Die wir dem Schatten Weſen ſonſt verliehen,
Seh'n Weſen jetzt als Schatten ſich verziehen.
An einem Novemberabend bekam ich, (der Leut¬
nant der Reſerve liegt als längſt abgethan
bei den Papieren des deutſchen Heerbannes) Ober¬
regierungsrath Dr. jur. K. Krumhardt, unter meinen
übrigen Poſtſachen folgenden Brief in einer ſchönen
feſten Handſchrift, von der man es kaum für möglich
halten ſollte, daß ſie einem Weibe zugehöre.
„Lieber Karl!
Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er iſt
nun todt, und wir haben Beide unſeren Willen be¬
kommen. Er iſt allein geblieben bis zuletzt, mit ſich
ſelber allein. Daß ich mich als ſeine Erbnehmerin
aufgeworfen habe, kann er freilich nicht hindern;
das liegt in meinem Willen, und aus dem heraus
ſchreibe ich Dir heute und gebe Dir die Nachricht
von ſeinem Tode und ſeinem Begräbniß. Dieſer
Brief gehört, meines Erachtens, zu der in ſeinen
Angelegenheiten (wie lächerlich dieſes Wort hier
klingt!) noch nöthigen Korreſpondenz. Seinen Ton
entſchuldige. Es klingt hohl in dem Raume, in
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 1[2] welchem ich ſchreibe: Er hat die Leere um ſich
gelaſſen, und wie ein Kind nenne ich Dich, Karl,
noch einmal Du und bei Deinem Taufnamen, es
ſoll kein Griff in die Zukunft ſein; es iſt nichts
als ein augenblickliches letztes Anklammern an
etwas, was vor langen Jahren ſchön, luſtig,
freudenvoll und hoffnungsreich geweſen iſt. Auch
Deine liebe Gattin wird den Ton verzeihen, wenn
ſie auch gottlob nichts weiß von der Angſt, die
wir Weiber haben können in einem ſo leeren
Raume. Ihre Angſt im Dunkeln wird ſie ja
wohl auch ſchon gehabt haben in ihrem Leben.
Helene Trotzendorff als ein ſich fürchtendes
Kind? — Nein, doch nicht! — So iſt es nicht! —
Die wilde Thörin möchte ſich nur entſchuldigen,
daß ſie Euch ruhigen Seelen durch ihre Nachricht
den bürgerlichen und häuslichen Frieden ſtört.
Von jetzt an, lieber Karl, gedenke meiner als einer
mit dem Freunde zu den Todten Gegangenen; ich
wollte, ich könnte ſagen: in den Frieden.
Euer Freund Leon war ſehr aufmerkſam, doch
Eure Frau Fechtmeiſterin hat mir das Recht zu¬
erkannt, das Begräbniß zu beſorgen. Er, der
Herr Kommerzienrath des Beaux, thut mir nur die
nöthigen Wege. Nun bin ich allein mit dem Freunde
und freue mich über ihn und könnte ihm wieder
[3] wie unter den Holunderbüſchen zwiſchen den Buchs¬
baumeinfaſſungen der Aurikelbeete, unſeren Kind¬
heitsgärten, oder auf unſeren Bergen und Wald¬
wieſen in den Haarbuſch greifen und ihn Schelm
nennen oder einen ſchlechten Menſchen. Verdient
hätte er das heute, wie vor Jahren. Er hatte in
ſeinem Frieden noch denſelben Zug um Naſe und
Mund wie vor Jahren, wenn er mich zu Thränen
vor Ärger und Erboßung, und Dich, guter, alter
Jugendkamerad, zu einem Citat aus einem deutſchen
oder lateiniſchen Klaſſiker gebracht hatte.
Die Frau Fechtmeiſterin hat das große ſchlaue
Kind wahrhaftig wie ein kleinſtes, dummſtes, hilf¬
loſeſtes Kind beſorgt und zu Tode gepflegt. Sie
iſt jetzt nahe an die neunzig Jahre alt und ſagt:
‚Daß ich das noch thun mußte, hat mich das ganze
letzte halbe Jahr durch auf den Beinen erhalten;
ich hatte es ihm ja aber auch ſo verſprochen, wenn
ich auch niemals geglaubt habe, daß mal ein Ernſt
aus ſeinem Spaß werden könne.‛ Sie konnte es
nicht wiſſen, daß er immer Ernſt aus dem Spaße
machte! —
Wenn wir nun zuſammenſäßen, ſo könnte ich
Dir noch vieles ſagen. Zu ſchreiben weiß ich nichts
mehr; ich bin auch ſehr müde.
[4]
Mit den beſten Wünſchen für Dich und Dein
Haus
Helene Trotzendorff, Widow Mungo.“
„Was hältſt Du ſo den Kopf mit beiden Hän¬
den?“ fragte mich recht ſpät am Abend meine Frau,
nachdem die Kinder längſt gekommen waren, um mir
eine gute Nacht zu wünſchen. „Haſt Du heute wieder
mal kein Stündchen Zeit für uns übrig gehabt, armes
Männchen? Großer Gott, dieſe Berge von Akten!
Was haben wir denn eigentlich noch von Dir?“
Sie lehnte ſich bei dieſen Worten über meine
Stuhllehne und legte mir ihre kühle Hand auf die
Stirn.
„Die böſen Akten ſind es diesmal nicht, mein
armes Weibchen. Es iſt etwas viel Grimmigeres.
Was erſchrickſt Du denn? Dich und Deine Kinder
geht es nur recht mittelbar was an.“
Ich gab ihr den Brief der Wittwe Mungo, der
mich in dieſer Nacht über die gewohnte Zeit hinaus
von dem allabendlichen Plauderſtündchen im Wohn¬
zimmer ferngehalten hatte, und Anna nahm ihn,
wenn nicht erſchreckt, ſo doch ſehr verwundert und ge¬
ſpannt, und ſah natürlich zuerſt nach der Unterſchrift.
„Von Helene Trotzendorff?“
„Von der Wittwe Mungo.“
Die Pfeife war mir längſt ausgegangen; ich ſtand
auf, um ſie mechaniſch wieder anzuzünden, und ging
nun in meiner Arbeitsſtube auf und ab, während
Anna an meinem Schreibtiſche, in meinem Arbeits¬
ſtuhl Platz nahm und zwiſchen den freilich berghohen,
ihr ſo ärgerlichen Aktenhaufen das liebe Geſicht über
den unheimlich wunderlichen Brief aus Berlin beugte,
um es ſofort, jetzt doch im höchſten Grade erſchreckt,
wieder zu erheben und mir zuzuwenden.
„Velten todt? Unſer — Dein Freund Andres!
— Und ſie — Helene — die Wittwe Mungo, allein
bei ihm!“
Das Blatt zitterte in ihren Händen, als ſie
weiter las; aber ſie machte weiter keine Bemerkungen,
bis ſie fertig war, das Schreiben niederlegte, mit
der Hand darüber ſtrich, wie um es zu glätten.
„Aber das iſt ja ein entſetzlicher Brief! In
ſeiner Unverſtändlichkeit doch gar nicht ſo, wie ich ſie
mir nach Deinen — euren Reden und Erzählungen
vorgeſtellt habe, daß Unſereine trotz ihres Erſchreckens
und Mitgefühls wieder einmal nicht weiß, was ſie
dazu ſagen ſoll. Velten Andres todt, und die ameri¬
kaniſche Thalermillionärin jetzt als ſeine Todtenwache,
wie es ſcheint in ſeiner leeren Dachſtube. Was will
[6] ſie denn jetzt da? Ganz dumm und irre wird man
hierbei! Du lieber Gott, wie machen ſich doch die
Menſchen aus puren Grillen das Leben ſchwer und
das Sterben zu einem Komödienſchluß! Na, was
ſiehſt Du mich an? Wenn es nicht ſo trauriger
Ernſt wäre, ſo möchte man wirklich ſagen: Aus
ſeiner Rolle iſt Keiner von Beiden gefallen. Und der
gute Leon iſt auch natürlich wieder da und ſteht
dabei wie der brave Menſch im Hintergrund, der
auf dem Theater immer dabei iſt, wenn ſo eine
Kataſtrophe eintritt, daß doch wenigſtens Einer als
vernünftiger Theilnehmer den Kopf ſchüttelt. Aber
freilich — Du mußt und willſt doch auch wohl als
erſter alter guter Freund und Bekannter von Allen
jetzt zu ihr nach Berlin?“
„Morgen — wenn es mir irgend möglich
iſt.“ —
„Weshalb ſollte Dir das nicht möglich ſein?
In ſolchem Fall darf ſich jeder Menſch ſeinen Ur¬
laub ſelber geben. Ich für mein Theil werde morgen
dieſen unheimlichen Brief bei hellem Tageslicht leſen.
Jetzt iſt er mir wie ein Stein auf den Kopf ge¬
fallen, und ich gehe zu den Kindern. Die Mädchen
ſind eben aus dem Theater nach Hauſe gekommen.
Das iſt in dieſem Augenblick meine einzige Rettung
nach dieſer Lektüre. Der Himmel bewahre ſie uns
[7] vor zu viel Einbildungskraft und erhalte ihnen einen
klaren Kopf und ein ruhiges Herz.“
„Ganz meine Meinung, liebe Anna,“ ſeufzte
ich, und dann ließ ich den Brief Helenens unter
meinen Aktenhaufen, zog den Arm meines klugen,
klaren und ruhigen Weibes unter den meinigen und
wir gingen zuſammen zu den Kindern. — Das ſind
ſchon ziemlich erwachſene junge Leutchen mit wenn
auch jungen, ſo doch eigenen Lebenserfahrungen und
Intereſſen: von Velten Andres und Helene Trotzen¬
dorff wußten ſie nichts, oder doch nur wenig. Und
das Wenige konnte jetzt bloß ein romantiſches
Intereſſe für ſie haben. Mit den Akten des Vogel¬
ſangs hatten die perſönlich nichts mehr zu ſchaffen.
Ob ſie ſpäter einmal perſönlichen Nutzen aus ihnen
ziehen werden, wer kann das wiſſen?
Daß mein Vater nur auf das zu dem Landes¬
orden hinzugeſtiftete Verdienſtkreuz erſter Klaſſe und
den Titel Rath die Anwartſchaft beſaß, ſagt Alles
über unſere geſellſchaftliche Stellung im deutſchen
Volk, um die Zeit herum, da ich jung wurde in der
Welt. In welchem juriſtiſchen Sonderfach er ein
[8] Beamteter war, iſt wohl gleichgültig, daß er aber
ein ſehr tüchtiger Beamter war, haben alle ſeine
Vorgeſetzten anerkannt, und viel häufiger von ſeinem
Verſtändniß in den Geſchäften Gebrauch gemacht,
als ſie ihren Vorgeſetzten gegenüber laut werden
ließen. Es handelte ſich in ſeinem Amt viel um
Zahlen, und er hatte einen hervorragenden Zahlen¬
ſinn, womit, beiläufig geſagt, meiſtens auch ein
entſprechender Ordnungsſinn verbunden iſt. Beides
gab ihm eine Stellung in unſerer heimiſchen Bureau¬
kratie, die für unſer häusliches Behagen nicht immer
von dem beſten Einfluß war; denn die Vorſtellung,
nicht ſtudirt und es dadurch zu etwas Beſſerem ge¬
bracht zu haben, verbitterte nur zu häufig nicht nur
ihm, ſondern auch uns, das heißt meiner Mutter
und mir, das Leben.
Ich habe übrigens in meiner heutigen ober¬
regierungsräthlichen Stellung dergleichen wackere Herren
gleichfalls gottlob unter mir und hole mir nicht ſelten
für meinen Amtsberuf nicht nur Aufklärung, ſondern
auch Rath von ihnen. Das Bild meines ſeligen
Vaters aber, mit dem zu dem Landesorden hinzu¬
geſtifteten Verdienſtkreuz erſter Klaſſe auf der Bruſt,
habe ich in Lebensgröße (nach ſeinem Tode nach einer
guten Photographie gefertigt) über meinem Schreib¬
tiſche hängen, und hole mir auch von ihm heute
[9] noch Aufklärung und Rath, und nicht bloß in meinen
Geſchäften, ſondern im Leben überhaupt. —
Meine Mutter war eine Frau, deren höchſte
Lebenswünſche und Anſprüche durch den Titel Räthin
ganz und gar erfüllt wurden. Sie war eine gute
Mutter und beſte der Gattinnen, wenn das Letztere
vom vollſtändigen Aufgehen in den Anſichten, Mei¬
nungen, Worten und Werken des Gatten abhängig
iſt. Sie fühlte ſich wohl in der Zucht, in welcher er
ſie und ſein Haus hielt, und ich glaube nicht, daß ſie
je einen anderen Willen haben konnte, als den ſeinigen.
Geſchwiſter habe ich nicht gehabt, wenigſtens
nicht ſolche, die ſo lange geathmet hätten, um von
Einfluß auf mein Leben zu werden. Den Erſatz hier¬
für lieferte die Nachbarſchaft und zwar in ergiebigſter
Weiſe, und davon handelt denn auch, um es hier
ſchon kurz zu ſagen, die Akte, die ich jetzt anlege.
Wem zum Beſten, wer mag das ſagen? Jedenfalls
mir zu eigenſter Seelenerleichterung und aus tief¬
gefühltem Bedürfniß nach Einem, nach Etwas, das
einen ruhig anhört, ausſprechen läßt und nicht eher
dazu redet, bis das Ganze vorliegt. Daß es nicht
eine Perſonalakte in der wirklichſten Bedeutung dieſes
Wortes iſt, nimmt in meinen Augen den Aufzeich¬
nungen nichts von ihrem Werth. —
[10]
Die Nachbarſchaft! Ein Wort, das leider Gottes
immer mehr Menſchen zu einem Begriff wird, in den
ſie ſich nur mühſam und mit Aufbietung von Nach¬
denken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre
hineinzufinden wiſſen. Unſereinem, der noch eine
Nachbarſchaft hatte, geht immer ein Schauder über,
wenn er hört oder lieſt, daß wieder eine Stadt im
deutſchen Volk das erſte Hunderttauſend ihrer Ein¬
wohnerzahl überſchritten habe, ſomit eine Großſtadt
und aller Ehren und Vorzüge einer ſolchen theilhaftig
geworden ſei, um das Nachbarſchaftsgefühl dafür hin¬
zugeben.
Wir zu unſerer Kinderzeit hatten es noch, dieſes
Gefühl des nachbarſchaftlichen Zuſammenwohnens und
Antheilnehmens. Wir kannten einander noch im „Vogel¬
ſang“ und wußten voneinander, und wenn wir uns
auch ſehr häufig ſehr übereinander ärgerten, ſo
nahmen wir doch zu anderen Zeiten auch wieder ſehr
Antheil im guten Sinne an des Nachbars und der
Nachbarin Wohl und Wehe. Auch Gärten, die an¬
einander grenzten und ihre Obſtbaumzweige einander
zureichten und ihre Zwetſchen, Kirſchen, Pflaumen,
Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nach¬
barſchaftlich austheilten, gab es da noch zu unſerer
Zeit, als die Stadt noch nicht das „erſte Hundert¬
tauſend“ überſchritten hatte, und wir: Helene Trotzen¬
[11] dorff, Velten Andres und Karl Krumhardt, Nachbar¬
kinder im Vogelſang unter dem Oſterberge waren.
Bauſchutt, Fabrikaſchenwege, Kanaliſationsarbeiten
und dergleichen gab es auch noch nicht zu unſerer
Zeit in der Vorſtadt, genannt „Zum Vogelſang“.
Die Vögel hatten dort wirklich noch nicht ihr Recht
verloren, der Erde Loblied zu ſingen; ſie brauchten
noch nicht ihre Baupläne dem Stadtbauamt zur Be¬
gutachtung vorzulegen. Wir hatten von ihren Neſtern
unſere Hecken, Büſche und Bäume voll und unſere
Freude dran; trugen aber deſſenungeachtet nicht auf
eine „Katzenſteuer“ an, und ſchlugen oder ſchoſſen
jeden wackern Kater todt, der nach ſeinem Rechte mal im
Bauplan der guten Mutter Natur mit einem: „Immer
und ewig Mäuſe?“ herumſtieg und von der ſämtlichen
Käfer-, Fliegen-, Raupen-, Schmetterlings- und
Würmerwelt nicht nur als ein Wohlthäter, ſondern
auch als ein Rächer geachtet wurde.
Wohin reißt mich dieſes Rückgedenken? Bedenke
Dich, Oberregierungsrath, Doctor juris K. Krumhardt
und bleibe bei der Sache! Bei der Stange! würde
Dein Freund Velten zu jener Zeit — unſerer Zeit
geſagt haben. —
Mein Vater, Oberregierungsſekretär Krumhardt,
hatte ſein Haus im Vogelſang von ſeinem Vater
geerbt, und der wieder von ſeinem Vater. Darüber
[12] hinaus verlor ſich unſere Kenntniß des Beſitzſtandes
in der Nacht der Zeiten. Es war jedenfalls ein
altes Haus, das nicht nur die drei ſchleſiſchen Kriege,
ſondern auch den ſpaniſchen Erbfolgekrieg miterlebt
hatte als Zeitengenoſſe. Das Nachbarhäuschen, das
ſeiner äußeren Erſcheinung nach etwas jünger war,
hatte Dr. med. Andres erſt bei ſeiner Niederlaſſung
in der Stadt und der Vorſtadt Vogelſang käuflich
an ſich gebracht. Seine Wittwe und ſein Junge
gründeten ihre Wohnorts- und (möglicherweiſe) auch
ihre Unterſtützungsberechtigung auf dieſen, der Zeit
nach noch ziemlich naheliegenden „Eintrag“ ins
Hypothekenbuch; aber auch ſie fühlten ſich ihres Be¬
ſitzthums ſicher und gehörten von Anfang an dazu
— nämlich zur Nachbarſchaft im alten, echten Sinne,
und mein Vater war nach dem Tode des Doktors
ganz ſelbſtverſtändlich von der Obervormundſchaft der
Witwe als „Familienfreund“ beigegeben worden.
Zugezogen war nur, jenſeits der Grünen Gaſſe,
Mrs. Trotzendorff from New York, in eine Mieth¬
wohnung. Wie aber deren Kind ſein Bürgerrecht
unter dem Oſterberge im Vogelſang erwarb und es
aufgab, darüber mögen denn dieſe Akten mit allen
dazu gehörigen Dokumenten das Nähere berichten.
Ich werde mir die möglichſte Mühe geben, nur als
Protokolliſt des Falles aufzutreten. Wenn ich dann
[13] und wann an dem Federhalter nage, meiner Privat¬
gefühle, Stimmungen, Meinungen und ſo weiter
wegen, ſo bitte ich die geehrten Herren und Damen
auf dem Richterſtuhle des Erdenlebens, hier, in
Sachen Trotzendorff gegen Andres, oder Velten Andres
contra Wittwe Mungo, nicht darauf zu achten. Meine
Frau ſagte ſeiner Zeit:
„Guter Gott, wie dankbar können wir doch ſein,
daß Du nicht ſo warſt wie die beiden Anderen von
euch. So haben wir doch wenigſtens unſer geregeltes
Daſein und unſere Kinder um uns. Aber auf deren
vernünftige, ordentliche Erziehung wollen wir auch
recht Achtung geben. Es wäre mir zu entſetzlich,
wenn eines von ihnen auch ſo ins Wilde wüchſe!“ —
Dr. med. Valentin Andres, der Vater unſeres
Freundes Velten Andres, war ein echter und gerechter
Vorſtadtdoktor, ein gutmüthiger Menſch und ein guter
Arzt, welchem letztern nur die Berge und die übrige
ſchöne Natur für ſeine Liebhaberei, die Inſektenkunde,
oft zu nahe lagen. Er war recht häufig nicht zu
finden, wenn er an einem Krankenbette, bei einem
Unglücksfall oder ſonſt in ſeinem Beruf höchſt nötig
war. Seine Abhandlung über Cynips scutellaris;
die Gallapfelweſpe, machte ſeiner Zeit in den be¬
treffenden Kreiſen Aufſehen und iſt auch heute noch
von den Fachgenoſſen geſchätzt. Zum Sanitätsrath
[14] aber brachte er es nicht durch dieſelbe, und das
geringe Vermögen, welches er bei ſeinem Tode ſeiner
Wittwe und ſeinem Sohn zu dem kleinen Hauſe und
von ihm als von ſeinem Vater und Großvater her.
Letzterer ſoll ein nach unſeren Begriffen ſehr wohl¬
habender Mann geweſen ſein; aber wie verkrümelt
ſich die Wohlhabenheit, der Reichthum in der Folge
der Geſchlechter! —
Ich für mein Theil habe nur eine ganz dunkle
Erinnerung an den Doktor Andres. Mein Nachbar¬
ſchaftsleben war nur mit ſeinem Jungen und der
„Frau Doktern“; aber ſeine Käfer- und Schmetterlings¬
ſammlungen in den Glaskäſten an den Wänden haben
doch einen Einfluß auf mich gehabt und behalten ihn
heute noch, und ſein friedliches Bild gleitet mir noch
manchmal auf einem Waldwege um unſere jetzige
„Großſtadt“ entgegen.
Wie kopfſchüttelnd oder lächelnd er ſeinem Sohn
auf deſſen Wegen dann und wann erſchienen sein
mag? — Und was er aus ſeinem Lebensvermögen
weiter gegeben haben mag an dieſen, ſeinen Sohn
Andres — unſern Freund? — —
Was nun die Frau Doktor Andres anbetrifft,
ſo ſteht deren freundliches Bild hell und klar in
meiner Seele und kann nie darin auslöſchen. Sie
[15] hat an meiner Mutter Wochenbett geſeſſen und gut
nachbarſchaftlich in meine Wiege geſehen; ich habe
an ihrem Sterbelager geſeſſen und ſie in ihrem
Sarge geſehen — ebenſo gut nachbarſchaftlich (ich
gebrauche das Wort trotz Allem, was nachher hierüber
zu den Akten kommt). Zwiſchen meiner Wiege und
ihrem Sarge aber haben ſo viele gute, liebe, lange
Jahre des Zuſamenlebens und Verkehrs von Haus
zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zu einander
gehörten; obgleich mein Vater — ihr Familienfreund
war, ſie nur ſelten „begriff“, ſie recht häufig ſehr
ängſtete und dann und wann noch viel mehr ärgerte;
und obgleich meine Mutter in allem dieſen der
Anſicht und Meinung meines Vaters war und
„Amalien“ faſt noch weniger „begriff“ als er.
Natürlich wurzelten neun Zehntel aller Mi߬
verſtändniſſe in dem Vorhandenſein meines Freundes
Velten in dieſer auf bürgerlichem Ordnungsſinn ge¬
gründeten Erdenwelt. Weshalb hatte denn aber auch
die Obervormundſchaftsbehörde nach dem Tode des
Doktors der Vormünderin des Jungen den Ober¬
regierungsſekretär Krumhardt als Familienberather
beigegeben? Da mußte ſich denn freilich manches zu¬
ſpitzen, was von Natur keine Schärfe hatte, wenigſtens
auf der einen Seite. — Mit den Gärten ſind heut¬
zutage zwar auch die Vögel im Vogelſang ausgerottet;
[16] aber in den Wäldern jenſeits des Oſterberges ſingen
auch heute noch, traditionell, vielleicht einige davon,
was für ein ſauberer Vogel Velten Andres war, und
was für eine unzurechnungsfähige Vormünderin ſeine
Mutter. Freilich hatte er ja auch eine Eierſammlung
ſeiner Zeit, bis ihn — gerade ſeine Mutter hier auf
dem Felde ſeiner Liebhabereien zurechtwies und ſich
die „grauſame, unnütze Spielerei“ verbat. Natürlich
unter gänzlich unberechtigtem Hinweis auf ſeinen
ſeligen Vater, der nie ein Vogelneſt ausgenommen hatte.
„Aber gucke mal, da ſeine Käferſammlung und
ſeine Schmetterlinge. That es denen nicht weh, wenn
er ſie auf ſeine Nadeln ſpießte?“ hätte der Sohn
ſeines Vaters der Mutter antworten und ſie fragen
dürfen. „Da, mach Du Dir einen Eierkuchen
draus,“ ſagte er jedoch nur zu mir, mir die ausge¬
blaſene Herrlichkeit über die Hecke zuſchiebend. „Die
Alte hat auch Recht, wenn ſie mir dieſer Dummheit
wegen die Hoſen nicht mehr flicken will. Sie mufft,
und ich lege mich lieber auf Briefmarken.“
Wann hätten wir je im Vogelſang die Nachbarin
Andres „muffen“ ſehen? Daß ſie weinen konnte,
wußten wir daſelbſt. Aber muffen? Dieſe Schmach
konnte ihrem lieben, freundlichen Geſicht nur Unſer¬
einer und alſo am beſten ihr eigen Fleiſch und Blut
aus ſeinen Schulbubenerlebniſſen und Redensarten
[17] anthun. Auf das Lachen war ſie von Natur einge¬
richtet, oder, noch beſſer, auf das ruhige, ſtille Sonnen¬
lächeln, das ohne irgend zu Tage liegenden Grund
eben aus der Tiefe kommt und alſo da iſt, weil ein¬
mal ein bevorzugtes armes Menſchenkind die Welt
ſchön ſieht.
Wie muß ich heute mit Helene Trotzendorffs
Brief vor Augen daran denken, wie ſchön die Mutter
Velten Andres' die Welt ſah!
„Die Frau iſt unzurechnungsfähig, der Junge
ein verwahrloſter Strick, und bei den Leuten Familien¬
freund ſpielen zu ſollen und Vernunft reden zu müſſen,
eine Aufgabe, die Einen zur Verzweiflung bringen
kann!“ rief mein Vater, aus dem Nachbarhauſe nach
Hauſe — unſerm — ſeinem Hauſe heimkommend
und den Hut verdrießlich doch ſorgſam neben meinen
Cornelius Nepos auf den Tiſch ſtellend. „Karl, was
iſt das wieder geweſen und was für eine Rolle haſt
Du bei dieſer neuen Albernheit geſpielt? Sie haben
das Hartlebenſche Gartenhaus beinahe in Brand
geſteckt, Frau.“
Ja, ich hatte den Cornelius Nepos und das
Leben des Alkibiades, des Klinias Sohn, vor mir
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 2[18] und das Herz voll Angſt vor meinem „Alten“, und
verquollene Augen und heiße, ſchwarz-ſchmierige,
zitternde Pfoten; und zu überſetzen hatte ich:
At mulier, quae cum eo vivere consuerat,
muliebri sua veste contectum aedificii incendio
mortuum cremavit — aber das Weib, das mit ihm
zu leben gewohnt war, verbrannte den mit ihrem
Frauenrock bedeckten Leichnam in dem brennenden
Hauſe.
„Heraus mit der Wahrheit, Junge! Da drüben
kriegt man doch nichts anderes als Phantaſterei und
Lügen zu hören,“ rief mein Vater und faßte nun
auch mich an der Schulter wie er „drüben“ wahr¬
ſcheinlich den Freund Velten und „gegenüber“ die
kleine Helene Trotzendorff gefaßt und geſchüttelt hatte.
Aus mir ſchüttelte er jedenfalls die ganze Wahrheit
heraus.
„Wir haben bloß Komödie geſpielt in Hartlebens
Pavillon. Velten hat ſie angegeben, weil — weil —
wir jetzt — in der Schule den Alkibiades haben!“
ſchluchzte ich.
„Eine ſchöne Komödie, die auf Brandſtiftung
hinausläuft! Was meinſt Du dazu, Mutter?“
Meine Mutter rang nur ſtumm die Hände, mein
Vater aber hatte ihr doch nun die Sache etwas deut¬
licher auseinanderzuſetzen.
[19]
„Daß ihnen in der Schule aus den Griechen
und Römern ſaubere Exempel vor die Augen geſtellt
werden, das iſt freilich leider eine Thatſache, Frau,“
brummte er. „Und da iſt denn auch ſo eine Ge¬
ſchichte von einem griechiſchen General — Alkibiades
heißt er — die haben ſie auf dem Hartlebenſchen
Grundſtücke aufführen wollen und mit Streichhölzern,
Schießpulver und Kolophonium, was weiß ich, ge¬
wirthſchaftet; und daß das Mädchen bloß mit ver¬
brannter Schürze, die ſie dem Musjeh Alkibiades,
ich meine dem Schlingel Velten, überdecken wollte,
aus Hartlebens getrockneten Krautbündeln herausge¬
kommen iſt, das iſt auch nur ein Wunder, wie es
ſolchen Narrenköpfen paſſirt.“
„Du lieber Gott! Du lieber Gott! Und Du
biſt auch wieder mit dabeigeweſen, Karlchen?“ wimmerte
meine Mutter.
„Velten hat Alles gleich gelöſcht mit den Händen
und mit Waſſer aus dem Brunnen in ſeiner Mütze!“
ſchluchzte ich.
„Und ſitzt jetzt mit den Händen in Watte und
Leinöl,“ brummte mein Vater. „Nicht einmal ein
regelrechtes Schmerzgeheul und Gewinſel kriegt man
aus ihm heraus. Verſtockt beißt der Taugenichts die
Zähne aufeinander und glotzt nur von Zeit zu Zeit
angſtvoll auf die Mama, was die zur Sache von ſich
2*[20] giebt. Ja die! Wer doch von Gottes und Rechts
wegen in Thränen ſchwimmen ſollte, das müßte die
Frau Nachbarin Amalie ſein; denn der dumme Junge
muß arge Schmerzen haben. Aber thut ſie es?
Bewahre! Lieber ſterben als dem zum Richtigen
redenden Nachbar und Familienfreund ſeine Verant¬
wortlichkeit durch Zuſtimmung zu erleichtern. Natür¬
lich beißt auch die Frau Doktor nur die Zähne zu¬
ſammen, ſagt nur von Zeit zu Zeit: ‚Aber Velten,
das war doch zu dumm!’ und läßt mich gewohnter¬
maßen in den Wind und ins Blaue reden.“
„Die arme Amalie!“ ſeufzte meine Mutter.
„Du bedauerſt ſie wohl gar noch?“ fuhr mein
Vater faſt gröblich ſie an. „Das kannſt Du Dir
dreiſt für andere und beſſere Gelegenheiten ſparen.“
Und mit einem Blick auf mich fuhr er fort:
„Na, reden wir nicht weiter hierüber. Übrigens,
um den neuen Skandal (der Dich, mein Sohn, bei¬
läufig auch mit vor die Polizeibehörde bringen wird)
völlig auszukoſten, war ich denn auch drüben bei der
dritten von euch drei lieben Jugendfreundinnen,
Adolfine — bei der berühmten (ich will kein anderes
Wort gebrauchen) bei der berühmten Frau Agathe —
unſerer theuren Miſtreß Trotzendorff. Nu, was ich
da zu hören bekam, das hätte ich mir vorher ſchon
ſelber ſagen können. Saß die Perſon wieder ſofort
[21] auf dem hohen Pferde, als ob die ſämmtlichen ver¬
einigten Staaten von Nordamerika es ihr geſattelt
und gezäumt hätten! — Das habe das Kind eben
aus einem größeren Leben als das unſerige hier von
drüben mitgebracht, daß es die Welt (die Närrin
ſagte wahrhaftig: die Welt!), daß es die Welt nicht
mit unſeren hieſigen Philiſteraugen (dies iſt freilich
mein Ausdruck), mit unſeren hieſigen Philiſteraugen
anſehe. Der Spaß ſei ja gottlob wieder glücklich ab¬
gelaufen; Hartleben werde ſich wohl auch zufrieden
geben, wenn man vernünftig mit ihm ſpreche, und
auf die verbrannte Schürze des Kindes komme es
gar nicht an; für die werde ſein Papa drüben in
New York wohl noch aufzukommen wiſſen. — Damit
holte ſie mir das naſeweiſe Balg unter den Händen
weg und hob es, wie Niobe ihr letztes aus den Büchern
unſeres Jungen, auf den Schooß. Der Hinweis auf
den Schwindler, den Erzſchwindler Trotzendorff, ihren
Mann, imponirte mir aber ſo, daß ich nur meinen
Hut nehmen konnte und ſagen: Da hört alles Ein¬
greifen von verſtändiger Seite gründlich auf! Du
lieber Himmel, was für eine Nachbarſchaft! Junge,
Junge, ich rathe Dir, daß Du bei den Grundſätzen
Deiner Eltern wie bei Deinen Büchern bleibſt und
Dich exakt hältſt. Dich wenigſtens kann ich windel¬
weich hauen, wenn Du mir bloß noch ein wenig
[22] mehr in dem Affenſpiel rundum die Purzelbäume
mitſchlägſt und nicht Deine bürgerlichen, geſunden,
nüchternen fünf Sinne bei einander behältſt!“
„Ja, bitte, bitte, beſter Karl, thue das und
mache Deinen Eltern und Deinen Herrn Lehrern
Freude!“ ſagte meine Mutter. „Ach, Vater, aber
können denn die armen Frauen, die Amalie und
Agathe dafür, daß die eine ihren armen Doktor ſo
früh verloren hat und die andere ihren —“
Sie brach ab, und mein Vater brummte nur:
„Na, was Deine Andere dazu beigetragen hat, hier
jetzt wieder als abenteuerliche amerikaniſche Stroh¬
wittwe im Vogelſang zu ſitzen, darüber ſind die Akten
noch nicht mit allen dazu gehörigen Dokumenten ver¬
ſehen. Für die Doktorin mag Deine Entſchuldigung
zu mildernden Umſtänden beitragen. Adolfine.“
Welch eine Nachbarſchaft! Jawohl, das
war es, was trotz aller Warnungen und Drohungen,
Aufregungen und Ärgerniſſe meines braven ſeligen
Vaters mir den Vogelſang unter dem Oſterberge bis
heute noch zu einem Zauber macht, der mich dahin
bannt, obgleich er ſo ſehr, ſo ganz und gar Recht
hatte mit ſeinen Warnungen vor dieſem Zauber.
[23] Bin ich nicht heute der Einzige von uns Dreien, der
ſeine geſunden fünf Sinne exakt und pragmatiſch bei
einander gehalten und es nach bürgerlichen Begriffen
(ſehr wohl berechtigten!) zu einer ſoliden Exiſtenz in
der ſchwankenden Erdenwelt gebracht hat? Und hält
mich dieſer alte Zauber heute nicht mehr denn je —
der Zauber der Nachbarſchaft, trotzdem daß Velten
Andres und Helene Trotzendorff auf anderen Wegen
und, nach unſeren bürgerlichen Begriffen, verloren ge¬
gangen ſind in der Welt und die Welt nicht gewonnen
haben? Wenigſtens der arme Velten. Die hundert¬
fache Millionärin, die Wittwe Mungo, geborene
Trotzendorff, iſt ja wohl nicht ganz ſo ſehr zu beachſel¬
zucken wie der ganz verrückte Menſch, der arme kurioſe
Kerl, der Andres! Schade um ihn, wozu hätte der
es mit ſeinen Talenten und ſeinen vielen guten
Gelegenheiten, es zu was zu bringen, es in der Welt
zu etwas bringen können!
Aber pragmatiſch, pragmatiſch, Karl Krumhardt!
Das heißt referire Dir ſelber ſo werkmäßig als
möglich, Oberregierungsrath Doctor juris Krumhardt,
um Dir ſelber wenigſtens Deinen Standpunkt in
Sachen Andres contra Trotzendorff oder umgekehrt
klar zu halten. Wenn nicht wegen eines anderen
Publikums, möchte es Deiner Kinder wegen wohl der
Mühe werth ſein.
[24]
Wir, Velten und ich, waren ungefähr zehn oder
zwölf Jahre alt, als wir anfingen, mehr und mehr
aufzuhorchen, wenn in unſere Kinderſpiele, Schul¬
arbeiten und Dummejungenſtreiche der Name Trotzen¬
dorff hineinklang, mit bedenklichem Kopfſchütteln von
Seiten meiner Eltern, mit bedauerndem von Seiten der
Mutter Veltens. Da hieß es in unſerm Hauſe:
„Konnte man das nicht vorausſehen?“ und im Nachbar¬
hauſe: „Die arme Agathe!“ Bei uns: „Der Schwindler
mußte ja zu dieſem Ende kommen, und nun ſchickt er
uns das leichtſinnige Geſchöpf, ſeine Frau, auch gar
noch wieder über den Hals!“ Nebenan: „Mit ſo einem
armen kleinen Kinde! Und ſo weit her, über die
See; ganz allein mit dem kleinen Mädchen über das
große Meer!“
Die weite See, wo Robinſon Cruſoe ſeine
Wunderinſel fand und wir, Velten und ich, ſo gern
eben eine ſolche geſucht hätten; — das große Meer,
über welches Sindbad der Seefahrer ſchiffte und ſeine
tauſend und ein Abenteuer erlebte, über welches
Wittington (dreimal Lord Mayor von London) ſeine
Katze verhandelte und vom Negerkönig drei Säcke
voll Goldſtaub für das brave Thier zurückempfing:
das war es, was natürlich zuerſt unſere Knaben¬
phantaſie erregte.
„Du,“ ſagte Velten, „es kommt eine Frau mit
[25] einem kleinen Mädchen aus Amerika wieder hierher
nach dem Vogelſang. Meine Mutter kennt ſeine
Mutter und Deine Mutter kennt ſie auch.“
„Das weiß ich auch ſchon. Mein Vater und
meine Mutter haben aber auch ſeinen Vater gekannt
und ſagen, er ſei ein Taugenichts.“
„Davon hat meine Mutter nichts geſagt, aber
kennen thut ſie ihn auch. Das iſt mir übrigens ganz
Wurſt; aber das Wurm! Hol mal Deinen Atlas.
So eine dumme Schürze und Zimperlieſe auf dem
Atlantiſchen Ocean, wenn wir ihn nur in der Geo¬
graphieſtunde haben und bloß Dummheiten vom
Doktor Klebmaier zu hören kriegen, wenn wir nicht
wiſſen, wie weit er reicht! Na, laß ſie mir nur
kommen. Drüben bei Hartlebens haben ſie ſich ein¬
gemiethet; meine Mutter hat ihnen dabei geholfen.“
„Mein Vater und meine Mutter auch. Es geht
ihnen recht ſchlecht, und man muß ſich ihrer annehmen,
ſagen ſie! Weißt Du, ſie ſind eben Alle gute Freunde
miteinander geweſen, die Alten. Ja, wir ſollen uns
ihrer annehmen!“
„Meinetwegen. Was ich dazu thun kann, wird
gemacht. Von einem Mädchen mehr ſoll mir diesmal
noch nicht übel werden, obgleich wir des Zeugs ſchon
eigentlich borſtig hier zu viel im Vogelſang haben.
Überall ſtehen ſie Einem im Wege und über keine
[26] Hecke kann man ſteigen, ohne daß man zwiſchen
einen Haufen von ihnen fällt und fünf Minuten
nachher das Gezeter angeht: Wenn Du Dich nicht
aus unſerem Garten ſcherſt, ſagen wir's Deinem
Vater! Übrigens, Karlchen, kannſt Du mir noch
mal Deinen Lederſtrumpf leihen, ich will doch lieber
vorher, ehe die Kreatur einrückt, über Amerika nach¬
leſen.“
Wie viele deutſche Jungen haben dieſe Cooper¬
ſchen Lederſtrumpferzählungen „für die Jugend be¬
arbeitet“, hinübergelockt in das Land der Langen Flinte,
der Großen Schlange und des Renard ſubtil? Ob
das bei Mr. Charles Trotzendorff aus dem Vogelſang
auch der Fall geweſen war, kann ich nicht in den
Akten nachweiſen, was ſeine Jugendzeit betrifft.
Aus ſpäteren Dokumenten geht mir hervor, daß es
ſich nicht ſo verhielt; — daß ihn weder der edle Unkas
noch der tapfere Major Heyward und auch nicht die
ſtolze ſchwarzhaarige Cora und die blonde liebliche
Alice an- und dorthingezogen hatten, ſondern ganz
was anderes: etwas, was nicht das Geringſte mehr
mit jener wundervollen lügenhaft-wahren Kinder-Ur¬
waldswelt zu ſchaffen hatte; nämlich ganz einfach das
Geſchäft in den glorreichen Vereinigten Staaten von
Nordamerika. Auch aus dem edlen deutſchen Vater¬
lande, vom grünen Rhein und aus dem Vogelſang kann
[27] das deutſche Gemüth die vollkommene Befähigung mit
übers Waſſer nehmen, nicht nur mit Mssrs. Longbow,
Snake, Renard and Company vortrefflich auszu¬
kommen, ſondern ſelbſt ſie bei günſtiger Gelegenheit
dergeſtalt übers Ohr zu hauen, daß ſie ſich den ferneren
Import von dergleichen Konkurrenz am liebſten gänz¬
lich verbitten würden. Aber das ſind Geſchichten aus
Väterzeiten. Ich habe wie geſagt wenig über Herrn
Charles Trotzendorff in meinen Papieren. In unſerer
Heimathſtadt war er[ ]Auswanderungsagent und wanderte
ſeiner Zeit ſelber aus und zwar aus zwingenden Gründen.
Seine Frau, die Freundin und Schulbankgenoſſin
meiner Mutter und der Nachbarin Andres, nahm er
aus dem Vogelſang mit. Sie ſoll in ihrer Jugend¬
blüte ſehr ſchön geweſen ſein und war auch eine noch
nicht häßliche Erſcheinung, als er ſie uns dahin für
eine Zeit wiederſchickte: „zur Aufbewahrung für beſſeres
Glück,“ wie mein Vater ſagte, und wie es ſich ſpäter
auch wirklich ſo herausgeſtellt hat.
Es war Veltens Mutter, an welche „Mrs.“
Agathe Trotzendorff dann und wann aus Amerika
ſchrieb; Velten hat bei ſeinem „großen Aufräumen“
wohl ein halb Dutzend Briefe mit überſeeiſchem Poſt¬
ſtempel in den Ofen geſchoben. Soviel ich mich er¬
innere, war weder ſtiliſtiſch noch ethiſch das Geringſte
daran verloren; jedenfalls ging aus ihnen hervor,
[28] daß Mr. Charles Trotzendorff ein großer Schwindler
war, der ſeine Sache verſtand, alſo Glück gehabt hatte,
es wieder haben konnte und jedenfalls im Pech ſich
zu helfen wußte. Das letzte Schreiben berichtete
über ihn, daß er recht im Pech ſitze, von „ſchlechten
Menſchen unglaublich betrogen worden ſei“ und
deshalb fürs erſte ſeinen Haushalt auflöſen müſſe.
Wie uns, das heißt mir und Freund Velten ſpäter
die Sache klar wurde, war er damals nur mit ge¬
nauer Noth an einem längeren Aufenthalt in Sing-
Sing vorbeigeglitten. Jedenfalls war er nach dem
in jener Zeit noch mit einigem Recht „fern“ ge¬
nannten Weſten verduftet und hatte Weib und Kind
dem Vogelſang wieder zugeſchoben. Was wußten
mir im Vogelſang von Mr. Fisk und der Erieeiſen¬
bahn, von Mr. Tweed, dem Tammanyring und
Sing-Sing? —
Sie kamen an, die deutſch-amerikaniſche Mutter
und little Ellen, das amerikaniſche kleine Mädchen,
und bezogen auf Hartlebens Anweſen die von uns
ihnen im Nebengebäude daſelbſt gemiethete Wohnung.
Der Einzug ging vor, während wir Beide, Velten
und ich, in der Schule waren. Als wir nach Hauſe
kamen, fanden wir unſere beiden Mütter in erkleck¬
licher Aufregung und zitternder Rathloſigkeit bei einander
ſitzend, und horchten wie Jungens horchen, wenn
[29] ihre Mütter die Hände ſtumm im Schooße ringen
oder ſie laut ſchreiend über den Köpfen ausſpreizen,
als wollte ihnen nicht bloß das Himmelsgewölbe,
ſondern auch die Stubendecke auf die Hauben fallen.
„Das Frauenzimmer iſt ja als eine komplette
Närrin heimgekommen!“ ächzte meine Mutter.
„Du lieber Himmel, was wird das werden!“
ſeufzte die Nachbarin Andres.
„Weißt Du, Amalie, wie ich hier ſitze?“
Veltens Mutter ſchüttelte den Kopf.
„Vollſtändig mit dem Eindruck, als ob wir —
wir Beide hier im Vogelſang Schuld daran ſeien, daß
Hartlebens Nebenhaus nicht Unter den Linden in
Berlin, oder noch großartiger irgendwo drüben bei
den Amerikanern in New York oder ſonſtwo liege.
Und mit den hundert Thalern, die der Schlingel
Trotzendorff meinem Mann für die Einrichtung ge¬
ſchickt hat, hätten wir ſelbſtverſtändlich unſerer hieſigen
Frau Herzogin häusliche Ausſtattung drüben bei
Hartlebens beſchaffen müſſen für dieſe — dieſe, unſere
Miſtreß oder Lady oder wie wir ſie ſonſt zu betitu¬
liren haben! Bitt' ich Dich!“
„Die arme Agathe.“
„Bedauere ſie gar noch! Nimm es mir nicht
übel, hier bin ich doch anders. Ich für mein Theil
werde ihr bei ſpäterer, kommender Gelegenheit meine
[30] Meinung nicht vorenthalten, daß ſie ſich in unſere
Verhältniſſe zu ſchicken habe, und mir nicht in ihre.“
„Großer Gott, ihre Verhältniſſe!“ ſeufzte Veltens
Mutter.
„Nun, ich meine eben ihre großartigen früheren,
nicht ihre jetzigen. Ja, da magſt Du wohl wieder
recht haben, Malchen, und ich werde mich auch für
mein Theil bemühen, ihr dieſelben ſo behaglich und
verſtändlich zu machen, wie es mir möglich iſt.“
Ich ziehe ſelbſtredend im beſten Sinne des
übelverwendeten Wortes dieſe Unterhaltung der
Mütter aus den Akten. Daß wir dummen Jungen
das ſo nicht aufbewahrten, iſt ſelbſtverſtändlich. Wir
zwei — Velten und ich — wußten nur, daß etwas
ganz aus der Regel Fallendes und durchaus nicht
ganz und gar Angenehmes dem Vogelſang die Ruhe
aufgeſtört hatte und die Behaglichkeit für unabſehbare
Zeit (wie mein Vater meinte) zu kränken drohte.
Übrigens gewannen wir ſofort die Überzeugung, daß
die Geſchichte uns Beide gar nichts angehe, und mit
der „neuen Schürze bei Hartlebens“ wollten wir ſchon
bald fertig werden, wie mit den anderen dummen
[31] Gänſen auf den Schulwegen, in den Gärten und
Gaſſen bei Sommerſonnenſchein und Winterſchnee.
So warteten wir denn mit dem Kinn auf dem
Zaun wie zwei europäiſche Indianer nach Hartlebens
Wigwam hinüber.
„Aus den beiden dummen Engländerinnen,
Cora und Alice, mache ich mir gar nichts,“ ſagte
Velten, „aber wenn dieſe Neue roth, grün, gelb und
blau angemalt käme, wie Junithau im Pfadfinder,
dann wär doch noch was, und mal was Neues hier
bei uns in der ewigen Langweilerei aus dem Cocon
gekrochen.“
„Du! Da kommt Deine Mutter mit ihr! Ach,
der Dreikäſehoch! Guck, läßt ſich auch noch an der
Hand führen, und — richtig — hat natürlich ge¬
weint und zimpert noch und läßt ſich nachziehen, als
ob Deine Mutter der richtige Oger wäre und ihr
bei euch zu Hauſe bloß von Kinderfleiſch lebtet.
Na, nun mach nur, Velten, daß Du auch nach Hauſe
kommſt. Du haſt ſie wahrſcheinlich heute zu Tiſche,
— guck, da nimmt Deine Mutter das große Balg
in eurer Gartenthür gar noch auf den Arm! Na,
adjö, da rufen ſie auch bei uns nach mir, und meinen
Vater kennſt Du.“
Es war ein Sonnabend und keine Schule am
Nachmittag; wir lagen alſo am Oſterberg unter einem
[32] Buſch, und ich vernahm den erſten Bericht über das
erſte Zuſammentreffen der Familien Andres und
Trotzendorff beim Suppennapf.
„Ja, ſie waren bei uns zur Fütterung,“ erzählte
Velten. „Die engliſche Madame auch. Die kann
deutſch, aber ſie thut manchmal, als ob ſie es ver¬
geſſen habe. Die Kleine kann nur engliſch, das heißt
amerikaniſch: Die richtige Wilde! Und ſie ſind
ſchauderhaft vornehm, das heißt, eigentlich geweſen.
Es iſt übrigens nur gut, daß meine Mutter noch
vornehmer iſt und auch ein bißchen engliſch kann, durch
meinen Vater. So ging es denn ſo ziemlich glatt
ab, nur ich kriegte es natürlich zu hören von meiner
Alten, daß jetzt das Hinflegeln mit beiden Ellenbogen
auf dem Tiſche aufzuhören habe, und daß ſich eine
Maſſe Anderes nicht ſchicke. Die Kleine hat den
Teufel in ihren Augen und greinte, und auf gelbe
Erbſen, dicke Bohnen, Steckrüben, Moorrüben und
ſonſt unſer Futter ſcheint ſie noch nicht recht einge¬
richtet zu ſein. Sie hat eine Mohrin als Amme ge¬
habt und Mohren als Bediente; aber meine Mutter
hat ſie zuletzt doch zum Lachen gebracht und daß ſie
mich angrinſte. Ihre Mama war zuletzt die einzige
die bei ihrem Jammergeſicht blieb, und nach Tiſche
meiner Mutter auch jetzt wieder was vorweinte.
Ellen heißt die Krabbe; auf deutſch Helene, und
[33] meine Mutter hatte ſie auf dem Sofa auf dem
Schooße und tröſtete ſie Beide. Da habe ich mich ge¬
drückt, denn den ganzen Nachmittag ſo was auszu¬
halten, konnte Keiner von mir verlangen. Na,
Mitleid will ich ja wohl gerne mit haben, wie meine
Mutter verlangt; aber kriegt ſie mich, dieſer neuen
fremden Nachbarſchaft wegen, auch noch an das
Engliſche, ſo werfe ich auf. An dem Latein und
dem Franzöſiſchen haben wir gerade genug in der
Schule. Puh, Mitleiden! Hat da jemals Einer mit
uns Mitleiden gehabt, Karlchen?“
„Nee,“ ſagte ich.
„Aber wie ſollen wir uns denn mit der Kröte
verſtändlich machen, wenn wir kein Engliſch können?
Auf unſern Buckel laden ſie ſie doch ab; darauf
nehme ich jetzt ſchon Gift. Übrigens habe ich auch
verſprechen müſſen, nicht den ganzen Nachmittag vom
Hauſe wegzubleiben. Drunten in unſerer Laube ſitzt
die ganze Proſtemahlzeit beiſammen und hat Mitleid.
Deine Mutter auch, Krumhardt.“
Nun bin ich mit meinen Erinnerungen wieder
am Abend jenes Tages, an welchem wir in Hart¬
lebens Gartenhaus den Tod des Themiſtokles auf¬
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 3[34] geführt hatten. Es waren damals ſchon einige Jahre
ſeit der Rückkehr der Miſtreß Trotzendorff in den
Vogelſang hingegangen, und Miß Ellen hatte, auch
mit unſerer, Veltens und meiner Beihilfe doch all¬
gemach ganz gut Deutſch gelernt, hörte (wenn ſie
Luſt hatte) auch auf den Ruf: Helene! Lene! Lenchen
und — wir waren alle drei in den echteſten und ge¬
rechteſten Flegeljahren.
Daß die Deutſch-Amerikanerin eine dumme, auf¬
geblaſene, einfältige Gans ſei, hatten wir zwei
Jungen längſt heraus, und ebenſo, daß ſie doch ein
Gutes hatte, nämlich daß man mit ihr aufſtellen
konnte, was man wollte, wenn man ſie nur recht zu
nehmen wußte. Mein Vater hatte nichts gethan,
den Eindruck, den die Arme auf uns gemacht hatte,
zu verbeſſern. Meine Mutter war natürlich der
Meinung meines Vaters, wenn auch in einem etwas
mildern Grade. Und nur die Nachbarin Andres
war ganz und gar dabei geblieben, daß man Mitleid
mit ihr haben müſſe und gab der Anſicht bei jeder
vorkommenden Gelegenheit nicht bloß Worte, ſondern
fügte auch die That dazu. —
Ach, wie ich es mir jetzt überlege, kamen die
Gelegenheiten recht häufig! Viel häufiger als die
Briefe und Geldſendungen des Gatten und Vaters
Trotzendorff aus den Vereinigten Staaten von Nord¬
[35] amerika. Dem wollte es noch immer nicht wieder
recht glücken, und aus meines Vaters Munde ſchnappte
ich das Wort auf: „Gieb acht, Adolfine, und erinnere
mich ſeiner Zeit an mein heutiges Wort: demnächſt
hören wir gar nichts mehr von ihm. Wir und die
Stadt haben die Frau und das Mädchen allein auf
dem Halſe. Von Heimathberechtigung kann ja wohl
nicht die Rede ſein, aber wohin ſollte die Kommune
ſie abſchieben, wenn der Gauner ſeinen Verpflichtungen
gegen ſeine Familie genügend nachgekommen zu ſein
glaubt, oder, was mir wahrſcheinlicher iſt, wenn ſie
ihn irgendwo da drüben an einem Strick an einem
Baume in die Höhe gezogen haben werden. Nach
oben ſtrebte er ja auch ſchon hier zu Lande, aber
hier hatte er doch nur mit den ordentlichen Behörden,
Gerichten und nicht mit dem Lynchſyſtem zu thun.“
In einem Hauſe, in welchem ſolche Reden über
ihren Papa geführt wurden, fühlte ſich weder die
Mutter noch das Kind des exotiſchen Sünders ſo
wohl und in verhältnißmäßiger Sicherheit, wie es
ſich für eine treue Nachbarſchaft im Vogelſang eigent¬
lich gebührte. Da bot das Häuschen und Stübchen
der Nachbarin Andres einen behaglicheren Unterſchlupf.
Es wurde dorten allen Sündern viel leichter ver¬
geben als — bei uns. Ich habe eben wahr zu
ſein, wenn ich durch dieſe Blätter bei meiner Nach¬
3 *[36] kommenſchaft irgend einen Nutzen ſtiften will, und
ſo ſage ich, daß auch ich ſelber mich lieber bei der
Mutter Veltens zu den Sündern, als bei meinen
eigenen Eltern zu den Gerechten zählen ließ. —
Alſo das Unglück war wieder einmal geſchehen
und hier hole ich es noch einmal hinein in die Akten
aus der feinen unaufgeſchriebenen Vergangenheit,
unſeren Kindertagen! Es hatte Feuerlärm im Vogel¬
ſang gegeben. Ich hatte die Hand meines Vaters
am Kragen gefühlt, meine Mutter hatte die Hände
gerungen, der Nachbar Hartleben hatte ſeiner „Ameri¬
kaniſchen“ zum zwanzigſten Mal gedroht, ſie mit
ihrem Balge beim nächſten Quartal auf die Gaſſe
zu ſetzen — „einerlei, wer mir dann zu meiner
rückſtändigen Miethe verhilft!“ — Lenchen-Timandra
hatte ſich, wie immer bei ſolchen Gelegenheiten, auf
dem Oſterberge in den Wald geſchlagen und ver¬
geblich nach ſich rufen und ſuchen laſſen, der Haupt¬
ſünder, mit ſeinen „nichtsnutzigen Pfoten“ wahrlich
in Leinöl und Watte, agirte in der Sofaecke den
Heros weiter, indem er ſeine nicht kleinen Schmerzen
ſo gut als möglich verbiß, und Frau Amalie ſeufzte:
„Junge, Junge, Dein ſeliger Vater! Das war
wieder ein Tag und Streich, bei dem wir Beide ihn
mit Thränen von Neuem vermiſſen. Großer Gott,
Velten, wen haben wir denn jetzt, der uns ſagen
[37] könnte, was aus Dir, Du Strick, noch mal werden
ſoll?“
„0h heaven, und mein Mann!“ ächzte Miſtreß
Trotzendorff; doch da zuckte die Doktorin Andres nur
die Achſeln und meinte ablehnend:
„Die Hauptſache iſt jetzt Hartleben mit ſeiner
Drohung für Dich, Agathe.“
„Der Grobian! Der unverſchämte Menſch!“
wimmerte die Exmillionärin vom New Yorker Breiten
Weg. „O, wenn doch mein Mann hier wäre.“
„Nun, nun,“ meinte Veltens Mutter, „der
würde uns wohl nicht viel helfen. Jawohl, grob
war er, der gute Nachbar, und Recht hätte er
eigentlich wohl, Ernſt zu machen, und Dich mit Deinem
armen Würmchen auf die Gaſſe zu ſetzen. Velten,
Velten, was habt ihr angerichtet.“
„Puh,“ rief aber jetzt Andres der jüngere, die
umwickelten Hände erhebend und wie ein kranker
Affe grinſend, „da iſt doch mein Vater noch!“
„Dein Vater? Dein armer ſeliger Vater?“
ſtammelte Frau Amalie.
„Hat der etwa nicht dem Nachbar Hartleben
und ſeiner Frau und ſeiner Schwiegermutter ein
halb Dutzend Mal das Leben gerettet? Hat er ihn
nicht wieder zurecht gebracht, als das Wagenrad über
ihn weggegangen war? Und hat Hartleben Dir nicht
[38] geſchworen, Mutter, Du ſollteſt nicht bloß Deinetwegen
ſondern auch wegen meines Vaters zu jeder Stunde
bei Tage und bei Nacht bei ihm anklopfen, wenn Du
was von ihm brauchteſt? Und hat er Dir nicht zuge¬
ſchworen, wenn er Dich nöthig hätte, käme er auch zu
Dir und Du ſollteſt immer das letzte und beſte Wort
bei ihm haben und dafür bedankt ſein?“
„Man muß die Güte der Menſchen aber auch
nicht zu ſehr in Anſpruch nehmen, Kind,“ lächelte
die Nachbarin Andres trotz aller Aufregung und
Sorge des Tages.
„Soll das etwa wieder ein Stich auf mich ſein,
Amalie?“ fragte die Nachbarin Trotzendorff, ihr
Taſchentuch in Bereitſchaft ſetzend und im Begriff,
ihren fragbedenklichen Lebensjammer der Schlechtig¬
keit und Bosheit der Welt überhaupt und alſo auch
der Mutter Veltens aufzuladen.
„Da kommt Herr Hartleben und bringt Lenchen.“
Ich war's, der vom Fenſter her dieſes erlöſende
Wort in dieſe „Geſellſchaft am Krankenlager“ warf,
und es war der Kranke, der aufſprang und gegen
die Thür lief und zwar mit den Worten:
„Was ſchreit es denn ſo? . . . Wenn Herr
Hartleben ihm —“
Er kam nicht zum Schluß ſeiner Rede. Hart¬
leben hatte „ihm“, das heißt dieſer anderen jungen
[39] Sünderin nicht ihren Lohn dahin aufgezahlt, wohin
er von Rechts wegen gehörte, er zog nur die „wider¬
borſtige Range“ am Arm hinter ſich her durch den
Garten, und trat mit ihr ins Haus und in die
Stube und ſagte, ohne ſich um ſeine Madame Trotzen¬
dorff im geringſten zu kümmern:
„Sehen Sie doch mal nach, Frau Doktern. Ich
meine ſie hat auch eine häßliche Brandwunde am
Ellbogen. Ich habe ſie oben am Oſterberge mit dem
Geſicht im Graſe und mit dem Arm im feuchten
kühlen Erdboden und Mooſe begraben gefunden.
Ich war wegen einer Holzabfuhr da oben, und bin
dem verbiſſenen Geſchluchze ſeitwärts in den Buſch
nachgegangen. Iſt das eine Komödie! iſt das eine
Schwefelbande! Na, nu fangen Sie nur nicht auch an
zu ſchluchzen, Madame — Miſtreß Trotzendorff. Lieber
Gott, Frau Doktern, und nun fangen auch Sie noch
an, den alten Hartleben wehleidig anzuſehen! Ja,
das iſt recht, ſehen Sie erſt nach dem Kinde. Nicht
wahr eine arge Brandblaſe. Und damit in den
Wald laufen, ſoweit als möglich von den Menſchen
weg. Je ärger der Schmerz, deſto dickköpfiger die
Verſtockung, der Trotz und Eigenſinn. Na, na, die
Beiden paſſen zuſammen, Frau Doktern, Ihr Junge
und dies kurioſe Geſchöpfe, unſer Lenchen Trotzendorff.
Ich ſage nichts, aber wenn dieſe Zwei ſich durch die
[40] Jahre und in der Nachbarſchaft noch näher anein¬
ander heranſpielen, ſo giebt das mal 'nen Haushalt
mit Mord und Todſchlag.“
„Ich bin nicht trotzig! ich bin nicht eigenſinnig!
Ich ging nur auf den Oſterberg hinauf, weil Velten
wieder Alles allein für ſich haben wollte und den
Großartigen ſpielen. Mir that es ſo weh, mir that
es weher als wie ihm. Karlchen weiß es, wie er iſt,
und ich will mich nicht von euch Allen eine Heultrine
ſchimpfen laſſen!“ weinte, ſchluchzte unter wahrem
Thränenſtrome Helene Trotzendorff jetzt unter den
Händen der beiden Mütter. Das heißt, eigentlich
nur unter den Händen der Nachbarin Andres, denn
die Nachbarin Trotzendorff konnte Verwundungen
nicht gut anſehen, geſchweige denn hilfebringend feſt
und kräftig anrühren.
Das Kind ſtand große Schmerzen aus; aber es
behielt während des Verbandes den Unheilskameraden
im Auge und rief mit dem Fuße aufſtampfend: „Ja,
gucke nur. Bilde Dir nur nichts drauf ein, dummer
Junge, daß Du ein Junge biſt. Und wenn uns
Herr Hartleben jetzt Deiner Dummheit wegen aus
dem Hauſe wirft, ſo will ich auch allein ſchuld daran
ſein und gehe wieder in die Welt und nach Amerika
und ſuche meinen Papa. Nicht wahr, Ma, und wenn wir
den gefunden haben, dann können wir wieder auf den
[41] Vogelſang aus unſerer eigenen Kutſche herunter¬
ſehen?“
„Nun höre Einer! höre ſie Einer!“ brummte
Hartleben. „Und was ſchwatzt der kleine Racker von
mir und was ich thun werde oder nicht? Aber da
ſie denn einmal die Rede auf die Sache gebracht hat,
ſo wollen wir auch bei ihr bleiben. Frau Doktern,
was Hartlebens Anweſen angeht, ſo wiſſen Sie, wie
Sie dazu ſtehen — Sie im Vogelſang! Und alſo
auch zu dem Wohnungskündigen und dergleichen.
