[][][][][][][]
Philosophie des Geldes.


[figure]

Leipzig,:
Verlag von Duncker \& Humblot.
1900.

[][[I]]
Philosophie des Geldes.
[[II]][[III]]
Philosophie des Geldes.


[figure]

Leipzig,:
Verlag von Duncker \& Humblot.
1900.

[[IV]]
[[V]]

Den Freunden
Reinhold und Sabine Lepsius.


[[VI]][[VII]]

Vorrede.


Jede Forschungsprovinz hat zwei Grenzen, an denen die Denk-
bewegung aus der exakten in die philosophische Form übergeht. Die
Voraussetzungen des Erkennens überhaupt, wie die Axiome jedes
Sondergebietes verlegen ihre Darstellung und Prüfung aus diesem
letzteren hinaus in eine prinzipiellere Wissenschaft, deren im Unend-
lichen liegendes Ziel ist: voraussetzungslos zu denken — ein Ziel, das
die Einzelwissenschaften sich grundsätzlich versagen, weil sie keinen
Schritt ohne Beweis, also ohne Voraussetzungen sachlicher und metho-
discher Natur, thun; wogegen nur eine Selbsttäuschung die Philosophie
den Punkt in ihr verleugnen läſst, an dem ein Machtspruch und der
Appell an das Unbeweisbare in uns einsetzt und der freilich vermöge
des Fortschritts der Beweisbarkeiten nie definitiv festliegt. Zeichnet der
Beginn des philosophischen Gebietes hier gleichsam die untere Grenze
des exakten, so liegt dessen obere da, wo die immer fragmentarischen
Inhalte des positiven Wissens sich durch abschlieſsende Begriffe zu
einem Weltbild zu ergänzen und auf die Ganzheit des Lebens zu be-
ziehen verlangen. Wenn die Geschichte der Wissenschaften wirklich
die philosophische Erkenntnisart als die primitive zeigt, als einen bloſsen
Überschlag über die Erscheinungen in allgemeinen Begriffen — so ist
dieses vorläufige Verfahren doch noch nicht allen Fragen gegenüber
entbehrlich, nämlich denjenigen, besonders den Wertungen und den
allgemeinsten Zusammenhängen des geistigen Lebens angehörigen, auf
die uns bis jetzt weder eine exakte Antwort noch ein Verzicht möglich
ist. Ja vielleicht würde selbst die vollendete Empirie die Philosophie
als eine Deutung, Färbung und individuell auswählende Betonung des
Wirklichen grade so wenig ablösen, wie die Vollendung der mecha-
nischen Reproduktion der Erscheinungen die bildende Kunst überflüssig
machen würde.


[VIII]

Aus dieser Ortsbestimmung der Philosophie im allgemeinen flieſsen
die Rechte, die sie an den einzelnen Gegenständen besitzt. Wenn
es eine Philosophie des Geldes geben soll, so kann sie nur dies-
seits und jenseits der ökonomischen Wissenschaft vom Gelde liegen:
sie kann einerseits die Voraussetzungen darstellen, die, in der seelischen
Verfassung, in den sozialen Beziehungen, in der logischen Struktur
der Wirklichkeiten und der Werte gelegen, dem Geld seinen Sinn
und seine praktische Stellung anweisen. Das ist nicht die Frage nach
der Entstehung des Geldes: denn diese gehört in die Geschichte, nicht
in die Philosophie. Und so hoch wir den Gewinn achten, den das
Verständnis einer Erscheinung aus ihrem historischen Werden zieht,
so ruht der inhaltliche Sinn und Bedeutung der gewordenen doch oft
auf Zusammenhängen begrifflicher, psychologischer, ethischer Natur, die
nicht zeitlich sondern rein sachlich sind, die von den geschichtlichen
Mächten wohl realisiert werden, aber sich in der Zufälligkeit derselben
nicht erschöpfen. Die Bedeutsamkeit, die Würde, der Gehalt des Rechts
etwa oder der Religion oder der Erkenntnis steht ganz jenseits der Frage
nach den Wegen ihrer historischen Verwirklichung. Der erste Teil dieses
Buches wird so das Geld aus denjenigen Bedingungen entwickeln, die
sein Wesen und den Sinn seines Daseins tragen.


Die geschichtliche Erscheinung des Geldes, deren Idee und Struktur
ich so aus den Wertgefühlen, der Praxis den Dingen gegenüber und
den Gegenseitigkeitsverhältnissen der Menschen als ihren Voraussetzungen
zu entfalten suche, verfolgt nun der zweite synthetische Teil in ihren
Wirkungen auf die innere Welt: auf das Lebensgefühl der Individuen,
auf die Verkettung ihrer Schicksale, auf die allgemeine Kultur. Hier
handelt es sich also einerseits um Zusammenhänge, die ihrem Wesen
nach exakt und im einzelnen erforschbar wären, aber es bei dem augen-
blicklichen Stande des Wissens nicht sind und deshalb nur nach dem
philosophischen Typus: im allgemeinen Überschlag, in der Vertretung
der Einzelvorgänge durch die Verhältnisse abstrakter Begriffe, zu be-
handeln sind andrerseits um seelische Verursachungen, die für alle
Zeiten Sache hypothetischer Deutung und einer künstlerischen, von
individueller Färbung nie ganz lösbaren Nachbildung sein werden.
Diese Verzweigung des Geldprinzips mit den Entwicklungen und
Wertungen des Innenlebens steht also ebensoweit hinter der ökono-
mischen Wissenschaft vom Gelde, wie das Problemgebiet des ersten
Teiles vor ihr gestanden hatte. Der eine soll das Wesen des Geldes
[IX] aus den Bedingungen und Verhältnissen des allgemeinen Lebens ver-
stehen lassen, der andere umgekehrt Wesen und Gestaltung des letzteren
aus der Wirksamkeit des Geldes.


So ist also das Geld hier nur Mittel, Material oder Beispiel für
die Darstellung der Zusammenhänge, die zwischen den äuſserlichsten,
realistischsten, zufälligsten Erscheinungen und den ideellsten Potenzen
des Daseins, den tiefsten Strömungen des Einzellebens und der Ge-
schichte bestehen. Keine Zeile dieser Untersuchungen ist national-
ökonomisch gemeint. Sondern der Sinn und Zweck des Ganzen ist nur
der: von der Oberfläche des wirtschaftlichen Geschehens eine Richt-
linie in die letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen zu
ziehen. Der abstrakte philosophische Systembau hält sich in einer
solchen Distanz von den Einzelerscheinungen, insbesondere des prak-
tischen Daseins, daſs er ihre Erlösung aus der Isolierung und Un-
geistigkeit, ja Widrigkeit des ersten Anblicks eigentlich nur postu-
liert
. Hier aber soll sie an einem Beispiel vollbracht werden,
an einem solchen, das, wie das Geld, nicht nur die Gleichgültigkeit
rein wirtschaftlicher Technik zeigt, sondern sozusagen die Indifferenz
selbst ist, insofern seine ganze Zweckbedeutung nicht in ihm selbst,
sondern nur in seiner Umsetzung in andere Werte liegt. Indem hier
also der Gegensatz zwischen dem scheinbar Äuſserlichsten und Wesen-
losen und der inneren Substanz des Lebens sich aufs äuſserste spannt,
muſs er sich aufs wirkungsvollste versöhnen, wenn diese Einzelheit sich
nicht nur in den ganzen Umfang der geistigen Welt, tragend und ge-
tragen, verwebt, sondern sich als Symbol der wesentlichen Bewegungs-
formen derselben offenbart. Die Einheit dieser Untersuchungen liegt
also nicht in einer Behauptung über einen singulären Inhalt des Wissens
und deren allmählich erwachsendem Beweise, sondern in der darzuthuen-
den Möglichkeit, an jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit seines
Sinnes zu finden. — Der ungeheure Vorteil der Kunst gegenüber der
Philosophie ist, daſs sie sich jedesmal ein einzelnes, eng umschriebenes
Problem setzt: einen Menschen, eine Landschaft, eine Stimmung —
und nun jede Erweiterung desselben zum Allgemeinen, jede Hinzu-
fügung groſser Züge des Weltfühlens, wie eine Bereicherung, Geschenk,
gleichsam wie eine unverdiente Beglückung empfinden läſst. Dagegen
pflegt die Philosophie, deren Problem sogleich die Gesamtheit des
Daseins ist, der Gröſse dieses gegenüber sich zu verengen und weniger
zu geben, als sie verpflichtet scheint. Hier ist nun umgekehrt versucht,
[X] das Problem begrenzt und klein zu nehmen, um ihm durch seine Er-
weiterung und Hinausführung zur Totalität und zum Allgemeinsten ge-
recht zu werden.


Ich weiſs, daſs hiermit nur einer der groſsen Richtungen des
Wertempfindens genügt ist, der, die man nach ihrer absoluten Aus-
gestaltung die pantheistische nennen kann, und daſs es vielleicht nicht
weniger gerechtfertigt ist, das Ungeistige, Äuſserliche, Gestaltlose des
Lebens einfach zur Seite zu lassen, um dessen Gipfel von all jenem
unberührt und in dem reinen Beisichsein des Geistes und der Werte
zu halten. Ich würdige die Differenzierungstendenz, die grade nur
durch die Absolutheit der Distanz zwischen den höheren und den
tieferen Lebensinhalten beiden ihr Recht zu geben meint. Das Lebens-
gefühl, das sich hierin ausspricht, ist von Grund aus ein anderes, als
es den — sozusagen — empirischen Pantheismus dieser Untersuchungen
beherrscht, die mit dem Niedrigen und Materiellen des Daseins nicht
durch Zurückweisung von dessen höheren Stufen, sondern durch Auf-
nehmen in dieselben fertig zu werden suchen. Sicher ist es die schlieſs-
liche Aufgabe, die Forderung der Unterschiedsempfindlichkeit — die
das Bewuſstsein jeder Höhe durch eine Tiefe, jedes Lebensinhaltes
durch Abstände und Gegensätze bedingt sein läſst — mit der der Ein-
heit des Daseins zu versöhnen, der überall fühlbaren Schönheit, der
überall möglichen Vergeistigung der Dinge. Allein auch auf dem
geistigen Globus dürfte es dem Weg am ehesten durch entschiedene
Wendung nach der einen und entschiedene Abwendung von der an-
deren Himmelsrichtung gelingen, auch die letztere zu umfassen.


In methodischer Hinsicht kann man diese Grundabsicht so aus-
drücken: dem historischen Materialismus (der genauer als historischer
Sensualismus zu bezeichnen wäre) ein Stockwerk unterzubauen, derart,
daſs der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der
geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene
wirtschaftlichen Formen als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strö-
mungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt
werden. Für die Praxis des Erkennens muſs sich dies in endloser
Gegenseitigkeit entwickeln: an jede Deutung eines ideellen Gebildes
durch ein ökonomisches muſs sich die Forderung schlieſsen, dieses
seinerseits aus ideelleren Tiefen zu begreifen, während für diese wie-
derum der allgemeine ökonomische Unterbau zu finden ist, und so fort
ins unbestimmte. In solcher Alternierung und Verschlingung der be-
[XI] grifflich entgegengesetzten Erkenntnisprinzipien wird die Einheit der
Dinge, unserem Erkennen ungreifbar scheinend und doch dessen Zu-
sammenhang begründend, für uns praktisch und lebendig.


Die hiermit bezeichneten Absichten und Methoden dürften kein
prinzipielles Recht beanspruchen, wenn sie nicht einer inhaltlichen
Mannigfaltigkeit philosophischer Grundüberzeugungen dienen könnten.
Die Anknüpfung der Einzelheiten und Oberflächlichkeiten des Lebens
an seine tiefsten und wesentlichsten Bewegungen und ihre Deutung
nach seinem Gesamtsinne kann sich auf dem Boden des Idealismus
wie des Realismus, der verstandesmäſsigen wie der willensmäſsigen,
einer absolutistischen wie einer relativistischen Interpretation des Seins
vollziehen. Daſs die folgenden Untersuchungen sich auf einem dieser
Weltbilder, das ich für den angemessensten Ausdruck der gegenwärtigen
Wissensinhalte und Gefühlsrichtungen halte, unter entschiedenem Aus-
schluſs des entgegengesetzten aufbauen, mag ihnen im schlimmsten
Fall die Rolle eines bloſsen Schulbeispiels lassen, das, wenn es sachlich
unzutreffend ist, seine methodische Bedeutung als Form künftiger
Richtigkeiten erst recht hervortreten läſst.


[[XII]]

Inhaltsverzeichnis.


Analytischer Teil.


  • Seite
  • Erstes Kapitel: Wert und Geld3—87
  • I. Wirklichkeit und Wert als gegeneinander selbständige Kate-
    gorien, durch die unsere Vorstellungsinhalte zu Weltbildern
    werden. Die psychologische Thatsache des objektiven Wertes.
    Das Objektive in der Praxis als Normierung oder Gewähr für
    die Totalität des Subjektiven. Der wirtschaftliche Wert als
    Objektivation subjektiver Werte, vermöge der Distanzierung
    zwischen dem unmittelbar genieſsenden Subjekt und dem Gegen-
    stand. Analogie: der ästhetische Wert. Die Wirtschaft als
    Distanzierung (durch Mühen, Verzicht, Opfer) und gleichzeitige
    Überwindung derselben 3—28
  • II. Der Tausch als Veranlassung für die Enthebung des Gegen-
    standes aus seiner blos subjektiven Wertbedeutung: in ihm
    drücken die Dinge ihren Wert durch einander aus. Der
    Wert des Gegenstandes dadurch objektiviert, daſs für ihn ein
    anderer hingegeben wird. Der Tausch als Lebensform und als
    Bedingung des wirtschaftlichen Wertes, als primäre wirtschaft-
    liche Thatsache. Reduktion der Brauchbarkeits- und Selten-
    heitstheorie. Der sozial fixierte Preis als Vorstufe des sachlich
    regulierten 29—57
  • III. Einordnung des wirtschaftlichen Wertes in ein relativistisches
    Weltbild. Beispielsweise Skizzierung des letzteren in erkenntnis-
    theoretischer Hinsicht: der Aufbau der Beweise ins Unendliche
    und ihr Umbiegen zu gegenseitiger Legitimierung. Objektivität
    der Wahrheit wie die des Wertes als Relation subjektiver Ele-
    mente. Das Geld als der verselbständigte Ausdruck der
    Tauschrelation, durch die die begehrten Objekte zu wirtschaft-
    lichen werden, der Ersetzbarkeit der Dinge. Erläuterung dieses
    Wesens des Geldes an seiner Wertbeständigkeit, seiner Ent-
    wicklung, seiner Objektivität. Das Geld als eine Substanzi-
    ierung der allgemeinen Seinsform, nach der die Dinge ihre Be-
    deutung aneinander, in ihrer Gegenseitigkeit, finden 58—87
  • Seite
  • Zweites Kapitel: Der Substanzwert des Geldes88—182
  • I. Ein Eigenwert des Geldes für seine Funktion, Werte zu messen,
    scheinbar erforderlich. Widerlegung durch Verwandlung der
    unmittelbaren Äquivalenz zwischen der einzelnen Ware und
    der einzelnen Geldsumme in die Gleichheit zweier Proportionen:
    zwischen jener und dem momentan wirksamen Gesamtwaren-
    quantum einerseits, und dieser und dem momentan wirksamen
    Gesamtgeldquantum andrerseits. Unbewuſstheit der Nenner
    dieser Brüche. Logische Möglichkeit einer von allem Sub-
    stanzwert unabhängigen Geldfunktion. Ursprüngliche Er-
    fordertheit wertvollen Geldes. Entwicklung der Äquivalenz-
    vorstellungen über dieses Stadium hinaus und auf den reinen
    Symbolcharakter des Geldes zu 88—114
  • II. Der Verzicht auf die nicht-geldmäſsigen Verwendungen der
    Geldsubstanz. Erster Grund gegen das Zeichengeld: die Geld-
    Waren-Relationen, die den Eigenwert des Geldes überflüssig
    machen würden, nicht genau erkennbar; sein Eigenwert als
    Ergänzung dieser Unzulänglichkeit. Zweiter Gegengrund: die
    unbegrenzte Vermehrbarkeit der Geldzeichen; die relativistische
    Gleichgültigkeit gegen die absolute Höhe des Geldquantums
    und ihre Irrungen. Die unvollendbare Entwicklung des
    Geldes von seiner substanziellen zur relativistischen Bedeutung
    als Fall eines allgemeinen Verhaltens; die Wirklichkeit als
    gegenseitige Einschränkung reiner Begriffe 115—135
  • III. Geschichtliche Entwicklung des Geldes von der Substanz zur
    Funktion; soziologische Bedingtheit derselben. Die sozialen
    Wechselwirkungen und ihre Kristallisierung zu Sondergebil-
    den; das gemeinsame Verhältnis von Käufern und Verkäufern
    zu der sozialen Einheit als soziologische Voraussetzung des
    Geldverkehrs. Gröſse und Kleinheit, Lockerheit und Kon-
    zentriertheit des Wirtschaftskreises in ihrer Bedeutung für
    den Substanzcharakter des Geldes. Der Übergang zum Funk-
    tionscharakter an seinen Einzeldiensten entwickelt: Verkehrs-
    erleichterung, Beständigkeit des Wertmaſses, Mobilisierung
    und Kondensierung der Werte. Sinkende Substanzbedeutung
    und steigende Wertbedeutung des Geldes 136—182
  • Drittes Kapitel: Das Geld in den Zweckreihen183—276
  • I. Das Zweckhandeln als bewuſste Wechselwirkung zwischen
    Subjekt und Objekt. Die Länge der teleologischen Reihen.
    Das Werkzeug als das potenzierte Mittel, das Geld als das
    reinste Beispiel des Werkzeugs. Die Wertsteigerung des
    Geldes durch die Unbegrenztheit seiner Verwendungsmöglich-
    keiten. Das Superadditum des Reichtums. Unterschied des
    gleichen Geldquantums als Teil eines groſsen und eines kleinen
    Besitzes; die konsumtive Preisbegrenzung. Das Geld ver-
    [XIV]Seite
    möge seines reinen Mittelscharakters als Domäne der Persön-
    lichkeiten, die dem sozialen Kreise unverbunden sind 183—211
  • II. Das psychologische Auswachsen der Mittel zu Zwecken; das
    Geld als extremstes Beispiel. Die Abhängigkeit seines Zweck-
    charakters von den kulturellen Tendenzen der Epochen. Psy-
    chologische Folgen der teleologischen Stellung des Geldes:
    Geldgier, Geiz, Verschwendung, asketische Armut, moderner
    Zynismus, Blasiertheit 212—249
  • III. Die Quantität des Geldes als seine Qualität. Die subjek-
    tiven Unterschiede der Risikoquoten. Allgemeine Erschei-
    nung qualitativ ungleichmäſsiger Folgen von quantitativ ab-
    geänderten Ursachen. Die Schwelle des ökonomischen Be-
    wuſstseins. Die Unterschiedsempfindlichkeit in Hinsicht wirt-
    schaftlicher Reize. Die Verhältnisse zwischen äuſseren Reizen
    und Gefühlsfolgen auf dem Gebiet des Geldes. Bedeutung der
    personalen Einheit des Besitzers. Das sachliche und das kultu-
    relle Verhältnis von Form und Quantum, von Quantität und
    Qualität der Dinge und die Bedeutung des Geldes für dasselbe 250—276
  • Synthetischer Teil.
    Viertes Kapitel: Die individuelle Freiheit279—364
  • I. Die mit Verpflichtungen zusammenbestehende Freiheit danach
    abgestuft, ob jene sich auf die Persönlichkeit oder auf die
    Arbeitsprodukte erstrecken; die Geldverpflichtung als die Form,
    mit der die äuſserste Freiheit vereinbar ist. Einstellung in
    das Problem der Maximisierung der Werte durch den Besitz-
    wechsel. Kulturelle Steigerung der Personenzahl, von der man
    abhängt, unter gleichzeitigem Sinken der Bindungen an in-
    dividuell bestimmte Personen. Das Geld als der Träger der
    unpersönlichen Beziehungen zwischen Personen und dadurch
    der individuellen Freiheit 279—302
  • II. Der Besitz als Thun. Gegenseitige Abhängigkeit zwischen
    Haben und Sein. Gelöstheit derselben vermittelst des Geld-
    besitzes. Unfreiheit als Verflechtung psychischer Reihen in-
    einander: am geringsten bei Verflechtung je einer mit dem
    Allgemeinsten der anderen Reihe. Anwendung auf die Bin-
    dung durch das ökonomische Interesse. Freiheit als Ausprägung
    des Ich an den Dingen, als Besitz. Unbedingte und bedingte
    Nachgiebigkeit des Geldbesitzes gegenüber dem Ich 303—335
  • III. Differenzierung von Person und Besitz: räumliche Distanzie-
    rung und technische Objektivierung durch das Geld. Die
    Trennung der Gesamtpersönlichkeit von ihren einzelnen
    Leistungen und deren Folgen für die Leistungsäquivalente.
    Verselbständigung des Individuums der Gruppe gegenüber und
    [XV]Seite
    neue Assoziationsformen vermöge des Geldes; der Zweckver-
    band. Allgemeine Beziehungen zwischen der Geldwirtschaft
    und dem Prinzip des Individualismus 336—364
  • Fünftes Kapitel: Das Geldäquivalent personaler Werte365—454
  • I. Das Wergeld. Der Übergang von der utilitarischen zu der
    objektiven und der absoluten Wertung des Menschen. Die
    Geldstrafe und die Kulturstufen. Das Vorschreiten der
    Differenzierung des Menschen und der Indifferenz des Geldes
    als Ursache ihrer wachsenden Inadäquatheit. Die Kaufehe
    und der Wert der Frau. Die Arbeitsteilung zwischen den
    Geschlechtern und die Mitgift. Die typische Beziehung
    zwischen Geld und Prostitution, ihre Entwicklung analog der
    der Mordsühne. Die Geldheirat. Die Bestechung. Das Vor-
    nehmheitsideal und das Geld 365—413
  • II. Die Umwandlung von Rechten spezifischen Inhalts in Geld-
    forderungen. Die Erzwingbarkeit. Die Umsetzung von Sach-
    werten in Geldwert: der negative Sinn der Freiheit und die
    Entwurzelung der Persönlichkeit. Die Wertdifferenz zwischen
    persönlicher Leistung und Geldäquivalent 414—430
  • III. Das Arbeitsgeld und seine Begründung. Die Gratisleistung
    des Geistes. Die Höhenunterschiede der Arbeit als Quantitäts-
    unterschiede. Die Muskelarbeit als Arbeitseinheit. Der Wert
    physischer Leistung auf den der psychischen Leistung redu-
    zierbar. Die Nützlichkeitsunterschiede der Arbeit als Gegen-
    grund gegen das Arbeitsgeld; dadurch geförderte Einsicht in
    die Bedeutung des Geldes 431—454
  • Sechstes Kapitel: Der Stil des Lebens455—554
  • I. Durch die Geldwirtschaft vermitteltes Übergewicht der in-
    tellektuellen über die Gefühlsfunktionen; Charakterlosigkeit
    und Objektivität des Lebensstiles. Die Doppelrolle des In-
    tellekts wie des Geldes: ihrem Inhalte nach überpersönlich,
    ihrer Funktion nach individualistisch und egoistisch; Beziehung
    zu dem Rationalismus des Rechts und der Logik. Das rech-
    nende Wesen der Neuzeit 455—474
  • II. Der Begriff der Kultur. Steigerung der Kultur der Dinge,
    Zurückbleiben der Kultur der Personen. Die Vergegenständ-
    lichung des Geistes. Die Arbeitsteilung als Ursache für das
    Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur.
    Gelegentliches Übergewicht der ersteren. Beziehung des
    Geldes zu den Trägern dieser Gegenbewegungen 475—505
  • III. Die Änderungen der Distanz zwischen dem Ich und den
    Dingen als Ausdruck für die Stilverschiedenheiten des Lebens.
    Moderne Tendenzen auf Distanz-Vergröſserung und -Verkleine-
    rung. Rolle des Geldes in diesem Doppelprozess. Der Kredit.
    [XVI]Seite
    Die Herrschaft der Technik. — Die Rhythmik oder Symmetrie
    der Lebensinhalte und ihr Gegenteil. Das Nacheinander und
    das Nebeneinander beider Tendenzen, die Entwicklungen des
    Geldes als Analogie und als Träger derselben. — Das Tempo
    des Lebens, seine Veränderungen und die des Geldbestandes.
    Die Konzentration des Geldverkehrs. Die Mobilisierung der
    Werte. Beharrung und Bewegung als Kategorien des Welt-
    verständnisses, ihre Synthese in dem Relativitätscharakter des
    Seins, das Geld als historisches Symbol desselben 506—554

Berichtigungen.


  • Seite 99 Zeile 10 von unten lies: zu groſsen, statt: groſsen.
  • „ 106 „ 10 „ oben „ die gröſsten Geldstücke, statt: das groſste
    Goldstück.
  • „ 191 „ 14 „ unten „ nach der, statt: nach dem.
  • „ 249 „ 3 „ „ „ Müdigkeiten, statt: Mündigkeiten.
  • „ 276 „ 2 „ „ „ der die, statt: die die.
  • „ 321 „ 8 „ oben „ er, statt: es.
  • „ 374 „ 13 „ unten „ qualitative, statt: quantitative.
  • „ 490 „ 19 „ oben ist das Komma am Zeilenende zu streichen.

[[1]]

Analytischer Teil.


Simmel, Philosophie des Geldes. 1
[[2]][[3]]

Erstes Kapitel.
Wert und Geld.


I.


