Staatsrecht
des
Deutſchen Reiches.
Akademiſche Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck).
[[II]]
Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen behält ſich die
Verlagshandlung vor.
Druck von H. Laupp in Tübingen.
[[III]]
Inhalts-Verzeichniß.
- Elftes Kapitel.
Das Gerichtsweſen des Reiches. - Seite
- Seite
- § 96. Einleitung 1
- § 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit 18
- § 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten 46
- § 99. Die Gerichtsbarkeit des Reiches 54
- § 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe 66
- § 101. Die Gerichte 76
- § 102. Die Staatsanwaltſchaft 96
- § 103. Die Rechtsanwaltſchaft 109
- § 104. Der Gerichtsdienſt 125
- § 105. Die Zeugenpflicht 154
- § 106. Die Koſten und Gebühren 183
- Zwölftes Kapitel.
Das Finanzweſen des Reiches. - I.Abſchnitt. Das Reichsvermögen.
- § 107. Der Reichsfiskus 190
- § 108. Das active Reichsvermögen 201
- § 109. Die Reichsſchulden 228
- II.Abſchnitt. Die Einnahmequellen des Reiches.
- § 110. Ueberſicht 240
- A. Die Zölle und Verbrauchsſteuern.
- § 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen 242
- § 112. Die Einheit des Zoll- und Handelsgebietes 251
- § 113. Die einheitliche Zoll- und Steuergeſetzgebung 268
- § 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern 283
- § 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten und dem Reiche 292
- § 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs und die ſtatiſtiſche Gebühr 301
- Seite
- B. Die Reichs-Stempelabgaben.
- § 117. Der Spielkarten-Stempel 306
- § 118. Der Urkunden-Stempel 308
- III.Abſchnitt. Die Finanzwirthſchaft des Reiches.
- § 119. Allgemeine Charakteriſtik 318
- § 120. Die Einnahmen 322
- § 121. Die Ausgaben 325
- § 122. Die Matrikularbeiträge 330
- IV.Abſchnitt. Das Budgetrecht.
- § 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Etatsgeſetzes 339
- § 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes 353
- § 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ohne Etats-
geſetz 367 - § 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung 376
- Sach-Regiſter 392
- Stellen-Regiſter 438
Elftes Kapitel.
Das Gerichtsweſen des Reiches.
§. 96. Einleitung.
I. „Der Schutz des innerhalb des Bundesgebiets gültigen
Rechtes“ gehört zu den Zwecken, zu welchen nach den Eingangs-
worten der Verfaſſung der Norddeutſche Bund und ebenſo das
Deutſche Reich gegründet worden ſind. Die Realiſirung dieſer
Aufgabe mußte aber bei Errichtung des Norddeutſchen Bundes
zunächſt den Einzelſtaaten vollſtändig überlaſſen bleiben; ein
Bundesgericht gehörte nicht zu den Organen, mit denen der neue
Bundesſtaat bei ſeiner Schöpfung ausgeſtattet werden konnte. Die
Verfaſſung begnügte ſich, den Einzelſtaaten die Handhabung der
Rechtspflege zur Pflicht zu machen, indem ſie dem Bundesrath die
Befugniß beilegte, Beſchwerden über verweigerte oder gehemmte
Rechtspflege anzunehmen, dieſelben nach der Verfaſſung und den
beſtehenden Geſetzen des betreffenden Bundesſtaates zu beurtheilen
und, falls die Beſchwerde für begründet gefunden wird, die ge-
richtliche Hülfe bei der Bundesregierung, die zu der Beſchwerde
Anlaß gegeben hat, zu bewirken. (Verf. Art. 77.) Die ſtaatliche
Aufgabe des Bundes wurde demnach beſchränkt auf die Fürſorge,
daß die Gliedſtaaten das Recht ſchützen; eine eigene Gerichtsbar-
keit behufs unmittelbarer Verwirklichung des Rechtsſchutzes wurde
dem Bunde nicht beigelegt 1).
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 1
[2]§. 96. Einleitung.
Dagegen wurde dem Bunde die Befugniß zugewieſen, den
einzelnen Staaten die Normen vorzuſchreiben, nach welchen ſie
den Rechtsſchutz handhaben ſollten, indem die Zuſtändigkeit des
Bundes erſtreckt wurde auf die gemeinſame Geſetzgebung „über
das gerichtliche Verfahren.“ Verf. Art. 4 Ziff. 13.
Die Einzelſtaaten ſollten alſo zwar die Gerichtsbarkeit behalten,
dieſelbe aber nicht nach eigener Selbſtbeſtimmung (in ſouverainer
Weiſe) ausüben, ſondern nach Anordnung des Reiches. Bis zum
Erlaß dieſer gemeinſamen Geſetzgebung blieb allerdings nicht blos
die bunte Maſſe der partikularen Rechtsvorſchriften über das Ver-
fahren in Geltung, ſondern der Autonomie der Einzelſtaaten war
auch ihre Fortbildung und Umgeſtaltung überlaſſen.
Dieſe verfaſſungsmäßigen Prinzipien des Gerichtsweſens in-
volvirten zugleich den weiteren Grundſatz, daß die Bethätigungen
der Gerichtsbarkeit jedes Einzelſtaates nur innerhalb ſeines Ge-
bietes ſtaatsrechtliche Wirkſamkeit haben konnten, da ſie durchaus
als Ausübung der den Einzelſtaaten verbliebenen Herrſchaft er-
ſchienen. Um aber ein Zuſammenwirken der Einzelſtaaten zum
Zweck der Rechtspflege zu ermöglichen, wurde dem Bund die Kom-
petenz zugewieſen, „Beſtimmungen über die wechſelſeitige Voll-
ſtreckung von Erkenntniſſen in Civilſachen und Erledigung von Re-
quiſitionen überhaupt“ zu erlaſſen. Verf. Art. 4 Ziff. 11.
Durch dieſe 3 Punkte nämlich 1) Ausübung der Gerichts-
barkeit Seitens der Einzelſtaaten, 2) nach den vom Bund dar-
über erlaſſenen Vorſchriften und 3) unter gegenſeitiger vom Bund
zu normirender Verpflichtung zur Rechtshülfe, hatte die Verfaſſung
des Norddeutſchen Bundes die Grundform für die Geſtaltung des
Gerichtsweſens feſtgeſtellt.
In der Reichsverfaſſung ſind die erwähnten 3 Sätze
(Art. 77, Art. 4 Ziff. 13 u. Art. 4 Ziff. 11) zwar völlig gleich-
lautend mit den entſprechenden Beſtimmungen der Verfaſſung des
Norddeutſchen Bundes; bei der Gründung des Reiches war aber
der wirklich beſtehende Rechtszuſtand bereits erheblich umgeſtaltet
und eine noch viel weiter reichende Veränderung deſſelben war in
1)
[3]§. 96. Einleitung.
Ausſicht genommen und vorbereitet. Der Norddeutſche Bund war
in den wenigen Jahren ſeines Beſtehens über die erwähnten Grund-
linien hinausgegangen und hatte die verfaſſungsmäßig fixirten
Punkte verſchoben.
Er hatte nämlich erſtens eine eigene Gerichtsbarkeit
des Bundes anerkannt und organiſirt in dem Geſetz vom 12. Juni
1869 betreffend die Errichtung des Oberhandelsgerichts in Leipzig 1)
und dieſes Geſetz iſt bei der Errichtung des Deutſchen Reiches als
Reichsgeſetz anerkannt und auf die ſüddeutſchen Staaten und El-
ſaß-Lothringen ausgedehnt worden. Ohne daß die Frage hier
von Neuem erörtert werden ſoll, ob der Erlaß dieſes Geſetzes zur
Kompetenz des Norddeutſchen Bundes gehörte oder nicht und ob
das Geſetz mit dem Wortlaut der Bundesverfaſſung im Einklang
ſteht oder nicht 2), muß hier doch betont werden, daß es in Wahr-
heit die weitaus erheblichſte Aenderung bedeutete, welche der Ver-
faſſungszuſtand des Norddeutſchen Bundes überhaupt von ſeiner
Begründung bis zur Errichtung des Reiches erfahren hat. Hier
wurden nicht den Einzelſtaaten Vorſchriften ertheilt, wie ſie die
Gerichtsbarkeit auszuüben haben, ſondern in den zur Zuſtändigkeit
des Oberhandelsgerichts gehörenden Sachen wurde ihnen die Ge-
richtsbarkeit dritter Inſtanz genommen und auf den Bund über-
tragen. Soweit nicht prozeſſualiſche Vorſchriften im Wege ſtanden,
d. h. ſoweit nicht die partikularen Regeln über die Rechtsmittel
den Parteien die Möglichkeit abſchnitten, die Rechtsſtreitigkeiten an
das Oberhandelsgericht zu ziehen, vermochten die Einzelſtaaten
jetzt nicht mehr durch ihre Gerichte unbedingt rechtskräftige
Entſcheidungen fällen zu laſſen; denn dieſe Entſcheidungen wurden
nur unter der Vorausſetzung rechtskräftig, daß ſich die Parteien
bei den Urtheilen der territorialen Gerichte beruhigten, indem ſie
die Einlegung eines Rechtsmittels unterließen. Es war daher der
Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten in den zur Zuſtändigkeit des Ober-
handelsgerichts gehörenden Angelegenheiten die Spitze abgebrochen;
die von den Landesgerichten gefällten Urtheile waren in vielen
Fällen nur noch Etappen im Prozeßgange, die eine Inſtanz, d. h.
1*
[4]§. 96. Einleitung.
einen Prozeß abſchnitt, aber nicht nothwendig den Prozeß be-
endigten, nicht formelles Recht unter den Parteien ſchufen und
nicht (definitiv) vollſtreckbar waren. Eines der wichtigſten Hoheits-
rechte, die das allgemeine Staatsrecht überhaupt kennt, war ſonach
durch das Geſetz v. 12. Juni 1869 — wenngleich in ſachlicher
Hinſicht in enger Abgränzung — von den Einzelſtaaten auf den
Bund übergegangen. Dies war eine Veränderung des Verhält-
niſſes zwiſchen Einzelſtaat und Bund von prinzipieller Bedeutung.
Zwar hat die Verfaſſung des Nordd. Bundes nirgends aus-
drücklich beſtimmt, daß der Bund keine eigene Gerichtsbarkeit
haben ſolle oder daß den Einzelſtaaten der Anſpruch auf unge-
ſchmälerten Vollbeſitz dieſes Hoheitsrechts zuſtehe; die ſehr vage
Faſſung von Art. 4 Ziff. 13 ließ vielmehr einer Interpretation
Raum, wonach die Bundesgeſetzgebung „das gerichtliche Verfahren“
in jeder beliebigen Weiſe regeln konnte, alſo auch ſo, daß die Ge-
richtsbarkeit den Einzelſtaaten ganz oder theilweiſe genommen wurde.
Allein es beſteht darüber ja allſeitige Uebereinſtimmung, daß die
Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes in der Art auszulegen war,
daß den Einzelſtaaten alle Hoheitsrechte verblieben ſind, welche
ihnen nicht durch die Verfaſſung entzogen wurden, da Zweck und
Aufgabe dieſer Verfaſſung darin beſtand, nicht die Kompetenz der
Einzelſtaaten, ſondern die Kompetenz der Bundesgewalt zu
beſtimmen und die Einſchränkungen, welche die Hoheitsrechte
der Einzelſtaaten durch Gründung des Bundes erfuhren, feſtzu-
ſtellen. Das Schweigen der Verfaſſung über die Errichtung eines
Bundesgerichts bedeutete daher die Negirung einer eigenen Ge-
richtsbarkeit des Bundes und dies wurde durch die Spezialanord-
nungen der Verfaſſung hinſichtlich der Kompetenz des Bundesrathes
bei Beſchwerden über Juſtizverweigerung und hinſichtlich der Kom-
petenz des Ober-Appellationsgerichts zu Lübeck bei Hochverraths-
fällen in unzweifelhafter Weiſe beſtätigt. Das Geſetz vom 12.
Juni 1869 enthält daher zwar keine Abänderung derjenigen Sätze,
welche die Verfaſſung des Nordd. Bundes ausdrücklich aus-
ſpricht, wol aber brachte dieſes Geſetz einen Rechtsſatz über die
Zuſtändigkeit des Bundes zur Anerkennung, den die Bundesver-
faſſung durch Stillſchweigen ausgeſchloſſen hatte. Dem aus
Art. 4 Ziff. 13 folgenden Satze: Die Bundesſtaaten üben die Gerichts-
barkeit nach Maßgabe der ihnen vom Bunde darüber ertheilten
[5]§. 96. Einleitung.
Vorſchriften aus — wurde implicite der Verfaſſungsgrundſatz bei-
gefügt: ſie üben ſie auch nur in dem Umfange aus, den der
Bund beſtimmt d. h. ſoweit der Bund die Gerichtsbarkeit nicht
durch eigene Organe ausübt.
Da nun bei der Gründung des Reiches gleichzeitig mit der
Verfaſſung auch das Geſ. v. 12. Juni 1869 Geltung für das
ganze Reich erhielt, ſo ergibt ſich, daß die Verfaſſung mit der
in dieſem Geſetz enthaltenen Abänderung und Er-
gänzung eingeführt worden iſt und daß demnach der Schluß,
welchen man aus dem Schweigen der Verf. des Nordd. Bundes
über die Bundesgerichtsbarkeit ziehen mußte, aus dem Schweigen
der Reichsverfaſſung nicht gezogen werden kann. Das Reich
hatte vielmehr von Anfang an eine eigene Gerichtsbarkeit in
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und die verfaſſungsmäßige Kom-
petenz, den Umfang derſelben zu beſtimmen. Von dieſer Befugniß
hat das Reich auch einen ausgiebigen Gebrauch gemacht, indem
es ſeit dem 1. Oktober 1879 an die Stelle des Oberhandelsgerichts
das Reichsgericht geſetzt hat, dem eine umfaſſende Zuſtändigkeit in
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, ſowie in einigen
andern Angelegenheiten beigelegt worden iſt.
Der Norddeutſche Bund hat ferner in dem Geſetz v. 21. Juni
1869 1) die in der Verf. Art. 4 Ziff. 11 in Ausſicht genommenen
Vorſchriften über die Rechtshülfe erlaſſen. Während
aber die Verfaſſung nur von der Vollſtreckung von Erkenntniſſen
in Civilſachen und der Erledigung von Requiſitionen ſprach,
hat das Rechtshülfegeſetz bereits das Prinzip angebahnt, daß die
Bethätigungen der den Einzelſtaaten zuſtehenden Gerichtsbarkeit in
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und in Strafſachen ihre Wirkungen
auf das ganze Bundesgebiet erſtrecken. In Civilſachen wurde
der Grundſatz anerkannt, daß wenn eine Rechtsſtreitigkeit in einem
Bundesſtaate rechtshängig geworden oder rechtskräftig entſchieden
iſt, die Rechtshängigkeit oder die Rechtskraft vor jedem Gerichte
aller Bundesſtaaten geltend gemacht werden kann 2); daß die Ge-
richte des Bundesgebiets ſich gegenſeitig Rechtshülfe zu leiſten
haben, ohne Unterſchied, ob das erſuchende und das erſuchte Ge-
[6]§. 96. Einleitung.
richt demſelben Bundesſtaate oder ob ſie verſchiedenen Bundes-
ſtaaten angehören 1); daß das Erſuchen direct von Gericht zu Ge-
richt ergeht 2); daß die in einem Bundesſtaate ergangenen rechts-
kräftigen Erkenntniſſe im ganzen Bundesgebiete vollſtreckbar ſind 3)
und daß das in einem Bundesſtaate eröffnete Konkursverfahren in
Bezug auf das zur Konkursmaſſe gehörige Vermögen und in Be-
treff der Beſchränkungen der Verfügungs- und Verwaltungsrechte
des Gemeinſchuldners ſeine Wirkung in dem geſammten Bundes-
gebiete äußert 4). Aber auch in Strafſachen wurde im Prinzip
die Verpflichtung zur Rechtshülfe unter allen Gerichten des Bundes
anerkannt 5), eine ſehr ausgedehnte Pflicht zur Auslieferung ein-
geführt, die ſich auch auf die eigenen Angehörigen des erſuchten
Staates erſtreckt 6), die Nacheile der Sicherheitsbeamten in be-
nachbarte Staatsgebiete geſtattet 7), ja ſogar den Gerichten die
Pflicht zur Vollſtreckung der in einem anderen Bundesſtaate er-
laſſenen Strafurtheile in nicht unerheblichem Umfange auferlegt 8).
Nachdem im Wege des Vertrages die Anwendung dieſes Ge-
ſetzes auf Baden und Südheſſen ausgedehnt worden war 9), er-
folgte bei der Gründung des Reiches die Erklärung deſſelben zum
Reichsgeſetz. Im Deutſchen Reich waren daher von Anfang an
die Einzelſtaaten in Betreff der Ausübung der Gerichtsbarkeit in
eine viel innigere Wechſelbeziehung zu einander geſetzt als bei
Gründung des Norddeutſchen Bundes; ſie waren reichsgeſetzlich
verpflichtet, ihre Hoheitsrechte behufs Durchführung des Rechts-
ſchutzes einander zur Verfügung zu ſtellen und in weitreichendem
Umfange die gerichtlichen Beſchlüſſe, Entſcheidungen und Urteile
gegenſeitig anzuerkennen und zu vollſtrecken. War formell auch
die Gerichtsbarkeit ein Recht der Bundesſtaaten und als ſolches
in ſeiner Ausübung auf das Gebiet des einzelnen Staates be-
[7]§. 96. Einleitung.
ſchränkt, ſo erſtreckte ſich materiell doch ſeine Wirkſamkeit auf das
ganze Bundesgebiet. Im Prinzip war es bereits entſchieden, daß
die Einzelſtaaten hinſichtlich der Gerichtsbarkeit nicht iſolirt und
unabhängig ſind, ſondern daß ſie zu einem einheitlichen Rechts-
pflege-Syſtem verfaſſungsmäßig verbunden werden. Der vollen
und conſequenten Durchführung dieſes Prinzips ſtanden nur die
großen Verſchiedenheiten der Gerichtseinrichtungen und der Prozeß-
ordnungen noch hindernd im Wege.
Dieſer dritte Punkt war der wichtigſte; die Herſtellung der
in der Verf. Art. 4 Ziff. 13 erwähnten „gemeinſamen Geſetze über
das gerichtliche Verfahren“ blieb die bedeutendſte, aber freilich auch
ſchwierigſte Aufgabe. Auch ihre Löſung wurde bereits während
des Beſtehens des Norddeutſchen Bundes in Angriff genommen.
Verhältnißmäßig am leichteſten war die Abfaſſung der Civilpro-
zeß-Ordnung1). Schon zur Zeit des Deutſchen Bundes (1862)
war auf Veranlaſſung des Bundestages eine Commiſſion zu Han-
nover zuſammengetreten, an welcher die Vertreter aller größeren
Deutſchen Staaten mit Ausnahme Preußens Theil genommen
hatten, um den Entwurf zu einer für ganz Deutſchland gemein-
ſamen Civilprozeß-Ordnung auszuarbeiten. Dieſe Commiſſion hatte
im Jahre 1866 den (ſogen. Hannöveriſchen) Entwurf feſtgeſtellt,
der durch den Druck veröffentlicht wurde. Auch in Preußen war
bereits 1864 ein Entwurf einer Prozeßordnung berathen und ver-
öffentlicht worden. An dieſe beiden Arbeiten knüpfte der Nordd.
Bund ſofort an. Der Bundesrath beſchloß ſchon am 2. Oktober
1867 die Einſetzung einer Commiſſion, um den Entwurf einer Pro-
zeßordnung in bürgerl. Rechtsſtreitigkeiten unter Zugrundelegung
des Preußiſchen und des in Hannover ausgearbeiteten Entwurfs
anzufertigen. Im Juli 1870 wurde der Entwurf dem Bundes-
rath überreicht, unter dem Vorbehalt ihn einer nochmaligen Re-
viſion zu unterziehen. (Sogen. Norddeutſcher Entwurf.)
Durch den Krieg mit Frankreich erfuhren dieſe Arbeiten nicht
nur eine Unterbrechung, ſondern in Folge des Hinzutritts der ſüd-
[8]§. 96. Einleitung.
deutſchen Staaten auch eine andere Richtung. Das Preuß. Juſtiz-
miniſterium unterwarf noch während des Krieges den Norddeutſchen
Entwurf einer Umarbeitung und geſtaltete ihn zu einem Entwurf
für eine Deutſche Civilprozeßordnung. Auf Beſchluß des Bundes-
rathes trat eine neue Commiſſion zur Berathung dieſes Entwurfs
im September 1871 in Berlin zuſammen, an welcher Vertreter
der ſüddeutſchen Staaten Antheil nahmen. Bereits im Frühjahr
1872 waren die Verhandlungen dieſer Commiſſion ſo weit gediehen,
daß der revidirte Entwurf nebſt dem Entwurf eines Einführungs-
geſetzes dem Bundesrath vorgelegt werden konnte, der ſeinerſeits
noch einige Aenderungen an demſelben vornahm. Bevor jedoch
die Vorlage an den Reichstag erfolgte, waren noch die Entwürfe
zu mehreren andern Geſetzen über das Gerichtsweſen feſtzuſtellen.
Der Reichstag des Norddeutſchen Bundes hatte am 18. April
1868 den Beſchluß gefaßt, den Bundeskanzler aufzufordern, Ent-
würfe eines gemeinſamen Strafrechts und eines gemeinſamen
Strafprozeſſes, ſowie der dadurch bedingten Vorſchriften der Ge-
richtsorganiſation bald thunlichſt vorbereiten und dem Reichstage
vorlegen zu laſſen. Der Bundesrath, der dieſem Beſchluß zu-
ſtimmte, erachtete es zugleich für geboten, daß zunächſt mit dem
materiellen Strafrecht begonnen werden müſſe. Daher wurde erſt
nach Fertigſtellung des Entwurfs eines Strafgeſetzbuches f. den
Norddeutſchen Bund die Strafprozeßordnung in Angriff
genommen und der Preuß. Juſtizminiſter durch Schreiben des
Bundeskanzlers v. 12. Juli 1869 erſucht, die Aufſtellung eines
Entwurfes zu veranlaſſen 1).
Die Arbeiten, welche aus ſachlichen, hier nicht weiter zu er-
örternden Gründen mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbun-
den waren, zogen ſich bis zum Ende des Jahres 1872 hin, ſo daß
der erſte Entwurf mit Motiven im Januar 1873 dem Bundesrath
vorgelegt werden konnte. Der Bundesrath beſchloß, ihn einer
Kommiſſion zur Vorberathung zu überweiſen, welche ihn in 3 Le-
ſungen einer Durcharbeitung unterwarf. Dieſer zweite Entwurf
[9]§. 96. Einleitung.
erfuhr aber vielſeitige Angriffe, weil er die Schwurgerichte gänz-
lich beſeitigen und durch Schöffengerichte erſetzen wollte, und da
vorauszuſehen war, daß der Reichstag in die Aufhebung der Schwur-
gerichte nicht willigen würde, ſo mußte der Entwurf einer noch-
maligen Umarbeitung unterworfen werden, ſo daß er erſt im Som-
mer 1874 die Geſtalt erhielt, in welcher er an den Reichstag ge-
bracht worden iſt.
Daß die Ordnung des Prozeßverfahrens eine beſtimmte Or-
ganiſation der Gerichte vorausſetzt, iſt ſelbſtverſtändlich; die Civil-
und Strafprozeß-Ordnungen mußten daher entweder ſelbſt die er-
forderlichen Anordnungen über die Zuſammenſetzung der Gerichte
und ihr gegenſeitiges Verhältniß enthalten oder ſie mußten in
dieſer Hinſicht durch ein beſonderes Gerichtsverfaſſungsgeſetz
ergänzt werden 1). Demgemäß wurde gegen Ende des Jahres
1869 der Preußiſche Juſtizminiſter von dem Bundeskanzler erſucht,
die Ausarbeitung eines Geſetzentwurfs zu veranlaſſen, welcher die
die Gerichtsverfaſſung betreffenden Vorſchriften enthalte, ſo weit
ſie für die Civilrechtspflege nach der kommiſſariſch feſtgeſtellten Ci-
vilprozeßordnung nothwendig wurden. Indeß ergab ſich von ſelbſt
die Nothwendigkeit, nachdem man auch die Abfaſſung einer Straf-
prozeßordnung in’s Auge gefaßt hatte, auch die Strafrechtspflege
mitzuberückſichtigen. Der Preuß. Juſtizminiſter ging indeſſen über
die Gränzen dieſes Auftrages hinaus; er ließ einen Entwurf aus-
arbeiten, der nicht nur die durch die Civil- und Strafprozeß-Ordnung
nothwendig gemachten Vorſchriften über die Gerichtseinrichtungen,
ſondern eine vollſtändige Regelung der Gerichtsverfaſſung
enthielt, ſo daß er ohne Mitwirkung der Landesgeſetzgebungen d. h.
ohne Ausführungsgeſetze der Einzelſtaaten hätte in’s Leben treten
können. Mit dieſer Ausdehnung erklärten ſich jedoch die Juſtiz-
miniſter der größeren Deutſchen Bundesſtaaten, welche zu Berathun-
gen über den Entwurf in Berlin ſich verſammelt hatten, nicht einver-
ſtanden und es ergab ſich hieraus die Nothwendigkeit, den Entwurf
nach dieſem Geſichtspunkt umzuarbeiten d. h. aus einer vollſtän-
digen Regelung der Gerichtsverfaſſung eine fragmentariſche zu
[10]§. 96. Einleitung.
machen. Der ſo umgearbeitete Entwurf wurde am 12. November
1873 dem Bundesrath vorgelegt. Die Veränderungen, welche die
Strafprozeß-Ordnung durch Aufnahme der Schwurgerichte erfuhr,
machte eine nochmalige Reviſion auch dieſes Geſetzentwurfs er-
forderlich und der letztere wurde in der Geſtalt, in welcher er
dem Reichstage vorgelegt werden ſollte, gleichzeitig mit dem Ent-
wurf der Strafprozeß-Ordnung vom Bundesrath feſtgeſtellt.
Dadurch, daß der Entwurf des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes ſo-
wohl für die Civilproz.O. als auch für die Strafproz.O. eine ſehr
weſentliche Ergänzung enthielt, ohne welche die beiden Prozeßord-
nungen nicht praktiſch anwendbar geweſen wären, war unter dieſen
drei Geſetzentwürfen ein innerer Zuſammenhang entſtanden, ſo daß
keiner von ihnen ohne die beiden andern Geſetzeskraft erlangen
konnte. Hieraus ergab ſich, daß ſie auch die weiteren legislatori-
ſchen Stadien gemeinſam zu durchlaufen hatten. Die 3 Geſetz-
entwürfe nebſt den Entwürfen zu den dazu gehörenden 3 Einfüh-
rungsgeſetzen wurden dem am 29. Oktober 1874 eröffneten Reichs-
tage vorgelegt 1) und von ihm einer und derſelben Commiſſion,
der ſogen. Reichsjuſtizkommiſſion, zur Vorberathung überwieſen 2).
Da es unmöglich war, daß die Commiſſion bis zum Ende der
Reichstagsſeſſion ihre Aufgabe erledige, ſo wurde ihr durch das
Reichsgeſ. v. 23. Dez. 1874 (R.G.Bl. S. 194) die Ermächtigung
ertheilt, ihre Verhandlungen nach dem Schluſſe der Seſſion des
Reichstages bis zum Beginne der nächſten ordentlichen Seſſion
deſſelben fortzuſetzen und dieſe Befugniß wurde durch das Reichsgeſ.
v. 1. Februar 1876 (R.G.Bl. S. 15) erneuert. Die Kommiſſion
hat die drei Geſetzentwürfe nebſt dem Entwurfe der Einführungs-
geſetze in zwei Leſungen durchberathen; die Protokolle ſind ge-
druckt 3) worden; ſie vertreten einen ausführlichen Kommiſſions-
bericht und in manchen Theilen geradezu Motive. Ueberdies er-
ſtattete die Kommiſſion zuſammenfaſſende ſchriftliche Berichte
[11]§ 96. Einleitung.
an den Reichstag 1). In der Seſſion des Reichstages von 1876
fand die zweite Berathung der drei Geſetzentwürfe ſtatt 2)
und nachdem es gelungen war, durch ein Kompromiß die zwiſchen
dem Bundesrath und dem Reichstag hinſichtlich einiger Beſtim-
mungen der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfaſſungsge-
ſetzes beſtehenden Differenzen auszugleichen, erhielten dieſe Geſetz-
entwürfe in 3ter Leſung in der durch die Abmachungen des Kom-
promiſſes gebotenen Faſſung die Zuſtimmung des Reichstages 3).
Hierauf wurden ſie ſanctionirt und publizirt; das Gerichtsver-
faſſungsgeſetz nebſt Einführungsgeſetz unter dem Datum des
27. Januar 1877 (R.G.Bl. S. 41 ff.), die Civilprozeßord-
ordnung nebſt Einführungsgeſetz vom 30. Januar 1877 (R.G.Bl.
S. 83 ff.), die Strafprozeßordnung nebſt Einführungsgeſetz
v. 1. Februar 1877. (R.G.Bl. S. 253 ff.). Als der Zeitpunkt,
an welchem die 3 Geſetze im ganzen Umfange des Reichs gleich-
zeitig in Kraft treten ſollten, wurde der 1. Oktober 1879 be-
ſtimmt 4).
Auf dieſe 3 Geſetze konnte indeß die im Art. 4 Ziff. 13 der
R.V. vorgeſehene Reichsgeſetzgebung ſich nicht beſchränken; ſie er-
forderten vielmehr — theilweiſe durch ihren eigenen Inhalt —
noch mehrfache Ergänzungen, wenn in Wirklichkeit das gerichtliche
Verfahren in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und in Strafſachen
im ganzen Reichsgebiet einheitlich geregelt werden ſollte.
Zunächſt wurde neben der Civilprozeßordnung und als wich-
tigſte Ergänzung derſelben der Erlaß einer Konkursordnung
in Ausſicht genommen. Ein auf der Preuß. Konk.O. v. 8. Mai
1855 und dem zur Abänderung derſelben erlaſſenen Geſ. v. 12.
März 1869 fußender Entwurf wurde auf Grund eines vom Bun-
[12]§. 96. Einleitung.
desrath am 21. Febr. 1870 gefaßten Beſchluſſes im Preuß. Juſtiz-
miniſterium ausgearbeitet und nebſt Motiven und Anlagen im
November 1873 dem Bundesrath vorgelegt, welcher beſchloß, daß
dieſer Entwurf einer aus angeſehenen Juriſten und Vertretern des
Handelsſtandes beſtehenden Kommiſſion zur Vorberathung über-
wieſen werden ſollte. Die Kommiſſion trat im März 1874 in
Berlin zuſammen und brachte in 3 Leſungen einen revidirten Ent-
wurf zuſtande, der von dem Bundesrathe nur in wenigen Punkten
modifizirt wurde. Am 21. Januar 1875 wurde der Geſetzentwurf
nebſt dem Entwurf eines Einführungsgeſetzes dem Reichstage vor-
gelegt 1) und von ihm ohne weſentliche Veränderung in der Seſſion
von 1876 genehmigt 2). Die Konkursordnung trägt das Da-
tum v. 10. Februar 1877 und iſt gleichzeitig mit dem Gerichts-
verfaſſungsgeſetz (1. Okt. 1879) in Kraft getreten 3). Zur Ver-
vollſtändigung dieſer vom Reich geregelten Rechtsmaterie iſt ſo-
dann noch das Reichsgeſetz v. 21. Juli 1879, betreffend die An-
fechtung von Rechtshandlungen eines Schuldners außerhalb des
Konkursverfahrens, ergangen 4).
Eine zweite weſentliche Ergänzung der Prozeßgeſetzgebung be-
traf die Ordnung der Rechtsanwaltſchaft. Der von der
Reichsregierung vorgelegte Entwurf eines Gerichtsverfaſſungsge-
ſetzes enthielt hierüber keine Beſtimmung; die Juſtizkommiſſion
des Reichstages ging dagegen von der Anſicht aus, daß die reichs-
geſetzliche Regelung der Rechtsanwaltſchaft nicht weniger nothwen-
dig ſei, wie die irgend eines andern Theils der Gerichtsverfaſſung,
und fügte demgemäß dem Entwurfe des Gerichtsverfaſſungsge-
ſetzes einen die Rechtsanwaltſchaft betreffenden Titel hinzu, welcher
die Billigung des Reichstages fand. Der Bundesrath erkannte
zwar an, daß die Regelung der Rechtsanwaltſchaft im Wege der
Reichsgeſetzgebung erfolgen müſſe, erachtete aber die fragmentari-
ſchen Beſtimmungen, welche die Juſtizkommiſſion in das Gerichts-
verfaſſungsgeſetz aufgenommen hatte, für nicht ausreichend 5) und
[13]§. 96. Einleitung.
richtete an den Reichskanzler das Erſuchen, den Entwurf eines
Geſetzes über die Rechtsanwaltſchaft ausarbeiten zu laſſen. In
Folge des Kompromiſſes, welches der dritten Leſung der Juſtiz-
geſetze im Reichstage vorausging, ſtrich der Reichstag aus dem
Gerichtsverfaſſungsgeſetz und aus dem hierzu gehörenden Einfüh-
rungsgeſetz die auf die Rechtsanwaltſchaft ſich beziehenden Vor-
ſchriften gegen die Zuſage der Reichsregierung, daß dieſelbe den
Entwurf einer Rechtsanwaltsordnung dem Reichstag ſo frühzeitig
vorlegen werde, daß das Geſetz gleichzeitig mit den Prozeßord-
nungen in Geltung treten könne. Die Vorlage erfolgte in der
Seſſion von 1878 1) und führte zur Vereinbarung des Geſetzes,
welches unter der Bezeichnung Rechtsanwaltsordnung vom
1. Juli 1878 2) publizirt worden und am 1. Oktob. 1879 in Gel-
tung getreten iſt.
Eine dritte Ergänzung, deren die Prozeßordnungen und das
Gerichtsverfaſſungsgeſetz nothwendig bedurften, betraf das Koſten-
und Gebühren-Weſen. Zur Regelung deſſelben wurden er-
laſſen das Gerichtskoſten-Geſetz v. 18. Juni 1878 (R.G.Bl. S. 141 ff.),
die Gebührenordnung f. Gerichtsvollzieher v. 24. Juni 1878 (R.G.Bl.
S. 166 ff.), die Gebührenordnung für Zeugen und Sachverſtändige
v. 30. Juni 1878 (R.G.Bl. S. 173 ff.) 3) und die Gebührenordnung
für Rechtsanwälte vom 7. Juli 1879 S. 176 ff 4). In Folge
vielfacher Klagen über die unerträgliche Höhe der Gerichtsgebühren
wurden einige Härten der erwähnten Geſetze gemildert durch das
Reichsgeſetz vom 29. Juni 1881, betreffend die Abänderung von
Beſtimmungen des Gerichtskoſtengeſetzes und der Gebührenordnung
für Gerichtsvollzieher 5).
Endlich war durch die Herſtellung eines einheitlichen Civil-
und Strafprozeßrechts auch Veranlaſſung gegeben, die Ausübung
der Konſulargerichtsbarkeit, für welche das Preußiſche
[14]§. 96. Einleitung.
Geſetz v. 29. Juni 1865 proviſoriſch in Geltung ſtand 1), reichs-
geſetzlich zu regeln und ſie, ſoweit die Verſchiedenheit der thatſäch-
lichen Verhältniſſe es geſtattete, in Uebereinſtimmung mit den Vor-
ſchriften der Reichs-Prozeßgeſetze zu bringen. Zu dieſem Zwecke
iſt das Reichsgeſetz über die Konſulargerichtsbarkeit vom 10. Juli
1879 (R.G.Bl. S. 197 ff.) erlaſſen worden 2).
In den im Vorſtehenden aufgeführten Geſetzen hat im Weſent-
lichen die große Reform der Gerichtsverfaſſung und des Prozeß-
rechts einen vorläufigen Abſchluß gefunden 3). Bevor aber auf
eine Darſtellung des hierdurch gegebenen Rechtszuſtandes einge-
gangen wird, iſt die allgemeine Bemerkung voranzuſchicken, daß
dieſe Reichsgeſetzgebung weder das ganze Gerichtsweſen und die
ganze Gerichtsbarkeit geregelt hat, noch daß derjenige Theil des
Gerichtsweſens, welcher von der Reichsgeſetzgebung betroffen wor-
den iſt, eine vollſtändige Regelung erfahren hat. Demgemäß
findet die Geſetzgebung des Reiches in doppelter Beziehung ihre
Ergänzung in der Landesgeſetzgebung; die letztere enthält theils
die erforderlichen Ausführungsbeſtimmungen zu den Reichs-
geſetzen 4), theils die ſelbſtändige Regelung eines Gebietes,
welches von der Reichsgeſetzgebung nicht beherrſcht wird, ſondern
nur dem von derſelben normirten Gebiete benachbart iſt, ſo daß
die Regelung deſſelben thatſächlich allerdings unter dem Einfluß
der reichsgeſetzlichen Einrichtungen und Anordnungen ſteht.
II. Bei der Behandlung des Gerichtsweſens des Deutſchen
Reiches entſteht eine eigenthümliche Schwierigkeit hinſichtlich der
Auswahl und Abgrenzung der zu erörternden Lehren. Es kann
nicht die Aufgabe einer Darſtellung des Reichsſtaatsrechts ſein,
den geſammten Strafprozeß und Civilprozeß, das Konkursverfahren,
[15]§. 96. Einleitung.
die Ordnung der Anwaltſchaft u. ſ. w. zu erörtern; das Gerichts-
verfahren hat von jeher den Gegenſtand eines beſonderen, reich
entwickelten Zweiges der Rechtswiſſenſchaft gebildet, der nach ſei-
nem Stoff, ſeinen Quellen, ſeiner Literatur von dem Staatsrecht
getrennt iſt. Wenngleich die geſammte Wirkſamkeit der Gerichte
eine Entfaltung der ſtaatlichen Thätigkeit iſt, durch welche eine der
weſentlichſten Staatsaufgaben realiſirt wird, ſo iſt doch das von
ihnen zu beobachtende Verfahren nur an gewiſſen Punkten von
ſtaatsrechtlichen Prinzipien beeinflußt; im Weſentlichen beruht die
Ordnung des Verfahrens auf techniſch-juriſtiſchen Geſichts-
punkten, deren Durchführung Garantien einer gerechten, unpartei-
iſchen und ſachgemäßen Erledigung der Rechtsſtreitigkeiten gewähren
ſoll 1). Andrerſeits kann aber die Aufgabe einer Darſtellung des
Staatsrechts auch nicht für genügend gelöſt erachtet werden, wenn
man nach dem Vorbilde der meiſten deutſchen Staatsrechts-Schrift-
ſteller ſich damit begnügt, die Unabhängigkeit des Richteramtes
als ein Poſtulat der modernen Staats- und Rechtsidee hinzuſtellen
und die Gränzen zwiſchen Juſtiz und Verwaltung mit größerer
oder geringerer Breite zu behandeln. Dieſe Dürftigkeit in der
Erörterung einer der wichtigſten ſtaatlichen Lebensfunktionen ſteht
mit der Ausführlichkeit, welche anderen weit untergeordneteren
Theilen des Staatsbaues zugewendet zu werden pflegt, in einem
auffallenden Contraſt, und ſie kann dadurch nicht ausgeglichen wer-
den, daß man außer einigen ſcholaſtiſchen Definitionen und Ein-
theilungen hiſtoriſche Exkurſe über die Entwicklung des Gerichts-
weſens und des Gerichtsverfahrens ſeit dem Mittelalter oder gar
ſeit der Römerzeit einſchaltet. Damit kann dem Bedürfniß nach
einer wiſſenſchaftlichen, zuſammenhängenden, dogmatiſchen Erörte-
rung der Rechtsgrundſätze, welche das Weſen und Wirken des
Staates der Gegenwart beherrſchen, nicht abgeholfen werden. Die
Aufgabe iſt vielmehr dahin zu beſtimmen, daß die in der Gerichts-
barkeit zur Anwendung und Ausübung kommenden Herrſchaftsrechte
des Staates nach ihren Vorausſetzungen, ihrem Umfange und der
Art ihrer Geltendmachung erkannt und dargeſtellt werden. Die
Prozeßgeſetze enthalten neben den umfangreichen Vorſchriften über
[16]§. 96. Einleitung.
das Verfahren im weiteſten Sinne des Wortes, die man als die
eigentlichen prozeſſualiſchen Rechtsſätze bezeichnen kann, einen
ſehr erheblichen Beſtand an ſtaatsrechtlichen Normen. Dieſer
Beſtand wird nach dem in der Deutſchen Rechtsliteratur beſtehen-
den Herkommen in den Werken über Staatsrecht faſt ganz über-
gangen, in den Werken über Civil- und Strafprozeß im Ge-
menge mit dem eigentlichen Prozeßrecht behandelt. Wenngleich
zugegeben werden muß, daß dieſe Behandlung Seitens der Pro-
zeßrechtsſchriftſteller eine vollſtändige, den ganzen Stoff umfaſſende
iſt, ſo iſt doch die Beleuchtung dieſes Stoffes eine einſeitige, da
ſie eben nicht vom Standpunkt des Staatsrechts, ſondern von
dem des Prozeßrechts aus geſchieht und da in Folge deſſen
ſtaatsrechtliche und prozeſſualiſche Regeln fortwährend mit einander
verknüpft, niemals einander gegenüber geſtellt werden. So wie
das Strafgeſetzbuch eine reiche Quelle für das Staatsrecht iſt,
deren Verwerthung nicht ausſchließlich den Strafrechtsſchriftſtellern
überlaſſen bleiben kann, ſo ſind auch die Prozeßgeſetze auf ihren
ſtaatsrechtlichen Inhalt zu unterſuchen und für das Staatsrecht zu
verwerthen. Es gilt dies in beſonders hervorragendem Maaße
von der Gerichtsverfaſſung, die eine ebenſo weſentliche
und erhebliche Bedeutung für das Behördenſyſtem und die Aemter-
verfaſſung des Staates wie für die Ordnung des Prozeſſes, der
Zuſtändigkeitsnormen, des Verfahrens, der Rechtsmittel u. ſ. w. hat.
Wenn es ſonach für das öffentliche Recht jedes Staates als
eine Aufgabe der Wiſſenſchaft hingeſtellt werden muß, die ſtaats-
rechtlichen Vorſchriften über die Gerichtsbarkeit von den prozeß-
rechtlichen Vorſchriften über das gerichtliche Verfahren auszuſon-
dern, ſo bietet für das Staatsrecht des Deutſchen Reiches die Ge-
ſetzgebung über das Gerichtsweſen noch eine andere Seite von ſehr
weitreichender Bedeutung dar. Sie ſteckt nämlich auf einem ſehr
umfaſſenden und wichtigen Gebiete die Gränzen ab, welche der
Autonomie und Gerichtsgewalt der Einzelſtaaten gezogen ſind; ſie
legt den Einzelſtaaten Verpflichtungen und Beſchränkungen auf;
ſie normirt die ihnen auf dem Gebiet der Rechtspflege zuſtehenden
Herrſchaftsrechte; in ihr wird der Einfluß des unter den Einzel-
ſtaaten beſtehenden bundesſtaatlichen Verhältniſſes und der über
ihnen errichteten ſouveränen Reichsgewalt in Bezug auf die Rechts-
pflege fixirt.
[17]§. 96. Einleitung.
Von dieſen Geſichtspunkten aus iſt die folgende Darſtellung
unternommen. Freilich iſt eine völlig ſcharfe Trennung der pro-
zeſſualiſchen und der ſtaatsrechtlichen Sätze über die Gerichtsbarkeit
kaum möglich; bei vielen Punkten kann man zweifelhaft ſein, ob
ſie dem einen oder andern Gebiete zuzuweiſen ſeien. Auch die
hier folgende Darſtellung hätte ſich noch auf manche andere Lehre
erſtrecken und dafür vielleicht den einen oder anderen Punkt über-
gehen können; ich bin in dieſer Hinſicht auf tadelnde Urtheile ge-
faßt; aber der Verſuch mußte einmal gewagt werden, auf dieſem
Gebiete die Gränzen des Deutſchen Staatsrechts richtiger als es
bisher geſchehen iſt und als es bisher wol auch möglich war, zu
beſtimmen.
Nur einen Punkt möchte ich hier, um Mißverſtändniſſen vor-
zubeugen, noch beſonders hervorheben. Die Zwangsmittel gegen
die Parteien, welche der Staatsgewalt geſetzlich zu Gebote ſtehen,
um im gerichtlichen Verfahren die materielle Wahrheit zu ermitteln
und um das Urtheil zu vollſtrecken, bieten zwar unzweifelhaft auch
eine Seite für die ſtaatsrechtliche Betrachtung dar; hier fallen aber
die Regeln über die Vorausſetzungen, den Umfang und die Formen
der Geltendmachung faſt vollſtändig mit den Regeln über das
Prozeß-Verfahren zuſammen. Ein näheres Eingehen auf dieſe
Materien würde daher in der That dazu nöthigen, ſehr umfang-
reiche Partien des Straf- und Civilprozeßrechts hier aufzunehmen,
die, aus dem Zuſammenhange mit den übrigen Lehren des Pro-
zeßrechts geriſſen, des wiſſenſchaftlichen Intereſſes ermangeln. Hier-
hin gehören im Strafprozeß die Befugniſſe der Gerichte und an-
deren bei der Strafverfolgung mitwirkenden Behörden zur Beſchlag-
nahme, zur Durchſuchung, zur Verhaftung und vorläufigen Feſt-
nahme, zur Vorführung des Beſchuldigten, ſowie die geſammte
Lehre von der Strafvollſtreckung; im Civilprozeß der Zwang zum
perſönlichen Erſcheinen der Parteien in Eheſachen 1) und im Kon-
kurſe 2), die Editionspflicht 3) und ebenfalls die geſammte Lehre
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 2
[18]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
von der Zwangsvollſtreckung. Die Darſtellung aller dieſer Rechts-
materien iſt daher mit Vorbedacht hier übergangen worden.
III. Auch eine Angabe der Literatur über das gegenwärtige
Gerichtsweſen des Deutſchen Reiches ſcheint an dieſer Stelle nicht
erforderlich zu ſein. Es iſt allbekannt, eine wie große Zahl von
Kommentaren, ſyſtematiſchen Werken, Abhandlungen u. ſ. w. durch
den Abſchluß der Reichs-Prozeßgeſetzgebung hervorgerufen worden
iſt. Eine, auch nur einigermaßen vollſtändige Aufzählung dieſer
Werke würde einen großen Raum beanſpruchen; ſie erſcheint um
ſo entbehrlicher als die rechtswiſſenſchaftlichen Zeitſchriften, insbe-
ſondere die dem Civilprozeß und dem Strafprozeß vorzugsweiſe
gewidmeten, ſich angelegen ſein laſſen, alle dieſe Materie betreffen-
den literariſchen Erſcheinungen zu verzeichnen.
§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
I.Gerichtsbar iſt dem Wortſinne nach Alles, was zum
Geſchäftskreiſe oder der Zuſtändigkeit der Gerichte gehört, was ge-
eignet iſt, vor Gericht gebracht und daſelbſt verhandelt und erle-
digt zu werden; Gerichtsbarkeit im objektiven Sinne iſt die Ge-
ſammtheit dieſer Angelegenheiten; Gerichtsbarkeit im ſubjektiven
Sinne iſt die Befugniß, dieſe Angelegenheiten in rechtswirkſamer
Weiſe zu erledigen, reſp. die zu ihrer Erledigung beſtimmten Ge-
richte einzuſetzen und die Art und Weiſe der Erledigung zu regeln.
Eine materielle, juriſtiſch verwendbare Definition der Gerichts-
barkeit aber kann nicht im Allgemeinen gegeben werden, ſo ſehr
man ſich auch bemüht hat, eine ſolche aufzuſtellen, da unter der
Bezeichnung „Gericht“ ſehr zahlreiche und verſchiedenartige Be-
hörden verſtanden werden und die Abgränzung der Geſchäfte, welche
den als Gerichten bezeichneten Behörden zugewieſen ſind, eine
wechſelvolle und willkührliche iſt. Nur mit Rückſicht auf ein be-
ſtimmtes poſitives Recht und eine beſtimmte poſitive Behörden-
verfaſſung kann man die Gerichtsbarkeit definiren, d. h. alle
diejenigen Angelegenheiten aufzählen, welche „gerichtsbar“ ſind.
Die Gerichtsbarkeit bildet den Gegenſatz zu den durch die Ver-
waltungsbehörden zu führenden Geſchäften; aber dieſer Gegenſatz
3)
[19]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
fällt nicht zuſammen mit dem Gegenſatz der Verwaltung und Recht-
ſprechung; denn die Gerichtsbarkeit umfaßt auch Verwaltungs-
geſchäfte, ſoweit dieſelben nämlich den „Gerichten“ obliegen, und es
kann andrerſeits den „Gerichten“ die Erledigung gewiſſer Rechts-
ſtreitigkeiten entzogen und Verwaltungsbehörden übertragen ſein.
II. Nach den verſchiedenen Kategorien von Gerichten oder nach
den verſchiedenen Kategorien der den Gerichten übertragenen Geſchäfte
laſſen ſich zahlloſe Eintheilungen der Gerichtsbarkeit aufſtellen 1).
Für das Reichsſtaatsrecht iſt aber Eine Eintheilung der
Gerichtsbarkeit von hervorragender Wichtigkeit, wonach das Ge-
ſammtgebiet derſelben in zwei große Theile zerfällt. Der eine
dieſer beiden Theile wird gebildet von der ordentlichen ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit, der andere von allen übrigen zur Ge-
richtsbarkeit gehörenden Bethätigungen der Staatsgewalt. Die
eingreifende ſtaatsrechtliche Bedeutung dieſer Unterſcheidung beſteht
darin, daß die Ausübung der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbar-
keit durch Reichsgeſetze geregelt, die der übrigen Gerichtsbarkeit
zur Zeit noch im Weſentlichen der Autonomie der Einzelſtaaten
überlaſſen iſt, daß ſonach das Verhältniß der Einzelſtaaten zum
Reich auf dieſen beiden Gebieten ein weſentlich verſchiedenes iſt.
Obgleich im Art. 2 des Einführungsgeſetzes zum Gerichtsver-
faſſungsgeſetz der Grundſatz ſanctionirt iſt, daß die Vorſchriften des
Gerichtsverfaſſungsgeſetzes nur auf die ordentliche ſtreitige Gerichts-
barkeit und deren Ausübung Anwendung finden, hat die Reichsgeſetz-
gebung den Begriff der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit nicht de-
finirt. Das Gerichtsverfaſſungsgeſetz hat aber im Art. 12 diejenigen
Gerichte aufgezählt, durch welche die ordentliche ſtreitige Gerichts-
barkeit ausgeübt wird und im Art. 13 die Zuſtändigkeit dieſer Ge-
richte dadurch normirt, daß es ihnen alle bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten und Strafſachen zuweiſt, welche ihnen nicht
entzogen ſind, ſei es durch gänzliche Verſagung des Rechtsweges,
ſei es durch Errichtung beſonderer Gerichte. Hienach läßt ſich aus
der Reichsgeſetzgebung die formale Definition 2) gewinnen:
2*
[20]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit umfaßt diejenigen
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche vor
die im Art. 12 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes aufgezählten
(ſogenannten „ordentlichen“) Gerichte gehören.
Im Einklange hiemit iſt in den Einführungsgeſetzen zur Civil-
prozeßordnung und zur Strafprozeßordnung §. 3 beſtimmt, daß
dieſe Prozeßgeſetze auf diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten
beziehentl. Strafſachen, welche vor die ordentlichen Gerichte
gehören, Anwendung finden; d. h. daß ſie nur für die ordentliche
ſtreitige Gerichtsbarkeit vom Reich erlaſſen ſind.
Nach dieſer Definition der ordentlichen ſtreitigen Gerichts-
barkeit wird dieſelbe durch folgende Begriffsmomente, die einer
näheren Erörterung bedürfen, beſtimmt:
1. Die „ſtreitige“ Gerichtsbarkeit iſt nicht auf die Fälle
beſchränkt, in welchen ein Streit der Parteien zu entſcheiden iſt,
ſondern ſie umfaßt auch diejenigen Rechtsangelegenheiten, in wel-
chen der Beklagte den Anſpruch des Klägers anerkennt oder die
ihm zur Laſt gelegte ſtrafbare Handlung zugeſteht. Als „ſtreitig“
wird die Gerichtsbarkeit nur deshalb bezeichnet, weil dem Ver-
klagten oder Angeklagten die Befugniß zuſteht, Widerſpruch gegen
den Klageantrag zu erheben und deshalb die rechtliche Mög-
lichkeit eines Streites gegeben iſt. Die ſtreitige Gerichtsbarkeit
ſetzt Parteien voraus, welche unter einander einen Rechtsſtreit
haben können1). Dieſe rechtliche Möglichkeit iſt maßgebend für
die ganze Einrichtung der zur Handhabung der Rechtspflege be-
ſtimmten Behörden und für die Struktur des Verfahrens; in der
Erledigung des „Streites“ liegt der Schwerpunkt des Prozeſſes.
Für den Begriff der ſtreitigen Gerichtsbarkeit als einer ſtaat-
lichen Funktion iſt aber „die Entſcheidung eines Rechtsſtreites“
nicht weſentlich, da einerſeits die ſtreitige Gerichtsbarkeit des
Staates in zahlreichen Fällen ausgeübt wird, in denen es an
einem Streit völlig gebricht, und andererſeits die Entſcheidung
eines Rechtsſtreites durch Urtheil auch ohne alle Mitwirkung ſtaat-
licher Behörden und ohne Inanſpruchnahme ſtaatlicher Hoheits-
2)
[21]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
rechte erfolgen kann 1). Zwar umfaßt die ſtaatliche Aufgabe der
Handhabung des Rechtsſchutzes auch die Verhandlung und Ent-
ſcheidung etwaiger Rechtsſtreitigkeiten; aber es iſt hierin
nur ein accidentieller Beſtandtheil dieſer Aufgabe zu erblicken,
welcher nur unter gewiſſen Vorausſetzungen ſich einmiſcht und
welcher unbeſchadet des Weſens der ſtreitigen Gerichtsbarkeit auch
fehlen kann.
Hienach erhebt ſich die Frage, worin denn das
Weſen der ſtreitigen Gerichtsbarkeit beſteht und in
welcher Weiſe die Staatsgewalt in ihr ſich geltend
macht. Es bedarf keiner Ausführung, daß die Beantwortung
dieſer Frage für das Verſtändniß des Gerichtsweſens als eines
Theiles des Staatsweſens, ebenſo aber auch für die Auffaſſung
des Prozeſſes, der rechtlichen Natur der Klage, Streiteinlaſſung,
Contumaz, des Urtheils u. ſ. w. maßgebend iſt. Dieſe Löſung
aber kann nicht gefunden werden von irgend welchen prozeſſuali-
ſchen Rechtsbegriffen aus, die vielmehr erſt aus ihr abgeleitet
werden können, ſondern nur aus dem Staatsbegriff und den an-
erkannten Prinzipien über die Aufgaben des Staates. Hier iſt
nun mit Rückſicht auf die heutige Geſtaltung der ſtaatlichen Auf-
gaben zwiſchen der Gerichtsbarkeit in privatrechtlichen Angelegen-
heiten und derjenigen in öffentlich rechtlichen zu unterſcheiden.
a) In Betreff der bürgerlichen Rechtsverhältniſſe
erkennt der Staat die Freiheit der Individuen innerhalb der von
der Rechtsordnung gezogenen Schranken an. Inſoweit dieſe Schranken
freien Spielraum laſſen, hat der Staat kein Intereſſe daran, wie
die privatrechtlichen Verhältniſſe der Einzelnen geſtaltet werden;
er ſichert den Individuen grade dadurch einen gewiſſen Kreis per-
ſönlicher Freiheit, daß er ihre privatrechtlichen Beziehungen nicht
regelt, nicht inhaltlich fixirt. Er hat daher auch nicht die Auf-
gabe darüber zu wachen, daß die in Folge dieſer Freiheit begrün-
deten Anſprüche im Einklang mit den objektiven Rechtsregeln
realiſirt werden. Das bürgerliche Unrecht als ſolches ruft nicht
[22]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
die Repreſſion des Staates hervor; er iſt nicht der Wächter und
Beſchützer der Privatrechte um ihrer ſelbſt willen; er ſtatuirt viel-
mehr ebenſo wie in der Begründung, ſo auch in der Geltend-
machung der Rechtsanſprüche das Dispoſitionsrecht der Parteien 1).
Der Staat hat daher kein unmittelbares Intereſſe, die Privatrechts-
verhältniſſe der ihm unterworfenen Individuen „feſtzuſtellen“ und
ſeine Aufgabe kann unmöglich darin beſtehen, den Parteien durch
Urtheile der Gerichte authentiſche Belehrungen über das wechſel-
ſeitige Maaß ihrer Anſprüche und Verpflichtungen zu ertheilen 2).
Die ſtaatliche Aufgabe beſteht vielmehr nur darin, den ihm
unterworfenen Perſonen Rechtsſchutz zu gewähren, d. h. den
Landfrieden aufrecht zu erhalten und die Selbſthülfe auszuſchließen
und dafür dem Einzelnen mittelſt der Staatsgewalt zu ſeinem
Rechte zu verhelfen. Die Erfüllung dieſer Aufgabe erkennt
der Staat als ſeine Pflicht an und hieraus ergibt ſich, daß der
Einzelne ein Recht hat, die Gewährung des Rechtsſchutzes vom
Staat zu verlangen, ſo oft er derſelben benöthigt iſt 3). Die
Klage iſt demnach die Bitte um Gewährung dieſer
ſtaatlichen Hülfe; das Geſuch, ein ſubjectives Recht unter
[23]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
den Schutz des Staates zu nehmen und dadurch ſeine Anerkennung
und Verwirklichung zu ſichern, eventuell ſie zu erzwingen. Das
Urtheil iſt die Entſcheidung über Gewährung oder
Verſagung dieſer Bitte. Dieſes Urtheil iſt durch die Be-
antwortung von zwei ganz verſchiedenen Vorfragen beſtimmt;
erſtens ob im concreten Falle alle diejenigen Vorausſetzungen vor-
handen ſind, unter denen der Staat die Pflicht zur Einſetzung ſeiner
Gewalt anerkennt, der Kläger alſo einen Anſpruch gegen
den Staat auf Gerichtshülfe hat, und zweitens ob dem Kläger
gegen den Verklagten der von ihm behauptete Rechts-
anſpruch zuſteht. Die erſte Frage betrifft das ſtaatsrechtliche
(Prozeß-)Verhältniß, gehört alſo dem öffentlichen Rechte an; die
zweite betrifft das dem Prozeß vorausgehende, zu demſelben nur
den Anlaß gebende Rechtsverhältniß und iſt gewöhnlich eine privat-
rechtliche 1).
Der Klageantrag braucht ſich mit dem Anſpruch an den Ver-
klagten nicht zu decken; er kann auf einen Theil des Anſpruchs
gerichtet ſein oder über ihn hinaus gehen; ja er kann wirkſam ge-
ſtellt werden, ohne daß dem Kläger in Wahrheit überhaupt ein
gültiger Anſpruch an den Verklagten zuſteht 2). Die Klage richtet
ſich — wenigſtens nach dem heutigen Recht — nicht gegen den
Verklagten mit dem Anſpruch, daß er leiſte, ſondern gegen
den Staat, mit dem Antrag, daß er den Verklagten zur Leiſtung
zwinge. Der Kläger hat überhaupt gar keinen Rechtsanſpruch
an den Verklagten, daß dieſer ſich mit ihm in einen Prozeß ein-
laſſe, ſondern er hat an den Verklagten nur den aus dem Privat-
rechtsverhältniß reſultirenden Anſpruch auf Leiſtung. Von einer
Einlaſſungspflicht des Verklagten, wenn eine ſolche beſtünde 3), könnte
[24]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
nur geſprochen werden gegenüber dem Staate, nicht gegenüber
dem Kläger 1). Einer ſolchen Einlaſſungspflicht bedarf es aber
nicht, um den Verklagten der ſtaatlichen Gerichtsbarkeit zu unter-
werfen; denn die letztere, welche mit der Staatsgewalt identiſch iſt,
ergreift die dem Staate unterworfenen Perſonen ohne ihren Willen
und ohne ihr Zuthun 2). Es gibt keine „Pflicht, ſich der Staats-
gewalt zu unterwerfen“, ſondern nur einen Rechtszuſtand des Unter-
worfenſeins unter die Staatsgewalt. In manchen Fällen gewährt
der Staat ja auch wenigſtens proviſoriſch oder unter Vorbehalten
den verlangten Rechtsſchutz auf einſeitigen Vortrag des Klägers.
Regelmäßig aber läßt der Staat, bevor er über den Klageantrag
befindet, den Verklagten zur Vertheidigung und zur Erhebung des
Widerſpruchs zu. Der letztere kann eine doppelte Richtung haben.
Er kann die ſtaatsrechtliche Seite des Prozeſſes betreffen
d. h. darauf gegründet werden, daß der Verklagte der Gerichts-
barkeit des Staates nicht unterworfen ſei oder daß dem Kläger
für den von ihm behaupteten Anſpruch aus materiellen oder for-
mellen Gründen der Rechtsſchutz des Staates nicht gewährt werden
dürfe u. ſ. w. Er kann aber auch die privatrechtliche Grundlage
der Klage betreffen d. h. denjenigen Anſpruch des Klägers gegen
den Verklagten, für deſſen Durchführung in der Klage die Staats-
hülfe verlangt wird. Alsdann iſt zunächſt feſtzuſtellen, ob der
Kläger den von ihm behaupteten Rechtsanſpruch darzuthun ver-
mocht hat; dieſe Feſtſtellung iſt aber niemals das eigentliche End-
ziel des Prozeſſes; ſie iſt nur präparatoriſch für die Hauptentſchei-
dung, ob dem Kläger zur Durchführung ſeines Anſpruches die
Macht des Staates zu leihen ſei oder nicht. Die Gerichte ſind
Verwalter der ſtaatlichen Herrſchermacht und ihre Urtheile
ſind keine von Staatswegen ertheilten Rechtsgutachten oder Wahr-
ſprüche, ſondern Bethätigungen der Staatsgewalt. Dadurch,
daß der Staat durch das Gericht als ſein Organ in der formellen
Weiſe des Urtheils den im Tenor bezeichneten Rechtsanſpruch aner-
[25]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
kennt, wird von ihm ein Recht in concreto1) ſanctionirt, wie im
Geſetz ein Rechtsſatz in abstracto; und ebenſo wie das Geſetz nicht
blos die Feſtſtellung und Formulirung eines Rechtsſatzes, ſondern
die Ausſtattung deſſelben mit verbindlicher Kraft iſt d. h. den
Befehl enthält ihn zu befolgen, ſo iſt auch das Urteil nicht blos
Feſtſtellung des concreten Rechts, ſondern zugleich Befehl
an den Verklagten, den Rechtsanſpruch zu erfüllen, unter der
Drohung, daß im Falle des Zuwiderhandelns auf Verlangen des
Klägers die Befolgung dieſes Befehls durch die Staatsgewalt und
durch die phyſiſchen Machtmittel des Staates erzwungen werden
würde 2). Nur in dem letzteren Beſtandtheil des Urtheils, in der
Vollſtreckbarkeitserklärung des Anſpruchs, liegt die ſpezifiſch ſtaats-
rechtliche Funktion 3).
Dem ſcheint zwar der äußere Vorgang und der Wortlaut des
Urtheils zu widerſprechen; es wiederholt ſich hier aber nur eine
Erſcheinung, die auf dem Gebiete des Staatsrechts uns mehrfach
entgegentritt, daß nämlich der eigentlich maßgebende, den juriſti-
ſchen Vorgang enthaltende Akt zurücktritt gegenüber denjenigen
Vorbereitungshandlungen, die aus thatſächlichen Gründen die über-
wiegende praktiſche Bedeutung haben. Bei der Geſetzgebung liegt
der Schwerpunkt thatſächlich in der definitiven Feſtſtellung des
Geſetzentwurfs (Findung der Rechtsregel), die Sanktion dagegen
[26]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
entzieht ſich faſt der Wahrnehmung 1); bei den Staatsverträgen
beſteht daſſelbe Verhältniß hinſichtlich der Herſtellung des völker-
rechtlichen Vertrags und der ſtaatlichen Vollziehbarkeitserklärung 2).
So iſt auch bei der Erledigung bürgerlicher Rechtsſtreitigkeiten die
Feſtſtellung des concreten Rechts allein von praktiſcher Wichtigkeit;
daß der urtheilsmäßig anerkannte Rechtsanſpruch unter den Schutz
des Staates genommen und eventuell mit den ſtaatlichen Macht-
mitteln durchgeführt wird, verſteht ſich von ſelbſt und braucht nicht
beſonders erklärt zu werden. Es genügt, wenn das Urtheil ſagt,
daß der Verklagte ſchuldig ſei dem Kläger 100 zu zahlen; die
Hauptſache, nämlich der ſtaatliche Befehl an den Verklagten, auf
Verlangen des Klägers dieſe Summe zu zahlen und die Drohung,
daß der Staat nöthigenfalls dies erzwingen würde, bleibt als
ſelbſtverſtändlich fort 3). Hieraus wird es erklärlich, daß nach
einer faſt allgemein herrſchenden, offenbar durch römiſch rechtliche
Prozeßinſtitutionen beeinflußten Anſchauung das Weſen des Ur-
theils in der Entſcheidung über das Rechtsverhältniß geſehen, da-
gegen der dahinter ſtehende Befehl, dem Urtheil Folge zu leiſten,
als etwas Nebenſächliches oder Zufälliges erachtet wird.
Der wahre ſtaatsrechtliche Charakter des rechtskräftigen Ur-
theils wird klar, wenn man den Schiedsſpruch und ſeine Wirkungen
mit ihm in Vergleich ſtellt. In der Civil-Proz.-Ordn. §. 866 heißt
es zwar: „Der Schiedsſpruch hat unter den Parteien die Wirkungen
eines rechtskräftigen gerichtlichen Urtheils“; dies wird aber ſofort
durch die folgenden Beſtimmungen in der bündigſten Weiſe wider-
legt, indem in §. 867 aus beſtimmten Gründen die Klage auf
Aufhebung des Schiedsſpruches zugelaſſen iſt und nach §. 868 aus
dem Schiedsſpruche die Zwangsvollſtreckung nur ſtattfindet, wenn
ihre Zuläſſigkeit durch ein Vollſtreckungsurtheil ausge-
ſprochen iſt. Dem Schiedsſpruch fehlt alſo gerade die für das
[27]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
rechtskräftige Urtheil charakteriſtiſche Wirkung; er leitet ſeine Kraft
aus dem Schiedsvertrag der Parteien ab und er wirkt daher nach
Art des Vertrages; das gerichtliche Urtheil leitet ſeine Kraft
aus dem Herrſchaftsrecht des Staates ab und wirkt daher nach
Art des Befehles. Der Schiedsſpruch ſchließt prozeſſualiſch
ebenſo wie das Anerkenntnis die richterliche Prüfung und Beurtheilung
des Rechtsanſpruches aus, aber er ſtellt dem Berechtigten nicht die
Zwangsgewalt des Staates zur Durchführung dieſes Anſpruchs
zur Verfügung; hierzu bedarf es eines gerichtlichen Urtheils 1).
b) Auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts iſt
die Bedeutung der Gerichtsbarkeit eine etwas andere; ſie iſt hier
nur die Form, in welcher ſtaatliche Herrſchaftsrechte durchgeführt
werden. Es gilt dies insbeſondere von der, uns hier vorzugs-
weiſe intereſſirenden Strafgerichtsbarkeit. Der Staat hat
die ſelbſtſtändige Verpflichtung, gegen den Bruch der Rechtsordnung
mittelſt ſeiner Strafgewalt zu reagiren; er ſtellt nicht ſeine Macht
einem Individuum zum Schutz ſeiner Rechte zur Verfügung, ſon-
dern er übt dieſe Macht im eigenen Intereſſe, zur Aufrechterhaltung
und Wiederherſtellung ſeiner eigenen Rechtsordnung aus. Es handelt
ſich alſo nicht um zwei von einander begrifflich verſchiedene Rechts-
beziehungen wie im Civilprozeß (Privatrechtsverhältniß und ſtaat-
liche Rechtshülfe), ſondern um eine einheitliche Funktion, die
Handhabung der Strafgewalt 2). Damit dieſelbe aber in jedem
einzelnen Falle ohne Willkühr und Parteilichkeit ſich vollziehe, iſt
ihre Ausübung an einen geſetzlich beſtimmten Weg gewieſen; die
Vollſtreckung der Strafe ſoll ſich nicht nach Art der Rache unmit-
telbar an die verbrecheriſche That ſchließen, ſondern es ſoll ein
Urtheil des Gerichts dazwiſchen treten, durch welches die Schuld
und die Strafe nach Maßgabe der objectiven Rechtsnormen und
[28]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
der Umſtände des Falls feſtgeſtellt werden 1). Dieſe Feſtſtellung
kann nicht erſetzt werden durch Schiedsſpruch oder Anerkenntnis;
ſie erfolgt nicht um einen Streit zu ſchlichten; ſie iſt auch nicht
bloß im Intereſſe des Angeſchuldigten eingeführt, ſondern ſie ſoll
den [Staat ſelbſt] vor dem Mißbrauch ſeiner Staatsgewalt ſchützen
und ihm eine Garantie gewähren, daß dieſe Gewalt nach den Ge-
boten der Gerechtigkeit gehandhabt werde. Die Strafgerichtsbar-
keit fällt daher ſtaatsrechtlich mit der Strafgewalt ſelbſt zuſammen;
der Strafprozeß iſt gleichſam der Weg, den die letztere in jedem
einzelnen Anwendungsfall zu durchlaufen hat 2). Während die
Verurtheilung im Civilprozeß die Gewährung eines Antrages
auf Entfaltung der Staatsgewalt iſt, bedeutet die Verurtheilung
im Strafprozeß die Erfüllung einer Bedingung (Voraus-
ſetzung), an welche der Staat ſelbſt die Ausübung ſeiner eigenen
Gewalt gebunden hat 3).
2. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit beſchränkt ſich auf
bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und auf Straf-
[29]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
ſachen1); was nicht unter dieſe beiden Kategorien fällt, iſt von
ihr ausgeſchloſſen.
a) In der Reichsgeſetzgebung wird der Begriff der bürger-
lichen Rechtsſtreitigkeit nirgends definirt; vielmehr wird
in den Motiven zum Gerichtsverf.-Geſ. S. 32 2) ausdrücklich be-
merkt, „daß dieſer Begriff keine oder doch nur eine durchaus un-
genügende Definition leide und daß es unausführbar ſei, ihn ge-
meinſam für alle deutſchen Staaten zu präziſiren, daß dieſer Be-
griff aber ungeachtet ſeiner Verſchiedenheit in den verſchiedenen
Gebieten des deutſchen Reichs überall geſetzlich — ſei es im ge-
ſchriebenen oder ungeſchriebenen Rechte — fixirt ſei und daß dem-
nach für die Beſtimmung einer Sache als bürgerliche Rechtsſtrei-
tigkeit in erſter Linie die Reichsgeſetze, in weiterer Linie aber das
Landesrecht des einzelnen Staates maßgebend ſei 3).“
Den Gegenſatz zur bürgerlichen Rechtsſtreitigkeit bildet in der
hier in Rede ſtehenden Beziehung die Streitigkeit des öffentlichen
Rechts, d. h. die Streitigkeit über ein Rechtsverhältniß, welches gar
nicht oder nicht ausſchließlich zur Rechtsſphäre der Individuen ge-
hört, ſondern als ein Theil der öffentlichen Rechtsordnung, als
Ausfluß der ſtaatlichen Hoheitsrechte oder der Regierungs- und
Verwaltungsthätigkeit anzuſehen und aus dieſem Grunde der
Privatdispoſition der berechtigten oder verpflichteten Individuen
ganz oder theilweiſe entrückt iſt 4). Die Abgränzung des Privat-
rechts von dem öffentlichen Rechte iſt die Grundlage für den Gegen-
ſatz der bürgerlichen und der nicht bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten.
Dieſe Abgränzung iſt nicht a priori zu finden, ſondern ſie iſt be-
dingt von dem in dem poſitiven Recht feſtgeſtellten Umfange und
der Art der Geltendmachung der ſtaatlichen Hoheitsrechte auf den
verſchiedenen Zweigen der ſtaatlichen Thätigkeit. Für einen Theil
dieſer Thätigkeit hat das Reich durch ſeine Geſetze die Normen
[30]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
aufgeſtellt und die Gränzen bezeichnet, bis zu denen ſich das öf-
fentliche Recht erſtreckt; inſoweit dient die Geſammtheit der
Reichsgeſetzgebung negativ zur Feſtſtellung des Begriffes der bür-
gerlichen Rechtsſache; das Reich hat andererſeits auch poſitiv
durch eine ſehr umfangreiche Privatrechtsgeſetzgebung, z. B. das
Handelsgeſetzbuch und ſeine Ergänzungen, die Wechſelordnung
u. ſ. w., einen Kreis von Rechtsverhältniſſen fixirt, welche „bürger-
lich“ ſind. Im Uebrigen aber iſt es den Einzelſtaaten und
ihrer Geſetzgebung überlaſſen, diejenigen Rechtsverhältniſſe, welche
als öffentliche zu erachten und deshalb der Rechtsſphäre der Indi-
viduen entrückt ſind, zu beſtimmen. Im Weſentlichen gehen die
verſchiedenen Partikularrechte hierbei von gleichmäßigen Grund-
ſätzen aus, die ſich aus der Natur der Sache und aus der Gleich-
artigkeit der Lebensverhältniſſe und Staatseinrichtungen ergeben,
eine volle Uebereinſtimmung in der Abgränzung der bürgerlichen
Rechtsverhältniſſe von denen des öffentlichen Rechts beſteht aber
keineswegs.
b) Sowie der Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeit auf
den Gegenſatz von Privatrecht und öffentlichem Recht hinweiſt, ſo
beruht der Begriff der Strafſache, der dem Begriff der öffent-
lichen Rechtsſtreitigkeit untergeordnet iſt, auf dem Gegenſatz des
Strafrechts gegenüber der Adminiſtrativ- und Disciplinar-Zwangs-
gewalt und den zur Durchführung derſelben gegebenen Mitteln.
Eine Rechtsſache, bei welcher nicht die Anwendung eines Straf-
geſetzes in Frage ſteht und das Endziel des Verfahrens bildet,
iſt keine „Strafſache“. Hier iſt die Gränze verhältnißmäßig ſicherer
wie bei den bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten. Zum großen Theil
iſt ſie auch hier vom Reiche durch die Strafgeſetzbücher und die
einzelnen Strafgeſetze, ſowie durch einzelne Verwaltungsgeſetze ge-
zogen 1); zum andern Theil iſt ſie durch die Landes ſtrafgeſetz-
gebung beſtimmt. Aber auch hier beſteht keine vollſtändige Gleich-
heit des Rechts, da die Autonomie der Einzelſtaaten auf dem ihr
überlaſſenen Gebiete den Kreis der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen
Intereſſen, die durch Strafſatzungen geſchützt werden, verſchieden
abgegränzt hat.
3. Verſagung des Rechtsweges. Wenngleich im
[31]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Allgemeinen davon auszugehen iſt, daß die bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten und Strafſachen zur Entſcheidung der Gerichte geſtellt
werden, die ſtaats- und verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten da-
gegen von anderen Behörden erledigt werden, ſo iſt dieſer Grund-
ſatz doch in der Durchführung manchen Schwankungen und Modi-
fikationen ausgeſetzt. Insbeſondere können gewiſſe Streitſachen,
welche ſich nach der Natur des zu Grunde liegenden Rechtsver-
hältniſſes als bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten oder als Strafſachen
charakteriſiren, dennoch der Entſcheidung durch die Gerichte entzo-
gen und Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten über-
wieſen ſein, weil ſich an die Art der Behandlung und Erledigung
dieſer Angelegenheiten ein beſonderes verwaltungsrechtliches oder
politiſches Intereſſe knüpft. Welche Angelegenheiten dies ſind, iſt
nicht durch ein einfaches und gemeingültiges Prinzip beſtimmt; es
beantwortet ſich vielmehr dieſe Frage in jedem Einzelſtaate nach
dem Geſammtinhalte ſeines Rechts. Von der ordentlichen Gerichts-
barkeit ausgeſchloſſen ſind demnach nicht nur alle Angelegenheiten,
welche ihrer Natur nach überhaupt keine bürgerlichen Rechtsſtrei-
tigkeiten oder Strafſachen ſind, ſondern auch diejenigen Rechtsſachen,
welche zwar an ſich dem Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitig-
keiten oder Strafſachen ſich unterordnen ließen, für welche aber
kraft poſitiver Rechtsvorſchrift die Zuſtändigkeit von Verwaltungs-
behörden oder Verwaltungsgerichten begründet iſt. Das Reich
hat für eine nicht unerhebliche Anzahl von Fällen die geſetzliche
Anordnung getroffen, daß für ſie der Rechtsweg nicht ausgeſchloſ-
ſen werden darf 1), und ebenſo für andere Fälle die Zuſtändigkeit
von Verwaltungsbehörden oder des Bundesrathes anerkannt; im
Allgemeinen aber hat das Reich es den Einzelſtaaten über-
laſſen, die Zuläſſigkeit des Rechtsweges anzuerkennen oder zu ver-
ſagen und damit die Linie zu ziehen, welche die ordentliche ſtreitige
Gerichtsbarkeit von andern ſtaatlichen Functionen, insbeſondere
von der Verwaltung, abgränzt 2). Damit iſt zugleich den Einzel-
[32]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
ſtaaten die Befugniß gewährt, die Geltungsſphäre der Reichsgeſetze
betreffend die Gerichtsverfaſſung und das Prozeßverfahren einzu-
ſchränken oder auszudehnen; ja es iſt ihnen mittelbar ſogar ein
Einfluß auf den Umfang der Gerichtsbarkeit des Reiches gegeben,
indem diejenigen Streitigkeiten, für welche der Rechtsweg bei den
Landesgerichten verſagt iſt, auch nicht im Wege der Beſchwerde oder
Reviſion zur Entſcheidung des Reichsgerichts gebracht werden können.
4. Ausſchluß der ordentlichen Gerichte. Den
Einzelſtaaten ſteht es zwar frei — abgeſehen von den in den
Reichsgeſetzen für einzelne Fälle getroffenen Spezialanordnungen —
zu beſtimmen, für welche bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Straf-
ſachen der Rechtsweg gänzlich ausgeſchloſſen ſein ſoll; inſoweit der
Einzelſtaat aber den Rechtsweg geſtattet, iſt er dann nicht mehr
befugt, die Verhandlung und Entſcheidung den ordentlichen
Gerichten zu entziehen und beſonderen Gerichten zu
übertragen. Hierzu iſt nach dem Gerichtsverf.-Geſ. das Reich
allein berechtigt und es kann dieſe Befugniß in zweifacher Weiſe
ausüben, theils indem es ſelbſt beſondere Gerichte beſtellt und
dieſen gewiſſe Rechtsſachen zuweiſt, theils indem es für gewiſſe
Rechtsſachen beſondere Gerichte zuläßt und es den Einzelſtaaten
freiſtellt, ob ſie von der Erlaubniß zur Errichtung derſelben Ge-
brauch machen wollen. Das Reich hat Beides gethan. Es hat
beſondere Gerichte beſtellt, nämlich die Konſulargerichte 1) und
die Militärgerichte 2), wozu noch im Falle der Verhängung des
Belagerungszuſtandes die Kriegsgerichte und Standrechte hinzu-
kommen können3). Es hat ferner beſondere Gerichte zuge-
laſſen4), nämlich die auf Staatsverträgen beruhenden Rhein-
ſchifffahrts- und Elbzollgerichte 5), agrariſche Gerichte 6), Gemeinde-
2)
[33]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
gerichte unter ſehr einſchränkenden Bedingungen 1), und Gewerbe-
gerichte 2). Inſoweit nun bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Straf-
ſachen dieſen „beſonderen“ Gerichten zugewieſen ſind, was hinſichtlich
der reichsgeſetzlich beſtellten ohne Weiteres eintritt, hinſichtlich der
reichsgeſetzlich zugelaſſenen eine Anordnung des Einzelſtaates vor-
ausſetzt, ſcheiden auch dieſe Streitigkeiten aus dem Gebiete der
„ordentlichen“ ſtreitigen Gerichtsbarkeit aus und das Gerichtsver-
faſſungsgeſetz ſowie die Reichs-Prozeßordnungen werden für die-
ſelben unanwendbar. Die reichsgeſetzliche Beſtellung beſonderer
Gerichte bedeutet die Schaffung eines ſingulären oder ſpeziellen
Gerichtsverfaſſungs- und Prozeßrechts für gewiſſe Kategorien von
Rechtsſtreitigkeiten; die reichsgeſetzliche Zulaſſung beſonderer
Gerichte bedeutet eine Erweiterung der Autonomie der
Einzelſtaaten, indem dieſelben die Ermächtigung erhalten,
für gewiſſe Kategorien von Rechtsſtreitigkeiten an die Stelle des
Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der Reichsprozeßordnungen andere
Rechtsvorſchriften zu erlaſſen. Von dieſer Autonomie können
ſie auch in der Art Gebrauch machen, daß ſie die Gerichtsbarkeit
zwar den ordentlichen Landesgerichten belaſſen, daß ſie aber
die im Gerichtsverfaſſungsgeſetz vorgeſchriebenen Zuſtändigkeits-
normen abändern 3), daß ſie in Strafſachen ein von der Straf-
prozeßordnung 4) und in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten ein von
der Civilprozeßordnung abweichendes Verfahren vorſchreiben 5).
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 3
[34]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Auch hinſichtlich derjenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten,
welche zwar den ordentlichen Gerichten zugewieſen ſind, für welche
aber ein beſonderes d. h. von den Vorſchriften der Civilprozeß-
Ordnung abweichendes Verfahren geſtattet iſt (Aufgebotsſachen,
erbſchaftl. Liquidationsverfahren und Streitigkeiten, welche eine
Zwangsenteignung betreffen), iſt den Einzelſtaaten eine beſchränkte
Autonomie zugeſtanden, indem ſie im Wege der Landesgeſetzgebung
die Zuſtändigkeit der ordentlichen Landesgerichte nach anderen als
den durch das Gerichtsverfaſſungsgeſetz vorgeſchriebenen Normen
beſtimmen dürfen 1).
III. Aus den vorſtehenden Erörterungen ergibt ſich, in wie-
weit die Einzelſtaaten befugt ſind, im Wege der Landesgeſetzgebung
die Zuſtändigkeit der ordentlichen Gerichte und damit zugleich den
Umfang der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit zu beſtimmen.
Gänzlich ausgeſchloſſen iſt aber ein Eingriff in die geſetzlich nor-
mirte Zuſtändigkeit der Gerichte für einen oder mehrere einzelne
Fälle, ſowohl im Wege der Autonomie als auch im
Wege der Verwaltung2). „Ausnahmegerichte ſind unſtatt-
haft. Niemand darf ſeinem geſetzlichen Richter entzogen werden 3).“
1. Zur Sicherung dieſes Verbotes hat das Reich den Grund-
ſatz ſanctionirt, daß die Gerichte über die Zuläſſigkeit des
Rechtswegs entſcheiden. Auch dieſes Prinzip hat aber eine weit-
reichende Einſchränkung erfahren, indem die Einzelſtaaten ermäch-
tigt worden ſind, beſondere Behörden einzuſetzen, um Streitig-
keiten zwiſchen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden oder
Verwaltungsgerichten über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges zu ent-
ſcheiden. Für die Ausübung dieſer Befugniß ſind den Einzelſtaaten
jedoch vom Reich Normativ-Vorſchriften ertheilt worden, durch welche
den zur Entſcheidung der Kompetenzconflicte eingeſetzten Behörden
[35]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
ein gewiſſes Maaß von Unabhängigkeit geſichert werden ſoll 1).
Dieſe Vorſchriften betreffen die Zuſammenſetzung der Behörden
und das Verfahren. Mindeſtens die Hälfte der Mitglieder muß
dem Reichsgericht (oder oberſten Landesgerichte) oder einem Ober-
landesgerichte angehören; die Mitglieder müſſen für die Dauer
des zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen bekleideten Amts oder,
falls ſie zu dieſer Zeit ein Amt nicht bekleiden, auf Lebenszeit
ernannt werden; eine Enthebung vom Amte kann nur unter den-
ſelben Vorausſetzungen wie bei den Mitgliedern des Reichsgerichts
ſtattfinden. Die Einſetzung einer ſolchen Behörde entzieht den
ordentlichen Gerichten nicht die Befugniß, in allen vor ihnen an-
hängigen Sachen über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges zu ent-
ſcheiden und ihre eigene Kompetenz zu prüfen; die „beſondere
Behörde“ entſcheidet vielmehr nur in dem Falle, wenn ein Antrag
darauf geſtellt, der ſog. Kompetenzconflict erhoben worden iſt 2),
und ein ſolcher Antrag iſt nur ſtatthaft, ſo lange nicht durch rechts-
kräftiges Urtheil des Gerichts feſtſteht, daß der Rechtsweg zuläſſig
iſt 3). Das Verfahren der beſonderen Behörde iſt geſetzlich
zu regeln; die Entſcheidung muß in öffentlicher Sitzung nach
Ladung der Parteien erfolgen; an den Entſcheidungen dürfen Mit-
glieder nur in der geſetzlich beſtimmten Anzahl mitwirken und
dieſe Anzahl muß eine ungerade ſein und mindeſtens fünf betragen.
Der Einzelſtaat kann auch die Entſcheidung der Kompetenzcon-
flicte dem Reichsgericht übertragen; da das letztere aber eine Reichs-
behörde iſt, alſo nicht zur unmittelbaren Dispoſition der Einzel-
ſtaaten ſteht, ſo muß der Einzelſtaat einen Antrag bei der Reichs-
regierung machen, auf Grund deſſen das Reichsgericht durch eine
mit Zuſtimmung des Bundesrathes erlaſſene kaiſerliche Verordnung
3*
[36]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
zur Entſcheidung dieſer Streitigkeiten beſtellt wird 1). Von dieſer
Befugniß hat bisher nur Bremen Gebrauch gemacht 2).
Da das Reichsgericht in dem in Rede ſtehenden Falle an Stelle
einer beſonderen Landesbehörde entſcheidet, ſo iſt ſeine Kompetenz
auch an dieſelben Vorausſetzungen und Schranken gebunden. Die
Landesbehörde kann nun ſelbſtverſtändlich nur Kompetenzſtreitig-
keiten unter den Behörden des betreffenden Staates erledigen, über
die Hoheitsrechte anderer Bundesſtaaten und die Art ihrer Geltend-
machung ſteht ihr keine Entſcheidung zu. Mithin kann die Aus-
nahme von dem Grundprinzip, daß die Gerichte über die Zuläſſig-
keit des Rechtswegs entſcheiden, überhaupt nur Platz greifen, wenn
der Kompetenzconflict von der Behörde desjenigen Staates erhoben
wird, dem das mit der Sache befaßte Gericht angehört. Dagegen
iſt weder die Behörde eines andern Bundesſtaates noch irgend eine
Reichsbehörde 3) befugt, den Kompetenzconflict zu erheben und
andererſeits erſtreckt ſich die Rechtskraft der Urtheile einer zur
Entſcheidung von Kompetenzconflicten eingeſetzten Behörde nur auf
das Kompetenzverhältniß der Behörden des betreffenden Staates
und iſt für die Gerichte und Verwaltungsbehörden eines anderen
Staates unmaßgeblich. Dies Alles gilt auch dann, wenn das
Reichsgericht zum Kompetenzconflicts-Gericht beſtellt iſt.
2. Der Grundſatz, daß die Gerichte über die Zuläſſigkeit des
Rechtsweges entſcheiden, erſtreckt ſich nicht blos in materieller
Rückſicht auf die Frage, wie weit das Gebiet der ordentlichen
ſtreitigen Gerichtsbarkeit reicht, ſondern auch auf die formellen
Vorbedingungen, von denen das Beſchreiten des Rechtsweges ab-
hängig gemacht iſt. Soweit nicht in der Straf- und Civilprozeß-
Ordnung reichsgeſetzlich Ausnahmen anerkannt ſind, darf die Rechts-
verfolgung im Wege des Straf- und Civilprozeſſes nicht erſchwert
oder verſagt und namentlich nicht von der Vorprüfung einer Ver-
waltungsbehörde abhängig gemacht werden 4). Jede Anordnung
[37]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
dieſer Art käme im praktiſchen Reſultat auf eine theilweiſe oder
eventuelle Juſtizverweigerung hinaus und widerſpräche ſowohl dem
allgemeinen Rechtsbewußtſein des Volkes als auch der ausdrück-
lichen Vorſchrift der Reichsverfaſſung 1). Deſſenungeachtet hat auch
in dieſer Beziehung die Reichsgeſetzgebung eine Ausnahme gedul-
det. Sie hat die landesgeſetzlichen Vorſchriften unberührt gelaſſen,
durch welche die ſtrafrechtliche oder civilrechtliche Verfolgung öffent-
licher Beamten wegen der in Ausübung oder in Veranlaſſung der
Ausübung ihres Amtes vorgenommenen Handlungen — entweder
im Falle des Verlangens einer vorgeſetzten Behörde oder unbe-
bedingt — an die Vorentſcheidung einer beſonderen
Behörde gebunden iſt 2). Durch dieſe „Vorentſcheidung“ iſt
feſtzuſtellen, ob der Beamte ſich einer Ueberſchreitung ſeiner Amts-
befugniſſe oder der Unterlaſſung einer ihm obliegenden Amtshand-
lung ſchuldig gemacht habe. Fällt dieſe Vorentſcheidung im ver-
neinenden Sinne aus, ſo iſt die Beſchreitung des Rechtsweges ſo-
wohl im civilprozeſſualiſchen als im ſtrafprozeſſualiſchen Verfahren
abgeſchnitten; fällt die Vorentſcheidung bejahend aus, ſo hat dies
keine weitere Wirkung, als daß eine Vorbedingung für die Eröff-
nung des Prozeſſes erfüllt iſt; für das in dieſem Prozeſſe urthei-
lende Gericht iſt jene Vorentſcheidung nicht bindend. Um jedoch
eine Bürgſchaft zu geben, daß die Vorentſcheidung nicht nach Will-
kühr gefällt und zur Verſagung des Rechtsweges mißbraucht werde,
hat das Reichsgeſetz die Vorſchrift ertheilt, daß in den Bundes-
ſtaaten, in welchen ein oberſter Verwaltungsgerichtshof beſteht, die
Vorentſcheidung dieſem, in den anderen Bundesſtaaten dem Reichs-
gerichte zuſteht 3). Die Kompetenz des Reichsgerichtes iſt in die-
ſem Falle daher eine ſubſidiäre, nur in Ermangelung eines Ver-
4)
[38]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
waltungsgerichtshofes begründete; wenn dieſe Vorausſetzung aber
gegeben iſt, ſo tritt die Kompetenz des Reichsgerichts kraft Ge-
ſetzes ein, ohne daß es einer beſonderen kaiſerl. Verordnung be-
darf, durch welche die Vorentſcheidung dem Reichsgericht zugewieſen
wird 1).
Dieſe Zuſtändigkeit des Reichsgerichts iſt nur in Elſaß-
Lothringen und Mecklenburg begründet, da in dieſen Staaten die
Vorentſcheidung im Falle des Verlangens der vorgeſetzten Behörde
erforderlich iſt 2), oberſte Verwaltungsgerichtshöfe dagegen nicht
beſtehen.
IV. Hinſichtlich der Frage, welche Perſonen der ordent-
lichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, muß man zwiſchen
dem prozeſſualiſchen und dem ſtaatsrechtlichen Ge-
ſichtspunkt unterſcheiden. In der erſteren Beziehung handelt es
ſich um den ſogenannten Gerichtsſtand d. h. um die Zuſtän-
digkeit eines oder mehrerer beſtimmter Gerichte in einer concreten
Prozeßſache, gleichſam um die Lokaliſirung und Vertheilung der
Gerichtsbarkeit nach Rückſichten der Zweckmäßigkeit und Billigkeit
auf die einzelnen Gerichte. Die Gerichtsbarkeit an ſich muß über
Jemanden begründet ſein, ehe die Frage aufgeworfen werden kann,
durch welche Gerichtsbehörde ſie verwirklicht wird. Mittelbar kön-
nen aber die Vorſchriften der Prozeßordnungen über den Gerichts-
ſtand zur Begränzung der Gerichtsbarkeit dienen; denn inſofern
nach dieſen Vorſchriften kein einzelnes Gericht im concreten Falle
eine Zuſtändigkeit hat, iſt die Gerichtsbarkeit ſelbſt ausgeſchloſſen.
Daher kömmt den Regeln über den Gerichtsſtand mittelbar aller-
dings eine ſtaatsrechtliche Bedeutung zu; insbeſondere auch eine
internationale; denn ſie begränzen zugleich die inländiſche Gerichts-
barkeit gegen die Gerichtsbarkeit der anderen Staaten. Dieſes
mittelbare Intereſſe des Staatsrechts bietet aber keine ausreichende
Rechtfertigung, um an dieſer Stelle näher auf die complicirte
[39]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Lehre vom Gerichtsſtande einzugehen, die ſtets als ein Theil der
Prozeßrechtswiſſenſchaft angeſehen und behandelt worden iſt.
Vom ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkte aus iſt dagegen die Frage,
welche Perſonen der ſtaatlichen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind,
identiſch mit der Frage, welche Perſonen der Staatsgewalt
unterworfen ſind; denn die Gerichtsbarkeit als Ganzes iſt ja nichts
Anderes als eine beſtimmte Aeußerung der Staatsgewalt. Nur
iſt die Möglichkeit gegeben, daß der Staat auf die Ausübung
dieſes Hoheitsrechts gewiſſen Perſonen gegenüber ganz oder zum
Theil verzichtet, gegen die er andere Herrſchaftsrechte zur Geltung
bringt, daß er ſie von ſeiner Gerichtsbarkeit eximirt.
Den Einzelſtaaten iſt dieſe Befugniß hinſicht-
lich der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit
entzogen; ſie dürfen keine Exemtionen ertheilen 1). Der Kreis
der Perſonen, welche der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit
unterworfen ſind, iſt durch das Reich feſtgeſtellt. Daſſelbe hat
lediglich folgende Befreiungen anerkannt, welche theils auf völker-
rechtlichen, theils auf ſtaatsrechtlichen Gründen beruhen.
1. Befreiungen aus Gründen des Völker-
rechts.
a) Exterritorialität und in Folge derſelben vollſtändige Exem-
tion von der ganzen inländiſchen Gerichtsbarkeit genießen die Chefs
und Mitglieder der bei dem deutſchen Reiche beglaubigten Miſ-
ſionen 2). Daſſelbe gilt von ihren Familienmitgliedern, ihrem Ge-
ſchäftsperſonal und von ſolchen Bedienſteten derſelben, welche nicht
Deutſche ſind 3). Die Exterritorialität erſtreckt ſich jedoch nicht auf
den ausſchließlichen dinglichen Gerichtsſtand in bürgerlichen
Rechtsſtreitigkeiten 4).
Die im deutſchen Reiche angeſtellten Konſuln ſind von der
[40]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
inländiſchen Gerichtsbarkeit nur befreit, inſofern dies in Verträgen
des deutſchen Reiches mit anderen Mächten vereinbart worden iſt 1).
b) Geſandte oder andere völkerrechtliche Vertreter auswärtiger
Mächte, welche nicht bei dem Reich, ſondern nur bei einem Bun-
desſtaate beglaubigt ſind, und ebenſo diplomatiſche Vertreter eines
Bundesſtaates bei einem andern Bundesſtaate gelten nur dieſem
Bundesſtaate gegenüber als exterritorial und ſind deshalb auch
nur von der Gerichtsbarkeit dieſes Staates, nicht von derjeni-
gen der übrigen Bundesſtaaten oder des Reiches eximirt 2); ſie
können daher bei allen Gerichten außerhalb des Bundesſtaates,
bei welchem ſie beglaubigt ſind, im Wege des Civilprozeſſes und
des Strafprozeſſes verfolgt werden, wofern nur ein Gerichtsſtand
für ſie begründet iſt. Für die Exemtion in dem Bundesſtaat gel-
ten im Uebrigen auch für dieſe Geſandtſchaften die in den §§. 19
und 20 des Gerichtsverf.-Geſ. aufgeſtellten Regeln.
c) Die Mitglieder des Bundesrathes haben gemäß Art. 10
der R.V. Anſpruch auf den üblichen diplomatiſchen Schutz, d. h.
ſie ſind, ſoweit ſie nicht preußiſche Staatsangehörige ſind, der
preußiſchen Staatsgewalt gegenüber exterritorial und wie Geſandte
der deutſchen Bundesſtaaten beim König von Preußen anzuſehen 3).
Demgemäß ſind ſie auch von der preußiſchen Gerichtsbarkeit in
gleichem Umfange wie diplomatiſche Geſchäftsträger dieſer Art be-
freit. Ihr allgemeiner Gerichtsſtand beſtimmt ſich nach §. 16 der
Civilproz.-Ordnung und dem entſprechenden §. 11 der Strafproz.-
Ordnung.
2. Befreiungen aus Gründen des Staatsrechts.
a) Aus dem Weſen des Monarchenrechts folgt, daß die Be-
hörden des Staates gegen den Landesherrn und die Mit-
glieder der landesherrlichen Familie keine ſtaatlichen
Herrſchaftsrechte und Zwangsmittel zur Anwendung bringen können
und daß es daher grundſätzlich eine Gerichtsbarkeit des Staates
gegen den Souverain und ſeine Familie nicht gibt. Dies gilt aber
nicht von den vermögensrechtlichen Verhältniſſen des
Monarchen und ſeiner Familienglieder, indem das Vermögen von
[41]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
der Perſon getrennt gedacht und dem Landesherrn in ähnlicher
Art gegenübergeſtellt wird wie der Fiskus dem Staat als öffent-
lichrechtlicher Perſönlichkeit. Die vermögensrechtlichen Verhältniſſe
ſtehen unter der allgemeinen Rechtsordnung und unterliegen auch
hinſichtlich der Verfolgung von Rechtsanſprüchen im Allgemeinen
dem ſonſt geltenden Recht. Indeß ſind hinſichtlich des Gerichts-
ſtandes oder hinſichtlich der Zuſammenſetzung der zur Entſcheidung
ſolcher Streitigkeiten berufenen Gerichtsbehörden in manchen
Staaten beſondere Vorſchriften ergangen und es iſt bisweilen hin-
ſichtlich der familienrechtlichen Verhältniſſe und Streitigkeiten die
Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeſchloſſen. Dieſe Sonderſtellung
der Landesherren und ihrer Familien hat die Reichsgeſetzgebung
fortbeſtehen laſſen und ſie gemäß der bundesſtaatlichen Einigung
der deutſchen Staaten nicht nur für jeden Landesherrn und ſeine
Familie innerhalb ſeines Staatsgebietes ſondern im ganzen Bundes-
gebiet zur Geltung gebracht. Soweit beſondere Vorſchriften in
dieſer Richtung nicht beſtehen, kommt allerdings das allgemeine
Recht zur Anwendung. Demgemäß iſt reichsgeſetzlich angeordnet,
daß in Anſehung der Landesherren und der Mitglieder der landes-
herrlichen Familien, ſowie der Mitglieder der fürſtlichen Familie
Hohenzollern die Beſtimmungen des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes, der
Strafprozeßordnung, der Civilprozeßordnung und der Konkurs-
ordnung nur inſoweit Anwendung finden, als nicht beſondere Vor-
ſchriften der Hausverfaſſungen oder der Landesgeſetze abweichende
Beſtimmungen enthalten 1). Dieſe Reichsgeſetze haben daher in
Anſehung der in Rede ſtehenden Perſonen nur ſubſidiäre Gel-
tung und es folgt hieraus, daß nicht blos die zur Zeit der Ein-
führung der Reichsgeſetze beſtehenden, ſondern auch die ſpäter er-
laſſenen hausgeſetzlichen oder landesgeſetzlichen Vorſchriften den
Vorrang vor den Reichsgeſetzen haben.
Aufgehoben iſt jedoch die in einigen Staaten 2) in Geltung
geweſene Beſchränkung, wonach der Rechtsweg bei Klagen gegen
den Landesherrn von der Einwilligung deſſelben abhängig war,
[42]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
für vermögensrechtliche Anſprüche Dritter d. h. nicht
zur landesherrlichen Familie gehörender Perſonen 1).
b) Zu den Vorrechten, welche den mediatiſirten ehe-
mals reichsſtändiſchen Familien bei Gründung des Rhein-
bundes und des deutſchen Bundes eingeräumt worden ſind, ge-
hörten auch Privilegien hinſichtlich des Gerichtsſtandes und Exem-
tionen von der Gerichtsbarkeit. Mit den Veränderungen der Staats-
und Gerichtsverfaſſung im Laufe des Jahrhunderts ſind dieſe
Sonderrechte meiſtens aufgehoben oder gegenſtandslos geworden und
die Reichsgeſetzgebung hat ſie für das Gebiet der ordentlichen ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit 2) vollends beſeitigt; nur einen Reſt derſelben
hat ſie fortbeſtehen laſſen, nämlich „das landesgeſetzlich den Standes-
herren gewährte Recht auf Austräge“ 3). Der Sinn dieſer An-
ordnung iſt einigermaßen ſchwer zu verſtehen wegen der ſehr ſon-
derbaren Bedeutung, in welchem das Wort „Austräge“ hier ver-
wendet iſt 4). Seinem wörtlichen und urſprünglichen Sinne nach
bedeutet das Wort ein ſchiedsrichterliches Verfahren. In-
ſofern nun ein ſolches auf einem für den einzelnen Streitfall unter
den Parteien vereinbarten Vertrage beruht, iſt die Zulaſſung des-
ſelben keine Exemtion von der Gerichtsbarkeit 5) und kein Vorrecht
eines beſtimmten Standes. Zur Zeit des ehemaligen Deutſchen
Reiches hatten aber die reichsunmittelbaren Perſonen ein Recht
darauf, daß Klagen, welche von Perſonen gleichen oder höheren
Ranges gegen ſie angeſtrengt wurden, nicht vor Territorialgerichten
oder Reichs-Untergerichten, ſondern vor einer geordneten Auſträgal-
Inſtanz entſchieden wurden. In dieſer Geſtalt bedeutet das Recht
auf Austräge eine Exemtion von der Reichs- und Territorial-Ge-
richtsbarkeit. Der urſprüngliche Sinn des Inſtituts wurde jedoch
inſoweit feſtgehalten, als Austräge nur bei Privatklagen
zugelaſſen waren, dagegen in Kriminalſachen nicht ſtatt-
[43]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
fanden1). Allein ein incorrecter Sprachgebrauch verallgemeinerte
die Bedeutung des Wortes „Austräge“, ſo daß ſtatt des poſitiven
Sinnes „Schiedsgericht“ darunter jeder Ausſchluß der landesherr-
lichen Gerichtsbarkeit verſtanden wurde und das „Recht auf Aus-
träge“ gleichbedeutend mit Befreiung von der Gerichtsbarkeit wurde.
In dieſem incorrecten Sinne wurde das Wort verwendet von
der Rheinbundsacte Art. 28, welche den Mediatiſirten in
Kriminalſachen Pairsgerichte zuſicherte und dies in folgender
Art ausdrückte: En matière criminelle les princes et comtes
actuellement régnans et leurs héritiers jouiront des droits
d’austrègues c’est à dire d’être jugés par leurs
pairs etc. Dem entſprechend beſtimmt die Kgl. Baieriſche De-
claration v. 1807 A. Ziff. 11:
„In peinlichen Fällen, mit Ausnahme von Militair-Ver-
brechen, genießen die ſubjicirten Fürſten und Grafen und ihre Erben
das Recht einer Auſträgal-Inſtanz, nämlich durch
Richter ihres Standes gerichtet zu werden.
Da die Deutſche Bundesacte von 1815 Art. XIV.
beſtimmte, daß dieſe Baieriſche Verordn. v. 1807 in allen deutſchen
Bundesſtaaten als Baſis und Norm bei Feſtſtellung des Rechts-
zuſtandes der mittelbar gewordenen Fürſten, Grafen und Herren
untergelegt werden ſollte, ſo wurde in mehreren deutſchen Staaten
den Standesherren in Strafſachen ein Gericht von Standesgenoſſen
gewährt 2) und hierauf mißbräuchlich der Ausdruck Auſträgal-
Inſtanz angewendet. So beſtimmt z. B. der durch die Preußiſche Ver-
ordnung vom 12. Nov. 1855 §. 3 in Kraft erhaltene §. 17 der Inſtr.
vom 30. Mai 1820: „In peinlichen Sachen, mit Ausnahme der
im Kgl. Dienſte begangenen Verbrechen, genießen die Häupter
der ſtandesherrlichen Familien, ſofern ſie nicht den Gerichtsſtand
eines Obergerichtes vorziehen, einen privilegirten Gerichtsſtand vor
Austrägen.“ Auf dieſen „beſonderen Gerichtsſtand vor Aus-
trägen in Strafſachen“ nehmen die Motive des Regierungs-Entw.
zum Einführungsgeſ. zum Gerichtsverfaſſungsgeſ. S. 212 (HahnI
S. 185) Bezug und in dieſem Sinne iſt §. 7 cit. zum Geſetz er-
[44]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
hoben worden 1). Hieraus folgt, daß in dem §. 7 der Ausdruck
„Austräge“ nicht in ſeiner eigentlichen und wörtlichen Bedeutung,
ſondern in der ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts üblich gewordenen
zu verſtehen iſt, und es ergeben ſich hieraus folgende Rechtsſätze:
α) In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten ſind die Standes-
herren von der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht befreit und ihre
Austräge ſtehen unter den allgemeinen Regeln von Schiedsverträgen
und dem ſchiedsrichterlichen Verfahren. (Civilproz.O. §§. 851 ff.)
β) In peinlichen Sachen ſind die Standesherren von der
ordentlichen Gerichtsbarkeit befreit und mit dem Recht auf Aus-
träge (Pairsgerichte) in demjenigen Umfange ausgeſtattet, in
welchem ihnen dieſes Privilegium bei Einführung des Gerichts-
verfaſſungsgeſetzes „landesgeſetzlich gewährt war“. Ein ſolches
Vorrecht kann durch Landesgeſetz nicht mehr neu eingeführt oder
ausgedehnt werden.
γ) Inſoweit hienach die Standesherren der ordentlichen ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, kömmt ihnen keinerlei
privilegirter Gerichtsſtand, weder in bürgerlichen Rechtsſtrei-
tigkeiten noch in Strafſachen, zu 2).
V. So wenig die Einzelſtaaten befugt ſind, Befreiungen von
der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit zu gewähren, ebenſowenig
iſt es ihnen geſtattet, die letztere oder deren Ausübung zu verleihen
oder unter irgend einem Rechtstitel zu übertragen. „Die Ge-
richte ſind Staatsgerichte3).“ Der Ausdruck „Staats-
gerichte“ ſteht hier nicht im Gegenſatz zu Reichsgerichten, über die
das Gerichtsverfaſſungsgeſetz ſelbſt ja Beſtimmungen trifft, ſondern
im Gegenſatz zu Privatgerichten. Hierdurch ſind alle in
Deutſchland noch vorhanden geweſenen Reſte einer patrimonialen,
communalen oder kirchlichen Gerichtsbarkeit 4) definitiv und voll-
ſtändig beſeitigt und auch für die Zukunft iſt es den Staaten unter-
ſagt, Rechte dieſer Art zu ertheilen 5). Daſſelbe gilt von dem
[45]§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Präſentationsrecht für Anſtellungen bei den Gerichten, das ſich als
ein Reſt der ehemaligen Privatgerichtsbarkeit vielfach, namentlich
zu Gunſten der Standesherren, erhalten hatte. Demnach iſt die
Anzahl der Subjekte, welchen die ordentliche ſtreitige Gerichtsbar-
keit zuſteht, durch die im Art. 1 der Reichsverf. gegebene Auf-
zählung der Staaten, zu denen noch das Reich ſelbſt nebſt dem
Reichsland Elſaß-Lothringen hinzukommen, abſchließend begränzt 1).
Dagegen iſt es den Deutſchen Staaten unbenommen, unter ein-
ander Verträge zu ſchließen, durch welche ein Staat die Gerichts-
barkeit ganz oder zum Theil einem anderen Bundesſtaat oder auch
dem Reich zur Ausübung überträgt. Es können unter den Staaten
nach Analogie der Militärkonventionen 2) oder der Vereinbarungen
über die Poſtverwaltung 3) auch Gerichtskonventionen ge-
ſchloſſen werden. Insbeſondere können auch zwei oder mehrere
Deutſche Staaten ſich zur gemeinſchaftlichen Ausübung der
Gerichtsbarkeit vereinigen und zu dieſem Zwecke gemeinſchaftliche
Gerichte beſtellen; es iſt dies in zahlreichen Fällen theils wegen
der geographiſchen Lage theils wegen der Kleinheit der einzelnen
Staatsgebiete geſchehen 4). Demgemäß giebt es zwei Arten von
Gerichtskonventionen; durch die einen wird die Ausübung der
Gerichtsbarkeit in gewiſſem Umfange einem anderen Staate über-
tragen, durch die anderen werden Gerichtsgemeinſchaften vereinbart.
Gerichtskonventionen der erſteren Art ſind lediglich zu Gunſten
Preußens abgeſchloſſen worden. Die Gerichtsbarkeit im Fürſten-
thum Waldeck5) und den fürſtl. lippiſchen Enclaven Lipperode
und Stift Cappel 6) wird im vollen Umfange von den Preußi-
ſchen Gerichten gehandhabt; es ſind ferner unterſtellt das Fürſten-
thum Birkenfeld dem Preuß. Landgericht zu Saarbrücken und
[46]§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
dem Oberlandesgericht zu Köln 1), das Fürſtenthum Schwarz-
burg-Sondershauſen dem Preuß. Landgericht zu Erfurt und
dem Oberlandesgericht zu Naumburg 2), das Herzogthum Anhalt
dem Preuß. Oberlandesgericht zu Naumburg 3) und das Fürſten-
thum Lippe (mit Ausnahme der oben erwähnten Enclaven) dem
Preuß. Oberlandesgericht zu Celle 4). In den angeführten Fällen
ſind den auf die Ausübung ihrer Gerichtsbarkeit verzichtenden
Staaten Präſentationsrechte eingeräumt worden.
Gemeinſchaftlich ſind zur Zeit folgende Gerichte: Die
Landgerichte zu Meiningen, (zwiſchen Preußen, Meiningen,
Coburg-Gotha) 5), zu Rudolſtadt (zwiſchen Preußen, Meiningen
und Schwarzb.-Rudolſtadt) 6) zu Gera (zwiſchen Sachſen-Weimar
und Reuß j. L.) 7) nebſt den Schwurgerichten zu Gera und Mei-
ningen, (zwiſchen Preußen und den Thüringiſchen Staaten) 8) und
das Landgericht zu Lübeck (zwiſchen Oldenburg und Lübeck) 9);
ferner die Oberlandesgerichte zu Jena (thüringiſche Staaten
und Preußen) 10), zu Hamburg (drei Hanſeſtädte) 11), zu Olden-
burg (Herzogth. Oldenburg und Fürſtenth. Schaumburg-Lippe) 12)
und zu Roſtock (beide Mecklenburg) 13).
§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
I.Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Hinſichtlich der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit iſt das
Verhältniß der Deutſchen Staaten ſowohl unter ſich als gegen das
[47]§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
Reich nach bundesſtaatlichen Prinzipien geordnet; die Einzelſtaaten
ſind zwar zur Ausübung dieſer Gerichtsbarkeit kraft eigenen Rechts
und im eigenen Namen berufen, aber ſie üben dieſes Recht nicht
iſolirt, ſondern als Glieder einer höheren Einheit aus und ſie
ſind bei dieſer Ausübung nicht ſouverain, d. h. durch ihren eigenen
freien Willen beſtimmt, ſondern ſie ſind durch die vom Reiche als
einer höheren Potenz ihnen ertheilten Vorſchriften gebunden.
Die praktiſche Tragweite dieſes ſtaatsrechtlichen Prinzips ergiebt
ſich aus folgenden Erörterungen:
1. Es iſt oben bereits hervorgehoben worden, daß die ſtaats-
rechtliche Bedeutung des Urtheils in der Ausſtattung deſſelben mit
Rechtskraft oder Vollſtreckbarkeit beſteht, d. h. in dem ſtaat-
lichen Befehl dem Urtheil zu genügen, widrigenfalls die phyſiſche
Macht des Staates dazu verwendet werden würde, das Urtheil
durchzuführen. Die Rechtskraft eines Urtheils beruht auf der
Zwangsgewalt, dem Herrſcherrecht, des Staates und iſt deß-
halb wie die Staatsgewalt ſelbſt territorial begränzt; ſie reicht
nicht über das Gebiet des Staates hinaus, dem das Gericht an-
gehört. Dies gilt auch dann, wenn zwei oder mehrere Staaten
einen Rechtshilfe-Vertrag abgeſchloſſen haben, durch welchen ſie
ſich gegenſeitig zur Vollſtreckung rechtskräftiger Urtheile verpflichten.
Hier wirkt die „Rechtskraft“, welche ein Urtheil in dem Gebiete
des einen Staates erlangt hat, in den Gebieten der anderen Staaten
nur prozeſſualiſch d. h. in dem Ausſchluß einer nochmaligen
richterlichen Erörterung und Prüfung des Streits; ſie beſteht in
der Anerkennung und Ausdehnung des Rechtsſatzes res judicata
jus facit inter partes auch auf den Fall, daß ein ausländiſches
Gericht das Urteil gefällt hat. Dagegen wirkt ſie nicht in ſtaats-
rechtlicher Richtung; rechtskräftig im letzteren Sinne d. h. voll-
ſtreckbar wird das Urtheil des auswärtigen Gerichts im Inland
nur dadurch, daß das inländiſche Gericht es für vollſtreckbar er-
klärt. Mag durch den Rechtshilfe-Vertrag hierzu auch eine weit-
reichende und an leicht erfüllbare Vorausſetzungen geknüpfte Ver-
pflichtung begründet ſein, immer beruht die Vollſtreckbarkeit des
Urtheils im Inlande auf dem Befehl der einheimiſchen, nicht
dem der fremden Staatsgewalt.
Dieſer Grundſatz, der unter unabhängigen Staaten mit Noth-
wendigkeit gilt, weil er aus dem Weſen der Souveränetät der
[48]§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
Staatsgewalt folgt, iſt durch das bundesſtaatliche Verhältniß der
Deutſchen Staaten beſeitigt und durch das Prinzip erſetzt worden,
daß die (ſtaatsrechtliche) Rechtskraft der Entſcheidungen und End-
urtheile der ordentlichen Gerichte ſich auf das ganze Bundesgebiet
erſtreckt. Das Gleiche gilt hinſichtlich der Wirkungen der bei einem
Gerichte eingetretenen Rechtshängigkeit, ſowie in Bezug auf die
verpflichtende Kraft der zur Erledigung der Prozeſſe erforderlichen
richterlichen Gebote oder Verbote an Perſonen, die ſich im Bundes-
gebiet befinden 1).
Mithin übt jeder einzelne Staat eine Gerichtsbarkeit über
das ganze Bundesgebiet aus und weder die Gültigkeit noch die
Erzwingbarkeit der von ſeinen Gerichten erlaſſenen Befehle iſt da-
von bedingt, daß die Perſonen, an welche ſie gerichtet ſind, gerade
dieſem Staate angehören oder in ſeinem Gebiete ihren Wohnſitz
oder Aufenthalt haben. In dieſer Beziehung bedarf es daher keiner
Rechtshilfe unter den Staaten; ſie wäre gegenſtandslos 2). Die
Durchführung dieſes Prinzips iſt aber nur möglich, wenn für die
Gerichte ſämmtlicher Bundesſtaaten dieſelben Zuſtändigkeitsnormen
gelten, weil ſonſt die Gerichtsgewalten der verſchiedenen Staaten
mit einander in Colliſion gerathen würden. Daher iſt die Ge-
richtsbarkeit jedes einzelnen Staates zwar nach der einen Seite
ſehr erheblich erweitert, indem ſie auf das ganze Bundesgebiet
ſich erſtreckt; nach der anderen Seite aber weſentlich beſchränkt,
indem ſie nur nach Maßgabe der reichsgeſetzlichen Vorſchriften über
die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeübt werden darf. Die in den
Reichsgeſetzen enthaltenen Regeln über die ſachliche und örtliche
Zuſtändigkeit der Gerichte ſetzen der Gerichtsbarkeit d. h. der Staats-
gewalt der Einzelſtaaten feſte Gränzen und entkleiden ſie dadurch
des Merkmals der Souveränetät.
2. Die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit jedes Bundesſtaats
über das ganze Bundesgebiet erfordert nicht nur einheitliche Nor-
men über die Zuſtändigkeit der einzelnen Gerichte, ſondern auch
eine Garantie für gleichmäßige und übereinſtimmende Auslegung
und Handhabung der Geſetze (Rechtsnormen). Dieſe Garantie kann
[49]§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
der Natur der Sache nach nur in der Uebertragung der Gerichts-
barkeit letzter Inſtanz auf das Reich ſelbſt, in der Errichtung eines
oberſten Reichsgerichts beſtehen. Auch hierdurch erleidet die Ge-
richtsbarkeit der Einzelſtaaten eine weſentliche Beſchränkung, ſie
wird durch die Gerichtsbarkeit des Reiches nicht nur ergänzt, ſon-
dern beherrſcht; es fehlt ihr die ſelbſtſtändige Spitze, ſie läuft in
die Gerichtsbarkeit des Reiches ein, wo ſie erſt ihren Abſchluß
findet 1). Dies wird ſelbſtverſtändlich dadurch in keiner Weiſe
modifizirt, daß nicht in allen Prozeßſachen die Entſcheidung des
Reichsgerichts eingeholt werden kann, die Zuſtändigkeit des letzteren
vielmehr durch das Rechtsmittelſyſtem beſtimmt und an gewiſſe
Vorausſetzungen gebunden iſt; denn dieſe Vorausſetzungen ſind
prozeßrechtlicher, nicht ſtaatsrechtlicher Natur; ſie beruhen auf
techniſchen Erwägungen und dem Bedürfniß nach einer gewiſſen
Oekonomie des Verfahrens; ſie finden in ganz derſelben Weiſe
auch in dem Rechtsmittelſyſtem des ſouveränen Einheitsſtaates
Berückſichtigung 2).
Dagegen iſt der erwähnte Grundſatz modifizirt worden durch
eine reichsgeſetzliche Anordnung von ſpezifiſch ſtaatsrechtlichem
Charakter. Das Einf.Geſ. zum Gerichtsverfaſſungsgeſetz beſtimmt
nämlich in §. 8 Abſ. 1:
„Durch die Geſetzgebung eines Bundesſtaates, in welchem
mehrere Oberlandesgerichte errichtet werden, kann die Ver-
handlung und Entſcheidung der zur Zuſtändigkeit des Reichs-
gerichts gehörenden Reviſionen und Beſchwerden in bürger-
lichen Rechtsſtreitigkeiten einem oberſten Landesge-
richte zugewieſen werden.“
Wenn der thatſächliche Zuſtand der Deutſchen Gerichtsverfaſſung
dem Wortlaut dieſer Geſetzesbeſtimmung wirklich entſpräche, ſo
würde die letztere in dem ganzen Bau des Deutſchen Verfaſſungs-
rechts eine hervorragende Anomalie bilden; nicht das Reich als
die übergeordnete ſouveräne Potenz würde den Hoheitsrechten der
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 4
[50]§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
ihm untergeordneten Staaten Maaß und Ziel ſetzen, ſondern die
Einzelſtaaten würden befugt ſein zu beſtimmen, ob ſie die Gerichts-
barkeit in der Reviſionsinſtanz ſelbſt ausüben oder dem Reich zu-
weiſen wollen; die Zuſtändigkeit des Reichsgerichts in bürgerlichen
Rechtsſtreitigkeiten wäre nur eine ſubſidiäre, durch den that-
ſächlichen Verzicht der einzelnen Staaten auf Errichtung eines
oberſten Landesgerichts bedingte. In Wirklichkeit verhält ſich dies
glücklicher Weiſe anders. Zunächſt hat das Reichsgeſ. v. 11. April
1877 über den Sitz des Reichsgerichts (R.G.Bl. S. 415) die An-
wendung dieſer Rechtsvorſchrift auf das Königreich Sachſen, in
deſſen Gebiet das Reichsgericht ſeinen Sitz erhalten hat, ausge-
ſchloſſen und Sachſen hat in Folge deſſen nur ein Oberlandes-
gericht errichtet. Ebenſo haben Württemberg und Baden ſich mit
der Errichtung je eines Oberlandesgerichts begnügt und in den
kleineren Staaten war die Etablirung von mehr als einem Ober-
landesgericht von ſelbſt thatſächlich ausgeſchloſſen. Es bleiben
daher nur zwei Staaten übrig, in welchen die im angef. Geſetz
aufgeſtellte Vorausſetzung des Nebeneinanderbeſtehens mehrerer
Oberlandesgerichte thatſächlich verwirklicht iſt, nämlich Preußen
und Bayern. Preußen hat darauf verzichtet, von der im §. 8 cit.
ihm eingeräumten Befugniß Gebrauch zu machen; der einzige
Deutſche Staat, in welchem dieſer Artikel praktiſche Bedeutung
erlangt hat, iſt demnach Bayern, welches durch Landesgeſetz
v. 23. Februar 1879 1) Art. 42 ff. ein oberſtes Landesgericht in
München errichtet hat.
In Wahrheit iſt daher §. 8 cit. Nichts Anderes als die auf
faſt allen Gebieten des Reichsſtaatsrechts wiederkehrende clausula
baiuvarica, die Anerkennung eines Sonderrechts Bayerns, nur daß
es in dieſem Falle nicht wie ſonſt mit klaren Worten, ſondern in
ſonderbarer Verhüllung Ausdruck gefunden hat 2).
[51]§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
Allein dieſelbe iſt mit einer ſehr weſentlichen Einſchränkung
verſehen, ohne welche ſie eine Lockerung der bereits erfolgten Ein-
fügung Bayerns in den Reichsorganismus bewirkt hätte. Die
Zuſtändigkeit des Reichsoberhandelsgerichts nämlich erſtreckte ſich
auch auf Bayern, ohne daß es dieſem Staate freigeſtanden hat,
durch Landesgeſetz ſich derſelben zu entziehen, und das Reich hatte
die rechtliche Befugniß, von der es auch in zahlreichen Fällen Ge-
brauch gemacht hat, die Zuſtändigkeit des Reichsoberhandelsgerichts
durch beſondere Reichsgeſetze auszudehnen. Dies iſt von dem
Reichsoberhandelsgericht auf das Reichsgericht übertragen worden;
die Vorſchrift des §. 8 Abſ. 1 cit. findet demnach keine Anwendung
auf diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten, welche zur Zuſtän-
digkeit des Reichsoberhandelsgerichts gehört haben oder welche durch
beſondere Reichsgeſetze dem Reichsgericht zugewieſen werden 1).
Uebrigens gelten die reichsgeſetzlichen Vorſchriften über das
Verfahren, ferner die allgemeinen Anordnungen des Gerichtsver-
faſſungsgeſetzes und die beſonderen das Reichsgericht betreffenden
Vorſchriften deſſelben, ſoweit dieſelben analog anwendbar ſind,
auch für das Bayeriſche oberſte Landesgericht als Behörde der
ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit 2).
3. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit bildet einen Theil
der den Einzelſtaaten verbliebenen oder ihnen vom Reich übertra-
genen Selbſtverwaltung in dem Bd. I S. 95 fg. (beſonders
S. 104) dargelegten Sinn. Die Einzelſtaaten ſind verpflichtet, die
ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit nach den im Gerichtsverfaſſungs-
geſetz und den Prozeßordnungen gegebenen Vorſchriften zu hand-
haben. Die Ueberwachung der Einzelſtaaten, daß ſie dieſer Ver-
pflichtung nachkommen, liegt dem Kaiſer ob, die derſelbe vermittelſt
2)
4*
[52]§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
des dem Reichskanzler unterſtellten Reichsjuſtizamtes bewirkt 1).
Wenn hierbei Mängel hervortreten, deren Abſtellung die Regierung
des Einzelſtaates trotz einer Anregung des Reichskanzlers verwei-
gert, ſo entſcheidet der Bundesrath über die richtige Auslegung
und Handhabung der Reichsgeſetze 2). Für die Gerichtsbarkeit gel-
ten keine, von dieſen allgemeinen Prinzipien abweichende Regeln
und es iſt demnach hier einfach auf die Erörterungen zu verwei-
ſen, welche Bd. I S. 255—261 und Bd. II S. 232—237 gegeben
worden ſind. Nur iſt ſelbſtverſtändlich hierbei zu beachten, daß
ſoweit die Regierungen der Einzelſtaaten nicht befugt ſind, auf die
Thätigkeit der Gerichte einzuwirken, auch der Reichskanzler nicht
befugt iſt, den Regierungen gegenüber unter Berufung auf das
kaiſerl. Beaufſichtigungsrecht eine Kontrole und Kritik über die
Handhabung der Gerichtsbarkeit auszuüben oder die Unabhängig-
keit der Gerichte anzutaſten. Die Kompetenz des Reichskanzlers
und event. des Bundesrathes iſt im Weſentlichen auf die Beauf-
ſichtigung der Juſtizverwaltung beſchränkt, insbeſondere darauf,
daß in den Einzelſtaaten die im Gerichtsverfaſſungsgeſetz vorge-
zeichneten Behörden-Organiſationen wirklich durchgeführt, die er-
forderlichen Gerichte, Staatsanwaltſchaften u. ſ. w. errichtet und
mit qualifizirten Beamten beſetzt werden und daß die Gerichte bei
ihren Amtsverrichtungen vor unerlaubten Einwirkungen der Ver-
waltungsbehörden u. dgl. gewahrt bleiben 3). Der Fall einer Juſtiz-
verweigerung kann auf dem Gebiet der ordentlichen ſtreitigen
Gerichtsbarkeit ſeit dem Inkrafttreten der Reichsjuſtizgeſetze nicht
leicht vorkommen; ſollten unvorherzuſehende Umſtände ihn dennoch
herbeiführen, ſo würde gemäß Art. 77 der R.V. der Bundesrath
die Beſchwerde zu prüfen und die Abhülfe zu bewirken haben 4).
II.Die reichsgeſetzlich nicht normirte Gerichts-
barkeit.
Das geſammte Gebiet der Gerichtsbarkeit, welches nicht unter
die Kriterien der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit fällt, iſt der
freien Autonomie und Verwaltung Seitens der Einzelſtaaten
[53]§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
überlaſſen, wobei allerdings die Reichsgeſetze über Strafrecht,
bürgerliches Recht und über die verſchiedenen Gebiete des öffent-
lichen Rechts der Selbſtbeſtimmung der Einzelſtaaten erhebliche
Schranken ſetzen.
Für das [Reichsſtaatsrecht] bietet dieſe Materie keinen Anlaß
zu ſpeziellen Erörterungen; es gelten keine anderen Rechtsregeln
als diejenigen, welche ſich aus dem allgemeinen Unterordnungs-
Verhältniß der Bundesſtaaten unter die Reichsgewalt ergeben; in
dieſer Beziehung iſt auf die Erörterungen Bd. II S. 231—232
zu verweiſen.
Da die Beſtellung und Organiſation der Behörden, durch
welche dieſe Gerichtsbarkeit ausgeübt wird, den Einzelſtaaten über-
laſſen iſt, ſo ſteht es ihnen auch frei, dazu die ordentlichen
Gerichte zu verwenden und die Zuſtändigkeit derſelben und das
von ihnen zu befolgende Verfahren vorzuſchreiben. Nur in einer
Beziehung iſt den Einzelſtaaten hier eine Schranke gezogen; es iſt
ihnen verboten, andere Geſchäfte der Verwaltung als diejenigen
der Juſtizverwaltung den ordentlichen Gerichten zu übertragen 1).
Hierdurch iſt der Grundſatz von der Trennung der Rechtspflege
von der Verwaltung, welcher bei Einführung der neuen Gerichts-
verfaſſung in allen deutſchen Staaten bis auf ein Paar unbedeu-
tende Ausnahmen landesrechtlich bereits durchgeführt war, reichs-
geſetzlich ſanctionirt worden, ſo daß den Einzelſtaaten jede Ab-
weichung von demſelben unmöglich gemacht worden iſt. Wenngleich
daher die praktiſche Wirkung dieſer Beſtimmung nur gering war,
ſo kömmt ihr doch ſtaatsrechtlich eine große Tragweite zu, indem
ſie eine einſchneidende Beſchränkung der Autonomie der Einzel-
ſtaaten enthält. Das Reich verbietet aber nur, Verwaltungsge-
ſchäfte den ordentlichen „Gerichten“ zu übertragen, nicht den
„Richtern“; d. h. es müſſen geſonderte „Behörden“ für die
[54]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
Rechtspflege und für die Verwaltung eingerichtet werden, da-
gegen kann derſelbe „Beamte“ gleichzeitig ein richterliches Amt und
ein Verwaltungsamt führen 1).
§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
1. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Unter den im §. 12 des Reichsgeſetzes aufgeführten ordent-
lichen Gerichten befindet ſich auch ein Gericht des Reiches, das
„Reichsgericht“. Da nun die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit
diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen begreift,
welche den ordentlichen Gerichten zugewieſen ſind, ſo iſt die ordent-
liche ſtreitige Gerichtsbarkeit des Reiches identiſch mit der Zu-
ſtändigkeit des Reichsgerichts in bürgerlichen
Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, gleichviel
durch welches Geſetz die Zuſtändigkeit des Reichsgerichts begründet
iſt, und gleichviel welches Verfahren von dem Reichsgericht zu be-
folgen iſt. Dieſem Begriffe gemäß erſtreckt ſich die ordentliche
ſtreitige Gerichtsbarkeit des Reiches auf folgende Gegenſtände.
1. In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten auf
die Entſcheidung
a) über die Rechtsmittel der Beſchwerde und der Berufung
gegen die Entſcheidungen der Reichskonſuln und Reichs-
Konſulargerichte2).
b) über die Rechtsmittel der Beſchwerde und Reviſion gegen
die Entſcheidungen und Endurtheile der Oberlandesgerichte
der einzelnen Bundesſtaaten 3), ausgenommen die bayeriſchen, nach
Maßgabe des oben S. 49 ff. erörterten §. 8 des Einf.Geſ. zum Ge-
richtsverf.Geſ.
Es ergibt ſich hieraus, daß die einſchränkenden Vorausſetzungen,
unter denen das Rechtsmittel der Reviſion geſtattet iſt, zugleich
ebenſoviele Einſchränkungen der Gerichtsbarkeit des Reiches ſind
und das Verhältniß derſelben zur Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten
beſtimmen. Die Vorausſetzungen der Reviſion ſind aber von
[55]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
zwiefachem Charakter, theils ſind ſie rein prozeßrechtlicher
Natur, theils haben ſie eine ſtaatsrechtliche Bedeutung und ſtehen
mit dem Verfaſſungs- und Rechtszuſtande des Reiches in Zu-
ſammenhang. Rein prozeßrechtlich ſind die Vorſchriften, daß
die Reviſion nur ſtattfindet gegen die in der Berufungsinſtanz
von den Oberlandesgerichten erlaſſenen Endurtheile 1), das
Reichsgericht alſo nur in dritter Inſtanz entſcheidet; ferner daß ſie
nicht auf unrichtige Feſtſtellung oder Beurtheilung des Thatbe-
ſtandes geſtützt werden kann; ſowie das Erforderniß der ſogen.
Reviſionsſumme (Betrag des Streitgegenſtandes von 1500
Mark) 2). Dieſelben Vorſchriften können in den Prozeßordnungen
aller Staaten mit den verſchiedenſten Verfaſſungen, namentlich auch
im iſolirten Einheitsſtaate gelten: ſie beruhen ausſchließlich auf
techniſch-prozeſſualiſchen Rückſichten und geben zu einer ſtaatsrecht-
lichen Erörterung keinen Anlaß. Anders verhält es ſich mit dem
von der Reichsgeſetzgebung für das Rechtsmittel der Reviſion auf-
geſtellten Erforderniß, daß daſſelbe nur darauf geſtützt werden kann:
„Daß die Entſcheidung auf der Verletzung eines Reichs-
geſetzes oder eines Geſetzes, deſſen Geltungsbereich ſich über
den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erſtreckt, beruhe3).
Es beſteht hiernach ein Unterſchied zwiſchen Reichsgeſetzen
und Landesgeſetzen (partikulären Rechtsnormen); die behauptete
Verletzung der erſteren genügt unbedingt zur Begründung der Re-
viſion, die Verletzung der letzteren nur dann, wenn ihr Geltungs-
bereich ſich über den Bezirk des Berufungsgerichts — alſo über
einen Oberlandesgerichts-Bezirk — hinaus erſtreckt 4). Dieſe Unter-
ſcheidung beruht auf dem verſchiedenartigen Intereſſe, welches das
Reich an der gleichmäßigen Auslegung und Handhabung der Ge-
ſetze hat; daſſelbe iſt theils ein materielles theils ein nur formelles.
Inſoweit das Reich den Rechtszuſtand im ganzen Bundesgebiet
einheitlich geregelt hat, darf dieſe Einheit nicht durch eine abwei-
chende Auslegung der Landesgerichte theilweiſe aufgehoben oder
[56]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
in Frage geſtellt werden, ſondern es muß eine für das ganze
Bundesgebiet maßgebende richterliche Inſtanz zur Wahrung der
Einheit beſtehen. Dieſelben Gründe, welche zur Errichtung des
Reichs-Oberhandelsgerichts und zur allmäligen Ausdehnung ſeiner
Kompetenz führten, rechtfertigen die geſetzliche Anerkennung des
allgemeinen Grundſatzes, daß die Auslegung eines Reichsgeſetzes
zur Entſcheidung des Reichsgerichts gebracht werden könne. Die
Frage, welches Recht das Reich geſetzt hat, wird in dem concreten
Rechtsfalle definitiv beantwortet vom Reich ſelbſt durch ſein höch-
ſtes Gericht, nicht vom Einzelſtaat 1). Die Anordnung in §. 8
Abſ. 2 des Einf.Geſ. z. Gerichtsverf.Geſ. giebt die Möglichkeit, dieſem
Grundſatze auch für Bayern vollſtändig Geltung zu verſchaffen.