Alſo wenn es Madame Trotzendorff nicht mehr bei
mir — aber eigentlich bei Ihnen nicht mehr gefällt,
ſo muß ſie das mit Ihnen ausmachen. Von wegen
meiner iſt ſie ſicher. Wir zu unſerer Zeit waren ja
eben auch Kinder und Jungen im Vogelſang und
haben ihn oft unſicher genug gemacht. Was mich
aber nicht abhält, dem Haupträuberhauptmann, dem
Musjeh Velten da ein bißchen anzurathen, ſich doch
manchmal ein warnendes Beiſpiel an ſeinem Freunde
Karlchen hier, dem Karl Krumhardt zu nehmen. Wenn
ein Skandalmacher im Vogelſang exiſtirt, dem ich
noch nicht mit einer Tracht Prügel habe drohen
oder aufwarten müſſen, ſo iſt er das. Alſo grüße
Du Deinen Herrn Vater, Karl, und mache ihm
fernerhin alle Freude. Miſtreß — Madame Trotzen¬
dorff: Hartleben kann wohl grob, ſackgrob werden,
[42] wenn er das Recht dazu hat; aber ein Unmenſch iſt
er nicht und wo er ſieht, daß weder Hart- noch Sanft-
Dreinreden hilft, da weiß er ſich auch zu beſcheiden —
vorzüglich bei den Damens. Alſo empfehle ich mich
und, liebe Frau Trotzendorff, wenn unſere Frau
Doktern Ihrem Wurm für dieſe Nacht ein Lager da
auf ihrem Sofa machen würde, wie ſie's auch mal
meinem kleinen ſeligen Hans gethan hat, ſo hielte
ich das für das Beſte. Das Kind wird doch wohl
dieſe Nacht durch ein bißchen unruhig ſein und Pflege
verlangen und Sie, liebe Madame, recht ſtören. Habe
ich ſchon wieder zu viel geſagt? na, denn guten
Abend rundum. Zwiſchen uns Beiden bleibt Alles
wie es iſt, Frau Doktern.“
Er war gegangen, und Lenchen Trotzendorff
bekam ihr Lager für dieſe Nacht und manche
folgende im Andresſchen Hauſe, dem rechten Nachbar¬
hauſe.
„Ich bin Dir ſo dankbar, Amalie, aber meine
unglückſeligen Nerven! Und dann biſt Du ja auch
eine Doktorsfrau und ſelbſt eine halbe Ärztin, Du
liebe, liebe Seele,“ wimmerte die Nachbarin Agathe.
[43]
Ich habe dem Nachbar Hartleben Raum zu ſeinen
Eräußerungen gegeben. Es lag mir daran, dieſen
guten Mann aus der Erinnerung mir hinzumalen,
wie er war und ſich gab zum Beſten ſeiner Nachbar¬
ſchaft. Have pia anima! ſanft ruhe ſeine Aſche: er
hat's auch um den Ritter mehrerer Orden, Dr. jur.
Oberregierungsrath Krumhardt verdient, daß der
ihn ſeinen Nachkommen nach den Akten, wenn auch
nicht aktenmäßig aufbewahre als ein Zeichen, wie es
vordem zuging im Vogelſang. Sein ſchmeichelhaftes
Wort über mich auf dem vorigen Manuſkriptblatt
kommt hierbei wahrlich nicht in Betracht, ſondern
vielmehr ein vollkommenes Gegentheil davon. Es
half ſehr, wenn der Nachbar Hartleben ſeine Meinung
über den Sohn meines Vaters dahin abgab:
„Bengel, wenn ich Du wäre, ſo hätte ich geſtern
doch nicht mit den Händen in den Hoſentaſchen
dabeigeſtanden und die Anderen allein es ausfechten
laſſen.“
Ich war dann wirklich das nächſte Mal nach
beſten Kräften mehr mit dabei. Gewöhnlich litten
dann aber leider nicht nur die Jacken, Hoſen, Naſen
und Augen, ſondern auch die Gefühle der Eltern
ſehr unter dieſer Beſſerung in Nachbar Hartlebens
Sinne. Die „Frau Doktern“ hatte dann nicht nur
mit einem Waſchnapf für die blutende Naſe, einer
[44] Kompreſſe für das geſchwollene Sehorgan, ſondern
auch noch mehr mit ſanftüberredender Bitte im
Nachbarhauſe „einzuſpringen“, wie Velten ſich aus¬
drückte.
„Meiner iſt natürlich der Hauptſünder geweſen.
Sagen Sie es ihm nur ja recht ordentlich, Herr
Nachbar!“ —
Mein wackerer, braver Vater! meine gute ſorgen¬
volle Mutter! ſie hatten wahrlich ihre täglichen und
nächtlichen Nöthe im Vogelſang. Leider aber tröſtet
und erquickt den Menſchen auf ſeinem Erdengange
auch die ſicherſte Gewißheit, daß er Recht habe, oder
es jedenfalls bekommen werde, wenig. Meine Eltern
hatten vollkommen Recht, und wußten das auch, aber
Genuß zogen ſie kaum aus ihrem Wiſſen. Dieſes
konnte ſie nur darin beſtärken, ihr eigen Fleiſch und
Blut möglichſt auf dem richtigen Wege zu erhalten,
auf daß und damit die Welt beſtehe und ordnungs¬
gemäß an nachfolgende Geſchlechter weitergegeben
werde. Nach beſten, treueſten, ſorglichſten Kräften
haben ſie ſo an mir gethan, und — gottlob, ich weiß,
daß meine Frau und meine Kinder mit ihren Er¬
ziehungsreſultaten zufrieden ſind. Sie ſehen alle
mit Reſpekt zu dem alten Herrn Rath, dem „Großpapa“,
über meinem Schreibtiſche auf, und meine Frau ſagt
dann auch wohl lächelnd:
„Du, es iſt möglich, daß Du es nicht glaubſt;
aber ich glaube, die Mama, Deine Mutter, ſetzte
häufiger ihren Willen gegen ihn da auf dem Bilde
durch, als ich den meinigen Dir gegenüber. Vor¬
züglich was die Kinder anbetrifft.“
„Sie theilten ſich eben auch in die Verantwortlich¬
keit dafür gegenüber der Welt, mein Schatz.“ —
Ja, ja, ſo redet man über den Schreibtiſch weg,
am trauten Winterofen, in der Gartenlaube über die,
ſo ihrer Arbeit für diesmal entledigt ſind, über die
Gras wächſt und zu denen noch einige Zeit ihre
Nächſten im Leben kommen, bis Straßenzüge, Eiſen¬
bahngeleiſe oder im beſten Falle der Ackerpflug über
ſie weggehen, und ihre Stätte nicht mehr gefunden,
doch auch nicht mehr geſucht wird.
Ja, über den Schreibtiſch weg ſehe ich heute
(nicht mit leiblichen Augen) auf unſern alten Kirch¬
hof im Vogelſang, wo ſie den Rath und die Räthin
Krumhardt, den Doktor und die Frau Doktern Andres
und den Nachbar Hartleben ſo nachbarſchaftlich neben¬
einander gebettet haben, und wo wir, meine Kinder,
mein Weib und ich, wo Velten Andres und Helene
Trotzendorff nicht ihre Ruheſtätten bei ihren beſten
Erziehern finden werden. Jetzt liegt auch er ſchon
zwiſchen Backſteinmauern und Cement-Kunſthandwerk,
der Friedhof des Vogelſangs; damals lag er noch
[46] vollſtändig im Grün, und eine lebendige Hecke ging
um ihn her. Hohe Bäume überſchatteten ihn und
die Vögel ſangen da noch — auch die Nachtigal zu
ihrer Zeit, und hier war's, wo wir, wenn uns der
Weg zum Walde hinauf zu ſonnig war, nicht Schiller
und Goethe (die hingen uns von der Schule her
aus dem Halſe, wie Velten ſich ausdrückte) ſondern
Alexander Dumas den Vater laſen und mit ſeinen
drei Musketieren, wie er, die Welt eroberten.
Und dann —
Und dann —
Und wenn ſich alle Schulmeiſter der Welt auf
den Kopf ſtellen, oder vielmehr feſt hinſetzen aufs
Katheder: ſie erobern die Welt zwiſchen dem ſechzehnten
und zwanzigſten Lebensjahre doch nicht durch moraliſch,
ethiſch und politiſch gereinigte Anthologien. Der
„Unſinn“, der Mondenſchein, der „frivole Ungeſchmack“
und die Nachtigal, der „Blödſinn“, der Lindenduft,
das ferne Wetterleuchten und die hübſche Jungfer
[47] Lorelei im lichten Sommerkleide im Mondlicht be¬
halten doch ihr Recht: der Spiegel behält ſein
Recht; aber nicht die Rute dahinter . . .
„Das Gewitter ſcheint doch heraufzukommen,
Velten!“ ſage ich, während wir jetzt noch im Mondlicht
neben einem Grabe ſtehen, auf dem eine einfache
Steinplatte in Goldſchrift den Namen Valentin Andres,
Doktor der Arzneikunde, nebſt Geburts- und Todes-,
Jahres- und Tagesdatum trägt; und Velten Andres
lacht:
„Laß es kommen,
und das iſt wieder aus einem Poeten, den man um
dieſe Lebenszeit ſehr gern citirt, wenn auch die
Citate wie die Fauſt aufs Auge paſſen. Aus dem
Ferdinand Freiligrath iſt's, der auch nicht von den
Herren Lehrern zu den Klaſſikern gezählt wird, ſich
ſelber nicht dazu zählte, und doch auf ungezählte
Hunderttauſende, Millionen von Schuljungen von
größerem Einfluß iſt als der Dichter des Egmont,
der Iphigenie und des Torquato Taſſo. —
Seinen Vater kennt Velten eigentlich nur aus
den Erzählungen ſeiner Mutter.
„Nur der Mutter und meinetwegen hat er ſich
was aus dem Sterben gemacht, für ſich ſelber nichts,“
[48] ſagte der Sohn ſeines Vaters. „Kommt dieſer Sofa¬
held uns hier auf dem Kirchhofe mit ſeinem dummen
Gewitter! Geh Du dreiſt nach Haus und hol Dir
einen Regenſchirm, wenn Deine Alten Dich wieder
loslaſſen; Miß und ich bleiben hier, bis wir naß
ſind bis auf die Knochen. Famos, da verkriecht ſich
die holde Luna und da haben wir die Proſtemahlzeit,
wie ſie in Schödlers Buch der Natur ſteht. Komm
raſch nach Hauſe, Lenchen! Deine Alte kenn ich, die
wird ja rein verrückt beim leiſeſten Donner, und
auf meine Alte und mich wird's natürlich allein ab¬
geladen, wenn Du morgen mit einer Schnupfennaſe
herumläufſt.“
„Lächerlich machen laſſe ich mich nicht,“ ſagt
Helene und ſetzt ſich auf einen halbverſunkenen Grab¬
ſtein neben dem des Doktors Andres. „Ich bleibe
hier, wie Du geſagt haſt! Aber auch allein. Bilde
Dir ja nicht ein, Du Schafskopf, daß Du morgen
mit mir renommiren willſt. Karlchen, nimm ihn
auf den Arm und trag ihn zu ſeiner Mama. Ja,
ich bleibe hier und denke an meinen Vater; — was
kümmern mich eure Todten und dummen Gewitter?
In Amerika kommt das ganz anders, und kommt
mein Vater, um uns wieder zu ſich zu holen, ſo —
o Himmel, Velten!“
Sie hatte trotz ihrer ſtolzen Worte doch einen
[49] kleinen Schrei ausgeſtoßen, ob des erſten, grellen
Leuchtens und raſch nachfolgenden Krachs aus der
Höhe. Sie duckte ſich auch vor dem Platzregen, aber
ſie biß die Zähne zuſammen und blieb auf ihrem
Sitze.
„Jetzt ſei keine Närrin, Lenchen. Komm mit
nach Hauſe.“
„Nein.“
„Thu es Karls wegen. Der arme Teufel beſieht
Redensarten, an denen er wochenlang zu kauen
hat, wenn er mit verdorbenem Sonntagsſtaat heim
kommt.“
„Er kann ja laufen. Ihr könnt meinetwegen
Beide laufen; ich finde meinen Weg ſchon allein.
Ich denke an meinen Vater in Amerika und brauche
keinen andern hier. Meine Mutter ſagt, wenn er
kommt, iſt er reicher und vornehmer und ſtärker als
Alle hier.“
„Es iſt wahrhaftig Hagel dabei, und die Sache
wird ungemüthlich, Karl,“ brummt Velten. „Na, bei
ſchönem Wetter habe ich nichts dagegen, daß Du die
Märchenprinzeß herausbeißeſt, Miß Ellen; jetzt hör
auf mit Deinem Schnack; — und gehſt Du nicht willig,
ſo brauch ich Gewalt, ſagt Goethe, und nun komm
Herzchen —
[50]
Der ſechzehnjährige Signor Petrucchio hat den
Rock abgeriſſen und ihn dem ſein wildes, phantaſtiſches
Köpfchen mit beiden Armen gegen den niederraſſelnden
Hagel- und Platzregenſturm ſchützenden Kinde über¬
geworfen, das nur ſchwach widerſtrebende aufgegriffen
und zwar mit dem ferneren Citat aus dem Sekun¬
daner-Klaſſikerthum:
fügt aber hinzu: „Eigentlich iſt's umgekehrt: die
Kröte hat das Wort. Ja, zapple nur, Kröte, kleine
Rieſenkröte! Dieſen Abend ſind mir noch in Deutſchland,
und Deiner Mama Vereinigte Staaten von Nord¬
amerika und ſonſtigen Herrlichkeiten können mir —
kommen.“
Wie Helene und Velten von den Müttern
empfangen werden, habe ich nicht in den Akten; was
mich ſelber betrifft, ſo wird mein Vater wohl geſagt
haben:
„Endlich könnten dieſe Dummheiten wohl auf¬
hören. Allotria auf dem Kirchhofe! Und übrigens
ſcheinſt Du mir auch ſeit längerer Zeit ſchon Dich
einer recht überflüſſigen, wenn nicht ſchädlichen Leſerei
[51] zu ergeben. Bleib' bei Deinen wirklichen Büchern
und meinetwegen auch älteren Poeten; aber laß mir
dieſe dummen Romane und ſogenannten neueren
Dichter aus dem Hauſe, mein Sohn. Nebenan da
zur Vernunft zu reden, hilft ja nichts; da laß ich den
Narreteien allmählich ihren Weg; aber hier in meinen
vier Pfählen bleibt Verſtand Verſtand, Sinn Sinn,
Unſinn Unſinn und Schund Schund. Was iſt Deine
Meinung, Adolfine?“
„Bis auf die Knochen muß der Junge durchweicht
ſein. Eine wahre Überſchwemmung hat er mir in
die Stube mitgebracht. Gott ſei Dank, Kind, daß
Du wenigſtens mit heiler Haut wieder da biſt. Mir
beben noch die Glieder — das ſieht ſchön aus
im Garten nach dem Hagel und Gewitter. Geh jetzt
hin und zieh Dir was Trockenes an und vor allen
Dingen Pantoffeln.“
Habe ich mir ſo ſehr Pantoffeln und ſo ſehr
„was Trockenes“ nach dem Rath meiner armen, guten
Mutter angezogen, daß man es mit Mißbehagen aus
dieſen Blättern mir anmerkt?
Ich glaube nicht.
[52]
Was erzieht Alles an dem Menſchen! Und wie
werden mit allen anderen Hoffnungen und Be¬
fürchtungen Eltern-Sorgen und -Glücksträume zu
nichte und erweiſen ſich als überflüſſig oder beſſer,
als mehr oder weniger angenehmer Zeitvertreib im
Erdendaſein!
Als ein wohlgerathener Sohn, als ein älterer
verſtändiger Mann, als wohlgeſtellter Familienvater,
als „angeſehener“, höherer Staatsbeamter erzähle ich
heute weiter vom Vogelſang, und theile zuerſt mit,
daß mir, wenn nicht die beſten Lateiner und Griechen
auf unſerm illuſtren Gymnaſium, ſo doch die beſten
Engländer waren. Der für dieſen Unterrichtszweig vom
Staate beſoldete Oberlehrer und Doktor war, obgleich
er ein ganzes halbes Jahr „in London geweſen war“,
durchaus nicht ſchuld daran. Wir hatten das einzig
und allein dieſer „kleinen amerikaniſchen Krabbe“ zu
verdanken, die zuerſt uns in den Vogelſang die ver¬
blüffende Offenbarung brachte, daß allerhand nichts¬
nutzige Sprachen nicht nur todt zu unſerm Elend in
den Grammatiken und in Büchern ſtänden, ſondern
wirklich und wahrhaftig lebendig ſeien und bei aller¬
hand Völkerſchaften außerhalb des deutſchen Vater¬
landes tagtäglich im Gebrauch und um uns im
Vogelſang zu „imponiren“.
„Imponiren laſſe ich mir nicht. Schlage mal
[53] auf im Lexikon: nasty,“ ſagte Velten, lange vor
unſeren Sekundaner-Mondſchein- und -Gewitter-
Abenden mit Heine, Geibel und Uhland in der Taſche
und im Hirn und Herzen. „Boy heißt Junge,
Bengel oder dergleichen, das weiß ich; aber Nasty
boy hat das Balg zu mir geſagt und die Zunge
herausgeſteckt. Gieb mir das Buch, wenn Du es
nicht finden kannſt.“
Er riß mir das Lexikon aus den Händen, fand
das Wort, und — von da an bis zu Shakeſpeare,
Byron und dem übrigen Groß und Klein iſt wieder
einmal nur ein Schritt geweſen.
Als wir Primaner geworden waren, hatte Miß
Ellen Trotzendorff ſich zu einem allerliebſten, naſe¬
weiſen, eigenſinnigen deutſchen Backfiſch herausge¬
wachſen, aber ihr Engliſch oder Amerikaniſch ſo ziemlich
vergeſſen: wir aber konnten es. Velten ausgezeichnet,
ich mittelmäßig, doch auch vollkommen genügend für
ein rühmliches Schulabgangszeugniß in dieſer Hinſicht.
Miſtreß Trotzendorff, die mit ein paar angelernten
Phraſen von New York herübergekommen war, blieb
bei denſelben: übrigens wuchs ſie ſich, wie der
Vogelſang ſagte, im Laufe der Jahre allgemach aus
einer armen Perſon, die für ihre Kümmerniſſe nichts
konnte, zu einer kompletten Närrin heraus. Und
obgleich ſie auch dafür eigentlich nichts konnte, ſo
[54] ließ der Vogelſang hier doch keine Entſchuldigung
gelten, ausgenommen die Nachbarin Andres, die mit¬
leidig und geduldig bei dem Wort blieb:
„Die arme Agathe!“ —
Jawohl, wir hatten Alle unſere Noth mit der
„armen Agathe“; Jeder auf ſeine Weiſe. In der
beſten die Frau Doktor Andres, in der ſchlimmſten
des wirklich armen Weibes eigenes Kind. Was für
eine Närrin wäre das geworden, wenn nicht der
Vogelſang in allen ſeinen Nuancen, Schattirungen
und Abſchattirungen um es herum geweſen wäre?
Welche Bilder und Gedanken ſteigen mir da auf,
wie ich wieder den Brief in die Hand nehme, den
mir Helene Trotzendorff, verehlichte Mungo aus
Berlin geſchrieben hat, und der mich dazu gebracht
hat, dieſe Blätter mit meinen Lebenserinnerungen
zu füllen!
Während mir, Velten und ich, wie letzterer ſich
ausdrückte, unſern Stiefel fortgingen, wuchs unſere
Kleine auf wie eine gebannte, verzauberte Prinzeſſin
aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm. Sie
war klug und ſchön und wurde immer klüger und
immer ſchöner; aber ſie hatte in Lumpen zu gehen,
im wilden Walde im bloßen Hemde zu irren, auf
bloßen Füßen Waſſer zu holen für die Küche und
die goldenen Haare auf der Heide als Gänſemädchen
[55] zu ſtrählen. Und leider war ſie in ihrer Verzauberung
im Vogelſang nicht ſo geduldig wie die ins Elend
gerathene Königstochter der lieben Sage. In den
Bäumen am Oſterberge ſaß ſie wohl auch dann und
wann auf einem bequemen Zweig als Allerleirauh;
aber „die Haare ſehr nach innen“, wie wiederum Velten
ſich zierlich und bezeichnend ausdrückte. Wer ſie zu
Thränen der Reue, Rührung und Ergebung bringen
wollte, mußte das fein anfangen, und gelang es
eigentlich nur der Nachbarin Andres: Thränen der
Wuth und Bosheit ihr zu entlocken, war recht leicht,
und dieſen „Spaß“ machte ſich Velten Andres, der
Sohn ſeiner Mutter, nur zu häufig. Was Helene
Trotzendorff Gutes aus dem Vogelſang in ihres Vaters
Königreich ſpäter mitgenommen hat, hat ſie zum
größten Theil doch nur den Beiden zu danken gehabt. —
„Nun höre ſie Einer da drüben,“ ſagte um dieſe
Lebenszeit mein Vater, in unſerer Gartenlaube beim
Sonntagsnachmittagskaffee von der Zeitung aufſehend.
„Da liegen ſie ſich wieder bei der Doktorin in den
Haaren — einerlei ob es Spaß oder Ernſt iſt; die
Paſſanten bleiben ſtehen und die Nachbarſchaft legt
ſich in die Fenſter und hat ihren Grund dazu. Und
die Amalie lacht dazu! Endlich könnte ſie doch be¬
denken, daß ſie keine Kinder mehr ſind. Junge,
Junge, wenn ich Dich nur erſt glücklich auf der
[56] Univerſität habe! Sieh doch mal über die Hecke,
Frau, und frage Deine Amalie, was ſie nun wieder
vorhaben. — Der Lärm iſt ja unerträglich.“
Jawohl, der Lärm war unerträglich, vorzüglich
für mich, der trotz ſeiner beſſern Erziehung und Be¬
aufſichtigung, oder gerade wegen derſelben, ſo gern
mit dabei geweſen wäre; aber —
„Was habt ihr denn, Kinder?“ fragte, ihr
Strickzeug niederlegend, meine Mutter über den
nachbarlichen Zaun, und — da ſind ſie ſchon mit
hochrothen Köpfen, Fräulein Ellen und Velten Andres,
und hinter ihnen erſcheinen die Mütter, Miſtreß
Trotzendorff in Thränen — und die Frau Doktern
ſagt über deren Schulter weg mit ihrem Lächeln:
„Ja, es war die höchſte Zeit, daß von hier aus
mal wieder eingeſchritten wurde. Jetzt reden Sie
Vernunft, Nachbar Krumhardt; ich bin mit der
meinigen vollſtändig zu Ende.“
Es war am Tage vorher eine Hundertdollar¬
note aus Nordamerika im Vogelſang angelangt, und
Mrs. A. Trotzendorff hatte, ohne alte Schulden in der
Nachbarſchaft abzutragen, ſofort an dieſem Sonntag¬
nachmittag ihre Vernunft walten laſſen, das Wort
genommen und es behalten trotz Veltens naſeweiſen
unverſchämten Einredens, trotz der Frau Amalie
[57] abwehrenden Kopfſchüttelns und Lächelns, ja auch
trotz ihres Lachens.
Sie hatte ein gar liebes, doch auch vielbe¬
deutendes Lachen an ſich durch ihr ganzes Leben,
die Frau Doktorin Amalie Andres; aber es wirkte
auch am heutigen Tage ſo wenig auf Deutſch-Amerika
wie meines braven Vaters nüchterne, ehrliche Ernſt¬
haftigkeit.
Die neunte Woge iſt ja wohl im Auf und
Nieder des Meeres die Woge der Götter und des
Glückes, und wenn das auf den Waſſern mit Hilfe
des Windes wirklich der Fall iſt, weshalb ſollte da
nicht auch im Auf und Nieder des Menſchenlebens
ſolch' eine neunte Woge den muthigen Schwimmer
zur Höhe heben? Nach den dann und wann aus
den Vereinigten Staaten im Vogelſang einlaufen¬
den Briefen hob ſich Mr. Charles Trotzendorff
mindeſtens wieder auf der ſiebenten, wenn nicht gar
achten Welle: „Daß er die armen Seelen, ſeine
Närrin von Frau und das Kind nicht ganz abge¬
ſchüttelt hat und für ſie verſchollen iſt, iſt mir frei¬
lich ein Wunder; aber ein Schwindler war er, und
ein Schwindler bleibt er, und was an ſeinen Rimeſſen
hängen mag, das möchte ich auch nicht Alles auf
meinem Gewiſſen haben,“ ſagte mein Vater. Doch:
„O, lieber Krumhardt, beſter Nachbar,“ ruft
[58] jetzt die Frau Nachbarin Agathe. „O, mein Charles!
mein armer herrlicher Charles! mein Einziger! Ich
weiß das ja nur zu gut, wie ihr hier über ihn denkt.
Glaubt ihr, ihr hättet es mir dieſe langen ſchreck¬
lichen Jahre durch nicht merken laſſen? Wenn auch
nicht durch Worte, doch auf jede mögliche andere
Weiſe! Und nun ſchreibt er: wir könnten anfangen,
die Fühlhörner wieder aus dem Schneckenhauſe zu
ſtecken, er thue es auch. Elly, die Schneiderin kommt
doch übermorgen gewiß? O Gott und wenn ich
dann mit meinem vollen Herzen zu euch komme,
ſo ſitzt ihr da und zieht Geſichter in mein Glück;
der Eine auf die eine Weiſe, der Andere auf die
andere. Ich bin ja ganz gewiß dankbar und weiß,
wie ſehr ich euch für ſo manche Güte verpflichtet
bin; aber ich weiß auch, daß Charles ganz gewiß
ſeine und meine Schuld bei euch abtragen wird.
Dem Himmel ſei Dank, daß ich mir und meinem
armen Kinde bald nicht mehr jeden armſeligen Fetzen
auf dem Leibe nachrechnen laſſen muß! Und, Amalie,
Hartleben will ich ja auch fürs erſte noch nicht mein
entſetzliches Unterkommen bei ihm kündigen und mich
nach einer anſtändigeren Wohnung in der Stadt um¬
ſehen. Fragt doch nur Ellen, ob wir nicht ganz
genau wiſſen, was wir an dem Vogelſang haben,
wenigſtens bis jetzt gehabt haben. Nur noch eine
[59] kurze Zeit abwarten ſchreibt er ja, gottlob, alſo,
bitte, habt auch ihr gütigſt nur noch eine kleine
Weile Geduld mit uns! Ihr ſollt uns ja auch
drüben ſpäter willkommen ſein, und das ſage ich
beſonders Dir, lieber Velten. Jawohl, Dir! Schneide
Du nur Deine Geſichter und zupfe Ellen am Ärmel!
Das Kind hat's ja leider Gottes hier in unſerem
Hunger und Kummer vergeſſen, in was für eine
andere Welt es hineingehört von Vater und Mutter
wegen. Beſter Krumhardt, in dieſer Hinſicht werden
Sie ganz auf meiner Seite ſtehen, wenn ich unſerer
guten Amalie jetzt ganz offen ſage, daß der junge
Mann, ihr Sohn, unſer guter Velten, nicht von dem
beſten Einfluß auf — ich will mal ſagen, ſeine Um¬
gebung iſt. Mit bloßem Geſichterziehen und ſpitzigen
lächerlichen Anmerkungen und allem übrigen von
der Art kommt man nicht durch die Welt, lieber
Velten, und beſuchſt Du uns ſpäter wirklich vielleicht
einmal auf dem Broadway, ſo werden Dir mein
herrlicher Gatte, Ellens Pa — und die große Welt
ſelber Dir das noch etwas klarer machen, als ich es
könnte und — hier Luſt dazu hätte.“
Dieſer Sommer-Sonntagnachmittag, der eigentlich
ganz gemüthlich und vogelſangmäßig angefangen hatte,
ging wieder einmal recht unbehaglich zu Ende. Die
Nachbarin Trotzendorff irrte ſich doch ſehr, wenn ſie
[60] meinte, meinen Vater durch ihre unvermuthete Hin¬
weiſung und den Angriff auf den armen guten
Velten ganz für ihre ſonſtigen Anſchauungen, ſowie
überhaupt ihre Lebensanſchauung gewonnen zu haben.
Es war dem ernſten würdigen Herrn Manches nicht
recht an meinem beſten Freunde, aber eigentlich
gar nichts an Miſtreß Agathe Trotzendorff und gar
an Mr. Charles Trotzendorff.
Nun, was den Letzteren anbetraf, ſo genügte faſt
immer eine wegſchleudernde Handbewegung und eine
lang hingeblaſene Tabakswolke, um den vollkommen
und für immer aus Raum, Zeit und Kauſalität für
den Obergerichtsſekretär Krumhardt hinauszuweiſen.
Da er dazu aufgefordert worden iſt, ſo nimmt
er das Wort, mein ſeliger Vater, und ſagt der
Nachbarin Agathe ſeine Meinung, giebt ſie vor der
geſammten Freundſchaft umher zu Protokoll. Ohne
im geringſten wegen Injurien belangt werden zu
können, erklärt er ſie für die albernſte, unzurechnungs¬
fähigſte Gans, die jemals dem Vogelſang durch ihr
Gegacker und Geſchnatter die Harmonie geſtört habe.
Wie er ſelbſt meinetwegen wohl ſeine Hoffnungen
hat, aber ſich keine Illuſionen macht, ſo ſind ihm
Illuſionen des Nebenmenſchen vollkommen unerfind¬
lich und alſo auch unbegreiflich. Obgleich er ſelber
die mehr oder weniger ſpärlich aus Amerika ein¬
[61] laufenden Banknoten und Wechſel zu deutſchem
Gelde zu machen hat, glaubt er doch im Grunde an
ſie nie recht und hat immer das Gefühl, der trans¬
atlantiſche Telegraph ſei ihm bei dem Bankier mit
dem einheimiſchen Staatsanwalt zuvorgekommen und
zwar in lakedämoniſcher Kürze durch das eine Wort:
Schwindel! Er iſt ein eifriger Zeitungsleſer und
weiß, daß merkwürdige Sachen in der Welt [vor¬
kommen und] merkwürdige Leute ein kurioſes Glück
haben, nicht bloß in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika, ſondern auch im deutſchen Vaterlande,
aber an ſeinen alten Schulbankgenoſſen Charles
Trotzendorff glaubt er weder im deutſchen Vaterlande
noch in den Vereinigten Staaten von Nordamerika;
Es giebt auch Illuſionen der Verneinung. Sie
nehmen überhaupt wunderliche Formen und Farben
an, unſere — Täuſchungen im Daſein auf dieſer
Erde. —
Wie deutlich die verſtörte Gruppe in der Garten¬
laube mir heute noch vor Augen ſteht! Miſtreß
Trotzendorff in kindiſchen Thränen, Helene in
trotzigen; meine Mutter in verhaltenen, verlegenen,
aber ganz und in Allem der „Anſicht des Vaters“.
Freund Velten mit einem zugekniffenen und einem
nach Miß Ellen hinüberblinzelnden Auge und über¬
haupt einem Geſicht wie: „Herr Gott, wozu Dein
[62] ſchönes Wetter und Deine angenehme Welt, wenn
Keiner was damit anzufangen weiß?“ — und die
einzige auch jetzt dem Vogelſang vollkommen Ge¬
wachſene, „unſere Amalie“, ſeine Mutter, Nachbar
Hartlebens Frau Doktern — die Frau Doktorin
Amalie Andres! —
Im Grunde iſt ſie doch die Einzige von Allen,
vor der auch mein Vater Reſpekt hat und auf die
er hört, wenn er das Wort genommen hat, und ſie
es nach ihm nimmt, trotzdem er als „Familienfreund“
auch ihr gegenüber das Wort: „Unzurechnungsfähiges
Frauenzimmervolk“ oft genug hinter den Zähnen
brummt. Und ſie ſagt jetzt, „ihr“ Kind — nicht
ihren „dummen Jungen“, ſondern die „arme Kleine
von drüben überm Weg und überm Weltmeer“ zu
ſich heranziehend:
„Lieber Nachbar Krumhardt, ich bitte! — Aber
ihr Leutchen, was ſeid ihr für ein Volk! Wie ſoll
ſich denn Unſereins hier durchfinden, wenn Jeder
rundum Recht hat von ſeinem Standpunkt aus? Beſte
Agathe, was hätte ich wohl und der arme Velten
dieſe letzten, langen, traurigen Jahre ohne den ver¬
ſtändigen treuen Freund unſerer Familie, ohne unſern
Familienfreund anfangen ſollen? Und wie undank¬
bar ſind wir oft geweſen! Wie oft haben wir es
beſſer verſtehen wollen als er! Ja, Nachbar Krum¬
[63] hardt, das iſt nun eben Ihr Schickſal, daß Sie in
eine ſolche Geſellſchaft von Phantaſiemenſchen geſetzt
worden ſind und Geduld haben müſſen. Wie oft
habe ich mir in ſchlafloſen Nächten vorgehalten: im
Grunde biſt Du die Allerſchlimmſte, Amalie! Selbſt
Agathe Trotzendorff fährt nicht ſo närriſch wie Du auf
den Wolken und ihren Hirngeſpinſten über dem Vogel¬
ſang im blauen Himmel umher. Da habe ich denn
wohl nach Entſchuldigungen geſucht, und die beſte nur
auf unſerm Kirchhofe gefunden: Hätte der Liebe da,
der dort unter ſeinem grünen Hügel liegt, Dich nicht
ſo ſehr verzogen und mit ſich in die Höhe gezogen,
ſo möchteſt Du ja auch wohl vernünftiger und ver¬
ſtändiger in den tagtäglichen Dingen und Angelegen¬
heiten ſein und Deinen Velten beſſer erziehen und
dem Herrn Oberregierungsſekretär weniger Verdruß
machen können. Sehen Sie, beſter Nachbar, und
dieſe Entſchuldigung hat dann gerade das Gegentheil
von meiner und Veltens Beſſerung bewirkt. Ich
habe mir verhältnißmäßig glückliche Thränen abge¬
trocknet und bin doch mit beſſerem Gewiſſen auf
meinem Kopfkiſſen eingeſchlafen als ich mich drauf
hingelegt hatte. Und weil mir denn hier plötzlich
ſo in eine allgemeine Beichte hineingerathen ſind, ſo
kann ich nur ſagen, daß ich am anderen Tage nach
jeder ſolchen Gewiſſensbißnacht ſtets die allermög¬
[64] lichſten und Ihnen verdrießlichſten Einwendungen
gegen Sie hatte, beſter, theurer Freund — und wie
geſagt, ſo haben Sie eben mit uns Geduld haben
müſſen, dieſe letzten ſchweren Jahre durch, wo Sie
unſere einzige treue, ſorgliche, männliche Stütze
in der nahen Nachbarſchaft und der weiten Welt
waren, Herr Nachbar. Sie ſchütteln den Kopf, weil
ich hier ſo in den ſchönen Sonntagsabend hinein¬
ſchwatze und ich bin noch nicht fertig, ſondern komme
jetzt auf Agathe. Ja, Nachbar, da ſehen Sie mich
nur an: gegen die habe ich die nämliche vergebliche
treue Familienfreundsrolle geſpielt, wie Sie gegen
mich. Wie habe ich der, in Ihrem Sinne, Herr
Nachbar, Vernunft geſprochen, ohne das Geringſte
auszurichten. Eben noch, wie Sie ſelber von hier
aus gehört haben. Und das Reſultat? Wie immer!
Wie ich gegen Sie, Herr Regierungsſekretär: Halb
Thränenfluth, halb zehn ausgeſpreizte arme wehrloſe
dumme Weiberkrallen! Gerade ſo wie ich! Nur ein
kleiner, ganz kleiner Unterſchied: ſie ſucht immer
noch ein Glück, welches es doch nicht giebt; ich will
nur aus angeborener Schwäche und Ängſtlichkeit mir
manchmal nicht gern eine erträgliche Stunde ver¬
derben laſſen. O ja, auch deshalb wäre es für uns
beide Frauen wohl beſſer, wenn ich meinen Velten
von Hauſe wegſchickte, und ihr ihr liebes Kind auch
[65] genommen würde, um unter beſſere Zucht und
ſtrengere Obhut zu kommen, als ſie, und ein bißchen
auch ich, leiſten können. Aber ſie will ihre Helene
für den lebenden Vater bei ſich aufbewahren, und
ich frage mich bei Allem: was würde Valentin dazu
ſagen? Was würde der todte Vater zu Dir und
Deinem Velten ſagen? Und das nimmt mir auch
gegen Agathe alle Waffen aus der Hand. Ja,
ſchütteln Sie nur den Kopf, Nachbar; Sie haben
vollkommen Recht: wir bedürfen eines Vormundes
auch wo, oder beſonders wo, wie in unſerem Fall,
unſere Kinder und unſere Männer für uns armen
Weibsleute mit im Spiel ſind. Freilich iſt's
kein dankbares Geſchäft, gerade da den Vor¬
mund ſpielen zu müſſen! Leider wiſſen Sie das
auch mir gegenüber aus tauſendfacher Erfahrung
Nachbar Krumhardt; alſo“ — und ſo weiter und
ſo weiter noch eine geraume Weile.
Aber mein Vater hielt ſich auch ſchon ſeit einer
geraumen Weile den Kopf mit beiden Händen um
nicht zu ſagen: mit beiden Händen die Ohren zu.
Was ſie ſagen wollte, die Frau Doktorin Amalie
Andres, wußte er wohl; jedoch wie ſie es heraus¬
brachte, das ging ihm doch über die Bäume, nicht
nur ſeines Hausgartens, ſondern auch des ganzen
Vogelſangs. Und noch dazu in Gegenwart der
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 5[66] Kinder — der Unmündigen — dieſes jungen Volkes,
dem da eine ſaubere Heckenpredigt gehalten wurde,
auf die es ſich freilich bei jeder nachfolgenden Lebens¬
thorheit und Nichtsnutzigkeit berufen konnte.
Man brauchte da nur den Schlingel, den Velten,
anzuſehen, wie der, nach außen mit dem komödianten¬
hafteſten Armenſündergeſicht, nach innen hinein ſeine
„glorioſe Alte“ herzte und küßte und den ernſten,
treumeinenden Familienfreund zum Narren und für
einen Narren hielt.
Und dann gar die verzogene Krabbe der ent¬
mündigungsreifen Amerikanerin aus dem Vogelſang!
Dies junge Ding, das Hartleben heute mit der Peitſche
aus ſeinem Lieblingsbirnenbaum herunterholen wollte,
um ihm morgen den Korb mit der ganzen Ernte und
einem Blumenſtrauß darauf perſönlich ins Dach¬
ſtübchen auf ſeinem Anweſen hinaufzutragen! Dieſe
„kleine Affe“, die einen ſelbſt in dieſen jungen
Jahren zur Verzweiflung bringen konnte mit ihren
angeborenen „Allüren“ und den aus allem, was
nichtsnutzig im Leben war, zugelernten; gleich¬
viel ob es mütterliche Erziehung, Modenzeitung,
Leihbibliothekslektüre oder Herumtreiberei mit allen
jungen Taugenichtſen des Vogelſanges in Wald und
Feld hieß!
Ich habe dieſen einen Sonntagnachmittag von
[67] vielen Hunderten ſeinesgleichen, und nicht bloß im
Sommer, ſondern auch in jeder anderen Jahres¬
zeit, wenn nicht aktenmäßig, ſo doch aus den Akten
ſo deutlich und farbenfriſch als möglich zu Papier
gebracht. Es erübrigte mir alſo nur noch, auch zu
ſchildern, wie mein Vater all das Seinige: Pfeife,
Tabakskaſten, Zeitung, Amtsblatt an ſich nahm und
immer als ein durch Weiberlärm, Dummheit, Gezeter
betäubter, durch feuchte Taſchentücher und trockenſte
Albernheit aus jedwedem Konzept gebrachter Familien¬
vater, Familienfreund und wohlmeinender Nachbar,
im Sommer die Gartenlaube, im Winter die Familien¬
ſtube, hinter ſich ließ und ſich in ſein Reich, eine Treppe
hoch, zurückzog und mich gewöhnlich mit ſich nahm.
Ich verzichte drauf; aber ſeinen Griff verſpüre ich
heute noch am Oberarm, wie ich mich in dieſem
düſtern Wind- und Reifmond, mit Miſtreß Mungos
Brief vor mir, in jene doch ſo unſchuldige, glück¬
ſelige, ſonnedurchleuchlete Zeit zurückdenke. Dann
aber ſehe ich auch zu dem Bilde des alten Herrn
über meinem Schreibtiſch unter einigen Gewiſſens¬
biſſen auf und — möchte das Nachgefühl ſeiner
grimmigen, aber treuen Fauſt an meinem Arm
wahrlich nicht miſſen; auch durch mein ganzes
ferneres Leben.
[68]
Und doch! Mit welchem Verdruß, Trotz und
mehr oder weniger deutlichem Widerſtreben habe ich
zu jenen Zeiten, da er noch mehr als eine Erinnerung
war, jenen guten Griff erduldet! Und wie oft habe
ich mich von ihm frei gemacht und bin mit den
beiden Anderen durchgegangen im Vogelſange in den
Vogelſang und auf den Oſterberg, aus der Niederung
zu den Höhen, aus dem Alltag in den Sonntag, aus
der griechiſchen und lateiniſchen Grammatik in die
Tauſend und eine Nacht, aus Vegas Logarithmen,
aus der Mathematik und Arithmetik in die wirkliche
Idealität von Zeit und Raum, in das raum- und
zeitloſe Jugendphantaſiereich von Velten Andres und
Helene Trotzendorff!
Auf dem Oſterberge waren wir auch wieder
alle drei zuſammen an jenem Abend, der auf den
eben beſchriebenen ſtürmiſchen Familien- und Nachbar¬
ſchaftsſonntagnachmittag folgte. Die zwei Anderen,
wie gewohnt, ihre eigenen Wege gehend, ich ver¬
ſtohlen etwas ſpäter einem verſtohlenen Wink und
Zeichen Veltens folgend. Der Wald war ſelbſt
damals ſchon dort oben von ziemlich wohlgehaltenen
Pfaden durchſchnitten, wie man ſie heute in den
Bädern als „Promenadenwege“ kennt. Hier und da
hatte ſogar ſchon irgend ein Naturliebhaber und
Wohlthäter der Menſchheit eine Bank aufgeſtellt, die
[69] meiſten in das Gehölz und Gebüſch hinein, doch
eine oder zwei auch an den Rand des Hügels, mit
dem Blick ins Thal und auf die liebe Heimathſtadt
und hochfürſtliche Reſidenz, halb in dieſem Thale
und halb im offenen Lande.
Auf dieſer Bank am Waldrande, im tiefſten
Frieden der Natur, fand ich auch diesmal die beiden
ärgſten Störenfriede des Vogelſangs, den Sünder
in die eine Ecke gedrückt, die Sünderin in die
andere, ſo daß in der Mitte vollkommen Raum für
mich, den guten Freund, übrigblieb. Da Neumond
im Kalender ſtand, ſo war der Abend ziemlich dunkel.
Die vereinzelten Sterne oben zählten nicht; nur die
Lichter der Stadt in der Tiefe und die Gaslaternen
ihrer Straßen und Plätze gaben einen bemerkens¬
werten Schein. Im fürſtlichen Schloß ſchien „irgend
was los zu ſein“, denn das leuchtete ſogar ſehr hell
in die warme Sommernacht hinein und zu dem
Oſterberge empor. Im Walde war es ſtill; wildes
Gethier, das nächtlicher Weile in ihm aufgewacht und
ſich bemerkbar gemacht hätte, gab's nicht mehr drin;
die Fledermäuſe, die ihre Kreiſe um uns zogen,
zählten nicht; ihre weichen Fittiche ſtörten den Frieden
der Natur nicht. Nur vom Bahnhof her dann und
wann das Pfeifen und Ziſchen einer Lokomotive,
und aus den drei Bier- und Konzertgärten der letzte
[70] Wiener Walzer, der Hochzeitsmarſch aus dem Tann¬
häuſer und der Hohenfriedberger harmoniſch in¬
einanderdudelnd und den Abendfrieden hier oben
wenig ſtörend.
„So! Da ſitzt ihr wieder!“
„Jawohl; und Gott ſei Dank, frommer Sohn
Karl, daß auch Du noch da biſt, Tugendbold! Keine
fünf Minuten hätte ich es mit dem Mädchen da
länger allein hier ausgehalten. So 'ne ganz ver¬
rückte Priſe! Iſt Der das Gezeter, Gezerr, Geplärr
und Geplapper da unten zu Hauſe auf die Nerven
gefallen! Jawohl, Dich brauchten wir gerade recht
nothwendig, Krumhardt. Da ich mit meiner Mutter
nicht gegen ſie ankomme, ſo rücke Du ihr noch einmal
mit Deinem Herrn Vater auf den Leib und kratze
Deinen eigenen Verſtandskaſten aus, um ihr Ver¬
nunft zu ſprechen. Da haben unſere Mütter — ich
meine meine und ihre — eine ſaubere Pflanze gro߬
gezogen. Höre ſie nur, höre ſie nur, Krumhardt!
Ja, leg nur los, Elly — Miß Ellen Trotzendorff:
die Nachbarſchaft im Vogelſang iſt ganz Ohr!“
„Wäre Deine Mutter nicht, Velten, ſo könnte
ich Dich — könnte ich Dich —“
„Erdroſſeln, erwürgen, vergiften, Dir jedenfalls
mit beiden Krallen in die Haare fallen, und beide
Fäuſte voll Skalp bergunter nach Hauſe rennen.
[71] Da, greif zu und zieh mir die Kopfhaut ab, Mamſell
Squaw, und das übrige Fell meinetwegen mit. Mir
liegt nichts dran.“
Es war die höchſte Zeit, daß ich mich zwiſchen
ſie ſetzte, denn Helenchen war vollkommen bereit,
von der Erlaubniß, die ihr da eben gegeben wurde,
Gebrauch zu machen. Ihr beſter Kamerad im Vogel¬
ſang hatte ihr wirklich ſeinen Strubbelkopf zu be¬
liebigem Verfahren hingehalten; nun aber ſprang
ſie doch nur auf von der Bank und ſtand vor uns
am Rande des Oſterberges und ſtreckte uns die Fauſt
zu und ſchnuckte und ſchluchzte zwiſchen den zuſammen¬
geklemmten Zähnen durch:
„Und ich glaube doch an meinen Vater! Ihr
mögt alle ſagen, was ihr wollt. Ihr könnt die
Naſen verziehen und rümpfen, ihr könnt den Kopf
ſchütteln und ihr könnt meiner Mama Sottiſen
ſagen, wie ihr wollt: ich glaube ihr doch, meiner
Mama! Ich glaube doch an meinen armen Vater,
er mag ſein wie er will! Und was könnt ihr hier
im Vogelſang von ihm wiſſen? Ich, die ich als
bloßes Wickelkind hierhergebracht worden bin, weiß
doch noch mehr von der wirklichen Welt als ihr
alle — Deine Mutter ausgenommen, Velten. Aber
die iſt auch eine Märchenkönigin — eine viel höhere
als die da unten, die kleine Durchlaucht da in ihrem
[72] lächerlichen Reſidenzſchloß da unten! Das ſind ihre
Fenſter — ſeht ihr, und ſo ſollen meine Spiegel¬
ſcheiben auch noch einmal leuchten, und noch viel
heller! Deine Mutter braucht keine Kronleuchter über
ſich und keine türkiſchen Teppiche, und wäre ſie meine
Mutter und ich ihr Kind, ſo wollte ich auch nichts
davon. Aber jetzt bin ich meines Vaters und meiner
Mutter Kind und eine freie Republikanerin und
Amerikanerin, und ich glaube an meinen Vater und
werde auch meine Salons haben und Bediente,
ſchwarze und weiße, Kammerfrauen und hohe Fenſter,
Kronleuchter und Teppiche und Reitpferde und Wagen
und Pferde und meine Loge im Theater und alles
Andere! Ja, und nun geh nur hin, Velten, und
ſage es Deiner Mutter, was ich geſagt habe und
daß alle ihre Güte und Lehre an mich weggeworfen
geweſen iſt; aber ſage ihr auch, daß ich ſo ſchreien
muß, ich weiß nicht was, nur weil ihr Alle, Alle
mich dazu getrieben habt, Jeder auf ſeine Art. Ach
Gott, was bin ich für ein armes Mädchen und ſo
unglücklich in der Welt!“. . .
Vor einem Jahre noch würde Velten Andres,
kreiſchend vor Vergnügen ob dieſes „himmliſchen
Witzes“, dieſer „ausgezeichneten Komödie“, ſich auf
den Kopf vor der Bank auf dem Oſterberge geſtellt
haben. Jetzt war dem ſchon nicht mehr ſo. Er
[73] lachte nicht mehr, ſprang nicht mehr auf, ſondern
blieb ruhig auf ſeinem Platz auf unſerer Bank; aber
faßte mich mit noch faſt ſchärferm Griffe, als mein
Vater, am Arm und ſagte, auch zwiſchen den zu¬
ſammengebiſſenen Zähnen durch:
„Nun höre ſie, Beſterzogener, Treueſtbehüteter,
Verſtändigſter und Vernünftigſter unſerer ganzen
Blaſe — ich meine nicht die herzogliche Reſidenz¬
ſtadt — da unten: was kann der Vogelſang, meine
Mutter und Dein Vater, was — kann ich noch
dazu thun, um in dieſem Mücken- dem -Nacht¬
ſchmetterlingshirnkaſten, Ordnung zu ſtiften? Alſo
— vivat natürlich der Papa Trotzendorff mit allen
ſeinen ſchönen Ausſichten für ſich, für Lenchen und
unſere Allerſchönſte und Beſte, Lenchens Mama!
Aber ungefangene Fiſche kann man nicht braten,
ſagte ſchon der weiſe Kikero im vollen Senat zu
meinem lieben Freunde Catilina; alſo — verrücktes
Herze, an Deiner Stelle ſetzte ich mich doch fürs
Erſte mal wieder ruhig da auf die Bank neben den
braven Karl. Was? Du willſt nicht? Habe ich
mich etwa heute noch nicht genug geärgert? Guck
einer, wie der Mieze die Augen im Dunkeln leuchten!
Was? Nun wohl am liebſten in den hieſigen Urwald
hinein, oder kopfüber, kopfunter bergab nach Hart¬
lebens Anweſen und nach Hauſe? Na, denn meinet¬
[74] wegen nochmal die Hände aus den Hoſentaſchen! Da
kann ich meine Pauke an Dich und die Welt auch
ſtehend halten. Na, Wurm?“
Nun war er doch, nicht aufgeſprungen, ſondern
langſam aufgeſtanden, und ſie duckte ſich wirklich
vor ihm, ohne daß er ſie an den Schultern nieder¬
zudrücken brauchte, und nahm mit dem Worte:
„Hansnarr!“ ihren Platz auf der Bank an meiner
Seite wieder ein. Er aber ſtand und redete ſeiner¬
ſeits ſeinen Unſinn in den Sommerabend hinein,
wie mein Vater ſich ganz gewiß ausgedrückt haben
würde.
„Recht hat ſie eigentlich, Krumhardt. Ein fideler
Nachmittag war's und zwar ſehr auf ihre Koſten.
Aber habe ich nicht mit ihr auf demſelben Roſt ge¬
legen, während die liebe Verwandtſchaft und gute
Nachbarſchaft die Kohlen unter uns ſchürte. Um
den zehnten Auguſt herum ſind wir auch. Da iſt
wieder eine! Ihr habt doch für nichts Augen! Die
Thränen des heiligen Laurentius, Krumhardt; wie
Du aus der Schule beſſer wiſſen ſollteſt als ich!
Selbſt der Himmel ſchnuppt ſich uns zuliebe. Noch
eine! Wer ſoll denn da keine Wünſche haben, wenn
ihm das ganze Firmament Gewährung winkt? Bloß
aufpaſſen, Miez, daß der Wunſch mit dem Fallen der
Sternſchnuppe ſtimmt: nachher iſt alles in Richtigkeit,
[75] als ob die Weltregierung, der Vogelſang mit, Hand
und Siegel dazugegeben und Dein Vater, Krum¬
hardt, die Regiſtratur in der himmliſchen Kanzlei
beſorgt hätte.“
„Laß endlich mal meinen Vater aus dem Spiel,
Andres!“
„Warum denn? Sage ich denn etwa gegen den
was? Gar nichts! Iſt er nicht etwa auch heute
nachmittag wieder der Einzige geweſen, der ganz und
gar Recht hatte und wußte, was er wollte? Da
nehme ich ſelbſt meine Mutter nicht aus, denn ein
Frauenzimmer bleibt doch auch die. Ja, Elly, das
iſt eben unſer Jammer, daß wir Zwei doch nur von
unſeren Müttern erzogen worden ſind. Wie die
Flügelengel haben ſie uns unter beiden Armen und
wollen uns mit in die Höhe nehmen; jede auf ihre
Weiſe; und wenn Dein Vater, Krumhardt, es auf
ſeine Weiſe mit Dir ebenſo machen will, und auch
uns aus guter Nachbarſchaft gern an den Beinen
auf dem richtigen Erdboden feſthalten möchte: wer
hat was dagegen einzuwenden? Ich wahrhaftig
nicht — noch dazu ſo nahe vor dem Abiturienten¬
examen . . . da ſchnuppt ſich wieder einer! Na,
was haſt Du Dir eben gedacht und gewünſcht,
Karlchen?“
Ich konnte es nicht leugnen, mit dem Wort
[76] waren in demſelben Moment alle meine Gedanken
und Wünſche bei dieſem Examen geweſen. —
„Du kommſt durch!“ lachte Velten. „Mit Eins A
natürlich! Selbſtverſtändlich erlebt nicht bloß Dein
Vater, ſondern auch Deine Mutter dieſe Ehre an
Dir. Aber nun Du, Mädchen, woran haſt Du ge¬
dacht und was haſt Du Dir gewünſcht, als dieſer
Stern fiel?“
„Ich habe ihn gar nicht geſehen. Aber das iſt
auch einerlei. Für mich mögen ſo viele fallen als
ſie wollen, ich wünſche wie immer nur eines: daß
es für mich wieder ſo wird wie ich es drüben gehabt
habe in Amerika als kleines Kind, ehe ich hier im
Vogelſang ins Elend gebracht wurde; ehe meine
Mama mit mir auf dem Arme zu euch hier im
Vogelſang ins Elend kam.“
„Du kriegſt Deinen Wunſch, — da fiel eine,“
jauchzte Velten. „Na, was ſagſt Du nun, Krum¬
hardt? . . . Alſo nur weiter, Du verunglückter
Paradiesvogel, verflogener Tropenengel,“ brummte er
dann. „So? Das iſt alſo das Reſultat aus Deinen
Studien im Hey und Spekter und bei Mutter Andres
und ihrem Sohn Velten:
Was? ſchwarz ſollten wir uns hier auch wohl
noch färben, der brave Karl Krumhardt und der
böſe Velten Andres, um Dir Deine verfloſſenen
Livreenigger ganz zu erſetzen? Und dabei ſoll Dein
Vater nicht wüthend werden, Krumhardt, und meine
Mutter noch immer ein und aus wiſſen in dieſem
ihrem ſogenannten Kindergemüthe? Na, da möchte
ich wahrhaftig, der Papa Trotzendorff hätte denn
bald wirklich mal wieder das Glück, was er verdient,
und käme erſter Kajüte und holte Dich vierſpännig,
mit Allem, was an Dir hängt, wieder weg. Mir —
wollte ich ſagen, Hartleben kam es ja einerlei ſein.
Meiner Mutter — da ſchnuppt ſich wieder einer!“
Von Neuem iſt Helene Trotzendorff aufgeſprungen;
jetzt aber bitterlich und zornig weinend. Sie ſchreit
ihren beſten Freund aus der Nachbarſchaft faſt an,
mit dem Fuße aufſtampfend:
„Ich ſage Dir wie Karl: laß unſere Väter
zufrieden! Was ich an Deiner Mutter gehabt habe
in eurem Vogelſang und wie lieb und gut ſie iſt,
das weiß ich wohl, und brauchſt Du mir wirklich
nicht vorzurechnen. Und mit Deinen albernen Stern¬
ſchnuppen — ja was haſt Du Dir denn bei der
letzten gedacht? Biſt Du beſſer und vernünftiger
mit Deinen Wünſchen geweſen als ich? Dich kenne
ich doch, Du Phantaſt! Jawohl, da hat der Herr
[78] Oberregierungsſekretär ganz Recht, wenn er Dich ſo
nennt — wenn er Dich einen Phantaſten und Seiltänzer
nennt und Dir prophezeit, daß Du noch mal den Hals
brechen wirſt, einerlei, ob Du jetzt Dein Schulexamen
beſtehſt oder nicht, einerlei, ob Du Schuſter, Schneider
Miniſterexcellenz oder Alexander der Große werden
willſt. Von Dir laſſe ich mir eure Wohlthaten
im Vogelſang am allerwenigſten vorrücken. Da,
da fiel wieder eine, und jetzt habe ich mir gedacht:
O, wenn Du dem einmal zu Hauſe, das heißt
drüben über dem Meer, bei uns zu Hauſe Alles
vergelten könnteſt, was er und der Vogelſang, und
ſeine liebe Mutter und Alle hier an uns gethan
haben.“
„Du, die fiel, ehe Du den Wunſch hatteſt!“
ſagte Velten.
„So? Dann wünſche Du Dir meinetwegen bei
der nächſten Schnuppe was Du willſt, ich habe für
heute mal wieder genug von euren hieſigen Dumm¬
heiten und gehe nach Hause.“
„Den ſeligen Diogenes ſeine Tonne wünſche
ich mir,“ lachte Velten Andres. „Den Heckpfennig,
den Däumling und das Tellertuch der Rolands¬
knappen, den Knüppel aus dem Sack, das Vergnügen,
Perſepolis in Brand zu ſtecken und ein friedliches
Ende auf Salas y Gomez. Fallet, ihr Sterne und
[79] winket Gewährung! Übrigens habe auch ich für heute
abend genug des Blödſinns. Alſo:
Sie machte eine Fauſt und holte wie zum
Schlage aus, drückte ihm aber doch nur dieſe ge¬
ballte kleine Hand auf die Stirn:
„Du biſt und bleibſt ein ganz alberner Peter,
Velten. Komm, Karl; meinetwegen mag er ſich in
ſeine Tonne ſtecken und ſich den Oſterberg allein
herunterrollen — meinetwegen über eure ganze
Stadt und den Vogelſang weg.“
„Da fiel eine!“ lachte Velten Andres. „Der
Wunſch gilt!“
Sie ſchlug die Hand weg, die er ihr
doch bot; er aber zog ihren Arm doch unter
den ſeinigen:
„Nun aber im Ernſt, mach' ein Ende mit dem
Unſinn. Heute iſt der Wagen mit den ſilbernen
Laternen für das gnädige Fräulein gottlob noch
nicht vorgefahren, und das Gequik und Gezeter von
neulich unter der Armenmannsbuche, wo Jemand erſt
mit der lächerlichen Schleppe am Buſch hängen blieb,
um ſodann über dem Wurzelwerk ſich auf die
Naſe zu legen und nach ſeinem beſten Velten um
Hilfe zu ſchreien, will ich nicht wieder haben. O
[80] Thränen des heiligen Laurentius, ſie werden uns
da unten vor Schlafengehen noch einmal ſchön die
Leviten leſen! Da freue ich mich ſchon auf meine
Mutter.“
„Deine Mutter iſt viel zu gut für Dich!“ rief
Miß Ellen, noch einmal mit dem Ärmel über die
Augen fahrend, der letzten Zornesthränen wegen.
„Jawohl, da haſt Du zum erſten Mal heute
abend Recht,“ ſagte Velten. „Von der Scheußlichkeit
der Menſchheit hat ſie nur ſehr dunkle Begriffe, und
ich thue deshalb auch mein Möglichſtes, ihr nach
und nach klarere beizubringen.“
So mußte er damals ſchon zu denken und zu
reden; ein Herr in einem Reich, das leider auch
nicht ſehr von dieſer Welt war. Ich habe es in den
Akten, wenn auch nicht aktenmäßig. Ich habe dies
Alles aus Ungeſchriebenem, Unprotokollirtem, Un¬
geſtempeltem und Ungeſiegeltem heraus und ſtehe für
es ein. Ich muß es aber heute ſehr aus der Tiefe
holen, daß damals auf dem Oſterberge, um den
zehnten Auguſt jenes Jahres herum, wir Nachbar¬
kinder des Vogelſangs die Thränen des heiligen
Laurentius ſo fallen ſahen und ihr leuchtendes
[81] Niedergleiten mit ſo wunderlichen Gedankenſpielen
begleiteten.
Aktenmäßig kann ich es leider bezeugen, daß
er, Velten Andres, wirklich beim Maturitätsexamen
durchfiel und dem Vogelſang wieder mal eine der
Enttäuſchungen und Genugthuungen bereitete, die er
dem guten Ort, ſo lange er ſich dort aufhielt, immer
von Neuem ſchuldig zu ſein glaubte.