Die Ordnung der Dinge, in die sie sich als natürliche Wirklich-
keiten einstellen, ruht auf der Voraussetzung, daſs alle Mannigfaltig-
keit ihrer Eigenschaften von einer Einheit des Wesens getragen werde:
die Gleichheit vor dem Naturgesetz, die beharrenden Summen der Stoffe
und der Energien, die Umsetzbarkeit der verschiedenartigsten Er-
scheinungen ineinander versöhnen die Abstände des ersten Anblicks
in eine durchgängige Verwandtschaft, in eine Gleichberechtigtheit Aller.
Allein bei näherem Hinsehen bedeutet dieser Begriff doch nur, daſs
die Erzeugnisse des Naturmechanismus als solche jenseits der Frage nach
einem Rechte stehen: ihre unverbrüchliche Bestimmtheit giebt keiner
Betonung Raum, von der ihrem Sein und Sosein noch Bestätigung
oder Abzug kommen könnte. Mit dieser gleichgültigen Notwendigkeit,
die das naturwissenschaftliche Bild der Dinge ausmacht, geben wir
uns dennoch ihnen gegenüber nicht zufrieden. Sondern, unbekümmert
um ihre Ordnung in jener Reihe, verleihen wir ihrem inneren Bilde
eine andere, in der die Allgleichheit völlig durchbrochen ist, in der
die höchste Erhebung des einen Punktes neben dem entschiedensten
Herabdrücken des anderen steht und deren tiefstes Wesen nicht die
Einheit, sondern der Unterschied ist: die Rangierung nach Werten.
Daſs Gegenstände, Gedanken, Geschehnisse wertvoll sind, das ist
aus ihrem bloſs natürlichen Dasein und Inhalt niemals abzulesen;
und ihre Ordnung, den Werten gemäſs vollzogen, weicht von der
natürlichen aufs weiteste ab. Unzählige Male vernichtet die Natur
das, was vom Gesichtspunkt seines Wertes aus eine längste Dauer
fordern könnte und konserviert das Wertloseste, ja, dasjenige, was dem
Wertvollen den Existenzraum benimmt. Damit ist nicht etwa eine
1*
[4] prinzipielle Gegnerschaft und durchgängiges Sich-Ausschlieſsen beider
Reihen gemeint; denn dies würde immerhin eine Beziehung der einen
zur anderen bedeuten und zwar eine teuflische Welt ergeben, aber
eine vom Gesichtspunkte des Wertes, wenn auch mit umgekehrtem Vor-
zeichen bestimmte. Vielmehr, das Verhältnis zwischen beiden ist
absolute Zufälligkeit. Mit derselben Gleichgültigkeit, mit der uns die
Natur die Gegenstände unserer Wertschätzungen einmal darbietet, ver-
sagt sie sie uns ein anderes Mal; so daſs gerade die gelegentliche
Harmonie beider Reihen, die Realisierung der aus der Wertreihe
stammenden Forderungen durch die Wirklichkeitsreihe, die ganze
Prinziplosigkeit ihres Verhältnisses nicht minder offenbart, als der
entgegengesetzte Fall. Derselbe Lebensinhalt mag uns sowohl als
wirklich, wie als wertvoll bewuſst werden; aber die inneren Schick-
sale, die er in dem einen und in dem anderen Falle erlebt, haben
völlig verschiedenen Sinn. Man könnte die Reihen des natürlichen
Geschehens mit lückenloser Vollständigkeit beschreiben, ohne daſs
der Wert der Dinge darin vorkäme — gerade wie die Skala unserer
Wertungen ihren Sinn unabhängig davon bewahrt, wie oft und ob
überhaupt ihr Inhalt auch in der Wirklichkeit vorkommt. Zu dem
sozusagen fertigen, in seiner Wirklichkeit allseitig bestimmten, objektiven
Sein tritt nun erst die Wertung hinzu, als Licht und Schatten, die
nicht aus ihm selbst, sondern nur von anderswoher stammen können.
Es muſs aber das Miſsverständnis ferngehalten werden, als sollte damit
die Bildung der Wertvorstellung, als psychologische Thatsache, dem
naturgesetzlichen Werden entrückt sein. Ein übermenschlicher Geist,
der das Weltgeschehen mit absoluter Vollständigkeit nach Naturgesetzen
begriffe, würde unter den Thatsachen desselben auch die vorfinden, daſs
die Menschen Wertvorstellungen haben. Aber diese würden für ihn, der
bloſs theoretisch erkennt, keinen Sinn und keine Gültigkeit über ihre
psychologische Existenz hinaus besitzen. Was hier der Natur als
mechanischer Kausalität abgesprochen wird, ist also die sachliche,
inhaltliche Bedeutung der Wertvorstellung, während der seelische
Akt, in dem jener Inhalt subjektive Bewuſstseinswirklichkeit erhält,
ohne weiteres in die Natur hineingehört. Die Wertung, als ein wirk-
licher psychologischer Vorgang, ist ein Stück der natürlichen Welt;
das aber, was wir mit ihm meinen, sein begrifflicher Sinn, ist
etwas dieser Welt unabhängig Gegenüberstehendes, und so wenig ein
Stück ihrer, daſs es vielmehr die ganze Welt ist, von einem be-
sonderen Gesichtspunkt angesehen. Man macht sich selten klar, daſs
unser ganzes Leben, seiner Bewuſstseinsseite nach, in Wertgefühlen
und Wertabwägungen verläuft, und überhaupt nur dadurch Sinn und
[5] Bedeutung bekommt, daſs die mechanisch abrollenden Elemente der
Wirklichkeit über ihren Sachgehalt hinaus unendlich mannigfaltige
Maſse und Arten von Wert für uns besitzen. In jedem Augenblick,
in dem unsere Seele kein bloſser interesseloser Spiegel der Wirklich-
keit ist — was sie vielleicht niemals ist, da selbst das objektive Er-
kennen nur aus einer Wertung seiner hervorgehen kann — lebt sie
in der Welt der Werte, die die Inhalte der Wirklichkeit in eine völlig
autonome Ordnung faſst.


Damit bildet der Wert gewissermaſsen das Gegenstück zu dem
Sein und ist nun grade als umfassende Form und Kategorie des Welt-
bildes mit ihm vielfach vergleichbar. Kant hat hervorgehoben, das
Sein sei keine Eigenschaft der Dinge; denn wenn ich von einem Ob-
jekte, das bisher nur in meinen Gedanken bestand, sage: es existiere,
so gewinnt es dadurch keine neue Eigenschaft; denn sonst würde ja
nicht eben dasselbe Ding, das ich vorhin dachte, sondern ein anderes
existieren. So wächst einem Dinge auch dadurch, daſs ich es wertvoll
nenne, durchaus keine neue Eigenschaft zu, denn wegen der Eigen-
schaften, die es besitzt, wird es ja grade erst gewertet: genau
sein schon allseitig bestimmtes Sein wird in die Sphäre des Wertes
erhoben. Dies wird von einer der tiefstgehenden Zerlegungen unseres
Denkens getragen. Wir sind fähig, die Inhalte des Weltbildes zu
denken, unter völligem Absehen von ihrer realen Existenz oder Nicht-
existenz. Die Komplexe von Eigenschaften, die wir Dinge nennen,
samt allen Gesetzen ihres Zusammenhanges und ihrer Entwicklung,
können wir in ihrer rein sachlichen, logischen Bedeutung vorstellen,
und, ganz unabhängig davon, fragen: ob, wo, wie oft alle diese Be-
griffe oder inneren Anschauungen verwirklicht sind. Wie dieser inhalt-
liche Sinn und Bestimmtheit der Objekte an sich nicht von der Frage
berührt wird, ob sie sich im Sein wiederfinden, ebensowenig von der
anderen, ob und welche Stelle sie in der Skala der Werte einnehmen.
Wenn es aber einerseits zu einer Theorie, andrerseits zu einer Praxis
für uns kommen soll, so müssen wir die Denkinhalte nach diesem
beiden fragen, und in beiderlei Hinsicht kann sich keiner einer Ant-
wort entziehen. Von jedem vielmehr muſs ein unzweideutiges Sein
oder Nichtsein aussagbar sein und jeder muſs für uns auf der Stufen-
leiter der Werte — von dem höchsten durch die Gleichgültigkeit hin-
durch zu den negativen Werten — eine ganz bestimmte Stelle haben.
Die prinzipielle Bedeutung dieser Forderung, die die gesamte Konstitution
unseres Weltbildes bedingt, wird natürlich gar nicht dadurch alteriert,
daſs unsere Erkenntnismittel sehr oft zu der Entscheidung über die
Realität der Begriffe nicht ausreichen und ebenso oft Umfang und
[6] Sicherheit unsrer Gefühle nicht zu einer Wertrangierung der Dinge,
insbesondere nicht zu einer beständigen oder allgemein gültigen. Der
Welt der bloſsen Begriffe, der sachlichen Qualitäten und Bestimmungen,
stehen die groſsen Kategorien des Seins und des Wertes gegenüber,
allumfassende Formen, die ihr Material aus jener Welt der reinen In-
halte entnehmen. Beiden ist der Charakter der Fundamentalität ge-
meinsam, d. h. die Unmöglichkeit, aufeinander oder auf einfachere
Begriffe zurückgeführt zu werden. Deshalb ist unmittelbar das
Sein irgend welchen Dinges nie logisch erweisbar; vielmehr, das Sein
ist eine ursprüngliche Form unseres Vorstellens, die empfunden, erlebt,
geglaubt, aber nicht dem, der sie noch nicht kennte, deduziert werden
kann. Hat sie erst einmal einen einzelnen Inhalt ergriffen, durch
eine jenseits des Logischen liegende That, so nehmen die logischen
Zusammenhänge sie auf und tragen sie, soweit sie selbst reichen. So
können wir freilich in der Regel sagen, weshalb wir eine bestimmte
Wirklichkeit annehmen: weil wir nämlich eine andere bereits an-
genommen haben, deren Bestimmtheiten mit jener inhaltlich verbunden
sind. Die Wirklichkeit der ersten jedoch ist nur durch eine gleiche
Zurückschiebung auf eine noch fundamentalere zu erweisen. Dieser
Regreſs aber muſs ein letztes Glied haben, dessen Sein nur durch das
unmittelbare Gefühl einer Überzeugung, Bejahung, Anerkennung, oder
richtiger: als ein solches Gefühl gegeben ist. Genau so verhält sich
der Wert den Objekten gegenüber. Alle Beweise für den Wert eines
solchen bedeuten nur die Nötigung, den für irgend ein Objekt bereits
vorausgesetzten und jetzt augenblicklich fraglosen Wert auch einem
anderen, jetzt fraglichen Objekt zuzuerkennen. Auf welche Motive hin
wir dies thun, ist später festzustellen; hier nur, daſs, was wir durch
Wert beweise einsehen, immer nur die Überleitung eines bestehenden
Wertes auf neue Objekte ist, dagegen weder das Wesen des Wertes
selbst noch der Grund, weshalb er ursprünglich an denjenigen Gegen-
stand geheftet wurde, der ihn nachher auf andere ausstrahlt.


Giebt es erst einmal einen Wert, so sind die Wege seiner Ver-
wirklichung, ist seine Weiterentwicklung verstandesmäſsig zu begreifen,
denn nun folgt sie der Struktur der Wirklichkeitsinhalte. Daſs es
ihn aber giebt, ist ein Urphänomen. Alle Definitionen und Deduktionen
des Wertes machen nur die Bedingungen kenntlich, auf die hin er sich,
schlieſslich ganz unvermittelt, einstellt, ohne doch aus ihnen hergestellt
zu werden — wie alle theoretischen Beweise nur die Bedingungen be-
reiten können, auf die hin jenes Gefühl der Bejahung oder des Daseins
eintritt. So wenig man zu sagen wüſste, was denn das Sein eigentlich
sei, so wenig kann man diese Frage dem Wert gegenüber beantworten.
[7] Und gerade indem sie so das formal gleiche Verhältnis zu den Dingen
haben, sind sie einander so fremd, wie bei Spinoza das Denken und
die Ausdehnung: weil diese beiden ebendasselbe, die absolute Sub-
stanz, ausdrücken, jedes aber auf seine Weise und für sich vollständig,
kann nie eines in das andere übergreifen. Sie berühren sich nirgends,
weil sie die Begriffe der Dinge nach völlig Verschiedenem fragen.


Dieses Verhältnis zwischen Wert und Wirklichkeit pflegt man als
die Subjektivität des Wertes zu bezeichnen. Indem ein und derselbe
Gegenstand in einer Seele den höchsten, in einer andern den niedrigsten
Grad des Wertes besitzen kann, und umgekehrt die allseitige und
äuſserste Verschiedenheit der Objekte sich mit der Gleichheit ihres
Wertes verträgt, so scheint als Grund der Wertung nur das Subjekt
mit seinen normalen oder ausnahmsweisen, dauernden oder wechselnden
Stimmungen und Reaktionsweisen übrig zu bleiben. Es bedarf kaum
der Erwähnung, daſs diese Subjektivität nichts mit jener zu thun hat,
der man die Gesamtheit der Welt, da sie „meine Vorstellung“ ist, an-
heimgegeben hat. Denn die Subjektivität, die vom Werte ausgesagt wird,
stellt ihn in den Gegensatz zu den fertigen, gegebenen Objekten, völlig
gleichgültig dagegen, auf welche Weise diese selbst zustande gekommen
sind. Anders ausgedrückt: das Subjekt, das alle Objekte umfaſst, ist
ein anderes als dasjenige, das sich ihnen gegenüberstellt, während die
Subjektivität des Wertes, die er mit allen Objekten teilt, hier ganz
selbstverständlich ist. Auch kann seine Subjektivität nicht den Sinn
der Willkür haben: all jene Unabhängigkeit vom Wirklichen bedeutet
nicht, daſs der Wille ihn mit ungebundener oder launenhafter Freiheit
da und dorthin verteilen könnte. Das Bewuſstsein findet ihn vielmehr
als eine Thatsache vor, an der es unmittelbar so wenig ändern kann, wie
an den Wirklichkeiten. Nach Ausschluſs dieser Bedeutungen bleibt der
Subjektivität des Wertes zunächst nur die negative: daſs der Wert nicht
in demselben Sinne an den Objekten selbst haftet, wie die Farbe oder
die Temperatur; denn diese, obgleich von unsern Sinnesbeschaffenheiten
bestimmt, werden doch von einem Gefühle unmittelbarer Abhängigkeit
von dem Objekt begleitet — einem Gefühle, auf das uns dem Werte
gegenüber die eingesehene Gleichgültigkeit zwischen der Wirklichkeits-
und der Wertreihe leicht verzichten lehrt. Allein wesentlicher und
fruchtbarer als diese Bestimmung sind diejenigen Fälle, in denen die
psychologischen Thatsachen sie dennoch zu dementieren scheinen.


Bedeutet Subjektivität des Wertes, daſs er keine den Dingen an und
für sich anhaftende und von unserem Bewuſstsein nachgezeichnete Bestimmt-
heit, sondern daſs der Wert der Objekte nur ein in uns stattfindender
Wertungsprozeſs, nur unsere Beurteilung ihrer ist — so will dies mit
[8] unseren wirklichen Schätzungen, unsrem wirklichen inneren Verhältnis
zu den Dingen nicht überall stimmen. In Wirklichkeit begleiten wir
unsere Wertempfindung gewissen Objekten gegenüber mit der Vor-
stellung oder dem Gefühl, damit eine Beschaffenheit und Bedeutsamkeit
des [Objektes] selbst nachzuzeichnen, die unabhängig von unserer An-
erkennung ihrer besteht. Das einfachste Beispiel ist der Wert, den
wir der Gesinnung der Menschen zusprechen, der sittlichen, vornehmen,
kraftvollen, schönen. Ob solche inneren Beschaffenheiten sich je in
Thaten äuſsern, die die Anerkennung ihres Wertes erzwingen oder
ermöglichen, ja ob ihr Träger selbst mit dem Gefühl eigenen Wertes
über sie reflektiert, erscheint uns nicht nur für die Thatsache ihres
Wertes gleichgültig, sondern diese Gleichgültigkeit gegen ihr An-
erkannt- und Bewuſstwerden macht grade die bezeichnende Färbung
solcher Werte aus. Noch bei einer ganzen Reihe anderer Objekte
knüpft sich unserer Empfindung nach der Wert an ihre für sich seiende
Wirklichkeit. Die intellektuelle Energie und die Thatsache, daſs sie
die geheimsten Kräfte und Ordnungen der Natur in das Licht des
Bewuſstseins hebt; die Gewalt und der Rhythmus der Gefühle, die in
dem engen Raum der individuellen Seele doch aller Auſsenwelt mit
unendlicher Bedeutsamkeit überlegen sind, selbst wenn die pessimistische
Behauptung von dem Übermaſs des Leidens richtig ist; daſs jenseits
des Menschen die Natur überhaupt sich in der Zuverlässigkeit fester
Normen bewegt, daſs die Vielheit ihrer Gestaltungen dennoch einer
tiefen Einheit des Ganzen Raum giebt, daſs ihr Mechanismus sich weder
der Deutung nach Ideen entzieht, noch sich weigert, Schönheit und
Anmut zu erzeugen — auf alles dies hin stellen wir vor: die Welt sei
eben wertvoll, gleichviel ob diese Werte von einem Bewuſstsein
empfunden werden oder nicht; wie es für die Gültigkeit des Gravi-
tationsgesetzes gleichviel ist, ob es durch Newton oder tausend Jahre
früher oder später oder etwa überhaupt nicht zu wissenschaftlichem
Erkanntwerden gekommen wäre. So scheinen wir denn in diesen
Wertsetzungen nicht unabhängig zu sein, sondern, indem wir sie voll-
ziehen, nur als Vollstrecker einer in den Dingen selbst gelegenen
Anweisung oder Forderung aufzutreten. Die Kategorie also, die wir
für die Subjektivität des Wertes suchen, muſs zugleich für diese Objek-
tivität freien Raum geben; wenn er, jenseits der Dinge selbst, mit
seinem Gefühltwerden durch Subjekte steht und fällt, so enthält also
dieses Gefühl gelegentlich seine eigene Aufhebung: an gewissen Objekten
fühlen wir, daſs ihr Wert unserm Fühlen selbständig gegenüber steht
und von diesem gespiegelt, aber nicht geschaffen wird. Es muſs also
eine Form geben, die dem Werte diese Doppelstellung ermöglicht, oder
[9] eine Entwicklung, die seine subjektive und seine objektive Bedeutung
als ihre Stadien enthält.


Das prinzipiell Entscheidende ist hier dies. Was wir die dem
Subjekte gegenüberstehende Objektivität in dem Sinne nennen, daſs
jenes durch sie zu einem bestimmten Urteil, Anerkennung, Gefühl
innerlich bewogen wird und von ihr in diesen inneren Bethätigungen
abhängig ist — das braucht keineswegs der reale Gegenstand selbst
zu sein, auf den jene subjektiven Vorgänge sich beziehen und der
ihr logisches Objekt ist. Es können vielmehr zwischen dem Subjekt
und dem Objekt Beziehungen bestehen, die von dem ersteren als Ver-
pflichtungen und Forderungen bestimmter Vorstellungen und Gefühle
genau so unverrückbar und unabdinglich empfunden werden wie die
Sinneseindrücke, die ihm von dem Objekt kommen. Während diese aber,
wenn auch im weiteren Sinne als subjektiv zu bezeichnen, doch auf
Rechnung des Objekts selbst geschrieben werden — indem einerseits
gewisse Bewegungen des Objekts selbst sie hervorrufen, und sie andrer-
seits auf dieses als seine Eigenschaften projiziert werden — stehen jene
anderen Vorstellungen ganz auſserhalb des Objekts und bedeuten aus-
schlieſslich Bewegungen im Subjekt; in diesem indes treten sie mit
allen Kennzeichen der Objektivität auf. Wir suchen ihre Quellen nicht
innerhalb der Grenzen des Ich, sondern indem wir sie in uns lebendig
machen, scheinen wir nur einen Anspruch der begrifflichen, religiösen,
ästhetischen, moralischen Ordnung der Dinge anzuerkennen. Die Be-
deutung irgend eines körperhaften Symbols, uns zu religiösen Gefühlen
zu erregen; die sittliche Forderung einer bestimmten Lebenslage, sie
zu revolutionieren oder bestehen zu lassen, sie weiterzuentwickeln oder
zurückzubilden; die pflichtartige Empfindung, groſsen Ereignissen gegen-
über nicht gleichgültig zu bleiben, sondern unsere Innerlichkeit auf sie
reagieren zu lassen; das Recht des Anschaulichen, nicht einfach hin-
genommen, sondern in die Zusammenhänge ästhetischer Würdigung
eingestellt zu werden — alles dies sind Vorstellungen, die zwar aus-
schlieſslich innerhalb des Ich realisiert werden, ohne in den Objekten
selbst ein Gegenbild oder sachlichen Ansatzpunkt zu finden, die aber,
als Ansprüche, in dem Ich so wenig unterzubringen sind, wie in den
Gegenständen, die sie betreffen. So empfinden wir die als Gerechtig-
keit bezeichneten Ansprüche als objektiv gültige, ohne daſs diese Art
der Gültigkeit doch aus den sachlichen Verhältnissen, die sie betreffen,
abzuleiten wäre; die soziale Gesamtheit mag der historische Träger
oder Vollstrecker solcher Ansprüche sein, aber ihre inhaltliche Be-
deutung erhebt sich über diese zufälligen Anknüpfungen; es ist uns
innerlich notwendig, die Lebenslagen ihnen gemäſs zu gestalten — eine
[10] Notwendigkeit, die wir ebenso vergeblich in diesen Lebenslagen selbst
wie in unserer Subjektivität — suchen würden; es sind Normen für die
letztere, die sich zwischen uns und den Dingen herstellen, so daſs sie,
von der natürlichen Sachlichkeit aus betrachtet, als subjektiv, von dem
Subjekt aus aber als objektiv erscheinen, während sie in Wirklich-
keit eine dritte, aus jenen nicht zusammensetzbare Kategorie bilden.


Die Gegensätze: Subjektivität und dinglich-historische Objek-
tivität — haben gar nicht das ihnen meistens eingeräumte Recht, alle
Seinsinhalte unter sich aufzuteilen; vielmehr, innerhalb der Grenzen
der Subjektivität begegnen uns solche Vorgänge, die wir durch über-
subjektive und doch nicht räumliche oder sonst „wirkliche“ Mächte oder
Normen dirigiert oder wenigstens beansprucht empfinden. Indem sie
sich freilich auf Objekte beziehen, ist es, als ob diese jenseits der
Grenzen ihrer Realität eine ideale Sphäre hätten, die sich zwischen
ihnen und den Subjekten entfaltet, derart, daſs beide Parteien zwar
auſserhalb ihrer bleiben, die Beziehung aber, die sie dennoch zwischen
beiden herstellt, auf der Seite der Subjekte sich in der Form einer
Forderung darstellt; nicht die Dinge selbst in ihrem naturgesetzlichen
Fürsichsein erheben diese, aber sie hat darum nicht weniger die Strenge,
Unabhängigkeit und Objektivität einer uns äuſseren Macht, die der
fluktuierenden Zufälligkeit des subjektiven Fühlens als eine objektive
Bestimmtheit gegenübersteht — eine Bestimmtheit ausschlieſslich für
unser Fühlen, Wollen, Urteilen, so daſs die Gegenstände, an die sie
sich knüpft, nur wie zufällig und äuſserlich davon gewissermaſsen
profitierten, ohne daſs damit eine Struktur ihrer selbst bezeichnet wäre.
Damit haben wir sozusagen den geometrischen Ort des objektiven
Wertes bestimmt, dessen übersubjektive Gültigkeit auf diese Weise
durchaus nicht seiner Zusammenhangslosigkeit mit aller sachlichen
Wirklichkeit widerspricht. Das naive Bewuſstsein, dem diese Kategorie
fremd ist, stellt jene Übersubjektivität als einen Wert objektiver Reali-
täten vor. Von diesem zurückgebracht, weiſs es dem Wert nur die reine
Subjektivität zuzuweisen. Bei genauer Prüfung dessen, was einerseits
unser Gefühl, andrerseits die Struktur der Dinge verlangt, finden wir
diese dritte, nicht aus ursprünglicheren kombinierbare Kategorie, die
aber deshalb nicht eigentliche Erklärung, sondern bloſser theoretischer
Ausdruck des Sachverhaltes ist und ihn jedenfalls des Widerspruchs
enthebt, in den der gleichzeitige Anspruch der gewöhnlichen Kategorien
der Subjektivität und Objektivität ihn verwickeln wollte.


Der objektive, d. h. in dem Gegenstand selbst investierte Wert
stellt sich, seiner Form nach, als stabil dar, gegenüber der Labilität
des subjektiven, d. h. in der Schätzung seitens der Persönlichkeiten
[11] bestehenden. Dabei aber kann man jenen als ein Entwicklungsprodukt
des letzteren verstehen, das sich nur dem Bewuſstsein auf einmal
unter einem ganz anderen Aspekt darbietet, obgleich in ihm auch nur
dieselben Kräfte leben, von denen das Werden bis zu ihm hin getragen
war. Das wäre der Typus, nach dem sich z. B. auch manche Ver-
bindungen zwischen Menschen vollziehen. Der Prozeſs der Annäherung
und Einung führt oft zu bestimmten Bildungen und Formen, die wie
mit einem Schlage erreicht werden und so dem Verhältnis eine ganz
neue Prägung zu verleihen scheinen, eine substanzielle Dauerform,
an Stelle des bisherigen Wachsens und Flieſsens; so in der Freund-
schaft, der Liebe, den politischen und religiösen Gebilden. Sieht man
aber genau zu, so ist dies sehr oft nichts als eine Benennung, Le-
gitimation oder begriffliche Verfestigung der bis dahin bestehenden
und ebenso auch in dem scheinbar neuen Verhältnis weiterbestehenden
Energien. Nur der oberflächlichsten Erscheinung nach kommt die
Entwicklung in solchem Falle zum Stillstand und schlägt in eine
neue Wesensform um; thatsächlich leben in dieser doch nur die Kraft
und die Bedingungen weiter, die das Verhältnis bis dahin getragen
haben. Der Satz, daſs Staaten nur durch dieselben Mittel erhalten
werden, durch die sie gegründet sind, spricht ein Beispiel dieses Typus
aus. So mag der objektive Wert ein Aspekt sein, unter den die Be-
deutung der Dinge für uns tritt, sobald ihre Entwicklung an einem
bestimmten Punkte sich in ein der bisherigen Bewegtheit entzogenes
Fürsichsein kleidet, während gleichsam die Wirklichkeit unterhalb
dieses neuen Gewandes von den gegen früher unveränderten Lebens-
prozessen getragen wird. Was wir unter diesem Endpunkt der Ent-
wicklung wirklich denken, kann aber vielleicht in der seelischen
Thatsächlichkeit gar nicht erreicht werden. Indem die Dinge durch
die Differenzierung unsrer Begehrungen, durch ihre Seltenheit, durch
die Mühen ihres Gewinnes unsere Aufmerksamkeit auf ihr objektives
Wesen lenken, auf das, was wir von ihnen zu empfangen angewiesen
sind — treten sie aus ihrer ursprünglichen Verschmolzenheit mit dem
Akte ihres Genossenwerdens heraus, sie beginnen damit eine Ent-
wicklung, die an ihrem Endpunkt in eine ganz neue Art des Wertes,
in denjenigen, den die Dinge jenseits alles Empfindens und Anerkannt-
werdens besitzen, umschlagen müſste. Dieser objektive Wert, der nur
ein im Unendlichen liegendes Ideal ist, wird doch gleichsam von den
anderen Schichten unseres Wertbewuſstseins als wirklich eingeführt,
so daſs gewisse Dinge behandelt werden, als ob ihr Wert in absoluter
Distanz von jeder Subjektivität, als eine Eigenschaft dieser Dinge selbst,
in ihnen ruhte. Solche Übertreibungen, Abbiegungen, gleichsam Miſs-
[12] verständnisse unserer eigenen psychischen Inhalte unterscheiden sich
prinzipiell gar nicht von den subjektiven Veränderungen, die die Vor-
stellungen äuſserlich aufgenommener Dinge in uns erleiden. Wie oft
täuschen wir uns nicht auch über Art und Maſs unsrer eigenen Gefühle,
und zwar derart, daſs das inhaltlich ganz irreale Bewuſstseinsbild derselben
in der gleichen Weise weiterwirkt, als wenn es der inneren Wirk-
lichkeit entspräche; wie oft knüpfen sich an die Illusion, daſs wir einen
Menschen lieben, oder daſs er uns gleichgültig sei, sekundäre Gefühls-
und Willensfolgen von groſser Stärke, bis irgend ein Anstoſs uns be-
lehrt, daſs die letzte Instanz in uns ja ganz anders entschieden hat.
In welcher Weise dieser merkwürdige Prozeſs eigentlich stattfindet, in
dem eine imaginäre Gröſse sich mit den Kräften einer ganz anders
gerichteten psychischen Realität ausstattet — das können wir des näheren
nicht beschreiben. Für unsere augenblicklichen Zwecke hat aber die
Art der Verbindung zwischen subjektiven und objektiven Werten nur
die Bedeutung, zu zeigen, daſs es überhaupt eine geben kann, damit
es möglich sei, eine Objektivität des Wertes selbst dann anzuerkennen,
wenn man die Subjektivität zu seinem Ausgangspunkt gemacht hat.


Daſs der objektive Wert, seiner psychologischen Verwirklichung
nach, dem subjektiven so nahe rückt, droht die prinzipielle Wendung,
die er als verwirklichter vollzieht, zu verdecken. Deshalb versuche ich
jetzt, die Kategorien scharf gegeneinander abzugrenzen, in die er seinem
reinen Wesen nach und in die er nach seiner Beziehung zum subjektiven
gehört. Der Begriff des objektiven, gegen alles Anerkanntwerden gleich-
gültigen Wertes der Dinge ist metaphysisch — wie es meta-
physisch ist, von der Schönheit des Kosmos als eines Ganzen zu
sprechen, von dem doch immer nur ein verschwindend kleiner Teil
uns ästhetisch fühlbar wird, oder von der sittlichen Weltordnung,
während die uns allein zugängliche Sittlichkeit nur die von Menschen
geleistete ist. Jene fundamentale Fähigkeit des menschlichen Geistes,
sich aus sich herauszusetzen, einen Inhalt zu empfinden, als ob nicht
er als Subjekt ihn empfände, sondern als wäre er nur der Träger
oder Vermittler, an dem eine überpersönliche Kraft oder Notwendig-
keit sich auslebt — diese Fähigkeit schafft, absolut gewendet, die
metaphysischen Gebilde. Daſs der objektive Wert eine empirisch-
psychologische Thatsache ist, darf nicht darüber täuschen, daſs der
Inhalt derselben, dasjenige, was sie meint, metaphysischer Natur ist;
in der Praxis des Wertempfindens, in dem Zusammenhang der in
unserem Leben wirksamen Werte tritt der objektive Wert aus jenem
Fürsichsein heraus, oder richtiger: obgleich er in ihm verharrt, tritt
er in eine Beziehung zu seinem subjektiven Gefühltwerden und erhält
[13] von diesem, also von dem praktischen Leben aus, eine Bedeutung und
Funktion innerhalb desselben. Fragen wir aber nach dieser Bedeutung,
so kann sie nichts anderes sein, als die Norm für die thatsächlichen
subjektiven Wertgefühle. Denn so wenig jeder subjektive Wert fordern
darf, für objektiv zu gelten, so ist doch jeder objektive berechtigt, seine
empirisch-psychologische Anerkennung zu fordern. Der praktische oder
teleologische Sinn des objektiven Wertes ist es, eine Legitimierung und
Normierung des subjektiven zu sein. Aber dieser schon oben berührte
Gedanke gewinnt hier erst seine erkenntnistheoretische Stelle, indem
die darüber hinausragende und mit ihm nicht befriedigte ansichseiende
Objektivität des Wertes ihrerseits auf dem metaphysischen Gebiet ihre
Heimat erhalten hat.