Für diejenigen Materien aber, für welche das Reich einen
einheitlichen Rechtszuſtand nicht hergeſtellt, ſondern die Vielgeſtal-
tigkeit der Partikularrechte fortbeſtehen gelaſſen hat, beſteht für
das Reich kein Intereſſe daran, wie dieſe Geſetze ausgelegt wer-
den, wol aber, daß nicht widerſprechende Auslegungen derſelben
Rechtsnormen ſich behaupten können, ohne daß in der Gerichts-
verfaſſung des Reiches die Möglichkeit einer Ausgleichung des
Widerſpruches geboten iſt. Denn da die Gerichtsbarkeit jedes Ein-
zelſtaates und die Rechtskraft der Urtheile ſich auf das ganze
Bundesgebiet erſtrecken, ſo muß mit Rückſicht auf die Sicherheit
der Rechtſprechung und auf das Vertrauen des Volkes zur Rechts-
pflege dafür Sorge getragen werden, daß nicht unter den Gerichten
des Bundesgebietes hinſichtlich einer und derſelben Rechtsfrage ein
unlöslicher Diſſens beſtehe. Für diejenigen Rechtsnormen, welche
nur innerhalb des Bezirkes eines Oberlandesgerichtes gelten, iſt
durch die Rechtſprechung des letzteren die Einheitlichkeit der Rechtsan-
wendung verbürgt und die Möglichkeit eines dauernden Widerſtreites
mehrerer hinſichtlich des Inſtanzenzuges von einander unabhängiger
Gerichte ausgeſchloſſen; wenn dagegen eine Rechtsnorm außer in
dem Bezirk des Berufungsgerichtes mindeſtens noch in dem Bezirk
eines Deutſchen Oberlandesgerichts Geltung hat, ſo muß die An-
rufung des Reichsgerichts geſtattet ſein, um den Einklang der
Rechtsauslegung unter den Oberlandesgerichten zu ſichern 2).
[57]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
Freilich wird dieſer Erfolg durch die Beſtimmung des §. 511
nicht vollſtändig erreicht, ſondern nur für den regelmäßigen Fall,
daß die Gerichte nach der lex fori entſcheiden; wenn in einer
Rechtsſache ausländiſches Recht oder das Recht eines andern, wenn-
gleich zum Deutſchen Reich gehörenden, Rechtsgebietes von einem
Oberlandesgerichte in Anwendung zu bringen iſt, kann das letztere
von der Auslegung eines anderen Oberlandesgerichtes abweichen,
ohne daß durch das Rechtsmittel der Reviſion die Entſcheidung
des Reichsgerichts herbeigeführt werden kann 1).
Aber auch abgeſehen von dieſer Beſchränkung der Tragweite
des im §. 511 cit. aufgeſtellten Prinzips iſt das letztere ſelbſt
nicht ein abſolut durchgreifendes, ſondern es ſind Modifikationen
deſſelben nach beiden Richtungen geſtattet. Mit Zuſtimmung des
Bundesraths kann durch Kaiſerl. Verordnung beſtimmt werden,
ſowohl daß die Verletzung von Geſetzen, obgleich deren Geltungs-
bereich ſich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erſtreckt,
die Reviſion nicht begründe, als auch, daß die Verletzung von Ge-
ſetzen, obgleich deren Geltungsbereich ſich nicht über den Bezirk des
Berufungsgerichts hinaus erſtreckt, die Reviſion begründe 2). Die
erſte dieſer beiden Abweichungen betrifft namentlich die Partikular-
geſetze älterer Zeit, deren Geltungsgebiete in Folge der Territorial-
veränderungen oder der Umgeſtaltung der Gerichtsverfaſſung getheilt
worden ſind, ſo daß ſie gegenwärtig in den Bezirken mehrerer
Staaten bezieh. mehrerer Oberlandesgerichte liegen 3).
[58]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
Die andere Modifikation beruht im Einzelnen auf ſehr ver-
ſchiedenen Gründen, deren nähere Erörterung für das Reichs-
ſtaatsrecht kein Intereſſe hat; zu erwähnen iſt nur, daß die Re-
viſion auf die Verletzung einiger Geſetze geſtützt werden kann, die
zwar formell nur für einen Bundesſtaat erlaſſen ſind, materiell
aber in mehreren übereinſtimmend gelten, wie die neueren auf
Grund des Preuß. Berggeſetzes erlaſſenen Berggeſetze oder das
Badiſche Landrecht (Franzöſ. Recht) 1).
Eine auf Grund des §. 6 des Einf.Geſ. zur Civilproz.O. er-
laſſene Verordnung iſt dem Reichstage bei deſſen nächſtem Zuſam-
mentreten zur Genehmigung vorzulegen. Ertheilt der Reichstag
die Genehmigung, ſo erlangt die Verordnung formelle Geſetzes-
kraft, d. h. ſie kann nur im Wege der Reichsgeſetzgebung abge-
ändert oder aufgehoben werden 2); verſagt der Reichstag die Ge-
nehmigung, ſo tritt die Verordnung für die am Tage des Reichs-
tagsbeſchluſſes noch nicht anhängigen Prozeſſe außer Kraft 3).
c) Die im Vorſtehenden erörterte Kompetenz des Reichsge-
richts erſtreckt ſich nicht auf die vor dem Inkrafttreten der Civil-
prozeß-Ordnung anhängig gewordenen Prozeſſe: auf dieſelben fin-
den vielmehr bis zur rechtskräftigen Entſcheidung die bisherigen
Prozeßgeſetze Anwendung, inſofern nicht die Landesgeſetz-
gebung die Civilprozeß-Ordnung auch auf ſolche Prozeſſe in
Geltung ſetzt 4). Demgemäß bleibt bis zur völligen Erledigung
aller am 1. Oktober 1879 anhängig geweſenen Civilprozeſſe die
3)
[59]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
landesgeſetzlich beſtimmte Kompetenz der oberſten Landesgerichte
beſtehen und ebenſo die Befugniß der Einzelſtaaten, im Wege der
Autonomie (Landesgeſetzgebung) zu beſtimmen, in welchem Ver-
fahren und von welcher Behörde die Beendigung dieſer Prozeſſe
erfolgen ſolle. Reichsgeſetzlich iſt aber den Einzelſtaaten die Mög-
lichkeit eröffnet worden, die Verhandlung und Entſcheidung der-
jenigen Sachen, welche nach den bisherigen Prozeßgeſetzen von dem
oberſten Landesgerichte zu erledigen geweſen wären, dem Reichs-
gerichte zuzuweiſen 1). Es geſchieht dies auf Antrag des
Bundesſtaates durch eine mit Zuſtimmung des Bundesraths er-
laſſene Verordnung 2). Von dieſer Befugniß haben Gebrauch ge-
macht Preußen, Baden, Oldenburg, Anhalt, Schwarzburg-Sonders-
hauſen, Waldeck, Hamburg, Bremen, Lübeck 3). Behufs Erledig-
ung dieſer Prozeſſe können mit Zuſtimmung des Bundesraths
durch Kaiſerliche Verordn. bei dem Reichsgerichte vorübergehend
Hilfsſenate eingerichtet werden, deren Zuſammenſetzung und Ge-
ſchäftsvertheilung der Reichskanzler beſtimmt 4).
d) Auch in denjenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten, für
welche beſondere Gerichte zugelaſſen ſind, kann die Gerichts-
barkeit letzter Inſtanz auf Antrag des betreffenden Bundes-
ſtaates mit Zuſtimmung des Bundesrathes durch Kaiſ. Verordnung
dem Reichsgerichte übertragen werden 5).
Die Vorausſetzungen, unter denen ein ſolcher Antrag beim
Reich geſtellt werden kann, beſtimmen ſich nach dem inneren Staats-
recht des betreffenden Bundesgliedes, insbeſondere auch die Be-
antwortung der Frage, ob die Regierung ohne Zuſtimmung des
[60]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
Landtages zur Stellung des Antrages befugt iſt. Aus der Aus-
drucksweiſe des Reichsgeſetzes, welches einen Antrag des „Bundes-
ſtaates“ verlangt, kann nicht gefolgert werden, daß die Bundes-
regierungen hierzu nicht befugt ſeien; denn der Antrag wird
in allen Fällen von der Landesregierung im Namen des Staates
beim Bundesrath geſtellt. Dem Bundesrath iſt es zwar unbe-
nommen, die Legitimation der betreffenden Regierungen zu prüfen,
er iſt hierzu aber nicht verpflichtet, ſondern er kann die Verant-
wortung für den Antrag der Regierung überlaſſen. Iſt aber ein-
mal die Kaiſerl. Verordnung gemäß §. 3 Abſ. 2 cit. formell ord-
nungsgemäß ergangen, ſo iſt die Rechtsgültigkeit derſelben unab-
hängig von der Entſcheidung der Frage, ob die betreffende Landes-
regierung den Antrag bei der Reichsregierung befugter oder unbe-
fugter Weiſe geſtellt hat 1).
Von der Befugniß zur Stellung eines ſolchen Antrags haben
Gebrauch gemacht hinſichtlich der in erſter Inſtanz zur Zuſtändig-
keit der Generalkommiſſionen oder der dieſen entſprechenden Be-
hörden gehörenden Rechtsſtreitigkeiten über Gemeinheitstheilungen,
Zuſammenlegungen von Grundſtücken, Ablöſungen u. ſ. w. Preußen,
Anhalt, Weimar, Meiningen, beide Schwarzburg,
Waldeck und Schaumburg-Lippe2); ferner hinſichtlich der
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten der Landesherren und der Mit-
glieder des landesherrlichen Hauſes Preußen, Heſſen und
Waldeck3).
2. In Strafſachen.
Das Reichsgericht iſt zuſtändig:
a) in erſter und letzter Inſtanz für die Unterſuchung und
Entſcheidung in den Fällen des Hochverraths und des Landesver-
rathes, inſofern dieſe Verbrechen gegen den Kaiſer oder das Reich
gerichtet ſind 4). Hierdurch iſt Art. 75 der Reichsverf. aufgehoben
[61]§ 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
worden, durch welchen prinzipiell bereits die Gerichtsbarkeit des
Reichs für Strafſachen der bezeichneten Art anerkannt war 1). Zu-
gleich iſt angeordnet worden, daß in Sachen, in denen das Reichs-
gericht in erſter Inſtanz erkannt hat, das Begnadigungsrecht
dem Kaiſer zuſteht und die Vollſtreckung von Todesſtrafen erſt
dann zuläſſig iſt, wenn die Entſchließung des Kaiſers ergangen iſt,
von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen 2).
b) in zweiter und letzter Inſtanz zur Verhandlung und
Entſcheidung über die Rechtsmittel der Berufung und Beſchwerde
gegen die Urtheile und Entſcheidungen der Konſularge-
richte3). Auch in dieſen Sachen ſteht das Begnadigungsrecht
dem Kaiſer zu 4).
c) in zweiter und letzter Inſtanz für die Verhandlung und
Entſcheidung über das Rechtsmittel der Reviſion gegen Urtheile
der Schwurgerichte5). Das Rechtsmittel kann nur darauf
geſtützt werden, daß das Urtheil auf einer Verletzung des Geſetzes
beruhe 6).
d) in zweiter und letzter Inſtanz für die Verhandlung und
Entſcheidung über das Rechtsmittel der Reviſion gegen erſtinſtanz-
liche Urtheile der Strafkammern der Landgerichte, ſofern das
Rechtsmittel nicht ausſchließlich auf Verletzung einer in den Lan-
desgeſetzen enthaltenen Rechtsnorm geſtützt wird 7). In dieſer
Beſchränkung kömmt derſelbe ſtaatsrechtliche Geſichtspunkt zur Gel-
tung wie bei der Beſtimmung der Zuſtändigkeit des Reichsgerichts in
4)
[62]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten. Das vom Reich einheitlich geregelte
Strafrecht und Strafprozeßrecht muß gleichmäßig gehandhabt und
ausgelegt werden und der Regulator dafür kann nur das vom
Reiche ſelbſt eingeſetzte Gericht ſein. Inſoweit dagegen auf dem
Gebiete des Strafrechts die Autonomie der Einzelſtaaten ſich er-
ſtreckt, kann ihnen auch die Wahrung gleichmäßiger Handhabung
der landesgeſetzlichen Vorſchriften überlaſſen werden. Demgemäß
entſcheiden die Oberlandesgerichte über das Rechtsmittel der Reviſion,
wenn nur die Auslegung landesgeſetzlicher Rechtsnormen in Frage
ſteht 1). In Strafſachen konnte ſich aber die Reichsgeſetzgebung
mit der Unterſcheidung zwiſchen Reichsgeſetzen und Landesgeſetzen
begnügen; eine Berückſichtigung von partikulären Rechtsnormen,
welche über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus Geltung
haben, fiel von ſelbſt fort, da durch das Reichsſtrafgeſetzbuch und
die dazu ergangenen Ergänzungen auf dem Gebiet des Strafrechts
ein Rechtszuſtand hergeſtellt worden iſt, der für das Civilrecht erſt
durch die Einführung des bürgerlichen Geſetzbuchs des Reichs ein-
treten wird. Um aber in Staaten mit mehreren Oberlandesgerichten
eine widerſtreitende Auslegung des Landesſtrafrechts zu verhüten,
iſt dieſen Staaten die Befugniß eingeräumt worden, die Verhand-
lung und Entſcheidung der zur Zuſtändigkeit der Oberlandesgerichte
gehörenden Reviſionen und Beſchwerden in Strafſachen ausſchließ-
lich einem oder mehreren Oberlandesgerichten zuzuweiſen 2).
e) In dritter Inſtanz iſt das Reichsgericht in Strafſachen
regelmäßig nicht zuſtändig. In denjenigen Fällen, in welchen die
Strafkammern der Landgerichte in der Berufungsinſtanz urtheilen 3),
geht die Reviſion gegen ihre Urtheile an die Oberlandesgerichte 4).
[63]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
Jedoch kann an Stelle derſelben die Zuſtändigkeit des Reichsge-
richts begründet werden in Strafſachen wegen Zuwiderhandlungen
gegen die Vorſchriften über die Erhebung öffentlicher, in die
Reichskaſſe fließender Abgaben und Gefälle, ſofern die Staats-
anwaltſchaft bei der Einſendung der Akten an das Reviſionsgericht
den Antrag ſtellt, daß der Fall zur Entſcheidung des Reichsgerichts
gebracht werde 1). Bei den Reichsſteuergeſetzen iſt eine gleichmäßige
Anwendung der zur Sicherung ihrer Durchführung gegebenen Vor-
ſchriften für den Reichsfiskus von hervorragendem Intereſſe und
aus dieſem Grunde die wenigſtens fakultative Zuſtändigkeit des
Reichsgerichts erforderlich. Es handelt ſich hier um eine Modifi-
kation eines prozeßrechtlichen Grundſatzes aus einem ſtaatsrecht-
lichen Motive.
II.Die beſondere ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Da der Begriff der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit
durch zwei Momente beſtimmt wird, ſo hat er auf dem Gebiete
der ſtreitigen Gerichtsbarkeit ſelbſt einen doppelten Gegenſatz: die
Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen,
welche durch beſondere Gerichte ausgeübt wird, und die Ge-
richtsbarkeit der ordentlichen Gerichte in andern Rechtsſtreitig-
keiten als in bürgerlichen Prozeſſen und Strafſachen. In beiden
Beziehungen ſteht dem Reich eine Gerichtsbarkeit zu.
1. Die beſonderen Reichsgerichte zur Entſchei-
dung von bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und
Strafſachen.
a) Die Konſulargerichte2). Die Konſulargerichtsbarkeit
des Reiches iſt räumlich beſchränkt auf diejenigen Länder, in
welchen ihre Ausübung durch Herkommen oder durch Staatsvertrag
geſtattet iſt 3). Dieſe Länder ſind zur Zeit China4), Siam5),
[64]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
Japan1), Perſien2), ſowie die Türkei mit den ihrer Ober-
hoheit unterworfenen Ländern 3), unter denen auch Tunis inbe-
griffen iſt. Die Veränderungen in dem Territorialbeſtande der
Türkei, welche durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878
(R.G.Bl. S. 307) feſtgeſetzt worden ſind, haben zunächſt eine Ver-
änderung der beſtehenden Konſular-Gerichtsbarkeit nicht hervorge-
rufen; die Fortdauer derſelben im bisherigen Umfange iſt viel-
mehr ausdrücklich anerkannt worden für Bulgarien4), Ser-
bien5), Rumänien6), ſowie für die türkiſche Provinz Oſt-
Rumelien7). Auch in Bosnien und der Herzegowina,
welche Länder unter Oeſterreichiſche Verwaltung genommen worden
ſind, iſt die Konſulargerichtsbarkeit durch den Berliner Vertrag nicht
in Fortfall gekommen; das Reichsgeſetz vom 7. Juni 1880 (R.G.Bl.
S. 146) hat jedoch die Ermächtigung ertheilt, daß die dem Konſul
des Deutſchen Reiches in Serajewo für Bosnien und die Herzego-
wina zuſtehende Gerichtsbarkeit mit Zuſtimmung des Bundesrathes
durch Kaiſerl. Verordnung eingeſchränkt oder außer Uebung geſetzt
werden kann. Auf Grund dieſer Ermächtigung iſt durch Verordn.
vom 23. Dezember 1880 (R.G.Bl. S. 191) die Konſulargerichts-
barkeit in Bosnien und der Herzegowina vom 1. Januar 1881
ab mit der Maßgabe außer Uebung geſetzt worden, daß die deutſchen
Reichsangehörigen und Schutzgenoſſen in dieſen Ländern der Oeſter-
reichiſchen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind.
In Egypten iſt die Gerichtsbarkeit der Deutſchen Konſuln
durch die auf Grund des Geſetzes vom 30. März 1874 (R.G.Bl.
S. 23) erlaſſene Kaiſerl. Verordn. v. 23. Dezemb. 1875 (R.G.Bl.
S. 381) eingeſchränkt worden 8). Die in dem Geſetz v. 1874 ent-
[65]§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.
haltene Zeitbeſchränkung auf die Dauer von 5 Jahren iſt aufge-
hoben worden durch das Reichsgeſetz v. 5. Juni 1880 (R.G.Bl.
S. 145) und die auf Grund deſſelben erlaſſene Kaiſerl. Verordn.
v. 23. Dezemb. 1880 (R.G.Bl. S. 192).
Hinſichtlich der der Gerichtsbarkeit unterworfenen Perſonen
iſt die Konſulargerichtsbarkeit beſchränkt auf die in den Konſular-
gerichtsbezirken wohnenden oder ſich aufhaltenden Reichsangehörigen
und Schutzgenoſſen 1).
In ſachlicher Beziehung erſtreckt ſich die Gerichtsbarkeit der
Konſulargerichte in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten auf alle Pro-
zeſſe, welche nach dem Gerichtsverf.Geſetz und der Konkursordnung
den Amtsgerichten und Landgerichten zugewieſen ſind, in Straf-
ſachen auf alle Fälle, welche zur Kompetenz der Schöffengerichte
und Strafkammern gehören 2). Iſt die ſtrafbare Handlung ein zur
Zuſtändigkeit des Reichsgerichts oder der Schwurgerichte gehöriges
Verbrechen, ſo hat der Konſul die zur Strafverfolgung erforder-
lichen Sicherheitsmaßregeln zu treffen, ſowie die Unterſuchungs-
handlungen, in Anſehung deren Gefahr im Verzug obwaltet, vor-
zunehmen 3).
b) Die Marine-Strafgerichte. Vergl. darüber oben
Bd. I S. 369 und Bd. III. 1. S. 134. 253 ff.
2. Die Gerichtsbarkeit des Reichsgerichts in an-
dern Angelegenheiten als in bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten und Strafſachen.
- a) Das Reichsgericht entſcheidet über die Berufung gegen Er-
kenntniſſe des Patentamtes im Verfahren wegen Erklärung der
Nichtigkeit oder wegen Zurücknahme eines Patents4). - b) Die disciplinariſchen Befugniſſe des Reichs-Ober-
handelsgerichts ſind auf das Reichsgericht übergegangen 5). - c) Das Reichsgericht iſt zuſtändig zur Entſcheidung der ihm
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 5
[66]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
durch Art. 71 Ziff. 1 und Art. 76 der Hamburger Verfaſſung
v. 13. Okt. 1879 zugewieſenen Streitfragen zwiſchen dem Ham-
burger Senat und der Bürgerſchaft 1). - 3. Ueber die Gerichtsbarkeit des Reiches zur Entſcheidung von
Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Natur zwiſchen verſchiedenen
Bundesſtaaten nach Art. 76 der R.V. vgl. Bd. I S. 268 ff.
§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
Der Grundſatz, daß die Gerichte des Bundesgebietes ſich in
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und in Strafſachen gegenſeitig
Rechtshülfe zu leiſten haben, ohne daß es einen Unterſchied macht,
ob das erſuchende und das erſuchte Gericht demſelben Bundes-
ſtaate, oder ob ſie verſchiedenen Bundesſtaaten angehören, iſt be-
reits in dem Geſetz des Norddeutſchen Bundes v. 21. Juni 1869
anerkannt worden, deſſen Geltung zunächſt durch Staatsvertrag auf
Baden 2) und Südheſſen 3), ſodann bei der Reichsgründung ver-
faſſungsmäßig auf das ganze Reichsgebiet ausgedehnt worden iſt 4).
Die Beſtimmungen dieſes Geſetzes ſind aber mit der Einführung
einer gleichmäßigen Gerichtsverfaſſung und einer gemeinrechtlichen
Prozeßordnung zum Theil überflüſſig zum Theil unanwendbar
geworden, und ſoweit ſie noch praktiſche Bedeutung behalten haben,
ſind ſie in die Reichsjuſtizgeſetze, insbeſondere in das Gerichtsver-
faſſungsgeſetz übergegangen. Das Geſetz vom 21. Juni 1869
regelt aber die gegenſeitige Rechtshülfe in bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten und in Strafſachen ohne Unterſcheidung und Ein-
ſchränkung, während das Gerichtsverfaſſungsgeſetz und die Prozeß-
ordnungen nur für die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit
Geltung haben 5). Demgemäß ſind hinſichtlich der Rechtshülfe-
Leiſtung drei Kategorien von gerichtlichen Angelegenheiten zu unter-
ſcheiden:
[67]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
- 1. In Betreff der zur ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit ge-
hörenden Rechtsſachen kommen die Vorſchriften des Gerichts-
verfaſſungsgeſetzes und der Prozeßordnungen zur Anwendung. - 2. In Betreff derjenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und
Strafſachen, welche zur Zuſtändigkeit der beſonderen Gerichte
gehören, ſind die Vorſchriften des Rechtshülfe-Geſetzes v.
21. Juni 1869 in Geltung geblieben. - 3. Für alle übrigen Rechtsſachen, insbeſondere für die Gerichts-
barkeit der Verwaltungsgerichte, der Disciplinargerichte, für
die geſammte freiwillige Gerichtsbarkeit und für die den Ge-
richten aufgetragenen Geſchäfte der Juſtizverwaltung fehlt
es an reichsgeſetzlichen Normen und es beſteht überhaupt
keine reichsgeſetzlich ſanctionirte Pflicht zur Gewährung ge-
genſeitiger Rechtshülfe; es kommen vielmehr die Partikular-
rechte und die unter den einzelnen Staaten abgeſchloſſenen
Verträge zur Anwendung.
I.Rechtshülfe auf dem Gebiet der ordentlichen ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit.
1. Die Gerichtsbarkeit oder Gerichtsgewalt jedes Deutſchen or-
dentlichen Gerichtes erſtreckt ſich, wie S. 47 ff. ausgeführt wurde,
auf das ganze Reichsgebiet und auf alle in demſelben ſich auf-
haltenden Perſonen; dagegen hat jedes Gericht einen räumlich ab-
gegränzten Amtsbezirk mit der Bedeutung, daß es Amtshand-
lungen außerhalb ſeines Bezirks regelmäßig nicht vornehmen
darf 1). Aus dieſen beiden Sätzen ergiebt ſich der Umfang, in
welchem das Verlangen und die Gewährung von Rechtshülfe er-
forderlich iſt. Alle Erkenntniſſe, Entſcheidungen und Verfügungen
eines Gerichtes ſind für das ganze Reichsgebiet ebenſo rechtswirk-
ſam wie für den ſpeziellen Amtsbezirk des Gerichts; es bedarf
daher keiner Vermittlung oder Beihülfe eines andern Gerichts, um
den gerichtlichen Befehlen oder Urtheilen die Rechtswirkſamkeit
beizulegen. Demnach ſind nicht blos alle rechtskräftigen Urtheile
im ganzen Reichsgebiete vollſtreckbar, ſondern jedes Gericht kann
auch an Perſonen, die ſich außerhalb ſeines Gebietes befinden,
rechtsverbindliche Befehle erlaſſen, insbeſondere Zuſtellungen und
5*
[68]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
Ladungen, indem es ſich zum Zweck der Behändigung ſeiner Ver-
fügungen an den Adreſſaten der Poſt oder eines im Bezirk des
Zuſtellungsortes beſtellten Gerichtsvollziehers bedient; die Hülfe
eines andern Gerichts iſt hiezu nicht erforderlich 1). Dies iſt
der Sinn des §. 161 des Gerichtsverf.Geſ. „Die [Herbeifüh-
rung] der zum Zwecke von Vollſtreckungen, Ladungen und Zu-
ſtellungen erforderlichen Handlungen erfolgt nach Vorſchrift der
Prozeßordnungen ohne Rückſicht darauf, ob die Handlungen in dem
Bundesſtaate, welchem das Prozeßgericht angehört, oder in einem
andern Bundesſtaate vorzunehmen ſind.“
Dagegen kann ein Gericht außerhalb ſeines Amtsbezirks nicht
thätig werden, insbeſondere keinen Augenſchein einnehmen, keine
Durchſuchungen vornehmen, keine Zeugen oder Sachverſtändigen
abhören, keine Termine abhalten u. ſ. w. Wenn daher in einem
Verfahren in Folge der Vorſchriften der Prozeßgeſetze eine rich-
terliche Handlung erforderlich wird, welche in einem andern
Gerichtsbezirk als in dem des Prozeßgerichts vorzunehmen iſt, ſo
muß das Gericht dieſes andern Bezirks um Vornahme der Hand-
lung erſucht werden 2).
Von dieſem Prinzip giebt es jedoch eine zwiefache Ausnahme;
wenn nämlich das Amtsgericht des Ortes ſeine Zuſtimmung zur
[69]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
Vornahme der Amtshandlung Seitens des erſuchenden Gerichts
ertheilt und wenn Gefahr im Verzuge iſt; in dem letzteren Falle
iſt nur dem Amtsgericht des Ortes Anzeige zu machen 1). Ob das
Amtsgericht des Orts, welches um Ertheilung der Zuſtimmung
erſucht worden iſt, dieſelbe ertheilen oder verſagen will, iſt ganz
und gar in ſein amtliches Ermeſſen geſtellt; eine Beſchwerde we-
gen verweigerter Zuſtimmung findet nicht ſtatt 2): andererſeits hat
das Prozeßgericht allein darüber zu befinden, ob Gefahr im Ver-
zuge iſt, ohne ſich in Verhandlungen darüber mit dem Amtsgericht
des Ortes einlaſſen zu müſſen.
Auf der Berückſichtigung der Gefahr im Verzuge beruht fer-
ner die im Anſchluß an die Beſtimmung des Rechtshülfegeſetzes
§. 30 getroffene Anordnung des §. 168 des G.V.G.’s, daß die
Sicherheitsbeamten eines Bundesſtaates ermächtigt ſind, die
Verfolgung eines Flüchtigen auf das Gebiet eines anderen Bundes-
ſtaates fortzuſetzen und den Flüchtigen daſelbſt zu ergreifen. Der
Ergriffene iſt aber unverzüglich an das nächſte Gericht oder die
nächſte Polizeibehörde des Bundesſtaates, in welchem er ergriffen
wurde, abzuführen.
2. Das Erſuchen um Rechtshülfe iſt immer an das Amts-
gericht zu richten, in deſſen Bezirke die Amtshandlung vorgenommen
werden ſoll, ohne Unterſchied, welcher Ordnung das erſuchende
Gericht iſt 3). Nur wenn in einem andern Gerichtsbezirke eine
Freiheitsſtrafe vollſtreckt oder ein Verurtheilter zum Zweck der
Strafverbüßung ergriffen und abgeliefert werden ſoll, iſt das Er-
ſuchen an die Staatsanwaltſchaft bei dem Landgerichte des
Bezirks zu richten 4).
3. Das erſuchte Amtsgericht darf das Erſuchen nicht ab-
lehnen, außer wenn ihm ſelbſt die örtliche Zuſtändigkeit mangelt,
das Erſuchen alſo an ein unrichtiges Amtsgericht gerichtet iſt 5),
oder wenn die vorzunehmende Handlung nach dem Rechte des er-
[70]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
ſuchten Gerichts verboten iſt 1). Geht das Erſuchen von einem
Gericht aus, welches dem erſuchten Gericht im Inſtanzenzuge vor-
geſetzt iſt, ſo iſt eine Ablehnung des Erſuchens unbedingt un-
ſtatthaft, und zwar auch dann, wenn das höhere Gericht einem
andern Staate angehört 2). Entſteht über die Zuläſſigkeit des
Erſuchens ein Streit, ſo entſcheidet auf Antrag der Betheiligten
oder des erſuchenden Gerichts das Oberlandesgericht, zu deſſen
Bezirk das erſuchte Gericht gehört. Die Entſcheidung deſſelben iſt
nur dann anfechtbar, wenn ſie die Rechtshülfe für unzuläſſig er-
klärt und das erſuchende und das erſuchte Gericht den Bezirken
verſchiedener Oberlandesgerichte angehören; über die Beſchwerde
entſcheidet das Reichsgericht 3).
Betrifft das Erſuchen die Ablieferung eines Verurtheilten
oder die Vollſtreckung einer Freiheitsſtrafe, iſt daſſelbe alſo nach
§. 164 an die Staatsanwaltſchaft bei dem Landgerichte zu
richten, ſo geht die Beſchwerde gegen den Staatsanwalt, der das
Erſuchen ablehnt, nicht an ein Gericht, da die Staatsanwalt-
ſchaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten unabhängig
iſt, ſondern an den Staatsanwalt des Oberlandesgerichts und
die weitere Beſchwerde an die Landesjuſtizverwaltung (Miniſte-
rium) 4).
4. Aus dem Grundſatz, daß die Strafurtheile eines Deutſchen
Gerichts im ganzen Reichsgebiet vollſtreckbar ſind, folgt noch nicht,
daß ein Deutſcher Staat verpflichtet iſt, die Laſten auf ſich zu
nehmen, welche mit der Vollſtreckung der von den Gerichten an-
derer Staaten verhängten Freiheitsſtrafen verbunden ſind; es kann
vielmehr ſtreng genommen nur verlangt werden, daß der Verur-
[71]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
theilte zum Zweck der Vollſtreckung an den Staat, deſſen Gerichte
die Strafe verhängt haben, abgeliefert werde. Dieſer Grundſatz
iſt jedoch modifizirt worden 1), indem die Vollſtreckung einer Frei-
heitsſtrafe, welche die Dauer von 6 Wochen 2) nicht überſteigt,
demjenigen Bundesſtaate auferlegt worden iſt, in welchem der Ver-
urtheilte ſich befindet 3). Die ſtaatsrechtliche Bedeutung dieſer
Rechtsvorſchrift iſt folgende:
a) Der §. 163 ſtellt keine allgemeine Regel über den Ort
der Vollſtreckung von Freiheitsſtrafen auf, ſondern er regelt nur
das Verhältniß der einzelnen Bundesſtaaten zu einander.
Er beſtimmt insbeſondere nicht, daß eine Freiheitsſtrafe unter 6 Wo-
chen in demjenigen Gerichtsbezirk zu vollſtrecken iſt, in welchem
der Verurtheilte ſich befindet; es iſt vielmehr die Beſtimmung hier-
über den Einzelſtaaten völlig überlaſſen. Geht das Erſuchen um
Rechtshülfe demnach an eine Staatsanwaltſchaft, die demſelben
Staate angehört wie das Gericht, welches das Urtheil gefällt hat,
ſo kann das Erſuchen ebenſowohl auf Vollſtreckung wie auf Ab-
lieferung gerichtet werden und es beſtimmt ſich ausſchließlich nach
dem Partikularrecht und den Anordnungen der Juſtizverwaltungen,
wann das Eine oder das Andere geſchehen ſolle.
Nur für das Verhältniß von Staat zu Staat wirkt die Vor-
ſchrift des §. 163 als ein Verbot, die Ablieferung des Verur-
theilten über die Landesgränze zu verlangen, beziehentl. einem
ſolchen Verlangen, falls es geſtellt wird, zu willfahren 4).
b) Die im §. 163 enthaltene Vorſchrift betrifft nur die Frei-
heitsſtrafen, welche die Dauer von ſechs Wochen nicht überſteigen,
dagegen ſtellt das Geſetz keinerlei Regel auf über die Vollſtreckung
von Freiheitsſtrafen von längerer Dauer. Mit dem argumentum
a contrario iſt aus dem §. 163 nicht zu ſchließen, daß Strafen
[72]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
von längerer Dauer in demjenigen Staate vollſtreckt werden
müſſen, deſſen Gerichte ſie verhängt haben, ſondern nur daß der
Staat, in deſſen Gebiet der Verurtheilte ſich aufhält, nicht ver-
pflichtet iſt, ſich der Strafvollſtreckung zu unterziehen. Es iſt
dieſem Staate demnach reichsgeſetzlich unverwehrt, freiwillig dies
auf ſich zu nehmen, und folglich können die Einzelſtaaten auch
unter einander Staatsverträge ſchließen, durch welche ſie hinſicht-
lich der Strafvollſtreckung weitergehende Verpflichtungen als die
im §. 163 cit. ihnen reichsgeſetzlich auferlegten gegen einander
übernehmen 1).
5. Das Gerichtsverfaſſungsgeſetz hat noch nach einer andern
Richtung die gleichmäßige Handhabung der Rechtspflege geſichert,
indem es dem von der Rechtshülfe handelnden (13ten) Titel die
Beſtimmung hinzugefügt hat: „Die in einem Bundesſtaate be-
ſtehenden Vorſchriften über die Mittheilung von Akten einer öffent-
lichen Behörde an ein Gericht dieſes Bundesſtaates kommen auch
dann zur Anwendung, wenn das erſuchende Gericht einem anderen
Bundesſtaate angehört“ 2). Es bezieht ſich dieſe Vorſchrift nicht
eigentlich auf die Rechtshülfe, da ſie nicht die Verpflichtung der
Gerichte zur Vornahme einer richterlichen Handlung begründet,
ſondern die Pflicht „öffentlicher Behörden“ zur Vorlegung ihrer
Akten bei Gericht betrifft. Sie normirt auch keineswegs die Vor-
ausſetzungen und den Umfang dieſer Pflicht; ſie überläßt es viel-
mehr vollkommen den Regierungen der Staaten Anordnungen über
die Mittheilung von Akten an die Gerichte zu treffen; ſie ſtellt
lediglich die Regel auf, daß dieſe Anordnungen dieſelben für die
Gerichte der anderen Bundesſtaaten wie für die eigenen Gerichte
ſein müſſen 3). Jedoch iſt ein Bundesſtaat niemals verpflichtet,
die Akten ſeiner Behörden unmittelbar dem Gericht eines andern
Bundesſtaates vorzulegen, ſondern ſtets nur durch Vermittlung
eines inländiſchen Amtsgerichts, an welches das Erſuchen um Mit-
theilung zu richten iſt.
[73]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
6. Die Bundesſtaaten ſind verpflichtet, die gerichtliche Rechts-
hülfe einander unentgeldlich zu leiſten. Nur die baaren
Auslagen, welche durch eine Ablieferung oder Strafvollſtreckung
entſtehen, ſind der erſuchten Behörde von der erſuchenden zu er-
ſtatten, wenn dieſe Behörden verſchiedenen Staaten angehören; in
allen anderen Fällen können weder Gebühren noch baare Auslagen
liquidirt werden. Auch bei der Strafvollſtreckung darf für die
allgemeinen Koſten der Gefängnißverwaltung u. dgl. Aufwendungen
Nichts in Anrechnung gebracht werden, weil dieſe Koſten nicht
baare Auslagen ſind, welche durch die Strafvollſtreckung in dem
einzelnen concreten Falle entſtehen 1). Dieſer Grundſatz gilt aber
nur für das Verhältniß der Staaten zu einander, nicht für die
Verpflichtung der Parteien zur Tragung der Koſten des Ver-
fahrens. Wenn eine zahlungspflichtige Partei vorhanden iſt, was
bei bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten regelmäßig, bei Strafſachen
dann der Fall iſt, wenn der Angeklagte rechtskräftig verurtheilt
worden iſt, ſo ſind von derſelben die Koſten der Rechtshülfe zu
erſetzen und die erſuchende Behörde iſt verpflichtet, die Koſten ein-
zuziehen und den eingezogenen Betrag der erſuchten Behörde zu
überſenden 2).
II.Rechtshülfe in Sachen der ſtreitigen Gerichts-
barkeit, welche zur Zuſtändigkeit der beſonderen
Gerichte gehören*).
1. Die Pflicht der Gerichte des Bundesgebietes, ſich gegen-
ſeitig Rechtshülfe zu leiſten, iſt auch hinſichtlich derjenigen bürger-
[74]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
lichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche nicht zur ordent-
lichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit gehören, reichsgeſetzlich anerkannt
und zwar darf die Rechtshülfe von dem erſuchten Gericht auch
dann nicht verweigert werden, wenn es die Zuſtändigkeit des er-
ſuchenden Gerichts nicht für begründet hält 1).
Es iſt aber reichsgeſetzlich keine Sicherheit dafür gegeben, daß
die beſonderen Gerichte der einzelnen Staaten nach übereinſtim-
menden Grundſätzen organiſirt ſind und daß ſie nach gleichmäßigen
Prozeßordnungen verfahren; es beſteht hinſichtlich derſelben alſo
im Weſentlichen noch derſelbe Zuſtand, wie er vor Einführung des
Gerichtsverfaſſungsgeſetzes für die Gerichte überhaupt beſtanden
hat. Deshalb ſind die im Rechtshülfegeſetz gegebenen Vorſchriften
über die Vorausſetzungen und die Art der Rechtshülfeleiſtung für
die zur ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gehörigen Rechtsſachen in
Geltung verblieben.
Für die Konſulargerichtsbarkeit des Reiches ſind jedoch die
Vorſchriften des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes über die Rechtshülfe
(Tit. 13) für anwendbar erklärt worden 2).
2. Ueber die Zuläſſigkeit der zu leiſtenden Rechtshülfe und
über die Rechtmäßigkeit der Verweigerung wird ausſchließlich von
den Gerichten des Staates, welchem das erſuchte Gericht ange-
hört, im geordneten Inſtanzenzuge entſchieden 3). Die Regeln der
§§. 159 und 160 des Gerichtsverf.Geſetzes finden keine analoge
Anwendung; insbeſondere iſt die Kompetenz des Reichsgerichts
zur Entſcheidung über Beſchwerden wegen verweigerter Rechtshülfe
nicht begründet, wenn ſie demſelben nicht nach Maßgabe der Vor-
ſchrift in §. 3 Abſ. 2 des Einführungs-Geſetzes zum Gerichtsverf.
Geſetze beſonders übertragen worden iſt 4).
3. Ein weſentlicher Unterſchied beſteht zwiſchen den Anord-
nungen des Gerichtsverfaſſungs-Geſetzes und denjenigen des Rechts-
hülfe-Geſetzes hinſichtlich der Strafvollſtreckung. Während die von
den ordentlichen Gerichten erkannten Freiheitsſtrafen von nicht län-
gerer als ſechswöchentlicher Dauer unbedingt von demjenigen Bun-
desſtaat zu vollſtrecken ſind, in deſſen Gebiet der Verurtheilte ſich
[75]§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
befindet (Ger.V.Geſ. §. 163), gilt für die von den beſonderen
Gerichten verhängten Strafen noch die weitere Einſchränkung, daß
die ſtrafbare Handlung, wegen welcher die Strafe erkannt iſt, im
Gebiete des Bundesſtaates, in welchem ſich das erſu-
chende Gericht befindet, verübt iſt 1). Dieſelbe Einſchränkung
gilt hinſichtlich der Auslieferung 2); auch darf im Falle der Aus-
lieferung die Unterſuchung oder Strafvollſtreckung auf andere
Handlungen oder Strafen, als diejenigen, wegen welcher die Aus-
lieferung erfolgt war, nicht erſtreckt werden 3). Dieſe Vorſchriften
ſind deshalb von erheblicher praktiſcher Bedeutung, weil die Mi-
litairgerichte „beſondere“ Gerichte ſind und demnach auf die Re-
quiſitionen derſelben nicht die Vorſchriften des Gerichtsverf.Geſetzes,
ſondern diejenigen des Rechtshülfe-Geſetzes Anwendung finden 4).
III.Rechtshülfe Seitens der Gerichte in Sachen, welche
nicht zur ſtreitigen Gerichtsbarkeit gehören.
Den Staaten iſt die gegenſeitige Pflicht zur Leiſtung der
Rechtshülfe in andern als den vom Geſetz v. 21. Juni 1869 be-
troffenen Sachen reichsgeſetzlich nicht auferlegt; dagegen beſteht eine
ſolche Verpflichtung in folgenden Fällen:
- 1. Die Gerichte ſind verpflichtet, dem Patentamte Rechts-
hülfe zu leiſten 5). - 2. Die Gerichte ſind verpflichtet, den Anträgen der See-
ämter in Betreff der Unterſuchung von Seeunfällen zu ent-
ſprechen 6). - 3. Endlich iſt noch zu erwähnen, daß die Deutſchen und die
Oeſterreich-Ungariſchen Gerichte und Behörden zu gegenſeitiger
Rechtshülfe bei Verfolgung und Beſtrafung von Uebertretungen
der Zollgeſetze verpflichtet ſind 7).
[76]§. 101. Die Gerichte.
§. 101. Die Gerichte.
Da jede Prozeßordnung eine beſtimmte Gerichtsverfaſſung zur
Vorausſetzung hat und ſich auf dieſe bezieht, ſo hat die Geſetzgebung
des Reiches bei Erlaß gemeinrechtlicher Prozeßordnungen auch die
Grundzüge der Gerichtsorganiſation für das ganze Bundesgebiet
einheitlich regeln müſſen. Um die Struktur und den Aufbau der
Gerichtsverfaſſung und den Platz, welchen die einzelnen Gerichte
dabei einnehmen, richtig würdigen und den Zuſammenhang des
Ganzen klar überſehen zu können, iſt es aber nothwendig, daß man
die Gerichtsordnung von zwei ganz verſchiedenen Geſichtspunkten
aus betrachtet, die man als [den]prozeſſualiſchen und den
organiſatoriſchen oder verwaltungsrechtlichen be-
zeichnen kann. Von dem prozeſſualiſchen Geſichtspunkte aus er-
ſcheinen die Gerichte als beſchließende und erkennende
Behörden und ihr gegenſeitiges Verhältniß ergiebt ſich aus ihrer
Zuſtändigkeit und ihrer Unter- und Ueberordnung im Inſtanzenzuge.
Vom organiſatoriſchen Geſichtspunkte aus betrachtet ſind die Ge-
richte adminiſtrative Bildungen, Beſtandtheile des ſtaatlichen
Behördenſyſtems, die zwar zu Zwecken der Rechtspflege geſchaffen
und dieſer Beſtimmung gemäß eingerichtet ſind, die aber als ſolche
gar keine oder wenigſtens regelmäßig keine prozeſſualen Functionen
ausüben. Es ergeben ſich hiernach zwei Syſteme von Gerichten,
je nachdem die letzteren nach prozeſſualen oder nach organiſatoriſchen
Rückſichten gruppirt werden; beide Ordnungen ſtehen mit einander
in einem engen Zuſammenhang und beeinfluſſen ſich gegenſeitig,
ſind aber doch von einander verſchieden. Für den Civil- und
Strafprozeß hat jene, für das Staatsrecht dieſe Seite der Ge-
richtsverfaſſung das überwiegende Intereſſe; in dem vom Reich
erlaſſenen Gerichtsverfaſſungsgeſetz ſind beide Seiten in kunſtvoller,
aber wenig überſichtlicher Weiſe mit einander verſchlungen.
I.Die Ordnung der Gerichte in Bezug auf das
Streitverfahren*).
Die moderne Gerichtsverfaſſung iſt dadurch in ſehr eigen-
thümlicher Weiſe ausgezeichnet, daß die zur Rechtſprechung conſti-
[77]§. 101. Die Gerichte.
tuirten Organe des Staates nicht gleichmäßig und nach demſelben
Grundprinzip gebildet ſind, ſondern daß die Zuſammenſetzung der
rechtſprechenden Gerichte eine andere iſt in bürgerlichen Prozeſſen
als in Strafſachen, eine andere in großen und wichtigen Rechts-
ſachen als bei Prozeſſen um geringere Streitgegenſtände, eine
andere endlich in den verſchiedenen Inſtanzen. Die Gegenſätze,
um welche es ſich hierbei handelt, beſtehen hauptſächlich darin, daß
zur Entſcheidung und Urtheilsfällung entweder Einzelrichter oder
Collegien berufen werden, daß die letzteren entweder aus lauter
im Staatsdienſt angeſtellten, juriſtiſch gebildeten berufsmäßigen
Beamten oder aus richterlichen Beamten und Laien zuſammenge-
ſetzt werden, daß endlich die Zahl der Mitglieder der Spruch-
collegien verſchieden iſt. Daß dieſe Verſchiedenheiten der Structur
der Gerichte zugleich tief eingreifende Verſchiedenheiten des gericht-
lichen Verfahrens zur Folge haben, bedarf hier keiner näheren
Darlegung. Von dieſen Geſichtspunkten aus ſind auf dem Gebiete
der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit folgende Kategorien von
Rechtsſtreitigkeiten und ihnen entſprechend folgende Arten reſpective
Reihen von Gerichten zu unterſcheiden.
1. Bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten.
Dieſelben zerfallen in zwei Klaſſen, die man in Kürze als
kleine und große Rechtsſachen bezeichnen kann.
a) Die kleinen Rechtsſachen ſind vermögensrecht-
liche Anſprüche, deren Gegenſtand an Geld oder
Geldeswerth die Summe von 300 Mark nicht über-
ſteigt1), mit Ausnahme der in §. 70 Abſ. 2 des Gerichtsver-
faſſungsgeſetzes aufgeführten Anſprüche; ferner ohne Rückſicht auf
den Werth des Streitgegenſtandes die in §. 23 Ziff. 2 des Ge-
richtsverfaſſungs-Geſetzes aufgeführten Streitigkeiten; endlich die
Konkurſe 2).
Für dieſe Rechtsſachen ſind zuſtändig in erſter Inſtanz die
Amtsrichter, das ſind zum Richteramt befähigte, berufsmäßig
*)
[78]§. 101. Die Gerichte.
angeſtellte Einzelrichter1). In zweiter Inſtanz entſcheiden
als Berufungs- und Beſchwerdegerichte die Civilkammern der
Landgerichte 2); es ſind dies Collegien, welche aus drei zum Richter-
amt befähigten, berufsmäßigen Richtern beſtehen 3). Ein Rechts-
mittel gegen Endurtheile der Civilkammern und eine Entſcheidung
in dritter Inſtanz findet nicht ſtatt.
b) Die zweite Kategorie umfaßt alle bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten, welche nicht den Amtsgerichten (Einzelrichtern) zuge-
wieſen ſind 4), alſo alle vorſtehend nicht aufgeführten civilrechtlichen
Anſprüche.
Dieſelben werden in erſter Inſtanz abgeurtheilt von den
Civilkammern der Landgerichte in der Beſetzung von drei be-
rufsmäßigen Richtern oder, wenn durch die Klage ein Anſpruch
geltend gemacht wird, der aus einem der in §. 101 des Gerichts-
Verf.Geſ. aufgeführten Rechtsverhältniſſe herrührt, von den Kam-
mern für Handelsſachen, wo ſolche von der Landesjuſtiz-
verwaltung gebildet worden ſind 5). Die Kammern für Handels-
ſachen als entſcheidende Collegien beſtehen aus einem berufsmäßigen
Richter als Vorſitzenden und zwei dem Kaufmannsſtande angehö-
renden Handelsrichtern; ſämmtliche Mitglieder haben gleiches
Stimmrecht. In Streitigkeiten, welche ſich auf das Rechtsverhält-
[79]§. 101. Die Gerichte.
niß zwiſchen Rheder oder Schiffer und Schiffsmannſchaft beziehen,
kann die Entſcheidung durch den Vorſitzenden allein erfolgen 1).
In zweiter Inſtanz entſcheiden über die Rechtsmittel der
Berufung und Beſchwerde die Civilſenate der Oberlandesge-
richte in der Beſetzung von fünf rechtsgelehrten Mitgliedern mit
Einſchluß des Vorſitzenden 2).
In dritter Inſtanz erkennt auf das Rechtsmittel der Revi-
ſion 3), beziehentl. der Beſchwerde, ein Civilſenat des Reichs-
gerichts4) in der Beſetzung von ſieben rechtsgelehrten Mitglie-
dern mit Einſchluß des Vorſitzenden 5).
2. Strafſachen.
Die Straffälle ſind in Beziehung auf die Gerichtszuſtändigkeit
in drei Klaſſen zu theilen, zu denen noch als eine beſondere Aus-
nahmsklaſſe die zur ausſchließlichen Zuſtändigkeit des Reichsgerichts
gehörenden Fälle des Hochverraths und des Landesverraths gegen
Kaiſer und Reich hinzutreten 6). Die Eintheilung in dieſe drei
Klaſſen beruht in der Hauptſache auf der dem materiellen Straf-
recht zu Grunde liegenden Eintheilung der ſtrafbaren Handlungen
in Uebertretungen, Vergehen und Verbrechen 7); ſie fällt aber mit
dieſer Eintheilung keineswegs vollkommen zuſammen, vielmehr iſt
die Zuſtändigkeit der Gerichte mittlerer und unterſter Ordnung er-
heblich erweitert 8). Ihr entſprechen als Spruchbehörden erſter
Inſtanz die Schöffengerichte, die Strafkammern und die Schwur-
gerichte.
1. Die Schöffengerichte ſind Collegien, welche aus
einem gelehrten Richter (Amtsrichter) und zwei Schöffen be-
[80]§. 101. Die Gerichte.
ſtehen 1). Die letzteren üben im Allgemeinen, d. h. inſoweit das
Geſetz nicht Ausnahmen beſtimmt 2), während der Hauptverhand-
lung das Richteramt im vollen Umfange und mit gleichem Stimm-
rechte wie der Amtsrichter aus 3). Bei Forſt- und Feldrügeſachen
kann die Mitwirkung der Schöffen durch Anordnung der Landes-
geſetze ausgeſchloſſen werden 4), ſo daß alsdann der Amtsrichter
als Einzelrichter entſcheidet; auch kann der Amtsrichter im Falle
der Vorführung des Beſchuldigten mit Zuſtimmung der Staats-
anwaltſchaft ohne Zuziehung von Schöffen zur Hauptverhandlung
ſchreiten, wenn der Beſchuldigte nur wegen Uebertretung verfolgt
wird und die ihm zur Laſt gelegte That eingeſteht 5).
Die Zuſtändigkeit der Schöffengerichte erſtreckt ſich auf alle
Uebertretungen, auf die im §. 27 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes
aufgeführten Vergehen, ſowie auf diejenigen Strafſachen, deren
Verhandlung und Entſcheidung ihnen von den Strafkammern der
Landgerichte gemäß §. 29 und 75 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes
überwieſen werden.
In zweiter Inſtanz entſcheiden über Beſchwerden und Be-
rufungen gegen Entſcheidungen und Urtheile der Schöffengerichte
die Strafkammern6) und zwar in der Hauptverhandlung
in der Beſetzung mit 5 Mitgliedern, wenn es ſich um ein Ver-
gehen handelt, in der Beſetzung mit 3 Mitgliedern bei Ueber-
tretungen und in den Fällen der Privatanklage 7). Laienrichter
nehmen an der Entſcheidung in keinem Falle Theil.
In dritter Inſtanz entſcheiden die Strafſenate der
Oberlandesgerichte über das Rechtsmittel der Reviſion
gegen Urtheile der Strafkammern in der Berufungsinſtanz 8), gleich-
viel ob die Reviſion auf eine Verletzung des Reichsrechts oder des
[81]§. 101. Die Gerichte.
Landesrechts geſtützt wird 1). Die Reviſion kann jedoch nicht be-
gründet werden mit der Behauptung, daß eine Rechtsnorm über
das Verfahren verletzt worden ſei, mit alleiniger Ausnahme
der Vorſchrift des §. 398 der Strafproz.Ordnung 2). Die Straf-
ſenate entſcheiden in der Beſetzung von fünf rechtsgelehrten Richtern
mit Einſchluß des Vorſitzenden 3).
2. Die Strafkammern ſind in erſter Inſtanz zuſtändig
hinſichtlich aller Vergehen, welche nicht zur Zuſtändigkeit der
Schöffengerichte gehören 4), und derjenigen Verbrechen, welche
im §. 73 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes aufgeführt ſind; ſie ſind
ferner ausſchließlich zuſtändig — gleichviel ob die That als Ueber-
tretung, Vergehen oder Verbrechen zu erachten iſt — bei Zuwider-
handlungen gegen die im §. 74 a. a. O. aufgeführten Geſetze. Die
Strafkammern beſtehen nur aus berufsmäßigen Richtern und ent-
ſcheiden in der Hauptverhandlung in der Beſetzung mit fünf Mit-
gliedern, ſonſt in der Beſetzung mit drei Mitgliedern einſchließlich
des Vorſitzenden.
Gegen Endurtheile der Strafkammern in erſter Inſtanz iſt
nur das Rechtsmittel der Reviſion zuläſſig; über daſſelbe entſchei-
den die Strafſenate der Oberlandesgerichte, ſofern die
Reviſion ausſchließlich auf die Verletzung einer in den Landesge-
ſetzen enthaltenen Rechtsnorm geſtützt wird, die Strafſenate
des Reichsgerichts, wenn die Verletzung von Reichsrecht be-
hauptet wird 5). Die Strafſenate des Oberlandesgerichts entſchei-
den in der Beſetzung von fünf Mitgliedern, die Strafſenate des
Reichsgerichts in der Beſetzung von ſieben Mitgliedern 6).
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 6
[82]§. 101. Die Gerichte.
Eine dritte Inſtanz iſt in denjenigen Sachen, welche in erſter
Inſtanz vor die Strafkammern gehören, nicht gewährt.
Ueber Beſchwerden gegen Entſcheidungen der Strafkammern
entſcheiden ſtets die Strafſenate der Oberlandesgerichte, gleichviel
ob die Beſchwerde auf Verletzung von landesrechtlichen oder von
reichsrechtlichen Vorſchriften gegründet iſt 1).
3. Die Schwurgerichte ſind Gerichte erſter Inſtanz zur
Aburtheilung derjenigen Verbrechen, welche nicht zur Zuſtändig-
keit der Strafkammern oder des Reichsgerichts gehören 2). Sie
ſind ferner zuſtändig für die durch die Preſſe begangenen ſtraf-
baren Handlungen, ſo weit dieſe Zuſtändigkeit nach den Landes-
geſetzen bei Einführung des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes bereits ge-
gründet war 3). Es iſt dies der Fall in Baiern und Württemberg
und theilweiſe in Baden und Oldenburg 4). Die Schwurgerichte ſind
aus zwei Collegien zuſammengeſetzt, einem Collegium von drei
berufsmäßigen Richtern und einem Collegium von zwölf Geſchwo-
renen 5). Das letztere iſt nur zur Entſcheidung der Schuldfrage 6)
berufen, das erſtere zu allen Entſcheidungen, welche von den er-
kennenden Gerichten zu erlaſſen ſind; werden ſolche Entſcheidungen
außerhalb der Dauer der Sitzungsperiode erforderlich, ſo erfolgen
ſie durch die Strafkammern der Landgerichte 7).
Ueber das Rechtsmittel der Reviſion gegen Urtheile der
Schwurgerichte entſcheiden die Strafſenate des Reichsgerichts8).
[83]§. 101. Die Gerichte.
II.Die Organiſation der Gerichte.
Das Gerichtsverfaſſungs-Geſetz §. 12 zählt vier Arten von
ordentlichen Gerichten auf: Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandes-
gerichte und das Reichsgericht. Dieſe Gerichte als ſolche ſind aber
keine beſchließenden und erkennenden Organe der ordentlichen Rechts-
pflege 1), ſie ſind keine Gerichte im eigentlichen und engen Sinne
des Prozeßrechts, ſondern ſie ſind ſtaatliche Behörden, bei wel-
chen die Prozeßgerichte gebildet werden oder aus deren Mitte
die Prozeßgerichte hervorgehen. Man könnte ſie gleichſam die
Kadres nennen, innerhalb deren die erkennenden Gerichte zur Ent-
ſtehung kommen. Damit ſoll aber keineswegs geſagt werden, daß
dieſe Behörden nur für die Juſtizverwaltung Bedeutung haben.
Dieſe Organiſationen ſind vielmehr auch für das Prozeßrecht von
der größten Wichtigkeit. Durch dieſelben wird bewirkt, daß die
einzelnen von den Prozeßordnungen erforderten Gerichte nicht
iſolirt neben einander ſtehen, ſondern zu größeren einheitlichen
Behörden zuſammengefaßt werden, ſo daß die Zuſtändigkeit der
Einzelrichter und Spruchcollegien im Verhältniß zu der ſie um-
faſſenden Gerichtsbehörde lediglich als eine Vertheilung der
Geſchäfte, als eine innere Angelegenheit der letzteren erſcheint.
Die Prozeßordnungen und andern Geſetze können demgemäß die
richterlichen Geſchäfte den Gerichtsbehörden als ſolchen auftragen
und die letzteren nach Außen als einheitliche Anſtalten des Staates
behandeln. Dadurch wird die Gerichtsverfaſſung weſentlich ver-
einfacht; die vielen, nach den verſchiedenen Arten von Streitſachen
ſo verſchieden conſtituirten Prozeßgerichte verſchwinden unter der
gemeinſamen Firma und einheitlichen Organiſation der erwähnten
Gerichtsanſtalten; ſie ſind gleichſam nur „Erſcheinungsformen“,
in denen die letzteren thätig werden. Eine Hauptwirkung dieſer
Einrichtung beſteht darin, daß die örtliche Zuſtändigkeit der
Gerichte ohne Rückſicht auf die Bildung der verſchiedenen Spruch-
6*
[84]§. 101. Die Gerichte.
behörden einheitlich geregelt werden kann; die Gerichtsbezirke
entſprechen den im §. 12 cit. aufgeführten „Gerichten“. Man
kann daher z. B. nicht von einem Gerichtsbezirk der Civilkammer,
ſondern nur von einem Gerichtsbezirk des Landgerichts ſprechen,
während andererſeits die ſachliche Zuſtändigkeit genau genommen
nicht für das Landgericht, ſondern für ſeine verſchiedenen Kammern
normirt iſt.
So erſcheinen die Gerichte, wie ſie §. 12 cit. aufführt, als
diejenigen Behörden, welche die ſtaatliche Gerichtsgewalt hand-
haben, und in dieſem Sinne ſagt das erwähnte Geſetz mit Recht:
„Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit wird durch Amtsgerichte
u. ſ. w. ausgeübt.“ Hierdurch werden zugleich ſehr zahlreiche
Zweifel und Streitigkeiten hinſichtlich der Kompetenz vermieden.
Sodann hat dieſe adminiſtrative Zuſammenfaſſung der Gerichte
den Nutzen, daß ſie eine erhebliche Erſparniß hinſichtlich der An-
zahl der erforderlichen Richter und Beamten ermöglicht, da die-
ſelben Richter und Beamten an mehreren Spruchkollegien Theil
nehmen und ſich gegenſeitig vertreten, ſowie die anderweitigen ge-
richtlichen Geſchäfte zweckmäßig unter ſich vertheilen können.
Man darf daher wol behaupten, daß das geſetzgebungs-
politiſche und adminiſtrative Problem bei der Ordnung der Ge-
richtsverfaſſung gerade darin beſteht, die durch prozeſſualiſche Rück-
ſichten und Bedürfniſſe gebotene Vielgeſtaltigkeit der in den
einzelnen Prozeſſen zur Beſchlußfaſſung und Urtheilsfällung erfor-
derlichen Organe mit einer einfachen Gliederung der Gerichte
als Behörden zu verbinden. Je mehr nun aber die Gerichtsver-
faſſung als Behördenſyſtem ſich unterſcheidet von der Gerichtsver-
faſſung als Prozeßinſtitution, je verſchiedener das Gericht als
Staatsanſtalt von dem Gericht im Prozeßverfahren iſt, deſto größere
politiſche und juriſtiſche Bedeutung erlangt die Art und Weiſe,
wie die für den einzelnen Fall oder für die einzelnen Kategorien von
Fällen zuſtändigen Prozeßgerichte gebildet werden, auf welchem
Wege ſie aus dem Gerichte als Behörde hervorgehen.
Dieſer Punkt iſt für das heutige Deutſche Staatsrecht von
großer Wichtigkeit. Das Reich hat einerſeits den Einzelſtaaten
eine ſehr ausgedehnte Freiheit und Selbſtſtändigkeit hinſichtlich der
Einrichtung, Dotirung und Organiſation der Gerichtsbehörden über-
laſſen und — abgeſehen natürlich von dem Reichsgericht — nur
[85]§. 101. Die Gerichte.
die äußerſten Grundlinien des Juſtizbehördenſyſtems gezogen; es
hat andererſeits aber ſehr genaue und zwingende Vorſchriften da-
rüber gegeben, wie die für die verſchiedenen Gattungen von Streit-
ſachen erforderlichen, beſchließenden und urtheilenden Spruchcolle-
gien conſtituirt ſind und wie ſie aus dieſen Behörden gebildet
werden. Dies iſt eine der wichtigſten Schranken, welche auf dem
Gebiet der Gerichtsbarkeit der Hoheit der Einzelſtaaten durch die
ſouveräne Staatsgewalt des Reiches gezogen worden iſt 1).
Im Einzelnen gelten für die vier Klaſſen von ordentlichen
Gerichten folgende Regeln:
1. Die Amtsgerichte2). Sie bilden den Rahmen für die
Einzelrichter (Amtsrichter) und die Schöffengerichte.
a) Die Organiſation der Amtsgerichte iſt den Einzelſtaa-
ten völlig freigegeben; ſie haben insbeſondere die Befugniß, die
Zahl der Richterſtellen an jedem Amtsgericht zu beſtimmen. Iſt
das Amtsgericht mit mehreren Amtsrichtern beſetzt, ſo erledigt
jeder derſelben die ihm obliegenden Geſchäfte als Einzelrichter.
Die Landesjuſtizverwaltung hat die allgemeinen Anordnungen über
die Geſchäftsvertheilung zu treffen. Hierbei kann ſie nach Gegen-
ſtänden oder nach räumlich begränzten Bezirken oder nach beiden
Rückſichten zugleich die Vertheilung der Geſchäfte vornehmen. Wo-
fern den einzelnen Amtsrichtern beſtimmte räumlich abgegränzte
Bezirke zugewieſen werden, entſtehen innerhalb des Amtsgerichts-
bezirkes mehrere Jurisdictionsbezirke der Einzelrichter. Der Be-
zirk des Amtsgerichts iſt alſo nicht identiſch mit den Gerichts-
bezirken der die Rechtsſtreitigkeiten entſcheidenden Amtsrichter.
Allein die Abgränzung dieſer Amtsrichter-Bezirke erſcheint lediglich
als ein Akt der Geſchäftsvertheilung, alſo der Gerichtsverwaltung;
die Kompetenz des Amtsgerichts erſtreckt ſich als eine einheitliche
über ſämmtliche dazu gehörende Amtsrichterbezirke und es kann
jeder Zeit gemäß den von der Juſtizverwaltung getroffenen Be-
ſtimmungen unter den bei demſelben Amtsgericht angeſtellten Richtern
nicht nur eine gegenſeitige Vertretung, ſondern auch ein Austauſch
[86]§. 101. Die Gerichte.
der Geſchäftskreiſe ſtattfinden 1). Die Vorſchrift: „Niemand darf
ſeinem geſetzlichen Richter entzogen werden“ bedeutet demnach in
Betreff der Amtsgerichte, welche mit mehreren Richtern beſetzt ſind,
nicht einen völligen Ausſchluß der Einwirkung der Juſtizverwaltung
auf die Beſtimmung des Richters für den concreten Fall, ſondern
nur eine Beſchränkung der freien Auswahl auf die bei dem ein-
zelnen Amtsgericht angeſtellten Richter. Wegen der verhältnißmäßig
geringen Wichtigkeit der zur Kompetenz der Amtsgerichte gehören-
den Sachen hat das Reich keine geſetzlichen Vorſchriften darüber
erlaſſen, auf welche Weiſe aus den Mitgliedern des Amtsgerichts
die in den einzelnen Fällen beſchließenden und erkennenden Richter
beſtimmt werden.
b) Aus demſelben Grunde iſt die Beſtellung von Hülfsrichtern
an den Amtsgerichten vom Reiche an keinerlei erſchwerende Be-
dingung geknüpft; der Satz des §. 10 des Gerichtsverf.Geſetzes:
„Die landesgeſetzlichen Beſtimmungen über die Befähigung zur
zeitweiligen Wahrnehmung richterlicher Geſchäfte bleiben unberührt“,
gilt für die Amtsgerichte ohne Einſchränkung. Demnach ſteht es
den Staaten frei zu geſtatten, daß die durch Einzelrichter auszu-
übende Gerichtsbarkeit ſtatt einem auf Lebenszeit angeſtellten Richter,
einem auf beſtimmte oder unbeſtimmte Zeit beauftragten Kommiſ-
ſarius übertragen, und zu einem ſolchen Kommiſſarius Jemand
beſtellt werde, der den reichsgeſetzlichen Vorſchriften über die
Fähigkeit zum Richteramte nicht genügt hat. Die Juſtizverwal-
tungen der Einzelſtaaten ſind in dieſer Hinſicht lediglich durch die
Landesgeſetze beſchränkt.
c) Die Schöffengerichte werden „bei den Amtsgerichten“
gebildet 2), d. h. ſie ſind keine beſonderen, für ſich organiſirten
Behörden, ſondern nur Spruchkollegien, welche im Syſtem der
Juſtizbehörden unter den Amtsgerichten mit inbegriffen ſind; eine
prozeſſuale Form der Amtsgerichte 3). Dem Amtsrichter treten
für die Verhandlung und Entſcheidung von Strafſachen zwei Schöf-
fen zur Seite 4). Wenn das Amtsgericht mit mehreren Richtern
beſetzt iſt, ſo ſteht es der Landesjuſtizverwaltung frei, unter den-
[87]§. 101. Die Gerichte.
ſelben denjenigen zu beſtimmen, welcher den Vorſitz des Schöffen-
gerichts führt, oder anzuordnen, daß der Vorſitz von ihnen ab-
wechſelnd geführt werden ſoll; auch kann in dieſen Anordnungen
nach Belieben eine Aenderung getroffen werden 1). Dagegen iſt
eine Einwirkung der Verwaltung auf die Auswahl der bei dem
einzelnen Fall mitwirkenden Schöffen ausgeſchloſſen, indem die
Reihenfolge, in welcher die zur Leiſtung des Schöffendienſtes be-
ſtimmten Perſonen an den Sitzungen Theil nehmen, vorher be-
ſtimmt wird 2).
d) Jedem Amtsgericht, gleichviel ob es mit einem oder meh-
reren Richtern beſetzt iſt, ſteht ein Einzelrichter vor, welcher die-
jenigen geſchäftlichen Angelegenheiten zu erledigen hat, die dem
Amtsgericht als Geſammtbehörde obliegen, insbeſondere die Ver-
waltungsgeſchäfte 3), ſowie die allgemeine Dienſtaufſicht über die
Subalternbeamten des Gerichts — und falls daſſelbe mit mehreren
Richtern beſetzt iſt, auch über dieſe, ſoweit es ſich um die Ver-
theilung und Erledigung der Geſchäfte handelt 4).
2. Die Landgerichte. Dieſelben umfaſſen die Civilkam-
mern und Strafkammern, die Schwurgerichte und die Kammern
für Handelsſachen. Ueber die Einrichtung der Landgerichte als
Geſammtbehörden und die Art der Bildung der Prozeßgerichte
gelten folgende reichsgeſetzliche Anordnungen.
a) Die regelmäßigen und weſentlichen Spruchbehörden der
Landgerichte ſind die Civil- und Strafkammern; dieſelben
müſſen bei allen Landgerichten gebildet werden 5). Die Zahl der
zu bildenden Kammern hängt ebenſo wie die Größe des Landge-
richtsbezirks von der Anordnung der Einzelſtaaten ab. Welche
Geſchäfte den Civilkammern und welche den Strafkammern oblie-
gen, iſt in den Prozeßordnungen beſtimmt. An der Spitze des
[88]§. 101. Die Gerichte.
Landgerichts ſteht der Präſident, der zugleich den Vorſitz in einer
Kammer übernimmt; den Vorſitz in den übrigen Kammern führen
Directoren. Bei der Bildung der einzelnen Kammern kömmt nun
Dreierlei in Betracht: die Beſtimmung des Vorſitzenden, die Be-
ſtimmung der Mitglieder und, falls mehrere Kammern derſelben
Art gebildet werden, die Vertheilung der Geſchäfte unter dieſelben.
α) Der Vorſitz in den einzelnen Kammern wird für das ganze
Geſchäftsjahr im Voraus beſtimmt; der Präſident iſt befugt,
die Kammer zu wählen, welcher er vorſitzen will; die Vertheilung
des Vorſitzes in den übrigen Kammern erfolgt durch den Präſi-
denten und die Directoren nach Stimmenmehrheit, indem die Stimme
des Präſidenten im Falle der Stimmengleichheit den Ausſchlag
giebt 1). Iſt der ordentliche Vorſitzende einer Kammer verhindert,
den Vorſitz zu führen, ſo vertritt ihn dasjenige Mitglied der
Kammer, welches dem Dienſtalter nach und bei gleichem Dienſt-
alter der Geburt nach das älteſte iſt 2). Daher iſt es ausge-
ſchloſſen, daß der Präſident oder Director im Laufe des Geſchäfts-
jahres in einer andern Kammer als der ihm zugetheilten den Vor-
ſitz in einzelnen Sachen übernimmt oder mit einem andern Vor-
ſitzenden die Kammer wechſelt 3).
β) Vor Beginn des Geſchäftsjahres werden auf die Dauer
deſſelben die ſtändigen Mitglieder der einzelnen Kammern, ſo-
wie für den Fall ihrer Verhinderung die regelmäßigen Ver-
treter beſtimmt. Jeder Richter kann zum Mitgliede mehrerer
Kammern beſtimmt werden 4). Da jede Willkühr in der Zuſammen-
ſetzung der Beſchluß- und Spruchcollegien für den einzelnen Fall
ausgeſchloſſen ſein ſoll, ſo ſind dieſe Anordnungen ſo zu verſtehen,
daß für jedes einzelne ſtändige Mitglied ein beſtimmter Vertreter
[89]§. 101. Die Gerichte.
beſtellt wird und daß auch die Reihenfolge feſtgeſetzt wird, in
welcher die verſchiedenen Mitglieder der Kammern und ihre regel-
mäßigen Vertreter für die einzelnen Sitzungen einzutreten haben 1).
Eine Aenderung in der Zuſammenſetzung der Kammern kann im
Laufe des Geſchäftsjahres nur angeordnet werden, wenn dies in
Folge Wechſels oder dauernder Verhinderung einzelner Mitglieder
des Gerichts erforderlich wird 2). Die Beſtimmung der ſtändigen
Mitglieder der Kammern und ihrer regelmäßigen Vertreter er-
folgt durch „das Präſidium“; daſſelbe beſteht aus dem Präſidenten
als Vorſitzenden, den Directoren und dem nach dem Dienſtalter
älteſten Mitgliede des Gerichts; die Beſchlußfaſſung erfolgt nach
Stimmenmehrheit mit Stichentſcheid des Präſidenten 3). Dagegen
hat der Präſident ſelbſtſtändig im Falle der Verhinderung des
regelmäßigen Vertreters eines Mitgliedes einen zeitweiligen Ver-
treter deſſelben zu beſtimmen 4).
γ) Dieſelben Vorſchriften finden ſinngemäße Anwendung auf
die Vertheilung der Geſchäfte unter die Kammern derſelben Art 5).
Innerhalb der Kammer vertheilt der Vorſitzende die Geſchäfte auf
die Mitglieder 6).
b) Außer den erwähnten Kammern ſind bei den Landgerichten 7)
Unterſuchungsrichter zu beſtellen. Die Zahl derſelben be-
ſtimmt ſich nach dem Bedürfniß; die Beſtellung erfolgt ebenfalls
auf die Dauer eines Geſchäftsjahres, aber nicht durch das Präſi-
dium des Landgerichts, ſondern durch die Landesjuſtizverwaltung 8).
Es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ein Unterſuchungsrichter zugleich
Mitglied einer Civil- oder Strafkammer iſt 9).
c) Eine anomale Bildung bei den Landgerichten entſteht durch
die Errichtung einer detachirten Strafkammer an dem
Sitze eines zum Landgerichtsbezirke gehörenden Amtsgerichts 10).
[90]§. 101. Die Gerichte.
Dieſelbe kann nur erfolgen durch ſpezielle Anordnung der Landes-
juſtizverwaltung und nur aus einem einzigen Grunde, nämlich
wegen großer Entfernung des Landgerichtsſitzes; einer ſolchen
Kammer kann für den Bezirk eines oder mehrerer, zum Landge-
richtsbezirk gehörender Amtsgerichte entweder die geſammte Thätig-
keit der Strafkammer des Landgerichts oder ein Theil dieſer Thä-
tigkeit zugewieſen werden. Sowohl die Begränzung des Bezirks
als die Zuweiſung und Abgränzung der Thätigkeit erfolgt durch
Anordnung der Landesjuſtizverwaltung 1). Man darf aber eine
derartige Strafkammer ſich nicht als eine gewöhnliche Landgerichts-
Strafkammer denken, welche nur entfernt von dem Sitze des Land-
gerichts und mit Beſchränkung ihrer Zuſtändigkeit für einen abge-
gränzten Theil des Landgerichtsbezirkes errichtet wird. Ihre Bil-
dung unterliegt vielmehr ſehr abweichenden Regeln 2). Dieſelbe
kann nicht nur mit Mitgliedern des Landgerichts, ſondern auch mit
Amtsrichtern desjenigen Bezirks, für welchen die Kammer gebildet
wird, beſetzt werden. Sie erhält einen ſtändigen Vorſitzenden,
den die Landesjuſtizverwaltung ernennt. Derſelbe braucht nicht
Landgerichts-Director zu ſein; er kann aus den Mitgliedern des
Landgerichts oder den Amtsrichtern des Bezirks genommen werden.
Er gehört nicht zum Präſidium des Landgerichts und das letztere
hat keinen Einfluß auf die Zuweiſung des Vorſitzes in einer aus-
wärtigen Strafkammer. Er wird ſtändig ernannt d. h. nicht
blos auf die Dauer eines Geſchäftsjahres und auch nicht auf belie-
bigen Widerruf; iſt der Vorſitz aber als Nebenamt mit einem Haupt-
amt verbunden, ſo erfolgt die Ernennung nur für die Dauer des
Hauptamtes. Es kann keinem Mitgliede des Langerichts wider ſeinen
Willen der Vorſitz in einer auswärtigen Strafkammer als Amtsob-
liegenheit übertragen werden. Ferner werden die Amtsrichter,
welche den Strafkammern angehören ſollen, durch die Landesjuſtizver-
10)
[91]§. 101. Die Gerichte.
waltung berufen; aber nur auf die Dauer des Geſchäftsjahres.
Dagegen finden hinſichtlich der Mitglieder des Landgerichts, welche
der auswärtigen Strafkammer zugewieſen werden ſollen, die Vor-
ſchriften des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes Anwendung; ſie werden
alſo durch das „Präſidium“ des Landgerichts bezeichnet.
d) Eine andere anomale Bildung bei den Landgerichten ſind
die Kammern für Handelsſachen. Dieſelben können bei
den Landgerichten errichtet werden, ſoweit die Landesjuſtizverwal-
tung ein Bedürfniß als vorhanden annimmt; ihre Zuſtändigkeit
kann für den ganzen Bezirk des Landgerichts oder für örtlich ab-
gegrenzte Theile deſſelben normirt werden; ſie können am Sitz
des Landgerichts oder an andern Orten des Landgerichtsbezirks
ihren Sitz erhalten 1). Ihnen gehört nur ein berufsmäßiger
Richter an, der zugleich den Vorſitz führt. Ueber die Art und
Weiſe, wie derſelbe beſtellt wird, hat das Reichsgeſetz Nichts be-
ſtimmt; es hat nur die negative Beſtimmung getroffen, daß die
für die Bildung der Civilkammern und die Beſtellung ihrer Vor-
ſitzenden in den §§. 61—66 gegebenen Vorſchriften auf die Kam-
mern für Handelsſachen keine Anwendung finden 2) und es hat zu-
gelaſſen, daß für eine außerhalb des Landgerichtsſitzes errichtete
Kammer auch ein Amtsrichter zum Vorſitzenden ernannt werde 3).
Auch über die Ernennung der Handelsrichter hat das Geſetz
keine andere Beſtimmung, als daß dieſelbe auf gutachtlichen Vor-
ſchlag des zur Vertretung des Handelsſtandes berufenen Organes
für die Dauer von drei Jahren erfolgt 4); weder die Zahl, noch
die Reihenfolge der Dienſtleiſtung, noch die Stellvertretung iſt vom
Reiche geregelt. Den Einzelſtaaten iſt demnach eine faſt unbeſchränkte
Autonomie hinſichtlich der Einrichtung der Kammern für Handels-
ſachen gewährt.
e) Endlich gehören auch die Schwurgerichte nach dem
Syſtem der Gerichtsbehörden zu den Landgerichten; ihre organi-
ſche Verbindung mit den letzteren iſt aber freilich eine ſehr loſe.
Sie unterſcheiden ſich von den bisher erörterten Spruchgerichten
ſchon dadurch, daß ſie nicht ſtändig exiſtiren, ſondern nur perio-
[92]§. 101. Die Gerichte.
diſch „bei den Landgerichten“ zuſammentreten. Die Anberaumung
der Sitzungsperioden ſteht der Landesjuſtizverwaltung zu, falls
nicht landesgeſetzlich hierüber andere Vorſchriften beſtehen. Der
Vorſitzende des Schwurgerichts wird für jede Sitzungsperiode von
dem Präſidenten des Oberlandesgerichts ernannt, welcher hier-
bei die Auswahl unter ſämmtlichen Mitgliedern des Oberlandes-
gerichtes und aller zu dem Bezirke des Oberlandesgerichts
gehörigen Landgerichte hat 1). Der Stellvertreter des Vorſitzenden
und die beiden andern richterlichen Mitglieder des Gerichts 2), ſo-
wie die etwa beizuziehenden Ergänzungsrichter 3) werden dagegen
vom Präſidenten des Landgerichts aus der Zahl der Mitglieder
des Landgerichts beſtimmt 4).
Die Verbindung des Schwurgerichts mit demjenigen Land-
gericht, an deſſen Orte es zuſammentritt, zeigt ſich auch darin, daß,
ſo lange die Ernennung des Vorſitzenden nicht erfolgt iſt, der Vor-
ſitzende der Strafkammer des Landgerichts die in der Strafprozeß-
ordnung dem Vorſitzenden des Gerichts zugewieſenen Geſchäfte er-
ledigt 5). Auch kann die Strafkammer des Landgerichts beſtimmen,
daß einzelne Sitzungen des Schwurgerichts nicht am Sitze
des Landgerichts, ſondern an einem anderen Orte innerhalb des
Schwurgerichtsbezirks abzuhalten ſeien 6).
Obgleich nach dieſen Anordnungen der Regel nach zu jedem
Landgericht ein Schwurgericht gehört, ſo iſt doch eine Abweichung
von dieſer Regel, d. h. die Zuſammenlegung mehrerer Landge-
richtsbezirke zu einem Schwurgerichtsbezirke geſtattet, damit — wie
die Motive S. 110 ſagen — „die Landesjuſtizverwaltung die
Abgrenzung der Landgerichtsbezirke mit Rückſicht auf die ſonſtige
Thätigkeit der Landgerichte in der geeignetſten Weiſe treffen kann,
ohne hierbei durch die beſondere Rückſicht auf die Bildung der
Schwurgerichte bei jedem Landgerichte beengt zu werden.“ Wenn
[93]§. 101. Die Gerichte.
die Landesjuſtizverwaltung von dieſer Befugniß Gebrauch macht,
ſo hat das Landgericht 1), bei welchem die Sitzungen des Schwur-
gerichts abgehalten werden, und der Präſident deſſelben die ihnen
in den §§. 82—98 des Gerichtsverf.Geſ. zugewieſenen Geſchäfte
für den ganzen Schwurgerichtsbezirk wahrzunehmen, und die
Mitglieder des Schwurgerichts (mit Einſchluß des Stellvertreters
des Vorſitzenden) können aus der Zahl der Mitglieder aller im
Schwurgerichtsbezirk belegenen Landgerichte genommen werden 2).
Die Berufung der Geſchworenen erfolgt nach den im Gerichts-
verf.Geſ. §. 85 ff. und in der Strafproz.Ordn. §. 278 ff. gege-
benen Vorſchriften 3).
f) Eine für alle bei den Landgerichten zu erledigenden richter-
lichen Geſchäfte, und für alle bei ihnen zu bildenden Spruchbe-
hörden gleichmäßig zu entſcheidende Frage betrifft die Zuläſſigkeit
der Zuziehung von Hülfsrichtern. Im Allgemeinen gilt auch
für die Landgerichte die im §. 10 des Gerichtsverf.Geſ. auf-
geſtellte Regel, daß „die landesgeſetzlichen Beſtimmungen über
die Befähigung zur zeitweiligen Wahrnehmung richterlicher
Geſchäfte unberührt bleiben.“ Insbeſondere gilt dies auch für
diejenigen landesgeſetzlichen Beſtimmungen, nach welchen richterliche
Geſchäfte nur von ſtändig — d. h. nach §. 6 des Gerichtsverf.
Geſ. lebenslänglich — angeſtellten Richtern wahrgenommen
werden können 4).
Aber auch diejenigen landesgeſetzlichen Vorſchriften, welche die
zeitweilige Wahrnehmung einer Richterſtelle oder die zeitweilige
Vertretung eines Richters durch eine zum Richteramt nicht be-
fähigte Perſon zulaſſen, ſind „unberührt“ geblieben, da eine im
Entwurf der Juſtizkommiſſion enthaltene, dies ausdrücklich verbie-
tende Beſtimmung aus dem §. 69 des Gerichtsverf.Geſetzes ge-
ſtrichen worden iſt, ſonach alſo eine Ausnahme von der Regel
des §. 10 für die Landgerichte nicht gemacht worden iſt 5).
Die Ernennung von Hülfsrichtern darf aber Seitens der
Juſtizverwaltung nur auf den Antrag des Präſidiums (nicht des
[94]§. 101. Die Gerichte.
Präſidenten) erfolgen 1). Wird zum Hülfsrichter ein bereits ſtän-
dig angeſtellter Richter verwendet, ſo kommen hinſichtlich der Ver-
tretung die landesgeſetzlichen Vorſchriften zur Anwendung 2); wenn
dagegen ein nicht ſtändig angeſtellter Richter einem Landgerichte
als Hülfsrichter beigeordnet wird, ſo ſind die Landesjuſtizverwal-
tungen an die Beobachtung von zwei reichsgeſetzlichen Beſtimmungen
gebunden, welche die Unabhängigkeit des Hülfsrichters von der
Juſtizverwaltung ſichern ſollen; nämlich erſtens, daß die Beiord-
nung, wenn ſie auf beſtimmte Zeit erfolgte, vor Ablauf dieſer
Zeit, und wenn ſie auf unbeſtimmte Zeit erfolgte, ſo lange das
Bedürfniß, durch welches ſie veranlaßt wurde, fortdauert, nicht
widerrufen werden darf 3); und zweitens, daß wenn mit der Ver-
tretung eine Entſchädigung verbunden iſt, dieſe für die ganze Dauer
im Voraus feſtzuſtellen iſt 4).
3. Die Oberlandesgerichte. Die Organiſation der-
ſelben iſt deshalb ſehr einfach, weil bei ihnen nur die regel-
mäßigen Spruchcollegien, die „Civil- und Strafſenate“, gebil-
det werden 5). An der Spitze des Gerichtshofes ſteht ein Präſi-
dent; den Vorſitz in den Senaten führen Senatspräſidenten 6);
das „Präſidium“ wird gebildet aus dem Präſidenten, den
Senatspräſidenten und den beiden älteſten Mitgliedern (Räthen)
des Gerichts.
Nach dem Wortlaute des Geſetzes, welches „Civil- und Straf-
ſenate“ und neben dem Präſidenten eine Anzahl von Senatspräſidenten
erfordert, kann es nicht zweifelhaft ſein, daß an jedem Oberlandes-
[95]§. 101. Die Gerichte.
gerichte mehrere Senate gebildet werden müſſen und daß
regelmäßig beſondere Senate für Civilſachen und beſondere für
Strafſachen zu errichten ſind; indeß kann es nicht für geradezu
ausgeſchloſſen erachtet werden, daß einem Senate die Erledigung
von Civil- und Strafſachen übertragen wird 1).
Ueber die Vertheilung des Vorſitzes und über die Zuweiſung
der Räthe zu den einzelnen Senaten, hinſichtlich der Geſchäfts-
vertheilung, und hinſichtlich der Ordnung der Vertretung im Falle
der Verhinderung gelten die für die Landgerichte gegebenen Vor-
ſchriften auch für die Oberlandesgerichte. Zu Hülfsrichtern
dürfen jedoch nur ſtändig angeſtellte Richter berufen wer-
den 2). Den Einzelſtaaten iſt im Uebrigen eine Beſchränkung nicht
auferlegt; die im §. 69 cit. enthaltenen Vorſchriften über die Hülfs-
richter bei den Landgerichten ſind auf die Oberlandesgerichte nicht
für anwendbar erklärt; den Einzelſtaaten iſt es jedoch freigeſtellt,
die Vorausſetzungen und Bedingungen der Verwendung von ſtändig
angeſtellten Hülfsrichtern bei den Oberlandesgerichten zu regeln
und auch dieſelbe gänzlich auszuſchließen.
4. Das Reichsgericht3). Die Organiſation des Reichs-
gerichts iſt derjenigen der Oberlandesgerichte conform; es wird
mit einem Präſidenten und der erforderlichen Anzahl von Senats-
präſidenten und Räthen beſetzt; es werden Civil- und Strafſenate
gebildet, deren Anzahl der Reichskanzler beſtimmt. Zu dem
„Präſidium“ ſind die vier älteſten Mitglieder (Räthe) des Ge-
richts zuzuziehen; im Uebrigen finden die in den §§. 61—68 ge-
gebenen Vorſchriften über den Vorſitz in den Senaten, die Bildung
der letzteren, die Vertheilung der Geſchäfte, die Vertretung im
Falle der Verhinderung Anwendung. Dagegen iſt die Zuziehung
von Hülfsrichtern für unzuläſſig erklärt 4).
Eigenthümlich iſt dem Reichsgericht eine Einrichtung, welche
[96]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
dazudien en ſoll, im Intereſſe einer einheitlichen und ſichern Recht-
ſprechung Widerſprüche zwiſchen den Urtheilen der Senate zu ver-
hüten; nämlich die Verhandlung und Entſcheidung von Rechtsſachen
vor vereinigten Senaten — und zwar in Civilſachen vor den
vereinigten Civilſenaten und in Strafſachen vor den vereinigten
Strafſenaten. Die Verweiſung vor die vereinigten Civil- oder
Strafſenate findet ſtatt, wenn in einer Rechtsfrage ein Civil-
ſenat von einer früheren Entſcheidung eines anderen Civilſenats
oder der vereinigten Civilſenate oder ein Strafſenat von einer
früheren Entſcheidung eines andern Strafſenats oder der vereinigten
Strafſenate abweichen will 1). Die Zahl der Richter, welche bei
Entſcheidungen der vereinigten Senate mitwirken ſollen, iſt nicht
beſtimmt; nur iſt die Theilnahme von mindeſtens zwei Drittheilen
aller Mitglieder mit Einſchluß des Vorſitzenden erforderlich und
die Zahl der Mitglieder, welche eine entſcheidende Stimme führen,
muß eine ungerade ſein 2).
Der Geſchäftsgang bei dem Reichsgericht wird durch eine, vom
Plenum deſſelben auszuarbeitende und vom Bundesrath zu be-
ſtätigende Geſchäftsordnung geregelt 3). Dieſelbe iſt am 8. April
1880 vom Reichskanzler bekannt gemacht und im Centralbl. des
Deutſchen Reichs 1880 S. 190—196 abgedruckt worden.
Die über die Organiſation des Reichsgerichts gegebenen Vor-
ſchriften finden auch auf die nach §. 8 des Einf.Geſ. zum Gerichts-
verfaſſungs-Geſ. errichteten oberſten Landesgerichte, das heißt alſo
auf den Kgl. Bayeriſchen Oberſten Landes-Gerichtshof in München,
entſprechende Anwendung 4).
§. 102. Die Staatsanwaltſchaft*).
I. Die Prozeßordnungen erfordern bei allen Strafſachen und
bei gewiſſen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten (Eheſachen, Entmün-
[97]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
digungsſachen) die Thätigkeit einer von den Gerichten verſchiedenen
Behörde, welche die Bezeichnung Staatsanwaltſchaft führt. Hier-
durch iſt die Einrichtung einer ſolchen bei dem Reichsgericht er-
forderlich gemacht und den Einzelſtaaten die Ver-
pflichtung auferlegt worden, für das Beſtehen von
Behörden Sorge zu tragen, welche bei den Landesgerichten die
der Staatsanwaltſchaft reichsgeſetzlich zugewieſenen Geſchäfte wahr-
nehmen. Die prozeſſualiſchen Obliegenheiten und Befug-
niſſe der Staatsanwaltſchaft ſind in den Prozeßordnungen normirt;
ſie bieten kein ſpezifiſch ſtaatsrechtliches Intereſſe dar. Für das
Reichsſtaatsrecht von Belang ſind nur die vom Reiche er-
laſſenen Anordnungen, welche die freie Willensbeſtimmung der
Einzelſtaaten hinſichtlich der Organiſation dieſer Behörden be-
ſchränken, ſowie die Vorſchriften über das gegenſeitige Verhältniß
der ſtaatsanwaltſchaftlichen Behörden verſchiedener Einzelſtaaten
und des Reichs zu einander, welche im Intereſſe einheitlicher und
gleichmäßiger Handhabung der Rechtspflege im Bundesgebiet er-
laſſen worden ſind.
Durch die Identität der ſtaatlichen Aufgabe, an deren Er-
füllung ſowohl die Gerichte als auch die Staatsanwaltſchaften
mitzuwirken berufen ſind, iſt eine Uebereinſtimmung in der Glie-
derung beider Gattungen von Behörden, ſowie eine gewiſſe Ana-
logie der für dieſelben erlaſſenen reichsgeſetzlichen Vorſchriften ge-
boten. Es gelten demnach zuvörderſt auch hier die beiden ober-
ſten Grundſätze, welche die deutſche Gerichtsverfaſſung überhaupt
beherrſchen, nämlich:
1. Alle zum Zwecke der Rechtspflege dienenden Behörden,
mithin auch die Staatsanwaltſchaften, ſind Landesbehörden und
ihre Mitglieder Landesbeamte. Ausgenommen iſt allein, wie
das Reichsgericht ſelbſt, ſo die beim Reichsgericht beſtehende Staats-
anwaltſchaft. Den Einzelſtaaten ſteht daher die Einrichtung und
Beſetzung dieſer Behörden, die finanzielle Dotirung derſelben, die
Ernennung, Entlaſſung und Penſionirung der dazu gehörenden
Beamten, die Dienſtaufſicht über dieſelben, die Regelung der Dis-
ciplinar- und anderen Dienſtverhältniſſe u. ſ. w. zu.
2. Bei Ausübung dieſer in der Staatsgewalt der Einzel-
ſtaaten enthaltenen Hoheitsrechte beſteht aber ein erheblicher Unter-
ſchied zwiſchen dem Gebiete der ordentlichen ſtreitigen Gerichts-
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 7
[98]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
barkeit und den anderen Gebieten der Rechtspflege. Die Thätig-
keit der Staatsanwaltſchaft iſt nur auf erſterem reichsgeſetzlich
geregelt und deshalb auch nur hier die Organiſation und Glie-
derung der Staatsanwaltſchaft in ihren Grundzügen vom Gerichts-
verfaſſungsgeſetz vorgezeichnet worden; auf den übrigen Gebieten
der Gerichtsbarkeit können die Einzelſtaaten ſowohl die materiellen
Amtsverrichtungen und Obliegenheiten der Staatsanwälte als auch
die Einrichtung der Staatsanwaltſchaft nach Belieben normiren.
Die Autonomie der Einzelſtaaten iſt auf dieſen Gebieten eine
völlig freie und demgemäß ſind die kraft dieſer Autonomie getrof-
fenen Anordnungen und Einrichtungen kein Gegenſtand des Reichs-
ſtaatsrechts; auf dem Gebiete der ordentlichen ſtreitigen Gerichts-
barkeit dagegen ſind die Einzelſtaaten auch hinſichtlich der Staats-
anwaltſchaften ziemlich beengenden Vorſchriften unterworfen.
II. Die Uebereinſtimmung in der Gliederung der Gerichte und
der Staatsanwaltſchaften und das in den Prozeßordnungen geregelte
Zuſammenwirken beider Behörden iſt reichsgeſetzlich gewährleiſtet
durch das im §. 142 des Gerichtsverf.Geſ. ausgeſprochene Princip:
„Bei jedem Gerichte ſoll eine Staatsanwalt-
ſchaft beſtehen.“ Es iſt nun im vorhergehenden Paragraphen
dargelegt worden, daß das Wort Gericht einen doppelten Sinn
hat, einen prozeßrechtlichen und einen ſtaatsrechtlichen (verwaltungs-
rechtlichen). Dieſe Unterſcheidung kehrt auch bei der Staatsan-
waltſchaft wieder. Die behördliche Organiſation der Staats-
anwaltſchaft folgt der Gliederung der Gerichtsbehörden; das
ſtaatsanwaltſchaftliche Amt dagegen wird ausgeübt bei den be-
ſchließenden und erkennenden Spruchgerichten. In letzterer Hin-
ſicht bemerken die Motive S. 163 (Hahn S. 147): „Die ſach-
liche Zuſtändigkeit der verſchiedenen Organe der Staatsanwaltſchaft
beſtimmt ſich nach der Zuſtändigkeit desjenigen Gerichts, welchem
das Organ der Staatsanwaltſchaft zugetheilt iſt. Maßgebend ſind
diejenigen Normen, welche die Zuſtändigkeit der erkennenden
Gerichte regeln.“ Dagegen entſpricht der vierfachen Abſtufung der
Gerichte in Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht und Reichs-
gericht eine vierfache Gliederung der Staatsanwaltſchaft 1) und die
[99]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
örtliche Zuſtändigkeit der einzelnen ſtaatsanwaltſchaftlichen Be-
hörden wird durch die örtliche Zuſtändigkeit des Gerichts beſtimmt,
für welches ſie beſtellt ſind 1). In dieſem Sinne ſpricht das
Reichsgeſetz von der „Staatsanwaltſchaft eines Gerichts“, trotzdem
es ausdrücklich den Grundſatz anerkennt, daß die Staatsanwalt-
ſchaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten unabhängig iſt 2).
III. Das Gerichtsverfaſſungsgeſetz überläßt zwar den Einzel-
ſtaaten die Einrichtung der Staatsanwaltſchaft, es enthält aber
einige Vorſchriften, durch welche für dieſe Organiſation ein be-
ſtimmtes Grundprinzip aufgeſtellt wird. Daſſelbe iſt dem für die Or-
ganiſation der Gerichtsbehörden maßgebenden gerade entgegengeſetzt.
Die Staatsanwaltſchaft ſoll nämlich eine einheitliche Behörde
ſein, bei welcher die ihr angehörenden Beamten den dienſtlichen Wei-
ſungen ihrer Vorgeſetzten hinſichtlich ihrer Amtsverrichtungen Folge
zu leiſten verpflichtet ſind. Der Ausdruck „Staatsanwaltſchaft“ um-
faßt daher die Geſammtheit der bei den verſchiedenen Gerichten
zur Wahrnehmung der ſtaatsanwaltſchaftlichen Functionen beſtellten
Staatsanwälte; die „Staatsanwaltſchaft eines Gerichts“ iſt nur
eine ſtaatsanwaltſchaftliche Station; alle dieſe Stationen ſind in
einer einheitlichen Behördenorganiſation verbunden, für deren Ge-
ſammtheit es keine andere Bezeichnung giebt als „Staatsanwaltſchaft“,
allenfalls unter Hinzufügung des Einzelſtaates, dem ſie angehört 3).
Von dieſem Grundprinzip aus ergeben ſich drei Folgeſätze,
durch deren geſetzliche Sanctionirung das Reich die Durchführung
dieſes Prinzips in den Einzelſtaaten geſichert hat, nämlich:
1. Die Beamten der Staatsanwaltſchaft haben den dienſtlichen
1)
7*
[100]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
Anweiſungen ihres Vorgeſetzten nachzukommen 1); und zwar, wie
die Motive zum Gerichtsverf.Geſetz S. 165 (Hahn S. 149) er-
läuternd bemerken, nicht nur den allgemeinen Anordnungen, ſondern
auch den in einer ſpeziellen Strafſache ergehenden Anweiſungen.
Sie haben nicht das Recht einer ſelbſtſtändigen und unabhängigen,
durch die eigene Rechtsüberzeugung allein beſtimmten Entſcheidung
hinſichtlich ihrer Dienſtverrichtungen; ſie ſind nicht nur der Auf-
ſicht, ſondern auch der Leitung eines Chefs unterworfen 2). Die
Leitung ſteht dem Reichskanzler hinſichtlich der am Reichsgericht
beſtellten Reichsanwaltſchaft (Ober-Reichsanwalt und Reichsanwälte),
der Landesjuſtizverwaltung hinſichtlich aller ſtaatsanwaltlichen Be-
amten des betreffenden Bundesſtaates zu 3), alſo in allen Fällen
einem Verwaltungschef. Demgemäß hat die Reichsgeſetzgebung
die dienſtliche Stellung der Beamten der Staatsanwaltſchaft nicht
mit denjenigen ſchützenden Garantien ausgeſtattet, welche die Un-
abhängigkeit der Richter gewährleiſten ſollen, ſondern es den Einzel-
ſtaaten überlaſſen, darüber Anordnungen zu treffen. Den Ober-
Reichsanwalt und die Reichsanwälte aber hat das Geſetz aus-
drücklich für nicht richterliche Beamte erklärt 4) und ſie denjenigen
Beamten zugezählt, welche durch Kaiſerliche Verfügung jederzeit
mit Gewährung des geſetzlichen Wartegeldes einſtweilig in den
Ruheſtand verſetzt werden können 5). Im Zuſammenhange mit
dieſer abhängigen und wenig geſicherten dienſtlichen Stellung der
Staatsanwälte ſteht das reichsgeſetzliche Verbot, denſelben die
Wahrnehmung richterlicher Geſchäfte und eine Dienſtaufſicht
über die Richter zu übertragen 6).
2. Aus der einheitlichen centraliſtiſchen Organiſation der
Staatsanwaltſchaft folgt aber nicht nur die Oberleitung des Juſtiz-
miniſteriums über die geſammte Staatsanwaltſchaft des Einzel-
[101]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
ſtaates, beziehentl. des Reichskanzlers über die Reichsanwalt-
ſchaft, ſondern auch die einheitliche Direction der einzelnen Staats-
anwaltſchaften (ſtaatsanwaltſchaftlichen Stationen), welche an den
Gerichten beſtellt ſind. Dieſelben können weder eine collegialiſche
Verfaſſung haben noch aus mehreren gleichberechtigten, von ein-
ander unabhängigen Mitgliedern beſtehen, ſondern ſie müſſen einer
einheitlichen Spitze unterſtellt ſein. Wenngleich der an einem Ge-
richte beſtellten Staatsanwaltſchaft mehrere Beamte zugewieſen
werden, ſo iſt doch nur Einer Staatsanwalt im eigentlichen Rechts-
ſinne; die Andern ſind nur ſeine Gehülfen oder Vertreter. Das
Reichsgeſetz vermeidet zwar, ihnen die Bezeichnung Staatsanwalts-
gehülfen beizulegen, es ſtellt ſie aber in ſcharfen juriſtiſchen Gegen-
ſatz zu dem „erſten“ Beamten der Staatsanwaltſchaft eines Ge-
richts. Die dem letzteren „beigeordneten“ Perſonen gelten als
deſſen Vertreter, ſie werden als von ihm beauftragt ange-
ſehen, auch ohne daß ſie für die einzelnen Amtsverrichtungen den
Nachweis eines beſonderen Auftrages zu erbringen brauchen 1);
ſie führen daher ihre amtlichen Geſchäfte unter der Verantwort-
lichkeit des „erſten Staatsanwalts“, der als ihr unmittelbarer
Vorgeſetzter anzuſehen iſt und deſſen Anweiſungen ſie Folge zu
leiſten verpflichtet ſind 2).
3. Der Grundſatz, daß Niemand ſeinem geſetzlichen Richter
entzogen werden ſoll, findet auf die Staatsanwaltſchaft keine ana-
loge Anwendung und die Regeln des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes
über die Geſchäftsvertheilung bei den Gerichtsbehörden, durch welche
jede Willkühr in Betreff der Auswahl oder der Zuſammenſetzung
der erkennenden Spruchcollegien für den einzelnen Fall ausgeſchloſſen
werden ſoll, bilden einen ſcharfen Gegenſatz zu den für die Staats-
anwaltſchaft geltenden Vorſchriften. Abgeſehen von den in der
örtlichen Begränzung der Zuſtändigkeit liegenden Schranken hat
die Verwaltung das Recht und die Pflicht, für die Wahrnehmung
der ſtaatsanwaltſchaftl. Verrichtungen die dafür geeignetſte Per-
ſönlichkeit auszuwählen. Nur die an den Gerichten beſtellten
Staatsanwaltſchaften (Staatsanwaltſchafts-Stationen) haben eine
[102]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
rechtlich begränzte Zuſtändigkeit, aber nicht die einzelnen Beamten
innerhalb derſelben. Die Zuſtändigkeit der letzteren wird vielmehr
umſchloſſen und gleichſam abſorbirt von der des Vorgeſetzten. Dem-
gemäß ſind die „erſten“ Beamten der Staatsanwaltſchaft bei den
Oberlandesgerichten und den Landgerichten befugt, bei allen
Gerichten ihres Bezirks die Amtsverrichtungen der Staatsanwalt-
ſchaft ſelbſt zu übernehmen oder mit Wahrnehmung derſelben
einen anderen als den zunächſt zuſtändigen Beamten zu beauf-
tragen1). Hierdurch iſt nicht nur die Möglichkeit geboten, für
wichtige Sachen, an deren Durchführung in einer gewiſſen Richtung
der Staatsbehörde gelegen iſt, erprobte oder beſonders hervor-
ragende Kräfte heranzuziehen, ſondern auch den Grundſatz, daß die
Beamten der Staatsanwaltſchaft den dienſtlichen Anweiſungen ihres
Vorgeſetzten nachzukommen haben, im einzelnen Falle in Einklang
zu ſetzen mit der wünſchenswerthen Berückſichtigung der etwa ab-
weichenden perſönlichen Auffaſſung, welche der zunächſt zuſtändige
Beamte von der Rechtsfrage oder dem Thatbeſtand gewonnen hat.
IV. Die Einheit der Staatsanwaltſchaft iſt zunächſt durch-
geführt und verwirklicht innerhalb der einzelnen Bundesſtaaten;
jeder Staat hat ſeine Staatsanwaltſchaft, die nur von ihm ab-
hängig iſt.
Das Reich hat keine Oberleitung über die Staatsanwaltſchaften
der Einzelſtaaten; es beſteht keine Centralbehörde um die Thätig-
keit dieſer verſchiedenen Staatsanwaltſchaften im Bundesgebiete in
Einklang und Uebereinſtimmung zu erhalten. Die Reichsanwalt-
ſchaft bildet eine den Staatsanwaltſchaften der Einzelſtaaten neben-
geordnetes Verwaltungsreſſort, nicht eine ihnen übergeordnete Auf-
ſichts- und Beſchwerde-Inſtanz. Die Juſtizminiſterien der Einzel-
ſtaaten ſind die letzten Quellen, aus denen die Beamten der Staats-
anwaltſchaft ihre dienſtlichen Anweiſungen empfangen und Beſchwer-
[103]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
den über Handlungen oder Unterlaſſungen der Staatsanwälte
finden hier ihre definitive Erledigung 1).
Jedoch die Ueberwachung der Ausführung der Reichsge-
ſetze, welche nach Art. 17 der R.V. dem Kaiſer zuſteht, erſtreckt
ſich auch auf diejenigen Reichsgeſetze, durch welche die Organiſation
und Thätigkeit der Staatsanwaltſchaften normirt wird; dem Kaiſer
liegt daher allerdings die Fürſorge ob, daß auch dieſe Geſetze
von dem Einzelſtaate wirklich ausgeführt und richtig gehandhabt
werden. Dieſe Ueberwachung erfolgt aber nicht in einem unmittel-
baren Eingreifen in die Behandlung der einzelnen Sache und nicht
in der Form eines direkten Verkehrs mit den Staatsanwaltſchaften
der einzelnen Staaten, ſondern lediglich durch Verhandlung mit
der Regierung des betreffenden Bundesſtaates nach Maßgabe der
Bd. II. S. 235 ff. dargeſtellten Regeln. Von dieſer controlliren-
den Verwaltung des Reiches hinſichtlich der Staatsanwaltſchaften
der Bundesſtaaten iſt wol zu unterſcheiden die unmittelbare Ver-
waltung der Reichsanwaltſchaft, welche unter den Bd. II. S. 238
entwickelten Grundſätzen ſteht. Beide Verwaltungsaufgaben wer-
den unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers von dem Reichs-
juſtizamt durchgeführt.
Aus der Einheitlichkeit der Staatsanwaltſchaft in jedem Ein-
zelſtaat und aus der Verpflichtung der Beamten der Staatsan-
waltſchaft den dienſtlichen Anweiſungen ihres Vorgeſetzten nachzu-
kommen, ergiebt ſich, daß die Grundſätze des Gerichtsverfaſſungs-
geſetzes über die Rechtshülfe auf den Verkehr der Staatsan-
waltſchaften nicht anwendbar ſind.
Während die Requiſitionen der Gerichte, abgeſehen von den
[104]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
im §. 159 Abſ. 2 des Gerichtsverf.Geſetzes aufgeführten Aus-
nahmen, von dem erſuchten Gerichte nicht abgelehnt werden dürfen,
gilt von den Requiſitionen der Staatsanwaltſchaften der gleiche
Grundſatz nicht, und zwar auch nicht von dem Verkehr der ſtaats-
anwaltſchaftlichen Behörden unter einander, denn dieſer Grundſatz
würde die erſuchte Behörde dem Willen einer einem andern
Bundesſtaate angehörenden und von dem Juſtizminiſterium des
letzteren geleiteten Behörde unterwerfen und damit die Einheit-
lichkeit der Staatsanwaltſchaft auflöſen und den erſuchten Beamten
in einen unlöslichen Conflict verſetzen zwiſchen der Pflicht, den
dienſtlichen Anweiſungen des Vorgeſetzten gehorſam zu ſein, und
der Pflicht, dem Erſuchen der requirirenden Behörde nachzukommen,
wofern zwiſchen den letzteren und den dienſtlichen Anweiſungen des
Vorgeſetzten ein Widerſpruch beſteht. Wenn die Staatsanwalt-
ſchaft die Mitwirkung einer andern Behörde beanſprucht, kommen
vielmehr folgende Regeln zur Anwendung, gleichviel ob die requi-
rirte Behörde demſelben Staate angehört oder einem andern Bun-
desſtaate:
1. Wenn die Staatsanwaltſchaft einen Amtsrichter um
die Vornahme einer richterlichen Unterſuchungshandlung erſucht, ſo
hat der Amtsrichter zu prüfen, ob die beantragte Handlung nach
den Umſtänden des Falles geſetzlich zuläſſig iſt 1); es beſteht alſo
gerade der entgegengeſetzte Grundſatz wie ihn §. 159 Abſ. 1 des
Gerichtsverf.Geſetzes für das Erſuchen der Gerichte aufſtellt.
2. Wenn das Erſuchen an eine, dem requirirenden Staats-
anwalt nicht dienſtlich untergebene, ſtaatsanwaltſchaftliche
Behörde gerichtet wird, ſo hat die letztere nach freiem Ermeſſen
zu prüfen, ob ſie nach Maßgabe der ihr ertheilten dienſtlichen
Anweiſungen dem Erſuchen Statt zu geben habe oder nicht. Lehnt
ſie die Erledigung ab, ſo iſt dagegen nur der Weg der Beſchwerde
an die vorgeſetzte Behörde zuläſſig; die definitive Entſcheidung
einer Meinungsverſchiedenheit darüber, ob dem Erſuchen Folge zu
leiſten ſei oder nicht, ruht alſo bei dem Juſtizminiſterium, welchem
der requirirte Staatsanwalt untergeordnet iſt. Falls ſich hieraus
eine Differenz unter den Regierungen verſchiedener Bundesſtaaten
ergiebt, ſo würde dieſelbe nach Art. 17 der R.V. durch den Kaiſer
[105]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
(Reichskanzler) beziehentl. nach Art. 7 Ziff. 3 der R.V. durch Be-
ſchluß des Bundesrathes ihre Ausgleichung finden müſſen 1). Vgl.
jedoch unten sub V. Ziff. 3.
3. Die Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienſtes ſind
Hülfsbeamte der Staatsanwaltſchaft und in dieſer Eigenſchaft ver-
pflichtet, den Anordnungen der Staatsanwälte bei den Landge-
richten ihres Bezirks und der dieſen vorgeſetzten Beamten Folge
zu leiſten 2); ihnen gegenüber bedarf es daher keines Erſuchens,
ſondern ſie werden mit der Vornahme der fraglichen Handlung
beauftragt. Die Staatsanwaltſchaft iſt aber auch befugt, durch
die Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienſtes
eines anderen Bezirks Ermittelungen jeder Art, mit Ausſchluß eid-
licher Vernehmungen, vornehmen zu laſſen und das Erſuchen un-
mittelbar an dieſe Behörden und Beamten zu richten, welchem die
letzteren zu genügen verpflichtet ſind 3). Allein dieſe Pflicht können
ſie in dem Falle nicht erfüllen, wenn ſie dadurch in Widerſpruch
treten würden mit den von ihrer vorgeſetzten Behörde ihnen er-
theilten dienſtlichen Anweiſungen oder Aufträgen und ebenſo kann
ein Zwang zur Erledigung der Requiſition gegen ſie nur von der
vorgeſetzten Behörde d. h. dem Staatsanwalt am Landgericht des
Bezirks ausgeübt werden.
Falls daher die requirirte Polizeibehörde ſich weigert, dem
Erſuchen Folge zu geben, ſo muß der ihr vorgeſetzte Staatsanwalt
am Landgericht erſucht werden, daß er ſie mit der Vornahme der
verlangten Handlung beauftrage, und es reduzirt ſich alsdann der
Fall auf den ſoeben unter Ziff. 2 erörterten.
V. Der Grundſatz von der Einheit und Unabhängigkeit der
Staatsanwaltſchaft jedes einzelnen Bundesſtaates hat einige wich-
tige Ausnahmen erfahren, welche mit der Gerichtsverfaſſung in
engem Zuſammenhang ſtehen.
1. Der Ober-Reichsanwalt iſt zwar nicht Vorgeſetzter der
Staatsanwälte und kann ihnen daher im Allgemeinen keine Befehle
ertheilen, in denjenigen Sachen aber, für welche das Reichsgericht
in erſter und letzter Inſtanz zuſtändig iſt 4), haben alle Beamte
[106]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
der Staatsanwaltſchaft aller Bundesſtaaten ſeinen Anweiſungen
Folge zu leiſten 1).
2. Den erſten Beamten der Staatsanwaltſchaft bei den Ober-
landesgerichten und den Landgerichten ſteht das Recht der Aufſicht
und Leitung hinſichtlich aller Beamten der Staatsanwaltſchaft
ihres Bezirks zu 2). Inſoweit nun der Bezirk eines Land-
gerichts oder Oberlandesgerichts aus Gebieten mehrerer Bundes-
ſtaaten beſteht, erſtreckt ſich dieſe Zuſtändigkeit und die mit ihr
verbundene Befugniß, dienſtliche Anweiſungen und Befehle zu er-
theilen, über die Behörden und Beamten dieſer verſchiedenen
Staatsgebiete, und es tritt daher hinſichtlich der Einheit und Ge-
ſchloſſenheit der Staatsanwaltſchaft mit Einſchluß der Amtsanwälte
und der Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienſtes an die Stelle
des Staates der Gerichtsbezirk. Die durch das Gerichts-
verfaſſungsgeſetz erforderten und vertragsmäßig begründeten Ge-
richtsgemeinſchaften modifiziren nicht nur die Ausübung des den
einzelnen Bundesſtaaten zuſtehenden Rechts der Gerichtsverwal-
tung, ſondern zugleich auch die Ausübung derjenigen Hoheitsrechte,
welche durch die Thätigkeit der Staatsanwaltſchaft verwirklicht
werden, und es zeigt ſich auch auf dieſem Gebiete, auf welchem
die Einzelſtaatsgewalt ſo wenig als möglich eingeſchränkt worden
iſt, die Wirkung des bundesſtaatlichen Verhältniſſes, welches die
Deutſchen Staaten zu einer höheren Einheit verbindet 3).
3. Daſſelbe gilt von einem andern ähnlichen Falle. Da die
örtliche Zuſtändigkeit der Beamten der Staatsanwaltſchaft durch
die örtliche Zuſtändigkeit des Gerichts beſtimmt wird, für welches
ſie beſtellt ſind, ſo ſteht die Verfolgung einer ſtrafbaren Handlung
nur der Staatsanwaltſchaft desjenigen Gerichts zu, bei welchem
nach den Vorſchriften der Strafprozeßordnung der Gerichtsſtand
begründet iſt 4). Können ſich nun die Beamten der Staatsanwalt-
ſchaft verſchiedener Bundesſtaaten nicht darüber einigen, wer
von ihnen die Verfolgung zu übernehmen hat, ſo entſcheidet der
[107]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
ihnen gemeinſam vorgeſetzte Beamte der Staatsanwaltſchaft 1); in
Ermangelung eines ſolchen der Oberreichsanwalt2).
VI. Nach dem Gerichtsverfaſſungs-Geſetz §. 151 iſt die
Staatsanwaltſchaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten
unabhängig und eine in ſich geſchloſſene und einheitlich geleitete
Behörde; durch die Strafprozeß-Ordnung iſt jedoch dieſes Prinzip
durchbrochen worden.
Es gilt für die Betreibung der Strafverfolgung Seitens der
Staatsanwaltſchaft das ſogenannte Legalitätsprinzip; d. h.
die Frage, ob eine Strafverfolgung eintreten ſoll oder nicht, iſt
nicht nach Zweckmäßigkeitsrückſichten, politiſchen Erwägungen u. dgl.
zu entſcheiden, ſondern die Staatsanwaltſchaft iſt verpflichtet,
ſoweit nicht geſetzlich ein Anderes beſtimmt iſt, wegen aller ge-
richtlich ſtrafbaren und verfolgbaren Handlungen „einzuſchreiten“,
ſofern zureichende thatſächliche Anhaltspunkte vorliegen 3). In
dieſer Geſetzesvorſchrift iſt ein ſtaatsrechtliches Prinzip erſten Ran-
ges enthalten; es ſichert dem Einzelnen den Schutz der Strafge-
ſetze, indem es die Gewährung deſſelben dem arbiträren Ermeſſen
d. h. der Willkühr der Staatsanwaltſchaft entzieht. Allein immer-
hin hat die Staatsanwaltſchaft im einzelnen Falle zu prüfen, ob
nach dem ihr vorgelegten Material die zur Anzeige gebrachte Hand-
lung als ſtrafbar und als gerichtlich verfolgbar zu erachten iſt
und ob zureichende thatſächliche Anhaltspunkte zum Beweiſe der
ſtrafbaren Handlung vorhanden ſind. Wenn die Prüfung dieſer
Fragen einzig und allein der Staatsanwaltſchaft überlaſſen bleibt,
ſo iſt die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß ſich hierbei andere
Geſichtspunkte geltend machen als die durch die Gerechtigkeit ge-
gebenen; denn der zuſtändige Beamte der Staatsanwaltſchaft hat
ja nicht nach eigener und unabhängiger Ueberzeugung, ſondern nach
den ihm ertheilten Befehlen der ihm vorgeſetzten Behörde zu han-
deln; es könnte daher die Verſagung oder Gewährung des ſtraf-
gerichtlichen Schutzes von Parteirückſichten oder von Rückſichten
auf die amtliche oder ſociale Stellung des Beſchuldigten oder von
irgend welchen anderen tendenziöſen Erwägungen abhängig gemacht
[108]§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
werden 1). Aus dieſem Grunde hat der Geſetzgeber einen Weg
eröffnet, um die Frage, ob im concreten Falle die geſetzliche Pflicht
der Staatsanwaltſchaft zum Einſchreiten begründet iſt oder nicht,
von einer unabhängigen d. h. richterlichen Behörde ent-
ſcheiden zu laſſen 2). Wenn die ſachlich zunächſt zuſtändige Staats-
anwaltſchaft einem bei ihr angebrachten Antrage auf Erhebung der
öffentlichen Klage keine Folge giebt oder nach dem Abſchluſſe der
Ermittelungen die Einſtellung des Verfahrens verfügt, ſo hat ſie
den Antragſteller unter Angabe der Gründe hiervon zu benach-
richtigen 3). Gegen dieſen Beſcheid ſteht dem Antragſteller, wofern
er zugleich der Verletzte iſt 4), nicht nur die Beſchwerde an den
vorgeſetzten Beamten der Staatsanwaltſchaft zu, ſondern auch gegen
den ablehnenden Beſcheid des letzteren binnen einem Monat nach
der Bekanntmachung der Antrag auf gerichtliche Ent-
ſcheidung5). Zuſtändig zur Entſcheidung iſt in den vor das
Reichsgericht gehörigen Sachen das Reichsgericht, in anderen Sa-
chen das Oberlandesgericht 6). Erachtet das Gericht den Antrag
für begründet, ſo beſchließt es die Erhebung der öffentlichen Klage
und die Staatsanwaltſchaft iſt alsdann zur Durchführung dieſes
Beſchluſſes verpflichtet 7). Hierdurch wird freilich ebenſowohl die
[109]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
Unabhängigkeit der Staatsanwaltſchaft von den Gerichten als die
einheitliche Leitung der Staatsanwaltſchaft durch ihren Chef durch-
brochen; der Beſchluß des Strafſenats des Oberlandesgerichts ent-
hält einen für den Staatsanwalt maßgebenden Befehl. Allein
es iſt nicht zu verkennen, daß die bloße Zuläſſigkeit des Antrages
auf gerichtliche Entſcheidung an ſich ſchon als eine Schutzwehr
gegen einen tendenziöſen Mißbrauch des ſogen. Anklage-Monopols
der Staatsanwaltſchaft wirkt 1) und daß hierin die wichtigſte
Bedeutung und der eigentliche Werth der Einrichtung zu ſehen iſt,
nicht in der materiellen Entſcheidung der einzelnen Fälle, in denen
der Verletzte von dieſem Recht Gebrauch macht.
§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft*).
Die rechtliche Ordnung der Rechtsanwaltſchaft im Deutſchen
Reiche iſt bisher vom Standpunkt des Staatsrechts aus noch
nicht betrachtet worden und doch iſt ſie durch die bundesſtaatliche
Ordnung des Gerichtsweſens, ja man kann faſt ſagen durch die
ganze bundesſtaatliche Ordnung des Reiches beherrſcht und aus
dieſem Grunde nicht ohne ſtaatsrechtliches Intereſſe. Es ſollen
[110]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
hier nur diejenigen Punkte hervorgehoben und erörtert werden,
welche das öffentliche Recht betreffen; eine vollſtändige Dar-
ſtellung der Rechtsanwalts-Ordnung gehört nicht in den Rahmen
des Reichsſtaatsrechts; ebenſowenig das Verhältniß zwiſchen
Rechtsanwalt und Partei.
Das ſtaatsrechtliche Intereſſe beruht auf dem engen Zuſam-
menhange der Anwaltſchaftsordnung mit der Gerichtsverfaſſung
und in Folge deſſen mit den ſtaatlichen Hoheitsrechten. In dieſer
Beziehung hat nun aber die Organiſation der Rechtsanwaltſchaft
einen höchſt eigenthümlichen Charakter, der ſich aus einer eigen-
artigen Doppelſtellung des Rechtsanwalts herleitet. In dem
Berufe des Rechtsanwalts ſind zwei Stellungen verbunden, die
ſonſt ganz getrennt ſind, ja meiſtens unvereinbar ſcheinen, nämlich
die Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes und der Betrieb eines
Privatgewerbes; freilich decken ſich beide nicht vollkommen; das
Geſchäft des Rechtsanwalts umfaßt auch Vieles Andere als die
Ausübung öffentlich rechtlicher Functionen, aber immerhin bildet
dieſe den wichtigſten Theil ſeines Gewerbes.
Wenn geſagt wird, der Rechtsanwalt bekleide ein öffentliches
Amt, ſo muß daran erinnert werden, was oben Bd. I. S. 383 ff.
bereits ausgeführt worden iſt, daß der Begriff des Amtes und der-
jenige des Beamten keineswegs zuſammenfallen. Der Rechtsan-
walt hat ein öffentliches Amt und er iſt doch kein Beamter 1); er
verſieht ſein Amt nicht kraft einer Dienſtpflicht, ſondern er
macht aus der Uebernahme des Amtes ein Gewerbe. Auch
ſind die den Inhalt ſeiner Amtsthätigkeit bildenden Geſchäfte nicht
Staatsgeſchäfte im ſtricten Sinne; ſie gehören nicht zur Verwal-
tung der ſtaatlichen Herrſchaftsrechte, zur unmittelbaren Verwirk-
lichung der ſtaatlichen Aufgaben; der Rechtsanwalt hat überhaupt
nicht Geſchäfte des Staates als eines individuellen Rechtsſubjects
wahrzunehmen, wol aber Geſchäfte, die in der objectiven Rechts-
ordnung des Staats als nothwendig zur Durchführung der ſtaat-
lichen Aufgaben vorausgeſetzt und begründet ſind. Die Prozeß-
ordnungen des Reiches ſetzen nämlich die Theilnahme von Rechts-
anwälten an der Führung der Prozeſſe voraus. Die Civilprozeß-
[111]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
Ordn. hat im §. 74 die unbedingte und ausdrückliche Vorſchrift
aufgeſtellt, daß die Parteien vor den Landgerichten und vor allen
Gerichten höherer Inſtanz ſich durch einen bei dem Prozeßgerichte
zugelaſſenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten laſſen
müſſen; und die Strafproz.Ordn. hat die Form des contradictori-
ſchen Anklage-Verfahrens durchgeführt, ſie geſtattet ausnahmslos
dem Beſchuldigten, ſich in jeder Lage des Verfahrens eines Ver-
theidigers zu bedienen, ſie erklärt für gewiſſe Sachen die Beſtellung
eines Vertheidigers für nothwendig und ſie geht von der Annahme
aus, daß in der Regel Rechtsanwälte zu Vertheidigern gewählt
oder beſtellt werden 1). Daß bei den Gerichten Rechtsanwälte
„zugelaſſen“ ſind, daß überhaupt Perſonen vorhanden ſind, welche
als rechtsverſtändige Prozeßbevollmächtigte, Anwälte und Verthei-
diger ſich mit der Vertretung der Parteien und der Wahrnehmung
ihrer rechtlichen Intereſſen befaſſen, wird in den Prozeßordnungen
als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Nur unter dieſer Annahme
ſind die Vorſchriften der Prozeßordnungen durchführbar, die ſtaat-
liche Aufgabe der Handhabung des Rechtsſchutzes ſoll und kann
nach Maßgabe des beſtehenden Rechts nur unter Mitwirkung von
Rechtsanwälten realiſirt werden. Die berufsmäßige Thätigkeit
der Rechtsanwälte iſt demnach für den Staat nothwendig; ſie iſt
ein durch die ſtaatliche Rechtsordnung ſelbſt erforderter Faktor der
Rechtspflege und man kann daher die Rechtsanwaltſchaft in der-
ſelben Weiſe wie die Staatsanwaltſchaft als eine Inſtitution an-
ſehen, welche einen Beſtandtheil der Gerichtsverfaſſung im weiteren
Sinne bildet. Zwar läßt ſich von faſt allen Berufsarten und Ge-
werben ſagen, daß ſie für die gedeihliche Entwicklung und das
Beſtehen des Staates nothwendig oder nützlich ſind, aber während
die übrigen Gewerbe wirthſchaftlichen oder geſellſchaftlichen Bedürf-
niſſen dienen, hat der Rechtsanwalt ſein Arbeitsfeld auf einem
Gebiet, das ganz eigentlich zur Entfaltung der weſentlichſten Staats-
thätigkeit dient; er iſt ein Mitarbeiter an der Rechtspflege. In
dieſem Sinne ſind die Berufsgeſchäfte des Rechtsanwalts als
ein öffentliches Amt zu bezeichnen. Hieraus ergeben ſich aber
zahlreiche Conſequenzen. Der Staat, welcher die Function des
Rechtsanwalts dem Syſtem ſeines Gerichtsweſens einverleibt, muß
[112]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
auch die Garantien dafür haben, daß dieſe Thätigkeit den von
ihm geſtellten Anforderungen entſpreche. Er muß daher die Be-
dingungen normiren, unter welchen er Jemanden zur Rechtsanwalt-
ſchaft zuläßt, er muß über die Amtsführung der Rechtsanwälte
eine gewiſſe Aufſicht führen, eine Disciplinargewalt organiſiren,
unter gewiſſen Vorausſetzungen auch die Entfernung aus dem Amte
ermöglichen; er kann ferner den Rechtsanwälten gewiſſe ſpezielle
Amtspflichten auferlegen. Ja es kann dieſer Geſichtspunkt ſo weit
feſtgehalten werden, daß die Rechtsanwälte geradezu wie Staats-
beamte behandelt, von der Regierung für beſtimmte Stellen er-
nannt, verſetzt, entlaſſen werden u. ſ. w. und daß ſie von anderen
Staatsbeamten ſich hauptſächlich nur dadurch unterſcheiden, daß
ſie nicht einen feſten Gehalt beziehen, ſondern auf die für ihre
Amtsverrichtungen zu erhebenden Gebühren angewieſen ſind. Das
war im Weſentlichen der Standpunkt des früheren Preußiſchen
Rechts.
Andererſeits kann man davon ausgehen, daß wenngleich die
Thätigkeit der Rechtsanwaltſchaft im Ganzen einen integrirenden
Beſtandtheil der öffentlichen Rechtspflege bildet, doch im einzelnen
Falle die Arbeit des Rechtsanwalts im Intereſſe der Privatper-
ſonen gegen Entgeld in Anſpruch genommen wird und daß ſie
nicht Staatsgeſchäfte im eigentlichen Sinn verſehen, ſondern für
eigene Rechnung ihren Kunden Dienſte leiſten. Von dieſem Ge-
ſichtspunkte aus erſcheint die Praxis des Rechtsanwalts als eine
gewerbliche Thätigkeit, bei welcher der Staat nicht direct intereſſirt
iſt, ſondern für welche er nur die Bedingungen des Betriebes
normirt. Von dieſer Grundlage aus gelangt man zu dem ſoge-
nannten Syſtem der freien Advokatur und die Rechtsanwalts-Ord-
nung iſt alsdann lediglich ein beſonderer Theil der Gewerbe-
Ordnung.
Würde nun die Reichsgeſetzgebung eines dieſer beiden Sy-
ſteme angenommen und conſequent durchgeführt haben, ſo würden
keinerlei ſtaatsrechtliche Schwierigkeiten entſtanden ſein und die
Rechtsanwalts-Ordnung keinen Anlaß zu ſtaatsrechtlichen Erörte-
rungen darbieten. Falls man die Rechtsanwälte als Beamte vel
quasi behandelt hätte, ſo würde jeder Landesherr für ſeine Ge-
richte und der Kaiſer für das Reichsgericht die erforderliche An-
zahl von Rechtsanwälten zu ernennen haben; die amtliche Thätigkeit
[113]§. 108. Die Rechtsanwaltſchaft.
derſelben wäre auf die Gränzen des betreffenden Staatsgebietes
reſp. auf die Zuſtändigkeit des betreffenden Gerichts beſchränkt;
man hätte es den Einzelſtaaten überlaſſen können, die Geſchäfts-
und Dienſtverhältniſſe ihrer Rechtsanwälte zu regeln. Von dieſer
Anſchauung gingen die Bundesregierungen bei dem erſten Entwurf
des Gerichtsverf.Geſetzes aus, welcher gar keine Beſtimmungen
über die Rechtsanwaltſchaft enthielt 1).
Würde man andererſeits das Syſtem der freien Advokatur
eingeführt haben, ſo hätte in nothwendiger Conſequenz des Art. 3
der Reichsverf. und der allgemeinen Prinzipien der Gewerbe-Ord-
nung das Reich nur die Bedingungen für die Zulaſſung zu dieſem
Gewerbebetriebe zn regeln gehabt, im Uebrigen wäre die Aus-
übung deſſelben im ganzen Bundesgebiete frei und jeder Beſchränk-
ung durch die Einzelſtaaten entzogen geweſen, etwa wie der Ge-
werbebetrieb der Aerzte oder der Seeſchiffer.
Die Reichsgeſetzgebung hat aber einen Mittelweg eingeſchlagen;
ſie hat die Rechtsanwaltſchaft in einer Weiſe geordnet, die äußerſt
complizirt iſt, weil ſie zum Theil den Amtscharakter der Rechts-
anwaltſchaft und die demſelben entſprechenden Hoheitsrechte der
Einzelſtaaten, zum Theil die Freiheit des Gewerbebetriebes zur
Grundlage genommen hat. Die Ausübung der Rechtsanwaltſchaft iſt
freigegeben, aber doch zugleich an die ſtaatliche Zulaſſung geknüpft;
ſie erſtreckt ſich auf das ganze Reich und iſt doch zugleich lokali-
ſirt; der Rechtsanwalt hat amtliche Obliegenheiten, die er unter
gewiſſen Umſtänden auch wider ſeinen Willen erfüllen muß, er iſt
einer Disciplinargewalt unterworfen, aber er hat andererſeits keinen
ſtaatlichen Vorgeſetzten und keine Beamtendienſtpflichten; die Rechtsan-
waltsordnung iſt ebenſowohl eine Ergänzung des Gerichtsverfaſſungs-
geſetzes als der Gewerbeordnung. Für das Reichsſtaatsrecht aber
iſt es namentlich von Wichtigkeit die Gränzlinie feſtzuſtellen, inner-
halb deren den Einzelſtaaten noch die Bethätigung von Hoheits-
rechten und die Durchführung eines eigenen ſtaatlichen Willens
verblieben iſt; von einer „Souveränetät“ der Einzelſtaaten iſt auch
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 8
[114]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
hier ſo wenig wie auf anderen Gebieten des ſtaatlichen Lebens
etwas wahrzunehmen.
I.Zulaſſung zur Rechtsanwaltſchaft.
1. Der oberſte Grundſatz iſt der, daß Niemand Rechtsanwalt
werden kann, ohne daß er von der Landes juſtizverwaltung (be-
ziehentl. beim Reichsgericht vom Präſidium deſſelben) zugelaſſen
worden iſt 1), daß die Zulaſſung aber nicht vom freien Belieben
der Landesjuſtizverwaltung abhängig iſt, ſondern daß die Ent-
ſcheidung über die Zulaſſung nach den vom Reich erlaſſenen Vor-
ſchriften getroffen werden muß. In dieſem Satze findet ein im ge-
genwärtigen Deutſchen Reichsrecht häufig wiederkehrendes Prinzip
eine neue Anwendung: die formale Ausübung der Hoheitsrechte
geht im einzelnen Falle von der Einzelſtaatsgewalt aus, die ma-
terielle Regelung aber, wie das Hoheitsrecht zu handhaben iſt,
wird vom Reich gegeben; der Einzelſtaat bringt dem Unterthanen
gegenüber ſeinen Willen zur Geltung, er empfängt aber vom
Reich den Befehl, was er wollen muß und wie er den Willen
zu erklären hat. So wie den Einzelſtaaten die ſogenannte Juſtiz-
hoheit verblieben iſt, aber Gerichtsverfaſſung und Prozeßordnungen,
alſo der Inbegriff der Rechtsnormen über die Ausübung der Ju-
ſtizhoheit, vom Reich ihnen vorgeſchrieben ſind, ſo kömmt ihre Ju-
ſtizhoheit (Staatsgewalt) auch zur Anerkennung, indem ſie den
Rechtsanwälten die Zulaſſung ertheilen oder verſagen, aber ihr
Wille iſt hierbei kein freier, ſondern ein vom Reich gebundener.
2. Befähigt zur Rechtsanwaltſchaft iſt nur derjenige, wel-
cher die Fähigkeit zum Richteramt erlangt hat 2); in Er-
mangelung dieſer Vorausſetzung darf die Zulaſſung nicht ertheilt
werden. Die Bedingungen für die Befähigung zum Richteramt
ſind nun aber vom Reich nicht ausreichend geregelt, indem es an
Vorſchriften und Kontrolen hinſichtlich der beiden juriſtiſchen Prü-
fungen fehlt; in Folge deſſen iſt keine Landesjuſtizverwaltung ge-
halten, die in einem anderen Staate beſtandenen Prüfungen an-
zuerkennen 3), ſie ſoll aber auch andererſeits hieran nicht durch
[115]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
Landesgeſetz gehindert werden. Hieraus ergiebt ſich für die Zu-
laſſung zur Rechtsanwaltſchaft ganz daſſelbe Reſultat, wie für die
Anſtellung in einem Richteramt; die Juſtizverwaltung jedes Staates
kann den in einem anderen Bundesſtaate beſtandenen juriſt. Prü-
fungen Wirkſamkeit zuerkennen oder verſagen.
3. Berechtigt die Zulaſſung zur Rechtsanwaltſchaft zu ver-
langen iſt Jeder in demjenigen Staate, in welchem er die zum
Richteramte befähigende Prüfung beſtanden hat, und ſein Antrag
darf nur aus den in der Rechtsanwaltsordnung bezeichneten Grün-
den abgelehnt werden 1). Dieſe Gründe zerfallen in zwei Kate-
gorien; die einen ſind ſolche, wegen deren die Zulaſſung abge-
lehnt werden muß2), die anderen ſolche, wegen deren ſie verſagt
werden kann3); die erſteren, denen praktiſch die größere Be-
deutung zukömmt, betreffen den Mangel der Ehrenhaftigkeit und
Unbeſcholtenheit, den Betrieb einer mit dem Beruf oder der
Würde eines Rechtsanwalts nicht vereinbaren Beſchäftigung, kör-
perliche Gebrechen oder Schwäche der geiſtigen und körperlichen
Kräfte u. dgl. 4). Soweit bei der Beurtheilung dieſer Abwei-
ſungsgründe ein diskretionäres Ermeſſen Platz finden kann, iſt
überdies der Landesjuſtizverwaltung die ſelbſtſtändige Entſchei-
dung entzogen; ſie iſt an das Gutachten des Vorſtandes der An-
waltskammer gebunden 5) und ſie hat in allen Fällen vor der
Entſcheidung dieſes Gutachten einzuholen 6). Durch dieſe Beſtim-
mungen iſt allerdings die Rechtsanwaltſchaft de facto für Alle,
welche die juriſtiſchen Prüfungen beſtanden haben und vollkommen
an Recht, Ehre und Geſundheit ſind, innerhalb des Staates, in
welchem die Prüfung abgelegt worden iſt, freigegeben; die
8*
[116]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
Zulaſſung iſt nichts weiter als eine formale Anerkennung, daß kein
Ausſchließungsgrund vorliegt 1).
