldeutiges Wort iſt, und daher ſtatt eines
Begriffes mehrere von ungleicher Art vorſtellet.
Es iſt oͤfters ſchwer, ſolche Diſſonanzen in einem Sa-
tze zu empfinden und genau zu bemerken. Man fin-
det ſie gewoͤhnlich nur, nachdem man lange
fuͤr und wider den Satz gezanket hat, oder
wenn der Satz Verwirrung und Schwierig-
keiten anbeut, es ſey, daß man ihn bejahe oder
verneine. Denn in ſolchen Faͤllen geht weder
das Bejahen noch das Verneinen durchaus an.
Wir werden bald auch ſehen, daß es an ſich auch
Faͤlle giebt, wo etwas weder zu bejahen noch zu ver-
neinen iſt, das will ſagen, wo die Frage, ob man
bejahen oder verneinen ſoll, gar nicht vorkoͤmmt.
§. 243.
Was einen Widerſpruch enthaͤlt, iſt in
dem, wo der Widerſpruch vorkoͤmmt, un-
moͤglich. Man laͤßt daher auch das Widerſpre-
chende und das Unmoͤgliche zu paaren gehen, und
hinwiederum giebt man alles das fuͤr an ſich
moͤglich aus, was keinen Widerſpruch enthaͤlt.
Jn ſo ferne iſt das Moͤgliche mit dem Gedenkba-
ren und mit dem Wahren von gleichem Umfange.
Denn das Widerſprechende laͤßt ſich nicht gedenken,
und das Gedenkbare iſt nicht widerſprechend. Wir
koͤnnen noch beyfuͤgen, daß das fuͤr ſich Gedenk-
bare, und dieſes ſind die einfachen Begriffe,
ihre
[215]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
ihre Grundſaͤtze undPoſtulata,fuͤr ſich nicht
widerſprechend ſind, und daher die erſte An-
lage zu den poſitiven Moͤglichkeiten geben,
welche in der Grundlehre um deſto mehr muͤſſen auf-
geſuchet werden, weil das Nicht ‒ widerſprechen nur
ein verneinendes Merkmal des Moͤglichen iſt. Man
ſehe, was wir oben (§. 19.) hieruͤber angemerket ha-
ben. Die erſt erwaͤhnte Grundlage zu poſitiven
Moͤglichkeiten iſt a priori, und kann der andern,
welche vom Wirklichen aufs Moͤgliche ſchließt,
in ſo fern entgegengeſetzt werden, als letztere a poſte-
riori iſt, (§. 20.). Die unmittelbarſte Quelle aber
zu poſitiven Moͤglichkeiten, ſowohla priorials
a poſteriori,ſind die Kraͤfte, weil ohne dieſe nichts
geſchehen kann. Jn dieſer Abſicht iſt in der wirk-
lichen Welt alles das unmoͤglich, wozu die wirklich
darinn vorkommenden Kraͤfte, welche allerdings
auch, wie jedes uͤbrige in der Welt, beſtimmet ſind,
nicht ausreichen. Jm Reiche der Moͤglichkeit aber
gehen die Kraͤfte auf alles, was keinen abſoluten
oder im ſtrengſten Verſtande categoriſchen, oder auf
keine Bedingungen geſetzten (§. 237.) Widerſpruch
hat, und daher werden die Einſchraͤnkungen deſſen,
was durch Kraͤfte moͤglich iſt, ſchon durch die ein-
fachen Begriffe, ihre Grundſaͤtze und Poſtulata be-
ſtimmet, (§. cit. und §. 225.). Da wir uͤbrigens
zwiſchen dem, worinn in der That kein Widerſpruch
iſt, und zwiſchen dem, wo wir keinen bemerken, und
ſo auch zwiſchen dem, wo wir glauben, das keiner ſey,
nicht immer ſo genau unterſcheiden; ſo gebrauchen
wir das Wort moͤglich in allen dieſen Faͤllen, und
nennen moͤglich, ſowohl was in der That ſeyn kann,
als was wir noch unausgemacht laſſen, oder worinn
wir nicht ſogleich eine Unmoͤglichkeit ſehen. Jm letzten
O 4Falle
[216]VII. Hauptſtuͤck.
Falle bedeutet moͤglich ungefaͤhr eben ſo viel, als
vielleicht, und muß daher mit ſeiner eigentlichen
Bedeutung nicht vermenget werden, welche von dem
Worte moͤgen, und daher von dem Begriffe der
Kraͤfte hergenommen iſt, und folglich auf alles geht,
was durch Kraͤfte geſchehen kann.
§. 244.
Aus dem, daß eine Sache nicht zugleich ſeyn und
nicht ſeyn kann, folget, daß ſie entweder iſt, oder
nicht iſt. Auch hiebey verſteht man eben dieſelbe
Sache, und in eben der Abſicht betrachtet. Denn
da wir gar leicht, nicht nur Sachen mit Worten be-
nennen, ſondern Sachen den Worten andichten: ſo
bleibt es moͤglich, daß eine ſolche ſupponirte oder
gedichtete Sache zum Theil iſt, zum Theil nicht iſt.
Daher koͤnnen wir den erſt angefuͤhrten Satz nicht
ſo unbedingt bey ſolchen Vorſtellungen gebrauchen,
die vielmehr von den Worten, als von den Sachen
ſelbſt herruͤhren, und oͤfters wegen verſteckten Wider-
ſpruͤchen Undinge vorſtellen, die nicht nur nicht ſind,
ſondern gar nicht ſeyn koͤnnen, und folglich in bloßen
Einbildungen beſtehen.
§. 245.
Man nennet den Satz: daß jede Sache entwe-
der iſt oder nicht iſt, das Principium excluſi tertii,
und eigentlich will er ſagen, daß zwiſchen Seyn und
Nicht ſeyn kein Mittel ſtatt habe. Man kann
beyfuͤgen, kein Mittel, welches real waͤre. Denn
auf eine bloß ideale Art laſſen ſich zwiſchen Seyn
und Nicht ſeyn Stufen oder Grade gedenken, wel-
che die Wahrſcheinlichkeit und Grade der Gewißheit
vorſtellen. Dieſer Satz wird ferner eben ſo, wie
der
[217]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
der Satz des Widerſpruches (§. 240.), fuͤglicher ohne
ein beſtimmtes Praͤdicat vorgetragen, weil auch da
das nicht ſehr leicht von dem Bindwoͤrtchen iſt,
weggenommen und dem Praͤdicat anhaͤngig gemacht
wird. Ueberdieß laͤßt ſich auch nicht jedes Praͤdicat
dazu gebrauchen, dafern man nicht vier Glieder ma-
chen will: Z. E.
Aiſt entwederB;oder es iſt nichtB;oder
es iſt wederBnoch nichtB;oder es iſt
in beſondern AbſichtenBund nichtB.
Denn es giebt Faͤlle, wo die Frage, ob man B von A
bejahen oder verneinen ſoll, ganz wegfaͤllt; und eben
ſo giebt es Faͤlle, wo man nur in gewiſſen Abſichten,
oder zum Theil bejahen kann, zum Theil aber, oder
in andern Abſichten, verneinen muß.
§. 246.
Aus den beyden Saͤtzen, daß eine Sache nicht zu-
gleich ſey und nicht ſey, und daß ſie folglich ent-
weder ſey oder nicht ſey, folgert man den dritten:
Eine Sache, welche iſt, iſt, und welche nicht
iſt, iſt nicht. Und dieſen nennet man das Princi-
pium poſitionis, wodurch naͤmlich das, was iſt, als
etwas, das iſt, geſetzt, und hinwiederum das, was
nicht iſt, als etwas, das nicht iſt, gehoben wird.
Fuͤget man dieſem Satze ein Praͤdicat bey; ſo lautet
er: Eine Sache, dieAiſt, iſtA, und hinwie-
derum: Eine Sache, die nichtAiſt, iſt nichtA.
Oder allgemeiner: Jede Sache iſt das, was ſie
iſt, und nicht zugleich etwas anders, als was
ſie iſt.
§. 247.
Wir haben bereits (§. 242. 245.) angemerket, daß
es Faͤlle giebt, wo vom Bejahen oder Verneinen die
O 5Rede
[218]VII. Hauptſtuͤck.
Rede gar nicht vorkoͤmmt. Dieſe Faͤlle haben mit
den Fragen, die ſchlechthin wegfallen, oder gar nicht
gemacht werden koͤnnen, eine naͤhere Verwandtſchaft.
Wir werden ſie daher ſuchen kenntlicher zu machen,
weil ſie gewoͤhnlich, ehe man ſie aus dem rechten
Geſichtspunct betrachtet, Verwirrung und Streitig-
keiten verurſachen, (§. 242.). Es ſey demnach A
eine Gattung, B, C ihre zwo Arten, H ſey ein In-
diuiduum. Gehoͤret nun H unter die Gattung A,
ſo gehoͤret es auch nothwendig entweder unter C, oder
unter B; und man kann fragen, ob es C ſey, oder
ob es B ſey? Man kann aus gleichem Grunde auch
fragen, ob es C ſey, oder ob es nicht C ſey? Denn
weil H unter A gehoͤret, und A die Beſtimmungen
B und C haben kann, ſo koͤmmt eine dieſer Beſtim-
mungen in dem Indiuiduo H nothwendig vor, und
man kann daher von jeder beſonders fragen, ob ſie
in H ſey, oder nicht ſey? Bis dahin geht alles richtig.
Man ſetze nun, B und C waͤren ſolche Beſtimmungen,
die der Gattung A eigen ſind; und K ſey ein Indiui-
duum, welches gar nicht unter die Gattung A, ſon-
dern unter eine ihrer Nebengattungen gehoͤret; ſo
faͤllt die Frage, ob K, B oder C ſey, imgleichen ob K,
C ſey oder nicht C ſey, ganz weg. Denn dieſe Fra-
gen ſetzen ſtillſchweigend voraus, daß K unter die
Gattung A gehoͤre, und dieſes iſt vermoͤge der Vor-
ausſetzung nicht. Demnach fallen dieſe Fragen zu-
gleich mit der Bedingung weg. Z. E. Man kann
die Figuren, welche Seiten haben, in Gleichſeitige
und Ungleichſeitige eintheilen. Wollte man nun fra-
gen, ob ein Cirkel gleichſeitig oder ungleichſeitig ſey:
ſo kann man weder bejahen noch verneinen, weil bey
Cirkeln von Seiten gar nicht die Rede iſt. Auf
gleiche Art iſt die Frage, ob ein Triangel tugendhaft
ſey
[219]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
ſey oder nicht, unſchicklich und ungereimt, weil bey
geometriſchen Figuren von Tugenden und Laſtern die
Rede gar nicht vorkoͤmmt, und die Moralitaͤt ſchlecht-
hin nur die Jntellectualwelt angeht. Wir fuͤhren
dieſes hier um deſto mehr an, weil man in der Me-
taphyſic gar zu leichte ein Ding uͤberhaupt in ſolche
Arten eintheilet, in welche eigentlich nur eine gewiſſe
Art von Dingen eingetheilet werden kann, oder auch,
in welche ſich ein Ding uͤberhaupt, nur in einer ge-
wiſſen Abſicht, eintheilen laͤßt. Und wenn dieſe Art,
oder das ſo genannte Fundamentum diuiſionis, in der
Sprache keinen Namen hat, ſo iſt es auch ſchwerer,
es deutlich anzuzeigen und kenntlich zu machen. Die
Schwierigkeit, die Subſtanzen und Accidenzen von
einander ſo zu unterſcheiden, daß ſich alles Moͤgliche
und Gedenkbare in dieſe zwo Claſſen vertheilen laſſe;
die Frage, die dabey gemacht wird, ob Zeit, Raum,
Kraͤfte, Verhaͤltniſſe ꝛc. Subſtanzen oder Accidenzen
ſind ꝛc. ſcheinen aus einem Mangel von Begriffen
und Woͤrtern herzuruͤhren, durch die ſich entſcheiden
ließ, ob oder wie ferne die Eintheilung in Subſtan-
zen und Accidenzen allgemein oder nur ſpecial ſey,
oder welches Fundamentum diuiſionis dabey eigent-
lich zum Grunde liege? Denn ſo z. E. ſetzet ein Ver-
haͤltniß Subſtanzen und Accidenzen voraus, das
Verhaͤltniß ſelbſt aber iſt deſſen unerachtet von bey-
den verſchieden. Uebrigens wird uns die hier vorge-
tragene Anmerkung im Folgenden dienen, den ſo ge-
nannten Terminum infinitum deutlicher zu erklaͤren.
§. 248.
Um nun wiederum zu dem Satze des Widerſpru-
ches und den beyden daraus gefolgerten Grundſaͤtzen
(§. 245. 246.) zuruͤcke zu kehren, merken wir an, daß
das
[220]VII. Hauptſtuͤck.
das bisher daruͤber geſagte gleichſam nur das Sym-
boliſche und die logiſche Form derſelben betrifft. Die
Sprache giebt uns auch hierinn mehrere Moͤglichkei-
ten, als die Sache ſelbſt, weil es gar wohl moͤglich
iſt, zween einander widerſprechende Saͤtze vorzutra-
gen, deren keiner etwas reales vorſtellet oder bedeutet,
und wobey folglich die Frage, welcher von beyden
wahr, und welcher nicht wahr ſey, ſchlechthin weg-
faͤllt: Wir haben daher ſchon (§. 243.) von den ab-
ſoluten, categoriſchen, oder auf keine Bedingungen
geſetzten Widerſpruͤchen Erwaͤhnung gethan, und da-
bey erinnert, daß die einfachen Begriffe, die erſte
Anlage dazu geben. Denn wenn wir ſagen, das
Widerſprechen beſtehe in dem iſt und iſt nicht, ſo
geben wir dadurch nur die aͤußerliche und ſymboliſche
Geſtalt eines Widerſpruches an, und dabey bleibt
noch ganz unausgemacht, woher ſie entſtehe, wo ſie
vorkomme, und weit weit ſie reiche? Dieſes werden
wir hier nun noch unterſuchen.
§. 249.
Die aͤußerliche Geſtalt der Widerſpruͤche giebt an
ſich betrachtet, dieſes an, daß zum Widerſprechen
wenigſtens zwey Stuͤcke erfordert werden.
Denn der Widerſpruch beſteht darinn, daß eben das
Praͤdicat von eben dem Subjecte zugleich und in
einerley Sinne bejahet und verneinet werde. Man
nehme nun einen Begriff A. Soll in demſelben, oder
in ſeinen innern Merkmalen etwas widerſprechendes
ſeyn, ſo muß er Merkmale haben, die nicht beyſam-
men ſeyn koͤnnen, ſo daß, wenn man das eine an-
nimmt, das andere zugleich nicht ſeyn koͤnne. Da
nun einfache Begriffe nicht aus mehrern innern
Merkmalen zuſammen geſetzet ſind, ſo ſind ſie an ſich
ſchon
[221]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
ſchon und ſchlechterdings nicht widerſprechend, und
zum Beweiſe ihrer Moͤglichkeit wird auch weiter
nichts, als die Gedenkbarkeit erfordert, weil ſie ſich
ſelbſt ihr eigenes und einiges inneres Merkmal ſind.
Die Widerſpruͤche koͤnnen daher nur in zuſammen-
geſetzten Begriffen vorkommen, oder da jede Wider-
ſpruͤche ſchlechthin ſymboliſch ſind (§. 231.), ſo kom-
men die Widerſpruͤche eigentlich nur in ſolchen Be-
griffen vor, die wir glauben zuſammenſetzen zu koͤn-
nen, weil ihre Woͤrter ſich zuſammen ſetzen laſſen.
Da nun die ſymboliſche Zuſammenſetzung der Woͤr-
ter weiter moͤglich iſt, als die reale von den Sachen
und Begriffen (§. 236.), ſo ſind die Widerſpruͤche
gleichſam die Graͤnzlinie zwiſchen der bloßen Zuſam-
menſetzung leerer Toͤne und moͤglicher Begriffe.
§. 250.
Nun koͤmmt es darauf an, woran es ſich erkennen
laſſe, daß in einem bloß vermittelſt der Worte zu-
ſammengeſetzten Begriffe ein Widerſpruch ſey, oder
daß die darinn zuſammengenommene Merkmale nicht
beyſammen ſeyn koͤnnen? So lange man nun dieſe
Frage auf eine bloß ſymboliſche Art aufloͤſet, giebt
man den Rath, den Begriff zu definiren, die in der
Definition gebrauchten Woͤrter wiederum zu defini-
ren, und damit forzufahren, bis man auf Saͤtze
koͤmmt, deren der eine eben das bejahet, was der
andere in eben dem Sinne verneinet. Denn ſo wird
man es nicht der Sache ſelbſt, ſondern ſchlechthin
nur den Worten anſehen, ob in der Sache etwas
Widerſprechendes ſey? Dieſes hieße nun im eigent-
lichſten Verſtande, die Theorie der Sache auf die
Theorie der Zeichen reduciren, (Semiot. §. 23.).
Und es iſt nur zu bedauern, daß unſere Sprachen
dieſes
[222]VII. Hauptſtuͤck.
dieſes den wiſſenſchaftlichen Zeichen eigene Merkmal
nicht haben, weil wir bey den Definitionen immer
auf die Sache ſehen muͤſſen, und weil es dabey ge-
woͤhnlich unausgemacht bleibt, wo man mit dem
Definiren anfangen und enden ſoll? (§. 22. 27. 33.).
Wir muͤſſen daher, wenn wir die Quellen der Wi-
derſpruͤche aufſuchen wollen, etwas mehr als Worte
denken, und die Objecte der Worte ſelbſt anſehen.
Hiezu dienen nun folgende Saͤtze.
- 1º. Ein einfacher Begriff iſt ſchlechthin nicht der
andere, und das, was der eine vorſtellet, kann
ſchlechthin nicht das ſeyn, was der andere vor-
ſtellet (§. 134.), und eines laͤßt ſich auch nicht
in das andere verwandeln, (§. 225.). - 2º. Eben ſo hat jeder einfache Begriff, oder das,
was er vorſtellet, ſeine ihm eigene Beſtimmun-
gen, und daher kann dem einen, die dem an-
dern eigene Beſtimmung ſchlechthin nicht bey-
geleget oder mitgetheilet werden. Z. E. der
Zeit die drey Dimenſionen des Raumes, der
Exiſtenz die Gradus intenſitatis ꝛc. Man ſehe
auch §. 77. Axiom. 2. §. 79. Axiom. 2. 5. 6. 7.
§. 83. Axiom. 2. 3. §. 85. Ax. 5. §. 88. Ax. 2. 4.
§. 94. Axiom. 2. 4. §. 98. Axiom. 1. 3. §. 103.
Axiom. 1. 2. 5. 6. 7. §. 111. Axiom. 1. 3. §. 137.
Axiom. 1. 10. verglichen mit §. 13. 12. - 3º. So beut uns auch jeder einfache Begriff mit
den uͤbrigen verglichen, einige abſolute und
ſchlechthin nothwendige Aehnlichkeiten und Ver-
ſchiedenheiten an, die weder verwechſelt noch
einander mitgetheilet werden koͤnnen. Wir ha-
ben ſie in den oben (§. 157-159.) vorgetragenen
Tabellen vorgezaͤhlet.
§. 251.
[223]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
§. 251.
Dieſe Saͤtze zeigen nun, wo man anfangen muͤſſe,
das iſt und das iſt nicht aufzuſuchen, und beſon-
ders ſind die angefuͤhrten Grundſaͤtze diejenigen, wel-
che der Moͤglichkeit in der Zuſammenſetzung der Be-
griffe und Dinge Schranken ſetzen. Wir haben in
dem angefuͤhrten §. 12. angezeiget, wie Euclid in
Abſicht auf den Raum dabey verfahren, um die
Graͤnzen der Moͤglichkeit der Figuren zu beweiſen,
und die daſelbſt angezogenen beyden Grundſaͤtze, die
er fuͤrnehmlich dazu gebraucht, finden ſich oben (§. 79.
Axiom. 3. §. 137. Axiom. 10.), und noch allgemeiner
vorgetragen, weil wir hier nicht die Geometrie, ſon-
dern die Grundlehre vor uns haben, (§. 80. 138. 116.).
§. 252.
Ueberhaupt geht der Widerſpruch auf das, was
nicht zugleich ſeyn kann. Nun bedeutet das Wort
zugleich urſpruͤnglich ſo viel, als zu gleicher Zeit,
und in dieſer Bedeutung gilt der Grundſatz: daß
die Theile der Zeit ſchlechthin nicht zugleich
ſind (§. 83. Axiom. 1.), welcher an ſich ſchon eine
Anlage zur Entdeckung der Widerſpruͤche angiebt.
Man hat aber dieſe engere Bedeutung ausgedehnet
und ſie gar tranſcendent gemacht. Denn in der Koͤr-
perwelt und uͤberhaupt iſt das Solide, welches zu-
gleich, oder zu gleicher Zeit exiſtirt, oder als exiſti-
rend angenommen wird, dem Orte nach außer ein-
ander, dabey aber, ſo fern es verbunden iſt, bey-
ſammen. Erſteres giebt wiederum die Grundſaͤtze,
daß die Theile des Raumes außer einander
ſind (§. 79. Axiom. 1. 5.), daß das Solide jedes
andere von dem Orte ausſchließe, wo es iſt
(§. 88. Axiom. 2.), daß einerley Solides nicht
zugleich an mehr als einem Orte, noch ver-
ſchie-
[224]VII. Hauptſtuͤck.
ſchiedenes Solides zugleich an einem Orte exi-
ſtiren koͤnne, (§. 103. Axiom. 5. 6.). Letzteres aber
machet, daß man das der Zeit nach zugleich ſeyn
mit dem beyſammen ſeyn zu Paaren gehen laͤßt,
und daher durch das zugleich ſeyn auf eine allge-
meinere Art eben ſo viel verſteht, als in einem bey-
ſammen ſeyn. Wir ſind nun ohnehin gewoͤhnet,
die Begriffe des Raumes ehender, als die Begriffe
der Zeit tranſcendent zu machen (§. 84.), und da
wir den Gedanken eine Ausdehnung, Ort, Ab-
ſtand ꝛc. geben (§. 81.), ſo dehnen wir das beyſam-
men ſeyn, und mittelſt dieſem auch das zugleich
ſeyn auf das Gedankenreich und die Jntellectual-
welt aus. So ſehen wir das beyſammen, oder
in einander ſeyn, der einfachen Begriffe (§. 250.
Nº. 1.), wie das in einander oder an einem Orte
ſeyn des Soliden, auf eine aͤhnliche Art an, und
ſetzen in beydem Widerſpruͤche. Es iſt nicht zu zwei-
feln, daß, da jedem, auch abſtracten Gedanken die
Bewegung gewiſſer Fibern in dem Gehirne ent-
ſpricht, wir ein confuſes Bewußtſeyn und Empfin-
dung von der Lage dieſer Fibern haben, ungefaͤhr,
wie wir den Ort derſelben klaͤrer empfinden, wenn
der Schmerz die Empfindung verſtaͤrket. Und ſo
giebt allem Anſehen nach, da jede Fiber ihre beſon-
dere Lage und Ort hat, das confuſe Bewußtſeyn der
Empfindung den natuͤrlichen und unmittelbaren An-
laß, den Gedanken Ausdehnung, Ort und Abſtand
zu geben. Wir machen hier dieſe Anmerkung gele-
gentlich in Abſicht auf das Syſtem von Worterklaͤ-
rungen, (§. 26.). Sie gehoͤret aber eigentlich zu
der in dem dritten und vierten Hauptſtuͤcke der Phaͤ-
nomenologie uͤberhaupt angezeigten Theorie, der in
dem Gehirne vorkommenden Empfindungen, welche
die
[225]Das Seyn und das Nicht ſeyn.
die phyſiologiſche Anlage zu dem abſtracten Gedan-
kenreiche ſind, welches, ſo wie unſere ganze Erkennt-
niß bey Empfindungen anfaͤngt, und damit immer
begleitet iſt.
§. 253.
Wir haben vorhin geſaget, daß die im §. 250.
vorgetragene Saͤtze zeigen, wo man anfangen muͤſſe,
das iſt und das iſt nicht, in Abſicht auf die Wider-
ſpruͤche aufzuſuchen. Wir werden, um dieſes noch
deutlicher aufzuklaͤren, hier folgende Betrachtung
beyfuͤgen. Es iſt unſtreitig, daß von Widerſpruͤ-
chen die Rede gar nicht vorkommen wuͤrde, wenn die
Moͤglichkeit, Begriffe zuſammen zu ſetzen, durchaus
uneingeſchraͤnkt waͤre. Denn ſo wuͤrde der Umſtand,
daß ein Begriff, welcher ſchon einige Merk-
male hat, gewiſſe andere Merkmale mit die-
ſen nicht zugleich haben koͤnne, ganz wegfallen.
So aber iſt das Reich der Wahrheiten nicht einge-
richtet; ſondern es herrſchet eine Ordnung darinn,
welche jeden Merkmalen, Beſtimmungen und Ver-
haͤltniſſen ihre Stelle anweiſet, und ſie von andern
Stellen ſchlechthin ausſchleußt. Nun kann man leicht
einſehen, daß von denen Saͤtzen, welche dieſe Moͤg-
lichkeiten einſchraͤnken, bereits ſchon unter den erſten
Grundſaͤtzen vorkommen muͤſſen, weil jene, wenn ſie
einen Beweis fordern, durch dieſe muͤſſen bewieſen wer-
den. Nun haben die Beweiſe, wodurch man einen Wi-
derſpruch herausbringt, eine von folgenden Formen.
- 1. Wenn A, B iſt, ſo muß es auch C ſeyn.
- Nun aber iſt es nicht C.
- Folglich kann es nicht B ſeyn.
- 2. Wenn A, D iſt, ſo kann es nicht E ſeyn.
- Nun aber iſt es E.
- Folglich kann es nicht D ſeyn.
Lamb. Archit.I.B. PJn
[226]VII. Hauptſtuͤck. Das Seyn ꝛc.
Jn beyden Formeln koͤmmt etwas verneinendes vor.
Jn der erſten, daßAnichtCſey, und davon loͤſet
ſich der Beweis immer in den Begriff der Verſchie-
denheit auf, welche bereits ſchon bey den einfachen
Grundbegriffen und ihren Beſtimmungen vorkoͤmmt,
(§. 250.). Die andere Formel ſetzet voraus, daß
D und E ſolche zween Begriffe ſind, welche nicht bey-
ſammen ſeyn koͤnnen, und davon loͤſet ſich der Be-
weis darein auf, daß was auf eine Art bereits be-
ſtimmet iſt, nicht zugleich auf eine andere Art be-
ſtimmet ſeyn koͤnne. Denn ſo ſchließen die Beſtim-
mungen der Zahl, der Grade, der Zeit, des Ortes,
der Lage, der Figur, der Direction ꝛc. einander aus.
Daher koͤmmt es auch in Anſehung der zweyten Form
der apogogiſchen Beweiſe auf abſolute und ſchlechthin
nothwendige Verſchiedenheiten an, (§. 250.). Da
demnach die Verſchiedenheiten die erſte Anlage zu
apogogiſchen Beweiſen, und zur Einſchraͤnkung der
Moͤglichkeiten Begriffe zuſammen zu ſetzen ſind, ſo
ſehen wir daraus, daß dieſe Einſchraͤnkungen kein
Mangel, ſondern eine weſentliche Vollkommenheit
des Reiches der Wahrheiten ſind, weil mit dieſen
Einſchraͤnkungen zugleich auch die Mannichfaltigkei-
ten darinn wegfallen muͤßten, weil jene nur ſtatt
haben, weil in den einfachen Begriffen dieſe vor-
kommen. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar, daß die bisher
(§. 250. ſeqq.) angezeigten Quellen der Widerſpruͤche
nicht an ſich betrachtet, ſondern nur in Abſicht auf
unſere Erkenntniß und Ausdruͤcke, Quellen zu Wi-
derſpruͤchen ſind, oder die objective Moͤglichkeit dazu
angeben. Die eigentliche Quellen wirklicher Wider-
ſpruͤche muͤſſen wir in der Unwiſſenheit, in der Un-
achtſamkeit und in dem Mangel des Gedaͤcht-
niſſes aufſuchen.
Achtes
[227]
Achtes Hauptſtuͤck.
Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
§. 254.
Das Wort nicht wird eigentlich dem Bindewoͤrt-
chen ſeyn beygefuͤget, und in ſo ferne gehoͤret
es unter die Aduerbia oder Beſtimmungswoͤrter der
Zeitwoͤrter. Jn dieſer Abſicht haben wir es in dem
vorhergehenden Hauptſtuͤcke betrachtet. Man hat es
aber bereits ſchon auch den Nennwoͤrtern als eine Be-
ſtimmung beygefuͤget, und dadurch wird der Begriff
deſſelben ſo veraͤndert, wie in der Sprache die Ad-
verbia oder Zuwoͤrter von den Adiectiuis oder Bey-
woͤrtern verſchieden ſind, (Semiot. §. 224. 228. 273.).
Dieſes konnte nun geſchehen, weil es in den Spra-
chen ſehr gewoͤhnlich iſt, Vorwoͤrter, Zuwoͤrter, Bey-
woͤrter und Nennwoͤrter in einander zu verwandeln,
und weil dieſe Verwandlung ſich auf gewiſſe meta-
phyſiſche Begriffe gruͤndet. Wir werden nun hier
beſonders unterſuchen, was das Wort nicht fuͤr eine
Bedeutung erhaͤlt, wenn es adjective genommen, oder
den Nennwoͤrtern als eine Beſtimmung beygefuͤget
wird. Da wir im Deutſchen das nicht dem iſt nach-
ſetzen, die Beywoͤrter aber den Hauptwoͤrtern vor-
ſetzen, ſo faͤllt in den Saͤtzen,
A iſt nicht B,
das nicht zwiſchen das iſt und das Praͤdicat B,
und der geſchriebene Satz giebt nicht an, ob das
nicht darinn als Zuwort oder als Beywort vor-
komme? Jm Lateiniſchen aber wird dieſes unter-
P 2ſchieden,
[228]VIII. Hauptſtuͤck.
ſchieden, weil die Stelle des non den Unterſchied
anzeiget, z. E.
A non eſt B.
A eſt non B.
Von dieſen Saͤtzen iſt der erſtere verneinend, der an-
dere bejahend. Um nun dieſen Unterſchied im Deut-
ſchen, ohne Ruͤckſicht auf den Zuſammenhang der
Rede oder den Accent der Ausſprache, vorzuſtellen,
werden wir dieſe beyden Saͤtze ſo geben:
A iſt nicht B.
A iſt Nicht ‒ B.
Jn dem erſten gehoͤret nun iſt nicht zuſammen,
und der Satz iſt verneinend, in dem andern gehoͤret
Nicht ‒ B zuſammen, und der Satz iſt bejahend,
und das Nicht ‒ B ſtellet einen Begriff vor, von
welchem man ſo viel ſagen kann, daß B nicht unter
ſeine Praͤdicate oder Merkmale gehoͤre. Da er aber
dadurch noch nicht auf eine poſitive oder beſtimmte
Art kenntlich gemacht wird, ſo hat man das nicht ‒ B
in den Vernunftlehren einen Terminum infinitum
genennet.
§. 255.
Nun kann, uͤberhaupt betrachtet, das nicht ‒ B
nicht die Bedeutung haben, als ob darunter alles das-
jenige begriffen werde, was B nicht zum Praͤdicate
hat, und folglich B allein ausgeſchloſſen ſey. Denn
ſo waͤren die Saͤtze,
- 1°. A iſt Nicht ‒ B,
- 2°. A iſt alles, was nicht B iſt,
- 3°. A iſt nicht B.
gleichguͤltig, und beſonders der zweyte in den meiſten
Faͤllen unmoͤglich, weil es außer dem B und außer
den
[229]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
den Dingen, die B ſind, noch genug Praͤdicate giebt,
die nicht zugleich beyſammen oder in einem Begriffe
ſeyn koͤnnen.
§. 256.
Ferner kann man allerdings die Dinge, welche
nicht B ſind, oder denen B nicht als ein Praͤdicat zu-
koͤmmt, in eine Claſſe zuſammennehmen, und dieſe
Claſſe dadurch ausſchließungsweiſe benennen, oder
derſelben auch einen beſondern Namen geben. Und
auf dieſe Art haben wir in der Sprache bereits viele
ſolche Namen. So z. E. heißen wir zeitlich, alles,
was nicht ewig iſt; falſch, alles, was nicht wahr
iſt; ungereimt, alles, was widerſprechend iſt;
unmoͤglich, alles, was nicht moͤglich iſt; noth-
wendig, alles, was nicht anders ſeyn oder nicht
nicht ſeyn kann ꝛc. Hingegen haben wir auch Faͤlle,
wobey das iſt und das iſt nicht, nur auf gewiſſe Ar-
ten gehen, die zuweilen ſchon in dem Worte mit an-
gezeiget werden. So z. E. ſetzet das gleichſeitig und
ungleichſeitig den Begriff der Seiten, und folglich
Dinge voraus, welche wirklich Seiten haben, oder
wo von Seiten die Rede vorkoͤmmt. Das tugend-
haft und laſterhaft ſetzet moraliſche Weſen und
poſitive Handlungen voraus, das gelehrt und
ungelehrt, das wiſſend und unwiſſend, ſetzet
ein denkendes Weſen und Erkenntnißkraͤfte vor-
aus, welche geuͤbt werden muͤſſen ꝛc. Jn dieſen
letztern Faͤllen laͤßt ſich zu dem iſt und iſt nicht noch
das weder iſt, noch iſt nicht, gedenken. Jn
den erſtern Faͤllen aber bleibt das iſt und iſt nicht
allein, und es muß bewieſen werden, daß es allein
bleibe, (§. 247.).
P 3§. 257.
[230]VIII. Hauptſtuͤck.
§. 257.
Das Nicht ‒ B zeiget demnach nicht alles, ſon-
dern nur etwas von den Dingen an, die nicht B ſind,
oder denen B nicht als ein Praͤdicat zukoͤmmt. Und
wenn man ſaget:
Aiſt Nicht ‒ B,
ſo will man dadurch ſagen: Aiſt etwas anders
alsB. Dieſer Ausdruck iſt aber noch nicht beſtimmt
genug. Denn es bleiben dabey noch zween Faͤlle
moͤglich. 1°. A kann, außer daß es B iſt, noch gar
wohl etwas anders, als B ſeyn. Und da ſagt man
beſtimmter: Aiſt noch etwas anders, oder noch
etwas mehr alsB. Und dieſe Redensart gebraucht
man, wenn man A definiren will, und in B noch nicht
ein vollſtaͤndiges oder zureichendes Merkmal findet.
2°. KannAdergeſtalt etwas anders alsBſeyn,
daßBdavon ganz ausgeſchloſſen bleibt, oder
wenn man es als eine Beſtimmung mitnehmen wollte,
in A einen Widerſpruch bringen wuͤrde. Und da iſt A
etwas dem B Widerſprechendes, das mit B nicht be-
ſtehen kann (incompatibile). Von dieſen beyden Faͤl-
len muß nun einer dem nicht ‒ B entſprechen, und
da iſt offenbar, daß es der zweyte iſt. Denn das
nicht, ſo lange es nur dem iſt als ein Aduerbium
beygefuͤget wird, zeiget eine bloße Privation an, hin-
gegen als Adiectiuum hat es etwas Categoriſches,
und das Nicht ‒ B ſchließt das B nicht nur zum
Theil, ſondern ganz aus. Wenn man daher ſagt:
Aiſt Nicht ‒ B,
ſo will dieſes ſo viel ſagen: Ahat ſolche Praͤdi-
cate, mit welchenBzugleich nicht ſeyn kann,
und hat ſie wirklich oder auch ſchlechthin; oder
auch: A iſt nicht nur nicht B, ſondern es kann auch
nicht
[231]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
nicht B ſeyn, weil es ſolche Beſtimmungen Nicht ‒ B
hat, die das B ſchlechthin ausſchließen.
§. 258.
Auf dieſe Art koͤnnen wir z. E. ſagen: Ein
Menſch iſt gelehrt, und dieſes iſt ganz poſitiv,
weil die Gelehrſamkeit in der That unter den menſch-
lichen Praͤdicaten iſt. Sagen wir hingegen: Ein
Menſch iſt nicht gelehrt, ſo iſt dieſes privativ,
weil er die Gelehrſamkeit, die er als Menſch doch
haben koͤnnte, ſchlechthin nur nicht hat. Sagen wir:
Ein Stein iſt gelehrt, ſo iſt dieſes abſurd, weil
die Gelehrſamkeit unter den Praͤdicaten eines Steins
gar nicht vorkoͤmmt, und ſo fern ſie nicht darinn vor-
kommen kann, koͤnnen wir den Terminum infinitum
nicht ‒ gelehrt mit ſeiner voͤlligen Categorie von
dem Steine bejahen. Denn dieſer Terminus iſt
eigentlich ein abgekuͤrzter Ausdruck, den wir ſtatt der
Umſchreibung gebrauchen koͤnnen; ein Stein habe
ſolche Beſtimmungen, bey welchen die Gelehrſamkeit
nicht als Praͤdicat vorkommen koͤnne. Wir werden
nun aus dem bisher Geſagten einige Folgen ziehen.
§. 259.
Die erſte iſt, daß die Theorie desTermini in-
finitieigentlich nur bey denIndiniduisangebracht
werden koͤnne. Denn die Begriffe der Arten und
Gattungen, ſind dadurch allgemein, weil wir die Be-
ſtimmungen, die ſie in den Indiuiduis haben, ſchlecht-
hin nur weglaſſen, oder davon abſtrahiren. So z. E.
iſt ein Menſch, uͤberhaupt betrachtet, weder gelehrt
noch ungelehrt, weil in dem Begriffe der Gattung
die bloße Moͤglichkeit, gelehrt zu werden, oder un-
gelehrt zu bleiben, beybehalten wird. Wenn wir
P 4dem-
[232]VIII. Hauptſtuͤck.
demnach ſagen: ein Menſch, uͤberhaupt betrachtet,
iſt nicht gelehrt, ſo iſt dieſes bloß privativ zu nehmen,
weil wir in dem allgemeinen Begriffe eines Men-
ſchen, von der wirklichen Gelehrſamkeit abſtrahiren,
und nur die Moͤglichkeit dabey laſſen. Hingegen
kann bey einem Indiuiduo nichts Unbeſtimmtes blei-
ben, und man kann auch, ohne von ſeinen Beſtim-
mungen wegzunehmen, keine fernern Beſtimmungen
zuſetzen. Demnach, ſo lange einIndiuiduumdas
bleiben ſoll, was es iſt, bleibt es ſchlechthin
unmoͤglich, daß es noch etwas anders dazu
ſeyn koͤnne, und zwar nicht nur deswegen,
weil es dadurch mehr wuͤrde, als es war, ſon-
dern weil es dieſes mehrere nicht werden kann,
ohne daß von dem, was es vorhin war, etwas
geaͤndert oder weggenommen werde.
§. 260.
Hieraus folgern wir ferner: Wenn in einemIn-
diuiduo Anichts vorkoͤmmt, welches die Be-
ſtimmungBſchlechthin ausſchließt, ſo laͤßt es
die BeſtimmungBzu, und im Reiche der
Wahrheiten hat es dieſelbe. Denn ein Indiui-
duum iſt dadurch ein Indiuiduum, daß es jede Be-
ſtimmungen, die es zuſammen haben kann, wirklich
hat, und jede fernere Beſtimmungen, wenn daran
nichts geaͤndert werden ſoll, ſchlechthin ausſchließt.
Wenn wir demnach in erſt vorgetragenem Satze ſa-
gen, daß A die Beſtimmung B zulaſſe, ſo iſt dieſes
nur in Abſicht auf unſere Erkenntniß, ſo fern wir
naͤmlich bey denIndiuiduisaus dem Nicht ‒
widerſprechen auf das Daſeyn ſchließen, und
unſere Erkenntniß dadurch bereichern koͤnnen. Jn
dem Reiche der Wahrheit aber iſt alles ſchon ausge-
macht.
[233]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
macht. Wir merken hiebey nur an, daß man in
dieſem Satze zwiſchen Beſtimmungen und Ver-
aͤnderungen unterſcheiden muͤſſe, weil die in der
wirklichen Welt vorkommenden Indiuidua Veraͤnde-
rungen in ihren Beſtimmungen und Verhaͤltniſſen
haben koͤnnen.
§. 261.
Wir haben nun folgende ſechs Ausdruͤcke,
- 1°. iſt A,
- 2°. iſt nicht A,
- 3°. iſt Nicht ‒ A,
- 4°. was A iſt,
- 5°. was nicht A iſt,
- 6°. was Nicht ‒ A iſt.
welche gewiſſermaßen eine eigene Claſſe ausmachen.
Werden dieſe nun ohne Zuziehung anderer Beſtim-
mungen auf alle Arten zu Subjecten und Praͤdicaten
gemacht, ſo ergeben ſich folgende ſiebzehen Saͤtze, die
man mehr oder minder als Grundſaͤtze anſehen kann,
wenn man das, was ſie vorſtellen, richtig beſtimmet,
und beſonders nicht vergißt, daß ſie ſich auf Indiui-
dua beziehen.
I°,Vier copulative Saͤtze.
- 1°. Was zugleichAund Nicht ‒ Aiſt, iſt
nichts (abſurd, widerſprechend, nicht ge-
denkbar, ſchlechthin unmoͤglich ꝛc.). Denn
A hat Praͤdicate, welche das Nicht ‒ A ſchlecht-
hin ausſchließen, und hinwiederum Nicht ‒ A
hat Praͤdicate, mit welchen A ſchlechthin nicht
beſtehen kann, (§. 257.). Uebrigens iſt dieſer
Satz der oben ſchon angefuͤhrte Grund des
Widerſpruches mit beſtimmtem Praͤdicate,
(§. 240.).
P 52°. Was
[234]VIII. Hauptſtuͤck.
- 2°. Was nicht ‒ nichts, (etwas, moͤglich,
gedenkbar ꝛc.) iſt, kann nicht zugleichA
und Nicht ‒ Aſeyn. Man ſetze, es ſey A und
Nicht ‒ A zugleich, ſo iſt es nichts, (N°. 1.).
Dieſes ſtoͤßt aber die Vorausſetzung um, folg-
lich ꝛc. Dieſer Satz iſt der vorhergehende,
aber umgekehrt. Der erſte wird auch ſo aus-
gedruͤckt Ein widerſprechend Subject hat
keine (reale) Praͤdicate. Der andere aber:
Ein real Subject hat keine widerſprechen-
de Praͤdicate. - 3°. Nichts, oder was ein abſolutes cate Jori-
ſches Nichts iſt, iſtA,und Nicht ‒ Azu-
gleich. Dieſen Satz giebt man als eine De-
finition des Nichts an. Er will ſagen, daß
widerſprechende Praͤdicate in keinem (rea-
len) Subjecte vorkommen. Denn nichts
und ein widerſprechendes Subject, und ſo
auch ein widerſprechendes Praͤdicat, iſt
einerley, oder nur in den Worten verſchieden. - 4°. Was nicht zugleichAund Nicht ‒ Aiſt,
iſt nicht Nichts. Man ſetze, es ſey nichts,
ſo iſt es A und nicht ‒ A zugleich, (N°. 3.).
