[][][][][]
Clariſſa,
Die
Geſchichte

eines vornehmen Frauenzimmers,


Zweyter Theil.


GOETTJNGEN,:
Verlegts Abram Vandenhoeck, Univerſitaͤts-Buchh.
1748.

Mit Koͤnigl. Pohln. und Churf. Saͤchß. allergnaͤdigſten
Privilegio
[][[1]]

Clariſſa
der zweyte Theil.



Erſter Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch ungehalte[n]? Warum ſolte ich ungehal-
ten ſeyn? Die von Jhnen genommene
Freyheit, nie Sie es heiſſen, iſt mir ſehr
angenehm. Jch wu[n]dere mich nur uͤber Jhre Ge-
duld gegen mich: diß iſts alles: und mir thut
leyd, daß ich Jhnen die Muͤhe verurſachet habe,
einen ſo weitlaͤuftigen Brief zu ſchreiben; der mich
doch im durchleſen ſo ſehr vergnuͤgt hat. (*)


Jch glaube gern, daß Sie nicht gegen mich
mit Wiſſen und Willen verſteckt ſind. Zwey
Gruͤnde uͤberzeugen mich hievon: Einmal, Sie
verſichern es ſelbſt, daß Sie mir nich[t]s verhelen.
Zum andern, Sie ſind bisher nicht im Stande
geweſen, wegen ihres kuͤnftigen Schickſaals zu ei-
ner
Zweyter Theil. A
[2]Die Geſchichte
ner Gewißheit zu gelangen, noch auch unter ſo
vielen erduldeten Widrigkeiten die Wuͤrckungen
zwey ſehr verſchiedener Dinge zu unterſcheiden,
(ich meyne die Wuͤrkungen der Jhnen angetha-
nen Wiedrigkeiten und der Liebe) umgleichſam je-
der ihre Gebuͤhr zu geben. So viel ich mich er-
innere, habe ich Jhnen ſchon ſonſt einmal hievon
einen Winck gegeben: Darum will ich jetzt nichts
weiter davon gedencken.


Robin ſaget: Sie muͤſten Jhre Briefe kaum
hingelegt haben, als er ſie weggenommen; denn
er ſey eine halbe Stunde vorhinda geweſen, ohne
etwas zu finden: Weil er aber geſehen, mit wie
vieler Ungeduld ich auf Nachrichten wartete, habe
er ſich laͤnger in der Gegend aufgehalten, um,
(wo moͤglich) etwas von Jh[n]en mitzubringen.


Meine Baaſe Jenny Fyinet iſt jetzt hier, und
verlanget bey mir zu uͤbernachten. Vermuthlich
werde ich daher nicht Zeit haben, mich mit der er-
foderten Ernſthaftigkeit und Sammlung der Ge-
dancken an meinen Schreib-Tiſch zu ſetzen. Sie
iſt, wie ſie wiſſen, dem Geſchwaͤtz ſehr ergeben, und
hat es gern, wenn ich viel mit ihr rede. Doch
kommt ſie jetzt wegen einer wichtigen Angelegen-
heit zu uns: nehmlich meine Mutter zu bewegen,
daß ſie mit ihr zu ihrer Groß-Mutter, der Frau
Larkin reiſen ſoll. Dieſe iſt lange bettlaͤgerig ge-
weſen; endlich faͤllt ihr ein, daß ſie ſterblich ſey,
und Urſachen habe ein Teſtament zu machen: eine
Arbeit, die ihr bisher ſehr fuͤrchterlich vorgekom-
men iſt. Doch will ſie dieſes nur unter der Be-
dingung
[3]der Clariſſa.
dingung thun, daß meine Mutter, als eine weit-
laͤuftige Anverwandtin, zu ihr kommen, und ihr
wegen des Jnnhalts ihres Teſtaments guten Rath
geben ſolle. Denn ſie trauet dem Urtheil meiner
Mutter in Abſicht auf Teſtamente, Familien,
Verordnungen, und andere Sachen von gleicher
Art, eben ſo vieles zu, als bey nahe alle zu thun
pflegen.


Die Frau Larkin wohnet ungefaͤhr 4. Meilen
von hier, und da meine Mutter nicht wohl auſſer
Hauſe uͤbernachten kann, ſo gedenckt ſie des Mor-
gens ſehr fruͤh auszufahren, um des Abends wie-
der hier zu ſeyn. Der morgende Tag iſt Jhnen
demnach vom Morgen bis an den Abend gewid-
met, und ich werde fuͤr niemand, der ſich melden
laͤßt, zu Hauſe ſeyn.


Den abgeſchmackten Cavalier ſchicke ich auch
weg. Er ſoll die beyden Frauenzimmer beglei-
ten, damit ich meine Mutter des Abends zu Hau-
ſe empfangen koͤnne. Dergleichen Bemuͤhungen,
und daß die Einbildung und Dreiſtigkeit unſers
Geſchlechts bey gewiſſen Gelegenheiten und an oͤf-
fentlichen Oertern vermehret werde, iſt doch der
eintzige Nutzen, den man von dieſen herumſchweif-
fenden Geſchoͤpfen GOttes haben kann.


Jch habe ſchon ſonſt zu verſtehen gegeben, daß
ich gern meine Mutter und Herrn Hickman mit
einander verheyrathet ſehen moͤchte, und hier wie-
derhole ich meine Wuͤnſche. Was kann der Un-
terſcheid von 15. oder 20. Jahren bedeuten?
Jnſonderheit wenn der muntere Geiſt des
A 2Frauen-
[4]Die Geſchichte
Frauenzimmers ſie auf lange Zeit jung macht;
und die Manns-Perſon ſehr ſittſam iſt. Jn der
That, er ſollte mir beſſer anſtehn, wenn er mein
Vater wuͤrde, als wenn ich ihn fuͤr einen noch
naͤhern Freund halten muͤßte: uͤber dieſes beten
die beyden Leute einander ſehr an.


Aber erlauben Sie mir einen Vorſchlag zu thun,
der noch beſſer und den Jahren gemaͤſſer iſt, und
wenigſtens dem Cavalier vortheilhafter waͤre.
Wie? wenn Sie ſich mit Jhren Freunden ver-
glichen, daß Sie ihre beyden Freyer ausſchlagen
wollten, meinem aber Erlaubniß geben zu hoffen.
Jſt Jhre Neigung gegen den einen von beyden
nur bedingt, ſo glaube ich, daß dieſer Vorſchlag
nicht zu verachten waͤre. O ein gluͤcklicher Ein-
fall falls er Jhren Beyfall findet! Darf ich Herrn
Hickman als den Jhrigen anſehen, ſo werde ich
ungemein viel Ehrerbietung gegen ihn haben: mehr
als noch einmal ſo viel, als wenn ich ihn in einem
andern Verhaͤltniß betrachte. Die Quelle iſt ge-
oͤfnet! ſoll ich ſie nun ferner flieſſen laſſen? ‒ ‒
Wie ſchwer iſt es doch, angebohrnen Fehlern zu
widerſtehen?


Hickman iſt wenigſtens vielmehr nach Jhrem
Geſchmack, als alle, die Jhnen bisher ihre Auf-
wartung gemacht haben. Er iſt ſehr ſittſam:
ſehr ernſthaft: und hat ſonſt noch ſehr viel gutes.
Sie ſelbſt haben mir erzaͤhlt, daß Sie viel von
ihm halten: vielleicht nur deswegen, weil meine
Mutter viel von ihm haͤlt. Er wuͤrde ſich wenig-
ſtens ſehr uͤber den Tauſch freuen, oder er muͤßte
ein
[5]der Clariſſa.
ein groͤſſerer Narr ſeyn, als ich mir es einbilden
kann.


Aber Jhr ergrimmter Liebhaber wuͤrde ihm den
Hals brechen. Daran dachte ich nicht! Jch weiß
nicht woher es kommt, daß ich nie ernſthaft ſeyn
kann wenn ich von Herrn Hickman ſchreibe? und
doch iſt er in der Haupt-Sache ein recht guter und
ehrlicher Mann! aber wer iſt vollkommen? Dieſes
iſt eine meiner Schwachheiten, und eine Gelegen-
heit fuͤr Sie, mir Verweiſe zu geben.


Sie ſehen mich wegen ſeiner Neigung
gegen mich fuͤr gluͤcklich an Aber Sie ſind
nur deshalb geneigt, einen Zuſtand fuͤr ertraͤglich
zu halten, der Jhnen ſonſt unertraͤglich ſcheinen
wuͤrde, weil Jhr Ungluͤck ſo groß iſt, und man
ſo wunderlich mit Jhnen umgehet. Jch getraue
mir zu behaupten, Sie wuͤrden ihrer Ernſthaf-
tigkeit ohngeachtet dieſen Mann doch nicht haben
wollen, es waͤre denn, daß Solme, und er zu-
gleich um Sie anhielten, und Sie einen von bey-
den nothwendig nehmen muͤßten. Hier iſt der
Probier-Sein! Jch will ſehen was Sie nun ſa-
gen werden.


Was mich betrift, ſo muß ich Jhnen bekennen,
daß ich ſehr viel gegen Hickman einzuwenden ha-
be. Er und Hochzeit ſind mir noch nie zugleich
in die Gedancken gekommen. Soll ich Jhnen
freymuͤthig meine Meinung von ihm melden?
von ſeiner guten und ſchlimmen Seite? und zwar
ſo, als ſchriebe ich an eine Perſon, die ihn nicht
kennete? Wohlan ich will es thun: nur iſt es mir
A 3ohn-
[6]Die Geſchichte
ohnmoͤglich ernſthaft dabey zu bleiben, und die
Sache leidet auch meiner Meynung nach, keine
Ernſthaftigkeit. Wir ſind noch bisher nie ſo weit
mit einander gekommen: falls es ia jemahls ge-
ſchehn ſoll. Jndeſſen ſchicket ſich doch zu meiner
Bekuͤmmerniß fuͤr Sie keine andere, als eine ernſt-
hafte Schreib-Art.



Hier mußte ich um des guten Mannes willen
abbrechen. Er hat meiner Mutter 2. Stunden
lang aufgewartet, und geſchmeichelt, wie ich glau-
be, um die Tochter zu haben. Bey ihr braucht
es keine Schmeicheleyen. Es iſt gut, daß er ſich
bey einer von beyden Muͤhe geben muß, ſonſt
wuͤrde er lauter Freuden-Tage haben, und daher
nachlaͤßig, und endlich gar trotzig werden.


Er wolte abreiſen. Die Pferde ſtunden ſchon
vor der Thuͤr. Meine Mutter ließ mich herab rufen.
unter dem Vorwande, Sie habe mir etwas zu ſagẽ.
Als ich kam, fagte Sie mir einiges Nichts. Es
war klar, Sie hatte mich aus keiner andern Abſicht
rufen laſſen, als daß ich ſeinen ſchoͤnen Buͤckling
ſehen, und von ſeinem Wunſch eine gute Nacht
annehmen moͤchte. Sie weiß, daß ich nicht uͤber-
maͤßig willig bin, ihm mit meiner Gegenwart zu
dienen, wenn ich mich irgends ſonſt wo beſchaͤfti-
gen kann. Jch hatte mein Geſicht nicht ſo ſehr in
meiner Gewalt, daß ich nicht haͤtte ſollen etwas
verdrießliches blicken laſſen, als ich ſahe, daß ſie
nichts zu ſagen hatte, und ich ihre Abſicht errieth.


Sie
[7]der Clariſſa.

Sie laͤchelte meine gar zu merckliche Verdrieß-
lichkeit zu rechte, damit mein Freyer vergnuͤgt und
mit ſich ſelbſt zufrieden weggehen koͤnnte.


Er buͤckte ſich bis auf die Erde: in der einen
Hand hielt er die Peitſche, und die andere both er
mir. Jch hatte zu ſolcher Begleitung keine Luſt,
und zog die Hand zuruͤck: ich ſtieß ihn aber ſtarck an
den Ellbogen, als wenn ich wegen des tiefen Buͤck-
lings befuͤrchtete, er moͤchte fallen, und ihm auf-
helfen wolte. Ein ſchlimmer Fall/ ſagte ich,
haͤtte es werden koͤnnen!


Meine Mutter wolte es wieder gut machen,
und ſprach: das alberne Maͤdgen!


Er ſchien verwirrt: nahm den Zaum und ging
gantz ſchwerfaͤllig immer ruͤckwaͤrts, bis er gegen
ſeinen Diener lief. Hier lachte ich. Er ſtieg zu
Pferde und ritt weg, und ich gieng nach erhal-
tenen kleinen Verweiſe die Treppe hinauf. Der
Kopf iſt mir ſo voll von ihm, daß ich meinen
Vorſatz erfuͤllen muß, Sie auf einige Augen-
blicke zum lachen zu bewegen.


Hoͤren Sie denn ſein gutes und ſein ſchlimmes.


Hickman iſt ein laͤppiſcher, ſehr beſchaͤftiger,
und (falls ich von Jhnen ein Wort borgen darf)
dennoch unbeſchaͤftiger Menſch. Er hat viel zu
thun, und ſcheint mir doch nichts zu Stande zu
bringen. Er iſt ohne Entſchlieſſung und veraͤnderlich
in allen Dingen, nur in dieſem nicht, daß er mich
mit ſeinen Thorhei ten ermuͤdet. Doch es iſt deut-
lich, daß er dieſes mehr auf Veranlaſſung meiner
A 4Mutter
[8]Die Geſchichte
Mutter als aus eigener Hofnung thue: denn ich
habe ihm nie erlaubt zu hoffen.


Mit ſeinem Geſichte habe ich auch einen Krieg,
ob er gleich in Abſicht auf die Leibes-Bildung groß
genug, und mittelmaͤßig artig iſt. Nicht eigent-
lich ſeine Geſichts-Zuͤge beleidigen mich: denn was
kommt (wie Sie oft zu ſagen pflegen) auf dieſe
bey einer Manns-Perſon an? aber Hickman hat
bey ſtarcken Lineamenten, und ungeſtalt dicken
Kinnbacken, doch nicht das Maͤnnliche in ſeinem
Anſehen, das Lowelace mit der aller ordentlichſten
und angenehmſten Geſichts-Bildung verbindet.


Was iſt er ferner in Sitten und Kleidung fuͤr
ein Pedant? Jch habe das lange Geifer-Tuch, das
Paternoſter ſo er am Halſe traͤgt, noch nie recht
auslachen koͤnnen, weil meine Mutter ſich einbil-
det, es kleide ihn gut; und ich nicht gern gegen
ihn ſo frey ſeyn will, ihm zu geſtehen, daß er mir
eine Gefaͤlligkeit thaͤte, wenn er es ablegte. Tha-
te er dieſes auch, ſo wuͤrde er gewiß nach ſeiner
ſonderbahren Art auf ein Hals-Tuch von Koͤnig
Wilhelms Tracht, oder auf eine ſolche Art von
Kinnkuͤſſen verfallen, als ſich in alten Gemaͤhlden
zeiget.


Jn der Kleidung kann man ihn nicht nachlaͤßig
nennen: aber bisweilen iſt er zu zierlich, und ein
anderes mahl zu ſehr ohne Zierrath, als daß man
ſagen koͤnnte, er ſey nett, und ſich ſelbſt beſtaͤndig
gleich. Mit ſeinen Sitten macht er ein ſolches
Geraͤuͤſch, daß man faſt dencken ſolte, ſie waͤren
Gaͤſte bey ihm, mit denen er fremde thun muͤſte.
Sie
[9]der Clariſſa.
Sie entſchuldigen dieſes mit ſeiner Furchſamkeit,
jemand zu beleidigen oder zu mißfallen. Aber die-
ſe Jhre uͤbertrieben-gefaͤllige/ pflegen am
wenigſten zu gefallen.


Er iſt uͤbrigens aufrichtig, von guter Familie,
hat ſchoͤne und unverſchuldete Guͤter, und koͤnnte
wohl dereinſt Varon werden, und Jhnen gefallen.
Er iſt freundlich, guthertzig, und mittelmaͤßig frey-
gebig. Dies letzte ſagen die Leute, und ich muͤßte
es auch ſagen, wenn ich ſeine Beſtechungen ange-
nommen haͤtte, die er bloß deswegen anbiethet, um
ſie wieder zuruͤck, und die beſtochene in den Kauff
zu bekommen: Eine Liſt, deren ſich alle Betrieger
von dem Ertz-Vater dem Satan an bis auf ſeine
niedrigſten Diener gebraucht haben. Soll ich die
Sprache einer Perſon ſprechen, welche ich zu ver-
ehren ſch uldig bin, ſo haͤlt man ihm fuͤr einen klu-
gen Mann und guten Hauß-Wirth.


Jch kan auch ſagen, daß mir jetzt niemand beſſer
gefaͤllt als er, wenn ich auch gleich ehemahls an-
ders geſinnet geweſen waͤre.


Er iſt kein Jaͤger, haͤlt zwar Jagd-Hunde, zie-
het ſie aber ſeinen Neben-Menſchen nicht vor.
Wahrhaftig ein gutes Zeichen vor ſeine kuͤnftige
Liebſte! Er macht viel aus ſeinem Pferde, aber er
haͤlt nichts von Wett-Laͤufen, und allen ſolchen Ar-
ten der Spiele. Er iſt maͤßig, ſittſam, und nach
einiger Berichten tugendhaft. Kurtz er beſitzt alle
Eigenſchaften, welche Muͤtter bey einem Freyer
ihrer Toͤchter verlangen koͤnnen, und durch die viel-
leicht die Toͤchter moͤchten gluͤcklich werden, wenn
A 5ſie
[10]Die Geſchichte
ſie zum voraus fuͤr ſich ſo richtig urtheilen koͤnten,
als ſie dereinſt nach gemachter Probe, fuͤr ihre
kuͤnftigen Toͤchter urtheilen werden.


Und doch kann ich ihn in Wahrheit nicht leiden;
ich glaube nicht, daß ich ihn jemahls werde leiden
koͤnnen.


Es iſt wunderlich, daß dieſe ſittſamen Leute nie-
mahls eine anſtaͤndige Munterkeit und wohlgezo-
gene Dreiſtigkeit mit jener guten Eigenſchaft paa-
ren: daß ſie nichts angenehmes und froͤliches an-
nehmen koͤnnen, welches von der Ehrfurcht nicht
braucht getrennet zu werden, mit der ſie billig das
Hertz eines Frauenzimmers zu gewinnen ſuchen,
und die nur die Groͤſſe ihrer Ergebenheit, nicht aber
die ſchaafmaͤßige Einfalt ihres Geiſtes verrathen
ſoll. Denn wer weiß nicht, daß ſich die Liebe
alsdenn gefaͤllt, wenn ſie Loͤwen zaͤhmen kan?
Daß dasjenige Geſchlecht, welches des eig. nen
Mangels der Herzhaftigkeit ſich am meiſten bewuſt
iſt, natuͤrlicher Weiſe den ſuche und vorziehe, der
dieſe Eigenſchaft in hoͤhern Grad beſitzt, und von
dem es daher den meiſten Schutz erwarten kann?
und daß je feiger ſie ſelbſt ſind (denn ſo wuͤrde
man ihre Bloͤdigkeit nennen, wenn ſie ſich bey
Manns-Perſonen befaͤnde) ſie ſich deſto mehr an
allem vergnuͤgen, was den Anſchein des Helden-
muͤthigen hat. Mann kann dieſes ſo gar an ihren
liebſten Buͤchern mercken, welche gemeiniglich von
uͤberſtiegenen Schwuͤrigkeiten handeln, oder von
Schlachten, oder von Helden, die 4 bis 500 auf
einmal uͤberwunden haben. Je unglaubiger die
Sache
[11]der Clariſſa.
Sache iſt, deſto beſſer gefaͤllt ſie ihnen. Kurtz, wer
weiß nicht, daß ſie wuͤnſchen, ihr Anbeter ſoll ge-
gen jederman, ſie ſelbſt ausgenommen, ein Held
ſeyn: und ſeine demuͤthige Unterwerfung gegen ſie,
ſoll keine Grentzen kennen. Hertzen zu bezwingen,
iſt ein Vorrecht des Frauenzimmers, an welches
ſonſt niemand Anſpruch machen kan; daher pflegt
es oft dem Hertzhaften, der die Perſon eines Hel-
den ſpielet, bey ihnen ſo zu gelingen, als es Hel-
den, und nur Helden allein gelingen ſoll.


Was den ehrlichen Hickman anbetrift, ſo iſt
er uͤberall ſo ſanftmuͤthig und demuͤthig, daß ſeine
Unterweiſung kein beſonderes Vorrecht fuͤr mich
bleibet. Wenn ich ihm einen Verweiß gebe, ſo
ſcheint er von Natur fuͤr einen Verweiß gemacht
zu ſeyn, und ihn ſich dergeſtalt zum voraus vor-
zuſtellen, daß ich ihn nie mit einem unerwarteten
Verweiſe, er mag ihn verdient haben oder nicht,
uͤbereilen und verunruhigen kan, Er hat mich
manches mahl in Verwirrung geſetzt, wenn er ſich
wegen nie begangener Fehler ſo bußfertig angeſtel-
let hat, daß ich nicht wuſte, ob ich Mitleiden
mit ihm haben, oder ihn auslachen ſolte.


Wir haben oͤfters mit einander auf das ehmah-
lige Geſicht und Gemuͤth erwachſener Perſonen zu-
ruͤck geblicket: das iſt, aus ihrer jetzigen Geſtalt
und Neigung uns von ihnen in Abſicht auf das
aͤuſſere und innere (ſofern man dieſes aus den Sit-
ten errathen kan) ein Bild gemacht, wie ſie in
ihren Kinder-Jahren moͤchten ausgeſehen haben.
Jch muß Jhnen doch ſchreiben wie mir Hickman,
Sol-
[12]Die Geſchichte
Solmes/ und Lowelace, unſere 3. Ritter vor-
kommen, wenn ich Sie mir in ihren Schuljah-
ren vorſtelle.


Jch dencke, Solmes muß ein kleiner geitziger,
niedertraͤchtiger Spitzbube geweſen ſeyn, der jedem
etwas mauſete, und jedem Jungen das Butter-
Brod abbettelte: er ſelbſt aber ſpuckte, wenn es
des Winters kalt war, in die Haͤnde, um ſein
eigen Butter-Brod ſo eckelhaft zu beſchmieren,
daß niemand Luſt kriegen moͤchte es ihm abzuneh-
men, wie ich wohl von andern niedertraͤchtigen
Buben gehoͤret habe.


Hickman war ein uͤbergroſſer ungeſchickter
Junge, dem die Haare lang am Kopfe nieder
hingen, und den jederman ſtieß und ſchuppte.
Er rieb ſich die Augen und gieng mit heulen nach
Hauſe, um es ſeiner Mutter zu ſagen.


Lowelace/ war (wie ich ihn mir vorſtelle) ein
kraußkoͤpfigter Ertzſchelm, voll Feuer, Einbildung
und Muthwillen: Ein Garten-Dieb, ein Mau-
ren Kletterer, ein Reuter ohne Sattel und Zaum,
ein eigenſinniger Bengel: kurtz der alle andere
ſtieß und ihnen eins verſetzte, der nie gut that,
und nie Unrecht litte. Oft kam er mit zerbroche-
nem Kopf zu Hauſe, hatte ein Pflaſter vor der
Stirn, oder lies es von ſelbſt wieder zuheilen:
unterdeſſen fuhr er fort, mehr Muthwillen aus-
zuuͤben, um entweder ein Kruͤppel zu werden, oder
doch zu verdienen, daß er es wuͤrde.


Alle dieſe Eigenſchften ſind mit ihnen aufge-
wachſen, und machen mit einer kleinen Veraͤnde-
rung ihren jetzigen Charackter aus.

Wie
[13]der Clariſſa.

Wie verdrießlich iſt es, mein Hertz, daß alle
Manns-Perſonen ſolche Meer-Katzen ſiud, oder
daß wenigſtens wir beyde nur unter ſolchen Affen
die Auswahl haben.


Jch erkenne, daß ich etwas zur Unzeit, da Sie
in ſo ungluͤcklichen Umſtaͤnden ſind, mich uͤber die-
ſe Sache luſtig mache. Falls ich Jhnen nicht
hiedurch ein kleines Vergnuͤgen erwecke, wie ſonſt
meine fluͤchtigen Einfaͤlle zu thun pflegen; ſo habe
ich weder vor Jhnen, noch vor meinem eigenen
Hertzen einige Entſchuldigung, welches letztere, wie
ich verſichern kan, ohngeachtet meiner anſcheinen-
den Leichtſinnigkeit ſich jetzo gantz an Jhre ſo be-
truͤbte Stelle ſetzet.


Weil dieſer Briefe gar zu wunderlich iſt, ſo ſchi-
cke ich ihn nicht ab, bis ich ihn mit etwas anders
begleiten kan, ſo ſich beſſer zu ihren traurigen Um-
ſtaͤnden, als der Veranlaſſung unſers jetzigen
Brief-Wechſels, reimet. Morgen, wie ſchon
gemeldet, bin ich gantz die Jhre, folglich


Dero


Anna Howes.


Der
[14]Die Geſchichte

Der zweyte Brief.
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Meine Mutter und Baaſe ſind in unſerm Wa-
gen mit 4. Pferden weggefahren. Jhr
tapferer Ritter begleitet Sie zu Pferde, nebſt [2].
von ſeinen und einem von meiner Mutter Dienern.
Beyde machen gern etwas Staat, wenn ſie ver-
reiſen: wenigſtens halten Sie dieſes fuͤr eine Hoͤf-
lichkeit, die einer dem andern ſchuldig ſey, und
geben dadurch zu erkennen, daß Sie ſich unterein-
ander fuͤr Liebhaber des Staats anſehen. Ro-
bert/
iſt nur Jhr und mein Diener, ſonſt nie-
mandes, und der Tag iſt gantz mein eigen.


Jch muß ſie gleich Anfangs tadeln, mein Kind,
daß Sie nicht bey gegebener Gelegenheit fuͤr Jhr
Recht ſtreiten wollen. Gerechtigkeit iſt man ſich
eben ſo ſehr ſchuldig, als andern. Noch mehr
muß ich Sie tadeln, daß Sie ſich gegen ihre Ba-
ſe und Schweſter alſo erklaͤren: Sie wollen
nicht
proceſſiren. Denn da dieſe ihren Vater und
Bruder hievon benachrichtigen werden; ſo muß
eine ſolche Erklaͤrung nothwendig dergleichen Ge-
muͤther dreiſter und frecher machen, die ſo wenig
von Edelmuͤthigkeit, als Jhrer recht unterſcheiden-
den Tugend, beſitzen.


Alle
[15]der Clariſſa.

Alle Gemuͤther, welche veraͤchtlich und hart
ſind, wo ſie ſich es unterſtehen duͤrfen, werden
kriechend und ſchmiegen ſich, wo ſie flch nichts un-
terſtehen duͤrfen. Erinnern Sie ſich doch einer
Anmerckung, die Sie ſelbſt, ich weiß nicht mehr
bey welcher Gelegenheit machten: Daß kleine
Geiſter ſich immer nach dem richten/ mit
dem ſie zuthun haben: daß ſie gegen eigen-
ſinnige und harte Koͤpfe ſchmeicheln/ ſanft-
muͤthige aber unter die Fuͤſſe treten.
Die
Gelegenheit einer andern Anmerckung, welche Sie
gegen Fraͤulein Biddulph machten, werden Sie
nie vergeſſen koͤnnen: Wenn man in Worten
und Handlungen eine gewiſſe Hoheit an-
nimmt/ und ſich nur huͤtet ſie nicht durch
Hochmuth zu verſtellen/ ſo wird man von
jederman Ehrfurcht zu erwarten haben.


Jch erinnere mich noch einer Anmerckung, wel-
che Sie, wie Sieſagten, der Fraͤulein Norton
zu dancken hatten, und dieſe ihrem Vater, der
von einem Geiſtlichen, deſſen Predigten vortreflich,
und ſein Leben ſehr mittelmaͤßig war, zu ſagen
pflegte: Wiſſen und thun iſt eine ſehr ver-
ſchiedene Gabe: Selten hat ſie Eine Perſon
beyde beyſammen.
Bey Jhnen mein Kind, iſt
ſonſt wiſſen und thun nur eine eintzige Sache.
Allein in ihrem jetzigen Umſtaͤnden muß ich Sie
bitten die Anwendung dieſer Anmerckung auf ſich
ſelbſt zu machen. Es wird Muth und Hertzhaf-
tigkeit erfodert, und die Frage iſt: ob dem Willen
eines Verſtorbenen nachgelebet werden ſolle? Die-
ſen
[16]Die Geſchichte
ſen Willen duͤrfen Sie ſelbſt ſo wenig aͤndern als
irgend ſonſt jemand, der ihn aus gewinnſuͤchtigen
Abſichten durchloͤchern will.


Jch weiß, wie ſehr Sie uͤberhaupt den Reich-
thum verachten. Aber erinnern Sie ſich, daß Sie
ihn ſelbſt in einer Abſicht fuͤr ſchaͤtzbar erklaͤret ha-
ben: Nehmlich weil er uns in den Stand
ſetzt/ andere durch Wohlthaten zu verbin-
den: dahingegen der Mangel uns zwinget/
Wohlthaten anzunehmen, und ſie vielleicht
von ſolchen muͤrriſchen und kleinen Gemuͤ-
thern anzunehmen/ die ſie nicht mit derje-
nigen Anſtaͤndigkeit geben koͤnnen/ welche
eine Wohlthat eigentlich zur Wohlthat
macht.
Ueberlegen Sie dieſes, Kind, und ver-
gleichen es mit der gegen Jhre Tante und Schwe-
ſter gethanen Erklaͤrung, ihr Guth nicht in ih-
er eigene Gewalt zu nehmen/ wenn man
Sie auch aus den Hauſe ſtieſſe/ und in die
aͤuſſerſte Armuth und Beduͤrfniß ſetzte.

Selbſt die Furcht ihrer Geſchwiſter, daß Sie
Luſt bekommen koͤnten, Sich als Eigenthuͤmerin
des Jhrigen aufzufuͤhren, beweiſen Jhnen die
Nothwendigkeit dieſes zu thun, nachdem man Jh-
nen ſo uͤbel begegnet.


Jch geſtehe, der Brief ihrer Mutter mit den
Proben von Stoffen, ruͤhrete mich ſehr bey erſter
Durchleſung. Ein wunderlicher Schritt, den
dennoch eine Mutter thut! und doch hat Sie nicht
die Abſicht gehabt, Jhrer zu ſpotten. Jch be-
daure, daß eine ſo zaͤrtlich geſinnete und artige
Dame
[17]der Clariſſa.
Dame ſich zu ſolchen Raͤncken herunter laſſen koͤn-
nen, als ich in dieſem Briefe, und in einigen Unter-
redungen, von denen Sie mich benachrichtigen,
finde. Sehen Sie nicht, was ein ungeſtuͤmer
Kopf durch Plagen und muͤrriſches Weſen von
einem guͤtigen Hertzen erzwingen kann?


Jch kenne den Hochmuth, den ſie darin bli-
cken laſſen, daß ſie Sie ſtets mit Jhrem Ge-
ſchlechts-Nahmen, Harlowe benennen. Cla-
riſſa Harlowe!
So voll Complimente, und ſo
geſetzt in jedem Worte, wenn ſie ernſthaft oder viel-
mehr ſtoltz, und praͤchtig ſind. Dies hat Jhre Frau
Mutter von ihnen angenommen. Sie hat ſich ge-
woͤhnen muͤſſen, wie in der Ehe alſo auch in Wil-
len und Anſchlaͤgen ihren eigenen Geſchlechts-Na-
men unter jenen zu vergraben. Oft iſt es mir vor-
gekommen, als wenn eben derſelbe Geiſt die Jh-
rigen bey ſo gezwungenen Reden, und anderen von
gleicher Art (z. E. Harlow-Burg, ob es
gleich kein Gut des aͤlteſten Bruders, auch kein
vom Vater kommendes Gut iſt) regierte, der ehe-
mals den Tyrann Tudor(*) beſaß. Da dieſer
die Erbin des Hauſes Jorck/ Eliſabeth, hey-
rathete, bahnte er ſich hiedurch einen Weg zur
Crone, den er als ein bloß natuͤrllcher Zweig der Li-
nie Lancaſter ſonſt nicht gehabt haͤtte: dabey war er
gegen ſie ein muͤrriſcher und uͤbelgeſiñeter Gemahl:
bloß weil er ihr ein Gluͤck zu dancken hatte, welches
jemanden ſchuldig zu ſeyn ſeinem Hochmuth uner-
traͤglich
Zweyter Theil. B
[18]Die Geſchichte
traͤglich vorkam. Auch wollte dieſer Koͤnig ohne
Koͤnigliche Großmuth die Heyrath nicht vollziehen,
bis er ſich auf dem Thron ſahe, damit niemand
dencken moͤchte, das Recht zu dem Throne ſtam-
me von ihrer Seite her.


Jch habe ſchon ſonſt Verweiſe bekommen, und
befuͤrchte dergleichen von neuen, wegen der Frey-
heit die ich mir in Beurtheilung Jhrer Anver-
wandten herausnehme. Muß ich Jhnen aber erſt
ſagen, mein Hertz, daß Hochmuth nothwendig
die Verachtung anderer reitzet, und uns in
anderer Urtheil herunter ſetzet? Haben wir nicht
bey den Umſtaͤnden eines beruͤhmten Dichters be-
merckt, daß diejenigen, welche mehr Ehre verlan-
gen, als ſie mit Recht haben koͤñen, auch die verdien-
te Ehre verſchertzen? Jch mag ſie nicht gern be-
truͤben: ich kan aber von jenen eben ſo wenig, als
von andern anders reden, als ſie es verdienen.
Ruhm und Verachtung iſt der Lohn und die
Straffe, welche die Welt auf Verdienſte und
Mangel des Verdienſtes ſetzet: ich meines
Theils will und kann beyde nicht miteinander ver-
wechſeln. Jch dencke an die Jhrigen mit Verach-
tung, nur Jhre Mutter ausgenommen: Warlich,
ſo dencke ich! und was ſie anlanget ‒ ‒ doch aus
Liebe zu Jhnen will ich dieſe arme Dame mit mei-
nen Urtheilen verſchonen. Eins iſt, welches bey
der jetzigen Zwiſtigkeit ſie entſchuldigen muß. Sie
hat ſo viel Jahre, und mit ſo gaͤntzlicher Verlaͤug-
nung das getragen, was ſie getragen hat, und
ihren Willen aufgeopfert: daher kommt es
ihr
[19]der Clariſſa.
leichter als andern vor, daß ihre Tochter auch ih-
ren Willen aufopfern ſolle. Aber wenn ich den-
cke, auf weſſen Anreitzung alles dieſes geſchehen iſt ‒‒
GOtt vergebe mir! Waͤre man mit mir ſo umge-
gangen, ſo waͤre ich ſchon laͤngſtens bey Herrn Lo-
welace.
Aber erinnern Sie ſich, daß ein Schritt,
uͤber den man ſich bey einem ſo heftigen Gemuͤthe,
als das meinige iſt, nicht wundern wuͤrde, an ei-
nem ſo bedaͤchtlichen Frauenzimmer, als Sie ſind,
nicht zu entſchuldigen waͤre.


Nachdem Jhre Frau Mutter wider Willen mit
in die Sache gezogen iſt, wundere ich mich gar
nicht, daß Jhre Baaſe Hervey, Einen Weg mit
ihr gehet: denn die beyden Schweftern halten im-
mer zuſammen. Jch habe mich erkundiget, von
was fuͤr Art die Verpflichtung iſt, in die Herr
Hervey wegen ſchlechter Haußhaltung gerathen
iſt. Es ſcheinet weiter nichts zu ſeyn, als daß Jhr
Bruder eine Schuld bezahlet, fuͤr welche eins ſei-
ner Guͤter zur Hypotheck geſetzt war, ſo in Ge-
fahr ſtand dem Schuld-Herrn zugeeignet zu wer-
den. Dieſes Gut hat er ſich davor wieder zur Hy-
potheck verſchreiben laſſen. Eine kleine Wohl-
that unter Anverwandten, ſonderlich bey ſo zulaͤng-
licher Sicherheit! und dennoch ſo groß, daß da-
durch die gantze Herveyiſche Familie dem nieder-
traͤchtigen Wohlthaͤter verpflichtet iſt, welcher ge-
gen ihn und ſeine Baaſe ſeit der Zeit vielweniger
Umſtaͤnde macht, wie Fraͤulein Dolly Hervey
guten Freunden geklaget hat.


B 2Soll
[20]Die Geſchichte

Soll ich ſo einen Menſchen Jhren Bruder nen-
nen! Ja! ich muß es thun: denn er iſt Jhres
Vaters aͤchter Sohn. Dies wird doch nicht zu
viel geſagt ſeyn?


Es thut mir leyd, daß Sie je an ihn geſchrie-
ben haben. Es iſt dieſes ſchon ſich zu viel um ihn
bekuͤmmern: er wird ſich ſelbſt dadurch betraͤcht-
licher, und kriegt gleichſam einen Beruff, unbe-
ſcheiden gegen Sie zu ſeyn: ein Beruff, dem er
gewiß gemaͤß handeln wird.


Ein treflicher Kerl, der ſeiner ſelbſt gegen Lo-
welace
ſo vergeſſen kan, welcher ihn doch gelehret,
den Degen in die Scheide zu ſtecken, als er ihn
zum Ungluͤck gezogen. Aber dieſe Hauß-Wuͤtte-
riche, die ſich in lauter Schreck-Bilder verwan-
deln, wenn ſie Frauenzimmer, Kinder, und Ge-
ſinde in Furcht jagen wollen, ſind meiſtentheils
feige Memmen, wenn ſie es mit Maͤnnern zu
thun haben. Kaͤme er mir in den Weg, und ſagte
mir dergleichen etwas ins Geſichte, als er hinter
meinem Ruͤcken ſoll geredet haben, oder ſolche An-
zuͤglichkeiten gegen unſer Geſchlecht, als er aus
Liebe zu Jhnen bisweilen hervor gebracht hat: ſo
wuͤrde ich mich unterſtehen Jhm ein paar Fragen
vorzulegen, wenn er mich auch gleich deshalb her-
aus fodern wollte.


Jch ſage abermals, Sie wiſſen, daß ich meine
Gedancken frey ſchreibe. Mein Bruder iſt er
nicht. Koͤnnen Sie ſagen, das er Jhr Bruder
ſey? ‒ ‒ Sie koͤnnen demnach auf mich nicht un-
gehalten ſeyn. Wollten Sie wohl die Parthey ei-
nes
[21]der Clariſſa.
nes falſchen Bruders gegen einen wahren Freund
halten? Ein Bruder kann bisweilen kein Freund
ſeyn: Aber ein Freund iſt ſtets ein Bruder. Mer-
cken Sie ſich das!
Wie Jhr Vetter Anton zu
ſagen pflegt.


Jch kan mich nicht ſo tief erniedrigen, ins be-
ſondere an die Briefe der ſchwachen Leute zu den-
cken, welche Sie Vettern nennen. Und doch ma-
che ich mich gern luſtig, und zwar am liebſten uͤber
ſo ſeltſamen Abbildungen von Menſchen. Aber
ich kenne Jene, und liebe Sie: Dieſes hindert
mich allen Spott uͤber jene auszulaſſen, den ihre
Thorheiten verdienen.


Da ich ſo vieles empfindliche (ſo kommt es Jh-
nen wenigſtens vor) bereits geſchrieben, muß ich
noch einen Gedancken einflieſſen laſſen, der mir
Recht giebt, Jhnen Jhr Verſehen, ein vor alle-
mal vorzuhalten. Er betrift die Auffuͤhrung
ſolcher Frauenzimmer (uns beyden iſt doch derer
mehr als Eine bekannt) die ſich durch laͤrmen oder
muͤrriſches Weſen ſo weit in Furcht jagen laſſen,
daß ſie endlich ſelbſt, gar keinen Willen haben:
an ſtatt, daß ſie ſich lieber durch Zaͤrtlichkeit und
Hoͤflichkeit um dieſes Eigenthum ſollten betrie-
gen laſſen. Jch wuͤnſche, daß dieſes kein Beweiß
des Satzes ſeyn moͤge: daß man durch Unbeſchei-
denheit einen gewiſſern Sieg uͤber manche unſers
Geſchlechts erhalten koͤnne, als durch Freundlich-
keit und Nachgeben. Warlich, mein Hertz, oft
faͤllt mir ein, daß einige von uns ſich im Eheſtan-
de als Kinder auffuͤhren: giebt man ihren Nei-
B 3gungen
[22]Die Geſchichte
gungen zu viel nach, ſo werden ſie unbaͤndig und
albern: gehet man rauh mit ihnen um, ſo ſind
ſie kriechende Sclavinnen. Sollte uns nachge-
ſagt werden, daß uns die Furcht willfaͤrthiger, als
die Liebe mache? Da ſey Ehre, Danckbarkeit und
Gerechtigkeit vor! daß ein verſtaͤndiges Frauen-
zimmer eine ſolche Nachrede veranlaſſen ſollte.


Wenn ich glaubte, daß der Jnhalt und die
Schreib-Art dieſes Briefes Jhnen diejenige nicht
genug verriethen, deren Feder ſo ausſchweifft,
ſo wollte ich meinen Nahmen gantz ausſchreiben.
Denn ich ſchreibe zu ſehr von Hertzen, als daß ich
ihn verhelen moͤchte. So aber moͤgen die An-
fangs-Buchſtaben genug ſeyn, und ich ſchreibe
gleich noch mehr.


A. H.



Der dritte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch will manches uͤbergehen, was ich in Ab-
ſicht auf andere Stuͤcke Jhres Briefes zu
ſchreiben hatte: um Jhnen von der Erkundigung
voll-
[23]der Clariſſa.
vollſtaͤndigere Nachricht zu geben, die Herr Hick-
man
wegen der Lebens-Art und Bekanntſchaft
Herrn Lowelaces zu Londen eingezogen, als er
ſelbſt neulich dort geweſen.


Jn dem Wirths-Hauſe zum Cacao-Baum in
Pall-Mall gerieth er mit zwey ſeiner beſten Geſel-
len, Belton und Mowbray ins Geſpraͤch. Bey-
de waren ſehr frey von Munde, und gottloſe Hoͤl-
len-Kinder: er inzwiſchen wie es ſcheint, gieng
ſehr ehrerbietig mit ihnen um, und nannte ſie,
nachdem er ſich ihrenthalben weiter erkundiget,
Leute von Mitteln und Stande.


Sie brachten die Unterredung von ſelbſt auf
Herr Lowelace: und da ein anderer Herr in der
Stube ſich erkundigte, wenn ſie ihn in der Stadt
erwarteten, antworteten ſie: Noch denſelben
Tag!
Als ſie in ihrer Lobes-Erhebung fortfuhren,
ſagte Hickman: Er habe ſelbſt gehoͤrt, Lowela-
ce
ſolle ein ſehr artiger Herr ſeyn. Er wollte noch
fortreden, ſo unterbrach ihn der eine: mein Herr,
der artigſte Cavallier in der Welt, das iſt
genug.


Er lenckte die Unterredung, daß ſie etwas be-
ſonders von ſeinen ſo geruͤhmten Vorzuͤgen ſagen
moͤchten, welches Sie zu thun ſehr willig wa-
ren. Aber es war nicht ein Wort zum Lobe
ſeiner Tugend. Auch dies mercken Sie ſich,
nach Jhres Vetters Art zu reden.


Herr Hickman ſagte: er habe gehoͤrt Lowe-
lace
ſey ſehr gluͤcklich die Achtung des ſchoͤnen Ge-
ſchlechts zu gewinnen, und ſetzte mit laͤcheln
B 4hinzu
[24]Die Geſchichte
hinzu (um ſie glaubend zu machen, daß er dieſes
eben nicht verabſcheue) man ſage, er ſolle biswei-
len ſein Gluͤck ſo weit als moͤglich treiben.


Jch dachte bey mir ſelbſt: gut, Hickman! ernſt-
haft und weiſe genug! du ſcheinſt kein Fremdling
in ihrer Sprache zu ſeyn; ich dencke du redeſt ſie
jetzt eben. Jch ſagte aber nichts, denn ich habe
mich ſchon oft bemuͤhet, dieſen ſo ſehr wohlgeſitte-
ten Guͤnſtling meiner Mutter auszuforſchen: und
habe bisher noch kein ander Urtheil faͤllen koͤnnen,
als dies: er muͤſſe eutweder ſehr tugendhaft, oder
ſehr liſtig ſeyn.


Der eine von ihnen antwortete: Wer wollte
daranzweifeln?
darauf folgete ein Fluch, und:
Wer wollte es nicht ſo machen: Er handelt/
wie ein jeder junger Herr.


Das iſt wahr! ſagte meiner Mutter Heiliger:
aber ich hoͤre/ er hat ſich mit einem artigen
Frauenzimmer eingelaſſen.


Das hat er gethan, antwortete Belton: der
Teufel hole/ ſie!
(ein niedertraͤchtiger Menſch!)
denn er wendet alle ſeine Zeit auf ſie. Aber
ihre Familie muß ‒ ‒ ſeyn,
(hier bath Herr
Hickman um Erlaubniß einige Worte auszulaſ-
ſen, ob er gleich vorhin ſchlimmere in den Mund
genommen) und moͤchte vielleicht dereinſt
bereuen, daß ſie einen Mann von ſei-
nem Stande und Vorzuͤgen ſo ſchlecht be-
gegnet hat.


Vielleicht, antwortete Hickman/ halten ſie
ihn fuͤr zu wild und ihre Familie ſoll ſehr
tugendhaft ſeyn.

Tu-
[25]der Clariſſa.

Tugendhaft! ſagte einer von Jhnen. Ein
gutes frommes Wort! Himmel wo hat es
ſo lange gelegen? Der Teufel hole mich/
wennich es jein dem Zuſammenhang gehoͤrt
habe/ ſeit dem ich auf der Univerſitaͤt gewe-
ſen bin. Zwantzig unter uns haben ſich oft
darum geſtritten/ ob es nicht ein verjaͤhrtes
altfraͤnckiſches Wort ſey.


Das iſt fuͤr Sie, mein Hertz. Von der Art
ſind Lowelaces Freunde. Belieben Sie ſich
dieſes zu mercken.


Hickman ſagte, dieſe Ausdruͤcke haͤtten ihn
auſſer ſich geſetzt.


Jch ſahe ihn ſtarre an, und meine Augen ga-
ben ihm etwas zu verſtehn, daß er wohl verſtand.
Er ward von neuen auſſer ſich geſetzt.


Faͤllt Jhnen die Perſon nicht bey, die einen
jungen Herrn, der ſich der Kirche gewidmet hatte,
und geſtand, man koͤnne ihn leicht in Verwirrung
ſetzen, wenn er eben in freyer Geſellſchaft geweſen,
antwortete: Es ſey dies ein ſchlechtes Zeichen;
und ſcheine von einer nicht genugſam be-
waͤhrten Tugend her zu ruͤhren. Das an
ihm befindliche Gute, moͤge vielleicht mehr
die Frucht einer guten Erziehung/ als
die Wuͤrckung einer wohl uͤberlegten Wahl
und tief eingewurtzelten Einſicht ſeyn.

Wiſſen Sie noch, daß eben dieſes Frauenzimmer
ihm die Lehre gab: Er ſolle dem Laſter wider-
ſtehn/ und es zu beſchaͤmen ſuchen: Hinge-
gen in allen Geſellſchaften der Vormund

B 5der
[26]Die Geſchichte
der Tugend ſeyn. Man pflege nur das
huͤlfloß und unvertheidigt zu laſſen/ deſſen
man ſich ſchaͤme: und dieſes wolle Sie
nicht gern von ihm hoffen. Das Laſter ſey
feige und verberge ſich, wenn es eine ſolche
Tugend vor ſich finde/ die durch Er-
kaͤnntniß eigener Schoͤnheit und Vorzuͤge
muthig ſey.
Sie wiſſen, dieſes Frauenzimmer
legte ihre Gedancken in des Herrn DoctorLewins
Mund, wie ſie zu thun pflegt, wenn ſie nicht gern
fuͤr das angeſehen ſeyn will, was ſie doch ſchon in
ſo jungen Jahren iſt: und um ihren mittelmaͤßigen
Gedancken, wie ſie ihr demuͤthiger Mund nennet,
ein mehreres Gewicht zu geben.


Ueberhaupt ſagte Herr Hickman/ nachdem er
ſich wieder erholt hatte, er koͤnne von Lowelaces
Tugend keine gute Meinung haben, nachdem er
dergleichen in der Stadt gehoͤrt habe. Doch haͤt-
ten ſeine beyden Bekannten vorgegeben, er ſey jetzt
viel ordentlicher als ſonſt, und habe einen ſehr gu-
ten Entſchluß gefaſſet, den der alte Tom Wahr-
ton
alſo ausgedrucket: niemand heraus zu fodern,
und niemanden auszubleiben, der ihn herausfodert.
Er ſey uͤberhaupt ein braver Kerl, und die an-
genehmſte Geſellſchaft von der Welt. Er koͤnnte
vielleicht dereinſt eine ſehr vornehme Perſon im Koͤ-
nigreiche ſpielen: denn nichts ſey, das man nicht
von ſeinem Gemuͤthe erwarten duͤrffe. ‒ ‒


Jch fuͤrchte, dieſes ſey mehr als zu wahr.
Mehr konnte Hickman nicht von ihm in Erfah-
rung bringen: iſt aber dieſes nicht genug, mein
Hertz,
[27]der Clariſſa.
Hertz, ein ſolches Gemuͤth als das Jhrige iſt zu ei-
ner voͤlligen Entſchlieſſung zu bringen, falls es
ſich auch bisher noch nicht entſchloſſen haͤtte?


Jndeſſen muß ich geſtehen: iſt ein Frauenzim-
mer in der Welt, das ihn auf den rechten Weg
bringen kann, ſo ſind Sie es. Die Nachricht
von der mit Jhnen gehabten Unterredung macht
mir einige Hofnung von ihm. Wenigſtens wa-
ren alle ſeine Bewegungs-Gruͤnde gerecht und
billig: und ſollten Sie die ſeinige werden, ſo ‒ ‒ ‒
doch nichts mehr hievon. Alles uͤberlegt, kann er
Jhrer nie werth werden.



Der vierte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Ein unerwarteter Zuſpruch hat meine Gedan-
cken unterbrochen, und befiehlt mir in der
Sache von der ich zu ſchreiben gedachte eine Aen-
derung zu machen. Es war der eintzige, um
deſſen Willen ich meinen Vorſatz brechen konnte,
an dieſen gantzen Jhnen gewidmeten Tage keinen
Beſuch anzunehmen: eine Perſon, welche ich nach
Herr Hickmans Erzaͤhlung und der Erwartung
ihrer luſtigen Freunde bey mir zu ſehen, nie vermu-
thete,
[28]Die Geſchichte
thete, ſondern glaubte, ſie muͤſſe jetzt in London
ſeyn. Jch habe nun nicht noͤthig Jhnen zu mel-
den, daß es Jhr nur allzuliebenswuͤrdiger Boͤſe-
wicht ſey. Man ſchreibt unſerm Geſchlecht eine
Neigung zu, ſich mit dem unerwarteten zu be-
ſchaͤftigen. Da ich aber zu eilfertig bin, verra-
the ich ſelbſt auf eine mir unerwartete Weiſe meine
unerwartete Neuigkeit. Sie ſollten, war meine
Meynung, noch einmahl ſo viel von meinem
Briefe geleſen haben, ohne errathen zu koͤnnen,
wer? oder von welchem Geſchlechte die beſuchende
Perſon geweſen ſey? doch ich goͤnne Jhnen, daß
Sie es ſo leicht entdeckt haben.


Der Zweck ſeines Beſuchs war, mich zur Vor-
ſprecherin bey meiner liebenswuͤrdigſten Freun-
din
zu gebrauchen: und von mir zu erfahren, wor-
auf er noch hoffen koͤnne, indem er ſich gewiß ver-
ſichert hielt, ich muͤſſe Jhr gantzes Hertz wiſſen.
Er erzaͤhlte mir alles, was in der bewuſten Un-
terredung vorgefallen war: er war aber wegen des
Ausgangs und wegen der ſo wenig vergnuͤglichen
Antworten, welche er von Jhnen erpreſſen koͤnnen,
beſtuͤrtzt: da die Jhrigen gegen ihn von Tage zu
Tage boßhafter, und dennoch gegen Sie nicht
beſſer und gelinder wuͤrden. Er ſagte, ſein Ge-
muͤth ſey voll Unruhe: er fuͤrchte, Sie moͤchten ſich
uͤbertaͤuben laſſen, einen Mann zu waͤhlen, der
bey jederman veraͤchtlich ſey. Er erwaͤhnte eini-
ger gantz neulich vorgefallenen unanſtaͤndigen
Begegnungen Jhrer Vettern und Bruders gegen
jhn: mit der hinzugefuͤgten Erklaͤrung: wenn Sie
ſich
[29]der Clariſſa.
ſich in die Arme des Mannes zwingen lieſſen, um
deſſen willen man ihm ſo ungeziemend begegne;
ſo wuͤrden Sie eine der juͤngſten Witwen in Eng-
land werden, ſo wie ſie gewiß die Liebenswuͤrdig-
ſte ſeyn wuͤrden. Er wollte auch alsdenn Jhren
Bruder wegen der unbeſcheidenen Reden die er in
jedermans Gegenwart gegen ihn ausſtoͤßt, zur
Rechenſchaft fodern.


Er that einige Vorſchlaͤge, aus welchen Sie ei-
nen waͤhlen moͤchten, um Jhren jetzigen Drang-
ſalen zu entgehen. Denn einen will ich Jhnen
melden: Sie ſollen Jhr Land-Guth ſelbſt anneh-
men und verwalten; und falls Sie hiebey Schwie-
rigkeiten finden, ſo nicht auf andere Weiſe koͤnnen
uͤberſtiegen werden, ſollen Sie entweder oͤffentlich
oder insgeheim die Beyhuͤlffe ſeiner Vaters-
Schweſter Lawrance oder des Lord M. anneh-
men, um in den Beſitz des Jhrigen geſetzt zu wer-
den. Er erklaͤrte ſich: wenn Sie dieſes thaͤten,
ſo wolle er nachher es Jhrem eigenen Belieben und
dem Rath Jhres Vetters Morden gaͤntzlich
uͤberlaſſen, ob Sie ſeiner Bitte Gehoͤr geben woll-
ten, oder nicht, wenn Sie von ſeiner aufrichtigen
Beſſerung, die ihm ſeine Feinde ſo ſehr abſpre-
chen, uͤberzeuget ſeyn wuͤrden.


Jch hatte eine gute Gelegenheit, mich bey ihm
zu erkundigen, ob die Geneigtheit ſeiner Anver-
wandtiñen und ſeines Vaters Bruders gegen Sie
noch einerley bleibe, oder verringert ſey, nach-
dem ſie von dem heftigen Betragen Jhrer Anver-
wandten gegen Sie ſelbſt und gegen ihren Vetter
Nach-
[30]Die Geſchichte
richt bekommen? als welches nach Jhrem Wunſch
Herr Hickman bey dem Lord M. ausforſchen ſoll-
te. Jch gebrauchte mich der Gelegenheit, und er
beantwortete meine Frage hinlaͤnglich, indem er
mir aus einem mitgebrachten Briefe von Lord M.
vorlaß: Eine Verbindung mit Jhnen wuͤr-
de auch bloß um Jhrer eigenen Vorzuͤge
und Verdienſte willen ihnen die erwuͤnſch-
teſte Sache ſeyn.
Ja ſo weit gehen Seine
Gnaden in Dero Schreiben: daß ſie ihn verſichern:
wenn Sie um ſeinetwillen einigen Verluſt
des Vermoͤgens uͤbernehmen muͤſten/ und
die Bitterkeit Jhrer Anverwandten ſo weit
ginge/ ſo wolle er ſelbſt und ſeine Schwe-
ſtern geſam̃ter Hand ihm dieſen Verluſt wie-
der gut thun.
Jndeſſen wird ohne Zweifel das
Anſehen einer ſo vornehmen Familie machen, daß
man in dieſer Sache, welche die Ehre beyder Fa-
milien angehet, eine allgemeine Genehmhaltung
der Jhrigen ſehr wuͤnſchet.


Jch ſagte ihm, was Sie auch ſelbſt bereits ihm
geſagt haben: Sie waͤren dem Herrn Solmes
aufs aͤuſſerſte abgeneigt: und wuͤrden unverhey-
rathet bleiben, falls Sie Jhrer eigenen Wahl fol-
gen duͤrften. Gegen ihn, ſagte ich deutlich, haͤt-
ten Sie wegen ſeiner Lebens-Art ſehr ſtarcke und
gerechte Einwendungen. Es ſey billig zu verwun-
dern, daß junge Herren, die ſich ſelbſt ſo viele
Freyheit erlaubten, als man ihm Schuld gaͤbe,
ſich einbilden koͤnnten, es muͤſſe ihnen das tugend-
hafteſte Frauenzimmer zu Theil werden, ſo bald ſie
es
[31]der Clariſſa.
es ſich in dem Kopf kommen laſſen zu heyrathen.
Jch haͤtte ſelbſt ſehr darauf gedrungen, und wuͤr-
de noch ferner darauf dringen, daß Sie ſich in den
Beſitz Jhres Guts ſetzen ſollten: Sie waͤren a-
ber bisher ſehr abgeneigt hievon. Sie ſetzen Jhre
meiſte Hoffnung auf Jhren Vetter Morden:
und ich glaubte es ſey Jhre Haupt-Abſicht, Zeit
zu gewinnen bis dieſer ankommen wuͤrde.


Jch ſtellete ihm vor, daß weder ſeine Drohun-
gen, noch die Vollziehung derſelben, Mittel zu ſei-
nem Zweck, ſondern vielmehr Mittel zu den Ab-
ſichten Jhrer Verfolger ſeyn wuͤrden: denn dieſen
gaͤben ſie einen Vorwand, Sie mit Gewalt zu
zwingen, ohne ſich dem Tadel der Welt bloß zu
ſtellen. Denn er muͤſte nicht meynen, daß das
Urtheil der Welt vortheilhaft fuͤr einen hitzigen jun-
gen Herrn ausfallen werde, von deſſen Lebens-
Wandel man nicht die allerbeſte Meynung habe,
wenn er ſich unterſtuͤnde einer vornehmen Familie
ein ſo ſchaͤtzbares Kind zu rauben, und dabey dro-
hete, ſich durch Gewaltthaͤtigkeiten an ihnen allen
zu raͤchen, wenn man ihn nicht einem andern Freyer
vorzoͤge, den jene ſelbſt gewaͤhlet haͤtten.


Hiezu fuͤgte ich noch, er irre ſich ſehr, wenn er
hoffe durch ſolche Drohungen Jhnen eine Furcht
einzujagen. Denn ob Sie gleich einen ſehr ſanf-
ten Sinn haͤtten, ſo kennete ich doch kein beſtaͤndi-
geres Gemuͤth als das Jhrige, und kein Hertz das
ſich weniger zwingen und uͤberwinden laſſe, wenn
es glaube Recht zu haben, und von andern in
wichtigen Dingen eine niedertraͤchtige Begegnung
erdul-
[32]Die Geſchichte
erdulden muͤſſe: dieſes haͤtten Jhre Verwand-
ten bisher erfahren, und wuͤrden es noch ferner er-
fahren, wann ſie Jhnen noch ferner Gelegenheit
geben Jhre Gemuͤths-Art zu zeigen.


Fraͤnlein Harlowe ſagte ich, kann vielleicht
aus Sorgfalt und Klugheit bisweilen
furchtſam ſeyn, wenn ſie diejenigen die ſie
liebet in Gefahr ſiehet: aber ſie hat
keine Furcht/ wenn ihre Ehre und die
Ehre unſeres Geſchlechts leiden ſoll. Mit
einem Worte, ſie muͤſſen ſich nicht einbil-
den/ Fraͤulein Harlowe durch Furcht zu ei-
ner niedertraͤchtigen Auffuͤhrung zu bewe-
gen/ die nur in ſchwachen und unbe-
ſtaͤndigen Gemuͤthern aufſteigt.


Er antwortete: er ſey ſo wenig geſinnet
Jhnen eine Furcht einzujagen/ daß er mich
vielmehr erſuche/ Jhnen kein Wort von
unſerer Unterredung zu melden: was er
bedrohliches vorgebracht/ ſey ihm bloß aus
Hitze entfahren/ da er befuͤrchtet habe/ alle
Hoffnung durch Sie gluͤcklich zu werden
auf ewig zu verlieren/ und in der Mey-
nung geſtanden/ Sie wuͤrden ſich in die
Arme eines Jhnen verhaßten Freyers zwin-
gen laſſen: und ſollte dieſes geſchehen/ ſo
wuͤrde er nach dem Urtheil der Welt wenig
fragen: ja/ es wuͤrden die jetzigen Dro-
hungen einiger von Jhrer Familie/ und ihr
Frolocken/ wenn ſie ihn abgewieſen haͤtten/

alle
[33]der Clariſſa.
alle Rache nicht nur reitzen/ ſondern auch
entſchuldigen.
Er ſetzte hinzu: alle Laͤnder
in der Welt waͤren ihm gleich/ wann er
nicht auf Sie daͤchte: er habe daher vor den
Geſetzen ſeines Landes ſich nicht zu fuͤrch-
ten/ was er auch irgend thun moͤchte nach-
dem er Sie verlohren haͤtte.


Das unerſchrockne Geſicht, womit er dieſes
ausſprach, macht mir Sorge. Gewiß er iſt im
Stande ſehr uͤbereilte Handlungen vorzunehmen.


Seine Verwegenheit, welche ich ihm biswei-
len ſehr nachdruͤcklich verwieß, ſuchte er durch die-
ſen Zuſatz zu bemaͤnteln: ſo lange ſie unverheyra-
thet blieben, ſey er bereit allen Schimpf zu ertra-
gen, den Jhre Familie ihm anthaͤte. Wollten Sie
ſich, falls man Sie noch weiter triebe, an einen
dritten Ort in Sicherheit begeben, wo nicht bey
ſeinem Vatters-Bruder oder bey ſeinen Anver-
wandtinnen, dennoch an einen andern zuverlaͤßigen
Ort: (ich glaube er wollte meiner Mutter Haus
beſchreiben) oder wollten Sie nach Londen gehen
und ein eignes Haus miethen, in welchem er Sie
nie ohne gegebene Erlaubnis beſuchen wuͤrde, und
wo Sie ſich mit Jhren Anverwandten voͤllig nach
eignem Willen ſetzen koͤnnten: ſo wolle er gantz zu-
frieden ſeyn, und erwarten was Jhres Vetters
Ankunft, und Jhr eigner freyer Wille ihm fuͤr
ein Schickſahl beſtimmen wuͤrde. Er kenne uͤbri-
gens die Familie allzu wohl, er wiſſe wie wenig
ſie von Jhrem Eigenſinn abweichen koͤnnten, und
wie ſehr ſie ſich auf Jhr lenckſames Gemuͤth ver-
Zweyter Theil. Cließen:
[34]Die Geſchichte
ließen: er muͤſte daher das allerſchlimmſte befuͤrch-
ten ſo lange Sie an einem Ort blieben, wo Sie
den Drohungen und Uberredungen der Jhrigen
uͤberlaſſen ſind.


Wir redeten ſonſt noch vieles, deßen Erzaͤh-
lung nur eine Widerhohlung desjenigen ſeyn
wuͤrde, was zwiſchen Jhnen und ihm bey dem
Holtz-Stall vorgegangen iſt. Jch beziehe mich
alſo deshalb auf das was Sie mir ſelbſt geſchrie-
ben haben.


Wenn ich alles uͤberlege, ſo ſcheint mir das
beſte, daß Sie ſich unabhaͤngig machen, denn
wird alles gut gehen. Lovelace iſt ein hitziger
Kopf: ich wollte weder ihn noch Solmes Jhnen
wuͤnſchen. Wenn Sie von Jhrem Bruder und
Schweſter loß ſind, ſo koͤnnen Sie reiflich uͤber-
legen, was Jhnen in Abſicht auf einen von bey-
den moͤglich oder unmoͤglich ſey. Wenn Jhre
Verwandten in ihrer Thorheit fortfahren, ſo will
ich mir den von ihm gegebenen Winck zu Nutze
machen, und mich unter der Hand bey meiner
Mutter erkundigen, ob Sie in unſerm Hauſe ei-
nen Aufenthalt bekommen koͤnnen. Unterdeſſen
ſchreiben Sie mir deutlich Jhre Meynung: ob
ſie Jhr Landgut wieder fodern wollen?

nebſt den Entſcheidungs-Gruͤnden. Jch rathe es
an und trete hierin Lovelace bey. Wieder-
fodern
iſt ja noch nicht proceßiren. Jhre
Entſchlieſſung mag endlich hierin ſeyn welche ſie
wolle, ſo bitte ich Sie dennoch, verſprechen Sie nie
wieder, Jhr Recht nicht zu behaupten. Man kan
fort-
[35]der Clariſſa.
fortfahren, Sie zu reitzen und zu beleidigen, und
Sie koͤnnen Urſache bekommen, Jhren Vorſatz zu
aͤndern. Laſſen Sie demnach jene in der Furcht,
daß Sie Jhren Sinn aͤndern moͤchten. So viel
Großmuth haben die Jhrigen nicht, daß ſie beſſer
mit Jhnen umgehen ſollten, wenn Sie ein un-
ſtreitiges Recht aufgeben: Sie werden dieſes oh-
ne meine Erzaͤhlung wiſſen. Jch bin und werde
ewig bleiben


Jhre ergebenſte und treue Dienerin,
Anna Howe.



Der fuͤnfte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Nachdem meine Baſe und Schweſter von mei-
nem Eigenſinn Bericht abgeſtattet haben,
ſo iſt von meinen Verwandten in voller Verſamm-
lung ein einmuͤthiger Schluß gegen mich gefaſſet,
wie mir Jungfer Eliſabeth erzehlet. Dieſen
Entſchluß enthaͤlt beyliegender Brief meines Bru-
ders, welchen ich eben empfangen habe, ich bitte,
ihn mir, wann ſie ihn durchgeleſen haben, wieder
zu ſchicken: dann vielleicht bin ich ſeiner bey un-
ſerm Streit benoͤthiget.


C 2Fraͤu-
[36]Die Geſchichte
Fraͤulein Claͤrchen!

Mir iſt aufgetragen, Euch zu wiſſen zu thun,
daß, nachdeme mein Vater und meines Vaters
Bruͤder von Eurer Baſe Hervey gehoͤret, was
zwiſchen Euch und Jhr vorgegangen iſt: nachdem
ſie von meiner Schweſter erfahren, wie ihr von
Euch begegnet iſt: nachdem ſie alles wiederum
uͤberdacht, was zwiſchen Eurer Mutter und Euch
vorgegangen iſt: nachdem ſie Eure Einwendun-
gen und Vorſchlaͤge erwogen: nachdem ſie in Be-
trachtung gezogen, ihre Verſprechen gegen Herrn
Solmes, die Gedult dieſes Herrn und ſeine groſſe
Neigung gegen Euch, und die wenige Gelegen-
heit, die Jhr angewandt habt ſeine Eigenſchaff-
ten kennen zu lernen, und ſeine Vorſchlaͤge zu er-
fahren: nachdem ſie auſſer dieſen noch zwey Stuͤ-
cke behertziget: nemlich die verletzten Rechte eines
Vaters, und Herrn Solmes unablaͤßige Bitte,
(ſo wenig Jhr auch ſeiner Guͤtigkeit wuͤrdig ſeyd)
daß man Euch Eures Arreſtes erlaſſen ſolle, wel-
chem er gern Eure Verkertheit gegen ihn (Ab-
gekertheit wollte ich ſchreiben, aber jenes Wort
mag ſtehen) zuſchreiben wollte, als welche er ſonſt
auf keine Weiſe begreiffen und faſſen kan, falls
Jhr anders Eurer Mutter die Wahrheit geſagt
habt, da Jhr Euer Hertz fuͤr frey ausgegeben:
welches zu glauben Herr Solmes guthertzig ge-
nug iſt, ob es gleich ſonſt kein Menſch glaubet
‒ ‒ ‒ Jn Betrachtung aller dieſer Urſachen iſt be-
ſchloſſen worden, daß Jhr nach Eures Vaters
Bruders Antons Gut reiſen ſollet: und Jhr
habt
[37]der Clariſſa.
habt Euch anzuſchicken, ſolches zu bewerckſtelligen.
Den Tag der Abreiſe werdet ihr nicht lange vorher
erfahren. Die Urſachen hievon ſind leicht zu er-
rathen.


Jch will Euch aufrichtig die Urſache hievon mel-
den. Sie iſt zwiefach: zuerſt will man verſichert
ſeyn, daß ihr mit niemanden Briefe wechſelt die
uns unangenehm ſeyn koͤnnten; denn man merckt
an Frau Howe/ daß Jhr auf ein- oder andere
Weiſe Briefe an ihre Tochter, und vielleicht
durch dieſe Beyhuͤlfe noch ſonſt an jemand brin-
get: zum andern, ſucht man es hiedurch in die
Wege zu richten, daß Jhr Herrn Solmes Be-
ſuch annehmen ſollet, welches Jhr in dieſem Hau-
ſe guͤtigſt abzuſchlagen beliebet habet; und da-
durch Euch ſelbſt auſſer Stand geſetzet habet zu
wiſſen, was fuͤr eine Parthey Jhr ausgeſchlagen.
Wenn nach einem Umgang von 14. Tagen, und
nach Uberlegung deſſen, was Eure Freunde Euch
noch ſonſt ſeinethalb zu ſagen haben, und nach-
dem Jhr in dieſer Zeit durch keinen heimlichen
Brief-Wechſel verhaͤrtet ſeyd, Jhr dennoch die
Eurigen von der Wahrheit deſſen uͤberzeuget wer-
det, was Virgil ſchreibet:
Amor omnibus idem.
(Die Deutung dieſer Worte koͤnnt Jhr aus Drv-
dens Ueberſetzung der Georgicorum lernen) wenn
dieſes Wort bey Euch ſowohl als bey allen Thie-
ren eintrifft; und wenn ſie gewahr werden, daß
Jhr Eure Neigung gegen den wohlgeſitteten, den
tugendhafften, den frommen Lovelace (ich
C 3ſchreibe
[38]Die Geſchichte
ſchreibe gern ſo, wie es Euch gefaͤllt) nicht uͤber-
winden koͤnnt oder wollt: ſo wird man uͤberlegen,
ob man Euren Einfaͤllen zu Willen ſeyn, oder
Euch gantz fahren laſſen ſolle?


Man hoffet, daß Jhr mit Freuden abreiſen
werdet, weil Jhr abreiſen muͤſſet. Euer Vaters
Bruder Anton wird Euch alles in ſeinem Hau-
ſe angenehm zu machen ſuchen. Das aber will
er nicht verſprechen, daß er nicht wolle die Zug-
Bruͤcke aufziehen laſſen, wenn es Zeit und Um-
ſtaͤnde erfodern werden.


Beſuch werdet Jhr auſſer Herrn Solmes
noch zu gewarten haben, von mir, falls Jhr mir
dieſe Ehre goͤnnet, von Eurer Schweſter, und
wenn Jhr Herrn Solmes wohl begegnet von Eu-
rer Baſe Hervey, und Eurem Vaters Bruder
Harlowe. Doch werden die beyden letztern
ſchwerlich kommen, wenn ſie in Sorgen ſtehen
muͤſſen Eure winſelnden Vocativos anzuhoͤren.
Eliſabeth Barnes wird Euch zur Aufwartung
mitgegeben: denn, gnaͤdige Fraͤulein, ich muß
Euch melden, daß wir das ehrliche Maͤdgen deß-
wegen nicht geringer achten, weil Jhr ſchlecht mit
Jhr zufrieden ſeyd. Nur ſie betruͤbt ſich hieruͤber,
als waͤre es ein groſſes Ungluͤck, weil ſie gern das
Gluͤck haben wollte Euch zu gefallen.


Man begehret Antwort von Euch, ob Jhr
mit Freuden in dieſe Reiſe williget? Eure allzu-
guͤtige Mutter hat mir aufgetragen, Euch zu Ge-
muͤthe zu fuͤhren, daß man jetzt weiter nichts von
Euch begehre, als einen Umgang von 14. Tagen
mit
[39]der Clariſſa.
mit Herrn Solmes; ich verharre, falls es Euch
belieben wird, es zu verdienen


Euer ꝛc.
Jacob Harlowe.


Hier iſt das Meiſterſtuͤck der Argliſtigkeit mei-
nes Bruders! Jch ſoll mich in meines Vaters
Bruders Haus begeben: und zwar mit dem aus-
druͤcklich vorgegebenen Endzweck Herrn Solmes
Viſiten anzunehmen! Dort iſt eine Capelle! das
Haus iſt mit Graben umgeben! Alle Gelegenheit
wird mir abgeſchnitten Briefe mit Jhnen zu
wechſeln; und es iſt unmoͤglich zu entkommen,
wenn man Gewalt gebrauchen will, mich zur Lie-
be gegen einen ſo verhaßten Mann zu zwingen.


So ſpaͤt es auch war als ich dieſen ſpoͤttiſchen
Brief empfing, ſchrieb ich doch gleich eine Ant-
wort, damit ſie moͤchte fertig ſeyn, ſo bald mein
Bruder des Morgens aufzuſtehen pflegt. Jch
lege den erſten Aufſatz davon bey. Sie werden
ſehen, wie ſehr mich ſein niedertraͤchtiger Spaß
aus dem Virgil, und baͤuriſche Spaß von
meinen winſelnden vocativis erzuͤrnet hat. Da
uͤbrigens der Befehl mich zur Reiſe anzuſchicken,
in meines Vaters und ſeiner Bruͤder Nahmen an
mich gebracht wird: ſo habe ich einen von denen
Kunſt-Griffen deren ich beſchuldiget werde, ge-
braucht, und den niedertraͤchtigen und unertraͤg-
lichen Spaß in meinem Antwort-Schreiben ſehr
hoch empfunden, um diejenige abſchlaͤgige Ant-
C 4wort
[40]Die Geſchichte
wort zu bemaͤnteln, welche meine Bruͤder und
Schweſter ſonſt fuͤr eine Auflehnung gegen mei-
ne Eltern ausgeben wuͤrden, denn ich glaube ihr
Endzweck wuͤrde nur halb erreichet werden, wenn
ſie mir das Hertz meines Vaters und ſeines Bru-
ders nicht gaͤntzlich rauben koͤnnen, falls ich auch
ihren Willen erfuͤllete den ich doch unmoͤglich er-
fuͤllen kan.


Mein Bruder,

Jhr koͤnntet mir in 3. Zeilen Nachricht von dem
Willen der Meinigen gegeben haben: nur haͤtte
es Euch denn an Gelegenheit gefehlet in einer ſo
garſtigen Anfuͤhrung der Worte des Virgils Eu-
re ausnehmende Gabe in der Pedanterey zu zeigen.
Jch darf Euch doch wohl ſchreiben, daß wenn
Jhr Euch auf der Hohen Schule unter andern
auf die ſogenannten Humaniora(*) ſollet gele-
get haben, dieſe Wiſſenſchafften gar nicht den
Geiſt bey Euch gefunden haben, der ſie faſſen
konnte. Es ſcheint, daß weder mein Geſchlecht,
noch meine Perſon ob ich gleich Eure Schweſter
bin, Euch, meinen Bruder, nur zu einiger an-
ſtaͤndigen Schreib-Art haben verbinden koͤnnen:
und Jhr muͤſſet nur darum auf die Univerſitaͤt ge-
gangen ſeyn, daß Jhr Eure natuͤrliche Bosheit
recht
[41]der Clariſſa.
recht ausarbeiten moͤchtet; nicht aber in den Nei-
gungen zuzunehmen, die man bey Eurem Blute
vermuthen ſollte, wenn ich auch von der Erzie-
hung nichts gedencken will.


Jch zweifele gar nicht daran, daß ihr meine
Freyheit uͤbel nehmen werdet. Aber da Jhr alles
verdient habet, ſo werde ich deſtoweniger deshalb
bekuͤmmert ſeyn, jemehr ich ſehe, daß Jhr der
Billigkeit und dem Mitleiden zum Trotz, Eure
witzigen Einfaͤlle anzubringen ſuchet.


Jch kann ohnmoͤglich laͤnger die Verachtung
und die Spoͤttereyen erdulden, die ſich am wenig-
ſten fuͤr einen Bruder ſchicken. Nur eine Gefaͤllig-
keit, mein dienſtfertiger Goͤnner! ‒ ‒ Geben Sie
ſich eher keine Muͤhe, mir einen Mann zu ver-
ſchaffen, bis meine zuvor kommende Hoͤflichkeit
Jhnen eine Frau aufdringet. Mit guͤtigſter Er-
laubniß! Jch ſollte dencken, daß ich eben ſo viel
Recht haͤtte Euch das Frauenzimmer vorzuſchrei-
ben, das Jhr heyrathen ſollet, wenn ich nur
Argliſtigkeit genug beſaͤße das Hertz meines Va-
ters zu gewinnen, als Jhr jetzt Recht habt, mich
mit einem Manne zu beſchencken.


Was den an mich gebrachten Befehl anlanget,
ſo nehme ich es auf mich dieſe Antwort zu erthei-
len: obgleich ich alle Befehle meines Vaters ſo
verehren werde, wie es ſich fuͤr ein Kind geziemet:
ſo halte ich mich dennoch berechtiget zu glauben,
daß er von dieſem Eurem Briefe nichts wiſſe, in-
dem mir dieſe Anzeige bloß durch einen Bruder
geſchehen iſt, der ſeit einiger Zeit das Hertz eines
C 5Bru-
[42]Die Geſchichte
Bruders ſo ſehr abgeleget und mir ſo viel Widrig-
keit erzeiget hat, davon ich keine Urſache zu erra-
then weiß, es muͤſte denn dieſe ſeyn, daß er
in mir eine Schweſter mehr zu haben vermei-
net, als ſeinem Eigennutz ertraͤglich iſt. Und
weil ich dieſes glaube, ſo erklaͤre ich mich auch,
daß ich nicht mit Willen, ja auch alsdenn nicht,
wenn man Gewalt gebrauchen wollte, entſchloſ-
ſen bin an einen andern Ort zu reiſen, um daſelbſt
Herrn Solmes Beſuch anzunehmen.


Jch halte mich ſo ſehr berechtiget, gegen Euren
ehren- ruͤhrigen und niedertraͤchtigen Spaß um
mein ſelbſt und um meines Geſchlechts willen em-
pfindlich zu ſeyn, daß ich Euch hiemit anzeige: ich
werde keine Briefe von Euch ferner annch-
men.
Nur denn werde ich eine Ausnahme hie-
von machen, wenn es mir von ſolchen befohlen
wird, gegen deren Befehl ich nie etwas einzuwen-
den haben werde, wenn er nur nicht eine Sache be-
trifft auf welche meine jetzige und kuͤnftige Gluͤck-
ſeeligkeit ankoͤmmt. Sollten je dergleichen Be-
fehle mir gegeben werden, ſo wuͤrde ich die Haͤr-
te meines Vaters nicht ſo wohl ihm ſelbſt, als
Euch, und Euren ſcheinbaren und dennoch abge-
ſchmackten Abſichten die voller Eigenliebe und
Hochmuth ſind zuzuſchreiben haben. Dis iſt
die lautere Wahrheit.


So ſehr ich auch erzuͤrnt bin, will ich doch
noch ein Wort hinzu thun. Haͤtte man mich in
der That fuͤr ſo hartnaͤckig gehalten, als man mich
ſeit
[43]der Clariſſa.
ſeit einiger Zeit ausſchreiet, ſo wuͤrde man nicht
mit mir ſo uͤbel, als geſchehen iſt, umgegangen
ſeyn. Schlaget an Eure Bruſt (a) mein Bru-
der, und ſaget, wer an allem dieſen Schuld gewe-
ſen. Unterſuchet, was ich gethan habe, dadurch
ich verdiene, ſo ungluͤcklich gemacht und gezwun-
gen zu werden, mich zu nennen


Eure beleidigte Schweſter
Clariſſa Harlowe.

(*)
Jm Engliſchen ſtehet das Wort Humanity: welches
ſowohl die ſogenannten Humaniora, als auch die
Freundlichkeit und Leuiſeeligkeit anzeiget. Da wir
im Teutſchen kein Wort von gleicher Zweydeutigkeit
haben, ſo iſt es dem Ueberſetzer unmoͤglich geweſen
dieſes Wortſpiel auszudrucken.
(a)
Jm Engliſchen ſteht „leget die Hand auf die Bruſt.„
Man pflegt dieſen Ausdruck bey Betheuerungen und
Verſicherungen zu gebrauchen, Wenn z. E. einer bey
ſeiner Ehrlichkeit etwas verſichern will, ſo ſagt er,
ich lege meine Hand auf meine Bruſt. Da wir im
Deutſchen keinen voͤlligen gleichen Ausdruck haben,
ſo hat es der Ueberſetzer geben muͤſſen, ſo gut er ge-
konnt.

ich bin begierig zu wiſſen, was Sie nach Leſung
dieſer meiner Antwort von mir dencken.



Der ſechſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Mein Brief hat unſer gantzes Haus in Un-
ruhe geſetzet: Es ſcheint, daß ſie dieſe
Nacht alle beyſammen geblieben ſind, um einen
Rath
[44]Die Geſchichte
Rath zu geben, was zu thun ſey, wenn ich einem
Befehl, den ſie insgeſamt fuͤr billig hielten, keine
Folge leiſten wollte.


Jch habe von Eliſabeth gehoͤret, daß mein Va-
ter in der erſten Hitze ſich entſchloſſen habe, ſogleich
ſelbſt zu mir zu gehen, und mich aus dem Hauſe zu
ſtoſſen. Er war auch von ſeinem Sinne nicht ab-
zubringen, bis man ihm zu verſtehen gab, daß
ich vermuthlich ihn zu reitzen ſuchte, dieſes zu thun,
und daß er mir zu meinen verkehrten Abſichten eben
hiedurch befoͤrderlich ſeyn wuͤrde. Endlich be-
ſchloß man, daß mein Bruder, der allerdings die
unrechten Mittel gebraucht haͤtte, (wie meine
Mutter und Mutter Schweſter behaupteten) von
neuem an mich einen gelindern Brief ſchreiben ſoll-
te: denn keinem andern wollte man erlauben, oder
kein anderer hatte Luſt an mich zu ſchreiben, weil
ich im Antworten ſo fertig war. Da ich mich aber
erklaͤret hatte, keine Briefe fernerhin ohne Befehl
meiner Obern von ihm anzunehmen, ſo ſollte mei-
ne Mutter ihren Namen dazu hergeben. Sie hat
auch dieſes in folgenden Zeilen gethan, welche ſie
auf die aͤuſſere Seite des Briefes geſchrieben. Jch
lege den Brief und die Antwort mit bey.


Clariſſa Harlowe.


Erbrich dieſen Brief, und leſe ihn mit derjenigen
Gemuͤths-Faſſung, welche deinem Geſchlecht,
deinem Gemuͤth, deiner Erziehung und deiner
Pflicht gemaͤß iſt. Sende die Antwort an dei-
nen Bruder.


Charlotte Harlowe.


[45]der Clariſſa.
An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.


Jch ſchreibe noch einmahl, obgleich es mir mei-
ne juͤngere Schweſter nachdruͤcklich verbo-
ten hat. Eure Mutter hat mir befohlen es zu
thun, damit Jhr bey Eurer Obſtination ohne Ent-
ſchuldigung ſeyn moͤget. Macht mich etwa dis
Wort zum Pedanten gnaͤdige Fraͤulein? Sie
will Euch gern in allen nachgeben, was nur den
Schein der Artigkeit hat, welche ſie und alle ande-
re ehemals an Euch bewunderten. Ehe Jhr mit
Lovelace bekannt wurdet, muß ich auch zu Eurem
Ruhm ſagen, daß Jhr artig geweſen ſeyd. Sie
und ihre Schweſter Hervey (welche beyde ſo ge-
neigt ſind Euch das Wort zu reden, wenn ſie nur
koͤnten) wollen es ein-vor allemal haben, daß die
Schuld Eurer harten Antwort an mir liege. Sie
koͤnnen aber dabey nicht laͤugnen, daß die Ant-
wort ſelbſt ſehr ungeziemend ſey. Jhr ſehet in-
deſſen, daß ich nun anfange zu lernen, und eine
ſanftere Sprache annehme, da Jhr ſie ableget.
Die Sache ſtehet ſo:


Sie erſuchen, ſie bitten, ſie flehen, (iſt einer
von dieſen Ausdruͤcken ſtarck genug Fraͤulein
Claͤrchen?) daß Jhr Euch nicht wegern wollet,
nach Eures Vaters Bruders Antons Gute zu
reiſen. Jch ſoll Euch anbey deutlich zu verſtehen ge-
ben, daß den Jnhalt meines letzten Briefes betref-
fend, ‒ ‒ ‒ doch man ſollte dencken, ſie haͤtten eben
nicht noͤthig zu erſuchen, zu bitten und zu flehen. ‒ ‒
So
[46]Die Geſchichte
So viel iſt Herrn Solmes verſprochen, der ſtets
Euer Wort redet, und wegen Eurer Einſchraͤn-
ckung ſehr beunruhiget iſt, die er als die Quelle
Eurer Widrigkeit gegen ihn anſiehet. Wenn er
aber finden wird, daß Jhr Euer Hertz nicht zu
ihm lencken wollet, nachdem Jhr von allem ſoge-
nannten Zwange befreyet ſeyn werdet, ſo wird er
aufhoͤren, an Euch zu dencken, ſo ſchwer ihm auch
dieſer Entſchluß ankoͤmmt. Er liebt Euch gar zu
ſehr: und dieſes ſehe ich allerdings fuͤr einen Fehler
ſeines Verſtandes an, gegen welchen Jhr ſonſt ſo
viel einzuwenden habt.


Erlaubet ihm demnach nur 14. Tage lang, daß
er Euch beſuchen duͤrfe. Jhr erinnert mich meiner
Erziehung, ich hoffe, daß die Eurige Euch nicht
erlauben wird, irgend jemand grob zu begegnen.
Er wird doch nicht der erſte ſeyn ſollen, (mich muß
ich ausnehmen) dem bloß unſere Hochachtung
Grobheiten von Eurer Seite zuziehet. Jch bin
nach Eurem Belieben und Befehl, entweder Euer
Freund oder Bruder, oder Diener. Jch wuͤnſch-
te, daß ich gegen eine ſo hoͤfliche und artige Schwe-
ſter mich noch hoͤflicher bezeigen koͤnnte.


Jacob Harlowe.


P.S. Falls Jhr Euch ſo weit herab laſſet, zu ant-
worten, ſo werdet Jhr abermahl an mich ſchrei-
ben muͤſſen. Man kan nicht zugeben, daß Jhr
die Ruhe Eurer Mutter durch Eure nichts- be-
deutende Vocativos ſtoͤrt. Vocativos (merckt es
Fraͤulein Claͤrchen) ſetzt Euer pedantiſcher
Bruder abermahls.


An
[47]der Clariſſa.
An den jungen Herrn Jacob Harlowe.


Erlauben Sie mir, meine wertheſten Eltern,
daß mich auf eine unerwartete Weiſe mit
einem Schreiben zu Jhnen draͤnge, da ich die
Ehre nicht haben ſoll, unmittelbar an Sie zu
ſchreiben. Denn ich hoffe, daß dieſer Brief Jh-
nen vorgeleſen werden wird. Jch bitte Sie, glau-
ben Sie, daß nichts als ein gantz unuͤberwindlicher
Widerwille im Stande ſeyn wuͤrde, mich von et-
was abgeneigt zu machen, das Jhnen zum Ver-
gnuͤgen gereicht. Was iſt Reichthum, was ſind
die ſchoͤnſten Verſchreibungen, wenn man ſie mit
wahrer Gluͤckſeeligkeit in Vergleichung ſetzt? Ge-
ben Sie nicht zu, daß ich auf eine ſo grauſame
Weiſe einem Mann aufgeopfert werde, gegen den
mein Jnnerſtes einen unausſprechlichen Eckel hat.
Jch muß das wiederhohlen, was ich ſchon ſonſt
geſagt habe, daß es mit der Ehre und Tugend
ſtreitet, wenn ich ihn nehmen ſollte. Vielleicht wuͤr-
de ich einen andern Entſchluß gefaſſet haben, wenn
ich einen unvollſtaͤndigern Begriff von den Pflich-
ten des Eheſtandes haͤtte. Da ich alles Elend,
das aus einer ungluͤcklichen Ehe entſtehen koͤnnte,
ſelbſt zu tragen haben wuͤrde, und zwar ſo lange
ich lebe: da nicht blos meine Neigungen, ſondern
das innerſte meiner Seelen ſich gegen ihn empoͤ-
ret: da vielleicht mein ewiges Wohl in noch groͤſ-
ſerer Gefahr ſtehet, als mein zeitliches: ſo iſt es
hart, wenn mir die Freyheit, Nein zu ſagen,
nicht
[48]Die Geſchichte
nicht einmahl zugeſtanden wird. Mehr als dieſe
Freyheit verlange ich nicht.


Jch koͤnnte mich ſoweit wohl uͤberwinden, daß
ich Herrn Solmes Reden vierzehen Tage lang
anhoͤrte: ob ich gleich zum voraus bekennen muß,
daß ich meine Abneigung ohnmoͤglich werde uͤber-
winden koͤnnen, er mag ſagen was er will. Allein
der Graben um das Haus, die Capelle, die in dem
Hauſe iſt, und das wenige Mitleyden, das mein
Bruder und meine Schweſter, als die mir dort
zugedachte Geſellſchafft, bisher gegen mich bewie-
ſen haben, ſetzen mich in die aller groͤſſeſte Beſorg-
niß. Wie kan mein Bruder ſagen, daß man
mich auf Herrn Solmes Bitte weniger einſchraͤn-
cken will: da ich in der That in ein noch engeres
Gefaͤngniß eingeſperret werden ſoll, deßen Zug-
Bruͤcke man ſogar aufzuziehen drohet, und das
mich von einem lieben Vatter und Mutter abſon-
dert, damit ich nicht zu ihrer Guͤtigkeit meine Zu-
flucht nehmen koͤnne, wenn die Sachen auf das
aͤuſſerſte kommen ſollten.


Uebertragen Sie doch nicht Jhr Recht uͤber ihr
eigenes Kind an einen Bruder oder Schweſter!
An einen Bruder und Schweſter, die unguͤtig
und hart mit mir umgehen, und von denen ich be-
fuͤrchte, daß ſie mein Betragen Jhnen auf der
unrechten Seite vorſtellen. Denn geſchaͤhe die-
ſes nicht, ſo waͤre es nicht moͤglich, daß ein Kind,
das bisher ſo auſſerordentliche Liebe von Jhnen
genoſſen hat, auf einmahl Jhre Liebe und gute
Neigung ſo ſehr verlieren ſollte, als ich ſie bisher
leyder verlohren habe.

Ma-
[49]der Clariſſa.

Machen Sie vor jetzund nur meiner beſchwer-
lichen Gefangenſchaft ein Ende! Vergoͤnnen Sie
mir, liebſte Mutter, vor Jhren Augen ſo gut als
ein anderes Dienſt-Maͤdgen mich mit Naͤhen
und Sticken zu beſchaͤftigen: ſo werden Sie ſe-
hen, daß ich von keinem Eigenſinn und vorgefaß-
ten Meinungen regiert werde. Stoſſen Sie
mich nur nicht aus Jhrem Hauſe! Herr Sol-
mes
mag aus und eingehen wie es mein Vater
fuͤr gut findet: wenn mir nur erlaubt iſt, zu
bleiben oder wegzugehen, und den Ausgang der
Sache der Vorſehung zu uͤberlaſſen.


Vergebt es mir, mein Bruder, daß ich auf
eine gekuͤnſtelte Art mich wage, durch Euch, mei-
nen Eltern ein an ſie ſelbſt gerichtetes Schrei-
ben in die Haͤnde zu ſpielen, da mir verboten iſt,
mich mit ihnen muͤndlich oder ſchriftlich zu un-
terreden. Es iſt etwas hartes fuͤr mich, daß
man mich zwinget, auf eine Liſt zu dencken.
Vergebt mir auch, daß ich von dem edlen Her-
tzen, in welchen Euer adliches Gebluͤte flieſſet, und
von der Gefaͤlligkeit, die ich von einem Bruder
genieſſe, oben nach der Wahrheit geſchrieben ha-
be. Jhr habt mir zwar in der lezten Zeit we-
nig Anlaß gegeben, Liebe oder Mitleiden von
Euch zu erwarten: allein, ich mache doch hier-
mit einen Anſpruch an beydes, weil ich mir
nicht bewuſt bin, eins von beyden durch meine
Schuld verſchertzt zu haben. Da, GOtt ſey
Danck, meine beyden Eltern noch am Leben ſind,
ſo erkenne ich dennoch wohl, daß es in den Haͤn-
Zweyter Theil. Dden
[50]Die Geſchichte
den eines, der nur mein Bruder, ſtehet, die
Gemuͤths-Ruhe und Gluͤckſeligkeit derjenigen
wieder herzuſtellen, die ſich mit betruͤbten Her-
tzen unterſchreibt,


Eure ungluͤckliche Schweſter
Clariſſa Harlowe.


Eliſabeth erzaͤhlt mir, mein Bruder habe
meinen Brief in Stuͤcken zerriſſen, und ſich ver-
lauten laſſen, er wolle eine ſolche Antwort dar-
auf ſchreiben, die einen Wanckenden aufrichten
koͤnnte. Mein Brief wuͤrde einen jeden andern
zum Mitleiden bewogen haben, meinen harten
Bruder ausgenommen. GOtt vergebe es ihm.



Der ſiebende Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch ſende Jhnen den Fehde-Brief, den mein
Bruder gedrohet hat an mich zu ſchreiben;
ich habe ihn jetzt eben bekommen. Mein Bru-
der meine Schweſter, mein Onckle Anton, und
Herr Solmes ergoͤtzen ſich unten an einer zu-
ruͤckbehaltenen Abſchrift deſſelben, und halten ihn
fuͤr ein ſolches Meiſterſtuͤck, darauf ich nichts
wuͤrde antworten koͤnnen.


An
[51]der Clariſſa.
An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.

Jch ſchreibe noch einmahl an Euch, meine un-
bewegliche Schweſter, um Euch zu benachrich-
tigen, daß die wohl ausgeſonnene Liſt, deren Jhr
Cuch bedient habet, Euer hertzbrechendes Win-
ſeln durch mich an Eure Eltern zu bringen, die
gehofte Wuͤrckung nicht gehabt hat.


Jch verſichere Euch, daß ich Euer Betragen
nicht auf der unrechten Seite vorgeſtellet habe:
und ich habe auch nicht noͤthig gehabt, dieſes zu
thun. Jhr wiſſet, daß ſelbſt Eure Mutter, ſo
geneigt ſie auch iſt, Euch bey aller Gelegenheit
zu entſchuldigen, ſo vollkommen von Eurem Un-
gehorſam uͤberzeuget iſt, daß ſie gantz von Euch
ablaͤßt. Es iſt daher nicht noͤthig, daß Jhr vor
ihren Augen Eur Naͤhen und Sticken verrichtet.
Eur Winſeln iſt ihr unertraͤglich, und um ihrent
willen iſt es geſchehen, daß Euch verboten ward,
ihr nicht vor die Augen zu kommen. Sie will
ſich von Euch nicht vorſchreiben laſſen, was ſie
Euch erlauben oder nicht erlauben ſoll.


Geſtern haͤttet Jhr beynahe Eure Baſe Frau
Hervey ſo einfaͤltig gemacht, daß ſie Euch ge-
trauet haͤtte. Sie ſprach fuͤr Euch, als ſie von
Eurer Stube kam: als wir ſie aber fragten, ob
ſie denn eine beſſere Antwort von Euch braͤchte?
und worin Jhr gewichen waͤret? ſo ſahe ſie
ſich um, und wuſte nichts zu ſagen. Eure
Mutter ward auch bey dem Anfang des Briefes,
den Jhr unter meiner Aufſchrift an ſie und an
meinen Vater geſchrieben habt, uͤbereilt: denn
D 2ich
[52]Die Geſchichte
ich hatte angefangen den Brief vorzuleſen, und
dachte auf nichts weniger als auf eine ſo witzige
Ausflucht. Sie verlangte von mir, ich ſolte den
gantzen Brief vorleſen: ach! ihr liebes Kind!
ihr liebes Kind muͤßte zu nichts gezwun-
gen werden!
Wir fragten ſie aber: ob ſie
Luſt zu einem Schwieger-Sohne haͤtte, der der
gantzen Familie Trotz boͤte, und der beynahe ih-
res Sohnes Moͤrder geworden waͤre? ob ſie
von ihrer Tochter etwas haͤtte erhalten koͤnnen?
ob ſie ſo viel Zaͤrtlichkeit gegen Euch haben koͤn-
ne, nachdem Jhr nach aller Vermuthung ge-
ſucht haͤttet, ihr etwas aufzubinden, da Jhr ver-
ſichert, Euer Hertz ſey ungebunden? Auf dieſe
Fragen ſahe ſie ſich in der Stube um, wie ih-
re Schweſter: ſie kam wieder zu ſich ſelbſt, und
faſſete von neuen den Schluß, ihre Auctoritaͤt
ſehen zu laſſen, nicht aber wie Jhr ſchreibet, wi-
tzige Schoͤne, ihr Recht uͤber ein rebelliſches Kind,
daß ſich von dem Gehorſam gegen ſeine Eltern
losreiſſen wollen, einem andern zu uͤbertragen.


Es ſcheint, Kind, daß ihr ſehr hohe Begriffe
von den Pflichten des Eheſtandes habt: ob ich
gleich Buͤrge dafuͤr werden wolte, daß Jhr eben
ſo gut wie alle Eures Geſchlechts, eine oder zwey
Perſonen ausgenommen, welche ich die Ehre ha-
be zu kennen, in der Kirche etwas verſprechen
werdet, daß Jhr nie geſinnet ſeyd zu halten.
Allein, ſuͤſſes Kind! (um Euch eben ſo zu nen-
nen, als Eure werthe Mutter Frau Norton Euch
nennet) ſo lange Jhr noch nicht verheyrathet
ſeyd,
[53]der Clariſſa.
ſeyd, denckt mehr an die Pflichten der Kinder als
an die Pflichten des Eheſtandes.


Wie koͤnnt Jhr ſagen, daß Jhr alles Elend
ſelbſt tragen muͤſſet, da Jhr Euren Eltern, Eu-
ren Onckles, mir, und Eurer Schweſter einen
ſo groſſen Theil davon zutragen gebt? uns, die
wir Euch achtzehn Jahr lang ſo zaͤrtlich geliebet
haben?


Wenn ich ſeit kurtzem meine Auffuͤhrung ge-
gen Euch geaͤndert habe, und Jhr weder Liebe
noch Mitleiden von mir habt hoffen koͤnnen, ſo
iſt es aus der Urſache geſchehen, weil Jhr keins
von beyden verdient habt. Jch weiß wol, wor-
auf Jhr zielet, niedertraͤchtige Tadlerin, wenn
Jhr ſchreibt: Es ſtehe in den Haͤnden eines
der nur Eur Bruder iſt
(das ſcheinet Euch
ſchon eine weitlaͤuftige Verwandſchaft zu ſeyn)
Euch die Gemuͤths-Ruhe und Gluͤckſelig-
keit zu verſchaffen,
die Jhr Euch ſelbſt, ſo
bald es Euch beliebet, verſchaffen koͤnnt.


Die Freyheit, Nein zu ſagen, kann Euch nicht
zugeſtanden werden, artige Fraͤulein: Denn wir
mercken alle, daß die Freyheit gegen aller Willen
Ja zu ſagen bald darauf folgen wird. Der
liederliche Kerl, in den Jhr Euch verliebt habt,
ſagt das gegen jedermann deutlich, was Jhr
nicht ſagen wollt. Er ſagt, Jhr waͤret ſein und
Jhr ſoltet ſein bleiben, und es ſollte dem das Le-
ben koſten, der ſich unterſtehen wuͤrde, ihm ſein
Eigenthum zu rauben. Wir haben Luſt zu
probiren, ob er ſein Wort wahr machen wird.
D 3Mein
[54]Die Geſchichte
Mein Vater ſteht in den Gedancken, daß er uͤber
ſein Kind zu befehlen habe, und iſt nicht geſon-
nen, ſein Recht wegen einer Drohung fahren zu
laſſen. Allein was muß das fuͤr ein Kind ſeyn,
das einen Taugenichts hoͤher ſchaͤtzt als ſeinen
Vater?


Auf dieſer Seite muß man den ganzen Streit
anſehen. So lernt denn, roth zu werden, zaͤrt-
liches Kind, das ſchon durch die Worte des Poe-
ten, Amor omnibus idem; beleidiget wird! Lernt
roth zu werden, keuſches Maͤdgen, voll jungfer-
licher Bloͤdigkeit: und wenn es noch moͤglich iſt,
daß Jhr Euch uͤberzeugen laßt, ſo richtet Eu-
ren Willen nach dem Willen derer, denen Jhr
Euer Daſeyn zu dancken habt, und bittet die Eu-
rigen um Vergebung und Vergeſſung Eures
bisherigen Ungehorſams.


Jch habe einen laͤngern Brief an Euch ge-
ſchrieben, als ich Anfangs vorhatte zu ſchreiben,
nachdem Jhr mir ſo unhoͤflich begegnet ſeyd,
und mich ſogar der Ehre an Euch zu ſchreiben
unwuͤrdig erklaͤrt habt. Jch habe Befehl, Euch
noch zu melden, daß die Eurigen eben ſo uͤberdruͤ-
ſig ſind, Euch einzuſperren, als Jhr ſeyn koͤnnt,
Euch einſperren zu laſſen. Jhr muͤßt Euch dem-
nach in Bereitſchaft halten, der geſchehenen An-
deutung zufolge nach Eures Onckels Antons
Wohnung zu reiſen. Eure Furchſamkeit wird
ihn nicht hindern die Zug-Bruͤcke aufziehen zu
laſſen, ſo oft es ihm beliebet, und ſolche Geſell-
ſchaft, als ihm gefaͤllt, in ſeinem Hauſe zu haben:
ich
[55]der Clariſſa.
ich glaube auch nicht, daß er ſeine Capelle nie-
derreiſſen laſſen wird, um Euch von der Nie-
drigkeit zu heilen, die Jhr ſeit kurtzem gegen al-
le zum Gottesdienſt geweihete Gebaͤude gehabt
habt: eine Widrigkeit, die deſto thoͤrichter iſt,
weil wir uns Eurer Stube zur Vollziehung
der Trauung eben ſo gut als eines andern Or-
tes bedienen koͤnnten, wenn es unſere Meinung
waͤre Gewalt zu gebrauchen.


Eine vorgefaſte Meinung hat Euch gewiß
verblendet, daß Jhr die guten Eigenſchaften des
Herrn Solmes nicht ſehen koͤnnt: und die Lie-
be verpflichtet uns, Euch die Augen zu oͤfnen.
Denn niemand, Euch ausgenommen, haͤlt ihn in
Abſicht auf das aͤuſſerliche fuͤr ſo ſchlecht und
veraͤchtlich: und fuͤr einen Land-Edelmann, der
nicht Luſt hat die Perſon eines Stutzers vorzu-
ſtellen, iſt ſeine Auffuͤhrung nicht zu tadeln. Von
ſeinem Gemuͤth ſolltet Jhr billig alsdenn urthei-
len, wenn Jhr Gelegenheit gehabt haͤttet, ihn naͤ-
her kennen zu lernen, als bisher geſchehen iſt.


Endlich wuͤrde es wohl gethan ſeyn, wenn Jhr
Euch bald zu Eurer Abreiſe anzuſchicken ſuchtet.
Es wird dis um Eurer eigenen Bequemlichkeit
willen noͤthig ſeyn, und es waͤre auch gut, daß
Jhr wenigſtens in einem eintzigen Stuͤck Eu-
ren Freunden gefaͤllig zu ſeyn ſuchtet, unter de-
nen Jhr, wenn Jhr es anders verdienet, eine
Stelle einraͤumen koͤnnt, demjenigen, der weiter
nichts als nur Euer Bruder iſt


Jacob Harlowe.


D 4P.S.
[56]Die Geſchichte

P. S. Herr Solmes iſt bereit Euch ſeine Auf-
wartung zu machen, an welchem Orte es Euch
beliebet, wenn Jhr begierig ſeyd, ihn zu ſprechen,
und Euch gegen ihn wegen der neulichen ziem-
lich dreiſten Auffuͤhrung zu entſchuldigen, um
ihn an einem andern Orte mit weniger Scham
oder Furcht ſprechen zu koͤnnen. Wenn Jhr
Luſt habt, den Heyraths-Contract vor deſſen
Unterzeichnung zu leſen, ſo will ich ihn Euch
ſchicken. Wer weiß, ob Jhr nicht einige neue
Einwendungen darin findet! Eur Hertz iſt
frey; das ſetzen wir zum voraus. Denn
Jhr habt ja Eurer Mutter geſagt, daß es
frey ſey: und die fromme Clariſſa Harlowe
wird ihrer Mutter nichts weis machen wol-
len.


Jch verlange keine Antwort: und die Sache er-
fordert auch keine. Doch will ich Euch fragen,
Fraͤulein: habt Jhr nicht noch etwan andere
neue Vorſchlaͤge zu thun?


Der Schluß dieſes Brieffes (deſſen P. S. ver-
muthlich geſchrieben iſt, nachdem die andern den
Brief geleſen hatten) verdroß mich ſo ſehr, daß
ich ſchon die Feder ergriff, um an meinen Onckle
Harlowe zu ſchreiben, und ihm anzukuͤndigen,
daß ich mein Gut wieder in Beſitz nehmen woll-
te. Jch war alſo entſchloſſen, Jhrem Rath zu
folgen: allein es mangelte mir an Muth, als ich
uͤberlegte, daß ich niemand auf meiner Seite
haͤtte, der meine Anfoderung unterſtuͤtzen koͤnnte,
und
[57]der Clariſſa.
und daß die Meinigen hiedurch nur deſto mehr
erbittert werden wuͤrden. Wie ſehr wuͤnſchte
ich, daß der Obriſte Morden ſchon angekom-
men waͤre!


Jſt es nicht betruͤbt, daß ich jetzt niemand in
der Welt habe, der ſich meiner annimt, oder zu
dem ich meine Zuflucht nehmen koͤnnte, wenn ich
gezwungen waͤre, eine Zuflucht zu ſuchen; da
ich doch noch vor kurtzer Zeit glaubte, daß mich
jedermann lieb haͤtte? Jch war vorhin ſo hoch-
muͤthig, daß ich jedermann, den ich ſahe, fuͤr
meinen Freund hielt, und konnte mir einbilden,
daß ich dieſeſes Gluͤck einigermaſſen verdient haͤt-
te, weil ich einen jeden, der meines Schoͤpfers
Ebenbild an ſich trug, er mochte arm oder reich
ſeyn, liebete als mich ſelbſt. Waͤren Sie doch
nur verheyrathet! Vielleicht wuͤrden Sie Herrn
Hickman uͤberreden koͤnnen, meiner Bitte Ge-
hoͤr zu geben, und mich in ſeinem Hauſe zu ſchuͤ-
tzen, bis dieſer Sturm voruͤber ginge. Doch
hieruͤber koͤnnte er in Gefahr kommen, in die ich
ihn nimmer ſtuͤrtzen wollte.


Jch weiß nicht, was ich thun ſoll. Jch bin
ſehr ungeduldig: GOtt vergebe es mir! ich wuͤn-
ſche, ‒ ‒ und weiß doch nicht was ich wuͤnſchen
ſoll, ohne mich zu verſuͤndigen. Jch wuͤnſche,
daß mich GOtt in Gnaden hinnehmen moͤchte!
Hier kan ich keine Freude haben. Was iſt dis
fuͤr eine Welt! was kan uns hier wohl gefal-
len? Selbſt das beſte, was wir hoffen koͤnnen,
iſt ſo mit boͤſem vermenget, daß man nicht weiß,
D 5was
[58]Die Geſchichte
was man wuͤnſchen ſoll. Die Haͤlfte der Men-
ſchen quaͤlet ſich, um die andere Haͤlfte quaͤlen zu
koͤnnen. So geht es mit mir: meine Verwand-
ten koͤnnen ſelbſt kein wahres Gluͤck ſchmecken,
wenn ſie mich ungluͤcklich machen wollen. Jch
nehme meinen Bruder und meine Schweſter
aus, denn dieſe ſcheinen ihr Gluͤck in andrer Un-
gluͤck zu finden.


Jch muß die Feder niederlegen: denn ich fin-
de, daß mir die Dinte allzuſehr mit Galle ge-
miſcht iſt.



Der achte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jungfer Eliſabeth erzaͤhlt mir, daß unten
von nichts als von meiner Reiſe zu mei-
nem Onckel Anton geredet wird: und ſie ſelbſt
hat Befehl bekommen, ſich in Bereitſchaft zu
halten, um mich begleiten zu koͤnnen. Als ich
ihr bezeugete, daß ich nicht die geringſte Luſt zu
einer ſolchen Reiſe haͤtte, unterſtand ſie ſich, mir
zu antworten: ſie haͤtte ſo oft gehoͤrt, daß ich von
meines Onckels Wohnung geruͤhmet haͤtte, ſie ſey
ſo artig als ſie in einer Romaine erdichtet zu
werden pflegte. Sie muͤſte ſich wundern, (Au-
gen und Haͤnde hub ſie hierbey in die Hoͤhe (daß
ich
[59]der Clariſſa.
ich jezt ſo viel Weſens machte, nach einem Orte
zu reiſen, der voͤllig nach meinem Geſchmack ſey.


Jch fragte ſie, ob ſie ſelbſt unverſchaͤmt genug
geweſen ſey, auf dieſen Gedancken zu kommen,
oder ob ſie ihn von ihrer Fraͤulein geborgt
haͤtte?


Durch ihre Antwort ſeßte ſie mich recht in
Verwunderung: Jch bin ungluͤcklich/ daß
ich nichts artigs anbringen kann/ ohne
in Verdacht zu kommen/ daß ich es geſtoh-
len habe.


Das unverſtaͤndige Maͤdgen ſahe aus, als
wenn es ſeine Rede in der That fuͤr etwas ar-
tiges
hielte, und nicht wuͤſte, wie unverſchaͤmt
ſie lautete: ich ließ fle deswegen gehen, ohne ihr
einen fernern Verweiß zu geben. Sie hat mich
bisweilen durch ihre empfindlichen Ausdruͤcke in
Verwunderung geſetzt. Seit der Zeit ſie ſich
zu meiner Beunruhigung hat gebrauchen laſſen,
habe ich in ihrer Dreiſtigkeit viel ſpaßhaftes und
witziges gefunden, das ich nicht bey ihr vermu-
thet haͤtte. Jch ſehe daraus, daß unverſchaͤmt
zu ſeyn ihre eigene Gabe iſt, und daß das Gluͤck,
das ſie zum Cammer-Maͤdgen meiner Schwe-
ſter gemacht hat, nicht ſo guͤtig gegen ſie gewe-
ſen iſt, als die Natur. Denn ſie wuͤrde ſich
beſſer geſchickt haben, eine Freundin meiner
Schweſter vorzuſtellen: und ich kan nicht anders
als glauben, daß ich mich von Natur beſſer
ſchickte, ihnen beyden aufzuwarten, als der ei-
nen zu befehlen zu haben, und von der andern
eine
[60]Die Geſchichte
eine Schweſter zu ſeyn. Das Gluͤck hat ſich
bisher ſo gegen mich aufgefuͤhrt, als wenn es
gleiche Gedancken haͤtte.


Freytags um 10. Uhr.


Jch bin jetzt eben auf dem Huͤner-Hofe ge-
weſen. Hier hoͤrte ich, wie mein Bruder, mei-
ne Schweſter, und der Solmes mit einander
lacheten und frohlockten. Weil die hohe Hecke
von Eiben-Baͤumen zwiſchen dem Garten und
dem Hofe iſt, ſo konnten ſie mich nicht ſehen.


Mein Bruder muſte ihnen die Abſchrift ſei-
nes letzten Briefes entweder gantz oder zum
Theil vorgeleſen haben. Eine ſehr kluge Auf-
fuͤhrung von denen, welche die Abſicht haben,
daß ich ihn heyrathen ſoll. Es waͤre wenigſtens
billig, ihm dieſes zu verheelen, wenn ich die Sei-
nige werden ſollte, damit ich kuͤnftig vergnuͤgter
mit ihm leben koͤnnte. Allein ich zweifele nicht
mehr daran, daß ſie mich von Hertzen haſſen.


Meine Schweſter ſagte: ich glaube, Bruder,
ihr habt gewonnen. Jhr haͤttet ihr nicht ver-
bieten duͤrfen, an euch zu ſchreiben. So wi-
tzig ſie auch ſeyn will, wird ſie ſich doch nicht un-
terſtehen zu antworten.


Wie? fragte mein Bruder mit einer Mine,
in der man leſen konnte, daß er ſich uͤber ſeinen
Reichthum an Schul-Witz im Hertzen freuete:
ich habe ihr einen Biſſen zu verſchlucken gege-
ben, den ſie nicht wird nieder kriegen koͤnnen.
Was meinen ſie, Herr Solmes.


Jch
[61]der Clariſſa.

Jch glaube, ſagte dieſer, ſie wird nichts dar-
auf antworten koͤnnen. Allein ich fuͤrchte nur,
daß es ſie mehr gegen uns erbittert.


Seyn ſie deshalb unbeſorgt, antwortete mein
Bruder. Wir wollen die Sache ſchon durch
treiben, wenn ſie nur nicht muͤde werden. Wir
ſind ſo weit gegangen, daß wir nun nicht mehr
zuruͤck koͤnnen. Der Obriſte Morden wird
bald eintreffen, und wir muͤſſen ſuchen vor ſei-
ner Ankunft fertig zu werden: ſonſt werden wir
weiter nichts uͤber ſie zu befehlen haben.


(Das iſt die Urſache, warum ſie die Sache
treiben, wie Jehu.)


Herr Solmes erklaͤrte ſich, beſtaͤndig zu blei-
ben, ſo lange mein Vater beſtaͤndig bliebe, und
mein Bruder ihm noch einige Hoffnung machte.


Meine Schweſter ſagte: mein Bruder haͤtte
durch die Urſache mich treflich gefaſſet, die er an-
gegeben haͤtte, weswegen ich mit Herrn Solmes
mehr Umgang haben ſollte. Jndeſſen haͤtte er
um eines verkehrten Maͤdgens willen nicht das
gantze Geſchlecht ſo empfindlich durchziehen ſollen.


Jch glaube mein Bruder muß eine munte-
re und witzige Antwort gegeben haben: denn er
und Herr Solmes fingen an gantz ausgelaſſen
zu lachen. Meine Schweſter lachte auch, und
nennete ihn, unartig. Jch konnte weiter nichts
von ihren Reden hoͤren, weil ſie tieffer in den
Garten gingen.


Sie werden ſich irren, wenn Sie meinen,
daß ich dieſesmahl nicht hitzig geworden bin. Le-
ſen
[62]Die Geſchichte
ſen Sie nur die beygelegte Abſchrift meines
Briefes an meinen Bruder, den ich gleichſam
geſchmiedet habe, als das Eiſen heiß war. Jch
bitte Sie, nennen Sie mich kuͤnftig nicht mehr
ſanftmuͤthig.


An Herr Jacob Harlowe.

Mein Bruder.

Jhr wuͤrdet vielleicht dencken, daß ich mich
darein ergeben haͤtte, auf ſolche Bedingungen, als
Jhr vorſchlaget, zu meinem Onckle Anton zu
reiſen, wenn ich Eurem Verbot zu folge Euren
letzten Brief nicht beantwortete. Mein Vater
kann freylich mit ſeinem Kinde machen, was er
will. Er kan mich aus dem Hauſe ſtoſſen, wenn
es ihm beliebet; er kan auch Euch erlauben,
mich aus dem Hauſe zu ſtoſſen. Allein, ſo un-
gern ich es auch ſage, ſo kan ich doch nicht ver-
heelen, daß es unbillig iſt, mich in ein fremdes
Haus zu verbannen, ſo lange ich noch ein eige-
nes habe.


Es ſey der Gedancke ferne von mir, daß ich
ohne Erlaubniß meines Vaters mein Gut zu-
ruͤck fordern wollte, obgleich Jhr und meine
Schweſter mich auf das aͤuſſerſte gereitzt habt.
Warum ſoll ich aber nicht vielmehr dahin reiſen,
wenn ich nicht laͤnger hier im Hauſe geduldet
werden kan? Jch will verſprechen, denjenigen
nie vor mich zu laſſen, wegen deſſen man beſorgt
iſt, wenn ich nur dieſe eintzige Guͤtigkeit erhal-
ten
[63]der Clariſſa.
ten kan. Jch nenne es eine Guͤtigkeit, und
will es auch ſo anſehen: obgleich meines Gros-
Vaters letzter Wille es zu einem Recht macht.


Jhr fraget mich in Eurem P. S. auf eine ſol-
che Art, als ſich gar fuͤr einem Bruder nicht
ſchicket; ob ich nicht einige andere neue Vorſchlaͤ-
ge zu thun haͤtte? Jch habe drey oder vier zu
thun; da Jhr mir die Frage vorleget, ſo melde
ich Euch dis zur Antwort. Sie ſind alle gantz
neu:
wiewohl ich glaube, daß auch meine al-
ten
Vorſchlaͤge nicht werth ſind abgewieſen und
verworfen zu werden; und daß ein jeder unpar-
theyiſcher Richter, den Jhr nicht gegen mich ein-
genommen habt, eben ſo ſprechen wuͤrde. Jch
dencke dieſes, und ich ſcheue mich nicht es Euch
auch zu ſchreiben. Jhr habt nicht mehr Recht
deshalb auf Eure Schweſter loszuſtuͤrmen,
weil ich Euch dieſes deutlich ſchreibe, als ich Recht
habe auf meinen Bruder ungehalten zu ſeyn,
weil er gar nicht als ein Bruder mit mir um-
gehet. Jch ſchreibe es Euch gantz deutlich, weil
ich ſehe, daß Jhr in Eurem letzten Brieffe dar-
auf trotzet, daß Jhr meine Mutter und ihre
Schweſter gegen mich eingenommen habt.


Hoͤrt demnach meine neuen Vorſchlaͤge:


Man hindere mich nicht, auf meines ſeeligen
Gros-Vaters Gute unter gewiſſen Bedingun-
gen zu wohnen. Jch werde die vorgeſchriebene
Bedingungen ſehr heilig halten. Jch will es
nicht abermahls mein Gut nennen: denn ich
habe Grund zu glauben, daß mein Ungluͤck nur
daher
[64]Die Geſchichte
daher ruͤhret, weil es mein geworden iſt. Sehr
ſtarcke Gruͤnde habe ich hiezu.