4. Die Zulaſſung iſt lokaliſirt d. h. ſie erfolgt bei einem
beſtimmten Gerichte 2). In gewiſſen geſetzlich beſtimmten Fällen
iſt der bei einem Gerichte zugelaſſene Anwalt auch bei einem an-
dern, an dem Orte ſeines Wohnſitzes befindlichen Kollegialgericht
oder bei dem Oberlandesgericht oder auch ſelbſt bei einem benach-
barten Landgericht zuzulaſſen; die Entſcheidung darüber iſt nicht
der Landesjuſtizverwaltung anheimgegeben, ſondern von dem Gut-
achten des Oberlandesgerichts abhängig gemacht 3). Hierbei iſt
nicht das Intereſſe des Antragſtellers, ſondern dasjenige der Rechts-
pflege Ausſchlag gebend und daher das Gutachten darauf zu rich-
ten, ob die Zulaſſung dem Intereſſe der Rechtspflege förderlich
ſei. Der freien Entſchließung der Landesjuſtizverwaltung iſt es
jedoch anheimgegeben, Rechtsanwälte, welche an einem Landgericht
zugelaſſen ſind, deſſen Bezirk einem gemeinſchaftlichen Ober-
landesgericht unterſtellt iſt, bei dem letzteren zuzulaſſen, auch wenn
daſſelbe an einem andern Orte ſeinen Sitz hat 4). Wer in einem
Staate zur Zulaſſung berechtigt iſt, hat unter ſämmtlichen Gerichten
dieſes Staates die freie Auswahl; nur wenn an einem Gerichte
ein Richter angeſtellt iſt, welcher mit dem Antragſteller verwandt
oder verſchwägert iſt, kann die Zulaſſung an dieſem Gerichte ver-
ſagt werden 5). Dagegen iſt die Landesjuſtizverwaltung nicht be-
fugt, die Zahl der Rechtsanwaltsſtellen bei den einzelnen Gerichten
[117]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
des Landes zu fixiren oder den Antrag auf Zulaſſung wegen man-
gelnden Bedürfniſſes zurückzuweiſen 1). Demgemäß kann ein Rechts-
anwalt auch nach freiem Belieben das Gericht, bei dem er zuge-
laſſen iſt, mit einem andern Gericht deſſelben Staates vertauſchen
und dort die Zulaſſung begehren, welche ihm nur verſagt werden
kann, wenn gegen ihn eine Klage im ehrengerichtlichen Verfahren
erhoben iſt oder gegen ihn innerhalb der letzten zwei Jahre im
ehrengerichtlichen Verfahren auf Verweis oder auf Geldſtrafe von
mehr als 150 Mark erkannt worden iſt 2). Unter dieſen Be-
ſchränkungen iſt daher die Freizügigkeit der Rechtsanwälte
anerkannt.
Die Zulaſſung bei dem Reichsgericht erfolgt durch das
„Präſidium des Reichsgerichts“ 3), welches nach freiem Ermeſſen
entſcheidet 4). Die Zulaſſung zur Rechtsanwaltſchaft bei dem Reichs-
gericht iſt mit der Zulaſſung bei einem andern Gericht unver-
einbar 5).
5. Nach der erſten Zulaſſung wird der Rechtsanwalt in öffent-
licher Sitzung des Gerichts auf die gewiſſenhafte Erfüllung ſeiner
Pflichten vereidigt6). Bei jedem Gericht iſt eine Liſte der bei
demſelben zugelaſſenen und vereidigten Rechtsanwälte zu führen;
erſt mit der Eintragung beginnt die Befugniß zur Aus-
übung der Rechtsanwaltſchaft 7). Stirbt der Rechtsanwalt oder
giebt er die Zulaſſung auf oder wird dieſelbe zurückgenommen
(ſiehe unten) oder verliert er durch Urtheil die Fähigkeit zur Aus-
übung der Rechtsanwaltſchaft, ſo iſt die Eintragung in der Liſte
zu löſchen 8). Eintragungen und Löſchungen ſind von dem Gericht
durch den Reichsanzeiger bekannt zu machen.
[118]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
II.Rechte und Pflichten der Rechtsanwälte.
1. Befugniß zum Gewerbebetrieb. Es ſind in
dieſer Beziehung drei Kategorien von Rechtsſachen zu unter-
ſcheiden:
a) Inſoweit eine Vertretung durch Anwälte geboten iſt, (Ci-
vilproz.Ordn. §. 74; im ſogen. Anwaltsprozeß), kann nur
ein bei dem Prozeßgerichte zugelaſſener Rechtsanwalt die
Vertretung als Prozeßbevollmächtigter übernehmen;
jedoch iſt jeder Rechtsanwalt befugt in der mündlichen Verhand-
lung die Ausführung der Parteirechte und falls ihm der bei dem
Prozeßgericht zum Prozeßbevollmächtigten beſtellte Rechtsanwalt
die Vertretung überträgt, auch dieſe zu übernehmen 1).
b) In denjenigen Sachen, auf welche die Strafprozeßordnung,
die Civilproz.Ordnung und die Konkursordnung Anwendung finden,
iſt jeder Rechtsanwalt auf Grund der Zulaſſung bei einem Gericht
befugt, vor jedem Gericht innerhalb des Reichs Ver-
theidigungen zu führen, als Beiſtand aufzutreten und ſoweit eine
Vertretung durch Anwälte nicht geboten iſt (vor den Amtsgerichten),
die Vertretung zu übernehmen 2). Durch dieſe Beſtimmung ſind
demnach die territorialen Gränzen der Juſtizhoheit beſeitigt; ſoweit
im ganzen Reich ein einheitliches Verfahren, eine einheitliche Ge-
richtsverfaſſung, und eine gemeinverbindliche Rechtskraft der gericht-
lichen Urtheile beſteht, ſoweit wirkt auch die von einem Staate
ertheilte Zulaſſung als Rechtsanwalt auf das ganze Bundesgebiet.
Die ſogen. Lokaliſirung der Rechtsanwälte ſchließt nicht den Ge-
werbebetrieb derſelben im ganzen Bundesgebiet aus; ſie wirkt nur
hinſichtlich der Vertretung im Anwaltsprozeß 3).
c) In denjenigen Sachen, in welchen die drei Reichsprozeß-
geſetze nicht zur Anwendung kommen, gleichviel ob ſie vor den
[119]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
ordentlichen Gerichten oder vor beſonderen Gerichten verhandelt
werden, beſtimmt ſich die Befugniß zur Ausübung der Rechts-
anwaltſchaft ausſchließlich nach den Vorſchriften der Landesgeſetze.
Die Autonomie, welche den Einzelſtaaten hinſichtlich der nicht zur
ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit gehörenden Sachen verblieben
iſt, erſtreckt ſich conſequenter Weiſe auch auf die Rechtsanwaltſchaft.
2. Pflicht zur Uebernahme von Aufträgen. Im
Allgemeinen beſteht für den Rechtsanwalt keine Verpflichtung, Auf-
träge, durch welche ſeine Berufsthätigkeit in Anſpruch genommen
wird, anzunehmen; ſein eigenes Erwerbs-Intereſſe erſcheint als
eine genügende Garantie, um ſeine Dienſtleiſtungen dem Publikum,
welches dieſelben wünſcht, zu ſichern. Es iſt im Gegentheil dem
Rechtsanwalt zur Pflicht gemacht, ſeine Berufsthätigkeit zu ver-
ſagen, wenn ſie für eine pflichtwidrige Handlung in Anſpruch ge-
nommen wird, wenn er in derſelben Sache bereits einer andern
Partei im entgegengeſetzten Intereſſe gedient hat und wenn er in
derſelben Angelegenheit bereits als Richter thätig geweſen iſt 1).
Dem Rechtsanwalt iſt nur die Pflicht auferlegt, denjenigen, der
ſeine Dienſte beanſprucht, nicht darüber im Ungewiſſen zu laſſen,
daß er ſie ihm nicht gewähren wolle; er muß ihm die Ablehnung
des Antrages ohne Verzug anzeigen, widrigenfalls er den durch
die Verzögerung erwachſenen Schaden erſetzen muß 2).
Allein da die Thätigkeit eines Rechtsanwalts im Prozeß theils
durch Geſetz erfordert wird theils durch die Beſchaffenheit unſeres
materiellen und Prozeß-Rechts factiſch vielfach unentbehrlich iſt, ſo
muß eine Abhülfe gegen die Gefahr gegeben ſein, daß eine Partei
außer Stande iſt, die Dienſte eines Rechtsanwalts zu finden. In
dieſem Sinne liegt dem Rechtsanwalt im Gegenſatz zu dem ge-
wöhnlichen Privatgewerbetreibenden eine öffentliche Dienſt-
pflicht ob, zu deren Erfüllung er Seitens des Staates angehalten
werden kann.
Es geſchieht dies in der Art, daß das Prozeßgericht einer
Partei auf Antrag einen Rechtsanwalt zur Wahrnehmung ihrer
Rechte beiordnet; die Auswahl deſſelben erfolgt durch den Vor-
ſitzenden des Gerichts aus der Zahl der bei dieſem zugelaſſenen
[120]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
Rechtsanwälte 1). Eine Beiordnung erfolgt im Civilprozeß in
denjenigen Sachen, in welchen eine Vertretung durch Anwälte ge-
boten iſt, wenn der Partei das Armenrecht bewilligt worden iſt 2)
oder wenn ſie einen zu ihrer Vertretung geneigten Anwalt nicht
findet und die Rechtsverfolgung oder Rechtsvertheidigung nicht
muthwillig oder ausſichtslos erſcheint 3), und in Entmündigungs-
ſachen 4). Im Strafprozeß kann das Gericht auf Antrag oder
von Amtswegen einen Rechtsanwalt zum Vertheidiger beſtellen 5).
Außerdem haben die Rechtsanwälte die geſetzliche Verpflich-
tung, den im Vorbereitungsdienſte bei ihnen beſchäftigten Referen-
daren Anleitung und Gelegenheit zu praktiſchen Arbeiten zu
geben 6).
3. Reſidenzpflicht. Der Rechtsanwalt muß an dem
Orte des Gerichts, bei welchem er zugelaſſen iſt, ſeinen Wohnſitz
nehmen 7), und falls er auch bei einem andern Gericht zugelaſſen
iſt, muß er einen an dem Ort deſſelben wohnhaften ſtändigen Zu-
ſtellungsbevollmächtigten beſtellen 8). Wenn der Rechtsanwalt ſeinen
Wohnſitz binnen drei Monaten ſeit Mittheilung des die Zulaſſung
ausſprechenden Beſcheides nicht genommen hat oder ſeinen Wohn-
ſitz aufgiebt, muß die Zulaſſung deſſelben zurückgenommen werden;
iſt der Rechtsanwalt bei einem Gericht, an deſſen Ort er nicht
wohnhaft iſt, zugelaſſen worden, ſo iſt die Zulaſſung bei dieſem
Gericht zurückzunehmen, wenn er einen Monat lang verſäumt hat,
einen dort wohnhaften Zuſtellungsbevollmächtigten zu ernennen 9).
Wenn der Rechtsanwalt ſich über eine Woche hinaus von ſeinem
[121]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
Wohnſitze entfernen will, muß er für ſeine Stellvertretung ſorgen 1)
und dem Vorſitzenden des Gerichts, bei welchem er zugelaſſen iſt,
ſowie dem Amtsgericht, in deſſen Bezirk er ſeinen Wohnſitz hat,
Anzeige machen und den Stellvertreter benennen 2).
4. Der Rechtsanwalt iſt endlich in derſelben Art wie der
Staatsbeamte zu einem achtungswürdigen Verhalten in
Ausübung ſeines Berufes ſowie außerhalb deſſelben verpflichtet 3).
III.Anwaltskammern.
Die innerhalb des Bezirks eines Oberlandesgerichts zuge-
laſſenen Rechtsanwälte, ſowie die bei dem Reichsgerichte zugelaſſenen
Rechtsanwälte ſind zu gewerblichen Innungen vereinigt,
welche die Bezeichnung Anwaltskammern führen 4). Die Zuge-
hörigkeit zur Anwaltskammer tritt für alle Rechtsanwälte des Be-
zirks von Rechtswegen ein. Die Kammer iſt vermögensfähig 5),
hat einen Vorſtand, deſſen Mitglieder durch Wahl beſtimmt wer-
den 6), ſie hält Verſammlungen ab 7); ſie kann die Geſchäftsord-
nung für ſich und den Vorſtand feſtſtellen 8) und den Mitgliedern
Beiträge zur Beſtreitung des für die gemeinſchaftlichen Angelegen-
heiten erforderlichen Aufwandes auferlegen 9). Die Kammer hat
ihren Sitz am Orte des Oberlandesgerichts 10) und der Präſident
des letzteren hat die Aufſicht über den Geſchäftsbetrieb des Vor-
ſtandes zu führen und über Beſchwerden, welche denſelben betreffen,
zu entſcheiden 11).
[122]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
Der Vorſtand hat die Disciplinar-Strafgewalt über die Mit-
glieder zu handhaben, auf Antrag Streitigkeiten unter den Mit-
gliedern der Kammer oder zwiſchen einem Mitgliede und deſſen
Auftraggeber zu vermitteln, Gutachten auf Erfordern der Landes-
juſtizverwaltung oder der Gerichte zu erſtatten und das Vermögen
der Kammer zu verwalten 1). Sowohl der Vorſtand als auch die
Kammer ſind berechtigt, Vorſtellungen und Anträge, welche das
Intereſſe der Rechtspflege oder der Rechtsanwaltſchaft betreffen,
an die Landesjuſtizverwaltung zu richten 2). Der Anwaltskammer
bei dem Reichsgericht ſteht dieſelbe Befugniß gegenüber dem Reichs-
kanzler zu 3). Die Geſchäfte des Vorſtandes werden unentgeldlich
geführt 4); die Wahl zum Mitgliede darf nur derjenige ablehnen,
der das 65. Lebensjahr vollendet hat, und wer die letzten vier
Jahre Mitglied des Vorſtandes geweſen iſt, für die nächſten vier
Jahre 5). Der Vorſitzende hat jährlich der Landesjuſtizverwaltung
und dem Oberlandesgericht einen ſchriftlichen Bericht über die
Thätigkeit der Kammer und des Vorſtandes zu erſtatten 6).
IV.Disciplinar-Strafgewalt.
Die Rechtsanwälte ſind in Hinſicht auf die Verletzung der
ihnen obliegenden Berufspflichten einer Disciplinargewalt unter-
worfen, welche ſich in ihrem Begriff und Weſen von der Discipli-
nargewalt über Beamte in Nichts unterſcheidet 7). Die Hand-
habung derſelben iſt den Vorſtänden der Anwaltskammern über-
tragen, wie ja auch bei andern Gewerbetreibenden die Innungs-
vorſtände eine, bisweilen weitreichende Disciplinargewalt haben;
nur iſt freilich bei der Ausübung der Disciplinargewalt über Rechts-
anwälte der Staat in höherem Grade intereſſirt als bei anderen
Gewerben. Durch das Reichsgeſetz iſt daher nicht nur die Hand-
habung der Disciplinargewalt über Rechtsanwälte bis in das Ein-
zelne geregelt, ſondern es iſt auch eine Mitwirkung der Staats-
[123]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
behörden (Gerichte und Staatsanwaltſchaft) gewährt und den Ur-
theilen der Disciplinar-Spruchbehörden formelle Rechtskraft (Voll-
ſtreckbarkeit) beigelegt worden. Im Einzelnen gelten folgende
Rechtsſätze:
1. Die Disciplinarſtrafen ſind die gewöhnlichen, nämlich
Warnung, Verweis, Geldſtrafe (bis zu 3000 Mark) und — an Stelle
der Entfernung aus dem Staatsdienſt — Ausſchließung von der
Rechtsanwaltſchaft 1). Jede Handlung oder Unterlaſſung, welche
eine Pflichtverletzung darſtellt, kann das disciplinariſche Ein-
ſchreiten begründen, ohne Rückſicht darauf ob auch ein öffentliches
Strafverfahren wegen deſſelben Thatbeſtandes eintritt oder nicht;
jedoch iſt während der Dauer des öffentlichen Strafverfahrens das
Disciplinarverfahren unſtatthaft 2). Eine Verletzung der dem Rechts-
anwalt obliegenden Pflichten kann aber erſt verübt werden, nach-
dem dieſe Pflichten begründet ſind, d. h. nach der Zulaſſung;
deshalb iſt im Allgemeinen ein disciplinariſches Vorgehen wegen
Handlungen, welche ein Rechtsanwalt vor ſeiner Zulaſſung be-
gangen hat, unſtatthaft; ausgenommen ſind nur ſolche Handlungen,
welche die Ausſchließung von der Rechtsanwaltſchaft begründen 3).
2. Als Disciplinarbehörde erſter Inſtanz fungirt
der Vorſtand derjenigen Kammer, welcher der Angeſchuldigte zur
Zeit der Erhebung der Klage angehört. Der Vorſtand übt dieſe
Funktion aus unter der Bezeichnung als Ehrengericht und in
der Beſetzung von fünf Mitgliedern 4). Für das Verfahren kom-
men die Vorſchriften der Strafprozeßordnung über das Verfahren
in den zur Zuſtändigkeit der Landgerichte gehörigen Strafſachen
zur Anwendung; dieſelben ſind jedoch durch eine große Zahl von
beſonderen Vorſchriften ergänzt und abgeändert 5). Die Verrich-
tungen der Staatsanwaltſchaft werden von der Staatsanwaltſchaft
bei dem Oberlandesgerichte wahrgenommen 6); mit der Führung
[124]§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.
der Vorunterſuchung wird ein Richter durch den Präſidenten des
Oberlandesgerichts beauftragt 1); als Gerichtsſchreiber iſt ein dem
Vorſtande nicht angehörender, am Sitze der Kammer wohnhafter
Rechtsanwalt zuzuziehen 2).
Für die Verhandlung und Entſcheidung über das Rechtsmittel
der Beſchwerde iſt das Oberlandesgericht zuſtändig 3), für das
Verfahren gelten die Vorſchriften der Strafprozeßordnung 4).
3. Gegen die Urtheile des Ehrengerichts iſt das Rechtsmittel
der Berufung zuläſſig 5). Ueber daſſelbe entſcheidet der Ehrenge-
richtshof, welcher aus dem Präſidenten des Reichsgerichts als
Vorſitzenden, drei Mitgliedern des Reichsgerichts und drei Mit-
gliedern der Anwaltskammer bei dem Reichsgerichte 6) beſteht. Auf
das Verfahren finden im Allgemeinen die Regeln der Strafproz.-
Ordn. Anwendung 7); die Verrichtungen der Staatsanwaltſchaft
werden von der Reichsanwaltſchaft wahrgenommen.
4. Die Vollſtreckung einer auf Geldſtrafe lautenden Entſchei-
dung erfolgt nach den Vorſchriften über die Vollſtreckung der Ur-
theile in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten; ſie wird von dem Schrift-
führer des Vorſtandes betrieben. Die Geldſtrafen fließen zur Kaſſe
der Kammer 8). Lautet das Urtheil auf Ausſchließung von der
Rechtsanwaltſchaft, ſo tritt dieſe mit der Rechtskraft des Urtheils
ein. Der Schriftführer des Vorſtandes hat den Gerichten, bei
welchen der Rechtsanwalt zugelaſſen war und der Landesjuſtizver-
waltung hiervon Anzeige zu machen unter Mittheilung einer mit
der Beſcheinigung der Vollſtreckbarkeit verſehenen beglaubigten Ab-
ſchrift der Urtheilsformel 9).
V.Die Gebühren und Auslagen,
welche die Rechts-
[125]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
anwälte für ihre Berufsthätigkeit erheben dürfen, ſind vom Reich
in der Gebühren-Ordnung v. 7. Juli 1879 (R.G.Bl. S. 176) ge-
regelt. Dieſes Geſetz findet ebenfalls nur Anwendung auf die zur
ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit gehörenden Rechtsangelegen-
heiten; die Gebühren für andere Berufsverrichtungen unterliegen
der Autonomie der Einzelſtaaten.
VI. In den Konſulatsgerichtsbezirken
findet die
R.A.O. keine Anwendung; weder iſt die Befähigung zur Rechts-
anwaltſchaft an beſtimmte geſetzliche Vorausſetzungen gebunden,
noch iſt ein Recht auf Zulaſſung anerkannt und ebenſo wenig be-
ſteht eine Disciplinarordnung. Vielmehr hat der Konſul nach
eigenem Ermeſſen die Perſonen zu beſtimmen, welche zur Aus-
übung der Rechtsanwaltſchaft zuzulaſſen ſind, und er kann die Zu-
laſſung widerrufen. Gegen die Verfügung des Konſuls, durch
welche der Antrag auf Zulaſſung abgelehnt oder die ertheilte Zu-
laſſung zurückgenommen wird, iſt die Beſchwerde an den Reichs-
kanzler ſtatthaft 1). Das Verzeichniß der zur Ausübung der Rechts-
anwaltſchaft zugelaſſenen Perſonen iſt in ortsüblicher Weiſe be-
kannt zu machen und dem Reichskanzler anzuzeigen. Die Gebüh-
renordnung für Rechtsanwälte v. 7. Juli 1879 findet auch in den
ſtreitigen Rechtsſachen, welche bei den Konſulatsgerichten anhängig
ſind, Anwendung, jedoch nur ſubſidiär d. h. ſoweit nicht die
Gebühren der Rechtsanwälte durch Ortsgebrauch geregelt ſind 2).
§. 104. Der Gerichtsdienſt.
Dieſelben Rechtsformen, in denen überhaupt der Staat die
für die Erledigung ſeiner Aufgaben erforderlichen Arbeitskräfte
und Dienſte ſich verſchafft, finden auch auf dem Gebiete der Rechts-
pflege Anwendung. Von dieſen Formen 3) bietet die Dienſtmiethe,
d. h. der privatrechtliche Vertrag des Fiskus mit Privat-
perſonen über Arbeitsleiſtungen, der für die Juſtizverwaltung nicht
minder wichtig und unentbehrlich iſt wie für die andern Verwal-
tungszweige, kein ſtaatsrechtliches Intereſſe dar. Die öffentlich
rechtliche Pflicht zur Uebernahme und Führung gerichtlicher
[126]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
Geſchäfte kann aber ebenſo wie die militäriſche Dienſtpflicht auf
zwei verſchiedenen Rechtsgründen beruhen, entweder auf einem ſtaat-
lichen Zwang, d. h. auf einer geſetzlichen Anordnung, welche der
Unterthan befolgen muß, ohne daß es auf ſeine Einwilligung
hierzu ankömmt, oder auf einem öffentlich rechtlichen zweiſeitigen
Rechtsgeſchäft, durch welches der Unterthan freiwillig zur
Führung gerichtlicher Amtsgeſchäfte ſich verpflichtet. Aber auch
die freiwillige Uebernahme von Gerichtsgeſchäften kann wieder in
doppelter Weiſe erfolgen; entweder nämlich durch Eintritt in den
berufsmäßigen Staatsdienſt, wodurch ſich der Beamte dem
Landesherrn zur Leiſtung ſtaatlicher Arbeit verpflichtet und ſich
ihm behufs Uebernahme eines Amtes zur Verfügung ſtellt, oder
ohne Begründung eines Staatsdienſt-Verhältniſſes durch unent-
geldliche Uebernahme einer richterlichen Stellung in der Geſtalt
des Ehrenamtes. Hiernach ſind in ſtaatsrechtlicher Hinſicht
drei Arten von Gerichtsdienſten zu unterſcheiden, der geſetzliche
Gerichtsdienſt der Schöffen und Geſchworenen, der berufsmäßige
Dienſt der Juſtizbeamten und der Ehrendienſt der Handelsrichter
und Beiſitzer der Konſulargerichte. Daß unter dieſen Arten von
Dienſten derjenige der berufsmäßigen Staatsbeamten von über-
wiegender Bedeutung und Wichtigkeit iſt, beruht nicht auf dem
Weſen der Gerichtsbarkeit, ſondern auf dem eigenthümlichen Cha-
rakter unſeres Rechts, insbeſondere des Privatrechts, und der da-
durch bedingten Verfaſſung der Gerichte.
I.Der geſetzliche Gerichtsdienſt*).
Die Pflicht zum Dienſt als Schöffe und Geſchworener ent-
ſpricht, trotz aller Verſchiedenheit in Betreff ihres Inhaltes und
ihrer thatſächlichen Verwirklichung, ſowohl ihrem Rechtsgrunde als
ihrer juriſtiſchen Geſtaltung nach der allgemeinen Wehrpflicht; und
ebenſo wie die letztere gehört die allgemeine Gerichtspflicht zu den-
jenigen Unterthanenpflichten, welche die urſprünglichſten und tiefſten
Grundlagen des Staates bilden, auf denen die älteſten Verfaſſungen
weſentlich beruhten. Der moderne Staat macht freilich von dieſer
[127]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
Unterthanenpflicht einen ſehr beſchränkten Gebrauch und dem ent-
ſprechend iſt die thatſächliche Bedeutung der allgemeinen Gerichts-
pflicht und die durch ſie bewirkte Belaſtung der Unterthanen un-
endlich geringer als dies bei der allgemeinen Wehrpflicht der Fall
iſt, ſo daß die ſtaatsrechtliche Gleichartigkeit beider nicht nur dem
Volke, ſondern auch den Juriſten kaum zum Bewußtſein kömmt.
1. Die allgemeine Gerichtspflicht iſt die ſtaats-
bürgerliche Verpflichtung zur Dienſtleiſtung in den Gerichten des
Staates. Der Dienſt beſteht in der Theilnahme an der Urtheils-
findung und Beſchlußfaſſung und an den hiezu erforder-
lichen, in den Prozeßordnungen näher geregelten gerichtlichen Ver-
handlungen und Geſchäften. Ein ſolcher Dienſt wird vom Staat
gegenwärtig aber nur in Anſpruch genommen bei der Strafrechts-
pflege und auch hier nur bei den Schöffengerichten und bei den
Schwurgerichten, ſo daß die allgemeine Gerichtspflicht keine andere
Verwendung findet als in der Wahrnehmung der Funktionen eines
Schöffen oder eines Geſchworenen 1). An und für ſich erzeugt die
Gerichtspflicht ſo wenig wie die Wehrpflicht eine ſubjektive Ver-
pflichtung zu einer beſtimmten Dienſtleiſtung; hierzu iſt in jedem
einzelnen concreten Falle der hinzukommende Befehl des Staates,
die Einberufung als Schöffe oder Geſchworener, erforderlich 2).
2. Die Gerichtspflicht iſt eine ſtaatsbürgerliche oder
Unterthanen-Pflicht; der Ausländer iſt ihr nicht unterworfen; nur
Staatsangehörige ſind zur Mitwirkung an der ſtaatlichen Gerichts-
barkeit berufen und verpflichtet. So wie nun aber im Deutſchen
Reich die Strafgerichtsbarkeit der Einzelſtaaten ſich auf das ganze
Reichsgebiet erſtreckt und in letzter Inſtanz in der Gerichtsbarkeit
des Reichs zuſammengefaßt iſt, ſo kömmt auch bei Leiſtung der
Gerichtspflicht nicht die Staatsangehörigkeit, ſondern die Reichs-
angehörigkeit in Betracht. Jeder Deutſche iſt verpflichtet, der
Einberufung zum Schöffen- oder Geſchworenendienſt bei dem Ge-
richt, in deſſen Bezirk er ſeinen Wohnſitz hat, Folge zu leiſten,
gleichviel ob er dem betreffenden Bundesſtaate angehört oder nicht 3).
[128]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
Ausländer ſind aber nicht nur vom Gerichtsdienſt frei, ſondern
ſie ſind auch geſetzlich zur Wahrnehmung der Funktionen eines
Schöffen oder Geſchworenen für unfähig erklärt 1).
Die Rechtsregeln über die Vorausſetzungen, die Geltend-
machung, den Umfang und die Erfüllung der geſetzlichen Gerichts-
dienſtpflicht ſind vom Reich feſtgeſtellt; der Autonomie der Einzel-
ſtaaten iſt in dieſer Hinſicht ein ſehr enger Spielraum geſtattet.
Dies beruht theils auf dem Einfluß, welchen dieſe Regeln auf die
Zuſammenſetzung und den Charakter der erkennenden Strafgerichte
ausüben, theils auf dem ſoeben dargelegten Grundſatz, daß dieſe
Dienſte von allen Reichsangehörigen im ganzen Bundesgebiete
in Anſpruch genommen werden können. Es zeigt ſich hierin ein
bemerkenswerther Gegenſatz zwiſchen der geſetzlichen und der frei-
willig übernommenen Gerichtsdienſtpflicht, welche nur gegenüber
dem Gerichtsherrn (Dienſtherrn) beſteht und deren Regelung faſt
ganz der Landesgeſetzgebung überlaſſen iſt.
3. Die Gerichtspflicht iſt eine allgemeine Unterthanen-
pflicht, von welcher es keine anderen Befreiungsgründe giebt als
die im Geſetz anerkannten. Mit Rückſicht auf die Natur der zu
leiſtenden Dienſte iſt aber der Kreis der Perſonen, von denen die-
ſelben wirklich verlangt werden, durch Rechtsſätze erheblich be-
ſchränkt 2).
Dieſe Beſchränkungen beruhen zum Theil darauf, daß die
Dienſte der Schöffen und Geſchworenen in der Führung eines
öffentlichen Amtes beſtehen und daher diejenigen Perſonen dazu
nicht berufen werden ſollen, welche zur Bekleidung eines öffentlichen
Amtes dieſer Art unfähig oder untauglich ſind oder welche ſich in
einem öffentlichen Dienſtverhältniß bereits befinden, mit welchem
das Schöffen- und Geſchworenen-Amt unvereinbar ſcheint. Zum
andern Theil beruhen die Beſchränkungen der Dienſtpflicht auf
billiger Berückſichtigung ſolcher perſönlicher Verhältniſſe, welche
3)
[129]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
die Erfüllung für den Verpflichteten beſonders drückend machen.
Der Staat kann ſolche Verhältniſſe bei der Gerichtspflicht in einem
viel größeren Maaße wie bei der Wehrpflicht berückſichtigen wegen
des geringen Umfanges, in welchem die geſetzlichen Gerichtsdienſte
zur Verwendung kommen. Hieraus ergeben ſich folgende vier Ka-
tegorien:
a)Ausgeſchloſſen von dem Schöffen- und Geſchworenen-
dienſt als unfähig zur Bekleidung des Amtes ſind diejenigen
Perſonen, welche in Folge ſtrafgerichtlicher Verurtheilung die Be-
fähigung dazu verloren haben, oder gegen welche das Hauptver-
fahren wegen eines Verbrechens oder Vergehens eröffnet iſt, das
die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte oder der Fähigkeit
zur Bekleidung öffentlicher Aemter zur Folge haben kann, ſowie
Perſonen, welche in Folge gerichtlicher Anordnung in der Ver-
fügung über ihr Vermögen beſchränkt ſind 1). Außerdem ſind —
wie oben S. 128 bereits bemerkt wurde, Ausländer unfähig das
Amt eines Schöffen oder Geſchworenen zu bekleiden. Die Mit-
wirkung einer ſolchen, von der Ausübung des Richteramtes kraft
des Geſetzes ausgeſchloſſenen Perſon an dem Urtheil iſt eine
Verletzung des Geſetzes, auf welche die Reviſion geſtützt werden
kann 2).
b)Untauglich zum Amte eines Schöffen und Geſchwore-
nen, ſo daß ſie zu demſelben nicht berufen werden ſollen, ſind
Perſonen mit geiſtigen oder körperlichen Gebrechen 3); Perſonen,
welche das 30te Lebensjahr noch nicht vollendet haben; Perſonen,
welche den Wohnſitz in der Gemeinde noch nicht zwei volle Jahre
haben; Perſonen, welche für ſich oder ihre Familie Armenunter-
ſtützung 4) aus öffentlichen Mitteln empfangen oder in den drei letz-
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 9
[130]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
ten Jahren empfangen haben 1), ſowie Dienſtboten 2). Das Verbot,
ſolche Perſonen zum Gerichtsdienſt heranzuziehen, iſt kein prozeß-
rechtliches, ſondern ein verwaltungs rechtliches; d. h. es iſt
ein an die Behörden gerichtetes Verbot, eine ſolche Perſon einzu-
berufen (auf die Liſte zu ſetzen); wenn ſie aber trotz des Verbotes
an einem Urtheil als Schöffe oder Geſchworener mitgewirkt hat,
ſo begründet dies keine Nichtigkeit deſſelben. Andrerſeits iſt das
Verbot von Amtswegen zu berückſichtigen und die Geltendmachung
deſſelben an keine Friſt gebunden.
c)Ungeeignet zur Ausübung des Schöffen- oder Geſchwor-
nenamtes wegen eines andern öffentlichen Dienſtverhält-
niſſes (ſogen. Incompatibilität) ſind Miniſter und Mit-
glieder der Senate der freien Hanſeſtädte; ſowie diejenigen Reichs-
beamten und Landesbeamten, welche auf Grund der Geſetze jeder-
zeit einſtweilig in den Ruheſtand verſetzt werden können 4); ferner
richterliche Beamte 5), Beamte der Staatsanwaltſchaft und gericht-
liche und polizeiliche Vollſtreckungsbeamte; ſodann Religionsdiener
und Volksſchullehrer, und endlich die dem aktiven Heere oder der
aktiven Marine angehörenden Militärperſonen 6).
Den Einzelſtaaten iſt es überdies freigeſtellt, im Wege der
Landesgeſetzgebung noch andere „höhere Verwaltungsbeamte“ zu
bezeichnen, welche zu dem Amte eines Schöffen oder Geſchworenen
3)
[131]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
nicht berufen werden ſollen 1). Von dieſer Ermächtigung haben
die meiſten Staaten Gebrauch gemacht 2).
Die rechtliche Bedeutung dieſes Verbotes iſt dieſelbe wie ſie
unter b) dargethan worden iſt.
d) In Berückſichtigung perſönlicher Verhältniſſe ſind befugt,
die Berufung zum Amte eines Schöffen oder Geſchworenen ab-
zulehnen: Mitglieder einer deutſchen geſetzgebenden Verſamm-
lung; Aerzte; Apotheker, welche keine Gehülfen haben; Perſonen,
welche das 65te Lebensjahr vollendet haben; Perſonen, welche
glaubhaft machen, daß ſie den mit der Ausübung des Amts ver-
bundenen Aufwand zu tragen nicht vermögen; ſowie Perſonen,
welche im letzten Geſchäftsjahre die Verpflichtung eines Geſchwo-
renen oder an wenigſtens 5 Sitzungstagen die Verpflichtung eines
Schöffen erfüllt haben 3). Die Einzelſtaaten ſind nicht befugt, an-
deren als den hier aufgeführten Klaſſen von Perſonen die gleiche
Berechtigung einzuräumen 4).
Hinſichtlich dieſer Perſonen beſteht weder ein prozeßrechtliches
Verbot ihrer Mitwirkung an der Urtheilsfindung, noch ein ver-
waltungsrechtliches Verbot ihrer Einberufung; ſie genießen eine
Befreiung von der Gerichtspflicht, die lediglich auf einer
Berückſichtigung ihrer perſönlichen Verhältniſſe beruht, deren Gel-
tendmachung daher auch von ihrem Belieben abhängt.
9*
[132]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
4. Entſcheidung über die Dienſtpflicht.
a) Die Urliſte. Der Vorſteher einer jeden Gemeinde (oder
Gemeindeverbandes) hat alljährlich ein Verzeichniß aller in der
Gemeinde wohnhaften Perſonen anzufertigen, welche zu dem Amte
eines Schöffen oder Geſchworenen berufen werden können. In
dieſer der Rekrutirungs-Stammrolle vergleichbaren Urliſte ſind
demnach alle Gemeinde-Mitglieder aufzuführen, welche nicht geſetz-
lich als unfähig (§. 32), untauglich (§. 33) oder unverwendbar
(§. 34) zum Schöffen- und Geſchwornen-Dienſt bezeichnet ſind. Die
Urliſte iſt in der Gemeinde eine Woche lang zu Jedermanns Ein-
ſicht auszulegen, nachdem der Zeitpunkt der Auslegung vorher
öffentlich bekannt gemacht worden iſt 1). Innerhalb dieſer Friſt
kann von Jedem 2) gegen die Richtigkeit oder Vollſtändigkeit der
Liſte ſchriftlich oder zu Protokoll Einſprache erhoben werden; das
Begehren kann auf Streichung oder auf Hinzufügung von Per-
ſonen oder auf Berichtigung in der Bezeichnung der eingetragenen
Perſonen gerichtet ſein. Der Gemeindevorſteher ſendet die Urliſte
nebſt den erhobenen Einſprachen und den ihm erforderlich erſchei-
nenden Bemerkungen an den Amtsrichter des Bezirks und benach-
richtigt denſelben von den nach Abſendung der Urliſte etwa er-
forderlich werdenden Berichtigungen. Der Amtsrichter ſtellt die
Urliſten des Bezirks zuſammen; er prüft, ob die öffentliche Be-
kanntmachung und Offenlegung ſtattgefunden hat und veranlaßt
die Abſtellung etwaiger Mängel 3).
b)Die Dienſtliſten. Zur Entſcheidung über die gegen
die Urliſte erhobenen Einſprachen und zur Auswahl der Perſonen,
welche als Schöffen und Geſchworene einzuberufen ſind, tritt bei
dem Amtsgericht alljährlich ein Ausſchuß zuſammen, der aus dem
Amtsrichter als Vorſitzenden, einem Staatsverwaltungsbeamten
und ſieben aus den Einwohnern des Amtsgerichtsbezirks gewählten
Vertrauensmännern beſteht 4). Er bietet eine gewiſſe Analogie
[133]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
mit den Erſatzbehörden dar (Bd. III. 1. S. 155 ff.) Zur Beſchlußfähig-
keit des Ausſchuſſes genügt die Anweſenheit des Vorſitzenden, des
Verwaltungsbeamten und dreier Vertrauensmänner; die Beſchluß-
faſſung erfolgt nach Majorität mit Stichentſcheid des Vorſitzenden.
Gegen die Entſcheidungen des Ausſchuſſes über die gegen die Ur-
liſte erhobenen Einſprachen findet Beſchwerde nicht ſtatt 1). Im
Uebrigen iſt das Verfahren behufs Auswahl der Schöffen von dem
Verfahren behufs Auswahl der Geſchworenen verſchieden.
α) Die Schöffenliſte. Die Landesjuſtizverwaltung be-
ſtimmt die Zahl der Schöffen, welche für jedes Amtsgericht erfor-
derlich ſind, in der Art, daß vorausſichtlich Jeder höchſtens zu
fünf ordentlichen Sitzungstagen im Jahre herangezogen wird (Haupt-
ſchöffen), ſowie die Zahl derjenigen Perſonen, welche an die Stelle
wegfallender Schöffen treten (Hülfsſchöffen). Der Ausſchuß
wählt aus der berichtigten Urliſte für das nächſte Geſchäftsjahr
die erforderliche Zahl von Hauptſchöffen und er wählt ferner
unter den im Sitze des Amtsgerichts oder in deſſen nächſter Um-
gebung wohnenden Perſonen die Hülfsſchöffen. Die Namen der
erwählten Hauptſchöffen und Hülfsſchöffen werden bei jedem Amts-
gericht in geſonderte Verzeichniſſe (Jahresliſten) aufgenommen.
Die Reihenfolge, in welcher die Hauptſchöffen an den einzelnen
ordentlichen Sitzungen des Jahres Theil nehmen, wird durch Aus-
looſung in öffentlicher Sitzung des Amtsgerichts beſtimmt 2);
die Reihenfolge, in welcher die Hülfsſchöffen zum Erſatz herange-
zogen werden, iſt vom Ausſchuß feſtzuſtellen. Die Tage der ordent-
lichen Sitzungen des Schöffengerichts werden für das ganze Jahr
im Voraus beſtimmt 3).
β) Die Geſchworenenliſte. Die Bildung der Geſchwore-
nenliſte unterſcheidet ſich im Weſentlichen dadurch von der Bildung
4)
[134]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
der Schöffenliſte, daß der oben erwähnte Ausſchuß nicht ein Wahl-
recht, ſondern nur ein Vorſchlagsrecht hat. Die Landesjuſtizver-
waltung beſtimmt die Zahl der von jedem Amtsgerichtsbezirke zu
ſtellenden Geſchworenen und der Ausſchuß erwählt aus der Ur-
liſte die dreifache Anzahl von Perſonen, welche er für das
nächſte Geſchäftsjahr zu Geſchworenen präſentirt. Das Verzeich-
niß derſelben heißt Vorſchlagsliſte. Dieſe wird nebſt den
Einſprachen, welche ſich auf die in dieſelbe aufgenommenen Per-
ſonen beziehen, an den Präſidenten des Landgerichts überſendet.
Das Landgericht entſcheidet in einer Sitzung, an welcher 5 Mit-
glieder mit Einſchluß des Präſidenten und der Direktoren Theil
nehmen, endgültig über die Einſprachen und wählt ſodann aus der
Vorſchlagsliſte die beſtimmte Zahl von Hauptgeſchworenen und
Hülfsgeſchworenen; die letzteren unter den am Sitzungsorte des
Schwurgerichts oder in deſſen nächſter Umgebung wohnenden Per-
ſonen. Die Verzeichniſſe der Haupt- und Hülfs-Geſchworenen
heißen Jahresliſten. Aus den in die Jahresliſte eingetragenen
Hauptgeſchworenen werden von dem Präſidenten des Landgerichts
für jede Schwurgerichts-Periode 30 Hauptgeſchworene ausge-
looſt1); das Verzeichniß derſelben heißt die Spruchliſte; es
iſt vom Landgericht dem ernannten Vorſitzenden des Schwurge-
richts zu überſenden 2).
Die in der Spruchliſte aufgeführten Geſchworenen ſind ver-
pflichtet bei den Sitzungen des Schwurgerichts zu erſcheinen; an
der Urtheilsſprechung nehmen aber nur 12 Geſchworene Theil 3),
welche man mit dem Namen „Geſchworenenbank“ bezeichnet.
Die Bildung der Geſchwornenbank erfolgt bei Beginn der Haupt-
verhandlung gemäß dem in der Strafprozeß-Ordnung §§. 278 ff.
normirten Verfahren.
5. Die Einberufung zum Gerichtsdienſt.
a) Die Schöffen werden zur Leiſtung des Gerichtsdienſtes
einberufen, indem der Amtsrichter ſie von ihrer Auslooſung und
[135]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
von den Sitzungstagen, an welchen ſie in Thätigkeit zu treten
haben, unter Hinweis auf die geſetzlichen Folgen des Ausbleibens
in Kenntniß ſetzt 1). Dieſe Benachrichtigung hat zugleich die Be-
deutung der Geſtellungsordre für die angegebenen Sitzungstage.
Eine Aenderung in der beſtimmten Reihenfolge kann auf überein-
ſtimmenden Antrag der betheiligten Schöffen von dem Amtsrichter
bewilligt werden, jedoch nur, wofern die in den betreffenden Sitzun-
gen zu verhandelnden Sachen noch nicht beſtimmt ſind 2). Wird
die Zuziehung von Hülfsſchöffen erforderlich, ſo werden ſie durch
den Amtsrichter berufen und zwar in der Regel nach der Reihen-
folge der Jahresliſte 3). Die in der Spruchliſte verzeichneten Ge-
ſchworenen werden von dem für das Schwurgericht ernannten
Vorſitzenden zur Eröffnungsſitzung des Schwurgerichts unter Hin-
weis auf die geſetzlichen Folgen des Ausbleibens geladen; zwiſchen
der Zuſtellung der Ladung und der Eröffnungsſitzung ſoll thunlichſt
die Friſt von einer Woche, jedoch mindeſtens von drei Tagen
liegen 4).
b) Gegen die Einberufung zum Schöffendienſt kann von
dem Einberufenen reclamirt werden; die Befreiungsgründe 5) ſind
innerhalb einer Woche, nachdem der betheiligte Schöffe von ſeiner
Einberufung in Kenntniß geſetzt worden iſt, oder falls ihre Ent-
ſtehung oder Bekanntwerdung in eine ſpätere Zeit fällt, binnen
einer Woche von dieſem Zeitpunkt an, geltend zu machen. Ueber
[136]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
das Geſuch entſcheidet der Amtsrichter nach Anhörung der Staats-
anwaltſchaft, gegen ſeine Entſcheidung iſt die Beſchwerde unſtatt-
haft. Wenn nicht die Dienſtpflicht überhaupt in Abrede geſtellt
wird, ſondern nur Entbindung von der Dienſtleiſtung an beſtimm-
ten Sitzungstagen wegen eingetretener Hinderungsgründe bean-
tragt wird, ſo hat der Amtsrichter über das Geſuch zu befinden;
er kann auch die Gewährung davon abhängig machen, daß für den
Antragſteller ein anderer für das Dienſtjahr beſtimmter Schöffe
eintritt 1).
Wenn die zum Geſchworenendienſt einberufenen Perſonen
Befreiungs- oder Hinderungsgründe geltend machen, ſo erfolgt die
Entſcheidung nach Anhörung der Staatsanwaltſchaft durch die
richterlichen Mitglieder, und ſo lange das Schwurgericht nicht zu-
ſammengetreten iſt, durch den ernannten Vorſitzenden des Schwur-
gerichts. Beſchwerde findet nicht ſtatt 2).
c) Es kann vorkommen, daß Perſonen, welche zum Schöffen-
oder Geſchworenendienſt bereits einberufen worden ſind, nachträg-
lich von der wirklichen Leiſtung des Dienſtes ausgeſchloſſen oder
befreit werden müſſen und zwar auch dann, wenn ſie ſelbſt keinen
Antrag darauf ſtellen oder einem geſtellten Antrage widerſprechen.
Die Gründe hierzu können theils die Dienſtpflicht, theils das Rich-
teramt betreffen, oder mit andern Worten entweder verwaltungs-
rechtlicher oder prozeßrechtlicher Art ſein. Das erſte iſt der Fall,
wenn nachträglich Umſtände eintreten oder bekannt werden, aus
denen ſich ergiebt, daß ein auf die Jahresliſte oder Spruchliſte
geſetzte Perſon zur Ausübung des Schöffen- oder Geſchworenen-
Amtes unfähig iſt 3) oder nicht berufen werden ſoll 4); das letztere
iſt der Fall, wenn Gründe vorhanden iſt, kraft denen eine zum
Schöffen- oder Geſchworenendienſt einberufene Perſon in der con-
creten Prozeßſache von der Ausübung des Richteramtes kraft Ge-
ſetzes ausgeſchloſſen iſt 5), oder von einer Partei abgelehnt werden
darf 6). Das Verfahren, um dieſe Perſonen von der Mitwirkung
[137]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
an der Verhandlung und Entſcheidung fern zu halten, iſt aber
verſchieden, je nachdem es ſich um einen Schöffen oder um einen
Geſchworenen handelt.
α) Schöffen. Ergiebt ſich nachträglich, daß eine Perſon,
die auf der Jahresliſte ſteht, zum Schöffenamt unfähig iſt, ſo wird
ſie von der Liſte geſtrichen; wenn Umſtände eintreten oder be-
kannt werden, bei deren Vorhandenſein eine Berufung dieſer Perſon
zum Schöffenamte nicht erfolgen ſoll, ſo unterbleibt fernerhin, ohne
daß eine Streichung ſtattfindet, die Heranziehung derſelben zur
Dienſtleiſtung 1). Die Entſcheidung über das Vorhandenſein der
Unfähigkeit oder der Gründe, welche die Berufung ausſchließen,
erfolgt durch den Amtsrichter allein nach Anhörung der Staats-
anwaltſchaft und des betheiligten Schöffen, ohne daß eine Beſchwerde
gegen die Entſcheidung ſtatthaft iſt 2). Ueber die Ausſchließung
oder die Ablehnung von Schöffen aus prozeßrechtlichen Grün-
den entſcheidet der Amtsrichter nach den in der Strafprozeß-Ord-
nung §. 24 ff. gegebenen Vorſchriften 3); gegen den Beſchluß,
durch welchen ein Ablehnungsgeſuch für begründet erklärt wird,
findet überhaupt kein Rechtsmittel ſtatt und der Beſchluß, durch
welchen das Geſuch zurückgewieſen wird, kann nicht für ſich allein,
ſondern nur mit dem Urtheil, an deſſen Findung der Schöffe Theil
genommen hat, angefochten werden 4).
β) Geſchworene. Das Verfahren behufs Bildung der
Geſchworenenbank giebt Gelegenheit die Unfähigkeits-, Ausſchlie-
ßungs- und Ablehnungsgründe zugleich zur Erledigung zu brin-
gen 5). Von den in der Spruchliſte aufgeführten Perſonen ſind
von der Auslooſung diejenigen auszuſcheiden, welche zum Ge-
ſchwornen-Amt unfähig oder von der Ausübung des Amts in der
zu verhandelnden Sache kraft Geſetzes ausgeſchloſſen ſind. Die
[138]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
Ausſcheidung eines Geſchworenen erfolgt nach Anhörung deſſelben
durch Beſchluß der richterlichen Mitglieder des Schwurgerichts;
Beſchwerde iſt unſtatthaft 1). Ein für unfähig Erklärter iſt in
der Spruchliſte zu ſtreichen. Ueber die „Ablehnung“ von Geſchwo-
renen findet ein richterlicher Spruch überhaupt nicht ſtatt; die
Staatsanwaltſchaft und der Angeklagte haben das Recht, von den
ausgelooſten Geſchworenen ſo viele abzulehnen, als Namen über
zwölf in der Urne ſich befinden; die eine Hälfte der Ablehnungen
ſteht der Staatsanwaltſchaft die andere dem Angeklagten zu. Die
Angabe von Gründen iſt unzuläſſig 2).
6. Der aktive Gerichtsdienſt.
a) Der Dienſt der Schöffen und Geſchworenen beſteht in der
Wahrnehmung eines richterlichen Amtes3). Schöffen und Ge-
ſchworene ſind zwar keine „Beamte“ und haben weder die An-
ſprüche noch die Verpflichtungen, welche aus einem durch An-
ſtellung begründeten Dienſtverhältniß hervorgehen, wol aber haben
ſie alle Rechte und Pflichten, welche mit der Führung eines öffent-
lichen Amtes verbunden ſind 4); ſie genießen einerſeits den ſtaat-
lichen Schutz bei Ausübung des Amtes, und ſie unterliegen andrer-
ſeits bei ſchuldbarem Mißbrauch der ihnen übertragenen Amtsge-
walt den Beſtimmungen dee Strafgeſetzbuchs über Verbrechen und
Vergehen im Amte 5). Der Inhalt der mit dem Schöffen- und
Geſchworenen-Amt verbundenen Obliegenheiten beſtimmt ſich durch
die Vorſchriften der Strafprozeßordnung; äußerlich betrachtet beſteht
[139]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
er in der Theilnahme an den Sitzungen des Gerichts und in der
Abſtimmung über die nach Maßgabe der Prozeßordnung vorge-
legten Fragen 1). Kein Schöffe oder Geſchworener darf ſich wäh-
rend der Verhandlung entfernen, ohne daß der Vorſitzende des Ge-
richts es geſtattet und eine Unterbrechung der Verhandlung an-
ordnet 2), und kein Schöffe oder Geſchworener darf die Abgabe
ſeiner Stimme verweigern, auch nicht aus dem Grunde, weil er
bei der Abſtimmung über eine vorhergegangene Frage in der
Minderheit geblieben iſt 3). In prozeſſualiſcher Hinſicht ſind die
Funktionen der Schöffen und die der Geſchworenen allerdings ſehr
erheblich verſchieden; die Schöffen üben während der Hauptver-
handlung das Richteramt in vollem Umfange und mit gleichem
Stimmrechte wie die Amtsrichter aus 4), die Geſchworenen dagegen
haben als ein von den richterlichen Mitgliedern des Schwurge-
richts geſondertes Collegium zu berathen und nur die ihnen vor-
gelegten, die Schuld des Angeklagten betreffenden Fragen mit Ja
oder Nein zu beantworten 5). Zu den gemeinſamen Pflichten der
Schöffen und Geſchworenen gehört die Amtsverſchwiegenheit über
den Hergang bei der Berathung und Abſtimmung 6).
Schöffen und Geſchworene werden vereidigt7); die Schöffen
bei ihrer erſten Dienſtleiſtung in öffentlicher Sitzung, ihre Beeidi-
gung gilt für die Dauer des Geſchäftsjahres 8); die Geſchworenen
nach Bildung der Geſchworenenbank in Gegenwart derjenigen An-
geklagten, über welche ſie richten ſollen 9).
b)Der Umfang der Dienſtpflicht. Hinſichtlich des Schöffen-
[140]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
dienſtes gilt die Regel, daß der einzelne Hauptſchöffe an höchſtens
fünf Sitzungstagen im Jahre den Dienſt zu leiſten hat 1); wenn
die Geſchäfte jedoch die Anberaumung außerordentlicher Sitzungen
erforderlich machen, ſo kann eine Mehrbelaſtung der Schöffen noth-
wendig werden, welche dieſelben ſich gefallen laſſen müſſen 2). Auch
müſſen ſie bis zur Beendigung der Sitzung ausharren, wenn die
Dauer derſelben ſich über die dafür anberaumte Zeit (Sitzungstag)
hinaus erſtreckt 3). Die Dienſtpflicht der Geſchworenen be-
ſchränkt ſich auf eine Sitzungsperiode des Schwurgerichts;
diejenigen Geſchworenen, welche bereits in einer Sitzungsperiode
ihre Verpflichtung erfüllt haben, werden daher in demſelben Ge-
ſchäftsjahr bei einer ſpäteren Feſtſtellung der Spruchliſte der Aus-
looſung nur dann wieder unterworfen, wenn dies von ihnen ſelbſt
beantragt wird 4) Wenn ſich die Sitzungsperiode über den End-
termin des Geſchäftsjahres hinaus erſtreckt, ſo bleiben die zu der-
ſelben einberufenen Geſchworenen bis zum Schluſſe der Sitzungen
zur Mitwirkung verpflichtet 5).
Die Dienſtpflicht der Hülfsſchöffen und Hülfsgeſchworenen iſt
nur eine eventuelle Dienſtpflicht, deren Umfang ſich durch das
Bedürfniß nach Maßgabe der thatſächlichen Umſtände beſtimmt.
In einem und demſelben Geſchäftsjahre ſoll Niemand zugleich zum
Geſchworenen und zum Schöffen beſtimmt werden 6) und wer in
einem Geſchäftsjahre den Dienſt als Geſchworener oder an wenig-
ſtens 5 Sitzungstagen den Dienſt als Schöffe geleiſtet hat, kann in
dem folgenden Jahre die Einberufung ablehnen 7).
c)Die Gegenleiſtung des Staates. Die Erfüllung
der Gerichtsdienſtpflicht iſt eine unentgeldliche Leiſtung 8); die
[141]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
Gegenleiſtung des Staates für dieſelbe iſt die Gewährung des
Rechtsſchutzes, die Aufrechthaltung der Rechtsordnung 1). Nur für
die Reiſekoſten erhalten Geſchworene und Schöffen, ſowie die Ver-
trauensmänner des Ausſchuſſes, eine Vergütung, deren Höhe von
den Einzelſtaaten beſtimmt wird 2).
7. Die Verletzung der Dienſtpflicht.
a) Die ſchuldbare Nichterfüllung der Dienſtpflicht wird
an Geſchworenen und Schöffen ſowie an den Vertrauensmännern
des Ausſchuſſes mit einer Ordnungsſtrafe von 5 bis zu 1000
Mark und dem Erſatz der verurſachten Koſten beſtraft 3). Der
Thatbeſtand kann darin beſtehen, daß der zum Dienſt Einberufene
ſich ohne genügende Eutſchuldigung nicht rechtzeitig einfindet oder
darin, daß er ſich ſeinen Obliegenheiten entzieht z. B. durch Verwei-
gerung des Eides oder der Abſtimmung, oder auch durch ſein Ver-
halten während der Verhandlung. Das Verfahren iſt nicht das
ſtrafprozeſſualiſche, ſondern ein außerordentliches. Die Verurthei-
lung wird, ohne daß es vorheriger Ladung und rechtlichen Ge-
hörs des Säumigen bedarf, nach Anhörung der Staatsanwalt-
ſchaft vom Amtsrichter hinſichtlich der Schöffen und Vertrauens-
männer, von den richterlichen Mitgliedern des Schwurgerichts hin-
ſichtlich der Geſchworenen ausgeſprochen. Dieſem Verfahren ohne
Gehör entſpricht es, daß die Verurtheilung einen nur proviſoriſchen
Charakter hat; ſie kann ganz oder theilweiſe zurückgenommen wer-
[142]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
den, wenn nachträglich genügende Entſchuldigung ſtattfindet 1). Dem
Verurtheilten ſteht das Rechtsmittel der Beſchwerde nach den Vor-
ſchriften der Strafprozeß-Ordnung zu 2).
b) Die Vorſpiegelung unwahrer Thatſachen als Ent-
ſchuldigung um ſich dem Dienſt als Geſchworener oder Schöffe zu
entziehen, bildet den Thatbeſtand eines Vergehens und iſt mit
Gefängniß bis zu zwei Monaten bedroht 3). Die Zuſtändigkeit
des Gerichts und das Verfahren beſtimmen ſich nach den Vor-
ſchriften der Strafprozeß-Ordnung.
II.Der berufsmäßige Juſtizdienſt.
Die Regeln, welche im Allgemeinen für das Staatsbeamten-
Verhältniß gelten, finden auch auf die Juſtizbeamten Anwendung;
die im Reichsdienſt angeſtellten Juſtizbeamten ſtehen daher unter
den Vorſchriften des Geſetzes v. 31. März 1873, die Landesjuſtiz-
beamten unter den partikulären Geſetzen über die Rechtsverhält-
niſſe der Staatsdiener. Das Reich hat in dieſer Beziehung die
Autonomie der Einzelſtaaten nicht beſchränkt und die fortdauernde
Vielgeſtaltigkeit der Dienſtverhältniſſe der Juſtizbeamten im Reich
zugelaſſen. Es iſt dies ein ſtaatsrechtlich ſehr bedeutſamer Unter-
ſchied zwiſchen der Regelung des Gerichtsweſens und derjenigen
des Militärweſens. Während die den Einzelſtaaten gelaſſene Kon-
tingentsherrlichkeit nicht als ein Hinderniß angeſehen worden iſt,
die Dienſtverhältniſſe der Offiziere und Militärbeamten materiell
ganz gleichmäßig für ſämmtliche Staaten und Kontingente zu re-
geln, wurde es als ein in der Gerichtsherrlichkeit oder Juſtizhoheit
der einzelnen Staaten begründetes Recht derſelben erachtet, daß
ihnen die rechtliche Normirung der Dienſtverhältniſſe der Juſtiz-
beamten überlaſſen bleibe 4). Nur die Form, in welcher ſich
[143]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
dieſe Autonomie zu bethätigen habe, iſt für einige Punkte vom
Reich feſtgeſtellt worden, indem die Landesjuſtiz verwaltungen
die Ermächtigung erhalten haben, die Geſchäftseinrichtung der Ge-
richtsſchreiberei bei den Landesgerichten, ſowie die Dienſt- und
Geſchäftsverhältniſſe der mit den Zuſtellungen, Ladungen und Voll-
ſtreckungen zu betrauenden Beamten (Gerichtsvollzieher) zu be-
ſtimmen 1).
Das gewöhnliche Dienſtverhältniß der Juſtizbeamten wird
aber in eingreifender Weiſe modifizirt, wenn dem Beamten ein
Richteramt übertragen wird. Für dieſen Fall treten beſondere
Vorſchriften in Kraft, um die Unabhängigkeit der Richter zu ver-
ſtärken und zu ſichern 2). Demgemäß hebt ſich aus der Geſammt-
maſſe der Beamten und insbeſondere aus derjenigen der Juſtiz-
beamten als eine rechtlich ausgezeichnete Kategorie die der rich-
terlichen Beamten hervor. Nur für die verhältnißmäßig
kleine Zahl von richterlichen Beamten des Reichs hat die Reichs-
geſetzgebung die dienſtlichen Rechtsverhältniſſe vollſtändig geregelt;
hinſichtlich der richterlichen Beamten der Einzelſtaaten hat die
Reichsgeſetzgebung ſich darauf beſchränkt, der Autonomie der letz-
teren durch Aufſtellungen von Normativbeſtimmungen Schranken
zu ziehen.
1. Normativbeſtimmungen für die richterlichen
Landesbeamten.
a) Damit eine einigermaßen gleiche Vorbildung der richter-
lichen Beamten im ganzen Bundesgebiete geſichert werde, iſt die
Fähigkeit zum Richteramt von Reichswegen an gewiſſe Voraus-
4)
[144]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
ſetzungen gebunden, von denen kein Einzelſtaat abgehen darf. Um
die Qualifikation zu erwerben, iſt die Ablegung „zweier Prüfungen“
erfordert. Der erſten Prüfung muß ein mindeſtens dreijähriges
Studium der Rechtswiſſenſchaft auf einer Univerſität vorangehen
und von dieſem Zeitraum ſind wenigſtens drei Halbjahre auf einer
Deutſchen d. h. im Bundesgebiete gelegenen Univerſität zu ver-
bringen. Zwiſchen der erſten und zweiten Prüfung muß ein Zeit-
raum von mindeſtens drei Jahren liegen, der im Dienſte bei den
Gerichten und bei den Rechtsanwälten zu verwenden iſt, auch zum
Theil bei der Staatsanwaltſchaft verwendet werden kann 1). Auf
dieſe wenigen Beſtimmungen, die nur eine ganz äußerliche Ord-
nung der Ausbildung für das Richteramt enthalten, hat ſich die
Reichsgeſetzgebung beſchränkt. Es fehlt nicht nur eine materielle
Regelung des Univerſitätsſtudiums 2) und der Art und Weiſe des
Vorbereitungsdienſtes, ſondern insbeſondere auch eine allgemeine
Prüfungsordnung 3). Den Einzelſtaaten iſt daher der Erlaß von
Vorſchriften über die Zuſammenſetzung der Prüfungskommiſſionen,
über die Gegenſtände der Prüfungen, über die Art und Weiſe, in
welcher dieſelben vorzunehmen ſind, über die an die Kandidaten
zu ſtellenden Anforderungen u. ſ. w., überlaſſen. Ebenſo iſt es
den Einzelſtaaten freigeſtellt, die Beſchäftigung der Referendarien
bei den Gerichten, Rechtsanwälten und Staatsanwaltſchaften zu
regeln und die Vertheilung der Vorbereitungszeit zu beſtimmen;
ja ſie dürfen ſogar anordnen, daß ein Theil der letzteren, jedoch
höchſtens ein Jahr, im Dienſte bei Verwaltungsbehörden verwendet
werden muß oder verwendet werden darf 4). Die reichsgeſetzlich
[145]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
vorgeſchriebenen Zeiträume von je 3 Jahren für das Univerſitäts-
ſtudium und für den Vorbereitungsdienſt ſind übrigens nur Mi-
nimalanforderungen, über welche die Einzelſtaaten hinausgehen
dürfen 1) und über die ſie zum Theil hinausgegangen ſind. Hie-
nach fehlt es an allen reellen und praktiſch wirkſamen Garantien
dafür, daß die Vorbildung der richterlichen Beamten in den ver-
ſchiedenen Bundesſtaaten eine übereinſtimmende und das von ihnen
erforderte Maaß von Kenntniſſen das gleiche iſt und demgemäß
konnte das Reich auch keinen Zwang dahin ausüben, daß die in
einem Bundesſtaate beſtandene Prüfung oder verwendete Vorbe-
reitungszeit von allen anderen Bundesſtaaten anerkannt werde.
Nur fakultativ iſt den Bundesſtaaten die Befugniß gewährt, den-
jenigen, der in einem andern Bundesſtaate die erſte Prüfung be-
ſtanden hat, zur Vorbereitung für den Juſtizdienſt und zur zwei-
ten Prüfung zuzulaſſen, ferner die in einem andern Bundesſtaate
auf die Vorbereitung verwendete Zeit anzurechnen 2), und endlich
ſolchen Perſonen richterliche Aemter zu übertragen, welche in einem
andern Bundesſtaate die Fähigkeit zum Richteramt erlangt haben 3).
Außerdem ſind die ordentlichen öffentlichen Lehrer des Rechts
an den Deutſchen Univerſitäten reichsgeſetzlich als zum Richteramte
befähigt erklärt worden 4).
Die vom Reich vorgeſchriebenen Erforderniſſe um die Fähig-
keit zum Richteramt zu erlangen, ſind aber für die Einzelſtaaten
nur dann obligatoriſch, wenn es ſich um die dauernde Verleihung
eines wirklichen Richteramtes handelt, nicht um die zeitweilige
Wahrnehmung richterlicher Geſchäfte.
In dieſem Punkte hat das Gerichtsverf.Geſ. die landes-
geſetzlichen Beſtimmungen „unberührt“ gelaſſen 5); der Autonomie
der Einzelſtaaten iſt es daher anheim gegeben zu beſtimmen, daß
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 10
[146]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
Perſonen, denen die reichsgeſetzlich erforderte Fähigkeit zur Be-
kleidung eines Richteramtes fehlt, dennoch fähig ſind, die mit einem
Richteramte verbundenen Geſchäfte „zeitweilig“ wahrzunehmen. In-
deß iſt hier eine Unterſcheidung zu machen. Die zeitweilige Wahr-
nehmung richterlicher Geſchäfte kann entweder einzelne richterliche
Handlungen, z. B. Vernehmung von Zeugen, Aufnahme von Er-
klärungen, Vereidigungen u. ſ. w., oder den geſammten zu
einem richterlichen Amte gehörenden Geſchäftskreis betreffen 1).
Hinſichtlich des Erlaſſes von Vorſchriften über die Uebertragung
einzelner richterlicher Geſchäfte an Perſonen, denen die Fähigkeit
zum Richteramt mangelt, ſind die Einzelſtaaten gänzlich ungehindert 2);
hinſichtlich der zeitweiligen Uebertragung eines Richteramtes
an eine zur Bekleidung deſſelben unfähige Perſon ſind ſie dagegen
durch die Vorſchriften des §. 122 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes
über die Berufung von Hülfsrichtern in die Civil- und Strafſenate
der Oberlandesgerichte beſchränkt 3). Auch dürfen Staats-
anwälte richterliche Geſchäfte nicht wahrnehmen 4).
b) Die Ernennung der Richter erfolgt auf Lebenszeit 5);
daſſelbe gilt zwar auch von der überwiegenden Mehrzahl der anderen
Beamten, insbeſondere der berufsmäßig vorgebildeten, hinſichtlich
der Richter iſt aber den Einzelſtaaten jede Abweichung von dieſer
Regel verboten.
c) In derſelben Weiſe iſt in Betreff der vermögens-
rechtlichen Anſprüche der Richter aus ihrem Dienſtverhält-
niſſe dasjenige vom Reichsgeſetz zum zwingenden Recht erklärt, was
bei andern Beamten regelmäßig ſtattfindet, nämlich daß die Richter
[147]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
ein feſtes Gehalt mit Ausſchluß von Gebühren beziehen 1) und
daß ihnen zur Geltendmachung der vermögensrechtlichen Anſprüche
aus ihrem Dienſtverhältniſſe, insbeſondere auf Gehalt, Wartegeld
oder Ruhegehalt der Rechtsweg freiſteht 2).
d) Die wichtigſte Modifikation der allgemeinen Regeln über
das Beamtenverhältniß zu Gunſten der richterlichen Beamten be-
trifft die Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suſpenſion und
Dienſtentlaſſung 3).
Abgeſehen von den Fällen, in welchen die Suſpenſion vom
Amte kraft Geſetzes eintritt, kann ein Richter wider ſeinen
Willen nur auf Grund einer richterlichen Entſcheidung dauernd oder
zeitweiſe ſeines Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder
in Ruheſtand verſetzt werden 4). Das Verfahren zur Herbeiführung
einer ſolchen richterlichen Entſcheidung ſowie die Gründe, auf welche
ſie geſtützt werden kann, müſſen im Wege des Geſetzes beſtimmt
werden 5).
Hierdurch iſt ausgeſchloſſen, daß ein Richter wider ſeinen
Willen „im Intereſſe des Dienſtes“, d. h. nach Belieben der Ver-
waltungsbehörden oder aus Zweckmäßigkeitsrückſichten verſetzt oder
aus dem Dienſte entlaſſen werde; es iſt zu jeder Veränderung
ſeiner dienſtlichen Stellung im Wege der Verwaltungsverfügung
ſeine Einwilligung erforderlich. Eine Ausnahme hiervon iſt nur
für den Fall einer Veränderung in der Organiſation der Gerichte
10*
[148]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
oder ihrer Bezirke anerkannt; bei einer Gerichts-Reorganiſation
ſind die Landesjuſtizverwaltungen befugt, unfreiwillige Verſetzungen
an ein anderes Gericht, auch niederer Ordnung, oder Entfernungen
vom Amte, jedoch immer nur unter Belaſſung des vollen Gehalts
zu verfügen 1).
Es iſt ferner durch die angeführten Beſtimmungen des §. 8
den Einzelſtaaten eine gewiſſe Schranke gezogen hinſichtlich der
Regelung der Disciplinarverhältniſſe; die Richter ſind vor Will-
kührlichkeiten der Juſtizverwaltung geſchützt und haben im Falle
einer Disciplinar-Verfolgung einen Anſpruch auf rechtliches Gehör
und auf richterliche Entſcheidung 2). Dagegen fehlt es an einer
materiell gleichmäßigen Regelung des Disciplinarrechtes für die
richterlichen Beamten; das Reichsgeſetz hat nicht einmal die allge-
meinſten Grundprincipien darüber aufgeſtellt, weder über die
Gründe, aus denen Suſpenſion, Verſetzung oder Entlaſſung zuläſſig
iſt, noch über das Disciplinarverfahren, noch endlich über die
Bildung und Zuſammenſetzung der richterlichen Disciplinarbehörden.
In allen dieſen Beziehungen iſt die Autonomie der Einzelſtaaten
eine ſachlich ganz unbeſchränkte und nur an die formale Schranke
gebunden, daß der Weg der Geſetzgebung innegehalten werde.
Endlich iſt hervorzuheben, daß die Tragweite des §. 8 nicht
ſo weit reicht, als ſein Wortlaut zu ſagen ſcheint; er bezieht ſich
nur auf ein disciplinariſches Einſchreiten und läßt die ander-
weitigen Vorſchriften über die unfreiwillige Verſetzung oder Ent-
laſſung der Richter aus ihrem Amte unberührt; ſo namentlich die
Anordnung, daß gewiſſe Verwandte oder Verſchwägerte nicht Mit-
glieder deſſelben Gerichtes ſein können 3) und daß alſo, wenn
[149]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
Mitglieder eines Gerichtes ſich verſchwägern, eines von ihnen ſein
Amt niederlegen oder eine Verſetzung ſich gefallen laſſen muß,
ſowie die Beſtimmungen über die Emeritirung von Richtern bei
Erreichung eines gewiſſen Lebensalters 1).
2. Das Dienſtverhältniß der richterlichen Reichs-
beamten.
Richterliche Reichsbeamte ſind nur der Präſident, die Senats-
präſidenten und die Räthe des Reichsgerichts 2); dagegen ſind
die mit Gerichtsbarkeit ausgeſtatteten Reichskonſuln nicht richter-
liche Beamte 3). Für die richterlichen Reichsbeamten gelten die
Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes v. 31. März 1873, welche
jedoch durch folgende, dem Geſetz v. 12. Juni 1869 über die Er-
richtung des Reichsoberhandelsgerichts nachgebildete, Beſtimmungen
modifizirt ſind:
a) Befähigt zum Mitgliede des Reichsgerichts ernannt zu
werden, iſt jeder, welcher in einem Bundesſtaate die Fähigkeit zum
Richteramte erlangt und das fünfunddreißigſte Lebens-
jahr vollendet hat 4). Die Ernennung erfolgt vom Kaiſer
auf Vorſchlag des Bundesrathes5); Präſentationsrechte ein-
zelner Staaten für gewiſſe Stellen oder nach einem beſtimmten
Turnus ſind geſetzlich nicht anerkannt.
b) Die Anſtellung geſchieht auf Lebenszeit und gegen ein
feſtes Gehalt 6).
c) Die vorläufige Enthebung (Suſpenſion) vom Amte tritt
3)
[150]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
von Rechtswegen ein, wenn gegen ein Mitglied des Reichsgerichts
die Unterſuchungshaft verhängt wird, und zwar für die Dauer
derſelben; es kann außerdem durch Plenarbeſchluß des Reichs-
gerichts nach Anhörung des Ober-Reichsanwalts die vorläufige
Enthebung eines Mitgliedes von ſeinem Amte ausgeſprochen wer-
den, wenn gegen daſſelbe das Hauptverfahren wegens eines Ver-
brechens oder Vergehens eröffnet worden iſt 1).
d) Die Entfernung eines Mitgliedes des Reichsgerichts aus
dem Amte unter Verluſt des Gehaltes kann durch Plenarbeſchluß
des Reichsgerichts nach Anhörung des Mitgliedes und des Ober-
Reichsanwalts ausgeſprochen werden, wenn das Mitglied zu einer
Strafe wegen einer entehrenden Handlung oder zu einer Freiheits-
ſtrafe von längerer als einjähriger Dauer rechtskräftig verurtheilt
worden iſt 2).
e) Wenn ein Mitglied durch ein körperliches Gebrechen oder
durch Schwäche ſeiner körperlichen oder geiſtigen Kräfte zur Er-
füllung ſeiner Amtspflichten dauernd unfähig wird, trotzdem aber
die Verſetzung in den Ruheſtand nicht beantragt und auch der
Aufforderung binnen einer beſtimmten Friſt dieſen Antrag zu ſtellen,
nicht Folge leiſtet, ſo kann nach Anhörung des Mitgliedes und
des Ober-Reichsanwalts durch Plenarbeſchluß des Reichsgerichts
die Verſetzung in den Ruheſtand ausgeſprochen werden 3).
III.Der Gerichtsdienſt im Ehrenamt.
1. Die Handelsrichter werden ernannt und zwar auf gut-
achtlichen Vorſchlag des zur Vertretung des Handelsſtandes be-
rufenen Organs 4). Das Reichsgeſetz ſagt zwar nicht ausdrück-
lich, von wem die Ernennung erfolgt; da alle Staatsämter aber
im Zweifel vom Staatsoberhaupt verliehen werden, ſo iſt dies bei
[151]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
dem Mangel einer entgegenſtehenden Beſtimmung auch von dem
Amt der Handelsrichter anzunehmen, und ſämmtliche Ausführungs-
geſetze der Einzelſtaaten, welche ſich überhaupt mit dem Inſtitut
der Handelsrichter beſchäftigen, beſtätigen dies ausdrücklich 1). In
dieſer landesherrlichen Ernennung der Handelsrichter liegt der
prinzipielle Gegenſatz zwiſchen dem Rechtsgrund ihrer Dienſtpflicht
und demjenigen der Dienſtpflicht der Schöffen und Geſchworenen;
es findet nicht eine durch Geſetz geregelte Heranziehung zur Aus-
übung einer allgemeinen Unterthanenpflicht ſtatt, ſondern die
Berufung einzelner, als beſonders geeignet erachteter Per-
ſonen durch den freien, durch einen gutachtlichen Vorſchlag gelenkten
Entſchluß des Landesherrn.
Dem entſprechend hat das Reichsgeſetz auch keine Verpflich-
tung zur Uebernahme des Amtes eines Handelsrichters ſanctionirt
und die Weigerung mit keiner Strafe bedroht. Es fehlt zwar
andererſeits an einer ausdrücklichen Beſtimmung, daß das Amt
abgelehnt werden kann, und es ſind daher die Einzelſtaaten aller-
dings formell nicht gehindert, im Wege der Landesgeſetzgebung
die Annahme der Ernennung für obligatoriſch zu erklären 2); aber
die ganze rechtliche Geſtaltung, welche dieſe Inſtitution im Gerichts-
verfaſſungsgeſetz erhalten hat, deutet darauf hin, daß das Amt
eines Handelsrichters Niemandem wider ſeinen Willen aufgedrungen
werden ſoll 3). Es ergiebt ſich dies ſchon daraus, daß das Reichs-
geſetz zwar die Fähigkeit zur Bekleidung des Amtes geregelt,
aber nicht die Exkuſationsgründe feſtgeſtellt hat, daß ferner
der Dienſt der Handelsrichter nicht auf die Theilnahme an einigen
Sitzungen beſchränkt iſt, ſondern ſich auf einen Zeitraum von län-
gerer Dauer erſtreckt, und daß endlich die Handelsrichter in Bezug
[152]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
auf ihre Rechte und Pflichten den richterlichen Beamten gleichge-
ſtellt werden 1).
Die Regelung der Dienſtverhältniſſe der Handelsrichter iſt
im Allgemeinen den Einzelſtaaten überlaſſen; das Reichsgeſetz hat
ſich darauf beſchränkt, einige Normativbeſtimmungen aufzuſtellen,
an welche die Einzelſtaaten gebunden ſind. Auch hierin zeigt ſich
die ſtaatsrechtliche Gleichartigkeit des Dienſtverhältniſſes der Han-
delsrichter und der berufsmäßigen richterlichen Beamten und der
Gegenſatz zu der geſetzlichen Dienſtpflicht der Schöffen und Ge-
ſchworenen.
2. Aus dieſen Erörterungen ergiebt ſich, daß die Handels-
richter Beamte ſind; ihre Dienſtpflicht beruht auf einer von ihnen
acceptirten Anſtellung, einem öffentlichrechtlichen Dienſtvertrage.
Der oben Bd. I. §. 37 entwickelte Begriff des „Beamten“ paßt
vollkommen auf den Handelsrichter. Dem entſpricht es, daß das
Reichsgeſetz ihnen ausdrücklich „während der Dauer ihres Amtes
in Beziehung auf daſſelbe alle Rechte und Pflichten richterlicher
Beamten“ zuſchreibt 2). Sie haben daher die Verpflichtung zur
Wahrnehmung der Amtsgeſchäfte, ſie bedürfen eines Urlaubs,
um davon dispenſirt zu werden, ſie ſind zur Bewahrung des Amts-
geheimniſſes verbunden 3); ſie müſſen in demſelben Umfange wie
andere Richter den Befehlen der vorgeſetzten Behörden Folge lei-
ſten; ſie haben insbeſondere auch die Pflicht eines achtungswür-
digen Verhaltens in und außer dem Amt; die für Richter be-
ſtehenden Beſchränkungen hinſichtlich der Annahme von Titel, Or-
den und Ehrenzeichen, von Geſchenken oder Belohnungen u. ſ. w.
finden auch auf ſie Anwendung. Die Handelsrichter ſind daher
[153]§. 104. Der Gerichtsdienſt.
auch der Beamten disciplinargewalt unterworfen und zwar
nach den für richterliche Beamte geltenden Regeln, ſoweit nicht
Landesgeſetze für ſie ſpezielle Vorſchriften enthalten 1). Ebenſo
ſind die Handelsrichter im Sinne des Strafgeſetzbuchs als
Beamte anzuſehen; ſie fallen unter die im §. 359 deſſelben ge-
gebene Begriffsbeſtimmung, während Schöffen und Geſchworene
nicht darunter fallen 2). Auch die Vorſchrift des Gerichtsverf.Geſ.
§. 34 Ziff. 5 findet auf ſie Anwendung 3).
3. Dagegen iſt der Staatsdienſt der Handelsrichter kein be-
rufsmäßiger; ſie führen das Amt als Ehrenamt, das heißt
unentgeldlich4); es finden daher auch die Regeln über Be-
förderung, Verſetzung an eine andere Stelle oder in den Ruhe-
ſtand auf ſie keine Anwendung; namentlich gilt für ſie nicht das
landesgeſetzliche Verbot des Gewerbebetriebes oder des Eintritts
in den Vorſtand oder Aufſichtsrath eines Aktienvereins oder einer
Erwerbsgeſellſchaft.
4. Die Regeln über die Befähigung zum Richteramt gelten
für Handelsrichter nicht 5); dagegen iſt die Befähigung zu dieſem
Amt an folgende 4 Vorausſetzungen geknüpft 6):
- a) Reichsangehörigkeit,
- b) Vollendung des dreißigſten Lebensjahres,
- c) Wohnſitz in dem Bezirke der Kammer für Handelsſachen,
- d) zum Handelsrichter kann nur ernannt werden, wer als
Kaufmann oder als Vorſtand einer Aktiengeſellſchaft in das
Handelsregiſter eingetragen oder eingetragen geweſen iſt; an
Seeplätzen können Handelsrichter auch aus dem Kreiſe der
Schifffahrtskundigen ernannt werden 7).
Ausgeſchloſſen ſind außer den Perſonen, denen aus ſtrafrechtlichen
Gründen die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter fehlt,
[154]§. 105. Die Zeugenpflicht.
diejenigen, welche in Folge gerichtlicher Anordnung in der Ver-
fügung über ihr Vermögen beſchränkt ſind 1).
5. Der Grundſatz, daß die Ernennung der Richter auf Lebens-
zeit erfolgt, findet auf Handelsrichter keine Anwendung; ſie werden
für die Dauer von drei Jahren ernannt, können aber nach Ablauf
dieſer Zeit wieder ernannt werden 2). Wenn ein Handelsrichter
während dieſer Zeit eine derjenigen Eigenſchaften verliert, von
denen die Befähigung zum Handelsrichteramt abhängig iſt, ſo er-
folgt ſeine Enthebung vom Amte, falls er dieſelbe nicht ſelbſt bei
dem Landesherrn (oder Senat) beantragt, durch Richterſpruch. Die
Entſcheidung erfolgt nach Anhörung des Betheiligten durch den
erſten Civilſenat des Oberlandesgerichts 3).
6. Die Beiſitzer der Konſulargerichte ſind den Han-
delsrichtern in Beziehung auf die ſtaatsrechtliche Natur ihrer Amts-
führung an die Seite zu ſtellen; auch ſie werden für einen ge-
wiſſen Zeitraum ernannt, es beſteht keine Verpflichtung
das Amt zu übernehmen, und daſſelbe wird als Ehrenamt d. h.
unentgeldlich geführt. Die Ernennung erfolgt durch den
Konſul, eine kaiſerliche Beſtallung wird nicht ertheilt; die Amts-
periode dauert ein Jahr, nach deſſen Ablauf eine Wieder-Er-
nennung derſelben Perſonen geſtattet iſt. Fähig zu Beiſitzern er-
nannt zu werden ſind alle „achtbaren Gerichtseingeſeſſenen“ und
in deren Ermangelung alle ſonſtigen achtbaren Einwohner des
Konſularbezirks; es iſt alſo nicht einmal die Reichsangehörigkeit
ein abſolutes Erforderniß 4).
§. 105. Die Zeugenpflicht*).
I. Die Verpflichtung, einer Behörde auf Erfordern eine Aus-
ſage über das Wiſſen oder Nichtwiſſen von Thatſachen zu machen,
[155]§. 105. Die Zeugenpflicht.
kann auf einem zwiefachen Rechtsgrunde beruhen: auf Vertrag
oder auf Geſetz. Das ältere germaniſche Recht kannte nur die
freiwillig übernommene, vertragsmäßige Zeugenpflicht (testes ro-
gati, tracti1)); erſt allmälig wurde die geſetzliche Verpflichtung zur
Zeugnißablegung für gewiſſe Fälle anerkannt und nach und nach
in weiterem Umfang durchgeführt 2).
Die vertragsmäßige Zeugenpflicht iſt im Weſentlichen eine
Pflicht gegen die Partei, wenngleich der Staat zur Erzwingung
ihrer Erfüllung behülflich iſt; die geſetzliche Zeugenpflicht iſt ihrer
Natur nach eine Pflicht gegen den Staat, und zwar auch dann,
wenn ſie nur auf den Antrag einer Partei und im Vermögens-
Intereſſe derſelben in Anſpruch genommen wird. Die freiwillig
übernommene und die geſetzliche Zeugenpflicht ſind ihrer Natur
und ihrem Urſprung nach grundverſchiedene Rechtsbildungen, welche
verſchiedenen Zuſtänden des Staates und des Rechtsſchutzes ent-
ſprechen. Im heutigen Recht ſind nur noch Reſte der vertrags-
mäßigen Zeugenpflicht in dem Inſtitut der Solennitäts- und Ur-
kundszeugen vorhanden; die Zeugenpflicht iſt gegenwärtig eine auf
Geſetz beruhende öffentlichrechtliche Verpflichtung, welche der Staat
auferlegt und deren Erfüllung er im öffentlichen Intereſſe und mit
den Mitteln der Staatsgewalt erzwingt.
Die geſetzliche Zeugenpflicht iſt begrifflich nicht beſchränkt
auf die Verpflichtung, den Gerichten Ausſagen zu machen und
noch viel weniger objectiv auf Thatſachen, welche in einem Straf-
prozeß oder Civilprozeß von Erheblichkeit ſind; ſie kann allen Be-
hörden gegenüber beſtehen und für alle denkbaren ſtaatlichen Zwecke
in Anſpruch genommen werden. Ihrer hiſtoriſchen Ausbildung
gemäß iſt aber die Zeugenpflicht eine Gerichtspflicht; ſie wurde
vom Staate nur für die Zwecke der Rechtspflege in Anſpruch ge-
nommen, nachdem die auf zufälliger Kenntniß beruhende Ausſage
*)
[156]§. 105. Die Zeugenpflicht.
von Privatperſonen als ein im Prozeß zuläſſiges Beweismittel
Anerkennung gefunden hatte. Man darf aber dieſe beiden Dinge,
die prozeſſualiſche Zuläſſigkeit des Zeugenbeweiſes
und die ſtaatsrechtliche Zeugenpflicht nicht verwechſeln 1).
Für das Staatsrecht kömmt nur die letztere in Betracht; für die
wiſſenſchaftliche Erkenntniß ihrer Vorausſetzungen, ihres Umfanges
und ihres Inhaltes iſt es aber von größter Wichtigkeit, die Grund-
ſätze des Prozeßrechts über den Zeugenbeweis und die Grundſätze
des Staatsrechts über die Zeugenpflicht ſcharf auseinanderzuhalten;
es kann einerſeits im Prozeß ein Zeugenbeweis ohne correſpon-
dirende Zeugenpflicht geſtattet ſein und es kann andererſeits eine
Zeugenpflicht auch außerhalb des Prozeſſes durchgeführt werden.
Regelmäßig iſt aber im heutigen Recht die eidliche Vernehmung von
Zeugen nur den Gerichten übertragen und ebenſo kann der Zwang
zur Erfüllung der Zeugenpflicht regelmäßig nur von den Gerichten
geübt werden. Aus dieſen Gründen erſcheint die Zeugenpflicht
im Großen und Ganzen als eine zu Zwecken der Rechtspflege be-
ſtehende Laſt und ihre Geltendmachung als eine Bethätigung der
Gerichtsbarkeit. Soweit die letztere vom Reich geordnet iſt,
erſtreckt ſich dieſe Regelung auch auf die Zeugenpflicht, nicht blos
auf den Zeugenbeweis.
Es ergiebt ſich hieraus ein ſehr wichtiger und in ſeinen prak-
tiſchen Conſequenzen weitreichender Satz, nämlich daß eine einheit-
liche, umfaſſende und gleichmäßige Normirung der Zeugenpflicht
in Deutſchland fehlt. Nur für die zur ordentlichen ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit gehörenden Angelegenheiten iſt in den drei
Reichsprozeßordnungen und außerdem für einzelne ſpezielle Fälle
in beſonderen Reichsgeſetzen die Zeugenpflicht reichsgeſetzlich aner-
[157]§. 105. Die Zeugenpflicht.
kannt und hinſichtlich ihres Umfanges und der Art und Weiſe
ihrer Geltendmachung geregelt worden. Die Einzelſtaaten können
in dieſer Beziehung das Maß der Zeugenpflicht weder einſchränken
noch ausdehnen, da dies eine Abänderung reichsgeſetzlicher Anord-
nungen ſein würde, wozu die Einzelſtaaten außer Stande ſind.
Dagegen iſt für alle anderen Angelegenheiten, mögen ſie zum Ge-
biet der Gerichtsbarkeit gehören oder zu dem der Verwaltung,
mögen ſie der Kompetenz der ordentlichen Gerichte zugewieſen oder
anderen Behörden übertragen ſein, die Zeugenpflicht der autonomen
Regelung der Einzelſtaaten überlaſſen. Soweit aber nicht durch
Landesgeſetze in dieſen Sachen eine Zeugenpflicht begründet iſt,
beſteht eine ſolche nicht; die Vorſchriften der Strafprozeß- und
Civilprozeß-Ordnung finden außerhalb des Gebietes der ordent-
lichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit an und für ſich 1) keine Anwen-
dung. In allen von den erwähnten Reichsgeſetzen nicht berührten
Fällen iſt daher lediglich nach dem Partikularrecht der Einzelſtaaten
zu beurtheilen, wer zeugenpflichtig iſt, in welchen Angelegenheiten
und gegen welche Behörden die Pflicht zur Ablegung des Zeug-
niſſes erfüllt werden muß und welche Rechtsfolgen die Nichter-
füllung hat 2).
Da uns hier nur eine Darſtellung des Reichsſtaatsrechts
obliegt, ſo fällt dieſer ganze Theil der Lehre von der Zeugen-
pflicht, für den es an reichsgeſetzlichen Vorſchriften gänzlich man-
gelt, außerhalb unſerer Aufgabe; wir beſchränken uns im Folgen-
den ausſchließlich auf die Darſtellung der reichsgeſetzlich geordneten
Zeugenpflicht.
II.Das Recht auf Erfüllung der Zeugenpflicht.
Es handelt ſich hier um die Frage, welche Behörden können die
Ablegung eines Zeugniſſes verlangen und in welchen Angelegen-
heiten? Auch hier iſt die ſcharfe Trennung der prozeſſualiſchen
und der ſtaatsrechtlichen Seite an die Spitze zu ſtellen. Der Satz,
daß ein Beamter zur Vernehmung von Zeugen befugt iſt, kann
einen doppelten Sinn haben; einen prozeſſualiſchen d. h.
[158]§. 105. Die Zeugenpflicht.
daß die von ihm vorgenommene Befragung und Vereidigung
des Zeugen und die von ihm verfaßte Protokollirung ſeiner Aus-
ſage eine ordnungsmäßige, den Formvorſchriften über das Ver-
fahren entſprechende iſt; oder einen ſtaatsrechtlichen, d. h.
daß ſein Befehl, der Zeugenpflicht zu genügen, ein verbindlicher
und zwingender iſt. So iſt z. B. die einem Reichskonſul vom
Reichskanzler auf Grund des §. 20 des Konſulatsgeſetzes ertheilte
Befugniß zur eidlichen Vernehmung von Zeugen von lediglich pro-
zeſſualiſcher Bedeutung; ſie begründet für Niemanden eine ſtaats-
rechtliche Verpflichtung, ſich zeugeneidlich vernehmen zu laſſen 1).
Befugt die Erfüllung der Zeugenpflicht zu gebieten, ſind:
1. Die ordentlichen Gerichte in den zu ihrer Kom-
petenz gehörenden Strafſachen2), bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten 3), und Konkurſen4). Der Staatsanwaltſchaft ſteht
in Strafſachen die Befugniß nicht zu, die Ablegung eines Zeug-
niſſes zu verlangen 5), und noch viel weniger haben die Polizei-
behörden ein ſolches Recht; iſt zum Zweck der Vorbereitung der
öffentlichen Klage eine Zeugenvernehmung erforderlich, ſo muß die
Staatsanwaltſchaft den Amtsrichter um Vornahme dieſer Handlung
erſuchen 6). Ebenſowenig ſteht in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten
einem Schiedsrichter dieſe Befugniß zu; zwar können Schieds-
richter — wie die Civilproz.Ordn. §. 861 ſagt — Zeugen vernehmen,
welche freiwillig vor ihnen erſcheinen, ohne daß ſie dieſelben
vereidigen dürfen; dieſe Befugniß aber hat jeder Menſch von ſelbſt,
[159]§. 105. Die Zeugenpflicht.
ohne daß er einer geſetzlichen Ermächtigung dazu bedarf. Ergiebt
ſich in einem ſchieds richterlichen Verfahren die Nothwendigkeit, je-
manden zur Ablegung eines Zeugniſſes anzuhalten oder ihm einen
Zeugeneid abzunehmen, ſo muß auch hier ein Antrag an das or-
dentliche Gericht gemacht werden 1).
2. Die Konſulargerichte haben in demſelben Umfange
und nach denſelben Regeln wie die ordentlichen Gerichte die Be-
fugniß zur Erzwingung der Zeugenpflicht, da auf das Verfahren
dieſer Gerichte in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Konkurs-
ſachen die Civilprozeß-Ordnung und die Konkurs-Ordnung 2) und
auf das Verfahren in Strafſachen die Strafprozeß-Ordnung 3) für
anwendbar erklärt ſind 4).
3. Die durch §. 26 des Geſetzes gegen die Socialdemokratie
v. 21. Oktob. 1878 eingeſetzte Kommiſſion zur Entſcheidung
über Beſchwerden hat das Recht zur Zeugenvernehmung und zur
Geltendmachung des Zeugenzwanges nach Maßgabe der Civil-
prozeßordnung 5).
4. In einer Reihe von Fällen, die nicht zur ordentlichen ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit gehören, iſt reichsgeſetzlich die Zeugenpflicht
anerkannt; jedoch hinſichtlich der Geltendmachung derſelben eine
bemerkenswerthe Unterſcheidung gemacht. Die Behörden, zu deren
Reſſort dieſe Angelegenheiten gehören, ſind befugt in dem von
ihnen einzuſchlagenden Verfahren Zeugen zu vernehmen, ohne
daß ſie der Mithülfe der Gerichte bedürfen, falls der Zeuge ihren
Anordnungen Folge leiſtet; in Beziehung auf die Erzwingung
der Zeugnißablegung dagegen, alſo in ſtaatsrechtlicher Hin-
ſicht, müſſen dieſe Behörden ſich an die ordentlichen Gerichte wen-
den, denen es zur Pflicht gemacht iſt, einem darauf gerichteten
Erſuchen zu entſprechen. Es beſteht alſo die Zeugenpflicht zwar
dieſen Behörden gegenüber, ihre Erfüllung aber kann nur mittel-
bar von denſeben erzwungen werden. Dieſe Fälle ſind folgende:
a) Die Poſtbehörden ſind im Strafverfahren bei Poſt-
[160]§. 105. Die Zeugenpflicht.
und Portodefraudationen befugt, Zeugen vorzuladen und
zu vernehmen. Weigert ſich ein Zeuge der Vorladung Folge zu
leiſten, ſo wird er dazu auf Requiſition der Poſtbehörden durch
das Gericht „in gleicher Art, wie bei gerichtlichen Vorladungen“
angehalten 1).
b) Das Patentamt kann im Verfahren wegen Erklärung
der Nichtigkeit oder wegen Zurücknahme eines Patentes die Ver-
nehmung von Zeugen anordnen. Auf die Zeugen finden die Vor-
ſchriften der Civilprozeß-Ordnung auch hinſichtlich der Erfüllung
der Zeugenpflicht Anwendung 2). Jedoch erfolgt die Feſtſetzung
einer Strafe gegen Zeugen, welche nicht erſcheinen, oder ihre Aus-
ſage oder deren Beeidigung verweigern, ſowie die Vorführung
eines nicht erſchienenen Zeugen auf Erſuchen durch die Gerichte3).
c) Die Seeämter und das Ober-Seeamt ſind bei der
Unterſuchung von Seeunfällen zur Vernehmung von Zeugen be-
fugt. Ueber die Zeugenpflicht finden die Vorſchriften der Straf-
proz.Ordn. entſprechende Anwendung. Die Feſtſetzung und Voll-
ſtreckung von Strafen gegen Zeugen, ſowie die Vorführung eines
nicht erſchienenen Zeugen erfolgt aber auf Erſuchen durch das
zuſtändige Gericht4).
d) Die Ehrengerichte der Rechtsanwalts-Kammern
haben die Befugniß zur Vernehmung von Zeugen und es beſteht
ihnen gegenüber die Zeugenpflicht in dem durch die Strafprozeß-
Ordnung normirten Umfang 5); die Verhängung von Zwangsmaß-
regeln und die Feſtſetzung von Strafen zur Durchführung der
Zeugenpflicht erfolgt aber auf Erſuchen durch das Amtsgericht,
in deſſen Bezirk der Zeuge ſeinen Wohnſitz oder Aufenthalt hat 6).
4. Es iſt mehrfach die Behauptung aufgeſtellt worden, daß
durch §. 40 des Rechtshülfe-Geſetzes eine allgemeine, durch
die Gerichte geltend zu machende Zeugenpflicht begründet ſei.
Das erwähnte Geſetz lautet: „Jeder [Nord] Deutſche iſt verpflichtet,
[161]§. 105. Die Zeugenpflicht.
auf Anordnung des Civil- oder Strafgerichts vor demſelben zum
Zwecke ſeiner Vernehmung als Zeuge zu erſcheinen, auch wenn er
einem andern Bundesſtaate angehört.“ Würde dieſe Beſtimmung
in der That die Bedeutung haben, daß man verpflichtet iſt, jeder
Anordnung eines Gerichts, ſich als Zeuge vernehmen zu laſſen,
nachzukommen, ſo wäre die Zeugenpflicht ihrem Umfange nach eine
unbeſchränkte und nur an die formelle Vorausſetzung gebunden,
daß ihre Erfüllung durch ein Gericht geltend gemacht werde.
Mit andern Worten: jede Behörde irgend welcher Art könnte in
allen Angelegenheiten, gleichviel was ſie betreffen, jeden Deut-
ſchen zur Zeugenausſage zwingen, indem ſie ſich zu dieſem Behufe
an das zuſtändige Gericht wendet und daſſelbe um die Verneh-
mung des Zeugen erſucht. Die vorſtehend unter Ziff. 4 aufge-
führten Fälle wären nur einzelne Anwendungen eines ganz allge-
meinen Prinzips des öffentlichen Rechts. In dieſer Beziehung iſt
nun aber — bevor auf den wirklichen Sinn des citirten Geſetzes
eingegangen wird — ein Punkt hervorzuheben, der in der Pra-
xis ſelbſt von den angeſehenſten Gerichtshöfen öfters überſehen
worden iſt. Man muß nämlich unterſcheiden zwiſchen der Pflicht
der Gerichte, einem Erſuchen anderer Behörden zu genügen, und
der Pflicht des Unterthanen zur Ablegung des Zeugniſſes. Es iſt
im Allgemeinen davon auszugehen, daß ſich alle Behörden eines
Staates gegenſeitig zu helfen und zu unterſtützen haben und daß
ſie nicht befugt ſind, amtliche Erſuchen zurückzuweiſen, wofern die-
ſelben nicht die Vornahme einer in den Geſetzen verbotenen oder
ihre Zuſtändigkeit überſchreitenden Handlung ihnen zumuthen. Dies
gilt von den Gerichten nicht minder wie von anderen Behörden.
Wenn daher irgend eine Behörde in irgend einer Angelegenheit
die eidliche Vernehmung eines Zeugen für erforderlich erachtet, ſo
ſteht Nichts im Wege, das zuſtändige Gericht um dieſe Verneh-
mung zu erſuchen und das letztere wird dieſes Erſuchen der Regel
nach nicht ablehnen dürfen, vorausgeſetzt, daß der bezeichnete Zeuge
bereit iſt, eine eidliche Ausſage zu machen. Auch wer nicht ver-
pflichtet iſt, ſich vernehmen zu laſſen, wird ja in ſehr vielen Fällen
dennoch ſein Zeugniß nicht verweigern und die Funktion des er-
ſuchten Gerichts beſteht darin, dieſes Zeugniß in eine authentiſche
und beweisfähige Form zu bringen. Ganz verſchieden davon iſt
aber die Frage, ob Jemand wider ſeinen Willen gezwungen wer-
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 11
[162]§. 105. Die Zeugenpflicht.
den kann, ein Zeugniß abzulegen. Die Pflicht eines Gerichts, einer
Requiſition zu genügen, ſchließt nicht die Pflicht des Einzelnen in
ſich, zur Erledigung dieſer Requiſition mitzuwirken, und verleiht
dem Gericht nicht die Befugniß einen Zwang auszuüben, der in
den Geſetzen nicht begründet iſt. Im Falle der berechtigten Zeug-
nißverweigerung würde daher das requirirte Gericht dem Erſuchen
dadurch genügen, daß es die Zeugnißverweigerung conſtatirt.
Was nun die erwähnte Beſtimmung des Rechtshülfe-Geſetzes
anlangt, ſo bezieht ſich dieſelbe gar nicht auf den objektiven
Umfang der Zeugenpflicht, ſondern auf den ſubjektiven, d. h.
auf den Kreis der verpflichteten Perſonen. Der Schwerpunkt der
Rechtsvorſchrift liegt in den Worten: „auch wenn er einem andern
Bundesſtaate angehört.“ Das Geſetz verfügt, daß jeder Deutſche
nicht blos den Gerichten des Staates, welchem er angehört, ſondern
allen Gerichten im ganzen Bundesgebiet gegenüber zeugenpflichtig
iſt; aber es ſagt nicht, daß jeder Deutſche in unbedingter und
unbeſchränkter Weiſe zeugenpflichtig iſt. Das Rechtshülfe-Geſetz
ließ vielmehr in dieſer Beziehung die Landesgeſetze unberührt und
hat dies in unzweifelhafter Weiſe ausgeſprochen, indem es der er-
wähnten Beſtimmung den Satz beifügte: „Dieſe Vorſchrift findet
keine Anwendung auf Perſonen, welche nach dem am Wohnſitze
derſelben geltenden Rechte nicht verbunden ſind, perſönlich vor
Gericht zu erſcheinen oder in der betreffenden Sache Zeug-
niß abzulegen.“ Soweit demnach objektiv eine Zeugenpflicht
nach den Partikularrechten nicht beſtanden hat, iſt eine ſolche auch
durch das Rechtshülfegeſetz nicht eingeführt worden. Außerdem
iſt nicht zu überſehen, daß ſich dieſes Geſetz überhaupt nur auf
bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen bezieht und neben
den Anordnungen des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der drei
Reichsprozeßordnungen nur noch für diejenigen bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten und Strafſachen, welche nicht zur „ordentlichen“ ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit gehören, in Geltung ſteht, aber nicht auf
Verwaltungsſachen anwendbar iſt.
6. Nach dieſen Erörterungen iſt nun auch die ziemlich ſchwie-
rige Frage zu entſcheiden, ob im Disciplinar-Verfahren gegen
Beamte eine erzwingbare Zeugnißpflicht beſteht und in welchem
Umfange. Hier iſt zunächſt der Gedanke abzuweiſen, daß die Vor-
ſchriften der Civilprozeß-Ordnung analoge Anwendung finden
[163]§. 105. Die Zeugenpflicht.
könnten, wie Dochow a. a. O. S. 58 vorſchlägt. Denn wenn
es auch ganz richtig iſt, daß die Handhabung der Disciplinarge-
walt an Stelle der Contraktsklage auf Leiſtung ſteht und den
Zweck hat, die Erfüllung der Dienſtpflicht des Beamten zu er-
zwingen 1), ſo iſt doch eben die Disciplinaranklage keine bürger-
liche Contraktsklage, ſondern ein ſtatt derſelben gegebenes Mittel
und das Disciplinarverfahren iſt keinenfalls „eine bürgerliche
Rechtsſtreitigkeit, welche vor die ordentlichen Gerichte gehört.“
Ebenſowenig iſt aber die Strafprozeß-Ordnung an und
für ſich hier maßgebend. Das Disciplinar-Verfahren iſt zwar
dem Strafverfahren nachgebildet und eine große Zahl der in der
Strafprozeß-Ordnung enthaltenen Regeln kann auf das Disci-
plinarverfahren entſprechende Anwendung erhalten, aber dieſe Aus-
dehnung ſetzt eine Anordnung des Geſetzgebers voraus. Denn die
Strafprozeß-Ordnung v. 1. Febr. 1877 iſt nicht, wie vielfach
behauptet wird 2), eine allgemeine Strafprozeß-Ordnung, welche
für jedes auf Verhängung einer Strafe gerichtete Verfahren ſub-
ſidiär in Anwendung gebracht werden kann, ſondern ſie iſt reichs-
geſetzlich nur eingeführt für diejenigen Strafſachen, welche
vor die ordentlichen Gerichte gehören. Selbſt wenn
man daher — was unrichtig wäre — die Disciplinarſachen als
eine Unterart der Strafſachen anſehen wollte, ſo fehlt es bei ihnen
doch immer noch an der Vorausſetzung, daß ſie vor die ordent-
lichen Gerichte gehören. Auch iſt wol zu beachten, daß wenn man
auch in prozeſſualer Hinſicht die Adoptirung des in der Straf-
prozeßordnung den ordentlichen Gerichten vorgeſchriebenen Ver-
fahrens Seitens anderer Behörden für unbedenklich erachten
könnte, dies doch nicht in gleicher Weiſe von den ſtaatsrecht-
rechtlichen Verpflichtungen der Unterthanen Geltung hat. Auf
Grund der Strafprozeßordnung kann daher ein Zeugnißzwang im
Disciplinar-Verfahren nicht geltend gemacht werden. Hieraus folgt
aber freilich nicht, daß ein ſolcher Zwang überhaupt nicht zuläſſig
ſei; er kann vielmehr durch andere Geſetze begründet ſein 3).
In dieſer Hinſicht ſind folgende Rechtsſätze feſtzuhalten.
11*
[164]§. 105. Die Zeugenpflicht.
a) Die Einzelſtaaten ſind hinſichtlich des Disciplinarrechts
völlig autonom und von Reichswegen ungehindert, die Zeugen-
pflicht für Zwecke der Disciplin einzuführen. Soweit durch ältere
Geſetze eine Zeugenpflicht und ein Zeugenzwang im Discplinar-
verfahren begründet war, iſt durch Einführung der Strafprozeß-
Ordnung Nichts daran geändert worden 1). Auch ſteht es den
Einzelſtaaten völlig frei, die Beſtimmungen der Strafproz.-Ordnung
über die Zeugenpflicht auf das Disciplinarverfahren mit oder ohne
Veränderungen für anwendbar zu erklären. Ein näheres Eingehen
auf den Rechtszuſtand, der in dieſer Hinſicht zur Zeit in den ein-
zelnen Bundesſtaaten beſteht, liegt nicht in unſerer Aufgabe; es
genügt die Darlegung des Prinzips 2).
b) Für das Reichsſtaatsrecht kömmt ausſchließlich das
Reichsbeamten-Geſetz v. 31. März 1873 in Betracht. Daſſelbe
enthält zwar keine Vorſchrift, welche ausdrücklich und zweifellos
die Zeugenpflicht im Disciplinarverfahren ſanctionirt, aus dem
Zuſammenhange ſeiner Beſtimmungen ergibt ſich dies aber als
der Wille des Geſetzgebers. Zunächſt iſt ein contradiktoriſches
Verfahren mit Beweiserhebungen gerade in Disciplinarſachen ohne
den Zeugenzwang nur ſchwer durchführbar, da es einem wegen
Verletzung der Dienſtpflicht zur Verantwortung gezogenen Beamten
verhältnißmäßig leicht gelingen wird, die Belaſtungszeugen zur
Verweigerung der Ausſage zu beſtimmen, wenn dies von ihrem
freien Belieben abhängig iſt. Der Geſetzgeber kann daher ver-
nünftiger Weiſe nicht ein beſtimmt geartetes Disciplinarverfahren
anordnen, zugleich aber die zur Durchführung deſſelben unentbehr-
lichen Machtmittel verſagen wollen. Das Reichsbeamten-Geſetz
enthält ferner mehrfache Beſtimmungen, welche das Recht zum
Zeugenzwang ſtillſchweigend vorausſetzen. Nach §. 94 werden die
Zeugen in der Vorunterſuchung vernommen und nach Befinden
vereidigt; nach §. 96 kann die Staatsanwaltſchaft eine Ergänzung
der Vorunterſuchung, alſo auch die Vernehmung weiterer Zeugen
beantragen; nach §. 106 muß die Vernehmung der Zeugen auf
Antrag der Staatsanwaltſchaft oder des Angeſchuldigten in der
[165]§. 105. Die Zeugenpflicht.
mündlichen Verhandlung erfolgen, ſofern die Thatſachen erheblich
ſind, über welche die Vernehmung ſtattfinden ſoll; nach §. 107
iſt die Vernehmung eines Zeugen durch einen beauftragten Be-
amten geſtattet, wenn dem Erſcheinen deſſelben vor der Disciplinar-
kammer Krankheit, große Entfernung oder andere unabwendbare
Hinderniſſe entgegenſtehen; hierdurch iſt e contrario die Geſtellungs-
pflicht des Zeugen anerkannt, wenn dergleichen Entſchuldigungs-
gründe nicht vorliegen; es wäre aber ſinnlos, die Pflicht der
Zeugen vor der Disciplinarkammer zu erſcheinen, aber nicht die
Pflicht ihr eine Ausſage zu machen, geſetzlich anzuerkennen. Hier-
nach ergiebt ſich als der Sinn des Geſetzes, daß die Zeugenpflicht
im Disciplinarverfahren gegenüber den Disciplinarkammern und
dem Disciplinarhofe (§. 116 Abſ. 4 des Geſ.) beſteht 1).
In dem Reichsgeſetz fehlen aber Vorſchriften über die Gel-
tendmachung des Zeugenzwanges und über die zuläſſigen Zwangs-
mittel. Dieſe Unvollſtändigkeit blieb bei dem Erlaſſe des Geſetzes
nicht unbemerkt; man war ſich bewußt, daß die Vorſchriften des
Beamtengeſetzes über das Disciplinarverfahren einer Ergänzung
bedürfen und dieſe Ergänzungen ſollten die Strafprozeß-Ordnungen
der Einzelſtaaten bieten 2). An die Stelle der letzteren iſt jetzt die
Reichs-Strafprozeß-Ordnung getreten und ſo ergiebt ſich denn als
Reſultat, daß die Vorſchriften derſelben über die Zeugenpflicht und
den Zeugenzwang im Disciplinar-Verfahren gegen diejenigen Be-
amten, auf welche das Reichsbeamtengeſetz v. 31. März 1873 An-
wendung findet, Geltung haben.
III.Die zeugenpflichtigen Perſonen. Die Zeugen-
pflicht iſt keine Unterthanenpflicht 3) wie die Wehrpflicht oder wie
die Gerichtspflicht der Schöffen und Geſchworenen, ſondern ſie iſt
[166]§. 105. Die Zeugenpflicht.
lediglich der Reflex eines Zwanges, den die Staatsgewalt zum
Zweck der Handhabung des Rechtsſchutzes ausübt, ſie iſt ein An-
wendungsfall des Gehorſams gegen die Gerichtsgewalt. Nicht die
perſönliche Staats- oder Reichsangehörigkeit iſt eine Voraus-
ſetzung der Zeugenpflicht, ſondern dieſelbe trifft jeden, der that-
ſächlich d. h. räumlich der Staatsgewalt unterworfen iſt. Es
ergeben ſich hieraus folgende Conſequenzen:
1. Perſonen, welche ſich im Inlande aufhalten,
ſind zeugenpflichtig, gleichviel ob ſie reichsange-
hörig oder fremd ſind. Hiervon ſind nur diejenigen Per-
ſonen ausgenommen, welche von der Gerichtsgewalt eximirt ſind;
das ſind die Landesherren und die Mitglieder der landesherrlichen
Familien, denen die fürſtliche Familie Hohenzollern gleichgeſtellt
iſt, und die Chefs und Mitglieder der beim Deutſchen Reich be-
glaubigten Miſſionen nach näherer Anordnung der §§. 18—21
des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes 1). Durch dieſe auf der ſtaats-
rechtlichen oder völkerrechtlichen Stellung der erwähnten Perſonen
beruhenden Exemtion wird aber ſelbſtverſtändlich nicht ausgeſchloſſen,
daß ſie als Zeugen vernommen werden können, wenn ſie
dazu ſich bereit finden laſſen 2). Abgeſehen von dieſen Perſonen
giebt es keine Befreiungen von der Zeugenpflicht in ab-
stracto, d. h. keine perſönliche Exemtion von der allgemeinen Ver-
pflichtung, dem Befehle der Gerichte zur Ablegung eines Zeugniſſes
zu gehorchen; die Fälle, in welchen eine Verweigerung des Zeug-
niſſes geſtattet iſt, treffen nicht die Zeugenpflicht, ſondern ſetzen
beſondere Umſtände der concreten Prozeßſache voraus.
So wenig es Befreiungen von der Zeugenpflicht giebt, eben-
[167]§. 105. Die Zeugenpflicht.
ſowenig giebt es eine rechtliche Unfähigkeit zur Erfüllung
derſelben 1). Es kann zwar prozeſſualiſche Gründe geben,
wonach gewiſſe Perſonen überhaupt oder für beſondere Fälle als
untauglich zur Erbringung eines Zeugenbeweiſes erachtet werden
und ſolange das Prozeßrecht der ſogen. formellen Beweistheorie
folgte, gab es bekanntlich ſolche Gründe in erheblicher Zahl; der-
artige Vorſchriften des Prozeßrechts über den Zeugenbeweis ſind
aber wol zu unterſcheiden von den Regeln des Staatsrechts über
die Zeugenpflicht.
2. Perſonen, welche ſich im Auslande befinden,
ſind nicht zeugenpflichtig, ohne Unterſchied ob ſie
reichsangehörig ſind oder einem fremden Staat an-
gehören; denn die inländiſche Gerichtsbarkeit erſtreckt ſich nicht
über die Gränzen des Bundesgebietes hinaus. Nur in denjenigen
Fällen, in denen ausnahmsweiſe im Auslande eine Gerichtsbarkeit
des Reiches oder der Bundesſtaaten ausgeübt wird, beſteht inner-
halb des Umfanges derſelben auch eine Zeugenpflicht; dieſe Aus-
nahmen ſind die Konſulargerichtsbarkeit 2) und die Gerichtsbarkeit
der Marine- und Militärgerichte, wenn Marinetheile oder Truppen-
körper ſich im Auslande befinden.
Allerdings können auch Perſonen, die ſich im Auslande auf-
halten, in den vor inländiſchen Gerichten ſchwebenden Rechtsſachen
als Zeugen vernommen und zu dieſem Zwecke entweder vor das
inländiſche Gericht (eventuell vor einen zur eidlichen Vernehmung
von Zeugen befugten Reichskonſul) geladen oder auf Grund einer
Requiſition vor dem Gericht ihres Aufenthaltsortes verhört wer-
den. Allein im erſten Falle iſt es von dem freien Willen des
Zeugen abhängig, ob er ſich zum Zwecke ſeiner Vernehmung an
das inländiſche Gericht begeben will; einen Zwang kann das letz-
tere gegen ihn weder thatſächlich ausüben, noch iſt es rechtlich dazu
[168]§. 105. Die Zeugenpflicht.
befugt und demgemäß iſt eine Zeugenpflicht im ſtaatsrechtlichen
Sinne hier nicht vorhanden. Im Falle der Requiſition eines aus-
ländiſchen Gerichts aber iſt die Erfüllung der Zeugenpflicht Gehor-
ſam gegen die Staatsgewalt (Gerichtsbarkeit) des Staates, in
deſſen Gebiet ſich der Zeuge aufhält, nicht Gehorſam gegen das
requirirende Gericht. Der erſuchte Staat ſtellt ſeine Gewalt dem
erſuchenden Staate zu Dienſten, ohne Unterſchied ob das Erſuchen
durch Vermittelung des auswärtigen Amtes und der diplomatiſchen
Vertretung oder direct von Gericht zu Gericht ergeht. Dies gilt
auch dann, wenn der auswärtige Staat ſich durch Staatsvertrag
dem Deutſchen Reich verpflichtet hat, Requiſitionen um Zeugen-
vernehmungen zu genügen 1). Hiernach iſt auch die öfters erörterte
Controverſe, ob hinſichtlich der Vernehmung eines im Auslande
wohnenden Zeugen das Recht des Prozeßgerichts oder das Recht
des requirirten Gerichts zur Anwendung komme, leicht zu ent-
ſcheiden; man muß nur auch hier die prozeſſualiſchen Sätze von
dem Zeugenbeweis und die ſtaatsrechtlichen Sätze von der Zeugen-
pflicht auseinander halten. In wiefern eine Perſon ein beweis-
fähiges Zeugniß ablegen kann, welche Beweiskraft ihre Ausſage
hat, welche Formen bei ihrer Vernehmung zu beobachten ſind, um
ihrer Ausſage Beweiskraft zu ſichern u. ſ. w., iſt von dem Pro-
zeßgericht nach ſeinem Prozeßrecht zu beurtheilen, da dies einen
integrirenden Beſtandtheil der dem Prozeßgericht obliegenden Er-
ledigung des Rechtsſtreites bildet; dagegen ob Jemand zeugen-
pflichtig iſt oder das Zeugniß verweigern darf und welche Rechts-
folgen eine unbegründete Weigerung nach ſich zieht, iſt von dem
erſuchten Gericht und zwar nach dem Recht, welches im Gebiet
deſſelben gilt, zu beurtheilen, da es ſich hier lediglich um Aus-
[169]§. 105. Die Zeugenpflicht.
übung der Gerichtsgewalt desjenigen Staates handelt, in deſſen
Gebiet und unter deſſen Schutz der Zeuge ſich befindet 1).
IV. Aus der dargelegten juriſtiſchen Natur der Zeugenpflicht
als eines bloßen Reflexes der ſtaatlichen Gerichtsgewalt ergiebt
ſich noch ein anderer Unterſchied gegen die Gerichtspflicht. Die
letztere iſt räumlich beſchränkt auf den Gerichtsbezirk, in welchem
der Verpflichtete ſeinen Wohnſitz hat; die Zeugenpflicht dagegen
erſtreckt ſich über das ganze Bundesgebiet, entſprechend der Ge-
richtsbarkeit der ordentlichen Gerichte. Es kann daher ein Gericht
zwar der Regel nach nur innerhalb ſeines Bezirks einen Zeugen
vernehmen und vereidigen, es kann aber den Befehl ſich vor ihm
zur Erfüllung der Zeugenpflicht einzufinden, an jede im Bundes-
gebiet befindliche Perſon mit verbindlicher Kraft erlaſſen. Das
Gericht hat daher hinſichtlich der außerhalb ſeines Bezirks wohn-
haften Zeugen die Wahl zwiſchen zwei Wegen zur Geltendmachung
der Zeugenpflicht, entweder die Ladung behufs unmittelbarer
Vernehmung, die durch die Mündlichkeit des Verfahrens und das
Prinzip der freien Beweiswürdigung als die Regel geboten und
in vielen Fällen unentbehrlich iſt, oder die Requiſition des
zuſtändigen Amtsgerichts um Vernehmung des Zeugen zu Proto-
koll 2). Ein Recht auf die letztere Art der Vernehmung haben die
zeugenpflichtigen Perſonen nicht; ausgenommen ſind hiervon nur
folgende Kategorien:
1. Der Reichskanzler, die Miniſter eines Bundesſtaates, die
Mitglieder der Senate der freien Hanſeſtädte, die Vorſtände der
oberſten Reichsbehörden und die Vorſtände der Miniſterien ſind
an ihrem Amtsſitze oder, wenn ſie ſich außerhalb deſſelben auf-
halten, an ihrem Aufenthaltsorte zu vernehmen. Zu einer Ab-
weichung hiervon bedarf es in Betreff des Reichskanzlers der Ge-
nehmigung des Kaiſers, in Betreff der Miniſter der Genehmigung
des Landesherrn, in Betreff der Mitglieder der Senate der Hanſe-
ſtädte der Genehmigung des Senats, in Betreff der übrigen vor-
[170]§. 105. Die Zeugenpflicht.
bezeichneten Beamten der Genehmigung ihres unmittelbaren Vor-
geſetzten 1).
2. Die Mitglieder des Bundesrathes ſind während ihres Auf-
enthaltes am Sitze des Bundesrathes an dieſem Sitze, und die
Mitglieder einer Deutſchen geſetzgebenden Verſammlung während
der Sitzungsperiode und2) ihres Aufenthalts am Orte der Ver-
ſammlung an dieſem Orte zu vernehmen. Zur Abweichung hier-
von bedarf es in Betreff der Mitglieder des Bundesraths der
Genehmigung des Landesherrn, in Betreff der Mitglieder einer
geſetzgebenden Verſammlung der Genehmigung der letzteren 3).
V.Der Inhalt der Zeugenpflicht. Die Zeugen-
pflicht hat einen dreifachen Inhalt und löſt ſich demnach in drei
Beſtandtheile auf, die in mancher Hinſicht verſchiedenen Regeln
unterliegen, nämlich die Pflicht vor Gericht zu erſcheinen (Ge-
ſtellungspflicht), die Pflicht die wahrheitsgemäße Ausſage zu ma-
chen (Zeugnißpflicht) und die Pflicht, den Zeugeneid zu leiſten.
1. Die Geſtellungspflicht. Wer von einem Gericht
als Zeuge geladen iſt, muß dieſem Befehle gemäß ſich vor dem
Gericht ſtellen; dies gilt auch von den eben erwähnten hohen
Beamten u. ſ. w., welche im §. 49 der Strafproc.O. u. im §. 347
der Civilpr.Ordn. aufgeführt ſind; ihr Privilegium beſteht allein
darin, daß die Geſtellungspflicht für ſie auf die Gerichte eines
gewiſſen Ortes beſchränkt iſt. Die Geſtellungspflicht iſt derjenige
Beſtandtheil der Zeugenpflicht, der den weiteſten Umfang und eine
unbedingte Erzwingbarkeit hat; auch diejenigen Perſonen, welche
im gegebenen Falle zur Verweigerung der Ausſage geſetzlich be-
rechtigt ſind, müſſen der Ladung Folge leiſten. Eine ordnungs-
mäßige Ladung muß den Hinweis auf die geſetzlichen Folgen des
Ausbleibens enthalten, in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten überdies
die Bezeichnung der Parteien und die Thatſachen, über welche die
Vernehmung erfolgen ſoll 4). Die Verletzung der Geſtellungs-
[171]§. 105. Die Zeugenpflicht.
pflicht von Seiten eines ordnungsmäßig geladenen Zeugen
hat folgende Wirkungen:
a) der ausgebliebene Zeuge iſt in die durch das Ausbleiben
verurſachten Koſten, ſowie zu einer Geldſtrafe bis zu 300 Mark
und für den Fall, daß dieſe nicht beigetrieben werden kann, zur
Strafe der Haft bis zu 6 Wochen zu verurtheilen. Im Falle
wiederholten Ausbleibens kann die Strafe noch einmal erkannt
werden 1). Eines Antrages auf Verhängung der Strafe bedarf
es auch in Civilprozeſſen nicht. Iſt das Ausbleiben des Zeugen
genügend entſchuldigt, ſo unterbleibt die Verurtheilung in Strafe
und Koſten; erfolgt nachträglich genügende Entſchuldigung, ſo wer-
den die gegen den Zeugen getroffenenen Anordnungen wieder auf-
gehoben 2).
Dieſe Strafen haben den Charakter der Ordnungsſtrafen
4)
[172]§. 105. Die Zeugenpflicht.
wegen Verletzung der Gehorſamspflicht, grade ſo wie dies von der
Verletzung der Melde- oder Geſtellungspflicht der Wehrpflichtigen
oder von der Verletzung der Gerichtspflicht der Schöffen und Ge-
ſchworenen gilt. Das unentſchuldigte Ausbleiben eines ordnungs-
mäßig geladenen Zeugen bildet nicht den Thatbeſtand eines De-
licts im Sinne des öffentlichen Strafrechts, ſondern einen Unge-
horſamsfall gegen einen ſtaatlichen Spezialbefehl und die Strafe
hat demgemäß nicht den Charakter einer öffentlichen Strafe, ſon-
dern eines Mittels um die gehörige Erfüllung der Gehorſams-
pflicht zu ſichern 1). Die Verurtheilung in Strafe und Koſten er-
folgt daher ohne Einleitung eines beſonderen Strafverfahrens durch
dasjenige Gericht, vor welches der Zeuge geladen war (Prozeß-
gericht, auch die Civilkammern, Unterſuchungsrichter, requirirter
Richter), als Incidentpunkt des Prozeſſes, in welchem die Ladung
erfolgt iſt 2). Nur gegen eine dem aktiven Heere oder der aktiven
Marine angehörende Militärperſon erfolgt die Feſtſetzung und
Vollſtreckung der Strafe auf Erſuchen durch das Militärgericht 3).
b) Der ausgebliebene Zeuge kann zwangsweiſe vorge-
führt werden; in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten jedoch nur im
Falle wiederholten Ausbleibens. Die Vorführung einer dem ak-
tiven Heere oder der aktiven Marine angehörenden Militärperſon
erfolgt durch Erſuchen der Militärbehörde 4). Die zwangsweiſe
Vorführung wird durch die Verurtheilung des Zeugen in Koſten
und Ordnungsſtrafe nicht ausgeſchloſſen.
c) Wer, als Zeuge berufen, ſein Ausbleiben durch Vorſpiege-
lung einer unwahren Thatſache entſchuldigt, wird mit Gefängniß
bis zu zwei Monaten beſtraft 5). Dies iſt ein öffentliches Delict,
auf welches die Vorſchriften des Strafgeſetzbuches und der Straf-
proceß-Ordnung uneingeſchränkt Anwendung finden; es handelt
ſich hierbei nicht um Sicherung oder Erzwingung des Gehorſams,
[173]§. 105. Die Zeugenpflicht.
ſondern um Beſtrafung eines Vergehens; daher werden auch durch
dieſe Beſtrafung die auf das Nichterſcheinen geſetzten Ordnungs-
ſtrafen nicht ausgeſchloſſen 1).
2) Die Pflicht zur Ausſage (Zeugnißpflicht). Der
Zeuge iſt verpflichtet über ſeine perſönlichen Verhältniſſe (Alter, Re-
ligion, Stand u. ſ. w.) und über diejenigen Umſtände, welche ſeine
Glaubwürdigkeit in der vorliegenden Frage betreffen, Auskunft zu
ertheilen und im Zuſammenhange anzugeben, was ihm über den
Gegenſtand ſeiner Vernehmung bekannt iſt 2). Die Erfüllung dieſer
Pflicht kann jedoch von dem Zeugen unter gewiſſen Umſtänden
abgelehnt werden, wenn er durch Abgabe des Zeugniſſes in eine
Colliſion mit ſeinem eigenen Intereſſe oder mit andern Pflichten,
auf die der Staat Rückſicht nimmt, gerathen würde. Dieſe Aus-
nahmen von der Zeugenpflicht ſind von ſehr verſchiedener recht-
licher Natur; denn die letztere beſtimmt ſich nicht nach dem Weſen
der Zeugenpflicht, ſondern nach dem Weſen derjenigen Intereſſen
oder Pflichten, auf deren Berückſichtigung die Ausnahmen beruhen.
Es beſteht namentlich darin eine Verſchiedenheit, daß der Grund
der Verweigerung entweder im eigenen Intereſſe des Zeugen oder
ſeiner Angehörigen oder in einem ihm fremden Intereſſe liegen
kann, da ſich hiernach beſtimmt, ob die Verweigerung des Zeug-
niſſes von dem eigenen Belieben des Zeugen oder von dem Willen
eines Dritten abhängig iſt. Die Ausnahmen von der Pflicht zur
Zeugenausſage ſind demgemäß auf zwei Kategorien zurückzu-
führen:
a) Im eigenen Intereſſe des Zeugen. Die
Angehörigen des Beſchuldigten (im Strafprozeß) oder einer
Partei (im Civilprozeß) ſind zur Verweigerung des Zeugniſſes
berechtigt und vor ihrer Vernehmung hierüber zu belehren.
Als Angehörige gelten in dieſer Hinſicht der Verlobte, der
Ehegatte, auch wenn die Ehe nicht mehr beſteht, und diejenigen
Perſonen, welche in gerader Linie verwandt, verſchwägert oder
durch Adoption verbunden oder in der Seitenlinie bis zum dritten
Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verſchwägert ſind,
auch wenn die Ehe, durch welche die Schwägerſchaft begründet iſt,
[174]§. 105. Die Zeugenpflicht.
nicht mehr beſteht 1). In Civilprozeſſen darf jedoch auch der An-
gehörige einer Partei das Zeugniß nicht verweigern über die Er-
richtung und den Inhalt eines Rechtsgeſchäfts, bei deſſen Errich-
tung er als Zeuge zugezogen war 2), ferner über Geburten, Ver-
heirathungen oder Sterbefälle von Familiengliedern, ſowie über
Thatſachen, welche die durch das Familienverhältniß bedingten
Vermögensangelegenheiten betreffen; endlich über diejenigen auf
das ſtreitige Rechtsverhältniß ſich beziehenden Handlungen, welche
von ihm ſelbſt als Rechtsvorgänger oder Vertreter einer Partei
vorgenommen ſein ſollen 3).
In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten kann andererſeits die Aus-
kunft verweigert werden auf Fragen, welche der Zeuge nicht würde
beantworten können, ohne ein Kunſt- oder Gewerbegeheimniß zu
offenbaren; oder deren Beantwortung ihm oder einem ſeiner An-
gehörigen zur Unehre gereichen oder die Gefahr ſtrafgerichtlicher
Verfolgungen zuziehen würde; endlich deren Beantwortung ihm
oder einem ſeiner Angehörigen einen unmittelbaren Vermögens-
ſchaden verurſachen würde, jedoch auch hier mit Ausſchluß der im
§. 350 der Civilpr.O. aufgeführten Fälle 4). Es iſt dieſe Beſchrän-
kung der Zeugenpflicht ſchon durch die praktiſche Erwägung ge-
boten, daß ſonſt ein Prozeß zu dem Zwecke angeſtellt werden
könnte, um von Jemandem eine Zeugenausſage zu ſeinem eigenen
Nachtheil zu erzwingen; ſie iſt aber auch abgeſehen hiervon be-
rechtigt, da der Staat ſeinen Unterthanen und Schutzgenoſſen keine
Pflicht auferlegen ſoll, welche dieſelben nöthigen könnte, ſich ſelbſt
oder ihre Angehörigen zu verrathen, zu beſchädigen oder zu ent-
ehren. Deſſenungeachtet iſt im Strafprozeß dieſes Prinzip
nur in ſehr unvollkommener Weiſe und in ſehr engen Gränzen
anerkannt worden, indem der Geſetzgeber von der Annahme aus-
geht, daß im ſtrafprozeſſualiſchen Verfahren ein Mißbrauch des
Zeugnißzwanges zu andern Zwecken als den durch die Strafrechts-
pflege gebotenen nicht zu befürchten ſei und daß das ſtaatliche
[175]§. 105. Die Zeugenpflicht.
Intereſſe an der Strafrechtspflege dem Privatintereſſe vorgehe.
Demnach iſt ein Zeuge nur berechtigt, die Auskunft auf ſolche
Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihm ſelbſt oder einem
ſeiner Angehörigen die Gefahr ſtrafgerichtlicher Verfolgung
zuziehen würde 1).
b) Im fremden Intereſſe. Zur Verweigerung des
Zeugniſſes ſind berechtigt Geiſtliche in Anſehung desjenigen,
was ihnen bei der Ausübung der Seelſorge anvertraut iſt, und
alle anderen Perſonen, welchen kraft ihres Amtes, Standes oder
Gewerbes Thatſachen anvertraut ſind, deren Geheimhaltung durch
die Natur derſelben oder durch geſetzliche Vorſchrift geboten iſt,
in Betreff der Thatſachen, auf welche die Verpflichtung zur Ver-
ſchwiegenheit ſich bezieht 2). Hierher gehört auch die Pflicht zur
Bewahrung des Dienſtgeheimniſſes Seitens der Beamten; die Wir-
kung dieſer Pflicht reicht aber weiter, indem die Beamten zur Ver-
weigerung des Zeugniſſes nicht blos berechtigt, ſondern dienſtlich
verpflichtet ſind. Der Richter ſoll in den angegebenen Fällen die
Verpflichtung zur Verſchwiegenheit auch dann berückſichtigen, wenn
das Zeugniß nicht verweigert wird, indem er die Vernehmung der
Zeugen auf ſolche Thatſachen nicht zu richten hat, in Anſehung
welcher erhellt, daß ohne Verletzung der Verpflichtung zur Ver-
ſchwiegenheit ein Zeugniß nicht abgelegt werden kann 3). Da dieſer
Weigerungsgrund aber nicht im eigenen Intereſſe des Zeugen
wurzelt, ſondern im Intereſſe desjenigen, deſſen Geheimniß er
kennt, ſo fällt das Recht zur Verweigerung des Zeugniſſes fort,
wenn der Zeuge von der Verpflichtung zur Verſchwiegenheit ent-
bunden iſt 4).
Auch dieſes Prinzip iſt aber im Strafprozeß ſehr erheblich
eingeſchränkt; der Staat berückſichtigt die Pflicht zur Verſchwiegen-
heit in großem Umfange, wo es ſich um einen Streit über ver-
mögensrechtliche Intereſſen handelt, dagegen in viel geringerem
Maaße bei der Strafverfolgung. Hier ſind zur Verweigerung der
Ausſage nur berechtigt: Geiſtliche in Anſehung desjenigen, was
[176]§. 105. Die Zeugenpflicht.
ihnen bei Ausübung der Seelſorge anvertraut iſt; Verthei-
diger des Beſchuldigten in Anſehung desjenigen, was ihnen in
dieſer ihrer Eigenſchaft anvertraut iſt, falls ſie nicht von der Ver-
pflichtung zur Verſchwiegenheit entbunden ſind; und unter der
gleichen Einſchränkung Rechtsanwälte und Aerzte in An-
ſehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung ihres Berufes anver-
traut iſt 1). Oeffentliche Beamte ſind nicht nur befugt, ſondern
auch verpflichtet, über Umſtände, auf welche ſich ihre Pflicht zur
Amtsverſchwiegenheit bezieht, die Zeugenausſage auch im Straf-
prozeß zu verweigern, und es iſt den Gerichten verboten, ſie über
ſolche Umſtände zu vernehmen. Auch dieſe Beſchränkung der Zeug-
nißpflicht fällt aber fort, wenn die vorgeſetzte Dienſtbehörde des
Beamten (oder bei Beamten außer Dienſt die ihnen zuletzt vor-
geſetzt geweſene Dienſtbehörde) die Vernehmung deſſelben geneh-
migt 2), und dieſe Genehmigung darf nur verſagt werden, wenn
die Ablegung des Zeugniſſes dem Wohle des Reiches oder eines
Bundesſtaates Nachtheil bereiten würde 3).