„Man kann ſeiner armen Mutter nicht einmal
rathen, ihn gleich ganz hier zu behalten und einen
Schuſter aus ihm zu machen,“ ſagte mein Vater,
mein „Zeugniß der Reife“ in der Hand. „Unter
den Komödianten wäre er vielleicht noch am beſten
aufgehoben, der Windſack! Da haſt Du es, mein
Sohn, wie es kommen mußte. Nun geh' hin und
höre Dir an, wie nebenan die Klagelieder Jeremiä
lauten. O, ich hatte dort Vormund und nicht bloß
Familienfreund ſein müſſen!“
„Dann hätteſt Du doch wohl nur noch mehr
Ärger davon gehabt, beſter Krumhardt,“ ſagte meine
Mutter, mit wohlberechtigter Genugthuung über
unſern eigenen Familienſtolz mich in den Armen
haltend. Für mich ſelbſt lag an dieſem Tage die
Sache ſo, daß ich mich des glücklichen Anlangens
an dieſem Ziel natürlich ſehr freute, jedoch des
Behagens darob durchaus nicht vollkommen froh
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 6[82] war. Dazu war Velten doch ein zu guter Freund
von mir und wußte ich zu genau, wie Vieles er
beſſer wußte als ich, und wie es im Grunde doch
nur die Mathematik geweſen war, die ihm das Bein
geſtellt hatte. Konnte er, Velten, dafür, daß er
nach ſeinem Ausdruck da ein leeres Loch im Gehirn
hatte, wo das meinige nach innen vollgeſtopft war
und nach außen hin den betreffenden Buckel ge¬
trieben hatte? Es iſt zwar eine Thorheit, aber wie
oft griff ich ſpäter meinen Jungen nach den Köpfen
und taſtete ſorgenvoll nach den Höckern und Gruben,
die ihnen die Begabung zum ruhigen Wandel auf
der breiten Straße der goldenen Mittelmäßigkeit ver¬
bürgen ſollten! Und am bedenklichſten dann, wenn
meine Gattin einen außergewöhnlich offenen Kopf an
einem der armen Kerle bemerkt haben wollte. —
Ich ging alſo vor dem Freund aus dem
Vogelſang weg, um nach dem Wunſche oder Willen
meines Vaters ſelbſtverſtändlich Jurisprudenz zu
ſtudiren; und — da die Wacht am Rhein und die
am Niemen ebenfalls ihren Anſpruch an mich er¬
hoben — nach einer mitteldeutſchen Univerſität, die
mir Gelegenheit bot, mit möglichſt geringen Koſten mich
mit dem römiſchen Recht und dem damals gültigen
deutſchen Schießgewehr bekannt zu machen; wenigſtens
in den Grundzügen.
[83]
Aus dieſer Zeit habe ich folgenden Brief in
den Akten:
„Lieber Freund!
Denn dafür halte ich Dich noch trotz Schiller
und aller Würde, die jegliche ſchöne Vertraulichkeit
zwiſchen Dir und mir zu einem Dinge der
Unmöglichkeit machen ſollte. Du kannſt es mir ja
übrigens ſagen oder ſchreiben, wenn es Dir gar
nicht mehr paßt, das bisherige angenehme Verhältniß
zwiſchen uns.
Einfach großartig war es von Dir. Mathematik
ſehr gut — Latein gut — Griechiſch faſt gut —
Geſchichte und ſo weiter gut — deutſche Sprache
und Litteratur genügend. Menſch, Göttergünſtling,
da Du ihn doch fürs Erſte weniger brauchſt, ſo
pumpe mir ihn, Deinen wohlorganiſierten Hirn¬
kaſten, für nächſte Oſtern bloß auf acht Tage.
Auf Ehre, Du kriegſt ihn beſtens geſchont um¬
gehend zurück; aber die Idee, ihn aufzuſtülpen
und vor dem Rathe der Zehn mit ihm aufs Seil
gehen zu können, ſteigt mir derartig in den
meinigen, daß meine Alte eben ſchon gefragt hat:
‚Junge, was haſt Du jetzt wieder im Kopfe?‘
Die Benachrichtigung aber: ‚Ich ſchreibe an
Karlchen Krumhardt, daß ich mir ein Muſter an ihm
nehme,“ hat ſie gottlob ſofort beruhigt, ob meines
6*[84] Stierens ins Blaue, und ich ſoll Dich von ihr
grüßen. — Mir ſelber liegt ja leider weniger dran,
mich nicht noch mal zu blamiren; aber der alten
Frau möchte ich doch den Verdruß, und Deinem
würdigen Erzeuger ſein melancholiſches Behagen
an meiner Schande nicht zum zweiten Mal zum
vollen Auskoſten anbieten. Ich büffle. Und Du
Ochſe treibſt Dich feſſellos in der ſüßen Freiheit
herum; und theure Angehörige, ſowie Staat und
Kirche halten Dir ſchon die volle Krippe und den
warmen Stall bereit, wenn Du heimkehrſt von
der blumigen Wieſe Deiner jungen Ungebunden¬
heit. Mir blühte bis jetzt hier im Vogelſang
bloß die Eſelswieſe, und wäre ich nicht ich und meine
Alte ſie, ſo wäre die Geſchichte einfach nicht zum
Aushalten geweſen, der faulen Redensarten wegen
ob meiner bodenloſen Faulheit. Na ja! Hätte
mich nicht auch unſer allerhöchſt Regierender, das
heißt eigentlich mehr unſere allergnädigſte Landes¬
mutter kommen laſſen, um mich perſönlich kennen
zu lernen und mir ins Gewiſſen zu reden, ſo
hätte allgemach meine Mutter Jedem, der ſich
ſonſt nach mir erkundigte, nur ſagen können:
‚Unterm Sofa ſteckt er. Locken Sie ihn mal!
Ich kriege ihn weder durch Güte noch durch Gewalt
mehr drunter weg.‘ — Cäſar und ſein Glück!
[85] Die Geſchichte iſt ſo ulkig, daß ſie ſogar meiner
Alten die Kummerthränen getrocknet hat. Dir,
mein Junge, ſchreibe ich ſie nur, um ſie, wenn
ſie ſonſt brieflich an Dich gelangen ſollte, aus das
richtige Maß herunterzudrücken. Eigentlich war
es Unſinn; aber da kein Anderer augenblicklich
vorhanden war, ſo mußte ich wohl dran: ich habe
Schlappen für die menſchliche Geſellſchaft ge¬
rettet! . . . Du kennſt die öde Jammerſeele in
Baumwolle, Watte und mit Glacé. Mußte es
dem Optimatenſimpel — äh, hä, jä, nä — ein¬
fallen, auf die brüchige Stelle im Eiſe zu gerathen
und durchzubrechen! God gracious! würde
Miſtreß Trotzendorff gekreiſcht haben; aber Ellie,
die das hochnäſige Vieh beinahe mit herunter¬
geriſſen hätte ins Verderben, ſetzte ſich gottlob
nur zeternd neben das Loch, in welchem der
Tropf verſchwunden war; das Übrige kannſt Du
Dir denken. Ein Rieſenulk, aber etwas kühler
Natur! Und mit dem Kopfe, wie eine Fliege an
der Fenſterſcheibe, in der feuchten Tiefe herumzu¬
ſurren und vergeblich nach dem Auswege zu
ſuchen, auch gerade kein Vergnügen, noch dazu
mit der Verpflichtung, einen anderen Blechſchädel
am Schopfe zu halten und mit nach oben zu
nehmen. Na, er — athmete lang und athmete tief
[86] und begrüßte das himmliſche Licht — Schiller iſt
nicht unten geweſen, ſonſt würde ſein Taucher¬
gedicht um ein Merkliches kürzer ſein und ſich
wahrſcheinlich auf ein ‚Brr! Pfui Deubel!‘
beſchränken, höchſtens mit dem Zuſatz: ‚Lieber
nicht zum zweiten Mal!‘ Daß wir — Schlappe
und ich, nicht länger unten blieben, als nöthig
war, kann uns kein Menſch verdenken. Kurz,
alſo ich brachte die Honoratiorenpuppe glücklich
wieder zu Tage, fand das halbe Reſidenzneſt in
vorſichtiger Entfernung um die Bruchſtelle ver¬
ſammelt: von dem Reſt ſchweigt des Sängers
Beſcheidenheit. So dumme verbrüllte Frauen¬
zimmergeſichter, wie die des Vogelſangs, möchte
ich aber doch nicht gern wieder um mich ſehen —
um den glorioſeſten Schnupfen in der Welt
nicht! Sie ſämmtlich mit ſtrömenden Augen, ich
mit fließender Naſe und etwas verkrackeltem
linkem Handgelenk.
Volle vierzehn Tage hat es gedauert, bis
die Arche wieder auf dem Trockenen ſaß. Meine
Alte war ſelbſtverſtändlich die Erſte, die den
Fuß wieder auf feſten Boden ſetzte und meinte:
‚Junge, wenn es nun nicht ſo gut für uns ab¬
gelaufen wäre?‘
,Cäſar und ſein Glück, und Unkraut ver¬
geht nicht, Mama!‘
Unſer Backfiſch betrug ſich wie gewöhnlich
wie verrückt bei der Geſchichte, war zum An¬
beißen, und verdiente ſelbſtverſtändlich mal wieder
Prügel; er war zu nett in ſeinem Kummer. Aber
was hatte das Balg mir einen Korb zu geben,
und mit dem Maulaffen Schlappe auf das
Windeis zu laufen? Ich wollte gar nichts ſagen,
Carlos, wenn Du es geweſen wäreſt, den ſie
gegen mich ausſpielte.
Si vales, bene est, ego valeo, bis auf
die dumme linke Vorderpfote, die ich fürs Erſte
noch in Windeln und Schindeln zu tragen habe.
V. Andres.“
„Schlappe“ hieß der gerettete Zeit- und Schul¬
genoſſe eigentlich nicht; das war nur ſein Schulname.
Sein wirklicher Name liegt bei meinen Akten; übrigens
gehörte ſein Träger zur maßgebendſten Geſellſchafts¬
ſchicht unſerer Landeshauptſtadt und ich habe ſeine
Schweſter geheirathet und eine gute Frau an ihr be¬
kommen.
Ach, was helfen die beſten Karten Dem in der
Hand, der keinen Gebrauch von ihnen machen kann?
Was half es Velten Andres, daß Schlappes
Papa ſeiner Mutter und ihm mehr als einen Beſuch
[88] machte und ihn aufrichtigſt ſeiner hohen Protektion
verſicherte? Was half es ihm, daß Sereniſſimus
und Sereniſſima ihn ſich vorſtellen ließen und ihm
gleichfalls ihre freundlichſte Gunſt verſprachen?
Nichts, da er blieb, was und wie er war!
Ob ihm das Leben zu einem hölzernen Löffel
einen goldenen Napf unter die Naſe ſchob; ob es
ihm einen goldenen Löffel in die Hand gab und
einen irdenen Napf auf den Tiſch ſchob (was ihm
auch paſſirt iſt), es blieb ein und dasſelbe, da er auch
ein und derſelbe blieb, nämlich derſelbe ewig unbe¬
rechenbare odd fellow des Vogelſangs — who had
no harm in him, and who had parts if he would
use them, wie man in Cambridge von einem ähnlichen
Menſchen ſagte, der es nach der Meinung der Ver¬
nünftigen in der Welt gleichfalls zu wenig mehr als
zu einem ſchlimmen Ende brachte. Da er nur ſich
ſelber ſchadete, ging es ja aber auch eigentlich Keinen
was an, in welcher Weiſe er ſich ſeiner Fähigkeiten
bediente.
„Es iſt und bleibt eben der dumme Tropf aus
Eurem Märchenbuche, der Hans im Glück. Vom
Pferd auf den Elefanten, vom Elefanten auf den
Eſel und ſo abwechſelnd, bis er endlich einmal auf
platter Erde auf dem Rücken liegen bleiben wird,“
ſchrieb mir mein Vater um dieſe Zeit. „Die Avancen,
[89] die ihm ſein Zufallrettungswerk in der hieſigen beſten
Geſellſchaft in die Hand gab, hat er richtig wieder
verſpielt. Wie auf unſerem Bureau erzählt wurde,
haben Durchlaucht zu dem Herrn Vater Eures unter
das Eis gerathenen Schulfreundes längſt bemerken
müſſen: ‚Schade um den jungen Mann; ich würde
ihn gern im Auge behalten haben.‘ — Mein einziger
Troſt iſt, daß Du, mein Sohn, wenigſtens fürs Erſte
ſeinem verderblichen Einfluß aus dem Wege gerückt
biſt. Ob er demnächſt ſein Examen beſtehen wird,
weiß der liebe Himmel. Wenn nicht, was dann mit
ihm? frage ich Dich!“ . . .
Ich habe mich nun wirklich erſt für eine Periode
von anderthalb Jahren des Näheren zu beſinnen.
Man hatte damals ſo viel mit ſich ſelber zu thun,
und die Tage gingen ſo leicht hin, daß es in der
That ſeine Schwierigkeiten haben würde, ganz Genaues
darüber zu Papier zu bringen. Wir ſind noch in
den Ferien zu Hauſe beiſammen: ich als Student
und er noch als Schüler, und es iſt für mich ein
gewiſſermaßen peinliches Verhältniß. Für ihn nicht.
Auch Helene Trotzendorff iſt noch im Vogelſang.
Aber ſie ſteigt nicht mehr über die grüne Hecke oder
[90] den Gartenzaun, bricht auch nicht mehr unter der
erſteren durch, ſondern lehnt nur an ihnen: das
ſchönſte Mädchen nicht bloß der Vorſtadt, ſondern
der ganzen Stadt, hochgewachſen, goldblonden Haars,
doch dunkel von Augen und Augenbrauen. Die
Nachbarn ſagen, ſie ſei vorzeitig in die Höhe ge¬
ſchloddert, aber das iſt eine dumme und mehrfach
auch vom Neid der Konkurrentinnen eingegebene
Redensart. Im Waldgebirge Leukos, im arkadiſchen
Gebiete des Pan und auf dem thrakiſchen Hämus
würde man anders von ihr geſprochen und ſie jeden¬
falls unter die zwanzig amniſiadiſchen Nymphen ge¬
zählt haben, die ſich Artemis, wie Kallimachus ſingt,
von ihrem Vater Zeus als Begleiterinnen ausgebeten
hatte.
Mein Freund Velten ging freilich noch weiter
und ſetzte mich durch philologiſch-mythologiſche Kennt¬
niſſe über Verhältniſſe in Erſtaunen, von denen ich
keine Ahnung aus der Schule mitgebracht hatte.
„Dieſes Frauenzimmer,“ ſagte er. „Guck ſie
Dir nur an, Menſch! Trägt ſie nicht den von den
Kyklopen geſchmiedeten cydoniſchen Bogen der Diana
ſelber? Und umklammert das prachtvolle Wurm
nicht Tag und Nacht in ihrer Einbildung die Knie
ihres Erzeugers mit der Bitte, ihr dreißig Städte
und ſämmtliche Gebirge der Erde zu ſchenken? Kalli¬
[91] machus in ſeinem Hymnus hat's. Lies es ſelber
nach, wenn es Dir Spaß macht: mir macht es ſchon
längſt kein Vergnügen mehr, ſie von ihren Phantaſien
abzubringen, und ich habe es auch aufgegeben.“
„Du ſcheinſt Dich aber jetzt ſehr mit ſolchen
Sachen abzugeben. Woher haſt Du denn dieſes
Alles?“
„Sehr aus mir ſelber,“ ſagte Velten Andres,
den ſie faſt ein Jahr nach mir für die Universitas
litterarum reif erklärten. —
Es ſchien damals, drüben in Amerika, einen
kleinen Niedergang in den Angelegenheiten Mr. Charles
Trotzendorffs gegeben zu haben. Mutter und Tochter
wohnten noch bei Hartleben und warteten nicht im
Optimatenviertel der Stadt auf den völligen Aufgang
der Glücksſonne von „Papa“. Mutter Andres hatte
noch mehrfach zwiſchen den Bäcker, den Fleiſcher ſowie
die Milchfrau und den Kaufmann Tienemann und —
Miſtreß Agathe Trotzendorff treten müſſen. Aber das
iſt ſo: ein heißer, glänzender Tag bricht öfter, als
die Leute an Regentagen glauben wollen, aus
wechſelndem Gewölk hervor. Und manchmal bleibt
es denn auch für die, welche „dieſe Witterung brauchen“
können, „ſchön“ bis zum Abend. —
Wie geſagt, ich habe wenig über dieſe Zeit in
den Akten, was Velten und Helene anbetrifft. Mein
[92] kluger und wackerer Vater trug den Verhältniſſen
in einer Weiſe Rechnung, die ihm Velten Andres
am allerwenigſten zugetraut haben würde. Wenn er
mich im Vogelſang feſt im Griff gehalten hatte, ſo
ließ er mir jetzt merkwürdig freie Bahn.
Ich darf wahrlich nicht darüber lächeln, aber
es iſt ſo! Sein Ideal war, das, was er zu
protokolliren und in die Regiſtratur zu nehmen hatte,
durch mich zu Protokoll und in die Regiſtratur geben
zu ſehen: „Es iſt mein Wunſch, daß Du Dich zu
der beſten Geſellſchaft hältſt. Wir, Deine Mutter
und ich, haben unſer Leben darauf eingerichtet von
Deiner Geburt an. Laß mich an Dir erleben, was
ich ſelber nicht habe abreichen können.“
Selbſtverſtändlich war ich daraufhin einer vor¬
nehmen Verbindung beigetreten, der ſchon die höchſten
Spitzen der maßgebenden Kreiſe unſerer heimathlichen
Reſidenz angehört hatten als jugendfrohe Jünglinge;
und ich kann es nicht leugnen: einige Male kam
mir in dieſer Lebensepoche ob meiner damaligen
Verpflichtungen und Ehren der Vogelſang dann und
wann ſo ſehr aus dem Geſicht, daß Velten Andres
vollkommen Recht hatte, wenn er mich an den Beinen
aus den Lüften wieder herunterzog durch das Wort:
„Bengel, von hier unten aus geſehen — aus der
Froſchperſpektive betrachtet, biſt Du wirklich gro߬
[93] artig! perpendikular-maleriſch. Schade, daß Du Dich
nicht ſelber ſo ſehen kannſt! Wie ſiehſt Du den
fliegenden Göttergünſtling, Mama?“
„Werde nicht unanſtändig, Junge,“ ſagte die
Frau Doktorin. „Fliege Du nur ſelber erſt mal ſo.“
„Könnte mir nur im Traume einfallen!“
„Was haben wir vom wachen Leben mehr als
unſere Träume?“ fragte unſere Frau Nachbarin, und
damit war ich denn damals ſchon wieder unten
im wirklichen und wahrhaftigen Vogelſang — in der
beſten Nachbarſchaft, die auf dieſer verworrenen,
feindſeligen Erde möglich iſt. —
Noch einmal ging ich aus den Ferien nach
Göttingen, ehe wir beiden Nachbarſöhne wieder zu¬
ſammentrafen und zwar in Berlin. Am Tage meiner
Abreiſe aber kam drüben bei Hartleben ein Brief an,
der Alles „zu Hauſe“ veränderte: die neunte Woge,
die Woge des Glückes, des Erfolges rollte heran,
goldglänzend, leuchtend, funkelnd von aller Herrlich¬
keit und Pracht der Welt, ſpülte hinein in den Vogel¬
ſang und trug zurückrauſchend Helene Trotzendorff
und ihre Mutter weg daraus. Mr. Charles Trotzen¬
dorff ſchrieb einen kurzen Brief, in welchem er dürr,
nüchtern und wie als ob es ſich ſo von ſelber ver¬
ſtehe, mittheilte, daß er demnächſt als zehnfacher
Dollarmillionär ſich die Ehre geben werde, alte
[94] Freunde zu begrüßen und zugleich Weib und Kind
zu ſich zu holen.
Wie mir mein von Vorgeſetzten und Unter¬
gebenen anerkannter guter Geſchäftsſtil abhanden
kommt, je länger ich dieſe Blätter beſchreibe, je klarer
und deutlicher ich mir das zu Sinnen und Gedanken
bringe, was ich hier dem Papier übergebe! Was
bis jetzt das Nüchternſte war, wird jetzt zum Ge¬
ſpenſtiſchſten. Sie wackeln, die Aktenhaufen, ſie
werden unruhig und unruhiger um mich her in ihren
Fächern an den Wänden und machen mehr und mehr
Miene, auf mich einzuſtürzen. Ich kann nichts da¬
gegen; zum erſten Mal will an dieſem Schreibtiſch,
jawohl an dieſem Schreibtiſch, die Feder in meiner
Hand nicht ſo wie ich; und Velten Andres iſt wieder
Schuld daran. Was meinem armen Vater ſeiner Zeit
ſo oft Verdruß und Sorgen machte, das Übergewicht
dieſes „Menſchen“ über mich, das iſt heute noch
ebenſo ſehr da, wie in jenen Tagen, wo er mich
durch die Hecke und über die Zäune des Vogelſangs
zu jedem Flug ins Blaue aus dem Schul-, Haus-
und Familienwerkeltag wegholte und wir Helene
Trotzendorff mit uns nahmen, wenn ſie uns nicht
gar voranflog.
[95]
In Berlin verfiel ich ihm ſofort wieder.
Wie der Tag vor mir ſteht, an welchem ich
dieſem „kraſſen Fuchs“ in der vollen Hahnenhaftig¬
keit meines vornehmen Verbindungsbewußtſeins meinen
erſten Beſuch machte, nachdem ich mir herablaſſender¬
weiſe ſeine Adreſſe auf der Univerſitätsquäſtur hatte
geben laſſen!
„Studioſus Philoſophiae Valentin Andres,
Dorotheenſtraße Numero 00, Hintergebäude 3 Treppen,
Frau Fechtmeiſterin Feucht,“ lautete ſie, und es war
ein Apriltag nach den Oſterferien, als ich mit meiner
Berliner Matrikel in der Taſche meinen Weg dorthin
nahm. Wenn das Hinterhaus hielt, was das Vorder¬
haus verſprach, ſo hatte der Neuling im Weltleben
es gut getroffen; gewöhnlich iſt das aber freilich
nicht der Fall. Nicht ohne Grund bin ich hier etwas
ausführlich.
An einem ziemlich eleganten Schneiderladen
(Herrenmoden) vorbei, ſchritt man durch den ge¬
wölbten Hausflur, vorüber an der mit Teppichen
belegten, in den erſten Stock führenden Treppe auf
einen umfangreichen Hof, über den etwas nerven¬
ſchwache Gemüther ſich nur mit einiger Bedenklichkeit
dem Hintergebäude zu wagen konnten. Der Eigen¬
thümer des Hauſes, einer der erſten Hufſchmiede der
Stadt, bediente daſelbſt ſeine Kunden, und nicht
[96] Jeder geht gern zwiſchen zwei Reihen Gäulen durch,
die ihm alle die Hintertheile zuwenden und nicht alle
ganz gutwillig ihr Schuhwerk in Behandlung geben.
Schmiedegeſellen, Reitknechte, Stallknechte, Kutſcher in
Livree und ohne ſolche walteten ihres Amtes zwiſchen
ihren Schutzbefohlenen, je nach dem Temperamente
derſelben und dem eigenen mehr oder weniger lärm¬
haft. Aus der Halle des Seitengebäudes leuchteten
die Schmiedefeuer und klangen die Hämmer in das
Gewieher, die Flüche, Begütigungen und die ſonſt
übliche Unterhaltung zwiſchen Menſch und Menſch,
Menſch und Vieh, Thier und Menſch hinein. Man
hatte wirklich zu ſchreien, wenn man ſich hier nach
der Frau Fechtmeiſterin Feucht erkundigte.
Aber da war das Hintergebäude und wer mit
uneingeſchlagenem Schädel oder Bruſtkaſten zu ihm
gelangte, der fand auch wohl ohne zu fragen die
Pforte, von der aus die Treppe in den dritten Stock
emporging.
Ich hatte damals das Glück, gelangte in das
dritte Stockwerk und zog auf dem dämmrigen Vor¬
platze die Glocke.
„Frau Fechtmeiſterin Feucht?“
„Bin ich,“ ſagte eine kleine, zierliche alte Dame
zwiſchen fünfzig und ſechzig Jahren.
„Studioſus Andres?“
[97]„Dort jene Thür, mein Herr.“
Ich grüßte, und die kleine Frau ſetzte mir
einen vollkommnen Hofdamenknicks hin; meinen
Freund fand ich in einer der bekannten Berliner
Studentenbuden zu Hauſe und Beſuch bei ihm: einen
feinen, eleganten, ſchmächtigen jungen Herrn mit
ſchwarzen Haaren, von etwas kränklicher Geſichts¬
farbe und von ungemein höflich-ſchüchternem Weſen.
Gottlob auch bereits mit dem Hut in der Hand.
„Guten Tag, Krumhardt,“ ſagte Velten, als
ob er mich noch über die Hecken des Vogelſangs
grüßte. „Biſt Du da? . . . Auf Wiederſehen, des
Beaux! Übrigens könnte ich euch Leute doch auch
der Bequemlichkeit wegen gleich miteinander bekannt
machen. Mein Provinzialfreund, Herr Karl Krum¬
hardt, der Rechtswiſſenſchaft möglichſt Befliſſener —
Herr Leon des Beaux aus dem Vorderhauſe, ſeines
Zeichens —“
„O, ich bitte Sie, Herr Andres! Ich möchte
jetzt nicht ſtören; — wenn Sie mir erlauben —“
„Menſchenkind, nehmen Sie ſich alle Freiheiten
bei mir, die Ihnen angenehm ſind. Ich werde mir
bei Ihnen zu Hauſe ſelbſtverſtändlich das Gleiche
erlauben.“
„Ich bitte darum!“ rief der intereſſante, bleiche,
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 7[98] ſchwarzhaarige Jüngling und entſchlüpfte mit ſcheuen
Verbeugungen, ſowohl gegen Velten wie gegen mich.
„Es iſt der Sohn des Schneiders aus meinem
Vorderhauſe,“ ſagte Velten. „Seine Ahnen haben
unter Ludwig dem Neunten gegen die Ungläubigen
geſtritten, haben Toulouſe gegen Simon von Montfort
vertheidigt, im Löwengolf Galeeren gegen die Beys von
Tunis, Tripolis und Algier kommandirt und unter
Ludwig dem Vierzehnten, dem Edikt von Nantes und
der Frau von Maintenon zuliebe, ſelber auf ſolchen
gemüthlichen Fahrzeugen gerudert. Der Zweig des
Geſchlechts, der ſich unterm Großen Kurfürſten hierher
nach Berlin ins Trockene gerettet hat, ſcheint mir jetzt
auch ſein Schäflein ins Trockene zu bringen. Ich
glaube, ich kann Dir die Firma des Beaux empfehlen
für Deinen Bedarf an Hoſen, Jacken und Weſten.
Die Schweſter des guten Jungen heißt Leonie, Du
findeſt ſie im Vorderhauſe im erſten Stock —
Blüthnerſcher Flügel, deutſche, franzöſiſche, engliſche
Litteratur und was ſonſt zu einer höhern Tochter
gehört. Ich kann Dich vorſtellen, aber nehme die
Verantwortung nicht auf mich, denn das Fräulein
iſt auch hübſch — immer noch ſüdfranzöſiſches Genre.
Leonie des Beaux! Wie klingt Dir das von einer
Schneidertochter hier im Lande der Fritzen und
Karlinen? Wie mir ſcheint, hat die ganze Familie
[99] ein gut Stück Romantik aus der Langue d'Oc in
den märkiſchen Sand durch die Jahrhunderte hinein¬
gerettet. Na kurz, die Geſellſchaft gehört zu der noch
immer ſo genannten franzöſiſchen Kolonie, und ich
benutze die Gelegenheit, mein Franzöſiſch zwiſchen
Leon und Leonie aufzupoliren.“
Ich hatte ihn reden laſſen müſſen. War das
der Menſch, dem ich im Innerſten doch mit meiner
deutſchen Burſchenherrlichkeit zu imponiren ge¬
wünſcht hatte? Es ging ein Zug von ſo frühreifer
Welterfahrung und Weltgewandtheit durch dies Alles,
daß ich nur verblüfft brummen konnte:
„Na, Du ſcheinſt Dich ja auch ohne Beihilfe
recht gut außerhalb des Vogelſangs und der Schul¬
ſtube orientirt zu haben!“
Da flog es dunkel über ſein eben noch ſo
lachendes Geſicht:
„Doch wohl nicht ganz ohne das, was Du
Beihilfe nennſt. Halb ſchob es, halb zog es, wenn
Du die Weiber zu den Menſchen rechneſt.“
„Du biſt ſeit vierzehn Tagen in Berlin und
in der weitern Welt, Du kraſſer Fuchs?“
„Und ich habe daheim Miß Ellen Trotzendorff
aus dem Vogelſang in den Eiſenbahnwagen erſter
Klaſſe geholfen und meiner Alten über den Zaun
des Vogelſangs verſprochen, es ferner gut zu machen.
7*[100] Lieber Junge, in dieſer Beziehung hat Deines Vaters
Gebrumm ebenfalls gar nichts genutzt: es bleibt
eben für mich bei der Weibererziehung. Soll etwa
Großvater Goethe den zweiten Theil ſeines Fauſts
bloß für ſich und eure frechdummen Litteratur¬
geſchichtsſchreiber zuſammen geſtolpert und geholpert
haben? Nee, nee, mein Junge! Ich habe mich von
den Weibern erziehen laſſen und laſſe mich von den
Weibern weiter erziehen. Geh Du nur hin; ich
bleibe bei den Müttern, bei den Frauen und bei
den Mädchen. Übrigens, Menſch, wäre es doch recht
freundlich und herablaſſend von Dir, wenn es Dein
erſter Weg geweſen wäre, mich bei der Frau Fecht¬
meiſter Feucht aufzuſuchen.“
„Gehört die etwa auch ſchon zu den Schürzen,
hinter denen Du Dich im Daſein außerhalb der
philoſophiſchen Fakultät verkriechen willſt?“
„Sehr!“ lachte Velten Andres.
Wir waren alſo wieder zuſammen. Was ich
aus eigener Erfahrung und aus den Briefen meiner
Eltern von den letzten Vorgängen im Vogelſang
wußte, konnte er mir und ſich nun noch einmal,
wie unſere damalige Redensart lautete, zu Gemüthe
[101] führen. Er that es; und da er von allen Menſchen,
die ich im Privat- wie im Geſchäftsleben kennen
gelernt habe, der Einzige geweſen iſt, dem nie etwas
drauf ankam, wann, wo, wie und vor wem er ſich
lächerlich machte, ſo hätte er wohl einen beſſern
Schreiber ſeiner Geſchichte, als ich bin, verdient.
Wenn ich in dem einen Augenblick den vernünftigen
Leuten zu Hauſe Recht geben und ſagen mußte, er iſt
wirklich ein unzurechnungsfähiger Narr und Phantaſt!
ſo wurde mir doch ſchon im nächſten Moment ſo heiß
bei ſeinen Worten, Blicken und Geſten, daß ich ihm
um den Hals hätte fallen mögen: „Du biſt und
bleibſt doch der famoſeſte, beſte Kerl in der Welt,
Velten! Geben Dir die Götter nur ein bißchen
Glück auf Deinem Wege, ſo ſtirbſt Du nicht auf
Salas y Gomez, wohl aber, nachdem Du vielleicht
leider auch Dein Perſepolis in Brand geſteckt haſt,
zu Babylon. Alter Junge, was iſt das aber für
ein Glück, daß wir uns von Kindesbeinen an kennen:
daß viele Andere Dich ernſt nehmen, verlangſt Du
wohl ſelber nicht!“
Er lag auf dem Sofa, mit den Beinen über der
Lehne, er ſaß auf dem Stuhl, er ſaß auf dem Tiſche,
er lief auf und ab, während er jetzt mir erzählte von
dem Vogelſang und Helenen Trotzendorff. Von Zeit
[102] zu Zeit griff er nicht ſich, ſondern mir in die Haare
und ſchüttelte mir den Kopf mit einem:
„Lache nicht, Menſch! Oder ja, lache nur, denn
das thue ich ja ſelber über mich, wenn ich mich aus
der Haut eines von euch Pachydermen bei ſogenannter
ruhiger Überlegung beurgrunze. Weißt Du, und das
Frauenzimmer kann wirklich nichts dafür! Es hat
das Seinige in wahrhaft großartiger Weiſe gethan,
ſich mir zu verekeln. Wenn es ſich da drüben in
Amerika ſo weiter ſpielt, wie hier bei uns im Vogel¬
ſang, ſo kann es ſich, ſich, ſich zu was bringen in
der Welt — ſagt auch meine Mutter, und bei deren
lieben, alten Falten um den Mund weiß man denn
auch nie, ob ſie ſich ins Roſige hinaufziehen oder
ins graueſte Elend herunter. Na kurz und gut, das
Mädchen und ſeine Mutter iſt weg, und der Vogel¬
ſang hat: Gott ſei Dank! geſagt. Ich auch. Denn
dies hielt kein Menſch mehr aus — ſelbſt meine
Mutter nicht. Ein paar Löffel von dem letzten
Reſt unſerer Kinderſuppe haſt Du ja auch noch ab¬
gekriegt; aber den Napf gründlich auszuſcharren, das
hatten die Götter allein mir vorbehalten und mich
auch wahrſcheinlich ſchon darum noch ein Jahr länger
als Dich auf der Schulbank ſitzen laſſen. Freilich,
den Miſter Trotzendorff im Vogelſang einrücken ſehen,
[103] war allein ſchon das Vergnügen werth. Die Kröte!
Ich meine meiner Mutter Helenchen.
Den ‚Bazar‘, von dem nachher auch bei Schiller
die Rede iſt, hielten ſie ja ſchon längſt bei Hart¬
lebens. Lies den Quatſch Don Manuels ſelber nach,
und denke Dir mich, das Mädel, meine Alte, ihre
alte verkehrte Schachtel von Mama, Deine Eltern,
den alten Hartleben, kurz, den ganzen Vogelſang
in all den Glanz, der da in der Braut von Meſſina
zu Tage kommt, hinein. Die Sorte Schlappe und
Familie, das heißt das übrige Neſt in ſeinen Spitzen
der Geſellſchaft laß ja nicht aus der Komödie heraus
und male Dir die vier Wochen, die ihrer Abfahrt, nicht
aus dem Vogelſang, ſondern aus dem Hotel de l'Europe
vorangingen, ſelber. Weißt Du, was Dein Vater
ſagte, als wir vom Bahnhof nach Hauſe zogen,
Krumhardt?“
„Nun?“ fragte ich, nicht ohne einige Sorge,
meinem beſten Freund ſofort die Naſe einſchlagen
zu müſſen.
„‚Es ſteckt doch leider viel Gemeinheit in der
Menſchheit!‘ ſagte er, und hatte wieder mal, wie
meiſtens, Recht.“
„Die alte Nachbarſchaft und Freundſchaft iſt
[104] alſo doch wenigſtens bis zu der Abreiſe zuſammen¬
geblieben, Velten?“
„Jawohl. Aber da frage nur den alten Hart¬
leben nach dem Dank, den er für ſeine langjährige
Gaſtfreundſchaft gehabt hat von Papa und Mama
Trotzendorff!“
„Und Helene?“
Da faßte der Freund meine Schulter.
„Wäre dieſer ganze Quark des Erzählens werth,
wenn die nicht auch bei uns zu meiner Mutter Kind
geworden wäre? Wie hätte man vor Luſt kreiſchen
können, wenn man nicht ſelber mit an dem Wurm
erzogen hätte! Jetzt offen geſagt, ich ganz beſonders
ſehr, Krumhardt! Carlos, ſie gehörte doch zu uns,
und ſo laſſe ich ſie auch noch nicht fahren. Sie
weiß es auch ſelber, was für ein gut Stück von uns
ſie mit in die neue Herrlichkeit, drüben jenſeits des
Oceans, nimmt. Krumhardt, ich nehme gar nichts
dafür, mich auch vor Dir bodenlos lächerlich zu
machen: es ſteht geſchrieben, daß ich dem Geſchöpfchen
bis an der Welt Ende nachlaufen ſoll.“
„Über Berlin?“ fragte ich, um doch etwas zu
ſagen.
„Jawohl über Berlin! Habe ich mein Leben
und damit auch alle meine Wege nicht noch vor mir?“
Er hob den linken Arm, deſſen gelähmtes Hand¬
[105] gelenk ihn nur für den vaterländiſchen Kriegsdienſt
untauglich gemacht hatte.
Es leuchtete eine ſolche ſiegesſichere, lachende,
unverſchämte Zuverſicht aus ſeinen Augen, klang ſo
ſehr aus ſeiner Stimme, daß er wirklich nicht nöthig
hatte, mich auch noch derartig mit der geſunden,
eiſernen Rechten auf die Schulter zu klopfen, daß
ich nicht nur körperlich in die Kniee knickte, ſondern
mir auch ſeeliſch niedergedrückt, zuſammengeſchnürt —
kurz, klein vorkam.
Er erzählte nun des Genauern, wie ſich die
letzten Tage des Aufenthalts der Familie Trotzen¬
dorff im Vogelſang abgeſponnen hatten. Wie der
Glanz, den der Vater der Familie mit ſich brachte,
ſeine Wirkung nicht bloß auf den Vogelſang, ſondern
auch auf die ganze Stadt ausübte. Es mochte
wiederum nur ein trügeriſches „bengaliſches“ Licht
ſein; aber das Meteor ſtand doch lang genug am
Himmel über dem Oſterberge, um das Volk, das
ſeiner Meinung nach wahrlich nicht in Finſterniß
ſaß und ſich durchſchnittlich für ſehr helle hielt, zum
ſtaunenden Aufſehen zu bringen. Merkwürdiger¬
weiſe hatten ſämmtliche offizielle öffentliche Wohl¬
thätigkeitsanſtalten der Reſidenz, vor Allem die unter
hochfürſtlichen Schutz ſtehenden Stiftungen und
Stifter, ſodann aber auch die Kleinkinderbewahr¬
[106] anſtalten, die Krippen und ſo weiter, ja auch der
Verein zur Beſſerung entlaſſener Strafgefangener
ſich des kurzen Aufenthalts Mr. Charles Trotzen¬
dorffs im erſten Gaſthof der Stadt (mit Familie)
auf eine Weiſe zu erfreuen, die nur für ausnehmend
nüchterne, ſchlechte Charaktere nichts Erſtaunliches an
ſich hatte. Kein anderer Ortseingeborener hatte in
ſo kurzer Zeit ſo oft in den öffentlichen Blättern
der Stadt geſtanden als Mr. Charles Trotzendorff.
Seit Menſchengedenken hatte kein Anderer wie er es
ſo verſtanden, ſich binnen kürzeſter Zeit ſo ſehr loben
zu laſſen. Daß es vom fürſtlichen Reſidenzſchloß an
bis in den Vogelſang hinein zu feine Naſen gab,
denen er zu gut roch, ließ ſich freilich nicht leugnen
und alſo auch nicht ändern. Seine Durchlaucht ver¬
weigerte eine nachgeſuchte Audienz. Mein Vater
brummte: „Schwindel!“ Veltens Mutter ſeufzte:
„Mein armes, liebes Kindchen!“ und der alte Hart¬
leben meinte: „Wiſſen Sie, Frau Doktern, ich kann
lange zurückdenken, aber ſolch eine Komödie, mit ſolch
einem Hanswurſt als Hauptperſon drin, hab ich doch
noch nicht erlebt hier in der Nachbarſchaft! Herrje,
was hat das Karlchen, der Kerl, zugelernt ſeit er vor
Jahren ſeinen Abſchied von hier nehmen mußte!“
„Weißt Du, Carlos,“ ſagte Velten Andres zu
mir, „die Alte ließ ſich gerade in jenen reizenden
[107] Wochen mal wieder das Neue Teſtament von mir
vorleſen, und da kamen wir denn naturgemäß auf
die Situation im Evangelium Johannis. Es war
auch Nacht, das heißt ſpät am Abend, und wir ſaßen
bei der Lampe und waren beim dritten Kapitel:
Es war aber ein Menſch unter den Phariſäern, mit
Namen Nikodemus, ein Oberſter unter den Juden;
der kam zu Jeſu bei der Nacht und ſprach zu ihm —
‚Du, da hat wer geklopft,‘ ſagte Mutter, und da war
ſie, unſere Kleine, und, ſtand ſcheu in der Stuben¬
thür und wagte ſich nicht herein — ſie wagte ſich nicht
herein, gerade wie der ſpitzbärtige Jüd und Schrift¬
gelehrte. Ob der aber bei ſeinem Beſuch ſo ge¬
ſchluchzt hat wie das Kind, kann ich nicht wiſſen,
glaube es auch nicht. Sie hatten ſie ſchon im Hotel
de l'Europe in Purpur und köſtliche Leinwand nach
der neuſten Modenzeitung ausſtaffirt, aber die Haupt¬
ſache war doch das naßgeweinte Taſchentuch. Mit
dem in den Händen that ſie nun einen Sprung zu
meiner Alten Seſſel und lag vor ihr auf den Knieen
und zog mit beiden Armen und Händen ihren Hals
zu ſich herunter und winſelte: ‚Tante Andres, ich
kann nicht ſo von euch — von Dir, Dir, Dir
fortgehen. O bitte, bitte, verzeihe mir's, daß ich's
nicht ändern kann, und daß es mir auch Vergnügen
macht! Ich habe mich auch jetzt ja nur weggeſtohlen,
[108] um es Dir noch einmal zu ſagen, daß ich euch —
Dich, Dich und den Vogelſang ſo lieb habe, und daß
es mir ſo leid thut, daß ich daraus fort muß! O,
könnte ich euch doch mitnehmen. Wir haben ja
nun das viele Geld und das Glück, von dem Mama
immer geredet und ſich damit in unſerm Elend ge¬
tröſtet hat; aber mein Vater lacht und ſagt: Non¬
sense, und es iſt wieder mal Alles, was ich denke
und fühle, nichts als Unſinn — Jawohl, Velten,
Du haſt mir daſſelbe oft genug geſagt und ich bin
oft genug wüthend darüber geworden; aber nun ſage
es mir dreiſt noch einmal. Jetzt biete ich Dir keine
Ohrfeige mehr dafür an. Die ganze Welt kommt
mir mit einem Mal ſo dumm und unſinnig vor,
daß auf das Bißchen, was ich von der Sorte dazu
gebe, wirklich nichts ankommt. Tante, Tante, liebſte,
beſte Tante Andres, laß es mich nicht entgelten, daß
ich ſo gern weggehe von hier und mich ſo ſehr auf
das neue Leben freue. Wenn Du mich nicht lieb
behältſt, iſt ja Alles nichts; und dem alten lieben
Hartleben ſag auch, daß ich nichts dafür kann, daß
meine Eltern ſo grob gegen ihn geweſen ſind. Zu
Dir wage ich mich ja noch bei Abend aus dem
Hotel heraus; aber zu Hartleben wage ich mich nicht
mehr bei Tage und bei Nacht; o bitte, bitte, ſagt es
ihm — Du auch, Velten! — daß er immer der beſte
[109] alte Menſch geweſen iſt und ich von uns allen Dreien,
Dir, Velten, Karlchen Krumhardt und mir die Einzige
geweſen ſei, die es ganz genau mußte, daß es Unrecht
war, wenn wir ihn alle Tage halb zu Tode ärgerten!
Ach Gott, was hätte ich noch Alles zu ſagen! O
küſſe mich nur nicht, Tantchen Andres! oder doch,
doch küſſe mich nur — es war ja zu ſchön, zu gut
hier bei euch, und wenn Du es nicht weißt, was
ich auf dem Herzen habe, ſo kann ich uns nicht
helfen.“
„Deine Mutter kann ich mir hierbei vorſtellen,
Velten,“ ſagte ich.
„So? Ja, Du haſt freilich immer mehr ge¬
konnt als ich; aber in dieſer Hinſicht meine ich doch,
daß Du Dich irrſt. Du meinſt, ſie brüllte ſich das
Herz aus dem Leibe? Sie hätte die Kleine in Krämpfen
hin und hergeriſſen? Nicht die Idee! Famos hielt ſie ſich,
die alte Rieſin, für meinen Geſchmack in der tragiſchen
Stunde beinahe zu ruhig. Aber am andern Morgen
ſchon wußte ich natürlich, daß ſie wieder mal das
einzig Richtige getroffen hatte. Das weißt Du, wie
oft ſie auf uns hineingepredigt hat; aber ſo wie
diesmal hat ſie noch nie zu Einem von uns Dreien
geſprochen: Gehe in Frieden! — Das Kind iſt an
dem Abend in Frieden aus dem Vogelſang gegangen
und hat an der Gartenthür leiſe hingeweint: ‚Ja,
[110] Du haſt Recht; Vater und Mutter gehen freilich vor,
und ich gehe ja auch gern mit ihnen; aber Du bleibſt
dicht hinter mir, Tante Male, und ich will Deine
Hand immer an meinen Rockfalten haben. Und wenn
— wenn mal — ſo viel — Dummes über mich hier
nach dem Vogelſang geſchrieben wird, wie über Papa,
ſo glaubſt Du es nicht eher, bis Du Velten geſchickt
haſt, um nachzuſehen. Aber ich will auch jede Woche
ſelber ſchreiben.‘“
Ich war natürlich auch nach Berlin bloß des
Studirens wegen gekommen. Damit wurde es dies¬
mal gar nichts. Die ſchlimmſten Befürchtungen
meines armen Vaters trafen ein; ich verfiel für die
nächſte Zeit wieder vollſtändig dem Verderben, das
nach der Meinung aller Verſtändigen in der Heimath
von dem Freunde ausging. Ich hatte ihn wieder,
und er hatte mich wieder am Kragen, und wie ſich
die Vögel mit demſelben Gefieder ſofort wieder um ihn
zuſammengefunden hatten, das mußte ein Wunder
ſein auch für Den, der an keine Wunder in dieſer
nüchternen Welt glaubte.
Da war zuerſt ſeine Wirthin, die Frau Fecht¬
meiſterin Feucht. Ein Anderer hätte die Millionen¬
[111] ſtadt jahrelang nach der ausſuchen können, ohne ſie
zu finden: auf ihren jetzigen jungen Herrn, auf
„ihren Velten“ ſchien ſie ſchon jahrelang gewartet
zu haben, um, „was ſehr nöthig war“, Mutterſtelle
an ihm zu vertreten.
Wir klopften ſchon am zweiten Abend unſeres
Zuſammenſeins an ihre Thür, und er ſtellte mich
der kleinen Dame vor mit den Worten:
„Hier iſt noch Einer aus dem Vogelſang, gnä¬
dige Frau. Ein bißchen langweilig, aber ſonſt auch
ein guter Kerl und erziehungsfähig, ſogar ein wenig
über das Maß ſeiner Bildungsbedürftigkeit hinaus.“
Dem naſeweiſen, ſcharfmäuligen Pennal einen
„dummen Jungen“ aufzubrummen, wäre wohl das
Sachgemäße geweſen, aber wie immer kam ich auch
jetzt nicht dazu, meine Stellung dem Knaben gegen¬
über zu wahren.
„Von Jena?“ fragte die elfenhafte kleine Greiſin,
noch immer die Klinke ihrer Thür in der Hand
haltend.
„Von Göttingen.“
„War zur Zeit meines Seligen auch noch ein
anſtändiger Aufenthalt. Bitte näher zu treten, Herr,
wenn ich recht gehört habe: Studioſus juris Krum¬
hardt?“
Ich konnte das nur beſtätigen; aber mußte mich
[112] doch ein wenig zuſammennehmen, um es mit der
nothwendigſten Höflichkeit und Freundlichkeit zu thun;
doch —
„Weshalb kommen Sie nicht von Jena?“ fragte
die Frau Fechtmeiſterin jetzt ſchon von ihrem Sofa
aus. „Setzen Sie ſich doch, Velten; und Sie auch,
Herr Krumhardt, und nehmen Sie mir meine Frage
nicht übel: ich komme nämlich von Jena, mein Mann
iſt da begraben und ich bin dort jung geweſen, da
erkundige ich mich denn bei den jetzigen jungen
Herren gern ſo nach dort und der alten Zeit, eben
hier von Berlin aus, wo Keiner von uns eigentlich
ſo recht weiß, ob er dahin gehört.“
Da ſaß ſie, ein weißhaarig [Mütterchen], mit
ſcharfem, hübſchem Altfrauengeſichtchen und Augen,
die auf jeder Menſur dem Gegner imponiren mußten,
und das „Keiner von uns“ kam ſo ſelbſtverſtändlich,
natürlich, ſachgemäß heraus, mit einem Anklang von
Fechtboden und Kneipe, daß — es gar nicht anders
möglich geweſen war: ſie und Velten Andres mußten
ſich im Leben treffen. Der Wohnungsnachweis: Frau
Fechtmeiſterin Feucht war vom Schickſal nur für
meinen Freund Velten berechnet geweſen, im Treppen¬
hauſe der Friedrich-Wilhelms-Univerſität zu Berlin. —
„So ſetze Dich doch, Menſch,“ ſagte der junge
Weiſe aus dem Vogelſang, der bereits die andere
[113] Sofaecke neben ſeiner Frau Wirthin einnahm; ich aber
ſtand freilich noch und ſah mich immer noch um. Die
ganze Welt kam hier gar nicht in Betracht; aber in
ganz Deutſchland gab es kein Wittwenſtübchen, das
dieſem glich. Mitten in dieſem Berlin dieſe ganze
deutſche Jugend, ſoweit ſie ſich in Jena und auf
ihren Verbindungsbildern zuſammengefunden hatte!
Alle Wände damit bedeckt; — dazwiſchen, wo nur
ein Räumchen, alles voll von Schattenriſſen mit
allen Couleuren an Mütze und Band. Waffen¬
trophäen ſtatt des Spiegels, Schläger und Stulpen
und was ſonſt dazu gehört, wo nur noch was auf¬
zuhängen war. Keine Ritterdame des romantiſchen
Mittelalters hatte je zu der Ausſtattung ihres Ahnen¬
ſaales und ihrer Kemenate ſo gepaßt, wie die Frau
Fechtmeiſterin Feucht zu dem Schmuck und der Zierde
ihres Altweiberſtübchens, wie geſagt: mitten in
dieſem Berlin!
„Sie ſehen ſich wie Jeder zuerſt bei mir um,
und wundern ſich, Herr Krumhardt,“ lächelte die
feine Greiſin. „Ja, wundern Sie ſich nur. Seine
Meſſer ſchärft ſich unſer Herrgott ſelber, aber den
Schleifſtein drehen ihm die Menſchen. Da die alten
Bilder —die Fliegen ſind tüchtig drüber geweſen —
ſie haben auch ihr Theil an den deutſchen Geſchichten
der letzten Jahre. Es ſind ein paar gute Klingen
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 8[114] drauf, die unſer Herrgott nöthig gehabt hat; und
da haben wir den Schleifſtein ihm mit gedreht; das
heißt nämlich mein Seliger! Ich habe nur an ihm
und euch jungen Leuten meinen Spaß — Gott ver¬
zeihe es mir! — meine Freude gehabt, denn ich bin
auch mal jung geweſen, meine Herren.“
„Das iſt recht, Frau Fechtmeiſterin,“ brummte
Velten, „renommiren Sie nur dem alten Mann da
mit Ihrer Jugend. Er kann's gebrauchen.“
In dieſem Augenblick klopfte es an der Thür
und —
„Das iſt mein Schneider!“ lachte Velten Andres.
„Nun hab ich ja meine ganze gegenwärtige Be¬
kanntſchaft in eurer Weltſtadt vollſtändig bei ein¬
ander.“
Der junge Herr aus dem Vorderhauſe, den ich
geſtern ſchon in der Stube des Freundes getroffen
hatte, ſchob ſich ſchüchtern herein in das Gemach der
Frau Fechtmeiſterin.
„Ich darf doch?“
„Ja, kommen Sie nur, Leon,“ ſagte die Frau
Fechtmeiſterin. „Weshalb haben Sie Ihre Schweſter
nicht mitgebracht? Aber freilich, die hat ſchon am
Morgen bei mir geſeſſen, das liebe Kind, um mir
Geſellſchaft zu leiſten.“
„Und um mal von was Anderem zu hören als
[115] von des Lebens bezahlten und unbezahlten Schneider¬
rechnungen,“ lachte Velten.
„Redet man davon ſo viel bei uns, Herr
Andres?“ fragte der junge Herr und reiche Haus¬
ſohn aus dem Vorderhauſe ein wenig vorwurfsvoll.
„Nein! Wahrhaftig nicht. Soweit ich bis jetzt
darüber urtheilen kann, des Beaux. Ich habe im
Gegentheil bereits meinem Freund Krumhardt davon
erzählt, wie kurios anders das da drüben bei euch
rauſcht, klingt und tönt. Wie das da bunt durchein¬
ander geht. Troubadourgeklimper, Albigenſer Schwert-
und Speergeraſſel, Hugenottiſcher Orgelklang und
Chorgeſang. Der Knabe aus der germaniſchen Pro¬
vinz iſt ſchon feſt überzeugt, daß er in dieſem ſeinen
Berlin keine zweite gleich großartige Schneiderbude
finden wird. Da habe ich Ihnen natürlich ſchon
vorgearbeitet, Leon; übrigens bürge ich auch für jeden
Pump, den er bei euch anlegt.“
„Aber Herr Andres?“
„Jawohl, mein Herr Andres,“ ſagte die Frau
Fechtmeiſterin Feucht, „ſeien Sie nicht zu naſeweis
und ausfallend. Dafür kennen auch wir Beide uns
doch erſt zu kurze Zeit, als daß ich für alle ſchlechten
Witze hier bei mir den Fechtboden hergeben möchte.“
„Karl, ich werde wieder verkannt,“ ſeufzte kläg¬
lich mein Schulfreund aus dem Vogelſang. „Was
8*[116] habe ich denn anders ſagen wollen, als daß Sie
ein famoſer Kerl ſind, des Beaux; — ein Pracht¬
menſch, der allen ſeinen großen Ahnen vor und
nach dem Edikt von Nantes die Stange hält. Hat
denn der Große Kurfürſt nicht ſeine Leute zu euch
geſchickt, um ſich den Rock bei euch wenden zu laſſen?
He, und da ſoll ich nicht einmal meinen Freund
Krumhardt in das Vorderhaus empfehlen dürfen,
um ihn hier am Ort in die beſte Geſellſchaft zu
bringen?“
„Das läßt ſich wieder hören, Leon,“ meinte
die Frau Fechtmeiſterin.
Leon des Beaux aber drückte Velten Andres mit
Thränen in den Augen die Hand und ſagte ſchämig
zu mir: „Mein Herr, es wird mir eine große Ehre
ſein, auch Ihre Bekanntſchaft zu machen. Herrn
Studioſus Andres kenne ich ſchon, habe ich die Ehre
zu kennen.“
„Laſſen Sie das Vergnügen nicht aus,“ brummte
der „Junge aus dem Vogelſang“.
„Nun ſage mir vor allen Dingen, wie biſt Du
eigentlich zu der Bekanntſchaft mit dem, wie es
ſcheint, wirklich nicht übeln ſcheuen Jüngling, dieſem
[117] Schneider mit dem Namen Leon des Beaux ge¬
kommen?“ fragte ich ſpäter am Abend auf dem Wege
zur Kneipe den Freund.
„Wie man öfters zu allem Schönen, Nützlichen,
Guten und Angenehmen ſowie dem Gegentheil kommt
— durch Zufall. Ich zog ihn wie damals Schlappen
heraus; aber diesmal nicht unterm Eiſe weg, ſondern
aus dem Feuer — nämlich unſerer ſchlechten Redens¬
arten.“
„Unſerer ſchlechten Redensarten?“
„Wenn Dir dumme Witze, anzügliche Be¬
merkungen, rüde Anrempeleien lieber ſind und beſſer
klingen, mir auch Recht. Die Fabel oder Wahrheit
von der Krähe, die ſich zum erſten Mal für Äſops
Lob heiter mit Pfauenfedern beſteckte, kennſt Du
wohl noch. Sie kam in dieſem Abkömmling des
Landes des Weins und Ölbaums, der Sonne und
der Geſänge von Neuem auf die Bühne der Welt,
und ich natürlich ganz zur rechten Zeit, um meinen
Spaß und nachher auch ein bißchen meinen Ernſt
daran zu haben. Das romantiſche Rindvieh hatte
ſich an einem der erſten Tage meines hieſigen
Aufenthalts aus ſeiner Akademie für körperliche Be¬
kleidungskunſt im rothen Schloß in unſere Bude für
geiſtige Maskirung dem alten Fritz gegenüber ver¬
irrt, das heißt, ſich als Hoſpitant in ein Kolleg über
[118] Aſthetik, in das ich auch die Naſe ſteckte, eingeſchlichen.
Dummeres gab es gar nicht, ich meine nicht den
leſenden Herrn Profeſſor, ſondern meinen Freund
Leon des Beaux; doch das Letztere wurde mir erſt
klar, als ich ihn zu Hauſe beſucht hatte. Fürs Erſte
war er für mich nur das in dem Dornbuſch hängen¬
gebliebene ſcherzhafte Schafvieh. Philiſter über ihn!
Der Hauptflegel, ein langer Bierlümmel mit der erb¬
rechtlichen Anwartſchaft auf den Landrath, Regierungs¬
präſidenten oder ſonſt ſo was Schönes, der, wie ſich
nachher mir erklärte, mit dem Papa des Beaux hing,
das heißt nach endlich bereinigtem Pump ſeine
Rechnung noch mit ihm abzumachen hatte! Wie ich
provinziales Unſchuldswurm ſofort in die Narrenthei¬
ding hineingerieth und mich ſonderbarerweiſe auch der
Situation gewachſen fühlen konnte, iſt mir bis jetzt
noch ein Räthſel. Es muß wohl ſo in mich gelegt
ſein, und im Grunde war's doch auch wieder nur
der reine Vogelſang, wenn es da hieß: der Bengel
muß doch bei jedem Unſinn und Skandal das Maul
und die Fauſt im Spiel haben. Na kurz, Du kannſt
Dir das Ding jetzt ſchon ausmalen. Erſt Hinhorchen,
ſodann ulkhaftes Vergnügen an dem Hauptwitz,
Nähergehen, Umſchlagen des Spaßes in ſein Gegen¬
theil, darauf die gewöhnlichen Redensarten bis zu dem:
Herr, der dumme Junge ſind doch nur Sie! . . .
[119] Die Hauptſache war, daß ich meinen idealiſchen
Schneider herausriß. Was ſich nachher ſachgemäß
mit den Herren Kommilitonen an den Vorgang knüpfte,
iſt erledigt und Rechenſchaft nach Goethes ſämtlichen
Werken Band eins gegeben worden. Selbſtverſtänd¬
lich fühlte auch ich mich ein Manſen und
Wie ſagt doch der andere Kerl aus Weimar? . . .
Die Blinden in Genua horchen auf meinen Schritt,
oder ſo ungefähr. Fürs Erſte glaube ich mich in
dieſer Hinſicht hier bei euch im großen Weltleben
gut genug geraucht zu haben. — Meinen zitternden
Schneiderſohn nahm ich unterm Arm: Nu, nur
nicht ohnmächtig werden, Sie armes naſſes Huhn.
Sagen Sie mir um Gottes willen, was wollten Sie
hier in dieſer gemiſchten Geſellſchaft? und dann, wo
wohnen Sie; — mein Name iſt übrigens Andres. —
Meiner des Beaux — Leon des Beaux, ſtammelte
das Geſchöpf. — Aus Paris? — Aus der Dorotheen¬
ſtraße. Da wir denn ſo ziemlich unter einem Dache
wohnten, wie ſich auswies, benutzten wir ein und die¬
ſelbe Droſchke nach Hauſe, denn der Knabe war zum
Gehen nicht mehr ganz in der nöthigen Beinverfaſſung.
Daß er mir am folgenden Tage bei meiner Frau
[120] Fechtmeiſterin einen Beſuch machte, war ſchicklich,
würde meine Mutter ſagen. Daß er mich einlud,
nun auch zu ihm zu kommen und die Seinigen
kennen zu lernen, unnöthig . . . Krumhardt, ich kann
jetzt auch Dich dort einführen in die Familie!
Würde es Dir Vergnügen machen, das Haus des
Beaux und Fräulein Leonie des Beaux kennen zu
lernen?“
Wenn ich heute an jene Redensart des Freundes
denke und das Haus des Beaux, ſo wird es ſehr
licht um mich, und der Schein geht von den Leuten
aus, zu denen ich damals geführt wurde. Der Junge
aus dem Vogelſang, von der Schulbank, aus dem
Pandektenkolleg und der Korpskneipe lernte wieder
ein Stück Erde oder Welt kennen, von dem er nichts
gewußt hatte, von dem er ohne Velten Andres auch
wohl nie etwas erfahren haben würde. Seine übrigen
gleichalterigen Lebensgenoſſen würden ihm wohl nicht
dazu verholfen haben; ſchon in der Befürchtung, ſich
vor ihrer Welt durch zu genaue Bekanntſchaft mit
ihrem Schneider lächerlich zu machen. —
Sie kam uns von ihrem Flügel entgegen,
Fräulein Leonie des Beaux. Ein hochgewachſenes,
ruhiges Mädchen, ein ſchönes Mädchen, deſſen freund¬
lichem Geſicht es nichts that, wenn ſich über den
großen, aber etwas kurzſichtigen ſchwarzen Augen die
[121] ſchwarzen Brauen dann und wann in eins zuſammen¬
zogen. Böſe wollte ſie dann nur ſelten hinſehen,
nur etwas ſchärfer.
„Hinweiſe auf das Mittelmeer, Donjons, Falken¬
jagd, Zelter, Windſpiele und König Renés Minnehöfe
kannſt Du Dir ſparen, Krumhardt,“ ſagte Velten.
„Ich habe ſie alle ſchon ſelber gemacht. Auch den
auf den Kaſtellan von Couçy und die Dame von
Fayel. Übrigens, Karl, ſtandeſt Du geſtern vor der
lieben Kleinen gerade ſo dumm, wie wenn Du in
Obertertia die Uhlandſche Simpelei dem Oberlehrer
Knutmann zu deklamiren hatteſt.“
Er ſagte dieſes natürlich nicht in ihrer Gegen¬
wart, ſondern als wir wieder vor der Thür waren
und fügte hinzu: „Nun, was meinſt Du zu den
Leuten?“
Man kann bei dem, was man „von den Leuten
meint“, auch ein Gefühl haben von ihrer Umgebung,
welches vollſtändig dazu gehört und nicht davon zu
trennen iſt. Dieſes traf hier ganz und gar ein, und
ich mußte nichts zu erwidern als: „Ausnehmend
anſtändig.“
Heute würde ich ſagen: es war ein vornehmes
Haus, in welches wir gekommen waren; aber man
hat ja ſo ſeine beſondere Redensart für jede Lebens¬
epoche. — Es war ein ſehr wohlhabendes Haus, das
[122] auf dem beſten Wege war, zu einem reichen zu
werden. Mir imponirte es ſehr, meinem Freunde
Velten nicht im mindeſten; der war da ſofort da ſo
bei ſich, wie früher bei Hartleben im Vogelſang und
jetzt bei der Frau Fechtmeiſterin Feucht. Und es
war daſſelbe, wie zwiſchen den grünen Hecken des
Vogelſangs: es kam wieder ein ſchönes Mädchen für
ihn an den Zaun, nur diesmal nicht, um ſich mit
ihm zu zanken, zu vertragen und wieder zu zanken.