Wenn mir dieſes nicht erlaubt wird, ſo bitte
ich mir Erlaubniß aus, einen Monat lang,
oder auf ſo lange als man es fuͤr gut achten
wird, zu der Fraͤulein Howe zu reiſen. Jch
glaube ich kan davon verſichert ſeyn, daß ihre
Frau Mutter es mir erlauben wird, wann es
mit meines Vaters Genehmhaltung geſchiehet.


Jſt dieſes auch nicht zu erhalten, und ich ſoll
ſchlechterdings aus meines Vaters Hauſe geſtoſ-
ſen werden: ſo bitte ich, daß man mir vergoͤnne,
zu der Frau Hervey zu reiſen. Jch will in
allem gehorchen, was ſie ſelbſt, oder mein Va-
ter und meine Mutter mir befehlen wird.


Kan mir auch dieſes nicht nachgelaſſen werden,
ſo iſt meine demuͤthige Bitte, daß ich zu mei-
nem Onckle Harlowe und nicht zu meinem On-
ckle Anton geſchickt werde. Jch ſage dieſes
nicht, als wen ich gegen letztgenannten weni-
ger Liebe und Ehrerbietung haͤtte: allein die
Graben, die Zugbruͤcke, welche er aufzuziehen
drohet, und vielleicht die Capelle, ſetzen mich in
eine ſolche Furcht, die ich nicht ausdruͤcken kan;
ob Jhr gleich durch meine Furcht Gelegenheit
bekommt, Euren Witz in luſtigen Einfaͤllen zu
zeigen.


Wenn mir alles abgeſchlagen wird, und ich
ſchlechterdings nach dieſem beveſtigten Hauſe,
das mir ſonſt ſo angenehm zu ſeyn pflegte, abge-
fuͤhrt werden ſoll: ſo verlange ich wenigſtens ein
Ver-
[65]der Clariſſa.
Verſprechen, daß ich nicht gezwungen werden
ſoll, Herrn Solmes Beſuch anzunehmen. Un-
ter dieſer Bedingung will ich ſo froͤlich, als ſonſt
jemals geſchehen iſt, dahin reiſen.


Dieſes ſind meine neuen Vorſchlaͤge. Wenn
keiner darunter nach Eurem Sinne iſt, weil ſie
insgeſamt dahin zielen, den Beſuch eines nieder-
traͤchtigen Menſchen, der ſich nicht abweiſen laſ-
ſen will, zu verweilen: ſo ſollt Jhr wiſſen, daß
kein Ungluͤck ſo groß ſeyn kan, dem ich mich
nicht lieber unterwerfen wollte, eher ich einem
Manne die Hand geben ſollte, dem ich nimmer-
mehr mein Hertz werde geben koͤnnen.


Jch gebrauche mich freylich einer gantz an-
dern Schreib-Art, als mir ſonſt eigen war:
einer Schreib-Art, zu der ich haͤtte wuͤnſchen moͤ-
gen niemahls gezwungen zu werden. Allein
uiemand wird mir dieſes verdencken, wenn er
unpartheyiſch iſt, und das weiß, was ich von ohn-
gefaͤhr vor wenigen Stunden ſelbſt gehoͤrt habe.
Aus Eurem eigenen und meiner Schweſter
und noch eines andern Munde hoͤrte ich, was
Jhr fuͤr Urſachen habt, die Sache mit ſo vieler
Heftigkeit und Uebereilung zu treiben, nehmlich
weil Jhr fuͤrchtet, daß mein Herr Vetter Mor-
den
bald eintreffen werde. Bedenckt anbey,
daß, nachdem mich meine winſelnde Vocatiui
ſo veraͤchtlich gemacht haben, es fuͤr mich hohe
Zeit iſt, dem vortreflichen Muſter meines Bru-
ders und meiner Schweſter aͤhnlicher zu werden,
und mir etwas mehr heraus zu nehmen, damit
Zweyter Theil. EJhr
[66]Die Geſchichte
Jhr mich kuͤnftig nicht gantz fuͤr eine fremde hal-
ten, ſondern uͤberzeuget werden moͤget, daß ich
mit Euch beyden naͤher verwandt ſey, als Jhr
bisher geglaubt habet.


Damit ich auf einmahl alles ausſchuͤtten moͤ-
ge, was ich auf dem Hertzen habe, ſo ſetze ich
noch dieſes hinzu: ich kan keine andere Urſache
errathen, warum Jhr mir verboten habt, Euch
nicht zu antworten, nachdem Jhr alles, was Euch
in die Feder kam, an mich geſchrieben hattet, als
dieſe; Jhr muͤßt Euch ſelbſt bewußt ſeyn, daß
Jhr Eur Verfahren gegen mich vor dem Rich-
terſtuhl der Vernunft und Billigkeit nimmer-
mehr rechtfertigen koͤnnt.


Wenn dieſes nicht die Urſache iſt, ſo will ich
mich unterſtehen, ob ich gleich ein ungelehrtes
Maͤdchen bin, und niemahls die Logick gelernt
habe, meine Sache, von deren Gerechtigkeit ich
vollkommen uͤberzeuget bin, gegen Euch auf das
Spiel zu ſtellen. Gegen Euch, ſchreibe ich, ob
Jhr gleich auf Univerſitaͤten geweſen ſeyd, und
durch Erfahrung und Umgang mit gelehrten
Maͤnnern eine mehrere Vollkommenheit habt er-
langen koͤnnen; und ob ihr gleich (vergebet es
mir, wenn ich mich etwas poͤbelhaft ausdruͤcke)
denen, die Jhr eines Briefwechſels wuͤrdiget,
Biſſen zu verſchlucken gebt, die ſie nicht uͤberkrie-
gen koͤnnen. Ein jeder unpartheyiſcher Mann
mag Schieds-Richter zwiſchen uns ſeyn: z. E. Eur
gewe-
[67]der Clariſſa.
geweſener Tutor*, oder der fromme Dr.
Lewin. Wenn mir einer von beyden unrecht
giebt, ſo will ich meinem Schickſal nicht ferner
widerſtehen: doch unter der Bedingung, daß
mein Vater vergoͤnne, daß ich zu dem Manne,
der mir aufgedrungen wird, Nein ſagen duͤrfe,
wenn mir aller beyder Urtheil guͤnſtig iſt.


Jch hoffe, mein Bruder, daß Euch mein Vor-
ſchlag deſto angenehmer ſeyn werde, weil Jhr
von Eurer Geſchicklichkeit im Diſputiren ſehr
eingenommen zu ſeyn ſcheint, und wenigſtens
keine geringe Meynung von der Wichtigkeit der
Gruͤnde heget, deren Jhr Euch in Eurem letz-
ten Brieffe bedient habt. Da es nicht vermuth-
lich iſt, daß ich bey einem Feder-Kriege mit Euch
etwas gewinnen werde, wenn meine Sache nicht
gerecht iſt; und da Jhr meynet uͤberzeuget zu
ſeyn, daß ich in der That unrecht habe: ſo muͤſ-
ſet Jhr billig einen unpartheyiſchen Richter da-
von zu uͤberzeugen ſuchen, daß ich Unrecht und
daß Jhr Recht habet. Wenn Jhr Euch die-
ſen Vorſchlag gefallen laßt, ſo iſt es unumgaͤng-
lich noͤthig, daß wir unſern Streit ſchriftlich aus-
machen. Wir muͤſſen die Sache, daruͤber ge-
E 2ſtritten
[68]Die Geſchichte
ſtritten wird, beyde deutlich auseinander ſetzen,
und die Entſcheidung muß nach der Guͤldigkeit
oder Unguͤltigkeit deſſen gegeben werden, was
jeder Theil zu Vertheidigung ſeiner Meinung
vorbringen wird. Denn ich muß mir die Frey-
heit nehmen, Euch zu geſtehen, daß ich Eur all-
zu maͤnnliches Hertz beſſer kenne, als daß ich
mich wagen ſollte, meine Sache muͤndlich mit
Euch auszumachen.


Wenn Jhr aber meinen Vorſchlag nicht an-
nehmet, ſo muß ich daraus ſchlieſſen, daß Jhr
ſelbſt Eure Auffuͤhrung gegen mich nicht recht-
fertigen koͤnt: und ich habe weiter keine Bitte
an Euch, als daß Jhr kuͤnftig mir ſo begegnen
wollt, wie es eine Schweſter von einem Bru-
der erwarten kan, der nicht allein gelehrt ſon-
dern auch wohl gezogen iſt.


Wenn ich endlich in dieſem Schreiben eine
Dreiſtigkeit gezeiget habe, uͤber die man ſich bey
mir nicht verwundern darf, weil ich die Ehre
habe mit Euch und mit meiner Schweſter ſo
nahe verwandt zu ſeyn; und die von meiner vo-
rigen Gemuͤths-Art, durch welche ich mich bey
jedermann beliebt gemacht habe, ſo ſehr verſchie-
den iſt: ſo uͤberleget, wer und was fuͤr Um-
ſtaͤnde mich dazu genoͤthiget haben. Bedenckt,
daß ich meine vorige Auffuͤhrung und meine
ſanftere Gemuͤths-Faſſung nicht ehe geaͤndert ha-
be, bis ich ſahe, daß ich dadurch veraͤchtlich
wuͤrde, und mir allerhand Beleidigungen und
Verachtung dadurch zuzoͤge, die ein Bruder der
ſelbſt
[69]der Clariſſa.
ſelbſt auf die ungebundene Freyheit, die ich ver-
leugnet habe, ſo begierig iſt, und ſich darauf ſo
vieles einbildet, niemanden haͤtte anthun, und
am allerwenigſten eine ſchwache und wehrloſe
Schweſter dadurch haͤtte betruͤben ſollen: welche
dem ohngeachtet Liebe und Hochachtung gegen
ihn behaͤlt und ferner bey aller Gelegenheit be-
weiſen will, ſo wie ſie es in ihrem gantzen Leben
gethan hat, ob ſie gleich ſeit kurtzem wenig Ge-
genliebe hat ſpuͤren koͤnnen.


Cl. Harlowe.

*
Man hat dieſes zweydeutige Wort lieber beybehal-
ten, als ins deutſche uͤberſetzen wollen. Es kann ei-
nen Vormund bedeuten: vermuthlich aber wird es
hier in dem Verſtande gebraucht, den es auf Uni-
verſitaͤten hat. Jeder Student auf den Engliſchen
Univerſitaͤten wird einem Magiſter zum Unterricht
uͤbergeben: dieſer heißt ſein Tutor.

Sie ſehen, wie nachdruͤcklich und beredt der
Unwillen iſt. Denn dieſes iſt der erſte Entwurf
meines Briefes, in dem ich kein Wort geaͤn-
dert habe.




So bald ich meinen Brief abgeſchrieben hat-
te, ſchickte ich ihn durch Eliſabeth an meinen
Bruder. Das naͤrriſche Thier kam gleich wie-
der herauf, und hatte ſich gantz aus dem Athem
gelauffen. Um GOttes Willen/ Fraͤulein/
ſagte ſie, was haben ſie angefangen? Was
haben ſie geſchrieben? Sie haben das
gantze Haus in eine allerliebſte Unruhe
geſetzt.


Jetzt eben geht meine Schweſter von mir
E 3weg.
[70]Die Geſchichte
weg. Jch muſte vorhin die Feder niederlegen,
weil ſie mit groſſem Ungeſtuͤm zu mir auf die
Stube kam. Sie lief gleich auf mich zu, und
ſagte: Was fuͤr ein harter Kopf! Jſt es
endlich ſo weit kommen!
Sie griff mir bey-
nahe ſo auf den Nacken, wie man ſonſt zu ſchla-
gen pflegt.


Wollt ihr mich ſchlagen, Arabelle? ſagte ich.


Nennt ihr das ſchlagen? Jch faſſe euch
nur an die Schulter.
(Sie that es aber-
mahls, jedoch ſanffter.) Wir haben es lan-
ge geſagt/ daß es noch endlich ſo weit kom-
men wuͤrde. Jhr wollt frey und unge-
bunden ſeyn. Mein Vatter hat fuͤr euch
zu lange gelebet.


Jch wollte ernſtlich reden, allein ſie hielt mir
das Schnupftuch auf eine ſehr ungeſtuͤme Wei-
ſe vor den Mund. Jhr habt mit eurer Fe-
der Ungluͤck genug angefangen/ ihr Behor-
cherin. Allein wiſſet/ daß der Vorſchlag/
der euch frey und ungebunden macht/ eben
ſo wenig bewilligt werden wird/ als die
uͤbrigen Vorſchlaͤge dieſen oder jenen zu
beſuchen. Fahrt nur ferner ſo fort: neh-
met euren liederlichen Liebhaber zu Huͤlf-
fe/ daß er euch von Gehorſam gegen die
Eltern los mache/ damit ihr ihm gehor-
chen koͤnnet. Fangt nur gleich an/ ein-
zupacken! Ueberlegt/ was ihr mitneh-
men wollt. Morgen ſollt ihr wegreiſen.
Jhr ſollt hier nicht laͤnger bleiben/ und

in
[71]der Clariſſa.
in alle Winckel kriechen/ um andere Leu-
te zu behorchen. Mein Bruder wollte
euch dieſes ſelbſt geſagt haben; allein auf
meine Vorbitte iſt er drunten geblieben.
Denn ich weiß nicht/ was er mit euch an-
gefangen haben wuͤrde/ wenn er ſelbſt
gekommen waͤre. So ein Brief! So ein
unverſchaͤmtes und hochmuͤthiges Cartel!
du eingebildetes Maͤdchen! Allein ich
ſage es euch nochmahls/ macht euch rei-
ſefertig. Morgen reiſet ihr weg. Mein
Bruder will auf eure Herausfoderung er-
ſcheinen/ aber nicht ſchriftlich/ ſondern in
Perſon/ und in meines Onckles Antons
Hauſe/ oder vielleicht in Herrn Solmes
Hauſe.


Sie fuhr noch immer fort ſo zu reden, und
ſchaͤumete beynahe vor Grimm, bis ich endlich
die Gedult verlohr, und ſagte: ich will weiter
nichts von ſolchen heftigen Reden hoͤren, Ara-
belle. Wenn ich zum voraus gewuſt haͤtte, was
fuͤr einen Beſuch ihr mir zugedacht habt, ſo haͤt-
tet ihr meine Stuben-Thuͤr nicht offen finden ſol-
len. Mit euern Maͤdchen koͤnnt ihr ſo reden:
von mir aber muͤßt ihr wiſſen, daß ich eure
Schweſter bin, ſo wenig ich auch, Gottlob!
gleiches von euch an mir habe. Jch will weder
morgen, noch uͤbermorgen, noch den darauf fol-
genden Tag von hier reiſen: es waͤre denn,
daß ich mit Gewalt in den Wagen geſchleppet
wuͤrde.


E 4Was
[72]Die Geſchichte

Was ſagt ihr? Auch denn nicht/ wenn
es eur Vater und Mutter befehlen? ‒ ‒ ‒
Maͤdchen!
Dis Wort kam langſam heraus:
ſie hatte ein ſchlimmes auf der Zunge.


Wenn es ſo weit kommt, antwortete ich, ſo
will ich ſchon wiſſen, was ich ſagen muß. Al-
lein ich muß den Befehl aus ihrem eigenen
Munde hoͤren, wenn ich folgen ſoll, und nicht
von euch oder von eurer Eliſabeth. Sagt mir
noch ein ſo ungeſchliffenes Wort, ſo werdet ihr
mich auf dem Sinne finden, daß ich mich mit
Gewalt zu meinen Eltern draͤnge, und ſie ſelbſt
frage, wodurch ich verdient habe, daß man mir
ſo begegnet? es mag nun daraus kommen was
will.


Kommt mit mir/ Kind! kommt mit/
ſanftmuͤthige Seele.
Sie faſſete mich bey
der Hand, und wollte mich nach der Thuͤr zufuͤh-
ren. Fragt eure Eltern jetzt darum: ihr
werdet ſie eben beyſammen finden. War-
um habt ihr kein Hertz?
denn ich blieb ſte-
hen, als ſie mich ſo hoͤhniſch fuͤhren wollte, und
machte meine Hand los.


Jch ſagte: ich brauchte mich nicht fuͤhren zu
laſſen. Weil ich mich aber auf euch beruffen
kan, ſo will eur Wort erfuͤllen, und mitkom-
men. Der Unmuth uͤbernahm mich ſo weit,
daß ich nach der Treppe zugehen wollte. Allein
ſie ſtellete ſich zwiſchen mich und die Thuͤr, und
ſchlug die Thuͤr zu. Verwegene ‒ ‒ rief ſie
mir zu, ich will nur erſt Nachricht geben/
daß
[73]der Clariſſa.
daß ihr kommen wollt. Jch will es um
eures Beſten willen thun: Denn mein
Bruder iſt eben bey meinen Eltern.
Sie
machte die Thuͤr wieder auf, und als ſie ſahe,
daß ich zuruͤcke ging, ſagte ſie: komme/ wenn
ihr wollt. Warum kommt ihr nicht?

Sie folgete mir mit ſolchen empfindlichen Re-
den bis an mein Cloſet nach; ich aber ging mit
ſchwerem Herzen in das Cloſet, und ſchloß die
Thuͤr hinter mir zu. Die Thraͤnen konnte ich
nicht laͤnger halten.


Jch antwortete ihr kein Wort, da ſie einmahl
uͤber das andere verlangte, daß ich aufmachen
ſollte. Denn der Schluͤſſel war inwendig an der
Thuͤr. Sie ſahe durch das Glaßfenſter, ich kehr-
te ihr aber nicht einmahl das Geſicht zu. End-
lich zog ich den Vorhang zu, damit ſie mich nicht
weinen ſehen moͤchte. Dis ſchien ſie recht innig
zu verdrieſſen: ſie ging endlich weg, und ſtieß
unter dem Gehen noch allerhand abgebrochene
Worte heraus.


Kan dergleichen Auffuͤhrung einen nicht zu
Uebereilungen bringen, zu denen man ſonſt nie
gekommen waͤre?


Weil es nur alizu wahrſcheinlich iſt, daß ich
nach meines Onckles Wohnung geſchleppt wer-
den moͤchte, eher ich Jhnen davon etwas zum
voraus melden kan: ſo erſuche ich Sie, daß
Sie auf die erſte Nachricht davon ſo gleich an
den bewuſten Ort ſchicken, und diejenigen Jhrer
Brieffe abhohlen laſſen, die vielleicht noch nicht
E 5in
[74]Die Geſchichte
in meine Haͤnde gekommen ſeyn moͤchten, oder
einen Brief von mir an Sie, den ich etwan
noch vorher moͤchte geſchrieben haben. Genieſ-
ſen ſie nur eines beſtaͤndigen Gluͤcks. Dieſes
wuͤnſchet


Jhre
Cl. Harlowe.


Jhre vier Brieffe ſind mir zu Haͤnden ge-
kommen: allein ich bin in ſolcher Unruhe, daß
ich ſie jetzt nicht beantworten kan.



Der neunte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch habe einen unertaͤglichen Brief von mei-
ner Schweſter bekommen. Jch glaube,
ſie wollte ſich deswegen an mir raͤchen, daß ich
mich durch ihre Auffuͤhrung auf meiner Stube
habe uͤberwinden laſſen, ihr ſchimpflich zu begeg-
nen. Jhr Betragen wird gantz unbegreiflich,
wenn man es nicht aus Eiferſucht und aus ver-
ſchmaͤheter Liebe herleiten will.


An
[75]der Clariſſa.

An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.


Jch habe Euch zu melden, daß Eure Mutter
es durch ihr Bitten ſo weit gebracht hat, daß
Jhr morgen dieſes Haus noch nicht verlaſſen
ſollt. Allein Eure Auffuͤhrung hat bey ihr eben
die Wuͤrckung gehabt, als bey den uͤbrigen ins-
geſammt.


Jn Euren Vorſchlaͤgen, und in dem gantzen
Brieffe an meinen Bruder, ſeyd Jhr ſo albern
und ſo klug, ſo jung und ſo alt, ſo nachgebend
und ſo hartnaͤckig, ſo ſanftmuͤthig und ſo unge-
ſtuͤm, daß ich nie eine ſo widerſprechende Gemuͤths-
Art, ſo eine eingefleiſchte Contradiction, wahr-
genommen habe.


Wir wiſſen es insgeſammt, von welcher Per-
ſon Jhr dieſe gantz neue Art zu dencken und zu
handeln angenommen hat. Jndeſſen muß der
Saame dazu ſchon vorhin in Euch geweſen ſeyn,
ſonſt wuͤrde er nicht auf einmahl ſo weit um
ſich gegriffen und gewuchert haben. Es wuͤrde
eine Beſchimpfung fuͤr Herrn Solmes ſeyn,
wenn man ihm ein ſo bloͤdes und nicht bloͤdes
Maͤdchen wuͤnſchen wollte: dieſes iſt auch eine
von Euren widerſprechenden Eigenſchaften.
Denckt ſelbſt nach, was ich damit meyne.


Hier im Hauſe koͤnnt Jhr nicht bleiben: das
will Eure Mutter nicht zugeben. Sie kan nicht
ruhig ſeyn, ſo lange ſie ein ſo widerſpenſtiges
Kind um ſich hat. Frau Hervey verbittet ſehr,
daß man ihr keine Laſt aufburden ſoll, welche die
gantze Familie mit vereinigten Kraͤften nicht hat,
tra-
[76]Die Geſchichte
tragen und handhaben koͤnnen. Euer Onckle
Harlowe will Euch in ſeinem Hauſe nicht wiſ-
ſen, bis Jhr verheyrathet ſeyd. Danckt es dem-
nach Eurem eigenen Trutz und Eigenſinn, daß
Euch niemand haben will, als Eur Onckle An-
ton.
Zu dem muͤßt Jhr reiſen, und zwar uͤber
wenig Tage. Mein Bruder wird auch hinkom-
men: und weil Jhr ihn ſo hoͤflich herausgefo-
dert habt, wird er es dort mit Euch in meiner
Gegenwart ausmachen. Denn er nimmt das
Cartel an: das koͤnnt Jhr mir glauben. Der
Herr Dr. Lewin wird vermuthlich auch dort
ſeyn, weil Jhr ihn ſelbſt gewaͤhlt habt; nebſt
noch einem andern Herrn, der Euch wenigſtens
zu uͤberzeugen ſuchen wird, daß er ein gantz an-
derer Mann iſt, als Jhr bisher geglaubt habt.
Es iſt moͤglich, daß Eure beyden Onckles auch
dort ſind, um dafuͤr zu ſorgen, daß dir armen
wehrloſen Schweſter
kein Unrecht geſchehe.
Jhr wiſſet nun, Schweſter, was fuͤr eine Ge-
ſellſchaft wegen Eurer bittern Herausfoderung
auf dem Kampf-Platz erſcheinen wird.


Setzet Euch in Bereitſchaft. Es wird nicht
mehr lange waͤhren. Adieu, du ſuͤſſes Kind
deiner werthen Mutter Frau Norton.


Arab. Harlowe.


Jch ſchrieb dieſen Brief ab, und ſchickte ihn
mit folgenden Zeilen an meine Mutter.


Nur
[77]der Clariſſa.

Nur ein paar Worte/ meine allerliebſte
und theureſte Mutter.


Wenn meine Schweſter den beyliegenden
Brief auf Jhren oder auf meines Vaters Be-
fehl an mich geſchrieben hat, ſo muß ich es mir
gefallen laſſen, und nur dieſe Anmerckung da-
bey machen, daß ſie mir muͤndlich und perſoͤnlich
noch weit haͤrter begegnet iſt. Kommt aber al-
les aus ihrem eigenen Gehirn, ſo darf ich doch
fragen: warum ‒ ‒ doch ich wuſte ſchon zum
voraus, da ich von Jhnen verwieſen und ver-
bannet ward. ‒ ‒ ‒ Jedoch, ſo lange bis ich
weiß, ob ſie Befehl gehabt hat oder nicht, ſo zu
ſchreiben, will ich weiter nichts melden, als daß
ich bin


Jhr
ungemein ungluͤckliches Kind
C. Harlowe.


Jch bekam folgende Antwort auf einem un-
verſiegelten Blatte, das an einer Stelle benetzt
war. Jch kuͤſſete die Stelle, denn ich hielt es
fuͤr eine Thraͤne meiner Mutter. Die allerlieb-
ſte Frau muſte dieſe Zeilen (ich hoffe, ſie muſte
es thun) wider ihren Willen ſchreiben.


„Es iſt eine Verwegenheit, ſeine Zuflucht
„zu ſolchen Eltern zu nehmen, deren Befehle
„man verachtet. Weil deine Schweſter in glei-
„chen
[78]Die Geſchichte
„chen Umſtaͤnden ſich deines Ungehorſams nicht
„ſchuldig machen wuͤrde, ſo kan man ſie ent-
„ſchuldigen, wenn ſie uͤber dich unwillig iſt.
„Wir haben ihr aber dem ohngeachtet befohlen,
„daß ſie ihren Eifer fuͤr unſre gekraͤnckten Rech-
„te maͤßigen ſoll. Bemuͤhe dich, durch deine
„Auffuͤhrung ein anderes Betragen gegen dich
„zu verdienen, als dasjenige iſt, das dich jetzt
„kraͤncket, aber bey weiten nicht ſo ſehr, als die
„Veranlaſſung deſſelben kraͤncket


Deine
noch ungluͤcklichere Mutter.


Wie oft muß ich dir verbieten/ nicht
„an mich zu ſchreiben?


Schreiben Sie mir Jhre Meinung, werthe-
ſte Freundin, was ich thun kan und ſoll? Jch
verlange nicht zu wiſſen, was Jhnen Rachgier
und Ungeduld eingeben wuͤrden, wenn Sie in
meinen Umſtaͤnden waͤren. Denn dieſe Ant-
wort weiß ich ſchon: Sie wollten laͤngſt bey
einer gewiſſen Perſon ſeyn.
Auf einen
Schritt, zu dem uns die Ungeduld verleitet,
pflegt gemeiniglich Reue zu folgen. Geben Sie
mir jetzt einen ſolchen Rath, von dem Sie glau-
ben, daß ihn eine nachfolgende Uberlegung auch
alsdenn rechtfertigen werde, wenn ſich die erſte
Hitze abgekuͤhlet hat.


Jch zweifle an Jhrem Mitleiden und an Jh-
rer
[79]der Clariſſa.
rer Liebe nicht. Allein Sie koͤnnen doch das mir
angethane Unrecht nicht ſo lebhafft fuͤhlen, als
ich ſelbſt, und deswegen ſind Sie geſchickter als
ich mir einen Rath zu geben.


Jch will es auf Jhr Urthel ankommen laſſen.
Habe ich genug Geduld geuͤbt, und genug gelit-
ten, oder nicht? Und was kan ich thun, wenn die
Meinigen fortfahren, wie ſie angefangen haben,
wenn der Mann, der mir ſo ſehr eckelhaft iſt,
ſich nicht will abweiſen laſſen? Soll ich nach
London fluͤchten, und mich ſowohl vor Herrn
Lovelace als vor allen meinen Verwandten zu
verbergen ſuchen, bis mein Vetter Morden
ankommt? Oder ſoll ich mich zu Schiffe ſetzen,
um ihn zu Leghorn anzutreffen? Wie gefaͤhr-
lich iſt dieſes in Abſicht auf mein Geſchlecht und
Jugend? Vielleicht iſt mein Vetter ſchon un-
ter Weges nach England, wenn ich ihn dort auf-
ſuche. Was kan ich alſo thun? Sagen Sie
es mir, allerliebſte Fraͤulein Howe, denn ich
kan mir ſelbſt nicht trauen.


Des Abends um 11. Uhr.


Jch habe verſucht, mir die Gedancken durch
die Muſik zu vertreiben, nachdem ich Thuͤr und
Fenſter zugemacht habe, damit mich niemand
unten im Hauſe hoͤren moͤchte. Jch ward hie-
bey den Vogel der Minerva gewahr, und er
erinnerte mich in dem Liede, welches an die Weis-
heit gerichtet iſt; das gewiß unſerm Geſchlecht
zur
[80]Die Geſchichte
zur Ehre gereicht, weil es von einem Frauen-
zimmer verfertigt iſt. Jch habe vor acht Tagen
die drey letzten Strophen dieſem Gedichte ange-
haͤnget, ſo wie ſie ſich zu meinen betruͤbten Um-
ſtaͤnden ſchickten. Dieſe drey Strophen waren
jetzt meine Beſchaͤfftigung; und ich kann ver-
ſichern, daß mein Hertz eben ſo ſehr als meine
Finger bey dieſer Anrede an GOtt beſchaͤftiget
waren.


Jch lege die Ode ſo wohl, als meine Nachah-
mung derſelben bey. Die Sache, davon ſie
handelt, iſt wichtig: meine Umſtaͤnde ſind betruͤbt
und ich hoffe, daß mein Anhang zu der Ode
nicht gantz verwerflich iſt. Jch werde dieſes
noch gewiſſer glauben, wenn er Jhren Beyfall
erhaͤlt: inſonderheit aber, wenn ich ſo gluͤcklich
ſeyn ſollte, daß ſie durch Jhre Stimme, und
durch Jhre Finger meine eigene Arbeit mir an-
genehm machten. *


Der
[81]der Clariſſa.

Der zehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch habe jetzt einen ruhigern Augenblick:
denn Neid, Ehrgeitz, Rachgier, und andere
heftige Gemuͤths-Bewegungen, mit denen ich
umzingelt bin, ſind nunmehro vermuthlich einge-
ſchlafen; und warum ſollte ſich nicht auch mein
Unwille in dieſen ſtillen Stunden zur Ruhe be-
geben? Er hat es gethan, und ich habe meine
Zeit der Ruhe angewandt, Jhren Brief noch-
mahls durchzuleſen. Jch will einige Stellen
deſſelben in meiner Antwort beruͤhren, und um
mich deſto weniger in Gefahr zu ſetzen, daß mei-
ne Ruhe moͤchte geſtoͤrt werden, will ich von dem
den Anfang machen, was Sie von Herrn Hick-
mann
ſchreiben.


Nehmen Sie mir nicht uͤbel, wenn ich Jh-
nen melden muß, daß es mir leid thut, daß Sie
von dieſem Herrn keine beſſere und richtigere
Gedancken faſſen koͤnnen, als man Jhnen zu-
ſchreiben ſollte, wenn man das laͤcherliche Bild
anſiehet, das Sie von ihm entworfen haben.
Wenigſtens wird man durch Jhre von Natur
allzuluſtige Schreibart veranlaſſet, zu glauben,
daß Sie ſehr ungerechte Gedancken von Herrn
Hickmann hegen.


Sie ſelbſt werden nicht behaupten wollen, daß
Zweyter Theil. Fer
[82]Die Geſchichte
er das wahre Original ihres Bildes iſt: dem
ohngeachtet iſt es nicht einmahl ein ſehr nach-
theiliges Bild. Wenn mein Gemuͤth nicht
durch andere Sorgen ſo ſehr beſchaͤftiget und be-
ſchwert waͤre, ſo wollte ich mich unterſtehen, ein
liebenswuͤrdigeres Gemaͤhlde zu uͤberſenden, das
ihm vollkommen gleich ſehen ſollte.


Jſt gleich Herr Hickmann nicht ſo freymuͤ-
thig und unerſchrocken, als einige andre Manns-
Perſonen, ſo beſitzt er hingegen ein leutſeeliges,
freundliches und guͤtiges Hertz, das andern feh-
let. Dieſer eintzige Vorzug, nebſt der unendli-
chen Hochachtung, die er fuͤr Sie hat, macht,
daß er ſich fuͤr ein Frauenzimmer von Jhrer Leb-
haftigkeit und Feuer ſo vollkommen ſchicket, als
kein anderer Menſch auf der Welt, den ich bis-
her habe kennen lernen.


Sie ſagen zwar: ich wuͤrde ſelbſt nicht Luſt
haben, ihn zu nehmen. Jch aber verſichere Jh-
nen, daß ich nie wegen des Herrn Solmes mit
meinen Freunden zerfallen waͤre, wenn ſie mir
nicht haͤtten erlauben wollen, daß ich unverhey-
rathet bleiben moͤchte, und das aͤuſſerliche, das
Gemuͤth und die Auffuͤhrung bey ihm ſo gut
geweſen waͤre, als bey Herrn Hickmann. Da
Herr Lovelace ein ſchlechtes Lob der Tugend
hat, ſo wuͤrde ich ihn nicht einmahl mit ihm auf
die Wage gelegt haben. Jch behaupte dieſes
deſto freymuͤthiger, weil Herr Lovelace ſich
noch unweit mehr Furcht als Liebe zuwege brin-
gen
[83]der Clariſſa.
gen kan, welches eine ſchlechte Ahndung einer
guten Ehe giebt.


Das iſt mir lieb, daß Jhnen wenigſtens nie-
mand beſſer gefaͤllt als Herr Hickmann. Jch
hoffe, daß Sie in kurtzem bekennen werden, wenn
Sie Jhr Hertz recht unterſuchen wollen: er ge-
falle Jhnen ſowohl als ſonſt keiner unter der
Sonnen. Sie duͤrfen nur uͤberlegen, daß ſelbſt
die Fehler, die Sie an Herrn Hickmann finden,
ihn ungemein bequem dazu machen, daß Sie
vergnuͤgt und gluͤcklich mit ihm leben koͤnnen,
wenn anders ein Theil ihrer Gluͤckſeeligkeit dar-
inn beſtehen muß, daß Sie in allen Dingen Jh-
ren eigenen Willen haben.


Jch muß aber noch eine Anmerckung uͤber
Sie und Herrn Hickmann machen. Sie ha-
ben eine ſo aufgeweckte und muntere Art, nebſt
andern ſo ausnehmenden Eigenſchaften, daß ein
jeder Liebhaber, der nicht ein Lovelace iſt, vor
Jhnen wie ein Schaaf ausſehen muß.


Vergeben Sie mir, mein Schatz, daß ich ſo
offenhertzig ſchreibe: vergeben Sie mir aber auch,
daß ich ſo bald wieder auf Dinge komme, die
mich ſelbſt unmittelbar betreffen.


Sie dringen von neuem darauf, daß ich mein
Gut ſelbſt annehmen ſoll; und Herrn Lovela-
ces
Beyſtimmung macht, daß Sie noch ſtaͤr-
cker darauf dringen. Jch habe Jhnen Hoffnung
gemacht, daß ich dieſen Vorſchlag in genauere
Erwegung ziehen wolle, als bisher geſchehen iſt.
Jch kan Jhnen inzwiſchen nicht verheelen, daß
F 2meine
[84]Die Geſchichte
meine Gegen-Gruͤnde ſo in die Augen fallend
ſind, daß ich geglaubt haͤtte, ſie wuͤrden Jhnen
von ſelbſt beygefallen ſeyn, und Sie wuͤrden Jh-
ren hitzigen Vorſchlag verworfen haben. Da
ich mich aber hierin geirret habe, und ſo wohl
Sie als Herr Lovelace darauf dringen, daß
ich mein Gut ſelbſt in Verwaltung nehmen ſoll,
ſo will ich Jhnen kuͤrtzlich meine Meinung ſchrei-
ben.


Zufoͤrderſt erlauben Sie mir, Jhnen die
Frage vorzulegen: wen ich habe, der mein Ge-
ſuch unterſtuͤtzen koͤnnte, wenn ich Jhrem Rath
folgen wollte? Mein Onckle Harlowe iſt der
eine von denen, ſo die Gewaͤhr des Teſtaments
leiſten ſollen: und der iſt wider mich. Mein
Vetter Morden iſt der andere: der iſt in Jta-
lien, und man wird ſchon ſuchen, auch ihn wider
mich einzunehmen. Jch habe aus meines Bru-
ders Munde gehoͤrt, daß er die Sache vor ſei-
ner Ankunft durchtreiben wolle: wenn ich alſo
auch an ihn ſchreiben wollte, ſo wuͤrde doch alles
auf eine oder andere Weiſe ſchon zum Ende ſeyn,
ehe ich Antwort erhalten koͤnnte. Wenn auch
die Antwort noch in Zeiten ankaͤme, ſo bin ich
dergeſtalt eingeſperret, daß ſie nicht in meine
Haͤnde gelangen wuͤrde, wenn ſie nicht nach ih-
rem Sinne waͤre.


Zum andern, ſo haben die Eltern immer ein
gerechtes Vorurtheil der Welt vor ſich, wenn
ſie mit einem Kinde zerfallen, das ihren Einſich-
ten nicht folgen will. Denn gewiß in zwan-
tzig
[85]der Clariſſa.
tzig Faͤllen wird kaum einer ſeyn, da das Kind
Recht und die Eltern Unrecht haben ſollten.


Sie wuͤrden ſelbſt nicht rathen, daß ich mich
des Beyſtandes Herrn Lovelaces in Verfech-
tung meines Rechts bedienen ſollte. Wenn ich
aber zu einem andern meine Zuflucht nehmen
wollte, ſo frage ich Sie, wer auſſer ihm wuͤrde
Luſt haben, ſich eines Kindes gegen Eltern an-
zunehmen, von denen man weiß, daß ſie es noch
vor kurtzem ſo zaͤrtlich geliebt haben? Wenn ich
auch endlich jemand faͤnde, der meine Sache fuͤhr-
te, ſo wuͤrde es doch eine ſehr lange Zeit erfo-
dern, ehe der Streit zu Ende kaͤme. Die Mei-
nigen ſagen, das Grosvaͤterliche Teſtament habe
Maͤngel: mein Bruder redet davon, daß er nach
meinem Gute reiſen und darauf wohnen wolle.
Vermuthlich hat er hiebey die Abſicht, daß man
ihn erſt gewaltſam heraus zu werfen genoͤthi-
get werden moͤge, wenn ich mein Gut verwal-
ten wollte; oder daß er ſich, wenn ich Herrn
Lovelace heyrathete, deſto beſſer aller Kruͤm-
men und Verdrehungen, die einem das Recht
an die Hand giebt, bedienen koͤnne.


Jch habe mir dieſe Faͤlle als moͤglich vorge-
ſtellet, um Jhnen deſto wichtigere Gruͤnde ent-
gegen zu ſetzen. Allein ich kan nicht einmahl auf
ſie als moͤglich dencken, wenn auch jemand waͤ-
re, der meine Rechte verfechten wollte. Denn,
ich verſichere Jhnen, ich wollte lieber mein Brodt
vor den Thuͤren ſuchen, als mich mit meinem
Vater in einen Proceß einlaſſen. Denn ich
F 3bin
[86]Die Geſchichte
bin gewiß verſichert, daß die Kinder ihrer Pflich-
ten gegen die Eltern dadurch nicht erlaſſen wer-
den, wenn die Eltern unbillig gegen ſie handeln.
Wie klingt das, wenn mir nachgeſagt wird, ich
haͤtte einen Proceß mit meinem Vater? Jch ha-
be daher meinen Wunſch nur als eine Bitte
vorgebracht, daß man mir erlauben moͤchte, mich
nach meinem Gute zu begeben, wenn ich das
Haus meines Vaters ja raͤumen muͤſte. Jch
kann keinen Schritt weiter gehen. Und Sie
ſehen, was ſchon dieſer Wunſch fuͤr Unwillen
erweckt hat.


Was bleibt mir alſo uͤbrig, darauf ich hoffen
koͤnnte, als dieſes, daß mein Vater ſeinen Ent-
ſchluß aͤndern moͤchte? Jſt es aber wohl wahr-
ſcheinlich, daß dieſes geſchehen werde, da mein
Bruder und meine Schweſter, jetzt einen ſo groſ-
ſen Einfluß in die gantze Familie haben, und da
ihr Eigennutz ſie antreibt, die Feindſchaft gegen
mich, die ſie nicht mehr verheelen, ohnverſoͤhnlich
fortzuſetzen?


Daruͤber wundere ich mich nicht, daß Herr
Lovelace Jhren Vorſchlag billiget: denn er
ſiehet ohne Zweiffel ein, daß es mir faſt ohn-
moͤglich iſt, ihn ohne ſeine Beyhuͤlffe zu bewerck-
ſtelligen. Wenn ich ſo frey und ungebunden
waͤre, als ich es mir wuͤnſchen wollte, ſo wuͤrde
Herr Lovelace einen haͤrterern Stand mit mir
haben, als er aus Eigenliebe glauben wird,
ohngeachtet Sie mich mit ihm aufzuziehen belie-
ben. Sie koͤnnen nicht wiſſen, was er bey al-
len
[87]der Clariſſa.
len ſeinen billigſcheinenden Anerbietungen fuͤr
eine Abſicht hat: z. E. daß es mir frey ſtehen
ſolle, ihm ein Ja oder Nein zu geben, wenn ich
nur erſt ungebunden ſeyn wuͤrde; (wo ich mich
dieſes Ausdrucks bedienen darf: unter dem ich
weiter nichts verſtehe, als die Freyheit zu einem
Manne Nein zu ſagen, an den ich nicht dencken
kan, ohne daß mein Hertz einen Stich empfin-
det) daß er mich nie ohne meine Erlaubniß
beſuchen wolle: daß er erwarten wollte, bis Herr
Morden kaͤme, und bis ich von ſeiner Beſſe-
rung uͤberzeugt waͤre. Woher wiſſen Sie, daß
dieſes alles nicht eine Maſque iſt, die er an-
nimmt, um ſich bey Jhnen und bey mir einzu-
ſchmeicheln? und daß er nicht dieſe guten Be-
dingungen nur deßwegen von freyen Stuͤcken an-
bietet, weil er zum voraus ſiehet, daß ich ſie
ſelbſt fodern wuͤrde, ehe ich mich zu etwas ent-
ſchloͤſſe?


Jch bin auch mit ihm ſehr ſchlecht zufrieden.
So zu drohen wie er drohet; dabey vorzuge-
ben, daß er mich nicht in Furcht jagen wolle;
Sie zu bitten, daß Sie mir nichts davon ſchrei-
ben moͤchten, da er zum voraus ſiehet, daß Sie
es ſchreiben werden, und da er es vermuthlich blos
in dieſer Abſicht zu Jhnen geſagt hat: ſind das
nicht niedertraͤchtige Raͤncke? der Menſch muß
dencken, daß er mit einem furchtſamen Narren
zu thun hat. Sollte ich einem meine Hand ge-
ben, dem der Mund von lauter Gewaltthaͤtig-
keiten uͤberfließt? Der meinem eigenen Bruder
F 4dro-
[88]Die Geſchichte
drohet? und dem armen Solmes? Was hat
ihm Solmes gethan? darf er um eine Perſon
nicht anhalten, zu der er Luſt hat? Ach wenn
mich die Meinigen nur in dieſem eintzigen Stuͤ-
cke nach meinen Einſichten handeln lieſſen. Jch
habe ja dem Menſchen nicht die geringſte Hoff-
nung gegeben, darauf er ſeine Drohungen gruͤn-
den koͤnnte. Wenn mir Herr Solmes nur
halb ertraͤglich waͤre, ſo moͤchte es ſich vielleicht
zeigen, daß jener hitzige Kopf ſich ſelbſt dadurch
geſchadet haͤtte, daß er Herrn Solmes Gele-
genheit giebt um meinet willen etwas zu leiden,
und ſich dadurch um mich verdient zu machen.
Mein Bruder geht mit mir um, als wenn ich
eine einfaͤltige Naͤrrin waͤre: allein Herr Love-
lace
ſoll finden ‒ ‒ doch ich will ihm ſelbſt mei-
ne Meinung ſchreiben, und denn werden Sie
alles von ihm auf eine mir anſtaͤndigere Weiſe
erfahren.


Erlauben Sie mir noch, daß ich Jhnen mel-
den muß, daß ich es mir ſelbſt in meinen kuͤhlern
Stunden anziehe, wenn Sie, die ich fuͤr mich
ſelbſt und fuͤr mein Hertz anſehe, gegen meinen
Bruder allerhand empfindliche Anmerckungen
machen, und nachtheilige Vergleichungen zwi-
ſchen ihm und Lovelace anſtellen, er mag auch
ſonſt ſeyn, wer er will. Er iſt zwar nicht Jhr
Bruder: allein vergeſſen Sie nicht, daß Sie an
ſeine Schweſter ſchreiben. Jn der That, ſie
tuncken Jhre Feder in lauter Galle, wenn Sie
aufgebracht ſind. Wenn ich einige Ausdruͤcke
leſe,
[89]der Clariſſa.
leſe, deren Sie ſich zwar aus Liebe zu mir von
meinen Anverwandten gebrauchen, ſo moͤchte ich
Sie bisweilen befragen, ob Sie ſelbſt eine ſo
groſſe Gabe der Geduld beſitzen, daß Sie andern
Ungeduld und Hitze vorwerffen koͤnnen? Sollten
wir uns nicht vor den Fehlern mit doppelter
Sorgfalt huͤten, die wir an andern tadeln? Jch
bin auf meinen Bruder und auf meine Schwe-
ſter ſo ungehalten, daß ich mir nicht wuͤrde die
Freyheit genommen haben, einer ſo werthen
Freundin zu ſchreiben, was ich ſchreibe, ohnge-
achtet ich weiß, daß Sie niemahls Liebe fuͤr die
Meinigen gehabt haben; wenn Sie nicht ſo leicht
und ſo luſtig von einer hoͤchſt-empfindlichen Sa-
che geſchrieben haͤtten, in welcher meines Bru-
ders Leben in Gefahr war, und ſeine Ehre in den
Augen des verderblichen Geſchlechts eine tieffere
Wunde bekam, als er ſelbſt; noch darzu, da ei-
ne neue Rache, die ſich noch ſchlimmer endigen
kan, gedrohet wird.


Jch nenne es mit Recht, ſeine Ehre in den
Augen des verderblichen Geſchlechts. Kan
man es nicht mit dieſem Nahmen mit Recht be-
legen; da es unter Mannsperſonen fuͤr eine ſo
auſſerordentliche Selbſt-Verleugnung gehalten
wird, wie ſeine Geſellſchafft geruͤhmt hatte, wenn
man ſich entſchlieſſet, niemanden heraus zu
fodern?
Und da die Schlaͤgereyen ein ſo un-
umgaͤngliches Stuͤck ihrer unmenſchlichen Ta-
pferkeit ſind, daß ein verſtaͤndiger Mann, bey
dem allein doch die wahre Tapferkeit meiſten-
F 5theils
[90]Die Geſchichte
theils anzutreffen ſeyn wird, ſelbſt nicht weiß,
wie er ſich bey manchen Gelegenheiten auffuͤhren
ſoll, um ſich vor Blut-Schulden und vor einer
allgemeinen Verachtung zu huͤten. Muͤſſen die
Leute, die einen verſtaͤndigen Mann, und der
Herr uͤber ſich ſelbſt, deswegen verachten, weil
er ein groͤſſeres Ubel vermeidet, nicht gantz und
gar unwiſſend ſeyn, worin die wahre Grosmuth
beſtehet? und daß es viel edler iſt, zu vergeben,
und viel maͤnnlicher eine Beleidigung zu verach-
ten, als ſie zu raͤchen? Wenn ich eine Manns-
perſon waͤre, ſo wollte ich einen, der mich nie-
dertraͤchtig beleidigte, ſo ſehr verachten, daß ich
nie ſein und mein Leben von gleichem Werth
halten und gegen einander aufſetzen koͤnnte. Wie
abgeſchmackt iſt dis? Es hat mir einer eine ge-
ringe Beleidigung angethan; darum ſetze ich es
in ſeine Gewalt, (wenigſtens iſt die Gefahr
auf beyden Seiten gleich) mir und allen denen,
die mich lieben, einen unerſetzlichen Schaden zu-
zufuͤgen. Wenn die Beleidigung nicht muth-
willig waͤre, und nicht von denen andern fuͤr ei-
ne Beleidigung ausgegeben wuͤrde, ſo duͤnckt
mich haͤtte ich nicht einmahl Urſache, empfind-
lich und rachgierig zu ſeyn.


O wie gern entferne ich mich von mir, und
von meinen Umſtaͤnden! Aber ſelbſt dieſe Aus-
ſchweiffung bringt mich doch wieder zu dem zu-
ruͤck, was die Veranlaſſung dazu war, und die-
ſe Veranlaſſung macht mich wieder eben ſo un-
ruhig, als ich bey dem Beſchluß meines vorigen
Brie-
[91]der Clariſſa.
Briefes geweſen bin. Denn meine Umſtaͤnde
haben ſich noch nicht gebeſſert. Da der naͤchſte
Tag anzubrechen beginnet, und vielleicht neue
Verſuchungen mit ſich bringen wird, ſo erneure
ich meine vorige bitte, daß Sie Gunſt und Rach-
gier auf die Seite legen, und mir melden wol-
len, was Sie in meinen Umſtaͤnden thun wuͤr-
den. Denn ich befuͤrchte, daß ich gantz verlohren
ſeyn werde, wenn ich in meines Onckles An-
tons Haus gebracht werde. Die Hauptfrage
iſt demnach, wie ich dieſe Reiſe vermeiden koͤn-
ne?


Jch will dieſen Brief ſo bald ich kan an den
bewuſten Ort legen. Wann ihr Rath nicht zu
ſpaͤte kommen ſoll, ſo verlieren ſie keine Zeit ihn
ſogleich zu geben


Jhrer
ewig verbundenen
Clariſſa Harlowe.



Der eilfte Brief
von
Fraͤulein Howe, an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Was ſoll ich Jhnen fuͤr einen Rath geben,
allzu edles Gemuͤthe! Jhre vortreflichen
Eigen-
[92]Die Geſchichte
Eigenſchaften ſind Jhr eintziges Verbrechen.
Sie koͤnnen Jhre Natur eben ſo wenig aͤndern,
als Jhre Verfolger. Alles Jhr Ungluͤck ent-
ſtehet aus der Ungleichheit zwiſchen Jhnen und
den Jhrigen. Dieſe handeln ihrem Hertzen und
ihrer Natur gemaͤß: wer will ihnen das verden-
cken? Und gegen wen handeln ſie ſo? Gegen
eine Fremde! denn Sie ſind keine Verwandtin
von jenen! Zwey Dinge ſind es, darauf ſie ſich
verlaſſen. Das eine iſt, daß ſie tief und uner-
gruͤndlich ſind: (ich wuͤrde mich eines andern
Ausdrucks bedient haben, wenn ich es thun duͤrf-
te) und das andere iſt Jhre eigene Gemuͤths-
Art, wie ſie Jhnen mit andern Worten ſchon ge-
ſtanden haben, und daß Sie ſich vor Herrn Lo-
velaces
uͤblem Character fuͤrchten, und von ihm
keine Huͤlffe annehmen werden, um nicht ſelbſt
durch ihn in ſchlimme Nachrede zu kommen.
Sie wiſſen ferner, daß Jhnen die Rachgier und
der Eigenſinn nicht natuͤrlich iſt, daß der Zorn,
zu dem Sie aufgebracht ſind, ſich bald legen
werde, wie alle Leidenſchaften zu thun pflegen,
die uns nicht natuͤrlich ſind, und daß Sie, wenn
Sie nur einmahl getrauet waͤren, ſich ſo gut als
moͤglich in Jhren Zuſtand ſchicken wuͤrden.


Allein Jhres Vaters aͤlteſter Sohn und
ſeine aͤlteſte Tochſter haben wahrhaftig noch eine
ſchlimmere Abſicht gegen Sie. Sie ſuchen Sie
auf ihr Lebenlang ungluͤcklich zu machen: wenn
Sie ein Eigenthum des Mannes werden ſollten,
der jenen ſchon jetzt viel naͤher verwandt iſt, als
er
[93]der Clariſſa.
er Jhnen jemahls verwandt werden kan; wenn
Sie ſich zwingen lieſſen; ſo wuͤrden jene ihm
alles beyzubringen ſuchen, was ſie von Jhrem
gerechten Widerwillen gegen ihn wiſſen.


Ueber die Beſtaͤndigkeit des Mannes in ſei-
nem Geſuch wird ſich niemand wundern, der
ihn kennet. Er hat nicht die geringſte Zaͤrtlich-
keit: und bey ſeiner Verheyrathung wird er nie
einige Abſicht auf das Gemuͤth machen. Wie
koͤnnte er dieſes thun, da er ſelbſt keine Seele
hat? Man ſucht nur ſeines gleichen: und was
ſo ſehr uͤber einen iſt, daß man ſich keinen Be-
griff davon machen kan, das kan man auch nicht
werth ſchaͤtzen. Wenn Sie die ſeinige werden
ſollten, und man koͤnnte es genugſam an Jhnen
mercken, daß Sie keine Liebe gegen ihn haͤtten,
ſo glaube ich nicht, daß er viel darnach fragen
wuͤrde. Denn deſto mehr wuͤrde er Freyheit
haben, ſich mit den niedertraͤchtigen Verrichtun-
gen zu beſchaͤftigen, die ſeiner herrſchenden Nei-
gung die liebſten und angenehmſten ſind. Die
Anmerckung iſt richtig, die Jhre Frau Norton
zu machen pflegte: daß, wer eine herrſchende
Neigung hat, gern zwantzig beſſere Vergnuͤgun-
gen, die ihm nicht die allerliebſten ſind, fahren
laſſen wird, um nur ſeine allerliebſte Luſt unge-
ſtoͤrt zu genieſſen.


Weil ich Jhnen doch keinen ſchlimmern Be-
grif von ihm beybringen kan, als Sie allbereits
haben, ſo will ich Jhnen Nachricht von einer
Unterredung geben, die erſt vor drey Tagen zwi-
ſchen
[94]Die Geſchichte
ſchen dem Ritter Harry Downeton und die-
ſem Solmes vorgefallen iſt. Der Ritter Har-
ry
hat den Jnhalt derſelben geſtern meiner Mut-
ter und mir mitgetheilet. Sie werden daraus
ſehen, daß die unverſchaͤmte Eliſabeth es nicht
aus dem Finger geſogen hat, daß er ſich in
Furcht zu ſetzen wiſſen wollte.


Der Ritter ſagte zu ihm: „er wunderte ſich,
„daß er noch hoffete ſeine Sache durchzutreiben,
„da doch bekannt waͤre, daß Sie gar nicht da-
„zu geneigt waͤren.


Er antwortete: Da fragte er nichts nach.
Scheue Maͤdchens wuͤrden die beſten Wei-
ber.
(Ein alberner Kerl!) Er wuͤrde nicht
daruͤber bekuͤmmert ſeyn, daß eine huͤbſche
Frau ein ſaures Geſicht machte, wenn ſie
ihn veranlaſſete, ſie zu plagen. Jhr Gut
laͤge ihm ſo bequem, daß er genugſam vor
allen Verdruß bezahlt wuͤrde, den ihm
Jhre Bloͤdigkeit verurſachte. Wenn er
Sie nur eine Zeit gehabt haͤtte, ſo waͤre
er gewiß verſichert, daß Sie gegen ihn
ſollten gefaͤllig ſeyn, wenn Sie ihn auch
im Hertzen nicht liebeten. Dis ſey ſchon
ein Gluͤck, das kaum der zehnte Ehemann,
den er kennete, genoͤſſe.
(Was fuͤr ein nieder-
traͤchtiger Unmenſch!) Jhre bekannte Tugend
wuͤrde ihm genugſame Sicherheit geben,
daß Sie ſich nicht an ihm raͤchen wuͤr-
den.


Der Ritter Harry, der ein ſehr beleſener
Herr
[95]der Clariſſa.
Herr iſt, erwiederte: „ſie wird ſie demnach ſo
„anſehen, wie die Frantzoͤſiſche Printzeßin Eli-
„ſabeth
den Koͤnig von Spanien, Philipp den
„andern, als er ſie an der Graͤntze empfing, und
„ſich aus einem Schwieger-Vater in einen Ge-
„mahl verwandelte. Furcht und Schrecken
„wird ſie vor ihnen haben, aber keine Gefaͤllig-
„keit oder Liebe; und ſie werden ihr eben ſo
„muͤrriſch begegnen, als jener Monarch ſeiner
„Braut.„


Furcht und Schrecken, antwortete der ab-
ſcheuliche Menſch, kleideten eine artige Braut
und eine artige Frau, artig.
Er ſetzte mit
einem recht ausgelaſſenen Gelaͤchter hinzu: er
wollte ſchon dafuͤr ſorgen, daß er ſich im-
mer von neuem Furcht zuwege braͤchte,
wenn er merckte, daß er keine Liebe erlan-
gen koͤnnte. Er vor ſein Theil ſey der
Meinung, daß, wenn man im Eheſtande
nicht Furcht und Liebe zugleich erhalten
koͤnnte, der Mann am beſten fuͤhre, vor
dem ſich die Frau fuͤrchten muͤßte.


Wenn meine Augen eben die Wirckung haͤt-
ten, die man dem Anblick des Baſilisken zu-
ſchreibt, ſo wollte ich mich bemuͤhen, daß ich Herrn
Solmes bald zu ſehen bekommen moͤchte.


Meine Mutter iſt indeſſen der Meinung, daß
es ein recht ausnehmend gutes Werck ſeyn wuͤr-
de, wenn Sie Jhre Abneigung von Herrn Sol-
mes
uͤberwinden koͤnnten. Sie fragt eben ſo,
wie Sie ſchon gefragt ſind: ob der Gehor-
ſam
[96]Die Geſchichte
ſam auch ein Lob verdiene, wenn man nichts da-
bey zu verleugnen haͤtte?


Was fuͤr ein Ungluͤck iſt es, daß Sie keine
beſſere Wahl haben, als zwiſchen Scylla und
Charybdis? Wenn Sie es nicht waͤren, ſo
wuͤſte ich wohl, was ich fuͤr einen Rath geben
wollte, nachdem man Jhnen ſo unmenſchlich be-
gegnet hat. Allein es waͤre eine Unehre fuͤr unſer
gantzes Geſchlecht, wenn ein ſo unvergleichliches
Gemuͤth ſich auch nur durch den Schein einer
Uebereilung und Heftigkeit beflecken ſollte.


So lange ich noch hoffete, daß Sie ſich helf-
fen koͤnnten, wenn Sie auf Jhr Recht draͤngen,
ſo lange freuete ich mich, daß ich wenigſtens ei-
nen Ausweg fuͤr Sie entdecken koͤnnte. Nach-
dem Sie aber hinlaͤnglich erwieſen haben, daß
Jhnen ein ſolcher Schritt nichts helfen wuͤrde,
ſo weiß ich nicht was ich ſagen ſoll. Jch muß die
Feder niederlegen, und weiter nachdencken.


Jch habe alles uͤberdacht, und abermahls uͤ-
berdacht: allein ich weiß nichts mehr zu ſagen.
Dis eintzige weiß ich, daß ich noch jung bin wie
Sie ſind, und daß ich viel weniger Gemuͤths-
Kraͤfte und viel ſtaͤrckere Leidenſchaften habe,
als Sie.


Jch habe ſchon ſonſt geſagt, daß Sie ſich zu
nichts mehreres erbieten koͤnnten, als wozu
Sie ſich wuͤrcklich erboten haben, nehmlich,
daß Sie Zeitlebens unverheyrathet bleiben woll-
ten. Es wuͤrde alsdenn das Gut vermuthlich
mit
[97]der Clariſſa.
mit der Zeit an Jhren Bruder oder an ſeine
Erben wieder zuruͤck fallen, wegen deſſen ſie ſo
bekuͤmmert ſind, daß es einem andern Geſchlechte
in die Haͤnde gerathen moͤchte. Er oder ſeine
Erben wuͤrden es auf dieſe Weiſe viel gewiſſer
bekommen, als durch Herrn Solmes Heyraths-
Contract, der doch nachher geaͤndert werden koͤnn-
te. Haben Sie dieſes den Leuten nicht in ih-
ren abgeſchmackten Kopf ſetzen koͤnnen? Es bleibt
wenigſtens gegen ein ſolches Anerbieten keine
Einwendung uͤbrig, als blos das gebieteriſche
Wort: Auctoritaͤt.


Eins muͤſſen Sie noch uͤberlegen. Wenn
Sie Jhre Eltern verlaſſen ſollten, ſo werden
Sie gewiß die Pflichten des Gehorſams und
der Liebe ſo weit treiben, daß Sie ſich nicht wer-
den mit Beſchuldigung Jhrer Eltern rechtferti-
gen wollen: folglich werden Sie das Urtheil der
Welt gegen ſich haben. Und wenn Lovelace
ſeine wilde Lebens-Art fortſetzte, und gegen Sie
undanckbar waͤre, ſo wuͤrde er hiedurch die Auf-
fuͤhrung der Jhrigen gegen Sie, die ſich ſonſt
gar nicht entſchuldigen laͤßt, und ihre Rachbe-
gierde gegen ihn vor aller Augen rechtfertigen.


GOtt regiere Jhre Wege! Jch fuͤr meinen
Theil wuͤrde lieber alles thun, und ich weiß nicht
wohin fliehen, ehe ich mich bewegen ließ, eine
mir verhaßte Perſon zu heyrathen. Herr Sol-
mes
aber koͤnnte ich nicht anders als haſſen.
So viel als Sie ausgeſtanden haben, haͤtte ich
nicht gelitten: es moͤchte der beleidigende Theil
Zweyter Theil. Gauch
[98]Die Geſchichte
auch Vater, Onckles, Bruder, Schweſter, oder
wie er wollte, geheiſſen haben.


Meine Mutter meint, die Jhrigen wuͤrden
endlich die gantze Sache aufgeben, wenn ſie al-
les verſucht haͤtten, und befaͤnden, daß ſie nichts
bey Jhnen ausrichten koͤnnten. Jch bin aber
ihrer Meinung nicht. Sie giebt nicht vor, daß
ſie dieſes von jemand gehoͤrt habe, ſondern ſie
bringt es nur als eine Vermuthung an: ſonſt
wollte ich mir die Hofnung machen, daß es viel-
leicht ein fuͤr Sie erfreuliches Geheimniß zwi-
ſchen meiner Mutter und Jhrem Onckle An-
ton
ſeyn moͤchte. Aber wehe Jhrem Onckle,
wenn er noch ein andres Geheimniß mit mei-
ner Mutter hat.


Wenn es irgends moͤglich iſt, ſo muͤſſen Sie
zu vermeiden ſuchen, daß Sie nicht nach ſeinem
Gute reiſen doͤrfen. Solmes ſoll zugegen ſeyn!
der Prediger! Jhr Bruder! Jhre Schweſter!
Es iſt eine Capelle auf dem Hofe! Sie werden
dort gantz gewiß Herrn Solmes angetrauet.
Jhr Muth, den Sie erſt von geſtern her gefaſ-
ſet haben, wird bey einer ſolchen Gelegenheit
nichts helfen. Sie werden wieder ſanftmuͤthig
werden, und keine andere Waffen haben, als
Thraͤnen, Bitten und Wehklagen, daruͤber Jhre
Angehoͤrigen lachen. So bald der Segen ge-
ſprochen iſt, muͤſſen Sie Jhre Thraͤnen vertrock-
nen laſſen, und eine ſo demuͤthige Auffuͤhrung
annehmen, als hinlaͤnglich iſt, Sie mit Jhrem
neuen Oberherrn auszuſoͤhnen, und das Anden-
cken
[99]der Clariſſa.
cken Jhrer vorigen Abneigung bey ihm in Ver-
geſſenheit zu bringen. Sie werden alsdenn die
ſchmeichelhafte Unwahrheit ſo wahrſcheinlich, als
Sie koͤnnen, vorbringen muͤſſen, daß alles Jhr
voriges Betragen blos eine bey Maͤdgens nicht
ungewoͤhnliche Verſtellung geweſen ſey. Sie
werden ihn zu uͤberzeugen ſuchen muͤſſen, daß ſein
unverſchaͤmter Spott wahr ſey, und aus ſcheu-
en Maͤdgens die beſten Frauen werden. Sie
werden Jhren Eheſtand mit einer gebeugten Er-
kentniß ſeiner Guͤtigkeit und Geneigtheit, Jhre
Fehler zu vergeben, anfangen muͤſſen. Jch
muͤßte mich ſehr irren, oder die Furcht, die er
Jhnen einpraͤgen will, wird Sie zwingen ſo zu
handeln.


Jch muß die gantze Sache unentſcheiden und
zweiffelhaft laſſen, bis daß ſie dadurch entſchie-
den wird, daß entweder die Jhrigen ihren Vor-
ſatz aͤndern, oder ſtch entſchlieſſen, Sie wuͤrck-
lich nach Jhres Onckels Gute zu bringen. Jch
wuͤnſche, daß keiner von beyden Freyern Sie
dereinſt die ſeinige moͤge nennen koͤnnen, und daß
Sie ſo lange unverheyrathet bleiben duͤrfen, bis
die wuͤrdigſte Parthey, die nur unter Manns-
Perſonen gefunden werden mag, durch Sie
gluͤcklich werde.


Das kan ich ohnmoͤglich wuͤnſchen, daß eine
Perſon, die ſo unvergleichliche Eigenſchaften an
ſich hat, dadurch ſie einen Liebhaber gluͤcklich ma-
chen kan, Zeitlebens unverheyrathet bleiben ſoll-
te. Sie wiſſen, daß ich nicht ſchmeicheln kan,
G 2und
[100]Die Geſchichte
und daß ich nie etwas andres ſchreibe, als was
mir mein Hertz eingiebt: und Sie muͤſſen von
Jhren Vorzuͤgen vor andern nothwendig ſo viel
einſehen, daß Sie an der Aufrichtigkeit dieſer
meiner Erklaͤrung nicht zweiffeln koͤnnen. Denn
wie iſt es moͤglich, daß eine Perſon, die an an-
dern das Lobenswuͤrdige ſo wohl zu erkennen und
zu ſchaͤtzen weiß, eben daſſelbe Lobenswuͤrdige an
ſich nicht ſolte ſehen koͤnnen? Sie koͤnnte es ge-
wiß an andern nicht ſo ſehr bewundern, wenn
ſie es nicht ſelbſt beſaͤſſe. Warum ſoll man Jh-
nen nicht das Lob beylegen, damit Sie andere
erheben wuͤrden, die nur halb ſo viel Vollkom-
menheiten, als Sie, an ſich haben moͤchten?
Sonderlich, da Sie von Hochmuth und eitelm
Ehrgeitz gantz entfernt ſind, und weder ſich Jh-
rer Vorzuͤge wegen zu hoch achten, noch andere
verachten, die Jhnen ungleich ſind? Was ſchrei-
be ich, zu hoch achten? Wie iſt dieſes moͤg-
lich?


Vergeben Sie mir, allerliebſte Freundin, daß
ich mein Hertz habe reden laſſen. Meine Be-
wunderung eines ſo vortre flichen Frauenzimmers
wird durch jeden Brief, den ich von Jhren Haͤn-
den bekomme, vermehrt, und kan nicht immer
ſtilleſchweigend bleiben: ob ich mich gleich aus
Furcht, Sie zu beleidigen, huͤte, daß meine Fe-
der und meine Lippen nicht gegen Sie ſelbſt da-
von uͤberflieſſen moͤgen.


Jch
[[101]]
[...]
[[102]]
[...]
[103]
der Clariſſa.

ein edles und offenes Hertz, da ihm Menſchen-
Liebe, gute Sitten, und alles das, was einen
Mann macht, gaͤntzlich mangelt. Wie viel Ge-
duld, wie viel Großmuth muͤßte ein Frauenzim-
mer haben, wenn ſie ihren Mann nicht verach-
ten ſollte, der noch unwiſſender, noch unbeleſener,
und noch niedertraͤchtiger waͤre, als ſie ſich ſelbſt
ſchaͤtzen kan? Der elende Tropf ſoll Herr im
Hauſe heiſſen, und hat das Recht, das Haupt
der gantzen Familie zu ſeyn! Wenn die Frau
ſeine Rechte kraͤncket, ſo bringet es der herſch-
ſuͤchtigen Frau eben ſo wenig Ehre als dem ge-
horſamen Manne! Wie kann ein ſolcher Mann
einer vernuͤnftigen Frauen ertraͤglich ſeyn, wenn
ſie auch aus Abſicht auf ihren Vortheil ihn ſelbſt
gewaͤhlet haͤtte? Allein, wenn man gar gezwun-
gen, und noch dazu aus ſolchen Urſachen, deren
ſich der zwingende und der leidende Theil ſchaͤ-
men muͤſſen, gezwungen wird einenſolchen Mann
zu nehmen; ſo iſt es gantz ohnmoͤglich, einen ſo
gerechten Widerwillen zu uͤberwinden. Wie viel
leichter iſt es mir, die uͤberhingehenden Widrig-
keiten zu ertragen, die ich jetzt auszuſtehen habe,
als mein gantzes Leben einem ſolchen Manne auf-
zuopfern! Wenn ich mich bequemen wollte, ſo
muͤſte ich die Geſellſchaft der Meinigen verlaſſen,
und mich mit ſeinem Umgange befriedigen. Ein
eintziger betruͤbter Monath ſteht mir etwan be-
vor, wenn ich auf der abſchlaͤgigen Antwort be-
harre: allein wenn ich Ja ſage, ſo ſehe ich ein
gantzes Leben voll Wehe und Ungluͤck vor mir;
G 4und
[104]Die Geſchichte
und ich muͤßte fuͤrchten, daß ich mit jedem an-
brechenden Tage von neuen in meinem Hertzen
einen Bund brechen wuͤrde, den ich vor dem Al-
tar gemacht haͤtte.


Es ſcheint ſo gar, als wenn der Mann auf
Rache wegen meiner Abneigung dencket, ob ich
es gleich nicht in meiner Gewalt habe, geneig-
ter gegen ihn zu ſeyn. Geſtern verſicherte mir
meine abgeſchmackte Waͤchterin, daß alle meine
Widerſpenſtigkeit nicht ſo viel bedeuten
wuͤrde/
als der Schnupftoback, den ſie zwiſchen
ihrem artigen Fingerchen und dem Daumen haͤtte;
ich wuͤrde doch Herrn Solmes nehmen
muͤſſen. Es wuͤrde daher das beſte ſeyn,
wenn ich den Spaß nicht zu weit triebe:
Denn Herr Solmes ſey ein verſtaͤndiger
Mann/ und haͤtte ihr ſelbſt geſagt: „ich
„handelte ſehr unverſtaͤndig/ da ich doch
„endlich ſein Eigenthum werden muͤſte.
„Denn wenn er nicht mehr Erbarmen
„haͤtte
(dis war ihr Ausdruck. Jch will nicht
gewiß ſagen, ob er ſich eben deſſelben Wortes
bedient hat) als ich/ ſo wuͤrde ich Urſache
„haben/ bis aͤnmeinen Tod zu bereuen, daß
„ich ihm ſo uͤbel begegnete.„


Genug von dieſem Menſchen! Aus demjeni-
gen, was Sie von dem Ritter Harry Dow-
neton
gehoͤrt haben, iſt klar genug, daß er allen
Hochmuth und Grobheit beſitzt, die man bey
Manns-Perſonen vermuthen kan, ohne eine ein-
tzige
[105]der Clariſſa.
tzige Eigenſchaft an ſich zu haben, welche dieſe
maͤnnlichen Laſter bey ihm ertraͤglich machen
koͤnnte.


Jch habe von Herrn Lovelace ſeit der Zeit,
daß er Sie beſucht hat, zwey Briefe bekommen:
es ſind alſo nunmehr drey ſeiner Briefe unbe-
antwortet. Jch konnte ſchon vorher dencken,
daß er unruhig ſeyn wuͤrde. Jn ſeinem letzten
Briefe beklagt er ſich heftig uͤber mein Still-
ſchweigen: und zwar nicht mehr mit der ſanften
Stimme, oder vielmehr in der ſanften Schreib-
Art eines demuͤthigen Liebhabers, ſondern ſo als
wenn er mein Beſchirmer waͤre, deſſen Wohltha-
ten ich nicht genugſam erkannt haͤtte. Der
hochmuͤthige Menſch iſt daruͤber empfindlich, daß
er in Hofnung, einen Brief zu finden, wie ein
Dieb und Nachtſchleiger ſich herſtehlen muͤßte,
und denn doch wohl wieder mehr als eine deut-
ſche Meile nach einem unbequemen Wirths-
Hauſe ohnverrichteter Sach zuruͤck wanderte.
Jch will Jhnen ſeine Brieffe, und den Entwurf
meiner Antwort naͤchſtens uͤberſenden: unter-
deſſen melde ich Jhnen den kurtzen Jnhalt deſſen,
was ich geſtern an ihn geſchrieben habe.


Jch verweiſe ihm zufoͤrderſt ſehr ernſtlich,
daß er ſich ſo viel heraus genommen, mir durch
Sie zu drohen, daß er mit Herrn Solmes oder
mit meinem Bruder meinetwegen ſprechen woll-
te. Jch ſchreibe: „ich ſey ſo ungluͤcklich, daß
„man glaubte, ich koͤnnte alles ertragen, was man
„nur Luſt haͤtte mir aufzulegen. Es waͤre nicht
G 5„genug,
[106]Die Geſchichte
„genug, das ich von den Meinigen ſo vieles dul-
„den muͤßte, dadurch ſie es mir ohnmoͤglich ma-
„chen wollten, ihn zu nehmen: es kaͤme noch da-
„zu, daß er mir auch etwas zu tragen auflegte,
„und zwar blos aus Argwohn, daß ich denen ei-
„ne Gefaͤlligkeit erzeigen wollte, denen ich ſchul-
„dig waͤre und wuͤnſchete in allen billigen Fo-
„derungen gefaͤllig zu ſeyn.


„Wenn ein hitziger Kopf ſich unterſtuͤnde mir
„zu drohen, daß er zu wunderlichen und uner-
„laubten Entſchlieſſungen gezwungen werden
„duͤrfte, (die doch ihn mehr als mich in das Un-
„gluͤck ſtuͤrtzen wuͤrden) ſo moͤchte von mir in
„Abſicht auf meine Gemuͤths-Art und mein Ge-
„ſchlecht nicht ſehr zu verwundern ſeyn, wenn
„ich auch zu wunderlichen Mitteln griffe, ihn
„von jenen Entſchlieſſungen abzuhalten.„


Jch gebe ihm ſogar zu verſtehen: „es wuͤr-
„de mich zwar ſehr betruͤben, wenn um meinet-
„willen ein Ungluͤck vorgehen ſollte. Allein wenn
„ich manche andere an meine Stelle ſetzte, ſo
„wuͤrden ſie uͤber ſeinen Drohungen, ſich an
„Herrn Solmes zu raͤchen, nur mittelmaͤßig
„erſchrecken. Denn ſie wuͤrden dencken, wenn
„er auch ſein Wort wahr machte, ſo waͤren zwey
„Leute weniger in England, die ſie wuͤnſchen moͤch-
„ten nie geſehen zu haben.„


Das iſt ehrlich und aufrichtig geſchrieben:
und wenn noch etwas zweydeutiges darinn iſt,
ſo wird er ſich hoffentlich an meiner Statt die
Muͤhe geben, es in noch deutlichers Engliſche zu
uͤberſetzen.

Jch
[107]der Clariſſa.

Jch decke ihm ferner ſeinen Hochmuth etwas
auf, da er es ſich fuͤr ſchimppflich haͤlt, auf meine
Brieffe zu warten, und von Nachtſchleigern
redet. Jch melde ihm: „er habe nicht Urſache,
„hieruͤber unzufrieden und empfindlich zu ſeyn.
„Seine uͤble Lebens-Art, und ſonſt nichts, ſey
„Schuld daran: denn laſterhafte Sitten uͤber-
„woͤgen alle Vorzuͤge des Standes und der Ge-
„burt, und machten den Adel dem allerveraͤcht-
„lichſten Paͤbel und der Canaille gleich. Sie
„zwuͤngen einen, wenn ich es in ſeiner Sprache
„ausdruͤcken ſollte, ſich wie ein Dieb und Nacht-
„ſchleicher an den Waͤnden her zu ſtehlen. Er
„moͤchte uͤbrigens die Guͤtigkeit fuͤr mich haben,
„ferner keinen Brief von mir zu erwarten, den
„er auf eine ſo unangenehme und veraͤchtliche
„Weiſe aufſuchen muͤßte.


„Seine vielen Verſicherungen und ſeine Eyd-
„Schwuͤre, damit er bey aller Gelegenheit ſo
„fertig waͤre, goͤlten bey mir deſto weniger, weil
„ich daraus ſchlieſſen muͤßte, er ſey ſelbſt von ſich
„uͤberzeugt, daß man einem Herrn von ſeiner
„Art ohne ſehr viele Verſicherungen nicht trauen
„koͤnnte. Jch pflegte eines Mannes Abſichten
„nicht nach ſeinen Worten, ſondern nach ſeinen
„Handlungen zu beurtheilen. Jch wuͤrde immer
„mehr uͤberzeuget, daß ich allen Briefwechſel mit
„ihm abbrechen muͤßte, da ich ſehe, daß meine
„Freunde ohnmoͤglich dahin zu bringen waͤren,
„ihm ihr Ja-Wort zu geben, und daß er es auch
„niemahls verdienen wuͤrde.


Jch
[108]Die Geſchichte

Jch wiederhohle alſo meine Bitte: „daß er
„ferner gar nicht mehr an mich gedencken moͤch-
„te: da ja ſein Herkommen, ſeine Anverwandten,
„und ſeine noch zu erwartenden Erbſchaften, ſo
„anſehnlich waͤren, daß er, wenn ihm nur ſeine
„Lebens-Art nicht im Wege ſtuͤnde, ſich zu der al-
„ler vortheilhafteſten Parthey Hofnung machen,
„und durch ein Frauenzimmer gluͤcklich werden
„koͤnnte, deren Gemuͤth ſich zu dem ſeinigen beſ-
„ſer ſchickte. Jch muͤßte dieſes deſto ernſtlicher
„von ihm verlangen, nachdem er durch ſein un-
„hoͤfliches Betragen gegen die Meinigen und
„durch ſeine nachtheiligen Reden von ihnen, den
„Verdacht erweckt habe, als hielte er nicht aus
„Zuneigung zu mir, ſondern aus Bitterkeit gegen
„jene ſo unablaͤßig um mich an.„


Dieſes iſt der Jnhalt meines Briefes an ihn.
Jch traue dem Manne ſo viel Verſtand zu, daß
er begreiffen wird, daß nicht meine Neigung
gegen ihn, ſondern meine bedraͤngten Um-
ſtaͤnde die Fortſetzung unſers Briefwechſels
veranlaſſet haben. Jch wuͤnſche auch, daß er
dieſes begreiffen moͤge. Dem Moloch opfer-
te man nichts mehr als den Leib der Kinder auf:
allein der Goͤtze wuͤrde noch abſcheulicher ſeyn,
dem Vernunft, Gehorſam und alles was wir
ſind, aufgeopfert werden muß.


Jhre Frau Mutter meynt, daß die Meini-
gen endlich nachlaſſen werden. GOtt gebe, daß
es geſchehe. Allein mein Bruder und meine
Schwe-
[109]der Clariſſa.
Schweſter vermoͤgen bey allen ſo viel, und ſind ſo
unbeweglich, ja ſie machen ſich eine ſolche Ehre
daraus mich unter zu kriegen, und die Sache
durchzutreiben: daß ich beynahe die Hofnung an-
derer und gelinderer Entſchlieſſungen der Meini-
gen aufgeben muß. Allein das geſtehe ich ſrey
heraus; wenn ich dieſe Hofnung gantz fahren
laſſen muß, ſo will ich lieber bey einem Frem-
den, von dem ich nur keine Schande habe, Schutz
ſuchen, wo es anders ſo geſchehen kan, daß ich
meiner jetzigen Verfolgung entgehe, und den-
noch Herrn Lovelace keinen Vortheil uͤber mich
gebe. Jch verſtehe dieſes aber nur von dem
Falle, wenn offenbahr keine andere Huͤlfe fuͤr
mich uͤbrig iſt: denn ſonſt wuͤrde ich es fuͤr eine
Handlung anſehen, die ſich gar nicht entſchuldi-
gen lieſſe, daß ich aus meines Vaters Haus oh-
ne ſein Vorwiſſen fluͤchtete, wenn auch gleich
gegen die Perſon, bey der ich Schutz ſuchte, nichts
einzuwenden waͤre. Daß mir mein Grosvater
ein gantz freyes Eigenthum vermacht hat, aͤndert
nichts in meinen Einſichten. Jch habe oft mit
Verachtung und Widerwillen uͤberlegt, was das
fuͤr ein niedertraͤchtiges und eigennuͤtziges Kind
ſeyn muͤßte, daß ſich nur durch die Hofnung deſ-
ſen, was es von ſeinen Eltern zu erwarten haben
moͤchte, regieren laͤßt.


Jedoch die genaue Freundſchaft zwiſchen uns
beyden zwinget mich, Jhnen frey zu geſtehen, daß
ich nicht weiß, was ich gethan haben moͤchte,
wenn Sie mir einen unbedungenen und entſchei-
denden
[110]Die Geſchichte
denden Rath gegeben haͤtten. Wenn Sie nur
geſehen haͤtten, mit was fuͤr Gemuͤths-Bewegun-
gen ich Jhren Brief geleſen habe, wenn Sie mir
bald die Gefahr vorſtelleten, die in meines On-
ckles
Hauſe auf mich wartete: an einem an-
dern Orte bekennen, Sie haͤtten ſo viel nicht
tragen koͤnnen, als ich getragen habe, und Sie
wollten lieber, Sie wuͤßten ſelbſt nicht was, thun,
als einen Jhnen verhaßten Mann nehmen: an
einem andern hingegen mich erinnern, daß meine
Ehre in den Augen und nach dem Urtheil der
Welt leiden werde, und daß ich einen uͤbereilten
Schritt nicht anders als mit Verunglimpfung
der Meinigen wuͤrde retten koͤnnen: wenn Sie
mir zum voraus vormahlen, was ich fuͤr eine
niedertraͤchtige Perſon wuͤrde ſpielen muͤſſen, wo
ich Herrn Solmes heyrathete, wie ich mich wuͤr-
de bemuͤhen muͤſſen, ihm zu ſchmeicheln und zu
liebkoſen, und einem Manne zu heucheln, der mir
bis in den Tod zuwider iſt, und der noch dazu
meine Heucheley mercken muͤßte, wenn er auf
meine jetzige Auffuͤhrung zuruͤck daͤchte, oder auch
nur die Ueberbleibſel ſeiner Vernunft, (wo er
anders einige hat) anwendete zu uͤberlegen, wie
wenig Zaͤrtlichkeit er verdienet: wenn Sie mir
predigen, ich wuͤrde deſto verliebter gegen ihn
thun muͤſſen, je unertraͤglicher er mir waͤre, und
daß dieſe vorgegebene Liebe von andern aus einer
ſehr verworffenen und unreinen Quelle muͤßte
hergeleitet werden, weil es augenſcheinlich waͤre,
daß ich weder ſeine Geſtalt noch ſein Gemuͤth
lieben
[[111]] [...][[112]] [...][113]
der Clariſſa.
wol nunmehr alle meine Weisheit zur Thorheit
machen.


Jhre guͤtige und partheyiſche Feder ſchmei-
chelt mir endlich, daß man von mir mehr er-
warte als von andern. Dis iſt eine Warnung
fuͤr mich. Die Urſachen meiner Endſchlieſſun-
gen wird die Welt nicht erfahren. Ueber mei-
nes Bruders Haͤrte koͤnnte ich noch klagen, denn
hievon ſind die Exempel allzugewoͤhnlich, ſonder-
lich wo es den Eigennutz betrift. Wenn man
aber den ungerechten Bruder nicht anklagen kan,
ohne zugleich den harten Vater zu beſchuldigen,
ſo wird kein wohlgerathenis Kind die Schuld
von ſich auf ihn waͤltzen wollen. Jn dem mich
betreffenden Falle muß ſich ohnehin jedermann
daran ſtoſſen, daß Herr Lovelace einen ſo un-
ausloͤſchlichen Haß gegen meine gantze Familie
bezeiget, ob er gleich eigentlich nichts anders thut,
als Haß mit Haß vergelten. Man ſieht daraus
wenigſtens, daß er ein unverſoͤhnliches und un-
gezogenes Gemuͤthe hat. Und wer kan ſich zu
einer ſolchen Heyrath entſchlieſſen, die den Grund
zu einer ewigen Feindſchaft mit allen Anver-
wandten legen wuͤrde?


Jch habe mich gantz muͤde geſchrieben: und
ich will die Feder niederlegen.


Herr Solmes iſt faſt beſtaͤndig hier, des-
gleichen meine beyden Onckles und Frau Her-
vey.
Jch fuͤrchte, daß man etwas neues ge-
gen mich ſchmiedet. Wie ſehr kan einen Zweif-
Zweyter Theil. Hfel
[114]Die Geſchichte
fel und Ungewißheit beunruhigen, ſonderlich wenn
man das entbloͤßte Schwerd uͤber ſeinem Haup-
te haͤngen ſiehet!


Jch bekomme keine andere Nachricht, als die-
jenige, die meine zuverſichtliche und dreiſte Eli-
ſabeth
ſich entfallen laͤßt, wenn ſie nichts zu
thun hat. Bald ſagt ſie: wie iſt es, Fraͤulein,
wollen ſie ihre Sachen nicht in Ordnung brin-
gen? Glauben ſie gewiß, es wird ihnen ein Tag
zur Abreiſe beſtimmet werden, ehe ſie es dencken.
Ein anderes mahl giebt ſie mir in gebrochenen
Worten zu verſtehen, was dieſer oder jener ge-
ſagt hat; und es laͤßt bisweilen, als wenn ſie
mich nur damit plagen wollte. Sie erzaͤhlt mir,
daß ſich andere erkundigen, wie ich meine Zeit an-
wende: und die unverſchaͤmte Frage meines
Bruders wird mir oft vorgebetet: ob ich et-
wan meine Leidens-Geſchichte ſchreiben
wollte?


Jch bin ihrer Verwegenheit nun ſchon ge-
wohnt. Und da dieſes mein eintziges Mittel
iſt, anderer Anſchlaͤge gegen mich zu erfahren,
ehe ſie ausgefuͤhrt werden, und ſie ſich darauf
beruft, daß ſie nichts ohne Befehl thue, wenn ſie
am allerunverſchaͤmteſten iſt: ſo habe ich Geduld
mit ihr. Mein Hertz aber iſt dabey nicht im-
mer unempfindlich.


Jch ſchlieffe dieſen Brief, um ihn an Ort und
Stelle zu bringen. Leben Sie wohl!


Cl. Horlowe.


Auf
[115]der Clariſſa.

Auf dem Umſchlage war noch mit Bley-
ſtift geſchrieben:


Da ich dieſen Brief herunter bringe, finde ich
Jhren Brief vom 25 ſten. Jch habe ihn ſchon
geleſen: und der Jnhalt dieſes meines Briefes
wird groſſentheils ſo ſeyn, wie es Jhre Frau
Mutter wuͤnſcht und hoffet. Bezeugen Sie
Jhr meine ergebenſte Danckbarkeit fuͤr ihre gu-
te Hofnung und guͤtigen Errinnerungen. Sie
werden ſchon wiſſen, wie viel Sie Jhr von dem
Jnhalt meines Briefes vorleſen duͤrfen.



Der dreyzehende Brief.
von
Fraͤulein Howe, an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe



Auf Befehl meiner Mutter ſchreibe ich ſchon
wieder, ohngeachtet ich heute ſchon einen
Brief an Sie uͤberſandt habe. Jch meldete Jh-
nen darinn, daß es meine Mutter fuͤr ein auſ-
ſerordentliches gutes Werck halten wuͤrde, wenn
Sie ihren Freunden auch wider Jhre eigene
Neigung gefaͤllig ſeyn koͤnnten. Unſere Unter-
redung mit dem Ritter Harry Downeton
war die Gelegenheit, daß ich mit meiner Mut-
ter Jhrentwegen weitlaͤuftiger redete: und mei-
H 2ne
[116]Die Geſchichte
ne Mutter haͤlt das, was ſie zu mir geſagt hat,
fuͤr ſo wichtig, daß ſie mir befiehlt, es Jhnen
ſchriftlich zu melden. Jch folge deſto williger,
weil ich ſelbſt in meinem vorigen Schreiben nicht
wußte, wozu ich Jhnen rathen ſollte. Sie
werden dieſesmahl wenigſtens den Rath meiner
Mutter hoͤren; und vielleicht wuͤrden ihre Ge-
dancken zugleich die Gedancken der Welt ſeyn,
wenn dieſe von Jhren Umſtaͤnden nicht alles,
was mir bekannt iſt, ſondern ſo viel und nicht
mehr wiſſen ſollte als meine Mutter weiß.


Meine Mutter bringt hiebey ſolche Gruͤnde
an, die einem Frauenzimmer, das mit einem
ſelbſtgewaͤhlten Freyer gluͤcklich und vergnuͤgt zu
leben hoft, ſchlechterdings allen Muth und Hof-
nung benehmen.


Jch wuͤrde ihre Reden mehr zu Hertzen neh-
men, wenn ich nicht wuͤßte, daß ſie eine Neben-
Abſicht dabey hat, ihrer Tochter eine Ermah-
nung zu geben, die zwar jetzund auf niemand an-
ders eine Abſicht hat, aber doch den Freyer, den
ihre Mutter ſo ſehr anpreiſet, nicht zwey Pfen-
nige werth ſchaͤtzet.


Sie ſagt: woruͤber wird denn ſo viel Lerms
gemacht? Jſt es eine ſo groſſe Sache, daß ein
junges Frauenzimmer ihren Neigungen zuwider
handeln ſolte, um allen ihren Verwandten einen
Gefallen zu thun?


Jch dachte dabey: es iſt gut genug. Jetzt
geht die Frage an, nachdem ſie viertzig Jahr
ſind.
[117]der Clariſſa.
ſind. Allein wie wuͤrde die Antwort in einem
Alter von achtzehn Jahren ausgefallen ſeyn?


Sie ſagt: man muͤſſe entweder glauben, daß
die Neigungen eines ſolchen Frauenzimmers, die
es nicht verleugnen koͤnnte, ungemein heftig
waͤren? (und das wuͤrde ſich keine wohlgezoge-
ne und artige Perſon gern nachſagen laſſen) oder,
daß es ſehr eigenſinnig waͤre, und ſich nicht ver-
leugnen wollte: oder es muͤßte ihm nicht viel
daran gelegen ſeyn, ob es ſeinen Eltern eine Ge-
faͤlligkeit erzeigte.


Sie wiſſen, daß meine Mutter bisweilen ſehr
ſtarck oder wenigſtens ſehr hitzig ſchlieſſet. Wir
ſind ſehr oft von verſchiedener Meinung; und
ein jeder hat ſeinen eigenen Beweiß ſo lieb, daß
wir ſelten ſo gluͤcklich ſind, einander zu uͤber-
zeugen. Es pflegt wohl, wie ich glaube, bey al-
lem Streit ſo zu gehen, in den ſich unſere Hef-
tigkeit einmiſchet. Sie ſagt alsdenn: ich waͤ-
re gar zu witzig.
Es wird wol eben ſo viel
bedeuten, als vorwitzig in unſerer Land-Spra-
che bedeutet. Jch antworte: ſie ſey gar zu
verſtaͤndig.
Das iſt in einer deutlichen Ue-
berſetzung ſo viel, als: ſie ſey nicht mehr ſo
jung/ als ſie geweſen iſt:
und nachdem ſie
Mutter geworden, habe ſie vergeſſen, wie ihr
zu Muthe geweſen, da ſie noch Tochter war.
Wir vertragen uns gleichſam daruͤber, eine an-
dere Quelle zu nennen, und eine andere im Her-
tzen zu meinen: aber ohne uns daruͤber zu ver-
tragen, laſſen wir doch die wahre Quelle biswei-
H 3len
[118]Die Geſchichte
len zu reichlich flieſſen. Wir hoͤren auf und
fangen von neuen mit einem halbunwilligen Ge-
ſichte an, dabey wir uns zum laͤcheln zwingen,
damit wir deſto eher wieder eins werden moͤgen.
Des Abends gehen wir ein wenig muͤrriſch zu
Bette: oder wenn wir ja reden, ſo unterbricht
ſie ihr Stillſchweigen nur mit einem Seufzer:
ach! Ennichen, du biſt allzulebhaft, allzumunter!
Jch wollte daß du nicht ſo ſehr deines Vaters
Tochter waͤreſt.


Jch dencke davor in meinem Hertzen, daß mei-
ne Mutter genug von ſich ſelbſt an ihrer Toch-
ter finden koͤnnte. Wenn ſie aber zu ernſthaft
und ſtrenge fuͤr mich iſt, ſo muß es ihr armer
Hickman des naͤchſten Tages entgelten.


Sie wiſſen, daß ich eine unartige Tochter bin,
und Sie wuͤrden dis von mir dencken, wenn ich
es gleich nicht ſagte: ich will daher weiter nichts
von meiner Unart melden. Jch erwaͤhne auch
jetzt meine Unart nur, um Jhnen zum Voraus
ſagen zu koͤnnen, daß ich in meiner Erzaͤhlung
alles auslaſſen will, worinn ich allzuklug und
meine Mutter allzuhitzig geweſen zu ſeyn ſcheint,
und nur das aus unſerer Unterredung berichten,
was gruͤndlich und uͤberzeugend iſt.


„Ueberdencke einmahl, (ſagte ſie zu mir) alle
„die Familien, von denen man ſagt, daß ſich Mann
„und Frau aus Liebe genommen haben. Es heißt,
aus Liebe, und mit dieſem Nahmen benennet
„man eine Leidenſchaft, die aus Thorheit und
„Unbedachtſamkeit entſtanden, und durch Wider-
„ſpen-
[119]der Clariſſa.
„ſpenſtigkeit und Ungehorſam genaͤhrt und groß
„geworden iſt. (Hier fiel ein kleiner Neben-
Streit vor, den ich auslaſſe, weil er Jhre Sa-
che nicht betrift.) Ueberlege einmahl, ob die-
„ſe Perſonen gluͤcklicher ſind, als andere, die aus
„Abſichten oder aus Gehorſam geheyrathet ha-
„ben; oder ob ſie nur eben ſo gluͤcklich ſind?
„denn wenn man etwas nach vernuͤnftigen Ab-
„ſichten oder aus Gehorſam thut, ſo empfindet
„man dabey eine Zufriedenheit, die nicht ab, ſon-
„dern zunimmt, wenn man auch die Sache nach-
„her uͤberleget. Vernuͤnftige Abſichten und Ge-
„horſam werden nicht leicht unbelohnt bleiben.
„Die Liebe hingegen iſt ein Nichts! (Jch dach-
te bey mir ſelbſt, das iſt wenigſtens in ei-
ner Abſicht zuviel geredet. Die Liebe
iſt ſo geſchaͤftig wie ein Affe/ und ſo muth-
willig als ein Junge in der Schule
) Sie
„iſt eine Hitze, die bald verfliegt; und kommt
„mir vor wie ein allzuſtarck geſpanneter Bogen,
„der bald wieder ſo wird wie er von Natur
„war.„


„Sie gruͤndet ſich gemeiniglich auf lauter ſol-
„che Vorzuͤge, die nirgends als in dem Gehirn
„der Verliebten zu finden ſind, und die ihr Be-
„ſitzer ſelbſt nicht kannte, bis ſie ihm von der
„andern Parthey zuerkannt wurden. Zwey oder
„drey Monathe ſind genug, beyden Theilen die
„Augen zu oͤfnen: und denn hat einer in des
„andern Augen nicht mehr Vorzuͤge, als er vor-
H 4„hin
[120]Die Geſchichte
„hin in den Augen der kaltſinnigen Welt be-
„ſaß.„


„Die eingebildeten Vorzuͤge der verliebten
„Perſonen verſchwinden mit der Zeit: die Natur
„und Gewohnheit laſſen ſich nicht immer zuruͤck
„halten, ſondern kommen endlich an den Tag.
„Wenn die Vorſtellung aufhoͤrt, ſo ſieht man
„alle Flecken aneinander: und es iſt noch ſehr
„gut, wenn einer in den Augen des andern nicht
„um eben ſo viel ſchlechter und veraͤchtlicher iſt,
„als er in den Augen der Welt iſt, um ſo viel
„vorhin ſeine Vorzuͤge dem Verliebten groͤſſer
„als andern Leuten geſchienen hatten. Das
„verliebte Paar, das ſonſt kein Vergnuͤgen fin-
„den konnte, als in dem Umgange mit dem Ge-
„liebten, das niemahls aus einander gieng, ohne
„daß es ſich nicht noch etwas ſollte zu ſagen ha-
„ben, das niemahls ausredete, und immer etwas
„zu ſagen vergaß: findet nun die angenehme
„Veraͤnderung in ſeinem Umgange bey weiten
„nicht, auf die es ſich Hofnung machte, da es
„dieſes Gluͤck noch ſelten genoß, und ſich nur
„wuͤnſchte, es unausgeſetzt zu genieſſen. Es ſucht
„nun lauter andere Ergoͤtzungen, unter denen oͤf-
„ters die die angenehmſten ſind, die der andere
„Theil nicht mit genieſſet.„ Haͤtten Sie wohl
geglaubt, daß meine Mutter ihren Unterricht
mit einer ſo neumodiſchen Anmerckung beſchlieſ-
ſen wuͤrde?


Jch ſagte ihr: wenn Sie einen uͤbereilten
Schritt thaͤten, ſo waͤren die Jhrigen durch ihre
Hef-
[121]der Clariſſa.
Heftigkeit und Unbeſonnenheit Schuld daran.
Jch fuͤrchtete freylich, daß ihre Anmerckungen
von ungluͤcklichen Ehen, die mit ſo vieler Hof-
nung eines beſtaͤndigen Vergnuͤgens angefangen
waͤren, nur allzuvielen Grund haͤtten. Allein
man koͤnnte doch nicht leugnen, wenn gleich Kin-
der nicht alles reiflich uͤberlegten, daß auch bis-
weilen die Eltern zu hart waͤren, und fuͤr ihre
Jugend, fuͤr ihre Neigungen und Unerfahren-
heit nicht die tragende Gedult bewieſen, die doch
ihre Eltern gegen ſie ſelbſt in ihren Jugend-
Jahren haͤtten beweiſen muͤſſen.


Jch ſetzte noch hinzu: ich erinnerte mich eines
Briefes, den Sie vor wenigen Monathen eben
um die Zeit, als Herr Wyerley Sie plagete,
an der Fraͤulein Drayton Mutter geſchrieben
haͤtten, als dieſe in Gefahr ſtand, durch uͤber-
maͤßige Haͤrte und Einſchraͤnckung ihre Tochter
zu der Uebereilung zu noͤthigen, davon ſie ſie ab-
zuhalten wuͤnſchte. Sie haͤtten, (ſagte ich) Jh-
ren Nahmen nicht unter den Brief geſetzt, ſon-
dern ſich fuͤr ein Frauenzimmer ausgegeben, das
mehr Jahre haͤtte, und Bedencken truͤge ſeinen
Nahmen zu nennen. Jch wuͤßte zum voraus
der Brief wuͤrde ihr gefallen.


Jch hohlte hierauf die Abſchrift des Briefes,
die Sie mir damahls geneigt mitgetheilt haben,
und wollte nur das leſen, was zu meinem Zweck
H 5diente:
[122]Die Geſchichte
diente: allein ſie drang darauf, daß ich ihr den
gantzen Brief vorleſen ſollte. *


Meine
[123]der Clariſſa.

Meine Mutter war mit dem gantzen Brief
ſehr wohl zu frieden, und ſagte, der Brief haͤt-
te verdient, das auszurichten, was er wircklich
ausgerichtet hat. Sie fragte mich aber dabey:
was man zur Entſchuldigung eines jungen
Frauenzimmers vorbringen koͤnnte, das ſo un-
vergleichliche Gedancken haͤtte, und in ſo jungen
Jahren Brieffe ſchrieb, die ſich fuͤr das reiffe-
ſte Alter vollkommen ſchickten; wenn es ſich
dennoch uͤbereilen und ſein eigenes Ungluͤck waͤh-
len ſollte?


Sie

*


[124]Die Geſchichte

Sie erwaͤhnte hierauf Herrn Lovelaces uͤble
Lebens-Art; und ſagte, „Jhre Angehoͤrigen ver-
„abſcheueten einen Mann mit Recht, der ein ſo
„freyes und zuͤgelloſes Leben fuͤhrete, als man
„ihm Schuld giebt, ohne daß er ſuchte ſich zu
„entſchuldigen. Mann haͤtte ſo gar aus ſeinem
„Munde die Erklaͤrung gehoͤrt, daß er ſo viel
„Frauenzimmer betruͤben wolle, als er nur koͤn-
„ne, um ſich wegen der uͤbeln Auffuͤhrung und
„wegen der Untreue eines Frauenzimmers zu
„raͤchen, das ſeine erſte Liebe gehabt haͤtte, als er
zu Verſtellung und Untreue noch zu
„jung geweſen ſey.
„ (Der letzte Ausdruck
ſiehet ihm in der That gleich.)


Jch antwortete: ich haͤtte von jedermann ge-
hoͤrt, daß ihm das Frauenzimmer in der That
ſehr uͤbel begegnet ſey, und daß er damahls aus
Verdruß eine Reiſe habe antreten muͤſſen, und
um
*
[125]der Clariſſa.
um ſie zu vergeſſen in allerhand Ausſchweiffungen
gerathen ſey, die er jetzt freymuͤthig erkenne und
verabſcheue. Allein er haͤtte ſchlechterdings ge-
leugnet, daß ihm eine ſolche Drohung gegen un-
ſer gantzes Geſchlecht jemahls entfahren ſey, als
ich ſie ihm in Jhrer Gegenwart vorgehalten
haͤtte. Er habe noch die Worte gebraucht: ei-
ne ſolche Bosheit ſey ihm gantz ohnmoͤ-
glich/ daß er die Untreue einer eintzigen
Perſon auf eine ſo ungerechte und nie-
dertraͤchtige Art an allen raͤchen wollte.


Sie werden ſich vermuthlich der unſchuldi-
gen Anmerckung erinnern, die Sie hiebey mach-
ten: nehmlich: Sie hielten ſeine ernſtliche
Verſicherung/ daß er dieſes nicht geſagt
haͤtte/ fuͤr glaubwuͤrdig. Denn eben der-
jenige, der eine ihm ſchuld gegebene muth-
willige und uͤberlegte Luͤge/ fuͤr die aller-
aͤrgſte Beſchuldigung angeſehen haͤtte, und
deswegen ſo rachgierig geweſen waͤre;
wuͤrde ſich jetzt keiner uͤberlegten Luͤge
ſchuldig machen wollen.


Jch ſtellete meiner Mutter die auſſerordent-
lichen Umſtaͤnde vor, darin Sie ſich befaͤnden:
ich bat ſie, zu bedencken, daß ehemahls Herr
Lovelaces uͤble Lebens-Art von Jhren Anver-
wandten nicht als ein Einwurf gegen ihn ange-
ſehen waͤre, da er um Jhre Fraͤulein Schweſter
angehalten haͤtte: daß man ſo gar damahls von
ſeiner Familie, und ſonderlich von ſeiner Ge-
ſchicklichkeit und Wiſſenſchaft viel Wercks ge-
macht,
[126]Die Geſchichte
macht, und ihm ſo viel Verſtand zugeſchrieben
haͤtte, daß ihn eine tugendhafte und verſtaͤndige
Gemahlin leicht auf beſſere Wege wuͤrde brin-
gen koͤnnen. Allein hier muß ich Sie um Ver-
gebung bitten: ich unterſtand mich ſo gar zu
ſagen, wenn gleich Jhre Anverwandten nach dem
gemeinen Lauf der Welt gantz gute Leute waͤ-
ren, ſo waͤre doch auſſer Jhnen niemand aus
der gantzen Familie in Verdacht, daß er zu viel
aus der Religion machte. Deſtoweniger haͤt-
ten ſie Recht, andern einen ſolchen Mangel ſo
ſtraͤflich vorzuruͤcken. Endlich, ſagte ich, was
fuͤr einen eckelhaften Menſchen haben ſie ausge-
ſucht, einen der allerangenehmſten Leute ſo in
England gefunden werden kan, auszuſtechen?
Einen Herrn, der ſehr in die Augen fallende
Vorzuͤge des Verſtandes und andere gute Ei-
genſchaften beſitzt, wenn gleich ſeine Tugend kein
groſſes Lob verdient? Es laͤßt recht, als wenn
ſie ohne weitern Grund zu haben nur blos Luſt
haͤtten einen Macht-Spruch zu thun, und ihre
Gewalt und Oberherrſchaft zu zeigen.


Meine Mutter beſtand noch darauf, daß es
ein deſto loͤblicheres Werck des Gehorſams waͤ-
re, je mehr Sie ſich ſelbſt verleugneten. Ein
recht artiger und lebhafter junger Herr werde
ſelten ein guter Gemahl ſeyn; denn ſolche Herrn
ſpielten meiſtentheils mit ſich ſelbſt die allerlieb-
ſte Perſon,
und meinten, es muͤſſe ein jedes
Frauenzimmer eben ſo verliebt in ſie ſeyn, als
ſie in ſich ſelbſt verliebt waͤren.


Jch
[127]der Clariſſa.

Jch antwortete: dergleichen ſey in dieſem
Falle nicht zu befuͤrchten. Denn obgleich die
Manns-Perſon ſo viel Artigkeit an ſich haͤtte, daß
man nicht leicht ihres gleichen unter Manns-Leu-
ten finden wuͤrde, ſo ſey ihr doch dieſes Frauen-
zimmer ſo wohi in Abſicht auf die Bildung des
Leibes, als wegen ihres Gemuͤths und Verſtan-
des allzu ſehr uͤberlegen.


Es iſt meiner Mutter unertraͤglich, wenn ich
jemand anders lobe, als Herrn Hickman: und
ſie macht mir dieſen durch ihr allzu vieles Lob
veraͤchtlicher, als er mir ſonſt ſeyn wuͤrde, wenn
ſie das wenige Gute, das er an ſich hat nicht da-
durch herunter ſetzte, daß ſie es bey aller Gele-
genheit vergroͤſſern will, und ihn mit andern ver-
gleicht, in deren Vergleichung er noch ſchlechter
ſcheint als er wuͤrcklich iſt. Dieſesmahl gieng
ihre wunderliche Partheylichkeit ſo weit, daß ſie
behauptete, Herr Hickmann ſey alle Tage ſo
gut als Herr Lovelace, ausgenommen, daß ſein
Geſicht nicht ſo ſchmeichelnd waͤre, und er nicht
ſo viel lebhafte Farbe haͤtte, und weniger Hoch-
muth und Dreiſtigkeit beſaͤſſe: welches aber ein
ſitſames Frauenzimmer fuͤr keinen Fehler halten
wuͤrde.


Damit ich nichts mehr von ſolchen ungleichen
Vergleichungen hoͤren moͤchte, ſagte ich: ich
glaubte, Sie wuͤrden nie daran gedacht haben,
dieſem ſo verhaſſeten Mann einige Hofnung zu
geben, wenn man wohl mit Jhnen umgegangen
waͤre,
[128]Die Geſchichte
waͤre, und Jhnen erlaubt haͤtte, nach Jhren ei-
genen Einſichten zu handeln.


Hier meinte ſie mich gefangen zu haben, und
ſagte: die Entſchuldigung iſt ſchlecht, meine
Tochter! Wenn dem ſo iſt, wie du ſageſt, ſo iſt
nicht die Liebe, wohl aber der Widerſprechungs-
Geiſt Schuld an allem.


Auch dieſes nicht, antwortete ich: denn
ich weiß, daß Fraͤulein Harlowe Herrn
Lovelace allen andern vorziehen wuͤrde/
wenn ſeine Lebens-Art
‒ ‒ ‒ ‒


Wenn! wenn! (ſagte ſie) kommt aber
„nicht alles auf dieſes Wenn an? Glaubſt du
„in der That, daß ſie eine Neigung gegen Herrn
Lovelace hat?


Was wollen Sie, mein Schatz, was haͤtte
ich antworten ſollen? Jch mag Jhnen nicht
ſchreiben, was ich wuͤrcklich ſagte. Aber wer
wuͤrde mir geglaubt haben, wenn ich anders ge-
antwortet haͤttet? Jch weiß uͤber dieſes gewiß,
daß Sie eine Neigung gegen ihn haben. Neh-
men Sie es mir nicht uͤbel. Wenn Sie Jhre
Neigung zu leugnen ſuchen, ſo tadeln Sie ſich
in der That, denn Sie geben dadurch zu ver-
ſtehen, daß Sie dieſe Neigung fuͤr etwas tadel-
haftes anſehen.


Jch ſagte ferner: der Herr verdiente, bey ei-
nem jeden Frauenzimmer beliebt zu ſeyn: (das
Wenn kam mir ſchon wieder auf die Zunge)
allein ihre Eltern ‒ ‒ ‒ .


Jhre Eltern meine Tochter ‒ ‒ (Meine
Mutter
[129]der Clariſſa.
Mutter tadelt mich gemeiniglich, daß ich zu hi-
tzig bin. Und doch faͤllt niemand andern ſo oft
in die Rede, als ſie.)


Koͤnnten die Sache unrecht anfangen ‒ ‒
‒ ‒ ſagte ich.


Koͤnnen kein Unrecht thun! Sie haben
ihre guten Urſachen/ dafuͤr will ich ſtehen.


‒ ‒ Und dadurch (fuhr ich fort) ein junges
Gemuͤth zu einer unbeſonnenen Entſchlieſſung
bringen, dazu es ſonſt nie gekommen waͤre.


Wenn es eine unbeſonnene Entſchlieſſung iſt,
antwortete ſie, ſo muß ſie ſich nicht dazu brin-
gen laſſen. Eine verſtaͤndige Tochter wird nicht
muthwillig fehlen, weil ihre Eltern fehlen, wenn
es auch moͤglich ware, daß dieſe fehlen koͤnnten:
und wenn ſie es thut, ſo wird es ihr die Welt
eben ſo ſehr verdencken, als ihren Eltern. Al-
les was man zur Entſchuldigung eines ſolchen
Verſehens vorbringen koͤnnte, iſt dieſes, daß
man mit den Jahren und dem Mangel der Er-
fahrung viel Gedult haben muͤſſe, welches die
Fraͤulein in ihrem Brieffe an die Frau von
Drayton vorſtellet. Allein ſollte wohl ein ſo
unvergleichliches Frauenzimmer als die Fraͤulein
Harlowe, die ſo viel Verſtand hat, daß ſie
Leuten von mehreren Jahren mit ihrem Rath
zu ſtatten kommen kan, ſich mit einer ſo elenden
Ausflucht behelfen? Schreibe ihr ſo gleich, mei-
ne Tochter, was ich mit dir geredet habe, und
ſtelle ihr vor, daß man von einem Frauenzim-
mer, deſſen edles und grosmuͤthiges Hertz be-
Zweyter Theil. Jkannt
[130]Die Geſchichte
kannt iſt, ſchlechterdings erwartet, daß es ſich
ſeinen Freunden zu Liebe verleugnen werde, wenn
es auch noch ſo viel Zuneigung zu der einen und
Abneigung von der andern Perſon haben ſollte.
Es ſind ja zehn bis zwoͤlff der naͤchſten und lieb-
ſten Freunde, die ſie durch eine ſolche Verleug-
nung erfreuen wird, und inſonderheit ein lieb-
reicher Vater und eine guͤtige Mutter. Viel-
leicht iſt alles nur Einbildung/ was ſie einzu-
wenden hat, und ihre Eltern ſehen etwan die
Sache tieffer ein. Sollen bey der Fraͤulein
Harlowe ihre Einfaͤlle mehr gelten, als das
reiffe Urtheil ihrer Eltern?


Jch redete ſehr viel von dieſem ſo genannten
reiffen Urtheil: nehmlich alles was Sie nur
wuͤnſchen koͤnnen, und was die Sache ſelbſt
mit ſich bringet, und ich nur ſagen durfte.
Meine Mutter empfand die Kraft meiner Ein-
wuͤrfe ſo ſehr, daß ſie mir verbot, nichts da-
von an Sie zu ſchreiben, damit es Sie nicht
bey ſo mißlichen Umſtaͤnden zu einer Entſchlieſ-
ſung braͤchte, uͤber die wir beyde (die Rathge-
berin, und die ſo den Rath annaͤhme) Zeit Lebens
Ach und Weh wuͤrden ſchreyen muͤſſen.


Jch folge dieſem Befehl, und lege Jhnen die
Gruͤnde meiner Mutter vor: und dis thue ich
deſto lieber, weil ich nicht weiß, wozu ich Jh-
nen rathen ſoll. Sie kennen Jhr eigenes Hertz
am deſten, und wiſſen, was ihm moͤglich oder
unmoͤglich iſt.


Ro-
[131]der Clariſſa.

Robert verſpricht mir, dieſen Brief ſehr
fruͤh zu uͤberbringen, damit er Jhnen bey dem
erſten Spatzier-Gang, den Sie morgen thun
werden, zu Haͤnden komme.


GOtt laſſe Sie den beſten Weg waͤhlen! dis
iſt das unablaͤßige Gebet


Jhrer
ergebenſten
Anna Howe.



Der vierzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch bin voller Furcht: ich kan aber doch nicht
unterlaſſen, meinen gehorſamſten Danck an
Jhre Frau Mutter, wegen Jhrer neulichen
Guͤtigkeit gegen mich abzuſtatten. Jch hoffe,
daß der Jnhalt meines letzten Brieffes ihren lieb-
reichen Wuͤnſchen gemaͤß geweſen ſeyn wird.
Allein es iſt nicht genug, daß ich mich blos mit
ein paar Worten, die auf einen zugeſiegelten
Brief mit Bleyſtifft geſchrieben ſind, gegen ſie
bedancke.


J 2We-
[132]Die Geſchichte

Wegen des Brieffes, den ich ohne Unter-
ſchrifft an die Frau von Drayton geſchrieben
habe, muß ich nur melden, daß mir Frau
Norton dabey geholffen hat. Jch habe es
Jhnen damahls nicht geſagt, allein ich bekenne
es hiemit, und ich bitte Sie, es Jhrer Frau
Mutter zu ſagen, damit ſie nicht dencken moͤ-
gen, daß ich mich unterſtehe einer Perſon mit
meinem Rath zu dienen, die deſſen nicht benoͤ-
thigt iſt, und damit ich deſto weniger durch
den harten aber doch gerechten Schluß, den ſie
bey meinem Brieffe gemacht hat, leiden, und
mein Verſehen nicht vergroͤſſern moͤge. Denn
dieſes wuͤrde gewiß geſchehen, wenn ich durch
meine Auffuͤhrung einen guten Rath gleichſam
beſchaͤmete, den ich gegeben haben ſoll.


Ehe ich auf das komme, was mich am naͤch-
ſten angehet, muß ich Jhnen die harten, die
allzuharten Beſchuldigungen verweiſen, damit
Sie meine Familie angreiffen, und den Mei-
nigen ein ſehr ſchlechtes Zeugniß der Tugend
und Froͤmmigkeit geben. Jch wundere mich in
der That uͤber Sie. Bey einer andern Gele-
legenheit, die weniger zu bedeuten haͤtte, wuͤrde
ich nicht gethan haben, als wenn ich Jhre et-
was loſe Tadelſucht bemerckt haͤtte, nachdem ich
Jhnen deshalb ſchon ſo oft vergeblich geſchrieben
habe. Allein ſo ſehr mir auch mein eignes Un-
gluͤck zu Hertzen gehet, ſo kan ich doch ohne
Verletzung meiner kindlichen Pflicht die Beſchul-
digung, die ich nicht gern von Wort zu Wort
wi-
[133]der Clariſſa.
widerholen moͤchte, ohnmoͤglich gantz ungeahn-
det laſſen.


Jch kenne keine rechtſchaffenere Frau in Eng-
land, als meine Mutter iſt. Und mein Va-
ter iſt auch gar nicht der Mann, fuͤr den Sie
ihn bisweilen anſehen. Wenn ich ein eintziges
Stuͤck ausnehme, ſo weiß ich keine Familie,
die ihre Pflichten ſo genau zu erfuͤllen ſucht, als
die Haͤupter unſerer Familie: nemlich dieſes
eintzige nehme ich aus, daß ſie den Armen we-
niger Gutes thun, als ſie koͤnnten. Jſt es ih-
nen denn zu verdencken, daß ſie eine untadel-
hafte Lebens-Art von einem Manne verlangen,
deſſen Geſuch, ſich mit ihnen zu verſchwiegern,
ſie abſchlagen oder bewilligen koͤnnen: ein Recht,
das ich ihnen nie ſtreitig machen werde!


Erlauben Sie noch ein paar Worte, ehe mei-
ne Feder mit andern Dingen beſchaͤfftiget iſt.
Es betrifft Jhr Betragen gegen Herrn Hick-
mann.
Jſt es artig, daß Sie ſich an einem
unſchuldigen wegen des Verdruſſes raͤchen, der
gantz von einer andern Seite herkommt, und
noch dazu vielleicht verſchuldet iſt? doch ich
koͤnnte ihm einen Troſt geben, und zwingen Sie
mich ja nicht, es zu thun! kein Frauenzimmer
wird einer Manns-Perſon uͤbel begegnen, wel-
che es ſchlechterdings unter die Verworfenen ſetzt.
Man kan hoffen, daß ein ſolches Frauenzim-
mer es ſich vorbehaͤlt, das vergangene wieder
gut zu machen, wenn es lange genug hart ge-
weſen iſt, und ihr Anbeter Geduid genug ge-
J 3uͤber
[134]Die Geſchichte
uͤbet hat. Mein Hertz iſt mir zu ſchwer, als
daß ich mehr hievon ſchreiben ſollte.


Jch will Jhnen nun melden, was fuͤr Urſa-
chen ich habe, voller Furcht zu ſeyn.


Jch habe ſchon in dem Brieffe, den ich heute
fruͤh ſchrieb, zu erkennen gegeben, daß ſich ein
Sturm zuſammen zoͤge. Dieſen Nachmittag
kam Herr Solmes mit meinem Bruder aus
der Kirche; und bald nachher brachte mir Eli-
ſabeth
einen Brief, ohne zu ſagen, von wem
er kaͤme. Die Aufſchrifft hatte eine mir unbe-
kannte Hand gemacht: man muſte etwan glau-
ben, daß ich den Brieff nicht annehmen und
erbrechen wuͤrde, wenn ich zum voraus wuͤſte,
wer ihn geſchrieben haͤtte. Jch ſende Jhnen
die Abſchrifft:


An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
„Wehrteſte Froͤlin„


„Jch halte mich fuͤr einen ſeer ungluͤcklichen
„Mahn zu ſein, daß ich noch niemahls ſo gluͤck-
„lich geweſt bin, ihnen meine Aufwartung ei-
„ne halbe Stunde lang zu machen. Jch ha-
„be Jhnen etwas zu ſagen, daran ihnen viel
„gelegen iſt, wenn ſie mich nur vor ſich laſſen
„wollen. Es betrifft ihre Ehre, und die Ehre
„der ganſen Familie. Es betrifft die Abſichten
„der Perſchon, von der Sie mehr halten ſol-
„len, als ſie wert iſt, und es betrifft einige
gott-
[135]der Clariſſa.
„gottloſe Streiche, die er geſpielt hat, die ich
„zu erweiſen bereid bin. Jch koͤnnte intereſirt
„ſcheinen dabey, aber ich bin bereid zu ſchwaͤren,
„daß kein Buchſtab davon falſch iſt. Sie ſol-
„len ſehen, was das vor ein Man iſt, von
„dem ſie was halten ſollen. Aber ich hoffe aus
„Geneigtheit gegen Jhre Ehre, das daß Ge-
„ruͤcht falſch iſt. Jch bitte Sie, hoͤren Sie
„mich nur, ſo lieb ihnen ihre Ehre und Fami-
„lie ſeyn. Dadurch wird Jhnen verbunden
„werden


„Werteſte Froͤlin
„Jhr gehorſahmer und treier Diner
„Roger Solmes.„


„Jch warte unten auf Audientze.„


Jch zweiffele gar nicht daran, daß dieſes nur
ein Vorwand iſt, ihm einen Umgang mit mir
zu verſchaffen. Jch wollte ihm muͤndlich Ant-
wort ſagen laſſen: allein Eliſabeth entſchul-
digte ſich, ſie duͤrffte keine abſchlaͤgige Antwort
beſtellen. Jch muſte ihn alſo entweder ſprechen,
oder an ihn ſchreiben. Jch ſende Jhnen den
erſten Entwurf meiner Antwort. Das Hertz
ſchlaͤgt mir vor Furcht, wegen der Folgen, die
meine Antwort haben wird.