Wird die Ablegung des Zeugniſſes ohne Grund oder nach
Verwerfung des vorgeſchützten Grundes verweigert 4), ſo hat dies
vollkommen analoge Wirkungen wie die Verletzung der Geſtellungs-
pflicht des Zeugen, nämlich:
a) Der Zeuge iſt in die durch die Zeugnißverweigerung ver-
urſachten Koſten, ſowie zu einer Geldſtrafe bis zu 300 M.
und für den Fall, daß dieſe nicht beigetrieben werden kann, zur
Strafe der Haft bis zu ſechs Wochen zu verurtheilen 5). Die
Strafe hat den Charakter der Ordnungsſtrafe und es gilt von ihr
in allen Beziehungen was oben S. 172 von der Ordnungsſtrafe
wegen unentſchuldigten Ausbleibens geſagt iſt.
b) Es kann auf den Zeugen ein Zwang zur Ablegung
des Zeugniſſes ausgeübt werden, indem das Prozeßgericht (der
[177]§. 105. Die Zeugenpflicht.
Unterſuchungsrichter ꝛc. ꝛc.) ihn in Haft nehmen läßt. Die Haft
darf nicht über die Zeit der Beendigung des Verfahrens in der
Inſtanz ausgedehnt werden, da mit dieſem Zeitpunkt die weſent-
liche Vorausſetzung für Erfüllung der Zeugenpflicht fortfällt. Das
Maximum der Zwangshaft beträgt im Strafprozeß die Zeit von
6 Monaten und bei Uebertretungen die Zeit von 6 Wochen 1). In
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten kann die Zwangshaft nur im Falle
wiederholter Weigerung des Zeugen und nur auf Antrag der Pro-
zeßpartei angeordnet werden und es finden auf dieſelbe die Vor-
ſchriften über die Haft im Zwangsvollſtreckungsverfahren entſpre-
chende Anwendung 2). Hiernach hat die Partei, welche den An-
trag ſtellt, die Koſten, welche durch die Haft entſtehen, einſchließ-
lich der Verpflegungskoſten von Monat zu Monat vorauszuzahlen
und die Haft darf die Dauer von 6 Monaten nicht überſteigen 3).
Gegen eine dem aktiven Heere oder der aktiven Marine an-
gehörende Militärperſon erfolgt die Feſtſetzung und Vollſtreckung
der Strafe und der Zwangshaft auf Erſuchen durch das Militär-
gericht 4).
3. Die Pflicht zur Eidesleiſtung.
Der Zeuge muß vor ſeiner Vernehmung den Eid leiſten, daß
er nach beſtem Wiſſen die reine Wahrheit ſagen, nichts verſchwei-
gen und nichts hinzuſetzen werden 5); die Vereidigung kann jedoch
aus beſonderen Gründen bis nach Abſchluß der Vernehmung aus-
geſetzt werden, in dieſem Falle lautet die Eidesformel aſſertoriſch,
daß der Zeuge nach beſtem Wiſſen die reine Wahrheit geſagt,
nichts verſchwiegen und nichts hinzugeſetzt habe 6). Der Schwur
erfolgt unter Anrufung Gottes, „des Allmächtigen und All-
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 12
[178]§. 105. Die Zeugenpflicht.
wiſſenden“ und ſchließt mit den Worten „So wahr mir Gott
helfe“ 1); der Eidesleiſtung wird gleichgeachtet, wenn ein Mit-
glied einer Religionsgeſellſchaft, welcher das Geſetz den Gebrauch
gewiſſer Betheuerungsformeln an Stelle des Eides geſtattet, eine
Erklärung unter der Betheuerungsformel dieſer Religions-Geſell-
ſchaft abgiebt 2).
Aus dem Inhalt des Eides folgt, daß alle Gründe, welche
einen Zeugen zur Verweigerung der Ausſage berechtigen, ihn auch
von der Eidesleiſtung befreien; dagegen kann der Zeuge zur eid-
lichen Verſicherung der Thatſache, auf welche er die Weigerung des
Zeugniſſes ſtützt, angehalten werden, wenn er dieſelbe nicht in an-
derer Art glaubhaft zu machen vermag 3).
Allein die Pflicht zur Eidesleiſtung tritt nicht in allen Fällen
ein, in denen der Zeuge eine Ausſage gemacht hat oder ſie zu
machen bereit iſt; vielmehr beſtehen folgende Ausnahmen:
a) Der Eid darf nicht abgenommen werden ſolchen Perſonen,
die zur Zeit der Vernehmung das 16. Lebensjahr noch nicht voll-
endet oder wegen mangelnder Verſtandesreife oder wegen Ver-
ſtandesſchwäche von dem Weſen und der Bedeutung des Eides
keine genügende Vorſtellung haben; ſowie denjenigen Perſonen,
welche rechtlich unfähig ſind, den Zeugeneid zu leiſten 4).
b) Unbeeidigt zu vernehmen ſind im Civilprozeß Perſonen,
welche bei dem Ausgange des Rechtsſtreits unmittelbar betheiligt
ſind 5); im Strafprozeß diejenigen Perſonen, welche hinſichtlich
der den Gegenſtand der Unterſuchung bildenden That als Theil-
nehmer, Begünſtiger oder Hehler verdächtig oder bereits verur-
theilt ſind 6).
[179]§. 105. Die Zeugenpflicht.
c) Wer zur Verweigerung des Zeugniſſes berechtigt iſt, weil
er zum Beſchuldigten in einem Verhältniß der Angehörigkeit ſteht,
deſſenungeachtet aber eine Ausſage macht, kann die Beeidigung des
Zeugniſſes verweigern und iſt über dieſes Recht zu belehren.
Wenn er zur Leiſtung des Eides bereit iſt, hängt es von dem
richterlichen Ermeſſen ab, ob er unbeeidigt zu vernehmen oder zu
beeidigen iſt 1). Ebenſo ſind in Civilprozeſſen Zeugen, welche zur
Verweigerung des Zeugniſſes berechtigt ſind, weil ſie Angehörige
einer Partei ſind, oder welche die Auskunft über Fragen ablehnen
dürfen, deren Beantwortung ihnen oder einem ihrer Angehörigen
einen unmittelbaren Vermögens-Schaden verurſachen, oder zur
Unehre gereichen oder die Gefahr ſtrafgerichtlicher Verfolgung zu-
ziehen würde, welche deſſenungeachtet aber eine Zeugenausſage
machen, von der Eidesleiſtung frei; das Prozeßgericht kann je-
doch ihre nachträgliche Beeidigung anordnen 2).
d) In Civilprozeſſen können die Parteien auf die Beeidigung
von Zeugen verzichten 3).
Die unberechtigte Weigerung der Leiſtung des Zeugeneides
hat ganz dieſelben Rechtsfolgen wie die unberechtigte Verweigerung
der Ausſage, nämlich Verurtheilung zu den durch die Eidesver-
weigerung verurſachten Koſten, Geldſtrafe bis zu 300 M., an deren
Stelle im Unvermögensfall Haft bis zu ſechs Wochen tritt, und
nach Ermeſſen des Gerichts Haft zur Erzwingung der Eides-
leiſtung 4).
VI.Die Gegenleiſtung des Staates. Die Zeugen-
pflicht iſt nicht unentgeltlich zu erfüllen. Jeder Zeuge ohne
Unterſchied des Berufes, Alters oder Geſchlechts erhält auf ſei-
nen Antrag eine Entſchädigung für Zeitverſäumniß, wofern mit
der letzteren nach der Lebensſtellung des Zeugen eine Beeinträch-
tigung ſeines Erwerbes verbunden iſt 5). Wenn das Erſcheinen
des Zeugen eine Reiſe erforderlich macht, ſo hat er außerdem An-
ſpruch auf Erſtattung der Koſten, welche durch die Reiſe und den
12*
[180]§. 105. Die Zeugenpflicht.
Aufenthalt am Orte der Vernehmung verurſacht werden 1). Dieſer
Anſpruch richtet ſich gegen die Staatskaſſe, wenn die Ladung des
Zeugen von dem Richter oder der Staatsanwaltſchaft erfolgt iſt.
In Civilprozeſſen kann das Gericht die Ladung davon abhängig
machen, daß der Beweisführer einen Vorſchuß zur Deckung der
Staatskaſſe wegen der durch die Vernehmung des Zeugen erwach-
ſenden Auslagen hinterlegt 2). In Strafprozeſſen kann der Ange-
klagte Perſonen, deren Ladung der Richter ablehnt, unmittelbar
laden; einer ſolchen Ladung braucht der Zeuge aber nur Folge
zu leiſten, wenn ihm die geſetzliche Entſchädigung für Reiſekoſten
und Verſäumniß baar dargeboten oder deren Hinterlegung bei dem
Gerichtsſchreiber nachgewieſen wird; auf Antrag des Angeklagten
kann jedoch das Gericht die Uebernahme auf die Staatskaſſe be-
ſchließen 3).
Die Höhe der zu zahlenden Gebühren und Entſchädigungen
iſt in der Gebühren-Ordnung vom 30. Juni 1878 (R.G.Bl. S. 173)
beſtimmt. Sie gilt für alle ordentlichen Gerichte im ganzen Bundes-
gebiet und für die Konſulargerichte 4).
Wenn der Zeuge außerhalb des Bezirks des Gerichtes, vor
welches er geladen iſt, ſeinen Aufenthaltsort hat und die Gebühren
nach dem Rechte des Aufenthaltsortes höher ſind, ſo können die
höheren Beträge gefordert werden 5).
[181]§. 105. Die Zeugenpflicht.
VII.Die Pflicht zur Erſtattung ſachverſtändiger
Gutachten iſt der Zeugenpflicht analog. Nicht nur prozeßrecht-
lich ſteht der Beweis durch Sachverſtändige hinſichtlich des Ver-
fahrens zum großen Theil unter denſelben Regeln wie der Zeugen-
beweis, ſondern auch ſtaatsrechtlich ſind beide Pflichten gleich-
artig 1). Nur inſofern macht ſich ein erheblicher Unterſchied bemerk-
bar, als die freiwillige Uebernahme dieſer Pflicht in weitem Um-
fang zur Anwendung kommt, ſo daß die geſetzliche Verpflich-
tung nur ſubſidiär geltend gemacht wird. Es ſind gutachten-
pflichtig 2):
- 1) Perſonen, welche zur Erſtattung von Gutachten der erfor-
derten Art öffentlich beſtellt ſind, alſo ſich zur Erſtattung
derſelben freiwillig verbindlich gemacht haben. - 2) Perſonen, welche ſich zur Erſtattung des Gutachtens in der
concreten Rechtsſache vor Gericht bereit erklärt haben. - 3) Perſonen, welche die Wiſſenſchaft, die Kunſt oder das Ge-
werbe, deren Kenntniß Vorausſetzung der Begutachtung iſt, öffent-
lich zum Erwerbe ausüben oder zur Ausübung derſelben
öffentlich beſtellt oder ermächtigt ſind.
[182]§. 105. Die Zeugenpflicht.
Wenn Perſonen zur Erſtattung von Gutachten gewiſſer Art
öffentlich beſtellt ſind, ſo ſollen andere Perſonen nur dann als
Sachverſtändige berufen werden, wenn beſondere Umſtände es er-
fordern 1); hierin liegt die Anerkennung der Subſidiarität der ge-
ſetzlichen Begutachtungspflicht.
Dieſelben Gründe, welche einen Zeugen berechtigen, das Zeug-
niß zu verweigern, berechtigen einen Sachverſtändigen zur Ver-
weigerung des Gutachtens 2); die Unterſchiede, welche in dieſer
Beziehung zwiſchen dem Strafverfahren und dem Civilprozeß hin-
ſichtlich der Zeugenpflicht beſtehen, gelten daher auch für die Pflicht
als Sachverſtändiger zu fungiren. Allein praktiſch iſt dies von
geringer Bedeutung; denn das Gericht iſt befugt, „auch aus an-
deren Gründen“ d. h. nach freiem Ermeſſen einen Sachverſtän-
digen von der Verpflichtung zur Erſtattung des Gutachtens zu ent-
binden, und da nach der Natur der Sache die Fähigkeit zur Be-
gutachtung nicht wie die zur Zeugenausſage auf eine oder einige in-
dividuell beſtimmte, unvertretbare Perſonen beſchränkt iſt, ſondern
den Behörden und Parteien faſt immer die Auswahl unter einer
größeren Zahl von Sachverſtändigen frei ſteht, ſo kann man trotz
der formellen Anerkennung der geſetzlichen Begutachtungspflicht
annehmen, daß in der Regel Niemand gegen ſeinen begründeten
Widerſpruch zur Abgabe gerichtlicher Gutachten angehalten wird.
Dem entſpricht es, daß ein Zwang zur Abgabe des Gutachtens
durch Vorführung oder durch Haft nicht ausgeübt werden darf.
Iſt ein zur Erſtattung des Gutachtens (freiwillig oder geſetzlich)
verpflichteter Sachverſtändiger gegen den Befehl des Gerichts un-
gehorſam, indem er auf Vorladung nicht erſcheint oder indem er
ſich weigert, das Gutachten zu ertheilen oder den erforderlichen
Eid zu leiſten, ſo iſt er zum Erſatz der dadurch verurſachten Koſten
und in eine Ordnungsſtrafe bis zu 300 Mark zu verurtheilen,
die im Falle wiederholten Ungehorſams noch einmal und zwar
bis zu 600 Mark verhängt werden kann 3). Die Subſtituirung
[183]§. 106. Die Koſten und Gebühren.
einer Freiheitsſtrafe im Unvermögensfall iſt unzuläſſig. Der Sach-
verſtändige hat nicht nur auf Entſchädigung für Zeitverſäumniß
und auf Erſtattung der ihm verurſachten Koſten, ſondern außerdem
auf angemeſſene Vergütung für ſeine Mühewaltung Anſpruch 1).
Die näheren Vorſchriften hierüber ſind in dem Geſetz v. 30. Juni
1878 (R.G.Bl. S. 173) enthalten.
§. 106. Die Koſten und Gebühren*).
Zwiſchen der ſtaatsrechtlichen Geſtaltung des Heerweſens und
derjenigen des Gerichtsweſens im Deutſchen Reiche beſteht eine der
weſentlichſten Verſchiedenheiten darin, daß die Koſten des geſamm-
ten Heerweſens gemeinſchaftliche ſind, dagegen die Koſten des Ge-
richtsweſens von demjenigen getragen werden, dem die Gerichts-
barkeit zuſteht, alſo in der Hauptſache von den Einzelſtaaten und
nur hinſichtlich der durch Reichsbehörden ausgeübten Gerichtsbar-
keit von dem Reiche. Da die Gerichtsbarkeit aber zugleich eine
Quelle ſehr erheblicher Einnahmen iſt, ſo gilt der gleiche Grund-
ſatz ſelbſtverſtändlich auch von den Gerichtsgefällen; ſie bilden ein
Correlat der mit Ausübung der Gerichtsbarkeit verknüpften Finanz-
laſten. Man kann Beides in dem Grundſatz zuſammenfaſſen:
Das Reich und die Einzelſtaaten üben die ihnen zuſtehende Ge-
richtsbarkeit für eigene Rechnung aus. Hierin liegt der
Grund für die erheblich größere Freiheit der Selbſtverwaltung
der Einzelſtaaten auf dem Gebiet der Rechtspflege wie auf dem-
jenigen des Heerweſens. Allein von einer ſouveränen Selbſtbe-
ſtimmung der Einzelſtaaten iſt auch in dieſer Hinſicht keine Rede;
ſie ſind vielmehr in den wichtigſten Beziehungen durch die vom
Reiche aufgeſtellten Normen gebunden und auf die Anwendung
derſelben in den einzelnen Fällen beſchränkt. Es gilt dies nament-
lich von denjenigen Einnahmen, welche einen unmittelbaren Zu-
ſammenhang mit der Gewährung des Rechtsſchutzes in den ein-
zelnen Rechtsſachen haben und die deshalb mit der Einheitlichkeit
3)
[184]§. 106. Die Koſten und Gebühren.
der Gerichtsorganiſation und des gerichtlichen Verfahrens gleich-
mäßig geregelt werden mußten, von den Prozeßkoſten. Um das
Verhältniß der Autonomie der Einzelſtaaten zu der Geſetzgebung
des Reiches zu beſtimmen, iſt daher im Weſentlichen folgende
Unterſcheidung zu machen:
Die Autonomie der Einzelſtaaten beſteht hinſichtlich aller der-
jenigen Koſten, welche als Staatsverwaltungskoſten von den
Staatskaſſen zu tragen ſind, da in dieſer Hinſicht für das
Reich keine Veranlaſſung zur Bevormundung der Einzelſtaaten
gegeben war; dagegen greift die Reichsgeſetzgebung Platz hinſicht-
lich aller derjenigen Koſten, welche von den Parteien zu tragen
ſind, und zwar auch dann, wenn die Beträge zunächſt von der
Staatskaſſe zu zahlen und von den Parteien nur eventuell ihr zu
erſetzen ſind, wie z. B. Gebühren für Zeugen und Sachverſtändige.
Aus dieſem Prinzip ergiebt ſich, daß ſich die Autonomie
der Einzelſtaaten erſtreckt: auf alle ſächlichen Ausgaben der
Gerichtsverwaltung, auf die Höhe der Reiſekoſten, welche den
Schöffen, Geſchworenen und Mitgliedern des Ausſchuſſes zur Auf-
ſtellung der Dienſtliſten zu gewähren ſind, und insbeſondere auf
die Normirung der Gehalte und anderen Dienſteinkünfte ſowie
der Penſionsverhältniſſe aller im Juſtizdienſte berufsmäßig ange-
ſtellten Beamten mit Einſchluß der richterlichen. Für die Juſtiz-
beamten giebt es keine vom Reiche aufgeſtellten Normalbeſoldungs-
ſätze wie für die Offiziere und Militärbeamten.
Dagegen erſtreckt ſich die Reichsgeſetzgebung unter Ausſchluß
der einzelſtaatlichen Autonomie für den Bereich der ordentlichen
ſtreitigen Gerichtsbarkeit auf folgende Punkte:
1. Die Verpflichtungsgründe zur Zahlung oder
zur Erſtattung von Prozeßkoſten. Dieſelben ſind in den Prozeß-
Ordnungen beſtimmt 1). Die Frage, wer zur Tragung der Prozeß-
koſten verpflichtet iſt, bildet einen Nebenbeſtandtheil jeder rechts-
hängigen Sache und iſt in jedem einzelnen Falle ex officio durch
richterliche Entſcheidung feſtzuſtellen 2). Eine nähere Erörterung
dieſer Verpflichtungsgründe iſt ohne ſtaatsrechtliches Intereſſe; ſie
[185]§. 106. Die Koſten und Gebühren.
beruhen auf dem durch die Natur der Sache gebotenen Prinzip,
daß derjenigen Partei die Koſten des Verfahrens oder einzelner
Theile deſſelben aufzuerlegen ſind, welche dieſe Koſten veranlaßt
hat 1). Hervorzuheben iſt in dieſer Hinſicht nur, daß die noth-
wendigen Auslagen, welche einem freigeſprochenen oder außer
Verfolgung geſetzten Angeſchuldigten erwachſen ſind, der Staats-
kaſſe auferlegt werden können2).
2. Die Verpflichtungsgründe zur Sicherheits-
leiſtung. Im Strafprozeß kann vor der gerichtlichen Ent-
ſcheidung über einen Antrag auf Strafverfolgung dem Antrag-
ſteller die Leiſtung einer Sicherheit für die durch das Verfahren
über den Antrag und durch die Unterſuchung der Staatskaſſe und
dem Beſchuldigten vorausſichtlich erwachſenden Koſten durch Be-
ſchluß des Gerichts auferlegt werden 3).
In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und bei Strafſachen
in dem Verfahren auf erhobene Privatklage beſteht eine zweifache
Verpflichtung zur Sicherheitsleiſtung, ſowohl dem Gegner als dem
Fiskus gegenüber.
a) Der Gegenpartei iſt auf deren Verlangen Sicherheit
wegen der Prozeßkoſten zu leiſten von einem Ausländer, wel-
cher als Kläger auftritt, ſoweit nicht eine der im §. 102
Ziff. 1—5 der Civilpr.O. aufgeführten Ausnahmen begründet iſt 4).
b) Dem Fiskus iſt Sicherheit für die Koſten unter dem
Namen „Gebührenvorſchuß“ zu leiſten. Der Gebührenvor-
ſchuß iſt von dem Antragſteller für jede Inſtanz zu entrichten, auch
von dem Widerkläger und im Falle wechſelſeitig eingelegter Rechts-
mittel von jeder Partei 5); ferner im Konkursverfahren von dem
[186]§. 106. Die Koſten und Gebühren.
Antragſteller bei dem Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens,
bei der Anmeldung einer Konkursforderung nach dem Ablaufe der
Anmeldefriſt, und bei dem Antrag auf Anordnung einer Sicher-
heitsmaßregel (Konk.O. §. 183 Abſ. 2) 1); endlich in Strafſachen
von dem Privatkläger oder demjenigen, welcher als Privatkläger
eine Berufung oder Reviſion einlegt oder Wiederaufnahme des
Verfahrens beantragt, ſowie von dem Nebenkläger, welcher eine
Berufung oder Reviſion einlegt 2). In Strafſachen beträgt der
Gebührenvorſchuß 10 Mark für jede Inſtanz, in bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten ſoviel, wie die höchſte Gebühr, welche für einen Akt
der Inſtanz zum Anſatze kommen kann; für Ausländer, welche
als Kläger auftreten, wird der Betrag verdreifacht, wofern nicht
eine der im §. 85 Ziff. 1—6 des Gerichtskoſtengeſetzes aufge-
führten Ausnahmen begründet iſt 3). Außerdem iſt in bürgerlichen
Rechtsſtreitigkeiten und im Strafverfahren auf erhobene Privat-
klage bei jedem Antrag auf Vornahme einer Handlung, mit wel-
cher baare Auslagen verbunden ſind, ein zur Deckung derſelben
hinreichender Vorſchuß an den Antragſteller zu zahlen 4).
3. Befreiungsgründe von der Pflicht zur Zahlung der
Gebühren oder des Gebührenvorſchuſſes können im Wege der Au-
tonomie von jedem Staate für das Verfahren vor ſeinen Gerichten
anerkannt werden; demgemäß ſind die landesgeſetzlichen Vorſchriften,
welche für gewiſſe Rechtsſachen oder für gewiſſe Perſonen in dem
Verfahren vor den Landesgerichten Gebührenfreiheit gewähren,
durch die Reichsgeſetzgebung unberührt geblieben 5). Für das
Verfahren vor dem Reichsgerichte kann die Befreiung von Gebühren
durch Kaiſerl. Verordnung mit Zuſtimmung des Bundesraths ge-
währt werden 6).
Jedoch ſind reichsgeſetzlich folgende Befreiungen von Gebühren
und Gebührenvorſchuß anerkannt:
a) Volle Gebührenfreiheit ſteht zu dem Reich in dem
[187]§. 106. Die Koſten und Gebühren.
Verfahren vor den Landesgerichten und den Bundesſtaaten in dem
Verfahren vor dem Reichsgerichte 1).
b) Befreiung von der Sicherheitsleiſtung für die Prozeßkoſten
und einſtweilige Befreiung von der Berichtigung der rückſtän-
digen und künftig erwachſenden Gerichtskoſten, einſchließlich der
Gebühren der Beamten, der den Zeugen und den Sachverſtändigen
zu gewährenden Vergütung und der ſonſtigen baaren Auslagen,
ſowie der Stempelſteuer erlangt eine Partei in bürgerlichen Rechts-
ſtreitigkeiten durch Bewilligung des Armenrechts2). Auf Be-
willigung des Armenrechts hat nur Anſpruch, wer außer Stande
iſt, ohne Beeinträchtigung des für ihn und ſeine Familie nothwen-
digen Unterhalts die Koſten des Prozeſſes zu beſtreiten 3); es iſt
zu verſagen, wenn die beabſichtigte Rechtsverfolgung oder Rechts-
vertheidigung muthwillig oder ausſichtslos erſcheint 4).
Ausländer haben auf das Armenrecht nur inſoweit Anſpruch,
als die Gegenſeitigkeit verbürgt iſt 5), was in der Regel nur durch
Abſchluß eines Staatsvertrages geſchehen kann 6). Ueber das Ge-
ſuch um Bewilligung des Armenrechts entſcheidet das Prozeßge-
richt und zwar erfolgt die Bewilligung für jede Inſtanz beſonders 7).
Das Armenrecht kann zu jeder Zeit entzogen werden, wenn ſich
ergiebt, daß eine Vorausſetzung der Bewilligung nicht vorhanden
war oder nicht mehr vorhanden iſt, und es erliſcht mit dem Tode
der Perſon, welcher es bewilligt iſt 8). Sobald die Partei, der
[188]§. 106. Die Koſten und Gebühren.
das Armenrecht gewährt iſt, ohne Beeinträchtigung des für ſie
und ihre Familie nothwendigen Unterhalts dazu im Stande iſt,
beſteht für ſie die Verpflichtung zur Nachzahlung der Beträge, von
deren Berichtigung ſie einſtweilen befreit war 1).
c) Den Gerichten iſt die Befugniß ertheilt, Gebühren, welche
durch eine unrichtige Behandlung der Sache ohne Schuld der
Betheiligten entſtanden ſind, niederzuſchlagen und für ab-
weiſende Beſcheide, wenn der Antrag auf nicht anzurechnender Un-
kenntniß der Verhältniſſe oder auf Unwiſſenheit beruht, Gebüh-
renfreiheit zu gewähren 2).
4. Reichsgeſetzlich feſtgeſtellt iſt die Höhe der Gebühren
für das gerichtliche Verfahren 3) ſowie das Verzeichniß derjenigen
baaren Auslagen, welche außer den Gebühren erhoben werden
dürfen 4). Daſſelbe gilt von den Gebühren und Auslagen, welche
Gerichtsvollzieher für die ihnen obliegenden Geſchäfte in den vor
die ordentlichen Gerichte gehörigen Rechtsſachen erheben dürfen,
jedoch nur inſoweit eine der 3 Prozeßordnungen Anwendung findet 5).
In dieſer Hinſicht iſt indeſſen der Autonomie der Einzelſtaaten ein,
freilich ſehr beſchränkter, Spielraum gewährt 6). Endlich ſind auch
die den Zeugen und Sachverſtändigen in den zur ordentlichen ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit gehörenden Rechtsſachen zu gewährenden Ver-
gütungen in dem Reichsgeſ. v. 30. Juli 1878 (R.G.Bl. S. 173)
feſtgeſetzt.
5. Zum Zweck der Einziehung von Gebühren und Auslagen
ſind die Behörden im ganzen Bundesgebiet einander Beiſtand zu
leiſten verpflichtet. Die näheren Anordnungen hierüber ſind vom
Bundesrath zu erlaſſen 7). Auf Grund dieſer Ermächtigung hat
der Bundesrath in der Sitzung vom 23. April 1880 eine „An-
weiſung“ beſchloſſen 8).
[189]§. 106. Die Koſten und Gebühren.
Ueber die Einziehung und Verrechnung der für die Geſchäfte
des Reichsgerichts in Anſatz kommenden Koſten iſt vom Bun-
desrath am 21. Juni 1879 eine „Dienſtweiſung“ beſchloſſen wor-
den 1). Ueber die Koſten und Gebühren der Konſularge-
richte vgl. §. 44 des Geſetzes über die Konſulargerichtsbarkeit
und die hierzu ergangene Inſtruction des Reichskanzlers v. 10. Sep-
tember 1879 2).
[[190]]
Zwölftes Kapitel.
Das Finanzweſen des Reiches.
Erſter Abſchnitt. Das Reichsvermögen.
§. 107. Der Reichsfiskus*).
I. Die Frage, ob das Deutſche Reich in vermögensrechtlicher
Beziehung nach Art einer Societät oder nach Art einer Korporation
conſtituirt iſt und ob es nicht blos eine Reichskaſſe als Vereins-
kaſſe, ſondern einen wirklichen Reichsfiskus als ſelbſtſtändiges
Vermögensſubject giebt, iſt in der Verfaſſungs-Urkunde ſelbſt nicht
unmittelbar und ausdrücklich beantwortet. Der Ausdruck „Bundes-
fiskus“ oder „Reichsfiskus“ kommt darin nicht vor; ebenſowenig
iſt ein ſelbſtſtändiges Vermögen des Reiches erwähnt. Es giebt nur
„gemeinſchaftliche“ Einnahmen und Ausgaben der „Reichskaſſe“,
deren Differenz durch „Beiträge der einzelnen Bundesſtaaten“ ge-
deckt werden ſoll; auch kann in Fällen eines außerordentlichen Be-
dürfniſſes die Aufnahme einer Anleihe „zu Laſten des Reiches“
erfolgen 1). Die Annahme einer privatrechtlichen Perſönlichkeit iſt
durch dieſe Beſtimmungen nicht nothwendig geboten; ſie laſſen die
Conſtruction eines unter den Bundesmitgliedern beſtehenden Ge-
[191]§. 107. Der Reichsfiskus.
ſellſchafts-Verhältniſſes zu 1); und es hat wol auch thatſächlich bei
der Errichtung des Norddeutſchen Bundes darüber keine Klarheit
beſtanden, ob ſich der Begriff des Fiskus dem neu geſchaffenen
politiſchen Organismus werde einfügen laſſen oder ob das die Ver-
faſſung des Zollvereins beherrſchende Societätsprincip auch in das
neue Bundesverhältniß werde herübergenommen werden können und
ſich als ausreichend erweiſen würde. Für die Finanz wirth-
ſchaft des Bundes war das zuletzt erwähnte Princip nicht nur
Anfangs maßgebend, ſondern noch gegenwärtig beherrſcht es das
Finanzweſen des Reiches.
Allein die Exiſtenz eines Reichsfiskus im juriſtiſchen Sinne
des Wortes d. h. als eines von der privatrechtlichen Perſönlichkeit
der Bundesglieder verſchiedenen und ihnen gegenüber unabhängigen
Privatrechtsſubjekts ergiebt ſich aus der ſtaatsrechtlichen Natur des
Reiches als eines Bundesſtaats. Denn da es ein unbezweifelter
Satz des gemeinen Rechts iſt, daß jeder Staat ipso jure eine ſelbſt-
ſtändige, unabhängige privatrechtliche Perſönlichkeit hat, ohne daß
ſie ihm durch ausdrückliche Geſetzesbeſtimmung beigelegt zu werden
braucht, ſo nimmt auch der Bundesſtaat, der ja ein wahrer und
wirklicher Staat iſt, an dieſer allgemeinen Eigenſchaft aller Staaten
Theil 2). Seitdem der Deutſche Bundesſtaat ſeine politiſche Thätig-
keit entfaltet und fortgebildet hat, iſt auch in der Geſetzgebung der
Reichsfiskus poſitiv anerkannt worden und die rechtliche Exiſtenz
deſſelben unterliegt zur Zeit keinem Zweifel mehr 3).
II. Der Reichsfiskus iſt identiſch mit dem Reich; er bezeichnet
das Reich als Vermögensſubjekt. Daraus folgt, daß es nur
[192]§. 107. Der Reichsfiskus.
Einen Reichsfiskus giebt. Sowie das Reich in ſtaatsrechtlicher
Hinſicht eine Perſon, d. h. ein einheitliches Subjekt von Hoheits-
rechten iſt, trotz der großen Verſchiedenheit der Formen und Regeln,
welche für die Ausübung der einzelnen Hoheitsrechte gelten, ſo iſt
auch das Reich in privatrechtlicher Hinſicht eine Perſon d. h. ein
einheitliches Subjekt von Vermögensrechten, unbeſchadet der Mannig-
faltigkeit von Vorſchriften, nach denen die Verwaltung der ver-
ſchiedenen Vermögensmaſſen ſich richtet. Da die einzelnen Ver-
mögensmaſſen (Fonds) aber theils rechnungsmäßig von einander
geſondert werden müſſen, um ſie ihrem beſtimmungsmäßigen Zweck
zu erhalten, theils die Verwaltung derſelben im engſten Zuſammen-
hange mit der Organiſation der einzelnen Reſſorts geordnet iſt,
ſo liegt es nahe, den Reichsfiskus dieſer Gliederung entſprechend
zu ſpecialiſiren und z. B. einen „Poſtfiskus“ oder „Marinefiskus“
aus dem allgemeinen Reichsfiskus herauszuheben. Dieſer Sprach-
gebrauch findet ſich auch in der Reichsgeſetzgebung 1); er darf aber
nicht dazu verleiten, mehrere von einander ſelbſtſtändige d. h. als
Perſonen des Privatrechts conſtituirte Specialfisci des Reiches an-
zunehmen. Es ſind nur Bezeichnungen des einheitlichen Reichs-
fiskus mit Bezug auf einzelne Fonds oder einzelne Verwaltungs-
zweige.
Hieraus ergiebt ſich eine für das Finanzrecht ſehr wichtige Con-
ſequenz. Durch die Einheit des Reichsfiskus iſt es nämlich abſolut
ausgeſchloſſen, daß unter den Spezial- oder Reſſort-Fisci Rechts-
verhältniſſe irgend welcher Art beſtehen; nur formell d. h. rech-
nungsmäßig können und müſſen die einzelnen Stationen des Fiskus
mit einander wie ſelbſtſtändige Rechtsſubjekte verkehren 2), um die
Ordnung und Ueberſichtlichkeit der Staatswirthſchaft aufrecht zu
erhalten, ſowie auch in einer umfangreichen Privatwirthſchaft die
[193]§. 107. Der Reichsfiskus.
einzelnen Kaſſen oder Fonds rechnungsmäßig wie verſchiedene Per-
ſonen behandelt zu werden pflegen.
Dagegen iſt es unmöglich, daß der Verwaltung eines Reſſorts
actuell wirkſame, reell exiſtirende Anſprüche gegen den Reichsfiskus
oder ein anderes Reſſort deſſelben zuſtehen; da eine Perſon nicht
vermögensrechtliche Verpflichtungen gegen ſich ſelbſt haben kann.
Dieſer Satz gilt auch von ſolchen Fonds, welche durch Geſetz einem
beſtimmten Zweck in der Art zugewieſen worden ſind, daß der
Regierung jede anderweitige Verwendung unterſagt iſt, z. B. vom
Reichskriegsſchatz oder dem Invalidenfonds; ſie ſind zwar verwal-
tungsrechtlich von dem übrigen Vermögen des Reichs ausgeſchieden,
aber nicht der Subſtanz nach 1).
Andererſeits ſind vom Fiskus des Reiches wohl zu unter-
ſcheiden ſolche Vermögensmaſſen, welche der Verwaltung einer
Reichsbehörde unterſtellt ſind oder welche mittelbar den Intereſſen
des Reiches dienen, deren Eigenthum aber nicht dem Reiche zuſteht.
Dies gilt insbeſondere von der Reichsbank 2) und von den vom
Reiche verwalteten Stiftungen 3).
Völlig verſchieden vom Reichsfiskus iſt auch der Fiskus von
Elſaß-Lothringen; denn wenngleich die Landeshoheit über das
Reichsland dem Reich zuſteht, ſo iſt doch die Finanzwirthſchaft des
Landes von der des Reiches ganz ebenſo getrennt, wie die Finanz-
wirthſchaft der Bundesſtaaten 4).
III. Das Nebeneinanderbeſtehen des Reichsfiskus und der
Fisci der Einzelſtaaten iſt durch das bundesſtaatliche Verhältniß
ſelbſt gegeben; es entſpricht der Doppelſtaatsgewalt des Reiches
und der Bundesglieder. Die Unterſcheidung der beiden Fisci iſt
aber nicht in allen Fällen eine einfache und zweifelsfreie. Im
Allgemeinen gilt der in der Natur der Sache begründete Rechts-
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 13
[194]§. 107. Der Reichsfiskus.
ſatz, daß die vermögensrechtlichen Befugniſſe und Verpflichtungen
des Reichs, beziehungsweiſe der Einzelſtaaten, den Verwaltungs-
befugniſſen entſprechen, daß demnach in allen Reſſorts, auf welche
ſich die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten erſtreckt, die bei Aus-
übung der letzteren entſtehenden vermögensrechtlichen Verhältniſſe
den betreffenden Staatsfiskus angehen, während für den Reichs-
fiskus Rechte und Verbindlichkeiten nur aus denjenigen Rechts-
geſchäften entſtehen, welche entweder durch Reichsbehörden oder
von Landesbehörden im Namen des Reiches abgeſchloſſen wer-
den. Dieſer Rechtsſatz darf aber nicht verwechſelt werden mit der
verbreiteten Annahme, daß der Reichsfiskus diejenigen Reſſorts
umfaſſe, welche für Rechnung des Reiches verwaltet werden.
Wenngleich die Reichsverwaltung meiſtens für Rechnung des Rei-
ches, die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten für Rechnung der letz-
teren geführt wird, ſo trifft dies doch keineswegs immer zu. Ins-
beſondere wird die Verwaltung der Militär-Angelegenheiten von
den Einzelſtaaten für Rechnung des Reiches und nach den im Reichs-
etat gegebenen Anſätzen geführt; der „Militärfiskus“ iſt aber nicht
Reichsfiskus, ſondern er iſt identiſch mit dem Fiskus derjenigen
Staaten, welche eine ſelbſtſtändige Militärverwaltung haben 1).
Ebenſo wird die Erhebung der Zölle und Verbrauchsabgaben von
den Einzelſtaaten für Rechnung des Reiches beſorgt; aber auch
hier iſt der „Zoll- und Steuerfiskus“ unbeſtritten Landesfiskus 2).
Andererſeits war der „Poſtfiskus“, abgeſehen von Bayern und
Württemberg, ſchon zu der Zeit Reichsfiskus, als noch gemäß
Art. 51 der R.V. die Poſtüberſchüſſe den Einzelſtaaten zu Gute
gerechnet wurden 3), und inſoweit gegenwärtig die von Reichs-
behörden erhobenen Abgaben theilweiſe den Einzelſtaaten zuge-
wieſen werden, treffen doch die vermögensrechtlichen Anſprüche und
Verpflichtungen, welche aus dieſen Verwaltungsgeſchäften reſul-
tiren, den Reichsfiskus allein. In allen Fällen, in denen die Ein-
zelſtaaten Verwaltungsgeſchäfte für Rechnung des Reiches oder
[195]§. 107. Der Reichsfiskus.
die Reichsbehörden Verwaltungsgeſchäfte für Rechnung der Einzel-
ſtaaten verſehen, entſtehen zweierlei vermögensrechtliche Be-
ziehungen; Dritten gegenüber wird formell der Fiskus des-
jenigen Gemeinweſens verpflichtet und berechtigt, zu deſſen Ver-
waltungskompetenz das betreffende Geſchäft gehört; materiell aber
wird das pekuniäre Reſultat auf denjenigen Fiskus übertragen,
für deſſen Rechnung die Verwaltung geführt wird.
IV. Die Vertretung des Reichsfiskus beſtimmt ſich
durch die Organiſation der Reichsbehörden und durch die Kompe-
tenz, welche den einzelnen Behörden und Beamten nach den Vor-
ſchriften der Geſetze und Verordnungen zuſteht. In dieſer Be-
ziehung iſt auf die Darſtellung der einzelnen Verwaltungen zu ver-
weiſen, bei welcher auch auf die Vertretung des Fiskus Rückſicht
genommen worden iſt 1). Als allgemeiner Grundſatz iſt feſtzuhalten,
daß ſubſidiär, d. h. ſoweit nicht durch beſondere Anordnung
einer andern Behörde die Vertretungsbefugniß ertheilt iſt, die Ver-
tretung des Reichsfiskus dem Reichskanzler zuſteht.
Die verwaltungsrechtlichen Vorſchriften regeln auch die Ver-
tretung des Fiskus in Prozeſſen und zwar ſind es meiſtens die
oberen Behörden, welche zur Prozeßführung berufen ſind 2). Mit-
telbar beſtimmt ſich hierdurch auch der Gerichtsſtand des
Reichsfiskus, indem §. 20 der Civilproz.Ordnung den Grund-
ſatz ſanctionirt hat:
„Der allgemeine Gerichtsſtand des Fiskus wird durch den
Sitz der Behörde beſtimmt, welche berufen iſt, den Fiskus
in dem Rechtsſtreite zu vertreten.“
13*
[196]§. 107. Der Reichsfiskus.
Der Reichsfiskus hat demnach, obgleich er eine einheitliche
Rechtsperſönlichkeit iſt, keinen einheitlichen allgemeinen Gerichts-
ſtand; der letztere beſtimmt ſich vielmehr nach den Geſchäftskreiſen
der zur Prozeßvertretung berufenen Behörden. Deſſenungeachtet
iſt dieſer Gerichtsſtand des Fiskus keine Singularität; er ent-
ſpricht dem Gerichtsſtande der Niederlaſſung nach §. 22 der
Civilproz.Ordn. Jede fiskaliſche Station iſt einer Niederlaſſung
im Sinne dieſes Paragraphen gleichzuachten und als „Zweignieder-
laſſung“ des (einheitlichen) Reichsfiskus zu bezeichnen.
V. Für den Reichsfiskus gelten in jedem Rechtsgebiete die-
jenigen Rechtsregeln, welche die dort geltende Geſetzgebung hin-
ſichtlich des einheimiſchen Staatsfiskus aufſtellt; er nimmt daher
auch Theil an den landesgeſetzlich anerkannten fiskaliſchen Privi-
legien. Es folgt dieſe Regel aus der Natur des Bundesſtaates.
Eine Anzahl von Aufgaben des Staates ſind an das Reich über-
gegangen, deren Durchführung nicht blos vermittelſt der Ausübung
von Hoheitsrechten (Staatsgewalt), ſondern auch vermittelſt des
Abſchluſſes vermögensrechtlicher Geſchäfte erfolgt oder welche ver-
mögensrechtliche Verhältniſſe hervorbringen. Dieſelben Gründe,
auf denen die Nothwendigkeit beruht, daß jeder Staat zugleich
Subjekt von Herrſchaftsrechten und von Privatrechten iſt, führen
auch zu der Conſequenz, daß, ſoweit die Reichsgewalt an die Stelle
der Einzelſtaatsgewalt getreten iſt, auch der Reichsfiskus die Stelle
des Landesfiskus eingenommen hat und daß demnach die Rechts-
grundſätze, welche vor der Gründung des Bundes für den ein-
heitlichen Fiskus des Staates gegolten haben, nunmehr ſowohl für
den Reichsfiskus als auch für den Landesfiskus in Geltung ſtehen 1).
[197]§. 107. Der Reichsfiskus.
Der Reichsfiskus hat demnach kein einheitliches Recht;
inſoweit die Verſchiedenheit der Partikularrechte im Bundesgebiet
noch fortbeſteht, trifft dieſelbe auch den Reichsfiskus, und inſoweit
das Partikularrecht der Fortbildung und Veränderung durch die
Autonomie der Einzelſtaaten unterliegt, können die Rechtsvor-
ſchriften über die privilegia fisci nicht nur hinſichtlich des Landes-
fiskus, ſondern auch hinſichtlich des Reichsfiskus im Wege der
Landesgeſetzgebung abgeändert werden 1).
Es kann ſich nun aber im einzelnen Rechtsfalle die Frage er-
heben, welches der verſchiedenen Partikularrechte auf den Reichs-
fiskus in Anwendung zu bringen iſt. Da ein Sonderrecht für den
Fiskus in dieſer Hinſicht nicht beſteht, ſo müſſen die allgemeinen,
freilich controverſen Regeln über die örtliche Geltung der Rechts-
ſätze Platz greifen. Für die dinglichen Rechte, namentlich für die
Rechtsverhältniſſe an Grundſtücken geſtaltet ſich die Beantwortung
der Frage einfach; ſie ſind nach den statuta rei sitae zu beur-
theilen. Ebenſo einfach und zweifellos iſt der Satz, daß in Betreff
der Form der Geſchäfte das Recht des Ortes, an welchem der
Vertrag abgeſchloſſen worden iſt, entſcheidet. Für die materielle
Beurtheilung der Schuldverhältniſſe kömmt in der Regel das Recht
des Erfüllungsortes zur Anwendung; als Erfüllungsort iſt aber
in der Mehrzahl der Fälle der Wohnort des Schuldners anzuſehen.
Demnach muß in vielen Fällen die Frage, nach welchem Rechte
die Verpflichtungen und Vorrechte des Reichsfiskus zu beurtheilen
ſind, praktiſch zuſammenfallen mit der Frage: Wo hat der
Reichsfiskus ſeinen Wohnſitz? Dieſe Frage iſt ganz ebenſo
zu beantworten, wie es oben hinſichtlich des allgemeinen Gerichts-
ſtandes geſchehen iſt. Jede zur Vertretung des Reichsfiskus be-
fugte Behörde (fiskaliſche Station) iſt als eine Zweignieder-
laſſung des Reichsfiskus anzuſehen, deren amtlicher Sitz
für den zu ihrer Zuſtändigkeit gehörenden Kreis von Geſchäften
ein (Spezial-)Wohnſitz des Reichsfiskus iſt. Berlin iſt daher
zwar der generelle Wohnſitz des Reichsfiskus, weil der Reichs-
kanzler dort ſeinen Amtsſitz hat, dem, wie bereits erwähnt worden
[198]§. 107. Der Reichsfiskus.
iſt, eine generelle, ſubſidiäre Befugniß zur Vertretung des Reichs-
fiskus zuſteht; daneben giebt es aber ſo viele Spezial-Wohnſitze
des Reichsfiskus als es mit Vertretungsbefugniß ausgeſtattete
Reichsbehörden giebt. Als das Reſultat dieſer Erörterung iſt da-
her der Satz zu formuliren, daß die Rechtsverhältniſſe des Fiskus
nach dem Rechte des Ortes zu beurtheilen ſind, an welchem die
im concreten Falle zur Vertretung des Fiskus zuſtändige Behörde
ihren Amtsſitz hat 1).
Unter den privilegia fisci laſſen ſich drei Gruppen unter-
ſcheiden:
1. Prozeſſualiſche Vorrechte. Dieſelben ſind durch
die Reichsjuſtizgeſetze auf folgende beſchränkt:
- a) Das Reich iſt in dem Verfahren vor den Landesgerichten
von Zahlung der Gebühren befreit 2). - b) In Konkurſen ſteht die Reichskaſſe in Anſehung der zu-
rückgehaltenen oder in Beſchlag genommenen zoll- und ſteuerpflich-
tigen Sachen dem Fauſtpfandgläubiger gleich 3), und ſie hat einen
Anſpruch auf vorzugsweiſe Befriedigung hinſichtlich ihrer Forde-
rungen wegen öffentlicher Abgaben, welche im letzten Jahre vor
der Eröffnung des Verfahrens fällig geworden ſind 4). - c) Aufrechterhalten ſind die landes geſetzlichen Vorſchriften
über die Zwangsvollſtreckung wegen Geldforderungen gegen den
Fiskus, inſoweit nicht dingliche Rechte verfolgt werden 5).
2. Privatrechtliche Privilegien. Eine Aufzählung
[199]§. 107. Der Reichsfiskus.
der Beſtimmungen der einzelnen Partikularrechte iſt ohne ſtaats-
rechtliches Intereſſe, zumal dieſelben den modernen Rechtsanſchau-
ungen und der gegenwärtigen Staatsauffaſſung größtentheils ſo
wenig entſprechen, daß das zu erwartende Reichscivilgeſetzbuch vor-
ausſichtlich ſie erheblich einſchränken oder ganz beſeitigen wird 1).
3. Steuerbefreiungen. Die Steuerfreiheit iſt das prak-
tiſch wichtigſte Vorrecht des Fiskus. Im Einzelſtaate verſteht ſich
die Freiheit des Fiskus von allen für die Staatskaſſe zu
erhebenden direkten Steuern, Stempelabgaben und Gebühren von
ſelbſt wegen der Identität des Fiskus und der Staatskaſſe. Für
den Reichsfiskus folgt aus dieſem Argument aber nur die Freiheit
deſſelben von denjenigen Abgaben, welche in die Reichskaſſe fließen;
dagegen beſteht kein in der Sache ſelbſt liegendes Hinderniß, daß
der Reichsfiskus Steuern und Gebühren den Einzelſtaaten zn ent-
richten habe, ſowie andererſeits auch die Fisci der Einzelſtaaten
der Beſteuerung durch die Bundesgewalt unterworfen ſind und
Gebühren an die Reichskaſſe zahlen. Indeß iſt für den Fiskus
des Reiches die Freiheit von Staats ſteuern anerkannt, theils
weil der Reichsfiskus in jedem einzelnen Bundesſtaate als ein-
heimiſcher Fiskus zu erachten iſt und die Verwaltungsthätigkeit
des Reichs im Intereſſe der Geſammtheit ausgeübt wird, theils
weil die Koſten des Reiches von den Bundesgliedern gemeinſchaft-
lich zu tragen ſind. In letzterer Beziehung iſt zu beachten, daß
die Koſten des Reiches, ſoweit ſie nicht durch die eigenen Einnah-
men des letzteren gedeckt werden, durch Matrikularbeiträge der
Einzelſtaaten aufgebracht werden und daher den letzteren nicht die
Befugniß zugeſtanden werden kann, durch eine in ihr Belieben
geſtellte Steuergeſetzgebung ſich Gegenforderungen gegen den Reichs-
fiskus zu verſchaffen, die ſie gegen die Matrikularbeiträge auf-
[200]§. 107. Der Reichsfiskus.
rechnen könnten. Eine ausdrückliche Anerkennung hat der Rechts-
grundſatz, daß der Reichsfiskus in jedem Gliedſtaate des Bundes
dem Landesfiskus gleichgeſtellt iſt, in dem Geſetz vom 25. Mai
1873 §. 1 Abſ. 2 gefunden:
„Hinſichtlich der Befreiung von Steuern und ſonſtigen ding-
lichen Laſten ſind die im Eigenthum des Reiches befindlichen
Gegenſtände den im Eigenthume des einzelnen Staates be-
findlichen gleichartigen Gegenſtänden gleichgeſtellt.“
Auch die Reichsbank und ihre Zweiganſtalten ſind im ge-
ſammten Reichsgebiete frei von ſtaatlichen Einkommen- und Ge-
werbeſteuern 1).
Dagegen beſteht durchaus kein Grund, aus welchem der Reichs-
fiskus in irgend einem Theile des Bundesgebietes eine beſſere
Stellung als der Landesfiskus beanſpruchen könnte.
Von dieſem Prinzip aus iſt die beſtrittene Frage zu ent-
ſcheiden, ob der Reichsfiskus der Kommunal-Beſteuerung unter-
liegt. Inſoweit der Landesfiskus von der Entrichtung der Kom-
munalſteuer befreit iſt, wird auch dem Reichsfiskus das gleiche
Recht zuzuſprechen ſein, da dieſelben Gründe, auf denen die Kom-
munalſteuerfreiheit des Landesfiskus beruht, auch für den Reichs-
fiskus Geltung haben, weil auch dieſer einheimiſcher Fiskus
iſt. Wenn dagegen in einem Bundesſtaate die Finanzwirthſchaft
der Kommunen auf Grund der Landesgeſetze in der Weiſe geregelt
iſt, daß fiskaliſches Eigenthum oder ein fiskaliſcher Gewerbebetrieb
zu den Koſten des Gemeindehaushalts beitragspflichtig iſt, ſo muß
dies den Reichsfiskus in demſelben Umfange wie den Landesfiskus
treffen, da ja auch den Etabliſſements des Reiches die kommunalen
Einrichtungen und Anlagen in vollem Maaße zu Gute kommen.
Hinſichtlich der von den Kommunen erhobenen Grundſteuer-
und Gebäudeſteuer-Beträge iſt dies durch das citirte Reichs-
geſetz ausdrücklich anerkannt; für die indirecten Abgaben
(ſtädtiſches Octroi, Gasſteuer u. dgl.) verſteht ſich die Steuerpflicht
von ſelbſt; auch der Entrichtung einer Kommunal-Gewerbeſteuer
kann ſich der Reichsfiskus nicht entziehen, falls er ein ſteuerpflich-
tiges Gewerbe betreibt 2). Dagegen iſt es in hohem Grade zwei-
[201]§. 108. Das active Reichsvermögen.
felhaft, ob der Reichsfiskus von den Kommunen einer Einkom-
menſteuer unterworfen werden kann. In der Praxis wird dies
von den Reichsbehörden verneint und die Reichsregierung hat in
der Seſſion des Reichstages von 1874/75 den Entwurf eines Ge-
ſetzes vorgelegt, welches ausdrücklich ausſprechen ſollte, daß das
Reich von allen „auf das Einkommen“ gelegten Steuern frei ſein
ſollte; der Entwurf hat jedoch nicht die Zuſtimmung des Reichs-
tages erhalten 1).
§. 108. Das active Reichsvermögen.
Das fiskaliſche Vermögen zerfällt in zwei Arten, die ſowohl
in finanzwiſſenſchaftlicher als in ſtaatsrechtlicher Hinſicht vielfach
verſchiedenen Regeln unterſtellt ſind, nämlich in Finanzvermögen
und in Verwaltungsvermögen2).
Unter Verwaltungsvermögen ſind alle diejenigen Werthobjecte
zu verſtehen, welche den für die Erfüllung der ſtaatlichen Zwecke
und Aufgaben erforderlichen Apparat bilden, alſo zum Dienſte der
Behörden und zum Betriebe der Staatsanſtalten gehören: das
2)
[202]§. 108. Das active Reichsvermögen.
Inventar des Staates. Die charakteriſtiſche Eigenſchaft dieſer
Vermögensobjekte beſteht darin, daß ſie nicht freies, disponibles
Kapital, ſondern hinſichtlich ihrer Verwendung durch ihre Zweck-
beſtimmung gebunden ſind 1). Das Finanzvermögen dagegen
dient nicht direct den Staatszwecken, ſondern ſetzt die Regierung
durch ſeinen Kapitalswerth oder deſſen Erträge in die Lage, einen
Theil der für die Durchführung der Staatszwecke erforderlichen
Koſten beſtreiten zu können; es iſt werbendes oder wirth-
ſchaftliches Vermögen des Staates. Da Erwerb, Beſitz und
Verwaltung dieſes Vermögens nicht ſelbſt einen Zweck des Staates
bilden, ſondern demſelben nur indirect die Erfüllung ſeiner Auf-
gaben erleichtern ſollen, ſo iſt die Anlage und Verwaltung dieſer
Kapitalien eine freie, d. h. lediglich durch politiſche und finanz-
wiſſenſchaftliche Rückſichten beſtimmte. Das Verwaltungsvermögen
iſt weſentliches, durch den Staatszweck erfordertes Vermögen
des Fiskus; das Finanzvermögen iſt zufälliges, durch die hi-
ſtoriſche Entwicklung der Finanzwirthſchaft dem Fiskus überliefertes
Vermögen. Als Subject des Finanzvermögens erſcheint der Staat
als Kapitaliſt, der ſein Vermögen zu ſeinem pekuniären Vortheil
ausbeutet; als Subject des Verwaltungsvermögens ſtellt der Fis-
kus ſein Vermögen dem öffentlichen Dienſt zu Gebot. Daraus
ergiebt ſich, daß das Finanzvermögen im Weſentlichen unter den
allgemeinen Regeln des Privatrechts ſteht, während dieſelben hin-
ſichtlich des Verwaltungsvermögens durch verwaltungsrechtliche
Sätze nicht unweſentlich modifizirt ſind.
A.Das Finanzvermögen.
Weder der norddeutſche Bund noch das Deutſche Reich haben
bei ihrer Entſtehung freies, werbendes Vermögen beſeſſen, da den
Bundesgliedern die Abtretung eines ſolchen an das Reich nicht
auferlegt wurde. Durch den glücklichen Ausgang des Franzöſiſchen
Krieges aber iſt das Deutſche Reich früher, als es nach der natür-
lichen Entwicklung ſeiner Finanzwirthſchaft zu erwarten geweſen
iſt, in den Beſitz von Finanzvermögen gekommen, indem ein Theil
[203]§. 108. Das active Reichsvermögen.
der Kriegskoſten-Entſchädigung zur Bildung eines ſolchen verwendet
wurde. Hierher gehören:
I. Die Reichs-Eiſenbahnen in Elſaß-Lothringen.
Durch den Zuſatz-Artikel 1 zum Frankfurter Frieden vom 10. Mai
1871 hat die Deutſche Regierung die in den abgetretenen Gebiets-
theilen gelegenen, früher der Franzöſiſchen Oſtbahn-Geſellſchaft ge-
hörig geweſenen Eiſenbahnen für den Preis von 325 Millionen
Francs (260 Mill. Mark), die auf die Franzöſiſche Kriegsentſchä-
digung in Abzug gebracht worden ſind, erworben. Dieſes Beſitz-
thum iſt ſeitdem theils durch Beſchaffung von Betriebsmitteln und
Ausrüſtungsgegenſtänden verbeſſert, theils durch den Erwerb oder
die Herſtellung neuer Strecken ſehr erheblich vermehrt worden.
Die Geldmittel hierzu ſind zum größten Theile vom Reich bewilligt
worden, insbeſondere durch die Reichsgeſetze vom 22. Nov. 1871
(R.G.Bl. S. 396); vom 15. Juni 1872 (R.G.Bl. S. 209), vom
18. Juni 1873 (R.G.Bl. S. 143); vom 21. Mai 1877 (R.G.Bl.
S. 513); vom 8. Mai 1878 (R.G.Bl. S. 93), vom 9. Juli 1879
(R.G.Bl. S. 195) und vom 24. Mai 1881 (R.G.Bl. S. 93). Hier-
zu treten jedoch noch Bewilligungen der Bezirke und Gemeinden
und andere Subventionen. Die Länge der durch den Frankfurter
Frieden erworbenen Strecken betrug 763,19 Kilometer; hinzuge-
kommen ſind bis Ende 1881 528,48 Kilometer (ungefähr 69 %),
ſo daß zu dieſem Zeitpunkte der Geſammtbeſitz des Reiches an im
Betriebe befindlichen Eiſenbahnſtrecken 1291,67 Kilom. betrug. Die
geſammten Herſtellungs- und Ausrüſtungskoſten des Bahnnetzes
ergeben eine Summe von rund 433 Millionen Mark; indeß iſt
hierbei in Betracht zu ziehen, daß der gemäß dem Frankfurter
Frieden an die Oſtbahn gezahlte Kaufpreis die wirklichen Her-
ſtellungskoſten der damals vorhandenen Strecken um rund 91½ Mill.
Mark überſteigt, ſo daß ſich der gegenwärtige Kapitalwerth des
Reichseiſenbahn-Netzes auf ungefähr 342 Millionen Mark berechnet.
Im Zuſammenhange mit der Verwaltung der Reichs-Eiſenbahnen
in Elſaß-Lothringen hat die Reichsregierung auch den Betrieb der
Wilhelm-Luxemburg-Bahnen in dem Großherzogthum Luxemburg
bis zum 31. Dezember 1912 übernommen 1). Für die Ausrüſtung,
[204]§. 108. Das active Reichsvermögen.
Erneuerung und Vervollſtändigung derſelben ſind bis zum Schluſſe
des Etatsjahres 1880/81 ebenfalls rund 5½ Millionen Mark ver-
wendet worden. Obwohl dieſe Eiſenbahn mit den im Eigenthum
des Reiches ſtehenden wie ein einheitliches Unternehmen verwaltet
wird, ſo iſt doch die Rechnungsführung eine geſonderte 1). Von
der Netto-Einnahme ſind vorweg zu beſtreiten die an die Wilhelm-
Luxemburg-Geſellſchaft zu zahlende Jahrespacht von 2 Mill. Mark
und ein Betrag zum Zwecke der Amortiſirung des von der deut-
ſchen Verwaltung zur Verbeſſerung der Bahn innerhalb des abge-
laufenen Betriebsjahres aufgewendeten Kapitals, deſſen Höhe der-
art zu bemeſſen iſt, daß bei jährlicher Fortzahlung des gleichen
Betrages die völlige Tilgung bis zum Schluſſe der Pachtzeit er-
möglicht wird. Der verbleibende Reſt wird zum vollen Betrage
behufs allmäliger Erſtattung der von der Großherzogl. Regierung
der Wilhelm-Luxemburg-Geſellſchaft gewährten Staatsſubvention
von 8 Millionen Franks an die luxemburgiſche Regierung gezahlt.
So lange die Subvention nicht völlig erſtattet iſt, verzichtet die
Deutſche Regierung auf jede Theilnahme an dem aus dem Unter-
nehmen ſich ergebenden Reingewinn. Nach vollſtändiger Rück-
zahlung der Subvention wird der disponible Reſt des Nettoertrages
zu gleichen Theilen zwiſchen Luxemburg und dem Deutſchen Reiche
getheilt 2).
Die obere Leitung der Reichseiſenbahnen-Verwaltung iſt einem
Reichsamt übertragen, welches durch Erlaß v. 27. Mai 1878 von
dem Reichskanzleramt abgezweigt und als eine beſondere, dem
Reichskanzler unmittelbar unterſtellte Centralbehörde conſtituirt
worden iſt 3).
II. Der Kriegsſchatz4). 1. Aus der von Frankreich ent-
[205]§. 108. Das active Reichsvermögen.
richteten Kriegsentſchädigung wurde der Betrag von 40 Millionen
Thalern (120 Mill. Mark) zur Bildung eines in gemünzten Gelde
verwahrlich niederzulegenden Kriegsſchatzes verwendet, über welchen
nur zu Ausgaben für Zwecke der Mobilmachung verfügt werden
darf 1). Die Verwendung des Schatzes ſetzt daher nicht nothwen-
dig voraus, daß ein Krieg des Reiches bereits ausgebrochen ſei
oder bevorſtehe, ſondern jede Mobiliſirung des Heeres oder eines
Theiles deſſelben, gleichviel aus welchen Gründen dieſelbe ange-
ordnet wird, iſt genügend um die Inanſpruchnahme des Kriegs-
ſchatzes zu rechtfertigen. Erſtreckt ſich die Mobilmachung auf das
Bayeriſche Kontingent, ſo iſt ein entſprechender Theil des Schatzes
dem König von Bayern zur Beſtreitung der Mobilmachungskoſten
zur Verfügung zu ſtellen, weil das Prinzip der gleichen Verthei-
lung der Laſten und Ausgaben für die bewaffnete Macht auch auf
Bayern Anwendung findet, jedoch ſo, daß dieſem Staate die ſelbſt-
ſtändige Verwaltung und Verausgabung zuſteht 2). Die Verwen-
dung des Schatzes darf nur erfolgen auf Grund einer Kaiſerlichen
Anordnung, ſo wie ja eine ſolche auch ſtets zur Mobilmachung
des Heeres oder eines Theiles deſſelben erforderlich iſt 3). Die
kaiſerliche Anordnung bedarf der vorgängig oder nachträglich ein-
zuholenden Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages 4);
zweifellos kann dieſer Vorſchrift auch in der Art genügt werden,
daß die Zuſtimmung des Bundesrathes vorgängig, diejenige des
Reichstages nachträglich eingeholt wird.
[206]§. 108. Das active Reichsvermögen.
2. Die Verwaltung des Reichskriegsſchatzes iſt dem Reichs-
kanzler übertragen. Die Regeln, nach welchen dieſelbe zu führen
iſt, ſind durch eine unter Zuſtimmung des Bundesrathes zu er-
laſſende kaiſerliche Verordnung feſtzuſtellen 1). Dieſe Verordnung
iſt unter dem 22. Januar 1874 ergangen 2). Sie verfügt die
Niederlegung des Schatzes in dem Juliusthurm der Citadelle von
Spandau und die Einſetzung einer Rendantur und eines vom
Reichskanzler zu beſtellenden Curators behufs Rechnungsführung
und Beaufſichtigung. Sie regelt die Rechnungsführung, Buch-
führung und Reviſion der Beſtände und trifft Anordnungen, um
jede Gefährdung oder mißbräuchliche Verwendung des Schatzes zu
verhüten.
3. Die Verwaltung iſt unter die Kontrole der Reichsſchulden-
Kommiſſion geſtellt; dieſelbe erhält von dem Reichskanzler alljähr-
lich eine Nachweiſung über den Beſtand des Reichskriegsſchatzes
und außerdem in kürzeſter Friſt Mittheilung von allen in An-
ſehung deſſelben ergehenden Anordnungen und vorkommenden Ver-
änderungen. Sie hat die Befugniß, ſich von dem Vorhandenſein
und der ſicheren Aufbewahrung der Beſtände des Reichskriegs-
ſchatzes Ueberzeugung zu verſchaffen 3). Zu dieſem Zwecke hat der
Curator die Reichsſchulden-Commiſſion zu den jährlich vorzuneh-
menden Reviſionen einzuladen und er iſt verpflichtet, ſo oft die
Kommiſſion es außerdem für nöthig findet, ſich von dem Vor-
handenſein und der ſicheren Aufbewahrung des Schatzes Ueber-
zeugung zu verſchaffen, das hierzu Erforderliche zu veranlaſſen 4).
Die Reichsſchulden-Kommiſſion hat dem Bundesrathe und dem
Reichstage bei deren regelmäßigem jährlichen Zuſammentritt Be-
richt zu erſtatten 5).
4. Der Reichskriegsſchatz hat keine laufenden Einnahmen, da
er in gemünztem Gelde deponirt iſt 6); er kann daher in keinem
[207]§. 108. Das active Reichsvermögen.
Falle über den geſetzlich fixirten Betrag von 120 Mill. Mark hin-
aus anwachſen. Aber auch im Falle einer eingetretenen Vermin-
derung iſt die Wiederherſtellung deſſelben durch geſetzlich feſtſtehende
Einnahmen nicht geſichert. Nur ſolche Einnahmen des Reiches
ſind zu ſeiner Wiederherſtellung zu verwenden, welche aus andern
als den im Reichshaushalts-Etat aufgeführten Bezugsquellen
fließen 1). Hierher gehören die ſogenannten „außerordentlichen“
Einnahmen der einzelnen Reichsverwaltungen nicht, denn ſie ſind
im Etat vorgeſehen. Da nun der Fall, daß der Reichsfiskus durch
Schenkungen, Erbſchaften, Vermächtniſſe u. ſ. w. baare Kapitalien
erwirbt, praktiſch nicht leicht vorkömmt, ſo iſt wol nur daran zu
denken, daß nach einem glücklich beendigten Kriege der Reichsſchatz
aus einer etwa vom Beſiegten entrichteten Kriegskoſten-Entſchä-
digung wieder aufgefüllt werden kann, ohne daß hierzu die
Genehmigung des Reichstages erforderlich iſt 2). Ab-
geſehen hiervon kann der Reichskriegsſchatz nur nach den im Reichs-
haushalts-Etat zu treffenden Beſtimmungen ergänzt werden 3).
III. Der Invalidenfonds. 1. Unter dieſem Namen wurde
ein Kapital von 187 Millionen Thalern (561 Mill. Mark) aus
der franzöſiſchen Kriegskoſten-Entſchädigung entnommen, um die
Beſtreitung derjenigen Ausgaben ſicher zu ſtellen, welche dem Reiche
auf Grund des Militärpenſionsgeſetzes vom 27. Juni 1871 4) zur
Laſt fallen 5). Zu den letzteren treten hinzu die auf Grund der
Novelle zum Penſionsgeſetz vom 4. April 1874 von der Reichs-
kaſſe zu leiſtenden Zahlungen 6). Da ſich jedoch herausſtellte, daß
die Erträge und Beſtände des Fonds durch die Beſtreitung dieſer
Ausgaben nicht aufgebraucht werden, ſo wurden noch andere Zah-
lungen auf den Invalidenfonds übernommen, welche mit dem ur-
[208]§. 108. Das active Reichsvermögen.
ſprünglichen Zweck des letzteren in ſachlicher Beziehung ſtehen.
Dieſe Leiſtungen ſind bis jetzt folgende:
- a) Vom 1. April 1877 ab die Ausgaben des Reichs an Pen-
ſionen und Unterſtützungen für Angehörige der vormals ſchleswig-
holſteiniſchen Armee und deren Wittwen und Waiſen 1). - b) Vom gleichen Zeitpunkt ab die dem Reichshaushalt zur
Laſt fallenden 2) Penſionen und Penſionserhöhungen für Militär-
perſonen und Militärbeamte der Landarmee und der Marine, welche
vor 1870/71 invalide und zur Fortſetzung des aktiven Militär-
dienſtes unfähig geworden ſind, ſowie Penſionen und Unterſtützungen
für Hinterbliebene der in den Kriegen vor 1870/71 gefallenen Mi-
litärperſonen der Landarmee und der Marine 3). - c) Vom 1. April 1878 ab auch die bisher aus preußiſchen
und oldenburgiſchen Landesfonds gezahlten Penſionen und Unter-
ſtützungen an frühere Angehörige der vormals ſchleswig-holſtein-
ſchen und der däniſchen Armee, ſowie an Wittwen und Waiſen
ſolcher Angehöriger und die bisher aus ſächſiſchen Landesfonds
gezahlten Zuſchüſſe zu Militärpenſionen und Unterſtützungen 4). - d) Vom gleichen Tage ab die Ehrenzulagen an die Inhaber
des Eiſernen Kreuzes von 1870/71 5). - e) Vom 1. April 1879 ab die auf Grund der Zuſatzkonven-
tion zum Frankfurter Frieden v. 11. Dezemb. 1871 Art. 2 zu
zahlenden Penſionen für ehemalige franzöſiſche Militärperſonen und
deren Angehörige 6). - f) Vom gleichen Zeitpunkte ab die bisher aus dem Etat für
die Verwaltung des Reichsheeres gedeckten Koſten der Invaliden-
inſtitute 7). - g) Von demſelben Tage an ſind auch die aus dem Dispo-
ſitionsfonds des Kaiſers zu Gnadenbewilligungen aller Art bisher
bewilligten und fernerhin zu bewilligenden Unterſtützungen und Er-
ziehungsbeihülfen für Wittwen und Kinder der in Folge des
[209]§. 108. Das active Reichsvermögen.
Krieges von 1870/71 für invalide erklärten und demnächſt ver-
ſtorbenen Militärperſonen bis zur Höhe von 350000 Mark jähr-
lich aus den Mitteln des Invalidenfonds zu beſtreiten 1).
Endlich iſt zu erwähnen, daß die Koſten, welche durch die
Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds ſelbſt entſtehen, aus den
Erträgen deſſelben beſtritten werden 2).
Unter den vorſtehend aufgeführten Beträgen ſind die Zahlun-
gen der Invalidenpenſionen u. ſ. w. in Folge der Kriege vor 1870,
ferner die Zahlungen an ehemalige franzöſ. Militärperſonen und
endlich die Koſten der Invalideninſtitute ſolche, an denen Bayern
wegen der ihm zuſtehenden eigenen Militärverwaltung keinen An-
theil zu tragen hat 3); demgemäß wird ihm zur Beſtreitung gleich-
artiger Ausgaben alljährlich aus den Mitteln des Invalidenfonds
eine Summe überwieſen, welche nach dem Verhältniß der Kopf-
ſtärke des bayeriſchen Kontingents zu jenen der übrigen Theile
des Reichsheeres bemeſſen wird 4).
2. Bei Beſtimmung der Höhe des Invalidenfonds iſt die Ge-
ſetzgebung davon ausgegangen, daß durch die aus ihm zu beſtrei-
tenden Ausgaben nicht nur der Zinſenertrag, ſondern nach und
nach auch der Kapitalbeſtand des Fonds aufgebraucht werden
ſoll. Von dieſem Geſichtspunkt aus ergeben ſich die Grundſätze,
welche für die Verwaltung des Fonds maßgebend ſind und welche
ſich dahin zuſammenfaſſen laſſen, daß die dem Fonds überwieſenen
Gelder in der Art zinsbar anzulegen ſind, daß ſowohl der Zins-
ertrag als das Kapital ſichergeſtellt und die allmählige Verwen-
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 14
[210]§. 108. Das active Reichsvermögen.
dung des letzteren ermöglicht wird. Um jede gewagte Speku-
lation auszuſchließen, beſtimmt das Geſetz ſelbſt die Kategorien
von Werthpapieren, in denen die Anlage des Fonds erfolgen darf,
ebenſo die Art und Weiſe ihrer Verwahrung und Verwerthung 1).
Obgleich nun der Invalidenfonds durch die geſetzliche Zweck-
beſtimmung und abgeſonderte Verwaltung als ein beſonderer Ver-
mögenscomplex aus dem allgemeinen Reichsvermögen ausgeſchieden
iſt, ſo beſteht doch zwiſchen ihm und dem allgemeinen Staatshaus-
halt des Reiches ein enger Zuſammenhang, da die aus dem In-
validenfonds zu beſtreitenden Ausgaben nothwendige ſind, zu
deren Leiſtung das Reich auch ohne die Exiſtenz jenes Fonds ver-
pflichtet wäre und die es daher in dem Falle, daß der Invaliden-
fonds aufgebraucht ſein würde, fortleiſten müßte. Aus dieſem
Grunde ſind für jedes Jahr die Zinseinnahmen des Reichs-In-
validenfonds und die zur Ergänzung derſelben flüſſig zu machenden
Kapitalbeſtände im Reichshaushalts-Etat feſtzuſetzen. Zinſen-
überſchüſſe wachſen dem Reichs-Invalidenfonds unter keinen
Umſtänden zu, ſondern ſind in die Reichskaſſe abzuführen und in
die Einnahmen des Reichshaushalts-Etats einzuſtellen 2). Wenn
dagegen durch eine Mehreinnahme an Zinſen und durch eine Minder-
ausgabe an Penſionen u. ſ. w. der Kapitalzuſchuß in der im
Reichshaushalts-Etat vorgeſehenen Höhe nicht erforderlich wird, ſo
fällt der hierdurch erſparte Betrag nicht als Einnahme der Reichs-
kaſſe zu, ſondern er verbleibt dem Kapitalbeſtande des Invaliden-
fonds, ſowie im umgekehrten Falle ein Mehrbedarf durch einen
höheren Kapitalzuſchuß des Invalidenfonds zu decken wäre. Wenn
durch das Erlöſchen der auf den Invalidenfonds angewieſenen
Penſionen, und anderen Zahlungsverpflichtungen Activbeſtände des
Invalidenfonds entbehrlich werden, ſo iſt über die Verwendung
derſelben durch Reichsgeſetz Beſtimmung zu treffen 3) d. h. die
disponibel gewordenen Beträge ſind nicht von Rechtswegen als
Einnahmen im Etat in Anſatz zu bringen, ſondern ſie bleiben ſo
lange ein freies, keinem beſtimmten Zweck gewidmetes Aktivver-
[211]§. 108. Das active Reichsvermögen.
mögen des Reiches, bis über die Verwendung deſſelben die Ueber-
einſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages erzielt wird 1).
3. Für die Verwaltung des Fonds iſt eine beſondere Behörde
mit dem Amtsſitz in Berlin errichtet worden, deren ſtaatsrechtliche
Stellung, Zuſammenſetzung und Geſchäftsthätigkeit bereits oben
Bd. I. S. 351 ff. erörtert worden iſt 2). Sie iſt unter die fort-
laufende Aufſicht der Reichsſchulden-Kommiſſion geſtellt, welche
befugt iſt, ſich jederzeit Ueberzeugung davon zu verſchaffen, in
welcher Weiſe die Kapitalmittel des Fonds zinsbar belegt ſind,
Reviſionen vorzunehmen und Bemerkungen und Anſichten über die
Geſchäftslage und Geſchäftsführung der Verwaltung zugehen zu
laſſen, welche dieſe zum Gegenſtande einer Beſchlußnahme machen
muß 3). Ueber ihre Thätigkeit und über die Ergebniſſe der Ver-
waltung des Reichs-Invalidenfonds erſtattet die Reichsſchulden-
Kommiſſion dem Reichstage bei ſeinem jährlichen regelmäßigen Zu-
ſammentritt Bericht und legt ihm mindeſtens in jedem dritten
Jahre (ſeit 1879) eine Bilanz vor, in welcher außer den Aktiv-
beſtänden der zeitige Kapitalwerth der dem Fonds obliegenden
Verbindlichkeiten ſpeziell angegeben ſein muß 4).
Zur Wahrnehmung dieſer Geſchäfte iſt die Reichsſchulden-
Kommiſſion durch 5 Mitglieder verſtärkt worden, von denen zwei
vom Bundesrath und drei vom Reichstage gewählt werden; an
den übrigen Geſchäften der Kommiſſion nehmen dieſe Mitglieder
nicht Theil 5).
IV. Durch die Franzöſiſche Kriegskoſten-Entſchädigung iſt das
Reich in die Lage verſetzt worden, für die Herſtellung von noth-
wendigen oder nützlichen Bauten Fonds zu reſerviren. Obgleich
dieſe Fonds von Anfang an dazu beſtimmt ſind, aufgebraucht zu
werden, vertheilt ſich doch die thatſächliche Verwendung derſelben
14*
[212]§. 108. Das active Reichsvermögen.
auf einen längeren Zeitraum und während deſſelben tragen die
nicht verbrauchten Beſtände Zinſen, welche der Reichskaſſe zu-
fließen und als Einnahme in dem Etat aufzuführen ſind. Für
dieſe Zeit ſind die in Rede ſtehenden Fonds daher werbendes
(Finanz-)Vermögen des Reiches.
Hierhin gehören zur Zeit 1) noch folgende Kapitalbeſtände:
1. Der Reichs-Feſtungsbaufonds. Das Geſetz vom
30. Mai 1873 2) hat den Betrag von 216 Millionen Mark zur
zeitgemäßen Umgeſtaltung und Ausrüſtung der Deutſchen Feſtun-
gen (ausgenommen die in Elſaß-Lothringen befindlichen) reſervirt
und davon 57 Mill. M. dem Reichskanzler für 1873 und 1874
zur Verfügung geſtellt, aus dem Reſtbetrag einen beſondern Fonds
gebildet, welcher nach Maßgabe des Geſetzes über den Reichs-
Invalidenfonds v. 23. Mai 1873 zinsbar angelegt 3) und von der
Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds unter der oberen Leitung
des Reichskanzlers und unter der Kontrole der Reichs-Schulden-
kommiſſion verwaltet wird. Die Zinſen einnahmen des Fonds
wachſen dem letzteren nicht zu, ſondern ſind im Etat als Einnahme
anzuſetzen und zur Beſtreitung der gemeinſchaftlichen Ausgaben zu
verwenden 4); die aus dem Fonds zu leiſtenden Ausgaben ſind
daher ausſchließlich durch Flüſſigmachung von Kapitalbeſtänden zu
beſtreiten 5) und die Höhe dieſer Beträge iſt durch die Reichs-
haushalts-Etats der betreffenden Jahre feſtzuſtellen 6). Aus dieſem
Fonds ſind vorſchußweiſe auch andere Ausgaben als die im Art. I.
des Geſetzes v. 30. Mai 1873 vorgeſehenen beſtritten und die
Rückerſtattung der varauslegten Beträge aus anderen Einnahmen
des Reiches vorgeſehen worden 7).
[213]§. 108. Das active Reichsvermögen.
Ein beſonderer Fonds zur Wiederherſtellung, Vervollſtändigung
und Ausrüſtung der in Elſaß-Lothringen gelegenen Feſtungen, ſowie
zur Erbauung und Einrichtung von Kaſernen, Lazareth- und Maga-
zinanſtalten in den offenen Garniſonſtädten von Elſaß-Lothringen iſt
durch Geſetz v. 8. Juli 1872 Art. I. der franzöſ. Kriegskoſten-
Entſchädigung entnommen worden 1). Er iſt durch Geſ. v. 9. Febr.
1875 §. 1 auf 128942850 M. erhöht worden 2) und überdies ſind
für die Koſten der Erweiterung der Umwallung von Straßburg
noch diejenigen 17 Millionen Mark beſtimmt worden, welche von
der Stadt Straßburg für die durch dieſe Hinausſchiebung der
Umwallung entbehrlich werdenden Grundſtücke zu entrichten ſind 3).
Es beruht dieſe Summe darauf, daß die Herſtellung der neuen
Umwallung von Straßburg 20 Millionen M. erforderte, während
das Geſ. v. 8. Juli 1872 für dieſen Zweck nur 3 Mill. M. zur
Verfügung geſtellt hatte 4). Eine abgeſonderte Verwaltung iſt für
den elſaß-lothringiſchen Feſtungsfonds nicht eingerichtet worden;
ebenſo wenig iſt eine Beſtimmung über die während der Bauzeit
aufgelaufenen Zinſenerträge ergangen; für dieſelben gelten daher
diejenigen Grundſätze, welche von den Zinſenerträgen der franzöſ.
Kriegskoſten-Entſchädigung überhaupt gelten d. h. ſie ſind als ein
Acceſſorium der letzteren zu behandeln.
2. Der Reichs-Eiſenbahnbaufonds. Inſoweit die-
jenigen Beträge, welche §. 1 des Geſ. v. 18. Juni 1873 für Her-
ſtellung und Verbeſſerung der Reichseiſenbahnen aus der franzöſ.
Kriegskoſten-Entſchädigung angewieſen hat, erſt im Jahre 1874
und ſpäter zur Verwendung kommen, ſind dieſelben vom Reichs-
kanzler nach Maßgabe der Beſtimmungen in §§. 2 u. 3 des Ge-
[214]§. 108. Das active Reichsvermögen.
ſetzes über den Invalidenfonds vom 23. Mai 1873 zinsbar an-
zulegen 1). Die aufkommenden Zinſen wachſen dem Fonds nicht
zu, ſind daher alljährlich in den Reichshaushalts-Etat aufzu-
nehmen.
3. Der Reichstagsgebäudefonds. Das Geſ. vom
8. Juli 1873 §. 1 Ziff. 3 2) reſervirte aus der Franzöſ. Kriegs-
koſten-Entſchädigung den Betrag von 24 Mill. Mark für Errichtung
des Reichstagsgebäudes und beſtimmte, daß dieſer Fonds bis zur
geſetzlichen Verfügung darüber nach den Beſtimmungen im Art. III.
des Geſetzes über den Feſtungsbaufonds zinsbar anzulegen und
zu verwalten iſt. Die Zinſen wachſen nach der Anordnung dieſes
Geſetzes dem Fonds zu. Da ſich aber die Entſcheidung über die
Ausführung des Bau’s, namentlich über den Bauplatz, in uner-
warteter Weiſe verzögerte und in Folge deſſen der Fonds in einem
das Bedürfniß überſteigenden Maße anwachſen mußte, ſo ordnete
das Geſetz vom 11. Mai 1877 §. 2 3) an, daß die Zinſen dieſes
Fonds demſelben fortan nur inſoweit zuwachſen, als über die-
ſelben nicht durch den Reichshaushalts-Etat zur Beſtreitung anderer
Ausgaben Beſtimmung getroffen wird d. h. daß ſie als Einnahme
in Anſatz zu bringen ſind 4).
V. Die gewerblichen Betriebe des Reiches ſind abgeſehen von
den Reichseiſenbahnen, der Poſt- und Telegraphenanſtalt und dem
Antheil des Reiches an dem Reingewinn der Reichsbank folgende:
1. Das Reich giebt in Gemeinſchaft mit Preußen unter dem
Titel „Deutſcher Reichs- und Preußiſcher Staats-
Anzeiger“ eine täglich in Berlin erſcheinende Zeitung heraus,
welche namentlich zur Inſertion amtlicher Kundmachungen dient.
[215]§. 108. Das active Reichsvermögen.
An dem Reinertrage dieſes Preßunternehmens iſt der Preußiſche
Fiskus mit ⅔, der Reichsfiskus mit ⅓ betheiligt 1).
2. Die Reichsdruckerei. Durch das Reichsgeſ. v. 23. Mai
1877 2) wurde der Reichskanzler ermächtigt, das von Decker’ſche
Grundſtück in Berlin nebſt der darauf befindlichen Druckerei (für
den Betrag von 6780000 Mark) käuflich zu erwerben. Die de-
finitive Dispoſition über das Grundſtück wurde bis dahin vorbe-
halten, daß über die Bauſtelle für das zu errichtende Reichstags-
gebäude die Entſcheidung getroffen iſt; der Betrieb der Druckerei
wurde inzwiſchen fortgeführt, jedoch mit der Beſchränkung auf die
unmittelbaren Zwecke des Reiches und des Preußiſchen Staates.
Das Reichsgeſ. v. 15. Mai 1879 3) ermächtigte den Reichskanzler,
auch die Preuß. Staatsdruckerei käuflich für das Reich zu erwerben
(für 3573000 Mark) und dieſelbe mit der ehemaligen v. Decker’-
ſchen Druckerei zu verſchmelzen. Die hierdurch hergeſtellte „Reichs-
druckerei“ ſoll vorwiegend für die Bedürfniſſe des Reiches und des
Preußiſchen Staates verwendet werden; ausnahmsweiſe iſt es
dieſer Anſtalt aber auch geſtattet, von Privatperſonen Werke zum
Druck anzunehmen, durch deren Veröffentlichung wiſſenſchaftliche
oder Kunſtintereſſen weſentlich zu fördern ſind 4). Im Allgemeinen
gilt die reichsgeſetzliche Vorſchrift, daß die Beſtimmungen über
den Umfang des Betriebes der Reichsdruckerei alljährlich durch
den Reichshaushalts-Etat getroffen werden 5).
Die Verwaltung der Reichsdruckerei erfolgt durch eine dem
General-Poſtmeiſter unterſtellte Behörde, welche die Be-
zeichnung „Direktion der Reichsdruckerei“ führt 6).
VI. Die Betriebsfonds. Da dieſe Fonds durch die Be-
dürfniſſe der Verwaltung nicht abſorbirt werden, ſondern nach
vollſtändiger etatsmäßiger Leiſtung aller Einnahmen und Aus-
[216]§. 108. Das active Reichsvermögen.
gaben als Kaſſenüberſchuß erſcheinen und — falls ſie aus irgend
einem Grunde entbehrlich werden ſollten — zur freien Verfügung
des Reiches ſtehen, ſo ſind ſie dem Finanzvermögen deſſelben zu-
zuzählen 1). Ihr wirthſchaftlicher Nutzen beſteht darin, daß die
mit der Benutzung des Verwaltungscredits verbundenen Koſten
und Aufwendungen erſpart werden. Die erſte Anlage ſolcher Fonds
erfolgte durch das Etatsgeſetz für 1872, indem auch für dieſes
Bedürfniß die Mittel der Befriedigung aus der franzöſ. Kriegs-
koſten-Entſchädigung genommen worden ſind 2). Die damals für
dieſe Zwecke beſtimmten Summen wurden aber im Laufe der Jahre
mit dem wachſenden Umfang der Finanzwirthſchaft des Reiches
ungenügend und mußten erhöht werden. Insbeſondere hat das
Etatsgeſetz für 1882/83 dieſem Bedürfniß Abhülfe verſchafft 3).
Der Betriebsfonds zerfällt aber wieder in 4 verſchiedene Fonds:
a) Der Betriebsfonds der Reichs-Hauptkaſſe iſt durch
den Etat von 1872 in Höhe von 6 Millionen Mark dotirt worden.
Er dient generell allen auf Rechnung des Reiches zu führenden
Verwaltungen, für welche nicht einer der nachfolgend bezeichneten
Spezialfonds beſtimmt iſt 4). Zur vorübergehenden Verſtärkung
dieſes Fonds iſt der Reichskanzler durch die Etatsgeſetze der ein-
zelnen Jahre zur Ausgabe von Schatzanweiſungen ermächtigt wor-
den 5).
b) Der Betriebsfonds der Reichsdruckerei. Derſelbe iſt
durch das Etatsgeſetz für 1882/83 mit 400000 Mark ausgeſtattet
worden.
c) Der Betriebsfonds der Reichs-Poſt- und Telegra-
phenverwaltung; durch das Etatsgeſetz für 1872 wurde der-
[217]§. 108. Das active Reichsvermögen.
ſelbe auf 5250000 M. feſtgeſetzt, durch das Etatsgeſetz für 1882/83
um 8750000 M. erhöht, ſo daß derſelbe 14 Mill. M. beträgt.
An dieſem Betriebsfonds haben Bayern und Württemberg keinen
Antheil, da ſie die Poſt- und Telegraphenverwaltung ſelbſtändig
und für eigene Rechnung führen; demgemäß haben ſie auch zur
Bildung dieſes Fonds nicht beigetragen.
d) Ausſtattung der Truppenkaſſen. Für dieſen Zweck
hat der Etat für 1872 die Summe von 18810000 M. ausge-
worfen. Da das Reich eine eigene Militärverwaltung nicht hat,
ſo iſt dieſe Summe antheilsmäßig den vier Staaten mit eigener
Kontingentsverwaltung als „eiſerner Vorſchuß“ d. h. als unkünd-
bares und unverzinsliches Darlehen vom Reiche überwieſen worden.
B.Das Verwaltungsvermögen.
Bei Errichtung des Norddeutſchen Bundes wurden der Bun-
desgewalt einzelne Verwaltungszweige ganz oder theilweiſe über-
tragen, ohne daß eine Beſtimmung darüber getroffen wurde, welche
Rechte dem Bunde an den, dieſen Verwaltungszweigen dienenden
Vermögensobjekten zukommen. Eine völlige Neuausſtattung iſt
für dieſe Verwaltungen nicht erfolgt; die Bundesbehörden, welche
an Stelle der bisherigen Landesbehörden traten, übernahmen zu-
gleich mit ihren Amtsgeſchäften auch den dienſtlichen Gebrauch des
Verwaltungsinventars. Hierzu kamen dann aber ſehr bald Neu-
anſchaffungen, Reparatur- und Erweiterungsbauten und andere
Erwerbungen aus Bundesmitteln. An dieſem Zuſtande iſt durch
die Gründung des Reiches Nichts geändert worden; die Reichs-
verfaſſung enthält ebenſowenig wie die Verf. des Nordd. Bundes
eine Regelung dieſer Materie. Thatſächlich wurden durch die
Reichsgründung die Verhältniſſe aber noch complizirter, da außer
dem Eigenthum des Reiches und der Einzelſtaaten nun auch noch
das Eigenthum des Nordd. Bundes in Betracht kam und weil den
ſüddeutſchen Staaten Sonderrechte hinſichtlich des Militärweſens
und der Poſt- und Telegraphenverwaltung eingeräumt wurden,
welche auch für die Rechte an den Vermögensſtücken dieſer Ver-
waltungen von Belang waren.
Das geſammte Verwaltungs-Inventar des Reichs zerfiel nun
nach privatrechtlichen Geſichtspunkten in zwei große Maſſen, die
ſich als Eigenthum des Reichsfiskus und als Eigenthum der Landes-
[218]§. 108. Das active Reichsvermögen.
fisci gegenüberſtanden. Die erſtere wurde gebildet durch alle ſeit
Gründung des Reiches (resp. Nordd. Bundes) aus Reichsmitteln
angeſchafften Vermögensſtücke; die letztere aus den von den Einzel-
ſtaaten eingebrachten Vermögensobjekten, welche zur Ausſtattung
der auf das Reich übergegangenen Verwaltungen gehörten. Daß
die vom Reiche ſelbſt angeſchafften Gegenſtände Eigenthum des
Reiches ſind, iſt ſelbſtverſtändlich und unbeſtritten; dagegen konnte
es fraglich erſcheinen, ob nicht das Reich mit Uebernahme der
Verwaltungsthätigkeit auch in das Eigenthumsrecht an den Aus-
rüſtungsgegenſtänden dieſer Verwaltungen ſuccedirt ſei. Vom
Standpunkt des Civilrechts aus war dies aber zu verneinen. Denn
für eine Enteignung ſo großer Vermögensmaſſen der Einzelſtaaten
zu Gunſten des Reichsfiskus war weder in dem Wortlaut der
Reichsverfaſſung noch in der Natur der Inſtitutionen des Reiches
ein Grund vorhanden. In Uebereinſtimmung hiermit hat der
Präſident des Bundeskanzleramts wiederholt erklärt, daß Seitens
der Bundesregierungen davon ausgegangen wird, „daß das un-
bewegliche Eigenthum, wie es bei dem Uebergange dieſer Ver-
waltungen auf den Bund vorhanden war, im Eigenthum derjenigen
Staaten verblieben iſt, welchen dieſes Eigenthum zur Zeit des
Ueberganges auf den Bund zuſtand“ 1). Dieſe vom civilrecht-
lichen Standpunkte aus ſich ergebende Unterſcheidung widerſprach
aber dem praktiſchen Bedürfniß. In den einzelnen Verwaltungs-
reſſorts waren Gegenſtände, die aus der Zeit der Landesverwal-
tung ſtammten, mit Gegenſtänden, die auf Bundeskoſten angeſchafft
waren, zu einem einheitlichen Complex vereinigt und ihre privat-
rechtliche Herkunft konnte nicht berückſichtigt, ja im Laufe der Zeit
vielleicht nicht einmal feſtgeſtellt werden. Auch war das Eigen-
thumsrecht an dieſen Gegenſtänden nicht von Belang, da das Ver-
[219]§. 108. Das active Reichsvermögen.
waltungsvermögen, wenngleich daſſelbe dem Fiscus privatrechtlich
gehört, doch nicht von ihm im Vermögensintereſſe ausgebeutet
wird. Die Führung der Verwaltungsgeſchäfte iſt undenkbar ohne
die Verfügung über den hierzu erforderlichen Apparat und dem-
gemäß wäre die Abtretung von Verwaltungen an das Reich ohne
gleichzeitige Uebertragung des Gebrauchs- und Verfügungsrechts
über die zur Ausſtattung dieſer Verwaltungen beſtimmten Gegen-
ſtände widerſinnig geweſen. Soweit in Folge der Reichsorgani-
ſation Geſchäfte und Aufgaben der Verwaltung von den Einzel-
ſtaaten auf das Reich übergegangen ſind, ebenſoweit hat das Reich
auch die Befugniß überkommen, das fiskaliſche Vermögen der
Einzelſtaaten zum Zweck der Erledigung dieſer Geſchäfte und Auf-
gaben in demſelben Umfange zu benutzen, wie dies den entſpre-
chenden Verwaltungsbehörden der Einzelſtaaten zugeſtanden haben
würde. Durch dieſes Recht des Reiches zum Gebrauch war die
civilrechtliche Unterſcheidung zwiſchen den Vermögensſtücken
des Reichs und denjenigen der Einzelſtaaten praktiſch wieder auf-
gehoben und das Inventar der einzelnen Reichsverwaltungen ver-
waltungsrechtlich zu einer Einheit verbunden worden. Theo-
retiſch war das Verhältniß nicht anders zu conſtruiren, als daß
das Reich an den von den Einzelſtaaten eingebrachten Gegen-
ſtänden das Eigenthum des Landesfiskus behufs Er-
füllung der Verwaltungsaufgaben auszuüben befugt ſei 1).
Dieſe „Ausübung“ des fremden (landesfiskaliſchen) Eigen-
thums iſt aber von der Ausübung des eigenen (reichsfiskaliſchen)
in einer, nicht unwichtigen Beziehung verſchieden und zwar in
Folge der eigenartigen Natur des Verwaltungseigenthums. Da
dieſe nämlich auf der Zweckbeſtimmung der einzelnen Vermögens-
ſtücke beruht, ſo verlieren die letzteren den Charakter des Ver-
waltungsinventars und werden freies (Finanz-) Vermögen des
Fiskus, ſobald ſie für die Zwecke der Verwaltung entbehrlich oder
unbrauchbar werden. Die dem Reich gehörenden Gegenſtände
werden hiernach, wenn ſie für die Verwaltung entbehrlich werden,
Finanzvermögen des Reichsfiskus; die den Einzelſtaaten ge-
hörigen, Finanzvermögen des betreffenden Landesfiskus. Die blos
verwaltungsrechtliche Einheit löst ſich mit dem Wegfall des ſie
[220]§. 108. Das active Reichsvermögen.
begründenden Bandes, des verwaltungsmäßigen Gebrauches, und
die privatrechtliche Verſchiedenheit der Eigenthumsrechte tritt wieder
hervor. Hierbei iſt aber zu beachten, daß die Frage, unter wel-
chen Umſtänden die Verwaltungseinheit aufhört und in welchem
Umfange das privatrechtliche Eigenthum des Landesfiskus wirk-
ſam wird, zu mancherlei Zweifeln Veranlaſſung giebt, insbeſondere
wenn ein Grundſtück veräußert und aus dem Erlös ein anderes
angeſchafft worden iſt, wenn es für ein anderes Verwaltungs-
reſſort Verwendung gefunden hat, wenn es aus Reichsmitteln ver-
größert, reparirt, umgebaut worden iſt u. ſ. w. In dieſen und
anderen Fällen kann jede Abweichung in der theoretiſchen Auffaſ-
ſung leicht zu ſehr verſchiedenen praktiſchen Reſultaten führen.
Um dieſe Unſicherheit zu beſeitigen und die in der Reichs-
verfaſſung vorhandene Lücke auszufüllen, wurde das Geſetz über
die Rechtsverhältniſſe der zum dienſtlichen Ge-
brauche einer Reichsverwaltung beſtimmten Gegen-
ſtände vom 25. Mai 1873 erlaſſen 1).
Nach dem von den Regierungen vorgelegten Entwurf ſollte
das Geſetz nur das von den Einzelſtaaten auf das Reich über-
gegangene Verwaltungsvermögen betreffen und demgemäß nur
das aus dieſem Uebergange ſich ergebende Rechtsverhältniß des
Reichs zu den Einzelſtaaten regeln; durch die Commiſſion des
Reichstages wurden aber eine Anzahl von Beſtimmungen hinzu-
gefügt, die auf alles Reichsvermögen, auch das vom Norddeut-
ſchen Bunde und vom Reiche ſelbſt angeſchaffte ſich beziehen. In
Folge deſſen enthält das erwähnte Geſetz zwei Reihen von Rechts-
regeln, die nur äußerlich mit einander verbunden ſind, logiſch aber
mit einander in keinem Zuſammenhange ſtehen. An dieſer Stelle
kommen nur diejenigen Beſtimmungen in Betracht, welche den
von den Einzelſtaaten auf das Reich übergegangenen Verwaltungs-
apparat betreffen 2).
[221]§. 108. Das active Reichsvermögen.
Das Geſetz hat die Schwierigkeiten, welche ſich aus der
oben entwickelten, aus der Natur der Sache hergeleiteten Con-
ſtruction ergeben können, dadurch zu beſeitigen unternommen, daß
es dem Reich an den von den Einzelſtaaten übernommenen Ver-
waltungsapparaten das Eigenthum zugewieſen, den Einzel-
ſtaaten jedoch an den entbehrlich werdenden Gegenſtänden das
Rückfallsrecht vorbehalten hat. Thatſächlich wurde dadurch
an dem Rechtszuſtand, wie er bereits vor Erlaß des Geſetzes aus
theoretiſchen Gründen herzuleiten war, keine weſentliche Aenderung
hervorgerufen; es wurde aber das formale Fortbeſtehen des
Landes-Eigenthums an zahlreichen Inventarſtücken der Reichsver-
waltungen vermieden. Zu einer wirklich einheitlichen Vermögens-
maſſe wurde freilich auch hierdurch das Reichsverwaltungs-Inven-
tar nicht gemacht; es zerfällt nach wie vor in zwei Maſſen, nur
daß dieſe ſich nicht mehr als Eigenthum des Reichsfiskus und
Eigenthum der Landesfisci, ſondern als dominium perpetuum
und dominium revocabile (temporale) des Reichsfiskus charakte-
riſiren.
Dieſes Prinzip iſt im Einzelnen in folgender Weiſe durchge-
führt worden:
1. Das Geſetz greift viel weiter als ſeine Ueberſchrift ſagt.
Es betrifft nicht nur das Inventar der Reichsverwaltungen,
ſondern alle dem dienſtlichen Gebrauche einer verfaſſungs-
mäßig aus Reichsmitteln zu unterhaltenden Ver-
waltung gewidmeten Gegenſtände 1). Da das Reich für die
Centralbehörden und deren dienſtliche Bedürfniſſe aus eigenen
Mitteln Dienſtgebäude u. ſ. w. angeſchafft hat, die den Einzel-
ſtaaten verbliebenen Verwaltungen aber der Regel nach auf Koſten
derſelben geführt werden, ſo kommen überhaupt nur vier Ver-
waltungen in Betracht: die Marine, die auswärtigen Angelegen-
heiten, die Poſt und Telegraphie und das Heerweſen.
a) Die Marine-Verwaltung. Dieſelbe iſt nach Art. 53
der R.V. zweifellos eine Reichsverwaltung. Sie iſt an die Stelle
der ehemaligen Preußiſchen Marine-Verwaltung getreten, da
kein anderer Staat außer Preußen bei Errichtung des Nordd.
Bundes, beziehentlich des Deutſchen Reiches, eine Kriegsmarine
[222]§. 108. Das active Reichsvermögen.
hatte. Durch das Geſ. v. 25. Mai 1873 §. 1 iſt daher ausge-
ſprochen, daß alle Vermögensobjekte, welche dem Preußiſchen Ma-
rinefiskus vor Errichtung des Norddeutſchen Bundes gehört haben,
Fahrzeuge aller Art und ihre Ausrüſtung, Magazine, Werften,
Hafenanlagen, Docks u. ſ. w., in das Eigenthum des Reiches
übergegangen ſind.
b) Die Verwaltung der auswärtigen Angelegen-
heiten. Hinſichtlich des Konſulatweſens iſt es ebenfalls
zweifellos, daß die Verwaltung deſſelben eine unmittelbare, auf
Koſten des Reiches geführte und ausſchließliche Reichsverwaltung
iſt, und daß ſonach alle Vermögensobjekte der Einzelſtaaten, welche
vor Eintritt derſelben in den Bund zum Dienſte der Konſulats-
verwaltung beſtimmt waren, Reichseigenthum geworden ſind. Auf
die ſüddeutſchen Staaten findet dies jedoch thatſächlich keine An-
wendung, da bei dem Eintritt derſelben in den Bund die Organi-
ſation der Norddeutſchen Bundeskonſulate bereits durchgeführt war
und nach der Reichsgründung dieſelben einfach in Reichskonſulate
umgewandelt wurden. Unter den Staaten des Nordd. Bundes
aber kam wieder nur Preußen in Betracht, da die etwa vorhan-
denen Ausrüſtungsgegenſtände der Landeskonſulate der übrigen
Staaten nicht in Anſpruch genommen wurden.
Zweifelhafter iſt die Anwendung des Geſetzes auf die diplo-
matiſche Vertretung. Denn da den Einzelſtaaten das active
Geſandtſchaftsrecht durch die Reichsverfaſſung nicht entzogen wor-
den, vielmehr das Nebeneinanderbeſtehen von Reichs- und Landes-
geſandtſchaften geſtattet iſt, ſo kann man, ſtreng genommen, nicht
ſagen, daß die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten von
den Einzelſtaaten auf das Reich übergegangen iſt; es iſt viel-
mehr die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten des Rei-
ches als ein neues Verwaltungsreſſort des Reiches neben die
(de jure fortbeſtehenden) Verwaltungen der auswärtigen Ange-
legenheiten der einzelnen Bundesſtaaten getreten. In der That
haben ja auch einzelne Staaten, insbeſondere Bayern, ihr actives
Geſandtſchaftsrecht und demgemäß ihre Verwaltung der auswär-
tigen Angelegenheiten in beſchränktem Umfange fortgeführt. Von
der Anwendung des Geſetzes vom 25. Mai 1873 auf das Inven-
tar der auswärtigen Aemter und Geſandtſchaften dieſer Staaten
iſt auch niemals die Rede geweſen. Daſſelbe muß nun auch für
[223]§. 108. Das active Reichsvermögen.
Preußen gelten und von dieſem Geſichtspunkt aus könnte man
das Eigenthum des Reichsfiskus an dem Preußiſchen Miniſterial-
gebäude des auswärtigen Amtes und an den Preußiſchen Ge-
ſandtſchaftshotels beſtreiten. Allein da die Identität des Kaiſers
und des Königs von Preußen zur Folge hat, daß die Geſandten
des Reiches zugleich Preußiſche Geſandte ſind und das Auswär-
tige Amt des Reiches zugleich als Preuß. Miniſterium der aus-
wärtigen Angelegenheiten fungirt, ſo hat thatſächlich hier ein
Uebergang der Preuß. Verwaltung in eine Reichsverwaltung ſtatt-
gefunden und demgemäß hat ſich das Preußiſche Verwaltungs-
eigenthum dieſes Reſſorts in Reichseigenthum umgewandelt.
c) Die Poſt- und Telegraphen-Verwaltung iſt
nach der complizirten Kompetenz-Abgränzung in Art. 50 der R.V.
verfaſſungsmäßig nur theilweiſe Reichsverwaltung, zum andern
Theil Landesverwaltung; dagegen ſind nach Art. 49 der R.V. die
Koſten des Poſt- und Telegraphenweſens aus Reichsmitteln zu
beſtreiten. Hier wird alſo die Faſſung des §. 1 Abſ. 1 des Geſ.
v. 25. Mai 1873 von Erheblichkeit; ſie überträgt dem Reich das
Eigenthum an dem geſammten Poſt- und Telegraphen-Inventar
aller Bundesſtaaten, ohne Rückſicht auf die denſelben verbliebenen
Verwaltungsbefugniſſe. Ausgenommen ſind jedoch Bayern und
Württemberg, da dieſe beiden Staaten nicht nur die Selbſt-
verwaltung des Poſt- und Telegraphenweſens behalten haben,
ſondern dieſelbe auch für eigene Rechnung führen.
d) Die Heeresverwaltung. Obgleich es eine Reichs-
Militärverwaltung nicht giebt, ſondern die einzelnen Staaten ihre
Kontingente ſelbſt verwalten, ſo wird doch dieſe Verwaltung auf
Koſten und für Rechnung des Reiches geführt; das Geſetz vom
25. Mai 1873 findet daher auf das geſammte Inventar der Mili-
tärverwaltungen der einzelnen Bundesſtaaten Anwendung 1). Hierin
liegt gerade die große praktiſche Tragweite der in dem Geſetz ge-
wählten Wortfaſſung, da weitaus der größte Theil des Verwal-
tungsvermögens dem dienſtlichen Gebrauch des Militärs gewidmet
[224]§. 108. Das active Reichsvermögen.
iſt. Daß die Ausdehnung des Geſetzes auf das Militärinventar
durch die Gemeinſamkeit der Militärlaſten und des Etats der
Heeresverwaltung mit Nothwendigkeit geboten war, unterliegt
keinem Zweifel; juriſtiſch aber entſteht hieraus die ſonderbare
Conſequenz, daß die mit eigener Militärverwaltung ausgeſtatteten
Einzelſtaaten zwar alle Rechtsgeſchäfte der Heeresverwaltung führen
und durch dieſelben obligatoriſch berechtigt und verpflichtet werden,
daß überhaupt der Militärfiskus im Allgemeinen als Landesfiskus
anzuſehen iſt 1), daß aber das Eigenthum an ſämmtlichen zum
Dienſte der Heeresverwaltung beſtimmten Gegenſtänden dem Reich
zuſteht 2). Auch hinſichtlich der Feſtungen gilt derſelbe Grund-
ſatz. Nur auf die Bayeriſche Heeresverwaltung und auf das
liegende und bewegliche Inventar der bayeriſchen Feſtungen findet
das Geſetz v. 25. Mai 1873 keine Anwendung 3); denn Bayern
führt die Heeresverwaltung, wenngleich nach Maßgabe der An-
ſätze des Reichsetats für die übrigen Kontingente, auf eigene
Koſten; die Verwaltung des bayeriſchen Kontingents iſt demnach
nicht eine „verfaſſungsmäßig aus Reichsmitteln zu unterhaltende
Verwaltung“ 4).
2. Als der Zeitpunkt, in welchem ſich der Uebergang des
Eigenthums oder der anderen dinglichen Rechte von dem Bundes-
ſtaat auf das Reich vollzieht, iſt nach dem Wortlaut des §. 1 cit.
„der Zeitpunkt des Uebergangs der Gegenſtände in eine ſolche
(d. h. verfaſſungsmäßig aus Reichsmitteln zu unterhaltende) Ver-
waltung anzuſehen“. Dieſe, von der Reichstagskommiſſion her-
rührende Faſſung iſt juriſtiſch nicht gerade als gelungen zu be-
zeichnen; denn wann und wie geht ein Werthobjekt „in eine Ver-
waltung über“? Der wahre Sinn iſt der, daß das Inventar der
einzelnen Verwaltungen in dem Zeitpunkt Reichseigenthum ge-
worden iſt, in welchem das Reich die Koſten der betreffenden Ver-
waltung übernommen hat. Die unklare Formulirung beruht
[225]§. 108. Das active Reichsvermögen.
darauf, daß man die Form der Deklaration vermeiden wollte und
doch ein Geſetz mit rückwirkender Kraft erlaſſen mußte. Das Ge-
ſetz erklärt in Wirklichkeit nichts Anderes, als daß diejenigen Dis-
poſitions- und Nutzungsrechte, welche das Reich an dem Inventar
der auf Reichskoſten übernommenen Verwaltungen erlangt hat,
als „Eigenthum“ zu bezeichnen ſeien 1). Dies gilt auch von den-
jenigen, unter die Beſtimmungen des Geſetzes fallenden Grund-
ſtücken, an welchen nach der lex rei sitae nur durch Umſchreibung
im Grundbuch Eigenthum übergehen kann, gleichviel ob dieſe Um-
ſchreibung wirklich erfolgt iſt oder nicht. Denn einerſeits hat die
Beſtimmung des Reichsgeſetzes den Vorrang vor allen Landes-
geſetzen, andererſeits betrifft das Reichsgeſetz vom 25. Mai 1873
nicht die Rechtswirkungen privatrechtlicher Rechtsgeſchäfte, ſondern
diejenigen eines ſtaatsrechtlichen Vorgangs. Aber wenngleich der
Eigenthumsübergang auf Grund des Reichsgeſetzes von der er-
folgten Umſchreibung im Grundbuch nicht abhängig iſt, ſo giebt
doch dieſes Geſetz dem Reichsfiskus einen Rechtstitel, um die Um-
ſchreibung der einzelnen Grundſtücke bei den Grundbuchsämtern
zu beantragen.
3. Das Geſetz v. 25. Mai 1873 ſpricht nicht blos von den-
jenigen Verwaltungen, welche thatſächlich zur Zeit ſeines Er-
laſſes aus Reichsmitteln unterhalten worden ſind, ſondern es ſpricht
einen allgemeinen Rechtsgrundſatz aus, welcher in allen Fällen
Geltung hat, in denen die Koſten einer Verwaltung auf die Reichs-
kaſſe übernommen werden. Würden z. B. die Koſten der Zoll-
verwaltung, ſei es im ganzen Reichsgebiet, ſei es in einzelnen
Theilen (Elſaß-Lothr.) auf den Reichsetat übernommen, ſo würde
das Geſ. v. 25. Mai 1873 auch auf das Inventar dieſer Ver-
waltung in Anwendung kommen.
4. Der Eigenthums-Uebergang betrifft alle dem dienſtlichen
Gebrauche der erwähnten Verwaltungen gewidmeten Gegenſtände,
ohne Unterſchied ob ſie beweglich oder unbeweglich ſind. Da aber
hinſichtlich der Grundſtücke und ihrer Zubehörden mancherlei Zweifel
möglich ſind, ob ſie unter die Kategorie des Verwaltungsinventars
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 15
[226]§. 108. Das active Reichsvermögen.
zu ziehen ſind oder nicht, ſo hat das Geſetz im Intereſſe der
Einzelſtaaten gewiſſe Grundſtücke von dem Uebergang in das
Eigenthum des Reiches ausdrücklich ausgeſchloſſen 1); nämlich:
- a) Grundſtücke, welche nach den in den einzelnen Bundes-
ſtaaten geltenden Beſtimmungen der Benutzung des Staatsober-
hauptes oder der Apanagirung der Mitglieder des regierenden
Hauſes gewidmet ſind. - b) Grundſtücke, welche bei dem Uebergange in eine Verwal-
tung des Reichs 2) dieſer nur auf eine beſtimmte Zeit, oder auf
Widerruf, oder miethweiſe überlaſſen ſind. - c) Grundſtücke, aus deren Erlös die zur Erwerbung oder
Bebauung eines im Beſitze derſelben Reichsverwaltung 3) be-
findlichen Grundſtücks von einem Bundesſtaate gemachten Aus-
gaben nach den darüber getroffenen Beſtimmungen zu erſtatten ſind. - d) Grundſtücke, welche bei dem Uebergange in eine Verwal-
tung des Reichs dem betreffenden Dienſtzweige nicht unmittelbar
dienten, vielmehr nur inſofern mit ihm in einem Zuſammenhange
ſtanden, als die aus den Grundſtücken aufkommenden Einkünfte
bei jenem Dienſtzweige mit verrechnet wurden.
5. Für den Fall, daß ein Grundſtück zu einem Theil von
einer Reichsverwaltung, zu einem andern Theile von einer Landes-
verwaltung benutzt wird, iſt das alleinige Eigenthum der letzteren
verblieben; die Reichsverwaltung behält nur das Benutzungsrecht im
bisherigen Umfange 4). Hat das Grundſtück neben der Benutzung
zum Dienſtgebrauche oder zu Dienſtwohnungen noch ſonſt finanzielle
Erträgniſſe abgeworfen (z. B. Grasnutzungen), ſo iſt demjenigen
Staat, von welchem das betreffende Grundſtück auf das Reich
übergegangen iſt, dafür eine feſte Geldrente zu gewähren 5). Ebenſo
ſind alle Zahlungen oder andere Leiſtungen, welche von einer
Reichsverwaltung für die Einräumung eines Rechts an einem
[227]§. 108. Das active Reichsvermögen.
Grundſtück oder einem Theil deſſelben bisher an einen Bundes-
ſtaat zu entrichten waren, demſelben unvermindert fort zu gewäh-
ren 1). Im Uebrigen ſind alle Verfügungen, welche in Betreff
der in das Eigenthum des Reiches übergegangenen Gegenſtände
vor dem 1. Januar 1873 getroffen ſind, ſowie alle Rechte Dritter,
insbeſondere der Staatsgläubiger, von dem Uebergang des Eigen-
thums unberührt geblieben 2).
6. Wenn ein Grundſtück für die Verwaltung des Reiches
entbehrlich oder unbrauchbar wird, ohne daß ein Erſatz für das-
ſelbe nothwendig iſt, ſo iſt daſſelbe in dem Zuſtande, in welchem
es ſich befindet, unentgeltlich und ohne Erſatzleiſtung für etwaige
Verbeſſerungen oder Verſchlechterungen demjenigen Bundesſtaate
zurückzugeben, aus deſſen Beſitz es in die Verwaltung des Reichs
übergegangen war 3). Dieſes Heimfallsrecht tritt aber nicht
ſchon dann ein, wenn das Grundſtück für denjenigen Dienſt-
zweig, dem es bisher gewidmet war, entbehrlich oder unbrauch-
bar wird, ſondern nur in dem Falle, daß es für die Reichsver-
waltung überhaupt keine Verwendung mehr finden kann 4). Auch
iſt der Reichsfiskus befugt, ein für die Reichsverwaltung entbehr-
lich oder unbrauchbar gewordenes Grundſtück zu veräußern; je-
doch muß in dieſem Falle der Erlös aus dem Verkaufe dazu be-
ſtimmt werden, durch die Erwerbung eines anderen Grundſtücks
oder die Herſtellung einer anderen Baulichkeit im Gebietedes-
ſelben Bundesſtaates einen Erſatz für das entbehrlich oder
unbrauchbar gewordene Grundſtück zu beſchaffen 5).
15*
[228]§. 109. Die Reichsſchulden.
Eine abweichende Regel iſt jedoch für diejenigen Grundſtücke
ſanctionirt, welche den Zwecken der Militärverwaltung gewidmet
ſind. Sie dürfen keinem andern Dienſtzweige der Reichsverwal-
tung (ausgenommen die Marineverwaltung) überwieſen werden;
ſie fallen vielmehr an den Landesfiskus zurück, wenn ſie für die
Militärverwaltung entbehrlich oder unbrauchbar werden, und we-
der nach §. 5 ein Erſatz für ſie zu beſchaffen noch ihre
Verwendung für Zwecke der Marine erforderlich iſt 1). Insbe-
ſondere ſind auch im Falle der Erweiterung der Umwallung einer
Reichsfeſtung die hierdurch entbehrlich werdenden Militär-Grund-
ſtücke nicht an den betreffenden Landesfiskus zurückzugeben, ſondern
ſie ſind zu verkaufen und der Erlös iſt zu den Koſten der Er-
weiterung zu verwenden 2).
Nur für den Fall der Einziehung einer Befeſtigung
iſt das Heimfallsrecht von praktiſchem Werthe; die Rückgabe der
in dieſem Falle entbehrlich werdenden Grundſtücke erfolgt aber
erſt nach Vollendung der im Intereſſe der Landesvertheidigung
nothwendigen Einebnungsarbeiten und nur gegen Erſtattung der
Koſten dieſer Arbeiten 3). Die Höhe der letzteren beſtimmt die
oberſte Behörde der Feſtungsverwaltung 4).
§. 109. Die Reichsſchulden*).
I. Die Unterſcheidung zwiſchen Finanzvermögen und Ver-
waltungsvermögen findet auch Anwendung auf die paſſiven Ver-
5)
[229]§. 109. Die Reichsſchulden.
mögensbeſtandtheile eines Staates und erlangt hier eine beſondere
rechtliche Wichtigkeit. Denn was das Verhältniß des Staates zu
den Gläubigern anlangt, ſo iſt daſſelbe bei den Finanzſchulden
ein rein privatrechtliches, bei welchem der Gläubiger gleichbe-
rechtigt dem Fiskus auf dem Boden des Civilrechts gegenüber-
ſteht; bei den Verwaltungsſchulden dagegen miſcht ſich dem rein
civilrechtlichen Verhältniß in vielen Fällen ein öffentlichrechtliches
bei, welches die civilrechtliche Seite des Verhältniſſes bedingt und
beeinflußt 1). Staatsrechtlich zeigt ſich der Unterſchied vorzüglich
darin, daß die Regierung zur Contrahirung von Finanzſchulden
an und für ſich nicht ermächtigt iſt, ſondern der beſonderen
Ermächtigung durch ein Geſetz bedarf, weil die Ausnutzung des
Staatscredits außerhalb der ordentlichen, durch die Verfaſſung
und Geſetzgebung geregelten Aufgaben der Staatsverwaltung liegt.
Dagegen iſt die Entſtehung von Verwaltungsſchulden theils eine
unmittelbare Folge der Geſetzgebung ſelbſt, welche dem Fiskus
laufende Geldverpflichtungen auferlegt, z. B. die Zahlung von
Penſionen, Entſchädigungen, Subventionen u. dgl., theils eine noth-
wendige Conſequenz der Führung der Verwaltung. Die Regierung
bedarf daher keiner beſonderen Autoriſation zur Uebernahme
dieſer Schulden; ſie iſt vielmehr durch den allgemeinen Verwal-
tungs-Auftrag befugt, mit gültiger Wirkſamkeit für den Fiskus
alle diejenigen Schulden zu contrahiren und zu bezahlen, welche
aus der Durchführung dieſes Verwaltungs-Auftrages nach Maß-
gabe der beſtehenden Geſetze ſich ergeben.
Das poſitive Recht des Deutſchen Reiches zieht aber die
Grenzlinie zwiſchen beiden Arten von Schulden etwas anders.
Art. 73 der R.V. beſtimmt:
„In Fällen eines außerordentlichen Bedürfniſſes kann im
Wege der Reichsgeſetzgebung die Aufnahme einer Anleihe,
ſowie die Uebernahme einer Garantie zu Laſten des
Reichs erfolgen.“
Es iſt nicht zu bezweifeln, daß dieſer Artikel im Weſentlichen
die Finanzſchulden treffen will. Im Zuſammenhange mit Art. 69
bis 72, welche die Einnahmen und Ausgaben des Reiches behan-
deln, bezieht der Art. 73 ſich auf den Fall, daß die durch Reichs-
[230]§. 109. Die Reichsſchulden.
geſetze der Verwaltung zur Verfügung geſtellten Einnahmen nicht
ausreichen für die durch außergewöhnliche Aufwendungen geſtei-
gerten Ausgaben, ſo daß der Reichscredit in Anſpruch ge-
nommen werden muß, um der Reichsverwaltung die erforderlichen
Mittel zuzuführen. Dagegen iſt es ſachlich ebenſo unmöglich als
dem Wortlaut des Artikels widerſprechend, für jede Uebernahme
einer Schuldverbindlichkeit Seitens des Reiches den Weg der
Reichsgeſetzgebung für erforderlich zu halten; es verſteht ſich viel-
mehr von ſelbſt, daß auch die Verwaltung des Reichs ſo gut wie
die Verwaltung jedes andern Gemeinweſens fortwährend Obliga-
tionen zu Laſten des Reiches contrahiren muß und dazu innerhalb
des ihr im Allgemeinen überwieſenen Geſchäftskreiſes bevollmächtigt
iſt. Der Artikel 73 jedoch unterſcheidet nicht in ſachlicher Weiſe
zwiſchen Finanz- und Verwaltungsſchulden, ſondern er normirt
ſeine Vorſchrift nach einem formellen Geſichtspunkt, indem er
diejenigen civilrechtlichen Geſchäfte, welche vorzugsweiſe zur Con-
trahirung von Finanzſchulden dienen, nämlich Anlehen und Bürg-
ſchaftsleiſtung, der Regierung nur auf Grund eines Reichsgeſetzes
geſtattet. Er verbietet alſo der Reichsregierung nicht direkt die
Ausbeutung des Reichscredits ohne ſpezielle geſetzliche Genehmi-
gung, ſondern er erſchwert ihr nur dieſe Ausbeutung, indem er
die beiden praktiſch wichtigſten Mittel dazu verſchließt. Die Folge
davon iſt, daß auch Finanzſchulden ohne vorherige reichsgeſetzliche
Ermächtigung contrahirt werden können, wenn nur die beiden
erwähnten Rechtsgeſchäfte vermieden werden; daß dagegen ande-
rerſeits Creditoperationen der laufenden Verwaltung, welche durch
die etatsmäßigen Ausgaben und Einnahmen ihre vollſtändige Er-
ledigung finden, doch der beſonderen Genehmigung durch Geſetz
alsdann bedürfen, wenn ſie in der Form der Anleihe oder Bürg-
ſchaftsleiſtung erfolgen. Der erſte dieſer beiden Fälle iſt praktiſch
nicht von Belang 1), um ſo mehr der zweite.
Durch die Etatsgeſetze wird nämlich alljährlich der Reichs-
kanzler ermächtigt, zur vorübergehenden Verſtärkung der Betriebs-
fonds der Reichskaſſe nach Bedarf Schatzanweiſungen bis
[231]§. 109. Die Reichsſchulden.
zu einem beſtimmten Maximalbetrage auszugeben. Die Nothwen-
digkeit dieſer vorübergehenden Creditbenutzungen beruht vorzugs-
weiſe darauf, daß in den Wintermonaten die Ausgaben für das
Militärweſen ſehr erheblich den monatlichen Durchſchnittsbetrag
überſteigen, während ſie in den Sommermonaten unter demſelben
zurückbleiben, daß dagegen die Einnahmen aus den Zöllen und
Verbrauchsſteuern gerade in den erſten Monaten des Jahres hinter
dem monatlichen Durchſchnitt zurückbleiben 1). Sollen daher nicht
die Einzelſtaaten der Reichsverwaltung Vorſchüſſe leiſten, ſo muß
die Reichskaſſe in die Lage verſetzt werden, den zeitweiligen Mehr-
bedarf der Militärverwaltung über die effektiven Einnahmen durch
Anlehen auf kurze Friſt zu decken, indem in den Sommermonaten
der reichlichere Eingang der Zölle und Verbrauchsſteuern verbun-
den mit dem Minderbedarf der Militärverwaltung der Reichskaſſe
die Rückzahlung dieſer Anleihe ermöglicht.
In ähnlicher Weiſe iſt für die Durchführung des Münzweſens,
für die Vorausanſchaffung der Reichseiſenbahn-Verwaltungen, für
den Poſtanweiſungs-Verkehr, für den Centralkaſſen-Verkehr des
Reichs vorübergehend das Bedürfniß nach baaren Betriebsmitteln
in einem höheren Grade als zu anderen Zeiten des Etatsjahres
vorhanden 2). Es wäre unzweckmäßig, die Reichskaſſe mit einem,
auch für die Zeit des größten Bedürfniſſes genügenden Betriebs-
fonds auszuſtatten, da derſelbe das ganze Jahr hindurch Zinſen
koſten würde, während der Schatzanweiſungscredit nach dem Maße
des Bedürfniſſes in Anſpruch genommen werden kann.
Die Schatzanweiſungen haben in finanzieller Beziehung recht
eigentlich den Charakter der Verwaltungsſchuld und ſind geeignet,
den Gegenſatz der Verwaltungs- und Finanzſchulden ſowie die
Tragweite des Art. 73 der R.V. zu veranſchaulichen. Alle Aus-
gaben, zu deren Beſtreitung dieſe Schulden contrahirt werden,
finden durch die etatsmäßigen Einnahmen Deckung; könnten alle
Einnahmen und Ausgaben des ganzen Jahres an Einem Tage
erfolgen, ſo wäre keinerlei Creditoperation erforderlich. Der Vor-
ſchuß, deſſen die Reichskaſſe bedarf, hat nicht den Charakter eines
[232]§. 109. Die Reichsſchulden.
Deficits, ſondern eines bloßen Kaſſenvorſchuſſes, einer Diskonti-
rung der im Laufe des Jahres zu erwartenden Einnahmen. Da
aber die Beſchaffung dieſes Vorſchuſſes in der Form der An-
leihe erfolgt, ſo findet der Art. 73 der R.V. Anwendung und
iſt alljährlich die geſetzliche Ermächtigung des Reichskanzlers zur
Ausgabe von Schatzſcheinen ſtaatsrechtlich nothwendig.
II. Die Reichsanleihen. Da das Deutſche Reich der
Rechtsnachfolger des Norddeutſchen Bundes und vermögensrecht-
lich mit ihm identiſch iſt, ſo ſind alle Schulden des Norddeutſchen
Bundes ipso jure auf das Reich übergegangen 1). Die Franzö-
ſiſche Kriegskoſten-Entſchädigung bot jedoch die Mittel, ſowohl die
vom Norddeutſchen Bunde zur Beſtreitung der Ausgaben für die
Kriegsmarine und die Küſtenvertheidigung aufgenommene Anleihe
als auch die Kriegsanleihen des Norddeutſchen Bundes vollſtändig
zu tilgen 2). Nachdem aber die Kriegskoſten-Entſchädigung aufge-
braucht war, hat das Reich im Wege des Credits faſt alljährlich
bedeutende Summen aufgenommen und zwar ſowohl in der Form
der Schatzanweiſungen mit feſter Umlaufszeit als in der Form
der verzinslichen Schuldverſchreibungen ohne beſtimmten Fälligkeits-
termin 3).
Was die Rechtsgrundſätze über die Reichsanleihen anlangt,
ſo ſind dreierlei Kategorien zu unterſcheiden, unter welche die in
den einzelnen Anleihegeſetzen des Reiches enthaltenen Beſtimmungen
zu bringen ſind. Man kann ſie einander gegenüberſtellen als die
verfaſſungsrechtlichen, die privatrechtlichen und die verwaltungs-
rechtlichen; die erſteren betreffen die rechtlichen Vorausſetzungen,
unter welchen die Reichsregierung eine Anleihe aufnehmen darf;
die zweiten beziehen ſich auf das Verhältniß des Reichsfiskus zu den
Darlehnsgläubigern; die dritten haben die Verwaltung der Reichs-
[233]§. 109. Die Reichsſchulden.
ſchuld, ihre Kontrole, Rechnungslegung u. ſ. w. zum Gegenſtande 1).
1. Die verfaſſungsrechtlichen Grundſätze. Die
Aufnahme einer Anleihe iſt der Abſchluß eines privatrechtlichen
Geſchäfts, alſo ein Verwaltungsakt; ſie kann niemals, nach
keiner Verfaſſung und unter keinen Umſtänden ein Akt der Geſetz-
gebung ſein, weil es ſich gar nicht um einen einſeitigen Willensakt
des Staates, ſondern um einen Vertrag des Fiskus mit Dritten
handelt. Eine Anleihe „beruht“ daher niemals auf einem Geſetz,
ſie wird niemals „durch ein Geſetz“ oder „im Wege eines Geſetzes“
aufgenommen, ſondern ſtets im Wege der Verwaltung und in der
Form des bürgerlichen Rechtsverkehrs 2). Demgemäß drückt ſich
der Art. 73 der R.V. nicht correct aus, wenn er beſtimmt:
„In Fällen eines außerordentlichen Bedürfniſſes kann
im Wege der Reichsgeſetzgebung die Aufnahme
einer Anleihe . . . . zu Laſten des Reichs erfolgen“.
Der „Weg der Reichsgeſetzgebung“ führt niemals bis zur Auf-
nahme einer Anleihe, weil er nicht bis zu den Creditgebern führt,
ſondern ein Stück vorher aufhört. Der ſelbſtverſtändliche und
zweifelloſe Sinn des Artikels iſt vielmehr, daß die Regierung für
den Verwaltungsakt der Creditbeſchaffung die im Wege der Geſetz-
gebung zu ertheilende Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichs-
tages bedarf. Ein „Anleihegeſetz“ (in dieſem Sinne) hat daher
auch niemals einen materiellen Rechtsinhalt, ſtellt keine Rechts-
regel weder des öffentlichen noch des privaten Rechts auf, ſondern
es enthält lediglich die Ermächtigung der Reichsregierung zum
Abſchluß eines beſtimmten einzelnen Rechtsgeſchäftes; es iſt ein for-
melles Geſetz, deſſen Inhalt eine Verwaltungsmaßregel betrifft 3).
[234]§. 109. Die Reichsſchulden.
Dem entſpricht die ſtereotype Formel, welche in ſämmtlichen
Anleihegeſetzen des Nordd. Bundes und des Deutſchen Reiches für
den Hauptparagraphen derſelben verwendet wird. Sie lautet:
„Der Reichskanzler wird ermächtigt, die zur Beſtreitung
der . . . . Ausgaben erforderlichen Geldmittel bis zur Höhe
von . . . . . . . Mark im Wege des Credits flüſſig zu machen
und zu dieſem Zwecke in dem Nominalbetrage, wie er zur Be-
ſchaffung jener Summe erforderlich ſein wird, eine verzinsliche
. . . . Anleihe aufzunehmen und Schatzanweiſungen auszugeben.“
Mit dieſer Beſtimmung iſt der weſentliche Beſtandtheil eines
Anleihegeſetzes abgeſchloſſen; alles Uebrige, was ſonſt noch in den
Anleihegeſetzen ſich findet, könnte — wie gleich ausgeführt werden
wird — fehlen. Dem Art. 73 der R.V. iſt mit dieſem erſten
Paragraphen der Anleihegeſetze vollſtändig genügt 1).
Allein die Ermächtigung zum Abſchluß der Anleihe kann
beſchränkt werden, indem dem Reichskanzler gewiſſe Bedingungen
vorgeſchrieben werden, welche er bei dem Creditgeſchäft beobachten
muß, ſo daß er das letztere anders als unter dieſen Bedingungen
nicht contrahiren darf. Dies iſt in der That der Fall hinſichtlich
der Bedingungen der Rückzahlung der Schuld. Das Geſetz vom
6. April 1870 2) hat beſtimmt, daß die in Ausſicht genommene
(damals einzige) Anleihe des Nordd. Bundes in der Art contra-
hirt werden ſollte, daß den Inhabern der Schuldverſchreibungen
kein Kündigungsrecht zuſtehe, daß dagegen dem Nordd.
Bunde das Recht vorbehalten bliebe, die im Umlauf befindlichen
Schuldverſchreibungen zur Einlöſung gegen Baarzahlung des Ka-
pitalbetrages binnen einer geſetzlich feſtzuſetzenden Friſt zu kündi-
gen 3). Dieſe Beſtimmung iſt in allen Anleihegeſetzen des Deutſchen
[235]§. 109. Die Reichsſchulden.
Reiches wiederholt worden, indem §. 2 des Reichsgeſetzes vom
27. Januar 1875 (R.G.Bl. S. 18) auf das Geſetz vom 6. April
1870, und jedes der folgenden Anleihegeſetze auf den §. 2 des
Reichsgeſetzes vom 27. Januar 1875 verweiſt.
Dieſe Beſtimmungen enthalten eine Einſchränkung oder vielmehr
Declaration des Hauptparagraphen; ſie erklären, daß unter
einer „verzinslichen Anleihe“ kein Zinsdarlehen, ſondern eine
wiederkäufliche Rente gemeint iſt 1) und ſie beſchränken daher
die dem Reichskanzler ertheilte Ermächtigung, „Geldmittel im Wege
des Credits flüſſig zu machen“, auf die Emiſſion von Rentenſchuld-
ſcheinen. Auch hinſichtlich der Ausgabe der Schatzſcheine iſt die
dem Reichskanzler ertheilte Ermächtigung durch die Anordnung
eingeſchränkt, daß die Dauer ihrer Umlaufszeit den Zeitraum
eines Jahres nicht überſchreiten darf 2).
Hiernach iſt die in den Anleihegeſetzen dem Reichskanzler er-
theilte Vollmacht auf folgende Sätze zu reduziren: er darf im
Wege des Credits eine gewiſſe Summe aufnehmen und zwar ent-
weder als Rentenſchuld, deren Tilgung dem Reichsfiskus vorbe-
halten bleibt, oder als verzinsliche Darlehensſchuld mit feſt be-
ſtimmten, die Friſt eines Jahres (von der Emiſſion) nicht über-
ſchreitenden Fälligkeits-Terminen. Im Uebrigen ſind die Modali-
täten des Creditgeſchäftes der freien Vereinbarung des Reichs-
kanzlers mit den Kapitaliſten überlaſſen.
Obwohl nach dem Wortlaut ſämmtlicher Anleihegeſetze
des Reiches die eben erwähnte Vollmacht dem Reichskanzler
ertheilt wird, ſo lehrt doch ein Blick in das Reichsgeſetzblatt, daß
dieſe Vollmacht immer zunächſt erſt eine zweite Vollmacht im Ge-
folge hat, welche dem Reichskanzler in der Form eines von ihm
contraſignirten Kaiſerlichen Erlaſſes ertheilt wird 3). Dieſe Er-
[236]§. 109. Die Reichsſchulden.
laſſe ſind alle nach demſelben Formular abgefaßt; ſie genehmi-
gen auf Grund der darin bezeichneten Geſetze die Aufnahme der
Anleihe, beſtimmen die Beträge, über welche die auszugebenden
Schuldverſchreibungen lauten ſollen, ſowie die Höhe und Zahlungs-
termine der Zinſen; ſie wiederholen die in den Anleihegeſetzen
enthaltenen Anordnungen über die Tilgung und ſie ermächtigen
den Reichskanzler, hienach die weiteren Anordnungen zu treffen.