Leonie des Beaux zankte ſich mit Niemand in der
Welt und vor Allem nicht mit Einem, dem ſie ſich
zu Dank verpflichtet glaubte, weil er gegen „unſer
Kind“, ihren Bruder gut geweſen war.
„Aber es ſind ja auch Beide ein paar Kinder,“
ſagte ſie ſpäter, als wir Zwei vertrauter und ganz
bekannt miteinander geworden waren. „Ihr Herr
Freund und mein armer Leon paſſen zu einander
wie Hand und Handſchuh. Herr Andres iſt freilich
die Hand. Ich freue mich recht, daß ſie zuſammen¬
gekommen ſind, wenn auch durch eine ſo lächerlich¬
tragiſche Thorheit meines närriſchen Bruders. O Herr
Krumhardt, bitte, machen Sie meinen Bruder nicht
lächerlich! Man kann auch in einer Stadt wie
Berlin noch immer in einem ſtillen Märchenwinkel
aufwachſen, und das ſind wir Beide, Leon und ich;
und mein Papa hat dazu geholfen (meine Mama
[123] iſt lange todt), daß wir ſo geworden ſind — Leon
beſonders, den er hat von uns Zweien immer die
unruhigſte Phantaſie und Seele. Übrigens iſt er
doch auch ein rechter, guter Kaufmann. Er führt
die Bücher da unten in unſerm Geſchäft, und Papa
iſt recht mit ihm zufrieden. Aber Papa iſt eigentlich
auch ſehr mit daran ſchuld, daß wir ſo aufgewachſen
ſind in Einbildung und Träumen. Das hat ſich ſo
von einer Generation zur andern weitergegeben, ſeit
wir unter Ludwig dem Vierzehnten nach Branden¬
burg zu dem Großen Kurfürſten gekommen ſind. Ach,
Herr Krumhardt, die Kinder des Schneiders des
Beaux haben ihr Hausheiligthum und ihre Ritter¬
buchbibliothek wie der edle Junker Don Quixote von
la Mancha. Hat Leon Sie noch nicht hineingeführt?
Das wundert mich! Herr Vel — Herr Andres ſitzt
ſehr häufig dort und hat auch ſchon manches Merk¬
würdige da gefunden wie er ſagt. Soll ich für Sie
da auch ſagen: Seſam öffne Dich?“
„Das würde ſehr liebenswürdig von Ihnen ſein,
gnädiges Fräulein.“
„O, ſpotten Sie nur über die Firma des Beaux,
Vater und Sohn!“ —
Es war hier wirklich kein Grund zum Spotten.
Das Haus des Beaux hatte nicht nur ſeinen Salon,
ſeinen Konzertflügel ſammt reichen Teppichen, Kron¬
[124] leuchtern, ſchönen Ölgemälden, Kupferſtichen und
dergleichen, was ſonſt zum laufenden Tag gehört;
es hatte auch ſeine Bücherei, und in dieſem nüchternen
Berlin des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts,
heraus wie aus dem ſiebenzehnten Säkulum in den
Einzelheiten noch viel weiter zurück in den Zeiten
und Hiſtorien, ſein Muſeum. Wie die Leutchen es
zuſammengebracht hatten, war ſchon an und für
ſich ein hiſtoriſches Wunder.
„Von unſeren angeſtammten Familienheilig¬
thümern haben wir wenig mitbringen können in
die Mark,“ erklärte Fräulein Leonie. „Vieles iſt
geerbt oder angeheirathet; aber echt iſt Alles. Papa
kommt durch ſeinen Beruf nicht ſelten nach Paris,
und dann reiſt er gewöhnlich auch nach Südfrankreich
und ſein Vater und Großvater haben das auch ſo
gemacht. Papa kommt nie nach Hauſe ohne ſich und
uns Kindern etwas von dorther mitzubringen. Bitte,
nehmen Sie Platz!“
Das ſah man, als ſie ſich an dem ſchwerfälligen,
kugelfüßigen, grünbehangenen Studirtiſche in der
Mitte des Gemachs niederließ, daß nicht nur Alles
umher echt war, ſondern daß auch ſie zu dieſem Raum
gehörte, und — ihr Bruder auch.
„Hier ſitzen wir denn und denken uns zurück,“
ſagte Leonie. „Dann liegt auch für unſeren Vater,
[125] oder gerade für den erſt recht, der Tag und unſer
Geſchäft wie auf einem anderen Weltball. Und hier
iſt an Leon und mich Alles gekommen, was wir für
unſer Beſtes halten, und was den Leuten mit vollem
Recht ſehr komiſch erſcheinen muß, wenn wir damit
unter ſie gerathen. Ich komme wohl nicht in die
Verlegenheit; aber mein armer Bruder von ſeinem
Schreibpult im Comptoir drunten leider doch dann
und wann, und ſo neulich wieder in Ihrer Univer¬
ſität, wo Herr Andres ſo gütig war, ſich ſeiner an¬
zunehmen. Er, Leon, hat es noch nicht recht gelernt,
den Traum und das Leben auseinanderzuhalten, und
kommt alſo nur zu oft wie ein geſchlagenes Kind
nach Hauſe, und es koſtet Wochen in dieſem unſeren
Phantaſieſtübchen, ehe er ſich wieder zurechtgefunden
hat in der Welt. Wir haben eigentlich da draußen
in der Zeitlichkeit einen großen Umgang, und darunter
ſucht er denn wie der alte Grieche nach Menſchen,
die zu ihm paſſen. Ach, wenn er dann nur ausge¬
nutzt und gehänſelt würde, ſo wollte ich gar nichts
ſagen; aber er wird auch gekränkt und bis aufs tiefſte
verwundet, und wenn ich auch die Älteſte und die
Vernünftigſte bin — ein noch älterer Bruder von uns
iſt, als ich noch ein ganz junges Kind war, bei Mars
la Tour gefallen — ſo kann ich doch nur allzu oft
ihm gar nicht helfen. O, wenn ein Menſch es werth
[126] wäre, einen echten Freund zur Seite zu haben, ſo iſt
das mein armer Bruder; und jetzt, Herr Krumhardt,
nehmen Sie es mir nicht übel, jetzt hält er wieder
einmal Ihren Herrn Freund, Herrn Andres, für
einen ſolchen, und ich, ich — ich weiß nicht, wie ich
Ihnen das ſagen kann und ob ich es Ihnen ſagen
darf: ich weiß nicht, ob ich Freude oder Angſt haben
ſoll. Mein Bruder hat ſo viele Bekanntſchaften ge¬
habt, aber dies iſt die erſte, in der ich mich ganz
und gar nicht zurechtfinden kann. O bitte, ſagen Sie
es ſich ſelber beſſer als ich es kann! Aber es wäre
nicht edel und gut von Ihrem Freunde, wenn er
meinen lieben närriſchen Leon noch mehr als ein
Anderer und bloß etwas feiner, alſo ſchlimmer,
als ein armes Spielzeug behandeln würde.“
Es hatte mein Freund Velten, von unſerm erſten
Zuſammenaufwachen im Leben und Vogelſang an,
mir nie ſo ganz und gar mit Allem, was in und
an ihm war, vor der Seele geſtanden, wie in dieſem
Augenblick. Ich hätte eine Monographie über ihn
ſchreiben und Doktor darauf werden können; aber
zu erwidern wußte ich hier und jetzt nichts als:
„Gnädiges Fräulein, da können Sie ganz ruhig
ſein. Luſtig macht ſich Der nur über ſich ſelber. Da
fragen Sie nur im Vogelſang nach. Ich will gerade
nicht ſagen, daß er einen guten Ruf dort hatte in
[127] dieſer Hinſicht; aber das war doch einfach bloß darum,
weil ihn eigentlich nur drei Leute da ganz genau
kannten. Seine Mutter, ich und — Ell — Fräulein
Helene Trotzendorff.“
„Wohl eine liebe Tante von Ihrem Herrn
Freunde?“ fragte Leonie, und ich hatte mich wirklich
erſt einen Augenblick darauf zu beſinnen, auf wen
die Frage ſich bezog. Aber es war ja auch richtig,
damals iſt Miſtreß Mungos Mädchenname zum
erſten Male in dem hiſtoriſchen Traumſtübchen der
Geſchwiſter des Beaux genannt worden.
Er iſt noch oft dort erklungen. Er wurde ein
ſehr vertrauter Klang da.
„Siehſt Du, Karl, man findet überall die Leute,
zu denen man paßt. Wie wir hier zuſammenhocken,
wir Vier jetzt, iſt das nicht gerade dasſelbe, wie
damals, als wir Drei aus dem Vogelſang auf dem
Oſterberge im Wald lagen und das niedliche Reſidenz¬
neſt unter uns hatten. Haben mir heute Abend nicht
ebenſo dies Berlin unter uns? Nur immer über
den Dingen bleiben und möglichſt wenig von ihnen
haben wollen! Fragen Sie nur den Kandidaten
[128] beider Rechte hier, Fräulein Leonie. Der ſteht vor
dem Referendarexamen und beantwortet Ihnen jegliche
Frage aus und über Banauſien mit Eins A. Leon,
Sie ſind und bleiben ein Rieſe, und wenn Sie mich
noch ſo ſchafsmäßig anſtarren. Was ſagen Sie
übrigens zu dem letzten New Yorker Bericht meiner
Kleinen, Fräulein Leonie? Das arme Wurm
ſcheinen ſie drüben ſchon ſauber eingeſeift zu haben;
ich wollte, ich hätte ſie heute Abend auch hier bei
uns, um ihr den Kopf zurechtzuſetzen. Und Sie
würden mir dabei helfen, nicht wahr, Fräulein
Leonie?“
„Sie hat Ihnen einen ſehr hübſchen Brief
geſchrieben, Herr Andres,“ ſagte Leonie des Beaux
leiſe. „Sie ſcheint in einem großen Leben zu leben
und giebt ſich doch alle Mühe, treue — Freundſchaft
zu halten mit — mit —“
„Dem Vogelſang, dem Oſterberge, kurz, der
deutſchen Kinderſtube,“ lachte Velten. „Das wollte
ich ihr aber auch gerathen haben,“ ſetzte er ein wenig
mit den Zähnen auf der Unterlippe hinzu, und dann
kaum hörbar für ſich: „Sie weiß es ja aber auch,
daß ich ſie ihr ganzes Leben lang nicht loslaſſe.“
Leonie hatte das letzte Wort aber doch gehört.
„Giebt es ſolch einen feſten Griff auf dieſer Erde?“
„Was man will, kann man durchſetzen,“ meinte
[129] unſer alter Oberlehrer Doktor Langemann auf unſerm
Gymnaſium zu Hauſe. Fragen Sie nur Krumhardt,
Fräulein, der hat ſich in ſeiner Lebensauffaſſung
auch nach dem Wort gerichtet und geht als Sieger
zu den Todten.“
„Rede kein Blech, Velten!“
„Ich bin niemals mehr gediegenes Erz geweſen
als an dieſem Abend und unterm Auge des alten
Hugenottenpaſtors und des jungen Albigenſerritters
da an der Wand. Die haben ſie vielleicht ihrer Zeit
lebendig gebraten, aber haben die Zwei nicht noch heute
ihre Fauſt am Kragen hier meines intimen Freundes
Monſieur Leon des Beaux aus Albi? Übrigens
haben wir, Lenchen und ich, ſchon lange vor Ihrer
Frage, Fräulein Leonie, eine Wette auf dem Oſter¬
berge darauf hin gemacht, wer von uns Beiden den
feſteſten Griff habe und den Anderen zu ſich holen
werde. Selbſtverſtändlich und naturgemäß hat ſie
gegenwärtig die obere Hand, und ich werde es
meiner Alten zu Hauſe nicht erſparen können: ich
muß hinüber zu ihr nach Amerika.“ — — — —
Es iſt unaktenmäßig in den Akten: wir haben
damals ſolche Unterhaltungen gefühlt in Leons und
Leonies romantiſchem Zauberſtübchen in der Stadt
Berlin. Und es ſind auch ſolche Briefe, von denen
Velten Andres redete — Briefe, die Helene Trotzen¬
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 9[130] dorff hinter dem Rücken von Vater und Mutter
geſchrieben hatte, dort von Hand zu Hand gegangen.
Wie ſehr erwachſene, verſtändige, vernünftige Leute
wir draußen in den Gaſſen der Reichshauptſtadt
ſein mochten, in Leonie des Beaux' Reiche waren
wir noch dergeſtalt unmündig Volk, daß wir die
höchſten Ehrenſtellen und Sitze im Kinderhimmel des
Evangeliums hätten in Anſpruch nehmen dürfen.
Und wir wußten es natürlich nicht und hielten uns
im Gegentheil für außerordentlich weltklug. Fräulein
Leonie vielleicht ausgenommen.
Die achtete mit immer größeren, ſchärferen und
— ängſtlicheren Augen auf den neuen Freund ihres
Bruders, auf den närriſchen Velten Andres. Daß
es mir freilich damals aufgefallen wäre, kann ich
nicht ſagen: ich kann es eben nicht genug wiederholen,
daß das Meiſte aus dieſer Vergangenheit mir ſelber
erſt klar und deutlich wird und einen logiſchen
Zuſammenhang gewinnt, wie ich dieſe Blätter be¬
ſchreibe und — paginire.
Ob er, der Junge aus dem Vogelſang, je in
ſeinem Leben einen Begriff davon bekommen hat,
was dieſe großen, anfangs ſo freudigen, dann mehr
und mehr ernſten, traurigen Augen für ihn bedeuteten,
weiß ich nicht. Wie viele treu beſorgte Blicke aus
lieben Augen gehen Einem verloren, während man auf
[131] das Zwinkern, das Schielen und Blinzeln der Welt
rundum nur zu genau achtet und ſich ſein Theil
Ärger, Kummer, Sorgen, Verdruß und Verzweiflung
daraus holt!
Seltſamerweiſe hatte Leonie des Beaux das
größte Vertrauen zu mir, und durch mich wußte ſie
allgemach ebenſo gut als ich, wie es im Vogelſang
ausſah, oder vielmehr (ſchon damals) ausgeſehen
hatte. Sie kannte nicht bloß die Familie Krumhardt,
Vater, Mutter und Sohn, ſondern ſie kannte auch
den alten Hartleben und Miſtreß Trotzendorff —
letztere in ihrer Verdunkelung wie im blendendſten
Glanze. Sie hatte an jeder grünen Hecke mitgelehnt,
in jeder Gartenlaube mitgeſeſſen; ſie kannte den
Oſterberg und die zierlichen Promenadenwege und
Bänke am Rande des Waldes, und die Ausſicht auf
die kleine zierliche Reſidenz drunten im Thal. Wovon
ſie aber am genaueſten Beſcheid wußte, das war —
ſeine Mutter, die Frau Doktorin Andres und ihr
Häuschen — neben uns an, hinter dem nächſten
nachbarſchaftlichen lebendigen Liguſter-, Stachel- und
Johannisbeerzaun zwiſchen Mein und Dein im
Hypothekenbuch. Ja, wie ich das jetzt ſchreibe,
erfahre ich es erſt, wie gut ſie bei ſeiner Mutter
Beſcheid wußte — damals — und wie ſie vom
Keller bis zum Dache ſich in dem kleinen Hauſe
9*[132] unter dem Oſterberge zurechtgefunden haben würde,
wenn man ihr den Thürgriff in die Hand gegeben
hätte. Ach, wie häufig geſchieht das, daß wir
ſeufzen: „Ja, wenn Das und Das geweſen wäre,
ſo hätte ſich Alles ſo leicht zum Beſſeren — zum
Beſten wenden können! Es war ja ſo einfach, es
lag ja ſo vor der Hand! Man brauchte in der
und der Stunde, in dem und dem Augenblick nur
zuzugreifen, um das Richtige für einen ganzen
langen, guten, glückſeligen Lebensweg zu treffen.
Eine Wendung von der Rechten nach der Linken,
oder umgekehrt, genügte vollſtändig, wenn wir nicht
ſo blind, ſo dumm geweſen wären!“ — Was wiſſen
wir aber eigentlich hierüber? — — — — —
Das Verhältniß zwiſchen Velten und Leon,
dem beſten klarſten Kopfe des Vogelſangs und dem
beſten harmloſeſten und verworrenſten der Stadt
Berlin, vertiefte ſich ebenfalls immer mehr. Für
dieſes weiß ich kein edleres und ſchöneres Gleichniß
als das ſehr edle und ſehr ſchöne: Die Freundſchaft
zwiſchen einem lieben, klugen, bis in den Tod und
das Lächerlichwerden getreuen Hunde und ſeinem
Herrn, Eigenthümer und — beſten Freunde. Damals!
In Velten Andres hatte der arme glückliche,
reiche Hausſohn aus dem Schneiderladen Alles ge¬
funden, was er bis dahin in Berlin und der weiten
[133] Welt außerhalb des Familienzauberthurms vergeblich
geſucht hatte — einen von der allgemeinen Heerſtraße
gleich ihm verlaufenen Genoſſen, der in der rechten
Weiſe über ihn lachte und ihm mit jedem Lachen
und Lächeln und durch jeden kameradſchaftlichen
Schlag auf die Schulter, jedes Zupfen am Ohr
das Herz mit in die Höhe hinaufnahm. Nein,
das Herz nicht; nur den Kopf. —
Kein Hund und keine Liebende konnten um
dieſe Lebensſtunde auf den Geliebten, den Herrn und
den Freund genauer achtgeben, beſorgt-freudiger auf
jedes Wort, jeden Wink, jede Bewegung beim ſtillen
Nebeneinander und im menſchenvollen Geſellſchafts¬
zimmer, kurz, bei jeder Lebenskomödienſcene paſſen,
als Leon und Leonie des Beaux auf Alles, was
Velten Andres ſagte und that, oder — nicht ſagte
und nicht that. Daß er das ſo deutlich wußte wie
ich, glaube ich nicht: ſein ſpäterer Lebensweg ſpricht
dagegen. Er war es eben zu ſehr gewöhnt, daß die
Leute ihm nachſahen, und er nicht über ſie hinweg,
ſondern durch ſie durch in ſeine Welt hinein auf
ſeine Weiſe, die nur ſehr ſelten mit der — unſrigen
übereinſtimmte. Mit der unſrigen! denn wie oft habe
ich ſchon zu Hauſe, im Vogelſang, den Vernünftigen
dort Recht geben müſſen, wenn ſie meinten: „Der
Junge iſt rein verrückt!“ —
[134]
Es war ein wunderlich behagliches Leben dort
bei der Frau Fechtmeiſterin Feucht in Veltens erſtem
Studentenſtübchen und in des alten deutſch-franzöſiſchen
Schneidermeiſters und ſeiner Kinder Zaubererinnerungs¬
raum. Von außen ſah man es dem Hauſe in der Doro¬
theenſtraße wahrhaftig nicht an, was es in ſeinem
innerſten Innern barg. Daß ich, ein deutſcher
Studioſus der Jurisprudenz, nach Berlin gekommen
ſei, um mich in meiner Wiſſenſchaft daſelbſt noch
mehr zu vervollkommnen, ging mir von Tag zu Tage
mehr aus dem Begriff verloren. In dieſer Beziehung
war es ein Glück zu nennen, daß mein Aufenthalt
mir nur kurz von meinem Vater bemeſſen worden
war. Die Einzige, der ich zu Hauſe dieſes Semeſter
hätte begreiflich machen können, war die Frau Doktorin
Andres. Die aber wußte natürlich ſchon ſehr Beſcheid,
wies auf einen Haufen Briefe aus der Reichshauptſtadt
und lächelte trübe:
„Ja, ich weiß ſchon. Daß ſich das Kind drüben in
Amerika wieder zu den Seinen finden würde, wußte ich.“
Mit einem leiſen Seufzer und ſeinem Blick
über die nächſte Nähe fügte ſie hinzu und glaubte
feſt an ihr eigen Wort:
„Du kennſt ihn ja, lieber Karl, und weißt, wie
wenig Einfluß ich von jeher auf ihn gehabt habe.“
So reden die Weiber, wie ſie das Glück und
[135] das Elend, das Beſte und das Schlimmſte auf
dieſem Erdball weitergeben! —
Er iſt doch mein Freund geweſen und ich der
ſeinige. Ich habe ſein Leben mit erlebt, und doch,
gerade hier, vor dieſen Blättern, überkommt es mich
von Seite zu Seite mehr, wie ich der Aufgabe,
davon zu reden, ſo wenig gewachſen bin. Ich habe
Alles erreicht, was ich erreichen konnte; er nichts —
wie die Welt ſagt — und — wie ich mich zuſammen¬
nehmen muß, um den Neid gegen ihn nicht in mir
aufkommen zu laſſen! Was kann ich heute an ſeinem
Grabhügel Anderes ſein, als ein nüchterner Protokoll¬
führer in ſeinem ſiegreich gewonnenen Prozeß gegen
meine, gegen unſere Welt? Was aber würde erſt
ſein, wenn ich auch nicht mein liebes Weib, meine
lieben Kinder gegen dieſen „verlorengegangenen“,
dieſen — beſitzloſen Menſchen mir zu Hilfe rufen
könnte? —
Wie geſagt, ich mußte nach Haus ins erſte
juriſtiſche Examen und ließ ihn in Berlin, in einer
Geſellſchaft, oder beſſer Genoſſenſchaft, die damals
ſchon nicht mehr aus der Familie des Beaux be¬
ſtand.
[136]
Das Beſte aus dem Vogelſang, der Form wie
dem Gehalt nach, in der Dorotheenſtraße zu Berlin!
Wie in dem Stübchen der Frau Fechtmeiſterin die
Trophäen des alten, ſeligen Jenenſers Laniſtra, oder
wie Leon ihn in ſeinen Chroniken fand: Maistre
escrimeur, ihr innerlichſtes Behagen durch ein leiſes
Schüttern und Klirren ausdrückten! Wie die Frau
Fechtmeiſterin manchmal ihren „närriſchſten und liebſten
dummen Jungen“ am Ohr nahm und rief: „Jetzt
hören Sie aber auf, Sie junger Schulfuchs! Sind
wir die ſieben Schwaben an Einem Spieß, oder ſind
wir die vier Haymonskinder auf Einem Gaul? Ich
weiß es wirklich nicht. Und Sie, Fräulein Leonie?
Geht es Ihnen auch ſo wie mir, daß Sie nie recht
wiſſen, was das Menſchenkind eigentlich für Ernſt
nimmt? Ja, ob er jemals in ſeinem Leben ſchon
irgend was für Ernſt genommen hat? Ich für mein
Theil habe mir ſeit lange nicht ſo oft wie jetzt meinen
Seligen hergewünſcht, um dieſem jungen Leichtſinn
und Phantaſtikus den richtigen Waffenſegen zu geben,
daß die Philiſter ihn uns nicht auf ſeinem Lebens¬
wege zum Krüppel geſchlagen im Chauſſeegraben
liegen laſſen. Velten, Velten, nehmen Sie das Wort
der Fechtmeiſterin Feucht drauf an, daß ſie ihrer
Zeit manche gute Klinge aus mancher feſten Fauſt
hat ſchlagen ſehen. Nicht Alles, was auf der Menſur
[137] in den Lüften blitzt und leuchtet, ſitzt nachher auf die
richtige Weiſe und bringt eine ſaubere Abfuhr zuwege.
Da mag man doch aufs Tapet bringen, was man
will, Herr Andres: ſolch ein armer, unſchuldiger,
pudelnärriſcher Draufgänger, mit der Gabe den Spieß
zu ärgern, wie Sie, iſt mir weder in Jena noch hier
in Berlin, noch ſonſt in meinem lieben, langen Leben
vorgekommen. Den Herrn Leon frage ich nicht um
ſeine Meinung; aber was iſt Ihre Anſicht, Fräulein
des Beaux?“
„Man kann auch unter den Fußtritten der Leute
auf der Landſtraße und in der Gaſſe auf Salas y
Gomez ſterben,“ ſagte Leonie des Beaux leiſe. Damals
ging das Wort an mir vorüber in der lachenden,
luſtigen Unterhaltung, wie das ſo gewöhnlich iſt,
und ich habe mich vielleicht höchſtens einen kurzen
Augenblick darüber verwundert, wie das Mädchen
dazu kam. Heute haftet mein Blick, von meinem
Schreibtiſch aus, über das benachbarte Hausdach
hinweg, auf einer bewaldeten Hügelkuppe. Das iſt
der Oſterberg, auf dem wir, da wir noch Kinder
waren, die Sternſchnuppen, die Thränen des heiligen
Laurentius, fallen ſahen, und es verſuchten, bei jedem
fallenden Funken einen Wunſch zu haben, um ihn
in Erfüllung gehen ſehen zu können.
Einen Tod auf Salas y Gomez, das heißt
[138] einen einſamen Tod, aber — nach dem Wege und
Siege des Welteroberers wünſchte ſich Velten Andres
damals.
Sein Wunſch iſt ihm erfüllt worden! Er hat
die Welt überwunden und iſt mit ſich allein ge¬
ſtorben. — — — — — — — — — — — —
Alſo, wie geſagt, ich ließ ihn in Berlin, beſtand
zu Hauſe ehrenvoll, und wie es mein Vater auch
gar nicht anders erwartet hatte, mein erſtes juriſtiſches
Examen, wurde der nächſten Behörde, die eine Lücke
für mich aufzuweiſen hatte, als rechtskundiger Kate¬
chumene zugeteilt, entſprach den Anforderungen meiner
Vorgeſetzten und ſah, wie mein Papa, dem zweiten
„ſtärkern Licht“, das heißt der nächſten Prüfung, mit
nicht ungerechtfertigtem Vertrauen entgegen. Er kam
einige Male in den Ferien zu ſeiner Mutter heim,
und ſtellte dem Vogelſang ſowie der Reſidenz ſeinen
Freund, Herrn Leon des Beaux, vor, indem er ihm
ſein Bett in ſeinem Schülerſtübchen unterm ſchrägen
Dache der Frau Doktorin abtrat, ſelber auf dem Sofa
kampirte und (auch durch mich) in der Hauptſtadt
verbreitete: den Titel „Vicomte“ habe die Familie
im Laufe der Jahrhunderte einſchlafen laſſen, aber
die franzöſiſche Republik erkenne ihn heute noch an,
und der ſchüchterne junge Menſch habe für Jeden,
[139] der ihn zu nehmen wiſſe, einen unbegrenzten Kredit
bei ſeinem Herrn Vater in der Taſche.
„Das geht ja noch über Schlappe!“ ſeufzten
unſere Zeitgenoſſen in der Heimath, fügten jedoch be¬
ruhigt hinzu: „Na, er wird wohl wieder nichts
damit anzufangen wiſſen und ſeine guten Karten
nicht aus Dummheit, ſondern purer Suffiſance
abermals aus der Hand geben.“
„Was haben Sie den Herrſchaften hier eigentlich
über mich aufgebunden?“ fragte wohl (und hatte das
Recht dazu) der Sohn und Erbe des jetzt wohl¬
habendſten und berühmteſten Schneidermeiſters von
Berlin an der Spree, in gewohnter, ſchüchterner
Verlegenheit die Hände aneinander reibend. „Die
Leute ſind doch ganz gewiß nicht meinetwegen ſo
liebenswürdig gegen mich an dieſem entzückenden
Orte.“
„Bloß Ihretwegen, Leon! Ich habe nur bei¬
läufig fallen laſſen, daß Sie mein guter Freund
ſind, und daß mir Ihr Herr Vater ſein Haus und
einen Credit illimité, das heißt Rieſenpump, bei
ſich eröffnet habe. Krumhardt kann das bezeugen,
und unſere Alte da auch, Monsieur le vicomte.“
„Ja, ja!“ lachte die Frau Doktorin Andres.
„Beruhigen Sie ſich aber nur, mein lieber Freund;
ſolchen ſchlimmen Ruf unter den Leuten können Sie
[140] ſich ſchon gefallen laſſen. Es iſt noch nicht die
ſchlimmſte Art, um verlegen zu werden, wenn Einem
die Leute in den Gaſſen nachgucken.“
„Monstrari digito,“ entfuhr mir ſelbſtverſtändlich,
und ebenſo ſelbſtverſtändlich fuhr Velten Andres fort
im Citat:
„Et dicier Hic est!“ fügte aber natürlich
hinzu und zwar grinſend: „Herrje, er weiß auch
hierfür ein Citat! Leon, wünſchen Sie heute nach¬
mittag im Kaſinokonzert den vornehmen Fremden
zur Darſtellung zu bringen, oder legen Sie ſich lieber
mit mir in den Wald am Schluderkopfe und wehren
mir die Fliegen ab?“
„Aber Velten?!“ murmelte ſelbſt die Nachbarin
Andres; doch ihr Sprößling meinte:
„Ich arbeite ja dabei an ſeiner Bildung, Mama.
Na, wie iſt's, Leon? Und wie iſt's mit Dir, Aus¬
kultatore oder zu deutſch: Aufmerker, auch, nach
Heyſes Fremdwörterbuch: Sitzungszuhörer?“
Auch ich verzichtete auf das Gartenkonzert der
beſſern oder beſten Geſellſchaft des Städtleins, und
ſo durchſtreiften wir die Wälder auf den Hügeln
auch diesmal wieder wie in unſerer Knabenzeit, und
unſere Kameradin, Helene Trotzendorff, ging wieder
mit uns. Velten hatte wieder einen Brief von ihr
in der Taſche, über den er mit ſeiner Mutter ſchon
[141] Manches geſprochen hatte, und von dem er nunmehr
auf dem Schluderkopfe auch uns genauere Mittheilung
machte. —
Wir hatten heute alle unſere Kindermärchen¬
winkel in unſerm frühern Zauberreich wieder aufge¬
ſucht, der Freund und ich, und uns vor dem „hohen
Gaſt aus der Reichshauptſtadt“ nicht im mindeſten
genirt. Vor wem hatte ſich übrigens Velten Andres
auch je in irgend einer Weiſe genirt?
Er hatte uns geführt. Von Buſch zu Baum,
vom Fels zum Weiher durch den ganzen Zauber¬
wald mit einem fortwährenden „Weißt Du noch,
Karlchen, hier? Erinnerſt Du Dich noch, Krumhardt,
da?“ bis auf den Schluderkopf zu einem kurios ver¬
äſtelten hohen Eichbaum, an dem freilich für die
drei Nachbarkinder aus dem Vogelſang ein wirkliches
Abenteuer hing —
Hier hatte ſie ſich einmal verklettert, und ihm
war es nicht möglich geweſen, ſie aus den Lüften
und ſchwankenden Zweigen wieder herunterzuholen
und ihr zu feſtem Boden unter den Füßen zu ver¬
helfen: ich hatte in die Stadt hinunter nach Beiſtand
laufen und den Nachbar Hartleben mit ſeinen Leuten
und mit Stricken und Leitern zu Hilfe rufen müſſen.
[142]
Die Sonne war ſchon im Untergehen; ſie leuchtete
aber auf dieſer Höhe noch durch den Buſchwald und
die Wipfel glühten in ihrem Scheine. Wir Zwei aus
dem Vogelſang lagen in dem hohen Graſe, Leon des
Beaux ſaß auf einem Baumſtumpfe, hatte auf den
Knieen die feinen Ariſtokratenhände zuſammengelegt,
blickte zum Zenith und träumeriſch in die Runde, ſah
auf den Freund und ſeufzte:
„O, Herr — wenn ich es doch nur ſagen
könnte, wie mir zu Muthe iſt. Welch ein wunder¬
voller Tag das wieder war —“
„Für einen Menſchen, der mit Stangen im
Land der Goldorangen und Citronen, im Orient
und am Nordkap war, aus Albi ſtammt, den Großen
Kurfürſten in Germanien zum Pathen hat, den ge¬
ſchmackvollſten und nahrhafteſten Schneider von Berlin
zum Papa, ſich Leon des Beaux nennt, und als
königlich preußiſcher Kommerzienrath dermaleinſt einen
wirklichen Künſtler mit der Schöpfung ſeines Grab¬
denkmals beauftragen wird! Leon, das Wundervollſte
iſt doch noch für Sie zurück und kommt jetzt erſt.
Der Abend iſt freilich ſchön genug dazu.“
Er, Velten Andres, ſprach das ſo mürriſch, ſo
verbiſſen giftig, daß ich mich auf dem Ellbogen
emporſtemmte, um ihn beſſer betrachten zu können,
und Leon ihn faſt ängſtlich anſtarrte.
[143]
Er, im Graſe liegend, die Hände unterm Kopf,
zog die bei der Rettung meines Schwagers „Schlappe“
halbgelähmte drunter hervor, wies in die Höhe:
„Der Aſt da oben war es, Carlos! Da hatte
ſie ſich verklettert, hing, klammerte ſich an und
kreiſchte. Ich ſchlafe ziemlich traumlos, aber meine
Blamage von dem Tage kommt mir doch dann und
wann immer noch Nachts im Schlafe. Das war der
meinige — mein Aſt meine ich! Was durch Nach¬
klettern und naturhiſtoriſch als Wickelaffe zu leiſten
war, glaube ich möglich gemacht zu haben. Meine
erſte wirklich verlorene Lebensſchlacht, des Beaux!
Den Krumhardt, den höre ich noch zetern, ehe ihm
der einzig richtige Philiſtergedanke kam und er zu
Thal ſtürzte, den Nachbar Hartleben herauf- und uns
herunterzuholen. Wißt ihr, Kinder, ſo iſt der Menſch:
dieſen Baum und was dran hing und hängt, werde ich bei
keiner Lebens-, Haupt- und Staatsaktion mehr los: es iſt
das erſte Mal geweſen, daß ich des Menſchen Unzu¬
länglichkeit auf dieſer Erde auch an mir in Erfahrung
gebracht habe. Kein geſchlagener Held, kein verblüffter
Philoſoph hat mich auf ſeinem Schlachtfelde oder in
ſeinem Syſtem ſeit dem Nachmittag was Neues zu
lehren. Es iſt nichts mit dem Heroenthum in dieſer
Werkeltagswelt, Leon, und deshalb bin ich ſeit heute
morgen feſt entſchloſſen, Helm und Harniſch an den
[144] Nagel zu hängen, jeglichen Federbuſch als Staub¬
wedel zu vergeben und vor Allem das gelahrte Tinten¬
faß in den Goſſenſtein zu gießen, den Plato und
den Ariſtoteles zuzuklappen und Schneider zu werden!
Meine Alte billigt meinen Entſchluß; an Ihren Papa
habe ich bereits geſchrieben, des Beaux. Was fällt
euch an? Entzückung oder Schmerzen?“
Wir ſtanden aufrecht auf den Beinen, Leon und
ich, und ſtierten auf ihn herunter.
„Biſt Du nicht bei Troſte, Velten?“
„Wie gewöhnlich! Sonſt aber nur ein neuer
Unſinn von dem Schlingel! würde der Vogelſang
ſagen,“ lachte der wirkliche Heros des Vogelſangs,
ſich nur noch etwas behaglicher unter der Eiche, in
der ſich einſt Fräulein Helene Trotzendorff verklettert
hatte, zurechtlegend. „Ja, ſo iſt es, meine Herren!
So halten wir uns für frei und werden an Ketten
geführt. Und die eiſernen ſind nicht die unzerrei߬
barſten; jeder im Spinnweb zappelnde Brummer
kann darüber nachſagen. Sie und Ihre liebe Schweſter,
Leon, ebenfalls, aber gottlob mit frommſeligen, närriſchen
Traumaugen — ich bitte Sie, des Beaux, ſehen
Sie nicht ſo dumm aus: es verhält ſich ſo! Es iſt
wahrlich keine kleine Vergünſtigung der Götter, wie
ihr guten Kinder im blauen Himmel der Provence
an euren Goldfäden über der Mark Brandenburg
[145] und der Stadt Berlin ſchwingen zu dürfen! . . Krum¬
hardt. Dein Protokollführergeſicht iſt mir niemals ſo
ſympathiſch geweſen wie in dieſem Augenblick! Wenn
Du dereinſt Deinen Kindern von Deinem Jugend¬
freunde erzählſt, ſo vergiß nicht, mit melancholiſchem
Kopfſchütteln zu ſeiner Entſchuldigung anzuführen:
Der arme Tropf konnte nichts dafür; das Mädel
hatte ihm eben eines ihrer Goldhaare durch die
Naſe gezogen und zog ihn daran ſich nach; — ſo
wurde er zum Schneider und ging für die Wiſſen¬
ſchaft verloren drüben in der Atlantis. Der Baum
ſteht nicht umſonſt da, und ich liege nicht ohne
Grund hier unter ihm. Drunten im Vogelſang ſitzt
meine Alte vor ihrer Korreſpondenz mit Amerika,
und hier in der Taſche trage ich den letzten Brief
Miß Ellens aus Saratoga: das Mädchen verklettert
ſich noch einmal, und ich muß ihr wiederum nach;
es iſt keine Hilfe und Abwehr dagegen!“
Auch er ſtand jetzt auf den Füßen. Ich hatte
ihn nie ſo ſchön, ſtolz und grimmig geſehen. Er
hob wie drohend die geſunde rechte Fauſt zu dem
ſchickſalvollen Geäſt über uns auf, zu der luftigen
Höhe, in der ſie voreinſt gehangen hatten, die zwei
Kinder aus dem Vogelſang, in zitternder, wimmernder
Todesangſt und im ohnmächtigen, vergeblichen Ringen
mit der Unmöglichkeit, Hilfe zu ſchaffen.
[146]
„Willſt Du uns den Brief nicht leſen laſſen,
oder vorleſen, Velten?“
Er holte ihn zögernd aus der Taſche, hielt ihn
mir hin und zog ihn raſch zurück.
„Nein! Man muß zu viel zwiſchen den Zeilen
leſen. Was könnt ihr davon wiſſen? Du gar
nichts, Karl; vielleicht noch eher etwas der Träumer
Leon da. Es iſt aber Unſinn; ſchade, daß wir nicht
Ihr Fräulein Schweſter hier mit uns haben, des
Beaux. Die würde freilich mit ihren lieben, treuen,
klugen Augen am klarſten ſehen. Meine Mutter
meint, das Kind ſei für uns verloren, der Aff' habe
ſich ſchon zu hoch für den Vogelſang verſtiegen und
Mr. Charles Trotzendorff ſein Recht an ihn mit
Zinſen genommen. Möglich! Aber was hilft ihre
Überzeugung mir? Ich höre das arme Ding zwiſchen
ſeinen lachenden Zeilen kreiſchen und meinen Namen
rufen wie damals dort oben auf dem Aſt. Wie
damals muß ich ihr nach! Aber diesmal wirſt Du
nicht zum Nachbar Hartleben um Stricke und
Leitern herunterlaufen dürfen, alter Junge. Ich
hole ſie mir aus ihrer Verkletterung diesmal ohne
fremde Hilfe. Niemals habe ich in meinem Leben
etwas ſo ſicher gewußt wie das! Jawohl, wenn
Ihre Schweſter, wenn Leonie hier wäre, die würde
mit den rechten, mit meinen Augen zwiſchen den
[147] Zeilen des albernen Geſchmiers leſen und mir den
rechten Waffenſegen geben. A la rescousse, mon
preux chevalier! Und ſomit bleibt es dabei: ich
werde dem fernen Weſten nicht bloß als deutſcher
Doktor der Weltweisheit, ſondern auch als inter¬
nationaler Reiſender in Herrenkonfektion imponiren.
Für ein halbes Jahr müſſen Sie mir ſchon Ihren
Comptoirſtuhl im Geſchäft Ihres Herrn Vaters über¬
laſſen, Meſſire Leon des Beaux. Bei der Frau
Fechtmeiſterin Feucht reden wir demnächſt noch das
Weitere hierüber. Jetzt aber ſage ich Dir, Krum¬
hardt, ſieh Du nicht ſo dumm aus!“
Drunten im Thal ſagte ſeine Mutter zu mir:
„Der arme Junge! Er hat Dir erzählt, was er
jetzt vor hat, Karl, und es nutzt nichts, ihm dagegen
mit tauſend Gründen zu kommen. Und ich laſſe
mich leider Gottes nur zu gern mit meinem Beſſer¬
wiſſen beiſeite ſchieben. Da liegt der Brief¬
wechſel, den ich mit meinem armen Kinde geführt
habe, die Jahre durch: es iſt die gewöhnliche tragiſche
Poſſe. Die Welt der Gewöhnlichkeit, der Gemein¬
heit gewinnt es uns wieder ab, die Firma Trotzen¬
dorff behält ihr Recht; aber der Geiſt Gottes ſchwebt
zu allen Zeiten über den Waſſern und bezeugt ſein
Recht auf jede Weiſe, auch die wunderlichſte. Auch
die Illuſion gehört eben zu ſeinen Mitteln, die Erde
10*[148] grün zu machen und ſchön zu erhalten, und Dein
närriſcher Schulgenoß läßt nicht von ſeinen Illuſionen,
lieber Karl. Er kann das Mädchen noch nicht auf¬
geben, und er ſagt die Wahrheit, wenn er meint,
daß auch ſie noch immer nur auf ihn wartet und
nach ihm um Hilfe ausſieht. Möchte ich das ändern,
wenn ich's könnte? Nein, nein! Ganz gewiß nicht!
Auch ich halte ja, Gott ſei Dank, meine Illuſionen
noch immer feſt, wenn auch nicht mit ſeinem lachen¬
den Herzen. Sie iſt ja auch in eurer Kinderzeit
zu meinem Kinde geworden, und ich weiß, was ſie
werth iſt, und unter allen Umſtänden — ja allen —
werth bleiben wird. Auch wenn ſie ihm verloren geht.
Wenn er fern ſein wird, habe ich Zeit, mir das, nicht
bloß in ſchlafloſen, ſorgenvollen Nächten, ſondern auch
da, an meinem Fenſterchen im Sonnenſchein, zurecht¬
zulegen. Dein guter, treuer Vater, lieber Krum¬
hardt, ſitzt hier jetzt häufiger als ſonſt bei mir und
erzieht noch wie ſonſt an mir und meinen Kindern;
jetzt meint er, mein Junge habe nun den erſten
praktiſchen Einfall in ſeinem Leben gehabt. Soll
da Unſereine trotz ihrer Sorgen und Ängſte nicht
lachen? Euer netter, reicher, junger Freund aus
Berlin, mein lieber Freund, euer Herr Leon, hat
uns auch in dieſer Hinſicht einen großen Dienſt er¬
wieſen. Er hat ihn, ich meine Deinen guten Papa,
[149] wenigſtens zu einem kleinen Theil mit der Un¬
zurechnungsfähigkeit meines Velten ausgeſöhnt. Ach
Gott, von welchen Mächten werden wir doch be¬
herrſcht und hin- und her gezogen? — ‚Ich hätte den
Burſchen nie für ſo praktiſch gehalten und es ſoll
mich ſchon freuen, Frau Nachbarin, wenn ich mich
wenigſtens zur Hälfte geirrt habe,‘ ſagt er, Dein
Herr Vater, ſeit er in Erfahrung gebracht hat, daß
auch große, wirkliche Geſchäftsmänner etwas von ihm
halten und ihn gar auf ſeinen närriſchen Wegen
fördern. Sieh, Kind, ich rede ja nur ſo offen und
frei mit Dir, weil Du von uns Allen hier im Vogel¬
ſang der einzige wirklich Verſtändige biſt und mit
Deinem Herzen und Gemüthe doch auch zu mir und
Helene und Deinem Freunde gehörſt — weil Du
zu meinen Vogelſangkindern gehörſt! Alſo nimm Dir
aus dem Unſinn, den ich ſchwatze, heraus, was Du
dermaleinſt vielleicht brauchen kannſt, um uns unſer
hieſiges Recht, wenn nicht vor der weiten Welt, ſo
doch vor Dir ſelber, angedeihen zu laſſen. Denn
ſieh, eben weil ich nicht an das Glück meines Velten
im Sinne der Welt glaube, ſo möchte ich gerade
deshalb, als ſeine arme, angſtvolle Mutter, Einen
haben, der in der richtigen Weiſe, wenn keinem
Anderen, ſo doch ſich ſelber von uns mit vollem
[150] Verſtändniß erzählte und ſich all unſer Schickſal
zurechtlegte.“
Es iſt kein größeres Wunder, als wenn der
Menſch ſich über ſich ſelbſt verwundert.
Wie habe ich dieſes Manuſkript begonnen, in
der feſten Meinung von einer Erinnerung zur andern,
wie aus dem Terminkalender heraus, nüchtern, wahr
und ehrlich farblos es fortzuſetzen und es zu einem mehr
oder weniger verſtändig-logiſchen Abſchluß zu bringen.
Und was iſt nun daraus geworden, was wird durch
Tag und Nacht, wie ich die Feder von Neuem wieder
aufnehme, weiterhin daraus werden? Wie hat dies
Alles mich aus mir ſelber herausgehoben, mich mit
ſich fortgenommen und mich aus meinem Lebens¬
kreiſe in die Welt des todten Freundes hineingeſtellt,
nein, geworfen! Ich fühle ſeine feſte Hand auf
meiner Schulter und ſein weltüberwindend Lachen
klingt mir fortwährend im Ohr. Ach, könnte ich
das nur auch zu Papier bringen, wie es ſich ge¬
hörte; aber das vermag ich eben nicht und ſo wird
mir die ſelbſt auferlegte Laſt oft zu einer ſehr pein¬
lichen, und Alles, was ich über den Fall: Velten
Andres thatſächlich in den Akten habe und durch
[151] Dokumente oder Zeugen beweiſen kann, reicht nicht
über die Unzulänglichkeit weg, ſowohl der Form, wie
auch der Farbe nach.
Als ich als Aſſeſſor an unſerem heimathlichen
Stadtgericht ihn wieder in Berlin aufſuchte, hatte er
ſein Lebensmärchen ferner wieder richtig wahr ge¬
macht und ſaß über den Geſchäftsbüchern des Vaters
des Beaux als der „merkwürdigſte Volontär, der mir
jemals vor Augen und ins Comptoir gekommen iſt,“
wie der alte liebenswürdige Herr meinte.
„Sie glauben es aber nicht, Herr Aſſeſſor,“
fügte er hinzu, „wie mein Sohn an ihm hängt,
aber noch weniger, daß meine Tochter, meine Leonie,
es geweſen iſt, die für alle meine Bedenklichkeiten
das Gegenwort hatte und ſtets behauptete: was der
junge Herr vor habe, ſei keine Thorheit, Schnurre
und Grille, ſondern er wiſſe wohl, was er wolle,
und ſie würde an ſeiner Stelle ganz gewiß ganz
Dasſelbige wollen. Er will es nämlich verſuchen, in den
Vereinigten Staaten ſein Glück zu machen, und da
hat er ja auch wohl Recht. Mit unſerm deutſchen
Doktor der Philoſophie würde es da drüben in dieſer
Hinſicht wohl etwas langſam gehen. Dergleichen
geiſtigen Überfluß ſchickt ihnen das alte Vaterland
ſchon etwas ſehr reichlich hinüber und ſo ein alter
deutſcher Schneidermeiſter hat vielleicht auch ſeine
[152] Verbindungen in der neuen Welt und kann einem
armen, ſtrebſamen Teufel möglicherweiſe eher zu
einem auskömmlichen Unterkommen verhelfen. Als
von einem armen Teufel darf ich freilich meinen
Kindern nicht von Ihrem Herrn Freunde ſprechen,
Herr Aſſeſſor; alſo, bitte, erwähnen Sie von dieſem
meinen Ausdruck nichts gegen ſie. Wir ſind eben
eine wunderliche Geſellſchaft in dieſem Hauſe, das
Hinterhaus eingeſchloſſen. Manchmal denke ich, die
einzige Vernünftige von uns Allen ſitzt da hinten
hinaus, nämlich dieſe Frau Fechtmeiſterin. Na,
ſchlägt Die aber auch die Hände über unſern Doktor
zuſammen! Sie habe doch in Jena und ſonſt auf
ihren Univerſitäten manchen kurioſen Geſellen kennen
gelernt, aber ſo einen verrückten wie ihren Freund
Andres noch nicht, meint ſie. Das einzige Glück iſt,
daß ſie ſich doch nicht ausnimmt, wenn ſie von der
Kolonie — der Narrenkolonie redet, die ſich hier in
der Dorotheenſtraße zuſammengefunden habe. Die
Einzige übrigens, die mir bei der Geſchichte wirkliche
Sorge macht, Herr Aſſeſſor, das iſt meine Leonie.
Mein Junge findet ſich ſchon noch zurecht im
praktiſchen Leben, denn auch dazu haben mir von
der Kolonie, diesmal meine ich unſere franzöſiſche,
die Anlage unſerm Kurfürſten ſeiner Zeit mitgebracht
und zur Verfügung geſtellt. Wird er nicht Kommerzien¬
[153] rath, ſo wird er doch Kommiſſionsrath, oder das Ge¬
ſchäft macht ihn dazu, ob er will oder nicht. Aber
das Mädchen — was von eu — unſerm deutſchen Blut
in das im Laufe der letzten zwei Jahrhundert herein¬
gekommen iſt, das entzieht ſich vollſtändig meiner Be¬
rechnung. Meinen armen Leon verſtehe ich zur Noth
noch ziemlich genau aus mir ſelber; aber meine
Leonie — lieber Herr Aſſeſſor, ich wollte viel drum
geben, wenn ich ſagen dürfte, daß ich auch ihren
Sprüngen folgen könnte. Hieße ſie nicht noch wie
mir Anderen des Beaux, ſo merkte es der doch keiner
von uns königlich preußiſchen Staatsbürgern mehr
an, daß ſie auch einer ſogenannten Tanzmeiſter¬
nation entſprungen ſei. Ich habe ja gegen den Ver¬
kehr mit dem Hinterhauſe nicht das Geringſte ein¬
zuwenden; aber etwas zu viel iſt's mir doch, daß ſie
nur bei der Frau Fechtmeiſterin zu finden iſt, wenn
man nach ihr fragt und ſucht. Ich nenne ſie oft
nur la Belle au bois dormante, wenn ich wieder
einen von meinen Jungen oder Leuten habe hin¬
ſchicken müſſen, um ſie in das gewöhnliche Leben
heimzuholen.“ — —
Da war wieder der lärmvolle Hof, auf dem die
vornehmſten Roſſe der großen Hauptſtadt dem be¬
rühmteſten Hufarzt und ſeinen Gehilfen in die Kur
gegeben wurden. Da war wieder der dunkle Eingang
[154] und die ſteile, enge Treppe, die zu der Frau Fecht¬
meiſterin Feucht und ihrer wechſelnden ſtudentiſchen
Mietherſchaar hinaufführte. Die Thürglocke hatte noch
denſelben ſchrillen Klang wie früher, und was die
Thür öffnete, war noch dasſelbige ritterliche Zwergen¬
weiblein wie früher, und wer ſich am wenigſten ver¬
ändert hatte, das war die Frau Fechtmeiſterin Feucht;
und wie immer mit dem Strickzeug in den Händen
und dem dazu gehörigen Garnknäul unterm linken
Arm: wohin kommen alle die Strümpfe, die ſolche
liebe, auf dem Altentheil und ihren Erinnerungen
ſitzende alte Damen ſtricken? Von denen, die aus
den Händen der Frau Fechtmeiſterin hervorgingen,
hätte es manch ein akademiſcher Bürger der Friedrich-
Wilhelms-Univerſität zu Berlin durch manch ein
Semeſter ſtatiſtiſch ganz genau nachweiſen können. —
Sie erkannte mich nicht gleich. Es lagen ja
zwei Staatsexamen zwiſchen unſerm letzten Zuſammen¬
ſein und dem heutigen Beſuch.
„Sie?“ rief ſie dann. „Alſo endlich? Wenn
ich nach einem Menſchen auf Erden ausgeſehen habe,
ſo ſind Sie das.“
Und mir die Thür ihres Stübchens öffnend, ſchob
ſie mich hinein.
„Da haben wir den Zweiten aus dem Vogel¬
ſang, Leonie. Jetzt aber auf die Menſur mit mir,
[155] Aſſeſſor Krumhardt. Sehen Sie wohl, daß Ihnen
die Schmarre über der Naſe daheim bei Ihren Leuten
am grünen Tiſch nichts geſchadet hat! Und der Andere
Treſenhüpfer und Ellenreiter drunten bei des Beaux
Sohn und Nachfolger! Sie kennen doch Fräulein
Leonie des Beaux noch, Herr Kommilitone?“
O, wohl kannte ich ſie noch! Das liebe Mädchen
erhob ſich wie ſonſt aus ihrem Seſſel, der abſonder¬
lichen, greiſen Freundin gegenüber, ſie ſchien mir noch
ruhig-ſchöner, ſtattlich-vornehmer geworden zu ſein
und lächelte:
„So leicht vergißt man doch wohl ſeine guten
Freunde nicht, Mama Feucht! Vorzüglich wenn man
aus dem Vogelſang —“
„Nach Berlin kommt und endlich einmal wieder
die weißeſte Hand aus dem Roman von der Roſe
küſſen möchte.“
Sie reichte ſie mir, lächelnd, aber nicht zum Kuß,
und ſagte: „Hier, Herr Aſſeſſor, wie ſonſt aus der
Schneiderwerkſtatt und dem Herzen der Romantik
heraus; ſeien Sie uns willkommen. Da mit der
alten Treue unſer altes, närriſches Spielzeug doch
auch ſein Recht bei Ihnen behalten hat, Messire
Charles du Pré-aux-clercs.“
„Von der Schreiberwieſe!“ rief ich, die feine
Ironie wohl verſtehend. „Jawohl, jawohl, gnädiges
[156] Fräulein! Und der Chevalier sans peur et sans
reproche da unten im Vorderhauſe hinter den Ge¬
ſchäftsbüchern des Herrn Kaſtellans, ſitzt heute beſſer
zu Roß auf ſeinem Dreibein, mit der Feder hinterm
Ohr, als je ein Rittersmann, der in Stahl und
Eiſen auszog für das Trecrestien, franc royaume
de France; und die Frau Fechtmeiſterin Feucht iſt
ſchon abgef — geſchlagen, noch ehe ſie ſich recht aus¬
gelegt hat für ihr Ritterthum von der Saale.“
„Wenn ein junger Menſch zuerſt doch nach Jena
gehörte und vom Hausberge und dem Fuchsthurm in
die Welt hätte hineinſehen müſſen, ſo war das doch
mein Herr Velten,“ ſeufzte, zugleich verdroſſen und
betrübt, die Frau Fechtmeiſterin. „O, dies Berlin!
Wie kann ein deutſcher Student mit Berlin ſein
Daſein anfangen und in Berlin hängen bleiben?
Und noch dazu ein Kind mit ſolchen Naturgaben wie
dieſes, das meinen Seligen zu Rührungsthränen
gebracht haben würde; — trotz ſeiner lahmen Linken
der beſte Schläger, den ſie jetzt hier haben, und —
verkriecht ſich nun hinter einem Comptoirtiſch! Der
Kalk fällt mir darüber von den Wänden.“
„Da hat die Frau Fechtmeiſterin Recht,“ lächelte
Leonie. „Die Wände drüben in Ihres Herrn Freundes
Stube, erzählen freilich mit Jammer von den
Triumphen, die dort die hohe Kunſt gefeiert hat!
[157] Und verſuchen Sie ſich nur mit meinem Bruder,
Herr Aſſeſſor. Die Welt kehrt ſich freilich gänzlich
um: der Schneider geht auf die Menſur, und Ger¬
maniens Heldenjugend, wenn nicht auf den Schneider¬
tiſch, ſo doch in die doppelte Buchführung und —“
Eben hatte ſich draußen in der Vorſaalthür ein
Schlüſſel gedreht und ein Schritt erklang im Gange.
Die junge Dame erröthend und wie erſchreckt brach ab
in ihrer Rede.
klang es draußen aus einem franzöſiſchen Volksliede,
das uns vordem Leonie des Beaux in ihrem Salon
im Vorderhauſe dann und wann zum Flügel ge¬
ſungen hatte.
„Da haben mir ja die Tafelrunde aus den
Contes de ma mère l'Oie wieder einmal beinahe
vollſtändig beiſammen,“ rief Velten Andres; und
ich ſehe ihn wieder vor mir in ſeiner Pracht, wie
man ſich in der Jugend den Lord Byron und im
Alter den jungen Goethe vorſtellt. Mit dem kecken,
lachenden, ſiegesſicheren Auge und dem Schelmenzug
um den Mund — den Liebling der Götter und des
Vogelſangs, den Weltüberwinder von Leichtſinns
Gnaden. Ich habe ihn nie ſo wieder geſehen wie
[158] jetzt unter den Trophäen der Frau Fechtmeiſterin
Feucht, wo er uns nunmehr wie ein Kind von ſeinen
Plänen für die nächſte Zukunft ſprach, als von dem
Selbſtverſtändlichſten, was auf dieſer Erde von Jeder¬
mann vorgenommen werden könne.
Er ſchob es Alles aus dem Wege, was ich ein¬
zuwenden hatte; — die alte ritterliche Frau und
Leonie hatten keine Waffen gegen ihn: das ſchöne
Mädchen übrigens auch keine anderen als ihre
melancholiſch ſcheuen, ihre großen, ſehnſüchtigen
Augen, die ihre liebe Gewalt nur hinter ſeinem
Rücken kundgeben konnten und von deren ihm ge¬
hörenden Wunderreichthum er nichts wußte.
Wir waren ſehr „heiter“ an dem Morgen, vor¬
züglich als auch Leon, der um dieſe Lebensſtunde
zu der eleganteſten Tiergartenritterſchaft der jungen
Weltſtadt gehörte, in Stiefeln und Sporen dazukam.
„Als ich vorhin von Ihrem dreibeinigen Roß
hinter Ihrem Pult mich herabſchwang, lieber Freund,
habe ich doch auch eine Genugthuung gehabt,“ ſagte
Velten. „Ihr Papa hat mich auf die Schulter ge¬
klopft und gemeint: ‚Sehen Sie, cher ami, nicht
bloß Ihre Herren Profeſſoren können Vorleſungen
halten und Examina anſtellen und Diplome verleihen,
auf welche hin ſelbſt ſo 'n Belletriſte wie Sie ſich
durch die Welt ſchlagen und es in ihr zu etwas bringen
[159] kann. Meinem eigenen Jungen ſind Sie wahrhaftig
ſchon um mehrere Naſenlängen vor im Weltver¬
ſtändniß. In einem halben Jahre ſchicke ich Sie
dahin, wohin ich ihn befördern wollte, offen geſtan¬
den, Herr Andres, um ihn Ihren übeln Einwirkungen
zu entziehen. In Tailor made suits drüben überm
Ocean Ihr deutſches Gemüth zur Sache hinzugethan,
und Sie können dreiſt dort den Laden aufmachen,
wie hier am Ort mein Großpapa, Monsieur Ray¬
mond Guy des Beaux, deſſen Papa, wie wir in
unſerm Familienarchiv haben, dem alten Fritz nach
Kunersdorf auf den Ruinen von Küſtrin im Chorrock
und Bäffchen franzöſiſch predigen und ihn tröſten
durfte“.
Wie Schade, wie Schade war es, daß er auch
jetzt von den Augen, die ihn aus dem Verborgenen
auf allen Wegen und bei allen Worten begleiteten,
nichts wiſſen ſollte, nach dem Willen des Geſchicks!
Wir haben, ſeit ich angefangen habe, dieſe Akten
des Vogelſangs zu kollationiren, das bekommen, was
man einen ſchönen Winter nennt — erfriſchenden,
jahreszeitgemäßen Froſt, wenig Heulſtürme, aber viel
Schnee. Auch in der Nacht, in der ich jetzt weiter
[160] ſchreibe, ſchneit es wieder. Unaufhörlich rieſelt ſeit
dem Nachmittag das weiße Gewirbel nieder und macht
die Erde ſtill, glatt und rein. Wenn ich ans Fenſter
und nach der nächſten Gaslaterne hinüberſehe, kann
ich mich nur ſchwer von dem ſchönen Schauſpiel los¬
reißen; von allen Naturerſcheinungen bringt der
Schneefall (vom warmen Zimmer aus geſehen) die
behaglichſten Bilder und Traumminuten mit ſich. Der
Schnee wärmt. Ich kenne Leute, egoiſtiſche Zärtlinge,
die es ſich behaglich vorſtellen, von ihm zugedeckt,
als haus- und heimathloſer, hungriger Wanderer auf
der Landſtraße müde einzuſchlafen und ſich aus der
ungemüthlichen, bitteren Wirklichkeit ſanft hinauszu¬
träumen.
Wie kommt es nur, daß mir das alte welſche Lied,
ſchön wie irgend ein deutſches — den ganzen Abend
durch nicht aus dem Sinn will? Daß ich es immer
von Neuem ſummen muß, während der Schnee fällt,
die Thäler ausfüllt und die Berge niederdrückt, indem
er ſich weiß, farblos auf ſie legt?!
Es iſt nun ſchon lange Jahre her, ſeit uns
Leonie des Beaux das Lied in der Dorotheenſtraße
zu Berlin zum erſten Mal ſang. Die hohen Berge,
[161] die tiefen Thäler, die weiten Meere der Erde haben
es nicht verhindert, daß Velten Andres und Helene
Trotzendorff wieder zuſammenkamen; ſie ſind auch
nicht Schuld daran geweſen, daß ſie ſich nicht wieder¬
fanden für das Erdenleben.
Der Jugendfreund aus dem Vogelſang hat ſein
Wort gehalten, daß er von dem Mädchen nicht laſſen
werde, daß er ihr nachſteigen werde, wohin ſie ſich
auch verklettert haben möge, daß er aber freilich jetzt
nicht mehr den Freund aus dem Nachbarhauſe zu
Thal laufen laſſen werde, um den Vogelſang zur
Hilfe heraufzurufen auf den Schluderkopf.
Er war vor dem Beginn ſeiner Weltfahrten
nur noch einmal zu Hauſe, um Abſchied von ſeiner
Mutter und uns zu nehmen. Ich ging damals auch
ſchon auf Freiersfüßen, und da weiß man ja, wie
das dann geht mit dem verliebten jungen Menſchen
und ſeinen Gefühlen für ſeine liebſten und treueſten
Schulbankgenoſſen. Ihre Sorgen und Hoffnungen,
Leiden und Freuden ſind wahrlich um ſolche Lebens¬
ſtunde nicht mehr die unſrigen. Mit einem: „Na,
dann mach's gut, Alter!“ iſt der Abſchied, auch unter
den beſten Freunden, an einer Straßenecke, am
Bahnhof oder auf einem Hafenkai raſch abgethan.