J 4Mei-
[136]Die Geſchichte
Mein Herr

Alles was Sie mir mitzutheilen haben, das
meine Ehre betreffen ſoll, kan eben ſo gut ſchrifft-
lich als muͤndlich ausgerichtet werden. Wenn
Herr Lovelace mich angehet, ſo ſehe ich doch
keine Urſache, die Sie dringen koͤnnte, ſich des-
halb
um ihn zu bekuͤmmern: denn das, was
er Jhrentwegen erdulden muß, und niemand
anders als Jhnen zuſchreiben kan, iſt ſo uner-
traͤglich, daß wenn auch kein Lovelace in der
Welt waͤre, ich doch Herrn Solmes auf die
Weiſe, wie Sie mich zu ſprechen begehren, nicht
gern eine halbe Stunde bey mir ſehen wollte.
Jch kan wegen des Herrn Lovelace in keiner
Gefahr ſeyn; es gehen mich alſo die Nach-
richten, die Sie geben wollen, gar nicht an,
wenn der Vorſchlag angenommen wird, den ich
gethan habe. Jch zweiffele nicht daran, daß
Jhnen dieſer Vorſchlag bekannt ſeyn wird.
Wenn man ſich noch nicht entſchloſſen hat, ihn
anzunehmen, ſo erſuche ich Sie, die Meinigen
zu bedeuten, daß ich ſie von aller Furcht, wegen
dieſes Herrn, befreyen will, wenn ſie mich eben-
falls von meiner Furcht, wegen eines andern
Herrn, befreyen wollen: und was geht es als-
denn mich oder die Meinigen an, ob Herr Lo-
velace
tugendhaft oder laſterhaft iſt? Wenn
es uns aber nichts angehet, ſo brauchen Sie
ſich noch viel weniger deshalb zu bemuͤhen. Sind
Sie aber dem ohngenchtet, ſeinetwegen bekuͤm-
mert
[137]der Clariſſa.
mert, ſo habe ich nichts dagegen zu ſagen. Es
wird ein Werck der chriſtlichen Liebe ſeyn, wenn
Sie wegen ſeiner Vergehungen, mit ihm ſelbſt
reden, und ihn eben ſo tugendhafft zu machen
ſuchen, als Sie ſind. Denn wenn Sie nicht
ſelbſt tugendhaft waͤren, ſo wuͤrden Sie nicht
ſo fertig ſeyn, ſeine Fehler zu entdecken.


Halten Sie mir zu gute, was ich ſchreibe.
Nachdem ich neulich ſchon an Sie geſchrieben
habe, und Sie doch nicht ablaſſen wollen, und
ſich ſogar durch Herunterſetzung anderer und
nicht durch eigene Vorzuͤge bey mir einzuſchmei-
cheln ſuchen; ſo haben Sie kein Recht mehr,
die Perſon wegen ihrer Empfindlichkeit oder
Grobheit zu tadeln, zu deren Ungluͤck Sie bis-
her ſo vieles beygetragen haben.


Cl. Harlowe.
Sonntag Abends.


Mein Vater hat im Zorn zu mir herauf kom-
men wollen; allein er ließ ſich von den andern
noch abrathen, und der Frau Hervey ward
aufgetragen, den Brief, von dem ich eine Ab-
ſchrifft mittheile, an mich zu ſchreiben. Alles
ſehr hitzig, und ſehr uͤbereilt!


An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Fraͤulein Baſe/

Jedermann iſt daruͤber betruͤbt, daß guͤtige
Ueberredungen bey Jhnen nichts fruchten wol-
J 5len.
[138]Die Geſchichte
len. Jhre Mutter will Sie nicht laͤnger im
Hauſe wiſſen, weil Jhr Vater uͤber Jhren
Brief an ſeinen guten Freund ſo aufgebracht iſt,
daß ſie wegen der Folgen beſorgt iſt, die daraus,
bey laͤngerm Aufenthalt in dieſem Hauſe, entſte-
hen koͤnnten. Sie befiehlt Jhnen deshalb, daß
Sie ſich augenblicklich zur Abreiſe nach Jhres
Onckles Antons Guͤtern anſchicken ſollen.


Jhr Onckle meint es um Sie nicht verdient
zu haben, daß Sie ſich ſo unwillig ſtellen, ihn
zu beſuchen.


Sie wiſſen nicht, was es fuͤr ein gottloſer
Mann iſt, den Sie ſo hoch ſchaͤtzen, daß Sie
ſich um ſeinetwillen mit allen Jhren Anverwand-
ten uͤberwerfen.


Auf dieſen Brief ſollen Sie nicht antworten.
Es wuͤrde ſonſt das hin- und wiederſchreibens
kein Ende ſeyn. Sie glauben nicht, wie em-
pfindlich Sie uns alle betruͤben, und am aller-
meiſten


Jhre treue Baſe
Dorothea Hervey.


Weil meiner Mutter Schweſter mir verbo-
ten hat, an ſie zu ſchreiben, ſo nahm ich eine
noch dreiſtere Entſchlieſſung. Jch ſchrieb einige
Zeilen an meine Mutter ſelbſt, und bat ſie, daß
ſie mir Erlaubniß verſchaffen moͤchte, wenn ich
ja wegreiſen ſolte und muͤßte, mich noch vorher
meinem Vater und ihr zu Fuͤſſen zu werfen, und
we-
[139]der Clariſſa.
wegen des vergangenen Vergebung zu bitten,
und ihren Seegen zu empfangen, desgleichen,
daß ich alsdenn von ihnen ſelbſt den Befehl we-
gen meiner Abreiſe hoͤren und ſie mir den Tag
derſelben muͤndlich beſtimmen moͤchte. Jch bat
aber, daß dieſes alles blos in ihrer beyder Gegen-
wart geſchehen moͤchte.


Meine Mutter ſchickte mir dieſen Brief un-
erbrochen zuruͤck, und ſagte ſehr unwillig zu E-
liſabeth: was iſt das fuͤr eine neue Verwe-
genheit! Nehmt den Brief wieder mit/
und ſagt ihr, ſie ſolte Gehorſam uͤben ler-
nen.


Um nichts, was in meinem Vermoͤgen ſtehet,
zu unterlaſſen, dadurch ich meinen Gehorſam und
Unterwerfung bezeigen koͤnnte, ſchrieb ich ein paar
Zeilen gleiches Jnhalts an meinen Vater ſelbſt;
und bat ihn, er moͤge mich nicht ohne ſeinen See-
gen von Hauſe wegreiſen laſſen. Eliſabeth
brachte mir auch dieſen Brief unerbrochen und
in zwey Stuͤcke zerriſſen wieder; ſie hielt die ei-
ne Hand in die Hoͤhe, und in der andern flachen
Hand wieß ſie mir den zerriſſenen Brief: Se-
hen ſie hier Fraͤulein! das ſieht betruͤbt
aus. Es wird nichts gelten/ als Gehor-
ſam. Jhr Herr Vatter lagte: ich will kei-
ne Worte von ihr annehmen. Wie ſteht
es um die That? Und damit ſchmiß er mir
den zerriſſenen Brief um den Kopf.


So verzweifelt ſieht meine Sache aus. Al-
lein ich wolte mich auch durch dieſe abſchlaͤgige
Ant-
[140]Die Geſchichte
Antwort noch nicht abſchrecken laſſen, ſondern
ich wandte mich ſchriftlich an meinen Onckle
Harlowe, und legte die beyden unerbrochenen
Brieffe an meinen Vater und an meine Mutter
ter mit bey, nachdem ich vorhin eine Abſchrift
davon genommen, um Sie Jhnen zuzuſenden,
ſo viel ich durch das Papier leſen konnte.


Mein Onckle wollte eben nach Hauſe fah-
ren, und der Brief ward ihm uͤbergeben, da er
in den Wagen trat. Jch kan daher nicht eher
als Morgen wiſſen, was dieſer Brief vor ein
Schickſal haben wird. Hier ſende ich Jhnen
eine Abſchrift davon.


Wertheſter und Hochgeehrteſter Herr
Vetter/

„Jch habe nunmehr niemand als Sie allein,
„an den ich mich wenden koͤnnte, um meinen de-
„muͤthigen Briefen das Gluͤck zu verſchaffen, daß
„ſie eroͤfnet und geleſen werden moͤgen. Meine
„Frau Baſe Hervey hat mich von einem Be-
„fehl benachrichtiget, uͤber den ich einige Erlaͤu-
„terungen brauche: ſie hat mir aber verboten, an
„ſie zu ſchreiben. Jch habe mir darauf die Frey-
„heit genommen, an meinen Vater und an mei-
„ne Mutter zu ſchreiben: Allein die zerriſſene
„und die unerbrochene Einlage wird Jhnen von
„ſelbſt ſagen, wie es abgelauffen iſt. Sie wiſſen
„dieſes vielleicht ſchon; da Sie aber den Jnhalt
die-
[141]der Clariſſa.
„dieſer verſchmaͤheten Brieffe noch nicht wiſſen,
„ſo bitte ich Sie, daß Sie beyde einer Durch-
„leſung wuͤrdigen wollen, damit Sie zu meiner
„Entſchuldigung bezeugen koͤnnen, daß keine Kla-
„gen und Beſchwerden, und uͤberhaupt nichts,
„daß den Schein eines Ungehorſams haben koͤnn-
„te, darinn enthalten ſey. Nehmen Sie mir
„nicht unguͤtig, daß ich mich unterſtehe zu dencken;
„daß vielleicht in einiger Zeit auf die Haͤrtigkeit
„eine Reue folgen kann, wenn jetzt der taube
„Unwille mich nicht hoͤren, und nicht einmahl
„leſen will, was ich ſchreibe. Jch bitte Sie,
„geben Sie mir nur zu erkennen, aus was fuͤr ei-
„ner Abſicht ich eben nach meines Onckles An-
„tons
Gute, und nicht zu Jhnen oder zu Frau
Hervey oder anders wohin reiſen ſoll? Wenn
„ich die wahre Urſache errathen habe, ſo wird mir
„das Leben nicht ertraͤglich ſeyn. Jch bitte auch
„um Nachricht, wenn ich aus dem Hauſe geſtoſ-
„ſen werden ſoll? Mein Hertz ſagt mir ſchon
„zum voraus, daß ich dieſes Haus nie wieder zu
„ſehen bekommen werde, wenn ich es einmahl zu
„verlaſſen gezwungen bin.


„Jch erklaͤre mich hiebey, daß ich dieſes nicht
„aus Trotz und Empfindlichkeit ſchreibe. GOtt,
„der mein Hertz kennet, iſt mein Zeuge. Allein
„ich erwarte eine ſolche Begegnung, wenn ich
„nach meines andern Onckles Gute abreiſen muß,
„die das Ungluͤck, das unverdiente Elend (wenn
ich
[142]Die Geſchichte
„ich ſo frey ſchreiben darf) endigen wird, darun-
„ter bisher geſeuffzt hat,


Jhre
„ehemahls ſo zaͤrtlich geliebte
„und nun ungluͤckliche Baſe
Clariſſa Harlowe.



Der funfzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Dieſen Morgen kam mein Onckle Harlowe
ſehr fruͤh hier an, und ſandte mir das
beygelegte Schreiben. Es hat bey mir den
Wunſch erreget, daß ich ihm moͤchte koͤnnen ge-
faͤllig ſeyn. Sie werden ſehen, was fuͤr Anmer-
ckungen er uͤber Herrn Solmes uͤble Eigenſchaf-
ten zu ſeiner Entſchuldigung gemacht hat. Wie
viel Fehler kan ſonſt die Liebe zudecken?

Vielleicht dencken nun die Meinigen auch von
mir: wie viel Fehler kan der Widerwille
entdecken?
Seyn Sie ſo guͤtig, und ſenden
Sie mir meines Onckles Brief gleich zuruͤck.
Jch
[143]der Clariſſa.
Jch werde ſuchen mich deshalb zu entſchuldigen,
daß ich allen meinen Anverwandten ſo furchter-
lich geworden bin, als er behauptet; und ich
wuͤnſchte, daß ich es nicht blos entſchuldigen ſon-
dern auch aͤndern koͤnnte.



„Jch muß Jhnen antworten, ſo ungern ich
„es auch thue. Jedermann liebet Sie, und
„das wiſſen Sie. Ein jeder Platz iſt uns an-
„genehm, auf den Sie nur Jhren Fuß geſetzt ha-
„ben. Allein wie koͤnnen wir uns entſchlieſſen,
„Sie zu ſprechen? Denn Jhren Augen und Jh-
„ren Worten kan niemand widerſtehen: und
„die Groͤſſe unſerer Liebe macht es, daß wir uns
„nicht trauen duͤrfen, Sie zu ſprechen. Wie
„koͤnnen wir dieſes wagen, ſo lange Sie enſchloſ-
„ſen ſind, das nicht zu thun, was wir begehren,
„daß Sie es thun ſollen? Jch hab noch niemand
„ſo ſehr als Sie von Kindesbeinen an bis jetzt ge-
„liebet: und, wie ich oft geſagt habe, ich ken ne
„auch kein ſo liebenswuͤrdiges Frauenzimmer,
„als Sie ſind. Was iſt Jhnen aber jetzt wie-
„derfahren? Was hat Sie ſo ſehr veraͤndert.
„Ach! GOtt erbarme es, mein Kind! wie be-
„ſtehen Sie in der Probe ſo ſchlecht!


„Jch habe die eingeſchloſſenen Brieffe geleſen.
„Wenn ich eine bequeme Zeit finde, ſo will ich
„ſie meinem Bruder und meiner Schweſter zei-
„gen:
[144]Die Geſchichte
„gen: allein jetzt werden ſie nichts von Jhrer Hand
„annehmen.


„Jch habe Jhren Brief an mich nicht leſen
„koͤnnen, ohne gleichſam entwafnet und aller mei-
„ner Standhaftigkeit beraubet zu werden. Wie
„iſt es moͤglich, daß Sie ſelbſt ſo unbeweglich
„ſind, und doch andere ſo ſehr bewegen koͤnnen?
„Wie haben Sie ſo einen Brief an Herrn Sol-
„mes
ſchreiben koͤnnen? Phi! ſchaͤmen Sie
„ſich! Wie ſehr haben Sie ſich geaͤndert?


„Koͤnnen Sie Jhrem Bruder und Jhrer
„Schweſter ſo begegnen, als Sie bisher gethan
„haben, daß dieſen endlich alle Luſt vergehet, mit
„Jhnen zu reden oder an Sie zu ſchreiben?
„Wiſſen Sie den Spruch nicht mehr: eine ge-
„linde Antwort ſtillet den Zorn[[?]]
Wenn
„Sie ſich auf die Schaͤrffe Jhres Witzes ver-
„laſſen wollen, ſo muß ich geſtehen, daß Sie an-
„dere verwundern koͤnnen: allein bedencken Sie,
„daß man mit der Keule wider den Degen gut
„Fechten hat. Woher wiſſen Sie, daß die, de-
„nen Sie empfindliche Stiche geben, Jhnen
„nicht hinwiederum einen empfindlichen Streich
„verſetzen werden? Waren dieſes die Mittel,
„dadurch Sie uns allen ehemahls das Hertz ſo
„geraubet hatten, daß wir Sie beynahe anbete-
„ten? War es nicht vielmehr Jhr ſanfter Sinn
„und Jhr wohlgezogenes Weſen, die Jhnen auch
„eines jeden Fremden Ehrfurcht erwurben, ſo
„daß Jhnen jeder begegnete, als wenn Sie eine
Lady waͤren, und Sie My Lady anredete,
ob
[145]der Clariſſa.
„ob Sie gleich eben ſo wenig als Jhre Schwe-
„ſter von Geburt keine Lady waren, und nicht
„gleiche Vorzuͤge des Herkommens hatten, als
„Jhre Mutter! Wenn Sie meinen, daß Sie
„beneidet werden, ſo muͤſſen ſie ja dieſen Neid
„nicht noch mehr erwecken, und ihm gleichſam
„die Zaͤhne ſchaͤrffen. Sie ſehen, daß ich un-
„partheyiſch ſchreibe, und Sie ohne Veraͤnde-
„rung liebe.


„Sie haben uns dadurch nur mehr vereini,
„get, daß Sie uns Jhre Geſchicklichkeit haben
„mercken laſſen, niemandes zu ſchonen, und doch
„alle zum Mitleiden zu bewegen, ohne daß wir
„Sie im geringſten haben bewegen koͤnnen.
„Wir ſind nun gezwungen, ſo veſt zuſammen
„zu halten, als wir in den alten Buͤchern den
„Phalanx der Griechen beſchrieben finden. Jh-
„rer Frau Mutter Schweſter verbietet Jhnen
„aus eben der Urſache, nicht zu antworten, die
„mich zwinget, keine Gelegenheit zum Briefwech-
„ſel zu geben. Wir alle ſcheuen uns davor,
„Sie zu ſehen: denn wir ſind verſichert, daß
„Sie nur mit uns ſpielen und Jhre Luſt daran
„haben werden, wenn Sie uns ein wenig hin-
„ter das Licht fuͤhren. Jhre Mutter ſcheuet ſich
„ſo vor Jhnen, daß ſie ſich ein paarmahl einge-
„ſchloſſen hat, als ſie meinete, Sie kaͤmen und
„wollten ſie wider ihren Willen ſprechen: denn
„ſie wuͤſte zum voraus, daß ſie Sie nicht ſpre-
„chen duͤrfte, wie und wenn es Jhnen beliebte,
Zweyter Theil. K„und
[146]Die Geſchichte
„und daß Sie nicht mit ihr aus dem Ton, als
„es ihr beliebte, ſprechen wuͤrden.


„Entſchlieſſen Sie ſich doch, wertheſte Fraͤu-
„lein Claͤrchen, uns eine Wohlthat zu erzeigen:
„wir insgeſammt wollen Sie alsdenn mit of-
„fenen Armen empfangen, und an unſere erfreue-
„te Bruſt druͤcken. Wenn der eine Freyer nicht
„ſo viel natuͤrlichen Witz, Geſchicklichkeit, und
„Annehmlichkeit beſitzt als der andere, ſo muͤſſen
„Sie dagegen bedencken, daß in keiner Bruſt ein
„gottloſeres Hertz ſchlaͤgt, als das Hertz dieſer
„mit ſo vielen Vorzuͤgen begabten Perſon. Sol-
„ten Sie nicht die Liebe aller Jhrer Freunde,
„und einen tugendhaften Mann, wenn er gleich
„in der Auffuͤhrung nicht ſo artig iſt, einem an-
„genehmen Ertz-Boͤſewicht vorziehen? Jhre un-
„vergleichlichen Eigenſchaften werden machen,
„daß der eine Sie anbeten wird: dahingegen
„der andere dieſe Vorzuͤge ſelbſt beſitzt, und Sie
„an Jhnen ſo hoch nicht ſchaͤtzen wird. Denn
„bisweilen ſind herrſchſuͤchtige Ehemaͤnner auf
„den Verſtand ihrer Weiber eiferſuͤchtig. Sie
„werden gewiß an dem einen Freyer einen tu-
„gendhaften Mann bekommen: und wenn Sie
„ihn nicht ſo hart abgewieſen haͤtten, ſo wuͤrde
„er Jhnen von dem andern Nachrichten gegeben
„haben, daß Jhnen die Ohren haͤtten ſchallen
„moͤgen.


„Seyn Sie guͤtig gegen mich, meine aller-
„liebſte Fraͤulein Baſe. Goͤnnen Sie mir die
„Ehre, daß ich bey Jhnen ausrichten moͤge, was
ſonſt
[147]der Clariſſa.
„ſonſt niemand hat ausrichten koͤnnen. Jch will
„dieſe Ehre (wie ich es nochmahls nenne) mit
„Jhren Eltern theilen. Alles vergangene ſoll
„vergeſſen und vergeben ſeyn; und wir wollen
„fuͤr Herrn Solmes Buͤrgen werden, daß er
„auch kuͤnftig nicht mehr daran gedencken ſoll.
„Er ſelbſt ſagt: er wiſſe wohl, was der fuͤr ein
„Kleinod erlanget habe, der ſo gluͤcklich ſey, Jhr
„Hertz zu beſitzen: und er wuͤrde alles, was er ha-
„be ausſtehen muͤſſen, oder was ihm noch bevor
„ſtuͤnde, ehe er Jhr Jawort erhielte, fuͤr ein Lei-
„den achten, das gegen ſeine Belohnung in kein
„Verhaͤltniß gebracht werden koͤnne.„


„Thun Sie uns, mein allerliebſtes Kind, die-
„ſe Gefaͤlligkeit, und zwar auf eine artige und
„ungezwungene Weiſe. Es muß doch geſchehen:
„das verſichere ich Jhnen zum voraus. Sie
„werden nicht uͤber Vater, Mutter, Onckles und
„uͤber alle die ſonſt zu der Familie gehoͤren, den
„Meiſter ſpielen duͤrfen: das wiſſen Sie zum
„voraus.


„Jch bin die halbe Nacht aufgeblieben, um
„an Sie zu ſchreiben. Sie glauben nicht, wie
„ſehr ich bey Leſung und Beantwortung Jhres
„Briefes geruͤhrt geweſen bin. Jch will dem
„ohngeachtet morgen mit anbrechendem Tage
„wieder zu Harlowe-Burg ſeyn. Wenn Sie
„uns alle erfreuen wollen, ſo erwarte ich Jhren
„Befehl nach Durchleſung dieſes Briefes, daß
„ich zu Jhnen hinauf kommen, und Sie zu den
„Jhrigen herunter fuͤhren ſoll, die Sie mit of-
K 2„fenen
[148]Die Geſchichte
„fenen Armen empfangen und umfangen wer-
„den. Sie werden gewahr werden, daß Sie einen
„andern Bruder und Schweſter haben, als Jh-
„nen dieſe lieben Perſonen bisher vorgekommen
„ſind, da Sie ſie mit allerhand Vorurtheilen
„angeſehen haben. Bedencken Sie, dieſer Brief
„kommt von dem, der ſich ſonſt ſo gern zu nen-
„nen pflegte,


Jhren
Onckle und Vater
Johann Harlowe.


Eine Stunde nach Ueberſendung dieſes guͤti-
gen Briefes ließ mich mein Onckle fragen, ob
er bey mir willkommen ſeyn wuͤrde, wenn er mich
auf die in dem Briefe verabredete Bedingun-
gen beſuchte. Er befahl der Eliſabeth/ ſie ſol-
te ihm eine muͤndliche Antwort bringen, denn
eine ſchriftliche wuͤrde ein uͤbles Zeichen ſeyn,
ſie ſolte demnach ja keinen Brief bringen. Jch
hatte eben die Antwort, die ich in Abſchrift bey-
fuͤgen werde, geendigt. Eliſabeth machte
Schwierigkeit, ſie zu uͤberbringen: allein ein ge-
wiſſer Winck, dem dieſe Cammer-Kaͤtzchens ſel-
ten widerſtehen koͤnnen, brachte ſie ſo weit, daß
ſie mir dieſe Gefaͤlligkeit erzeigte.


„Allertheureſter Onckle,

„Sie erfreuen mich durch Jhre Guͤtigkeit und
„Herab-
[149]der Clariſſa.
„Herablaſſung zu mir. Ein ſo guͤtiger und vaͤ-
„terlicher Brief! Ein Brief, der meinem ver-
„wundeten Hertzen ſo angenehm geweſen iſt, ſon-
„derlich nachdem ich ſeit einiger Zeit einer zaͤrt-
„lichen Begegnung gantz ungewohnt geworden
„bin! Wie ſehr bin ich dadurch geruͤhret wor-
„den! Ruͤhmen Sie meine Schreibart nicht:
„Jhre Ausdruͤcke haben mich viel ſtaͤrcker bewe-
„get, als ich jemahls im Stande bin andere zu
„bewegen. Sie haben bey mir den ſehnlichſten
„Wunſch erwecket, daß es moͤglich ſeyn moͤchte
„Jhren Beſuch unter den von Jhnen vorgeſchla-
„genen Bedingungen zu erwarten, und mich von
„einem ſo liebreichen Onckle meinen Eltern wie-
„der zufuͤhren zu laſſen.


„Jch will mich gegen Sie erklaͤren, was ich
„um des Friedens willen zu thun entſchloſſen bin.
„Jch kan ohnmoͤglich daran zweiffeln, daß Herr
Solmes nicht vielmehr Neigung zu meiner
„Schweſter haben ſolte, als mir, nachdem ich
„mich ſo abgeneigt und wunderlich gegen ihn be-
„wieſen habe; und daß nicht ſeine Anwerbung
„um mich hauptſaͤchlich in der Abſicht ſolte an-
„gebracht ſeyn, weil ihm mein Grosvaͤterliches
„Gut ungemein bequem liegt. Jch habe beſon-
„dere Urſachen dieſes zu glauben. Jch will mich
„deshalb dieſes Gutes auf ewig begeben; und
„mein Wille wird deſto weniger umgeſtoſſen
„werden koͤnnen, weil ich gar nicht zu heyrathen
„gedencke. Jch will demnach dieſes Gut an mei-
„ne Schweſter und an ihre Erben uͤbertragen
K 3„und
[150]Die Geſchichte
„und verſchencken. Jch werde keine andere Er-
„ben haben, als meinen Bruder und meine
„Schweſter: und ich will mir von meinem Va-
„ter nur ein jaͤhrliches Einkommen, ſo viel ihm
„beliebig iſt zu geben ausbitten, und zwar dieſes
„nicht als eine Schadloshaltung fuͤr das Gut,
„ſondern als eine bloſſe Guͤtigkeit, die er auch
„wieder ſoll zuruͤcknehmen koͤnnen, ſo bald ich
„ihm Urſache gebe, mit mir uͤbel zufrieden zu
„ſeyn.


„Solte man dieſen Vorſchlag wohl misbilli-
„gen koͤnnen? Jch hoffe es warlich nicht! Jch
„bitte Sie, allertheureſter Onckle, ihn vorzutra-
„gen, und ſo viel als moͤglich iſt zu unterſtuͤtzen.
„Ein jeder wird hiebey ſeinen Endzweck errei-
„chen. Meine Schweſter hat eine ſehr gute
„Meinung von Herrn Solmes/ die ich niemals
„von ihm faſſen kan, wenn er mein Braͤutigam
„werden ſoll. Wenn er aber in eine Verbin-
„dung mit meiner Schweiſter tritt, ſo gebuͤhret
„ihm Ehrerbietung von meiner Seite, und dieſe
„ihm zu erzeigen, werde ich nie ermangeln.


„Wenn dieſer Vorſchlag angenommen wird,
„ſo beehren Sir mich mit Jhrem Beſuch, und
„begluͤcken Sie mich dadurch, daß Sie mich zu
„meiner unausſprechlichen Freude, meinen lieben
„Eltern wiederum zufuͤhren, damit ich ihnen zu
„Fuſſe fallen, und ſie an mir das allergehorſam-
„ſte Kind haben moͤgen. Fuͤhren Sie mich wie-
„der in die Arme meines Bruders und meiner
„Schwe-
[151]der Clariſſa.
„Schweſter, ſie ſollen an mir kuͤnftig die zaͤrt-
„lichſte und gefaͤlligſte Schweſter haben.


„Jch warte auf die Beantwortung dieſes Vor-
„ſchlags, den mit aufrichtigem Hertzen thut,


Jhre
„gehorſamſte und hoͤchſt-
„verpflichtete Baſe
Cl. Harlowe.



Montag Abends.


Jch hoffe, dieſes Mittel wird angenommen
werden, denn Eliſabeth erzaͤhlt mir, daß mein
Onckle Anton und meiner Mutter Schweſter
hieher geruffen ſind, ohne Herrn Solmes zu
bitten. Dieſes iſt ein hoffnungsvoller Umſtand.
Mit wie groſer Freude will ich mich von dem,
was mir nichts als Neid zugezogen hat, los-
machen! Jch muͤßte ſonſt etwas viel beſſers
und ſchaͤtzbarers verlieren, nehmlich die Liebe aller
meiner Anverwandten, die ich achtzehn Jahr
lang auf eine ſo beſondere Art und zu meinem
eintzigen Vergnuͤgen genoſſen habe. Was giebt
mir dieſes fuͤr einen unvergleichlichen Vorwand,
mit Herrn Lovelace gaͤntzlich zu brechen! und
wie gern wird er alsdenn von ſelbſt von mir
ablaſſen!


K 4Jch
[152]Die Geſchichte

Jch habe dieſen Morgen an dem gewoͤhnli-
chen Orte einen Brief von ihm gefunden. Jch
glaube, daß es eine Antwort auf mein letztes
Schreiben vom Freytage iſt, das ich erſt am
Sonnabend hingelegt habe. Jch habe ihn aber
noch nicht erbrochen, denn ich will erſt abwar-
ten, was mein neues Anerbieten wircket.


Wenn ich nur den Mann nicht nehmen darf,
den ich haſſe, ſo will auch gern dem entſagen,
den ich ſonſt vorziehen koͤnnte. Wenn ich auch
wircklich eine Neigung zu ihm haͤtte, wie Sie
noch immer meinen, ſo wuͤrde dieſes Entſagen
doch nur mit einem kurtzen und voruͤbergehen-
den Berdruß verknuͤpft ſeyn, der mit der Zeit
und bey mehrerem Verſtande von ſelbſt verflie-
gen wuͤrde. Ein ſolches Opfer iſt ein Kind ſei-
nen Eltern und ſeinen Freunden ſchuldig, wenn
ſie es begehren. Allein das andre, nehmlich
einen Mann zu nehmen, der einem unertraͤglich
iſt, iſt nicht allein in Abſicht auf den Mann
ſchaͤndlich, ſondern kan auch aus einer, die den
Vorſatz hat, eine gute Frau zu ſeyn, eine
ſchlimme oder ſehr mittelmaͤßige Frau machen,
wie ich an Herrn Solmes ſelbſt geſchrieben
habe. Und alsdenn wird ſie gewiß ihrem Hau-
ſe nicht wohl vorſtehen, ſie wird keine treue
Freundin ſeyn, ſie wird ihrer Familie Schande
machen, und andern ein boͤſes Exempel geben.


Da mir jetzt der Ausgang noch zweiffelhafft
iſt, ſo habe ich Luſt, dieſen Brief gleich fuͤr Sie
niederzulegen, damit Sie nach deſſen Durchle-
ſung
[153]der Clariſſa.
ſung eben ſo zweiffelhaft als ich ſeyn moͤgen.
Zweymahl hat mich Eliſabeth durch ihre uͤber-
triebene Dienſtfertigkeit gehindert; nun aber will
ich ſogleich nach dem Huͤner-Hofe gehen, und
den Brief hinlegen, wenn ich Gelegenheit habe.
Jch hoffe aber auch etwas von Jhrer Hand zu
finden.



Der ſechszehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch habe die Erzaͤhlung meiner Geſchichte
bis auf den Mittag gluͤcklich hingelegt,
und ich hoffe bald noch einen Brief zu ſchreiben,
um Sie ſo kurze Zeit als moͤglich in einem Zweif-
fel zu laſſen, der mich ietzt ſo ſehr verunruhiget.
Denn ſo oft ich hoͤre, daß jemand zutrit, oder
daß unten eine Thuͤr aufgehet, ſo oft zittert mir
das Hertz.


Die Meinigen ſind lange beyſammen gewe-
ſen, und es ſcheint, daß ſie ſich in der groͤſſeſten
Heimlichkeit mit einander berathſchlagen. Allein-
was haben ſie Urſache, einen ſo langen Rath
K 5zu
[154]Die Geſchichte
zu halten, da mein Vorſchlag nach eines jeden
unter ihnen ſeinem Endzweck iſt? koͤnnen ſie
noch einen Augenblick darauf dringen, daß ich
Herrn Solmes nehmen ſoll, nachdem ſie ge-
ſehen haben, durch was fuͤr ein wichtiges Opfer
ich dieſe Strafe abzukauffen wuͤnſche? Viel-
leicht hat man erſt viel Ueberredungen bey Ara-
bellen noͤthig, damit ihr allzu zaͤrtliches Gewiſſen
es ihr erlaube, mein Gut und meinen Freyer
anzunehmen, und damit ſie es ſich nicht fuͤr ei-
ne Schande halte, zu nehmen was ihre
Schweſter nicht will/
wie ihr Ausdruck ehe-
mahls lautete. Oder vielleicht verlangt mein
Bruder eine Schadloshaltung, weil das Gut
nun nicht an ihn zuruͤck faͤllt: und dergleichen
Zweiffel liegen einigen in der Familie ſehr am
Hertzen, und ſcheinen ihnen der allerernſtlichſten
Berathſchlagungen werth zu ſeyn. Eine oder
beyde dieſe Zweiffel muͤſſen wohl die wahren Ur-
ſachen davon ſeyn, daß es ſo lange waͤhrt, ehe
ſie zu einer Endſchlieſſung kommen. Jch bin
zwar begierig zu wiſſen, was Herr Lovelace
ſchreibt: allein ich will meine Neubegierde ſo
lange verleugnen, bis ich erfahre, wie es unten
abgelauffen iſt. Nehmen Sie mir nicht uͤbel,
mein Schatz, daß ich Sie ſo gar durch Erzaͤh-
lung meiner Ungewißheit und meiner Zweiffel
beunruhige: ich habe keine Arbeit, damit ich mir
die Zeit vertreiben kan, als blos mit der Feder,
und wenn ich mir ja noch eine andere Beſchaͤff-
tigung machen koͤnnte, ſo fehlt mir doch Luſt und
Muth dazu.

Koͤn-
[155]der Clariſſa.

Montag Abends.


Koͤnnen Sie es glauben? Eliſabeth bringt
mir ſchon zum voraus die Nachricht, daß ich
abermahls eine abſchlaͤgige Antwort zu gewar-
ten habe. Es heißt nunmehr von mir: „ich
„ſey ein niedertraͤchtiges und argliſtiges Gemuͤth.
„Jedermann iſt gegen mich allzuguͤtig geweſen.
„Mein Onckle iſt von mir hintergangen worden.
„Die andern haben ſchon zum voraus gewuſt,
„was daraus kommen wuͤrde, wenn er an mich
„ſchriebe, oder mich ſpraͤche. Er ſchaͤmt ſich
„jetzt, daß er ſich ſo hat hintergehen laſſen. Es
„wuͤrde warlich in den Augen der Welt ein arti-
„ges Anſehen haben, wenn ſie mich bey meinem
„Worte hielten. Man wuͤrde dencken, ſie waͤ-
„ren nur darum ſo hart mit mir umgegangen,
„damit ſie dieſes von mir erpreſſen moͤchten.
„Meine guten Freunde und ſonderlich die Fraͤu-
„lein Howe wuͤrden nicht ermangeln, dieſe Aus-
„legung daruͤber zu machen: und ich ſelbſt koͤnn-
„te keinen andern Zweck dabey haben, als die-
„ſen, daß ich ſehe, ob ſie ſich fangen lieſſen, um
„hernach eine deſto ſtaͤrckere Einwendung gegen
„Herrn Solmes machen zu koͤnnen. Sie ver-
„wundern ſich uͤber ſich ſelbſt, daß ſie ſo einfaͤl-
„tig geweſen ſind, es nur einen Augenblick zu
„uͤberlegen, und daß ſie gemeint haͤtten, es lieſe
„ſich vielleicht einigermaſſen thun. Es ſtritte
„ja mit der Gerechtigkeit ſowohl als mit der
„Billigkeit: und Fraͤulein Arabelle ſowohl
„als Herr Solmes wuͤrden eine feine Sicher-
heit
[156]Die Geſchichte
„heit dabey haben, da ich das Gut wieder fo-
„dern koͤnnte, ſo bald ich wollte. Mein Bru-
„der und meine Schweſter ſollten meine
„Erben ſeyn!
Was fuͤr ein argliſtiges Maͤd-
„chen! koͤnnte man das wol glauben, daß ich
„unverheyrathet bleiben wollte, da Herr Love-
„lace
genugſame Verſicherungen von mir haͤtte,
„und ſich deren uͤberall ruͤhmte? So bald er
„mir angetrauet waͤre, wuͤrde er alle meine
„Schenckungen wieder umſtoſſen koͤnnen. Was
„fuͤr eine Unverſchaͤmtheit/ was fuͤr eine
„Dreiſtigkeit
(ſoll jemand geſagt haben. Sie
werden leicht rathen, wer der jemand geweſen iſt)
„daß eine Tochter, die ſich durch ihre Wider-
„ſpenſtigkeit verhaſſt gemacht hat, ſich unter-
„ſteht, der gantzen Familie Geſetze vorzuſchrei-
„ben! daß ſie ihrer aͤlteſten Schweſter einen
„Mann geben will! Wie wuͤrde dieſes verſtock-
„te Maͤdchen triumphiren, wenn ſie Leuten, die
„aͤlter und verſtaͤndiger ſind als ſie, ja ſo gar
„ihrem Vater und ihrer Mutter aus der Stube,
„in die ſie eingeſperret iſt, Befehle zuſchicken
„koͤnnte! Sie wuͤrde meynen, ihr Gefaͤngniß
„haͤtte ſich in einen Thron verwandelt. Es
„waͤre gantz unglaublich, daß ſich jemand auf
„einen ſolchen Vorſchlag nur eingelaſſen und be-
„ſonnen haͤtte. Es waͤre dis ein rechtes Mei-
„ſter-Stuͤck von leichtfertigen Raͤncken: kurtz,
„es ſaͤhe Claͤrchen vollkommen aͤhnlich. Wahr-
„haftig mein Onckle Harlowe wuͤrde ſich nicht
„wieder ſo fangen laſſen.„


Jch
[157]der Clariſſa.

Jch konnte alles dieſes deſto leichter von ihr
heraus kriegen, weil es wider mich war, und
mir nothwendig Verdruß machen mußte. Da
ich aber die artige Erzaͤhlung bey mir weiter
uͤberlegte, und daraus merckte, daß jemand fuͤr
mich geſprochen haben muͤßte, ſo war ich be-
gierig zu wiſſen, wer auf meiner Seite gewe-
ſen waͤre. Allein das wollte mir Eliſabeth
nicht ſagen, damit es mir nicht zum Troſt ge-
reichen moͤchte, daß nicht alle wider mich gewe-
ſen waͤren.


Sehen Sie aber nun nicht ein, was das fuͤr
eine wunderliche Misgeburt iſt, die Sie Jhrer
Freundſchafft wuͤrdigen? Sie wiſſen, wie viel
Sie bey mir vermoͤgen: warum haben Sie
denn dieſe Laſter an mir nicht laͤngſtens beſtrafft?
Warum haben Sie nicht mit eben der Freymuͤ-
thigkeit, die ich gegen Sie gebrauche, mir vor-
gehalten, daß ich eine Heuchlerin bin? Da die-
ſes mein Bruder und meine Schweſter haben
mercken koͤnnen, ſo wundere ich mich, wie es
Jhren Augen hat verborgen bleiben koͤnnen, die
doch Fehler von einer viel geheimeren Art an
mir entdeckt zu haben glauben?


Jetzt ſcheinen ſie zu uͤberlegen, wer mir ant-
worten ſoll? Und wie die Antwort eingerichtet
werden muͤſſe? Denn ſie wiſſen nicht, und ſie
muͤſſen auch nicht wiſſen, daß ich dieſes von
Eliſabeth gehoͤrt habe. Es ſcheint, der eine
will ſich gern entſchuldigen: der andere will lie-
ber nichts mit mir zu thun haben: wieder ein
an-
[158]Die Geſchichte
anderer ſtoͤßt ſich an die Antwort, die er ſchon
bekommen hat: und ſie ſehen des Schreibens
an mich kein Ende, weil ich ſo fertig bin zu
antworten.


Was man ſonſt an mir Vorzuͤge nennete, und
ruͤhmte, das iſt nun mein Verbrechen geworden.
So ſehr kan Zorn und Unwillen den Sachen
eine andere Geſtalt geben.


Jch werde den Schluß den ſie faſſen bald
auf eine oder andere Weiſe erfahren. Jch bin da-
bey ſo auſſer mir, daß ich mich ſcheue Herrn
Lovelaces Brief zu erbrechen, damit ich nicht
durch den Jnhalt bewogen werde etwas vorzu-
nehmen, das mich Zeit Lebens gereuen moͤchte.


Montag Abends.


Dieſen Augenblick bringt mir Eliſabeth
folgenden Brief.


Fraͤulein Argliſtig.

„Eur artiger neuer Vorſchlag iſt keiner Ant-
„wort wuͤrdig. Eur Onckle Harlowe ſchaͤmt
„ſich, daß er ſich ſo hat fangen laſſen. Habt ihr
„nichts neues fuͤr euren Onckle Anton? Jhr muͤßt
„nun an der Reihe bleiben, Kind, da ihr einmahl
„angefangen habt. Doch es iſt eigentlich nur
„eine Zeile, die ich Euch zu ſchreiben habe, da-
„mit Jhr Euch kuͤnfftig nicht mehr uͤber Eure
„redliche Schweſter beſchweren moͤget, daß ſie
„ſich einige Freyheit bey Euch heraus genommen
„hat, darzu Jhr ſie gezwungen habt. Es iſt
die-
[159]der Clariſſa.
„dieſes: macht Euch fertig. Morgen reiſet
„Jhr zu meinem Onckle Anton. Das iſts al-
„les, Kind, was ich zu melden habe.„


Jacob Harlowe.


Dieſer Brief verdroß mich recht hertzlich. Da
ich eben am meiſten aufgebracht war, ſetzte ich
mich nieder, um beyfolgenden Brief an meinen
Onckle Harlowe zu ſchreiben, welcher dieſe Nacht
hier zu bleiben ſcheint.


Hochgeehrteſter Herr Vetter/


„Jch finde, daß ich in anderer Augen viel ver-
„aͤchtlicher ſeyn muß, als ich geglaubt haͤtte. Jch
„habe an Sie und nicht an meinen Bruder ge-
„ſchrieben. An Sie, ſage ich, ſchrieb ich, und
„erwartete auch von Jhnen mit einer Antwort
„beehrt zu werden. Niemand kan ſeinen Onckle
„mehr ehren als ich: allein ich glaube doch nicht,
„daß zwiſchen einem Onckle und eines Bruders
„Tochter eine ſolche Entfernung ſey, daß die
„letztere auf keine Antwort von ihm hoffen duͤrfe:
„und ich glaube einen ſolchen Vorſchlag gethan
„zu haben, der nicht verdiente mit Verachtung
„abgewieſen zu werden.


„Verzeihen Sie mir meine Dreiſtigkeit.
„Mein Hertz iſt ſo voll Kummer, daß es uͤber-
„flieſſen muß. Es ſcheint, daß Sie einmahl
„einen Tag lang uͤberlegt haben, daß Sie ſich
von
[160]Die Geſchichte
„von andern haben aufbringen laſſen, mir an-
„ders, als ich verdiente, zu begegnen. Denn
„das iſt offenbahr, daß Sie von andern aufge-
„bracht ſind. Wenn Sie ſich nun ſchaͤmen,
„(wie mir mein Bruder zu verſtehen giebt)
„daß Sie angefangen haben, gelinder und guͤti-
„ger gegen mich geſinnet zu ſeyn; ſo habe ich
„kuͤnfftig von keiner Seele Mitleiden zu gewar-
„ten. Jch bitte Sie demuͤthigſt: laſſen Sie
„mich nur von Jhrer eigenen Hand, eine Ant-
„wort haben. Jch will von meinem Bruder
„keine Antwort auf meine an Sie gerichteten
„Briefe, und keine Befehle annehmen, bis er ſich
„darauf beſonnen hat, was er einer Schweſter
„ſchuldig iſt.


Jch ſoll jedermann bewegen! Das ha-
„ben Sie beliebt zu ſchreiben. Allein wen ha-
„be ich beweget? Jſt es nicht klar, daß ſonſt
„jemand viel beweglichere Vorſtellungen muß
„thun koͤnnen? Sonſt haͤtte er gewiß nicht
„alle in der Familie ſo weit gebracht, daß ſie ſich
„ſchaͤmten, einem armen und ungluͤcklichen Kin-
„de aus eben der Familie die geringſte Liebe zu
„erzeigen.


„Schicken Sie mir dieſen Brief nicht mit
„Verachtung, nicht unerbrochen, nicht zerriſſen
„wieder zuruͤck. Mein Vater hat freylich Recht,
„ſo, und noch haͤrter, mit ſeinem Kinde zu ver-
„fahren. Allein keine Mannsperſon in der Welt,
„jhn ausgenommen, darf einem jungen Frau-
en-
[161]der Clariſſa.
„enzimmer, ſo lange es nichts anders thut als
„bitten, auf gleiche Art begegnen.„


„Da das ſo uͤbel ausgelegt iſt, was ich vor-
„hin in den demuͤthigſten Ausdruͤcken geſchrie-
„ben habe, ſo befuͤrchte ich deſto mehr, daß die-
„ſe in der Eile zuſammen geſchmirte Zeilen ſehr
„ſchlecht aufgenommen werden duͤrften. Dem
„ohngeachtet bitte ich Sie um eine Antwort auf
„meinen Antrag, ſollte ſie auch noch ſo hart ſeyn,
„und blos in einer einzigen Zeile beſtehen. Jch
„dencke noch immer, daß er einiger Aufmerck-
„ſamkeit werth geweſen waͤre. Jch will mich
„auf die guͤltigſte und unumſtoͤßlichſte Art ver-
„pflichten, nie zu heyrathen, damit meine Schen-
„ckung nie Gefahr lauffen moͤge, zuruͤckgenom-
„men zu werden. Kurtz, alles was ich thun kan,
„das will ich thun, um Jhrer aller Gewogen-
„heit wieder zu erlangen. Mehr kan ich nicht
„ſchreiben, als daß ich ohne verdient zu haben,
„dennoch bin„


das allerungluͤcklichſte Kind.


Eliſabeth weigerte ſich auch dieſen Brief zu
uͤberbringen, und ſagte, ſie wuͤrde nur ſaure Ge-
ſichter davon tragen, und mir den Brief in
Stuͤcken wieder zuruͤck bringen muͤſſen.


Jch ſagte: das letzte muͤſſe ich mir gefallen
laſſen. Sie ſollte nur den Brief richtig be-
ſtellen.


Zweyter Theil. LEs
[162]Die Geſchichte

Es iſt ſchlimm! es iſt verdrießlich, (antwor-
tete ſie) wenn ſich artige Fraͤuleins ſo hefftig
wider ihre Pflicht ſtraͤuben.


Jch antwortete: ſie ſollte Erlaubniß haben,
zu reden was ſie wollte, wenn ſie nur dieſes ein-
tzige mahl ausrichtete, was ich ihr auftruͤge.


Sie nahm endlich den Brief, und gieng hin-
unter. Jch befahl ihr noch, den Brief ſo un-
vermerckt, als moͤglich, meinem Onckle zuzuſte-
cken. Wenigſtens ſollte ſie es thun, wenn es
mein Bruder und meine Schweſter nicht ſehen,
damit dieſe es nicht durch ihre Dienſtfertigkeit
dahin braͤchten, daß ich ihn ſo wieder bekaͤme
als ſie geweiſſaget haͤtte.


Sie ſagte: dafuͤr wollte ſie nicht Buͤrge wer-
den.


Jch warte nun auf den Ausgang der Sa-
che. Da ich aber ſo wenig Urſache habe, auf
Mitleiden zu hoffen, ſo eroͤfnete ich Herrn Lo-
velaces
Brief. Jch wollte Jhnen denſelbigen
jetzt gleich mitſchicken. Da ich aber noch nicht
entſchloſſen bin, was ich ihm antworten ſoll, ſo
will ich unterdeſſen, daß ich auf Antwort von
meinem Onckle warte, einen Auszug aus ſeinem
Briefe zu Jhrer Nachricht machen.


„Er beklagt ſich, wie ſonſt, daß er bey mir
„ſo ſchlecht angeſchrieben ſey, und daß ich alles
„ſo leicht glaubets, was zu ſeinem Nachtheil ge-
„reichet. Was ich verbluͤmt geſchrieben habe,
„das uͤberſetzt er in deutliches und verſtaͤndliches
„Engliſch: daß ich gluͤcklicher ſeyn wuͤrde/
wenn
[163]der Clariſſa.
„wenn er durch eine verwegene That
„Herrn Solmes aus dem Wege raͤumen/
„und zugleich ſeine eigene Tage verkuͤrtzen
„wuͤrde.


„Er ſagt: es ſchmertze ihn ſehr, daß ſeine
„Furcht mich auf ewig zu verlieren, ihn zu ſol-
„chen Ausdruͤcken verleitet haͤtte, die ich mit ſo
„vielem Recht ahnden koͤnnte.


Er bekennet, daß er hefftig ſey: er ſagt aber,
„alle Leute, die ein gutes Gemuͤth haben, waͤren
„hefftig: denn ein ehrlicher Mann hielte nicht
„hinter dem Berge. Er uͤberlaͤſſt mir ſelbſt
„zu beurtheilen, ob ſeine hefftigen Ausdruͤcke
„nicht einigermaſſen durch die ſuͤrchterlichen Um-
„ſtaͤnde entſchuldiget wuͤrden, in die ihn meine
„Kaltſinnigkeit und die Bosheit ſeiner Feinde
„geſetzt haͤtte: wo anders etwas in der Welt
„im Stande waͤre ihn zu entſchuldigen.


„Er meint in dem Jnhalt meines letzten
„Briefes genugſame Urſache zu finden, zu fuͤrch-
„ten, daß ich mich durch Guͤte oder Gewalt
„moͤchte bewegen laſſen, meines Bruders Ab-
„ſichten Gehoͤr zu geben: und er merckte, daß
„ich ihn ſchon auf dieſen Fall gleichſam zuzube-
„reiten ſuchte, damit er ihn deſto geduldiger er-
„tragen moͤchte.


„Zum vorausgeſetzt, daß dieſe Furcht nicht
„gantz ungegruͤndet ſey, bittet er mich ernſtlich,
„der Bosheit ſeiner Feinde kein Gehoͤr zu ge-
„ben.


L 2Er
[164]Die Geſchichte

„Er gelobet Beſſerung, Danckbarkeit, Treue,
„auf das heil, gſte an, und zwar alles mit Wor-
„ten voller Demuth und Unterwerffung. Allein
„das giebt er fuͤr eine Grauſamkeit aus, daß ich
„aus ſeinen Verſicherungen der Treue den Schluß
„mache, daß ihm ſein Gewiſſen ſage, wie ſehr er
„noͤthig habe Eydſchwuͤre und Verſicherungen zu
„verſchwenden, wofern man ihm glauben ſolle.


„Er empfindet gegen ſich ſelbſt die innigſte
„Verachtung und Unwillen, wegen ſeiner vori-
„gen Thorheiten. Allein er danckt Gott, der
„ihn zur Erkaͤntniß ſeiner Fehler gebracht hat:
„und es fehlt nun weiter nichts, als daß ich
„durch meinen Umgang und naͤheren Unterricht
„ſeine Beſſerung befoͤrdere.


„Er verſpricht alles zu thun, was er mit Eh-
„ren thun koͤnne, um eine Ausſoͤhnung mit mei-
„nem Vater moͤglich zu machen. Wenn ich
„darauf beſtehe, ſo will er ſo gar meinen Bru-
„der den erſten Antrag zur Verſoͤhnung thun,
„und ihn fuͤr ſeinen Bruder anſehen, weil er
„mein Bruder iſt, wenn er nur das Andencken
„des vorigen nicht durch neue Beleidigungen
„erneuert.


„Er bittet ſo ernſtlich als demuͤthig um Er-
„laubniß, mich auf eine halbe Stunde zu ſpre-
„chen. Er will vermittelſt eines Schluͤſſels zu
„der Garten-Thuͤr nach dem Walde zu, den er
„ſich habe machen laſſen, des Nachts in unſern
„Garten kommen, wenn ich nur die Garten-
„Thuͤr inwendig aufriegeln wolte. Und er will
in
[165]der Clariſſa.
„in dem Garten warten, bis ich Gelegenheit
„habe, zu ihm zu kommen, damit er mich muͤnd-
„lich von der Wahrheit alles deſſen, was er
„geſchrieben, verſichern, und mir die Liebe aller
„der Seinigen zu mir bezeugen, ja ſo gar ihren
„Schutz anbieten koͤnne, wenn ich deſſen benoͤ-
„thigt ſeyn ſollte.


„Er unterſtuͤnde ſich nicht, ſagt er, mir zu
„drohen. Allein wenn ich ihm meine Liebe und
„mein Hertz abſchluͤge, ſo wiſſe er nicht, wozu
„ihn die Verzweiffelung antreiben koͤnnte. Ei-
„nige Streiche, die ich ihm in meinem Briefe
„gebe, haͤtten ihn gantz verzweiffelt und wild
„gemacht.


„Er fragt mich: was ich fuͤr Mittel uͤbrig
„haͤtte, zu verhindern, daß ich Herrn Solmes
„nicht angetrauet werde, wenn ich wircklich zu
„meinem Onckle Anton reiſen muͤſſte: nachdem
„die Meinigen ſo weit gegangen waͤren, und
„ſich genugſam daruͤber erklaͤrten, daß ſie noch
„weiter zu gehen gedaͤchten? Ob ich noch einen
„andern Ausweg wuͤſſte, als entweder zu denen
„meine Zuſt[u]cht zu nehmen, deren Schutz er mir
„angetragen habe: oder nach London oder ei-
„nem andern Orte zu fluͤchten, ſo lange es noch
„Zeit iſt?


„Er giebt mir den Rath, ich ſoll verſuchen
„Jhre Frau Mutter zu bewegen, daß ſie mich
„in ihr Haus aufnehme, bis ich wieder in den
„Beſitz meines Guts geſetzt und mit den Mei-
„nigen ausgeſoͤhnt bin. Dieſe, meint er, wuͤr-
L 3den
[166]Die Geſchichte
„den die Haͤnde ſogleich zur Verſoͤhnung dar-
„bieten, wenn ſie mich nicht mehr in ihrer Ge-
„walt haͤtten.


„Er benachrichtiget mich: (und ich muß mich
„wundern, wie er alles erfahren kann) daß mei-
„ne Anverwanten an meinen Vetter Morden
„geſchrieben, und mein Betragen auf der ſchlim-
„men Seite vorgeſtellet haben. Auch hoffeten
„ſie ſtarck, ihn zu gewinnen. Hieraus koͤnnte
„ich deutlich ſehen: daß mir nicht mehr als Ein
„Weg offen ſtehe, wenn mich meine Verwanten
„oder meine beſten Bekannten aufzunehmen nicht
„geſonnen waͤren.


„Wenn ich ihm dieſe Ehre erzeigen will, die
„ihn vor Vergnuͤgen gantz auſer ſich ſetzen wuͤr-
„de, daß ich den einen moͤglichen Weg erwaͤhle:
„ſo ſoll ein Aufſatz von Ehe-Pacten gemacht,
„und an gehoͤrigen Orten leerer Raum gelaſſen
„werden, den ich ſelbſt nach eigenem Belieben
„fuͤllen ſoll. Er wuͤnſcht nur meine Befehle
„nebſt allen meinen Zweiffeln und Einwendun-
„gen aus meinem eigenen Munde zu hoͤren:
„und denn eine wiederholte muͤndliche Verſiche-
„rung zu haben, daß ich Herrn Solmes nim-
„mermehr und in keinem Falle, der ſich zutra-
„gen koͤnnte, nehmen will. Denn will er zu-
„frieden ſeyn. Nichts anders kan ihn zufrieden
„ſtellen, nachdem ich ihm einen ſolchen Brief
„geſchrieben habe. Er bittet mich demnach,
„noch dieſelbe Nacht die Thuͤr aufzuriegeln, oder
„wenigſtens die folgende Nacht, wenn mir der
Brief
[167]der Clariſſa.
„Brief nicht fruͤh genug zu Haͤnden kommen ſol-
„te. Er will ſich ſo verkleiden, daß niemand auf
„ihn einen Argwohn haben ſoll. Er will bey-
„de Naͤchte in dem Walde bleiben, und unauf-
„hoͤrlich darauf acht geben, ob die Thuͤr aufge-
„riegelt werde, wenn er nicht von mir einen
„Brief bekommt, darinn ich ihm dieſes verbiete,
„und eine andere Gelegenheit beſtimme, ihn zu
„ſprechen.


Der Brief war geſtern geſchrieben. Er iſt
demnach die vergangene Nacht da geweſen, und
wird ſich dieſe Nacht wieder einfinden: und ich
habe noch keine Zeile an ihn geſchrieben. Jetzt
iſt es zu ſpaͤt, wenn ich auch ſchreiben wolte.


Jch hoffe nicht, daß er zu Herrn Solmes
gehet: ich hoffe auch, er wird nicht in unſer
Haus kommen. Thut er eins von beyden, ſo
will ich ihm auf ewig gute Nacht geben.


Was habe ich doch mit ſolchen Starr-Koͤpfen
zu thun? Jch wuͤnſchte, daß ich ſie nie haͤtte
kennen lernen! Allein was hilft Wuͤnſchen?
Jch bin voller Unruhe und Verwirrung. Doch
das brauche ich Jhnen nicht zu ſchreiben, nach-
dem ich Jhnen ſolche Umſtaͤnde gemeldet habe.



L 4Der
[168]Die Geſchichte

Der ſiebzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe/ an Fraͤulein
Howe.



Mein Onckle hat mich einer Antwort ge-
wuͤrdiget. Hier iſt ſein Brief, der geſtern
Abend ſchon geſchrieben, aber jetzt erſt an mich
beſtellet iſt. Vielleicht hat er ihn zu ſpaͤte ge-
ſchrieben, als daß er geſtern haͤtte koͤnnen uͤber-
bracht werden.


Fraͤulein Claͤrchen/


„Da Sie ſo dreiſte ſind, andere heraus zu
„fodern, und uns insgeſammt unſerer Pflicht
„erinnern wollen, ohne an Jhre eigene zu ge-
„dencken, ſo muß ich Jhnen antworten. Nie-
„mand verlangt Jhr Gut von Jhnen. Aber
„wie ſchickt es ſich, daß Sie keinen Rath von
„andern annehmen, und doch Jhrer Schweſter
„vorſchreiben wollen, wen ſie heyrathen ſoll?
„Jhr Brief an Herrn Solmes laͤßt ſich gar
„nicht entſchuldigen: das habe ich Jhnen ſchon
„vorhin nicht verhalten. Jhre Eltern wollen
„einmahl, daß Sie Gehorſam beweiſen: und es
„iſt billig, daß ſie es thun. Jedoch hat Jhre
„Frau Mutter ſo viel ausgewirckt, daß Jhre Ab-
rei-
[169]der Clariſſa.
„reiſe zu Jhrem Onckle Anton bis auf den
„Donnerſtag ausgeſetzt iſt: ſie ſagt aber dabey,
„daß Sie weder dieſe noch einige andere Gefaͤl-
„ligkeit um ſie verdient haͤtten. Jch werde kei-
„ne fernere Brieffe von Jhnen annehmen: denn
„Sie ſind mir allzuliſtig. Sie ſind ein un-
„danckbahres und unartiges Kind. Jhr Wille
„ſoll dem Willen aller andern vorgehen. Wie
„ſehr haben Sie ſich geaͤndert!„


„Jhr misvergnuͤgter Onckel
Johann Harlowe.


So ſoll ich denn doch auf den Donnerſtag
weggebracht werden, und zwar nach einem mit
Grabens verwahrten Hauſe! da eine Capelle
iſt! da Solmes hinkommen will! Wie kan ich
daran dencken, ohne daß mich die Verzweife-
lung wild und unbaͤndig macht!


Um 8 Uhr.


Jch habe einen neuen Brief von Herrn Lo-
velace.
Jch erbrach ihn, und war mir nichts
anders als freyer und bitterer Klagen gewaͤrtig,
weil ich nicht geſchrieben und dadurch veranlaſ-
ſet hatte, daß er zwey Naͤchte bey unangeneh-
men Wetter unter freyem Himmel hat bleiben
muͤſſen. Allein anſtatt ſolcher Klagen redet der
„Brief von nichts als von einer zaͤrtlichen Be-
„ſorgniß, daß entweder eine Unpaͤßlichkeit, oder
„eine noch engere Gefangenſchaft, die er ſchon
L 5zum
[170]Die Geſchichte
„zum voraus befuͤrchtet und mich auch deshalb
„gewarnt haͤtte, die Beantwortung ſeines Brie-
„fes hintertrieben haben moͤchte.„


Er meldet mir: „Er haͤtte ſich auf verſchie-
„dene Weiſe verkleidet, und waͤre des Sonntags
„an unſerer Garten-Mauer, und hinter dem
„Thiergarten herum geſtreift: und die gantze
„Nacht darauf waͤre er in dem Walde nahe bey
„der Hinterthuͤr auf und nieder gegangen. Es
„haͤtte ſtarck geregnet: und er haͤtte ſich verkaͤl-
„tet. Er koͤnnte kaum reden, ſo heiſerig waͤre
„er: und er haͤtte dabey allerhand fieberhafte
„Zufaͤlle.


Warum ſchreibt er nicht hitziger? da mich
meine Anverwanten ſo uͤbel angelaſſen haben, ſo
iſt es wahrhaftig gefaͤhrlich fuͤr mich, wenn ich
weiß, daß ich einem andern fuͤr ſeine Geduld
verbunden bin, der ſich noch dazu um meinetwil-
len an der Geſundheit Schaden gehan hat.


Er ſagt: „Er habe kein anders Obdach ge-
„habt, als die natuͤrliche Laube von Epheu, mit
„der einige junge Eichen-Baͤume durchwach-
„ſen ſind. Allein der Regen ſey bald durch-
„gedrungen.


Jch erinnere mich, daß wir beyde ihren Schat-
ten ſonſt bey ſchwuͤlen Tagen genoſſen haben.
Jch muß indeſſen bekennen; es thut mir leid,
daß er um meinetwillen Ungelegenheit gehabt hat.
Allein es iſt ſein eigener Wille.


Seinen letzten Brief hat er geſtern Abend
um 8 Uhr unterſchrieben. Er meldet, „daß er
„noch
[171]der Clariſſa.
„noch bis um zehn Uhr warten wolle, ob ich ſein
„Verlangen erfuͤllen, und ihm Gelegenheit geben
„wuͤrde, mich zu ſprechen. Er muͤſſe noch eine
„Vierthel Meile gehen, ehe er ſeinen Diener
„mit dem Pferde antraͤffe: und denn haͤtte er
„eine deutſche Meile bis zu ſeinem Wirths-
„Hauſe zu reiten.


Er bekennet: „daß er ſich mit jemand in
„unſerm Hauſe verſtehe; allein dieſer ſey ihm
„nun bis in den dritten Tag ausgeblieben. Er
„ſey in der groͤſſeſten Angſt, weil er nicht wiſſe,
„was ich machte, und wie mir begegnet wuͤrde.


Jch kan faſt rathen, wer der Schelm iſt, den
er gedungen hat. Wir haben einen Kerl, der ſich
Joſeph Lehmann nennet, und auf den ſich mein
Bruder gaͤntzlich verlaͤßt. Herr Lovelace hat
in der That von dieſer Auffuͤhrung viel Ehre!
Er iſt lange zu Paris geweſen. Hat er et-
wan an dem Frantzoͤſiſchen Hofe die Kunſt ge-
lernt, fremde Bediente zu beſtechen?


Jch habe mich oft uͤber dieſen Lehmann ge-
aͤrgert, wenn ich ein wenig in die Luft gegangen
bin, oder das Feder-Vieh beſehen habe. Weil
er immer ungemein bequem gegen mich war,
habe ich oͤfters geglaubt, daß er meines Bru-
ders Spion ſeyn moͤchte: und ich habe mich ge-
wundert, daß er ſich ſo gleich aus dem Garten
und aus dem Huͤner-Hofe wegmachte, wenn ich
hinein trat, und meine Freyheit, dieſe Oerter zu
beſuchen, doch gar nicht eingeſchraͤnckt ward.
Vielleicht laͤßt ſich der Kerl von beyden beſtechen,
um
[172]Die Geſchichte
um beyde zu betriegen. Sie wuͤrden aber bey-
derſeits keine krumme Wege zu betreten noͤthig
haben, wenn ſie rechtmaͤßige Abſichten haͤtten.
Ein aufrichtiges Gemuͤth kan den Beſtecher eben
ſo wenig dulden als den Betruͤger.


Er dringet ſehr ernſtlich darauf, daß ich ihn
ſprechen ſoll. „Er wolle ſich nicht unterſtehen,
„meinem muͤndlichen Befehl ungehorſam zu ſeyn,
„da ich ihm verboten hatte, mich nie wieder in
„unſerm Holtz-Stall aufzuſuchen. Er wollte
„nicht einmahl einen ſolchen Vorſchlag thun.
„Allein er hoffe mir ſolche Gruͤnde, die ich ſelbſt
„billigen wuͤrde, vorzulegen, um derenwillen ich
„ihm erlauben ſollte, meinem Vater und mei-
„nen Onckles aufzuwarten. Denn er koͤnnte
„nicht unterlaſſen, mir zur Ueberlegung anheim
„zu ſtellen, wie wenig es ſich fuͤr ihn und fuͤr
„mich ſchicke, daß ein Mann von ſeinen Umſtaͤn-
„den und Herkommen ſich ſo heimlich um mich
„bewerben ſolte, als wenn er ein Landlaͤuffer waͤ-
„re. Wenn ich ihm nur erlauben wollte, mir
„die Aufwartung ſo zu machen, wie es ſich fuͤr
„einen Cavallier ſchickt, ſo ſolte auch die aller-
„groͤbſte Begegnung ſeine Geduld und Gelaſſen-
„heit nicht uͤberwinden. Wenn es mir gefaͤllig
„waͤre, ſo ſolte ſein Onckle mit ihm kommen:
„oder ſeines Onckles Schweſter, Frau Law-
„rance
ſolte vorher bey meiner Muttrr, oder bey
„Frau Hervey oder bey meinen Onckles einen
„Beſuch abſtatten: alles, wie ich es anzuordnen
„beliebete. Es ſolten ſolche Bedingungen an-
getra-
[173]der Clariſſa.
„getragen werden, die gewiß bey den Meinigen
„einen Eindruck machen wuͤrden.


„Er bittet ſich aus, daß ich ihm nicht ver-
„wehren moͤchte, Herrn Solmes zu beſuchen.
„Er gelobet, ſo hoch er geloben kan, daß er nicht
„die geringſte Gewalt gegen ihn gebrauchen will.
„Er will ihm nur alles gantz vernuͤnftig vorſtel-
„len, was die Folgen ſeiner unnuͤtzen Beſtaͤndig-
„keit ſeyn koͤnnten, und wie unverſtaͤndig und
„thoͤricht dieſes gehandelt ſey, wenn man es mit
„einem ſo edel geſinneten Frauenzimmer zu thun
„habe. Er wiederhohlt endlich ſein Verſprechen:
„daß er die Belohnung ſeiner Geduld und Be-
„ſtaͤndigkeit nach meines Vetters Morden An-
„kunft erwarten, und auf meinen eigenen Aus-
„ſpruch ankommen laſſen wolle.


„Er meint, einer ſeiner Vorſchlaͤge muͤßte
„doch wenigſtens angenommen werden. Wenn
„man mit einer unangenehmen und verhaßten
„Perſon umginge, ſo wuͤrde dadurch der Wider-
„wille gleichſam ſtumpf, der durch die Entfer-
„nung geſchaͤrft wuͤrde. Und deſto ernſtlicher
„und ungeſtuͤmer wuͤnſcht er, mich zu ſprechen. Er
„ſagt, er habe zwar jetzt in London noͤthige Ge-
„ſchaͤfte. Allein er koͤnne die unbequeme Herberge,
„in welcher er ſich bisher in einer Verkleidung,
„deren er ſich ſelbſt ſchaͤmen muͤßte, aufgehalten
„haͤtte, nicht eher verlaſſen, als bis er voͤllig ver-
„ſichert ſey, daß ich mich weder durch Gewalt
„noch durch gute Worte uͤberwinden laſſen wol-
„te, und bis ich von der Tyrann [...], neines Bru-
ders
[174]Die Geſchichte
„ders voͤllig befreyet waͤre. Es koͤnnte ihm die-
„ſes ohnmoͤglich gleichguͤltig ſeyn, da alle Welt
„ſagte, daß man um ſeinetwillen ſo hart mit mir
„umginge. Allein er muͤſſe hiebey eine An-
„merckung machen: wenn die Meinigen wuͤß-
„ten, wie fremde ich mit ihm umginge, ſo wuͤr-
„de bey ihnen die Urſache wegfallen, um de-
„rentwillen ſie mich einſperreten: und noch ei-
„ne
Anmerckung: Die Meinigen muͤßten ge-
„wiß glauben, daß er verdiene etwas guͤnſtiger
„von mir angeſehen zu werden, und daß ich ihm
„auch in der That geneigter ſey. Denn ich be-
„gegnete ihm wahrhaftig ſo, wie es meine An-
„verwanten aus Rachbegierde gegen ihn wuͤnſch-
„ten, das eintzige ausgenommen, daß ich noch
„die Guͤtigkeit haͤtte, Briefe mit ihm zu wech-
„ſeln. Er ſchaͤtze dieſe Guͤtigkeit unendlich hoch,
„und es kaͤme ihm nichts zu geringe, nichts zu
„ſchimpflich vor, das er nicht gern uͤbernehme,
„um dieſes Vortheils noch laͤnger zu genieſ-
„ſen.


„Er gelobt aufs neue Beſſerung an. Er
„ſchreibt, er ſey uͤberzeuget, daß er ſchon lange
„auf einem gefaͤhrlichen Wege gewandelt habe,
„und ſehr weit darauf gekommen ſey: und daß
„er nun hohe Zeit habe, auf eine Ruͤckkehr zu
„dencken. Wer ein allzuluſtiges Leben gefuͤhrt
„habe, und es aͤndere, ehe ihn Alter oder Ungluͤck
„dazu noͤthigten, bey dem muͤſſe gewiß eine wahre
„Ueberzeugung von der Thorheit ſeiner Aus-
„ſchweifungen zum Grunde liegen.


„Er
[175]der Clariſſa.

„Er bemerckt, daß ein jedes edles Gemuͤth
„allen Zwang haſſe. Er gehet dieſer Betrach-
„tung weiter nach, und bedauert endlich, daß es
„ſcheine, als wenn er alle Hoffnung auf mich
„blos dem Zwang der Meinigen zu dancken ha-
„be, dem gantz unvernuͤnftigen Zwange, wie
„er ihn mit Recht nennet, und gar nicht meiner
„Hochachtung fuͤr ihn. Und dennoch meint er
„einige Verdienſte zu haben, nemlich einen blin-
„den Gehorſam gegen meinen Willen: eine an-
„haltende Geduld, bey den taͤglichen Beleidi-
„gungen meines Bruders, die nicht blos auf ihn
„ſelbſt, ſondern auch auf ſeine Anverwanten
„giengen: und die vielen Naͤchte, die er meinet-
„wegen gewachet haͤtte, nebſt der Gefahr und
„allen Beſchwerlichkeiten des Wetters, die er da-
„bey auszuſtehen haͤtte. Seine jetzige Unpaͤß-
„lichkeit erinnere ihn hieran, ſonſt wuͤrde er durch
„eine Erzaͤhlung, die nach der Eigenliebe ſchme-
„cke, die recht edle Liebe, die er gegen mich em-
„pfinde, nicht entehret haben.„


Jch kan nicht leugnen, es daurt mich, daß er
unpaͤßlich iſt. Jch ſcheue mich, Sie zu fragen,
was Sie in gleichen Umſtaͤnden thun wuͤrden.
Was ich gethan habe, das habe ich gethan! Kurtz!
ich habe geſchrieben: ich wollte mich wenn es
moͤglich waͤre Morgen Abend zwiſchen neun und
zwoͤlff Uhr mit ihm unterreden. Es ſollte bey
oder in der Laube geſchehen, oder bey der groſ-
ſen Cascade am Ende des Gartens. Die
Thuͤr wollte ich aufriegeln, damit er nur auf-
ſchlieſ-
[176]Die Geſchichte
ſchlieſſen duͤrfte. Wenn ich aber faͤnde, daß
unſere Unterredung nicht thunlich waͤre, oder
wenn ich meinen Entſchluß aͤnderte, ſo wollte ich
ihm noch ein paar Zeilen ſchreiben. Auf dieſe
muͤßte er aber warten, bis es finſter waͤre.


Dienſtags um 11 Uhr.


Jch kom̃e eben zuruͤck, und habe meinen Brief
hingelegt. Wie wachſam iſt der Menſch! Er
mußte gewiß eben darauf gewartet haben. Nach-
dem ich ein paar Schritte weggegangen war, ſo
ſchlug mir das Hertz; ich gieng zuruͤck um mei-
nen Brief wieder weg zu nehmen, damit ich ihn
im Gehen weiter uͤberlegen, und mich bedencken
koͤnnte, ob ich es thun ſollte, oder nicht. Al-
lein er war nicht mehr da. Vermuthlich war
um die Zeit, da ich den Brief in die Oeffnung
der Ziegelſteine ſchob, nur eine duͤnne Ziegel-
wand von wenig Zollen zwiſchen Herrn Love-
lace
und mir.


Jch gieng unzufrieden mit mir ſelbſt aus
dem Garten zuruͤck. Jch dencke aber doch, es
kan kein groß Ungluͤck ſeyn, wenn ich ihn ein-
mahl ſpreche: und wenn ich es nicht thue, ſo
kan er zu gewaltthaͤtigen Mitteln greiffen, und
daruͤber deſperat werden, daß man aus Feind-
ſchafft gegen ihn und um ſeine Hoffnung zu
nichte zu machen, ſo hart mit mir verfaͤhrt.
Sein Betragen, da ich ihn das vorige mahl
ſprach, da Zeit und Ort mir zuwider und ihm
vortheilhafft war, hat gar keine Furcht bey mir
zu-
[177]der Clariſſa.
zuruͤck gelaſſen, als nur dieſe, daß wir moͤchten
entdeckt werden. Seine Forderung iſt nicht
unbillig, und meine kuͤnftige Wahl in Abſicht
auf ihn und andere bleibt dabey ungebunden: er
verlangt nur aus meinem eigenen Munde die
Verſicherung zu hoͤren, daß ich den Mann, den
ich haſſe, niemahls nehmen will. Wenn ich ihn
nicht ohne Gefahr entdeckt zu werden ſprechen
kan, ſo muß er mir nicht uͤbel nehmen, daß ich
ihn noch einmahl vergebens gehen laſſe. Der
uͤble Ruf in dem er ſtehet, iſt die eintzige Urſache
ſeiner und meiner Unruhe. Jch haſſe ſonſt Ty-
ranney und Hochmuth, allein dieſer Umſtand
macht, daß die Gefahr und Beſchweerden die er
uͤbernehmen muß mir weniger zu Hertzen gehen,
als ſonſt geſchehen wuͤrde; ſonderlich, da ich
noch mehr zu leiden habe als er, und ſein uͤbler
Ruf mit an meinem Leiden Schuld iſt.


Eliſabeth bekraͤfftigt die Nachricht, daß ich
auf den Donnerſtag zu meinem Onckle reiſen
muß. Sie war heraufgeſchickt, um mir zu ſa-
gen, daß ich mich zur Reiſe anſchicken moͤchte,
und um mir bey Einpackung meiner Sachen be-
huͤlfflich zu ſeyn.



Zweyter Theil. MDer
[178]Die Geſchichte

Der achtzehende Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch habe Jhnen einige mahl geſchrieben, daß
Eliſabetb ſehr dreiſte und naſeweiß ſey.
Da ich jetzt ein wenig Zeit habe, ſo will ich Jh-
nen eine Probe davon geben, und eine Unterre-
dung, die wir eben mit einander gehabt haben,
aufzeichnen. Vielleicht dient es Jhnen zur Er-
leichterung, da ich Sie ſonſt immer mit ſo un-
angenehmen Nachrichten ermuͤde.


Als ſie mir bey Tiſche aufwartete, merckte ſie
an, daß die Natur mit wenigem zufrieden ſey.
Sie wollte einmahl ein hoͤfliches Wort ſagen,
und ſetzte deshalb als einen Beweis hinzu:
Denn/ Fraͤulein/ ſie eſſen jetzt faſt nichts/
und haben doch in ihrem Leben nie char-
manter ausgeſehen.


Jch antwortete: „Eur erſter Satz iſt rich-
„tig, Eliſabeth: und wenn ich bisweilen geſehen
„habe, wie geſund die Kinder der armen Tage-
„loͤhner ausſehen und auch in der That ſind, ob-
„gleich ihr Magen leer iſt, und ſie ſich kaum ein-
„mahl in der Woche ſatt eſſen koͤnnen, ſo habe
„ich oft bedacht, daß die Vorſicht ſehr guͤtig ge-
„gen die Geſchoͤpfe geweſen ſey, da ſie eine ſol-
„che
[179]der Clariſſa.
„che Einrichtung gemacht hat, daß zu Erhaltung
„des Lebens nicht viel erfordert wird: denn ſonſt
„wuͤrden drey Viertheile unter ihnen nicht das
„nothwendige zu ihrem Unterhalt haben. Es
„fallen mir dabey zwey Spruͤchwoͤrter ein, in
„denen ſehr viel geſunder Verſtand iſt.„


Darf ich mir dieſe Spruͤchwoͤrter wohl
ausbitten? Jch mag ſie gern reden hoͤren/
wenn ſie ſo verſtaͤndig ſind/ als jetzt.


„Das eine kommt gantz nahe zur Sache:
Armuth iſt die Mutter der Geſundheit.
„Wenn ich jetzt mehr Appetit haͤtte, und bey ſo
„wenigem Schlaf und vielen Kummer ſtaͤrcker
„aͤſſe, ſo wuͤrde ich nicht ſo bey mir ſelbſt ſeyn,
„als ich jetzt bin, ſondern ich wuͤrde am Ver-
„ſtande Schaden leiden.„


Es iſt nichts ſo ſchlimm/ dabey nicht
etwas gutes iſt!
ſagte Eliſabeth, als wollte
ſie mir Spruͤchwort fuͤr Spruͤchwort geben.
Allein/ wie heißt das andere? Fraͤulein!


Dafuͤr daß die Reichen lachen/ muͤſſen
„die Armen weinen.
Es iſt daher billig, daß
„der Ueberfluß der Reichen Kranckheiten und
„Ungemach nach ſich ziehet: und daß mit der
„Armuth gemeiniglich ein geſunder Leib verbun-
„den iſt, der alle andere Truͤbſal erleichtert. Und
„hiebey faͤllt mir noch ein drittes Spruͤchwort
„ein, weil ihr doch eine ſo groſſe Freundin von
„Spruͤchwoͤrtern ſeyd: beſſer barfuß/ als
„ohne Fuͤſſe.
Die Meinung iſt, es ſey beſſer
„barfuß zu gehen, als gar nicht gehen zu koͤnnen.„


M 2Was
[180]Die Geſchichte

Was ich ihr ſagte, hatte das Gluͤck ihren
vollkommenen Beyfall zu finden. Sie ſagte:
Ey was es doch fuͤr eine huͤbſche Sache
iſt/ gelehrt zu ſeyn. Jch habe ſchon als
ein kleines Maͤdchen die Buͤcher gern lei-
den moͤgen. Wenn es auch nur Mother
Gooſe oder eine andere Kinder-Geſchichte
war.
(Sie nahm mit vieler Artigkeit eine
Priſe Schnupftoback.) Wenn meine Eltern
ſo gekonnt haͤtten/ wie ich wollte/ o wie
gluͤcklich waͤre ich jetzt!


„Jch glaube, daß ihr es euch ſehr wuͤrdet zu
„Nutze gemacht haben, Eliſabeth. Jndeſſen
„muß ich doch ſagen, daß ich in der Zeit, da ihr
„ſo vertraut mit mir geweſen ſeyd, beiſſendere
„Ausdruͤcke von euch gehoͤrt habe, als jemahls
„von den Studenten, die mein Bruder biswei-
„len mit zu Tiſche gebracht hat.„


Jhre Dienerin/ meine liebe Fraͤulein/
ſagte ſie, mit einem ſehr hoͤflichen Knicks, ſie
koͤnnen ſehr gut von einer Sache urthei-
len. Sie ſolten einen faſt hochmuͤthig
machen.
Sie nahm noch einmahl Schnupf-
toback. Jch kan nicht leugnen/ daß ich
oft beruͤhmte hochverſtudirte Leute ge-
ſehen habe/ die ſehr dumm Zeug redeten/
daß ich mich ſchaͤmen wuͤrde ihre Worte
in meinen Mund zu nehmen Aber ich
glaubte immer/ ſie thaͤten es aus Demuth
und Herablaſſung zu den Ungelehrten.


Damit ſie ſich nicht allzuviel einbilden moͤch-
te,
[181]der Clariſſa.
te, ſagte ich ihr: „Die Munterkeit des Witzes,
„die ſie bey ſich faͤnde, ſey nicht ihr perſoͤnlicher
„Vorzug, ſondern ein Vorzug unſers gantzen
„Geſchlechts, welches in allem dem, was die
„Einbildungskraft anginge, es dem andern Ge-
„ſchlechte zuvor thaͤte. Daher, ſagte ich, kommt
„es, Jungfer Lisgen, daß eure Gabe beiſſend
„und empfindlich zu reden bey gegebener Gelegen-
„heit vielmehr in die Augen faͤllt, als man es
„ſonſt von einer erwarten ſollte, deren Eltern/
„nach eurer Redensart, nicht ſo gekonnt ha-
„ben/ als ſie gewollt hat.


Sie gab mir eine Probe von dem was ich ge-
ſagt hatte, die ich mir nicht vermuthen war.
Sie ſagte: wenn unſer Geſchlecht einen ſo
groſſen Vorzug in beiſſenden Reden hat/
ſo kan man ſich deſto weniger verwun-
dern/ daß ſie bey einer ſolchen Erziehung
jedermann/ und ſogar alle Frauenzimmer/
die ihnen nahe kommen/ darinn uͤber-
treffen.


„GOtt behuͤte! antwortete ich: was fuͤr eine
„Probe eures Witzes und eurer Dreiſtigkeit gebt
„ihr mir? Jhr uͤbertreft euch dieſesmahl ſelbſt.
„Frauenzimmer von meinen Jahren wuͤrden
„weniger Verſuchung von Hochmuth haben
„und vorſichtiger werden, wenn ſie alle ſolche
„Cammer-Jungfern haͤtten, denen der Mund
„eben ſo geoͤfnet waͤre, als euch. Nehmt das
„Eſſen ab!„


Wie? Fraͤulein/ ſie haben ja gar nichts
M 3gegeſ-
[182]Die Geſchichte
gegeſſen. Jch hoffe nicht/ daß ich etwas
geſagt habe/ das ihnen den Appetit ver-
dorben hat.


„Nein, Jungfer, ihr wißt, daß ich es ſchon
„gantz gewohnt bin, daß ihr euch einige Freyheit
„gegen mich heraus nehmt. Jch freue mich, daß,
„wenn alle Fraͤuleins, die man nach der Mode
„fuͤr artig haͤlt, ausſterben ſollten, man den Ver-
„luſt durch ihre Cammermaͤdchens und Vertrau-
„ten erſetzen koͤnnte. Eure Fraͤulein hat viel
„dazu beygetragen, daß ihr ſo munter gewor-
„den ſeyd: denn ſie iſt immer lieber mit euch
„als mit mir umgegangen. Sie ließ es gehen
„wie ihr wolltet;
und ſo habt ihr durch ihren
„Umgang erlangt, was ich verlohren habe.


Ja/ Fraͤulein/ wenn ſie darauf kommen/
ſo muß ich bekennen/ daß niemand artiger
ſpaſſen kan/ als Fraͤulein Harlowe. Jch
koͤnnte ihnen/ wenn ich wollte/ einen Spaß
erzaͤhlen/ den ſie vorbrachte/ als ich ihr
ſagte, daß ſie ſeit einiger Zeit vom Winde
lebten/ und zu nichts Appetit haͤtten/
und doch ſo charmant ausſehen als je-
mahls.


„Jch kan ſchon zum voraus dencken, daß es
„ein recht guͤtiger Spaß geweſen ſeyn wird.
„Wollt ihr denn ſo gut ſeyn, und ihn mir wie-
„der erzaͤhlen?„


Sie ſagte: ihr Eckel haͤtte allen Ap-
petit verſchlungen: und der Eigenſinn

waͤre
[183]der Clariſſa.
waͤre Eſſen und Trincken und Klei-
dung fuͤr ſie.


„Ja! Jungfer Eliſabeth: ſagte ſie das?
„Sie lachte doch wohl hoffentlich, als ſie es ſag-
„te; wie ſie immer zu thun pflegt, wenn ſie et-
„was vorbringt, das ſie einen Spaß nennet? Es
„war gewiß ein ſehr beiſſender Spaß. Jch
„wollte mir wuͤnſchen, ſo aufgeraͤumt zu ſeyn,
„daß ich auch auf einen Spaß dencken koͤnnte.
„Wenn ihr aber ein beſonders Vergnuͤgen an
„ſolchen weiſen Spruͤchen findet, ſo kan ich euch
„noch mit einem dienen: Aufmunterung
„macht den Leuten Gaben/ die man nie
„bey ihnen geſucht haͤtte.
Dis wird ſich
„auf eure Fraͤulein und auf ihre Cammer-Jung-
„fer ſchicken. Jch kan euch noch ein ſolches
„Spruͤchwort ſagen, das gerade das Widerſpiel
„von dem vorigen iſt: Verfolgung und Druck
„nehmen einem freyen Gemuͤthe den Muth,
„und machen die Einbildungs-Kraft
„ſtumpf.
Hieraus werdet ihr erklaͤren koͤnnen,
„wie es kommt, daß meiner Schweſter Witz ſo
„viel Bewunderung erwecket, und daß ich ſo ein-
„faͤltig bin. Jhr muͤßt aber wiſſen, daß frey
„und witzig nicht einerley iſt: und ich darf mich
„nicht unterſtehen, dieſe letztere Tugend mir zu-
„zueignen.


Um Gottes Willen/ Fraͤulein/ ſagte das
tumme Maͤdchen, ſie wiſſen vor ihre Jahre
ſehr viel. Sie ſind ein recht gelehrtes

M 4Frau-
[184]Die Geſchichte
Frauenzimmer. Es iſt Jammer-Scha-
de ‒ ‒ ‒


„Bejammert mich nicht, Eliſabeth. Jch weiß
„ſchon was ihr ſagen wollt. Aber ſagt mir das,
„ob ich auf den Donnerſtag wircklich nach mei-
„nem Onckle Anton reiſen ſoll?


Jch wollte mich nehmlich wegen meiner Ge-
duld in Anhoͤrung ihrer Thorheiten dadurch be-
zahlt machen, daß ich einige Nachricht durch ſie
bekaͤme.


Wie? Fraͤulein! (Nehmen ſie es nicht
uͤbel/ daß ich mich niederlaſſe.)
Sie ſetzte
ſich nieder, und nahm ein wenig Schnupftoback
mit ihrem artigen Fingerchen und dem Daumen.
Die andern drey Finger ſperrete ſie weit von
einander, und machte einen zierlichen Schwung
mit der Hand. Jch kan nicht anders ſagen,
als daß ſie meiner Meinung nach auf den
Donnerſtag gewiß wegreiſen werden/ und
zwar
nolesſ folesſ,wie meine Fraͤulein auf
Frantzoͤſiſch ſagte.


„Das ſoll vermuthlich ſo viel ſeyn, als, ich
„mag wollen oder nicht? Nicht ſo Jungfer?„


Ja/ ſie haben es gerathen: Fraͤulein.


Gut! aber, Eliſabeth, ich habe nicht Luſt mich
„ſo geſchwind aus dem Hauſe ſtoſſen zu laſſen.
„Meint ihr nicht, daß ich noch eine Woche laͤn-
„ger hier bleiben koͤnnte?„


Wie kan ich das ſagen/ Fraͤulein!


„Wenn ihr wollet, ſo koͤnntet ihr mir genug
„davon ſagen. Jch darf an niemand ſchreiben,
nie-
[185]der Clariſſa.
„niemand beſucht mich, und ich darf niemand
„beſuchen. Wie ſoll ich meine Bitte, um eine
„Woche oder vierzehn Tage lang Aufſchub, an-
„bringen?„


Jch dencke/ Fraͤulein/ wenn ſie etwas
nachgeben wollten/ ſo wuͤrden die Jhri-
gen auch nachgeben- Wollen ſie Gefaͤllig-
keiten von andern erwarten/ und andern
keine erzeigen?


„Jhr gebt wieder ſehr empfindliche Reden.
„Allein wer weiß, was die Folge davon iſt,
„wenn ich nach meines Onckles Gut abgefuͤhrt
„werde?


Wer weiß? Ey Fraͤulein jedermann
kan errathen/ was die Folge davon ſeyn
wird.


„Welche denn, Eliſabeth?„


Welche denn? Sie werden wieder eben
ſo guten Ruhm haben/ als ſie immer ge-
habt haben: und ihre Eltern werden von
ihnen Gehorſam verlangen/ den ſie ihren
lieben Eltern ſchuldig ſind.


„Wenn ich nicht ſchon gewohnt waͤre, Jung-
„fer Eliſabeth/
daß ihr von Schuldigkeit
„mit mir redetet, ſo wuͤrde ich mich uͤber die
„Freyheit die ihr euch heraus nehmt, verwun-
„dern.„


Es ſcheint/ daß Sie ungehalten ſind/
Fraͤulein. Jch will nicht hoffen/ daß ich
mir eine unanſtaͤndige Freyheit herausge-
nommen habe.


M 5„Wenn
[186]Die Geſchichte

„Wenn du das in der That meineſt, ſo muß
„ich mehr mit deiner Unwiſſenheit Mitleiden
„haben, als daß ich uͤber deine Frechheit unge-
„halten werden ſollte. Jch wuͤnſchte aber, daß
„du mich allein laſſen wollteſt.


Wenn Fraͤuleins ihre eigene Pflicht ver-
geſſen/ ſo iſt es kein Wunder/ daß ſie auf
die boͤſe ſind/ die ihre Pflicht beobachten.


„Das iſt ein ſehr artiger Ausdruck, Eliſa-
„beth. Jch ſehe wohl, was du fuͤr Begriffe
„von deiner Pflicht haſt: und ich bin denen
„verbunden, die dich ſo wohl unterrichtet ha-
„ben.„


Es iſt eine Anmerckung/ Fraͤulein/ die
alle im Hauſe machen/ daß ſie auf eine
gelaſſene Artrecht ſchneidende Worte vor-
bringen koͤnnen/ ohne dabey zu ſchim-
pfen/ wie ſonſt vornehme Leute eben ſo
gut als gemeine im Affect zu thun pfle-
gen. Jch wuͤnſchte nur/ daß ſie Juncker

Solmes vor ſich gelaſſen haͤtten: er wuͤr-
de ihnen ſolche Sachen von Juncker
Love-
lace erzaͤhlt haben/ daß ſie ihm nimmer
wieder wuͤrden gut geworden ſeyn.


„Wiſſt ihr, was das eigentlich fuͤr Sachen
„geweſen ſind?„


Nein! wahrhaftig nicht. Sie werden
aber alles in ihres Onckles Hauſe hoͤren;
und vielleicht mehr davon, als ſie zu hoͤ-
ren Luſt haben.


„Jch mag hoͤren was ich will, ſo bin ich doch
ein-
[187]der Clariſſa.
„einmahl entſchloſſen, Herrn Solmes nicht zu
„nehmen, wenn es mir auch das Leben koſten
„ſollte.„


Wenn ſie ſo veſt entſchloſſen ſind/ ſo mag
ihnen Gott gnaͤdig ſeyn/ Fraͤulein. We-
gen ihres letzten Briefes an Juncker
Sol-
mes, auf den alle im Hauſe ſo viel haiten/
und wegen ihres Widerwillens gegen
Juncker
Lovelace, werden ſie keine Geduld
mit ihnen haben.


„Was wollen ſie denn anfangen? Sie wer-
„den mich ja nicht umbringen! was wollen ſie
„machen?„


Sie umbringen? Nein! Sie werden
aber nicht aus dem Hauſe kommen/ ehe ſie
Gehorſam geuͤbt haben. Feder und Din-
te werden ſie dort nicht haben/ wie hier/
da ſie noch dazu in Verdacht ſind/ daß
ſie keinen guten Gebrauch davon machen.
Sie wuͤrden auch hier keine Federn und
Dinte haben/ wenn man nicht daͤchte/
daß ſie ſo bald wegreiſen ſollten. Niemand
wird ſie ſprechen oder an ſie ſchreiben duͤr-
fen. Was noch weiter geſchehen moͤch-
te/ weiß ich nicht zu ſagen: und wenn
ich es wuͤßte/ ſo duͤrfte es doch nicht zu-
traͤglich ſeyn. Allein ſie koͤnnen allem Un-
gluͤck durch ein einziges Wort abhelfen:
und wie wuͤnſchte ich, daß ſie es thun

wollten. Denn waͤren wir alle gluͤcklich
und vergnuͤgt. Und wenn ich frey meine

Ge-
[188]Die Geſchichte
Gedancken ſagen darf/ ſo weiß ich nicht/
warum ein Mann nicht ſo gut ſeyn ſollte
als der andere: und warum ein tugend-
hafter Mann nicht ſo gut iſt/ als ein Boͤ-
ſewicht.


„Gut! Eliſabeth,„ (ſagte ich ſeufzend) „alle
„deine unverſchaͤmten Reden ſind vergebens. Jch
„ſehe aber wohl, daß ich dazu beſtimmet bin,
„ungluͤcklich gemacht zu werden. Jch will es
„noch einmahl wagen, zu bitten.„


Jch war des naſeweiſen Maͤdchens eben ſo
uͤberdruͤßig, als meiner ſelbſt. Jch ging daher
in mein Cloſet/ und ſchrieb, ungeachtet des Ver-
bots, ein paar Zeilen an meinen Onckle Har-
lowe/
um ihn zu bitten, daß er einen Aufſchub
meiner Abreiſe auswuͤrcken moͤchte. Jch habe
dabey den Zweck, meine verſprochene Unterre-
dung mit Herrn Lovelace aufzuſchieben, wenn
mein Onckle etwas ausrichten kan. Denn mein
Hertz giebt es mir je mehr und mehr, daß ich
ihn nicht ſprechen ſoll. Jch weiß nicht, woher
meine Furcht ruͤhret.


Auf die Ueberſchrifft des Brieffes ſetzte ich
die Worte: Jch bitte ſie/ wuͤrdigen ſie die-
ſen Brief einer Durchleſung.
Der Brief
ſelbſt lautete alſo:


Theureſter Onckle


„Nehmen Sie noch dieſe eintzige Bitte von
mir
[189]der Clariſſa.
„mir an, und wuͤrdigen Sie einer Erhoͤrung.
„Jch verlange nur, daß ich nicht den naͤchſten
„Donnerſtag ausgeſtoſſen werden moͤge.


„Warum ſoll Jhr armes Maͤdchen ſo ge-
„ſchwind, ſo ſchimpflich aus dem Hauſe gejagt
„werden? Jch bitte Sie, verſchaffen Sie mir
„nur eine Friſt von vierzehn Tagen. Jn dieſer
„Zeit werden Sie hoffentlich alle gelinder wer-
„den. Meine Mutter ſoll nicht noͤthig haben,
„ihre Thuͤr zuzuſchlieſſen, um ihr Kind, mit dem
„ſie zuͤrnt, nicht zu ſehen: denn ich will mich
„nicht unterſtehen, ihr oder meinem Vater ohne
„Erlaubniß unter die Augen zu komen. Ein
„Aufſchub von vierzehn Tagen iſt ja nur eine
„Kleinigkeit, die leicht verwilligt werden kan; es
„waͤre denn, daß man einmahl den Schluß ge-
„faſſet haͤtte, nichts von allem zu thun, darum
„ich bitte: und zur Beruhigung meines Gemuͤths
„traͤgt doch dieſer Aufſchub ſehr viel bey. Wir-
„cken Sie dieſes fuͤr mich aus, ſo werden Sie
„durch dieſe Wohlthat ungemein verpflichten


Jhre
„gehorſamſte, aber ſehr
betruͤbte Baſe
Clariſſa Harlove.


Jch habe dieſen Brief hinunter geſchickt.
Mein Onckle war noch nicht weggegangen, und
noch jetzt erwartet er meine Antwort auf eine
Fra-
[190]Die Geſchichte
Frage, die er mir in ſeinem Antworts-Schrei-
ben vorgelegt hat. Dieſes lautet alſo:


„Jhre Abreiſe nach Jhres Onckels Gut auf
„den Donnerſtag war zwar ſchon voͤllig veſt
„geſtellt. Dem ohngeachtet war ihre Frau
„Mutter, welcher Herr Solmes hierin beytrat,
„ſo geneigt, Jhnen eine Liebe zu erzeigen, daß
„Jhre Bitte unter einer Bedingung bewilliget
„iſt: und es wird auf Sie ſelbſt ankommen, ob
„der Aufſchub vierzehn Tage oder eine kuͤrtzere
„Zeit waͤhren ſolle. Wenn Sie die eine Be-
„dingung nicht eingehen wollen, ſo erklaͤrt ſich
„Jhre Frau Mutter dahin, daß ſie niemahls
„wieder fuͤr Sie bitten will. Sie verdienen
„auch nicht einmahl dieſe Gefaͤlligkeit, die Sie
„nur dazu anwenden wollen, daß wir gelinder
„werden moͤgen, nicht aber daß Sie ſich uͤber-
„winden lernen.


„Die Bedingung iſt, daß Sie einen Beſuch
„von Herrn Solmes annehmen, der eine
„Stunde dauren ſoll; und dabey Jhr Bruder,
„oder Jhre Schweſter, oder Jhr Onckle An-
„ton/
mit zugegen ſeyn wird. Sie haben die
„Wahl unter dieſen dreyen.


„Wenn Sie dieſe Bedingung nicht anneh-
„men; ſo reiſen Sie auf den Dienſtag nach dem
„Hauſe, dagegen Sie ſeit einiger Zeit eine ſo be-
„fremdende Widrigkeit gehabt haben, Sie moͤ-
„gen reiſefertig ſeyn oder nicht. Antworten Sie
„mir gerade zu: brauchen Sie keine Ausfluͤchte.
„Herr Solmes wird Sie nicht verſchlingen.
„Laſſen
[191]der Clariſſa.
„Laſſen Sie uns ſehen, ob wir in einer eintzigen
„Sache Gehoͤr finden ſollen, oder nicht.„


Johann Harlowe.


Nach einer kurtzen Ueberlegung entſchloß ich
mich zu Uebernehmung dieſer Bedingung. Jch
fuͤrchte nur, daß Herr Lovelace durch ſeinen
Kundſchaffter Nachricht davon erhalten, und
dadurch zu einer verzweiffelten Entſchlieſſung be-
wogen werden moͤchte: inſonderheit, da ich an
ihn ſchreiben und die Unterredung, die er ſchon
im Geiſte mit mir haͤlt, weiter hinaus ſetzen will,
nachdem ich mehr Zeit gewonnen habe. Fol-
genden Brief habe ich an meinen Onckle ge-
ſchrieben:


Hochgeehrteſter Herr Vetter

„Ob ich gleich ſehe, was die vorgeſchlagene
„Bedingung fuͤr einen Zweck haben kan, ſo will
„ich mich ihr dennoch unterwerfen: und ich
„wuͤnſchte, daß ich dieſes in Abſicht auf alles
„uͤbrige, das von mir verlanget wird, auch thun
„koͤnnte. Wenn ich einen nennen ſoll, in deſſen
„Gegenwart ich dieſen Herrn ſprechen will, und
„ich meine Mutter nicht nennen darf, deren
„Gegenwart ich mir ſonſt am liebſten dabey aus-
„bitten wollte, ſo ſey es mir erlaubt, meinen
„Onckle zu nennen, wo es ihm gefaͤllig iſt.
„Wenn ich auch einen Tag beſtimmen ſoll, und
„hoffen darf, daß mir erlaubt ſey, einen etwas
„entfernten Tag zu waͤhlen: ſo ſey es der kuͤnf-
„tige
[192]Die Geſchichte
„tige Dienſtag, des Nachmittags um vier Uhr.
„Soll ich auch den Ort nennen, ſo wuͤnſchte
„ich daß es in dem Garten-Hauſe geſchehen moͤ-
„ge, oder in dem kleinen Saal, den ich ſonſt
„Erlaubniß gehabt habe, den meinigen zu
„nennen.


„Haben Sie noch uͤber dieſes Eine Guͤtig-
„keit. Suchen Sie meine Mutter zu uͤberreden,
„daß ſie mich bey dieſer Gelegenheit ihrer Ge-
„genwart wuͤrdigen wolle. Jch bin


„Jhre ſtets gehorſame
Cl. Harlowe.


Eben bekomme ich eine Antwort. Jch
nannte einen entfernten Tag, weil ich meynte,
dieſes ſchicke ſich zu meiner Abgeneigtheit von
der vorſeyenden Unterredung am beſten. Jch
hoffete aber nicht einmahl, daß dieſes angenom-
men werden wuͤrde. Von neuen eine Woche
gewonnen! Hier folgt die Antwort.


„Sie haben wohl gethan, daß Sie gehorſam
„geweſen ſind. Eine jede kleine Probe Jhres
„Gehorſams iſt uns ſchon erfreulich. Sie ſchei-
„nen zwar den Tag des Beſuchs deswegen ſo
„weit hinaus zu ſetzen, weil Sie ihn fuͤr einen
„ungluͤcklichen Tag anſehen: allem auch dieſes
„iſt Jhnen zugeſtanden worden, und man ſieht
„es fuͤr kein Zeit-Verluſt an, wenn Sie nach
„dem beſtimmten Tage ſo artig und ſo danckbar
„ſeyn
[193]der Clariſſa.
„ſeyn wollen, als wir vor demſelben nachgebend
„und gelinde geweſen ſind. Nehmen Sie von
„mir den Rath an, daß Sie keine Entſchlieſſung
„zum voraus faſſen. Herr Solmes empfindet
„mehr Scheu und ſo gar mehr Schrecken, wenn
„er daran denckt, daß er Sie ſprechen ſoll; als
„Sie ſelbſt dabey empfinden koͤnnen: allein bey
„ihm entſtehet dieſes aus Liebe; laſſen Sie
„nicht Haß die Quelle ſeyn, aus der bey Jhnen
„eben dieſe Leidenſchafften enſpringen. Mein
„Bruder Anton wird zugegen ſeyn, und er
„hoffet, Sie werden ſich dadurch hinwiderum
„um ihn verdient machen, daß Sie einem Freun-
„de der gantzen Familie wohl begegnen. Ver-
„halten Sie ſich doch ſo gegen ihn, wie es ſich
„gegen einen Freund der Jhrigen geziemt. Jhre
„Frau Mutter hat Erlaubniß, auch dabey zu
„ſeyn, wenn ſie es fuͤr zutraͤglich haͤlt: allein ſie
„ſagt, ſie moͤchte es nicht thun. Wenn ſie auch
„tauſend Pfund damit verdienen koͤnnte, es waͤ-
„re denn, daß Sie ihr auf die Weiſe als ſie es
„wuͤnſchet, ein Hertz dazu machten.„


„Einen Winck muß ich Jhnen noch geben:
„nehmlich, von Dinte und Feder keinen unge-
„ziemenden Gebrauch zu machen. Mich duͤnckt,
„ein ſo wohlgeſittetes Frauenzimmer ſollte ſehr
„behutſam ſeyn an eine Mannsperſon zu ſchrei-
„ben, wenn es fuͤr eine andere beſtimmet iſt.„


„Dieſer Gehorſam wird hoffentlich neuen
„Gehorſam nach ſich ziehen, und es wird die
Zweyter Theil. NRuhe
[194]Die Geſchichte
„Ruhe unſerer Familie wieder hergeſtellet wer-
„den: welches hertzlich wuͤnſchet.„


„Jhr liebreicher Onckle
Johann Harlowe.


„Sie brauchen nicht weiter zu ſchreiben, wenn
„Sie uns nicht etwan berichten wollen, daß Sie
„unſer aller Wunſch zu erfuͤllen geneigt ſind.„


Soll der Solmes mehr Schrecken, als
ich/ empfinden/ wenn er daran denckt/ daß
er mich ſprechen ſoll?
Jſt das moͤglich?
Wenn er nur halb ſo viel empfaͤnde, ſo wuͤrde
er nicht verlangen mich zu ſehen. Soll dieſes
bey ihm aus Liebe kommen? Jch glaube es:
aus Eigenliebe! Denn eine andere Liebe ken-
net er nicht. Die wahre Liebe ſucht mehr das
Vergnuͤgen deſſen, was man liebet, als ſein eige-
nes. Wie ſehr entheiligt er den Nahmen der
Liebe, wenn ich ihn nach dieſem Satz beurthei-
len ſoll.


Jch ſoll keine Entſchlieſſ [...]n [...] zum vor-
aus faſſen!
Der Rath kommt zu ſpaͤte.


Von Feder und Dinte ſoll ich keinen
ungeziemenden Gebrauch machen!
Jn dem
Verſtande, wie es die Meinigen nehmen, haben
ſie mir dieſes durch ihr Betragen gegen mich
eben ſo ohnmoͤglich gemacht, als den vorherge-
henden Rath.


An
[195]der Clariſſa.

An eine Mannsperſon ſchreiben/ wenn
man fuͤr eine andere beſtimmet iſt!
Was
fuͤr ein anſtoͤßiger Ausdruck in meinen Ohren!


Nachdem ich dieſen Aufſchub erhalten habe,
ſo gereuet mich die mit Herrn Lovelace verab-
redete Zuſammenkunfft. Sie koͤnnen leicht den-
cken, daß ich keinen Augenblick bey mir ange-
ſtanden habe, ob ich bey ſo veraͤnderten Umſtaͤn-
den mein Verſprechen widerruffen ſollte? „Jch
„ſchrieb ihm deswegen: ich befaͤnde es nicht vor
„gut, meinen Vorſatz wegen einer muͤndlichen
„Unterredung mit ihm zu erfuͤllen. Der Vor-
„theil von einer ſolchen Zuſammenkunfft koͤnnte
„ſo groß nicht ſeyn, als die Gefahr entdeckt zu
„werden, und der Schade der hieraus entſtehen
„koͤnnte. Wenn ich des Morgens und Abends
„etwas friſche Lufft ſchoͤpfen wollte, ſo traͤffe ich
„ſonderlich einen gewiſſen Bedienten ſehr oft an.
„Er koͤnne nicht wiſſen, ob nicht eben der, der
„ſich entſchlieſſen koͤnnte, ihm die Geheimniſſe
„unſers Hauſes zu verrathen, eben ſo wachſam
„waͤre, um denen zu Gefallen zu ſeyn, denen er
„dieſes ſchuldig ſey; und ob er nicht bey Ge-
„legenheit ihn und mich verrathen moͤchte. Jch
„waͤre nicht gewohnt mich ſo aufzufuͤhren, daß
„ich der Gnade der Bedienten leben muͤßte:
„und ich befuͤrchtete, daß er bisweilen Abſichten
„haͤtte, zu deren Erhaltung er es fuͤr noͤthig hiel-
„te gewiſſe Wege zu betreten, die ich nie billigen
„koͤnnte, und die auch durch die beſte Abſicht
„nicht koͤnnten gerechtfertiget werden. Die Sa-
N 2„chen
[196]Die Geſchichte
„chen lieſſen ſich zwiſchen den Meinigen und mir
„zu einer Entſcheidung an; und ſo koͤnnte die
„Zuſammenkunfft nichts nutzen; beſonders da
„niemand auf die Gelegenheit, deren wir uns
„bedienen Briefe zu wechſeln, einigen Verdacht
„wuͤrfe, und er mir folglich alles frey ſchreiben
„koͤnnte, was er auf dem Hertzen haͤtte. Jch
„hoffete, daß er mir erlauben wuͤrde, ſelbſt zu be-
„urtheilen, was bey dieſer Sache rathſam ſey:
„und dieſes deſto mehr, da ich ihn verſichern
„koͤnnte, daß ich eher den Tod waͤhlen wuͤrde,
„als Herrn Solmes.


Jch habe meinen Brief fuͤr Herrn Lovelace
hingelegt. So bedrohend und fuͤrchterlich auch
meine Umſtaͤnde ausſehen, ſo bin ich doch nun-
mehr mit mir ſelbſt beſſer zufrieden als vorhin.
Jch zweiffele nicht, daß er etwas verdrießlich
daruͤber ſeyn wird. Allein da ich mir die Frey-
heit vorbehalten hatte, meinen Vorſatz zu aͤn-
dern, und da er dencken muß, daß im Hauſe ei-
ne Verhinderung vorfallen kan, die einer auſſer
dem Hauſe nicht weiß, und ich ſelbſt auf einige
Hinderungen, die mich abhielten, gezielet habe:
ſo wuͤrde mir es wunderlich vorkommen, wenn
er ſich dieſesmahl meinen Willen nicht mit Freu-
den gefallen lieſſe, um mir zu zeigen, daß ſein
letzter Brief eine unverfaͤlſchte Ausgeburt ſeines
Hertzens und nicht ſeiner Erfindungskraft ge-
weſen ſey. Denn wenn es wahr iſt, daß er ſei-
ne vorigen Vergehungen ſo ernſtlich bereuet, als
er ſeit einiger Zeit vorgegeben hat: muß er denn
nicht
[197]der Clariſſa.
nicht auch ſeine natuͤrliche Hefftigkeit wenigſtens
einigermaſſen uͤberwunden haben? Es iſt mei-
ner Einſicht nach der Anfang zur Beſſerung,
daß man uͤber die ploͤtzlichen Anfaͤlle ſeiner Lei-
denſchafften, aus denen oft das groͤſſeſte Unheil
entſteht, Meiſter werde, und daß man lerne es
zu ertragen, wenn Dinge anders lauffen als man
hoffete und wuͤnſchete. Was ſoll man von ei-
nem, der noch nicht ſeinen Zorn baͤndigen kan,
in Abſicht auf diejenigen Leidenſchafften fuͤr Hoff-
nung haben, deren Verſuchung noch ſtaͤrcker zu
ſeyn pflegt, und die durch die Gewohnheit und
lange Uebung maͤchtiger geworden ſind?


Jch bitte Sie, mein Schatz, haben Sie die
Guͤtigkeit, ſich nach den Verkleidungen zu er-
kundigen, durch die ſich Herr Lovelace in ſei-
nem Wirthshauſe unkenntlich zu machen ſucht.
Es ſoll in einem ſchlechten Dorfe liegen, wel-
ches er Neale nennet. Wenn es das Dorf iſt,
dafuͤr ich es halte, ſo habe ich immer geglaͤubt,
es waͤre ſo klein, daß es nicht einmahl einen Nah-
men haͤtte, und ich habe nie von einem Wirths-
hauſe, das darin ſeyn ſollte, gehoͤrt. Da er ſich
viel dort aufhalten muß, um immer in der Naͤ-
he zu ſeyn, ſo moͤchte ich gern einige Nachricht
von ſeiner Auffuͤhrung haben, und was die Leute
dort von ihm halten. Jn ſo langer Zeit muß
er ſich entweder durch aͤrgerliche Handlungen
blos geben, oder man muß ſeine Beſſerung mer-
cken koͤnnen. Jch bitte Sie, ſeyn Sie mir ſo
viel zu Willen, und erkundigen Sie ſich genau
N 3nach
[198]Die Geſchichte
nach ihm. Jch habe Urſachen, die ich Jhnen
kuͤnftig melden will, wenn die Nachrichten, ſo
Sie bey der Unterſuchung erfahren, nicht von
ſelbſt die Urſachen meiner Neubegierde ent-
decken.



Der neunzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch bin eben von meinem Spatzier-Gang
zuruͤck gekommen, und habe ſchon eine
Antwort von Herrn Lovelace auf meinen Brief
von geſtern Abend. Er muß Feder, Dinte
und Papier bey ſich fuͤhren: denn der Brief iſt
in dem Walde geſchrieben, noch dazu mit dem
Umſtande, daß er mit einem Knie gekniet und
auf dem andern geſchrieben hat. Daß aber ſein
Knien keine Ehrerbietung gegen mich geweſen
ſey, zeigt der Jnhalt des Briefes.


Man giebt uns billig fruͤhzeitig die Regel,
gegen dieſes Geſchlecht fremde und vornehm zu
thun. Ein offenes Hertz ohne Kunſt und Ver-
ſtellung, das geneigt iſt andern gefaͤllig zu ſeyn,
wird leicht unvermerckt ſo weit hinein gezogen,
daß
[199]der Clariſſa.
daß es auch wider ſeinen Willen gefaͤllig ſeyn
muß. Es richtet ſich gar zu lejcht nach dem
Verlangen eines dreiſten Menſchen, der mehr
bittet als geziemend iſt ihm zu gewaͤhren. Ein
junges Frauenzimmer von gutem Gemuͤth findet
eine Schwierigkeit darin, einem, den es nicht
veraͤchtlich haͤlt, etwas abzuſchlagen.


Unſer Hertz wird ſich wol durch die Erfah-
rung und durch die uͤbeln Folgen unſers gut-
hertzigen Unverſtandes nach und nach verhaͤrten,
und gleichſam karger in ſeiner Dienſtfertigkeit
werden. Das muß es thun, ſonſt wuͤrde die
uͤbrige Welt einen groſen Vortheil uͤber uns
haben.


Nehmen Sie mir dieſe ernſthaften Gedan-
cken nicht uͤbel. Der Menſch hat mich von
Hertzen unwillig gemacht. Jch ſehe, daß alle
ſeine Artigkeit nur Verſtellung geweſen iſt: die-
jenige Haͤrte, die ich zu Hauſe allzuviel habe
kennen lernen, iſt ihm natuͤrlich. So wie ich
jetzt geſinnet bin, will ich mich niemahls bewe-
gen laſſen, ihm zu vergeben. Denn er kan
nichts vorbringen, ſeine Ungeduld zu entſchuldi-
gen, da ich ihm etwas abſchreibe, daß ich nur
Bedingungsweiſe verſprochen, und mir das Recht
vorbehalten hatte, es abzuſchreiben. Jch habe
ſo viel um ſeinetwillen gelitten, und er geht mit
mir um, als wenn ich ſchuldig waͤre, noch dazu
von ihm Grobheiten anzunehmen. Seyn Sie
ſo guͤtig, und leſen Sie hiebey ſeinen Brief
ſelbſt, den ich beyſchlieſe.


N 4An
[200]Die Geſchichte
An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.„
„Lieber Gott!

„Was iſt nun aus mir geworden? Wie ſoll
„ich es ausſtehen, daß ich mich in meiner Hoff-
„nung betrogen ſehe: Es iſt nicht einmahl eine
„neue Hinderniß vorhanden! Mit dem einen
„Knie knie ich, um auf dem andern zu ſchreiben.
„Meine Fuͤſſe ſind gantz ſtarr, weil ich um Mit-
„ternacht durch den ſtaͤrckſten Thau, der jemahls
„gefallen iſt, habe gehen muͤſſen: die Peruͤcke
„und Waͤſche druͤppelt von geſchmoltzenem Rohr-
„Reiff. Der Tag will eben anbrechen, und die
„Sonne iſt noch nicht aufgegangen. O moͤch-
„te ſie niemahls wider aufgehen, wenn ſie einem
„Gemuͤth, das noch mit finſterer Nacht umgeben
„bleibt, kein Licht bringen kan! So groß die
„Freude war, die Sie mir verurſacht hatten,
„ewig liebenswuͤrdige Zuſagerin, eben ſo groß iſt
„jetzt mein Kummer.„


Laſſen ſich die Sachen zwiſchen Jhnen
„und den Jhrigen zu einer Entſcheidung
„an?
Jſt nicht dis eine neue Urſache fuͤr mich,
„die verſprochene Zuſammenkunft zu wuͤnſchen
„und zu erwarten?„


Kan ich Jhnen alles ſchreiben/ was
„ich ſagen wollte? Es iſt ohnmoͤglich. Nicht
„den hundertſten Theil von dem, was ich in mei-
„nem Hertzen habe, oder befuͤrchte, kan ich Jh-
„nen ſchreiben.


O das
[201]der Clariſſa.

„O das veraͤnderliche wanckelmuͤthige Ge-
„ſchlecht! kan aber Fraͤulein Clariſſa Har-
„lowe
‒ ‒ ‒
„Vergeben Sie mir, ich weiß nicht was ich
„ſchreibe.


„Jch beruffe mich auf Jhr Verſprechen: ich
muß mich darauf beruffen: oder Sie muͤſſen
„wenigſtens die Guͤtigkeit haben, beſſere Urſa-
„chen zu erfinden, warum Sie es brechen wol-
„len; und mich uͤberzeugen, daß Sie beſſere
„Gruͤnde gehabt als gemelder haben. Ein ein-
„mahl gegebenes Verſprechen, das mit gutem
„Bedacht gegeben iſt, kan nur der erlaſſen, dem
„es gegeben iſt: oder es muß eine offenbahre
„Hinderniß dazwiſchen kommen, die dem verſpre-
„chenden Theile die Erfuͤllung ohnmoͤglich
„macht.


„Dies war das allererſte Verſprechen, ſo ich
„in meinem Leben von Jhnen empfangen habe:
„an dem vielleicht Leben und Tod haͤngen kan.
„Denn ich verzweiffele faſt, wenn ich an die un-
„menſchliche Haͤrte gedencke, damit Jhnen zu
„Hauſe begegnet wird.


Sie wollen lieber den Tod waͤhlen/ als
„Herrn Solmes!
(Wie verachte ich in mei-
„nem Hertzen einen ſolchen Mitbuhler!) Mei-
„ne allerliebſte Fraͤulein, was ſind das anders,
„als Worte? Weſſen Worte? ‒ ‒ Worte ei-
„ner liebenswuͤrdigen und unſchaͤtzbaren ‒ ‒ ‒
„bundbruͤchigen? Soll ich Sie ſo nennen? Wie
„ſoll ich Jhrem Verſprechen Glauben zuſtellen?
N 5ſon-
[202]Die Geſchichte
„ſonderlich wo Sie meynen, daß das Verſpre-
„chen mit dem Worte Gehorſam ſtreite? da
„man Sie ſo ſehr druͤckt? da man ſeinen Haß
„gegen mich gar nicht verbirget? Wie ſell ich
„hier glauben, nachdem ich eben geſehen habe,
„wie leicht Sie Jhr Wort zuruͤck nehmen?