Abgeſehen von den Beſtimmungen über die auszufertigenden Ap-
points und über die Zinſen haben daher dieſe Kaiſerlichen Erlaſſe
vollkommen denſelben Inhalt wie die Anleihegeſetze. In
formeller Beziehung iſt es unbeſtreitbar incorrect und anſtößig,
daß eine und dieſelbe Anordnung zweimal erlaſſen wird; das
erſte Mal vom Kaiſer unter Zuſtimmung von Bundesrath und
Reichstag und das zweite Mal wieder vom Kaiſer „auf Grund“
jener erſten Anordnung; man ſollte meinen, daß der bereits durch
Reichsgeſetz ermächtigte Reichskanzler nicht nochmals ermächtigt zu
werden braucht. Materiell aber liegt in dieſer Praxis ein tiefer
Sinn; die Anleihegeſetze wollen etwas Anderes bedeuten als ihr
Wortlaut ſagt oder ſie werden wenigſtens anders ausgelegt als
nach ihrem buchſtäblichen Sinn. Gemäß dieſer Uſual-Interpretation
gilt nicht der Reichskanzler, ſondern der Kaiſer als ermächtigt,
eine Reichsanleihe aufzunehmen, und demnach iſt ein Erlaß des
Kaiſers an den Reichskanzler, durch den demſelben die Beſchaffung
der Geldmittel aufgetragen wird, erforderlich 1). Die in den An-
leihegeſetzen gewählte Ausdrucksweiſe iſt incorrect 2).
[237]§. 109. Die Reichsſchulden.
Sowie die Aufnahme einer Anleihe, ſo iſt auch die Kündi-
gung und Tilgung derſelben ein Rechtsgeſchäft des Vermögens-
verkehrs, alſo ein Verwaltungsgeſchäft, kein Akt der Geſetz-
gebung (im materiellen Sinn). Da aber dieſes Geſchäft in die
Finanzwirthſchaft des Reiches nicht minder tief eingreift, wie die
Aufnahme der Anleihe, ſo iſt auch hierzu die Genehmigung des
Bundesrathes und des Reichstages, „der Weg der Geſetzgebung“
für erforderlich erklärt. Zwar nicht in der Reichsverfaſſung, wol
aber nach dem typiſchen Inhalt ſämmtlicher Anleihegeſetze und
auch hier nur in einer verſteckten Weiſe, indem dem Reich das
Recht vorbehalten iſt, die Schuldverſchreibungen der einzelnen
Renten-Emiſſionen „binnen einer geſetzlich feſtzuſetzenden Friſt
zu kündigen“ 1). Hiernach braucht zwar nur die Beſtimmung der
Kündigungsfriſt durch Geſetz zu erfolgen; aber es verſteht ſich
von ſelbſt, daß der Bundesrath und der Reichstag dieſe Friſt nur
dann feſtſetzen werden, wenn ſie die Tilgung der Schuld überhaupt
beſchließen wollen 2). Demgemäß hat auch das Reichsgeſetz vom
28. Oktob. 1871 (R.G.Bl. S. 343) ſich nicht auf die Feſtſtellung
der Kündigungsfriſt beſchränkt, ſondern „den Reichskanzler er-
mächtigt, die . . . . Anleihe des vormal. Nordd. Bundes zur Ein-
löſung . . . . mit einer Friſt von drei Monaten kündigen zu laſſen“.
2. Die privatrechtlichen Regeln. Das Rechtsverhält-
niß zwiſchen dem Fiskus und den Anleihegläubigern beſtimmt
ſich nach der Art der Kreditbeſchaffung; es iſt bei Emiſſion von
2)
[238]§. 109. Die Reichsſchulden.
Schatzſcheinen das Darlehn, bei Emiſſion von Schuldverſchrei-
bungen ohne Fälligkeit die Rentenſchuld; beide in derjenigen
juriſtiſchen Geſtaltung, welche durch die Obligationsform der
„Werthpapiere“ (Scripturobligationen) gegeben iſt. Die in Be-
tracht kommenden Rechtsſätze ergeben ſich aus der Natur der Sache
und den Vorſchriften des Civilrechts. Das einzelne Anleihegeſetz
iſt an und für ſich nicht der geeignete Platz, um ſie zu ſanctio-
niren, da es nicht die Regelung, ſondern die Benutzung des Rechts-
inſtituts zum Zweck hat. Indeß hat die Reichsgeſetzgebung ein-
zelne Punkte, in Ermangelung eines gemeinen Civilgeſetzes, in
den Anleihegeſetzen normirt. Es ſind folgende zwei:
a) Die Verjährung. Nicht erhobene Zinſen (Renten) ver-
jähren in vier Jahren, von der Verfallzeit an gerechnet 1); ebenſo
die Zinſen auf Schatzanweiſungen; die in Schatzanweiſungen ver-
ſchriebenen Kapitalbeträge verjähren binnen 30 Jahren nach Ein-
tritt des in jeder Schatzanweiſung angegebenen Fälligkeitstermins 2).
b) Das Aufgebot und die Amortiſation verlorener
oder vernichteter Schuldurkunden. Daſſelbe iſt geregelt in dem
Geſetz vom 9. Nov. 1867 §. 6 und dem Geſ. v. 12. Mai 1873 3),
deren Anordnungen in den einzelnen Anleihegeſetzen des Reiches
ausdrücklich in Bezug genommen ſind. Dieſe Anordnungen wer-
den nunmehr ergänzt durch die Civilprozeß-Ordn. §§. 823 ff., ſind
aber, ſofern ſie abweichende Vorſchriften enthalten, der Civilproz.
Ordn. gegenüber in Kraft erhalten durch §. 13 des Einf.Geſ. zur
Civilproz.Ordnung.
Im Uebrigen beruhen die Rechte der Gläubiger auf vertrags-
mäßiger Abrede (dem Begebungsvertrag), nicht auf Geſetz, und
wenn auch ſcheinbar in den Anleihegeſetzen und kaiſerlichen Er-
laſſen gewiſſe Seiten des Rechtsverhältniſſes geregelt werden, ſo
ſind dieſe Vorſchriften doch zunächſt nur Befehle an den Reichs-
kanzler, wie er contrahiren ſolle, und mithin iſt ihr Inhalt aller-
dings identiſch mit den Vertragsabreden 4).
[239]§. 109. Die Reichsſchulden.
3. Die Verwaltung der Reichsſchuld. Dieſelbe iſt
durch das Reichsgeſetz vom 19. Juni 1868 (B.G.Bl. S. 339 ff.)
geregelt worden; daſſelbe bezieht ſich zwar nur auf die Marine-
Anleihe des Nordd. Bundes, iſt aber auf alle ſpäteren Anleihen
des Reiches durch die betreffenden Anleihegeſetze für anwendbar
erklärt worden. Die in dieſem Geſetz aufgeſtellten Grundſätze ſind
folgende:
a) „Bis zum Erlaß eines definitiven Geſetzes über die Bundes-
ſchulden-Verwaltung“ iſt die Wahrnehmung der mit der Verwal-
tung der Reichsſchulden verbundenen Geſchäfte der Preußiſchen
„Hauptverwaltung der Staatsſchulden“ unter der obe-
ren Leitung des Reichskanzlers übertragen 1). Die amtliche Thä-
tigkeit und ſtaatsrechtliche Stellung dieſer Behörde iſt bereits oben
Bd. I. S. 349 ff. erörtert worden.
b) Die Aufſicht über die Reichsſchulden-Verwaltung liegt der
Reichsſchulden-Kommiſſion ob, deren Zuſammenſetzung
und Aufgabe Bd. I. S. 354 fg. dargeſtellt worden iſt.
c) Die dem Reichskanzler obliegenden Geſchäfte der Finanz-
verwaltung werden von dem ihm unterſtellten „Reichsſchatz-
amt“ wahrgenommen 2).
d) In allen Anleihegeſetzen des Reiches iſt vorgeſchrieben,
daß über die Ausführung derſelben dem Reichstage bei deſſen
nächſter Zuſammenkunft Rechenſchaft zu geben iſt 3).
e) Endlich enthalten die Anleihegeſetze übereinſtimmend einen
Satz, der auf den erſten Blick ſelbſtverſtändlich und inhaltslos er-
ſcheint, nämlich daß die zur Verzinſung und Tilgung der Anleihe,
ſowie zur Einlöſung der Schatzanweiſungen erforderlichen Beträge
der Reichsſchulden-Verwaltung aus den bereiteſten Einkünften des
Reichs zur Verfallzeit zur Verfügung geſtellt werden müſſen 4);
indeß kann dieſer Satz unter Umſtänden eine praktiſche Bedeutung
erlangen, die aber erſt unten bei Darſtellung des Budgetrechts
erörtert werden kann.
[240]§. 110. Ueberſicht der Einnahmequellen.
III.Reichsbürgſchaften. Im Art. 73 der R.V. iſt
die Uebernahme einer Garantie zu Laſten des Reichs der Auf-
nahme einer Anleihe gleichgeſtellt worden und es gelten die im
Vorſtehenden entwickelten verfaſſungsrechtlichen Grundſätze in völlig
gleicher Weiſe von beiden Arten von Rechtsgeſchäften. Das Reich
hat noch keine Veranlaſſung gehabt, ein Geſchäft dieſer Art abzu-
ſchließen; dagegen iſt es als Rechtsnachfolger des Nordd. Bundes
in ein ſolches Schuldverhältniß eingetreten. Durch das Geſetz vom
11. Juni 1868 1) iſt „das Bundespräſidium ermächtigt worden“,
in Gemeinſchaft mit Großbritannien, Frankreich und Oeſterreich
die Garantie für ein von der Donauſchifffahrts-Kommiſſion behufs
Herſtellung der dauernden Fahrbarkeit des Sulina-Armes der
Donaumündungen contrahirtes Anlehen zu übernehmen. Bisher
iſt vom Deutſchen Reiche eine Zahlung auf Grund dieſer Bürg-
ſchafts-Obligation nicht gefordert worden 2).
IV.Reichskaſſenſcheine. Vgl. über dieſelben Bd. II.
S. 438; es iſt daſelbſt bereits hervorgehoben worden, daß dieſelben
nicht den juriſtiſchen Charakter des Papiergelds haben, ſondern
unverzinsliche, auf den Inhaber lautende Schuldſcheine des
Reiches ſind und daß demgemäß die Funktionen der Reichsſchulden-
Verwaltung und der Reichsſchulden-Kommiſſion ſich auch auf ſie
erſtrecken.
Zweiter Abſchnitt. Die Einnahmequellen des Reiches.
§. 110. Ueberſicht.
Als „gemeinſchaftliche“ Einnahmen des Reiches ſind im Art. 70
der R.V. bezeichnet:
- 1. Die Erträge der Zölle und der gemeinſchaftlichen (im
Art. 35 der R.V. aufgezählten) Verbrauchsſteuern. - 2. Die Betriebsüberſchüſſe aus dem Poſt- und Telegraphen-
weſen. - 3. Die etwaigen Ueberſchüſſe der Vorjahre.
[241]§. 110. Ueberſicht der Einnahmequellen.
Hierzu kommen:
- 4. Die Erträge des Reichsvermögens, nämlich
- a) die Ueberſchüſſe aus dem Betrieb der Reichseiſen-
bahnen; - b) der Gewinn aus dem Betriebe der Reichsdruckerei;
- c) der Antheil am Reingewinn der Reichsbank1) nebſt
dem Ertrage der Banknoten-Beſteuerung 2); - d) die Zinſen aus belegten Geldern und die flüſſig
gemachten Beſtände der einzelnen Fonds; - e) die Zuſchüſſe aus Reichsanleihen.
- a) die Ueberſchüſſe aus dem Betrieb der Reichseiſen-
- 5. Die mit den Verwaltungen des Reichs unmittelbar verbun-
denen Einnahmen, nämlich- a) die Gebühren, welche für die Amtshandlungen der
Reichsbehörden zu entrichten ſind; - b) die finanziellen Neben-Nutzungen des Verwaltungs-
vermögens (durch Vermiethung oder Verpachtung u. dgl.),
ſowie der Erlös für entbehrlich oder unbrauchbar gewor-
dene Grundſtücke, Materialien, Maſchinen, Pferde u. dgl.; - c) die Wittwen- und Waiſengeld-Beiträge der
Reichsbeamten der Civilverwaltung nach Maßgabe des
Geſetzes vom 20. April 1881 (R.G.Bl. S. 85).
- a) die Gebühren, welche für die Amtshandlungen der
- 6. Die Reichsſtempel-Abgaben und zwar
- a) für Spielkarten,
- b) für Wechſel, ſowie für Werthpapiere, Schlußnoten, Rech-
nungen und Lotterielooſe.
Von dieſen Einnahmequellen ſind hier nur zwei Kategorien
im Einzelnen darzuſtellen, nämlich die Zölle und Verbrauchsſteuern
und die Stempelabgaben; hinſichtlich der übrigen iſt auf die Dar-
ſtellung der einzelnen Verwaltungszweige und des Reichsvermögens
zu verweiſen 3). Es iſt hierbei aber zu bemerken, daß hier nur
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 16
[242]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
von der verwaltungsrechtlichen Ordnung dieſer Einnahmequellen
die Rede iſt, während ihre Bedeutung und rechtliche Stellung in
der Finanz wirthſchaft des Reiches im folgenden Abſchnitt zu
erörtern ſein wird.
A.Die Zölle und Herbrauchsſteuern*).
§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen.
I. Durch übereinſtimmende Zollgeſetze, gleichartige Einrich-
tungen der Zollverwaltung und Gemeinſchaftlichkeit der Zollein-
nahmen war für den größten Theil des jetzigen Bundesgebietes
ſchon lange vor der Gründung des Norddeutſchen Bundes die
materielle Einheit des Zollweſens hergeſtellt. Der Deutſche Zoll-
verein war nicht nur ein kräftiges Band, welches die Mehrzahl
der Deutſchen Staaten in der Zeit, als ſie ſouverain waren, zu-
ſammenhielt; er war nicht nur in wirthſchaftlicher und politiſcher
Hinſicht eine Vorſtufe, von der aus die ſtaatliche Neugeſtaltung
Deutſchlands angebahnt wurde, ſondern die in dem Zollverein aus-
gebildeten Einrichtungen wurden auch zum großen Theil in die
Bundesverfaſſung herübergenommen und bilden theilweiſe noch jetzt
einen Beſtandtheil des Reichsſtaatsrechts. Die Geſchichte des Zoll-
vereins kann man mit Recht als die Vorgeſchichte des Deutſchen
Reichs bezeichnen 1).
Durch die Gründung des Norddeutſchen Bundes wurde der
Zollverein, wie er zuletzt durch den Vertrag vom 16. Mai 1865
conſtituirt war, allerdings in ſehr erheblicher Weiſe umgeſtaltet
und zwar ebenſowohl hinſichtlich der in den Norddeutſchen Bund
eintretenden Staaten als hinſichtlich der Süddeutſchen Staaten.
In Betreff der erſteren wurde das Vereinsverhältniß erſetzt durch
ein ſtaatliches; an die Stelle der Vereinbarung trat die Verfaſ-
ſung, an die Stelle der Kündbarkeit und des Abſchluſſes auf be-
ſtimmte Zeit die Unkündbarkeit und ewige Dauer, an die Stelle
des Erforderniſſes der Einſtimmigkeit zu allen Abänderungen der
[243]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
Zollgeſetze und Einrichtungen der Weg der Geſetzgebung und Ver-
ordnung; an die Stelle der Vertheilung der Erträge der Zölle
und Verbrauchsabgaben an die Vereinsmitglieder trat die Ver-
wendung dieſer Einnahmen zur Beſtreitung der Bundesausgaben.
Wenngleich die Grundſätze, nach welchen die Zollverwaltung und
die Erhebung der Zölle und Abgaben im Zollverein geregelt waren,
im Allgemeinen auch im Norddeutſchen Bunde beibehalten worden
ſind, ſo war doch der Verein als ſolcher unter den Mitgliedern
des Bundes nicht mehr vorhanden, ſondern durch die ſtaatliche
Einheit des Bundes abſorbirt worden. Eine praktiſch beſonders
wichtige Folge dieſes Prinzips beſtand darin, daß die einheitliche
Regelung des Zollweſens auch auf diejenigen Bundesſtaaten und
Gebietstheile des Norddeutſchen Bundes, welche dem Zollverein
nicht angehört hatten, Anwendung fand, inſoweit nicht die Ver-
faſſung des Norddeutſchen Bundes ſelbſt Ausnahmen feſtſetzte 1).
Auch hinſichtlich der Süddeutſchen Staaten war der Zollverein,
wenngleich er thatſächlich während des Krieges von 1866 fort-
dauerte, rechtlich durch den Ausbruch des Krieges und durch den
ſtaatlichen Untergang eines Theiles der Vereinsmitglieder aufge-
löſt worden. In den einzelnen mit Preußen abgeſchloſſenen Friedens-
verträgen (Art. 7 derſelben) wurde dies von ſämmtlichen Süd-
deutſchen Staaten anerkannt, gleichzeitig aber vereinbart, daß die
Zollvereinsverträge wieder in Kraft treten ſollten mit dem Vor-
behalt, daß jeder Contrahent befugt ſei, ſie jederzeit ſechs Monate
nach geſchehener Aufkündigung zu löſen. Dieſes Kündigungsrecht
benutzte Preußen als Handhabe, um eine Reform des Zollvereins
herbeizuführen und es gelang der Preußiſchen Regierung, den
Zollvereinigungs-Vertrag vom 8. Juli 1867 zu Stande zu bringen 2).
Dieſer Vertrag war von 5 Contrahenten, dem Norddeutſchen Bunde
und den 4 Süddeutſchen Staaten geſchloſſen; er begründete ein
Vereinsverhältniß mit beſtimmter Dauer (31. Dezember 1877),
das aber ſtillſchweigend von 12 zu 12 Jahren verlängert werden
konnte; er erhielt die Vereinbarungen der älteren Zoll- und Han-
delsvereinigungs-Verträge in Kraft, ſoweit ſie nicht durch dieſen
Vertrag ſelbſt abgeändert worden ſind; er führte aber die ver-
16*
[244]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
faſſungsmäßigen Formen und Organe der Geſetzgebung und Ver-
waltung des Norddeutſchen Bundes in analoger Weiſe für die
Erledigung der Vereinsgeſchäfte ein (Zollvereins-Geſetze, Zollver-
eins-Verordnungen, Zollvereins-Präſidium, Zoll-Bundesrath, Zoll-
Parlament) 1).
Durch die Gründung des Deutſchen Reiches fand auch dieſer
Zollverein ſein Ende; das Rechtsverhältniß unter ſeinen Mitglie-
dern wurde in derſelben Weiſe umgeſtaltet, wie durch die Errich-
tung des Norddeutſchen Bundes das Verhältniß unter den zu
demſelben vereinigten Staaten. Zwar wurden durch den Art. 40
der R.V. die Beſtimmungen in dem Zollvereinigungs-Vertrage vom
8. Juli 1867 in Kraft erhalten, ſoweit ſie nicht durch die Vor-
ſchriften dieſer Verfaſſung abgeändert ſind, aber der Grundſatz,
daß das Reichsgebiet ein einheitliches Zoll- und Handelsgebiet
bildet, die ausſchließliche Befugniß des Reiches zur Geſetzgebung
über Zölle und über die im Art. 35 aufgeführten Verbrauchsab-
gaben, das Verordnungsrecht des Bundesrathes, die Ueberwachung
der Behörden der Einzelſtaaten durch den Kaiſer u. ſ. w. ſind
verfaſſungsmäßig feſtgeſtellt und an keinen von dem Willen
der Einzelſtaaten abhängigen Endtermin geknüpft 2). Die Bezug-
nahme auf die Beſtimmungen des Zollvereinigungsvertrages im
Art. 40 der R.V. darf nicht zu der irrthümlichen Anſicht verleiten,
als beſtünde neben dem ſtaatsrechtlichen Reichsverband unter den
Deutſchen Staaten noch ein beſonderer vertragsmäßiger Zollver-
band. Der Inhalt der Beſtimmungen iſt hierfür unerheblich;
Alles, was Inhalt eines Geſetzes ſein kann, kann auch zum Inhalt
eines Staatsvertrages gemacht werden und umgekehrt; entſcheidend
iſt allein der Rechtsgrund, auf welchem die verbindliche Kraft
der Beſtimmungen beruht, ob auf dem gegenſeitigen Verſprechen
gleichberechtigter Contrahenten oder auf dem Befehl einer über-
geordneten ſtaatlichen Potenz 3), und dieſer Rechtsgrund iſt eben
dadurch geändert worden, daß die Verfaſſung die Beſtimmungen
des Zollvereinigungsvertrages „in Kraft erhalten“ hat 4).
[245]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
Die wichtige praktiſche Conſequenz hiervon iſt in dem Art. 40 ſelbſt
gezogen, daß nämlich dieſe Beſtimmungen in Kraft bleiben, „ſo-
weit ſie nicht durch die Vorſchriften dieſer Verfaſſung abgeändert
ſind und ſo lange ſie nicht auf dem im Art. 7, beziehungsweiſe 78
bezeichneten Wege abgeändert werden“. Auch daß die Ausdeh-
nung dieſer Beſtimmungen auf Elſaß-Lothringen im Wege der Ge-
ſetzgebung erfolgt iſt, beſtätigt, daß hier Reichsrecht, nicht Ver-
tragsrecht, in Rede ſteht. Hierdurch wird aber nicht ausgeſchloſſen,
daß gewiſſe in dem Zollvereinigungsvertrage enthaltene Beſtimmun-
gen für einzelne Staaten Sonderrechte begründen, deren Abände-
rung nur mit Zuſtimmung des berechtigten Staates (Art. 78 Abſ. 2
der R.V.) erfolgen darf 1).
Die Verweiſung des Art. 40 der Reichsverfaſſung auf den
Zollvereinigungsvertrag vom 8. Juli 1867 ſchließt aber zugleich
die Fortgeltung noch anderer Anordnungen in ſich. Denn Art. 1
des erwähnten Vertrages enthält die Beſtimmung, daß „die Zoll-
vereinigungs-Verträge vom 22. und 30. März und 11. Mai 1833,
vom 12. Mai und 10. Dezember 1835, vom 2. Januar 1836,
vom 8. Mai, 19. Oktober und 13. November 1841, vom 4. April
1853 und vom 16. Mai 1865 nebſt den zu ihnen gehörenden
Separatartikeln zwiſchen den vertragenden Theilen ferner in Kraft
bleiben, ſoweit ſie bisher noch in Kraft waren und nicht durch die
folgenden Artikel abgeändert ſind“; und in dem hierzu gehörenden
Schlußprotokoll wird feſtgeſetzt: „Die Verabredung, welche im
Art. 1 des Vertrages über die Wirkſamkeit der daſelbſt genannten
Verträge getroffen iſt, ſoll auch auf diejenigen näheren Beſtim-
mungen und Abreden, welche in den zu jedem dieſer Verträge ge-
hörigen Protokollen enthalten ſind, ſowie überhaupt auf alle in
Folge der Zollvereinigungs-Verträge zum Vollzuge derſelben und
zur weiteren inneren Ausbildung des Vereins getroffenen Verein-
4)
[246]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
barungen Anwendung finden.“ Hiernach hat der Art. 40 der R.V.
die Geſammtheit aller bei Erlaß der R.V. in Geltung geweſenen
Beſtimmungen, welche unter den Mitgliedern des Zollvereins ver-
abredet worden waren, in Kraft erhalten, ſoweit ſie nicht durch
die Reichsverfaſſung abgeändert worden ſind, und hierdurch iſt eine
volle Continuität zwiſchen der vertragsmäßigen Ordnung des Zoll-
vereins und der reichsverfaſſungsmäßigen Regelung des Zollweſens
hergeſtellt 1). In Folge deſſen kann es bei einzelnen Fragen er-
forderlich ſein, auf die älteren Verträge, Schlußprotokolle und
Beſchlüſſe der General-Zollvereins-Conferenzen bis zum Jahre 1833
zurückzugehen. Thatſächlich verringert ſich allerdings dieſes an
und für ſich ſehr umfangreiche Material dadurch erheblich, daß
die ſpäteren Verträge meiſtens die in Geltung erhaltenen Sätze
der früheren wiederholen und daß namentlich der Vertrag vom
16. Mai 1865 eine Codifikation der wichtigſten damals geltenden
Vereinsfeſtſetzungen enthält.
II. Obwohl die Anordnung, daß die Zollvereins-Satzungen
rechtliche Geltung behalten, durch einen Artikel der Reichsver-
faſſung getroffen worden iſt, ſo haben doch die einzelnen
Beſtimmungen der Zollvereinbarungen dadurch nicht den Charakter
von Verfaſſungsvorſchriften erhalten. Es ergiebt ſich
dies aus dem Artikel 40 ſelbſt, welcher die Klauſel beifügt: „ſo
lange ſie nicht auf dem im Art. 7, beziehungsweiſe 78 bezeichneten
Wege abgeändert werden“. Nur Art. 78 betrifft den Weg der
Verfaſſungsänderung; Art. 7 dagegen, der ſeinerſeits wieder auf
Art. 5 zurückweiſt, bezieht ſich auf den Weg der Geſetzgebung und
der Verwaltungs-Verordnung 2). Wenn hiernach die Abände-
rung des Zollvereins-Vertrages auf verſchiedenen Wegen,
auf dem des Verfaſſungsgeſetzes, des einfachen Geſetzes und des
Bundesrathsbeſchluſſes für zuläſſig erklärt wird, ſo ergiebt ſich,
daß auch die ſtaatsrechtliche Bedeutung der einzelnen Vertrags-
beſtimmungen eine verſchiedene iſt und daß der Art. 40 neben
[247]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
ſeiner für alle Zollvereinsſatzungen gemeinſamen Anordnung das
Anerkenntniß dieſer fortdauernden Verſchiedenheit enthält. Zum
Verſtändniß dieſes Satzes dient Folgendes.
Bei den Zollvereinsverträgen war wie bei allen Staatsver-
trägen die völkerrechtliche und die ſtaatsrechtliche
Wirkung zu unterſcheiden. In völkerrechtlicher Beziehung hatten
alle Beſtimmungen derſelben eine und dieſelbe Wirkung, ſie er-
zeugten gegenſeitige Rechte und Pflichten der vertragſchließenden
Staaten. Ganz unabhängig davon war die ſtaatsrechtliche Be-
deutung der verabredeten Beſtimmungen in den einzelnen Staaten,
je nachdem dieſelben in den Bereich des eigentlichen Verfaſſungs-
rechts, der Geſetzgebung oder der Verwaltung eingriffen 1). Durch
den Art. 40 iſt die völkerrechtliche Bedeutung und Kraft erloſchen
und aus dem übereinſtimmenden Recht der verbundenen Staaten
iſt ein einheitliches Recht des Reiches geworden; dies iſt die für
alle Zollvereinsſatzungen gemeinſame Anordung. Aber dieſe Er-
hebung der Geſammtmaſſe der Zollvereinsſatzungen zum Reichs-
recht iſt in derjenigen Qualifikation erfolgt, welche den einzelnen
Beſtimmungen nach ihrem Inhalt und mit Rückſicht auf die ver-
faſſungsrechtlichen Grundſätze des Reiches zukommt. Hiernach
zerfallen die in Geltung erhaltenen Regeln der Zollvereinsverträge
in 3 Klaſſen: in Verfaſſungsvorſchriften, in Geſetzesvor-
ſchriften und in Verwaltungsvorſchriften. Welche Beſtim-
mungen in jede dieſer drei Klaſſen gehören, iſt weder bei der Ab-
faſſung der Norddeutſchen Bundesverfaſſung noch bei der Berathung
der Reichsverfaſſung feſtgeſtellt worden, und zwar — wie der
Präſident des Bundeskanzler-Amtes auf eine an ihn gerichtete An-
frage in der Sitzung des Reichstages vom 7. Dezember 1870 er-
klärte — weil dieſe Klaſſifikation nicht nur ſchwierig und zeit-
raubend, ſondern auch geeignet ſein würde, „eine Menge von
Fragen diskutabel zu machen, die von der Art ſind, daß ſie eigent-
lich nur dadurch zu Fragen werden, wenn man darauf geſtoßen
wird, ſie als ſolche zu behandeln“ 2). Die Geſetzgebung hat die
Löſung dieſer Schwierigkeiten der Praxis und der Wiſſenſchaft
überlaſſen und die letztere hat nicht angeſtanden, ſich dieſer Auf-
[248]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
gabe zu unterziehen. Es ſind namentlich die vorzüglichen Unter-
ſuchungen von Hänel (Studien I. S. 120 ff.) und von Del-
brück (Art. 40 der R.V.) dieſem Zweck gewidmet.
Aus den Beſtimmungen der Zollvereins-Verträge ſcheidet in
dieſer Beziehung ganz aus, was durch die Reichsverfaſſung oder
durch Reichsgeſetze entweder aufgehoben (resp. abgeändert) oder
gedeckt iſt. Denn hinſichtlich dieſer Beſtimmungen iſt der Text
der Reichsverfaſſung und der Reichsgeſetze an die Stelle der
Zollvereinsverträge getreten 1).
Was den übrigen Inhalt der Verträge anlangt, ſo kommen
für die ſtaatsrechtliche Klaſſifizirung der Vorſchriften folgende
Punkte in Betracht:
1. Die Zollvereins-Verträge enthalten Beſtimmungen über
Gegenſtände, auf welche die Kompetenz des Reiches
zur Geſetzgebung ſich nicht erſtreckt; z. B. über
die inneren Verbrauchs-Abgaben der Einzelſtaaten 2), über die
Chauſſeegelder und anderen Wege-Abgaben 3) u. a. Da dieſe Be-
ſtimmungen im Art. 40 der R.V. aufrecht erhalten worden ſind,
ohne daß dem Reich die Befugniß zur Geſetzgebung über dieſe
Angelegenheiten zugewieſen worden iſt, ſo iſt jede Abänderung
dieſer Beſtimmungen eine Abänderung des Art. 40 ſelbſt und kann
folglich nur unter Beobachtung des Art. 78 Abſ. 1 erfolgen;
dieſe Beſtimmungen ſind daher verfaſſungsrechtliche.
2. Als verfaſſungsmäßige Anordnungen ſind ferner
diejenigen Beſtimmungen anzuſehen, welche auf dem Gebiete des
Zollweſens die Rechte der Einzelſtaaten gegen die
des Reiches abgränzen; insbeſondere die Vorſchriften im
Art. 18 des Zollvereins-Vertrages über das Begnadigungs- und
Strafverwandlungsrecht, im Art. 19 über die Erhebung und Ver-
waltung der Abgaben u. ſ. w. 4). Sie ſind als Ergänzungen des
Art. 36 der R.V. zu erachten.
[249]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
3. So weit die Beſtimmungen der Zollvereinsverträge Ange-
legenheiten betreffen, welche unter die verfaſſungsmäßige Kompe-
tenz des Reiches zur Geſetzgebung fallen, können dieſelben auf dem
Wege der Reichsgeſetzgebung aufgehoben und abgeändert werden,
da ſie ja auch auf dieſem Wege neu erlaſſen werden könnten 1);
ſie bilden daher die Gruppe der Beſtimmungen mit einfacher Ge-
ſetzeskraft.
4. Die ſchwierigſte Aufgabe würde die Abgränzung der Be-
ſtimmungen mit Geſetzeskraft von den Verwaltungs-Anordnungen
ſein, wenn nicht in dieſer Beziehung ſchon während des Zollvereins
ſelbſt ein äußeres Kriterium für dieſe Unterſcheidung geſchaffen
worden wäre. Nach der Erneuerung des Zollvereins im Jahre
1864 wurde in dem Vertrage vom 16. Mai 1865 die Geſammtmaſſe
der gültigen Beſtimmungen in zwei Gruppen nach ſtaatsrechtlichem
Geſichtspunkte vertheilt; alle Beſtimmungen, denen die vertrags-
ſchließenden Regierungen formell legislativen Charakter bei-
legten, wurden in die Vertragsurkunde ſelbſt aufgenommen;
alle Beſtimmungen von adminiſtrativer Natur wurden in
das Schlußprotokoll geſtellt 2). Bei der Redaktion des
Zollvereinsvertrages v. 8. Juli 1867 wurde dieſelbe Form der
Unterſcheidung beibehalten und die Vertheilung des Stoffes zwi-
ſchen Hauptvertrag und Schlußprotokoll nicht abgeändert 3).
Hieraus ergiebt ſich, daß alle — noch in Geltung ſtehenden —
Beſtimmungen des Hauptvertrages v. 8. Juli 1867, ſowie derje-
nigen Verabredungen, welche in demſelben in Bezug genommen und
als Beſtandtheile des Vertrages erklärt worden ſind 4), formelle
[250]§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.
Geſetzeskraft haben. Dagegen haben die Abreden des Schluß-
protokolls, ſowie ſelbſtverſtändlich alle vom Bundesrath zur
Ausführung des Zollvereinsvertrages beſchloſſenen Regle-
ments u. ſ. w. die Kraft von Verwaltungs-Verordnungen.
5. Der Zollvereinsvertrag v. 16. Mai 1865 und ebenſo der
Zollvereinsvertrag v. 8. Juli 1867 enthielten zwar eine vollſtändige
Codifikation der die Geſammtheit des Zollvereins betreffen-
den Abreden, aber keine vollſtändige Zuſammenſtellung aller noch
gültigen Beſtimmungen der früheren Verträge. Daneben ſind
vielmehr in Geltung geblieben diejenigen Beſtimmungen, welche
ſich auf die beſonderen Verhältniſſe einzelner Staaten beziehen,
ſei es, daß dieſelben bei dem Anſchluß der letzteren feſtgeſtellt
wurden, oder ſei es, daß ſie in Folge der Entwickelung der Zoll-
vereins-Einrichtungen veranlaßt wurden 1). Hinſichtlich dieſer Be-
ſtimmungen, welche durch den Art. 40 der R.V. ebenfalls in Kraft
erhalten wurden, ſo weit ſie bei Erlaß der R.V. noch Geltung
hatten, fehlt es daher an einem formellen Kriterium dafür, ob ſie
als geſetzliche Anordnungen oder als Verwaltungsvorſchriften an-
zuſehen ſind und es kann daher dieſe Frage nur nach dem In-
halt der Feſtſetzung beurtheilt werden 2). Uebrigens ſind dieſe
Beſtimmungen nicht von erheblicher Bedeutung. Hervorzuheben
iſt aber, daß gerade dieſe beſonderen Vorrechte einzelner Staaten
im Verhältniß zur Geſammtheit unter dem Schutze des Art. 78
Abſ. 2 der R.V. ſtehen.
III. Durch die Continuität zwiſchen dem Deutſchen Zollverein
und dem Zollweſen des Reiches ſind die prinzipiellen Grundlagen
des letzteren beſtimmt worden; ja es hat dieſer hiſtoriſche Zu-
ſammenhang über dieſes begränzte Gebiet hinaus auf die geſammte
Organiſation des Reiches eingewirkt. Namentlich beſteht eine un-
verkennbare und ſtaatsrechtlich wie politiſch hochbedeutſame Con-
gruenz zwiſchen der Ordnung des Militärweſens, Gerichtsweſens
und Zollweſens; in allen drei Zweigen der ſtaatlichen Thätigkeit
3)
[251]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
laſſen ſich dieſelben verfaſſungsmäßigen Grundlinien wiederfinden.
Für das Zollweſen ſind es folgende Grundprinzipien:
1. Das Reichsgebiet iſt ein einheitliches Zoll- und Handels-
gebiet, innerhalb deſſen freier wirthſchaftlicher Verkehr ſtattfindet.
Reichsverf. Art. 33. Es entſpricht dies der Einheit des Reichs-
heeres und der Erſtreckung der Gerichtsbarkeit über das ganze
Reichsgebiet.
2. Die Zollgeſetzgebung iſt eine einheitliche und ſteht aus-
ſchließlich dem Reiche zu, R. V. Art. 35, und die Verwaltungs-
vorſchriften und Einrichtungen, welche zur Ausführung der Zoll-
geſetzgebung dienen, ſind gleichartige und übereinſtimmende für alle
Staaten und deshalb vom Bundesrathe zu beſchließen. R.V.
Art. 37 u. Art. 7. Es entſpricht dies der Einheitlichkeit des
Militärrechts und des Gerichtsverfaſſungs- und Prozeßrechts.
3. Die Erhebung und Verwaltung der Zölle nach Maßgabe
der Reichsgeſetze und Bundesrathsbeſchlüſſe ſteht den Einzelſtaaten
zu; R.V. Art. 36. Sie haben die Selbſtverwaltung auf dieſem
Gebiete, wie ſie die eigene Gerichtsbarkeit und Gerichtsverwaltung
und (verfaſſungsmäßig) die Kontingentsherrlichkeit und eigene
Heeresverwaltung haben. Dem Reich ſteht nur die Kontrole dar-
über zu, daß die Einzelſtaaten die Selbſtverwaltung den Reichs-
geſetzen gemäß führen.
Dieſe drei Grundprinzipien und die praktiſchen Geſtaltungen
derſelben werden nun im Einzelnen darzuſtellen ſein.
§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
I. Das Grundprinzip, welches in der R.V. an die Spitze des
das Zoll- und Handelsweſen betreffenden Abſchnittes (VI) geſtellt
worden iſt, lautet: „Deutſchland bildet ein Zoll- und Handels-
gebiet, umgeben von gemeinſchaftlicher Zollgränze.“ Verfaſſungs-
mäßig fällt daher das Zollgebiet mit dem Bundesgebiet zuſammen;
dieſer Grundſatz iſt aber nach zwei Richtungen durchbrochen, indem
einerſeits Gebiete, die nicht zum Reich gehören, dem Zollgebiet
angeſchloſſen ſind (Zollannexe), und andererſeits einzelne Theile
des Bundesgebiets von der Zollgränze ausgenommen ſind (Zoll-
exclaven).
1. Art. 2 des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867 be-
ſtimmt: „In dem Geſammtverein bleiben diejenigen Staaten oder
[252]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
Gebietstheile einbegriffen, welche dem Zoll- und Handelsſyſteme
der vertragenden Theile oder eines von ihnen angeſchloſſen ſind,
unter Berückſichtigung ihrer auf den Anſchlußverträgen beruhenden
beſonderen Verhältniſſe.“ Hierdurch wird nicht nur die Ausdeh-
nung des Zollgebietes auf außerdeutſche Gebiete anerkannt, ſon-
dern zugleich auch die Berückſichtigung der Anſchlußverträge hin-
ſichtlich dieſer Gebiete zugeſtanden 1). Der Artikel unterſcheidet
zwei Arten von Annexen, je nachdem dieſelben dem Zoll- und
Handelsſyſtem der Geſammtheit oder einem der betheiligten
Staaten angeſchloſſen ſind; beide Kategorien ſind thatſächlich vor-
handen, aber freilich nur in je einem Anwendungsfalle.
a) Das Großherzogthum Luxemburg iſt durch Staatsver-
trag 2) „dem Zollſyſtem des Königreichs Preußen und der mit
dieſem zu einem Zollverein verbundenen Staaten“ beigetreten und
hat gleichzeitig auf jede Mitwirkung bei der Verwaltung und Ent-
wicklung der Zollvereinsangelegenheiten verzichtet, ſeine Vertretung
in dieſer Hinſicht vielmehr Preußen übertragen. Der Luxembur-
giſche Anſchlußvertrag iſt aber von Preußen zugleich im Namen
der übrigen Zollvereinsſtaaten abgeſchloſſen und von den letzteren
ratifizirt worden; er begründete demnach ein Gemeinſchaftsver-
hältniß zwiſchen Luxemburg und ſämmtlichen Vereinsmitglie-
dern. Nach Einführung der Reichsverf. trat an die Stelle der letz-
teren das Reich, d. h. an die Stelle des Vereins der Bundesſtaat.
Anerkannt wurde die Fortdauer des Rechtsverhältniſſes in dieſer
Geſtalt implicite durch die Uebereinkunft v. 11. Juni 1872 wegen
Uebernahme der Wilhelm-Luxemb. Eiſenbahnen § 14, indem zu-
gleich die Kündigung deſſelben ausgeſchloſſen wurde, ſo lange die
erwähnten Eiſenbahnen von einer Reichsbehörde verwaltet und
betrieben werden 3). Durch den Vertrag iſt zwiſchen dem Reich
und Luxemburg der gegenſeitige Anſpruch auf freien Verkehr und
Gemeinſchaft der Zollerträge begründet.
[253]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
b) Die zu Tyrol gehörende Gemeinde Jungholz iſt durch
den zwiſchen Bayern und Oeſterreich vereinbarten Vertrag vom
3. Mai 1868 dem „bayeriſchen Zoll- und indirekten Steuerſyſtem“
angeſchloſſen worden 1). Durch dieſen Vertrag wurden Rechte und
Pflichten nur zwiſchen Bayern und Oeſterreich begründet; dem
Reich gegenüber hat er nur mittelbar eine Wirkung, indem Bayern
ſo angeſehen wird, als gehörte die Gemeinde Jungholz zu ſeinem
Gebiete 2).
2. Die Zuläſſigkeit von Zollexclaven iſt in der Reichs-
verfaſſung ſelbſt anerkannt worden und zwar ſind auch hier zwei
Kategorien zu unterſcheiden.
a) Art. 33 Abſ. 1 der R.V. fügt dem angegebenen Prinzip
die Ausnahme bei: „Ausgeſchloſſen bleiben die wegen ihrer Lage
zur Einſchließung in die Zollgränze nicht geeigneten einzelnen Ge-
bietstheile.“ Zur Ergänzung dieſer Beſtimmung dient Art. 6 des
Zollvereinsvertrages, in welchem die Zollexclaven vollſtändig auf-
gezählt ſind; gegenwärtig iſt dieſes Verzeichniß aber nicht mehr
dem thatſächlichen Zuſtand entſprechend, da ein erheblicher Theil
dieſer Gebiete in die Zollgemeinſchaft eingeſchloſſen worden iſt 3).
Im Artikel 6 wird der Ausſchluß dieſer Gebiete als ein vor-
läufiger bezeichnet und beſtimmt, daß, ſobald die Gründe auf-
gehört haben, welche die volle Anwendung des Zollvertrages auf
den einen oder andern der zum Nordd. Bunde gehörenden Ge-
bietstheile zur Zeit ausſchließen, der Bundesrath des Zollvereins
auf Veranlaſſung des Präſidiums des Nordd. Bundes über den
Zeitpunkt Beſchluß faßt, in welchem die Beſtimmungen der Artikel
[254]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
3—5 und 10—20 des Zollvereinsvertrages in dieſem Staate oder
Gebietstheile in Wirkſamkeit treten. Es ergiebt ſich hieraus, daß
den in Betracht kommenden Einzelſtaaten kein Widerſpruchs-
recht gegen die Einbeziehung ihrer Gebiete oder Gebietstheile zu-
ſteht 1) und daß ebenſowenig ein Akt der Geſetzgebung zur Beſei-
tigung oder Beſchränkung einer Zollexclave erforderlich iſt. An
die Stelle des Zollbundesrathes iſt ſeit der Errichtung des Reiches
der Bundesrath getreten, deſſen Kompetenz überdies durch Art. 7
Ziff. 2 der R.V. begründet iſt. Nachdem verfaſſungsmäßig neben
dem Grundprinzip der Identität von Bundesgebiet und Zollgebiet
auch die Zuläſſigkeit des Ausſchluſſes von Gebietstheilen „wegen
ihrer Lage“ anerkannt worden iſt, handelt es ſich bei jeder einzel-
nen Exclave nur um eine Anwendung dieſer Regeln auf den
einzelnen Fall, alſo um eine Handhabung oder Ausführung des
Geſetzes, nicht um eine Abänderung deſſelben; und ebenſo, wenn
in einem Falle, in welchem die Ausnahme bisher zugelaſſen war,
wegen veränderter Umſtände die Grundregel in Anwendung ge-
bracht wird 2).
b) Art. 34 der R.V. lautet: „Die Hanſeſtädte Bremen und
Hamburg mit einem dem Zweck entſprechenden Bezirke ihres oder
des umliegenden Gebietes bleiben als Freihäfen außerhalb der
gemeinſchaftlichen Zollgränze, bis ſie ihren Einſchluß in dieſelbe
beantragen.“ Da dieſer Artikel Anlaß zu zahlreichen Streitfragen
gegeben hat, ſo ſcheint ein näheres Eingehen auf ſeinen Inhalt
[255]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
geboten 1). Es iſt von vornherein klar, daß er im Gegenſatz ſtehen
muß zu Art. 33 Abſ. 1, da er ſonſt durch den letzteren gedeckt
und überflüſſig ſein würde. Es kann auch nicht zweifelhaft ſein,
daß dieſer Gegenſatz in den Schlußworten des Artikels beruht,
„bis ſie ihren Einſchluß … beantragen“; d. h.: während hinſicht-
lich der übrigen Zollexclaven der Bundesrath nach freiem Ermeſſen
zu beſchließen hat, iſt der Einſchluß der Hanſeſtädte Hamburg
und Bremen von ihrem Antrage abhängig gemacht 2).
Zu Zweifeln hat zunächſt Anlaß gegeben das Verhältniß des
Art. 34 der R.V. zu Art. 6 des Zollvereinsvertrages; denn in
[256]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
dem letzteren werden die Hanſeſtädte Bremen und Hamburg nicht
den übrigen Zollexclaven gegenübergeſtellt wie in der R.V.,
ſondern unter ihnen mit aufgezählt, ſo daß auch auf ſie das
Wort „vorläufig“ in dem Eingang des Art. 6 und die Beſtimmung
in Abſ. 2 hinſichtlich der Beſchlußfaſſung des Bundesrathes über
ihre Aufnahme in das Zollgebiet Anwendung finden. In der
Nordd. Bundesverfaſſung dagegen fehlt das Wort „vorläufig“
und ein Antrag, daſſelbe einzuſchalten, wurde vom verfaſſungbe-
rathenden Reichstag abgelehnt 1). Dieſer ſcheinbare Widerſpruch
zwiſchen dem Zollvereinsvertrag und der Nordd. Bundesverf., aus
welcher der Art. 34 der R.V. unter Weglaſſung der bereits 1868
in die Zollgemeinſchaft eingetretenen Hanſeſtadt Lübeck herüberge-
nommen worden iſt, erklärt ſich ſehr leicht. Der Zollvereinsver-
trag iſt vom Nordd. Bunde als einheitlichem Subjekte mit den
ſüddeutſchen Staaten abgeſchloſſen worden; die Nordd. Bundesverf.
dagegen betraf das Verhältniß unter den Staaten des Nordd.
Bundes. Im Verhältniß zu den ſüddeutſchen Staaten wurde da-
her der Ausſchluß von Hamburg und Bremen ganz ebenſo wie
der der übrigen Gebietstheile des Nordd. Bundes normirt; ihnen
gegenüber wurde der Ausſchluß als ein vorläufiger behandelt, für
ſie wurde die Aufnahme der Hanſeſtädte nicht von einem Antrage
der letzteren, ſondern von einer Mittheilung des Präſidiums des
Nordd. Bundes abhängig gemacht; für ſie war die Beſtimmung
eine völkerrechtliche Abrede mit dem Nordd. Bund 2). Der Art. 34
dagegen betraf das ſtaatsrechtliche Verhältniß innerhalb des Nordd.
Bundes; er ſollte den ſtaatlichen Zwang gegen die Hanſeſtädte
zum widerwilligen Eintritt in das Zollgebiet ausſchließen 3). Nach-
dem das völkerrechtliche Zollvereins-Verhältniß zwiſchen dem Nord-
deutſchen Bunde und den ſüddeutſchen Staaten in Wegfall gekom-
men und durch das verfaſſungsrechtliche erſetzt worden iſt, kann
nur noch Art. 34 der R.V. maßgebend ſein. Es folgt ja auch
[257]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
aus der ausdrücklichen Anordnung im Art. 40, daß in allen Fällen,
in denen zwiſchen den Beſtimmungen der R.V. und denjenigen des
Zollvereinsvertrages ein Widerſpruch beſteht, die Verfaſſungsbe-
ſtimmungen Geltung haben 1).
Es iſt ferner in Zweifel gezogen worden, ob die Vorſchrift
des Art. 78 Abſ. 2 auf das im Art. 34 den beiden Hanſeſtädten
gewährleiſtete Recht anwendbar ſei. Man hat dies aus dem Grunde
verneint, weil in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung eine dem
Art. 78 Abſ. 2 entſprechende Anordnung fehlte und nur den Süd-
deutſchen Staaten bei ihrem Eintritt in das Reich Reſervatrechte,
die unter dem Schutze des Art. 78 Abſ. 2 ſtehen, eingeräumt
worden ſeien 2). Dieſe Deduction iſt falſch. Die R.V. Art. 78
Abſ. 2 kennt das Wort „Reſervatrechte“ gar nicht, ſondern ſpricht
nur von denjenigen Vorſchriften der R.V., „durch welche beſtimmte
Rechte einzelner Bundesſtaaten in deren Verhältniß zur Geſammt-
heit feſtgeſtellt ſind“. Daß dieſe Ausdrucksweiſe auch auf die im
Art. 34 den Hanſeſtädten eingeräumten Rechte buchſtäblich paßt,
iſt unleugbar; es iſt daher völlig unerheblich, ob man die Be-
zeichnung Reſervatrechte in einem engeren oder weiteren Sinne zu
verwenden pflegt und ob man das im Art. 34 der R.V. erwähnte
Recht ſo nennt oder nicht. Daß aber in der Verfaſſung des
Nordd. Bundes der Art. 78 Abſ. 2 fehlte, iſt ganz ohne Belang,
nachdem die Reichsverfaſſung den Grundſatz ohne Einſchränkung
aufgenommen hat; überdies folgt der letztere auch ohne aus-
drückliche Anerkennung aus dem Begriff und Weſen der Sonder-
rechte von ſelbſt 3). Der Art. 34 wäre überhaupt bedeutungslos,
wenn er auch ohne Zuſtimmung von Hamburg reſp. Bremen auf-
gehoben werden könnte; denn die Nothwendigkeit dieſer Zuſtim-
mung iſt eben das einzige unterſcheidende Kriterium zwiſchen den
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 17
[258]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
Exclaven des Art. 34 und denjenigen des Art. 33 Abſ. 1 der
R.V. 1).
Sodann iſt die Frage aufgeworfen worden, ob Art. 78 Abſ. 1
der R.V. bei einer Veränderung der Freihafenſtellung der beiden
Hanſeſtädte Anwendung finde, d. h. ob hierzu der Weg der ver-
faſſungsändernden Geſetzgebung beſchritten werden müſſe. Auf
den erſten Anſchein könnte man ſich für Bejahung der Frage ent-
ſcheiden, da eine Aenderung des Art. 34 doch ganz gewiß eine
Veränderung der Verfaſſung ſei 2). Allein dies beruht auf einer
Verkennung des Sinnes dieſes Artikels; er will nicht Bremen und
Hamburg vom Zollgebiet excludiren und ihre Freihafenſtellung an-
befehlen, ſondern er will ihnen den Einſchluß in die Zollgränze
ſo lange erlaſſen, bis ſie es beantragen. Art. 34 hat mit dem
zweiten Satz von Art. 33 Abſ. 1 das gemein, daß beide Ver-
faſſungsbeſtimungen Ausnahmen von dem im erſten Satz des Art. 33
an die Spitze geſtellten Prinzip zulaſſen; die Beſeitigung einer
dieſer Ausnahmen iſt ſonach keine Veränderung, ſondern eine voll-
ſtändigere Verwirklichung des oberſten verfaſſungsmäßigen Grund-
ſatzes. Art. 34 enthält keine objektive Rechtsregel, welche den im
Art. 33 an die Spitze geſtellten Grundſatz theilweiſe aufhebt, ſon-
dern ſie begründet ſubjektive Rechtsbefugniſſe, welche ſeine voll-
kommene Durchführung hindern können. Wenn die beiden Hanſe-
[259]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
ſtädte ſich in das Zollgebiet aufnehmen laſſen, ſo wird hierdurch
Art. 34 nicht verändert, ſondern erledigt, indem die Hanſe-
ſtädte von dem ihnen vorbehaltenen Recht, ihren Einſchluß in die
Zollgränze zu beantragen, Gebrauch machen. Die Beſchlußfaſſung
über die Aufnahme und über die Modalitäten derſelben ſteht als-
dann gerade ebenſo wie hinſichtlich der Exclaven des Art. 33 Abſ. 1
dem Bundesrath zu. Dem Reichstag gebührt hierbei weder ein
Recht der Zuſtimmung noch ein Veto. In dieſer Weiſe iſt auch
im Norddeutſchen Bunde bei der Aufnahme von Lübeck und bei
der Aufnahme einzelner Gebietstheile von Hamburg und Bremen
verfahren worden, ohne daß die Verfaſſungsmäßigkeit dieſes Weges
in Zweifel gezogen worden iſt 1).
Auch die Bedeutung des Wortes „Hanſeſtädte“ iſt Gegenſtand
einer großen Meinungsverſchiedenheit geworden 2), indem bei Er-
örterung des Preuß. Antrages betreffend St. Pauli die Behaup-
tung aufgeſtellt worden iſt, daß unter „Hanſeſtädte“ nicht das
Staatsgebiet, ſondern das Stadtgebiet von Bremen und Ham-
burg zu verſtehen ſei. Dieſe Anſicht iſt völlig unrichtig. Zu-
vörderſt wäre die Beſtimmung hinſichtlich Bremens ſinnlos, da
der Freihafen in Bremerhafen, alſo in ziemlich großer Entfernung
von der Stadt Bremen ſich befindet. Sodann iſt die erwähnte
Anſicht mit der grammatiſchen Auslegung des Art. 34 unverein-
bar. Die Worte: „die Hanſeſtädte Bremen und Hamburg“ bilden
das Subjekt des ganzen Satzes, auf welches auch die Worte „bis
ſie ihren Einſchluß beantragen“ ſich beziehen. Der Antrag kann
aber nur von den Staaten Bremen und Hamburg geſtellt wer-
den; das Wort „ſie“ kann alſo nur dieſe Staaten bedeuten und
mithin iſt es logiſch unmöglich, den am Anfang des Satzes ge-
brauchten Ausdruck „Hanſeſtädte“ und die Worte „ihren Ein-
ſchluß“ in einem anderen Sinne zu verſtehen. Auch werden ſowohl
17*
[260]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
im Eingang der Verfaſſung des Nordd. Bundes als in mehreren
Reichsgeſetzen und Staatsverträgen die Staaten Lübeck, Bremen
und Hamburg als „Hanſeſtädte“ bezeichnet 1). Allein der
Art. 34 beſtimmt nicht, daß das ganze Staatsgebiet von Bremen
und Hamburg außerhalb der Zolllinie gelaſſen werde, ſondern nur:
„mit einem dem Zweck entſprechenden Bezirke ihres oder des um-
liegenden 2) Gebietes“. Der „Zweck“, der hier als maßgebend
hingeſtellt wird, iſt die Erhaltung der Freihäfen. Inſofern daher
Theile des Hamburgiſchen oder Bremiſchen Staatsgebietes aus
irgend einem andern Grunde als aus der Rückſicht auf den Ver-
kehr in und mit dem Freihafen außerhalb der Zollgränze geblieben
ſind, findet das im Art. 34 der R.V. begründete Sonderrecht auf
ſie keine Anwendung. Die Verfaſſung kennt aber überhaupt nur
zwei Motive für die Zulaſſung von Exclaven, entweder die zur
Zollbewachung ungeeignete Lage (Art. 33) oder das Freihafen-
Intereſſe (Art. 34). Die Abgränzung beider Arten
von Exclaven ſteht nach Art. 7 Ziff. 2 der R.V.
dem Bundesrath zu, da auch hinſichtlich der Freihafen-
Exclaven es ſich hierbei lediglich um eine Maßregel zur Ausfüh-
rung der Bundesverfaſſung handelt.
Endlich iſt es beſtritten, ob der Bundesrath, nachdem er ein-
mal Gebiete von Bremen und Hamburg, die ihrer Lage nach zum
Einſchluß in die Zollgränze geeignet ſind, außerhalb der letzteren
gelaſſen und dadurch anerkannt hat, daß ihr Ausſchluß mit Rück-
ſicht auf die Freihafenſtellung erfolgt iſt, ſpäter ohne die Zuſtim-
mung der Bremer und reſp. Hamburger Landesregierung die ge-
troffenen Feſtſetzungen verändern könne 3). Dieſe Frage iſt vom
Standpunkt des Staatsrechts aus m. E. zu bejahen. Durch
[261]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
Veränderungen der thatſächlichen Verhältniſſe verſchiedenſter Art,
deren Aufzählung und Erörterung hier zu weit führen würde, kann
ein anfänglich ausgeſchloſſenes Gebiet für die Zwecke des Frei-
hafens entbehrlich werden, oder es kann in Folge der gemachten
Erfahrungen oder ſorgfältigerer Ermittelungen der Bundesrath
die von ihm zuerſt beſchloſſene Abgränzung als unzweckmäßig und
zu weitreichend erkennen. Es liegt kein Grund vor, warum der
Bundesrath nicht einen Ausführungsbeſchluß zu Art. 34 der R.V.
ebenſo wie alle anderen nach Maßgabe des Art. 7 Ziff. 2 der
R.V. gefaßten Beſchlüſſe ſolle abändern dürfen. Nur wird dabei
freilich vorausgeſetzt, daß der Bundesrath dieſe Befugniß nicht
zur ſtückweiſen Vernichtung oder Verſtümmelung des den Hanſe-
ſtädten im Art. 34 gewährleiſteten Rechts mißbrauche.
Alle dieſe Fragen haben den größten Theil ihres praktiſchen
Intereſſes eingebüßt durch den zwiſchen dem Reichskanzler und
dem Hamburgiſchen Senat abgeſchloſſenen Vertrag vom 25. Mai
1881 und das in Folge deſſelben ergangene Reichsgeſetz v. 16. Fe-
bruar 1882 1), betreffend die Ausführung des Anſchluſſes der
freien und Hanſeſtadt Hamburg an das Deutſche Zollgebiet 2).
Auf Grund der mit der Reichsregierung geführten Verhandlungen
hat der Hamburgiſche Senat den Anſchluß ſeines Staatsgebietes
mit Ausnahme eines eigentlichen Freihafens an das Zollgebiet
beantragt und der Bundesrath hat dieſen Antrag genehmigt.
Nunmehr iſt die Begränzung des Freihafens und „des dieſem
Zweck entſprechenden Bezirks“ für Hamburg durch Staatsvertrag
und durch ein denſelben beſtätigendes Reichsgeſetz definitiv feſtge-
ſtellt worden, ſo daß der Bundesrath einſeitig keine Verände-
rungen daran vornehmen kann, und es iſt ferner ſowohl im Art. 1
des Vertrages als im §. 1 des Reichsgeſetzes anerkannt worden,
daß auf dieſes Freihafengebiet Art. 34 der R.V. fortdauernd
Anwendung finde, ſo daß die Freihafen-Eigenſchaft jenes Bezirks
ohne Hamburgs Zuſtimmung weder aufgehoben noch eingeſchränkt
[262]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
werden kann 1). Der Anſchluß der Stadt und des Gebiets von
Hamburg nach dieſer Vereinbarung wird nach dem 1. Oktober
1888 (nach Herſtellung der erforderlichen Bauten und Einrichtungen)
an einem vom Bundesrath feſtzuſtellenden Tage erfolgen.
3. Da zum Bundesgebiete ſelbſtverſtändlich auch die Strom-
läufe gehören, ſo bedürfte es kaum der Hervorhebung, daß auch
die letzteren und zwar auch mit ihren unteren, von Seeſchiffen be-
fahrenen Theilen, von der gemeinſchaftlichen Zollgränze mit ein-
geſchloſſen werden, wenn nicht hinſichtlich der unteren Elbe (von
Hamburg bis zur Mündung) bis vor Kurzem eine Ausnahme be-
ſtanden hätte, deren Aufhebung der Gegenſtand lebhaften Streites
und vielfacher Meinungsverſchiedenheit geweſen iſt 2). Wenn man
zunächſt von der Elbſchifffahrts-Akte v. 1821 und der
Behauptung, daß durch dieſelbe die ſogenannte Zollvereins-Aus-
lands-Eigenſchaft der unteren Elbe geſetzlich begründet ſei, ab-
ſieht, ſo folgt aus den vorhergehenden Erörterungen, daß der
Bundesrath berechtigt iſt, den Einſchluß der unteren Elbe ganz
ebenſo wie den aller andern Zollexclaven zu beſchließen, mag man
nun den bisherigen Ausſchluß des Stromes auf Art. 33 Abſ. 1
oder auf Art. 34 der Reichsverf. zurückführen. Die Behauptung
aber, daß dieſes Recht des Bundesrathes durch die Elbſchifffahrts-
Akte beſchränkt ſei, iſt unbegründet, auch wenn man ſelbſt zugeben
[263]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
wollte — was indeß unrichtig wäre — daß die in der Elbſchiff-
fahrts-Akte vereinbarte völlige Freiheit der Schifffahrt die
Freiheit vom Waarenzoll einſchließt. Denn die Elbſchifffahrts-Akte
iſt ein Staatsvertrag unter den Uferſtaaten, hat alſo nur die Kraft
der Landesgeſetze und iſt mithin, ſo weit dieſe Uferſtaaten Glieder
des Deutſchen Reiches geworden ſind, durch entgegenſtehende An-
ordnungen der Reichsgeſetze aufgehoben 1). Für das Verhältniß
unter den Deutſchen Staaten ſind demnach die Anordnungen der
Reichsverfaſſung Art. 33. 34. 40 und insbeſondere Art. 7 Ziff. 2
in ihrem Zuſammenhange maßgebend und Oeſterreich iſt der
einzige Staat, für welchen die völkerrechtliche Bedeutung der
Elbſchifffahrts-Akte ungeſchmälert fortbeſteht. Daraus ergiebt ſich,
daß Oeſterreich allein gegen die Verlegung der Zollgränze an die
Mündung der Elbe, gleichviel ob dieſelbe im Wege des Bundes-
rathsbeſchluſſes oder im Wege des Reichsgeſetzes verfügt wird,
die formelle Berechtigung des Einſpruches erheben könnte; daß
dagegen in ſtaatsrechtlicher Beziehung im Deutſchen Reiche
die Elbſchifffahrts-Akte der Verfaſſung gegenüber nicht in Betracht
kommt. Der Bundesrath hat nun durch Beſchluß vom 8. Dezemb.
1881 die Unterelbe einſchließlich der in derſelben befindlichen Elb-
inſeln vom 1. Januar 1882 ab dem Deutſchen Zollgebiet ange-
ſchloſſen 2) und gleichzeitig Vorſchriften über die Befreiung der
nach und von Hamburg tranſitirenden Schiffe von zollamtlicher
Behandlung erlaſſen.
4. Das Bundesgebiet umfaßt bekanntlich in völkerrechtlicher
Hinſicht auch den Meeresſaum auf Kanonenſchußweite von der
Küſte aus. In einem ſolchen Sinne kann aber der Grundſatz,
daß das Bundesgebiet von einer gemeinſchaftlichen Zollgränze um-
ſchloſſen werde, nicht verſtanden werden, da ſonſt die Waaren zoll-
pflichtig wären noch ehe ſie an das Land gebracht werden können.
Vielmehr beſtimmt in dieſer Beziehung §. 16 Abſ. 2 des Zoll-
[264]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
geſetzes vom 1. Juli 1869 1): „Wo das Vereinsgebiet durch das
Meer begrenzt wird, bildet die jedesmalige den Waſſerſpiegel be-
grenzende Linie des Landes die Zolllinie. Das Gleiche gilt, wo
das Vereinsgebiet an andere Gewäſſer gränzt, ſofern deren Stand
von Ebbe und Fluth abhängig iſt“ 2). Die praktiſche Bedeutung
dieſer Anordnung betrifft vorzugsweiſe die Frage, in welchem
Augenblick die Zollpflichtigkeit eintritt und eventuell der Thatbe-
ſtand einer Zolldefraudation perfekt wird.
II. Die ſachliche Bedeutung des Grundprinzips, daß
Deutſchland ein einheitliches Zoll- und Handelsgebiet bildet, iſt im
Art. 33 Abſ. 2 ausgeſprochen: „Alle Gegenſtände, welche im freien
Verkehr eines Bundesſtaates befindlich ſind, können in jedem anderen
Bundesſtaat eingeführt und dürfen in letzterem einer Abgabe nur
inſoweit unterworfen werden, als daſelbſt gleichartige inländiſche
Erzeugniſſe einer inneren Steuer unterliegen.“ Die Tragweite
dieſes Grundſatzes ergiebt ſich aus den Artikeln des Zollvereins-
vertrages, die zum Theil lediglich den Zweck haben, dieſe Conſe-
quenzen zu entwickeln und ſicher zu ſtellen.
1. Den Einzelſtaaten iſt es nicht unbedingt verboten,
Abgaben von Verbrauchsgegenſtänden zu erheben; dieſe Befugniß
iſt aber durch eine Reihe von Sätzen überaus beſchränkt:
a) Ausgeſchloſſen iſt die Erhebung irgend einer weiteren Ab-
gabe von allen vom Auslande eingeführten Gegenſtänden,
welche vom Reich bei der Einfuhr mit mehr als 15 Groſchen vom
Zentner belegt ſind, mit Ausnahme der auf die weitere Verarbei-
tung oder bei Getränken auf deren Umſatz (Cirkulation) allgemein
gelegten Steuern 3).
[265]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
b) Hinſichtlich der inländiſchen Produkte und der vom
Auslande eingeführten Erzeugniſſe, welche nicht mehr als 15 Gro-
ſchen Zoll zu tragen haben, iſt es den Einzelſtaaten zwar freige-
ſtellt, die auf der Hervorbringung, der Zubereitung oder dem
Verbrauche von Erzeugniſſen ruhenden inneren Steuern beizube-
halten, neu einzuführen, zu verändern oder aufzuheben; dergleichen
Abgaben ſollen aber für jetzt1) nur auf folgende Erzeugniſſe
gelegt werden dürfen: Wein, Moſt, Cider und Eſſig; ferner Mehl
und andere Mühlenfabrikate und Backwaaren; endlich Fleiſch,
Fleiſchwaaren und Fett 2). Außerdem iſt Bayern, Württemberg
und Baden die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und
Bieres und Elſaß-Lothringen diejenige des Bieres vorbehalten ge-
blieben 3). Für die Beſteuerung des Weines ſind außerdem Maxi-
malſätze für die Werth- und Gewichtsſteuer fixirt worden 4).
c) Das hiernach ſich ergebende Verbot der Beſteuerung trifft
nicht blos die Erhebung einer Abgabe für Rechnung der Einzel-
ſtaaten, ſondern auch für Rechnung von Kommunen und Korpo-
rationen. Nur in Elſaß-Lothringen ſind die beſtehenden Beſtimmun-
gen über das Octroi der Gemeinden in Geltung erhalten worden 5).
d) Inſoweit hienach, ſei es für Rechnung der Einzelſtaaten,
ſei es für Rechnung der Kommunen, Steuern erhoben werden
dürfen, muß eine Gleichmäßigkeit der Behandlung in der Art ſtatt-
finden, daß das Erzeugniß eines andern Bundesſtaates unter keinem
Vorwande höher oder in einer läſtigeren Weiſe als das inländiſche
oder als das Erzeugniß der übrigen Vereinsſtaaten beſteuert wer-
den darf 6). Daſſelbe gilt auch hinſichtlich der vom Auslande ein-
3)
[266]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
geführten Erzeugniſſe, inſofern dieſelben mit einer inneren Steuer
Seitens der Einzelſtaaten überhaupt belegt werden dürfen 1).
2. Durch das unter den vorſtehend bezeichneten Schranken
fortbeſtehende Recht der Einzelſtaaten zur Erhebung von Verbrauchs-
abgaben erleidet der Grundſatz der Verkehrsfreiheit innerhalb des
Bundesgebietes Modifikationen.
a) Diejenigen Staaten, welche innere Steuern auf die Her-
vorbringung oder Zubereitung eines Konſumtionsgegenſtandes ge-
legt haben, können den geſetzlichen Betrag derſelben bei der Ein-
fuhr des Gegenſtandes aus anderen Vereinsſtaaten voll erheben
laſſen; ſogenannte Uebergangsſteuer2). Nur in denjenigen
Staaten, welche zum Norddeutſchen Bunde gehört haben, darf von
dem in den übrigen Vereinsſtaaten erzeugten Wein und Trauben-
moſt eine Uebergangsabgabe nicht erhoben werden 3). Entſpre-
chende Beſtimmungen gelten hinſichtlich der Kommunalſteuern 4).
b) Andererſeits können diejenigen Staaten, welche eine
innere Steuer auf einen Konſumtionsgegenſtand gelegt haben, dieſe
Steuer bei der Ausfuhr des Gegenſtandes nach anderen Vereins-
ſtaaten unerhoben laſſen oder den geſetzlichen Betrag derſelben
ganz oder theilweiſe zurückerſtatten; jedoch in keinem Falle mehr
als bei der Ausfuhr des nämlichen Erzeugniſſes nach dem Aus-
lande gewährt wird und als die wirklich bezahlte Steuer beträgt
und nicht früher, als bis der Eingang der beſteuerten Erzeugniſſe
in dem angränzenden Bundesſtaate oder in dem Lande des Be-
ſtimmungsortes nachgewieſen worden iſt 5).
[267]§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.
c) Ein Verzeichniß der hiernach zur Erhebung kommenden
Uebergangsabgaben und der zu erſtattenden Ausfuhrvergütungen
iſt von den betreffenden Einzelſtaaten dem Bundesrath einzureichen
und bei jeder Veränderung der Beträge iſt hiermit der Nachweis
zu verbinden, daß ſie den angegebenen Grundſätzen entſprechen 1).
Ueber eine Meinungsverſchiedenheit darüber, ob ein Abgabenſatz
den Vorſchriften des Zollvereinsvertrages gemäß normirt iſt oder
nicht, entſcheidet der Bundesrath auf Grund des Art. 7 Ziff. 3
der R.V. 2).
d) Die Erhebung der inneren Steuern von den damit be-
troffenen inländiſchen Gegenſtänden ſoll in der Regel in dem Lande
des Beſtimmungsortes ſtattfinden; jedoch ſind beſondere Verein-
barungen unter den betheiligten Staaten über einen anderen Mo-
dus zugelaſſen 3). Die zur Sicherung der Steuererhebung erfor-
derlichen Anordnungen ſind vom Bundesrath zu beſchließen und
in einer den Verkehr möglichſt wenig beſchränkenden Weiſe zu
normiren 4).
e) Die Erhebung von Durchfuhr-Abgaben iſt unbedingt und
ausnahmslos den Einzelſtaaten unterſagt 5); ebenſo die Erhebung
von Ausgangsabgaben 6).
3. Die Einzelſtaaten ſind nicht berechtigt, die Einfuhr von
Waaren in ihr Gebiet zu verbieten oder durch läſtige Bedingungen
irgend welcher Art zu erſchweren, und ebenſowenig ſind ſie befugt,
Ausfuhrverbote zu erlaſſen, da ein ſolches Verbot ſowohl gegen
Art. 33 Abſ. 1 als gegen Art. 35 der R.V. verſtoßen würde 7).
5)
[268]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
Reichsgeſetzlich ermächtigt und verpflichtet zur Anordnung geeigneter
Verkehrsbeſchränkungen ſind die Verwaltungsbehörden der Einzel-
ſtaaten aber zur Verhütung der Verbreitung oder Einſchleppung
der Rinderpeſt und anderer übertragbarer Seuchen der Hausthiere 1).
Auch zur Abwehr gefährlicher anſteckender Krankheiten für Menſchen
dürfen die Einzelſtaaten die erforderlichen Maßregeln ergreifen,
jedoch dürfen im Verhältniß von einem Staat zum andern keine
hemmenderen Einrichtungen getroffen werden, als unter gleichen
Umſtänden den inneren Verkehr des Staates treffen, welcher ſie
anordnet 2). Daß im Falle von Epidemien außer den Regierungen
der Einzelſtaaten auch der Bundesrath für den ganzen Umfang
oder einen Theil des Bundesgebiets zur Anordnung vvn Be-
ſchränkungen hinſichtlich des Waarenverkehrs berechtigt iſt,
ergiebt ſich aus dem Zollgeſetz v. 1. Juli 1869 §. 2 in Verbin-
dung mit §. 167 Abſ. 2 daſ. und Art. 7 Abſ. 2 der R.V. 3).
§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung und
-Einrichtungen.
I.Die Geſetzgebung.
I. Die Einheit der Geſetzgebung über das geſammte Zoll-
weſen, ſowie über die Beſteuerung des im Bundesgebiete gewon-
nenen Salzes und Tabaks, bereiteten Branntweins und Bieres
und aus Rüben oder anderen inländiſchen Erzeugniſſen dargeſtellten
Zuckers und Syrups iſt dadurch in der vollſtändigſten Weiſe ge-
7)
[269]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
ſichert, daß die Kompetenz zur Geſetzgebung über die angeführten
Angelegenheiten dem Reich ausſchließlich zuſteht. R.V. Art. 35
Abſ. 1. Den Einzelſtaaten iſt demnach hinſichtlich dieſer Gegenſtände
die Befugniß zur Sanction von Rechtsregeln aller Art gänzlich
entzogen; ſie dürfen nicht nur — was ſich von ſelbſt verſteht —
keine Rechtsvorſchrift contra legem imperii erlaſſen, ſondern auch
nicht praeter legem d. h. zur Ergänzung der Reichsgeſetze, und
endlich auch nicht intra legem d. h. zur Ausführung der Reichs-
geſetze, außer auf Grund einer beſonderen reichsgeſetzlichen Er-
mächtigung. Dadurch, daß die geſetzliche Regelung einer Materie
der Machtſphäre der Einzelſtaaten entzogen iſt, verlieren die letz-
teren zugleich die rechtliche Fähigkeit, über dieſe Materie Staats-
verträge mit fremden Staaten abzuſchließen 1).
Dieſe Grundſätze gelten auch von den Hanſeſtädten Bremen
und Hamburg und den übrigen Zollexclaven; denn wenn auch in
dieſen Gebieten die Erhebung der Reichs zölle unterbleibt, ſo iſt
es doch den Staatsgewalten jener Gebiete nicht freigeſtellt, eine
PartikularZollgeſetzgebung für dieſelben zu erlaſſen 2).
II. Die ausſchließliche Geſetzgebungs-Kompetenz des Reiches
umfaßt das geſammte Zollweſen, alſo nicht blos die Ent-
ſcheidung darüber, welche Waaren einem Zoll unterworfen ſind
nebſt dem Zolltarif, ſondern auch die Vorſchriften über Zoll-
befreiungen, über die Erhebung des Zolles, über die Einrichtungen
zur Beaufſichtigung der Erhebung, die zollpolizeilichen Beſtimmungen
über die Waaren-Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr, über die Nieder-
lagen unverzollter Waaren, über Verkehrs-Erleichterungen und
Befreiungen u. ſ. w. Ferner die Regeln über die Organiſation
der Zollbehörden und deren amtliche Befugniſſe, Strafbeſtimmungen
für Kontrebande und Defraudation, Anordnungen hinſichtlich des
Strafverfahrens, endlich über die Maßregeln, welche in den Zoll-
ausſchlüſſen zur Sicherung der gemeinſamen Zollgrenze erforder-
lich ſind.
Die Geſammtheit dieſer Materien iſt, abgeſehen von den hier
in Betracht kommenden und noch in Geltung ſtehenden Beſtim-
[270]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
mungen des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867, gegenwärtig
geregelt in folgenden Geſetzen:
1. Das Zollgeſetz v. 1. Juli 1869 1). Daſſelbe iſt eine
umfaſſende Kodifikation des Zollverwaltungsrechts und des Zoll-
ſtrafrechts, und iſt an die Stelle der im ehemaligen Zollverein
im Jahre 1836 vereinbarten Satzungen, nämlich des Zollgeſetzes,
der Zollordnung und der „Grundſätze, betreffend das Zollſtraf-
geſetz“, getreten. Das Zollgeſetz iſt ſtreng genommen kein Reichs-
geſetz. Es iſt im Zollverein nach Maßgabe des Vertrages vom
8. Juli 1867 vereinbart worden und demgemäß zur Entſtehung
gekommen als ein gleichlautendes Geſetz der fünf zum Zollverein
verbundenen Staaten d. h. des Norddeutſchen Bundes, Bayerns,
Württemberg’s, Badens und Heſſen’s; bei der Gründung des
deutſchen Reiches iſt es nicht unter den Geſetzen des
Norddeutſchen Bundes, welche zu Reichsgeſetzen
erklärt worden ſind, mit aufgeführt worden2); dem-
nach iſt keine Veränderung hinſichtlich des Rechtsgrundes ſeiner
Geltung eingetreten. Allein praktiſch iſt dies in Betreff der Geſetz-
gebungs-Befugniß unerheblich; denn da den Einzelſtaaten die Be-
fugniß zur Geſetzgebung in Zollſachen gänzlich entzogen iſt, ſo
ſind ſie außer Stande, an dem Vereinszollgeſetz irgend eine Ver-
änderung vorzunehmen, und es iſt mithin die gleichmäßige Geltung
des Zollgeſetzes im Reichsgebiete ebenſo geſichert, als wäre es
ausdrücklich zum Reichsgeſetz erklärt worden 3).
[271]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
In Elſaß-Lothringen iſt das Geſetz eingeführt worden durch
das Geſ. v. 17. Juli 1871. Geſ.Bl. S. 37; hier hat es gemäß
den Ausführungen Bd. II S. 135 ff. den Charakter des wirklichen
Reichsgeſetzes.
2. Das Geſetz des Norddeutſchen Bundes, betreffend
die Sicherung der Zollvereinsgrenze in den vom Zollgebiete aus-
geſchloſſenen Hamburgiſchen Gebietstheilen, vom 1. Juli 1869 1).
Das Geſetz iſt in den vom Zollgebiete ausgeſchloſſenen Bremiſchen
Gebietstheilen eingeführt worden durch das Reichsgeſetz v. 28. Juni
1879. (R.G.Bl. S. 159.)
3. Das Reichsgeſetz, betreffend den Zolltarif des deut-
ſchen Zollgebietes vom 15. Juli 1879 2). Gemäß § 6 dieſes Geſetzes
können „Waaren, welche aus Staaten kommen, welche deutſche
Schiffe oder Waaren deutſcher Herkunft ungünſtiger behandeln, als
diejenigen anderer Staaten, ſoweit nicht Vertragsbeſtimmungen
entgegenſtehen, mit einem Zuſchlage bis zu 50 Prozent des
Betrages der tarifmäßigen Eingangsabgabe belegt werden“. (Sogen.
Retorſionszoll.) Die Erhebung eines ſolchen Zuſchlages wird nach
erfolgter Zuſtimmung des Bundesraths durch kaiſerliche Ver-
ordnung angeordnet; die Verordnung iſt aber dem Reichstag
ſofort, oder wenn derſelbe nicht verſammelt iſt, bei ſeinem nächſten
Zuſammentritte mitzutheilen und ſie iſt außer Kraft zu ſetzen,
wenn der Reichstag die Zuſtimmung nicht ertheilt 3).
4. Hinſichtlich der Zoll- und Steuervergehen kommen neben
den beſondern Vorſchriften der Zoll- und Steuergeſetze 4) die all-
gemeinen Regeln des Strafgeſetzbuchs und hinſichtlich des
[272]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
gerichtlichen Strafverfahrens die Anordnungen der Strafprozeß-
Ordnung § 459 ff. zur Anwendung.
5. Das Zollkartel vom 11. Mai 1833 iſt im Zollvereins-
vertrag Art. 3 § 7 in Geltung erhalten worden. Durch die Straf-
prozeß-Ordnung und das Gerichtsverf.-Geſetz hat es zwar dieſelbe
hinſichtlich der gerichtlichen Strafverfolgung und der Rechtshülfe
eingebüßt 1); dagegen hat es noch jetzt Wirkſamkeit hinſichtlich
derjenigen Anordnungen, welche außerhalb des Kreiſes der Juſtiz-
geſetze liegen 2).
III. Die Geſetzgebung über die im Art. 35 der R.V. erwähnten
Verbrauchs-Abgaben iſt zur Zeit folgende:
1. Die Salzſteuer iſt reichsgeſetzlich noch nicht geregelt;
die Erhebung derſelben beruht im ganzen Reichsgebiet auf der
unter den Staaten des Zollvereins geſchloſſenen Uebereinkunft vom
8. Mai 1867 und den auf Grund derſelben erlaſſenen überein-
ſtimmenden (Partikular-)Geſetzen 3). Von den letzteren gilt ganz
daſſelbe, was vom Vereinszollgeſetz oben dargethan worden iſt;
obwohl die Salzſteuer-Geſetze keine Reichsgeſetze ſind, iſt
dennoch den Einzelſtaaten die Befugniß entzogen, an dieſen Geſetzen
irgend eine Aenderung vorzunehmen, ſo daß ſie ihrer Wirkung
nach den Reichsgeſetzen gleich ſtehen 4). Die Abgabe von dem im
Inlande gewonnenen Salze beträgt 6 Mark für den Zentner
Nettogewicht 5) und iſt von den Produzenten oder Steinſalz-Berg-
werksbeſitzern zu entrichten. Befreit von dieſer Abgabe iſt das
Salz, welches zu einem der in § 20 des Geſ. v. 12. Okt. 1867
aufgeführten Zwecke verabfolgt wird; abgabenfreie Verabfolgung
[273]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
iſt von der Beobachtung der von der Steuerverwaltung angeord-
neten Kontrolemaßregeln abhängig und die Einzelſtaaten ſind
ermächtigt, zur Beſtreitung der durch die Kontrole erwachſenden
Koſten vom abgabenfreien Salz eine Kontrolgebühr bis zu 20 Pf.
vom Zentner von den Salzempfängern zu erheben.
2. Die Zuckerſteuer1) iſt ebenfalls noch nicht durch ein
Reichsgeſetz normirt; es gilt im ganzen Zollgebiet zur Zeit das im
Zollverein promulgirte Geſetz v. 26. Juni 1869 2), welches außer
der Steuer vom inländiſchen Rübenzucker auch den Eingangszoll
vom ausländiſchen Zucker und Syrup und die Ausfuhr-Vergütung
für inländiſchen Zucker feſtſetzt. Die Abgabe vom inländiſchen
Zucker wird von den zur Zuckerbereitung beſtimmten rohen Rüben
erhoben und beträgt 80 Pf. vom Zollzentner. Durch den Zoll-
vereinsvertrag v. 8. Juli 1867 Art. 3 § 7 iſt überdies die Ueber-
einkunft wegen Beſteuerung des Rübenzuckers vom
16. Mai 1865 in Kraft erhalten worden und dieſe erhält wieder
im Art. 1 drei frühere, die Zuckerbeſteuerung betreffende Verein-
barungen aufrecht. In dem hierzu gehörenden Separat-Artikel I.
iſt feſtgeſtellt, daß „das Geſetz, die Beſteuerung des im Inlande
erzeugten Rübenzuckers betreffend, nebſt der zu deſſen Ausführung
erlaſſenen Inſtruction für die Steuerbehörden, mit den darauf
bezüglichen Verabredungen unter den Vereins-Regierungen, auch
ferner in Kraft bleibt“. Dieſes Geſetz iſt auf der Generalkonferenz
des Jahres 1845 vereinbart worden, normirt die allgemeinen
Beſtimmungen und Vorſchriften über die Erhebung und Kontro-
lirung der Steuer, ſowie die Strafen wegen Zuwiderhandlungen
und das Verfahren, und iſt in den einzelnen, an der Vereinbarung
betheiligten Staaten als Landesgeſetz eingeführt worden; in Preußen
als Verordnung vom 7. Auguſt 1846. (Preuß. Geſ.S. 1846
S. 335) 3). Durch das im Zollverein vereinbarte Geſetz vom
2. Mai 1870 (B.G.Bl. 1870 S. 311) iſt § 13 dieſer „Verord-
nung“ aufgehoben und zugleich beſtimmt worden, daß in denjenigen
Theilen des Zollvereinsgebiets, in welchen die erwähnte Verord-
nung noch nicht in Wirkſamkeit iſt, dieſelbe vom 1. Sept. 1870
an in Kraft tritt. Mit dieſer Modifikation hat demnach dieſe
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 18
[274]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
Verordnung die Kraft des Nordd. Bundesgeſetzes reſp. in den
ſüddeutſchen Staaten des Landesgeſetzes erhalten, kann aber nur
durch Reichsgeſetz abgeändert werden. In Elſaß-Lothringen iſt
das Geſ. v. 26. Juni 1869 eingeführt worden durch das Reichs-
geſetz v. 17. Juli 1871. Art. 1 (Geſetzbl. f. Elſ.-L. S. 37); da-
gegen iſt die im Geſ. v. 2. Mai 1870 erwähnte „Verordnung“
in Elſaß-Lothringen nicht eingeführt worden.
3. Die Tabakſteuer1) iſt gegenwärtig geregelt durch das
Reichsgeſetz v. 16. Juli 1879 (R.G.Bl. S. 245) 2). Dieſelbe iſt
für den inländiſchen Tabak der Regel nach eine Gewichtsſteuer und
beträgt vom Jahr 1882 an für 100 Kilogramm nach Maßgabe
des Gewichts des Tabaks in fermentirtem oder getrocknetem
fabrikationsreifem Zuſtande 45 Mark 3); für Tabakpflanzungen
auf Grundſtücken von weniger als 4 Ar Flächeninhalt tritt eine
Beſteuerung nach Maßgabe des Flächenraums ein und die Steuer
beträgt vom Jahre 1882 ab für ein Quadratmeter der mit Tabak
bepflanzten Grundfläche jährlich 4,5 Pfennige 4).
4. Die Branntweinſteuer5). Nach der R.V. Art. 35
Abſ. 2 iſt in Bayern, Württemberg und Baden die Beſteuerung
des inländiſchen Branntweins der Landesgeſetzgebung vor-
behalten; und es iſt nur hinſichtlich der Ausübung dieſes Hoheits-
rechts beſtimmt worden: „die Bundesſtaaten werden „ihr Beſtreben“
darauf richten eine Uebereinſtimmung der Geſetzgebung über die
Beſteuerung auch dieſer Gegenſtände herbeizuführen“. Die ſüd-
deutſchen Staaten ſind daher verpflichtet, jede ſolche Veränderung
ihrer Branntweinſteuer-Geſetzgebung zu unterlaſſen, durch welche
[275]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
die Verſchiedenheit von dem Norddeutſchen Prinzip noch mehr
vergrößert oder überhaupt die Herſtellung der Uebereinſtimmung
erſchwert werden würde. Die Geſetzgebungskompetenz des Reiches
erſtreckt ſich hienach nur auf die Gebiete des ehemal. Norddeutſchen
Bundes, Südheſſen und Elſaß-Lothringen. Ein einheitlicher Geſetz-
gebungsakt für dieſe Gebiete fehlt; die Beſteuerung der Brannt-
wein-Bereitung und die Herſtellung der Steuer-Gemeinſchaft beruht
vielmehr noch jetzt auf folgenden Geſetzen:
a) Nachdem durch Staatsverträge vom Jahre 1833 zwiſchen
Preußen, Sachſen und dem Thüringiſchen Zoll- und Handels-
verein eine gleiche Beſteuerung der Branntweinfabrikation nach
den Preußiſchen Geſetzen, Gemeinſchaftlichkeit des Steuerertrages
und freier Verkehr mit Branntwein zwiſchen dieſen Gebieten ein-
geführt und dadurch der Grund zur Branntweinſteuer-Gemeinſchaft
gelegt worden war, traten ſpäter das Herzogthum Braunſchweig,
das Fürſtenthum Lippe, das Königreich Hannover und das Groß-
herzogthum Oldenburg derſelben bei. Eine neue Feſtſetzung erfuhr
dieſes Verhältniß durch den Vertrag zwiſchen Preußen,
Sachſen, den zum Thüringiſchen Zoll- und Handelsverein
verbundenen Staaten und Braunſchweig über die gleiche
Beſteuerung innerer Erzeugniſſe vom 28. Juni 1864. Derſelbe
beſtimmt im Art. 1:
„Die in Preußen geſetzlich beſtehende Beſteuerung der
Branntwein-Fabrikation wird in Sachſen, im Thüringiſchen
Zoll- und Handelsverein und in Braunſchweig auch ferner
zur Anwendung kommen. Durch die Beſteuerung der Braunt-
wein-Fabrikation ſoll ein Steuerbetrag von 19/16 Groſchen
für das Preußiſche Quart Branntwein von 50 Prozent Al-
koholſtärke nach Tralles geſichert bleiben“.
Oldenburg iſt dieſem Vertrage durch einen mit Preußen ge-
ſchloſſenen unkündbaren Staatsvertrag vom 27/30. April 1867 bei-
getreten 1) und in den von Preußen neu erworbenen Provinzen
(mit Ausnahme der Zollexclaven) iſt die in den alten Landes-
theilen geſetzlich beſtehende Branntweinbeſteuerung durch die Ver-
ordnung vom 11. Mai 1867 eingeführt worden 2). Außerdem
waren der Preußiſchen Verwaltung hinſichtlich dieſer Steuer Ge-
18 *
[276]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
biete oder Gebietstheile einiger kleiner Staaten angeſchloſſen. Wegen
ihrer geographiſchen Lage blieben das Großherz. ſächſ. Vorder-
gericht Oſtheim und das Sachſen-Kob.-Gotha’ſche Amt Königs-
berg außerhalb der Branntweinſteuer-Gemeinſchaft.
In dieſem, aus den vorſtehenden Angaben erſichtlichen Ge-
biete beſtand bereits vor Entſtehung des Nordd. Bundes (1. Juli
1867) auf Grund von Verträgen und Landesgeſetzen Gleichheit
und Gemeinſchaftlichkeit der Branntweinbeſteuerung. Verfaſſungs-
mäßig wurde dieſelbe beſtätigt durch Art. 40 der Verf. des
Nordd. Bundes:
„Die Beſtimmungen ..... in dem Vertrage über die gleiche
Beſteuerung innerer Erzeugniſſe vom 28. Juni 1864 .....
bleiben zwiſchen den bei dieſen Verträgen betheiligten Bundes-
ſtaaten in Kraft, ſoweit ſie nicht durch die Vorſchriften der
gegenwärtigen Verfaſſung abgeändert werden“.
Hierdurch ſind die materiell gemeinſamen Landesgeſetze der erwähnten
Staaten in ein formell gemeinverbindliches Bundes geſetz ver-
wandelt worden 1).
b. Das Geſetz des Norddeutſchen Bundes vom
8. Juli 1868 2) hat die in Preußen und in den am Vertrage
vom 28. Juni 1864 betheiligten Staaten geltenden Vorſchriften
über die Beſteuerung des Branntweins eingeführt in dem zum
Nordd. Bunde gehörenden Theil des Großherz. Heſſen, in den
Großherzogthümern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz,
im Herzogthum Lauenburg, in der Hanſeſtadt Lübeck und deren
Gebiet und in den in die Zolllinie des Zollvereins gezogenen und
noch zu ziehenden Preußiſchen und Hamburgiſchen Gebietstheilen 3).
c. Durch Vertrag zwiſchen dem Nordd. Bunde und Heſſen
[277]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
vom 9. April 1868 1) iſt dieſelbe Branntweinſteuer-Geſetzgebung
uebſt Gemeinſchaft des Ertrages und Freiheit des Verkehrs auch
für Südheſſen zur Geltung gebracht worden. Für Südheſſen
beruht demnach die Beſteuerung des Branntweins auf Landes-
geſetz, das aber in Folge des Art. 35 der R.V. nur im Wege
der Reichsgeſetzgebung abgeändert werden kann.
d. Durch Reichsgeſetz v. 16. Mai 1873 iſt „die Wirk-
ſamkeit des Reichsgeſetzes (! sic) vom 8. Juli 1868 auf Elſaß-
Lothringen ausgedehnt“ worden 2).
e. Für die Hohenzollern’ſchen Lande iſt durch Geſetz des
Norddeutſchen Bundes v. 4. Mai 1868 die Branntweinbeſteuerung
in einer, von der im übrigen Gebiet der Branntweinſteuer-Gemein-
ſchaft geltenden Geſetzgebung ſehr verſchiedenen Weiſe beſonders
normirt worden 3).
f. Endlich iſt durch das Reichsgeſetz v. 19. Juli 1879 4)
der Bundesrath ermächtigt worden, für Branntwein, welcher inner-
halb des Gebietes der Branntweinſteuer-Gemeinſchaft zu gewerb-
lichen Zwecken, einſchließlich der Eſſigbereitung, verwendet wird,
unter den von ihm vorzuſchreibenden Bedingungen und Kontrolen
die Branntweinſteuer nach demjenigen Satze zu vergüten, welcher
bei der Ausfuhr von Branntwein vergütet wird 5).
5. Die Bierſteuer6). Das Geſetzgebungsrecht des Reiches
iſt verfaſſungsmäßig hinſichtlich des Bieres ganz ebenſo beſchränkt
wie hinſichtlich des Branntweins d. h. in Bayern, Württem-
berg und Baden ausgeſchloſſen 7). Das Reich hat aber auch
Elſaß-Lothringen außerhalb der Bierſteuergemeinſchaft ge-
laſſen und die Beſteuerung des inländiſchen Bieres „der inneren
Geſetzgebung“ bis auf Weiteres vorbehalten 8); es hat endlich das
Großherzogl. ſächſ. Vordergericht Oſtheim und das Sachſen-
[278]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
Koburg-Gothaiſche Amt Königsberg mit Rückſicht auf die
geographiſche Lage dieſer Bezirke von der reichsgeſetzlichen Bier-
beſteuerung eximirt 1). Für das hiernach übrig bleibende Gebiet
des deutſchen Reiches, ſoweit daſſelbe innerhalb der Zoll-
linie liegt, iſt die Beſteuerung der Bierbereitung geregelt durch
das Reichsgeſetz vom 31. Mai 1872. R.G.Bl. S. 153 ff.
Die Steuer iſt nach den verſchiedenen zur Bierbereitung zur Ver-
wendung kommenden Stoffen abgeſtuft von 2 Mark bis 4 Mark
für jeden Zentner 2).
Die im §. 44 Abſ. 2 dieſes Geſetzes den Herzogthümern
Sachſen-Meiningen und Sachſen-Koburg-Gotha, ſowie dem Fürſten-
thum Reuß ä. L. ertheilte und wiederholt prolongirte Befugniß,
für privative Rechnung einen höheren Steuerbetrag von Malz-
ſchrot zu erheben, iſt am 31. März 1878 erloſchen 3).
II.Die Zoll- und Steuer-Verordnungen.
1. Eine wirkliche Einheit der Rechtsſätze und Gleichheit der
Einrichtungen in Betreff der Zölle und Verbrauchsabgaben, wie
ſie unerläßlich iſt um die Gemeinſchaft der Erträge und die Frei-
heit des Verkehrs im Bundesgebiet herzuſtellen, hätte ſich nicht
erreichen laſſen, wenn nur die Befugniß, Geſetze im formellen
Sinn zu erlaſſen, den Einzelſtaaten entzogen und auf das Reich
übertragen worden wäre. Der Art. 35 der R.V. würde einen
ſchiefen und zugleich unzulänglichen Sinn erhalten, wenn man die
Worte „das Reich ausſchließlich hat die Geſetzgebung über das
geſammte Zollweſen u. ſ. w.“ auf die Geſetzgebung im formellen
Sinne bezöge. Denn entweder müßte dann das Reich ſämmt-
liche, das Zoll- und Steuerweſen betreffenden Vorſchriften im
Wege der Reichsgeſetzgebung erlaſſen, auch ſolche, die ihrem Weſen
und Inhalt nach hierzu thatſächlich nicht geeignet ſind; oder es
wäre die Gleichartigkeit der Zoll- und Steuer-Verwaltung gefährdet,
[279]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
indem die Staaten innerhalb des von der Reichsgeſetzgebung ge-
ſteckten Rahmens im Wege der Verordnung die Grundſätze über
Tarifirung, Klaſſifizirung, Veranlagung, Erhebung der Gefälle,
Kontrolirung u. ſ. w. in verſchiedener Art und Richtung weiter
ausbilden könnten. Indem der Art. 35 der R.V. dem Reich aus-
ſchließlich die „Geſetzgebung“ über das geſammte Zollweſen und
die 5 Verbrauchsſteuern zuweiſt, will es vielmehr die Regelung
dieſer Staatsthätigkeit der Kompetenz der Einzelſtaaten entziehen
und dieſelbe der Centralgewalt übertragen, ohne Unterſchied ob
dieſe Regelung in der Form der Geſetzgebung oder in der Form
der Verordnung erfolgt 1).
Bei der Betrachtung des Zoll- und Steuerweſens zeigt ſich
mit derſelben Deutlichkeit wie bei allen andern Verwaltungszweigen,
daß die Unterſcheidung der Geſetzgebung und Verordnung im for-
mellen Sinn ſachlich inhaltslos iſt. Denn einerſeits enthalten die
Reichsgeſetze über das Zoll- und Steuerweſen eine große Maſſe
von Vorſchriften, welche nicht die Rechtsſphäre der Individuen
gegenüber der Staatsgewalt, reſp. der Einzelſtaaten gegen das
Reich, abgrenzen, ſondern welche lediglich die Organiſation und
Thätigkeit der Zoll- und Steuerbehörden normiren, welche alſo
ihrem Inhalte nach Verwaltungsvorſchriften ſind 2); andererſeits
begnügen ſich die Reichsgeſetze in ſehr zahlreichen Beziehungen
damit, allgemeine Rechtsgrundſätze hinzuſtellen oder die Zuläſſig-
keit gewiſſer Abweichungen von der Rechtsregel anzuerkennen,
überlaſſen aber die Feſtſtellung der näheren Durchführung der
Regel oder die Normirung der Vorausſetzungen und Bedingungen
der zugelaſſenen Modifikationen, des Umfanges der letzteren u. ſ. w.,
alſo Vorſchriften von Rechts inhalt, dem Verordnungswege 3).
Die Behauptung, daß die Rechtsſätze über das Zoll- und
Steuerweſen in den Zoll- und Steuer geſetzen, die Verwal-
tungsregeln über dieſelben Materien in den Zoll- und Steuer-
Verordnungen enthalten ſeien, ſteht in offenkundigem Wider-
ſpruch mit dem wirklichen Inhalt dieſer Geſetze und Verordnungen.
Wer dieſe Geſetze und Verordnungen kennt, muß zugeben, daß
[280]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
ſowohl Rechtsregeln wie Verwaltungsregeln theils in der Form
des Geſetzes, theils in der Form der Verordnung ſanctionirt
worden ſind. Ein durchgreifendes und prinzipielles Merkmal,
welche Regeln in der einen, und welche in der andern Form zu
erlaſſen ſind, fehlt; nur im Allgemeinen ergiebt ſich aus der Natur
der Sache, daß Vorſchriften von größerer Wichtigkeit, umfaſſenderer
Geltung, dauernderer Bedeutung in den Geſetzen, geringfügigere,
leichter wechſelnde oder ſpeziellere Anordnungen in den Verord-
nungen enthalten ſind. Es wiederholt ſich bei dem Zoll- und
Steuerweſen dieſelbe Erſcheinung, auf welche bereits bei der Dar-
ſtellung des Poſt- und Telegraphenweſens und des Heer- und
Marineweſens hingewieſen worden iſt.
2. Auch bei der Errichtung und Fortbildung des ehemaligen
Zollvereins konnten ſich die deutſchen Staaten, wenn ſie die Zwecke
dieſes Vereins wirklich erreichen wollten, nicht darauf beſchränken,
Rechtsregeln über die Verpflichtung zur Zoll- und Steuer-Ent-
richtung und über die hiermit zuſammenhängenden Materien zu
vereinbaren, ſondern ſie mußten auch übereinſtimmende Verwaltungs-
maßregeln treffen und ein gleichmäßiges Verfahren der Behörden
und eine conforme Handhabung der Normen ſicherſtellen. Der
Zollverein ſchuf daher von Anfang an für ſeine Mitglieder ſowohl
gemeinſchaftliches öffentliches Recht als gemeinſchaftliche Ver-
waltungsregeln. Zu einer formellen Unterſcheidung von geſetz-
lichen und verordnungsmäßigen Vorſchriften war aber keine Ver-
anlaſſung gegeben, da der Zollverein gemäß ſeiner juriſtiſchen
Natur als eines völkerrechtlichen Verhältniſſes überhaupt nur eine
einzige Rechtsform für ſeine Feſtſetzungen hatte, nämlich die des
Staatsvertrages. Nur in wie weit die Durchführung der unter
den Mitgliedern des Vereins getroffenen Vereinbarungen in den
einzelnen Staaten der Genehmigung der Volksvertretungen be-
durfte, beſtimmte ſich nach ihrem Inhalte und dem partikulären
Verfaſſungsrecht; für das gegenſeitige Verhältniß der Staaten
zu einander hatten alle Vereinbarungen dieſelbe formelle Rechts-
kraft 1). Dagegen machte ſich in anderer Beziehung eine Ver-
ſchiedenheit der Verabredungen geltend. Die wichtigeren, grund-
legenden, auf die Dauer berechneten, für die Errichtung, Fort-
[281]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
bildung oder Erweiterung des Vereins weſentlichen nahm man in
die formellen Verträge auf; die Spezial-Vorſchriften oder Abreden
von untergeordneter oder vorübergehender Wichtigkeit formulirte
man in Protokollen oder wies ſie beſonderen Verhandlungen zu.
Auch bedurfte man einer Einrichtung, um während der in den Ver-
trägen vereinbarten Perioden, für welche der Verein geſchloſſen war,
Verſtändigungen unter den Mitgliedern über die Abſtellung von
Mängeln, die ſich heraus geſtellt hatten, oder über die Erledigung
von Detailfragen zu ermöglichen; insbeſondere auch um Meinungs-
Verſchiedenheiten unter den Regierungen über die Auslegung und
Handhabung der Vereinsabreden auszugleichen. Dieſem Zwecke
dienten die regelmäßig abgehaltenen General-Konferenzen
der Zollvereinsſtaaten, deren Beſchlüſſe rechtlich ebenfalls den
Charakter vertragsmäßiger Vereinbarungen hatten 1). Durch die
Gründung des Nordd. Bundes und die Erweiterung des letzteren
zum Reich trat an die Stelle der völkerrechtlichen Conferenz das
ſtaatliche Organ und man kann daher mit Recht in Bezug auf
die ſachliche Kompetenz den Bundesrath als den Nachfolger der
Zollvereins-Konferenzen bezeichnen. In der Verfaſſung des Nordd.
Bundes wurden die Befugniſſe des Bundesrathes im Art. 37 in
dem das Zoll- und Handelsweſen betreffenden Abſchnitt und nur
in Beziehung auf dieſes normirt und es iſt unbeſtritten, daß die
Tendenz dieſes Artikels darauf gerichtet war, dem Bundesrath
alle Funktionen zu übertragen, welche von der General-Zollconferenz
ausgeübt worden waren. An die Stelle der völkerrechtlichen Form
traten aber die ſtaatsrechtlichen Formen und demgemäß unterſchied
der Art. 37 unter Ziff. 1 und 2 die Geſetzgebung mit Einſchluß
der Staatsverträge mit auswärtigen Staaten und die Verord-
nungen. In der Reichsverfaſſung iſt dieſe Unterſcheidung beibe-
halten, jedoch auf alle zur Kompetenz des Reiches gehörenden
Angelegenheiten erweitert und daher in den vom Bundesrath
handelnden Abſchnitt als Art. 7 geſtellt worden.
Allein die Faſſung der Norddeutſchen Bundesverfaſſung und
ebenſo diejenige der Reichsverfaſſung giebt dem erwähnten Ge-
danken nicht den vollen Ausdruck. Der gemeinſchaftlichen Geſetz-
gebung werden gegenüber geſtellt: „die zur Ausführung der Reichs-
[282]§. 113. Die Einheit der Zoll- und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.
geſetze erforderlichen Verwaltungsvorſchriften und Einrich-
tungen“. Es bleibt demnach eine Lücke; es fehlt die verfaſſungs-
mäßige Ermächtigung des Bundesrathes zur Beſchlußfaſſung über
die zur Ausführung der Reichsgeſetze erforderlichen Rechtsvor-
ſchriften1). Die landläufige Verwechslung des formellen Be-
griffes „Verordnung“ mit dem materiellen Begriff „Verwaltungs-
vorſchrift“, die dadurch verſchuldet iſt, daß beide ſcheinbar den-
ſelben Gegenſatz haben, nämlich „das Geſetz“ — freilich in zwei
ganz verſchiedenen Bedeutungen dieſes Wortes — ſowie der Doppel-
ſinn, welcher in dem Ausdruck „Ausführung eines Geſetzes“ ver-
borgen iſt (ſiehe Bd. II S. 70), haben bei der Abfaſſung der
Nordd. Bundesverf., ſowie der Reichsverfaſſung die erwähnte Lücke
verdeckt.
Allein ſie iſt in anderer Weiſe ausgefüllt worden, ſo daß ſie
ſich thatſächlich nicht fühlbar macht. Sämmtliche Zoll- und
Steuergeſetze des Norddeutſchen Bundes und Reiches enthalten
nämlich zahlreiche und umfaſſende Delegationen für den
Bundesrath, durch welche demſelben theils im Allgemeinen der
Erlaß der Ausführungsbeſtimmungen theils für beſondere Gegen-
ſtände die Abfaſſung von Regulativen übertragen wird. Auf
Grund derſelben hat der Bundesrath eine große Maſſe von Re-
gulativen beſchloſſen, welche ihrem Inhalte nach zum Theil wahre
Spezialgeſetze ſind 2).
Sollte ſich aber das Bedürfniß herausſtellen, Vorſchriften
von rechtlichem Inhalte (Rechtsſätze) hinſichtlich einer der im
Art. 35 aufgeführten Angelegenheit zu erlaſſen, ohne daß durch
ein Reichsgeſetz eine Ermächtigung hierzu dem Bundesrath oder
einem andern Organ des Reiches ertheilt worden iſt, ſo läßt die
Reichsverfaſſung hierfür keinen andern Weg zu, als den der Reichs-
geſetzgebung. Den Einzelſtaaten iſt die Befugniß hierzu durch
Art. 35 der R.V. ausdrücklich entzogen; der verfaſſungsmäßige
[283]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
Ausſchluß der Landesgeſetzgebung involvirt auch den Ausſchluß
des Verordnungsweges.
3. Der Erlaß von Verwaltungsverordnungen iſt dem
Bundesrath nicht im vollen Umfange übertragen; Art. 7 Ziff. 2
der R.V. ſpricht nur von den „allgemeinen“ Verwaltungs-
vorſchriften. Die Verwaltung ſelbſt iſt den Einzelſtaaten über-
tragen und dieſe Selbſtverwaltung ſchließt auch ein jus statuendi
ein. Die Verſchiedenheit der Behörden-Verfaſſung, der Gemeinde-
Ordnungen, der Polizeigeſetze u. ſ. w. und ebenſo die Verſchieden-
heiten der lokalen Verhältniſſe, Verkehrsbedürfniſſe und Lebens-
gewohnheiten müſſen bei der Verwaltung der Zölle und Verbrauchs-
abgaben in vielen Beziehungen berückſichtigt werden und daraus
ergiebt ſich für die Verordnungsgewalt der Landesregierungen ein
gewiſſer Spielraum. Nur ſoweit finanzielle, handelspolitiſche oder
andere öffentliche Intereſſen eine Gleichmäßigkeit der Ver-
waltung erfordern, iſt eine für ſämmtliche Bundesglieder gemein-
ſame Inſtanz erforderlich nnd ſo wie die Vereinbarungen der ehe-
maligen Generalzollconferenzen ſich auf Angelegenheiten dieſer Art
beſchränkten, ſo hebt auch die Kompetenz des Bundesraths aus
Art. 7 Ziff. 2 der R.V. keineswegs die Befugniß der Landes-
regierungen und Landesbehörden auf, Verordnungen für die Ver-
waltung behufs Ausführung der Reichsgeſetze und Bundesraths-
beſchlüſſe zu erlaſſen. Der Rahmen, innerhalb deſſen ſich die
Verwaltungs-Verordnungen der Einzelſtaaten halten müſſen, iſt
aber nicht blos durch die Reichsgeſetze und Rechtsverordnungen
des Reichs ſondern auch durch die Verwaltungsverordnungen
deſſelben gezogen.
§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
I. „Die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchs-
ſteuern (Art. 35) bleibt jedem Bundesſtaate, ſoweit derſelbe ſie
bisher ausgeübt hat, innerhalb ſeines Gebietes überlaſſen“. R.V.
Art. 36 Abſ. 1. In dieſem Satz ſpricht die Reichsverfaſſung ein
Grundprinzip aus, das in analoger Art auch bei den meiſten
andern Verwaltungszweigen wiederkehrt. Dem Reiche iſt die Be-
fugniß zugewieſen, die Verwaltung zu regeln und zu beauf-
ſichtigen, die Einzelſtaaten ſind berechtigt, ſie zu führen. Das
Reich iſt daher verfaſſungsmäßig in keinem Theile des Bundes-
[284]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
gebiets zur Erhebung der im Art. 35 der R.V. aufgeführten Ab-
gaben befugt. Auch durch die Worte „ſoweit derſelbe ſie bisher
ausgeübt hat“ wird keine Kompetenz für das Reich reſervirt,
ſondern die Fortgeltung derjenigen Beſchränkungen einzelner Bundes-
ſtaaten und der dieſen entſprechenden Machterweiterungen anderer
Bundesglieder anerkannt, welche durch die Zollvereinsverträge und
durch die unter den Mitgliedern des Zollvereins abgeſchloſſenen
Separatverträge begründet ſind. Die unter den Bundesſtaaten
abgeſchloſſenen Zoll- und Steuerkonventionen ſind inner-
halb der von der Verfaſſung aufgeſtellten Rechtsſchranken aufrecht
erhalten und zugelaſſen, wie die Poſt-, Militair- und Gerichts-
Konventionen 1). Unter den Zoll- und Steuerkonventionen ſind
ganz ebenſo wie unter den Gerichtskonventionen zwei Arten zu
unterſcheiden; entweder iſt durch dieſelben unter mehreren Staaten
eine gemeinſchaftliche Zoll- und Steuer-Verwaltung errichtet
worden, oder es iſt die Verwaltung eines Gebietes einem andern
Staate übertragen worden. Das erſte iſt geſchehen durch den
Vertrag wegen Errichtung des Thüringiſchen Zoll- und Handels-
Vereins 2), das andere durch eine Anzahl von Verabredungen,
durch welche einige kleinere Gebiete der Preußiſchen Zollverwaltung
angeſchloſſen worden ſind 3).
Eine Modifikation des Prinzips, daß jedem Staat in ſeinem
Gebiete die Verwaltung der Zölle und Steuern zuſteht, iſt ferner
dadurch herbeigeführt worden, daß das Reichsgebiet mit dem Zoll-
gebiet nicht zuſammenfällt, nämlich in den Hanſeſtädten. In den-
ſelben ſind auf Grund von Uebereinkünften mit dieſen Städten
durch Bundesrathsbeſchlüſſe Kaiſerliche Hauptzollämter
[285]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
eingerichtet worden, welche den zunächſtgelegenen Zolldirektionen
dienſtlich unterſtellt worden ſind; das Hauptzollamt in Bremen
der Provinzialſteuer-Direktion in Hannover, die in Lübeck und
Hamburg der Provinzialſteuer-Direktion in Altona. Durch den
mit Hamburg abgeſchloſſenen Vertrag v. 25. Mai 1881 über
den Zollanſchluß iſt im Art. 3 ausbedungen, daß die geſammte
Zoll- und Steuerverwaltung im Hamburgiſchen Staatsgebiet, mit
Ausnahme der in Holſtein belegenen Enklaven und des Zollamts
in Cuxhaven, von Hamburgiſchen Behörden und Beamten ausgeübt
wird, und im Art. 9 iſt feſtgeſetzt worden, daß „bis zum Eintritt
Hamburgs in den deutſchen Zollverband, die Verwaltung des
Hauptzollamtes auf Preußen übergeht, falls der Bundesrath
die Aufhebung des gemeinſchaftlichen Hauptzollamtes als ſolchen
beſchließen ſollte.“ In dem Entwurf des Etatsgeſetzes für 1882/83
iſt bemerkt, daß, ſoweit nicht die Kaiſerl. Hauptzollämter in den
Hanſeſtädten in Folge des Einſchluſſes der letzteren in die Zoll-
linie auf die Staaten, in welchen ſie bisher ihren Sitz haben,
übergehen, ſie den Grundſätzen der Zollverträge entſprechend auf-
zulöſen ſeien 1). Bisher iſt die Auflöſung indeß noch nicht erfolgt.
II. In Folge des im Art. 36 Abſ. 1 der R.V. ſanctionirten
Prinzips iſt es jedem einzelnen Staate überlaſſen, die Behörden
zu organiſiren, durch welche die Erhebung der Zölle und Abgaben,
ſowie die Kontrole derſelben erfolgt. Die Bezeichnung und Zuſam-
menſetzung dieſer Behörden, die Regelung ihrer Competenz und
des Inſtanzenzugs, die Anzahl der zu errichtenden Aemter, die
Ernennung und Entlaſſung der Beamten, die Normirung ihres
Dienſteinkommens und die Handhabung der Disciplinargewalt ſteht
im Princip den Einzelſtaaten zu. Aber die Ausübung dieſes
Rechts iſt durch die Reichsgeſetzgebung geregelt und beſchränkt.
Denn die gemeinſame Geſetzgebung ſetzt einen beſtimmten Ver-
waltungsapparat behufs ihrer Durchführung voraus und die Ein-
heit dieſer Geſetzgebung müßte ſich zum großen Theile als illuſoriſch
erweiſen, wenn nicht auch die Gleichartigkeit der Verwaltung durch
eine übereinſtimmende Einrichtung des dafür erforderlichen Appa-
rates von Behörden geſichert wäre. Demgemäß iſt in dem Zoll-
vereinsvertrage vom 8. Juli 1867 Art. 3 §. 6 beſtimmt
[286]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
worden, daß die Verwaltung der gemeinſamen Zölle und Abgaben
und die Organiſation der dazu dienenden Behörden in allen Län-
dern des Geſammtvereins unter Berückſichtigung der in denſelben
beſtehenden eigenthümlichen Verhältniſſe auf gleichen Fuß gebracht
werden ſoll. Insbeſondere iſt dann noch im Art. 16 Z. 4 des-
ſelben Vertrages vereinbart worden, daß man auch ferner darauf
bedacht ſein wird, durch Feſtſtellung allgemeiner Normen die Be-
ſoldungsverhältniſſe der Beamten bei den Zoll-Erhebungs- und
Aufſichtsbehörden, ingleichen bei den Zolldirektionen in möglichſte
Uebereinſtimmung zu bringen 1). Der Art. 19 ordnet an, daß
die Beamten und Diener bei den Local- und Bezirksſtellen für die
Erhebung und Aufſicht zwar von der Landesregierung ernannt
werden, daß aber dieſe Behörden „nach der hierüber getroffenen
beſonderen Uebereinkunft“ 2) nach gleichförmigen Beſtimmungen
angeordnet, beſetzt und inſtruirt werden ſollen. Es iſt ferner durch
denſelben Artikel die Bildung von drei Inſtanzen vorgeſchrieben,
indem in jedem der Vereinsſtaaten die Local- und Bezirksbehörden
einer, oder im Falle des Bedürfniſſes mehreren Zolldirectionen
untergeben ſein ſollen, welche ihrerſeits wieder dem einſchlägigen
Miniſterium des betreffenden Staates untergeordnet ſind 3). Die
Amtsbefugniſſe und dienſtlichen Verrichtungen der Zoll-Erhebungs-
und Abfertigungsſtellen, alſo der Hauptzollämter und Nebenzoll-
ämter ſind durch das Zollgeſetz vom 1. Juli 1869, namentlich in
den §§. 128—133 feſtgeſtellt. Ebenſo ergiebt ſich der Wirkungs-
kreis der Zolldirectionen großen Theils aus den Beſtimmungen
des Zollvereinsvertrages und des Zollgeſetzes; ſoweit dies nicht
der Fall iſt, ſoll der Wirkungskreis der Directivbehörden durch
eine von dem Bundesrathe feſtzuſtellende Inſtruction normirt
werden, welche indeß zur Zeit noch nicht erlaſſen worden iſt.
Der Art. 40 der Reichsverfaſſung hat dieſe Beſtimmungen
des Zollvereinsvertrages in Geltung erhalten; ihre Durchführung
iſt daher nicht nur innerlich begründet und gewährleiſtet durch die
[287]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
Gleichartigkeit der dienſtlichen Verrichtungen, ſondern ſie iſt auch
äußerlich durch Beſtimmung der Reichsverfaſſung zur Rechts-
pflicht der einzelnen Staaten erklärt.
III. Das Reich hat für die laufende Zoll- und Steuerver-
waltung keine oberſte Direktivbehörde. Es iſt nicht wie bei der
Poſt- und Telegraphen-Verwaltung eine Linie gezogen, welche die
untere von der oberen Verwaltung trennt und die letztere dem
Reiche zuweist; es giebt keine Generalzoll- und Steuerdirection
des Reiches als höchſte Inſtanz in allen der Reichsgeſetzgebung
unterliegenden Zoll- und Steuerverwaltungsſachen. Das Finanz-
miniſterium oder die demſelben entſprechende Behörde des einzelnen
Staates iſt die oberſte Centralſtelle und die höchſte Inſtanz für
die geſammte Zoll- und Steuerverwaltung in dem Gebiete dieſes
Staates. Die Zoll- und Steuerämter und die Bezirks- oder
Provinzialbehörden ſtehen daher in keinem directen amtlichen Schrift-
wechſel und dienſtlichen Verkehr mit dem Reichskanzleramt oder
dem Bundesrath, ſondern ausſchließlich mit der oberſten Landes-
behörde für Zoll- und Steuerangelegenheiten. Sie empfangen
Dienſtinſtructionen und Aufträge nur von der letzteren und haben
nur an dieſe ihre amtlichen Berichte zu erſtatten. Die Mitglieder
dieſer Behörden ſtehen in keinem Dienſtverhältniß zum Reich, ſie
werden nicht aus der Reichskaſſe beſoldet, nicht für den Kaiſer
und das Reich vereidigt und die geſetzlichen Beſtimmungen über
die Reichsbeamten finden auf ſie keine Anwendung.
Der Antheil des Reiches bei der Verwaltung der Reichszölle
und Abgaben iſt vielmehr nach einem durchaus andern Prinzip
wie bei der Poſt- und Telegraphenverwaltung geordnet. Der
Grund hiefür iſt ein hiſtoriſcher. Die Zoll- und Steuergemeinſchaft
ſtammt aus einer Zeit, als die einzelnen Deutſchen Staaten noch
völlig ſouverain waren, wo man alſo keine gemeinſame, nach Art
eines Miniſteriums organiſirte, oberſte Verwaltungsbehörde con-
ſtituiren konnte, ſondern wo man ſich darauf beſchränken mußte,
jedem Vereinsmitgliede die Befugniß einzuräumen, die Verwaltung
in den verbündeten Staaten durch Delegirte zu kontroliren 1).
[288]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
Dieſes Prinzip iſt die Grundlage geblieben, auch nachdem der
Zollverein den Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages abgelegt
hat und zur ſtaatlichen Inſtitution des Reiches geworden iſt; nur
mit der Modification, daß nunmehr nicht jeder einzelne Staat
dieſe Delegirten ernennt und in ſeinem Auftrage und Intereſſe zu
den andern Staaten entſendet, ſondern daß das Reich im Geſammt-
intereſſe dieſe Kontrolbeamten den Behörden der einzelnen Staaten
zuweiſt. Es giebt demnach neben den ordentlichen, mit den eigent-
lichen Verwaltungsgeſchäften betrauten Beamten, welche Landes-
beamte ſind, eine Kategorie von Reichsbeamten, die man als
außerordentliche Beamte der Zoll- und Steuerverwaltung
bezeichnen kann. Sie zerfallen in zwei Klaſſen, je nachdem ſie den
Zoll- oder Steuerämtern oder den Directivbehörden beigeordnet
ſind; die erſteren heißen Kontroleure, die letzteren „Reichsbevoll-
mächtigte für Zölle und Steuern“. Die Stationsbeamten oder
Kontroleure ſind den Bevollmächtigten dienſtlich untergeordnet und
empfangen von ihnen amtliche Aufträge.
Dieſe Reichskommiſſare haben nicht das Recht, Ver-
fügungen zu erlaſſen 1); ſie bilden keine Inſtanz in der ordent-
lichen Zoll- und Steuerverwaltung, ſie haben keine Stimme bei
der Beſchlußfaſſung der collegialiſch organiſirten Behörden; ſie
ſind überhaupt nicht Mitglieder derſelben. Sie haben vielmehr
die Stellung von Procuratoren des Reiches; ſie ſind Geſetzes-
wächter und Vertreter der fiscaliſchen, handelspolitiſchen und volks-
wirthſchaftlichen Intereſſen des Reiches gegenüber den Behörden
der Einzelſtaaten. Ihre Funktionen beſtehen daher nicht in einem
Antheil an der Erledigung der laufenden Verwaltungsgeſchäfte,
ſondern in der vollſtändigen Kenntnißnahme von der Art und
Weiſe, wie dieſelben erledigt werden, und in der Monirung von
Fehlern und Mängeln, welche dabei zu Tage treten 2). Zu dieſem
1)
[289]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
Zwecke haben ſie das Recht, nach Belieben Einſicht in alle Acten,
Bücher, Rechnungen und Regiſter ſowohl der Directivbehörde,
welcher ſie zugewieſen ſind, als aller zum Bezirk derſelben ge-
hörenden Zoll- und Steuererhebungs-Behörden zu nehmen. Sie
haben ferner das Recht, allen Sitzungen der Directivbehörde bei-
zuwohnen, und alle Verfügungen und Anweiſungen, welche die
Directivbehörde oder deren Vorſtand in Beziehung auf die Ver-
waltung der gemeinſchaftlichen Abgaben an die ihr untergeord-
neten Behörden ergehen läßt, müſſen vor der Ausfertigung dem
Reichsbevollmächtigten, ſofern er am Orte anweſend iſt, zur Ein-
ſicht im Concepte vorgelegt und dürfen nicht eher ausgefertigt
werden, als nachdem er ſein Visa beigeſetzt hat. Sie ſind ferner
befugt, den Grenz- und Reviſionsdienſt auf der Zolllinie, ſowie
das Verfahren bei der Zoll- und Steuer-Erhebung in dem ihnen
überwieſenen Gebiete zu viſitiren. Endlich haben ſie die Rech-
nungen über die gemeinſchaftlichen Abgaben zu prüfen 1).
Durch dieſe Anordnungen iſt die vollſtändige Kenntnißnahme
der Bevollmächtigten von dem geſammten Geſchäftsgange der Zoll-
und Steuerbehörden in dem ihnen überwieſenen Bezirke geſichert
und die Einzelſtaaten führen die ihnen überlaſſene ſelbſtſtändige
Zoll- und Steuerverwaltung gewiſſermaßen vor den Augen des
Reiches. Dagegen iſt der Bevollmächtigte des Reiches nicht befugt,
in die Verwaltung ſelbſt einzugreifen und bemerkten Mißſtänden
und Mängeln ſelbſt abzuhelfen. Er darf ſein Visa nicht verweigern
oder verzögern, ſelbſt wenn ihm die vorgelegte Verfügung den
beſtehenden Geſetzen nicht entſprechend zu ſein ſcheint, ſondern er
darf nur ſeine abweichende Anſicht motivirt auf dem Concepte
vermerken und verlangen, daß die Directivbehörde wenigſtens
gleichzeitig mit dem Erlaſſe der fraglichen Verfügung an das ihr
vorgeſetzte Miniſterium Bericht erſtatte. Ebenſowenig darf er
bei ſeinen Reviſionen der Grenzzoll- und Steuerämter Befehle an
die Zoll- oder Steuerbeamten ertheilen oder Adminiſtrativ-Anord-
nungen erlaſſen; er iſt vielmehr darauf beſchränkt, bei der be-
treffenden Directivbehörde die ſchleunige Abſtellung der von ihm
etwa entdeckten Mängel in Antrag zu bringen. Findet der Be-
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 19
[290]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
vollmächtigte bei der Prüfung der Rechnungen Unrichtigkeiten, ſo
kann er Erinnerungen dagegen machen, ohne jedoch die Führung
und Abnahme derſelben, ingleichen die Entſcheidung der Erinnerungen
durch die dem Rechnungsführer vorgeſetzte Dienſtbehörde aufzu-
halten.
Wenn der Bevollmächtigte zur Geltendmachung ſeiner ab-
weichenden Anſicht in irgend einer Beziehung ſich veranlaßt ſieht,
ſo hat dies regelmäßig zunächſt nicht die Einmiſchung des Reiches
zur Folge, ſondern eine Ueberprüfung und Entſcheidung der
ſtreitigen Frage Seitens der höchſten Verwaltungsſtelle des be-
treffenden Staates. Denn die Organe des Reiches können nicht
eingreifen, ſo lange innerhalb des Einzelſtaates der Inſtanzenzug
nicht erſchöpft iſt. Die Intervention des Reichskommiſſars hat
daher unmittelbar nur die Wirkung, daß die betreffende Angelegen-
heit zur Kenntniß und Entſcheidung der vorgeſetzten Behörde ge-
bracht wird. Erſt wenn die Entſcheidung ergangen iſt und dieſelbe
dem Bevollmächtigten den Geſetzen oder dem Intereſſe des Reichs
nicht entſprechend erſcheint oder wenn Seitens der oberſten Ver-
waltungsbehörde für die von dem Bevollmächtigten bemerkten
Uebelſtände nicht rechtzeitig Abhülfe getroffen wird, oder wenn
mehrere betheiligte oberſte Behörden ſich untereinander nicht ver-
ſtändigen können, hat der Bevollmächtigte die Angelegenheit bei
dem Bundesrathe zur Anzeige zu bringen.
Eine auf dieſen Grundſätzen beruhende Inſtruction 1) beſtimmt
das Geſchäftsverhältniß der Bevollmächtigten und der den Haupt-
ämtern beigeordneten Kontroleure.
Die erwähnten Beamten ſind unmittelbare Reichsbeamte, welche
der Kaiſer, jedoch nach Vernehmung des Ausſchuſſes des Bundes-
rathes für Zoll- und Steuerweſen, ernennt und den Zoll- oder
Steuerämtern und den Directivbehörden der einzelnen Staaten
beiordnet 2). Die Gehälter und alle übrigen Koſten der Kontroleure
[291]§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.
und Bevollmächtigten werden aus der Reichskaſſe beſtritten. Bis
jetzt werden dieſe Reichsämter jedoch nur kommiſſariſch verwaltet,
ſo daß die Beamten, welche ſie bekleiden, aus dem dienſtlichen
Verhältniß in denjenigen Staaten, denen ſie angehören, nicht voll-
ſtändig ausſcheiden 1).
Die von den Reichsbevollmächtigten über Mängel bei der
Ausführung der gemeinſchaftlichen Geſetzgebung gemachten Anzeigen
ſind dem Bundesrathe zur Beſchlußnahme vorzulegen 2). Ueber
die rechtliche Natur und Bedeutung dieſer Beſchlüſſe und über das
Verhältniß derſelben zu der dem Kaiſer verfaſſungsmäßig zuſtehen-
den Ueberwachung der Einzelſtaaten vgl. die Erörterungen Bd. I.
S. 255 ff.
IV. Da die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und
Bieres in Bayern, Württemberg und Baden der Landesgeſetz-
gebung vorbehalten iſt und der Ertrag dieſer Abgaben in die
Landeskaſſe fließt, ſo fällt ſelbſtverſtändlich auch die Verwaltungs-
kompetenz des Reiches hinſichtlich der Erhebung der Branntwein-
und Brauſteuer in dieſen drei ſüddeutſchen Staaten gänzlich fort.
Hinſichtlich der Brauſteuer gilt daſſelbe von Elſaß-Lothringen.
Es ſteht demnach weder den Reichsbevollmächtigten und Reichs-
kontroleuren in den Süddeutſchen Staaten irgend eine Wirkſamkeit
in Bezug auf die Verwaltung der Getränkeſteuern zu (in Elſaß-
Lothringen mit Ausnahme der Branntweinſteuer), noch hat der
Kaiſer oder der Bundesrath ein Aufſichts- oder Verordnungsrecht.
Entſprechend dieſer Sonderſtellung der drei Süddeutſchen Staaten
iſt denſelben andrerſeits durch Art. 7 Abſ. 4 der R.V. das Stimm-
recht bei allen Bundesrathsbeſchlüſſen, welche die Branntwein-
und Bierbeſteuerung betreffen, entzogen, da dieſe Angelegenheiten
unzweifelhaft zu denjenigen gehören, welche den Süddeutſchen
Staaten weder mit dem übrigen Reiche noch untereinander „gemein-
ſchaftlich“ ſind. Es iſt für dieſen Zweig der Finanzverwaltung
19*
[292]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
durch die Reichsverfaſſung derſelbe Zuſtand thatſächlich conſervirt
worden, welcher durch den Zollvereinsvertrag von 1867 geſchaffen
worden war; innerhalb des vollen Bundesrathes, der dem ehe-
maligen Zollvereinsbundesrathe entſpricht, ſcheidet ſich für die Ange-
legenheiten der Branntwein- und Bierbeſteuerung der ehemalige
Bundesrath des Norddeutſchen Bundes, verſtärkt durch den Hinzu-
tritt von Südheſſen, aus 1). Auch in dem Ausſchuß des Bundes-
rathes für Zoll- und Steuerweſen können die Süddeutſchen Staaten
keine Stimme bei Angelegenheiten führen, welche die Beſteuerung
von inländiſchem Branntwein und Bier betreffen. Nach Außen
hin aber iſt die Unterſcheidung zwiſchen Norddeutſchem Bundes-
rath und Zollvereinsbundesrath gänzlich beſeitigt; auch wenn die
von den Süddeutſchen Staaten ernannten Mitglieder nicht mit-
geſtimmt haben, iſt es immer der Bundesrath des Deutſchen
Reiches, welcher den Beſchluß gefaßt hat.
V. Im engſten Zuſammenhange mit dem Selbſtverwaltungs-
recht der einzelnen Staaten ſteht die Jurisdiktion derſelben über
Zoll- und Steuerkontraventionen 2) und demgemäß hat jeder Staat
„in ſeinem Gebiete“ auch das Begnadigungs- und Strafverwand-
lungsrecht; die Einzelſtaaten ſind aber verpflichtet, auf Verlangen
periodiſche Ueberſichten der erfolgten Straferlaſſe dem Bundesrath
mitzutheilen 3).
§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten und
dem Reich.
I. Der Ertrag der Zölle und der im Art. 35 der R.V. auf-
geführten Verbrauchsſteuern, ſoweit die letzteren der Reichsgeſetz-
gebung unterliegen, fließt nach Art. 38 der R.V. in die Reichs-
[293]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
kaſſe4); die Einzelſtaaten führen daher die Verwaltung dieſer
Abgaben für Rechnung des Reiches und ſowie der einzelne Staat
die von ihm erhobenen Einnahmen an die Reichskaſſe abzuliefern
(beziehentl. zu verrechnen) hat, ſo müßten ihm andererſeits nach
allgemeinen Rechtsgrundſätzen die auf die Erhebung und Ver-
waltung verwendeten Koſten erſtattet werden. Nach dem gegen-
wärtig geltenden Rechte iſt aber nur die Einnahmen-Gemeinſchaft,
nicht die Koſten-Gemeinſchaft vollſtändig durchgeführt; es beſtehen
auch in dieſer Hinſicht die Einrichtungen des Zollvereins im Weſent-
lichen fort. Da der letztere eine Zoll- und Steuerſocietät ſouverainer
Staaten war, ſo konnte der Etat für die Zoll- und Steuerver-
waltung nicht für das ganze Zollgebiet einheitlich feſtgeſtellt wer-
den, ſondern ſeine Aufſtellung war ebenſo wie die Organiſation
der Behörden den einzelnen Vereinsmitgliedern überlaſſen. An-
dererſeits konnte man auch nicht den Grundſatz durchführen, daß
jeder Staat die von ihm nach eigenem Belieben aufgewendeten
Koſten dem Verein in Rechnung ſtellen dürfe, weil die Verſchieden-
heit der Behördenverfaſſung, der Beſoldungs- und Penſionsver-
hältniſſe und der Verwaltungs-Einrichtungen der einzelnen Staaten
eine zu große Ungleichheit der Liquidationen zur Folge gehabt
hätte und weil die Gefahr hervorgerufen worden wäre, daß die
einzelnen Staaten auf Koſten der Geſammtheit einen unnöthigen
Beamten-Luxus trieben. Endlich verbot es ſich von ſelbſt, die
Koſten der Erhebung und Verwaltung einfach den Einzelſtaaten
aufzubürden, weil die Höhe dieſer Koſten ſich nach der Länge der
Auslandsgrenze und nach der Gruppirung der Productions- und
Handelsgebiete beſtimmt und daher ſich ſehr ungleich vertheilt.
Es war vielmehr geboten den Erſatz der Erhebungs- und Ver-
waltungskoſten in der Art zu normiren, daß die Einzelſtaaten
eine Entſchädigung empfangen, die im Verhältniß zu den von ihnen
für die Geſammtheit gemachten Leiſtungen und Aufwendungen
ſteht, daß ſie im Uebrigen aber die Zoll- und Steuerverwaltung
für eigene Rechnung führen. Hieraus ergiebt ſich zugleich eine
Verſchiedenheit hinſichtlich der Behandlung der einzelnen Abgaben,
welche im Art. 38 der R.V. in folgender Weiſe ſanctionirt worden iſt.
[294]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
1. Hinſichtlich der Zölle. Die Einzelſtaaten ſind be-
rechtigt von den Zollerträgen diejenigen Koſten in Abzug zu bringen,
„welche an den gegen das Ausland gelegenen Grenzen und in
dem Grenzbezirke für den Schutz und die Erhebung der Zölle
erforderlich ſind“. Dieſe dem Art. 11 des Zollv.-Vertr. v. 1867
entnommene Beſtimmung findet ihre Ergänzung in dem Art. 16
Abſ. 1 deſſelben Vertrages, welcher hinſichtlich der Erhebungs-
und Verwaltungskoſten folgende vier Grundſätze feſtgeſtellt hat:
1. „Man wird, ſo weit nicht ausnahmsweiſe etwas Anderes
verabredet iſt, keine Gemeinſchaft dabei eintreten laſſen, viel-
mehr übernimmt jede Regierung alle in ihrem Gebiete vorkom-
menden Erhebungs- und Verwaltungskoſten, es mögen dieſe durch
die Einrichtung und Unterhaltung der Haupt- und Neben-Zollämter,
der inneren Steuerämter, Hallämter und Packhöfe, und der Zoll-
direktionen, oder durch den Unterhalt des dabei angeſtellten Per-
ſonals und durch die dem letzteren zu bewilligenden Penſionen,
oder endlich aus irgend einem anderen Bedürfniſſe der Zollver-
waltung entſtehen.
2. Hinſichtlich desjenigen Theils des Bedarfs aber, welcher
an den gegen das Ausland gelegenen Grenzen und innerhalb des
dazu gehörigen Grenzbezirks für die Zoll-Erhebungs- und Auf-
ſichts- oder Kontrol-Behörden und Zollſchutzwachen erforderlich iſt,
wird man ſich über Pauſchſummen vereinigen, welche
von der jährlich aufkommenden und der Gemeinſchaft zu berech-
nenden Brutto-Einnahme an Zollgefällen nach der im Art. 11
getroffenen Vereinbarung in Abzug gebracht werden.