Es iſt eine Seltenheit — (immer unter beſagten Um¬
ſtänden!), daß einem von beiden, dem Oreſt oder
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 11[162] dem Pylades, dem Kaſtor oder dem Pollux, dem
David oder dem Jonathan die Cigarre der Rührung
wegen ausgeht, und iſt es ausnahmsweiſe mal der
Fall, ſo iſt der Bewegteſte, und das iſt faſt immer
der Zurückbleibende, im Stande, den Scheidenden um
Feuer zu bitten. —
Es war diesmal nicht mehr die ganze Nachbar¬
ſchaft, welche dieſem Scheidenden nach dem Bahnhof
das Geleit gegeben hatte. Meine greiſen Eltern fühlten,
kopfſchüttelnd, nicht die Verpflichtung dazu. „Es iſt
doch zu ſehr eine Narrenfahrt und ich bezweifle, daß
ich ſowohl dem Jungen wie der Alten das für die
Gelegenheit gewünſchte Geſicht ziehen kann,“ hatte
mein Vater geſagt; und meine Mutter hatte gemeint:
„Ich glaube auch nicht, daß Amalie dieſer Aufmerk¬
ſamkeit und Antheilnahme von unſerer Seite bedarf.
Hat ſie ſich jemals im Guten und im Böſen das Ge¬
ringſte von uns ſagen laſſen? Sie haben eben Beide
immer ihren eigenen Kopf.“ —
Was bedeuteten dieſe Blätter, wenn ich nicht
wahr auf ihnen wäre? Im tiefſten Grunde war
ich vollſtändig der Meinung meiner Eltern — ſo lange
ſie das Wort hatten und Vernunft ſprachen, und
verfiel ebenſo gründlich immer von Neuem ſchon der
wortloſen Überredungskraft der zwei Anderen aus
der nächſten Nachbarſchaft. Es genügte ſchon voll¬
[163] ſtändig, daß Velten mich lachend auf die Schulter
ſchlug und ſeine Mutter dabei mir zunickte. Ein¬
dringlicher war's natürlich, wenn die weiſe alte Frau
noch hinzufügte:
„Höre ja nicht auf den Narren, Freund Karl.
Bleibe Du ruhig auf Deinem Wege und halte die
Welt aufrecht; nicht bloß hier im Vogelſang, ſondern
auch für den Vogelſang!“
So war es auch bei dem diesmaligen Abſchied¬
nehmen auf dem Bahnhofe. Der Lebensmuth und die
Siegesgewißheit des ſcheidenden Freundes überwäl¬
tigten das nüchterne Beſſerwiſſen, das ich noch mit
dorthin genommen hatte, völlig. Und als mir Velten
noch ſagte:
„Ich verlaſſe mich feſt darauf, daß Du mir ge¬
wißlich meine Stelle bei der Alten vertrittſt und Dich
ihrer gegebenen Falls nach Kräften annimmſt,“ da
konnte ich mich nur fragen:
„Ja, wird das möglich ſein und je nöthig wer¬
den können?“
Ich verſprach es aber, wahrhaftig mit feuchten
Augen und ſtockendem Herzen — mit dem beſten
Willen, ſeinen Platz am Herde meines Nachbarhauſes
feſtzuhalten und die „alte Frau“ nicht einſam dort
ſitzen zu laſſen, während er ſeine Siege in der Welt
erfocht. —
[164]
Wir ſahen ihn abfahren, wie damals Helene
Trotzendorff. Es war eben ein anderer Zug, ein
Vergnügungszug, angelangt und ein Gewühl aufge¬
regten und dem Anſchein nach ſehr vergnügten Volkes,
das unſerer Stadt und ihrer hübſchen landſchaftlichen
Umgebung ſeinen Beſuch zugedacht hatte, quoll uns
daraus entgegen. Der Morgen war ſchön, die Sonne
ſchien, ein fröhlicher Schenktiſch war von einem ſorg¬
lichen Komitee errichtet worden, die fremden Lieder¬
genoſſen oder Sangesbrüder kamen nicht nur mit
ihrem muſikaliſchen Hoch, ſondern auch mit viel Durſt
bei uns an und eine einheimiſche Blechmuſikbande
brach mit ſchmetterndem Hall zum Willkommen los:
die Stadt und Reſidenz hatte ſich ſehr vergrößert und
verſchönert ſeit dem Tage, an welchem Mr. Charles
Trotzendorff ſein Weib und ſein Kind aus ihr weg
und zu ſich holte, und der jetzige Bahnhof, von
welchem ich nun die Frau Nachbarin, die Mutter des
Freundes, nach Hauſe führte, ſtand damals auch erſt
auf dem Papier und lag noch auf den Tiſchen der
fürſtlichen Landesbaudirektion. —
Die „Frau Doktorin“ hatte ihren Arm in den
meinigen gelegt, und ſie, die bis in ihr höchſtes
Alter hinein einen leichten, ſchwebenden Schritt ge¬
habt hat, bedurfte auf dieſem Heimwege doch einer
[165] Stütze; ich wiederholte mir im Innerſten das Ver¬
ſprechen, welches ich dem Freunde gegeben hatte.
Als wir das Getümmel hinter uns hatten, ſah
ſie ſich wie erſchreckt um, wie man ſich umſieht, wenn
man etwas ſehr Wichtiges hinter ſich vergeſſen, oder
etwas ſehr Werthvolles verloren zu haben glaubt. Dann
aber faßte ſie meinen Arm mit beiden Händen, in¬
dem ſie ſtehen blieb, zu mir glanzvoll aufſah und rief:
„Und das mußt Du doch ſelber ſagen, beſter
Karl, daß ihr Alle bis jetzt ihm gegenüber doch immer
Unrecht behalten habt! O, bitte, ſprich mir nicht
dagegen! Ich habe meine Luſt an ihm, meinen
Glauben an ihn, meine Hoffnung auf ihn, von jetzt
an freilich nöthiger denn je. O ihr Alle, Alle! Wir
ſind ſo gute Nachbarn geweſen unſer ganzes Leben
lang — laßt es uns bleiben — wir ſind ja nur
noch ſo wenige beiſammen! Sieh, das iſt nun mein
dummer phantaſtiſcher Kopf: jetzt iſt es doch wieder
ganz anders mit der Welt in Licht und Farbe, als wie
es noch vor fünf Minuten war! Da ſah ich ihm noch
in die Augen und mit ſeinem Sieg über die Welt
auch den meinigen drin. Dieſe entſetzliche Blech¬
muſik da hinter uns! . . . Wie die Leute doch ſo
vergnügt ſein können und ſo geſchäftig-eilig! Bitte,
laß uns etwas raſcher gehen! — Wozu denn
dieſer Lärm, dieſe fürchterliche Eile in der Welt?
[166] Wie wird er darin zurechtkommen? Er hat das ja
leider von mir, daß er es mit nichts, wie andere
Leute, eilig hat und ſich Zeit zu Allem nimmt, und
gern allein für ſich ſitzt, wie ſeine thörichte alte
Mutter. O bitte, ſage es auch Deinen Eltern, bitte
ſie, daß ſie mich fürs Erſte wenigſtens allein für mich
laſſen, bis ich mich wenigſtens etwas wieder in mir
zur Ruhe gefunden habe. Mein Gott, ſind wir
Mütter ſchuld daran, wenn wir unſeren Kindern
unſer Beſtes mit auf den Weg geben und ſie elend
dadurch machen? Wenn wir uns getäuſcht hätten!
Es wäre zu troſtlos, wenn er ſeinen Willen durch¬
ſetzte und den meinigen mit, und es doch nichts
weiter als ein Märchengeſpinnſt, ein höhniſch-hübſches
Schattenſpiel an der Wand wäre! Wenn er mir
das Kind heimbrächte und es doch ſeine Lebensbe¬
dingungen drüben hätte! Komm raſch — raſch nach
Hauſe, beſter Junge. Der Strauß pflegt ſeinen Kopf
in den Sand zu ſtecken und die alte Doktern Andres
ſteckt ihren in den Vogelſang. Aber bitte, halte mir
für die nächſte Zeit Deinen lieben, guten Vater vom
Leibe! Iſt das nicht der Nachbar Hartleben, der ſich
dort in ſeinem Rollſtuhl in die warme Sommerluft
fahren läßt? . . . Jawohl, Nachbar, er läßt Sie
vor allen Anderen noch einmal herzlich grüßen, und
Sie thun mir einen Gefallen, wenn Sie ſich heute
[167] Abend noch auf ein Stündchen zu mir herüberſchieben
laſſen, daß wir noch ein wenig über ihn zuſammen
ſchwatzen können. Wir Zwei müſſen jetzt mehr denn
je treulich und feſt zuſammenhalten, Herr Nachbar.“
„Jawohl, Frau Nachbarin! Zumal da ich heute
mein Grundſtück meiner kümmerlichen Geſundheits¬
umſtände wegen abgegeben habe, bis auf das Haus
und den Morgen Gartenland dabei, um doch wenig¬
ſtens noch ein bißchen was Grünes vom Fenſter aus
im Auge zu haben. Das wird eine großartige Kon¬
ſervenfabrik gerade Ihnen gegenüber, Frau Doktern.
Ja, ja, die Welt verändert ſich um Einen her, ohne
daß man es eigentlich merkt, wie das ja auch in der
Bibel ſteht. Hat mir recht leid gethan, Frau Nach¬
barin, daß ich unſeren Herrn Velten nicht mit nach
dem Bahnhofe bringen konnte, zumal wie diesmal
vielleicht auf Nimmerwiederſehen, denn davon hilft
uns Niemand, Frau Doktern, die Jüngſten ſind wir
Alten hier im Vogelſang nicht mehr, und was Einem
drüben über dem großen Waſſer Alles paſſiren kann,
davon lieſt man ja tagtäglich das Menſchenmöglichſte
von Glück und Unglück in der Zeitung. Na, iſt der
Lump — nichts für ungut, liebe Frau — dorten
ein allmächtiges Thier und unzähliger Millionär ge¬
worden, da wird's unſer junger Herr ja auch wohl
machen; und wenn der mal, und vielleicht gar noch
[168] dazu mit einer jungen Frau heimkommt, dann ſtellt
ſich Das, was vom Vogelſang noch vorhanden iſt,
ſicherlich auf die Zehen und bringt ihm ein muſi¬
kaliſches Hoch, dreimal doller, als wie das, womit ſie
da eben wieder mal vom Bahnhofe in die Berge
ziehen. Aber wie es ausfallen mag, dabei bleibt's,
Frau Nachbarin, wie ſie uns auch den Vogelſang
verbauen mögen: die Ausſicht zwiſchen uns auf ein¬
ander ſollen ſie uns nicht verbauen. Er hat auch
mir verſprochen, mal an mich zu ſchreiben, mein
ewiger Sappermenter, unſer Tauſendſaſa! Ich habe
ihn ſo manches Mal auf den Trab bringen müſſen,
und ſein Mädchen, ich meine die kleine Himmelskröte
aus meiner Erkerwohnung, mit, und zwar nicht immer
mit den lieblichſten und höflichſten Worten. Aber
winken Sie mir nur mit einem Briefe von ihm,
Frau Doktern, ich laſſe mich 'ranrollen mit meinen
jetzigen verdammten gichtbrüchigen Knochen und
heule mit Ihnen oder reibe mir die Hände mit
Ihnen, wie's ihm beliebt und er ſich ſein Leben bei
den Antipopoden einrichtet. Daß da wieder eine
Kurioſität herauskommt, das ſteht mir baumfeſt.
Dieſe Gewißheit iſt mir doch natürlich aus meiner
Bekanntſchaft und Freundſchaft mit ihm herausge¬
wachſen, wie je ein Stamm da oben in meinem
Waldeigenthum, und da kann ich mich wirklich ſchon jetzt
[169] vor dieſer neuen Fahrt im Geiſt mit meinen Gedanken
verklettern und mir die Frage ſtellen: was wird das
unſinnige Menſchenkind nun jetzt wieder anſtellen?
Na, na, liebſte, beſte Frau Nachbarin, jetzt machen
Sie mir kein böſes Geſichte! Den Troſt haben wir
doch jedenfalls aus tauſendfältiger Erfahrung: Neun
Leben hat ihm ja auch die Mutter Natur mitgegeben.
Sie mögen ihn Alle beſſer kennen als ich; aber wenn
ihn Einer ganz genau kennt, ſo iſt das der alte Hart¬
leben, denn wie oft bin ich hinter dem Burſchen her¬
geweſen, mit der hellen Wuth über ihn, dem erſten
beſten Knüppel und Holzſcheit, oder mit beiden Händen
vor dem Bauche, um mir mein Pläſirvergnügen an
ihm zuſammenzuhalten und es den Spitzbuben nicht
zu ſehr merken zu laſſen. Jawohl iſt Dem keine
Mauer, hinter der es für ihn in allen fünf Welt¬
theilen was zu holen giebt, zu hoch. Und was die
Mauern anbetrifft, durch die man auf Erden vor
Verdruß mit dem Kopfe rennen möchte, na, die rennt
er eben ein oder weiß auch 'nen Weg um ſie herum¬
zufinden, wovon ich ebenfalls hier im Vogelſang und
auf meinem ſeligen Grundſtücke die allermöglichſten
Erfahrungen habe. Alſo machen Sie ſich nur nicht
zu viele Sorgen um ihn, Frau Nachbarin. Mit Dem
hat's keine Noth, ob er als ein reicher Mann wie der
Halunke Karlchen Trotzendorff uns nach Hauſe kommt,
[170] oder ob er eines Abends anklopft und ſagt: ‚Da
bin ich wieder, Herr Hartleben; es iſt mir diesmal
nicht geglückt und es wäre mir ein Gefallen, wenn
Sie dieſe Nacht einen Platz auf dem Stroh und
morgen früh einen Tauſendmarkſchein zum neuen
Anfangen für mich hätten.‘ Aber zu dem Letzteren noch
Eines zu Ihrem Troſt, Frau Doktern! Wenn Einer
hier im Vogelſang im Stillen auf Ihren Herrn Sohn
gepaßt hat, ſo bin ich das und weiß: er klopft nie¬
malen ſo an. Ein Kopfkiſſen auf dem letzten Stroh
müßte man dem ſchon mit vielen Fineſſen und Höf¬
lichkeiten ankomplimentiren. Der junge Satan
hatte das weichſte Herz hier im ganzen Vogelſang —
nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich auch vor
Ihnen ſo rede, Herr Karl, Herr Aſſeſſor! — aber
wenn es Dem einmal gefriert, ſo wird ein Eisklumpen
draus, mit dem man der ganzen Menſchheit den
Hirnkaſten einſchmeißen könnte! Und nun nehmen
Sie es nicht übel, Frau Nachbarin und Herr Krum¬
hardt, daß ich Sie ſo lange aufgehalten habe, aber
ich habe ja heute auch von einem Eigenthum Abſchied
genommen, das mir mein ganzes Leben durch ans
Herz gewachſen geweſen iſt, und ſo bin ich denn bei Ihnen
mit auf dem Bahnhofe in Gedanken geweſen, mehr
als ein Anderer hier im Vogelſang, und weiß Sie
zu erkennen, liebſte Frau Nachbarin. In früheren
[171] Jahren hätten Sie mir ein Wort wie mein jetziges
nicht angeſehen und geglaubt, Herr Aſſeſſor. Da
hatten Sie wohl nur gelacht über den Nachbar Hart¬
leben, den alten Grobian. Aber ſo in einem ſolchen
Jammerrollſtuhl, da hat es ſich was mit der Menſchen
Arm- und Beinkräften und geſunder Lunge; da ſche¬
nirt ſich auch Unſereiner nicht, mit ſeinen intimeren
Meinungen herauszugehen; und nun, Herr Aſſeſſor,
ſehe ich, daß die Frau Doktern am liebſten mit ihren
Gedanken allein ſein möchte, alſo bringen Sie ſie
ſtill nach Hauſe und grüßen Sie auch Ihre Eltern.
Ich als neugebackener Rentner laſſe mich noch ein
Stück um die Promenade kutſchiren — Herr Gott, wer
mir dies Vergnügen noch vor fünf Jahren prophezeit
hätte! Recht guten Morgen, liebe Herrſchaften . . .“
So bringe ich es zu den Akten, wie der Vogel¬
ſang ſprach, indem ich hundert Worte in eines ziehe,
während der Schnee der heutigen Winternacht unab¬
läſſig weiter herabrieſelt. Und ich muß dabei die
linke Hand übers Auge legen, während ich ſchreibe;
als ob mir die Sonne zu hell und blendend drauf
läge. Es iſt nicht das und iſt es doch. Was trübt
das Auge mehr als der Blick in verblichenen Sonnen-
und Jugendglanz?
[172]
Ich habe ſie häufig in meinem Berufe zu ſuchen,
die Verſchollenen in der Welt; ſie zu einem be¬
ſtimmten Termin zu citiren und ſie, wenn ſie nicht
erſcheinen, für todt zu erklären und ihren Nachlaß
den Erben oder dem Fiskus zu überantworten.
Meiſtens iſt es armes kümmerliches Volk, das ſo
verloren geht und geſucht werden muß, doch von
Zeit zu Zeit iſt da auch Einer oder Eine verſchollen,
auf deren Wege auch den abgehärteſten Beamten
die Phantaſie und das Bedürfniß des Menſchen,
Wunder, wenn nicht an ſich, ſo doch an Anderen zu
erleben, unwiderſtehlich nachlockt.
Das iſt nun bei meinem Freund Velten Andres
nicht im mindeſten der Fall geweſen. Von Myſterien
und Romantik habe ich nicht das Geringſte zu no¬
tiren. Er iſt ſtets mit uns in Korreſpondenz ge¬
blieben, hat alle Verkehrswege via Southampton,
Bremen und Hamburg, ja auch den unterſeeiſchen
Telegraphen benutzt, um in möglichſter Verbindung
mit dem Vogelſang zu bleiben. Ich bin eben in
ſeinem Leben über nichts im Dunkeln geblieben, als
— über ihn ſelber. Das war ja aber nicht ſeine
Schuld! Dieſe lag hier nur an mir, und ſolches
iſt öfters der Fall als die Leute glauben.
Schreibe ich übrigens denn auch nicht jetzt nur
deshalb dieſe Blätter voll, weil ich doch mein Mög¬
[173] lichſtes thun möchte, um mir über dieſen Menſchen,
einen der mir bekannteſten meiner Daſeinsgenoſſen,
klar zu werden? Aber es iſt immer, als ob man
Fäden aus einem Gobelinteppich zupfe und ſie unter
das Vergrößerungsglas bringe, um die hohe Kunſt,
die der Meiſter an das ganze Gewebe gewendet hat,
daraus kennen zu lernen.
Wenn je ein Menſch für das Leben unter allen
Formen und Bedingungen ausgerüſtet war, wenn je
einer das Seinige dazu gethan hatte, ſich ſeine Schutz-
und Angriffswaffen zu ſchmieden, ſo war das Velten
Andres. Mit allen den Vorzügen und Tugenden
begabt, die Ophelia aufzählt und von denen der
däniſche Prinz ſo ſchlechten Gebrauch machte, ging
er wahrlich nicht von „Wittenberg“ nach den Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika und ſpäter ſeines
Weges weiter.
Man hat einen guten Ausdruck dafür, wenn
Einem das mühelos oder anſcheinend mühelos zu¬
fällt, um was Andere ſich ſehr quälen müſſen. „Es
fliegt ihm an“, ſagt man, und beneidet den Glück¬
lichen, zuckt auch wohl bedenklich die Achſeln dabei
und zieht „im Ganzen ein ſolides Sitzfleiſch doch vor“.
Letzteres hat auch ſeine Vorzüge und nimmt ſeinen
gebührenden Platz ſpäter im Lehnſtuhl am warmen
Ofen, oder in der Juliſonne fröſtelnd, aber behaglich
[174] mit vollſtem Recht ein. Er, mein Freund, iſt in
ſeinem kurzen Leben Alles geweſen: Gelehrter, Kauf¬
mann, Luftſchiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungs¬
ſchreiber — aber gebracht hat er es nach bürgerlichen
Begriffen zu Nichts und ich kann es auch nicht zu
dieſen Akten beibringen, daß er ſich je um etwas
Anderes die richtige Mühe gegeben habe, als um das
kleine Mädchen aus dem Vogelſang, die heutige
Wittwe Mungo aus Chicago. —
Es läuft immer auf, wenn auch melancholiſche,
ſo doch nüchterne Nachüberlegung hinaus; aber auch
an dieſem Abend muß ich wieder ſeufzen: Wie
anders hätte doch ſein Leben werden können, wenn
er ein Ohr gehabt hätte für die ſüße Stimme aus
der Heimath und Augen für die tiefen, treuen,
traurigen Blicke, die ſcheu, angſtvoll, verſtohlen ihm
hier folgten und ſo gern bis zum Ende, mochte das
auch werden wie es wollte, über ihn gemacht hätten.
Mit dem Hauſe des Beaux, das heißt dem
alten Herrn und Freund Leon iſt er übrigens im
regen Verkehr geblieben; und wenn er einmal wie
des Spaßes wegen, als ein recht wohlhabender Mann,
[175] für Deutſchland wenigſtens, aufgetreten iſt, ſo iſt ihm
wirklich das zum größten Theil angeflogen aus dem
großen Geſchäft in der Dorotheenſtraße zu Berlin.
Daß Religioſität und Geſchäftsſinn nicht feindliche
Geschwiſter ſind, hat nicht allein das Haus Israel
bewieſen; auch die frommen Vertriebenen, die auf
der Mayflower „drüben“ landeten, haben das ebenſo¬
wohl bewieſen, wie dieſe alten Hugenotten des Edikts
von Nantes in der Mark Brandenburg. Und ſie
reichen ſich auch heute noch die Hand durch die
ganze Welt: Synagoge, Kirche und Börſe! Das
Haus des Beaux konnte einem Freunde ſchon
Empfehlungsbriefe nach New York oder New Orleans
mitgeben, die ihm die Wege ebneten und ſeinen Auf¬
ſtieg erleichterten, ſelbſt wenn er nur kam, um zum
zweiten Mal den Verſuch zu machen, ein armes
Mitgeſchöpf aus der Verkletterung herabzuholen,
ſonſt aber ſich wenig aus den Herrlichkeiten der Zeit¬
lichkeit machte.
Es iſt ihm zum zweiten Mal nicht gelungen,
und mit der Hilfe aus dem Vogelſang war diesmal
gar nichts gethan. Was half es, daß ihm, wie ihm
damals der alte Hartleben mit Leitern und Stricken
beiſprang, jetzt ſeine Mutter ihre auch in Sorgen,
Angſt und Kummer immer ſonnigen Briefe ſchrieb
und die ſeinigen, nach ſeiner Weiſe, immer ſcherzhafter,
[176] immer luſtiger, immer ſiegesgewiſſer wurden, je tiefer
er „in den Quark hineinwatete“ und in der Puppen¬
komödie die Fäden mit ziehen half? Sie ſpielten ſich
da nur ſelber eine liebe rührende Komödie vor, die,
was die Nachbarſchaft anging, Niemand zum Lachen
oder Lächeln brachte.
„Ich hätte es nie geglaubt,“ ſagte mein Vater ſehr
ernſthaft, „der Menſch ſcheint ſein bisheriges Narren¬
weſen doch nicht ganz unnützlich getrieben zu haben.
Da hält mich eben, auf dem Wege vom Gericht her,
der Prokuriſt von Seligmacher und Söhne mit einem
Privatbriefe von drüben, aus der Firma Charles
Trotzendorff und Kompagnie, weißt Du, Mutter,
unſerm Karl Trotzendorff, an und darin iſt von ihm,
ich meine dem Jungen drüben, in einer Weiſe die
Rede, die ich niemals für möglich gehalten haben
würde. Der poetiſche Hanswurſt ſcheint völlig ins
Gegentheil umgeſchlagen zu ſein. Ja, er ſcheint ſich
eine Stellung in der dortigen Litteratur gemacht zu
haben und an einem Handelsblatt in einer Art ſein
Maulwerk ſchriftlich bethätigt zu haben, daß es ihm,
wenn auch wohl nur zufällig, die Bekanntſchaft und,
wie es ſcheint, Achtung eines ihrer Allergrößeſten
dorten, nämlich was das Geld anbetrifft, zugezogen
hat. Das wäre denn ja recht gut und erfreulich und
ſo wird er ſich darein ergeben, daß es mit dem
[177] Mädchen, der jungen Dame nichts geworden iſt. Bei
Seligmacher und Söhne haben ſie heute morgen von
der Familie drüben, ich meine die Trotzendorffs, die
Verlobungsanzeige der Tochter zugeſchickt gekriegt.
Du mußt doch mal zu der Nachbarin hinüberſehen,
ob die ſchon was Genaueres weiß und wie ſich der
Junge jetzt zu der Sache verhalten wird. Doch
dieſes nur beiläufig. Ich war auch bei Arnemann;
— er iſt nicht mehr abgeneigt, auf meine Bedingungen
einzugehen. Man trennt ſich ja zwar nicht gern von
der hieſigen Gemüthlichkeit, aber es hat ſich doch all¬
mählich zu viel hier im Vogelſang um uns her
verändert. Die Fabrik auf Hartlebens Grundſtück
verſperrt mir den letzten Blick auf den Oſterberg,
und dann halte ich es auch für unſern Aſſeſſor beſſer,
daß ihn unter jetzigen veränderten Lebensverhältniſſen
die Reſidenz nicht hier unter den kleinen Leuten auf¬
ſuchen muß. Ich meine, Mutter, wir machen in
nächſter Woche den Kontrakt über den Verkauf von
Haus und Garten perfekt.“
„Wenn Du meinſt, Krumhardt,“ ſagte meine
Mutter mit zitternder Stimme.
„Ich meine, daß mir dieſe freilich ernſte Sache
ſchon ſo reiflich überlegt haben, daß wohl wenig
mehr dazu zu ſagen iſt. Was giebt es denn eigent¬
lich noch, was uns hier feſthalten könnte? Schon
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 12[178] der Schatten allein, den mir da hinten die neue
Feuermauer auf meine Roſenplantage wirft, verdirbt
mir das ganze Pläſir an der Liebhaberei. Mit dem
Kaffeetiſch im Garten unter dieſen Fabrikgerüchen
iſt's auch nichts mehr. Unſere Plätze im letzten
Grün des Vogelſangs haben wir ſicher auf dem
Papier bei der Friedhofverwaltung. Alſo, Junge,
Karl, Herr Aſſeſſor Krumhardt, es bleibt dabei;
der alte Pelikan hackt ſich noch mal die Bruſt ſeiner
Nachkommenſchaft wegen auf. Wir ziehen in die Stadt,
der veränderten Verhältniſſe wegen. Laß es mich
erleben, daß ich an Dir einen herzoglichen Regierungs¬
rath herangezogen habe, ſo ſoll es mir auch nicht
darauf ankommen, auf meine Roſen- und Aurikeln¬
zucht zu verzichten. Man kann auch im Nothfall an
den Hyazinthen und Geranien ſeine Befriedigung
finden, und dafür, denke ich, mein Sohn, wirſt Du eben
immer, wie für Deine alten Eltern, ein ſonniges
Gelaß in Deinen neuen Geſellſchafts- und Wohnungs¬
verhältniſſen übrig haben. Die Gelegenheit in der
Archivſtraße, die Mutter und ich uns zum Beiſpiel
neulich angeſehen haben, hat nach hinten heraus und
doch nach der Sonnenſeite ein Altentheil, was für ſo
einen ſubalternen quieszierten Obergerichtsſetretär
mit ſo einem, ihm Freude machenden Sohne — jetzt
kann ich Dir das wohl ſagen, mein Junge! — paßt,
[179] als ob der Bauherr ſeiner Zeit ihn mit ſeinen Be¬
dürfniſſen eigens dafür ins Auge gefaßt hätte. Nicht
wahr, Mutter, wir finden uns ſchon, unſerm Jungen
zuliebe, in die veränderten Verhältniſſe?“
„Ja, ja, ja! obgleich es mir doch ſchwer an¬
kommen wird,“ ſchluchzte die gute alte Frau. „Freilich
rückt uns hier das Neue zu arg auf den Leib, und
wo man aus dem Fenſter guckt, iſt es das Alte nicht
mehr; aber weißt Du, Mann, es wird mir doch ſein
als wie damals, wo man den Sargdeckel auf unſer
kleines Mädchen legen wollte und ich auch nicht
glauben konnte, daß es möglich und nöthig ſei. Kein
eigenes Waſchhaus mehr und keinen Platz zum
Wäſchetrocknen im eigenen Garten! Aber es iſt ja
richtig, das ſchlechte Tanzlokal, das da dicht an
unſerer grünen Hecke aufgewachſen iſt, paßt nicht
einmal mehr zu unſeren Verhältniſſen, alſo zu unſerm
Karl ſeinen gar nicht. Und Du haſt Recht, Krumhardt,
die Eltern ſind dazu da, daß ſie ihre Kinder in die
Höhe bringen und in immer beſſere Geſellſchaft, bis
in die beſte, wenn's möglich, und das iſt freilich hier
im Vogelſang niemals möglich geweſen, alſo — wie
Gott will. Ich habe mich in ſo Vieles im Leben
finden müſſen und werde mich auch hierein finden.
Das Kind wird es ja auch, und vielleicht auch mit
ſeinen Kindern einſehen, was Vater und Mutter an
12*[180] ihm gethan haben und es ihnen noch in ihrem Grabe
gedenken.“
Nun hätte ich noch einmal hiergegen ein¬
reden können, um die Sache in die rechte Be¬
leuchtung zu rücken; aber was würde es geholfen
haben? Wahrhaftig, ich bin es nicht geweſen, der
die zwei treuen, wackeren Seelen mit ihren Wurzeln
aus dem Boden hob und ſie ſo in ihren greiſen
Tagen in ein fremdes Erdreich verſetzte! Ihre liebe
menſchliche Thorheit war's, die da Pflicht, Pflichten,
Vorzug, Gewinn, Ehre, Lob, Ruhm und Glück ſah,
wo die übrigen Millionen unſerer Brüder und
Schweſtern im Erdenleben — ebendasſelbe ſahen.
Sie hatten ihren Kopf darauf geſetzt, daß der Vogel¬
ſang nicht mehr zu ihnen „paſſe“, und ſie nicht zu
dem Vogelſang.
„Aufgeſetzt iſt der Kontrakt, Frau,“ ſagte mein
Vater, „und wenn es Dir recht iſt, kann Arnemann
heute noch zur Ausfertigung und Unterſchrift kommen,
zu einem ruhigen Schlaf kommen wir jetzt doch nicht
anders mehr.“
Meine Mutter iſt alſo an dieſem Tage nicht
mehr bei der Nachbarin Andres geweſen, um das
Genauere über das Privatſchreiben aus Amerika an
Seligmacher und Söhne und Velten und Helene
Trotzendorff zu hören, ihre Theilnahme zu beweiſen
[181] und, wenn möglich, Troſt zuzuſprechen. Ich aber
habe mich gegen Abend noch einmal durch das Schlupf¬
loch aus unſerer Kinderzeit, das wunderreiche, damals
freilich längſt wieder zugewachſene Schlupfloch in der
lebendigen Hecke zwiſchen den Nachbargärten gezwängt
und die alte Thürklinke, deren Griff Einem ſeit
Menſchengedenken ſo häufig in der Hand blieb, von
Neuem aufgedrückt, um hier, bei der Frau Doktorin,
wo die Welt ſich doch eigentlich am meiſten verändert
hatte, mich an das ſonnig unverwüſtlich Bleibende
im Wechſel der Witterung des Erdentages zu halten.
Ich fand die Frau Doktorin allein im Vogelſang
über ihrem Brief aus den Vereinigten Staaten.
Die Abendſonne ſchien der Nachbarin in das
Fenſter, als ich mit ſorgendem ſchwerem Herzen zu ihr
kam, und ſie hatte auch geweint, die Frau Nachbarin
Andres. Die elegante Karte, die mein Vater bei
Seligmacher und Söhne gefunden hatte, und auf
welcher Mr. and Mrs. Mungo ſich allen Freunden
und Bekannten in den Vereinigten Staaten als mit¬
einander für Glück und Unglück, für Geſundheit und
Krankheit, für Leben und Tod Verbundene empfahlen,
[182] lag auch auf dem Nähtiſchchen der Frau Doktorin,
und der Begleitbrief Veltens daneben.
Die Mutter des Freundes reichte mir ihre Hand,
nachdem ſie ihr feuchtes Taſchentuch zwiſchen die
Blumentöpfe in ihrer Fenſterbank geſchoben hatte,
und ſagte: „Sieh, das iſt freundlich von Dir, Karl.
Wenn ſich die Welt um Einen her verändert, hält
man ſich am beſten an die Jungen aus ſeiner alten
Bekanntſchaft, an die, welche ihr Recht noch vom
nächſten Tag erwarten, luſtig in der neuen Fluth
ſchwimmen, und aus ihrem jungen Recht an die
Zeit den Alten wenigſtens den Kopf ein wenig zurecht¬
ſetzen können, wenn auch nicht das Herz. Elly hat
ſich verheirathet, Velten hat geſchrieben. Da iſt ſein
Brief und Du kannſt ihn leſen. Ich hätte es nie
für möglich gehalten, daß ſich der Vogelſang ſo ſehr
für mich verändern könnte. Aber ſo geht es eben,
wenn der Menſch es nicht glauben kann, daß ihm
ſeine liebſten Hoffnungen aus dem Leben weggewiſcht
werden können.“
Sie ſah ſich hier in ihrem Stübchen, in welchem
ſie unter all ihren Erinnerungen ſaß, wie die Frau
Fechtmeiſterin Feucht in der Dorotheenſtraße zu
Berlin unter den ihrigen, mit einem kummervollen
Blicke um: „Wie doch Alles dem Menſchen auf ein¬
mal ſo ganz andere Geſichter ſchneiden kann! Und
[183] doch iſt es nur das eine Bildchen dort, das kleine
Lichtbild da über der Kommode, deſſen liebe, lachende
Augen mir mein Altfrauenheim verwüſtet und Alles
über- und durcheinander geſchoben haben wie bei
einem Umzug oder nach einem Brande. Da — lies
ſeinen Brief! Was er dazu thun kann, daß die alte
Frau im Vogelſang nicht ganz aus ihrer Faſſung
kommt, das beſorgt er natürlich auf ſeine alte Weiſe.
Unter kriegt ihn auch das nicht; aber man müßte
eben nicht zwiſchen den Zeilen leſen können, um ſich
von ihm auf dieſe ſeine Weiſe unterkriegen zu
laſſen.“
Ach, wie dieſe beiden Leute bis in die feinſten
Nervenfädchen, bis in die flüchtigſten Seelen¬
ſtimmungen hinein ſich nachzutaſten, ſich nachzu¬
fühlen wußten! Sie machten einander nichts weis,
und das war, ausnahmsweiſe, für ſie ein großes
Glück: für andere, und leider die Mehrzahl der auf
dieſer Erde ſich näher und nächſt Angehenden, wäre
es freilich das Gegentheil geweſen. Es iſt nicht
immer das Behaglichſte, wenn Zwei oder Mehrere
die zuſammengehören, ſich zu gut verſtehen. Die
einzige Möglichkeit für ein wenigſtens gedeihliches
Hüttenbauen und Zuſammenwohnen liegt dann
einzig und allein in dem Sichaufeinanderverſtehen.
[184] Ich habe das auch aus meiner Amts- und Geſchäfts¬
praxis ſehr, ſehr in den Akten. —
Velten ſchrieb:
„Sie haben ſie uns genommen, Mutter, und
ſind völlig in ihrem Recht, da ſie das nach ihrer
Meinung beſte Theil für ſie gewählt haben. Ich
habe ſie verloren; aber diesmal bin ich nicht ſchuld
daran, das Glück der Erde verpaßt zu haben. Du
weißt, wie oft man mir das bei Euch zu Hauſe
aufzuriechen gab, und, wenn die beleidigte Naſe
darob nicht lief, wie die eines geſchlagenen Schul¬
jungen, ſondern ſich nur trocken-tückiſch krauſte,
nicht nur von allen Schlechtigkeiten menſchlichen
Charakters, ſondern auch von abſoluter, boden¬
loſer, randundbandloſer Charakterloſigkeit ſprach.
Ich habe das Meinige gethan, durch Stunden,
Tage, Wochen, Monate und Jahre, bei Tag und
Nacht, bei Allem, was ich gethan, überdacht und
gedacht habe, den ſchönen Schmetterling für mich
— für uns feſtzuhalten: nun ſtehe ich wieder
wie ein Schuljunge, und beſehe an den Fingern
den bunten Farbenſtaub von den Flügeln des
entflatterten Buttervogels und denke vor Allem
an die alte Frau zu Hauſe, die da ſitzt
und ſich fragt: Was für eine Naſe wird er
diesmal machen? — Mutter, mein — unſer
[185] liebes armes kleines Mädchen, was würde dem
jetzt mit einem zerfließenden Liebhaber gedient
ſein? Alſo — trocken überſchlucken und ein Kreuz
über eine närriſche Lebensepoche ziehen, wie über
eine Kalenderwoche, die bis Donnerstag im Sonnen¬
ſchein lag und am Freitag in einen Landregen
überging! Unſerm lieben Wildfang gebe ich gar
keine Schuld; — kann man überhaupt einem
Menſchenkinde Schuld an ſeinem Schickſal geben?
Was kann die Lerche gegen den Spiegelblitz, der
ſie aus der blauen Luft in die Verſandtſchachtel
und die Bratpfanne holt? Mit ihrem tückiſchen
Glanz haben ſie auch unſer liebes Singvögelchen
aus dem Vogelſang hernieder in ihr Netz ſtürzen
machen und ihr nicht nur das arme, dumme, kleine
Schädelchen und Gehirnchen, ſondern auch das
ſchöne weite Herz eingedrückt. Sie wird eine ſtatt¬
liche Miſtreß Mungo: die Nadel der Kleopatra,
jetzt im hieſigen Centralpark, die doch ſchon in
Ägypten viel geſehen hat, und hier im Lande täglich
auch noch manches ſieht, ſah nimmer ein ſchöneres,
vornehmeres Weib an ſich vorbei und durch ihren
Schatten gleiten. So wächſt das immer aus dem
Schlamm empor, einerlei ob am Nil oder am
Hudſon! Mir fehlen wieder mal die Knöpfe am
Hemdärmel, alte Mutter zu Hauſe; aber Elly wird
[186] ſie mir nicht annähen, worauf wir doch ſo feſt
gerechnet und des Lebens Seligkeit vom Vogel¬
ſang aus gegründet hatten; und das erinnert mich
nun gerade erſt recht an Deinen alten Nähtiſch,
auf dem dieſer Brief, wenn der Ocean ihn nicht
verſchlingt, demnächſt liegen wird und erinnert mich
an Deinen Seſſel dabei und das leere „Schawelche“
daneben und den Blick durch die Epheuranken,
über den Garten weg, auf den Nachbar Hartleben
und ſein Anweſen (Strohwittwe Trotzendorff und
Töchterlein eingeſchloſſen) hinein in den ganzen
Vogelſang, und — ich bin wieder allein auf die
alte Frau im Korbſeſſel an dem Fenſter angewieſen
und ein Vagabund — ein Wanderer im Leben —
zerlumpter denn je. In die hieſigen Verhältniſſe
habe ich mich übrigens eingelebt, daß ich meinen
jüngſten Freunden keinen Grund zur Verwunderung
mehr gebe. Wünſcheſt Du mich auch als Millionär
wiederzuſehen wie Mr. Charles Trotzendorff? Oder
ziehſt Du den deutſch-amerikaniſchen Staatsmann,
Muſter: Karl Schurz, vor? Meine Vogelſang¬
ſtudien im Engliſchen, unſerer Kleinen zuliebe,
kommen mir jetzt wundervoll zu ſtatten. Die
Phraſen und den Tonfall um eine „Mäh“ jauch¬
zende Menſchenanſammlung zum „Bäh“ jammern
zu bringen, und das politiſche Thier, Menſch ge¬
[187] nannt, mit einem Strick durch die Naſe oder um
den Hals, für Klios ewige Tafeln und vergäng¬
lichen Griffel als notirungswerth zu dreſſiren, lernt
ſich bald. Sollte Freund Krumhardt, ich meine
unſer Karlchen — nicht den Alten, aus ſeiner Ge¬
ſchäftspraxis demnächſt mal einen neuen edlen
Kinkel nebſt Spulrad und Märtyrerglorie in der
lieben Heimath für einen überſeeiſchen Heros-Be¬
freier zur Verfügung haben, ſo reflektire ich darauf
und bitte, aus guter alter Kameradſchaft mir die
Vorhand zu laſſen. Eine republikaniſche Bürger¬
krone für einen Märtyrer aus dem neuen deutſchen
Reich! Das Ding wird leider ſchwer zu finden
ſein, denn den alten wahren Otto den Schützen von
ſeinem Wergzupfen und Wolleſpulen im Reichstage
zu entführen, würde ihm doch ſelber auch jetzt noch
nicht recht in die gelbweiße Küraſſiermütze paſſen.
Aber wie ſang Fräulein Leonie des Beaux in der
Dorotheenſtraße zu Berlin?
Da bin ich wieder bei meinem in der Fifth
Avenue verzauberten armen Mädchen! Siehe
Goethes Epilog zu dem Trauerſpiele Eſſex:
[188]
Ja, ja, was nimmt man ſich Alles vor zu
Glück und Ruhm und zum Beſten der Welt in der
Welt, bis der Narrenkönig dem dieſe Welt gehört
— ſiehe Schillers Jungfrau von Orleans — Einem
das Bein ſtellt und alle Weiſen, Helden und weg¬
gelaufenen Schuljungen auf die Gefühle eines Zahn¬
arztes, der ſelber Zahnweh hat, hinunterdrückt! Du
weißt es, Mutter, und kannſt es mir bezeugen,
daß die Scheu der Leute, ſich vor der Menſchheit,
das heißt den Nächſten ihresgleichen lächerlich zu
machen, mir leider immer nur zu ſehr gemangelt
hat; aber die Sehnſucht, mir ſelber endlich einmal
wieder lächerlich vorzukommen und ſomit das rich¬
tige Maaß für die Dinge dieſer Erde wieder zu
gewinnen, iſt mir bis jetzt auch nicht in ſolcher
Fülle und Üppigkeit zu theil geworden. Zu Hauſe
im Vogelſang, würde das wohl noch am leichteſten
zu erreichen ſein, Deinem lieben Korbſtuhl gegen¬
über und mit des ſeligen Vaters geliebter erſten
Originalausgabe des Wandsbecker Boten auf
Deinem Nähtiſche und mit der einzigen Ausſicht
über Deine Buchsbaum- und Blumenbeete, meine
[189] Stachelbeerbüſche und unſere grüne Hecke, auf den
Nachbar Hartleben und ſein Anweſen. Da ginge es
wohl noch am leichteſten an, dem theuren Ahnherrn
in dem Buche, dem Vetter Andres und dem braven
Vetter Michel im eigenen Buſen ſein Recht wieder¬
zugeben; aber — † ! ? † —
Frage Karl um ſeine Meinung hierüber, doch
— laß es lieber auch nur. Daß der Frager bei
ſolchen Gelegenheiten den Gefragten und ſeine
Antwort im Voraus ziemlich genau kennt, würde
auch diesmal und hier nichts zur Sache thun;
aber aus Deinen Briefen weiß ich ja, daß auch
um Euch dort im Vogelſang allgemach die Deko¬
ration ſich ſo ſehr verändert, daß er — der Freund
— ſich da binnen Kurzem am allerwenigſten noch
zurechtfinden wird. Aus Büſchen werden Bäume,
aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau. Aus
obſtſtehlenden (freilich meiſtens dazu verführten)
Schuljungen werden die beſten Verwaltungsbeamten
und Regierungsräthe, ſowie die ſchärfſten Staats¬
anwälte, und — aus dem nichtsnutzigſten Schlingel
des Vogelſangs wird (wenigſtens was ich dazu
thun kann) the most glorious tramp, der glo¬
rioſeſte Landſtreicher, der je auf den Wegen der
Welt den anſtändigen Paſſanten einen Schauder
und Schrecken eingejagt hat, wenn er an einem
[190] Stadtthor nach ſeinen Papieren gefragt wurde,
nimmer dergleichen aufzuweiſen hatte und vielleicht
auch erſt in irgend einem Bedford goal als alter
Keſſelflicker anfangen wird, ſich über the Pil¬
grims progress, über ſeines Lebens Pilgerfahrt
die letzte Rechnung abzulegen.
Meine liebe, liebe Mutter, Du kannſt nichts
dafür, und mein Vater auch nicht. Solches war
mir an der Wiege geſungen, aber nicht von Dir
mit Deinem: „Buko von Halberſtadt“, oder:
„Schlaf, Kindchen, ſchlaf, da draußen geht ein
Schaf“. Es kauert immer eine andere Sängerin
auf der anderen Seite des erſten Schaukelkahns
menſchlichen Schickſals und ſummt ihren Sang in
ihre Hexenbartſtoppeln, und der ſtammt von den
Müttern viel weiter hinabwärts und iſt der allein
maaßgebende.
Alſo ſtreich Dir die Sorgen- und Unmuths¬
falten wieder einmal aus dem lieben tapferen Ge¬
ſichte und halte Dich weiter an der Väter Er¬
fahrung, daß Unkraut ſo leicht nicht vergeht. Sage
mit dem alten Vertrauen auf unſern eigenthümlichen,
unveräußerlichen eiſernen Beſtand von Familien¬
adel: „O, dieſer dumme Junge!“ — Und halte
feſt: wir ſind doch die Zwei geweſen, welche die
wenigſten Sorgen im Vogelſang auf unſerm Hirn
[191] und Herzen geduldet haben, und ſo ſoll es bleiben!
Veränderte Dekorationen ſollen uns nie etwas an¬
haben; halte Deinen Platz an unſerm Herde feſt
und mir den meinigen: ich komme ebenſo ſehr
als Sieger wieder wie — Mr. Charley Trotzendorff.
Es giebt ein verſchiedenartiges Achſelzucken der
Leute in der Welt: ich hoffe mir das meinige,
nach meiner Weiſe, mit ebenſo gutem Recht zu
verdienen, wie er das ſeinige, und das Nachgaffen
und den Neid der Welt auch. Ziehe meinetwegen
hier auch Freund Karl Krumhardt über unſere
Hecke als Kommentator bei, wenn Dir ob ſolchen
beglückenden Ausſichten in die Zukunft doch etwas
nüchtern und unheimlich zu Muthe werden ſollte. —
In der Heimath und zumal im Vogelſang bin
ich fürs Erſte nichts nutze — und auch Dir nicht,
armes, tapferes Mütterchen. Übrigens ſind und
bleiben wir Zwei immer beiſammen, ob auch ein
paar Tropfen Waſſer und einige Krümel Erdboden
mehr uns trennen. Zu den Füßen der Treue
bleibe ich ſitzen, wenn es mir auch nicht vergönnt
wurde, zu den Füßen der Liebe Werg zu ſpinnen.
Nach dem Wocken der Omphale freut man ſich
ordentlich auf den nemeiſchen Löwen, die ler¬
näiſche Hydra, den erymanthiſchen Eber und vor
allem Andern auf die Stymphaliden und die
[192] Ställe des Augias. Daß ich Dir gerade die gol¬
denen Äpfel aus den Gärten der Heſperiden heim¬
bringen werde, iſt mir ſelber etwas zweifelhaft;
aber darauf verlaß Dich, und Du kannſt auch in
der Nachbarſchaft davon erzählen und damit re¬
nommiren: den Cerberus hole ich mir ſicherlich
aus der Unterwelt herauf, wenn auch nur um das
große Schreckniß der ewigen Nacht mir beim kurzen
Lebenstageslicht ſo genau und gemüthlich wie
möglich zu beſehen. Philoſophie ſtudiren nennt
man das vor den Kathedern nach geſchriebenen
Heften — frage nur Freund Krumhardt danach, der
ſich des bürgerlichen Anſtands wegen ſein Theil da¬
von hat in die Feder diktiren laſſen. Und vom
Lehrſtuhl des Profeſſors der Weltweisheit bis zum
Schneidertiſch des Hauſes der des Beaux iſt auch
wieder einmal nur ein Schritt. Hab ich mir
meinen Freund Leon auf den Buckel geladen, ſo
ſoll ich ihn natürlich auch darauf behalten. Vater
des Beaux ſchreibt mir, der Junge werde ihm, ohne
meine Beaufſichtigung, von Tag zu Tage unter
den Händen mehr zu einem Narren und es bleibe
ihm nichts übrig als den Knaben mir nachzu¬
ſchicken; eine Reiſe um die Erde unter meiner
Führung erſcheine ihm als das letzte Mittel, den
Phantaſten für den künftigen Kommiſſions- oder
[193] Kommerzienrath zu ernüchtern. Ich werde alſo
nicht umhin können, das, wenigſtens für die erſten
Stationen meiner eigenen Weltwanderung, noch
einmal zu meinem Gepäck zu legen; habe alſo
zurückgeſchrieben: das Kind möge kommen, ich
würde das Zutrauen zu verdienen ſuchen. Ja¬
wohl, das Zutrauen unter den Leuten! Erhalte
mir das Deinige, alte Frau!
Dein Sohn und Erbe
Velten Andres.“
Es iſt eine kalte Nacht, in der ich dies zu den
Akten hefte; aber ich habe das fröſtelnde Zuſammen¬
ziehen der Schulterblätter doch mehr dem klareiſigen
Hauch, der von der letzten Seite dieſes Briefes aus¬
geht, zuzuſchreiben, als der Winterwitterung draußen
vor dem Fenſter. Und wenn man — damals — dieſes
Schreiben in der Stadt unter den Bekannten, den
Leuten, herumgezeigt hätte, würden ſie alle geſagt
haben:
„Der alte ewig überhitzte Wirrkopf! Es bleibt
dabei, er kann auf nichts zu ſeinem Fortkommen
rechnen, als auf das Glück der Betrunkenen und die
Vorſehung, die über die Unmündigen wacht.“ —
[194]
Ich habe weiter zu berichten, was ſich in der
nächſten Nähe um mich her zutrug.
Der Erſte, der nach Velten den Vogelſang ver¬
ließ, und auch nie wieder, was der Freund doch that,
darin vorſprach, war Nachbar Hartleben. Er ſagte,
als er zum letzten Mal in ſeinem Rollſtuhl vor
unſerer Gartenthür hielt:
„Weißt Du, Junge, Herr Aſſeſſor Krumhardt
ſollte ich ſagen, weißt Du, ein Vergnügen iſt es nicht,
ſo als ſo ein Sack voll Elend, ſchlechtem Appetit und
nächtlicher Wehklage und Schlafloſigkeit ſich um ſein
zerſtückelt Anweſen rumrollen zu laſſen; aber ſo iſt
der Menſch: ſo lange er Luft ſchnappen kann, giebt
er den Athem nicht gern auf. Alſo da bin ich noch
und mache ſo lange Gebrauch von dem alten Freund¬
ſchaftsverkehr über die Straße, als es angeht. Noch
pläſirlicher hielte ich den Jammer natürlich aus,
wenn mir mein Wald da oben hinterm Oſterberge
nicht immer im Kopfe herumginge. Das iſt der
leidige Satan! Und vorzüglich jetzt ſo im ange¬
nehmſten Sommer, wenn das ſo grün da herunter¬
winket und Einer mit ſeinem Holzverkehr und Handel,
von ſeinen Sägemühlenabnehmern gar nicht zu reden,
nur eine lahme Fauſt zurück und aufwärts machen
kann. Da gucken Sie nur, Herr Obergerichtsſekre¬
tarius, wie das da oben auf meinem Schluderkopfe
[195] im Sonnenſchein liegt und Einem unter Gottes blauen
Himmel den Eſel bohrt und ſakermentſch Einen jetzt
nur noch dazu verlockt, eben unſerm lieben Herrgott
einen böſen Leumund bei den Erbberechtigten zu
machen. Es iſt ein Elend — ein Elend — ein Elend
Frau Obergerichtsſekretärin, und Sie haben ganz
Recht gehabt, daß Sie die Sache über Ihr Anweſen
mit Arnemann in Richtigkeit gebracht haben. Sie
ziehen nun demnächſt, und ich habe auch Ihnen und
der guten alten Zeit nachzuſehen. Nun bleibt mir
nur für meine noch übrigen paar Jahre die Frau
Doktorin. Ja, ja, ſo wird der Menſch allgemach
von allem Guten und Angenehmen entwöhnet! Manch¬
mal kommt's mir wirklich ſo vor, als ſei auch das
nur zu unſerm Beſten von da oben ſo eingerichtet,
um uns den Abſchied von hier unten nicht zu ſchwer
zu machen. Und wenn man denn wieder von den
Jüngeren und Jüngſten hört! Da hat ja wohl unſer
Herr Velten — da kann ich wohl eher als hier bei
unſerem Aſſeſſor ſagen: unſer Junge, von den Ja¬
panern hergeſchrieben, daß er ſich jetzt mit ſeinem vor¬
nehmen Berliner Freunde, den wir ſeiner Zeit hier
auch im Vogelſang hatten, da aufhalte und vergnügt
grüßen laſſe. Paſſen Sie auf, Herr Nachbar, Der
bringt es gerade ſo gut wie unſer Karlchen Trotzen¬
dorff, unſer Zeitgenoſſe, zu was Ordentlichem da
13 *[196] draußen; — wenn's nur nicht immer auf Ein und
dasſelbe hinausliefe am letzten Ende! Was dieſes
anbetrifft, ſo muß man ſich erſt ſo wie ich mich jetzt in
dieſem Einſpänner von hinten rum kutſchiren laſſen
müſſen, um zu dem richtigen Taxat von allem
Pläſirvergnügen im Leben zu kommen. Die Er¬
innerung an das Gute, was man ſeiner Zeit genoſſen
hat, iſt immer noch das Beſte, wenn auch leider
Gottes Verdrießlichſte. Auch mit dem kleinen Mädchen,
das hier bei mir und zwiſchen uns im Vogelſang
aufwuchs, und unſerem Velten ſcheint das nichts ge¬
worden zu ſein. Schade drum! Die Madame oder
Miſtreß war zwar die richtige Gans; aber das Wurm,
das jetzt da drüben überm großen Waſſer ſechs¬
ſpännig fährt, gehört immer auch noch zu meinen
angenehmen Erinnerungen. Karlch — Herr Aſſeſſor,
Kinder, in welche vergnügte Wüthenhaftigkeit habt ihr
öfters den Nachbar Hartleben gebracht, und was gäbe
er heute drum, wenn er euch nur noch einmal mit
dem Peitſchenſtiel durch ſeinen Garten nachſetzen und
aufs Nachbargrundſtück oder in den Wald hinaus¬
jagen könnte. Aber ich ſehe, Sie haben Ihre Akten
unterm Arm, Herr Aſſeſſor, und müſſen in Ihr Ge¬
ſchäft. Nehmen Sie es nicht für ungut, wenn ich
Sie mit meinem Geſchwätz aufgehalten habe. In
ſo einem Marterſtuhl iſt man ja einzig und allein
[197] nur auf ſein Maulwerk angewieſen. Wenn ich Ihnen,
Herr Sekretär und Frau Sekretärin, mit meinem
andern noch übrigen Fuhrwerk beim Auszuge zu
Dienſten ſein kann, ſoll's gern geſchehen. Dem alten
Hartleben, dem Grobian, ſoll man's nicht nachſagen
aus der Stadt, daß er nicht doch alles in allem ein
guter Vogelſänger Nachbar geweſen ſei. Mit dem
freundſchaftlichen Verkehr ſpäter, aus der Stadt her¬
aus und hinein wird's wohl ein bißchen hapern.
Na, ich denke immer noch ein paar Jährchen es zu
machen, daß Sie mich hier auf den Rädern finden,
wenn Sie aus dem neuen Leben heraus das alte
hier am Ort mal wieder aufſuchen wollen. Recht
ſchönen guten Abend, liebe Herrſchaften! Schieb den
Krüppel um ein Haus weiter, Lümmel da hinter
mir; die Frau Doktern hat mir verſprochen, mir noch
ein weniges mehr aus ihrem Velten ſeinem letzten
Brief vorzuleſen, und der Satansjunge hat das immer
ſo an ſich gehabt, daß er einem mit ſeinen Schnurren,
Abenteuern, Meinungen und Anſichten wie mit einem
Schnaps aufwartet. Ich meine immer, einmal
mußt Du den auch noch wiederſehen, Hartleben, und
wenn er auch noch ſo lange ſeine Mutter und den
Vogelſang auf ſich warten läßt!“ —
Vier Wochen ſpäter mußten wir ihn begraben, den
Nachbar Hartleben, und zu Oſtern des folgenden
[198] Jahres verließen auch wir, die Familie Krumhardt,
Vater, Mutter und Sohn, den Vogelſang. Meine
Eltern fügten ſich den höheren Anſprüchen, die ihrer
Meinung nach meinetwegen das Leben an ſie machte,
und ich fügte mich meinen treubeſorgten Eltern.
Wer wehrt ſich gegen die Liebe ſeines Vaters und
ſeiner Mutter und wenn ſie auch noch ſo ſehr mit
Sorglichkeiten, die man nicht mehr kennt, mit Thor¬
heiten, über die man hinaus iſt, und mit mancherlei
Anderem, was einem im Grunde lächerlich, ja ärger¬
lich vorkommt, verquickt iſt?
Und wenn mir etwas ferne ſein muß, ſo iſt
das Überhebung über die ſubalterneren Gefühle und
Stimmungen des Menſchen in ſeinem Daſein auf
Erden gerade an dieſer Stelle! In den Akten habe
ich es nicht, aber tief in meinem innerſten Bewußt¬
ſein, daß ich die theure, altgewohnte Heimathſtelle mit
Allem, was mir heute mit ſchauernd wehmüthigen
Heimwehgefühlen in dieſer kalten Winternacht nahe¬
tritt, damals leichter, viel leichter und freier athmend
aufgab, als die zwei armen Alten.
Auf der Bühne des Lebens hört man eben nicht
vor jedem Scenenwechſel die Klingel des Regiſſeurs.
Man findet ſich zwiſchen den gewechſelten Kouliſſen
und vor dem veränderten Hintergrund und ver¬
wundert ſich gar nicht. Ob man ſie gut oder ſchlecht
[199] ſpielt, ſeine Rolle iſt Jedem auf den Leib gewachſen
und das jedesmalige Koſtüm gleichfalls. Nur in
ſeltenen ſtillen Augenblicken gelangt wohl ein und
der Andere dazu, ſich vor die Stirn zu ſchlagen:
„Ja, wie iſt denn das eigentlich? War das ſonſt
nicht anders um Dich her und in Dir? Wie kommſt
Du zu allem dieſen und gehörſt Du wirklich hierher,
und iſt das nun Ernſt oder Spaß, was Du jetzt hier
treibſt oder treiben mußt? Und wem zuliebe und zum
Nutzen?“
Das ſind dann freilich ſehr kurioſe Gedanken¬
ſtimmungen. Wie aus einem unbekannten ſchauer¬
lichen Draußen haucht das vor den Theaterlichtern
Einen fremd und kalt an, meiſtens wenn die Bühne
einmal um einen her leer geworden iſt; aber dann
und wann bei gefüllter Scene im Gewühl der Edlen,
Ritter, Bürger, Damen des Hofes, der Mönche,
Herren und Frauen, Herolde, Beamten, Soldaten,
kurz des ganzen zu dem ewig wechſelnden und ewig
gleichen Schauſpiel gehörigen Volksſpiels. Und ſo
raſch als möglich fort damit! Dergleichen Nach¬
denken ſtört ſehr bei der Durchführung der zuge¬
theilten Rolle, bringt nur Stockungen hervor und
ein verehrliches Publikum, von der Hofloge bis zu
den höchſten Galerien zu einem ironiſchen Lächeln,
bedauernden Achſelzucken, wiehernden Hohnlachen,
[200] Pfeifen und Ziſchen. Und mit vollem Recht! Es
iſt ein ſchweres Eintrittsgeld, das man für die
Tragikomödie des Daſeins zu erlegen hat. „Paß
auf Dein Stichwort, Du da, König oder Narr da
auf den Brettern, und ſtöre uns das Behagen nicht,
von Vergnügen kann ja ſo ſchon wenig die Rede
ſein!“ —
Leider recht bald wurde um mich her die Bühne,
wenigſtens für einen Augenblick, ſehr leer und gab
ungeſtörten Raum zu jeglichem Monolog über Sein
und Nichtſein, und ob es beſſer ſei und ſo weiter,
und ſo weiter. Nämlich meinen Eltern bekam die
veränderte Umgebung durchaus nicht; und hier
beuge ich die Stirn tief über dieſes Blatt! Hätte
ich nicht doch mehr dazu thun müſſen und ſollen,
daß ſie in ihren Greiſentagen ihr An- und Ein¬
fügungsvermögen in das Ungewohnte mir zuliebe
nicht zu ſehr überſchätzten? Und die Braut, die ich
ihnen dann in das Haus, nein, nicht in das Haus,
ſondern die Miethwohnung inmitten der Stadt, wenn
auch der „beſten Gegend“ der Stadt brachte, die
wußte nichts von dem Vogelſang und brachte ihren
Sonnenſchein nur für mich mit in die Archivſtraße.
Die Blumenzucht in der Fenſterbank konnte meinem
Vater ſeinen Vorſtadtgarten nicht erſetzen, und noch
viel weniger die vornehme Stadtgegend meiner
[201] armen Mutter den Verkehr über die lebendige Hecke
und die von einem blühenden Apfelbaum zum andern
auf eigenem ſicherm Grund und Boden ausgeſpannte
Waſchleine und was ſich an behaglichem Verdruß
und verdrießlichem Wohlbehagen daran knüpfte.