„Wenn Sie, mein allerliebſtes Leben, geſinnet
„ſind, meiner Verwirrung oder den Folgen, die
„meine Verwirrung haben koͤnnte, abzuhelfen:
„ſo erneuren Sie Jhr Verſprechen. Jetzt iſt
„die gefaͤhrliche Zeit, da mein Schickſal entſchie-
„den werden wird.


„Vergeben Sie mir: allerliebſtes Kind, ver-
„geben Sie mir. Jch weiß, daß mir Kummer
„und Angſt allzuſehr die Feder gefuͤhrt hat.
„Denn ich ſchreibe dis den Augenblick, da das
„anbrechende Tages-Licht mir mein unertraͤgli-
„ches Ungluͤck entdecket hat.


„Jch unterſtehe mich nicht, das, was ich ge-
„ſchrieben habe, zu uͤberleſen. Jch will es ſo-
„gleich hinlegen. Sie werden daraus meine
„Verwirrung ſehen koͤnnen, in welche mich die
„Furcht ſetzet, daß dieſe mir fehl geſchlagene
„Hoffnung vielleicht ein Vorbote eines noch groͤ-
„ſern Ungluͤcks fuͤr mich ſeyn moͤchte. Jch ha-
„be auch kein Papier mehr, und ich wuͤrde kei-
„nen andern Brief an dieſem finſtern Orte ſchrei-
„ben koͤnnen, wenn ich gleich gern wollte. Mein
„Gemuͤthe iſt finſter, und es ſcheint die gantze
„Natur um mich herum zu verfinſtern. Jch
„verlaſſe mich auf Jhre Guͤtigkeit. Wenn Sie
bey
[203]der Clariſſa.
„bey meinem hefftigen Briefe, an ſtatt Mitlei-
„den zu haben, ungeduldig werden, ſo thun Sie
„mir unrecht, und ich werde anfangen zu befuͤrch-
„ten, daß ich das Opfer mehr als Einer Ab-
„truͤnnigen
zu werden beſtimmt bin. Haben
„Sie Geduld mit mir. Jch meine Sie nicht:
„ich meine nur Solmes und Jhren Bruder.
„Wollen Sie aber Jhr edles Hertz zeigen, wol-
„len ſie meinen Brief entſchuldigen, und mir
„eine andere Zeit zur Unterredung anſetzen, ſo
„ſeegne Sie der Gott, dem Sie bekennen zu
„dienen, und der ein Gott der Wahrheit und
„der Treue iſt, dafuͤr daß Sie Jhr Verſprechen
„erfuͤllen, und daß Sie wieder zu ſich ſelbſt brin-
„gen, und hoffen laſſen


„Jhren ewigen treuen ob-
„gleich jetzt muthloſen
„Verehrer und Anbeter

„Jm Walde, in der
„Laude, eben bey
„Tages Anbruch.
Lovelace.


Jch gedencke ihm folgende Antwort zu ſchrei-
ben:


Jch wundere mich/ mein Herr/ uͤber
die ungeheuchelten Verweiſe/ die ſie mir
geben. Jſt es billig/ da ſie mich durch
ihre Bitten um eine Zuſammenkunft er-
muͤdet und uͤberwunden hatten/ daß ſie
mich nun ſo angreiffen/ mir Untreue vor-

wer-
[204]Die Geſchichte
werfen/ und von unſerm gantzen Geſchlecht
anzuͤglich reden/ weil ich es der Klugheit
gemaͤß hielt/ meinen Vorſatz zu aͤndern[?]
Jch hatte mir dieſe Freyheit vorbehalten/
als ich ihnen das ſo genannte Verſpre-
chen gab. Jch hatte Proben ihrer Un-
geduld gegen andere geſehen: es kan ein
Gluͤck fuͤr mich ſeyn/ daß ſie mir noch ei-
ne Probe ertheilt haben/ aus der ich mer-
cken muß/ daß ſie meiner eben ſo wenig als
anderer ſchonen koͤnnen/ wenn ich meinen
Einſichten gemaͤß handele. Jhre Hefftig-
keit ſcheint mir eine doppelte Quelle zu
haben: meine Willigkeit ihnen eine Ge-
faͤlligkeit zu erzeigen/ und ihre gute Mei-
nung von ſich ſelbſt. Da ſie jene zu ſehr
ausgemerckt haben/ und mich von dieſer
ihrer Eigenſchaft zu viel haben mercken
laſſen/ ſo bin ich daruͤber ſo beſtuͤrtzt/ daß
ich wuͤnſche/ es moͤge mein heutiger Brief
alle Unruhe endigen/ die ſie jemahls uͤber-
nommen haben fuͤr


Jhre gehorſamſte Dienerin
Cl. Harlowe.


Jch verſpreche mir Jhr Lob zum voraus,
wenn ich muthig rede oder ſchreibe, es ſey ge-
gen wen es wolle. Jch ſehe, daß ich es ſo ma-
chen muß, weil ich mit Leuten zu thun habe,
die ihr Betragen gegen mich nicht nach den Re-
geln
[205]der Clariſſa.
geln der Billigkeit oder des Wohlſtandes ein-
richten, ſondern nach der guten Meinung, die ſie
von meiner Geduld haben. Wenn ich nur die
letzten Wochen ausnehme, ſo haben mich viele
wegen meiner Geduld geruͤhmt: ſie haben mir
aber nie Gelegenheit gegeben, den Ruhm auf ſie
ſelbſt umzukehren. Einige ſind ſo mit mir um-
gegangen, als wenn eine einſeitige Geduld
fuͤr ſie und fuͤr mich ſchlechterdings nothwendig
waͤre, damit wir gute Freunde bleiben moͤchten:
und ſie ſind ſehr ſorgfaͤltig geweſen, ſtets in mei-
ner Schuld zu bleiben, und mich ihnen nie ver-
pflichtet zu machen. Sie haben mit neulich ge-
ſchrieben, daß mir Empfindlichkeit und Rachgier
nicht natuͤrlich waͤren, und deswegen nicht lange
bey mir waͤhren koͤnnten: das kan in Abſicht
auf die Meinigen richtig ſeyn, aber nicht in Ab-
ſicht auf Herrn Lovelace.


Mittewocheus Mittags
den 29 Maͤrz.


Wir koͤnnen nie vor unſere kuͤnftigen Hand-
lungen zum voraus Buͤrge werden. Um Sie
aber zu uͤberzeugen, daß ich bey meinem Vorſatz
bleiben kan, den ich wegen Herrn Lovelaces ge-
faſſet habe, ſo melde ich Jhnen, daß, ſo bitter
auch mein Brief iſt, und obgleich drey Stunden
ſchon vorbey ſind, es mich doch nicht gereuet,
daß ich ihn geſchrieben habe. Jch will ihn auch
nicht gelinder einrichten, wenn er gleich noch nicht
weggenommen iſt. Jch habe ſonſt nicht leicht
et-
[206]Die Geſchichte
etwas im Unwillen gethan, das mich nicht in ei-
ner halben Stunde gereuet hat: und gemeinig-
lich iſt es mir noch in kuͤrtzerer Zeit auf das
Hertz gefallen, ob ich recht oder unrecht daran ge-
than haͤtte.


Die Friſt bis auf den Dienſtag kan ich dazu
anwenden, daß ich recht um mich ſehe, und uͤber-
lege, was ich thun kan und ſoll: und Herrn Lo-
velaces
Dreiſtigkeit wird vieles dazu beytragen,
daß ich deſto mehr bey mir ſelbſt bin. Jch glau-
be zwar nicht, daß ich meinen Abſcheu vor Herrn
Lovelace uͤberwinden kan: ich bin zum voraus
vom Gegentheil verſichert. Allein wer weiß,
ob mich die Meinigen nicht wieder lieb gewinnen,
und ihre Abſichten wegen Herrn Solmes nach
und nach fahren laſſen, wenn ich gaͤntzlich mit
Herrn Lovelace breche, und ihnen davon augen-
ſcheinliche Proben gebe? Solte ich nicht wenig-
ſtens ſicher ſeyn, bis der Obriſte Morden an-
koͤmmt? Jch gedencke nun um deſto mehr an ihn
zu ſchreiben, weil die Meinigen (wie Herr Lo-
velace
verſichert) an ihn geſchrieben haben, und
ihn einzunehmen ſuchen.


Allein bey allem Muth fuͤrchte ich mich ſehr
vor den kuͤnftigen Dienſtag, und vor den Fol-
gen, die meine Standhaftigkeit an dieſem Tage
haben kan. Denn ſtandhaft will ich gewiß ſeyn!
Jch hoͤre ſie wollen alle Mittel verſuchen, um
mich zum Weichen zu bringen: und ich will auch
alle Mittel anweuden, dem zu entgehen, wozu ſie
mich zwingen wollen. Ein unangenehmer Streit
zwi-
[207]der Clariſſa.
zwiſchen Eltern und Kind: da jeder Theil ſucht,
daß der andere ohne Entſchuldigung ſeyn moͤge,
wenn ungluͤckliche Folgen daraus kommen ſol-
ten!


Was kan ich anfangen? Geben Sie mir ei-
nen guten Rath. Es iſt ein recht ſonderbah-
res Ungluͤck, das mich betroffen hat. Die
allerguͤtigſten Eltern ſcheinen in den Augen des
Kindes grauſam; und eine Tochter, die man
noch vor wenig Wochen fuͤr vollkommen gehor-
ſam hielt, iſt in den Augen ihrer Eltern ein wi-
derſpenſtiges Kind geworden. Omein eigennuͤ-
tziger und unbaͤndiger Bruder! Wie kan er die-
ſes doppelte Unrecht entſchuldigen!


Belieben Sie ſich zu erinnern, daß Jhr letz-
ter Brief am Sonnabend geſchrieben war. Heu-
te iſt es Mittewochen: und ſeit der Zeit ſind
meine Briefe nicht weggenommen. Entziehen
Sie mir Jhren Rath nicht: denn ich bin in ſehr
mißlichen Umſtaͤnden. Jch bin aber gewiß, Sie
lieben mich nech: und Sie lieben mich um mei-
nes Ungluͤcks willen nicht weniger. A Dieu,
meine beſte Freundin


Cl. Harlowe.



Der
[208]Die Geſchichte

Der zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Ein bloſſer Zufall hat meine Traͤgheit veran-
laſſet: denn mit dieſem Nahmen werden
Sie den Aufſchub meiner Antwort ſo lange mit
Recht belegen, bis ich Jhnen die wahre Urſache
gemeldet haben werde.


Des Sonntags Abends ward meine Mutter
in groͤſſeſter Eil zu der Frau Larckin gebeten.
Die Urſache habe ich Jhnen ſchon ſonſt gemeldet.
Die arme Frau hat ſich immer vor dem Tode
gefuͤrchtet, und ſie ſteckte mit andern in dem A-
berglauben, daß das Teſtament der Vorbote des
Todes ſey. So oft ſie erſucht ward, dieſe hoͤchſt-
noͤthige Arbeit nicht zu lange aufzuſchieben, ſagte
ſie: ſie wuͤrde nicht lange mehr leben, wenn ſie
erſt ein Teſtament gemacht haͤtte. Man ſollte
beynahe glauben, daß ſie ihr Wort haͤtte halten
wollen: denn ob ſie gleich lange bettlaͤgrig ge-
weſen war, und ſchon mit einem Fuſſe im Gra-
be ſtand, ſo meinte ſie doch, ſie faͤnde ſich in der
Beſſerung, bis ſie das Teſtament gemacht hatte.
Allein von dem Augenblick an, ward ſie ſchlim-
mer, weil ſie ſich ihrer Weiſſagung erinnerte:
ihre Furcht machte, daß ſie Urſache bekam ſich
zu
[209]der Clariſſa.
zu fuͤrchten, wie es ſonſt bey den Pocken zu ge-
hen pflegt. Ein paar mahl nahm ſie ſich vor,
ihr Teſtament zu verbrennen, um beſſer zu wer-
den.


Sie ließ meiner Mutter ſagen, daß der Do-
ctor ſie aufgegeben haͤtte; allein ſie koͤnnte nicht
ſterben, ohne ſie zu ſehen. Jch bat meine Mut-
ter, ſie moͤchte nicht hinreiſen, ihr gute Beſſerung
zu wuͤnſchen. Allein ſie wollte ſie ſchlechterdings
beſuchen, und verlangte ſogar zu meinem groͤſ-
ſern Verdruß, daß ich mit ihr reiſen ſolte. Sie
gab mir nur eine Stunde Zeit zum Einpacken:
Haͤtte ich mehr Zeit gehabt, es ihr vorzuſtellen,
ſo waͤre ich gewiß zu Hauſe geblieben. Allein,
ſie ſagte mir nichts davon, als da ſie des Mor-
gens ſehr fruͤh aufftand; und ſie hatte vor, des
Abends wieder zu Hauſe zu ſeyn. Jch mußte
mich alſo nothwendig in Bereitſchaft ſetzen, ih-
rem Befehl zu gehorchen. Vergeblich ſtellete
ich ihr vor, daß dieſer Befehl ſich zu einer ſo ernſt-
haften Gelegenheit nicht ſchickte. Es hieß, ſie
haͤtte kein Maͤdchen in der Welt geſehen, daß
ſo von dem Geiſte des Widerſpruchs beſeſſen waͤ-
re. Jch waͤre immer ſo weiſe, daß ich ſie fuͤr
eine Thoͤrin halten wollte. Allein ich ſollte ihr
dieſesmahl folgen, es moͤchte ſich ſchicken oder
nicht.


Jch kan nicht begreiffen, wie meine Mutter
auf dieſen Einfall koͤmmt, wenn nicht folgendes
die wahre Urſache iſt. Sie wollte Herrn Hick-
manns
Anerbieten, ſie zu begleiten, annehmen:
Zweyter Theil. Ound
[210]Die Geſchichte
und ich glaube, (ich wuͤnſchte nur es gewiß zu
wiſſen) daß ſie ihn durch meine Gegenwart er-
freuen, und mich vielleicht hiedurch von ſchlim-
merer Geſellſchaft abzuhalten ſuchte.


Denn, koͤnnen Sie es glauben? ſie iſt ſchon
wegen ihres lieben Hickmanns beſorgt. So
wahr Sie leben, der lange Beſuch ſteckt ihr im
Kopfe, den Jhr Lovelace aus gantz andern Ur-
ſachen bey mir abgeſtattet hat, als ſie das letzte
mahl der Frau Larckin zu Gefallen auſſer Hau-
ſe war. Jch hoffe nicht, daß Sie auch eifer-
ſuͤchtig werden! Es iſt wahr, wenn ſie mich bis-
weilen mit dem Lobe ermuͤdet, das Herr Hick-
mann
ohnmoͤglich verdienen kan, ſo quaͤle ich
ſie damit, daß ich Herrn Lovelace wegen der-
jenigen aͤuſſerlichen Vorzuͤge bewundere, die je-
ner nimmer erlangen kan. Jch quaͤle ſie gern
auch ein wenig, und ich moͤchte faſt ſagen:
ich bin meiner Mutter Tochter.


Sie wiſſen, daß meine Mutter ſo empfindlich
iſt, als ich dreiſte und frey bin. Wir zerfallen
alſo gemeiniglich bey ſolchen Gelegenheiten. Als-
denn entzieht ſie ſich meiner ſo viel ſie kan: und
weil es nicht wohl ſtuͤnde, wenn ich mich ihrer
Geſellſchafft von ſelbſt entzoͤge, ſo wende ich die
Zeit, die ſie mir von freyen Stuͤcken giebt, zum
Briefwechſel mit Jhnen an.


Da ich einmahl ſo frey im Schreiben gewor-
den bin, ſo muß ich Jhnen nur melden, daß
unſer Briefwechſel aus zwey Urſachen ihr nur
halb gefaͤllt: einmahl/ weil ich ihr nicht alle
Brieffe
[211]der Clariſſa.
Brieffe zeige: zum andern/ weil ſie glaubt,
daß ich Jhr Hertz nur verhaͤrte, und Sie unge-
horſam mache. Hiezu kommt ein Grundſatz,
in dem Haus-Staat meiner Mutter, den ich Jh-
nen ſchon gemeldet habe. Er lautet alſo: es
iſt nicht moͤglich/ daß die Eltern Unrecht
haben; und wie koͤnnen die Kinder Recht
haben/ wenn ſie ſich ihnen widerſetzen.

So bin ich gezwungen, dann und wann eine
Stunde zu ſtehlen, ohne daß ſie weiß, wie ich ſie
anwende.


Sie koͤnnen hieraus den Schluß machen, wie
geneigt ich geweſen bin, einem bloſſen Befehl
meiner Mutter, der ſo wenig vernuͤnfftigen
Grund hatte, Folge zu leiſten. Allein es ſollte
eine Probe meines Gehorſams ſeyn, darum
mußte ich nachgeben, ob ich gleich wußte, daß
ich Recht hatte.


Sie haben mir ſtets bey ſolchen Gelegenhei-
ten Lehren gegeben: und Jhr letzter Brief iſt
ſtrenger, als Sie jemahls ſonſt geweſen ſind. Sie
werden dazu ſetzen: und dieſes von Rechts-
wegen/
weil ich es verdient habe. Jch dancke
Jhnen zwar fuͤr Jhre Erinnerung: allein ich
hoffe eine Erinnerung dagegen machen zu koͤnnen.
Jedoch ihre verdienten oder unverdienten Schlaͤ-
ge hat nicht blos meine Haut, ſondern mein
Hertz empfunden. Ein anderes mahl hievon!


Es war ſchon Nachmittag, als wir auf dem
Gute der gnaͤd. Frau ankamen. Der geputzte
galante Herr, (Sie wiſſen wen ich meine) ließ
O 2uns
[212]Die Geſchichte
uns zwey Stunden warten, um ſeine Schabra-
cke noch mit neuem Staat auszuſchmuͤcken. Mir
war es warlich ſehr gelegen, daß uns dieſer
Verzug noͤthigte, uͤber Nacht auſſer Hauſe zu
bleiben! Der Sattler hatte volle Arbeit gehabt,
ſie fertig zu ſchaffen, damit es ihm wohl zulieſſe,
wenn er Frau Howe und ihre ſchoͤne Tochter
begleitete. Jch fragte ihn: ob er ſich etwan
gefuͤrchtet haͤtte, daß er bey einer ſo ernſthafften
Gelegenheit, da wir eine ſterbende Frau beſu-
chen wollten, wegen ſeines ernſthafften Geſichts,
wie ein verungluͤckter Paͤchter ausſehen wuͤrde?
und ob er ſich deswegen als ein Marcktſchreyer
gekleidet haͤtte, damit er jenem Vorwurf ent-
gehen moͤchte?


Er ſahe gantz verwirrt aus: und er nahm
meine Frage ſo hoch auf, daß man mercken kon-
te, daß ſein Gewiſſen ſie bekraͤfftigte. Er wuͤr-
de ſonſt nicht empfindlich daruͤber geworden ſeyn,
denn er iſt es ſchon gewohnt, daß ich ihm nicht
beſſer begegne. Er haͤtte faſt angefangen zu
weinen. Jch habe ſchon ſonſt bemerckt, daß er
einem ledigen Frauenzimmer wie ein Schaaf vor-
kommen muß: ſo angenehm mir kuͤnfftig dieſe
Gemuͤthsfaſſung ſeyn moͤchte, ſo muß ich ihn
doch jetzt deswegen ein wenig in meinem Hertzen
verachten. Mich duͤnckt, ein dreiſter Menſch
gefaͤllt uns allen am beſten, wenn wir ihn nur
koͤnnten zu gewiſſer Zeit, und gegen gewiſſe Per-
ſonen nach unſerm Wunſch furchtſam und ſanſt-
muͤthig machen.


Der
[213]der Clariſſa.

Der arme Mann ſahe meine Mutter an.
Sie ward ſo boͤſe, daß ſie den halben Weg uͤber
nicht ſprechen wollte; denn mein heimliches Hohn-
gelaͤchter uͤber ihn, und mein Verdruß uͤber die
Reiſe machte ſie noch empfindlicher. Wenn ſie
ja ein Wort heraus brachte, ſo war es weiter
nichts, als: ich wollte/ daß ich dich zu
Hauſe gelaſſen haͤtte! Du kanſt niemand
einen Gefallen erzeigen! Herr
Hickmann iſt
unſchuldig an der Reiſe: ich habe dich
blos vor mich mitgenommen. Haſt du
gar keine Augen vor dieſe Seite des Wa-
gens?
u. ſ. w.


Sie war deſto freundlicher gegen ihn, wie ſie
gemeiniglich iſt, wenn ich muͤrriſch bin. Alle
Augenblick fragte ſie ihn: wie er ſich befaͤn-
de?
und wenn er von einer Seite zur andern
ritt, und mir mit ſteiffen Geſichte einen Blick
ſtehlen wollte, ſo kuckte ſie herum, und ſahe mit
ſolchem Laͤcheln aus dem Wagen heraus, als
wenn ſie ſelbſt ihm vor vierzehn Tagen angetrauet
waͤre. Jch ſahe immer etwas auf der andern
Seite des Wagens, daß mich vergnuͤgte, wenn
es auch weiter nichts war, als der alte Rober[t]
auf ſeinem Roth-Schimmel.


Man ſagt, daß das die beſte Zeit in unſerm
Leben ſey, wenn die Freyer ſich um unfere Gunſt
bewerben. So bald wir ihnen guͤnſtig ſind, ſo
bald hoͤrt ihr Bewerben auf, deſſen Weſen in ei-
ner gewiſſen Entfernung beſtehet. Wer wollte
nicht ein wenig vornehm thun, wenn man ſiehet
O 3wie
[214]Die Geſchichte
wie hochmuͤthig unſere Diener uͤber einen freund-
lichen Blick werden, und wie ſie ſich vor einem
ſauren Geſichte fuͤrchten? Wer wollte ſich nicht
einer Gewalt voͤllig gebrauchen, die ſo kurtze Zeit
waͤhret?


Schelten Sie mich deswegen nicht ein Bis-
gen. Die Sache iſt natuͤrlich: ich kan dieſe
Empfindung nicht aͤndern, und ich mag ſie auch
nicht aͤndern; denn ich finde mein Vergnuͤgen
darin. Verſchwenden Sie alſo bey dieſer Ge-
legenheit Jhre lehrreichen Erinnerungen nicht.
Jch verlange nicht vollkommen zu ſeyn. Der
Mann hat Geduld, meine Fehler zu tragen.
Was brauchen Sie Mitleiden mit ihm zu haben?
Meine Mutter erquickt ihn genugſam davor, daß
ich ihn plage: und wenn er ſich uͤber mich be-
klagt, ſo verdient er nicht einmahl, daß ich es
beſſer mache.


War er nicht werth, daß ich ihm muͤrriſch be-
gegnete, da er durch ſeinen Staat uns um das
Mittags-Eſſen brachte? Denn wer wollte auf
einer ſo kurtzen Reiſe in das Wirths-Haus ein-
kehren, und da die Zeit verderben? Wir wuͤnſch-
ten des Abends wieder zu Hauſe zu ſeyn, wenn
es die Umſtaͤnde der krancken Frau zngelaſſen
haͤtten. Jch will nicht einmahl daran geden-
cken, daß meine Mutter, blos um ſeinetwillen
den gantzen Weg uͤber gegen ihre arme Toch-
ter boͤſe that.


Bey dem Ausſteigen verſetzte ich ihm noch ei-
nen Streich, aber nur einen gantz kleinen, den
meine
[215]der Clariſſa.
meine Mine empfindlich machte. Meine Mut-
ter gab ihm ihre Hand, und laͤchelte und ſchmun-
tzelte wie eine Braut: wie befinden ſie ſich
jetzt/ Herr Hickmann?
Alle ſeine plumpen
Muskeln waren in Bewegung, und eine verdop-
pelte Artigkeit belebte alle ſeine Glieder, als er
mir ſeine dienſtfertige Hand bot. Da ich noch
ein Kind war, hat mir meine Mutter oft befoh-
len, den Kopf in die Hoͤhe zu halten. Jch er-
innerte mich jetzt ihres Befehls, und war recht
gehorſam: mein Lebtage habe ich den Kopf nicht
ſo in die Hoͤhe gehalten, als dieſesmahl. Mit
hohen Augen, und mit einer abweiſenden Hand,
ſprang ich faſt aus dem Wagen, und ſagte: ich
brauche ihrer Huͤlffe nicht: Sie ſtehen
mir nur im Wege.


Er ging mit einem ſehr betruͤbten Geſicht zu-
ruͤck, als wenn ihn der Wind wegfuͤhrte: ich
wuͤrde ihm ſonſt noch geſagt haben, daß ich eben
ſo viel Haͤnde und Fuͤſſe haͤtte, als er. Allein,
dieſes wuͤrde fuͤr ihn eine Neuigkeit geweſen ſeyn,
deren letzte Helfte zu wiſſen er hoffentlich zu
furchtſam iſt.


Wir funden die arme Frau in den letzten
Zuͤgen, wie wie es uns ſchon zum voraus vor-
geſtellet hatten. Wenn wir auch fruͤher ange-
kommen waͤren, ſo haͤtten wir doch unſern Vor-
ſatz nicht erfuͤllen koͤnnen, denſelben Abend wie-
der nach Hauſe zu kommen. Sie ſehen, daß ich
Herrn Hickmann entſchuldige, ſo gut ich kan,
O 4ob
[216]Die Geſchichte
ob ich Jhnen gleich verſichern kan, daß ich auch
nicht einmahl eine bedungene Neigung gegen ihn
habe. Meine Mutter blieb faſt die gantze Nacht
auf, weil ſie jede Stunde das Ende ihrer armen
Touſine erwartete. Bis um zwey Uhr blieb
ich mit ihr auf, und leiſtete ihr Geſellſchaft.


Weil ich noch keine erwachſene Perſon ſter-
bend geſehen hatte, ſo ruͤhrte mich dieſer Anblick
ſehr. Fuͤr Geſunde iſt der Todt erſchrecklich.
Wir fuͤhlen dabey die Noth der Sterbenden,
und unſre eigene Noth, die wir kuͤnftig zu gewar-
ten haben, wenn wir eben dieſen Weg gehen ſol-
len. Wir empfinden alſo den Tod doppelt, wenn
wir ihn an andern ſehen.


Sie lebte noch bis des Dienſtags Morgens
um eilf Uhr. Sie hatte meiner Mutter noch
auf dem Todten-Bette geſagt, daß ſie ſie beſtim-
met haͤtte, uͤber die Erſuͤllung ihres Teſtaments
zu halten, und daß ſie ihr und mir, Ringe und
Trauer vermacht haͤtte. Wir hatten alſo den
gantzen Tag mit Dingen zu thun, die zu ihrem
letzten Willen gehoͤrten, durch welchen meine Ba-
ſe Jenny Finnet reichlich verſorget iſt: und es
ward Mittewochen, ehe wir an die Ruͤckreiſe ge-
dencken konnten.


Weil wir auf keine Schabracken warten durf-
ten, ſo kamen wir um Mittag nach Hauſe. Jch
ſchickte zwar Robert noch ehe er abſtieg nach
Jhren Briefen, und er brachte mir eine gantze
Taſche voll von etlichen Tagen bis auf den Mit-
tewochens Mittag. Allein ich war ſo muͤde, und
durch
[217]der Clariſſa.
durch den Tod der ſeeligen Frau ſo geruͤhrt; und
meine Mutter, die noch keine Urſache hat, ſich
aus der Welt weg zu ſehnen, war durch dieſen
Anblick ſo unpaß geworden; daß ich ohnmoͤglich
fruͤh genug ſchreiben konnte, daß Robert den
Brief noch vor Abends haͤtte beſtellen koͤnnen.


Jch habe mich nun wieder erhohlt, und mei-
ne Mutter hat gleichfalls eine gute Nacht ge-
habt. Jch bin daher mit dem Tage aufgeſtan-
den, dieſen Brief ſo fruͤh zu ſchreiben, daß Sie
ihn ſchon finden moͤchten, wenn Sie nach dem
Fruͤh-Stuͤck ein wenig in die Luft gehen. Denn
ich wollte Sie gern ſo wenig als moͤglich iſt war-
ten laſſen.


Jch gedencke bald noch einen Brief zu ſchrei-
ben. Jch will jemand auszufinden ſuchen, durch
den ich Herrn Lovelaces Auffuͤhrung in ſei-
nem Wirths-Hauſe unmittelbar und aus der er-
ſten Hand erfahre. Einen ſo muntern Geiſt
muß man leicht ausforſchen koͤnnen.


Sie moͤgen zwar jetzt in Abſicht auf ſeine Auf-
fuͤhrung wohl gleichguͤltig ſeyn: denn Sie ba-
ten mich um Nachricht von ihm, ehe er noch ſei-
ne Tod-Suͤnde gegen Sie begangen hatte.
Jch will mich aber dennoch erkundigen, und ich
glaube, daß dasjenige, was ich in Erfahrung
bringen werde, Sie in Jhrer Unverſoͤhnlichkeit
beſtaͤrcken wird. Allein, wenn der arme Mann
(ſoll ich ihn nicht um Jhrentwillen ein we-
nig beklagen?) ſich des groͤſſeſten Gluͤcks berau-
bet ſehen muß, das ſich ein Menſch auf dem Erd-
O 5boden
[218]Die Geſchichte
boden wuͤnſchen kan; eines Gluͤcks, auf das er,
bey ſo weniger Wuͤrdigkeit Anſpruch gemacht
hat: ſo iſt alle ausgeſtandene Gefahr, alle Ver-
kaͤltung, die fieberhaften Zufaͤlle, der ertragene
Schimpf, das ſchlimme Wetter, alles iſt ‒ ‒ ‒
umſonſt. Kann das nicht Jhr grosmuͤthiges
Hertz bewegen, falls es ſonſt nichts in Jhrem
Hertzen zu bewegen findet? der arme Love-
lace!


An keinem Schlagen des Hertzens, an kei-
nem halben Schlage will ich Schuld ſeyn: nicht
einmahl an einer ſchnellen ſinnlichen Empfindung,
die wie ein Blitz entſtehet und vergehet, weil ſie
alsbald durch die Ueberlegung unterdruͤckt wird,
von welcher Tugend Sie Jhrem gantzen Ge-
ſchlecht ein Beyſpiel geben, das vorhin noch nie-
mahls gegeben iſt. Jch will das nicht thun, ſa-
ge ich: und dennoch muß ich Sie nicht aus ei-
ner unverſchaͤmten und allzu luſtigen Spaßhaf-
tigkeit, ſondern nur blos mit dem Zweck, daß
Sie ſich ſelbſt moͤgen kennen lernen, durch den
widerhohlten Schall probiren: der arme Love-
lace!
ſo wie man ſonſt das Geld an dem Schall
zu probiren pflegt, um die aͤchten und nach-
gemuͤntzten Guldens von einander zu unterſchei-
den. Der arme Lovelace!


Wie iſt Jhnen jetzt zu Muthe? Wie finden
Sie ſich? um die Frage bey Jhnen anzuwen-
den, die meine Mutter an Herrn Hickmann
that, als ihn ihre naſeweiſe Tochter betruͤbet
hatte.


Der
[219]der Clariſſa.

Der ein und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch fange nun an, Jhre lieben Zeilen zu be-
antworten: ich muß aber kurtz ſeyn, weil
ich in einer allzugroſen Schuld ſtecke.


Was zufoͤrderſt Jhre Verweiſe anlanget, ſo
habe ich dieſe Entſchuldigung: ſollte ich denn
gaͤntzlich aufhoͤren, Verweiſe von Jhnen zu ver-
dienen, da ich Jhre Art ſie zu geben ſo ſehr be-
wundere, und Sie immer lieber kriege, ſo oft
Sie mir etwas verweiſen? und da Sie ſo voll-
kommen dazu berechtiget ſind? denn was koͤnn-
ten Sie vor eigene Fehler haben, wenn nicht
Jhre Anverwanten ſo guͤtig waͤren, an Jhnen
einige Splitter zu entdecken, um dadurch die
Menge ihrer eigenen Suͤnden gegen Sie zu
entſchuldigen? Allein ich hoffe, daß dieſe hierin
gegen mich eben ſo guͤtig geſinnet ſind als gegen
Sie. Denn wer unſere Brieffe laͤſe, und Jh-
nen Recht gaͤbe, wuͤrde mir dennoch das groͤſſeſte
Unrecht geben.


Sie thun recht daran, daß Sie Jhres Va-
ters Haus nicht verlaſſen wollen, wenn Sie nur
darin bleiben koͤnnen, ohne daß Sie Herrn Sol-
mes
angetrauet werden.


Mich
[220]Die Geſchichte

Mich duͤnckt, Sie haben auf Herrn Solmes
Brief eben ſo geantwortet, wie ich geantwortet
haben wuͤrde. Seyn Sie doch nun gegen mich
und ſich ſo hoͤflich, und bekennen Sie, daß es
eben recht geweſen ſey.


Sie haben in ihren Brieffen an Jhren Onckle
und an Jhre uͤbrigen Angehoͤrigen alles gethan,
was Sie thun konnten: und es mag erfolgen
was da will, ſo haben Sie ſich keine Schuld
beyzumeſſen. Sie bieten Jhnen ſo gar Jhr
Gut an! das haͤtte ich gewiß nicht gethan!
Sie ſehen auch, daß dieſes Anerbieten ſie ſtutzig
machte; ſie nahmen ſich Zeit es in Ueberlegung zu
ziehen. Mir war das Hertz beklommen, ſo lan-
ge dieſe Zeit in Jhren Brieffen waͤhrete, und
ich befuͤrchtete, daß ſie Sie bey Jhrem Worte
halten moͤchten. Das wuͤrden ſie auch gethau
haben, wenn ſie ſich nicht vor Herrn Lovelace
beydes geſchaͤmt und gefuͤrchtet haͤtten. Sie
haben eine allzuedle Seele fuͤr die Jhrigen:
und ich widerhohle es, daß ich ſo viel nie ange-
boten haͤtte. Gewaͤhren Sie mich Einer Bitte,
und fuͤhren Sie die Jhrigen nicht zum zweyten
mahl in Verſuchung.


Jch geſtehe Jhnen frey, daß die wunderliche
Auffuͤhrung der Jhrigen hiebey, und das gantz
andere Betragen Herrn Lovelaces in dem
Briefe, den Sie eben damahls erbrachen, mich zu
einem Schritt wuͤrde verleitet haben, den ich nie
haͤtte zuruͤck thun koͤnnen. Der Hencker hohle
ihn, moͤchte ich bald fluchen, daß er nicht ſorg-
faͤlti-
[221]der Clariſſa.
ſaͤltiger geweſen iſt, ſeinen guten Nahmen ſo
unbefleckt zu bewahren, daß man dieſen Schritt
auch ſo gar an Fraͤulein Clariſſa Harlowe
in ihren bedraͤngten Umſtaͤnden haͤtte billigen
koͤnnen.


Jch wundere mich nicht daruͤber, daß Sie ſich
zu einer Zuſammenkunft mit ihm verſtanden ha-
ben. Jch werde bey Gelegenheit meine Gedancken
hievon im folgenden melden.


Jch bitte Sie hertzlich, dencken Sie auf eine
Liſt, daß Sie Jhre Eliſabeth Barnes zu mir
ſchicken koͤnnen. Geht die Acte von Toventry
auch auf das Frauenzimmer? Jch wollte ſie recht
eingeweicht nach Hauſe ſchicken, und ſie ſollte zum
wenigſten durch unſere Pferde-Schwemme, wo
ſie am tiefſten iſt, gezogen werden. Wenn ich
ſie nur hieher kriegen kan, ſo ſoll ſie ihre Erloͤ-
ſung aus meinen Haͤnden jaͤhrlich feyren, ſo lan-
ge ſie lebet.


Ueber Lovelaces hitzige Antwort wundere
ich mich nicht, ob ich gleich nicht leugne, daß ſie
hitzig iſt. Wenn er Sie ſo liebet, als er vorgiebt,
ſo muſte es ihn ſehr verdrieſſen, daß er ſich in
ſeiner Hoffnung betrogen ſahe; und er wuͤrde in
meinen Augen ein abſcheulicher Heuchler ſeyn,
wenn er dieſen Verdruß haͤtte verbergen koͤn-
nen. Sie kommen bey nahe um ein halbes
Jahrhundert zu fruͤh, wenn Sie bey einem Man-
ne, wie er iſt, dem eine ſolche Hoffnung fehl ſchlaͤgt,
ſo viel chriſtliche Faſſung und Verleugnung er-
war-
[222]Die Geſchichte
warten. Jch verdencke es Jhnen aber doch nicht,
daß Sie wieder boͤſe gethan haben.


Jch bin voller Ungeduld, bis ich hoͤre, wie
ſich dieſer Krieg zwiſchen Jhnen und ihm endi-
gen wird. Vor einigen Tagen waren nur eini-
ge Zoll dicke Ziegeln, zwiſchen Jhnen beyden,
und nun ſind es ſolche Berge! Und Sie dencken,
daß es ſo bleiben ſolle! Wohlan es ſey alſo!


Sie ſagen, ſie erkenneten nun, daß ihm die
Gemuͤths-Faſſung nicht natuͤrlich geweſen ſey, in
welcher er ſeinen vorigen Brief geſchrieben habe.
Haben Sie denn dieſes jemahls geglaubt? Wer
allzukriechend und ſchmeichelnd iſt, der wird un-
verſchaͤmt, und man darf ihm nur einen Finger
breit einraͤumen, ſo nimt er eine gantze Hand
breit. Jch bin gewiß verſichert, daß eben mein
Hickmann ſo dreiſte werden wuͤrde als Love-
lace/
wenn er es ſich jemahls unterſtehen duͤrfte.
Er prahlt nur nicht ſo mit ſeiner Dreiſtigkeit,
wie der andere, und kan die Klauen beſſer ver-
ſtecken: das iſt der gantze Unterſcheid. Man
gebe ihm aber Gelegenheit dazu, ſo wird er ſie
eben ſo gut zeigen, als der andere.


Wenn ich mich jemahls uͤberreden laſſe, ihn
zu nehmen, ſo will ich genau darauf Acht ge-
ben, wie er nach und nach aus einem verliebten
Diener ein ſtrenger Haus-Herr wird: wie er
gleichſam in dem Rade aufſteiget, wenn ich nie-
dergehe, und nie wieder ſo hoch komme, als ich
jetzt bin, es muͤßte denn bisweilen auf einen Au-
genblick geſchehen, wie ein untergehendes Reich,
daß
[223]der Clariſſa.
daß ſeine letzte Macht zu Erhaltung ſeiner Frey-
heit anwendet, ſich noch wohl zu guter letzt auf
eine kurtze Zeit zu erhohlen ſcheint.


Wer ein gutes Gemuͤth hat, der iſt hitzig,
ſagt Lovelace[?] Eine trefliche Entſchuldigung
gegen ſeine Schoͤne, die noch frey und ungebun-
den iſt! Es iſt eben ſo viel geſagt, als: ſo hoch
ich ſie auch ſchaͤtze, Fraͤulein, ſo werde ich mir
doch die Muͤhe nicht nehmen, um ihrentwillen
meine Hitze zu maͤßigen. Jch wuͤrde mich freuen,
wenn ich meinen Hickmann eben auf dieſe Art
von ſeinem guten Gemuͤth reden hoͤrte.


Wir ſind in der That allzu geneigt, einem
eigenſinnigen Kopfe etwas zu gut zu halten, der
in der erſten Erziehung ſo verdorben iſt, daß kei-
ne Hoffnung uͤbrig iſt, daß er eine ſo ſtarck ge-
wordene Gewohnheitsſuͤnde werde uͤberwinden
koͤnnen. Allein was haben wir kuͤnftig zu er-
warten, wenn wir ein ſo ungeſtuͤmes Wefen
ſchon jetzt an einem Freyer entſchuldigen ſollen,
da er uns noch gute Worte geben muß. Jch
glaube, Sie kennen ſelbſt einen Ehemann, dem
auch allzufruͤh etwas zu gute gehalten ward:
und Sie ſehen, daß jetzund weder er ſelbſt noch
andere Urſache haben, ſich zu freuen, daß es ge-
ſchehen iſt.


Es iſt allerdings noͤthig, daß ſich Perſonen in
einander zu ſchicken ſuchen, die ihr gantzes Le-
ben mit einander zuzubringen gedencken. Allein
es ſollten doch gewiſſe Graͤntzen bleiben, und
man ſollte daruͤber gleichſam eins werden, dieſe
Graͤn-
[224]Die Geſchichte
Graͤntzen nie zu uͤbertreten. Ein jeder ſollte auf
den andern genau ſehen, daß er ſich nicht mehr
heraus nehme als ihm zuſtaͤnde. Was wuͤrde
in dem Grosbrittanniſchen Staat fuͤr Unheil ent-
ſtehen, wenn die Rechte der drey groſſen Glieder,
aus denen unſer Staatscoͤrper beſtehet, nicht be-
kannt und bey Gelegenheit verfochten waͤren?
Die beyden Haͤuſer, die das Recht haben Geſetze
zu machen, wuͤrden eins das andere druͤcken, und
ihm etwas abzuzwacken ſuchen: bis daß derjeni-
ge, dem es obliegt uͤber die Geſetze zu halten,
ſie beyderſeits verſchlingen wuͤrde.*


Sie werden ſagen: wenn aber zwey verſtaͤn-
dige Perſonen zuſammen kommen ‒ ‒ ‒


Ja, mein Schatz; darin haben Sie recht.
Allein wenn keine andere als verſtaͤndige Perſo-
nen heyrathen ſollten, ‒ ‒ Wie? wenn ich
mich gar unterſtuͤnde zu behaupten, daß die mei-
ſten verſtaͤndigen Perſonen unverheyrathet zu
bleiben pflegten, weil ſie allzu vieles zu bedencken
finden, ehe ſie einen Entſchluß faſſen koͤnnen?
Wuͤrde eine von uns beyden an das Heyrathen
dencken, wenn dieſe Leute oder die Unſrigen uns
nur zufrieden lieſſen?


Doch
[225]der Clariſſa.

Doch um wieder auf das vorige zu kommen;
wenn Lovelace mein Freyer waͤre, und meine
Neigung gegen ihn ginge nicht weiter, als daß
ich ihn nur einem Solmes vorzoͤge, ſo wuͤrde
ich ihm das erſtemahl, da er mir ſein gutes Ge-
muͤth durch ungeſtuͤme Hefftigkeit zu erkennen
gegeben haͤtte, verboten haben, mir je wieder un-
ter die Augen zu kommen. Du mußt noch
hundertmahl mit mir Gedult haben/
Freund/
wuͤrde ich ihm geſagt haben, wenn ich
ihn ja noch einer Antwort gewuͤrdigt haͤtte: be-
kuͤmmere dich ferner nicht mehr um mich.
Jch kan keine Leidenſchafft bey dir dul-
den/ die noch ſtaͤrcker iſt/ als deine vor-
gegebene Neigung gegen mich.


Allein bey einer ſo ſanftmuͤthigen Perſon,
als Sie ſind, iſt es einerley, ob Sie einen Lo-
velace
oder einen Hickman kriegen. Der Ge-
horſam iſt bey Jhnen ein ſolcher Grundſatz, daß
Sie wohl gar einem ſanftmuͤthigen Manne ſa-
gen wuͤrden, er muͤſſe nicht bitten ſondern be-
fehlen/
und es wuͤrde niedertraͤchtig ſeyn, wenn
er den Gehorſam nicht von Jhnen fodern woll-
te, den Sie vor dem Altar verſprochen haͤtten.
Jch weiß mich wohl zu erinnern, wie demuͤthig
Sie ſonſt die kleine wunderliche Zeile verehret
haben, die ein herrſchſuͤchtiger Mann in die Trau-
formul geruͤcket hat, um durch ein Verſprechen
das zur Schuldigkeit zu machen, was er ſonſt nie
fuͤr ein Recht haͤtte halten koͤnnen.


Zweyter Theil. PSie
[226]Die Geſchichte

Sie meinen, daß die Art wie wir erzogen
werden uns des Schutzes eines muthigern
Geſchlechts beduͤrftig mache.
Es iſt wahr!
und es iſt wahrlich recht muthig und heldenmuͤ-
thig gehandelt, daß der muthige Beſchirmer uns
vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu ſtellen
verſpricht, die allein ausgenommen, die uns am
naͤchſten gehen werden, ich meine die, damit er
ſelbſt uns zu kraͤncken gedencket.


Wie kuͤnſtlich hat Lovelace in dem einen
Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige
ſchwache Seite zu treffen gewußt! Wie liſtig
beobachtet er Jhren Hauptſatz, daß ein edles
Gemuͤth allen Zwang haſſet.
Er iſt gewiß
viel unergruͤndlicher, als wir bisweilen geglaubt
haben. Er weiß wohl, wie Sie ſelbſt zu ver-
ſtehen geben, daß er ſeine wilden Streiche nicht
vertuſchen kan; er giebt ſich alſo ſelbſt ſchuldig,
um alles Boͤſe, daß Sie noch kuͤnftig von ihm
hoͤren moͤchten, zum voraus zu bemaͤnteln, in-
dem es Jhnen wie neu und unerwartet iſt. Al-
lein wahrhaftig, was er auch ſonſt vor Laſter
hat, ſo iſt er doch ſehr anfrichtig, und hat keine
Ader vom Heuchler; weil bey unſerm Geſchlecht
kein Laſter ſo verhaſt iſt, als die entdeckte Heu-
cheley des andern Geſchlechts, vielleicht deswe-
gen, weil ſie uns hindert unſer eigenes Lob in
deſſen Munde zu glauben, das wir doch hertz-
lich gern glauben moͤchten.


Durch dieſe vorgegebene Aufrichtigkeit be-
kommt Herr Lovelace ein Lob, ſo oft er Schan-
de
[227]der Clariſſa.
be verdienet: und er faͤngt wie ein entſuͤndigtes
Beichtkind ein neues Kerbholtz an, nachdem er
das vorige abgethan hat. Denn ein Auge, das
ihm einmahl ſo guͤnſtig iſt, wird ſeine Fehler nicht
vergroͤſſeren, und ein Frauenzimmer, das ſtets
geneigt iſt das beſte zu hoffen/ wird alle Be-
ſchuldigungen fuͤr Verlaͤumdungen oder vorge-
ſaßte Meinungen halten, denen die chriſtliche
Liebe nur irgends dieſen Nahmen geben kan.
Sind ja einmahl die Nachrichten gar zu gewiß,
als daß man ſie in Zweiffel ziehen koͤnnte, ſo
wird doch die Hoffnung kuͤnftiger Beſſerung vor
ihn ſprechen. Er predigt ſelbſt genug von die-
ſer Hoffnung, und die Frauensperſon darf nicht
unglaͤubig ſeyn, ſonſt waͤre es eben ſo viel, als
zweiffelte ſie an der Macht, die ihre eigene Vor-
zuͤge uͤber das andere Geſchlecht haben. So kan
man eine Frauensperſon lencken, daß ſie um ei-
ner kleinen und wol noch dazu eingebildeten Tu-
gend willen ein offenbahres und ſchreiendes La-
ſter uͤberſiehet.


Jch habe jetzt eine neue Veranlaſſung, uͤber
Jhren Brief dieſe Predigt zu halten. Jch will
nichts davon ſchreiben, bis ich alles mit Gewiß-
heit weiß. Jſt die Sache wahr, wie ich ſtarck
glaube, ſo iſt der Menſch ein eingefleiſchter Teuf-
fel, und Sie haben Urſache, noch eher auf (bald
ſagte ich, auf Herrn Solmes/ allein vergeben
Sie mir dieſes Wort!) zu dencken, als auf
ihn.


Doch dem ſey wie ihm wolle: ich will Jhnen
P 2zum
[228]Die Geſchichte
zum voraus ſagen, wie er ſich nach allen vor-
hergegangenen Beleidigungen wieder bey Jhnen
einſchmeicheln kan.


Er muß es alſo anfangen: er muß ſich nur
darauf beruffen, daß er ein gutes Gemuͤth hat;
dadurch wird das ſchon entſchuldiget, daß er un-
geſtuͤm und unbeſcheiden geweſen iſt. Er wird
nichts weiter zu thun haben, als daß er Sie die
eine Stunde dazu gewoͤhne, ihn bisweilen grob
und unverſchaͤmt zu ſehen; und die ſolgende
Stunde, ihm alles zu vergeben, ſo bald er es ab-
bittet. Wenn er dieſes einige mahl gethan hat,
ſo wird er es endlich dahin bringen, daß Sie
gar nicht mehr gegen ihn empfindlich ſeyn koͤn-
nen: bald werden Sie etwas mehr Grobheit
verſchmertzen koͤnnen, wenn er nur eine kleine
Abbitte thut, bis endlich nichts als Grobheit
uͤbrig bleibt, und das Abbitten gaͤntzlich weg-
faͤllt. Sie werden ſich zuletzt ſcheuen, einen
ſo hitzigen Kopf zu beleidigen, und Sie werden
das kleine niedertraͤchtige Wort, Gehorſam/
ſo deutlich und vernehmlich ſprechen lernen, daß
man ſeine Luſt daran haben wird, es zu hoͤren.
Aus der Beherrſcherin des Hertzens wird
endlich eine moscovitiſche Frau werden: und
wenn Sie nicht glauben wollen, daß es ſo weit
kommen koͤnne, ſo belieben Sie ſich Jhrer Frau
Mutter Urtheil daruͤber auszubitten.


Allein nichts weiter hievon. Jhre Sachen
ſehen zu ernſthafft aus, als daß ich von ſolchen
Dingen auf eine ſo luſtige Weiſe reden darf:
und
[229]der Clariſſa.
und meine Leichtſinnigkeit iſt mir jetzt nicht na-
tuͤrlich, ſondern etwas angenommenes. Mein
Hertz theilet mit Jhnen aufrichtig allen Kum-
mer, wie ich Jhnen ſchon ſonſt gemeldet habe,
und die Sonne ſcheinet ſelten bey mir, und nur
durch dicke Wolcken. Meine Augen, die Jh-
nen ſo munter vorkommen, koͤnnen ſich der Thraͤ-
nen kaum enthalten, ſelbſt wenn ich das ſchreibe,
wobey Sie mir eine uͤbertriebene und allzu luſtige
Munterkeit zuſchreiben.


Jnſonderheit aber ſcheinen mir jetzund die
Grauſamkeit und wunderliche Haͤrte einiger un-
ter Jhren Freunden (Anverwanten ſollte es
heiſſen! ich verſchreibe mich immer) die eben ſo
wunderbahre und unbewegliche Standhaftigkeit
anderer; Jhr Streit mit Herrn Lovelace; Jh-
re herannaͤhernde Unterredung mit Solmes/
davor Sie ſich mit Recht fuͤrchten: alle dieſe
Dinge, ſage ich, ſcheinen mir in Jhren Umſtaͤn-
den ſo wichtig, daß ſie alle meine Aufmerckſam-
keit erfodern.


Sie fragen mich um Rath, wie Sie ſich auf-
fuͤhren ſollen, wenn Herr Solmes Sie beſuchen
wird? Jch weiß keinen Rath zu geben, wenn es
mir auch das Leben koſten ſolte. Gewiß die Jh-
rigen muͤſſen von dieſem Beſuch groſſe Folgen
erwarten, ſonſt haͤtten ſie Jhnen keine ſo lange
Friſt zugeſtanden. Alles was ich ſagen kan, iſt
dieſes: wenn Herr Solmes jetzt nichts ausrich-
tet, nachdem Sie von Herrn Lovelace ſo ſehr
beleidiget ſind, ſo wird er nie etwas ausrichten.
P 3Jch
[230]Die Geſchichte
Jch zweiffele nicht, daß ich nach uͤberſtandenen
Beſuche werde bekennen muͤſſen, daß alles recht
geweſen iſt, was Sie gethan oder geſagt haben,
und daß es nicht haͤtte beſſer ſeyn koͤnnen. Al-
lein ich verſpreche Jhnen, daß ich dieſes nicht
ſagen will, wenn ich nicht im Hertzen ſo dencke.


Der eintzige Rath, den ich Jhnen geben kan,
iſt, daß Sie ein Hertz auch ſelbſt gegen Jhren On-
ckle faſſen muͤſſen. Stellen ſie ſich nur uͤber
die abgeſchmackte Auffuͤhrung empfindlich, an der
er ſo groſſen Theil genommen hat, und ſuchen
Sie ihn, wenn Sie es koͤnnen, ſchamroth zu
machen.


Bey weiterer Ueberlegung dencke ich faſt, daß
der Beſuch, den die Jhrigen mit ſo groſſem Fleiß
veranſtalten, dennoch zu Jhrem Vortheil aus-
ſchlagen koͤnne. Denn wenn Solmes ſiehet,
daß er ohnmoͤglich etwas bey Jhnen ausrichten
kan, (wo dieſes anders noch Jhre Meinung iſt)
und Jhre Anverwandten es auch ſehen: ſo wird
jener ablaſſen, und dieſe werden ſich mit Jhnen
vergleichen. Jch glaube zwar, daß die Bedin-
gungen Jhnen hart vorkommen werden; allein
ſie werden doch angenommen werden, wenn jene
das fahren laſſen, was Jhnen noch haͤrter und
unertraͤglicher ſcheinet.


Einige Stellen Jhrer letzten und vorigen
Brieffe beſtaͤtigen das, was ich ſchreibe. Allein
es ſchickt ſich zu dieſer Zeit, und zu Jhren Um-
ſtaͤnden nicht, etwas mehreres hievon einflieſſen
zu laſſen.


Mir
[231]der Clariſſa.

Mir vergehet alle Geduld, wenn ich ſehen
muß, daß Sie der Ball werden ſollen, mit wel-
chem Jhres Bruders und Jhrer Schweſter
Grauſamkeit ſpielet. Denn was koͤnnen dieſe
noch fuͤr Hofnung haben, nachdem Sie bey aller
Gelegenheit ſo viel Standhaftigkeit und Behar-
rung bey Jhrem Endſchluß gezeiget haben.


Jch billige Jhren Vorſatz, alle Papiere und
Briefſchaften in Sicherheit zu bringen, die nicht
ſo beſchaffen ſind, daß ſie von ihnen ohne Nach-
theil geleſen werden koͤnnen. Jch hielte es auch
fuͤr gut, daß Sie etwas von Kleidung und Waͤ-
ſche an ſichern Ort braͤchten, noch ehe Sie Herrn
Solmes ſprechen, denn ich fuͤrchte, daß Sie
nachher keine Gelegenheit dazu haben werden.
Robert ſoll dieſes Buͤndel auf Dero erſten Be-
fehl abhohlen, es ſey bey Tage oder bey Nacht.


Jch hoffe meine Mutter ſo weit zu bringen,
daß Sie ſich insgeheim in unſerm Hauſe auf-
halten koͤnnen, wenn es auf das aͤuſſerſte kom-
men ſolte. Jch will gern die Bedingung ein-
gehen gegen ihrem Liebling aufgeraͤumt, ja ſo
gar freundlich zu ſeyn, wenn ſie mir eine Gefaͤl-
ligkeit erzeigen will, dadurch ich meinem Liebling
dienen kan. Jch habe dieſes ſchon eine gute
Zeit im Sinne gehabt: ich kan aber noch nicht
vor den Ausgang ſtehen.


Geben Sie nicht alle Hoffnung auf, mein
Schatz, Jhr Streit mit Herr Lovelace kan
ein Huͤlffs-Mittel zu unſerm Zweck ſeyn; und
Jhr Anerbieten in dem Brieffe an Jhren Onckle
P 4kan
[232]Die Geſchichte
kan auch etwas dazu beytragen. Jch verlaſſe
mich darauf, daß Sie alle zu wilden Ausdruͤcke
vergeben werden, die Sie ſonſt mit Recht to-
deln koͤnnen an Jhrer allzufreyen allein dennoch
mitleidigen


Anna Howe.



Der zwey und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe/ an Fraͤulein
Howe.



Sie haben Jhr Stilleſchweigen ſehr guͤtig
entſchuldiget. Wer in Ungluͤck ſteckt,
der iſt immer voller Argwohn, und macht leicht
aus einem bloſen Zufall eine vorſetzliche Nach-
laͤßigkeit und Verachtung, ſonderlich in Abſicht
auf diejenigen, an deren guter Geſinnung ihm am
meiſten gelegen iſt.


Jch ſehe taͤglich mehr, daß ich meine Anna
Howe
von der Zahl dererjenigen ausnehmen
muß, die nur Freunde bey guten Tagen ſind.
Dem ohngeachtet iſt mir Jhre Freundſchafft ſo
theuer, daß ich immer daran zweiffele, ob ich ſie
verdiene, und deshalb beſorgt bin, daß ſie mir
vielleicht entzogen werden koͤnnte.


Sie geben mir auf eine edle Art die Frey-
heit,
[233]der Clariſſa.
heit, Jhnen etwas zu verweiſen, daß ich mich
ſcheuen muß, ſie anzunehmen. Denn die Rich-
tigkeit meiner eignen Urtheile iſt mir zweifel-
hafter, als die Urtheile meiner liebſten Freun-
din, welche durch ein freymuͤthiges Bekentniß
ſolcher Fehler, deren ich ſie beſchuldige, genug-
ſam anzeiget, daß ſie keinen Fehler mit Wiſſen
und Willen begehen werde. Jch fuͤrchte mich
deshalb bey nahe, Sie zu fragen, ob Sie nicht
zu grauſam in Jhrem Betragen gegen einen
Mann ſind, der Sie ſo zaͤrtlich liebet, und der
ein ſo braver und ehrlicher Mann iſt.


Wenn Sie es nicht waͤren, ſo wuͤrde ich mich
ſchaͤmen, die wahrhafte Grosmuth bey einer an-
dern in mehreren Maaß anzutreffen, aus der es
herruͤhret, daß man die Schlaͤge eines wahren
Freundes geduldig leidet. Jch glaube, daß ich
mich einer Tadelſucht ſchuldig gemacht habe, die
durch nichts als durch meine verdrießlichen Um-
ſtaͤnde entſchuldiget werden kan, wenn ſie anders
nicht fuͤr alle Entſchuldigung zu groß und zu un-
zeitig iſt. Jch fuͤrchte mich faſt Sie zu bitten,
und dennoch bitte ich Sie, Jhrem Geiſte den
ſreyen Lauf zu laſſen, wenn er mit Laͤcheln
und dennoch ſehr empfindlich anderer Fehler ta-
delt. Welche Wunde ſoll bey dem Eiſen zucken,
das ſich in ſo behutſamen Haͤnden befindet?
Jch fuͤrchte mich, ſage ich, Sie zu bitten, daß
Sie Jhrem Geiſte freyen Lauf laſſen moͤgen:
denn ich beſorge, daß eben dieſe Bitte eine ge-
genſeitige Wirckung bey Jhnen haben wird.
P 5Sie
[234]Die Geſchichte
Sie koͤnnten vielleicht die Stacheln Jhres Ta-
dels gleichſam weniger ſchaͤrffen, wenn ich ſie
nicht mehr fuͤhlete: ja ein großmuͤthiger Tade-
ler verwandelt die Satyre leicht in eine Lob-Re-
de, wenn er weiß, daß man ſich gern tadeln laͤßt.
Jhre Satyren ſind voller Lehren, und ſie ſind
eben ſo angenehm als beiſſend: Sie geben ſo
unmercklich-zarte Stiche, und die ſo ohne Gift
eines Widerwillens und Hohn-Gelaͤchters ſind,
daß die Wunden gewiß nicht eitern werden.
Diejenigen, die zu unſerer Zeit wegen ihres Witzes
am beruͤhmteſten ſind, verſtehen dieſe Kunſt nicht:
denn ſie entſteht aus der wahren Menſchen-Liebe,
und wird nirgends gefunden werden, als wo ein
aufrichtiges Hertz die Feder fuͤhret. Unſere
witzigen Schrifft-Steller lachen uͤber die Men-
ſchen
und nicht uͤber ihre Fehler: und wenn
ihre Satyre der Billigkeit gemaͤß ſeyn ſollte, ſo
wuͤrde ſie ihrem Endzweck nicht gemaͤß ſeyn. Wie
kan ſie zur Beſſerung anderer dienen, da jede Nar-
be die ſie giebt, nur darauf abzielet, andere laͤcher-
lich zu machen: und da ſie verwundet, an ſtatt
daß ſie heilen ſollte. Schonen Sie demnach
meiner um unſerer Freudſchafft willen nicht:
eben dieſe unſere Freundſchafft ſoll Sie unbarm-
hertziger machen. Jch werde zwar Jhre Stiche
fuͤhlen, ſo zart, ſo unmercklich ſie auch ſind; es
wird mich ſchmertzen, und Jhr Endzweck wuͤrde
nicht erreicht werden, wenn ich unempfindlich
bliebe: allein ſo bald die erſte Empfindung vor-
uͤber iſt, werde ich Sie lieber gewinnen, und mein
durch
[235]der Clariſſa.
durch Sie gebeſſertes Hertz wird Jhnen gantz er-
geben ſeyn. Es wird wuͤrdig werden, Jhnen
ergeben und Jhr Eigenthum zu ſeyn.


Sie haben mich zum voraus unterrichtet, wie
ich Herrn Lovelace antworten und was ich von
ihm dencken ſoll: Sie haben mir auf eine ange-
nehme Weiſe vorhergeſagt, wie er ſich zu ent-
ſchuldigen ſuchen wird. Wenn er dieſes thut,
ſo ſollen Sie alle Blaͤtter ſehen, die gewechſelt
werden, damit ich Jhren Rath folgen koͤnne, wo
ich ihn fruͤh genug bekomme, oder wenigſtens
mein Verhalten von Jhnen nach Verdienſt ge-
billiget oder getadelt werden moͤge. Dieſe ein-
tzige Entſchuldigung aber bitte ich mir aus: die
Sache mag lauffen wie ſie will, ſo muß man be-
dencken, daß ich nicht nach meinen eigenen Ein-
ſichten habe handeln koͤnnen. Jch werde von
allen Seiten geſtoſſen, und durch anderer uͤber-
maͤßige Hitze und unvernuͤnftige Haͤrte gleich-
ſam als durch einen Sturmwind von meiner
Bahn verſchlagen. Den ledigen Stand ſehe ich
fuͤr den Hafen an, dem ich zueile: allein der
Neid meiner Geſchwiſter ſind die ſchaͤumenden
Wellen, und die dem Vorgeben nach verletzten
Rechte meines Vaters ſind der Surmwind,
durch welche ich von dieſem Hafen abgehalten
werde. Jch ſehe Lovelace als eine Klippe auf
der einen Seiten, und Solmes als eine Sand-
Vanck auf der andern an; und zittere vor
Furcht, an jener zu zerſcheitern, oder auf
dieſer ſitzend zu bleiben.


Sie
[236]Die Geſchichte

Sie ſind mein Pilote bey dieſem Ungluͤcks-
Sturm: und o wie angenehm iſt mir die Hoff-
nung, die Sie mir von ferne zeigen. Jch will
zwar Jhre Warnung beobachten, und mir keine
gewiſſe Hoffnung machen, daß Sie Jhre Frau
Mutter werden uͤberreden koͤnnen, mich aufzuneh-
men, denn ich weiß wohl, wie weit ſie die Pflichten
des vierten Gebots ausdaͤhnt. Allein ich will doch
hoffen, ſonderlich aus dem Grunde, weil ſie ſuchen
kan, mich durch ihre guͤtige Aufnahme von einer
noch groͤſeren Ubereilung zuruͤck zu halten. Sie
ſoll mir alsdenn alle meine Wege vorſchreiben:
ich will nichts vornehmen, als nur nach ihrem Be-
fehl, und nach dem Rath, den Sie mir beyderſeits
ertheilen werden: ich will niemand ſprechen und
an niemand ſchreiben, und keine Seele ſoll wiſſen,
wo ich mich aufhalte. Jn was vor einen Winckel
Sie wollen, will ich mich verbergen, und nicht her-
auskommen, als wenn ich mich bisweilen wie eine
Magd von Jhnen verkleide, um mit Jhnen aus-
gehen zu koͤnnen. Jch verlange auch dieſen gehei-
men Aufenthalt nicht laͤnger, als bis auf die An-
kunft meines Vetters Morden/ welche nicht
mehr weit entfernt ſeyn kan.


Jch ſcheue mich Jhrem Rath zu folgen, und ei-
nige von meinen Kleidern in Sicherheit zu brin-
gen: ich will es blos mit der Waͤſche u. Briefſchaf-
ten verſuchen. Jch will Jhnen auch die Urſache
melden. Eliſabeth hat auf meinen Kleiderſchranck
bisher genau Achtung gegeben, wenn ich etwas in
ihrer Gegenwart herausgenommen habe. Als
ich
[237]der Clariſſa.
ich dieſes merckete, ſo ließ ich einmahl unter der
Zeit, da ich ſpatzieren gieng, den Schluͤſſel ſtecken;
und fand ſie bey meiner Zuruͤckkunft, daß ſie den
Schluͤſſel noch in der Hand hatte, als wollte ſie
die Thuͤr zuſchlieſſen, Sie erſchrack ſich daruͤber,
daß ich ſo bald zuruͤck kam, ich aber ließ mir nichts
mercken. Allein ich fand, daß meine Kleider
nicht in ihter Ordnung lagen.


Jch zweiffelte nunmehr nicht daran, daß ihre
Neugierde nicht von einem ihr gegebenen Befehl
herruͤhren ſollte: und weil ich befuͤrchtete, daß mir
das Spatzierengehen im Garten verboten werden
moͤchte, wenn ich nicht allen Argwohn zu vermei-
den ſuchte, ſo habe ich ſeit der Zeit unter andern
Kunſtgriffen auch dieſen gebraucht, daß ich die
Schluͤſſel oft ſtecken laſſe, und das Maͤdchen ſo gar
gebrauche, die Kleider heraus zu nehmen, aus Bey-
ſorge, (wie ich vorgebe) daß ſie voll Falten werden,
oder ſonſt Schaden leiden moͤchten, und um zu ver-
huͤten, daß das Silber nicht ſchmutzig werde. Jch
gebe dieſes wohl bisweilen fuͤr meinen Zeit-Ver-
treib aus, den ich waͤhlen muͤßte, weil ich ſonſt
nichtszu thun habe. Mich duͤnckt, daß ſie bey die-
ſer Beſchaͤfftigung immer ſo vergnuͤgt ausſahe, als
wenn ſie dadurch einen Zweck erreichet haͤtte, der
ihr mit aufgetragen waͤre. Vielleicht hat die Ei-
telkeit unſers Geſchlechts, die ſich bey hohen und
niedern findet, daß ſie gern ſchoͤne Kleider ſehen,
auch einen Theil an ihrem Vergnuͤgen gehabt.


Jch mag wohl die Freyheit, ſpatzieren zu gehen,
nur deswegen behalten haben, weil ſich meine Ge-
ſchwi-
[238]Die Geſchichte
ſchwiſter auf eine ſo getreue Kundſchafterin ver-
laſſen, und weil ſie wiſſen, daß ich mich niemanden
im gantzen Hauſe anvertraue, und nicht einmahl
verſucht habe, jemanden zu gewinnen, ob ich gleich
glaube, daß ich von allen Bedienten geliebet werde.
Da ich auch nicht die geringſte Anſtalt mache, da-
von zu gehen, ſo moͤgen ſie deſto ſicherer ſeyn, und
etwan dencken, daß ich mich endlich uͤberreden laſ-
ſen werde; denn ſonſt koͤnnen ſie nicht anders als
glauben, daß ihr hartes Verfahren hinlaͤnglich
ſey, mich ſo weit zu bringen, daß ich mich durch
einen uͤbereilten Schritt davon zu befreyen ſuch-
te: und, GOtt vergebe es mir! ich habe faſt den
Argwohn, daß mein Bruder und meine Schwe-
ſter nicht misvergnuͤgt daruͤber ſeyn wuͤrden, wenn
ich dieſen uͤbereilten Schritt thaͤte.


Wenn es alſo dereinſt noͤthig ſeyn ſollte, die-
ſen Schritt zu thun, (das ich doch nicht hoffen
will) ſo muß ich mich bequemen, mit den Klei-
dern die ich am Leibe habe davon zu gehen.
Weil ich mich des Morgens, ſo bald ich das
Fruͤhftuͤck zu mir genommen habe, voͤllig anzu-
kleiden pflege, ſo oft ich nicht durch Haushal-
tungs-Geſchaͤfte abgehalten werde, ſo wird man
deſto weniger Argwohn ſchoͤpfen. Die Waͤſche
aber, die ich nach Jhrem guͤtigen Rath wegſchaf-
fen will, kan niemand vermiſſen.


Jch bleibe noch immer in meiner Gefangen-
ſchaft bey dieſer Gewohnheit, ob ich gleich we-
der Beſuch gebe noch annehme. Wir ſind uns
und unſerm Geſchlecht ſo viel ſchuldig, uns rein-
lich
[239]der Clariſſa.
lich zu halten, und nie ſo angekleidet zu ſeyn,
daß wir uns ſchaͤmen muͤßten, wenn uns jemand
uͤberfiele. Jnſonderheit iſt es gut, im Ungluͤck
alle loͤbliche Gewohnheiten beyzubehalten, damit
man nicht durch die Verſuchung verſchlimmert
zu ſeyn ſcheine, wenn das Gluͤck uns wieder
guͤnſtiger wird.


Zeiget es nicht auch ein ſtandhaftes Gemuͤth
an, wenn man im Ungluͤck doch die Hoffnung
nicht fahren laͤßt? Auf beſſere Zeiten hoffen, iſt
beynahe ſchon ſo viel als beſſere Zeiten verdie-
nen: denn wir wuͤrden nicht hoffen koͤnnen, wenn
wir nicht den Vorſatz haͤtten, uns des gehoffeten
Guten wuͤrdig zu machen. Wer will ſich deſ-
ſen annehmen, der ſich ſelbſt verlohren giebt?
Dieſes ſind die Betrachtungen, dadurch ich mich
zuweilen aufzurichten ſuche.


Jch weiß, daß Jhnen meine Ernſthaftigkeit
nicht veraͤchtlich iſt, ob Sie gleich dann und
wann daruͤber ſpotten, um mein Gemuͤth durch
Jhren artigen Schertz aufzuheitern. Es hat
nicht jedermann die Gabe, von ernſthaften Sa-
chen ſo gluͤcklich zu reden, daß er zuglcich lehret
und vergnuͤget.


Auf wie viel Raͤncke verfaͤllt man nicht in
jungen Jahren, wenn unſer Hertz nicht durch
Guͤtigkeit und Herablaſſung gewonnen wird!
Meine Freunde ſind bisher nicht ſo gut mit mir
umgegangen, als ich mit ihren Bedienten umzu-
gehen pflegte.


So lange ich die Haushaltung fuͤhrte, hielt
ich
[240]Die Geſchichte
iſt es immer fuͤr edelmuͤthig und auch fuͤr eine
Schuldigkeit, ein Vertrauen auf andere zu ſetzen.
Wenn man von ihnen keine Ehrlichkeit und
Treue erwartet, ſo berechtigt man ſie beynahe
bey Gelegenheit untreu zu ſeyn.


Herr Solmes (um noch ein Wort von die-
ſen nicht unnutzen Kleinigkeiten zu reden) wuͤr-
de bey ſeinen noch geringeren Sorgen, an mir
eine ſchlechte Schluͤſſel-Verwahrerin gehabt ha-
ben. Wenn ich Frau in einem Hauſe waͤre,
ſo wollte ich mir die Muͤhe nicht geben, und ſie
nicht einmahl den Bedienten machen, auf die
Achtung zu geben, die ſich bey mir verdaͤchtig ma-
chen wuͤrden. Leute von niedrigem Stande, ha-
ben deshalb nicht immer ein niedertraͤchtiges Ge-
muͤth. Oft komme ich faſt auf die Gedancken,
daß ſich unter den armen und niedrigen mehr
ehrliche und erhabene Gemuͤher finden, als un-
ter den vornehmen: Denn jene halten die Ehr-
lichkeit fuͤr ihre eintzige Ehre, allein dieſe wer-
den durch die Herrfchſucht, durch Ehrgeitz, durch
Wohlluſt verfuͤhret. Es entſtehet hieraus eine
ſo ſeltſame Ruhm-Begierde, die oft die Begier-
de nach wahrer Ehre erſticket.


Viele gemeine Leute wuͤrden es fuͤr allzu nie-
dertraͤchtig halten, den zu betriegen, der ſich auf
ſie verlaͤßt: und bey denen unter ihnen, die ſonſt
die dummeſten zu ſeyn ſchienen, habe ich oft ei-
ne groſſe Empfindlichkeit wahrgenommen, ſo
bald man in ihre Ehrlichkeit ein Mistrauen ſetz-
te. Jch habe oͤfters den Maͤgden Vorſtellung
thun
[241]der Clariſſa.
thun muͤſſen, wenn ſie ſich verlauten lieſſen:
ſie haͤtten zwar ſonſt immer den Ruhm
gehabt/ daß ſie ehrlich waͤren. Da aber
ihre Herrſchaft argwoͤhniſch ſey/ ſo woll-
ten ſie ihr Urſache zum Argwohn geden.


Wie weit hat mich die Vergleichung zwiſchen
dem Betragen meiner Freunde gegen mich, und
meinem Betragen gegen ihre Bediente von mei-
nem Zweck abgefuͤhret! Allein wir haben es uns
einander nie uͤbel genommen, weitlaͤuftig in ſol-
chen Dingen zu ſeyn, die unſer Gemuͤth abmuͤſ-
ſigen, und unſere Einſichten oder Sitten beſſern
konnten, es ſey nun daß ſie ſich zu unſern jetzi-
gen oder kuͤnftigen Umſtaͤnden ſchickten.


Meine eigentliche Abſicht war, Jhnen zu zei-
gen, wie kuͤnſtlich ich meiner Waͤchterin die Au-
gen zu verkleiſtern ſuche, und zugleich denen, die
ſie uͤber mich geſetzt haben, alle Sorge und Arg-
wohn benehme, ſo uͤber meinen oͤfteren Aufent-
halt in dem Garten und Huͤnerhofe geſchoͤpft
werden koͤnnte. Auf wen man argwoͤhniſch iſt,
der wird an Erfindung nicht arm ſeyn. Bald
fehlt mir nichts als friſche Luſſt, und ich bin den
Augenblick beſſer, wenn ich aus der Stube ge-
treten bin. Ein anderesmahl bin ich niederge-
ſchlagen, und denn richte ich mich bey meinen
Phaſanen und bey der Cascade auf, denn jene
ſind ſo lebhaft, daß ſie einen mit aufmuntern,
und dieſe thut es durch ihren brauſenden Fall
und hohles Geraͤuſch. Bisweilen ſuche ich nichts
als die Einſamkeit, und die fuͤrchterliche Stille
Zweyter Theil. Qder
[242]Die Geſchichte
der Nacht, das kraͤuſelnde Waſſer, die aufgehen-
de und untergehende Sonne, ſind mir ſo erbau-
lich, wenn ich in Gedancken bin. Wenn ich aber
keinen Zweck habe, und keine Brieffe erwarte, ſo
bin ich freundlich und nehme Eliſabeth mit:
ein anderesmahl beſtelle ich ſie, daß ſie zu mir
kommen ſoll, wenn ich zum voraus weiß, daß ſie
andere Verrichtungen hat.


Dieſes ſind meine Hauptkuͤnſte, daraus ich un-
zaͤhlig kleine Kunſtgriffe mache. Sie ſeheu nicht
allein alle der Wahrheit aͤhnlich, ſondern ſie ſind
auch insgeſamt buchſtaͤblich wahr: nur nenne
ich nicht eben meine Haupturſachen, warum ich
dis oder jenes thue. Wie willfaͤrtig iſt der
Wille! und wie viel Hinderniſſe weiß die Ab-
geneigtheit
zu erfinden! Wenn wir wollen/
ſo ſind alle Hinderniſſen nichts: und wenn wir
nicht wollen/ ſo geht alles langſam. Jede
kleine Einwendung wird ein Gewicht an unſern
Fuͤſſen.


Freytag Morgens um eilf
Uhr.


Meine Waͤſche iſt ſchon eingepackt. Wie
bekuͤmmert war mein Hertz waͤhrender Arbeit;
und wie bekuͤmmert iſt es noch, ſo oft ich an
dieſe noͤthige Vorſichtigkeit gedencke.


Wenn das Buͤndel gluͤcklich zu Jhren Haͤn-
den kommt, ſo bitte ich Sie es zu eroͤffnen. Sie
werden darunter zwey verſiegelte Packete finden.
Jn dem einen ſind diejenigen Brieffe die Sie
noch nicht geleſen haben, indem ſie erſt ſeit mei-
ner
[243]der Clariſſa.
ner Abreiſe aus Jhrem Hauſe geſchrieben ſind:
in dem andern werden ſie alle Jhre Brieffe an
mich und die Abſchrifften meiner Brieffe an Sie
finden, nebſt einigen andern Papieren, auf de-
nen ich Gedancken von Dingen entworfen habe,
die allzuhoch fuͤr mich ſind. Jch wollte nicht
gern, daß ſie jemand ſehen moͤchte, von deſſen
Guͤtigkeit ich nicht ſo verſichert bin, als von der
Jhrigen. Wenn mein Verſtand mit den Jah-
ren waͤchſt, ſo moͤchte ich ſie etwan noch einmahl
uͤberſehen.


Frau Norton hat mir die Anmerckung ih-
res ſel. Vaters beygebracht: daß eine eigene Zeit
in dem menſchlichen Leben ſey, in der ſich die Ein-
bildungskrafft geſchaͤfftig erweiſe. Dieſe Zeit
ſey bequem etwas ſchriftlich abzufaſſen, allein
man muͤſſe es hinlegen, bis die reiffern Jahre
und die Erfahrung unſer Feuer ſo maͤßigten, daß
es mehr gluͤete, als Flammen ſchluͤge. Als-
denn koͤnnte ein gewiſſes Mittel zwiſchen bey-
den getroffen werden, das einem verſtaͤndigen Le-
ſer angenehm ſey.


Jn dem dritten Packetchen, das ich beſonders
gelegt habe, ſind alle Brieffe, die Herr Lovela-
ce
an mich geſchrieben hat, nachdem ihm dieſes
Haus verboten iſt, nebſt meiner Antwort darauf.
Jch erwarte von Jhnen, daß Sie auch dieſes
Packet erbrechen, und mir frey Jhre Meinung
von meiner Auffuͤhrung melden, wenn Sie es
durchgeleſen haben.


Jch habe vorjetzt noch keine Zeile von ihm
Q 2erhal-
[244]Die Geſchichte
erhalten. Nein, nicht eine Zeile! Am Mitte-
wochen habe ich meinen Brief fuͤr ihn hingelegt,
und er blieb bis gegen Abend liegen. Jch weiß
nicht um welche Zeit er geſtern weggenommen
iſt, denn ich habe nicht eher als gegen Abend
darnach geſehen, und da fand ich ihn nicht mehr.
Heute um zehn Uhr habe ich noch keine Antwort.
Jch glaube, daß er eben ſo verdrießlich iſt, als
ich. Es ſey denn ſo! ich bin damit zufrieden.


Er kan wohl ſo niedertraͤchtig ſeyn, daß er
Luſt hat, ſich kuͤnftig wegen alles Verdruſſes,
den ich ihm gemacht habe, an mir zu raͤchen, wenn
ich ihm eine Rache moͤglich machte. Allein die-
ſes ſoll nimmer geſchehen: den Vorſatz habe ich
nun gefaſſet.


Jch ſehe es, was fuͤr eine Art Mannes die-
ſer immer weiter greiffende Menſch iſt. Jch
hoffe wir ſind einander beyde muͤde. Mein Hertz
iſt jetzt bekuͤmmert-ruhig/ wenn ich anders
ein ſolches Wort machen darf. Bekuͤmmert
iſt es uͤber die bevorſtehende Unterredung mit
Herrn Solmes und uͤber die Folgen ſo daraus
entſtehen koͤnnen. Sonſt wuͤrde ich gantz ruhig
ſeyn. Denn ich habe die uͤble Begegnung der
Meinigen nicht verdient: und wenn ich mich
nur ſo gut von Solmes losmachen koͤnnte, als
ich glaube von Lovelacen los zu ſeyn, ſo wuͤr-
den meine Geſchwiſter nicht lange meinen Va-
ter, Mutter und Onckles mir abgeneigt und zu-
wider machen koͤnnen.


Jn der einen Ecke des Buͤndels ſind fuͤnf
Gui-
[245]der Clariſſa.
Guineas in einem Schnupftuch eingewickelt. Jch
hoffe, daß Sie mir erlauben werden, dieſe Jh-
rem Bedienten als ein Zeichen meiner Danck-
barkeit fuͤr ſeine Muͤhe zuzuwenden. Sie muͤſ-
ſen nicht hieruͤber mit mir ſchelten, mein Schatz.
Sie wiſſen, daß ich nicht ruhig ſeyn kan, wenn
ich gehindert werde, meinem Kopfe in dieſen Klei-
nigkeiten zu folgen.


Jch wollte auch mein uͤbriges Geld und eini-
gen Schmuck mit einpacken? allein dieſe Sa-
chen kan ich leicht tragen, und werde ſie nicht ver-
geſſen. Sollte auch etwan aus Verdacht Nach-
frage nach einigen Juwelen entſtehen, und ich
koͤnnte ſie nicht vorzergen, ſo wuͤrde es fuͤr einen
gewiſſen Beweiß angeſehen werden, daß ich ei-
nen Vorſatz gefaſſet haͤtte, der in den Augen
der Meinigen ſehr verdammlich iſt.


Freytags um 1. Uhr im
Holtz-Stalle.


Es iſt noch kein Brief von dem Menſchen
zu finden. Jch habe mein Buͤndel gluͤcklich hin-
gelegt, und ich habe zugleich Jhren geſtrigen Brief
empfangen. Solte Robert bieſen Brief ohne
das Buͤndel bringen, ſo ſchicken Sie ihn gleich
zuruͤck. Allein ich glaube, er kan es nicht uͤber-
ſehen, und er muß nothwendig dencken, daß es
fuͤr ihn hingelegt iſt. Der Jnhalt Jhres Brie-
fes iſt ſo beſchaffen, daß Sie ſelbſt von mir ver-
muthen muͤſſen, daß ich gleich wieder ſchreiben
werde.


Cl. Harlowe.


Q 3Der
[246]Die Geſchichte

Der drey und zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Machen Sie ſich gefaßt, die Neuigkeiten zu
vernehmen, die ich von der Auffuͤhrung
von der niedertraͤchtigen Auffuͤhrung Jhres ab-
ſcheulichen Menſchen in dem elenden Bier-Hau-
ſe erfahren habe.


Sperlinge und Miß-Fincken ſind fuͤr dieſen
Habicht nicht zu geringe, ſie als einen Raub zu
ſuchen. Sie muͤſſen ſeine Emſigkeit, ſein Wa-
chen, ſeine Gefahr bey naͤchtlicher Zeit, das uͤble
Wetter dem er trotzet, nicht alles auf ihre Rech-
nung ſchreiben. Er hat ein Mittel, ſich alles die-
ſes leicht und ertraͤglich zu machen: nehmlich
ein artiges angenehmes Maͤdchen, (wie man mir
ſagt) das unſchuldig geweſen iſt, bis er in das
Haus kam, nun aber ‒ ‒ Wer weiß, was nun
aus dem armen Maͤdchen geworden iſt!


Das Maͤdchen iſt kaum ſiebzehn Jahr alt!
Sein Freund und Bruder in der Bosheit, ein
luſtiger und verſchmitzter Kopf, haͤlt ſich bey ihm
auf, den bruͤderlichen Sauf-Becher mit ihm zu
theilen. Bisweilen iſt noch ein oder zwey Boͤ-
ſewichter bey ihnen. Kein Kummer naͤhert ſich
ihrem Hertzen; ſeyn Sie auch nur wegen ſei-
ner
[247]der Clariſſa.
ner Heiſerkeit auſſer Sorgen. Sein artiges
Lischen, ſein Roſen-Knoͤſpgen/ wie der Boͤ-
ſewicht es nennet, kan noch alle Worte hoͤren
die er ſagt.


Er iſt ſterblich-verliebt in ſie. Man ſagt,
daß ſie noch unſchuldig ſey, und das glaubt auch
ihr Vater und ihre Gros-Mutter. Er will ſie
ausſteuren, daß ſie einen jungen Braͤutigam
nehmen kan. Der arme Braͤutigam! das ar-
me einfaͤltige Maͤdchen!


Herr Hickmann erzaͤhlt mir, er habe zu Lon-
den
gehoͤrt, daß er oft mit Frauenzimmer in die
Comoͤdien und Opern gehe, und zwar immer
mit andern. ‒ ‒ Ach meine allerliebſte Freun-
din! ‒ ‒ Jch hoffe nicht, daß Sie an ihn dencken
werden, wenn alles dieſes wahr iſt. Wenn Sie
auch ſonſt ihm noch ſo guͤnſtig geweſen ſeyn ſol-
ten, ſo wird doch dieſe Nachricht ihre Wirckung
haben.


Ein niedertraͤchtiger Boͤſewicht! kan das le-
bendige Bild der Tugend, deſſen Hertz er zu ge-
winnen ſuchet, keinen tiefern Eindruck bey ihm
machen? Jch uͤberlaſſe ihn Jhrem Urtheil! von
ihm kan man keine Beſſerung hoffen. Jch will
noch mehr gutes von einem Narren, als von ei-
nem ſolchen Menſchen hoffen. Jch wuͤnſchte
nur, daß ich das arme junge Ding aus ſeinen
Klauen retten koͤnnte: und ich habe ſchon An-
ſtalt dazu gemacht, wenn ſie anders noch unſchul-
dig iſt, und ihr Hertz nicht hat einnehmen laſſen.


Die Leute ſehen ihn fuͤr einen Soldaten an,
Q 4der
[248]Die Geſchichte
der ſich verkleidet hat, und gefluͤchtet iſt, weil er
einen verwundet hat, der noch nicht auſſer Ge-
fahr iſt. Sie glauben, daß er ein vornehmer
Herr ſey, und halten ſeinen Freund fuͤr einen Of-
ficier von geringerm Range, dem er einen frey-
en Umgang verſtatte. Es iſt noch iemand bey
ihnen, den man fuͤr einen Gefehrten dieſes Offi-
ciers haͤlt, und wiederum eine Stuffe weiter her-
unter ſetzt. Der Boͤſewicht ſelbſt hat nur einen
Bedienten bey ſich. Wie vergnuͤgt moͤgen die-
ſe Teuffels, wie ich ſie mit Recht nennen kan,
ihre Zeit zubringen, wenn unſere allzuguͤtige Bruſt
voller Mitleiden wegen der Ungemaͤchlichkeit iſt,
die ſie um unſert willen uͤbernehmen.


Jch bekomme eben Nachricht; daß ich dieſes
Maͤdchen und ihren Vater zu ſprechen bekom-
men ſoll. Jch will ſie ſchon ausforſchen. Jch
werde doch ein ſo einfaͤltiges Maͤdchen noch er-
gruͤnden koͤnnen, wenn er es anders nicht ſchon
verdorben hat: und auch das will ich leicht mer-
cken, wenn es geſchehen iſt. Wenn ich bey ihr
oder ihrem Vater mehr Kunſt als Natur fin-
de, ſo muß ich ſie verlohren geben. Jedoch ich
mercke es ſchon: glauben Sie gewiß, das Maͤd-
chen iſt verdorben.


Er ſoll ſehr verliebt in ſie ſeyn: er ſetzt ſie bey
Tiſche oben an, macht daß ſie viel reden und plau-
dern muß, und laͤßt ſeinen Freund nicht genau
mit ihr bekannt werden. Sie plaudert, was
ihr in den Mund kommt, und er bewundert al-
les, und ruͤhmt ihren ſchoͤnen natuͤrlichen Ver-
ſtand
[249]der Clariſſa.
ſtand. Einmahl hat er ſie ein charmantes
junges Maͤdchen
genannt, daß es andere ge-
hoͤrt haben; und vielleicht hundertmahl, wenn
niemand dabey war. Sie muß ihm vorſingen,
und er lobt ihre wilde Muſick. Sollte das
Maͤdchen nicht ſchon verfuͤhrt ſeyn? Es iſt wahr-
lich verfuͤhrt! Sie wiſſen es ſchon, Lovelace
iſt dort. Ach wenn man Jhnen nur Herrn
Wyerley aufdruͤnge, und Sie mit Solmes
und Lovelace verſchont blieben! dieſes iſt der
Rath


Jhrer
Anna Howe.


P. S. Stellen Sie ſich dieſes Bier-Haus als
eine von ihm beſetzte Veſtung vor, ihn als einen
Feind; ſeine Bruͤder in der Bosheit als ſeine
Helffer und Mitverſchwornen. Wuͤrde nicht
Jhr Bruder, wuͤrden nicht Jhre Onckels zittern,
wenn ſie es wuͤſten, wie nahe er ihnen iſt, ſo oft
ſie vor dieſem Hauſe vorbey gehen muͤſſen. Jch
hoͤre, er hat den Vorſatz, es ſchlechterdings zu
hindern, daß Sie nicht zu Jhrem Onckle Anton
reiſen ſollen. Was koͤnnen Sie mit oder ohne
einen ſolchen dreiſten anfangen. Jch
laſſe einen leeren Raum, ſetzen Sie das ſchlimm-
ſte Wort hinein, das Sie finden koͤnnen.



Q 5Der
[250]Die Geſchichte

Der vier und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Sie machen mich voll Unwillen, Unruhe und
Schrecken. Laſſen Sie mir ja alle Nach-
richten bald zukommen, die Sie von dem lieder-
lichen Menſchen erhalten koͤnnen.


Sagen Sie aber nichts von Unſchuld oder
Einfalt des ungluͤcklichen Maͤdchens. Sollte
ſie nicht wiſſen, daß das zu viel zu bedeuten hat,
wenn einer, dem man ſein vornehmes Herkom-
men gleich bey dem erſten Anblick aus dem Ge-
ſicht leſen kan, er mag ſich verkleiden wie er will,
ſie bey Tiſche oben an ſetzt, und ſie auf eine ſo
zaͤrtliche Weiſe anredet? Wuͤrde ein eingezoge-
nes und einfaͤltiges Maͤdchen, das ſchon ſiebzehn
Jahr alt iſt, einem ſolchen Manne zu gefallen
ſingen, der ihr fremde iſt, und es nicht leugnet,
daß er ſich verkleidet habe? Wuͤrden ihr Vater
und ihre Gros-Mutter ſolche Freyheiten geſtat-
ten, wenn ſie ſelbſt ehrliche Leute waͤren?


Seinen guten Freund laͤßt er ihr nicht zu na-
he kommen! Gewiß er muß eine boͤſe Abſicht
haben, wenn er ſie nicht ſchon erreicht hat.


Wenn es nicht ſchon zu ſpaͤte iſt, ſo warnen
Sie doch den unbedachtſamen Vater wegen der
Gefahr, darin ſich ſein Kind befindet. Jch kan
nicht
[251]der Clariſſa.
nicht glauben, daß ein Vater in der Welt iſt,
der die Unſchuld ſeiner Tochter vor Geld ver-
kauffen wollte. Allein keine Mutter iſt da! o
des armen Kindes!


Jch bin begierig das Ende von Jhren Nach-
richten zu hoͤren. Sie ſollen, wie Sie melden,
das einfaͤltige Maͤdchen zu ſehen bekommen.
Schreiben Sie mir, was es fuͤr ein Maͤdchen
iſt. Sie haben es als ein artiges angeneh-
mes
Maͤdchen beſchrieben. Artig und ange-
nehm/
das ſind artige und angenehme Worte
aus Jhrer Feder. Allein ſind es Jhre eigene
oder Lovelaces Worte? Wenn eine natuͤrliche
Artigkeit in ihrer Auffuͤhrung und Reden iſt,
wenn ihre wilde Muſick (die Sie mit einem
Worte ſo ruͤhrend vorſtellen koͤnnen) noch ſo
ziemlich reitzend iſt: ach warum muß ſie ſich
denn mit einem ſolchen liederlichen Menſchen
einlaſſen, wie mir dieſer gewiß zu ſeyn ſcheint, der
ſich bisher mit den Stadt-Nymphen beholfen,
und ihre zuverſichtliche Art zu lieben gelernt hat!
Sie mag ihn ja wohl feſſeln, und lange Zeit in
ihren Seilen behalten! denn, wenn die Annehm-
lichkeit ihrer Unſchuld geraubet iſt, ſo wird ſie
dieſen Mangel durch kuͤnſtlich angenommene An-
nehmlichkeiten erſetzen muͤſſen.


Jch kan groſſe Hoffnung zu der Beſſerung
eines ſolchen Boͤſewichts haben! Um aller Welt
Guͤter mag ich nicht ‒ ‒ doch ich brauche nicht
erſt meinen Entſchluß zu faſſen. Jch habe ſei-
nen Brief noch nicht erbrochen, und will ihn auch
nicht
[252]Die Geſchichte
nicht erbrechen. Der luͤgenhafte Menſch! der
uͤber Heiſrigkeit klagen darf! Vielleicht hat er
um Mitternacht zu viel mit ſeiner wilden Saͤn-
gerin geſungen; und der Gang durch den Wald
hat die Heiſrigkeit nur vermehret.


Nun hat er ſchon eine, die er mit mir auf die
Wage ſetzt. Jch verachte ihn ſo viel ich kan;
und ich bin auf mich ſelbſt unwillig, daß ich ſo
viel von ihm und von dem einfaͤltigen artigen
angenehmen
Maͤdchen ſchreibe. Kan ein Maͤd-
chen auch wol ohne Tugend artig und ange-
nehm
ſeyn?


Der niedertraͤchtige Jacob Lehmann hat
Eliſabeth unter der Hand geſagt, und ſie hat mir
es wieder erzaͤhlt: Lovelace habe ſich ſeit eini-
ger Zeit an einem benachbarten Orte in Ver-
kleidung ſehen laſſen, und man wuͤrde auf die
Spur kommen, daß er ein ſehr liederlicher Menſch
waͤre. Er wollte ſich weiter erkundigen, ehe er
ihr mehr ſagte. Und ſie verſprach, es heimlich
zu halten, in Hoffnung, daß er noch mehr er-
fahren wuͤrde. Jch hielt daher fuͤr zutraͤglich,
Sie zu erſuchen, daß Sie ſo viel Nachrichten,
als moͤglich iſt, einziehen moͤchten. Jch ſehe nun,
daß ſeine Feinde mehr als zu viel Recht haben,
uͤbel von ihm zu reden. Wenn er dieſes arme
Kind zu verfuͤhren ſucht, und es vorhin noch nicht
gekannt hat, ſo habe ich doppelte Urſache, das
Maͤdchen zu bedauren und ihn zu verabſcheuen.
Jch dencke, daß ich ihn noch aͤrger haſſe als ſelb-
ſten Solmes. Jch will aber kein Wort wei-
ter
[253]der Clariſſa.
ter von ihm ſchreiben, bis ich hoͤre, was Sie
noch heraus kriegen. Denn eher will ich ſeinen
Brief nicht erbrechen: und wenn Jhre Nach-
richten beſtaͤtiget werden, ſo will den Brief als-
denn unerbrochen wieder an den Ort hinlegen,
wo ich ihn gefunden habe, und mir nie wieder
einen Gedancken von Lovclace in den Sinn
kommen laſſen.


Cl. Harlowe.



Der fuͤnf und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Die Billigkeit erfodert von mir, Jhnen die-
ſen Brief gleichſam auf den Fluͤgeln der
Winde zuzuſchicken. Jch halte Herrn Lovela-
ce
in der That fuͤr unſchuldig. Von dieſer Ei-
nen Anklage muß er zum wenigſten losgeſpro-
chen werden; und ich werfe es mir jetzt ſelbſt
vor, daß ich halbe Nachrichten mit ſolcher Uber-
eilung an Sie gebracht habe.


Jch habe das Maͤdchen geſehen. Sie iſt in
der That ein recht artiges und reinliches Maͤd-
chen, und ihre groͤſſeſte Schoͤnheit iſt ihre Unſchuld.
Wer
[254]Die Geſchichte
Wer ein ſolches Kind, das nicht aus dem Hauſe
gekommen iſt, und in dem nicht eine falſche Ader
ſchlaͤgt, haͤtte verfuͤhren wollen, der muͤßte noch
gottloſer geweſen ſeyn, als der Teufel ſelbſt.
Der Vater iſt ein guter einfaͤltiger Mann; und
iſt mit ſeiner Tochter und mit ihrer neuen Be-
kantſchaft recht wohl zufrieden.


Jch bin fuͤr Jhr Hertz beſorgt, daß es allzu
heftig ſchlagen moͤchte, wenn ich Jhnen melde,
daß Lovelaces Liebe gegen dieſes Maͤdchen in
der That ein recht edle Liebe iſt. Denn das zei-
get ſich, wenn man alles genau unterſuchet.


Es ſoll nemlich das Maͤdchen die kuͤnftige
Woche Hochzeit halten, und er hat die Sache
befoͤrdern helfen. Er hat ſich, wie des Kindes
Vater erzaͤhlt, des Ausdrucks bedienet, er wol-
le die Gelegenheit ergreiffen/ Ein Paar
gluͤcklich zu machen; und er wuͤnſchte
nur, mehrere gluͤcklich machen zu koͤnnen.

(Das geht auf Sie, Kind.) Weil er den jungen
Menſchen gern leiden mag, den ſie lieb gewon-
nen hat, ſo hat er ihr hundert Pfund geſchenckt,
welche die Groß-Mutter wircklich in Haͤnden
hat. Sie ſollen dem Braͤutigam gegen andere
hundert Pfund verſchrieben werden, die er mit
bringt, und die ihm ein Anverwander geſchenckt
hat, um ſich zu ſetzen. Herrn Lovelaces gu-
ter Freund hat ſich durch ſein Exempel auch zur
Freygebigkeit reitzen laſſen, und hat dem Vater,
der ein armer Mann iſt, fuͤnf und zwantzig Gui-
neas
[255]der Clariſſa.
neas zur Kleidung ſeines artigen Bauermaͤdchens
geſchenckt.


Der arme Mann ſagt, ſeine Fremden haͤtten
zu Anfang fuͤr geringer angeſehen ſeyn wollen,
als ſie in der That waͤren. Allein nun wuͤßte
er, und koͤnnte es wohl im Vertrauen ſagen,
daß der eine der Obriſte Barrow und der an-
dere der Capitain Sloane waͤre. Der Obriſte
waͤre zu Anfang ſehr freundlich gegen ſein Maͤd-
chen geweſen; allein des Kindes Grosmutter
haͤtte ihn gebeten, ſie nicht um ihre Unſchuld zu
bringen, und er haͤtte ihr heilig verſprochen, kei-
nen weitern Umgang mit dem Maͤdchen zu ha-
ben, als daß er ihr guten Rath gaͤbe. Er haͤt-
te auch ſein Wort gehalten. Das artige Naͤr-
richen that das Bekenntniß: kein Prediger haͤt-
te ſie beſſer aus der Bibel unterrichten koͤnnen,
als er. Das Maͤdchen gefiel mir ſo wohl, daß
ich ihr die Muͤhe bezahlte, mich beſucht zu ha-
ben.


Allein was wird nun aus uns werden? Lo-
velace
beſſert ſich nicht nur, ſondern wird ſo
gar ein Prediger! Was wird nun aus uns
werden? Jſt ihm nicht Jhr edles Hertz nun-
mehr aus Grosmuth guͤnſtig? Jch bin recht un-
gehalten auf dieſe Grosmuth, weil ſie edle Ge-
muͤther zu allem dem verfuͤhret, wozu ein ge-
meines Hertz durch die Liebe verleitet wird. Jch
fuͤrchte daß Jhre ehemahlige bedingte Neigung
nun eine unbedingte Neigung werden wird.


Es war mir nicht moͤglich, mein Schelten ge-
gen
[256]Die Geſchichte
gen Lovelace ſo gleich in eine Lobrede zu ver-
wandeln. Wir (oder wenigſtens ſolche, als ich
bin) vertheidigen gern ein uͤbereiltes Urtheil ei-
ne Zeitlang, wenn wir gleich wiſſen, daß wir
uns uͤbereilt haben: und nicht ein jedweder hat
Jhre Grosmuth, einen begangenen Fehler zu er-
kennen. Es erfodert in der That einen groſſen
Geiſt, wenn man dieſes thun ſoll. Jch habe
mich deswegen noch genauer nach ſeiner dortigen
Lebensart erkundiget, in der Hoffnung, daß ich
etwas boͤſes erfahren wuͤrde. Allein alle Nach-
richten ſtimmen uͤberein, und lauten vortheilhaft
fuͤr ihn.


Herr Lovelace hat von allem meinem Nach-
fragen ſo viel Ehre, daß wenn es moͤglich waͤre
ich faſt argwohnen moͤchte, es ſey die gantze An-
klage eine angeſtiftete Sache, dadurch man ei-
nen Mohren weiß waſchen will.


Anna Howe.



Der ſechs und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Wer allzu fertig iſt, andere zu tadeln, der
wird ſich dadurch den Vorwurf zuziehen,
daß er veraͤnderlich und unbeſtaͤndig in ſeinen
Ur-
[257]der Clariſſa.
Urtheilen ſey. Sie muͤſſen ſich ſelbſt dieſer Be-
ſchuldigung unterwerfen: denn wenn Sie, ich ſa-
ge, ſelbſt Sie in der That Jhren Fehler ſo un-
gern bekenneten, als Sie es vorgeben; ſo wuͤrde
ich Sie nur halb ſo lieb haben, als jetzt. Sie
wuͤrden ſich ſelbſt auch den Vorwurf, deſſen ich
Erwaͤhnung that, nicht auf eine ſo freymuͤthige
Art gemacht haben, wenn Sie nicht ein ſo edles
und groſſes Hertz haͤtten, als ſich jemahls ein
Frauenzimmer hat ruͤhmen koͤnnen.


Herr Lovelace hat ſonſt Fehler genug, mich
misvergnuͤgt zu machen, wenn er auch hierin
unſchuldig iſt. Wenn ich ſo gut mit ihm ſtuͤn-
de, als er es wuͤnſcht, ſo wollte ich ihm zu ver-
ſtehen geben, daß der betruͤgriſche Jacob Leh-
man
nicht ſo gegen ihn geſinnet iſt, als er den-
cket: ſonſt wuͤrde er nicht ſo fertig geweſen ſeyn,
die unſchuldige Geſchichte von dem Mauermaͤd-
chen mit ſo uͤbeln Umſtaͤnden zu verbeſſern, und
noch dazu der Eliſabeth Barnes zu erzaͤhlen.
Er befahl ihr, es heimlich zu halten, und ver-
ſprach ihr, daß er ihr und threm Herren mehr ſa-
gen wollte, wenn er alles ausgekundſchafftet ha-
ben wuͤrde. Und dieſes allein hat ſie zuruͤck ge-
halten, meinem Bruder und meiner Schweſter
nicht davon zu ſagen, dazu ſie ſonſt groſſe Luſt
hatte. Sie will es auch mit dem Joſeph nicht
gern verderben: denn ob ſie gleich in ihrem Her-
tzen vielmehr iſt, als er, ſo ſcheint es doch, daß
ſie ihn gern von Liebe reden hoͤrt. Es kommt
mir vor, als wenn manches Frauenzimmer die
zweyter Theil. ROhren
[258]Die Geſchichte
Ohren oͤffnet, wenn das Hertz gleich noch ver-
ſchloſſen bleibt; weil es nicht in ihrer Macht ſte-
het, den Anfang zu Liebeshaͤndeln zu machen,
wo ſie es wuͤnſchen.


Nichts mehr von dieſen niedertraͤchtigen Leu-
ten, von denen ich nicht einmahl mittelmaͤßig-gut
dencken kan! Allein in Abſicht auf Lovelace
muß ich geſtehen: gleichwie ich ihn voͤllig ver-
achtet und verabſcheuet haben wuͤrde, wenn er
ſich auf ſeinem Wege nach Harlowe-Burg
mit ſo niedertraͤchtigen Streichen aufgehalten
haͤtte, die ich Anfangs wahr zu ſeyn glaubte:
ſo hat mich das, was Sie Grosmuth nennen,
ihm deſto guͤnſtiger gemacht; und vielleicht guͤn-
ſtiger, als es gut fuͤr mich iſt. Sie moͤgen
meiner deshalb ſpotten, ſo viel Sie wollen: ich
frage Sie nur, ob es bey Jhnen nicht eine glei-
che Wirckung hervorgebracht haben wuͤrde.


Wie edel iſt ſeine Freygebigkeit! Jch verſiche-
re Jhnen, wenn er ſich ſonſt nur wahrhaftig und
auf Lebenslang beſſern wollte, ſo wuͤrde ich ihm
blos deswegen ſehr viel vergangene Fehler verge-
ben koͤnnen, weil er gezeiget hat, daß ſo guͤtige und
reine Gedancken in ſeinem Hertzen wohnen koͤñen.


Sie werden ſich leicht embilden, daß ich mich
nicht lange bedacht habe, ſeinen Brief zu erbre-
chen, nachdem ich Jhren letzten Brief erhalten
hatte: und eben ſo wenig werde ich Bedencken
tragen, ihm zu antworten, da ich ohnehin an
ſeinem Brieffe nichts auszuſetzen habe. Ein neuer
Vortheil fuͤr ihn, der ihm dadurch deſto leich-
ter
[259]der Clariſſa.
ter wird, weil ich ihm eine Vergeltung meines
uͤbereilten Unwillens geben will, ob er gleich von
dieſem Unwillen nichts erfahren hat.


Es iſt ein Gluͤck, daß Jhr ſo guͤtig bemuͤheter
Fleiß mir in dieſer Sache bald ein Licht gege-
ben hat. Haͤtte ich ehe an ihn geſchrieben, als
ich Jhre letzte Nachricht erhielt, ſo wuͤrde ich
ihm von neuen Abſchied gegeben, und wohl
gar die Urſache mit angefuͤhret haben. Denn
ſie ging mir naͤher zu Hertzen, als ſie billig
haͤtte thun ſollen. Jn was fuͤr Vortheil wuͤr-
de ihn dieſe meine Ubereilung geſetzt haben,
wenn er ſich ſo vollkommen haͤtte rechtfertigen
koͤnnen?


Wenn ich Jhnen ſeinen jetzigen Brief ſchicke,
ſo werden Sie ſehen, wie demuͤthig er iſt; wie
ſehr er ſeine natuͤrliche Ungeduld erkennet; wie
er alle ſeine Fehler geſtehet: recht wie Sie es vor-
her geſagt haben. Alles dieſes ſieht jetzt in mei-
nen Augen gantz anders aus, nachdem ſich die
Geſchichte mit der artigen Baͤurin aufgeklaͤrt
hat, als es ſonſt gethan haben wuͤrde. Mich
duͤnckt auch, daß mir das Maͤdchen jetzt viel ſchoͤ-
ner zu ſeyn ſcheint, als vorhin; ob ich es gleich
noch niemahls geſehen habe. Denn Unſchuld
und Tugend iſt die vollkommenſte Schoͤnheit.


Sie werden ſehen, daß er eine Unpaͤßlichkeit
vorſchuͤtzt, die ihn abgehalten habe, meinen Brief
ſelbſt abzuhohlen: und er giebt ſich ſo viel Muͤ-
he dieſes zu entſchuldigen, als glaubte er, daß
ich auf dieſe Unterlaſſung ungehalten ſey. Es
R 2ſollte
[260]Die Geſchichte
ſollte mir leid ſeyn, wenn ich an ſeiner Unpaͤß-
lichkeit Schuld haͤtte; und ich glaube gern, daß
die Ungewißheit, in der er bisher geweſen iſt, ei-
nem ſo muntern Geiſte ſehr unertraͤglich hat ſeyn
muͤſſen. Allein er iſt ſelbſt an allem Schuld,
wenn ich auf die erſten Urſachen zuruͤck gehe.


Jn der Hoffnung, daß ich ihm vergeben wer-
de, iſt er voller Anſchlaͤge, mich zu retten, damit
ich nicht moͤge gezwungen werden, Solmes zu
nehmen.


Jch habe immer geſagt, daß es der naͤchſte
Schritt zur Veſſerung iſt, wenn man ſeine Feh-
ler erkennet; denn es iſt keine Beſſerung zu hof-
fen, ſo lange man ſein Vergehen noch verthei-
diget. Allein in dieſem Brieffe werden Sie
ſelbſt in ſeiner Demuth etwas hochmuͤthiges fin-
den. Es iſt wahr, ich finde keinen Ausdruck,
den ich tadeln koͤnnte: und dennoch kan ich nicht
uͤberzeuget werden, daß ſeine Demuth Demuth
ſey, wenigſtens eine ſolche Demuth als aus ei-
ner wahren Reue, daruͤber ich mich freuen koͤnn-
te, entſtehet.


Er iſt warlich kein hoͤflicher und belebter
Mann! allein es iſt doch auch die Unhoͤflichkeit
nicht ſein herrſchender Fehler. Er hat eine gantz
ſonderbahre Art von Hoͤflichkeit, in der Kindheit
mag er zu vielen Willen und bey reiffern Jah-
ren zu viel Gluͤck gehabt haben, daraus iſt eine
gewiſſe Nachlaͤßigkeit in der Auffuͤhrung ent-
ſtanden: und da der Hochmuth dazu gekommen
iſt, ſo iſt er auf eine ſolche Art zuverſichtlich
und
[261]der Clariſſa.
und dreiſte geworden, daß es ſeiner Hoͤflichkeit
an dem mangelt, was ich eine ſorgfaͤltige Zaͤrt-
lichkeit in den Sitten nennen moͤchte.


Sie haben in der Haupt-Sache recht, wenn
Sie wollen, daß man dieſem Geſchlecht den
Daumen auf das Auge halte. Allzugroſe Ver-
traulichkeit iſt der Ehrerbietigkeit zuwieder: allein
bey was fuͤr Leuten? Warlich nicht bey denen,
die Verſtand, Danckbarkeit und ein edles Hertz
beſitzen!


Wer ſich aber huͤten will, auf der einen
Seite nicht zu weit zu gehen, der wird leicht in
den entgegenſtehenden Fehler verfallen. Viel-
leicht haͤlt es Lovelace fuͤr das Kennzeichen ei-
nes groſen Geiſtes, jene Zaͤrtlichkeit in der Auf-
fuͤhrung ſeinem Hochmuth aufzuopfern. Allein
wie ſoll dieſer Mann tief und unergruͤndlich
ſeyn, der den Unterſcheid nicht beobachten kan,
welchen ſonſt ein mittelmaͤßiger Kopf beobachten
wuͤrde?


Er beklagt ſich heftig uͤber mich, „daß ich je-
„des Verſehen gleich zu einer Tod-Suͤnde ma-
„che, und weiter nichts mit ihm zu thun haben
„will. Er muͤſſe, ſchreibt er, ſo aufrichtig
„ſeyn, mir zu bekennen, daß dieſes eine unge-
„mein vornehme Auffuͤhrung ſey: und daß da-
„durch ſeine Furcht eher zunehme als gemindert
„werde, daß ich mich doch noch moͤchte bewegen
„laſſen, nach den Abſichten der Meinigen zu
„handeln, und Herrn Solmes zu nehmen.„


R 3Sie
[262]Die Geſchichte

Sie werden ſehen, daß er vorgiebt, alle ſeine
Gluͤckſeeligkeit in dieſer und in jener Welt kaͤme
auf mich an. Er verſpricht und gelobet auf eine
ſolche Art, daß ich nicht anders dencken kan,
als, ſein Hertz muͤſſe entweder reden; oder es
ſey gantz ohnmoͤglich, die Sprache des Hertzens
zu erkennen.


Von meiner bevorſtehenden Unterredung mit
Solmes hat er ſchon gehoͤrt; und Sie werden
ſehen, mit wie vieler Hefftigkeit und Angſt er
ſich daruͤber ausdruͤcke. Jch gedencke etwas
von den niedertraͤchtigen Mitteln in meine Ant-
wort einflieſen zu laſſen, zu denen er ſich herab
laͤßt, um die Neuigkeiten unſers Hauſes fruͤh-
zeitig zu erfahren. Wenn diejenigen, die ihren
Ruhm daraus machen, daß ſie nach der Ver-
nunft handeln, ihr Zeugniß gegen ſolche unver-
nuͤnftige Handlungen nicht ablegen; wer will
ihnen denn Einhalt thun?


Er dringet recht mit Bitten in mich, daß
ich ihm vor meiner Unterredung mit Solmes/
wenn dieſe ja vor ſich gehen muͤſte, nur ein paar
Zeilen ſchreiben ſoll, um ihn zu verſichern, daß
mein Mißvergnuͤgen gegen ihn mich nicht ge-
neigt mache, Solmeſen die geringſte Hoffnung
zu geben. Er ſagt, ich muͤßte ihm nicht unguͤ-
tig nehmen, daß er dieſe ſeine Furcht mir noch-
mahls zu erkennen gebe, nachdem ich Herrn
Solmes etwas zugeſtanden haͤtte, daß er nicht
von mir haͤtte erhalten koͤnnen. Die Meinigen
wuͤrden
[263]der Clariſſa.
wuͤrden auf dieſe Unterreduug nicht ſo heftig ge-
drungen haben, wenn ſie keine Folgen davon
erwarteten.



Jn meiner Antwort habe ich ihm geſchrieben:
„ich haͤtte den Vorſatz gefaſſet gehabt, keine Zeile
„an einen Menſchen zu ſchreiben, der ſich unter-
„ſtuͤnde, mich und mein gantzes Geſchlecht zu
„tadeln, weil ich mich unterſtanden haͤtte, mei-
„nem eigenen Urtheil zu folgen.


Jch haͤtte mir die Unterredung mit Solmes
„blos deswegen gefallen laſſen, weil ich es fuͤr
„meine Pflicht gehalten haͤtte, den Meinigen zu
„zeigen, daß ich ihren Befehlen in allen thunli-
„chen Sachen Folge leiſten will. Jch hoffete,
„wenn Herr Solmes meine unbewegliche
„Standhaftigkeit ſehen wuͤrde, ſo wuͤrde er von
„einem Geſuch abſtehen, welches mit meinem
„Willen ohnmoͤglich erfuͤllet werden koͤnnte.


„Mein Eckel vor Solmes ſey ſo aufrichtig,
„daß ich bey dieſer Gelegenheit keinen Zweiffel
„in meine Standhaftigkeit ſetzen duͤrfte. Er
„muͤſſe aber nicht dencken, daß ich Solmes aus
„Zuneigung gegen ihn verwerfe. Wenn meine
„Freunde mir erlauben wollten, nach meiner
„Neigung zu handeln, ſo ſey mir meine Frey-
„heit ſo lieb, daß ich ſie keinem ſo unbeugſamen
„Manne aufzuopffern gedaͤchte, der mir ſchon
„zum voraus gezeiget haͤtte, was ich von ihm
R 4zu
[264]Die Geſchichte
„zu erwarten haben wuͤrde, wenn ich in ſeiner
„Gewalt waͤre.„


„Jch bezeuge ihm mein aͤuſſerſtes Misfallen,
„an den Kunſt-Griffen, deren er ſich bedienet,
„Familien-Geheimniſſe zu erforſchen. Es ſey
„nur eine ſchlechte Entſchuldigung, wenn man
„vorgiebt, daß man anderer Leute Bediente nach
„dem Rechte, der Wieder-Vergeltung beſteche,
„weil jene Spionen auf uns gehalten haͤtten.
„Dieſes heiſſe, Niedertraͤchtigkeit durch Nieder-
„traͤchtigkeit rechtfertigen.„


„Jede Handlung ſey entweder recht oder
„unrecht, was vor Auslegungen und Verdre-
„hungen auch die Leute machen moͤchten. Das
„Unrecht verdammen, und es durch ein eben ſo
„groſſes Unrecht vergelten, ſey nichts anders,
„als das Verderben und das Laſter allgemeiner
„machen. Es moͤchten noch ſo viele ein Unrecht
„begangen haben, ſo muͤſſe doch endlich jemand
„ſeyn, der es nicht weiter fortpflantzete, oder
„die Tugend und das Recht wuͤrden von dem
„Erdboden vertilget werden. Ein jedes arti-
„ges Gemuͤth wuͤrde hiebey dencken: ſoll ich es
„nicht ſeyn/ bey dem das Unrecht ſtille
„ſtehet?


„Jch uͤberlaſſe ihm ſelbſt, daß er ſein Gemuͤth
„nach dieſer Regel erforſchen moͤge, ob es artig
„oder unartig ſey? Jch frage ihn; ob es wohl
„fuͤr mich rathſam ſey, ihm einige Hoffnung zu
„machen, nachdem ich ſeinen hitzigen Kopf ken-
„ne, und ſo wenig Wahrſcheinlichkeit vor mir ſe-
„he,
[265]der Clariſſa.
„he, daß ſich meine Familie jemahls mit ihm aus-
„ſohnen wird?


„Blos um ſein ſelbſt willen/ und aus kei-
„ner andern Urſache, wuͤnſchte ich ihm eine rich-
„tigere und edlere Art zu dencken und zu han-
„deln; denn ich verachtete manche Kuͤnſte von
„Hertzen, die er ſich fuͤr erlaubt hielte, Unſere
„Gemuͤther waͤren demnach unendlich verſchie-
„den. Was ſeine verſprochene Beſſerung anbe-
„langte, ſo muͤßte ich ihm geſtehen, daß ich das
„allzuhaͤufige Bekenntniß eigener Fehler ohne
„Beſſerung blos fuͤr eine Gefaͤlligkeit anſehe,
„dadurch man andern den Mund zu ſtopfen ſu-
„che. Jhm moͤchte dieſes vielleicht ungemein
„leichter ſeyn, als ſich zu beſſern, oder ſich zu
„vertheidigen.


„Jch haͤtte vor kurtzem gehoͤrt (das iſt auch in
der That ſo: Eliſabeth hat es mir erzaͤhlt,
und die hat es von meinem Bruder gehoͤrt)
„daß er ſich die thoͤrichte Freyheit herausnehme,
„von dem Eheſtande veraͤchtlich zu reden. Jch
„ſpreche hievon ſehr ernſtlich mit ihm, und fra-
„ge ihn: in welcher Abſicht er ſich eine ſo mat-
„te, eine ſo veraͤchtliche Freyheit herausnehmen
„koͤnne, die ſich nur fuͤr die liederlichſten Leute
„ſchicke? und ſich dennoch unterſtehe, ſich um
„mich zu bewerben?