Dieſes aber ſtoͤßt die Vorausſetzung um. Dem-
nach ꝛc. Dieſer Satz wird auch ſo ausgedruͤckt.
Ein reales Praͤdicat findet ſich in keinem
widerſprechenden Subjecte.
II°.Vier einfache Saͤtze.
- 5°. Was nicht Nicht ‒ Aiſt, iſtA. Denn weil
es vermoͤge der Vorausſetzung nicht Nicht ‒ A
iſt, ſo koͤmmt nichts darinn vor, welches die
Beſtimmung A ſchlechthin ausſchließen wuͤrde.
Demnach laͤßt es dieſe Beſtimmung A zu, und
im
[235]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
im Reiche der Wahrheit, auf welches wir hier
eigentlich ſehen, hat es dieſelbe, (§. 260.). Die
Wahrheit dieſes Satzes gruͤndet ſich eigentlich
ſchlechthin auf die Natur des Termini infiniti,
und giebt ſie noch naͤher zu erkennen. Sodann
nehmen wir hier die Indiuidua, wie ſie im Reiche
der Wahrheiten, real und durchaus beſtimmt
vorkommen, und weil ſie nicht bloß ideal ſind,
wie die allgemeinen Begriffe, noch bloß ſymbo-
liſch, wie eben dieſe Begriffe und nebſt denſelben
alles Ungereimte, (§. 231. 249. 164. 259. 260.). - 6°. Was nichtAiſt, iſt Nicht ‒ A. Man
ſetze, es ſey nicht Nicht ‒ A, ſo iſt es A,
(N°. 5.). Dieſes ſtoͤßt aber die Vorausſetzung
um. Folglich ꝛc. Oder: Was nicht A iſt,
hat ſolche Beſtimmungen, welche die Beſtim-
mung A ferner nicht mehr zulaſſen. Denn haͤtte
es ſolche Beſtimmungen nicht, ſo wuͤrde es A
ſeyn koͤnnen, und im Reiche der Wahrheiten
wirklich A ſeyn; welches aber, als der Voraus-
ſetzung zuwider, nicht angeht. Demnach iſt es
Nicht ‒ A, (§. 257.). - 7°. WasAiſt, iſt nicht Nicht ‒ A. Man ſetze,
es ſey Nicht ‒ A, ſo iſt es A und nicht ‒ A
zugleich, folglich nichts, (N°. 1.). Da nun
dieſes der Bedingung zuwider iſt, ſo kann es
nicht nicht ‒ A ſeyn. Oder: Man ſetze, es
ſey nicht ‒ A. Demnach hat es ſolche Praͤ-
dicate, wodurch A ſchlechthin ausgeſchloſſen iſt,
und folglich koͤnnte es nicht A ſeyn, (§. 257.).
Dieſes ſtoͤßt aber die Bedingung um, daß es A
ſey. Demnach ꝛc. - 8°. Was Nicht ‒ Aiſt, iſt nichtA. Denn
wenn es A waͤre, ſo koͤnnte es nicht Nicht ‒ A
ſeyn
[236]VIII. Hauptſtuͤck.
ſeyn (N°. 7.), welches der Vorausſetzung zu-
wider laͤuft. Folglich ꝛc.
III°.Vier remotive Saͤtze.
- 9°. Was wederAnoch Nicht ‒ Aiſt, iſt
nichts. Denn da es nicht A iſt, ſo muͤßte es
Nicht ‒ A ſeyn. Nun aber iſt es vermoͤge
der Bedingung auch nicht Nicht ‒ A, folglich
vollends nichts. Dieſer Satz will ſagen: Ein
Subject ohne (reale) Praͤdicate iſt nichts. - 10°. Was nicht Nichts iſt, iſt nicht wederA
noch Nicht ‒ A. Denn ſonſt waͤre es nichts,
(N°. 9.). Dieſer Satz will ſagen: Ein reales
Subject hat Praͤdicate. - 11°. Nichts, oder was Nichts iſt, iſt wederA
noch Nicht ‒ A. Man kann auch dieſen Satz
als eine Definition des Nichts anſehen. Er
will ſagen: daß kein reales Subject ohne
Praͤdicate ſey, (N°. 3. 10.). - 12°. Was nicht wederAnoch Nicht ‒ Aiſt,
iſt nicht Nichts. Denn ſonſt waͤre es weder A
noch Nicht ‒ A, der Vorausſetzung zuwider.
Dieſer Satz will ſagen: Was nicht ohne
(reale) Praͤdicate iſt, oder, was (reale)
Praͤdicate hat, iſt ein (reales) Subject.
IV°.Vier diſiunctive Saͤtze.
- 13°. Was nicht entwederAoder Nicht ‒ A
iſt, iſt Nichts. Denn was nicht entweder A
oder Nicht ‒ A iſt, iſt entweder beydes, und
ſo iſt es Nichts (N°. 1.), oder es iſt keines von
beyden, und ſo iſt es ebenfalls Nichts, (N°. 9.).
14°. Was
[237]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
- 14°. Was nicht nichts iſt, iſt entwederA
oder Nicht ‒ A. Denn ſonſt waͤre es nichts,
folglich die Vorausſetzung umgeſtoßen. - 15°. Was entwederAoder Nicht ‒ Aiſt, iſt
nicht nichts. Man ſetze, es ſey nichts, ſo iſt
es weder A noch Nicht ‒ A (N°. 11.) der Vor-
ausſetzung zuwider. Folglich ꝛc. - 16°. Nichts, oder was nichts iſt, iſt auch
nicht entwederAoder Nicht ‒ A. Denn
ſonſt waͤre es, der Vorausſetzung zuwider,
nicht nichts.
V°.Ein poſitiver Satz.
17°. AiſtA,und Nicht ‒ Aiſt Nicht ‒ A.
(§. 246.).
§. 262.
Jn dieſen Saͤtzen iſt nun alles abgezaͤhlt. Jede
der vier erſten Claſſen enthaͤlt zween bejahende und
zween verneinende Saͤtze, gerade und umgekehrt. Jn
der erſten Claſſe wird: Aund Nicht ‒ A, in der
dritten: wederAnoch Nicht ‒ A, in der vierten:
entwederAoder Nicht ‒ A, zum Subject und
Praͤdicate gemacht, und mit dem Nichts und dem
Nicht nichts verglichen. Jn der zweyten Claſſe
aber wird A dem Nicht ‒ A entgegengeſetzet, und
in der fuͤnften jedes fuͤr ſich genommen. Wir werden
nun dieſe Saͤtze und mit denſelben auch die Natur
des Termini infinitiNicht ‒ A, und ſo auch des
realen Etwas, des categoriſchen oder eigentli-
chen Nichts, und der theils idealen theils bloß
ſymboliſchen Mitteldinge zwiſchen beyden ausfuͤhr-
licher aufzuklaͤren ſuchen. Dahin dienen nun fol-
gende Saͤtze.
1°. Wieder-
[238]VIII. Hauptſtuͤck.
- 1°. Wiederholen wir die bereits (§. 259. 261. N°. 5.)
gemachte Anmerkung, daß dieſe Saͤtze, wie
uͤberhaupt auch die Theorie des Termini infiniti
eigentlich nur bey Indiuiduis angewandt werden
koͤnnen. - 2°. Eben ſo wiederholen wir die oben (§. 242.) ge-
machte Anmerkung, daß auch in dieſen Saͤtzen,
wie in jeden andern, das Bindwoͤrtchen iſt oder
iſt nicht ſich einfoͤrmig uͤber den ganzen Satz
ausbreite, und wo dieſes in vorkommenden Faͤl-
len nicht waͤre, die daſelbſt angezeigte Aenderung
vorerſt vorgenommen werden muͤſſe, wenn man
anders Verwirrung, Unrichtigkeit und Mis-
verſtand vermeiden will. - 3°. Dieſes vorausgeſetzt, ſo merken wir ferner an,
daß die Beſtimmung A, deren Terminum in-
finitumNicht ‒ A wir hier betrachten, jede
beliebige, individuale oder allgemeine Beſtim-
mung ſeyn koͤnne, daß ſie aber nebſt ihrem Ter-
mino infinito unmittelbar auf Indiuidua ange-
wandt werden muͤſſe. - 4°. Jſt nun A individual, ſo geht dieſe Beſtim-
mung an ſich ſchon nur auf dasjenige Indiui-
duum, welchem es zukoͤmmt, und Nicht ‒ A,
begreift ſodann ſowohl einzeln als zuſammen ge-
nommen alle die Beſtimmungen, welche in allen
andern Indiuiduis, und in jedem beſonders hin-
dern, daß A nicht darinn ſeyn kann. - 5°. Jſt aber A eine allgemeine Beſtimmung, ſo
koͤmmt A in mehrern Indiuiduis vor, welche zu-
ſammen genommen, in Abſicht auf dieſe Be-
ſtimmung, als eine beſondere Claſſe koͤnnen an-
geſehen werden. Alle uͤbrigen Indiuidua haben,
jedes
[239]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
jedes beſonders, ſolche Beſtimmungen, welche,
weil ſie in denſelben bereits ſchon da und voll-
zaͤhlig ſind, hindern, daß A nicht darinn ſeyn
kann. Und dieſe Beſtimmungen machen ſowohl
einzeln als zuſammen genommen den Termi-
num infinitumNicht ‒ A aus. - 6°. Nun kann es allerdings ſo allgemeine Beſtim-
mungen A geben, die ſchlechthin in allen Indi-
viduis vorkommen. Jn dieſen Faͤllen faͤllt der
Terminus infinitusNicht ‒ A ganz weg, weil
er hoͤchſtens nur auf ertraͤumte und an ſich un-
moͤgliche Indiuidua gehen koͤnnte. Das o iſt
demnach der aͤußerſte Grad oder die Graͤnzlinie
deſſelben, und will in dieſen Faͤllen ſagen, es
laſſen ſich keine Beſtimmungen gedenken, welche
das A ausſchließen koͤnnten. Denn unmoͤgliche
und nicht gedenkbare Beſtimmungen ſind einer-
ley, und ſchlechthin nur ſymboliſch, (§. 231.). - 7°. Wie nun immer die Beſtimmung A allgemein
ſey, ſo werden jedesmal alle Indiuidua in die
zwo Claſſen A und Nicht ‒ A vertheilt. Und
da wir wenige durchaus allgemeine Beſtimmun-
gen A haben, ſo iſt gewoͤhnlich die Ausdehnung
des Termini infinitiNicht ‒ A groͤßer, als
die von A. - 8°. Da in den Saͤtzen das Subject auf Indiuidua,
das Praͤdicat auf Beſtimmungen geht, die jene
haben oder nicht haben: ſo aͤußert ſich dieſer Un-
terſchied beſonders in den vier Saͤtzen der zwey-
ten Claſſe, (§. 261.). Denn ſo will der Satz:
Was nichtAiſt, iſt Nicht ‒ A, eben nicht
ſagen, daß es alle die Beſtimmungen zuſammen
habe, welche in den Indiuiduis, die Nicht ‒ A
ſind,
[240]VIII. Hauptſtuͤck.
ſind, in jedem beſonders das A ausſchließen.
Das Nicht ‒ A faſſet auf eine ideale und ſym-
boliſche Art dieſe Beſtimmungen in eine Claſſe
zuſammen, und der Satz vertheilt ſie gleichſam
auf die Indiuidua, die nicht A ſind, oder unter
deren Praͤdicaten A nicht vorkoͤmmt. - 9°. Auf eine aͤhnliche Art kann man auch das A als
eine Claſſe von Beſtimmungen M, N, P, Q ꝛc.
anſehen, die man in einer gewiſſen Abſicht zu-
ſammennimmt, die aber in einem Indiuiduo
weder beyſammen ſind noch beyſammen ſeyn
koͤnnen. Und in dieſem Falle werden die Indi-
vidua, welche M, N, P, Q ꝛc. ſind, in die ſpe-
cialen Claſſen M, N, P, Q ꝛc. vertheilt, und
dieſe Claſſen machen ſodann die ganze Claſſe A
aus. Der Satz: Was nicht Nicht ‒ A
iſt, iſtA, will nun in dieſem Falle ſagen, jedes
von der ClaſſeAnicht ausgeſchloſſeneIn-
diuiduumhabe eine von den Beſtimmun-
genM, N, P, Q ꝛc. - 10°. Die Einrichtung unſerer Sprachen macht aber,
daß nicht ſo oft die Beſtimmung A, als deren
Terminus infinitusNicht ‒ A in ſolche Claſ-
ſen M, N, P, Q ꝛc. vertheilt werden muß, un-
geachtet A, ſo oft es eine allgemeine Beſtim-
mung iſt, darein vertheilt werden kann. Denn
in der Sprache vermeiden wir es, ſo viel es
moͤglich iſt, unter einem Worte ſolche Beſtim-
mungen zuſammenzunehmen, die nicht beyſam-
men ſeyn koͤnnen, weil wir in Benennung der
Dinge und allgemeinen Begriffe nicht auf bloß
verneinende ſondern auf poſitive Beſtimmun-
gen ſehen.
11°. Auf
[241]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
- 11°. Auf eine aͤhnliche, aber ſchlechthin ſymboliſche
Art, wird auch in den Saͤtzen der erſten, dritten
und vierten Claſſe, und ſo auch, wo es irgend
in Saͤtzen vorkoͤmmt, das Nichts, wenn es
ein Subject iſt, als ein Indiuiduum, wenn es
aber ein Praͤdicat iſt, als eine Beſtimmung
angeſehen. - 12°. Dabey iſt nun das Nichts, als ein Indiui-
duum betrachtet, das eigentlich abſolute und
categoriſche Nichts, und dem abſoluten, realen,
categoriſchen Etwas directe entgegengeſetzet, als
welches allemal auch ein Indiuiduum iſt, wenn
es anders von dem bloß idealen und ſymboliſchen
Etwas genau unterſchieden werden ſoll. - 13°. Jnsbeſondere, da in dem dritten, eilften und
ſechszehenten Satze das Nichts das Subject
iſt, koͤnnen dieſe Saͤtze als Definitionen ange-
ſehen werden. Und in dem erſten, neunten und
dreyzehenten Satze, wo Nichts das Praͤdicat
iſt, giebt das Subject die eigenen Merkmale
deſſelben an. Der zweyte, zehente, vierzehente,
vierte, zwoͤlfte, funfzehente Satz geben hingegen
gerade und umgekehrt Merkmale des Etwas an. - 14°. Die vier Saͤtze der zweyten Claſſe haben im-
mer das Etwas, oder Indiuidua zum Grunde.
Der fuͤnfte zeiget, wo man das A, der ſechſte,
wo man das Nicht ‒ A aufzuſuchen habe, und
der ſiebente und achte zeigen, daß, wo das
eine vorkomme, das andere nicht zu finden ſey.
Ueberhaupt aber findet ſich in dieſen vier Saͤtzen
der Unterſchied zwiſchen der bloßen Privation
und der Contradiction ausgedruͤckt. Denn dieſe
Saͤtze ſind nicht den Worten nach, ſondern der
Lamb. Archit.I.B. QSache
[242]VIII. Hauptſtuͤck.
Sache nach identiſch, weil das Nicht ‒ A
nicht das bloße Wegſeyn der Beſtimmung A,
ſondern das Daſeyn anderer Beſtimmungen an-
zeiget, mit welchen A nicht zugleich ſeyn kann.
Daß man aber aus dem bloßen Wegſeyn
desAauf das Daſeyn dieſer andern Be-
ſtimmungen, und hinwiederum aus dem
bloßen Wegſeyn dieſer Beſtimmungen auf
das Daſeyn desAſchließen koͤnne, geht
eigentlich nur bey denIndiuiduisan, und
es muß folglich, weil es dieſe Einſchraͤnkung
hat, erwieſen werden, daß es bey den Indiuiduis
angehe, bey allgemeinen Begriffen aber nicht
angehe.
§. 263.
Der Umſtand, daß man bey einem Indiuiduo aus
dem bloßen Wegſeyn des Nicht ‒ A auf das Da-
ſeyn des A einen Schluß machen koͤnne, iſt an ſich
allerdings erheblich, und verdient durch die Anzeige
der Methode, beſonders zum Behufe der Naturlehre,
und des vielfachen Nutzens, den man ſelbſt im gemei-
nen Leben daraus ziehen kann, durchaus brauchbar
gemacht zu werden. Wir werden uns hier begnuͤgen,
theils dieſen Umſtand naͤher zu betrachten, theils ſeine
Verhaͤltniß zu andern Methoden anzuzeigen, welche
zu der hier verlangten, Abkuͤrzungen angeben oder da-
bey vorkommen koͤnnen. Der Terminus infinitus
Nicht ‒ A ſtellet, wie wir bereits (§. 262. N°. 10.)
angemerket haben, faſt immer mehrere Claſſen oder
Arten von Beſtimmungen M, N, P, Q ꝛc. vor, und
dieſe muͤſſen ſaͤmmtlich in dem fuͤrgegebenen Indiuiduo
wegſeyn, oder ſchlechthin darinn nicht vorkommen,
wenn wir bloß aus dieſem Grunde auf das Daſeyn
des
[243]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
des A ſchließen wollen. Giebt uns nun die Erfah-
rung oder andere Gruͤnde an, daß A in dem fuͤrgege-
benen Indiuiduo ſey, ſo iſt man dadurch ſchlechthin
und an ſich ſchon verſichert, daß die Beſtimmungen
M, N, P, Q ꝛc. weil ſie ſaͤmmtlich Nicht ‒ A ſind,
darinn nicht vorkommen, (§. 262. N°. 10. §. 261.
N°. 7.). Dieß iſt aber hier der Fall nicht: ſondern
wir ſetzen, A komme zwar in dem Indiuiduo vor,
man habe Gruͤnde, es zu vermuthen, aber es fehle
noch daran, daß wir es weder darinn ſehen, noch
durch Schluͤſſe ganz beweiſen koͤnnen. Bey dieſer
Vorausſetzung finden wir 1°. in dem Indiuiduo das A
nicht, und das Nicht ‒ A oder die Beſtimmungen
M, N, P, Q ꝛc. koͤnnen wir ſchlechthin nicht darinn
antreffen, weil ſie nothwendig ausgeſchloſſen ſind. Da
wir demnach weder A noch Nicht ‒ A darinn finden,
ſo finden wir eine ideale Art von Nichts darinn,
(§. 261. N°. 9.). Das will ſagen, eine Luͤcke (La-
cuna), welche nicht in dem Indiuiduo ſelbſt, ſondern
in dem Begriffe iſt, den wir davon haben, und wel-
che ausgefuͤllt werden muß. Jſt nun dieſe Luͤcke die
einige in dem Begriffe, ſo iſt außer dem A und ſei-
nen Gruͤnden alles uͤbrige in dem Indiuiduo bekannt,
und daraus laͤßt ſich gleichſam die Groͤße und Geſtalt
der Luͤcke erkennen, und da außer dem A nichts an-
ders in dieſelbe paſſet, ſo laͤßt ſie ſich mit dem A ver-
gleichen und ausfuͤllen. Denn unter der Voraus-
ſetzung, daß A in dem Indiuiduo ſelbſt vorkomme,
wird es allerdings dem uͤbrigen nicht widerſprechen.
Man kann eben ſo erſt ſuchen, ob unter den bekann-
ten Stuͤcken des Indiuidui nicht eine der hoͤhern Gat-
tungen des A vorkomme? Denn iſt dieſes, ſo weiß
man, daß der Terminus infinitus von dieſer Gattung
davon ausgeſchloſſen iſt, und durch die Abzaͤhlung
Q 2der
[244]VIII. Hauptſtuͤck.
der Nebenarten des A, laͤßt ſich A ausſchließungs-
weiſe beſtimmen. Auf gleiche Art kann man den
Begriff A vornehmen, und durch Schluͤſſe beſtim-
men, was mit dem A noch ferner in dem Indiuiduo
ſeyn muͤſſe. Und da koͤmmt es nur auf die Abzaͤh-
lung der naͤchſten Folgen an. Findet ſich dieſes in
den bekannten Stuͤcken des Indiuidui, ſo paſſet A in
die Luͤcke, und dieſe wird damit ausgefuͤllt. Die naͤ-
here Anzeige dieſes Verfahrens findet ſich in dem
ſechſten und ſiebenten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie,
und in dem fuͤnften Hauptſtuͤcke der Phaͤnomenologie.
§. 264.
Außer der Luͤcke, die wir in dem Begriffe eines
Indiuidui haben, wenn wir weder A noch Nicht ‒ A,
das will ſagen, weder eine gewiſſe Beſtimmung, Ei-
genſchaft ꝛc. noch eine derſelben zuwiderlaufende fin-
den, oder wo wir weder fuͤr noch wider dieſe Be-
ſtimmung Gruͤnde haben, und wo folglich ein ideales
Nichts vorkoͤmmt, giebt es noch Luͤcken, oder ſolche
ideale Nichts von einer andern Art. Es iſt naͤmlich
moͤglich, daß uns vorkomme, das Indiuiduum ſey
ſowohl A, als Nicht ‒ A. Dieſes kann nun an
ſich nicht ſeyn, (§. 261. N°. 1.). Demnach mangelt
etwas in dem Begriffe, den wir uns von dem In-
diuiduo machen. Die Faͤlle, in welchen ſich dieſer
Mangel eraͤugnen kann, ſind nun folgende.
- 1°. Kann das Indiuiduum zu einer Zeit A, zur
andern Zeit Nicht ‒ A ſeyn, wenn A und
Nicht ‒ A Modificationen ſind. - 2°. Kann es ſeyn, daß ſich das Bindewoͤrtchen nicht
gleichfoͤrmig auf den ganzen Satz erſtreckt, und
das Indiuiduum in einem Theile oder Abſicht A,
in dem andern Theile oder Abſicht Nicht ‒ A
iſt.
[245]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
iſt. Da muß die oben (§. 242.) fuͤr dieſen Fall
angezeigte Aenderung vorgenommen werden. - 3°. Jſt es gar wohl moͤglich, daß wir zwey Indi-
vidua confundiren, und eines fuͤr das andere
nehmen, und da muͤſſen wir genauer nachſehen,
ob dieſe Verwechſelung da ſey, oder es in der
That dennoch ein und eben daſſelbe Indiuiduum
ſey? Denn iſt das letztere, ſo koͤmmt einer der
beyden erſten Faͤlle oder beyde vor.
§. 265.
Da ſich die in dem §. 261. angefuͤhrten ſiebenzehen
Saͤtze eigentlich nur bey den Indiuiduis anwenden laſ-
ſen; ſo werden wir nun ſehen, wie ferne die allge-
meinen Begriffe darinn unterſchieden ſind, oder von
den Indiuiduis abgehen? Man hat in der Metaphyſic
das, was ein allgemeiner Begriff vorſtellet, ein all-
gemeines Ding genennet (§. 178. N°. 8.), und wenn
man dieſes als exiſtirend betrachtet, ſo geſchieht es
erdichtungsweiſe und auf eine ſchlechthin ideale Art,
(§. 164. 178. N°. 9.). Sie ſind daher zwiſchen dem
abſoluten Etwas und Nichts (§. 262. N°. 12.) un-
gefaͤhr eben ſo ein Mittelding, wie das Wahrſchein-
liche zwiſchen dem iſt und iſt nicht, (§. 104. 245.).
Wird der Begriff einer Beſtimmung A und ihr
Terminus infinitusNicht ‒ A eben ſo auf ein all-
gemeines Ding angewandt, wie wir beyde auf die
einzelne Dinge oder Indiuidua angewandt haben, ſo
kommen theils einige Einſchraͤnkungen vor, theils
aͤndert ſich die reale Bedeutung in eine bloß ideale,
das Wirkliche in das Moͤgliche, und das Categori-
ſche oder Ausdruͤckliche in das Hypothetiſche oder Be-
dingte. Wie dieſes geſchehe, kann nun durch folgende
Saͤtze angezeiget werden.
Q 3I°.Copu-
[246]VIII. Hauptſtuͤck.
- I°.Copulative Saͤtze.
- 1°. Wenn ein allgemein Ding, oder viel-
mehr die ſymboliſche Vorſtellung deſſel-
ben, zugleichAund Nicht ‒ Aiſt, ſo iſt
es Nichts, (abſurd, widerſprechend, nicht
gedenkbar, ſchlechthin unmoͤglich, ein for-
males Unding ꝛc.). Ein allgemeines Ding,
auch wenn es nichts widerſprechendes in ſich
enthaͤlt, iſt an ſich ſchon nur ideal und ſymbo-
liſch. Enthaͤlt es aber einen Widerſpruch, ſo
iſt es ſchlechthin nur ſymboliſch, (§. 231.). Wir
fuͤhren uͤbrigens dieſen Satz bedingt an, weil
ein an ſich moͤgliches allgemeines Ding nicht in
Abſicht auf jede moͤgliche Beſtimmung A ge-
pruͤfet werden kann, ob es A und Nicht ‒ A
zugleich ſey. Denn alle die Beſtimmungen A
und ihre Termini infinitiNicht ‒ A bleiben
daraus weg, welche das allgemeine Ding in-
dividual machen. Sie koͤnnen an ſich oder
ſchlechthin nicht zugleich darinn ſeyn, weil ſie
widerſprechend ſind. Sie bleiben aber auch
beyde zugleich daraus weg, daferne das all-
gemeine Ding allgemein bleiben ſoll. Und die-
ſes iſt die Bedingung. - 2°. Unter eben dieſer Bedingung bleiben auch die
drey andern im §. 261. angefuͤhrten copulativen
Saͤtze bey den allgemeinen Dingen anwendbar.
Und zwar, was nicht nichts iſt, kann nicht
zugleichAund Nicht ‒ Aſeyn. Nun iſt
ein allgemeines Ding eben nicht ganz nichts,
weil die Beſtimmungen, die es in den Indiui-
duis haben kann, daraus ſchlechthin nur weg-
gelaſſen ſind, dabey aber noch immer einige
oder
[247]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
oder die allgemeinen bleiben, und die weggelaſ-
ſenen wiederum zugeſetzt werden koͤnnen. Dieſe
Beſtimmungen werden in den Indiuiduis A
und Nicht ‒ A. Das allgemeine Ding kann
daher A, und Nicht ‒ Awerden, wenn man
durch Zuſetzung dieſer Beſtimmungen daſſelbe
ſpecialer oder vollends individual machet. An
ſich aber iſt es weder A noch Nicht ‒ A, und
in einem Indiuiduo kann es nicht beydes zu-
gleich ſeyn. Sodann kann ein allgemeines Ding
nicht unbedingt jedes A, und jedes Nicht ‒ A
werden, weil es nur die Beſtimmungen zulaͤßt,
die denen, ſo es noch behalten hat, nicht wi-
derſprechen. - 3°. Was Nichts iſt, iſtAund Nicht ‒ A
zugleich. Nun koͤmmt in einem allgemeinen
Ding eine Art von Nichts, ein Leeres, eine
Luͤcke vor, die ſich mit dieſem oder jenem A,
und ſo auch mit dieſem oder jenem Nicht ‒ A
ausfuͤllen laͤßt, aber in einem Indiuiduo nicht
zugleich mit beydem ausgefuͤllet iſt, (§. 264.
N°. 3.). - 4°. Was nicht zugleichAund Nicht ‒ Aiſt,
iſt nicht Nichts. Jn ſo fern iſt auch ein all-
gemeines Ding etwas, ſo fern alle Beſtim-
mungen A und Nicht ‒ A, die es in den In-
diuiduis haben kann, daraus weggelaſſen wer-
den, und ſo ferne auch dieſe Beſtimmungen in
einem Indiuiduo nicht beyſammen ſind. - II°.Einfache Saͤtze.
- 5°. Was nicht Nicht ‒ Aiſt, iſtA. Dieſer
Satz leidet bey einem allgemeinen Dinge eine
ſtarke Einſchraͤnkung, weil alle die Beſtimmun-
Q 4gen
[248]VIII. Hauptſtuͤck.
gen A und Nicht ‒ A weggelaſſen ſind, die in
den Arten und Indiuiduis noch hinzukommen.
Jn Anſehung dieſer Beſtimmungen laͤßt ſichs
ſagen: Was nicht Nicht ‒ Awerden
kann, kannAwerden, ſo fern es noch we-
der A noch Nicht ‒ A iſt. Man ſieht leicht,
daß hiebey Bedingungen voraus geſetzt ſind,
welche das nicht Nicht ‒ Awerden koͤnnen
beſtimmen. Daß es aber A werden koͤnne,
folget daraus, weil in den Indiuiduis entwe-
der A oder Nicht ‒ A ſeyn muß, und weil
ein allgemeines Ding, das nicht zum Indiui-
duo werden kann, an ſich nichts, oder ſchlecht-
hin nur ſymboliſch iſt. - 6°. Was nichtAiſt, iſt Nicht ‒ A. Dieſer
Satz hat in Abſicht auf die allgemeinen Dinge
aͤhnliche Einſchraͤnkungen, die wir daher nicht
wiederholen. - 7°. WasAiſt, iſt nicht Nicht ‒ A. Dieſer
Satz geht bey allgemeinen Dingen in Abſicht
auf diejenigen poſitiven Beſtimmungen A an,
welche in denſelben bey der Abſtraction noch ge-
blieben ſind, weil jede, auch die allgemeinſten
Beſtimmungen ihren Terminum infinitum ha-
ben, (§. 262. N°. 5. 6.). - 8°. Was Nicht ‒ Aiſt, iſt nichtA. Dieſer
Satz geht ebenfalls bey allgemeinen Dingen nur
in ſo fern an, als man von dem Termino in-
finito poſitive Beſtimmungen M, N, P, Q ꝛc.
weiß, und deren eine oder mehrere in dem vor-
gegebenen allgemeinen Dinge findet. Denn ſo
wird A dadurch ausgeſchloſſen, (§. 262. N°. 10.).
III°.Re-
[249]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
- III°.Remotive Saͤtze.
- 9°. Was wederAnoch Nicht ‒ Aiſt, iſt
Nichts. Dieſer Satz geht bey allgemeinen
Dingen nicht ſchlechthin an. Man muß vorerſt
beweiſen, daß ſie entweder A oder Nicht ‒ A
ſeyn muͤſſen, ſo allgemein ſie ſind, und dieſer
Beweis mag nur angehen, wenn A eine noch
allgemeinere Beſtimmung iſt. Jn Anſehung
der ſpecialern und individualen Beſtimmungen
aber wird der Satz in folgenden verwandelt.
Was wederAnoch Nicht ‒ Awerden
kann, iſt Nichts. - 10°. Was nicht Nichts iſt, iſt nicht wederA
noch Nicht ‒ A. Nun iſt ein allgemeines
Ding eben nicht durchaus Etwas, (§. 262.
N°. 12.). So fern es aber Etwas iſt, gilt der
Satz. Hingegen, ſo fern ein Leeres oder eine Luͤ-
cke darinn gelaſſen iſt, welche erſt mit A oder mit
Nicht ‒ A ausgefuͤllet werden muß, und mit
beydem, aber nicht zugleich in einem Indiuiduo,
ausgefuͤllet werden kann, kann man allerdings
ſagen, daß es weder A noch Nicht ‒ A ſey.
(N°. 3. und §. 257.). - 11°. Nichts iſt wederAnoch Nicht ‒ A.
Stellet man ſich in dieſem Satze das Nichts,
als ein gedichtetes Indiuiduum vor (§. 262.
N°. 12.), ſo geht der Satz ohnehin nicht auf all-
gemeine Dinge. Da aber Nichts, zuweilen
auch nur privative, ſo viel als kein moͤgliches
Ding bedeutet, ſo koͤnnen die allgemeinen Din-
ge, ſo fern ſie gedenkbar ſind, auch in dem Sa-
tze begriffen werden. Da ſie aber ein Leeres ha-
ben, ſo ſind ſie in Abſicht, auf die Beſtimmun-
Q 5gen,
[250]VIII. Hauptſtuͤck.
gen, wodurch dieſes Leere ausgefuͤllet werden
kann, aber in dem allgemeinen Dinge leer
bleibt, weder A noch Nicht ‒ A. - 12°. Was nicht wederAnoch Nicht ‒ Aiſt,
iſt nicht Nichts. Nun ſind die allgemeinen
Dinge in Abſicht auf die ſpecialern und indivi-
dualen Beſtimmungen, die ſie haben koͤnnen,
aber als ſolche nicht haben, weder A noch
Nicht ‒ A. Man kann daher nicht durchaus
ſagen, daß ſie Nicht weder A noch Nicht ‒ A,
und folglich nicht Nichts ſind. Daher ſind
ſie in einer gewiſſen Abſicht Nichts, ſo fern
naͤmlich ein Leeres oder eine Luͤcke darinn vor-
koͤmmt, welche erſt ausgefuͤllet werden muß,
bevor ſie ein abſolutes Etwas werden koͤnnen,
(§. 262. N°. 12.). - IV°.Disjunctive Saͤtze.
- 13°. Was nicht entwederAoder Nicht ‒ A
iſt, iſt Nichts. Dieſer Satz verwandelt ſich
in Abſicht auf allgemeine Dinge, in folgenden.
Was nicht entwederAoder Nicht ‒ Aiſt.
oder werden kann, iſt Nichts. - 14°. Was nicht Nichts iſt, iſt entwederA
oder nicht ‒ A. Auch hier verwandelt ſich in
Abſicht auf allgemeine Dinge das Bindewoͤrt-
chen der Ausſage iſt in iſt oder kann
werden. - 15°. Was entwederAoder Nicht ‒ Aiſt, iſt
nicht Nichts. Dieſer Satz reichet bey allge-
meinen Dingen, ſo weit ſie noch Beſtimmungen
wirklich haben, (N°. 12.).
16°. Nichts
[251]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
- 16°. Nichts oder was Nichts iſt, iſt auch
nicht entwederAoder Nicht ‒ A. Auch
dieſes geht in Abſicht auf das Nichts, welches
in allgemeinen Dingen vorkoͤmmt (N°. 3.), or-
dentlich an, weil die Ausſage nur privativ iſt,
(§. 257.). - V°.Ein poſitiver Satz.
- 17°. AiſtAund Nicht ‒ Aiſt Nicht ‒ A.
Dieſes hat auch bey den allgemeinen Dingen
durchaus ſtatt.
§. 266.
Aus dieſen Saͤtzen erhellet nun uͤberhaupt, welcher
Unterſchied ſich zwiſchen den einzeln und allgemeinen
Dingen in Abſicht auf die Beſtimmungen A und
Nicht ‒ A findet, und wie viel denen im §. 261.
vorgetragenen ſiebenzehen Saͤtzen abgeht, wenn ſie
bey allgemeinen Dingen angewandt werden. Denn in
Abſicht auf die einzeln Dinge laſſen ſie ſich nicht nur
bey jedem beſonders anwenden, ſondern, welche Be-
ſtimmung man auch immer fuͤr A ſetzet, ſo ſind ſie bey
jedem Indiuiduo anwendbar. Dieſe ſo ganz unein-
geſchraͤnkte Moͤglichkeit und Allgemeinheit, welche
bey den allgemeinen Dingen zum Theil wegfaͤllt, ver-
diente demnach in Abſicht auf die Indiuidua, beſon-
ders vorgetragen zu werden, weil die wiſſenſchaft-
liche Erkenntniß fuͤrnehmlich das Allgemeine genau
beſtimmen, und von dem Nicht allgemeinen unter-
ſcheiden ſoll, (§. 38.). Aus eben dieſem Grunde ha-
ben wir auch das gegenwaͤrtige Hauptſtuͤck von dem
vorhergehenden getrennet, weil das bloße iſt und iſt
nicht, welches wir darinn betrachteten, allgemeiner
betrachtet werden konnte, (§. 241. 245.).
§. 267.
[252]VIII. Hauptſtuͤck.
§. 267.
Uebrigens koͤnnen wir in Anſehung der allgemeinen
Begriffe folgendes anmerken. Man habe eine Gat-
tung A, und dieſe werde durch die Beſtimmungen
m, n in ihre zwo Arten mA, nA eingetheilet, ſo ha-
ben wir folgende Faͤlle und Ausdruͤcke:
- 1°. Aiſt wedermnochn, privative, weil es
beydes werden kann. - 2°. mAiſt nichtnA, negative, weil es wirklich
nicht nA iſt. - 3°. Aiſt entwedermAodernA, eintheilungs-
weiſe. - 4°. Aiſt entwedermodern, beſtimmungsweiſe
und eintheilungsweiſe. - 5°. miſt nichtn, verneinensweiſe, naͤmlich n ge-
hoͤret unter nicht ‒ m, weil m und n in A ein-
ander ausſchließen. - 6°. EinIndiuiduum Aiſt entwedermodern,
disjunctive, oder ausſchließungsweiſe. - 7°. EinIndiuiduum mAiſt Nicht ‒ n,und ſo
auch Nicht ‒ nA. - 8°. EinIndiuiduum nAiſt Nicht ‒ m,und ſo
auch Nicht ‒ mA.
Wir haben hiebey der Gattung A Kuͤrze halber nur
zwo Arten gegeben, um dieſe Saͤtze am einfachſten
vorzutragen, und weil man, wo mehrere Arten ſind,
ohne Muͤhe aͤhnliche Saͤtze, aber weitlaͤuftigere fin-
den kann. Sie zeigen ungefaͤhr an, wie der Sprach-
gebrauch dem iſt und dem iſt nicht verſchiedene und
zum Theil entgegengeſetzte Wendungen in der Be-
deutung
[253]Das Etwas ſeyn und das Nichts ſeyn.
deutung gegeben hat, welche man in der Metaphyſic,
ſo wie mehrere andere muͤhſam oder gar nicht genau
unterſcheiden kann, ſondern wo der eigentliche Sinn
des Ausdruckes in vorkommenden Faͤllen leichter und
richtiger aus dem individualen Zuſammenhange der
Rede beſtimmet wird. Ueberhaupt laſſen ſich Woͤrter
von ſo vielfacher und theils veraͤnderlicher Bedeutung
leichter und beſſer als Praͤdicate gebrauchen, weil der
Satz wahr bleibt, wenn auch nur eine der Bedeu-
tungen zutrifft. Gebraucht man ſie hingegen als
Subjecte, ſo wird die Allgemeinheit des Satzes ver-
wirrt und wankend, und es iſt ſchwerer die Praͤdicate
durch Woͤrter auszudruͤcken, welche von eben ſo viel-
facher und veraͤnderlicher Bedeutung ſind. Daher
bleiben ſolche Saͤtze faſt immer beſſer unbeſtimmt und
particular. Man ſehe auch §. 153. Uebrigens iſt
in Abſicht auf die Entia uniuerſalia noch anzumerken,
daß man ſie ehemals, als ganz beſondere Subſtanzen
angeſehen hatte, und ſie eben daher fuͤr wichtiger
hielte, als ſie wirklich ſind. Vielleicht hat auch die-
ſes das Wort Ens vieldeutiger gemacht, als es an-
fangs war. Jn den neuern Metaphyſiquen begnuͤ-
get man ſich mehrentheils zu ſagen, daß die Arten
und Gattungen nicht fuͤr ſich, ſondern in den Indiui-
duis exiſtiren, und ehe ſie exiſtiren koͤnnen, alle in-
dividuelle Beſtimmungen haben muͤſſen.
Neuntes
[254]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
Neuntes Hauptſtuͤck.
Das Nothwendig ſeyn und das Nicht
nothwendig ſeyn.
§. 268.
Wir haben in beyden vorhergehenden Hauptſtuͤ-
cken die Saͤtze und Begriffe betrachtet, ſo fern
ſie einander widerſprechen und ausſchließen, und
dabey kam ſchlechthin nur das Wort Nicht vor, ſo
fern es entweder dem iſt, als ein Zuwort, oder den
Beſtimmungen als ein Beywort zugeſetzet wird.
Beydes geſchah in der Abſicht, zu beſtimmen, was
zugleich ſeyn, oder nicht zugleich ſeyn kann.
Denn da die Zuſammenſetzung der Begriffe und
Dinge Einſchraͤnkungen leidet, ſo folget aus dem,
daß etwas fuͤr ſich ſeyn kann, noch nicht, daß es mit
jedem andern zugleich und in jeder beliebigen Verbin-
dung ſeyn koͤnne. Wir haben daher (§. 243.) die Quellen
einzeler und poſitiver Moͤglichkeiten, und (§. 250. 251.)
die Quellen der Widerſpruͤche und categoriſchen Un-
moͤglichkeiten angezeiget, um zu dieſer Theorie die
erſte Anlage und Stoff anzugeben. So fern nun zwo
oder mehrere Beſtimmungen nicht beyſammen ſeyn
koͤnnen, werden ſie einander entgegengeſetzt. Ent-
gegengeſetzte Beſtimmungen ſind daher, in dieſer Ab-
ſicht betrachtet, immer A und nicht ‒ A, und eine
wird beziehungsweiſe das Gegentheil der andern
genennet. Da aber auch dieſe Woͤrter mehr oder
minder vieldeutig ſind, ſo wollen wir nicht bey der
Definition anfangen, oder ſie zu Subjecten machen,
ſondern
[255]und das Nicht nothwendig ſeyn.
ſondern die Unterſchiede in der Sache ſelbſt aufſuchen,
und die Worte dabey als Praͤdicate gebrauchen,
(§. 267.).
§. 269.
Wir kehren demnach zu dem §. 232. zuruͤcke, und
merken an, daß das Bindewoͤrtchen iſt dem iſt nicht
ſchlechthin entgegengeſetzt wird, weil beyde nicht
beyſammen ſeyn koͤnnen, und weil kein reales
Mittel dazwiſchen ſtatt hat, (§. 240. 241. 245.).
Auf eben dieſe Art werden Saͤtze, in welchen Subjeck
und Praͤdicat einerley iſt, einander ſchlechthin ent-
gegengeſetzt, wenn in dem einen das Bindewoͤrt-
chen iſt, in dem andern das Bindewoͤrtchen iſt nicht
vorkoͤmmt, und ſie ſind es durchaus, unter eben
den Bedingungen, unter denen wir oben (§. 242.)
geſaget haben, daß ſie einander durchaus wider-
ſprechend ſind. Auf eine aͤhnliche Art ſetzten wir
(§. 261.) das A dem nichtA und dem Nicht ‒ A,
oder uͤberhaupt dieſe drey Ausdruͤcke einander entge-
gen, und fanden, daß dieſe Ausdruͤcke mit behoͤrigem
Unterſchiede auf Indiuidua und auf allgemeine Dinge
angewandt werden muͤſſen, weil bey den Indiuiduis
das nichtA und das Nicht ‒ A immer beyſam-
men iſt (§. 261. N°. 6. 8.), bey allgemeinen Begrif-
fen aber das A und das Nicht ‒ A nicht zugleich
beyſammen ſeyn, aber zugleich weggelaſſen ſeyn koͤn-
nen, (§. 265. N°. 1. 5. 6.).
§. 270.
Da uͤberhaupt der Terminus infinitusNicht ‒ A
alle die Arten und Gattungen von Beſtimmungen
begreift, welche in jedem Indiuiduo, welches nicht A
iſt, das A ausſchließen (§. 257. 262. N°. 10.), ſo
laſſen
[256]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
laſſen ſich uͤberhaupt alle dieſe Arten und Gattungen,
welche unter Nicht ‒ A gehoͤren, der Art oder Gat-
tung A entgegen ſetzen, ſie moͤgen nun noch viele oder
wenige gemeinſame Merkmale haben. Jndeſſen wer-
den die eigentlichen Nebenarten des A, welche naͤm-
lich mit A zugleich unter die naͤchſt hoͤhere Gattung
des A gehoͤren, dem A auf eine unmittelbarere Art
entgegengeſetzt, und in dieſer Abſicht aus der ganzen
Claſſe der Nicht ‒ A, beſonders herausgenommen.