Deshalb mag jener bloſs normative Sinn der Objektivität jetzt, wo
der Verdacht sensualistischer Einschränkung beseitigt ist, noch schärfere
Bestimmung erhalten. Innerhalb theoretischer Erkenntnis unterscheiden
wir den wahrgenommenen Verlauf einzelner Erscheinungen, als die
korrigierbare Erfahrung eines Subjekts, von dem allgemeinen Gesetze
derselben, das ihren objektiven Zusammenhang ausspricht; so wenig
dieses letztere nun auch in der bloſsen Wiederholung der ersteren
besteht — wie der oberflächliche Empirismus will — so liegt doch
seine praktische Bedeutung für uns nur darin, daſs es erklärt: jene
Wahrnehmungsfolge war nicht zufällig, von Subjekt zu Subjekt
wechselnd, heute so und morgen anders; sondern wir können nun
sicher sein, daſs jedesmal, wenn wir die eine Wahrnehmung machen,
die andere darauf folgt. Das objektive Gesetz hat keinen anderen
Inhalt als jener zunächst rein subjektive Empfindungskomplex; es hebt
ihn nur gleichsam in einen festeren Aggregatzustand und giebt damit
die Garantie, daſs unter den gleichen Bedingungen wir ihn jederzeit
wiederholen können und jedermann ihn gleichmäſsig empfinden muſs.
Über jede relative Summe singulärer und persönlicher Erfahrungen
ist das objektive Gesetz grundsätzlich erhaben; eine andere Rolle aber,
als der absoluten Summe derselben einen gleichmäſsigen und zuver-
lässigen Verlauf zu garantieren, ist ihm in der Praxis des Erkennens
nicht zugeteilt. Und so überall: was wir an Eindrücken, Bestrebungen,
Forderungen das Objektive nennen, mag sich charakteristisch genug
von jedem einzelnen seiner subjektiven Widerspiele abheben — seine
Wirklichkeit und Wirksamkeit für uns lebt doch nur in der Summe
der subjektiven Vorstellungen und Handlungen, die sich nach jenem
entweder richten oder richten sollen. Das sittliche Ideal, das sich als
objektive Norm derart über das individuelle Handeln erhebt, daſs seine
Würde von der Realisierung oder Nichtrealisierung durch das letztere
[14] in keiner Weise abhängt, ist zwar in dieser Gültigkeit etwas äuſserst
Bedeutsames, Unverwechselbares, Wertvolles; allein so lebt es doch
in der Welt des Metaphysischen, getrennt von aller Berührung mit
dem empirischen Sein. Seine moralisch-praktische Bedeutung ist nur
diejenige, die es in seinem Verhältnis zu dem subjektiven Willen, als
Kriterium oder treibende Kraft desselben entfaltet. Der unmittelbare
subjektive Wert der göttlichen Existenz ist dies, daſs sie uns ein
Gegenstand der Anbetung ist und erlösend, versittlichend, begnadigend
auf uns wirkt; ganz jenseits dessen aber liegt ihr metaphysischer
Sinn, das rein in sich ruhende, sich selbst genieſsende Fürsichsein des
Absoluten. So hat der objektive Wert ein doppeltes Gesicht: eines,
in dem die merkwürdige Kraft des menschlichen Geistes, seine eigenen
Inhalte sich als Normen gegenüberzustellen, ihre absolute Ausgestaltung
gewinnt. Und eines, in dem eben dieser objektive Wert den des sub-
jektiven Fühlens bedeutet: jenes der metaphysische, dieser der konkrete
Sinn seiner. Beides hängt daran, daſs wir uns erstens überhaupt selbst
objektivieren und uns selbst gegenübertreten können und daſs dies
zweitens sogleich in der Form von normgebenden und normempfangen-
den Elementen geschieht. Je nachdem wir das erste nun ohne oder
mit Rücksicht auf das zweite betrachten, ergiebt sich die abstrakte
oder die praktische Bedeutung des objektiven Wertes.


Die eben hervorgehobene Form unsrer inneren Differenzierung ist
von fundamentaler Bedeutung: ihre prinzipielle Äuſserung ist das Selbst-
bewuſstsein. Daſs wir die Einheit unserer Persönlichkeit in eine Zwei-
heit spalten und uns selbst so anschauen, begreifen, beurteilen können,
wie einen anderen — das scheint eine spezifische, auf nichts Ursprüng-
licheres zurückführbare Fähigkeit des menschlichen Intellekts zu sein.
Und zwar bedeutet dies nicht nur eine Zerlegung in zwei sozusagen
gleichberechtigte Parteien, sondern die eine Vorstellungsgruppe erscheint
als umschlieſsend, formend, maſsgebend der anderen gegenüber, obgleich
beide aus einer Quelle flieſsen, und die eine ihre gröſsere Sachlichkeit
oder Bedeutung auch nur als Vorstellung eben desselben Bewuſstseins
besitzt, der auch die andere angehört. Indem man sagt: ich bin mir
meiner selbst bewuſst — empfindet man ein primäres, aktives, gleich-
sam hauptsächliches Ich als den Prozeſs vollziehend, dessen Inhalt das
Ich als Objekt bildet. Dieses, in das Bewuſstsein erst aufgenommene
Ich erscheint jenem untergeordnet, anderen Objekten, deren man sich
gleichfalls bewuſst werden kann, koordiniert. Die mit nichts anderem,
was wir kennen, vergleichbare Thatsache des Sichselbstgegenübertretens
der Seele erfolgt sogleich in der Form eines Rangverhältnisses, das sie
in sich selbst herstellt. Und eben dies wiederholt sich auf höherer
[15] Stufe, wenn die äuſserste Steigerung des Ich-Empfindens, die religiöse,
in der Form der Hingabe unsres Ich an ein über ihm seiendes
Prinzip erfolgt, das doch in ihm lebt und insoweit jedenfalls von
seinen eigenen Kräften gestaltet ist. Man wird das Sichübersichselbst-
erheben der Seele nicht für einen fehlerhaften Zirkel halten können,
weil es als fundamentalste Thatsache des Geisteslebens (die Fähigkeit
zu ihm heiſst eben Geist besitzen!) kein höheres logisches Prinzip,
das ihm diesen Charakter aufdrückte, über sich anerkennt. Wird der
Wertungsprozeſs nun demselben Schema unterworfen, so bedeutet es
also gar nichts Exzeptionelles, daſs er, obgleich als ganzer durchaus
subjektiv, doch in sich selbst das objektive Gebilde erzeugt, das ihm
selbst als Norm gegenübersteht — so wenig wir auch zu sagen wissen,
wie unsere Seele es macht, diese objektiven Werte vorzustellen,
d. h. einen Wert zu fühlen, indem sie zugleich von ihrem Fühlen
seiner absieht, ihn gleichsam ausserhalb ihrer selbst zu fühlen.


Verengern wir nun das Problem auf jene Schätzung äuſserer Ob-
jekte, die schlieſslich die Wirtschaft begründet. In dieser liegt offen-
bar eine eigentümliche Modifikation des objektiven Wertes vor. Der
Gegenstand, der in die Wirtschaft eintritt, mag als isolierter einen
subjektiven Wert besitzen; d. h. nur der Zusammenhang seiner an sich
ganz indifferenten Existenz mit gewissen Gefühlen verleiht ihm die
Bedeutung, die wir seinen Wert nennen. Indem er nun aber in die
Wirtschaft eintritt, bekommt dieser Wert eine neue Färbung. Der
Gegenstand steht uns jetzt mit einem Werte gegenüber, auf den hin
für ihn etwas gefordert wird, oder der einen Gegenwert einbringt. Die
Schätzung durch die Subjektivität ist ihm jetzt sozusagen als eine Be-
stimmtheit seiner selbst ankristallisiert. Äuſsere und innere Umstände
mögen diesen Wert verkleinern oder vergröſsern, aber so lange überhaupt
mit dem Gegenstande gewirtschaftet wird, muſs das Subjekt mit dem
Wert desselben als mit einer objektiven Thatsache rechnen, die von
ihrer Anerkennung durch jeden gegebenen Einzelnen unabhängig ist.
Würde ihm freilich durch Übereinstimmung aller Subjekte überhaupt
die Schätzung verweigert, so würde diese Objektivität seines Wertes
wegfallen; allein damit wäre doch zugleich seine wirtschaftliche
Rolle verneint. Denn es handelt sich um die eigenartige Objektivität
des Wertes, die der Gegenstand als wirtschaftlicher erwirbt; wenn des-
halb die Bedingungen, die ihn zu einem solchen machen, wegfallen,
so hebt sich das Problem von selbst auf. Auch würde sich der wirt-
schaftliche Wert hierin nicht von den vorhin bezeichneten Formen und
Stadien des objektiven Wertes unterscheiden, die ihn in die absolute
Summe subjektiver Anerkennungen oder in die Normierung, die er
[16] diesen leiht, verlegen. Man könnte seine Objektivität vielleicht als
einen niederen Grad der bisher behandelten ansehen. Die Harmonie
und gesetzliche Ordnung des Weltalls, die Sittlichkeit des Handelns,
die Entwicklung der Persönlichkeitskräfte, die Gerechtigkeit der ge-
sellschaftlichen Ordnung — dies und vieles andere stellen wir als in
seiner eigenen Existenz wertvoll vor und darin nicht abhängig von einem
Bewuſstsein, das den Wert solcher Dinge in sich hervorbrächte oder be-
stätigte. So wenig auch der wirtschaftliche Wert die besondere Weihe dieser
besitzt, so wiederholt er doch auf seinem niederen Gebiete, das schon
seinem Inhalte nach dem unmittelbaren Empfinden näher steht, die
Form jener, sein Rangverhältnis zu ihnen freilich dadurch bezeichnend,
daſs ihm die Verabsolutierung zum metaphysischen Wert versagt bleibt;
ihm gelingt nicht die Lösung vom Subjektiven, die jene für trans-
scendente Bedürfnisse bereitstellte, so sehr er dem einzelnen
Gliede
der subjektiven Reihe gegenüber etwas Fürsichseiendes, Be-
stimmendes, in selbständigen Formen Bewegtes ist. So zufällig und
kleinmenschlich sein Inhalt sei, ja so sehr er als ganzer in der bloſsen
Subjektivität verbleiben mag, so gewinnt er doch innerhalb derselben
eine weite Distanz vom Einzelnen, eine Bestimmtheit durch das Ver-
hältnis der Objekte untereinander, eine Einstellung in eine Skala
und einen Organismus wirtschaftlicher Eigenbewegungen, die ihn mit
einer relativen Unabhängigkeit von singulären Subjekten ausstatten,
mit einer Bedeutsamkeit, die so weit sie wirtschaftlich ist, in seiner reinen
Sachlichkeit investiert ist. Der Träger und die Art dieser Objektivierung,
die es zunächst nur an den allgemeinen Charakter objektiver Werte
anzuschlieſsen galt, wird sich nun weiterhin herausstellen, indem wir
den Weg ihrer Ausbildung verfolgen, der sich an den Unterschieden
in der Befriedigung primärer Triebe kenntlich macht.


Obgleich jeder Trieb normalerweise einen Gegenstand fordert, der
seine Befriedigung, sein Schweigen bewirkt, so richtet er sich in
Wirklichkeit zunächst in vielen Fällen auf diese Befriedigung allein,
so daſs der Gegenstand selbst ganz gleichgültig ist, wenn er nur den
Trieb stillt. Wenn der Mann sich an jedem beliebigen Weibe ohne
individuelle Auswahl genügen läſst, wenn er alles iſst, was er nur
kauen und verdauen kann; wenn er auf jeder Lagerstätte schläft,
wenn sich seine Kulturbedürfnisse noch aus dem einfachsten, von der
Natur ohne weiteres dargebotnen Material befriedigen lassen — so ist
das praktische Bewuſstsein noch ein völlig subjektives, es wird aus-
schlieſslich von dem eignen Zustand des Subjektes, dessen Erregungen
und Beruhigungen, erfüllt, und das Interesse an den Dingen beschränkt
sich darauf, daſs sie unmittelbare Ursachen dieser Wirkungen sind.
[17] Das naive Projektionsbedürfnis des primitiven Menschen, sein nach
auſsen gerichtetes, die Innerlichkeit selbstverständlich hinnehmendes
Leben verdeckt dies zwar. Allein der bewuſste Wunsch darf nicht
immer als zureichender Index des wirklich wirksamen Wertempfindens
gelten. Eine leichtbegreifliche Zweckmäſsigkeit in der Dirigierung
unsrer praktischen Kräfte stellt uns oft genug den Gegenstand als
wertvoll dar, während, was uns eigentlich erregt, nicht er in seiner
sachlichen Bedeutung, sondern die subjektive Bedürfnisbefriedigung ist,
die er uns schaffen soll. Von diesem Zustand aus — der natürlich
nicht immer als der zeitlich erste, sondern als der einfachste,
fundamentale, gleichsam systematisch erste zu gelten hat — wird das
Bewuſstsein auf zwei Wegen, die sich aber wieder vereinigen, auf das
Objekt selbst hingeleitet. Sobald nämlich das gleiche Bedürfnis eine
Anzahl von Befriedigungsmöglichkeiten, ja vielleicht alle bis auf eine
einzige zurückweist, wo also nicht nur Befriedigung überhaupt, sondern
Befriedigung durch einen bestimmten Gegenstand erwünscht wird, da
ist die prinzipielle Wendung vom Subjekt weg auf das Objekt an-
gebahnt. Man könnte freilich einwerfen: es handle sich doch in
jedem Falle nur um die subjektive Triebbefriedigung; nur sei im
letzteren Falle der Trieb selbst eben ein anderer, er sei von sich aus
schon differenziert, nur durch ein genau bestimmtes Objekt zu be-
friedigen; auch hier also werde der Gegenstand nur als Ursache der
Empfindung, nicht aber an sich selbst geschätzt. Dieser Einwand würde
allerdings den fraglichen Unterschied annullieren, wenn die Differen-
zierung des Triebes diesen wirklich auf ein einziges ihm genügendes
Objekt so ausschlieſslich zuspitzte, daſs die Befriedigung durch andere
überhaupt ausgeschlossen wäre. Allein dies ist ein sehr seltener Aus-
nahmefall. Die breitere Grundlage, von der aus sich auch die differen-
ziertesten Triebe entwickeln, die ursprüngliche Allgemeinheit des Be-
dürfnisses, das eben nur ein Getriebenwerden, aber noch keine Einzel-
bestimmtheit des Zieles enthält, pflegt auch weiterhin der Untergrund
zu bleiben, an dem die Verengerungen der Befriedigungswünsche sich
erst ihrer individuellen Besonderheit bewuſst werden. Indem die Ver-
feinerung des Subjekts den Kreis der Objekte, die seinen Bedürfnissen
genügen, einschränkt, hebt es die Gegenstände seines Begehrens in
einen scharfen Gegensatz zu allen anderen, die das Bedürfnis an sich
auch stillen würden, trotzdem aber jetzt nicht mehr gesucht werden.
Dieser Unterschied zwischen den Objekten lenkt, nach bekannten
psychologischen Erfahrungen, das Bewuſstsein in besonders hohem
Maſse auf sie und läſst sie in diesem als Gegenstände von selb-
ständiger Bedeutsamkeit auftreten. Das Bedürfnis erscheint jetzt von
Simmel, Philosophie des Geldes. 2
[18] dem Gegenstand determiniert, das praktische Empfinden wird in dem
Maſse, in dem der Trieb sich nicht mehr auf jede, obgleich mögliche,
Befriedigung stürzt, mehr und mehr von seinem terminus ad quem
statt von seinem terminus a quo gelenkt; so daſs der Raum sich ver-
gröſsert, den das Objekt als solches im Bewuſstsein einnimmt. Das
hängt auch noch folgendermaſsen zusammen. Insoweit der Mensch
von seinen Trieben vergewaltigt wird, bildet die Welt für ihn eigent-
lich eine unterschiedslose Masse; denn da sie ihm nur das an sich
irrelevante Mittel der Triebbefriedigung bedeutet, diese Wirkung zudem
auch aus vielerlei Ursachen hervorgehen kann, so knüpft sich so lange
an den Gegenstand in seinem selbständigen Wesen kein Interesse.
Indem nun thatsächlich die differenzierende Zuspitzung des Bedürf-
nisses mit der Schwächung seiner elementaren Gewalt
Hand in Hand geht, wird im Bewuſstsein mehr Platz für das Objekt.
Oder eben von der anderen Seite gesehen: weil die Verfeinerung und
Spezialisierung des Bedürfnisses das Bewuſstsein zu einer gröſseren
Hingabe an das Objekt zwingt, wird dem solipsistischen Bedürfnis
ein Quantum von Kraft entzogen. Allenthalben steht die Schwächung
der Affekte, d. h. der unbedingten Hingabe des Ich an seinen
momentanen Gefühlsinhalt, in Wechselbeziehung mit der Objektivation
der Vorstellungen, mit der Heraussetzung derselben in eine uns gegen-
überstehende Existenzform. So ist z. B. das Sichaussprechenkönnen
eines der mächtigsten Dämpfungsmittel der Affekte. In dem Worte
projiziert sich der innere Vorgang gleichsam nach auſsen, man hat ihn
nun als ein wahrnehmbares Gebilde sich gegenüber, und damit die
Heftigkeit des Affektes abgeleitet. Die Beruhigung der Leidenschaften
und die Vorstellung des Objektiven als solchen in seiner Existenz und
Bedeutung sind nur zwei Seiten eines und desselben Grundprozesses.
Die Wendung des innerlichen Interesses von dem bloſsen Bedürfnis
und seiner Befriedigung zum Objekt mittelst verengerter Möglichkeiten
der letzteren ist ersichtlich ebenso gut von der Seite des Objekts aus
herzustellen und zu steigern — indem nämlich dasselbe die Be-
friedigung schwer, selten, nur auf Umwegen und durch besonderen
Krafteinsatz erreichbar macht. Wenn wir nämlich selbst ein sehr
differenziertes, nur auf ganz ausgewählte Objekte gerichtetes Begehren
voraussetzen, so wird doch auch dieses seine Befriedigung noch relativ
wie selbstverständlich hinnehmen, solange dieselbe sich ohne Schwierig-
keit und Widerstand darbietet. Worauf es ankommt, um die Eigen-
bedeutung der Dinge zu erkennen, das ist doch die Distanz, die sich
zwischen ihnen und unserem Aufnehmen bildet. Es ist nur einer der
vielen Fälle, in denen man von den Dingen hinwegtreten, einen Raum
[19] zwischen uns und sie legen muſs, um ein objektives Bild von ihnen
zu bekommen. Sicher ist ein solches nicht weniger subjektiv-optisch
bestimmt, als das undeutliche oder verzerrte bei zu groſsem oder zu
kleinem Abstand; allein aus inneren Zweckmäſsigkeitsgründen des
Erkennens gewinnt diese Subjektivität gerade bei den Extremen der
Distanz spezifische Betonung. Ursprünglich besteht das Objekt nur in
unsrer Beziehung zu ihm, ist ganz in diese eingeschmolzen, und tritt
uns erst in dem Maſs gegenüber, in dem es sich dieser Beziehung
nicht mehr ohne weiteres fügt. Auch zu dem eigentlichen Begehren
der Dinge, das ihr Fürsichsein anerkennt, indem es dasselbe gerade
zu überwinden sucht, kommt es erst da, wo Wunsch und Erfüllung
nicht zusammenfallen. Die Möglichkeit des Genusses muſs sich erst,
als ein Zukunftsbild, von unserem augenblicklichen Zustand getrennt
haben, damit wir die Dinge begehren, die nun in Distanz von uns
stehen. Wie im Intellektuellen die ursprüngliche Einheit der An-
schauung, die wir noch an Kindern beobachten, erst allmählich in das
Bewuſstsein des Ich und des ihm gegenüberstehenden Objektes auseinander-
geht, so wird der naive Genuſs erst dann einem Bewuſstsein von der
Bedeutung des Dinges, gleichsam einem Respekt vor ihm, Raum geben,
wenn das Ding sich ihm entzieht. Auch hier tritt der Zusammenhang
zwischen der Schwächung der Begehrungsaffekte und der beginnenden
Objektivation der Werte hervor, indem das herabsetzen der elementaren
Heftigkeit des Wollens und Fühlens das Bewuſstwerden des Ich be-
günstigt. So lange sich die Persönlichkeit noch ohne Reserve dem
momentanen Affekt hingiebt, von ihm ganz und gar erfüllt und hin-
genommen wird, kann sich das Ich noch nicht herausbilden; das Be-
wuſstsein eines Ich vielmehr, das jenseits seiner einzelnen Erregungen
steht, kann sich erst dann als das Beharrende in allem Wechsel dieser
letzteren zeigen, wenn nicht jede derselben den ganzen Menschen
mehr mitreiſst; sie müssen vielmehr irgend einen Teil seiner unergriffen
lassen, der den Indifferenzpunkt ihrer Gegensätze bildet, so daſs also
erst eine gewisse Herabsetzung und Einschränkung ihrer ein Ich als
den immer gleichen Träger ungleicher Inhalte entstehen läſst. Wie
aber das Ich und das Objekt in allen möglichen Provinzen unserer
Existenz Korrelatbegriffe sind, die in der ursprünglichen Form des
Vorstellens noch ungeschieden liegen und sich aus ihr, das eine am
anderen, erst herausdifferenzieren — so dürfte auch der selbständige
Wert der Objekte sich erst an dem Gegensatz zu einem selbständig
gewordenen Ich entfalten. Erst die Repulsionen, die wir von dem
Objekt erfahren, die Schwierigkeiten seiner Erlangung, die Warte-
und Arbeitszeit, die sich zwischen Wunsch und Erfüllung schieben,
2*
[20] treiben das Ich und das Objekt auseinander, die in dem unmittelbaren
Beieinander von Bedürfnis und Befriedigung unentwickelt und ohne
gesonderte Betonung ruhen. Mag die hier wirkende Bestimmung des
Objekts nun in seiner bloſsen Seltenheit — relativ zu seiner Begehrt-
heit — oder in den positiven Aneignungsmühen bestehen, jedenfalls
setzt es erst dadurch jene Distanz zwischen ihm und uns, die schlieſs-
lich gestattet, ihm einen Wert jenseits seines bloſsen Genossenwerdens
zuzuteilen.


So wird der Ausgangspunkt der Wertungen doch durch den Begriff
der Subjektivität nicht tief genug erfaſst. Das unmittelbare und naive
Sichbewuſstsein, Einschlürfen, Genieſsen dessen, was die Welt bietet,
steht ganz jenseits der Kategorien Subjekt und Objekt. Die un-
gebrochene seelische Einheit dieser primären Vorgänge — deren erstes
Beispiel wohl das Trinken des Kindes an der Mutterbrust ist — er-
scheint uns nur deshalb als eine subjektive, weil wir an sie mit einem
ausgebildeten Begriff des Objekts herantreten, von dem wir freilich in
jenem einfachen Bewuſstsein keine Spur antreffen; und weil wir ferner
für derartig einheitliche Vorgänge und Existenzen keine rechten Aus-
drücke haben, sondern sie nach einem der einseitigen Elemente zu
benennen pflegen, als deren Zusammenwirken die nachträgliche Analyse
sie vorstellt. So hat man den allumfassenden Bewuſstseins-Zusammen-
hang, der die vorstellbare Welt ist, als Ich bezeichnet, obgleich
dieser Begriff erst in dem Gegensatz zu den sachlichen Inhalten, mit
denen zusammen er jenes absolute „Ich“ ausmacht, einen eigentlichen
Sinn erhält; so hat man, eben dasselbe moralisch wendend, alles
Handeln als im letzten Grunde egoistisch behauptet, während der
Egoismus erst innerhalb des Handelns und im Gegensatz zum
Altruismus einen verständlichen Inhalt hat; so hat das pantheistische
Empfinden die Allheit des Seins Gott genannt, von dem man doch
andrerseits einen eigentlichen Begriff nur in seinem Sichabheben von
allem Irdischen zu gewinnen meint. So also nennen wir den Akt,
mit dem das Leben als Einheit des begehrenden Subjekts und des be-
friedigenden Objekts einsetzt, einen subjektiven, während er in Wirk-
lichkeit erst durch Hindernis, Versagung, Aufschub, die sich in ihn
einschieben, in Subjekte und Objekte gespalten wird. Mit demselben
Prozeſs der Hemmung und Distanzierung, von dem das gefühlte und
vorgestellte Ich mit seiner Bedeutsamkeit den Dingen gegenüber aus-
geht, hebt auch die Schätzung dieser selbst, das Interesse für das
Objekt als solches an.