„Jch ſage ihm, wenn ich auch gleich nach mei-
„nem Onckle Anton reiſete, ſo folgt daraus
„noch nicht, daß ich nothwendig Herrn Solmes
„heyrathen muͤßte. Denn ich waͤre nicht ver-
R 5„ſichert
[266]Die Geſchichte
„ſichert, daß es mir eben ſo ſehr zu verdencken
„waͤre, wenn ich aus einem Hauſe fluͤchtete, in
„welches ich mit Gewalt gebracht waͤre, als
„wenn ich meines Vaters Haus verlieſſe. Wenn
„es auch auf das hoͤchſte kaͤme, ſo hoffete ich doch
„die Meinigen noch aufzuhalten, bis mein Vet-
„ter Morden ankommt, welcher Recht hat,
„mich in meines Gros-Vaters Gut einzuſetzen,
„ſo bald ich darauf dringe.„


Dieſes letzte ſcheint mir ſelbſt etwas zu kuͤnſt-
lich zu ſeyn. Mein Zweck iſt dabey, ihn von
ſchlimmern Haͤndeln abzuhalten. Denn in der
That habe ich wenig Hoffnung, wenn ich wuͤrck-
lich nach meinem Onckle reiſen muß, und dem
Willen meines Bruders und meiner Schweſter
uͤberlaſſen werde, daß ſie nicht Gewalt gebrau-
chen werden, die Trauung zu vollziehen, ich
mag nun bey mir ſelbſt ſeyn und von meinen
Sinnen etwas wiſſen, oder nicht. Waͤre einige
Hoffnung uͤbrig, dieſem Ungluͤck zu entgehen,
oder es nur ſo lange zu verzoͤgern, bis mein Vet-
ter ankommt, (ſollte ich auch allerhand einneh-
men, um mich kranck zu machen:) ſo wuͤrde ich
alsdenn nicht einmahl aus meines Onckles Hauſe
fluͤchten. Denn zu den Grund-Saͤtzen, nach
welchen ich meine Handlungen einzurichten ſuche,
will es ſich gar nicht ſchicken den Gehorſam
gegen meine Eltern aus den Augen zu ſetzen, es
ſey wo es wolle.


Allein ich glaube nicht, daß es auf das aͤuſ-
ſerſte gekommen iſt, weil Sie mich hoffen laſ-
ſen
[267]der Clariſſa.
ſen, daß ich dem einen Menſchen entgehen kan,
ohne mich deswegen zu den Anverwanten des
andern zu begeben.


Jch ſehe jetzt keinen der Meinigen, und hoͤre
auch von keinem unter ihnen etwas, das mir
angenehm ſeyn koͤnnte. Dieſes hat faſt das
Anſehen, als wenn ſie ſelbſt von dem bevorſte-
henden Dienſtage, an den ich nicht ohne Zit-
tern dencken kan, wenig Folgen erwarteten.


Daruͤber, daß mein Onckle Anton bey mei-
ner Unterredung mit Solmes zugegen ſeyn ſoll,
freue ich mich zwar nicht ſonderlich: ich ſehe es
aber doch lieber, als wenn mein Bruder oder
meine Schweſter mit zugegen waͤren. Mein
Onckle hat einen ſehr heftigen Zorn: und ich
glaube kaum, daß Herr Lovelace viel hitziger
ſeyn kan, als er. Zum wenigſten kan er nicht
ſo boͤſe ausſehen/ als mein Onckle wegen ſei-
ner ſtarcken Bildung. Dieſe Herren, die ihr
Gluͤck auf der See gemacht haben, ſind nie ge-
woͤhnt worden andern nachzugeben, als nur
Wind und Waſſer, und dieſen wollen ſie auch
oͤſters trotzen: und ſie brauſen oft eben ſo ſehr
als die Winde, auf die ſie unwillig zu ſeyn pfle-
gen. Bey meinem Onckle habe ich dieſen Ge-
dancken mehr als einmahl gehabt.


Wenn das wahr iſt, was mir mein Onckle Har-
lowe
ſchreibt, und Eliſabeth erzaͤhlet, daß Sol-
mes
ſich eben ſo ſehr fuͤrchtet mich zu ſehen, als
ich ihn, ſo glaube ich, daß wir beyde einen laͤ-
cherli-
[268]Die Geſchichte
cherlichen Anblick bey der bevorſtehenden Unter-
redung machen werden.


Leben Sie wohl, meine gluͤckliche, meine
ſehr gluͤckliche Fraͤulein Howe: Sie koͤnnen
Jhrer Pflicht ein Genuͤge leiſten, ohne ſo harte
Bedingungen zu erfuͤllen. Sie duͤrffen ſich nur
die Wahl Jhrer Frau Mutter gefallen laſſen,
dagegen Sie nicht das geringſte einwenden koͤn-
nen; es muͤßte denn etwan dieſes ſeyn, daß un-
ſerm Geſchlecht Schuld gegeben zu werden pfle-
get, mancher Freyer gefalle der Tochter nicht,
weil ihn die Mutter fuͤr ſie ausgeſucht hatte.
Unſere verderbte Unart haſſet alle Vorſchriften,
das iſt bekannt: und dennoch hat die Jugend
nicht die Bedachtſamkeit und Erfahrung, fuͤr ſich
ſelbſt richtig zu waͤhlen.


Es iſt weiter nichts noͤthig, Jhr Gluͤck voll-
kommen zu machen, als daß Sie Jhr Gluͤck er-
kennen, und die jetzige Zeit nicht verſaͤumen, da-
mit Sie nicht bey reiffern Nachdencken auf
die vergangene gluͤckliche Zeit mit Kummer zu-
ruͤck ſehen, und ſich ſelbſt anklagen muͤſſen, daß
Sie nicht das Beſte gewaͤhlt haben, als Sie es
waͤhlen konnten. Dieſe Einſicht, und dieſes Ver-
moͤgen richtig zu waͤhlen, wuͤnſcht Jhnen


Jhre
Clariſſa Harlowe.



Der
[269]der Clariſſa.

Der ſieben und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch haͤtte Jhnen billig ſchon geſtern von Em-
pfang Jhres Buͤndels Waͤſche Nachricht
geben ſollen. Robert ſagt mir: der Jacob
Lehman/
den Sie fuͤr den Verraͤther halten,
habe ihn geſehen. Er ſey auf dem Huͤner-Hofe
geweſen, und habe ihn uͤber die Mauer nach dem
gruͤnen Gange zu angeredet: Wie kommt er
hieher Robert? doch ich kanes wol den-
cken. Mache er ſich davon/ ſo geſchwind
als er kan.


Jch zweiffele nun nicht laͤnger daran, daß Sie
deswegen mehr Freyheit haben, ſpatzieren zu ge-
hen, weil ſich andere auf die Wachſamkeit dieſes
Kerls und der Eliſabeth Barnes verlaſſen.
Jndeſſen ſind Sie doch das erſte Frauenzim-
mer, davon ich gehoͤrt habe, das in ſolchen Um-
ſtaͤnden keinen eintzigen Bedienten an der Hand
gehabt hat, den es zu einigen kleinen Dienſten
haͤtte brauchen koͤnnen. Kein Poet wuͤrde ſich
unterſtehen, eine Angelica zu beſingen, wenn
er ihr nicht ihre Violetta/ ihre Cleanthe/ ihre
Clelia oder ſonſt ein Maͤdchen mit einem arti-
gen Nahmen zu Huͤlffe gaͤbe. Wenigſtens muͤß-
te es eine alte Kinder-Waͤrterin ſeyn.


Jch
[270]Die Geſchichte

Jch habe meiner Mutter einige Stellen aus
Jhren Brieffen vorgeleſen. Das Ende Jhres
geſtrigen Schreibens gefiel ihr ungemein wohl,
und ſie ſagt mir: Sie haͤtten ihr Hertz dadurch
gewonnen. Unterdeſſen daß dieſer Anfall einer
Danckbarkeit, die vielleicht mit Hitze und Froſt
kommen moͤchte, noch waͤhrte, wollte ich meine
Bitte vorbringen, und ſie ſo beweglich vorſtellen,
als ich nur koͤnnte. Gleich trat der Hickmann
herein, machte ſeinen Buͤcklin, und griff ſich
bald an das Hals-Tuch, bald an die Manchetten.


Jch haͤtte gern mit ihm geſcholten. Jch ſag-
te aber weiter nichts, als: konnten Sie keinen
Bedienten finden? konnte ſie niemand melden,
da ſie ſahen, daß wir allein beyſammen waͤren?


Er bat um Vergebung, und ſahe aus als
wuͤßte er nicht, ob er weggehen oder bleiben
ſollte; bis endlich meine Mutter ſagte: was
denn? meine Tochter, wir haben ja nichts heim-
liches mit einander zu reden. Setzen ſie ſich
nieder, Herr Hickmann.


Mit Jhrer Erla - ubniß/ Fraͤulein.
Sie wiſſen, wie er die Worte ziehet, wenn ſich
ſeine Muskeln aus Ehrerbietigkeit nicht bewegen
koͤnnen.


O/ ich bitte laſſen ſie ſich nieder/ mein
guter Mann/ wenn ſie muͤde ſind: allein
bey meiner Mutter/ wenn es ihnen beliebt.
Jch wollte gern Raum genug fuͤr meinen
Reifrock haben. Jch weiß doch nicht/
was uns der Reifrock nuͤtzt/ als daß wir

die
[271]der Clariſſa.
die Schuhe daran abwiſchen/ und uns
ungezogene Leute einige Schritte vom
Leibe halten.


Meine Mutter ward ungeduldig, und rieff:
das ungezogene Maͤdchen. Allein mit ei-
nem ſanftern Ton: ſeyn Sie ſo guͤtig/ Herr
Hickmann/ und nehmen ſie Platz bey mir.
Jch habe keine ſolche Thorheit in meiner
Kleidung die ſie abhaͤlt.
Jch ſahe ernſthaft
aus, und freuete mich nur, daß ſie dieſes nicht
zu Jhrem Onckle Anton ſagte.


Meine Mutter hatte Luſt mit einer Witwen-
maͤßigen Freymuͤthigkeit die Unterredung recht
liſtig auf Sie zu lencken, und ich glaube, ſie
wollte ihm den Schluß Jhres letzten Brieffes
zeigen, darin Sie ſeiner ſo ſehr in Beſten ge-
dencken. So viel ſagte ſie: er habe der aller-
liebſten Fraͤulein Harlowe mehr zu dan-
cken/ als er daͤchte.


Jch fragte ihn darauf: was er neues von
London haͤtte? Dis iſt die gewoͤhnliche Frage,
wenn ich die Materie der Unterredung gern ver-
aͤndert ſehen moͤchte: und er verſteht ſie auch
ſchon. Jch bin deswegen mit ihm zu frieden,
wenn er nur nicht weiter fortredet, ohngeachtet
er meine Frage nicht beantwortet.


Jch mag meine Bitte nicht in ſeiner Gegen-
wart anbringen, ſo lange ich nicht weiß, was
meine Mutter darauf antworten wird. Denn
wenn ſie nicht geneigt iſt, mein Verlangen zu
erfuͤllen, ſo kan ich ihn noch immer gebrauchen,
ſie
[272]Die Geſchichte
ſie zu uͤberreden: und ich wollte ihm doch nicht
gern deswegen verpflichtet ſeyn, wenn ich es an-
ders vermeiden kan. Denn wenn Mannsper-
ſonen ihre Abſichten haben, ſo bilden ſie ſich ſo
viel darauf ein, wenn ein Frauenzimmer ſich
herablaͤßt ihnen etwas aufzutragen, daß es gantz
unertraͤglich iſt. Sollte ich heute keine gute Ge-
legenheit finden, ſo will ich mein Anliegen Mor-
gen anbringen.


Jch werde keins von Jhren verſiegelten Pa-
cketchens anders als in Jhrer Gegenwart er-
oͤffnen. Jch brauche dieſes nicht zu thun: denn
es iſt mir unmoͤglich einiges Mißtrauen in Jh-
re Auffuͤhrung zu ſetzen; und aus den Auszuͤ-
gen ſeiner und Jhrer Brieffe, die Sie mir mit-
getheilet haben, ſehe ich doch ſchon alles, was
Jhre gegenwaͤrtigen Umſtaͤnde betreffen kan,
und wie Sie mit ihm ſtehen.


Jch hatte ſchon eine etwas lebhaffte Anmer-
ckung in der Feder. Allein weil Sie gern vor
allen unſers Geſchlechts einen Vorzug haben
wollten, und ihn in der That zu haben verdie-
nen, ſo will ich Jhrer verſchonen. Sie ſcheinen
indeſſen bisweilen Jhre Neigungen und Gedan-
cken mehr als halb heraus ſagen zu wollen. Daß
Sie es nicht voͤllig thun, muß ich blos dem
Kampf zwiſchen Jhnen und Jhnen zuſchrei-
ben: Jhre Bloͤdigkeit haͤlt Sie ab. Wenn die-
ſe erſt uͤberwunden iſt, ſo bin ich verſichert, daß
Sie mir Jhre voͤllige Neigung frey geſtehen
werden.


Jch
[273]der Clariſſa.

Jch kan es Jhnen nicht vergeben, daß Sie
die Bezahlung eines Bedienten meiner Mutter
uͤbernehmen wollen, und ihn noch dazu ſo theuer
bezahlen. Jch bin deswegen ungehalten, und
ich will deswegen ungehalten ſeyn. Es iſt bey
nahe der Lohn von einem gantzen Jahre, den
Sie ihm geben,* wenn ich nicht das was an
dem Lohn fehlte meiner Mutter Bedienten ohne
ihr Wiſſen verguͤtete, wenn ſie es werth ſind.
Wie erſtaunt ſahe der Menſch aus, als ich ihm
die fuͤnf Guineas gab! Es kan ſein Ungluͤck
ſeyn, wenn ich ihn anders recht kenne. Wenn
er ſich einen Ring kauft, und eine alberne Per-
ſon in unſerer Nachbarſchafft heyrathet, ſo wer-
den wir uͤber das Jahr wuͤnſchen, daß er dieſe
Wohlthat nie bekommen haͤtte.


Sie begehren, daß ich Sie hierin nach Jhrem
eigenen Kopfe handeln laſſen ſoll: und ich weiß
ohnehin wohl, daß Sie ſich nicht einreden laſſen.
Denn Sie haben immer die Dienſte, die Jhnen
erzeiget werden, zu hoch in Anſchlag gebracht,
und die wichtigeren Gefaͤlligkeiten zu tieff her-
unter geſetzt, welche ſie andern erwieſen. Jch ge-
ſtehe
Zweyter Theil. S
[274]Die Geſchichte
ſtehe zwar, daß Sie durch das Bewußt-ſeyn
Jhrer Wercke ſchon belohnt werden. Allein
warum will ein ſo edles Hertz, als das Jhrige
iſt, andern einen Vorwurf machen? und warum
wollen Sie Jhre eigene ſo wohl als meine Fa-
milie beſchaͤmen?


Sie haben mir oft die Regel gegeben: man
muͤſſe zwar die Worte anhoͤren/ aber nach
den Wercken urtheilen.
Was ſoll ich dem-
nach von Jhnen dencken. Jn Worten ſuchen
Sie die Niedertraͤchtigkeit der Leute zu entſchul-
digen, die ſie durch Jhre Worte ſtillſchwei-
gend-ſcharf
an klagen. Erroͤthen Sie nicht
daruͤber, daß Sie etwas ſo beſonderes an ſich
haben? Wenn Sie mit ſolchen Leuten zu thun
haben werden, deren Gemuͤth dem Jhrigen gleich
iſt, alsdenn zeigen Sie Jhre vortrefflichen Ei-
genſchafften: ſonſt aber haben Sie Mitleiden
mit Jhrem Naͤchſten, und handeln nicht voͤllig
ſo edel, als Jhr Hertz iſt.


Jch wollte nur wenige Zeilen ſchreiben, um
Sie von Empfang der uͤberſandten Waͤſche zu
benachrichtigen. Jch ſchrieb deswegen zu An-
fang weitlaͤufftig, und ich ſehe, daß ich nun ſchon
zwey Bogen gefuͤllet habe. Von Jhrem Lobe,
einer mir ſo angenehmen Materie, wollte ich
wohl ein Buch Papier voll ſchreiben, ohne ein-
zuhalten. Jch bin deswegen nicht geſinnet Jh-
re dismahlige Freygebigkeit zu loben, auf die ich
recht im Ernſt ungehalten bin. Mein Lob ge-
het auf Jhren gantzen Lebenslauf, davon dieſes
nur
[275]der Clariſſa.
nur ein kleines Stuͤck, und eine gar nicht auſſer-
ordentliche Probe Jhres guͤtigen Hertzens iſt.
Jch habe weiter nichts hinzuzuthun, als den
Wunſch, daß Gott Sie in Jhrer ſchweren Ver-
ſuchung den rechten Weg betreten laſſen, und
eben ſo gluͤcklich machen wolle, als Jhrer Mei-
nung nach iſt


Jhre ergebenſte
Anna Howe.



Der acht und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch muß Jhnen dieſesmahl viele Neuigkei-
ten berichten. Sie werden ſehen, wie
ſehr ſich die Auffuͤhrung der Meinigen in Ab-
ficht auf mich geaͤndert hat. Jch haͤtte nie ge-
dacht, daß ſo viel Verſtellung in unſerm Hauſe
wohnete, als ich jetzt darin finde. Jch wills Jh-
nen alles in der Ordnung erzaͤhlen, wie es vor-
gefallen iſt.


Unſer gantzes Haus war dieſen Vormittag in
der Kirche; und der Herr D. Lewin kam mit
ihnen zu Hauſe. Er war nehmlich ſchon vor-
S 2hin
[276]Die Geſchichte
hin zu Tiſche gebeten. Er ließ ſich bey mir
melden, mich auf meiner Stube zu beſuchen.
Jch nahm den Beſuch mit Freuden an: und er
kam herauf.


Wir unterredeten uns faſt eine Stunde lang
vor dem Mittags-Eſſen: und ich verwunderte
mich, daß er alles zu vermeiden ſuchte, was un-
ſere Unterredung auf diejenige Materie lencken
konnte, von der er meiner Meinung nach mit
mir reden wuͤrde. Zuletzt fragte ich ihn: ob er
ſich nicht verwunderte, daß ich ſo lange Zeit
nicht in der Kirche geweſen waͤre? Er beant-
wortete dieſe Frage ſehr hoͤflich, und ſetzte hinzu:
er habe ſich das Geſetz gemacht, ſich in keine
Familien-Sachen zu mengen, wenn es nicht von
ihm gefodert wuͤrde.


Jch fand mich in meinen Gedancken ſehr be-
trogen. Weil ich aber glaubte, daß man ihn fuͤr
allzugerecht gehalten haͤtte, als daß man ſeinen
Ausſpruch uͤber unſern Streit zu hoͤren verlang-
te, ſo redete ich weiter nichts, das ihn auf dieſe
Materie bringen konnte. Als er zum Eſſen ge-
ruffen ward, ließ er ſich nichts davon mercken,
daß er ohne mich hinunter ging.


Dieſes war das erſte mahl, waͤhrender mei-
ner Gefangenſchaft, da es mich betruͤbete, daß
ich allein ſpeiſen mußte. Als ich auf der Trep-
pe von ihm Abſchied nahm, wollten mir die Au-
gen uͤbergehen. Er ging geſchwind fort, allein
ſeine guͤtige Augen blieben nicht gantz ſprachlos,
als
[277]der Clariſſa.
als er meine Thraͤnen merckte. Es ſchien, daß
er ſich nicht einmahl getrauete zu reden, damit
nicht ſeine Stimme etwas von ſeinem Mitlei-
den verrathen moͤchte. Er nahm alſo ſtillſchwei-
gend, obgleich nach ſeiner Art, ſehr hoͤflich Ab-
ſchied von mir.


Jch habe wider erfahren, daß er mich unten
geruͤhmet hat, und mit meinen Reden ſehr wohl
zufrieden geweſen iſt. Jch glaube, daß er nur
deshalb unſerer Unterredung gedacht hat, damit
man nicht Argwohn ſchoͤpfen moͤchte, als haͤtte
ſie den Augapfel der Meinigen betroffen: denn
es iſt ihm vermuthlich vorhin ein Winck gege-
ben worden, nichts davon mit mir zu reden.


Jch war ſo betruͤbt und ſo voll Beſtuͤrtzung
uͤber dieſe neue Art, mit mir umzugehen, als ich
noch nie geweſen bin. Allein dieſes war nur
der Anfang zu mehrerer Beſtuͤrtzung. Der heu-
tige Tag ſcheint fuͤr mich ein Tag der Verwir-
rung zu ſeyn. Es ſcheint auf jede unerwartete
Sache etwas eben ſo unerwartetes zu folgen:
denn es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Meinigen
bey allem dieſen ihre Abſichten haben.


Des Nachmittags ging mein Bruder und
meine Schweſter mit dem Herrn Doctor in die
Kirche; und er ließ mir ſeine Empfehlung ma-
chen. Jch ging in den Garten; mein Bruder
und meine Schweſter gingen auch hinein, und
machten, daß ich ſie ſehen mußte. Jhre Abſicht
ſchien zu ſeyn, daß ich bemercken ſollte, wie ver-
gnuͤgt ſie waͤren. Endlich kamen ſie mir in dem
S 3Gan-
[278]Die Geſchichte
Gange, in dem ich mich befand, mit geſchloſſe-
nen Haͤnden als ein paar verliebte Leute entge-
gen.


Eur Diener! ‒ ‒ Eure Dienerin! wa-
ren die Worte, die zwiſchen mir und meinem
Bruder vorfielen.


Meine Schweſter ſtand ſtille, und ſagte mit
einer ungewoͤhnlichen Freundlichkeit: ſeyd ihr
nicht ein wenig kaltſinniger/ als ſonſt/
Claͤrchen?
Jch ſtand auch ſtille, neigete mich,
und ſagte: ich hoffe es nicht/ meine liebe
Schweſter.


Sie ging weiter fort. Jch neigete mich, oh-
ne daß ſie es erwiderte, und ging nach meinem
Huͤner-Hofe.


Es waͤhrete nicht lange, ſo fand ich beyde wie-
der vor mir. Sie hatten ſich einander umar-
met, und waren einen kuͤrtzern Weg gegangen.


Mein Bruder ſagte: Claͤrchen/ ihr muͤßt
mir etwas von eurem Feder-Vieh ſchen-
cken/ daß ich es nach Schottland ſchi-
cken kan.


Wie ihr befehlt: ſagte ich.


Meine Schweſter ſagte: ich will fuͤr Euch
ausſuchen.
Als ich das Feder-Vieh fuͤtterte,
ſuchten ſie ein halbes Dutzend aus. Es ſchien a-
ber, daß ihre eintzige Abſicht dabey war, mir zu
zeigen, wie lieb ſie einander haͤtten.


So bald nach der gemeinen Redens-Art der
Gottesdienſt zu Ende war, erzeigten mir meine
beyden Onckles die Ehre, ſich bey mir durch Eli-
ſa-
[279]der Clariſſa.
ſabeth melden zu laſſen, daß ſie auf meiner Stu-
be eine Taſſe Thee trincken wollten. Jch glaub-
te nun gewiß, daß ich durch nachdruͤckliche Er-
mahnungen auf den kuͤnftigen Dienſtag zuberei-
tet werden wuͤrde.


Der Befehl, den Thee in Bereitſchafft zu
halten, ward wieder zuruͤck genommen, und
mein Onckle Harlowe kam allein.


Er war halb fremde und halb liebreich gegen
ſeine Tochter; denn mit dieſem Nahmen pfleg-
te er mich ſonſt immer zu beehren. Jch warf
mich zu ſeinen Fuͤſſen, und bat ihn, guͤtig gegen
mich geſinnet zu ſeyn.


Keine ſolche wunderlichen Geberden, mein
Kind, (ſagte er) keine ſolche Furcht: Ein jeder
iſt guͤtig gegen ſie geſinnet. Es kommt nun
alles wieder in Ordnung, mein Hertz. Jch bin
recht ungedultig geweſen, ſie einmahl wieder zu
ſehen; und ich konnte mich dieſes Vergnuͤgens
nicht laͤnger berauben.


Mit dieſen Worten hub er mich auf, kuͤſſete
mich, und nannte mich ein allerliebſtes Kind.


Er huͤtete ſich recht mit Fleiß, nicht auf die
Frage zu kommen, die mich ſo nahe anging.
Es hieß nur: es wird alles gut werden!
keine weitere Klagen! Jedermann hat ſie
lieb. Jch komme blos deswegen/ weil
ich gern der erſte ſeyn wollte/ der ihnen
ſeine Aufwartung macht/
(dis waren ſeine
allzuhoͤflichen Ausdruͤcke) und damit ich nach
meiner Art von hundert angenehmen din-

S 4gen
[280]Die Geſchichte
gen mit ihnen ſprechen koͤnne. Laſſen ſie
alles vergangene/ das ihnen empfindlich
iſt/ vergeſſen ſeyn/ und dencken ſie ſo we-
nig daran/ als wenn es nie geſchehen
waͤre.


Als er merckte, daß ich mich uͤber meine
ſchimpfliche Gefangenſchaft beklagen wollte, ſag-
te er: ihnen kan nichts ſchimpflich ſeyn.
Jhre Ehre iſt allzuwohl beveſtiget. ‒ ‒
Jch wollte ſie nur gern einmahl ſprechen.
Jch habe in aller der Zeit nichts geſehen,
das nur halb ſo liebenswuͤrdig iſt/ als ſie.


Hierauf kuͤſſete er meine gluͤenden Backen
noch einmahl. Denn ich war voller Unmuth
und Ungeduld, weil ich glaubte, daß dieſes in
der That ein liſtiger Kunſtgrif waͤre. Wie
konnte ich einen ſolchen Beſuch mit Danck er-
kennen, der weiter nichts als eine niedertraͤchti-
ge Liſt war, mich entweder auf den kuͤnftigen.
Dienſtag zu feſſeln, oder mich bey allen ohne
Entſchuldigung zu machen, wenn ich mich nicht
feſſeln laſſen wollte?


O mein liſtiger Bruder! dieſes iſt gewiß ei-
ne Anſtalt von ihm. Der Unwille, den ich hie-
bey empfand, brachte mir wider in das Gedaͤcht-
niß, wie er vorhin mir zum Trotz ſo freundlich
mit meiner Schweſter umgegangen war; und
wie ihnen beyden der Unwille aus den Augen
leuchtete, ſo bald ſie mich erblickten, und die
Worte, Claͤrchen und Schweſter aus Ver-
ſtellung von ihren Lippen fallen lieſſen.


Konn-
[281]der Clariſſa.

Konnte ich nun den Beſuch meines Onckles
wol als ein Zeichen ſeiner Liebe gegen mich und
als eine Wohlthat anſehen? So begierig ich
auch war, dieſes zu thun, ſo ohnmoͤglich war es
mir. Als ich ſahe, daß er alle Gelegenheit ver-
mied, ſich uͤber meine bisherige Auffuͤhrung zu
beſchweren, ſo that ich dieſes gleichfalls, und un-
terhielt mich mit ihm von lauter Dingen die
uns nicht angiengen. Er ſchien bald dieſes bald
jenes zu bewundern, als wenn er es noch niemahls
geſehen haͤtte: und ließ ſich bisweilen ſo weit her-
ab, die Hand zu kuͤſſen, auf deren Arbeit ſeine
Augen gerichtet waren, um eine Materie der
Unterredung zu finden, die uns die Sache aus
dem Sinne bringen moͤchte, die er im Kopfe und
ich im Hertzen hatte.


Als er wegging, ſagte er: wie kan ich ſie hier
allein laſſen, meine liebſte Baſe! Sie pflegten
uns alle durch ihre Geſellſchaft aufzumuntern.
Niemand iſt ſich jetzt vermuthen, daß ſie herun-
ter kommen werden; allein ich habe groſſe Luſt,
ihre Eltern auf eine angenehme Weiſe zu uͤber-
fallen! Wenn ich nur wuͤßte, daß nichts unan-
genehmes daraus erfolgen moͤchte! O mein Kind!
mein Hertz! (Wie konnte ſich mein Onckle, mein
lieber allzukuͤnſtlicher Onckle, ſo verſtellen!) Was
ſagen ſie? Wollen ſie mir ihre Hand geben?
Wollen ſie ihren Vater ſprechen? Sind ſie im
Stande, ſeine erſte Hitze zu ertragen, wenn er
das liebenswuͤrdige Kind ſehen wird, das ihm
S 5und
[282]Die Geſchichte
und uns allen bisher ſo viel Unruhe gemacht
hat? Wollen ſie verſprechen, daß ſie kuͤnftig ‒ ‒


Er ſahe, daß ich anfieng unwillig zu werden.
Nein/ ſagte er, wenn ſie nicht die Ver-
leugnung und Gelaſſenheit ſelbſt ſeyn
wollen/ ſo will ich ihnen nicht rathen
mitzugehen.


Mein Hertz empfand allen Kampf der kind-
lichen Liebe, und des erhitzten Gebluͤtes. Sie
wiſſen, daß es mir unertraͤglich iſt, wenn man
niedertraͤchtig und argliſtig mit mir umgehet.
Wie? ſagte ich? ‒ ‒ wie koͤnnen ſie/ wie
kan mein ſonſt ſo vaͤterlich geſinneter On-
ckle? Wie koͤnnen ſie ‒ ‒ dencken ſie; ein
ſo armes Maͤdchen.
Ja konnte nichts im
Zuſammenhange vorbringen.


Er antwortete nochmahls: wenn ſie nicht
der kindliche Gehorſam ſelbſt ſeyn wollen,
ſo iſt es beſſer/ daß ſie bleiben wo ſie ſind.
Allein/ nachdem ſie eine ſolche Probe ge-
geben hatten. ‒ ‒


Eine Probe gegeben! fiel ich ihm in die
Rede. Was iſt das fuͤr eine Probe?


Gut! mein Kind. Es iſt beſſer/ ſie blei-
ben hier/ wenn ihnen die bisherige Ein-
ſchraͤnckung noch ſo empfindlich iſt. Sie
wird doch ohnehin bald zu Ende ſeyn.

Adieu,mein Hertz! Nur noch dieſe drey
Worte: ſeyn ſie mit aufrichtigem Hertzen
gehorſam! und lieben ſie mich ſo/ wie ſie
mich ſonſt geliebt haben. Jhr ſeel. Gros-

Va-
[283]der Clariſſa.
Vater hat weniger zu ihrem Beſten ge-
than/ als ich zu thun geſinnet bin.


Er ließ mir nicht Zeit, hierauf zu antwor-
ten, und ging ſo geſchwind von mir weg, als
wenn er davon fliehen muͤßte, und froh waͤre,
daß er ſeine Perſon ausgeſpielt haͤtte.


Sehen Sie wohl, wie unbeweglich die Mei-
nigen in ihrer Entſchlieſſung ſind. Habe ich
nicht Urſache, mich vor dem kuͤnftigen Dienſta-
ge zu fuͤrchten?


Meine Schweſter kam gleich nachher herauf.
Jch glaube, ſie wollte auskundſchaften, was der
vorige Beſuch fuͤr Wuͤrckungen bey mir gehabt
haͤtte. Sie fand mich in Thraͤnen.


Mit einer ſteiffen Mine ſagte ſie: Habtihr
keinen Thomas a Kempis/ Schweſter?


„Ja ich habe einen, Fraͤulein!„


Fraͤulein! Wie lange wollen wir noch
fremde mit einander thun/ Claͤrchen?


„Keinen Augenblick laͤnger, wenn ihr mir nur
„erlauben wollt, euch Schweſter! und meine
liebe Arabelle
zu nennen.„ Jch ergrif ihre
Hand.


Nichts gethaltes/ Maͤdchen!


Jch zog meine Hand ſo geſchwind zuruͤck, als
wenn mich eine Schlang geſtochen haͤtte.


„Jch bitte um Vergebung. Jch mache mich
„gemeiniglich dadurch veraͤchtlich, daß ich an-
„dern allzubald mit Freundlichkeit zuvorkom-
„me.„


Leute/ die die Mittelſtraſſe nicht hal-
ten
[284]Die Geſchichte
ten koͤnnen/ erwiderte ſie, werden ſich im-
mer veraͤchtlich machen.


„Jch will euch den Kempis hohlen. ‒ ‒ Hier
„iſt er. Jhr werdet ſehr viel gutes in dem klei-
„nen Buche finden, Arabelle.


Jch wuͤnſchte/ daß ihr euch daraus ge-
beſſert haͤttet.


„Und ich wollte euch dieſes wuͤnſchen. Der
„gute Vorgang einer aͤltern Schweſter wuͤrde
„mir ſehr nuͤtzlich ſeyn.„


Aelter! Abgeſchmackte kleine Naͤrrin!
Mit den Worten flog ſie weg.


Wie empfindlich wird meine Schweſter ſeyn,
wenn ſie ſo lange lebet, daß man ſie eine alte
Frau nennen kan. Wie wunderlich iſt es: Ehr-
erbietung von andern begehren, die man nicht
zu verdienen ſuchet; und ſich noch dazu ſeines
Vorzuges an Jahren ſchaͤmen, der die eintzige
Eigenſchaft iſt, durch die man berechtiget iſt,
Ehrerbiethung zu fodern.


Aus dem, was ich Jhnen berichte, iſt klar ge-
nug, daß die Meinigen glauben einen Vortheil
uͤber mich erhalten zu haben, weil ich die Zu-
ſammenkunft mit Herrn Solmes bewilliget ha-
be. Aus den unverſchaͤmten Reden der Eliſa-
beth
wird dieſes noch handgreiflicher. Sie hat
mir zu dieſer Zuſammenkunft ſowohl, als zu
dem Beſuch Gluͤck gewuͤnſcht, den mein Onckle
Harlowe bey mir abgeſtattet hat. Sie meint,
die Schwierigkeit ſey nun ſchon uͤber die Haͤlfte
aus dem Wege geraͤumt: denn ich wuͤrde Herrn
Sol-
[285]der Clariſſa.
Solmes nicht zu ſprechen verlangen, wenn ich
ihn nicht nehmen wollte. Sie hoffet bald mehr
zu thun zu kriegen, als ſie bisher gehabt hat:
denn nun wird es Arbeit genug geben. Sie
ſieht es gerne, wenn es mit Hochzeiten geſchwin-
de zugehet: und wer weiß, an wen die Reihe
zunaͤchſt kommen wird?


Dieſen Nachmittag fand ich Herrn Lovela-
ces
Antwort, auf meine letzte Antwort, die voll
von guten Verheiſſungen iſt, voll von Danckbar-
keit, voll von ewiger Danckbarkeit, wenn ich
von ihm ein uͤbertriebenes Wort unter vielen er-
borgen ſoll. Jch muß ihm aber doch zum Ruhm
nachſagen, daß er unter allen Manns-Perſonen,
deren Brieffe mir bekannt geworden ſind, am
wenigſten in dieſe erhabenen Thorheiten verfallen
iſt: und er wuͤrde mir ſehr veraͤchtlich ſeyn,
wenn es mehr geſchehen waͤre. Jch befuͤrchte
bey einer ſolchen Schreibart immer, daß die
Mannsperſon das Frauenzimmer fuͤr eine Thoͤ-
rin gehalten habe, oder zur Thoͤrin zu machen
ſuche.


„Er bedauert, daß ich ſo kaltſinnig gegen ihn
„bin, und daß er weiter keine Hoffnung hat,
„mein Hertz zu gewinnen, als die, welche ihm
„die unertraͤgliche Auffuͤhrung der Meinigen ge-
„gen mich giebt.„


„Er geſteht, daß er ſich nicht zu entſchul-
„gen wiſſe, wenn ich ihn anklage, daß er unhoͤflich
„ſey, und einen ungebrochenen Sinn habe. Er
„iſt allzuehrlich, als daß er nur auf eine Ent-
ſchul-
[286]Die Geſchichte
„ſchuldigung dencken ſollte. Allein die harte
„Auslegung uͤbertaͤubet ihn gantz, wenn ich dar-
„aus, daß er ſeine Fehler geſtehet, erzwingen will,
„daß er nicht ſo wohl Luſt habe ſich zu beſſern,
„als vielmehr keine Luſt habe ſich zu entſchuldi-
„gen. Niemand hat ihm dieſes bisher vorge-
„worfen, was ich ihm vorgeworfen, und noch da-
„zu mit Recht vorgeworfen habe. Er wolle
„ſuchen dieſen Vorwurf aus dem Wege zu raͤu-
„men. Er habe nichts verſprochen, als daß er
„meinen Vorgang zu ſeiner Beſſerung anwen-
„den wolle. Er koͤnnte dieſes Verſprechen nicht
„einmahl ins Werck richten, wenn er keine Feh-
„ler an ſich haͤtte, die eine Verbeſſerung erfo-
„derten. Jndeſſen hoffet er, daß es kein ſchlim-
„mes Zeichen ſey, wenn man ſeine Fehler erken-
„net, obgleich meine allzutugendhafte Tugend
„auch hieruͤber zuͤrnet.


„Er glaubt, daß ich Recht, das ſtrengeſte Recht
„habe, wenn ich nicht zugeben will, daß er das
„Recht der Wiedervergeltung ſo weit ausdaͤhnen
„ſoll, einen Kundſchafter in meines Vaters Hau-
„ſe zu halten. Er duͤrffe ſich zwar ſonſt nicht
„anklagen, daß er ſich um die Familien-Umſtaͤnde
„anderer Leute auf eine vorwitzige Weiſe bekuͤm-
„mere. Allein er hoffet, daß ihn die Umſtaͤnde
„und die wunderliche Auffuͤhrung der Meinigen
„dieſesmahl entſchuldigen werden: da ihm ſo viel
„daran gelegen iſt, alles fruͤhzeitig zu wiſſen, was
„in einer Familie vorgehet, die es einmahl dar-
„auf geſetzt hat, aus Haß gegen ihn ihre Sache
durch
[287]der Clariſſa.
„durch rechtmaͤßige oder unrechtmaͤßige Mittel
„durchzutreiben. Es waͤre billig, daß Perſonen,
„die ſo handeln als Engels, auch mit Engeln zu
„thun haͤtten. Er vor ſein Theil habe bisher
„noch nicht gelernt, gutes fuͤr boͤſes zu ver-
„gelten:
und er habe deſtoweniger Luſt es kuͤnf-
„tig zu lernen, weil er ſaͤhe, was ich mir da-
„durch fuͤr eine Auffuͤhrung von eben den Leu-
„ten zugezogen haͤtte, die auch ihn gern (ſo wie
„mich) mit Fuͤſſen treten wuͤrden, wenn er ſich
„ihnen zu Fuͤſſen wuͤrffe.„


„Er entſchuldiget ſich hierauf wegen der freyen
„Reden, die er nicht leugnet bisher wider den
„Eheſtand ausgeſtoſſen zu haben. Er ſchreibt,
„er habe ſich in der letzten Zeit nicht mehr ſo
„luſtig mit dieſer Materie gemacht. Es ſey die
„gewoͤhnliche, die ſo abgedroſchene Materie aller
„Leute von freyer Lebensart, die ihren Witz gern
„zeigen wollen: und doch eine ſo froſtige, ſo
„matte, ſo nichts-ſagende, ſo erſchoͤpfte Materie,
„daß er ſich von Hertzen ſchaͤmete, daß ſeine Re-
„den jemahls davon gehandelt haͤtten. Es ſey
„in der That eine tumme Laͤſterung gegen die
„Landesgeſetze, gegen die Ordnung, ohne welche
„die menſchliche Geſellſchafft nicht beſtehen koͤn-
„ne, und gegen unſere eigene Vorfahren. Je
„mehr er Utſache habe, ſich ſeines Herkommens
„und ſeiner Verwandtſchafften zu ruͤhmen, deſto
„ſtrafbarer ſey es, wenn er ſolche Reden fuͤhrte:
„ſtrafbarer, als wenn es andere thaͤten, die ſich
„ſolcher Vorzuͤge nicht ruͤhmen koͤnnten, Er
„ver-
[288]Die Geſchichte
„verſpricht, kuͤnftig immer vorſichtiger in Reden
„und Handlungen zu werden, damit beyde ver-
„dienen moͤgen, daß ich ſie billige; und damit
„ich hiedurch eine vorlaͤuffige Verſicherung be-
„kommen moͤge, daß ein Grund der Beſſerung
„bey ihm gelegt ſey, die kuͤnftig durch meinem
„Vorgang und Beyſpiel vollſtaͤndiger werden
„ſollte, wenn er anders ſo gluͤcklich wird, mich
„die Seinige zu nennen.


„Wenn ich zu meinem Onckle Anton reiſe,
„ſo giebt er mich gantz verlohren. Meine dor-
„tige Einſchraͤnckung, das verſchantzte Haus, die
„Capelle, die Unverſoͤhnlichkeit meines Bruders
„und meiner Schweſter, der Einfluß, den ſie in
„die gantze Familie haben, ſind ihm lauter ge-
„faͤhrliche Umſtaͤnde, die er mir ſehr fuͤrchterlich
„vorſtellet. Er giebt mir zu erkennen, er wuͤr-
„de etwas wagen muͤſſen, um es zu hindern, daß
„ich nicht dorthin gefuͤhret wuͤrde.


Jch hoffe, daß Jhre guͤtige und edle Vor-
bitte fuͤr mich bey Jhrer Frau Mutter verhuͤten
wird, daß es mit mir nicht auf das aͤuſſerſte
komme. Zu Jhnen will ich fliehen, wenn es mir
erlaubt iſt, und alles heiliglich halten, was ich
verſprochen habe, an niemanden zu ſchreiben, und
niemand zu ſprechen, ohne Jhren und Jhrer Frau
Mutter Rath daruͤber zu hoͤren und zu befolgen.
Jch ſchlieſſe, und will dieſen Brief fuͤr Sie hin-
legen.
[289]der Clariſſa.
legen. Jch brauche nicht mehr zu melden, wie
aufrichtig ich bin,


Jhre
ewig ergebene und ewig verpflichtete
Cl. Harlowe.



Der neun und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch freue mich, daß meine Papiere Jhnen
wohl zu Haͤnden gekommen ſind. Jch
werde mich bemuͤhen, mich ſo zu verhalten, daß
Sie meine Handlungen billigen koͤnnen, damit
ich nicht Jhren Ausſpruch und dem Ausſpruch
meines eigenen Hertzens gegen mich habe.


Jch habe von neuen einen Brief von Herrn
Lovelace erhalten. Er iſt wegen der morgen
bevorſtehenden Unterredung mit Herrn Solmes
ſehr beſorgt. Er ſchreibt: „der elende Kerl ge-
„berdete ſich ſo hochmuͤthig, daß er deswegen
„neue Urſache haͤtte, beſorgt zu ſeyn. Es koſte
„ihn unendlich vielen Kampf, daß er ihn nicht
„beſuchen noch ihn bedeuten duͤrfte, was die Folge
„davon ſeyn wuͤrde, wenn er oder die Meinigen
Zweyter Theil. T„Ge-
[290]Die Geſchichte
„Gewalt gebrauchten. Er berichtet mir, daß
Solmes wircklich mit einigen Kauffleuten we-
„gen neuer Montirung und Equippage in Han-
„del ſtehet: er nennet mir auch die Nahmen
„der Kauffleute in London, an die er geſchrieben
„hat. Er hat ſo gar, (der haͤßliche Menſch)
„gewiſſe Zimmer ſeines Hauſes zur Kinderſtube,
„und zu anderen in der Haushaltung noͤthigen
„Gebrauch beſtimmet.„


Wie kan ich es dulden, daß ein ſolcher Menſch
von Liebe zu mir ſchwatzen will. Jch kan laͤnger
keine Geduld mit ihm haben. Jch haͤtte nicht
geglaubet, daß er ſich unterſtuͤnde, ſolche Zuberei-
tungen zu machen, oder davon zu reden, die mit
meines Bruders Abſichten ſo wenig uͤberein-
ſtimmen. Allein ich mag nicht weiter an eine
Sache gedencken, daruͤber ich mich nur aͤrgern
muß.


Da Solmes ſo viel gute Hoffnung hat, ſo
werden Sie ſich nicht wundern, daß Lovelace
eben ſo zuverſichtlich iſt. „Er bittet mich im
„Nahmen ſeiner gantzen Familie, mich durch ei-
„ne fruͤhzeitige Flucht vor den Gewaltthaͤtigkeiten
„zu ſichern, die in meines Onckles Hauſe auf
„mich warten. Er iſt ſo voreilig, mir ſeines
„Onckles Wagen mit ſechs Pferden anzubieten,
„der mich am Ende des einſamen Waͤldchens
„erwarten ſoll, das an unſern Thiergarten ſtoͤßt.
„Sie werden mit Verwunderung ſehen, daß er
„ſo dreiſte iſt, eines Entwurffs der Ehepacten
„zu gedencken; und mir zu verſprechen, daß ei-
nige
[291]der Clariſſa.
„nige Leute zu Pferde bereit ſeyn, und eine von
„ſeinen Baſen Montague mit in dem Wagen
„oder in dem benachbarten Dorf ſeyn ſolle, um
„mich zu ſeines Onckels des Lord M. Hauſe,
„oder zu einer ſeiner andern Baſen, oder bis
„nach London zu begleiten. Es ſolle, ſchreibt
„er, alles dieſes in meinem Belieben ſtehen, und
„ich ſoll ihm alle Bedingungen vorſchreiben, und
„ihn einſchraͤncken koͤnnen, ſo viel ich will.„


„Er drohet, unterwegens aufzulauren und mich
„aus den Haͤnden der Meinigen mit Huͤlffe ei-
„niger bewaffneten Freunde und Bedienten zu
„befreyen, (wie er es nennet) wenn ſie mich wi-
„der meinen Willen nach meines Onckels Woh-
„nung fuͤhren wollen; ich mag nun in ſeinen
„Vorſchlag willigen oder nicht. Denn, ſetzt er
„hinzu, er habe alle Hoffnung verlohren, wenn
„ich einmahl in jenem Hauſe waͤre.„


Wer kan ſolche Umſtaͤnde uͤberlegen, ohne den
tiefſten Kummer zu empfinden?


O des ſchaͤdlichen Geſchlechts! Was habe ich
damit zu thun gehabt? oder was gehe ich dieſe
Leute an? Wenn ich mich durch mein eigenes
Lauffen oder durch Unvorſichtigkeit in ſolche Um-
ſtaͤnde gebracht haͤtte, ſo wollte ich ſagen, es ſey
mein verdienter Lohn. Jch wuͤnſchte von Her-
tzen ‒ ‒ ‒ doch was fuͤr thoͤrichte Wuͤnſche ent-
fahren uns, wenn wir unſer Ungluͤck fuͤhlen, und
uns nicht zu helfen wiſſen!


Jch ſetze meine eintzige Hoffnung auf die Guͤ-
tigkeit Jhrer Frau Mutter. Wenn ich mich
T 2nur
[292]Die Geſchichte
nur nicht uͤbereilen darf, ehe mein Vetter Mor-
den
ankommt, ſo wird hoffentlich eine Ausſoͤh-
nung erfolgen, und es wird alles gut gehen.


Jch habe fuͤr Herrn Lovelace einen Brief
hingelegt, darin ich auf das ernſtlichſte von ihm
„verlange, daß er ſich nicht uͤbereilen, und Herrn
Solmes nicht beſuchen ſoll, weil dieſes aller-
„hand ſchlimme Folgen haben koͤnnte. Er wuͤr-
„de mich ſonſt ſo beleidigen, daß ich es nimmer
„vergeben wollte.


„Jch verſichere ihn aufs neue, daß ich lieber
„ſterben will, als den Menſchen nehmen.


„Wie ſchlimm man auch immer mit mir um-
„gehet, und wie ſich meine Unterredung mit
Solmes auch endigen moͤchte, ſo begehre ich
„dennoch von ihm, keine Gewalt gegen irgend
„einen meiner Anverwandten zu gebrauchen.
„Jch bezeuge ihm mein Misvergnuͤgen daruͤber,
„daß er ſich unterſteht, mich fuͤr eine ihm ſo na-
„he angehende Perſon anzuſehen, daß er meinem
„Vater es verwehren duͤrfte, mich auf meines
„Onckles Gut zu ſchicken: ob ich gleich weder
„an meinem Bitten noch an andern Mitteln es
„ermangeln laſſen wuͤrde, um dieſes zu verhuͤten;
„ſollte es auch ſo weit gehen, daß ich mich kranck
„machte.


Morgen iſt es Dienſtag. O wie bald uͤber-
faͤllt mich dieſer fuͤrchterliche Tag. Koͤnnte ich
doch in einen Todten-Schlaf von vier und zwan-
tzig Stunden fallen! Allein denn wuͤrde doch
der folgende Tag wieder mein Dieuſtag ſeyn, und
alle
[293]der Clariſſa.
alle die ungluͤcklichen Folgen haben, die ich heu-
te von dem morgenden Tage befuͤrchte. Wenn
Sie dieſen Brief eher leſen, als Sie den Aus-
gang der fuͤrterlichen Unterredung wiſſen, ſo
ſchlieſſen Sie in Jhr Gebet ein,


Jhre
Clariſſa Harlowe.



Der dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Nunmehr iſt der Tag gekommen. Jch wuͤnſch-
te, daß er ſchon gluͤcklich voruͤber ſeyn
moͤchte. Jch habe eine ſehr ſchlechte Nacht ge-
habt: ich konte kaum einen Augenblick ſchlafen,
weil mir immer die bevorſtehende Unterredung
im Sinne lag. Es iſt mir dieſe Unterredung eben
dadurch wichtiger und fuͤrchterlicher geworden,
weil ſie mit Bewilligung meiner Freunde ſo lan-
ge aufgeſchoben iſt.


Man muß ſich nicht allzuviel Ueberlegung
wuͤnſchen, wenn ſie nicht mit Jhrer Lebhaftig-
keit verbunden iſt. Denn dieſe Jhre Lebhaftig-
keit verurſachet, daß Sie eine gegenwaͤrtige Freu-
T 3de
[294]Die Geſchichte
de ſchmecken koͤnnen, ohne wegen des kuͤnftigen
allzubeſorgt zu ſeyn.


Um 11 Uhr.


Meine Baſe Hervey hat mich beſucht. E-
liſabeth
ſagte mir mit der ihr gewoͤhnlichen laͤr-
menden Art: es wuͤrde ein Frauenzimmer, das
ich gewiß nicht erwartete, auf ein Fruͤhſtuͤck zu
mir kommen. Jch meinte gewiß, es waͤre mei-
ne Mutter; und dieſer Gedancke ſetzte mich in
ſolche Unruhe, weil ich die Urſachen dieſes Be-
ſuchs nicht errathen konnte, nachdem ich ſo lan-
ge ihrer Gegenwart hatte entbehren muͤſſen, daß
meine Baſe meine Verwirrung bemerckte, nach-
dem wir kaum die erſten Worte, welche die Hoͤf-
lichkeit erfoderte, mit einander geredet hatten.


Wie? Fraͤulein: ſagte ſie: ſie ſcheinen
beſtuͤrtzt zu ſeyn. Jhr allzuſorgfaͤltige jun-
ge Kinder macht euch bisweilen ohne
Urſache allerhand Gedancken. Was fehlt
ihnen?
ſagte ſie, und ergriff meine Hand.
Mein Hertz/ warum zittern/ zittern/ zit-
tern ſie ſo? Sie ſind nicht im Stande/ je-
mand zu ſprechen. Kommen ſie/ meine
Liebe
(mit einem Kuß) faſſen ſie ein Hertz.
Jhre uͤberfluͤßige Furcht vor der bevor-
ſtehenden Unterredung wird ſie nach En-
digung dieſer Unterredung uͤberzeugen/
von was fuͤr Art ihr gantzer Widerwil-
le gegen eine gewiſſe Perſon iſt. Sie wer-
den uͤber ſich ſelbſt lachen muͤſſen/ daß ſie

ſich
[295]der Clariſſa.
ſich ſo fuͤrchterliche Vorſtellungen gemacht
haben.


Jch antwortete: wenn man ſich etwas vor-
ſtellete, ſo haͤtte es eben die Wirckung, als wenn
es lauter Wahrheit waͤre, ob es gleich andere
nur fuͤr Einbildung hielten. Jch haͤtte die gan-
tze Nacht hindurch nicht eine Stunde geſchlafen.
Meine unverſchaͤmte Aufſeherin waͤre Schuld
an meiner Beſtuͤrtzung, weil ich aus ihren Wor-
ten haͤtte ſchlieſſen muͤſſen, daß meine Mutter
zu mir kaͤme. Jch geſtuͤnde indeſſen, daß ich
gar nicht im Stande waͤre, eine gewiſſe Perſon
zu ſprechen, die ich nicht gern ſprechen wollte.


Sie erwiederte! niemand koͤnte aus uns
klug werden. Herr Solmes ſey die vergange-
ne Nacht eben ſo unruhig geweſen als ich.


Allein, ſagte ich, wem ſoll denn durch unſere
Unterredung ein Gefalle geſchehen?


Jch hoffe ihnen beyden/ wenn die er-
ſte Unruhe voruͤber ſeyn wird. Ein fuͤrch-
terlicher Anfang hat oft ein vergnuͤgtes
Ende. Das weiß ich aus Erfahrung.


Nur Ein gluͤckliches Ende, ſagte ich, kan die-
ſe Unterredung haben, wenn nemlich beyde Thei-
le damit zufrieden ſind, daß es die letzte Unter-
redung ſeyn ſoll.


Sie ſtellete mir hierauf alles Ungluͤck vor, das
mich befallen wuͤrde, wenn ich mich nicht lencken
lieſſe. Sie bat mich, ich moͤchte ihm doch we-
nigſtens ſo begegnen, wie es meiner Erziehung
gemaͤß waͤre. Seine Furcht vor mir haͤtte kei-
T 4ne
[296]Die Geſchichte
ne andere Urſache als Liebe und Ehrerbietung;
und die Furcht und Ehrerbietung ſey immer das
ſicherſte Zeichen der Liebe. Einen dreiſten und
wilden Liebhaber muͤſſe man nie dreiſter machen,
noch ihm einige Hoffnung geben.


Jch antwortete: man muͤſſe dem Tempera-
ment etwas zu gute halten. Ein muthiger Geiſt
wuͤrde immer muthig handeln, und in keinem
Stuͤcke niedertraͤchtig ſeyn; hingegen wuͤrde ein
kriechendes Gemuͤth ſich uͤber all kriechend bewei-
ſen, wo es einen Vortheil ſehe, und trotzig thun,
wenn es keine Abſichten haͤtte. Es ſey dieſes
eine Sache, die jetzt nicht mit mir ausgemacht
werden koͤnnte. Jch haͤtte ſchon genug davon
geſaget. Die gantze Unterredung ſey mir von
denen aufgedrungen, welche Recht haͤtten, mir
zu befehlen; allein ſie gehe gaͤntzlich wider mei-
ne Neigung vor ſich, weil ich bisher nicht aus
Vorſatz, ſondern aus unuͤberwindlicher Abneigung
Herrn Solmes ausgeſchlagen haͤtte, daher ich
zum voraus ſehe, daß dieſe Unterredung keinen
andern Nutzen haben wuͤrde, als den Meinigen
einen neuen Vorwand zu verſchaffen, daß ſie
noch haͤrter mit mir umgehen koͤnnten.


Sie gab mir aufs neue Vorurtheile und ein
von Lovelace eingenommenes Hertz Schuld.
Sie redete weitlaͤuftig von der Pflicht eines
Kindes, ſchrieb mir eine Menge guter Eigen-
ſchafften zu, denen aber dieſes mahl die Crone
fehlte, nemlich ein folgſamer Sinn. Sie ſtelle-
te mir den Gehorſam, dabey ich meine eigene
Ein-
[297]der Clariſſa.
Einſichten verleugnete, als ein ſehr groſes gutes
Werck vor. Weil ich mir hatte mercken laſſen,
daß ich wegen meiner bisherigen freyen Auffuͤh-
rung gegen Herrn Solmes mich deſto weniger
entſchlieſſen koͤnne, ihn zu nehmen; ſo redete ſie
viel von der Verſoͤhnlichkeit dieſes Mannes, von
ſeiner unendlichen Hochachtung fuͤr mich, und
von andern Dingen gleicher Art.


Jch bin in meinem Leben nicht ſo aͤrgerlich
geweſen, als dieſes mahl: ich ſagte es meiner
Baſen, und bat ſie um Vergebung. Sie ant-
wortete, wenn ich in der That ſo aͤrgerlich waͤre,
ſo muͤßte ich mich gewiß treflich verſtellen koͤn-
nen. Sie merckte nichts davon, und faͤnde
nichts an mir als eine kleine wunderliche Furcht-
ſamkeit, die das Frauenzimmer anzunehmen
pflegte, wenn ihnen ihr Bewunderer, (wie ſie
Herrn Solmes mit Recht nennen koͤnnte) das
erſte mahl aufwartete. Denn dieſes ſey das
erſte mahl, da ich verwilliget haͤtte, ihn als ei-
nen Bewunderer von mir zu ſprechen. Allein
das naͤchſte mahl ‒ ‒


Jch fiel ihr in das Wort: „alſo bildet man ſich
„ein, daß ich ihn auf die Weiſe zu ſprechen ge-
„dencke?


Allerdings/ mein Kind!


„Allerdings? So bitte ich ſie, ſuchen ſie die-
„ſe Unterredung noch zu hintertreiben. Jch
„will und ich kan ihn nicht ſprechen, wenn es die
„Meinung haben ſoll.„


Taͤndeley! Puͤnctlichkeit! nichts als
uͤbertriebene Puͤnctlichkeit/ mein Kind!

T 5Konn-
[298]Die Geſchichte
konnten ſie dencken/ wenn ſie Tag/ Ort
und Stunde ihrer Zuſammenkunft mit
ihm beſtimmeten/ und ſeine Abſicht zum
voraus wußten/ daß man dieſes fuͤr einen
gemeinen Hoͤflichkeits-Beſuch halten kan,
und daß es weiter nichts zu bedeuten ha-
ben ſolle? Jhr Vater/ ihre Mutter/ ihre
Onckles/ und jedermann ſiehet dieſe Zu-
ſammenkunft als den Anfang ihres Ge-
horſams und Nachgebens an: ich bitte ſie
demnach/ treten ſie nun nicht zuruͤck/ ſon-
dern thun ſie das auf eine angenehme und
ihren Eltern wohlgefaͤllige Weiſe, was ſie
doch thun muͤſſen.


„O der eckelhafte Abſcheu vom Menſchen!
„Vergeben ſie mir den Ausdruck. So glaubt
„man doch, daß ich einen ſolchen Menſchen in
„der Abſicht ſpreche? und er wird durch derglei-
„chen Hoffnung muthiger gemacht? ‒ ‒ Allein
„es iſt ohnmoͤglich, daß er die geringſte Hoffnung
„hat, wenn ſie auch andere wircklich haben ſoll-
„ten. Er kan keine Hoffnung haben; das iſt
„daraus klar, weil er ſich vor unſerer Zuſam-
„menkunft fuͤrchtet. Wenn ſeine Hoffnung ſo
„dreiſte waͤre, ſo brauchte er ſich nicht zu fuͤrch-
„ten.„


Jn der That/ er hat Hoffnung: wohl-
gegruͤndete Hoffnung! Seine Furcht ent-
ſtehet aus Ehrerbietigkeit/ das habe ich
ihnen ſchon geſagt.


Aus Ehrerbietigkeit? ‒ ‒ nein! aus
Un-
[299]der Clariſſa.
Unwuͤrdigkeit. Dieſe faͤllt ſo in die Augen,
„daß er ſie ſelbſt einſehen muß, wie ſie alle an-
„dere gewahr werden. Darum will er mich
„auch kauffen. Darum kommen die treflichen
„Verſchreibungen, durch welche er den Mangel
„eigener Vorzuͤge erſetzen will.


Aus Unwuͤrdigkeit! ſagen ſie? Nicht
ſo hefftig mein Kind[?] Laͤßt das nicht,
als wenn ſie ſich einen allzugroſen Werth
zuſchreiben? Wir haben insgeſamt ſehr
hohe Begriffe von ihnen; allein ſie wuͤr-
den wohl thun/ nicht ſelbſt von ſich all-
zuviel zu halten; wenn ſie auch noch vor-
treflichere Eigenſchafften an ſich haͤtten,
als die Jhrrgen an ihnen erkennen.


„Es thut mir leid, daß es mir zum Hoch-
„muth ausgelegt wird, wenn ich glaube einen
„beſſern Mann zu verdienen, als Herr Sol-
„mes
in Abſicht auf Leib und Gemuͤth iſt. Was
„ſein Vermoͤgen anbetrifft, ſo dancke ich Gott
„von Hertzen, daß ich alle daher genommene
„Gruͤnde von Hertzen verachten kan.„


Sie ſagte: unſer Reden von der Sache
habe nicht viel zu bedeuten. Jch wuͤßte
ohnehin/ was ein jeder von mir erwar-
tete.


„Das weiß ich gewiß nicht. Es war mir
„ohnmoͤglich, andern eine ſo ungegruͤndete und
„wunderliche Erwartung anzudichten; da ich
„weiter nichts gethan habe, als daß ich in einer
„Sache nachgab, um dadurch meine Bereitwil-
lig-
[300]Die Geſchichte
„ligkeit zum Nachgeben in allen moͤglichen Din-
„gen zu zeigen.„


Jch haͤtte/ antwortete ſie, leicht dencken
koͤnnen/ daß dieſes jedermann fuͤr einen
Anfang zu mehrerem Gehorſam und Ge-
faͤlligkeiten halten wuͤrde. Jch haͤtte den
Schluß aus dem freundlichen Betragen
meines Bruders und meiner Schweſter
gegen mich machen muͤſſen: aus dem
Beſuch meiner Schweſter/ den ſie mir
auf meiner Stube gegeben haͤtte/ ob ich
ihr gleich kaltſinniger begegnet waͤre, als
ſie gehoffet haͤtte: aus dem guͤtigen Zu-
ſpruch meines Onckles Harlowe/ an eben
dem Nachmittage/ den ich zwar auch
nicht mit ſolchem Danck erwidert haͤtte/
als ich ſonſt ſeine Guͤtigkeit gegen mich
zu erwiedern pflegte. Allein er haͤtte die
guͤtige Auslegung daruͤber gemacht/ daß
es nur aus Verdruß uͤber meine bisheri-
ge Gefangenſchafft herruͤhrete/ und weil
ich etwan von meiner Widerſpaͤnſtigkeit
nur Stuffenweiſe herab ſteigen wollte/
um mich wegen meiner vorigen Verge-
hungen bey Ehren zu erhalten.


Sie ſehen nun alle die niedrigen Raͤncke, de-
ren man ſich am letzten Sonntage gegen mich
bedient hat: und die Urſache, warum dem D.
Lewin erlaubt werden mußte, mich zu beſuchen,
allein ohne von der Sache reden zu duͤrffen, die
ich Anfangs fuͤr die Abſicht ſeines Beſuchs hielt.
Denn
[301]der Clariſſa.
Denn es wollte ſich nicht ſchicken, daß man mich
zu etwas zu uͤberreden ſuchte, darein ich ſchon
gewilliget haben ſollte. Sie ſehen auch, wie
ſonderbahr die Erzaͤhlung meines Bruders und
meiner Schweſter von ihren vorgegebenen
freundlichen Betragen gegen mich geweſen
ſeyn muͤſſe. Selbſt ihre zum Schein ange-
nommene Freundlichkeit hatte Abſichten zum
Grunde: und doch war ihr Widerwille gegen
mich ſo ſtarck, daß ſie meiner durch ihr recht ver-
liebtes Anfaſſen und umarmen ſpotten mußten,
und daß meine Schweſter ſich auch damahls
nicht enthalten konnte hoͤhniſch gegen mich zu
thun, als ſie den Thomas a Kempis von mir
borgen wollte.


Jch hub Haͤnde und Augen in die Hoͤhe, und
ſagte: „ich wuͤßte gar nicht, welchen Nahmen
„ich fuͤr dieſe Auffuͤhrung ausfindig machen
„ſollte? Wie wenig iſt es doch vermuthlich, daß
„der Endzweck durch ſo niedertraͤchtige Mittel
„erreicht werden wird? Jch weiß, von wem alle
„dieſe Kuͤnſte herkommen! Wer meinen Onckle
Harlowe bewegen konnte, die Perſon zu ſpie-
„len, die ihm aufgetragin ward, und meine uͤbri-
„gen Freunde dahin bringen kan, daß ſie muͤßi-
„ge Zuſchauer abgeben, und ſich alles gefallen
„laſſen; der muß im Stande ſeyn, alles was
„er will gegen mich zu unternehmen, und meine
„Verwanten mit hinein zu ziehen.„


Meine Baſe ſagte mir abermahls: Schwa-
tzen und Schelten wuͤrde nun nichts aus-

rich-
[302]Die Geſchichte
richten/ nachdem ich einmahl ſo viel Hof-
nung gemacht haͤtte. Jch wuͤrde doch
nicht alle meine Anverwante uͤberzeugen
wollen/ daß ſie zu voreilig geweſen waͤren/
eine guͤtige Auslegung uͤber mein Verſpre-
chen zu machen/ und es zu geſchwind aus
einem Verlangen ihnen gefaͤllig zu ſeyn
hergeleitet haͤtten. Sie koͤnte mir verſi-
chern/ daß es ſchlimmer fuͤr mich ſeyn wuͤr-
de/ wenn ich jetzt zuruͤck gehen wolte/ als
wenn ich nie ſo weit gegangen waͤre. ‒ ‒


So weit gegangen! Wie koͤnnen ſie von
ſo weit gegangen reden? Was? Das iſt ei-
„ne Schlinge! eine armſeelige niedertraͤchtige
„Schlinge! Nehmen ſie mir den Ausdruck nicht
„unguͤtig. Jch gebe ihnen nicht Schuld, daß
„ſie Antheil daran nehmen. Allein wiſſen ſie
„nicht, ob meine Mutter bey dieſer fuͤrchterlichen
„Unterredung mit zu gegen ſeyn will? Wird
„ſie mir nicht dieſe Guͤtigkeit erzeigen? Wenn
„es auch nur um der Leute willen geſchehe.„


Um der Leute willen? fiel ſie mir in
die Rede. Jhre Mutter und ihr Onckle
Harlowe wollen nicht dabey zugegen ſeyn/
wenn ſie auch die gantze Welt dadurch
verdienen koͤnnten.


„Allein wie koͤnnen ſie denn ſagen, daß ich
„ſo weit gegangen bin:
wenn man von der
„Unterredung ſo ſchlechte Hoffnung hat?„


Meine Baſe ward gantz ungehalten daruͤber,
daß ich ſie ſo abgefuͤhrt hatte. Fraͤulein Claͤr-
chen
[303]der Clariſſa.
chen/ ſagte ſie, mit ihnen iſt kein Auskom-
men. Wenn ſie ſo gehorſam als witzig
waͤren/ ſo wuͤrde es ein Gluͤck fuͤr ſie und
fuͤr andere ſeyn. Jch will von ihnen ge-
hen ‒ ‒ ‒


„Allein doch nicht in Unwillen? Das will ich
„nicht hoffen! Jch wollte nur ſo viel zu verſte-
„hen geben: unſere Unterredung mag ausfal-
„len, wie ſie will, ſo hat ſich niemand zu bekla-
„gen, daß er ſich in ſeiner Hoffnung betrogen
„ſehe.„


Ach Fraͤulein/ ſie ſind jung aber ſehr
unbeweglich. Herr Solmes wird ſich um
die geſetzte Zeit einfinden. Bedencken ſie,
daß die Ruhe unſerer Familie und ihre
eigene Gluͤckſeligkeit auf dieſen Nachmit-
tag ankommt.


Mit dieſen Worten gieng ſie geſchwind hin-
unter. Jch ſchlieſſe hier meinen Brief. Jch
kan nicht einmahl rathen, vielweniger mit Ge-
wißheit zum voraus beſtimmen, wenn oder auf
was fuͤr Art ich meinen Briefwechſel werde fort-
ſetzen koͤnnen. Jch bin ſehr unruhig! Haben
Sie keine gute Nachricht, die Sie mir von Jhrer
Frau Mutter Antwort geben koͤnnen? Aus
Furcht vor etwas noch ſchlimmern will ich die-
ſen Brief gleich hinlegen.


A dieu, meine beſte, meine
eintzige Freundin.


Der
[304]Die Geſchichte

Der ein und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Wohlan! ich lebe noch, und ich bin noch hier.
Allein ich weiß nicht, wie lange beydes
waͤhren wird. Jch habe ſehr viel zu ſchreiben,
und vielleicht habe ich nur wenige Zeit dazu
uͤbrig. Jch kan aber doch den Umſtand nicht
vorbey laſſen, daß mich die alberne Eliſabeth
durch ihr ungeſtuͤmes Weſen in ein neues Schre-
cken ſetzte, als ſie Herrn Solmes bey mir an-
meldete, ob ich mich gleich ſchon vorhin in ſolcher
Unordnung befand, daß es nicht noͤthig gewe-
ſen waͤre, mich von neuen zu erſchrecken.


Fraͤulein! Fraͤulein! Fraͤulein! ſchrye ſie,
ſo geſchwind ſie konnte, mit auseinander geſper-
reten Armen; alle Finger ſperrete ſie auch von
einander: wollen ſie ſo guͤtig ſeyn/ und in
ihren Saal gehen. Alle im Hauſe ſind
ſchon drinnen. Es iſt eine recht groſſe
Verſammlung. Herr Solmes iſt auch da.
Er ſieht ſo artig aus als ein Graf. Er hat
eine charmante gepuderte Peruque auf;
ſchoͤne Spitzen-Manchetten; einen beſetz-
ten Rock; und eine Weſte die gantz von
ſilbernen Spitzen ſtarret. Er ſieht recht
artig aus, das koͤnnen ſie mir zuglauben.

Sie
[305]der Clariſſa.
Sie haben noch nie eine ſo groſſe Veraͤn-
derung geſehen. Ach Fraͤulein/
(hier ſchuͤt-
telt ſie den Kopf) es iſt Jammer Schade/
daß ſie ſo viel wider ihn geredet haben.
Allein ſie koͤnnen doch noch gut davon
kommen. Jch hoffe/ daß es noch nicht
zu ſpaͤte ſeyn wird.


Was fuͤr Unverſchaͤmtheit? (ſagte ich) Jch
hoffe nicht, daß dlr befohlen iſt, es mir mit ſol-
chem Ungeſtuͤm anzubringen. ‒ ‒ Jch nahm
hierauf den Fechtel und wehete mich.


GOtt behuͤte! antwortete ſie. Wie bald kan
man ſolche junge Fraͤuleins erſchrecken? Jch
wollte ihnen nichts zu leide thun; ich wollte
ſie nicht erſchrecken.


Jhr ſagt: alle im Hauſe ſind drunten? Wen
verſteht ihr, unter allen im Hauſe?


Ey Fraͤulein! (antwortete ſie mit aufgeſper-
reten Haͤnden, und mit einem hoͤniſchen alber-
nen Geſicht. So oft ſie jemand nannte, zaͤhlte
ſie einen Finger weiter) ihr Vater iſt da, ihre
Mutter iſt da, ihr Onckle Harlowe iſt da, ihr
Onckle Anton iſt da, ihre Baſe Hervey iſt da,
meine junge Fraͤulein iſt da, mein junger Herr
iſt da, Herr Solmes iſt da, und ſieht wie ein
Hof-Cavallier aus, er ſtand auf als er ſie nen-
nete: Jungfer Eliſabeth ſagte er (hiebey mach-
te die Affe einen Buͤckling und Kratzfuß; ſo al-
bern, als wenn es Solmes leibhaftig waͤre) ge-
he ſie doch hinauf und mache ſie der Fraͤulein
Zweyter Theil. Umeine
[306]Die Geſchichte
meine Empfehlung, und ſage ſie ihr, daß ich ihr
aufzuwarten wuͤnſchte.


Jſt das nicht ein gottloſes Menſch! Jch zit-
terte ſo, daß ich kaum ſtehen konnte. Jch war
aber doch noch ſo hoͤhniſch, daß ich ſagte: ich
glaubte, ihre Fraͤulein haͤtte ihr befohlen, ſol-
che wunderliche Geberden anzunehmen, damit
ſie mich mehr verunruhigen und auſſer Stand
ſetzen moͤchte, durch eine bedaͤchtliche Auffuͤhrung
meinen Onckle zum Mitleiden zu bewegen.


Wie ſtellen ſie ſich an, Fraͤulein? ſagte das
unverſchaͤmte Maͤdchen. Kommen ſie doch (ſie
nahm meinen Fechtel, den ich eben hingelegt hat-
te, und brachte ihn mir) ſoll ich ‒ ‒


Nichts von ſolcher unverſchaͤmten dreiſten Auf-
fuͤhrung! Allein ſagt mir, ſind alle meine Ver-
wanten drunten? Soll ich vor ihnen allen er-
ſcheinen?


Jch weiß nicht, antwortete ſie, ob ſie bleiben
werden, wenn ſie kommen. Es kam mir vor,
als wollten ſie aufſtehen, da mir Herr Solmes
das Compliment auftrug. Aber was ſoll ich
dem Juncker fuͤr Antwort bringen?


Sagt, ich koͤnnte nicht kommen. ‒ ‒ Doch,
wenn es einmahl uͤberſtanden iſt, ſo iſt es uͤber-
ſtanden! Sagt, ich wuͤrde meine Aufwartung
machen: ich wollte gleich herunter kommen.
Sagt nur, was ihr wollt: ich frage nichts dar-
nach. Gebt mir aber meinen Fechtel, und hohlt
mir ein Glas Waſſer.


Sie ging weg, und ich wehete immer mit dem
Fech-
[307]der Clariſſa.
Fechtel, denn ich war feuerroth. Jch ſuchte
mich zu faſſen und zu uͤberwinden, ſo gut ich konn-
te, und trunck das Glas aus, das ſie mir brach-
te. Weil ich keine Hoffnung hatte, mich noch
beſſer zu faſſen, ſo ſchickte ich ſie hinunter, und
folgte ihr gleich nach: ich zitterte aber ſo, daß
ich glaube, ich haͤtte nicht hinunter gehen koͤnnen,
wenn ich nicht ſo geeilet haͤtte. Was fuͤr ein
elendes ſchwaches Werckzeug iſt unſer Leib, wenn
das Gemuͤrh beunruhiget iſt?


Mein Saal (wie ich ihn zu nennen pflegte)
hat doch zwey Thuͤren, als ich zu der einen hin-
ein trat, ſo flogen meine Verwanten zu der an-
dern hinaus. Jch konnte noch den Rock mei-
ner Schweſter ſehen, welche im Weggehen die
letzte war. Mein Onckle Anton ging auch mit
ihnen hinaus, allein er blieb nicht lange drauſ-
ſen, wie ich ihnen hernach erzaͤhlen werde. Sie
blieben zuſammen in dem naͤchſten Saal, der
nur durch eine Bretter-Wand von meinem ab-
geſondert iſt. Es war ſonſt nur ein Saal:
als wir Maͤdchens aber groß wurden, ſo ward
die Abtheilung gemacht, damit eine jede ihren
Beſuch beſonders annehmen koͤnnte.


So bald ich herein trat, nahete ſich mir Herr
Solmes/ und beugete ſich beynahe bis auf die
Erde. Man ſahe die Verwirrung in allen ſei-
nen Geſichts-Zuͤgen. Nachdem er ſechs bis ſie-
ben mahl nichts als, Fraͤulein/ Fraͤulein her-
aus gewuͤrget hatte, ſo bedaurte er/ es that
ihm ſehr leid/ er war ſehr ungluͤcklich;

U 2und
[308]Die Geſchichte
und niemand wußte was er bedaurte. Er hielt
immer inne, und konnte nicht einen verſtaͤndli-
chen Satz zur Welt bringen.


Hiedurch kam ich wieder zu mir ſelbſt: denn
wenn man ſiehet, daß der Feind furchtſam iſt,
ſo pflegt man ſelbſt mehr Muth zu bekommen.
Vielleicht aber iſt die neue Heldin noch furchtſa-
mer als ihr furchtſamer Feind.


Jch wandte mich von ihm, ſetzte mich auf ei-
nen Stuhl an dem Camin, und fing mich an
mit dem Fechtel zu wehen. Jch habe nachher
bedacht, daß ich ſehr wunderlich ausgeſehen ha-
ben muß. Jch wuͤrde mir ſelbſt veraͤchtlich vor-
gekommen ſeyn, wenn ich nur einen Gedancken
haͤtte haben koͤnnen, der ihm guͤnſtig geweſen waͤ-
re. Allein was kan man weiter ſagen, wenn
man eine ſo hertzliche Abneigung von einer Per-
ſon hat?


Er huſtete etliche mahl, wie ich vorhin gethan
hatte; und endlich kam ein begreiflicher Satz
heraus: ich muͤßte ſeine Verwirrung noth-
wendig mercken.
Auf dieſen Satz folgeten
zwey oder drey andere Saͤtze. Jch glaube, mei-
ne Baſe hatte ihn auswendig gelernt, was er
ſagen ſolte: denn ich hoͤrte von nichts als von
Ehrerbietung gegen ein ſo allervorzuͤg-
lichſtes Frauenzimmer/
(dergleichen Worte
brachte er vor) und er hoffete/ er hoffete/
dreymahl hoffete er, (ohne mir zu ſagen was er
hoffete) ‒ ‒ daß ich allzu edelmuͤthig ſeyn
wuͤrde (Edelmuͤthigkeit waͤre meine recht

eige-
[309]der Clariſſa.
eigene Tugend) ihn deshalb zu verachten/
weil er ſolche/ ‒ ‒ ſolche/ ſolche wahre Zei-
chen der Liebe blicken lieſſe.


Jch antwortete: ich nehme freylich an ihnen
wahr, mein Herr, daß ſie etwas verwirret ſind:
und ich ſchoͤpfe deswegen einige Hoffnung, daß
dieſe Unterredung, dazu ich faſt gezwungen bin,
gluͤcklichere Folgen haben moͤchte, als ich An-
fangs geglaubet haͤtte.


Er huſtets endlich etwas mehr Hertz herauf.


Sie koͤnnen ſich, ſagte er, niemand vorſtellen,
der gegen ihre Treflichkeiten ſo blind iſt, und ſo
wenig dadurch geruͤhrt wird, daß er die guͤtige
Geſinnung und das Ja-Wort ihrer gantzen Fa-
milie verſchertzen ſolte, ſo lange er noch die An-
wartſchaft hat, durch ſein Anhalten und Jnbrunſt
der Liebe ihre Gegenliebe zu meritiren.


Jch mercke es genug, mein Herr, daß ſie ihre
Hoffnung auf die Geſinnung und auf das Ja-
Wort der Meinigen gruͤnden. Es waͤre ſonſt
ohnmoͤglich, daß ein Herr der ſich ſelbſt nicht haſ-
ſet, noch bey ſeiner Bitte beharren ſolte, nachdem
ihm ſolche Erklaͤrungen geſchehen ſind, als ich ge-
than habe, und fuͤr eine Pflicht gegen ſie und
gegen mich gehalten habe, zu thun.


Er belehrte mich, daß er manche Frauenzim-
mer geſehen und noch von mehreren gehoͤrt haͤtte,
die eben ſo abgeneigt geweſen waͤren, und ſich
doch endlich haͤtten herumlencken laſſen; einige
durch Mitleiden, andere aus Gefaͤlligkeit gegen
die Jhrigen: und es waͤre dieſer Perſonen ihr
U 3Gluͤck
[310]Die Geſchichte
Gluͤck geweſen. Er hoffete ein gleiches Gluͤck
in ſeinen Umſtaͤnden.


Jch kan (erwiederte ich) in einer ſo wichtigen
Sache aus Hoͤflichkeit nicht anders reden, als ich
es meine: indeſſen thut es mir leid, daß ich ſo
deutlich reden muß. Sie muͤſſen wiſſen, daß
ich unuͤberwindliche Einwendungen gegen ſie ha-
be. Jch habe dieſes ſchon ſo ernſtlich bezeuget,
daß ich nicht weiß, ob jemahls eine abſchlaͤgige
Antwort deutlicher geweſen iſt: weil ich glaub-
te, daß niemahls eine junge Perſon in meinen
Umſtaͤnden ſo viel Grobheit hat erdulden muͤſ-
ſen, als ich um ihrentwillen erduldet habe.


Man hoffet aber, Fraͤulein, daß ſie ihr Ja-
Wort mit der Zeit geben werden. Das hoffet
man: und ich bin ein ungluͤcklicher Menſch, wenn
ich mich in dieſer Hoffnung betrogen ſehe.


Vergoͤnnen ſie mir zu ſagen, mein Herr, daß
es beſſer iſt, wenn ſie allein ungluͤcklich ſind, als
wenn ſie noch jemand neben ſich ungluͤcklich ma-
chen.


Sie moͤgen vielleicht etwas widriges von mir
gehoͤrt haben, Fraͤulein. Ein jeder Menſch hat
ſeine Feinde. Laſſen ſie mich nur erfahren, was
ſie gehoͤrt haben, ſo will ich entweder meine Feh-
ler bekennen und mich beſſern, oder ich will ih-
nen beweiſen, daß man mich auf eine niedertraͤch-
tige Weiſe mit Dreck beſpruͤtzt hat. Jch
hoͤre, daß ſie etwas halb gehoͤrt haben ſollen, das
ich geſagt haben ſoll: ich bin vielleicht unbe-
hutſam im Reden geweſen, aber ich habe nichts
geſagt,
[311]der Clariſſa.
geſagt, als daraus man meine Werthachtung ge-
gen ſie wahrnehmen kan, daß ich nemlich nicht
nachlaſſen wollte, ſo lange ich mir noch die ge-
ringſte Hoffnung machen koͤnnte.


Jch habe in der That vieles zu ihrem Nach-
theil gehoͤrt, Herr Solmes; und die Worte
gefielen mir auch nicht, die ich im vorbeygehen
aus ihrem eigenen Munde hoͤrte. Allein da
ſie mich nichts angehen, und mich nie etwas an-
gehen werden, ſo habe ich mich um das eine ſo
wenig als um das andere bekuͤmmert.


Jch bin betruͤbt, dergleichen von ihnen zu hoͤ-
ren. Sie ſollten mir nichts von Fehlern ſagen,
gnaͤdige Fraͤulein, wenn ſie mich nicht lehren
wollen, ſie zu verbeſſern.


Wohlan, mein Herr, verbeſſern ſie dieſen ei-
nen Fehler: verlangen ſie nicht, daß ein junges
Frauenzimmer um ſolcher Urſachen willen, die
ihr veraͤchtlich vorkommen, in der allerwichtig-
ſten Sache ihrer Freyheit beraubet, und gezwun-
gen wird eine Perſon zu lieben, die ſie nimmer
leiden kan: ein Frauenzimmer, das wenigſtens
das Recht hat, ſich hoͤher zu ſchaͤtzen als alle die
vortheilhafften Bedingungen, dafuͤr man ſie ver-
kauffen will; und die ein Hertz hat, das nicht
mehr verlanget als was noͤthig iſt in dieſem Le-
ben vergnuͤgt und gluͤcklich zu ſeyn.


Jch kan nicht begreiffen, Fraͤulein, wie ſie
gluͤcklich ſeyn koͤnnten, wenn ich von meiner Bit-
te abſtehen wollte. Denn ‒ ‒


Das gehet ſie nichts an, (unterbrach ich ihn)
U 4geben
[312]Die Geſchichte
geben ſie nur ihr Geſuch auf. Wenn die Mei-
nigen einen andern Freyer zu meiner Straffe
auftreiben, ſo ſind ſie doch ohne Schuld. Sie
werden mich dadurch zur Schuldnerin machen,
und mein gantzes Hertz wird ihnen dafuͤr dan-
cken.


Er hielt ein wenig ein, und wuſte nicht, was
er antworten ſollte. Jch wollte ihm eben noch
deutlichere und ſtaͤrckere Proben meiner Offen-
hertzigkeit geben, die ſeine Perſon betroffen ha-
ben wuͤrden, als mein Onckle Anton herein
trat.


So? ſagte er zu mir: ſie ſitzen wie eine Koͤ-
nigin? die Audientz giebet! eine hochmuͤthige
Audientz! Warum ſtehen ſie dort ſo demuͤthig,
Herr Solmes? Was ſoll dieſe Furchtſamkeit,
mein guter Mann? Jch hoffe, ſie ſollen ſich ein-
ander beſſer kennen, ehe wir aus einander ge-
hen.


Jch war aufgeſtanden, ſo bald er herein trat,
und nahete mich ihm mit gebeugten Knien, und
mit den Worten: ich bitte um Erlaubniß, mei-
nem Onckle, den ich ſo lange nicht geſehen habe,
meine Ehrerbietung zu bezeugen, und mir von
ihm Liebe und Mitleiden auszubitten.


Sie werden, ſagte er, bey jedermann Liebe
und Mitleiden finden, meine Baſe, wenn ſie Lie-
be und Mitleiden verdienen lernen.


Wenn ich es jemahls verdient habe, antwor-
tete ich, ſo verdiene ich es jetzt. Jch habe viel
hartes ertragen muͤſſen. Jch habe Vorſchlaͤge
ge-
[313]der Clariſſa.
gethan, die man wohl haͤtte annehmen koͤnnen,
und die ſich niemand wuͤrde unterſtanden haben,
von mir zu fodern. Was habe ich gethan, da-
durch ich verdiene, auf eine ſo ſchimpfliche Art
aus aller Geſellſchaft verwieſen, und auf meine
Stube eingeſperret zu werden? und warum ſucht
man mir meine Freyheit in einer Sache zu rau-
ben, auf der meine jetzige und kuͤnftige Gluͤck-
ſeeligkeit beruhet?


Fraͤulein Claͤrchen/ ſie haben bisher in allen
Dingen ihren eigenen Willen gehabt: darum
iſt ihnen jetzt der Wille ihrer Eltern ſo beſchwer-
lich.


Meinen Willen? Erlauben ſie mir, mein
lieber Onckle, ſie zu fragen, was bisher mein
Wille geweſen iſt, als blos meines Vaters, und
ihr, und meines Onckles Harlowes Wille?
Habe ich nicht ſtets meine Ehre darin geſucht,
gehorſam und gefaͤllig zu ſeyn? Jch habe nie
um etwas gebeten, ohne vorher wohl zu uͤberle-
gen, ob es mir auch koͤnnte zugeſtanden werden.
Habe ich nicht noch jetzt darin eine Probe mei-
nes Gehorſams gegeben, da ich mich erboten ha-
be, unverheyrathet zu bleiben? Habe ich mich
nicht erboten, mich des groß-vaͤterlichen Ver-
maͤchtniſſes zu begeben, und blos der Gnade und
Guͤte meines Vaters zu leben, der mir alles ent-
ziehen koͤnnte, wenn ich ihn in irgend einer Sa-
che beleidigte? Warum ſoll ich, mein lieber
Onckle, in dem Stuͤcke ungluͤcklich gemacht wer-
den, auf das alles mein wahres Gluͤck ankommt?


U 5Nie-
[314]Die Geſchichte

Niemand verlangt ihres Gros-Vaters Gut
von ihnen, Fraͤulein. Niemand begehrt es, daß
ſie unverheyrathet bleiben ſollen. Sie wiſſen,
was fuͤr Urſachen wir haben: und ihre Urſachen
koͤnnen wir errathen: und, ſo lieb wir ſie auch
haben, ſo muß ich ihnen doch bezeugen, daß
wir ſie lieber zum Grabe begleiten wollten, als
zugeben, daß ihre Abſichten erreicht wuͤrden.


Jch will mich aber verbindlich machen, nie-
mand ohne meines Vaters, und ihren, und aller
uͤbrigen willen zu heyrathen. Habe ich ihnen
jemahls Anlaß gegeben, in meine Zuſage ein
Mistrauen zu ſetzen? Jch will den allertheure-
ſten Eyd abſchweren, der ausgefunden werden
kan ‒ ‒


Das iſt (unterbrach er mit ſtarcker Stimme)
der Eyd der Ehe, und den ſollen ſie dieſem Herrn
leiſten. Es ſoll, es ſoll ſo ſeyn, Claͤrchen.
Je mehr ſie ſich dagegen ſetzen, deſto ſchlimmer
wird es fuͤr ſie ſeyn.


Dieſe Ausdruͤcke, die in Gegenwart eines
Mannes vorfielen, welcher dadurch mehr Hertz
zu faſſen ſchien, brachten mich ſehr auf. Jch
ſagte: nun ſo ſollen ſie mich denn auch eher zum
Grabe geleiten, als daß ich dieſes thun ſollte.
Jch will lieber den grauſamſten Tod uͤberneh-
men, lieber in das fuͤrchterliche Grab meiner
Vorfahren hineingehen, und mich darin vermau-
ren laſſen, als mit meinem Willen auf Lebens-
lang ungluͤcklich werden. Und ſie, Herr Sol-
mes/
mercken ſie was ich ſage: ich will lieber
die-
[315]der Clariſſa.
dieſe, oder irgend eine andere Art des Todes
uͤbernehmen, die doch bald uͤberſtanden ſeyn wird,
als die ihrige ſeyn, und durch ſie ewig ungluͤcklich
werden.


Mein Onckle kam hieruͤber in eine ausneh-
mende Wuth. Er faſſete Herrn Solmes/ der
ſehr beſtuͤrtzt zu ſeyn ſchien, bey der Hand, und
fuͤhrete ihn an das Fenſter. Verwundern ſie
ſich nicht Herr Solmes/ ſagte er zu ihm, ſeyn
ſie auſer Sorgen. Wir wiſſen (mit einem gar-
ſtigen Fluch) was Weiber-Geſchwaͤtz zu bedeu-
ten hat: der Wind iſt nicht ſo ſtuͤrmiſch und
nicht ſo veraͤnderlich. (Er fluchte noch einmahl
dazu.) Wenn ſie es der Muͤhe werth achten,
noch einige Geduld zu haben und dem undanck-
baren Maͤdchen Zeit zu laſſen, ſo werde ich Buͤr-
ge dafuͤr, ſie wird bald umkehren. Jch werde
Buͤrge fuͤr ſie. (Er bekraͤfftigte dieſes zum drit-
ten mahl mit einem Fluche.)


Jch hatte mich unterdeſſen voller Unruhe und
Unordnung gegen uͤber in das Fenſter geſtellet.
Er kam auf mich zu, als wenn er mich ſchla-
gen wollte: ſein Geſicht war in voller Arbeit,
ſeine Haͤnde waren in einander gerungen, und
die Zaͤhne biß er zuſammen. Ja! ja!! ja! ſie
muͤſſen, ſie muͤſſen, ſie muͤſſen (ziſchete der arme
Mann heraus) Herrn Solmes nehmen. Es
ſoll nicht uͤber eine Woche lang mehr waͤhren.
(Er ſetzte noch die vierte Betheurung hinzu.
Der arme Mann! wie ſchwor und fluchte er
doch! Jſt es nicht ſonderlich, daß Leute, die in
ihrem
[316]Die Geſchichte
ihrem Leben ſo viel bey dem Sturm ausgeſtan-
den haben, ſelbſt ſo ſtuͤrmiſch ſind!)


Jch ſagte: es thut mir leid, daß ich ſie ſo
zornig ſehe. Jch mercke allzuwohl, daß alles
dieſes meines Bruders Anſtifften iſt, der doch
ſelbſt die Probe des Gehorſams nicht geben wuͤr-
de, die jetzt von mir erwartet wird. Es wird
fuͤr mich am beſten ſeyn, daß ich weggehe: denn
ich fuͤrchte, ich werde ſie nur noch mehr erbittern.
Denn ſo gern ich ihnen auch Gehorſam leiſten
wollte, wenn ich koͤnnte, ſo iſt doch hierin meine
Entſchlieſſung allzuveſt gefaßt, und ich kan nicht
einmahl wuͤnſchen ſie zu aͤndern.


Wie konnte ich mich gelinder erklaͤren, da
Solmes bey allem gegenwaͤrtig war, was er
ſagte?


Jch wollte zu der Thuͤr hinaus gehen, zu der
ich herein gekommen war. Die beyden Leute
ſahen einander an, als wuͤſten ſie nicht, was ſie
thun ſollten, ob ſie mich ſollten aufhalten, oder
gehen laſſen. Aber wen traf ich vor der Thuͤr
an, als meinen Bruder, der alles gehoͤrt hatte,
was vorgegangen war?


Urtheilen ſie ſelbſt von meiner Verwunderung,
als ich ihn ſo unvermuthet vor mir ſtehen ſahe.
Er faſſete mich, ſo ſtarck er konnte, an die Hand,
und ſagte: kehren ſie doch wieder um: artige
Fraͤulein. Kehren ſie um, wenn es gefaͤllig iſt!
Eingemaurt ſollt ihr nicht werden. Euer Bru-
der, der die gantze Familie aufhetzt, wird das
nicht zugeben. O du gefallener Engel! (ſagte
er,
[317]der Clariſſa.
er, und richtete mein niedergeſchlagenes Geſichte
auf.) Hier ſo viel Annehmlichkeit, und da (er
faſſete auf meinen Nacken) ſo viel Hartnaͤckig-
keit! du haſt recht das Hertz der Weiber, ob du
gleich noch ſo jung biſt. ‒ ‒ Allein wiſſet es,
euren Boͤſewicht ſolt ihr nicht haben: (dis wiſper-
te er mir laut in die Ohren, als wenn er in
Gegenwart des Solmes halb anſtaͤndig und
halb unanſtaͤndig zu handeln ſuchte.) Jhr ſolt
von ihm errettet werden, und dieſer rechtſchaf-
fene Herr (mit lauter Stimme) will eur Schutz-
Engel ſeyn, und euch vor eurem Verderben be-
wahren. Jhr werdet ihm noch dancken, oder
doch Urſache haben dafuͤr zu dancken, daß er ſich
ſo herabgelaſſen hat. (Der artige Ausdruck
meines unmenſchlichen Bruders!)


Er hatte mich indeſſen bis zu Herrn Sol-
mes
gefuͤhret. Er ergrif dieſes ſeine Hand,
und behielt die meinige: hier, mein Herr, neh-
men ſie die Hand der rebelliſchen Tochter an.
Jch gebe ſie ihnen heute, und binnen einer Wo-
che ſoll ſie ſelbſt dieſe Schenckung bekraͤfftigen;
oder ſie ſoll weder Vater, noch Mutter noch
Onckles haben.


Jch entriß ihm die Hand.


Wie nun Fraͤulein.


Wie nun, Juncker? Was habt ihr fuͤr Recht,
meine Hand zu verſchencken? Wenn ihr ſonſt
allen befehlet, ſo ſollt ihr mir doch nicht befehlen;
und zwar am wenigſten in einer Sache, die mich
un-
[318]Die Geſchichte
unmittelbar betrifft, damit ihr nichts zu thun
habt, und nie etwas zu thun haben ſollt.


Jch wollte mich von ihm losgeriſſen haben:
allein er hielt meine Hand allzu veſte.


Laßt mich gehen ‒ ‒ Warum begegnet
ihr mir ſo? Jch glaube, ihr thut es mit dem
Vorſatz, mir die Hand wund zu druͤcken: das
ſind Hoͤflichkeiten, deren das Frauenzimmer ſonſt
von Mannsperſonen nicht gewohnt iſt. Jch
frage euch nochmahls, was ich gethan habe, des-
wegen ihr mir ſo begegnen duͤrfft!


Er warf hierauf meine Hand mit einem Stoß
von ſich, der mir bis in die Schulter wehe that.
Jch weinete, und hielt meine andere Hand auf
die Stelle, da ich den meiſten Schmertz empfand.
Herr Solmes ſo wohl als mein Onckle ver-
wieß ihm ſeine Auffuͤhrung.


Er ſagte, er koͤnnte bey einer ſolchen Unart
ohnmoͤglich Geduld behalten; und was ich vor-
hin geſagt haͤtte, ehe er noch in die Stube ge-
treten ſey, verdroͤſſe ihn allzuſehr. Er haͤtte mir
nur meine Hand wiedergegeben, die nicht ver-
dienete, von ihm angefaſſet zu werden. Allein
es ſey eine meiner Kuͤnſte, daß ich mich ſtellen
koͤnnte, als thaͤte mir etwas wehe.


Herr Solmes ſagte: er wollte lieber alle ſei-
ne Anfoderung aufgeben, als daß mir ſo uͤbel
ſollte begegnet werden. Er wollte darauf bey
ihnen beyden fuͤr mich ſprechen: und neigete ſich
gegen mich, als wollte er ſich meine Erlaubniß
dazu ausbitten.


Jch
[319]der Clariſſa.

Jch ſagte: ich dancke ihnen zwar fuͤr ihren
guten Willen, mich von den Grobheiten meines
Bruders zu befreyen. Allein ich wuͤnſche doch
eben nicht, durch eine ſo kleine Wohlthat einem
Manne verpflichtet zu werden, deſſen unguͤtige
Beſtaͤndigkeit die Urſache oder wenigſtens der
Vorwand dieſer Grobheiten und alles des uͤbri-
gen unangenehmen und ſchimpflichen iſt, das ich
zu leiden habe.


Wie guͤtig ſind ſie, Herr Solmes (ſagte mein
Bruder) daß ſie fuͤr ein ſo unbeugſames Ge-
muͤth bitten wollen. Jch bitte ſie hinwiederum,
beſtaͤndig zu ſeyn. Thun ſie dieſes aus Werth-
Achtung gegen unſere Familie, und um meiner
Schweſter eigenes Beſtens willen, wenn ſie ſie
wahrhaftig lieb haben. Laſſen ſie uns das Maͤd-
chen von ihrem Verderben retten, wenn es an-
ders noch moͤglich iſt. Sehen ſie ſie einmahl an:
bedencken ſie alle ihre artigen Eigenſchafften.
Jedermann erkennet dieſe, und wir ſind vorhin
recht hochmuͤthig darauf geweſen. Sie iſt es
werth, daß ſie gerettet wird. Wenn noch zwey
oder drey Saͤtze voruͤber ſind, ſo wird ſie ſich
geben; ſie wird die ihrige werden, und ihnen
ihre Muͤhe belohnen. Sagen ſie nichts davon,
daß ſie ihre Anſpruͤche wegen ihres albernen
Winſelns fahren laſſen wollen. Sie hat ein-
mahl angefangen eine Perſon zu ſpielen, und ſie
weiß noch nicht mit der Artigkeit zuruͤck zu tre-
ten, darin ſich das Frauensvolck zu gefallen pflegt.
Wenn ſie nur einmahl ihren Hochmuth und ih-
re
[320]Die Geſchichte
re Hartnaͤckigkeit uͤberwunden haben, ſo will ich
ihnen verſichern, daß ſie in vierzehn Tagen ſo
vergnuͤgt ſeyn ſollen, als bey einem verheyrathe-
ten Mann moͤglich iſt.


Jch habe Jhnen ſonſt ſchon geſagt, daß ſich
mein Bruder die Freyheit nimt, ſeinen Spott
uͤber unſer Geſchlecht und uͤber den Eheſtand
auszulaſſen. Er wuͤrde es nicht thun, wenn er
es nicht fuͤr witzig und artig hielte: ſo wie der
arme Herr Wyerley und andere uns nicht un-
bekannte Perſonen uͤber die heilige Schrifft zu
ſpotten pflegen, um nicht arm an Witz zu ſchei-
nen, und damit ſie andere uͤberfuͤhren moͤgen, daß
ſie allzu klug ſind tugendhafft und fromm zu
ſeyn.


Herr Solmes gab mit einer in ſich ſelbſt
vergnuͤgten Mine die nicht allzu demuͤthige Ant-
wort: er wollte alles ausſtehen, um mich zu ge-
winnen
und zu retten. Er hoffete gewiß reich-
lich belohnt zu werden, wenn er ſo gluͤcklich waͤ-
re, ſeine Abſicht zu erreichen.


Jch antwortete: Herr Solmes/ ich rathe ih-
nen ihr gantzes Geſuch fahren zu laſſen, wenn
ſie noch einiges Verlangen haben, gluͤcklich zu
ſeyn. Von meiner Gluͤckſeeligkeit iſt jetzt die
Frage nicht: ſie haben kein ſolches Gemuͤth,
daß dieſe einen Einfluß in ihre Entſchlieſſungen
haben koͤnnte. Jch kan und muß ihnen bezeu-
gen, daß es mir ohnmoͤglich geweſen iſt, ohne
den aͤuſſerſten Widerwillen an ſie zu gedencken, ehe
ich noch um ihrentwillen ſo viel habe leiden muͤſ-
ſen,
[321]der Clariſſa.
ſen, koͤnnen ſie denn wohl vermuthen, daß ich
eine ſolche Sclavin, eine ſo armſeelige Sclavin
bin, die durch dergleichen Mittel ihnen geneigt
gemacht werden koͤnnte?


Und ihr (zu meinem Bruder) wenn ihr denckt,
daß ſich alle ſanftmuͤthigen Leute leicht zwingen
laſſen, und daß niemand großmuͤthig ſeyn kan,
der nicht laͤrmt und pochet; ſo glaubt gewiß,
daß ihr euch bisher betrogen habt. Denn ihr
ſollt von nun an erfahren, daß man bey einem
erhabenen Gemuͤthe keine Zwangmittel gebrau-
chen duͤrfe, und daß ‒ ‒


Er hub Haͤnde und Augen in die Hoͤhe: kan
Wort weiter, (ſagte der herrſchſuͤchtige Tyrann)
kein Wort weiter! ich befehle es euch! hoͤren
ſie die Reden wohl? (zu meinem Onckle) das
iſt die Stimme ihrer Baſe, die ſonſt keine Feh-
ler haben ſollte! Das iſt die, von der ſie ſonſt
ſo viel hielten!


Herr Solmes ſahe aus, als wenn er nicht
wuͤßte, was er endlich zu der Sache dencken ſoll-
te. Wenn ich mit ihm allein geweſen waͤre, ſo
haͤtte ich ſeiner gewiß los werden koͤnnen.


Mein Onckle kam auf mich zu, und ſahe mich
von Haupt bis auf die Fuͤſſe an: iſt es moͤg-
lich, daß ſie das ſind, Claͤrchen? kommen alle
dieſe ausſchweiffenden Reden von ihnen?


Ja! (ſagte ich) es iſt moͤglich! Und ich ge-
traue mich zu ſagen, daß alle dieſe Hefftigkeit
die natuͤrliche Folge der Haͤrte, und der Grob-
heit iſt, die ich ſelbſt in ihrer Gegenwart habe
Zweyter Theil. Xer-
[322]Die Geſchichte
erdulden muͤſſen: und noch dazu von einem
Bruder habe erdulden muͤſſen, der eben ſo we-
nig Recht hat, mir zu befehlen, als ich ihm!


Man hat nicht eher angefangen, ihnen ſo zu
begegnen, Claͤrchen/ als bis man alles ande-
re verſucht hatte.


Verſucht? Jn welcher Abſicht verſucht?
Jch verlange ja nichts weiter, als die Freyheit,
Nein zu ſagen. Sie, mein Herr (zu Herrn
Solmes) moͤgen vielleicht jetzt neue Luſt bekom-
men, bey ihrem Antrage zu beharren, da ihr nie-
dertraͤchtiges Gemuͤth wahrnimt, was ich um ih-
rentwillen erduldet habe, und was ſich mein
Bruder gegen mich unterſtehet. Denn ſie ſe-
hen daraus, wie viel ich ertragen koͤnnte, wenn
mein ſchwartzes Schickſaal mich zu der Jhrigen
machte.


Um Gottes willen! was iſt das fuͤr ein
Gedancke!
ſchrie Solmes/ und kruͤmmete ſich
und nahm zwantzig gichtbruͤchige Leibes-Stellun-
gen an. Mein Bruder und mein Onckle creu-
tzigten und ſegneten ſich einander, und ſprachen
durch Augen und Geberden.


Jch fiel Herrn Solmes in die Rede: ein
ſehr richtiger Gedancke! derjenige, der vorgibt
Werthachtung fuͤr eine Perſon zu haben, und es
zugeben kan: daß ſie in ſeiner Gegenwart ſo ge-
mißhandelt wird, der wird im Stande ſeyn, ihr
eben ſo ſchlimm zu begegnen. Daß ſie aber
alle Mißhandlungen der Meinigen gegen mich
billigen, iſt daraus klar, daß ſie auf ihrem Ge-
ſuch
[323]der Clariſſa.
ſuch beharren, da ſie doch wiſſen, daß ich um ih-
rentwillen eingeſperret, und aus meiner Eltern
Gegenwart verwieſen bin, und daß mir alles
Hertzeleid angethan wird, um mich zu zwingen
das zu werden, was ich doch niemals werden
kan. Und dieſe Ohnmoͤglichkeit ruͤhrt nicht aus
Eigenſinn, ſondern aus einer unuͤberwindlichen
Abneigung her. Jch ſagt ihnen jetzt, was ich
andern ſchon oft geſagt habe.


Halten ſie mich entſchuldiget? (zu meinem
Onckle) Jch weiß, daß ich ihnen als meines Va-
ters Bruder Gehorſam ſchuldig bin. Jch bitte
ſie um Vergebung, daß ich nicht gehorchen kan.
Mein Bruder aber iſt nur mein Bruder; der
ſoll nicht uͤber mich herrſchen. Zieht nur (gegen
meinen Bruder) ſo viel Runtzeln als ihr wollt,
und macht noch ſo ein gefaͤhrlich Geſichte: ich
frage euch, ob ihr bereit ſeyn wuͤrdet, eben ſo
viel anfzuopfern, als ich habe aufopfern wollen,
um die Liebe der eurigen beyzubehalten? Wenn
ihr nicht Luſt dazu habt, ſo moͤchte ich wiſſen,
was ihr fuͤr Recht zu haben meynt, mir ſo zu
begegnen, und andere ſo gegen mich zu erbit-
tern?


Jch war bey dieſen Reden in groſe Unord-
nung gerathen, und jene ſchwiegen endlich ſtille.
Aus ihrem Geſichte mußte ich ſchlieſen, daß ſie
mit einander reden wollten: ſie gingen biswei-
len auf und nieder, und ſahen ſehr verwirret aus.
Jch ſetzte mich nieder und wehete mich mit dem
Fechtel. Weil ich von ohngefehr dem Spiegel
X 2ge-
[324]Die Geſchichte
gegen uͤber zu ſitzen kam, ſo konnte ich ſehen, daß
ich mich etliche mahl verfaͤrbete. Mir war recht
uͤbel, und ich befuͤrchtete eine Ohnmacht: darum
klingelte ich, ließ mir von Eliſabeth ein Glaß
Waſſer bringen, und tranck es aus, ohne daß
es jemand beobachtete, als mein Bruder. Die-
ter ſagte zu Herrn Solmes: lauter Liſt! lau-
ter verdammte Liſt! dieſes, und die Furcht, daß
er bey mir nicht willkommen ſeyn moͤchte, hielt
Solmeſen zuruͤck: ſonſt merckte ich wol, daß
er mehr geruͤhret war, als mein Bruder. Jch
war doch noch beſorgt, daß ich eine Ohnmacht
bekommen moͤchte, darum hielt ich mich an Eli-
ſabeth/
und taumelte gantz unordentlich zum
Saal hinaus. Jch machte nur noch einen Re-
verentz gegen meinen Onckle, und bat um Er-
laubniß, ein wenig wegzugehen, und Eliſa-
beth
mit zu nehmen, damit ich mich an ſie an-
halten koͤnnte.


Wohin wollen ſie gehen? ſagte mein Onckle.
Wir haben noch nicht mit ihnen ausgeredet. Jch
befehle ihnen, hier zu bleiben. Herr Solmes
hat ihnen etwas zu eroͤffnen, daruͤber ſie erſtau-
nen werden: und ſie ſollen es anhoͤren.


Nur auf eine halbe Viertheil-Stunde (ſagte
ich) will ich mit ihrer Erlaubniß in die Lufft ge-
hen. Jch werde wieder kommen, wenn ſie es
befehlen, und alles anhoͤren, was ich hoͤren ſoll,
damit es ein vor allemahl uͤberſtanden ſeyn moͤge.
Geht mit mir, Eliſabeth!


Jch ging alſo ungehindert in den Garten,
ſetz-
[325]der Clariſſa.
ſetzte mich auf die erſte Banck nieder, und ſchlug
meiner Eliſabeth Schuͤrtze uͤber das Geſicht.
Jch lehnte mich an ſie, ſchlug meine Haͤnde in
ihre Haͤnde, und ließ darauf meine Betruͤbniß,
oder Unwillen, oder beydes zuſammes, in haͤuffi-
ge Thraͤnen ausbrechen. Dieſes erhielt mich
vielleicht, daß ich nicht in Ohnmacht ſanck: denn
ich fand ſo gleich, daß mir das Hertz leichter
ward.


Jch habe Jhnen ſchon ſonſt Proben von der
Dreiſtigkeit meiner Eliſabeth erzaͤhlt, und ich
will ſie jetzt nicht von neuen damit aufhalten.
Ob gleich die Hexe meinen Kummer ſahe, ſo
war ſie doch ſo frey gegen mich, als ſie ſahe, daß
ich wieder ein wenig zu mir ſelbſt gekommen war,
daß ich ihr ſchlechterdings das Reden verbieten
muſte. Darauf ging ſie mit einem eigenſinni-
gen und truͤben Geſichte hinter mir her.


Es waͤhrte faſt eine Stunde, ehe ich wieder
geruffen ward. Meine Baſe, Froͤulein Dorth-
gen Hervey/
ward darauf an mich geſchickt,
die mir mit einer mitleidigen und hoͤflichen Mi-
ne ſagte, daß man ſich nach meiner Geſellſchaft
ſehnete. Denn, wie Sie wiſſen, hat mich Fraͤu-
lein Hervey ſehr lieb, und pflegt ſich meine Schuͤ-
lerin zu nennen.


Eliſabeth ließ uns allein. Jch fragte: wer
ſehnt ſich denn nach meiner Geſellſchafft? Ha-
ben ſie nicht geweint, Fraͤulein?


Wer kan ſich des Weinens enthalten? ant-
wortete ſie.


X 3Wie?
[326]Die Geſchichte

Wie? Was iſt die Sache? Jch daͤchte, hier
im Hauſe haͤtte niemand Urſache zu weinen, als
ich.


Ja, (ſagte ſie) ich habe auch geweint, weil
ich ſie lieb habe.


Jch kuͤſſete ſie: ſo haben ſie um meinetwillen
Thraͤnen vergoſſen, meine liebe Fraͤulein Baſe?
Wir haben uns immer geliebet. Sagen ſie
doch aber, was hat man mit mir vor, deswegen
ſie ihre Liebe gegen mich durch Thraͤnen bezeugen
muͤſſen?


Sie muͤſſen ſich nichts davon mercken laſſen,
was ich ihnen ſagen will. Meine Mutter hat
mit mir uͤber ſie geweint, allein ſie unterſtand
ſich nicht, ſich vor jemand ſehen zu laſſen: ſie
ſagte nur zu mir: Dorthgen ich habe noch
nie ſo viel uͤberlegte Bosheit angetroffen/
als bey deinem Vetter/ Jacob Harlowe.
Sie wollen die Crone ihrer Familie ver-
derben.


Wie denn das? Fraͤulein Dorthgen. Er-
klaͤrte ſie ſich nicht naͤher, wie ſie es machen woll-
ten?


Ja! Sie ſagte, Herr Solmes haͤtte von ſei-
ner Bewerbung abſtehen wollen, denn er haͤtte
geſagt, ſie haſſeten ihn, und es waͤre keine Hoff-
nung uͤbrig, ſie zu gewinnen. Jhre Mutter
war auch damit zufrieden, und meinte, man ſoll-
te ſie bey ihrem Verſprechen faſſen, Herrn Lo-
velace
zu entſagen, und unverheyrathet zu blei-
ben. Meine Mutter war eben der Meinung:
denn
[327]der Clariſſa.
denn ſie hatten alles mit angehoͤrt, was zwiſchen
ihnen und ihrem Onckle und Bruder vorgefallen
war. Sie ſagten alle, es waͤre ohnmoͤglich ſie
dahin zu bewegen, daß ſie Herrn Solmes naͤh-
men. Mein Onckle Harlowe ſchien eben ſo
zu dencken, zum wenigſten ſagte meine Mutter,
daß er nicht widerſprochen habe. Allein ihr Va-
ter war nicht zu bewegen, und ward noch dazu
auf ihre und meine Mutter boͤſe. Darauf trat
ihr Bruder und ihr Onckle Anton darzu, und
die gantze Sache gewann ein anderes Anſehen.
Kurtz ſie erzaͤhlt, es waͤre Herrn Solmes ſehr
viel verſprochen. Er ſoll ſagen: ſie waͤren das
artigſte Frauenzimmer in England; und wenn
er auch nach der Trennung ihr Hertz nicht ge-
winnen koͤnnte, ſo wollte er doch mit der Ehre
zufrieden ſeyn, ſie ein Jahr lang die Seinige
nennen zu duͤrffen. Jch dencke, er will ſie im
zweyten Jahr zu tode quaͤlen: denn, glauben ſie
mir, er hat ein ſehr hartes Hertz.


Die Meinigen (antwortete ich) moͤgen mich
wol zu todte quaͤlen, Fraͤulein Dorthgen: allein
Herr Solmes ſoll nie in den Stand kommen,
es thun zu koͤnnen.


Das weiß ich nicht, Fraͤulein. So wie ich
die Sache anſehe, muͤßte es ein groſes Gluͤck ſeyn,
wenn ſie dieſes verhuͤten koͤnnten. Denn meine
Mutter ſagt, alle ihre Anverwanten, ſie allein
ausgenommen, waͤren jetzt eines Sinnes; und
ſie muͤßte ſtille ſchwei [...] weil ihr Vater und
Bruder gar zu hitzig und ungeſtuͤm waͤren.


X 4Jch
[328]Die Geſchichte

Jch bin ſchon daruͤber hin, Fraͤulein Dorth-
gen/
ich frage nach meinem Bruder nichts mehr.
Meinem Vater bin ich ſchuldig zu gehorchen,
wenn ich gehorchen kan.


Wir ſind insgeſammt geneigt, die zu lieben,
die es mit uns halten; wenn uns Unreeht ge-
ſchiehet. Jch habe meine Baſe Dorthgen im-
mer lieb gehabt, allein jetzt habe ich ſie noch zehn
mahl ſo lieb gewonnen, da ich ein ſo liebreiches
Mitleiden gegen mich bey ihr finde. Jch fragte
ſie, was ſie thun wollte, wenn ſie in meinen Um-
ſtaͤnden waͤre?


Was ich? (ſagte ſie, ohne ſich zu bedencken)
Gleich wollte ich Herrn Lovelace nehmen, und
mich auf mein Gut ſetzen; denn waͤre die gantze
Sache zum Ende. Herr Lovelace iſt ein ar-
tiger Herr, und Solmes iſt nicht werth, ſein
Schuh-Putzer zu ſeyn.


Fraͤulein Hervey erzaͤhlte mir noch ferner:
ihre Mutter haͤtte mich ſelbſt herein ruffen ſol-
len, ſie haͤtte ſich aber entſchuldiget. Sie glaub-
te, daß alle meine Anverwanten uͤber mich Ge-
richt halten ſollten.


Jch wuͤnſchte, daß dieſes geſchehen moͤchte. Jch
habe aber nachher erfahren, daß ſich mein Va-
ter und meine Mutter nicht wagen wollen, mich
zu ſehen: er, wie es ſcheint, weil er allzu heftig
iſt; und meine Mutter aus einer guͤtigern und
mehr muͤtterlichen Urſache.


Unter dieſen Reden kamen wir in das Haus.
Die Fraͤulein begleitete mich bis an den Saal,
und
[329]der Clariſſa.
und verließ mich da, als eine Perſon die zum
Opfer erſehen iſt.


Es war niemand da: ich ſetzte mich nieder
und hatte Zeit zu weinen, da ich das mit betruͤb-
tem Hertzen uͤberdachte, was mir Fraͤulein
Dorthgen geſagt hatte.


Die gantze Geſellſchaft hielt ſich in dem be-
nachbarten Saal meiner Schweſter auf: denn
ich hoͤrte ein reden unter einander. Einige ſpra-
chen ſo laut, daß man die mitleidige Stimme
anderer nicht hoͤren konnte: ſo viel aber konnte
ich wol mercken, daß dieſe letztern Frauens-
Stimmen waren. Ach, mein Kind, was fuͤr
harte Hertzen hat das andere Geſchlecht! Wie
kommen Kinder von einerley Eltern dazu, daß
der Sohn grauſam iſt, wenn die Schweſter ein
mitleidiges Hertz hat? Lernen ſie das auf Rei-
ſen? oder gewoͤhnen ſie ſich in dem Umgang un-
tereinander dazu? Wie werden ſie doch ſo hart-
hertzig? Wiewohl, meine Schweſter hat eben ein
ſolches Hertz, als die uͤbrigen. Allein das macht
doch keine Ausnahme, denn ſie ſoll in ihrem Ge-
ſicht und Gemuͤth viel maͤnnliches an ſich haben.
Vielleicht hat ſie eine Manns-Seele in einem
weiblichen Leibe. Dieſes ſoll kuͤnftig aus Liebe
zu der Ehre unſers Geſchlechts mein Urtheil von
einem jeden Frauenzimmer ſeyn, das die rauhen
Sitten der Manns-Perſonen annimt, und ſich
auf eine unſerm Geſchlechte unanſtaͤndige Art
auffuͤhret.


X 5Neh-
[330]Die Geſchichte

Nehmen Sie mir nicht uͤbel, daß ich meine
Geſchichte durch dieſe Gedancken unterbreche.
Wenn ich in meiner Erzaͤhlung immer fortfah-
ren ſollte, ohne mich durch dergleichen Anmer-
ckungen wieder zu erhohlen, ſo glaube ich kaum,
daß ich wuͤrde bey mir ſelbſt bleiben koͤnnen. Die
heftigen Gemuͤths-Bewegungen wuͤrden die
Oberhand gewiß behalten. Wenn ich aber
unter dem Schreiben dencke/ ſo kuͤhlt und legt
ſich meine Hitze wieder.


Jch glaube, es waͤhrte uͤber eine Viertheil-
Stunde, daß ich meinen troſtloſen Gedancken
nachhing, ehe jemand zu mir kam: denn ſie ſchie-
nen alle uneins zu ſeyn. Meine Baſe ſahe zu-
erſt in den Saal: o mein liebes Kind, ſind ſie
da? ſagte ſie, und ging gleich zuruͤck, um den
andern Nachricht zu geben.


Hierauf trat (wie es vorher ausgemacht zu
ſeyn ſchien) mein Onckle Anton herein, und fuͤhr-
te Herrn Solmes bey der Hand herein, mit den
Worten: Geben ſie mir ihre Hand/ mein
werther Freund/ und erlauben ſie mir/ ſie
herein zu fuͤhren.
Der neugemachte artige
Stutzer folgete ihm in einer ſchwerfaͤlligen und
laͤcherlichen Leibes-Stellung nach; allein er ging
ſchon galanter, und ſetzte die Fuͤſſe recht juͤngfer-
lich nieder, um dem, der ihn fuͤhrete, nicht auf
die Fuͤſſe zu treten. Entſchuldigen Sie dieſes,
was den Schein einer Leichtſinnigkeit hat, in mei-
nem Brieffe; gegen wen wir einmahl eingenom-
men
[331]der Clariſſa.
men ſind, der kan uns freylich gar nichts recht
machen.


Jch ſtand auf. Mein Onckle ſahe ſehr tro-
tzig und drohend aus: bleib ſitzen Maͤdchen!
bleib ſitzen!
Er zog einen Stuhl nahe an mei-
nen, und noͤthigte ſeinen werthen Freund dar-
auf. Mein Onckle ſetzte ſich mir auf die ande-
re Seite.