Auf dieſe Art ſetzet man z. E. die Tugend dem La-
ſter, und beyde, ſo fern ſie freye Handlungen ſind,
den gezwungenen und bloß maſchinenmaͤßigen
Handlungen entgegen. Alles dieſes geſchieht aus
eben dem Grunde, aus welchem man Indiuidua in
Arten, und dieſe in ſtufenweiſe hoͤhere Gattungen
eintheilet. Das allgemeinſte Gegentheil vonA
iſt demnach derTerminus infinitusNicht ‒ A,
das ſpecialeſte aber ſind die Nebenarten vonA.
Die Mittelſtufen ſind die Nebengattungen je-
der hoͤhern Gattung vonA.Was unter den
Terminum infinitumeiner hoͤhern Gattung desA
gehoͤret, gehoͤret dadurch an ſich ſchon unter
denTerminum infinitumNicht ‒ A. Z. E. Der
Schall iſt nicht roth, denn er gehoͤret gar nicht unter
die Farben. Ein Stein iſt nicht tugendhaft, denn er
gehoͤret garnicht in das Bezirk freyhandelnder Sub-
ſtanzen ꝛc.
§. 271.
Wir haben aber bey den Saͤtzen nicht nur das iſt
und das iſt nicht, und ſo auch in Abſicht auf die Be-
griffe und Beſtimmungen das A und das Nicht ‒ A
einander entgegen zu ſetzen, ſondern das: Alle,
Nicht ‒ Alle, Kein: giebt uns noch eine dritte
Claſſe an, weil dieſe Stufen einander allerdings
auch
[257]und das Nicht nothwendig ſeyn.
auch entgegengeſetzt ſind. Der abſoluteſte Gegenſatz
hiebey findet ſich zwiſchen den zweyen ExtremisAlle,
Kein, und dieſer geht mit dem iſt und iſt nicht zu
Paaren, (§. 242.). So fern man aber in Beweiſen
nicht an dem iſt oder iſt nicht, ſondern an der All-
gemeinheit zweifelt, oder darauf ſieht, wie es die
wiſſenſchaftliche Erkenntniß erfordert, ſo ſetzet man das
Alle dem etliche nicht, und das Kein dem etliche
ſind entgegen. Und da iſt der Satz allgemein wahr,
wenn es falſch iſt, daß auch nur eines ſollte ausge-
ſchloſſen werden, und er iſt nothwendig allgemein
wahr, wenn das Ausſchließen durchaus unmoͤg-
lich iſt. Jn dieſer Abſicht nennet man uͤberhaupt
dasjenige Nothwendig, deſſen Gegentheil unmoͤg-
lich iſt.
§. 272.
Da das Alle ſo viel ſagen will, als keines nicht,
und hinwieder das Kein ſo viel, als nicht ein ein-
ziges, ſo iſt auch hiebey das Nicht der Grund des
Entgegenſetzens, wie es der Grund deſſelben bey dem
Bindewoͤrtchen und bey den Beſtimmungen iſt.
Demnach hat das Entgegenſetzen, eben ſo, wie
das Widerſprechen, die Verſchiedenheit zur
Grundlage, (§. 253. 268.). Das Widerſprechen
aͤußert ſich, wenn Beſtimmungen, die einan-
der entgegengeſetzt ſind, in einen Begriff zu-
ſammen genommen werden, und folglich, wenn
man ſetzet, ein Ding ſey A und Nicht ‒ A zugleich,
oder es ſey und ſey (zugleich und in eben dem Sinne)
nicht. Uebrigens iſt noch anzumerken, daß wenn
mehrere Dinge oder Beſtimmungen in gewiſſer Ab-
ſicht einander entgegengeſetzt werden muͤſſen, man es
zugleich mit allen muͤſſe vornehmen, weil es ſonſt den
Lamb. Archit.I.B. RAnſchein
[258]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
Anſchein haͤtte, als wenn nur zwey oder nur die etli-
che, ſo man vornimmt, einander entgegen geſetzt waͤ-
ren. Und wo der Unterſchied in Graden beſteht, da
ſetzet man jede Grade den uͤbrigen, vorzuͤglich aber
die zween aͤußerſten einander ſchlechthin entgegen.
Auf dieſe Art wird z. E. ohne Ruͤckſicht auf die uͤbri-
gen Farben das Weiße dem Schwarzen entgegen-
geſetzt. Hingegen iſt dieſes vollſtaͤndige Vorzaͤhlen
bey dem Widerſprechen nicht nothwendig, weil der
Widerſpruch ſchon da iſt, wenn von den einander
entgegengeſetzten Beſtimmungen auch nur zwo in ei-
nen Begriff zuſammen genommen werden.
§. 273.
Die Sprache, welche in den meiſten Stuͤcken mehr
Moͤglichkeiten angiebt, als die Sachen ſelbſt, giebt
auch dieſe an, daß wir in jedem Satze das Wort
nicht, ſowohl dem Bindewoͤrtchen, als dem Praͤdi-
cat und dem Subjecte, und deſſen arithmetiſchen Be-
ſtimmungen: Ein, etliche, alle, kein, beyfuͤgen,
und dadurch Entgegenſetzungen, wenigſtens auf eine
bloß ſymboliſche Art, herausbringen koͤnnen. Se-
hen wir aber in vorgegebenen Faͤllen genauer nach,
ob die ſo verwandelten Saͤtze etwas Wahres oder
Moͤgliches vorſtellen, ſo findet ſichs oͤfters, daß ſie
entweder falſch oder gar ſchlechthin unmoͤglich ſind.
Falſch, wenn die Sache nicht iſt, unmoͤglich oder
ungereimt, wenn ſie nicht ſeyn kann. Nun machet
die Unmoͤglichkeit des Gegentheils eine Sache noth-
wendig, weil wir alles das nothwendig nennen,
was weder nicht, noch anders ſeyn kann. Da wir
nun das Unmoͤgliche ſchlechthin nur ſymboliſch vor-
ſtellen koͤnnen (§. 231.), ſo iſt die ſymboliſche Vor-
ſtellungsart zur Theorie des Nothwendigen allerdings
behuͤlf-
[259]und das Nicht nothwendig ſeyn.
behuͤlflich. So fern naͤmlich das Nothwendi-
ge durch die Unmoͤglichkeit des Gegentheiles
ſoll kenntlich gemacht werden, kann dieſes nur
auf eine ſymboliſche Art geſchehen, weil das Un-
moͤgliche ſchlechthin Nichts iſt, und weder in den
Dingen noch in den Begriffen vorkoͤmmt. Begriffe
und Dinge biethen uns nur das Beſtaͤndige und das
Veraͤnderliche an, und den Begriff, daß etwas in
den Dingen ſelbſt nicht angehe oder nicht moͤglich ſey,
haben wir auf eine directe und unmittelbare Art von
dem Soliden und den Schranken der dabey ange-
wandten Kraͤfte.
§. 274.
Da demnach das Gegentheil, durch deſſen Unmoͤg-
lichkeit wir uns von der Nothwendigkeit einer Sache
oder Beſtimmung verſichern, nur ſymboliſch iſt, ſo
muͤſſen wir es theils aus der Bedeutung, theils aus
der Zuſammenſetzung der Woͤrter kennen lernen, weil
entweder die Woͤrter, oder ihre Zuſammenſetzung, oder
beydes zugleich, das Widerſprechende angeben. Hie-
bey giebt es nun folgende Faͤlle.
- 1°. Woͤrter, die nicht Wurzelwoͤrter ſind, ſind
entweder abgeleitet oder zuſammengeſetzt, und
wenn die Ableitung oder Zuſammenſetzung der
Art der Sprache nicht gemaͤß iſt, ſo haben ſie
gewoͤhnlich an ſich ſchon keinen Verſtand. - 2°. Geht aber die Zuſammenſetzung grammatiſch
an, ſo haben ſie wenigſtens den Schein einer
richtigen Bedeutung, und es muß aus den ein-
zelnen Begriffen, die das zuſammengeſetzte
Wort verbindet, beſtimmet werden, ob die Be-
griffe ſich auf ſolche Art verbinden laſſen? So
z. E. hat das Wort kugeleckicht der Zuſam-
R 2menſetzung
[260]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
menſetzung nach keine moͤgliche Bedeutung, weil
kugelicht und eckicht ſeyn einander widerſpre-
chen. Jn dieſen Faͤllen giebt das Wort immer
zween oder mehrere Saͤtze an, welche ſaͤmmtlich
wahr ſeyn muͤſſen, wenn das Wort etwas moͤg-
liches bedeuten ſoll. - 3°. Hat das Wort eine richtige eigene Bedeutung,
und es wird metaphoriſch gemacht, ſo iſt die
Frage, ob das tertium comparationis bey einer
moͤglichen oder unmoͤglichen Hypotheſe ange-
wandt wird. Jſt die Hypotheſe moͤglich, ſo
kann das Wort auch, allenfalls die Verglei-
chung nicht richtig waͤre, als ein Wurzelwort
angeſehen werden, und dadurch wird es ſchlecht-
hin vieldeutig. Man hat demnach hiebey vor-
nehmlich nur die Moͤglichkeit der benenneten
Sache zu unterſuchen. - 4°. Ueberhaupt ſtellet ein Wort, ſo etwas Wider-
ſprechendes bedeutet, immer wenigſtens zween
Begriffe und gewoͤhnlich mehrere in einer Ver-
bindung vor, die entweder ganz oder zum Theil
nicht angeht, und muß ſich daher in die einzel-
nen Saͤtze, welche dieſe Verbindung ſtuͤckweiſe
vorſtellen, immer aufloͤſen laſſen. - 5°. Dieſe Muͤhe aber wird erſparet, wenn das
Widerſprechende nicht in einem Worte, ſondern
in einzelnen Saͤtzen vorgetragen wird. - 6°. Ein Wort, das etwas Unmoͤgliches vorſtellet,
wird mehrentheils durch eine unmoͤgliche Defi-
nition veranlaſſet, es mag dieſes nun vorſetzlich
geſchehen, um einer gewiſſen Unmoͤglichkeit ei-
nen Namen zu geben, oder unwiſſend, da man
naͤmlich die dadurch benennete Sache fuͤr moͤg-
lich
[261]und das Nicht nothwendig ſeyn.
lich anſieht. Da nun in der Vorſtellung einer
ſolchen Sache immer eine Luͤcke bleibt (Alethiol.
§. 205.), ſo geht die wirkliche oder klare Vor-
ſtellung derſelben auch nicht weiter, als man
ihre einzele Theile gedenken kann, und das uͤbri-
ge glaubet man im letzten Falle nur zu denken,
weil man die Worte denket.
§. 275.
Das ſchlechthin ſymboliſche Gegentheil einer noth-
wendigen Sache iſt gewiſſermaßen eine Nachahmung
von moͤglichen Gegentheilen, weil die Sprache eben
ſo, wie ſie moͤgliche Zuſammenſetzungen von Begrif-
fen ausdruͤcket, auch Unmoͤgliche ausdruͤcken kann.
Der Unterſchied zwiſchen beyden liegt demnach nicht
in der Sprache, ſondern er muß aus der Betrach-
tung der Sache ſelbſt gefunden werden. Daher
fordern auch die meiſten nothwendigen Saͤtze einen
Beweis ihrer Nothwendigkeit, zumal, wo dieſe aus
der Unmoͤglichkeit des Gegentheiles muß eroͤrtert
werden.
§. 276.
Da ferner das Widerſprechende im Gegentheile im-
mer auf Saͤtze gebracht werden kann, wenn es in den
Begriffen oder einzelnen Worten verſtecket liegt, ſo ha-
ben wir nur noch genauer zu unterſuchen, wie es ver-
mittelſt der Saͤtze offenbarer werde, und auf wie vie-
lerley Arten es darinn vorkommen koͤnne? Hiezu
dienen nun folgende Betrachtungen.
- 1°. Der Satz ſey: Aiſt nothwendigB, ſo
aͤußern ſich hiebey gleich zween Faͤlle. Denn ent-
weder iſt Nicht ‒ B an ſich unmoͤglich, oder es
iſt beſonders nur in dem Subjecte A unmoͤglich.
R 32°. Jſt
[262]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
- 2°. Jſt Nicht ‒ B an ſich unmoͤglich, ſo iſt der
Beweis davon, und ſo auch die Bedingung,
daß A ein moͤglicher Begriff ſey, zu dem Be-
weiſe der Nothwendigkeit des Satzes zureichend.
Denn ein unmoͤgliches Praͤdicat kommt keinem
realen oder an ſich moͤglichen Subjecte zu,
(§. 261. N°. 2. §. 265. N°. 2.). - 3°. Wir merken hiebey an, daß das Nicht ‒ B
keinen an ſich unmoͤglichen Begriff vorſtellen
kann, es ſey denn B eine ſo allgemeine Be-
ſtimmung, die ſchlechthin in allen moͤglichen
Indiuiduis vorkomme, weil nur alsdenn der
Terminus infinitusNicht ‒ B = 0 wird,
(§. 262. N°. 6.). - 4°. Jſt aber das Nicht ‒ B eine an ſich moͤgliche
Beſtimmung, ſo bleibt es dennoch aus dem A
weg, ſo lange die Beſtimmung B in A iſt.
Denn ſonſt wuͤrde es B und Nicht ‒ B zugleich
ſeyn, welches nicht angeht, ſo lange A etwas
Moͤgliches vorſtellet, (§. 261. N°. 1. §. 265. N°. 1.).
Das will nun ſagen: Aiſt nothwendigB,
ſo lange esBiſt: Oder im Reiche der Wahr-
heit, und ſo auch im Reiche der Moͤglichkeit,
iſt alles nothwendig. - 5°. Es iſt aber hier nicht die Frage, ob jede Be-
ſtimmungen Nicht ‒ B von A ausgeſchloſſen
ſeyn, ſo lange A, B iſt? Denn dieſes iſt fuͤr
ſich klar, und folget aus der Art, wie wir oben
die Beſchaffenheit des Termini infiniti eroͤrtert
haben, nothwendig, (§. 257.): ſondern die Fra-
ge iſt, wie ſich es erkennen laſſe, ob diejenigen
Beſtimmungen C, welche A ohne Ruͤckſicht auf
die Beſtimmung B hat, in A nicht waͤren,
wenn
[263]und das Nicht nothwendig ſeyn.
wenn B nicht auch darinn waͤre? Denn ſo ferne
dieſe Beſtimmungen C zu dem Begriffe A ge-
nommen werden, damit ſie denſelben ausma-
chen, ſo wuͤrde A nicht A ſeyn koͤnnen, wenn
es nicht B waͤre, weil mit dem B auch C weg-
fallen wuͤrde. - 6°. Nun haben wir die Art, wie wir, um zu eini-
ger und beſonders zur wiſſenſchaftlichen Erkennt-
niß zu gelangen, Merkmale, Beſtimmungen
und Indiuidua willkuͤhrlich zuſammennehmen,
und theils Arten und Gattungen, theils zuſam-
mengeſetzte Indiuidua bilden, oben (§. 176. 223.)
angezeiget, zugleich aber auch (§. 229. N°. 4. 5.)
angemerket, daß dieſes Verfahren nur in Ab-
ſicht auf uns willkuͤhrlich iſt, im Reiche der
Wahrheit aber alles ſchon, als in ſeine Ordnung
gebracht, angeſehen werden muͤſſe. Wenn dem-
nach in dem fuͤrgegebenen Satze der Begriff A
deswegen A iſt, weil wir die Beſtimmungen C
zu demſelben zuſammen genommen haben, ſo iſt
dieſes, in Abſicht auf uns, willkuͤhrlich, und
das Wort druͤcket bedingnißweiſe den Begriff A,
als A aus. Dieſes aber machet, daß wir die
meiſten nothwendigen Saͤtze als bedingniß-
weiſe oder hypothetiſch nothwendig anſehen.
Und das hypothetiſche beſteht theils in dem will-
kuͤhrlichen Zuſammenfaſſen der Merkmale C,
ſo fern dieſe anders oder auch mit andern Be-
ſtimmungen zuſammen genommen werden koͤn-
nen, theils in der Benennung des auf dieſe Art
zuſammengeſetzten Begriffes. - 7°. Von dieſen beyden Bedingungen iſt die letztere
allgemein und durchaus willkuͤhrlich, weil wir
jeden Begriff mit jedem Worte benennen koͤn-
R 4nen.
[264]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
nen. Sie wird aber dadurch eingeſchraͤnkt, daß
man, um einander verſtaͤndlich zu bleiben, von
der Sprache und ihren Regeln der Ableitung
und Zuſammenſetzung ohne Noth nicht abgehen
muͤſſe. Man ſehe hieruͤber das letzte Hauptſtuͤck
der Semiotic. - 8°. Hingegen koͤmmt die erſtere Bedingung nur
bey den zuſammengeſetzten Begriffen und zuſam-
men genommenen Indiuiduis vor. Das Will-
kuͤhrliche faͤllt bey den einfachen Begriffen ganz
weg, weil ſie genommen werden muͤſſen, wie ſie
ſind, und in ſo ferne kommen, in Abſicht auf
uns, die eigentlich categoriſchen Nothwen-
digkeiten nur bey den einfachen, nicht aber bey
den zuſammengeſetzten Begriffen, vor. Daß
die einfachen Begriffe ebenfalls auch die einige
Quelle und erſte Anlage zu den poſitiven Moͤg-
lichkeiten, zu den willkuͤhrlichen und ab-
ſoluten Aehnlichkeiten und Verſchieden-
heiten, zu den abſoluten und categoriſchen
Widerſpruͤchen (§. 243. 159. 250. ſeqq.) an-
geben, haben wir an angezogenen Oertern be-
reits geſehen, und merken es hier nochmals an,
weil die Betrachtung, daß die einfachen Be-
griffe in allen Abſichten der eigentliche
Uebergang von der Form zur Materie,
vom Hypothetiſchen zum Categoriſchen,
von den Relationen zu denCorrelatisſind,
von aͤußerſter Erheblichkeit iſt. - 9°. Da zur Moͤglichkeit eines einfachen Begriffes
ſchlechthin nur die Gedenkbarkeit erfordert wird,
weil die Widerſpruͤche daraus nothwendig weg-
bleiben (§. 19.), ſo ſind auch alle diejenigen
Beſtimmungen, ohne welche ein einfacher Be-
griff
[265]und das Nicht nothwendig ſeyn.
griff ſich nicht gedenken laͤßt, darinn ſchlechthin
nothwendig, weil mit denſelben die Gedenkbar-
keit wegfallen wuͤrde. Auf dieſe Art hat z. E.
der Raum drey Dimenſionen, die Zeit eine,
die Exiſtenz, ſo fern ſie eine abſolute Einheit iſt,
keine Dimenſion ꝛc. - 10°. Die bedingten Nothwendigkeiten kommen vor,
wenn wir, um den Begriff des Subjectes zu
bilden, einige Beſtimmungen oder auch einige
Indiuidua in einen Begriff zuſammennehmen,
und ſollen letztere als ein individuales Ganzes
oder Syſtem angeſehen werden koͤnnen, ſo muͤſ-
ſen wir ſie durch Kraͤfte oder durch ein gemein-
ſames Band in Verbindung bringen, oder als
auf ſolche Art verbunden gedenken. Dieſes Zu-
ſammennehmen machet die Bedingung aus. - 11°. Dieſes vorausgeſetzt, ſo haben wir nun drey
Quellen zu bedingten Nothwendigkeiten. Das
Subject ſey A, die Beſtimmung, welche den
Grund zu der Nothwendigkeit der Folge an-
giebt, ſey C, die Ausſage ſey B: Naͤmlich:
WeilA, Ciſt; ſo iſtAnothwendigB.
Dieſe Nothwendigkeit hat nun Statt:- 1°. WennCeine Art,Bihre Gattung
iſt. Denn ohne die Gattung laͤßt ſich die
Art nicht gedenken. - 2°. WennBundCdas gemeinſame
Band, und die dadurch verbundene
Stuͤcke ganz oder zum Theil, jedoch
im letztern Falle ſo vorſtellen, daß
wennBwegbliebe, auchCwegblei-
ben, oder das Ganze zerruͤttet wer-
den muͤßte. Man ſehe hieruͤber §. 220. - 3°. WennBeine Beſtimmung von den
inCvorkommenden einfachen Be-
griffen iſt, (N°. 9.).
- 1°. WennCeine Art,Bihre Gattung
- 12°. Dieſe drey Saͤtze geben nun die einfachen Quel-
len zu den bedingten Nothwendigkeiten an. Denn
es laſſen ſich daraus allerdings noch andere zu-
ſammenſetzen. Z. E. da die Nothwendigkeit der
Folge darauf beruht, daß B ohne C nirgends
vorkommen oder gedacht werden koͤnne; ſo iſt
es wohl moͤglich, daß dieſes ſelbſt noch erſt muß
bewieſen werden: Und da koͤmmt der Satz:
WeilC, Diſt, ſo muß esBſeyn, in eben
der Form wiederum vor, deſſen Beweis dem-
nach ebenfalls aus einer der drey angezeigten
Quellen fließen muß, dafern dieſer Satz nicht
noch weiter muß zergliedert werden. - 13°. Eigentlich aber giebt nur der dritte Satz
(N°. 11.) eine ſchlechthin categoriſche Nothwen-
digkeit der Folge, weil die Folge von beyden er-
ſtern ſich auf Bedingungengruͤndet, die wir zum
Behufe der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß auf eine
groͤßtentheils willkuͤhrliche Art annehmen, um
die Begriffe und ihre Verhaͤltniſſe zu bilden,
(N°. 6°.). So fern wir aber dabey regelmaͤßig
und ſyſtematiſch verfahren, werden dieſe Be-
dingungen nicht zu den Bedingungen des Sub-
jectes gerechnet, welche in allen drey Faͤllen
einerley bleiben, (N°. 10. 11.). Sie ſind auch
nur auf Abkuͤrzungen gegruͤndet, die einge-
fuͤhret ſind, damit wir, wenn wir es auch
immer thun koͤnnten, nicht immer zu den erſten
Grundbegriffen zuruͤck, oder die Sache weit
herholen muͤſſen.
§. 277.
[267]und das Nicht nothwendig ſeyn.
§. 277.
Die erſt betrachtete Formel betrifft nun die directe
Art zu ſchluͤßen. Es geben uns aber die disjunctiven
Saͤtze noch Mittel an, auch ausſchließungsweiſe zu
verfahren, und da giebt es folgende zween Faͤlle.
- 1°. Fuͤr die Nothwendigkeit eines Praͤdicats.
Wenn man weiß, daß das Subject A unter die
Gattung E des Praͤdicats B gehoͤret, und findet
in A ſolche Beſtimmungen C, welche die uͤbri-
gen Arten der Gattung C ausſchließen: ſo daß B
allein bleibt, ſo geht der Schluß an: WeilA
ſowohlCalsEiſt, ſo muß esBſeyn.
Denn C ſchließt die uͤbrigen Arten der Gat-
tung E aus. - 2°. Fuͤr die Nothwendigkeit eines Subjectes,
wo naͤmlich außer dem A kein ander Subject
das Praͤdicat B haben kann. Da nimmt man
einige Merkmale des B, die dem B nicht eigen
ſind, zuſammen. Dieſe ſeyn F. Sodann ſuchet
man zu dem A noch die uͤbrigen Subjecte, de-
nen F als ein Praͤdicat zukoͤmmt, und beweiſt
ausſchließungsweiſe, daß B denſelben nicht zu-
komme. Auf dieſe Art bleibt A allein uͤbrig.
Die Formel iſt folgende:- B iſt F.
- Die Dinge, die F ſind, ſind A, M, N, P.
- Folglich muß entweder A oder M oder N
oder P, B ſeyn. - Nun M, N, P ſind nicht B.
- Demnach iſt A allein B.
§. 278.
Ueber dieſe letztere Art zu ſchluͤßen, die ich in dem
§. 377. der Dianoiologie ebenfalls angefuͤhret habe,
werde
[268]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
werde ich hier noch einige Betrachtungen beyfuͤgen.
Euclid gebraucht ſie ſehr oft, beſonders wo umge-
kehrte Saͤtze zu beweiſen ſind, z. E. in der vierzehen-
ten, neun und dreyßigſten, vierzigſten Prop. des er-
ſten Buches, und die neun und zwanzigſte Prop. die-
ſes Buches, von welcher man wegen des dabey ge-
brauchten eilften Grundſatzes einen von dieſem Grund-
ſatze unabhaͤngigen Beweis, oder den Grundſatz ſelbſt
erwieſen verlangt, dienete unter andern ebenfalls auch,
zu zeigen, daß die Parallelinie, welche Euclid in
der ein und dreyßigſten Prop. ziehen lehret, die einige
ſey, welche durch einen fuͤrgegebenen Punct gezogen
werden kann, oder daß die acht und zwanzigſte Prop.
ſchlechthin umgekehrt werden koͤnne. Eben dieſe Art
zu ſchluͤßen gebraucht Euclid in der erſten Prop. des
dritten Buches, um zu zeigen, daß man ſo, wie er
daſelbſt angiebt, den Mittelpunct des Cirkels zu fin-
den, denſelben finde, und daß nicht etwan ein an-
derer Punct der Mittelpunct ſey. Bey der Betrach-
tung dieſer Art zu beweiſen kamen mir folgende zwo
Fragen vor. 1°. Worinn ſie von den uͤbrigen ver-
ſchieden ſey? 2°. Ob man ſie in logiſchen Formeln
vorſtellen, und außer der Geometrie anwenden koͤnne?
Jn Abſicht auf die erſtere Frage, war es leicht ein-
zuſehen, daß man beweiſe, daß außer dem Sub-
jecte A kein anderes das Praͤdicat B habe. Nun
koͤmmt allerdings B. wenn es anders ein moͤgliches
Praͤdicat iſt, irgend einem oder mehrern Subjecten
zu, (§. 261. N°. 4. 12.). Man muß aber dieſe genau
abzaͤhlen koͤnnen, wenn der Beweis angehen ſoll.
Jſt aber das Subject A allein B, ſo ſind alle andere
ausgeſchloſſen. Es wuͤrde aber mehrentheils zu weit-
laͤuftig werden, wenn man alle ausgeſchloſſene wollte
durch die Muſterung gehen laſſen. Euclid thut
dieſes
[269]und das Nicht nothwendig ſeyn.
dieſes zwar in den angezogenen Saͤtzen auf eine allge-
meine Art, und dieſes iſt in der Geometrie leichter,
weil alles kann vor Augen gelegt werden. Hingegen
fand ich, daß man dennoch auch außer der Geometrie,
die Anzahl der Subjecte, welche nicht B ſind, in
Abſicht auf den Beweis, merklich vermindern kann,
wenn man nur diejenigen nimmt, welche unter eine
der hoͤhern Gattungen des B gehoͤren. Denn alle die,
welche in dem Termino infinito dieſer hoͤhern Gat-
tungen mit inbegriffen ſind, fallen hier ohnehin ſchon
weg, weil ſie eben dadurch nicht B ſeyn koͤnnen,
(§. 270.). Nimmt man nun die, ſo unter die hoͤhere
Gattung F gehoͤren, zuſammen, ſo kann man leichter
die Muſterung vornehmen, und M, N, P von B aus-
geſchloſſen finden, um den Schluß zu machen, daß A
allein B ſeyn muͤſſe. Zu dieſer ſo genauen Vorzaͤh-
lung der Subjecte A, M, N, P, denen F als Praͤdicat
zukoͤmmt, giebt nun die logiſche Formularſprache keine
ſchickliche Ausdruͤcke. Denn die Form
Sowohl A, als M, und N und P iſt F.
laͤßt in Zweifel, ob nicht noch mehrere Dinge F ſind?
Am ſchicklichſten, aber fuͤr die Formularſprache weder
kurz noch bequem genug, kann man dafuͤr ſagen:
Die Dinge, die F ſind, ſind A, M, N, P, und
weiter keine.
oder auch:
Außer A, M, N, P giebt es weiter keine Dinge
mehr, die F ſind.
oder:
Was weder A, noch M, noch N, noch P iſt, iſt
auch nicht F.
Gebrau-
[270]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
Gebrauchen wir dieſen letztern Ausdruck, ſo wird die
ganze Formel folgende ſeyn:
- 1°. B iſt F, und F iſt entweder A, oder M, oder N,
oder P. - 2°. Folglich was nicht F iſt, iſt nicht B.
- 3°. Und was weder A, noch M, noch P, noch Q iſt,
iſt nicht F. - 4°. Folglich was weder A, noch M, noch P, noch Q
iſt, iſt auch nicht B. - 5°. Nun wird M, P, Q an ſich ſchon von B aus-
geſchloſſen. - 6°. Demnach, was nicht A iſt, iſt nicht B.
- 7°. Da nun alle A, B ſind, ſo iſt A allein B.
Jn dieſer Formel werden aber Beſtimmungen und
Indiuidua nicht leicht, noch deutlich genug unterſchie-
den, weil A, M, N, P hier nicht Beſtimmungen, ſon-
dern Indiuidua ſind. Jch habe demnach den vorhin
(§. 278. N°. 2.) gegebenen Vortrag vorgezogen.
§. 279.
Das bisher Geſagte betrifft die Art, wie wir aus
der Unmoͤglichkeit des Gegentheils, ſo fern daſ-
ſelbe ſymboliſch vorgeſtellet wird, und folglich aus
der ſymboliſchen Geſtalt unſerer Erkenntniß auf
das Nothwendige ſchließen, und man wird in dem
ſechſten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie, welches von
den Beweiſen handelt, noch mehrere hieher dienende
Betrachtungen finden. Man ſetzet aber das Noth-
wendige nicht nur ſeinem Unmoͤglichen und daher bloß
ſymboliſchen Gegentheile, ſondern auch dem Zufaͤlli-
gen entgegen. Das Wort zufaͤllig wird im Deut-
ſchen bald ohne Unterſchied zur Ueberſetzung der Woͤr-
ter modiſicatio, contingens, accidens, caſus ꝛc. ge-
braucht,
[271]und das Nicht nothwendig ſeyn.
braucht, und iſt daher vieldeutig, ſo fern man im
Lateiniſchen, und beſonders in der Metaphyſic zwi-
ſchen dieſen Woͤrtern einen Unterſchied macht, und die
Modificationen dem Eſſentialen, das Accidens der
Subſtanz, den Caſum den aus den Urſachen vorher-
geſehenen Begebenheiten, und das Contingens dem
Nothwendigen entgegenſetzet. Ueberhaupt aber iſt
in dieſen Woͤrtern eine Verwirrung und Veraͤnder-
lichkeit der Bedeutung, welche macht, daß ſie ſchick-
licher zu Praͤdicaten als zu Subjecten von Saͤtzen
gebraucht werden koͤnnen (§. 267.), und daß man ſie
nicht wohl durch Woͤrter von eben ſo veraͤnderlicher
Bedeutung definiren kann, weil die Sprache eben
nicht dazu eingerichtet iſt. Man weiß, daß dieſe
Woͤrter und ihre Definitionen zu dem Spinoſiſmo,
Fataliſino, zu dem Syſtem des blinden Ungefaͤhrs ꝛc.
Anlaß gegeben haben. Werden ſolche Woͤrter durch
Definitionen an fixe Begriffe gebunden, ſo fallen da-
durch viele Redensarten aus der Sprache weg, die
in beſondern Faͤllen im geringſten keine Vieldeutigkeit
haben, und die Sprache hat nicht Woͤrter genug, ſie
mit andern zu erſetzen. Man kann auch ohnehin nicht
uͤber den Gebrauch zu reden befehlen. Das Beſte,
was man demnach in der Metaphyſic, wo man eine
Menge ſolcher Woͤrter zu Subjecten machen und de-
finiren will, thun kann, iſt, daß man ihre Vieldeu-
tigkeiten aufſuche, und dadurch erhaͤlt man, anſtatt
ſolcher Saͤtze, die nur eine ſcheinbare Allgemeinheit
haben, mehrere, die zwar nicht ſo allgemein, aber
deſto beſtimmter und brauchbarer ſind. Man ſehe
hieruͤber das Umſtaͤndlichere in dem dritten Haupt-
ſtuͤcke der Alethiologie (§. 137-158.) und in dem letz-
ten Hauptſtuͤcke der Semiotic.
§. 280.
[272]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
§. 280.
Unter den erſt angefuͤhrten Woͤrtern ſcheint das
Wort nothwendig in ſeiner Bedeutung am wenig-
ſten veraͤnderlich zu ſeyn, und bedeutet, was weder
nicht, noch anders ſeyn kann, als es iſt. Es iſt eine
Beſtimmung des Bindewoͤrtchens, und bezieht ſich ſo-
wohl auf das Seyn als auf die Art des Seyns
(Modus eſſendi). Hinwiederum, was nicht noth-
wendig iſt, kann entweder nicht ſeyn, oder anders
ſeyn, als es iſt, oder gemacht wird, oder als man
es machen will ꝛc. Demnach koͤmmt bey dem nicht
nothwendigen die Moͤglichkeit des Gegentheils vor.
§. 281.
Wir haben oben ſchon die Quellen und Merkmale
der Moͤglichkeiten angegeben. Sie ſind: 1°. das
Nicht widerſprechen. 2°. Die einfachen Be-
griffe und ihrePoſtulata. 3°. Auf eine unmittel-
barere Art die Kraͤfte, und 4°. wenn wir a poſteriori
gehen, die Exiſtenz, (§. 243.). So viel und auf
ſo vielerley Arten man nun von dieſen Moͤglichkeiten
einander entgegenzuſetzen findet, ſo daß, wenn die
eine exiſtirt, die andere nicht exiſtirt oder nicht zu-
gleich in der erſten Stelle mit exiſtirt, auf ſo vieler-
ley Arten wird das Nothwendige von ſolchen Moͤg-
lichkeiten ausgeſchloſſen. Sie ſind moͤglich, und in
Abſicht auf die Gedenkbarkeit, nothwendig moͤglich,
aber in Abſicht auf die Exiſtenz, nicht nothwendig,
oder nicht nothwendig exiſtirend, weil, wenn die eine
iſt, die andere nicht iſt.
§. 282.
Was entweder veraͤndert wird, oder veraͤn-
dert werden kann, iſt nicht ſchlechthin noth-
wendig. Nun ſind die Kraͤfte die Grundlage zu
der
[273]und das Nicht nothwendig ſeyn.
der Moͤglichkeit der Veraͤnderungen. Demnach ſind
ſie auch die Grundlage zu allem nicht ſchlechthin Noth-
wendigen. Wir haben daher bereits oben (§. 243.)
angemerket, daß, da in der wirklichen Welt die
Kraͤfte beſtimmet ſind, in der Welt alles dasjenige
unmoͤglich ſey, wozu dieſe Kraͤfte nicht hinreichen.
Und daher iſt auch in der wirklichen Welt alles das
bedingnißweiſe nothwendig, was durch dieſe Kraͤfte
weder gehoben noch veraͤndert werden kann, ungeach-
tet es an ſich betrachtet, veraͤndert oder gehoben werden
koͤnnte. Und auf eine eingeſchraͤnktere Art iſt etwas
bedingnißweiſe nothwendig, was durch dieſe oder
jene Kraͤfte weder gehoben noch anders gemacht wer-
den kann.
§. 283.
Wir haben oben (§. 222.) diejenigen Beſtimmun-
gen, die durch die Anwendung der Kraͤfte in einem
Dinge veraͤndert werden koͤnnen, ungeachtet das Ding
oder das Indiuiduum eben daſſelbe bleibt, Modifica-
tionen, oder Zufaͤlligkeiten oder zufaͤllige Be-
ſtimmungen genennet. Da nun das Zuſammen-
geſetzte ebenfalls nur ſo lange ſeine weſentliche Stuͤcke
behaͤlt und ein Ganzes iſt, als das gemeinſame Band
nicht durch groͤßere, ſtaͤrkere, feinere Kraͤfte getrennet
oder geaͤndert wird, und die einzeln Theile gleichartig
bleiben und nicht mit einem male alle mit neuen ver-
wechſelt werden (§. 220. N°. 13.), ſo ſind die zufaͤlli-
gen Beſtimmungen von den weſentlichen nur verglei-
chungsweiſe verſchieden, ſo fern naͤmlich jene durch
geringere, dieſe durch ſtaͤrkere Kraͤfte getrennet wer-
den koͤnnen. Nach dieſer Verhaͤltniß der Kraͤfte laſ-
ſen ſich nun Grade der Zufaͤlligkeit gedenken, und
was durch geringere Kraͤfte geaͤndert und gehoben
Lamb. Archit.I.B. Swerden
[274]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
werden kann, iſt in dieſer Abſicht zufaͤlliger, als was
nur durch groͤßere Kraͤfte kann geaͤndert, getrennet,
gehoben werden. Auf eben dieſe Art laſſen ſich Grade
der hypothetiſchen Nothwendigkeit gedenken,
welche deſto groͤßer ſind, je groͤßer die Kraͤfte ſeyn
muͤſſen, ohne welche die Veraͤnderung nicht ſtatt ha-
ben kann, (§. 282.).
§. 284.
Das Beſtaͤndige und Fortdauernde hat im-
mer eine wenigſtens hypothetiſche Nothwen-
digkeit. Denn iſt das Gegentheil an ſich betrachtet
unmoͤglich, ſo iſt die Nothwendigkeit des Fortdauerns
abſolut. Jſt aber das Gegentheil an ſich betrachtet
moͤglich, ſo ruͤhrt das Fortdauern daher, daß die
Kraͤfte, wodurch es gehoben werden koͤnnte, entweder
nicht da ſind, oder verhindert werden zu wirken, oder
ſonſt irgend angewandt ſind, (§. 98. Axiom. 2. 3.).
So lange nun einer von dieſen Faͤllen ſtatt hat, kann
das Fortdauern nicht aufgehoben werden, demnach
iſt es in ſo ferne oder bedingungsweiſe nothwen-
dig, (§. 275. N°. 4.)
§. 285.
Hieraus laͤßt ſich etwas umſtaͤndlicher erklaͤren,
was wir in dem §. 232. der Phaͤnomenologie als einen
Grundſatz von dem Beharrungsſtande der Dinge
und Geſetze der Natur angefuͤhret haben, naͤmlich:
Was beſtaͤndig geweſen iſt, faͤhrt fort zu ſeyn,
und wie ferne. Die Sache koͤmmt auf folgende
Saͤtze an.
- 1°. Was an ſich nothwendig iſt, kann in der
wirklichen Welt nicht anders ſeyn. Denn
da deſſen Gegentheil an ſich A und Nicht ‒ A
zugleich
[275]und das Nicht nothwendig ſeyn.
zugleich iſt, ſo kann es durch keine Kraͤfte moͤg-
lich gemacht und daher auch in der Welt nicht
wirklich gemacht werden, weil die Kraͤfte auch
im Reiche der Moͤglichkeiten nicht weiter rei-
chen, (§. 243.). - 2°. Koͤnnen wir demnach das an ſich Nothwendige,
wie es in der Vernunftlehre, Meßkunſt, Chro-
nometrie, Phoronomie ꝛc. geſchieht, a priori
herausbringen, ſo laͤßt ſichs, ſo fern es in
der wirklichen Welt vorkoͤmmt, auf ſeine Be-
ſtaͤndigkeit, Fortdauer und Unveraͤnderlichkeit
ſchlechthin ſchließen. Und ſo giebt es allerdings
Geſetze der Natur, die eine ſolche Noth-
wendigkeit haben, daß ſo bald ſie im Reiche
der Wirklichkeit angebracht ſind, ſie nicht an-
ders angebracht ſeyn koͤnnen. - 3°. Da aber unſer Wiſſen a priori nicht ſo weit
geht, daß wir bey allem in der wirklichen Welt
fortdauernden, ſollten entſcheiden koͤnnen, ob
die Fortdauer an ſich unveraͤnderlich ſeyn muͤſſe,
ſo koͤnnen wir auch das Beſtaͤndige in der Welt
nur bedingungsweiſe als nothwendig annehmen,
ſo lange wir die abſolute Nothwendigkeit nicht
a priori erweiſen koͤnnen. - 4°. Da ferner die Kraͤfte in der Welt beſtimmet
ſind, ſo iſt es gar wohl moͤglich, daß etwas in
der Welt vorkomme, welches durch keine dar-
inn vorkommende Kraft geaͤndert werden kann,
ungeachtet es an ſich betrachtet, wohl geaͤndert
werden koͤnnte, und demnach eine Nothwendig-
keit, Beſtaͤndigkeit und Dauer hat, die in Ab-
ſicht auf die Welt ſo gut als abſolut iſt.
S 25°. Fer-
[276]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
- 5°. Ferner koͤnnen wir den Mechanismum der Koͤr-
perwelt, in Gegenſatz deſſen, was in der Welt
von denkenden Weſen willkuͤhrlich geaͤndert
werden kann, fuͤr ſich betrachten. Denn ſo
veranſtalten wir Sachen, die durch den Mecha-
nismum der Natur nie wuͤrden veranſtaltet wor-
den ſeyn. - 6°. Da wir ferner ſolche Beſtaͤndigkeiten, die
nicht an ſich, aber dennoch in der Welt noth-
wendig bleiben, nur a poſteriori muͤſſen als
ſolche erkennen lernen, und uͤberdieß die Groͤße
und Summe der in der Welt angebrachten
Kraͤfte nicht kennen, ſo haben wir auch kein
Mittel dazu, als daß wir aus dem beſtaͤndig
geweſen ſeyn auf das beſtaͤndig ſeyn wer-
den den Schluß machen. - 7°. Dabey kommen nun verſchiedene Bedingungen
und Einſchraͤnkungen vor. Denn einmal ſo
lange wir wiſſen, daß etwas beſtaͤndig geweſen
iſt, koͤnnen wir ſchließen, daß auch eben ſo lan-
ge diejenigen Kraͤfte, die es allenfalls haͤtten
aͤndern koͤnnen, nicht gewirket haben, ſie moͤ-
gen nun entweder wirklich nicht in der Welt
ſeyn, oder anders angebracht ſeyn, oder ſich
nur allmaͤhlich aͤußern, und die Veraͤnderung
langſam hervor bringen. - 8°. Jm erſten Falle geht der Schluß vom beſtaͤn-
dig geweſen ſeyn auf das beſtaͤndig ſeyn
werden an, weil die aͤndernden Kraͤfte nicht
in der Welt ſind, und folglich erſt durch eine
neue Schoͤpfung oder durch ein Wunder muͤßten
angebracht werden. Davon wird aber in der
Phyſic zu deren Behuf wir dieſe Anmerkungen
machen, abſtrahirt.
9°. Jm
[277]und das Nicht nothwendig ſeyn.