Auch gelegentlich dieser Verknüpfung von Wertung und Distan-
zierung verhält sich der Wert ähnlich wie das Sein der Dinge. Der
[21] Widerstand, den sie unseren Bewegungen und unserem Schalten mit
ihnen entgegensetzen, bringt uns wohl zuerst und am eindringlichsten
zu der Überzeugung von ihrer selbständigen Existenz. Denn so sehr
die Hemmungen und Rückschläge, die wir durch unsere Kollisionen
mit ihnen erfahren, auch nur Empfindungen in uns sind, wie Töne
und optische Eindrücke, so zwingen sie uns doch sehr viel mehr als
diese zur Anerkennung einer objektiven, für sich bestehenden Substanz
und Kraft der Dinge; ja man kann vielleicht sogar umgekehrt sagen:
im letzten Grunde drängten sich nicht die Dinge durch die Wider-
stände, die sie uns leisten, in unser Bewuſstsein, sondern diejenigen
Vorstellungen, an welche Widerstandsempfindungen und Hemmungs-
gefühle geknüpft wären, hieſsen uns die objektiv realen, von uns unab-
hängig auſserhalb unser befindlichen. So ist es nicht deshalb schwierig,
die Dinge zu erlangen, weil sie wertvoll sind, sondern wir nennen die-
jenigen wertvoll, die unserer Begehrung, sie zu erlangen, Hemmnisse
entgegensetzen. Indem dies Begehren sich gleichsam an ihnen bricht
oder zur Stauung kommt, erwächst ihnen eine Bedeutsamkeit, zu deren
Anerkennung der ungehemmte Wille sich niemals veranlaſst gesehen
hätte. Dennoch kann man wohl nicht, wie es versucht worden ist,
den Wert ohne weiteres als das Maſs des Widerstandes bezeichnen,
der sich der Erlangung begehrter Dinge nach Natur-, Produktions-
und sozialen Chancen entgegensetze. Denn die Steigerung des Wider-
standes kann nicht in jedem Falle die entsprechende Steigerung des
Wertes bewirken. Einerseits nämlich kann die Schwierigkeit der Er-
langung so groſse werden, daſs der Wunsch des Besitzens darüber er-
lahmt. Andrerseits müssen gewissen Objekten gegenüber die Schwierig-
keiten der Gewinnung unterhalb einer gewissen Grenze bleiben, damit
die praktische Verwendung, die ihnen den Wert verleiht oder steigert,
überhaupt eintreten kann. So muſste z. B. die Schwierigkeit, Eisen zu
erlangen unter ein bestimmtes Maſs sinken, damit man es überhaupt
zu derjenigen Fülle von Werkzeugen verarbeiten konnte, die es wert-
voll machte. Oder auch: man hat behauptet, die Werke eines frucht-
baren Malers würden, bei gleicher Kunstvollendung, weniger kostbar
sein als die des minder produktiven; das ist erst oberhalb einer be-
stimmten Quantitätsgrenze richtig. Denn es bedarf grade einer gewissen
Fülle von Werken eines Malers, damit er überhaupt erst einmal
denjenigen Ruhm erwerbe, der den Preis seiner Bilder hochhebt.
So hat ferner in einigen Papierwährungsländern gerade die Selten-
heit des Goldes es dahin gebracht, daſs das niedere Volk überhaupt nicht
mehr Gold nehmen mag, wenn es ihm zufällig geboten wird. Ja, gerade
den Edelmetallen gegenüber, deren Eignung zur Geldsubstanz man auf
[22] ihre Seltenheit zu gründen pflegt, darf die Theorie nicht übersehen,
daſs diese Seltenheitsbedeutung erst oberhalb einer ziemlich erheblichen
Häufigkeit einsetzen kann, ohne welche diese Metalle dem praktischen
Geldbedürfnis gar nicht dienen und also den Wert, den sie als Geld-
stoffe besitzen, gar nicht erlangen könnten. Vielleicht läſst nur die
praktische Habsucht, die über jedes gegebene Quantum von Gütern
hinausbegehrt und der deshalb jeder Wert zu knapp erscheint, es ver-
kennen, daſs nicht Seltenheit, sondern ein gewisses Mittleres zwischen
Seltenheit und Nichtseltenheit in den meisten Fällen die Bedingung
des Wertes bildet. Das Seltenheitsmoment ist, wie eine leichte Über-
legung zeigt, in die Bedeutung der Unterschiedsempfindlichkeit ein-
zurangieren; das Häufigkeitsmoment in die Bedeutung der Gewöhnung.
Wie nun das Leben allenthalben durch die Proportion dieser beiden
Thatsachen: daſs wir ebenso Unterschied und Wechsel seiner Inhalte,
wie Gewöhnung an jeden derselben bedürfen — bestimmt wird, so
stellt sich diese allgemeine Notwendigkeit hier in der speziellen Form
dar, daſs der Wert der Dinge einerseits einer Seltenheit, also eines
Sichabhebens, einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, andrerseits
aber einer gewissen Breite, Häufigkeit, Dauer, damit die Dinge über-
haupt zur Perzeption, Verständnis und Schätzung gelangen. Ihre
Werte sind also, bei gleicher Nützlichkeit, nicht unbedingt den Schwierig-
keiten ihrer Erlangung proportional, sondern bei vielen Objekten ist
diese Proportionalität erst von einer bestimmten Schwierigkeitsgrenze
an gültig, während, wenn dieselbe überschritten wird, der Wert sinkt.
Insbesondere die Objektivität des Wertes ist von der Schwierigkeit der
Erlangung, aber auch von einer Begrenzung dieser Schwierigkeit ab-
hängig. Wenn sich ungewöhnlich groſse, „unverhältnismäſsige“
Widerstände und Forderungen zwischen uns und den Genuſs des
Gegenstandes drängen, so erscheint uns die Aneignung desselben wieder
ganz subjektiv bedingt und gefärbt, nur noch besondere persönliche
Umstände und Passionen, nicht mehr der Wert des Objekts können
uns zu den so erforderlichen Opfern bewegen. Gerade wie beim äuſser-
lichen Sehen bedarf es für die objektive Schätzung zwar einer gewissen
Distanz, allein dieselbe hat nicht nur eine untere, sondern auch eine
obere Grenze, von der an wieder der Charakter der Subjektivität
einsetzt.


Ich will an einem Beispiel, das den ökonomischen Werten ganz
fern liegt und grade deshalb die prinzipielle Seite auch dieser zu ver-
deutlichen geeignet ist, die allgemeine Bedeutung der Distanzierung für
die als objektiv vorgestellte Wertung darstellen: an den ästhetischen.
Was wir jetzt die Freude an der Schönheit der Dinge nennen,
[23] ist relativ spät entwickelt. Denn wieviel unmittelbar sinnliches Genieſsen
ihr einzelner Fall auch jetzt noch aufweise, so beruht doch das Spe-
zifische ihrer gerade in dem Bewuſstsein, die Sache zu würdigen und
zu genieſsen und nicht nur einen Zustand sinnlichen oder übersinn-
lichen Angeregtseins, den sie uns etwa bereite. Jeder kultivierte Mann
wird prinzipiell mit groſser Sicherheit zwischen der ästhetischen und
der sinnlichen Freude an Frauenschönheit unterscheiden, so wenig er
vielleicht der einzelnen Erscheinung gegenüber diese Komponenten
seines Gesamtgefühles mag gegeneinander abgrenzen können. In der
einen Beziehung geben wir uns dem Objekt, in der anderen giebt
sich der Gegenstand uns hin. Mag der ästhetische Wert, wie jeder
andere, der Beschaffenheit der Dinge selbst fremd und eine Projektion
des Gefühles in sie hinein sein, so ist es ihm doch eigentümlich, daſs
diese Projektion eine vollkommene ist, d. h. daſs der Gefühlsinhalt
sozusagen völlig in den Gegenstand hineingeht und als eine dem Sub-
jekt mit eigener Norm gegenüberstehende Bedeutsamkeit erscheint, als
etwas, was der Gegenstand ist. Wie mag es nun historisch-psycho-
logisch zu dieser objektiven, ästhetischen Freude an den Dingen ge-
kommen sein, da doch der primitive Genuſs ihrer, von dem jeder höhere
ausgegangen sein muſs, sich sicher nur an ihre subjektiv-unmittelbare
Genieſsbarkeit und Nützlichkeit geknüpft hat? Vielleicht giebt uns
eine ganz einfache Beobachtung den Schlüssel dazu. Wenn ein Objekt
irgend welcher Art uns groſse Freude oder Förderung bereitet hat, so
haben wir bei jedem späteren Anblick dieses Objekts ein Freudegefühl,
und zwar auch dann, wenn jetzt von einem Benutzen oder Genieſsen
desselben nicht mehr die Rede ist. Diese echoartig anklingende Freude
trägt einen ganz eigenen psychologischen Charakter, der dadurch be-
stimmt ist, daſs wir jetzt nichts mehr von dem Gegenstande wollen;
an die Stelle der konkreten Beziehung, die uns vorher mit ihm ver-
band, tritt jetzt das bloſse Anschauen seiner als die Ursache der an-
genehmen Empfindung; wir lassen ihn jetzt in seinem Sein unberührt,
so daſs sich unser Gefühl nur an seine Erscheinung, nicht aber an das
knüpft, was von ihm in irgend einem Sinne konsumierbar ist. Kurz,
während uns der Gegenstand früher als Mittel für unsere praktischen
oder eudämonistischen Zwecke wertvoll war, ist es jetzt sein bloſses
Anschauungsbild, das uns Freude macht, indem wir ihm dabei reser-
vierter, entfernter, ohne ihn zu berühren, gegenüberstehen. Hierin
scheinen mir schon die entscheidenden Züge des Ästhetischen präformiert
zu sein, wie sich sogleich unverkennbar zeigt, wenn man diese Um-
setzung der Empfindungen von dem Individualpsychologischen in die
Gattungsentwicklung hineinverfolgt. Man hat die Schönheit schon längst
[24] aus der Nützlichkeit ableiten wollen, ist aber in der Regel, weil man
beides zu nahe aneinander lieſs, in einer banausischen Vergröberung des
Schönen stecken geblieben. Diese läſst sich vermeiden, wenn man die
äuſserlichen Zweckmäſsigkeiten und sinnlich-eudämonistischen Unmittel-
barkeiten nur weit genug in die Geschichte der Gattung zurückschiebt,
derart, daſs sich an das Bild dieser Dinge innerhalb unsres Organismus
ein instinkt- oder reflexartiges Lustgefühl geknüpft hat, das nun in
dem Einzelnen, auf den diese physisch-psychische Verbindung vererbt
ist, wirksam wird, auch ohne daſs eine Nützlichkeit des Gegenstandes
für ihn selbst ihm bewuſst wäre oder bestünde. Auf die Kontroverse
über die Vererbung derartig erworbener Verbindungen brauche ich
nicht einzugehen, da es für unseren Zusammenhang genügt, daſs die
Erscheinungen so verlaufen, als ob erworbene Eigenschaften erblich
wären. Schön wäre für uns demnach dasjenige, was die Gattung als
nützlich erprobt hat und dessen Wahrnehmung uns deshalb, insoweit
die Gattung in uns lebt, Lust bereitet, ohne daſs wir als Individuen
ein konkretes Interesse an diesem Objekte hätten. In Fällen, wo wir
zu einem solchen wirklich noch Veranlassung haben, ist unser Ge-
fühl dem Dinge gegenüber nicht das spezifisch ästhetische, sondern
ein konkretes, das erst durch eine gewisse Distanzierung, Ab-
straktion, Sublimierung die Metamorphose zu jenem erfährt. Es er-
eignet sich hier nur das sehr Häufige, daſs, nachdem einmal eine
bestimmte Verbindung gestiftet ist, das verbindende Element in Weg-
fall kommt, weil seine Dienste nicht länger erforderlich sind. Die
Verbindung zwischen gewissen nützlichen Objekten und Lustgefühlen
ist in der Gattung durch einen vererbbaren oder sonst irgendwie
tradierten Mechanismus so fest geworden, daſs nun schon der bloſse
Anblick dieser Objekte, auch ohne daſs wir ihre Nützlichkeit genössen,
für uns zur Lust wird. Daraus erklärt sich das, was Kant die ästhe-
tische Interesselosigkeit nennt, die Gleichgültigkeit gegen die reale
Existenz des Gegenstandes, wenn nur seine „Form“, d. h. seine Sichtbar-
keit gegeben ist; daher jene Verklärung und Überirdischkeit des Schönen
— diese ist durch die zeitliche Ferne der realen Motive bewirkt,
aus denen wir jetzt ästhetisch empfinden; daher die Vorstellung, das
Schöne sei etwas Typisches, Überindividuelles, Allgemeingültiges —
denn die gattungsmäſsige Entwicklung hat alles Spezifische, bloſs
Individuelle der einzelnen Motive und Erfahrungen längst aus diesen
inneren Bewegungen hinweggeläutert; daher die häufige Unmöglichkeit,
das ästhetische Urteil verstandesmäſsig zu begründen und der Gegen-
satz, in den es sich manchmal grade zu dem setzt, was uns als In-
dividuen nützlich oder angenehm ist. Diese ganze Entwicklung der
[25] Dinge nun von ihrem Nützlichkeitswert zu ihrem Schönheitswert ist
ein Objektivationsprozeſs. Indem ich das Ding schön nenne, ist seine
Qualität und Bedeutung in ganz anderer Weise von den Dispositionen
und Bedürfnissen des Subjekts unabhängig, als wenn es bloſs nützlich
ist. Solange die Dinge nur dies sind, sind sie fungibel, d. h. jedes
andere, das denselben Erfolg hat, kann jedes ersetzen. Sobald sie
schön sind, bekommen sie individuelles Fürsichsein, so daſs der Wert,
den eines für uns hat, durchaus nicht durch ein anderes zu ersetzen
ist, das etwa in seiner Art ebenso schön ist. Wir brauchen die Genesis
des Ästhetischen nicht aus diesen dürftigen Andeutungen in die Fülle
ihrer Ausgestaltungen zu verfolgen, um zu erkennen: die Objektivierung
des Wertes entsteht in dem Verhältnis der Distanz, die sich zwischen
dem subjektiv-unmittelbaren Ursprung der Wertung des Objekts und
unserem momentanen Empfinden seiner bildet. Je weiter die Nütz-
lichkeit für die Gattung, die zuerst an den Gegenstand ein Interesse
und einen Wert knüpfen lieſs, zeitlich zurückliegt und als solche ver-
gessen ist, desto reiner ist die ästhetische Freude an der bloſsen Form
und Anschauung des Objekts, d. h. desto mehr steht es uns mit eigener
Würde gegenüber, desto mehr geben wir ihm eine Bedeutung, die nicht
in seinem zufälligen subjektiven Genossenwerden aufgeht, desto mehr
macht die Beziehung, in der wir die Dinge nur als Mittel für uns
werten, dem Gefühle ihres selbständigen Wertes Platz.


Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil die objektivierende Wirkung
dessen, was ich die Distanzierung nenne, an einem zeitlichen Abstand
besonders anschaulich wird. Der Vorgang ist natürlich ein intensiver
und qualitativer, so daſs die quantitative Bezeichnung durch eine Distanz
eine bloſs symbolische ist. Es kann deshalb der gleiche Effekt durch
eine Reihe andrer Momente hervorgerufen werden, wie es sich that-
sächlich schon gezeigt hat: durch die Seltenheit des Objekts, durch
die Schwierigkeit der Erlangung, durch die Notwendigkeit des Ver-
zichtes. Mag nun in diesen, für die Wirtschaft wesentlichen Fällen
die Bedeutsamkeit der Dinge immer eine Bedeutsamkeit für uns und
deshalb von unsrer Anerkennung abhängig bleiben — die entscheidende
Wendung ist doch, daſs sie uns nach diesen Entwicklungen wie Macht
zu Macht gegenüberstehen, eine Welt von Substanzen und Kräften,
die durch ihre Eigenschaften bestimmen, ob und inwieweit sie unsre
Begehrungen befriedigen, und die Kampf und Mühsal von uns fordern,
ehe sie sich uns ergeben. Erst wenn die Frage des Verzichtes auf-
taucht — des Verzichtes auf eine Empfindung, auf die es doch
schlieſslich ankommt — ist Veranlassung, das Bewuſstsein auf den
Gegenstand derselben zu richten. Die triviale Erfahrung, daſs wir
[26] unsre Besitztümer erst richtig schätzen, wenn wir sie verloren haben,
ist nur eine in ausgebildete Verhältnisse hineingewachsene Fort-
setzung ihres Wertungsmotives überhaupt: die Empfindungsvorstellung
muſs erst durch Schwierigkeiten und Entsagungen von ihrer naiven
Verbindung mit dem Gegenstande abgetrennt sein, damit uns dieser
für sich bedeutsam werde. Der Zustand, den die Vorstellung des
Paradieses stilisiert und in dem Subjekt und Objekt, Begehrung
und Erfüllung noch nicht auseinandergewachsen sind — ein Zustand
nicht etwa einer historisch abgegrenzten Epoche, sondern ein allent-
halben und in sehr mannigfachen Graden auftretender — ist freilich
zur Auflösung bestimmt, aber eben damit auch wieder zur Ver-
söhnung: der Sinn jener Distanzierung ist, daſs sie überwunden werde.
Die Sehnsucht, Bemühung, Aufopferung, die sich zwischen uns
und die Dinge schieben, sind es doch, die sie uns zuführen sollen.
Distanzierung und Annäherung sind auch im Praktischen Wechsel-
begriffe, jedes das andere voraussetzend und beide die Seiten der Be-
ziehung zu den Dingen bildend, die wir, subjektiv, unser Begehren, ob-
jektiv, ihren Wert nennen. Den genossenen Gegenstand freilich müssen
wir von uns entfernen, um ihn wieder zu begehren; dem fernen gegen-
über aber ist dies Begehren die erste Stufe der Annäherung, die erste
ideelle Beziehung zu ihm. Diese Doppelbedeutung des Begehrens: daſs
es nur bei einer Distanz gegen die Dinge entstehen kann, die es eben
zu überwinden strebt, daſs es aber doch irgend ein Nahesein zwischen
den Dingen und uns schon voraussetzt, damit die vorhandene Distanz
überhaupt empfunden werde — hat Plato in dem schönen Worte aus-
gesprochen, daſs die Liebe ein mittlerer Zustand zwischen Haben und
Nicht-Haben sei. Die Notwendigkeit des Opfers, die Erfahrung, daſs
das Begehren nicht umsonst gestillt wird, ist nur die Verschärfung oder
Potenzierung dieses Verhältnisses: sie bringt uns die Entfernung
zwischen unserem gegenwärtigen Ich und dem Genuſs der Dinge zum
eindringlichsten Bewuſstsein; aber eben dadurch, daſs sie uns auf den
Weg zu ihrer Überwindung führt. Diese innere Entwicklung zu dem
gleichzeitigen Wachstum von Distanz und Annäherung tritt deutlich
auch als historischer Differenzierungsprozeſs auf. Die Kultur bewirkt
eine Vergröſserung des Interessenkreises, d. h., daſs die Peripherie, in
der die Gegenstände des Interesses sich befinden, immer weiter von
dem Zentrum, d. h. dem Ich abrückt. Diese Entfernung ist aber nur
durch eine gleichzeitige Annäherung möglich. Wenn für den modernen
Menschen Objekte, Personen und Vorgänge, die hundert oder tausend
Meilen von ihm entfernt sind, vitale Bedeutung besitzen, so müssen sie ihm
zunächst näher gebracht sein als dem Naturmenschen, für den dergleichen
[27] überhaupt nicht existiert; daher stehen sie für diesen überhaupt noch
jenseits der positiven Bestimmungen: Nähe und Entfernung. Beides
pflegt sich erst in Wechselwirkung aus jenem Indifferenzzustand heraus zu
entwickeln. Der moderne Mensch muſs ganz anders arbeiten, ganz andere
Bemühungsintensitäten hingeben als der Naturmensch, d. h. der Abstand
zwischen ihm und den Gegenständen seines Wollens ist auſserordentlich
viel weiter, viel härtere Bedingungen stehen zwischen beiden; aber
dafür ist das Quantum dessen, was er sich ideell, durch sein Be-
gehren, und real durch seine Arbeitsopfer nahe bringt, ein unendlich
viel gröſseres. Der Kulturprozeſs — eben der, der die subjektive
Wertung der Dinge in die objektive überführt — treibt die Elemente
unseres Doppelverhältnisses von Nähe und Entfernung den Dingen
gegenüber immer schärfer auseinander.


In diesem zweiseitigen Prozeſs nun stellt sich der wirtschaftlich objek-
tive Wert folgendermaſsen dar. Die Wirtschaft verläuft so, als ob die
Dinge sich ihren Wert gegenseitig bestimmten. Denn indem sie
gegeneinander ausgetauscht werden, gewinnt jeder die praktische Ver-
wirklichung und das Maſs seines Wertes an dem andern. Dies ist die
entschiedenste Folge und Ausdruck der Distanzierung der Gegenstände
vom Subjekt. So lange sie diesem unmittelbar nahe sind, so lange
nicht Differenziertheit der Begehrungen, Seltenheit des Vorkommens,
Schwierigkeiten und Widerstände der Erlangung sie von dem Subjekte
fortschieben, verleiht dieses ihnen den Wert ohne weiteres, miſst ihn
ihnen gleichsam ohne Zwischenraum zu. Erst wenn diese subjektive
Unmittelbarkeit, in der das Objekt für das Subjekt lebt und von ihm
gefühlt wird, gebrochen ist, können die Objekte untereinander in
das Verhältnis gegenseitiger Wertbestimmung treten. Die Form, die der
Wert im Tausch annimmt, reiht ihn in jene beschriebene Kategorie
jenseits des strengen Sinnes von Subjektivität und Objektivität ein; im
Tausch wird er übersubjektiv, überindividuell, ohne doch eine sach-
liche Qualität und Wirklichkeit an dem Dinge selbst zu werden: er
tritt als die, gleichsam über die immanente Sachlichkeit des Dinges
hinausreichende Forderung desselben auf, nur gegen einen entsprechen-
den Gegenwert fortgegeben, nur für einen solchen erworben zu werden.
Das Ich, wenngleich die allgemeine Quelle der Werte überhaupt, tritt
so weit von seinen Geschöpfen zurück, daſs sie nun ihre Bedeutungen
aneinander, ohne jedesmaliges Zurückbeziehen auf das Ich, messen
können. Dieses rein sachliche Verhältnis der Werte untereinander, das
sich im Tausche vollzieht und von ihm getragen wird, hat aber seinen
Zweck ersichtlich in dem schlieſslichen subjektiven Genuſs derselben,
d. h. darin, daſs eine gröſsere Anzahl und Intensität derselben uns nahe
[28] gebracht wird, als es ohne diese Hingabe und objektive Ausgleichung
des Tauschverkehres möglich wäre. Wie man von dem göttlichen
Prinzip gesagt hat, daſs es, nachdem es die Elemente der Welt mit
ihren Kräften versehen habe, zurückgetreten sei und sie dem gegen-
seitigen Spiele dieser Kräfte überlassen habe, so daſs wir nun von einer
objektiven, ihren eigenen Relationen und Gesetzen folgenden Welt
sprechen können; wie aber die göttliche Macht dieses Aussich-heraus-
setzen des Weltprozesses als das geeignetste Mittel erwählt hat, ihre
Zwecke mit der Welt am vollständigsten zu erreichen: so bekleiden
wir innerhalb der Wirtschaft die Dinge mit einem Wertquantum wie
mit einer eigenen Qualität ihrer und überlassen sie dann den Austausch-
bewegungen, einem durch jene Quanten objektiv bestimmten Mechanis-
mus, einer Gegenseitigkeit unpersönlicher Wertwirkungen — aus der
sie vermehrt und intensiver genieſsbar in ihren Endzweck, der ihr
Ausgangspunkt war: das Fühlen der Subjekte, zurückkehren. Hiermit
ist die Richtung der Wertbildung begründet und begonnen, in der
sich die Wirtschaft vollzieht und deren Konsequenzen den Sinn des
Geldes tragen. Ihrer Ausführung haben wir uns nun zuzuwenden.


[[29]]

II.


Die technische Form für den wirtschaftlichen Verkehr schafft ein
Reich von Werten, das mehr oder weniger vollständig von seinem sub-
jektiv-personalen Unterbau gelöst ist. So sehr der Einzelne kauft, weil
er den Gegenstand schätzt und zu konsumieren wünscht, so drückt er
dieses Begehren wirksam doch nur mit und an einem Gegenstande
aus, den er für jenen in den Tausch giebt; damit wächst der subjek-
tive Vorgang, der jenem ersten den Wert giebt, zu einem sachlichen,
überpersönlichen Verhältnis zwischen Gegenständen aus. Die Personen,
die durch ihre Wünsche und Schätzungen zu dem Vollzuge bald dieses,
bald jenes Tausches angeregt werden, realisieren damit für ihr Be-
wuſstsein nur Wertverhältnisse, deren Inhalt schon in den Dingen
selbst liegt: das Quantum des einen Objekts entspricht an Wert dem
bestimmten Quantum des anderen Objekts, und diese Proportion steht
als etwas objektiv Angemessenes und gleichsam Gesetzliches jenen per-
sönlichen Motiven — von denen sie ausgeht und in denen sie endet —
ebenso gegenüber, wie wir es entsprechend an den objektiven Werten
sittlicher und anderer Gebiete wahrnehmen. So würde sich wenigstens
die Erscheinung einer vollkommen ausgebildeten Wirtschaft darbieten.
In dieser zirkulieren die Gegenstände nach Normen und Maſsen, die
in jedem gegebenen Augenblick festgestellt sind, und mit denen sie
dem Einzelnen als ein objektives Reich gegenüberstehen; er kann an
diesem teil haben oder nicht teil haben, wenn er es aber will, so kann
er es nur als Träger oder Ausführender dieser ihm jenseitigen Be-
stimmtheiten. Die Wirtschaft strebt einer — nirgends völlig un-
wirklichen und nirgends völlig verwirklichten — Ausbildungsstufe zu,
in der sich die Dinge ihre Wertmaſse wie durch einen selbstthätigen
Mechanismus gegenseitig bestimmen — unbeschadet der Frage, wieviel
subjektives Wertfühlen dieser Mechanismus als seine Vorbedingung oder
als sein Material in sich aufgenommen hat. Aber eben dadurch, daſs
für den Gegenstand ein anderer hingegeben wird, gewinnt sein Wert
all die Sichtbarkeit und Greifbarkeit, der er überhaupt zugängig ist.
[30] Die Gegenseitigkeit des Sichaufwiegens, vermöge deren jedes Objekt
des Wirtschaftens seinen Wert in einem anderen Gegenstande aus-
drückt, hebt beide aus ihrer bloſsen Gefühlsbedeutung heraus: die Re-
lativität der Wertbestimmung bedeutet ihre Objektivierung. Die Grund-
beziehung zum Menschen, in dessen Gefühlsleben sich freilich alle
Wertungsprozesse abspielen, ist hierbei vorausgesetzt, sie ist in die
Dinge sozusagen hineingewachsen, und mit ihr ausgerüstet treten sie in
jene gegenseitige Abwägung ein, die nicht die Folge ihres wirtschaft-
lichen Wertes, sondern schon dessen Träger oder Inhalt ist.


Die Thatsache des wirtschaftlichen Tausches also löst die Dinge
von dem Eingeschmolzensein in die bloſse Subjektivität der Subjekte
und läſst sie, indem sie ihre wirtschaftliche Funktion in ihnen selbst
investiert, sich gegenseitig bestimmen. Den praktisch wirksamen
Wert verleiht dem Gegenstand nicht sein Begehrtwerden allein, son-
dern das Begehrtwerden eines anderen. Ihn charakterisiert nicht die
Beziehung auf das empfindende Subjekt, sondern daſs es zu dieser Be-
ziehung erst um den Preis eines Opfers gelangt, während von der
anderen Seite gesehen, dieses Opfer als zu genieſsender Wert, jener selbst
aber als Opfer erscheint. Dadurch bekommen die Objekte eine Gegen-
seitigkeit des Sichaufwiegens, die den Wert in ganz besonderer Weise
als eine ihnen selbst objektiv innewohnende Eigenschaft erscheinen
läſst. Indem um den Gegenstand gehandelt wird — das bedeutet
doch, daſs das Opfer, das er darstellt, fixiert wird — erscheint seine
Bedeutung für beide Kontrahenten viel mehr wie etwas auſserhalb
dieser letzteren selbst Stehendes, als wenn der Einzelne ihn nur in
seiner Beziehung zu ihm selbst empfände, und wir werden nachher
sehen, wie auch die isolierte Wirtschaft, indem sie den Wirtschaftenden
den Anforderungen der Natur gegenüberstellt, ihm die gleiche Not-
wendigkeit des Opfers für den Gewinn des Objekts auferlegt, so daſs
auch hier das gleiche Verhältnis, das nur den einen Träger gewechselt
hat, den Gegenstand mit derselben selbständigen, von seinen eigenen
objektiven Bedingungen abhängigen Bedeutung ausstatten kann. Die
Begehrung und das Gefühl des Subjektes steht freilich als die treibende
Kraft hinter alledem, aber aus ihr an und für sich könnte diese Wert-
form nicht hervorgehen, die vielmehr nur dem Sichaufwiegen der Ob-
jekte untereinander zukommt. Die Wirtschaft leitet den Strom der
Wertungen durch die Form des Tausches hindurch, gleichsam ein
Zwischenreich schaffend zwischen den Begehrungen, aus denen alle Be-
wegung der Menschenwelt quillt, und der Befriedigung des Genusses,
in der sie mündet. Das Spezifische der Wirtschaft als einer beson-
deren Verkehrs- und Verhaltungsform besteht — wenn man einen para-
[31] doxen Ausdruck nicht scheut — nicht sowohl darin, daſs sie Werte
austauscht, als daſs sie Werte austauscht. Freilich liegt die Be-
deutung, die die Dinge in und mit dem Tausch gewinnen, nie ganz
isoliert neben ihrer subjektiv-unmittelbaren, über die Beziehung ur-
sprünglich entscheidenden; vielmehr gehört beides zusammen, wie Form
und Inhalt zusammengehören. Allein der objektive, und oft genug
auch das Bewuſstsein des Einzelnen beherrschende Vorgang abstrahiert
sozusagen davon, daſs es Werte sind, die sein Material bilden, und
gewinnt sein eigenstes Wesen an der Gleichheit derselben — un-
gefähr wie die Geometrie ihre Aufgaben nur an den Gröſsenverhält-
nissen der Dinge findet, ohne die Substanzen einzubeziehen, an denen
allein doch jene Verhältnisse real bestehen. Daſs so nicht nur die
Betrachtung der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft selbst sozusagen in
einer realen Abstraktion aus der umfassenden Wirklichkeit der Wer-
tungsvorgänge besteht, ist nicht so verwunderlich, wie es zuerst scheint,
sobald man sich klar macht, wie ausgedehnt das menschliche Thun,
das Erkennen eingerechnet, mit Abstraktionen rechnet. Die Kräfte,
Beziehungen, Qualitäten der Dinge — zu denen insoweit auch unser
eigenes Wesen gehört — bilden objektiv ein einheitliches Ineinander,
das erst von unseren hinzutretenden Interessen und um von uns be-
arbeitet zu werden, in eine Vielheit selbständiger Reihen oder Motive
gespalten wird. So untersucht jede Wissenschaft Erscheinungen, die
erst unter dem von ihr gestellten Gesichtspunkte eine in sich ge-
schlossene Einheitlichkeit und reinliche Abgrenzung gegen die Probleme
anderer Wissenschaften haben, während die Wirklichkeit sich um diese
Grenzlinien nicht kümmert, sondern jeder Abschnitt der Welt ein Kon-
glomerat von Aufgaben für die mannigfaltigsten Wissenschaften dar-
stellt. Ebenso schneidet unsere Praxis aus der äuſseren oder inneren
Komplexität der Dinge einseitige Reihen heraus und schafft erst so die
grossen Interessensysteme der Kultur. So ist auch dies eine der Formeln,
in die man das Verhältnis des Menschen zur Welt fassen kann: daſs
aus der absoluten Einheit und dem Ineinanderverwachsensein der Dinge,
in dem jedes das andere trägt und alle zu gleichen Rechten bestehen,
unsere Praxis nicht weniger als unsere Theorie unablässig einzelne
Elemente abstrahiert, um sie zu relativen Einheiten und Ganzheiten
zusammenzuschliessen. Wir haben, auſser in ganz allgemeinen Gefühlen,
keine Beziehung zu der Totalität des Seins: erst indem wir von den
Bedürfnissen unseres Denkens und Handelns aus fortwährende Ab-
straktionen aus den Erscheinungen ziehen und diese mit der relativen
Selbständigkeit eines bloſs inneren Zusammenhanges ausstatten, die die
Kontinuität der Weltbewegungen dem objektiven Sein jener verweigert,
[32] gewinnen wir ein in seinen Einzelheiten bestimmtes Verhältnis zur
Welt. So ist das wirtschaftliche System allerdings auf eine Abstrak-
tion gegründet, auf das Gegenseitigkeitsverhältnis des Tausches, die
Balance zwischen Opfer und Gewinn, während es in dem wirklichen
Prozeſs, in dem es sich vollzieht, mit seinem Fundamente und seinem
Ergebnis: den Begehrungen und den Genüssen, untrennbar verschmolzen
ist. Aber diese Existenzform unterscheidet es nicht von den sonstigen
Gebieten, in die wir die Gesamtheit der Erscheinungen zu den Zwecken
unserer Interessen zerlegen.