3. Bei dieſer Ausmittelung des Bedarfs ſoll da, wo die
Perzeption privativer Abgaben mit der Zoll-Erhebung verbunden
iſt, von den Gehältern und Amtsbedürfniſſen der Zollbeamten
nur derjenige Theil in Anrechnung kommen, welcher dem Ver-
hältniſſe ihrer Geſchäfte für den Zolldienſt zu ihren Amtsgeſchäften
überhaupt entſpricht.
4. Man wird auch ferner darauf bedacht ſein, durch Feſt-
ſtellung allgemeiner Normen die Beſoldungsverhältniſſe der Beamten
bei den Zoll-Erhebungs- und Aufſichtsbehörden, ingleichen bei den
Zolldirektionen in möglichſte Uebereinſtimmung zu bringen“.
Aus Ziff. 2 dieſer durch Art. 40 der R.V. in Kraft erhal-
tenen Vereinbarungen ergiebt ſich zunächſt, daß die den Einzel-
[295]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
ſtaaten zu Gute kommenden Beträge in „Pauſchſummen“ feſtzu-
ſtellen ſind; d. h. daß die Einzelſtaaten nicht die wirkliche Ver-
ausgabung der ihnen zur Verfügung ſtehenden Summe ſpeziell
nachzuweiſen brauchen und daß etwaige Erſparniſſe ihnen ver-
bleiben. Eine Ausnahme hiervon beſteht jedoch für die Gehalte
und Pferdegelder der Beamten; ſie dürfen für Stellen, welche
thatſächlich nicht beſetzt geweſen ſind, nicht liquidirt werden, wofür
die praktiſche Erwägung ins Gewicht fällt, daß ſonſt die Einzel-
ſtaaten Stellen offen halten könnten, um die dafür ausgeworfenen
Beträge zu erſparen, unbekümmert darum, daß die Sicherheit der
Kontrole und der Grenzbewachung darunter leidet 1). Auch die
Koſten der Legitimationsſchein-Ausfertigung dürfen nur nach der
wirklichen Ausgabe liquidirt werden.
Es ergiebt ſich ferner aus den angeführten Beſtimmungen,
daß die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten hinſichtlich der Organi-
ſation der Grenzzollämter beſchränkt iſt. Bei dem gemeinſamen In-
tereſſe aller Vereinsſtaaten an der Einrichtung des Zoll-Erhebungs-
und Grenzzollſchutzdienſtes unterlag dieſelbe ſchon im alten Zoll-
verein der Beſchlußfaſſung der General-Konferenzen, an deren Stelle
nunmehr der Bundesrath getreten iſt. Der letztere hat dem-
nach die Hauptzollämter, Nebenzollämter I. Klaſſe und Anſage-
poſten 2), ſowie die Anzahl der bei dieſen Aemtern und im Grenz-
ſchutzdienſte zu verwendenden Beamten feſtzuſtellen, wobei natür-
lich auf die örtlichen Verhältniſſe, namentlich auf die Beſchaffen-
heit der Grenze Rückſicht genommen werden muß 3). Aus dieſer
[296]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
Feſtſetzung ergiebt ſich, eine wie große Anzahl von Beamten jeder
einzelnen Kategorie das Bundesglied anzuſtellen hat. Es iſt ferner
für jede Beamten-Kategorie der Minimal-Gehaltsſatz, ſowie der
Satz für Pferde-Unterhaltungsgelder und Reiſediäten feſtgeſtellt
und es berechnet ſich hieraus die Pauſchſumme, welche den Grenz-
ſtaaten für dieſe Zwecke zur Verfügung ſteht. Außerdem werden
nach der Meilenzahl der Grenzlänge die ſachlichen Koſten für den
Büreaudienſt, die Baukoſten und Umzugskoſten, die Koſten der
Nebenzollämter II. Klaſſe u. ſ. w. veranſchlagt.
Nach dieſen Grundſätzen iſt der ſogenannte Pauſchſummen-
Etat vom Bundesrath feſtzuſetzen 1). Da jedoch die wirklichen
Koſten, welche den Staaten erwachſen, die Normalſätze des Pauſch-
ſummen-Etats erheblich überſteigen, und dieſes Mißverhältniß
beſonders ſtark bei denjenigen Staaten ſich geltend macht, welche
eine im Verhältniß zum Flächeninhalt und zur Bevölkerung des
Landes lange Auslandsgrenze zu bewachen haben, ſo iſt einigen
Staaten ein Zuſchuß zur eigentlichen Pauſchſumme gewährt wor-
den 2). Feſt beſtimmte Regeln, nach denen die Bewilligung und
Abgrenzung dieſer Zuſchüſſe zu erfolgen hat, laſſen ſich weder
aus den Zollvereins-Verträgen noch aus der Praxis des Bundes-
rathes herleiten; es entſcheidet vielmehr in jedem einzelnen Falle
die billige Rückſichtnahme auf die Umſtände. Art. 16 Abſ. 1 des
Zollv.V. hat die Gemeinſchaft der Erhebungs- und Verwaltungs-
koſten übrigens mit der Klauſel ausgeſchloſſen: „ſoweit nicht aus-
nahmsweiſe etwas Anderes verabredet iſt“. Solche Ausnahmen
[297]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
waren zum Theil ſchon während des Zollvereins vereinbart.
Gegenwärtig werden auf gemeinſchaftliche Koſten, d. h. aus Mit-
teln des Reiches beſtritten die Beſoldungen, Zulagen und andern
Bedürfniſſe der Reichsbevollmächtigten und Stationskontroleure,
die Ausgaben für das Zoll- und Steuer-Rechnungsbüreau und
das ſtatiſtiſche Amt und insbeſondere die durch den Einſchluß der
Unterelbe in das Zollgebiet erwachſenen fortdauernden Koſten der
Begleitung und Ueberwachung, welche zwar von Preußen beſtritten,
in der Pauſchſumme Preußens aber mit in Anſatz gebracht werden 1).
2. Hinſichtlich der Salzſteuer beſtimmt Art. 38 der R.V. 2),
daß nur diejenigen Koſten, welche zur Beſoldung der mit Erhe-
bung und Kontrolirung dieſer Steuer auf den Salzwerken
beauftragten Beamten aufgewendet werden, in Abzug zu bringen
ſind 3). Es iſt daher hier vollkommen daſſelbe Prinzip, wie bei
den Zöllen analog zur Anwendung gebracht worden und auf die
vorſtehenden Ausführungen zu verweiſen.
3. Hinſichtlich der übrigen Steuern hat Art. 38 der
R.V. ein anderes Prinzip für die Schadloshaltung der Einzel-
ſtaaten adoptirt. Es iſt nicht ein Normaletat veranſchlagt und
der Betrag deſſelben den einzelnen Bundesgliedern als Pauſch-
ſumme bewilligt worden, ſondern mit Rückſicht auf die ſchwanken-
den, von Ernte-Ergebniſſen, Handelsconjuncturen und anderen
nicht vorauszuſehenden Einflüſſen abhängigen Erträge dieſer Steuern,
welche auf die für ihre Erhebung und Kontrole erforderlichen
Koſten einen unmittelbaren Einfluß ausüben, und mit Rückſicht
auf die Art und Weiſe der Erhebung und Kontrole iſt den Einzel-
ſtaaten eine Tantième des von ihnen erhobenen Steuerquantums
bewilligt worden. Daſſelbe iſt bei der Branntwein- und Bier-
ſteuer verfaſſungsmäßig auf 15 Prozent der Geſammteinnahme
[298]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
fixirt; bei der Zuckerſteuer und Tabaksſteuer iſt die Feſt-
ſtellung des Vergütungsſatzes der Beſchlußfaſſung des Bundes-
rathes überlaſſen. Er iſt bei der Zuckerſteuer auf 4 Prozent
feſtgeſetzt worden 1); bei der Tabakſteuer erhalten die Bundes-
ſtaaten einerſeits für die Anbaukontrole einen feſten Betrag pro
Ar der mit Tabak bepflanzten Flächen (20 Pf. pro Ar) anderer-
ſeits 2 Prozent der Brutto-Einnahme 2).
II. Eine Folge der den Einzelſtaaten überlaſſenen Selbſtver-
waltung iſt die pekuniäre Haftung derſelben für die von ihnen
abzuliefernden oder zu verrechnenden Steuerbeträge. In dieſer
Beziehung enthält Art. 16 Abſ. 2 des Zollv.V. v. 1867 die noch
jetzt in Geltung ſtehende Beſtimmung, daß die Staaten ſich ver-
bindlich machen, „für die Dienſttreue der bei der Zollverwaltung
von ihnen angeſtellten Beamten und Diener und für die Sicher-
heit der Kaſſenlokale und Geldtransporte in der Art zu haften,
daß Ausfälle, welche an den Zolleinnahmen durch Dienſtuntreue
eines Angeſtellten erfolgen, oder aus der Entwendung bereits ein-
gezahlter Gelder entſtehen, von derjenigen Regierung, welche den
Beamten angeſtellt hat, oder welche die entwendeten Beſtände er-
hoben hatte, ganz allein zu vertreten ſind und bei der Revenüen-
theilung dem betreffenden Staate zur Laſt fallen.“
III. Die Einzelſtaaten ſind verpflichtet, den reichsgeſetz-
lich normirten Steuerbetrag zu erheben. Da dieſe Verpflichtung
nicht blos auf dem finanziellen Intereſſe des Reiches, ſondern eben-
ſoſehr auf dem volkswirthſchaftlichen und handelspolitiſchen beruht,
ſo kann es den einzelnen Staaten nicht freigeſtellt ſein, durch Ueber-
nahme des Ausfalles auf die Staatskaſſe Zoll- oder Steuer-
befreiungen oder Begünſtigungen zu gewähren 3). Mit der im
Art. 35 der R.V. vorgeſchriebenen Einheit des Handelsgebietes
wäre ein ſolches Verfahren unvereinbar. Hieraus ergibt ſich:
[299]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
1. Die Einzelſtaaten dürfen keine Begünſtigungen der Einfuhr
von Fabrikſtoffen durch Freipäſſe oder Begünſtigungen der
Ausfuhr von Fabrikaten durch Rückzölle und Prämien einſeitig
zugeſtehen 1). Dagegen iſt es den Staaten geſtattet, einzelne
Gegenſtände auf Freipäſſe ohne Abgabenentrichtung eingehen
zu laſſen; dies gilt insbeſondere von Gegenſtänden, welche für die
Hofhaltung der Landesherren und ihrer Regentenhäuſer oder für
die bei ihren Höfen akkreditirten diplomatiſchen Vertreter eingehen.
„Dergleichen Gegenſtände werden jedoch zollgeſetzlich behandelt und
in Freiregiſtern, mit denen es wie mit den übrigen Zollregiſtern
zu halten iſt, notirt und die Abgaben, welche davon zu erheben
geweſen wären, kommen bei der demnächſtigen Revenüenausgleich-
ung demjenigen Staate, von welchem die Freipäſſe ausgegangen
ſind, in Abrechnung 2).
2. Die Einzelſtaaten dürfen ebenſowenig nach eigenem Belieben
Zoll- und Steuer-Credite gewähren. Es iſt einleuchtend, daß
jede Creditgewährung eine Erleichterung und Herabſetzung des
Zoll- und Steuerbetrages in ſich ſchließt, daß es daher nicht in
das freie Belieben des einzelnen Staates geſtellt ſein kann, die
Creditfriſt in unbeſchränkter Weiſe auszudehnen und dadurch zu
Gunſten ſeiner Angehörigen eine bedeutende Ungleichheit der Be-
ſteuerung einzuführen 3). Die vom Reichstage wiederholt ange-
regte geſetzliche Feſtſtellung allgemeiner Bedingungen für die
Gewährung von Zoll- und Steuercrediten iſt noch nicht erfolgt;
dagegen ſind durch Beſchlüſſe des Bundesrathes für die Eingangs-
abgaben und Verbrauchsſteuern die Creditfriſten, die Minimal-
und Maximalbeträge, die Art und Weiſe der Sicherſtellung u. ſ. w.
[300]§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.
feſtgeſetzt worden 1). In den Zollvereins-Verträgen war der Grund-
ſatz feſtgehalten worden, daß die Zollcredite der Geſammtheit ge-
genüber als Baarbeſtände zu behandeln ſeien 2); durch das R.G.
v. 4. Dezember 1871 §. 3 3) wurde dagegen feſtgeſetzt, daß die
Bundesregierungen die Zölle und Abgaben erſt dann an die Reichs-
kaſſe abzuliefern haben, ſobald die Beträge nach den beſtehenden
Geſetzen und den über die Friſten der Zoll- und Steuercredite
getroffenen Verabredungen für ihre Kaſſen fällig geworden ſind 4).
3. Jeder Staat mit eigener Zoll- und Steuerverwaltung hat
über die von ihm verwalteten Geſchäfte Rechnung zu legen. Die
erforderlichen Vorſchriften darüber enthält der Art. 39 der R.V. im
Anſchluß an Art. 17 des Zollvereins-Vertr. v. 8. Juli 1867. Zur
Ausführung und Ergänzung derſelben hat der Reichskanzler im
Einverſtändniß mit dem Ausſchuß des Bundesrathes für Rech-
nungsweſen am 13. Januar 1872 nähere Beſtimmungen erlaſſen 5).
Nachdem aber durch das R.G. v. 29. Februar 1876 (R.G.Bl.
S. 121) der Anfang des Etatsjahrs für den Reichshaushalt auf
den 1. April 1877 verlegt worden iſt, wurden dieſe Beſtimmungen
durch den Bundesraths-Beſchluß v. 18. März 1878 erheblich ver-
ändert 6). Die Rechnungen zerfallen in Monats-, Quartal- und
Jahresrechnungen, von denen die letzteren Haupt- oder Finalrech-
nungen, die beiden andern nur proviſoriſche Nachweiſungen ſind.
Die Unterbehörden legen die Rechnungen nicht direct dem Reiche,
ſondern ihren vorgeſetzten Behörden ab; die von den Directiv-
behörden der Bundesſtaaten geprüften und nach Hauptüberſichten,
in welchen jede Abgabe geſondert nachzuweiſen iſt, zuſammenge-
ſtellten Quartalsrechnungen werden an den Ausſchuß des Bundes-
rathes für das Rechnungsweſen eingeſandt, welcher auf Grund
derſelben von 3 zu 3 Monaten den von der Kaſſe jedes Bundes-
ſtaates der Reichskaſſe ſchuldigen Betrag vorläufig feſtſtellt.
[301]§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.
Die definitive Beſtellung erfolgt auf Grund der Finalabſchlüſſe
durch Beſchluß des Bundesrathes 1).
§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs und die
ſtatiſtiſche Gebühr2).
Aus der Einheit des Zoll- und Handelsgebiets, der gemein-
ſamen Handels- und Tarifpolitik und der Gemeinſchaft der Zoll-
und Verbrauchsabgaben folgt die Nothwendigkeit einer gemeinſamen
Statiſtik des Waarenverkehres, der Productionsverhältniſſe, der
Zoll- und Steuer-Einnahmen und der Bevölkerungsbewegung. Schon
während des Zollvereins wurde dieſem Bedürfniß durch das bei
Gründung deſſelben in Berlin errichtete „Zentralbureau des Zoll-
vereins“ Rechnung getragen und ſeit dem Jahre 1872 iſt zur Be-
arbeitung dieſer Angelegenheiten das Kaiſerliche Statiſtiſche
Amt eingeſetzt worden 3). Um demſelben das erforderliche Ma-
terial für eingehende und zuverläſſige [Zuſammenſtellungen] über
den Eingang, Ausgang und Durchgang von Waaren zu verſchaffen
und um eine ſichere Grundlage für die Maßnahmen der Zoll- und
Handelspolitik zu gewinnen, iſt durch das Reichsgeſetz vom
20. Juli 1879, betreffend die Statiſtik des Waarenverkehrs des
Deutſchen Zollgebietes mit dem Auslande 4), vom 1. Jan. 1880
[302]§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.
ab eine allgemeine Pflicht zur Anmeldung der die Zollgrenze über-
ſchreitenden Waaren und zur gleichzeitigen Entrichtung einer Ab-
gabe eingeführt worden.
I.Die Anmeldepflicht.
1. Anzumelden ſind alle Waaren, welche über die Grenzen
des Deutſchen Zollgebietes ein-, aus- oder durchgeführt werden,
einſchließlich der Verſendungen aus dem Zollgebiet durch das Aus-
land nach dem Zollgebiet, nach Gattung, Menge, Herkunfts- und
Beſtimmungsland. Ausgenommen ſind lediglich die in §. 5 des
Zolltarif-Geſetzes v. 15. Juli 1879 aufgeführten, vom Eingangs-
zoll befreiten Gegenſtände, ohne Rückſicht auf die Menge, ſowie
Sendungen anderer zollfreier Waaren im Gewichte von 250 Gramm
oder weniger 1). Die Anmeldung muß die Gattung jeder Waare
nach deren ſpezieller Benennung und Beſchaffenheit angeben und
zwar nach den Poſitionen des ſtatiſtiſchen Waarenverzeichniſſes 2).
Das Gewicht verpackter Waaren iſt netto anzumelden, und zwar
in der Regel für jede Gattung beſonders; doch genügt für Kolli,
welche nur eine Waarengattung enthalten, das Bruttogewicht unter
Angabe der Verpackungsart 3).
2. Die Anmeldung erfolgt ſchriftlich mittelſt Uebergabe eines
Anmeldeſcheines; beim kleinen Grenzverkehr d. h. bei dem nachbar-
lichen Verkehr der Grenzorte, welche nicht weiter als 15 Kilometer
von der Grenze entfernt gelegen ſind, genügt mündliche Anmel-
dung 4). An Stelle der Anmeldeſcheine tritt bei zollpflichtigen
4)
[303]§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.
Waaren die Zoll- oder Steuerdeclaration; dieſelbe iſt aber durch
Angabe der Herkunft und Beſtimmung der Waare, ſowie bezüg-
lich der Gattung und Menge den Vorſchriften dieſes Geſetzes ge-
mäß zu ergänzen 1).
3. Anmeldeſtellen ſind die Zollämter im Grenzbezirk;
ausnahmsweiſe können auch andere Zoll- oder Steuerämter zu
Anmeldeſtellen beſtellt werden 2). Außerdem ſind im Grenzbezirk
noch andere Anmeldeſtellen nach Bedürfniß zu errichten; insbeſon-
dere können den Gemeindehörden im Grenzbezirk an ſolchen Orten,
an denen ſich ein Zollamt nicht befindet, die Geſchäfte einer An-
meldeſtelle gegen entſprechende Vergütung aufgetragen werden.
Die Errichtung ſolcher Anmeldeſtellen (außer den Zollämtern) liegt
den Landesregierungen ob 4). Jeder Anmeldeſtelle im Grenz-
bezirk iſt von der Zolldirection eine beſtimmte Strecke der Zoll-
grenze zuzutheilen; ausnahmsweiſe, namentlich in Seehandels-
plätzen, kann ſie auch auf eine beſtimmte Verkehrsart beſchränkt
werden 5). Die Anmeldeſtellen ſind zur Reviſion der Waaren
durch äußere Beſichtigung befugt und es liegt ihnen ob, ohne
Verzug die Anmeldeſcheine zu prüfen und erforderlichen Falles
deren Angaben mit den Frachtpapieren und dem Waarenbefund
zu vergleichen und die Berichtigung oder Vervollſtändigung zu
veranlaſſen 6).
4. Verpflichtet zur Anmeldung der Waaren iſt der Waaren-
führer. Zur Ausſtellung des Anmeldeſcheins dagegen iſt der
Abſender verpflichtet; für die Richtigkeit und Vollſtändigkeit
der Angaben des Anmeldeſcheins iſt der Ausſteller, wenn dieſer
aber außerhalb des deutſchen Zollgebiets und der Ausſchlüſſe
wohnt, der Waarenführer verantwortlich 8). Oeffentliche Transport-
3)
7)
[304]§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.
anſtalten und Perſonen, welche gewerbsmäßig Güter befördern,
dürfen nach dem Auslande gerichtete Waaren nur dann befördern,
wenn ihnen ordnungsmäßige Anmeldeſcheine überwieſen worden
ſind 1); bei der Einfuhr von Gütern können ſie den Abſender in
der Ausſtellung des Anmeldeſcheins vertreten, falls er weder im
deutſchen Zollgebiet noch in den Zollausſchlüſſen wohnt 2).
5. Der Bundesrath kann beim Poſtverkehr, bei Sendungen
vom Zollgebiet durch das Ausland nach dem Zollgebiet, beim
kleinen Grenzverkehr, bei der Durchfuhr auf kurzen Straßenſtrecken,
ſowie in Rückſicht auf ſonſtige beſondere Verhältniſſe Erleichterungen
bezüglich der Anmeldepflicht eintreten laſſen 3).
II.Die ſtatiſtiſche Abgabe.
1. Bei jeder ſchriftlichen Anmeldung iſt eine Abgabe zu
entrichten 4). Sie beträgt für die in demſelben Anmeldeſchein
oder derſelben Deklaration aufgeführten Waaren, wenn dieſelben
verpackt ſind, für je 500 Kilogr. 5 Pf., wenn dieſelben unver-
packt ſind, für je 1000 Kilogramm 5 Pf., für die Maſſengüter,
welche im §. 11 Ziff. 3 des Geſetzes bezeichnet ſind 5), 10 Pf.
für je 10,000 Kilogr. und für die im §. 11 Ziff. 4 aufgeführten
Thiere für je 5 Stück 5 Pfennige. Für Bruchtheile oder Mengen-
einheiten kommt die volle Gebühr in Anrechnung. Befreit von
der Abgabe ſind 6):
a) Waaren, welche unter Zollkontrole verſendet, oder auf
Niederlagen für unverzollte Gegenſtände gebracht 7), oder nach
[305]§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.
Entrichtung des Eingangszolls in den freien Verkehr geſetzt oder
endlich zum Zweck der Zurückvergütung oder des Erlaſſes von
Abgaben unter amtlicher Kontrole ausgeführt werden.
b) Waaren, welche auf Grund direkter Begleitpapiere im
freien Verkehr durch das deutſche Zollgebiet durchgeführt oder aus
demſelben durch das Ausland nach dem Zollgebiet befördert werden 1).
c) Die Poſtſendungen.
2. Haftbar für die Entrichtung der Gebühr iſt derjenige,
welcher zur Zeit, wo die Anmeldung ſtattzufinden hat, Inhaber
(natürlicher Beſitzer) der Waare iſt 2). Dies iſt in der Mehrzahl
der Fälle der Waarenführer; das ihm nach Art. 409 des H.G.B’s.
am Frachtgut zuſtehende Pfandrecht erſtreckt ſich auch auf die
Anſprüche, welche ihm aus der Erfüllung der Anmelde- und Ge-
bührenpflicht erwachſen 3).
3. Die Entrichtung der Gebühr erfolgt durch Verwendung
von Reichs-Stempelmarken auf den Anmeldeſcheinen oder den ſie
vertretenden Papieren (Zolldeclarationen) 4). Die für die Kon-
trolirung der Zölle beſtehenden Vorſchriften finden auf die ſtatiſtiſche
Gebühr Anwendung 5).
4. Der Ertrag der ſogen. ſtatiſtiſchen Gebühr fließt in die
Reichskaſſe6); den Bundesſtaaten wird jedoch für die ihnen durch
die Statiſtik des auswärtigen Waarenverkehrs erwachſenden Koſten
eine vom Bundesrath feſtzuſtellende Vergütung gewährt 7). Außer-
dem erhalten die drei Poſtverwaltungen für den Verkauf der
7)
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 20
[306]§. 117. Der Spielkarten-Stempel.
Stempelmarken eine Proviſion von 2½ Prozent der Brutto-
Einnahme 1).
III.Zuwiderhandlungen gegen das Geſetz v. 20. Juli
1879 und der in Folge deſſelben erlaſſenen Ausführungsbeſtim-
mungen von Seiten der Waarenführer und inländiſchen Abſender
werden mit einer Ordnungsſtrafe bis zu 100 Mark geahndet.
Die Vorſchriften der Zollgeſetze finden auf ſie Anwendung und
die Organe der Zollverwaltung haben die Beobachtung der Vor-
ſchriften dieſes Geſetzes zu überwachen und Zuwiderhandlungen
gegen dieſelben zur Anzeige zu bringen 2).
B.Die Reichs-Stempelabgaben.
§. 117. Der Spielkarten-Stempel.
I. Durch das Geſetz vom 3. Juli 1878 (R.G.Bl. S. 133)
wurden Spielkarten vom 1. Januar 1879 an unter Aufhebung
aller Landesſtempelabgaben einer zur Reichskaſſe fließenden Stempel-
abgabe unterworfen, welche 0,30 Mark für jedes Kartenſpiel von
36 oder weniger Blättern, 0,50 Mark für jedes andere Spiel
beträgt. Die Steuer wird zwar durch Abſtempelung der Karten
entrichtet, iſt aber ſowohl ihrer wirthſchaftlichen Natur als ihrer
juriſtiſchen Geſtalt nach eine Verbrauchsabgabe und den im Art. 35
der R.V. aufgeführten Beſteuerungen von inländiſchen Erzeugniſſen
völlig analog. Dieſer Natur der Steuer entſpricht es, daß Spiel-
karten, welche unter amtlicher Kontrole in das Ausland ausgeführt
werden, der Abgabe nicht unterliegen 3). Die Abgabe trifft in
gleicher Höhe die vom Auslande in das Bundesgebiet eingehen-
den, wie die im Inlande fabrizirten Spielkarten 4). Die Errich-
tung von Spielkartenfabriken und die Fabrikation von Spielkarten
[307]§. 117. Der Spielkarten-Stempel.
unterliegt im Intereſſe der Steuerkontrole ähnlichen Beſchränkungen,
wie ſie für die Herſtellung abgabepflichtiger Verbrauchsgegenſtände
angeordnet ſind; ebenſo müſſen ſich ſowohl die Inhaber von Karten-
fabriken wie die Händler mit Spielkarten ſteuerliche Reviſionen
der Geſchäftsräume und Vorräthe gefallen laſſen 1). Spielkarten,
welche nicht mit dem in dem Geſetz erforderten Stempel verſehen
ſind, unterliegen der Einziehung 2). Wer Karten, welche mit dem
erforderlichen Stempel nicht verſehen ſind, feilhält, veräußert, ver-
theilt, erwirbt, damit ſpielt oder ſolche wiſſentlich in Gewahrſam
hat, verfällt für jedes Spiel in eine Strafe von 30 Mark 3). Für
Fabrikanten, Importeure und Händler von Spielmarken ſind be-
ſondere, höhere Strafſätze angedroht 4) Hinſichtlich der Strafver-
folgung gelten im Uebrigen dieſelben Vorſchriften wie ſie bei
Zuwiderhandlungen gegen die Zoll- und Steuergeſetze zur Anwen-
dung kommen 5).
II. Die Erhebung und Verwaltung des Spielkarten-
ſtempels erfolgt durch die Zoll- und Steuerbehörden. Die
näheren Vorſchriften darüber ſind vom Bundesrath zu erlaſſen 6).
Die Reichsbevollmächtigten und Stationskontroleure üben in Bezug
auf die Ausführung dieſes Geſetzes dieſelben Rechte und Pflichten,
welche ſie bezüglich der Erhebung und Verwaltung der Zölle und
der gemeinſchaftlichen Verbrauchsſteuern zu üben haben 7). Die in
den vorhergehenden Paragraphen dargeſtellten Regeln finden daher
auch auf dieſe Abgabe Anwendung 8).
20 *
[308]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
Dieſe Regeln können aber nur innerhalb des Zollgebietes
vollſtändig Platz greifen, da in den Exclaven eine Zollverwaltung
nicht vorhanden iſt. Deſſenungeachtet wird von den letzteren nicht
ſtatt des Spielkartenſtempels ein Averſum entrichtet, ſondern das
Geſetz v. 3. Juli 1878 gilt auch in den Zollausſchlüſſen des
Bundesgebiets. Der Bundesrath iſt aber ermächtigt für dieſe
Gebietstheile Beſtimmungen darüber zu treffen, welcher Steuer-
ſtelle die daſelbſt eingeführten Spielkarten anzumelden und wie
der Ausgang der zur Ausfuhr oder Durchfuhr durch das Bundes-
gebiet angemeldeten Spielkarten, ſowie der Handel mit Spiel-
karten zu kontroliren iſt, unter welchen Bedingungen Großhändlern
ein Lager ungeſtempelter Spielkarten bewilligt werden darf, und
endlich, inwieweit eine Ueberwachung der Ausführung des Geſetzes
durch Reichsbeamte ſtattzufinden hat und in welcher Weiſe die
Einnahme an Spielkartenſtempel zu verwalten und zur Reichskaſſe
abzuführen ſind 1).
III. Jedem Bundesſtaate werden an Erhebungs- und Ver-
waltungskoſten fünf Prozent der in ſeinem Gebiete zur Erhebung
gelangenden Stempelabgaben von Spielkarten vergütet 2).
§. 118. Der Urkunden-Stempel*).
I. Einer zur Reichskaſſe fließenden Abgabe unterliegen:
1. Gezogene und eigene Wechſel, welche im Bundesgebiete
8)
[309]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
in Umlauf geſetzt werden 1). Den Wechſeln ſtehen in dieſer Be-
ziehung gleich die an Ordre lautenden Zahlungsverſprechen (Billets
à Ordre) und die von Kaufleuten oder auf Kaufleute ausgeſtellten
Anweiſungen (Aſſignationen) jeder Art auf Geldauszahlungen,
Akkreditive und Zahlungsaufträge, gegen deren Vorzeigung oder
Auslieferung die Zahlung geleiſtet werden ſoll, mit Ausnahme
der Platzanweiſungen und Cheks, der für eine beſtimmte Perſon
ausgeſtellten Akkreditive und der Banknoten 2). Die Entrichtung
der Abgabe muß erfolgen, ehe ein inländiſcher Wechſel von dem
Ausſteller, ein ausländiſcher Wechſel von dem erſten inländiſchen
Inhaber aus den Händen gegeben wird 3).
Die Abgabe beträgt bei einer Wechſelſumme bis 1000 M.
von je 200 M. 10 Pf., von jedem ferneren 1000 M. 50 Pf.
mehr, dergeſtalt, daß jedes angefangene Tauſend für voll gerechnet
wird 4). Iſt die Wechſelſumme in einer anderen Währung als
der Reichswährung ausgedrückt, ſo erfolgt zum Zwecke der Berech-
nung der Abgabe die Umrechnung der Wechſelſumme nach Maß-
gabe des laufenden Kurſes, ſofern nicht der Bundesrath für gewiſſe
Währungen allgemeine zum Grunde zu legende Mittelwerthe feſtſetzt 5).
2. Aktien und für den Handelsverkehr beſtimmte Renten-
und Schuldverſchreibungen. Inländiſche Papiere, welche
unter dieſe Kategorien fallen, unterliegen der Steuer, wenn ſie nach
dem 1. Oktober 1881 ausgegeben worden ſind; ausländiſche, wenn ſie
innerhalb des Bundesgebietes ausgehändigt, veräußert, verpfändet,
oder wenn daſelbſt andere Geſchäfte unter Lebenden damit gemacht
*)
[310]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
oder Zahlungen darauf geleiſtet werden. Interimsſcheine unter-
liegen der Steuer unter den gleichen Vorausſetzungen wie die
Werthpapiere ſelbſt. Befreit von der Abgabe ſind Renten- und
Schuldverſchreibungen des Reiches und der Bundesſtaaten, ſowie
inländiſche Renten- und Schuldverſchreibungen, welche nur zu dem
Zweck des Umtauſches ausgeſtellt werden, ſofern den desfalls von
dem Bundesrath zu erlaſſenden Kontrolvorſchriften genügt wird,
und die auf Grund des Reichsgeſetzes vom 8. Juni 1871 abge-
ſtempelten ausländiſchen Inhaberpapiere mit Prämien. Die Ab-
gabe iſt von jedem Stück nur einmal zu entrichten. Sie beträgt
für inländiſche und ausländiſche Aktien 5 Promille vom Nenn-
werthe, für inländiſche und ausländiſche Renten- und Schuld-
verſchreibungen 2 Promille vom Nennwerthe 1), und für in-
ländiſche auf den Inhaber lautende und auf Grund ſtaatlicher
Genehmigung ausgegebene Renten- und Schuldverſchreibungen der
Kommunalverbände und Kommunen, der Korporationen ländlicher
oder ſtädtiſcher Grundbeſitzer, der Grundkredit- und Hypotheken-
banken oder der Transportgeſellſchaften 1 Promille vom Nenn-
werthe. Wenn ausländiſche Werthpapiere, welche vor dem Inkraft-
treten des Stempelgeſetzes (1. Oktober 1881) ausgegeben ſind,
innerhalb 90 Tagen nach dieſem Zeitpunkt zur Stempelung vor-
gelegt worden ſind, ſo iſt an Stelle der prozentualen Abgabe eine
fixe Stempelabgabe zu entrichten geweſen, und zwar für Aktien
50 Pfennig, für Renten- und Schuldverſchreibungen 10 Pfennig
für jedes Stück 2).
3. Im Bundesgebiete ausgeſtellte Schlußnoten und Rech-
nungen über den Abſchluß oder die Prolongation oder die
Bedingungen des Abſchluſſes oder der Prolongation eines Kauf-,
Rückkauf- Tauſch- oder Lieferungsgeſchäfts, welches Wechſel, aus-
ländiſche Banknoten oder ausländiſches Papiergeld, ferner Aktien,
Staats- oder andere für den Handelsverkehr beſtimmte Werth-
papiere oder Mengen von ſolchen Sachen oder Waaren, die nach
Gewicht, Maaß oder Zahl gehandelt zu werden pflegen, zum
[311]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
Gegenſtande hat, beziehentlich über die aus ſolchen Rechtsgeſchäften
hervorgegangenen Anſprüche.
Die Steuer beträgt für jedes Schriftſtück der bezeichneten
Art 20 Pfennig, und für eine Schlußnote, welche ein Zeitgeſchäft
betrifft, eine Mark. Betrifft eine Schlußnote mehr als ein Ge-
ſchäft, ſo iſt für jedes einzelne dieſer Geſchäfte der Stempel zu
verwenden. Werden Schlußnoten oder Rechnungen in mehreren
Exemplaren, Abſchriften oder Auszügen ausgeſtellt, ſo unterliegt
jedes Stück der Abgabe, ſobald es aus den Händen des Aus-
ſtellers geht. Befreit von der Abgabe ſind Schlußnoten und Rech-
nungen, ſofern der Werth des Gegenſtandes des Geſchäfts nicht
mehr als 300 M., bei Waarengeſchäften nicht mehr als 1000 M.
beträgt, ferner Schlußnoten, welche nur ſogenannte Kontant-
geſchäfte über Wechſel, gemünztes oder ungemünztes Gold oder
Silber zum Gegenſtande haben; endlich Telegramme und Briefe
über die bezeichneten Geſchäfte, wenn die Briefe auf Entfernungen
von mindeſtens 15 Kilometern brfördert werden 1).
4. Lotterielooſe, ſowie Ausweiſe über Spieleinlagen bei
öffentlich veranſtalteten Ausſpielungen von Geld oder anderen
Gewinnen. Die Steuer beträgt bei inländiſchen Looſen fünf Pro-
zent vom planmäßigen Preiſe (Nennwerth) ſämmtlicher Looſe
oder Ausweiſe, bei ausländiſchen Looſen fünf Prozent von dem
Preiſe der einzelnen in das Bundesgebiet eingeführten Looſe.
Befreit von der Abgabe ſind die Looſe der von den zuſtändigen
Behörden genehmigten Ausſpielungen und Lotterien zu mildthätigen
Zwecken 2).
II. Die Entrichtung der Steuer wird bewirkt:
1. Bei Wechſeln und den ihnen gleichgeſtellten Papieren,
bei Schlußnoten und bei Rechnungen durch Verwendung
der Reichsſtempelmarke oder eines mit dem erforderlichen Reichs-
ſtempel verſehenen Blanketts Seitens der zur Entrichtung der
Abgabe Verpflichteten 3). Der Bundesrath hat die Vorſchriften
[312]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
über die Art der Verwendung der Marken zu erlaſſen 1). Stempel-
marken, welche nicht in der vorgeſchriebenen Weiſe verwendet
worden ſind, werden als nicht verwendet angeſehen 2). Wer der
ihm obliegenden Verpflichtung zur Entrichtung der Stempel-Abgabe
nicht rechtzeitig genügt, wird mit einer Geldſtrafe belegt, welche
dem fünfzigfachen Betrage der hinterzogenen Abgabe gleichkommt 3).
2. Bei Aktien, Renten- und Schuldverſchreibungen
wird die Verpflichtung zur Entrichtung der Abgabe erfüllt durch
Zahlung des Abgabebetrages an eine zuſtändige Steuerſtelle,
welche auf dem vorzulegenden Werthpapiere Reichsſtempelmarken
zum entſprechenden Betrage zu verwenden oder die Aufdrückung
des Stempels zu veranlaſſen hat 4). Welche Behörden zur Ab-
ſtempelung der Werthpapiere zuſtändig ſind, beſtimmen die Landes-
regierungen 5); dieſelben haben mindeſtens an jedem Börſenplatze
eine Steuerſtelle zu ermächtigen 6). Die Verletzung der Pflicht
zur Abgaben-Entrichtung zieht eine Geldſtrafe nach ſich, die dem
25fachen Betrage der hinterzogenen Abgabe gleichkommt, mindeſtens
aber 20 Mark für jedes Werthpapier beträgt 7).
[313]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
Der Emittent ſtempelpflichtiger inländiſcher Werthpapiere iſt
überdies bei Strafe von 50—500 M. verpflichtet, bevor die Pa-
piere zur Zeichnung aufgelegt werden oder zu weiteren Einzah-
lungen auf ſolche aufgefordert wird, der zuſtändigen Steuerſtelle
unter Angabe der Zahl, der Gattung und des Nennwerthes der
Stücke oder des Betrages der zu leiſtenden Einzahlungen Anzeige
zu erſtatten 1).
3. Hinſichtlich der Lotterielooſe iſt zwiſchen Privat- und
Staatslotterie zu unterſcheiden.
a) der Privat-Unternehmer einer Lotterie oder Ausſpielung
muß der zuſtändigen Steuerbehörde ſpäteſtens am 7. Tage nach
dem Empfange der obrigkeitlichen Erlaubniß ſchriftlich die plan-
mäßige Anzahl und den planmäßigen Preis der Looſe anmelden 2)
und gleichzeitig die Abgabe für die Looſe einzahlen oder Stundung
derſelben bis nach dem Beginn des Vertriebes der Looſe gegen
Sicherſtellung des Betrages oder ohne ſolche beanſpruchen 3).
Dient die Auslooſung zu Wohlthätigkeitszwecken und wird aus
dieſem Grunde die Befreiung von der Abgabe in Anſpruch ge-
nommen, ſo iſt der Anmeldung der Nachweis des wohlthätigen
Zweckes beizufügen. Ueber die Anwendbarkeit der Befreiung ent-
ſcheidet die Directivbehörde 4). Nach Feſtſtellung des Abgaben-
betrages oder der Steuerbefreiung ſind ſämmtliche Looſe von der
Steuerbehörde mittelſt Stempelaufdrucks abzuſtempeln. Ungeſtem-
pelte Looſe dürfen nicht ausgegeben werden 5).
[314]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
Wer ausländiſche Looſe oder Ausweiſe über Spieleinlagen
in das Bundesgebiet einführt oder daſelbſt empfängt, hat dieſelben,
bevor mit dem Vertrieb begonnen wird, ſpäteſtens binnen 3 Tagen
nach dem Tage der Einführung oder des Empfangs der zuſtändigen
Behörde anzumelden und davon die Stempelabgabe zu entrichten 1).
Ueber die Abſtempelung gelten dieſelben Vorſchriften wie für
Privatlotterien; jedoch findet Stundung der Steuer nicht ſtatt 2).
Die Nichterfüllung der angegebenen Verpflichtungen wird mit
einer Geldſtrafe im fünffachen Betrage der hinterzogenen Abgabe
geahndet; iſt die Zahl der abgeſetzten Looſe nicht zu ermitteln, ſo
tritt Geldſtrafe von 250—5000 M. ein 3).
b) Von den Lotterieverwaltungen der deutſchen Bundesſtaaten
wird die Stempelſteuer in einer Summe für die Geſammtzahl
der von ihr abgeſetzten Looſe zur Reichskaſſe abgeführt; eine Ab-
ſtempelung der Looſe findet nicht ſtatt 4). Die Verwaltungen der
Staatslotterien haben ſpäteſtens am 15. Tage nach Ablauf der
Ziehung jeder Klaſſe dem Reichsſchatzamte die Zahl der abge-
ſetzten Looſe und den Preis der Looſe anzuzeigen, worauf das
Reichsſchatzamt die zu entrichtende Steuer feſtſetzt 5).
III.Das Verhältniß des Reiches zu den Einzel-
ſtaaten hinſichtlich der Stempel-Abgabe iſt Folgendes:
1. Diejenigen Urkunden, welche der zur Reichskaſſe fließenden
Stempel-Abgabe unterliegen, ſind der Beſteuerung Seitens der
Einzelſtaaten entzogen 6); ebenſo die in den Reichsgeſetzen von der
Stempelſteuer befreiten Werthpapiere und Urkunden. Die landes-
geſetzlichen Vorſchriften über die Entrichtung von Abgaben,
[315]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
Gebühren, Taxen u. dgl. ſind nur in folgenden Punkten in Gel-
tung geblieben:
a) Hinſichtlich der Urkunden über Eintragungen in dem Hypo-
thekenbuche (Grundbuche) 1).
b) Hinſichtlich der gerichtlichen oder notariellen Beur-
kundungen der unter Nr. 4 a des Tarifs bezeichneten Geſchäfte,
und der von ſolchen Urkunden ertheilten Ausfertigungen, beglaubigten
Abſchriften und Auszüge; ſowie hinſichtlich der Schriftſtücke, welche
von den Staatsverwaltungen der Bundesſtaaten über die erwähnten
Geſchäfte aufgenommen oder ausgeſtellt werden. Dieſe Beurkun-
dungen und Schriftſtücke ſind von der Reichsſtempel-Abgabe aus-
geſchloſſen und nur den landesgeſetzlichen Abgaben unterworfen 2).
c) Verträge über die unter 4 a des Tarifs bezeichneten Sachen
und Waaren, welche weder als gewerbliche Betriebsmaterialien
noch zur Wiederveräußerung beſtimmt ſind, und Auktionen und
Auktionsprotokolle unterliegen nicht der Reichsſtempel-Abgabe,
ſondern den landesgeſetzlichen Steuervorſchriften; werden aber in
dieſen Fällen von Mäklern oder anderen Unterhändlern Schrift-
ſtücke (Schlußnoten n. dgl.) ausgeſtellt, ſo iſt für dieſe die Reichs-
ſtempelſteuer neben den landesgeſetzlichen Abgaben zu entrichten 3).
d) Werden ſtempelpflichtige Schlußnoten (Tarifnummer 4 a)
öffentlich beglaubigt, ſo finden die betreffenden landesgeſetzlichen
Vorſchriften über Stempel und Gebühren für Beglaubigungen
neben den Beſtimmungen des Reichsgeſetzes Anwendung 4).
2. Die allgemeinen Verwaltungsvorſchriften zur
Ausführung der Reichsſtempelgeſetze ſind vom Bundesrathe zu
erlaſſen 5). Dahin gehören namentlich die Anordnungen wegen der
Anfertigung und des Vertriebs der zu verwendenden Stempel-
marken und geſtempelten Formulare und die Feſtſtellung der
[316]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
Bedingungen, unter welchen für verdorbene Marken und For-
mulare, ſowie für Stempel auf verdorbene Werthpapiere Er-
ſtattung zuläſſig iſt 1). Das Wechſelſtempelgeſetz hat jedoch gerade
hinſichtlich dieſer Anordnungen das Bundespräſidium (den Kaiſer)
zum Erlaß derſelben ermächtigt 2). Der Bundesrath hat ferner
außer den bereits mehrfach erwähnten „Ausführungsvorſchriften“
zu den einzelnen Paragraphen des Stempelgeſetzes gleichzeitig
„Beſtimmungen über die Erhebung und Verrechnung“ der Stempel-
abgaben, insbeſondere über die Führung der Regiſter, erlaſſen 3).
Treten bei der Handhabung der beiden Stempelgeſetze Mängel
hervor, namentlich Meinungsverſchiedenheiten unter den Directiv-
behörden der Einzelſtaaten in Betreff der Auslegung, ſo iſt der
Bundesrath auf Grund des Art. 7 Ziff. 3 der R.V. zuſtändig,
darüber zu beſchließen.
3. Die Erhebung und Verwaltung der Abgabe ſteht den
Einzelſtaaten zu. Die Landesregierungen beſtimmen die zu-
ſtändigen Steuerſtellen, verſehen ſie mit den erforderlichen An-
weiſungen und führen die Dienſtaufſicht und Kontrole. Nur der
Debit der Wechſelſtempelmarken und geſtempelten Wechſelfor-
mulare wird von den Poſtanſtalten beſorgt 4), ſo daß ein
Theil der Verwaltung der Wechſelſtempelſteuer mit der Poſtver-
waltung verſchmolzen iſt 5). Den Einzelſtaaten iſt auch die Beauf-
ſichtigung der ordnungsmäßigen und vollkommenen Entrichtung der
Stempelabgabe überlaſſen. Die in den Bundesſtaaten mit der
Beaufſichtigung des Stempelweſens beauftragten Behörden und
Beamten haben die gleichen Pflichten und die gleichen Rechte hin-
ſichtlich der Reichsſtempelſteuer, wie ſie ihnen hinſichtlich der nach
den Landesgeſetzen zu entrichtenden Stempelabgaben zuſtehen 6).
Ueberdies ſind außer den Steuerbehörden auch alle Reichsbehörden,
Staats- und Kommunal-Behörden und Beamten, welche amtlich
[317]§. 118. Der Urkunden-Stempel.
mit den ſteuerpflichtigen Urkunden ſich zu befaſſen haben, ſowie
die Notare verpflichtet, die Beſteuerung der ihnen vorkommenden
Urkunden zu prüfen und die zu ihrer Kenntniß gelangenden Zu-
widerhandlungen gegen die Reichsſtempelgeſetze bei der zuſtändigen
Behörde zur Anzeige zu bringen 1). Die Central-Verwaltungs-
ſtellen der Bundesſtaaten haben die Durchführung dieſer Anord-
nungen zu beaufſichtigen und die ihnen untergebenen Behörden
mit den erforderlichen Anweiſungen zu verſehen.
Eine beſondere Art der Kontrole iſt durch das R.G. vom
1. Juli 1881 §. 27 Abſ. 2 den Landesregierungen zur Pflicht
gemacht. Dieſelben haben geeignete Beamte zu beſtimmen, welche
nach näherer Vorſchrift des Bundesrathes 2) die ſtempelpflichtigen
Schriftſtücke der öffentlichen und der von Aktiengeſellſchaften oder
Kommanditgeſellſchaften auf Aktien betriebenen Bank-, Kredit-
oder Verſicherungsanſtalten, Handels- und gewerblichen Unter-
nehmungen, ſowie der zur Erleichterung der Liquidation von Zeit-
geſchäften beſtimmten Anſtalten periodiſch bezüglich der Stempel-
verwendung zu prüfen haben. So lange die Landesregierungen
geeignete Beamte nicht beſtimmt haben, ſind dieſe Reviſionen von
den Reichs-Zollbevollmächtigten und Kontroleuren vorzunehmen.
Die Oberaufſicht über die den Einzelſtaaten überlaſſene Ver-
waltungsthätigkeit ſteht gemäß Art. 17 der R.V. dem Kaiſer zu;
ſie wird unter Verantwortlichkeit und Leitung des Reichskanzlers
durch das Reichsſchatzamt geführt 3).
4. In Betreff des adminiſtrativen Strafverfahrens wegen der
Zuwiderhandlungen gegen die Reichsſtempelgeſetze, hinſichtlich der
Strafvollſtreckung, Strafmilderung und des Straferlaſſes im Wege
der Gnade kommen die entſprechenden Vorſchriften der Zollgeſetze
zur Anwendung. Die erkannten Geldſtrafen fallen dem Fiskus
[318]§. 119. Allgemeine Charakteriſtik der Finanzwirthſchaft.
desjenigen Staates zu, von deſſen Behörden die Strafentſcheidung
erlaſſen iſt 1). Die Verwandlung einer Geldſtrafe in eine Freiheits-
ſtrafe im Unvermögensfalle findet nicht ſtatt; auch darf zur Bei-
treibung von Geldſtrafen ohne Zuſtimmung des Verurtheilten,
wofern dieſer ein Inländer iſt, kein Grundſtück ſubhaſtirt werden 2).
Die Behörden und Beamten der Bundesſtaaten ſind verpflichtet,
ſich gegenſeitig thätig und ohne Verzug den verlangten Beiſtand
in allen geſetzlichen Maßregeln zu leiſten, welche zur Entdeckung
oder Beſtrafung von Stempelſteuer-Hinterziehungen dienlich ſind 3).
5. Jedem Bundesſtaate wird von der Einnahme, welche in
ſeinem Gebiete aus dem Verkauf von Stempelmarken oder ge-
ſtempelten Blankets oder durch baare Einzahlung von Reichs-
ſtempelabgaben erzielt wird, mit Ausnahme der Steuer
von Looſen der Staatslotterien, der Betrag von zwei
Prozent gewährt 4). Außerdem erhalten die drei Poſtverwaltungen
für den Vertrieb der Wechſelſtempelmarken und Blankets eine
Entſchädigung von 2½ Prozent der Brutto-Einnahme.
Dritter Abſchnitt. Die Finanzwirthſchaft des Reiches.
§. 119. Allgemeine Charakteriſtik.
Die Finanzwirthſchaft des Reiches iſt ihrem Grundprinzip
nach eine Geſellſchaftswirthſchaft 5). Der Grund dafür iſt
theils ein hiſtoriſcher, indem die Nordd. Bundesverfaſſung anknüpfte
an die unter den deutſchen Staaten bereits vorhandenen Verbände,
deren Inſtitutionen ſie zum Theil conſervirte, ſo daß die im ehe-
[319]§. 119. Allgemeine Charakteriſtik der Finanzwirthſchaft.
maligen deutſchen Bunde, dem Poſtverein und namentlich dem
Zollverein geltend geweſenen Grundſätze nachwirkten, theils ein
ſachlicher, indem durch die mehreren Bundesgliedern eingeräumten
Sonderrechte innerhalb des Reichsverbandes beſondere Einnahme-
und Ausgabe-Gemeinſchaften geſchaffen worden ſind. Der Gegen-
ſatz zwiſchen der Staatswirthſchaft und der Societätswirthſchaft
beſteht darin, daß bei der erſteren Einnahmen und Ausgaben nicht
blos gemeinſchaftliche, ſondern einheitliche und ungetheilte ſind,
während bei der letzteren die gemeinſchaftlichen Einnahmen und
Ausgaben auf die Mitglieder vertheilt werden, ſo daß die bei
dieſer Vertheilung ſich ergebenden Quoten als Einnahmen und
Ausgaben der einzelnen Mitglieder erſcheinen. Bei der Finanz-
wirthſchaft des einheitlichen Staates giebt es keine Sonderein-
nahmen oder Sonderausgaben der einzelnen Theile des Staates,
ſondern die Einheitlichkeit der Staatsperſönlichkeit beherrſcht auch
die Wirthſchaft und das Vermögen des Staates. Andererſeits
giebt es bei conſequent durchgeführter Geſellſchaftswirthſchaft nur
Einnahmen und Ausgaben der Mitglieder; denn daß diejenigen
Einnahmen und Ausgaben, welche unter ſämmtliche Mitglieder
nach demſelben Maßſtabe vertheilt werden, gegen einander auf-
gerechnet werden und nur die Differenz zur Vertheilung kommt,
iſt lediglich eine Rechnungsmanipulation zum Zweck der Verein-
fachung; in Wirklichkeit giebt es keine Einnahme und keine Aus-
gabe einer Societät, die nicht dem Effekte nach eine Einnahme
oder Ausgabe der Mitglieder wäre. Thatſächlich kann dieſe
juriſtiſche Natur der geſellſchaftlichen Wirthſchaft verdunkelt werden,
wenn ſich zufällig die von den einzelnen Mitgliedern zu leiſtenden
Beiträge mit den ihnen zu Gute kommenden Einnahme-Antheilen
vollſtändig decken; dagegen zeigt ſich der Charakter der Geſellſchafts-
wirthſchaft im Gegenſatz zur einheitlichen Wirthſchaft juriſtiſcher
Perſonen in zwei Erſcheinungen, nämlich:
1) Es kann Ausgaben und Einnahmen geben, welche nicht
ſämmtlichen Mitgliedern gemeinſam ſind, oder an denen nicht
ſämmtliche Mitglieder in demſelben Verhältniß Antheil haben.
2) Wenn Einnahmen und Ausgaben ſich nicht vollſtändig
decken, ſo iſt der ſich ergebende Aktiv- oder Paſſivſaldo auf die
Mitglieder zu vertheilen.
Dieſe Repartition der Differenz iſt der prägnanteſte Ausdruck
[320]§. 119. Allgemeine Charakteriſtik der Finanzwirthſchaft.
der Geſellſchaftswirthſchaft; die letztere würde in dem Finanzweſen des
Reichs am reinſten und vollſtändigſten durchgeführt ſein, wenn ſämmt-
liche Ausgaben durch Matricularbeiträge von den einzelnen Staaten
beſtritten würden. Aber auch die ſogenannten „eigenen“ Einnahmen
des Reiches ändern an dem juriſtiſchen Prinzip nichts, denn auch
ſie kommen thatſächlich auf Matrikularbeiträge der Einzelſtaaten
hinaus. Soweit ſie zur vollen Deckung der Ausgaben nicht hin-
reichen, verringern ſie den durch baare Zahlungen der Mitglieder
auszugleichenden Paſſivſaldo; falls ſie aber die gemeinſchaftlichen
Ausgaben überſteigen, bildet die Differenz einen an die Mitglieder
zu vertheilenden Ueberſchuß, der ſich juriſtiſch ſeinem Weſen nach
von dem Reingewinn irgend einer anderen Geſellſchaft des Privat-
rechts oder des öffentlichen Rechts nicht unterſcheidet.
Daß bei der Errichtung des Norddeutſchen Bundes und noch
in beſtimmterer Durchbildung bei der Gründung des Reiches die
Geſtaltung der Finanzwirthſchaft nach dem Sozietätsprinzip orga-
niſirt wurde, ergiebt ſich aus mehreren Beſtimmungen der Ver-
faſſung zur Evidenz. Nach Art. 38 haben die drei ſüddeutſchen
Staaten an dem Ertrage der Branntwein- und Bierſteuer „keinen
Theil“; im Art. 51 wurde für eine Reihe von Jahren ein Maß-
ſtab für die Berechnung prozentualer „Antheile“ an dem Poſt-
überſchuß feſtgeſtellt und beſtimmt, daß den einzelnen Staaten die
ſich ergebenden „Quoten“ auf ihre „ſonſtigen Beiträge“ zu Reichs-
zwecken zu Gute gerechnet werden ſollen 1); nach Art. 62 müſſen
die zur Beſtreitung des Aufwandes für das Heer beſtimmten
„Beiträge“ von den einzelnen Staaten des Bundes zur Reichs-
kaſſe fortgezahlt werden; nach Art. 70 iſt die Differenz der „ge-
meinſchaftlichen“ Ausgaben gegen die „gemeinſchaftlichen“ Ein-
nahmen „durch Beiträge der einzelnen Bundesſtaaten“ aufzu-
bringen 2).
Im Einklange mit dieſer ſocietätsmäßigen Geſtaltung der
Finanzwirthſchaft ſteht die bereits oben S. 190 hervorgehobene
[321]§. 119. Allgemeine Charakteriſtik der Finanzwirthſchaft.
Thatſache, daß in der Verfaſſung der Reichsfiskus dem Wort und
dem Begriffe nach fehlt. Allein es iſt andererſeits unverkennbar,
daß nach der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes die
Geſellſchaftswirthſchaft nach verhältnißmäßig kurzer Zeit thatſächlich
hätte verſchwinden müſſen. Denn es gab nach dieſer Verfaſſung
nur Ausgaben, die allen Staaten und zwar nach gleichem
Maße gemeinſchaftlich waren und ebenſo hätte es nach Ablauf der
für die Vertheilung der Poſtüberſchüſſe normirten Uebergangszeit
nur Einnahmen gegeben, an denen alle Staaten im gleichen Maße
Antheil hatten, ſo daß es lediglich der Einführung von Bundes-
ſteuern behufs Beſeitigung der Matrikularbeiträge bedurft hätte,
um die Bundes-Finanzwirthſchaft aus der geſellſchaftlichen Rechts-
form in die korporative (ſtaatliche) überzuleiten.
Durch den Beitritt der ſüddeutſchen Staaten und durch die
Entwicklung des Finanzweſens des Reiches iſt dieſer Weg ver-
laſſen worden. Durch die den ſüddeutſchen Staaten eingeräumten
Reſervatrechte auf dem Gebiete des Poſt- und Telegraphenweſens
und der Verbrauchs-Abgaben und durch die beſondere Stellung
Bayerns in Betreff des Militair- Eiſenbahn- und Heimathweſens
ſind Complexe von Einnahmen und von Ausgaben gebildet worden,
an denen nicht ſämmtliche Staaten gleichmäßig betheiligt ſind.
Daſſelbe iſt in anderen Beziehungen durch die Verhältniſſe Elſaß-
Lothringens herbeigeführt worden. Namentlich iſt aber ein prin-
zipiell entſcheidender Schritt dadurch geſchehen, daß bei der Er-
höhung der Zölle und der Tabaksſteuer durch das Reichsgeſetz
vom 15. Juli 1879 §. 8 und ferner durch das Reichsſtempelgeſetz
v. 1. Juli 1881 §. 32 die Matrikularbeiträge der Einzelſtaaten
nicht vermindert oder abgeſchafft worden ſind, ſondern daß im
Gegentheil das Syſtem der Matrikularbeiträge und eventuell das
der Ueberſchuß-Vertheilung eine neue Anerkennung und verſtärkte
Bedeutung erlangt hat.
Unter den Unebenheiten, welche die Reichsverfaſſung auf-
weiſt, iſt die hervorragendſte und bemerkenswertheſte die, daß,
während auf allen anderen Gebieten das bundesſtaatliche
Prinzip obwaltet, die Finanzwirthſchaft des Reiches von dem
förderaliſtiſchen Prinzip beherrſcht wird.
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 21
[322]§. 120. Die Einnahmen.
§. 120. Die Einnahmen.
Den von den Einzelſtaaten zur Beſtreitung der Ausgaben des
Reiches zu zahlenden „Beiträgen“, ſtehen diejenigen Einnahmen
gegenüber, „welche zur Reichskaſſe fließen“. Man pflegt ſie, „eigene“
Einnahmen des Reiches zu nennen; im Art. 70 der R.V. ſelbſt
werden ſie richtiger als „gemeinſchaftliche Einnahmen“ (der Bundes-
ſtaaten) bezeichnet. Als Einnahmen des Reiches kann man ſie nur
in dem Sinne charakteriſiren, daß ſie verfaſſungsmäßig oder reichs-
geſetzlich zur Beſtreitung von Ausgaben des Reiches beſtimmt ſind,
von den Einzelſtaaten dieſem Zweck nicht entzogen werden können,
vielmehr aus der Finanzwirthſchaft der Einzelſtaaten ganz aus-
ſcheiden und von der Finanzgewalt des Reiches beherrſcht werden;
ſowie man etwa die Erträgniſſe des Geſellſchaftsvermögens eigene
Einnahmen der Societät im Gegenſatz zu den Zuſchüſſen der
Geſellſchafter nennen kann und ſowie man die Einlagen der Geſell-
ſchafter als „eigenes Vermögen der Societät“ im Gegenſatz zum
Privatvermögen der Sozii bezeichnen kann, weil die letzteren nicht
befugt ſind, ihre Einlagen den Geſellſchaftszwecken zu entziehen.
Nicht alle Staaten nehmen aber an allen dieſen Ein-
nahmen Theil; es beſtehen vielmehr unter ihnen folgende Ein-
nahme-Gemeinſchaften:
1. Allen Staaten gemeinſam ſind die Erträge des
Reichsvermögens, die Gebühren, welche für die Amtshandlungen
der Reichsbehörden zu entrichten ſind, die Erträge der Reichs-
ſtempel-Abgaben mit Einſchluß der ſtatiſtiſchen Gebühr, die Er-
träge der Zölle, der Salzſteuer, Rübenzuckerſteuer und Tabakſteuer.
Von den Zöllen, Verbrauchsabgaben und Stempelſteuern fließen
in die Reichskaſſe nur diejenigen Erträge, welche ſich nach Abzug
der Ausfuhr-Vergütungen und anderen Rückerſtattungen und der
den Einzelſtaaten verbleibenden Entſchädigungen für die Erhebungs-
und Verwaltungskoſten ergeben 1). Die Einnahme-Gemeinſchaft
aus den Zöllen und den erwähnten Verbrauchsabgaben erſtreckt
ſich auch auf die vom Zollgebiet ausgeſchloſſenen Gebietstheile,
für welche von den betreffenden Staaten ein entſprechender Beitrag
zu den Ausgaben des Reichs durch Zahlung eines Averſums
[323]§. 120. Die Einnahmen.
entrichtet wird. Der Berechnung derſelben wird die ortsan-
weſende Bevölkerung, wie ſie bei der letzten Volkszählung con-
ſtatirt worden iſt, zu Grunde gelegt; d. h. es wird von den Zoll-
ausſchlüſſen an die Reichskaſſe ebenſoviel für jeden Kopf ihrer
Bevölkerung gezahlt als der wirkliche Netto-Ertrag der Reichs-
ſteuern und Zölle für den Kopf des Zollgebietes ergiebt 1). Da
aber der Netto-Ertrag dieſer Einnahmen erſt nach Abſchluß der
Jahresrechnungen definitiv feſtgeſtellt werden kann, ſo modifiziren
ſich hiernach auch die budgetmäßigen Anſätze der Averſionalſummen.
Die von den betreffenden Staaten monatlich an die Reichskaſſe
abzuführenden Beträge 2), ſind nur vorläufige Zahlungen à Conto
des Averſums. Da nun aber in großen Handelsſtädten und Ver-
kehrscentren der Verbrauch zoll- und ſteuerpflichtiger Gegenſtände
bei weitem den durchſchnittlichen Conſum eines ausgedehnten Zoll-
gebietes überſteigt, theils wegen des großen Fremdenzuſammen-
fluſſes theils wegen des größeren Lebensaufwandes der ein-
heimiſchen Bevölkerung, ſo würden Hamburg und Bremen, wenn
ſie im Zollgebiete eingeſchloſſen wären, an Zöllen und Verbrauchs-
abgaben erheblich mehr als den durchſchnittlichen Kopfbetrag für
die Reichskaſſe vereinnahmen. Aus dieſem Grunde tritt zu dem,
nach Maßgabe der Zoll- und Steuer-Einnahme des Reiches zu
berechnenden Kopfbeträgen für die ſtädtiſche und vorſtädtiſche Be-
völkerung von Hamburg und Bremen 3) noch ein feſter Zuſchlag
hinzu 4).
21*
[324]§. 120. Die Einnahmen.
2. Allen Staaten mit Ausnahme Bayerns ſind
gemeinſchaftlich die eigenen Einnahmen der Verwaltung des Reichs-
heeres und des allgemeinen Militär-Penſionsfonds, da hinſichtlich
der finanziellen Verwaltung des Heerweſens zwiſchen Bayern und
den übrigen Staaten keine Gemeinſchaft beſteht.
3. Allen Staaten mit Ausnahme Bayerns und Würt-
tembergs ſind gemeinſam die Ueberſchüſſe der Poſt-
und Telegraphenverwaltung.
4. Allen Staaten mit Ausnahme Bayerns, Württem-
bergs und Badens ſind gemeinſchaftlich die Einnahmen aus
der Beſteuerung des Branntweins1) ſowie die Uebergangs-
abgaben vom Branntwein, welcher aus den Gebieten der 3 genannten
Staaten in das Gebiet der Branntweinſteuergemeinſchaft eingeführt
wird. Zu dieſer Gemeinſchaft gehören auch die Zollausſchlüſſe,
abgeſehen von den Badiſchen; von ihnen wird daher der entſpre-
chende Betrag in Geſtalt einer Averſionalſumme erhoben 2).
5. Allen Staaten mit Ausnahme Bayerns, Württem-
bergs, Badens und Elſaß-Lothringens ſind gemein-
ſchaftlich die Einnahmen aus der Brauſteuer, die Uebergangs-
abgaben für Bier und die an Stelle dieſer Steuern zu entrichten-
den Averſa der Exklaven 3).
6. Da bei dem Kriege mit Frankreich der Norddeutſche Bund
und Südheſſen eine einheitliche kriegführende Macht bildeten, ſo
beſtand ſowohl hinſichtlich der Koſten der Kriegführung als hin-
ſichtlich des Antheils an der von Frankreich gezahlten Kriegskoſten-
4)
[325]§. 121. Die Ausgaben.
Entſchädigung eine Gemeinſchaft zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde
und Südheſſen, welche bis in die Gegenwart inſoweit ihre Wir-
kungen erſtreckte, als noch Fonds, welche aus der Kriegskoſten-
Entſchädigung ſtammten, zur Realiſirung und Verwendung kommen 1).
7. Aus dem Beſtehen dieſer verſchiedenen Gemeinſchaften er-
gibt ſich als nothwendige Folge, daß auch die etwaigen Ueber-
ſchüſſe der Vorjahre, welche nach Art. 70 der R.V. zur Beſtrei-
tung der gemeinſchaftlichen Ausgaben dienen, nicht gleichmäßig allen
Bundesſtaaten zu gute kommen. Es iſt vielmehr zu unterſcheiden,
aus welcher Quelle die Ueberſchüſſe ſtammen; Einnahme-Ueber-
ſchüſſe an Branntwein- und Brauſteuer gebühren ausſchließlich den
Staaten der Branntwein- und Brauſteuergemeinſchaft; an Einnahme-
Ueberſchüſſen der Reichspoſtverwaltung haben Bayern und Würt-
temberg keinen Antheil. Dieſelbe Unterſcheidung iſt bei denjenigen
Ueberſchüſſen zu machen, welche durch Minderausgaben entſtehen.
§ 121. Die Ausgaben.
Im Allgemeinen gilt der Grundſatz, daß die Ausgaben des
Reiches von ſämmtlichen Staaten gemeinſam getragen werden, da
die Thätigkeit des Reichs im Geſammtintereſſe aller ſeiner Mit-
glieder erfolgt. Nur ſoweit für einen einzelnen Zweig dieſer Auf-
gabe die Fürſorge des Reiches für ein beſtimmtes Staatsgebiet
ausgeſchloſſen und die Territorial-Staatsgewalt an die Stelle ge-
ſetzt iſt, ſcheidet die letztere auch aus der Gemeinſchaft der Aus-
gaben aus, welche für dieſen Zweck verwendet werden. Da eine
derartige Exemtion eines Bundesmitgliedes aber immer eine Aus-
nahme von der Regel bildet, die durch einen beſonderen Rechtsſatz
oder durch beſondere thatſächliche Verhältniſſe begründet ſein muß,
ſo iſt es nicht erforderlich, alle diejenigen Ausgaben des Reiches
aufzuzählen, welche allen Mitgliedern gemeinſam ſind, ſondern es
genügt, diejenigen Ausgaben zu erörtern, an welchen nicht ſämmt-
liche Mitglieder des Reiches gleichmäßig participiren. Einige der-
ſelben ſind ſeit der Gründung des Reiches durch die Einführung
der meiſten norddeutſchen Bundesgeſetze in den ſüddeutſchen Staaten,
durch die Uebernahme der vom Norddeutſchen Bunde bewilligten
[326]§. 121. Die Ausgaben.
Subventionen, Penſionen und Entſchädigungen auf gemeinſame
Reichskoſten und durch die Tilgung der Norddeutſchen Bundes-
Anleihe fortgefallen. Gegenwärtig ſind die folgenden Ausgaben-
Ungleichheiten unter den einzelnen Mitgliedern des Reiches vor-
handen:
1. Die Koſten des Bundesamtes für das Heimaths-
weſen treffen Bayern und Elſaß-Lothringen nicht
mit, da das Geſetz des Norddeutſchen Bundes vom 6. Juni 1870
über den Unterſtützungswohnſitz in Bayern 1) und Elſaß-Lothringen
nicht eingeführt iſt.
2. Die Koſten des Eiſenbahnamtes werden nur zu
10% von der Geſammtheit aller Staaten getragen; an den übrigen
90% hat Bayern keinen Antheil, da gemäß Art. 46 Abſ. 2
der R.V. die Thätigkeit dieſer Reichsbehörde Bayern gegenüber
im Weſentlichen ausgeſchloſſen iſt 2).
3. Die Koſten für die Kontrole der Branntwein-
und Bierſteuer und der Uebergangsabgaben von Branntwein
und Bier werden von Bayern, Württemberg, Baden
und Elſaß-Lothringen nicht mitgetragen.
4. An den Koſten der Poſt- und Telegraphenver-
waltung ſind Bayern und Württemberg nur mit einem
Beitrage zu den Ausgaben für die Centralverwaltung betheiligt 3).
5. Die Thätigkeit des Rechnungshofes hat für die ver-
ſchiedenen Theile des Reiches eine ſehr verſchiedene Ausdehnung,
theils wegen der Selbſtſtändigkeit der Bayeriſchen Militärverwaltung
und der Bayeriſchen und Württembergiſchen Poſt- und Telegraphen-
verwaltung, theils wegen des Ausſchluſſes der Süddeutſchen Staaten
von der Getränkeſteuer-Gemeinſchaft, endlich wegen der ihm ob-
liegenden Prüfung ſämmtlicher Rechnungen über die Verwaltung
[327]§. 121. Die Ausgaben.
von Elſaß-Lothringen 1). In Folge deſſen vertheilen ſich auch die
Koſten des Rechnungshofes in verſchiedener Weiſe:
a.Elſaß-Lothringen trägt zu den Geſammtausgaben
mit einem Averſalbetrage bei, welcher die Koſten für die Kontrole
des Landeshaushaltes deckt 2).
b. Im Uebrigen werden die Ausgaben für den Rechnungshof
in der Art vertheilt, daß
- 30 Procent von der Geſammtheit aller Staaten,
- 51 Procent von allen Staaten mit Ausnahme Bayerns,
- 19 Procent von allen Staaten außer Bayern und Württemberg
getragen werden.
6. In dem Etat des Reichsſchatzamtes findet ſich ein
Beitrag zu den Ausgaben des Preußiſchen Civil-Kabinets; da ſich
die Thätigkeit dieſer Behörde in Reichsſachen aber zum großen
Theil auf elſaß-lothringiſche Angelegenheit bezieht, ſo iſt vereinbart
worden, daß die Hälfte dieſes Beitrages der Reichskaſſe aus elſaß-
lothringiſchen Landesfonds erſtattet wird 3).
7. Die gleichmäßige Vertheilung der Koſten für die Reichs-
geſandtſchaften auf die einzelnen Staaten iſt in dreifacher
Weiſe modificirt:
a. Das dem Reiche zuſtehende Geſandtſchaftsrecht ſchließt nicht
aus, daß nicht auch die Einzelſtaaten Geſandtſchaften zur Beſorgung
ihrer ſpeciellen Landesangelegenheiten halten 4). Da, wo ein Ein-
zelſtaat von dieſer Befugniß Gebrauch macht, wird den Reichsge-
ſandtſchaften ein Theil ihrer Geſchäftslaſt abgenommen und es
erſcheint deshalb unbillig, daß ein Staat, welcher eine Landesge-
ſandtſchaft unterhält, an den Koſten, welche die an demſelben Orte
beſtehende Reichsgeſandtſchaft verurſacht, mit ſeinem vollen matri-
kularmäßigen Antheile participirt. Man hat ſich demgemäß bei
[328]§. 121. Die Ausgaben.
Feſtſtellung des Reichshaushaltsetats für 1871 dahin geeinigt, jedem
Staate, welcher Landesgeſandtſchaften unterhält, die Hälfte ſeines
Matrikularbeitrages zu den jährlichen Beſoldungsausgaben für die-
jenigen Bundesgeſandtſchaften, an deren Sitze ſich eine Landesge-
ſandtſchaft des betreffenden Staates befindet, zu erlaſſen 1). Da
dieſe Nachläſſe auf Koſten ſämmtlicher Bundesſtaaten gewährt
werden, ſo iſt zunächſt ihr Geſammtbetrag den von der Gemein-
ſchaft zu tragenden Ausgaben hinzuzurechnen, von der hieraus ſich
ergebenden Summe der matrikularmäßige Antheil der einzelnen
Staaten zu ermitteln und von dieſem Antheil dann den Landes-
geſandtſchaften unterhaltenden Staaten der ihnen zukommende Nach-
laß in Abzug zu bringen 2).
b)Bayern iſt in dem Schlußprotokoll zu dem Vertrage
vom 23. Nov. 1870, betr. den Beitritt Bayerns zum Deutſchen
Bunde im Art. VII. die Zuſicherung ertheilt worden, daß die
Königlich Bayeriſchen Geſandten an den Höfen, an welchen ſolche
beglaubigt ſind, vom Kaiſer Vollmacht erhalten werden, die Reichs-
geſandten in Verhinderungsfällen zu vertreten, wogegen Bayern
zugeſichert hat, „daß die Bayeriſchen Geſandten angewieſen ſein
würden, in allen Fällen, in welchen dies zur Geltendmachung
allgemein Deutſcher Intereſſen erforderlich oder von Nutzen ſein
wird, den Bundesgeſandten ihre Beihülfe zu leiſten“. Im An-
ſchluß hieran beſtimmt der Art. VIII. deſſelben Protokolls, daß
in Anbetracht dieſer Leiſtungen der Bayeriſchen Regierung für den
diplomatiſchen Dienſt und in Erwägung des Umſtandes, daß an
denjenigen Orten, an welchen Bayern eigene Geſandtſchaften unter-
hält, die Vertretung der Bayeriſchen Angelegenheiten den Bundes-
geſandten nicht obliegt, das Reich bei Feſtſtellung der Ausgaben
für den diplomatiſchen Dienſt des Reiches der Bayeriſchen Regie-
rung eine angemeſſene Vergütung in Anrechnung zu bringen habe.
[329]§. 121. Die Ausgaben.
Bei der Aufſtellung des Etats für 1871 hat man die Größe
dieſer Vergütung dahin normirt, daß Bayern der volle matrikular-
mäßige Beitrag zu den Beſoldungs-Ausgaben derjenigen Reichs-
geſandtſchaften, an deren Sitze Bayeriſche Landesgeſandtſchaften
beſtehen, nachgelaſſen wird 1).
c) Preußen andererſeits zahlt dafür, daß die Reichsgeſandt-
ſchaften zugleich die beſonderen Preußiſchen Landesangelegenheiten
beſorgen, dem Reiche eine Averſionalſumme von 90,000 Mark.
8. Der weitaus wichtigſte Unterſchied in der Beitragspflicht
zu den Ausgaben des Reiches betrifft die Verzinſung und eventuell
Rückzahlung der Reichsſchuld. Zwar haftet das ganze Reich
als einheitliches Rechtsſubjekt ſämmtlichen Gläubigern für den
vollen Betrag der Schulden; unter den Mitgliedern des Reiches
aber vertheilen ſich die Leiſtungen, um dieſer Haftung zu genügen,
in ungleicher Weiſe. Ein großer Theil der Anleihen iſt nämlich
für Zwecke der Reichs-Militairverwaltung aufgenommen und trifft
aus dieſem Grunde Bayern nicht mit; ein anderer Theil iſt für
Zwecke der Reichspoſt- und Telegraphen-Verwaltung verwendet
worden und trifft aus dieſem Grunde Bayern und Württemberg
nicht mit. Ganz daſſelbe gilt von den Schatzſcheinen, welche zur
vorübergehenden Verſtärkung der Betriebsfonds der Reichskaſſe
jährlich aufgenommen werden, indem auch von dieſen ein Theil für
die Reichsmilitairverwaltung und ein anderer Theil für die Reichs-
poſtverwaltung verwendet wird 2). Hiernach ergeben ſich in Be-
treff der Reichsſchulden drei Finanzgemeinſchaften: diejenige aller
Bundesſtaaten, diejenige aller Bundesſtaaten außer Bayern und
diejenige aller Bundesſtaaten mit Ausnahme von Bayern und
Württemberg 3).
9. Endlich ergiebt ſich aus den im Vorſtehenden aufgeführten
[330]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
Verſchiedenheiten, daß auch die Deckung eines Deficits, welches
ſich bei der Finanzverwaltung für eine Wirthſchaftsperiode ergeben
hat, nicht gleichmäßig auf alle Bundesſtaaten zu vertheilen iſt,
ſondern daß bei den einzelnen Minder-Einnahmen oder Mehr-
Ausgaben, aus denen der Fehlbetrag hervorgeht, diejenige Finanz-
gemeinſchaft den Ausfall zu decken hat, welche die betreffende
Einnahme oder Ausgabe angeht. Es kommen hier namentlich in
Betracht die Gemeinſchaft der Militair-Ausgaben, die Gemeinſchaft
der Poſt- und Telegraphenverwaltung, die Gemeinſchaft der Brannt-
wein- und Bierſteuer und die 3 Gemeinſchaften der Reichsſchulden.
§. 122. Die Matrikularbeiträge.
I. Die eigenthümliche Disharmonie in der Geſtaltung des
Reichsfinanzweſens, welche ſich daraus ergiebt, daß das Reich wie
jeder andere Staat die ſogen. Finanzhoheit oder Finanzgewalt, ins-
beſondere die Beſteuerung und das Finanzgeſetzgebungsrecht hat, daß
aber die Finanzwirthſchaft des Reiches materiell eine Geſellſchafts-
wirthſchaft iſt, prägt ſich auch an den Matrikularbeiträgen aus.
Sie erſcheinen einerſeits als Steuern, die das Reich alljährlich
den Einzelſtaaten auferlegt, andererſeits als Societäts-
beiträge, welche die Bundesglieder zu leiſten haben. Die
Verpflichtung zu ihrer Entrichtung beruht einerſeits auf dem
formellen Rechtstitel des Reichshaushaltsgeſetzes 1), andererſeits
auf dem materiellen Rechtstitel der Mitgliedſchaft des Reichs-
verbandes und des Antheils an den Reichsausgaben, der, civil-
rechtlich angeſehen, ſie als Societätsobligation qualifiziren würde.
Der formelle Rechtstitel des Etatsgeſetzes begründet die Legitima-
tion des Reichskanzlers, die Zahlung der Beiträge von den Bundes-
regierungen in budgetmäßiger Höhe zu fordern und die ſtaats-
rechtliche Legitimation der Bundesregierungen, die Zahlungen aus
Landesmitteln zu leiſten 2). Erweiſen ſich jedoch die budget-
[331]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
mäßigen Matrikularbeiträge als unzureichend zur Deckung der
Reichsausgaben, ſei es weil die ſogen. eigenen Einnahmen des
Reichs hinter dem budgetmäßigen Anſchlage zurückgeblieben ſind
oder weil die Ausgaben den budgetmäßigen Anſchlag überſtiegen
haben, ſo äußert der materielle Verpflichtungsgrund ſeine rechtliche
Wirkung und es bleibt für die Bundesſtaaten die Verpflichtung
beſtehen, den noch fehlenden Betrag nachzuzahlen. Es gibt in der
Reichswirthſchaft kein wahres Deficit im formalen Sinne des Finanz-
rechts, ſo lange die einzelnen deutſchen Staaten ſolvent ſind, weil
in den Matrikularbeiträgen eine ſubſidiäre und alle Bedürfniſſe
umfaſſende Einnahmequelle von unbeſchränktem Umfange gegeben iſt.
Die Zahlungspflicht der Einzelſtaaten zu nachträglichen Matri-
kularbeiträgen muß aber erſt feſtgeſtellt werden durch Vermittlung
eines Geſetzes, die materielle Zahlungsverpflichtung muß mit der
formellen Fixirung derſelben, wie ſie im Etat erfolgt iſt, durch
Ergänzung oder Abänderung des Etats in Einklang geſetzt, dem
materiellen Verpflichtungsgrund ein formeller zugefügt werden.
Denn theils haben die zur (Etats-) Geſetzgebung berufenen Organe
zu prüfen, ob die Mehrausgaben oder Mindereinnahmen, welche die
nachträgliche Erhöhung der Matrikularbeiträge verurſachen, ſtaats-
rechtlich gerechtfertigt erſcheinen, theils ſteht ihnen die Befugniß
zu, den Mehrbedarf auf andere Art als durch Matrikularbeiträge,
z. B. durch Einführung einer Steuer oder durch Aufnahme einer
Anleihe, zu decken. Daher iſt ein Verſuch des Bundeskanzlers,
im Jahre 1868 Matrikularbeiträge über die Höhe des budget-
mäßigen Betrages hinaus mit Rückſicht auf die materielle Ver-
pflichtung der Einzelſtaaten zur antheilsmäßigen Deckung ſämmt-
licher Ausgaben zu erheben 1), mit Recht als im Widerſpruch mit
der Verfaſſung ſtehend zurückgewieſen worden, und die Einzelregie-
rungen würden nicht einmal ihren Landesvertretungen gegenüber
legitimirt ſein, Matrikularbeiträge über den im Reichsbudget feſt-
geſetzten Etat hinaus an die Reichskaſſe zu zahlen. Uebrigens iſt
die vom Reichstage genehmigte Erhöhung der Matri-
kularbeiträge auf Grund der ſtattgefundenen und ihm mit-
getheilten Mehrausgaben wohl zu unterſcheiden von der Genehmi-
[332]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
gung der Etats-Ueberſchreitungen und außeretatsmäßigen Ausgaben
ſelbſt (vgl. darüber unten). Die Nachweiſung des faktiſchen Finanz-
ergebniſſes hat nur die Bedeutung einer Motivirung für die ander-
weitige Feſtſtellung der Matrikularbeiträge; die letztere ſchließt
aber nicht die ſelbſtſtändige Prüfung der Nothwendigkeit
und Angemeſſenheit der im Etat nicht vorgeſehenen oder nicht in
ausreichender Höhe vorgeſehenen Ausgaben aus 1).
II. Dieſes Nebeneinanderbeſtehen zweier Verpflichtungsgründe
für die Entrichtung der Matrikularbeiträge, eines formellen —
den man als den ſtaatsrechtlichen bezeichnen kann — und eines
materiellen — den man ſich als privatrechtlichen denken kann
— hat die Möglichkeit gegeben, die Matrikularbeiträge formell
beizubehalten auch ohne daß ein materielles Bedürfniß für dieſelben
vorhanden iſt. Dies iſt geſchehen durch den oben bereits erwähnten
§ 8 Abſ. 1 des Reichsgeſetzes vom 15. Juli 1879 2) und durch
das Reichsſtempelgeſetz vom 1. Juli 1881 § 32 3).
Nach den Beſtimmungen des Art. 70 der Reichsverfaſſung
ſollten die Matrikularbeiträge nur dazu dienen, denjenigen Betrag
der gemeinſchaftlichen Ausgaben aufzubringen, welcher nicht gedeckt
werden kann durch die etwaigen Ueberſchüſſe der Vorjahre, durch
die aus den Zöllen, den gemeinſchaftlichen Verbrauchsſteuern und
aus dem Poſt- und Telegraphenweſen fließenden gemeinſchaftlichen
Einnahmen und aus den Erträgen der etwa einzuführenden Reichs-
ſteuern. Im Art. 38 Abſ. 2 der R.V. iſt außerdem ausdrücklich
angeordnet, daß der in die Reichskaſſe fließende Ertrag der Zölle
und Verbrauchsſteuern aus der geſammten von dieſen Finanz-
quellen aufgekommenen Einnahme nach Abzug der dort unter
Z. 1—3 aufgeführten Beträge beſtehe. Nach der Reichsverfaſſung
ſollten daher die Matrikularbeiträge nur ſubſidiär zur Erhe-
bung kommen, d. h. falls der Geſammtbetrag der im Art. 70 auf-
[333]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
geführten Einnahmen nicht ausreichend iſt zur Deckung der Aus-
gaben, und nur proviſoriſch, d. h. „ſo lange Reichsſteuern
nicht eingeführt ſind“. Durch die erwähnten Geſetze ſind dieſe
Grundſätze der Reichsverfaſſung durchbrochen worden.
Das Geſ. vom 15. Juli 1879 § 8 Abſ. 1 beſtimmt:
„Derjenige Ertrag der Zölle und der Tabakſteuer,
welcher die Summe von 130 Mill. Mark in einem Jahr über-
ſteigt, iſt den einzelnen Bundesſtaaten nach Maßgabe der
Bevölkerung, mit welcher ſie zu den Matrikularbeiträgen
herangezogen werden, zu überweiſen.“ …
Es wird alſo nicht der geſammte Ertrag der Zölle und Ver-
brauchsabgaben gemäß Art. 38 und 70 der R.V. zur Beſtreitung
der Bedürfniſſe des Reiches verwendet, ſondern nur eine feſt be-
ſtimmte Summe des Ertrages, ohne Rückſicht, ob dieſelbe zur
Deckung der gemeinſchaftlichen Ausgaben genügt oder nicht.
Uebereinſtimmend hiemit beſtimmt das Geſ. v. 1. Juli 1881 § 32:
„Der Ertrag der Abgaben fließt . . . . in die Reichskaſſe
und iſt den einzelnen Bundesſtaaten nach dem Maßſtabe der
Bevölkerung, mit welcher ſie zu den Matrikularbeiträgen heran-
gezogen werden, zu überweiſen.“
Trotzdem alſo eine Reichsſteuer eingeführt worden iſt, deren Ertrag
„in die Reichskaſſe fließt“, ſo wird der letztere doch nicht gemäß
Art. 70 der R.V. zur Deckung der gemeinſchaftlichen Ausgaben
verwendet, ſondern er fließt nur durch die Reichskaſſe hindurch und
theilt ſich in Arme, die in die Landeskaſſen der Einzelſtaaten ein-
münden.
Die Reichsgeſetze von 1879 und 1881 wollen materiell das
Defizit beſeitigen und in Beziehung auf die Finanzwirthſchaft
an die Stelle der Matrikularbeiträge der Einzelſtaaten Matrikular-
Antheile derſelben an den Ueberſchüſſen des Reichs ſetzen 1); formell
aber haben ſie einerſeits die Beitragspflicht und andererſeits den
Anſpruch auf den Einnahme-Antheil neben einander beſtehen
laſſen, ſo daß beide zu geſonderter rechtlicher Exiſtenz gelangen
und ſich erſt nachträglich durch Kompenſation theilweiſe wieder
aufheben.
[334]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
Für die Finanzwirthſchaft führen daher die in Rede
ſtehenden Vorſchriften der Reichsgeſetze kein anderes praktiſches
Reſultat herbei, als wenn die Matrikularbeiträge abgeſchafft worden
wären und nur die Ueberſchüſſe der „eigenen“ Einnahmen
des Reiches über die Geſammtſumme der Ausgaben zur Verthei-
lung gebracht würden; nur die Abrechnung zwiſchen den Einzel-
ſtaaten und der Reichskaſſe hätte in dieſem Falle eine andere Ge-
ſtalt. Dagegen liegt die Bedeutung der reichsgeſetzlichen Anord-
nungen auf dem Gebiete des Budgetrechts; ſie haben zur
Folge, daß derjenige Betrag, welchen die Einzelſtaaten aus den
ihnen zukommenden Zoll-, Tabakſteuer- und Stempel-Einnahmen
an die Reichskaſſe unter dem Namen von Matrikularbeiträgen
wieder zurückzugeben haben, durch das Etatsgeſetz feſtgeſtellt wer-
den muß 1).
Das Rechtsverhältniß zwiſchen dem Reich und den Einzel-
ſtaaten iſt hierdurch ſehr complizirt worden. Die Einzelſtaaten
erheben die Zölle, die Tabakſteuer und die Stempelſteuer und
werden alſo zunächſt Eigenthümer des in ihren Zoll- und Steuer-
kaſſen eingegangenen Geldes; ſie erheben aber dieſe Abgaben für
gemeinſchaftliche Rechnung der Bundesſtaaten (für die Reichs-
kaſſe) und ſind demnach für den ganzen von ihnen erhobenen
Betrag, abzüglich der Rückvergütungen und Erhebungskoſten, Schuld-
ner des Reichsfiskus. Das Reichsſchatzamt berechnet ſodann nach
dem Geſammterträgniß dieſer Steuern diejenigen Summen, welche
den einzelnen Bundesſtaaten zu überweiſen ſind, und zieht hievon
[335]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
wieder den auf die betreffenden Staaten entfallenden Matrikular-
beitrag ab. Nach dem Reſultat dieſer Hin- und Her-Rechnung
ergibt ſich, welche Beträge der Einzelſtaat an die Reichskaſſe zu
zahlen oder aus ihr zu empfangen hat.
Der Grundſatz aber, daß die geſammten Erträge der
Zölle, Verbrauchsabgaben und Reichsſteuern — nach den verfaſſungs-
mäßigen Abzügen — „in die Reichskaſſe fließen“, wird ſcheinbar
dadurch gewahrt, daß im Etatsgeſetz der volle Ertrag der Zölle,
Tabakſteuer und Stempelabgaben als Einnahme des Reiches
figurirt, daneben aber im Etat des Reichsſchatzamtes als „Ueber-
weiſungen an die Bundesſtaaten“ der veranſchlagte Reinertrag der
Zölle und der Tabakſteuer, ſoweit er die Summe von 130 Mill. Mark
überſteigt, und der veranſchlagte Reinertrag der Stempelabgaben
als Ausgaben des Reiches aufgeführt werden 1).
III. Ueber die Veranſchlagung der Matrikularbeiträge beſtimmt
Art. 70 der R.V., daß dieſelbe nach Maßgabe der Bevöl-
kerung zu erfolgen habe, ohne jedoch darüber eine Erklärung zu
geben, wie die Bevölkerungsziffer feſtgeſtellt werden ſolle. Im
Jahre 1869 beſchloß der Bundesrath des Nordd. Bundes, daß die
„ortsanweſende ſtaatsangehörige Bevölkerung“ der Be-
rechnung der Matrikularbeiträge zu Grunde zu legen ſei 2). Ab-
geſehen von dem Bedenken, ob es ſachlich irgendwie berechtigt iſt,
bei der Vertheilung der Beiträge die Staatsangehörigkeit
der in den Gebieten der Einzelſtaaten ſich aufhaltenden Perſonen
in Betracht zu ziehen 3), iſt durch dieſes Verfahren die Incongruenz
entſtanden, daß bei der Vertheilung der Matrikularbeiträge ein
anderer Maßſtab zur Anwendung kam, wie bei der Abrechnung
unter den Zollvereinsſtaaten. Man hat daher den urſprünglichen
Berechnungsmodus wieder verlaſſen und nach einem im Bundes-
rath zuerſt für das Jahr 1874 getroffenen und ſeitdem alljährlich
erneuerten und vom Reichstage gebilligten Uebereinkommen den
[336]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
Grundſatz zur Anerkennung gebracht, daß die ortsanweſende
Bevölkerung (ohne Rückſicht auf die Staatsangehörigkeit) der Be-
rechnung zu Grunde zu legen ſei 1). Seitdem die Erträge der
Zölle, der Tabakſteuer und der Stempelabgaben mit den Matri-
kularbeiträgen zur Kompenſation kommen, iſt die Zugrundelegung
einer und derſelben Bevölkerungsziffer für beide Vertheilungen
ſelbſtverſtändlich und der Bundesrath hat demgemäß am 28. März
1882 auch mit Rückſicht auf die Ergebniſſe der Volkszählung vom
1. Dezember 1880 den Beſchluß erneuert, daß die definitive Feſt-
ſtellung der Matrikularbeiträge, ebenſo wie die Abrechnung über
die gemeinſamen Zoll- und Steuer-Einnahmen nach Maßgabe der
ortsanweſenden Bevölkerung zu erfolgen habe.
IV. Der von jedem einzelnen Staate zu entrichtende Matri-
kularbeitrag läßt ſich definitiv erſt nach Beendigung des Etatsjahres
feſtſtellen, da er ſich nicht nach den veranſchlagten, ſondern nach
den wirklichen Einnahmen und Ausgaben berechnet. Die von den
einzelnen Staaten im Laufe des Jahres zu machenden Zahlungen,
welche der Reichskanzler gemäß Art. 70 der R.V. bis zur Höhe
des budgetmäßigen Betrages2) einzufordern befugt
iſt, werden gleichſam nur à Conto geleiſtet.
Sowie im Falle eines Deficits eine Nachforderung an die
Einzelſtaaten erfolgen muß, ſo iſt in dem Falle, daß die Einnahmen
die Ausgaben überſteigen, der zu viel erhobene Betrag an Matri-
kularbeiträgen zurückzuzahlen. Um jedoch die Unbequemlichkeiten
und Koſten wiederholter Hin- und Herzahlungen zu vermeiden,
kann ein anderer Weg eingeſchlagen werden, welcher zu demſelben
Reſultate führt; man ſetzt nämlich in den Haushaltsetat des folgen-
den Jahres den etwaigen Fehlbetrag als Ausgabe, den etwaigen
Ueberſchuß als Einnahme des Reiches ein und erhöht, beziehentlich
vermindert, hierdurch um die gleiche Summe den von den Einzel-
[337]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
ſtaaten durch Matrikularbeiträge aufzubringenden Betrag. Hierbei
iſt aber bei der Ausrechnung des auf jeden einzelnen Staat ent-
fallenden Antheils darauf zu achten, daß nicht alle Reichseinnahmen
und ebenſowenig alle Reichsausgaben ſämmtlichen Bundesgliedern
gemeinſam ſind 1); ja es kann der Fall eintreten, daß in einem
und demſelben Wirthſchaftsjahre die budgetmäßige Höhe der Ma-
trikularbeiträge ſich für einige Staaten zu niedrig und für andere
Staaten zu hoch erweist und daß daher die erſteren noch Nach-
zahlungen zu machen haben, während die andern ein Guthaben
auf die für das folgende Jahr zu leiſtenden Matrikularbeiträge
behalten 2).“
V. In Folge der ſozietätsmäßigen Geſtaltung der Finanz-
wirthſchaft des Reiches beſteht zwiſchen der Reichskaſſe und den
Landeshauptkaſſen ein dauerndes Abrechnungsverhältniß. Einer-
ſeits erheben die Staaten für Rechnung des Reiches Einnahmen
an Zöllen, Verbrauchsabgaben, Wechſel- und Stempelſteuern,
Gebühren und anderen Verwaltungsrevenüen, welche nebſt den
Averſen für Zölle und Verbrauchsabgaben, beziehentlich für die
Branntwein- und Bierſteuer, und den Matrikularbeiträgen, ſowie
den etwa aus der Reichskaſſe empfangenen baaren Vorſchüſſen das
Debet der Landeskaſſen bilden; andererſeits leiſten ſie für Rech-
nung des Reiches Ausgaben, insbeſondere diejenigen Staaten,
welche eigene Heeresverwaltung führen; und ſie haben Anſprüche
auf Erſtattung der von ihnen für Rechnung des Reiches geleiſteten
Zahlungen, auf die ihnen zukommenden Antheile an den Brutto-
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 22
[338]§. 122. Die Matrikularbeiträge.
erträgen der Verbrauchsabgaben und Stempelſteuern u. ſ. w. und
auf die ihnen zu überweiſenden Einnahmen der Reichskaſſe. Zur
Nachweiſung dieſes wechſelſeitigen Soll und Haben ſind von den
Landeshauptkaſſen monatliche Abrechnungen aufzuſtellen und
an die Reichshauptkaſſe ſpäteſtens bis zum 15. des nächſtfolgenden
Monats in doppelter Ausfertigung einzuſenden. Demgemäß ſind
ſowohl die Matrikularbeiträge als auch die Averſen jeden Monat
mit einem Zwölftel des budgetmäßig veranſchlagten Betrages in
Rechnung zu ſtellen.
Außerdem ſind Vierteljahresrechnungen anzufertigen, in welchen
nach den im Art. 39 der R.V. enthaltenen Regeln Ueberſichten
über die Einnahmen an Zöllen und Verbrauchsabgaben, ſowie an
Stempelabgaben u. ſ. w. aufgeſtellt werden. Dieſe Ueberſichten
werden auch der Berechnung der an die Einzelſtaaten zu über-
weiſenden Erträge der Zölle und Tabakſteuer zu Grunde gelegt 1).
Die definitive Abrechnung und Ausgleichung des Saldo erfolgt
auf Grund der Jahresrechnungen (ſogen. Finalabſchlüſſe). De-
taillirte Vorſchriften zur Regelung der Abrechnungen zwiſchen der
Reichshauptkaſſe und den Landeskaſſen der Bundesſtaaten ſind am
13. Januar 1872 vom Reichskanzler im Einverſtändniß mit dem
Ausſchuſſe des Bundesrathes für Rechnungsweſen erlaſſen worden 2).
In Folge der Verlegung des Etatsjahres auf den Zeitraum vom
1. April bis zum 31. März ergab ſich die Nothwendigkeit, die
Beſtimmungen über die Abrechnungen zu modifiziren. Die gegen-
wärtig geltenden Vorſchriften ſind vom Bundesraths-Ausſchuß für
das Rechnungsweſen unter Zuſtimmung des Reichskanzlers am
3. April 1878 beſchloſſen worden 3).
[339]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
Vierter Abſchnitt. Das Budgetrecht*).
§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
I. Für die ſtaatsrechtliche Würdigung des Budgetgeſetzes iſt
die oben Bd. II. §§. 56 ff. entwickelte Unterſcheidung der Geſetze
im materiellen und formellen Sinne maßgebend. Nach der daſelbſt
gegebenen Begriffsbeſtimmung des Geſetzes im materiellen Sinne
als der rechtsverbindlichen Anordnung eines Rechtsſatzes ergiebt
es ſich von ſelbſt, daß der Etat kein Geſetz im materiellen Sinne
iſt, da er keine Rechtsſätze enthält. Der Etat iſt eine Rechnung
und zwar nicht über bereits geleiſtete Ausgaben und erhobene
Einnahmen, ſondern über künftig zu erwartende Einnahmen und
Ausgaben; er iſt ein ſogenannter Voranſchlag. Er korreſpon-
dirt mit der nach Ablauf der Wirthſchaftsperiode zu legenden
Rechnung über die wirklichen Einnahmen und Ausgaben. Eine
Rechnung aber enthält keine Regeln, am wenigſten Rechtsregeln,
ſondern Thatſachen; ſie referirt durch kurze, mit Zahlen ver-
ſehene Angaben die bereits erfolgten oder vorherzuſehenden Ein-
nahmen und Ausgaben. Der Etat begründet der Regel nach keine
22*
[340]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
rechtliche Verpflichtung zu Einnahmen oder zu Ausgaben, ſondern
er ſetzt dieſe rechtlichen Verpflichtungen voraus und ſtellt ihre
finanziellen Reſultate lediglich zuſammen.
Jede größere Wirthſchaft erfordert einen Wirthſchaftsplan und
eine Rechnungslegung in gewiſſen regelmäßigen Zeitabſchnitten;
die Aufſtellung eines Voranſchlages gehört demgemäß zu den un-
erläßlichen Erforderniſſen einer geordneten Staatswirthſchaft. Die
Nothwendigkeit der Budget-Aufſtellung iſt nicht die Folge irgend
einer Verfaſſungsform, iſt nichts Charakteriſtiſches der conſtitu-
tionellen Monarchie, iſt keine Errungenſchaft der neueren politiſchen
Entwicklung, ſondern ſie ergiebt ſich aus der Größe und dem Um-
fang der Staatswirthſchaft. Sowie es zu der Sorgfalt jedes
ordentlichen Wirthes gehört, für ein Unternehmen, welches bedeu-
tende Aufwendungen erfordert, einen Voranſchlag zu machen, ſo
hat man auch lange vor Einführung der konſtitutionellen Staats-
form ebenſowohl die Aufſtellung eines Staatshaushalts-Etats als
Voranſchlag für die Koſten der Verwaltung, wie die nachträgliche
Ablegung und Prüfung der Rechnungen als unerläßliche Erforder-
niſſe einer geordneten Staatsverwaltung anerkannt 1).
Weder die Aufſtellung des Etats für einen zukünftigen, noch
die Kontrole der Rechnungen über einen vergangenen Zeitraum
hat daher etwas zu ſchaffen mit der Geſetzgebung als der ſtaat-
lichen Regelung der Rechtsordnung, ſondern gehört lediglich zur
Verwaltung und das Recht, welches die Volksvertretung in
beiden Beziehungen verfaſſungsmäßig hat, indem ihr der Etat zur
Genehmigung, die Staatsrechnungen zur Decharge vorgelegt wer-
den müſſen, charakteriſirt ſich als ein ſehr weſentlicher Antheil an
der Verwaltung und als eine ausgedehnte Kontrole derſelben; durch
dieſelbe wird die Lehre von der Theilung der Gewalten auf das
Entſchiedenſte widerlegt und praktiſch auf einem großen und wich-
tigen Gebiete beſeitigt.
Wenn demnach Art. 69 der R.V. den Satz enthält, „der Reichs-
haushalts-Etat wird durch ein Geſetz feſtgeſtellt“, ſo iſt
der Sinn deſſelben der: „der Reichshaushalts-Etat wird ebenſo
wie ein Geſetz oder im Wege der Geſetzgebung feſtgeſtellt“.
Die praktiſche Bedeutung des Satzes liegt alſo in der Anordnung,
[341]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
daß der Reichshaushalts-Etat nur unter Zuſtimmung des Bundes-
raths und des Reichstags feſtgeſtellt werden kann und daß die
verfaſſungsrechtlichen Regeln über das Zuſtandekommen eines
Reichsgeſetzes auch auf die formelle Behandlung des Reichshaus-
halts-Etats Anwendung finden 1). Dagegen iſt aus den ange-
führten Worten darüber Nichts zu entnehmen, welche materielle
Rechtswirkung der Feſtſtellung des Haushaltsetats zukommt 2).
Aus dem im Art. 69 der R.V. ſanctionirten Prinzip ergiebt
ſich im Einzelnen Folgendes:
1. Zur Feſtſtellung des Etats iſt die Uebereinſtimmung der
Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesraths und des Reichstages erfor-
derlich und ausreichend. Falls jedoch der Etat die beſtehenden
Einrichtungen auf dem Gebiete des Militairweſens, der Kriegs-
marine und der im Art. 35 bezeichneten Abgaben unmittelbar
oder mittelbar verändern oder ihre Aufrechterhaltung unmöglich
machen würde, giebt nach Art. 5 Abſ. 2 der R.V. im Bundes-
rathe die Stimme des Präſidiums den Ausſchlag, wenn ſie ſich
für die Aufrechthaltung der beſtehenden Einrichtungen, alſo für
Verwerfung des Etats ausſpricht 3). Art. 5 Abſ. 2 beſchränkt
ſich nicht auf die Beſeitigung geſetzlicher Anordnungen durch neue
Geſetze, ſondern er ſpricht ganz allgemein von „beſtehenden Ein-
richtungen“, gleichviel ob dieſelben auf Geſetzen oder Verord-
nungen oder Verwaltungsmaßregeln beruhen; andererſeits ſpricht
der Art. 5 Abſ. 2 nur von „Geſetzesvorſchlägen“, nicht von Ver-
waltungsmaßregeln; da aber der Etatsentwurf formell wie ein
Geſetzesvorſchlag zu behandeln iſt, ſo findet die Regel des Art. 5
Abſ. 2 auf ihn Anwendung.
[342]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
Dagegen iſt die Beſtimmung im Art. 7 Abſ. 4 der R.V. auf
die Beſchlußfaſſung des Bundesrathes über den Etat nicht an-
wendbar 1), weil die Regelung des Reichshaushaltsplanes eine allen
Bundesgliedern gemeinſame Angelegenheit iſt, die Feſtſtellung des
Reichshaushalts im Ganzen aber von der Beſchlußfaſſung über
die einzelnen Poſitionen ſich nicht trennen läßt.
2. Art. 78 Abſ. 2 der R.V., wonach diejenigen Vorſchriften
der Reichsverfaſſung, durch welche beſtimmte Rechte einzelner
Bundesſtaaten in deren Verhältniß zur Geſammtheit feſtgeſtellt
ſind, nur mit Zuſtimmung des berechtigten Bundesſtaates abge-
ändert werden können, erſtreckt ſeine Wirkung auch auf die Beſchluß-
faſſung über den Etat. Denn eine Abänderung der Sonderrechte
einzelner Staaten kann auch ohne formelle Aufhebung beſtimmter
Artikel der Verfaſſungsurkunde dadurch eintreten, daß man ſie
thatſächlich nicht berückſichtigt und dazu bietet gerade der Etat
vielfache Gelegenheit. Der verfaſſungsmäßige Schutz der Reſervat-
rechte wäre illuſoriſch, wenn man ſie von Jahr zu Jahr durch
das Etatsgeſetz ohne Zuſtimmung der berechtigten Einzelſtaaten
ſuſpendiren könnte.
3. Das ordnungsmäßig beſchloſſene Etatsgeſetz iſt gemäß
Art. 17 der R.V. vom Kaiſer auszufertigen und zu ver-
kündigen. Es iſt dies das Recht des Kaiſers, zugleich aber
auch ſeine verfaſſungsmäßige Pflicht 2). Die Publikation erfolgt
nach der Vorſchrift im Art. 2 der R.V. vermittelſt des Reichs-
geſetzblattes; das Etatsgeſetz nebſt dem ihm beiliegenden Haus-
halts-Etat muß unverändert in derjenigen Form erfolgen, welche
durch die übereinſtimmenden Beſchlüſſe des Bundesraths und des
Reichstages feſtgeſtellt worden iſt. Die Verantwortlichkeit dafür
trägt der Reichskanzler.
II. Art. 69 der R.V. beſtimmt: „Alle Einnahmen und Aus-
gaben des Reiches müſſen für jedes Jahr veranſchlagt und auf
den Reichshaushalts-Etat gebracht werden“. Hierin ſind folgende
Regeln enthalten:
1. Die Wirthſchaftsperiode des Reiches iſt verfaſſungsmäßig
auf ein Jahr beſtimmt worden; es muß daher für jedes Jahr
[343]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
ein beſonderes Etatsgeſetz feſtgeſtellt werden und daſſelbe muß die
Einnahmen und Ausgaben des ganzen Jahres umfaſſen. Die
Wirthſchaftsperiode des Reiches fiel anfänglich mit dem Kalender-
jahr zuſammen; durch das Reichsgeſetz vom 29. Febr. 1876 1)
wurde jedoch feſtgeſetzt, daß das Etatsjahr für den Reichshaushalt
vom 1. April 1877 ab mit dem 1. April beginnt und mit dem
31. März ſchließt 2).
2. Im Zuſammenhange damit ſteht der Satz des Art. 71
Abſ. 1, daß die gemeinſchaftlichen Ausgaben in der Regel für ein
Jahr bewilligt werden. Aber auch, wenn von der eben daſelbſt
geſtatteten Ausnahme, daß Ausgaben in beſonderen Fällen auch
für eine längere Dauer bewilligt werden können, Gebrauch gemacht
wird, ſind in den Etat jedes Jahres diejenigen Beträge einzu-
ſtellen, welche in dem betreffenden Jahre zur Verwendung kommen
ſollen. Dies gilt namentlich von dem Falle, daß für größere
Bauten oder andere Anlagen Geſammtſummen bewilligt werden,
welche nach und nach im Laufe mehrerer Jahre aufgebraucht wer-
den 3). Denn nach Art. 69 der R.V. müſſen alle Einnahmen
und Ausgaben für jedes Jahr veranſchlagt werden, ſo daß eine
vollſtändige Ueberſicht des geſammten Finanzplanes gewonnen wird.
3. Als Regel ſtellt der Art. 69 die Vorſchrift auf, daß alle
Einnahmen und Ausgaben des Reiches in einem einheitlichen
[344]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
Etat zuſammengeſtellt werden. Die Verfaſſung ſpricht immer nur
von dem Reichshaushalts-Etat, der durch ein Geſetz feſtgeſtellt
wird. Es ſollen alſo nicht die Etats der einzelnen Verwaltungs-
zweige getrennt feſtgeſtellt werden. Indeß iſt die Möglichkeit nicht
ausgeſchloſſen, daß, nachdem der Etat bereits feſtgeſtellt iſt und
bevor das Etatsjahr, auf welches er ſich bezieht, begonnen hat
oder doch wenigſtens zum größten Theil abgelaufen iſt, neue Aus-
gaben ſich als nothwendig erweiſen oder daß neue Einnahmequellen
eröffnet oder alte verſchloſſen werden, z. B. durch Veränderung
der Steuergeſetzgebung. In einem ſolchen Falle iſt der Erlaß eines
oder mehrerer Nachtragsetats durch den Wortlaut des Art. 69,
daß alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Jahr veranſchlagt,
und des Art. 71, daß die gemeinſchaftlichen Ausgaben für ein
Jahr bewilligt werden ſollen, geboten und die Zuläſſigkeit
von Nachtrags-Etats iſt durch die Praxis wiederholt anerkannt
worden 1).
4. Der Art. 69 ſagt: „Der Etat wird vor Beginn des
Etatsjahres feſtgeſtellt“. Es entſpricht dies der Natur des Etats
als Voranſchlags; die Aufſtellung eines Voranſchlags von
Einnahmen und Ausgaben, die bereits thatſächlich erfolgt ſind, iſt
eine contradictio in adjecto. Wenn man den Schwerpunkt der
Bedeutung des Etats in die Genehmigung oder Bewilligung
von Einnahmen oder Ausgaben verlegt, dann iſt ſeine nachträgliche
Feſtſtellung wenigſtens logiſch zuläſſig, wie ja nachträgliche Ge-
nehmigungen von außeretatsmäßigen Ausgaben auch thatſächlich
nicht ſelten vorkommen; wenn man aber die wahre Natur des
Etats in einem Wirthſchafts-Voranſchlage erkennt, dann iſt
ſeine nachträgliche Aufſtellung widerſinnig.
Die angegebenen Worte des Art. 69 ſchreiben einen Termin
vor, bis zu welchem der Etat ſpäteſtens feſtgeſtellt werden
muß; dagegen enthalten ſie keine Vorſchrift darüber, daß der Etat
unmittelbar vor Beginn des Etatsjahres feſtgeſtellt werden
müſſe oder über die in dieſer Hinſicht einzuhaltende Zeitgränze.
Der Natur der Sache nach verbietet ſich nun allerdings die Auf-
ſtellung eines Voranſchlags für eine noch ferne Wirthſchaftsperiode,
und die bisherige Praxis hat ausnahmslos daran feſtgehalten, in
[345]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
jedem Jahre nur den Etat des nächſtfolgenden Jahres feſtzu-
ſtellen; dem Wortlaut der Reichsverf. würde es aber nicht wider-
ſprechen, wenn in einer Sitzungsperiode des Reichstages die Etats
der beiden folgenden Jahre in zwei beſonderen, je ein Etatsjahr
betreffenden Geſetzen feſtgeſtellt würden.
5. Aus den erwähnten Vorſchriften des Art. 69 in Verbindung
mit der Anordnung des Art. 70 Abſ. 1 der R.V., daß die gemein-
ſchaftlichen Ausgaben in der Regel für ein Jahr bewilligt werden,
ergibt ſich der Grundſatz, daß nach dem Ablauf des Etatsjahres
das Budget ſeine Kraft verliert und nicht als Normal-
budget bis zur geſetzlichen Feſtſtellung eines neuen Etats fort-
wirkt. Es iſt ferner das Bewilligungsrecht für alle gemeinſchaft-
lichen Ausgaben anerkannt, ohne daß hinſichtlich des Ordinariums
eine andere ſtaatsrechtliche Behandlung wie hinſichtlich des Extra-
ordinariums vorgeſehen worden iſt 1).
III. Ueber die Form des Etatsgeſetzes enthält die Reichs-
verfaſſung keine Beſtimmung, obwohl nicht verkannt werden kann,
daß dies ein Gegenſtand von ſtaatsrechtlicher Bedeutung iſt. Die
gegenwärtig beobachteten Grundſätze ſind im Anſchluß an das in
Preußen und dem Norddeutſchen Bunde beobachtete Verfahren
durch die Praxis herausgebildet worden. Es ſind folgende Punkte
hervorzuheben:
1. Es iſt zu unterſcheiden zwiſchen dem Geſetz, betreffend
die Feſtſtellung des Haushalts-Etats, und dem Etat ſelbſt, welcher
[346]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
als Anlage beigefügt iſt. Das Geſetz kann materiell inhaltlos ſein
und ſich darauf beſchränken, zu conſtatiren, daß der Etat in Aus-
gabe und Einnahme auf ſo und ſo viel Mark feſtgeſtellt iſt, wobei
herkömmlicher Weiſe die Summen der fortdauernden und der ein-
maligen und außerordentlichen Ausgaben getrennt angegeben werden.
Es kann das Geſetz aber überdies Anordnungen enthalten, welche
mit der Finanzwirthſchaft und der Ordnung des Reichshaushalts
in Zuſammenhang ſtehen, z. B. die Ermächtigung zur Contrahirung
von Anleihen 1), zur Verwendung von Reichsvermögen, zur Er-
hebung oder Nichterhebung von Einnahmen u. dergl.
2. Der Etat ſelbſt beſteht aus zwei Hauptabtheilungen, Aus-
gabe und Einnahme. Der Ausgaben-Etat zerfällt wieder in zwei
Theile, „Fortdauernde Ausgaben“ und „Einmalige Ausgaben“,
und bei den letzteren findet ſich hin und wieder 2) die Scheidung
in den ordentlichen und außerordentlichen Etat. Die einmaligen
Ausgaben des ordentlichen Etats ſind ſolche, welche aus den regu-
lären Einnahmen des Reichs gedeckt werden; die einmaligen Aus-
gaben des außerordentlichen Etats dagegen werden aus den Be-
ſtänden gewiſſer Spezialfonds (Feſtungsbaufonds, Eiſenbahnbau-
fonds u. ſ. w.) oder aus den Erträgen der Reichsanleihen
gedeckt 3).
Die Ausgaben ſind nach den Centralverwaltungsbehörden,
die Einnahmen nach den Einnahmequellen gruppirt und nach Ka-
piteln und Titeln zuſammengefaßt. In der Geſtalt, in welcher
der Etat in dem Reichsgeſetzblatt verkündet wird, ſind die Summen
und Bezeichnungen der einzelnen Kapitel und die Anzahl
der Titel, in welches jedes Kapitel zerlegt iſt, angegeben, was für
die Rechnungslegung und Kontrole der Finanzverwaltung von
Belang iſt.
Der Einnahme-Etat iſt ein ſogen. Netto-Etat, d. h. die Ein-
nahmen werden mit demjenigen Betrage angeſetzt, welcher der
Reichskaſſe nach Abzug der Koſten und der den Einzelſtaaten zu
[347]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
gewährenden Antheile als reiner Ueberſchuß verbleibt 1). Jedoch
wird vor der Linie die Brutto-Einnahme und die Ausgabe ange-
geben und die Differenz in der Hauptkolonne ausgeworfen.
3. Eine von den Etats der übrigen Verwaltungen abweichende
Geſtalt hat der Militär-Etat, theils wegen der Sonder-
ſtellung Bayerns, theils weil das Reich das Heerweſen nicht ſelbſt
verwaltet 2). Hinſichtlich Bayerns kommt bei der Aufſtellung dieſes
Etats die Beſtimmung des Bündnißvertrages vom 23. Nov. 1870
III. § 5 Ziff. II. zur Anwendung, wonach der Geldbetrag, welcher
für das Bayeriſche Contingent zu verwenden iſt, im Reichsbudget
in einer Summe ausgeworfen wird, während die Aufſtellung der
Spezial-Etats Bayern überlaſſen bleibt 3). Die Frage nach der
Form, in welcher dieſe Spezial-Etats in Bayern feſtgeſtellt werden
und welchen Antheil die Bayeriſche Landesvertretung dabei hat,
iſt nach dem partikulären Staatsrecht Bayerns zu beurtheilen 4).
Materiell aber iſt ſowohl die Bayeriſche Regierung wie die Baye-
riſche Landesvertretung verpflichtet, bei der Feſtſtellung dieſer Spezial-
Etats die Anſätze des Reichs-Etats nach Verhältniß zur Richtſchnur
zu nehmen, woraus ſich von ſelbſt die Nothwendigkeit ergibt, auch
hinſichtlich der Form, der Eintheilung in Kapitel und Titel u. ſ. w.
an den Reichsetat ſich anzulehnen. Für die Berechnung der auf
Bayern entfallenden Geſammtſumme ſind zu berückſichtigen die fort-
dauernden Ausgaben für das Reichsheer, die einmaligen Ausgaben
des „ordentlichen Etats“ für das Reichsheer und die Ausgaben
des allgemeinen Penſionsfonds für die Verwaltung des Reichsheeres.
Derſelbe Grundſatz der antheilmäßigen Berechnung der auf Bayern
kommenden Summe findet auch Anwendung auf gewiſſe, aus dem
Invalidenfonds zu beſtreitende Ausgaben 5).
Für die übrigen Kontingente ſteht die Aufſtellung der Spezial-
[348]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
Etats dem Reiche zu und zwar werden für die drei Staaten mit
eigener Militärverwaltung (Preußen, Sachſen, Württemberg) die
Ausgaben bei den einzelnen Titeln in Parallel-Colonnen aufgeführt.
4. Die Matrikularbeiträge werden mit dem anſchlagsmäßigen
Netto-Betrage, den jeder einzelne Staat zu zahlen hat, im Budget
aufgeführt, ſo daß die verwickelte Rechnung, durch welche die von
jedem Staate zu zahlende Summe ermittelt werden muß, im Etats-
geſetz ſelbſt nicht bemerkbar wird.
5. Eine beſondere Beilage zum Reichshaushalts-Etat bildet
der Beſoldungs- und Penſions-Etat des Reichsbank-Direktoriums.
Derſelbe wird zwar im Wege der Reichsgeſetzgebung feſtgeſtellt,
die Ausgaben erfolgen aber aus den Mitteln der Reichsbank 1).
IV. Die Reichsverf. Art. 71 ſtellt zwar ganz allgemein die
Regel auf, daß die gemeinſchaftlichen Ausgaben alljährlich bewil-
ligt werden, aber ſie normirt die wichtige Frage nicht, inwieweit
die Bewilligung von Ausgaben res merae voluntatis und wieweit
ſie ſtaatsrechtliche Pflicht des Reichstages ſei, oder mit
andern Worten, welche Ausgaben die Reichsregierung nur leiſten
dürfe, wenn Bundesrath und Reichstag ſie übereinſtimmend geneh-
migt haben und welche Ausgaben ſtaatsrechtlich nicht verweigert
werden dürfen. Hält man den oberſten Grundſatz des conſtitutio-
nellen Staatsrechts feſt, daß das beſtehende Recht und die rechtlich
begründeten Inſtitutionen des Staats nur unter Uebereinſtimmung
von Souverain und Volksvertretung, nicht einſeitig von einem dieſer
beiden Organe verändert werden dürfen, ſo ergibt ſich als unab-
weisliche Conſequenz, daß der Reichstag nicht einſeitig die beſtehen-
den Geſetze durch Verweigerung der zu ihrer Ausführung noth-
wendigen Mittel ſuspendiren oder aufheben kann, daß es nicht
alljährlich in ſein Belieben geſtellt ſein kann, die Fortgeltung der
Reichsgeſetze und die Fortdauer der Reichsinſtitute zu genehmigen
oder zu unterdrücken 2). Es folgt demgemäß aus dieſem Princip
[349]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
der Rechtsſatz, daß das Ausgabenbewilligungsrecht des Reichstages
durch die beſtehenden Reichsgeſetze und Inſtitutionen gebunden und
beſchränkt iſt und daß Ausgaben, welche zur Durchführung und
Aufrechthaltung derſelben erforderlich ſind, von ihm nicht verweigert
werden dürfen. Dieſer Rechtsſatz iſt auch in einer ſpeciellen Be-
ziehung durch die Reichsverf. ausdrücklich ſanctionirt worden, näm-
lich durch Art. 62 Abſ. 4:
„Bei der Feſtſtellung der Militär-Ausgabe-Etats wird die
auf Grundlage dieſer Verfaſſung geſetzlich feſtſtehende Organi-
ſation des Reichsheeres zu Grunde gelegt.“
Es iſt dies keine Ausnahmebeſtimmung zu Gunſten des
Militär-Etats, ſo daß bei der Feſtſtellung der übrigen Ausgaben-
Etats die geſetzlich feſtſtehende Organiſation der Reichsinſtitutionen
unberückſichtigt bleiben könnte, ſondern es iſt nur für den praktiſch
wichtigſten, politiſch und finanziell hervorragendſten Theil des Etats
das allgemeine Princip exemplificirt worden.
Der Etat iſt nicht ein Organiſationsgeſetz des ganzen Reiches
für je ein Jahr, ſondern ein Wirthſchaftsplan; er ſetzt alſo eine
geſetzlich feſtſtehende Organiſation als feſte Grundlage voraus.
Die Ausgaben zerfallen mithin hinſichtlich des Bewilligungs-
rechts des Reichstages in zwei Kategorien, die man etwa als
willkürliche und nothwendige im ſtaatsrechtlichen Sinne
bezeichnen kann.
Die erſteren dürfen von dem Reichstage nach Belieben ver-
weigert werden, und ihre Genehmigung hat den Charakter einer
wirklichen Bewilligung, ohne welche die Reichsregierung zur Leiſtung
dieſer Ausgaben überhaupt nicht ermächtigt iſt.
Die andern dürfen nicht ohne Zuſtimmung des Bundesraths
oder des berechtigten Gläubigers vom Reichstag verweigert werden.
Ihre Bewilligung iſt eine ſtaatsrechtliche Pflicht des Reichstags
2)
[350]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
und hat nicht den Charakter einer Zahlungsermächtigung für die
Regierung, ſondern eines Anerkenntniſſes der Nothwendig-
keit oder Angemeſſenheit der Ausgabe. Der eigentliche Rechtsgrund
derſelben iſt unabhängig vom Etat in Reichsgeſetzen oder Verträgen
gegeben. Formell unterliegen zwar auch alle dieſe Ausgaben der
Bewilligung des Reichstages, materiell aber iſt dieſe Bewilligung
keine wahre Bewilligung, weil der Reichstag nicht befugt iſt, ſie
zu verſagen.
Was die Einnahmen des Reiches anlangt, ſo ſpricht die
Reichsverfaſſung von einer Bewilligung derſelben ſeitens des
Reichstages oder durch das Etatsgeſetz nicht. Die Einnahmen
des Reiches beruhen vielmehr auf dauernden, einer jährlichen Ge-
nehmigung nicht bedürftigen geſetzlichen Titeln. Die Einnahmen
aus den Gebühren, die für die Reichskaſſe erhoben werden, aus
den Stempelſteuern, aus den Zöllen und Verbrauchsſteuern, aus
den Reichs-Eiſenbahnen, aus dem Reingewinn der Reichsbank, die
Zinſen aus belegten Reichsfonds u. ſ. w. fließen in die Reichskaſſe,
ohne daß die Anſätze des Etats von irgend welcher Bedeutung
ſind. Die letzteren haben ausſchließlich den Charakter finanzwiſſen-
ſchaftlicher und kalkulatoriſcher Schätzungen. Abgeſehen von dieſen
Einnahmen aber ſind folgende Rechtsſätze aufzuſtellen:
1. Neue Einnahmequellen, für welche der Reichsregierung
in den bisherigen Geſetzen ein Rechtstitel nicht gegeben war, können
nur unter Zuſtimmung des Reichstages eingeführt werden, gleich-
viel ob die Einnahme eine dauernde oder einmalige iſt.
2. Die Regierung kann ſich Einnahmen durch Contrahirung
von Anleihen, gleichviel ob die letzteren als fundirte Schuld oder
in Form von Schatzanweiſungen emittirt werden, nur verſchaffen, wenn
ſie durch ein Reichsgeſetz dazu ermächtigt worden iſt. R.V. Art. 73.
3. Die Regierung kann ſich nicht ohne Zuſtimmung des Reichs-
tages durch Veräußerung oder Verwendung von Reichsfinanz-
vermögen Einnahmen verſchaffen. Wenigſtens iſt bei der Ver-
wendung der franzöſiſchen Kriegsentſchädigung dieſer Grundſatz un-
beſtritten und allſeitig anerkannt und wiederholt befolgt worden.
Soweit durch Reichsgeſetze Theile dieſer Entſchädigungsgelder be-
ſtimmten Zwecken zugewieſen worden ſind, können ſie nicht einſeitig
von der Reichsregierung dieſen Zwecken entzogen und anderweitig
verwendet werden; eine ſpezielle Beſtätigung hat dieſer Grundſatz
[351]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
hinſichtlich der Aktivbeſtände des Invalidenfonds durch das R.G.
v. 23. Mai 1873 § 15 (R.G.Bl. S. 122) erhalten 1), und auch
bei den übrigen, zum werbenden Vermögen des Reiches gehörenden
Fonds oder Betriebsanſtalten ergibt ſich aus der in der Form des
Geſetzes fixirten Zweckbeſtimmung derſelben, daß die Regierung
nicht befugt iſt, ſie zu einem andern Zwecke zu verwenden, wenn
ſie nicht in der Form des Geſetzes hiezu ermächtigt wird.
4. Hinſichtlich des Verwaltungsvermögens beſteht
zwar kein Rechtsſatz, wonach die Veräußerung von unbrauchbar
oder entbehrlich gewordenen Objekten an die Genehmigung des
Bundesrathes und Reichstages gebunden wäre. Aber die Reichs-
regierung kann die Einnahmen aus Veräußerungen ſolcher Gegen-
ſtände nicht zur Beſtreitung von Ausgaben verwenden, welche nicht
im Reichshaushalts-Etat aufgeführt ſind, ſondern muß ſie im Etat
als Einnahmen einſtellen. Dieſer Grundſatz iſt zuerſt für einen
beſonderen Anwendungsfall durch das R.G., betreffend die franzöſ.
Kriegskoſten-Entſchädigung, vom 8. Juli 1872 Art. IV. (R.G.Bl.
S. 290) zur Anerkennung gebracht worden, indem daſelbſt beſtimmt
wurde:
„Die Einnahmen aus der Veräußerung der entbehrlich
werdenden Feſtungsgrundſtücke oder ſolcher Grund-
ſtücke, welche nach der Wiederherſtellung und Vervollſtändigung
der Feſtungen im Beſitze der Militärverwaltung verbleiben,
oder welche aus Reichsmitteln in Gemäßheit dieſes Geſetzes
erworben werden, dürfen nur unter Genehmigung
des Bundesrathes und des Reichstages ver-
ausgabt werden und ſind, ſofern dieſe Genehmigung
nicht anderweitig erfolgt iſt, in dem nächſten Reichshaushalts-
Etat in die zur Deckung der gemeinſchaftlichen Ausgaben be-
ſtimmten Einnahmen einzuſtellen.“
Eine generelle und ganz umfaſſende Regelung hat dieſer Punkt
aber durch die §§ 10—12 des Reichsgeſetzes vom 25. Mai 1873
(R.G.Bl. S. 115) erhalten 2). Gemäß der im Art. 69 der R.V.
enthaltenen Regel iſt im § 10 a. a. O. angeordnet worden, „daß
alle Einnahmen aus der Veräußerung von Grundſtücken, Materia-
lien, Utenſilien oder ſonſtigen Gegenſtänden, welche ſich im Beſitz
[352]§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.
der Reichsverwaltung befinden, für jedes Jahr veran-
ſchlagt und auf den Reichshaushalts-Etat ge-
bracht werden müſſen.“
Dieſe Beſtimmung dient zunächſt dem Zweck, daß der Etat
eine vollſtändige Ueberſicht der zu erwartenden Einnahmen
liefern ſoll, und ſie ſchneidet der Regierung eine außeretatsmäßige
Einnahme, über deren Verwendung keine Verfügung getroffen iſt,
ab; ſie gibt aber zugleich dem Bundesrathe und dem Reichstage
die Befugniß, die in Ausſicht genommenen Veräußerungen zu
prüfen und zwar nicht blos in der Beziehung, ob die daraus zu
erwartenden Einnahmen richtig veranſchlagt ſind, ſondern auch hin-
ſichtlich der Zuläſſigkeit der Veräußerungen ſelbſt. Hieraus ergibt
ſich das Recht des Bundesrathes und des Reichstages, die Ver-
äußerungen von Verwaltungseigenthum des Reiches zu geneh-
migen, beziehentlich zu unterſagen. Dem entſprechend be-
dürfen auch die Ueberſchreitungen ſolcher Einnahme-Etats und
außeretatsmäßige Einnahmen aus der Veräußerung der erwähnten
Gegenſtände der nachträglichen Genehmigung des Bundesrathes
und des Reichstages.
Hinſichtlich der im Beſitz der Reichsverwaltung befindlichen
Grundſtücke iſt insbeſondere (§ 11 a. a. O.) angeordnet wor-
den, daß Einnahmen aus der Veräußerung derſelben nur unter
Genehmigung des Bundesrathes und des Reichstages verausgabt
werden dürfen und daß ſolche Einnahmen, ſofern dieſe Genehmigung
nicht anderweitig erfolgt iſt, im nächſten Reichshaushalts-Etat ein-
ſtellen ſind. Von dieſer Regel iſt auch für den Fall keine Aus-
nahme gemacht, daß der Erlös aus dem Verkaufe eines Grund-
ſtücks ganz oder theilweiſe dazu beſtimmt iſt, ein anderes Grund-
ſtück zu erwerben oder eine andere Baulichkeit zum Erſatz herzu-
ſtellen.
5. Soweit durch die im Vorſtehenden erwähnten ordentlichen
und außerordentlichen Einnahmen für die etatsmäßigen Ausgaben
genügende Deckungsmittel nicht gegeben werden, muß der Reichstag
Matrikularbeiträge bewilligen. Die Reichsregierung braucht ſich
einen Etat, der nicht balancirt, ſondern mit einem Deficit abſchließt,
nicht gefallen zu laſſen. Der Art. 70 ſchreibt ganz kategoriſch vor,
daß die Differenz zwiſchen den Einnahmen und Ausgaben des
Reiches durch Beiträge der einzelnen Bundesſtaaten nach Maßgabe
[353]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
ihrer Bevölkerung aufzubringen iſt, und da nach Art. 69 alle
Einnahmen des Reiches auf den Reichshaushalts-Etat gebracht
werden müſſen, ſo können Reichstag und Bundesrath ſich der budget-
mäßigen Feſtſetzung der Matrikularbeiträge in Höhe jener Differenz
nicht entziehen. Es iſt dies deshalb von Wichtigkeit, weil der
Reichskanzler nicht nach Maßgabe des Bedürfniſſes, ſondern nur
bis zur Höhe des budgetmäßigen Betrages die Matrikularbeiträge
einzuziehen befugt iſt. (Art. 70 a. E.) 1).
§ 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes*).
Die Reichsverfaſſung enthält ſo wenig wie die Preußiſche
Verfaſſungs-Urkunde eine Andeutung darüber, welche rechtlichen
Wirkungen dem geſetzlich feſtgeſtellten Haushalts-Etat zukommen.
Dieſelben ſind daher auf wiſſenſchaftlichem Wege aus der juriſtiſchen
Natur des Etats herzuleiten. Hier treten nun die praktiſchen
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 23
[354]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
Konſequenzen des Satzes, daß der Etat, obgleich er formell in der-
ſelben Art wie ein Geſetz feſtgeſtellt wird, dennoch materiell kein
Geſetz, ſondern ein Wirthſchaftsplan iſt, zu Tage. Der Etat ent-
hält keine Rechtsregel, keinen Befehl und kein Verbot, ſondern
nur Zahlen, von höchſt verſchiedenartiger Bedeutung, welche nur
in dem einen Punkt mit einander zuſammenhängen, daß ſie die
Finanzwirthſchaft des Reichs betreffen und in ihrer Geſammtheit
dieſelbe darſtellen. Es iſt daher auch zu unterſcheiden zwiſchen den
Wirkungen, welche der Haushalts-Etat als Ganzes hat, und welche
ſich an die einzelnen Poſitionen knüpfen.
I. Der Reichshaushalts-Etat als Ganzes iſt das von den
höchſten Organen der Reichsgewalt feſtgeſtellte Programm der
Reichsverwaltung. Seine Bedeutung reicht über die Sphäre
des Finanzweſens weit hinaus. Die wirthſchaftliche Ordnung des
Staatshaushalts könnte auch erreicht werden, wenn man für jeden
Verwaltungszweig der Regierung ein Pauſchquantum zuwieſe oder
gar in einer einzigen Geſammtſumme die Geldmittel, welche der
Regierung zur Verfügung geſtellt werden ſollen, bewilligte; ſolche,
nach dem Belieben der Regierung zu verwendende Pauſchſummen
ſind aber weit davon entfernt, ein Budget zu bilden. Bei der
Aufſtellung des Haushalts-Etats iſt die Tendenz nicht lediglich auf
die finanzielle Ordnung gerichtet; die Prüfung beſchränkt ſich
nicht darauf, ob die Einnahmen es geſtatten, gewiſſe Ausgaben
zu leiſten, ſondern die Verwaltungsbedürfniſſe ſelbſt werden nach
ſachlichen Geſichtspunkten geprüft und controlirt, die Nothwendig-
keit oder Nützlichkeit der Ausgaben wird anerkannt oder verneint
nach Maßgabe der beſtehenden Geſetze und Einrichtungen und der
dem Staat (Reiche) obliegenden Aufgaben, und erſt in zweiter
Linie tritt die Sorge, Ausgaben und Einnahmen im Gleichgewicht
zu erhalten, hinzu. Der Etat bildet daher für die Verwaltung
die Richtſchnur, welche ſie, ſoweit es von ihrem Willen
abhängt, befolgen muß. Daher iſt der Etat als Ganzes bei
der Rechnungslegung nach Vollendung des Geſchäftsjahres zu Grunde
zu legen und zwar auch nicht blos in finanzieller Beziehung, ſon-
dern ganz allgemein zum Zweck der Kontrole der Verwaltung
Seitens des Reichstags und Bundesraths. Die Regierung kommt
nicht mit dem Nachweiſe durch, daß ſie nicht mehr als die etats-
mäßige Geſammtſumme verausgabt habe, oder daß die von ihr
[355]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
geleiſteten Ausgaben in den erhobenen Einnahmen ausreichende
Deckung finden, ſondern ſie muß darlegen, daß ſie die Verwaltung
dem ihr vorgeſchriebenen Programm gemäß geführt habe, und ſie
muß alle Abweichungen davon, auch Mehreinnahmen und Minder-
ausgaben, unter Angabe der Gründe nachweiſen.