- 9°. Jm dritten Falle, wo naͤmlich die Veraͤnde-
rung ſich nur langſam aͤußert, geht der Schluß
ebenfalls an, weil wir der langſamen Veraͤn-
derung Rechnung tragen koͤnnen. - 10°. Jm zweyten Falle aber, welcher ſich von dem
erſten nicht anders unterſcheidet, als wenn die
bisher beſtaͤndig geweſene Sache veraͤndert wird,
koͤnnen wir nur bedingnisweiſe annehmen, daß ſie
fortfahre zu bleiben. Dieſes geht aber in denen
Faͤllen nothwendiger an, wo die zur Aenderung
erforderliche Kraft groß, und wenn ſie irgend
waͤre, durch ihre Wirkung kenntlich ſeyn muͤßte.
Denn ſo laͤßt ſich auch ſchon das Annaͤhern be-
merken. Und ſo geht es auch an, wenn wir
wiſſen, daß die Kraft ſich nicht oft aͤußert, und
laͤngere Zeit gebraucht, bis ſie zum Ueberwie-
gen aufgehaͤufet wird ꝛc.
§. 286.
Das Beſtaͤndige und Fortdauernde bleibt einerley
oder eben daſſelbe, ſo fern es beſtaͤndig und fort-
dauernd iſt. Da nun das Nothwendige die Anlage
zu dem beſtaͤndigen und fortdauernden iſt (§. 284. 285),
ſo laͤßt ſich die oben gegebene Theorie von der Jden-
titaͤt (§. 124-161.) bey beydem anwenden. Naͤm-
lich: Was nothwendig iſt, bleibt unveraͤndert,
einerley, eben daſſelbe. Und hinwiederum,
was eben daſſelbe bleibt, hat in ſo fern eine,
wenigſtens hypothetiſche, Nothwendigkeit.
Sodann koͤnnen auch bey dem Veraͤnderlichen die
Geſetze der Veraͤnderung etwas Beſtaͤndiges und
Nothwendiges haben, und dieſes kann auch vorkom-
men, ſo fern ſich mehrere Sachen nach einerley Ge-
ſetze veraͤndern. Wir haben die Anlage zu den
S 3Grund-
[278]IX. Hauptſt. Das Nothwendig ſeyn
Grundſaͤtzen, ſo man fuͤr ſolche Veraͤnderungen und
fuͤr ihre Abwechslungen finden kann, bereits oben
(§. 139. 140.) in einem allgemeinen Grundſatze vor-
getragen, und eben daſelbſt auch die Erheblichkeit
und den Gebrauch der Analogie, ſo dabey vor-
koͤmmt (§. 144. 145.) angezeiget.
§. 287.
Da uͤberhaupt die Kraͤfte die unmittelbare Quelle
zu poſitiven Moͤglichkeiten ſind (§. 243.) einige Moͤg-
lichkeiten aber, als Gegentheile von andern angeſe-
hen werden koͤnnen, ſo ſtehen die Kraͤfte uͤberhaupt
mit dem Nothwendigen in gewiſſen Verhaͤltniſſen,
die wir noch anzeigen wollen.
- 1°. Eine nicht aufgehaltene oder verhinderte Kraft
bringt ihre Wirkung nothwendig hervor. Denn
eben das iſt es, was ſie vom bloßen Vermoͤgen
oder Moͤglichkeit unterſcheidet. - 2°. Was durch Kraͤfte verbunden iſt, bleibt noth-
wendig, ſo lange das Band nicht durch groͤ-
ßere Kraͤfte getrennet oder gehoben wird. - 3°. Das Daſeyn einer Kraft machet die Sache
moͤglich, das Wegſeyn der verhindernden
Kraͤfte machet den Erfolg wirklich, und ſo
lange ſie weg ſind, nothwendig. Und ſowohl
in dieſer Moͤglichkeit als in der Wirklichkeit,
iſt eine Art von Nothwendigkeit. Jn der Moͤg-
lichkeit ſchlechthin, in der Wirklichkeit, ſo fern
die Kraft da iſt, und ſich aͤußert.
§. 288.
Jnsbeſondere geben uns die Kraͤfte des Verſtan-
des zwo Arten von Moͤglichkeiten an. 1°. Die ſym-
boliſche, und mit dieſer reichen wir ſo weit, daß
wir auch unmoͤgliche Dinge bezeichnen koͤnnen,
(§. 273.
[279]und das Nicht nothwendig ſeyn.
(§. 273. ſeqq. 163. 164.). 2°. Die Gedenkbarkeit,
und dieſe reichet nicht bis zum Unmoͤglichen oder Wi-
derſprechenden, (§. 273.). Wir koͤnnen aber ver-
mittelſt des Abſtrahirens, einzelne Stuͤcke des Moͤg-
lichen gedenken, welche ſo abſtract nicht exiſtiren koͤn-
nen, und daher, wenn wir das Weggelaſſene nicht
mit dazu nehmen, aus dem Reiche der Wirklichkeit
wegbleiben. Zu dieſen beyden Arten von Moͤglich-
keiten koͤmmt ſodann noch die dritte, welche das Exi-
ſtiren koͤnnen betrifft, und dazu iſt das Solide und
mit dieſem die Kraͤfte die erſte Anlage. Was nun von
den ſymboliſchen Moͤglichkeiten A und nicht ‒ A
zugleich iſt, das iſt ſchlechthin nur ſymboliſch, von
der Gedenkbarkeit ausgeſchloſſen, widerſprechend, an
ſich unmoͤglich, und das Gegentheil nothwendig ge-
denkbar, an ſich moͤglich, zum Reiche der Wahrhei-
ten gehoͤrend ꝛc. Was fuͤr ſich Gedenkbar iſt, das iſt
ſchlechthin oder abſolute nothwendig gedenkbar, die
Grundlage zum Reiche der Wahrheit, und jeder ge-
denkbaren Folgen, hingegen ohne Kraͤfte und Soli-
des, weder wirklich exiſtirend, noch wirklich gedenk-
bar. Und von mehreren an ſich gedenkbaren Moͤg-
lichkeiten exiſtirt, mit Ausſchluß derer, die das Ge-
gentheil waͤren, jedesmal nur eine, und in ſo ferne
oder bedingnißweiſe nothwendig. Endlich da die
Exiſtenz, als ein einfacher Begriff ſchlechthin ge-
denkbar, folglich nicht A und Nicht ‒ A iſt, ſo iſt
derſelbe auch ſchlechthin nicht ein Praͤdicat ohne Sub-
ject, (§. 261. N°. 3. 2.). Es giebt demnach auf eine
ſchlechterdings nothwendige Art wenigſtens ein Sub-
ject A, dem die Exiſtenz als ein Praͤdicat zukoͤmmt,
oder es iſt ſchlechterdings unmoͤglich, daß nichts
exiſtire.
S 4Zehentes
[280]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
Zehentes Hauptſtuͤck.
Das Wahr ſeyn und das Nicht wahr ſeyn.
§. 289.
Unter den verſchiedenen allgemeinern Beſtimmun-
gen, die man dem Bindewoͤrtchen ſeyn zuſetzet,
und wovon wir bisher das Nicht, das koͤnnen
oder moͤglich, und das muß oder nothwendig
betrachtet haben, koͤmmt auch das wahr vor, und
dieſes wird, eben ſo wie uͤberhaupt das Bindewoͤrt-
chen (§. 242.) auf den ganzen Satz gleichfoͤrmig aus-
gedehnet. Es bezeichnet gewiſſermaßen die Graͤnz-
linie zwiſchen Saͤtzen, die ſchlechthin nur ſymboliſch,
und zwiſchen denen, die zugleich auch durchaus ge-
denkbar ſind. Denn ſoll ein Satz wahr ſeyn, ſo
muß derſelbe nicht nur ein fuͤr ſich gedenkbares Sub-
ject und Praͤdicat haben, ſondern es muß auch ge-
denkbar ſeyn, daß letzteres dem erſtern auf die Art
zukomme, wie es der Satz angiebt. Das Symboli-
ſche des Satzes muß durchaus gedenkbar ſeyn, und
iſt dieſes, ſo ſagen wir, der Satz ſey wahr, und wir
bezeichnen dadurch den Beyfall, den wir der Ausſage
des Satzes geben.
§. 290.
Dieſe Art von Wahrheit nennen wir die logiſche
Wahrheit, und man ſieht aus erſtgeſagtem, daß ſie
eigentlich das Bindewoͤrtchen eines Satzes und ſeine
gleichfoͤrmige Ausdehnung uͤber den ganzen Satz be-
trifft. Wir pflegen, vermuthlich Kuͤrze halber, das
Wort wahr nicht immer dem Bindewoͤrtchen eines
wahren
[281]und das Nicht wahr ſeyn.
wahren Satzes beyzufuͤgen, ſondern thun es nur als-
dann, wenn wir bey dem Satze eigentlich auf die
Wahrheit deſſelben ſehen, es ſey um ſie von dem
bloßen Scheine, oder von der bloßen Moͤglichkeit zu
unterſcheiden, oder um damit anzuzeigen, daß wir
die Probe gemacht haben ꝛc. Jm Deutſchen wird
uͤberdieß das Wort wahr nicht als ein Zuwort ge-
braucht, wie das lateiniſche vere, ſondern wir gebrau-
chen dafuͤr das wahrhaftig, in Wahrheit, wirk-
lich, in der That, ꝛc. wovon ſich aber beyde erſtere
mehr auf die Aufrichtigkeit des Redenden, als
auf die Wahrheit des Geredeten beziehen, und
daher in Form von Betheurungen und Verſicherun-
gen gebraucht werden. Die beyden letztern aber be-
ziehen ſich, im eigentlichſten Verſtande auf die Exi-
ſtenz, ſie werden aber metaphoriſch uͤberhaupt bey
dem wahren gebraucht.
§. 291.
Dem logiſchen Wahren wird das Falſche ent-
gegen geſetzet, wodurch wir das Nicht — wahre
verſtehen, und beydes bezieht ſich ſchlechthin auf Saͤ-
tze und Urtheile. Denn bey Begriffen koͤmmt die
Moͤglichkeit und Richtigkeit, bey Fragen die Zu-
laͤßigkeit, und bey Schluͤſſen, die Nothwendig-
keit der Folge in Betrachtung, (Dianoiol. §. 35. 425.
248.). Ein Satz iſt uͤberhaupt falſch (nicht — wahr,
irrig,) wenn das Praͤdicat dem Subjecte nicht auf
die Art zukoͤmmt, wie es der Satz ausdruͤcket. Und
kann das Praͤdicat dem Subjecte an ſich oder unter
keiner Bedingung ſo zukommen: ſo iſt die Ausſage
des Satzes ſchlechthin nicht gedenkbar. Jn dieſem
Falle iſt der Satz nicht nur falſch, ſondern vollends
ungereimt. Das ungereimte naͤmlich laͤuft einem
S 5Grund-
[282]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
Grundſatze oder uͤberhaupt der Gedenkbarkeit zuwi-
der, das Falſche aber der Exiſtenz oder der Allge-
meinheit, und wenn die Ausſage auf keinerley Art
kann wahr gemacht werden, ſo geht die Ausſage
nicht an. Eine an ſich moͤgliche Ausſage kann un-
ter vorausgeſetzten Bedingungen falſch ſeyn, und da
laͤuft ſie der Bedingung zuwider. Dieſes ſind
ungefaͤhr die Unterſchiede, die ſich zwiſchen den an-
gefuͤhrten Ausdruͤcken machen laſſen, ungeachtet man
ſie im gemeinen Gebrauche zu reden nicht immer ſo
genau nimmt.
§. 292.
Ungeachtet nun das Wahre eigentlich das Binde-
woͤrtchen der Saͤtze betrifft, und in ſo fern als ein
Aduerbium genommen wird, ſo hat man es in der
Sprache ebenfalls in ein Beywort oder Adiectiuum
verwandelt, und im Deutſchen koͤmmt es nicht an-
ders vor, (§. 290.). So lange es aber nur bey
Saͤtzen gebraucht wird, z. E. ein wahrer Satz,
und ſo auch ein falſcher Schatz, ein wahres Ur-
theil, eine wahre Ausſage, Geſchichte, Er-
zaͤhlung, Zeugniß ꝛc. ſo bleibt die Bedeutung noch
immer logiſch, weil alle dieſe Woͤrter das Binde-
woͤrtchen und ſeine Ausdehuung betreffen. Saget
man hingegen wahres Gold, ſo ſetzet man dieſen
Begriff dem, was nur Gold zu ſeyn ſcheint entgegen,
ſo wie man das reine Gold dem mit andern Me-
tallen vermengeten, den Graden nach entgegenſetzet.
Jn ſolchen Faͤllen bedeutet das Wort wahr ſo viel
als aͤcht,genuin,authentiſch ꝛc.
§. 293.
Jndem man das Wort wahr von den Saͤtzen
auf die Begriffe zieht, und ſich ſtatt wahrer Saͤtze,
wahre
[283]und das Nicht wahr ſeyn.
wahre Begriffe vorſtellet, ſo wird die logiſche Be-
deutung deſſelben in eine metaphyſiſche verwandelt,
und das Aduerbium vere in das Adiectiuum verum.
Ein wahrer Begriff muß demnach etwas moͤgli-
ches vorſtellen, weil bey den Begriffen eigentlich die
Moͤglichkeit in Betrachtung koͤmmt, (§. 291.). Hin-
gegen iſt der Begriff mehr oder minder falſch, wenn
er etwas unmoͤgliches, A und nicht ‒ A, vorſtellet.
Demnach iſt ein falſcher Begriff eigentlich kein Be-
griff, weil er nicht gedenkbar iſt, und ſo ferne iſt er
ſchlechthin ſymboliſch, (§. 288.).
§. 294.
Wir betrachten hier das Wahre eines Begriffes
an ſich, und demnach abſolute, categoriſch, ſchlecht-
hin. Und in ſo fern muͤſſen wir daſſelbe von dem-
jenigen Fall unterſcheiden, wo wir uns unter ei-
nem an ſich moͤglichen Begriffe etwas anders
vorſtellen, als was derſelbe vorſtellet. Jn
dieſem Falle machen wir uns von der Sache einen
irrigen oder unrichtigen Begriff, und dieſes nen-
nen wir beziehungsweiſe irrig. Der Begriff kann
an ſich ein wahrer Begriff ſeyn, aber das, was er
vorſtellet, iſt nicht das, was wir glauben, daß er
vorſtelle. Zu ſolchen irrigen Vorſtellungen verhilft
nun theils die Sprache, theils die Verhaͤltniß-
begriffe. Die Sprache, ſo fern wir oͤfters die
Worte ohne die Sache lernen, und die Begriffe nach
den Worten, zumal nach uͤbel verſtandenen Worten
richten. Die Verhaͤltniſſe aber, ſo fern wir z. E.
Urſachen angeben, die nicht Urſachen ſind, Theile
anders in Verbindung bringen, als ſie verbunden
ſind, Luͤcken mit ſolchen Stuͤcken ausfuͤllen, die nicht
darein gehoͤren, Umſtaͤnde weglaſſen oder mitnehmen,
die ganz anders genommen werden muͤſſen ꝛc.
§. 295.
[284]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
§. 295.
Alles dieſes aber koͤmmt hier, wo von der Wahr-
heit der Begriffe an ſich, die Rede iſt, nicht in Be-
trachtung, weil ein Begriff immer ein wahrer Be-
griff iſt, ſo bald er ſich durchaus gedenken laͤßt, und
folglich weder Luͤcke noch Widerſpruch darinn vor-
koͤmmt, (§. 263. 264. und Alethiol. §. 204. ſeqq.).
Der eigentliche Grund, warum wir auf dieſe Wahr-
heit der Begriffe zu ſehen haben, liegt in der Spra-
che, weil die ſymboliſche Moͤglichkeit auf das Un-
moͤgliche eben ſo, wie auf das Moͤgliche geht, (§. 288.).
Wir haben daher bereits oben (§. 274.) angezeiget,
wie theils einzele Woͤrter, theils auch Zuſammen-
ſetzungen derſelben unmoͤgliche Dinge vorſtellen koͤn-
nen. Die Woͤrter dienen nur zur Bezeichnung der Be-
griffe, und ſo koͤnnen wir allerdings mit den Begrif-
fen auch die Woͤrter zuſammen ſetzen. Fangen wir
hingegen bey den Woͤrtern an, ſo iſt es eben ſo moͤg-
lich, daß die Zuſammenſetzung derſelben ſchlechthin
nur ſymboliſch bleibt, und nichts bedeutet, als daß
ſie etwas Moͤgliches vorſtelle, weil die ſymboliſche
Moͤglichkeit ſich viel weiter ausdehnet, als die reale
Moͤglichkeit. Und dieſes betrifft nicht nur die Spra-
che. Die Algeber, welche eine ſehr wiſſenſchaftliche
Zeichenkunſt iſt, giebt uns in dem Ausdrucke √ ‒ 1
eine Unmoͤglichkeit an, die man nirgends abſoluter
finden wird, und die Quadratwurzel einer nega-
tiven Groͤße, iſt ein ſchlechthin ſymboliſcher Aus-
druck. Dieſe Wurzel iſt nicht bloß = 0, ſondern
ein abſolutes Nichts, etwas ſchlechthin nicht gedenk-
bares, eine abſolute Unmoͤglichkeit. Wir haben
oben (§. 163. 164. 273.) ſchon angemerkt, daß ſolche
bloß ſymboliſche Ausdruͤcke dennoch gebraucht werden
koͤnnen. Man muß ſie aber fuͤr das anſehen, was
ſie
[285]und das Nicht wahr ſeyn.
ſie in der That ſind, und diejenigen Ausdruͤcke, wel-
che wahre Begriffe vorſtellen, von denen, welche
bloße Unmoͤglichkeiten, falſche, oder ſchlechthin nur
eingebildete Begriffe vorſtellen, genau unterſcheiden.
§. 296.
Man nennet ein an ſich unmoͤgliches Ding ein
Unding,Non-ens. Ein an ſich falſcher Begriff
ſtellet demnach ein Unding vor. Man ſieht leicht,
daß wir hier das Wort Unding, ſo wie das lateini-
ſche Non-ens, als einen Terminum infinitum des
Moͤglichen anſehen. Und in dieſer Abſicht iſt es von
dem, was nur unter voraus geſetzten Bedingungen
nicht moͤglich iſt, und ſo auch von dem bloß nicht
wirklichen und von dem nicht nothwendigen zu unter-
ſcheiden. Da dem Undinge kein wahrer Begriff
entſpricht, weil es ſchlechthin nicht gedenkbar iſt, ſo
wird es auch ein ertraͤumtes, bloß eingebildetes Ding,
Ens rationis, ens fictum, ens imaginarium genennet.
§. 297.
Hingegen einem wahren Dinge entſpricht ein
wahrer Begriff, und hinwiederum ſtellet jeder an
ſich wahre Begriff ein wahres Ding vor. Wenn
man daher in der Metaphyſic ſaget, ein jedes Ding
ſey ein wahres Ding,Omne ens eſt verum, ſo ſetzet
man das Ding dem Undinge entgegen, und nimmt
daher, beſonders im Deutſchen, das Wort Ding in
einer eingeſchraͤnktern Bedeutung, als man es in
der Sprache nimmt, wo man alles moͤgliche, un-
moͤgliche, ungereimte ꝛc. ein Ding nennet. Auf
dieſe Art bringt man die Wahrheit von den Saͤtzen
auf die Begriffe, und von den Begriffen auf die
Dinge ſelbſt, und nennet die Wahrheit, die in den
Dingen
[286]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
Dingen ſelbſt iſt, die metaphyſiſche Wahrheit,
welche daher den eigentlichen Unterſchied wahrer Din-
ge von bloß ertraͤumten Dingen ausmachet. Man
will dadurch uͤberhaupt anzeigen, daß das Gedenk-
bare wirklich etwas ſey. Die Wahrheit in
den Dingen machet naͤmlich das Gedenkbare nicht
nur von Seiten des denkenden Weſens, ſondern
fuͤrnehmlich von Seiten der Dinge ſelbſt gedenkbar,
die dadurch vorgeſtellet werden. Es koͤmmt hiebey
auf die vorhin (§. 288.) angefuͤhrten drey Arten von
Moͤglichkeiten an. Denn wie wir die Woͤrter, wel-
che keinen moͤglichen, oder fuͤr ſich gedenkbaren Be-
griff vorſtellen, leere Toͤne nennen, ſo wuͤrden auch
die an ſich gedenkbaren Begriffe leere, oder ſchlecht-
hin nur ideale Begriffe, oder leere Traͤume ſeyn,
wenn das, was ſie dem denkenden Weſen vorſtellen,
nicht wirklich Etwas waͤre. Wir koͤnnen es auch
ſo ausdruͤcken, daß wie die logiſche Wahrheit die
Graͤnzlinie zwiſchen dem bloß Symboliſchen und dem
Gedenkbaren iſt, eben ſo auch die metaphyſiſche
Wahrheit die Graͤnzlinie zwiſchen dem bloß gedenk-
baren und dem wirklichen, oder realen, categori-
ſchen Etwas ſey. Damit das Symboliſche durch-
aus gedenkbar ſey, iſt es genug, daß die Wider-
ſpruͤche und Luͤcken daraus wegbleiben. Hingegen,
ſoll das Gedenkbare wirklich Etwas vorſtellen, ſo
muß zu dem bloßen Nicht — widerſprechen noch
etwas poſitives hinzukommen, und dieſes iſt das
exiſtiren koͤnnen. Das will nun ſagen: So viel
man auch das Gedenkbare moͤglich nennen
will, ſo bleibt es nur in Abſicht auf die Kraͤfte
des Verſtandes moͤglich; an ſich aber ſind alle
dieſe Moͤglichkeiten Nichts, oder ein leerer
Traum, wenn die Moͤglichkeit zu exiſtiren
nicht
[287]und das Nicht wahr ſeyn.
nicht mit dabey iſt. Da ſich nun ohne Solides
und ohne Kraͤfte nichts Exiſtirendes gedenken laͤßt,
ſo iſt das Solide nebſt den Kraͤften die Grund-
lage zu der metaphyſiſchen Wahrheit. Und hin-
wiederum, daferne alles fuͤr ſich und durchaus
Gedenkbare ſoll exiſtiren koͤnnen, ſo muß ſich
auch die von den Kraͤften herruͤhrende poſitive
Moͤglichkeit, und mit dieſer die Kraͤfte ſelbſt
ſo weit erſtrecken, daß ſie auf alles gehen, was
nichtAund Nicht ‒ Azugleich iſt, und ſo weit
haben wir ſie auch oben (§. 243.) ausgedehnet. Da-
durch aber werden dieſe Kraͤfte, als allem uͤbri-
gen Exiſtirenden vorexiſtirend angenommen.
Denn waͤre dieſes nicht, ſo wuͤrde auch alles, was
dadurch zur Wirklichkeit gebracht werden koͤnnte, im
Nichts zuruͤcke bleiben, ſo ſehr es auch Gedenkbar
ſeyn moͤchte. Und uͤberhaupt, wenn nichts exi-
ſtirt, ſo kann nichts exiſtiren, weil ohne bereits
exiſtirende Kraͤfte nichts zur Exiſtenz gebracht wer-
den, ſo wie auch Nichts von ſich ſelbſt zur Exiſtenz
kommen kann.
§. 298.
Wir haben hiebey das Solide, und beſonders die
Kraͤfte, als die Grundlage der metaphyſiſchen Wahr-
heit angegeben, und dieſes iſt nun auf eine gedop-
pelte Art. Einmal koͤnnen wir als ein Poſtulatum
vorausſetzen; daß das Solide und die Kraͤfte
exiſtiren koͤnnen, (§. 105.). Und dieſes nehmen
wir hier nicht a poſteriori, oder ſchlechthin nur des-
wegen an, weil die wirkliche Welt uns beydes vor
Augen leget. Sondern wir ſehen hier das Solide,
die Kraft, die Exiſtenz und das Koͤnnen als ein-
fache Begriffe an (§. 46. N°. I. III.), und erſt ange-
fuͤhrter
[288]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
fuͤhrter Satz ſtellet die Verbindung zwiſchen dieſen
Begriffen vor. Dieſe Verbindung kann nun in ein-
fachere aufgeloͤſet werden, welche nicht alle dieſe vier
Begriffe mit einem Male betreffen, und ſo haben
wir ſie bereits oben vorgetragen. Naͤmlich
- 1°. ohne Solides und Kraͤfte exiſtirt nichts, (§. 103.
Axiom. 2. §. 90.). - 2°. Was etwas kann (actiue), hat eine Kraft,
und hinwiederum, (§. 29.).
Nach dem erſten dieſer Saͤtze muͤßte ſchlechthin allem
Gedenkbaren die Moͤglichkeit zu exiſtiren abgeſpro-
chen werden, wenn ſie dem Soliden und der Kraft
abgeſprochen werden ſollte. Auf dieſe Art aber waͤre
die Exiſtenz ein Praͤdicat ohne Subject, und
folglich A und Nicht ‒ A (§. 261. N°. 3. 2.), wel-
ches ſchlechthin nicht angeht, weil der Begriff der
Exiſtenz einfach iſt, (§. 19.). Demnach kann dem
Soliden und der Kraft die Moͤglichkeit zu exiſtiren
nicht abgeſprochen werden. Wir koͤnnen hiebey
noch dahin geſtellet ſeyn laſſen, wie ferne Kraft und
Solides, einerley oder mit einander verbunden ſind.
Das Solide mag immerhin fuͤr ſich exiſtiren koͤnnen,
ſo laͤßt ſich zwiſchen mehrerem Soliden ohne Kraft
keine reale oder poſitive Verbindung gedenken. Und
dieſer wuͤrde demnach ebenfalls die Moͤglichkeit zu
exiſtiren abgeſprochen werden muͤſſen, wenn die Kraft
nicht ſollte exiſtiren koͤnnen. Giebt man demnach
dem Soliden und der Kraft die Moͤglichkeit zu exi-
ſtiren zu; ſo iſt nicht nur in beyden fuͤr ſich betrachtet,
metaphyſiſche Wahrheit, ſondern dieſe dehnet ſich
auch auf jede Verbindungen aus, die in mehrerem
Solidem vermittelſt der Kraͤfte eine poſitive Moͤg-
lichkeit haben, das will ſagen, zur Wirklichkeit ge-
bracht werden koͤnnen.
§. 299.
[289]und das Nicht wahr ſeyn.
§. 299.
Wir haben im vorhergehenden ſchon verſchiedene
male angemerket, daß der Begriff der Kraft tran-
ſcendent gemacht, oder ſo wohl auf die Koͤrperwelt,
als auf die Geiſterwelt angewandt wird. Jn glei-
cher Abſicht kann auch die metaphyſiſche Wahrheit,
als tranſcendent betrachtet werden. So z. E. iſt die
Gedenkbarkeit nichts, daferne nicht die metaphyſiſche
Wahrheit mit dazu koͤmmt, das will ſagen, daferne
nicht ein denkendes Weſen exiſtirt, welches das Ge-
denkbare wirklich denke. Das Reich der logi-
ſchen Wahrheit, waͤre ohne die metaphyſiſche
Wahrheit, die in den Dingen ſelbſt iſt, ein lee-
rer Traum, und ohne ein exiſtirendesSuppoſi-
tum intelligenswuͤrde es auch nicht einmal ein
Traum, ſondern vollends gar nichts ſeyn.
Man kann demnach ſagen, daß das Reich der logi-
ſchen Wahrheit eine gedoppelte Baſin oder Grund,
worauf es beruhen koͤnne, haben muͤſſe. Einmal
ein denkendes Weſen, damit ſie in der That ge-
dacht werde; und ſodann die Sache ſelbſt, die der
Gegenſtand des Gedenkbaren iſt. Erſteres iſt der
ſubjective, letztere der objective Grund, wodurch die
logiſche Wahrheit in die metaphyſiſche verwandelt
wird. Wenn wir daher von ewigen, unveraͤnder-
lichen, abſolute nothwendigen Wahrheiten reden, und
ſagen, daß dieſe, Wahrheit bleiben wuͤrde, wenn
auch weder Gott, noch Welt, noch nichts waͤre; ſo
ſtoßen wir durch dieſe letztere Bedingung die erſtere
Ausſage um, weil wir dadurch ſowohl den ſubjecti-
ven, als den objectiven realen Grund ſolcher Wahr-
heiten wegnehmen, und dieſe folglich nicht etwann
nur in einen leeren Traum, ſondern vollends in Nichts
verwandeln. Demnach zieht der Satz, daß es
Lamb. Archit.I.B. Tnoth-
[290]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
nothwendige, ewige, unveraͤnderliche Wahr-
heiten gebe, die Folge nach ſich, daß ein noth-
wendiges, ewiges, unveraͤnderlichesSuppoſitum
intelligensſeyn muͤſſe, und daß der Gegenſtand
dieſer Wahrheiten, das will ſagen, das Solide
und die Kraͤfte, eine nothwendige Moͤglichkeit
zu exiſtiren haben.
§. 300.
Da demnach ſelbſt in der Gedenkbarkeit, ſowohl
in Anſehung des denkenden Weſens, als in Anſehung
der gedenkbaren Dinge, metaphyſiſche Wahrheit ſeyn
muß, ſo eignen wir auch den fuͤr ſich und durchaus
gedenkbaren Begriffen, auf eine tranſcendente Art,
metaphyſiſche Wahrheit zu, weil ſie ſchlechthin in
einem denkenden Weſen und mit demſelben muͤßten
exiſtiren koͤnnen. Hingegen muß dieſes bey Begrif-
fen, die wir anfangs auf eine bloß ſymboliſche Art
durch Combination der Woͤrter oder anderer Zeichen
herausbringen, erwieſen werden, weil die ſymboliſchen
Moͤglichkeiten weiter reichen, als die complete Ge-
denkbarkeit. Auf dieſe Art habe ich z. E. in der Dia-
noiologie (§. 123.), und ſo auch oben (§. 235.), erwie-
ſen, daß die Begriffe der vier Arten einfacher Saͤtze
wahre Begriffe ſind, das iſt, daß ſie irgend vor-
kommen, und wahre Dinge vorſtellen, oder daß
wahre Dinge die Veranlaſſung geben, daß man dieſe
vier Arten von Saͤtzen bey denſelben anwenden kann.
§. 301.
Ungeachtet ferner die ſo genannten allgemeinen
Dinge,Entia vniuerſalia, (§. 178. N°. 6.) ſo abſtract,
wie wir ſie gedenken, nicht exiſtiren und auch nicht
exiſtiren koͤnnen (§. 265.), ſo koͤnnen wir denſelben
den-
[291]und das Nicht wahr ſeyn.
dennoch eine metaphyſiſche Wahrheit zueignen. Ein-
mal, weil ſie in Concreto, das iſt, mit denjenigen
Beſtimmungen, die zu denſelben in den Indiuiduis
noch hinzukommen, exiſtiren koͤnnen; und ſodann,
weil die Kraft des Verſtandes, wodurch wir ſie be-
ſonders und ohne dieſe hinzukommende Beſtimmun-
gen wirklich gedenken koͤnnen, metaphyſiſche Wahr-
heit hat. Denn dieſe geben wir nicht nur dem Soli-
den, ſondern auch allem, was durch Kraͤfte wirklich
gemacht werden kann. Dieſes letztere mag zwar, in
Anſehung unſer, in ſo ferne einige Einſchraͤnkung lei-
den, als ſich in unſere Vorſtellung eines allgemeinen
Dinges oder Begriffes faſt immer die Jndividualien
von einzelnen Beyſpielen mit einmengen.
§. 301.
Die Kraͤfte des Willens geben uns im Reiche der
Wirklichkeit, und ſo auch in ſo ferne etwas dadurch
uͤberhaupt wirklich werden kann, ebenfalls einige Ar-
ten von metaphyſiſcher Wahrheit, und zwar nicht
nur ſo ferne wir die Kraͤfte des Verſtandes, des Lei-
bes und der Koͤrperwelt gebrauchen wollen, und ſie
nach dem Wollen wirklich gebrauchen, ſondern fuͤr-
nehmlich auch, ſo fern wir dadurch Societaͤten, Entia
moralia, zu Stande bringen. Denn ſo beruht das
gemeinſame Band, wodurch eine Societaͤt zu einem
wirklichen Indiuiduo wird, auf den ſich wirklich aͤuſ-
ſernden Kraͤften des Willens, und ſo lange der Vor-
trag, auf welchen ſich die Vergeſellſchaftung gruͤndet,
bey Kraͤften bleibt, iſt in der Societaͤt, ſo fern ſie
eine Societaͤt iſt, allerdings metaphyſiſche Wahrheit.
Und dieſe iſt auch noch allgemeiner in jeden Societaͤ-
ten, die eine poſitive Moͤglichkeit zu exiſtiren haben.
Wir haben in dem §. 221. zugleich mit den Arten der
T 2Kraͤfte
[292]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
Kraͤfte noch mehrere Faͤlle angezeiget, wo metaphyſi-
ſche Wahrheit vorkoͤmmt, welche wir hier nicht jede
beſonders anfuͤhren wollen, weil auch die bisher an-
gefuͤhrten hier eigentlich nur als Beyſpiele vorkom-
men, dadurch uͤberhaupt das Tranſcendente in der
metaphyſiſchen Wahrheit gezeiget wird. Jch werde
demnach hier nur kurz beruͤhren, daß das Wort
tranſcendent in der Metaphyſic haͤufig gebraucht
wird. Es kann darinn nicht anders als metapho-
riſch vorkommen, weil es eigentlich ſo viel als hin-
uͤberſteigend bedeutet. Wie fern es aber in der
Metaphyſic ſo viel als weſentlich bedeute, und daher
z. E. tranſcendentaliter vnum durch weſentlich eines,
Veritas tranſcendentalis durch weſentliche Wahr-
heit,Perfectio tranſcendentalis durch innere weſent-
liche Vollkommenheit ꝛc. uͤberſetzet werden muͤſſe,
habe ich nicht finden koͤnnen. Soll aber das Wort
tranſcendent noch einen Abdruck ſeiner eigentlichen
Bedeutung behalten, ſo werden wir uͤberhaupt einen
Begriff tranſcendent nennen koͤnnen, wenn wir den-
ſelben von ſeinem Gegenſtande hinweg auf einen Ge-
genſtand von ganz verſchiedener Art bringen. Und
in dieſem Verſtande iſt der Begriff Wahrheit auf
eine gedoppelte Art tranſcendent, weil wir denſelben
von den Saͤtzen auf die Begriffe, und von dieſen auf
die Dinge ſelbſt transferiren (§. 297.), und dadurch
die logiſche Wahrheit in die metaphyſiſche verwan-
deln. Sodann wird letztere zugleich mit dem Be-
griffe der Kraft noch auf eine andere Art tranſcen-
dent, weil wir letztern aus der Koͤrperwelt in die
Jntellectualwelt bringen, (§. 29. 299.). Man ſieht
daraus, daß wir das Wort tranſcendent in beyden
Faͤllen nur als eine Benennung und als ein Praͤdicat
gebrauchen, und daß es auf eine aͤhnliche Art zu noch
mehrern
[293]und das Nicht wahr ſeyn.
mehrern und ſehr verſchiedenen Subjecten gebraucht
werden kann. Denn ſo wird man alles, was uͤber
unſere Sinnen, und ſo auch alles, was uͤber unſere
Begriffe hinweggeſetzet, an ſich aber doch wahr und
real iſt, tranſcendent nennen koͤnnen. Und ſo wurde
allem Anſehen nach von den Metaphyſikern die ſo ge-
nannte metaphyſiſche Einheit, Wahrheit und
Guͤte der Dinge tranſcendent genennet. Wir ha-
ben aber hier naͤhere Gruͤnde angegeben, warum das
Wahre in den Dingen tranſcendent genennet wer-
den koͤnne, indem wir anzeigten, wie es von den
Saͤtzen und Begriffen auf die Dinge ſelbſt transferirt
wird. Die ſymboliſche Erklaͤrung, die wir ebenfalls
davon gegeben haben (§. 293. 297.), zeiget an, daß
jede Verwandlung eines Aduerbii in ein Adiectiuum
in der Sache ſelbſt etwas Tranſcendentes vorſtellen
koͤnne. Wir haben oben (§. 254-259.) durch eine
ſolche Verwandlung den Begriff des Termini infiniti
herausgebracht. Man ſehe auch (Semiot. §. 224.
228. 273.).
§. 302.
Die metaphyſiſche Wahrheit bezieht ſich auf die
Moͤglichkeit zu exiſtiren (§. 297.), und ein Ding iſt
ein wahres Ding, ſo fern es exiſtiren kann. Dazu
gehoͤret nun allerdings etwas mehr, als die bloße
Gedenkbarkeit, und man kann ſich hiebey verſchie-
dene Fragen vorlegen, welche uͤberhaupt die Verhaͤlt-
niſſe der logiſchen und metaphyſiſchen Wahrheit be-
treffen. Einmal wiſſen wir, daß A und Nicht ‒ A
zugleich ſich nicht gedenken laͤßt, und wir ſprechen
demſelben ebenfalls ohne Bedenken die Moͤglichkeit
zu exiſtiren ab. Das Nicht widerſprechen iſt dem-
nach in ſo ferne die gemeinſame Graͤnzlinie, welche
T 3das
[294]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
das logiſch und metaphyſiſch Wahre von dem bloß
Symboliſchen trennet. Sodann ſetzen wir das Et-
was dem Nichts dergeſtalt entgegen, daß was nicht
Etwas iſt, nichts iſt, und hinwiederum. Und auf
dieſe Art nennen wir alles, was keinen Widerſpruch
enthaͤlt, uͤberhaupt Etwas. Dabey koͤmmt nun
die Frage vor, ob alles metaphyſiſch Wahre
gedenkbar, und hinwiederum, ob alles Ge-
denkbare metaphyſiſch wahr ſey, oder exiſtiren
koͤnne? Die erſtere von dieſen Fragen koͤmmt ſchlecht-
hin darauf an, ob die Kraͤfte des Verſtandes ſich ſo
weit erſtrecken, daß von allem, was exiſtiren kann,
nicht etwan Bilder, Simulacra, Symbola ꝛc. ſondern
wirkliche Begriffe moͤglich ſeyn? Oder uͤberhaupt, ob
man die Kraͤfte des Verſtandes, des Willens, und
die Kraft herfuͤrzubringen, zu ſchaffen, zu veraͤndern ꝛc.
von gleicher Ausdehnung, Umfange und Groͤße ſetzen
koͤnne? Jſt dieſes, ſo wird auch die zweyte Frage
bejaht werden koͤnnen, weil ſodann die Kraft herfuͤr-
zubringen eben ſo weit geht, als die Kraft zu denken.
§. 303.
Wir haben dieſe Fragen zum Theil in der Aethio-
logie (§. 228.) betrachtet, wo aber mehr von der logi-
ſchen als von der metaphyſiſchen Wahrheit die Rede
war. Hier kommt es uͤberhaupt auf folgende zween
Saͤtze an.
- 1°. Was nicht gedenkbar iſt, iſt entweder wegen
eines Widerſpruches oder wegen Mangel der
Erkenntnißkraft nicht gedenkbar. - 2°. Was nicht exiſtiren kann, kann entweder we-
gen eines Widerſpruches oder aus Mangel der
Kraͤfte, es herfuͤrzubringen, nicht exiſtiren.
Jn
[295]und das Nicht wahr ſeyn.
Jn dieſen beyden Saͤtzen iſt von einerley Widerſpruͤ-
chen, die naͤmlich in der Sache ſelbſt, und daher
ſchlechthin nur ſymboliſch ſind, die Rede. Sind dem-
nach die in beyden Saͤtzen erwaͤhnten Kraͤfte von glei-
chem Umfange, ſo ſind die Subjecte ebenfalls von
gleichem Umfange. Nun iſt der Begriff der Kraft
uͤberhaupt einfach, und aus dieſem Grunde kann das,
was durch Kraͤfte moͤglich iſt, nicht auf viele Be-
dingungen geſetzet ſeyn. Wir haben daher im obigen
(§. 243.) die Kraͤfte ſchlechthin auf alles Nicht wider-
ſprechende ausgedehnt. Und auf dieſe Art wird das
Reich der logiſchen und das Reich der metaphyſiſchen
Wahrheit, beydes an ſich betrachtet, von gleichem
Umfange.
§. 304.
Jn der Metaphyſic hat man die metaphyſiſche
Wahrheit durch die Ordnung, die in den Dingen
und ihren Theilen iſt, definirt. Man ſah naͤmlich,
daß das logiſch Wahre von dem Jrrigen und
Falſchen, das metaphyſiſch Wahre aber von
dem Traume muͤſſe unterſchieden werden. Dieſen
letztern Unterſchied fand man nun fuͤrnehmlich darinn,
daß das Getraͤumte weder unter ſich noch mit dem,
was wir wachend erfahren, denjenigen Zuſammen-
hang habe, den es haben wuͤrde, wenn es ein Stuͤck
der wirklichen Welt waͤre. Die Ordnung, wie die
Dinge im Traume auf einander erfolgen, iſt mehren-
theils unterbrochen, und weder der Anfang noch das
Ende des Traumes laͤßt ſich mit den Vorfaͤllen zu-
ſammenhaͤngen, auf welche ſich der Traum bezieht.
Man ſehe umſtaͤndlicher hieruͤber Phaͤnomenol. §. 37.
Da hingegen in der wirklichen Welt, ſo wie wir ſie
wachend finden, ſolche Luͤcken, Spruͤnge und Unter-
brechungen nicht vorkommen, ſondern alles darinn
T 4ordent-
[296]X. Hauptſtuͤck. Das Wahr ſeyn
ordentlich und zuſammenhaͤngend auf einander erfolgt,
ſo hat man in dieſer durchgaͤngigen Ordnung das We-
ſentliche der metaphyſiſchen Wahrheit geſucht, und
dieſe durch die Ordnung in den Dingen definirt. Sie
wird aber dadurch von der logiſchen Wahrheit noch
nicht unterſchieden, weil letztere ebenfalls eine com-
plete Harmonie (Alethiol. §. 185.), Gedenkbarkeit
(Alethiol. §. 204.) und durchgaͤngigen Grund und Zu-
ſammenhang (§. 234. 254. Alethiol.) hat. Was wir
wachend ſehen, empfinden, gedenken und vorſtellen,
laͤßt ſich mit allem ſeinem Zuſammenhange als ge-
denkbar anſehen, wenn auch nichts von demſelben
exiſtirte. Demnach macht dieſer Zuſammenhang den
Beweis, daß es exiſtiren koͤnne, noch nicht vollſtaͤn-
dig, ungeachtet allerdings ohne einen ſolchen Zuſam-
menhang die Exiſtenz, oder das exiſtiren koͤnnen,
nicht angeht. Man ſieht leicht, daß noch das So-
lide und die Kraͤfte hinzugenommen werden muͤſſen,
und beſonders auch die oben (§. 298.) gemachte An-
merkung, daß die Exiſtenz nicht ein Praͤdicat
ohne Subject ſeyn koͤnne, den weſentlichſten Grund
zu dem Beweiſe angebe, daß das, was exiſtirt,
oder ſoll exiſtiren koͤnnen, ein wahres Etwas
ſeyn muͤſſe, und ſo auch, daß ein wahres Etwas
wirklich exiſtire, weil, wenn nichts exiſtirt, ſchlecht-
hin nichts exiſtiren kann, und daher die Exiſtenz ein
Praͤdicat ohne Subject bleibt.
§. 305.