Wenn ich mir jetzt, mit dem Kopfe in der Hand,
überlege, was ich dagegen thun konnte, daß ſie ihren
Willen, auf ihrem und — meinem Wege aufwärts
als grämliche Sieger zu fallen, nicht bekamen, und
mir ſagen darf: „Wenig!“ ſo iſt das auch ein Troſt,
aber nur ein geringer, und man hat erſt an ſeine
eigenen Nachkommen und deren Tröſtungen zu
denken, ehe man ſich wieder beruhigter, gelaſſener
vor ſolch einem Aktenbündel, wie dieſes hier vor¬
liegende, im Seſſel zurechtrückt. —
Jawohl, mein Weg ging aufwärts in der
Rangordnung des Staatskalenders und der bürger¬
lichen Geſellſchaft: meine Eltern ſtarben — die
Mutter zuerſt und der Vater ihr bald nach; und ich
heirathete. Daß ich ihnen „Schlappes“ Schweſter als
liebe Braut und gute Tochter zuführte, war der
beiden guten und lieben alten Leute letzte Freude
und drückte ihnen das letzte Siegel auf die Gewi߬
heit, daß auch ich ein guter braver Sohn geweſen
ſei, daß ich allen ihren Erwartungen entſprochen
habe und mich auch fernerhin aller hohen und
[202] höchſten Ehren und Genugthuungen unſerer Welt
im Kleinſten würdig erweiſen werde und alſo aller
durch zwei ganze treuſorgliche Elternleben aufgewendete
Ängſte, Mühen, Kümmerniſſe und Entſagungen werth.
Wahrlich, ich ſchreibe nicht, um in dieſen Blättern
Komödie zu ſpielen und von Thränen zu fabeln und
zu faſeln, die auf irgend eine Seite der Handſchrift
gefallen ſeien (ich weiß es ja eigentlich ſelber nicht,
wie ſich dieſes Alles plötzlich infolge jenes Briefes
aus Berlin, den Helene Trotzendorff, den Mrs. Mungo
ſchrieb, in den tagtäglichen Aktenwechſel auf meinen
Schreibtiſch ſchiebt!), aber ich nehme mir wieder die
Muße, zu dem Bildniß über dieſem Schreibtiſche,
dem alten theuren Herrn, mit dem verkniffenen
deutſchen Schreibergeſicht und dem zu dem Landes¬
orden hinzugeſtifteten Ehrenkreuz erſter Klaſſe auf
der Bruſt melancholiſch-dankbar aufzuſchauen.
„Wer hatte es beſſer mit Dir im Sinne als
Der?“ — — —
Der Weg nach dem Friedhofe jenſeits des
Vogelſangs führte noch immer durch unſere vordem
ſo grüne Kindheitsgaſſe. Jetzt vorbei an den Plätzen,
wo vordem Hartlebens weitgedehntes Anweſen ge¬
weſen war und meiner Eltern Haus, mein Vaterhaus
und ihrer Väter Haus gelegen hatte.
Es iſt eine Redensart: „Ich komme ſelten mehr
[203] in die Gegend!“ Wie ſchwer ſie einem aufs Herz
fallen kann, das ſollte ich am Begräbnißtage meines
Vaters im vollſten Maaße erfahren.
Ich war nicht ſo häufig in die Gegend ge¬
kommen, wie ich geſollt hatte, und nun war gerade
die rechte Gelegenheit, um zu erkennen, wie ſehr ſie
ſich verändert hatte, nicht ſeit unſeren Kinderjahren,
ſondern ſeit dem Tage, an welchem die Nachbarin
Andres, die Frau Doktern, dort von uns Allen allein
zurückgelaſſen worden war.
Es giebt auch eine Redensart: „Das iſt mir
bis jetzt nicht aufgefallen!“ und dann kommt plötz¬
lich die Gelegenheit, der Augenblick, die Stunde, der
Tag, wo das um ſo eindringlicher Einem ans Herz
gelegt wird. Ich hatte wirklich ſo viel mit meinen
perſönlichen Lebensangelegenheiten, mit mir ſelber zu
ſchaffen gehabt, daß ich mich um das, was hinter
mir lag und wenn auch in nächſter Nähe, wenig be¬
kümmern konnte, und der Vogelſang war mir davon
nicht ausgenommen geweſen. —
Zwiſchen den neuen Mauern der Fabriken,
Miethshäuſer, Tanzlokale war's allein die alte Frau,
die Mutter Veltens, welche, wie ſie es dem Sohne
verſprochen hatte, nicht von ihrer Heimſtätte ge¬
wichen war, und trotz des neuen Lebens, das ihr
von allen Seiten unbehaglich, ſpöttiſch, ja drohend
[204] ſich andrängte, ihr Häuschen, ihr Gärtchen, ihre
lebendige Hecke feſthielt. Wieviel Vernunft hatten
meine Eltern deswegen die letzten Jahre hindurch
vergeblich auf ſie hineingeredet!
„Er hat ſeinen Willen gewollt und hat ihn nun
in aller Herren Länder zu Land und Meer: ich habe
den meinigen hier im Vogelſang und wenn es auch
nur des Kitzels wegen wäre, der mir zukommt, wenn
er heimkommt und ich ihn frage: ‚Na, Velten, wie
war's denn draußen?’“ antwortete in den verſchieden¬
artigſten Variationen (auch je nach der Jahreszeit
verſchieden) die Frau Doktorin Andres im Vogelſang
auf Alles, was ihr Häuſerſpekulanten, ſachverſtändige
Freunde und wohlmeinende Freundinnen vortragen
mochten, um ihr den Sinn zu brechen und ihr zum
Beſten zu rathen. Es war mit der Frau jetzt immer
noch ebenſowenig anzufangen wie vor Jahren, wenn
mein Vater als „Familienfreund“ von einer Er¬
ziehungskontroverſe mit ihr nach Hauſe kam.
Und nun war es kaum acht Tage her, daß
er zum letzten Mal in dem kleinen hartnäckigen Häus¬
lein geweſen war, um ſich in der altgewohnten, treu¬
freundſchaftlich-nachbarlichen Weiſe zu ärgern und
ſich wieder zu vertragen mit der Frau „Exnachbarin“.
Nun ſtammte der wertheſte Kranz auf ſeinem Sarge
aus dem letzten Hausgarten des Vogelſangs, und
[205] Veltens Mutter hatte ihn ſelbſt gebracht und mit
mir und meiner jungen Frau, die nichts mehr von
dem Vogelſang wußte, neben dem ſchwarzen Schrein
geſeſſen und mir mehrfach die Hand aufs Knie ge¬
legt und geſeufzt:
„Ich werde ihn ſehr, ſehr vermiſſen, Deinen
guten Vater, beſter Karl! Nun bin ich die Letzte
von den Alten unterm Oſterberge. Manchmal in
dem jetzigen Lärm dort um mich her, wenn ich ſo
von meinem Strickzeug am Fenſter aufſehe, kommt
es mir doch wirklich vor, als gehöre auch ich nicht mehr
dahin; aber ich habe es ihm ja verſprochen, daß er
mich jederzeit dort in ſeines Vaters und ſeinem eigenen
alten Weſen noch vorfinden ſoll, und ſo muß ich
noch etwas bleiben. Wer verdunkelt Einem nun noch
mit einem: ‚Auf ein Wort, Frau Nachbarin!‘ das
Fenſter, um Einen feſter in der Gewißheit, zur Seite
und gegenüber die beſte liebſte Nachbarſchaft zu haben,
nach dem Vorgucken und Beſuch wieder ſich ſelbſt zu
laſſen? Kommt ihr jungen Leute, ſo könnte man
ſich ſo vorkommen wie ein ein halb Jahrhundert vor
der Erlöſung für einen Augenblick aufgewachtes Dorn¬
röſchen, das ſich nicht ſeinem Prinzen in Mantel,
Federbarett und Tricot, ſondern einem durch die Hecke
gedrungenen Liebhaberphotographen gegenüber findet.
Ja ſieh, lieber armer Junge, ſo ſchwatzt die alte
[206] Doktern Andres ihren gewohnten Unſinn ſelbſt am
Sarge Deines Vaters, ihres guten, treueſten Freundes!
Aber glaub mir, wenn ihr ihn morgen früh durch
den Vogelſang geleitet, ſo ſieht ihm über ihren Zaun
dort eine Freundin mit naſſen Augen und vollem
Herzen nach und ſagt: Da begraben ſie einen Mann,
den Dir das Schickſal dort an die Hecke geſetzt hatte,
um Dir ein Muſter an ihm zu nehmen, Dein ganzes
Leben lang, Mutter Andres! Alles für unſere
Jungen! Natürlich er auf ſeine Weiſe, ich auf die
meinige. Und daß ſeine Art gut war, das bezeugt
ihm am beſten die kleine Frau hier hinter ihrem
feuchten Taſchentuch, Karl. Ziehen Sie es mir noch
einen Moment hinunter, Kindchen, und geben Sie
mir einen Kuß, und nun gute Nacht, und habt ferner
euren Troſt aneinander und gönnt uns Alten unſere
Ruhe, wenn unſere Schlafenszeit gekommen iſt.“
Es war ein ſchöner, ſonniger Morgen, an
welchem wir meinen Vater begruben. Mit einem
ſtattlichen Gefolge, an dem er wohl ſeine Genug¬
thuung haben mochte, und wie es ihm da, wo man
ſonſt wohl am wenigſten an ſo etwas denkt, auf
[207] ſeines Lebens Höhe, als etwas ſehr Wünſchenswerthes,
ſehr Erſtrebenswerthes erſchienen ſein mag. Wie oft
hat er von dem Fenſter unſeres Wohnzimmers aus
die Kutſchen gezählt, die bei ſolchen Gelegenheiten
die Theilnahme der Beſten im Volke leer, aber würdig
zur Darſtellung bringen! . . . Und nicht, daß ich nun
von einem erhabeneren Standpunkt hierüber wegge¬
ſehen hatte: o, als der rechte Sohn meines Vaters
habe ich ſehr genau darauf geachtet, wer ihm und mir
die gebührende Ehre gab und wer nicht. —
Aber wo war das Fenſter im Vogelſang, an
dem die Krumhardts ſeit Generationen von Vater
zu Sohn ihre ſtatiſtiſchen Bemerkungen in dieſer
Hinſicht gemacht hatten, bis — ſie ſelber für einen
Andern in gleiche hineinfielen? Ein vierſtöckiges Haus
hatte Arnemann auf das alte Familiengrundſtück ge¬
ſetzt, und vom Erdſtock bis zum Dache kamen Dutzende
von Geſichtern jeder Art an die neuen Fenſter, um
das „ſchöne Begräbniß“ zu ſehen. Und was ſonſt
ein lieber, zum Übrigen, Gleichen gehöriger Schmuck
der Feld- und Gartengaſſe geweſen war, das Stück
grüne Hecke der Frau Doktor Andres, das war nun¬
mehr ein Etwas, das ſeine Zeit ganz und gar über¬
lebt hatte und durch ſein Nochvorhandenſein nur
kümmerlich-lächerlich wirkte.
Und wie an dem betrübten Tage, in dem
[208] traurigen Zuge mein Auge doch nur dieſen grünen
Punkt in all dem neuen fremden Mauerwerk ſuchte
und ſich der Exbürger des Orts mit einer Art
von Heimwehgefühl dort feſtzuklammern ſuchte! Und
nun — gerade vor dem Anweſen der Familien
Krumhardt und Andres redeten die beiden würdigen
geiſtlichen Herren, zwiſchen denen ich hinter dem
Sarge ſchritt, ſo treulich und wohlmeinend das
Paſſende auf mich ein, daß es eine rechte Unhöflich¬
keit von mir geweſen ſein würde, wenn ich ihnen
nicht nach rechts und nach links hin das Ohr geliehen
hätte! So habe ich damals trotz allem nur flüchtig
hingrüßen können nach der greiſen Freundin und
Nachbarin an dem zerfallenden morſchen Garten¬
thürchen und ganz außer acht gelaſſen, daß ſie nicht
allein an der Pforte zu ihrem ſo tapfer feſtgehaltenen
Reiche ſtand, um den Familienfreund vorbeiziehen
zu ſehen. Es hätte auch doch wohl eine Störung
im Zuge gegeben, wenn — Velten Andres an dem
Morgen aus ſeinem Garten ſofort an meine Seite
getreten wäre! — — — — — — — —
Er hat ſich an das Ende des Zuges angeſchloſſen
und mich alſo auf dem ernſten Wege davor bewahrt,
Aufſehen durch eine augenblicklich unſchickliche Auf¬
regung über ein plötzliches unvermuthetes Wiederſehen
zu erwecken. Auf dem Friedhofe ſelbſt aber, wo die
[209] frühere Freundſchaft auch jetzt noch nach Möglichkeit
gute Nachbarſchaft hielt und ihren Grundbeſitz im
Grundbuche, wenn auch nicht Hypothekenbuche, feſt
zuſammen hatte ſchreiben laſſen, konnte er mir die
Überraſchung nicht erſparen.
Dicht neben ſeinem Vater war dem meinigen
die Grube gegraben (Nachbar Hartleben lag nur ein
paar Schritte weiter ab, und der übrige Vogelſang,
hier noch immer im Grün, und mit der Ausſicht auf
den Oſterberg und Schluderkopf, rundum) und ſtanden
die Schaufeln für die Liebes-, Ehren- und Achtungs¬
gabe des Grabgefolges in die friſch aufgeworfenen
Schollen fruchtbaren Gartenbodens geſtoßen.
Und wenn man den gleichgültigſten Kanzleiver¬
wandten, den langweiligſten Klub- und Stammtiſch¬
genoſſen ſo mit einem dieſer Spaten die letzte Achtung
erweiſt, liegt nicht nur die nächſte Umgebung, ſondern
die ganze Welt in einer Beleuchtung, die für den
Schreibtiſch und den L'hombretiſch kaum die rechte
ſein würde: begrabe aber Deinen Vater, Deine Mutter,
Dein Kind, und achte dann, in dem Licht, das eben
kein Licht iſt, darauf, wer Dir zu dem „Erde zu
Erde“ das Werkzeug in die Hand giebt und an wen
Du es weitergiebſt! . . .
In die Hand reicht es uns Chriſtenleuten nach
geſchriebenem und ungeſchriebenem Recht die Kirche,
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 14[210] wenn es gewünſcht worden iſt; aus der Hand nahm
es mir der Nächſte mir zur Seite und ſagte:
„Das war ein wohlmeinender, braver und kluger
Mann, Krumhardt. Mögen Deine ſpäteſten Enkel
noch ſüße Früchte mit ſeinen wackeren Knochen vom
Baume des Lebens werfen . . .“
Velten! . . . Velten Andres! Nun verletzte ich
doch den Anſtand, indem ich zurücktretend dem Chef des
Entſchlafenen, der nach mir nach der Schaufel hatte
greifen wollen, auf den Fuß trat. Den Spaten
reichte Velten ihm:
„Bitte, Herr Obergerichtspräſident.“
Später ſind keine Störungen mehr vorgefallen.
Es iſt nur gethan und geſagt worden, was bei ſolchen
Gelegenheiten gethan und geſagt zu werden pflegt.
Ich, der ich mehr als ein Anderer (auch als der
Freund) von den Vorzügen des alten Herrn Kenntniß
hatte und überzeugt war, kann es bezeugen, daß mir
nichts über ihn geſprochen wurde, was nicht die volle
Wahrheit war. Als wir ihn dann ließen, und ein
Jeder, der ihm die letzte Ehre gegeben hatte, aus
ſolcher Störung des tagtäglichen Tages- und Ge¬
ſchäftslaufs heimging oder fuhr, hatten wir, der
Vater und der Sohn, es freilich uns gleichfalls ge¬
fallen laſſen müſſen, was dann noch mehr oder
weniger anekdotenhaft aus dem Lebensverlauf des
[211] Obergerichtsſekretärs Krumhardt heraufgeholt wurde,
bis noch näherliegender Tages- und Daſeins-Ge¬
ſprächſtoff den Ruhenden in ſeiner Ruhe ließ neben
ſeinen nächſten guten Nachbarn: ſeinem Weibe und
dem Doktor der Heilkunde Valentin Andres. — —
Er fuhr nicht mit mir nach Hauſe. Er ſagte
mir auf dem Kirchhofe nur noch: „Später, mein
Junge! Wir haben für Alles Zeit;“ brachte mich
aber doch an den Wagen an der Friedhofspforte,
ließ den hohen Chef des weiland Obergerichtsſekretärs
Krumhardt und ſeinen Sohn einſteigen, drückte mir
über den Schlag noch einmal die Hand: „Ich hoffe
Dich ſchon heute noch gemüthlicher ſprechen zu können.
Guten Morgen, Alter.“
„Was war denn das für ein eigenthümlicher
Herr, lieber Aſſeſſor?“ fragte der hohe, amtlich dem
Hauſe Krumhardt Vorgeſetzte; und als ich ihn, ſo
weit das möglich war, darüber in Kenntniß geſetzt
hatte, ſagte er:
„Hm, hm, ja, ich erinnere mich dunkel. Der
Sohn eines Vorſtadtarztes und ein toller Chriſt vor
Jahren. Nahm nicht einmal Seine Durchlaucht
14 *[212] einiges Intereſſe an ihm? Jawohl, jawohl, ganz
richtig! Andres! Eine Zeitlang hatte der junge
Menſch hier wirklich die beſten Avancen. Sie und
er waren Nachbarn, Herr Aſſeſſor, und ſcheinen noch
in freundſchaftlichem Verkehr mit ihm zu ſtehen.
Man hielt ihn damals für ein junges Genie; aber
er iſt uns doch, wie das gewöhnlich zu geſchehen
pflegt, dann bald gänzlich aus den Augen gekommen.
Es würde wirklich auch mich ein wenig intereſſiren,
zu erfahren, was jetzt eigentlich aus ihm geworden iſt.“
Wahrſcheinlich hat der würdige Mann es nur
auf die Zeit und Umſtände, unter welchen er ſeinen
Wunſch äußerte, geſchoben, daß ich ihm nur ſehr
ungenügend Aufklärung gab. —
Zu Hauſe fand ich, was man zu finden pflegt,
wenn man von einem ſolchen Geſchäft heimkehrt: das
Haus nach Möglichkeit gereinigt und aufgeräumt —
nach der Kataſtrophe ſo viel friſche, ſonnige Alltags¬
luft als möglich eingelaſſen — nach Möglichkeit Alles
in der alten Ordnung — ſo wenig als möglich
Stearin-, Chlor- und Blumengeruch: das alte Geräthe
in gewohnter Ordnung, nur noch etwas peinlicher,
um Einen herum und — eine Lücke in ſich, eine
Leere, eine Öde um ſich, die natürlich je den Um¬
ſtänden nach mehr oder weniger empfindlich empfunden
werden. Aber ich konnte auch mein gutes kleines
[213] Weibchen in der ſchwarzen ernſtgemeinten Trauer¬
kleidung in den Arm nehmen und „Schlappen“, dem
jüngſten Regierungsrath des Landes und meinem
Schwager, ſowie einigen anderen, meiner Frau zum
Troſt und zur Aufrichtung gegenwärtigen Mitglieder
ihrer Familie für ihre Theilnahme danken.
„Es iſt doch recht betrübt, daß Du heute gar
keine eigenen Verwandten haſt,“ ſagte, nachdem ſie
Alle ihre Pflicht gethan hatten und gegangen waren,
meine Frau, ſich an meinem Schreibtiſche an meine
Seite ſchmiegend und gottlob ſo dicht als möglich.
„Armer Mann! Aber mich haſt Du doch und nicht
wahr, das iſt doch auch ein Troſt? Und nun wollen
wir von jetzt an noch feſter zuſammenhalten und uns
immer lieber haben — nicht wahr, Du armer lieber
Mann? Und daß Du Dich gleich wieder in Dein
Arbeitszimmer geſetzt haſt, das iſt ſehr Unrecht von
Dir und gehört ſich gar nicht! Deine Frau gehört
heute zu Dir, und wenn Du nicht zu mir herüber¬
kommſt, ſo bleibe ich hier bei Dir und draußen habe
ich ſchon Beſcheid gegeben: ſie ſollen, wenn es nicht
ganz und gar nöthig iſt, keinen Menſchen mehr zu
uns hereinlaſſen!“
Bei Allem, was der Menſch auf Erden je der
Götter Wohlwollen, die Güte Gottes genannt hat,
konnte es mir noch deutlicher gemacht werden, was
[214] ich an ſicherm Eigenthum, an dem Reichthum dieſer
Erde gewonnen hatte, was mir davon gegeben worden
war auf meinem Wege bis zu dieſem betrüblichen
Tage? —
Wir blieben den Tag über für uns allein. Als
ich meiner Kleinen aber von der Heimkehr Velten
Andres' erzählte, ſagte ſie:
„Ah, der gehört natürlich zu uns, Dein beſter
Freund! Ich kenne ihn ja eigentlich kaum; aber
wie oft iſt bei uns, in meiner Eltern Hauſe, von
ihm und was er an meinem Bruder gethan hat, die
Rede geweſen! Ich war zu jener Zeit, als er für
uns ſein Leben gewagt hat, noch ein zu junges Kind,
um ſeine Heldenthat ganz zu faſſen; aber ich ſehe
heute noch meine Mutter in Ohnmacht und im Wein¬
krampf und meinen Vater außer ſich. Nachher iſt
leider weniger gut von ihm geſprochen worden und
Papa hat ärgerlich gemeint, es ſei Schade, daß ſo
ganz und gar nichts mit ihm anzufangen ſei; und
dabei bin ich denn, weißt Du, auch ſo nach und nach
herangewachſen, und habe mir meine eigene Meinung
gebildet, und Du biſt gekommen und haſt mir dabei
geholfen, das heißt, Du weißt es wohl ſelber am¬
beſten, wie Du mich nicht nur aus meines Vaters
Hauſe, ſondern auch in alle möglichen anderen An¬
ſichten über Gott und die Welt hinein und für Dich
[215] zurechtgezogen haſt. Nun weiß ich heute faſt ebenſo
gut wie Du in eurem alten Vogelſang und um
Helene Trotzendorff und die Frau Doktorin Andres
und Deinen Velten und alles Übrige Beſcheid —
freilich, wenn ich auf einen Menſchen geſpannt ſein
muß, ſo iſt das Dein Freund Velten, aus dem Keiner
von euch je recht klug geworden zu ſein ſcheint,
nimm das mir nicht übel. Und ganz derſelbe wie
ſonſt nach eurer Beſchreibung ſcheint er auch ge¬
blieben zu ſein. Ich wäre in ſeiner Stelle jetzt ſchon
längſt bei Dir — noch dazu an ſolch einem böſen,
ſchmerzlichen, traurigen Tage wie heute!“
So plauderte ſie und verſuchte es immer von
Neuem mit dem linken Zeigefinger mir die Stirnfalten
wegzuſtreichen und mir über den „traurigen Tag“
leichter hinwegzuhelfen.
Es war ein wunderlicher geſpenſtiſcher Tag, ein
unruhiger Tag, trotz der Stille, in der die Welt uns
Zwei ließ, oder der Anweiſung an der Vorſaalthür
zufolge laſſen mußte. Der friſche Hügel auf dem
Vogelſangkirchhofe war nicht Schuld daran: ſo etwas
drückt den Menſchen nur in den Winkel und womöglich
einen dunkeln, drückt ihn nieder in einen leer gewor¬
denen Großvaterſtuhl, oder auch wohl auf ein niederes
Kinderſchemelchen, drückt ihm die ſchwere Hand auf
die Augen, auf die Stirn. Unruhe in die Glieder bringt
[216]das nicht; ich aber hatte den ganzen Tag über Unruhe
in den Gliedern, denn ich begriff noch weniger als
meine Frau, wo Velten jetzt eigentlich blieb?
Es konnte doch keine Täuſchung geweſen ſein!
Ich hatte ihn doch plötzlich auf dem Kirchhofe an
meiner Seite geſehen! Er hatte zu mir geſprochen;
ich fühlte noch immer den Druck ſeiner Hand auf
den meinigen; und — ich hatte im Auf- und Ab¬
ſchreiten durch das Zimmer Momente, in welchen ich
nicht mehr an ihn glaubte und einen Eid über ſeine
Rückkehr in die Heimath nicht zu den Akten abgegeben
haben würde. Als er dann in der Dämmerung
kam, fand er mich über dem Reichsſtrafgeſetzbuch,
dem Paragraphen: Fahrläſſiger Meineid, und in der
kopfſchüttelnden Gewißheit, daß die meiſten Juſtizver¬
brechen hierbei begangen werden, und daß Jupiter,
der über die Schwüre der Verliebten lacht, über die
Urtheile der hier zuſtändigen Richter ſehr häufig mit
den Zähnen zu knirſchen hätte. — Daß ich ſolches
aber jetzt hier niederſchreibe, beweiſt nur auch, in
welche Ferne mir heute, in dieſer Winternacht, während
der Schnee noch immer ununterbrochen niederrieſelt,
jener ſo dunkle unruhvolle Sommerſonnentag, der
Tag, an welchem ich meinen Vater begrub und an
welchem Velten Andres ihm vom Hauſe ſeiner Mutter
aus die letzte Ehre erwies, gerückt iſt.
[217]
Er aber, mein Freund Velten, ſteht wieder gerade
ſo geſpenſtiſch wie damals neben meinem Seſſel, legt
mir die Hand auf die Schulter und fragt:
„Nun, Alter, noch nicht des Spiels überdrüſſig?“
Da habe ich denn in dieſer heutigen kalten,
farbloſen Winternacht, mit den ewig von Neuem ſich
aufhäufenden Aktenſtößen um mich her, mit all den
Enttäuſchungen, Sorgen, Ärgerniſſen, die nicht nur
das öffentliche Leben, ſondern auch das Privatleben
mit ſich bringt, und im grimmen Kampf mit dem
Überdruß, der Enttäuſchung, der Langenweile und
dem Ekel an der ſchleichenden Stunde, doch noch ein¬
mal ein: „Nein!“ geſagt, dem ſtolz-ruhigen Schatten
gegenüber, der ſo weſenhaft Velten Andres in meinem
Daſein hieß.
Ich habe und halte meiner Kinder Erbtheil.
Das Spielzeug des Menſchen auf Erden, das ja
auch einmal meinen Händen entfallen wird, wollen
ſie aufgreifen, und ich — ich fühle mich ihnen
gegenüber dafür noch verantwortlich! —
Doch jener Sommertag, an welchem ſich der
Freund über das letzte Stückchen lebendiger Hecke
im Vogelſang lehnte, um dann ſeinem, ihm vom
[218] Staate geſetzten Vormund oder „Familienfreund“,
dem alten Obergerichtsſekretär Krumhardt auch die
letzte, Ehre zu erweiſen, iſt ja noch nicht vorüber in
dieſen Blättern. Die Dämmerung zieht ſich in jener
Jahreszeit weit in die Nacht hinein, und wie geſagt,
er kam erſt in der Dämmerung, der Freund, und ein
neuer Morgen leuchtete über dem Oſterberge auf,
ehe er wieder ging und beim Abſchiednehmen lächelte:
„Nun, hab' ich die Scheherezade oder den
Märchenerzähler im Karawanſerai zu Bagdad ver¬
gnüglich geſpielt? Seht nur —
Aber, ihr habt es ſo gewollt, Kinderchen: und Eines
iſt ſicher: in meinem Leben wißt ihr jetzt faſt
ebenſo gut Beſcheid wie ich ſelber. Was meint die
gnädige — die junge Frau? Nicht wahr, ſie faßt
nachher ihr Stück beſtes Eigenthum feſter und etwas
ängſtlich in die Arme: ‚O Gott, Karl, und mit
dieſem entſetzlichen Menſchen biſt Du aufgewachſen
in eurem Vogelſang und haſt mir von ihm ſo gut
geſprochen, wenn einmal wieder in den letzten Jahren
die Rede auf ihn gekommen iſt? O, wie dankbar
müſſen wir dem lieben Gott Beide ſein, daß er noch
früh genug ein Einſehen gehabt und ihn auf alle
vier Straßen der Welt verwieſen und ihm nur Gras
[219] und Welle, Sonne und Wind gelaſſen, aber Dich
Armen, zu Deinem Beſten mir hier anbefohlen hat!’“
„Sie bleiben doch nun auch, wenigſtens für
einige Zeit, hier bei uns?“ fragte Schlappes Schweſter;
er aber wendete ſich wieder zu mir:
„Die alte Heldin dort hinter der letzten Hecke
des Vogelſangs! Der Brief, in dem ich ihr meinen
Beſuch von Southampton aus anmeldete, iſt erſt
heute Morgen hier angelangt. So fand ſie mich
geſtern Abend an unſerer Gartenthür lehnend, als
ſie von Dir und Deines Vaters Sarge nach Haus
kam. Ich brauche ein Jahr mindeſtens, um ihr für
den diesmaligen Schrecken, den ich ihr einjagte,
Genugthuung zu geben. Du lieber Himmel, ſie da
in den Armen zu halten, und die alten guten Redens¬
arten im alten Ton wieder zu hören! O, wie oft
habe ich in der Fremde ihr: Du dummer Junge!
im Ohr gehabt, — und nun es ſich wieder zwiſchen
Lachen und Weinen ſagen laſſen zu dürfen! Eine
Stunde hatte ich am Zaun zu warten, bis ſie mit
dem Hausſchlüſſel kam, den verlaufenen Hund ein¬
zulaſſen. Da habe ich Zeit gehabt, mir die neue
Mauerwerksherrlichkeit zu betrachten, in der ſie —
ſie allein das Ihrige — das Unſerige feſtgehalten
hatte; — und für wen? für wen? Da ſtand der
Narr, der von der Schmetterlings- und Seifenblaſen¬
[220] jagd heimgekommene Narr und ſuchte nach rechts und
nach links und nach gegenüber die alten Freunde
und Bäume — fremde Gaffer und fremde Mauern
um ſich her. Sie haben es ihr zugebaut, das ſonnige,
grünende, blühende, lachende Familienerbe; ſie aber
hat Freund und Freundin, Nachbar und Nachbarin,
Buſch und Baum gehen und fallen ſehen, hat dem
Schalten über ihren Aurikelbeeten ſtandgehalten
und ihren Seſſel vor ihrem Nähtiſchchen an ihrem
Fenſter nicht weggerückt. Sie hat alle Tatzen weg¬
geſchlagen und nicht ihret- ſondern meinetwegen.
Gnädige Frau, Karl Krumhardt — meinetwegen! . . .
Meinetwegen hat ſie, wie weiland die Juden in
Jeruſalem die Riemen von den Sätteln und das
Leder von den Schilden abgenagt und das Heilig¬
thum gehalten unter dem Fabriklärm von Hartlebens
Grundſtück her und der Tanzmuſik aus dem Tivoli
und der Centralhalle. Ob ich als Bettler oder als
Millionär, wie weiland Mr. Charles Trotzendorff,
heimkam, iſt ihr wohl recht gleichgültig geweſen;
über ihrer Häkelnadel, ihrem Strickſtrumpf, hinter
ihrer lieben Brille, hat ſie nur die Gewißheit feſt¬
gehalten: ‚Den Schlingel, das arme Kind kenne ich
zu gut, um nicht zu wiſſen, wie das feſt darauf
rechnet, ſich noch einmal hinter meiner Schürze zu
verſtecken und ſich an meinen Rock zu klammern und:
[221] Mama! Mama! zu heulen. Wer ſollte um den
Narren Beſcheid wiſſen, wenn ich nicht? Hätte er
mir das Kind, die Helene heimbringen können, ſo
wäre es freilich etwas Anderes geweſen; aber das
iſt wohl nicht ſeine ſchlimmſte Fehljagd nach dem
Glück geweſen, daß Miſtreß Mungo nicht in das
letzte Grün des Vogelſangs hineinpaßte.‘ — Jetzt
laßt mich gehen, Leutchen; jawohl, gnädige Frau,
für einige Zeit bleibe ich im Lande, und nun machen
Sie kein zu bedenkliches Geſicht hierzu. Ich laſſe
Ihnen Ihr wohlerworbenes Eigenthum. Sehen Sie
da lächelt Freund Krumhardt — ſelbſt nach ſeinem
traurigen Tagesgeſchäft. Es geht doch nichts über
eine trauliche Abendunterhaltung ſo bis in den
nächſten Morgen hinein!“
Ob ich gelächelt habe, kann ich nicht ſagen; aber
das weiß ich, daß, als er gegangen war und wir
nun wieder allein bei der ſchon in den Tag hinein¬
glimmenden Lampe waren, meine Frau ſich wie angſt¬
voll an mich drängte, mir die Arme um den Hals
warf und rief:
„Welch ein Menſch, welch ein lieber und un¬
heimlicher Menſch! Alſo das iſt Dein Freund? Mit
dem biſt Du aufgewachſen in eurer Vorſtadt, während
in meiner Eltern Hauſe Niemand von euch wußte.
O, jetzt begreife ich es, daß Der einem Menſchen das
[222] Leben retten kann, bloß um ſich über ihn luſtig zu
machen, wie er über meinen Bruder Ferdy! Daß er
um ein thörichtes Mädchen ſeine Mutter, ſein Vater¬
land, ſeine Ausſichten in der Heimath aufgeben konnte,
und — ſieh — ſo recht ſagen kann ich es nicht,
aber ich fühle es und weiß es ſicher, daß, wenn er
nachher ſcherzhafte Briefe an ſeine Mutter über ſeine
Täuſchungen und Enttäuſchung geſchrieben hat, die
ihm aus dem Herzen und einem ruhigen, für mich
als ein armes Frauenzimmer etwas zu ruhigen
Herzen gekommen ſind. Mit welchem Lächeln er
von Dir, mein beſter Karl, als von meinem Eigen¬
thum ſprach! Sieh, wir wiſſen nicht, wie er jetzt
heimgekommen iſt, ob mit Geld oder ohne; aber ein
Eigenthum hat Der nicht mehr in der Welt und an
der Welt, und was für mich und Unſeresgleichen ſehr
troſtlos iſt: will es auch nicht haben. Was kann
denn Der von alle dem, was uns Anderen Freude macht,
noch gebrauchen? Und was kann ihm noch Sorge
machen und Schmerz und Verluſt fürchten laſſen, nach
Allem, was er uns erzählt und wie er zu uns ge¬
ſprochen hat in dieſer Nacht? Der hat keines Menſchen
Hilfe und Troſt mehr nöthig, — auch Deinen nicht,
Karl. O, das iſt ein ſehr gefährlicher Menſch; jetzt be¬
greife ich wohl, daß hier in unſerer kleinen Welt
Niemand etwas mit ihm hat anfangen können, daß
[223] nirgends für ihn ein Ruheplatz geweſen iſt. Aber
iſt es ein Glück, ſo unverwundbar auf ſeinem Wege
durchs Leben zu werden wie dieſer, Dein Freund
Velten, der an Allem, was uns Anderen begegnen
mag, jetzt nur Antheil nimmt wie wir auf unſerem
Theaterplatz, einerlei, ob es das Luſtigſte oder das
Traurigſte, das Dümmſte oder das Klügſte, das
Häßlichſte oder das Schönſte iſt, was vor ihm
aufgeführt wird? Und was noch ſchlimmer iſt,
auch in ihm! Ich ſchwatze wohl thörichtes Zeug;
aber wie hätte ich in meinen Kreiſen je erfahren
können, daß es ſo etwas in der Welt geben kann?
Daß Menſchen über das Leben und den Tod, über
Alles, was uns Anderen wichtig, ſüß oder bitter iſt,
ſo ruhig werden könnten? Ach, Karl, der iſt doch
noch ganz anders, als wie Du ihn mir geſchildert
haſt. Und, weißt Du noch eins — eure arme
Leonie in Berlin, von der Du mir erzählt haſt, be¬
greife ich wohl; aber die Andere — die hier aus
dem Vogelſang, ganz und gar nicht. Wenn ſie,
dieſe Helene Trotzendorff, nicht doch nur, euch
närriſchen dummen Leuten gegenüber zum Trotz, eine
ganz gewöhnliche dumme Gans geweſen iſt, hat ſie
eine ſchwere Verantwortung auf ſich genommen. Ich,
für mein Theil, ich —“
„Nun, mein Herz?“
[224]„Ich hätte auf dieſen greulichen Menſchen ge¬
wartet und mein Recht an ihn nicht ſo leicht hinge¬
geben!“
Es war nach dem Begräbnißtage meines Vaters.
Die Kleine ſah nach all den ſchlimmen, wunderlichen
und abenteuerlichen Aufregungen, zwiſchen der er¬
löſchenden Lampe und dem kommenden Tageslicht
übernächtig, abgeſpannt, ja völlig unglücklich drein,
aber lächeln mußte ich doch über das mir ſcheu¬
trotzig zugerufene Wort. Sie aber ſprang auf aus
ihrer Sofaecke, blies die Lampe aus und rief:
„Ja, es iſt mir ganz einerlei, ob Du lachſt oder
brummig ſiehſt: Dein Freund Velten Andres gefällt
mir ausnehmend, und ich kann das um ſo ruhiger
ſagen, als ich hier gar nicht für mich ſpreche.“
„Und für wen?“
„Für uns Alle. Jawohl! Und da meine ich
etwa nicht bloß, wie Du mir natürlich abzuſehen
glaubſt, uns arme, in die Konvenienz gebannte
Frauenzimmer, denen da mal was Neues aufgeht,
ſondern euch mit, ja, euch Männer vor Allem! Wir
nehmen doch höchſtens ein etwas tieferes Intereſſe
an ſolch einem neuen Phänomen an unſerem be¬
ſchränkten Horizont; aber ich glaube, wäre ich ein
Mann, und noch dazu einer aus der hieſigen Stadt
und Geſellſchaft, ſo müßte ich dann und wann neidiſch
[225] auf ſolch einen übrigens im Grunde gräßlichen
Menſchen werden.“
Ach, und er war ſo gut, und hielt ſich ſo ſtill,
und that keinem ſeiner hieſigen Mitmenſchen was —
faſt ein volles Jahr im Vogelſang. Faſt ein volles
Jahr hindurch gab es in der faſt zur Großſtadt
herangewachſenen Reſidenz keinen kleinbürgerlicher
von ſeinen Renten lebenden Rentner (wenn auch nicht
in Schlafrock und Pantoffeln) als wie Velten Andres.
Das Intereſſe an ihm erloſch bald vollſtändig; wie
Mr. Charles Trotzendorff war er wahrlich nicht heim¬
gekehrt; übrigens wußte auch ſeine jetzige Nachbar¬
ſchaft im Vogelſang kaum noch etwas von Joſeph;
das heißt in dieſem Falle von dem Doktor Andres
und ſeiner Familie.
Gegen alle Schulfreunde und ſonſtige Jugendge¬
noſſen hatte er im Verkehr eigentlich nur das eine Wort:
„Schauderhaft müde.“
Wenn, er dann gähnend vielleicht noch hinzuge¬
ſetzt hatte:
„Ausſchlafen!“ und der gute Freund mehr und
mehr zu dem Bewußtſein gelangte, daß er ſeinerſeits
eigentlich nichts mitzutheilen habe; ſo war es denn
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 15[226] freilich für beide Theile das Beſte, wenn ſolche Unter¬
haltung nicht fortgeſetzt wurde, ſondern der Verkehr
überhaupt unterblieb. Helläugig, lebendig, wach und
das Spazierſtöckchen ſchwingend, ging dann der „Be¬
ſuch“, in der feſten Überzeugung:
„Wieder einmal Einer, der zu große Roſinen
im Sack hatte und nachher das gewöhnliche Pech im
Leben gehabt hat. Schade um den alten, lieben Kerl!“
Ich habe ſelber einigen ſolcher guten Leute von
dem Fenſterſtuhl der Frau Doktorin mit das Geleit
gegeben bis zu dem morſchen Thürchen in der letzten
grünen Hecke des Vogelſangs, ihnen, an dieſer Hecke
lehnend, nachgeſehen, und, wenn ich es konnte, meine
Gedanken haben dürfen über das Wachen und das
Schlafen in dieſer Welt.
Aber auch mir gegenüber verhielt der Freund
ſich ſchweigſamer, als es mir eigentlich recht ſchien.
Ich erfuhr über ſeine Erlebniſſe im Grunde jetzt aus
ſeinem Munde nicht mehr, als was er im Laufe der
Jahre darüber an ſeine Mutter geſchrieben hatte.
Auf einem Spaziergange gelangten wir auf dem
Oſterberge auch wieder einmal auf die Stelle, von
wo wir drei Kinder: er, Helene Trotzendorff und ich
einſt um den Laurentiustag die Sternſchnuppen fallen
ſahen und unſere Wünſche für das Leben gehabt hatten.
Ich erinnerte ihn daran und er legte mir die
[227] Hand gelaſſen auf die Schulter und ſagte ohne alle
Aufregung, ohne Lächeln, aber auch ohne Stirnrunzeln:
„Mir haben ſie ſo ziemlich Wort gehalten, die
fallenden Sterne. Einem beſcheidenen Gemüth wird
ſchon das Seinige zu theil, und weiß es ſich zu be¬
ſcheiden, wo es nicht anders geht. Was wünſchte
ich mir damals doch? Wenn ich nicht irre, den
Heckepfennig, den Däumling und das Tellertuch der
drei Rolandsknappen. Ich habe das Alles gehabt
und habe es noch, ſo weit es mir zum täglichen
Gebrauch nöthig iſt. Auf das Vergnügen, Perſepolis
in Brand zu ſtecken, verzichtet man, wenn man ſein
letztes Schulheft in den Ofen geſteckt hat. Auch ein
‚berauſchter Triumphtod zu Babylon‘ erſcheint mir
nicht mehr als das löblichſte Exit homo sapiens,
ab geht der Narr. Ich wünſche nüchtern zu ſterben,
oder wenn Du lieber willſt — vollkommen ernüchtert.
So eigenthumslos als möglich. Übrigens habe ich
ein gutes Gedächtniß und es war kaum nöthig, daß
Du mich eben auf dieſem Platze an jenen Sommer¬
abend erinnerſt. Auch von der Tonne des Diogenes
war ja wohl damals bei ſolch' einem fallenden Stern
die Rede? Nun, in der habe ich mich jetzt, der
alten Frau da unten zuliebe, in ihrem Ofenwinkel
gewälzt, oder wälzen dürfen. Man muß ſich Alles
gefallen laſſen, lieber Krumhardt. Und auch die
15 *[228] Menſchen nicht in ihren Illuſionen ſtören. Die alte
Frau da unten im Vogelſang zum Beiſpiel iſt noch
immer der Meinung, daß ihr Söhnchen die Welt
durch ſeine Thatkraft überwunden habe und weiter
überwinden werde. Die ſcherzhafte Idee, in mir
einen Helden meinem Vater und dem Vaterland,
der Hebamme und der Menſchheit überliefert zu haben,
hat ſie ſo manches Jahr durch und vorzüglich jetzt
während meiner längeren Abweſenheit ſo fröhlich
und heiter aufrecht erhalten, daß es eine Sünde
wäre, ihr die Illuſion zu nehmen. Hier hört auch
für mich das Spiel mit der Welt auf: das wäre ein
zu ſchlechter Spaß, Der nun noch als Wolke vor die
Abendſonne ziehen zu wollen! Beiläufig, ich habe
ihr einen ihr ausreichend imponirenden Haufen
Dollars auf den Tiſch gelegt, ſoll ich vor ihr nun
auch meine leeren Taſchen umwenden und ihr ſagen:
Mama, Du haſt vergeblich das letzte Grün aus dem
Vogelſang für das Geſchöpf, das auch ſehr, ſehr
Dein Geſchöpf iſt, für den dummen Jungen, Deinen
Velten feſtgehalten!? — Ich habe oft im Leben
Komödie ſpielen müſſen, vorzüglich in den letzten
Jahren, und wie der Kaiſer Auguſtus hätte ich mich
meiner Begabung dafür wohl rühmen dürfen: jetzt
und hier am Platz aber, dieſer alten Frau gegenüber,
fällt es mir ſchwer, das Wort vom Schlafen, dem
[229] Ausſchlafenmüſſen wie vor den Andern als ein
Scherzwort, und um Fliegen — wollte ich ſagen
Narren abzuwehren, feſtzuhalten. Nein, nein, die
Sonne iſt ihr übergenug verbaut worden; das Licht,
das ihr in ihrem ſtilltapfern, lieben, ſchönen Leben
von mir ausgegangen iſt, ſoll ihr nicht ausgehen, ſo
weit das an mir liegt! Sie ſoll ihre Freude an mir
behalten!“
Ich konnte dem Mann, über den alſo wirklich
Niemand etwas Genaueres wußte als ich, nur ſtumm
die Hand drücken; eine mündliche Erwiderung gab
es hierauf nicht.
Velten lächelte:
„Es war um das Jahr Siebenzehnhundertſieben¬
undſechzig und der größte Egoiſt der Litteraturge¬
ſchichte alſo achtzehn Jahre alt, da er ſeinem Freunde
Behriſch den Rath zuſang:
und er hat ſelber ſein Leben in Poeſie und Proſa
danach eingerichtet und es iſt ihm wohl gelungen.
Es war im Salon der Mrs. Trotzendorff als mir
beim zufälligen Blättern in allen möglichen Bilder¬
büchern jenes Wort des frühreifen Lebenshelden in
[230] Puder, Kniehoſe, ſeidenen Strümpfen und Schnallen¬
ſchuhen in dem rechten Augenblick wieder vor die
Augen kam. Unſer Dämonium bedient ſich viel
öfter als man merkt, ſolcher Mittelchen, um uns
unter die Arme zu greifen, ſowie auch um uns davor
zu behüten, uns lächerlicher zu machen, als unbedingt
zum Fortbeſtehen der Welt durch den Verkehr von
Hans und Grete nöthig iſt. Man kann auch von
einem achtzehnjährigen Jungen was lernen, zumal
wenn der Genius dem Bengel die Stirn berührt hat.
Es war der Geſellſchaftsabend, an welchem mir
unſere Kleine aus dem Vogelſang zum erſten Mal
ganz deutlich machte, was Alles zu einem elenden
Gut auf der wankenden Erde werden kann. Verſe
habe ich nie gemacht; aber die Fähigkeit habe ich
doch, im Komiſchen wie im Tragiſchen das momentan
Gegenſtändliche, wenn Du willſt, das Maleriſche, das
Theatraliſche jedesmal mit vollem Genuß und in
voller Geiſtesklarheit objektiv aufzufaſſen: ich habe
an jenem, der alte Goethe würde ſagen bedeutenden
Abend dem Papa Trotzendorff das Blatt aus ſeinem
Renommirtiſchexemplar geriſſen, es fein zuſammen¬
gefaltet und in die Bruſttaſche geſchoben. Manchen
Leck in meinem Lebensſchiff habe ich bis zum heutigen
Tage damit zugeſtopft, und — jetzt, meine ich, haben
wir die ſchöne Natur von dieſem Ausſichtspunkt aus,
[231] auf dem wir voreinſt unſere Wünſche an die fallenden
Sterne knüpften, genug bei hellem Tage beſehen und
wir können gehen.“
Wir gingen — ſtiegen noch einmal den Zickzack¬
weg am Oſterberge hinunter. Jetzt konnte da nicht
mehr Elly unter der Armenmannsbuche über eine
Wurzel ſtolpern und ſich eine blutende Naſe holen.
Der Weg war „planirt“ worden, und wo der ſchöne,
alte, morſche Baum ſeine Zweige über ihn geſtreckt
hatte, ſtand jetzt eine weiß geſtrichene Zinkfigur, eine
Nachbildung der Canovaſchen Hebe und daneben
deutete an einem anderen wohlgepflegten Pfade eine
Hand auf einer Tafel nach einem „Aſyl für Nerven¬
kranke“, deſſen Aufblühen in ſeinem Waldbeſitz am
Schluderkopf Vater Hartleben glücklicherweiſe auch
nicht mehr erlebt hatte und alſo auch nicht deshalb
keine Ruhe in ſeinem Grabe zu haben brauchte.
Um die ſpäte Nachmittagsſtunde war die Gegend hier
von Spaziergängern und Spaziergängerinnen recht
belebt. Es begegneten uns mehrere, die uns grüßten,
oder die ich zu grüßen hatte; und die öfters einen
Blick über die Schulter nach meinem Begleiter zurück¬
warfen. Daß uns Jemand begegnet ſei, der etwas
aus ihm „zu machen gewußt“ hätte, oder ihn nur
annähernd richtig in ſeine Lebensordnung und ſeine
Erfahrungen über menſchliche Zuſtände und Schickſale
[232] hätte einordnen können, habe ich nicht in den
Akten.
Am allerwenigſten konnte das mein Schwager
„Schlappe“, der uns auch entgegenſtieg, ſeinen Weg
ſich nach gewiſſen rothen und gelben Zeichen — Kur¬
zeichen — an den Bäumen regelnd, um ein ihm
gottlob nur hypochondriſch angeflogenes Herzleiden im
Keime zu erſticken.
„Siehe da, die beiden Seelenverwandten! Die
zwei Inſeparables aus der Voliere da unten, eurem
Vogelſang. Habe bei Deiner Mama über die ſtadt¬
bekannte, drollige letzte Hecke geſehen, Velten, und
mich über die liebe alte Dame wieder einmal recht
gefreut. Dieſe beneidenswerten Nerven! Unter der
Konzertmuſik aus dem Tivoli das fürſtliche Intelli¬
genzblatt zu leſen und ſich doch dabei freundlich nach
der Geſundheit eines Nebenmenſchen erkundigen zu
können! Und mit ſolchem Behagen auf dem Geſicht!
Wie befindeſt aber eigentlich Du Dich, alter Menſch
und Räthſel der hieſigen Menſchheit? Velten, verant¬
worten kannſt Du's beinahe nicht, wie Du die orts¬
angehörige Alltagswelt, ſo weit ſie noch zu Dir hin¬
reicht, intriguirſt. Man ſieht Dich nicht, man hört
Dich nicht, Du könnteſt allgemach die Wohlwollendſten
dahin bringen, ſich bei der Polizeidirektion nach Dir
zu erkundigen oder ſogar das edle Inſtitut auf Dich
[233] aufmerkſam zu machen. Kommen ſo die Welteroberer
nach Hauſe, oder iſt das nur eine neue Weiſe von
Dir, der Reſidenz das Problem zu löſen, wie man
Weltüberwinder wird?“
„Die älteſte, einfachſte und behaglichſte Weiſe,
ſowohl was die Welteroberung als was die Welt¬
überwindung angeht, lieber Rath bei der Regierung,“
ſagte Velten Andres.
„Man trägt ein Wort von Dir in der Stadt
herum über Ausſchlafenmüſſen,“ ſagte der Schwager.
„Der Freiherr von Münchhauſen beim ſeligen Land¬
gerichtsrath Immermann hat ein ähnliches. Nicht
wahr, Du machteſt mich neulich darauf aufmerkſam,
Karl? Unſereiner kommt ja zu dergleichen Lektüre
leider zu ſelten, und ich habe wirklich noch nicht Zeit
gefunden, in dem Buche nachzuleſen, inwieweit
Deine Redewendung uns gegenüber eine ſcherzhafte
Reminiscenz daraus iſt. Nun, Andres, vielleicht biſt
Du ſelber gelegentlich ſo freundlich, mir nähere Aus¬
kunft darüber zu geben. Aber ich habe die Herren
wohl ſchon zu lange aufgehalten; — ſo geht das eben
immer, wenn ältere Zeit- und Altersgenoſſen, Schul¬
bankgenoſſen, auf ſolchen altbetretenen Wegen ein¬
ander begegnen! Schönſten guten Abend, liebe Leute,
und meine Grüße an Deine Gattin, Krumhardt.“
Im Vogelſang ſaß auch ich noch ein Stündchen
[234] unter der Konzertmuſik aus dem Tivoligarten mit
dem Freunde und ſeiner Mutter. Er wußte jeden¬
falls ſein gefühllos gewordenes Herz wohl zu ver¬
bergen und auf der wankenden Erde an dieſem feſten
Punkte es wie vordem leichtbewegt in all den Lichtern,
Farben und Schatten, die Menſchen im wahrſten
Sinne miteinander verwandt machen, ſpielen zu
laſſen. Wie da der Schatten der hohen Brandmauer,
der jetzt von meiner Eltern und meinem Heimweſen auf
uns fiel, wieder ſich lichtete! Wie es wieder wie
Abendſonne aus unſerer, Veltens und meiner Kinder¬
zeit, und aus der Zeit, da Amalie, Agathe und
Adolfine auch noch Kinder, junge Mädchen, Bräute
und junge Frauen waren, durch Baumgezweig nur
tanzende Schatten auf die kleine Laube warf und
den Tiſch drin, auf welchem Veltens Vater noch ſeine
Rezepte für die ganze Nachbarſchaft unter dem Oſter¬
berg ſchrieb! Da war freilich auch wieder nicht die
Rede von großen Abenteuern; aber noch weniger
von einem Blatt, das in der fünften Avenue zu New
York aus einem Salontiſchbuch geriſſen worden war.
Da gewann eine liebe Vergangenheit ihr Recht wieder
und behielt es für eine gute Stunde von Neuem mit
ſeinem: Weißt Du wohl noch, Mutter? und ihrem: Denkt
ihr wohl noch daran, ihr böſen Jungen? — Der
Nachbar Hartleben kommt in Hausſchuhen mit der
[235] letzten Anklage gegen den Schlingel, den Velten, über
die Gaſſe, um ſich von der Frau Doktern das Ver¬
ſprechen abnehmen zu laſſen, ſeiner „Madame“ Trotzen¬
dorff die Miethe zu ſtunden und ihr eine neue Tapete
in die Wohnſtube zu kleben. — „Und nun das
Wurm da,“ brummt der Nachbar, „ja, Frau Nach¬
barin, da drückt es ſich an Sie an und macht
fromme Augen, als ob es noch niemalen ein Wäſſer¬
lein getrübt und heute meinen Pudel friſirt hätte.
Ich hätte Ihnen das Vieh mitgebracht, aber es
ſchämt ſich ſeiner Verunſtaltung, daß es kein Prügel
und keine Bratwurſt unterm Sofa hervorkriegen.
Mit ihrer Mutter Putzſchere iſt die Krabbe daran
geweſen und hat das Beeſt verſchnitten, daß kein
Menſch es mehr herauskriegt, wo es in der Natur¬
geſchichte hingehört. Jawohl, Frau Doktern, Gottes
Lohn reicht hier nicht aus, da müſſen Sie ſchon das
Ihrige dazu gethan haben, auf daß ich mir ſolche
angenehme Inquilinenſchaft von einem Jahre ins
andere gefallen laſſe und ſogar noch dankbar bin.“
— Wir ſind Kinder — junges Volk — und das
ſchönſte Mädchen des Vogelſangs lehnt ſich als Jung¬
frau über Veltens Mutter: „Bei Dir bleibe ich
auch in der weiteſten Ferne und bitte, bitte, nimm
es Mama nicht übel, was ſie Dir heute wieder geſagt
hat, nach dem Briefe von Papa. Sie kann ja nichts
[236] dafür, daß wir nirgends recht hinpaſſen. Ich auch
nicht, liebſte, beſte Tante Andres! Und ich durch
Deine Güte und Liebe und Barmherzigkeit noch
weniger als Mama!“ . . .
Ja, weißt Du noch, Velten? Erinnerſt Du Dich
wohl noch daran, Krumhardt? — „Wie ſteht es denn
mit euren Schularbeiten für morgen, Jungen, wenn
ich fragen darf?“ Es iſt mein eigener braver, ſorg¬
licher Vater, mein ſeliger Vater, der in Schlafrock und
Hauskäppchen mit der langen Pfeife an die Hecke ge¬
kommen iſt, wo jetzt die hohe Brandmauer des Nachbar¬
hauſes ſich erhebt. Und meine Mutter mit dem Strick¬
zeug in der Hand und dem Garnknäuel unterm Arm
kommt auch unſerer Laube heran. Es iſt mehr und
mehr wie eine Wiederbringung im Fleiſch für den
Vogelſang: in Fleiſch und Blut, mit jedem Geſtus
und Tonfall ſind ſie wieder da bei der Frau Doktorin
Andres, Alle ſind ſie wieder heraufgeſtiegen und —
am lebendigſten für den Mann neben der heiter¬
ſchönen Greiſin, der auf ſeiner Bruſt das Blatt trägt
mit dem erſten Vers der dritten Ode an Behriſch:
und im grimmigſten Ernſt ſein Leben nunmehr darauf
eingerichtet zu haben glaubt.
[237]
Wenn ich dann nach Hauſe komme, finde ich
vielleicht meinen Schwager bei meiner Frau ſitzen,
und er fragt mich:
„Nun ſage mir, haſt Du noch immer nicht genug
von dieſem maulfaulen, bodenlos langweiligen, gänzlich
verödeten Patron, dieſem Miſter, Senhor oder Mon¬
ſieur Andres, Deinem Freund Velten? Sieh mich
nur, bitte, nicht in der veralteten, vorwurfsvollen
Weiſe an, lieber Krumhardt; auch das intenſivſte
Dankbarkeitsgefühl muß ſich allmählich einem ſolchen
unnahbaren, unfaßbaren, ewig gähnenden und ewig
grinſenden Burſchen gegenüber abſtumpfen. Weiß
der Himmel, wir ſind ihm ſeiner Zeit mit den mög¬
lichſten Avancen nahe gegangen; aber wie er uns
jetzt heimgekommen iſt, möchte ich doch manchmal
wünſchen, es habe mich damals ein Anderer aus der
kühlen Pfütze heraufgeholt, und ich dürfe ihm, ohne
im nächſten Abendblatt auf die Eſelswieſe getrieben
zu werden, ſagen: Menſch, laufen Sie mir noch
einmal in den Weg, ſo mache ich den Verein für
öffentliche Geſundheitspflege auf Sie aufmerkſam und
denunzire Sie als endemiſch gefahrbringend.“
Er war nicht ohne Witz, mein armer ſeliger
Schwager Schlappe. Durch ein Herzleiden iſt er uns
nicht entriſſen worden vor einem Jahre.
[238]
Ich nehme wieder einmal über dieſen Blättern
die Stirn zwiſchen beide Hände und wundere mich
von Neuem und ſuche es mir zurecht zu legen,
weshalb und warum in dieſer Weiſe ich ſie, nun
ſchon durch ſo manche lange winterliche Nacht, mit
ſolchen Zeichen und Bildern fülle.
Da iſt mir aber heute aus Leſſings litterariſchem
Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf
welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über ſeinen
„Ungenannten“ ſchreibt:
„Ich habe ihn darum in die Welt gezogen,
weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem
Dache wohnen wollte.“
Ich glaube das iſt's! — Oder doch ähnlich ſo.
Mein ganzes Leben lang habe ich mit dieſem Velten
Andres unter einem Dache wohnen müſſen und er
war in Herz und Hirn ein Hausgenoſſe nicht immer
von der bequemſten Art, — ein Stubenkamerad, der
Anſprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der
Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen
waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den
ganzen Seelenhausrath des ſoliden Erdenbürgers ver¬
ſchoben, daß kein Ding anſcheinend mehr an der
rechten Stelle ſtand. Ich hatte es verſucht — wer
weiß wie oft! — während er draußen ſich umtrieb
und ich zu Hauſe geblieben war, ihn auf die Gaſſe
[239] zu ſetzen. Das war vergeblich, und nun — da er
für immer gegangen iſt, will er ſein Hausrecht feſter
denn je halten: ich aber kann nicht länger mit
ihm allein unter einem Dache wohnen. So
ſchreibe ich weiter. —
Mein erſter Junge wurde mir geboren, und ich
bat ſelbſtverſtändlich Velten zu Gevatter; er aber
lehnte die Pathenſchaft ab, der kirchlichen Formeln
wegen, die damit verknüpft ſind.
„Kann ich dem Geſchöpf irgend einmal in ſeinem
Leben nützlich ſein, was ich übrigens, der Ver¬
ſchiedenheit der Jahre wegen, bezweifle, ſo wird das
gern geſchehen,“ ſagte er. „Ausgeſchloſſen iſt's ja
nicht, daß wir einmal einander ſpäter im Leben be¬
gegnen und eine Strecke miteinander gehen; kann
er mich dann gebrauchen, ſo ſoll er den Freund ſeines
Vaters an mir finden. Jetzt nenne ihn nur ruhig
Ferdinand nach Deinem Schwager Schlappe. Das
und Du genügen, um ihm aus den Windeln in die
Hoſen zu helfen. Deine kleine, gute Frau haſt Du
auch wohl nicht gefragt, ob ſie wirklich und auf¬
richtig mich für ihr Würmchen als einen wünſchens¬
werthen Führer und Begleiter, ſowohl im wilden
Walde der Welt, von dem ſie gottlob nichts weiß,
als auch im hieſigen geregelten Lebensverkehr, den
ſie zu eurem Glück ausgezeichnet kennt, in die
[240] Standesamtsliſte und das Kirchenbuch eingetragen
ſehen möchte? Ich bezweifle beides — Deine Anfrage
und ihre Zuſtimmung.“
Was das eine anbetraf, irrte er ſich, bei dem
andern hatte er nicht Unrecht.
„Herz,“ war ich gegengefragt worden, „haſt Du
Dir das ganz genau überlegt? Der Name Valentin
ſchon iſt jetzt ſo ungewöhnlich, und — Velten! . . .
Velten! Ach, wenn nur nicht von dem Namen gerade
hier in der Stadt und in meiner Familie immer ſo
wunderlich die Rede geweſen wäre! Ich habe ja
wahrhaftig nichts gegen Deinen Freund — im Gegen¬
theil, Du weißt es ſelbſt, wie intereſſant er mir iſt,
weil Alles, wenn er zu Beſuch kommt, Alles, worauf
die Rede kommen mag, in Façon und Farbe ſo ganz
anders iſt, als wie ich und wir in unſeren Kreiſen
es bis jetzt geſehen haben. Du biſt ja auch und doch
ein guter, verſtändiger Menſch und mein lieber Alter
geblieben, trotzdem er Dein beſter Freund von Kindes¬
beinen an iſt — nein, nein, nein, in der Hinſicht
habe ich gar keine Befürchtungen, aber komm und
ſieh Dir das Kind an — bitte, komm und ſieh es
mit den Fäuſtchen vor ſeinem Herzensmäulchen im
Schlaf in ſeinem Bettchen, und bitte, bitte, laß es
nicht Velten taufen! Er iſt ja ſo gut und klug und
edel, Dein Freund; aber hart iſt er doch, oder doch
[241] hart geworden in ſeinem Leben, und ich möchte mein
Kind, unſern lieben Jungen, doch hier bei uns be¬
halten, in unſerm gewöhnlichen gewohnten Leben —
ich weiß nicht, wie ich es ſagen und ausdrücken ſoll,
aber ich könnte jetzt das arme Würmchen nicht Velten
rufen, und es ſpäter mal als alte Frau ſo nach Hauſe
kommen ſehen, wie die herzige alte Frau, eure Frau
Doktor aus dem Vogelſang, Deinen Freund Velten!“
Selbſtverſtändlich hat mein Schwager Ferdinand
meinen Erſtgeborenen über die Taufe gehalten. —
Und nun habe ich es auch mir ſelber wieder
deutlich zu machen, wie es zuging, daß ich eigentlich
nichts von Bedeutung über ſeinen letzten Aufenthalt bei
uns in der Heimathſtadt zu den Akten bringen kann,
als eben ſein abermaliges und letztes Weggehen aus ihr.