Gut, Fraͤulein Baſe (ſagte er, und ergrif mich
bey der Hand) wir werden von der Sache, die
ihnen ſo unangenehm iſt, nicht viel mehr mit ih-
nen zu reden haben, als was ſchon geredet iſt,
es waͤre denn, daß ſie ſich beſſer beſonnen haͤtten.
Jſt das geſchehen, ſo ſagen ſie es mir.


Die Sache braucht kein weiteres Beſinnen,
mein lieber Onckle.


Es iſt gut! es iſt gut Fraͤulein! (Er zog die
Hand zuruͤck) Haͤtte ich das jemahls von ihnen
dencken koͤnnen?


Um Gottes Willen Fraͤulein! ſagte Solmes
mit gefaltenen Haͤnden. Weiter wollte kein
Wort heraus.


Um Gottes Willen[?] Was denn um Got-
tes Willen, mein Herr? Sind ſie und Gott ſo
gute Freunde?


Dis brachte ihn zum Stilleſchweigen. Mein
Onckle konnte weiter nichts thun, als boͤſe ſeyn,
und das war er ſchon vorhin.


Gut! ‒ ‒ Gut! ‒ ‒ Gut! ‒ ‒ Herr Sol-
mes,
(ſagte mein Onckle) keine Bitten weiter!
Sie
[332]Die Geſchichte
Sie ſind nicht dreiſte genug, ſich bey einem
Frauenzimmer einzuſchmeicheln.


Er gab mir darauf einen Winck, was er im
Sinne gehabt haͤtte, fuͤr mich zu thun; und daß
er mehr um meinetwillen, als andern in der Fa-
milie zu Liebe, nach ſeiner Zuruͤckkunft aus Jn-
dien unverheyrathet geblieben waͤre. Allein
nunmehro, da ich ſehe, daß das verkehrte Maͤd-
chen alles fuͤr nichts haͤlt, was ich fuͤr ſie haͤtte
thun koͤnnen und wollen, ſo will ich meinen Vor-
ſatz auch aͤndern, und andere Maßregeln erwaͤh-
len.


Jch antwortete ihm, ich dancke ihm von Her-
tzen fuͤr ſeine guͤtige Abſichten, die er gegen mich
gehabt haͤtte. Jch waͤre aber bereit, mich alles
Anſpruchs auf alle uͤbrigen Zeichen ſeiner Ge-
wogenheit zu begeben, die ausgenommen, die in
guͤtigen Worten und einem freundlichen Geſich-
te beſtuͤnden.


Er ſahe ſich auf allen Seiten um. Herr
Solmes ſahe wie ein armer Suͤnder auf die
Erde.


Als ſie beyde ſtille ſchwiegen, ſetzte ich hinzu:
es thaͤte mir leid, daß ich etwas ſagen muͤßte,
welches ſehr widrig klingen moͤchte. Wenn er
nur die Gewogenheit haben wollte, meinen Bru-
der und meine Schweſter davon zu uͤberzeugen,
daß er voͤllig entſchloſſen ſey, ſeine guͤtigen Ab-
ſichten fuͤr mich zu aͤndern, ſo hoffete ich, daß ſie
gelinder mit mir umgehen wuͤrden, als ich ſonſt
hoffen koͤnnte.


Meinen
[333]der Clariſſa.

Meinen Onckle verdroß dieſes ſehr: allein er
hatte nicht Zeit, mir ſein Mißfallen zu erkennen
zu geben, denn mein Bruder kam gleich mit groſ-
ſem Grimm herein, und ſtieß einige garſtige
Schimpf-Woͤrter aus. Weil ihm bisher al-
les gelungen iſt, ſo hat er auch ſo gar die aͤuſ-
ſerliche Hoͤflichkeit und Wohlanſtaͤndigkeit ver-
geſſen.


Er fragte: ob das meine hoͤhniſche Auslegung
waͤre? Ob ich ſeine bruͤderliche Liebe und Vor-
ſorge fuͤr mich ſo naͤhme, da er mein Verder-
ben zu verhuͤten ſuchte?


Ja, ſagte ich, das iſt meine Auslegung in
gantzem Ernſt. Jch weiß uͤber eur bisheriges
Betragen keine andere Auslegung zu machen.
Jch wiederhohle jetzt in eurer Gegenwart meine
Bitte an meinen Onckle, und ich will ſie auch
an meinen audern Onckle thun, ſo bald ich Er-
laubniß bekomme ihn zu ſehen, daß ſie alles das
Jhrige euch und meiner Schweſter zuwenden,
und mich nur durch ein freundliches Geſicht und
gute Worte gluͤcklich machen wollen. Das iſt
alles, was ich mir wuͤnſche.


Wie ſahen die Leute einander an! konnte ich
aber in Gegenwart des Mannes gelinder reden?


Und (zu meinem Bruder) was eure Vorſor-
ge anbetrift, ſo verlange ich dieſelbe nicht. Jhr
ſeyd nur mein Bruder, und meine Eltern ſind
gottlob noch beyderſeits am Leben. Wenn
aber das auch nicht waͤre, ſo finde ich in eurer
Auffuͤhrung gegen mich Urſachen genug, zu ſagen,
daß
[334]Die Geſchichte
daß ihr der letzte ſeyn ſolt, deſſen Vorſorge ich
mir ausbitten oder wuͤnſchen wuͤrde.


Wie? meine Baſe, (ſagte mein Onckle) ach-
ten ſie einen Bruder, einen eintzigen Bruder,
ſo wenig? Soll er ſo wenig recht haben, fuͤr die
Ehre ſeiner Schweſter und ſeiner Familie zu
ſorgen?


Meine Ehre! Nein, mein lieber Onckle, ich
verlange nicht, daß er fuͤr meine Ehre ſorget.
Die iſt noch nie in Gefahr geweſen, ehe er ſie
durch ſeine ungebetene Vorſorge beflecket hat.
Halten ſie mir es zu gute: wenn mein Bruder
ſich als ein Bruder auffuͤhret, oder ſich ſo betraͤgt
wie es einem Cavallier geziemet, ſo werde ich
mehr Werthachtung gegen ihn haben, als er je-
tzund meiner Meinung nach verdient.


Jch glaube, daß mein Bruder faſt Luſt hatte
mich zu ſchlagen: allein mein Onckle ſtand zwi-
ſchen uns. Er nannte mich aber doch ein gif-
tiges Maͤdchen/ in dem niemand geſucht
haͤtte/ was doch jetzt darin ſteckte.
Hier-
auf ward Herrn Solmes geſagt, ich ſey nicht
werth, daß er weiter um mich anhielte.


Herr Solmes nahm meine Parthey ſehr
ernſtlich, und ſagte: es ſey ihm unertraͤglich,
daß man ſo hart mit mir umginge.


Er ſagte ſo viel hievon, und mein Bruder
nahm ſeine heftige Einrede ſo geduldig an, daß
ich Argwohn bekam, es ſey eine abgeredete Car-
te: man wolle mich dahin bringen, ihm Danck
ſchuldig zu ſeyn; und es koͤnnte dieſes wol gar
ein
[335]der Clariſſa.
ein Endzweck der mir aufgedrungenen Zuſam-
menkunft ſeyn.


Selbſt der Verdacht den ich hatte, daß man
einen ſo niedertraͤchtigen Kunſtgriff gebrauchen
wollte, benahm mir vollends alle Geduld. Als
mein Onckle und mein Bruder Herrn Solme-
meſens
Grosmuth ruͤhmten, nach der er boͤſes mit
gutem vergelte, ſagte ich: Herr Solmes, ſie ſind
ein gluͤcklicher Mann, daß ſie alle im gantzen
Hauſe ſich ſo leicht verbindlich machen koͤnnen,
eine eintzige undanckbare Perſon ausgenommen,
welche ſie am meiſten zu verbinden ſuchen. Allein
dieſe wird durch durch ihre Gewogenheit ungluͤck-
lich, und verdient es nicht, daß ſie ſich ihrer ge-
gen einen ungeſtuͤmen Bruder annehmen.


Ein grobes, ein undanckbahres, ein unwuͤr-
diges Maͤdchen, war ich hierauf.


Jch will das alles geſtehen! (ſagte ich) was
ihr nur fuͤr Nahmen finden koͤnnt, mich damit
zu beſchimpfen, die will ich alle auf mir ſitzen laſ-
ſen. Jch bekenne meine Unwuͤrdigkeit in Ab-
ſicht auf dieſen Herrn: ich glaube euch alle ſei-
ne Vorzuͤge auf eur Wort zu, und habe weder
Zeit noch Luſt, ſie ſelbſt zu unterſuchen. Sie
moͤgen wol gar ſo groß ſeyn, als eure eigenen.
Allein ich kan ihm dafuͤr nicht dancken, daß er
mein Mitler werden will: denn wer ſieht nicht
(zu meinem Onckle) daß dieſes ihn in aller Au-
gen erhebet, und mich herunter ſetzt?


Jch wandte mich hierauf zu meinem Bruder,
der durch meine Hitze zum Stilleſchweigen ge-
bracht
[336]Die Geſchichte
bracht zu ſeyn ſchien! eure uͤberfluͤßige Sorg-
falt fuͤr mich muß ich billig mit vielem Danck
erkennen. Jch will euch aber jetzt dieſer Be-
muͤhung wenigſtens ſo lange erlaſſen, als ich noch
naͤhere und liebere Anverwanten habe. Jhr
habt mir bisher noch keine Urſache gegeben, von
eurem Verſtande eine vortheilhaftere Meinung
zu faſſen, als von meinem eigenen. Von euch
bin ich frey, ob ich gleich mir nie in den Sinn
kommen laſſen will frey und unabhaͤngig von
meinem Vater zu leben. So ſehr ich wuͤnſche,
daß mein Onckles eine gute Meinung von mir
hegen moͤgen; ſo iſts doch dieſes alles, was ich
von ihnen wuͤnſche: und ich wiederhohle dieſe
Erklaͤrung, um euch und meine Schweſter zu
beruhigen.


Faſt denſelben Augenblick kam Eliſabeth ſehr
eilfertig herein gelauffen, und ſahe mich ſo hoͤh-
niſch an, als wenn ſie meine Schweſter waͤre.
Sie ſagte zu meinem Bruder: der gnaͤdige
Herr verlangt ſie dieſen Augenblick zu ſprechen:
er ſteht ſchon vor der Thuͤr.


Er ging zu der Thuͤr hinaus, die in meiner
Schweſter Saal fuͤhret, und ich hoͤrte dieſe Don-
ner-Worte aus einem Munde, dem ich alle Ehr-
erbietung ſchuldig bin: mein Sohn Jacob/
daß die widerſpenſtige Tochter den Augen-
blick nach meines Bruders Gute gebracht
wird. Den Augenblick: ‒ ‒ Sie ſoll
keine Stunde laͤnger unter meinem Da-
che bleiben.


Jch
[337]der Clariſſa.

Jch zitterte, und wollte gleich in Ohnmacht
ſincken: und ohne zu wiſſen, was ich vornahm
oder redete, flog ich nach der Thuͤr zu, und woll-
te ſie eroͤffnen, wenn ſie nicht mein Bruder zu-
geſchlagen und feſt an dem Schluͤſſel gehalten
haͤtte. Jch fiel vor der Thuͤr auf die Knie, und
tieff: O mein Vater, mein liebſter Vater, laſ-
ſen ſie doch ihr armes Kind vor ſich. Erlau-
ben ſie mir, daß ich mich vor ihren Fuͤſſen ver-
antworten darf. Verſtoſſen ſie ihre betruͤbte
Tochter nicht voͤllig.


Mein Onckle hielt das Schnupftuch vor die
Augen: Herr Solmes ſahe noch betruͤbter aus,
als vorhin. Nur das ſteinerne Hertz memes
Bruders blieb unbeweglich.


Jch will nicht aufſtehen, (fuhr ich fort) bis
ſie mich vor ſich laſſen. Jch liege vor dieſer
Thuͤr und bitte. Laſſen ſie es doch eine Gna-
denthuͤr ſeyn, und eroͤffnen ſie mir, nur dieſes
‒ ‒ nur dieſes eine mahl, wenn ſie ſie auch
hernach mir auf ewig verſchlieſſen wollten.


Es ſuchte jemand inwendig die Thuͤr aufzu-
machen, und mein Bruder ließ den Schluͤſſel
augenblicklich fahren. Weil ich mich nun, wie
ich auf meinen Knien lag, gegen die Thuͤr ge-
lehnet hatte, ſo fiel ich ſo lang ich war in den
andern Saal hinein, jedoch ohne mich zu beſchaͤ-
digen. Es war aber niemand mehr da, als
Eliſabeth/ die mir aufhalf. Als ich mich nun
in dem Saal umgeſehen hatte, und niemand
mehr darin fand, ſo gieng ich wieder an der Eli-
Zweyter Theil. Yſa-
[338]Die Geſchichte
ſabeth Hand zuruͤck, und ſetzte mich auf den
Stuhl, auf dem ich vorhin geſeſſen hatte. Zu
meiner groſſen Erleichterung gingen mir die Au-
gen uͤber; mein Onckle Anton/ mein Bruder,
und Herr Solmes lieſſen mich allein, und gin-
gen zu meinen uͤbrigen Anverwanten.


Jch weiß nicht, was in dieſer Verſammlung
vorgegangen ſeyn mag. Allein als ich mich wie-
der etwas erhohlt hatte, trat mein Bruder herein,
und ſeine eigenſinnige Augen-Brauen kuͤndig-
ten mir zum voraus an, daß er gebieteriſch und
unerbittlich zu ſeyn beſchloſſen hatte. ‒ ‒ Eur
Vater und eure Mutter ſagte er, befehlen, daß
ihr euch unverzuͤglich anſchicken ſollt, nach eures
Onckles Gute zu reiſen. Jhr braucht nicht viel
darauf zu dencken, was ihr mitnehmen wollt,
ihr koͤnnt die Schluͤſſel nur an Eliſabeth ge-
ben. Eliſabeth/ nehmt die Schluͤſſel hin,
wenn der Eigenſinn die Schluͤſſel bey ſich hat,
und uͤberbringt ſie meiner Mutter. Sie wird
ſchon Sorge tragen, daß euch alles nachgeſchickt
wird, was ihr brauchet. Allein es iſt euch nicht
erlaubt, noch eine Nacht in dieſem Hauſe zu
bleiben.


Jch ſagte: ich gedencke meine Schluͤſſel nie-
manden als meiner Mutter zu uͤbergeben, und
ich will ſie ihr ſelbſt in die Haͤnde liefern. Jhr
ſehet, in was fuͤr Unruhe ich mich befinde: es
kan mir das Leben koſten, wenn ich ſo ploͤtzlich
wegreiſen muß. Jch bitte mir zum wenigſten
eine Friſt bis auf den kuͤnftigen Montag aus.


Die
[339]der Clariſſa.

Die Friſt werdet ihr nicht erhalten. Macht
euch bereit, dieſen Abend wegzureiſen. Uebergebt
die Schluͤſſel. Gebt ſie mir, ich will ſie eurer
Mutter bringen.


Entſchuldigt mich, mein Bruder. Jch thue
es gewiß nicht!


Jhr muͤßt es gewiß thun! Jn keinem eintzi-
gen Stuͤcke nachzugeben! Fraͤulein Claͤrchen.


Jn dieſem nicht.


Habt ihr etwas, das eure Mutter nicht ſe-
hen ſoll.


Nein nichts! wenn ich nur meiner Mutter
ſelbſt aufwarten darf.


Jch will Nachricht davon geben.


Er ging hinaus, Fraͤulein Dorthgen kam
bald darauf herein, und ſagte: es thut mir leid,
daß ich eine ſolche Botſchaft ausrichten ſoll. Jh-
re Frau Mutter beſtehet darauf, daß ſie alle
Schluͤſſel, zur Stube, Buͤchervorrath und
Schubladen ſchicken ſollen.


Sagen ſie meiner Mutter, daß ſie ihrem Be-
fehl zu Dienſte ſtehen, und daß ich ihr keine
Bedingungen vorſchreiben will: wenn ſie aber
nichts verdaͤchtiges findet, ſo bitte ich mir nur
einige Tage Friſt aus. Verſuchen ſie es, Dorth-
gen
(das liebe Kind ſtutzte aus Mitleiden)
verſuchen ſie es, ob ſie durch ihr freundliches
Bitten etwas gutes fuͤr mich auswircken koͤn-
nen.


Sie meinte noch mehr, und ſagte; es iſt be-
truͤbt, betruͤbt genug, daß es ſo gehet.


Y 2Sie
[340]Die Geſchichte

Sie nahm die Schluͤſſel hin, umarmete mich,
und bat mich um Vergebung. Sie wollte noch
mehr ſagen, allein ich merckte, daß ſie ſich ſcheue-
te, es in Gegenwart der Eliſabeth zu thun.


Jch ſagte: bedauren ſie mich nicht. Es wird
ihnen als eine Suͤnde angerechnet werden. Sie
ſehen ja, wer nicht weit von uns iſt.


Das unverſchaͤmte Thier laͤchelte, und unter-
ſtand ſich zu ſagen: wenn eine Fraͤulein mit der
andern in ſolchen Umſtaͤnden Mitleiden hat, ſo
kan man von der juͤngern Fraͤulein auch gute
Hoffnung auf das kuͤnftige haben.


Jch nennete ſie ein abgeſchmacktes Ding, und
befahl ihr, ſie ſollte mir vor den Augen wegge-
hen.


Sie ſagte: von Hertzen gern wollte ſie das
thun, wenn ihr nur meine Mutter nicht befoh-
len haͤtte, bey mir zu bleiben.


Die Urſache hievon erfuhr ich bald. Denn
als ich hinauf auf meine Stube gehen wollte,
nachdem mich Dorthgen verlaſſen hatte, ſo ſag-
te ſie mir: ſie haͤtte Befehl (ſo leid es ihr auch
thaͤte) mich zu bitten, daß ich nicht hinauf ge-
hen moͤchte.


Jch antwortete ihr: ſo eine dreiſte Magd als
ſie ſollte mir das nicht verbieten.


Sie klingelte, und mein Bruder kam gleich
herein, und begegnete mir in der Thuͤr.


Zuruͤck! zuruͤck! Fraͤulein (ſagte er) jetzt koͤnnt
ihr nicht auf die Stube gehen.


Jch
[341]der Clariſſa.

Jch ging wieder hinein, ließ mich auf den Sitz
am Fenſter nieder, und weinete bitterlich.


Soll ich Jhnen ein kurtzes aber laͤcherliches
Geſpraͤch erzaͤhlen, das ich mit meinem Vruder
gehalten habe, als er und Eliſabeth mich be-
wahren mußten! weil meine Stube durchſucht
ward? Doch nein! Es wuͤrde keinen Nutzen
haben.


Jch bat ihn einige mahl um Erlaubniß, auf
meine Stube zu gehen; allein umſonſt. Jch
glaube die Durchſuchung war noch nicht zu En-
de. Meine Schweſter war mit dabey beſchaͤfti-
get, und niemand wuͤrde fleißiger und ernſtlicher
haben ſuchen koͤnnen, als ſie. Es war ein Gluͤck
fuͤr mich, daß ſie nichts fanden.


Als meine Schweſter nichts von den Schrif-
ten des liſtigen Maͤdchens finden konnte, ſo
ward beſchloſſen, daß ich noch einen Beſuch von
Herrn Solmes auszuſtehen haben ſollte. Mei-
ne Baſe Hervey muſte mit dabey ſeyn; und
ich konnte ihr an den Augen abſehen, daß es wi-
der ihren Willen geſchahe. Allein mein Onckle
Anton war ihr zugeordnet, damit ſie ſich nicht
moͤchte erweichen laſſen.


Jch bin jetzt etwas muͤde, denn es iſt ſchon des
Morgens um zwey Uhr. Jch will mich des-
wegen in meinen Kleidern niederlegen, und ver-
ſuchen ob ich einſchlaffen kan.



Y 3Jch
[342]Die Geſchichte

Mittewochens Morgens um 3 Uhr.


Jch konnte nicht einſchlaffen; Jch habe nur
eine halbe Stunde geſchlummert.


Jn meiner vorigen Erzaͤhlung fortzufahren, ſo
redete mich meine Baſe Hervey mit den Wor-
ten an; mein liebes Kind, was machen ſie ih-
ren lieben Eltern und allen im Hauſe fuͤr Un-
ruhe: Jch wundere mich uͤber ſie.


Das thut mir leid!


Das thut ihnen leid, Kind? Warum ſind ſie
denn ſo unbeweglich? kommen ſie, ſetzen ſie ſich
nieder; ich will mich bey ſie ſetzen. (Sie nahm
meine Hand!


Mein Onckle noͤthigte Herrn Solmes, ſich
mir auf die andere Seite zu ſetzen. Er ſelbſt
nahm den Platz gegen mir uͤber ein, und ruͤckte
gantz nahe auf mich zu. War ich nicht hart
genug belagert?


Meine Baſe ſagte: ihr Bruder iſt zu hitzig,
mein Kind. Sein Eifer fuͤr ihr Beſtes macht,
daß er bisweilen aus den Schrancken ſchreite[n].


Das iſt wahr, ſagte mein Onckle; allein nichts
weiter hievon. Wir wollten uns freuen, wenn
gelindere Mittel etwas bey ihnen ausrichten koͤnn-
ten: wiewohl auch dieſe ſchon vorhin verſucht
ſind.


Jch fragte meine Baſe: ob der Herr noth-
wendig mit zugegen ſeyn muͤſte?


Sie ſagte: es hat ſeine Urſache, daß er mit
zugegen iſt, wie ſie bald hoͤren werden. Zu-
foͤrderſt aber muß ich ihnen ſagen, daß ihre Mut-
ter
[343]der Clariſſa.
ter glaubt, ihr Bruder ſey zu hart mit ihnen ver-
fahren. Sie verlanget deswegen, daß ich ver-
ſuchen ſoll, was durch Gelindigkeit bey einem ſo
wohlgeartheten Gemuͤth, als das ihrige unſerer
Meinung nach iſt, auszurichten ſtehe.


Jch muß mich unterfangen zu ſagen, daß
nichts auszurichten ſtehet, wenn ihre Abſicht
noch auf das gerichtet bleibt, was dieſer Herr
anzubringen hat.


Sie ſahe meinen Onckle an, der ſich auf die
Lippen biß, und Herrn Solmeſen/ der ſich die
Backen rieb. Sie ſchuͤttelte den Kopf, und ſag-
te endlich: Gut! mein liebes Kind, ſeyn ſie nur
ruhig. Beantworten ſie mir nur die Frage,
ob ſie glauben, daß wir mehr wuͤrden ausgerich-
tet haben, wenn gelinder mit ihnen verfahren
waͤre, als ihrer Meinung nach geſchehen iſt?


Nein! zum Vortheil dieſes Herrn wuͤrden ſie
nicht mehr ausgerichtet haben. Sie wiſſen, und
mein Onckle weiß auch, daß ich immer den Ruhm
der Aufrichtigkeit und Wahrheit geſucht habe.
Es iſt auch eine Zeit geweſen, da man dieſe Ei-
genſchafften an mir erkannt hat.


Mein Onckle nahm Herrn Solmes auf die
Seite. Jch hoͤrte ihn die Worte fliſtern: ſie
muß, ſie ſoll dennoch die ihrige werden. Wir
wollen ſehen wer gewinnet? Eltern und Onckels?
oder meines Bruders Kind? Jch hoffe es noch
zu erleben, daß alles dieſes uͤberſtanden ſeyn wird,
und daß mancher artige Spaaß uͤber die Thor-
heiten vorfallen ſoll.


Y 4Jch
[344]Die Geſchichte

Jch war von Hertzen betruͤbt.


Ob wir gleich nicht auf die Spur kommen
koͤnnen, (fuhr er fort) ſo koͤnnen wir doch wohl
rathen, was ſie ſo hartnaͤckig macht. Von Na-
tur iſt ſie es ſonſt nicht, guter Freund. Jch
wuͤrde mich nicht ſo viel um ſie bekuͤmmern, wenn
ich nicht wuͤßte, daß dieſes die Wahrheit iſt, und
vorhaͤtte, groſe Sachen zu ihrem Vortheil zu
thun.


Herr Solmes ſagte ihm laut genug in die
Ohren: ich will ſtuͤndlich darum beten, daß dieſe
gluͤckliche Zeit erſcheinen moͤge. An das, was
mir jetzt ſo ſchmertzlich iſt, will ich Zeit Lebens
nicht wieder gedencken.


Meine Baſe wandte ſich darauf wieder zu mir:
ich muß ihnen doch ſagen; ſie haben dadurch,
daß ſie die Schluͤſſel ohne einige Bedingung
uͤbergeben haben, etwas erlanget, das ſonſt ohn-
moͤglich ſchien zu erhalten. Dieſer Gehorſam,
und das man nichts verdaͤchtiges gefunden hat,
nebſt Herrn Solmes Vorbitte ‒ ‒


Machen ſie nicht, daß ich Herrn Solmes
verpflichtet ſeyn muß. Jch kan ihm meine
Schuld nicht anders als mit einem Danck be-
zahlen, und zwar unter der Bedingung, daß er
von ſeinem Geſuch abſtehen will. Jch bitte ſie,
mein Herr, wenn ſie noch ein menſchliches Hertz,
wenn ſie noch einige Werthachtung fuͤr mich ha-
ben, ſo ſuchen ſie meinen Danck zu verdienen.
Jch bitte ſie inſtaͤndigſt.


O Fraͤulein (ſchrie er) glauben, glauben,
glau-
[345]der Clariſſa.
glauben ſie mir, es iſt ohnmoͤglich. So lange
ſie unverheyrathet ſind, will ich noch hoffen.
So lange mir noch alle dieſe werthen Freunde
Hoffnung machen, will ich anhalten. Jch muß
dieſer ihre Guͤtigkeit deswegen nicht verachten,
weil ſie mich verachten.


Jch antwortete ihm nur mit einem veraͤcht-
lichen Blicke, und wandte mich von ihm: was
habe ich denn, ſagte ich zu meiner Baſe, durch
meinen Gehorſam erhalten?


Jhre Mutter (antwortete ſie) und Herr Sol-
mes
haben es ſo weit gebracht, daß ſie ihrer
Bitte gewaͤhret ſind, und bis auf den kuͤnftigen
Montag hier bleiben ſollen, wenn ſie anders ver-
ſprechen, alsdenn mit Freuden zu reiſen.


Mit Freuden will ich es thun, wenn ich nur
die Perſonen auswaͤhlen darf, von denen ich Be-
ſuch annehmen will.


Gut! ich ſehe wir muͤſſen dieſe Materie fah-
ren laſſen. Jch will auf eine andere kommen,
die aber ihre groͤſſeſte Aufmerckfamkeit erfodert:
Sie werden ſehen, weswegen Herr Solmes
hat muͤſſen zugegen ſeyn, ‒ ‒


Ja! (fuhr mein Onckle fort) und ſehen, was
ſie an jemand haben, von dem ſie ſo viel halten.
Herr Solmes, ſeyn ſie ſo guͤtig, und leſen uns
den Brief vor, den ſie von ihrem ungenannten
Freunde bekommen haben.


Jch will es thun. Er zog ein kleines Brief-
Futteral aus der Taſche, und nahm den Brief
heraus. Es iſt eine Antwort (ſagte er) auf
Y 5mei-
[346]Die Geſchichte
meinen Brief an dieſen Mann. Die Aufſchrift
iſt, An Juncker Roger Solmes: der Anfang:
Hochzuehrender Herr ‒ ‒


Mit Erlaubnis, mein Herr, (ſagte ich) war-
um ſoll mir der Brief vorgeleſen werden?


Damit ſie erfahren, in was fuͤr einen abſcheu-
lichen Menſchen man ſie fuͤr verliebt haͤlt: ſagte
mir mein Onckle laut genug in die Ohren.


Wenn man glaubt, daß ich in einen andern
verliebt bin, was hat ſich denn Herr Solmes
noch fuͤr Muͤhe meinetwegen zu geben?


Hoͤren ſie doch nur, (ſagte meine Baſe) ſie
koͤnnen ja anhoͤren, was ihnen Herr Solmes
vorzuleſen und zu ſagen hat.


Wenn Herr Solmes ſo guͤtig ſeyn will, eine
Erklaͤrung von ſich zu ſtellen, daß er hiebey kei-
ne Abſicht hat die ihn ſelbſt anbetrift, ſo will ich
alles anhoͤren. Wenn er aber eigene Abſichten
hat, ſo werden ſie mir nicht leugnen koͤnnen,
daß alles, was er vorbringen moͤchte, ein groſ-
ſes an der Glaubwuͤrdigkeit verliehret.


Hoͤren ſie es nur an: ſagte meine Baſe.


Hoͤren ſie es nur an: ſagte mein Onckle: ſie
ſind allzugeneigt, die Parthey eines gewiſſen
Menſchen zu nehmen, der ‒ ‒


Eines jeden Menſchen, der aus eigennuͤtzigen
Abſichten angeklagt wird, und deſſen Anklaͤger
ſich nicht nennen will.


Er fing an zu leſen: und es ſchien der Brief
eine gantze Laſt von Beſchuldigungen gegen den
armen Beklagten zu enthalten. Jch fiel ihm
aber
[347]der Clariſſa.
aber in das Leſen und ſagte: es wuͤrde meine
Schuld nicht ſeyn, wenn die Perſon, die man ſo
herunter ſetzte, mir nicht ſo gleichguͤltig bliebe,
als irgend ein Menſch in der Welt ſeyn kan,
den ich nie geſehen habe. Wenn ich ihn jetzt
mit andern Augen anſehe, (welches ich weder be-
jahen noch leugnen will) ſo ſind die ſonderbahren
Mittel Schuld daran, die man gebraucht hat,
ihn mir verhaßt zu machen. Laſſen ſie uns nicht
durch ein gemeinſchaftliches Leiden verbunden
werden, ſo wird nie eine andere Verbindung ſtatt
haben. Wenn mein Anerbieten, unverheyra-
thet zu bleiben, angenommen wird, ſo will ich
gegen ihn eben ſo gleichguͤltig ſeyn, als gegen
dieſen Herrn.


Stille! Fahren ſie fort zu leſen Herr Sol-
mes: und hoͤren ſie zu: ſchrie mein Onckle.


Aber zu welchem Nutzen? ſagte ich. Hat
nicht Herr Solmes ſeine Abſichten dabey?
Kan auch noch etwas ſchlimmers von Herrn
Lovelace geſagt werden, als was ich ſeit eini-
gen Monathen von ihm gehoͤrt habe?


Mein Onckle antwortete: der Brief, den Herr
Solmes vorleſen wird, und was er ihnen noch
ſonſt ſagen kan, iſt ein vollſtaͤndiger Beweiß
von allen dem, was ſie bisher gehoͤret haben.


Jſt denn der arme Mann vorhin ohne voll-
ſtaͤndigen Beweiß
ſo ſchwartz abgemahlt wor-
den? Jch bitte ſie, bringen ſie mir nicht eine gar
zu gute Meinung von Herrn Lovelace bey.
Jch muß nach und nach beſſer von ihm zu den-
cken
[348]Die Geſchichte
cken anfangen, wenn ſich jemand ſo viel Muͤhe
giebt, ihn anzuklagen, der gewiß nicht im Sin-
ne hat, ſeine Beſſerung dadurch zu befoͤrdern,
oder jemanden dadurch zu nutzen, als ſich ſelbſt,
wenn ich anders ſo hochmuͤthig ſeyn darf, mich
dieſes Ausdrucks zu bedienen.


Jch ſehe (ſagte mein Onckle) ſie ſind voller
vorgefaßten Meinungen, voll von verliebten Vor-
urtheilen fuͤr eine Perſon, die gar keinen Anſatz
zur Tugend hat.


Meine Baſe ſagte, ſie ſtaͤrcken uns in unſerm
Argwohn nur allzuſehr! Es iſt zu verwundern,
daß ein tugendhaftes und ehrliebendes Frauen-
zimmer eine Perſon ſo hoch ſchaͤtzen kan, die ge-
rade das Widerſpiel von ihr iſt.


Jch bitte ſie, ſchlieſſen ſie nicht allzugeſchwind
zu meinem Nachtheil. Jch bin weit davon ent-
fernt, Herr Lovelace fuͤr denjenigen zu halten,
der er ſeyn ſolte. Allein weſſen guter Nahme
wuͤrde ungekraͤnckt bleiben, wenn man ſich um
alle ſeine Haus-Umſtaͤnde bekuͤmmern wollte,
und wenn Leute, die ein Vorurtbeil gegen ihn
haben, alles ſein Thun und Laſſen ausſpuͤren und
unterſuchen wollten. Jch liebe die Tugend an
Mannsperſonen eben ſo ſehr, als an Frauenzim-
mer: ich halte ſie bey einem Geſchlecht ſo hoch,
und ſo unentbehrlich, als bey dem andern. Wenn
ich mir ſelbſt gelaſſen handeln duͤrfte, ſo wuͤrde
ich einen tugendhaften Mann ſelbſt einem laſter-
haften Koͤnige vorziehen.


War-
[349]der Clariſſa.

Warum aber? ‒ ‒ fing mein Onckle an.
Jch fiel ihm in das Wort! ich unterſtehe mich
zu behaupten, daß manche, die nicht allen Tadel
verdienen, doch auch nicht viel lobenswuͤrdiges an
ſich haben. Jch glaube, daß Herr Solmes auch
ſeine Fehler haben mag. Von ſeinen Tugen-
den habe ich noch nie ein Wort gehoͤrt; aber
wohl von einigen Untugenden. Vergeben ſie
mir dieſes, Herr Solmes: ich rede es ihnen
nicht hinter dem Ruͤcken nach. Der Spruch:
wer ohne Suͤnde iſt/ der werfe den erſten
Stein auf ſie:
ſcheint eine Lehre zu enthalten,
die ihnen ſehr nuͤtzlich waͤre.


(Er ſahe ſtilleſchweigend vor ſich nieder.)


Es kan ſeyn, daß Herr Lovelace Fehler an
ſich hat, die ſie nicht haben: und vielleicht haben
ſie einige, die er nicht hat. Jch will weder ihn
vertheidigen, noch ſie anklagen. Niemand hat
allein eine gute, oder allein eine ſchlimme Sei-
te. Man ſagt z. E. daß Herr Lovelace unver-
ſoͤhnlich ſeyn und die Meinigen haſſen ſoll: das
kan gewiß keine Werthachtung gegen ihn bey
mir erwecken. Allein ich muß bekennen, daß
die Meinigen eben ſo feindſelig gegen ihn geſin-
net ſind. Herr Solmes hat auch Leute, denen
er feind iſt: denen er gewiß ſehr feind iſt, und
das ſind ſeine eigene Anverwanten. Das iſt
des andern Fehler nicht; der ſteht mit ſeinen
Verwanten wohl. Er kan vielleicht andere eben
ſo ſchlimme Fehler an ſich haben: noch ſchlim-
mer koͤnnen ſie meiner Meinung nach nicht ſehn;
denn
[350]Die Geſchichte
denn was muß das fuͤr ein Menſch ſeyn, der ſein
eigenes Fleiſch haſſet?


Jch weiß nicht, Fraͤulein,


Jch weiß nicht, meine Baſe,


Jch weiß nicht, Claͤrchen
rieffen ſie alle in einem Athem.


Jch ſagte: es kan ſeyn, daß ich nicht weiß,
was er fuͤr Urſachen dazu hat; ich verlange ſie
auch nicht zu wiſſen: allein die Welt, die un-
partheyiſche Welt, ſpricht uͤbel von ihm. Wenn
ſich die Welt in ihrem Urtheil in Abſicht auf den
einen uͤbereilt, ſo kan ſie das auch bey dem an-
dern thun. Weiter will ich nicht ſagen! Es iſt
ein ſchlechtes Zeichen, wenn man andere herun-
ter ſetzen muß, um ſich einzuſchmeicheln.


Das Geſicht des armen Mannes war voller
Verwirrung. Er ſahe aus, als wenn er heulen
wollte; das gantze Geſicht war verzogen und ver-
drehet, weder Mund noch Naſe war in der Mit-
te. Waͤre es mir moͤglich geweſen, Mitleiden
mit ihm zu haben, ſo haͤtte ich es dieſesmahl
verſuchen wollen.


Einer ſahe den andern an, und niemand woll-
te reden. Es kam mir vor, als wenn meine
Baſe das, was ich geſagt hatte, gern ſtillſchwei-
gend billigen wollte: denn als ſie anfing zu ſpre-
chen, verwieß ſie es mir ſehr gelinde, daß ich
Herrn Solmeſens Brief nicht anhoͤren wollte.
Es ſchien, daß er ſelbſt nicht mehr Luſt hatte,
ſtarck darauf zu dringen, daß ich mich von ihm
moͤchte belehren laſſen. Mein Onckle ſagte: es
waͤre
[351]der Clariſſa.
waͤre kein Auskommen mit mir. Jch wuͤrde
gewiß dieſe beyde Herren gaͤntzlich zum Stille-
ſchweigen gebracht haben, wenn mein Bruder
ihnen nicht zu Huͤlfe gekommen waͤre.


Dieſes war ſeine wunderliche Anrede, ſo bald
er mit funckelnden Augen in die Stube trat:
ich ſehe, daß das plauderhafte Maͤdchen euch al-
le ſtumm gemacht hat. Fahren ſie fort zu leſen,
Herr Solmes. Jch habe alle Worte gehoͤrt,
die meine Schweſter ſagte. Jch weiß kein an-
deres Mittel mit ihr auszukommen, als daß ſie
meiner Schweſter, wenn ſie ihnen angetrauet iſt,
ihre Herrſchaft uͤber ſie eben ſo empfindlich zu
fuͤhlen geben, als ſie jetzt ihre Unverſchaͤmtheit
und Grobheit empfinden muͤſſen.


Phy, Vetter! ſagte meine Baſe. Wer ſol-
te glauben, daß ein Bruder von ſeiner Schwe-
ſter ſo zu einem andern Herrn reden wuͤrde.


Er antwortete: ſie machen meine rebelliſche
Schweſter nur trotziger. Es ſcheint, daß ſie
den Hochmuth ihres Geſchlechts allzuguͤtig ent-
ſchuldigen. Sie wuͤrde ſich ſonſt nicht unter-
ſtanden haben, ihrem Onckle durch empfindliche
Reden den Mund zu ſtopfen; oder es einem
Cavallier zu verbieten, daß er ſie vor der Gefahr
warnete, in der ſie ſich befindet, da ſie (wie es
nunmehr am Tage liegt) einen Boͤſewicht zum
Beſchuͤtzer gegen ihre Anverwanten annehmen
will.


Habe ich meinem Onckle den Mund
durch empfindliche Reden geſtopft/
Bru-
der?
[352]Die Geſchichte
der? Wie duͤrft ihr euch unterſtehen, das zu er-
dencken?


Meine Baſe weinte uͤber ſeine empfindlichen
Reden gegen ſie, und ſagte: Vetter wenn das
der Danck fuͤr meine Muͤhe ſeyn ſoll, ſo habe
ich weiter nichts damit zu thun. Jhr Herr Va-
ter wird mir ſo nicht begegnen. Gewiß, der
Rath den ſie gaben, ſchickte ſich nicht fuͤr einen
Bruder.


Jch ſagte, er ſchickte ſich fuͤr einen Bruder ge-
rade ſo gut, als ſeine gantze bisherige Auffuͤhrung
gegen mich. Jch ſehe aus dieſer Probe, wie er
durch Heftigkeit und Grobheit alle auf ſeine Sei-
te gebracht hat. Wenn ich den geringſten Ge-
dancken haͤtte, jemahls in Herrn Solmes Ge-
walt zu kommen, ſo muͤßte mir ſein Rath zu Her-
tzen gehen. Allein ſie ſehen, Herr Solmes/
was fuͤr Mittel man zu ihrem eigennuͤtzigen
Zweck fuͤr noͤthig haͤlt. Sie ſehen, was fuͤr ei-
nen artigen Freywerber ſie an meinem Bruder
haben.


Jch proteſtire von gantzem Hertzen gegen al-
les heftige, das Herr Harlowe ſaget, (fing er
an) ich will es ihnen nie gedencken, daß ‒ ‒


Nur ſtille, mein werther Herr. Jch will
ſchon dafuͤr ſorgen, daß ſie es mir nicht ſollen
gedencken koͤnnen.


Nicht ſo hitzig, Claͤrchen! (ſagte mein On-
ckle) Herr Vetter, ſie haben eben ſo viel Un-
recht, als ihre Schweſter.


Meine Schweſter kam herein: Bruder, ihr
hal-
[353]der Clariſſa.
haltet eur Wort nicht. Man giebt euch drauſ-
ſen eben ſo ſehr Unrecht, als hier in der Stube.
Herrn Solmeſens guͤtiges Gemuͤth und ſeine
Liebe zu dem Maͤdchen iſt bekant genug: ſonſt
wuͤrde das gar nicht zu enſchuldigen ſeyn, was
ihr geſagt habt. Mein Vater verlanget euch zu
ſprechen, und ſie Frau Baſe, und ſie mein On-
ckle, und ſie Herr Solmes. Beliebt es ihnen
mitzukommen?


Sie giengen alle vier in die andere Stube.
Jch ſtand gantz ſtille, und wußte nicht, was ich
daraus machen ſolte, daß meine Schweſter da-
zwiſchen gekommen war, bis ſie ſelbſt anfing zu
reden. Du verkehrtes Ding! (ſagte ſie mlt
einer veraͤchtlich-leiſen Stimme, und hielt mir
ihr erbittertes Geſicht recht vor die Augen) was
fuͤr Unruhe machſt du uns allen?


Jch ſagte: ihr und mein Bruder machet euch
ſelbſt Unruhe. Jhr habt gar keine Urſach euch
um mich zu bekuͤmmern.


Sie ließ einige ſpoͤttiſche Reden fahren, allein
ſie ſprach noch gantz leiſe, als wenn ſie nicht gern
wollte, daß jemand vor der Thuͤr es hoͤren moͤch-
te, was ſie redete. Jch hielt deswegen fuͤr rath-
ſam, ſie etwas lauter reden zu machen, wenn
ich koͤnnte. Wenn ich koͤnnte? ſage ich?
Was kan man nicht bey einem Gemuͤthe aus-
richten, das ſeiner ſelbſt nicht mehr maͤchtig iſt.


Sie zeigete dieſes. Sie brach bald mit einer
ſtaͤrckeren Stimme aus, und ich erreichte da-
durch, daß Fraͤulein Dorthgen mit der Bot-
Zweyter Theil. Zſchaft
[354]Die Geſchichte
ſchaft herein kam: Fraͤulein Harlowe/ man ver-
miſſet ſie in der Geſelſchaft.


Jch will gleich kommen, Fraͤulein Dorthgen:
ſagte ſie.


Als ich ſie noch einmahl ſo boͤſe machte, daß
ſie Schimpf-Worte von ſich hoͤren ließ, kam
Dorthgen nochmahls mit eben der Botſchaft.


Jch antwortete: ich werde wol nicht in
der Geſelſchaft vermiſſet/ Dorthgen?


Das guthertzige Kind konnte die Thraͤnen
nicht halten, und ſchuͤttelte mit dem Kopfe.


Gehen ſie voran, mein Kind (ſagte Arabel-
le/
mit einem mercklichen Verdruß, daß jene Mit-
leiden mit mir hatte) mit dem ſpitzigen. Geſichte,
wie ein halber Mond. Woruͤber weinen ſie:
ſoll ihr ſpitziges Geſicht noch ſpitziger ausſehen?


Jch glaube, daß Arabelle einen Verweiß an-
hoͤren mußte: denn die Worte hoͤrte ich von ihr:
das abgeſchmackte Ding gab ſo empfindliche
Reden, daß man keine Geduld behalten konnte.


Nach einiger Zeit kam Herr Solmes allein
wieder, um Abſchied von mir zu nehmen. Er
war reich an Kratzfuͤſſen und Complimenten:
allein es war ihm ſo viel Hoffnung gemacht,
und das was er ſagen ſolte, ſo fleißig vorgebetet
worden, daß ich keine Hoffnung haben konte, daß
er ſich von ſeinem Geſuch abbringen laſſen wuͤr-
de. Er verlangte: ich moͤchte ihm die unange-
nehmen Dinge nicht zurechnen, die er mit Be-
truͤbniß haͤtte anſehen und anhoͤren muͤſſen. Er
bat mich um Mitleiden/ wie er es nannte.


Er
[355]der Clariſſa.

Er ſagte: man habe ihm von neuen Hoff-
nung gemacht. Ob ich ihn gleich faſt zwuͤnge
zu verzweifeln, ſo wollte er doch nicht ablaſſen,
ſo lange ich unverheyrathet bliebe. Er redete
von ſo langem und muͤhſamen Anhalten und
Warten, das gantz ohne Exempel ſeyn ſolte.


Jch ſagte ihm in nachdruͤcklichen und deutli-
chen Worten, was er zu erwarten haͤtte.


Dem ohngeachtet wollte er beſtaͤndig ſeyn.
Denn er hoffte doch nicht, daß ich mein Hertz
einem andern zugeſagt haͤtte.


Wollen ſie denn aber (erwiederte ich) doch be-
ſtaͤndig bleiben, wenn ich ihnen bezeuge, wie ich
es hiemit thue, daß mein Hertz vergeben ſey?
Mein Bruder mag es ſich ſelbſt zuſchreiben!


Er ſagte: er wuͤßte, nach was fuͤr edlen Grund-
ſaͤtzen ich handelte, und er betete mich deswegen
an. Er hoffete, daß er mich koͤnnte gluͤcklich
machen: und ich wuͤrde es ihm nicht abſchlagen,
durch ihn gluͤcklich zu werden.


Jch verſicherte ihn, daß es nichts fruchten wuͤr-
de, wenn ich nach meines Onckles Gut gebracht
wuͤrde: denn ich wuͤrde ihn nie wieder ſprechen,
und keine Zeile von ihm annehmen, ja kein Wort
anhoͤren, das fuͤr ihn geredet wuͤrde, es moͤchte
auch ſeyn von wem es wollte.


Es that ihm dieſes leid. Er muͤßte ewig ein
ungluͤcklicher Menſch ſeyn, wenn ich bey dem
Sinne bliebe. Allein er hoffete, mein Vater
und Onckles wuͤrden mich zu Aenderung meines
Entſchluſſes vermoͤgen koͤnnen.


Z 2Nie-
[356]Die Geſchichte

Niemahls! niemahls! (antwortete ich ihm)
darauf koͤnnte er ſich verlaſſen.


Er ſagte: ſeine Geduld, ſein Warten, ſein
Leiden wuͤrde reichlich genug belohnet ſeyn.


Und das (ſprach ich) auf meine Unkoſten[?]
und mit dem Verluſt alles deſſen, was ich Gluͤck-
ſeeligkeit nennen kan?


Er hoffete, ich wuͤrde mich zu andern Gedan-
cken bringen laſſen. Er wollte von ſeinem Ver-
moͤgen, von den Verſchreibungen, von ſeiner Lie-
be zu mir reden, und verſichern, daß noch nie
eine Mannsperſon ein Frauenzimmer aufrichti-
ger geliebet haͤtte, als er mich.


Von dem erſten Stuͤck verbat ich etwas zu
hoͤren. Jn Abſicht auf ſeine aufrichtige Liebe
antwortete ich: was kan aus ihrer Liebe zu einem
jungen Frauenzimmer heraus kommen, das ih-
nen die Verſicherung giebt, daß es niemand mit
groͤſſerem und aufrichtigerm Misvergnuͤgen und
Abneigung anſehen kan, als eben ſie? Was koͤn-
nen ſie fuͤr Gruͤnde anfuͤhren, die ich nicht in
dieſer der Wahrheit gemaͤſſen Erklaͤrung ſchon
zum voraus beantwortet habe?


Liebſte Fraͤulein, was kan ich ſagen? Jch bit-
te ſie auf meinen Knien ‒ ‒ Hiemit fiel der gar-
ſtige Menſch auf die Knie.


Laſſen ſie mich nicht vergeblich knien. Ver-
achten ſie mich nicht ſo ſehr ‒ ‒ Er ſahe recht
eckelhaft betruͤbt aus.


Jch habe auch gekniet, Herr Solmes. Sehr
oft habe ich gekniet. Jch will noch einmahl
knien
[357]der Clariſſa.
knien, und ſelbſt vor ihnen will ich auf die Knie
fallen, wenn das Knien ein ſo ſehr verdienſtli-
ches Werck iſt. Ergaͤntzen ſie das nur nicht,
was noch an den Verfolgungen meines grauſa-
men Bruders fehlet.


Wenn alle Knechtſchaft, wenn alle Anbetung,
die ich ihnen Lebenslang verſpreche ‒ ‒ Ach Fraͤu-
lein, ſie verlangen von andern Mitleiden, und
erzeigen doch ſelbſt kein Mitleiden.


Soll ich gegen mich grauſam ſeyn, um mit-
leidig gegen ſie zu heiſſen? Mein Herr, neh-
men ſie mein Gut hin, weil ſie hier im Hauſe ſo
gut angeſchrieben ſind; ich will es von Hertzen
gern zugeben. Laſſen ſie mir nur mich ſelbſt.
Erzeigen ſie andern das Mitleiden, das ſie von
andern verlangen.


Meinen ſie meine Anverwanten, Fraͤulein?
So unwuͤrdig dieſe meines Mitleidens ſind, ſo
ſoll doch alles geſchehen, was ſie befehlen wer-
den.


Jch? Soll ich ſie wider ihre Natur mitlei-
dig machen? Soll ich durch Verluſt meiner ei-
genen Gluͤckſeeligkeit ihren Verwanten ein Gluͤck
erkauffen? Was ich aber jetzt meinte, iſt ihr Mit-
leiden gegen mich. Da ſie bey den Meinigen ſo
viel ausrichten koͤnnen, ſo beweiſen ſie darin ihr
Mitleiden gegen mich: ſagen ſie den Meinigen,
ſie faͤnden, daß ich meine Abneigung nicht uͤber-
winden koͤnnte. Wenn ſie ein verſtaͤndiger
Mann ſind, ſo ſetzen ſie hinzu, daß ihnen ihre
Zufriedenheit zu lieb iſt, als daß ſie ſich wagen
Z 3wol-
[358]Die Geſchichte
wollten, ſich mit einer auf ewig zu verbinden, die
einen ſolchen Widerwillen gegen ſie hat. Sa-
gen ſie, ich ſey ihrer nicht werth, und daß ſie aus
Liebe zu ſich und zu mir ihr Geſuch fahren laſſen
wollen, deſſen Gewaͤhrung ſie ohnehin nicht fuͤr
moͤglich anſehen.


Jch will es darauf wagen! (ſagte der grau-
ſame Menſch mit einem blaſſen boshaften Ge-
ſicht, und mit tieffen funckelnden Augen, und biß
ſich auf die Lippen, mir ſeine maͤnnliche Bosheit
zu zeigen.) Jhr Haß ſoll mich nicht hindern.
Jch hoffe es in wenig Tagen in meiner Macht
zu haben, ihnen zu zeigen ‒ ‒


Sie haben es ſchon jetzt in ihrer Macht, mein
Herr!


(Er kam noch gut genug davon) ihnen zu zei-
gen, (fuhr er fort) daß ich beſſer gegen ſie geſin-
net bin, als ſie gegen mich; ob man gleich ihr
edles Gemuͤth ſo ſehr ruͤhmet.


Sein Geſicht ſchickte ſich recht zu ſeinem Zorn.
Es ſcheint recht von der Natur dazu gebildet zu
ſeyn, dieſe Leidenſchaft vorzuſtellen.


Den Augenblick kam mein Bruder herein.
Er biß die Zaͤhne zuſammen, und ſagte: fahret
nur fort, eine ſolche Amazonin zu ſeyn, als bis-
her; es kleidet euch recht allerliebſt. Es ſoll
aber nicht lange waͤhren. Jetzt iſt die Reihe an
euch, zu tyranniſiren. Klaget andere nur brav
an! Laſſen ſie ſie allein, Herr Solmes: ihre
Zeit wird bald voruͤber ſeyn. Jn wenigen Ta-
gen werden ſie ſie demuͤthig und wehmuͤthig ge-
nug
[359]der Clariſſa.
nug finden. Denn wird ſie ausſehen, wie eine
arme ſchuͤchterne Naͤrrin; und wenn ihr Ge-
wiſſen ihr ſagt, was ſie vorhin geſuͤndiget hat,
ſo wird ſie ſie mit einer weinenden Stimme um
Vergebung und um Vergeſſung bitten. (So
druckte ſich mein unmenſchlicher Bruder aus.)


Er ſagte noch mehr, und flog mit einem Ge-
ſicht ſo roth wie Scharlack zur Thuͤr hinaus, als
ihn Schorey herausruffen muſte.


Jch ſetzte mich von einem Stuhl auf den an-
dern, und war uͤber eine ſolche Art mit mir um-
zugehen voller Beſtuͤrtzung und Unruhe.


Herr Solmes ſuchte ſich zu entſchuldigen,
als wenn es ihm leid thaͤte, daß mein Bruder
ſo ungeſtuͤm waͤre.


Jch wehete mich mit dem Fechtel, und ſagte:
laſſen ſie mich ungeſtoͤrt, oder ich werde wahr-
haftig ohnmaͤchtig. (Jch erwartete dieſes ge-
wiß.)


Er empfohl ſich meiner Wohlgewogenheit mit
einem zuverſichtlichen Geſicht, das vielleicht deſto
dreiſter ward, je weniger ich meine Angſt verber-
gen konnte. Denn er ergriff ſo gar meine zit-
ternde und widerſpenſtige Hand, und ſchaͤndete
ſie durch ſeinen eckelhaften Kuß.


Jch ging mit Widerwillen und Verachtung
von ihm weg. Er buͤckete und kratzete ſich zum
Saal hinaus: und ſchien ſich ſelbſt deswegen
recht wohl zu gefallen, daß er mich in ſolcher
Verwirrung verließ.


Mich duͤnckt, er ſteht mir noch immer vor
Z 4den
[360]Die Geſchichte
den Augen, und ich ſehe ihn noch immer, wie
er bey dem Weggehen ſeine ungeſchickten Fuͤſſe
ruͤckwaͤrts ſetzte, bis er ſich endlich an die offen-
ſtehende Thuͤr ſtieß, und dadurch erinnert ward,
mir ſeinen ſo willkommenen Ruͤcken zuzukehren.


Eliſabeth brachte mir hierauf Nachricht, daß
ich auf meine Stube gehen duͤrfte, und daß ich
alles wohl uͤberlegen ſollte, weil ich nicht viel Zeit
mehr haͤtte. Sie glaubte aber dennoch, daß ich
bis auf den Sonnabend wuͤrde bleiben koͤnnen.


Sie erzaͤhlte mir, mein Bruder und meine
Schweſter haͤtten zwar wegen ihrer uͤbermaͤßigen
Hitze einen Verweiß bekommen. Da aber ſie
beyde und mein Onckle erzaͤhlt haͤtten, wie em-
pfindlich ich ihnen begegnet waͤre, ſo waͤren alle
mehr als jemahls der Meinung geworden, daß
ich Herrn Solmes haben muͤſte.


Er ſelbſt ſoll vorgeben, von neuen noch mehr
in mich verliebt zu ſeyn, als vorhin; und ſa-
gen, ich haͤtte ihn durch die gantze Unterredung
mehr gereitzet als abgeſchrecket. Er redet mit
Entzuͤckung
davon, was ich ſeinem Tiſche ſuͤr
eine Zierde geben wuͤrde, und was des Zeuges
mehr iſt, das er entweder ſelbſt geſagt hat, oder
das ſie ihm andichtet.


Sie beſchloß alles mit der Erinnerung, daß
jetzt fuͤr mich die Zeit waͤre, nachzugeben, und
mir von ihm auszubedingen, was ich wollte:
ſonſt, meint ſie, wuͤrde ich ſchlecht fahren, zum
wenigſten wenn Herr Solmes ſo geſinnet waͤre,
als ſie. Und welches Frauenzimmer wollte wol
einen
[361]der Clariſſa.
einen liederlichen Menſchen anbeten, wenn ſie
einen tugendhaften Anbeter haben kan.


Sie meint, es waͤre fuͤr mich ein groſes Gluͤck,
daß ich meine Papiere ſo liſtig verſteckt haͤtte.
Jch koͤnnte leicht dencken, daß ſie es wuͤſte, daß
ich die Feder immer gebrauche: und da ich die-
ſes vor ihr geheim zu halten ſuchte, ſo duͤrfte ſie
es auch nicht als ein anvertrauetes Geheimniß
verſchweigen. Sie moͤchte indeſſen ſchlim nicht
gern aͤrger machen; ſondern ſuchte lieber alles
zum Beſten und zur Verſoͤhnung zu lencken.
Frieden ſtifften iſt ihre eigene Gabe, und iſt es
immer geweſen. Wenn ſie mir ſo feind gewe-
ſen waͤre, als ich glaubte, ſo moͤchte ich wol nicht
mehr hier ſeyn. Sie wollte mir dieſes nicht als
eine Wohlthat anpreiſen: denn ſie glaubte in der
That, es wuͤrde fuͤr mich am beſten ſeyn, wenn
nur alles bald voruͤber waͤre; und das wuͤrde
auch fuͤr ſie ſelbſt und fuͤr alle im Hauſe das
beſte ſeyn. Einen Winck muͤſte ſie mir nur
noch geben: ob ich gleich bald wegreiſen wuͤrde,
ſo wuͤrde ich doch auch hier im Hauſe Feder und
Dinte nicht lange mehr in meiner Gewalt haben.
Wenn ich mich damit nicht mehr beſchaͤfftigen
koͤnnte, ſo wuͤrde es ſich zeigen, was ſich ein ſo
munteres Gemuͤth als das meinige, wuͤrde zu thun
machen koͤnnen.


Dieſer Winck hat ſo viel bey mir gewuͤrcket,
daß ich Federn, Papier und Dinte an mehr als
an einem Orte verſtecken werde; und zwar theils
in dem Sommer-Hauſe, wenn ich einen ſichern
Z 5Platz
[362]Die Geſchichte
Platz daſelbſt finden kan. Jch habe endlich noch
Bleyſtifft und Roͤdel, die ich gebrauche, die Mu-
ſter abzuzeichnen: und wenn ich kein anderes
Papier habe, ſo will ich die Muſter anwenden.


Was fuͤr ein Gluͤck war es, daß ich meine
Brieffe aus dem Wege geſchafft habe. Jch kan
an der Unordnung, darin ich alle meine Dinge
finde, ſehen, wie genau ſie nachgeſucht haben:
denn, wie Sie wiſſen, halte ich ſonſt alles ſo or-
dentlich, daß ich Band, Spitzen, oder was es
ſonſt iſt, im finſtern finden kan. Meine Buͤcher
ſtehen auch ſonſt ordentlich: jetzt aber ſind ſie in
voͤlliger Unordnung. Es ſcheint daß man hinter
den Buͤchern und ſelbſt in den Buͤchern geſucht
hat. Die Kleider ſind auch etwas herum ge-
riſſen. Keine Stelle iſt undurchſucht geblieben.
Jhrer Erinnerung bin ich deswegen verpflichtet,
daß ſie nichts gefunden haben.


Aus Muͤdigkeit entfiel mir die Feder, bey dem
Wort, verpflichtet. Jch nehme ſie wieder,
um voͤllig zu ſchreiben, was ich noch im Sinne
hatte, und ſie zu verſichern, daß ich bin.


Jhre
ewig danckbare und ergebenſte
Clariſſa Harlowe.


Der
[363]der Clariſſa.

Der zwey und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch muß nunmehr ſchreiben, ſo gut ich kan,
und mich meiner verſteckten Federn und
Dinte bedienen. Denn alle meine Schreib-Ge-
raͤthſchafft, ſo viel man davon finden konnte,
iſt mir weggenommen, davon ich Jhnen die Um-
ſtaͤnde hernach erzaͤhlen will.


Vor ohngefehr einer Stunde habe ich mei-
nen langen Brief fuͤr Sie hingelegt, und zugleich
ein Briefchen fuͤr Herr Lovelace an den ab-
geredeten Ort verſteckt, dadurch ich ihn in vier
Zeilen Nachricht gebe, daß die Unterredung mit
Herrn Solmes uͤberſtanden ſey, und daß ich
durch mein beſtaͤndiges und ungeaͤndertes Nein
es dahin gebracht zu haben hoffete, daß man
ihn mir nicht weiter aufdringen wuͤrde.


Weil ich die gantze Nacht aufgeſeſſen habe,
an Sie zu ſchreiben, ſo war ich ſo muͤde, daß
ich dieſen Morgen laͤnger als gewoͤhnlich ſchlief:
deswegen habe ich dieſen Brief nicht eher hinle-
gen koͤnnen. Jch hoffe aber doch, daß Sie ihn
fruͤhzeitig genug erhalten werden, mich dieſen
Abend oder Morgen recht fruͤh mit einer Ant-
wort zu erfreuen. Sie mag ſo kurtz ſeyn, als
ſie
[364]Die Geſchichte
ſie will: ich werde doch zum wenigſten daraus
erſehen, was ich von der Guͤtigkeit Jhrer Frau
Mutter erwarten darf: denn, wenn es lange
waͤhrt, ſo ſoll ich auf den Sonnabend wegge-
bracht werden: es kan aber wol gar ſchon mor-
gen geſchehen.


Nun will ich Jhnen melden, was vorherge-
gangen iſt, ehe mir Federn und Dinte wegge-
nommen wurden, und mit welchen Umſtaͤnden
man zu dieſer Gewaltthaͤtigkeit (ſo kan ich es mit
Recht nennen) geſchritten iſt. Jch will aber
gantz kurtz ſeyn.


Meine Baſe (welche, eben ſo wohl als Herr
Solmes und meine beyden Onckels, hier zu woh-
nen ſcheint) kam zu mir, und ſagte mir, ſie
wuͤnſchte ſehr, daß ich die Nachrichten hoͤren moͤch-
te, die mir Herr Solmes von Herrn Lovela-
ce
geben wollte: damit ich zum wenigſten uͤber-
zeuget wuͤrde[,] was ſeine kuͤnftige Frau fuͤr ei-
nen unertraͤglichen Mann an ihm haben wuͤrde.
Jch moͤchte von den Nachrichten glauben was ich
wollte, und ich koͤnnte deswegen immer etwas
weniger glauben als die Worte ſagten, weil Herr
Solmes eine Abſicht bey Mittheilung derſelben
haͤtte: Sie koͤnnten mir aber doch nuͤtzlich ſeyn,
wenn es auch nur dazu waͤre, Herr Lovelacen
uͤber einige Dinge, die mich naͤher betraͤffen, zu
befragen.


Jch antwortete: es ſey mir gantz gleichguͤl-
tig, was er von mir ſagen moͤchte, denn ich wuͤß-
te gewiß, daß er nichts zu meinem Nachtheil ſa-
gen
[365]der Clariſſa.
gen, noch ſich ruͤhmen koͤnnte, daß ich ihm
ſo zugethan geweſen waͤre, als ich nach dem un-
guͤtigen Urtheil meiner Freunde ſeyn ſollte.


Sie ſagte: er bilde ſich viel auf ſeine Familie
ein, und ſpreche von der unſrigen ſo geringſchaͤ-
tzig, als wenn es fuͤr ihn zu niedrig waͤre, eine
Perſon aus unſerer Familie zu heyrathen.


Jch antwortete: er muͤßte ſelbſt ein ſehr ver-
aͤchtlicher Menſch ſeyn, wenn er in der That von
einer Familie geringſchaͤtzig reden wollte, die eben
ſo gut als ſeine eigene waͤre, das eintzige ausge-
nommen, daß er mit einem Lord verwant ſey.
Mich duͤnckte, daß der Adel mehr eine Schande
als Ehre fuͤr ſolche ſey, die durch eigene Vor-
zuͤge den Adel nicht eben ſo ehren als ſie da-
durch geehret werden. Der abgeſchmackte Hoch-
muth meines Bruders gereichte unſerer Familie
nicht zur Ehre, ſondern ſetze ſie allzu ſehr unter
andere herunter, nach welchem er ſich uͤberall ver-
lauten lieſſe, daß er in den vornehmen Adel
hinein heyrathen wollte. Das aber wuͤßte ich ge-
wiß, daß ich von Herr Lovelaces Verſtande
eine eben ſo ſchlechte Meinung bekommen wuͤr-
de, als andere Leute von ſeiner Tugend haͤtten,
wenn ich uͤberzeugt werden koͤnnte, daß er eines
ſo niedertraͤchtigen Hochmuths ſchuldig ſey, und
ſich auf ſo zufaͤllige und ihm fremde Vorzuͤge
etwas einbildete.


Sie beſtand darauf, daß er ſich dergleichen
Freyheiten herausgenommen habe, und verſprach
mir
[366]Die Geſchichte
mir Proben davon zu geben, uͤber die ich mich
verwundern wuͤrde.


Jch erwiderte: wenn es auch gewiß waͤre, daß
Herr Lovelace ſich ſolche Freyheiten herausge-
nommen haͤtte, ſo ſey es doch billig, da er von
unſerer Familie ſo ſehr gehaſſet und in allen Ge-
ſelſchafften herunter geſetzt wuͤrde, daß man un-
terſuchte, was die Veranlaſſung zu dieſen Re-
den geweſen ſey: und ob nicht vielleicht einige
meiner Verwanten ihn dadurch zu veraͤchtlichen
Ausdruͤcken gereitzt haͤtten, daß ſie die Reichthuͤ-
mer, die ſie beſitzen, allzu hoch ſchaͤtzen, und alle
andern Vorzuͤge verachten, ja wohl ſo gar um
ſeine Familie herunter zu ſetzen auch den Adel
ihrer eigenen Familie als eine geringe Sache vor-
ſtelleten und laͤcherlich zu machen ſuchten. Mit
einem Wort: koͤnnen ſie ſagen, Frau Baſe, daß
auf unſerer Seite weniger Groll iſt, als auf ſei-
ner? kan er von uns geringſchaͤtziger reden, als
wir von ihm? Und was das anlanget, daß man
ſo oft wiederhohlet, er werde ein ſchlimmer Ehe-
mann ſeyn, ſo moͤchte ich doch wiſſen, ob er ſei-
ner Frauen noch ſchlimmer begegnen kan, als mir
begegnet wird, inſonderheit von meinem Bruder
und von meiner Schweſter.


Ach! Fraͤulein Baſe! Ach mein Hertz, wie
ſehr hat ſie der gottloſe Mann gefeſſelt!


Vielleicht hat er das noch nicht gethan. Al-
lein Eltern, die gern wollen, daß ihre Toͤchter
eben ſo dencken ſollen als ſie, haben Urſache ſich
ſorgfaͤltig aller ſolcher Reden zu enthalten, die
ein
[367]der Clariſſa.
ein Kind, das kein niedertraͤchtiges Hertz hat,
zwingen, die Parthey des Mannes zu nehmen,
dem die Verwanten feind ſind. Allein ohne
dieſes auszumachen, ſo weiß ich nicht, warum er
mir immer genannt wird, und warum ich etwas
von ihm hoͤren ſoll, da ich verſprochen habe, ihm
gaͤntzlich zu entſagen.


Allein, mein Hertz, es iſt doch kein ſo groſſes
Ungluͤck, wenn ihnen Herr Solmes Nachricht
davon giebt, was Herr Lovelace von ihnen ge-
ſagt hat. So hart ſie Herrn Solmes begeg-
net ſind, ſo will er doch gern die Ehre haben, ih-
nen noch einmahl aufzuwarten. Er bittet ſie
deswegen, daß ſie hoͤren wollen, was er zu ſa-
gen hat.


Wenn es anders fuͤr mich wohl gethan iſt, es
zu hoͤren ‒ ‒


Das iſt es! ſehr wohl gethan! fiel ſie
mir mit Unwillen in die Rede.


Hat ſie das von Herr Lovelaces Nieder-
traͤchtigkeit uͤberzeuget, was er geſagt hat!


Ja, mein Kind! und ich glaube, daß ſie ihn
auf ewig verabſcheuen muͤſſen.


Wohlan, liebſte Frau Baſe, laſſen ſie es mich
denn aus ihrem eigenen Munde hoͤren. Es iſt
nicht noͤthig, daß ich Herrn Solmes daruͤber
ſpreche: es wird bey mir noch einmahl ſo viel
Eindruck machen, wenn ſie es mir erzaͤhlen.
Was hat er ſich denn unterſtanden von mir zu
ſagen?


Meine Baſe wußte nicht, was ſie antworten
ſollte.
[368]Die Geſchichte
ſollte. Sie ſagte endlich: ich ſehe, wie ſehr ſie
gefeſſelt ſind, Fraͤulein. Es thut mir leid.
Denn ich verſichere ihnen, daß ſie nichts ausrich-
ten werden. Sie muͤſſen doch in wenigen Ta-
gen Frau Solmes heiſſen.


Wenn noch Einwilligung des Hertzens und
Mundes bey der Trauung erfodert wird, ſo bin
ich gewiß, daß ich Herr Solmeſen niemahls kan
oder will angetrauet werden. Wie ſchwere Ver-
antwortung werden meine Anverwanten haben,
wenn ſie meine Hand mit Gewalt in ſeine Hand
zwingen, und ſie da ſo lange halten, als der Prie-
ſter die Trau-Formul ſpricht, wenn ich vielleicht
die gantze Zeit auſſer mir und in Ohnmacht
bin.


Was fuͤr ein Bild machen ſie jetzt von einer
gezwungenen Trauung! recht als wenn ſie es
aus einer Romaine genommen haͤtten. Einige
Leute werden ſagen, daß ſie ihren Eigenſinn le-
bendig abgemahlt haben.


Mein Bruder und meine Schweſter werden
das ſagen: von ihnen aber bin ich verſichert,
daß ſie einen Unterſcheid zwiſchen Eigenſinn und
natuͤrlicher Abneigung machen werden.


Man kan ſich bisweilen eiue Abneigung ein-
bilden, mein Schatz, wenn nichts als Eigenſinn
zum Grunde liegt.


Jch kenne mein eigenes Hertz. Jch wuͤnſch-
te, daß ſie es auch kennen moͤchten.


Gut: aber ſprechen ſie doch Herrn Solmes
nur einmahl: das wird mehr zu ihrem Vor-
theil
[369]der Clariſſa.
theil beytragen, als ſie dencken, und wird fuͤr
eine Gefaͤlligkeit angeſehen werden.


Warum ſoll ich ihn ſprechen. Hat der Mann
ſo groſe Luſt, aus meinem Munde zu hoͤren, daß
ich ihn nicht leiden kan? Will er, daß ich die
Meinigen immer mehr gegen mich erbittern ſoll?
O mein liſtiger, mein eigennuͤtziger Bruder.


Ach mein Schatz? (ſagte ſie wehmuͤthig, als
wenn ſie meine Meinung wohl verſtuͤnde) allein
muͤſſen ſie denn nothwendig die Jhrigen mehr
erbittern?


Ja! das mus geſchehen, wenn ſie daruͤber
boͤſe werden wollen, daß ich meine Abneigung
von Herrn Solmes bezeuge.


Herr Solmes daurt mich. Er betet ſie an.
Er wuͤnſcht ſie noch einmahl zu ſprechen. Er
liebt ſie deswegen mehr, daß ſie ihm geſtern ſo
hart begegnet ſind. Er iſt gantz entzuͤckt.


Der abſcheuliche Menſch! dachte ich bey mir
ſelbſt: der ſoll entzuͤckt ſeyn!


Jch ſagte: was muß der fuͤr ein grauſames
Hertz haben, der ſich uͤber ein Ungluͤck, daran er
Schuld iſt, freuet! Jch mercke es, ich mercke es,
daß man mich als ein Thier anſiehet, das fuͤr
meinen Bruder und Schweſter und fuͤr Herrn
Solmes gefangen werden ſoll. Sie ſind alle
zuſammen recht zur Luſt und Vergnuͤgen grau-
ſam gegen mich. Sollte ich den Mann von
neuen ſprechen! den unbarmhertzigen Mann!
Jch will ihn gewiß nicht ſprechen, wenn ich nur
vorbey kommen kan.


Zweyter Theil. A aWas
[370]Die Geſchichte

Was fuͤr eine arge Auslegung iſt das, die ihr
allzulebhafter Witz daruͤber macht, daß Herr
Solmes ſie bewundert! So hefftig ſie geſtern
waren, und ſo veraͤchtlich ſie ihn abwieſen, ſo
hat er ſich doch ſelbſt in ihre Haͤrte und Sproͤ-
digkeit verliebt. Er iſt kein ſo poͤbelhafter Mann,
als ſie meinen: er hat kein unempfindliches Hertz,
laſſen ſie ſich von mir erbitten, ihn nach ihrer
Eltern Verlangen noch einmahl zu ſprechen, und
das zu hoͤren, was er zu ſagen hat.


Wie kan ich mich entſchlieſſen, ihn noch ein-
mahl zu ſprechen, da ſie, und alle andere die
geſtrige Unterredung ſchon ſo auslegen wollten,
als wenn ich ihm dadurch Hoffnung gegeben
haͤtte? und da ich ſelbſt geſagt habe, daß es die-
ſen Schein geben wuͤrde, wenn ich ihn zum
zweyten mahl mit meinem guten Willen ſpraͤ-
che? Und ich bin doch entſchloſſen, ihm nicht die
geringſte Hoffnung zu geben.


Sie koͤnnten mich wol mit dergleichen An-
merckungen verſchonen, die mich betreffen. Jch
habe von keiner Seiten Danck.


Sie ging weg. Jch ging ihr bis an die
Thuͤre nach, und rief ihr nach, allein ſie wollte
mich nicht weiter hoͤren. Ein niedertraͤchtiger
Horcher ward durch ihren unvermutheten Auf-
ſtand in eine kleine Beſtuͤrtzung geſetzt. Jch
ward noch eines Fuſſes auf dem Abſatz der Trep-
pe gewahr, der ſich eben zuruͤck zog.


Jch hatte mich kaum erhohlet, ſo kam Eliſa-
beth herauf, und ſagte: Fraͤulein, man bittet
ſich
[371]der Clariſſa.
ſich ihre Geſellſchafft unten in ihrem eigenen
Saal aus.


Wer denn, Eliſabeth?


Wie kan ich das wiſſen, Fraͤulein! Vielleicht,
iſt es ihre Schweſter, vielleicht ihr Bruder. Jch
weiß wohl, daß ſie nicht wieder zu ihnen in ih-
re Stube kommen wollen.


Jſt Herr Solmes weggegangen, Eliſa-
beth[?]


Jch glaube es, Fraͤulein! Wollen ſie ihn
etwan wieder zuruͤck ruffen laſſen? ſagte das
dreiſte Maͤdchen.


Jch ging hinunter: und wer war es anders,
der mich hatte ſprechen wollen, als mein Bruder
und Herr Solmes? Dieſer hatte ſich wie ein
Suͤnder hinter die Thuͤr geſtellet, daß ich ihn
nicht ſehen konnte, bis mich mein Bruder auf
eine ſpoͤttiſche Weiſe in die Stube gefuͤhret hatte.
Jch erſtarrete nicht anders, als ſaͤhe ich ein Ge-
ſpenſt.


Jhr ſollt euch niederlaſſen, Claͤrchen!


Und was weiter, mein Bruder?


Was weiter? Jhr ſollt das ſpoͤttiſche Geſich-
te ablegen, und hoͤren, was Herr Solmes zu
ſagen hat.


Jch dachte bey mir: ſo bin ich wieder her-
unter geruffen, um gefangen zu werden.


Herr Solmes ſagte ſo eilig, als glaubte er,
daß ich ihm ſonſt keine Zeit laſſen wuͤrde es zu
ſagen: (und darin hatte er Recht) Fraͤulein,
Herr Lovelace iſt ein offenbahrer Feind des


A a 2Ehe-
[372]Die Geſchichte

Eheſtandes, und hat Abſichten wider ihre Eh-
re, wenn er jemahls ‒ ‒ ‒


Niedertraͤchtiger Anklaͤger! (ſagte ich, da mich
der Unwille uͤbernahm) Er hat keine ſolche Ab-
ſichten. Er darf ſich nicht unterſtehen, ſie zu
haben. Allein ſie haben dergleichen Abſichten:
denn ein freyes Gemuͤth ſchaͤtzt es ſich fuͤr keine
Ehre, wenn es ſich ſoll zwingen laſſen. (Jch
riß auch meine Hand von meinem Bruder los,
der ſie Herrn Solmes geben wollte.)


O du ungeſtuͤmes Ding, ſagte mein Bruder.
Allein, nur nicht ſo gleich weggegangen! (denn
ich war im Begriff wegzugehen.


Jch ſuchte mich von ihm los zu machen, und
ſagte: was ſoll das, daß ihr mich wider meinen
Willen haltet.


Jhr ſollt nicht weggehen, Ungeſtuͤme? ſagte
mein Bruder, und ſchlug ſeine Arme, die ich
nicht fuͤr Arme eines Bruders halten konnte,
um mich.


So laßt Herrn Solmes weggehen. Was
haltet ihr mich ſo? Um euer ſelbſt willen wuͤn-
ſche ich, daß er nicht ſehen moͤge, wie unmenſch-
lich ein Bruder mit einer Schweſter umgehen
kan, ohne daß ſie es verdient.


Jch brauchte alle Kraͤffte mich von ihm los-
zureiſſen, und er muſte meine Hand fahren laſ-
ſen. Er that es mit den Worten: Lauf hin,
du Furie! Wie ſtarck iſt der Wille des Men-
ſchen: Es iſt nicht moͤglich, ſie zu halten!


Jch
[373]der Clariſſa.

Jch lief nach meiner Stube hinauf, daß ich
auſſer Athem kam, und verſchloß mich.


Jn einer kleinen Viertheil-Stunde kamEli-
ſabeth
herauf. Jch machte ihr auf, als ſie an-
klopfte und zugleich (auch bey nahe auſſer Athem)
mich bat, ſie einzulaſſen.


GOtt erbarme ſich unſer! (ſagte ſie) Was
vor eine Verwirrung im Hauſe! (auf und nie-
der ging ſie, und wehete ſich mit dem Schnupf-
tuch.) Solche boͤſe erzuͤrnte Herrſchafft! Sol-
che eigenſinnige Fraͤuleins! Solch ein demuͤthi-
ger Liebhaber! Solche erbitterte Onckles! Sol-
che ‒ ‒ Ach mein Hertz, mein Hertz! Was fuͤr
ein verkehrtes Haus iſt das! Und warum alles
das? Als weil eine Fraͤulein gluͤcklich ſeyn koͤnn-
te, und nicht gluͤcklich ſeyn will. Was fuͤr Pol-
tern iſt hier, wo ſonſt alles ſo ruhig zugieng.


Sie fuhr fort mit ſich ſelbſt zu reden. Jch
hoͤrte ſo geduldig zu als ich konnte, und warte-
te, wenn ſie ihr einſeitiges Geſpraͤch endigen wuͤr-
de, indem ich wohl merckte, daß ſie keine erfreu-
liche Votſchafft an mich auszurichten hatte.


Sie kehrte ſich endlich zu mir, und ſagte: ich
muß thun, was mir befohlen iſt. Seyn ſie
nicht ungnaͤdig, Fraͤulein. Jch muß ihre Fe-
dern und Dinte hinunter bringen, und zwar den
Augenblick.


Auf weſſen Befehl?


Auf ihrer Eltern Befehl!


Wie ſoll ich das mit Gewißheit wiſſen?


Sie wollte nach meinem Cloſet gehen! ich
A a 3ging
[374]Die Geſchichte
ging aber voran hinein, und ſagte: ruͤhrt etwas
an, wenn ihr es euch unterſteht.


Meine Baſe Dorthgen kam dazu. Das
liebe guthertzige Kind ſprach weinend und mit
gebrochenen Worten: Fraͤulein, Fraͤulein: Sie
muͤſſen ‒ ‒ ‒ ſie muͤſſen wahrhaftig ‒ ‒ ‒ es
an Eliſabeth geben ‒, ihr Feder und Dinte
geben.


Muß ich es thun? meine liebe Fraͤulein Ba-
ſe! So will es ihnen geben, und nicht dem drei-
ſten Maͤdchen.


Jch gab ihr mein Schreib-Zeug.


Es thut mir leid, ſehr leyd (ſagte die Fraͤu-
lein) daß ich es ausrichten muß. Jhr Herr
Vater will nicht, daß ſie laͤnger mit ihm in ei-
nem Hauſe bleiben ſollen. Sie ſollen morgen,
oder hoͤchſtens auf den Sonnabend wegreiſen.
Jhr Schreib-Zeug wird ihnen deswegen abge-
fodert, damit ſie niemanden Nachricht von die-
ſer Entſchlieſſung geben koͤnnen.


Das liebe Kind ging mit Weinen von mir
weg, und trug mein Dinten-Fuß mit aller Zu-
behoͤr und noch ein Bund Federn herunter, die
ſie mir inſonderheit abfodern muſte, weil man ſie
bey der groſen Durchſuchung geſehen hat. Jch
hatte keine davon gebraucht, weil ich hin und
her ein halb Dutzend Raben-Federn verſteckt hat-
te: und weil ſie ſie vorhin uͤbergezaͤhlt haben
mochten, ſo kan dieſes ein gluͤcklicher Umſtand
fuͤr mich ſeyn.


Eli-
[375]der Clariſſa.

Eliſabeth fuhr fort zu reden, und mir zu
erzaͤhlen: meine Mutter ſey jetzt eben ſo ſehr ge-
gen mich aufgebracht, als irgend ein anderer.
Mein Urtheil ſey ſchon geſprochen. Durch mei-
ne Hefftigkeit haͤtte ich alle abgeſchreckt, ein Wort
fuͤr mich zu reden. Herr Solmes haͤtte ſich
auf die Lippen gebiſſen, und etwas heraus ge-
murmelt: er ſchiene (nach ihrer Redens-Art)
mehr im Kopf gehabt zu haben, als heraus ge-
wollt haͤtte.


Dem ohngeachtet gab ſie mir zu verſtehen,
daß dieſes harte Hertz ein Vergnuͤgen darin faͤn-
de, mich zu ſehen, wenn es gleich wider meinen
Willen waͤre: und daß er verlangte mich aber-
mahls zu ſehen. Muß das nicht ein Wilder,
ein Unmenſch ſeyn?


Mein Onckle Harlowe haͤtte geſagt, er woll-
te ſich meiner nicht mehr annehmen. Er haͤtte
Mitleiden mit Herr Solmes: er hoffe aber,
daß ſich dieſer kuͤnftig des vergangenen nicht zu
meinem Nachtheil erinnern moͤchte. Mein Onckle
Anton hingegen haͤtte gemeint: ich muͤſte bil-
lig dafuͤr buͤſſen, ſo wohl um Herrn Solmes
als um ihrer ſelbſt willen. Sie, die Eliſabeth/
ſagte, ſie ſey eben der Meinung, nicht anders,
als wenn ſie mit zu der Familie gehoͤrte.


Weil ich kein anderes Mittel habe, das zu er-
fahren, was unten geredet und beſchloſſen wird,
ſo habe ich bisweilen mit ihrer Grobheit mehr
Geduld, als ich ſonſt haben wuͤrde. Sie ſcheint
A a 4um
[376]Die Geſchichte
um alle Heimlichkeiten meines Bruders und
meiner Schweſter zu wiſſen.


Fraͤulein Hervey kam nochmahls herauf, und
foderte eine kleine Dinten-Bouteille, die ſie in
meinem Cloſet geſehen hatten. Jch gab ſie ihr,
ohne mich darauf zu bedencken. Wenn ſie gar
keinen Verdacht auf mich haben, daß ich ſchrei-
ben moͤchte, ſo werden ſie mir vielleicht erlauben
laͤnger hier im Hauſe zu bleiben, als ſonſt ge-
ſchehen ſeyn wuͤrde.


Jn ſolchen Umſtaͤnden befinde ich mich jetzt.
Alle meine Hoffnung beruhet lediglich auf der
Guͤtigkeit Jhrer Frau Mutter. Jch weiß nicht
was ich nicht thun wollte, dieſe zu erlangen:
denn wer weiß was mir zunaͤchſt bevorſtehet?



Der drey und dreißigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe/ an Fraͤulein
Howe.



Eben komme ich wieder zuruͤck, nachdem ich
meinen vorigen Brief und die Brieffe von
Herrn Lovelace fuͤr Sie hingelegt habe, die Sie
noch nicht haben. Jch finde meinen langen
Brief noch: Sie werden alſo beyde auf einmahl
bekommen.


Jch
[377]der Clariſſa.

Jch bin etwas unruhig daruͤber, daß Sie ihn
noch nicht haben. Allein Jhr Diener hat nicht
immer Zeit. Jch will aber doch die Brieffe ſo
geſchwind hinlegen, als ich ſie ſchreibe, denn es iſt
nicht rathſam, geſchriebene Sachen um mich und
bey mir zu haben. Wenn ich ſchreibe, ſo muß
ich mich einſchlieſſen, um nicht entdeckt zu wer-
den, nachdem ſie glauben, daß ich nicht mehr
ſchreiben kan.


Jch habe an dem gewoͤhnlichen Orte aber-
mahls einen Brief von dem unermuͤdeten Lo-
velace
gefunden? und ich ſehe von neuen aus
dem Jnhalt, daß nichts in dieſem Hauſe vorge-
hen kan, das er nicht weiß, und zwat ſogleich als
es geſchehen iſt. Denn dieſer Brief muß vor-
her geſchrieben ſeyn, ehe er meine vier Zeilen hat-
te erhalten koͤnnen: und er ward vermuthlich
zu eben der Zeit hingelegt, als er jene abholte.
Er lobet mich, daß ich mich meinen Onckles und
Herrn Solmeſen gezeiget haͤtte; wie er es
nennet.


„Er verſichert mir indeſſen, daß ſie mehr als
„jemahls entſchloſſen ſind, mich mit Gewalt zu
„zwingen.


„Er richtet eine Empfehlung von ſeiner gan-
„tzen Familie an mich aus, und meldet mir,
„daß ſie insgeſamt begierig waͤren, mich bey ſich
„zu ſehen. Er liegt mir recht heftig an, daß
„ich dieſes Haus verlaſſen ſoll, weil ich noch kan[,]
„und bittet aufs neue um Erlaubniß; mich mit
„ſeines Onckles Wagen und ſechs Pferden an
A a 5dem
[378]Die Geſchichte
„dem ſchmahlen Gange nach dem Holtze zu zu
„erwarten.


„Er bietet mir von neuen einen Ehe-Contract
„an, wie jch ihn nur haben will. Der Lord
„M. und deſſen Schweſter ſollen Buͤrgen fuͤr
„ſeine Ehre und Aufrichtigkeit gegen mich wer-
„den. Wenn ich nicht Luſt habe, mich zu einer
„von ſeinen Baſen zu begeben, und ihn noch
„nicht ſo bald zu dem allergluͤcklichſten Menſchen
„machen will, welches er doch hoffet: ſo bittet
„er mich, daß ich zum wenigſten auf mein Gut
„entfliehen, und ſo lange bis der Obriſte Mor-
„den
ankommen wird, den Lord M. zu meinem
„Vormund und Beſchuͤtzer annehmen moͤge. Er
„kan es in die Wege richten, daß ich ohne viele
„Umſtaͤnde in den Beſitz meines Gutes geſetzt
„werde; und er will mein Haus mit dem Frau-
„enzimmer aus ſeiner Familie anfuͤllen, die mich
„auf die erſte Einladung beſuchen ſollen. Fraͤu-
„lein Norton und Fraͤulein Howe wuͤrden ſich
„auch ohne Zweiffel bewegen laſſen, mich eine
„Zeitlang zu beſuchen. Wenn ich einmahl auf
„meinem Gute bin, ſo iſt nicht einmahl moͤglich
„einen Rechts-Streit mit mir anzufangen.
„Wenn ich es haben will, ſo will er ſich gantz
„enthalten mich zu beſuchen: er will ſich nicht
„einmahl unterſtehen von einer ewigen Verbin-
„dung mit mir zu reden, bis alles wieder ruhig
„iſt; oder bis er alle Mittel zur Ausſoͤhnung
„verſucht hat, die ich vorſchreiben werde; oder
„bis mein Vetter Morden ankommt, und bis
ein
[379]der Clariſſa.
„ein ſolcher Ehe-Contract entworffen iſt, den die-
„ſer billigen wird, und ich deutliche und unwider-
„ſprechliche Proben ſeiner Beſſerung habe.


Was das anlanget, daß ein Frauenzimmer
von meinem Charakter es ſich fuͤr nachtheilig an-
ſehen koͤnnte, ihres Vaters Haus zu verlaſſen,
bemerckt er, und ich fuͤrchte, daß ſeine Anmer-
ckung nur allzurichtig ſey: „daß jedermann da-
„von redet, daß mir ſo uͤbel begegnet wird, und
„dennoch gebe mir die Welt Recht: ſelbſt mei-
„ne Anverwanten erwarteten es, daß ich mir
„(wie er es nennet) Recht verſchaffen wuͤrde;
„ſonſt wuͤrden ſie mich nicht ſo einſchlieſſen.
„Bey einer ſolchen Auffuͤhrung wuͤrde mir nie-
„mand verdencken, wenn ich mich in die Frey-
„heit ſetzte, dazu ich Recht habe, und aus mei-
„nes Vaters Hauſe in mein eigenes zoͤge, (wenn
„ich anders dieſen Vorſchlag billigte) oder mich
„in fremden Schutz begaͤbe, um in den Beſitz des
„Meinigen geſetzt zu werden. Allen Schimpf,
„der auf mich fallen koͤnnte, haͤtten mir die Mei-
„nigen ſchon angethan. Er und ſeine gantze
„Familie wuͤrden fuͤr meine Ehre eben ſo beſorgt
„ſeyn, als ich es ſeyn koͤnnte, wenn er einige Hoff-
„nung haͤtte, mich dereinſt die Seinige zu nen-
„nen. Er unterſteht ſich zu behaupten, daß mir
„keine Familie den Verluſt meiner Bluts-Freun-
„de beſſer erſetzen kan, als ſeine; auf was fuͤr
„Weiſe ich ihnen auch die Ehre thue, mich ih-
„res oder ſeines Schutzes zu bedienen.„


„Er wiederhohlt das, was er mir ſchon ſonſt
ge-
[380]Die Geſchichte
„gemeldet hat, daß er auf allen Fall ſich mit Ge-
„walt dagegen ſetzen wollte, daß ich nicht in mei-
„nes Onckels Haus komme. Denn er muͤßte
„mich gantz verlohren geben, wenn ich des Hau-
„ſes Schwelle betrete. Mein Bruder und mei-
„ne Schweſter gedaͤchten gleichfalls dort zu ſeyn,
„und mich zu empfangen; meine Eltern wuͤrden
„mich nicht ſprechen, bis die Trauung vorbey ſey.
„Alsdenn wuͤrden ſie ſuchen, zwiſchen mir und
„meinem eckelhalten Manne eine Verſoͤhnung
„zu ſtiften, und mich deswegen meiner gedoppel-
„ten Pflicht erinnern.„


Wie werde ich von beyden Seiten gedraͤnget!
dieſe letzte Nachricht iſt ſehr wahrſcheinlich. Al-
le Schritte, die ſie thun, ſcheinen hierauf zu zie-
len: ja ſie haben ſich beynahe in Worten eben
dieſes gegen mich mercken laſſen.


„Er ſagt: er haͤtte ſchon ſeine Einrichtung
„auf dieſen Fall gemacht. Allein um meinet
„willen
(das ſcheint ſo viel zu ſeyn, als: um
ihrer ſelbſt willen
ſey er ihnen keine Geduld
und Nachſicht ſchuldig) um meinet willen wolle
„er es nicht gern auf das aͤuſſerſte kommen
„laſſen. Er haͤtte es deswegen zugelaſſen, daß
„eine ihnen unverdaͤchtige Perſon ſie als aus
„eigenem Triebe von ſeinem Vorſatz benachrich-
„tiget haͤtte: und er hoffet, daß ſie aus Furcht
„und um Ungluͤck zu verhuͤten, ihren Entſchluß
„aͤndern werden. Er vermehrte zwar hiedurch
„ſeine Gefahr, und wuͤßte nicht gewiß, ob er ſei-
„nen Zweck erhielte. Denn er muͤſſe ſich vor-
ſtellen
[381]der Clariſſa.
„ſtellen, daß ſie nun noch einmahl ſo viel bewaf-
„nete Leute mitnehmen wuͤrden, wenn die Reiſe
„noch vor ſich gehen ſolte.„


(Was fuͤr gefaͤhrliche Dinge unternimmt doch
der Mann!)


„Er bittet ſich nur einige Zeilen zur Antwort
„aus; entweder auf dieſen Abend; oder auf mor-
„gen fruͤh. Wenn ich ihn nicht damit beehre,
„ſo muß er aus dem, was er von der Unbeweg-
„lichkeit der Meinigen gehoͤrt hat, den Schluß
„machen, daß ich noch enger eingeſchraͤnckt bin:
„und er wird ſeine Maasregeln hiernach zu neh-
„men haben.„


Sie werden aus dieſem Auszuge, und aus ſei-
nem letzten Brieffe, der mit dieſem einerley Spra-
che fuͤhret, erſehen, wie guͤnſtig ihm meine un-
gluͤcklichen Umſtaͤnde ſind, und zu was fuͤr Er-
klaͤrungen, Vorſchlaͤgen, und ſogar Drohun-
gen, ſie ihm Muth geben, die ich ſonſt gewiß
nicht an ihm dulden wuͤrde.


Jch muß mich indeſſen bald zu etwas ent-
ſchlieſſen, oder ich werde es nicht mehr in mei-
ner Macht haben, zu entkommen.


Jch dencke jetzt erſt daran. Jch will ſeinen
Brief ſelbſt mit beylegen, damit Sie beſſer von
ſeinen Vorſchlaͤgen und Nachrichten urtheilen
koͤnnen, und damit er nicht in fremde Haͤnde ge-
rathe. Jch haͤtte die Muͤhe erſparen koͤnnen, ei-
nen Auszug daraus zu machen. Den Jnhalt
des Briefes werde ich doch nicht vergeſſen, ob
ich gleich nich weiß, was ich antworten ſoll.


Jch
[382]Die Geſchichte

Jch kan nicht daran gedencken, mich in den
Schutz ſeiner Anverwanten zu begeben. Jch
will aber ſeine Vorſchlaͤge nicht genau unterſu-
chen, bis ich erſt Jhre Meinung vernommen ha-
be. Jch ſehe nichts vor mir, daß ich zugleich
hoffen und waͤhlen kan, als daß ich zu Jhrer
Frau Mutter fliehe. Jhres Schutzes kan ich
mich mit mehrerer Ehre bedienen, als des Schu-
tzes irgend einer andern Perſon. Jch wuͤrde
auch bereit und im Stande ſeyn, aus ihrem
Hauſe wieder nach meines Vaters Hauſe zuruͤck
zu kehren, ſo bald mir die Freyheit Nein zu ſa-
gen zugeſtanden wuͤrde, und ich daruͤber genugſa-
me Sicherheit haͤtte; denn der Bruch mit mei-
ner Familie wuͤrde nicht ſo groß ſeyn, als wenn
ich zu Lovelaces Anverwanten fliehe. Mehr
Bedingungen, z. E. daß ich meine voͤllige Frey-
heit haben wollte, verlange ich von meinen El-
tern nicht, um Jhre Frau Mutter deſto weni-
ger in verdrießliche Umſtaͤnde zu ſetzen; ob ich
gleich ein Recht dazu haͤtte. Jch meine ein ſol-
ches Recht, als mein Bruder hat ſein Gut ſelbſt
in Beſitz zu haben; das ihm niemand ſtreitig
macht; denn ſonſt ſoll mich GOtt behuͤten, mich
jemahls dem Gehorſam gegen meinen Vater
in einer billigen Sache zu entziehen, was fuͤr
Recht mir auch der letzte Wille meines Gros-
Vaters geben mag. Der gute ſeelige Mann
vermachte mir das Land-Guth als eine Beloh-
nung meines Gehorſams, und nicht als ein Mit-
tel mich von meinem Gehorſam loszureiſſen.
Die
[383]der Clariſſa.
Die Meinigen haben mir das mit Recht zu ver-
ſtehen gegeben: und ich bin deſto ſorgfaͤltiger,
dem Endzweck gemaͤß zu handeln, mit welchem
mir ein ſo anſehnliches Vermaͤchtniß zugefallen
iſt. Ach wenn doch die Meinigen nur mein
Hertz kennen moͤchten, und noch eine eben ſo gu-
te Meinung als ehemahls davon haͤtten! denn
wenn ich mich nicht ſelbſt betriege, ſo iſt mein
Hertz noch eben daſſelbe, obgleich ihr Hertz ge-
aͤndert iſt.


Wenn Jhnen Jhre Frau Mutter nur ver-
goͤnnen wollte, Jhren Wagen oder Chaiſe an
den Ab-Ort zu ſchicken, wo Herr Lovelace mich
mit ſeines Vetters Wagen abzuhohlen verſpricht:
ſo werde ich mich nicht einen Augenblick beden-
cken: ſo ſehr bin ich theils aufgebracht, theils
furchtſam und beſorgt. Raͤumen Sie mir ein
Plaͤtzchen ein, was fuͤr eins Sie wollen: irgends
eine Huͤtte, oder eine Kammer unter dem Dache.
Geben Sie mich fuͤr eine Magd, oder fuͤr die
Schweſter einer Magd aus. Jch bin zum we-
nigſten nicht gantz ungluͤcklich, wenn ich Herrn
Solmes entgehen kan, und doch nicht bey den
Anverwanten des Feindes unſerer Familie Zu-
flucht ſuchen darf. Wohin aber kan ich fliehen,
wenn mir Jhre Frau Mutter dieſe Bitte ab-
ſchlaͤgt? Liebſtes Hertz, geben Sie Jhrer be-
draͤngten Freundin einen Rath.



Jch
[384]Die Geſchichte

Jch mußte hier abbrechen, denn ich ward ſo
unruhig, daß ich mich nicht getrauen durffte,
meinen Gedancken weiter nachzuhaͤngen. Jch
ging deswegen in den Garten, um mir eine Ver-
aͤnderung zu machen, und mein Gemuͤth zu be-
ruhigen. Jch war nur einmahl den Gang zwi-
ſchen den Nuß-Baͤumen auf und nieder gegan-
gen, ſo kam Eliſabeth zu mir: Fraͤulein, ihr
Herr Vater iſt hier, und ihr Onckle Anton, und
mein junger Herr, und meine junge Fraͤulein:
die wollen alle im Garten ſpatziren gehen: und
der gnaͤdige Herr hat mich geſchickt ſie zu ſuchen,
damit er ihnen nicht begegnen moͤchte.


Jch ging in einen krummen Gang, und ſtellen-
te mich hinter die Hecke, ſo bald ich meine Schwe-
ſter ſahe, bis ſie alle voruͤber waren.


Es ſcheint, daß ſich meine Mutter nicht wohl
befindet; denn ſie huͤtet die Stube. Wenn ſie
wircklich unpaß iſt, ſo iſt dieſes ein neuer Kum-
mer fuͤr mich, denn ich muß befuͤrchten, daß ſie
ſich uͤber meinen vermeinten Ungehorſam graͤ-
met.


Sie koͤnnen ſich nicht vorſtellen, was ich hin-
ter der Hecke empfunden habe, als ich meinen
Vater in einer ſolchen Naͤhe ſahe. Jch freuete
mich, ihn durch die Hecke zu ſehen, als er vorbey
ging: allein alle Gelencke zitterten mir, da ich
ihn dieſe Worte ausſprechen hoͤrte: dir mein
Sohn/ und dir meine Tochter/ und euch/
mein Bruder/ uͤberlaſſe ich die gantze Sa-
che.
Jch konnte nicht daran zweiffeln, daß nicht
die
[385]der Clariſſa.
die Rede von mir ſey. Allein warum ruͤhrte
mich dieſes ſo ſehr, da ich doch ſchon mehrere
Tage unter der Gewalt dieſer Grauſamen ſtehe?



Unterdeffen, daß mein Vater in dem Garten
war, ließ ich mich durch Schorey (die ich von
ohngefaͤhr auf der Treppe fand) mit einem kind-
lichen Compliment nach dem Befinden meiner
Mutter erkundigen. Von ohngefehr, ſage ich,
fand ich ſie: denn kein Bedienter unterſteht ſich
mir zu begegnen, meine Kerckermeiſterin ausge-
nommen. Jch bekam eine ſolche Antwort, daß
es mich gereuete mich nach ihrem Befinden er-
kundiget zu haben, ob mich gleich nie gereuen
wird, daß ich in meinem Hertzen begierig ge-
weſen bin, Nachricht von ihr zu erfahren. Sie
ſoll ſich nicht nach einer Kranckheit er-
kundigen/ daran ſie Schuld iſt. Jch will
keine Boten von ihr annehmen.
Das war
ihre rauhe Antwort. Hart genug! ach allzu
hart!



Jch hoͤre jetzt mit Vergnuͤgen, daß es ſich ſchon
mit meiner Mutter beſſert. Es iſt eine Colick
geweſen, davon ſie ſonſt oͤfters einen Anfall hat:
allein man hoffet, daß es vorbey ſey. GOtt
gebe es! alles Ungluͤck in dieſem Hauſe kommt
von mir her.


Zweyter Theil. B bDie-
[386]Die Geſchichte

Dieſe gute Zeitung ward mir mit einem un-
angenehmen Umſtande erzaͤhlt. Denn Eliſa-
beth
ſagte: ſie haͤtte Befehl mich zu benach-
richtigen, daß mein Spatzirengehen Verdacht
erweckte, und verboten werden wuͤrde, wenn ich
bis auf den Sonnabend oder Montag hier bliebe.


Vielleicht geſchicht dieſes mit Bedacht, um
mich williger zur Abreiſe nach meines Onckels
Gut zu machen.


Meine Mutter hatte ihr aufgetragen, mir zu
ſagen, wenn ich mich hieruͤber oder uͤber die Ab-
foderung meines Schreibgeraͤthes beklagen wuͤr-
de: „das Leſen ſchicke ſich beſſer zu meinen jetzi-
„gen Umſtaͤnden, als das Schreiben. Jenes
„koͤnnte mich von meiner Pflicht unterrichten,
„und dieſes nur verſtockter machen, wenn ich an
„diejenigen ſchriebe, an die man glaubte, daß ich
„ſchriebe. Es waͤre beſſer, wenn ich die Nadel
„gebrauchte, als ſo viel ſpatziren ginge, welches
„ich bey guten und ſchlimmen Wetter thaͤte.„


Wenn ich mich nun nicht bald zu etwas ent-
ſchlieſſe, ſo werde ich dem gedroheten Ungluͤck
nicht entgehen, und nicht einmahl ferner an Sie
ſchreiben koͤnnen.



Mittewochens Abends.


Es iſt unten alles in Unruhe. Eliſabeth
geht aus und ein wie ein Spion. Es muß et-
was vor ſeyn, ich weiß aber nicht was. Jch
bin kranck an Leibe und Gemuͤth, und mein Hertz
iſt gantz wund.


Ob
[387]der Clariſſa.

Ob es gleich finſter iſt, will ich doch unter dem
Vorwand hinunter geben, friſche Luft zu ſchoͤ-
pfen, und mich ein wenig zu erholen. Jch hoffe,
daß Robert meine beyden Brieffe ſchon abge-
holet hat, und ich will dieſen und Herrn Lo-
velaces
Brief hinlegen, weil ich eine neue Durch-
ſu chung befuͤrchte.


Jch weiß nicht, was ich anfangen ſoll. Alles
iſt ſo auſſerordentlich geſchaͤftig. Die Thuͤren
ſind verſchloſſen; aus einer Stube gehen ſie in
die andere, und das mit einer ſonderbaren und
Geheimnißvollen Eilfertigkeit. Eliſabeth iſt
in einer halben Stunde zweymahl bey mir ge-
weſen, und hatte ihre gefaͤhrliche Mine, als wenn
ein groſſes Ungluͤck vorhanden waͤre; das zwey-
te mahl ward ſie von Schorey herunter ge-
ruffen, und geberdete ſich bey dem weggehen noch
gefaͤhrlicher. Vielleicht iſt alles dieſes ein Nichts,
und erreget mir eine unnoͤthige Furcht: Sie
kommt ſchon mit ihren tiefgeholten Seufzern
wieder.


Das wunderliche Maͤdchen laͤßt ſich einige
dunckle Worte entfahren: ſie will aber nichts
weiter ſagen. „Wie? wenn ſich der artige Han-
„del gar auf Mord und Todſchlag endigte! Jch
„werde vielleicht Urſache haben, meine Wider-
„ſpenſtigkeit zu beweinen, ſo lange ich lebe. El-
„tern werden ſich ihre Kinder nicht durch unver-
„ſchaͤmte Freyer abtrotzen laſſen; und es iſt
„auch recht, daß ſie das nicht thun. Es kan
B b 2mir
[388]Die Geſchichte
mir noch zu Hauſe kommen, wenn ich es am
wenigſten dencke.„


Das ſind verworrene und fuͤrchterliche Reden,
die das ungezogene Maͤdchen fahren laͤßt. Jch
glaube, daß ſie von der Nachricht herruͤhren,
die Herrn Lovelace unter der Hand hat geben
laſſen, daß er meine Reiſe nach meines Onckles
Gut hindern wollte. Eben der zweyzuͤngige
Spion wird ſie vermuthlich uͤberbracht haben.


Wenn dieſes iſt, ſo muß es die Meinigen er-
bittern. Jch werde auf allen Seiten geſtoſſen
und gewehet, wie eine Feder vom Winde: ſo
wie es ungeſtuͤme und eigennuͤtzige Leute begehren
und wuͤnſchen! Erſt werde ich zu einem heimli-
chen Briefwechſel gezwungen! und der unbe-
ſonnene Menſch unternimmt doch vor ſeinen Kopf
gefaͤhrliche Dinge, ohne mich um Rath zu fra-
gen. Jch kan nicht einmahl waͤhlen, was ge-
ſchehen ſoll, ob gleich mein Gluͤck und Ungluͤck
davon abhaͤnget: Denn der Verluſt unſers gu-
ten Namens iſt doch wohl das groͤſſeſte Ungluͤck.
Was habe ich fuͤr ein widerſinniſches und unge-
reimtes Schickſal!


Wenn ich bey ſo ſpaͤtem Abend dieſe Zeilen
nicht beſtellen kan; ſo will ich das noͤthige noch
dazu ſetzen. Jndeſſen glauben Sie, daß ich
bin


Jhre
ewig ergebene und danckbare
Clariſſa Harlowe.


Mit
[389]der Clariſſa.

Mit Bleyſtift war unter die Aufſchrift
geſchrieben:


„Meine beyden vorigen Briefe ſind noch
„nicht weggenommen! Jch verwundere mich!
„Jch hoffe nicht, daß Sie kranck ſind. Jch
„hoffe doch, daß es gut zwiſchen Jhnen und Jh-
„rer Frau Mutter ſtehet!



Der vier und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch habe Jhre drey Brieffe erhalten. Nie-
mand kan bey einer quaͤlenden Ungewißheit
ungeduldiger ſeyn, als ich war, den Ausgang
Jhrer Unterredung mit Herrn Solmes zu ver-
nehmen.


Jch bin ſchuldig, einer ſo werthen Freundin
in dieſen Umſtaͤnden uͤber alles Rechenſchaft zu
geben, was den Schein einer Nachlaͤßigkeit oder
eines Mangels der Dienſtfertigkeit hat. Jch
ſchickte Robert des Morgens ſehr fruͤh aus, in
Hoffnung, Brieffe zu erhalten. Er ſchlich bis
um zehn Uhr vergeblich hin und her, und ging
darauf weg; denn meine Mutter hatte ihm ei-
nen Brief an Herrn Hunt mitgegeben, den er
B b 3vor
[390]Die Geſchichte
vor drey Uhr uͤberbringen ſolte, weil dieſes die
eintzige Stunde des Tages iſt, da man dieſen
Herrn zu Hauſe findet; und er ſolte Antwort
zuruͤck bringen. Herr Hunt wohnt allzuweit
von Harlowe-Burg: Robert mußte die Zeit
recht ſtehlen. Er kam ſo ſpaͤt nach Hauſe, daß
ich ihn nicht abermahls ſchicken konnte. Jch
konte ihm nur ſagen, daß er heute noch vor Ta-
ges ausreiten, und wenn er einen Brief haͤtte
uͤber Hals und Kopf zuruͤcke eilen ſolte.


Jch ſchlief allein: meine ungeduldige Erwar-
tung machte mir eine ſehr unruhige Nacht, des-
wegen blieb ich laͤnger liegen, als ich ſonſt ge-
wohnt bin. Kaum war ich aufgeſtanden, ſo
kam Kitty/ und gab mir Jhre drey Brieffe,
die Robert mitgebracht hatte. Jch war noch
nicht angekleidet, und hatte noch meine Schlen-
ter an; allein ich mußte die Brieffe durchleſen,
ehe ich mich fertig machte. Oft habe ich inne
gehalten, und in meiner Einſamkeit laute auf
die teuffeliſchen Leute geſcholten, mit denen Sie
zu thun haben.


Mein Hertz kochet, wenn ich an die Leute ge-
dencke. Wie niedertraͤchtige Kuͤnſte haben ſie
angewandt, Sie zu etwas zu bewegen, das den
Schein einer Herrn Solmes gegebenen Hoff-
nung haben moͤchte! und wie gebrauchten ſie da-
zu die Jhnen aufgedrungene Unterredung! Auf
Jhre Baſe Hervey bin ich auch recht ungehal-
ten, daß ſie ihre eigene Meinung und Einſich-
ten ſo knechtiſch verleugnet, und ſich ſogar von
andern
[391]der Clariſſa.
andern als ein thaͤtiges Werckzeug des Betruges
gebrauchen laͤßt. Allein das iſt recht die Art der
Welt: recht die Art meiner eigenen Mutter.
Dieſe hat auſſer ihrem eigenen Kinde niemand
in der Welt, den ſie ſo hoch ſchaͤtzt, als Sie. Und
dennoch heißt es: was ſollen wir uns um an-
derer Leute willen Ungelegenheit machen?


Andere Leute! Wie verhaßt klingen dieſe
Worte in meinen Ohren, wenn von einer ſolchen
Freundin die Rede iſt, und der Schutz dieſer ſo
nuͤtzlich, und uns ſo unſchaͤdlich ſeyn kan?


Jch freue mich daruͤber, daß Sie ſo viel Muth
beweiſen: ich erwartete es in Warheit nicht
von Jhnen, eben ſo wenig als die Jhrigen. Sie
wuͤrden ihn auch ſchwerlich bewieſen haben, wenn
nicht Lovelaces Nachricht von Herrn Solmes
Kinder-Stube eine ſolche Wirckung gehabt haͤt-
te. Jch wundere mich nicht, daß dieſer Kerl
immer verliebter in Sie wird. Was fuͤr eine
Ehre wuͤrde es ſeyn, eine ſolche Frau zu haben!
Und wenn Sie fortfahren ihm ſo zu begegnen,
ſo kan er Jhnen gleiches mit gleichem vergelten.
Er muß in der That ein Wilder/ ein Unmenſch
ſeyn, wie Sie ihn nennen. Allein er iſt doch
noch eher zu entſchuldigen, wenn er auf ſeiner
Bitte beharret, als diejenigen von Jhrer eige-
nen Familie, die Sie am meiſten verehren.


Es iſt gut (das habe ich ſchon oft geſagt) daß
ich nicht in Jhren Umſtaͤnden bin: ich moͤchte
ſchon laͤngſtens den Rath der Fraͤulein Dorth-
gen
in das Werck geſetzt haben. Allein ich
B b 4darf
[392]Die Geſchichte
darf die Seite nicht ruͤhren. ‒ ‒ Jch werde
das gute Kind immer lieb haben, weil es ſo
zaͤrtlich gegen Sie geſinnet iſt.


Jch weiß nicht, was ich von Herrn Love-
lace
ſagen, oder was ich von ſeinen Verheiſſun-
gen und Vorſchlaͤgen dencken ſoll. So viel iſt
gewiß, daß Sie bey ſeiner gantzen Familie in
ſehr groſſer Achtung ſtehen. Das Frauenzim-
mer hat einen ſolchen Character, auf den auch
die Laͤſterung ſelbſt nichts zu ſagen weiß. Der
Lord M. iſt gleichfalls ein Mann von Ehre
und Tugend, ſo wie man das Wort bey Manns-
perſonen oder bey Lords zu nehmen pflegt. Jch
wuͤßte, was ich einem jeden andern rathen wollte
und Jhnen doch nicht rathen mag. So viel
wird von Jhnen erwartet! Ein ſolches Licht ſind
Sie unter Jhrem Geſchlechte! Sollen Sie Jh-
res Vaters Haus verlaſſen, und ſich in den
Schutz einer noch ſo angeſehenen Familie bege-
ben, zu der eine Perſon gehoͤrt, von welcher man
alsdenn glauben wird, daß ſie durch ihre Artig-
keit, Geſchicklichkeit, Bitten und Betheurungen
die Fraͤulein Clariſſa Harlowe verliebt gemacht
habe. Jch wollte faſt lieber rathen, daß Sie
ſuchen ſolten, heimlich nach London zu fliehen, oh-
ne daß er, oder ſonſt jemand es wuͤßte, mich al-
lein ausgenommen, und daß Sie dort bis auf
die Ankunft des Obriſten Morden bleiben
ſolten.


Nach
[393]der Clariſſa.

Nach ihrem Onckle muͤſſen Sie ſchlechter dings
nicht reiſen, wenn Sie es vermeiden koͤnnen.
Auch muͤſſen Sie Herrn Solmes nicht nehmen,
das iſt ausgemacht. Es ſtehet nicht blos ſeine
Unwuͤrdigkeit im Wege, ſondern auch dieſes,
daß Sie Jhre Abneigung von ihm ſchon gegen
jedermann bezeuget haben, und alle es wiſſen
und davon reden, daß Sie ihn nicht leiden koͤn-
nen, und hingegen Herrn Lovelace zugethan
ſind. Sie muͤſſen deswegen, um Jhrer Ehre
willen, und damit Sie Ungluͤck vermeiden moͤ-
gen, entweder unverheyrathet bleiben, oder Herrn
Lovelace nehmen.


Wenn Sie nach London zu gehen gedencken,
ſo laſſen Sie mich einige Nachricht davon haben.
Jch hoffe, Sie werden ſo viel Zeit haben, mir
zu erlauben, daß ich mit dafuͤr ſorgen darf, auf
welche Art und Weiſe Jhre Flucht veranſtaltet
werden ſoll, und wie Sie eine bequeme und an-
ſtaͤndige Wohnung erhalten koͤnnen.


Um dieſe Zeit zu gewinnen muͤſſen Sie den
Mantel etwas nach dem Winde haͤngen, und ei-
nen Schein-Vertrag eingehen, wenn ſonſt kein
Aufſchub zu erhalten iſt. Sie werden ſo in die
Enge getrieben, daß es gewiß zu verwundern
waͤre, wenn Sie ſich nicht entſchlieſſen muͤſten,
einige Kleinigkeiten in Jhrer Sitten-Lehre zu
verleugnen.


Aus dem was ich geſchrieben habe, werden
Sie von ſelbſt abnehmen, daß ich bey meiner
Mutter nichts ausgerichtet habe.


B b 5Jch
[394]Die Geſchichte

Jch bin ſehr verdrießlich daruͤber. Wir ha-
ben nachdruͤckliche Worte gewechſelt. Allein
auſſer der oben erwaͤhnten elenden Frage: was
wir uns um anderer Leute willen Unge-
legenheit machen ſollen?
will meine Mutter
auch behanpten, daß es ihre Schuldigkeit ſey,
nachzugeben. Sie ſagt: ſie ſey immer der
Meinung geweſen, daß ſich Toͤchter nach den
Einſichten ihrer Eltern richten muͤſten. Sie
haͤtte ſelbſt meinen Vater nicht ſo wohl aus ei-
gener Wahl als nach der Wahl ihres Vaters
genommen.


Hieraus macht ſie Schluͤſſe, ſo wohl fuͤr ih-
ren lieben Hickmann/ als fuͤr Solmes.


Jch darf nicht daran zweiffeln, daß ſich mei-
ne Mutter immer nach dem Grundſatz ge-
richtet hat. Denn ſie ſagt es, daß ſie es ge-
than habe. Jch habe noch eine Urſache es zu
glauben, die ich Jhnen nicht verſchweigen will,
ſo wenig es ſich auch fuͤr mich ſchicken mag, ſie
zu nennen: nehmlich, ſie haben nicht die ver-
gnuͤgteſte Ehe mit einander gehabt, wie man es
von Leuten vermuthen moͤchte, die einander den
uͤbrigen ihres Geſchlechts vorgezogen haben.


Dieſe doppelte Abſicht, die meine Mutter ſo
kluͤglich auf einmahl zu erreichen gedenckt, wird
einer gewiſſen Perſon keinen Vortheil bringen.
Wenn ſie in Beantwortung meiner Bitte, und
in den angebrachten Gruͤnden ihr Augenwerck
auf ihn und auf ſeine Anwerbung richtet: ſo
ſoll er gewiß vor den Verdruß buͤſſen, den ich
in
[395]der Clariſſa.
in einer Sache, welche mir ſo ſehr am Hertzen
lag, empfinden muß.


Ueberlegen Sie es, mein Hertz, ob ich Jhnen
worinnen dienen kan. Wenn Sie es mir er-
lauben, ſo verſprech ich Jhnen! ich will ins-
geheim mit Jhnen davon gehen, und wir wollen
zuſammen leben und ſterben. Dencken Sie
darauf: uͤberlegen Sie dieſen Vorſchlag, und
befehlen Sie mir frey.


Jch muß hier ein wenig abbrechen. Jch ha-
be das Fruͤhſtuͤck leicht ſo lange aufſchieben koͤn-
nen, da ich von einer ſo wichtigen Sache ſchrei-
be.



London ſoll der beſte Ort in der Welt ſeyn,
wenn man ſich wo verborgen und in der Stille
aufzuhalten gedenckt. Jch habe vorhin nichts
geſchrieben, als was ich erfuͤllen will, ſo bald Sie
es befehlen. Das Frauenzimmer hat bisweilen
eben ſo groſſe Luſt, die irrende Ritterſchaft zu
verſuchen, als Mannsperſonen zu dieſer Lebens-
art zu bringen. Allein, in dem was ich Jhnen
vorſchlage, iſt nichts, das einer irrenden Ritter-
ſchaft aͤhnlich ſiehet. Jch werde dadurch in den
Stand geſetzet werden, meiner ohne Schuld un-
gluͤcklichen Freundin das zu erweiſen, was wei-
ter nichts als meine Pflicht in dem ſtrengſten
Verſtande iſt, nehmlich ihr zu dienen, und ſie
aufzurichten: und Sie werden Jhre Anna Ho-
we
[396]Die Geſchichte
we gleichſam adeln, wenn Sie mir erlauben,
Sie in Jhrer Truͤbſal zu begleiten.


Jch verſpreche Jhnen, daß alle Schwierig-
keiten uͤberſtanden ſeyn ſollen, ehe wir uns ei-
nen Monath lang in London aufgehalten haben;
und zwar ohne daß wir irgend einiger Manns-
perſon den geringſten Danck ſchuldig ſeyn wol-
len.