An ſich betrachtet iſt die metaphyſiſche Wahrheit,
ſo wie die logiſche ein einfacher Begriff, welcher ſich
folglich, da er nicht mehrere innere Merkmale hat,
hoͤchſtens nur durch Verhaͤltniſſe zu andern Begriffen
definiren oder kenntlich machen laͤßt. Dieſes haben
wir
[297]und das Nicht wahr ſeyn.
wir auch im Vorhergehenden auf verſchiedene Arten,
aber auch nichts weiters gethan, da wir zeigten, wie
der Begriff der logiſchen Wahrheit tranſcendent ge-
macht uns auf den Begriff der metaphyſiſchen Wahr-
heit fuͤhre, (§. 297. 301.). So z. E. koͤnnen wir ſa-
gen: Ein wahres Ding muß exiſtiren koͤnnen,
in einem wahren Dinge muß Ordnung und
Zuſammenhang ſeyn, das Wahre in den Din-
gen iſt der objective Grund der Gedenkbarkeit,
das Solide und die Kraͤfte ſind die Grundlage
zu dem Wahren in den Dingen, ohne das
Wahre in den Dingen iſt die Exiſtenz ein Praͤ-
dicat ohne Subject ꝛc. Aber alle dieſe Saͤtze ſind
keine Definitionen der metaphyſiſchen Wahrheit, ſon-
dern nur Verhaͤltniſſe, ohne die ſie nicht gedacht wer-
den kann, oder welche ſich von ſelbſt ergeben oder
leicht bewieſen werden koͤnnen, wenn man dieſen Be-
griff mit andern einfachen Begriffen vergleicht. Wir
koͤnnen dieſen Saͤtzen noch beyfuͤgen, daß ſowohl
die logiſche als die metaphyſiſche Wahrheit
eine abſolute und unveraͤnderliche Einheit ſey,
weil beyde weder mehr noch minder als wahr ſeyn
koͤnnen, oder weil ein Wahres nicht mehr wahr iſt,
als jedes andere. Hingegen hat unſer Wiſſen und
uͤberhaupt unſere Gewißheit, daß dieſes oder jenes
wahr ſey, ihre Stufen, welche von 0 bis auf 1 ge-
hen, und nach drey Dimenſionen beſtimmet werden
muͤſſen, (§. 108.).
§. 306.
Wir koͤnnen noch hier gelegentlich anmerken, daß
man der logiſchen und metaphyſiſchen Wahrheit noch
die moraliſche entgegenſetzet, welche eigentlich nichts
anders als die Aufrichtigkeit iſt, und ſchlechthin
T 5nur
[298]XI. Hauptſtuͤck.
nur darinn beſteht, daß ein Menſch das rede, was
er wirklich fuͤr wahr haͤlt, es mag nun an ſich be-
trachtet wahr ſeyn oder nicht. Dieſer moraliſchen
Wahrheit wird die Falſchheit und die Luͤgen entgegen-
geſetzet, wenn naͤmlich jemand anders redet, als er
denkt. Beydes bezieht ſich ſchlechthin auf den Wil-
len, dahingegen die logiſche Wahrheit ſich auf den
Verſtand, die metaphyſiſche aber ſich auf die Dinge
ſelbſt bezieht.
Eilftes Hauptſtuͤck.
Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
§. 307.
Nach den bisher betrachteten allgemeinern Begrif-
fen des Bindewoͤrtchens ſeyn, welche ſaͤmmt-
lich das nicht, und das zugleich zum Grunde ha-
ben, werden wir nun einige ſpecialere Arten vorneh-
men, und zu dieſem Ende bey den Verhaͤltnißbegrif-
fen anfangen, welche in der Sprache durch Praͤpo-
ſitionen oder Vorwoͤrter ausgedruͤckt werden. Wir
haben ſie oben (§. 46. N°. V.) unter die einfachen Ver-
haͤltnißbegriffe gerechnet, und wenn wir von den Ano-
malien der wirklichen Sprachen (Semiot. §. 209-218.)
abſtrahiren, ſo bleiben unter den Vorwoͤrtern eigent-
lich nur diejenigen, welche ihrer urſpruͤnglichen Be-
deutung nach einfache Verhaͤltniſſe des Ortes vor-
ſtellen, dergleichen z. E. die Woͤrter: vor, nach,
gegen, um, von, zu, bis, in, aus, neben, bey,
auf, unter, an, durch, uͤber, ob, zwiſchen,
wider ꝛc. ſind, (§. 215. Semiot.). Unter dieſen
druͤcken
[299]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
druͤcken einige, z. E. vor, nach, auf, unter, uͤber,
an, zwiſchen ꝛc. Verhaͤltniſſe der localen Ordnung
oder der Dimenſionen des Ortes, andere z. E. in,
neben, bey, um, ob ꝛc. Beſtimmungen des Ortes
aus, und bey einigen z. E. gegen, von, zu, bis,
aus, durch, wider ꝛc. koͤmmt mehr oder minder der
Begriff der Bewegung vor. Dieſes iſt aber nicht ſo
genau beſtimmet, daß nicht auch Verwechſelungen
dieſer drey Claſſen vorkommen ſollten.
§. 308.
So fern nun die Bedeutung dieſer Woͤrter auf die
Verhaͤltniſſe des Ortes geht, ſtellen ſie einfache Be-
griffe vor, und es ſind dabey weder Worterklaͤrungen
noch Sacherklaͤrungen nothwendig, (§. 28.). Sie
werden aber ſtufenweiſe metaphoriſch und tranſcen-
dent gemacht. Denn ſo kommen ſie ſaͤmmtlich auch
bey der Zeit und Dauer vor, und da die Zeit nur
eine, der Raum aber drey Dimenſionen hat, ſo
bindet man ſich auch, in Anſehung der Zeit, nicht
ſo genau an dieſe oder jene Dimenſion des Ortes,
(Semiot. §. 215.). Da wir ferner bald jede Beſtim-
mungen des Raums und des Ortes auf eine tranſcen-
dente Art in das Gedankenreich bringen (§. 29. 48.
81. 252.), ſo dehnen wir ſie ohne Unterſchied auf
alles aus, wo ſich Dimenſionen gedenken laſſen.
Endlich werden ſie in der Sprache in Aduerbia und
vollends auch in Ableitungstheilchen der Zeitwoͤrter
verwandelt, und dadurch aus Verhaͤltnißbegriffen
der Dinge zu Beſtimmungsbegriffen der Hand-
lungen gemacht, (Semiot. §. 216.). So z. E. vor
einem gehen, zeiget die Verhaͤltniß des Ortes, einem
vorgehen, zeiget eine Rangordnung an.
§. 309.
[300]XI. Hauptſtuͤck.
§. 309.
Da die drey Dimenſionen des Ortes, jede fuͤr ſich
betrachtet, linear ſind, ſo koͤnnen wir uns, in An-
ſehung der Vorwoͤrter, vor, nach, auf, unter,
uͤber, an, zwiſchen ꝛc. begnuͤgen, die zwey erſtern
zu nehmen, und ſie in ſo ferne betrachten, als ſie
uͤberhaupt die erſte Anlage zu der Theorie der Ord-
nung, nach jeden Arten von Dimenſionen angeben.
Das vor und nach ſeyn zeiget an ſich ſchon eine Art
der Ordnung an, und dieſe werden wir nun auf eine
bloß ſymboliſche Art in zwo Claſſen theilen koͤnnen,
weil ſich in dieſem Ausdrucke das vor und nach, ſo-
wohl als ein Vorwort als auch als ein Zuwort an-
ſehen laͤßt. Denn als ein Vorwort bezieht es ſich
auf die Dimenſion ſelbſt, ohne Ruͤckſicht auf die
Theile der Sache, welche nach derſelben betrachtet
werden. Hingegen als ein Zuwort bezieht es ſich
auf die Sache, oder ihre Theile, ſo fern in dieſen
ein Grund iſt, warum eines dem andern vor oder
nach iſt.
§. 310.
Um dieſen Unterſchied zu erlaͤutern, wollen wir die
Dimenſionen des Ortes und der Zeit zum Beyſpiele
nehmen, und zwar in Anſehung des Ortes nur eine,
weil ſich das vor und nach an ſich betrachtet nur auf
eine bezieht. Man ſtelle ſich demnach eine Anzahl
von Dingen der Zeit oder dem Raume nach in einer
Reihe vor. Nimmt man ſie nur, ſo wie es koͤmmt,
das will ſagen, ohne Auswahl, oder ohne naͤhere
Gruͤnde, das eine vor dem andern zu ſetzen; ſo iſt,
an ſich betrachtet, dennoch eines vor dem andern,
und zwar ſchlechthin, weil die Theile der Zeit und ſo
auch die Theile des Raumes (§. 79. und 83. Axiom. 1.)
außer einander und daher nothwendig vor und nach
einander
[301]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
einander ſind, und weil weder einerley Solides zu-
gleich an mehrern Orten, noch verſchiedenes Solides
zugleich an einem Orte ſeyn kann, (§. 103. Ax. 5. 6.).
Jn dieſem Falle ſind demnach die Woͤrter vor, nach
ſchlechthin Praͤpoſitionen oder Vorwoͤrter, und ſie ſind
es nothwendig, ſo oft nur von den Theilen der Zeit
und des Raumes, und ſo auch von jeden Dimenſio-
nen, an ſich betrachtet, die Rede iſt. Die angenom-
mene Reihe hat demnach keine andere Ordnung, als
die, ſo in den Theilen der Zeit oder des Ortes noth-
wendig da iſt, und nicht weggenommen werden kann.
Man ſetze nun, in den angenommenen Dingen finde
ſich ein Grund, nach welchem eine Auswahl in ihrer
Anordnung gemacht werden kann, und man ordne ſie
nach dieſem Grunde an, ſo werden zwar jede wiederum
vor und nach einander ſeyn, aber nun nicht mehr nur
deswegen, weil ſie nicht zugleich an einem Orte ſeyn
koͤnnen, ſondern, die Art, wie ſie auf einander fol-
gen, oder eines dem andern vor oder nach iſt, iſt
nun nicht willkuͤhrlich, weil nach dem angenomme-
nen Grunde das eine vorgehen, das andere nachfol-
gen muß, wie wenn man ſie der Groͤße, der Wuͤrde,
oder der Aehnlichkeit nach anordnet, oder ſie ſo ſtellet,
daß ſie, in Abſicht auf ihre Figur, genau an einander
ſchließen ꝛc. Jn dieſen Faͤllen iſt die Ordnung nicht
ſchlechthin nur nach dem Raume oder nach der Zeit,
ſondern es iſt noch ein von den geordneten Dingen
ſelbſt genommener Grund dabey, warum ſie nun-
mehr ſo und nicht anders auf einander folgen, oder
einander vor oder nach ſind. Die Woͤrter, vor,
nach, ſind auch in dieſem Falle nicht mehr Praͤpoſitio-
nen, ſondern Aduerbia oder Beſtimmungen des Binde-
woͤrtchens ſeyn, oder anderer in ſolchen Faͤllen uͤbli-
cher Zeitwoͤrter, z. E. vorgehen, nachfolgen ꝛc.
§. 311.
[302]XI. Hauptſtuͤck.
§. 311.
Nun koͤnnen, wie wir aus dieſem Beyſpiele ſehen,
vielerley Gruͤnde ſeyn, warum Dinge in einer Reihe
einander vorgehen, oder nachfolgen. So viele es
aber auch immer ſeyn moͤgen, ſo koͤmmt das vor
und nach immer auch in der Geſtalt einer Praͤpo-
ſition mit dabey vor. Wir koͤnnen ferner allerdings
von den Gruͤnden, und daher zugleich auch von dem
vor und nach als Aduerbium betrachtet, abſtrahiren,
und folglich ſchlechthin nur auf die Succeſſion der
Zeit und dem Orte nach ſehen. Dieſe Moͤglichkeit
des Abſtrahirens, und, wenn wir a poſteriori gehen,
das oͤftere Nicht wiſſen der Gruͤnde, und ſo auch die
ſymboliſche Moͤglichkeit, Woͤrter nach Belieben zu-
ſammenzuſetzen (§. 288.), alles dieſes giebt uns nicht
den Begriff, ſondern den Ausdruck einer Reihe
von Dingen, die ſchlechthin nur dem Orte und
der Zeit nach auf einander folgen, oder wobey
das vor und nach durchaus nicht alsAduerbium
vorkoͤmmt. Das Nicht wiſſen der Gruͤnde, wel-
ches bey uns ſehr haͤufig vorkoͤmmt, und ſo auch das
nicht vorherſehen des Erfolges, macht, daß wir die
Worte eines Ungefaͤhrs oder eines Zufalls dabey
gebrauchen. Aus dieſem Grunde, da wir erſt ange-
fuͤhrten Ausdruck als eine Definition anſehen, beut
uns die ſymboliſche Moͤglichkeit auch Mittel an, zu
dieſer Definition das Definitum zu bilden, und ſo
nennen wir dieſe Reihe einen durchaus oder abſo-
luten blinden Zufall, blindes Ungefaͤhr, einen
Caſum purum, le pur hazard ꝛc. Und dieſe Benen-
nungen laſſen ſich ordentlich beweiſen. Eine ſolche
Reihe iſt ein Ungefaͤhr, Zufall,Caſus, Hazard,
weil wir, wenn ſie exiſtirte, darinn nichts voraus-
ſehen koͤnnten. Dieſer Zufall oder Ungefaͤhr wird
durch-
[303]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
durchaus oder abſolute blind genennet, weil ſich we-
gen des abſoluten Wegſeyns aller Gruͤnde ſchlechthin
nichts vorausſehen laͤßt. Und auf gleiche Art wird
es Caſus purus, pur Hazard, genennet, weil keine
verborgene, oder nur uns unbekannte, und ſo auch
keine andere Gruͤnde als die, ſo unſeres Wiſſens nicht
darinn ſind, dabey vorkommen, oder das Aufeinan-
derfolgen beſtimmen.
§. 312.
Da aber die ſymboliſche Moͤglichkeit weiter reicht,
als das Gedenkbare und Wahre (§. 288. 295.), ſo
koͤmmt hiebey allerdings die Frage vor, ob die Woͤr-
ter, durchaus blinder Zufall,Caſus purus ꝛc. einen
durchaus gedenkbaren oder durchaus wahren Begriff
vorſtellen? Soll dieſe Frage entſchieden werden, ſo
muͤſſen wir entweder dieſen Begriff entwickeln,
und finden wir Widerſpruͤche darinn, ſo wird
er umgeſtoßen, oder wir muͤſſen aus den ein-
fachen Begriffen, ihren Grundſaͤtzen und For-
derungen entweder dieſen Begriff und ſeine
Entſtehensart, oder die Entſtehensart des Ge-
gentheils beweiſen, und ſo wird entweder der
Begriff oder ſein Gegentheil feſte geſetzet. Die-
ſes iſt die logiſche Aufloͤſung der fuͤrgelegten Frage,
und zugleich die Vorzaͤhlung der Arten der Aufloͤſung.
Denn wenn wir keine Widerſpruͤche in einem zuſam-
mengeſetzten ſymboliſchen Ausdrucke finden, ſo folget
noch nicht, daß keine darinn ſeyn, (§. 19.). Demnach
geht die erſte Aufloͤſung nur an, wenn nicht nur wirk-
lich Widerſpruͤche darinn ſind, ſondern wenn wir ſie
finden. Finden wir aber keine, ſo muͤſſen wir den
Begriff nicht analyſiren (§. 7.), ſondern ſehen, ob ent-
weder der Begriff oder ſein Gegentheil ſich aus ein-
fachen
[304]XI. Hauptſtuͤck.
fachen Begriffen und vermittelſt deren Grundſaͤtzen und
Forderungen zuſammengeſetzet werden koͤnne. Nun
geht eines von beyden, an ſich betrachtet, immer an,
beydes zugleich aber nicht. Demnach gelangt man
auch auf dieſe Art zur Aufloͤſung der fuͤrgelegten
Frage. Der dritte Weg, welcher a poſteriori geht
(§. 20.), iſt hier nicht brauchbar, weil wir lange
nicht von allen Veraͤnderungen in der wirklichen Welt
erfahren koͤnnen, ob und welche Gruͤnde ſie haben?
Aus unſerm Nicht wiſſen laͤßt ſich aber auf das Nicht
ſeyn keinen Schluß machen. Jndeſſen lehret uns
die Erfahrung immer ſo viel, daß Urſachen in der
Welt ſind, und folglich, wenn auch etwas durch einen
blinden Zufall geſchaͤhe, daſſelbe im geringſten nicht
allgemein waͤre.
§. 313.
Wir wollen aber die beyden erſten Aufloͤſungen
etwas genauer betrachten, und bey den einfachen Be-
griffen und ihren Grundſaͤtzen und Poſtulaten anfan-
gen. Dieſe ſind nun, ſo wie wir ſie oben vorgetragen
haben, dem durchaus blinden Zufalle ſchnurſtracks
zuwider. Die Grundſaͤtze der Einheit, des Raumes,
der Dauer (§. 77. 79. 83.), der Phoronomie (§. 85.),
des Soliden (§. 88.), haben nicht nur nichts Zu-
faͤlliges, ſondern eine geometriſche Nothwendigkeit
(§. 116. 161.), und die, ſo wir (§. 94. 98.) fuͤr die
Kraft angegeben haben, ſetzen ſchlechthin das Gegen-
theil des blinden Zufalls voraus. So geht auch der
Verſtand auf das Nicht widerſprechende (§. 273.),
und der Wille auf das Beſſere (§. 111. Axiom. 4.),
und der (§. 139.) fuͤr die Jdentitaͤt angefuͤhrte Grund-
ſatz hebt die gleiche Moͤglichkeit aller Faͤlle, welche
bey dem blinden Ungefaͤhr ſtatt hat, ſchlechthin und
ganz
[305]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
ganz auf, und nach dem §. 299. wuͤrde mit Voraus-
ſetzung, daß das blinde Ungefaͤhr ſtatt habe, wo nicht
das ganze Reich der logiſchen Wahrheiten, jedoch
nothwendig der Zuſammenhang in demſelben ein
durchaus leerer Traum ſeyn, weil das blinde Unge-
faͤhr den durchgaͤngigen Zuſammenhang bey exiſti-
renden Dingen nicht ſtatt haben ließe. So hat auch
vermoͤge des eben daſelbſt erwieſenen (§. 299.) das
Solide und die Kraͤfte, wodurch es verbunden, in
Zuſammenhang gebracht und veraͤndert werden kann,
eine fuͤr ſich nothwendige Moͤglichkeit zu [exiſtiren]
oder metaphyſiſche Wahrheit, und dieſes nebſt der
abſoluten Nothwendigkeit eines ewigen unveraͤnder-
lichen Suppoſiti intelligentis, oder perſoͤnlichen den-
kenden Weſens, machet den blinden Zufall durch-
aus unmoͤglich.
§. 314.
Der blinde Zufall iſt demnach ein irriger Begriff.
Jndeſſen da kein Jrrthum ganz zu verwerfen iſt
(Alethiol. §. 202.), ſo wollen wir dieſen Begriff et-
was genauer betrachten. Man weiß, daß man bey
der Berechnung der Wahrſcheinlichkeit, eben ſo, wie
bey Vorausſetzung des blinden Zufalles, eine durch-
aus gleiche Moͤglichkeit aller Faͤlle annimmt. So
habe ich auch in dem 16ten der coſinologiſchen
Briefe uͤber die Einrichtung des Weltbaues,
und in dem §. 152. der Phaͤnomenologie gezeiget, daß
die Berechnung des Wahrſcheinlichen auch bey der
weiſeſten Einrichtung der Welt, auf die glei-
che, oder nach beſtimmten Geſetzen ungleiche Moͤg-
lichkeit aller Faͤlle, gegruͤndet werden koͤnne, und daß
die Erfahrung dem Erfolge der Rechnung nicht zu-
wider ſey. Daraus aber folget, daß man den Be-
Lamb. Archit.I.B. Ugriff
[306]XI. Hauptſtuͤck.
griff des blinden Zufalles, ungefaͤhr eben ſo, wie in
der Algeber den Ausdruck √ ‒ 1, bey der Berech-
nung der Wahrſcheinlichkeit die Grade der Exiſtenz
(§. 104.), und ſo auch mehrere andere gedichtete Be-
griffe (§. 163. 231. 273.) in der Theorie gebrauchen
koͤnne, und in dieſer Abſicht verdienet derſelbe ge-
nauer unterſuchet zu werden, damit wir umſtaͤndli-
cher ſehen, worinn er eigentlich irrig iſt, und wie
fern das nicht Jrrige darinn gebraucht werden koͤnne.
§. 315.
Der blinde Zufall ſchleußt alles, was in den Rei-
hen der Dinge und ihrer Ordnung Auswahl, Zu-
ſammenhang, Verbindung, Urſach und Wir-
kung, Abſicht und Mittel heißt, ſchlechthin aus,
und laͤßt kein ander vor und nach zu, als was in
Anſehung der Zeit und des Raumes nothwendig vor
und nach genennet werden muß, (§. 310.). Alle
Geſetze, nach welchen die Dinge auf einander fol-
gen, oder vor und nach einander ſind, fallen dabey
ſchlechthin weg, und es bleibt nichts, als daß von
jeden moͤglichen Combinationen und Abwechslungen,
die ſich dem Orte nach gedenken laſſen, jedesmal nur
eine, und hingegen von denen, die ſich der Zeit nach
gedenken laſſen, ſchlechthin nur eine exiſtirt, alle an-
dere aber deſſen unerachtet, eben ſo moͤglich geweſen
waͤren. Wir muͤſſen hiebey anmerken, daß diejeni-
gen Reihen, in welchen alles, auch nach den ſchoͤn-
ſten Geſetzen der Ordnung auf einander folget, von
dieſen Combinationen nicht ausgeſchloſſen ſind. Der
Unterſchied beſteht nur darinn, daß bey dem blinden
Zufalle keine Geſetze ſtatt haben, und folglich, wenn
bey der Vorausſetzung des blinden Zufalles eine ſol-
che wohlgeordnete Reihe exiſtirte, ſie weder wegen
einer
[307]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
einer Auswahl, noch wegen dabey eingefuͤhrten Ge-
ſetzen exiſtiren wuͤrde, ſondern jede andere Combina-
tion dabey gleich moͤglich geweſen waͤre.
§. 316.
Man kann hinwiederum auch nicht ſchließen, daß,
wenn in einer exiſtirenden Reihe von Dingen keine
Ordnung waͤre, ſie von dem blinden Zufalle herruͤh-
ren wuͤrde. Denn man muͤßte zugleich beweiſen, daß
keine Geſetze, kein realer Zuſammenhang ꝛc. dar-
rinn zu finden waͤre. Dieſes allein ſchließt den
blinden Zufall aus, und wird auch hinwieder-
um allein von demſelben ausgeſchloſſen. Der
Zufall ſchleußt die Ordnung nicht aus, er laͤßt aber
auch jede Unordnung zu, und da dabey alle Ordnun-
gen und Unordnungen gleich moͤglich ſind, ſo wird
bey dem Zufalle die Exiſtenz der Unordnung, deſto
wahrſcheinlicher je mehr an ſich ſchon Unordnun-
gen moͤglich ſind, als Ordnungen. Bey wirklichen
Geſetzen aber iſt die Ordnung ebenfalls nicht ſchlech-
terdings weder einfach noch nothwendig, und es ge-
braucht nur wenige Geſetze, um die Ordnung in der
Folge der Dinge durchaus verwirrt zu machen. So
habe ich z. E. in vorangezogener Stelle der coſmolo-
giſchen Briefe angefuͤhret, daß diejenige Bedingung,
daß die Weltkoͤrper einander, des beſtaͤndigen Anzie-
hens unerachtet, ſich durch alle Zeiten durch immer
ausweichen ſollen, nicht nur alles Zufaͤllige in ihrer
Anordnung ſchlechthin ausſchließe, ſondern ihre anfaͤng-
liche und jedesmalige Lage ſo verwirrt und dem An-
ſcheine nach unordentlich ſeyn muͤſſe, als wenn es
das Ungefaͤhr ſo gefuͤget haͤtte. Man ſehe auch,
was wir oben (§. 130. 131.) uͤber die Unmoͤglichkeit
einer voͤlligen Jdentitaͤt und des Progreſſus rerum
circularis in der wirklichen Welt angemerket haben.
U 2§. 317.
[308]XI. Hauptſtuͤck.
§. 317.
So fern demnach bey Geſetzen des Zuſammenhan-
ges und bey dem blinden Zufalle jede Ordnungen und
Unordnungen ſeyn koͤnnen, ſo ferne graͤnzen beyde ſehr
nahe an einander, ungeachtet, wo Geſetze und Auswahl
und Abſichten ſind, der Zufall, auch wenn er moͤglich
waͤre, ausgeſchloſſen bleibt. Man ſetzet aber dem
blinden Zufalle nicht nur die Geſetze und Auswahl,
ſondern auch die abſolute oder fatale Nothwen-
digkeit entgegen, ein Ausdruck, der ſich eben ſo,
wie der Zufall, nur ſymboliſch definiren laͤßt, und
darinn beſteht, daß, was in der Welt geſchieht, eben
ſo nothwendig geſchehe, als zwey mal zwey vier iſt,
oder, daß Exiſtenz und Folge der Dinge eine durchaus
geometriſche Nothwendigkeit habe. Dieſer Begriff
laͤßt demnach Geſetze zu, aber er ſchleußt alle Aus-
wahl aus. Er iſt aber von dem blinden Zufalle,
welcher Geſetze und Auswahl zugleich ausſchleußt,
nicht ſo weit entfernt, daß nicht beyde oͤfters ſollten
koͤnnen vermenget werden, wenn man beyde nach der
Ordnung ſchaͤtzet, in welcher die Dinge auf einander
folgen.
§. 318.
Um dieſes umſtaͤndlicher aus einander zu ſetzen,
wollen wir anmerken, daß ungeachtet bey dem blin-
den Zufall ebenfalls Ordnung in den Dingen
ſeyn kann, die Ordnung dennoch am unwahr-
ſcheinlichſten iſt, weil unzaͤhlig mal mehr Un-
ordnungen als Ordnungen moͤglich ſind. Man
ſetze nun, jemand ziehe unter 9 Zetteln, die mit N°. 1,
2, 3, 4, 5, 6, 7, 9, 0 bezeichnet ſind, immer einen
heraus, lege ihn wiederum hinein, um einen andern
zu ziehen, zeichne jedes gezogene N°. auf, und unge-
achtet
[309]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
achtet er bis ins Unendliche fortfahre, ſo kommen den-
noch immer die N°. 1 2 3 4 5 6 7 9 0 1 2 3 4 5 6 7 9 0 1 2 3 ꝛc.
beſtaͤndig in eben der Ordnung heraus. Dieſes iſt
bey dem blinden Zufall moͤglich, aber es ſind un-
endlich viele andere Faͤlle, wobey dieſe Zahlen in der
groͤßten Unordnung, oder in jeder andern Ordnung
auf einander folgen koͤnnen, eben ſo moͤglich.
Demnach wird die Wahrſcheinlichkeit, daß ein blin-
der Zufall, und nicht ein Geſetz dabey geweſen ſey,
= 0. Nun koͤmmt dieſe Reihe heraus, wenn man
\frac{100}{81} in Decimalbruͤche verwandelt, und zwar iſt die
Nothwendigkeit, daß ſie heraus komme, geometriſch
unvermeidlich.
§. 319.
Wir wollen nun den Fall umkehren, und ſetzen,
jemand habe unter 10 Zetteln, die mit N°. 0, 1, 2,
3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, bezeichnet ſind, der Ordnung nach
die N°. 3, 141592, 653589, 793238, 462643, 383279,
502884, 197169, 399375, 105820, 974944, 592307,
816406, 286208, 993628, 034825, 342117, 067982,
148086, 513272, 306647, 093844, 6 ꝛc. gezogen; ſo
wird die Unordnung, wie dieſe Zahlen auf einander
folgen, den Schluß angeben, daß dieſer Fall unter
diejenigen gehoͤre, dergleichen bey dem blinden Zu-
fall am meiſten moͤglich ſind. Es druͤcket aber dieſe
Zahl, wenn ſie bis ins Unendliche fortgeſetzet wird,
den Umkreis des Cirkels aus, deſſen Diameter = 1 iſt,
und man kann beweiſen, daß eben dieſe Unordnung
in dem Aufeinanderfolgen der Zahlen bis ins Unend-
liche fortgeht. Man wird eben ſolche durchgaͤngige
Unordnungen in den Wurzeln von ganzen Zahlen fin-
den, die durch Decimalbruͤche muͤſſen ausgedruͤcket
werden, z. E. bey der Quadratwurzel von 2, 3, 5, 7, ꝛc.
U 3Nun
[310]XI. Hauptſtuͤck.
Nun weiß man, daß die Ausziehung der Quadrat,
Cubic ꝛc. Wurzeln nach einem ſehr einfachen Geſetze
geſchieht. Wir koͤnnen aber leicht zeigen, daß in
den Reihen, die ſie ausdruͤcken, die Ordnung
der Zahlen ſo durch einander laufen, daß ſie
mit allem, was bey dem blinden Zufalle ge-
ſchehen muß, genau uͤberein trifft.
§. 320.
Einmal iſt bey der vorgemeldeten Ziehung der Zet-
tel, wenn ſie unendlich fortgeſetzet wird, nothwen-
dig, daß jede Numer eben ſo vielmal, als jede der
uͤbrigen gezogen werde, aber daß die Ordnung, wie
ſie einmal gekommen ſind, immer wiederkehre, iſt
unmoͤglich. Erſteres findet ſich in der Bernoulli-
ſchenArs coniectandi erwieſen. Letzteres erhellet aus
dem §. 318. Man kann aber auch beweiſen, daß dieſe
beyden Umſtaͤnde auch bey den vorgemeldeten Reihen
ſtatt habe, welche die Quadratwurzeln ausdruͤcken.
§. 321.
Ferner kommen jede zwo Zahlen, z. E. 21, 43 ꝛc.
bey dem blinden Zufall gleichoft, aber zehnmal weni-
ger oft als einzeln vor, wenn das Herausziehen un-
endlich fortgeſetzet wird. Man kann aber auch be-
weiſen, daß dieſes bey den vorgemeldeten Reihen
ſtatt habe. Auf gleiche Art findet in beyden Faͤllen
ſtatt, daß jede drey Zahlen: z. E. 253, 784 ꝛc. und
ſo auch jede 4, 5, 6 ꝛc. und uͤberhaupt jede endliche
Anzahl von Zahlen gleichoft vorkommen, jedoch de-
ſto weniger oft, je groͤßer ſie ſind, z. E. vier Zahlen
zehnmal weniger oft als drey ꝛc. Eben ſo iſt auch
in beyden Faͤllen in Anſehung der Stellen, wo ſolche
Zahlen vorkommen, durchaus keine Ordnung.
§. 322.
[311]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
§. 322.
Hier haben wir demnach zwiſchen Folgen,
die nach einem ſehr einfachen Geſetze nothwen-
dig ſind, und zwiſchen dem, was nicht nur
bey dem Zufalle am leichteſten moͤglich, ſon-
dern nothwendig iſt, eine abſolute Aehnlich-
keit. Man merke nur an, daß hier nicht die Frage
iſt, ob, wenn man wirklich die Numeros ziehen
wollte, die herauskommenden Zahlen eine Quadrat,
oder andere Wurzel von einer ganzen Zahl vorſtellen
wuͤrde? Die Moͤglichkeit wird dabey, eben ſo, wie
bey dem Falle des §. 318, unendlich klein oder = 0.
Sondern die Frage iſt, wenn eine ſolche Reihe vor-
kaͤme, ob ſichs aus der bloßen Ordnung der Zah-
len wuͤrde ſchließen laſſen, daß ſie vom Zufalle, oder
von einem geometriſch nothwendigen Geſetze herkom-
me? Dieſes geht nun nicht an, weil erſtbemeldete
Reihen alle Criteria haben, die bey dem Zufalle am
moͤglichſten und nothwendig ſind, ungeachtet die Pro-
be mit dem Zufalle unendliche male muͤßte wiederholet
werden, ehe unter allen Wiederholungen kaum eine
vorkaͤme, welche eine ſolche Quadratwurzel hervor
braͤchte.
§. 323.
Wir wollen nun noch weiter gehen, und zeigen,
daß man die Ausziehung der Wurzeln, und
folglich geometriſche Nothwendigkeiten in
Gluͤcksſpiele verwandeln koͤnne, und daß ſich
die Berechnung der Probabilitaͤt dabey durch-
aus anwenden laſſe. Man frage z. E. wie viel
jemand zu Wetten habe, daß die hundertſte Nummer
der Quadratwurzel von 2, werde eine 5 ſeyn? Die
U 4Antwort
[312]XI. Hauptſtuͤck.
Antwort iſt, es ſey 9 gegen 1 zu wetten, daß ſie es
nicht ſey, oder 1 gegen 9, daß ſie es ſey? Der Grund,
warum dieſe Antwort genau richtig iſt, beruhet dar-
auf, daß in der unendlichen Reihe 1, 4142135 ꝛc. alle
Nummern gleich vielmal vorkommen, daß man aber
ſchlechthin nicht voraus wiſſen koͤnne, welche Num-
mer an der vorgegebenen hundertſten Stelle ſey, da-
ferne man nicht die Wurzel bis auf dieſe Stelle aus-
zieht. Dieſes iſt nun eben ſo viel, als wenn man
aus zehn Nummern, immer eine herauszieht. Man
kann nicht voraus wiſſen, welche Nummer das hun-
dertſte mal heraus kommen werde, es ſey denn, daß
man hundert mal ziehe. Da aber, wenn man bis
ins Unendliche fortfaͤhret, jede Nummer nothwendig
eben ſo vielmal heraus koͤmmt, als jede der uͤbrigen
Nummern, ſo iſt ebenfalls 9 gegen 1 zu wetten, daß
z. E. die Nummer 5 das hundertſte mal nicht heraus
komme, oder 1 gegen 9, daß ſie heraus komme. Und
wer z. E. 1 gegen 1 wetten wollte, ob jede Zahl, die
der Ordnung nach in ſolchen Reihen vorkoͤmmt, groͤ-
ßer oder kleiner als 5 ſey, wuͤrde, wenn dieſes Wet-
ten lange fortgeſetzet wird, weder gewinnen noch ver-
lieren.
§. 324.
Um dieſe Aehnlichkeit mehr aufzuklaͤren, koͤnnen
wir noch folgendes bemerken.
- 1°. Bey dem blinden Zufalle, wird die gleiche
Moͤglichkeit aller Faͤlle vorausgeſetzt. Unter
dieſer Vorausſetzung aber laͤßt ſich mathema-
tiſch erweiſen, daß, wenn das Herausziehen
der Nummern unendlich fortgeſetzet wird, jede
Nummer eben ſo vielmal heraus komme, als
jede andere Nummer. Der Beweis findet ſich
in
[313]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
in der vorhin angezogenen BernoulliſchenArs
coniectandi. - 2°. Bey den vorhin erwaͤhnten Decimalreihen der
Wurzeln kommen jede Nummern gleich oft vor.
Dieſes iſt nun eben ſo viel, als wenn man ſaget,
das Vorkommen jeder Nummer ſey eben ſo
moͤglich, als das Vorkommen jeder anderer
Nummer. Und an ſich betrachtet, iſt es auch
eben ſo moͤglich, weil ſonſt ein Geſetz ſeyn muͤßte,
welches ihre Moͤglichkeit verminderte. - 3°. Hingegen iſt das Vorkommen jeder Nummer
an einer vorgegebenen Stelle nicht nur nicht
gleich moͤglich, ſondern in jeder Decimalreihe
von Wurzeln hat jede Stelle auf eine geome-
triſch nothwendige Art ihre beſtimmte Nummer,
mit voͤlligem Ausſchluſſe jeder andern Nummer. - 4°. Bey dem blinden Zufall aber dehnet ſich das
gleichmoͤgliche Vorkommen jeder Nummer auf
jede Stelle aus, und ſie wird nur beſtimmet,
wenn die Ziehung der Nummern bis dahin
wirklich fortgeſetzt wird. Und dieſe gleiche
Moͤglichkeit zieht ein abſolutes Nicht Voraus-
wiſſen nach ſich. - 5°. Dieſes Nicht Vorauswiſſen iſt aber in Abſicht
auf uns bey den Nummern der Decimalreihen
der Wurzeln eben ſo abſolute, weil wir die
Wurzel bis auf die Stelle wirklich ausziehen
muͤſſen, von welcher wir die Nummer wiſſen
wollen. Die Analyſis beut uns hiebey kein an-
deres, und um deſto weniger, noch ein kuͤrzeres
Mittel an.
U 56°. Da
[314]XI. Hauptſtuͤck.
- 6°. Da die Berechnung der Wahrſcheinlichkeit nur
da vorkoͤmmt, wo wir den Erfolg nicht voraus
wiſſen koͤnnen, ſo iſt es in dieſer Abſicht gleich
viel, ob wir denſelben wegen der gleichen Moͤg-
lichkeit, oder wegen des Nichtwiſſens der Ge-
ſetze nicht voraus wiſſen. Die Berechnung hat
in beyden Faͤllen einerley Erfolg, und ſie geht
in beyden Faͤllen an, ſo bald wir wiſſen, wie
viele einfache Faͤlle moͤglich ſind, und wie oft
jeder vorkoͤmmt. - 7°. Bey dem blinden Zufalle zieht die gleiche Moͤg-
lichkeit des Vorkommens jeder Nummer bey
jeder Stelle die Folge nach ſich, daß die unor-
dentlichſten Reihen dabey am haͤufigſten ſind,
und daß keine Ordnung durch die ganze Reihe
unendlich fortgehen kann, weil die Wahrſchein-
lichkeit dieſer Faͤlle = 0 wird. Eine Ordnung,
die durch die ganze Reihe unendlich fortgeht,
iſt nothwendig ein Geſetz. Man kann ſich auch
ohne Geſetze voraus anzunehmen, von dieſem
unendlichen Fortgehen nicht verſichern, (Dia-
noiol. §. 394. ſeqq.). - 8°. Man kann daher bey Decimalreihen, welche
nach geometriſchen Regeln gefunden werden,
nur ſolche mit dem blinden Zufalle vergleichen,
in welchen die Nummern durchaus ohne Ord-
nung vor und nach einander ſind, ſo ſehr
auch die, die vor und nach einander darinn ſind,
einander auf eine geometriſch nothwendige Art
vor und nach ſind, (§. 310.). - 9°. Daß es aber ſolche Decimalreihen gebe, das
beweiſen die vorangefuͤhrten Reihen der Qua-
dratwurzeln, in welchen keine Nummer, weder
durch
[315]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
durch die naͤchſt vorgehenden noch durch die
Stelle, wo ſie iſt, beſtimmet werden kann.
Wir haben ſie daher auch von andern Reihen,
wo in Abſicht auf die Stelle eine Ordnung un-
ter den Nummern iſt (§. 318.), unterſchieden.
§. 325.
Dieſen Anmerkungen koͤnnen wir noch beyfuͤgen,
daß es auch nach willkuͤhrlich angenommenen Geſe-
tzen moͤglich iſt, Reihen von Nummern heraus zu
bringen, die in Abſicht auf die Stelle keine Ord-
nung unter ſich haben, die ſich voraus ſehen ließe,
zum Beyſpiele wollen wir folgende herſetzen: 134858,
143859, 267584, 790659, 043749, 032505, 050506,
174233, 845761, 416183, 238340, 718658, 929012,
361074, 127093, 249587, 052741, 270965, 016744,
532056, 129234, 969498, 187619, 661303, 6 ꝛc.
Dieſe Zahlen entſtehen nach folgenden Regeln:
- 1°. Die erſten, 1, 3, 4 ſind willkuͤhrlich ange-
nommen. - 2°. Zuſammen addirt geben ſie 1 + 3 + 4 = 8,
die vierte. - 3°. Eben ſo 3 + 4 + 8 = 15, wovon 10 weg-
geworfen, bleibt 5, die fuͤnfte. - 4°. Ferner 4 + 8 + 5 = 17, davon 10 wegge-
worfen, bleibt 7. Dazu wird aber fuͤr die
ſechſte Stelle die erſte oder 1 addirt, eben ſo,
wie bey der 12, 18, 24, 30, 36 ꝛc. Stelle die
zweyte, dritte, vierte ꝛc. Zahl addirt wird.
Dieſe Bedingung nehmen wir mit hinzu, weil
ſonſt die Nummern, wenn man bis zu einer
gewiſſen Stelle koͤmmt, in eben der Ordnung
wiederkehren wuͤrden.
5°. Auf
[316]XI. Hauptſtuͤck.
- 5°. Auf dieſe Art erlangen wir
1 + 3 + 4 = 8
3 + 4 + 8 ‒ 10 = 5
VI°. 4 + 8 + 5 ‒ 10 + 1 = 8
8 + 5 + 8 ‒ 20 = 1
5 + 8 + 1 ‒ 10 = 4
8 + 1 + 4 ‒ 10 = 3
1 + 4 + 3 = 8
4 + 3 + 8 ‒ 10 = 5
XII°. 3 + 8 + 5 ‒ 10 + 3 = 9
8 + 5 + 9 ‒ 20 = 2
ꝛc.
Uebrigens koͤnnte man es dieſer Reihe anſehen, daß
ſie nach Regeln gemacht iſt, die keine andere Data,
als die Stelle der Nummern haben. Wenn ſie auch
bis ins Unendliche fortgeſetzt wird, ſo wird man nir-
gends finden, daß eine gleiche Nummer vielmal nach
einander vorkoͤmmt. Dieſes findet ſich bey den De-
cimalreihen der Wurzeln von ganzen Zahlen, ganz
anders, weil in denſelben keine Nummer ſchlechthin
nur durch die Stelle oder durch eine gewiſſe Anzahl
der vorgehenden beſtimmet wird.
§. 326.
Man ſieht aus dem bisher geſagten, daß die fa-
tale oder abſolute Nothwendigkeit und der blinde Zu-
fall eben nicht ſo leicht von einander unterſchieden,
oder aus den Folgen oder Wirkungen erkennt werden
koͤnnen, ſo unumgaͤnglich es auch iſt, daß ſie ſchlecht-
hin beyſammen ſeyn koͤnnen. Man vergleichet ge-
woͤhnlich jedes beſonders mit der weiſen Einrich-
tung, welche zwiſchen beyden das wahre Mittel iſt.
Aber die Beweiſe, ſo man dafuͤr angiebt, ſind oͤf-
ters ſo beſchaffen, daß wenn ſie die abſolute Noth-
wendig-
[317]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
wendigkeit ausſchließen, ſie dem blinden Zufall das
Wort zu reden ſcheinen, und hinwiederum, wenn
man ſie wider den Zufall richtet, die abſolute Noth-
wendigkeit bewieſen oder vorausgeſetzt zu ſeyn ſcheint.
Und in der That wird, wenn man das eine voraus-
ſetzt, das andere allerdings nothwendig umgeſtoßen.
Wir haben daher mit gutem Vorbedachte, ohne noch
auf das Mittel zu ſehen, die beyden Extrema gegen
einander gehalten, und die Aehnlichkeiten, ſo wir in
beyden gefunden, zeigen, daß man ſie eben nicht in
allen Abſichten durchaus einander entgegen ſetzen
koͤnne. Man koͤnnte daher voraus vermuthen, daß
beyde, in ſo fern ſie Aehnlichkeiten haben, nicht
nur darinn unter ſich, ſondern auch dem wah-
ren Mittel oder der weiſen Einrichtung aͤhn-
lich, und allem Anſehen nach auch nicht wei-
ter wirklich gedenkbar ſind, (Alethiol. §. 193. 205.).