II. Niemals aber kann der Etat in dem Sinne feſtgeſtellt
werden, daß Abweichungen von ihm überhaupt nicht vorkommen
dürften 1). Da er ſich auf die Zukunft bezieht, ſo kann ſeine Feſt-
ſtellung nur mit demjenigen Grade der Sicherheit erfolgen, mit
welchem man die Zukunft vorher ſehen und vorher beſtimmen kann.
Gerade in finanzieller Hinſicht iſt ſeine bindende Kraft am geringſten,
da die Höhe der Ausgaben und Einnahmen zum großen Theil von
thatſächlichen Verhältniſſen bedingt iſt, die theils nicht vom freien
Willen abhängen, theils nicht mit Sicherheit vorher erkannt werden
können 2). Aber auch die materiellen Gründe und Zwecke der
Ausgaben laſſen ſich nicht mit abſoluter Sicherheit vorher fixiren.
Der Etat ſoll keine Schablone ſein, in welche die Verwaltung
durchaus gepreßt werden muß, ſondern eben nur ein der Verwal-
tung vorgezeichnetes Programm. Endlich normirt der Etat die
Finanzwirthſchaft für ein Jahr, während die faktiſche Erhebung
von Einnahmen und Leiſtung von Ausgaben ſich an dieſe Friſt
nicht binden läßt. Es ergibt ſich demnach, daß Abweichungen
von demſelben vorkommen können, von rein finanzieller oder quan-
titaver Natur, ferner von materieller oder qualitativer Art, endlich
in temporärer Beziehung.
1. Die finanziellen oder quantitativen Abwei-
chungen ſind Minder-Einnahmen oder Mehr-Einnahmen, oder
Minder-Ausgaben oder Mehr-Ausgaben. Die letzteren, welche
praktiſch namentlich von Bedeutung ſind, heißen Etats-Ueber-
23*
[356]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
ſchreitungen. Allen Arten von quantitativen Etats-Abweichungen
gemeinſam iſt der Grundſatz, daß ſie bei der definitiven Rechnungs-
legung nachgewieſen werden müſſen und, ſoweit die Ab-
weichung vom Etat auf einer Veränderung der bei der Etat-
Feſtſtellung vorausgeſetzten Verhältniſſe beruht, muß auch dieſer
Grund der Abweichung dargelegt werden. Dagegen von einer
Genehmigung oder Bewilligung der quantitativen Ab-
weichungen vom Etat, auch der Etats-Ueberſchreitungen, kann nur
in einem ſehr beſchränkten Maaße die Rede ſein. Dieſelben ent-
ſtehen nämlich meiſtens nicht durch freie, oder auf Willensent-
ſchließungen beruhende Handlungen der Regierung, ſondern ſie ſind
lediglich Folgen der fehlerhaften Veranſchlagung im Etat ſelbſt.
Da die Höhe vieler Einnahmen und ebenſo die Höhe vieler Aus-
gaben nur nach Wahrſcheinlichkeit und nach uſancemäßigen Frac-
tionen veranſchlagt wird, ſo liegt es in der Natur der Sache, daß
dieſe Anſchläge mehr oder minder falſch ſind und durch die wirk-
lichen Ergebniſſe rectificirt werden. Alle Minder-Einnahmen, Mehr-
Einnahmen und Etats-Ueberſchreitungen dieſer Kategorie erſcheinen
daher lediglich als Thatſachen, welche zur Kenntniß des
Bundesraths und Reichstags gebracht werden. Nur ſoweit die
Etats-Ueberſchreitung auf dem Willen der Regierung beruht,
d. h. ſoweit es von ihrer Entſchließung abhängig war, ob die
Ausgabe nur in etatsmäßiger Höhe oder darüber hinaus geleiſtet
werden ſollte, hat die Etats-Ueberſchreitung den Charakter einer
Handlung, für welche die Regierung die Verantwortlichkeit
trägt und für welche ſie daher der Ratihabition des Bundesraths
und Reichstages bedarf. Nur ſcheinbar ſteht damit im Wider-
ſpruch, daß nach der bisher befolgten Praxis und nach der, in
dem Entwurf eines Geſetzes über den Rechnungshof in Ausſicht
genommenen, Anordnung alle Etatsüberſchreitungen dem Reichs-
tage zur Genehmigung vorgelegt werden müſſen. Es iſt dadurch
nur anerkannt, daß die Entſcheidung der Frage, zu welcher der
beiden angegebenen Kategorien eine Etatsüberſchreitung gehört,
nicht in das alleinige Ermeſſen der Regierung geſtellt iſt, ſondern
den höchſten Organen des Reichswillens zuſteht. Aus dieſem
Grunde iſt der Reichstag formell befugt, ſämmtliche Etatsüber-
ſchreitungen zu prüfen und zu genehmigen; materiell reducirt ſich
die Genehmigung derjenigen Mehrausgaben, die eine nothwendige
[357]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
Folge factiſcher Verhältniſſe z. B. einer eingetretenen Preisſteigerung
ſind, auf die Anerkennung dieſer Thatſache.
Aus dieſer Erwägung beſtimmt ſich zugleich der Begriff der
Etatsüberſchreitung nach anderer Beziehung. Es iſt irrelevant,
welches finanzielle Geſammtergebniß die Staatsrechnung aufweiſt.
Wenn die Mehrausgabe bei einer Poſition durch die Minderaus-
gabe bei einer andern gedeckt wird, ſo tritt zwar in finanzieller
Hinſicht eine Compenſation ein, aber dadurch wird nicht die Ab-
weichung vom Etat aufgehoben, ſondern es ſind zwei Abwei-
chungen in entgegengeſetzter Richtung vorhanden, ſo
daß für eine derſelben oder ſelbſt für beide die Reſponſabilität
der Verwaltung beſtehen bleiben kann. Nur ſoweit im Etat die
Untervertheilung einer Summe der Regierung überlaſſen oder die
gegenſeitige Uebertragbarkeit zweier Summen zugeſtanden worden
iſt, reicht für die Regierung die Freiheit der Bewegung. Nicht
auf die Geſammtſumme, welche die in einzelnen Titeln und Ka-
piteln zuſammengefaßten Poſitionen mit arithmetiſcher Nothwen-
digkeit ergeben, ſondern auf die ſelbſtändigen Bewilligungen be-
ſtimmter Summen zu beſtimmten Zwecken kommt es bei der Be-
griffsbeſtimmung der Etats-Ueberſchreitungen an 1).
[358]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
2. Die materiellen oder qualitativen Abwei-
chungen vom Etatsgeſetz ſind: Die Nichterhebung einer etats-
mäßigen Einnahme oder die Erhebung einer im Etat gar nicht
aufgeführten Einnahme, ſowie die Nichtleiſtung einer etatsmäßigen
Ausgabe oder die Leiſtung einer außeretatsmäßigen Ausgabe.
a) Die Nichterhebung einer etatsmäßigen Einnahme kann nicht
vorkommen, ſo weit die Einnahmen durch Geſetze normirt ſind,
deren Ausführung von der Regierung nicht ſuſpendirt werden darf,
wie Zoll- und Steuergeſetze und Gebührentarife. Wol aber kann
die Regierung eine Einnahme unerhoben laſſen, zu deren Erhebung
ſie nicht geſetzlich verpflichtet, ſondern nur ermächtigt war.
Dies gilt namentlich von der Begebung von Anleihen und von
der Verwendung von Reichsfinanzvermögen zu Verwaltungszwecken.
Wenn die übrigen Einnahmequellen unerwartet hohe Erträge ab-
werfen, wenn gewiſſe etatsmäßige Ausgaben unterbleiben müſſen,
oder wenn die Zeitverhältniſſe zur Veräußerung von Reichsver-
mögen oder zur Negoziirung einer Anleihe beſonders ungünſtig
ſind, ſo kann die Regierung durch die ihr obliegende Sorgfalt bei
der Verwaltung des Reichsvermögens verpflichtet ſein, dergleichen
außerordentliche Einnahmequellen unbenutzt zu laſſen. Es wäre
ein völliges Verkennen der Bedeutung des Etatsgeſetzes, wenn
man in demſelben einen Befehl an die Regierung erblicken wollte,
alle etatsmäßigen Einnahmen der Reichskaſſe zuzuführen. Das
Geſetz, welches den Etat feſtſtellt, läßt übrigens gewöhnlich keinen
Zweifel darüber, daß es ſich bei ſolchen Einnahmen nur um eine
Ermächtigung der Regierung handelt. Im Reichsetat findet dies
beſonders Anwendung auf die Matricularbeiträge, welche der
Reichskanzler theilweiſe oder ganz unerhoben laſſen kann, wenn ſie
zur Beſtreitung der Reichsausgaben entbehrlich erſcheinen.
b) Die Erhebung einer nicht etatsmäßigen Einnahme iſt eben-
falls der Regierung unverwehrt; nur verſteht es ſich von ſelbſt,
daß ſie einen geſetzlichen Titel für dieſelbe haben muß, daß ſie
alſo insbeſondere nicht durch eigenmächtige Contrahirung von An-
leihen, Veräußerung von Reichsvermögen, Erhebung von ungeſetz-
1)
[359]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
lichen Abgaben ſich dieſelbe verſchaffen darf. Es kann aber wol
vorkommen, daß nach Feſtſtellung des Etats ein Geſetz erlaſſen
wird, welches eine neue dauernde oder einmalige Einnahme be-
gründet, oder daß durch Rechtsgeſchäfte (Schenkung, Legat, völker-
rechtliche Verträge u. a.) oder in Folge gerichtlicher Urtheile der
Reichskaſſe Einnahmen erwachſen. Einer Genehmigung zur Er-
hebung von Einnahmen der letzten Kategorie Seitens des Reichs-
tags bedarf es nicht; dieſelben müſſen aber bei der Rechnungs-
legung zur Kenntniß deſſelben gebracht werden. Eine ausdrück-
liche reichsgeſetzliche Anerkennung, daß Einnahmen aus anderen
als den im Reichshaushalts-Etat aufgeführten Bezugsquellen zu-
läſſig ſind, iſt in dem Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 2 enthalten, dem
zu Folge ſolche Einnahmen zur Wiederherſtellung des Reichs-
Kriegsſchatzes zu verwenden ſind 1).
c) Die Nichtleiſtung einer etatsmäßigen Ausgabe kann als
eine Abweichung von der in dem Etatsgeſetz aufgeſtellten Ver-
waltungsnorm erſcheinen, für welche die Regierung politiſch
verantwortlich iſt. Iſt die Förderung gewiſſer Zwecke von den
oberſten Organen des Reiches, dem Bundesrath und Reichstag
als nothwendig oder nützlich anerkannt und ein Koſtenbetrag dafür
ausgeworfen worden, ſo kann die Regierung des Reiches einer
Rechtfertigung und Darlegung der Gründe, aus denen ſie trotzdem
die Leiſtung dieſer Ausgabe unterlaſſen hat, ſich nicht entziehen.
Unter Umſtänden kann die Würde des Reichstages empfindlich
verletzt werden, wenn er die Anfnahme einer gewiſſen Ausgabe in
den Etat etwa aus eigener Initiative beſchloſſen und die Regie-
rung zugeſtimmt hat, die letztere nachträglich aber die Lei-
ſtung dieſer Ausgabe und folglich die Förderung des betreffen-
den Zweckes unterläßt. Staatsrechtlich aber erſcheinen alle
[360]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
Ausgaben-Poſitionen des Etats nur als Ermächtigung1) der
Regierung, dieſelben zu leiſten, ſo daß ihre Nichtleiſtung oder
Erſparung weder eine juriſtiſche Verantwortlichkeit begründet, noch
einer Genehmigung des Reichstages bedarf.
d) Es bleiben ſomit nur noch übrig die außeretats-
mäßigen Ausgaben. Daß die Regierung für dieſelben die
Bewilligung des Reichstages nachſuchen muß, folgt aus der oben
dargelegten Bedeutung des Etats und iſt, trotzdem die Verfaſſung
des Deutſchen Reichs keine darauf bezügliche Beſtimmung enthält 2),
von keiner Seite in Zweifel gezogen werden. Nur muß man die
weitverbreitete Anſicht zurückweiſen, als verübe die Regierung durch
Leiſtung einer außeretatsmäßigen Ausgabe eine Geſetzwidrigkeit,
eine Verletzung des Etatsgeſetzes, für welche ſie beim Reichs-
tage um „Indemnität“ bitten müſſe, die derſelbe als Gnadenakt
ertheilen oder verſagen dürfe 3). Dadurch, daß man eine Ausgabe
in den Verwaltungsplan nicht aufgenommen hat, folgt doch ſicher-
lich nicht, daß man ſie verboten habe. In der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle iſt ihre Aufnahme vielmehr deshalb unter-
blieben, weil man die Nothwendigkeit dieſer Ausgabe nicht voraus-
ſehen konnte oder wenigſtens nicht vorausgeſehen hat 4). Es iſt
ein Spiel mit Worten, wenn man aus der Ausdrucksweiſe, daß
der Etat durch Geſetz, d. h. formell im Wege der Geſetzgebung
feſtgeſtellt werde, die Folgerung zieht, daß die Leiſtung außeretats-
[361]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
mäßiger Ausgaben eine Ungeſetzlichkeit, d. h. die Verletzung eines
Geſetzinhalts ſei 1). Das Recht des Reichstags aber, die
Nothwendigkeit und Angemeſſenheit aller Ausgaben mit zu prüfen
und darüber mit zu entſcheiden, geht ebenſowenig dadurch verloren,
daß dieſe Prüfung und Entſcheidung nicht ſchon bei Aufſtellung
des allgemeinen Finanzplanes erfolgen konnte oder erfolgt iſt.
Sein im Art. 71 anerkanntes Ausgaben-Bewilligungsrecht erſtreckt
ſich auf alle Ausgaben des Reichs, gleichviel ob ſie im Etatsgeſetz
eine Stelle gefunden haben oder nicht. Daraus ergibt ſich zugleich
die Natur des Bewilligungsrechtes des Reichstages hinſichtlich der
außeretatsmäßigen Ausgaben als vollkommen identiſch mit ſeinem
Recht der Mitwirkung bei der Etatsfeſtſtellung ſelbſt. Das Be-
willigungsrecht des Reichstages iſt kein ungebundenes und willkür-
liches. Erkennt der Reichstag an, daß die Ausgabe aus rechtlichen
oder faktiſchen Gründen nothwendig oder angemeſſen war, ſo in-
volvirt dieſes Anerkenntniß zugleich die Genehmigung; der Reichs-
tag kann nicht zugleich die Nothwendigkeit einer geleiſteten Ausgabe
zugeben und ihre Bewilligung verſagen. Der Unterſchied zwiſchen
den etatsmäßigen und außeretatsmäßigen Ausgaben beſteht darin,
daß der Reichskanzler, welcher bei den etatsmäßigen Ausgaben von
der Verantwortlichkeit für ihre Nothwendigkeit und Angemeſſenheit
frei iſt, bei den außeretatsmäßigen Ausgaben dieſe Verantwortlich-
keit bis zur Bewilligung durch den Reichstag trägt; die Befugniſſe
des Reichstags aber ſind materiell dieſelben bei etatsmäßigen und
außeretatsmäßigen Ausgaben 2).
[362]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
Die Bewilligung außeretatsmäßiger Ausgaben erſcheint ſonach
ſachlich ſtets als eine Ergänzung und Berichtigung des Haushalts-
Etats; und wenn es möglich iſt, die Genehmigung des Reichstages
noch einzuholen, ehe die Ausgaben wirklich geleiſtet oder feſtgeſtellt
ſind, ſo erſcheint die correkteſte Form die, durch einen Nachtrags-
etat, alſo in Geſetzesform, die Bewilligung zu conſtatiren. Iſt
jedoch die Ausgabe thatſächlich geleiſtet, reſp. das Wirthſchaftsjahr
bereits ganz oder zum größten Theil abgelaufen, ſo widerſpricht
es der Logik, in Form eines Voranſchlages die Bewilligung aus-
zuſprechen, und es wird demgemäß die Genehmigung in Form von
Reſolutionen des Bundesrathes und Reichstages ertheilt.
Trotzdem iſt dieſe Genehmigung mit der in Form des Etatsgeſetzes
ertheilten gleichartig, inſofern ſie eine nur vorläufige iſt und die
Regierung von der Pflicht der Rechnungslegung nicht entbindet.
3. Die temporären Abweichungen vom Etat beſtehen
entweder darin, daß Ausgaben 1) am Ende des Jahres noch nicht
erledigt ſind oder daß ſie bereits vor Beginn des Jahres geleiſtet
worden ſind und man unterſcheidet dem entſprechend Reſtver-
waltung und Vorſchußverwaltung.
a) Die Reſtverwaltung. Es iſt einleuchtend, daß die
Staatskaſſe nicht alle Zahlungen, welche auf Rechnung des Etats
eines beſtimmten Jahres erfolgen ſollen, bis zum 31. März effek-
tuiren kann; eine Hinausſchiebung der Zahlung kann z. B. noth-
wendig werden durch eine Verzögerung der Lieferung beſtellter
Waaren oder Arbeiten oder durch Verzug in der Beibringung der
erforderlichen Liquidationen, Beläge und Quittungen, oder durch
[363]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
mora accipiendi des berechtigten Gläubigers. An und für ſich
iſt die Reſtverwaltung erlaubt und ganz unvermeidlich; das Etats-
geſetz ſteht derſelben nicht entgegen, da dasſelbe nicht die Kaſſen-
verwaltung, ſondern die Finanzwirthſchaft betrifft und demgemäß
der Regierung die erforderlichen Kaſſen-Manipulationen behufs
Durchführung des Finanzplanes anheim ſtellt. Von Wichtigkeit
iſt es nur, die Grenze zwiſchen Reſtverwaltung und Aus-
gabe-Erſparniſſen zu ziehen. Hierbei iſt zunächſt das
Princip maßgebend, daß nicht die Zahlung, ſondern die Entſtehung
der Obligation entſcheidet. Soweit der Fiscus zur Zahlung bereits
obligirt iſt, fällt die Annahme von Erſparniſſen weg, wenngleich
die Zahlung ſelbſt erſt nachträglich (während des neuen Etatsjahres)
erfolgt. Aber auch darüber hinaus kann es vorkommen, daß ſelbſt
die Obligirung der Staatskaſſe erſt nachträglich erfolgt, aber das
Bedürfniß der Staatsverwaltung, welches dadurch gedeckt wird,
noch dem abgelaufenen Jahre angehört; auch in dieſem Falle iſt
keine Ausgaben-Erſparung vorhanden. Es läßt ſich daher die
Reſtverwaltung negativ dahin beſtimmen, daß auf ihr Conto keine
Ausgaben der laufenden Verwaltung genommen werden dürfen.
Die nicht verbrauchten Fonds können überdies nicht in das Unend-
liche aſſervirt werden wegen der Möglichkeit, daß noch nachträgliche
Zahlungen à Conto früherer Jahres-Etats erforderlich werden
könnten; ſondern ſie ſind gemäß der Inſtruktion für die Preußiſche
Ober-Rechnungs-Kammer vom 18. Dezbr. 1824, § 24, die provi-
ſoriſch auch für den Rechnungshof des Deutſchen Reichs bindende
Kraft hat, am Ende des zweiten Jahres als erſpart zu berechnen.
Eine Abweichung von dieſer engen Begrenzung der Reſtverwaltung
tritt nur dann ein, wenn der Etat ſelbſt die in ihm bewilligten
Ausgabenpoſitionen für übertragbar von einem Jahre auf das
andere erklärt 1).
[364]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
Bei der Kommiſſionsberathung über den Geſetzentwurf betreffend
die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc. im Jahre 1874
wurden die in der Praxis befolgten Grundſätze und die Maßregeln
zur möglichſten Einſchränkung der Reſtverwaltung erörtert und
unter Zuſtimmung der Regierungsvertreter in den Abänderungs-
vorſchlägen der Kommiſſion formulirt 1). Der umgearbeitete Ent-
wurf der Regierung hat dieſe Vorſchläge im Weſentlichen aufge-
nommen und liefert dadurch einen Ueberblick über die thatſächlich
befolgten Regeln 2). Hiernach iſt im Allgemeinen eine abgeſon-
derte Reſtverwaltung beſeitigt; bei den von einem Jahre in das
andere übertragbaren Fonds iſt die Verwaltung der Ausgabenreſte
mit der laufenden Verwaltung vereinigt und der Nachweis über
die Verausgabung der Reſte iſt in der Rechnung des folgenden
Jahres ungetrennt von den Ausgaben der laufenden Verwaltung
zu führen 3). Fonds, bei denen eine Uebertragung von einem
Jahre in das andere zuläſſig iſt, ſind nur alle Baufonds, ferner
die zu einmaligen Ausgaben bewilligten, und endlich ſolche
Fonds, für welche die Uebertragbarkeit im Etat ausdrücklich aner-
kannt iſt. Die bis zum Jahresabſchluß nicht verwendeten Beträge
bleiben für die in den beiden nächſtfolgenden Jahren unter dem-
ſelben Titel zahlbar werdenden Ausgaben neben dem laufenden
Etatsſoll zur Verfügung, inſofern nicht eine ausdrückliche Bemer-
kung zum betreffenden Titel eine Uebertragung auf längere Zeit
geſtattet 4). Nur für die Ausgaben für das Heer beſteht mit Rück-
ſicht darauf, daß die Militärverwaltung nicht vom Reich ſelbſt ge-
führt wird und demgemäß Abrechnungen zwiſchen der Reichshaupt-
kaſſe und den betreffenden Landeskaſſen erforderlich ſind, auch
hinſichtlich derjenigen Ausgabefonds, welche nicht von einem Jahre
in das andere übertragbar ſind, eine Reſtperiode von 6 Monaten
[365]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
nach dem Bücherabſchluß. Jedoch dürfen während der Reſtperiode
auf die noch offen gehaltenen Fonds keine Ausgaben für das
laufende Jahr und andererſeits auf die Fonds des letzteren keine
aus den offen gehaltenen Fonds zu beſtreitende Ausgaben ange-
wieſen werden 1).
b) Die Vorſchußverwaltung iſt im Allgemeinen unter-
ſagt und höchſtens inſoweit zuläſſig, als ſie lediglich als erfrühte
Zahlungsleiſtung, als Kaſſen-Auslage, erſcheint. Beſonders wichtig
aber iſt es, die Vorſchußverwaltung von den Etats-Ueber-
ſchreitungen zu unterſcheiden, da die letzteren ſich leicht unter
dem Deckmantel der erſteren verbergen können. Der entſcheidende
Geſichtspunkt iſt hier derſelbe wie bei der Auseinanderhaltung der
Reſtverwaltung von den Ausgaben-Erſparniſſen.
Wenn die laufenden Verwaltungsbedürfniſſe
eines Jahres in größerem Umfange, reſp. mit der Aufwendung
größerer Geldmittel, als der Etat dafür auswirft, befriedigt werden,
ſo liegt ſtets eine Etats-Ueberſchreitung vor, ſelbſt wenn die ge-
gründetſte Hoffnung vorhanden iſt, daß gerade mit Rückſicht auf
dieſe vollſtändigere Befriedigung im folgenden Jahre ein geringerer
Betrag als der gewöhnlich dafür im Etat ausgeſetzte genügen
werde 2). Auch wenn dieſe Hoffnung ſich wirklich erfüllt, liegt im
erſten Jahre eine Etats-Ueberſchreitung, im zweiten eine Ausgaben-
Erſparniß vor, die ſich im finanziellen Reſultate mit einander
compenſiren, aber nicht ſtaatsrechtlich gegenſeitig aufheben können.
Es würde vielmehr in einem ſolchen Falle die Genehmigung des
[366]§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.
Reichstages zur Etats-Ueberſchreitung des einen Jahres einzuholen,
und andererſeits die entſprechende Minder-Ausgabe des folgenden
Jahres zu ſeiner Kenntniß zu bringen ſein, in keinem Falle aber
eine derartige Pſeudo-Vorſchuß-Verwaltung durch mehrere Jahre
fortgeführt werden dürfen. Wenn dagegen für Bedürfniſſe des
folgenden Jahres bereits vorſorgliche Abhülfe geſchaffen und
dafür eine Zahlung à Conto des Etats des folgenden Jahres ge-
leiſtet wird, ſo iſt dies eine, mit den Regeln des Budgetrechts
vereinbare Vorſchußverwaltung, die nicht den finanziellen Wirth-
ſchaftsplan, ſondern blos das Kaſſen- und Abrechnungsweſen be-
rührt. Es ſoll demnach eine Vorſchußleiſtung nur bei ſolchen
Kaſſen vorkommen, welche mit Beſtänden abſchließen
dürfen und es ſind die vorhandenen Beſtände als Aktiva in
einer den geleiſteten Vorſchüſſen entſprechenden Höhe nachzuweiſen,
ſo daß die Vorſchüſſe rechnungsmäßig nicht als Mehrausgaben
erſcheinen 1). Eine derartige Vorſchußverwaltung kommt namentlich
in ausgedehntem Maße bei der Armeeverwaltung vor, welche in
billigen Jahren Naturalien-Reſervevorräthe zum Zweck der Truppen-
Verpflegung anſammelt und ſie in Theurungsjahren mit zur laufen-
den Konſumtion zieht und dann bei günſtiger Konjunktur wieder
ergänzt oder vermehrt 2). Ueberdies muß freilich die Gefahr dafür
übernommen werden, daß der Etat des folgenden Jahres für das
fragliche Verwaltungsbedürfniß auch in der That einen Betrag
auswerfen wird, was aber bei den fortdauernden Ausgaben meiſtens
keinem Bedenken unterliegt.
Auch dieſe Beſchränkungen können übrigens durch ausdrückliche
Anordnungen des Etatsgeſetzes aufgehoben und die Ueberſchreitung
des etatsmäßigen Betrages des einen Jahres à Conto der Etats-
ſumme des folgenden Jahres geſtattet werden.
[367]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
§ 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben
ohne Etatsgeſetz.
I. Trotzdem Art. 69 der R.V. mit apodiktiſcher Beſtimmt-
heit ſagt, daß der Reichshaushalts-Etat vor Beginn des Etatsjahres
durch ein Geſetz feſtgeſtellt wird, ſo iſt doch die Möglichkeit nicht
ausgeſchloſſen, daß das Etatsgeſetz thatſächlich vor Beginn des
Etatsjahres nicht zu Stande kömmt. Der Grund für den Eintritt
einer ſolchen Eventualität kann darin liegen, daß die Ueberein-
ſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages über den Inhalt
des Etatsgeſetzes nicht zu erzielen iſt; denn die Reichsverfaſſung
kennt kein rechtliches Mittel, welches die Herſtellung übereinſtim-
mender Majoritätsbeſchlüſſe der beiden Organe des Reiches ſicher-
ſtellte. Das Hinderniß kann aber auch dadurch gegeben ſein, daß
die Beſchlußfaſſung der beiden Körperſchaften nicht rechtzeitig er-
folgt, ſo daß zwar begründete Ausſicht auf Vereinbarung des Etats-
geſetzes vorhanden iſt, die Feſtſtellung und Verkündigung desſelben
aber nicht vor Beginn des Etatsjahres ſich ermöglichen läßt. Auch
im letzteren Falle iſt die Reichsregierung für einen Theil des Etats-
jahres in der Lage, ohne Etatsgeſetz die Verwaltung führen zu
müſſen. Die Reichsverfaſſung hat nicht angegeben, welche Rechts-
grundſätze in einem ſolchen Falle Platz greifen; die letzteren müſſen
daher auf wiſſenſchaftlichem Wege aus allgemeinen Rechtsprincipien
hergeleitet werden.
Es iſt nicht zu beſtreiten, daß die Verwaltung der Einnahmen
und Ausgaben des Reiches ohne Etatsgeſetz der Reichsverfaſſung,
d. h. dem in derſelben als regelmäßig vorausgeſetzten und ange-
ordneten Zuſtande, widerſpricht, und man kann es dabei als
unerheblich auf ſich beruhen laſſen, ob ein ſolcher Zuſtand als
„verfaſſungswidrig“ oder als ein „anomaler“ zu bezeichnen ſei 1).
[368]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
Weſentlich iſt nur, daß man zwei Punkte nicht überſieht; nämlich
erſtens, daß die Verfaſſung keine ausreichende Sicherheit geſchaffen
hat, um das Eintreten eines ſolchen Zuſtandes unmöglich zu machen
und die etatsloſe Verwaltung auszuſchließen, und zweitens, daß
die Frage nach den Rechtsſätzen, welche im Falle des nicht recht-
zeitigen Zuſtandekommens des Etats Platz greifen, ganz unabhängig
davon beantwortet werden muß, wen die Schuld an dem Nichtzu-
ſtandekommen trifft. Eine ſolche Schuld im ſubjektiven Sinne
braucht überhaupt nicht vorzuliegen; bei gewiſſenhafteſter Beob-
achtung aller ſtaatsrechtlichen und politiſchen Pflichten kann der
Fall eintreten, daß Bundesrath und Reichstag über den Etat zu
übereinſtimmenden Mehrheitsbeſchlüſſen nicht gelangen oder nicht
rechtzeitig gelangen, und falls in der That ein Verſchulden obwaltet,
ſo kann dasſelbe ebenſowohl auf Seiten des Reichstages oder auf
Seiten des Bundesrathes wie auf Seiten der Reichsregierung (des
Reichskanzlers) liegen 1). Es kann daher nur irreführend ſein,
wenn man den thatſächlichen Zuſtand, daß ein Etatsgeſetz nicht
vorhanden iſt, als eine „Verfaſſungs verletzung“ bezeichnet, da
in dieſem Worte ſtets das Moment ſubjektiven Verſchuldens mit
enthalten iſt; eine ſolche Ausdrucksweiſe kann leicht dazu verleiten,
das Vorhandenſein einer ſubjektiven Schuld zu ſubintelligiren und
durch dieſe Vorſtellung die unbefangene Würdigung der Verhältniſſe
zu beeinfluſſen. Die Frage muß vielmehr ganz objektiv geſtellt und
beantwortet werden: Welche Rechtsregeln gelten für die Verwal-
tung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches, wenn bei Beginn
des Etatsjahres das im Art. 69 der R.V. vorgeſchriebene Etats-
geſetz nicht vorhanden iſt? 2).
In der Praxis des Reiches hat man bisher, wenn ein ſolcher
Fall eintrat, eine Aushülfe dadurch geſchaffen, daß man den Etat
[369]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
der abgelaufenen Wirthſchaftsperiode für einen Monat erſtreckte 1).
Eine effektive Regelung der Reichsfinanzwirthſchaft für den betreffen-
den Monat wird dadurch weder bezweckt noch erreicht. Die Er-
ſtreckung erfolgt „bis zur geſetzlichen Feſtſtellung des Reichshaus-
halts-Etats für das Etatsjahr … und vorbehaltlich der Aende-
rungen, welche durch dieſe Feſtſtellung ſich ergeben“; die fortdauern-
den Ausgaben werden zwar bei den einzelnen Kapiteln und Titeln
auf ein Zwölftel der Anſätze des prolongirten Jahresetats bemeſſen,
es wird aber außerdem die Zahlung derjenigen Mehrbeträge ge-
ſtattet, welche zur Erfüllung der auf einen längeren Zeitraum im
Voraus fälligen Verbindlichkeiten erforderlich ſind; für die ein-
maligen Ausgaben wird ebenfalls ein Zwölftel der im prolongirten
Etat ausgeworfenen Beträge feſtgeſetzt, ſofern ſie für dieſelben
Zwecke, für welche die letzteren bewilligt waren, beſtimmt ſind, und
mit Ausnahme derjenigen Ausgaben, zu welchen die für das neue
Etatsjahr erforderlichen Mittel im Wege des Kredits zu beſchaffen
(oder vorſchußweiſe aus dem Feſtungsbaufonds zu entnehmen) ſein
würden. Hinſichtlich der Einnahmen enthalten die Geſetze keinerlei
Beſtimmung, als die Anordnung, daß die Bundesſtaaten die Matri-
kularbeiträge bis zum 12. Theil der durch den prolongirten Etat
feſtgeſtellten Summen einzuzahlen haben. Auch ſind die Einnahmen
und Ausgaben für den Monat April bei den einzelnen Kapiteln
und Titeln auf die Einnahmen und Ausgaben des zu erwartenden
Haushalts-Etats zu verrechnen 2). Ein Wirthſchaftsplan für
die Verwaltung des Reiches iſt alſo in einem ſolchen Geſetz nicht
enthalten. Aber auch den Vorſchriften der Reichsverfaſſung wird
durch das in Rede ſtehende Auskunftsmittel nicht genügt; denn
Art. 69 verlangt, daß „alle Einnahmen und Ausgaben
für jedes Jahr veranſchlagt werden“; er kennt weder „Monats-
Etats“, noch Etatsgeſetze, welche blos die Ausgaben und die Ma-
trikularbeiträge betreffen. Auch die Reichsfinanzverwaltung mit
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 24
[370]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
einem „vorläufig auf einen Monat erſtreckten“ Etat iſt im Hinblick
auf Art. 69 der R.V. eine anomale 1).
Indeſſen, wenn man hiervon abſehen und die proviſoriſche
Erſtreckung des letzten Etatsgeſetzes für die correcte und dem „con-
ſtitutionellen Princip“ entſprechende Aushülfe anerkennen will, ſo
iſt damit die Frage keineswegs abgethan; denn ſo gut wie das
Etatsgeſetz ſelbſt kann auch das Geſetz betreffend die vorläufige
Erſtreckung des vorigen Etats an Hinderniſſen aller Art ſcheitern.
II. Geht man von der Vorſtellung aus, daß das Budget-
geſetz die alleinige und ausſchließliche geſetzliche Grundlage für die
Finanzwirthſchaft ſei, daß nur durch das Budget-Geſetz die Regie-
rung ſtaatsrechtlich ermächtigt werde, Ausgaben zu leiſten und Ein-
nahmen zu erheben 2), ſo kommt man folgerichtig zu dem Reſultat,
daß, wenn ein Budgetgeſetz nicht zu Stande kommt, die Finanz-
wirthſchaft, d. h. überhaupt die ſtaatliche Thätigkeit, ſtille ſtehen
muß 3). An dieſer abſurden Conſequenz erweist ſich die Unrichtig-
keit der Theorie; denn ſie bedeutet die Desorganiſirung und Auf-
löſung des Staates. Hält man dagegen an der Bedeutung des
Etatsgeſetzes, wie ſie in den vorhergehenden Erörterungen darge-
legt worden iſt, feſt, ſo ergibt ſich als das oberſte Princip der
Satz, daß, ſoweit die Regierung nur durch den Etat zur Er-
hebung von Einnahmen und zur Leiſtung von Ausgaben ermächtigt
iſt, ihr dieſe Befugniß beim Mangel eines ordnungsmäßig zu
Stande gekommenen Etats fehlt, daß dagegen diejenigen Befugniſſe,
welche die Regierung auf Grund dauernd wirkſamer Ge-
ſetze hat, ihr durch das bloße Nichtzuſtandekommen des Etats,
alſo durch das Nichthinzutreten eines neuen formalen Rechtsgrundes,
nicht entzogen werden, da es einer alljährlichen Prolongation oder
[371]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
Beſtätigung dieſer Befugniſſe nicht bedarf 1). Aus dieſem Princip
ergeben ſich hinſichtlich der Ausgaben und Einnahmen folgende
Konſequenzen:
1. Die Ausgaben zerfallen mit Beziehung auf das Be-
willigungsrecht des Bundesrathes und des Reichstages, wie oben
S. 349 ausgeführt worden iſt, in zwei Kategorien, rechtlich noth-
wendige und willkürliche.
a) Als „nothwendige“ im ſtaatsrechtlichen Sinne ſind
nur diejenigen Ausgaben zu bezeichnen, zu deren Leiſtung die
Regierung geſetzlich verpflichtet iſt. Dahin gehören theils die
giltig entſtandenen vermögensrechtlichen Verpflichtungen des Fiscus,
theils die ihr geſetzlich obliegenden Verwaltungsaufgaben, die per-
ſönlichen und ſachlichen Koſten der geſetzmäßig conſtituirten Behör-
den, die Inſtandhaltung der Staatsanſtalten u. ſ. w. Recht und
Pflicht zur Leiſtung dieſer Ausgaben beſtehen auch ohne Etats-
geſetz, und deshalb kann es nicht als Verfaſſungsverletzung ange-
ſehen werden, wenn die Regierung dieſe Ausgaben leiſtet, obgleich
ein Etatsgeſetz nicht verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen iſt.
Man kann den Satz auch in der Art formuliren: Ausgaben, welche
Bundesrath und Reichstag bei der Feſtſetzung des Etats aus recht-
lichen Gründen nicht verweigern dürfen, ſind von der Regierung
auch in dem Falle, daß die geſetzliche Feſtſtellung des Reichshaus-
halts-Etats unterbleibt, zu leiſten.
24*
[372]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
Eine ausdrückliche Anerkennung hat dieſer Grundſatz in der
Reichsgeſetzgebung gefunden hinſichtlich der Verpflichtungen, welche
aus der Begebung von Anleihen und Schatzſcheinen hervorgehen.
Sämmtliche Anleihegeſetze enthalten übereinſtimmend den Satz, daß
die zur Verzinſung und Tilgung der Anleihe, ſowie zur Einlöſung
der Schatzanweiſungen erforderlichen Beträge der Reichsſchulden-
Verwaltung aus den bereiteſten Einkünften des Reichs zur Verfall-
zeit zur Verfügung geſtellt werden müſſen 1). Dieſe Vorſchrift
enthält nicht die Klauſel „nach Maßgabe des Reichshaushalts-
Etatsgeſetzes“ oder eine gleichbedeutende; ſie gilt, gleichviel ob ein
ſolches Geſetz verkündet worden iſt oder nicht; ſie ſchützt die Gläu-
biger des Reichs vor der Gefahr, daß die Befriedigung ihrer An-
ſprüche von dem alljährlichen Zuſtandekommen des Etatsgeſetzes
abhängig ſei.
Allein unter den Ausgaben, die als rechtlich nothwendige zu
charakteriſiren ſind, müſſen wieder zwei Arten unterſchieden werden;
die einen ſind auch der Höhe nach feſtbeſtimmte, von der „Be-
willigung“ des Etatsgeſetzes unabhängige; die anderen ſind nur
dem Rechtsgrunde nach nothwendige, ihrer Höhe nach aber ver-
änderliche. In Betreff der erſteren hat die Aufnahme in das
Etatsgeſetz gar keine ſelbſtſtändige Bedeutung; ſie gewähren
der freien Entſchließung der geſetzgebenden Organe gar keinen Spiel-
raum; ſie müſſen in den Etat aufgenommen werden, weil derſelbe
ein vollſtändiger Wirthſchaftsplan iſt und eben nicht blos eine Er-
mächtigung zur Leiſtung von Ausgaben. Hinſichtlich dieſer Aus-
gaben hat daher auch das Fehlen eines Etatsgeſetzes keine Bedeu-
tung; die Regierung trifft keine andere Verantwortung, mag ſie
dieſe Ausgaben mit oder ohne Etatsgeſetz leiſten. Sind die Aus-
gaben dagegen dem Betrage nach veränderlich, ſo enthält die Ver-
anſchlagung im Etat das übereinſtimmende Anerkenntniß des
Bundesraths und Reichstages, daß die im Budget ausgeworfene
Summe in dem beſtimmten Etatsjahre erforderlich oder an-
gemeſſen ſei, und die Regierung iſt, wenn ſie die Ausgabe
innerhalb dieſer Beträge leiſtet, von jeder Verantwortung frei.
Iſt dagegen ein Etatsgeſetz nicht zu Stande gekommen, ſo hat die
Regierung kein ſolches, ſie im Voraus deckendes Anerkenntniß; ſie
[373]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
hat vielmehr bei der Rechnungslegung den Nachweis zu führen,
daß die Ausgabe in der Höhe, in welcher ſie geleiſtet worden iſt,
erforderlich und angemeſſen war, ſo daß allerdings ihre Lage er-
heblich ungünſtiger iſt, als wenn ſie auf Grund eines Etatsgeſetzes
verwaltet hat. Das Etatsgeſetz des vorhergegangenen Jahres hat
formell keine Geltung, thatſächlich werden aber meiſtens die in ihm
enthaltenen, durch Uebereinſtimmung der geſetzgebenden Körper-
ſchaften feſtgeſetzten Beträge einen Anhaltspunkt für die Beurthei-
lung der Frage geben, ob die Regierung ſich innerhalb der ange-
meſſenen Summen gehalten habe. Uebrigens kann ja auch, wenn
der Etat geſetzlich feſtgeſtellt worden iſt, der budgetmäßig veran-
ſchlagte Betrag ſich thatſächlich als unzulänglich zur Beſtreitung
einer geſetzlich erforderten, alſo rechtlich nothwendigen, Ausgabe
erweiſen; der Regierung liegt auch in dieſem Falle der Nachweis
ob, aus welchen Gründen die Etatsüberſchreitung geboten war, und
man kann daher den Satz aufſtellen, daß bei nicht zu Stande ge-
kommenem Etat die Reichsregierung hinſichtlich aller nothwendigen,
aber der Höhe nach nicht feſtſtehenden Ausgaben in Bezug auf
den ganzen Betrag derſelben eine ähnliche Verantwortlichkeit trägt
wie bei der Verwaltung auf Grund eines Etatsgeſetzes hinſichtlich
der Etats überſchreitungen.
b) Als „willkürlich“ im ſtaatsrechtlichen Sinne ſind alle Aus-
gaben zu bezeichnen, zu deren Leiſtung für die Regierung keine
Rechtspflicht beſteht. Für ſolche Ausgaben bedarf die Regie-
rung der Regel nach einer Ermächtigung durch das Etatsgeſetz,
falls nicht ausnahmsweiſe in einem ſpeziellen Geſetze die Ermäch-
tigung zu einer Ausgabe ertheilt iſt, und demgemäß hat das Nicht-
zuſtandekommen des Etatsgeſetzes im Allgemeinen die Wirkung,
daß die Regierung ſolche Ausgaben unterlaſſen muß. Allein aus
thatſächlichen Gründen kann die Regierung in die Lage kommen,
Ausgaben dieſer Art leiſten zu müſſen. Die Befugniß hierzu be-
ruht auf der allgemeinen Verpflichtung der Regierung, dringende
Staatsintereſſen wahrzunehmen; es iſt widerſinnig, die Staatsver-
waltung unter die Fiction zu ſtellen, daß kein Staatsintereſſe
dringend, keine Ausgaben nothwendig ſein können, deren Dring-
lichkeit und Nothwendigkeit nicht vorher durch ein Geſetz aner-
kannt worden iſt. Auch bei vorhandenem Etatsgeſetz kann der
Fall eintreten, daß die Regierung Ausgaben für Zwecke leiſten
[374]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
muß, welche im Etatsgeſetz gar nicht berückſichtigt worden ſind,
vielleicht gar nicht berückſichtigt werden konnten. Hinſichtlich ſolcher
außeretatsmäßigen Ausgaben kommt die Regierung aber nicht mit
dem Nachweiſe durch, daß die verwendete Summe für den be-
treffenden Zweck angemeſſen und erforderlich war, ſondern ſie iſt
auch dafür verantwortlich, daß der Zweck der Ausgabe ſelbſt
durch ein dringendes Reichsintereſſe geboten war. In dieſer Lage
befindet ſich die Regierung, wenn ſie ohne Etatsgeſetz die Verwal-
tung führt, hinſichtlich aller, nicht auf ſpezieller geſetzlicher Ver-
pflichtung oder Ermächtigung beruhenden Ausgaben und man kann
demgemäß den Rechtsſatz aufſtellen, daß bei nicht zu Stande ge-
kommenem Etat die Regierung hinſichtlich aller, nicht auf ſpeziellen
Geſetzesvorſchriften beruhenden Ausgaben eine ähnliche Verant-
wortlichkeit trägt, wie bei der Verwaltung auf Grund eines Etats-
geſetzes hinſichtlich der außeretatsmäßigen Ausgaben 1).
2. Die Einnahmen beruhen zum größten Theile auf Quellen,
die von der alljährlichen Bewilligung unabhängig ſind, insbeſondere
auf den dauernd giltigen Zoll- und Steuer- und Gebühren-Geſetzen
und den Erträgen der Betriebsanſtalten; hinſichtlich dieſer Einnahmen
iſt daher die Verwaltung, wenn kein Etatsgeſetz zu Stande ge-
kommen iſt, in ganz derſelben Lage, als wenn die vorausſichtlichen
Erträge dieſer Quellen im Etatsgeſetz veranſchlagt worden ſind 2).
[375]§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.
Eine Ausnahme beſteht dagegen hinſichtlich folgender Einnahmen:
a) Die Matrikularbeiträge. Dieſelben können nicht
erhoben werden, wenn es an einem geſetzlich feſtgeſtellten Etat
fehlt, da nach Art. 70 der R.V. der Reichskanzler dieſelben nur
bis zur Höhe des budgetmäßigen Betrages ausſchreiben darf, das
Vorhandenſein eines Budgets daher eine unerläßliche Vorausſetzung
hierfür iſt. Demgemäß müſſen in einem Jahre, in welchem es an
einem Etatsgeſetz gebricht, die Einnahmen aus den Zöllen und
der Tabakſteuer, inſoweit ſie die Summe von 130 Mill. M. über-
ſteigen, ſowie die Einnahmen aus den Stempelſteuern auf Grund
des Geſ. v. 1. Juli 1881 im vollen Betrage den Einzelſtaaten
überwieſen werden. Siehe oben §. 122. Andererſeits ſind aber
durch Art. 62 Abſ. 2 der R.V. die einzelnen Bundesſtaaten fort-
dauernd verpflichtet 1), jährlich ſovielmal 225 Thaler als die
Kopfzahl der Friedensſtärke ihrer Heeres-Kontingente beträgt, zur
Reichskaſſe fortzuzahlen. Dieſe Verpflichtung iſt von der geſetz-
lichen Feſtſtellung des Budgets nicht abhängig gemacht. Es erhebt
ſich nun die Frage, wie ſich dieſe Verpflichtung zu den anderen
Einnahmen des Reiches verhält. Ihr Zweck beſteht, wie ſich aus
dem Wortlaut des Art. 62 der R.V. und der Entſtehungsgeſchichte
deſſelben ergiebt, darin, eine gewiſſe Summe zur Beſtreitung des
Aufwandes für das Heer ſicher zu ſtellen 2). Daraus folgt, daß
die Reichsregierung von den Erträgen der vom Etatsgeſetz unab-
hängigen Einnahmen denjenigen Theil, welcher nach Leiſtung der
unerläßlichen anderen Ausgaben, zu denen die Reichsregierung
gemäß den vorſtehenden Erörterungen ſelbſt ohne Etatsgeſetz be-
2)
[376]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
fugt oder verpflichtet iſt, übrig bleibt, zur Beſtreitung der Militair-
ausgaben zur Verfügung ſtellen muß und daß die einzelnen Staaten
alsdann noch diejenige Summe zuzulegen verpflichtet ſind, welche
zur Completirung des Pauſchquantums von 225 Thlr. für den
Kopf erforderlich iſt. Dieſe Summen würden an die Stelle der
in Jahren mit geſetzlich feſtgeſtelltem Etat zu zahlenden Matrikular-
beiträge treten 1).
b) Einnahmen aus der Veräußerung der im Beſitz der Reichs-
verwaltung befindlichen Grundſtücke darf die Reichsregierung
nur unter Genehmigung des Bundesrathes und des Reichstages
verausgaben; ſofern dieſe Genehmigung nicht anderweitig erfolgt
iſt, ſind ſolche Einnahmen im nächſten Reichshaushalts-Etat ein-
zuſtellen 2). Daraus folgt, daß wenn ein Etatsgeſetz nicht zu
Stande gekommen iſt, die Reichsregierung Einnahmen dieſer Art
nicht verausgaben darf, ſondern ſie als disponibles Vermögen des
Reiches aufbewahren muß, falls ſie nicht die ſpezielle Genehmigung
des Bundesraths und Reichstages zur Verwendung dieſer Beträge
erhalten hat.
c) Ueber die Verwendung der beſtimmten Zwecken reichsgeſetz-
lich zugewieſenen Fonds ſiehe oben S. 350 Ziff. 3.
§ 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der
Verwaltung*).
I. Die Kontrole der Staatsrechnungen iſt ein ebenſo unab-
weisliches Bedürfniß der Finanzwirthſchaft wie die Aufſtellung
[377]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
des Etats und bei jeder Verfaſſungsform durch den Umfang der
ſtaatlichen Finanzwirthſchaft und durch die Bedürfniſſe der Ver-
waltung ſelbſt geboten. Das Staatsoberhaupt bedarf eines Organes,
welches unabhängig von den verwaltenden Behörden die Thätigkeit
der letzteren periodiſch revidirt, um feſtzuſtellen, ob die letzteren
nach den ihnen ertheilten Vorſchriften und in einer dem Staats-
intereſſe förderlichen Weiſe die Einnahmen erhoben und die Aus-
gaben geleiſtet und das Vermögen des Staates beſtimmungsgemäß
und ſorgfältig verwaltet haben. Im conſtitutionellen Staate kommt
noch das weitere Moment hinzu, daß die Volksvertretung den ihr
gebührenden Antheil an der Regelung der Finanzwirthſchaft und
Staatsverwaltung nicht wirkſam ausüben und geltend machen könnte
und daß ihre Theilnahme an der Feſtſetzung des Staatshaushalts-
Etats ſich als illuſoriſch und wirkungslos erweiſen müßte, wenn
nicht die geſammte Verwaltung einer umfaſſenden Kontrole durch
eine unabhängige Behörde unterliegen und der Volksvertretung
Rechenſchaft darüber gegeben würde, daß die unter ihrer Mitwir-
kung aufgeſtellten Normen thatſächlich bei Führung der Staats-
geſchäfte beobachtet worden ſind. Auch bei der Errichtung des
Norddeutſchen Bundes beſtand keine Meinungsverſchiedenheit dar-
über, daß die Verwaltung des Bundes zur Rechnungslegung ver-
pflichtet ſei und der Entlaſtung ſowohl von Seiten des Bundes-
rathes als von Seiten des Reichstages bedürfe. Dies fand im
Art. 72 der Bundesverfaſſung Ausdruck; über die Art und Weiſe
aber, wie die Verwaltungsrechnung geprüft und die Entlaſtung
vorbereitet werden ſollte, traf die Verfaſſung keine Beſtimmung 1).
Es konnte dies auch in der That entbehrlich ſcheinen im Hinblick
auf die Rolle, welche nach der urſprünglichen Anlage der Bundes-
verfaſſung Preußen zugedacht war 2). Da die überwiegende Mehr-
zahl aller Behörden, deren Rechnungen zu prüfen waren, Preußen
angehörten oder aus Preußiſchen Behörden unmittelbar hervorge-
gangen waren (Marine, Militair, Geſandtſchaften, Konſulate u. ſ. w.),
und da der König von Preußen in ſeiner Eigenſchaft als Bundes-
präſidium zugleich der Chef der geſammten Bundesverwaltung war,
[378]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
ſo mußte es angemeſſen erſcheinen, die in Preußen beſtehenden
Vorſchriften und Einrichtungen auf die Bundesverwaltung einfach
auszudehnen. Man hätte zwar eine beſondere Rechnungs-
behörde für die Finanzcontrole der Bundesverwaltung neben
der Preußiſchen Oberrechnungskammer ohne Schwierigkeiten errichten
können; dagegen hätte es große Unzuträglichkeiten im Gefolge haben
müſſen, wenn die Grundſätze über die Rechnungslegung und Rech-
nungsprüfung, über die Funktionen der Rechnungsbehörde, über
das Verhältniß derſelben zu den Verwaltungsbehörden einerſeits
und zur Volksvertretung andererſeits für die Bundesverwaltung
anders normirt worden wären wie für die Preußiſche Staatsver-
waltung. In Preußen war aber das durch Art. 104 der Ver-
[faſſungs]-Urkunde verheißene Geſetz über die Einrichtung und die
Befugniſſe der Oberrechnungskammer noch nicht erlaſſen worden,
der Rechtszuſtand in dieſer Beziehung alſo nicht definitiv geregelt;
demgemäß mußte man auch im Norddeutſchen Bunde zunächſt von
einer verfaſſungsmäßigen und definitiven Ordnung der Finanz-
controle Abſtand nehmen. Man begnügte ſich daher, durch das
Geſ. v. 4. Juli 1868 (B.G.Bl. S. 433) die Kontrole der Staats-
rechnungen des Nordd. Bundes für die Jahre 1867—1869 der
Preußiſchen Oberrechnungskammer zu übertragen und das preußiſche
Recht über die Reviſion der Rechnungen in complexu auf die
Bundesverwaltung für anwendbar zu erklären. Dieſe Beſtimmungen
ſind dann von Jahr zu Jahr auf die Verwaltungsrechnungen durch
beſondere Bundesgeſetze erſtreckt worden 1).
Mit der weiteren Ausbildung der Bundesverwaltung und der
räumlichen und ſachlichen Erweiterung, welche dieſelbe in Folge der
Reichsgründung erfahren hat, machte ſich das Bedürfniß nach einer
ſelbſtſtändigen reichsgeſetzlichen Regelung der Reichskontrole in ver-
ſtärktem Maße geltend. Auch iſt in Preußen das durch Art. 104 der
Verf.-Urk. in Ausſicht geſtellte Geſetz am 27. März 1872 erlaſſen
worden 2) und dadurch die Grundlage für ein entſprechendes Reichs-
geſetz hergeſtellt worden. Der Reichskanzler legte daher dem Reichs-
tage bereits im Jahre 1872 einen den Anordnungen des Preuß.
[379]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
Geſetzes ſich eng anſchließenden Geſetzentwurf, betreffend die Ein-
richtung und die Befugniſſe des Rechnungshofes, vor; allein eine
Uebereinſtimmung zwiſchen dem Bundesrath und dem Reichstage
war über denſelben nicht zu erreichen 1) und ebenſowenig glückte
es in den folgenden Sitzungsperioden, in welchen der Geſetzentwurf
wiederholt eingebracht wurde, zu dieſem Ziele zu gelangen 2). In
Folge deſſen mußte man ſich damit begnügen, das im Jahre 1868
eingeſchlagene Verfahren beizubehalten, d. h. von Jahr zu Jahr
durch beſondere Geſetze die Rechnungskontrole des Reichshaushalts
der Preuß. Oberrechnungskammer unter der Benennung „Rechnungs-
hof des Deutſchen Reiches“ zu übertragen. Nur ſind ſeit dem
Jahre 1875 3) an die Stelle der im Geſetz vom 4. Juli 1868 auf-
geführten Vorſchriften die nunmehr in Preußen geltenden Beſtim-
mungen, insbeſondere diejenigen des erwähnten Geſetzes vom 27.
März 1872, getreten 4).
[380]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
Es fehlt daher noch gegenwärtig für das Deutſche Reich an
einer definitiven Feſtſetzung der Rechtsgrundſätze für die Rechnungs-
kontrole und ebenſo an einer definitiven Organiſirung der damit
betrauten Behörde und, falls in einem Jahre aus irgend welchem
Grunde die geſetzliche Prolongation der bisherigen Einrichtung nicht
erfolgen ſollte, ſo würde eine wirkliche Geſetzgebungslücke entſtehen;
es gäbe keine Geſetzesvorſchriften darüber, in welcher Art die durch
Art. 72 der R.V. begründete Pflicht des Reichskanzlers zur Rech-
nungslegung erfüllt werden ſollte. Die hier folgende Darſtellung
muß ſich natürlich darauf beſchränken, den Rechtszuſtand, wie er
ſeit dem Jahre 1875 von Jahr zu Jahr fortgeführt worden iſt
und thatſächlich beſteht, zu erörtern.
II. Der „Rechnungshof des Deutſchen Reiches“ iſt eine mit
der Preußiſchen Ober-Rechnungskammer vereinigte, aber lediglich
für die Zwecke der Reichsverwaltung beſtimmte und auf Reichs-
koſten unterhaltene Behörde, welche ihre Sitzungen getrennt von
denjenigen der Preußiſchen Ober-Rechnungskammer hält und an
deren Spitze ein beſonderer Direktor ſteht, der dienſtlich dem Präſi-
denten der Ober-Rechnungskammer unterſtellt iſt 1). Die Organi-
ſation, der ſtaatsrechtliche Charakter und der Wirkungskreis dieſer
Behörde ſind bereits oben Bd. I. S. 355 ff. dargeſtellt worden.
III. Was den Umfang der dem Rechnungshofe obliegenden
Kontrole anbelangt, ſo erſtreckt ſich die letztere
1. auf die Reviſion aller derjenigen Rechnungen, durch welche
die Ausführung des feſtgeſtellten Reichshaushalts-Etats und der
ſämmtlichen Etats und ſonſtigen Unterlagen, auf welchen derſelbe
beruht, dargethan wird, ingleichen der Rechnungen derjenigen An-
ſtalten, Stiftungen und Fonds, welche aus Reichsmitteln unter-
halten oder mit Zuſchüſſen bedacht werden und deren Verwaltung
durch Reichsbeamte geführt wird 2). Es reicht alſo die Kontrole
des Rechnungshofes ſo weit wie die eigene Finanzwirthſchaft des
[381]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
Reiches. Demgemäß unterliegen ihr nicht diejenigen, durch die
Geſetzgebung des Reiches geregelten Verwaltungszweige, welche
der Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten auf eigene Koſten überlaſſen
ſind. Insbeſondere gilt dies von der Erhebung der Zölle und Ver-
brauchsſteuern, ſowie von den Rechnungen der Militairverwaltung
in Bayern; es iſt nur die Ueberweiſung der für das Bayeriſche
Heer erforderlichen Geſammtſumme nachzuweiſen 1). Abgeſehen
von dieſer aus dem Princip folgenden Begränzung der Thätigkeit
des Rechnungshofes ſind derſelben durch poſitive Vorſchrift entzogen:
a) die Rechnungen über die in den Etats ausgeſetzten Fonds
zu geheimen Ausgaben 2). Dagegen unterliegen die Rechnungen
über die aus dem ſogen. Dispoſitionsfonds beſtrittenen Ausgaben
der Rechnungsreviſion.
b) Rechnungen von untergeordneter Bedeutung ſind nach
herkömmlicher Begrenzung von der regelmäßigen Prüfung des
Rechnungshofes ausgeſchloſſen; die Reviſion und Dechargirung der-
ſelben iſt den Verwaltungsbehörden überlaſſen. Der Rechnungshof
ſoll jedoch von Zeit zu Zeit auch dieſe Rechnungen und Nachwei-
ſungen einfordern, um ſich zu überzeugen, daß die Verwaltung der
Fonds, worüber ſie geführt werden, vorſchriftsmäßig erfolge 3).
c) Hinſichtlich derjenigen Beträge, welche den einzelnen Trup-
pentheilen des Deutſchen Heeres und der Kriegsmarine zur Selbſt-
bewirthſchaftung überwieſen werden, beſchränkt ſich die Prüfung
des Rechnungshofes auf die Verausgabung derſelben an die be-
treffenden Truppentheile im Ganzen. Desgleichen wird die Inne-
haltung der etatsmäßigen Brod- und Fourage-Competenz der
Truppen und einzelnen Empfangsberechtigten von den Militair-
Verwaltungsbehörden unmittelbar überwacht. In beiden Bezieh-
ungen hat der Rechnungshof jedoch von Zeit zu Zeit durch Ein-
[382]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
forderung der Nachweiſe nebſt Belägen ſich davon zu überzeugen,
daß dieſe Verwaltung vorſchriftsmäßig geführt wird 1).
2. Dem Rechnnngshofe liegt ferner ob die Kontrole über
Naturalien, Vorräthe, Materialien und überhaupt das geſammte
nicht in Geld beſtehende Eigenthum des Reichs 2). Es ſind dem-
nach von den Reichsbehörden, Reichsbetriebsanſtalten und Inſtituten
entweder die vollſtändigen Inventarien über die vorhandenen Be-
ſtände mit den Geldrechnungen zugleich einzuſenden, oder es iſt
wenigſtens die regelmäßige Führung der Inventarien unter An-
gabe der Zugänge und Abgänge von Reichseigenthum nachzuweiſen.
Die Entſcheidung darüber, welche von beiden Formen zur Anwen-
dung zu bringen iſt, bleibt der Beſtimmung des Rechnungshofes
nach Verſchiedenheit der Kaſſen und Inſtitute überlaſſen 3).
3. Endlich hat der Rechnungshof die Rechnungen über die
Verwaltung der Reichsſchulden zu kontroliren 4). Auch muß er
ſeine Aufſicht darauf erſtrecken, daß die zur Kautionsleiſtung ver-
pflichteten Reichsbeamten die Kautionen den Geſetzen gemäß hinter-
legt haben und daß das Vorhandenſein der beſtellten Kautionen
ordnungsmäßig nachgewieſen werde 5).
IV. Der Thätigkeit des Rechnungshofes iſt eine dreifache
Aufgabe geſtellt, die Kontrole der Kaſſen- und Rechnungsführung,
die Kontrole der Verwaltung und die Kontrole der etatsmäßigen
Finanzwirthſchaft 6).
1. Die Rechnungs-Kontrole umfaßt die kalkulatoriſche
[383]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
Prüfung und Juſtificirung der Kaſſenrechnungen nebſt der dazu
gehörenden Beläge. Jede Rechnung muß vor deren Einſendung
an den Rechnungshof bei der Verwaltungsbehörde abgenommen
werden, nachdem ſie nebſt den Belägen in formeller und materieller
Hinſicht vollſtändig geprüft und atteſtirt worden. Insbeſondere
muß bei jeder Rechnung von dem Kalkulator ausdrücklich beſchei-
nigt ſein, daß die Rechnung und ſämmtliche dazu gehörigen Beläge
in calculo geprüft und richtig oder nur dasjenige dabei zu erinnern
gefunden worden, was in dem beigefügten Kalkulatur-Protokolle
enthalten ſei. Finden ſich gleichwohl bei der Reviſion der Rech-
nungen Fehler des Kalkuls, welche bei der Abnahme ungerügt
geblieben ſind, ſo treffen den Kalkulator Ordnungsſtrafen 1). All-
gemeine Anordnungen der Verwaltungsbehörden über die Kaſſen-
verwaltung und Buchführung ſind ſchon vor ihrem Erlaß zur
Kenntniß des Rechnungshofes zu bringen, damit derſelbe auf etwaige
Bedenken, welche ſich von ſeinem Standpunkte ergeben, aufmerkſam
machen kann. Die Vorſchrift über die formelle Einrichtung der
Jahres rechnungen und Juſtifikatorien ſind nach Vernehmung mit
den betheiligten Verwaltungs-Chefs von dem Rechnungshofe zu
erlaſſen 2). Ebenſo hat der Rechnungshof die Termine zur Ein-
ſendung der Rechnungen und die Friſten zur Erledigung der da-
gegen aufgeſtellten Erinnerungen feſtzuſtellen 3).
Hinſichtlich der eingeſendeten Rechnungen liegt dem Rechnungs-
hof die Superreviſion und Kontrole hinſichtlich der arithme-
tiſchen Richtigkeit und der formellen Ordnungsmäßigkeit der Beläge
und die Veranlaſſung der Erledigung der in dieſer Hinſicht erho-
benen Erinnerungen ob.
2. Die Kontrole der Verwaltung. Der Rechnungs-
hof hat außer der Rechnungsjuſtifikation bei Prüfung der Rech-
nungen die Reviſion darauf zu richten,
„ob bei der Erwerbung, der Benutzung und der Veräußerung
von Reichseigenthum, bei der Erhebung von Reichseinnahmen,
ſoweit ſolche durch Reichsbehörden erfolgt, und bei der Ver-
[384]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
wendung der Einkünfte des Reichs nach den beſtehenden Ge-
ſetzen und Vorſchriften, unter genauer Beobachtung der maß-
gebenden Verwaltungsgrundſätze verfahren worden iſt“1).
Damit der Rechnungshof dieſer Aufgabe nachkommen kann, ſind
demſelben alle Verfügungen der oberſten Reichsbehörden und alle
Verordnungen des Bundesraths, durch welche in Beziehung auf
Einnahmen oder Ausgaben des Reiches eine allgemeine Vorſchrift
gegeben oder eine ſchon beſtehende abgeändert oder erläutert wird,
ſogleich bei ihrem Ergehen mitzutheilen; ebenſo alle auf die Rech-
nungslegung bezüglichen Beſchlüſſe des Bundesrathes oder des
Reichstages 2).
Dem Rechnungshof liegt eine Reviſion und Kritik der geſammten
Verwaltung des Reiches ob, ſoweit dieſelbe in den Rechnungspoſten
erkennbar wird. Die Monita des Rechnungshofes beziehen ſich
demnach nicht blos auf die kalkulatoriſche Richtigkeit der Rechnungen
und auf Beitreibung von Defekten und Reſten, ſondern auch darauf,
daß die einzelnen Einnahme- und Ausgabe-Poſten im Einklang mit
den beſtehenden Geſetzen und Verwaltungsvorſchriften ſich befinden.
Die Verwaltungsbehörden haben für die Erledigung dieſer Monita,
ſoweit ſie dieſelben als begründet anerkennen, Sorge zu tragen 3).
Den Centralbehörden des Reiches, in letzter Inſtanz dem Reichs-
kanzler, als dem alleinigen verantwortlichen Reichsminiſter und
Verwaltungschef, liegt es ob, für die Erfüllung dieſer Pflicht ein-
zuſtehen und die ihm unterſtellten Behörden und Beamten dazu
anzuhalten 4).
[385]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
Im Einklange hiemit ſteht die Pflicht des Rechnungshofes,
Bemerkungen darüber aufzuſtellen, inwiefern unter Billigung reſp.
Verantwortlichkeit der Centralbehörden des Reichs bei der Ver-
waltung der Reichseinnahmen, Reichsausgaben und des Reichseigen-
thums Abweichungen von den Beſtimmungen der Geſetze und Ver-
waltungsvorſchriften ſtattgefunden haben.
Mit dieſer Funktion des Rechnungshofes verbindet ſich die
Pflicht desſelben, die Zweckmäßigkeit der beſtehenden Vor-
ſchriften und Einrichtungen und der nach Maßgabe derſelben ge-
führten Finanzwirthſchaft zu prüfen und ſein Augenmerk darauf
zu richten:
„ob und wo nach den aus den Rechnungen zu beurtheilenden
Ergebniſſen der Verwaltung zur Beförderung der Reichszwecke
Abänderungen nöthig ſind“1).
Dieſer Verpflichtung hat der Rechnungshof in der Art zu entſprechen,
daß er nach Ablauf eines jeden Geſchäftsjahres dem Kaiſer einen
Bericht über die Ergebniſſe ſeiner Geſchäftsthätigkeit abſtattet,
„welchem zugleich ſeine gutachtlichen Vorſchläge beizufügen
ſind, ob und inwieweit nach den aus den Rechnungen ſich
ergebenden Reſultaten der Verwaltung zur Beförderung der
Reichszwecke im Wege der Geſetzgebung oder der Verordnung
zu treffende Beſtimmungen nothwendig oder rathſam er-
ſcheinen“2).
3. Die Kontrole der etatsmäßigen Finanzwirth-
ſchaft. Der Rechnungshof hat endlich zu prüfen, in wieweit
die Verwaltung dem Etatsgeſetz gemäß geführt worden iſt. Dem
eigentlichen Etatsgeſetze ſtehen Nachtrags-Etats und andere, den
Haushalts-Etat abändernde oder ergänzende Reichsgeſetze ſowie die
vom Bundesrath und Reichstage bereits vorläufig genehmigten
Etats-Ueberſchreitungen und außeretatsmäßigen Ausgaben gleich 3).
4)
Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 25
[386]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
Alle Abweichungen der faktiſchen Rechnungsreſultate von den Soll-
Anſätzen des Budgets, ſowohl Minder-Einnahmen und Mehr-Aus-
gaben als auch Mehr-Einnahmen und Ausgaben-Erſparniſſe ſind
feſtzuſtellen. Aber auch hier beſchränkt ſich die Aufgabe des Rech-
nungshofes nicht darauf, die Ziffern der Iſt-Einnahme und Iſt-
Ausgabe denjenigen des Einnahme- und Ausgabe-Solls gegenüber
zu ſtellen, ſondern im Einzelnen zu revidiren, ob die Rechnungen
über die geführte Verwaltung den Anſätzen des Etats entſprechend
aufgeſtellt ſind. Insbeſondere iſt bei jeder einzelnen Ausgabe-Poſt
zu prüfen, ob ſie bei demjenigen Fonds oder Spezialtitel in Rech-
nung geſtellt iſt, welcher für dieſen Zweck im Haushalts-Etat
beſtimmt iſt; und ebenſo bei jeder Einnahme-Poſt, ob er an der
richtigen Stelle eingetragen iſt. Ergiebt die Reviſion Etatswidrig-
keiten (Fondsverwechſelungen), ſo iſt von dem Rechnungshof, ſoweit
es ihm erforderlich ſcheint, die Ausgleichung unter den Fonds zu
veranlaſſen. Nur durch dieſe Kontrole, daß jede Ausgabe in der
Rechnungslegung an der dem etatsmäßigen Voranſchlage ent-
ſprechenden Stelle erſcheint, wird es ermöglicht, die Etatsüber-
ſchreitungen und die Ausgabe-Erſparniſſe auseinander zu halten
und beide mit Vollſtändigkeit zu conſtatiren 1). Aber nicht nur
die Zweckbezeichnungen der Titel, ſondern auch die mit den ein-
zelnen Poſitionen des Etats verbundenen Bemerkungen ſind für
die Verwendung der Fonds maßgebend und deshalb iſt die Revi-
ſion des Rechnungshofes auch darauf zu richten, ob ſich die be-
treffenden Verwaltungsbehörden in Uebereinſtimmung damit ge-
halten haben.
V. Die Entſcheidungen des Rechnungshofes über die Richtig-
3)
[387]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
keit oder Unrichtigkeit der Rechnungen haben innerhalb der
Verwaltung folgende Rechtswirkungen:
1. Wenn der Rechnungshof eine Rechnung als richtig feſt-
geſtellt hat oder die von ihm erhobenen Erinnerungen von dem
rechnungsführenden Beamten erledigt worden ſind, ſo iſt den letzteren
von dem Rechnungshofe ein Anerkenntniß (Entlaſtung) zu
ertheilen, welches die Wirkungen einer Quittung hat 1). Es
kann demnach der Rechnungsführer nachträglich noch civilrecht-
lich in Anſpruch genommen werden wegen eines Rechnungsfehlers
oder wegen eines Betruges oder einer Fälſchung; dagegen iſt durch
das Urtheil des Rechnungshofes den Behörden gegenüber conſtatirt,
daß die Verwaltung, ſoweit ſie in der juſtifizirten Rechnung einen
Ausdruck gefunden, ordnungsmäßig und im Einklang mit den in
Betracht kommenden Geſetzen und Verwaltungsvorſchriften geführt
worden iſt. Die Rechnungen über die Ausgaben des Rechnungs-
hofes werden von dem Präſidenten deſſelben revidirt und ſind dem
Bundesrathe und Reichstage zur Prüfung und Entlaſtung vor-
zulegen, da der Rechnungshof die letztere ſich nicht ſelbſt er-
theilen kann.
2. Wenn der Rechnungshof Erinnerungen aufgeſtellt hat, welche
nicht erledigt worden ſind, ſo treten nach Verſchiedenheit der Fälle
verſchiedene Folgen ein. Principiell iſt feſtzuhalten, daß die Auf-
gabe des Rechnungshofes eine im Weſentlichen kritiſche iſt und
daß er weder die Machtbefugniſſe einer höchſten Verwaltungs-
behörde hat, noch ſeinen Feſtſetzungen die Kraft richterlicher Urtheile
zukömmt. Die von ihm erhobenen Monita erſcheinen vielmehr
gleichſam wie Anklagen gegen die rechnungslegende Behörde und
in jedem Falle als einſeitige Auslegungen der betreffenden
Vorſchriften oder Beurtheilungen des betreffenden Thatbeſtandes,
welchem von Seiten der Verwaltungsbehörde eine andere Aus-
legung oder Beurtheilung gegenübergeſtellt werden kann 2). Hier-
nach iſt alſo ein Meinungsconflict zwiſchen Rechnungshof und Ver-
waltung möglich; dieſer Conflict iſt aber nicht mit der rechnungs-
legenden Unter- oder Mittelbehörde, ſondern nur mit dem Ver-
waltungschef, alſo bei den Reichsverwaltungen in letzter Inſtanz
25*
[388]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
mit dem Reichskanzler, zum Austrag zu bringen. Demgemäß iſt
zu unterſcheiden, ob die rechnungslegende Verwaltungsſtelle oder
die vorgeſetzte Dienſtbehörde derſelben die Erinnerung des Rech-
nungshofes für begründet anerkennt oder nicht.
Iſt das erſtere der Fall, ſo gehört es zu den Pflichten des
Beamten, gegen welchen das Monitum gerichtet iſt, dasſelbe zu
erledigen, beziehentl. zu den Funktionen der ihm dienſtlich vorge-
ſetzten Behörde, für die Erledigung Sorge zu tragen. Ob eine
Verfügung der letzteren Behörde genügt oder ob ein verwaltungs-
gerichtliches oder civilgerichtliches Verfahren erforderlich iſt, um
für die Beitreibung der Defecte u. ſ. w. einen exekutoriſchen Titel
zu erlangen, iſt nach Lage des einzelnen Falles zu beurtheilen.
Der Rechnungshof ſelbſt kann gegen den Beamten nicht unmittelbar
vorgehen, da ihm die Dienſtgewalt fehlt 1), und ebenſowenig kann
er ſelbſtſtändig gegen Dritte, gegen welche nach ſeiner Anſicht dem
Reichsfiskus Anſprüche zuſtehen, die letzteren geltend machen. Da-
gegen ergibt ſich aus der dem Rechnungshof obliegenden allge-
meinen Aufſicht der geſammten Verwaltung, daß er auch ſeine
Kontrole darauf zu erſtrecken hat, ob die von ihm feſtgeſtellten
Defecte u. ſ. w. Seitens der hierzu verpflichteten Behörde wirklich
eingezogen worden ſind, und er kann dieſe Kontrole dadurch ſichern,
daß er die Eintragung ſolcher Beträge in das Einnahme-Soll
ſpäterer Rechnungen anordnet 2).
Bleibt jedoch zwiſchen dem Rechnungshofe und dem Verwal-
tungschef (Reichskanzler) eine Meinungsverſchiedenheit beſtehen,
welche durch die Notatenbeantwortung nicht erledigt werden kann,
ſo muß die Entſcheidung bei einer höheren Stelle durch den Reichs-
kanzler herbeigeführt werden und bis dieſelbe erfolgt iſt, die Er-
theilung der Decharge aufgeſchoben werden. Welches Organ des
Reiches zur Fällung der Entſcheidung zwiſchen Rechnungshof und
Verwaltungschef zuſtändig iſt, beſtimmt ſich nach dem Gegenſtand
des Streitpunktes. Als Princip iſt hierbei der aus der Natur der
Sache ſich ergebende Satz feſtzuhalten, daß über die richtige und
angemeſſene Handhabung und Anwendung einer Vorſchrift diejenige
[389]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
Potenz authentiſch entſcheidet, welche dieſe Vorſchrift erlaſſen hat
und zur Abänderung derſelben befugt iſt. Nach dieſem Grundſatz
iſt im Allgemeinen der Bundesrath als diejenige Behörde
anzuſehen, welche zur Entſcheidung berufen iſt, und dieſe Kompe-
tenz iſt durch Art. 7 Ziff. 3 der R.V. begründet; denn es handelt
ſich in der That um eine Beſchlußfaſſung über „Mängel, welche
bei der Ausführung der Reichsgeſetze oder der allgemeinen Ver-
waltungsvorſchriften und Einrichtungen hervortreten“. Soweit je-
doch die Monita ſich auf die Ausführung von Anordnungen beziehen,
zu deren ſelbſtſtändigem Erlaß der Kaiſer reichsgeſetzlich ermächtigt
iſt, was namentlich hinſichtlich der das Militär- und Marineweſen
betreffenden Einrichtungen Platz greift, iſt der Zweifel durch eine
kaiſerliche Kabinets-Ordre zu entſcheiden. Wenn andererſeits
bei dem vom Rechnungshof erhobenen Bedenken Vorſchriften in
Frage ſtehen, an deren Erlaß der Reichstag eine Mitwirkung ge-
habt hat, ſo iſt auch die Entſcheidung des Reichstages über
die Ertheilung oder Verſagung der Decharge herbeizuführen 1).
Dies gilt alſo von allen Anordnungen, die im Wege der Reichs-
geſetzgebung erlaſſen ſind, und von allen vom Reichstage zum Gegen-
ſtande einer Beſchlußfaſſung gemachten Poſitionen des Reichshaus-
halts-Etats.
VI. Die Aufgabe des Rechnungshofes iſt im conſtitutionellen
Staate nicht darauf beſchränkt, die Finanzverwaltung im Ver-
waltungsintereſſe zu controliren und zu revidiren; ſondern
auch unter den oberſten Organen des Staates ſelbſt
den großen Schlußakt der ganzen Finanzverwaltung, die definitive
Legung und Abnahme der Rechnung über den Staatshaushalt
vorzubereiten. Dieſer Rechtsakt ſelbſt kann nur erfolgen
zwiſchen dem verantwortlichen Chef der Verwaltung einerſeits als
Rechnungsleger, und den verfaſſungsmäßig zur Feſtſtellung des
Staatshaushalts-Etats berufenen Organen andererſeits, alſo im Reich
zwiſchen dem Reichskanzler und dem Bundesrathe und Reichstage.
Der Antheil des letzteren an der Aufſtellung des Budgets wäre
zum größten Theile werthlos und unwirkſam, wenn ihm nicht ein
Antheil an der Abnahme der Rechnung über die vollführte Reichs-
[390]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
finanzwirthſchaft entſpräche. Der Art. 72 der R.V. verpflichtet
demgemäß den Reichskanzler, „über die Verwendung aller Ein-
nahmen des Reichs dem Bundesrathe und dem Reichstage zur
Entlaſtung jährlich Rechnung zu legen“ 1).
Der Reichstag iſt nicht in der Lage, die ihm vorgelegte Rech-
nung über den Reichshaushalt ſelbſtſtändig einer in die Einzelheiten
gehenden Reviſion zu unterziehen; es wäre dies eine Wiederholung
der vom Rechnungshofe bereits vorgenommenen Arbeit und würde
die Errichtung eines zweiten, parlamentariſchen Rechnungshofes
erforderlich machen. Vielmehr ſollen die vom Rechnungshofe ge-
leiſteten Reviſionsarbeiten und die in Folge derſelben von ihm
erhobenen Bemerkungen dem Reichstage nutzbar gemacht werden
und ſeiner Beſchlußfaſſung über Ertheilung oder Verſagung der
Entlaſtung zur Grundlage dienen. Demgemäß ſind nebſt der all-
gemeinen Rechnung über den Jahreshaushalt des Reiches die Be-
merkungen des Rechnungshofes, welche derſelbe unter ſelbſtſtändiger,
unbedingter Verantwortlichkeit aufzuſtellen hat, dem Reichstage mit
vorzulegen. Dieſe Bemerkungen haben ſich auf alle drei Richtungen
zu erſtrecken, in denen dem Rechnungshofe die Kontrole obliegt:
auf die kalkulatoriſche Uebereinſtimmung der allgemeinen Rechnung
mit den vom Rechnungshofe revidirten Kaſſenrechnungen; auf die
etwaigen Abweichungen der Verwaltungsbehörden in Finanzſachen
von geſetzlichen Vorſchriften 2), und auf die Abweichungen der that-
ſächlich erfolgten Einnahmen und Ausgaben von den Anſätzen und
Bewilligungen des Budgets, insbeſondere zu welchen Etatsüber-
ſchreitungen 3) und außeretatsmäßigen Ausgaben die Genehmigung
des Reichstages noch nicht beigebracht iſt 4). Der Rechnungshof
hat dieſen Bemerkungen eine Denkſchrift beizufügen, welche die
hauptſächlichſten Ergebniſſe der von ihm vorgenommenen Prüfung
überſichtlich zuſammenfaßt.
Bundesrath und Reichstag ertheilen die Decharge jeder be-
[391]§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.
ſonders. Weder der Bundesrath noch der Reichstag dürfen dem
Reichskanzler die Ertheilung der Decharge verweigern, wenn ſie
begründete Ausſtellungen an der ihnen gelegten Rechnung nicht zu
erheben vermögen. Denn es iſt ein der Pflicht zur Rechnungs-
legung entſprechendes Recht jedes Verwalters fremder Gelder, daß,
wenn er ordnungsmäßig die Rechnung abgelegt hat, ihm die Ent-
laſtung nicht vorenthalten werden darf.
Die Rechtswirkungen der ertheilten Decharge ſind in privat-
rechtlicher Beziehung die einer ordnungsmäßigen Quittung, in
ſtaatsrechtlicher die Entlaſtung des Reichskanzlers von der ihm bis
dahin obliegenden Verantwortlichkeit. Die letztere freilich iſt zur
Zeit lediglich ein politiſches Princip, kein ausgebildetes und prak-
tiſch anwendbares Rechts inſtitut 1), und da, wo im Staatsrecht
des Deutſchen Reiches der eigentliche Eckſtein des ganzen Verwal-
tungsrechts und insbeſondere des Budgetrechts ſtehen ſollte, befindet
ſich zur Zeit eine der Ausfüllung bedürftige Lücke.
Appendix A
Appendix B
hochverrätheriſchen und landesverrätheriſchen Unternehmungen, für welche eine
eigene — durch das Ober-Appellationsgericht der freien Städte zu Lübeck aus-
zuübende — Gerichtsbarkeit des Bundes zwar nicht eingeführt, wol aber in
Ausſicht genommen wurde. Verf. Art. 75. Sodann ging der Natur der Sache
den vom Bund übernommenen Verwaltungszweigen in untrennbarem Zuſam-
menhang ſtand, nämlich die Konſulargerichtsbarkeit und die Marinegerichts-
barkeit.
da es im Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität ſanctionirt worden iſt. Siehe
oben Bd. I. S. 360 Anm. 3. Bd. II. S. 37 ff.
prozeß-Ordnung mit ſachlicher Charakteriſirung der verſchiedenen Entwürfe
giebt Hellweg im Arch. f. civil. Praxis Bd. 61 S. 78—140. Daß auch
die zahlreichen Kommentare zur Civilproz.O. die Abfaſſung derſelben ausführ-
lich darſtellen, bedarf kaum der Erwähnung.
Kommentaren derſelben enthaltenen Darſtellungen die ausführliche und licht-
volle Erörterung von Dochow in v. Holtzendorff’s Handbuch des Deutſchen
Strafprozeßrechts I. S. 105—137 und Binding, Grundriß des gem. Deut-
ſchen Strafprozeßrechts. 1881. S. 21 ff.
Erklärung des Juſtizminiſters Dr.Leonhardt in der Reichstagsſitzung vom
25. Nov. 1876. (Stenogr. Berichte S. 358 ff.)
tages von 1874/75 Nro. 4. 5. 6.
1874/75 I. S. 275 ff.
und außerdem in den von Hahn veranſtalteten Sammlungen der Materia-
lien zu jedem der 3 Geſetze.
Hahn a. a. O.)
—165; 175—388; über die Strafprozeß-Ordnung ebendaſ. S. 392—569; über
die Civilprozeß-Ordnung ebendaſ. S. 167—175 und 388—392. Alle dieſe Ver-
handlungen ſind auch abgedruckt in den betreffenden „Materialien“ von Hahn.
durch Kaiſerl. Verordnung unter Zuſtimmung des Bundesrathes ein früherer
Termin feſtgeſetzt werden, von dieſem Vorbehalt wurde aber Seitens der Reichs-
regierung kein Gebrauch gemacht.
Ehrengerichte u. ſ. w.
bericht ebendaf. Nr. 173.
ſachen des Reichstages 1878 Nro. 76. Kommiſſions-Beſchlüſſe ebendaſ.
Nro. 228.
Nro. 6. Kommiſſions-Beſchlüſſe ebenda. Nr. 137. S. 224.
(Centralbl. für das D. R. 1879 S. 575 ff.)
ſind in dieſer Ueberſicht übergangen worden, ſo z. B. das Geſ. über den Sitz
des Reichsgerichts v. 11. April 1877 (R.G.Bl. S. 415); das Geſ. betreffend
den Uebergang v. Geſchäften auf das Reichsgericht v. 16. Juni 1879 (R.G.Bl.
S. 157); die Verordnungen und das Geſetz betreffend die Begründung der Re-
viſion in bürgerl. Rechtsſtreitigkeiten u. ſ. w. Bei den betreffenden Materien
ſind dieſe Geſetze, ſoweit ſie hier überhaupt von Intereſſe ſind, erwähnt worden.
Verſchiedenheiten zeigt, doch ein im Weſentlichen übereinſtimmendes Prozeß-
recht haben.
Civilproz.O. handelt es ſich nicht um eine öffentlich-rechtliche Pflicht,
ſondern um ein Beweisrecht der Partei; die Nichtbefolgung der gerichtlichen
theile im Gefolge.
tiſch gänzlich werthlos; ſie kann höchſtens gewiſſen ſcholaſtiſchen Gewohnheiten
und Neigungen entſprechen; für einen beſtimmten praktiſchen oder theoretiſchen
Zweck iſt immer nur eine Eintheilung von Bedeutung
kursrecht S. 144.
treffend dargelegt.
die im Inlande nicht Verwalter von ſtaatlichen Hoheitsrechten ſind, deren Ur-
theile aber trotzdem unter gewiſſen Vorausſetzungen hinſichtlich des unter den
Parteien beſtehenden Rechtsverhältniſſes maßgebend ſein können. Civilproz.O.
§. 660. 661.
S. 12 ff. Ausgenommen ſind nur diejenigen Verhältniſſe, welche zwar in ge-
wiſſen Beziehungen, z. B. prozeſſualiſch, als privatrechtliche behandelt werden,
an denen der Staat aber ein Dispoſitionsrecht der Parteien nicht anerkennt,
weil ſie öffentlich-rechtlicher Natur ſind, wie z. B. die Ehe.
Partei etwas zuzuſprechen, was nicht beantragt iſt. Civilpr.O. §. 279.
Anſtellung der Klage ausgeübt wird, ſich nicht gegen den Richter, ſondern gegen
den Staat richtet. Deſſenungeachtet iſt dieſe Verwechslung ziemlich häufig;
ſie macht ſich namentlich auch bemerkbar in den Erörterungen von Wach in
Grünhut’s Zeitſchrift Bd. VI. S. 554 ff. und Bd. VII. S. 134 ff., wo ſie
zu ſehr unhaltbaren Folgerungen führt. Der Richter kommt nur als Organ
des Staates in Betracht und am Prozeß-Rechtsverhältniß iſt nicht „der Rich-
ter“, ſondern der Staat betheiligt. Der Richter, welcher Recht weigert,
verletzt allerdings nur ſeine Amtspflicht (WachVI. S. 555) und hiergegen
iſt durch Beſchwerde bei der höheren Inſtanz und durch die Mittel der Dis-
ciplinargewalt Abhülfe zu gewinnen; dagegen der Staat, welcher Recht
weigert, verletzt die aus ſeinem Zweck ſich ergebende Schutzpflicht; hier giebt
es dem ſouverainen Staat gegenüber keine Hülfe, in Deutſchland gegen-
über den Einzelſtaaten eine Beſchwerde an das Reich (Bundesrath) auf Grund
des Art. 77 der R.V.
entſcheidenden Gegenſatz mit Nachdruck hingewieſen zu haben, iſt das große
Verdienſt Bülow’s. Vgl. deſſen Lehre von den Prozeßeinreden und Prozeß-
vorausſ. Gießen 1868 S. 1 ff. und ſeine trefflichen Abhandlungen im Arch.
f. civil. Prax. Bd. 62 S. 75 ff. Bd. 64 S. 8 ff. Vgl. ferner Degenkolb,
Einlaſſungszwang und Urteilsnorm Leipz. 1877 S. 26 ff. und beſonders die
vorzügliche Ausführung Sohm’s in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. IV. S. 467 ff.
handelten Streitfrage liegt an dieſer Stelle keine Veranlaſſung vor.
wie Wach in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. VII. S. 171 in Uebereinſtimmung mit
einer weit verbreiteten Anſchauung ſagt; denn Recht giebt nur der Staat;
der Verklagte dagegen giebt dasjenige, worauf ſein dare facere praestare
oportere geht, alſo Geld, Gut u. ſ. w.
in concreto“ d. h. der objectiven Feſtſtellung des ſubjektiven Rechts vgl. Bähr,
Rechtsſtaat S. 6 Anm. 1 Bülow, Arch. f. civil. Prax. Bd. 62 S. 93 Anm. 72.
A. S. Schultze a. a. O. S. 148.
§§. 14 ff. Er ſagt S. 100 vom älteren Deutſchen Prozeß: „Der Urteilsim-
perativ iſt der Imperativ des Geſetzes.“
ung von Handlungen, die Wegnahme von Werthobjekten u. dgl. zu verſtehen,
ſondern ganz allgemein die Bereitſtellung der ſtaatlichen Macht zur Sicher-
ſtellung des ſubjektiven Rechts. Hierin liegt die ſtaatsrechtliche Bedeu-
tung der „Rechtskraft“, die mit der prozeſſualiſchen Bedeutung nicht
zuſammenfällt. Die Macht des Staats ſteht hinter dem Urtheil und dieſer
Umſtand genügt in der Regel, um den Verurtheilten zur Befolgung des Ur-
theilsbefehls zu veranlaſſen, ohne daß es eigentlicher Exekutionsmaßregeln oder
gar der Entfaltung phyſiſcher Macht bedarf; die Ausſicht auf dieſelben wirkt
bereits als Zwang. Dies gilt auch von den ſog. Feſtſtellungsurtheilen
(Civilproz.O. 231).
die Klauſel: „bei Vermeidung der Exekution“ hinzugefügt; im mittelalterlichen
Verfahren ſchloß ſich an die Findung des Urtheils (Wahrſpruchs der Schöffen)
das ihm entſprechende Gebot des Richters. Vgl. Planck, das Deutſche
Gerichtsverf. im M.A. I. Bd. S. 301 ff. Parallelen aus anderen Rechtskreiſen
laſſen ſich leicht nachweiſen. Vgl. Degenkolb a. a. O. S. 98 ff.
fahren iſt die Feſtſtellung des Rechtsanſpruchs (judicium) an
Perſonen gewieſen, welche nicht Träger der Staatsgewalt ſind, während die
Gerichts gewalt (imperium, bannum) durch Organe des Staates ausgeübt
wird. Erſt ſeitdem die beamteten gelehrten Richter beide Funktionen vereinig-
ten, konnte die Urtheilsfindung als Bethätigung eines ſtaatlichen Hoheitsrechts,
ja als der Kernpunkt der ſtaatlichen „Rechtspflege“ aufgefaßt werden.
Bd. 28 S. 561 ff. beſonders S. 579.
ſanctionirt, ſo wird dem Staat und dem Angeklagten durch das ſtrafprozeſſua-
liſche Urtheil das Strafrecht in concreto gefunden. Hierauf beruht das
gemeinſame Moment des Civil- und Strafprozeſſes und
die Zuſammenfaſſung beider zum Begriff „der ſtreitigen Gerichtsbarkeit.“ Einen
anderen Weg, um das gemeinſame begriffliche Merkmal der Civil- und Straf-
gerichtsbarkeit zu beſtimmen, ſchlägt Regelsberger ein in Pözl’s Kritiſcher
Vierteljahresſchrift Bd. IV. (1862) S. 52 ff. beſ. S. 65 ff., dem im Weſent-
lichen v. Gerber, Grundzüge §. 55 zuſtimmt, den ich aber nicht für rich-
tig halte.
Juni 1881 (Entſch. in Strafſachen Bd. IV. S. 355 ff.) heißt es: „Die Auf-
gabe des Strafproceſſes in jedem konkreten Falle beſteht darin, zu ermitteln
und feſtzuſtellen, ob gegen den Angeklagten der Beweis einer ſtrafrechtlichen
Schuld geführt worden ſei.“ Dies iſt zu eng; der Strafprozeß iſt in keinem
Falle ein bloßes Beweisverfahren und ſein Endziel iſt nicht die Feſtſtellung
der Schuld oder Nichtſchuld des Angeklagten, ſondern die Verhängung einer
Strafe oder die Freiſprechung von derſelben.
fahrens von Planck (Göttingen 1857) auf der Anſchauung, „daß die Pflicht
des Verbrechers, ſich der Strafe zu unterwerfen, den Gegenſtand des Straf-
verfahrens bildet“ und daß durch „die öffentliche Klage der Staat ſein Recht
auf Strafe“ gegen den Verbrecher gerichtlich geltend mache. S. 118 a. a. O.
Geſ. eine Beſtimmung aufzunehmen, durch welche der Begriff der bürgerlichen
Rechtsſtreitigkeit definirt würde. Vgl. Protok. I. Leſ. S. 469 ff. (Hahn S. 672 ff.)
in Civilſachen Bd. 3 S. 410 ff. Eine eingehende und beachtenswerthe Unter-
ſuchung über den Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten giebt Hauſer
Gerichtsverfaſſung S. 51 ff.
Note 5 u. 6 zu §. 13. Hauſer a. a. O. S. 64 ff. Thilo, Gerichtsverf.
Geſ. S. 20 ff.
Sachen den Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichten zuzuweiſen ſind,
ſteht mit dem materiellen Rechte und dem inneren Staatsrechte der einzelnen
ſchieden beantwortet und es mußte in dem Gerichtsverfaſſungsgeſetze, welches
in den inneren Staatsorganismus der einzelnen Bundesſtaaten und in das
materielle Recht nicht eingreifen darf, von einer gemeinſamen Regelung dieſer
Frage Abſtand genommen werden.“
führung der Juſtizgeſetze nur in Württemberg und Baden. Vgl. Motive S. 37
(Hahn S. 51) und Protok. der Reichstagskommiſſion. I. Leſung S. 121 ff.
(Hahn S. 407) II. Leſ. S. 578 ff. (Hahn S. 755). Verh. des Reichstages.
Stenogr. Berichte 1876/77 S. 190—204. (Hahn S. 1141.) Nach der Faſſung,
welche die Beſtimmung in Folge des Reichstagsbeſchluſſes erhalten hat, iſt es
in Zweifel gezogen worden, ob überhaupt noch von einer Gerichtsbarkeit
der Gemeindegerichte oder nur von Gemeinde-Schiedsämtern geſprochen
werden könne, da jeder der beiden Parteien gegen das Urtheil die Berufung
auf den ordentlichen Rechtsweg zuſteht; indeſſen iſt zu beachten, daß wenn von
dieſer Befugniß kein Gebrauch gemacht wird, das Urtheil des Gemeindegerichts
von Rechts wegen vollſtreckbar wird.
davon ausgenommen; ihre Errichtung ſetzt jedoch die Verhängung
des Belagerungszuſtandes voraus. Vgl. Bd. III. 1. S. 45. Hinſichtl.
Bayerns vgl. die Verhandlungen der Reichstags-Kommiſſion I. Leſ. S. 142 ff.
(Hahn S. 422 ff.) — Eine Anomalie war das in Elſaß-Lothringen durch V.
des Generalgouvernem. v. 19. Dez. 1870 eingeführte ſtändige Kriegsgericht;
es iſt aufgehoben worden durch Geſetz v. 24. Januar 1881. (Geſ.Bl. f. Elſ.-
Lothr. S. 1.)
fel über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges, ſondern „Streitigkeiten“ darüber
zwiſchen den Gerichten und Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten.
es von Reichswegen erlaubt, daß die Erhebung des Kompetenzconflictes gegen
ein rechtskräftiges Urtheil des Gerichts, welches die Zuläſſigkeit des Rechtsweges
verneint, landesgeſetzlich für ſtatthaft erklärt wird. Vgl. Keller Note 10
zu §. 17 cit. Es kann dies namentlich bei einem ſogen. negativen Kompetenz-
conflikt erforderlich ſein, d. h. wenn weder die Gerichte noch die Verwaltungs-
behörden zuſtändig ſein wollen.
Bähr in der Reichstagskommiſſion. Protok. S. 487 ff. (Hahn S. 686.)
welche untergeordnete Behörden oder die Verwaltungen von Gemeinden, Kor-
porationen, Stiftungen u. ſ. w. einholen müſſen. Dieſes Erforderniß iſt ledig-
a. a. O. S. 129 ff. u. Löwe, Strafprozeßordn. S. 14 ff.
§. 11 cit. beruhen auf einem Kompromiß. In zweiter Leſung hat der Reichs-
tag noch auf der Forderung beharrt, daß die civil- und ſtrafrechtl. Verfolgung
der Beamten wegen Verletzung der Amtspflichten an keinerlei erſchwerende
Vorausſetzungen geknüpft werde. Vgl. Stenogr. Berichte 1876 S. 373 ff. (Hahn
S. 1447.)
den Rechtsvorſchriften iſt anerkannt in der Civilproz.O. §. 50.
richts ipso jure auf, wenn in dem betreffenden Staate nachträglich ein Ver-
waltungsgerichtshof errichtet wird.
Mecklenb. Schwerin’ſche Verordn. v. 5. Mai 1879 (Reg.Bl. S. 101) und Meck-
lenb.Strelitz’ſche Verordn. vom gleichen Tage. (Offiz. Anzeiger S. 137). Vgl.
Löwe Note 3 u. 7 zu §. 11 cit.
eine Ausnahme. Siehe die folgende Anmerkung.
kommende Fall, daß ſolche Perſonen reichsangehörig ſind; alsdann ſind
ſie von der inländiſchen Gerichtsbarkeit nur dann befreit, wenn der Staat,
dem ſie angehören, ſich der Gerichtsbarkeit über ſie begeben hat.
iſt eine unbedingte, die des Dienſtperſonals iſt auf Nichtdeutſche beſchränkt.
Umfang der Befreiung von der inländiſchen Gerichtsbarkeit maßgebend.
zur Civilproz.O. §. 5, zur Konk.Ordn. §. 7.
Mecklenburg-Strelitz und Sachſen-Meiningen; nach den Ausführungen des Abg.
Gaupp auch Württemberg. Protok. I. Leſ. S. 438 (Hahn S. 649).
Erbesregulirungen, Vormundſchaftsſachen und andere Familienangelegenheiten
u. ſ. w.
Aufklärung.
Deutſche Staatsrecht §. 86.
recht. I. §. 98 Note 7 (3. Aufl. S. 526).
Reſte der Privatgerichtsbarkeit geben die Motive S. 47 ff. (Hahn S. 58 ff.)
ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.
Gerichtsbarkeit wurden nicht anerkannt. Vgl. die Protokolle der Reichstags-
kommiſſion I. Leſ. S. 130 ff. (Hahn S. 414 ff.) Stenogr. Berichte des
Reichst. 1876/77 S. 207 ff. (Hahn S. 1166 ff.)
ſetzes v. 1. September 1879 (Regierungsbl. S. 79).
ſtenthum Lübeck der Gerichtsbarkeit des Hanſeatiſchen Oberlandesgerichts mit
unterworfen.
Kommiſſionsbericht S. 66 a. E. (Hahn S. 974.)
rechts S. 44, „daß nicht nur die Gerichtsbarkeit des Reiches ſouverain iſt
ſondern auch die der Einzelſtaaten, ſoweit ihre Gerichte ſich als höchſte Inſtanz
darſtellen“, — nicht als zutreffend erachtet werden; ſie beruht auf einer Ver-
mengung prozeßrechtlicher und ſtaatsrechtlicher Geſichtspunkte.
(Hahn S. 42) durch viele Redensarten die wahre Tendenz des §. 8 zu ver-
decken. Treffender ſind die Gründe für denſelben entwickelt von dem Bayer.
Juſtizminiſter v. Fäuſtle in der erſten Berathung im Plenum des Reichs-
tages. Stenogr. Berichte 1874 S. 319 ff. (Hahn S. 260) und beſonders in
den Verhandlungen der Reichstagskommiſſion Protok. I. Leſ. S. 451 ff. (Hahn
S. 659). Die ſachlichen Gründe, durch welche die Beſtimmung gerechtfertigt
dung der Vorfrage, ob das oberſte Landesgericht oder das Reichsgericht zu-
ſtändig iſt, ſind die Vorſchriften des Geſ. v. 12. Juni 1869 §§. 18 u. 20 ana-
log übertragen worden. Einf.Geſ. zur Civilproz.O. §. 7.
(Hahn S. 185).
geſetzbuches und in dieſem Sinne iſt der Vorbehalt des §. 8 von vielen Seiten
als ein nur proviſoriſcher angeſehen worden. Vgl. die citirten Verhandlungen
der Reichstagskommiſſion v. 12. Febr. 1876. Protok. S. 447 ff.
welche zur Juſtizverwaltung gehören, vgl. die Verhandlungen der Reichstags-
kommiſſion Protot. I. Leſ. S. 436 ff. (Hahn S. 647). Abg. Dr.Lasker
zählt dahin: „Alle Geſchäfte, welche zur Herbeiführung und Vollziehung des
Richterſpruchs erforderlich ſeien; auch äußere Angelegenheiten, ſofern ſie zu
dem bezeichneten Zwecke erledigt werden müſſen; unter dieſen Geſichtspunkt
falle auch die Beſchaffung der Schreibmaterialien, die Aufſicht über die Straf-
anſtalten.“
S. 981.)
richtsverf.Geſ. §. 70 Abſ. 2.
die Deutſche Geſetzgebung ꝛc. von Behrend und Dahn. VII. S. 161 ff.
für den Bezirk Eines Oberlandesgerichtes Geltung hat.
Rechts. Bd. 24 S. 23 ff. und Reuling, reviſible und nichtreviſible Rechts-
normen. Berlin 1880. (Separat-Abdr. aus der Juriſt. Wochenſchr. v. 1880.)
S. 299) den Grundſatz aufgeſtellt, daß die Reviſion auf die Verletzung anderer
Geſetze als derjenigen des gemeinen oder franzöſ. Rechts nur geſtützt werden
kann, wenn dieſelben über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus für den
lich zahlreicher in Elſaß-Lothringen geltender franzöſiſcher und der in Schles-
wig-Holſtein geltenden däniſchen Geſetze zutrifft, ſo iſt die Reviſion nicht be-
gründet, obgleich der Wortlaut des §. 511 der Civilproz.O. einer andern Aus-
legung Raum giebt. Denn in dieſem Falle kann ein Widerſtreit zwiſchen meh-
reren Deutſchen Oberlandesgerichten nicht entſtehen. Vgl. auch Endemann
II. S. 454. Dieſes Prinzip hat auch Anerkennung gefunden in der V. v.
28. Septemb. 1879 §. 2. (R.G.Bl. S. 299.)
1881 (R.G.Bl. S. 38.)
V. v. 28. Sept. 1879 (R.G.Bl. S. 299) ergangen, welcher der Reichstag in
ſeiner Sitzung v. 10. April 1880 die Genehmigung ertheilt hat, jedoch mit
Ausſchluß des §. 3 R.G.Bl. 1880 S. 102. Vgl. über die Verordnung die vor-
trefflichen Erörterungen von Eccius a. a. O. S. 20—50.
vinzen Preußens oder einer preußiſchen Provinz und eines anderen Bundes-
ſtaates Geltung erlangt haben. Für Bayern findet dieſe Anwendung hinſicht-
lich der vom oberſten Landesgerichte zu entſcheidenden Sachen keine Anwen-
dung; hier ſind lediglich 5 Partikularrechte älterer Zeit, deren Geltungsbereich
in Bayern ein ſehr geringer iſt, als ſolche bezeichnet, auf welche die Reviſion
nicht geſtützt werden kann. §. 6 der angef. Verordnung.
Sachen ſind auf das Reichsgericht übergegangen. Einf.Geſ. z. Gerichtsverf.Geſ.
§. 14; desgleichen die beim Appellat.Ger. zu Stettin anhängig geweſenen Kon-
ſulargerichts-Sachen. Konſular-Gerichtsbarkeits-Geſ. §. 50.
Kaiſerl. Verordn. v. 27. Sept. 1879 (R.G.Bl. S. 299) und der Erlaß des
Reichskanzlers v. 28. Septemb. 1879 ergangen. Vgl. auch Geſchäfts-Ordnung
des Reichsgerichts vom 8. April 1880 (Centralbl. S. 190 ff.) §§. 30—32.
iſt, gehören dieſe Sachen in letzter Inſtanz gemäß dem oben §. 97 entwickelten
Begriff zur ordentlichen Gerichtsbarkeit.
tagskomm. S. 433. (Hahn 645.)
Verordnungen vom gleichen Tage S. 291 ff.
ordn. von demſelben Tage für Heſſiſche Sachen (S. 289); für Waldeck’ſche
Sachen §. 2 (S. 295.)
hat bei dieſen Fällen die Funktionen der Strafkammer zu verſehen, während
ſtändigkeit des Reichsgerichts nicht nur dann begründet iſt, wenn das Rechts-
mittel der Reviſion auf Verletzung eines Reichsſtrafgeſetzes oder der Straf-
prozeß-Ordnung geſtützt wird, ſondern auch dann, wenn behauptet wird, daß
das Urtheil der Strafkammer auf Verletzung einer vom Reich ſanctionirten
ſtaats rechtlichen oder privat rechtlichen Rechtsnorm beruht, was auch bei
Strafurtheilen nicht unmöglich iſt. Vgl. auch Löwe Note 3 zu §. 123 a. a. O.
findet. §. 138 a. a. O.
die Reviſion darauf geſtützt wird, daß die Strafkammer die Landesgeſetze eines
anderen Bundesſtaates verletzt habe; §. 123 cit. erfordert nur die behauptete
Verletzung einer „in den Landesgeſetzen“ enthaltenen Rechtsnorm.
in Betracht kommenden Staaten Preußen und Bayern Gebrauch gemacht.
Preuß. Ausführungsgeſ. zum Gerichtsverf.Geſ. v. 24. April 1878 (Preuß. Geſ.
Samml. S. 230) §. 50. Bayeriſches Ausf.Geſ. z. Gerichtsverf.Geſ. v. 23. Febr.
1879 (Bayr. Geſ. u. Verordn.Bl. S. 273.) Art. 41.
gerichten abgeurtheilt werden. Strafproz.O. 354. Gerichtsverf.Geſ. §. 76.
geſetz über die Konſulargerichtsbarkeit v. 10. Juli 1879
(R.G.Bl. S. 197) modifizirt worden.
Juſtizgeſetze und die Konſulargerichtsbarkeit. Berlin 1879 S. 122 ff.
Art. 37. 38.
Art. 5 u. 6.
alten preußiſch-türkiſchen Vertrage v. 1761 hat.
Klagen um Mobilien und Geldſchulden, bei welchen beide Parteien deutſche
Reichsangehörige oder Schutzgenoſſen ſind, ferner Statusfragen, und Strafſachen
mit Ausſchluß der im §. 3 der cit. Verordnung aufgeführten Fälle.
genoſſen vgl. Bd. II. S. 272 ff.
§. 1. (R.G.Bl. S. 157.)
anwalts-Ordn. §. 90. (Ehrengerichtshof. Siehe unten §. 103.)
S. 607. 617.)
S. 648.) Für Bayern: Reichsgeſ. v. 22. April 1871 §. 6. (R.G.Bl. S. 89),
für Elſaß-Lothr.: Reichsgeſ. v. 11. Dezemb. 1871. (R.G Bl. S. 445.)
Die Verwendung eines Gerichtsvollziehers iſt dadurch erleichtert, daß Gerichte,
Staatsanwaltſchaften und Gerichtsſchreiber wegen Ertheilung eines Auftrages
an einen Gerichtsvollzieher die Mitwirkung des Gerichtsſchreibers des Amts-
gerichts in Anſpruch nehmen dürfen, in deſſen Bezirk der Auftrag ausgeführt
werden ſoll. Es handelt ſich hierbei um keine Rechtshülfe; die Vermittlung
des Gerichtsſchreibers ſoll nur dem Uebelſtande abhelfen, daß das Gericht die
Namen der Gerichtsvollzieher in anderen Gerichtsbezirken häufig nicht kennt.
Der vom Gerichtsſchreiber beauftragte Gerichtsvollzieher gilt als unmittel-
bar von der requirirenden Behörde beauftragt. Gerichtsverf.Geſ. §. 162.
Endemann Civilproz.O. I. S. 155.
daß ein im Inſtanzenzug vorgeſetzees Gericht (z. B. ein Landgericht oder
Oberlandesgericht) ein Amtsgericht ſeines eigenen Bezirks um Vornahme einer
richterlichen Handlung erſucht und die Vorſchriften des Gerichtsverfaſſungs-
geſetzes umfaſſen auch dieſen Fall; vgl. Löwe Note 6 zu Titel 13 des G.V.G.’s
für das Reichsſtaatsrecht iſt aber die gegenſeitige Verpflichtung der
Staaten einander durch ihre Gerichtsbehörden Rechtshülfe zu leiſten, vor-
wiegend von Intereſſe.
das irrthümlich requirirte Gericht das Erſuchen an das ortszuſtändige Amts-
gericht abgiebt.
(Hahn S. 169) hervorheben — bei der Verſchiedenheit des materiellen Rechts
und bei der Möglichkeit, daß vor die ordentlichen Gerichte bürgerliche Rechts-
ſtreitigkeiten und Strafſachen gewieſen werden, für welche die Prozeßordnungen
nicht maßgebend ſind, auch gegenwärtig noch praktiſch werden. Daß auch ab-
geſehen hiervon Fälle dieſer Art vorkommen können, zeigen die treffenden
Erörterungen von Herzog in Buſch’s Zeitſchrift f. Deutſch. Civilproz. II.
S. 362 ff.
ſchwerde, die hier nicht intereſſirt, vgl. Motive S. 192 ff. (Hahn S. 170.)
zu §. 163 des G.V.G.
blos berechtigt, die Auslieferung abzulehnen, wie EndemannI. S. 156
annimmt, ſondern ſie ſind dazu verpflichtet. Keller Anm. 3 zu §. 163
Löwe Note 4 zu dieſem §. Der letztere bemerkt zutreffend, daß die Bundes-
ſtaaten auch nicht befugt ſind, durch Staatsverträge die Zuläſſigkeit der
Ablieferung zu erweitern.
princip. Vgl. Bd. I. S. 176 ff. Die Vorſchrift iſt von der Reichstagskom-
miſſion in das Geſetz aufgenommen worden. Vgl. Protok. I. Leſung S. 17 ff.
(Hahn S. 327.)
ſicht auf die Länder mit franzöſ. Einregiſtrirungs-Syſtem hervorgehoben, daß
„Stempel-Einregiſtrirungsgebühren oder andere öffentliche Abgaben, welchen
die von der erſuchenden Behörde überſendeten Schriftſtücke nach dem Rechte
der erſuchten Behörde unterliegen, außer Anſatz bleiben.“ eod. Abſ. 4.
nicht gelingt, trägt die erſuchte Behörde den Ausfall; ebenſo ſind die Koſten
der Rechtshülfe in Strafſachen für ſie verloren, wenn der Angeſchuldigte wäh-
rend des Verfahrens ſtirbt, wenn das Verfahren eingeſtellt wird oder wenn
es zur Freiſprechung führt u. ſ. w., weil es in allen dieſen Fällen an einer
erſatzpflichtigen Partei fehlt.
der Zeitſchrift f. Geſetzgebung u. Rechtspflege in Preußen Bd. 3 S. 398 ff.
(Auch beſonders erſchienen.)
ſetzten Kriegsgerichten und Standrechten.
1881 Art. 10. (R.G.Bl. S. 125). Die näheren Anordnungen über die Leiſtung
der Rechtshülfe ſind enthalten in dem Zollkartel §§. 17—24. (R.G.Bl.
1881 S. 137 ff.)
kann; ſondern nur um die Hervorhebung derjenigen Grundprinzipien, ohne
deren Kenntniß auch die organiſatoriſche Seite der Gerichtsordnung nicht ver-
ſtändlich iſt.
aber nur dann vor der Kammer für Handelsſachen, wenn der Kläger dies
in der Klageſchrift beantragt hat, oder wenn bei einer vor die Kammer
für Handelsſachen gehörigen, aber vor die Civilkammer gebrachten Klage der
Beklagte die Verweiſung des Rechtsſtreits an die Kammer für Handelsſachen
beantragt hat; auch iſt der Prozeß auf Antrag vor die Civilkammer zu
verweiſen, wenn die Klage durch Antrag auf Feſtſtellung eines Rechtsverhält-
niſſes erweitert oder eine Widerklage erhoben wird und die erweiterte Klage
oder die Widerklage als Klage nicht vor die Kammer für Handelsſachen ge-
hört. Gerichtsverf.Geſ. §. 102. 104. 105. Das Nähere über die Zuſtändig-
keitsverhältniſſe der Civilkammern und der Kammern f. Handelsſachen gehört
in die Darſtellung des Civilprozeſſes; hier iſt nur der Grundſatz hervorzuheben,
daß die Civilkammern die regelmäßigen Gerichte ſind, denen eine all-
gemeine Kompetenz zuſteht, während die Kammern für Handelsſachen als
Spezial-Kommiſſionen für beſondere Arten von Rechtsſtreitigkeiten an-
zuſehen ſind.
entwickelten Kompetenzbeſtimmungen.
richtsverf.Geſ. S. 65 ff. (Hahn S. 72) und über das poſitive Recht des Reichs
Löwe zu §. 1 der Strafprozeß-Ordnung; Schwarze in v. Holtzendorff’s Hand-
buch des Strafprozeßrechts II. S. 555 ff. und die Ueberſicht in Binding’s
Grundriß §. 26.
ſetzung des Schöffengerichts ſelbſt. Gerichtsverf.Geſetz §§. 52. 53. 54. 56. Vgl.
auch Strafproc.Ordn. §. 31. Da dieſe Lehre nur ein ſtrafprozeſſualiſches, kein
ſtaatsrechtliches Intereſſe darbietet, ſo iſt hier nicht näher darauf einzugehen.
widerhandlungen gegen die Vorſchriften über die Erhebung öffentlicher in die
Reichskaſſe fließender Abgaben und Gefälle) kann die Entſcheidung in
dritter Inſtanz an das Reichsgericht gebracht werden. Vgl. oben S. 63.
den Fall, daß ein Urtheil in der Reviſionsinſtanz aufgehoben und die Sache an
ein Gericht zur anderweiten Verhandlung und Entſcheidung verwieſen worden iſt.
nung des Hauptverfahrens durch Beſchluß der Strafkammer die Verhandlung
und Entſcheidung dem Schöffengericht überwieſen werden.
Keller S. 246. Löwe Note 5 zu §. 6 cit.
rechtliche Bedeutung des Spruchs der Geſchworenen für das Urtheil des Ge-
richts Strafproc.Ordn. §. 314 ff.
„Dieſer Beſtimmung liegt der Gedanke zu Grunde, daß das Schwurgericht für
die ganze Sitzungsperiode einen beſonderen Gerichtskörper bil-
det, welcher für dieſe Zeit die Thätigkeit der Strafkammer in den bei den
Schwurgerichten anhängigen Sachen abſorbirt.“
können den Gerichten Geſchäfte zugewieſen werden, welche durch Verhandlungen
und Beſchlußfaſſungen in pleno zu erledigen ſind. Plenarbeſchlüſſe des Reichs-
gerichts ſind erforderlich in den Fällen der §§. 128. 129. 131 des Gerichts-
verf.Geſetzes, ſowie zur Erledigung der im §. 141 ebendaſ. geſtellten Aufgabe.
(Ausarbeitung der Geſchäftsordnung.)
nicht; die Aufnahme derſelben in das Gerichtsverfaſſungs-Geſetz iſt vorzugs-
weiſe dem Abg. Dr.Lasker zu danken. Vgl. Protok. der Reichstagskommiſſ.
I. Leſ. S. 335 ff. (Hahn S. 569). II. Leſung S. 628 ff. (Hahn S. 794 ff.)
die Erledigung anderer Geſchäfte bei demſelben Amtsgerichte übertragen
wird, ſo findet §. 8 des Ger.Verf.Geſ. hierauf keine Anwendung, d. h. der
Richter hat dagegen kein Widerſpruchsrecht.
des Amtsgerichts dienenden Lokalitäten, Inventarſtücke u. ſ. w.
aufſicht“ die Protok. der Reichstagskommiſſion I. Leſung S. 152 (Hahn S. 430).
ſeine Wahl getroffen, über die Zutheilung der übrigen Kammern ſich unter
einander verſtändigen, kann demnach der Präſident nicht widerſprechen.
Vertretung des ſtändigen Vorſitzenden der Kammer zugewieſener Ergänzungs-
richter, auch wenn derſelbe dem älteſten ordentlichen Mitgliede der Kammer
im Dienſtalter vorgeht. Urth. des Reichsgerichts v. 2. März 1880.
Entſch. in Strafſachen I. S. 238.
mehreren Kammern führt. Vgl. Hauck, Gerichtsv.Geſ. S. 99 ff.
Kammer, nicht auf die Stellung derſelben in dem Organismus der Gerichts-
behörden. Die detachirte Strafkammer gehört nicht zum Amtsgericht, ſondern
zum Landgericht. Der von ihr handelnde §. 78 cit. hat demgemäß in dem
von den Landgerichten handelnden fünften Titel des Gerichtsverf.Geſetzes Platz
gefunden.
ſolchen Beſchluß Anlaß geben können, vgl. die Motive S. 110. (zu §. 79
des Entwurfs.)
ſteht, das Bedürfniß nachzuweiſen, und zwar muß daſſelbe ſo geartet ſein, daß
ihm einerſeits nicht durch die ſtändig ernannten Mitglieder des Landgerichts
gemäß §. 62 u. §. 66 a. a. O. abgeholfen werden kann, und daß es andrer-
ſeits nicht als ein dauerndes anzuſehen iſt, welches eine Erhöhung der Anzahl
der ſtändigen Mitglieder des Gerichts nothwendig macht.
den, daß „unwiderruflich“ bedeuten ſolle „nicht ohne Zuſtimmung des
Mitgliedes widerruflich.“
züge. Protok. S. 651. (Hahn S. 811.)
1880 (Geſetzbl. S. 121), daß bei dem Oberlandesgerichte in Colmar zur Er-
ledigung der Civilſachen drei Senate beſtehen und daß der dritte Senat zu-
gleich Strafſenat iſt.
Rechtslexicon. 3. Aufl. Bd. 3 S. 386 ff.
der Entſcheidung einer Rechtsfrage ein Civilſenat von der früheren Entſchei-
dung eines Strafſenats oder vice versa abweichen will. Motive S. 152.
(Hahn S. 139.)
Bd. II. S. 582 ff.
richten die Schöffengerichte und neben den Landgerichten die Schwurgerichte
thümliche Terminologie deſſelben beachtenswerth. Bei den Amtsgerichten und
den Schöffengerichten wird das Amt der Staatsanwaltſchaft ausgeübt durch
einen oder mehrere „Amtsanwälte“ (§. 143 Ziff. 3); dieſelben gehören
zu den „Beamten der Staatsanwaltſchaft“ (§. 144. 147. 148), ſie verſehen „das
Amt der Staatsanwaltſchaft“ (§. 146); allein ſie werden unter der Bezeich-
nung „Staatsanwälte“ nicht mitbegriffen. Dieſe Terminologie iſt auch für die
Auslegung der Strafprozeßordnung ſowie der landesgeſetzl. Ausführungsbe-
ſtimmungen und der Gerichtskonventionen zu beachten.
erkennenden Gerichten.
Protok. I. Leſ. S. 415 ff. (Hahn S. 632 ff.), ſowie des Plenums des Reichs-
tages. Stenogr. Berichte 1876 S. 310 ff. (Hahn S. 1341 ff.)
der Oberſtaatsanwälte und Staatsanwälte in zahlreichen Ausführungsgeſetzen
der Einzelſtaaten.
Amtsgerichte beſtellter Amtsanwälte Anwendung findet, iſt der Anordnung
der Einzelſtaaten anheimgegeben. Motive S. 162 a. E. 164. (Hahn S. 147. 148.)
bei dem Oberlandesgericht (Oberſtaatsanwalt) hat daher unter dem Perſonal der
Staatsanwaltſchaft bei ſämmtlichen zum Oberlandesgerichts-Bezirk gehörigen
Gerichten die freie Auswahl hinſichtlich der Zuweiſung einzelner Sachen oder
Geſchäfte. Er kann jedoch nur eine ſolche Perſon wählen, welche die geſetzlich
erforderte Qualifikation zur Verrichtung des betreffenden Amtsgeſchäftes hat;
insbeſondere dürfen Amtsanwälte nur bei den Amtsgerichten (Schöffengerichten)
das Amt der Staatsanwaltſchaft verſehen. ebendaſ. Abſ. 2.
dem den Regierungen der Einzelſtaaten die Aufſicht und Leitung der Staats-
anwaltſchaft in allen aus den betreffenden Staatsgebieten er-
wachſenen Rechtsangelegenheiten eingeräumt worden iſt, gleichviel in welcher
Weiſe die Ernennung und die Dienſtverhältniſſe der Beamten der Staatsan-
waltſchaft im Uebrigen geregelt ſind. Vgl. die Verträge von Preußen-Olden-
burg (Birkenfeld) Art. 6 Abſ. 2 und Schlußprot. Ziff. IV. Preußen-Schwarzb.-
Sondershauſen Art. 6 Abſ. 2 u. Schlußprot. IV. Preußen-Anhalt Art. 5.
Preußen-Lippe Art. 4. Ferner den Thüringiſchen Vertrag Art. 20. Preußen-
Meiningen-Koburg (Meiningen) Art. 19 Abſ. 2. Preußen-Meiningen-Rudolſtadt
(Rudolſtadt) Art. 18. Weimar-Reuß j. L. (Gera) Art. 14. Hanſeſtädte Art. 27.
Oldenburg-Lübeck Art. 28. Oldenburg-Schaumburg-Lippe Art. 16.
Landesjuſtizverwaltungen in den Gerichtsgemeinſchafts-Bezirken oben S. 103.
Note 1.
beſtehen.
148 verpflichtet, auch einem Befehl ſeines Vorgeſetzten reſp. der Juſtizverwal-
tung, eine begründete Klage nicht zu erheben, Folge zu leiſten. Vgl. Löwe
Anm. 8 zu §. 152 der Str.Pr.O. (S. 394. 2. Aufl.)
mentar z. Strafproz.O. S. 211 ff. Löwe zu §. 152 Abſ. 2 u. beſ. zu §. 170.
Schwarze Kommentar S. 313 ff.
und in der Literatur ſtreitig. Löwe a. a. O. S. 418 führt aus, daß als
Verletzter Jeder anzuſehen iſt, in deſſen Rechtsſphäre die ſtrafbare Handlung
unmittelbar oder mittelbar irgendwie eingegriffen hat oder im Falle der
Vollendung eingegriffen haben würde. Ebenſo Schwarz a. a. O. S. 316.
Dagegen faſſen den Begriff weſentlich enger Voitus S. 212 und Fuchs
S. 453.
möglichſt zu verhüten, iſt vorgeſchrieben worden, daß der Antrag von einem
Rechtsanwalt unterzeichnet ſein muß.
iſt; wo durch eine ſtrafbare Handlung lediglich die öffentliche Ordnung ver-
letzt iſt, fehlt die rechtliche Garantie gegen eine parteiſche Handhabung des
Anklagerechts aus politiſchen oder perſönlichen Motiven. Vgl. Geyer Lehrb.
des Strafprozeßrechts (1880) S. 407 ff.
(Entwurf mit Motiven in den Druckſachen des Reichstages v. 1878 Nr. 5.
Kommiſſionsbericht ebendaſ. Nr. 173 Verhandlungen des Reichs-
tages v. 1878 Stenograph. Berichte Bd. I. S. 12 ff. Bd. II. S. 1237 ff.
S. 1461 ff. Zu vergleichen ſind auch die Verhandlungen der Juſtiz-Kommiſſion
des Reichstages über das Gerichtsverf.Geſ. S. 257 ff. 404 ff. 495 ff. 721 ff.
Gebühren-Ordnung für Rechtsanwälte v. 7. Juli 1879. R.G.Bl.
S. 176. (Entwurf in den Druckſachen des Reichstags v. 1879 Nr. 6. Ver-
handlungen des Reichstages v. 1879 Stenogr. Berichte Bd. I. S. 17 ff. Bd. II.
S. 894 ff. 1573. 1679.)
Kommentare zur R.A.O. von Völk Nördlingen 1878, von Fr. Meyer
Berlin 1879 (in „Die Juſtizgeſetzgebung des Deutſchen Reichs von Sarwey
und Thilo II. Abth. 1. Bd.) und von Sydow Berlin 1879. Vgl. auch En-
demann Civilprozeß Bd. III. S. 553 ff. Kommentar zur Gebührenordnung
von Fr. Meyer 1879 (a. a. O. II. Abth. 3. Bd.)
§. 359. Siehe oben Bd. I. S. 384.
in Anträgen, welche in der Reichstags-Kommiſſion bei Berathung des Gerichts-
verfaſſungsgeſetzes geſtellt worden ſind. Vgl. Protok. I. Leſ. S. 257 bis 317.
(Hahn S. 509 ff.)
muß Jeder zugelaſſen werden, der in einem dieſer Staaten die Fähigkeit zum
Richteramte erlangt hat.
ſtaatsrechtliches Intereſſe hat, vgl. die Kommentare zur R.A.O. von Völk
S. 26 ff. und von Meyer S. 17 ff.
Verlangen des Antragſtellers über den Grund der Verſagung im ehrengericht-
lichen Verfahren zu entſcheiden. Vgl. §. 16 ebendaſ.
der erſte dieſes Prinzip. Er geſtattet den Landesjuſtizverwaltungen, die Zu-
laſſung zu verſagen, „wenn der Antragſteller, nachdem er die Fähigkeit zur
Rechtsanwaltſchaft erlangt hatte, während eines Zeitraums von drei Jahren
weder als Rechtsanwalt zugelaſſen iſt, noch ein Reichs-, Staats- oder Gemeinde-
amt bekleidet hat, noch im Juſtizdienſt oder als Lehrer des Rechts an einer
Deutſchen Univerſität thätig geweſen iſt.“ Hierdurch iſt denjenigen Perſonen,
welche zwar die juriſt. Prüfungen beſtanden haben, ſpäter aber längere Zeit
hindurch von einer mit der Berufsthätigkeit des Rechtsanwalts in innerem
Zuſammenhange ſtehenden Beſchäftigung ſich ferngehalten haben, zwar nicht die
Fähigkeit, wol aber der Rechts-Anſpruch auf Zulaſſung verſagt worden.
zum Richteramt mangelt oder ein geſetzlicher Ausſchließungsgrund (§. 5) ent-
gegenſteht.
wälte dürfen bei keinem anderen Gerichte auftreten und von einem bei dem
Reichsgericht nicht zugelaſſenen Rechtsanwalt nicht vertreten werden. R.A.O.
§. 100 Abſ. 2. §. 101.
welche durch die Zuziehung eines nicht am Sitz des Prozeßgerichts wohnhaften
Anwaltes entſtehen. R.A.O. §. 18 Abſ. 5. Vgl. Civilproz.Ordn. §. 87 Abſ. 2.
anwalt die Beſchwerde nach Maßgabe der Civilproz.Ordn. §. 530 ff. zu.
tretung durch Anwälte nicht geboten iſt, R.A.O. §. 34.
verlangen. §. 38.
anwalt bei mehreren Gerichten zugelaſſen iſt, Vorſchriften über den Wohnſitz
gegeben.
gericht in München zugelaſſenen Rechtsanwälte gehören zur Kammer des Ober-
landesgerichts-Bezirks. §. 105.
Beſchlüſſe oder Wahlen der Kammer oder des Vorſtandes aufheben. — Für
die Rechtsänwälte am Reichsgericht tritt das letztere an die Stelle des Ober-
landesgerichts. §. 98.
das Reichsbeamtengeſetz §. 77. 78 aufgeſtellt hat. Vgl. Bd. I. S. 455 ff.
drei vom Vorſtande gewählten Mitgliedern, für welche zugleich Stellvertreter
in beſtimmter Reihenfolge bezeichnet werden.
beziehentlich von der Kammer vor Beginn des Geſchäftsjahres auf die Dauer
deſſelben gewählt. R.A.O. §. 90 Abſ. 2 u. 3. Die Mitglieder des Ehrengerichts-
hofes können nicht zugleich dem Ehrengericht angehören. R.A.O. §. 102 Abſ. 2.
Ueber die Beſtimmung der Stellvertreter ſiehe §. 90 Abſ. 4 u. 5.
tember 1879. (Centralbl. f. d. Deutſche Reich S. 575 ff.)
Schöffengerichte und Schwurgerichte. Breslau 1879. Schwarze in v. Holtzen-
dorff’s Handbuch des Strafprozeßrechts Bd. II. (1879) S. 567 ff. und Bin-
ding Grundriß S. 63 ff.
männer in dem Ausſchuß, welcher die Jahresliſten aufſtellt. Siehe unten Ziff. 4.
auf welches Seuffert S. 16 hinweiſt, ſondern der Grundſatz, daß die
welche viele Perſonen als ungeeignet zur Leiſtung von Gerichtsdienſten erſchei-
nen laſſen, insbeſondere Mangel an Kenntniſſen, untergeordnete ſociale Stellung
u. drgl.
1. S. 148.
wegen darauf zu ſehen, daß kein Unfähiger auf die Dienſtliſten (Jahresliſten,
Vorſchlagsliſten) geſetzt werde.
zur Ausübung des Schöffen- und Geſchworenen-Amts erklärt hat, war der,
daß man frivole Nichtigkeitsbeſchwerden wegen angeblicher körperlicher oder
geiſtiger Gebrechen eines Schöffen oder Geſchworenen verhüten wollte. Vgl.
Protok. der Reichstagskomm. I. Leſung S. 219 ff. (Hahn S. 480.)
des Lebensalters, Dauer des Wohnſitzes und den Empfang einer Armenunter-
ſtützung iſt die Zeit der Aufſtellung der Urliſte. (Siehe unten.)
digung angeſtellten Beamten nicht ſubſumiren. Anderer Anſicht Seuffert
S. 61.
tungsbeamte, welche ein richterliches Nebenamt verſehen oder eine Verwaltungs-
jurisdiction ausüben. Vgl. Seuffert S. 25 ff. Keinen Unterſchied macht
es aber, ob die richterlichen Beamten an einem ordentlichen Gericht oder an
einem Sondergericht angeſtellt ſind. Vgl. Löwe S. 49 Note 3a.
erwähnten Militairperſonen vgl. §. 38 des Milit.Geſ. und dazu die Erörte-
rungen oben Bd. III. 1. S. 244 u. S. 263 Note 3.
als ein impedimentum impediens tantum bezeichnen können.
§. 33. Bayern §. 23. 34. Sachſen §. 24. Württemberg Art. 19.
Baden §. 4. Heſſen Art. 15. Mecklenburg-Schwerin (und
Strelitz) §. 7. 27. Großh. Sachſen §. 16. 24. Oldenburg Art. 1.
(Fürſtenth. Lübeck Art. 13. Fürſtenth. Birkenfeld Art. 16.) Sachſen-Mei-
ningen §. 18. 27. Sachſen-Altenburg §. 20. 32. Coburg-
Gotha §. 17. 25. Anhalt §. 21. 32. Sondershauſen §. 18.
27. Rudolſtadt §. 15. 23. Waldeck Art. 4. Reuß ä. L. §. 16. 24
Reuß j. L. §. 16. 24. Bremen §. 74. 81. — Ueber die Bedenken, zu wel-
chen einige dieſer Ausführungsgeſetze, namentlich das Heſſiſche, hinſichtlich
ihres Verhältniſſes zu §. 34 des Gerichtsverfaſſungs-Geſetzes Anlaß geben,
vgl. Seuffert S. 44 ff., woſelbſt eine überſichtliche Darſtellung der Ent-
ſtehungsgeſchichte des §. 34 ſich findet.
mals reichsſtändiſchen oder reichsritterſchaftl. Familien Befreiung von der Pflicht
zum Schöffen- oder Geſchworenendienſt nicht gewähren.
machung ſind den Einzelſtaaten überlaſſen. Löwe Note 3 zu §. 36 des G.V.G.
Seuffert S. 2. Keller S. 65. Löwe Note 1 zu §. 37 des G.V.G.
Wahl der Vertrauensmänner erfolgt nach Anordnung der Landesgeſetze durch
manden trotz erhobener Einſprache auf die Geſchworenen-Vorſchlagsliſte
ſetzt, iſt ſeine Entſcheidung nicht endgültig. Siehe unten.
Auslooſung ein Protokoll auf.
orderlich, ſo findet dafür eine beſondere Auslooſung ſtatt. ebenda §. 48.
liche Ausführungsgeſ. der Einzelſtaaten enthalten die erforderlichen Beſtim-
mungen.
gerichts-Sitzungen in öffentlicher Sitzung des Landgerichts, an welcher der
Präſident und zwei Mitglieder Theil nehmen in Gegenwart des Staatsanwalts.
Der Gerichtsſchreiber nimmt darüber ein Protokoll auf.
gründe“; den Ausdruck „Ablehnung“ verwendet aber gleichzeitig die Straf-
proz.Ordn. (und ebenſo die Civilprozeß-Ordnung §. 42 ff.) für den Fall, daß
ein Richter, Schöffe oder Geſchworener von einer Partei als unfähig
oder ungeeignet erklärt wird, in dem concreten Falle eine richterliche Thätig-
keit auszuüben. Die „Ablehnung“ im letzteren Sinn betrifft die Conſtituirung
des Gerichts und die Gründe, auf welche ſie geſtützt werden kann, ſind pro-
zeßrechtlicher Natur; die „Ablehnungsgründe“ des Gerichtsverfaſſungs-
geſetzes dagegen betreffen die Dienſtpflicht und ſind verwaltungsrecht-
licher Natur. Dieſe Unterſcheidung iſt praktiſch von Belang bei der Beur-
theilung der Reviſion, Strafproz.O. §. 377 Ziff. 1—3; denn die Prozeß-Par-
teien haben ein rechtliches Intereſſe an der geſetzmäßigen Conſtituirung des
Gerichts, aber nicht an der richtigen Geltendmachung der Gerichtsdienſtpflicht.
kann ein ſolcher Schöffe, da er auf der Liſte ſtehen geblieben iſt, wieder zum
Dienſt einberufen werden. Vgl. Keller Note 5 u. 6 zu §. 52 des Gerichts-
verf.Geſ.
von den Schwurgerichten handelnden Titel weder in Bezug genommen noch
mutatis mutandis wiederholt worden iſt. Anderer Anſicht Seuffert S. 4.
angefochten und dieſelbe darauf geſtützt werden, daß ein Unfähiger oder kraft
Geſetzes von der Ausübung des Amtes Ausgeſchloſſener als Geſchworener mit-
gewirkt hat. Strafproz.Ordn. §. 377. Ziff. 1.
in der Reichsgeſetzgebung nicht unter dem Geſichtspunkt der Gerichtspflicht,
ſondern unter dem des Strafverfahrens betrachtet und iſt deshalb nicht
im Gerichtsverfaſſungsgeſ., ſondern in der Strafprozeßordnung geregelt worden.