Jch muß mein altes Lied nochmahls anſtim-
men: daß ihre Verfolger ſich nie unterſtanden
haben wuͤrden, ihre eigennuͤtzigen Abſichten zu
erreichen, wenn ſie ſich nicht auf Jhr guͤtiges
Hertz verlaſſen haͤtten. Nachdem ſie aber ein-
mahl ſo weit gegangen ſind, und nachdem das
altvaͤteriſche Wort, Auctoritaͤt/ ſich hat hoͤ-
ren laſſen: (Schelten Sie mich immerhin, wenn
Sie wollen) ſo weiß weder er noch die andern,
wie ſie auf eine anſtaͤndige Weiſe wieder zuruͤck
gehen ſollen.


Wenn ſie Jhnen nichts mehr anhaben koͤn-
nen, und ich bey Jhnen bin: ſo ſollen Sie ſe-
hen, wie ſie die Sache naͤhern Kaufs geben
werden.


Jch glaube indeſſen, es waͤre wohl gethan ge-
we ſen, wenn Sie an Jhren Vetter Morden
ſogleich geſchrieben haͤtten, als man anfing, ſo
ſchimpflich mit Jhnen umzugehen.


Jch bin gantz ungedultig aus Erwartung
deſſen was geſchehen wird: ob es die Jhrigen
wagen werden, Sie nach Jhres Onckles Gut
zu bringen? Jch erinnere mich, daß der abge-
danckte
[397]der Clariſſa.
danckte Pachrer des Lord M. erzaͤhlet hat: Herr
Lovelace habe ſechs oder ſieben Bruͤder, die eben
ſo ſchlimm ſeyn ſollen als er ſelbſt; und die gan-
tze Gegend freue ſich, wenn ſie wegreiſeten. Jch
hoͤre, daß er jetzt eine ſolche Bande um ſich hat.
Seyn Sie verſichert, er wird nicht zugeben, daß
Sie ohne Hinderniß nach Jhres Onckles Gut
gebracht werden. Und weſſen werden Sie ſeyn
muͤſſen, wenn es ihm gluͤcket, Sie aus den Haͤn-
den der Jhrigen zu retten?


Jch zittere aus Liebe zu Jhnen, wenn ich an
die Folgen gedencke, die eine Schlaͤgerey bey ei-
ner ſolchen Gelegenheit haben koͤnnte. Er iſt
gewiß einigen von Jhren Anverwanten die Rache
noch ſchuldig. Dieſes macht mich noch mehr
uͤber die abſchlaͤgige Antwort meiner Mutter, in
einer Sache, die mir ſo ſehr am Hertzen lag,
verdrießlich.


Meine Mutter will den Thee nicht allein trin-
cken: ich ſoll mit dabey ſeyn. Ein kleiner Zanck
iſt oft nuͤtzlich: allein gar zu viel Liebe iſt eben
ſo beſchwerlich, als gar zu wenig.



Wir haben noch einen Satz mit einander ge-
habt. Gewiß, ſie iſt ungemein, ‒ ‒ (was ſoll
ich ſagen?) ‒ ‒ ‒ ‒ eigenſinnig. Sie mag
dieſesmahl mit einem ſo gelinden Ausdruck ab-
kommen.


Was war das doch fuͤr ein alter Grieche, der
ſag-
[398]Die Geſchichte
ſagte: er regiere Athen/ ſeine Frau beherr-
ſche ihn/ und ſein Sohn die Frau[?]


Meiner Mutter Fehler hat wahrlich nicht da-
rin beſtanden, daß ſie nicht genug uͤber meinen
Vater geherrſchet haͤtte. (Jch ſchreibe dieſes
an Sie: das werden Sie zu meiner Entſchul-
digung bedencken.) Jch bin zwar nur eine Toch-
ter. Allein ſonſt hielt man mich doch nicht fuͤr
ſo unvermoͤgend, als ich jetzt bin, wenn ich es
mir einmahl vorgenommen hatte, eine Sache
durchzutreiben.


Leben Sie wohl, mein Schatz. Wir muͤſſen
auf beſſere Zeiten hoffen, und die muͤſſen bald
erſcheinen. Ein ſo ſtarck geſpanneter Bogen
kan nicht lange ſtraf bleiben: er muß nachge-
ben oder brechen. Es gehe nun wie es wolle,
ſo wird es beſſer ſeyn, wenn man die Folgen erſt
uͤberſehen kan, als wenn man in einer quaͤlenden
Ungewißheit iſt.


Nur noch ein Wort:


Wenn ich nach meinem beſten Wiſſen und
Gewiſſen rathen ſoll, ſo muͤſſen Sie eins von
dieſen beyden waͤhlen:


  • 1) entweder, wir beyde muͤſſen insgeheim
    nach London gehen. Die Fuhre will ich
    verſchaffen, und ich will Sie an dem Ende
    des engen Ganges erwarten, an dem Sie
    Lovelace mit ſeines Vetters Wagen und
    Pferden erwarten wollte.
  • 2) oder Sie muͤſſen ſich in den Schutz des
    Lord M. und ſeiner Schweſtern begeben.

Sie
[399]der Clariſſa.

Sie haben noch einen Ausweg vor ſich. Wenn
Sie nehmlich voͤllig entſchloſſen ſind, ſich von
Herrn Solmes zu befreyen; ſo laſſen Sie ſich
ſtehenden Fuſſes mit Herrn Lovelace trauen.


Sie moͤgen waͤhlen, was Sie wollen, ſo wer-
den Sie vor Jhrem eigenen Gewiſſen und vor
den Augen der Welt dieſe Entſchuldigung haben,
daß Sie dem eintzigen Grund - Satz gemaͤß han-
deln, dem Sie ſeit der Zwiſtigkeit zwiſchen Jh-
rem Bruder und Lovelace gefolget ſind: nem-
lich, daß Sie ein geringeres Uebel waͤhlen, um
ein groͤſeres zu vermeiden.


A dieu! GOtt gebe ihnen die beſten Gedan-
cken ein. Dieſes wuͤnſchet


Jhre
Anna Howe.



Der fuͤnf und dreißigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch dancke Jhnen, meine liebſte Freundin,
fuͤr Jhre Guͤtigkeit, daß Sie mir ſo um-
ſtaͤndlich Rechenſchaft geben, warum meine Brie-
fe
[400]Die Geſchichte
ſe nicht geſtern abgehohlt ſind; und daß Sie
ſich bemuͤhet haben, mir eine Zuflucht zu ver-
ſchaffen, wenn es nur moͤglich geweſen waͤre.


Dieſe Zuflucht war freylich mein ſehnlicher
Wunſch. Allein dieſer Wunſch, der durch Jh-
re Liebe und Dienſtfertigkeit lebhafter ward,
gruͤndete ſich nicht ſo wohl auf einige vernuͤnf-
tige Hoffnung, als vielmehr auf eine gaͤntzliche
Verzweiffelung an aller andern Zuflucht, da ich
ungeachtet alles Nachdenckens mich nicht ent-
ſchlieſſen konnte, was ich bey ſo verworrenen
Umſtaͤnden zu thun haͤtte. Denn wie konte ich
etwas hoffen? Was ſoll man ſich um anderer
Leute willen Ungelegenheit machen, wenn man
es vermeiden kan?


Mein eintziger Troſt iſt, wie ich ſchon oft ge-
ſagt habe, daß ich nicht durch meine eigene Un-
vorſichtigkeit oder Thorheit in ſo ſchlimme Um-
ſtaͤnde gerathen bin. Wenn dieſes waͤre, ſo haͤt-
te ich mich nicht unterſtanden irgend jemand
unter die Augen zu kommen, um mir Zuflucht
und Huͤlffe auszubitten. Jch wuͤrde nicht ein-
mahl das Hertz haben, Sie wegen der Muͤhe die
ich Jhnen mache um Vergebung zu bitten.
Mich duͤnckt indeſſen, wir ſollen deswegen auf
niemanden ungehalten werden, weil er uns oder
unſerm Freunde zum Beſten das nicht thun
will, wovon er glaubt daß er es billig nicht thun
ſolle, und welches zu thun oder zu laſſen er Recht
hat. Vielweniger haben Sie Urſache, ſich
uͤber eine ſo vorſichtige Mutter zu beſchweren,
weil
[401]der Clariſſa.
weil ſie ſich meiner nicht mit ſolcher Hitze anneh-
men will, als Sie es wuͤnſchen. Wenn meiner
Mutter Schweſter mir ihr Hertz und Huͤlffe ent-
ziehen kan, ohne zu glauben, daß ich Unrecht ha-
be, (welches ich mich unterſtehen will von ihr zu
behaupten.) Wenn mein Vater, meine Mut-
ter, mein Onckles, die mich ſonſt ſo zaͤrtlich lieb-
ten, jetzt gemeinſchafftliche Sache gegen mich ma-
chen koͤnnen: was habe ich denn fuͤr Recht, oder
was haben Sie fuͤr Anlaß, zu hoffen, daß Jhre
Frau Mutter mir eine Zuflucht zum Verdruß
aller dieſer Perſonen verſtatten werde?


Werden ſie nicht verdrießlich, wenn ich all-
zu ernſthafft und betruͤbt ſchreibe. Jch fuͤrch-
te faſt, mein liebſter Schatz, daß ich um meiner
Suͤnden willen, oder zur Zuͤchtigung der Mei-
nigen, oder ihnen und mir zur Straffe, dazu aus-
erſehen bin, ein Ball des Ungluͤcks zu werden.
Jch fuͤrchte, daß ich dieſes auf eine recht aus-
nehmende und in die Augen fallende Art werden
ſoll. Denn, mercken Sie nicht, daß mich die
Wellen des Ungluͤcks ſo geſchwind und ſo hefftig
uͤbereilen, daß ich ihnen nicht ausweichen kan?


Wir alle ſind bis auf dieſe letzten Wochen
allzu gluͤcklich und allzu vergnuͤgt geweſen. Wir
haben nichts von Creutz und Truͤbſal gewußt,
als die uns unſer verzaͤrtelter Eigenwille verur-
ſachet hat. Weil wir uns gleichſam in den Vor-
rath vergraben hatten, den wir beylegten, ſo bald
er erworben war; ſo meinten wir, daß wir vor
dem Ungluͤck ſicher waͤren. Alle meine Freun-
Zweyter Theil. C cde
[402]Die Geſchichte
de waren ſtoltz auf mich: und ihr Stoltz mach-
te mich hinwiederum ſtoltz; ich ruͤhmete mich
meines Wohlſtandes. Vielleicht will uns jetzt
die gerechte Vorſicht ſtraffen, um uns zu uͤber-
zeugen, daß wir noch nicht allem Ungluͤck ent-
kommen ſind, und um uns zu einer beſſeren und
gewiſſeren Hoffnung zu leiten, als wir bisher
gehabt haben.


Jch muͤßte mir den Umgang, mit dem mich
der rechtſchaffene Doctor Lewin beehret hat,
und die Lehren, welche mir Frau Norton in der
erſten Jugend, als eine Frucht ihrer eigenen Er-
fahrung und der Erfahrung ihres Vaters ein-
gepraͤget hat, ſchlecht zu Nutze gemacht haben;
wenn ich bey ſo auſſerordentlichen Umſtaͤnden
nicht zuruͤckdencken, und dergleichen Betrachtun-
gen anſtellen wollte. Auſſerordentlich kan
ich dieſe Umſtaͤnde mit Recht nennen: denn ſe-
hen Sie nicht, daß wir von einem Schickſaal,
dem wir nicht widerſtehen koͤnnen, immer tieffer
in dieſes verworrene Labyrinth hinein getrieben
werden? Und doch kommt alles dieſes von uns
ſelbſt her: es hat recht das Anſehen, als wenn
wir uns ſelbſt ſtraffen ſollten. Meine Eltern
hatte Hoffnungs-volle Kinder, von denen ſie er-
warteten, daß ihre durch ſie ausgebreitete Fa-
milie alle Art der zeitlichen Gluͤckſeeligkeit ge-
nieſſen ſollte. Nun, da dieſe Kinder erwachſen
ſind, und die Hoffnung erfuͤllen ſollten, die noch
eben ſo weit entfernt bleibt, als da wir Kinder
waren, muͤſſen meine Eltern ſehen, daß wir
ein-
[403]der Clariſſa.
einander ein feindſeliges Geſicht zukehren, und
gleichſam die Hoffnung mit der Wurtzel aus-
rotten, die ſich eben in eine Gewißheit zu ver-
wandeln ſchien.


Jhre Liebe gegen mich iſt ſo partheyiſch, daß
Sie mich von wiſſentlichen Fehlern und von
Tod-Suͤnden frey ſprechen werden. Allein die
Truͤbſaal hat mich ſo gedemuͤthiget, daß ich nun-
mehr mein hochmuͤthiges Auge beſſer auf mein
Jnwendiges richten kan. Wie viel habe ich hier
entdeckt! wie viel geheimen Hochmuth und Ei-
telkeit, ſo ich nie in meinem Hertzen vermuthet
haͤtte, ehe ich mich genau unterſuchte.


Wenn ich dazu ausgeſondert bin, daß ich ſelbſt
und meine gantze Familie, deren Stoltz ich ſonſt
war, in meiner Perſon geſtrafft werden ſoll: ſo
beten Sie fuͤr mich, daß ich mir nicht ſelbſt uͤber-
laſſen werden moͤge, und daß ich wenigſtens mei-
nem bisherigen Charaeter gemaͤß handeln, und
in keinen Verdacht wiſſentlicher Vergehungen
bey der Welt kommen moͤge. Das uͤbrige ſey
der Goͤttlichen Vorſorge uͤberlaſſen: wie die
mich fuͤhrt, ſo will ich geduldig und ohne Mur-
ren folgen. Jch werde doch nicht ewig leben,
und ich wuͤnſche nur, daß mein Abtritt von der
traurigen Schaubuͤhne dieſes Lebens gluͤcklich
ſeyn moͤge.


Jch will Sie durch mehr ſolche traurige Ge-
dancken nicht betruͤben, ſondern ſie insgeſammt
fuͤr mich behalten. Mein Gemuͤth hat Raum
genug fuͤr ſie. Meine Truͤbſaal iſt ſo hefftig,
C c 2daß
[404]Die Geſchichte
daß ſie nicht lange anhalten kan: ihr Ausgang
iſt nahe vor der Thuͤr. Sie befehlen mir, auf
beſſere Zeiten zu hoffen. Wohlan! ich will
hoffen.



Jch kan mich doch nicht zuruͤckhalten, daß ich
nicht zuweilen ungeduldig ſeyn ſolte, nachdem ich
ſo weit getrieben und bey andern ſo ſehr her-
unter geſetzt bin, daß, wenn auch meine gantze
kuͤnftige Lebenszeit gluͤcklich ſeyn ſolte, ich mich der
Welt doch nicht wuͤrde zeigen noch mein Geſicht
froͤlich empor heben koͤnnen. Alles, alles dieſes
iſt das Anſtiften eines eigennuͤtzigen Bruders,
und einer neidiſchen Schweſter.


Allein ich muß inne halten, und auf das noch
dencken, was ich ſchreibe. Giebt mir das nicht
der verborgene Hochmuth ein, den ich eben vor-
hin bereuet habe? Bin ich ſchon wieder ſo un-
geduldig, da ich den vorigen Augenblick ſo ge-
laſſen war, und alles mit ſo kaltem Blute uͤber-
legen konnte? Es iſt ſchwer, ach allzuſchwer,
den Zorn zu uͤberwinden: inſonderheit alsdenn,
wenn man im Leiden iſt. O mein grauſamer
Bruder! Allein nun wacht der Zorn ſchon wie-
der bey mir auf. Jch will die Feder niederlegen,
die ich doch nicht richtig fuͤhren kan: und will
meine Ungeduld zu uͤberwinden ſuchen, die mich
zu noch ſtrafbareren Vergehungen verleiten kan,
wenn mir dieſe Zuͤchtigung zur Beſſerung zuge-
ſandt iſt.


Jch
[395[405]]der Clariſſa.

Jch komme wieder auf die Sache, die ich mir
keine Viertheilſtunde lang aus dem Sinne ſchla-
gen kan: inſonderheit, weil Sie mir durch den
dreyfachen Vorſchlag, den Sie mir in Jhrem
letzten Briefe thun, einen neuen Beruf geben,
dieſer Sache nachzudencken.


Was den erſten anlanget, da Sie mir nehm-
lich rathen nach London zu fliehen: ſo ſetzt
mich der andere damit verbundene Vorſchlag in
das aͤuſſerſte Schrecken. Sie, mein Kind, leben
ſo gluͤcklich und vergnuͤgt, und ihre Frau Mut-
ter begegnet Jhnen ſo guͤtig: daß ich das, was
Sie ſchreiben, kaum fuͤr Jhre wahre Meinung
halten kan. Wie gottlos und verrucht muͤßte
ich ſeyn, wenn ich meine Ohren zu einem ſolchen
Vorſchlage auch nur einen Augenblick leihen koͤn-
te! Solte ich verurſachen, daß die Tage einer
ſolchen Mutter bis auf den letzten Augenblick
ungluͤcklich gemacht und wol noch dazu abgekuͤrtzt
wuͤrden? Adeln Sie ſich/ mein allerliebſtes
Hertz: wie wuͤrde eine ſolche That Sie herun-
ter ſetzen, dabey die Ubereilung oͤffentlich und in
aller Augen fallend und die Urſache, die Sie ent-
ſchuldigen koͤnnte, verborgen waͤre? Jch will mich
hiebey nicht laͤnger aufhalten, und zwar um Jh-
rer ſelbſt willen.


Jch komme auf den zweyten Vorſchlag mich
in den Schutz des Lord M. und ſeiner
Schweſtern zu begeben:
und ich geſtehe Jh-
C c 3nen,
[406]Die Geſchichte
nen, wie ich Jhnen ſchon ſonſt geſtanden habe.
daß, ohngeachtet dieſes in den Augen der Welt
eben ſo wird angeſehen werden, als wenn ich mich
in Herrn Lovelaces eigenen Schutz begaͤbe, ich
doch dieſes lieber thun wollte, als Herrn Sol-
mes
heyrathen, wenn offenbahr kein anderer Weg
uͤbrig waͤre, dieſem Ungluͤck zu entgehen.


Sie werden geſehen haben, daß Herr Love-
lace
ein Mittel gefunden zu haben meint, mich
in mein Gut einzuſetzen: und daß er mir ver-
ſpricht, daß mein Haus mit dem Frauenzimmer
von ſeiner Familie, die mich beſuchen werden, an-
gefuͤllet werden ſoll; Allein unter der Bedingung,
daß ich ſie einlade. Jch halte dieſes fuͤr einen
unuͤberlegten Vorſchlag von ihm, daruͤber ich
mich nicht gegen ihn erklaͤren kan. Wie unge-
bunden befiehlt mir dieſer Vorſchlag mich aufzu-
fuͤhren? Wuͤrde ich nicht durch ſchmeichelnde
Worte dahin gebracht werden, die alleruͤbereilte-
ſten und ungeſtuͤmſten Handlungen vorzunehmen,
wenn ich ihm Gehoͤr gaͤbe, und nicht die natuͤr-
lichen Folgen ſeines Raths bedaͤchte! denn wie
koͤnnte ich zu dem Beſitz meines Gutes gelan-
gen, als entweder durch einen Rechts-Streit, der
Zeit erfodern wuͤrde, wenn ich mich auch dazu
entſchlieſſen koͤnnte, wie ich doch nicht kan: oder
durch gewaltſame Auswerfung der Bedienten
meines Vaters, die er auf mein Gut geſetzt hat,
um auf die Gaͤrtens Gebaͤude und Meublen
Acht zu geben! denn dieſe Bedienten haͤngen
gantz an meinem Vater, und ich weiß, daß ſie
erſt
[407]der Clariſſa.
erſt kurtzens neue Verhaltungs-Befehle von mei-
nem Bruder bekommen haben.


Es folget endlich Jhr dritter Vorſchlag mich
ſtehenden Fuſſes mit Herrn Lovelace trau-
en zu laſſen/
mit deſſen Leben und Wandel ich
doch noch ſo ſchlecht zufrieden bin: ein Vor-
ſchlag, bey dem mir nicht die geringſte Hoffnung
zur Ausſoͤhnung mit den Meinigen uͤbrig blei-
ben wuͤrde, und dagegen ich tauſend andere Ein-
wendungen habe. An dieſen Vorſchlag muß
gar nicht gedacht werden.


Was mir bey der genaueſten Ueberlegung
noch das Beſte ſcheint, iſt, daß ich nach London
fluͤchte, wenn ich ja ſo weit getrieben werden
ſoll. Allein lieber will ich alle Hoffnung aufge-
ben, in meinem Leben gluͤcklich zu ſeyn, als daß
Sie Jhr unbedachtſames Verſprechen erfuͤllen
und mit mir reiſen ſollten. Wenn ich gluͤcklich
an Ort und Stelle kommen, und mich dort ver-
borgen halten koͤnnte, ſo daͤchte ich, ich brauch-
te mich nicht nach Herrn Lovelaces Willen zu
richten, ſondern ich wuͤrde meine Freyheit behal-
ten, entweder mich mit den Meinigen zu ſetzen,
oder wenn mich dieſe verlohren gaͤben und ich
keinen beſſern Weg vor mir ſaͤhe, und mein
Vetter Morden ihnen auch beyfiele, mich mit
Herrn Lovelace naͤher zu vergleichen. Jch glau-
be, daß ſie mir alsdenn erlauben wuͤrden, das
unverheyrathete Leben zu waͤhlen, wenn ich ihm
nur entſagte. Zum wenigſten wuͤrden ſie uͤber-
zeugt werden, daß mein Anerbieten mein voͤlli-
C c 4ger
[408]Die Geſchichte
ger Ernſt geweſen ſey, wenn ich es nochmahls
wiederhohlete, nachdem ich mich in Freyheit ſaͤ-
he. Auf meine Ehre: ich wollte mein Verſpre-
chen halten, ſo ſchwer Sie auch im Spaaß mei-
nen oder zu meinen ſcheinen, daß mir dieſes
ankommen werde.


Wenn Sie eine Fuhre fuͤr uns beyde auszu-
machen wiſſen, ſo werden Sie mir hoffentlich
auch, wenn ich allein bin, eine zu verſchaffen wiſ-
ſen. Kan es aber auch geſchehen, ohne deshalb
mit Jhrer Frau Mutter zu zerfallen, oder ohne
dieſer Haß und Ungelegenheit von meinen Ver-
wanten zuzuziehen? Es mag eine Kutſche, eine
Chaiſe, ein Cariol, ein Bauer-Wagen, oder nur
ein Reit-Pferd ſeyn, ſo iſt es mir einerley:
wenn Sie nur nicht mit dabey ſind. Wenn es
eins von den beyden letztern waͤre, ſo muͤßte ich
mir von Jhnen ausbitten, mir eine ordentliche
Kleidung eines Bedienten (je ſchlechter je beſſer)
zu verſchaffen, weil ich mich mit den Bedienten
unſers Hauſes gar nicht verſtehe. Sie duͤrfte
nur in den Holtz-Stall geworfen werden, allwo
ich ſie anziehen, und an der niedrigen Mauer
herab klettern koͤnnte, welche unſer Holtz-Behaͤlt-
niß von dem gruͤnen Gange abſondert.


Allein, mein Schatz, ſelbſt dieſer Vorſchlag
hat ſeine Schwierigkeiten, die einem Gemuͤth
unuͤberwindlich ſcheinen, welches ſo wenig geneigt
oder gewohnt iſt, etwas zu wagen. Dieſes ſind
die Gedancken, die mir dabey einfallen.


Zufoͤrderſt fuͤrchte ich, daß es mir an der Zeit
feh-
[409]der Clariſſa.
fehlen wird, die noͤthigen Veranſtaltungen zum
voraus zu machen.


Solte ich ſo ungluͤcklich ſeyn, in Machung
dieſer Vorbereitungen entdeckt, oder auf der
Flucht eingeholt zu werden: ſo wuͤrden die Mei-
nigen glauben, daß ſie hiedurch ein neues Recht er-
langet haͤtten mich zu zwingen Herrn Solmeſens
zu werden: und wenn mich mein Gewiſſen uͤber
mein Vergehen beſtrafte, ſo moͤchte ich vielleicht
weniger Standhaftigkeit haben als jetzund.


Wenn ich aber auch gluͤcklich nach London
komme, ſo kenne ich doch dort niemand weiter,
als dem Nahmen nach; und das ſind noch dazu
die Kaufleute mit denen unſere Familie handelt,
und an die man zuerſt ſchreibev wuͤrde um mich
auszufinden. Solte endlich Herr Lovelace er-
fahren wo ich waͤre, und mein Bruder und er
traͤffen ſich in London an, was fuͤr Ungluͤck
wuͤrde alsdenn unvermeidlich erfolgen, ich moͤch-
te nach Harlowe-Burg zuruͤck wollen oder
nicht?


Geſetzt aber ich koͤnnte mich dort verborgen
aufhalten, wie groß wuͤrde meine Gefahr in Ab-
ſicht auf meine Jugend, Geſchlecht und Unerfah-
renheit an einem unbekannten Orte ſeyn? Aus
Furcht entdeckt zu werden, wuͤrde ich mich kaum
in die Kirche wagen koͤnnen. Die Leute wuͤr-
den nicht wiſſen wovon ich lebte, und manche
moͤchten mich wol gar fuͤr eine Maitreſſe hal-
ten, und wenn gleich niemand zu mir kaͤme
doch glauben, daß ich an verabredete Oerter gin-
C c 5ge,
[410]Die Geſchichte
ge, ſo oft ich einen Schritt aus dem Hauſe
thaͤte.


Sie allein wuͤrden wiſſen, wo ich mich auf-
hielte, und wie man Brieffe an mich beſtellen
koͤnnte: Sie wuͤrden aber auch in allen Jhren
Schritten und Tritten beobachtet werden, und
Jhre Frau Mutter, die ſchon jetzt mit unſerm
Brief-Wechſel nicht allzuwohl zufrieden iſt, wuͤr-
de Urſache haben ſehr misvergnuͤgt daruͤber zu
ſeyn. Koͤnnte nicht daraus eine Mishelligkeit
zwiſchen Jhnen beyden entſtehen, die mein Un-
gluͤck vergroͤſern muͤſte, wenn ich etwas davon
erfuͤhre? Wie viel mehr Urſache habe ich, dieſes
zu befuͤrchten, da Sie ſich auf eine ſo unverant-
wortliche, (und, wenn ich das Wort gebrauchen
darf, auf eine ſo niedertraͤchtige) Weiſe vorneh-
men, ſich wegen alles des Misvergnuͤgens an
Herrn Hickmann zu raͤchen, welches Jhnen
Jhre Frau Mutter verurſachet?


Wenn Herr Lovelace den Ort meines Auf-
fenthalts ausfuͤndig machte, ſo wuͤrde es in den
Augen der Welt eben ſo angeſehen werden, als
wenn ich wircklich mit ihm durchgegangen waͤre.
Denn wenn ich mich unter Fremden aufhielte,
ſo wuͤrde er ſich nichts hindern laſſen mich zu
beſuchen: und gewiß der Ruf, in den ſich der un-
bedaͤchtliche Menſch geſetzt hat, kan einem jun-
gen Frauenzimmer, ſo ſich gern verborgen hal-
ten will, nicht zum Vortheil gereichen. Jch
mag fliehen wohin ich will und zu wem ich will,
ſo wird doch die Welt glauben, daß es um ſei-
netwil-
[411]der Clariſſa.
netwillen geſchehe, und daß er meine Flucht ver-
anſtaltet habe.


Dieſe Schwierigkeiten finde ich bey reifferer
Ueberlegung, die vielleicht ein dreiſteres Gemuͤth
in meinen Umſtaͤnden nicht fuͤr unuͤberſteiglich
anſehen wuͤrde. Wenn ſie Jhnen auch geringer
und leichter vorkommen, ſo haben Sie die Guͤ-
tigkeit, mir Jhre Meinung recht vollſtaͤndig zu
ſchreiben, denn das weiß ich doch zum voraus,
daß ich keinen Ausweg waͤhlen kan, der nicht
gewiſſe Schwierigkeiten haben ſollte.


Wenn Sie, meine beſte Freundin, ſchon ver-
heyrathet waͤren, ſo wuͤrde ich aller dieſer Zwey-
fel entuͤbriget ſeyn koͤnnen. Sie und Herr Hick-
mann
wuͤrden einer ungluͤcklichen Perſon eine
Zuflucht gegoͤnnet haben, die ſich ſchon beynahe
fuͤr verlohren haͤlt, und das blos aus Mangel
eines guͤtigen Freundes der ſie ſchuͤtzen koͤnnte.


Sie ſagen, ich haͤtte ſogleich an den Obriſten
Morden ſchreiben ſollen, als man anfing mir
ſchimpflich zu begegnen. Konnte ich aber glau-
ben, daß die Meinigen ſich nicht nach und nach
wuͤrden beſaͤnftigen laſſen, wenn ſie meinen Wi-
derwillen gegen Herrn Solmes ſehen wuͤrden?
Jch habe in der That einigemahl vorgehabt, an
ihn zu ſchreiben. Allein ich meinte, es wuͤrde
alles ſo voͤllig voruͤber ſeyn, als waͤre es nie ge-
weſen, ehe ich noch eine Antwort von ihm erhal-
ten koͤnnte. So hielt ich mich mit Hoffnung
von einem Tage zum andern, von einer Woche
zur andern hin. Zuletzt aber muſte ich billig,
(wie
[412]Die Geſchichte
(wie vorhin geſagt) befuͤrchten, daß ſich mein
Vetter eben ſo wohl moͤchte gegen mich haben
einnehmen laſſen, als einige andere, von denen
ich es eben ſo wenig vermuthet haͤtte.


Jch haͤtte hefftig ſchreiben muͤſſen, wenn ich
etwas haͤtte ausrichten wollen. Konnte ich aber
wol Luſt haben an einen Vetter heftig gegen
meinen Vater zu ſchreiben? Sie wiſſen, daß
niemand auf meiner Seiten war, meine eigene
Mutter nicht ausgenommen: er wuͤrde alſo we-
nigſtens bis auf ſeine Ankunft in ſeinem Ur-
theil zweiffelhaft geblieben ſeyn. Vielleicht
wuͤrde er deſto weniger geeilt haben, heruͤber zu
kommen, weil er hoffen konnte, daß die Zeit
ſelbſt das gantze Uebel am beſten heben wuͤrde:
und wenn er geſchrieben haͤtte, ſo wuͤrde er nur
laviert, und mich zum Gehorſam jene aber zur
Gelindigktit ermahnt haben. Wenn ſeine Brie-
fe mehr fuͤr mich als fuͤr die Meinigen geweſen
waͤren, ſo haͤtten ſie bey ihnen gar keinen Ein-
gang gehabt; und dieſes moͤchte auch wol ſein
Schickſal geweſen ſeyn, wenn er gegenwaͤrtig
und muͤndlich fuͤr mich gebeten haͤtte. Denn
Sie wiſſen ja, wie unbeweglich die Meinigen
find, und wie ſie alles durch glatte Worte oder
Haͤrte auf ihre Seite gebracht haben, ſo daß nie-
mand fuͤr mich den Mund aufthun darf. Sie
wiſſen auch, daß mein Bruder deſto hefftiger zu
Wercke gehet, weil er will, daß die gantze Sache
vor meines Vetters Ankunft zu Ende ſeyn ſoll.


Sie wollen: ich ſoll den Mantel nach dem
Win-
[413]der Clariſſa.
Winde haͤngen, um Zeit zu gewinnen, und ich
ſoll einen Schein-Vertrag eingehen. Wie ſoll
ich es aber anfangen, den Mantel nach dem
Winde zu haͤngen? Worin ſoll der Schein-Ver-
trag beſtehen? Sie werden nicht wollen, daß
ich die Meinigen uͤberreden ſoll, als ſey ich ge-
neigt das zu thun, was ich niemahls thun wer-
de. Sie werden mir nicht rathen, daß ich Zeit
gewinnen ſoll, um ſie zu betruͤgen. Es iſt ver-
boten, Boͤſes zu thun/ daß Gutes heraus
komme.
Soll ich denn Boͤſes thun, ohne zu
wiſſen, ob Gutes daraus kommen wird? Gott
behuͤte mich, daß ich nie um meines Vortheils
oder ſelbſt um meiner Wohlfarth und Rettung
willen einen muthwilligen Betrug begehe, und
der Aufrichtigkeit entſage!


Jſt denn endlich kein anderer Weg uͤbrig, ei-
nem groſen Uebel zu entgehen, als daß ich mich
in ein anderes Uebel ſtuͤrtze? Was fuͤr ein un-
gluͤckliches Schickſal habe ich? Beten Sie fuͤr
mich, beſte Freundin: denn mein Gemuͤth iſt ſo
verworren, daß ich es ſelbſt zu thun faſt nicht
mehr im Stande bin.



Der
[414]Die Geſchichte

Der ſechs und dreißigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Es kommt nun heraus, daß ich die Urſache
der neulichen Unruhe in unſerm Hauſe,
und der dunckeln Reden, die Eliſabeth fahren
ließ, richtig errathen habe: daß nehmlich alles
dieſes Folgen von der Nachricht ſind, die Herr
Lovelace unter der Hand in unſerm Hauſe hat
ausbringen laſſen, auf was fuͤr eine frevelhafte
Art (frevelhaſt muß ich ſeinen Vorſchlag nen-
nen) er geſonnen ſey, meine Wegbringung nach
meines Onckles Gut zu verhindern.


Jch ſahe ſchon damahls, daß dieſes Mittel eben
ſo unbequem zu ſeinem Endzweck, als frevelhaft
war. Denn konnte er ſich einbilden, (wie Eli-
ſabeth
gantz richtig ſagte, und es vielleicht ihrer
Herrſchafft nach ſagte) daß Eltern ſich durch Dro-
hungen eines ihnen verhaßten ungeſtuͤmen Kopfs
um ihr Recht uͤber ihre Kinder wuͤrden bringen
laſſen? durch Drohungen eines Menſchen, der
uͤber ihr Kind kein anders Recht haben kan, als
das ihm das Kind gegeben hat, ſo ſelbſt kein
Recht uͤber ſich hat? Wie muß dieſes meine
Eltern erbittern, wenn es mein Bruder nach ſei-
ner Gabe auf der ſchwartzen Seite vorzuſtellen
ſucht.


So
[415]der Clariſſa.

So fern hat er zwar ſeinen Endzweck erreicht,
daß ſie ſich nicht unterſtehen, mich wegzubringen:
allein er hat ſie gezwungen, ein ſicherers und ver-
zweiffelteres Mittel zu ergreiffen: und dieſes
zwinget mich hinwiederum zu einem eben ſo ver-
zweiffelten Gegenmittel, deſſen Folgen ihm viel-
leicht erwuͤnſchter ſeyn moͤgen, als er es verdie-
net.


Mit einem Wort; ich habe den allergefaͤhr-
lichſten Schritt in meinem Leben gewaget. Jch
will Jhnen erſt die Urſache melden, alsdenn ſoll
das folgen, was ich gethan habe.


Meine Baſe Hervey (die die gantze Nacht
hindurch, ohne Zweiffel um meinetwillen, hier
bleibt) kam dieſen Abend um ſechs Uhr vor mei-
ne Stube und klopfte an: denn ich hatte mich
eben eingeſchloſſen und ſchrieb. Als ich aufmach-
te, und ſie herein getreten war, fing ſie alſo an
zu reden, ich komme noch einmahl, ſie zu be-
ſuchen, allein gaͤntzlich wider meinen Willen.
Jch muß ihnen Nachrichten geben, die fuͤr ſie
und fuͤr die gantze Familie von der aͤuſſerſten
Wichtigkeit ſind.


Jch ward ſehr aufmerckſam: was hat man
nun mit mir vor, Frau Baſe? ſagte ich.


Sie ſollen nicht nach ihres Onckles Gute ge-
bracht werden: troͤſten ſie ſich damit. Man
ſieht, daß dieſes allzuſehr wider ihren Willen iſt.
Sie ſollen nicht dahin reiſen.


Wie erquicken ſie mich, Frau Baſe! das iſt
mir eine rechte Hertz-Staͤrckung; brach ich aus,
und
[416]Die Geſchichte
und ließ mir nichts von dem traͤumen, was noch
folgen ſollte. Jch ließ meinen Mund mit Freu-
den-Bezeugungen und Danck wegen einer ſo gu-
ten Zeitung uͤberflieſſen: und ſie ließ mich ſtill-
ſchweigends meine Freude genieſſen. Jch prieß
mich gluͤcklich, daß ich ſaͤhe, mein Vater wollte
es doch nicht auf das aͤuſſerſte kommen laſſen.


Endlich ſagte ſie zu mir: Halten ſie ein! Sie
muͤſſen ſich nicht gar zu ſehr freuen. Werden
ſie nicht beſtuͤrtzt, mein Hertz. Warum ſehen ſie
mich mit einer ſo ruͤhrenden und ernſthaften Mi-
ne an? ‒ ‒ Sie muͤſſen das alles ohngeachtet
Frau Solmes werden.


Jch ward gantz ſprachlos.


Sie fuhr fort: meine Eltern haͤtten ſichere
Nachricht, daß ein gewiſſer Straſſen-Raͤu-
ber
(ich moͤchte ihr das Wort nicht uͤbel nehmen)
bewaffnete Leute in Bereitſchafft haͤtte, meinem
Bruder und meinen Onckles auf den Dienſt zu
lauren, wenn ſie mich nach meines Onckles Gut
begleiten wuͤrden, und mich zu entfuͤhren. Sie
glaubte gewiß, daß ich meine Einwilligung zu
einer ſolchen Gewalthaͤtigkeit nicht gegeben haͤt-
te, die ſich auf ein oder anderen Seite, oder wohl
gar an beyden Seiten auf Mord und Todſchlag
endigen koͤnnte.


Jch blieb noch ſtumm.


Mein Vater, der hiedurch von neuen aufge-
bracht waͤre, haͤtte in Abſicht auf meine Reiſe
nach meines Onckles Gut ſeinen Endſchluß ge-
aͤndert. Er gedaͤchte vielmehr ſelbſt mit meiner
Mut-
[417]der Clariſſa.
Mutter auf kommenden Dienſtag dahin zu rei-
ſen; und ich moͤchte mich nur nicht dagegen
ſetzen, ſie wollte kein Geheimniß aus einer Sache
machen, die doch ſo bald ausbrechen wuͤrde: auf
den Mittewochen wuͤrde ich der Perſon, die ſie
insgeſammt wuͤnſcheten, die Hand geben muͤſſen.


Um den Trauſchein ſey ſchon geſchrieben.
Die Trauung ſollte auf meiner Stube in Ge-
genwart aller meiner Anverwanten vor ſich ge-
hen, meine Eltern ausgenommen: denn dieſe
wuͤrden nicht zuruͤckkommen, noch mich ſprechen,
bis alles voruͤber waͤre, und bis ſie von meinem
Betragen gute Nachricht haͤtten.


Sind das nicht eben dieſelbigen Nachrichten,
die mir Lovelace ſchon vor einigen Tagen ge-
geben hat.


Jch blieb immer ſprachlos, und ſeufzte nur,
als ſich mein Hertz nicht laͤnger halten konnte.


Sie fuhr fort mich ihrer Meinung nach zu
troͤſten. Sie ſagte: ich ſollte bedencken, was
fuͤr eine edle Tugend der Gehorſam ſey. Wenn
ich verlangte, daß Frau Norton bey der Trau-
ung gegenwaͤrtig waͤre, ſo ſollte auch dieſes ge-
ſchehen. Das Vergnuͤgen, mich mit allen den
Meinigen wieder ausgeſoͤhnt zu ſehen, und von
ihnen allen die Gluͤckwuͤnſchungen anzunehmen,
muͤßte bey mir nothwendig mehr gelten, als
die Vorzuͤge, die der eine Mann vor dem an-
dern in Abſicht auf die Geſtalt haͤtte. Die Liebe
ſey ein fluͤchtiges Ding, und faſt nichts mehr,
als der leere Schall eines Nahmens, wenn nicht
Zweyter Theil. D dTu-
[418]Die Geſchichte
Tugend der Grund davon ſey: die Wahl gera-
the ſelten gluͤcklich: welche aus Liebe geſchehe,
zum wenigſten waͤhre das Gluͤck nicht lange.
Es ſey dieſes leicht zu begreiffen. Denn die
Liebe ſtelle uns des andern Vorzuͤge durch ein
Vergroͤſerungs-Glas vor, und mache uns blind,
daß wir die Fehler an ihm nicht ſehen koͤnnten,
die doch ſonſt einem jedweden in die Augen fie-
len. So bald man naͤher mit einander bekannt
wuͤrde, wuͤrden die eingebildeten Vorzuͤge unſicht-
bar, und beyde Theile verwunderten ſich, daß ſie
ſich einander ſo betrogen haͤtten: hieraus entſte-
he eine viel groͤſere Kaltſinnigkeit als die Liebe
vorhin geweſen ſey. Ein Frauenzimmer gebe
der Mannsperſon allzuvielen Vortheil uͤber ſich,
wenn es ſeine Liebe geſtuͤnde, und ſich mercken lie-
ſe, daß es dieſe Mannsperſon allen andern vor-
ziehe: Undanck und Verachtung pflege gemeinig-
lich der Lohn dieſer Zuneigung zu ſeyn. Hinge-
gen wenn die Mannsperſon geſtehen muͤſte,
daß ſich das Frauenzimmer zu ihr herabgelaſſen
und durch ihr Ja ſich verleugnet, und ihr eine
Wohlthat erzeiget habe, ſo wuͤrde ſie lauter Ehr-
erbietung und Danckbarkeit und ich weiß nicht,
was noch mehr ſeyn.


Sie dencken, mein Kind (fuhr ſie fort) ſie
wuͤrden bey Herrn Solmes ungluͤcklich ſeyn:
ihre Eltern dencken das Gegentheil und glauben,
ſie wuͤrden ohne Zweiffel bey Herrn Lovelace
ungluͤcklich werden, weil doch ſeine Lebens-Art
nicht zu entſchuldigen iſt. Geſetzt nun, es iſt
ihnen
[419]der Clariſſa.
ihnen beſcheeret, bey einem von beyden ungluͤck-
lich zu ſeyn, ſo wuͤrden ſie in dem einen Fall
einen groſen Troſt haben, wenn ſie ſich erinner-
ten, daß ſie dem Rath ihrer Eltern gefolgt waͤ-
ren, und in dem andern Fall eine neue Kraͤn-
ckung, wenn ſie niemanden als ſich ſelbſt die
Schuld geben koͤnnten, weil ſie ihrem eigenen
Kopf gefolgt waͤren.


Dieſes war einer von den Bewegungs-Gruͤn-
den, die mir auch Frau Norton vorhielt, wie
Sie ſich erinnern werden.


Alle dieſe Anmerckungen waren in der That
werth, von einer ſo verſtaͤndigen und erfahrnen
Frau, als Frau Hervey iſt, gemacht und einem
jungen Maͤdchen vorgepredigt zu werden, das ſich
dem Willen ſeiner Eltern widerſetzte, und nicht
einen ſo annehmungswuͤrdigen Vorſchlag gethan
haͤtte, als ich wircklich gethan habe. Mir war
es zwar leicht, bey den Umſtaͤnden, in denen ich
mich befand, hier auf zu antworten: allein da
ich ſchon vor meiner Einſperrung gegen meine
Mutter alles geſagt hatte, was ich jetzt haͤtte von
neuen widerhohlen muͤſſen, und es nach her mei-
nem Bruder und meiner Schweſter und der Frau
Hervey ſelbſt mehr als einmahl vorgehalten hat-
te: ſo ward ich uͤber ihre grauſame Zeitung ſo
beſtuͤrtzt unb betruͤbt, daß ich nicht im Stande
war, ihr ein Wort zu antworten, ob ich gleich
auf alle ihre Reden genau gemerckt hatte. Wenn
ſie nicht von ſelbſt eingehalten haͤtte, ſo wuͤrde
D d 2ſie
[420]Die Geſchichte
ſie noch eine Stunde fort geredet haben, ohne
von mir unterbrochen zu werden.


Als ſie dieſes gewahr ward, und ſahe, daß ich
nur weinete, und mir das Tuch vor das Geſicht
hielt, und mich der Seufzer und lauten Weinens
kaum laͤnger enthalten konnte: ſo ſagte ſie: Wie?
bekomme ich keine Antwort, mein Kind? Was
iſt das kuͤr eine ſprachloſe Traurigkeit? Sie
wiſſen ja, daß ich ſie immer geliebet habe, und
daß ich dieſes alles nicht als meine Sache treibe,
Sie wollten doch Herrn Solmes nicht erlau-
ben, ihnen das zu erzaͤhlen, was ihnen den Herrn
Lovelace verhaßt gemacht haben wuͤrde: ſoll
ich ihnen einiges ſagen, daß man ihm Schuld
giebt? Soll ich es thun, mein Hertz?


Jch antwortete blos durch Seufzer und Thraͤ-
nen.


Gut! mein Kind, ſo ſollen ſie es nachher zu
erfahren kriegen, wenn ſie beſſer im Stande ſind
es zu ertragen, und ſich daruͤber zu freuen, daß
ſie ſeinen Klauen entkommen ſind. Sie werden
alsdenn ihr Betragen gegen Herr Solmes vor
der Hochzeit dadurch einigermaſſen entſchuldigen
koͤnnen, daß ſie Herrn Lovelace nicht fuͤr einen
ſo abſcheulichen Boͤſewicht gehalten haben.


Mein Hertz ſchlug vor Ungeduld und Un-
muth, als ich hoͤren muſte, daß ſie ſo deutlich
davon redete, daß ich ſeine Frau werden ſollte.
Jch wollte aber doch noch nicht reden: denn
wenn ich den Mund geoͤffnet haͤtte, ſo wuͤrde es
mit allzugroſer Hefftigkeit geſchehen ſeyn.


Jhr
[421]der Clariſſa.

Jhr Stilleſchweigen kommt mir wunderlich
vor, mein Kind: (fing ſie von neuen an.) Sie
machen ſich unendlich mehr Kummer vor der
Hochzeit, als ſie nach der Hochzeit haben wer-
den. Jch darf ſie aber doch darum fragen, ob ſie
nicht die Ehepacten ſehen wollen, die er ſo edel-
muͤthig entworffen und darin er ſie ſo reichlich
verſorget hat? Sie haben mehr Verſtand, als
man von ihren Jahren erwarten ſollte. Leſen ſie
doch nur einmahl den Aufſatz durch: er iſt ſchon
in das Reine geſchrieben, und liegt bereits ſeit
einiger Zeit zur Unterſchrifft fertig. Entſchul-
digen ſie mich, mein Hertz: ich will ſie nicht gern
beunruhigen. Allein ihr Herr Vater verlang-
te von mir, daß ich den Contract mitnehmen
und auf ihrer Stube laſſen ſollte. Er befiehlt
ihnen, denſelben durchzuleſen: nur durchzule-
ſen;
denn er war ſchon in das Reine geſchrie-
ben, ehe ſie noch durch ihr Betragen alle Hoff-
nung der Jhrigen zu Waſſer gemacht hatten.


Hierauf zog ſie zu meiner groſen Beſtuͤrtzung
ein Pergamen aus einem Tuch, das ſie bisher
unbemerckt unter der Schuͤrtze gehalten hatte,
und legte es in das gegen uͤber ſtehende Fenſter.
Jch haͤtte mich nicht mehr erſchrecken koͤnnen,
wenn es eine Schlange geweſen waͤre.


Jch kehrte das Geſicht weg, und ſagte mit
ausgeſpanneten Armen: o meine liebſte Frau
Baſe, ſchaffen ſie mir das fuͤrchterliche Perga-
men aus den Augen. Jch beſchwere ſie bey al-
lem, was Verwantſchafft heißt, und bey ihrer
D d 3Ehre
[422]Die Geſchichte
Ehre und Liebe gegen mich: ſagen ſie mir, ob
die Meinigen ſchlechterdings entſchloſſen ſind,
mir den Mann aufzuzwingen, es mag auch dar-
aus kommen was da will?


Ja! ſie muͤſſen Herrn Solmes haben, mein
Kind: wahrlich ſie muͤſſen!


Wahrlich ich will nicht. Jch habe ſchon hun-
dertmahl geſagt, daß dieſes nicht eigentlich mei-
nes Vaters Wille iſt. Jch will ihn wahrhaff-
tig nicht nehmen. Mehr ſage ich nicht.


Es iſt aber nun ihres Vaters Wille: (ver-
ſetzte meine Baſe) und wenn ich bedencke, daß
Herr Lovelace der gantzen Familie ſo drohet,
und veſt entſchloſſen iſt, ſie mit Gewalt zu ent-
fuͤhren: ſo muß muß ich geſtehen, daß ihre Eltern
Recht haben, wenn ſie ſich ihr Kind nicht abtro-
tzen laſſen wollen.


Wohlan, ſo bleibt fuͤr mich keine Hoffnung
uͤbrig. So muß ich verzweiffelte Mittel er-
waͤhlen. So frage ich nichts mehr darnach, was
aus mir wird.


Mein Schatz, jedermann bauet auf ihre Froͤm-
migkeit und Klugheit, und auf Herrn Lovela-
ces
uͤblen Nahmen und auf ſein Trotzen und
Drohen, daß ſie billig eben ſo ſehr gegen ihn auf-
bringen ſolte als die uͤbrigen. Wird ſind verſi-
chert, daß eine Zeit kommen wird, da ſie anders
von den Mitteln urtheilen werden, durch die ihre
Freunde die Abſichten eines ihnen mit Recht ver-
haßten Mannes zu vernichten ſuchen.


Sie ging weg, und verließ mich in meiner
voͤlli-
[423]der Clariſſa.
voͤlligen Betruͤbniß und Unwillen. Jch war ſo
misvergnuͤgt mit Herr Lovelace/ als ich mit
irgend jemand ſeyn konnte; weil die Sache durch
ſeine eingebildete Weisheit ſchlimmer geworden
war, als vorhin; und es mir dadurch ohnmoͤg-
lich gemacht hatte, Zeit zu gewinnen, damit ich
mich Jhres Raths und Beyſtandes bedienen
koͤnnte, um in der Stille nach London zu kom-
men. Er hat es ſo weit gebracht, daß mir nur
die Wahl zwiſchen dieſem doppelten Uebel uͤbrig
bleibt, entweder zu ſeinen Anverwanten zu fluͤch-
ten, oder Zeitlebens durch Solmes ungluͤcklich
zu werden. Jch blieb indeſſen noch bey meinem
Entſchluß, dieſe beyden Uebel zu vermeiden, wenn
es moͤglich waͤre.


Zuerſt ſuchte ich die Eliſabeth auszulocken,
ob ſie nicht glaubte, daß die Meinigen ſich durch
mein anhaltendes Bitten wuͤrden bewegen laſſen,
es nicht bis aufs aͤuſerſte zu treiben, und nicht
alles zu erfuͤllen, was ſie droheten? Denn Frau
Hervey ſchickte die Eliſabeth zu mir herauf,
weil ſie mich, wie mir dieſe ſagte, nicht gern al-
lein laſſen wollte: und ich merckte, daß ſie um
das gantze Geheimniß wußte.


Eliſabeth ſtimmete in ihren Reden voͤllig
mit meiner Baſe uͤberein: und ſie ſetzte noch
hinzu, ſie und alle im Hauſe freueten ſich, daß
ihnen der Boͤſewicht ſelbſt einen ſo guten Vor-
wand gegeben haͤtte, mich auf nun und immer
von ihm zu retten. Sie redete davon, daß ſchon
Kutſche und Pferde und Montirung beſtellet
D d 4waͤren:
[424]Die Geſchichte
waͤren: daß ſich mein Bruder und Schweſter
daruͤber freueten, daß nun bald wieder Friede
im Hauſe werden wuͤrde: daß ſich die Bedienten
auch daruͤber freueten: daß man naͤchſtens den
Trauſchein erwartete: daß ich einen Beſuch von
dem D. Lewin oder einem andern Geiſtlichen,
deſſen Nahmen ſie nicht wuͤßte, zu gewarten haͤt-
te, der dem Werck die Crone aufſetzen ſolte:
und daß noch andere beſondere Zuruͤſtungen ge-
macht wuͤrden, die mich beynahe in Furcht ſetzten,
daß man den Mittewochen nicht erwarten, ſon-
dern mich noch vorher unbereitet und ungewarnt
uͤbereilen wuͤrde.


Dieſes machte mich ſehr unruhig. Jch wuß-
te nicht, wozu ich mich entſchlieſſen ſollte. Bald
dachte ich: was kan ich anders thun, als mich in
die Arme der Lady Eliſ. Lavrance werfen,
und bey ihr Schutz ſuchen? Bald entſchloß ich
mich zu dem Gegentheil, um mich an Lovelace
wegen ſeiner artigen Klugheit zu raͤchen, die mir
meine Abſichten ſo entſetzlich verruͤckte. Endlich
entſchloß ich mich, mir noch einmahl den Zu-
ſpruch meiner Frau Baſe auf eine halbe Stun-
de auszubitten.


Jch ſchickte Eliſabeth an ſie, und ließ ſie
bitten. Sie kam auch. Jch bat ſie auf das
inſtaͤndigſte, mir zu ſagen, ob ich denn nicht eine
Friſt von vierzehn Tagen erhalten koͤnnte?


Sie verſicherte mir, daß es unmoͤglich ſey.


Wie aber eine Woche? Acht Tage werde ich
doch erhalten koͤnnen?


Sie
[425]der Clariſſa.

Sie ſagte: das glaubte ſie, wenn ich nur
zwey Dinge verſprechen wollte. Erſtlich muͤßte
ich auf meine Ehre verſprechen, keine Zeile in
der Woche an Leute auſſer Hauſe zu ſchreiben:
denn man habe mich in Verdacht, daß ich doch
noch Mittel haͤtte, an jemand zu ſchreiben.
Zum andern, muͤßte ich zuſagen, daß ich Herrn
Solmes nach Verflieſſung der Woche nehmen
wollte.


Ohnmoͤglich! ohnmoͤglich! (ſagte ich, nicht
ohne Heftigkeit.) Kan ich nicht einmahl eine
Woche Friſt erhalten, ohne eine ſolche abſcheu-
liche Bedingung einzugehen?


Sie ſagte, ſie wollte hinunter gehen, und ſich
erkundigen, damit es nicht das Anſehen haben
moͤchte, als wenn ſie mir eine ſo harte Bedin-
gung vor ihren eigenen Kopf aufbuͤrden woll-
te.


Sie ging hinunter, und kam wieder herauf.
Die Antwort war: ob ich Luſt haͤtte, dem ver-
fluchten Boͤſewicht Zeit zu geben, daß er ſeine
moͤrderiſchen Anſchlaͤge in das Werck ſetzen koͤn-
te? Man ſey muͤde, laͤnger mit mir Muͤhe zu
haben: es ſey Zeit, meinem Ungehorſam und ſei-
nem Hoffen ein Ende zu machen. Auf den
Dienſtag, oder zum hoͤchſten auf den Mittewo-
chen ſollte und muͤßte alles zum Ende ſeyn, wenn
ich nicht verſprechen wollte, die Bedingung ein-
zugehen, unter welcher mir meine Baſe eine laͤn-
gere Friſt aus Guͤtigkeit verſprochen haͤtte.


D d 5Jch
[426]Die Geſchichte

Jch ſtampfte vor Ungeduld auf die Erde.
Jch rief ſie zum Zeugen an, daß ich an allen
Folgen unſchuldig waͤre, die aus dieſem Zwang
entſtehen moͤchten; aus dieſem grauſamen un-
menſchlichen Zwang: es moͤchte auch daraus ent-
ſtehen was da wollte.


Meine Baſe verwieß mir dieſes heftiger, als
ſie jemahls vorhin gethan hatte. Und ich be-
ſtand halb auſſer mir darauf, daß ich meinen
Vater ſehen wollte. Ein ſolches Betragen ge-
gen mich, ſagte ich, machte, daß ich nichts wei-
ter fuͤrchtete. Jch wollte mich mit Freuden von
dem umbringen laſſen, dem ich mein Leben zu
dancken haͤtte.


Sie antwortete: ſie waͤre nicht auſſer Sor-
gen, daß ich von Verſtande kommen moͤchte.


Jch gieng die Treppe halb mit herunter, in
der veſten Meinung mich ihm zu Fuͤſſen zu wer-
fen, wo ich ihn finden wuͤrde. Meine Baſe er-
ſchrack: und ich war einige Minuten lang gantz
verwirrt. Als ich aber meines Bruders Stim-
me hoͤrte, der in der gleich dabey liegenden Stu-
be meiner Schweſter mit jemand redete, ſo blieb
ich ſtehen: und da hoͤrte ich aus dem Munde
des argliſtigen Unmenſchen die Worte: Das
Ding hat eine gute Wirckung.


Ja! (ſagte ſie mit frohlockender Stimme)
eine ungemein gute Wirckung.


Wir wollen nicht davon abgehen:
(antwortete mein Bruder) wir wollen es noch
weiter brauchen. Der Boͤſewicht hat ſich

ſelbſt
[427]der Clariſſa.
ſelbſt gefangen. Nun ſoll aus ihr wer-
den/ was wir wollen.


Arabelle ſagte: ſucht ihr nur meinen Va-
ter bey guten Gedancken zu erhalten/ und
ich will es bey meiner Mutter thun.


Seyd unbeſorgt. ‒ ‒ Hierauf folgte ein
lautes Freuden-Gelaͤchter, das meiner Auslegung
nach zugleich ein Hohn-Gelaͤchter uͤber mich war:
und dieſes machte, daß ich an ſtatt traurig und
verdrießlich zu ſeyn auf Rache dachte.


Meine Baſe kam indeſſen eben zu mir herun-
ter, fuͤhrete mich bey der Hand wieder hinauf
und ſuchte mich zu beſaͤnftigen.


Aus meiner Traurigkeit war nunmehr ein
muͤrriſches Weſen und Eigenſinn geworden.
Sie predigte mir Gehorſam und Gelaſſenheit:
ich aber antwortete nichts.


Endlich bat ſie mich: ich ſolte ihr nur ver-
ſprechen, daß ich mir kein Leid anthun wollte.


Jch ſagte: ich hoffete, daß mir GOtt mehr
Gnade gegeben haͤtte, als daß ich mich eines ſo
entſetzlichen Verbrechens ſchuldig machen ſolte.
Jch ſey ſein Geſchoͤpf, und nicht mein eigen.


Sie nahm Abſchied von mir: und ich drang
darauf, daß ſie das verhaßte Pergamen wieder
mitnehmen ſolte.


Da ſie ſahe, daß ich ſo ſehr verdrießlich war,
und daß es mein voͤlliger Ernſt war, nahm ſie
es mit: ſagte aber dabey, mein Vater ſolte es
nicht wiſſen. Sie hoffete, ich wuͤrde die Sache
reif-
[428]Die Geſchichte
reiffer uͤberlegen, und es kuͤnftig mit einer beſſern
Faſſung des Gemuͤths annehmen.


Nach ihrem Abſchied uͤberdachte ich die Re-
den, die mein Bruder und meine Schweſter ge-
fuͤhret hatten: Jhr Frohlocken uͤber mir lag
mir im Sinne: und ich fand, daß ſich eine Bit-
terkeit in meinem Gemuͤth erregte, die ich noch
niemahls empfunden hatte, und der ich nicht wi-
derſtehen konnte. Da ich nun alles uͤberlegte,
und mich vor dem ſo nahe bevorſtehenden Tage
fuͤrchtete: was konnte ich da thun? Was mei-
nen Sie, bin ich in demjenigen, was ich gethan
habe, einigermaſſen zu entſchuldigen? Und wol-
len und koͤnnen Sie mich entſchuldigen, wenn
mich gleich die Welt verdammet, weil ſie meine
Urſachen nicht weiß? Wenn Sie mich nicht
entſchuldigen, ſo bin ich ungluͤcklich. Dieſes
war es, was ich that:


Jch ſchaffete mir Eliſabeth ſo bald ich kon-
te vom Halſe, und ſchrieb an Herrn Lovelace.
Jch berichtete ihm: „man wollte alles das, wo-
„mit man mich auf meines Onckles Gut bedrohet
„haͤtte, hier in das Werck richten: ich haͤtte mich
„deswegen entſchloſſen, mich in den Schutz ei-
„ner von ſeinen beyden Baſen zu begeben, wenn
„ſie mich deſſen gewaͤhren wollten. Jch wollte
„mir Erlaubniß ausbitten, in dem Sommer-
„Hauſe das mit Epheu bedeckt iſt, zu ſpeiſen;
„und wollte um 2, 3, 4, oder 5 Uhr des Mon-
„tags Nachmittags zu ihm vor die Garten-Thuͤr
„hinaus kommen, wenn ich anders koͤnnte. Er
ſolte
[429]der Clariſſa.
„ſolte mir alsdenn Nachricht geben, ob ich bey
„einem von dieſen beyden Frauenzimmer Schutz
„zu gewarten haͤtte: und in ſolchem Falle ver-
„langte ich ſchlechterdings von ihm, daß er mich
„allein laſſen und entweder zu ſeinem Onckle
„oder nach London reiſen und daſelbſt bleiben ſol-
„te: auch ſolte er mich nicht beſuchen wollen,
„bis ich gewiß wuͤßte, daß bey den Meinigen kei-
„ne Verſoͤhnung zu bewircken ſtuͤnde, und daß
„ſie mir mein Gut nicht wieder geben, noch mir
„erlauben wollten, darauf zu wohnen. Er ſol-
„te mir auch nichts von heyrathen ſagen, bis
„ich ihm vergoͤnnete, davon zu reden. Jch ſetz-
„te noch hinzu: wenn er mir unterweges die ei-
„ne von den Fraͤuleins Montague zur Geſel-
„ſchaft verſchaffen koͤnnte, ſo wuͤrde ich eine Sa-
„che mit leichterm Hertzen wagen, an die ich jetzt
„nicht ohne Kummer dencken koͤnnte, ob ich gleich
„dazu gezwungen wuͤrde, und die mir vielleicht
„nach dem Urtheil der Welt einen unausloͤſchli-
„chen Flecken anhaͤngen moͤchte.


Dieſes war der Jnhalt meines Brieffes. Jch
ſchlich im Finſtern in den Garten, (auch dieſes
haͤtte ich mich ſonſt nicht unterſtanden) legte ihn
hin, und kam unbemerckt wieder zuruͤck.


Mein Hertz ſchlug mir ſo von einer fuͤrchter-
lichen Ahndung, als ich zuruͤck kam, daß ich die
Gedancken zu vertreiben mein verborgenes
Schreib-Zeug aufſuchte, und in kurtzer Zeit ei-
nen ſo langen Brief ſchrieb. Da ich nun in
meiner Erzaͤhlung bis hieher gekommen bin, ſo
uͤber-
[430]Die Geſchichte
uͤberfallen mich meine traurigen Gedancken von
neuen. Allein was ſoll ich thun? Jch dencke,
mein erſtes ſoll morgen fruͤh ſeyn, daß ich den
Brief wieder hole. Was kan, oder was ſoll
ich thun?


Jch will jetzt recht kranck werden, weil ich be-
fuͤrchte, daß man die Sache noch vor Mittewo-
chens unvermuthet in das Werck zu richten vor-
hat. Jch brauche mich nicht ſehr zu verſtellen:
denn ich bin in der That elend.


Jch hoffe dieſen Brief morgen ſehr fruͤh fuͤr
Sie hinzulegen, ſo bald ich den andern Brief
wieder zuruͤck genommen habe, falls ich ihn an-
ders noch zuruͤck nehme. Zum wenigſten giebt
mir das Jnnerſte meines Hertzens dieſen Be-
fehl.


Es iſt jetzt ſchon des Nachts um zwey Uhr.
Jch habe aber dem ohngeachtet groſſe Luſt, hin-
unter zu ſchleichen, und meinen Brief zu holen.
Unſere Thuͤren werden zwar des Abends um
eilf Uhr zugeſchloſſen und zugeriegelt: allein die
ſteinernen Sitze an den Fenſtern des kleinen
Speiſe-Saals ſind in der Hoͤhe mit dem Bo-
den des Gartens beynahe gleich, und die Laden
laſſen ſich leicht aufmachen. Hier koͤnte ich hin-
aus kommen.


Wiewohl! warum ſoll ich ſo unruhig ſeyn?
Wenn auch der Brief zurechte kommt, ſo kan
ich ja hoͤren, was Herr Lovelace darauf ant-
wortet. Seine Baſen wohnen ſo weit von uns
ab, daß er nicht ſo gleich Antwort erhalten kan:
und
[431]der Clariſſa.
und ich werde ihm den Einwurf machen koͤnnen,
daß ich nicht ohne von ihnen eingeladen zu wer-
den zu ihnen reiſen kan. Jch kan auf die Ge-
ſelſchaft einer von den Fraͤuleins Montague
als auf eine nothwendige Bedingung dringen:
und vielleicht wird er keine von beyden uͤberreden
koͤnnen, ihm dieſe Gefaͤlligkeit zu erzeigen. Es
koͤnnen zehn Dinge vorfallen, die mir einen Vor-
wand geben es aufzuſchieben: warum ſolte ich
denn ſo ſehr unruhig ſeyn? ſonderlich, da ich
meinen Brief vermuthlich morgen fruͤher zuruͤck
nehmen kan, als er ihn dort ſuchen wird. Er
ſagt zwar, daß er drey Theile des Tages dazu
anwendet, in dieſer oder jener Verkleidung um
unſer Haus herum zu ſchleichen, und er hat noch
uͤber dieſes einen Bedienten auf den er ſich ver-
laſſen kan, wenn er ſelbſt, ſeinem Ausdruck nach,
nicht auf der Wache iſt.


Dieſes ſind wunderliche Vorboten! Jedoch,
wenn ſie es rathen, ſo kan ich mit ſeinem Wa-
gen gleich nach London fahren, wie ich im Vor-
ſchlag hatte: und ſo waͤren Sie der Muͤhe uͤber-
hoben, mir eine Gelegenheit zu verſchaffen, und
Jhre Frau Mutter wuͤrde Sie auch weniger in
Verdacht eines mir geleiſteten Beyſtandes ha-
ben.


Jch bin ſehr begierig Jhren Rath und Bil-
ligung zu meinen Anſchlaͤgen zu haben. Jch
ſchlieſſe mit dieſer unruhigen Begierde meinen
Brief. A dieu, liebſte Freundin: A dieu!


Der
[432]Die Geſchichte

Der ſieben und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Als ich aufſtand, ſahe ich gleich aus dem
Fenſter, daß Frau Hervey (die ſehr fruͤh
auf zu ſeyn pfleget) ſchon in dem Garten herum
gieng, und Eliſabeth ſie begleitete: Denn weil
ich mehrere Naͤchte keinen Schlaf gehabt habe,
ſo ſchlief ich dieſesmahl zum Ungluͤck uͤber mei-
ne Zeit. Jch konnte alſo weiter nichts thun,
als auf den Huͤner-Hof gehen, und meinen Brief
von geſtern und von geſtern Abend hinlegen.
Jch bin kaum wieder zuruͤck gekommen: denn
ſie iſt noch in dem Garten: dieſes haͤlt mich ab,
den Brief an Herrn Lovelace zuruͤck zu nehmen,
welches ich noch zu thun entſchloſſen bin, und
hoffe, daß es nicht zu ſpaͤt ſeyn werde.


Jch habe recht ungluͤcklich die Zeit verſchlaf-
fen. Um halb drey Uhr ging ich zu Bette. Jch
hoͤrte alle Viertheilſtunden bis um fuͤnf Uhr:
darauf ſchlief ich ein, und wachte erſt nach ſechs
Uhr mit groſſem Schrecken von einem Traum
auf. Jch achte ſonſt nicht auf Traͤume, allein
dieſer hat einen ſolchen Eindruck bey mir ge-
macht, daß ich ihn Jhnen nothwendig mitthei-
len muß.


Mich
[433]der Clariſſa.

Mich duͤnckte: mein Onckle Anton/ Herr
Solmes und mein Bruder hatten ſich mit ein-
ander verſchworen, Herrn Lovelace aus dem
Wege zu raͤumen. Er entdeckte ihre Anſchlaͤ-
ge, und weil er meinte, daß ich mit darum wuͤß-
te, ſo wandte er ſeine gantze Wuth gegen mich.
Es kam mir vor, als wenn ſie alle drey das Land
vor ihm raͤumen muͤßten: er nahm mich dar-
auf und fuͤhrte mich auf den Kirchhof. So
viel ich auch bat, und weinete, und mich auf mei-
ne Unſchuld berief, half es doch alles nichts. Er
ſtach mich durch das Hertz, ſtuͤrtzte mich in ein
neu aufgegrabenes Grab, zwiſchen etliche halb-
verfaulte Leichen; warf Erde und Koth auf mich,
und trat mich mit den Fuͤſſen nieder.


Jch wachte mit Schrecken und Zittern auf,
gantz mit kaltem Schweiß begoſſen, und wollte
faſt ohnmaͤchtig werden. Das fuͤrchterliche
Bild ſchwebt mir noch immer vor den Augen.


Allein warum ſoll ich mir mit einem einge-
bildeten Ungluͤck zu thun machen, da ich ſo reich
an wahrhaftem Ungluͤck bin? Meine verwor-
rene Einbildungskraft iſt an ſolchen Traͤumen
ſchuld, die alles fuͤrchterliche, was ich von mei-
ner Baſe gehoͤrt habe, mit meinem Briefe an
Lovelacen/ mit meiner Unruhe uͤber dieſen
Brief, und mit meiner Furcht vor dem kuͤnfti-
gen Mittewochen verbindet.



Zweyter Theil. E eDer
[434]Die Geſchichte

um acht Uhr.


Der Menſch hat meinen Brief: ‒ ‒ Was
fuͤr eine auſſerordentliche Wachſamkeit! Jch
wuͤnſche, daß er eine gute Abſicht bey der Muͤhe
haben moͤge, die er ſich giebt. Jndeſſen wuͤrde
es mich verdrieſſen, wenn er nicht ſo wachſam
waͤre: und doch wuͤnſchte ich, daß er hundert
Meilen von mir entfernt geweſen waͤre. Wie
vielen Vortheil habe ich ihm uͤber mich gegeben!


Nun ich den Brief nicht mehr in meiner Ge-
walt habe, bin ich noch unruhiger, und es ge-
reuet mich mehr, als vorhin. Jch zweiffelte noch
vorhin, ob ich den Brief an ihn gelangen laſſen
ſolte oder nicht: und nun duͤnckt mich, ich haͤt-
te es nicht thun ſollen. Und doch weiß ich kei-
nen andern Weg als dieſen, Herrn Solmes zu
entgehen. Fuͤr was fuͤr ein liederliches Maͤd-
chen werde ich aber angeſehen werden, wenn
ich das thue, was die natuͤrliche Folge meines
Briefes iſt!


Liebſte, liebſte Freundin, ſagen Sie mir: ha-
be ich recht oder unrecht gethan? Geben Sie
mir aber nicht Unrecht, wenn Sie gleich ſo den-
cken: denn wenn mich gleich die gantze Welt
verdammet, und Sie thun es nur nicht, ſo wird
es mir ſchon ein Troſt ſeyn. Dis iſt das erſte
mahl, daß ich Sie bitte mir zu ſchmeicheln:
und das iſt ſchon ein Zeichen, daß ich Unrecht
gethan habe, weil ich die Wahrheit nicht hoͤren
will. Sagen Sie mir, und ſagen Sie es mir
dennoch nicht, ob ich Unrecht gethan habe.


Meine
[435]der Clariſſa.

Freytags um eilf Uhr.


Meine Baſe hat mich nochmahls beſucht.
Sie machte den Anfang davon, daß die Mei-
nigen glaubten, ich wechſelte noch bis dieſe Stun-
de Brieffe mit Lovelacen. Man koͤnnte dieſes
aus ſeinen Drohungen und aus den Reden
mercken, die er von ſich hoͤren lieſſe: denn er
wuͤßte alles, was zwiſchen mir und meinen An-
verwanten vorfiele, und bisweilen faſt ſo bald
als es geſchehen waͤre.


Ob ich es gleich nicht billige, daß er ſich ſo
herunter ſetzt, durch dergleichen Canaͤle Neuig-
keiten zu erfahren: ſo wuͤrde es doch von mir
nicht klug gehandelt ſeyn, wenn ich um mich zu
entſchuldigen eine Anklaͤgerin des beſtochenen
Bedienten wuͤrde, deſſen Schelmerey ich nie ge-
billiget habe. Denn ich koͤnnte hiedurch verur-
ſachen, daß mein gantzer Briefwechſel verrathen
wuͤrde: und ſo wuͤrde ich alle Hofnung verloh-
ren geben muͤſſen, mich von Herrn Solmes zu
befreyen. Es iſt mir indeſſen ſehr wahrſchein-
lich, daß dieſer Kerl, den Herr Lovelace gebraucht,
den Mantel auf beyden Achſeln traͤgt. Wie
koͤnnte ſonſt mein Bruder ſeine Drohungen ſo
geſchwind wieder wiſſen?


Jch, antwortete meiner Baſe: ich ſchaͤmte
mich der Auffuͤhrung der Meinigen gegen mich
um mein ſelbſt und um anderer willen ſo ſehr,
daß ich auch alsdenn Herrn Lovelace nichts da-
von melden wuͤrde, wenn ich noch Mittel haͤtte,
mit ihm Brieffe zu wechſeln. Wenn er dieſe
E e 2Nach-
[436]Die Geſchichte
Nachrichten von mir haͤtte, ſo muͤßten wir ſo mit
einander ſtehen, daß er gewiß einen Beſuch ab-
legen wuͤrde, an deſſen Folgen ich mit Schrecken
gedaͤchte. Es wuͤßten alle meine Verwante, daß
ich mit keinem Bedienten meiner Eltern umgin-
ge, als mit meiner Schweſter Cammer-Maͤd-
chen. Denn ob ich gleich zu allen ein gutes
Vertrauen haͤtte, und glaubte, daß ſie mir gern
dienen wuͤrden, wenn ſie duͤrften: ſo merckte ich
doch an ihrer vorſichtigen Auffuͤhrung wohl, daß
ſie in Abſicht auf mich beſonders eingeſchraͤnckt
waͤren und deswegen haͤtte ich ſeit dem, das Han-
nichen
aus dem Hauſe geſchaft waͤre, keinen un-
ter ihnen anreden moͤgen, um ihnen nicht auch
den Abſchied zuwege zu bringen. Sie muͤßten
den ſchwatzhaften Menſchen unter ſich ſelbſt und
unter ihren Vertrauten aufſuchen, durch den
Herr Lovelace alles wieder erfuͤhre. Denn
weder mein Bruder noch meine Schweſter, noch
auch vielleicht ihr lieber Herr Solmes daͤchten
daran, wen ſie vor ſich haͤtten, wenn ſie auf ihn
oder auch auf mich loszoͤgen, wie ſie ſich denn
eine Ehre daraus zu machen ſchienen, meiner mit
zu gedencken, wenn ſie ſeine Tugenden erzaͤhlten.
Von meinem Bruder und Schweſter wuͤßte ich
dieſes durch die Eliſabeth gewiß, die mir bey
ſolcher Gelegenheit anzuruͤhmen pflegte, daß ſie
ſehr ehrlich waͤren.


Meine Baſe ſagte: der Argwohn ſey ſehr na-
tuͤrlich, daß er dieſe Nachrichten, wo nicht alle,
doch zum Theil, von mir haben muͤſſe: weil ich
glaub-
[437]der Clariſſa.
glaubte, daß man hart mit mir umginge, und mich
daruͤber zum wenigſten gegen Fraͤulein Howe
beſchweren wuͤrde, welches eben ſo viel ſey, als
wenn ich mich gegen ihn ſelbſt daruͤber beklagte.
Denn man wiſſe wohl, daß Fraͤulein Howe
von unſerm Hauſe eben ſo frey redete, als wir
von Herrn Lovelace reden koͤnnten. Sie wuͤß-
te ſo viel Umſtaͤnde, daß ſie nothwendig ihre
Nachrichten hier aus dem Hauſe baben muͤßte.
Mein Vater haͤtte daher den Entſchluß gefaſ-
ſet, der Sache bald ein Ende zu machen, damit
nicht noch ſchlimme Folgen daraus entſtuͤn-
den.


Sie fuhr fort: ich ſehe, daß ſie anfangen
wollen heftig zu werden. (Das war auch die
Wahrheit.) Jch vor mein Theil glaube nicht,
daß, wenn ſie auch an ihn ſchrieben, ſie etwas
ſchreiben wuͤrden, das einen ſo hitzigen Kopf noch
hitziger machen koͤnnte. Allein, das iſt nicht der
Endzweck meines jetzigen Beſuchs. Sie muͤſſen
nothwendig uͤberzeuget ſeyn, daß ihr Vater ſchlech-
terdings Gehorſam fodert. Je mehr ſie ſich ſei-
nem Willen widerſetzen, deſto eifriger wird er
ſeyn, ſein Recht zu behaupten. Jhre Mutter
hat mir aufgetragen, ihnen zu ſagen: ſie wuͤnſch-
te ſie jetzt, da ihr Herr Vater in dem Garten
herum gehet, in ihrem Cloſet zu ſprechen, wenn
ſie ihr nur die geringſte Hoffnung geben wollen,
gehorſam zu ſeyn.


Eine erſtaunende Unbeweglichkeit! (ſagte ich)
Jch bin gantz muͤde, mich weiter zu erklaͤren,
E e 3oder
[438]Die Geſchichte
oder noch weitere Vorſtellungen zu thun. Jch
haͤtte gedacht, daß man nicht mehr in mich drin-
gen wuͤrde, da mein Entſchluß bekannt genug
iſt.


Sie ſahe mich ernſthaft an, und antwortete:
ſie verſtehen meine Meinung nicht. Bisher hat
man ſie erſucht und gebeten, den Jhrigen eine
Gefaͤlligkeit zu erzeigen. Das Bitten hat nun
ein Ende: man ſieht wohl, daß das nichts aus-
richtet. Es iſt deswegen beſchloſſen, daß ſie ih-
rem Herrn Vater Gehorſam leiſten ſollen, wie
es recht und billig iſt. Nun giebt man ihnen
einiges Schuld, darin ihre Frau Mutter ſie
fuͤr unſchuldig haͤlt: nehmlich, daß ſie um Herrn
Lovelaces Drohungen, ſie zu entfuͤhren, wiſſen
ſollen. Sie will ihnen gern ſagen, daß ſie eine
beſſere Meinung von ihnen hat, und daß ſie ſie
liebet, und was ſie bey der bevorſtehenden Gele-
genheit von ihnen erwartet: allein, um ſich nicht
in die Gefahr einer abſchlaͤgigen Antwort zu ſe-
tzen, verlanget ſie, daß ſie ihr zum voraus ver-
ſprechen ſollen, das auf eine anſtaͤndige Weiſe
zu thun, was ſie doch thun muͤſſen. Sie will
ihnen auch gern einen guten Rath geben, wie ſie
ſich mit ihrem Herrn Vater und mit dem gan-
tzen Haufe ausſoͤhnen ſollen. Wollen ſie nun
mit herunter kommen, Fraͤulein Baſe, oder
nicht?


Jch ſagte: ich wuͤrde mich zwar gluͤcklich
ſchaͤtzen, wenn ich meine Mutter nach einer
ſo langen Entfernung wieder ſprechen duͤrfte.
Allein
[439]der Clariſſa.
Allein unter ſolchen Bedingungen verlangte ich
es nicht.


Jſt dis ihre Antwort, Fraͤulein?


Ja! ich kan nicht anders antworten. Es
mag daraus kommen, was will: ſo werde ich
Herrn Solmes nicht nehmen. Es betruͤbt mich,
daß man mich ſo oft damit quaͤlet. Jch will
ihn in Ewigkeit nicht haben.


Sie ging misvergnuͤgt hinunter. Jch konn-
te es nicht wehren. Jch war es gantz muͤde,
daß eine Sache auf ſo mancherley Weiſe und ſo
oft angebracht ward. Jch wundere mich, daß
die Meinigen des Dinges nicht muͤde werden.
Es bleibt immer einerley, und kein Theil will
etwas nachgeben.


Jch will hinunter gehen, und dieſen Brief hin-
legen, denn Eliſabeth hat es bemerckt, daß ich
geſchrieben habe. Sie nahm ein Handtuch,
machte es naß, und kam nach ihrer laͤrmenden
unruhigen Art mit dem naſſen Ende zu mir:
Hier Fraͤulein! Jch ſagte: was wollt ihr. Sie
ſagte: Fraͤulein belieben ſie nur den einen
Finger an der rechten Hand anzuſehen.


Es war Dinte an dem Finger. Jch gab ihr
nur einen Blick, ohne etwas weiter zu ſagen.
Aus Furcht aber, daß meine Sachen von neuen
moͤchten durchſucht werden, will ich hier ſchlieſ-
ſen.


Clariſſa Harlowe.


E e 4Der
[440]Die Geſchichte

Der acht und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch habe einen Brief von Lovelacen voll
entzuͤckter Verſprechungen und Geluͤbde.
Jch will ihn beylegen: ſie werden ſehen, daß er
mir den Schutz der Frau Lawrance verſpricht,
und daß mir die Fraͤulein Charlotte Mon-
tague
Geſellſchaft leiſten ſoll. Jch habe nun,
ſagt er, weiter nichts zu thun, als daß ich bey
meinem Vorſatz bleibe, und mich bereit mache,
die Gluͤckwuͤnſche ſeiner gantzen Familie anzu-
nehmen.


Sie werden ſehen, daß er dieſes ſchon als ei-
ne gewiſſe Folge der zu ſeiner Baſe genom-
menen Zuflucht anſiehet, daß ich die ſeinige wer-
den muͤßte.


Der Wagen mit ſechs Pferden ſoll mich an
dem beſtimmten Ort erwarten. Sie werden ſe-
hen, wie freymuͤthig oder dreiſte er das beant-
wortet, was ich von einem Flecken geſchrieben
habe, den mein guter Nahme hiedurch bekom-
men koͤnnte. Es waͤre eine edelmuͤthige Ant-
wort, wenn ich die ſeinige werden ſollte, oder
wenn ich ihm hiezu die Hoffnung gemacht haͤtte,
die ich ihm nicht gemacht habe.


Wie leitet doch ein Schritt immer zu dem
andern,
[441]der Clariſſa.
andern, wenn man es mit dieſem argliſtigen Ge-
ſchlecht zu thun hat. Wie leicht kan ein Maͤd-
chen, das der Mannsperſon die geringſte Hoff-
nung giebt, wider ſeinen Willen um ſeine Frey-
heit gebracht werden. Aus ſeinen Brieffen ſoll-
te man auf die Gedancken kommen, als wenn
ich mich gegen ihn erklaͤrt haͤtte, daß ich Herrn
Solmes aus Zuneigung zu ihm ausſchluͤge.


Das fuͤrchterlichſte und ſchlimmſte iſt, daß
wenn ich ſeine Nachrichten von den Abſichten
der Meinigen, (die jedoch von dem beſtimmten
Tage noch nichts melden) mit dem zuſammen
halte, was ich von meiner Baſe und von Eli-
ſabeth
weiß, mir nicht die geringſte Hoffnung
uͤbrig gelaſſen wird, Herrn Solmes zu entge-
hen, wenn ich hier bleibe.


Auf die Weiſe waͤre es fuͤr mich beſſer gewe-
ſen, nach meines Onckles Gut zu reiſen. Jch
wuͤrde wenigſtens Zeit gewonnen haben. Die-
ſes iſt die Frucht von ſeiner Klugheit.


Er redet ſchon davon, was wir kuͤnftig thun
wollen; wie er ſich beſſern will; wie ich alle ſei-
ne Tritte und Schritte ihm vorſchreiben ſoll.
Das alles zeiget an, daß er ſich verſichert haͤlt,
mich zu erhalten.


Jch habe ihm eine Antwort dieſes Jnhalts
geſchrieben: „ob ich ihm gleich Hoffnung ge-
„macht haͤtte, mich in den Schutz ſeiner Baſe
„zu begeben, ſo wollte ich mich doch durch dieſes
„Verſprechen nicht voͤllig binden, noch ihm ein
„Recht geben, mich zur Rechenſchaft zu fodern.
E e 5wenn
[442]Die Geſchichte
„wenn ich davon abginge: denn ich haͤtte noch
„zwiſchen hier und Montags drey Tage vor mir,
„und ich hoffete, daß meine Freunde gelinder
„werden oder Herr Solmes ablaſſen wuͤrde,
„wenn er oder ſie die Ohnmoͤglichkeit der Sa-
„che einſaͤhen. Wenn er aber meinte, daß es ei-
„nerley ſey, mich des Schutzes ſeiner Baſe be-
„dienen, und ihm mein Jawort geben, ſo muͤßte
„ich ihm nothwendig melden, daß er ſich ſehr
„geirret haͤtte. Denn es waͤren noch vorher
„manche Puncte zu beantworten, und viele Sa-
„chen in Richtigkeit zu bringen, wenn ich auch
„meines Vaters Haus verlieſſe, ehe ich ihm ei-
„nige beſondere Hoffnung machen koͤnnte: Er
„mochte gewiß glauben, daß ich alles verſuchen
„wuͤrde, mich mit meinem Vater auszuſoͤhnen,
„und ſeine Genehmhaltung zu allen dem, was
„ich vorhaͤtte, zu erhalten: und daß ich in allen
„moͤglichen Dingen ihm eben ſo vollkommen
„gehorchen wuͤrde, als wenn ich ſein Haus nie
„verlaſſen haͤtte. Wenn er es aber nicht fuͤr
„gut faͤnde, daß ich mir dieſe Freyheit vorbehiel-
„te; und wenn er von meiner Flucht einigen
„Vortheil erwartete, den er vorhin nicht in Haͤn-
„den gehabt haͤtte: ſo wollte ich bleiben wo ich
„waͤre, und das Ende abwarten. Vielleicht
„wuͤrden meine Freunde endlich mit meinem wie-
„derhohlten Verſprechen zu frieden ſeyn, daß ich
„weder ihn noch ſonſt jemand ohne ihre Einwil-
„ligung heyrathen wollte.„


Dieſen Brief will ich hinlegen, ſo bald ich
kan.
[443]der Clariſſa.
kan. Weil er weiß, daß die Sache zum Ende
eilet, ſo wird er den Brief gewiß nicht lange un-
abgehohlet laſſen.


Freytags um 4. Uhr.


Mir iſt ſehr ſchlimm: ich muß mich aber
kraͤncker machen, als ich bin, um deſto eher einen
Aufſchub des Uebels, damit mir der Mittewo-
chen drohet, zu erhalten. Wenn ich dieſes er-
halte, ſo will ich mein an Lovelacen gegebe-
nes Verſprechen zuruͤck nehmen.


Eliſabeth hat unten erzaͤhlet, daß ich mich
ſehr ſchlimm befaͤnde. Allein niemand hat Mit-
leiden mit mir. Jch glaube, daß ich nunmehr
der Abſcheu aller der Meinigen geworden bin,
und ſie wuͤrden froh ſeyn, wenn ich todt waͤre.
Das glaube ich in der That! Was fehlt dem
verkehrten Maͤdchen:
rufft der eine: iſt es
etwan die Liebes-Kranckheit?
der andere.


Jch bin in dem Sommer-Hauſe geweſen,
und kam mit einer fiebriſchen Kaͤlte wieder zu-
ruͤck, davon ich ſchauderte. Eliſabeth ſahe es,
und ſagte es wieder: es hieß aber; es iſt nicht
viel daran gelegen/ laßt ſie nur ſchaudern/
von Froſt wird ſie nicht ſterben. Der Ei-
genſinn wird ſie ſchon wieder warm ma-
chen. Fuͤr ein verliebtes Maͤdchen iſt der
Eigenſinn ſo gut wie ein kaltes Bad/ es
munter und hart zu machen/ wenn es
gleich von Natur noch ſo zaͤrtlich iſt.


Ein grauſamer Bruder ſagt dergleichen, und
andere
[444]Die Geſchichte
andere noch liebere Freunde hoͤren es mit an,
die noch vor wenig Monathen ſo beſorgt waren,
wenn mich nur ein Luͤfftgen anwehete.


Eliſabeth hat in ſolchen Dingen ein unver-
gleichliches Gedaͤchtniß, das muß ich ihr nach-
ruͤhmen. Sie laͤßt kein Wort aus, wenn ſie
es gleich zehn mahl erzaͤhlt, und ſie macht die
Mine eines jeden ſo natuͤrlich nach, daß man
nie fragen darf, wer dieſes oder jenes geſagt
hat.


Freytags um ſechs Uhr.


Meine Frau Baſe, die dieſesmahl wieder hier
uͤbernachtet, iſt eben von mit gegangen. Sie
kam, um mit den Schluß anzukuͤndigen, der in
dem Rath meiner Freunde uͤber mich gefaſſet
iſt.


Den kuͤnftigen Mittewochen fruͤh werden ſie
alle beyſammen ſeyn: mein Vater, meine Onck-
les, ſie ſelbſt, jhr Mann, mein Bruder und
meine Schweſter; meine liebe Frau Nor-
ton
ſoll auch mit zugelaſſen werden; und der
D. Lewin ſoll in der Naͤhe ſeyn, um mich
zu ermahnen, wenn man es noͤthig findet. Sie
weiß aber nicht gewiß, ob er ſich mit in der Ge-
ſellſchaft befinden, oder warten ſoll, bis er her-
ein gebeten wird.


Wenn ſich dieſes fuͤrchterliche Gericht nieder-
gelaſſen haben wird, ſo ſoll die arme Suͤnderin
in Begleitung und unter dem Beyſtand der
Frau Norton erſcheinen. Dieſe aber wird vor-
her
[445]der Clariſſa.
her wohl in die Schule genommen, und geleh-
ret, mich die Pflichten des vierten Gebots zu
lehren, welches ich gaͤntzlich vergeſſen zu haben
ſcheine.


An einem gluͤcklichen Ausgange zweiffelt man
(wie Frau Hervey ſagt) gar nicht. Denn
man kan mir eine ſolche Verhaͤrtung nicht zu-
trauen, daß ich den Anblick eines ſo anſehnlichen
Gerichts tragen koͤnnte, ob ich gleich einigen un-
ter meinen Richtern mein Nein eintzeln unter
das Geſicht geſagt habe: inſonderheit, da mein
Vater ſich auf eine gantz ungewoͤhnliche Weiſe
herablaſſen will. ‒ ‒ Allein welche Herab-
laſſung irgend einer Perſon, wenn es auch ſelbſt
mein Vatter ſeyn ſollte, kan mich verbinden,
ein ſo groſſes Opfer zu bringen.


Und dennoch glaube ich nicht, daß ich vor ei-
nem ſolchen Gericht, in dem mein Vater das
Wort fuͤhret, einigen Muth behalten kan.


Das habe ich immer geglaubt, daß meine Truͤb-
ſaal nicht ehr zum Ende ſeyn wuͤrde, als biß er
mich nochmahls vor ſeinen fuͤrchterlichen Rich-
terſtuhl gefodert haben wuͤrde.


Sie ſagt: man haͤtte die gute Hoffnung, daß
ich den Ehe-Contract, wo nicht fruͤher, doch we-
nigſtens den Dienſtag Abend mit Freuden un-
terzeichnen werde, damit der folgende Tag, an
welchem meine Freunde beyſammen ſeyn wuͤr-
den, ein Tag der Freude ſeyn moͤchte. Der
Trauſchein ſo wohl als der Ehe-Contract ſoll mir
noch
[446]Die Geſchichte
noch einmahl herauf geſchickt werden, damit ich
ſehe, daß es Ernſt mit der Sache ſey.


Sie gab mir zu verſtehen, mein Vater wuͤr-
de mir ſelbſt den Ehe-Contract herauf brin-
gen.


Was fuͤr eine ſchwere Stunde wird dieſes ſeyn.
Wie werde ich es meinem Vater, (meinem Va-
ter, den ich ſo lange nicht habe ſehen duͤrffen, der
vielleicht in einem Athem befehlen und bitten
will) wie werde ich es dem abſchlagen koͤnnen,
meinen Nahmen zu ſchreiben?


Sie ſagt: man wiſſe es gewiß, daß Herr
Lovelace etwas im Sinne habe; und vielleicht
ſpielte ich mit ihm unter der Decke. Mein Va-
ter aber wollte mich lieber zum Grabe begleiten,
als erleben, daß ich Lovelacen heyrathete.


Jch ſagte: ich befaͤnde mich gar nicht wohl.
Selbſt die Furcht vor dieſer Stunde ſey mir
unertraͤglich, und wuͤrde immer zunehmen, je
mehr ſich die Stunde naͤherte. Jch fuͤrchtete,
daß ich ſehr kranck ſeyn moͤchte.


Wir haben uns ſchon auf das Kunſt-Stuͤck-
chen
geſchickt: (war die unguͤtige Antwort mei-
ner Baſe) Jch verſichere ihnen, es wird unnuͤtz
ſeyn.


Kunſtſtuͤckchen? Sagt das meine Frau
Baſe Hervey? ſprach ich.


Was dencken ſie denn, mein Kind? daß alle
Leute blind ſind? Sie muͤſſen es ja ſehen, wie
ſie kroͤchzen und ſtoͤhnen, ſo lange ſie im Hauſe
ſind, und wie ſie ihr liebes Geſicht (wie ſie
guͤtigſt
[447]der Clariſſa.
guͤtigſt zu ſagen beliebte) niederhaͤngen laſſen;
wie ſie wancken, und ſich bald an dieſen Stuhl,
bald an die Thuͤr-Poſten halten, wenn ſie mei-
nen daß ſie jemand ſiehet. (Dieſes iſt in der
That eine Laͤſterung gegen mich, um mich zu ei-
ner Heuchlerin zu machen. Eine Laͤſterung mei-
nes Bruders oder meiner Schweſter. Jch kan
ſo kleine Kuͤnſte nicht gebrauchen.) Allein ſo
bald ſie in dem Huͤner-Hofe ſind, oder etwas
tieffer in den Garten kommen, und ſie nicht mehr
glauben von jemand beobachtet zu werden, ſo ſieht
man ja wohl, wie artig ſie die Fuͤſſe ſetzen koͤnn-
ten, und wie munter und lebendig alle ihre Be-
wegungen ſind.


Jch ſagte: ich wuͤrde mich ſelbſt haſſen, wenn
ich mich mit ſo niedertraͤchtigen Kuͤnſten behelf-
ſen koͤnnte. Jch muͤßte thoͤricht ſeyn, wenn ich
ſolche Kuͤnſte brauchen wollte: eben ſo thoͤricht
als niedertraͤchtig: denn ich ſehe ja wohl, daß die
Meinigen durch viel mehr ruͤhrende Dinge nicht
zu erweichen ſind. Sie werden aber ſehen, wie
ich mich auf den Dienſtag befinde.


Jch will nicht hoffen, daß ſie ſich Schaden
an der Geſundheit thun wollen. Jch dencke,
daß ihnen GOtt mehr Gnade gegeben hat.


Das dencke ich auch, Frau Baſe. Allein,
andere ſtuͤrmen ſo auf meine Geſundheit hinein,
daß ich kranck werden muß, ohne etwas einzu-
nehmen, und ohne mich kranck zu ſtellen.


Jch will ihnen nur Eins ſagen mein Kind:
ſie moͤgen geſund oder kranck ſeyn, ſo wird die
Trau-
[448]Die Geſchichte
Trauung vor Mittewochens Abends vollzogen
ſeyn. Jch will aber noch eins dazu ſetzen, daß mir
nicht aufgetragen iſt, zu ſagen: Herr Solmes
hat verſprechen muͤſſen, wenn die Trauung vor-
bey und Lovelacen dadurch alle Hoffnung be-
nommen iſt, und ſie ihn darum bitten, ſie in ih-
res Vaters Hauſe zu laſſen, und alle Abend nach
ſeinem Hauſe zuruͤck zu kehren, bis ſie ihre Pflicht
beſſer erkennen lernen, und ſelbſt darein willi-
gen, ſeinen Nahmen zu tragen.


Jch konte gegen eine ſolche Rede meinen
Mund nicht aufthun: ich blieb gantz ſtumm.


Das ſind die Leute, die mir (zum wenigſten
einige unter ihnen) Schuld gaben, ich waͤre ein
Maͤdchen, wie ſie in den Romainen beſchrieben
wuͤrden. Das ſind Anſchlaͤge meines phanta-
ſtiſchen Bruders und meiner weiſen Schweſter,
wenn ſie die Koͤpfe zuſammen ſtecken. Und
doch erzaͤhlt mir meine Baſe, daß ſich meine
Mutter am meiſten durch das letzte in dem er-
waͤhnten Vorſchlage habe einnehmen laſſen, die
noch vorhin immer behauptet hatte, die Trauung
muͤſſe aufgeſchoben werden, wenn ihr Kind kranck
wuͤrde, es moͤchte nun die Kranckheit aus Be-
truͤbniß oder aus Eigenſinn entſtehen.


Was in dieſen Vorſchlaͤgen gewaltſames iſt,
das entſchuldigte meine Baſe alles durch die Nach-
richten, die ſie von Herrn Lovelaces Abſichten
und
[449]der Clariſſa.
und Anſtalten haͤtten; (*) welche man auf eine
kluge Weiſe zu vernichten ſuchen muͤſſe.


Freytags um neun Uhr.


Und nun, mein Schatz! wozu ſoll ich mich
nun entſchlieſſen. Sie ſehen, wie unbeweglich al-
les iſt. ‒ ‒ Allein wie kan ich hoffen, daß
ich ihren Rath fruͤhzeitig genung bekommen wer-
de, mich darnach zu richten? denn da ich jetzt hin-
unter geweſen bin, habe ich ſchon wieder einen
Brief von Lovelacen gefunden. Jch glaube,
er wohnt hinter unſerer Garten-Mauer. Jch
muß an ihn ſchreiben, und ihm Nachricht ge-
ben, ob ich auf den Montag noch fluͤchten will,
oder nicht. Wenn ich ihm das letztere ſchreibe,
nachdem es in unſerm Hauſe fuͤr ihn ein ſchlim-
meres Anſehen gewinnet, und Herrn Solmes
Sachen jetzt noch beſſer ſtehen, als damahls da
ich ihm den erſten Brief von meiner Flucht
ſchrieb: ſo wird es blos meine Schuld ſeyn,
wenn ich gezwungen werde, den eckelhaften Mann
zu nehmen. Und wem werde ich es Schuld ge-
ben koͤnnen, als mir ſelbſt, wenn noch andere
uͤble Folgen daraus entſtehen, daß ſich ein ſo
rachgieriger Menſch, als Lovelace/ in ſeiner
Hoffnung betrogen ſiehet? ‒ ‒ Er verſpricht mir
ſo
Zweyter Theil. F f
[450]Die Geſchichte
ſo viel gutes! ‒ ‒ Allein auf der andern Sei-
te mich dem Tadel der Welt blos zu ſtellen, und
von jedermann fuͤr ein liederliches Maͤdchen ge-
halten zu werden! ‒ ‒ Und doch giebt er mir
in ſeinen Brieffen zu verſtehen, daß dieſes ſchon
geſchehen ſey! Was kan ich anfangen! Wenn
doch nur der Obriſte Morden ‒ ‒ Allein was
helffen mir Wuͤnſche, die in die Luft verfliegen.


Jch will Jhnen dieſesmahl nur einen Aus-
zug aus Lovelaces Brieffe geben, und den Brief
ſelbſt Jhnen zuſchicken, wenn ich ihn beant-
wortet
habe: dieſes aber werde ich aufſchieben,
ſo lange als ich kan, denn ich hoffe noch immer,
daß ich eine Urſache ausfinden werde, die Zu-
ſammenkunft mit ihm, von der ſo vieles abhaͤn-
get, wieder abzulehnen. Und dennoch iſt es noͤ-
thig, daß Sie alle Umſtaͤnde genau wiſſen, da-
mit Sie mir in einer ſo gefaͤhrlichen Sache gu-
ten Rath geben koͤnnen.


„Er bittet mich um Vergebung, daß er vor-
„hin allzu zuverſichtlich geſchrieben habe: es ſey
„dieſes blos aus uͤbermaͤßiger Freude geſchehen.
„Er ergiebt ſich vollkommen in meinen Willen.
„Er iſt reich an Vorſchlaͤgen, darunter ich waͤh-
„len kan, welchen ich will. Er erbietet ſich, mich
„gleich zu der Lady Eliſabeth Lawrance zu
„bringen, oder auf mein Gut, wenn ich das
„lieber wollte, da mich der Lord M. ſchuͤtzen ſoll.
(Er weiß die Urſachen nicht, um welcher willen
ich dieſen unbeſonnenen Vorſchlag verwerffe)
„Jn beyden Faͤllen will er nach London oder
„wo-
[451]der Clariſſa.
„wohin ich ſonſt befehle, reiſen, ſo bald er ſiehet,
„daß ich in Sicherheit bin: er will ohne Er-
„laubniß nicht in die Naͤhe kommen, bis alle
„meine Zweiffel aufgeloͤſet ſind, die ich in Ab-
„ſicht auf ſeine Beſſerung oder auf die Eheſtif-
„tung haben kan.


„Ein anderer Vorſchlag iſt, daß er mich nach
„Jhrem Hauſe bringen will, und er zweiffelt
„nicht daran, daß Jhre Frau Mutter mich auf-
„nehmen werde. Wenn aber dieſes Jhnen, oder
„Jhrer Frau Mutter, oder mir nicht gelegen waͤ-
„re, ſo will er mich bey Herrn Hickmann in
„Sicherheit bringen, den die Fraͤulein Howe
„leicht zu dieſer Gefaͤlligkeit uͤberreden koͤnne.
„Man koͤnnte nur vorgeben, daß ich nach Bath/
„nach Briſtol oder uͤber die See, wohin es
„auch waͤre, gefluͤchtet waͤre.


„Wenn es mir aber angenehmer waͤre, ſo
„will er mich in der Stille nach London brin-
„gen, und mir dort ein bequemes Haus ausſu-
„chen. Die beyden Fraͤulein Montague ſol-
„len mich dort empfangen, und mir ſo lange
„Geſellſchaft leiſten, bis alles ſo eingerichtet iſt,
„wie ich es wuͤnſche, und bis eine Ausſoͤhnung
„zuwege gebracht iſt. Er will es an nichts er-
„mangeln laſſen, was dieſe Ausſoͤhnung erleich-
„tern kan, ſo ſehr er auch von meiner gantzen
„Familie beſchimpft iſt.


Er laͤßt mir die Wahl unter dieſen Vorſchlaͤ-
gen. „Denn, ſagt er, die Zeit ſey zu kurtz, eine
„eigenhaͤndige Einladung von der Lady Eliſa-
F f 2„beth
[452]Die Geſchichte
beth Lawrance zu erwarten, wenn er nicht
„ſelbſt zu der Lady reiſete: allein das moͤchte
„bey gegenwaͤrtigen mißlichen Umſtaͤnden allzu-
„gefaͤhrlich ſeyn, da er in der Naͤhe ſeyn und
„meine Befehle erwarten muß.


„Er beſchwoͤrt mich auf das heiligſte, mich
„an dem beſtimmten Orte einzufinden, wenn ich
„ihn nicht in die aͤuſſerſte Verzweiffelung ſtuͤr-
„gen wollte.„


An ſtatt aber Herrn Solmes oder meinen
„Anverwanten auf dieſen Fall zu drohen, ſagt
„er ſehr ehrerbietig: wenn ich zuruͤck ginge, ſo
„glaube er zum voraus daß ich Gruͤnde dazu
„haben wuͤrde, gegen die er nichts einwenden
„koͤnnte. Jch wuͤrde zum wenigſten mein ihm
„gegebenes Wort unter keiner andern Bedin-
„gung zuruͤck nehmen, als daß mir die Meini-
„gen voͤllige Freyheit lieſſen, meiner Neigung
„zu folgen: und wenn ich nach meiner Neigung
„handele, ſo will er ſich damit beruhigen, es
„mag nun mein Endſchluß ihm angenehm oder
„betruͤbt ſeyn. Seine gute Auffuͤhrung ſoll
„kuͤnftig der eintzige Grund ſeiner Hoffnung auf
„mich ſeyn.„


„Er verſichert heilig, daß er jetzt und zunaͤchſt
„keine andere Abſicht hat, als mich aus meiner
„Gefangenſchaft zu erloͤſen, und mir die Frey-
„heit zu verſchaffen, daß ich in einer Sache, dar-
„auf meine gantze zeitliche Gluͤckſeligkeit ankomt,
„ſelbſt moͤge waͤhlen koͤnnen. Weder die Hoff-
„nung, kuͤnftig meine Gewogenheit zu erlangen,
„noch
[453]der Clariſſa.
„noch ſeine Ehre und die Ehre ſeiner Familie,
„werden ihm erlauben, eine Bitte gegen mich
„zu erwaͤhnen, die mit meiner allzuſtrengen Sit-
„tenlehre oder Lehre von dem Wohlſtand jetzt
„noch ſtreiten wuͤrde. Um mein Gemuͤth zu be-
„ruhigen, wuͤnſcht er, daß meine Freunde keine
„weitere Zwang-Mittel gebrauchen, und hiedurch
„jener Endzweck erreicht werden moͤchte. Jn-
„deſſen koͤnnte man ſich doch nicht anders vor-
„ſtellen, als daß die Auffuͤhrung meiner Ver-
„wanten gegen mich ihnen bereits den wohl-
„verdienten Tadel der Welt zugezogen haben
„muͤſſe: und den Schritt, den ich ſo furchtſam
„und zitternd thaͤte, wuͤrde jedermann fur die na-
„tuͤrliche und nothwendige Folge ihres Betra-
„gens gegen mich anſehen.„


Jch halte in der That alles dieſes fuͤr mehr
als zu wahr: und ich muß es fuͤr eine kleine
Hoͤflichkeit halten, daß Herr Lovelace nicht al-
les ſagt, was er bey dieſer Gelegenheit ſagen koͤnte.
Denn ich zweiffele faſt nicht mehr dran, daß ich
das Geſpraͤch und wohl gar das Spruͤchwort der
halben benachbarten Gegend geworden bin.
Wenn dem ſo iſt, ſo kan ich faſt nicht mehr be-
ſchimpft werden, als ich ſchon durch die unan-
ſtaͤndige Auffuͤhrung der Meinigen unverſchul-
det beſchimpft bin. Jch mag heyrathen, wen
ich will, oder ſonſt anfangen was ich will, ſo
werde ich den Fleck nicht wieder abwiſchen koͤn-
nen, der mir durch meine Einſperrung und durch
die uͤbrige Haͤrte meiner Anverwanten angehaͤn-
F f 3get
[454]Die Geſchichte
get iſt. Wenigſtens dencke ich ſo, wenn auch
andere guͤtiger urtheilen.


Soll ich jemahls mit den vornehmen Freun-
den dieſes Herrn verwandt werden, ſo wuͤn-
ſche ich nur, daß ſie wegen dieſer Beſchimpfun-
gen nicht eine ſchlimme Meinung von mir faſſen
moͤgen: und ich werde ihm ſelbſt verbunden
ſeyn muͤſſen, wenn er dieſe Beſchimpfungen
nicht zu meinem Nachtheil auslegt. Sie ſehen,
wie tief mich mein Ungluͤck und die Haͤrte meiner
Freunde gedemuͤthiget hat. Vielleicht bin ich
vorhin zu hochmuͤthig geweſen.


Herr Lovelace bittet mich zum Beſchluß,
„ihm eine Zeit zur Unterredung zu beſtimmen,
„und zwar, wo moͤglich, dieſen Abend. Er
„meint deſto mehr Recht zu haben, ſich dieſe
„Ehre auszubitten, weil ich ihm ſchon zweymahl
„eine unerfuͤllete Hoffnung dazu gemacht habe.
„Jch mag aber dieſe Bitte eingeſtehen oder nicht,
„ſo ſoll ich nur einen unter den gethanen Vor-
„ſchlaͤgen billigen, und meinen Vorſatz, mich
„auf den Montag zu retten, nicht aͤndern, wenn
„nicht die Urſache wegfaͤllt, die mich zu dieſem
„Vorſatz gebracht hat, und ich keine Hoffnung
„vor mir ſehe, mit meinen Freunden ausgeſoͤhnt
„zu werden, und meine Freyheit nebſt dem Recht
„einer uneingeſchraͤnckten eigenen Wahl zu er-
„halten.„


Er wiederhohlt alle ſeine Verheiſſungen und
Geluͤbde auf eine ſo nachdruͤckliche und heilige
Art, daß ich an ſeiner Aufrichtigkeit nicht zweif-
feln
[455]der Clariſſa.
feln kan; ſonderlich da ſein eigenes Beſtes, die
Ehre ſeiner Familie, und ihre guͤtige Geſinnung
gegen mich, mir Buͤrgen ſeiner Aufrichtigkeit zu
werden ſcheinen.



Der neun und dreyßigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch weiß nicht, ob Sie mich loben oder tadeln
werden. Jch habe mein voriges Verſpre-
chen durch einen neuen Brief an Herrn Love-
lace
bekraͤftiget, und ihm von neuen zuge-
ſagt, auf den Montag zu der geſetzten Zeit,
(wenn ich es anders moͤglich machen koͤnnte) die-
ſes Hauß zu verlaſſen. Jch habe keine Abſchrift,
diß iſt aber der Jnhalt meines Briefes:


„Jch ſaͤhe kein Mittel, den veſtgefaſſeten End-
„ſchluß der Meinigen zu vernichten, als nur die-
„ſes eintzige, daß ich mit ſeiner Beyhuͤlffe meines
„Vaters Hauß verlaſſe.


Jch habe ihm dieſes gar nicht als eine Ge-
faͤlligkeit gegen ihn angerechnet. Denn ich mel-
de ihm: „wenn ich ohne eine Suͤnde zu begehen,
„bey der ich keine Vergebung zu gewarten haͤtte,
F f 4„die
[456]Die Geſchichte
„die Stunde meines Todes beſchleunigen koͤn-
„te, ſo wolte ich lieber den Tod waͤhlen, als
„dieſen Schritt thun, uͤber den mich die gantze
„Welt verdammen wuͤrde, wenn mich auch mein
„Hertz loßſpraͤche


„Jch ſchreibe ferner: ich wuͤrde weiter keine
„Kleider mitbringen koͤnnen, als die ich am Leibe
„haͤtte, und das wuͤrde nur die Kleidung ſeyn,
„die ich ordentlich im Hauſe zu tragen pflegte:
„damit ich keinen Verdacht erwecken moͤchte.
„Jch befuͤrchtete, daß mir die Beſitznehmung
„meines Gutes abgeſchlagen werden moͤchte; ich
„ſey aber veſt entſchloſſen, meinen Willen nie
„zu einem Proceß mit meinem Vater zu geben,
„wenn ich auch daruͤber in die bitterſte Armuth
„gerathen ſolte. Wer mich demnach in Schutz
„naͤhme, muͤßte es blos aus Mitleiden thun.
„Allein, ich ſey auch zu hochmuͤthig, auf das
„Heyrathen zu gedencken, wenn ich nicht der an-
„dern Parthey an Vermoͤgen gleich waͤre, und
„wenigſtens ſo viel haͤtte, daß ich niemanden
„verbunden zu ſeyn, noͤthig haͤtte. Er wuͤrde
„alſo durch dieſe meine Flucht nichts erhalten,
„das er nicht vorhin gehabt haͤtte. Jch behielte
„mir auf alle Faͤlle und bey jedem Verlauf der
„Sache die Freyheit vor, Ja/ oder Nein! zu
„ihm zu ſagen, ſo wie es ſeine Auffuͤhrung verdie-
„nen wuͤrde.


„Mir ſchiene es uͤbrigens am zutraͤglichſten
„zu ſeyn, daß ich ein eigenes Haus nicht weit von
„ſeiner Baſe der Lady Lawrance miethete,
„und
[457]der Clariſſa.
„und nicht in ihr eigenes Haus einkehrte, da-
„mit die Leute nicht ſagen moͤchten, daß ich meine
„Zuflucht zu ſeinen Anverwanten naͤhme, als
„wodurch die Ausſoͤhnung mit den Meinigen
„ohnmoͤglich werden wuͤrde. Jch wolte als-
„denn meine treue Hannichin wieder bey mir
„haben. Niemand ſolte meinen Aufenthalt
„wiſſen, als die Fraͤulein Howe. Er ſolte mich
„ſo gleich verlaſſen, und nach London oder nach
„einem der Guͤter ſeines Onckles reiſen, und
„(wie er verſprochen) ſich von dem Ort ent-
„fernet halten, an dem ich waͤre, bis ich ihm
„erlaubte, mich zu beſuchen. Er muͤſſe unterdeſ-
„ſen mit einem Briefwechſel zufrieden ſeyn: die-
„ſer ſolte ihm frey ſtehen.


„Sobald ich in Gefahr waͤre, entdeckt und
„mit Gewalt zuruͤck gebracht zu werden, wolte
„ich mich in den Schutz einer von ſeinen beyden
„Baſen begeben, wenn ſie mich aufnehmen wol-
„ten. Jch wuͤrde aber dieſes nicht thun, wenn
„mich nicht die aͤuſſerſte Noth druͤnge. Denn
„es wuͤrde mir mehr Ehre bringen, wenn ich an
„einem Orte den niemand wuͤßte, durch die drit-
„te oder vierte Hand mich mit den Meinigen
„auszuſoͤhnen ſuchte.


„Dabey muͤſte ich ihm ohne Umſchweif zum
„voraus ſagen: wenn mir die Meinigen
„die Bedingung vorlegten, daß ich ihm auf
„ewig entſagen ſolte, ſo wuͤrde ich dieſe Bedin-
„gung eingehen, wenn ſie mir nur hinwiederum
„erlaubten, alle andere Partheyen auszuſchla-
F f 5„gen,
[458]Die Geſchichte
„gen, ſo lange er am Leben oder unverheyrathet
„waͤre. Dieſe Gefaͤlligkeit wolte ich ihm er-
„zeigen, um die Muͤhe und den Verdruß zu
„belohnen, ſo er um meinet willen uͤbernom-
„men und gedultig ertragen hat: ob ich gleich
„der Meinung waͤre, daß er viele Beſchim-
„pfungen blos ſeiner Sorgloſigkeit fuͤr ſeinen
„guten Nahmen zu dancken habe.


„Vielleicht moͤchte ich in meiner Einoͤde an
„den Obriſten Morden ſchreiben, und ſuchen,
„ihn auf meine Seite zu bringen.


„Jch beruͤhre hierauf kuͤrtzlich ſeine uͤbrigen
„Vorſchlaͤge.


(Die Tyranney der Meinigen, und mein Vor-
ſatz dieſer Tyranney zu entfliehen, zwinget mich,
ihm viel fruͤher als ich ſonſt Luſt haͤtte, von mei-
nen Anſchlaͤgen Rede und Antwort zu geben.)


Jch melde ihm alſo: „ich ich haͤtte keine Hof-
„nung, daß ihre Frau Mutter ſich meinetwe-
„gen Verdruß machen wuͤrde. Was den Vor-
„ſchlag nach London zu reiſen anbelangte, ſo
„kennete ich dort niemand, und ich haͤtte ſo viel
„boͤſes von dieſer Stadt gehoͤret, daß ich mich
„nicht entſchlieſſen koͤnnte, dahin zu fliehen: es
„muͤßte denn ſeyn, daß die Ladys/ mit denen
„er verwandt waͤre, mir kuͤnfftig erlaubten, ſie
„nach London zu begleiten.


„Die Zuſammenkunft um die er bittet, halte
„ich nicht fuͤr rathſam, da ich ihn ohnehin ſo
„bald ſehen werde. Solte ich aber Urſache fin-
„den, meinen Vorſatz zu aͤndern, ſo wuͤrde ich
„ver-
[459]der Clariſſa.
„vermuthlich die erſte die beſte Gelegenheit ſeyn
„laſſen, ihn zu ſprechen, und ihm muͤndlich die
„Urſachen dieſer Aenderung zu melden.„


Jch hatte deſtoweniger Bedencklichkeit, dieſes
zu ſchreiben, weil ich ihn gern zum voraus auf
alle Faͤlle gefaßt machen wolte, wenn ich etwan
mein Wort zuruͤck nehmen muͤßte. Jch habe
auch gegen ſeine Auffuͤhrung nichts einzuwenden,
als er mich vor einiger Zeit in dem abgelegenen
Holtzſtall unvermuthet beſuchte.


„Zuletzt empfehle ich mich ihm auf ſeine Ehre,
„als eine ungluͤckliche Perſon, und zwar blos in
„Abſicht auf mein Ungluͤck, und bitte mir den
„Schutz ſeiner Baſe aus. Jch bezeuge ihm noch-
„mahls (gewiß recht von Hertzen) meine innig-
„ſte Betruͤbniß, daß ich gezwungen bin, einen
„ſo unangenehmen Schritt zu thun, der meiner
„Ehre ſo nachtheilig iſt. Jch melde ihm, ich
„wolte es ſuchen in die Wege zu richten, daß ich
„in dem mit Epheu uͤberwachſenen Sommer-
„Hauſe * ſpeiſen duͤrfte, und ich wolte der Eli-
ſabeth
[460]Die Geſchichte
ſabeth ſchon etwas zu thun machen, um ſie
„mir vom Halſe zu ſchaffen. Jch glaubte um
„vier Uhr wuͤrde die bequemſte Zeit ſeyn, mir das
„erſte Zeichen zu geben, daß er in der Naͤhe
„waͤre, und ich wolte alsdenn die Gartenthuͤr
„aufriegeln.„


Jch habe ihm auch in einem P. S. geſchrieben:
„da die Meinigen von Tage zu Tage argwoͤh-
„niſcher auf mich wuͤrden, ſo moͤchte es gut
„ſeyn, daß er zwiſchen hier und Montags um
„eilf Uhr ſo oft als moͤglich an den Ort kaͤme
„oder ſchickte, wo ich die Briefe fuͤr ihn hinzu-
„legen pflege: denn es koͤnnte ſich leicht etwas
„zutragen, dadurch ich gezwungen wuͤrde, mei-
„nen Vorſatz zu aͤndern.„


Meine allerliebſte Fraͤulein Howe, was iſt
das fuͤr eine betruͤbte Nothwendigkeit, auf ſolche
Zubereitungen, und Erfindungen zu dencken?
Allein es iſt nun zu ſpaͤt. ‒ ‒ Zu ſpaͤth!
ſage ich? Was fuͤr ein Wort iſt das! Wie
fuͤrchterlich, wenn es nun zu ſpaͤt waͤre, mich
meine Anſchlaͤge gereuen zu laſſen, und dem be-
vorſtehenden Ungluͤck zu entgehen.


Sonnabends um zehen Uhr.


Herr Solmes iſt hier, und ſoll dieſen Mit-
tag bey ſeinen neuen Anverwanten ſpeiſen; wie
er
*
[461]der Clariſſa.
er ſie nach der Erzaͤhlung der Eliſabeth ſchon
nennet.