„Das macht ſich ſo!“ ſagen die Leute, und ich habe
auch für mein Theil nichts in der Hand, womit ich
mich gegen dieſes Wort urälteſter menſchlicher Er¬
fahrung wehren könnte.
Es machte ſich auch zwiſchen Velten Andres und
mir ſo. — Er hatte mir wenig zu ſagen; ich ihm
eigentlich gar nichts. Meine Amtsgeſchäfte vermehrten
ſich gerade in dieſem Sommer ſehr, und dazu kam
das Kind im Hauſe, dem gegenüber er ſich auf einen
Standpunkt ſtellte, auf den ihm meine Frau noch
weniger als auf irgend einen anderen folgen konnte.
[242]
„Wenn er ſich gar nicht um es bekümmerte,
wollte ich gar nichts ſagen,“ meinte ſie oft voll¬
ſtändig entrüſtet. „Das kann man von euch Manns¬
leuten eben nicht verlangen, wenn ihr nicht zufällig
perſönlich dazu gehört. Aber die Art und Weiſe wie
er es mir aus den Kiſſen nimmt und es mir von hinten
und vorn beſieht und die Naſe rümpft und läſter¬
lich lacht und den Kopf ſchüttelt und ſeine Reden
und Redensarten dabei, die laſſe ich — die laſſen
wir — wenigſtens Ferdy und ich uns lieber nicht
gefallen. Und daß Du das oft ſo ruhig anhörſt,
Männchen, begreife ich auch nicht. So ein armes,
herziges Geſchöpfchen und noch dazu vor ſeiner Mutter
Ohren, einen Ausbund von einem Eſel, einen Narren
zu nennen, der auch beſſer gethan hätte, zu bleiben,
wo er war, das ſchickt ſich nicht, und mein Bruder
Ferdinand mit ſeinen dümmſten Witzen iſt mir immer
noch lieber, als dieſer Dein Freund, dem, leider
Gottes für ihn! ſein Spaß ſo bitterer Ernſt iſt, daß
ich ihn bedaure und mir ganz ſchlecht zu Muthe wird
und ich ihm meinen Jungen ſofort aus den Händen
riſſe, wenn er ihn, Gott ſei Dank, nicht von ſelber
gleich wieder hergäbe!“
Eine Frau, die einen Freund ihres Mannes
nicht an der Wiege ihres Kindes leiden kann, iſt
ein gewaltig hindernder Faktor in ſo einem Verkehr
[243] von Haus zu Haus: ich erinnere mich nur eines
einzigen freundlichen Sonnabendnachmittags, an
welchem unſer Kinderwagen auch in die letzte Garten¬
laube der Nachbarſchaft des Vogelſangs hineinge¬
ſchoben wurde, um meiner Frau zu dem Ausrufe zu
verhelfen:
„O Gott, dieſe liebe alte Dame! Iſt es denn
eine Möglichkeit, daß die Deinen Freund Velten ſo
in den Armen gehalten und ſo abgeküßt hat, wie
ich unſern Ferdinand, ſowie wir wieder zu Hauſe
ſind?“ —
Es war ſo um die Mitte des Septembers ge¬
worden. Seit vierzehn Tagen oder drei Wochen
hatten wir uns wieder einmal nicht in unſeren
Wohnungen aufgeſucht, waren uns auch auf Spazier¬
wegen nicht begegnet, als mich an einem warmen,
ſtillen Spätnachmittage plötzlich ſo ein Gefühl über¬
kam, als ſei ich ſchuld hier an einem Verſäumniß
und als brauche man im Vogelſang keine der mir
möglichen Entſchuldigungen gelten laſſen. Dieſes
Gefühl wurde ſo peinlich, daß ich ganz ärgerlich nach
dem Hut griff mit einem: „Dieſer Menſch hat doch
wahrhaftig mehr Zeit als Unſereiner!“
Ich ging zu ihm und — ſchickte nach einer halben
Stunde einen Boten zu meiner Frau mit der Benach¬
16 *[244] richtigung, daß ſie mich nicht zum Abendthee zu er¬
warten habe; vielleicht werde ich auch ein wenig ſpät
in der Nacht erſt heimkommen. Was ſollte ihr
mit ihrem Kindchen an der Bruſt ſolch ein ſpätabend¬
liches Erſchrecken für eben dieſe Nacht? —
In dem alten ſchmalen Buchsbaumgang kam mir
der Freund von dem Häuschen zu der letzten grünen
Hecke unſerer Jugendzeit entgegen, mit dem Geſicht,
das er aller Welt machte, nachdem er ſich wieder bei
uns „eingewöhnt“ hatte. Und ſolch ein Geſicht läßt
ſich denn auch einem guten oder beſten Freunde gegen¬
über nicht leicht in andere Falten legen.
„Sieh, das iſt freundſchaftlich von Dir,“ ſagte
er. Ich blickte nach dem offenen Fenſter der Frau
Doktorin hin und da ſie mir nicht wie gewöhnlich
freundlich von dorther zunickte, fragte ich, wie man
ſo fragt:
„Was macht die Mutter?“
„Auch die wird ſich freuen, Dich zu ſehen!“
und ſo ſchüttelten wir uns die Hände und ſchritten
dem Hauſe der Nachbarin Andres zu. „Noch einmal
zu ſehen, wäre wohl das richtigere Wort, lieber
Alter!“ ſagte Velten Andres und dabei faßte er
freilich meinen Arm wie mit eiſernem Griff — wie
um mich bei ſich feſtzuhalten und aufrecht in meinem
Erſchrecken, und ſah nicht dabei drein wie Einer, der die
[245] Welt für einen guten oder — ſchlechten Spaß hält,
unter allen Umſtänden aber nur für einen Spaß!. . .
„Die Mutter — Deine Mutter —“
„Es geht ihr ſeit acht Tagen nicht zum Beſten,
doch ſeit geſtern —“
„Hat es ſich zum Beſſeren gewendet? Aber
Menſch, und wir haben von alledem nichts gewußt?
Wie unrecht das von euch geweſen iſt. Ihr wißt
doch, welche Theilnahme —“
„Die alte Nachbarſchaft ſich ſchuldig iſt.
Selbſtverſtändlich! Es war ihr freundlicher Wille.
Weshalb wollen wir die lieben Leutchen in ihrem
Behagen beunruhigen? meinte ſie und hatte Recht,
wie immer in ihrem ſonnigen Leben. Es iſt ein
altes Unterleibsleiden, das ſich von Neuem gerührt
hat; aber es hat ſich in der That jetzt zum Beſſeren ge¬
wendet. Komm alſo und ſieh ſelber. Ich habe unter
meinen beſonderen Freunden, den Chineſen in San
Franciſco eine Zeitlang als Ati Kambang, zu Deutſch
der Herr Sanitätsrath, eine Rolle geſpielt. Ja, ſie
iſt auf gutem Wege!“
Ich verbiß, was ich von Unbehagen, Selbſt¬
vorwürfen und Ärger über den Menſchen an meiner
Seite in mir hatte, und trat wieder einmal über die
ausgetretene liebe Schwelle des „Doktorhauſes“ des
einſtigen Vogelſangs.
[246]
Was für Schatten von draußen jetzt darauf
hinfallen, was für Töne auf es hineinkreiſchen mochten,
im Innern nichts verändert! Alles an ſeinem Platze
wie vor Jahren. Da des Freundes Schülerpult
neben dem Schreibtiſch des Vaters. Sein Bücherbrett
mit den abgegriffenen Schulausgaben der lateiniſchen
und griechiſchen Klaſſiker und der Weihnachts- und
Geburtstagslitteratur von Robinſon über den Steuer¬
mann Sigismund Rüſtig und die Lederſtrumpf¬
erzählungen bis zu den billigen Schillerausgaben der
deutſchen Klaſſiker. An den Wänden zwiſchen und
neben den Familienphotographien und was ſonſt ſich
da zu finden pflegt, die ſelbſtgefertigten Glaskaſten
mit den Käfer- und Schmetterlingsſammlungen des
letzten Velten Andres. Lauter Dinge und Sachen,
die mir heute noch lebendiger ſind, als der Inhalt
meines eigenen Hauſes und der Stube, in welcher
ich in dieſer Nacht dieſes aus meinen Akten her¬
vorhole, um es revidirt ihnen von Neuem beizu¬
fügen!
Wie hatte ſich in den paar Tagen, da ich ſie
nicht gehört hatte, die theure, wohlbekannte Stimme
verändert, die mir aus dem hinter der Familienſtube
gelegenen Schlafzimmer entgegenklang!
„Velten! — um Gottes willen —“
„Aber Du biſt noch da, Junge? Der Zug geht
[247] um ſechs Uhr. Steh auf, Velten, um ſechs Uhr geht
der Zug. Der Zug geht um ſechs Uhr und Du mußt
noch packen. Steh auf, Junge, der Koffer ſchließt
nicht recht, Du mußt aufſtehen, Velten, der Zug geht
um ſechs Uhr. Du mußt Deine Reiſetaſche packen,
Velten. Junge, um ſechs Uhr geht der Zug!“
„Seit geſtern beſchränkt ſich hierauf ihre ganze
Vorſtellungsfähigkeit und ihr Ausdrucksvermögen. Sie
hat ihr ſchönes, heiteres Leben durch ſtill geſeſſen;
nun ergreift auch ſie die Unruhe. Wir Menſchen in
ihrem jetzigen Zuſtande haben das dann und wann
ſo an uns, daß wir für uns oder Andere zur Reiſe
zuſammenpacken laſſen, oder ſelber zuſammenpacken,
gerade wenn die Fahrt zu Ende, der Weg zurück¬
gelegt iſt. Tritt näher und ſetze Dich, Du ſtörſt ſie
nicht durch Deinen Beſuch.“
„Armer Freund.“
„Ja, ſo verflüchtigt ſich auch dieſes liebe Bild!“
„Aber Junge, Junge, Du verſäumſt den Zug,
wenn Du nicht aufſtehſt! Steh auf, Velten! Packe
Deinen Koffer, um ſechs Uhr geht der Zug. Packe
Deine Reiſetaſche,“ klang es aus den Kiſſen der
Sterbenden, und die Wärterin, eine mir auch wohl¬
bekannte alte Freundin aus dem Vogelſang, Riekchen
Schellenbaum, meinte:
„Sie iſt nur ein bißchen unruhig, die Frau
[248] Doktern, aber Schmerzen und Ängſten hat ſie gottlob
weiter nicht mehr, Herr Velten.“
„Jawohl, das ſind nun alle ihre Sorgen, Krum¬
hardt, daß ſie mich zur rechten Zeit aus dem Bett
kriegt, daß ich meine Reiſetaſche, meinen Koffer packe,
nichts vergeſſe und den Zug zum Glück nicht ver¬
ſäume,“ ſagte der Sohn, ſich über die Mutter beugend
und leiſe und zärtlich ihre Hand nehmend.
„Velten, Velten, Du verſäumſt wahrhaftig den
Zug, wenn Du nicht aufſtehſt und Deinen Koffer
packſt! Sieh, da kommt die Sonne ſchon!“
Leiſe ſtrich der Sohn über die Stirn der Mutter
und wendete ſich zu mir:
„Das letzte war ein neues Wort. Die anderen
wiederholt ſie, wie geſagt, ſeit anderthalb Tagen.“
„Das wird ein ſchöner aber heißer Tag,“ mur¬
melte die Sterbende mit einem leiſen Seufzer und
dann blieb ſie ſtill und ſchien in einen ganz vor¬
ſtellungsloſen, traumfreien Schlaf zu ſinken, nur daß
ihre Athemzüge ſchwerer und ſchwerer wurden.
„Einer der Schlimmſten, die ich geſehen habe,
war der alte Hartleben, Herr Velten,“ ſagte, wie um
ein tröſtendes Wort dazu zu geben, Riekchen Schellen¬
baum. „Dem kam der ganze Schluderkopf, ich meine
ſein Waldbeſitzthum dran, in ſeinen letzten Tagen und
Nächten über den Leib. Lauter gefällte Stämme!
[249] und Alles wollte über ihn hinrollen. Ja, das war
ein ſchwerer Kampf! Aber, wie Herr Andres ganz
richtig ſagen, das ſind ſo unſere Phantaſien.“
„Das Lungenödem wird wohl erſt in der Nacht
eintreten,“ ſagte Velten. „Ihr Tag iſt zu Ende,
und es iſt ein ſchöner, ruhiger und vor Allem nicht
zu heißer Tag geweſen. Alle ihre Sorgen ſind von
mir gekommen: dies, daß ich auch jetzt die Zeit nicht
verſäume, war nun ihre letzte. Ob das animaliſche
Herz nun ein wenig ſchneller oder langſamer erlahmt,
iſt wohl von keiner Bedeutung. Mutter! meine
Mutter! Liebe, alte Mutter, Du mein einziger,
wirklicher Freund, was habe ich Dir heimgebracht
als meine Kunſt, auch vor Dir Komödie ſpielen zu
können und Dir Deinen freundlichen Daſeinstraum
nicht zu ſtören? Ja, ja, Freund Carlos, und auch
ich kann ſagen, daß ich meine Rolle dieſes letzte
Jahr durch gut durchgeführt habe: ſie ſchläft ein in
der Gewißheit, mich mit einem Herzen ſo reich, ſo
leichtbewegt, ſo feſt, ſo ſiegesſicher, ſo unverwundbar
wie das ihrige zurückzulaſſen . . .“
„Velten!“
Er wendete ſich zu der greiſen, ſechzigjährigen
Wärterin, dem „Riekchen Schellenbaum“ all unſerer
Nachbarfamilien, mit einem ſtummen Wink; dann
nahm er mich am Arm und führte mich aus der
[250] Kammer fort und bot mir eine Cigarre an. Er
zündete eine an, und ſo lehnten wir wieder in dem
kleinen Garten an der letzten grünen Hecke unſerer
Jugendzeit. Ich fröſtelnd in dem kalten Mauerſchatten
von meiner Eltern Anweſen her, und ohne zu wiſſen,
was ich ihm ſagen ſollte. So ſprach denn auch ich,
wie unbewußt und nicht zu ihm, ſondern für mich
den furchtbaren Rath:
„Der ſchickte ſeine Vulpius nach Frankfurt am
Main, um den Hausrath ſeiner Mutter zu verſteigern;
aber der Thor hatte ſelbſt ſich ſchon längſt einen
neuen geſammelt und ſammelte weiter daran, um
ihn Erben zu hinterlaſſen, denen er ſchwer auflag.
Ja, ſo ſeid ihr, Karl Krumhardt! Du haſt es
ebenfalls recht behaglich in Deinen ſicheren vier
Wänden und doch aus dem alten, verſchwundenen
Neſte, weiland hier zur Linken, manches mit in das
neue Haus hinübergenommen, was Kindern und
Kindeskindern dereinſt ſchwer aufliegen wird.“
Nun wendete er ſich von der lebendigen, ſtaubigen,
gemeinen Vorſtadtgaſſe ab und gegen ſein Elternhaus,
ſagte jedoch weiter nichts: ich aber habe oft, oft an
ſeinen Blick und die begleitende Bewegung mit der
[251] lahmen Linken damals denken müſſen, und jedesmal
waren dann meine vier ſicheren Wände drohend,
beängſtigend auf mich eingerückt, es war mir bänglich
und aſthmatiſch zu Muthe, ich traute auch dem zier¬
lichen Stuck des Plafonds nicht: ja, ich fühlte mich
dann jedesmal recht unbehaglich in meinen vier
Pfählen und im Erdenleben überhaupt.
Er hatte Recht gehabt, der Freund. Am ſpäten
Abend war das Todesathmen eingetreten und gegen
vier Uhr Morgens hatte ſich auch „dieſes liebe Bild
verflüchtigt“. Wer kann ein Lächeln, den Klang
einer Stimme, das Neigen einer Stirn, die Bewegung,
den Druck und die Wärme einer Hand in den —
Akten feſthalten?
Als ich gegen neun Uhr zu Velten kam, fand
ich ihn ruhig bereits mit den nöthigen Vorbereitungen
und Formalitäten zur Beerdigung beſchäftigt. Ich
wollte ihn, auch im Auftrage meiner Frau, aus
ſeinem leeren Hauſe mit in unſere Gaſtzimmer
nehmen, aber er wollte nicht. Lächelnd wies er die
dringende, wiederholte Bitte ab.
„Ich bin euch dankbar, Kinder,“ ſagte er, „und
könnte wohl auch kommen, wenn die Kleine jetzt nicht
[252] ihren Buben hätte. Soll ich eine karthagiſche Mutter
aus ihr machen, die ihr Wurm dem Moloch opfert?
Ich glaube, ſie ſähe es in meinen Armen ebenſo
gern, wie in denen des feurigen Götzen. Sie hat
mich nach braver Frauenart zu gut kennen gelernt
im Laufe der letzten Zeit, und ich müßte doch wohl
einmal mich über eure Wiege beugen und dem
Jungen den Finger hinhalten. Weißt Du, Karl,
wir wollen der Guten ſolches Schwanken zwiſchen
Freundſchaft und Mißtrauen, zwiſchen Neigung und
Abneigung erſparen. Und übrigens iſt auch Die da
nebenan in ihrem ſtillen Frieden mir immer auch noch
Geſellſchaft und zu Rath und Troſt da. Wir danken
euch beſtens, alter Freund; aber laßt uns nur unſere
letzten Zwiegeſpräche in dieſen Tagen allein mitein¬
ander halten. Wir haben noch Einiges miteinander
abzumachen, wobei ſelbſt die freundlichſt und freund¬
ſchaftlichſt geſinnten Dritten nur fremd wirken können.“
Dagegen war nichts zu ſagen; aber ein Achſel¬
zucken eigentlich auch nicht recht angebracht. Ich
ſah alſo den Freund nur am Begräbnißtage wieder.
Wir gaben auch der Frau Doktorin Amalie
Andres die letzte Ehre, — diesmal ein kleines Geleit,
doch um das Grab eine gar ehrenvolle Corona:, die
älteſten und älteren Leute (meiſtens geringen Standes)
aus dem Vogelſang, die noch die ganze Nachbarſchaft,
[253] wie ſie da jetzt unter ihren Hügeln ſchlief, im Leben
gekannt hatten. Und Manche kamen mehr oder weniger
ſcheu heran und gaben Velten und mir die Hand
und ſagten: „Das war eine liebe Frau, die Frau
Mutter und erſt der Herr Vater, der Herr Doktor,
Herr Velten! Bei uns Alten behalten ſie ihr An¬
denken, wie ſie jetzt da ſo bei einander liegen nach
Gottes Willen, und nun nehmen Sie es ſich nur
nicht zu viel zu Herzen, Herr Velten, Herr Andres!“
Kinder ſpielten jetzt nicht mehr an Mondſchein¬
abenden auf dem Friedhofe des Vogelſangs. Es
war eine hohe, ſolide Mauer um ihn gezogen worden,
ein ſchweres, eiſernes Gitterthor ſperrte ihn ab und
eine ſtrenge Kirchhofsordnung regelte den Beſuch.
Und —
Der Morgen nebelig und grau und regendrohend
— der erſte Herbſttag des Jahres — werde ich je
einen Leſer haben, kann ich ihn auf eine Seite zu
Anfang dieſes Aktenkonvoluts verweiſen, wo die
Sphinx auch auf dem Kirchhofe des Vogelſangs nur
vor dem mondbeglänzten, romantiſchen Zauberſchloß des
Daſeins lag, nicht vor dem Leben ſelbſt, vor Beth-
Chaim, dem „Hauſe des Lebens“.
[254]
„Der Jude oder ſemitiſche Hellene hat von ſeinem
Recht als Poet Gebrauch gemacht, als er, wie mir
anderen Proſaiker auch, die löwentatzige Belle aux
énigmes vor die falſche Thür als Hüterin und
Räthſelaufgeberin legte,“ ſagte Velten, als wir auf
dem Heimwege vom Kirchhofe auf jene unſere Kinder¬
ſpiel- und Mondſcheinabende kamen.
Als ich ihn dann noch einmal aufforderte und
dringender bat, wenigſtens jetzt meine Gaſtfreundſchaft
anzunehmen, erwiderte er:
„Ich bin da wirklich nichts nutz. Man nimmt
zu leicht Leute, ohne es zu wollen, auf Wege mit, wo
ſie nicht hingehören; und Du haſt einen großen und
angenehmen Verkehr, den ich nicht gern ſtören möchte.
Aber, lieber Alter, Du ſelber wirſt mich nie ſtören:
weißt Du, komm Du zu mir! Auch ich glaube dem¬
nächſt für die beſte Geſellſchaft und angenehmſte
Unterhaltung ſorgen zu können.“
Er blieb alſo in ſeinem Häuschen, und als ich
ihn natürlich ſchon am folgenden Tage wieder dort
aufſuchte und nach ſeinen Plänen für die weitere
Zukunft fragte, meinte er lächelnd:
„Die iſt geſichert. Beruhige Dich und Alle, die
Intereſſe daran nehmen, in dieſer Hinſicht völlig.
Gerade nicht hier am Ort, doch habe ich gerade am
Ort hier die ſchönſte Gelegenheit, ſie noch ſicherer zu
[255] ſtellen, ich erwarte nur noch das erſte Ofenfeuer
dazu.“
„Das erſte Ofenfeuer?“
„Mir iſt niemals ein Winter zu meinem Fort¬
kommen im Leben mehr zu paß gekommen, als wie
der diesjährige. Jawohl, demnächſt heizen wir,
Krumhardt.“ —
Ja, und er iſt ſo gut wie ſein Wort geweſen.
Als das Wetterglas ſeines Vaters nach Reaumur
unter zwölf Grad in der Wohnſtube ſeiner Eltern
ſank, fing er an zu heizen, und zwar mit ſeinem
Erbtheil aus und vom Vogelſang. Er heizte mit ſeinem
Hausrath.
Es war Riekchen Schellenbaum, die am Tage
nach dem erſten Ofenfeuer nicht zu mir, ſondern zu
meiner Frau mit der Nachricht kam:
„Mit der ſeligen Frau Doktern ihrem Nähtiſch
hat er angefangen. Ich bin faſt des Todes ge¬
worden als er ihn im Hofe entzweiſchlug und mich
mit den Beinen Feuer anmachen ließ. Mit den
Schubladen und Allem, was drinnen war, hat er
ſelbſt weiter geheizt! Der arme Herr! O, wenn doch
der Herr Aſſeſſor mal kommen würde und nach ihm
ſehen! Heute Morgen hat er des ſeligen Herrn
Vaters Schreibtiſch von der Wand abgerückt, und ich
[256] bin auch nur in der Stadt, weil er mich um eine
Säge hineingeſchickt hat.“
„Du weißt, wie ich ihm entgegengekommen bin,
Karl!“ rief meine Frau. „Ich habe ganz gewiß
mein Möglichſtes gethan, um ihn Deinetwegen gern
zu haben; aber hat mich nun mein innerliches Ge¬
fühl getäuſcht? Jetzt magſt Du ſagen, was Du willſt,
ich ſage: großer Gott, wie kann nur ein Menſch ſo
ſein wie dieſer, Dein Freund? Und Dem haſt Du
Dein Kind, meinen armen Jungen am Altar in die
Arme geben wollen! O Gott, wie kann ein Menſch,
ich meine, Gott ſei Dank, nicht Dich, ſo ohne alles
Gefühl ſein?“
„Es iſt ein unbezahlbarer Menſch,“ meinte
Schlappe, der dazu kam, lachend. „Ob er je zu
irgend einer Zeit ſeines Lebens recht bei Troſte ge¬
weſen iſt, weiß ich nicht; aber ſage mal, Schwager,
würde es unter dieſen neuen Schnurren nicht doch
zu Deiner Freundespflicht werden, ihn unter Kuratel
ſtellen zu laſſen? Eure Familie hat ja wohl ſchon
ſeit Generationen das Onus, das Haus Andres zu
bevormündeln?“
Ich war den Tag über wirklich nicht in meiner
Schreibſtube zu entbehren und hatte mich durch viel¬
fachen und vielfarbigen Menſchenverdruß, und viel
Menſchenangſt und Elend durchzuarbeiten, aber ich
[257] wurde ihn nicht aus dem Sinne los, ja, um deſto
weniger aus dem Sinne los, je mehr ſich mir des
Menſchenthums Anhängſel aufdrängten. Es waren
meiſtens wieder nur Eigenthumsfragen, zu denen auch
ich mein löſendes Wort geben ſollte, und das Gezerr
und Gebelfer, der Grimm und Hohn, mehr oder
weniger unter der Maske des dem Menſchen einge¬
borenen Gerechtigkeitsſinnes zu Tage blühend. Und
dann war es doch wieder ein anderer Übergang aus
meinem ruhigen, behaglichen Heim, von dem Kamin,
wo mein Weib mit ihrem Kindchen an der Bruſt
auf niedrigem Schemel leiſe ihr Wiegenlied ſang, zu
dem Ofen im Vogelſang, vor dem der wunderliche
Freund ſich frei machte — nicht von den Sachen,
ſondern von dem, was in der Menſchen Seele ſich
den Sachen anhängt und ſie ſchwer und leicht, kurz
zu dem macht, was wir Anderen im Leben ein Glück
oder ein Unglück zu nennen pflegen.
Ich konnte ihm bei meinem Eintritt weiter nichts
ſagen, als:
„Es iſt unheimlich warm bei Dir, Velten!“
„Gemüthlich! . . . Deutſch-gemüthlich, was? Ihr
habt ja den Ausdruck, macht Anſpruch darauf, ihn in
der Welt allein zu haben, alſo bleib auch Du ganz
ruhig bei ihm, Krumhardt.“
„Laß uns nach Möglichkeit vernünftig ſprechen,
Andres —“
„Ich habe die Jungfer Schellenbaum heute
morgen um eine Säge in die Stadt geſchickt; ſie wird
ſelbſtverſtändlich bei euch geweſen ſein, mit den
Händen über dem Kopfe und ſämmtlichen Geiſteskräften
in Unordnung: Bringſt Du das Entmündigungs¬
dokument für mich ſchon mit, mein Carlos?“
„Wir wiſſen wenigſtens in unſerm Alltage ſchon
Beſcheid über das, was Du hier begonnen haſt und
wirklich weiter zu treiben ſcheinſt; aber Du könnteſt in
unſerer Alltagswelt doch einen Unterſchied zwiſchen mir
und den Übrigen machen. Velten, was ſoll dies ſein?“
„Ein äußerliches Aufräumen zu dem innerlichen,
liebſter Freund! Ein leichtbewegtes Herz und ſo
weiter — wozu nützen uns die weiſeſten Ausſprüche
großer Lehrer, wenn man ihnen nichts weiter ent¬
nimmt, als eine Stimmung für den Augenblick? Ein
Hinweis darauf, daß der Meiſter ſelber keinen Ge¬
brauch von ſeinem Diktum gemacht habe, verſchlägt
nichts. Hat er ſein leichtbewegtes Herz durch ſeine
achtzig Jahre mit ſich geſchleppt, ſo iſt das ſeine
Sache geweſen und hat auch vielleicht zum Vortheil
der Litteraturgeſchichte — um ſie intereſſanter zu
machen — ſo ſein müſſen. Soll deshalb kein Anderer
die Fäden abſchneiden dürfen, die ihn mit dem Erden¬
[259] ballaſt verknüpfen? Ja, ich heize in dieſem Winter
mit meinem hieſigen Eigenthum an der wohlgegrün¬
deten Erde, mit meinen Habſeligkeiten aus dem
Vogelſang.“ Er ſprach das Wort „Habſeligkeiten“ in
einer Weiſe aus, die man im Werkeltagsverkehr nicht
zu hören bekommt.
Ja, er heizte durch den ſeltſamen Winter mit alle
dem, wovon ſich andere Leute nur ſehr ſchwer, und
wenn es gar nicht anders geht, und manchmal nur
mit Thränen in den Augen trennen. Und er trieb
das Ding äußerſt ſyſtematiſch und hatte dabei an
mir einen Zuſchauer und Theilnehmer, der nur durch
ſeine Ruhe abgehalten wurde, mit einem: „Aber
Velten, auch das?“ mit beiden Händen dreinzu¬
greifen und dem Autodafé Einhalt zu thun.
Ich wehrte mich vergebens gegen das Intereſſe,
das ich von Tag zu Tage mehr an dem ſeltſamen
Zerſtörungswerk nahm. Meinem Weibe gegenüber
den abſcheulichen, den „unſinnigen Menſchen“ noch
zu rechtfertigen, hatte ich bald aufgegeben, aber bald
wär's auch nöthig geworden, daß ich mich nur noch
verſtohlen vom Hauſe nach dem Vogelſang wegge¬
ſchlichen hätte.
„Karl, Karl,“ jammerte meine arme gute Kleine,
„o, Karl, bitte, bitte, werde mir nicht ſo wie Der!
Bitte, denke immer an uns, an das Herze da in der
17 *[260] Wiege und auch ein bißchen an mich, wenn Du
Deinen Freund nicht laſſen willſt, nicht laſſen kannſt!
Er hat ja freilich keine Familie wie Du; aber ich
habe doch noch erſt die letzte Nacht geträumt, auch
Du habeſt mich mit unſerm Jungen — ich meine
unſere letzte Photographie — verbrannt wie er die
Bilder ſeiner Eltern und ſeiner als ganz kleines Kind
geſtorbenen Schweſter! O bitte, da nimm uns,
Ferdy und mich, doch lieber jetzt gleich mit und
ſchieb uns in euren Ofen in Deinem Vogelſang!“
Worin lag nun der Zauber, der mich ſelbſt
ſolche herzzerreißende Klagelaute überhören ließ, mich
gegen das einſtimmende Winſeln meines Erſtgeborenen
taub machte und mich jeden Tag nach der alten
Heimſtätte trieb, die jetzt zu einer Stätte der Ver¬
nichtung geworden war?
Wahrlich nicht ein unbewegliches, unbewegtes
Herz, ſondern ganz das Gegentheil!
Wohl ſelten iſt je einem Menſchen die Gelegen¬
heit geboten worden, ſeine „beſten Jahre“ in die un¬
ruhvolle Gegenwart ſo zurückzurufen, wie mir in
Velten Andres' Krematorium. Wie wir im Vogel¬
ſang in der Nachbarſchaft trotz Allem doch wie eine
Familie gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal
im reichſten Maaße und konnte meine Lebensakten in
wünſchenswertheſter Weiſe dadurch vervollſtändigen.
[261] Der Wanderer auf der wankenden Erde ſchob aus
ſeinem Hausrath kaum ein Stück in den Ofen oder
auch auf den Küchenherd, an dem nicht auch für mich
eine Erinnerung hing und mit ihm in Flammen
aufging und zu Aſche wurde. Vom Keller bis zum
Dache war in dem Häuschen kein Nagel eingeſchlagen,
an welchem nicht auch für mich etwas aus den Tagen
hing, wo wir die Räthſelaufgeberin vor dem Thore
des Lebens eben nur dem Haupt und den Brüſten
nach kannten und noch nicht den Tatzen nach.
Es war ein Zurück- und Wiederdurchleben ver¬
gangener Tage ſondergleichen. Die Woche, in der
wir uns mit der Entleerung der Boden-Rumpel¬
kammer des Hauſes beſchäftigten, vergeſſe ich in
meinem ganzen Leben nicht, und ich ſchreibe nicht
ohne Grund: wir! Was wühlten wir da alles auf
aus dem Familienplunder der „Frau Doktern“? Sie
hatte ſich von nichts trennen können, was je dem
Gatten und dem Sohn lieb geweſen und überdrüſſig
geworden war. Sie hatte es ihnen aus den Augen
gerückt und ſich ſelber, ſozuſagen, ein Hausmuſeum
daraus gemacht. Wie wog der Sohn des Vaters
Ziegenhainer in der Hand, wie holte er aus einem
Kaſten mit allerhand abgängigen chirurgiſchen Inſtru¬
menten ſeine Cerevismütze hervor und drehte ſie in
den Händen! Wie kam mir mit dem Schaukelpferd,
[262] das ich unter dem Dachwinkel hervorzog, jener Weih¬
nachtsabend zurück, an welchem wir es zuerſt ritten
und Velten meinte: „Ich hatte mir ein Thier mit
Rädern und wirklichem Fell auf den Wunſchzettel
geſchrieben; aber ſage nur nichts davon.“ Er hat
es damals auch bald mir allein überlaſſen, es war
nichts für ihn; ich aber hätte ihn auch nun noch
gern gefragt: „Auch das in den Ofen?“ und ihn
gebeten: „Laß es mir für meinen Jungen!“
Es wäre eine pſychologiſch-philoſophiſche Ab¬
handlung darüber zu ſchreiben, weshalb ich weder die
Frage noch die Bitte that, ſondern ſelbſt es mir auf
die Schulter lud und es ihm die Treppe hinunter
zum Küchenherd trug. Ja — er hatte mich auch jetzt
wieder unter ſich, es war von meiner Beſitzfreudigkeit
aus keine Abwehr gegen ſeine Eigenthumsmüdig¬
keit: ich habe ihm geholfen, ſein Haus zu leeren
und ſich frei zu machen von ſeinem Beſitz auf
Erden! —
Aber es ließ ſich nicht Alles verbrennen, woran
für dieſen grimmigen, ruhebedürftigen, unſtät ge¬
wordenen Gaſt im Leben, wie wir Juriſten uns aus¬
drücken, ein pretium affectionis haftete. Metall,
Glas und Porzellan brannten nicht, und doch wollte
er auf ſeinen ferneren Wegen ſich nicht mit der Vor¬
ſtellung plagen, wer jetzt die Feder in ſeines Vaters
[263] Tintenfaß tauche und aus ſeiner Mutter Mundtaſſe
trinke, und auf welcher Kommode, im Trödel erhandelt,
die Bronzeuhr ſtehe, auf die man nie rechnen konnte,
wenn man einmal im Hauſe Andres die richtige
Tageszeit zu wiſſen wünſchte, und die doch mit ihrem
zirpenden Glockenſchlag ſo viele gute Stunden ein-
und ausgeläutet hatte. Wir kamen auch hierüber
weg. Zerſtören iſt leichter als aufbauen: ein altes
wahres Wort, das mein armer Freund ſeinerſeits
ebenfalls ſo in die Praxis überſetzte, daß, wenn ich
zu Weib und Kind heimgekommen war, meine Frau
mitten in der Nacht oder gegen Morgen ſich auf
dem Ellbogen aufrichtete, mir über die Stirn ſtrich
und rief:
„Mann, nun ſchläfſt Du ja wieder nicht! Großer
Gott, iſt er denn nicht bald fertig? Ich halte Dies
nicht länger aus und Du auch nicht!“
„Beruhige Dich, mein Kind —“
„Wie kann ich mich beruhigen, wenn ſolch ein
Unhold Dich mir unter den Händen austauſcht und
allmählich zu einem Anderen macht? Oder iſt das
etwa nicht ſo? Glaubſt Du, ich merkte es nicht, wie
Dir jetzt von Tag zu Tag mehr ſo Manches über¬
drüſſig, einerlei und zur Laſt wird, was doch zum
Leben gehört? O, mein beſter Karl, wenn wir,
Ferdy und ich, Dir auch einmal zur Laſt würden, wie
[264] Deinem entſetzlichen Freunde ſein Hausrath und ſein
Haus in eurem unheimlichen, ſchrecklichen Vogel¬
ſang!“
Nachher wurde es mir in dieſer Nacht doch wieder
etwas zweifelhaft, ob ein leichtbewegtes Herz ein elend
Gut auf der wankenden Erde ſei und der Freund im
Rechte, ſich davon frei zu machen.
Daß er ſich wie Heroſtrat für das Pantheon
der Weltgeſchichte vorbereite, behaupteten gegen das
Ende des damaligen Winters nur die alten guten geiſt¬
reichen Bekannten vom Schlage Schwager Schlappe
und Genoſſen, und hatten ihren ſouveränen Spaß
daran. Die Mehrzahl des Theiles der Stadtbevölkerung,
der von ihm wußte, blieb dabei, er ſei einfach für
das Landesirrenhaus reif; und doch ſchlug die
[Stimmung] mehr und mehr für ihn um. Und daran
war dann wie gewöhnlich eine Minderzahl ſchuld,
die meiſtens ihre Meinung nur ſo beiläufig über ihn
ausſprach, der er aber doch ſehr im Kopfe herumge¬
gangen ſein mußte und auf deren Worte Manche,
ja Viele etwas gaben. Als mir ein hoher Chef ſagte:
„Ein drolliger Patron; aber unter Umſtänden eigentlich
[265] zu beneiden und nachahmungswerth!“ wußte ich, daß
nicht nur völlige Billigung, ſondern auch der Neid
aus ihm redete und, jedenfalls, längere nachdenkliche
Beſchäftigung mit dieſem Menſchen, der „die the¬
baiſche Wüſte in den Vogelſang übertragen zu wollen
ſchien“. Letzteres Wort ſtammt jedoch nicht aus den
juriſtiſchen Kreiſen der Reſidenz, ſondern aus den
theologiſchen. Der augenblickliche Lieblingsprediger
der Stadt (unverheirathet) ſprach es. —
Zu Anfang März war Alles vernichtet, woran
für ihn und ſehr oft auch für mich eine Erinnerung
gehaftet hatte, und was er nicht in anderer Leute
Händen oder Beſitz, ſei es zu Nutzen oder Vergnügen,
wiſſen wollte. An den Wänden deuteten auf ab¬
geblaßten Tapeten dunklere Flecke an, wo Bilder
gehangen hatten. Was die Bücherſchränke und Regale
anbetraf, ſo konnte es darin und darauf nicht öder
ausſehen als in eines anderen berühmteren Phantaſie¬
menſchen Studirſtübchen, nachdem der Pfaffe, der
Barbier, die Haushälterin und die Nichte dort Kehr¬
aus gemacht hatten. Der ſpäte Enkel ſehe ſich in
ſeinen eigenen vier Wänden um, denke ſich Alles
fort, was in irgend einer Weiſe was zu ſagen, was
vertraute und vertrauliche Form und Farbe für ihn
hat und erlaſſe es mir, von dieſem Aufräumen
maleriſch weiter zu ſchreiben. Hat ihn ſein Eigenthum
[266] an und auf der Erde auch ſchon einmal in der
rechten Art beängſtet, ſo wird er auch wohl die
richtige Art und Weiſe, den Kopf zu ſchütteln, heraus¬
finden. Überhebung von geſichertem Beſitz her und
dürftiger Scherz aus momentanem Behagen wird
kaum etwas damit zu thun haben. Aber er ſelber,
Velten Andres, ließ dem Omnia exeunt ſeiner Vogel¬
ſang-Tragödie ſowohl nach griechiſchem wie nach
engliſchem Muſter noch ein Satyrſpiel folgen, das
ihn aber diesmal beinahe — nicht mit der Sanitäts¬
behörde, ſondern mit der Polizei in Konflikt ge¬
bracht hätte.
Er lud den Vogelſang wie zur Plünderung
eines abgerupften Weihnachtsbaumes in ſein Haus ein.
Er gab den noch vorhandenen alten guten Be¬
kannten der Nachbarſchaft alles das preis, was ohne
eine Bedeutung für ihn war und erregte dadurch
natürlich einen Zuſammenlauf, der für einige Stunden
den Verkehr in der Gaſſe völlig unterbrach.
Eingeladen hatte er mich nicht zu dieſem letzten
Kehraus; aber ich kam dazu, und zwar mit meiner
Frau am Arme, von einem Nachmittagsſpaziergang
über den Oſterberg.
„Was iſt denn das da vor Deines Freundes
Hauſe, Mann?“
Sie hatte die erſten Anemonen und Leber¬
[267] blümchen da oben im Walde gefunden und gepflückt
und drückte ſich mit dem Frühlingsſtrauß ängſtlich
an mich an.
„Siehſt Du's, da hat er es! Sie ſtürmen ihm
das Haus! Was hat er nun wieder Neues —
Schändliches angefangen — Dein — Freund?“
Es ſah in der That bedrohlich aus; und wir
hatten Mühe, durch den menſchenvollen Garten zu
der Hausthür zu gelangen, die er aus den Angeln
hatte heben laſſen, und mit welcher auf der Schulter
ein alter Hausknecht weiland Nachbar Hartlebens
durch das Gewühl das Freie zu erreichen ſuchte. Nun
fand es ſich aber, daß es doch im Ganzen lauter gute
alte Bekannte und Freunde waren, die er ſich aus
den „letzten Gaſſen“ und von den Zäunen des Vogel¬
ſangs mit dem Wort: „Seht zu, Kinder, was ihr
von dem Kram gebrauchen könnt!“ eingeladen hatte,
wie der König im Evangelium das Volk zu ſeinem
Feſtmahl. Sie machten auch gern Platz, ſo viel es
ihnen möglich war und zogen die Mützen, und Einigen,
denen ich zu hoch geſtiegen war, als daß ſie mir die
Hand hätten reichen können, mußte ich ſie hinhalten:
„Na, alter Freund, das geht hier luſtig zu!“
„Ja, ſagen Sie mal, Herr Aſſeſſor! So was
hat der Vogelſang gewiß noch nicht erlebt. Zu
ſo was gehörte einzig und allein unſere ſelige
[268] Frau Doktern und unſer Herr Velten, der Herr
Sohn!“ . . .
Es ging freilich nicht bloß gierig, ſondern auch
luſtig zu. Aus dem benachbarten Tivoligarten hatte
das Getümmel nicht nur die Kellner und Kellnerinnen,
ſondern auch faſt das geſamte Perſonal des eben dort
vorhandenen „Theatre-Variété“ hergezogen, um „ſich
den Spaß anzuſehen.“ Miß Athleta, die ſtärkſte Dame
der Welt und Signor Volcano, der Feuermenſch, die
„größte Senſationsnummer der Gegenwart“, John
Arden, der Weltmeiſterſchaft-Springer und die drei
Schweſtern Larſen, die internationalen Excentrique-
Sängerinnen, Fräulein Miranda, die Piſton-Virtuoſin
und Herr German Fell, von der Anthropologie ge¬
nannt „das gefundene Mittelglied“, der unübertreff¬
lichſte Affendarſteller beider Hemiſphären: ſie waren
alle wie von Velten Andres zu ſeinem Kehraus ge¬
rufen und traten mit den Geladenen aus dem alten
Vogelſang die letzten Buchsbaumeinfaſſungen der
„Rabatten“ der Frau Doktern nieder und ſchienen
von der neuzugezogenen kopfſchüttelnden Nachbarſchaft
und der verblüfften Polizei allein für die Sache das
volle Verſtändniß mitgebracht zu haben.
Und Velten ſchien das auch zu wiſſen und be¬
handelte ſie als hochwillkommene Ehrengäſte. Im
Sturm der Plünderung behielt er Zeit für einen
[269] Händedruck mit dem von der Wiſſenſchaft ſo lange und
ſchmerzlich vermißten und endlich gefundenen An¬
thropomorphen mit nicht hervorſtehendem Eckzahn,
wie für einen Händedruck mit Miß Athleta, bei dem
er aber ſchmerzzuckend das linke Bein hochzog und
die Luft ziſchend zwiſchen ſeinen auf die Unterlippe
geſetzten Zähnen durchblies.
Nimmer war mein Honoratiorentöchterlein, mein
Weib, Schlappes Schweſter, in ſo ausbündig zweifel¬
hafte Geſellſchaft gerathen, wie jetzt und hier. Immer
ängſtlicher drängte ſich die liebe, kleine Hand mit dem
Schneeglöckchenſtrauß vom Oſterberg mir an, je weiter
wir gegen die jetzt thürloſe Hauspforte vordrangen.
„O Gott, Mann!“ flüſterte ſie, als aus der Mitte
der ihn lachend vertraulich umdrängenden Sisters
Larsen, der drei internationalen „Excentrique“-
Sängerinnen, der Freund auch ihr lächelnd die Hand
entgegenſtreckte:
„Aber, gnädige Frau, wie freundlich von Ihnen!
Doch weshalb ſo ſpät?“
„Der greulige Menſch! Dachte er etwa auch,
ich ſollte ihm bei ſeinem letzten menſchenfeindlichen
Aufräumen helfen?“ ſagte meine arme Kleine auf
dem Heimwege und nachher, trotz Allem, noch öfter,
wenn die Rede auf ihn kam. Augenblicklich ſtammelte
ſie nur:
„Wir kamen zufällig über den Oſterberg, Herr
Andres; und hier durch den Vogelſang.“
„O und wie Sie mir recht kommen, Frau
Aſſeſſor, gnädige Frau,“ ächzte hinter uns eine halb
durch Thränen, halb durch Lachen erſtickte Weiber¬
ſtimme. Eine harte, abgearbeitete Weiberfauſt be¬
förderte die größte Senſationsnummer der Gegen¬
wart, den Feuermenſchen Volcano, aus dem Wege,
packte dann mich am Oberarm, ſchob uns, mein
Weib und mich, gegen die Hausthür der Frau
Doktor Velten vor, und dann — auf den Sohn der
beſten Frau des Vogelſangs mit zitterndem Zeigefinger
deutend, kreiſchte Riekchen Schellenbaum:
„Ja, Karl — Herr Aſſeſſor, wollte ich ſagen;
die ganze Stadt ſollte man hierzu zuſammenrufen!
Ja, die Herrſchaften kommen zur richtigen Stunde,
um ihm, dem Herrn da, zu ſagen, daß dies eine
Sünde und Schande iſt! Hier der Frau Aſſeſſorin,
Herr Velten, habe ich mein Elend ja wohl ſchon ſeit
Monaten des Abends klagen dürfen; aber heute reicht
das nicht mehr aus. Hier vor allen Leuten muß ich
es ausrufen und ausſchreien, was ich ausſtehe und
ausgeſtanden habe. Bin ich ſchon im Irrenhauſe,
oder ſoll ich erſt herein? O Gott, Herr Velten,
wenn mich doch die ſelige Frau Mutter mit hinunter
in ihr ruhiges Grab genommen hätte — zehntauſend¬
[271] mal wäre mir das lieber geweſen, als wie daß ich
dieſen Winter durch das liebe Ihrige ſelber mit in
meiner Schürze habe in den Ofen und auf den
Küchenherd tragen müſſen! Lieber Herr Aſſeſſor,
Herzenskarlchen, ich habe ja auch zu Ihnen gehört,
und Sie auf den Armen getragen, und auch bei
Ihren lieben Eltern bin ich ein- und ausgegangen
in guten Tagen und habe zugegriffen in böſen —
Sie können es mir bezeugen, daß ich mich habe zu¬
ſammennehmen können und ihm nicht die guten,
lieben Sachen vor die Füße geſchmiſſen habe und
nicht die Schürze über den Kopf geſchlagen habe und
ihm nicht wie eine Verrückte aus dem Hauſe gelaufen
bin! Nun gucke Einer, wie mich das ſchwarze Mohren¬
geſicht hier aus dem Tivoli angrinſt! Nicht wahr,
Herr Aſſeſſor, da von Spukmeyers ſeligem Gras¬
garten her, und hier, wo ich auf Ihres Herrn Vaters
Grundſtück als junges Kindsmädchen auch ihm das
Laufen gelehrt habe, ihm, der ſich jetzt dieſe Geſell¬
ſchaft hergebeten hat, um ſich mit anzuſehen, wie er
ſein Vater- und Mutterhaus zu einer Brandſtatt und
Räuberhöhle macht. Da holt ſich die lahme Brandten
ihr ungeſegnet Theil am Eigenthum mit dem Waſchfaß,
in dem ich ihm ſeiner ſeligen Mutter Hemden ge¬
waſchen habe! Vor meinen Augen, als ob ich allein
zu gar nichts gehörte, und ich kein Herz im Leib
[272] hätte, was ſich vor Wehmuth und Gift umwenden
könnte! Als ob ich allein in dieſem Juchhe an
meinen Thränen verſticken müßte! Gehen Sie mal
weg, Mamſell Luftſpringerſche — da ſchleppt ſich,
wahrhaftigen Gottes, die Bande aus dem Hunger¬
winkel mit meinem — mit der ſeligen Frau Doktern
Küchenſchrank, als wenn ich nicht jetzt noch den
Schlüſſel dazu in der Taſche hätte! Nach dem ſoll
mir aber wer kommen! Die guten Sachen! Und
als ob man ſelber gar nicht vierzig Jahre lang
damit hantiert hätte und ſie kennte! — Alles wie
vor die Hunde. Wer die beſten Zähne hat zuerſt
damit dran! — Oh, die Ruppſäcke! Wie beim jüngſten
Gericht. Jawohl, am jüngſten Gerichtstage, Herr
Andres, da wird auch noch die Frau Mutter gegen
Sie auferſtehen und Ihnen ſagen, daß Dieſes hier
wirklich nicht in der Ordnung iſt und nach Menſchen¬
ordnung zugeht, nicht wahr, Herr Aſſeſſor, nicht wahr,
Frau Aſſeſſorn?“
Sie ſtand ihm jetzt dicht, Naſe gegen Naſe,
gegenüber, dem Liebling des Vogelſangs, den ſie
voreinſt auf den Armen getragen, deſſen Mutter ſie
zu Tode gewartet hatte und der ihr nun Solches
anthat. Giftig bohrten ihre Augen in ſeine ruhigen,
freundlichen. Die Fäuſte zitterten und zuckten ihr,
wie vor dem Zuſchlagen. —
[273]
„Das iſt nun leider ſo, Riekchen,“ lächelte der
Unmenſch. „Den Küchenſchrank hat die Familie
Steinbeiß aus dem Hungerwinkel, aber den Schlüſſel
haſt Du. Die Hausthür hat auch ſchon einen Lieb¬
haber gefunden; aber den Schlüſſel dazu habe ich
noch — es iſt mein Letztes von meinem Beſitzthum
im Vogelſang. Willſt Du ihn?“
Er hob ihn in die Höhe, wie wenn man einem
Kinde oder einem Hunde etwas Begehrenswerthes
zeigt; meine Frau klammerte ſich immer feſter an
mich an und flüſterte: „Es iſt ſcheußlich!“ Aber die
alte, treue Dienerin des Hauſes Andres, erſt mit
beiden Armen weit um ſich greifend, wie nach etwas
im Leeren Vergangenen, reckte die dürre Fauſt auf
und kreiſchte:
„Jawohl, zum Zeugniß von der Welt Dank
und Lohn! Und zum Andenken an den Herrn Vater
und die Frau Mutter, und mögen ſie ſich nicht in
ihren Gräbern umwenden wegen Ihnen, Herr Velten,
und das iſt mein letzter Wunſch und Abſchied, Herr
Andres.“
Er legte den Schlüſſel zu ſeinem leeren oder aus¬
geleerten Vaterhaus nun dem vor Gift und Galle
zitternden alten Mädchen in die Hand, die ihn bei
ſeinen erſten Schritten auf der Erde mitgehalten und
ihm geholfen hatte, ſeine Mutter auf dem Todtenbett
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 18[274] für den Sarg zurecht zu legen. Die Schellenbaumen
aber griff ihn und fuhr mit ihm ab und zwar mit
einem Laut wie ein verwundetes Thier, und der Vogel¬
ſang lachte ihr nach und das Theatre-Variété aus dem
Tivoli gleichfalls, als ob dieſer „ſpaßhafte und kurioſe
Herr“ jetzt ſeinen beſten Witz zu ſeiner „Generoſität“
als Zugabe gegeben habe.
„Herrſchaften, ein Schuft, wer mehr giebt, als
er hat!“ rief jetzt aber er, ſich auf ſeiner Hausthür¬
treppe hoch aufrichtend und ſeinen Feſtgäſten freund¬
lich aber feſt die Thür in der Gartenhecke weiſend.
Und es ward leer um ihn, wie es in ſeinem Hauſe
geworden war. Aus dem war freilich nicht das Ge¬
ringſte mehr zu holen. Die letzten Nachzügler aus
der alten Freundſchaft des Vogelſangs waren ſchon
belaſtet mit Sparren, Bohlen und Brettern, die auf
den völligen Abbruch hindeuteten, an uns vorbei¬
geſchlüpft: aber auch von ihnen hatten einige doch
ſcheu, verlegen und wie verdutzt ob der Sache noch
eine freie Hand hingehalten und geſagt: „Wir be¬
danken uns auch recht ſchön, Herr Andres.“
Auch das Theatre-Variété hatte genug von dem
Spaß und ſich empfohlen. Alle ſehr heiter bis auf
den Affenmenſchen. Der ſchien mit einem Male auf
allen ihm von der Wiſſenſchaft und den Herren
Darwin, Häckel, Virchow, Waldeyer und ſo weiter
[275] auferlegten Werth verzichten zu wollen. Dieſer Künſtler
zögerte noch einen Augenblick, verlegen, ſchüchtern, als
ob er noch etwas zu ſagen habe, aber nicht recht damit
aus ſich heraus könne. Plötzlich jedoch fiel der „Thier¬
heit dumpfe Schranke“ unter Geſten und Mimik, die
den homo sapiens als Publikum zu hellem Jauchzen
hätten bringen können; er ſtieg, ſozuſagen, aus
dem Pavian oder Gorilla heraus, die geſchmeidigen
Muskeln ſteiften ſich und — Menſchheit trat auf die
entwölkte Stirn: Herr German Fell aber trat auf
Velten Andres mit einer Hölzernheit zu, die ihn in
der Meinung verſchiedener älterer Herren aus meiner
Kanzleiverwandtſchaft ſehr gehoben haben würde, bot
ihm die Hand und ſagte:
„Mein Herr, Sie haben mir während der letzten
Monate dann und wann nebenan die Ehre gegeben;
Sie verzeihen alſo, wenn ich mir heute hier bei Ihnen
das Vergnügen gemacht habe. Bei ſo kurzer und
vager Bekanntſchaft würde es — ſuchen Sie das
beſſere Wort — würde es unangebracht ſein, wenn
ich um Ihre Freundſchaft bitten wollte; Sie werden
mich jedoch auch nicht verachten, weil ich dann und
wann etwas mehr als Andere Affe bin. In gedrückten
Mußeſtunden pflege ich mich jedenfalls immer noch
wie andere von uns Primaten mit transcendentaler
Menſchenkunde zu beſchäftigen; ich habe ebenfalls einige
18*[276] Semeſter in Wittenberg ſtudirt, ehe ich zu den Anthro¬
poiden ging. Mein Herr, Ihr Ruf iſt während der
letzten Wochen auch zu uns, und alſo auch zu mir ge¬
drungen; ich habe dann und wann mit Intereſſe ein
Stündchen mit vor Ihrem Ofen geſeſſen. Siehe da,
habe ich mir geſagt, auch einmal wieder Einer, der
aus ſeiner Haut ſteigt, während die Übrigen nur
daraus fahren möchten! Mein Herr, ich wünſche
einen recht guten Abend und nicht bloß für den
heutigen Tag.“
„Mein Herr,“ rief aber jetzt Velten Andres, der
ſeinen unheimlichen Wandnachbar aus dem Theatre-
Variété mit immer ſteigendem Erſtaunen hatte reden
laſſen, „mein Herr, nun bitte ich doch, mir genauer
zu ſagen, mit wem ich eigentlich die Ehre habe —“
„Mit Einem vom nächſten Aſt, mein Herr. Vom
nächſten Aſt im Baum Yggdraſil. Man kann ſich
auf mehr als eine Art und Weiſe dran und drin
verklettern, mein Herr. Mit unſeren Perſonal¬
bezüglichkeiten dürfen wir uns wohl gegenſeitig ver¬
ſchonen. Auf bürgerlich feſten Boden hilft wohl
Keiner dem Andern wieder hinunter; aber reichen wir
uns wenigſtens die Hände von Zweig zu Zweig.
Mein Herr, ich danke Ihnen.“
Wofür er dankte, ſagte er weiter nicht. Meine
Frau hat es nie begriffen, ich aber habe mir auch
[277] nicht die vergebliche Mühe gegeben, es ihr begreiflich
zu machen. Sonderbarerweiſe reichte auch unſer
Freund Velten ſeine Hand nur wie mechaniſch und
ohne eigentlich genaues Verſtändniß der Sache her.
Herr German Fell drückte ſie ihm, ließ ſie fallen,
ſah den verkletterten Nachbar in der Welteſche mit
dem ganzen melancholiſchen Chimpanſeernſt in das
verdutzte Geſicht, ſchurrte, ſozuſagen, ganz und gar
wieder in ſeine Kunſt, das Leben zu überwinden,
hinab und folgte, runden Rückens, ſo ſehr als möglich
Vierhänder, den Theatre-Variété-Genoſſen, die den
halben Winter durch im Tivoli hinter meines Vaters
Grundſtück auf Spukmeyers „ſeligem Grasgarten“
meinem Jugendfreunde die verſtändnißvollſten Nach¬
barn in Stadt und Vorſtadt geweſen waren.
Nun hatten wir ſie für uns allein, die ver¬
wüſtete Kindheitsidylle. Leiſe zog meine Frau an
mir, doch wagte ſie nicht einmal flüſternd ihren
Wunſch, die Leere und Öde auch ſo ſchnell als möglich
hinter ſich zu laſſen und mich mitzunehmen, auszu¬
ſprechen. Ich aber konnte ſo noch nicht ſcheiden, ich
konnte den armen Freund, dem eben ſo grimmig
Recht und Unrecht gegeben worden war, nicht in ſeiner
thürloſen Hauspforte allein ſtehen laſſen. Ich mußte
noch nach Herrn German Fell ein Wort für unſern
letzten Abſchied vom Vogelſang finden, und ob der
[278] Ton mehr oder weniger gezwungen herauskam, ich
ſchlug den Freund lachend auf die Schulter:
„Sieh auf, alter närriſcher Menſch! Ein leicht
bewegtes Herz iſt ein elend Gut auf der wankenden
Erde und die vollgültigſte Gegenzeichnung des Wortes
haſt Du eben in wunderlichſter Weiſe erhalten. Sie
würden es rundum ſelbſt nicht der Zeitung glauben,
wenn man es ihnen durch die erzählte, daß es Eures¬
gleichen heute noch giebt und auch nicht bloß vor
Zeiten mal in der thebaiſchen Wüſte oder auf der
Straße nach Olympia gegeben hat. Du haſt Deinen
Willen gehabt und durchgeführt, nun thu aber auch
uns den Gefallen und komm wenigſtens für die
letzten Tage und Nächte in der Heimath mit uns
nach Hauſe.“
Wir ſtanden jetzt in dem Wohnzimmer ſeiner
Eltern, in dem er ſo gründlich mit ſeinem beſten
Eigenthum aufgeräumt hatte, der eigenthumsmüde
Mann, der freie Weltwanderer. Und er ſah auf und
um ſich her, wie Einer, der einen Schlag vor die
Stirn erhalten hat und ſein Selbſtbewußtſein nur
mühſam wieder zuſammenfindet. Er that mir in
tiefſter Seele leid und zu helfen war ihm nicht: er
hatte aus ſeinem verödeten Vaterhauſe den Nachbar
im Gezweig des Baumes Yggdraſil mit ſich auf
allen ſeinen ferneren Wegen durch das Daſein zu
[279] ſchleppen. Mich und mein zitterndes, ihre Angſt und
ihre Thränen hinunterſchluckendes Weibchen mochte
er ſchon los werden aus der Erinnerung an ſeinen
letzten Abend zu Hauſe; aber Herrn German Fell
nicht. Der blieb ihm darin! —
„Ich möchte doch heute Abend noch einmal
der Vorſtellung da neben mir an beiwohnen. Wie
man doch Seinesgleichen, ſo was zu Einem gehört,
nur dadurch und dann kennen lernt, wenn es Einem
ſo im Gedränge den Ellbogen in die Seite ſetzt;
nicht wahr, Karl? Den Affenmenſchen aus dem
Tivoli dürfte ich Ihnen doch wohl nicht als Freund,
Gaſt und Gaſtfreund mitbringen, gnädige Frau?
Alſo bitte, Kinder, laßt es dabei, daß wir einander
ſo wenig als möglich durch unſer Vorhandenſein in
dieſer wimmelnden Welt geniren. In einer ge¬
ſchäftlichen Angelegenheit muß ich freilich auch vom
Deutſchen Hofe aus Dich beläſtigen, lieber Carlos.“
Ich fühlte den Arm meiner Frau immer mehr
an meiner Bruſt erzittern. Sie hielt in der heißen Hand
noch immer ihr armes Sträußchen erſter Frühlings¬
blumen; jetzt aber entfiel es ihr und verſtreute ſich
auf dem ſchmutzigen, zerſtampften Fußboden unter
Scherben von zerſchlagenem Geſchirr, Tapetenfetzen
und werthloſeſten Trümmern von Hausgeräth.
„Komm Du mit nach Hauſe!“ flüſterte ſie.
[280] „Ich halte dieſes nicht länger aus! O, mein armes
kleines, liebes Kind zu Hauſe! Bitte, komm, ich muß
zu meinem Kinde — Das laß ich mir nicht nehmen,
wenn er auch Dich verwirrt. Ich halte mein Eigen¬
thum an der Welt feſt! Bleib, wenn Du willſt —
ich will nach Hauſe und zu meinem Kinde! Ja, bleib,
bleib und ſteige mit ihm und ſeinem anderen Freunde,
dem gräßlichen Affenmann, ſo hoch Du willſt aus
unſerm armen lieben Leben in die Höhe: ich will
zu meinem Kinde und meinem Eigenthum an der
Welt!“
Sie iſt uns fortgelaufen, mit dem Arm und
Ellenbogen vor den Augen, ſelber wie ein Kind, das
ſich vor einem Schlage fürchtet.
„Gute Nacht, Velten.“
„Gute Nacht, Krumhardt.“ . . .