Vgl. Motive z. Gerichtsverf.Geſ. S. 108 a. E. 109. (Hahn S. 106.)
dieſer Beziehung aber lediglich Strafgeſetzb. §. 334 (Beſtechung) in Betracht,
da die Motive ihrer Abſtimmung bei der Urtheilsſprechung jeder Controle
entrückt ſind.
active Dienſt zunächſt nur darin, ſich rechtzeitig in der Sitzung einzufinden;
die Pflicht zur Theilnahme an der Verhandlung und Urtheilsfindung iſt nur
eine eventuelle und wird nur bei denjenigen Geſchworenen verwirklicht, mit
welchen die Geſchworenenbank beſetzt wird.
den Gebrauch beſtimmter Betheuerungsformeln an Stelle des Eides geſtatten.
Schöffen- und Geſchworenen-Amtes“, wie Seuffert S. 65 meint, ſondern
um eine Begränzung des Umfangs der Dienſtpflicht. Niemand ſoll doppelt
belaſtet werden.
Aemter der Schöffen und Geſchworenen für „Ehrenämter“ erklärt. §. 31. 84.
ſätze wie von der Wehrpflicht. Vgl. Bd. III. 1. S. 171.
und Geſchworenen „unter Hinweis auf die geſetzlichen Folgen des Ausbleibens“
erfolgen ſoll. Darauf hat man die Meinung geſtützt, daß wenn die Androhung
der Beſtrafung in der Ladung unterblieben iſt, eine Verurtheilung wegen Nicht-
erſcheinens unſtatthaft ſei. Seuffert S. 82 Löwe Note 2 zu §. 56 (in der
zweiten Auflage hat jedoch Löwe ſeine Anſicht geändert). Allein die §§. 46
u. 93 enthalten nur Vorſchriften für die Amtsrichter und Schwurgerichtsvor-
ſitzenden über Geſchäfte der Gerichtsverwaltung; im §. 56, der den Thatbeſtand
des Delicts beſtimmt, iſt die Beſtrafung von einer „Androhung“ derſelben oder
von einer „ordnungsmäßigen“ Ladung nicht abhängig gemacht und die Nicht-
beachtung der Vorſchrift des §. 46 oder 93 Seitens des Richters giebt dem
Schöffen oder Geſchworenen kein Recht, ſich ſeinerſeits der Erfüllung der Ge-
richtspflicht zu entziehen. Uebereinſtimmend Keller S. 70.
des Schwurgerichts geſchloſſen, durch die Strafkammer des Landgerichts. Ge-
richtsverf.Geſ. §. 82.
Berichte S. 179 ff. (Hahn S. 1121 ff.) Die realen Gründe des Unterſchiedes
beſtehen theils darin, daß eine volle Gleichmäßigkeit der militäriſchen Ein-
richtungen durchgeführt werden ſollte, die für die gerichtlichen Einrichtungen
chenden Beſtimmungen vom Reichskanzler zu erlaſſen.
Richteramtes iſt entſcheidend; wenn ein Richter in die Juſtizverwaltung oder
in die Staatsanwaltſchaft übertritt, verlieren daher die für richterliche Beamte
geltenden beſonderen Vorſchriften ipso jure ihre Anwendbarkeit auf ihn;
andrerſeits kann auch gewiſſen in anderen Reſſorts angeſtellten Beamten mit
Rückſicht auf das von ihnen verwaltete Amt die rechtliche Sonderſtellung der
richterlichen Beamten gewährt werden, z. B. den Auditeuren, Mitgliedern von
Verwaltungsgerichten u. ſ. w.
Heerweſens vom Reich, diejenigen des Gerichtsweſens von den Einzelſtaaten
beſtritten werden.
den Referendaren Anleitung und Beſchäftigung zu geben. R.A.O. §. 40.
Siehe oben S. 120. Die Beſchäftigung bei den Rechtsanwälten iſt obligato-
riſch; die Landesjuſtizverwaltung kann nicht davon dispenſiren. Vgl. Stenogr.
Ber. des Reichst. 1876 S. 175 ff.
iſt reichsgeſetzlich nicht erfordert.
Juſtizhoheit der Einzelſtaaten; der Regierungs-Entwurf des Gerichtsverf.Geſ.
enthielt gar keine Beſtimmungen über die Befähigung zum Richteramt; was
das Geſetz darüber ſagt, iſt erſt von der Reichstagskommiſſion hinzugefügt
worden. Vgl. die intereſſanten Verhandlungen derſelben in den Protokollen
1. Leſung S. 73 ff. (Hahn S. 371 ff.)
ſonen, welche in einem Bundesſtaate vor dem Inkrafttreten des Gerichtsverf.-
Geſetzes die Fähigkeit zum Richteramte erworben haben, ſelbſt wenn die Er-
forderniſſe der früheren Geſetze unter dem vom Gerichtsverf.Geſ. aufgeſtellten
Minimum zurückgeblieben waren.
S. 809.)
rendare mit der Wahrnehmung einzelner richterlicher Geſchäfte betraut werden,
erklären ſie aber für unfähig zur Urtheilsfällung, zur Aufnahme letztwilliger
Verfügungen, zur Entſcheidung über Durchſuchungen, Beſchlagnahmen und Ver-
haftungen, ſowie zu den Geſchäften des Amtsrichters bei Bildung der Schöffen-
gerichte und Schwurgerichte. So Preußen §. 2, ſämmtliche thürin-
giſche Staaten, beide Lippe, Elſaß-Lothringen, Oldenburg u. a.
Aehnlich Sachſen §. 21. Baden §. 11. Auch die 3 freien Städte.
wendungen (ſiehe oben Bd. I. S. 462 ff.) wird hiervon nicht berührt.
laſſen iſt, bleibt die Geltung des §. 8 ſuſpendirt. Einf.Geſ. zum Gerichtsverf.
Geſ. §. 13. Dieſe Beſtimmung iſt nach ihrer praktiſchen Bedeutung eine
clausula bajuvarica. Nach dem bayeriſchen Recht hat die Landesregierung
die Befugniß, im Intereſſe des Dienſtes einen Richter an eine andere Richter-
ſtelle gleicher Klaſſe oder zeitweilig oder dauernd in den Ruheſtand zu verſetzen;
dafür iſt dem Richter verfaſſungsmäßig die Unentziehbarkeit des Titels, Ranges
und vollen Gehaltes auch im Ruheſtand gewährleiſtet. Dieſe Rechtsſätze
ſind für Bayern aufrecht erhalten worden, bis im Wege der Landesgeſetzgebung
eine Regelung nach dem im Gerichtverf.Gef. §. 8. aufgeſtellten Prinzip erfolgt.
Vgl. die Verhandlungen der Reichstagskommiſſ. Protok. II. Leſ. S. 569 ff.
(Hahn S. 748 ff.) u. S. 758 (Hahn S. 892).
mächtigt worden, innerhalb zweier Jahre nach dem Inkrafttreten des Gerichts-
verfaſſungs-Geſetzes bei nothwendiger Einziehung von Richterſtellen die unfrei-
willige Verſetzung eines Richters an ein anderes Gericht von gleicher Ord-
nung unter Belaſſung des vollen Gehalts und Erſtattung der Umzugskoſten
zu verfügen. Einf.Geſ. zum Gerichtsverf.Geſ. §. 21.
Amte handelt; über die Verhängung anderer Disciplinarſtrafen (Verweiſe,
Geldſtrafen) hat das Reichsgeſetz gar keine Beſtimmung getroffen, durch welche
den Einzelſtaaten eine Norm vorgeſchrieben worden wäre.
v. 31. Mai 1879 Art. 2. Mecklenburg-Schwerin §. 73. Mecklenburg-Strelitz
Auditeure, vgl. Bd. I. S. 369, auf dieſelben finden aber nicht die Vorſchriften
des Gerichtsverf.Geſetzes, ſondern die Regeln des Militärrechts Anwendung.
Siehe oben Bd. III. 1. S. 119 ff. S. 134.
argumentum e contrario beſtätigt, indem nur Titel 13—16, nicht auch
Titel 1 und 9 des G.V.G. auf die Konſulargerichte für anwendbar erklärt werden.
ſtand lebhafter Verhandlungen geweſen. Vgl. Protok. I. Leſ. S. 391 ff. (Hahn
S. 612 ff.)
Gerichtsverf.Geſetzes. Auch die Verträge über die Errichtung gemeinſamer Ge-
richte enthalten z. Th. Beſtimmungen dieſer Art.
ſtimmungen des Reichsſtrafgeſetzbuchs §. 31 u. §. 33. §. 35 Abſ. 2 Anwendung.
Vgl. Bd. I. S. 490.
von den Vorſchriften des Reichsbeamtengeſetzes gemäß den im §. 25 Abſ. 2
u. 3 des Geſetzes v. 12. Juni 1869 bereits ſanctionirten Regeln. Gerichtsverf.-
Geſ. §. 130. Vgl. Bd. I. S. 472. 473.
dieſes Organes überlaſſen.
§. 7. Bayern Art. 1. Württemberg §. 21. Baden §. 8. Braun-
ſchweig §. 6. Elſaß-Lothringen §. 1. In den freien Städten übt
der Senat das Ernennungsrecht aus. Lübeck §. 4. 29. Bremen §. 85.
Hamburg §. 76.
(Hahn S. 125) hervorgehoben. Gebrauch davon haben nur Bremen (Ausf.
Geſ. §. 87) und Hamburg (Ausf.Geſ. §. 77) gemacht.
Handelsrichter werden will, wird auch nicht dazu ernannt.
(Hahn S. 121), woſelbſt es heißt: „Auch ein Erſatz der dem Handelsrichter
für die etwaigen Reiſen zum Gerichtsort erwachſenden Koſten kann ihm nicht
zugeſichert werden. Der außerhalb des Gerichtsorts wohnhafte Kaufmann,
der eine Ernennung als Handelsrichter annimmt, läßt
ſich dadurch gefallen, daß der Staat während ſeiner Amtsperiode auf
ſeine Dienſte am Gerichtsort rechnen kann.“
Geſchworenen die Amtsverſchwiegenheit auferlegt, die Handelsrichter mit Recht
übergangen, da ſich für ſie dieſe Pflicht von ſelbſt aus ihrer Beamtenſtellung
ergiebt.
nargewalt. Vgl. Motive S. 137 (Hahn S. 127.)
chow, der Zeugnißzwang. Jena 1877. Fr. Oetker in Goltdammer’s
Archiv Bd. 26 S. 113 ff. v. Schrutka-Rechtenſtamm, Zeugnißpflicht
und Zeugnißzwang im öſterr. Civilproz. Wien 1879. Geyer in v. Holtzen-
Wetzell Civilprozeß §. 23 Note 38 (S. 214) v. Schrutka a. a. O. S. 33 ff.
tigen Entwicklung kann hier nicht gegeben werden.
prozeßrechts S. 510 ff. v. Lilienthal in v. Holtzendorff’s Rechtslexi-
con (3. Aufl.) Bd. III. S. 1420 ff. Daſelbſt S. 1432 ein Verzeichniß der Li-
teratur.
überhaupt nicht oder nur in ganz engen Gränzen kennt, ſo giebt es allerdings
auch keine geſetzliche Zeugenpflicht; es kann aber der Zeugenbeweis ohne
geſetzliche Zeugenpflicht eingeführt werden und zwar nicht blos der Beweis
mit Urkundszeugen, die unter Einwilligung beider Parteien gleich beim Ab-
ſchluß des Rechtsgeſchäfts als Zeugen deſignirt worden ſind, und ſich gegen
Entgeld (Wiſſenspfennige, Urkundsgeld) oder unentgeldlich zur Ablegung des
Zeugniſſes für den Fall, daß daſſelbe erforderlich wird, verpflichtet haben, ſon-
dern auch der Beweis mit Zeugen aus zufälliger Kenntniß, deren Ausfindig-
machung und Production den Parteien überlaſſen iſt. Die Geſchichte des
mittelalterlichen Prozeßrechts bietet in dieſer Beziehung einen reichen Stoff.
nung auch auf andere Angelegenheiten für anwendbar erklärt worden ſind.
Strafproz.Ordn. u. v. Lilienthal a. a. O. S. 1428.
der Ausführungsgeſetze zum Gerichtsverf.Geſetz darüber, ob Referendare be-
fugt ſind, Zeugen eidlich zu vernehmen oder nicht.
„Ermittlungen jeder Art, mit Ausſchluß eidlicher Vernehmungen, entweder ſelbſt
vorzunehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizei- und Sicher-
heitsdienſtes vornehmen zu laſſen“, aber nur ſoweit das Publikum frei-
willig ſich bereit finden läßt, den Beamten der Staatsanwaltſchaft oder
Polizei Auskunft zu geben; eine Verpflichtung hierzu iſt in keinem Falle
begründet und kann auch landesgeſetzlich hinſichtlich der zur ordentlichen ſtrei-
tigen Gerichtsbarkeit gehörenden Angelegenheiten nicht eingeführt werden.
nehmung von Zeugen findet ſich ebendaſ. §. 39.
§. 19. 30 (R.G.Bl. S. 553. 555).
gänzliche Aufhebung der älteren Geſetze.
rung auf dem richtigen Prinzip beruht.
zeitung. Anderer Anſicht iſt v. Lilienthal a. a. O.
Reichstages 1872 Nr. 9) S. 43 ff. iſt dies wiederholt hervorgehoben; nament-
lich heißt es daſelbſt S. 44: „Ueber die Beweisaufnahme, namentlich die Ver-
nehmung von Zeugen, deren Vorladung, Zwang zum Erſcheinen und
Beeidigung, werden die Regeln des gewöhnlichen Strafver-
fahrens gelten müſſen.“
ſehr verbreitet. Auch Dochow a. a. O. S. 28 ff. hält noch an ihr feſt; ebenſo
Glaſer in v. Holtzendorff’s Rechtslexicon III. S. 1403 (3. Aufl. 1881).
S. 65 a. E.)
herrlichen Familien iſt in der Strafproz.Ordn. §. 71 und in der Civilproz.O.
§. 340 ein beſonderes Verfahren angeordnet oder geſtattet Durch dieſe Vor-
ſchriften wird keine ſtaatsrechtliche Zeugenpflicht dieſer Perſonen d. h. die
Zuläſſigkeit eines ſtaatlichen Zwanges gegen dieſelben anerkannt, ſondern nur
eine Abweichung von dem gewöhnlichen Verfahren für den Fall eingeführt,
daß eine der erwähnten Perſonen geneigt iſt, eine Zeugenausſage zu machen.
In der Literatur über die Reichsprozeß-Ordnungen wird dies durchweg über-
ſehen, aber wol nur, weil hier die ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkte gegenüber
den prozeßrechtlichen überhaupt zu kurz kommen.
Strafgeſetzb. nicht unfähig zur Ablegung einer Zeugenausſage, ſondern nur
zur Ableiſtung eines Zeugen eides. Vgl. Strafproc.O. §. 56 Ziff. 2 Civil-
proc.Ordn. §. 358 Ziff. 2. Dagegen kennt das Strafgeſetzb. Art. 34 Ziff. 5
die Strafe der Unfähigkeit „Zeuge bei Aufnahme von Urkunden zu ſein“; dies
iſt aber kein Fall der geſetzlichen Zeugenpflicht, ſondern der freiwilligen
Uebernahme einer Notariatsfunction (vertragsmäßigen Zeugenpflicht).
Strafſachen in den ſog. Auslieferungsverträgen mit Italien v. 31.
Oktob. 1871 §. 12 (R.G.Bl. S. 454), mit der Schweiz v. 24. Jan. 1874
Art. 12 (R.G.Bl. S. 118), mit Belgien v. 24. Dezember 1874 Art. 13
(R.G.Bl. 1875 S. 84), mit Luxemburg v. 9. März 1876 Art. 13 (R.G.Bl.
S. 229), mit Braſilien v. 17. Septemb. 1877 Art. 14. (R.G.Bl. 1878
S. 303), mit Schweden und Norwegen v. 19. Januar 1878 Art. 12.
13. (R.G.Bl. S. 121), mit Spanien v. 2. Mai 1878 Art. 13 (R.G.Bl.
S. 223).
im civil. Arch. Bd. 64 S. 51 ff. Schrutka a. a. O. S. 245 ff.
einen beauftragten oder erſuchten Richter (ausnahmsweiſe) angeordnet werden
kann, ſind normirt in der StrafprozeßO. §. 222 u. in der Civilproz.O. §. 340.
zu §. 49 cit.
auf Anordnung des Gerichts. Im Strafprozeß werden jedoch die zur Haupt-
verhandlung erforderlichen Ladungen von der Staatsanwaltſchaft bewirkt und
ſelben Prozeß oder wegen deſſelben Gegenſtandes der Befragung ausgeſchloſſen.
In den Kommentaren zur Strafproz.O. wird öfters der „wiederholten“ Ladung
die „neue Ladung“ gegenübergeſtellt, ſo daß z. B. ein Zeuge erſt zur Vor-
unterſuchung, dann zur Hauptverhandlung u. ſ. w. immer von Neuem und
jedesmal wiederholt geladen und für ſein Ausbleiben beſtraft werden könnte.
Dadurch würde die Abſicht des Geſetzes, die Ungehorſamsfolgen auf ein Ma-
ximum zu begränzen, vereitelt werden. Der prozeſſualiſche Begriff der Ladung
und die Sylbenſtecherei, ob eine Ladung eine „neue“ oder eine „wiederholte“
ſei, kann nicht allein entſcheiden; es kommt auch auf den Geſichtspunkt an,
daß die Zeugenpflicht eine öffentliche Laſt iſt, deren Schwere ſich durch
die Folgen ihrer Nichterfüllung weſentlich mit bemißt, ſo daß dieſe Folgen
nicht in das Unbegränzte ausgedehnt werden dürfen. Vgl. Voitus Kontro-
verſen II. S. 19 ff.. woſelbſt die Aeußerungen der Kommentatoren mitgetheilt
ſind. Die richtige Anſicht wird vertreten beſonders von Geyer in Holtzen-
dorff’s Handbuch I. S. 271 und von Bindung Grundriß S. 115, indeß hat
der erſtere ſeine Meinung geändert. (Lehrbuch des Strafprozeßrechts S. 513.)
Entſchließung. Strafproc.O. §§. 213. 220. 221 Abſ. 2; und dem Angeklagten
ſteht das Recht zu, Perſonen auch unmittelbar laden zu laſſen, indem er den
Gerichtsvollzieher mit der Ladung beauftragt. ebendaſ. §§. 219. 38. Im Civil-
proceß wird die Ladung der Zeugen von dem Gerichtsſchreiber unter Bezug-
nahme auf den Beweisbeſchluß ausgefertigt und von Amtswegen zugeſtellt.
Civilproz.Ordn. §. 342. Die Ladung einer dem aktiven Heere oder der aktiven
Marine angehörenden Perſon des Soldatenſtandes erfolgt durch Erſuchen der
Militärbehörde. Strafproc.O. §. 48 Abſ. 2. Civilproc.O. §. 343. Vgl. hierzu
die „Feſtſtellung des Begriffs Militärbehörde“ im Centralbl. des D. R.1880 S. 480.
der Strafe, ſondern auch die Entſcheidung über die Strafbarkeit zu. Siehe
Voitus Kontroverſen I. S. 20 ff.
bei der Gerichtspflicht oben S. 142, bei der Wehrpflicht III. 1 S. 146. 154.
Funktion eines ſolchen liegt der Abſchluß eines Zeugenvertrages, welcher
eine weitergehende Zeugnißpflicht als die auf Geſetz beruhende begründet.
beamtengeſetz §. 12 (Bd. I. S. 422).
die Miniſter der Genehmigung des Landesherrn, für die Mitglieder der Se-
nate der freien Hanſeſtädte der Genehmigung des Senats.
Civilproz.O. §. 351—354 und Strafproz.O. §. 55.
der Seeunfälle findet die Anordnung der Haft zur Erzwingung eines Zeug-
niſſes nicht ſtatt. Reichsgeſ. v. 27. Juli 1877 §. 19 Abſ. 2.
nung der Haft von Amtswegen erfolgen. Civilpr.O. §. 597 Abſ. 4.
fragen mitumfaßt, ſo muß die Beeidigung des Zeugen vor der Beantwortung
derſelben erfolgen. Urth. des Reichsgerichts v. 30. Nov. 1881. (Entſcheidungen
in Strafſachen Bd. 3 S. 80.)
Strafgeſetzb. Art. 161.
trägliche Beeidigung anordnen.
auch außer den Fällen der §§. 56. 57 die Beeidigung eines vernommenen
Zeugen unterbleiben darf, iſt rein prozeſſualiſcher Natur, denn ſie betrifft
nicht die Zeugenpflicht, ſondern das Zeugenbeweis-Verfahren. Eine Erörterung
derſelben giebt Voitus Kontroverſen Bd. I. S. 176 ff. 295 ff.
des Patentamts v. 18. Juni 1877 §. 12 (R.G.Bl. S. 536). Gebühren-Ordn.
§. 6 ff.
Vorſchrift iſt es zweifelhaft, ob ſie auch auf die im Ausland wohnenden Zeugen
und die höheren Gebührenſätze des ausländiſchen Rechts bezogen
werden darf. Sie iſt von der Reichstagskommiſſion (Protok. I. Leſung S. 10 ff.
Hahn S. 323 ff.) beſchloſſen worden mit Rückſicht auf die Verſchiedenheit der
Gebührenſätze, welche damals innerhalb des Bundesgebietes be-
ſtanden haben und zwar bei Erörterung der Vorſchriften des Gerichtsver-
faſſungsgeſetzes über die Rechtshülfe, welche ja nur unter den Gerichten
des Bundesgebietes Geltung haben (abgeſehen von den Konſulargerichten). Da-
her erklärt ſich, daß die Beſtimmung in dem Titel von der Rechtshülfe ihren
Platz gefunden hat, wohin ſie ihrem Inhalte nach nicht gehört.
Durch den Erlaß einer Zeugen-Gebühren-Ordnung für das ganze Reich iſt je-
Stellung der Sachverſtändigen im Prozeß iſt hier nicht näher einzugehen.
Vgl. hierüber Seuffert Civilprozeß-Ordnung S. 433 ff. Schwarze Straf-
proz.Ordn. S. 207 und die daſelbſt Citirten. Ferner Wach Vorträge S. 57 ff.
und Binding Grundriß S. 109 ff. und insbeſondere die eingehende hiſtori-
ſche und dogmatiſche Erörterung von Obermeyer Die Lehre von den Sach-
verſtändigen im Civilprozeß. München 1880.
Abſ. 2 kann keine Anwendung finden, wenn der Zeuge innerhalb des Bundes-
gebietes ſich aufhält. Da nun aber die erwähnte Gebühren-Ordnung und das
Gerichtskoſtengeſetz gleichzeitig in Kraft getreten ſind und nicht anzunehmen
iſt, daß der Geſetzgeber eine Anordnung erläßt, und gleichzeitig die Voraus-
ſetzungen ihrer Anwendbarkeit beſeitigt, ſo muß dieſe Anordnung ſo ausgelegt
werden, daß ſie eine rechtliche Wirkſamkeit behält, und dies iſt nur der Fall,
wenn man ſie auch auf diejenigen vor ein inländiſches Gericht geladenen Zeu-
gen, welche im Auslande ihren Aufenthaltsort haben, bezieht. Auch praktiſche
Erwägungen ſprechen hierfür; da der Staat keine geſetzlichen Zwangsmittel
gegen ſolche Zeugen hat, ſondern darauf angewieſen iſt, daß die letzteren frei-
willig der Ladung Folge leiſten, ſo würde er ſeinem eigenen Intereſſe durch
ungenügende Entſchädigung des Zeugen entgegenhandeln.
Verbot, einen öffentlichen Beamten als Sachverſtändigen zu vernehmen, wenn
die vorgeſetzte Behörde des Beamten erklärt, daß die Vernehmung den dienſt-
lichen Intereſſen Nachtheile bereiten würde.
richtung des Patentamts v. 18. Juni 1877 §. 12 (R.G Bl. S. 536).
Sarwey und Thilo’s Juſtizgeſetzgebung II. Abth. 2. Bd.).
Erſuchen durch die Militärgerichte.
koſtengeſetz §. 86 ff.
zu den 3 Prozeßordnungen. Ferner für den Strafprozeß: Meves in
v. Holtzendorff’s Handbuch Bd. II. S. 497, Wieding in v. Holtzendorff’s
Rechtslexikon Bd. II. S. 567 und Binding Grundriß S. 147 ff. — Für
den Civilprozeß: Endemann Civilproz. Bd. III. S. 577 ff. Hin-
ſchius im citirten Rechtslexikon Bd. II. S. 569 und beſonders Fitting
Reichscivilprozeß §. 94 ff. — Vgl. auch Menger in Grünhut’s Zeitſchrift
Bd. VII. S. 656 ff.
nicht die Befreiung von der Pflicht, die erwachſenden Auslagen zu erſetzen.
In dem Gerichtskoſtengeſetz werden durchweg Gebühren und Auslagen ſcharf
von einander unterſchieden.
über das Armenrecht finden auch auf Konkursſachen Anwendung. Konk.O. §. 65.
hörde“ der Partei ausgeſtelltes Zeugniß. Civilproz.O. §. 109 Abſ. 2.
Luxemburg v. 12. Juni 1879, mit Italien v. 1. Oktob. 1879 (R.G.Bl.
1879 S. 316. 318. 312.)
einer Inſtanz für dieſelbe das Armenrecht nicht mehr bewilligt werden. Beſchl.
des Reichsgerichts v. 27. Juli 1880. Entſcheidungen in Civilſachen Bd. II. S. 378.
S. 178 ff.) Art. 1.
S. 166 ff.). Geſ. v. 29. Juni 1881 Art. 3.
S. 408 ff. Seydel „Das D. Reich als Privatrechtsſubject“ in Behrend
und Dahn’s Zeitſchrift f. die Deutſche Geſetzgebung Bd. VII. S. 226 ff. (1874);
Böhlau Mecklenburgiſches Landrecht Bd. III. 1. Abth. S. 4 ff. (1880);
Reincke „Betrachtungen über Entſtehung und Rechtsſtellung des Deutſchen
Reichsfiskus“ in (Gruchot’s) Beiträgen zur Erläuterung des Deutſchen Rechts
von Raſſow und Küntzel. Bd. 23 S. 481 ff. (1879).
Bundesfiskus juriſtiſch nicht exiſtirte, wurde von v. Martitz Betrachtungen ꝛc.
S. 35 vertreten, dem Seydel a. a. O. S. 227 zuſtimmt.
in v. Holzendorff’s Rechtslexicon Bd. III. S. 376.
den Ausdruck „Bundesfiskus“ und umſchreiben ihn mit Worten wie Bundes-
mittel, Bundeskoſten, Bundeskaſſe oder durch Angabe der zu ſeiner Vertretung
befugten Behörde. Siehe die näheren Nachweiſungen Annalen S. 410 a. E.
Die Bezeichnung „Bundesfiskus“ findet ſich zuerſt in dem Geſetz v. 1. Juni
1870 über die Flößerei-Abgaben. Seit Gründung des Deutſchen Reiches da-
gegen wird der Ausdruck „Reichsfiskus“ in der Reichsgeſetzgebung durchweg
angewendet.
gaben erheben, einander Vorſchüſſe machen, Vermögensobjekte ſich übertragen,
Vereinbarungen unter einander treffen. Prozeſſe unter verſchiedenen Sta-
tionen deſſelben Fiskus ſind dagegen als unzuläſſig zu erachten; denn,
wenn es auch denkbar iſt, daß in der Form des Civilprozeſſes ein gerichtliches
Urtheil darüber herbeigeführt wird, ob ein gewiſſer Anſpruch oder eine gewiſſe
Verbindlichkeit zu dieſem oder jenem fiskaliſchen Vermögenscomplex gehört, ſo
gebricht es doch an der für jeden wirklichen Prozeß unentbehrlichen Verſchieden-
heit der Parteien.
verwaltung. (Geſ. v. 20. Juni 1872 R.G.Bl. S. 210.) Generalſtabsſtiftung.
(Geſ. v. 31. Mai 1877 R.G.Bl. S. 523.) Garantiefonds der mittelſt Kgl.
Ordre v. 26. Dezemb. 1871 zu Berlin begründeten „Lebensverſicherungsanſtalt
für die Armee und Marine“. (Geſetz vom 29. April 1878 Art. I. (R.G.Bl.
1878 S. 85.)
lich der Vergütungen für Erfüllung der Militärlaſten und für die Rayonbe-
ſchränkungen; ſiehe Bd. III. 1. S. 316 ff..
Bd. V. S. 41 ff.
Beiſpiele hierfür ſind folgende: Geſ. über die Portofreiheiten v. 5. Juni
1869 (B.G.Bl. S. 141) §. 7. Poſtgeſetz v. 28. Oktob. 1871 (R.G.Bl. S. 347)
§. 13. Flößerei-Abgaben-Geſetz v. 1. Juni 1870 §. 2 (B.G.Bl. S. 313).
Militärpenſions-Geſetz v. 27. Juni 1871 §. 116. Kriegsleiſtungsgeſetz vom
13. Juni 1873 §. 34. Feſtungsrayon-Geſetz v. 21. Dez. 1871 §. 42. Reichs-
beamtengeſetz §. 151—153. Inſtruction f. den Rechnungshof v. 5. März 1875
§. 18 (Bd. I. S. 357). — Spezielle Vorſchriften beſtehen hinſichtlich derjenigen
Behörden, welche bei der Pfändung des Dienſteinkommens der Offiziere und
Beamten den Militär-Fiskus als Drittſchuldner im Sinne der §§. 730 ff. der
Civilproz.Ordn. zu vertreten haben. Verzeichniſſe derſelben ſind bekannt ge-
macht im Centralbl. des D. R. 1881 S. 385 (Preußen); S. 446 (Sachſen);
S. 472 (Württemberg); 1882 S. 92 (Bayern).
S. 236 ff. Dernburg Preuß. Privatr. I. §. 57 (3. Aufl. S. 122) Meyer
Staatsrecht §. 208. Mandry der civilrechtl. Inhalt der Reichsgeſetze S. 114.
Zorn im Rechtslexicon a. a. O. S. 376. Böhlau S. 17. Schulze,
Deutſches Staatsrecht I S. 578 und beſonders Reincke a. a. O. S. 486 ff.
Auch das Preuß. Obertribunal hat dieſe Anſicht gebilligt, Entſcheidungen
Bd. 70 S. 217 ff.; freilich mit ſehr bedenklicher Motivirung. Eine Anwen-
dung hat dieſelbe auch gefunden im Reichsgeſetz v. 25. Mai 1873 §. 1 Abſ. 2.
Vgl. auch Reichsſtempel-Geſetz v. 1. Juli 1881 §. 29. Die entgegengeſetzte Mei-
nung wird nur von Förſter Theorie und Praxis des preuß. Privatrechts
IV. S. 395 ff. vertheidigt; ſeine Deduction beruht aber auf der unrichtigen
Unterſtellung, daß der Reichsfiskus in den Gebieten der Bundesſtaaten, insbe-
ſondere in Preußen, als ein fremder Fiskus anzuſehen ſei.
anerkannt und als „ein bedenklicher Zuſtand“ bezeichnet worden von dem
Bundeskommiſſar v. Möller in der Sitzung des Reichstages v. 26. April
1873 (Stenogr. Berichte I. S. 356).
behauptet Dernburg a. a. O., daß das Reich in Berlin ſein Quaſidomizil habe
und daher der Reichsfiskus der Regel nach den Rechtsgrundſätzen des in Berlin
geltenden preußiſchen Landrechts reſp., inſoweit daſſelbe in Betracht kommen
könnte, des märkiſchen Provinzialrechts unterſtehe (S. 121 Note 10), und er
erklärt es (S. 122 Note 12) für ſelbſtverſtändlich, daß auch nichtpreußiſche
Stationen des Reichsfiskus die gleichen fiskaliſchen Vorrechte wie die in Preußen
ſelbſt belegenen haben, da der Reichsfiskus eine einheitliche Perſönlichkeit iſt.
Aber dieſer Grund beweiſt Nichts; denn auch phyſiſche Perſonen, die doch ge-
wiß einheitlich ſind, können mehrere Wohnſitze haben und nach verſchiedenen
Rechten beurtheilt werden.
Theil antiquirt ſind Weiske in ſeinem Rechtslexicon Bd. IV. S. 303 ff.
Für Preußen: FörſterIV. S. 394 und DernburgI. §. 57; für
Bayern Roth Bayer. Civilrecht I. §. 34; für Württemberg Rey-
ſcher Privatrecht III. §. 777; für Kgr. Sachſen: B. G. Schmidt Vor-
leſungen I. §. 22 S. 71; für das Franzöſ. Recht: Dalloz Jurisprudence
générale Tome XXXVII. Art. Priviléges et hypothèques nro. 533 ff.,
Aubry et Rau Cours de droit civil français (4. édit.) §. 263 bis. (III.
S. 177 ff.) v. Möller’ſche Sammlung der in Elſ.Lothr. geltenden Geſetze
Bd. I. B. Note 671. 673. 689.
gelangte überhaupt nicht über die erſte Leſung hinaus, bei welcher ſich eine
große Meinungsverſchiedenheit ergab. Vgl. Stenogr. Ber. I. S. 143 ff. 266 ff.
Die formalen Gründe für die Befreiung des Reichsfiskus, welche aus der Sou-
veränetät des Reiches hergenommen worden ſind, beweiſen allerdings zu viel,
da ſie gegen jede Belaſtung des Reichsfiskus, auch mit der Grundſteuer,
ſprechen würden; dagegen ſind die ſachlichen Bedenken gegen die lokale Be-
ſteuerung des Reichseinkommens in der That ſchwerwiegend. Für die Steuer-
pflicht des Reichsfiskus erklärt ſich Walcker in Hartmann’s Zeitſchr. f.
Geſetzgebung u. Praxis des öffentl. Rechts II. S. 121 ff. (1876.)
1873 S. 412 ff. Eine ziemlich vollſtändige und großentheils wortgetreue Re-
produktion meiner Ausführungen findet ſich bei v. Rönne Staatsr. des D.
R. II. 1. S. 70 ff. (2. Aufl. 1877).
ſollte, der Betrieb einer Tabaksmanufactur zweifellos als induſtrieller
Gewerbebetrieb zu erachten ſein. Auch den Reichsbank-Niederlaſſungen
iſt Befreiung von der Kommunalſteuer nicht gewährt; es folgt dies mittelſt
argum. e contrario aus §. 21 des Bankgeſetzes und iſt poſitiv bei den Ver-
handl. des Reichstages ausgeſprochen worden. Stenogr. Berichte 1874/75
Bd. II. S. 1342 ff. Vgl. auch die hiermit übereinſtimmende Entſcheidung
des bayer. Verwaltungs-Gerichtshofes v. 17. Dez. 1880 (bei A. Reger Ent-
ſcheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden. Bd. I. S. 427 ff.)
dieſes Vermögens aus, da die Benutzung und Verwendung deſſelben Seitens
der Verwaltungsbehörden den Baaraufwand (z. B. die Zahlung von Mieths-
preiſen für Amtslokale) erübrigt oder vermindert.
1871 S. 236) Vertrag zwiſchen Deutſchland und Luxemburg v. 11. Juni 1872.
Reichsgeſ. v. 15. Juli 1872 (R.G.Bl. S. 329).
in dem erwähnten Vertrage §. 11 vereinbart. (R.G.Bl. 1872 S. 334.) Her-
vorzuheben iſt hier, daß von dem von der Deutſchen Verwaltung auf die Ver-
beſſerung der Bahn verwendeten Kapital, und zwar vom Tage der Veraus-
gabung ab, 5 Prozent Zinſen den Betriebsausgaben hinzuzurechnen ſind.
niſſen des Betriebes der Luxemburgiſchen Eiſenbahnen iſt die Wahrſcheinlich-
keit ſehr gering, daß das Unternehmen dem Reichsfiskus einen Gewinn ab-
werfen wird.
1871 §. 1 an die Bedingung geknüpft, daß der Preußiſche Staatsſchatz, welcher
für den Norddeutſchen Bund als Kriegsſchatz gedient hatte, aufgehoben werde.
Dieſe Bedingung iſt durch das Preuß. Geſ. v. 18. Dezemb. 1871 (Geſetz-Samml.
S. 593) erfüllt worden.
S. 401 hervor, daß nicht zu erſehen iſt, welche rechtliche Folgen eintreten,
wenn nach thatſächlich erfolgter Verwendung des Reichskriegsſchatzes die Ge-
nehmigung verſagt wird.
Nro. 5; Kommiſſionsbericht ebendaſ. Nr. 30; Verhandlungen
Stenogr. Berichte I. S. 24 ff. 117 ff. 148 ff. Vgl. Ad. Wagner in v.
Holtzendorff’s Jahrbuch III (1874) S. 152 ff. Ernſt Meier in v.
Holtzendorff’s Rechtslexicon Bd. III. S. 397 ff.
mittel zu verſtehen. Vgl. Bd. II. §. 74. Ausgeſchloſſen ſind daher nicht blos
Metallbarren und Reichskaſſenſcheine, ſondern auch ausländiſche Gold- und
Silbermünzen.
durch die Bearbeitung der Invalidenſachen in Folge des Krieges von
1870/71 erwachſen, werden aus dem Invalidenfonds beſtritten, indem die be-
treffenden Beträge als Zuſchüſſe zu den Militärkoſten den 4 Staaten mit eigner
Militärverwaltung gezahlt werden. R.G. v. 23. Mai 1873 §. 7.
Waiſengeldern für Hinterbliebene von Beamten der Verwaltung des Reichs-
invalidenfonds fallen geſetzlich nicht dieſem zur Laſt, ſondern ſind aus allge-
meinen Reichsmitteln zu beſtreiten.
und 1874 werden auch für das bayeriſche Kontingent unmittelbar für Rech-
nung des Reichsinvalidenfonds bezahlt. Ebenſo ſind die Penſionen u. ſ. w.
für die Angehörigen der ehemals ſchleswig-holſt. Armee gemeinſchaftlich
zu tragen auf Grund des Vertrages v. Verſailles v. 23. Nov. 1870 Art. 79
Ziff. 9 u. Ziff. 27.
17. Juni 1878 letzter Abſ. (R.G.Bl. S. 128). R.G. v. 30. März 1879 §. 2
Abſ. 2 (R.G.Bl. S. 119).
S. 24). Geſ. v. 30. März 1879 §. 1 (R.G.Bl. S. 119).
bilden d. h. dem Fonds nicht zuwachſen. Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 7.
zu leiſtende Eid nunmehr in öffentlicher Sitzung des Reichsgerichts (ſtatt Reichs-
Oberhandelsgerichts) zu ſchwören iſt. Reichsgeſ. v. 16. Juni 1879 §. 1 (R.G.Bl.
S. 157).
bereits aufgebraucht; die Aufzählung derſelben iſt ohne ſtaatsrechtliches Intereſſe.
Art. III Abſ. 1 des citirten Geſetzes enthalten. Die Geſchäftsanweiſung vom
11. Juni 1874 (R.G.Bl. S. 104) findet mit Ausnahme des §. 9 auch auf den
Feſtungsbaufonds Anwendung (§. 16 der citirten Geſchäfts-Anweiſung).
25 Dez. 1875 (R.G.Bl. S. 325) enthalten im §. 7 darüber Anordnungen.
am 2. Dezember 1875 geſchloſſen worden (Druckſ. des Reichstags v. 1875
Nro. 186). Von dem Betrage von 17 Mill. iſt in Abzug zu bringen der Preis
für das vom Reich zurückerworbene Terrain für die Univerſitätsbauten; der
Reſt (15965373 M.) iſt vom Jahre 1879 ab in Jahresraten von einer Million
abzutragen und iſt unverzinslich. Da die Koſten der Herſtellung der
neuen Umwallung aber ſogleich bei der Vornahme der Arbeit gedeckt werden
mußten, ſo iſt gerade hierfür der Reichsfeſtungsbaufonds in Anſpruch genom-
men worden. Vgl. S. 212 Note 7.
Geſ. v. 23. Febr. 1876 §. 2.
aus der Reichskaſſe für den Bau eines allgemeinen Kollegienhauſes in Straß-
burg auf Grund der Etatsgeſetze überwieſenen Mittel zeitweilig zinsbar ange-
legt worden ſind und daß der hiervon bis zum Schluß des Etatsjahres 1880/81
aufgekommene Zinſenertrag in Folge eines Monitums des Rechnungshofes als
Einnahme des Reiches verrechnet worden iſt. (Ueberſicht ꝛc. für 1880/81 S. 372.)
triebe auf 37940 M. beziffert.
des Reichstages von 1879 Nro. 152.
iſt der Ueberſchuß der Reichsdruckerei auf 1051240 M. veranſchlagt.
von vorübergehenden Verſtärkungen der Betriebsmittel der Reichskaſſen durch
Begebung von Schatzſcheinen. Vgl. unten §. 109. I.
mene Denkſchrift in den Druckſachen des Reichstags II. Seſſ. 1871 Nro. 111.
zum Etatsgeſetz-Entwurf S. 49 ff. (Druckſ. des Reichstages 1881/82 Nr. 5).
und Konſulate aus dieſem Fonds mit Betriebsmitteln in Höhe von 750000 M.
ausgeſtattet worden.
der Maximalbetrag derſelben auf 70 Millionen Mark erhöht worden.
1870 S. 282 und 1873 S. 22 ff. Hinſichtlich des beweglichen Eigenthums
war die entgegengeſetzte Auffaſſung ſchon ſeit 1868 feſtgehalten worden. Dies
war theoretiſch zwar ſicherlich falſch, praktiſch aber nicht abzuweiſen, da das
bewegliche Verwaltungseigenthum zum überwiegend größten Theil aus ver-
brauchbaren Gegenſtänden beſteht, die durch die Verwaltungsthätigkeit ſelbſt
conſumirt werden. Vgl. Annalen 1873 S. 426 und die Erklärung des
Staatsminiſters Delbrück in der Sitzung des Reichstags v. 18. März 1873.
Stenogr. Berichte S. 23. Ferner Seydel in Behrend’s Zeitſchrift Bd. VII
S. 230 fg.
ſachen des Reichstages IV. Seſſ. 1873 Nro. 6. Kommiſſions-Bericht
ebendaſ. Nro. 51. Verhandlungen des Reichstages in den Stenogr. Be-
richten I. S. 22 ff. 355 ff.
(u. Abſ. 3), welche bereits oben S. 200 erörtert worden ſind, und durch §§. 10
bis 12, welche das Budgetrecht betreffen und unten §. 123 ff. zur Darſtellung
kommen werden.
Stelle der Vereinbarungen in der Heſſiſchen Militärconvention Art. 20 und
in der Badiſchen Militärconvention Art. 11 getreten ſind. Vgl. darüber An-
nalen S. 430. Eine materielle Veränderung der Rechte iſt übrigens da-
durch kaum herbeigeführt worden.
nannten Militärfiskus noch mehr complizirt werden, iſt einleuchtend.
Anwendung, was nach ſeinem Wortlaut und nach den Verhandlungen über
den Entwurf zweifellos iſt. Vgl. Seydel a. a. O. S. 235.
gewährt, ſondern nur die juriſtiſche [Qualität] der dem Reichsfiskus zuſtehenden
Rechte declarirt. Vgl. auch die Erklärung des Berichterſtatters des Reichs-
tages, Becker (Oldenburg), Stenogr. Ber. 1873 S. 378.
Koſten einer Verwaltung auf das Reich“ ꝛc. Bei einer Buchſtaben-Auslegung
würde dieſe Geſetzesbeſtimmung auf die Militärverwaltung nicht anwendbar
ſein, was der Abſicht des Geſetzgebers widerſpräche.
Ausnahme der Bayeriſchen mitzuverſtehen.
geführten 4 Verwaltungen beſchränkt, ſondern das Grundſtück kann jeder be-
liebigen Reichsverwaltung zum dienſtlichen Gebrauch überwieſen werden. Vgl.
über die Rechtsgrundſätze, welche in dieſer Hinſicht vor Erlaß des Reichsge-
ſetzes v. 25. Mai 1873 aus allgemeinen Prinzipien herzuleiten waren, meine
Erörterungen in Hirth’s Annalen 1873 S. 428 ff.
ſchafft wird, iſt nicht vorgeſchrieben; nur im Gebiete deſſelben Bundes-
ſtaates muß er effectuirt werden. Durch die Anordnungen dieſer beiden
Paragraphen (4 u. 5) iſt das Heimfallsrecht praktiſch ausgeſchloſſen; denn jedes
Grundſtück wird in allen Fällen entweder in einem andern Dienſtzweige ver-
von praktiſcher Bedeutung; denn es wird ſchwerlich vorkommen, daß die Mi-
litärverwaltung ein ihr gehöriges Grundſtück herausgiebt, ohne Erſatz dafür
zu beanſpruchen.
Staatsrecht des Deutſchen Reiches Bd. II. 1. S. 85 ff.
Erlöſe für irgend ein anderes Bedürfniß der Verwaltung ein Grundſtück zu
erwerben, zu erweitern, auszubauen u. ſ. w. Namentlich die Militärverwal-
tung wird ſtets dafür Verwendung haben. Die Entſcheidung, ob ein Erſatz
erforderlich ſei, ſteht auch nicht etwa dem Bundesrath oder einem Ausſchuß
deſſelben zu, ſondern der oberſten Behörde derjenigen Reichsverwaltung, in
deren Beſitz ſich das Grundſtück befindet. §. 8 a. a. O.
Note 1 von mir angeführte Fall, in welchem es ſich um eine Finanzſchuld von
150 Mill. Mark handelte. Vgl. Druckſachen des Deutſchen Reichstages I. Seſſ.
1871 Nro. 42.
Militärverwaltung ⅝, in den 6 Sommer-Monaten ⅜ ihres Etats.
die Denkſchrift zu dem Entwurf des Etatsgeſetzes für 1882/83 S. 52 fg.
der Sitzung des Reichstages v. 7. Dezember 1870 (Stenogr. Berichte S. 132)
abgegebene Erklärung.
v. 28. Oktob. 1871 (R.G.Bl. S. 343). Vgl. Annalen a. a. O. S. 438.
und im Verkehr ſpeziell mit dem Namen „Reichsanleihe“ bezeichnet. Die in
dieſer Form aufgenommene Reichsſchuld berechnet ſich, nach den Erläuterungen
in der Anlage X zum Etatsgeſetz für 1882/83, am 1. Oktober 1882 auf etwa
350 Millionen Mark.
je nachdem man an die eine oder andere Kategorie von Beſtimmungen denkt.
Die bisherige deutſche Literatur iſt auch hier weit entfernt davon, die Rechts-
begriffe zu fixiren und zu unterſcheiden. Dies gilt z. B. von den Bemer-
kungen in dem Aufſatz von v. Martitz (in der Zeitſchrift f. die geſammte
Staatswiſſenſch. 36. Bd. 1880 S. 207 ff.) hinſichtlich der Anleihegeſetze (S. 232).
Vgl. G. Meyer in Grünhut’s Zeitſchrift Bd. VIII. S. 22.
die ſogenannte Zwangsanleihe iſt eine Unterart der letzteren; ihre Be-
zeichnung als „Zwangsanleihe“, die in ſich ſelbſt einen Widerſpruch enthält,
iſt eine ſcherzhafte oder ſarkaſtiſche.
trag vom Reichskanzler ſchon vorher mit den Creditgebern vereinbart worden
iſt und vom Bundesrath und Reichstag hiezu die Genehmigung in der für
Geſetze vorgeſchriebenen Form ertheilt wird.
verſtändliche Beſtimmung, daß die Tilgung des Schuldkapitals durch Ankauf
einer entſprechenden Anzahl von Schuldverſchreibungen erfolgen kann, wenn
im Bundeshaushalts-Etathierfür Mittel beſtimmt wer-
den. Es iſt dies blos eine phraſenhafte Umſchreibung des Satzes, daß eine
Verpflichtung des Bundesfiskus zur Tilgung des Schuldkapitals nicht beſteht.
waren urſprünglich zinsbare Darlehen; durch die ſogenannte „Conſolidation“
ſind ſie in wiederkäufliche Renten verwandelt worden. Das Geſ. v. 9. Nov.
1867 (B.G.Bl. S. 157) hatte den Abſchluß eines tilgbaren Darlehens für
den Nordd. Bund in Ausſicht genommen; noch ehe es aber ausgeführt wurde,
ſetzte das Geſ. v. 6. April 1870 das Syſtem der Rentenſchuld (conſolidirten
Anleihe) an die Stelle.
leihegeſetzen des Reiches in Bezug genommen.
Reichsſchulden-Verwaltung die Schuldverſchreibungen und Coupons ausfertigt
und zwar gemäß §. 2 des Geſ. v. 9. Nov. 1867 — der in den folgenden An-
leihegeſetzen ſtets in Bezug genommen iſt — „nach beſonderer Anord-
nung des Bundespräſidiums“, ſo kann der Reichskanzler ohne
einen ſpeziellen Kaiſerl. Erlaß der Reichsſchulden-Verwaltung dieſe Ausfertigug
nicht auſtragen. Hierauf beruht die geſetzliche Nothwendigkeit jener Erlaſſe.
23. Mai 1877 und 21. Mai 1877 der Erlaß v. 14. Juni 1877 (R.G.Bl.
S. 531); zu den Geſetzen vom 29. April 1878, 8. Mai 1878 und 12. Juni
1878 der Erl. v. 14. Juni 1878 (R.G.Bl. S. 125); zu den Geſetzen vom
30. März 1879 und v. 15. Mai 1879 der Erl. v. 13. Juni 1879 (R.G.Bl.
S. 152); zu den Geſetzen v. 9. Juli 1879 und v. 26. März 1880 der Erl. v.
13. Okt. 1880 (R.G.Bl. S. 187) u. ſ. w.
hält, beruht darauf, daß bei Darlehensſchulden, welche amortiſirt oder
an beſtimmten Terminen fällig werden, der Tilgungsmodus ſchon bei der Con-
trahirung der Anleihe feſtgeſtellt wird. Vgl. das Anleihe-Geſetz des Nordd.
Bundes v. 9. Nov. 1867 §. 3.
geſetz des Nordd. Bundes vom 9. Nov. 1867 §. 1: „Zur Beſtreitung der außer-
ordentlichen Bedürfniſſe für . . . . ſind die erforderlichen Geldmittel . . . .
durch eine verzinsliche Anleihe zu beſchaffen“; fügte dann aber im §. 10
hinzu: „Die Ausführung dieſes Geſetzes wird dem Bundeskanzler übertragen“;
während es treffender geweſen wäre zu ſagen: „Die Ausführung dieſes Geſetzes
erfolgt nach Anordnung des Bundespräſidiums (Kaiſers)“. Vgl. §. 2 dieſes
Geſetzes. Schon das Bundesgeſetz v. 21. Juli 1870 über die Kriegsanleihe
(B.G.Bl. S. 491) hat die in die Reichsgeſetzgebung übergegangene Formel.
wiederholt.)
wiederholt.)
12 500 M. als Beitrag zu den Koſten dieſer Behörde.
leihegeſetzen in Bezug genommen.
Annalen 1873 S. 439, die ſich auch bei v. RönneII, 1. S. 90 wiederfinden.
Vorjahre, die Wittwen- und Waiſengeld-Beiträge der Civil-
beamten. Dieſe Lehre hat ihren Platz bei der Darſtellung der Rechtsverhält-
niſſe der Reichsbeamten und kann nicht wegen des zufälligen Grundes, daß
dieſe Darſtellung (Bd. I. S. 382 ff.) vor Erlaß des Reichsgeſ. v. 20. April
1881 abgeſchloſſen und veröffentlich worden iſt, aus dem Zuſammenhang ge-
riſſen und an dieſer Stelle nachgeholt werden.
S. 609—831. Rud. Delbrück Der Artikel 40 der Reichsverf. Berlin 1881.
lich v. Feſtenberg-Packiſch Die Geſchichte des Zollvereins. Leipzig 1869
und Weber Der Deutſche Zollverein. Leipzig 1869. 2. Aufl. 1872.
eines vertragsmäßigen Vereinsverhältniſſes abgefaßt und da ſie bei der Grün-
daß meine, von mehreren Seiten angefochtene Auffaſſung der Sonderrechte,
die Zuſtimmung einer ſo gewichtigen Autorität wie Delbrück a. a. O.
S. 1 ff. gefunden hat.
dieſer Formulirung in Kraft. Aus dieſer rein äußerlichen Faſſungsform
kann aber natürlich nicht geſchloſſen werden, daß das Vereinsverhältniß
materiell noch fortbeſteht.
Anordnungen der Zollvereinsverträge durch Beſchlüſſe abzuändern, dadurch
noch deutlicher hervor, daß das Verordnungsrecht des Bundesrathes nur in
dem Abſchnitt über das Zoll- und Handelsweſen Anerkennung gefunden hatte
(Art. 37) und Art. 40 auf dieſen Artikel Bezug nahm.
1870 S. 126 fg. Seydel Kommentar S. 180 fg. Hänel S. 126.
1867 in Betracht, der ſowohl hinſichtlich der ausländiſchen wie der inländiſchen
Erzeugniſſe das Beſteuerungsrecht der Einzelſtaaten beſtimmten Normen unter-
wirft. Vgl. Hänel S. 138 ff. Delbrück S. 25 ff.
wurde dieſe Bedeutung der Trennung der beiden Urkunden hervorgehoben.
Vgl. für Preußen die Denkſchrift zum Zollvereinsvertrage in den Anlagen
zu den Verhandlungen des Abgeordnetenhauſes 1865 IV. S. 1538 (Hänel
S. 127 Note 18).
geſetz, die Zollordnung, der Zolltarif und die „Grundſätze, betreffend das Zoll-
ſtrafgeſetz“ ſind durch das Zollgeſetz von 1869 und die andern ſpätern Reichs-
geſetze erſetzt worden, alſo nicht mehr von Belang. Ueber die ſchwierige Frage,
inwieweit das Zollkartel v. 11. Mai 1833 noch Bedeutung hat, vgl. Delbrück
S. 18 ff.
Braunſchweig, Frankfurt a. M., Leipzig und Frankfurt a. O. Vgl. Delbrück
S. 61 fg.; die beſonderen Vorrechte einzelner Staaten in Betreff der Chauſſee-
geld-Tarife (Delbrück S. 85 fg.).
einsverträgen hatte, vgl. Delbrück S. 8. Die Behauptung, daß wegen
dieſer Zollannexe neben dem Reichsverbande unter den Bundesſtaaten
noch ein vertragsmäßiges Zollvereins-Verhältniß fortdauere, iſt haltlos und
von Hänel und Delbrück bereits in überzeugender Weiſe widerlegt worden.
der letzte vom 20/25. Oktober 1865.
Gemeinde Jungholz kein Vereinsverhältniß. Socii mei socius meus socius
non est. Im Zollbundesrath wurde der Bayriſch-Oeſterreichiſche Vertrag, wie
Delbrück a. a. O. bezeugt, durch die Bemerkung erledigt, daß bei ſeinem
Inhalte nichts zu erinnern ſei.
zogthümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, das Herzogthum
Lauenburg und die Hanſeſtadt Lübeck, weil zur Zeit, als die Verhandlungen
über den Zollvereinsvertrag begannen, der Einſchluß dieſer Gebiete in die
Zollgemeinſchaft noch nicht feſtſtand; dagegen war dies hinſichtlich Schleswig-
Holſteins und des Fürſtenth. Lübeck der Fall, die deshalb unerwähnt geblieben
ſind. Delbrück S. 44. 45.
Gunſten Hannovers (jetzt Preußens) und Oldenburgs wegen Geeſtemünde und
Brake. Allein vor Errichtung des Norddeutſchen Bundes war in allen
Fällen zum Einſchluß einer Exclave die allſeitige Zuſtimmung der Ver-
einsſtaaten erforderlich, für ein Sonder recht in dieſer Beziehung alſo kein
Raum. Es war daher rechtlich gleichgültig, ob der vorläufige Ausſchluß
jener beiden Orte auf finanziellen oder auf handelspolitiſchen Motiven be-
ruhte. Da weder in dem Zollvereinsvertrag von 1867 noch in der Nordd.
Bundesverf. für Geeſtemünde und Brake eine Abweichung von dem gemeinen
Recht feſtgeſetzt wurde, ſind auch dieſe beiden Exclaven dem letzteren unter-
worfen.
bei v. Aufſeß und Delbrück S. 42. Der Anſchluß der Stadt Altona
iſt vom Bundesrath am 22. Mai 1880 vorbehaltlich der näheren Modifikationen
beſchloſſen worden.
Darſtellungen des Reichsſtaatsrechts und namentlich in Hänel’s Studien I.
S. 200 hat der Preuß. Antrag v. 19. April 1880 betreffend den Einſchluß
der Hamburgiſchen Vorſtadt St. Pauli in das Zollgebiet Veranlaſſung zu zahl-
reichen Erörterungen des Art. 34 gegeben. Soweit dieſelben ſich in Zeitungen
u. dgl. finden, können ſie hier unmöglich citirt und näher berückſichtigt werden,
ſchon wegen ihrer zahlloſen Menge; ebenſo ſehe ich ab von den vielen volks-
wirthſchaftlichen, handelspolitiſchen, hiſtoriſchen und phantaſtiſchen Abhand-
lungen über die Freihafenfrage. Unter den ſtaatsrechtlichen Erörte-
rungen ſteht in erſter Linie und überragt an wiſſenſchaftlicher Bedeutung alle
übrigen der anonyme Aufſatz in den Preußiſchen Jahrbüchern
Bd. 46 S. 494 fg. (1880). Vgl. ferner die Ausführung in der Fachzeitſchrift
„Das Deutſche Wollengewerbe“ Nro. 15. 1879. (Grünberg.) — Die Preuß.
Denkſchrift zur Begründung des Antrages v. 19. April 1880. — Art. 34 der
R.V. und der Antrag Preußens v. 19. April 1880. Hamburg, J. F. Richter.
— Die Aufſätze in der Deutſchen Rundſchau, 1880 Heft 10. Preuß. Jahr-
bücher Bd. 45 Heft 6 und Im neuen Reich, Juliheft 1881. Von beſonderer
Wichtigkeit ſind die Verhandlungen des Reichstages 1880 S. 1071 ff.
u. S. 1264 ff. 1881 S. 389 ff. 393 ff. 471 ff. 1881/82 S. 39 ff. 777 ff. 813 ff.
Einen trefflichen Ueberblick über den Verlauf der Angelegenheit und die ge-
ſammte Literatur giebt die Abhandlung von Guſtav Tuch in Schmoller’s
Jahrb. Bd. VI Heft 1 S. 113—232 (1882).
die Hanſeſtädte dem Zollgebiet einſt beitreten werden, iſt vielfach conſtatirt
worden; insbeſondere in der Preuß. Denkſchrift vom 19. April 1880 und in
mehreren Reichstagsreden des Reichskanzlers. Dagegen iſt ihnen eine Rechts-
pflicht nicht auferlegt worden; die Worte „bis ſie ihren Einſchluß beantragen“
enthalten eine reine Poteſtativbedingung (si voluerint). Die entgegengeſetzte
von v. Treitſchke Pr. Jahrb. Bd. 45 S. 630 ff. und Stenograph. Berichte
des Reichstages 1881 S. 389 u. a. aufgeſtellte Anſicht widerſpricht dem Wort-
laut und dem logiſchen Zuſammenhange der Art. 33 u. 34. — Vgl. Wolff-
ſon Stenogr. Berichte 1880 S. 1073 und Rickert ebendaſ. S. 1078.
2 Gruppen getheilt, aber nach einem ganz anderen Prinzip als in der Nordd.
Bundesverfaſſung; Art. 6 zählt unter Ziff. 1 die Gebietstheile des Nordd.
Bundes, unter Ziff. 2 die Gebietstheile der ſüddeutſchen Staaten (Badens)
auf, welche ausgeſchloſſen blieben.
ning in Hirth’s Annalen 1875 S. 366, der die ſonderbare Anſicht aufſtellt,
Art. 34 der Nordd. Bundesverf. ſei durch Art. 6 des Zollvereinsvertrages ab-
geändert worden und dieſe Abänderung ſei durch Art. 34 der Reichsver-
faſſung wieder rückgängig gemacht worden.
fabrikanten bei Tuch a. a. O. S. 155; ferner v. Kardorff Stenograph.
Berichte 1881 S. 395.
war das auch die überwiegende Anſicht; ſtatt aller andern Citate genügt die
folgende Aeußerung des kompetenteſten Beurtheilers der Frage, des Fürſten
Bismarck Stenogr. Berichte 8. Mai 1880 S. 1269: „Mir ſind Suggeſtio-
nen von anderer Seite und aus Hamburg gemacht, daß dieſes ganze Freihafen-
recht Hamburgs kein Singularrecht ſei, ſondern daß der Art. 34 durch Geſetz,
wenn nicht 14 Stimmen widerſprechen, aus der Welt geſchafft werden könne.
Ich habe darauf mit großer Beſtimmtheit und auch ſchriftlich nach Hamburg
erklärt, daß ich dieſer Deduktion nicht beiſtimmen könne,
ſondern daß das Recht auf den Freihafen nur mit Ham-
burgs Bewilligung aufhören könne, und daß ich, ſo lange ich
mitzureden hätte, auch darüber wachen würde, daß es nicht eingeſchränkt werde
auf kleinere Gränzen als diejenigen, welche nothwendig ſind, damit es ſeiner
Bezeichnung in vollkommener und loyaler Weiſe entſpreche.“ Vgl. ferner G.
Meyer Staatsrechtl. Erörterungen S. 73. Windthorſt Stenogr. Berichte
S. 1082 und beſonders Delbrück Stenogr. Berichte 1881 S. 396.
Berichte 1880 S. 1085, desgleichen Windthorſt ebendaſelbſt S. 1083.
tages 1882 I. Seſſ. S. 39 und namentlich Fürſt Bismarck Stenogr. Be-
richte 8. Mai 1880 S. 1270.
ebendaſ. S. 1078. Fürſt Bismarck a. a. O. Ferner Preuß. Jahrb. Bd. 45
S. 637. Die Schrift: Art. 34 der R.V. und der Antrag Preußens u. ſ. w.
(Hamburg 1880) S. 19 ff. Die Citate bei Tuch a. a. O. S. 168 und na-
mentlich Preuß. Jahrb. Bd. 46 S. 497 ff.
ſprünglichen Verfaſſungsentwurf ſtand das Wort „Städte“; in dem dem ver-
faſſungberathenden Reichstage vorgelegten Entwurf war es durch das Wort
„Hanſeſtädte“ erſetzt.
ſchaftlich mit Hamburg außerhalb der Zollgränze gelaſſen werden ſollte, hin-
zugefügt.
Preuß. Antrag v. 19. April 1880. Vgl. die Excerpte bei Tuch S. 155. 163.
165; insbeſondere Preuß. Jahrb. Bd. 46 S. 502 und Staatsminiſter
Hofmann Stenogr. Berichte des Reichstags 1880 S. 1295.
von 1881/82 Nro. 4. Verhandlungen darüber: Stenogr. Berichte ebendaſ.
S. 101 ff. 777—841, S. 867. Vgl. ferner Tuch a. a. O. S. 205 ff. und
Hirth’s Annalen 1881 S. 489 ff.
R.V.“ folgt übrigens, daß wenn der Senat von Hamburg den Antrag auf
Aufhebung des Freihafens einmal ſtellen ſollte, vielleicht unter der bundes-
freundlichen Einwirkung eines künftigen Reichskanzlers, der Bundesrath
allein darüber zu entſcheiden haben würde, ohne daß es eines Geſetzes bedürfte.
Siehe oben S. 258 fg. Die Bemerkungen von Windthorſt, Stenogr. Berichte
20. Januar 1882 S. 790, „daß §. 1 des Geſetzes nicht ein bloßer einfacher
Geſetzesparagraph, ſondern ein Verfaſſungsparagraph ſei, ſo daß
eine Abänderung deſſelben nur möglich ſein würde, wenn nicht 14 Mitglieder
des Bundesrathes widerſprechen“, beruht auf einer mißverſtändlichen Auffaſ-
ſung des Art. 34 der R.V.
Bd. 46 S. 503 ff. Die Hamburgiſche Brochüre: „Die Freiheit der
Elbſchifffahrt. Geſchichtl. Erläuterungen der ſtaatsrechtl. Sachlage. Hamburg
1880. — Tuch a. a. O. S. 175 ff. und aus den umfaſſenden Verhandlungen
des Reichstages von 1880 die Erörterungen von Delbrück S. 1265 fg.,
Fürſt Bismarck S. 1268, beſonders Hofmann S. 1295, ſowie die Ver-
handlungen von 1882 I. Seſſion S. 635 ff.
hat ſich ſchließlich hiermit einverſtanden erklärt, indem er die Koſten des An-
ſchluſſes im Etatsgeſetz für 1882/83 genehmigt und nur durch eine Reſolution
ausgeſprochen hat, daß er hierdurch kein „Präjudiz“ für die ihm zuſtehende
Mitwirkung habe herbeiführen wollen. Sitzung v. 14. Januar 1882. Stenogr.
Berichte S. 656. 657.
Ueberſchrift trägt: „Einrichtungen zur Beaufſichtigung und Erhebung des
Zolles“ und hat mit der Frage wegen Abgränzung der Zollexclaven gar keinen
Zuſammenhang. Unrichtiger Weiſe iſt ein ſolcher hervorgeſucht worden bei
den Erörterungen über den Zollanſchluß der unteren Elbe, namentlich vom
Fürſten Bismarck. Stenogr. Berichte 1880 S. 1268; die richtige Be-
deutung des §. 16 cit. iſt klargeſtellt worden von Lasker ebendaſ. S. 1309.
ſteuern ſind aber lediglich zugelaſſen die Steuern von der
Fabrikation des Branntweins, Biers und Eſſigs ſowie die Mahl- und Schlacht-
ſteuer, und hinſichtlich der Cirkulationsſteuer von Getränken gilt der
gebung, da es ſich um eine Modifikation des Art. 40 der R.V. handeln würde.
Siehe oben S. 248.
(R.G.Bl. S. 161).
Bezuge aus dem Auslande oder dem Bezuge aus öffentlichen Niederlagen oder
Privatlagern unmittelbar folgt), von jeder inneren Steuer befreit bleiben.
Zollv.-Vertr. a. a. O.
Uebergangsſteuer wird daher das im §. 8 des Zollgeſetzes vom 1. Juli 1869
kategoriſch ausgeſprochene Prinzip: „Binnenzölle, ſowohl des Staats, als der
Kommunen und Privaten, ſind unzuläſſig“ — modifizirt.
der R.V. in Geltung erhalten geblieben und begründet, wie Delbrück Art. 40
S. 32 mit Recht bemerkt, ein Sonderrecht der Süddeutſchen Staaten,
das unter dem Schutze des Art. 78 der R.V. ſteht.
Steuer von dem zur Eſſigbereitung verwendeten Branntwein war, abgeſehen
ſequenzen dieſes Prinzips näher detaillirt ſind.
1880 S. 25. 189. 190. 1881 S. 116. 232.
beruhen auf dem proviſoriſch vereinbarten Regulativ v. 8. Mai 1841; ſie ſind
mit den ſpäteren Abänderungen zuſammengeſtellt als Anlage zu dem Elſ.Lothr.
Geſetz v. 14. Dezemb. 1872 (Geſetzbl. f. Elſ.Lothr. 1872 S. 779 ff.). Vgl. ferner
Centralbl. f. d. D. R. 1874 S. 127.
a. a. O. Ziff. d unterſagt; dieſe Beſtimmung iſt jedoch aufgehoben worden
durch das R.G. v. 19. Juli 1879 §. 5 (R.G.Bl. S. 260).
23. Juni 1880 (R.G.Bl. S. 153) §. 6 ff.
Sicherheitsmaßregeln iſt dagegen der Bundesrath nicht zuſtändig, ſo lange
nicht das Reichsgeſetz über die Medizinalpolizei erlaſſen iſt, wozu das Reich
nach Art. 4 Ziff. 15 der R.V. kompetent iſt; denn Ausführungs beſtim-
mungen können zu einem Geſetze, das noch gar nicht vorhanden iſt, nicht be-
ſchloſſen werden.
Unrecht annimmt. Denn ſie regeln nur das Verhältniß zwiſchen dem Nord-
deutſchen Bunde und den Süddeutſchen Staaten, dagegen laſſen ſie das Ver-
hältniß des erſteren zu ſeinen Mitgliedern unberührt. Durch die Gründung
des Reichs iſt dieſes internationale Verhältniß durch ein ſtaatsrechtliches er-
ſetzt worden. Vgl. Bd. I. S. 195 und übereinſtimmend Delbrück a. a. O. S. 24.
auch über den eine Zeit lang von Hamburg erhobenen geringen Werthzoll.
Geſetzes in den Aktenſtücken des Zollparlaments 1869 Nr. 4. Vgl. hierzu
Hirth’s Annalen 1869 S. 511 ff. v. Aufſeß ebendaſ. 1880 S. 650.
(B.G.Bl. 1870 S. 647). Bayer. Verfaſſungsvertrag III. §. 8 (R.G.Bl. 1871
S. 21). Reichsgeſ. v. 16. April 1871 §. 2 (R.G.Bl. S. 63). Vermuth-
lich empfand man kein praktiſches Bedürfniß, ein Geſetz, welches im ganzen
Reichsgebiet gleichmäßig in Geltung ſtand, als Reichsgeſetz einzuführen.
Interpretation derjenigen Geſetzesvorſchriften führen, welche ſich auf „Reichs-
geſetze“ beziehen. Es gilt dies beſonders von der Beſtimmung des Art. 5 des
Einführungs-Geſetzes zur Strafproz.Ordn.: „Die prozeßrechtlichen Vorſchriften
der Reichsgeſetze werden durch die Strafprozeßordnung nicht berührt.“ Man
wollte damit gerade auch gewiſſe Beſtimmungen der Zoll- und Steuergeſetze
aus der Zeit des Zollvereins in Geltung erhalten und war ſich wol kaum be-
wußt, daß dieſe Geſetze gar keine „Reichsgeſetze“ ſind.
Stande gekommen.
(R.G.Bl. S. 120) hinſichtlich des Flachszolles; ferner durch die Reichsgeſetze
vom 19. und 21. Juni 1881 (R.G.Bl. S. 119. 121).
Verſagung der Genehmigung nicht ipso jure ihre Geltung, ſondern ſie iſt
„außer Kraft zu ſetzen“, wozu eine Kaiſerl. Verordnung erforderlich iſt. Dies
iſt eine Abweichung von dem ſonſt in der Reichsgeſetzgebung verfolgten Prinzip.
Vgl. Bd. I. S. 514. Bd. II. S. 76 fg. u. S. 149.
zum Strafgeſetzb. §. 2.
gehörenden Staaten und Luxemburg.
Handelsvertrages v. 23. Mai 1881 ein beſonderes Zollkartell vereinbart wor-
den. R.G.Bl. 1881 S. 133.
Geſetzbl. 1867 S. 41 ff. S. 49 ff.); in Baden Geſ. v. 25. Okt. 1867; in
Heſſen Geſ. v. 9. Nov. 1867; in Bayern Geſ. v. 16. Nov. 1867; in
Württemberg Geſ. v. 25. Nov. 1867; in Elſaß-Lothringen Geſ.
v. 17. Juli 1871 Art. 1.
Tarif vom 15. Juli 1879 Nro. 25 lit. t 6 Mark 40 Pf. für den Zentner;
wenn es ſeewärts eingeführt wird, 6 Mark.
laſſen, welche unter dem 25. März 1880 im Centralbl. f. d. D. R. S. 153 ff.
bekannt gemacht geworden ſind. Vgl. ferner „die Dienſtvorſchriften betreffend
die Beſteuerung des Tabaks“ vom 29. Mai 1880 (ebenda S. 327 ff.).
Rohtabak 85 M., von Cigarren und Cigarretten 270 M., von anderen Tabaks-
fabrikaten 180 M. a. a. O. §. 1. Ueber die Höhe der Ausfuhr-Vergütung
vgl. ebendaſ. §. 30. 31. Ueber die Verwendung von Surrogaten und deren
Beſteuerung vgl. den Bundesraths-Beſchluß v. 27. November 1879 (Centralbl.
des D. R. S. 753 ff.).
v. Aufſeß a. a. O. S. 715 ff. Delbrück a. a. O. S. 92 fg.
geſetz v. 8. Juli 1868 betreffend die ſubſidiäre Haftung des Brennerei-Unter-
nehmers für Zuwiderhandlungen gegen die Branntweinſteuergeſetze durch Ver-
walter, Gewerbsgehülfen und Hausgenoſſen. B.G.Bl. 1868. S. 404 ff.
(S. 465); V. v. 19. Okt. 1868 (S. 513) V. v. 5. Juni 1869 (S. 241); V.
v. 29. Dez. 1871 (S. 483).
Grundſatz ausgedehnt worden auf alle Zollexclaven, welche in die gemeinſchaftl.
Zollgrenze eingeſchloſſen werden, ſofern nicht daſelbſt die Branntweinbeſteuerung
verfaſſungsmäßig der Landesgeſetzgebung vorbehalten iſt. (Baden.)
23. Dez. 1879 erlaſſen. Centralbl. 1879 S. 781 ff.
S. 274 hinſichtlich der Branntweinſteuer geſagt iſt.
Bayeriſchen Bierſteuer-Syſtem angeſchloſſen. Die betreffenden Verträge
ſind citirt bei v. Aufſeß S. 704 Note 4 und S. 705 Note 11.
zu entrichtende Steuer von 4 Mark, vorbehaltlich der nachträglichen Geneh-
migung des Reichstages, zu ermäßigen.
II. S. 85 und die ausführlichen Nachweiſungen bei v. Aufſeß a. a. O.
S. 650 ff. Die ungenügende Art der Verkündigung geſetzvertretender
Bundesrathsverordnungen wird von Hänel a. a. O. S. 88 ff. nachdrücklich
gerügt. Vgl. oben Bd. II. S. 91.
vom 27. Juni 1864.
deutungslos und ſtreng genommen im Widerſpruch mit den vorhergehenden
Worten „ſoweit derſelbe ſie bisher ausgeübt hat“, da die letzteren gerade den
Fall betreffen, daß ein Bundesſtaat außerhalb ſeines Gebietes Verwaltungs-
befugniſſe ausübt. Die Gebiete, in denen Preußen vertragsmäßig die
Reichsſteuern erhebt, ſind einige mecklenburgiſche Ortſchaften, der größere Theil
des Oldenburg. Fürſtenthums Lübeck, Gebietstheile von Hamburg und Bremen
und die Fürſtenthümer Lippe, Waldeck und Pyrmont, und Schaumburg-Lippe.
Vgl. Erläuterungen zum Reichs-Etat f. 1882/83. XIV S. 3.
Generalinſpektor in den Berührungen mit dem Bundesrathe und mit den
Zollbehörden der anderen (Vereins-)Staaten die Stelle einer Zolldirektion“.
Zollvereins-Vertr. Art. 19 Abſ. 4.
Verträge von 1833 im Weſentlichen ſo geordnet worden, wie ſie bis zur
Reorganiſation des Zollvereins im Jahre 1867 fortdauerte; die ſpäteren
Verträge, insbeſondere der vom 16. Mai 1865 Art. 31 und 32 und Schluß-
dieſen Verabredungen war namentlich feſtgeſtellt, welche Staaten „Zollvereins-
bevollmächtigte“ ernennen können und zu welchen Zolldirectionen, und es war
vereinbart, daß jeder dieſer Beamten als Kommiſſar ſämmtlicher Vereins-
ſtaaten (mit Ausſchluß desjenigen, bei deſſen Behörde er accreditirt iſt),
fungiren ſolle. Vgl. die näheren Angaben bei v. Aufſeß a. a. O. S. 797 fg.
v. Aufſeß S. 803 ff.
durch die Feſtſetzungen der Zollvereins-Verträge und die Beſchlüſſe der General-
conferenzen theils durch die Beſchlüſſe des Bundesrathes. Eine überſichtliche
Zuſammenſtellung derſelben giebt v. Aufſeß a. a. O.
Stationskontroleure mit Angabe der Behörden, denen ſie beigegeben ſind,
findet ſich bei v. Aufſeß S. 810 fg.
Zölle und Abgaben verwendet werden, iſt im Schlußprotok. zum Zollvereins-
Vertr. v. 8. Juli 1867 Nro. 15 Ziff. 1 zugeſichert worden. Dieſe Beſtimmung
iſt in Geltung geblieben in der Geſtalt, daß der Kaiſer auch nichtpreußiſche
Beamte zu Reichsbevollmächtigten und Stationskontroleuren unter Berückſich-
tigung der Wünſche der betreffenden Regierungen ernennt.
von inländiſchem Branntwein und Bier Antheil haben, iſt zweifellos und
ergiebt ſich daraus, daß dieſe Staaten und die übrigen Zollexclaven ein der
Abgabe entſprechendes Averſum an die Reichskaſſe zahlen. Vgl. Thudichum
in v. Holtzendorffs Jahrbuch für Geſetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege
des Deutſchen Reichs I. S. 23.
fließenden Abgaben zur Entſcheidung des Reichsgerichts zu bringen, ſiehe
oben S. 63.
ſiehe unten §. 122.
wenn in einem Jahre mehr Stellen einer beſtimmten Zollbeamten-Kategorie
vorhanden geweſen ſind, als der Pauſchſummen-Etat aufführt, inſofern das
Bedürfniß derſelben vor oder bei der definitiven Abrechnung vom Bun-
desrathe anerkannt wird. Vgl. v. Aufſeß S. 782. Ferner werden beſon-
ders vergütet die Koſten für die Beſchaffung und Unterhaltung der zum
Schutze einzelner Strecken der Seegrenze erforderlichen Zollwachtſchiffe. Del-
brück S. 69.
poſten ſind, iſt dem Ermeſſen der Einzelſtaaten freier Spielraum gewährt.
Vg. v. Aufſeß S. 780.
grenze, ſondern nach der durch die örtlichen Verhältniſſe erforderten Anzahl
von Beamten. Vgl. Delbrück a. a. O. Note 2.
ſtadt im Jahre 1854, ſie wurde aber wiederholt den Bedürfniſſen entſprechend
verändert, insbeſondere ſo oft durch die Ausdehnung des Zollgebietes ſich die
Grenzlängen veränderten. Von der eingreifendſten Bedeutung war in dieſer
Hinſicht der Zollanſchluß Elſaß-Lothringens. Eine neue Feſtſtellung der
Normalſätze erfolgte durch Beſchluß des Bundesrathes v. 28. Juni 1872.
Vgl. v. Aufſeß S. 780.
her; durch den Zollanſchluß Elſaß-Lothringens wurde auch eine Veränderung
dieſer Feſtſetzungen erforderlich. Elſaß-Lothringen ſelbſt wurde geſtattet, die
den dortigen Zoll- und Salzſteuer-Beamten gewährten Stationszulagen zu
zwei Dritteln ihres Betrages, jedoch höchſtens 300,000 M., dem Reiche in
Rechnung zu ſtellen. Vgl. die näheren Angaben bei Delbrück a. a. O.
S. 70—72.
artige Beträge zu erhöhen, iſt ſehr ſtreitig. Dagegen erklärt ſich Delbrück
a. a. O. S. 73; indeß iſt ihm wol kaum der Beweis feſter Grenzen für die
Befugniß des Bundesrathes gelungen. Vgl. auch die Verhandlungen des
Reichstages v. 1881/82 Stenogr. Berichte S. 635 ff. 655 ff.
und des Art. 11 Abſ. 2 Ziff. 3 litt. b des Zollvereins.V. v. 1867.
durch Bundesrathsbeſchluß v. 14. Dez. 1872 normirt worden. v. Aufſeß S. 785.
Aufſeß a. a. O.
1882/83 XIV. S. 15.
mals unmittelbaren Reichsſtänden oder an Kommunen oder einzelne Privat-
berechtigte für eingezogene Zollrechte oder für aufgehobene Befreiungen gezahlt
werden müſſen, ſind von dem Landesfiskus zu tragen. Zollvereins-Vertr. v.
22. März 1833 Art. 25; Zollv.V. v. 1867 Art. 15 Abſ. 2.
die den Erbauern von Seeſchiffen zu gewährenden Vergünſtigungen für die
nicht ſpeciell nachweisbaren Eiſen-Beſtandtheile ſind die jetzt geltenden Vor-
ſchriften in der vom Bundesrath feſtgeſetzten „Nachweiſung“ vom 5. Dezemb.
1879 enthalten. (Centralbl. 1880 S. 5.) Vgl. Delbrück S. 60.
Geſandten wird der Betrag der Zölle auf Rechnung des Reiches vergütet.
Bundesraths-Beſchl. v. 29. April 1872.
zu Art. 10 a) wurde zunächſt noch die Bewilligung der Zoll- und Steuer-
credite dem Ermeſſen jeder Vereins-Regierung überlaſſen.
nicht mehr vollſtändig dem gegenwärtigen Stande der Vorſchriften entſprechen.
buch 1882. Erſtes Heft S. 23 ff. v. Aufſeß a. a. O. S. 755 ff.
die daſelbſt Note 3 citirten Abhandlungen von Meitzen. Ueber die im Jahre
1872 getroffenen Anordnungen hinſichtlich der Statiſtik des Waarenverkehrs
iſt auch zu vergleichen die Darſtellung in der vom Statiſt. Amt herausgegebenen
„Statiſtik des Deutſchen Reichs“ Band III. 1873 S. 1 ff.
Bericht v. 27. Febr. 1878, den die vom Bundesrath eingeſetzte Kommiſſion
für Reform der Statiſtik des auswärtigen Waarenverkehrs erſtattet hat. Druck-
ſachen des Bundesrathes 1877/78 Nr. 40. (Auch abgedruckt in den „Monats-
heften zur Statiſtik“ Bd. 43 Heft 1 1880.) Auf ihm beruhen die Motive des
Geſetzentwurfs. Druckſ. des Reichstages 1878 Nr. 179 und 1879 Nr. 217.
Kommiſſionsbericht ebenda Nr. 330. Verhandlungen des Reichstages Stenogr.
Berichte 1879 Bd. II. S. 1639 ff. Bd. III. S. 2082 ff. 2231. Ausfüh-
rungsbeſtimmungen zu dem Geſetze, ſowie Dienſtvorſchriften zur
Handhabung deſſelben, welche der Bundesrath beſchloſſen hat, ſind im Centralbl.
des D. R. 1879 S. 676 ff. und S. 687 ff. bekannt gemacht. Vgl. ferner die
Bundesrath am 16. Dezemb. 1879 beſchloſſen und im Centralbl. des D. R.
1879 S. 855 ff. bekannt gemacht worden; es klaſſifizirt die Waaren unter
605 Nummern.
Zuſammenpackung verſchiedenartiger Waaren eine allgemeine Bezeichnung des
Geſammtinhalts des Kollo und die Angabe des Geſammt-Bruttogewichts nebſt
Verpackungsart zulaſſen, ebendaſ. Abſ. 3. Vgl. hierzu §. 15 der Ausführungs-
beſtimmungen.
die Haupthäfen des Zollgebiets v. 29. Januar 1880 (Centralbl. S. 73 ff.)
und die Beſtimmungen über die Statiſtik des Verkehrs auf den deutſchen
Waſſerſtraßen v. 30. Juni 1881. (Centralbl. S. 330 ff.)
angemeldeten Waaren fungiren die betreffenden Zoll- oder Steuerſtellen, auch
wenn ſie im Binnenbezirk ihren Sitz haben, als Anmeldeſtellen, ebenda §. 4 Abſ. 3.
führungsbeſtimmungen §.§. 12 ff.
nicht entrichtet von dem Verpflichteten für eine in ſeinem Intereſſe erforderte
Thätigkeit der Behörden, ſondern es wird im Gegentheil im öffentlichen In-
tereſſe dem Waarenführer eine ihn beläſtigende Thätigkeit (die Anmeldung)
und außerdem noch die Bezahlung einer Abgabe auferlegt, für welche daher
die Bezeichnung „Gebühr“ nicht recht angemeſſen erſcheint. In Wahrheit iſt
die Abgabe ein, freilich geringfügiger, Ein- und Ausfuhr-Zoll.
im Centralbl. f. d. D. R. 1880 S. 318 ff. veröffentlicht.
erreicht werden, die Durchfuhr-Güter von den Einfuhr- und den Ausfuhr-
gütern ſtatiſtiſch zu trennen.
verkauft. Ausf.Beſtimmung §. 17.
Ertrag derſelben auf 500,000 M. veranſchlagt.
liche Verwaltungskoſten in Anſatz; nach dem Etat für 1882/83 betragen dieſe
Vergütungen zuſammen 15,000 M.
einem Amte im Innern in den freien Verkehr geſetzt werden.
ſtatiſtiſchen Gebühr auf 464,000 M. veranſchlagt, während die bei dem ſtatiſti-
ſchen Amte durch die Bearbeitung der Statiſtik des Waarenverkehrs mit dem
Auslande erwachſenden Ausgaben 300,000 M. betragen.
der tarifmäßige Eingangszoll zu entrichten; dies gilt ſelbſtverſtändlich auch von
den in den Zollexclaven abgeſtempelten und von dort in das Zollgebiet ein-
geführten Karten.
treffend den Betrieb der Spielkartenfabriken und den Beſtimmungen über die
Nachverſteuerung der Spielkarten ſind unter dem Datum des 6. Juli 1878
veröffentlicht im Centralbl. des D. R. 1878 S. 403 ff. Eine Zuſammen-
ſtellung der ſonſtigen Ausführungsbeſtimmungen giebt v. Aufſeß a. a. O.
S. 745 fg.
fixirt; der Kredit kann nur gegen Sicherheitsſtellung bewilligt werden. Die
Gewährung von Steuererlaß oder Erſatz iſt nur geſtattet, wenn geſtempelte
inländiſche Karten bei der Verpackung oder Aufbewahrung in den dazu be-
Bundesraths-Verordnung vom 6. Juli 1878 enthalten.
10. Juni 1869 (B.G.Bl. S. 193). Entw. mit Motiven in den Druckſ. des
Reichstages v. 1869 Nr. 154. Kommiſſionsbericht ebenda Nr. 230.
Verhandlungen in den Stenogr. Berichten Bd. I. S. 858 ff. 1187 ff. 1280.
Das Geſetz iſt in den Südd. Staaten und in Elſaß-Lothringen eingeführt und
durch das Reichsgeſetz v. 4. Juni 1879 (R.G.Bl. S. 151) theilweiſe abgeändert
worden. Kommentare zum Wechſelſtempel-Geſetz von Hoyer Berlin 1871
und Meves Erlangen 1875.
Geſetz, betreffend die Erhebung von Reichsſtempelabgaben. Vom
1. Juli 1881 (R.G.Bl. S. 185). Entwurf mit Motiven in den Druckſachen des
Reichstages v. 1880 Nr. 96, von 1881 Nr. 59. Kommiſſionsbericht Druckſachen 1881
Nr. 162. Verhandlungen in den Stenogr. Berichten 1881 S. 551 ff. 1340 ff.
tauglich geworden ſind. R.G. §. 7.
Auslande auf das Ausland gezogenen nur im Ausland zahlbaren Wechſel,
ſowie die vom Inlande auf das Ausland gezogenen, nur im Auslande und
zwar auf Sicht oder ſpäteſtens innerhalb zehn Tagen nach dem Tage der
Ausſtellung zahlbaren Wechſel, ſofern ſie vom Ausſteller direkt in das Aus-
land remittirt werden.
jetzt geltenden Feſtſetzungen ſind am 19. Januar 1882 beſchloſſen worden.
Sie ſind publizirt im Centralbl. d. D. R. 1882 S. 26.
Ausführungsbeſtimmungen zu den einzelnen Paragraphen in Hirth’s Annalen
1881 S. 768 ff.
erſichtlich, ſo gilt als ſolcher der 25fache Betrag der einjährigen Rente.
gehörigen Tarif Nr. 1—3.
Schlußnoten iſt regelmäßig ein geſtempeltes Formular zu verwenden und nur
der erforderliche Mehrbetrag der Abgabe (wenn die Schlußnote mehrere Ge-
ſchäfte betrifft), iſt durch Verwendung von Stempelmarken zu entrichten.
Die jetzt geltenden Vorſchriften hinſichtlich der Wechſelſtempelmarken ſind [ent-
halten] in der Bekanntmachung v. 16. Juli 1881 (R.G.Bl. 1881 S. 245 fg.)
hinſichtlich der übrigen Stempelmarken in den Ausführungsvorſchriften vom
7. Juli 1881 Ziff. 10 (Centralbl. f. d. D. R. 1881 S. 287) und der Nach-
tragsverordnung vom 10. März 1882 (Centralbl. S. 107 ff.)
Das letztere Geſetz beſtimmt zugleich, daß die Strafe mindeſtens 20 M. für
jedes ſtempelpflichtige Schriftſtück beträgt.
hat der Bundesrath zu beſtimmen, in welchen Fällen und unter welchen Be-
dingungen der Verpflichtung zur Verſteuerung durch rechtzeitige Verwendung
von Stempelmarken ohne amtliche Mitwirkung einer Steuerſtelle genügt wer-
den kann. In den Ausführungs-Vorſchriften v. 7. Juli 1881 Ziff. 2 c. hat
der Bundesrath jedoch beſtimmt, daß die Abſtempelung ausſchließlich durch
Aufdrücken des Reichsſtempels auf der Vorderſeite des Werthpapiers erfolgt
und daß eine Verwendung von Stempelmarken zu Werth-
papieren nicht ſtattfindet, weder Seitens der Behörde noch Seitens
des Verpflichteten.
geſtellte Formular ſiehe Centralbl. 1881 S. 301.
Lotterie ertheilt hat, muß davon der zuſtändigen Steuerbehörde unverzüglich
Mittheilung machen. Ausführungsvorſchriften v. 7. Juli 1881 Ziff. 13.
für Stundung der Abgabe ſind von den Landesregierungen feſtzuſtellen.
Ausf.Vorſchr. 15.
„Stempelfrei“; nur bei den unter obrigkeitlicher Aufſicht ſtattfindenden Waaren-
Verlooſungen kann von der Abſtempelung der abgabefreien Looſe Umgang
genommen werden, wenn mit Rückſicht auf die Zahl und den Preis der Looſe
die Abſtempelung unverhältnißmäßige Mühwaltung verurſachen würde. Die
näheren Vorſchriften darüber ſind von den Landesregierungen zu er-
laſſen (ebendaſ. Abſ. 3).
1881. S. 303.
nehmer inländiſcher Lotterien und gegen jeden, welcher den Vertrieb
ausländiſcher Looſe beſorgt, die Strafe mindeſtens auf 250 M. feſtzuſetzen iſt.
Sachſen, Mecklenburg, Braunſchweig und Hamburg, welche zuſammen eine
jährliche Steuer von rund 5,500,000 M. zu entrichten haben.
2. §. 11. §. 20.
R.V. Art. 7 Ziff. 2; das Wechſelſtempel-Geſetz, bei deſſen Erlaß es an einer
entſprechenden Verfaſſungs-Vorſchrift fehlte, ertheilte dem Bundesrath dieſe Er-
mächtigung ſpeziell im §. 28. Vgl. über die im Wechſelſtempel-Geſetz dem Bundes-
rath zugewieſenen Befugniſſe meine Abhandl. in Hirth’s Annalen 1873 S. 468.
1881 Ziff. 19.
Bekanntmachung v. 11. Aug. 1871 (R.G.Bl. S. 323).
Aufzählung der zur Kontrole und Anzeige verpflichteten Behörden iſt in den
beiden Geſetzen nicht übereinſtimmend.
v. 7. Juli 1881 Ziff. 16. Centralbl. 1881 S. 306. 307.
und über die von den Landesbehörden und dem Reichsſchatzamte aufzuſtellenden
Ueberſichten ſind die näheren Anordnungen enthalten in den „Beſtimmungen“
Ziff. 12. (Centralbl. 1881 S. 305 fg.)
Wechſelſtempelgeſetz normirte den Antheil der Einzelſtaaten bis zum Ende des
Jahres 1871 auf 36 Prozent, bis Ende 1873 auf 24 Prozent, bis Ende 1875
auf 12 Prozent und von da ab dauernd auf 2 Prozent.
iſt die Finanzwirthſchaft des Reiches als eine Miſchung von Staatswirth-
ſchaft und Sozietätswirthſchaft charakteriſirt; ich habe mich jedoch überzeugt,
daß dieſe Auffaſſung juriſtiſch unhaltbar iſt.
tiſchen Einrichtungen in meiner Darſtellung des Reichsfinanzrechts in Hirth’s
Annalen 1873 S. 513 ff.
koſten-Entſchädigung nicht blos auf die fünf verbündeten Staaten, ſondern auch
innerhalb des Nordd. Bundes auf die Mitglieder deſſelben vertheilt worden.
Aufſeß a. a. O. S. 779 Note 1.
ſind die Averſionalbeträge an den nämlichen Terminen zur Reichskaſſe abzu-
führen, wie die Zölle und Steuern, deren Stelle ſie vertreten.
der Bundesrath am 28. März 1882 die der Zuſchlagsberechnung zu Grunde
zu legende Bevölkerungsziffer für Bremen auf 101,341, für Hamburg auf
343,484 Köpſe feſtgeſtellt.
wurde der Zuſchlag nur von der ſtädtiſchen Bevölkerung erhoben und
betrug für ſämmtliche Verbrauchsabgaben und Zölle 3 Mark für den Kopf.
Bei der Berathung des Reichshaushalts-Etats für 1878/79 wurde vom Reichs-
tage durch eine Reſolution die Frage angeregt, ob nicht eine Erhöhung des
Zuſchlages geboten ſei. In Folge deſſen wurde vom Bundesrath eine Kom-
miſſion eingeſetzt, und auf den Bericht derſelben (Druckſachen des Reichstags
Betrag, welcher von der Brutto-Einnahme nach Abzug der geſetzlichen Rück-
vergütungen, Erſtattungen, Ausfuhr-Bonifikationen und der den Einzelſtaaten
gebührenden 15 Prozent Erhebungs- und Verwaltungskoſten übrig bleibt.
Zu den Exklaven dieſer Gemeinſchaft gehören auch die Aemter Oſtheim und
Königsberg. Vgl. oben S. 276.
als Exklaven mit Averſen betheiligt. Vgl. S. 277 fg.
12. März 1880 (Prot. §. 176) beſchloſſen, vom Etatsjahr 1880/81 an den Zu-
ſchlag auf die vorſtädtiſche Bevölkerung Hamburgs und Bremens auszu-
dehnen und auf 5 Mark pro Kopf zu erhöhen; hiervon entfallen auf die
Branntweinſteuer 0,6423 M., auf die Brauſteuer 0,2863 M., der Reſt auf die
allen Staaten gemeinſchaftlichen Abgaben und Zölle.
vgl. die ausführliche Darſtellung in Hirth’s Annalen 1873 S. 417 ff.
ausgeſchloſſen durch den Vertrag von Verſailles v. 23. Nov. 1870 Art. III.
§. 1 u. R.V. Art. 4 Ziff. 1.
an den Einnahmen des Reichseiſenbahnamts für verkaufte Druckſachen und
an Wittwen- und Waiſengeldbeiträgen.
ſammen auf 29,268 M. feſtgeſtellt. Vgl. die näheren Angaben in Hirth’s
Annalen 1873 S. 494.
des Nordd. Bundes ob; die hierdurch entſtandenen Koſten ſind aus dem An-
theil des Nordd. Bundes an der Franzöſiſchen Kriegskoſten-Entſchädigung be-
ſtritten worden.
Etatsgeſetzes für 1882/83 Anlage XI S. 5. Der Beitrag beziffert ſich auf
42,013 M.
3150 M.
Sachſen 5190 M., Württemberg 8690 M. und Braunſchweig 616 M. — Der
Reichstag hat ſich in der I. Seſſion 1871 in einer Reſolution für die Beſeiti-
gung der Nachläſſe, ſoweit ſie nicht in den beſtehenden Verträgen ausdrücklich
bedungen worden ſind, ausgeſprochen.
Feſtſtellung des Haushalts-Etats des Deutſchen Reichs für das Jahr 1871
unter N. 2.
Nachweiſung betrug am 1. April 1881 bei einem Geſammtkapital der 4 %
Reichsſchulden von (rund) 268 Mill. Mark der Antheil der Gemeinſchaft aller
Bundesſtaaten (rund) 188 Mill., der Antheil aller Staaten außer Bayern
(rund) 35 Mill., der Antheil der Staaten außer Bayern und Württemberg
(rund) 45 Mill. In demſelben Verhältniß vertheilen ſich die Beiträge für
die Verzinſung. Durch die ſpäter ausgegebenen Summen haben ſich dieſe
Beträge und die zwiſchen ihnen beſtehenden Differenzen erhöht.
ſtaaten zur Zahlung der Matrikularbeiträge beſteht in der Vorſchrift des
Art. 70 der R.V.; dieſelbe läßt aber das Maaß dieſer Verpflichtung unbe-
ſtimmt. Das Etatsgeſetz ſetzt für jedes Jahr dieſes Maaß feſt und macht
durch dieſe Determination der Vorſchrift des Art. 70 die Verpflichtung der
Einzelſtaaten realiſirbar.
unter dem 3. und 15. Juli 1868 in dieſem Sinne verfaßten Berichte ſind
abgedruckt in Hirth’s Annalen 1869 S. 274—284.
1871. Druckſachen I. Seſſion 1871 Nr. 62.
tages 1879 S. 2177 ff. u. 2241 ff. Die Aufnahme der Beſtimmung in das
Geſetz beruht auf einem von der Kommiſſion des Reichstages genehmigten
Antrage, der bei den Verhandlungen als der von Frankenſtein’ſche be-
zeichnet worden iſt.
der Matrikularbeiträge über die an die Einzelſtaaten zu überweiſenden Summen;
derſelbe iſt aber nicht mehr von Erheblichkeit.
Garantien“ für das Ausgabenbewilligungsrecht zu ſchaffen. Für praktiſch er-
heblich kann ich dieſelben aber nicht erachten. Ohne den Grundſatz des §. 8
würde durch das Reichsetatsgeſetz (die Ausgaben-Bewilligung) feſtgeſetzt werden,
welche Summe zur Vertheilung an die Einzelſtaaten übrig bleibt; mit dem
Grundſatz des §. 8 wird durch das Etatsgeſetz beſtimmt, welcher Betrag in
der Form der Matrikularbeiträge compensando von dem Antheil der Einzel-
ſtaaten (oder via versa) in Abzug gebracht wird. Dies kommt auch
politiſch auf daſſelbe hinaus. Fürſt Bismarck erklärte im Reichstag: „Der
Streit macht mir ungefähr den Eindruck, wie das bekannte Wort bonnet blanc
oder blanc bonnet oder ob ich ſpreche von einem ſchwazen Tuchrock oder von
einem Rock von ſchwarzem Tuch; weiter finde ich einen Unterſchied nicht,
jeder weitere Unterſchied, den Sie hineinlegen, iſt fingirt, widerſpricht der
Sachlage und widerſpricht unſerer Verfaſſung“. Stenograph. Berichte 1879
Bd. III S. 2193.
Antrages (§. 8 Abſ. 1 cit.) beſteht lediglich in dieſer budgetrechtlichen »amoe-
nitas juris«.
ſchlagung erfolgt. Druckſachen des Reichstages 1869 Nr. 69 a. E. S. 246.
Berichte 1871 II. Seſſ. Bd. I S. 647.
der „Ueberſicht der Ausgaben und Einnahmen ꝛc.“ für das Jahr 1874 An-
lage V. S. 125.
vollen budgetmäßigen Betrage zu erheben. Liefern die ſogen. eigenen
Reichseinnahmequellen unerwartete Ueberſchüſſe, ſo können die Matrikular-
beiträge theilweiſe unerhoben bleiben; nur müſſen alle Staaten in dieſer Be-
ziehung gleichmäßig behandelt werden.
ſelben nach dem wirklichen Ergebniſſe des Reichshaushalts ſtellen, ſo wie für
die Antheile der einzelnen Staaten an dem Fehlbetrage und an dem Ueber-
ſchuſſe eines Wirthſchaftsjahres, enthalten die alljährlich dem Reichstage vor-
gelegten „Ueberſichten der Reichs-Ausgaben und Einnahmen“ Vgl. z. B. die
Ueberſicht für 1880/81 Anlage V u. VI.
gleich im erſten Jahre der Reichswirthſchaft (1871) eingetreten; die Südd.
Staaten hatten zuſammen 16,842 Thlr. zu wenig, die Staaten des Nordd.
Bundes 5,230,956 Thlr. zu viel gezahlt. Das Reichsgeſetz vom 20. Juni 1872
verpflichtete demgemäß die Südd. Staaten zur Nachzahlung der entſprechenden
Summen, während im Etat von 1873 den Staaten des ehemaligen Nordd.
Bundes bei der Berechnung ihrer Matricularbeiträge 5,187,339 Thlr. zu gut
gerechnet worden ſind. (Vgl. Hirth’s „Annalen“ 1872 S. 1628.)
Annalen 1872 S. 1489 ff. Sie ſind bereits oben S. 300 erwähnt worden.
Im Centralbl. des D. Reiches ſind dieſe Vorſchriften nicht abgedruckt worden,
wol aber im Preußiſchen Miniſterialbl. f. d. geſ. innere Verwaltung 1878
S. 146. Dieſelben haben mehrfache Ergänzungen erhalten; unter denſelben
ſind hervorzuheben die vom Bundesrath am 7. Juni 1880 beſchloſſene „An-
leitung zur Aufſtellung der Ueberſichten über die Beſteuerung des Tabacks“
(Centralbl. 1880 S. 420 ff.) und namentlich die „Beſtimmungen über die
Erhebung und Verrechnung der nach dem Geſ. v. 1. Juli 1881 zu entrichtenden
Reichs-Stempelabgaben“ Ziff. 12—15 (Centralbl. 1881 S. 305. 306).
Fricker, Steuerbewilligung und Finanzgeſetz, in der Tübinger Zeitſchr. für
die geſammte Staatswiſſenſchaft Bd. XVII (1861). Gneiſt, Budget und
Geſetz, 1867 und derſelbe Geſetz und Budget, Berlin 1879. Laband, Das
Budgetrecht nach den Beſtimmungen der Preuß. Verf.Urk. Berlin 1871 und
derſelbe in Hirth’s Annalen 1873 S. 524 ff. Herm. Schulze, Das Finanz-
recht der Reichs- und Landtage; in Grünhut’s Zetiſchr. f. d. Privat- und öffentl.
Recht der Gegenw. Bd. II. S. 161 ff. und in ſeinem Lehrb. des deutſchen
Staatsrechts I. (1881) S. 582 ff. v. Martitz, Betrachtungen über die
Verf. d. Nordd. Bundes 1868 und deſſelben Abhandlung: Ueber den
conſtitut. Begriff des Geſetzes, in der Tübinger Zeitſchr. f. d. geſ. Staats-
wiſſenſch. Bd. XXXVI. (Auch ſeparat gedruckt Tübingen 1880.) Georg
Meyer, Der Begriff des Geſetzes und die rechtliche Natur des Staats-
haushaltsetats; in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. VIII. S. 1 ff. (eine, in den
meiſten Punkten ſehr treffende Widerlegung der von v. Martitz neuerdings
aufgeſtellten Behauptungen). Ferner v. Rönne, Staatsrecht d. Deutſchen
Reichs II. 1 S. 143 ff., G. Meyer, Staatsrecht §. 204 und §. 209 und
Zorn in v. Holtzendorff’s Rechtslexikon (3. Aufl. 1881) Bd. III. S. 382. —
Die hier folgende Darſtellung iſt im Weſentlichen eine Bearbeitung der von
mir 1873 in Hirth’s Annalen gegebenen.
Unterſcheidung von Geſetzen im formellen und im materiellen Sinne und ſchreibt
dem Etatsgeſetz in allen ſeinen Poſitionen materielle Geſetzeskraft zu; eine
kritiſche Prüfung ſeiner, meines Erachtens durchaus unhaltbaren und in ſich
ſelbſt widerſpruchsvollen Behauptungen erfordert ein ausführlicheres Eingehen
auf ſeine Erörterungen, als an dieſer Stelle möglich iſt und muß für eine
andere Gelegenheit vorbehalten werden. Er ſchießt jetzt ebenſo ſehr über das
Ziel hinaus wie er es in entgegengeſetzter Richtung in ſeinen „Betrachtungen“
1868 gethan hat, wo er S. 99 den Art. 69 der Verf. „eine geradezu abſurde
Beſtimmung“ nennt und wo er es S. 101 für eine juriſtiſche „Monſtroſität“
erklärt, den Etat „Geſetz“ zu nennen.
jahr vom 1. Januar bis 31. März 1877 feſtgeſtellt werden. R.G. v. 23. Dez. 1876
(R.G.Bl. S. 239). Ein ſolcher Quartals-Etat ſteht mit der unzweideutigen
und klaren Anordnung des Art. 69 im Widerſpruch. Wäre die Theorie richtig,
daß Geſetze, welche einer Verfaſſungsbeſtimmung widerſprechen, trotzdem ſie
formell ordnungsmäßig zu Stande gekommen ſind, ungültig ſeien, ſo
müßte man conſequenter Weiſe auch dieſes Etatsgeſetz für ungültig
erklären, weil nicht vorher Art. 69 der R.V. eine entſprechende Verände-
rung oder Ergänzung erfahren habe. An ſolchen Conſequenzen erweiſt ſich
die Unrichtigkeit der erwähnten Theorie. Vgl. Bd. II. S. 37 ff.
von Fällen und ganz conſequent zur Geltung gebracht. Anwendungsfälle
ſind: R.G. v. 8. Juli 1872 Art. II. (R.G.Bl. S. 290). R.G. v. 23. Mai 1873
(Invalidenfonds) §§. 6. 7. (R.G.Bl. S. 119). R.G. v. 30. Mai 1873 (Feſtungs-
baufonds) Art. II. (R.G.Bl. S. 123). R.G. v. 12. Juni 1873 Art. II. a. E.
(R.G.Bl. S. 128). R.G. v. 14. Febr. 1875 §. 2 Abſ. 2 (R.G.Bl. S. 62).
R.G. v. 17. Febr. 1876 §. 3 (R.G.Bl. S. 21).
Jahr ergab ſich dazu Veranlaſſung.
gaben für das Reichsheer der Bewilligung Seitens des Bundesrathes und
des Reichstages. Die Aufſtellung des Militäretats war vielmehr nach Art. 62
für dieſe Uebergangszeit dem Kaiſer überlaſſen, welchem zur Beſtreitung
des Aufwands für das geſammte Deutſche Heer jährlich ſo viel mal 225 Thlr.,
als die Kopfzahl der Friedensſtärke des Heeres nach Art. 60 der Reichsver-
faſſung beträgt, zur Verfügung geſtellt worden ſind. Der Kaiſer war aber
verpflichtet, den Etat über die Ausgaben für das Heer, nach Titeln geordnet,
dem Bundesrathe und dem Reichstage zur Kenntnißnahme und zur
Erinnerung vorzulegen; Bundesrath und Reichstag, die einander in dieſer
Hinſicht ganz gleich geſtellt waren, hatten demnach auch hinſichtlich der Heeres-
verwaltung das Recht der Kontrole und Kritik, nicht aber der Verweigerung
von Ausgaben innerhalb der Grenzen des Pauſchquantums. Durch das Geſetz
vom 9. Dezember 1871 wurde die Fortgeltung dieſer Beſtimmungen bis zum
Ende des Jahres 1874 ausgedehnt.
die traditionellen Vorſchriften der „Anleihegeſetze“. Vgl. oben S. 232 ff.
graphie und Reichseiſenbahnen.
geſtellte Militair-Etat vom übrigen Etat geſondert verkündigt, ſo daß in dem
Hauptetat nur die Geſammtſumme der Militair-Ausgaben aufgeführt wurde.
S. 550 fg. und die daſelbſt Note 14. angef. Schriften.
(R.G.Bl. S. 127) und vom 30. März 1879 §. 2 (R.G.Bl. S. 119). Vgl.
oben S. 209.
S. 385.
einverſtanden. Vgl. Zöpfl, Staatsr. Bd. II. §. 399. Zachariä, Staatsr. II.
§. 222 (S. 515) und in den Gött. Gel. Anz. 1871 S. 362 ff. v. Gerber,
Grundzüge §§. 50. 51 und im Literar. Centralbl. 1871 Sp. 61 fg. v. Mohl,
Württemb. Staatsr. I. §. 109 S. 624. Mein Budgetrecht S. 11—14.
Neuen Reich 1871 S. 48 ff. Beſeler in den Preuß. Jahrb. Bd. XXXIII.
S. 589 ff. Ferner beſonders Gneiſt, Geſetz und Budget S. 166 ff. Herm.
Schulze in Grünhut’s Zeitſchr. II. S. 190 ff. und Lehrb. des Deutſchen
Staatsrechts I. §. 208. G. Meyer, Staatsr. §§. 205 und 209 und in
Grünhut’s Zeitſchr. V III. S. 48 ff. Auch v. Martitz, S. 66 kommt im Reſultat
im Weſentlichen auf das Gleiche hinaus. Abweichender Anſicht iſt unter den
neueren Staatsrechts-Schriftſtellern nur Zorn im Rechtslexicon III. S. 382.
aber ohne Erfolg, verſucht worden. Dem Reichstage von 1872 bereits wurde
ein Geſetzentwurf betreffend die Einrichtung und die Befugniſſe des Rechnungs-
hofes vorgelegt, welche einige darauf bezügliche Beſtimmungen enthielt (Druck-
ſachen des Reichstages 1872 Nr. 10). Ueber denſelben kam ein Einverſtändniß
zwiſchen Bundesrath und Reichstag nicht zu Stande und zwar zum großen
Theil wegen der hinſichtlich des materiellen Etatsrechts beſtehenden Ver-
ſchiedenheit der Anſichten. Um dieſe Hinderniſſe zu beſeitigen wurde dem
Reichstage im Jahre 1873 ein Geſetzentwurf, betreffend die Verwal-
tung der Einnahmen und Ausgaben des Reichs (Druckſ. Nr. 116)
vorgelegt, der aber nicht zur Erledigung kam. Im Jahre 1874 wurden dem
Reichstage in beiden von ihm abgehaltenen Seſſionen der Geſetzentwurf über
den Rechnungshof, ſowie der Geſetzentwurf über die Verwaltung der Ein-
nahmen und Ausgaben wieder vorgelegt (Druckſ. 1874 I. Seſſ. Nr. 13 und
Nr. 12, II. Seſſ. Nr. 15 und Nr. 9). In der II. Seſſion 1874 wurde über
den letzteren Entwurf ein ſchriftlicher Kommiſſionsbericht erſtattet, in welchem
zahlreiche Abänderungen vorgeſchlagen worden ſind (Druckſachen 1874 II. Seſſ.
Nr. 108); zur Beſchlußfaſſung im Plenum des Reichstages gelangte der Be-
richt aber nicht. Mit Rückſicht auf die Vorſchläge des erwähnten Kommiſſions-
berichts wurde der Geſetzentwurf umgearbeitet und dem Reichstage von 1875/76
vorgelegt (Druckſachen Nr. 100) und zwar ebenfalls wieder in Verbindung
mit dem Geſetzentwurf über den Rechnungshof (Druckſachen Nr. 101); aber
auch in dieſer Seſſion kamen die Geſetzentwürfe nicht zur Erledigung; daſſelbe
war in der Seſſion von 1877 der Fall, in welcher beide Geſetzentwürfe noch-
mals dem Reichstage vorgelegt wurden (Druckſ. 1877 Nr. 15 und 16).
buch I. S. 590 und G. Meyer in Grünhut’s Zeitſchr. VIII. S. 46 ff.
auszuführen. Ein finanzieller Voranſchlag läßt ſich überhaupt nicht ausführen.
Die Ausgaben und Einnahmen kommen ja in Wirklichkeit immer anders zu
ſtehen als auf dem Papier“. v. Martitz, Ueber den conſtitut. Begriff ꝛc.
S. 66 ſagt: „Das Finanzgeſetz (ſoll bedeuten Etatsgeſetz) iſt ein geſetzgeberiſcher
Akt, durch welchen die Finanzverwaltung geſetzlich gebunden wird“. Beide
Behauptungen ſind halb richtig und halb Uebertreibungen in entgegengeſetzter
Richtung.
ausgeführt und begründet worden in meinem Budgetrecht S. 59 ff. In der
Praxis des Nordd. Bundes und des Deutſchen Reichs iſt der richtige Begriff
der Etats-Ueberſchreitungen anerkannt worden; zuerſt bereits in einem Schrei-
ben des Bundeskanzlers v. 24. September 1867, ſodann in einer Reſolution,
welche der Nordd. Reichstag unter Zuſtimmung des Präſidenten des Bundes-
kanzleramts und des Bundeskanzlers ſelbſt in der Sitzung v. 28. März 1870
(Stenogr. Ber. S. 530) beſchloſſen hat. Dieſer richtige Begriff ſollte ſeine
geſetzliche Sanction erhalten in den (nicht zu Stande gekommenen) Geſetzen
über den Rechnungshof und über die Verwaltung der Einnahmen und Aus-
gaben. Die daſelbſt in Ausſicht genommene Beſtimmung iſt übereinſtimmend
mit einem Satze des §. 19 des Preuß. Geſetzes v. 27. März 1872 über die
Oberrechnungskammer, welches thatſächlich auch für das Reich in Geltung ſteht.
(Siehe unten.) Sie lautet: „Als Etatsüberſchreitungen werden alle Mehr-
ausgaben angeſehen, welche gegen die einzelnen Kapitel des geſetzlich feſtge-
ſtellten Reichshaushalts-Etats oder gegen die vom Reichstage genehmigten
Titel der Spezial-Etats ſtattgefunden haben, ſofern nicht einzelne Titel in den
Etats als unter ſich übertragungsfähig ausdrücklich bezeichnet ſind, und bei
ſolchen die Mehrausgabe durch Minderausgabe bei anderen ausgeglichen wird.
— Unter dem Titel eines Spezialetats iſt im Sinne dieſes Geſetzes jede
faſſung des Reichstages unterlegen hat und als Gegenſtand
einer ſolchen im Etat erkennbar gemacht worden iſt“. (Geſetz-
entw. über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben v. 1877 §. 9.)
Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben enthält im §. 3 die Anordnung:
„Unvorhergeſehene Einnahmen und Ausgaben ſind nach Anweiſung dieſes
Geſetzes zur Kenntniß, beziehungsweiſe Genehmigung des Bundes-
rathes und des Reichstages zu bringen“. Im §. 4 Abſ. 3 wird noch hinzu-
gefügt: „Einnahmen, welche unter keinen der Titel des Etats fallen, ſind als
außeretatsmäßige Einnahmen in der verfaſſungsmäßig zu legenden Rechnung
nachzuweiſen“.“ — Die Zuläſſigkeit ſolcher Einnahmen ſteht demnach ganz
außer Frage.
Etatsgeſetz, durch andere Geſetze zur Leiſtung gewiſſer Ausgaben ermächtigt
ſein kann, ſo daß das Etatsgeſetz dieſe Befugniß nicht conſtituirt, ſondern nur
declarirt. Ebenſo kann die Regierung zur Leiſtung gewiſſer Ausgaben geſetz-
lich verpflichtet ſein und darauf die Aufnahme dieſer Ausgaben in den
Etat beruhen; alsdann begründet der letztere nicht die Zahlungspflicht, da
dieſelbe auch ohne ihn bereits begründet iſt. Vgl. mein Budgetrecht S. 55 ff.
hut’s Zeitſchr. S. 192.
mäßigen Ausgaben in Koſten, die in Folge der Rinderpeſt entſtanden waren
und welche das Reich gemäß Geſ. v. 7. April 1869 zu tragen verpflichtet iſt.
Was würde man dazu ſagen, wenn derartige Ausgaben in den Etat aufge-
nommen würden und dem Reichstage alſo zugemuthet werden ſollte, zu be-
willigen, daß in dem betreffenden Etatsjahre die Rinderpeſt in dem entſpre-
chenden Umfange ſtattfinden dürfe?
ſinn, jene Feſtſetzung, daß der jährliche Voranſchlag über die Ausgaben und
Einnahmen des Staates Geſetz ſein ſoll, was er niemals ſein kann, niemals
geweſen iſt, weder in Preußen noch in Belgien, noch in England noch in dem
vermuthlich auf dem Monde liegenden Muſterſtaate, der nach allgemeinem con-
ſtitutionellen Staatsrechte lebt“. v. Martitz, Ueber den conſt. Begriff ꝛc. S. 63
dagegen lehrt: „Das verabſchiedete Budgetgeſetz mit ſeiner Anlage, dem Staats-
haushaltsetat iſt im juriſtiſchen Sinne Geſetz und nicht bloß in einem
äußerlichen oder formellen Sinne. Seine Kraft iſt die des Geſetzes und nicht
der Verfügung. Es enthält Normen, die eine rechtliche Verbindlichkeit
auferlegen und nicht blos die periodiſche Richtſchnur für die Finanzpolitik
gewähren“. Meines Erachtens kommt der erſtere v. Martitz, der dies für
baaren Unſinn erklärt, der Wahrheit näher, wie der letztere.
Einnahmen hierunter; ſie bieten aber kein ſtaatsrechtliches Intereſſe von
praktiſcher Bedeutung. Sind Einnahme-Reſte als Iſt Einnahme in einer
Jahresrechnung aufgeführt und ſie erweiſen ſich ſpäter als uneinziehbar, ſo
werden ſie in der folgenden Rechnung zurückgerechnet. Ergiebt ſich bei der
Reſtverwaltung ein Einnahme-Ueberſchuß, ſo wird er nach Art. 70 der Reichs-
verf. bei dem Etat des folgenden Jahres zur Deckung der Reichsausgaben
verwendet. Nach dem Entw. eines Geſetzes über die Verwaltung der Ein-
nahmen und Ausgaben §. 27 (1877) iſt für Matrikularbeiträge und für die
nach Art. 39 der R.V. feſtgeſtellten Einnahmen an Zöllen und Steuern eine
ſechsmonatl. Friſt zur nachträglichen Einziehung gewährt; Rückſtände anderer
Einnahme-Poſitionen ſind auf die Rechnung des folgenden Jahres zu über-
nehmen.
tags ſoll bei Aufſtellung des Etats hinſichtlich der übertragbaren Titel der-
ſelben jedesmal erkennbar gemacht werden, wie viel von den übertragbaren
Fonds in dem Vorjahre wirklich verwandt und wie viel daher von demſelben
für das laufende Jahr noch disponibel iſt (Stenogr. Berichte S. 419—424).
Die Reichsregierung hat ihre Zuſtimmung dazu erklärt und dem entſprechend
dieſe Nachweiſungen für die aus dem Jahre 1870 disponibel gebliebenen Be-
ſtände der Morine- und Telegraphenverwaltung pro 1871 ſchon am 2. Nov.
1871 gegeben (Druckſ. II. Seſſ. 1871 Nr. 36).
gedruckt bei v. RönneII. 1 S. 166 ff.
Motive S. 19 ff.
der Reichs-Hauptkaſſe geſondert nachzuweiſen 1) der in dem betreffenden Jahre
ausgegebene Betrag, 2) der auf das folgende Jahr übertragene Beſtand,
3) der aus dem Vorjahre übernommene Beſtand.
mehrung von Telegraphen Leitungen oder zur Anſchaffung von Grundſtücken
u. dgl. über den etatsmäßigen Betrag hinaus oder Mehrausgaben der Marine-
verwaltung für Schiffsverpflegung, Materialien und Inventarien u. dgl., welche
für das Bedürfniß des laufenden Jahres verwendet werden, nicht als Vor-
ſchüſſe, ſondern als Etats-Ueberſchreitungen angeſehen werden. Ein hiervon
abweichendes Verfahren der Jahre 1867 — 1869 iſt vom Rechnungshof mit
Recht gerügt und ſeine Incorrectheit von der Reichsregierung anerkannt wor-
den. Vgl. die Denkſchrift v. 6. Mai 1872 zu dem Geſetzentwurf, betr. die
Regelung des Reichshaushalts vom Jahre 1871 S. 8 (Druckſ. des Deut-
ſchen Reichstags III. Seſſion 1872 Nr. 59) und das Monitum des Rechnungs-
hofes v. 11. Juni 1871 (ebend. Nr. 110). In Folge deſſen wurde das R.G.
v. 29. März 1873 (R.G.Bl. S. 59) erlaſſen, welches für die Etatsüberſchrei-
tungen „Indemnität“ bewilligte und Deckungsmittel anwies.
Demgemäß hat der von der Reichsregierung urſprünglich vorgelegte Geſetz-
entw. über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben im §. 5 Abſ. 5 die
Beſtimmung enthalten: „Etwa geleiſtete Vorſchüſſe ſind in den Rechnungen
nicht als verausgabt, ſondern unter den Beſtänden nachzuweiſen“. Die Kom-
miſſion des Reichstages (Druckſ. 1874 Nr. 108) verlangte jedoch, daß ſolche
Vorſchüſſe unter den Etatsüberſchreitungen nachgewieſen werden und
die Regierung hat dieſem Verlangen in dem revidirten Entwurf entſprochen.
(Entw. v. 1877 §. 8 Abſ. 2.)
Bezeichnung zutreffender ſei, von v. Rönne S. 175 erörtert; er findet zugleich
in meinen Ausführungen den Beweis, daß mir „der Begriff des konſtitutionellen
Budgetrechts völlig abhanden gekommen iſt“. Das war nun freilich grade
mein Beſtreben, den traditionellen Begriff des „konſtitutionellen“ Budget-
rechts, der einer vorgefaßten politiſchen Theorie entſprungen iſt, als haltlos
darzulegen und ihn durch einen dem poſitiven Deutſchen Staatsrecht beſſer
entſprechenden zu erſetzen.
Begriff ꝛc. S. 66 ff., daß in dem Falle, daß das Etatsgeſetz nicht zu Stande
gekommen ſei, eine Kriſis vorliege, „wo der Staat am Rande des Abgrundes
ſtehe“; daß „hier unſere Wiſſenſchaft aufhört“; daß „hier alle juriſt. Con-
ſtruction vergeblich und müſſig ſei“ und „Fragen geſtellt werden, die nicht
mehr dem Bereiche des Rechts angehören“. Aehnlich Zorn a. a. O. S. 383.
Gegen dieſe Phraſen wendet ſich mit Recht G. Meyer in Grünhut’s Zeit-
ſchrift VIII. S. 49 fg.
Haushalts-Etats des Deutſchen Reichs für das Vierteljahr vom 1. Jan. 1877
bis 31. März 1877 auf den Monat April 1877 (R.G.Bl. S. 407) und R.G.
v. 30. März 1878, betreffend die vorläufige Erſtreckung des Haushalts-Etats
des Deutſchen Reichs für das Etatsjahr 1877/78 auf den Monat April 1878.
(R.G.Bl. S. 9).
Etats für verträglich hält, ſo iſt nicht recht einzuſehen, warum nicht auch
Etats für Finanzperioden von zwei oder mehreren Jahren damit vereinbar
ſein ſollen. Verfaſſungsgemäß ſind allein Jahresetats.
hingeſtellt. Vgl. die aus dem Jahre 1862 ſtammende Ausführung von
Lasker, Zur Verfaſſungsgeſchichte Preußens 1874 S. 355 ff. Dieſe Theorie
wird jetzt noch vertheidigt von v. Rönne Staatsr. d. D. R. II. 1 S. 171.
v. Martitz a. a. O. S. 65 und Zorn S. 382.
hut’s Zeitſchr. S. 196 und Lehrbuch I. S. 591 fg.
liche Inſtitutionen dauernd normiren, hinſichtlich der hierfür erforderlichen
finanziellen Mittel „eines alljährlich zu erneuernden Ausführungs-
geſetzes“ bedürfen. Darnach gäbe es im Staate überhaupt gar keine dauernde
Inſtitutionen und keine fortgeltenden Geſetze, ſondern der geſammte Rechts-
zuſtand des Staates wäre von Jahr zu Jahr in Frage geſtellt und würde
immer nur für eine Etatsperiode prolongirt. — v. Martitz, Betrachtungen ꝛc.
S. 99 ſagt: „Es iſt eine unerhörte Frivolität zu behaupten, der
Rechtsgrund, aus dem der Staat ſeine Ausgaben leiſtet, ſeine Einnahmen be-
zieht, ſei ein jährlich zu vereinbarendes Geſetz“. v. Martitz, Ueber den
conſt. Begriff ꝛc. S. 65 dagegen behauptet: „nur dem vorliegenden Etats-
geſetze kann die Landesregierung zu Rechte die Vollmacht entnehmen, die
Finanzverwaltung nach Maßgabe der in demſelben genehmigten Etats, d. h.
theils nach Anweiſung theils nach Ermächtigung durch die einzelnen, beſchluß-
mäßig feſtgeſtellten Etatspoſitionen zu führen“. Ich halte dieſe letztere Be-
hauptung zwar nicht für eine „unerhörte Frivolität“, aber für einen völligen
Irrthum.
für rechtsirrthümlich, weil die Genehmigung der außeretatsmäßigen Ausgaben
in einer andern Form erfolgt wie die Feſtſtellung des Etats. (Siehe oben
S. 361 fg.) Die logiſche Schlüſſigkeit iſt bei dieſer Ausführung zu ver-
miſſen.
Materien vorhandenen Geſetze, um ausgeführt werden zu können, alljährlich
eines neuen, beſonderen Ausführungsgeſetzes bedürfen, als welches
das Budgetgeſetz in ſeinen auf die Einnahmen bezüglichen Poſitionen ſich
darſtellt. Die Geſetze ſelbſt enthalten von dieſer Ergänzungsbedürftigkeit Nichts,
ebenſowenig die Reichsverfaſſung. Wie ſich Zorn die praktiſche Ausführung
ſeiner Theorie denkt, iſt ſchwer zu errathen. Sollen, wenn am 1. April eines
Jahres das Etatsgeſetz nicht publizirt iſt, alle Waaren zollfrei eingehen, alle
Verbrauchsabgaben aufhören, alle Poſtſendungen portofrei befördert werden
u. ſ. w.? Auch v. Rönne S. 171 fg. vertritt dieſelbe Anſicht; er entwickelt
aber noch außerdem den von überwältigendem Scharfſinn zeugenden Lehr-
ſatz, „daß zwar für das Reich materiell ein von der geſetzlichen Feſt-
ſtellung des Etats theilweiſe unabhängiges Recht auf die gedachten Einnahmen
regierung und deren (!) nach Art. 17 der R.V. verantwortlichen Kanzler.“
Alſo das Reich hat wol ein Recht auf die Portogebühren, aber die Poſt-
behörden dürfen ſie nicht erheben! Ein ſchöner Gedanke. — v. Martitz,
Betrachtungen ꝛc. S. 100 ſagt: „Ein jährlicher Staatshaushaltsplan hat nicht
die Kraft, die geſetzlichen Landeseinkünfte in Jahresrenten zu verwandeln,
weder in England noch in einem andern Staate, der die Geſetze des
geſunden Menſchenverſtandes recipirt hat“. v. Martitz, Ueber den
conſtitut. Begriff ꝛc., hat ſich von den beengenden Feſſeln der letzterwähnten
Geſetze frei gemacht und vergleicht S. 65 die Forterhebung der geſetzlich feſt-
ſtehenden Einnahmen bei mangelndem Etatsgeſetz einer — „Brandſchatzung“.
dings ſchwerlich finden, ſchon deshalb, weil er für die Beſtreitung des Auf-
wandes für das Heer keine genügenden Mittel bietet; rechtlich aufgehoben iſt
er aber weder durch die Beendigung der Pauſchquantumsperiode noch durch
die Militair- und Finanzgeſetzgebung des Reiches. Anderer Anſicht ſind G.
Meyer in Hirth’s Annalen 1880 S. 349 und v. RönneII. 1 S. 177 fg.
Abhandlung „Ueber den Rechnungshof mit beſonderer Rückſicht auf das Deut-
ſche Reich“ in der Zeitſchrift f. die geſ. Staatswiſſenſchaft Bd. 32 S. 479 ff.
und Bd. 33 S. 23 ff. Meißner, die das Rechnungsweſen des Preuß.
Staates umfaſſenden Geſetze und Verordnungen, betreffend die Einrichtung
und die Befugniſſe der Ober-Rechnungskammer, 2 Bde. Berlin 1878 1879.
Vgl. auch den Artikel „Staatskaſſenverwaltung“ in v. Holtzendorff’s Rechts-
lexikon Bd. III. S. 751.
dement, betreffend die Einſetzung eines Bundesrechnungshofes wurde vom
verfaſſungberathenden Reichstage abgelehnt.
Kommiſſion des Abgeordnetenhauſes in den Druckſachen deſſelben von 1871/72
Nr. 148.
ſcheiterte, vergleiche Hirth’s Annalen 1874 S. 214 ff. und beſonders Zeitſchr.
f. die geſ. Staatswiſſenſch. Bd. 33 (1877) S. 23 ff.
entwurf ſo, wie er im Jahre 1877 dem Reichstage mit Motiven vorgelegt
worden iſt (Druckſachen 1877 Nr. 16), citirt.
Reichshaushalts und des Landeshaushalts von Elſ.Lothr. für das Jahr 1874.
der Finanzkontrole und hat die früheren Geſetze und Verordnungen nur inſo-
weit außer Kraft geſetzt, als ſie ſeinen Beſtimmungen zuwiderlaufen. Das
Geſetz beſchränkt ſich im Weſentlichen darauf, die Einrichtung, den Geſchäfts-
gang, die amtlichen Obliegenheiten und Befugniſſe der Oberrechnungskammer
zu beſtimmen, über die materiellen Grundſätze der Finanzverwaltung (auch
„materielles Etatsrecht“ genannt), welche zugleich materielle Grundſätze für
die Finanzkontrole ſind, enthält das Geſetz nur wenige, durch die Einführung
der conſtitutionellen Staatsform erforderlich gewordene Vorſchriften. Dieſe
Regeln ſind vielmehr enthalten in der, in der Preuß. Geſ.Samml. nicht ver-
kündeten, „Inſtruktion für die Ober-Rechnungs-Kammer vom
18. Dez. 1824“, welche im Weſentlichen noch gegenwärtig in Geltung ſteht.
Eine Bearbeitung derſelben mit Angabe der zu ihrer Ergänzung, Erläuterung
u. ſ. w. ergangenen Vorſchriften findet ſich bei Meißner a. a. O. Bd. I.
S. 77 ff. Mit dieſer Inſtruktion, die ihrem Inhalte nach ſich zum großen
Theil als ein Geſetz im materiellen Sinne des Wortes charakteriſirt,
iſt nicht zu verwechſeln die, lediglich den inneren Geſchäftsgang betreffende
Inſtruction des Reichskanzlers f. den Rechnungshof des D. R. v. 5. März 1875.
(Bd. I. S. 356.)
den Mitgliedern, ſowie über ſeine amtl. Befugniſſe und Obliegenheiten vgl.
die Inſtr. v. 5. März 1875 §. 6 und §§. 23 ff.
Rechnungen hinſichtlich der Verwaltung und Verwendung der franzöſ. Kriegs-
koſten-Entſchädigung, der Verwaltung des Invalidenfonds, des Kriegsſchatzes
und der Reichsbank dem Rechnungshofe übertragen worden. Vgl. Bd. I. S. 359.
findet ſich im Reichsbudget nur in dem Etat des Auswärtigen Amtes.
nungen findet ſich als Anlage zu den Motiven des Reichsgeſetzentwurfs. Druck-
ſachen 1877 Nr. 16 S. 26. Nach dem Geſetzentw. des Reichs §. 12 ſollen
Veränderungen der bisherigen Abgrenzung zuläſſig ſein durch Kaiſerl. Ver-
ordnungen, welche in kürzeſter Friſt dem Bundesrathe und Reichstage zur
Kenntniß zu bringen ſind. Analoge Vorſchriften enthält §. 11 des Pr. Geſ.
terungen in den Motiven hierzu.
Rechnungs-Kammer iſt: a) durch die Reviſion der Rechnungen ſich zu über-
zeugen, daß die allgemeinen Grundſätze des von Uns genehmigten Staats-
Verwaltungs-Syſtems feſtgehalten, im Geiſte deſſelben wirklich adminiſtrirt,
die einzelnen Verwaltungen nach den beſtehenden Geſetzen, Verordnungen, In-
ſtructionen und Etats gewiſſenhaft geführt, Einnahmen und Ausgaben gehörig
nachgewieſen, und die den Verwaltungen bewilligten Summen beſtimmungs-
mäßig verwendet werden, und b) nach den aus den Rechnungen ſich ergebenden
Reſultaten der Verwaltung zu beurtheilen, ob und wo zur Beförderung des
Staats-Zwecks Abänderungen nöthig oder doch räthlich ſind“.
chefs ſind der Reichskanzler und die Chefs der 3 Kontingentsverwaltungen.
Vgl. Reichsgeſetzentw. §. 15.
Inſtruct. v. 18. Dez. 1824 §. 43.
der Rechnungen und Nachweiſungen für erforderlich erachtete Auskunft u. ſ. w.
zu verlangen und er iſt befugt, ſeinen Verfügungen nöthigenfalls durch Straf-
befehle Folgeleiſtung zu ſichern; auch etwa vorkommende Unangemeſſenheiten
in Erledigung ſeiner Erlaſſe zu rügen. Preuß. Geſ. §. 13 Abſ. 1 §. 16.
Vgl. den Entw. des Reichsgeſ. §§. 14—17. Bundesgeſ. v. 4. Juli 1868 §. 3
(B.G.Bl. S. 434) und v. 11. Febr. 1875.
Militairverwaltung, da dieſelbe zwar auf Rechnung des Reiches geführt wird,
aber keine Reichsverwaltung iſt, der Reichskanzler daher auch nicht als ihr
Chef anzuſehen iſt. Die Monita des Rechnungshofes ſind in letzter Inſtanz
mit den Verwaltungschefs der drei Kontingente (Preußen, Sachſen, Württem-
Geſetzentw. §. 20.
weiſung der Etatsüberſchreitungen und der außeretatsmäßigen Ausgaben iſt
disciplin unterſtellten Rechnungsleger nicht vom Rechnungshof direct zu ver-
hängen, ſondern nach Antrag deſſelben von dem Chef der betreffenden Kon-
tingentsverwaltung. Vgl. den Reichs-Geſetzentw. §. 17 Abſ. 2 u. 3.
ſetzungen geleiſteter Ausgabebeträge von den Einnahmen oder unrichtige Ab-
ſetzungen vereinnahmter Beträge von Ausgabefonds in den Rechnungen unter-
laufen. — Vgl. den Bericht der Ober-Rechnungs-Kammer zur allgemeinen
Rechnung über den Preuß. Staatshaushalt des Jahres 1872, die hieran ſich
ſchließenden Verhandlungen des Preuß. Landtages und den Beſchluß des
Preuß. Staatsminiſteriums v. 25. Febr. 1878 bei Meißner a. a. O. Bd. II.
S. 96—112.
rath und Reichstage zur nachträglichen Genehmigung vorzulegen (vgl. Preuß.
Geſ. §. 19 Abſ. 3), alſo vor der Reviſion der Rechnungen Seitens des Rech-
nungshofes.
Theil I. Tit. 14 des Allg. Landrechts.
Rechnungslegung treffen. Siehe oben S. 384 Note 3.
Geſ. §. 17 a. E.
S. 505 ff.
erörterten Berichte finanziellen Inhalts.
auf die Erwerbung, Benutzung oder Veräußerung von Reichseigenthum bezüg-
lichen Geſetze“.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn82.0