Das Entscheidende für die Objektivität des wirtschaftlichen Wertes,
die das Wirtschaftsgebiet als selbständiges abgrenzt, ist das prinzipielle
Hinausgehen seiner Gültigkeit über das Einzelsubjekt. Dadurch, daſs
für den Gegenstand ein anderer gegeben werden muſs, zeigt sich, daſs
derselbe nicht nur für mich, sondern auch an sich, d. h. auch für
einen anderen, etwas wert ist. An der wirtschaftlichen Form der
Werte findet die Gleichung: Objektivität-Gültigkeit für Subjekte über-
haupt — vielleicht ihre deutlichste Rechtfertigung. Durch die Äqui-
valenz, die überhaupt erst gelegentlich des Tausches ein Bewuſstsein
und Interesse erwirbt, wächst dem Wert der spezifische Charakterzug
der Objektivität zu. Denn nun mag jedes der Elemente nur personaler
Art oder nur subjektiv wertvoll sein — daſs sie einander gleich sind,
ist ein objektives, in keinem dieser Elemente für sich und doch nicht
auſserhalb beider liegendes Moment. Der Tausch setzt ein objektives
Maſs subjektiver Wertschätzungen voraus, aber nicht im Sinne zeit-
lichen Vorangehens, sondern so, daſs beides in einem Akte besteht.


Man muſs sich hier klar machen, daſs die Mehrzahl der Be-
ziehungen von Menschen untereinander als Tausch gelten kann; er
ist die zugleich reinste und gesteigertste Wechselwirkung, die ihrer-
seits das menschliche Leben ausmacht, sobald es einen Stoff und
Inhalt gewinnen will. Zunächst wird schon oft übersehen, wie vieles,
das auf den ersten Blick eine bloſs einseitig ausgeübte Wirkung ist,
thatsächlich Wechselwirkung einschlieſst: der Redner scheint der Ver-
sammlung, der Lehrer der Klasse, der Journalist seinem Publikum
gegenüber der allein Führende und Beeinflussende zu sein; thatsächlich
empfindet jeder in solcher Situation die bestimmende und lenkende
Rückwirkung der scheinbar bloſs passiven Masse; für politische Par-
teien gilt allenthalben das Wort: „ich bin ihr Führer, also muſs ich
ihnen folgen“; ja, ein hervorragender Hypnotiseur hat neulich betont,
daſs bei der hypnotischen Suggestion — offenbar doch dem entschie-
densten Falle reiner Aktivität von der einen, unbedingter Beeinfluſstheit
von der anderen Seite — eine schwer beschreibliche Wirkung des
[33] Hypnotisierten auf den Hypnotiseur stattfände, ohne die der Effekt
nicht erreicht würde. Jede Wechselwirkung aber ist als ein Tausch
zu betrachten: jede Unterhaltung, jede Liebe (auch wo sie mit anders-
artigen Gefühlen erwidert wird), jedes Spiel, jedes Sichanblicken.
Und wenn der Unterschied zu bestehen scheint, daſs man in der
Wechselwirkung giebt, was man selbst nicht hat, im Tausch aber nur,
was man hat — so hält dies doch nicht Stand. Denn einmal, was
man in der Wechselwirkung ausübt, kann immer nur die eigene
Energie, die Hingabe eigener Substanz sein; und umgekehrt, der Tausch
geschieht nicht um den Gegenstand, den der andere vorher hatte, son-
dern um den eigenen Gefühlsreflex, den der andere vorher nicht hatte;
denn der Sinn des Tausches: daſs die Wertsumme des Nachher gröſser sei
als die des Vorher — bedeutet doch, daſs jeder dem andern mehr
giebt als er selbst besessen hat. Freilich ist Wechselwirkung der
weitere, Tausch der engere Begriff; allein in menschlichen Verhält-
nissen tritt die erstere nur in Formen auf, die sie als Tausch
anzusehen gestatten. Unser natürliches Schicksal, das jeden Tag
aus einer Kontinuität von Gewinn und Verlust, Zuflieſsen und Ab-
strömen der Lebensinhalte zusammensetzt, wird im Tausch ver-
geistigt, indem nun das eine für das andere mit Bewuſstsein gesetzt
wird. Derselbe geistig-synthetische Prozeſs, der überhaupt aus dem
Nebeneinander der Dinge ein Mit- und Füreinander schafft; dasselbe
Ich, das, die sinnlichen Gegebenheiten innerlich durchströmend, ihnen
die Form seiner eigenen Einheit einbaut — hat mit dem Tausch
jenen naturgegebnen Rhythmus unserer Existenz ergriffen und seine
Elemente zu einer sinnvollen Verbundenheit organisiert. Und zwar
wird grade dem Tausch wirtschaftlicher Werte die Färbung des
Opfers am wenigsten erspart bleiben. Wo wir Liebe um Liebe
tauschen, wüſsten wir mit der darin offenbarten inneren Energie
sonst nichts anzufangen; indem wir sie hingeben, opfern wir — von
äuſseren Bethätigungsfolgen abgesehen — keinerlei Nutzen auf; wenn
wir in der Wechselrede geistige Inhalte mitteilen, so nehmen diese
darum nicht ab; wenn wir unserer Umgebung das Bild unserer Per-
sönlichkeit darbieten, indem wir das der anderen in uns aufnehmen,
so vermindert dieser Austausch unseren Besitz unser selbst in keiner
Weise. Bei all diesen Tauschen geschieht die Wertvermehrung nicht
durch Aufrechnung von Gewinn und Verlust, sondern der Beitrag jeder
Partei steht entweder ganz jenseits dieses Gegensatzes, oder es ist an
sich schon ein Gewinn, ihn nur hingeben zu dürfen; wogegen der
wirtschaftliche Tausch — mag er Substanzen oder Arbeit oder in Sub-
stanzen investierte Arbeitskraft betreffen — immer das Opfer eines
Simmel, Philosophie des Geldes. 3
[34] auch anderweitig nutzbaren Gutes bedeutet, so sehr auch im Endresultat
die eudämonistische Mehrung überwiege.


Daſs alle Wirtschaft Wechselwirkung, und zwar i[n][d]em spe-
zifischen Sinne des aufopfernden Tausches ist, hat einem Einwand zu
begegnen, den man gegen die Gleichsetzung des wirtschaftlichen Wertes
überhaupt mit dem Tauschwert erhoben hat. Auch der ganz isolierte
Wirt, so hat man gesagt — der also weder kaufe noch verkaufe —
müsse doch seine Produkte und Produktionsmittel abschätzen, also
einen von allem Tausche unabhängigen Wertbegriff bilden, wenn seine
Aufwendungen und seine Ergebnisse im richtigen Verhältnis zu einander
stehen sollen. Allein diese Thatsache beweist grade, was sie wider-
legen soll. Denn alle Abwägung, ob ein bestimmtes Produkt einen be-
stimmten Aufwand an Arbeit oder sonstigen Gütern rechtfertigt, ist für
das wirtschaftende Subjekt genau dieselbe, wie die beim Tausche vor
sich gehende Wertung dessen, was man hingiebt, gegen das, was man
erhält. Es wird nämlich gegenüber dem Begriffe des Tausches oft
jene Denkunklarheit begangen, infolge deren man von einer Beziehung,
einem Verhältnis so spricht, als wäre es etwas auſserhalb der Elemente,
zwischen denen es spielt. Es bedeutet doch nur einen Zustand oder
eine Veränderung innerhalb jedes derselben, aber nichts, was zwischen
denselben, im Sinne der räumlichen Besonderung eines zwischen zwei
anderen befindlichen Objekts, existierte. Indem man die beiden Akte
oder Zustandsänderungen, die in Wirklichkeit vor sich gehen, in den
Begriff „Tausch“ zusammenfaſst, liegt die Vorstellung verlockend nahe,
als wäre mit dem Tausch etwas neben oder über demjenigen geschehen,
was in dem einen und in dem anderen Kontrahenten geschieht. Auf
seinen unmittelbaren Inhalt angesehen, ist der Tausch nichts als die
zweimalige Wiederholung der Thatsache, daſs ein Subjekt jetzt etwas
hat, was es vorher nicht hatte, und dafür etwas nicht hat, was es vor-
her hatte. Dann aber verhält sich jener isolierte Wirt, der gewisse
Opfer zur Erzielung gewisser Früchte bringen muſs, genau so, wie der
Tauschende: nur daſs sein Kontrahent nicht ein zweites wollendes Sub-
jekt ist, sondern die natürliche Ordnung und Gesetzmäſsigkeit der
Dinge, die unsere Begehrungen so wenig ohne ein Opfer unsererseits
zu erfüllen pflegt, wie ein anderer Mensch es thut. Seine Wertberech-
nungen, nach denen er seine Handlungen bestimmt, sind generell genau
dieselben, wie beim Tausch. Für das wirtschaftende Subjekt als
solches ist es sicherlich vollkommen gleichgültig, ob es in seinem Be-
sitz befindliche Substanzen oder Arbeitskräfte in den Boden versenkt
oder einem anderen Menschen hingiebt, wenn nur das Resultat der
Hingabe für ihn das gleiche ist. Dieser subjektive Prozeſs von Opfer
[35] und Gewinn in der Einzelseele ist keineswegs nur etwas Sekundäres
oder Nachgebildetes gegenüber dem interindividuellen Tausch, sondern um-
gekehrt: der Austausch zwischen Hingabe und Errungenschaft innerhalb
des Individuums ist die grundlegende Voraussetzung und gleichsam die
wesentliche Substanz jedes zweiseitigen Tausches. Dieser ist eine
bloſse Unterart jenes, nämlich diejenige, bei der die Hingabe durch
die Forderung eines anderen Individuums veranlaſst ist, während sie
mit dem gleichen Erfolg für das Subjekt von Dingen und ihrer tech-
nisch-natürlichen Beschaffenheit veranlaſst sein kann. Es ist auſser-
ordentlich wichtig, diese Reduktion des Wirtschaftsprozesses auf das-
jenige, was wirklich, d. h. in der Seele jedes Wirtschaftenden, ge-
schieht, zu vollziehen. Man darf sich dadurch, daſs beim Tausch
dieser Vorgang ein wechselseitiger ist, d. h. daſs er durch den
gleichen Vorgang in einem Anderen bedingt ist, nicht darüber
täuschen lassen, daſs die naturale und sozusagen solipsistische Wirt-
schaft auf dieselbe Grundform zurückgeht wie der zweiseitige Tausch:
auf den Ausgleichungsprozeſs zwischen zwei subjektiven Vorgängen
innerhalb des Individuums; dieser wird an und für sich von der sekun-
dären Frage nicht berührt, ob die Anregung zu ihm von der Natur
der Dinge oder der Natur des Menschen ausgeht, rein naturalwirtschaft-
lich oder tauschwirtschaftlich ist. Alle Wertgefühle also, die durch
beschaffbare Objekte ausgelöst werden, sind im allgemeinen nur durch
den Verzicht auf andere Werte zu erreichen, wie ein solcher Verzicht
nicht nur in jener mittelbaren Arbeit für uns selbst, die als Arbeit
für Andere auftritt, sondern oft genug in der ganz unmittelbaren Arbeit
für unsere eigenen Zwecke liegt. Hiermit wird besonders klar, daſs
der Tausch genau so produktiv und wertbildend ist, wie die eigentlich
sogenannte Produktion. In beiden Fällen handelt es sich darum,
Güter um den Preis anderer, die man hingiebt, zu empfangen, und
zwar derart, daſs der Endzustand einen Überschuſs von Befriedigungs-
gefühlen gegenüber dem Zustand vor der Aktion ergiebt. Wir können
weder Stoffe noch Kräfte neu schaffen, sondern nur die gegebenen so
umlagern, daſs möglichst viele in der Wirklichkeitsreihe stehende zu-
gleich in die Wertreihe aufsteigen. Diese formale Verschiebung inner-
halb des gegebenen Materials aber vollbringt der Tausch zwischen
Menschen genau so wie der mit der Natur, den wir Produktion nennen,
die also beide unter den gleichen Wertbegriff gehören: bei beiden
handelt es sich darum, die leergewordene Stelle des Hingegebenen durch
ein Objekt gröſseren Wertes auszufüllen, und erst in dieser Bewegung
löst sich das vorher mit dem bedürfenden und genieſsenden Ich ver-
schmolzene Objekt von diesem und wird zu einem Wert. Auf den
3*
[36] tiefen Zusammenhang zwischen dem Wert und dem Tausch, der nicht
nur diesen durch jenen, sondern auch jenen durch diesen bedingt sein
läſst, weist schon die Gleichheit des Umfanges hin, in dem sie beide
das praktische Leben fundamentieren. So sehr unser Leben durch den
Mechanismus und die Sachlichkeit der Dinge bestimmt scheint, so
können wir in Wirklichkeit keinen Schritt machen und keinen Ge-
danken denken, ohne daſs unser Fühlen die Dinge mit Werten aus-
stattete und ihnen gemäſs unser Thun dirigierte. Dieses Thun selbst
aber vollzieht sich nach dem Schema des Tausches: von der niedrigsten
Bedürfnisbefriedigung bis zum Erwerbe der höchsten intellektuellen
und religiösen Güter muſs immer ein Wert eingesetzt werden, um einen
Wert zu gewinnen. Was hier Ausgangspunkt und was Folge ist,
kann vielleicht nicht bestimmt werden. Denn entweder ist in den
Fundamentalvorgängen beides nicht zu trennen, sondern bildet die
Einheit des praktischen Lebens, die wir freilich, da wir sie als solche
nicht unmittelbar ergreifen können, in jene Momente auseinanderlegen;
oder zwischen beiden spielt ein unendlicher Prozeſs, derart, daſs zwar
jeder Tausch auf einen Wert, dieser Wert aber seinerseits auf einen
Tausch zurückgeht. Das Fruchtbarere und eigentlich Aufklärende aber
ist, mindestens für unsere Betrachtung, der Weg vom Tausche zum
Werte, da das Umgekehrte uns bekannter und selbstverständlicher er-
scheint. — Daſs der Wert sich uns als Ergebnis eines Opferprozesses
darbietet, das symbolisiert den unendlichen Reichtum, den unser
Leben dieser Grundform verdankt. Das Streben nach möglichster
Verkleinerung des Opfers und die schmerzliche Empfindung seiner
lassen uns glauben, daſs erst sein vollständiger Fortfall das Leben
auf seine äuſserste Werthöhe heben würde. Aber hierbei übersehen
wir, daſs das Opfer keineswegs immer eine äuſsere Barriere ist, son-
dern die innere Bedingung des Zieles selbst und des Weges zu ihm.
Die rätselhafte Einheit unseres praktischen Verhältnisses zu den Dingen
zerlegen wir in Opfer und Gewinn, Hemmung und Erreichen, und in-
dem das Leben in seinen differenzierten Stadien oft beides zeitlich
trennt, vergessen wir, daſs, wenn sich uns das Ziel ohne solche zu
überwindende Hinderung verliehe, es gar nicht mehr ebendasselbe
Ziel sein würde. Der Widerstand, den unsere Kraft zu vernichten
hat, giebt ihr doch erst die Möglichkeit, sich zu bewähren; die Sünde,
nach deren Überwindung die Seele zum Heile aufsteigt, sichert ihr erst
jene „Freude im Himmel“, die dieser an den von vornherein Gerechten
nicht knüpft; jede Synthese bedarf des gleichzeitig wirksamen ana-
lytischen Prinzips, das sie doch eben verneint (weil sie ohne dieses nicht
die Synthese mehrerer Elemente, sondern ein absolutes Eins wäre), und
[37] ebenso jede Analyse einer Synthese, in deren Aufhebung sie besteht
(denn sie fordert noch immer ein gewisses Zusammengehören, ohne das
sie bloſse Beziehungslosigkeit wäre: auch die bitterste Feindschaft ist
noch mehr Zusammenhang, als die einfache Gleichgültigkeit). Kurz,
die hemmende Gegenbewegung, deren Beseitigung eben das Opfer be-
deutet, ist oft (vielleicht, auf die elementaren Vorgänge hin angesehen,
sogar immer) die positive Voraussetzung des Zieles selbst. Das
Opfer gehört keineswegs, wie Oberflächlichkeit und Habgier vor-
spiegeln möchten, in die Kategorie des Nicht-Seinsollenden. Es ist
nicht nur die Bedingung einzelner Werte, sondern, innerhalb des
Wirtschaftlichen, das uns hier angeht, die Bedingung des Wertes über-
haupt; nicht nur der Preis, der für einzelne, bereits festgestellte Werte
zu zahlen ist, sondern der, durch den allein es zu Werten kommen
kann.


Der Tausch nun vollzieht sich in zwei Formen, die ich hier nur
für den Arbeitswert andeuten will. Insoweit der Wunsch nach Muſse
oder einem bloſsen sich selbst genügenden Spiel der Kräfte oder der
Vermeidung der an sich lästigen Anstrengung besteht, ist jede Arbeit
unbestreitbar eine Aufopferung. Allein neben diesen Antrieben liegt
ein Quantum latenter Arbeitsenergie, mit dem wir entweder von ihm
aus nichts anzufangen wüſsten, oder das sich durch einen Trieb zu
freiwilligem, weder durch Not noch durch ethische Motive hervor-
gerufenem Arbeiten zeigt. Um dieses Quantum Arbeitskraft, dessen
Hingabe an und für sich keine Aufopferung ist, konkurrieren eine Mehr-
zahl von Anforderungen, für deren Gesamtheit es nicht zureicht. Bei
jeder Verwendung der Kraft müssen also eine oder mehrere mögliche
und wünschenswerte Verwendungen derselben aufgeopfert werden.
Könnten wir die Kraft, mit der wir die Arbeit A leisten, nicht auch
nützlich auf die Arbeit B verwenden, so würde jene erstere uns gar
kein Opfer kosten; dasselbe aber gilt auch für B, falls wir diese etwa
statt A vollbrächten. Was also, unter eudämonistischer Minderung,
hingegeben wird, ist nicht die Arbeit, sondern grade die Nichtarbeit;
wir zahlen für A nicht das Opfer der Arbeit — denn diese hinzugeben
macht uns, wie wir hier voraussetzen, an sich keinerlei Beschwer —,
sondern den Verzicht auf B. Das Opfer also, das wir bei der Arbeit
in den Tausch geben, ist einmal sozusagen ein absolutes, ein anderes
Mal ein relatives: das Leiden, das wir auf uns nehmen, ist einmal ein
unmittelbar mit der Arbeit verbundenes — wo sie uns Mühe und
Plage ist —, ein anderes Mal ein indirektes, wo wir das eine Objekt
nur unter Verzicht auf das andere, bei eudämonistischer Irrelevanz
oder sogar positivem Werte der Arbeit selbst, erlangen können. Da-
[38] mit sind also auch die Fälle der gern geleisteten Arbeit auf die Form
des entsagungsvollen Tausches zurückgeführt, durch den die Wirtschaft
allenthalben charakterisiert wird.


Daſs an den Gegenständen eine bestimmte Höhe des Wertes be-
stände, mit der sie in die Relation der Wirtschaft eintreten, indem
jedes von den je zwei Objekten einer Transaktion für den einen
Kontrahenten den erstrebten Gewinn, für den anderen das dargebrachte
Opfer bedeutet — das gilt wohl für die ausgebildete Wirtschaft, aber
nicht für die Grundprozesse, die sie erst bilden. Die logische Schwierig-
keit: daſs zwei Dinge doch erst dann gleichen Wert haben könnten,
wenn zuerst jedes für sich einen Wert habe, — scheint sich freilich
durch die Analogie zu erweisen, daſs doch auch zwei Linien nur gleich
lang sein könnten, wenn jede von ihnen schon vor der Vergleichung
eine bestimmte Länge besäſse. Allein sie besitzt diese, genau an-
gesehen, wirklich erst in dem Augenblick der Vergleichung mit einer
anderen. Denn die Bestimmung ihrer Länge — da sie doch nicht
„lang“ schlechthin ist — kann sie nicht durch sich selbst erhalten,
sondern nur durch eine andere, an der sie sich miſst, und der sie eben
damit den gleichen Dienst leistet, obgleich das Resultat der Mes-
sung nicht von diesem Aktus selbst, sondern von jeder, wie sie unab-
hängig von der anderen ist, abhängt. Erinnern wir uns der Kategorie,
unter der uns das objektive Werturteil begreiflich wurde: eine in der
Beziehung zwischen uns und den Dingen sich entwickelnde Aufforde-
rung, ein bestimmtes Urteil zu vollziehen, dessen Inhalt indessen nicht
in den Dingen selbst liegt. So verhält sich auch das Längenurteil:
von den Dingen her ergeht an uns gleichsam der Anspruch, daſs
wir es mit einem bestimmten Inhalt vollziehen, aber dieser Inhalt ist
in den Dingen nicht vorgezeichnet, sondern nur durch einen Aktus
innerhalb unser realisierbar. Daſs sich die Länge überhaupt erst in
dem Vergleichungsprozeſs herstellt und also dem Einzelobjekt als solchem,
von dem sie abhängt, vorenthalten ist, verbirgt sich uns nur deshalb
leicht, weil wir aus den einzelnen relativen Längen den allgemeinen
Begriff der Länge abstrahiert haben, — bei dem also die Bestimmt-
heit
, ohne die es keine konkrete Länge geben kann, grade weg-
gelassen ist, — und nun diesen Begriff in die Dinge hineinprojizierend,
meinen: diese müſsten doch zunächst einmal überhaupt Länge haben,
ehe dieselbe durch Vergleichung singulär bestimmt werden könnte.
Es tritt hinzu, daſs aus den unzähligen, längenbildenden Vergleichungen
feste Maſsstäbe auskristallisiert sind, durch Vergleichung mit denen
allen einzelnen Raumgebilden ihre Längen bestimmt werden, so dass
diese nun, gleichsam die Verkörperungen jenes abstrakten Längen-
[39] begriffes, der Relativität entrückt scheinen, weil sich zwar alles an
ihnen miſst, sie selbst aber nicht mehr gemessen werden — kein ge-
ringerer Irrtum, als wenn man zwar den fallenden Apfel von der Erde,
die Erde aber nicht von dem Apfel angezogen glaubt. Endlich wird
uns eine der einzelnen Linie für sich zukommende Länge dadurch vor-
getäuscht, daſs wir an ihren einzelnen Teilen schon die Mehrheit
der Elemente haben, in deren Relation die Länge besteht. Denken
wir uns, daſs es in der ganzen Welt nur eine einzige Linie gäbe, so
würde diese überhaupt nicht „lang“ sein, da es ihr an der Korrelation
mit einer anderen fehlte, — weshalb man denn auch anerkanntermaſsen
von der Welt als einem Ganzen keine Maſsbestimmung aussagen kann,
weil sie nichts auſser sich hat, in Relation womit sie eine Gröſse
haben könnte. In dieser Lage aber befindet sich thatsächlich jede
Linie, solange sie ohne Vergleich mit anderen, bezw. ohne Vergleich
ihrer Teile untereinander betrachtet wird: sie ist weder kurz noch
lang, sondern noch jenseits der ganzen Kategorie. Diese Analogie
also, statt die Relativität des wirtschaftlichen Wertes zu widerlegen,
verdeutlicht sie vielmehr.