§. 327.
Um dieſe Vergleichung der Nothwendigkeit und
des Ungefaͤhrs noch deutlicher aus einander zu ſetzen,
werden wir aus dem §. 315. wiederholen, daß der
Zufall kein ander vor und nach zulaͤßt, als was in
Anſehung der Zeit und Raumes nothwendig vor
und nach genennet werden muß, oder daß dieſe
Woͤrter bey dem blinden Zufall ſchlechthin nur Praͤ-
poſitionen ſind, (§. 310.). Um nun die Ordnung,
welche in einer Reihe ſchlechthin nur der Stelle
nach betrachtet ſeyn kann, von derjenigen zu un-
terſcheiden, welche von Geſetzen herruͤhret, zu un-
terſcheiden, wollen wir erſtere ſchlechthin locale
Ordnung oder Ordnung der Stelle nach, letz-
tere aber geſetzliche oder regelmaͤßige Ordnung,
oder Ordnung im Zuſammenhange nennen.
Ver-
[318]XI. Hauptſtuͤck.
Vermittelſt dieſer abgekuͤrzten Ausdruͤcke haben wir
nun folgende Saͤtze.
- 1°. Der Zufall ſchleußt die geſetzliche Ordnung
ganz aus, (§. 316.). - 2°. Die locale Ordnung in einer Reihe kann bey
dem blinden Zufalle nicht ins Unendliche fort-
gehen, (§. 324. N°. 7.). - 3°. Hingegen in einer endlichen Reihe iſt die locale
Ordnung bey dem blinden Zufalle moͤglich, und
die Wahrſcheinlichkeit, daß ſie in einem vor-
gegebenen Falle vorkomme, kann fuͤr jede vor-
gegebene Ordnung vermittelſt der Anzahl der
Glieder berechnet werden. - 4°. Eine locale Ordnung, die in einer Reihe
unendlich fortgeht, iſt nothwendig geſetzlich,
(N°. 2.). Man kann aber nicht a poſteriori
finden, ob ſie unendlich fortgehe? (§. 324. N°. 7.).
Hingegen wird die Wahrſcheinlichkeit, daß ſie
nur zufaͤllig ſey, deſto geringer, je weiter die
Ordnung in der Reihe wirklich fortgeht, (N°. 3.). - 5°. Wenn in einer unendlichen Reihe keine locale
Ordnung iſt, ſo kann ſie ſowohl zufaͤllig, als
geſetzlich ſeyn, (§. 324. N°. 7. 8. 9.). - 6°. Sie iſt aber nothwendig nicht zufaͤllig, ſo bald
nicht alle gleich moͤgliche Faͤlle darinn gleich
vielmal vorkommen, (§. 324. N°. 1.). Und
kommen in einer endlichen Reihe die gleich moͤg-
lichen Faͤlle nicht gleich vielmal vor, ſo iſt die
Wahrſcheinlichkeit, daß die Reihe zufaͤllig ſey,
deſto kleiner, je groͤßer die Anzahl der Faͤlle in
der Reihe iſt, (N°. 4.).
7°. Eine
[319]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
- 7° Eine Reihe kann ſowohl durch den Zufall, als
nach Geſetzen endlich bleiben, und Luͤcken haben.
Denn bey dem Zufalle iſt eben nicht nothwen-
dig, daß immer eines auf das andere folge.
Soll aber eine Reihe nach Geſetzen endlich ſeyn,
ſo wird mehr als ein einfaches Geſetz erfordert,
damit eines dem andern Schranken ſetze. Bey
dem Zufalle aber ſind die Luͤcken moͤglicher, als
das Aufhoͤren, und die Ungleichheit der Luͤcken,
deſto wahrſcheinlicher, je laͤnger die Reihe iſt, ſo
daß ſie bey einer unendlichen Reihe nothwendig
ungleich, und nothwendig unordentlich ungleich
werden. Beydes kann aber auch bey Geſetzen
ſtatt haben. Man nehme die ſogenannten
Primzahlen zum Beyſpiele, oder man ſehe nur
in den Reihen der Quadratwurzeln die Stellen,
wo 0 ſind in Abſicht auf die locale Ordnung der
Zahlen als Luͤcken an.
§. 328.
Wenn eine locale Ordnung in einer Reihe vor-
koͤmmt, ſo gruͤndet ſie ſich, ſo oft ſie unendlich fort-
geht, nothwendig auf ein Geſetz, und in ſo ferne
wird demnach der Zufall ausgeſchloſſen. Die Ge-
ſetze aber kommen ohne Kraͤfte nicht vor.
Denn im Reiche der Wahrheit gruͤnden ſie ſich auf
die metaphyſiſche Wahrheit eines denkenden Weſens
und der Erkenntnißkraͤfte, und im Reiche der Wirk-
lichkeit auf die Kraͤfte des Willens und der Be-
wegung, weil ohne dieſe Erforderniſſe die Geſetze
nicht einmal ein leerer Traum, ſondern vollends gar
nichts waͤren, (§. 299.). Wir werden nun ſehen,
wie genau hiebey das Hypothetiſche und Willkuͤhr-
liche an das Nothwendige graͤnzet, und wie, was
in
[320]XI. Hauptſtuͤck.
in einer Abſicht willkuͤhrlich iſt, in einer andern Ab-
ſicht nothwendig ſeyn kann. Man nehme eine be-
liebige Anzahl von Nummern, z. E. 142857, und
ſetze ſie in eben der Ordnung 142857142857142857142 ꝛc.
hinter einander. Dieſes kann nun allerdings unend-
lich fortgehen, die Ordnung dabey iſt local, und die
Nummern und Anzahl derſelben ſchlechthin will-
kuͤhrlich. Jch habe aber in dem dritten Bande
der Acta Heluetica erwieſen, daß alle dergleichen Rei-
hen nicht nur nach einem, ſondern nach einem und
eben demſelben und ſehr einfachen Geſetze nothwendig
heraus kommen. Denn man verwandele nur die
angenommene Zahl, z. E. 142857 dergeſtalt in einen
Bruch, daß man zu dem Nenner ſo viele 9 nimmt,
als Nummern ſind, ſo wird der Bruch \frac{142857}{999999},
welcher = \frac{1}{7} iſt, in eine Decimalreihe aufgeloͤſet,
eben dieſe Reihe 1428571428 ꝛc. hervor bringen. Sie
koͤmmt ebenfalls heraus, wenn man \frac{2}{7}, \frac{3}{7}, \frac{4}{7}, \frac{5}{7}, \frac{6}{7} in
Decimalreihen aufloͤſet, jedoch ſo, daß ſie einen
andern Anfang hat. Solche Reihen kommen dem-
nach im Reiche der Wahrheit nicht bloß als eine
willkuͤhrliche Combination von Nummern, ſondern
in einer nothwendigen Verbindung mit den Bruͤchen
vor, und man kann jede als eine Quadrat, Cubic ꝛc.
Wurzel von einer andern anſehen.
§. 329.
Wenn man eine locale Ordnung zu einer Reihe
willkuͤhrlich annimmt, und die Reihe nach derſelben
fortſetzet, ſo machet man dieſe Ordnung auf eine
willkuͤhrliche Art zum Geſetze, und dieſes geſchieht
ohne Ruͤckſicht auf die Frage, ob eben dieſe Reihe
nicht auch nach einem nothwendigen Geſetze entſtehe,
und daher im Reiche der Wahrheit in irgend einer
Ver-
[321]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
Verbindung vorkomme? Man ſtelle ſich z. E. eine
Reihe von Nummern vor, die ſo beſchaffen ſey, daß
jede Nummer koͤnne gefunden werden, wenn man
die zwo naͤchſt vorhergehenden addirt, und wenn die
Summe groͤßer als 10 iſt, 10 wegwirft. Die Ord-
nung in einer ſolchen Reihe iſt nun bloß local, weil
jede Nummer durch die zwo naͤchſt vorhergehenden
beſtimmet wird. Die erſten zwo Zahlen, die man
annimmt, ſind willkuͤhrlich, und die Regel, daß ſie
addirt, und wo es noͤthig iſt, von der Summe 10
weggeworfen werden muͤſſe, iſt ebenfalls willkuͤhrlich.
Welche zwo Nummern man aber immer zum Anfan-
ge ſetzet, ſo kann man nicht vermeiden, daß ſie nicht
in der herauskommenden Reihe irgend wiederum in
eben der Ordnung vorkommen, und damit kommen
die uͤbrigen ebenfalls und in eben der Ordnung wieder
vor. Man ſetze z. E. die erſten zwo Nummern
ſeyn 1, 3; ſo iſt die Reihe 134718976392, 134718 ꝛc.
welche aus zwoͤlf Nummern beſteht, die in eben der
Ordnung wiederkommen, und daher (§. 328.) durch
die wirkliche Aufloͤſung des Bruches \frac{1}{9}\frac{2}{0}\frac{1}{0}\frac{2}{0}\frac{4}{0}\frac{7}{0}\frac{2}{9} in
eine Decimalreihe, herfuͤrgebracht wird.
§. 330.
Die hier angefuͤhrten Beyſpiele von Zahlreihen
geben uns dreyerley Arten an, eine und eben dieſelbe
locale Ordnung der Nummern dabey zu erhalten, oder
die Wiederkehr der Nummern periodiſch zu machen.
Die erſte iſt das durchaus willkuͤhrliche Anneh-
men und Setzen der Nummern, und dazu wird
nichts als ein denkendes und wollendes Weſen erfor-
dert, welches ſich vorſetze, die Nummern in ſolcher
periodiſchen Ordnung zu denken. Die andere iſt
das Herfuͤrbringen jeder Nummer durch die
Lamb. Archit.I.B. XAddi-
[322]XI. Hauptſtuͤck.
Addition oder Subtraction der vorhergehen-
den. Hier werden Anfangs einige willkuͤhrlich an-
genommen, und dieſe muͤſſen nun nicht mehr bloß ge-
dacht, ſondern nach dem angenommenen Geſetze addirt
oder ſubtrahirt werden, damit die folgenden heraus-
kommen. Man kann auch, ungeachtet dieſes Geſetz
lacal iſt (§. 329.), ohne Beweis nicht vorausſehen,
daß die herauskommende Reihe periodiſch ſeyn werde.
Die dritte iſt das Aufloͤſen eines Bruches in
Decimalreihen. Hier wird der Bruch willkuͤhrlich
angenommen, und man kann ohne Beweis nicht vor-
ausſehen, ob die Reihe periodiſch ſeyn werde, und
ohne die Diviſion anzuſtellen, kann man auch nicht
vorausſehen, aus welchen Nummern die Periode und
aus wie vielen ſie beſtehen werde? Die beyden letz-
tern Arten haben gleichſam etwas Mechaniſches,
weil die Operationen des Addirens, Subtrahirens,
Dividirens ꝛc. dabey vorkommen. Dieſes iſt aber
bey der erſten Art nicht, weil man ſich dabey nur die
Wiederkehr der willkuͤhrlich angenommenen Num-
mern vorſtellet. Solche periodiſche Reihen von Num-
mern koͤnnen daher ſowohl ſchlechthin nur gedacht
und geſetzet, als durch eine Art von Mecha-
niſmo herfuͤrgebracht werden.
§. 331.
Wir haben die bisherigen Beyſpiele von Zahlen
gleichſam nur zur Erlaͤuterung des Folgenden vorge-
bracht. Der Hauptſatz, den wir eigentlich vorzu-
tragen haben, iſt nun folgender: Es kann in einer
Reihe von wirklich exiſtirenden Dingen keine
locale Ordnung vorkommen, und darinn fort-
gehen, es ſey denn, daß ſie durch einen wirk-
lich angebrachten Mechaniſmum dabey vor-
komme.
[323]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
komme. Denn da vermoͤge der Vorausſetzung die
locale Ordnung in der Reihe fortgeht, ſo iſt der blinde
Zufall ſchlechthin dabey ausgeſchloſſen, (§. 324. N°. 7.).
Demnach erfolgt jedes Glied der Reihe, es ſey an ſich
oder wenigſtens in Abſicht auf ſeine Stelle, entweder
aus einem oder einigen der vorhergehenden, oder aus
etwas, das ſie nach einerley Geſetze in dieſer Ord-
nung herfuͤrbringt, oder ſie in dieſelbe bringt. Dieſes
nennen wir im allgemeinſten Verſtande einen Mecha-
niſmum, weil wir dieſen Begriff eben ſo tranſcendent
ſetzen, als den Begriff der Kraͤfte (§. 29. 68.), und
die Art und Weiſe dadurch verſtehen, wie die Kraͤfte
nach einerley oder nach einem allgemeinen Geſetze wir-
ken, es moͤgen nun bewegende Kraͤfte, oder Kraͤfte
des Verſtandes oder Kraͤfte des Willens, oder von
zweyen derſelben oder alle drey Arten beyſammen ſeyn.
§. 332.
Die vorhin angefuͤhrten drey Arten, periodiſche
Zahlreihen herfuͤrzubringen (§. 331.), erlaͤutern dieſen
Satz, in Abſicht auf Zahlen. Jn der Mechanic hat
man denſelben laͤngſt ſchon als eine Quelle zu Erfin-
dung von Maſchinen gebraucht (Dianoiol. §. 76.),
weil jede periodiſche Wiederkehr von Veraͤnderungen
durch Maſchinen zuwegegebracht werden kann, und
jede locale Ordnung in einer Reihe von Veraͤnderun-
gen periodiſch wird. Jn der wirklichen Welt finden
wir in der Erzeugung der Menſchen, Thiere und
Pflanzen eine den periodiſchen Zahlreihen aͤhnliche
Ordnung. Bey den meiſten iſt ſie A, A, A, ꝛc. weil
ſie ſich jedes nach ihrer Art fortpflanzen. Bey den
Jnſecten aber, die ſich aus Raupen in Schmetterlinge
verwandeln, iſt ſie ABABA ꝛc. Und es iſt nicht zu
zweifeln, daß es nicht auch ſollte Fortpflanzungen
X 2geben
[324]XI. Hauptſtuͤck.
geben koͤnnen, oder wirklich gebe, die durch mehrere
Verwandlungen gehen, ehe ſie wiederkehren. Sonſt
giebt es in der Welt keine genau periodiſche Veraͤn-
derungen, und zwar aus denen Gruͤnden, aus welchen
wir oben (§. 129. 130.) gezeiget haben, daß darinn
weder eine abſolute Jdentitaͤt noch der Progreſſus re-
rum circularis vorkomme, weil naͤmlich die wirken-
den Urſachen viel zu ſehr durch einander laufen, und
die einfachen Perioden, wovon ſich nur die Summe
der Wirkungen zeiget, incommenſurabel ſind. Dieſer
einige Umſtand iſt an ſich ſchon hinreichend, um zu
machen, daß die Summe, die ſich jedesmal zeiget,
niemals genau in eben der Ordnung wiederkehrt.
Jndeſſen kommen in der Welt Perioden vor, die
ſehr einfach, und deren kleinere Abwechſelungen ent-
weder ſich langſam aͤußern, oder ebenfalls auf Perio-
den koͤnnen gebracht werden. Jn der Mechanic wird
aus den Grundſaͤtzen und Poſtulaten der einfachen
Begriffe der Kraft und Bewegung beſtimmet, durch
welchen Mechaniſmus ſolche Perioden moͤglich ſind.
Da man nun in der Aſtronomie eben nicht annimmt,
daß gewiſſe Jntelligenzen ſich um die Sonne Lauf-
bahne gezeichnet, und die Planeten freywillig nach
einem willkuͤhrlich angenommenen Geſetze darinn her-
umfuͤhren, ſo hat man ohne Bedenken den Mecha-
niſmus der Centralkraͤfte dabey angenommen, den
man nach allen Jndividualien durch die Obſervatio-
nen bekraͤftiget findet. Denn da bey fortdauernden
Perioden der Zufall ausgeſchloſſen iſt, ſo werden ſie
entweder durch den Vorſatz eines mit Verſtand, Wil-
len und Kraͤften begabten Weſens, oder, wo es koͤrper-
liche Veraͤnderungen ſind, durch einen Mechaniſmus
von bewegenden Kraͤften herfuͤrgebracht. Erſteres
koͤnnen wir unmittelbar, letzteres mittelbar nennen.
Beydes
[325]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
Beydes iſt, in Abſicht auf die Moͤglichkeit, von glei-
cher Ausdehnung, weil jede periodiſche Veraͤnderung
durch einen Mechaniſmus herfuͤrgebracht werden kann.
§. 333.
Der erſt vorgetragene Satz (§. 331.) macht wegen
ſeiner Allgemeinheit, ebenfalls die Frage oder Auf-
gabe allgemein zulaͤßig (Dianoiol. §. 438. ſeqq.),
wie man von einer fuͤrgegebenen localen Ord-
nung einer Reihe den Mechaniſmus finden
koͤnne, durch welchen die Reihe nach dieſer
Ordnung herfuͤrgebracht wird? Dieſe Aufgabe
dehnt ſich wegen der Mannichfaltigkeit der verſchie-
denen Arten von localen Ordnungen viel zu weit aus,
als daß ſie auf eine brauchbare Art ſo allgemein auf-
geloͤſt werden koͤnnte, wie wir ſie hier vortragen.
Wir fuͤhren ſie hier eigentlich auch nur an, um zu
bemerken, daß, wo man in vorkommenden Faͤllen eine
locale Ordnung findet, dieſe als ein Datum angeſehen
werden koͤnne, und der Mechaniſmus dabey ein Quae-
fitum ſey, (Dianoiol. §. 76. 473. 486. 516.). Die
locale Ordnung, wo ſie einfach iſt, faͤllt uns ohnehin
am leichteſten in die Augen, und dienet daher um
deſto ehender zum Kennzeichen des oͤfters verſteck-
tern Mechaniſmus (Dianoiol. §. 495. 172.), deſſen
Entdeckung unſere Erkenntniß allemal in einem hoͤ-
hern Grade wiſſenſchaftlich macht, (Dianoiol. §. 605.
607. 610.).
§. 334.
Außer den Veraͤnderungsreihen, die auf eine merk-
lichere Art periodiſch ſind, kommen in der Welt eine
Menge von andern vor, wobey das Periodiſche nicht
nur ſtufenweiſe unmerklicher iſt, ſondern gar keine
X 3locale
[326]XI. Hauptſtuͤck.
locale Ordnung ſtatt hat, und welche daher deſto
ehender haben Anlaß geben koͤnnen, in der Welt
einen blinden Zufall zu ſetzen. Da wir aber oben
geſehen haben, daß auch in Reihen von Nummern,
welche in Anſehung ihrer Bildung oder Berechnung
eine geometriſche Nothwendigkeit des Aufeinander-
folgens haben, ein voͤlliger Mangel von localer Ord-
nung vorkommen koͤnne (§. 319. ſeqq.), ſo laͤßt ſich
es bloß aus einem ſolchen Mangel der localen Ord-
nung noch gar nicht auf den blinden Zufall ſchließen,
und es iſt ſich um deſto weniger zu verwundern, daß
ſolche Veraͤnderungsreihen, worinn vollends keine
locale Ordnung iſt, in der Welt vorkommen, weil
ſie bey ſehr einfachen und nothwendigen Geſetzen eben-
falls vorkommen koͤnnen. Jn der wirklichen Welt
iſt alles bis auf unendlich kleine Theile der Groͤße und
der Grade individual, und die einfachern Perioden
ſind einander incommenſurabel, ſo daß wenn ſie auch
keine allmaͤhliche Aenderung litten, ſie dennoch nie
genau wieder zuſammentreffen wuͤrden. So unor-
dentlich z. E. die barometriſchen Veraͤnderungen ſind,
ſo kann man dennoch zeigen, daß wenige an ſich or-
dentliche und periodiſche Urſachen, deren Perioden
einander incommenſurabel ſind, Veraͤnderungen in
der Schwere der Luft herfuͤrbringen koͤnnen, die den
obſervirten barometriſchen, in Anſehung der Unord-
nung, nichts nachgeben. So iſt auch bey dieſen Ver-
aͤnderungen die Unordnung an ſich nicht ſo groß, als
bey den vorhin angefuͤhrten Decimalreihen der Wur-
zeln, weil die Schwere der Luft durch unendlich kleine
Stufen ab- und zunimmt, und die groͤßern und ſchnel-
lern Veraͤnderungen ſeltener ſind, und dabey nichts
durch einen Sprung geſchieht. Man kann auch,
wenn man nichts anders als eine Reihe von Obſer-
vationen
[327]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
vationen vor ſich hat, durch verſchiedene Vergleichun-
gen derſelben unter ſich zeigen, daß die Barometer-
hoͤhe des einen Tages von den Hoͤhen der vorhergehen-
den im geringſten nicht unabhaͤngig iſt.
§. 335.
Jn allen den Faͤllen, wo ſich die Berechnung der
Wahrſcheinlichkeit anbringen laͤßt, koͤmmt die Frage
nicht darauf an, ob ein blinder Zufall die gleiche
Moͤglichkeit der Faͤlle herfuͤrbringe, ſondern nur, ob
ſie dergeſtalt ſtatt habe, daß keine locale Ordnung
in der Art vorkomme, wie ſie auf einander folgen?
Denn bey dem blinden Zufalle wuͤrden zum Beyſpiele,
in Anſehung der Wuͤrfel, alle Faͤlle gleich moͤglich
bleiben, wenn ſchon die Seiten der Wuͤrfel ungleich,
und die breitere Seite mit Bley gefuͤttert, oder die
ſchmaͤlere inwendig hohl waͤre. Es iſt aber niemand
in Abrede, daß bey ſolchen Wuͤrfeln die Moͤglichkeit
der Faͤlle ungleich ſey, und daß die ſchmaͤlere und
leichtere Seite haͤufiger oben zu fallen koͤmmt, als die
uͤbrigen. Sind aber alle Seiten und Ecken gleich,
und der Wuͤrfel iſt inwendig von einfoͤrmiger Dichtig-
keit, ſo ſind, in Abſicht auf den Wuͤrfel alle Faͤlle
gleich moͤglich, und die Urſachen, die ihn ſo und an-
ders fallen machen, laufen jede nach ihren eigenen
Geſetzen viel zu ſehr durch einander, als daß nicht
auch jede Augen gleich vielmal fallen ſollten, wenn
die Wuͤrfe unendlich wiederholt werden, und bey dem
Werfen alle Auswahl wegbleibt.
§. 336.
Nimmt man aber in der wirklichen Welt diejeni-
gen Veraͤnderungen, wobey ſich die Ordnung nicht
vorausbeſtimmen laͤßt, und theilt ſie in Claſſen, um
X 4die
[328]XI. Hauptſtuͤck.
die fuͤr jede Claſſe vorkommenden Faͤlle aus der Er-
fahrung zu ſammeln und abzuzaͤhlen; ſo findet ſich
dabey faſt immer eine ungleiche Anzahl, und man
kann daraus auf die ungleiche Moͤglichkeit der Faͤlle
den Schluß machen, weil in dieſer Abſicht ein Fall,
der haͤufiger vorkoͤmmt, als moͤglicher angeſehen wird.
Da ich dieſe Lehre nebſt der darauf gegruͤndeten Be-
rechnung der Wahrſcheinlichkeit in dem fuͤnften Haupt-
ſtuͤcke der Phaͤnomenologie vorgetragen, ſo werde ich
mich hier dabey nicht laͤnger auf halten.
§. 337.
Wir koͤnnen ferner anmerken, daß Epicur und
ſeine Anhaͤnger den blinden Zufall nicht in einem ſo
ſtrengen Verſtande nehmen, wie wir ihn bisher be-
trachtet haben. Epicur giebt Materie und bewegende
Kraͤfte zu, ohne daß ſie vom blinden Zufalle waͤren
erſchaffen worden. Er ſetzet aber, dieſe Materie ſey
von Ewigkeit her in einer anfangs unordentlichen Be-
wegung geweſen; die Theilchen haben ſich nach und
nach abgerieben, bis ſie eine Figur erhielten, die zur
Bildung jeder Arten von Koͤrpern dienlich waͤre;
nach vielen fehlgeſchlagenen Ausbildungen ſey es ein-
mal ſo gelungen, daß es dabey habe ſein Bewenden
haben koͤnnen ꝛc. Dieſe Vorſtellung mag nun etwann
Dichter beſchaͤfftigen, wenn ſie das Chaos nach dem
Spiele ihrer Einbildungskraft beſchreiben wollen, und
Ovid beſchreibt es allerdings ſo, daß man es vor
ſich zu ſehen glaubt. Allein mit den Geſetzen der
Mechanic laͤßt ſich eine ſo gelegentliche Entſtehensart
des Weltbaues gar nicht zuſammenreimen, weil dieſe
zeigen, daß ein Syſtem, welches nicht im Gleich-
gewichte oder nicht im Beharrungsſtande iſt, ſich
demſelben entweder in Form von Oſcillationen oder
auf
[329]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
auf eine aſymtotiſche Art naͤhere, und daß gar nicht
Ewigkeiten dazu erfordert werden. Damit haben wir
aber nur noch ein Syſtem von Koͤrpern, die nicht
organiſirt ſind, die ſich nicht, jeder nach ſeiner Art,
fortpflanzen, und wobey noch weder Verſtand noch
Willen iſt. Man muß daher zu den bewegenden
Kraͤften allerdings noch Kraͤfte des Verſtandes und
Willens annehmen, wenn man die Entſtehensart der
Welt beſchreiben will, um ſo mehr, da auch bey
dem bloß koͤrperlichen Mechaniſmo nicht jede anfaͤng-
liche Beſchaffenheit und Lage der Theile der Materie
mit jeden Kraͤften verbunden einen durchgaͤngigen
Beharrungsſtand und noch vielweniger den vollkom-
menſten oder die wahren Maxima herfuͤrbringt.
§. 338.
Bisher haben wir die Ordnung und Unordnung
fuͤr ſich betrachtet. Wir werden ſie nun, in Abſicht
auf uns ſelbſt vornehmen, weil die Faͤlle haͤufig vor-
kommen, wo wir etwas in Ordnung zu bringen
haben. Wir haben auch hiebey die locale Ord-
nung von der geſetzlichen zu unterſcheiden, weil ſie
nicht immer nothwendig beyſammen ſind. Die ge-
ſetzliche hat naͤmlich eine Abſicht, die nicht in den
geordneten oder angeordneten Dingen ſelbſt iſt, ſon-
dern wozu dieſe nur als Mittel und Anſtalten die-
nen, dadurch wir die Sache in Gang bringen,
oder dadurch das uͤbrige nachher von ſelbſt geht.
Die locale Ordnung aber beſteht entweder in einer
gewaͤhlten Symmetrie, oder im Beyſammenſeyn
des Aehnlichen, oder wir richten ſie an, um die
geordneten Dinge bequemer bey der Hand zu ha-
ben, oder ſie gleich finden zu koͤnnen. Die An-
ordnung der Buͤcher in einer Bibliothek, des Haus-
X 5rathes
[330]XI. Hauptſtuͤck.
rathes in einem Hauſe, der Zimmer in einem zu er-
bauenden Hauſe, der Betten, Baͤume, Blumen ꝛc.
in einem Garten ꝛc. moͤgen zu Beyſpielen dienen.
Jn dem Vortrage der Wiſſenſchaften iſt die Tabellar
und die Schulmethode ſchlechthin eine locale, die
Euclidiſche eine geſetzliche Ordnung des Vortrages,
weil erſtere alles, was von einer jeden Art der Haupt-
begriffe geſagt werden kann, zuſammen aufhaͤufen,
letztere aber jedes nur da vorbringt, wo es bewieſen
werden kann. Die Erfinder der Topik hatten auch
die Abſicht, die ganze menſchliche Erkenntniß in all-
gemeine Faͤcher zu zerlegen, und dadurch die Anord-
nung derſelben, ohne Ruͤckſicht auf den Zuſammen-
hang, den ſie haben ſoll, local zu machen.
§. 339.
Bey der localen Ordnung hat man nur auf die
geordneten Dinge und auf die Verhaͤltniſſe des Ortes
zu ſehen. Und da kann ſie auf eine gedoppelte Art
einfach ſeyn. 1°. Jn Abſicht auf den Ort, wenn die
Ordnung nur eine Dimenſion hat, oder linear iſt.
2°. Jn Abſicht auf die Dinge, wenn ſie einander
durchaus aͤhnlich ſind. Da man folglich jedes fuͤr
das andere ſetzen kann, ſo bleibt, in Abſicht auf die
Auswahl der Ordnung, keine Verſchiedenheit, als
die, welche in der linearen Dimenſion und ihren Gra-
den oder Theilen gewaͤhlt werden kann. Denn da
koͤnnen die Dinge auf einerley oder auf verſchiedene
Art geſetzet, und ihr Abſtand von einander gleich oder
ungleich gemacht werden. Eine Reihe von Baͤumen,
Saͤulen ꝛc. moͤgen als bekannte Beyſpiele dienen, es
ſey, daß man ſie in gerader Linie, oder in die Ruͤn-
dung, in gleicher oder auf eine einfoͤrmige Art un-
gleicher Entfernung ſetzet.
§. 340.
[331]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
§. 340.
Sind aber die Dinge ſelbſt unaͤhnlich, ſo kann
dieſe Unaͤhnlichkeit ebenfalls die Gruͤnde zur Anord-
nung beſtimmen. Man theilt ſie ihrer Verſchieden-
heit nach in Claſſen, und ordnet entweder die Claſſen,
ſo daß jede Claſſe ihre Stelle habe, oder man ver-
theilt die Dinge und Claſſen wechſelsweiſe. Erſteres
giebt mehr Aehnlichkeit und Einfoͤrmigkeit, letzteres
aber mehr Abwechſelung und Mannichfaltigkeit. Der
einfachſte Fall hiebey iſt, wo die Dinge nur der Groͤße
nach verſchieden ſind, wie z. E. bey den Orgelpfeifen,
und ſo auch, wo die Claſſen eine willkuͤhrliche oder
durch die Gewohnheit eingefuͤhrte, oder auch eine na-
tuͤrliche Rangordnung unter ſich haben, wie z. E. bey
Proceſſionen, Leichbegaͤngniſſen ꝛc. Man findet aber
bey ſolchen Anordnungen immer einige Schwierigkei-
ten und Einſchraͤnkungen, wenn die Anzahl der Dinge
von jeder Claſſe nicht willkuͤhrlich iſt, ſondern genom-
men werden muß, wie man ſie findet. Denn da lei-
det oͤfters die Anzahl nicht, daß eine ſonſt ſehr kennt-
liche und durchgaͤngige Ordnung beybehalten werden
kann, ohne Luͤcken und Unvollſtaͤndigkeiten darinn
zu laſſen.
§. 341.
Wo die Dinge in mehrern Abſichten Aehnlichkei-
ten und Verſchiedenheiten haben, da wird die Ord-
nung theils mannichfaltiger, theils auch ſchwerer ſo
zu treffen, daß allen Abſichten zugleich Genuͤgen ge-
leiſtet werde. Man ſehe z. E. in Anordnung einer
Bibliothek auf das Format, den Band und den Jn-
halt der Buͤcher, und ſo auch auf die Sprache, auf
das Alter, auf die Edition, auf die Seltenheit ꝛc.
ſo wird man, wenn die Buͤcher ſchon da ſind, ſelten
allen
[332]XI. Hauptſtuͤck.
allen dieſen Abſichten zugleich vollkommen Genuͤgen
leiſten koͤnnen. Jn ſolchen Faͤllen wird die Aus-
nahme da gemacht, wo es am wenigſten auf ſich hat.
Denn ſo z. E. ſieht man eine Bibliothek nicht als
eine Tapezerey an, folglich opfert man die Symme-
trie, in Anſehung des Bandes der Bequemlichkeit,
jedes Buch ſo gleich finden zu koͤnnen, ohne Beden-
ken auf.
§. 342.
So koͤmmt auch zuweilen die Bedingung vor, daß
die Dinge, die man in Ordnung bringen will, den
Raum ausfuͤllen und ſchließen ſoll. Z. E. man habe
eine Kuͤſte mit Buͤchern von ungleichem Formate und
Groͤße vollzupacken, ſo wird nicht jede Anordnung
derſelben gleich gut taugen, wenn keine leere Raͤume
bleiben ſollen. Hingegen wo die Figur der Dinge
gewaͤhlt werden kann, wie z. E. wo ein Boden mit
Platten belegt werden ſoll, da bleibt mehr Auswahl,
und die Figuren der Platten koͤnnen ſo gewaͤhlt wer-
den, daß man aus regulaͤren Triangeln, Vierecken,
Sechsecken, Achtecken ꝛc. wenn ſie behoͤrig abgewech-
ſelt werden, vielfache Ordnungen und Symmetrien
herausbringen kann, zumal wenn man ſie ganz oder
nach den Diagonalen getheilt, oder zwey an einan-
der liegende Triangel ꝛc. von abgewechſelten Farben
nimmt. Will man aber bey gleicher Groͤße am we-
nigſten Fugen haben, ſo wird die Auswahl auf regu-
laͤre Sechsecke eingeſchraͤnkt, welche auch bey den
Bienencellen vorkommen.
§. 343.
Wo der Ort und die Dinge gegeben ſind, wie
z. E. bey der Anordnung des Hausgeraͤthes in einem
Hauſe, da bleibt nicht immer viele Auswahl. Die
Abſicht
[333]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
Abſicht dabey iſt die Bequemlichkeit, jedes Stuͤck
gleich bey der Hand zu haben, und daß keines dem
andern im Wege ſtehe, und man kann noch beyfuͤgen,
daß bey etwann entſtehender Feuersnoth das Wich-
tigſte daraus am fuͤglichſten und ſicherſten gerettet
werden koͤnne. Hiezu werden gewoͤhnlich mehrere
Combinationen der Dinge und der Umſtaͤnde des Or-
tes erfordert, um beurtheilen zu koͤnnen, welche zu
dieſen Abſichten die ſchicklichſte ſey? Will man dabey
die Bequemlichkeit am groͤßten haben, ſo iſt die
Weitlaͤuftigkeit des Ortes nicht immer dazu am dien-
lichſten, und es giebt zwiſchen derſelben und dem gar
zu engen ein Mittel, welches man als ein Maximum
anſehen kann, und wobey nicht nur Bequemlichkeit,
ſondern auch noch Symmetrie und eigentlich locale
Ordnung Statt findet.
§. 344.
Bisher ſind alle angefuͤhrte Faͤlle darinn einerley,
daß die einmal geordnete Dinge bleiben, oder wenn
man ſie gebraucht hat, gleich wiederum an ihren
Ort geſtellet werden. Die Bewegung, welche in
der Aenderung des Ortes beſteht, giebt uns noch eine
andere Claſſe von Anordnungen, weil dabey nicht nur
dem Orte, ſondern auch der Zeit nach Moͤglichkeiten
und Schicklichkeiten ſeyn muͤſſen. Der figurirte
Tanz iſt vielleicht das einige Beyſpiel, wo man in
der Stellung und Bewegung nur locale Ordnung und
Symmetrie ſuchet. Die Evolutionen in Schlacht-
ordnungen haben zwar auch ihre von der localen
Ordnung hergenommene Geſetze, aber eine ungleich
nothwendigere Abſicht, weil dadurch jede Anordnung
in jede andere auf die ſchicklichſte Art verwandelt und
die Unordnung vermieden wird. Die allgemeinſten
und
[334]XI. Hauptſtuͤck.
und haͤufigſten Faͤlle aber, wo der Zeit und dem Rau-
me nach Ordnung erfordert wird, ſind die Maſchi-
nen. Bey dieſen iſt die Wiederkehr der Bewegung,
ſo fern ſie einfacher ſind, an ſich ſchon periodiſch
(§. 332), und die Anordnung der Theile dergeſtalt
local, daß die verlangte Bewegung und Wirkung
dadurch herfuͤrgebracht werde. Die Verwandlung
einer Art von Bewegung in eine andere, z. E. der
gerade fortgehenden in circulaͤre, oder beyder in hin
und her gehende ꝛc. ſind ungefaͤhr die Aufgaben, die
man ſich, in Abſicht auf die locale Ordnung, vorlegen
kann. Die uͤbrigen Aufgaben gehen auf die Ver-
wandlung jeder Modification der Kraft, Geſchwindig-
keit und Direction in jede andere. Man ſieht leicht,
daß die Ordnung in den Theilen der Maſchine nicht
ſchlechthin nur local, ſondern fuͤrnehmlich geſetzlich
iſt, und die Abſicht, wozu die Maſchine dienen ſoll,
nicht jede locale Ordnung zulaſſe, und daß man nur
da auf dieſe ſehen kann, wo jene eine Auswahl uͤbrig
bleiben laͤßt. Das Einfache und Geſchmeidige der
ganzen Maſchine, die Fuͤglichkeit der Theile, das
Vermeiden des Anreibens, die Dauerhaftigkeit ꝛc.
ſind weſentlichere Abſichten dabey.
§. 345.
Was bey Maſchinen, Werkzeugen, Koͤrpern ꝛc.
die bewegenden Kraͤfte ſind, das ſind in der Jntel-
lectualwelt die Gruͤnde fuͤr den Verſtand, und die
Beweggruͤnde fuͤr den Willen, (§. 68. 108-110.). Es
werden auch oͤfters alle drey Arten gebraucht, wenn
man Dinge anordnet, oder Anſtalten vorkehrt,
Triebfedern in Bewegung ſetzet ꝛc. damit eine
vorhabende Abſicht erreicht, ein widriger Erfolg ver-
hindert, oder der verlangte befoͤrdert, oder zur Ma-
turitaͤt
[335]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
turitaͤt gebracht werde. Da in allen ſolchen Anord-
nungen Abſichten ſind, die weiter gehen, ſo iſt meh-
rentheils nicht nur wenig locale Ordnung dabey, ſon-
dern dieſe wird, wenn ſie auch dabey ſeyn koͤnnte,
oͤfters vorſetzlich vermieden, wo die Sache verdeckt
bleiben ſoll, bis ſie reif iſt oder zum Ausbruche
gebracht wird.
§. 346.
Die geſetzliche Ordnung, die ſich bey ſolchen ſo-
wohl phyſiſchen als moraliſch und politiſchen Anord-
nungen befindet, und wobey die locale Ordnung nicht
zur Hauptabſicht gemacht wird, beſteht in der Sub-
ordination der Mittel und Abſichten, und die
dabey gebrauchten Dinge haben oͤfters bald nichts
mehr gemein, als daß ſie ſaͤmmtlich zur letzten Abſicht
dienen, und zu dieſer angeordnet werden. Hierinn
aber muß die geſetzliche Ordnung durchgaͤngig ſeyn,
weil, wenn eine Luͤcke darinn vorkoͤmmt, entwe-
der die Abſicht nicht erreicht wird, oder das, was
vor der Luͤcke iſt, zu der ganzen Anordnung nicht ge-
hoͤret, ſondern als unnoͤthig und uͤberfluͤßig angeſehen
werden kann. So giebt es auch Faͤlle, wo die Ab-
ſicht, ungeachtet die Anſtalten unzureichend waren,
aus andern und oͤfters unverſehenen und zufaͤlligen
Gruͤnden dennoch in die Erfuͤllung koͤmmt, ſo wie
hinwiederum wohl ausgedachte Anſtalten aus zufaͤlli-
gen Gruͤnden fehlſchlagen koͤnnen. Man hat daher
laͤngſt ſchon die Anmerkung gemacht, daß man den
Grad der Weisheit nicht immer aus dem Erfolge
ſchaͤtzen muͤſſe.
§. 347.
Solche Luͤcken koͤnnen nun leichter vermieden wer-
den, wenn man die Mittel und Umſtaͤnde waͤhlen
kann,
[336]XI. Hauptſtuͤck.
kann, wie ſie zu der Abſicht erfordert werden, die
man dadurch erreichen ſoll, und in dieſen Faͤllen ſieht
man es als einen wirklichen Fehler oder Mangel der
Vollkommenheit an, wenn man die Mittel und Ab-
ſichten nicht am ſchicklichſten zuſammenrichtet, und
von erſtern mehrere gebraucht, als noͤthig geweſen
waͤren. Man muß ſich hingegen begnuͤgen, die Um-
ſtaͤnde zu nehmen, wie man ſie findet, ohne daß ſich
daran viel aͤndern laſſe, ſo geſchieht es nicht ſelten,
daß man nur durch Umwege oder gar nicht zum Ziele
koͤmmt. Da man nun die Anſtalten wegen der Er-
reichung der Abſicht vorkehrt, ſo iſt klar, daß man,
ſo viel moͤglich, muͤſſe vorausſehen koͤnnen, ob die
Umſtaͤnde dazu ſchicklich und hinreichend ſind, und
hiezu wird eine genaue und vollſtaͤndige Erforſchung
und Erkenntniß der Abſicht, der Umſtaͤnde und der vor-
raͤthigen Mittel und Combination derſelben erfordert,
weil man ohne dieſes die Sache ſchlechthin nur muß
auf die Probe ankommen laſſen. Man ſehe uͤbrigens
(Dianoiol. §. 529-550. Phaͤnomenol. §. 162. ſeqq.).
§. 348.
Sowohl bey der localen als bey der geſetzlichen
Ordnung, wenn ſie durchgaͤngig ſeyn ſoll, kommen
Regeln vor, nach welchen ein Ding auf das andere
folgt. Dieſe Regeln ſind bey der localen Ordnung
ſchlechthin nur ideal, ſo lange dieſelbe nur auf die
Aehnlichkeit und Verſchiedenheit der geordneten Din-
ge und auf die Verhaͤltniſſe des Ortes oder der Stelle
in jeder Dimenſion gehen, und ſo ferne die Verbin-
dung, die unter den Dingen ſelbſt ſeyn kann, oder
wirklich iſt, nicht mit in Betrachtung gezogen wird.
Von ſolchen Regeln giebt es immer einige, die aus
den andern folgen, und daher werden diejenigen fuͤglich
beſonders
[337]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
beſonders genommen, die zur Beſtimmung der Ord-
nung hinreichend ſind. Denn werden die Dinge nach
dieſen geordnet, ſo ſind die uͤbrigen Regeln an ſich
ſchon erfuͤllet. So z. E. wenn es die Frage iſt, vier
Linien, die gleich lang ſind, ſo an einander zu legen,
daß ſie vier gleiche Winkel ſchließen, ſo iſt es genug,
den einen Winkel rechtwinklicht zu machen, und man
iſt dadurch an ſich ſchon verſichert, daß die uͤbrigen
es ebenfalls ſeyn werden, ohne daß man ſie beſonders
meſſen oder beſtimmen darf. Da uͤberhaupt mit ei-
nigen gegebenen oder angenommenen Stuͤcken, die da-
von abhaͤngenden oder dabey vorausgeſetzten mit ge-
geben oder dadurch an ſich ſchon beſtimmet ſind; ſo
ſieht man leicht, daß wo bey einer Anordnung meh-
rere Dinge und Regeln vorgegeben werden, unter
dieſen leicht einige entweder durch die andern ſchon
beſtimmet, oder etwann gar auch ausgeſchloſſen wer-
den. Eben dieſes iſt auch bey der Anordnung der
Mittel und Abſichten zu bemerken.