Er wollte mir noch einmahl in den Weg kom-
men, allein ich eilte nach meinem Gefaͤngniß hin-
auf, um ihm aus dem Wege zu gehen. Denn
ich kam eben aus dem Garten zuruͤck.


Eine Neugierigkeit plagte mich, als ich in dem
Garten war, nachzuſehen, ob mein Brief abge-
hohlt waͤre. Jch kan nicht ſagen, daß ich es in
der Abſicht that, ihn zuruͤck zu nehmen, wenn
ich ihn noch finden wuͤrde, denn ich ſehe nicht
was ich darin aͤndern koͤnnte. Allein was fuͤr
ein Eigenſinn! Als ich ihn nicht mehr fand, ſo
wuͤnſchte ich eben ſo, wie geſtern Morgen, daß
er noch nicht abgeholt ſeyn moͤchte. Jch kan
keine andere Urſache dieſes Wunſches angeben,
als daß ich ihn nicht mehr in meiner Macht
hatte.


Eine ungemeine groſſe Sorgfalt und Wach-
ſamkeit von Herrn Lavelacen! Er ſagt, er
wohnte faſt unter unſerer Gartenmauer: und
ich muß es ſelbſt glauben.


Sie werden ſehen, daß er in ſeinem Brieffe
einer vierfachen Verkleidung Erwoͤhnung thut,
in der er taͤglich erſcheinet. Es iſt dem ohnge-
achtet zu verwundern, daß ihn keiner von un-
ſern Verwaltern entdecket hat: denn er ſieht gar
zu wohl aus, als daß ihn eine Verkleidung ver-
ſtellen oder unkenntlich machen ſollte. Allein
das hilfft ihm, daß alle da herum liegende Ae-
cker unſer eigen ſind, und um die Gegend des
Gar-
[462]Die Geſchichte
Gartens durch den Wald und Thier-Garten
kein ordentlicher Fußſteig gehet: daher nichts
abgelegeners und einſamers gedacht werden kan,
als dieſe Gegend iſt.


Vielleicht iſt man deswegen auch ſorgloſer,
wenn ich in den Garten oder nach meinem
Huͤner-Hofe gehe, weil man ſich auf die uͤbele
Beſchreibung allzu viel verlaͤßt, dadurch man
Herrn Lovelace bey mir ſchwartz zu machen
geſucht hat. Meine Frau Baſe ließ ſich etwas
hievon mercken. Sie glauben, und ſie glauben
mit Recht, daß ich deswegen behutſamer ſeyn,
und mich nicht ſo leicht mit ihm einlaſſen wer-
de. Meine Sorgfalt fuͤr meine Ehre macht ſie
gleichfals ſicher. Wenn dieſes nicht waͤre, ſo
wuͤrden ſie nicht ſo mit mir umgegangen ſeyn,
als geſchehen iſt, und mir doch die Gelegenheit
gelaſſen haben, zu entkommen, die ich ſchon
ſo oft gehabt habe, wenn ich mich ihrer haͤtte
bedienen wollen. * Sie haͤtten auch Urſache
ſich hierin auf mich zu verlaſſen, wenn ſie mich
etwas weniger aufs aͤuſſerſte getrieben haͤtten.


Vielleicht dencken ſie auch gar nicht an die
Hinterthuͤr, weil ſie nur ſelten eroͤffnet wird,
und auf einen einoͤden und unwegſamen Grund
und Boden fuͤhrt. ** Auſſer dieſer Thuͤr hat einer,
der
[463]der Clariſſa.
der davon gehen will, keinen andern Weg, als
den ſumpfigten Fußſteig, auf dem Jhr Bedien-
ter den abgelegenen Holtzſtall zu erreichen pflegt.
Allein dieſer iſt voller Quellen, und man muß
vorher an der ziemlich hohen Mauer des Huͤner-
Hofes herab klettern. Zu der Vorder-Thuͤr
hinaus zu fluͤchten iſt nicht wohl moͤglich: denn Sie
wiſſen, daß man erſt durch das gantze Haus vor
den Saͤlen und vor den Zimmern der Bedien-
ten vorbey gehen muß; hernachmahls uͤber den
breiten Hof: und denn muß man noch, wenn
man durch das eiſerne Thor will eine halbe
Viertheilſtunde in dem Thier-Garten unbedeckt
gehen, denn die junge Baum-Schule iſt noch nicht
im Stande, einen zu bedecken.


Das vorhin erwaͤhnte Sommer-Haus iſt zu
mei-
**
[464]Die Geſchichte
meinen unangenehmen Zweck das bequemſte, weil
es nicht weit von der Hinter-Thuͤr und doch
nicht in eben dem Gange des Gartens liegt.
Auſſer den Sommer-Monathen kommt nicht
leicht jemand dahin, weil es kuͤhle iſt. Als
mich die Meinigen noch lieb hatten, war dieſes
oft ein Einwurf, deswegen ſie es nicht gern ſa-
hen, wenn ich mich lange daſelbſt aufhielt: min
aber fragt man nichts mehr nach mir.


Nun will ich dieſe Zeilen hinlegen. Laſſen
Sie mich Jhrer Fuͤrbitte genieſſen, und billigen
oder tadeln ſie mein Unternehmen, ſo wie Sie
meinen, daß ich es verdiene: denn es iſt noch
nicht zu ſpaͤte, mein Verſprechen zu widerrufen.
Jch bin


Jhre
treue und ergebenſte
Cl. Harlowe.


Warum wollen Sie Jhren Bedienten ſtets
mit leerer Hand zu mir ſchicken?



Der
[465]der Clariſſa.

Der viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Aus der letzten Ueberſchrift Jhres heutigen
Briefes, (um zehn Uhr) ſehe ich, daß
Sie ihn kaum hingelegt haben muͤſſen, als ihn
Robert abhohlte. Er jagte ſtarck zu, und gab
ihn mir gleich als wir von Tiſche aufſtanden.


Sie warffen es mir in Jhren jetzigen Umſtaͤn-
den mit Recht vor, daß ich meinen Bedienten
mit leerer Hand ſchicke: und doch ſind dieſe Jh-
re mißlichen und verworrenen Umſtaͤnde mir ei-
ne Urſache meines Unterlaſſungs-Suͤnde; denn
ich weiß nicht, was ich Jhnen ſchreiben ſoll.


Jch habe mich in der Stille bemuͤhet, eine
bequeme Gelegenheit fuͤr Sie ausfindig zu ma-
chen, in der Sie von Harloweburg fluͤchten
koͤnnten, doch ohne daß ich mit dabey zu ſeyn
gedencke: denn ich weiß, daß die Dienſte nur
halb angenehm zu ſeyn pflegen, dabey man des
andern Befehl in der Art und Weiſe ſie zu erzei-
gen uͤbertrit. Ueberdem iſt meine Mutter jetzt
ſehr unruhig und argwoͤhniſch, und wird es taͤg-
lich mehr, weil ihr Onckle Anton ihr bey ſei-
nem haͤuffigen Beſuch immer ſaget, daß die gan-
tze Sache nun bald ein gluͤckliches Ende neh-
Zweyter Theil. G gmen
[466]Die Geſchichte
men wuͤrde: er hoffete aber, daß ihre Tochter
ſich nicht darein mengen, und ſeine Baſe nicht
im Ungehorſam beſtaͤrcken wuͤrde. Jch erfuhr
dieſes auf eine ſolche Weiſe, daß ich mir nichts
davon darf mercken laſſen, wenn es nicht beyde
Theile zu ihrem ſchlechten Vergnuͤgen hoͤren ſol-
len: ich habe ohnehin faſt alle Stunden einen
Zanck mit meiner Mutter.


Jch fand es ſchwerer, als ich dachte, einen
Wagen fuͤr Sie zu beſorgen, ohne daß ich Sie
begleitete, weil die Zeit ſo kurtz war, und al-
les geheim gehalten werden mußte. Wenn Sie
nicht ſchlechterdings haben wollten, daß ich ſu-
chen ſoll es mit meiner Mutter nicht gantz zu
verderben, ſo ſollte es mir leichter geweſen ſeyn.
Jch haͤtte unſere eigene Kutſche unter allerhand
Vorwand nehmen und ein paar Pferde mehr da-
vor legen laſſen koͤnnen, wenn ich Luſt gehabt
haͤtte. Von London haͤtte ich ſie koͤnnen zu-
ruͤck ſchicken, ohne daß jemand gewußt haͤtte, in
welchem Hauſe wir wohneten.


Jch wuͤnſchte, daß Sie mir dieſes erlaubt
haͤtten. Jch glaube, daß Sie bey ihren jetzigen
Umſtaͤnden zu genau in Beobachtung einiger
Kleinigkeiten ſind. Koͤnnen Sie dencken ruhig
und ſtille zu bleiben, wenn ein Sturm-Wind
Jhnen das Haus uͤber dem Kopfe umwehen
will?


Es waͤre eine gantz andere Sache, wenn Sie
ſelbſt an Jhrem Ungluͤck Schuld waͤren. Allein
da alle Welt das Gegentheil weiß, ſo gewinnen
hie-
[467]der Clariſſa.
hiedurch Jhre ſonſt uͤbereilt ſcheinenden End-
ſchlieſſungen ein anderes Anſehen.


Wie koͤnnen Sie mich gluͤcklich preiſen, da
meine Mutter nach Vermoͤgen eben ſo viel An-
theil an der gottloſen Unterdruͤckung meiner be-
ſten Freundin hat, als Jhre Frau Baſe oder
ſonſt jemand? und dieſes auf Anſtiften Jhres
verkehrten albernen Onckels, der, (ſo ein ver-
drießlicher Mann er auch iſt) ſie doch zu End-
ſchlieſſungen bringt und dabey erhaͤlt, die nicht
werth ſind ihr jemahls in den Sinn zu kommen?
Giebt mir das nicht Urſache genug, gegen mei-
ne Mutter empfindlich zu ſeyn? Wurde ich mich
nicht damit entſchuldigen koͤnnen, wenn ich Sie
wider ihren Willen begleitete, da unſere Freund-
ſchaft niemanden unbekannt iſt?


Gewiß, mein Schatz, Sie ſind bey einer ſo
wichtigen Sache in Kleinigkeiten zu puͤnctlich.
Jch muß es widerhohlen. Glaubt man nicht
ſchon jetzt, daß ich die Urſache Jhrer Stand-
haftigkeit oder Jhres Ungehorſams bin? Jſt
Jhnen nicht um dieſer Urſache willen verboten
worden, Brieffe mit mir zu wechſeln? Brauche
ich mich darum zu bekuͤmmern, was Jhre An-
verwanten von mir dencken, wenn ich es nicht
aus Liebe zu Jhnen thue?


Was fuͤr uͤble Nachrede kan dadurch gegen
mich entſtehen, wenn ich mit Jhnen reiſe? Was
G g 2fuͤr
[468]Die Geſchichte
fuͤr Ungluͤck? Wird mich etwan Hickmann
alsdenn nicht haben wollen? Und wuͤrde ich
mich daruͤber betruͤben, wenn ich ihn verloͤre?
Wer kan eine Seele haben, und doch bey ei-
ner ſolchen Probe der Freundſchaft unempfind-
lich bleiben?


Sollte ich aber meine Mutter betruͤben! ‒ ‒
das iſt noch ein wichtiger Einwurf. Jch geden-
cke ſie aber auch nicht mehr zu betruͤben, als
ſie mich betruͤbet, da ſie ſich nach dem verdrieß-
lichen wunderlichen Kopfe richtet, der ſich alle
Tage zum Schaden meiner beſten Freundin in
unſerm Hauſe umſiehet. Wehe ihnen beyden!
wenn ſie eine gewiſſe zwiefache Abſicht dabey ha-
ben. Schelten Sie mich nur wegen des Wor-
tes, ich werde nichts darnach fragen.


Jch bleibe dabey, daß dieſe Probe der Freund-
ſchaft Jhre Freundin adeln wuͤrde; und wenn
Sie es mir noch erlauben, ſo will ich das an
Lovelacens Stelle thun, was er Jhnen ver-
ſprochen hatte, und Sie mit einer Kutſche oder
Chaiſe morgen Abend oder uͤbermorgen noch vor
der Zeit abhohlen, die Sie ihm beſtimmet ha-
ben. Wenn wir ſo gluͤcklich davon kommen,
als ich wuͤnſche, ſo wollen wir ihm und allen
andern Bedingungen vorſchreiben, wie wir ſie
ſelbſt wuͤnſchen. Meine Mutter wird gewiß
ihre Tochter mit Freuden wieder annehmen, und
Hickmann ſoll ein Feſt halten und vor Freude
ſchrey-
[469]der Clariſſa.
ſchreyen, ſo bald er mich wieder ſiehet, oder ich
will ihn vor Betruͤbniß ſchreyend machen.


Allein Sie ſind gar zu ſehr im Ernſt unge-
halten, daß ich dieſen Vorſchlag gethan habe,
und Sie haben immer ſo viel Gruͤnde in Be-
reitſchaft, daß ich mich nicht unterſtehe, weiter
in Sie zu dringen. Jch bitte Sie nur, daß
Sie mir durch einen eintzigen Winck einen neuen
Muth machen wollen, meinen Vorſchlag noch
einmahl auf die Bahn zu bringen, wenn Sie
bey weiterer Ueberlegung Jhre allzuzaͤrtliche
Sorgfalt fuͤr meine Ehre uͤberwinden koͤnnen. Sie
muͤſſen aber die Frage alſo ſetzen: obes beſſer
ſey mit mir, oder mit Herrn Lovelace
zu fluͤchten?
Es iſt ja keine Sache, die uͤble
Nachrede erwecken kan, wenn ein Frauenzim-
mer mit dem andern reiſet, und zwar nur in
der Abſicht, die Geſellſchaft einer Manns-Per-
ſon zu vermeiden. Ueberlegen Sie dieſes doch
und geben Sie mir ihre Einwilliguug, wenn
Sie Jhre Zweiffel, die Jhnen Jhre fuͤr meinen
guten Nahmen beſorgte Liebe eingiebt, uͤberwin-
den koͤnnen. So viel hievon! Jch komme nun
auf einige Stellen in Jhrem Brieffe.


Jch hoffe auf eine Zeit, da ich Jhre ruͤhren-
den Erzaͤhlungen ohne die Ungeduld und Bitter-
keit werde leſen koͤnnen, mit der jetzt mein Hertz
uͤberkochet, und davon auch die Feder gefaͤrbt
werden wuͤrde, wenn ich auf die beſondern Um-
G g 3ſtaͤnde
[470]Die Geſchichte
ſtaͤnde kommen ſollte, die Sie berichten. Jch
fuͤrchte mich uͤberall, Jhnen einen Rath zu ge-
ben, oder nur zu melden, was ich in Jhren Um-
ſtaͤnden thun wollte; wenn Sie fortfahren, mein
voriges Anerbieten auszuſchlagen. Denn wenn
ich bedencke, wie weit Sie ohne meinen Rath
gekommen, oder vielmehr getrieben ſind, ſo fuͤrch-
te ich, daß mein Rath ungluͤckliche Folgen haben
koͤnnte, die ich mir ſelbſt Zeit Lebens nicht ver-
geben wuͤrde. Dieſe Furcht macht eben, daß
ich zu einer Zeit, da es biegen oder brechen muß,
ungern an Sie ſchreibe, nachdem Sie den eintzi-
gen Weg nicht gehen wollen, der mir ſicher zu
ſeyn ſcheinet. Doch ich vergeſſe, daß ich ver-
ſprochen habe, nichts weiter hievon zu ſchreiben.
Nur noch ein Wort! Schelten Sie mich dafuͤr,
wenn Sie wollen. Wenn Sie in Ungluͤck ge-
rathen, ſo werde ich meiner Mutter die Schuld
geben, ſo lange ſie lebt; und vielleicht Jhnen
ſelbſt, weil Sie mein Anerbieten nicht annehmen
wollen.


Einen Rath muß ich Jhnen geben, der auf
Jhre jetzigen Umſtaͤnde und Vorſatz gerichtet iſt.
Wenn Sie mit Herr Lovelacen entfliehen, ſo
vergoͤnnen Sie ihm bey der erſten guten Gele-
genheit, daß er Sie ſich darf antrauen laſſen.
Warum wollen Sie das nicht thun, da doch
jedermann wiſſen wird, durch weſſen Huͤlffe und
in weſſen Geſelſchaft Sie Jhres Vaters Haus
verlaſſen? Sie koͤnnen ihm freylich noch etwas


frem-
[[471]]
[...]

[[472]]
[...]

[473]der Clariſſa.

Meine Liebe zu Jhnen, meiner beſten Freun-
din, kan das kaum verſchmertzen, was Sie zur
Entſchuldigung meiner Mutter ſagen, daß man
mit niemand zuͤrnen ſoll, weil er etwas unterlaͤßt,
welches er Recht hat nach eigenem Gutbefinden
zu thun oder zu unterlaſſen. Wenn man von
wahren Freunden redet, ſo laͤßt ſich vieles gegen
dieſen Satz einwenden. Er moͤchte denn gelten,
wenn aus der gebetenen Sache ſchlimme Folgen
von groͤſſerer oder eben ſo groſſer Wichtigkeit
fuͤr uns ſelbſt zu beſorgen ſind, als der Dienſt
iſt, den wir leiſten ſollen, und wenn wir nach
dem Spruͤchwort einem Freunde den Dorn aus
dem Fuß ziehen und ihn uns in den Fuß ſtecken
ſolten. Es wuͤrd eigennuͤtzig und unartig ſeyn,
einen Freund um eine Gefaͤlligkeit anzuſprechen,
die ihm eben ſo viel Ungelegenheit machte, als
wir Erleichterung dadurch erlangen: und der
bittende Theil wuͤrde durch ſeine unartige Bitte
den gebetenen Freund thaͤtlich erinnern, daß er
ihm die Bitte abſchlagen, und eine ſo eigennuͤ-
tzige Freundſchaft verachten und aufheben ſolte,
eine Freundſchaft, die ohnehin auf der einen Sei-
te nur in Worten und Schein beſtanden haͤtte.
Allein, wer durch ein kleines Uebel ein viel groͤſ-
ſeres Uebel ſeines Freundes abkauffen kan, und
es nicht thun will, der wird in der That des
Nahmens eines Freundes unwuͤrdig: und dem
wollte ich keinen Platz in meinem Hertzen goͤn-
nen, ſolte es auch nur in dem aͤuſſerſten Haͤut-
chen ſeyn.


G g 5Jch
[474]Die Geſchichte

Jch weiß wohl, daß Sie mit mir einerley
Begrif von der Freundſchaft haben: denn Sie
haben mich bey einer gewiſſen Gelegenheit geleh-
ret, dieſen Unterſcheid zu machen, und ſie muͤſ-
ſen ſich noch nothwendig erinnern, daß Sie mich
damahls von vieler Ungelegenheit befreyeten, die
ich mir ſonſt gemacht haben wuͤrde. Allein Sie
ſuchen immer andere Leute in ſolchen [Faͤllen]
zu entſchuldigen, in denen Sie ſich doch [ſelbſten]
verdammen wuͤrden.


Gewiß wenn eine andere als Sie die Lieblo-
ſigkeit eines Freundes in einem ſolchen Falle ent-
ſchuldigte, da dem einen Theil ein ſo groſſer
Dienſt durch den vergoͤnneten Schutz mit ſo we-
niger Ungelegenheit des andern Theils erzeigt
werden koͤnnte: ſo wuͤrde ich nach meiner Art
(denn ſie ſagen doch ſelbſt, daß ich ſtets die
Urſachen aufſuche) den Argwohn ſchoͤpfen, daß
ſich in dem Hertzen der allzuguͤtigen Entſchuldi-
gerin eine geheime Neigung finde, die ſie nicht
gern geſtehen wolle; die aber verurſache, daß ihr
das weniger wichtig vorkomme, was doch ſehr
wichtig iſt.


Sie werden mich wohl verſtehen, mein Kind:
wenn Sie mich aber nicht verſtehen, ſo iſt es
fuͤr mich deſto beſſer. Denn ich fuͤrchte daß mir
mein aufgeſtiegener Gedancke, oder mein duncke-
ler und zweydeutiger Winck, abermahls den Ver-
weiß von Jhnen zuziehen wird, den Sie mir
bey
[475]der Clariſſa.
bey einer andern Gelegenheit gaben, weil ich
es nicht unterlaſſen konnte/ meinen Witz
zu zeigen/ wenn auch gleich Zaͤrtlichkeit/
Freundſchaft und Liebe dadurch verletzt
werden ſolten.


Was hilft es, daß man ſeine Fehler erkennet,
und ſich doch nicht beſſert? werden Sie ſagen.
Es iſt wahr. Sie wiſſen aber, daß ich immer
ein ſonderbares Geſchoͤpf geweſen bin, und im-
mer noͤthig gehabt habe, daß mir andere viel zu
gute hielten. Jch weiß auch, daß ich dieſe Guͤ-
tigkeit von meiner Clariſſa Harlowe ſtets ge-
noſſen habe: ich getroͤſte mich jetzt noch eben der-
ſelben, da Sie zum wenigſten verſichert ſind, daß
ich Sie liebe, und Sie (wo es moͤglich iſt), mehr
liebe als mich ſelbſt. Glauben Sie mir dieſes
zu, und machen Sie daraus einen Schluß, wie
ſehr mich Jhre ungluͤcklichen Umſtaͤnde ruͤhren
muͤſſen. Es iſt eine Folge hievon, daß ich ſelbſt
die philoſophiſche Gleichguͤltigkeit nicht ungeta-
delt laſſen kan, die Sie in Jhrer eigenen Sa-
che beweiſen, und doch nicht beweiſen wuͤrden,
wenn es eines andern Sache waͤre. Selbſt
dieſe vortrefliche Eigenſchaft, die jedermann be-
wundert, erweckt aus Liebe zu Jhnen meinen
Unwillen.


Es wird von nun an mein ſtuͤndliches Ge-
bet ſeyn, daß Sie aus dieſen ungluͤcklichen Um-
ſtaͤnden errettet werden moͤgen, ohne Jhren guten
Nah-
[476]Die Geſchichte
Nahmen zu beflecken, der bisher noch eben ſo rein
als Jhr Hertz geweſen iſt. Mit dieſem hundert-
mahl wiederhohlten Gebet ſchlieſſet,


Jhre
ewig ergebene
Anna Howe.


Jch habe ſehr geeilt, meinen Brief zu ſchrei-
ben, und Robert ſoll eben ſo ſehr eilen ihn zu
beſtellen, damit Sie bey einem ſo nahen Aus-
gange noch alle moͤgliche Zeit haben moͤgen, alles
wohl zu uͤberlegen, was ich von zwey wichtigen
Fragen geſchrieben habe. Jch will ſie nochmahls
in wenig Worten wiederhohlen:


Wollen Sie lieber mit einer Jhres eige-
nen Geſchlechts mit Jhrer
Anna Ho-
we fluͤchten? oder mit einem von dem
andern Geſchlecht/
mit Lovelace?
Wollen Sie ſich ihm antrauen laſſen/
ſo bald es moͤglich ſeyn wird?



Der
[477]der Clariſſa.

Der ein und viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.


(Vor Empfang des vorigen geſchrieben.)


Sonnabend Nachmittags.


Jch habe ſchon eine entzuͤckte Antwort auf
meinen Brief an Lovelacen.


„Er verſpricht, daß er ſich in allen Stuͤcken
„nach meinem Willen richten will: alle meine
„Vorſchlaͤge gefallen ihm, ſonderlich der daß ich
„ein Haus fuͤr mich nehmen will. Er haͤlt die-
„ſes fuͤr ein gutes Mittel dem Tadel unbedaͤcht-
„licher Leute, die ſich ſehr um anderer Handlun-
„gen bekuͤmmern zu entgehen. Er glaubt aber
„doch, daß es mir niemand verdencken koͤnnte,
„wenn ich bey einer ſolchen Haͤrte der Meinigen
„mich ſogleich in den Schutz ſeiner Baſe begaͤbe.
„Allein er ſagt, alles was ich befehle oder beſchlieſ-
„ſe muͤſſe recht und untadelich ſeyn, und ſo we-
„nig kuͤnftig als jetzt meiner Ehre zum Anſtoß
„gereichen. Er ſelbſt wird ſich ſo auffuͤhren,
„daß ich ihm werde erlauben koͤnnen, naͤchſt mir
„die meiſte Sorge vor meine jetzige und kuͤnfti-
„ge Ehre zu tragen. Er wolle mir jetzt nur
„verſichern, daß ſeine gantze Familie ſehr begie-
„rig ſey, meine Truͤbſaal als eine Gelegenheit
zu
[478]Die Geſchichte
„zu gebrauchen, ſich um mich verdient und bey
„mir beliebt zu machen. Was ſie mir fuͤr Dien-
„ſte erweiſen koͤnnten, das wuͤrden ſie mit Freu-
„den thun, und ſie wuͤrden ſich gluͤcklich ſchaͤtzen,
„wenn ſie zu meiner jetzigen Befreyung und
„kuͤnftigen Gluͤck etwas beytragen koͤnnten.


„Dieſen Nachmittag will er an ſeinen Onck-
„le und an deſſen beyde Schweſtern ſchreiben,
„und ihnen melden, daß er nun Hoffnung habe
„der gluͤcklichſte Menſch auf Erden zu werden,
„wenn er ſein Gluͤck nicht ſelbſt ſtoͤrete: denn
„das eintzige Frauenzimmer unter der Sonnen,
„das ihn gluͤcklich machen koͤnne, wuͤrde bald
„auſſer Gefahr ſeyn, von einem andern Man-
„ne beherrſchet zu werden; und dieſe angeneh-
„me Perſon wuͤrde ſchwerlich einige Bedingun-
„gen von ihm fodern koͤnnen, welche einzuge-
„hen er nicht fuͤr ſeine Schuldigkeit halten
„wuͤrde.


„Er ſchmeichelt ſich nur, da ich meinen ge-
„faſſeten Vorſatz nochmahls bekraͤfftiget habe,
„daß er keine Aenderung dieſes Vorſatzes von
„mir zu befuͤrchten habe, wenn meine Freunde
„ſich nicht aͤnderten: und daß ſie das nicht thun
„wuͤrden, wiſſe er mehr als allzu gewiß. Alle
„ſeine Verwanten, die an allem was ihn be-
„traͤffe auf eine ſo guͤtige Weiſe Antheil neh-
„men, wuͤrden nun recht ſtoltz deswegen ſeyn,
„daß ſich ſeine Sachen ſo gluͤcklich anlieſſen.


(So
[479]der Clariſſa.

(So kuͤnſtlich ſucht er mich zu feſſeln, daß ich
mein Wort nicht zuruͤck nehmen ſoll.)


„Was das Vermoͤgen anbetriſſt, ſo will er,
„daß ich deshalb gantz unbeſorgt ſeyn ſoll. Wir
„beyde koͤnnen von ſeinem Gute leben, das des
„Jahrs nicht dem Nahmen nach, ſondern in der
„That 2000. Pfund einbringt, und ſo gut iſt, als
„manches andere, welches man um ein Drittheil
„hoͤher ſchaͤtzt. Sein Gut ſey niemahls zur Hy-
„potheck verſchrieben worden: er ſey jetzt nie-
„mand etwas ſchuldig, kein Kauffmann habe ihn
„in ſeinem Buche, und er habe auch nieman-
„den eine Handſchrifft ausgeſtellet. Vielleicht
„habe ſein Hochmuth mehr Antheil hieran, als
„ſeine Tugend. Sein Onckle will ihm ein jaͤhr-
„liches Einkommen von tauſend Pfund uͤber-
„machen, ſo bald er ſich verheyrathen wird; und
„zwar (wenn er ſo ſchreiben ſoll, daß er der
„Ehre S. Gnaden nicht zu nahe tritt) mehr
„aus Trieb eines gerechten als eines edlen
„Hertzens.
Denn tauſend Pfund betruͤgen ge-
„rade die Einkuͤnffte eines Gutes, das ſein Onck-
„le beſitzet, und davon Lovelaces Mutter ein
„naͤheres Recht gehabt haben moͤchte. Seine
„Gnaden haͤtten auch den Vorſchlag, eines von
„ihren Guͤtern in der Graffſchafft Hertford
„oder Lancaſter/
das er oder ſeine Frau waͤh-
„len wuͤrde, ihm zu uͤbertragen, ſonderlich wenn
„ich die Perſon waͤre, die ihn gluͤcklich machte.
„Es ſoll auf meinen Winck ankommen, das al-
„les
[480]Die Geſchichte
„les dieſes geſchehe, und eine erwuͤnſchte Ehe-
„ſtifftung aufgeſetzt werde, ehe ich mich weiter
„mit ihm einlaſſe.„


„Jn Abſicht auf die Kleidung ſoll ich gantz
„auſſer Sorgen ſeyn. Was keinen Aufſchub
„leidet, darin werden mir ſeiner Mutter Schwe-
„ſtern oder die Fraͤuleins Montague mit Freu-
„den dienen: fuͤr das uͤbrige aber ſorgen zu duͤr-
„fen, wird ihm die groͤſſeſte Ehre ſeyn, wenn
„ich es ihm erlanben will.„


„Jch ſoll in allem dem, was ein Mittel ſei-
„ner Ausſoͤhnung mit den Meinigen ſeyn koͤnn-
„te, voͤllig uͤber ihn zu befehlen haben: weil er
„weiß, daß mir dieſes ſehr am Hertzen lieget.


„Er befuͤrchtet, daß bey ſo kurtz angeſetzter
„Zeit die Fraͤulein Charlotte Montague mir
„ſchwerlich zu S. Albans werde Geſellſchafft
„leiſten koͤnnen, wie er es ſonſt gewuͤnſcht haͤtte,
„weil ſie ſich jetzt wegen einer ſtarcken Verkaͤl-
„tung und ſchlimmen Halſes zu Hauſe halten
„muͤßte. Allein ſie und ihre Schweſter ſollen
„mich in dem Hauſe, das ich bewohnen werde,
„beſuchen, ſo bald ſie aus dem Hauſe kommen
„kan: ſie ſollen mich zu ſeiner Baſen oder dieſe
„zu mir bringen, wie ich es befehlen werde; ſie
„ſollen mich auch nach London begleiten, und
„mir ſo lange Geſellſchafft leiſten, als ich es gut
„gut finde dort zu bleiben.


„Der
[481]der Clariſſa.

„Der Lord M. wird mich auch zu der Zeit
„und auf die Art beſuchen, als ich ſelbſt verord-
„nen werde: d.i. entweder in der Stille oder
„oͤffentlich. Er ſelbſt will ſich von mir entfer-
„nen, ſo bald er ſiehet, daß ich entweder bey ſei-
„nen Anverwanten oder in meiner eigenen Woh-
„nung in Sicherheit bin, und ſich nicht unter-
„ſtehen, mich ohne Erlaubniß zu beſuchen.


„Es waͤre ihm wohl eingefallen, da die Fraͤu-
„lein Charlotte Montague unpaͤßlich ſey, ſei-
„ne Fraͤulein-Baſe Patty dahin zu vermoͤgen,
„daß ſie ſich mir zur Geſellſchafft nach St. Al-
„bans
oder in das benachbarte Dorff begaͤbe.
„Allein ſie ſey ein furchtſames kleinmuͤthiges
„Maͤdchen, die uns neue Unruhe machen wuͤrde.


Sie ſehen demnach, daß ſeiner eignen Mei-
nung nach Muth und Dreiſtigkeit erfodert wird,
meinen Vorſatz in das Werck zu richten. Er
hat Recht. Was werde ich aber anfangen?


Er ſcheint es ſelbſt fuͤr noͤthig zu halten, daß
ein Frauenzimmer bey uns ſey! Er haͤtte doch
zum wenigſten eine Kammer-Jungfer einer ſei-
ner Baſen in Vorſchlag bringen koͤnnen. Lie-
ber GOtt, was fange ich an!



Zweyter Theil. H hSo
[482]Die Geſchichte

So weit ich auch gegangen bin, ſo kan ich
doch zuruͤck kommen. Allein er wird mir tod-
feind werden. Doch was ſchadet das? koͤnnte
ich nur dem Solmes entgehen, ſo wuͤrde ich
durch eine Zwiſtigkeit mit Lovelacen es mir
leichter machen, meine Wuͤnſche zu erreichen,
und unverheyrathet zu leben und zu ſterben.
Alsdenn wollte ich allen Manns-Leuten Trotz
bieten. Denn ich ſehe nichts als Verdruß und
Unruhe, ſo wir von dieſem Geſchlechte zu gewar-
ten haben: und wenn man ſich einmahl mit ih-
nen einlaͤßt, ſo muß man ihnen uͤber Stock und
Block durch Dornen und Hecken, die fuͤr uns
zu empfindlich ſind und immer ſpitziger werden,
nachfolgen, bis die Reiſe voller Schmertzen zum
Ende iſt.


Jch weiß nicht was ich thun ſoll. Je mehr
ich nachdencke, deſto verwirreter werde ich: und
meine Zweiffel werden immer ſtaͤrcker werden,
je naͤher die beſtimmte Zeit heran kommt.


Jch werde hinunter gehen, um mir eine klei-
ne Bewegung in dem Garten zu machen, und
dieſen Brief nebſt allen Brieffen von Lovela-
cen/
den letzten ausgenommen, hinzulegen. Die-
ſen will ich das kuͤnftige mahl einſchlieſſen, wenn
ich noch einmahl ſchreiben kan. Unterdeſſen ‒ ‒
doch was ſoll ich Sie bitten mir zu wuͤnſchen,
oder fuͤr mich zu beten? A dieu. Jch kan wei-
ter nichts zu Jhnen ſagen als, A dieu!


Der
[483]der Clariſſa.

Der zwey und viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.


(Eine Antwort auf den viertzigſten Brief.)


Sonntag Morgens den 9ten
April.


Glauben Sie ja nicht, daß ich auf Sie un-
gehalten bin, ob Sie mir gleich in Jh-
rem geſtrigen Brieffe eine haͤrtere Probe Jhrer
unpartheyiſchen Liebe (wie ich ſie jetzt nen-
nen muß) gegeben haben, als vorhin jemahls.
Das wuͤrde eben ſo viel ſeyn, als mich zu einer
Koͤnigin aufwerffen, d. i. es andern unmoͤglich
machen, mir meine Fehler zu entdecken, und mir,
mich zu beſſern, und die alleraufrichtigſte und
zaͤrtlichſte Freundſchaft unnuͤtz zu machen.


Wie edel und wie rein brennen dieſe geheilig-
ten Flammen in Jhrer Bruſt? daß Sie ſo gar
einer ungluͤcklichen Perſon ſchuld geben, ſie ſey
in ihrer eigenen Sache kaltſinniger als Sie in
einer fremden, weil ſie ſich in ſo fern ſelbſt ver-
gißt, daß ſie andern eine Wahl nicht ſtreitig ma-
chen will, dazu ſie ein Recht haben. Soll ich
ein ſo warmes Hertz an einer Freundin tadeln?
muß ich es nicht vielmehr bewundern?


H h 2Da-
[484]Die Geſchichte

Damit Sie aber doch nicht dencken moͤgen,
daß einiger Grund zu dem Verdacht vorhanden
ſey, den Sie zwar aus Freundſchaft auf mich
werfen, der mich aber doch ohne Entſchuldigung
machen wuͤrde: ſo muß ich mir ſelbſt Recht wie-
derfahren laſſen, und Jhnen die Erklaͤrung thun,
daß, wo ich anders mein eigenes Hertz kenne,
keine geheime Neigung darin iſt, die ich
nicht gern geſtehen wollte.
Es kommt mir
auch das nicht geringe vor, was in der That
wichtig iſt. Und dennoch entſchuldige ich Jhre
Frau Mutter, wenn ich auch nichts fuͤr ſie zu ſa-
gen haͤtte, als dieſes eintzige, daß ich nicht mit
eben dem Recht von ihr Gefaͤlligkeiten erwarten
konnte, als von ihrer Tochter. Denn ich darf
mich nicht unterſtehen, mich gegen die Perſon
auf Freundſchaft zu beruffen, der ich Ehrer-
bietung
ſchuldig bin, weil ſie meiner Freundin
Mutter iſt. Zu Ehrerbietung aber ſchickt ſich
die Vertraulichkeit nicht, die ein weſentliches
Stuͤck des geheiligten Buͤndniſſes unſerer Her-
tzen iſt.


Was ich demnach von meiner Anna Howe
erwarten konnte, das durffte ich nicht von ihrer
Frau Mutter erwarten. Denn wuͤrde es nicht
wunderlich ſeyn, wenn man es einer Perſon von
ihren Jahren und Verſtande verdencken wollte,
daß ſie nicht wider ihre eigenen Einſichten han-
deln will? und zwar dieſes in einer Sache,
daruͤber ſie mit einer Familie in Feindſchaft ge-
rathen
[485]der Clariſſa.
rathen kan, mit der ſie bisher Freundſchaft ge-
halten hat, und da ſie die Parthey der Tochter
gegen die Eltern halten muͤßte? Wie aber, wenn
noch der Umſtand dazu kommt, daß ſie ſelbſt ei-
ne Tochter hat? eine Tochter, deren Lebhaftig-
keit und liebenswuͤrdige Munterkeit (wenn ich
das anders erwaͤhnen darf) ſie vielleicht in eine
unnoͤthige Sorge ſetzet, weil ihr muͤtterliches
Hertz mehr an die Jugend ihrer Tochter als an
ihren ausnehmenden Verſtand dencket, von dem
ſie doch eben ſo wohl als jedermann glaubet, daß
er die Jahre uͤbertreffe?


Was auch ihr wohl geartetes edles Hertz aus
Liebe zu einer ungluͤcklichen Freundin fuͤr Gruͤnde
erfinden moͤchte, meine Sache zu ſchmuͤcken, und
denen Unrecht zu geben, die mir in ſo verworre-
nen und zweiffelhaften Umſtaͤnden keine Zuflucht
geſtatten wollen: ſo muß ich Jhnen doch ſagen,
daß ich ein Vergnuͤgen darinn finde, wenn ich
die allzugroſſe Hoffnungen und Anfoderungen
meiner guͤtigſten Freundin einiger maſſen im
Zaum halten kan, es mag mit mir auch ablauffen,
wie es will. Denn es wuͤrde mich ſehr kraͤncken,
wenn ich mir durch eine eigennuͤtzige Unbedacht-
ſamkeit den Vorwurf zuzoͤge, daß ich auf etwas
gehoffet haͤtte, worauf ich nicht mit Recht hof-
fen konnte, oder, daß ich nach Jhrem Ausdruck,
mir einen Dorn aus dem Fuſſe zu ziehen, und
ihn andern in den Fuß zu ſtecken geſucht haͤtte.
Jch wuͤrde mit mir ungemein misvergnuͤgt ſeyn,
H h 3wenn
[486]Die Geſchichte
wenn ich die Lehre meiner aufrichtigen Frau
Norton/ daß die Schule der Truͤbſaal die
beſte Schule iſt/
unwahr machen, und in die-
ſer Schule an ſtatt der Geduld Ungeduld lernen
ſolte: oder wenn ich anfinge, nur ſo viel Hoch-
achtung fuͤr andere zu haben, als ſie mir Wohl-
thaten erzeigen. Denn was iſt dieſes anders,
als glauben, daß wir beſtaͤndig Recht haben, und
die, ſo verſchiedener Meinung ſind und nicht nach
unſerm Sinne handeln, beſtaͤndig Unrecht? Jſt
es nicht eben ſo viel, als wenn man ſeine und
GOttes Sache fuͤr Eins anſaͤhe, wie Herr Sol-
mes/
wenn er um Gottes willen bittet.


Wie oft haben wir uns bemuͤhet, dieſe Par-
theylichkeit an andern zu entdecken? und wie
ſcharf iſt unſer Tadel daruͤber geweſen?


Allein ich weiß, daß Sie nicht damit zufrie-
den ſind, alles zu ſagen, was Jhrer Meinung
nach mit Recht kan geſagt werden: ſondern
daß Sie bisweilen blos die Schaͤrffe Jhres
Verſtandes zeigen wollen, der bis auf den Grund
und Boden der Sachen dringet, und ſich des-
wegen ein Vergnuͤgen daraus machen, alles zu
ſagen und zu ſchreiben, was man nur ſagen, oder
ſchreiben, oder dencken kan, weil Sie andern ei-
ne Probe Jhres goͤttlichen Verſtandes geben
wollen (vergeben Sie mir meine Unart in Ma-
chung dieſer Anmerckung) der alle moͤgliche kuͤnf-
tige Zufaͤlle vorher geſehen hat. Doch wer
wird
[487]der Clariſſa.
wird einen angenehmen Bach auszutrocknen ver-
langen, weil er zur Fruͤhlingszeit zu ſtarck flieſ-
ſet und uͤbertritt? Wer wollte auf Jhre Lebhaf-
tigkeit zuͤrnen, die uns hundertmahl vergnuͤget,
wenn ſie uns einmahl zu beleidigen ſcheint, ja
uns ſelbſt im Beleidigen vergnuͤget?


Nun komme ich auf die beyden Fragen Jh-
res Briefes, die mich am meiſten ruͤhren. Sie
fragen:


Ob ich lieber mit einer meines Ge-

ſchlechts/ mit meiner Anna Hove fluͤch-

ten will? oder mit einem von dem

andern Geſchlecht, mit Herrn Lovelace?

Ob ich mich mit Herrn Lovelace will

trauen laſſen/ ſo bald es moͤglich ſeyn

wird?

Sie wiſſen, aus welchen Urſachen ich Jhren
guͤtigen Vorſchlag verworffen, und ernſtlich ver-
langet habe, daß es niemand wiſſen ſolle, daß
Sie mir bey dem gefaͤhrlichen Schritte einige
Huͤlffe leiſten, den ich aus Noth zu thun meine,
bey dem Sie aber nicht eben die Entſchuldigung
als ich haben wuͤrden. Jhre Frau Mutter haͤt-
te Recht uͤber unſern Briefwechſel misvergnuͤgt
zu ſeyn, wenn daraus unangenehme Folgen fuͤr
ſie ſelbſt und fuͤr ihre Tochter entſtehen koͤnn-
ten, ehe ſie es daͤchte. Wenn ich glaube, daß
ich faſt nicht zu entſchuldigen bin, ohngeachtet ich
H h 4vor
[488]Die Geſchichte
vor meinen grauſamen Freunden fliehe; was
wuͤrden Sie denn zu Jhrer Verantwortung
ſagen koͤnnen, wenn Sie eine ſo guͤtige Mutter
verlieſſen? Sie befuͤrchtet, daß Jhre allzutreue
Freundſchaft Sie zu einer kleinen Unvorſichtig-
keit verleiten moͤchte; und das iſt Jhnen ſchon
empfindlich: und dennoch wollen Sie, gleichſam
um ſich zu raͤchen, ihr ſo wol als der gantzen
Welt zeigen, daß Sie im Stande ſind mit Wiſ-
ſen und Willen den allergroͤſſeſten Fehler zu be-
gehen, den man einem Frauenzimmer nachſagen
kan!


Schickt es ſich fuͤr ein ſo edles Gemuͤth, (ich
frage Sie) einen ſolchen Ungehorſam dem Vor-
ſatz nach zu begehen, weil Sie glauben, Jhre
Frau Mutter wuͤrde Sie mit Freuden wieder
aufnehmen?


Jch verſichere Jhnen: wenn ich das noch wa-
gen ſoll, was ich mir vorgenommen habe, ſo will
ich lieber alle Gefahr lauffen, als zugeben, daß
Sie mich dabey begleiten. Meinen Sie, daß
ich mein Vergehen zu vervielfaͤltigen, und es
der Welt doppelt oder dreyfach vorzuſtellen Luſt
habe? der Welt, die weiß daß ich ſo hart gehal-
ten bin, und doch nicht alle Urſachen davon weiß,
die mir alſo gewiß Unrecht geben wuͤrde?


Allein meine liebſte, meine guͤtigſte Anna
Howe/
geben Sie ſich zufrieden. Weder Sie
noch
[489]der Clariſſa.
noch ich, keine von uns beyden ſoll dieſen gefaͤhr-
lichen Schritt wagen. Sie haben mir die Fra-
ge auf eine ſolche Art vorgelegt, daß ich ſchon
uͤberzeugt bin, daß Sie mir nicht rathen koͤn-
nen ihn zu wagen. Sie haben vermuthlich die
Abſicht gehabt, daß ich einen ſolchen Schluß
aus ihrem Vorſchlage machen ſolte: und ich
dancke Jhnen, daß Sie mir Jhren Rath auf
eine ſo gelinde und dennoch uͤberzeugende Wei-
ſe gegeben haben. Es iſt mir hiebey einiger
Troſt, daß mir ſchon von ſelbſt ein Zweiffel auf-
geſtiegen iſt, ehe ich noch Jhren letzten Brief er-
halten habe. Nunmehr bin ich voͤllig entſchloſ-
ſen, meines Vaters Haus nicht zu verlaſſen:
zum wenigſten noch nicht morgen.


Wenn Sie glauben, daß ich die Beantwor-
tung der vorgelegten Frage nicht fuͤr ſo wichtig
anſehe, als ſie doch wuͤrcklich iſt, und daß ich ei-
ne tadelhafte Neigung hege: was wuͤrde denn
die Welt von mir glauben? Wenn Sie mir
ſagen, es fiele alle Puͤnctlichkeit weg, ſo bald ich
den Fuß aus meines Vaters Hauſe geſetzt haben
wuͤrde; und ich muͤßte es Herrn Lovelace an-
heim ſtellen, wenn er mich ſicher verlaſſen koͤn-
ne, und wie lange ſein Schutz und Gegenwart
noͤthig ſey; d. i. ich muͤſſe es in ſein Belieben
ſtellen, ob er mich verlaſſen, oder beſtaͤndig bey
mir bleiben wollte: ſo ſind mir dieſes unertraͤg-
liche Vorſtellungen. Wer kan ſich entſchlieſſen,
auf ſo ungeziemende Bedingungen ein Verſpre-
H h 5chen
[490]Die Geſchichte
chen zu halten, das man noch zuruͤck zu nehmen
berechtiget iſt?


So lange ich mir die Flucht aus dieſem Hau-
ſe blos als eine Flucht vor Herrn Solmes
vorſtellete, und bedachte. daß meine Ehre ohne-
hin ſchon genug gekraͤnckt ſey, und daß ich es in
meiner Macht haben wuͤrde, Herrn Lovelace
zu nehmen oder nicht zu nehmen: ſo glaubte ich,
daß bey meinen Bedraͤngniſſen etwas zur Ent-
ſchuldigung einer ſo verwegenen Entſchlieſſung
geſagt werden koͤnnte, das zum wenigſten mein
Hertz wuͤrde gelten laſſen, wenn auch die Welt
haͤrter in ihrem Urtheil waͤre. Von ſeinem ei-
genen Hertzen aber nicht verdammt werden, iſt
ein Vergnuͤgen, welches ich allen vortheilhaften
Meinungen der Welt vorziehe.


Allein, da ich ſonſt die unanſtaͤndige Hurtigkeit
ſolcher Frauenzimmer verachtet und getadelt ha-
be, die aus ihrer Stube nach dem Altar huͤpfen,
und ſich ohne die geringſte Ceremonie zu der
ernſtlichſten Ceremonie in dem gantzen Leben ent-
ſchlieſſen: da ich mit Lovelacen ſchon ausge-
macht habe, daß er mir Zeit laſſen ſolte, und
daß ich freye Macht behalten wollte, ihm mein
Ja oder Nein zu geben, und daß er mich ver-
laſſen ſolte, ſo bald ich in Sicherheit waͤre: (ei-
ne Sache, die, wie Sie mich lehren, vor ſeinen
Richterſtuhl gehoͤren wird) da er ſich alles die-
ſes hat gefallen laſſen, und ich meine Bedingun-
gen
[491]der Clariſſa.
gen nicht ſelbſt zuruͤcknehmen, noch mich ſo ge-
ſchwind mit ihm trauen laſſen kan: ſo ſehen Sie
ſelbſt, es iſt weiter nichts fuͤr mich zu thun, als
daß ich mich entſchlieſſe, meines Vaters Haus
in ſeiner Geſelſchaft nicht zu verlaſſen.


Wie aber werde ich ihn beſaͤnftigen koͤnnen,
wenn ich mein Wort zuruͤck nehme?


Wie? Jch muß mich auf das beruffen, was
man einem Frauenzimmer zu gute zu halten
pflegt. Vor der Trauung hat er kein Recht,
misvergnuͤgt uͤber mich zu werden. Habe ich
mir nicht das Recht vorbehalten, mein Wort zu-
ruͤck zu nehmen, wenn ich es fuͤr gut anſaͤhe?
Jch kan hier wieder eben ſo fragen, als in Jh-
rem Streit mit Jhrer Frau Mutter: wozu
hat man eine Wahl, wenn ein anderer ſich das
Recht anmaſſen darf, uns den Gebrauch unſerer
Wahl uͤbel zu nehmen?


Wenn mein Verſprechen auch noch ſo foͤrm-
lich und unbedungen waͤre, ſo wuͤrden diejenigen,
die in dem alten Teſtament das Recht hatten,
das Verſprechen ihrer Kinder umzuſtoſſen oder
guͤltig zu machen, * gewiß dieſes Verſprechen
nicht bekraͤfftigen: allein es war nicht einmahl
ein Verſprechen, ſondern eine bloſſe Verabre-
dung.
[492]Die Geſchichte
dung. Waͤre es auch ein Verſprechen, ſo hat-
te ich mir ja das Recht vorbehalten, es wieder
umzuſtoſſen. Und geſetzt, ich haͤtte mir ein ſol-
ches Recht nicht vorbehalten, ſo frage ich, ob
mein Verſprechen mir verbiete, der Sache beſ-
ſer nachzudencken, und ſie reiflicher zu uͤberle-
gen? Wenn dieſes iſt, ſo haͤtte ich es nie geben
ſollen. Wie unartig wuͤrde es ſeyn, auf ein
ſolches Verſprechen zu dringen? kan irgend eine
Mannsperſon daruͤber ungehalten werden, daß
ein Frauenzimmer, die er dereinſt die Seinige
zu nennen hoffet, ein uͤbereiltes Verſprechen
nicht halten will, wenn ſie bey weiterer Ueber-
legung ſiehet, daß ſie ſich uͤbereilt hatte.


Jch entſchlieſſe mich alſo, die Verſuchung
des naͤchſten Mittewochens noch zu erwarten:
oder, wie ich vielleicht billiger ſagen moͤchte, des
naͤchſten Dienſtag Abends. Denn wenn mein
Vater bey ſeinem Vorſatz bleibt, ſelbſt zu mir
herauf zu kommen, und mir zu befehlen, daß
ich die Eheſtifftung leſen und unterzeichnen
ſoll: ‒ ‒ ‒ das wird die ſchwereſte Verſu-
chung fuͤr mich ſeyn.


Wenn ich mich uͤbertaͤuben laſſe, ſie noch in
der Nacht zu unterzeichnen, ſo ſey mir GOtt
gnaͤdig. Alles was mir fuͤrchterlich iſt, wird
alsdenn am Mittewochen von ſelbſt erfolgen.
Wenn ich durch Bitten etwas ausrichten kan!
Vielleicht durch Ohnmachten, oder durch eine
Ver-
[493]der Clariſſa.
Verwirrung im Haupt! Denn der bloſſe An-
blick meines Vaters wird mich ſehr ruͤhren, nach-
dem ich ſo lange ſeine Gegenwart habe entbaͤh-
ren muͤſſen. Wenn ich nur einen Aufſchub von
einer Woche erhalten kan: oder von zwey oder
drey Tagen: ſo wird mir der Mittewochen ein
viel leichterer Tag ſeyn. Man wird mir doch
zum wenigſten Zeit geben, mich zu bedencken/
mich zu uͤberwinden und mir alle Gruͤnde vor-
zuhalten: und wenn ich alles dieſes zuſage, ſo
habe ich doch noch nichts verſprochen. Da
ich bisher noch nicht verſucht habe, zu entfliehen,
ſo iſt keine Urſache zum Verdacht vorhanden,
und es wird mir bis aufs letzte nicht an Gele-
genheit zur Flucht mangeln. Frau Norton
ſoll um mich ſeyn: die wird gewiß ein Wort
fuͤr mich reden, wenn es auf das aͤuſſerſte kommt,
ohngeachtet ſie ſich dadurch ein unfreundliches
Geſichte zuziehen wird. Vielleicht ſteht ihr mei-
ne Baſe Hervey bey: vielleicht laͤßt ſich auch
meine Mutter erbitten. Jch will vor einer je-
den auf die Knie fallen, um ſie mir zur Freundin
zu machen. Einige unter ihnen haben ſich des-
wegen geſcheuet mich zu ſprechen, weil ſie glau-
ben, ſie wuͤrden ſich nicht gegen mich halten
koͤnnen. Giebt mir das nicht gute Hoffnung,
daß mein Bitten nicht fruchtlos ſeyn wird.
Vielleicht kommt der Rath wieder in Vorſchlag,
den mein Bruder gegeben hat, mich aus dem
Hauſe zu ſtoſſen, und mich meinen Schickſaal
zu uͤberlaſſen. Wenn dieſer Vorſchlag in das
Werck
[494]Die Geſchichte
Werck geſetzt wird, ſo werden dadurch meine Um-
ſtaͤnde in Abſicht auf die Geſinnung der Mei-
nigen gegen mich nicht verſchlimmert. Sie
werden aber in ſo fern verbeſſert/ daß es nicht
meine Schuld ſeyn wird, wenn ich ſie verlaſſe,
und bey andern Schutz ſuche; und das ſoll auch
alsdenn lieber bey dem Obriſten Morden als
bey Herrn Lovelace oder bey irgend einem an-
dern geſchehen.


Mein Hertz hat eine beſſere Ahndung, und
wird mir leichter, wenn ich mich hiezu entſchlieſſe:
und mich duͤnckt, bey einer ſo ſtarcken Neigung
ſoll man dem Triebe des Hertzens faſt eben ſo
folgen, als ſonſt dem Gewiſſen. Jch dencke hier
an den Rath des weiſen Sirachs: folge dem
Rath deines Hertzens/ denn niemand iſt
dir treuer als dein eigen Hertz. Eines
Mannes Hertz weiſſaget ihm oft mehr als
ſieben Waͤchter.


Veruͤbeln Sie mir dieſe unordentlichen Rath-
ſchlaͤge nicht, daruͤber ich mich mit mir unterre-
de. Jch will ſchlieſſen, und gleich die Feder zu
einem Brieffe an Lovelacen anſetzen, um mein
Verſprechen zu widerruffen, er mag es nun neh-
men wie er will. Es iſt fuͤr ihn eine neue Pro-
be der Geduld und Herrſchaft uͤber ſich ſelbſt:
und fuͤr mich iſt es von der groͤſſeſten Wichtig-
keit. Hat er nicht verſprochen, ſich alles gefal-
len
[495]der Clariſſa.
len zu laſſen, als er glauben mußte, daß ich mei-
nen Vorſatz aͤndern koͤnnte?


Clariſſa Harlowe.



Der drey und viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Es ſcheint, daß heute niemand in die Kirche
gehen wird. Man erwartet zu ſo weltli-
chen und ſo grauſamen Abſichten keinen Seegen
GOttes.


Die Meinigen ſchoͤpfen Argwohn, daß ich et-
was in dem Sinne haben moͤchte. Eliſabeth
hat ſich nach meinen Kleidern umgeſehen. Jch
brachte einen Brief in den Garten, den ich an
Lovelacen geſchrieben hatte: als ich zuruͤck kam,
fand ich ſie, daß ſie unter meinen Kleidern ge-
kramt hatte, und der Schluͤſſel ſteckte noch in
dem Schrancke. Sie verfaͤrbte ſich, und ward
beſtuͤrtzt daruͤber, daß ich ſie uͤbereilte: ich ſagte
ihr aber: ich wuͤrde mich in alles ſchicken koͤn-
nen, was die Zeit und mein Ungluͤck mit ſich
braͤchte; wenn ſie Befehl haͤtte etwas zu thun,
ſo ſey das Entſchuldigung genug fuͤr ſie.


Sie
[496]Die Geſchichte

Sie geſtand aus Verwirrung, daß es vor ge-
weſen waͤre, mich etwas enger einzuſchraͤncken,
damit ich nicht ſpatzieren gehen koͤnnte, wenn ich
wollte: allein die Nachricht, die ſie geben woll-
te, wuͤrde zu meinem Vortheil gereichen. Es
haͤtte jemand vorgeſtellet: es waͤre nicht noͤthig
mich enger einzuſchraͤncken; denn aus Herrn
Lovelaces Drohung mich zu entfuͤhren, wenn
ich nach meines Onckles Gut gebracht wuͤrde,
koͤnnte man ſehen, daß ich nicht den Vorſatz haͤt-
te, mit ihm durchzugehen, ich wuͤrde ſonſt
ſchon ſeit einiger Zeit Anſtalten dazu gemacht ha-
ben, und dieſe haͤtten nicht verborgen bleiben koͤn-
nen. Hieraus habe man den gewiſſen Schluß
gemacht, daß ich doch zuletzt nachgeben wuͤrde.
Das dreiſte Maͤdchen ſetzte noch hinzu: und,
gnaͤdige Fraͤulein, wenn ſie nicht nachgeben wol-
len, ſo erlauben ſie mir zu ſagen, daß mir ihre
Auffuͤhrung ſonderbahr vorkommt. ‒ ‒ Sie
ſagte, ſie wuͤſte das nicht mit einander zu reimen,
als nur auf die Weiſe, daß ich etwan nicht wuͤß-
te wie ich mit guter Art zuruͤck kommen ſolte,
nachdem ich einmahl ſo weit gegangen waͤre:
wenn aber alle meine Verwanten beyſammen
waͤren, ſo wuͤrde ich Herrn Solmes meine Hand
ohne Zweiffel geben. Und denn wuͤrde der Text
wahr werden, daruͤber der Herr D. Brand am
vorigen Sonntage ſo eine ſchoͤne Predigt gehal-
ten haͤtte: Es wird Freude im Himmel
ſeyn.


Mein
[497]der Clariſſa.

Mein Brief an Herrn Lovelacen enthaͤlt fol-
gendes:


„Jch haͤtte Urſachen von der groͤſſeſten Wich-
„tigkeit in Abſicht auf mich, gegen die er auch
„nichts wuͤrde einwenden koͤnnen, wenn ich ſie ihm
„meldete, meine Flucht aus meines Vaters Hau-
„ſe jetzt noch aufzuſchieben. Jch hoffete, daß
„alles zu einem gluͤcklichen Ende gebracht wer-
„den koͤnnte, ohne einen ſo gefaͤhrlichen Schritt
„zu thun, den nur die alleraͤuſſerſte Nothwen-
„digkeit wuͤrde rechtfertigen koͤnnen. Er koͤnne
„ſich indeſſen auf meine Zuſage verlaſſen, daß ich
„eher den Tod leiden wuͤrde, als Herrn Sol-
„mes
heyrathen.


Jch mache mich nun ſchon bereit, ſeine Ant-
wort, die halb eine Straf-Predigt und halb ei-
ne Klage ſeyn wird, zu leſen. Er mag ſchrei-
ben was er will, ſo kan es mich nicht ſo ſehr ruͤh-
ren, als die Erwartung deſſen, was mir auf den
Dienſtag oder Mittewochen bevorſtehet. Mei-
ne gantz Seele iſt hierauf gerichtet, und mein
Hertz iſt mir kranck und beklommen.


Sonntag Nachmittags um
vier Uhr.


Mein Brief iſt noch nicht weggenommen.
Wie? wenn er ihn nicht abhohlt oder abhohlen
laͤßt, und mich doch morgen um die beſtimmte
Zeit nicht findet? Wird er nicht meinetwegen
Zweyter Theil. J iin
[498]Die Geſchichte
in Sorgen ſeyn, daß mir etwas begegnet ſeyn
koͤnnte: und wird er nicht gar zu meinen Eltern
kommen? Ach warum habe ich mich mit Manns-
perſonen uͤberall eingelaſſen? Wie gluͤcklich war
ich, ehe ich dieſen Menſchen kannte.


Jch habe heute in dem Sommer-Hauſe ge-
ſpeiſſet: es ward mir auf das erſte Wort erlaubt.
Um zu zeigen, daß ich keine Abſichten dabey haͤt-
te, ging ich gleich nach dem Eſſen wieder mit
Eliſabeth hinein. Weil das gute Wetter be-
ſtaͤndig zu werden ſcheint, ſo hielt ich es fuͤr dien-
lich, mir dieſe Freyheit auszubitten. Denn ich
weiß noch nicht, wozu mich der Dienſtag oder
Mittewochen zwingen wird.


Sonntag Abends um 7. Uhr.


Mein Brief liegt noch da! Jch glaube er
macht Anſtalten auf morgen, und kan deswegen
nicht ſelbſt kommen. Er hat ja aber doch Be-
dienten. Meint er mich ſchon ſo gewiß zu ha-
ben, daß es nicht mehr noͤthig ſey, ſich weiter
Muͤhe um mich zu geben, als bis der Augen-
blick eintritt, den ich beſtimmet habe? Er weiß
ja wie ich belagert bin: er weiß, was fuͤr Faͤllen
ich unterworffen bin. Jch kan kranck, oder ge-
nauer bewachet oder noch mehr eingeſperret wer-
den als vorhin: unſer Briefwechſel koͤnnte ent-
deckt werden: es koͤnnte noͤthig ſeyn, einige an-
dere Einrichtungen zu machen: ich koͤnnte zu et-
was gezwungen werden, das meinen ihm ge-
melde-
[499]der Clariſſa.
meldeten Vorſatz ohnmoͤglich machte: ich koͤnn-
te neue Zweiffel bekommen: ich koͤnnte noch ei-
nen beſſern Vorſchlag haben, der ihm nicht bey-
faͤllt. Was kan der Menſch dencken? Jch wun-
dere mich uͤber ihn. Aber mein Brief ſoll liegen
bleiben: denn wenn er ihn nur vor der beſtimm-
ten Stunde bekommt, ſo brauche ich ihm nicht
muͤndlich zu ſagen, daß ich meine Entſchlieſſung
geaͤndert habe, und ich habe nicht noͤthig, mich
hieruͤber mit ihm zu zancken. Wenn er mich
nur den Brief abhohlen laͤßt, ſo kan er aus der
uͤbergeſchriebenen Zeit ſehen, daß er ihn fruͤh
genug haͤtte haben koͤnnen: erwaͤchſt ihm aber
einige Ungelegenheit daraus, daß er es ſo ſpaͤt
erfaͤhrt, ſo mag das ſein Lohn ſeyn.


Abends um 9. Uhr.


Es ſcheint veſt beſchloſſen zu ſeyn, daß Frau
Norton auf den Dienſtag ſoll zu Tiſche gebe-
ten werden. Sie ſoll eine gantze Woche bey
mir bleiben. Sie wird mich erſt zum Gehor-
ſam ermahnen: und wenn Gewalt gebraucht,
und die Trauung voruͤber iſt, ſo ſoll ſie mich
troͤſten, und mich ermahnen, mich in mein Ver-
haͤngniß zu ſchicken. Ohnmachten und Strei-
che/
und Klagen/ und Jammern erwartet man
ohne Zahl, wie mir Eliſabeth zu erzaͤhlen unver-
ſchaͤmt genug iſt. Allein, jedermann hat ſich
ſchon dagegen gewafnet. Wenn es voruͤber iſt,
ſo iſt es voruͤber: (ſagt ſie) und ich werde ruhig
J i 2und
[500]Die Geſchichte
und ſtille ſeyn, wenn ich ſehe, daß es ſich nicht
mehr aͤndern laͤßt.


Montag Morgens um 7. Uhr
den 10ten April.


Ach mein Schatz, da liegt der Brief noch!
Jch komme eben darvon her.


Jſt er meiner ſo gewiß verſichert? Vielleicht
denckt er, ich wuͤrde mich nicht unterſtehen, mein
Wort zuruͤck zu nehmen. Jch wollte daß ich
ihn nie geſehen haͤtte. Jch fange nun an, meine
Uebereilung von der Seite anzuſehen, von wel-
cher jederman ſie angeſehen haben wuͤrde, wenn
ich meinen Vorſatz in das Werck gerichtet haͤt-
te. Was ſoll ich aber anfangen, wenn er heu-
te um die beſtimmte Zeit kommt? Wenn er mei-
nen Brief nicht bekommt, ſo muß ich ihn ſpre-
chen: er wird ſonſt meinen, daß mir etwas be-
gegnet ſey, und wird gewiß in unſer Haus
kommen. Hier wird er eben ſo gewiß beſchimpft
werden. Was fuͤr Folgen wird das haben?
Jch habe ihm beynahe ſo gut als verſprochen,
wenn ich meinen Vorſatz aͤnderte ihn bey der er-
ſten der beſten Gelegenheit die Urſachen muͤndlich
zu ſagen, die mich dazu bewogen haben. Jch
zweiffele zwar nicht, daß er ſehr uͤbel zu ſprechen
ſeyn wird: allein es iſt beſſer, daß ich ihn ſpre-
che, und daß er unzufrieden von mir weggehet,
als daß ich Urſache habe, mit mir ſelbſt unzu-
frieden zu ſeyn.


Doch
[501]der Clariſſa.

Doch, ſo kurtz auch die Zeit iſt, kan er noch
vielleicht den Brief abholen laſſen. Vielleicht
hat er eine Hinderung gehabt, die ihn hinlaͤng-
lich entſchuldigen wird, wenn ich ſie erfahre.


Nachdem ich vorhin mein Wort mehr als
einmahl zuruͤck genommen habe, da ich ihm nur
verſprochen hatte, mich mit ihm zu unterreden;
ſo daͤchte ich, er ſolte nothwendig jetzt begieriger
ſeyn, zu erfahren, ob von neuen eine Hinderniß
in den Weg gekommen waͤre, und ob ich in die-
ſer wichtigern Sache bey meinem Vorſatz bleibe.
Jch habe mich zwar uͤbereilt, im zweiten Briefe
mein Verſprechen zu wiederholen; und bin doch
herach anderer Meinung geworden.


Um neun Uhr.


Die Fraͤulein Dorthgen Hervey ſteckte mir
unvermerckt folgenden Brief zu, als ich aus dem
Garten kam, und vor ihr vorbey gieng:


„Liebſte Fraͤulein!

„Jch habe von einer Perſon, die es (wie ſie
„ſagt) wiſſen kan, gehoͤrt, daß ſie den Mitte-
„wochen fruͤh gewiß mit Herꝛn Solmes getrau-
„et werden ſollen. Es kan zwar ſeyn, daß ſie
„es nur geſagt hat mich zu betruͤben: denn es
„war die Eliſabeth Barnes, die unartig ge-
„nug dazu iſt. Sie ſagt, der Trauſchein ſey ſchon
„angekommen: und ſie ließ ſich ſo weit heraus,
J i 3(doch
[502]Die Geſchichte
(doch mit einem Verbot, Jhnen nichts davon
wieder zu ſagen) daß Herr Brand, ein junger
„gelehrter Geiſtlicher von Oxford, die Trauung
„verrichten ſoll. Denn ich hoͤre, der D. Le-
„win
weigert ſich, es wider ihren Willen zu
„thun: und die Jhrigen haben erfahren, daß
„er mit ihrer Auffuͤhrung gegen Sie, nicht
„allzuwohl zufrieden iſt, und ſagt, Sie haͤtten
„es nicht verdient, daß man Jhnen ſo hart be-
„gegnet. Allein, dem Herrn Brand hat Jhr
„Onckle Harlowe verſprochen, daß er ſein
„Gluͤck machen, und ihn auf ſeinen Guͤtern be-
„foͤrdern wolle.„


„Sie werden ſich hierin beſſer als ich zu fin-
„den wiſſen. Denn mannichmahl kommt es
„mir vor, als wenn mir Eliſabeth verboͤthe,
„Jhnen etwas wieder zu ſagen, und es mir
„doch in der Abſicht ſagte, daß Sie es erfah-
„ren ſollen. Sie und jedermann weiß, wie lieb
„ich Sie habe: und ich will auch, daß es die
„Leute wiſſen ſollen. Es iſt mir eine Ehre, wenn
„ich eine ſolche liebe Fraͤulein lieb habe, die der
„Ruhm ihrer gantzen Familie iſt, was die Jh-
„rigen auch dagegen ſagen. Es iſt ſo viel ver-
„trauliches Wiſpern und Pfliſtern zwiſchen Jh-
„rer Fraͤulein Schweſter und dieſer Eliſabeth,
„daß Sie es kaum glauben koͤnnen: und wenn
„das vorbey iſt, ſo kommt Eliſabeth/ und er-
„zaͤhlt mir etwas.


„Das ſcheint gewiß zu ſeyn, und das iſt die
„Haupt-Sache, deswegen ich ſchreibe, (allein
„ver-
[503]der Clariſſa.
„verbrennen ſie den Brief) daß Jhre Sachen
„noch einmahl durchſucht werden ſollen, ob ſich
„Briefe, Federn und Dinte darunter finden.
„Denn das weiß man, daß Sie noch Brieffe
„ſchreiben. Sie geben vor, ſie haͤtten etwas
„aus einem Bedienten von Herrn Lovelace
„herausgelockt, daraus ſie mehr, (ich weiß nicht
„recht, was?) ſchlieſſen koͤnnten. Das muͤß-
„te ein wilder und gottloſer Menſch ſeyn, der
„damit prahlen und es ſeinen Bedienten er-
„zaͤhlen wollte, daß ein Frauenzimmer guͤtig
„gegen ihn iſt. Herr Lovelace iſt viel zu ein
„artiger Cavallier, als daß er das thun ſolte.
„Welches junge unſchuldige Kind koͤnnte ſonſt
„ſicher ſeyn?


„Von eben der falſchen Eliſabeth haben
„ſie auch gehoͤrt, als wenn ſie etwas einnehmen
„wolten, ſich kranck zu machen, oder ſonſt der-
„gleichen etwas. Man will deswegen nach-
„ſuchen, ob Sie Puͤlverchens oder ſolche Dinge
„auf der Stube haben.


„Was fuͤr ein wunderliches Nachſuchen!
„Gott mag uns armen Kindern gnaͤdig ſeyn,
„wenn wir mit ſo argwoͤhniſchen Anverwan-
„ten zu thun haben. GOtt ſey danck, daß mei-
„ne Mutter nicht von der Art iſt.


„Wenn man nichts findet, ſo wird Jhr Herr
„Vater an dem groſſen Gerichts-Tage (wenn
J i 4„ich
[504]Die Geſchichte
„ich es ſo nennen darf) guͤtiger mit ihnen um-
„gehen.„


„Jm uͤbrigen moͤgen ſie kranck oder geſund
„ſeyn, ſo ſoll die Trauung dennoch vor ſich ge-
„hen. Das ſagt eben die Eliſabeth, und ich
„zweiffele auch nicht daran. Allein, Jhr neuer
„Mann ſoll alle Abend nach Hauſe gehen, bis
„Sie mit ihm ausgeſoͤhnt ſind: darum kan
„Kranckheit kein Mittel ſeyn, Sie zu retten.


„Die Jhrigen halten ſich verſichert, daß er
„an Jhnen eine gute Frau haben wird, wenn
„Sie nur erſt ſeine Frau ſind. An mir ſolte
„ein Freyer, den ich nicht gewolt haͤtte, gewiß
„keine gute Frau finden. Herr Solmes redet
„immer davon, daß er Jhre Liebe durch Juwe-
„len und tauſend andere artige Dinge erkauffen
„will. Ein elender Schmeichler vom Manne!
„Jch wuͤnſchte ihn und die Eliſabeth Bar-
„nes
zuſammen: die wuͤrde er alle Tage ſchla-
„gen, bis ſie artig wuͤrde.


„Kurtz, bringen Sie alles in Sicherheit, was
„Sie nicht gern wollen ſehen laſſen, und ver-
„brennen Sie dieſen Brief. Jch bitte Sie
„aber, nehmen Sie nichts das Jhrer Geſund-
„heit Schaden thun koͤnte: denn das wird
„doch nichts helffen. Jch verbleibe


„Jhre liebe und ergebenſte Baſe
D. H.


Als
[505]der Clariſſa.

Als ich den Brief zum erſtenmahl laſe, ſo hatte
ich Luſt, meinen vorigen Anſchlag auszufuͤh-
ren, zumahl da mein Brief, indem ich ihn Lo-
velacen
abſchrieb, nicht zu ſeinen Haͤnden gekom-
men war, und mir das Hertz wehe thut, ſo oft
ich an den Krieg gedencke, der ſich erregen wird,
wenn ich mich weigere mit ihm zu gehen. Spre-
chen muß ich ihn, ſolte es auch nur auf wenige
Augenblicke ſeyn, ſonſt moͤchte er einen allzudrei-
ſten Gang wagen: denn ich habe ihm einmahl
Hoffnung dazu gemacht. Allein Jhre Worte
liegen mir immer im Gemuͤth: ſo bald ich den
Fuß aus meiner Eltern Hauß geſetzt habe/
faͤllt alle Puͤnctlichkeit in gewiſſen Dingen
weg.
Es kommen noch ſtaͤrckere Gegen-Gruͤn-
de dazu, die von den Pflichten eines Kindes und
von meiner Ehre und guten Nahmen hergenom-
men ſind, und die mich vorhin uͤberzeugten, daß
ich meiner Eltern Haus nicht verlaſſen muͤßte.
Es muͤſte wunderlich ſeyn, daß ich nicht eine
Friſt von einem Monath, oder vierzehen Tagen
oder einer Woche erhalten ſolte, wenn mir
gleich keine zur rechten Stunde kommende Ohn-
macht, keine erwuͤnſchte Verwirrung des Ge-
hirns, zu Huͤlffe kommt. Jch habe deſto mehr
gute Hoffnung, weil ich aus der Dorthgen
ihrem Brieffe ſehe, daß der rechtſchaffene D.
Lewin nichts mit der Sache zu thun haben
will, wenn ich mein Ja nicht willig gebe; und
glaubet, daß mir zu hart begegnet ſey. Denn
ohne mich etwas hievon mercken zu laſſen, kan
J i 5ich
[506]Die Geſchichte
ich vorgeben, daß ich Gewiſſens-Zweiffel habe,
und mir ausbitten, die Meinung dieſes recht-
ſchaffenen Gottesgelehrten daruͤber zu verneh-
men. Wenn ich dieſes nachdruͤcklich vorſtelle,
(wie ich zu thun gewiß nicht unterlaſſen werde,)
ſo wird mir meine Mutter beytreten, und Jhre
Schweſter ſo wohl als Frau Norton werden
ihr gewiß nicht abfallen. Die Trauung muß
alsdenn aufgeſchoben werden, und ich habe noch
Zeit zu entkommen.


Wie aber? wenn ſie es einmahl darauf ge-
ſetzt haben, mich zu zwingen? wenn ſie mir keine
Friſt geben wollen? wenn ſich niemand bewegen
laͤßt? wenn die Trau-Formul vor meinen wi-
derſpenſtigen Ohren geleſen werden muß? Was
denn anzufangen? Jch kan weiter nichts, als
‒ ‒ ‒ Allein was kan ich, mein Schatz? Das
iſt veſt beſchloſſen, mein Ja ſoll der Solmes in
Ewigkeit nicht haben. Jch will nichts, als Nein
ſagen, ſo lange ich noch reden kan: und wer wird
ſo albern ſeyn, eine ſolche Gewaltthaͤtigkeit eine
Trauung zu nennen? Es iſt ohnmoͤglich, daß es
Eltern anſehen koͤnten, wenn ihr Kind auf eine
ſo ſchreckliche Weiſe gezwungen wird. Wie
aber, wenn ſich meine Eltern dem Anblick
dieſes Trauer-Spiels entziehen, und meinen
Geſchwiſtern alles uͤberlaſſen? die werden gewiß
kein Mitleiden fuͤhlen.


Es betruͤbt mich, daß ich gezwungen bin, mich
eines
[507]der Clariſſa.
eines Kunſt-Stuͤckchens zu bedienen. Jch ha-
be an einem Orte die Feder ſo verſteckt, daß das
Ende davon heraus ſtehet: wenn ſie hier nach-
ſuchen, ſo werden ſie einige Papiere finden, die
ich ihnen kan und will in die Haͤnde kommen
laſſen. Es ſind Aufſaͤtze, die ich entworfen ha-
be: und ohngefaͤhr ſechs Zeilen, die ſo eingerich-
tet ſind, als waͤren ſie der Anfang eines Briefes
an Sie, darin ich ſchreibe, ich haͤtte Hofnung/
daß die Meinigen endlich nachlaſſen wuͤr-
den/ obgleich der aͤuſſere Anſchein meiner
Hoffnung zuwider ſey.
Mein Onckle Anton
hat von ihrer Frau Mutter erfahren, daß ich auf
eine oder die andere Weiſe Jhnen bisweilen ei-
nen Brief in die Haͤnde ſpiele. Jch erklaͤre
mich gegen Sie in dem erdichteten Briefe von
neuen, daß ich veſt entſchloſſen bin, dem ver-
haßten Lovelace gaͤntzlich zu entſagen, wenn
man nur verſpraͤche, mich mit dem andern
Freyer zu verſchonen.


Nicht weit davon iſt auch eine Abſchrifft
meines Briefes an die Lady Drayton(*) be-
findlich. Da dieſer ſolche Vorſtellungen ent-
haͤlt, die ſich auf meine jetzigen Umſtaͤnde voll-
kommen deuten laſſen, ſo dachte ich, daß er viel-
leicht etwas ausrichtete, wenn er ihnen von ohn-
gefaͤr in die Haͤnde fiele.


Sie
[508]Die Geſchichte

Sie koͤnnen leicht dencken, daß ich nicht mei-
nen gantzen Vorrath von Federn und Dinte
ſo hinlege, daß er den Meinigen zu Theil wird.
An ein paar Oertern in dem Sommer-Hau-
ſe habe ich noch einen kleinen Schatz davon ver-
borgen, damit ich mir die Zeit zu vertreiben und
mich der fuͤrchterlichen Gedancken zu entſchla-
gen hoffe, die mich deſto mehr beunruhigen, je
naͤher ich dem Entſcheidungs-Tage, dem Mitte-
wochen komme.


Cl. Harlowe.



Der vier und vierzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Er hat meinen Brief noch nicht. Als ich
eben darauf dachte, wie ich meine dienſt-
fertige Kerckermeiſterin mir vom Halſe ſchaffen
moͤchte, um mit ihm ſprechen zu koͤnnen, und mir
ein guter Vorwand beyfiel: ſo kam meine Ba-
ſe, und gab mir von ſelbſten einen noch beſſern
Vorwand. Sie ſahe, daß der Tiſch gedeckt war,
an dem ich meine einſame Mahlzeit halten ſol-
te;
[509]der Clariſſa.
te; und ſagte: ſie hoffete, daß dieſes der letzte
Tag ſeyn wuͤrde, an dem die Meinigen meiner
Geſellſchaft bey Tiſche entbaͤhren muͤßten.


Sie koͤnnen ſich leicht vorſtellen, was die be-
vorſtehende Unterredung mit Lovelacen/ die
Furcht entdeckt zu werden, und der Jnhalt des
Briefes der Fraͤulein Dorthgen/ fuͤr ſichtbare
Gemuͤths-Bewegungen bey mir erregten. Sie
bemerckte dieſes: was fuͤr Seufzer! was fuͤr
tieffes Athemholen. (ſagte ſie, und klopfte mich
auf den Hals) Liebes Kind, wer haͤtte das glau-
ben ſollen, daß bey ſo vieler natuͤrlichen An-
nehmlichkeit doch ſo viel Eigenſinn wohnen
koͤnnte?


Jch konnte ihr nicht antworten. Sie fuhr
fort zu reden: ich habe etwas an ſie zu beſtellen,
das mich ihnen nicht ſehr willkommen machen
wird. Wir haben geſtern einiges gehoͤrt, daß
einem ſo verzweiffelten und trotzigen Wagehalſe,
als in der Welt ſeyn kan, entfahren iſt, daraus
ihr Herr Vater und wir alle mercken, daß ſie
noch jetzt Mittel haben muͤſſen, auſſer Hauſe
zu ſchreiben. Herr Lovelace weiß alles was
hier vorgehet, und zwar den Augenblick: es iſt
zu befuͤrchten: daß er Ungluͤck anſtiftet, das ſie
ſo wohl als alle andere zu vermeiden ſuchen muͤſ-
ſen. Jhre Mutter hat noch eine Beyforge, die
ſie ſelbſt naͤher angehet. Sie hoffet zwar, daß
dieſe Beyſorge ungegruͤndet ſey: ſie kan aber
doch nicht ruhig ſeyn, und andere werden ihr
keine
[510]Die Geſchichte
keine Ruhe laſſen, wenn ſie nicht ſo lange in dem
Garten oder Sommer- Hauſe bleiben, daß ſie
Zeit und Gelegenheit hat, ihre Stube, Cloſet,
Schraͤncke und Schiebladen noch einmahl zu
durchſuchen. Wenn ſie mir die Schluͤſſel willig
und mit Freuden geben, ſo wird es deſto beſſer
genommen werden. Jch hoffe, ſie werden keine
Einwendungen machen. Es iſt ihnen deſto eher
erlaubt worden, hier zu ſpeiſen, weil man die-
ſer Gelegenheit wahrnehmen wollte.


Jch freuete mich heimlich, daß mir Dorth-
gen
fruͤh genug Nachricht gegeben hatte, damit
ich mich auf dieſe abermahlige Unterſuchung ſchi-
cken koͤnnte. Jch durfte mir aber dieſes nicht
mercken laſſen, und machte zum Schein einige
Schwierigkeit, dabey ich mich heftig daruͤber be-
klagte, daß man ſo mit mir verfuͤhre. Jch gab
ihr endlich alle Schluͤſſel, und leerete ſogar mei-
ne Taſchen vor ihren Augen aus, und bat ſie,
mich gantz und gar zu durchſuchen, damit ſie ge-
wiß verſichern koͤnnte, daß ich nichts von Brief-
fen bey mir haͤtte.


Dieſes gefiel ihr ſehr wohl, und ſie ſagte, ſie
wollte von meinem froͤlichen Gehorſam alle die
guten Nachrichten geben, die er verdienete, mein
Bruder und meine Schweſter moͤchten
auch darzu ſagen/ was ſie wollten.
Sie
wuͤßte gewiß, daß ſich meine Mutter hertzlich
daruͤber freuen wuͤrde, daß ſie einen Argwohn
gegen
[511]der Clariſſa.
gegen mich bey dieſer Gelegenheit zu Schan-
den machen koͤnnte. Jch hoffe wenigſtens,
(ſetzte ſie hinzu) daß die Durchſuchung ſo ablauf-
fen wird.


Sie gab mir darauf zu verſtehen, daß man
Mittel haͤtte, hinter alle Geheimniſſe des Lo-
velaces/
ja ſogar durch ihn hinter einige meiner
Geheimniſſe zu kommen, weil er ſo ſchwatzhaft
waͤre, und ſogar ſeine Anſchlaͤge gegen ſeine Be-
dienten ausplauderte. So unergruͤndlich man
ihn auch hielte, ſo ſey doch mein Bruder viel un-
ergruͤndlicher, und wuͤrde ihm mit ſeinen eigenen
Waffen zu ſchwer fallen. Das wuͤrde die Zeit
lehren.


Jch ſagte: ich koͤnnte das nicht verſtehen,
was ſie mir auf eine ſo dunckele Weiſe zu ver-
ſtehen gaͤbe. Die Unergruͤndlichkeit, die ſie an
beyden ruͤhmete, ſchiene mir der Verachtung und
nicht des Ruhms werth zu ſeyn. Wenn ich
der Rachgier in meinem Hertzen haͤtte wollen
Platz laſſen, ſo haͤtte ich auch leicht darauf kom-
men koͤnnen, allerhand Liſt und Kunſtgriffe zu
gebrauchen. Jch unterſtuͤnde mich zu ſagen, daß
dieſes an mir viel eher zu entſchuldigen geweſen
ſeyn wuͤrde, als die Veranlaſſung, die mir ande-
re dazu gegeben haͤtten. Aus ihren Reden
merckte ich, daß aller Verdacht gegen mich zwey
Quellen haͤtte: die eine, daß man glaubte, mein
Bruder ſey Herrn Lovelace an Argliſtigkeit
ſehr uͤberlegen: die andere, daß man ſich einer
ſol-
[512]Die Geſchichte
ſolchen Auffuͤhrung gegen mich bewuſt waͤre, die
mich natuͤrlicher Weiſe treiben muͤßte, das zu
thun, weswegen man mich in Verdacht haͤtte.
Es waͤre ein groſſes Ungluͤck fuͤr mich, daß mein
Bruder ſo groſſe Luſt haͤtte, ſeinen Verſtand an
mir zu zeigen: er wuͤrde mehr Lob verdienen,
wenn er Proben ſeines guten Hertzens als ſeines
ſchlauen Kopfes an mir machte. Jch wuͤnſchte
indeſſen, daß er ſich ſelbſt ſo gut kennen moͤchte,
als ich ihn zu kennen glaubte, ſo wuͤrde er viel-
leicht weniger von ſeinen Gemuͤths-Gaben ein-
genommen ſeyn, die in anderer Augen viel ge-
ringer ſcheinen wuͤrden, wenn er nicht ſo viel
Vermoͤgen haͤtte mir unangenehme Dienſte zu
erweiſen.


Jch war voller Unwillen, und konnte es nicht
unterlaſſen, dieſe Anmerckung zu machen, die der
genugſam verdienete, den der andere durch ſeinen
eigenen Spion hinter das Licht fuͤhrt. Jndeſſen
habe ich ſo wenig Wohlgefallen an dieſem nie-
drigen Streiche, daß gewiß die Stuͤckchens des
Buben des Joſeph Lehmanns an das Licht
kommen ſolten, wenn mir nur ertraͤglich begeg-
net wuͤrde.


Sie antwortete: es thaͤte ihr leid, daß ich ei-
ne ſo ſchlechte Meinung von meinem Bruder
haͤtte. Er waͤre ein Cavallier von ſchoͤnem Ver-
ſtande und groſſer Gelehrſamkeit.


Ge-
[513]der Clariſſa.

Gelehrſamkeit genug (erwiederte ich) unter
uns Frauens-Leuten damit zu prahlen! allein
etwas zu wenig Verſtand, die Gelehrſamkeit
zu ſeinem und anderer Beſten anzuwenden!
Sonſt ‒ ‒


Sie wuͤnſchte (ſagte ſie) daß er ein beſſeres
Hertz haͤtte. Sonſt aber kaͤme es ihr vor, als
wenn ich eine allzugute Meinung von einer ge-
wiſſen Perſon haͤtte, und daß ich deswegen von
meinem Bruder geringſchaͤtzigere Gedancken he-
gete, als einer Schweſter zukaͤme. Zwiſchen
beyden ſey ein gelehrter Neid geweſen, und
daher ruͤhrte auch ihr Haß.


Ein gelehrter Neid! (antwortete ich) doch
dem ſey wie ihm wolle, ſo wuͤnſchte ich daß bey-
de etwas beſſer verſtuͤnden, was ſich fuͤr einen
wohlgezogenen jungen Herrn von Stande ſchickt.
Alsdenn wuͤrde ſich keiner von beyden ſolcher
Sachen ruͤhmen, daruͤber ſie ſich billig ſchaͤmen
ſolten.


Jch brach dieſe Rede ab, und ſagte nocb: es
koͤnnte ſeyn, daß ſie etwas geſchriebenes nebſt ein
paar Federn und etwas Dinte faͤnden, (Ach wie
iſt es mir zuwider, daß ich ſolche Kuͤnſte brau-
chen muß! Verhaßte Nothwendigkeit, die mich
dazu zwinget!) weil man mir doch nicht erlau-
ben wuͤrde, hinauf zu gehen, und ſie auf die Sei-
te zu bringen. Jch muͤßte mir dieſes gefallen
Zweyter Theil. K klaſſen.
[514]Die Geſchichte
laſſen. Jch verſpraͤche ihr, daß ich ſie nicht ſtoͤ-
ren wollte, ſo viel Zeit ſie auch zur Durchſu-
chung anwenden wuͤrden: ich wuͤrde mich in dem
Garten, oder nahe dabey in dem Sommer-Hau-
ſe, oder in dem getaͤffelten Hauſe nahe am Pha-
ſanen-Hofe, oder bey der Cascade aufhalten,
bis ich Befehl erhielte, in mein Gefaͤngniß zu-
ruͤck zu kehren. Jch ſetzte noch aus Liſt hinzu:
ich vermuthete, man wuͤrde dieſe unguͤtige Durch-
ſuchung erſt alsdenn anſtellen, wenn das Geſin-
de abgeſpeiſet haͤtte, damit man die naſeweiſe
Eliſabeth/ die alle Winckel in meiner Stube
und Cloſet wuͤſte, dabey gebrauchen koͤnnte.


Sie ſagte: ſie hoffete man wuͤrde nichts fin-
den, das gegen mich gebraucht werden koͤnnte.
Die Haupt-Abſicht bey der Durchſuchung ſey,
(zum wenigſten von Seiten meiner Mutter)
ſolche Umſtaͤnde zu entdecken, die zu meiner Ent-
ſchuldigung dienen koͤnnten, damit mich mein
Vater morgen oder uͤbermorgen fruͤh, mit meh-
rerer Geduld und Gelaſſenheit ſprechen moͤchte.
Mit Zaͤ tlichkeit/ ſolte ich billig ſagen, (ſetzte
ſie hinzu) denn das iſt ſein Vorſatz, und das ſoll
geſchehen, wenn er nicht von neuen aufgebracht
wird.


Ach! Frau Baſe!

Was ſoll das, Ach! Warum ſchuͤtteln ſie den
Kopf ſo Geheimniß-voll?


Jch
[515]der Clariſſa.

Jch wuͤnſche, Frau Baſe, daß ich nicht mehr
Urſache haben moͤge, zu befuͤrchten, daß mein
Vater noch laͤnger auf mich unwillig bleiben
wird, als zu hoffen, daß ſich das Vater-Hertz
wieder bey ihm regen werde.


Sie koͤnnen das nicht wiſſen, mein Kind. Die
Sachen koͤnnen anders lauffen. Es ſteht viel-
leicht nicht ſo ſchlimm um ſie, als ſie dencken.


Liebſte Frau Baſe, koͤnnen ſie mir einigen
Troſt geben?


Wie ſo, mein Kind! Jſt es ihnen etwan moͤg-
lich, mehr nachzugeben, als ſie bisher gethan
haben?


Ach warum machten ſie mir eine falſche Hoff-
nung? Machen ſie nicht, daß ich glauben muß,
meine Baſe Hervey ſey gegen ihrer Schweſter
Tochter grauſam, von der ſie doch ſo kindlich
geehret und geliebet wird.


Jch kan ihnen vielleicht (aber im Vetrauen,
nicht anders als im Vertrauen) noch mehr ſa-
gen, wenn die Durchſuchung gut fuͤr ſie ablaͤuft.
Sind ſie ſich etwas bewuſt, das man zu ihrem
Nachtheil finden koͤnnte?


Einiges geſchriebene koͤnnte wol gefunden wer-
den. Jch muß mir alle Folgen davon gefallen
K k 2laſſen.
[516]Die Geſchichte
laſſen. Mein Bruder und meine Schweſter
werden fertig genug ſeyn, guͤtige Anmerckungen
daruͤber zu machen. Jch gebe alles verlohren,
und frage nicht mehr darnach, was man
findet.


Sie ſagte: ſie hoffete, ſie hoffete veſtiglich,
daß man nichts finden wuͤrde, das Urſache gaͤbe,
mich fuͤr unbeſonnen zu halten. Wenn das
nicht geſchaͤhe ‒ ‒ doch ſie koͤnnte leicht zu viel
ausſchwatzen. Hiemit ging ſie weg, und verließ
mich beſtuͤrtzter und zweiffelhafter, als ich vorhin
geweſen war.


Jch kan an nichts mehr dencken, als an den
Menſchen! und an die bevorſtehende Unterre-
dung! Wie wollte ich GOtt dancken, wenn ſie
uͤberſtanden waͤre! Jch ſoll ihn ſprechen, um mich
mit ihm zu zancken! ‒ ‒ Jch will ihm nicht ei-
nen Augenblick Stand halten, wenn er nicht
gantz ruhig und gelaſſen iſt; er mag auch wa-
gen was er will.


Mercken Sie wohl, wie krumm meine Zeilen
werden, und wie einige Buchſtaben mehr als
andere ausſehen, als wenn ſie umfallen woll-
ten? Daraus ſchlieſſen Sie nur, daß ich mehr
an das bevorſtehende, als an den Brief gedacht
habe.


Was dencken Sie zu allen den Umſtaͤnden?
Soll ich ihn noch ſprechen? Jch wuͤnſchte, daß
ich Zeit haͤtte, Jhren Rath daruͤber zu hoͤren.
Allein
[517]der Clariſſa.
Allein Sie bedencken ſich allzuſehr, mir Jhre
Meynung frey heraus zu ſagen. Meine Un-
gluͤcklichen Umſtaͤnde ſind Schuld daran.


Jch habe vergeſſen Jhnen zu melden, daß ich
meine Frau Baſe bat, als eine Freundin von
mir zu handeln, und ein gutes Wort fuͤr mich
einzulegen, damit ich doch wenigſtens eine Friſt
erhalten moͤchte, wenn weiter nichts zu erlan-
gen waͤre.


Sie ſagte mir: wenn die Trauung nur vor-
uͤber waͤre (was fuͤr eine erwuͤnſchte Bekraͤfti-
gung deſſen, was mir Dorthgen geſchrieben hat!
ſo wuͤrde mir ſo viel Zeit gegoͤnnet werden, als
ich ſelbſt wuͤnſchte mich in mein Verhaͤngniß zu
ſchicken, ehe ich zu ihm ziehen muͤßte.


Hieruͤber verging mir alle Geduld.


Sie ſetzte hinzu, ſie baͤte mich hinwiederum,
daß ich auf eine froͤliche Art Gehorſam leiſten und
die Verleugnung ſelbſt ſeyn moͤchte, wenn ich
vor meine Verwanten gefordert wuͤrde. Es
ſtuͤnde in meiner Macht, ſie insgeſamt gluͤcklich
zu machen. Sie koͤnnte die Freude nicht aus-
ſprechen, die ſie empfinden wuͤrde, wenn ſie ſaͤhe,
daß mich Vater, Mutter, Onckles, Bruder,
Schweſter mit Entzuͤckung umarmen, und an
ihre liebreiche Bruſt druͤcketen, und ſich unter-
einander Gluͤck dazu wuͤnſcheten, daß ihre Freu-
de und Vergnuͤgen wieder vollkommen waͤre.
K k 3Sie
[518]Die Geſchichte
Sie ſelbſt wuͤrde einige Zeit vor Freude verſtum-
men und erſtarren: und ihr Dorthgen (das
arme Kind) die einige Zeit her desweaen ſchlech-
ter angeſchrieben geweſen waͤre, weil ſie mich
gar zu lieb haͤtte, wuͤrde wieder von jedermann
Liebe und Freundſchaft zu gewarten haben.


Koͤnnen Sie daran zweiffeln, daß meine
naͤchſt-bevorſtehende Verſuchung die haͤrteſte un-
ter allen ſeyn wird?


Frau Hervey ſtellete mir dieſes auf das nach-
druͤcklichſte vor. Das, was ſie von ihrer Dorth-
gen ſagte, machte mich recht weichhertzig, ſo
ungeduldig ich auch vorhin war. Jch konn-
te aber nicht anders als durch Thraͤnen und
Seufzer bezeugen, wie angenehm mir ein ſol-
cher Ausgang ſeyn wuͤrde, wenn mir die Be-
dingungen deſſelben nicht unmoͤglich waͤren.


Jetzt bringt mir Eliſabeth das Eſſen.



Sie iſt wieder weg. Die beſtimmte Zeit
ruͤckt heran. Wenn er doch ausbliebe! Soll
ich ihn ſprechen, oder nicht? Jch frage: und
Sie koͤnnen mir nicht antworten.


Der Winck, den ich meiner Baſe gab, hat
ſeine Wirckung gehabt. Eliſabeth ſagte mir
auf eine prahleriſche Weiſe: ſie wuͤrde nach
Tiſche
[519]der Clariſſa.
Tiſche zu thun haben. Es wuͤrde ihr leid
thun, wenn ſie mit dazu helfen muͤſte, daß
man mir auf die Spur kaͤme. Allein es ge-
ſchaͤhe alles zu meinem Beſten: und es ſtuͤnde
nur bey mir, ob mir alles auf den Mittewochen
vergeben werden ſollte? Hierauf nahm das ver-
wegene Maͤdchen das Ende der Schuͤrtze in den
Mund, um ſich des Lachens zu erwehren, und
ging nach der Thuͤr zu. Sie kam wieder, als
ich ihr mit Verdruß befahl, abzunehmen, und
bat mich um Verzeihung. Aber ‒ ‒ aber ‒ ‒
(ſie lachte nochmahls) ſie koͤnnte das Lachen
nicht laſſen, daß ich mich ſelbſt mit dem Eſſen
im Sommer-Hauſe ſo gefangen, und ſo eine
gute Gelegenheit gegeben haͤtte, alle meine Heim-
lichkeiten durchzuſtaͤnckern. Sie haͤtte es wohl
gedacht, daß etwas vorſeyn muͤſte, als es mein
Bruder ſo bald zugegeben haͤtte, daß ich hier
ſpeiſen ſollte. Mit ihrem Juncker koͤnnte es
niemand aushalten. So klug ſich auch Jun-
cker Lovelace duͤnckte, ſo waͤre er doch nichts
gegen ihren jungen Herrn, wenn es auf einen
fertigen Streich ankaͤme.


Meine Baſe ſagte, daß Herr Lovelace ge-
gen ſeine Bedienten prahle: vielleicht macht er
ſich wircklich ſo gemein mit ihnen. Von mei-
nem Bruder aber weiß ich es, daß er mit ſei-
nem Verſtande und Gelehrſamkeit beſtaͤndig ge-
gen die Bedienten geprahlet hat. Jch habe
oft gedacht, Hochmuth und Niedertraͤchtigkeit
K k 4muͤſten
[520]Die Geſchichte
muͤſten nahe mit einander verwant oder ſehr na-
he Nachbaren ſeyn, wie der Poet von Witz
und Aberwitz ſaget.


Allein was verunruhige ich Sie und mich
noch in dem Augenblick, der ſo vieles entſchei-
den ſoll, mit ſolchen Thorheiten? Jch muß
zwar an ſolche Dinge dencken, um mir das na-
he Uebel, die Unterredung mit Lovelacen/ aus
dem Sinne zu ſchlagen. Denn ſonſt werde ich
nicht im Stande ſeyn, mit ihm zu ſprechen,
da meine Furcht von Stunde zu Stunde waͤchſt,
und alle meine Aufmerckſamkeit ſchon zum vor-
aus verſchwendet wird; und er wuͤrde zu viel
Vortheil uͤber mich haben, wenn ich nicht recht
gegenwaͤrtiges Gemuͤths bin, da er mir ohne-
hin meine Wanckelmuͤthigkeit mit einem Schein
des Rechts vorwerfen kan. Der ſteht immer
im Voreheil, der dem andern etwas vorzuruͤ-
cken hat: und der andere Theil muß furchtſam
ſeyn und wie ein armer Suͤnder ausſehen, wenn
jener einiges Recht vor ſich hat.


Von Lovelacen weiß ich zum voraus, daß
er Richter in ſeiner eigenen Sache und auch in
meiner Sache wird ſeyn wollen. Das letzte ſoll
aber gewiß nicht geſchehen.


Er wird ſich vor Unmuth zerreiſſen wollen.
Jch frage aber nichts darnach. Jch habe Va-
ter und Onckels widerſtanden: es waͤre ſchlimm,
wenn ich ‒ ‒ ‒ Er iſt vor der Garten-Thuͤr.


Es
[521]der Clariſſa.

Es war ein Jrrthum. Wenn man etwas
befuͤrchtet, ſo meint man es zu hoͤren, ſo oft
ſich nur ein Laub reget. Warum bin ich ich ſo
unruhig!


Jch will eilen, dieſen Brief fuͤr Sie hinzu-
legen. Alsdenn will ich nochmahls an den ge-
woͤhnlichen Ort gehen, und zuſehen, ob er mei-
nen Brief erhalten hat. Hat er ihn in Haͤn-
den, ſo brauche ich ihn nicht zu ſprechen. Hat
er ihn nicht, ſo will ich ihn wieder zuruͤck neh-
men, und ihm zeigen, was ich geſchrieben habe.
Hiemit will ich gleichſam das Eiß brechen, und
viel unnuͤtze Worte ſparen. Jch brauche weiter
nichts, als bey dem zu bleiben was ich geſchrieben
habe. Unſere Unterredung muß ſo bald abge-
brochen werden, als moͤglich iſt: denn wenn wir
entdeckt werden, ſo iſt es ein neuer und ſtarcker
Vorwand auf den Mittewochen.


Vielleicht werde ich eine Zeitlang nicht an
Sie ſchreiben koͤnnen: vielleicht nicht eher, als
bis ich das ungluͤckliche Eigenthum des Solmes
bin. Doch niemahls, niemahls will ich das
werden, ſo lange ich noch bey Sinnen bin.


Wenn Jhr Diener den Mittewochen fruͤh
nichts findet, ſo glauben Sie, daß ich nicht ſchrei-
ben und keine Brieffe erhalten kan: Haben Sie
alsdenn Mitleiden mit mir, und beten Sie fuͤr
K k 5mich.
[522]Die Geſchichte
mich. Goͤnnen Sie mir noch laͤnger die Stel-
le in Jhrem Hertzen, die der groͤſſeſte Stoltz und
eintzige Troſt iſt, fuͤr


Jhre
Clariſſa Harlowe.



Der fuͤnf und viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Allerliebſte Freundin!

Was ſoll ich ſchreiben, nachdem ich am En-
de meines vorigen Briefes Jhnen gantz
andere Entſchlieſſungen gemeldet habe! Was
kan ich ſchreiben! Muß ich nicht roth werden,
wenn Jhnen auch nur mein Brief unter die
Augen kommen ſoll. Wenn Sie es noch nicht
durch das allgemeine Geruͤcht wiſſen, ſo werden
Sie bald hoͤren, daß Jhre Clariſſa Harlowe
mit einer Manns-Perſon durchgegangen iſt.


Jch will Jhnen kuͤnftig die Umſtaͤnde ausfuͤhr-
lich melden. So bald ich in Ruhe bin, ſollen
nicht
[523]der Clariſſa.
nicht weniger als taͤglich vier und zwantzig Stun-
den dazu angewandt werden: d. i. eine jede Stun-
de, die mir der Menſch laſſen wird, der mich
alle Augenblicke ſtoͤret, und dem ich wegen all-
zuvieler Stunden Rechenſchaft geben muß,
nachdem ich durch meine Thorheit in ſeine Haͤn-
de gerathen bin. Jch habe gar keine Ruhe, und
keinen Beruf mehr zum Schlaf. Der Schlaf
hoͤrt auf ein Balſam fuͤr mein verwundetes
Hertz zu ſeyn. Alle Stunden ſind alſo Jhnen
gewidmet, bis ich meine Erzaͤhlung geendiget
habe.


Allein, werden Sie meine Brieffe annehmen
wollen oder duͤrffen, nachdem ich mich ſo ver-
gangen habe?


Jch mus es ſo gut machen, als ich kan: und
ich hoffe, daß noch nicht alles verdorben iſt.
Davon aber bin ich uͤberzeuget, daß ich mich
darin ſehr uͤbereilt, und ohne Entſchuldigung
bin, daß ich ihn geſprochen habe. Alle ſeine
Zaͤrtlichkeit, alle ſeine Eydſchwuͤre koͤnnen den
Vorwurf nicht heben, den ich mir ſelbſt dar-
uͤber mache.


Der Ueberbringer dieſes Brieffes ſoll meine
Waͤſche von Jhnen abhohlen, die ich Jhnen ſand-
te, als ich mir noch mit einer angenehmen Hoff-
nung ſchmeichelte. Schicken Sie die Brief-
ſchaften nicht mit, ſondern die Waͤſche allein: es
waͤre denn, daß Sie mich mit einer Zeile erfreu-
en und mich Jhrer fortdaurenden Liebe verſichern
wollten: wie auch deſſen, daß Sie nicht eher Jhr
Urtheil
[524]Die Geſchichte
Urtheil ſprechen wollen, bis Sie meine gantze Ge-
ſchichte wiſſen. Jch habe deswegen ſo bald an
Sie geſchrieben, damit Sie keinen Brief an mich
nach Harlowe-Burg ſchicken, oder die ſchon
hingeſchickten wieder abholen laſſen moͤchten.


Leben Sie wohl, liebſte Freundin! und lieben
Sie mich noch ferner. Was wird aber Jhre
Frau Mutter ſagen? Was meine Mutter?
Was meine uͤbrigen Verwanten? Was meine
liebe Frau Norton? Wie wird mein Bruder
und meine Schweſter frohlocken?


Jch kan Jhnen noch nicht melden, wohin Sie
Jhre Brieffe ſchicken ſollen: denn ich werde die-
ſen Ort bald verlaſſen, ob ich gleich bis auf den
Tod muͤde bin. Wenn ich nichts anders thun
kan, ſo macht doch die lange Gewohnheit, daß
ich noch im Stande bin zu ſchreiben. Dieſes
iſt lange Zeit mein Zeitvertreib und mein Ver-
gnuͤgen geweſen: es wuͤrde aber nicht zu meinem
Vergnuͤgen gereicht haben, wenn ich nicht an ei-
ne ſo liebe Freundin haͤtte ſchreiben koͤnnen.
Nochmahls A dieu! Haben Sie Mitleiden,
und vereinigen Sie Jhr Gebet, mit


Jhrer
Cl. Harlowe.


Der
[525]der Clariſſa.

Der ſechs und viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch ſchreibe, weil Sie mir befehlen zu ſchrei-
ben. Jch liebe Sie unverruͤckt: und wie
koͤnnte ich es aͤndern! Sie koͤnnen dencken,
wie ich mich entſetzt habe, als mir Jhr Brief
die erſte Nachricht von Jhrer Flucht ertheilte.
GOtt des Himmels und der Erden! Was ſoll
ich ſagen? Jch bin voller Neugier und Unge-
duld.


Hilf Himmel! Jſt es moͤglich!


Meine Mutter wird in der That auſſer ſich
kommen. Wie ſoll ich es ihr ſagen? Jch ſagte
ihr noch geſtern Abend, als ihr alberner Onckle
ſie gantz argwoͤhniſch gemacht hatte, weder Men-
ſchen noch Teuffel wuͤrden Sie zu etwas verfuͤh-
ren, das Jhre Ehre im geringſten verletzte. Jh-
re ſtarcken Verſicherungen machten, daß ich ſo
redete,


Jſts moͤglich? ſage ich nochmahls. Welches
Frauenzimmer kan bey ſolchen Umſtaͤnden ‒ ‒
GOtt behuͤte Sie vor Ungluͤck!


Laſſen
[526]Die Geſchichte

Laſſen Sie in Jhren Briefen nichts vorbey.
Machen Sie die Aufſchrift nur an die Fraͤulein
Knollys/ wenn die Brieffe gleich an mich ge-
richtet ſind, bis auf weitere Nachricht.



Mercken Sie wohl, ich will Sie nicht ta-
deln. Jhre Anverwanten haben alle Schuld.
Allein, wie konnte ſich ein ſolches Gemuͤth, als
das Jhrige iſt, hiezu entſchlieſſen?


Jch weiß noch nicht wie ich es meiner
Mutter eroͤfnen ſoll. Wenn ſie es aber zuerſt
von andern erfaͤhret, und doch merckt, daß ich
es ſchon gewuſt habe, ſo wird ſie meinen, daß
ich mein Ja dazu gegeben habe. Wenn ich ſter-
ben ſoll, ſo kan ich es ihr nicht ſagen.


Jch mache Sie nur unruhig, ſo wenig es
auch meine Abſicht iſt.


Jch wiederhohle meinen Rath. Sind Sie
noch nicht verheyrathet, ſo ſchieben Sie die
Trauung nicht auf. Jch wollte, daß die
Welt glaubte, Sie waͤren noch vor Jhrer
Flucht heimlich getrauet. Wenn dieſe Leute
das Wort Recht misbrauchen, ſo bald wir
die Jhrigen ſind, ſo koͤnnen wir das Wort,
das
[527]der Clariſſa.
das verhaßte Wort, auch wol bey einer ſol-
chen Gelegenheit nuͤtzlich gebrauchen, unſere Eh-
re zu erhalten, nachdem wir andere Rechte/
die aus der Geburt entſtehen, verletzt ha-
ben.


Nun hat Jhr Bruder und Jhre Schwe-
ſter, was ſie haben wollten: das verdrieſt
mich am meiſten. Nun wird man von Aen-
derung der Teſtamenter und andern Nieder-
traͤchtigkeiten hoͤren.



Eben laſſen ſich die Fraͤuleins Bloyd und
Biddulph melden. Kitty ſagt, ſie waͤ-
ren gantz auſſer Athem. Jch kan ihre Ab-
ſicht leicht errathen: ich muß aber meine
Mutter vorher ſprechen. Jch weiß kein an-
der Mittel mich zu rechtfertigen, als daß
ich ihr Jhren Brief zeige. Jch werde kein
Wort ſagen koͤnnen, bis ſie ausgeredet hat.
Vergeben Sie mir alles. Aus Beſtuͤrtzung
ſchreibe ich verworren. Wenn Jhr Bote
nicht wartete, und die Fraͤuleins nicht ſchon
im Hauſe waͤren, ſo wollte ich den Brief
wieder abſchreiben, damit Sie ſich nicht be-
truͤben moͤgen.


Jch
[528]Die Geſchichte

Jch ſende das verlangte. Mangelt Jhnen
ſonſt etwas, das in meinem Vermoͤgen ſtehet,
ſo befehlen Sie


Jhrer
ewig ergebenen
Anna Howe.


Ende des zweyten Theils.



[[529]][[530]][[531]][[532]][[533]]
Notes
(*)
Siehe den 37. Brief des erſten Theils, der hiezu
die Gelegenheit gegeben; und den 38. und 40. in
welchen die vermeinten Freyheiten vorkommen.
(*)
Heinrich den VII.
*
Hier folgt im Engliſchen die Ode an die Weisheit,
nebſt deren Anhang. Weil der Ueberſetzer kein Poete
iſt, ſo wied ſie hier ausgelaſſen. Wenn er einen
Freund finden kan, der ſie ſo uͤberſetzt, daß ſie ihr Ori-
ginal nicht verunehret, ſo ſoll ſie am Ende dieſes
Theils als eine Beylage folgen.
*
Die Stelle, auf welche ſich die Fraͤulein Howe
bezog lautet alſo:
„Erlauden Sie mir, gnaͤdige Frau, Sie zu erin-
„nern, daß wenn Perſonen von Jhren Jahren
„und von Jhrer Erfahrung andern die Regel ge-
„ben wollen, daß ſie auf die zukuͤnftige Zeit ſehen
„ſollen, ihre Guͤtigkeit auch billig erfodert, daß ſie
„in die vergangene Zeit zuruͤck ſehen, und den
„muntern Jugend-Jahren ihrer Kinder etwas zu
„gute halten, und mit ihrer allzu lebhaften Hoff-
„nung, der die Ueberlegung noch nicht die gebuͤh-
„renden Schrancken geſetzt, und die ſich noch nie
„betrogen geſehen hat, Geduld haben. Alle Dinge
„ſcheinen uns zu Anfang, wenn wir guͤldene Ber-
„ge erwarten, und voller Hoffnung am Morgen
„unſerer Tage aufgehen, viel anders, als wenn wir
„uns am Ende nach dem was vergangen iſt um-
„ſehen, und, nachdem wir uns in dieſem Leben
„genug ermuͤdet haben, uns nach unſerm ewigen
„Vaterlande ſehnen. Alsdenn uͤderlegen wir erſt,
„was fuͤr Hoffnungen uns fehl geſchlagen ſind,
„was fuͤr Muͤhe, was fuͤr Verdruß, was fuͤr Ge-
„fahr wir haben uͤbernehmen muͤſſen: wir machen
„alsdenn gleichſam emen richtigen Anſchlag von
„dem wahren Werth des Vergnuͤgens, das wir in
„viel geringerem Maaß genoſſen als gehoffet ha-
„ben. Blos die Erfahrung kan uns von dem
„groſſen Unterſcheid unſerer vorher und nachher
„gemachten Rechnung uͤberzeugen. Wenn wir
„nun das, was wir aus Erfahrung gelernt, denen
„die wir lieben beyzubringen wuͤnſchen, obgleich
„ihr Leben noch zu kurtz iſt, als daß ſie ſelbſt die-
„ſe Erfahrung erlanget, und die Bitterkeit des Ver-
„gnuͤ-
*
„gnuͤgens das ſie ſuchen geſchmecket haben ſollten:
„wenn wir verlangen, daß unſer Rath bey ihnen
„ſo viel gelten ſoll, als die Erfahrung bey uns,
„und daß ſie uns mehr folgen ſollen, als wir viel-
„leicht unſern Eltern moͤgen gefolget haben: ſo
„iſt es billig, daß wir Gelindigkeit und Geduld ge-
„brauchen, ſonſt werden wir ſie eher verhaͤrten
„als uͤberzeugen. Denn, gnaͤdige Frau, die zaͤrt-
„lichſten und artigſten Gemuͤther werden deſto
„unbeugſamer, wenn man hart mit ihnen umge-
„het. Wenn die Fraͤulein weiß, daß ſie es gut
„meinet, ſo wird ſie nicht leicht nachgeben, ob gleich
„aus Mangel der Jahre und Erfahrung ein wuͤrck-
„licher Jrrthum in ihrem Verſtande iſt. So bald
„ſie glaubt, daß ihre Freunde unrecht haben, wenn
„ſie auch gleich in der Sache ſelbſt Recht haͤtten,
„und nur zu hart mit ihr verfuͤhren: ſo wird ein
„jeder harter Schritt, den die Eltern vornehmen,
„und eine jede Unvorſichtigkeit und Jrrung der
„Tochter die Trennung zwiſchen Eltern und Kind
„groͤſſer machen. Je mehr die Eltern Borurthei-
„le gegen die Perſon haben, deſto mehr Vollkom-
„menhei-
*
„menheiten werden ihr die Vorurtheile der Toch-
„ter zuſchreiben: und die ſtaͤrckſten und wichtigſten
„Gruͤnde, die von dem einen Theil vorgebracht
„werden, wird der andere Theil mit unter ihre
„Vorurtheile rechnen. Keiner von beyden Thei-
„len wird ſich uͤberzeugen laſſen wollen, der Streit
„und Widrigkeit wird kein Ende haben; die El-
„tern werden endlich ungeduldig und das Kind de-
„ſperat werden. Von allem dieſen wird eben das
„die Folge ſeyn, wovor die guͤtige Mutter ſo be-
„ſorgt iſt, was ſie zu verhuͤten ſuchet, und was auch
„haͤtte koͤnnen verhuͤtet werden, wenn man die
„Leidenſchafften der Tochter auf eine ſanfte Weiſe
„gelenckt, und ihnen nicht mit Gewalt widerſtan-
„ſtanden haͤtte.„
*
Um ſolcher Leſer willen, die hier eine Dunckelheit fin-
den, und wohl gar auf die drey Koͤnigreiche Eng-
land, Schottland und Jrrland dencken moͤchteu, iſt
zu erinnern, daß der Koͤnig und die beyden Haͤuſer
des Parlaments, nehmlich das Ober- und Unter-Haus
verſtanden werden.
*
Jn England pflegt ein Diener ſo wohl als eine
Magd jaͤhrlich 8 Pfund, d. i. 44. Rthlr. Lohn zu
bekommen. Weil aber der Fraͤulein Hove Mut-
ter Jhrem Character nach genau war, ſo ſcheint
ſie nur 6 Pfund, oder 33 Rthlr. gegeben zu haben.
Guinea iſt eine Gold-Muntze, und betraͤgt 7 Gro-
ſchen mehr als ein Pfund.
(*)
Der Leſer beliebe hier zu mercken, daß Lovelace
durch ſeinen Kundſchafter allerhand Rachrichten von
ſeinem Vorhaben ausſtreuen ließ, ob es ihm aleich
an Vermoͤgen fehlte, ſeine Drohungen in das Werck
zu richten. Er ſuchte hiedurch die Anverwanten
der Clariſſa haͤrter und hitziger zu machen.
*
Dieſes Sommer Haus (oder wie man es auch bis-
weilen nannte) die Epheu Laube, war ein Ort,
an dem ſich Clariſſa von der erſten Kindheit an
ſehr gern aufzuhalten pflegte. Des Sommers ar-
beitete, naͤhete, laß, ſchried oder zeichnete ſie oft
darin: und wenn es ihr erlaubt ward, fruͤhſtuͤckete
ſie hier, oder nahm bisweilen die Mittags-Mahl-
zeit, ſelten die Abendmahlzeit daſelbſt ein: ſonder-
lich wenn die Fraͤulein Howe ſie beſuchte, die auch
viel Vergnuͤgen an dieſem Hauſe fand. Jn einem
Brief-
*
Brieffe beſchreibt ſie es alſo: es hat die Ausſicht
nach einer Landſchafft, darin Waldung/Waſſer,
und Huͤgel eine angenehme Abwechſelung ma-
chen, die mir ſo wohl gefiel/ daß ich ſie abzeich-
nete. Das Stuͤck haͤnget mit einigen andern
Zeichnungen von meiner Hand in meinem Saal.
*
Dieſes konnte eine Nebenurſache ſeyn; am meiſten
aber verlieſſen ſie ſich auf die Wachſamkeit ihres
Joſeph Lehmans/ ohne zu wiſſen, daß Lovelace
dieſen als ein Werckzeug gebrauche.
**
Sie beſchreibt dieſe Gegend in einem andern
Brief-
**
Brieffe alſo: man ſieht noch die Ueberbleibſel
und das alte Mauerwerck einer zerſtoͤrten Ca-
pelle/ die jetzt mitten im Gebuͤſche liegt. Hin
und wieder ſteht eine uhralte Eiche/ mit Epheu
umgeben/ dadurch dieſer Ort gleichſam gehei-
liget wird. Vor mehreren Jahren hat ſich je-
mand hier erhenckt/ daher haben wir Kinder
und die Dienſtmaͤgde uns immer gefuͤrcht/ und
die Gegend fuͤr eine Wohnung von Eulen/ Ra-
ben und andern ungluͤcklichen Voͤgeln/ ja wohl
gar von Geſpenſtern gehalten. So geht es dem
unwiſſenden Volcke auf dem Lande: und die
Vorſtellungen/ die uns in der leichtglaͤubigen
Kindheit beygebracht werden/ wachſen mit uns
auf/ und machen noch einen Eindruck bey uns/
wenn wir aufgehoͤrt haben/ leichtglaͤubig zu
ſeyn.
*
4 B. Moſ. 30. Jm Engliſchen ſind dieſe Worte
hingeſetzt, und mit einem Wunſche begleitet, daß
ſie moͤchten von vielen erwogen werden.
(*)
Siehe den dreyzehenden Brief dieſes zweyten Theils.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Clarissa. Clarissa. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn80.0