Ich holte meine Anna erſt an der zweitnächſten
Straßenecke ein. Als ich mein Eigenthum wieder an
mich nehmen wollte, weigerte es ſich deſſen durch
mehrere Gaſſen. Mit faſt böſem Blick wies die
Kleine, ſtatt meinen Arm zu nehmen, nach dem Vogel¬
ſang zurück:
„Ich habe dem Herrn Generalſuperintendenten,
verſprochen, Dir für gut und böſe zu gehören, und ich
habe mir ſelber verſprochen, nur da zu ſein und zu
bleiben, wo Du biſt und gehſt und ſtehſt, Karl; aber —
[281] dahin bringſt Du mich nicht mit zehn Pferden wieder!
Dahin ſetze ich in meinem Leben meinen Fuß nicht
wieder. O lieber Gott, was machen Deine Menſchen
aus Deiner ſchönen Welt!“ — — —
Ich habe den Freund im Leben nicht wieder¬
geſehen. Als er am nächſten Tage nicht zu mir kam
und ich am Abend im „Deutſchen Hofe“ nach ihm
fragte, wußte man nur, daß er ſeine Rechnung be¬
richtigt habe, aber nicht, ob er ſich noch in der Stadt
aufhalte.
Von London aus machte er es ſchriftlich mit mir
ab, es unſerem Riekchen Schellenbaum amtlich und
gerichtlich glaubhaft zu machen, daß zu dem Haus¬
ſchlüſſel, mit dem es als mit ſeinem „einzigen An¬
denken“ abgefahren war, auch der „neue Bauplatz“,
einer der beſten im neuen Vogelſang, gehöre.
Ich habe eine längere Pauſe in der Abfaſſung
oder Niederſchrift dieſer Annalen und Hiſtorien des
alten Vogelſangs machen müſſen. Als ich das letzte
Blatt zu den Akten brachte, ſchneite es noch; nun
läuft wieder ein grüner Schimmer über den Oſterberg
und meine Kindertragen Hände voll von den
[282] nämlichen Frühlingsblumen, die ihre Mutter
in Velten Andres' verwüſtetem, ausgeleertem
Heimweſen aus der Hand gleiten ließ, ins
Haus.
Wir hatten viel Sorge im Hauſe. Wir fürchteten,
unſern älteſten Sohn, den ſeiner Zeit Velten nicht aus
der Taufe hatte heben wollen, am Typhus zu ver¬
lieren; aber der Junge iſt uns erhalten geblieben
und munter wieder auf den Beinen, und ich habe
die Feder zum Beſten ſeines Hausarchivs von Neuem
aufgenommen. Wir ſind im März eines neuen
Lebensjahres, und ich halte wieder den Brief in der
Hand, den mir Mrs. Mungo im November des
vorigen Jahres aus Berlin ſchrieb.
„Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er
iſt nun todt. Wir haben unſern Willen bekommen.
Er iſt allein geblieben bis zuletzt, mit ſich ſelber
allein, ohne Eigenthum an der Welt.“ . . .
Könnte ich ihr doch — könnte ich von hier an
Helenen Trotzendorff die Feder in die Hand geben
und ſagen:
„Nun ſchreibe Du weiter. Schließe das Akten¬
ſtück ab!“ . . .
Ich habe in den langen Jahren kaum etwas
von dem Freunde gehört. Nach Hauſe, wenn man
bei ihm nach ſeinem vernichteten Hauſe dieſen Aus¬
[283] druck gebrauchen könnte, iſt er nicht wieder gekommen,
und geſchrieben hat er an mich auch nicht. Aber da
mich meine Stellung in unſerem kleinen Staatsweſen
dann und wann nach Berlin führte, ſo bin ich mit
dem Hauſe des Beaux in einiger Verbindung ge¬
blieben. Kommerzienrath des Beaux — Leon des
Beaux hält, trotzdem er längſt zu den bedeutenderen
Bankiers und Kapitaliſten der Reichshauptſtadt ge¬
hört, das alte gute Verhältniß aus „unſerer Uni¬
verſitätszeit“ noch aufrecht. Das väterliche Geſchäft
in der Dorotheenſtraße beſteht aber nicht mehr (aus
einem Schneiderladen gelangt man ja wohl nicht zu
dem Titel Kommerzienrath?) und Leon ſelber bringt
die Rede nie darauf, und ſie gern auf etwas Anderes,
wenn ſie darauf kommt. Da ich auch jetzt in ſeinen
Geſchäftsſtuben nichts zu thun habe, kenne ich ihn
nur in ſeinem Familien- und Geſellſchaftskreiſe in
ſeiner Villa einer vornehmen Vorſtadt. Er iſt auch
verheirathet und hat eine gute, für ihn paſſende Frau
bekommen. Er iſt Vater von zwei Kindern, einem
Sohn und einer Tochter. Der Junge wird Friedrich
gerufen, das Mädchen Viktoria: die traditionellen alt:
franzöſiſchen Familientaufnamen der des Beaux aus
dem Languedoc figuriren nur noch in den Tauf¬
ſcheinen der Kinder. Die jetzige Madame des Beaux
weiß nichts mehr von dem Familien-Wunderwinkel
[284] in der Dorotheenſtraße, wo Leonie und Leon des
Beaux ihr, ihres Vaters und ihrer Väter Eigenthum
in Angeſtammtem und Zuerworbenem feſthielten und
ihren Lebensſtolz drauf gründeten. Sie, Frau
Wera des Beaux, vordem zweite Liebhaberin am
***theater, hat ſich in den guten Leon trefflich hinein¬
zufinden verſtanden; ſie iſt eine tüchtige Berliner Haus¬
frau und zugleich eine vornehme Frau, die die
Stellung ihres Gatten wohl zu wahren weiß; aber
von Albi, Simon von Montfort, Raimund von
Toulouſe, Peter von Caſtelnau weiß ſie nichts, die
Bartholomäusnacht kennt ſie nur aus den Meyer¬
beerſchen Hugenotten und das Edikt von Nantes —
„Für das muß ich eigentlich dem Himmel un¬
beſchreiblich dankbar ſein,“ ſagte ſie mir einmal
lachend an ihrem Theetiſch. „Wie ſollten ohne es
Leon und ich uns wohl in der Welt zuſammengefunden
haben, Herr Oberregierungsrath?“
Fritz und Viky, die beiden Kinder des lieben
harmloſen, freundlichen Paares, wiſſen nur von Sedan,
Gravelotte, der dritten Einnahme von Paris und
von Kaiſer Wilhelm und ſeinen „Paladinen“; von
den Paladinen der „Tante Leonie“ aber wenig mehr.
Sie ſind eben eine geraume Zeit nach Sedan, Metz
und der dritten Einnahme von Paris in die deutſche
Welt hineingekommen, und das Eigenthum ihrer Vor¬
[285] fahren väterlicher Seite hat kaum noch viel Bedeutung
für ſie. Was in der Dorotheenſtraße noch pietätvoll
zuſammengetragen worden war, das dient in der
jetzigen Villa des Beaux in den Gemächern nur noch
hie und da zur Zier, und im Salon der Frau
Kommerzienräthin ſchaut der erſte brandenburgiſche
Ahnherr, der Sieur Antoine des Beaux, dem der
Große Kurfürſt ſeiner Zeit die Hand geſchüttelt hat,
von der Wand aus ſeinem Clair-obscur ernſt, aber
auch ruhig in das Plein-air des laufenden Tages
hinein. Das Bild hat Kunſtwerth: von wieviel Wänden
wird es wohl noch auf fremde Leute hinunterſehen?
Und Leonie? Leonie des Beaux?
Von der wiſſen die Kinder ihres Bruders nur
zu ſagen, daß ſie ſehr gut, aber nur einmal auf längere
Zeit zu ihnen und Papa und Mama vom Rheine her
gekommen ſei, ohne daß Einer im Hauſe oder ſonſt
Jemand ſehr krank gelegen habe.
Leonie des Beaux hatte ſich wie Velten Andres
ihres Eigenthums an der Welt entledigt, ſie war
Diakoniſſin zu Kaiſerswerth geworden und diente dem
Herrn jetzt auf einer „Arbeitsſtation“ in Deutſch-
Lothringen. Da ich die Feder auch nicht in ihre Hand
legen kann, hatte ich dieſes zu den Akten zn bringen,
ehe ich weiter ſchreibe in Sachen Velten Andres
und — Helene Trotzendorff. — — —
[286]
Ich bin wieder auf dem erſten Blatt der
Chronik des Vogelſangs.
„Du mußt und willſt doch auch wohl als erſter
guter alter Freund von Allen nach Berlin?“ hatte
meine Frau an jenem Novemberabend gefragt, und:
„Morgen, wenn es mir irgend möglich iſt,“ hatte
ich ihr geantwortet. Dann waren wir Beide, Anna
und ich, zu unſerem jungen Volk gegangen, um
uns zu vergewiſſern, daß wenigſtens da noch Alles
in Ordnung auf Erden ſei. Am anderen Mittag
war ich in Berlin. Meine Stellung in unſerem
Staatsweſen erlaubte mir, den nöthigen Urlaub,
wenigſtens für einige Tage, mir ſelber zu geben.
„Erkälte Dich nicht, Alter,“ hatte meine Frau
geſagt. „Bedenke Deinen Rheumatismus und denke
auch ein wenig an Deine Jahre und daß wir im
November ſind.“
Ich bedachte freilich Manches in meinem Blitz¬
zuge; auch nicht zum mindeſten meine wohlgezählten
achtundvierzig Lebensjahre. Würde ich aber noch
einmal von meinen Thüren, die ein Bedienter öffnete,
von meiner behaglichen Luftheizung, meinen amt¬
lichen Ausſichten auf die Zukunft und darin den
Titel Excellenz, ja, würde ich auch nur noch einmal
von Weib und Kindern reden, ſo liefe das nur auf
eine Wiederholung von ſchon Geſagtem hinaus.
[287] Während einer unbehaglichen Wirthstafel hatte ich
mir zu überlegen, ob ich am Beſten erſt den
Kommerzienrath des Beaux in ſeiner Villa oder
Miſtreß Mungo im Kaiſerhof von meiner Ankunft
benachrichtige und ihnen die weitere Führung über¬
laſſe. Zwiſchen drei und vier Uhr Nachmittags aber
ſtand ich allein in der Dorotheenſtraße vor dem
Hauſe, in welchem die alte Hugenottenfamilie zum
letzten Mal ihre Lebensandenken zuſammengehäuft
und Velten Andres eigenthumslos ſeinen Weg über
die Erde beendet hatte. Seit meinen Studenten¬
jahren war ich nicht wieder in dieſe Gegend der
Stadt gekommen und von dem Hauſe war nur die
Nummer geblieben, was die Gaſſenſeite anbetraf.
Vater des Beaux nahm nicht mehr das Maaß der
oberen Zehntauſend der Stadt, und der Hofſchmied
beſchlug nicht mehr die Hufe ihrer Roſſe in der
Dorotheenſtraße: nach der Gaſſenſeite hin hatte ſich
die Dekoration vollſtändig verändert, ſoweit ich
meiner Erinnerung trauen konnte. An der Architek¬
tur der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des Jahr¬
hunderts emporblickend, konnte ich, mit dem Briefe
Helene Trotzendorffs daheim auf meinem Schreib¬
tiſche, in meinen und des Vogelſangs Aktenkonvolut,
mich nur fragen:
„Frau Fechtmeiſterin Feucht? Ein Irrthum iſt
doch wohl ausgeſchloſſen?“
Ich habe auf meinem Wege durch meinen Beruf
und vorzüglich während der zwei Jahre, in welchen
ich zu Hauſe der Oberſtaatsanwaltſchaft als Mit¬
arbeiter zugetheilt war, in mancherlei Örtlichkeiten
mich zurechtzufinden gelernt. Hier hatte ich nur den
Neubau zu durchſchreiten, um merkwürdigerweiſe in
dem neueſten Berlin das wenn nicht älteſte, ſo doch
ältere noch vollſtändig an Ort und Stelle zu finden. Das
weite lärmvolle Gehöft des Hofhufſchmieds war überbaut
worden und bis auf einen brunnenartigen, lichtloſen
Lichthof verſchwunden. Doch der Frau Fechtmeiſterin
Feucht und ihrem Reich hatte die Zeit nichts an¬
haben können. Ich fand ſie Beide noch, wie ſie vor
Jahren geweſen waren; das Hintergebäude der großen
Firma des Beaux und die Frau Fechtmeiſterin. Sie
hatten ſich Beide gar nicht, oder nur ganz unmerklich
verändert, das eine, rauchgeſchwärzt, mit jetzt ſeinen
hundertundzwanzig, die andere, weiß, zierlich, das
richtige Märchenweiblein mit faſt ihren neunzig
Jahren auf dem Nacken! —
Wie kam es, daß auf den dunkeln, ſteilen
[289] Treppen, die zu der alten Frau hinaufführten, dieſer
Vers, daß die ſüße Stimme, die das Lied uns in
dem vornehmen Salon des Vorderhauſes ſo oft ge¬
ſungen hatte, mir plötzlich wieder in den Sinn kam?
Es waren doch eigentlich nur wenige Jahre her,
daß wir dort in dem Zauberwalde Brozeliand zu¬
ſammenſaßen und über der Berliner Schneider¬
werkſtatt aller romantiſchen Wunder voll, proven¬
çaliſche Minneſänger, altfranzöſiſche Chroniken und
hugenottiſche Streitſchriften und Liederbücher durch¬
blätterten, und nun ſchien mir nichts davon übrig
zu ſein als dieſer Ton, dieſer Vers! Und ſchauerlich
merkwürdig kam mir dazu eine ſpätere Winternacht
in das Gedächtniß zurück und ein anderer Vers, aber
nicht aus einem franzöſiſchen Volksliede, ſondern
aus einem deutſchen Klaſſiker. Im ſtillen, von
ſeinem Eigenthum an der Erde ſich leerenden Vater¬
hauſe im Vogelſang murmelte ihn Velten Andres
bei ſeinem Vernichtungs- und Befreiungswerk vor
ſich hin:
Dorotheenſtraße Numero 0 — Hintergebäude —
Frau Fechtmeiſterin Feucht — Studioſus Valentin
Andres! Ich zog im dritten Stockwerk wie ein eben
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 19[290] Erwachender die Glocke und erkannte auch ihren Klang
wieder.
„So etwas mußte es wohl ſein, was uns Zwei
noch einmal im Leben zuſammenbringen konnte,
Herr Krumhardt,“ ſagte dann ganz dieſelbe Stimme,
die vor Jahren mich ſo oft freundlich begrüßt und
auch dann und wann gar mütterlich gewarnt und
geſcholten hatte. „Sie treten wohl erſt einen Augen¬
blick bei mir ein, ehe Sie in ſein Zimmer hinüber¬
gehen, Herr Oberregierungsrath. Sie hat Sie wohl
nicht ſo früh hier in Berlin erwartet; aber mir
konnten Sie nicht früh genug kommen. In meinem
Alter kann man ja wohl Alles leicht nehmen, aber
Dieſes wird mir doch zu ſchwer allein zu tragen.
Seit dem Morgen ſitzt ſie wieder auf ſeinem Bett,
mit den Ellbogen auf den Knieen und den Kopf
zwiſchen den Händen.“
„Sie? Allein mit ihm? Helene? Helene
Trotzendorff?“
„Die große amerikaniſche Dame. Haben Sie
nicht auch von ihr und ihren Reichthümern in der
Zeitung geleſen?“
Die alte Frau faßte mit ihrer dürren, alters¬
harten, kühlen Hand meine heiße.
„Kommen Sie, Herr. Es hat Zeit, daß Sie zu
ihr gehen. Sie ſcheint nichts mehr von Zeit und
[291] Stunde zu wiſſen; aber ſeit ſie mir geſagt hat, daß
Sie kommen würden, ſind mir in der Erwartung
die Minuten zu Jahren geworden, denn gegen wen
könnte ich ſo meiner Seele Luft machen, wem könnte
ich hiervon ſo erzählen als wie Ihnen? Wem kann
man denn ſo was begreiflich machen als wie Einem,
der auch mit dazu gehört hat von Anfang an?“
Die Sonne geht um dieſe Jahreszeit gegen
halb fünf Uhr unter. Die breiten Straßen, die
großen Plätze der Stadt lagen noch in ihrem Lichte;
in dem Stübchen der Frau Fechtmeiſterin Feucht
war es merkwürdigerweiſe noch hell, das Stückchen
Himmelszelt vor dem Fenſter, für den November¬
nachmittag lichtblau und wolkenfrei wie am ſchönſten
Sommermorgen. Wohl ein Vierteljahrhundert war
hingegangen, ſeit ich zum erſten Mal zwiſchen dieſen
vier Wänden geſtanden und verwundert umher und
von der Bewohnerin auf die Wände geſtarrt hatte.
Nun ſtand ich wieder ſo; — während in den langen
Jahren um mich her nichts an ſeinem Platze ge¬
blieben war, hatte ſich hier nichts verändert. Die
Zeit, die mit ſo leiſer, ſanfter Hand über die Stirn
der kleinen greifen Elfin geſtrichen hatte, hatte auch
in ihrer Umgebung nichts von der Stelle gerückt,
nichts in den Winkel geworfen, nichts unter den
Auktionshammer gebracht, nichts — in den Ofen
19*[292] geſchoben. Die Frau Fechtmeiſterin Feucht allein
von uns Allen hatte ihr Eigenthum noch vollſtändig
beiſammen, und da ſtand ſie nun wie damals mit
dem Strickzeug in den Händen und dem Garnknäul
unter der Achſel und deutete plötzlich um ſich herum
auf die Waffentrophäen und die ungezählten Schatten¬
bilder vergangener Burſchenherrlichkeit und ſeufzte:
„Weshalb mußte Der, an den ich von euch
Allen als den Letzten mein ganzes Herz gehängt
hatte, mir ſo was zuleide thun? Setzen Sie ſich,
Herr Oberregierungsrath.“
Da ſaß ſie mir wieder gegenüber, am Fenſter
wie die Frau Doktern im Vogelſang, in ihrem Korb¬
ſtuhl und mit ihrem Strickzeug, aber diesmal Ge¬
ſpinnſt und Knäul im Schooße und ſagte:
„Er hat drüben — jetzt bei der Frau Mungo,
einen Vers über ſich an die Wand geſchrieben, den
können Sie nachher leſen, jetzt aber muß ich es erſt
von der Seele los ſein, was ich mit ihm erlebt habe
— ich, das alte, alte Weib, mit dem Kinde, ja mit
dieſem Kinde, dem jungen Menſchen!“
Sie hatte bei ihren Jahren wohl Recht, ſo von
Velten Andres und auch von uns Andern als Kindern
zu reden, und ſie ſprach auch wie eine märchener¬
zählende Großmutter in der Dämmerſtunde; ich
konnte nur ſitzen und hören.
[293]
„Was meinen Sie wohl, wie Ihnen zu Muthe
wird, Herr Oberregierungsrath, wenn plötzlich ſo ein
unbekannter alter Menſch vor Ihnen ſteht und fragt:
‚Frau Fechtmeiſterin, nehmen Sie immer noch dumme
Jungen in Koſt und Logis?‘ Und dann Ihnen ſagt:
‚Ich bin Der und Der!‘ und Sie nachher nur ſagen
können: ‚Ja, Kind, dann komm [herein!?‘”]
Sie erwartete natürlich keine Antwort auf die
Frage, ſondern fuhr mit der Hand auf meinem
Knie fort:
„Ich vergeſſe den Tag in meinem Leben nicht. Es
iſt am letzten fünfzehnten Juni geweſen, am Nachmittage,
ſo um dieſe Tageszeit, wo es bei mir klingelt, und
ich frage, mit wem ich die Ehre habe, und der Beſuch
ſagt: ‚Ich bin der Studioſus der Weltweisheit Velten
Andres. Wiſſen Sie, Frau Fechtmeiſterin, und da
Ihr Zettel noch immer aushängt und meine alte
Bude zufällig frei iſt, möchte ich ſie noch einmal
wiederhaben.‘ — Herr Oberregierungsrath, wenn ein
Geſpenſt Sie am hellen lichten Tage auf die Schulter
klopft und Ihnen einen Namen wie vom Kirchhof
her nennt, können Sie nicht heller als wie ich
ſchreien: ‚Was wollen Sie? Wer wollen Sie ſein?‘
Eine gute halbe Stunde hat's gedauert, ehe ich mich
in ihn, meinen Schlimmſten und meinen Beſten ge¬
funden und mich noch mal über den lieben Gott
[294] gewundert habe, daß er mich auch Dieſes noch bei
Lebenskräften und geſunden Verſtandesſinnen erleben
laſſen will. Seine Zeit wollte es freilich haben,
bis ich mir aus dem gegenwärtigen Spuk meinen
alten lieben Sohn von damals herausgeholt hatte
und an ihn glauben konnte. Nicht daß er, mein
Velten, etwa wie ein Spuk ausgeſehen hätte; nein,
ganz reſpektabel grau, nur mit ein bißchen zu viel
Haut und zu wenig Fleiſch auf den Knochen und
müde, Herr Oberregierungsrath! Müde, müde! wie
Einer, der ſeit einem Menſchenalter nicht von den
Füßen gekommen iſt! Todtmüde von ſeinem Wege
durch ſein junges Leben! Natürlich nöthige ich ihn
denn aufs Sofa und da ſitzt er und ſagt nichts,
aber lacht; und das, Herr, das Lachen hat meinem
letzten Zweifel ein Ende machen müſſen. Menſchen¬
möglich iſt es ja nicht; aber Ihre Stube iſt frei,
Velten,‘ habe ich geſagt. ‚Soll ich nach Ihrem Ge¬
päck ſchicken, oder wollen Sie es ſelber holen — ich
weiß nicht woher?, — ‚Ja, das weiß ich auch nicht!‘
lacht er mich wieder an und reicht mir über den
Tiſch da ſeine Brieftaſche. ‚Meine Papiere für die
Polizei und die Miethe wie ſchicklich pränumerando,
behalten Sie gleich den ganzen Bettel, ich gehe heute
früh zu Bette.‘ — ‚Und keine Wäſche? Und keine
Bücher?‛ — ‚Nichts!‘ — ‚O du lieber, lieber Gott, ſo
[295] kommen Sie zu der Fechtmeiſterin Feucht zurück?‘ —
‚So!‘ ſagt er nur und reicht mir über den Tiſch die
Hand, und ich fühle wohl, daß die ein bißchen
fieberiſch iſt; aber meine iſt ja deſto kälter und ſo
faſſe ich feſt zu und rufe: ‚Ja, wenn das ſo iſt, bleibſt
Du natürlich bei mir. Es iſt zwar ſpät am Tage für
mich; aber für Einen langt's wohl noch. Dich füttere
und flicke ich mit unſeres Herrgotts Hilfe noch
heraus!‘ Ja, ja, Herr Oberregierungsrath, in dem
Augenblicke habe ich den Mann Du genannt, als hätte
ich ihn wie ein Kind auf dem Arme! Daß das nicht
ſo war, konnte ich damals ja noch nicht wiſſen. Aber
drüben ſitzt die Frau auf ſeinem leeren Bett; ich
darf Sie wirklich nicht ſo lange aufhalten hier bei
mir, Herr Krumhardt, Sie ſind nebenan wohl nöthiger.
Alſo kurz: er hat ſein letztes halbes Jahr bei mir
zugebracht und iſt bei mir geſtorben. Mühe hat er
mir nicht gemacht und Unkoſten auch nicht; aber (und
hier leuchteten die Augen der faſt Neunzigjährigen
wie die eines greiſen Feldherrn über ein Schlacht¬
feld) Freude hat er mir auch jetzt wieder gemacht:
er war doch der Närriſchſte, aber auch der Tapferſte
von euch Allen. Schade, daß er zu feine Nerven
mitbekommen hatte und ſo, ſo, ſo ſein Leben führen
und ſo, ſo zum Ende kommen mußte, wenn er nicht
[296] als euer Aller Narr oder im Irrenhauſe zu Grunde
gehen wollte.“
murmelte ich bis ins Tiefſte durch das ruhige Wort
der verſtandesklaren Greiſin erſchüttert.
„Das iſt es, was er drüben mit Kohle an die
Wand geſchrieben hat. Nun ſitzt die Frau Mungo
davor und hält den Kopf mit beiden Händen darüber,
das arme Ding. Als ob ſie die Schuld davon trüge,
daß euer Velten eigenthumlos über und von der Erde
gegangen iſt! Was hilft es mir, daß ich der lieben
Seele zurede: ‚Du konnteſt nichts daran ändern,
Herz;‘ es mußte eben auch einmal einen ſolchen
Egoiſten zu euch Anderen, wenn auch nur der Rarität
wegen, in der Welt geben. In ein Kloſter, wie
meine liebe Leonie, konnte Der nicht gehen. Mitleiden
hat er wohl gehabt, aber ein barmherziger Bruder
ſteckte nicht in ihm. Oh, wie die Zwei ſich zum erſten
Mal wiederſahen bei der Fechtmeiſterin Feucht, die
barmherzige Schweſter aus dem Diakoniſſenhauſe am
Rhein und Dieſer von allen Straßen der Welt, Beide
ohne Eigenthum auf und an der Erde!“
„Leonie des Beaux und Velten Andres?“
ſtammelte ich.
[297]
„Ja, die Beiden auch. Sie erinnern ſich der
Zeit wohl, wo das Vorderhaus noch ſtand, und wir
Alle, ſelbſt ich, noch jung waren. Nun war es im
September, und er hatte ſich vollkommen bei mir
eingerichtet, das heißt eigentlich ich ihm Alles. Nicht
aus meinem Geldbeutel; in ſeiner Brieftaſche hat er
genug Scheine aus aller möglichen Herren Länder
gehabt, daß ich ihm davon nicht bloß noch ein halb
Dutzend Hemden, ſondern auch alles Übrige beſorgen
konnte — nach ſeinem jetzigen kurioſen Leben wohl
noch auf Jahre hinaus. Auch in der Leihbibliothek
hatte ich ihn abonniren müſſen; denn ausgegangen
iſt er kaum mehr; da entſchuldigte er ſich immer mit
ſeinen kranken Füßen. Auf ſeinem alten Studenten¬
ſofa und ſeinem Bett hat er gelegen und den lieben
langen Tag und auch manchmal die Nacht durch ge¬
leſen, Alles, was ihm einmal gefallen hat in ſeiner
Kindheit und Jugend, und immer aus den alten,
ſchmierigen, ekligen, zerriſſenen Bänden von Olims
Zeiten. Brachte ich ihm ein, neues Exemplar, ließ
er's liegen und meinte: ‚Mutter Feucht, das iſt das
Rechte nicht.‘ — Ja, ja, man konnte ſich bei Allem
irgend etwas denken, aber man mußte ſich wirklich
ſehr in ſeine Grillen und Schrullen hineinfinden.
Und ſehen Sie mal, Herr Oberregierungsrath, das iſt
jetzt denn auch wirklich mein Stolz und meine Freude,
[298] daß er mit denſelbigen, ich meine die Schrullen und
Grillen, nur bei mir eine Unterkunft geſucht hat.
Ja, er iſt freilich nicht der einzige von meinen alten
Herren, dem gegenüber ich die Jüngere geblieben
bin mit Gottes gnädigem Beiſtand. Aber da brauchen
Sie nur auf die Straße hinauszugucken: wenn ſo
Eine von uns über ihre Jugendſchwäche herausge¬
kommen iſt, da weiß ſie ſchon ihren ihr vom Herrgott
anbefohlenen Wackelkopf und Knickebein auch an der
Linden- und Friedrichſtraßenecke durchs Gewühl zu
dirigiren. Überheben Sie ſich ja nicht über Ihre
liebe Frau unbekannterweiſe, Herr Krumhardt. Wenn
Sie die jetzt gut behandeln und handhaben, thut die
Ihnen vielleicht auch noch mal das Gleiche.“
Der letzte Schein der Herbſtſonne war längſt
von dem Stückchen Himmelszelt vor unſerm Fenſter
gewichen; die Dämmerung kam raſch, und ich hätte
gern hier das Protokoll abgekürzt; aber wenn wer
jetzt was zu den Akten zu geben hatte, ſo war das
doch die Frau Fechtmeiſterin Feucht, und ich unterbrach
ſie nicht durch überflüſſige Bemerkungen meinerſeits,
zumal ſie ſelber ſagte:
„Ich komme ſofort auf die Hauptſache, Herr
Oberregierungsrath, aber ihr Herz hat Unſereine auch
voll bei ſolcher Sache!“
Ich konnte, nachdem ſie ſich die Augen getrocknet
[299] hatte, nur die beiden lieben tapferen Knochenhände
faſſen, in die ſich Velten Andres zu ſeiner letzten
Pflege gegeben hatte.
„Herrgott, wie habe ich dann ſeine und meine
Stube voll gehabt von der vergangenen Zeit.
Wie er es erfahren hat, daß ſein Freund wieder da
ſei und im alten Quartier, weiß ich nicht; aber er
war auch ſofort da, der Herr Kommerzienrath, und
was es dann für Scenen zwiſchen ihnen gegeben
hat, davon weiß auch Niemand zu erzählen als ich.
Wie haben ſie in Güte und in Gewalt an ihm gezerrt
und gezogen, daß er mit ihnen kommen ſollte! Als
wenn es bei Dem jemals der Welt Pracht und Herr¬
lichkeit gethan hätte! Sein Behagen hat er wie alle
anderen Leute durch ſein Leben haben wollen, aber
nur auf ſeine eigene kurioſe Art, und ſo hat er es
zuletzt nur bei der Fechtmeiſterin Feucht finden können.
Und der Herrgott hat ihm Gnade dazu geſchenkt;
eigentlich ſo recht krank iſt er gar nicht geweſen; ſein
Herz hat nicht mehr gewollt, haben dem Herrn
Kommerzienrath ſeine Doktoren geſagt. Er iſt auch
gar nicht weiter von Fleiſch gefallen, ſondern im
Gegentheil. Er ſchob es auf ſeine Füße, daß er lieber
lag als ging; aber die hätten wohl auch ausgehalten,
wenn das dumme Herz gewollt hätte. Das hatte
aber Alles, Alles aufgegeben und ſo auch ſeine Füße.
[300] Sehen Sie, Herr Oberregierungsrath, an meinem
armen Velten habe ich erſt als Neunzigjährige gelernt,
daß es eine Dummheit iſt, wenn man ſagt: der
Menſch braucht nur zu wollen. Dieſer wilde Menſch
konnte nicht mehr wollen, und ſo hätte ihn auch
Schweſter Leonie mit dem beſten Willen nicht wieder
auf die Füße ſtellen und in den Tumult draußen in
unſerer Dorotheenſtraße ſtoßen können, ſelbſt wenn
ſie gewollt hätte! Aber wenn Eine auch ſchon aus
dem Menſchenlärm heraus iſt, ſo iſt das meine
Leonie, meine Leonie des Beaux! Sie iſt zuerſt mit
ihrem Bruder gekommen; aber dann auch allein. —
Oh, wenn ich an die alte Zeit in dem alten Vorder¬
hauſe denke, wie ſchön ſie war, ich meine meine Leonie,
und wie ſchön ſie ſpielte und ihre alten franzöſiſchen
Lieder ſang und Alles mitten in dieſem Berlin wie
ein fremdländiſches Märchen war — oh! . . . Aber
nun war dies jetzt noch tauſendmal mehr wie aus
einer andern Welt heraus, als wie das Frühere.
Stellen Sie ſie ſich nur vor, die Beiden, gerade die
Beiden, die ſo wieder aus ihren jungen Tagen und
Phantaſien ſich ſo wieder bei der Fechtmeiſterin Feucht
zuſammenfinden mußten und nichts mehr um ſich
und in ſich von der Erde Herrlichkeit und was ſonſt
der Menſch zu ſeinem Wohlbehagen und ſeiner Freude
als ſein Eigenthum um ſich feſthält und für es
[301] nicht bloß mit dem Schläger, ſondern auch mit Mund,
Hand und Herzen auf die Menſur tritt! Sehen
Sie, Herr Oberregierungsrath, nacherzählen kann ich
es nicht, aber verſtanden und mitgefühlt habe ich,
was da im letzten Monat zwiſchen dieſen zwei
Menſchenkindern vorgegangen iſt. Zuſammen hätten
Die nie kommen können, aber ſich darüber ausſprechen,
wie ſie durchs Leben gekommen ſind, das konnten
ſie und das haben ſie gethan und ſind friedlich und
ruhig voneinander geſchieden — ganz ruhig, viel,
viel ruhiger als damals im Vorderhauſe, wo ſie das
Leben noch vor ſich hatten. Aber — großer Gott,
das iſt ja vollſtändig Nacht, und die arme Frau da
drüben hat noch immer kein Licht!“
Völlig Nacht war es wohl noch nicht; aber volle
Abenddämmerung freilich.
„Bitte, gehen Sie jetzt hinüber; ich komme mit
der Lampe nach,“ ſagte die Frau Fechtmeiſterin, und
zögernd, bangend erhob ich mich, betäubt, mühſam
nach Athem ringend ſtand ich und ſuchte vergeblich
nach irgend etwas in mir, was mir den wunderlich
ſchweren, ſchreckenvollen Weg zu der Thür da drüben
[302] leichter und lichter machen konnte. Es giebt ſo
Augenblicke, Zeiten, Umſtände im Menſchenleben, wo
man es vollkommen vergeſſen hat, daß ſich in der
Welt im Grunde nachher „Alles von ſelber
macht“.
Wie iſt eben jetzt, da ich dieſes bei offenem
Fenſter und Frühlingsſonnenſchein an einem geſchäfts¬
loſen Feiertagsmorgen zu den Akten des Vogelſangs
bringe, dem alten Gemeinplatz wieder ſein volles
Recht geworden! —
Der Frühlingsanfang fällt immer in den Monat
März, aber in dieſem Jahr ſind auch die hohen Oſtern
hineingefallen. Ich ſchreibe am Morgen des erſten
Oſtertages, und über das Nachbardach ſieht mir noch
immer, unverdaut, die höchſte Kuppe des Oſterbergs
auf den Schreibtiſch. In der Frühlingsſonne liegt
der liebe Hügel ſchon, auf dem wir unſere glücklichſten
und ahnungsvollſten Jugendträume träumten und
die Sterne fallen ſahen, noch einige Wochen und das
junge Buchengrün wird von dem Oſterberge herüber¬
leuchten : wie ſich auch das immer wieder von ſelber
macht!
Aber was hilft es dem Menſchen in ſeinem
einzelnen Bedrängniß, daß Himmel und Erde jung
bleiben und ſein Geſchlecht auch? Gegenwärtig
blendet mich über meinem Protokoll der Glanz von
[303] Himmel und Erde, und ich muß dagegen mit der
Linken die Augen verdecken, wenn die Rechte die
Feder weiter führen ſoll. „Kind, erſt nach der Kirche!“
hat meine Frau glücklicherweiſe vorwurfsvoll zu
meiner muſikaliſchen Älteſten geſagt: ich würde ſonſt
mich auch wohl ſelber gegen den Flügel und die
junge Frühlingsluſt in Tönen im zu nahe ge¬
legenen Nebengemach haben wehren müſſen. —
Von ſelber hatte es ſich trotz meines innerlichſten
ſchaudernden Widerſtrebens gemacht, daß ich in dem
Gemache ſtand, wo Velten Andres geſtorben war
und Helene Trotzendorff auf ſeiner leeren Bett¬
ſtatt ſaß.
Helene Trotzendorff! Unſere Elly aus dem
Vogelſang — verwittwete Miſtreß Mungo — unſere
Helene. Mit den Ellenbogen auf den Knieen und
dem Kopf in den Händen, im letzten grauen Tages¬
licht des Monats November — die Öde um ſich her —
eigenthumlos, beſitzesmüde in der Welt, ſie, die in
New York zu den reichſten Bürgerinnen der Vereinigten
Staaten gerechnet wurde!
„Ellen!“
„Biſt Du das, Karl?“ fragte ſie, das Geſicht
langſam aus den Händen erhebend.
Wie viele Jahre waren es her, daß wir unſere
Stimmen nicht mehr gehört hatten? Und wie ſie
[304] nun aus dem langen Zeitraum ſich ſo fremd und
doch ſo bekannt entgegenklangen!
Sie richtete ſich auf zu ſtattlicher Höhe. In der
Erinnerung hatte ich ſie, wenn nicht klein, doch von
nur mittlerem Wuchs und zierlich gelenkig. Alle
Hügel, Büſche, Mauern, ja auch Bäume um den
Oſterberg herum konnten ja davon berichten, wie ſie ſich
durchzuwinden, zu ſpringen und zu klettern wußte.
Nun ſtand ſie in dem letzten grauen Licht des
Novembertages ſo ganz anders als Die, auf welche ich
mich die letzten Tage vorbereitet hatte, um ihr hilfreiche
Hand in einem großen Schmerz zu leiſten. Später
bei Tageslicht würde ich wohl geſehen haben, daß ſie
noch immer eine ſchöne Frau war, trotz dem Silber,
in das ſich ihr goldenes Haar verwandelt hatte, doch
das geht zu den Akten wie ſo manches Andere von
geringer Bedeutung. Als die Frau Fechtmeiſterin jetzt
mit der Lampe kam, ſah ich auch auf ihrer weißen,
klugen, vom Alter nur leicht gefurchten Stirn das
Wort geſchrieben:
Sie reichte mir jetzt erſt die eine Hand her,
dann auch die andere, und über die Schulter nach
dem leeren Bett zurückblickend ſagte ſie:
„Wie gut von Dir, daß Du auf meinen Brief
ſo raſch durch Dein Kommen geantwortet haſt. Ich
hätte Dich gern früher hier gehabt, aber — er wollte
es nicht. Eure gute Leonie und mich hat er ſich um
ſich gefallen laſſen müſſen, wohl oder übel. Da habe
ich, da haben wir auch unſern Willen gehabt! Sie,
eure Leonie, iſt nun wohl ſchon wieder in ihren
Frieden heimgekehrt; aber ich — ich habe noch nicht
wieder gehen können. Ja, Karl, ich habe hier ge¬
ſeſſen und auf Dich gewartet, um Dir von uns zu
ſprechen — von ihm und mir, und wenn es auch nur
wäre, um einen beſſern Platz in Deinem Gedächtniß
zu bekommen, als ich ihn bis jetzt gehabt habe, ſeit
er Dir zuletzt bei euch — im Vogelſang von mir
geſprochen hat.“
Nun hätte ich ihr ſagen müſſen, wie wenig von
ihr zwiſchen uns die Rede geweſen war in der Zeit,
da Velten Andres mit ſeinem Eigenthum in der
Heimath aufräumte; aber die Frau Fechtmeiſterin
ließ mir glücklicherweiſe nicht die Zeit.
„Ja, ſprechen Sie ſich nur aus, armes, liebes
Frauchen; der Herr Oberregierungsrath iſt immer ein
guter Zuhörer geweſen,“ ſagte ſie und fügte kopf¬
ſchüttelnd bei: „Wo die Leute aus ſo verſchiedenen
Welten kommen wie jetzt bei mir, da muß man ja
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 20[306] wohl für Jeden ein anderes Wort haben. Fräulein
Leonie —“
Miſtreß Mungo fuhr mit einem ſo wilden
Schulterzucken auf, daß die Alte nur noch einmal
den Kopf ſchüttelte, die Lampe ein wenig weiter in die
Mitte des Tiſches rückte und — Helene Trotzen¬
dorff und Karl Krumhardt mit Velten Andres allein
ließ. —
„Er wollte nichts mehr um ſich haben, der ver¬
rückte Menſch,“ hatte mir vorhin die Frau Fecht¬
meiſterin noch mitgetheilt. „Nichts weiter brauche er,
als einen Tiſch, einen Stuhl und ein Bett. Du
lieber Gott, als ob hier jemals bei meinem jungen
Volk vom Überflüſſigen hätte die Rede ſein können!
Er aber ſchob Alles und Jedes von ſich ab und mir
vor die Thür. Ja, ſehen Sie ſich nur drüben um.
Um ein feſtes Herz zu kriegen, hat er ſich zu einem
Thier, zu einem Hund gemacht; — ſehen Sie ſich
nur bei ihm um, Herr Oberregierungsrath.“
Das that ich nun bei dem trüben Licht der
kleinen Lampe und empfand nichts von einer Be¬
freiung von der Schwere des Erdendaſeins in dieſer
Leere, ſondern im Gegentheil, den Druck der Materie
ſchwerer denn je auf der Seele. Ich hätte freier
geathmet im Staube, der aus hundert Fächern die
Wände uns verenget, unter dem Trödel, der mit
[307] tauſendfachem Tand in dieſer Mottenwelt uns dränget.
Die Luft entging mir, und es war mir eine Er¬
löſung aus traumhaft wüſtem Bann, als mich doch
noch eine Menſchenſtimme anſprach, und die Freundin,
unſere Freundin, ſagte:
„Laß uns niederſitzen, lieber Karl;“ und mit
hartem Lächeln hinzufügte: „erzählend trübe Mär
vom Tod der Könige.“
Sie ſprach das Dichterwort engliſch: „Let us
sit upon the ground, and tell sad stories of the
death of kings,“ und als ich nach dem Stuhl griff,
ließ ſie ſich wieder auf der eiſernen Bettſtatt nieder,
von der ſie ſich bei meinem Eintritt erhoben hatte,
und deutete auf den Platz ihr zur Seite:
„Dahin, mein Freund! Erinnerſt Du Dich wohl
noch der Bank auf dem Oſterberge, von welcher aus
wir vor hundert Jahren einmal die Sterne fallen
ſahen und die Götter verſuchten, indem wir unſere
Wünſche und Hoffnungen damit verknüpften?“
Sie wartete meine Antwort nicht ab, ſondern
fuhr haſtig fort, als fürchte ſie ſogar, durch eine
Zwiſchenrede in ihrem wilden Drange, ihrer Seele
Luft zu machen, aufgehalten zu werden:
„Seht,“ (ſie ſprach, als ob Velten noch wie
damals zwiſchen uns ſitze), „ich hätte mir lieber die
Zunge abgebiſſen, als ganz wahr davon geſprochen,
20 *[308] wie ich mir mein Lebensglück dachte. Und ihr kanntet
das ja auch zur Genüge; meine arme Mutter hat
gut dazu geholfen, und ich kannte euer Grinſen und
Lachen. Das war euer albernes Jungensrecht, und
er vor Allem hat Gebrauch davon gemacht — nicht
bloß im Vogelſang und auf dem Oſterberge, ſondern
auch im großen Leben, drüben in Amerika, in London,
in Paris und Rom, wo mir nachher einander ge¬
troffen haben! Und wir haben einander wieder ge¬
troffen, Karl. Wie wir uns ſträuben mochten, wir
mußten einander ſuchen — bis in den Tod, bis auf
dieſes harte Bett, in allem Sturm und Sonnenſchein
des Daſeins bis hinein in dieſen Novemberabend.
Das war noch ſtärker als er, und er hielt ſich für
ſehr ſtark; ich aber kenne ihn in ſeiner Schwäche.
Da er ſich nicht anders gegen mich wehren konnte
und mich überall in ſeinem Leben, in ſeinen Gedanken
und Träumen und in ſeinem Thun fand, da er mich
nicht aus ſeinem Eigenthum an der Welt los wurde,
mußte er ja allem Beſitz entſagen, alles Eigenthum
von ſich ſtoßen und hat — doch vergeblich — den Vers
dort an die Wand geſchrieben! Es war ja auch nur
ein thörichter Knabe, der mit ſeinem leichtbewegten
Herzen zuerſt in jenen nichtigen Worten Schutz vor
ſich ſelber ſuchte!“
Sie wies auf die ärmlich weißgetünchte
[309] Wand, auf die letzte Spur von Velten Andres'
Erdenwanderſchaft; dann nahm ſie das Geſicht in
beide Hände und ſenkte das Haupt tiefer, und ein
Froſtſchauer ſchien ihr über den Nacken zu laufen.
Nun griff ſie nach meiner Hand und drückte ſie zu¬
ſammen, daß ſie ſchmerzte:
„Sprich nicht zu mir, Karl! Was könnteſt Du
ſagen? Laß mich ſprechen! Wen habe ich denn auf
der ganzen weiten Erde, zu dem ich von mir reden
könnte? Ich, die ich die ganze weite Erde zum Eigen¬
thum habe und nur die mit Gold gefüllte Hand
hinzuhalten brauche, um meinen Willen zu haben,
wie ich ihn auf dem Oſterberg in mein Herz deſto
zorniger verſchloß, weil ihr ſchon zuviel davon wußtet!
Wäre ich doch wie Andere, die ſich damit tröſten
können und es auch thun, daß ſie verkauft worden
ſeien, daß es von Vater und Mutter her ſei, wenn
ſie gleich wie Andere auf dem Markte der Welt eine
Waare geweſen ſind! Aber das wäre eine Lüge,
und gelogen habe ich nie, und feige bin ich auch
nicht, und wenn er was von mir wußte, war es
das. Was ich geworden bin, iſt aus mir ſelber,
nicht von meiner armen Mutter her und noch weniger
von meinem Vater. In unſerm Vogelſang unter
unſerm Oſterberge war ich dieſelbe, die ich jetzt war,
wo ich hier lag vor dieſem Bett und ihn mit meinen
[310] Armen umſchloſſen hielt und auf ſeine letzten Worte
wartete. Da ſtrich er mir mit ſeiner Hand noch
einmal über die Stirn und lächelte: ‚Du biſt doch
mein gutes Mädchen!‘ Das war auch wie in unſeren
Wäldern zu Hauſe, wo er mich mit dem Worte
tauſendmal zum Küſſen und Kratzen, zu Thränen
und zum Fußaufſtampfen brachte. Was wußte eure
weiche, fromme Leonie von ihm und mir? Deine
liebe Frau zu Hauſe, in Deinem lieben Hauſe, Karl,
könnte da vielleicht noch mehr von uns wiſſen, denn
die lebt nicht allein im Traum, ſondern hat Dich
und ihre Kinder und nicht bloß die Geſchichte ihrer
Väter von vor Jahrhunderten und ihr Reich Gottes
von heute. Was hatte dieſe Fromme, Milde, Sanfte
ſich zwiſchen mich und ihn zu drängen? Was wollte
ſie hier? Ich, ich, ich, die Wittwe Mungo hatte
allein das Recht, in dieſem leeren Raum mit ihm
den Kampf bis zum Ende zu ringen. Auch ihn zu
begraben hatte ich keinen von euch nöthig, auch euren
Herrn Leon nicht, obgleich ich mir deſſen Freundlich¬
keit gefallen laſſen habe. Was hattet ihr ihm in ſeinen
letzten Tagen und Stunden hinſprechen können, was
ihm den alten Glanz in ſeinen Augen feſtgehalten
hätte? Lache nicht über meine greiſen Haare, über
das verrückte alte Frauenzimmer. Vor zwei Jahren
war ich, ich, die Wittwe Mungo, mit meiner Jacht
[311] von Brindiſi nach Alexandrien gekommen und er als
Dolmetſcher auf einem Pilgerſchiff durch den Suez¬
kanal von Dſcheddah; da haben wir uns auch ge¬
troffen im Hotel an der Wirthstafel. Was wißt
ihr hier im Land von uns Beiden? Damals hat auch
er mich ſeine alte Nilſchlange genannt — oh, ich habe
ſeinetwegen mir ja die ganze Gelehrſamkeit von Pough¬
keepſie zuſammentragen müſſen in mein armes Hirn: ſie
waren auch in unſerm Alter, der Mark Anton und
ſeine ägyptiſche Königin. Sie waren auch alte Leute,
er über die Fünfzig hinaus, ſie vierzig Jahre alt,
und haben doch ihren Kampf um ſich kämpfen müſſen
bis zum Tode, bis ſie beide todt waren. Sie zuletzt!
Ja, auch ich lebe noch und habe noch meine ganze Herr¬
lichkeit um mich her und ſie nicht verloren wie die
Ägypterin die ihrige bei Aktium. Ja, merkſt Du, ich
habe ſeinetwegen Geſchichte und auch Litteraturgeſchichte
getrieben. Da iſt noch ein ander Paar aus meinen
Büchern. Am achtzehnten Oktober Achtzehnhundert¬
dreizehn hat euer alter Goethe — nicht mehr der
junge, der uns den giftigen Vers gab, den Vers, der
unſer Leben vergiftet hat! — ja, was wollte ich
ſagen? ja, hat euer alter Goethe ſein letztes ſchönes
Gedicht gemacht — auf die Eliſabeth von England,
die ihrem Liebſten den Kopf abſchlagen laſſen mußte.
Das konnte die Wittwe Mungo — nein, das konnte
[312] Helene Trotzendorff nicht, wie gern ſie ihm auch oft
den Fuß auf das Herz, das gefühlloſe Herz geſetzt
haben würde! Sie hat ihm nur die Hand darunter
legen dürfen — hier auf ſeinem Sterbebett, in ſeiner
Todesſtunde, darunter legen müſſen! Wie konnte
ſie anders, die Witwe Mungo, da er ſie nicht er¬
würgt und ſie auch nicht angeſpieen hatte — da der
arme Komödiant das elendeſte Gut auf dieſer Erde,
das leichtbewegte Herz trotz aller Reime eurer Poeten
und aller Sprüche eurer Weiſen in ſeiner Bruſt hatte
behalten müſſen, ſo ſüß und ſo bitter wie ich, die
arme Komödiantin, das meinige, trotzdem daß ich
mit dem Vogelſang und dem Oſterberg auch unſer
liebes fürſtliches Reſidenzſchloß im Thal und die
ganze Stadt und das halbe Herzogthum aus meinen
amerikaniſchen Eiſenbahnen und Silberbergwerken
kaufen könnte?! Sein weiſes, thörichtes Haupt in
meiner leeren Hand — meiner leeren, leeren be¬
ſitzloſen Hand: oh wie Schade, daß Du kein Vers¬
macher biſt, Du guter Freund Karl, ſonſt ſollteſt
Du über Velten Andres' und Helene Trotzendorffs
Sterne, Wege und Schickſale ein Lied machen. Ob
Du ein Philoſoph biſt, weiß ich nicht; aber daß Du
ein kluger, guter, verſtändiger Mann biſt, das weiß
ich; und ſo wenn wir jetzt wohl auf Nimmerwieder¬
ſehen von einander ſcheiden, dann gehe heim zu
[313] Deiner lieben Frau und Deinen lieben Kindern und
erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene
Trotzendorff und Velten Andres und wie ſie frei von
allem Erdeneigenthum ein trübſelig Ende nahmen.
Schreib in recht nüchterner Proſa, wenn Du es
ihnen, der beſſern Dauer wegen, zu Papier bringen
willſt, und laß ſie es in Deinem Nachlaß finden, in
blauen Pappendeckeln, wie ich ſie immer noch unter
Deines guten Vaters Arme ſehe; und da er darauf
ſchreiben würde: ‚Zu den Akten des Vogelſangs‘,
ſo kannſt Du das ihm zu Ehren auch thun, ehe Du
ſie in Dein Hausarchiv ſchiebſt — ein wenig abſeits
von Deinen eigenſten Familienpapieren.“ — — —
Dieſe Blätter beweiſen es, daß ich — diesmal
ein wenn auch treuer, doch wunderlicher Protokoll¬
führer — nach ihrem Willen gethan habe, doch ab¬
ſeits von meinen und der Meinigen Lebensdokumenten
werden ſie nicht zu liegen kommen. Die Akten des
Vogelſangs bilden ein Ganzes, von dem ich und mein
Haus ebenſowenig zu trennen ſind, wie die eiſerne
Bettſtelle bei der Frau Fechtmeiſterin Feucht, und
[314] die Reichthümer der armen Miſtreß Mungo. Der
Menſchheit Daſein auf der Erde baut ſich immer von
Neuem auf, doch nicht von dem äußerſten Umkreis
her, ſondern ſtets aus der Mitte. In unſerem
deutſchen Volke weiß man das auch eigentlich im
Grunde gar nicht anders.
So habe ich wenig mehr zu der Sache beizu¬
bringen. —
„Du ſollteſt mit mir nach Hauſe kommen, He¬
lene,“ ſagte ich wieder, nachdem wir von unſerem trau¬
rigen Sitz aufgeſtanden waren. „Wenigſtens für einige
Zeit. In meiner Frau würdeſt Du eine liebe Freundin
finden, und auch die Kinder würden Dir nicht mi߬
fallen. Laß uns nicht ſo, laß uns nicht hier ſcheiden.
Komm zu uns, komm mit mir in die alte Heimath
und erwarte dort den Frühling! Die Bank auf dem
Oſterberge ſteht noch, und wir ſollten da noch einmal
zuſammen ſitzen in der Abendſonne und die Wälder,
die Hügel, das Thal, die Welt und den Vogelſang
auch noch einmal zu uns reden und uns rathen laſſen
auf der wankenden Erde. Glaubſt Du nicht, daß
ſie auch Dir eine andere Sprache ſprechen werden,
als dieſe dunklen Wände und der nichtige Spruch
dort, dem kein Menſch weniger Folge gegeben hat,
als ſein Verfaſſer?“
Sie hat den Kopf geſchüttelt, die arme reiche
[315] Frau, die Wittwe Mungo, wie ſeiner Zeit Velten in
ſeinem thür- und fenſterloſen Hauſe im Vogelſang.
„Laß mich, beſter Freund,“ ſagte ſie. „Was
ſollte die Wittwe Mungo bei Deinen lieben Kindern
und Deiner guten Anna? Ich wollte Dich ja auch
nicht bei ſeinem Begräbniß haben, Karl. Frage die
alte Frau da draußen, wie glücklich ich hier — jetzt
— in meinem Beſitz, meinem Eigenthum, meinem
Reichthum in der Welt geweſen bin. Was hätte die
Heilige, die Franzöſin, eure — ſeine Leonie ihm
noch in ſein todtes, taubes Ohr flüſtern können? Aber
ich, ich habe das gekonnt, nachdem ich ihm die Augen
zugedrückt hatte und ihn im Arm hielt, die Nacht
durch. Ich habe ihm viel zu erzählen gehabt, wie
es mir ergangen iſt im Leben, ſeit dem Abend, an
welchem er in meines Vaters Hauſe das Blatt aus
dem Buche riß, und da hat er mir vergeben; denn
weißt Du, wie er jetzt gelächelt hat in ſeinem be¬
friedigten Willen, das hat aus meinem wilden,
albernen, kranken Hirn das Lächeln verſcheucht, mit
dem er mir in New York das Blatt hinhielt: Sei
gefühllos! Siehſt Du, das — ſein Geſicht, ſein
gutes Lachen eine Stunde nach ſeinem Tode, das
gehört nun mir für alle Zeit, mein einziges Eigen¬
thum für alle Zeit. So mein Eigenthum, daß auch
Niemand mit mir nur darüber reden ſoll, und des¬
[316] halb kann ich auch mit Dir nicht nach Hauſe gehen;
die Heimath würde mir und ihm nur zu verwirrend
dreinreden und mir an meinem einzigen Beſitz auf
Erden zerren und zupfen. Auch die Berge und
Thäler der Heimath würden ſich nur zwiſchen uns,
zwiſchen Velten Andres und Helene Trotzendorff
drängen. Ich kann ſie nicht wiederſehen, und ſie
ſollen mir ſein Geſicht ſo laſſen, wie ich vorgeſtern
das Tuch darüber gedeckt habe.“ —
Da habe ich es auch ihr, wie ſeiner Zeit Velten
gegenüber, aufgeben müſſen, die im Alltage Fremd¬
gewordene in mein Haus einzuladen als lieben und
kranken Gaſt; ſie aber hat die Frau Fechtmeiſterin
Feucht geküßt und ihr weinend den Kopf auf die
Schulter gelegt und geſchluchzt:
„Mutter, daß Du nicht mit mir kommen wirſt,
das weiß ich; alſo ſieh, damit man uns, Dich und
mich, nie von hier austreiben könne, habe ich dieſes
Haus gekauft, Deines lieben Stübchens und dieſer
vier Wände wegen. Euer Freund, Herr Leon, iſt
mir auch dabei behilflich geweſen, lieber Krumhardt.
Sie mögen wohnen bleiben und ihr Leben und ihre
Geſchäfte treiben da draußen, der Gaſſe zu; was
kümmert uns das?! Aber hier ſoll Niemand weiter
ein Recht haben, als die Frau Fechtmeiſterin Feucht
und Helene Trotzendorff. Ich werde wohl noch oft
[317] und weit in die Welt hinaus müſſen, ihr Guten;
aber wo ich auch ſein mag, will ich die Sicherheit
dieſes meines Eigenthums haben; denn nicht wahr
Mutter, Du läßt mir dieſen Raum und duldeſt nicht
daß ſie die Worte da an der Wand übertünchen!
Und wenn ich zu Dir komme, nimmſt Du mich auf
wie — ihn?“
„Aber Kind, ich bin neunzig Jahre alt —“
„Wenn ich nicht zu Dir komme wie Velten
Andres, und Du haſt mich nöthig wie er Dich, ſo
merke ich das und erfahre es, wo ich auch ſein mag.
Fürs Erſte gehe ich ja auch nicht weit von hier weg.
Laß es ſo ſein, wie ich ſage!“ — — — — — —
Nun ſchritten wir durch die menſchenvollen
Gaſſen der Stadt, die Wittwe Mungo und ich. Um
uns her ſchienen ſie wirklich noch ein anderes heftiges,
leidenſchaftliches Intereſſe an dem Beſitz und Eigenthum
der Erde zu nehmen. Ich weiß es in der That nicht,
um was für ein ſtaatliches, politiſches, ſoziales Problem
es ſich unter den Leuten handelte, welche Menſchen¬
verſammlung einberufen oder auseinandergetrieben
worden war, und über welche Frage man wieder
mal nicht einig hatte werden können. Namen von
Führern im Gezerr klangen um uns her — ſehr
berühmt für den Tag, ſehr zeitungsgerecht — mit
Wuth, Hohn, Spott oder jubelndem Beifall aus¬
[318] geſprochen oder herausgeſchrieen. Es handelte ſich
ſicherlich um hohe Dinge; aber wie viele Leute gab
es da in dem Gedränge, die der Wittwe Mungo
höflich Platz gemacht haben würden, wenn ſie gewußt
hätten, wer die Frau in Trauerkleidung an meinem
Arm war, und über welche Mittel ſie verfügte, den
Neid der Menſchheit zu erregen und Menſchen glück¬
lich zu machen!
Sie wohnte natürlich im berühmteſten Gaſthauſe
der Stadt, und ich brachte ſie bis zu deſſen Thür:
„Was thun wir weiter mit der Nacht?“ fragte
ſie in dem Lichterglanz, inmitten der herbeieilenden
Dienerſchaft. „Willſt Du noch ein Stündchen mit
heraufkommen, und ſollen wir noch ein wenig von
anderen Sachen plaudern? Unſere Geſandtin hat
mir heute Morgen geſchrieben und mich dringend ge¬
beten, den heutigen Abend bei ihr nicht zu ver¬
ſäumen. Willſt Du mich dahin begleiten? Wir
werden ſehr willkommen ſein, und Mr. Irving, der
berühmte Komödiant, iſt aus London inkognito hier.
Willſt Du den Monolog: To be or not to be von
ihm hören? Der Herr wird mir einer Tournee
drüben bei uns zuliebe gewiß gern den Gefallen thun.“
„Lebe wohl, Helene. Laß uns Beide dazu thun,
daß wir einander noch einmal wiederſehen, gefeſteter
in uns auf der wankenden Erde.“
„Können wir das? Ja, ſo lebe wohl für heute,
mein Freund, mein Freund, und habe Dank dafür,
daß Du zu mir gekommen biſt. Ich wußte keinen
Anderen, den ich rufen konnte!“
So haben wir wieder Abſchied von einander
genommen. Ob für immer, wer kann's ſagen? Ich
hätte nun noch auch diesmal Freund Leon aufſuchen
können in Berlin, aber ich wußte es ja, daß ich die
Schweſter Leonie nicht mehr bei ihm finden würde.
Es war mir wirklich unmöglich, ſeinem Lebensbehagen
jetzt die rechte Theilnahme entgegenzubringen, ſeine
Wera ſingen, ſeine Viktoria Klavier ſpielen zu
hören und mit ihm den Erben der Troubadourharfe,
der Albigenſerlanze und des Hugenottenſchwerts der
Ahnen, ſeinen braven Friedrich vom Kadettenhauſe
zu Lichterfelde durch alle möglichen neuen kriegeriſchen
Ehren der Familie bis zu dem Prädikat Excellenz
zu begleiten.
Eine ſchlafloſe Nacht in meinem Gaſthauſe; dann
der Morgen und die Heimfahrt: — Trüber Tag. Feld!
— Die Wälder, Felder, Dörfer, Städte und die Bahn¬
höfe mit ihrem Getreide im triefenden November¬
regen und Nebel. Am Spätnachmittag vom Regen
und Nebel gleichfalls verhangen, der Oſterberg und —
ein erſtes Aufathmen!
Das Haus, die Frau und die Kinder! . . . Und
[320] ſo gegen Mitternacht am warmen Ofen, in allem Be¬
hagen Leon des Beaux', Annas Seufzer:
„Mein Gott, und ſie weiß gar nichts mit ihren
ungezählten Millionen anzufangen?“
„O doch! Sie hat Land und Meer um den Erd¬
ball zur Verfügung. Sie baut Paläſte, Krankenhäuſer,
kauft Bücher, Bilder, Bildſäulen, unterſtützt —“
„Aber das iſt doch gar nichts! Das ändert an
ihr und an der Welt nichts. Ach, ich ſollte an ihrer
Stelle ſein!“
„Du?“ fragte ich geſpannt. „Was wollteſt Du
denn mit ihrem vielen Gelde beginnen?“
„Nun — ich habe doch meine Kinder?!“ —
— — — — — — — — — — —
Es iſt ein lichtgrüner, ſchöner Frühlingstag, an
welchem ich dieſes zu Papier bringe. Ich könnte auf
dem Blatte den ſpäteſten Nachkommen noch einmal
mit hinaufnehmen auf die Bank im Sonnenſchein
von heute auf dem Oſterberge; aber ich ſchließe:
\>Die Akten des Vogelſangs.
Appendix A
Berliner Buchdruckerei-Aktien-Geſellſchaft (Setzerinnen-Schule des Lette-Vereins.)
[][][]
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Raabe, Wilhelm. Die Akten des Vogelsangs. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn8h.0