§. 349.
Wenn eine locale Ordnung vorgegeben iſt, und
man ſoll die Geſetze davon finden, ſo koͤmmt die Sa-
che ſchlechthin auf die Vergleichung der Dinge an,
die darinn nach jeden Dimenſionen auf einander fol-
gen, um zu ſehen, wie ferne jedes durch die Stelle
oder durch die vor und nachgehenden beſtimmet wird,
oder wie ferne in dem Aufeinanderfolgen Aehnlichkei-
ten und Verſchiedenheiten vorkommen und abwech-
ſeln. So viel man nun dabey Regeln findet, die
durchgaͤngig ſind, ſo viele Regeln der Ordnung hat
man auch. Die Frage, ob man alle habe, koͤmmt
darauf an, daß man ſehe, ob die gefundenen von ein-
ander abhaͤngen, ob ſie noch allgemeinere voraus
Lamb. Archit.I.B. Yſetzen,
[338]XI. Hauptſtuͤck.
ſetzen, und ob, wenn man die annimmt, die von ein-
ander unabhaͤngig ſind, die Ordnung nach denſelben
durchaus beſtimmet ſey. Dazu wird nun uͤberhaupt
erfordert, daß man diejenige Art der Verhaͤltniß-
begriffe, welche jedesmal bey der Ordnung vorkom-
men, umſtaͤndlich kenne, z. E. bey einer Reihe von
Zahlen oder Groͤßen, die mathematiſchen, bey Ent-
deckung der Ordnung des Vortrages, oder der Er-
findung die logiſchen, bey der Ordnung eines redneri-
ſchen Vortrages, die oratoriſchen ꝛc. und ſo auch in
andern Faͤllen, die ſo zu der Baukunſt, Muſic ꝛc.
gehoͤren. Denn ohne dieſe umſtaͤndlichere und all-
gemeinere Kenntnis der Verhaͤltnißbegriffe, wird
man in beſondern Faͤllen, weder die Geſetze der Ord-
nung leicht finden, noch ſie ſchicklich und der Sache
gemaͤß ausdruͤcken koͤnnen.
§. 350.
Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke (§. 304.)
geſehen, daß man in der Metaphyſic auch eine tran-
ſcendente oder in den Dingen ſelbſt nothwendig
vorkommende Ordnung betrachtet, und ſie die me-
taphyſiſche Wahrheit genennet hat. Wir werden
die daſelbſt (§. 301. ſeqq.) uͤber dieſe Benennung ge-
machte Anmerkungen nicht wiederholen, ſondern nur
noch unterſuchen, wie ferne in den Dingen ſelbſt Ord-
nung ſey. Einmal iſt ſo viel klar, daß ſo ferne die
Dinge außer einander ſind, ihnen wenigſtens die in
den Dimenſionen des Raumes und der Zeit nothwen-
dig vorkommende Ordnung beygeleget werden koͤnne.
Sodann, wenn ein zuſammengeſetztes Indiuiduum
als ein Ganzes ſoll betrachtet werden koͤnnen, ſo wird
dazu ein gemeinſames Band erfordert, oder ſeine
Theile muͤſſen durch Kraͤfte dergeſtalt verbunden ſeyn,
daß
[339]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
daß ein Beharrungsſtand da ſey, (§. 220. 221.).
Dieſer hat nun nicht bey jeder willkuͤhrlichen Lage der
Theile und Anwendung der Kraͤfte ſtatt, (§. 65. 337.).
Demnach wird zwiſchen den Kraͤften und den Theilen
ein gewiſſes Ebenmaaß und Anordnung nothwendig
erfordert, ohne welche kein gemeinſames Band ſtatt
findet, und folglich das Indiuiduum nicht als eines
angeſehen werden kann. Dieſe Anordnung kann man
demnach, wenn man ſo will, weſentlich oder meta-
phyſich nennen, und ſie ſteht allerdings mit der me-
taphyſiſchen Einheit, Wahrheit und Guͤte
(§. 301.) in nothwendiger Verbindung, weil dieſe
drey Stuͤcke, ohne eine ſolche Anordnung voraus
zu ſetzen, nicht gedacht werden koͤnnen. Denn ohne
dieſe Anordnung findet kein Beharrungsſtand ſtatt,
es mag nun dieſer in der Ruhe und Gleichgewichte,
oder in der Einfoͤrmigkeit einer Abwechslung beſte-
hen. Da nun die Exiſtenz nothwendig eine Dauer
hat (§. 103. Axiom. 3.), ſo laͤßt ſich auch die Moͤglich-
keit zu exiſtiren nicht ohne die Moͤglichkeit zu dauern,
folglich nicht ohne den Beharrungsſtand gedenken.
Nun iſt die Moͤglichkeit zu exiſtiren die Anlage zur
metaphyſiſchen Wahrheit, (§. 297.). Demnach
faͤllet auch dieſe mit dem Beharrungsſtande weg, und
laͤßt ſich folglich ohne die erſtgemeldete Anordnung
nicht gedenken. Ferner wird dieſe Anordnung erfor-
dert, wenn ein Ding eines ſeyn ſoll. Demnach faͤllt
auch die Einheit der Dinge mit dieſer Anordnung
weg, und ohne beyde kann ein Ding nicht ein Ding
ſeyn. Endlich iſt dieſe Anordnung nicht nur gut,
ſo fern Ordnung darinn iſt, ſondern, da ſie zum Be-
harrungsſtande erfordert wird, ſo hat ſie eben da-
durch ein Maximum (§. 65. und Phaͤnom. §. 232.),
und die Guͤte des Dinges iſt demnach nothwendig,
Y 2ſo
[340]XI. Hauptſtuͤck.
ſo groß ſie ſeyn kann, das will ſagen in ihrer Art ab-
ſolut. Man hat dieſe Guͤte die metaphyſiſche genen-
net, um ſie von der moraliſchen zu unterſcheiden, weil
dieſe letztere mehr auf Verhaͤltniße geht, jene aber in
den Dingen ſelbſt iſt. Es erhellet uͤbrigens aus den
angefuͤhrten Betrachtungen, daß die alten Metaphy-
ſiker ſich unter den Begriffen der Einheit, Wahr-
heit und Guͤte eines Dinges in der That etwas ha-
ben vorſtellen koͤnnen. Ein Ding iſt weder mehr
noch minder als ein Ding, oder es iſt ein in ſeinen
Theilen verbundenes Ganzes, und es muß exiſtiren,
und fortdauern koͤnnen, und daher alles haben, was
hiezu erfordert wird, folglich ein behoͤriges Eben-
maaß der Theile und Kraͤfte, und die zum Behar-
rungsſtande erforderliche Anordnung der Theile. So
vielerley Abwechslungen und Mannichfaltigkeiten
nun noch bey dieſen an ſich nothwendigen Bedingun-
gen und Erforderniſſen uͤbrig bleiben, ſo vielerley
Arten von Dingen giebt es auch an ſich, oder im
Reiche der Wahrheit und der Moͤglichkeit, und ſo
viele koͤnnen auch fuͤr ſich betrachtet, exiſtiren. Wir ha-
ben dieſe drey Begriffe hier auf die Begriffe des So-
liden und der Kraͤfte reducirt, und werden außer
dem, was wir oben (§. 201-231.) in Abſicht auf das
Einerley bleiben geſaget haben, noch im folgenden
Anlaͤße haben, das Ebenmaaß der Theile und Kraͤfte,
und die Bedingungen und Eigenſchaften des Behar-
rungsſtandes umſtaͤndlicher zu betrachten. Wir mer-
ken hier nur noch an, daß man die Einheit, Wahr-
heit und Guͤte als innere und allgemeine Eigen-
ſchaften eines Dinges angeſehen, ſo fern ſie den Dis-
junctiven und den Verhaͤltniſſen entgegengeſetzt wer-
den koͤnnen. Die Abſicht, in der Metaphyſic, das-
jenige alles in eine Theorie zu bringen, was jeden
Dingen
[341]Das Vor ſeyn und das Nach ſeyn.
Dingen zukoͤmmt (§. 2. 3.), machte dieſes Aufſuchen
der innern Eigenſchaften eines jeden Dinges noth-
wendig. Es iſt aber uͤberhaupt betrachtet, noch bis-
her wenig brauchbar geweſen, und erſtbemeldete drey
Begriffe ſind vielleicht unter allen in der Metaphyſic
am wenigſten aufgeklaͤret worden. Es kann auch,
weil ſie an ſich einfach ſind, nicht wohl anders, als
durch die Anzeige ihrer Entſtehensart und durch Ver-
haͤltniſſe geſchehen.
Zwoͤlftes Hauptſtuͤck.
Das Volle und das Durchgaͤngige.
§. 351.
Unter den im Anfange des vorhergehenden Haupt-
ſtuͤckes angefuͤhrten Vorwoͤrtern, welche ſaͤmmt-
lich in ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung einfache Ver-
haͤltnißbegriffe des Ortes vorſtellen, koͤnnen wir noch
den Unterſchied anmerken, daß die beyden erſten
Claſſen: vor, nach, auf, unter, an, zwiſchen ꝛc.
in, neben, bey, um, ob ꝛc. das Verhaͤltniß des
Ortes beſtimmen, wenn man gleich in der Redens-
art nichts weiters, als den Begriff iſt mit dazu
nimmt. Z. E. Aiſt vor, nach, auf, unter ꝛc.B.
Hingegen fordert die letzte Claſſe: gegen, von, zu,
bis, aus, durch, wider ꝛc. Zu dem Begriffe iſt
noch eine Beſtimmung, es ſey, daß man ſie dem iſt
beyfuͤge, oder ſtatt des iſt ein ander Zeitwort ge-
brauche, welches die Beſtimmung enthalte. Z. E.
Alaͤuft gegenB, Aiſt vonBweggenommen,
Aiſt zuBgelegt, ꝛc. Mit ſolchen Beſtimmungen,
Y 3welche
[342]XII. Hauptſtuͤck.
welche immer den Begriff einer Bewegung in ſich
halten, oder dieſelbe voraus ſetzen, laſſen ſie ſich auch
combiniren, z. E. vonAgegenB,ausAzuB
oder bis zuB,von oder ausAdurchB ꝛc. Bey
allen Bewegungen aber koͤmmt der Begriff durch
vor, und daher haben wir, wenn der Raum, durch
welchen die Bewegung geſchieht, als ein Ganzes an-
geſehen wird, die Ausdruͤcke: durch und durch,
durchaus, durchgaͤngig ꝛc. wodurch wir nicht nur
die Continuitaͤt der Bewegung der Sache, ſondern
auch die Continuitaͤt oder das Ununterbrochene in dem
Bilde anzeigen, das wir uns von der Sache machen.
Jn gleichem Verſtande, wie das durch und das
durchaus durch alle Theile oder Glieder der Sache
geht, bezieht ſich das aus auf das Ende, oder auf
den Schluß, oder auf die Vollendung, und ſo koͤmmt
es in den Woͤrtern ausſeyn, ausſchlafen, ausma-
chen, ausarbeiten ꝛc. vor. Das lateiniſche Wort
perficere ſcheint ſowohl das durch als das aus zu
begreifen, und daher durcharbeiten und ausarbei-
ten zugleich zu bedeuten. Jm Deutſchen geben wir
es durch vollkommen machen, welches ungefaͤhr
eben ſo viel ſagen will, als machen, daß es voll
werde.
§. 352.
Solche Ausdruͤcke ſind aber in der Sprache auf
vielerley Arten metaphoriſch geworden, und ihre Be-
deutung wird demnach faſt immer durch die Redens-
arten beſtimmet, in welchen ſie jedesmal vorkommen.
Dieſes machet, daß man ſie in beſondern Faͤllen mit
andern damit mehr oder minder verwandten Aus-
druͤcken verwechſeln kann, dergleichen z. E. voll-
kommen, voͤllig, vollſtaͤndig, durchgaͤngig,
ausgemacht, vollendet, ausgearbeitet, verfer-
tiget,
[343]Das Volle und das Durchgaͤngige.
tiget, genau, vortrefflich, ausnehmend, nett,
ſchicklich, paſſend, erſchoͤpfet, geſchmeidig ꝛc.
und im Lateiniſchen das omnibus numeris abſolutum ꝛc.
ſind. Dieſen Ausdruͤcken koͤnnen wir noch einige
Redensarten beyfuͤgen, z. E. 1°. Etwas zu einem
hohen Grade der Vollkommenheit bringen.
2°. Man hat es in dieſer Sache ſo weit ge-
bracht, daß nur noch eine Nachleſe bleibt.
3° Die Materie iſt ganz erſchoͤpfet. 4°. Es
ſieht zu bunt aus. 5°. Man koͤnnte mehr Va-
rietaͤt oder Mannichfaltigkeiten darinn an-
bringen. 6°. Mit einer kleinen Aenderung
koͤnnte die Sache noch zu mehrerm dienen.
7°. ZuAwaͤreBgenug geweſen. 8°. Alles
ſchicket ſich nett zuſammen. 9°. Es paßt ge-
nau. 10°. Mehr oder minder wuͤrde alles
verderben. 11°. Es geht durchaus an. 12°. Es
iſt vollkommen und durchaus richtig, deutlich,
genau ꝛc.
§. 353.
Dieſe Ausdruͤcke und Redensarten haben ſaͤmmt-
lich etwas gemeinſames und gehoͤren in ſo ferne zu-
ſammen. So aber, wie wir ſie hier, aus der ge-
meinen Erkenntniß genommen, aufgehaͤufet haben,
ſind ſie einzelne Fragmente, und gleichen einem
Chaos, welches aus einander geleſen, in Zuſammen-
hang gebracht, und vollſtaͤndig oder mit Zuziehung
der etwann noch zuruͤcke gebliebenen Stuͤcke zu einem
Ganzen gemacht werden ſoll, wenn wir anders eine
wiſſenſchaftliche Erkenntniß davon zu haben verlan-
gen, (Dianoiol. §. 617-634.). Zu dieſem Ende
merken wir an, daß die vierte und fuͤnfte der ange-
fuͤhrten Redensarten von den uͤbrigen unabhaͤngig
ſind, beyde aber Abweichungen von der ſchick-
Y 4lichſten
[344]XII. Hauptſtuͤck.
lichſten und vollkommenſten Verflechtung des
Aehnlichen und Verſchiedenen in einer Sache
anzeigen. Das zu viel Aehnliche und das zu viel
Verſchiedene misfaͤllt, und das Verhaͤltniß zwiſchen
beyden kann ſo veraͤndert werden, daß es ab- und zu-
nimmt, und daher irgend ein Maximum hat. Man
ſieht leicht, daß dieſes auf ſolche Faͤlle geht, wo man
die Wahl behaͤlt, in einer Sache Aehnlichkeiten und
Verſchiedenheiten durch einander zu mengen, wie
z. E. in einem Garten die Anordnung der Betten,
Gelaͤnder, Pflanzen, Gaͤnge, Grotten, Springbruͤnne,
Statuen ꝛc. oder wie in Gedichten und Reden die
Anordnung der Woͤrter, Redensarten, Gleichniſſe,
Gegenſaͤtze ꝛc. Jn ſolchen Faͤllen fordert man bey
dem aͤhnlichen Verſchiedenheiten, und hinwiederum
Aehnlichkeiten bey dem Verſchiedenen, und der Grund
iſt, weil man bey dem Anſchauen einer ſolchen An-
ordnung mehrere Regeln wahrnimmt, oder mehr zu
denken findet. Man muß aber Regeln wahrneh-
men koͤnnen, und ſie muͤſſen durch ſolche
Theile durchlaufen, die zum Ganzen ein Ver-
haͤltniß haben, und an ſich als ein Ganzes
betrachtet werden koͤnnen, wie z. E. in einem
Garten die Ecken, die Mitte des Gartens, der Waͤn-
de, Wege ꝛc. Auf dieſe Art faͤngt man bey de-
nen Regeln an, die am unmittelbarſten das
Ganze angehen und zugleich noch am meiſten
unbeſtimmt laſſen, und nimmt ſodann, um
dieſes zu beſtimmen, ſpecialere Regeln zu Huͤl-
fe, bis man jede einzelne Theile beſtimmet hat.
Man ſieht leicht, daß was durch die erſten Regeln
ſchon beſtimmet iſt, durch die folgenden nicht noch
einmal beſtimmet werden kann, und daß man folg-
lich bey der Auswahl und Anwendung der letztern
durch
[345]Das Volle und das Durchgaͤngige.
durch die erſtern eingeſchraͤnket iſt. Dieſe Einſchraͤn-
kung wird nun durch die erſt angefuͤhrte Bedingung,
daß die erſten Regeln am meiſten unbeſtimmt laſſen
ſollen, noch am gluͤcklichſten vermieden, wenn man
bey ſolchen anfaͤngt. Denn ſo ſtellet man ſich an-
faͤnglich den Plan im Ganzen vor, man beſtimmet
ſeine Haupttheile, und ſodann die Theile von dieſen
Haupttheilen ſtufenweiſe, bis man endlich das ganze
Détail vor ſich hat. Hingegen iſt man mehrentheils
mehr eingeſchraͤnkt, wenn man weder in Anſehung
der Regeln nach der anzuordnenden Theile eine voͤllig
freye Wahl hat, ſondern ſich in Abſicht auf beyde
nach den Umſtaͤnden richten muß. Das bekannte
Non ex quouis ligno fit Mercurius, zeiget eine ſolche
Einſchraͤnkung in der Auswahl an. Und es gebraucht
mehrere Combinationen der vorgegebenen Umſtaͤnde,
Dinge, Regeln und Abſichten, wenn man ſie oͤfters
auch nur auf eine ertraͤgliche Art zuſammen rich-
ten will.
§. 354.
Die erſtbetrachtete Verflechtung des Aehnlichen
und Verſchiedenen, wenn ſie auf ihr Maximum ge-
bracht wird, macht eine Art von Vollkommenheit
aus, welche wir uͤberhaupt ideal nennen koͤnnen, weil
ſie faſt ganz nur auf der Vergleichung der Dinge
beruhet. Man nennet ſie insbeſondere eine Schoͤn-
heit, wenn ſie in die Sinnen faͤllt, und in ſo fern
iſt ſie bey der Baukunſt, Malerkunſt, Tonkunſt,
Dichtkunſt ꝛc. eine Hauptabſicht mit, weil ſie etwas
gefallendes hat.
§. 355.
Wir merken nun ferner an, daß unter den vor-
hin (§. 352.) angefuͤhrten Redensarten die ſechſte und
Y 5ſiebente
[346]XII. Hauptſtuͤck.
ſiebente ſich auf die Beurtheilung beziehen, ob man
zur Erreichung einer oder mehrerer Abſichten
die Mittel am ſchicklichſten gewaͤhlet und an-
geordnet habe? Denn ſo ſieht man es als einen
Fehler und Mangel der Vollkommenheit an, ſowohl
wenn man aus einer Sache nicht allen Vortheil zieht,
der ſich entweder ſo, wie ſie iſt, oder mit einer gerin-
gen Aenderung daraus ziehen ließe, als wenn man,
um nur eine beſtimmte Abſicht zu erreichen, uͤber-
fluͤßiges unter die Mittel mit nimmt. Das Ein-
fache in den Mitteln und das Vielfaͤltige in
den Abſichten und Wirkungen wird hiebey zu-
gleich zum Augenmerke genommen, und je
nach dem man das eine oder das andere zum Grunde
ſetzet, laͤßt ſich bey dem andern ein Maximum oder
Minimum gedenken, ſo fern man naͤmlich zu vor-
gegebenen Abſichten die wenigſten und ein-
fachſten Mittel, oder hinwiederum zu vorgege-
benen Mitteln, die meiſten und vielfaͤltigſten
Abſichten zu ſuchen hat. Wo dieſes eintrifft, da
erhaͤlt man wiederum eine Art von Vollkommenheit
die mehr real iſt, und bey deren Betrachtung die
fuͤnf letzten der vorhin (§. 352.) angefuͤhrten Redens-
arten vorkommen. Es geſchieht aber nicht immer,
daß man die Mittel ſo nett haben kann, daß ſie
ſchlechthin nur zu einer vorgegebenen Abſicht die-
nen, und daß nichts fremdes oder nicht dahin dienen-
des mit untermenget ſey. Daher koͤmmt es auch,
daß wenn man noch etwas mit hinzunimmt, und
die Mittel mehr oder minder anders anordnet, faſt
immer noch einige Abſichten mehr erreichet werden
koͤnnen. Dadurch wird ſodann der Grad der
Vollkommenheit hoͤher hinauf geruͤcket, und
man bringt es in der Sache weiter. Eben dieſe
Redens-
[347]Das Volle und das Durchgaͤngige.
Redensarten finden auch ſtatt, wenn die Abſich-
ten den Graden nach immer genauer erhalten
werden, und ſo auch, wenn man zu jeden Ar-
ten von Abſichten jede Arten dienlicher Mittel
findet und zuſammen ordnet. Hiebey koͤnnen
wir beſonders anmerken, daß bey dem Menſchen alle
Arten von Faͤhigkeiten, als die erſte Anlage zu
Mitteln, gewiſſe Abſichten zu erreichen, ange-
ſehen werden koͤnnen. Da dieſe Faͤhigkeiten theils
durch ein natuͤrliches Geſchicke, theils durch
Uebung zu immer groͤßern Fertigkeiten werden koͤn-
nen, ſo kann man es auch darinn weit und zu einem
hohen Grade der Vollkommenheit bringen.
Und wir koͤnnen in dieſer Abſicht die Vollkommen-
heit eines Menſchen, ſo fern ſie naͤmlich von ſei-
nen freyen Handlungen abhaͤngt, darinn ſetzen, wenn
alle ſeine natuͤrliche Faͤhigkeiten in gewiſſem
oder behoͤrigem Ebenmaaße zu Fertigkeiten ge-
worden ſind. Dieſes Ebenmaaß aber beſtimmet ſich
durch die den Naturgaben und aͤußern Umſtaͤnden an-
gemeſſene und gewaͤhlete Lebensart und durch die Ver-
theilung der Zeit, die zur Uebung jeder dazu gehoͤ-
rigen Faͤhigkeit verwendet werden muß. (Dianoiol.
§. 531. 532. und Phaͤnomenol. §. 131.).
§. 356.
Die Fernroͤhre geben uns ein Beyſpiel, wodurch
wir das bisher geſagte erlaͤutern koͤnnen. Sie ſind
allerdings eines gewiſſen Grades der Vollkommenheit
faͤhig. Die Abſichten, die man ſich dabey vor-
ſetzet, und wozu ſie ein ſo viel moͤglich einfaches
Mittel ſeyn ſollen, ſind die Vergroͤßerung, die
Deutlichkeit, die Helligkeit, das Feld des Ueber-
ſehens, und bey irdiſchen Gegenſtaͤnden die auf-
rechte
[348]XII. Hauptſtuͤck.
rechte Lage. Jn Abſicht auf das Jnſtrument ſelbſt
aber die Dauerhaftigkeit, das Einfache und die
Bequemlichkeit. Die Optic giebt hierinn Saͤtze,
welchen den Grad dieſer Abſichten und ihre Maxima
beſtimmen, und zugleich auch zeigen, wie ſie einan-
der einſchraͤnken. Die abſolute Deutlichkeit iſt eine
Einheit, und was derſelben abgeht laͤßt ſich vermit-
telſt des Zerſtreuungskreiſes auf dem Augennetze be-
ſtimmen, und giebt die Grade der Undeutlichkeit. Die
Deutlichkeit gewinnt bey der groͤßern Helligkeit, ſo
fern der Augenſtern dadurch enger wird, ſie verleuret
aber auch, ſo fern man dem Objectivglaſe, groͤßere
Oeffnung giebt. Sie gewinnt ebenfalls bey der Ver-
groͤßerung, weil man kleinere Theile des Objectes
ſieht, ſie verleuret aber auch dabey, weil die Bre-
chung der farbichten Stralen verſchieden iſt. Die-
ſem letztern Mangel hat man nun Mittel gefunden,
indem man ſtatt eines Objectivglaſes zwey von ver-
ſchiedener Art von Glas nimmt, und dadurch hat
man zugleich den Vortheil erhalten, daß man die
Fernroͤhren kuͤrzer und geſchmeidiger machen kann,
ohne von der Vergroͤßerung und Deutlichkeit etwas
zu verlieren ꝛc.
§. 357.
Bey der Vollkommenheit einer Sache koͤnnen wir
ferner die Theorie von der Ausuͤbung unterſcheiden.
Die Theorie geht uͤberhaupt auf den Entwurf oder
Plan des Ganzen, und kann dabey alle geometriſche
Schaͤrfe annehmen. Sie ſtellet demnach uͤberhaupt
das Bild der Sache vor, wie ſie ſeyn ſoll, um ih-
ren Abſichten Genuͤgen zu leiſten. Jn der Ausuͤbung
aber iſt es die Frage, wie genau man die Sache nach
dieſem Bilde, oder wie die Maler und neuern Kunſt-
richter
[349]Das Volle und das Durchgaͤngige.
richter reden, nach dem Jdeal verfertigen und aus-
arbeiten koͤnne? Und dabey koͤmmt es theils auf die
Beſchaffenheit des Stoffes, theils auf die Sorgfalt
und Geſchicklichkeit des Arbeiters an, der Schaͤrfe
und Feinheit naͤher zu kommen, welche die Theorie
vorausſetzet, und welche in Abſicht auf die Ausarbei-
tung, nicht als ein Maximum, ſondern ſchlechthin
als eine Einheit angeſehen werden kann, ungeachtet
ſie an ſich, oder in Abſicht auf den Entwurf be-
trachtet, allerdings ein Maximum ſeyn kann. Denn
ſo wird z. E. bey den Fernroͤhren, die zu ihren Ab-
ſichten dienlichſte Figur der Glaͤſer durch die Theorie
beſtimmet, und in ſo fern iſt ſie ein Maximum. Jn
der Ausuͤbung aber iſt die Frage, den Glaͤſern dieſe
Figur nach aller Schaͤrfe zu geben, und da wird ſie
als eine Einheit betrachtet, von welcher aber die
wirkliche Ausfuͤhrung immer um einen kleinen Bruch
abweicht, weil die phyſiſchen Umſtaͤnde eben keine
geometriſche Schaͤrfe zulaſſen.
§. 358.
Ein Maximum koͤmmt uͤberhaupt nur vor, wo
etwas ab- und zunimmt, und wo folglich meh-
rere Regeln einander einſchraͤnken, oder was
nach der einen groͤßer werden koͤnnte, nach der andern
vermindert wird, folglich uͤberhaupt nur im Zuſam-
mengeſetzten. Wollte man daher das Vollkom-
mene, und ſo auch das Schoͤne nur da finden, wo
ein Maximum ſtatt hat, ſo muͤßte es auch nur im Zu-
ſammengeſetzten gefunden werden koͤnnen. Jndeſſen
kann man dem Einfachen, ſo fern Realitaͤt darinn
iſt, eine Art von Vollkommenheit nicht nur nicht ab-
ſprechen, ſondern dieſe iſt allerdings, als die erſte
Anlage zu jeden andern Vollkommenheiten anzuſehen.
Zu
[350]XII. Hauptſtuͤck.
Zu dieſer erſten Anlage rechnen wir daher das So-
lide und die Kraͤfte, weil ohne dieſe beyde die Exi-
ſtenz, die Moͤglichkeit zu exiſtiren, und die metaphyſi-
ſche Wahrheit wegfaͤllt (§. 297. 298. 304.), und da-
her jede andere Vollkommenheit hoͤchſtens nur ein
leerer Traum ſeyn wuͤrde. Wir haben ferner im
vorhergehenden Hauptſtuͤcke (§. 350.) gezeiget, wor-
inn bey zuſammengeſetzten Indiuiduis, die metaphy-
ſiſche Guͤte derſelben beſtehe, und daß ohne Maxi-
ma dabey voraus zu ſetzen, kein Beharrungsſtand
gedacht werden koͤnne. Wir koͤnnen daher dieſe in-
nere und abſolute Guͤte der zuſammengeſetzten einzel-
nen Dinge, und das Reale, welches in dem Soli-
den und in den Kraͤften iſt, zuſammen nehmen, und in
beydem die metaphyſiſche Vollkommenheit der
Dinge beſtehen machen, welche daher zur Moͤglich-
keit zu exiſtiren ſchlechthin nothwendig iſt.
§. 359.
Dieſes ſind nun die beſondern Arten der Voll-
kommenheit, die wir vorlaͤufig aufzuſuchen hatten,
um die Verwirrung in dieſem Begriffe zu vermei-
den. Bey jeder Art findet ſich etwas durchgaͤngi-
ges, weil Luͤcken und Maͤngel dabey wegbleiben
ſollen. Die ſpecialern Regeln und Verbindungen
muͤſſen auf die allgemeinern, und dieſe aufs Ganze
gehen. Jn Anſehung der erforderlichen Theile wird
bey deren Abzaͤhlung das Vollſtaͤndige erfordert,
weil weder mehr noch minder ſeyn muͤſſen, als zu
dem Maximo, ſo die Vollkommenheit voraus ſetzet,
noͤthig ſind. Da ferner das Maximum ſtatt hat, ſo
fern die gewaͤhlten, oder die zu der Hauptabſicht noth-
wendigen Regeln einander einſchraͤnken, ſo nennet
man dieſes Einſchraͤnken eine Colliſion der Regeln,
und
[351]Das Volle und das Durchgaͤngige.
und eine macht an der andern eine Ausnahm, wenn
in einerley Theilen der Sache nicht alle zugleich ſtatt
haben koͤnnen, ſo ſehr auch jede fuͤr ſich anwendbar
waͤre. Wenn von den Regeln eine ſich unmittelbar
auf ein Poſtulatum gruͤndet, ſo iſt ſie unbedingt an-
wendbar. Hingegen kann ſie durch andere einge-
ſchraͤnket werden, und in ſo ferne giebt es bereits un-
ter den erſten Grundſaͤtzen ſolche, welche der an ſich
unbedingten Anwendung der Forderungen, wenn
mehrere zuſammen genommen werden, oder der Zu-
ſammenſetzung einfacher Moͤglichkeiten Schranken
ſetzen, (§. 105.).
§. 360.
Man hat ſich daher um deſto weniger zu verwun-
dern, wenn in zuſammengeſetzten Vollkommenheiten
Einſchraͤnkungen vorkommen, weil das Maximum,
ſo dabey ſtatt haben muß, alle Theile und ihre Ver-
haͤltniſſe auf beſtimmte Zahlen ſetzet, und eben da-
durch eigentlich zum Maximo wird, daß die Ver-
groͤßerung und Verbeſſerung der einen Theile die
Vergroͤßerung und Verbeſſerung der andern beſtim-
met und einſchraͤnket, (§. 385.). Zuweilen faͤllt auch
in einer an ſich vollkommenen Sache der Grund von
ſolchen Einſchraͤnkungen nicht ſo leicht in die Augen,
beſonders, wo die Sache mit mehrern andern
in Verbindung ſteht, und eben dadurch beſtimmte
Schranken erhaͤlt. Jn dieſen Faͤllen haben die Aus-
nahmen, die man daran wahrnimmt, den Schein
eines Fehlers oder Mangels. Wir koͤnnen die wirk-
liche Welt zum Beyſpiel nehmen. Jm Ganzen iſt
ſie ein Indiuiduum, welches, weil es exiſtirt, die
Moͤglichkeit zu exiſtiren, fort zu dauern, und folglich
im Beharrungsſtande zu bleiben, nothwendig vor-
aus
[352]XII. Hauptſtuͤck.
aus ſetzet, und daher, im Ganzen betrachtet, das
zum Beharrungsſtande erforderliche Maximum hat,
(§. 350. 358.). Dieſes ſetzet aber jeden einzelnen Thei-
len beſondere und beſtimmte Schranken, ungeachtet
jedes fuͤr ſich betrachtet, mehr Realitaͤt und poſitives
Gutes haben koͤnnte, welches aber wegen der meta-
phyſiſchen, oder zum exiſtiren koͤnnen ſchlechthin noth-
wendigen Vollkommenheit des Ganzen wegbleiben
muß. Da wir aber das Ganze nicht uͤberſehen, ſo
fallen uns auch nur die Schranken der Theile mehr
in die Augen, und dieſe ſind nicht ſelten ſo beſchaffen,
daß ſie bey den Menſchen das Urtheil veranlaſſen, es
koͤnne beſſer ſeyn. Dieſes Urtheil mag in Abſicht
auf einzelne Theile wahr ſeyn, zumal, wo Mittel und
Kraͤfte vorhanden ſind, es wirklich beſſer zu machen.
Wo aber dieſes nicht iſt, da zeiget ſich oͤfters erſt in
den Folgen oder in den damit verbundenen Sachen,
daß das Urtheil uͤbereilet war. Und ſo wird nicht
leicht jemand ſeyn, der nicht von Zeit zu Zeit den
Ausdruck gebraucht haͤtte: Es iſt doch beſſer, daß
es ſo gegangen iſt, oder: Nun wuͤnſchte ich
nicht, daß es anders gegangen waͤre.
§. 361.
Wir merken ferner an, daß die erſte Art der Voll-
kommenheit (§. 354.), welche in der Verflechtung
des Aehnlichen und Verſchiedenen beſteht, wo ſie ſtatt
findet, bald immer am leichteſten wahrgenommen
wird, zumal, wo man das Ganze, der Ausdehnung
und der Dauer nach, uͤberſehen kann. Denn in den
uͤbrigen Faͤllen gebraucht es eine ſorgfaͤltigere Verglei-
chung, und man findet ſie ſpaͤter, wie es z. E. in
Anſehung der Anordnung der Sonnenſyſtemen ergan-
gen, wobey man nun, nachdem das Geſetz der
Schwere
[353]Das Volle und das Durchgaͤngige.
Schwere entdecket iſt, eine ſehr einfache und durch-
gaͤngige Anordnung findet, und etwann auch hoffen
kann, die dabey vorkommenden Maxima zu beſtim-
men. Wo aber, wie es auf der Erdflaͤche geſchieht,
die wirkenden Urſachen zu ſehr durch einander laufen,
da iſt in den Dingen der Natur, die Verflechtung des
Aehnlichen und Verſchiedenen entweder weniger offen-
bar, oder ſie hat gar nicht ſtatt, und zwar aus glei-
chen Gruͤnden, wie wir im vorhergehenden Haupt-
ſtuͤcke geſehen, daß die bloß locale Ordnung oͤfters auch
bey abſolute nothwendigen Geſetzen durchaus wegfaͤllt.
Die Faͤlle, wo wir die in der bloßen Symmetrie be-
ſtehende Vollkommenheit noch am leichteſten wahr-
nehmen, ſind die aͤußerliche Geſtalt und organiſirten
Theile der Menſchen, Thiere, Pflanzen ꝛc. Das all-
gemeine Bild, der Plan oder der ideale Entwurf ih-
rer Geſtalt und Anordnung, wovon aber die Natur,
eben ſo, wie die derſelben nachahmende Bildhauer
und Malerkunſt, immer mehr oder minder abweicht
(§. 357.), ſcheint nach Regeln und Proportionen zu
ſeyn, die eine geometriſche Schaͤrfe haben, und ver-
ſchiedenes davon laͤßt ſich aus bloß mechaniſchen
Gruͤnden, z. E. aus der Natur des Mittelpunctes
der Schwere ꝛc. erweiſen.
§. 362.
Oefters kann auch in den einzelnen Theilen einer
Sache fuͤr ſich ein Maximum ſtatt finden, und daher
bey den Werken der Kunſt aus Gruͤnden beſtimmet
werden. Wir wollen einiger beſondern Beyſpiele Er-
waͤhnung thun. Die Schifffahrt beut uns dergleichen
an. Die Figur des Schiffes ſoll ſo beſchaffen ſeyn,
daß es beym Seegeln und Rudern den geringſten
Widerſtand finde, am geſchwindeſten fortgetrieben
Lamb. Archit.I.B. Zwerden
[354]XII. Hauptſtuͤck.
werden koͤnne, von der aufrechten Lage am wenigſten
weiche ꝛc. Bey den Windmuͤhlen koͤmmt ebenfalls
die Frage vor, die Figur und ſchiefe Lage der Fluͤgel
dergeſtalt zu beſtimmen, daß ſie ſich von dem Winde
am leichteſten umtreiben laſſen. So iſt auch in
der Baukunſt die Frage, aus einem runden Stamme
Holzes einen Balken zu ſchneiden, der die groͤßte
Laſt tragen moͤge. Jn andern Faͤllen richtet ſich
die Sache von ſelbſt nach und nach in Behar-
rungsſtand. So z. E. wenn die Frage iſt, die
Figur einer Pflugſchaar dergeſtalt zu beſtimmen, daß
ſie am leichteſten durchgehe, ſo kann man eine aus-
gebrauchte zum Muſter nehmen, und der neuen eben
die Figur geben. Denn giebt man derſelben eine
andere Figur, ſo reibt ſich das herfuͤrragende in dem
Erdreiche bald ab, weil es den meiſten Widerſtand
findet, und es iſt daher ſo viel, als wenn es nicht
da geweſen waͤre, und folglich haͤtte es gleich anfangs
wegbleiben koͤnnen.
§. 363.
Jn zuſammengeſetzten Faͤllen, wo naͤmlich mehrere
Maxima zugleich muͤſſen erreicht, oder mehrere Mit-
tel und Abſichten zuſammengerichtet werden, geht es
nicht immer ſo leicht an, dieſes am ſchicklichſten zu er-
reichen. Man ſieht leicht, daß dabey das Einfachſte,
das Kuͤrzeſte und das Unmittelbarſte zugleich muß
geſucht werden. Wie man aber jedesmal ſolche Ab-
kuͤrzungen finden koͤnne, dazu gehoͤret ſchon einige
Theorie, und wir haben das Allgemeine davon oben
(§. 16.) unter die Vorzuͤge und Erforderniſſe der wiſ-
ſenſchaftlichen Erkenntniß gerechnet. Wir werden
im Folgenden Anlaͤſſe haben, das, was hievon zur
Grundlehre gehoͤret, umſtaͤndlicher anzubringen, hier
aber nur ſo viel anfuͤhren, als zur fernern Aufklaͤrung
des
[355]Das Volle und das Durchgaͤngige.
des Begriffes der Vollkommenheit noͤthig ſeyn wird.
Wir merken demnach an, daß nicht nur jede Wir-
kung fuͤr ſich ihre Folgen habe, ſondern daß,
wenn zwo oder mehrere mit einander verbun-
den werden, ihre Folgen nicht mehr bloß ein-
fach bleiben, ſondern in der Zuſammenſetzung
noch mehr enthalten, als jedes fuͤr ſich, ſo daß
man oͤfters Muͤhe hat, das Einfache zu finden,
welches jeder Wirkung beſonders zugeſchrie-
ben werden muß. Ferner, daß jede Aenderung,
die in einer Sache gewirket wird, neue Ver-
haͤltniſſe der Sache ſowohl in ihren Theilen als
gegen andere Sachen, nach ſich ziehen, und
folglich bey Zuſammenſetzung der Wirkungen
auch vielfaͤltigere neue Verhaͤltniſſe entſtehen.
Die Folge, die wir hieraus ziehen, iſt, daß wenn
man mehrere Abſichten zugleich zu erhalten ſucht,
eben nicht nothwendig jede fuͤr ſich muͤſſe geſucht, oder
zu jeder beſondere Mittel gebraucht werden. Denn
ſo ofte dieſe Abſichten in der That nur Folgen
von einerley Wirkung ſeyn koͤnnen, ſo hat
man auch nur dieſe aufzuſuchen, um jene zu-
ſammen und am unmittelbarſten zu haben. Die
Frage koͤmmt demnach darauf an, wie ferne man
es den Abſichten, die man zuſammen erhalten
will, anſehen koͤnne, ob ſie durch einerley Mit-
tel erhalten werden koͤnnen? Auf dieſe Frage kann
man nun ungefaͤhr eben ſo antworten, wie man in
der Jntegralrechnung den Satz giebt, daß man ſich
die nach allen Arten verwandelten Differentialformeln
von bekannten Jntegralgroͤßen wohl bekannt machen,
und gleichſam ein Regiſter davon in Vorrath ſammeln
muͤſſe, damit man ſehen koͤnne, ob eine fuͤrgegebene
Differentialgroͤße oder ihre Theile nicht bereits ſchon
Z 2darunter
[356]XII. Hauptſtuͤck.
darunter vorkommen? Denn je beſſer und vollſtaͤndi-
ger man weiß, welche Folgen, Veraͤnderungen und
neue Verhaͤltniſſe jede Art von Mittel und wirkenden
Urſachen nach ſich ziehen; deſto leichter wird es auch,
den Ruͤckweg zu nehmen, und zu fuͤrgegebenen Fol-
gen, Veraͤnderungen und Verhaͤltniſſen die einfachſten
und unmittelbarſten Mittel und Urſachen zu finden.
Jn der Natur, wo alles ohnehin ſchon auf Maxima
gebracht iſt, kommen ſolche Umſtaͤnde haͤufig vor.
So z. E. um alle Planeten und Cometen im Kreis-
laufe zu erhalten, gebraucht es weiter nichts, als daß
ſie durch einen an ſich ſehr einfachen Druck von der
geradelinichten Bewegung abgelenkt werden. Auf
der Erdflaͤche faͤllt es faſt in das Unbegreifliche, zu
wie vielerley Abſichten die Luft, das Waſſer, Me-
talle ꝛc. eingerichtet ſind. Die Wirkungen der Natur
ſind uͤberhaupt ſo unmittelbar, daß es laͤngſt ſchon
zum Spruͤchworte geworden, daß die Natur den kuͤr-
zeſten Weg gehe, und zu jeder Wirkung die geringſte
Kraft gebrauche.
§. 364.
Die Meßkunſt giebt uns in den vielerley Arten,
eine gleiche Aufgabe aufzuloͤſen und zu conſtruiren,
augenſcheinliche Beyſpiele, daß beydes weitlaͤuftiger
oder kuͤrzer wird, je nachdem man es anders angreift,
und dieſer Unterſchied hat Wolfen Anlaß gegeben,
aus der Aufgabe, die einfachſte und netteſte Con-
ſtruction einer Gleichung zu finden, uͤberhaupt die
Aufgabe von der Ausmeſſung der Groͤße der Voll-
kommenheit zu abſtrahiren. Wir werden hier nur
unterſuchen, woher ſolche Unterſchiede in den Aufloͤ-
ſungen und Conſtructionen entſtehen? Zu dieſem En-
de merken wir an, daß die Algeber alles auf die ein-
fachſten Operationen des Addirens, Subtrahirens,
Mul-
[357]Das Volle und das Durchgaͤngige.