Wenn wir die Wirtschaft, wie wir müssen, als einen Spezialfall
der allgemeinen Lebensform des Tausches, der Hingabe gegen einen
Gewinn ansehen, so werden wir schon von vornherein auch innerhalb
ihrer das Vorkommnis vermuten: daſs der Wert des Gewinnes nicht
sozusagen fertig mitgebracht wird, sondern dem begehrten Objekt teil-
weise oder sogar ganz erst durch das Maſs des dafür erforderlichen
Opfers zuwächst. Diese ebenso häufigen wie für die Wertlehre wich-
tigen Fälle scheinen freilich einen inneren Widerspruch zu beherbergen;
denn sie lassen uns das Opfer eines Wertes für Dinge bringen, die
uns an sich wertlos sind. Vernünftigerweise gebe doch niemand einen
Wert dahin, ohne einen mindestens gleich hohen dafür zu erhalten,
und daſs umgekehrt das Ziel seinen Wert erst durch den Preis, den
wir dafür geben müssen, erhalte, könne nur in der verkehrten Welt
vorkommen. Nun ist das für das unmittelbare Bewuſststein schon zu-
treffend, ja zutreffender als jener populäre Standpunkt in anderen
Fällen meint. Thatsächlich kann der Wert, den ein Subjekt für einen
anderen aufgiebt, für dieses Subjekt selbst, unter den thatsächlichen
Umständen des Augenblicks, niemals gröſser sein als der, den es ein-
tauscht. Aller entgegengesetzte Schein beruht auf der Verwechslung
des wirklich vom Subjekt empfundenen Wertes mit demjenigen, der
dem betreffenden Tauschgegenstand nach der sonstigen durchschnitt-
lichen oder als objektiv erscheinenden Taxierung zukommt. So giebt
jemand in Hungersnot ein Kleinod für ein Stück Brot fort, weil ihm
[40] das letztere unter den gegebenen Umständen mehr wert ist als das
erstere. Bestimmte Umstände aber gehören immer dazu, um an ein
Objekt ein Wertgefühl zu knüpfen, da jedes solche von dem ganzen
vielgliedrigen, in stetem Fluſs, Anpassung und Umbildung begriffenen
Komplex unseres Fühlens getragen wird; ob diese Umstände einmalige
oder relativ beständige sind, ist offenbar prinzipiell gleichgültig.
Durch die Thatsache, daſs der Hungernde das Kleinod fortgiebt, be-
weist er unzweideutig, daſs ihm das Brot mehr wert ist. Das also ist
kein Zweifel, daſs im Moment des Tausches, der Darbringung des
Opfers, der Wert des eingetauschten Gegenstandes die Grenze bildet,
bis zu der der Wert des Weggegebenen höchstens steigen kann. Ganz
unabhängig davon besteht die Frage, woher jenes erstere Objekt denn
seinen so erforderlichen Wert bezieht, und ob nicht etwa aus den dafür zu
bringenden Opfern, so daſs die Äquivalenz zwischen Gewinn und Preis
gleichsam a posteriori und von dem letzteren aus hergestellt würde.
Wir werden gleich sehen, wie häufig der Wert auf diese unlogisch
erscheinende Weise psychologisch entspringt. Ist er aber einmal
zustande gekommen, so besteht freilich auch für ihn nicht weniger
als für den auf jede andere Weise konstituierten die psychologische
Notwendigkeit, ihn für ein mindestens ebenso groſses positives Gut zu
halten, wie die Aufopferung für ihn ein negatives ist. Thatsächlich
giebt es nun eine Reihe von Fällen, in denen das Opfer den Wert
des Zieles nicht nur steigert, sondern sogar allein hervorbringt. Es ist
zunächst die Lust der Kraftbewährung, der Überwindung von Schwierig-
keiten, ja oft die des Widerspruchs, die sich in diesem Prozeſs aus-
spricht. Der notwendige Umweg zur Erlangung gewisser Dinge ist
oft die Gelegenheit, oft aber auch die Ursache, sie als Werte zu
fühlen. In den Beziehungen der Menschen untereinander, am häufigsten
und deutlichsten in erotischen, bemerken wir, wie Reserviertheit, Gleich-
gültigkeit oder Abweisung grade den leidenschaftlichsten Wunsch,
über diese Hindernisse zu siegen, entflammen und uns zu Bemühungen
und Opfern veranlassen, deren uns das Ziel ohne diese Widerstände
sicher oft nicht würdig erschienen wäre. Für viele Menschen würde
die ästhetische Ausbeute der groſsen Alpenbesteigungen nicht weiter be-
achtenswert sein, wenn sie nicht den Preis auſserordentlicher Mühen
und Gefahren forderte und erst dadurch Betonung, Anziehungskraft und
Weihe erhielte. Der Reiz der Antiquitäten und Kuriositäten ist oft
kein anderer; wenn keinerlei ästhetisches oder historisches Interesse
an ihnen haftet, so wird dieses durch die bloſse Schwierigkeit ihrer
Erlangung ersetzt: sie sind so viel wert, wie sie kosten, was dann erst
sekundär so erscheint, daſs sie so viel kosten, wie sie wert sind.
[41] Weiter: alles sittliche Verdienst bedeutet, daſs um der sittlich wünschens-
werten That willen erst entgegengerichtete Triebe und Wünsche nieder-
gekämpft und geopfert werden muſsten. Wenn sie ohne jede Über-
windung geschieht, als der selbstverständliche Erfolg ungehemmter
Impulse, so wird ihr, so objektiv erwünscht ihr Inhalt sei, dennoch
nicht in demselben Sinn ein subjektiv sittlicher Wert zugesprochen.
Nur durch das Opfer vielmehr der niedrigeren und doch so versuche-
rischen Güter wird die Höhe des sittlichen Verdienstes erreicht, und
eine um so höhere, je lockender die Versuchungen und je tiefer und
umfassender ihr Opfer war. Sehen wir zu, welche menschlichen
Leistungen die höchsten Ehren und Schätzungen erfahren, so sind es
immer die, die ein Maximum von Vertiefung, Kraftaufwand, beharr-
licher Konzentration des ganzen Wesens verraten oder wenigstens zu
verraten scheinen — damit also auch von Entsagung, von Aufopferung
alles abseits Liegenden, von Hingabe des Subjektiven an die objektive
Idee. Und wenn im Gegensatz dazu die ästhetische Produktion und
alles Leichte, Anmutige, aus der Selbstverständlichkeit des Triebes
Quellende einen unvergleichlichen Reiz entfaltet, so verdankt dieser
seine Besonderheit doch auch dem mitschwebenden Gefühle von den
Lasten und Opfern, die sonst die Bedingung des gleichen Gewinnes
sind. Die Beweglichkeit und unerschöpfliche Kombinationsfähigkeit
unserer seelischen Inhalte bewirkt es häufig, daſs die Bedeutsamkeit
eines Zusammenhanges auf seine direkte Umkehrung übertragen wird,
ungefähr wie die Assoziation zwischen zwei Vorstellungen ebenso da-
durch zustande kommt, daſs sie einander zugesprochen, wie daſs sie
einander abgesprochen werden. Den ganz spezifischen Wert dessen,
was wir ohne überwundene Schwierigkeit und wie ein Geschenk glück-
lichen Zufalls gewinnen, empfinden wir doch nur auf Grund der Be-
deutung, die grade das schwer Errungene, an Opfern Gemessene für
uns hat — es ist derselbe Wert, aber mit negativem Vorzeichen, und
dieser ist der primäre, aus dem jener — aber nicht umgekehrt! —
sich ableiten lässt.


Dies mögen freilich exaggerierte oder Ausnahmefälle sein. Um
ihren Typus in der ganzen Breite des wirtschaftlichen Wertgebietes
zu finden, scheint es zunächst erforderlich, die Wirtschaftlich-
keit, als eine spezifische Differenz oder Form, von der Thatsache
der Werte als dem Allgemeinen oder der Substanz derselben begriff-
lich zu trennen. Nehmen wir vorläufig den Wert als etwas Ge-
gebenes und jetzt nicht zu Diskutierendes hin, so ist nach allem
Vorangegangenen wenigstens dies nicht zweifelhaft, daſs der wirtschaft-
liche Wert als solcher einem Gegenstand nicht in seinem isolierten
[42] Fürsichsein, sondern nur durch die Aufwendung eines anderen Gegen-
standes zukommt, der für ihn hingegeben wird. Die wildwachsende
Frucht, die ohne Mühe gepflückt und nicht in Tausch gegeben, son-
dern unmittelbar genossen wird, ist kein wirtschaftliches Gut; sie kann
als solches höchstens dann gelten, wenn ihre Konsumtion etwa einen
anderweitigen wirtschaftlichen Aufwand erspart; wenn aber sämtliche
Erfordernisse der Lebenshaltung auf diese Weise zu befriedigen wären,
daſs sich an keinen Punkt ein Opfer knüpfte, so würden die Menschen
eben nicht wirtschaften, so wenig wie die Vögel oder die Fische
oder die Bevölkerung des Schlaraffenlandes. Auf welchem Wege auch
die beiden Objekte A und B zu Werten geworden seien: zu einem
wirtschaftlichen Werte wird A erst dadurch, daſs ich B dafür
geben muſs, B erst dadurch, daſs ich A dafür erhalten kann — wobei
es, wie erwähnt, prinzipiell gleichgültig ist, ob das Opfer sich durch
die Hingabe eines Wertes an einen anderen Menschen, also durch
interindividuellen Tausch — oder innerhalb des Interessenkreises des
Individuums, durch die Aufrechnung von Bemühungen und Resultaten,
vollzieht. An den Objekten der Wirtschaft ist schlechthin nichts zu
finden, auſser der Bedeutung, die jedes direkt oder indirekt für unsere
Konsumtion hat, und dem Austausch, der zwischen ihnen vorgeht.
Da nun anerkanntermaſsen die erstere für sich allein noch nicht aus-
reicht, den Gegenstand zu einem wirtschaftlichen zu machen, so kann
ganz allein der letztere ihm die spezifische Differenz, die wir wirt-
schaftlich nennen, zusetzen. Allein diese Trennung zwischen dem
Werte und seiner wirtschaftlichen Bewegungsform ist eine künstliche.
Wenn zunächst die Wirtschaft eine bloſse Form in dem Sinne zu sein
scheint, daſs sie schon Werte als ihre Inhalte voraussetzt, um sie in
die Ausgleichungsbewegung zwischen Opfer und Gewinn hineinziehen
zu können, so läſst sich doch in Wirklichkeit derselbe Prozeſs, der die
vorausgesetzten Werte zu einer Wirtschaft bildet, als Erzeuger der
wirtschaftlichen Werte selbst folgendermaſsen darlegen.


Die Wirtschaftsform des Wertes steht zwischen zwei Grenzen:
einerseits der Begehrung des Objekts, die sich an das antizipierte Be-
friedigungsgefühl aus seinem Besitz und Genuſs anschlieſst, andererseits
diesem Genuſs selbst, der, genau angesehen, kein wirtschaftlicher Akt
ist. Sobald man nämlich das eben Behandelte zugiebt — was
wohl allgemein geschieht —, daſs die unmittelbare Konsumtion der
wildwachsenden Frucht kein wirtschaftliches Thun und diese selbst
also kein wirtschaftlicher Wert ist (auſser soweit sie eben die Pro-
duktion wirtschaftlicher Werte erspart) — so ist auch die Konsumtion
eigentlich wirtschaftlicher Werte selbst nicht mehr wirtschaftlich: denn
[43] der Konsumtionsakt in diesem letzteren Falle unterscheidet sich absolut
nicht von dem im ersteren Falle: ob jemand die Frucht, die er iſst, zu-
fällig gefunden, gestohlen, selbst gezogen oder gekauft hat, macht in dem
Eſsakt selber und seinen direkten Folgen für ihn nicht den geringsten
Unterschied. Nun ist, wie wir gesehen haben, der Gegenstand überhaupt
noch kein Wert, so lange er als unmittelbarer Erreger von Gefühlen
in den subjektiven Vorgang eingeschmolzen ist, gleichsam eine
selbstverständliche Kompetenz unseres Gefühlsvermögens bildet. Er
muſs von diesem erst getrennt sein, um die eigentümliche Bedeutung,
die wir Wert nennen, für uns zu gewinnen. Denn es ist nicht nur
sicher, daſs das Begehren an und für sich überhaupt keinen Wert be-
gründen könnte, wenn es nicht auf Hindernisse stieſse: wenn jedes Be-
gehren seine Befriedigung kampflos und restlos fände, so würde ein wirt-
schaftlicher Wertverkehr nie entstanden sein, — sondern das Begehren
selbst wäre nie zu einer erheblichen Höhe gestiegen, wenn es sich
ohne weiteres befriedigen könnte. Erst der Aufschub der Befriedigung
durch das Hindernis, die Besorgnis, das Objekt könne einem entgehen,
die Spannung des Ringens darum, bringt die Summierung der Be-
gehrungsmomente zustande: die Intensität des Wollens und die Kon-
tinuität des Erwerbens. Wenn aber selbst die höchste Kraft des Be-
gehrens rein von innen her entstanden wäre, so würde man — wie
unzähligemal hervorgehoben ist — dem Objekt, das es befriedigt,
doch keinen Wert zusprechen, wenn es uns in unbegrenzter Fülle zu-
flösse. Wichtig wäre für uns dann freilich das ganze Genus, dessen
Dasein uns die Befriedigung unserer Wünsche verbürgt, nicht aber
dasjenige Teilquantum, dessen wir uns thatsächlich bemächtigen, weil
dieses ebenso mühelos durch ein anderes ersetzt werden könnte; wobei
aber auch jene Gesamtheit ein Wertbewuſstsein nur von dem
Gedanken ihres möglichen Fehlens aus gewänne. Unser Bewuſstsein
würde in diesem Falle einfach von dem Rhythmus der subjektiven
Begehrungen und Befriedigungen erfüllt sein, ohne an das ver-
mittelnde Objekt eine Aufmerksamkeit zu knüpfen. Das Bedürfen
einerseits, der Genuſs andererseits für sich allein enthalten weder den
Wert noch die Wirtschaft in sich. Beides verwirklicht sich gleich-
zeitig erst durch den Tausch zwischen zwei Subjekten, von denen jedes
dem anderen einen Verzicht zur Bedingung des Befriedigungsgefühles
macht, bezw. durch dessen Seitenstück in der solipsistischen Wirtschaft.
Durch den Austausch, also die Wirtschaft, entstehen zugleich die Werte
der Wirtschaft, weil er der Träger oder Produzent der Distanz zwischen
dem Subjekt und dem Objekt ist, die den subjektiven Gefühlszustand
in die objektive Wertung überführt. Kant hat einmal die Summe
[44] seiner Erkenntnislehre in den Satz zusammengefaſst: die Bedingungen
der Erfahrung sind zugleich die Bedingungen der Gegenstände der
Erfahrung — womit er meinte, daſs der Prozeſs, den wir Erfahrung
nennen, und die Vorstellungen, die dessen Inhalte oder Gegenstände
bilden, ebendenselben Gesetzen des Verstandes unterliegen. Die
Gegenstände können deshalb in unsere Erfahrung eingehen, von uns
erfahren werden, weil sie Vorstellungen in uns sind, und die gleiche
Kraft, die die Erfahrung bildet und bestimmt, sich in der Bildung
jener äuſsert. In demselben Sinne können wir hier sagen: die
Möglichkeit der Wirtschaft ist zugleich die Möglichkeit der Gegen-
stände der Wirtschaft. Eben der Vorgang zwischen zwei Eigentümern
von Objekten (Substanzen, Arbeitskräften, Rechten, Mitteilbarkeiten
jeder Art), der sie in die „Wirtschaft“ genannte Beziehung bringt,
nämlich die — wechselseitige — Hingabe, hebt zugleich jedes dieser Ob-
jekte erst in die Kategorie des Wertes. Der Schwierigkeit, die von
seiten der Logik drohte: daſs die Werte doch erst dasein, als Werte
dasein müſsten, um in die Form und Bewegung der Wirtschaft einzu-
treten, ist nun abgeholfen, und zwar durch die eingesehene Bedeutung
jenes psychischen Verhältnisses, das wir als die Distanz zwischen uns
und den Dingen bezeichneten; denn dieses differenziert den ursprüng-
lichen subjektiven Gefühlszustand in das die Gefühle erst antizipierende,
begehrende Subjekt und das ihm gegenüberstehende, nun in sich den
Wert enthaltende Objekt — während die Distanz ihrerseits auf dem
Gebiete der Wirtschaft durch den Tausch, d. h. durch die zweiseitige
Bewirkung von Schranken, Hemmung, Verzicht hergestellt wird. Die
Werte der Wirtschaft erzeugen sich also in derselben Gegenseitigkeit
und Relativität, in der die Wirtschaftlichkeit der Werte besteht.


Diese Überführung des wirtschaftlichen Wertbegriffes aus dem
Charakter isolierender Substantialität in den lebendigen Prozeſs der
Relation läſst sich weiterhin auf Grund derjenigen Momente erläutern,
die man als die Konstituenten des Wertes anzusehen pflegt: Brauch-
barkeit und Seltenheit. Die Brauchbarkeit erscheint hier als die erste,
in der Verfassung der wirtschaftenden Subjekte begründete Bedingung,
unter der allein ein Objekt für die Wirtschaft überhaupt in Frage
kommen kann: gleichsam das Apriori derselben. Damit es zu einer
konkreten Höhe des einzelnen Wertes komme, muſs zu ihr die Selten-
heit treten, als eine Bestimmtheit der Objektreihe selbst. Will man
die Wirtschaftswerte durch Nachfrage und Angebot fixieren lassen, so
entspräche die Nachfrage der Brauchbarkeit, das Angebot dem Selten-
heitsmoment. Denn die Brauchbarkeit würde entscheiden, ob wir dem
Gegenstande überhaupt nachfragen, die Seltenheit, welchen Preis wir
[45] dafür zu bewilligen gezwungen sind. Die Brauchbarkeit tritt als der
absolute Bestandteil der wirtschaftlichen Werte auf, als derjenige,
dessen Gröſse bestimmt sein muſs, damit er nun mit dieser in die Be-
wegung des wirtschaftlichen Austausches eintrete. Die Seltenheit muſs
man zwar von vornherein als ein bloſs relatives Moment zugeben, da
sie ausschlieſslich das — quantitative — Verhältnis bedeute, in
dem das fragliche Objekt zu der vorhandenen Gesamtheit von seines-
gleichen steht, das qualitative Wesen des Objekts also überhaupt nicht
berühre. Die Brauchbarkeit aber scheint vor aller Wirtschaft, allem
Vergleiche, aller Beziehung zu anderen Objekten zu bestehen und, als
das substantielle Moment der Wirtschaft, deren Bewegungen von sich
abhängig zu machen.


Der Umstand, dessen Wirksamkeit hiermit umschrieben ist, wird
nun vor allen Dingen durch den Begriff der Brauchbarkeit (oder Nütz-
lichkeit) nicht richtig bezeichnet. Was man in Wirklichkeit meint, ist
die Begehrtheit des Objekts. Alle Brauchbarkeit ist nämlich nicht
imstande, zu wirtschaftlichen Operationen mit dem Gegenstande zu ver-
anlassen, wenn sie nicht Begehrtheit desselben zur Folge hat. Und
thatsächlich hat sie das nicht immer. Irgend ein „Wünschen“ mag mit
jeder Vorstellung uns nützlicher Dinge mitklingen, das wirkliche Be-
gehren aber, das wirtschaftliche Bedeutung hat und unsere Praxis ein-
leitet, bleibt auch solchen gegenüber aus, wenn lange Armut, konsti-
tutionelle Trägheit, Ableitung auf andere Interessengebiete, Gleich-
gültigkeit des Gefühls gegen den theoretisch anerkannten Nutzen, ein-
gesehene Unmöglichkeit des Erlangens und andere positive und negative
Momente dem entgegenwirken. Andererseits werden mancherlei Dinge
von uns begehrt und also wirtschaftlich gewertet, die man ohne will-
kürliche Dehnung des Sprachgebrauchs nicht als nützlich oder brauch-
bar bezeichnen kann: will man aber diese zulassend alles wirtschaftlich
Begehrte unter den Begriff der Brauchbarkeit bringen, so ist es eben
logisch erforderlich — da andererseits nicht alles Brauchbare auch begehrt
wird — als das definitiv entscheidende Moment für die wirtschaftliche
Bewegung die Begehrtheit der Objekte anzusetzen. Aber dasselbe
ist selbst nach dieser Korrektur keineswegs ein absolutes, der Rela-
tivität der Wertung sich entziehendes. Es kommt nämlich erstens,
wie wir früher gesehen haben, das Begehren selbst nicht zu bewuſster
Bestimmtheit, wenn sich nicht Hemmnisse, Schwierigkeiten, Opfer
zwischen das Objekt und das Subjekt schieben: wir begehren erst wirk-
lich, wo der Genuſs des Gegenstandes sich an Zwischeninstanzen miſst,
wo mindestens der Preis der Geduld, des Aufgebens anderen Strebens
oder Genieſsens uns den Gegenstand in die Distanz rücken, deren
[46] Überwindenwollen das Begehren seiner ist. Sein wirtschaftlicher Wert
nun, zweitens, der sich auf Grund seiner Begehrtheit erhebt, kann als
Steigerung oder Sublimierung der schon im Begehren gelegenen Rela-
tivität gelten. Denn zum praktischen d. h. in die Bewegung der Wirt-
schaft eingehenden Werte wird der begehrte Gegenstand nur dadurch,
daſs seine Begehrtheit mit der eines anderen verglichen wird und
dadurch überhaupt ein Maſs gewinnt. Erst wenn ein zweites Objekt
da ist, von dem ich mir klar bin, daſs ich es für das erste oder das
erste für jenes hingeben will, hat jedes von beiden einen angebbaren
wirtschaftlichen Wert. Das bloſse Begehren des Objekts führt dazu
noch nicht, denn das findet in sich allein kein Maſs: erst die Ver-
gleichung der Begehrungen, d. h. die Tauschbarkeit ihrer Objekte,
fixiert jedes derselben als einen seiner Höhe nach bestimmten, also
wirtschaftlichen Wert. Hätten wir nicht die Kategorie der Gleichheit
zur Verfügung — eine jener fundamentalen, aus den unmittelbaren
Einzelheiten das Weltbild gestaltenden, die sich aber zu psychologischer
Wirklichkeit erst allmählich entwickeln — so würde keine noch so
groſse „Brauchbarkeit“ und „Seltenheit“ einen wirtschaftlichen Verkehr
erzeugt haben. Daſs zwei Objekte gleich begehrenswert oder wertvoll
sind, kann man mangels eines äuſseren Maſsstabes doch nur so fest-
stellen, daſs man beide in Wirklichkeit oder in Gedanken gegeneinander
auswechselt, ohne einen Unterschied des Wertgefühles zu bemerken.
Ja, ursprünglich dürfte diese Austauschbarkeit nicht die Wertgleichheit
als eine irgendwie objektive Bestimmtheit der Dinge selbst angezeigt
haben, sondern die Gleichheit nichts als der Name für die Austausch-
barkeit sein. — Die Intensität des Begehrens braucht an und für sich
noch keine steigernde Wirkung auf den wirtschaftlichen Wert des
Objekts zu haben; denn da dieser nur im Tausch zum Ausdruck kommt,
so kann das Begehren ihn nur insoweit bestimmen, als es den Tausch
modifiziert. Wenn ich auch einen Gegenstand sehr heftig begehre, so
ist damit sein Gegenwert im Tausche noch nicht bestimmt. Denn
entweder habe ich den Gegenstand noch nicht: so wird mein Be-
gehren, wenn ich es nicht äuſsere, auf die Forderung des jetzigen
Inhabers keinen Einfluſs üben, er wird vielmehr nur nach dem Maſse
seines eigenen Interesses an dem Gegenstand oder des durch-
schnittlichen fordern; oder, ich selbst habe den Gegenstand — so
wird meine Forderung entweder so hoch werden, daſs der Gegen-
stand überhaupt aus dem Tauschverkehr ausscheidet, also insoweit
kein wirtschaftlicher Wert mehr ist, oder sie wird sich auf das
Maſs des Interesses herabstimmen müssen, das ein Reflektant an dem
Gegenstande nimmt. Das Entscheidende ist also dies: daſs der
[47] wirtschaftliche, praktisch wirksame Wert niemals ein Wert überhaupt,
sondern seinem Wesen und Begriff nach eine bestimmte Wertquantität
ist; daſs diese Quantität überhaupt nur durch die Messung zweier
Begehrungsintensitäten aneinander zustande kommen kann; daſs die
Form, in der diese Messung innerhalb der Wirtschaft geschieht, die
des Austausches von Opfer und Gewinn ist; daſs mithin der wirtschaft-
liche Gegenstand nicht, wie es oberflächlich scheint, an seiner Begehrt-
heit ein absolutes Wertmoment besitzt, sondern daſs diese Begehrtheit
ausschlieſslich als Fundament oder Material eines — wirklichen oder
gedachten — Austausches dem Gegenstand einen Wert auswirkt.


Die Relativität des Wertes — derzufolge die gegebenen gefühls-
erregenden, begehrten Dinge erst in der Gegenseitigkeit des Hingabe-
und Tauschprozesses zu Werten werden — scheint zu der Konsequenz
zu drängen, daſs der Wert nichts anderes sei, als der Preis, und daſs
zwischen beiden keine Höhenunterschiede bestehen können, so daſs
das häufige Auseinanderfallen beider die Theorie widerlegen würde.
Diese behauptet allerdings: daſs es zunächst zu einem Werte überhaupt
niemals gekommen wäre, wenn sich nicht die allgemeine Erscheinung,
die wir Preis nennen, eingestellt hätte. Daſs eine Sache rein ökono-
misch etwas wert ist, bedeutet, daſs sie mir etwas wert ist, d. h. daſs
ich bereit bin, etwas für sie hinzugeben. Alle seine praktischen Wirk-
samkeiten kann ein Wert als solcher nur entfalten, indem er anderen
äquivalent, d. h. indem er tauschbar ist. Äquivalenz und Tauschbar-
keit sind Wechselbegriffe, beide drücken denselben Sachverhalt in ver-
schiedenen Formen, gleichsam in der Ruhelage und in der Bewegung,
aus. Was in aller Welt kann uns bewegen, über das naiv subjektive
Genieſsen der Dinge hinaus ihnen noch die eigentümliche Bedeutsam-
keit, die wir ihren Wert nennen, zuzusprechen? Ihrer Seltenheit an
und für sich kann das nicht gelingen. Denn wenn diese einfach als
Thatsache bestünde und nicht in irgend einer Weise durch uns modi-
fizierbar wäre — was sie doch nicht nur durch die produktive Arbeit,
sondern auch durch den Besitzwechsel ist —, so würden wir sie als
eine natürliche und wegen der mangelnden Unterschiede vielleicht gar
nicht bewuſste Bestimmtheit des äuſseren Kosmos hinnehmen, die den
Dingen keine Betonung über ihre inhaltlichen Qualitäten hinaus verschafft.
Diese quillt erst daraus, daſs für die Dinge etwas bezahlt werden muſs: die
Geduld des Wartens, die Mühe des Suchens, die Aufwendung der Arbeits-
kraft, der Verzicht auf anderweitig Begehrenswürdiges. Ohne Preis also
— Preis zunächst in dieser weiteren Bedeutung — kommt es zu keinem
Wert. Daſs von zwei Objekten das eine wertvoller ist als das andere,
stellt sich sowohl innerlich wie äuſserlich nur so dar, daſs ein Subjekt
[48] wohl dieses für jenes, aber nicht umgekehrt hinzugeben bereit ist. In
der noch nicht vielgliedrig komplizierten Praxis kann der höhere oder
geringere Wert nur Folge oder Ausdruck dieses unmittelbaren prakti-
schen Willens zum Tausche sein. Und wenn wir sagen, wir tauschten
die Dinge gegeneinander aus, weil sie gleich wertvoll sind, so ist das
nur jene häufige begrifflich-sprachliche Umkehrung, mit der wir so oft
jemanden zu lieben glauben, weil er bestimmte Eigenschaften besäſse —
während wir ihm diese Eigenschaft nur geliehen haben, weil wir ihn
lieben, oder mit der wir sittliche Imperative aus religiösen Dogmen
herleiten, während wir in Wirklichkeit an diese glauben, weil jene in
uns lebendig sind.


Der Preis fällt seinem begrifflichen Wesen nach mit dem ökono-
misch objektiven Werte zusammen; ohne ihn würde es überhaupt nicht
gelingen, die Grenzlinie, die den letzteren von dem subjektiven Wert
scheidet, zu ziehen. Der Ausdruck nämlich, daſs der Tausch Wert-
gleichheit voraussetze, ist vom Standpunkt der beiden Kontrahenten
aus nicht zutreffend. A und B mögen ihre Besitztümer α und β unter-
einander eintauschen, da diese beiden gleich viel wert sind. Allein A
hätte keine Veranlassung, sein α fortzugeben, wenn er wirklich nur
den für ihn gleich groſsen Wert β dafür erhielte. β muſs für ihn ein
gröſseres Wertquantum als das, was er bisher an α besessen hat,
bedeuten; und ebenso muſs B bei dem Tausche mehr gewinnen als
einbüſsen, um auf ihn einzutreten. Wenn für A also β wertvoller ist
als α, für B dagegen α wertvoller als β, so gleicht sich dies objektiv,
vom Standpunkt eines Beobachters, freilich aus. Allein diese Wert-
gleichheit besteht nicht für den Kontrahenten, der mehr empfängt, als
er fortgiebt. Wenn dieser dennoch überzeugt ist, mit dem Anderen
nach Recht und Billigkeit gehandelt und Gleichwertiges ausgetauscht
zu haben, so ist dies für A so auszudrücken: objektiv zwar habe
er an B Gleiches für Gleiches geliefert, der Preis (α) sei das Äqui-
valent für den Gegenstand (β), aber subjektiv sei der Wert von β
freilich für ihn gröſser als der von α. Nun ist aber das Wertgefühl,
das A an β knüpft, doch in sich eine Einheit und in ihm selbst der
Teilstrich nicht mehr wahrnehmbar, der das objektive Wertquantum gegen
seine subjektive Zugabe abgrenzte. Ausschlieſslich also die Thatsache,
daſs das Objekt ausgetauscht wird, d. h. ein Preis ist und einen Preis
kostet, zieht diese Grenze, bestimmt innerhalb seines subjektiven Wert-
quantums den Teil, mit dem es als objektiver Gegenwert in den Ver-
kehr eintritt.


Eine andere Beobachtung belehrt uns nicht weniger, daſs der
Tausch keineswegs von einer vorangehenden Vorstellung objektiver
[49] Wertgleichheit bedingt ist. Sieht man nämlich zu, wie das Kind, der
impulsive und, allem Anschein nach, auch der primitive Mensch
tauscht — so geben diese irgend ein beliebiges Besitztum für einen
Gegenstand hin, den sie grade augenblicklich heftig begehren, gleichviel
ob die allgemeine Schätzung oder sie selbst bei ruhigem Überlegen
den Preis viel zu hoch finden. Dies widerspricht der Ausmachung,
daſs jeder Tausch für das Bewuſstsein des Subjekts ein vorteilhafter
sein müsse, eben deshalb nicht, weil diese ganze Aktion subjektiv
jenseits der Frage nach Gleichheit oder Ungleichheit
der Tauschobjekte steht
. Es ist eine jener rationalistischen
Selbstverständlichkeiten, die so ganz unpsychologisch sind: daſs jedem
Tausch eine Abwägung zwischen Opfer und Gewinn vorausgegangen
sei und mindestens zu einer Gleichsetzung beider geführt haben müsse.
Dazu gehört eine Objektivität gegenüber dem eigenen Begehren, die
jene angedeuteten Seelenverfassungen gar nicht aufbringen. Der unaus-
gebildete oder befangene Geist tritt von der momentanen Aufgipfelung
seiner Interessen nicht so weit zurück, um einen Vergleich anzustellen,
er will eben im Augenblick nur das eine, und die Hingabe des anderen
wirkt deshalb gar nicht als Abzug von der ersehnten Befriedigung, also
gar nicht als Preis. Angesichts der Besinnungslosigkeit, mit der kindliche,
unerfahrene, ungestüme Wesen das grade Begehrte „um jeden Preis“
sich aneignen, scheint mir vielmehr das Wahrscheinlichste, daſs das
Gleichheitsurteil erst der Erfolg so und so vieler, ohne jede Abwägung
vollbrachter Besitzwechsel ist. Das ganz einseitige, den Geist ganz
occupierende Begehren muſs sich erst durch den Besitz beruhigt haben,
um überhaupt andere Objekte zur Vergleichung mit diesem zuzulassen.
Der ungeheure Abstand der Betonung, der in dem ungeschulten und
unbeherrschten Geist zwischen seinem momentanen Interesse und allen
anderen Vorstellungen und Schätzungen besteht, veranlaſst den Tausch,
bevor es noch zu einem Urteil über den Wert — d. h. über das Ver-
hältnis verschiedener Wertquanten zu einander — gekommen ist. Daſs
bei ausgebildeten Wertbegriffen und leidlicher Selbstbeherrschung das
Urteil über Wertgleichheit dem Tausch vorangeht, darf über die Wahr-
scheinlichkeit nicht täuschen, daſs hier wie so oft das rationale Verhält-
nis sich erst aus dem psychologisch umgekehrt verlaufenden entwickelt
hat (auch innerhalb der Provinz der Seele ist πρὸς ἡμᾶς das letzte, was
φύσει das erste ist) und daſs der aus rein subjektiven Impulsen ent-
standene Besitzwechsel uns dann erst über den relativen Wert der
Dinge belehrt hat.


Ist so der Wert gleichsam der Epigone des Preises, so scheint es
ein identischer Satz, daſs ihre Höhen die gleichen sein müssen. Ich
Simmel, Philosophie des Geldes. 4
[50] beziehe mich hier auf die obige Feststellung: daſs in jedem individu-
ellen Falle kein Kontrahent einen Preis zahlt, der ihm unter den
gegebnen Umständen für das Erworbene zu hoch ist. Wenn in dem
Chamissoschen Gedichte der Räuber mit vorgehaltener Pistole den
Angefallenen zwingt, ihm Uhr und Ringe für drei Batzen zu verkaufen,
so ist diesem unter solchen Umständen — da er nämlich nur so sein
Leben retten kann — das Eingetauschte wirklich den Preis wert;
niemand würde für einen Hungerlohn arbeiten, wenn er nicht in
der Lage, in der er sich thatsächlich befindet, diesen Lohn eben dem
Nichtarbeiten vorzöge. Der Schein des Paradoxen an der Behauptung
von der Äquivalenz von Wert und Preis in jedem individuellen Falle
entsteht nur daher, daſs in diesen gewisse Vorstellungen von ander-
weitigen
Äquivalenzen von Wert und Preis hineingebracht werden.
Die relative Stabilität der Verhältnisse, von denen die Mehrzahl der
Tauschhandlungen bestimmt werden, andererseits die Analogien, die
auch das noch schwankende Wertverhältnis nach der Norm bereits
bestehender fixieren, bewirken die Vorstellungen: für ein bestimmtes
Objekt gehöre sich eben dies und jenes bestimmte andere Objekt als
Tauschäquivalent, diese beiden bezw. diese Kreise von Objekten hätten
gleiche Wertgröſse, und wenn innormale Umstände uns dies Objekt
mit darüber oder darunter gelegenen Gegenwerten austauschen lieſsen,
so fielen eben Wert und Preis auseinander — obgleich sie thatsächlich
in jedem einzelnen Falle unter Berücksichtigung seiner Umstände
zusammenfallen. Man vergesse doch nicht, daſs die objektive und
gerechte Äquivalenz von Wert und Preis, die wir zur Norm der that-
sächlichen und singulären machen, auch nur unter ganz bestimmten
historischen und technischen Bedingungen gilt und mit der Änderung
derselben sofort auseinanderfällt. Zwischen der Norm selbst und den
Fällen, die sie als abweichende oder als adäquate charakterisiert, besteht
hier also gar kein genereller, sondern sozusagen nur ein numerischer
Unterschied — ungefähr wie man von einem auſsergewöhnlich hoch-
oder auſsergewöhnlich tiefstehenden Individuum sagt, es sei eigentlich
gar kein Mensch mehr; während doch dieser Begriff des Menschen
nur ein Durchschnitt ist, der seinen normativen Charakter in dem
Augenblick verlieren würde, in dem die Majorität der Menschen zu der
einen oder der anderen jener Verfassungen herauf oder herunter stiege,
welche dann als die allein „menschliche“ gälte. Dies einzusehen fordert
freilich eine energische Befreiung von eingewurzelten und praktisch
durchaus berechtigten Wertvorstellungen. Diese nämlich liegen bei
irgend entwickelteren Verhältnissen in zwei Schichten übereinander:
die eine gebildet aus den Traditionen des Gesellschaftskreises, der
[51] Majorität der Erfahrungen, den als rein logisch erscheinenden Forde-
rungen; die andere aus den individuellen Konstellationen, den An-
sprüchen des Augenblicks, dem Zwange der zufälligen Umgebung. Gegen-
über dem schnellen Wechsel innerhalb der letzteren Schicht verbirgt
sich unserer Wahrnehmung die langsame Evolution der ersteren und
ihre Bildung aus der Sublimierung jener, und sie erscheint als das
sachlich Gerechtfertigte, als der Ausdruck einer objektiven Proportion.
Wo nun bei einem Tausch zwar unter den gegebenen Umständen die
Wertgefühle von Opfer und Gewinn sich mindestens gleichstehen —
denn sonst würde kein Subjekt, das überhaupt vergleicht, ihn voll-
ziehen — dieselben aber, an jenen generellen Festsetzungen gemessen,
eine Diskrepanz ergeben, da spricht man von einem Auseinanderfallen von
Wert und Preis. Am entschiedensten tritt dies unter den beiden — übrigens
fast immer vereinigten — Voraussetzungen auf, daſs eine einzige Wert-
qualität als der wirtschaftliche Wert schlechthin gilt und zwei Objekte
also nur insofern als wertgleich anerkannt werden, als das gleiche Quantum
jenes Fundamentalwertes in ihnen steckt; und daſs zweitens eine
bestimmte Proportion zwischen zwei Werten als die sein-sollende
mit dem Accente einer nicht nur objektiven, sondern auch moralischen
Forderung auftritt. Die Vorstellung z. B., daſs das eigentliche Wert-
moment in allen Werten die in ihnen vergegenständlichte, gesellschaft-
lich notwendige Arbeitszeit sei, ist nach beiden Richtungen hin benutzt
worden und giebt so einen — direkter oder indirekter anwendbaren —
Maſsstab, der den Wert in wechselnden Plus- und Minusdifferenzen
gegen den Preis pendeln macht Allein zunächst lässt die Thatsache
jenes einheitlichen Wert maſsstabes ganz dahingestellt, wieso denn
die Arbeitskraft zu einem Werte geworden sei. Sie wäre es schwerlich,
wenn sie nicht, an verschiedenem Materiale sich bethätigend und
verschiedene Produkte schaffend, dadurch die Möglichkeit des Tausches
ergeben hätte, oder wenn ihre Ausübung nicht als ein Opfer empfunden
worden wäre, das man für den Gewinn ihres Ergebnisses bringt. Auch
die Arbeitskraft wird erst durch die Möglichkeit und Wirklichkeit des
Tausches in die Wertkategorie eingestellt, ganz unbeschadet des Um-
standes, daſs sie nachher innerhalb dieser den Maſsstab für deren
übrige Inhalte abgeben mag. Sei die Arbeitskraft also auch der Inhalt
jedes Wertes, seine Form als Wert erhält er erst dadurch, daſs sie in
die Relation von Opfer und Gewinn oder Preis und Wert (hier im
engeren Sinne) eingeht. In den Fällen des Auseinandergehens von
Preis und Wert gäbe nach dieser Theorie der eine Kontrahent ein
Quantum unmittelbarer vergegenständlichter Arbeitskraft gegen ein
geringeres Quantum ebenderselben hin, mit welchem indes andere —
4*
[52] keine Arbeitskraft darstellenden — Umstände derart verbunden sind,
daſs er dennoch den Tausch vollzieht, z. B. Befriedigung eines unauf-
schieblichen Bedürfnisses, Liebhaberei, Betrug, Monopole und ähnliches.
Im weiteren und subjektiven Sinne bleibt also auch hier die Äquivalenz
von Wert und Gegenwert bestehen, während die einheitliche Norm
Arbeitskraft, die ihre Diskrepanz ermöglicht, sich auch ihrerseits nicht
der Genesis ihres Wertcharakters aus dem Tausch entzieht.


Die qualitative Bestimmtheit der Objekte, die subjektiv ihre
Begehrtheit bedeutet, kann nach alledem den Anspruch, eine absolute
Wertgröſse zu erzeugen, nicht aufrecht erhalten: es ist immer erst die
im Tausch sich verwirklichende Relation der Begehrungen zu einander,
die deren Gegenstände zu wirtschaftlichen Werten macht. Unmittel-
barer tritt diese Bestimmung an dem anderen der als konstitutiv gel-
tenden Momente des Wertes hervor, an der Knappheit oder relativen
Seltenheit. Der Tausch ist ja nichts anderes, als der interindividuelle
Versuch, die aus der Knappheit der Güter entspringenden Miſsstände
zu verbessern, d. h. das subjektive Entbehrungsquantum durch die Ver-
teilungsart des gegebnen Vorrates möglichst herabzusetzen. Schon
daraus folgt zunächst eine allgemeine Korrelation zwischen dem, was
man — in freilich mit Recht kritisierter Weise — Seltenheitswert und
dem, was man Tauschwert nennt. Hier aber ist der Zusammenhang
in umgekehrter Richtung wichtiger. Ich habe bereits hervorgehoben,
daſs die Knappheit der Güter schwerlich eine Wertung ihrer zur Folge
hätte, wenn sie nicht durch uns modifizierbar wäre. Das ist sie eben
nur auf zweierlei Weise: entweder durch die Hingabe von Arbeitskraft,
die den Gütervorrat objektiv vermehrt, oder durch Hingabe bereits be-
sessener Objekte, die als Besitzwechsel die Seltenheit des je begehrtesten
Objektes für das Subjekt aufhebt. So kann man zunächst wohl sagen,
daſs die Knappheit der Güter im Verhältnis zu den darauf gerichteten
Begehrungen objektiv den Tausch bedingt, daſs aber der Tausch seiner-
seits erst die Seltenheit zu einem Wertmoment macht. Es ist ein
durchgehender Fehler von Werttheorien, daſs sie, wenn Brauchbarkeit
und Seltenheit gegeben sind, den ökonomischen Wert, d. h. die Tausch-
bewegung als etwas Selbstverständliches, als die begrifflich notwendige
Folge jener Prämissen setzen. Damit haben sie aber keineswegs recht.
Wenn etwa ein asketisches Sich-Bescheiden neben jenen Voraussetzungen
stünde, oder wenn sie nur zu Kampf oder Raub veranlaſsten — was
ja auch oft genug der Fall ist —, so würde kein ökonomischer Wert
und kein ökonomisches Leben entstehen.


Die Ethnologie belehrt uns über die erstaunlichen Willkürlich-
keiten, Schwankungen, Unangemessenheiten der Wertbegriffe in primi-
[53] tiven Kulturen, sobald mehr als die dringendste Notdurft des Tages in
Frage steht. Nun ist kein Zweifel, daſs dies infolge — allenfalls in
Wechselwirkung mit — der anderen Erscheinung stattfindet: der Ab-
neigung des primitiven Menschen gegen den Tausch. Für diese sind
mehrere Gründe geltend gemacht. Weil es jenem an einem objektiven
und allgemeinen Wertmaſsstab fehlt, müsse er stets fürchten, im Tausche
betrogen zu werden; weil das Arbeitsprodukt immer von ihm selbst
und für ihn selbst hergestellt sei, entäuſsere er sich damit eines Teiles
seiner Persönlichkeit und gebe den bösen Mächten Gewalt über sich.
Vielleicht stammt die Abneigung des Naturmenschen gegen die Arbeit
aus derselben Quelle. Auch hier fehlt ihm der sichere Maſsstab für
den Tausch zwischen Mühe und Ertrag, er fürchtet auch von der Natur
betrogen zu werden, deren Objektivität unberechenbar und schreckhaft
vor ihm steht, ehe er in ausgeprobtem und geregeltem Austausch mit
ihr auch sein eigenes Thun in die Distanz und Kategorie der Objek-
tivität eingestellt hat. Das Versenktsein also in die Subjektivität des
Verhaltens zum Gegenstand läſst ihm den Tausch — naturaler wie
interindividueller Art —, der mit Objektivierung der Sache und ihres
Wertes zusammengeht, als unthunlich erscheinen. Es ist thatsächlich,
als ob das erste Bewuſstwerden des Objektes als solchen ein Angst-
gefühl mit sich brächte, als ob man damit ein Stück des Ich
als von ihm losgerissen empfände. Daher sogleich die mythologische
und fetischistische Deutung, die das Objekt erfährt — eine Deutung,
die einerseits dieses Angstgefühl hypostasiert, ihm die einzige für
den Primitivmenschen mögliche Begreiflichkeit giebt, andererseits aber
es doch mildert und, indem es das Objekt vermenschlicht, es der
Versöhnung mit der Subjektivität wieder näherbringt. Aus dieser Sach-
lage erklären sich vielerlei Erscheinungen. Zunächst die Selbstver-
ständlichkeit und Ehrenhaftigkeit des Raubes, des subjektiven und
unnormierten Ansichreiſsens des grade Gewünschten. Noch weit über
die homerische Zeit hinaus erhielt sich in zurückgebliebnen griechischen
Landschaften der Seeraub als legitimer Erwerb, ja bei manchen primi-
tiven Völkern gilt der gewaltsame Raub sogar für vornehmer als das
redliche Bezahlen. Auch dies letztere ist durchaus verständlich: beim
Tauschen und Bezahlen ordnet man sich einer objektiven Norm unter,
vor der die starke und autonome Persönlichkeit zurückzutreten hat,
wozu sie eben oft nicht geneigt ist. Daher überhaupt die Verachtung
des Handels durch sehr aristokratisch-eigenwillige Naturen. Daher be-
günstigt aber auch der Tausch die Friedlichkeit der Beziehungen unter
den Menschen, weil sie in ihm eine intersubjektive, ihnen gleichmäſsig
übergeordnete Sachlichkeit und Normierung anerkennen. Noch heute
[54] existiert im Orient und vielfach sogar in Italien der Begriff des ange-
messenen Preises nicht, der für Käufer wie Verkäufer eine Schranke
und Fixierung der subjektiven Vorteile bilde. Jeder verkauft so teuer
und kauft so billig, wie er es vom Gegenpart durchsetzen kann, der
Tausch ist ausschlieſslich subjektive Aktion zwischen zwei Personen,
deren Ausgang nur von der Schlauheit, der Begierde, der Beharrlich-
keit der Parteien, aber nicht von der Sache und ihrem überindividuell
begründeten Verhältnis zum Preise abhängt. Darin eben bestünde ein
Geschäft — so setzte mir ein römischer Antiquitätenhändler ausein-
ander — daſs der Kaufmann zu viel forderte und der Käufer zu wenig
böte und man sich so allmählich bis zu einem acceptabeln Punkt einander
näherte. Hier sieht man also deutlich, wie sich das objektiv Angemessene
aus dem Gegeneinander der Subjekte herausstellt — das Ganze ein Hinein-
ragen der vortauschlichen Verhältnisse in eine schon durchgängige, aber
noch nicht zu ihrer Konsequenz gelangte Tauschwirtschaft. Hier liegt
wohl auch das letzte Motiv für die sakralen Formen, die gesetzliche
Fixiertheit, die Sicherung durch Öffentlichkeit und Tradition, mit der
das Kaufgeschäft in allen frühen Kulturen ausgestattet ist. Hiermit
erreichte man die aus dem Wesen des Tausches geforderte Über-Sub-
jektivität, die man noch nicht durch das sachliche Verhältnis der Ob-
jekte selbst herzustellen wuſste. Solange der Tausch und die Idee,
daſs es zwischen den Dingen so etwas wie Wertgleichheit gebe, noch
etwas Neues war, wäre es zu einer Verständigung überhaupt nicht ge-
kommen, wenn je zwei Individuen untereinander sie hätten treffen
müssen. Deshalb finden wir überall und bis tief in das Mittelalter
hinein nicht nur Öffentlichkeit der Tauschgeschäfte, sondern vor allem
genaue Festsetzungen über die Austauschquanten der gebräuchlichen
Waren, denen kein Kontrahentenpaar sich durch private Abmachungen
entziehen durfte. Freilich ist diese Objektivität eine mechanische und
äuſserliche, die sich auf Motive und Mächte auſserhalb des einzelnen
Tauschaktes stützt. Die sachlich angemessene enthebt sich solcher
apriorischen Festlegung und bezieht in die Berechnung die Gesamt-
heit der besonderen Umstände ein, die durch jene Form vergewaltigt
wurden. Aber Absicht und Prinzip sind die gleichen: die übersub-
jektive Wertfixierung im Tausche, die eben später nur einen sach-
licheren, immanenteren Weg fand. Der von Individuen frei und selb-
ständig vollzogene Tausch setzt eine Taxierung nach in der Sache ge-
legenen Maſsstäben voraus, und darum muſs in dem vorhergehenden
Stadium der Tausch inhaltlich fixiert und diese Fixierung sozial garan-
tiert sein, weil sonst dem Individuum jeder Anhaltspunkt für die
Schätzung der Gegenstände gefehlt hätte; wie wohl das gleiche Motiv
[55] auch der primitiven Arbeit allenthalben eine sozial geregelte Richtung
und Vollzugsweise verliehen hat, auch hier die Wesensgleichheit
zwischen Tausch und Arbeit, richtiger: die Zugehörigkeit der letzteren
zu dem ersteren als höherem Begriff, erweisend. Die mannigfaltigen
Beziehungen zwischen dem objektiv Gültigen — in praktischer wie in
theoretischer Hinsicht — und seiner sozialen Bedeutung und Aner-
kennung stellen sich auch sonst vielfach in dieser Weise historisch
dar: daſs die soziale Wechselwirkung, Verbreitung, Normierung dem
Individuum diejenige Dignität und Festigkeit eines Lebensinhaltes ge-
währt, die es später aus dessen sachlichem Recht und Beweisbar-
keit gewinnt. So glaubt das Kind jeden beliebigen Sachverhalt nicht
aus inneren Gründen, sondern weil es den mitteilenden Personen ver-
traut; nicht etwas, sondern jemandem wird geglaubt. So sind wir in
unserem Geschmack von der Mode, d. h. von der sozialen Verbreitung
eines Thuns und Schätzens abhängig, bis wir, spät genug, die Sache
selbst ästhetisch zu beurteilen wissen. So stellt sich die Notwendigkeit
für das Individuum, sich über sich selbst zu erweitern und zugleich
in dieser Erweiterung einen überpersönlichen Halt und Festigkeit zu
gewinnen: im Recht, in der Erkenntnis, in der Sittlichkeit — als die
Macht der Tradition dar; an Stelle dieser zuerst unentbehrlichen Nor-
mierung wächst allmählich die aus der Kenntnis der Dinge hervor-
gehende auf. Das Auſser-Uns, dessen wir zu unserer Orientierung
bedürfen, nimmt die leichter zugängliche Form der sozialen Allgemein-
heit an, ehe es uns als objektive Bestimmtheit der Realitäten entgegen-
tritt. In diesem, die Kulturentwicklung durchgängig charakterisierenden
Sinne also ist der Tausch ursprünglich Sache der sozialen Festsetzung,
bis die Individuen die Objekte und ihre eigenen Wertungen hinreichend
kennen, um die Tauschraten selbst von Fall zu Fall zu fixieren.
Hier liegt das Bedenken nahe, daſs diese gesellschaftlich-gesetzlichen
Preistaxen, nach denen der Verkehr in allen Halbkulturen vor sich
zu gehen pflegt, doch nur das Resultat vieler vorangegangener Tausch-
aktionen sein könnten, die zuerst in singulärer und noch unfixierter
Form unter Individuen stattgefunden hätten. Allein dieser Einwand
trägt nicht weiter als gegenüber der Sprache, Sitte, Recht, Religion,
kurz allen grundlegenden Lebensformen, die in der Gruppe als
ganzer entstehen und herrschen, und die man sich lange nur durch die
Erfindung Einzelner zu erklären wuſste; während sie sicher von vorn-
herein als interindividuelle Gebilde entstanden sind, als Wechsel-
wirkungen zwischen den Einzelnen und den Vielen, so daſs keinem
Individuum für sich ihr Ursprung zuzuschieben ist. Ich halte es durch-
aus für möglich, daſs der Vorgänger des sozial fixierten Tausches
[56] nicht der individuelle Tausch gewesen ist, sondern eine Art des Besitz-
wechsels, die überhaupt nicht Tausch war, etwa der Raub. Dann wäre
der interindividuelle Tausch nichts anderes als ein Friedensvertrag ge-
wesen und Tausch und fixierter Tausch wären als eine einheitliche That-
sache entsprungen. Eine Analogie hierzu würden die Fälle bieten, wo
der primitive Frauenraub dem exogamischen Friedensvertrag mit Nach-
barn — der den Kauf und Austausch der Weiber gründet und regelt —
vorangegangen ist. Die hiermit eingeführte, prinzipiell neue Eheform
wird also sogleich in ihrer, das Individuum präjudizierenden Fixiertheit
gesetzt. Freie Sonderverträge der gleichen Art zwischen Einzelnen
brauchen dabei keineswegs vorausgegangen zu sein, sondern zugleich
mit dem Typus ist auch seine soziale Regelung gegeben. Es ist ein
Vorurteil, daſs jede sozial geregelte Beziehung sich aus der inhaltlich
gleichen, aber in nur individueller, sozial ungeregelter Form statt-
findenden, historisch entwickelt haben müsse. Was ihr vorangegangen
ist, kann vielmehr derselbe Inhalt in einer der Art nach ganz
anderen
Beziehungsform gewesen sein. Indem der Tausch über die
subjektiven Aneignungsarten fremden Besitzes — Raub und Geschenk —
hinausgeht, findet er als erste übersubjektive Möglichkeit die soziale
Regelung vor, welche ihrerseits erst die Objektivität im sachlichen
Sinne vorbereitet; erst mit dieser dringt in den freien Besitzwechsel
zwischen Individuen als solchen die Objektivität ein, die ihn zum
Tausche macht.


Aus alledem ergiebt sich: der Tausch ist ein soziologisches
Gebilde sui generis, eine originäre Form und Funktion des inter-
individuellen Lebens, die sich keineswegs aus jener qualitativen und
quantitativen Beschaffenheit der Dinge, die man als Brauchbarkeit und
Seltenheit bezeichnet, durch logische Konsequenz ergiebt. Umgekehrt
vielmehr entwickeln beide ihre wertbildende Bedeutung erst unter der
Voraussetzung des Tausches. Wo der Tausch, das Einsetzen von Opfern
zum Zwecke des Gewinnes, aus irgend einem Grunde ausgeschlossen
ist, da kann alle Seltenheit des begehrten Objektes es nicht zu einem
wirtschaftlichen Wert machen, bis die Möglichkeit jener Relation wieder
eintritt. Man kann dies auch so ausdrücken. Die Bedeutung des
Gegenstandes für das Individuum liegt immer nur in seiner Begehrt-
heit; für das, was er uns leisten soll, ist seine qualitative Bestimmtheit
entscheidend, und wenn wir ihn haben, in dem positiven Verhältnis
zu ihm, ist es für diese Bedeutung seiner völlig einerlei, ob auſser ihm
noch viele, wenige oder keine Exemplare seiner Art existieren. (Ich
behandle hier die Fälle nicht gesondert, in denen die Seltenheit selbst
wieder eine Art qualitativer Bestimmtheit wird, die uns den Gegenstand
[57] begehrungswürdig macht, wie bei alten Briefmarken, Kuriositäten,
Antiquitäten ohne ästhetischen oder historischen Wert u. ähnl.) Übrigens
mag die Unterschiedsempfindung, deren es für den Genuſs im engeren
Sinne des Wortes bedarf, allenthalben durch eine Seltenheit des Ob-
jekts, d. h. dadurch, daſs es eben nicht überall und jederzeit genossen
wird, bedingt sein. Allein diese innere psychologische Bedingung des
Genusses wird nicht praktisch, schon weil sie nicht zur Überwindung,
sondern grade zur Konservierung, ja zur Steigerung der Seltenheit
führen müſste, was erfahrungsgemäſs nicht geschieht. Um was es sich
praktisch auſser dem direkten, von der Qualität der Dinge abhängigen
Genuſs ihrer nur handeln kann, ist der Weg zu demselben. Sobald
dieser Weg ein langer und schwieriger ist, über Opfer an Geduld,
Enttäuschungen, Arbeit, Verzichtleistungen etc. hinwegführt, nennen
wir den Gegenstand „selten“. Man kann dies unmittelbar so ausdrücken:
die Dinge sind nicht schwer zu erlangen, weil sie selten sind, sondern
sie sind selten, weil sie schwer zu erlangen sind. Die starre äuſser-
liche Thatsache, daſs es einen zu geringen Vorrat an gewissen Gütern
giebt, um all unser Begehren nach ihnen zu befriedigen, wäre an sich
bedeutungslos. Ob sie im Sinne des wirtschaftlichen Wertes selten
sind, darüber entscheidet allein der Umstand, welches Maſs von Kraft,
Geduld, Hingabe zu ihrem Erwerbe nötig ist. Die Schwierigkeit des
Erlangens, d. h. die Gröſse des in den Tausch einzusetzenden Opfers
ist das eigentümliche konstitutive Wertmoment, von dem die Selten-
heit nur die äuſsere Erscheinung, nur die Objektivierung in der
Form der Quantität ausmacht. Man übersieht oft, daſs die Seltenheit
rein als solche doch nur eine negative Bestimmung ist, ein Seiendes
durch ein Nichtseiendes charakterisiert. Das Nichtseiende aber kann
nicht wirksam sein, jede positive Folge muſs von einer positiven Be-
stimmung und Kraft ausgehen, von der jene negative gleichsam nur der
Schatten ist. Diese konkreten Kräfte sind aber ersichtlich nur die in den
Tausch eingesetzten. Nur darf man den Charakter der Konkretheit
dadurch nicht herabgesetzt glauben, daſs er hier nicht an dem Einzel-
wesen als solchen haftet. Die Relativität zwischen den Dingen hat
die einzigartige Stellung: über das Einzelne hinauszureichen, nur an
der Mehrheit als solcher zu subsistieren, und doch keine bloſs begriff-
liche Verallgemeinerung und Abstraktion zu sein. Man mag den einen
Gegenstand noch so genau auf seine für sich seienden Bestimmungen
untersuchen: den wirtschaftlichen Wert wird man nicht finden, da
dieser ausschlieſslich in dem Wechselverhältnis besteht, das sich
auf Grund dieser Bestimmungen zwischen mehreren Gegenständen
herstellt, jedes das andere bedingend und ihm die Bedeutung zurück-
gebend, die es von ihm empfängt.


[[58]]

III.


Bevor ich nun aus diesem Begriff des wirtschaftlichen Wertes den
des Geldes als seinen Gipfel und reinsten Ausdruck entwickle, ist es
erforderlich, jenen selbst in ein prinzipiell bestimmtes Weltbild ein-
zustellen, um daran die philosophische Bedeutung des Geldes zu er-
messen. Denn erst wenn die Formel des wirtschaftlichen Wertes einer
Weltformel parallel geht, darf die höchste Verwirklichungsstufe jener
beanspruchen, über ihre unmittelbare Erscheinung hinaus, oder richtiger:
in eben dieser selbst, das Dasein überhaupt deuten zu helfen.