Multiplicirens, Dividirens und auf die Ausziehung
der Wurzeln reducirt, weil die Zeichen + ‒ ·: √,
nichts anders bedeuten. Die algebraiſche Aufloͤſung
der Aufgaben giebt demnach an, welche und wie viele
ſolcher Operationen vorzunehmen ſind, wenn das Ge-
ſuchte ſoll gefunden werden. Es iſt fuͤr ſich klar,
daß dieſes ſowohl durch Rechnen als durch die Con-
ſtruction geſchehen kann. Jm Rechnen weiß man,
daß das Addiren und Subtrahiren kuͤrzer iſt als das
Multipliciren und Dividiren, und auch dieſes kuͤrzer
und einfacher als die Ausziehung der Wurzeln, und
man hat aus dieſem Grunde die Logarithmen erfun-
den und eingefuͤhret. Auf dieſe Art zieht man z. E.
den Ausdruck ab + ac in a (b + c) zuſammen, weil
man dadurch eine Multiplication erſpart. Eben ſo
verwandelt man aa ‒ bb in (a + b) · (a ‒ b), weil
dieſes beſonders bey großen Zahlen kuͤrzer iſt, und
weil man bey dieſer Formel die Logarithmen bequemer
gebrauchen kann. Bey den Conſtructionen ſind ſol-
che Abkuͤrzungen noch betraͤchtlicher, aber man muß
aus andern Gruͤnden wiſſen, wie ſie zuſammenzu-
richten ſind. So z. E. wuͤrde man den Ausdruck √
(aa ‒ ab + bb) vermittelſt des Pythagoriſchen Satzes
weitlaͤuftig conſtruiren, wenn man erſt aus ab ein
Quadrat machen, und es von der Summe der Qua-
drate aa + bb abziehen wollte. Weiß man aber,
daß √ (aa ‒ ab + bb) = √ (ba + (a ‒ b) 2) iſt, ſo
wird die Conſtruction kuͤrzer. Am kuͤrzeſten aber
und zugleich am verſtaͤndlichſten wird ſie, wenn man
ſaget, √ (aa ‒ ab + bb) ſey die Seite eines Trian-
gels, deſſen zwo andere Seiten a, b ſind, und einen
Winkel von ſechzig Graden einſchließen. Dieſes
findet ſich, wenn man den fuͤrgegebenen Ausdruck
in √ ((a ‒ ½ b)2 + ¾ b2) verwandelt. Denn b √ ¾ iſt
Z 3die
[358]XII. Hauptſtuͤck.
die Perpendicular eines gleichſeitigen Triangels, deſſen
Seiten = b ſind, oder wenn man aus den trigonometri-
ſchen Formeln weiß, daß √ (aa ‒ 2 ab. coſ. 60° + bb)
= √ (aa ‒ ab + bb) iſt, und die dritte Seite des erſt
bemeldeten Triangels vorſtellet.
§. 365.
Wenn uͤberhaupt mehrere Abſichten durch einerley
Mittel zu erreichen ſeyn ſollen, ſo muͤſſen ſolche Ab-
ſichten entweder an ſich oder wenigſtens in fuͤrgege-
benen Umſtaͤnden einige Verbindung unter einander
haben, es ſey, daß die eine die andere nach ſich ziehe,
oder daß eine ohne die andere nicht erreicht werden
koͤnne. Wo dieſes ſich findet, da hat man nur dar-
auf zu ſehen, wie die eine erhalten werde, und die
andere wird dadurch an ſich ſchon erhalten. Schei-
nen aber die Abſichten von einander unabhaͤngig zu
ſeyn, ohne daß man beweiſen koͤnne, daß ſie es wirk-
lich ſind, oder ob ſie es ſind, ſo kann man allerdings
jede beſonders vornehmen, und die vielerley Mittel,
wodurch ſie erreicht werden kann, aufſuchen und ab-
zaͤhlen. Dadurch kann man ſich, wenn man die
Mittel |fuͤr die eine Abſicht mit den Mitteln fuͤr die
uͤbrigen vergleicht, nothwendig verſichern, ob darunter
ſolche vorkommen, die entweder an ſich ſchon einerley
ſind, oder, mit einander verbunden, einfacher wer-
den, wie z. E. wenn die Abſichten etwas Gemeinſa-
mes haben, ſo daß man eigentlich nur noch auf das zu
ſehen hat, was in jeder beſonderes iſt. So z. E. ſieht
man bey der vorangefuͤhrten Formel √ (aa ‒ ab + bb)
voraus, daß wenn ſie conſtruirt werden ſoll, der Py-
thagoriſche Satz uͤberhaupt betrachtet das kuͤrzeſte
Mittel iſt. Die Frage iſt demnach nur, zu ſehen,
daß er nicht drey bis viermal muͤſſe gebraucht werden.
Auf
[359]Das Volle und das Durchgaͤngige.
Auf eine aͤhnliche Art, wenn eine Uhr Stunden,
Minuten, Tage ꝛc. zeigen und die Stunden ſchlagen
ſoll, ſo wird nicht fuͤr jede dieſer Abſichten ein beſon-
deres Uhrwerk gemacht, ſondern man ſucht es ſo zu-
ſammenzurichten, daß wenn die Uhr eines anzeiget,
es kaum ein oder das andere Rad mehr gebrauche,
um auch das uͤbrige anzuzeigen.
§. 366.
Zuweilen kommen bey ein und eben derſelben Sa-
che mehrere Abſichten vor, die ſchlechthin nicht zugleich
koͤnnen erhalten werden, und wo man folglich einer
jeden mehr oder minder etwas abbrechen muß. Das
oben (§. 356.) von den Fernroͤhren angefuͤhrte Bey-
ſpiel mag auch hier zur Erlaͤuterung dienen. Fol-
gendes iſt einfacher, und kann zugleich wegen der
Berechnung, die dabey auf Gruͤnde gebracht werden
muß, angemerket werden. Man weiß, daß man
Gaͤrten entweder zum Nutzen oder zum Vergnuͤgen
anleget. Beydes beſtimmet dabey die Vertheilung
des Raums in Betten, Gelaͤnder, Gaͤnge und Wege.
Beſonders ſchraͤnkt die Abſicht des Nutzens, wenn
man ſchlechthin nur darauf ſieht, die Breite der
Wege ſo ein, daß ſie breit genug ſind, wenn man
nur durchgehen kann, und folglich giebt man den-
ſelben hoͤchſtens zween Schuhbreite. Hingegen wenn
der Garten zum Vergnuͤgen angelegt wird, da wuͤr-
den ſo ſchmale Wege ein wirklicher Fehler ſeyn, und
man giebt denſelben, damit drey, vier oder fuͤnf Per-
ſonen neben einander darinn ſpatzieren und ſich unter-
reden koͤnnen, eine Breite von acht bis zehen und
mehr Schuhen, doch ſo, daß man dieſes uͤberhaupt
zu der Groͤße und Weitlaͤuftigkeit des Gartens pro-
portionirt. Nun geſchieht es in den meiſten Faͤllen,
Z 4daß
[360]XII. Hauptſtuͤck.
daß man dabey auf Luſt und Nutzen zugleich ſieht.
Man ſetze, des Raums halben koͤnnten die Wege
zehen Schuh breit ſeyn, da ſie hingegen die Abſicht
des Nutzens auf zwey Schuh einſchraͤnkt. Beydes
zugleich kann nun nicht ſeyn, und man ſieht leicht,
daß die Breite der Wege zwiſchen zwey und zehen
Schuhe fallen muͤſſe, wenn man mehr oder minder
auf Luſt und Nutzen zugleich ſehen will. Die Rech-
nung, die hiebey, und in mehr andern dergleichen
Faͤllen gemacht werden kann, iſt nun dieſe. Man
ſetze, die Abſicht des Nutzens verhalte ſich zur Abſicht
des Vergnuͤgens, wie a zu b, ſo daß man (a : b)
mal mehr auf den Nutzen als auf das Vergnuͤgen
ſehe, oder (b : a) mal mehr auf dieſes als auf jenen, ſo
wird die verlangte Breite der Wege x = \frac{2 a + 10 b}{a + b}
ſeyn. Denn ſetzet man, die Anzahl der Wege ſey
= a + b, ſo iſt die Summe von ihren Breiten = 2 a + 10 b.
Dieſes iſt nun eben ſo viel, als wenn man a Wege
2 Fuß breit, und b Wege 10 Fuß breit gemacht, und
dadurch jeder Abſicht und ihrer Erheblichkeit beſonders
Genuͤgen geleiſtet haͤtte. Denn ſieht man z. E. drey-
mal mehr auf den Nutzen als auf das Vergnuͤgen,
ſo begnuͤgt man ſich gegen drey ſchmale oder zwey Fuß
breite Wege mit einem geraumigen oder zehen Fuß
breiten, und die Breite, ſo das Mittel haͤlt, wird
demnach \frac{2 \cdot 3 + 1 \cdot 10}{3 + 1} = \frac{16}{4} = 4 Fuß ſeyn. Hingegen
iſt ſie von acht Fuß, wenn man dreymal mehr auf
das Vergnuͤgen als auf den Nutzen ſieht. Denn ſo iſt
a = 1, b = 3, folglich \frac{2 a + 10 b}{a + b} = \frac{2 \cdot 1 + 3 \cdot 10}{1 + 3} = 8.
Uebrigens giebt die Formel x = (2 a + 10 b) : (a + b)
die Analogie an a : b = (10 ‒ x) : (x ‒ 2), welche
zeiget,
[361]Das Volle und das Durchgaͤngige.
zeiget, daß ſich die Abweichungen von jeder Regel
umgekehrt wie die Erheblichkeit derſelben verhalte,
und folglich jene deſto kleiner ſey, je groͤßer dieſe iſt.
§. 367.
Man hat ſich einige Muͤhe gegeben, von dem Be-
griffe der Vollkommenheit eine Definition zu finden.
Diejenige, die ſich am leichteſten und natuͤrlichſten
darbeut, iſt, daß dasjenige vollkommen ſey, das alles
hat, was es haben ſoll. Nun kommen bey jeder
Vollkommenheit immer Requiſita oder Erforderniſſe
vor, welchen die Sache durchaus Genuͤgen leiſten ſoll.
Jndeſſen unterſcheidet dieſe Erklaͤrung das Vollkom-
mene nicht genug von dem Vollſtaͤndigen, weil ſie
nur auf die Abzaͤhlung der Theile oder erforderlichen
Stuͤcke zu gehen ſcheint, ohne darauf zu ſehen, ob
nicht allenfalls auch eine geringere Anzahl derſelben
zureichend waͤre? Dieſes ſcheint aber der Begriff der
Vollkommenheit eigentlich zu erfordern, und wir ha-
ben vorhin geſehen, daß ſich bey jeder Art der Voll-
kommenheit ein oder mehrere Maxima oder Minima
gedenken laſſen. Dafern man aber dieſes auch mit
unter die Erforderniſſe der Sache rechnet, ſo mag die
erſt angefuͤhrte Erklaͤrung angehen. Wolf hingegen
nennet die Vollkommenheit eine Zuſammenſtimmung
des Mannichfaltigen. Dieſe Erklaͤrung ſcheint ſich,
in Abſicht auf das Mannichfaltige, mehr auf die
erſte von den oben betrachteten Arten der Vollkom-
menheit (§. 353.), naͤmlich auf die Verflechtung des
Aehnlichen und Verſchiedenen, zu beziehen, und das
Maximum, welches dabey vorkommen ſoll, iſt in die-
ſer Erklaͤrung ebenfalls nicht enthalten. Hingegen
bezieht ſie ſich, in Abſicht auf das Zuſammenſtim-
men, mehr auf die oben (§. 355.) betrachtete zweyte
Z 5Art
[362]XII. Hauptſtuͤck.
Art der Vollkommenheit, weil alles, was zu einer
oder mehrern Abſichten in den Mitteln vorkoͤmmt, da-
zu dienen oder darinn zuſammenſtimmen ſoll. Hin-
gegen muͤſſen hiebey die Mittel ſelbſt ehender einfach,
und hingegen die Abſichten, die man dadurch errei-
chen kann, mannichfaltig ſeyn (§. 355. 363. 364.).
Und dabey kommen ſodann Stufen der Vollkom-
menheit und bey jeder fuͤr ſich betrachtet ein Maximum
vor. Man hat daher zwiſchen der Zuſammenſtim-
mung des Mannichfaltigen im Einfachen oder
in einem Ganzen (§. 353.) und zwiſchen der Zu-
ſammen- oder Uebereinſtimmung des Einfa-
chen oder Ganzen im Mannichfaltigen (§. 355.)
allerdings einen Unterſchied zu machen. Dieſer Un-
terſchied beſteht auch nicht bloß darinn, daß die letz-
tere Vollkommenheit zuſammengeſetzet, die erſtere
aber einfach genennet werde, denn beyde Arten koͤn-
nen beydes ſeyn, je nachdem man das Mannichfaltige
einfacher oder zuſammengeſetzter macht. Hingegen
laͤßt ſich aus beyden Arten eine zuſammengeſetzte ge-
denken, wobey naͤmlich das Mannichfaltige im
Mannichfaltigen zuſammenſtimmet. Dieſe fin-
det z. E. ſtatt, wo durch ein Syſtem von Mitteln ein
Syſtem von Abſichten erhalten wird, und noch in hoͤ-
herm Grade, wo bey der durchgaͤngigen Verflechtung
und Anordnung der Mittel und Abſichten ebenfalls
noch eine durchgaͤngige und ſchickliche Verflechtung
des Aehnlichen und Verſchiedenen ſtatt hat, das iſt,
wo die ideale Vollkommenheiten (§. 354.) mit den
realen (§. 355.) zuſammentreffen.
§. 368.
Man betrachtet ferner uͤberhaupt das, was man
vollkommen nennet, als ein Ganzes, es moͤgen nun
ſeine Theile an ſich oder durch das, was wir das
Band
[363]Das Volle und das Durchgaͤngige.
Band der Vollkommenheit nennen koͤnnen, mit
einander verbunden ſeyn. Dieſes Ganze iſt nun,
wenn es vollkommen heißen ſoll, nicht nur ein Gan-
zes, weil die Theile deſſelben zuſammen gehoͤren oder
beyſammen ſind, ſondern weil darinn ſolche Theile
und dergeſtalt mit einander verbunden ſind, daß
mehr oder minder dabey alles verderben wuͤrde,
(§. 352. 355.). Ein ſolches Ganzes iſt der Weltbau,
und die metaphyſiſche Vollkommenheit (§. 358.) ſetzet
ebenfalls ſolche Ganze ſchlechterdings voraus, weil
die Moͤglichkeit zu exiſtiren dabey zum Grunde liegt.
So fern wir nun ſolche Ganze, ſowohl in der Natur
als in der Kunſt uͤberſehen, und jede Theile durch-
gehen koͤnnen, ſo ferne ſind wir auch mehr gewoͤhnt,
uͤber die Stufen ihrer Vollkommenheit zu urtheilen,
und wir thun es beſonders in Abſicht auf die Geſchick-
lichkeit der Menſchen, in Abſicht auf ihre durch Uebung
erlangte Fertigkeiten, und moraliſche Eigenſchaften ꝛc.
und ſo auch bey Lehrgebaͤuden, Entwuͤrfen, Maſchi-
nen, Jnſtrumenten ꝛc.
§. 369.
Jn den Dingen der Natur laͤßt ſich das Maximum,
ſo dabey vorkoͤmmt, nicht immer leicht a poſteriori
beſtimmen, weil man, an ſich betrachtet, bald jede
Groͤße als ein Maximum anſehen oder ſie in ſolche
Verhaͤltniſſe bringen kann, daß ſie bey einem Maximo
oder Minimo vorkomme. Wir wollen dieſes durch
ein Beyſpiel aus der Meßkunſt erlaͤutern. Man weiß,
daß die Gleichung x3 ‒ aab = 0 die eine von den zwo
mittlern Proportionalgroͤßen zwiſchen a und b vorſtellet.
Wir wollen dieſe Gleichung ſo verwandeln, daß ſie in
irgend einer einfachen Figur bey einem Maximo oder
Minimo vorkomme. Man multiplicire ſie demnach,
um
[364]XII. Hauptſtuͤck.
um eine Gleichung vom vierten Grade zu haben,
mit x + b, ſo hat man x4 + bx3 ‒ a2bx ‒ a2b2 = 0.
Dieſe theile man durch x3, ſo iſt x + b - \frac{aab}{xx} - \frac{a^2b^2}{x^3} = 0.
Wird dieſe Gleichung nun mit 2 dx multiplicirt, ſo
hat man
2xdx + 2bdx - \frac{2aabdx}{x^2} - \frac{2a^2b^2dx}{x^3} = 0 = 2ydy
Und hieraus vermittelſt der Jntegration.
xx + 2 bx + A + \frac{2aab}{x} + \frac{a^2b^2}{x^2} = y^2.
Hier wird nun A als eine willkuͤhrliche beſtaͤndige
Groͤße ſo beſtimmet, daß zwey Quadrate heraus-
kommen. Demnach ſetze man
x^2 + 2bx + b^2 + a^2 + \frac{2a^2b}{x} + \frac{a^2b^2}{x^2} = y^2
folglich
(x + b)^2 + (a + \frac{ab}{x})^2 = y^2
Hier iſt nun y ein Minimum und zugleich die Hypo-
thenuſe eines rechtwinklichten Triangels, deſſen bey-
den winkelrechte Seiten (x + b) und (a + \frac{ab}{x}) ſind,
und in welchem das Rectangel ab die Hypothenuſe
beruͤhrt. Und y kann nicht ein Minimum ſeyn, es
ſey denn x3 ‒ aab = 0. Nimmt man dieſes an, ſo
hat die Figur noch mehrere ſehr nette Eigenſchaften,
die wir aber hier nicht anfuͤhren werden. Das Will-
kuͤhrliche bey dieſer Art zu verfahren, zeiget, daß
man jede Groͤße auf unzaͤhlige Arten bey einem Ma-
ximo oder Minimo finden koͤnne, und daß daher, wo
irgend ein Maximum oder Minimum vorkoͤmmt, im-
mer aus andern Gruͤnden beſtimmet werden muͤſſe,
ob
[365]Das Volle und das Durchgaͤngige.
ob es eine Hauptabſicht ſey oder nicht? Man ſetze
z. E. das Licht falle auf eine Spiegelflaͤche ſchief an,
ſo faͤllt es unter gleichem Winkel von derſelben zuruͤck.
Nun kann man zeigen, daß, wenn es von einem fuͤr-
gegebenen Puncte gegen einen andern fuͤrgegebenen
Punct reflectirt wird, es den kuͤrzeſten Weg nehme, und
eben ſo auch die kuͤrzeſte Zeit gebrauche. Man kann
aber eben nicht ſagen, daß dieſes eine Hauptabſicht da-
bey geweſen ſey, und daß eben deswegen der Reflexions-
winkel dem Einfallswinkel gleich ſeyn muͤſſe. Denn
macht man dieſe Winkel ungleich, ſo muß man auch die
Geſchwindigkeit ungleich ſetzen, und da laſſen ſich wie-
derum kuͤrzeſte Zeiten gedenken, wenn man die Verhaͤlt-
niſſe der Winkel und der Geſchwindigkeit darnach ein-
richtet. Der Weg iſt ſchlechthin am kuͤrzeſten, wenn die
Winkel gleich ſind, und da muß auch die Geſchwindig-
keit gleich ſeyn, und zwar weil die Winkel gleich ſind.
Macht man aber die Geſchwindigkeit vor und nach
dem Auffallen ungleich, ſo wird die Zeit am kuͤrze-
ſten, wenn die Secanten der Winkel mit den Ge-
ſchwindigkeiten multiplicirt, gleich ſind. Dabey aber
koͤmmt der kuͤrzeſte Weg nicht vor, und es iſt uͤber-
haupt die Frage, ob eine ſolche Verhaͤltniß der Ge-
ſchwindigkeit und der Winkel durch einen einfachen
Mechaniſmus, in Abſicht auf die Lichtſtralen, moͤglich
gemacht werden koͤnne, wie es z. E. bey nicht voll-
kommen elaſtiſchen Koͤrpern ſtatt findet? Denn wo
dieſes nicht iſt, da hat der kuͤrzeſte Weg oder die kuͤr-
zeſte Zeit nicht wegen einer Auswahl, ſondern ſchlecht-
hin und ohne Ruͤckſicht auf die Laͤnge oder Kuͤrze ſtatt.
Dieſes will nun ſo viel ſagen, daß wo nicht etwann
nur ein geometriſches, ſondern ein phyſiſches Maxi-
mum oder Minimum in der Natur ſtatt finden ſoll,
die uͤbrigen Faͤlle, wobey es nicht ſtatt haben wuͤrde,
eben-
[366]XII. Hauptſtuͤck.
ebenfalls phyſiſch moͤglich, und das Maximum oder
Minimum aus Gruͤnden oder Abſichten gewaͤhlet ſeyn
muͤſſe. Jn dieſer Abſicht wird man die Maxima und
Minima, die bey der metaphyſiſchen Vollkommenheit
der Dinge (§. 358.) vorkommen, als nothwendig gel-
ten laſſen. Bey den uͤbrigen, die in der Natur vor-
kommen, iſt die Frage, ob und wie ferne ſie auch
haͤtten nicht ſeyn koͤnnen, in beſondern Faͤllen ſchwerer
zu entſcheiden, und wenn ſie auch haͤtten nicht ſeyn
koͤnnen, ſo laͤßt ſich doch nicht immer ſo gleich ſagen,
das Maximum ſey die Hauptabſicht geweſen. Denn
ſo z. E. ſind verſchiedene Samen von Pflanzen von
ſphaͤriſcher Figur. Man weiß, daß dieſe bey glei-
chem Raume die kleinſte Flaͤche, oder bey gleicher
Flaͤche den groͤßten Raum hat. Man kann aber
allerdings dieſes Maximum oder Minimum nicht ſo
ſchlechthin als die Hauptabſicht dabey angeben. Bey
den Werken der Kunſt, wobey wir uns aus Gruͤnden
ſolche Maxima oder Minima vorſetzen, wie in den
vorhin (§. 362.) angefuͤhrten Beyſpielen, wird dieſe
Frage ehender entſchieden, weil wir uns, wenn wir
anders mit Wiſſen verfahren, kein Maximum oder
Minimum vorſetzen, als nur, wo die Sache in der
That auch nicht ein ſolches ſeyn koͤnnte.
§. 370.
Das Wort vollkommen bedeutet oͤfters eben ſo
viel, als vollſtaͤndig, und in dieſem Verſtande
koͤmmt es mehrentheils bey Dingen vor, die nicht
ſtufenweiſe fortgehen, ſondern nach ganzen Zahlen.
So haben wir es oben (§. 341.) bey der Betrachtung
der Anordnung einer Bibliothek gebraucht, daß man
naͤmlich ſelten allen Abſichten, die man dabey haben
kann, zugleich vollkommen Genuͤgen leiſten koͤnne.
Das
[367]Das Volle und das Durchgaͤngige.
Das will nun ſagen, daß jedes Buch ſeinem Jnhalte,
Format, Band, Sprache, Alter ꝛc. nach eine und
eben dieſelbe Stelle finde. Hier koͤnnen nun die Aus-
nahmen nicht ſo gemacht werden, daß man jeder
etwas abbricht, wie in den vorhin (§. 366.) angefuͤhr-
ten Beyſpielen, ſondern wenn nicht alle zugleich er-
halten werden koͤnnen, ſo werden einige ganz aus der
Acht gelaſſen, und die erheblichere oder auch die mei-
ſten erhalten. Man ſieht leicht, daß hier die Groͤße
und Summe der Ausnahmen von jeder Abſicht nach
ganzen Zahlen geſchaͤtzet werden muͤſſe.
§. 371.
Wir koͤnnen endlich noch den Unterſchied bemerken,
der ſich zwiſchen der Summe einzelner einfacher
Vollkommenheiten und zwiſchen einer wirklich zu-
ſammengeſetzten Vollkommenheit befindet. Er-
ſtere hat ſtatt, wenn jede Abſicht durch beſondere Mit-
tel und fuͤr ſich erhalten wird, letztere aber, wenn eben
die Mittel zu jeden zugleich dienen. Der Unterſchied
hiebey koͤmmt auf das Addiren und das Multipliciren
an, und dieſes hat in Abſicht auf die Berechnung der
Groͤße der Vollkommenheit ſeine Folgen. Ein Jn-
ſtrument, womit man z. E. in der practiſchen Geo-
metrie zugleich Parallel, Perpendicularlinien, und
uͤber dieß noch Linien unter jeden fuͤrgegebenen Win-
keln ziehen kann, iſt allerdings vollkommener, als
wo zu jeden ein beſonder Jnſtrument erfordert wird.
Das einfachſte zu dieſen Abſichten wird ein gleich-
ſchenklichter rechtwinklichter Triangel ſeyn, deſſen bey-
de Schenkel nach den Tangenten in fuͤnf und vierzig
Grade getheilet ſind.
Zuſatz
[368]
Zuſatz
zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
I.
Es wird nach den erſt vorgetragenen Betrachtun-
gen uͤber die Vollkommenheit nicht undien-
lich ſeyn, den Begriff der Schoͤnheit noch beſonders
vorzunehmen, um nicht ſo ſchlechthin bey dem weni-
gen, was im §. 354. davon geſaget worden, ſtehen zu
bleiben. Es laͤßt ſich zwar viel von dem, was uͤber
die Ordnung und Vollkommenheit im vorherge-
henden geſaget worden, auf die Schoͤnheit anwen-
den, indeſſen aber wird die Sache dadurch nicht er-
ſchoͤpfet, und uͤber dieß beut ſowohl der Begriff, als
das Wort Schoͤnheit verſchiedenes an, das beſonders
zu bemerken iſt. Und dieſes werde ich in gegenwaͤr-
tigem Zuſatze noch nachholen, ſo fern es naͤmlich in
der hier erforderlichen Kuͤrze und Allgemeinheit ge-
ſchehen kann.
II.
Hiebey iſt nun nicht leicht zu eroͤrtern, ob man
bey dem Worte, oder bey dem Begriffe, oder bey
der Sache, oder bey der Empfindung des Schoͤ-
nen anfangen ſoll. Jch werde alſo den Anfang
bey dieſer ſich gleich darbiethenden Schwierigkeit ma-
chen, und daher Wort, Begriff, Sache und Em-
pfindung gegen einander halten, um zu ſehen, wie
ſich jedes dieſer Stuͤcke theils hervordraͤngt, theils zu-
ruͤcke bleibt. Wir gebrauchen das Wort Schoͤnheit
uͤberhaupt mehr bey den Gegenſtaͤnden des Auges
und
[369]Zuſatz zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
und des Gehoͤrs, als bey denen von andern Sinnen.
Seinem urſpruͤnglichen Gebrauche nach ſcheint es auf
die Gegenſtaͤnde des Auges zu gehen. Es wurde
aber nachgehends auf die Muſic, als ein Object des
Gehoͤrs, und ſodann auch auf die Gegenſtaͤnde der
Einbildungskraft, auf Vorſtellungen, und endlich
auch auf Objecte des Verſtandes ausgedehnet.
III.
Es giebt ferner Faͤlle, wo man ſtatt des Wortes
ſchoͤn die Woͤrter angenehm, lieblich, reizend,
entzuͤckend ꝛc. gebraucht, ohne daß dieſe Woͤrter im-
mer als Synonyma, oder als modificirte Ausdruͤcke
des ſchoͤnen angeſehen werden koͤnnen, es ſey, daß
der Sprachgebrauch es hindert, oder daß in der Sa-
che ſelbſt ein Unterſchied iſt. So viel iſt klar, daß
die Woͤrter angenehm, lieblich, reizend, entzuͤ-
ckend ꝛc. ſich mehr auf die Empfindung, als auf die
Sache beziehen, da hingegen das Wort ſchoͤn auf
die Sache ſelbſt geht, wiewohl es immer auch eine
Beziehung auf ein denkendes Weſen hat, welches
das, was ſchoͤn iſt, als ſchoͤn denket. Das Schoͤne
kann empfunden werden, es will aber meiſtens auch
als ſchoͤn gedacht ſeyn, und in ſo fern koͤmmt etwas
theoretiſches, eine Art von Betrachtung mit da-
bey vor.
IV.
Mit der Etymologie reichet man hier nicht weit.
Das Wort ſchoͤn wird vom ſchonen hergeleitet,
und es ſoll deswegen daher kommen, weil das, was
ſchoͤn iſt, Schonung fordert, und ſo bleiben ſoll, wie
es iſt.
V.
Jn der Sprache findet ſich auch beſonders nur
das Wort Gefallen, welches bey dem Schoͤnen,
Lamb. Archit.I.B. A aals
[370]Zuſatz zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
als eine Worterklaͤrung allenfalls dienen kann, und
bereits gebraucht worden iſt. Daher das Pulchrum
eſt quod placet in mehrern Metaphyſiken als eine Er-
klaͤrung des Schoͤnen vorkoͤmmt.
VI.
Dieſes iſt nun, was ich in Anſehung des Wor-
tes Schoͤn oder Schoͤnheit habe finden koͤnnen.
Jch werde nun die Sache ſelbſt vornehmen, und da
wird wohl am beſten ſeyn, wenn wir ſogleich das
Schoͤne in einige Claſſen vertheilen. Wenigſtens
vermeiden wir dadurch den Fehler, daß wir nicht von
der Schoͤnheit uͤberhaupt Ausdruͤcke gebrauchen, die
eigentlich nur bey der einen oder der andern Art von
Schoͤnheit anwendbar ſind.
VII.
Die erſte dieſer Claſſen begreift diejenigen Schoͤn-
heiten, die einfach und damit homogen ſind. Von
dieſen werde ich ſagen, daß ſie ſchlechthin nur muͤſſen
empfunden werden. Denn ſie ſind eben daher,
daß ſie einfach ſind, keiner Zergliederung faͤhig. Hie-
bey verdienet nun angemerket zu werden, daß dieje-
nigen, die die Schoͤnheit uͤberhaupt zergliedern wol-
len, ihres Zweckes leicht verfehlen. Denn ſieht man
die Schoͤnheit uͤberhaupt, als ein Abſtractum, oder
eine Gattung an, ſo enthaͤlt der Begriff davon weni-
ger, als die Arten und einzeln Schoͤnheiten. Er
kann alſo nicht mehr, als der Begriff einer einfachen
Schoͤnheit enthalten. Und ſo iſt man mit dem Zer-
gliedern deſſelben bald fertig, dafern man nicht auf
aͤußere Verhaͤltniſſe verfallen will.
VIII.
Unter die einfachen Schoͤnheiten koͤnnen wir, als
Arten und Beyſpiele die prismatiſchen Farben rech-
nen.
[371]Zuſatz zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
nen. Und da iſt mir weiter niemand bekannt, der
ſie nicht auf eine eminente Art ſchoͤn gefunden haͤtte.
IX.
So fern nun die einfachen Schoͤnheiten empfun-
den werden muͤſſen, kann man ſie als Phaenomena
anſehen, wobey eine wirkliche Realitaͤt zum Grunde
liegt. Jſt dieſe Realitaͤt ſelbſt auch einfach, ſo ge-
hoͤret ſie zufolge des oben (§. 358.) angemerkten mit
zu der Grundlage jeder Vollkommenheiten. Jſt aber
dieſe Realitaͤt zuſammen geſetzt, und ſie ſtellet ſich un-
ſerer Empfindung, als eine einfache Schoͤnheit vor,
ſo machet ſie ein in der Natur ſelbſt verbundenes
Ganzes aus, welches wir, daſern wir ſelbſt durch die
Kraͤfte des Verſtandes keine Theile darinn unterſchei-
den koͤnnen, als ein bleibendes Ganzes anſehen muͤſ-
ſen. Und in ſo fern iſt es fuͤr uns eben ſo viel, als
wenn ſie einfach waͤre. Je einfacher das Schoͤne als
Phaͤnomenon betrachtet ſich unſern Empfindungen
darſtellet, deſto ſicherer koͤnnen wir auf eine zum
Grunde liegende Realitaͤt ſchließen, die eine in ihrer
Art abſolute Vollkommenheit hat.
X.
Die zweyte Claſſe der Schoͤnheiten begreift die
Zuſammengeſetzten, ſo fern ſie naͤmlich Objectiv,
oder in den Dingen ſelbſt ſind. Daß die Beſtand-
theile einfache Schoͤnheiten ſeyn muͤſſen, iſt fuͤr ſich
klar. Dieſe machen aber die Schoͤnheit noch nicht
zuſammengeſetzt, dafern nicht eine Verbindung
und Anordnung mit hinzu koͤmmt. Hierinn und
in den dabey mit vorkommenden Verhaͤltniſſen muß
das Zuſammengeſetzte der Schoͤnheit geſuchet wer-
den. Die Verhaͤltniſſe ſelbſt muͤſſen ebenfalls eine
ihnen eigene Art von Schoͤnheit haben, und dieſe rich-
tet ſich ſehr nach dem Grade ihrer Einfachheit. Die
Symmetrie in der Baukunſt, die Verhaͤltniſſe der
A a 2Theile
[372]Zuſatz zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
Theile und ihrer Stellung bey Saͤulen und ganzen
Gebaͤuden, die Trias harmonica in der Tonkunſt ꝛc.
ſind in dieſer Abſicht bekannt, und bereits auf Gruͤn-
de gebracht.
XI.
Das Heßliche, welches dem Schoͤnen entgegen-
geſetzt wird, koͤmmt ſchlechthin nur im Zuſammen-
geſetzten vor, und beſteht da entweder im Mangel er-
forderlicher Theile, oder in uͤbel gewaͤhlten Verhaͤlt-
niſſen, oder in Beymengung von Theilen, die zur
Sache nicht gehoͤren, oder im Ueberladen, wo zu viel
angebracht iſt.
XII.
Die erſt benenneten zwo Claſſen der Schoͤnheiten
ſind objectiv, und werden mehr in Abſicht auf die
Sachen ſelbſt, als in Abſicht auf die Empfindung und
das denkende Weſen betrachtet. Es giebt nun noch
eine dritte Claſſe, welche mehr relativ iſt. Ein Dich-
ter z. E. malet mit Worten, wodurch er die Vorſtel-
lung der Sachen erwecket, wenn man ſie nicht vor
ſich, und ſelbſt auch nie geſehen hat. Hiebey muͤſſen
die Worte der Sache ſelbſt, und dem Grade ihrer
Wuͤrde angemeſſen ſeyn, und dieſes mag das Ver-
haͤltniß der Worte zur Sache heißen. Sie muͤſ-
ſen, ſo wie die ganze Ausdruͤcke, Redensarten und der
ganze Zuſammenhang und Ordnung des Vortrages
ſo beſchaffen ſeyn, daß die dadurch zu erweckende
Vorſtellung der Sache eben ſo erhalten werde, als
wenn ſie durch die Sache ſelbſt erreget wuͤrde. Die-
ſes machet die Beſchreibung zum Gemaͤhlde, und
giebt derſelben diejenige Schoͤnheit, die den dichteri-
ſchen Gemaͤhlden eigen iſt. Die Beſtimmung, was
der Dichter ins Licht ſetzte, und was er gleichſam im
Schatten oder im Dunkeln laſſen ſoll, gehoͤret mit
unter die weſentlichen Erforderniſſe.
XIII. Die
[373]Zuſatz zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
XIII.
Die vierte Claſſe von Schoͤnheit koͤmmt bey der
Nachahmung, und daher beſonders bey Malern
und Bildhauern vor, und iſt ebenfalls relativ. Er-
ſtere wollen durch Gemaͤhlde, letztere durch Bilder
eben die Empfindung erregen, die die Sache ſelbſt
machen wuͤrde. Wenn man ſie vor ſich haͤtte. Der
Unterſchied iſt, daß der Maler nur einen Geſichts-
punct fuͤr ſeine ganze Vorſtellung hat, und nur da,
wo er Perſonen malet, einer jeden ihren eigenen Ge-
ſichtspunct giebt, dahingegen der Bildhauer ſein Bild,
dafern es nicht halberhobene Arbeit iſt, nach unzaͤh-
ligen Geſichtspuncten darzuſtellen hat. Jn Anſehung
beyder hat man die Schoͤnheit der Sache von der
Schoͤnheit der Abbildung zu unterſcheiden, weil
eine an ſich heßliche Sache ſchoͤn, das will ſagen ge-
nau, natuͤrlich, nach dem Leben ꝛc. abgebildet
werden kann. Uebrigens muß der Kuͤnſtler in dieſen
Faͤllen immer beſondere Gruͤnde haben, warum er heß-
liche Gegenſtaͤnde waͤhlet, weil ein ſchoͤner Gegenſtand
ſchoͤn abgebildet immer doppelt ſchoͤner iſt.
XIV.
Noch eine Claſſe, die ebenfalls zur Nachah-
mung gehoͤret, iſt die theatraliſche Nachahmung der
Reden, Geberden, Stellungen und Handlungen.
Dieſes heißt Nachahmung im ſtrengſten Verſtande.
Daß nicht alles auf dem Theater nachgeahmet werden
muͤſſe, iſt fuͤr ſich klar, und eine Regel, ſowohl fuͤr den
Dichter, als fuͤr den Schauſpieler. Die Vorſtellung
ſoll weder anſtoͤßig ſeyn noch jemand beleidigen, dem-
nach nur ſo fern natuͤrlich, als ſie unterrichtend iſt.
Das allzu Natuͤrliche bleibt demnach weg.
XV.
Die Actio oratoris ſoll ebenfalls etwas theatrali-
ſches haben, und in ſo ferne nachahmend ſeyn.
A a 3Jch
[374]Zuſatz zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
Jch daͤchte aber ſie ſoll ganz Natur ſeyn, und ſie
wird es ſeyn, wenn es dem Redner Ernſt iſt. Als-
dann koͤmmt die einige Bedingung hinzu, daß ein ge-
wiſſer Wohlſtand dem Redner von Natur oder durch
die Erziehung, Uebung und Gewohnheit eigen ſey.
XVI.
Die Schoͤnheit in den Handlungen kann noch eine
Claſſe abgeben, dafern man ſie nicht eben ſo, wie die
Schoͤnheit der Sachen ſelbſt betrachten will, weil ſie
ebenfalls als objectiv angeſehen werden kann. Ein
gewiſſer Anſtand und ungezwungenes Weſen gereicht
den Handlungen uͤberhaupt zur Zierde. So fern ſie
aber in Anſehung ihrer Auswahl, Anordnung und Ab-
ſicht betrachtet werden, iſt ihre Schoͤnheit vornehmlich
als moraliſche Schoͤnheit zu unterſuchen.
XVII.
Dieſes iſt nun, was bey Unterſuchung des Schoͤ-
nen, die Betrachtung der Sache ſelbſt, uͤberhaupt
darbeut. Noch bleibt die Schoͤnheit von Seiten der
Empfindung zu betrachten, ſo fern man naͤmlich
dieſe Empfindung Geſchmack nennet, und denſelben
gleichſam, als den eigentlichen Schiedsrichter uͤber das
Schoͤne und Heßliche anſieht. Die Frage hiebey
iſt nun beſonders dieſe, wie fern man die Beurthei-
lung deſſen, was ſchoͤn oder heßlich iſt, auf die Em-
pfindung koͤnne ankommen laſſen? Da heißt es
freylich: de guſtibus non eſt diſputandum. Der eine
liebt das Suͤße, der andere das Bittere, ein dritter
das Geſalzene, einem vierten iſt auch das Schmack-
loſe ganz gut, ein fuͤnfter will lauter gewuͤrzte Sachen
haben ꝛc. Die Empfindungen richten ſich ſehr nach
der Conſtitution eines jeden einzelnen Menſchen. Von
einem Blinden kann man nicht fordern, daß er dieſe
oder jene Farbe ſchoͤn finden ſoll. Er wuͤrde ſie mit
dem
[375]Zuſatz zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
dem Klange einer Trommel oder einer Laute vergleichen.
Die Augen der Sehenden moͤgen ſich auch ſtufenweiſe
der Blindheit naͤhern, wenn ſich gleich keiner will
uͤberweiſen laſſen, daß andere beſſer ſehen. Es bleibt
uͤbrigens in der That auch viel Willkuͤhrliches dabey,
woruͤber es ganz unnoͤthig iſt, ſich zu zanken.
XVIII.
Um aber die Sache ſelbſt vorzunehmen, ſo wieder-
hole ich aus dem vorhergehenden, daß die einfachen
Schoͤnheiten ſchlechthin muͤſſen empfunden werden,
(VII.). Dabey muß man nun vorausſetzen, die menſch-
liche Natur ſey nicht ſo ſehr abgeartet, daß man nicht
durch die Mehrheit der Stimmen ſollte entſcheiden
koͤnnen, ob z. E. die prismatiſchen Farben, oder die
Conſonantien in der Muſic auf eine eminente Art
ſchoͤn ſind. Man wuͤrde eben ſo jeden fuͤr verruͤckt an-
ſehen, der nicht im Wahren, ſondern im Jrrigen
eine in ihrer Art einfache und abſolute Schoͤnheit fin-
den wollte.
XIX.
Mit den zuſammengeſetzten Schoͤnheiten hat es
eine andere Bewandniß. Sie ſind einer Zergliede-
rung faͤhig, und in ſo fern von den Empfindungen
nicht ſo ſchlechterdings abhaͤngig, wie die Einfachen.
Sie ſind eben daher einer Theorie faͤhig, und dem-
nach ein Object des Verſtandes. Der Verſtand durch
die Theorie geleitet, iſt demnach der eigentliche Rich-
ter. Jch werde alſo noch angeben, was zur Theorie
erfordert wird.
XX.
Da bey zuſammengeſetzten Schoͤnheiten, die Sache
eigentlich auf die Anordnung und Verhaͤltniſſe an-
koͤmmt, ſo ſind in der Theorie uͤberhaupt die einfach-
ſten Verhaͤltniſſe feſte zu ſetzen, und uͤberdieß muß be-
ſtimmet
[376]Zuſatz zum zwoͤlften Hauptſtuͤcke.
ſtimmet werden, wie ſie ſich combiniren laſſen, und
was durch jede Combination erhalten wird. Bey den
nachahmenden Kuͤnſten, koͤmmt es auf die Beſtim-
mung der in der Natur vorkommenden Verhaͤltniſſe an.
Und da die Natur wegen der vielen durch einander
laufenden Urſachen, von ihren eigentlichen Verhaͤlt-
niſſen immer mehr oder minder abweicht, ſo muß,
wie es die Maler in Abſicht auf die Verhaͤltniſſe der
menſchlichen Bildung gethan, aus mehrern Beobach-
tungen das Mittel genommen werden, weil dadurch
die Abweichungen im zu vielen und zu wenigen ſich
gegen einander aufheben.
XXI.
So fern nun die Anordnung und die Verhaͤltniſſe
auf Zahl und Maaß ankommen, und ſo fern Grade
oder Stufen dabey zu beſtimmen ſind; ſo fern gehoͤ-
ret die Theorie ins Gebieth der Mathematik, und ſo
fern bleibt ſie noch dermalen uͤberhaupt ſehr zuruͤcke.
Die Baukunſt, etwas von der Tonkunſt und die Per-
ſpective ſind faſt noch das einige, was wir in der Ma-
thematik davon haben. Es hat aber beſonders in
Abſicht auf die Perſpective den Erfolg, daß was
nach den Regeln der Perſpective gezeichnet iſt, noth-
wendig gut und richtig iſt, und auf das Urtheil des
Geſchmackes gar nicht ankoͤmmt. So unabhaͤngig
ſollte aber die Theorie zuſammengeſetzter Schoͤnheiten
durchaus ſeyn, und dann wuͤrde alles Gezaͤnke weg-
fallen. Dieſes wird aber freylich nicht ſobald durch-
aus geſchehen. Es wird aber inzwiſchen immer gut
ſeyn, wenn man wenigſtens einzele Theile ſo weit
wird bringen koͤnnen.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß. Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn8w.0