Die physiologische Bedingtheit unserer Existenz enthält einander
entgegengesetzte Forderungen: nur in dem Wechsel zwischen Ruhe
und Bewegung, zwischen Aufnahme und Ausgabe ist das Leben möglich.
Das empfinden wir — gleichviel ob in bloſser Symbolik oder in ur-
sächlichem Zusammenhang — auch als den Typus unserer geistigen
Bedürfnisse; so daſs diese erst dann ganz befriedigt scheinen, wenn
auch das objektive Weltbild in die gleichen Kategorien aufgeht. Denn
damit erhalten unsere Wesensseiten nicht nur ein harmonisches Sich-
Einfügen in das allgemeine Sein, sondern erst so wird dieses uns
gleichsam genieſsbar: wir sind ihm gegenüber erst vollständig auf-
nahmefähig, wenn seine Gestalt den Formen unserer eigenen Innerlich-
keit entspricht. Demnach organisieren wir das regellose Nebeneinander
und Durcheinander der ersten Eindrücke, die ein Objekt uns bietet,
indem wir eine bleibende und wesentliche Substanz seiner von seinen
Bewegungen, Färbungen, Schicksalen trennen, deren Kommen und
Gehen die Festigkeit seines Wesens ungeändert läſst. Diese Gliede-
rung der Welt in die bleibenden Kerne verflieſsender Erscheinungen
und die zufälligen Bestimmungen beharrender Träger wächst zu dem
Gegensatz des Absoluten und des Relativen auf. Wie wir in uns
selbst ein seelisches Sein zu spüren meinen, dessen Existenz und
Charakter nur in sich selbst ruht, eine letzte, von allem Auſser-
Ihr unabhängige Instanz, und diese genau von jenen unserer Ge-
danken, Erlebnisse und Entwicklungen scheiden, die nur durch Be-
[59] ziehungen zu Anderen wirklich oder meſsbar werden — so suchen wir
in der Welt nach den Substanzen, Gröſsen und Kräften, deren Sein
und Bedeutung in ihnen allein begründet ist, und unterscheiden sie
von allen relativen Existenzen und Bestimmungen — von allen denen,
die nur durch Vergleich, Berührung oder Reaktion anderer das sind,
was sie sind. Die Richtung, in der dieser Gegensatz sich entwickelt,
wird gleichfalls durch unsere physiologische Anlage und ihr Verhältnis
zur Welt präjudiziert. So innig in unserem körperlich-geistigen Dasein
auch Bewegung und Ruhe, Aktivität nach auſsen und Sammlung nach
innen verbunden sein mögen, so daſs sie ihre Wichtigkeit und Be-
deutung erst aneinander finden — so empfinden wir doch die eine
Seite dieser Gegensätze, die Ruhe, das Substanzielle, das innerlich
Feste an unseren Lebensinhalten als das eigentlich Wertvolle, als das
Definitive gegenüber dem Wechselnden, Unruhigen, Äuſserlichen. Es
ist die Fortsetzung hiervon, wenn das Denken es im ganzen als seine
Aufgabe fühlt, hinter den Flüchtigkeiten der Erscheinung, dem Auf
und Nieder der Bewegungen das Unverrückbare und Verläſsliche zu
finden, und uns aus dem Aufeinander-Angewiesensein zu dem sich
selbst Genügenden, auf sich selbst Gegründeten zu führen. So ge-
winnen wir die festen Punkte, die uns im Gewirr der Erscheinungen
orientieren und das objektive Gegenbild dessen abgeben, was wir in
uns selbst als unser Wertvolles und Definitives vorstellen. So gilt,
um mit den äuſserlichsten Anwendungen dieser Tendenz zu beginnen,
das Licht als eine feine Substanz, die aus den Körpern strömt, so die
Wärme als ein Stoff, so das körperliche Leben als Wirksamkeit sub-
stanzieller Lebensgeister, so die seelischen Vorgänge als getragen von
einer besonderen Seelensubstanz; die Mythologien, die hinter den
Donner einen Donnerer, unter die Erde einen festen Unterbau, damit
sie nicht falle, in die Gestirne Geister setzten, die sie in ihren Bahnen
herumführten, suchen nicht weniger für die wahrgenommenen Bestimmt-
heiten und Bewegungen eine Substanz, an der diese nicht nur hafte,
sondern die eigentlich die wirksame Kraft selbst ist. Und über die
bloſsen Beziehungen der Dinge, über ihre Zufälligkeit und Zeitlichkeit
hinaus wird ein Absolutes gesucht: frühe Denkweisen können sich mit
der Entwicklung, dem Gehen und Kommen aller irdischen Formen im
Körperlichen und Geistigen nicht abfinden, sondern jede Art der Lebe-
wesen ist ihnen ein unveränderlicher Schöpfungsgedanke; Institutionen,
Lebensformen, Wertungen sind von jeher, absolut, so gewesen wie
sie jetzt sind, die Erscheinungen der Welt gelten nicht nur für den
Menschen und seine Organisation, sondern sie sind an und für sich
so, wie wir sie vorstellen. Kurz, die erste Tendenz des Denkens, mit
[60] der es den verwirrenden Strom der Eindrücke in ein ruhiges Bett zu
lenken und aus seinen Schwankungen eine feste Gestalt zu gewinnen
meint, richtet sich auf die Substanz und auf das Absolute, denen
gegenüber alle Einzelvorgänge und Beziehungen auf eine vorläufige,
für das Erkennen zu überwindende Stufe herabgedrückt werden.


Die angeführten Beispiele ergeben, daſs diese Bewegung wieder
rückläufig geworden ist. Nachdem fast alle Kulturepochen einzelne An-
sätze dazu gesehen haben, kann man es als eine Grundrichtung der
modernen Wissenschaft bezeichnen, daſs sie die Erscheinungen nicht
mehr durch und als besondere Substanzen, sondern als Bewegungen
versteht, deren Träger gleichsam immer weiter und weiter ins Eigen-
schaftslose abrücken; daſs sie die den Dingen anhängenden Qualitäten
als quantitative, also relative Bestimmungen auszudrücken sucht; daſs
sie statt der absoluten Stabilität organischer, physischer, ethischer,
sozialer Formationen eine rastlose Entwicklung lehrt, in der jedes
Element eine begrenzte, nur durch das Verhältnis zu seinem Vorher
und Nachher festzulegende Stelle einnimmt; daſs sie auf das an sich
seiende Wesen der Dinge verzichtet und sich mit der Feststellung der
Beziehungen begnügt, die sich zwischen den Dingen und unserem
Geiste, von dem Standpunkte dieses aus gesehen, ergeben. Daſs die
scheinbare Ruhe der Erde nicht nur eine komplizierte Bewegung ist,
sondern daſs ihre ganze Stellung im Weltall nur durch ein Wechsel-
verhältnis zu anderen Materienmassen besteht — das ist ein sehr ein-
facher, aber sehr eingreifender Fall des Überganges von der Festigkeit
und Absolutheit der Weltinhalte zu ihrer Auflösung in Bewegungen
und Relationen.


Aber alles dies scheint, selbst wenn es vollkommen durchgeführt
wäre, dennoch einen festen Punkt, eine absolute Wahrheit zu ermög-
lichen, ja, zu fordern. Das Erkennen selbst nämlich, das jene Auf-
lösung vollzieht, scheint sich seinerseits dem Strome der ewigen Ent-
wicklung, der nur vergleichsweisen Bestimmtheit zu entziehen, in den
es seine einzelnen Inhalte verweist. Die Auflösung der absoluten Ob-
jektivität der Erkenntnisinhalte in Vorstellungsarten, die nur für das
menschliche Subjekt gültig seien, setzt doch irgendwo letzte Punkte
voraus, die nicht weiter herleitbar sind; der Fluſs und die Relativität
der psychischen Prozesse dürfe doch diejenigen Voraussetzungen und
Normen nicht berühren, nach denen wir erst entscheiden, ob unsere Er-
kenntnisse denn wirklich diesen oder einen anderen Charakter tragen;
die bloſs psychologische Herleitung, in die alle absolut objektiven Er-
kenntnisse aufgelöst werden sollen, bedarf doch bestimmter Axiome, die
nicht selbst wieder, ohne fehlerhaften Zirkel, eine bloſs psychologische
[61] Bedeutung haben dürfen. Dies ist nicht nur ein Punkt von der gröſsten
Wichtigkeit für die allgemeine Anschauung der Dinge, auf der sich
alles folgende aufbaut, sondern auch für viele Einzelheiten derselben
so vorbildlich, daſs er der genaueren Erörterung bedarf.


Zweifellos kann die Wahrheit irgend eines Satzes nur auf Grund
von Kriterien erkannt werden, die von vornherein sicher, allgemein und
über das Einzelne hinübergreifend sind; diese Kriterien können auf
einzelne Gebiete beschränkt sein und ihrerseits ihre Legitimation aus
noch höher gelegenen ziehen; so daſs eine Reihe von Erkenntnissen
übereinandergebaut ist, von denen jede nur unter der Bedingung einer
anderen gültig ist. Allein diese Reihe muſs, um nicht in der Luft zu
schweben, ja eigentlich, um überhaupt möglich zu sein, irgendwo
einen letzten Grund haben, eine höchste Instanz, die allen folgenden
Gliedern ihre Legitimation giebt, ohne selbst einer solchen zu be-
dürfen. Dies ist das Schema, in das unser thatsächliches Erkennen sich
muſs eingliedern lassen, und das alle Bedingtheiten und Relativitäten
dieses an ein nicht mehr bedingtes Wissen knüpft. Allein: welches
nun diese absolute Erkenntnis sei, können wir niemals wissen. Ihr
wirklicher Inhalt ist niemals mit derselben Sicherheit auszumachen,
die über ihre prinzipielle, sozusagen formale Existenz besteht, weil der
Prozeſs der Auflösung in höhere Prinzipien, der Versuch, das bisher
letzte doch noch weiter herzuleiten, niemals an seinem Ende anlangen
kann. Welchen Satz wir also auch als den letztbegründenden, über der
Bedingtheit aller anderen stehend ausgefunden hätten — die Möglichkeit,
auch ihn als bloſs relativ und durch einen höheren bedingt zu er-
kennen, bleibt bestehen; und diese Möglichkeit ist eine positive Auf-
forderung, da die Geschichte des Wissens sie unzählige Mal verwirk-
licht hat. Irgendwo freilich mag das Erkennen seine absolute Basis
haben, wo es sie aber hat, können wir nie unabänderlich feststellen, und
müssen daher, um das Denken nicht dogmatisch abzuschlieſsen, jeden
zuletzt erreichten Punkt so behandeln, als ob er der vorletzte wäre.


Das Ganze des Erkennens wird dadurch keineswegs skeptisch ge-
färbt, wie überhaupt das Miſsverständnis, Relativismus und Skeptizismus
zu verwechseln, ebenso grob ist wie das an Kant begangene, als man
seine Verwandlung von Raum und Zeit in Bedingungen unserer Er-
fahrung als Skeptizismus denunzierte. Man muſs freilich beide Stand-
punkte so beurteilen, wenn man die je entgegengesetzten von vorn-
herein als das unbedingt richtige Bild des Wirklichen festhält, so daſs jede
sie verneinende Theorie als Erschütterung „der Wirklichkeit“ erscheint.
Wenn für jetzt zugegeben wird, daſs unser Erkennen irgendwo eine
absolute Norm, eine nur durch sich selbst legitimierte letzte Instanz be-
[62] sitzen mag, der Inhalt derselben aber für unser vorschreitendes Er-
kennen in fortwährendem Flieſsen bleiben muſs und jeder momentan
erreichte auf einen noch tieferen und für seine Aufgabe zulänglicheren
hinweist — so ist dies nicht mehr Skeptizismus, als das allgemein Zu-
gegebne: daſs zwar alles Naturgeschehen unbedingt ausnahmslosen Ge-
setzen gehorcht, daſs aber dieselben als erkannte fortwährender
Korrektur unterliegen und die uns zugängigen Inhalte dieser Gesetz-
lichkeit immer historisch bedingt sind und jener Absolutheit ihres
Allgemeinbegriffs entbehren. So wenig also die letzten Voraussetzungen
eines abgeschlossenen Erkennens als nur bedingt, subjektiv oder relativ
wahr gelten dürften, so sehr darf und muſs es doch jede einzelne,
die sich uns momentan als Erfüllung dieser Form anbietet.


Daſs so jede Vorstellung nur im Verhältnis zu einer anderen wahr
ist, selbst wenn das ideale, für uns aber im Unendlichen liegende
System des Erkennens eine von dieser Bedingtheit gelöste Wahrheit
enthalten sollte — das bezeichnet wohl einen Relativismus unseres Ver-
haltens, der auf anderen Gebieten in analoger Weise gilt. Für
die menschlichen Vergesellschaftungen mag es Normen der Praxis
geben, die, von einem übermenschlichen Geiste erkannt, das absolute
und ewige Recht heiſsen dürften. Dieses müſste eine juristische causa
sui sein, d. h. seine Legitimation in sich selbst tragen, denn sowie es
sie von einer höheren Normierung entlehnte, so würde eben diese, und
nicht jenes, die absolute, unter allen Umständen gültige Rechtsbestim-
mung bedeuten. Nun giebt es thatsächlich keinen einzigen Gesetzes-
inhalt, der den Anspruch auf ewige Unabänderlichkeit erheben könnte,
jeder vielmehr hat nur die zeitliche Gültigkeit, die die historischen
Umstände und ihr Wechsel ihm lassen. Und diese Gültigkeit bezieht
er, falls seine Setzung selbst schon eine legitime und keine willkür-
liche ist, aus einer schon vorher bestehenden Rechtsnorm, aus der die
Beseitigung des alten Rechtsinhaltes mit derselben Legalität flieſst, wie
sein bisheriges Bestehen. Jede Rechtsverfassung enthält also in sich
die Kräfte — und zwar nicht nur die äuſserlichen, sondern auch die ideal-
rechtlichen — zu ihrer eigenen Änderung, Ausbreitung oder Aufhebung,
so daſs z. B. dasjenige Gesetz, das einem Parlamente die Gesetzgebung
überträgt, nicht nur die Legitimität eines Gesetzes A bewirkt, das ein
von demselben Parlament gegebenes Gesetz B aufhebt, sondern es
sogar zu einem rechtlichen Akte macht, wenn das Parlament auf seine
Legislation zu gunsten einer anderen Instanz verzichtet. Das heiſst
also, von der anderen Seite gesehen: jedes Gesetz besitzt seine Würde
als solches nur durch sein Verhältnis zu einem anderen Gesetz, keines
hat sie durch sich selbst. Grade wie ein neuer, und noch so revo-
[63] lutionärer Inhalt des Erkennens seine Beweisbarkeit für uns doch
nur aus den Inhalten, Axiomen und Methoden des bisherigen Erkennt-
nisstandes ziehen kann, wenngleich eine erste Wahrheit als existierend
angenommen werden muſs, die nicht bewiesen werden kann, die wir
aber in ihrer selbstgenugsamen Sicherheit nie erreichen können — so
fehlt uns das in sich selbst ruhende Recht, obgleich dessen Idee über
der Reihe der relativen Rechtsbestimmungen schwebt, deren jede auf
die Legitimierung durch eine andere angewiesen ist. Freilich hat auch
unser Erkennen erste Axiome, die in jedem gegebnen Augenblick für
uns nicht mehr beweisbar sind, weil es ohne diese nicht zu den rela-
tiven Reihen abgeleiteter Beweise käme; allein jene haben eben doch
nicht die logische Dignität des Bewiesenen, sie sind nicht in demselben
Sinne für uns wahr, wie dieses es ist, und unser Denken macht an
ihnen als letzten Punkten nur so lange Halt, bis es auch über sie zu
noch Höherem hinauf kann, das dann das bisher Axiomatische seiner-
seits beweist. Entsprechend giebt es freilich absolut und relativ vor-
rechtliche Zustände, in denen ein empirisches Recht aus Gewalt- oder
anderen Gründen gesetzt wird. Allein das wird eben nicht rechtlich
gesetzt; es gilt wohl als Recht, sobald es da ist, aber daſs es da ist,
ist keine rechtliche Thatsache; es fehlt ihm die Dignität alles dessen,
was sich auf ein Gesetz stützt; und es ist thatsächlich das Bestreben
jeder Macht, die ein solches rechtloses Recht setzt, irgend eine Legi-
timierung desselben aufzufinden oder zu fingieren, d. h. es aus einem
bereits bestehenden Rechte herzuleiten — gleichsam eine Huldigung an
jenes absolute Recht, das jenseits alles relativen steht und von diesem
niemals ergriffen werden kann, sondern für uns nur in der Form einer
kontinuierlichen Ableitung jeder aktuellen Rechtsbestimmung von einer
davorliegenden ihr Symbol findet.


Wenn aber auch dieser Rückgang ins Unendliche unser Erkennen
nicht in der Bedingtheit festhielte, so würde dies vielleicht einer an-
deren Form seiner gelingen. Verfolgt man den Beweis eines Satzes
in seine Begründungen und diese wieder in die ihrigen u. s. w., so
entdeckt man bekanntlich oft, daſs der Beweis nur möglich, d. h.
seinerseits beweisbar ist, wenn man jenen ersten, durch ihn zu be-
weisenden Satz, bereits als erwiesen voraussetzt. So sehr dies, für eine
bestimmte Deduktion aufgezeigt, sie als einen fehlerhaften Zirkelschluſs
illusorisch macht, so wenig ist es doch undenkbar, daſs unser Er-
kennen, als Ganzes betrachtet, in dieser Form befangen wäre. Bedenkt
man die ungeheure Zahl übereinandergebauter und sich ins Unend-
liche verlierender Voraussetzungen, von denen jede inhaltlich bestimmte
Erkenntnis abhängt, so scheint es durchaus nicht ausgeschlossen, daſs
[64] wir den Satz A durch den Satz B beweisen, der Satz B aber, durch
die Wahrheit von C, D, E u. s. w. hindurch schlieſslich nur durch
die Wahrheit von A beweisbar ist. Die Kette der Argumentation C,
D, E u. s. w. braucht nur hinreichend lang angenommen zu werden,
so daſs ihr Zurückkehren zu ihrem Ausgangspunkt sich dem Bewuſst-
sein entzieht, wie die Gröſse der Erde dem unmittelbaren Blick ihre
Kugelgestalt verbirgt und die Illusion erregt, als könnte man auf ihr
in grader Richtung ins Unendliche fortschreiten; und der Zusammen-
hang, den wir innerhalb unserer Welterkenntnis annehmen: daſs wir
von jedem Punkte derselben zu jedem anderen durch Beweise hindurch
gelangen können — scheint dies plausibel zu machen. Wenn wir nicht
ein für allemal dogmatisch an einer Wahrheit Halt machen wollen,
die ihrem Wesen nach keines Beweises bedürfe, so liegt es nahe, diese
Gegenseitigkeit des Sich-Beweisens für die Grundform des — als
vollendet gedachten — Erkennens zu halten. Das Erkennen ist so
ein freischwebender Prozeſs, dessen Elemente sich gegenseitig ihre
Stellung bestimmen, wie die Materienmassen es vermöge der Schwere
thun; gleich dieser ist die Wahrheit dann ein Verhältnisbegriff. Daſs
unser Bild der Welt auf diese Weise „in der Luft schwebt“, ist nur in
der Ordnung, da ja unsere Welt selbst es thut. Das ist keine zufällige
Koinzidenz der Worte, sondern Hinweisung auf den grundlegenden Zu-
sammenhang. Die unserem Geiste eigene Notwendigkeit, die Wahrheit
durch Beweise zu erkennen, verlegt ihre Erkennbarkeit entweder ins Un-
endliche oder biegt sie zu einem Kreise um, indem ein Satz nur im Ver-
hältnis zu einem anderen, dieser andere aber schlieſslich nur im Ver-
hältnis zu jenem ersten wahr ist. Das Ganze der Erkenntnis wäre
dann so wenig „wahr“, wie das Ganze der Materie schwer ist; nur
im Verhältnis der Teile untereinander gälten die Eigenschaften, die
man von dem Ganzen nicht ohne Widerspruch aussagen könnte.


Diese Gegenseitigkeit, in der sich die inneren Erkenntniselemente
die Bedeutung der Wahrheit gewähren, scheint als Ganzes von einer
weiteren Relativität getragen zu werden, die zwischen den theoretischen
und den praktischen Interessen unseres Lebens besteht. Wir sind über-
zeugt, daſs alle Vorstellungen vom Seienden Funktionen besonderer phy-
sisch-psychischer Organisation sind, die dasselbe keineswegs mechanisch
abspiegeln. Vielmehr, die Weltbilder des Insekts mit seinen Facetten-
augen, des Adlers mit seinem Sehvermögen von einer uns kaum vor-
stellbaren Schärfe, des Grottenolms mit seinen zurückgebildeten Augen,
unser eigenes, sowie die unzähligen anderen, müssen durchaus von tief-
gehender Verschiedenheit sein, woraus unmittelbar zu schlieſsen ist,
daſs keines derselben den auſserpsychischen Weltinhalt in seiner an
[65] sich seienden Objektivität nachzeichnet. Die so wenigstens negativ
charakterisierten Vorstellungen sind nun aber Voraussetzung, Material,
Direktive für unser praktisches Handeln, durch das wir uns mit der
Welt, wie sie relativ unabhängig von unserem subjektiv bestimmten
Vorstellen besteht, in Verbindung setzen: wir erwarten von ihr be-
stimmte Rückwirkungen auf unsere Einwirkungen und sie leistet uns
dieselben auch, wenigstens im groſsen und ganzen, in der richtigen,
d. h. uns nützlichen Weise, wie sie eben solche auch den Tieren
leistet, deren Verhalten durch völlig abweichende Bilder von eben der-
selben Welt bestimmt wird. Dies ist doch eine höchst auffallende
Thatsache: Handlungen, auf Grund von Vorstellungen vorgenommen,
die mit dem objektiv Seienden sicherlich keinerlei Gleichheit besitzen,
erzielen aus diesem dennoch Erfolge von einer solchen Berechenbarkeit,
Zweckmäſsigkeit, Treffsicherheit, daſs sie bei einer Kenntnis jener ob-
jektiven Verhältnisse, wie sie an sich wären, nicht gröſser sein könnten,
während andere Handlungen, nämlich die auf „falsche“ Vorstellungen
hin erfolgenden, in lauter reale Schädigungen unser auslaufen. Und
ebenso sehen wir, daſs auch die Tiere Täuschungen und korrigierbaren
Irrtümern unterliegen. Was kann nun die „Wahrheit“ bedeuten, die
für diese und uns inhaltlich eine ganz verschiedene ist, auſserdem sich
mit der objektiven Wirklichkeit gar nicht deckt, und dennoch so sicher
zu erwünschten Handlungsfolgen führt, als ob dies letztere der Fall
wäre? Das scheint mir nur durch die folgende Annahme erklärbar.
Die Verschiedenheit der Organisationen fordert, daſs jede Art, um sich
zu erhalten und ihre wesentlichen Lebenszwecke zu erreichen, sich auf
eine besondere, von den andern abweichende Art praktisch verhalten
muſs. Ob eine Handlung, die von einem Vorstellungsbilde geleitet und
bestimmt wird, für den Handelnden nützliche Folgen hat, ist also noch
keineswegs nach dem Inhalte dieser Vorstellung zu entscheiden, mag
er sich nun mit der absoluten Objektivität decken oder nicht. Das
wird vielmehr einzig davon abhängen, zu welchem Erfolg diese Vor-
stellung als realer Vorgang innerhalb des Organismus, im Zusammen-
wirken mit den übrigen physisch-psychischen Kräften und in Hinsicht
auf die besonderen Lebenserfordernisse jenes führt. Wenn wir
nun vom Menschen sagen, lebenerhaltend und -fördernd handle er
nur auf Grund wahrer Vorstellungen, zerstörerisch aber auf Grund
falscher — was soll diese „Wahrheit“, die für jede mit Bewuſstsein
ausgestattete Art eine inhaltlich andere und für keine ein Spiegelbild
der Dinge an sich ist, ihrem Wesen nach anderes bedeuten, als eben
diejenige Vorstellung, die im Zusammenhang mit der ganzen speziellen
Organisation, ihren Kräften und Bedürfnissen, zu nützlichen Folgen
Simmel, Philosophie des Geldes. 5
[66] führt? Sie ist ursprünglich nicht nützlich, weil sie wahr ist, sondern
umgekehrt: mit dem Ehrennamen des Wahren statten wir diejenigen
Vorstellungen aus, die, als reale Kräfte oder Bewegungen in uns wirk-
sam, uns zu nützlichem Verhalten veranlassen. Darum giebt es soviel
prinzipiell verschiedene Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene
Organisationen und Lebensanforderungen giebt. Dasjenige Sinnenbild,
das für das Insekt Wahrheit ist, wäre es offenbar nicht für den Adler;
denn eben dasselbe, auf Grund dessen das Insekt im Zusammenhang
seiner inneren und äuſseren Konstellationen zweckmäſsig handelt, würde
den Adler im Zusammenhange der seinigen zu ganz unsinnigen und ver-
derblichen Handlungen bewegen. Daſs für den Menschen ein Inbegriff
fester und normativer Wahrheiten zustande gekommen ist, mag so zu-
sammenhängen, daſs unter unseren unzähligen, psychologisch auftauchen-
den Vorstellungen von jeher eine Auslese von dem Gesichtspunkte aus
stattgefunden hat, ob ihre Weiterwirkungen auf das Handeln des Sub-
jekts sich als nützlich oder schädlich für dieses erweisen. Die ersteren
nun fixieren sich auf den gewöhnlichen Wegen der Selektion und
bilden in ihrer Gesamtheit die „wahre“ Vorstellungswelt. Und that-
sächlich haben wir gar kein anderes definitives Kriterium für die
Wahrheit einer Vorstellung vom Seienden, als daſs die auf sie hin ein-
geleiteten Handlungen die erwünschten Konsequenzen ergeben. Haben
sich nun freilich erst durch die angedeutete Auslese, d. h. durch die
Züchtung gewisser Vorstellungsweisen, diese als die dauernd zweck-
mäſsigen gefestigt, so bilden sie unter sich ein Reich des Theoretischen,
das für jede neu auftretende Vorstellung nach jetzt inneren Kriterien
über Zugehörigkeit oder Entgegengesetztheit zu ihm entscheidet — ge-
rade wie die Sätze der Geometrie sich nach innerer strenger Auto-
nomie aufeinander aufbauen, während die Axiome und die methodischen
Normen, nach denen dieser Aufbau und das ganze Gebiet überhaupt
möglich ist, selbst nicht geometrisch erweisbar sind. Das Ganze der
Geometrie ist also gar nicht in demselben Sinne gültig, in dem ihre ein-
zelnen Sätze es sind; während diese innerhalb ihrer, einer durch den
anderen, beweisbar sind, gilt jenes Ganze nur durch Beziehung auf ein
auſserhalb ihrer Gelegnes: auf die Natur des Raumes, auf die Art unserer
Anschauung, auf den Zwang unserer Denknormen. So können sich zwar
unsere einzelnen Erkenntnisse gegenseitig tragen, indem die einmal
festgestellten Normen und Thatsachen zum Beweise für andere werden,
aber das Ganze derselben hat seine Gültigkeit nur in Beziehung auf
bestimmte physisch-psychische Organisationen, ihre Lebensbedingungen
und die Förderlichkeit ihres Handelns.


Der Begriff der Wahrheit, als einer Beziehung der Vorstellungen
[67] zu einander, die an keiner derselben als eine absolute Qualität
hafte, bestätigt sich schlieſslich auch dem einzelnen Gegenstande
gegenüber. Einen Gegenstand erkennen, so stellt Kant fest, heiſst:
in dem Mannigfaltigen seiner Anschauung Einheit bewirken. Aus dem
chaotischen Material unseres Weltvorstellens, dem kontinuierlichen Fluſs
der Eindrücke, sondern wir einzelne als zu einander gehörig aus,
gruppieren sie zu Einheiten, die wir dann als „Gegenstände“ be-
zeichnen. Sobald wir die Gesamtheit der Eindrücke, die zu einer
Einheit zusammenzubringen sind, wirklich in eine solche versammelt
haben, so ist damit ein Gegenstand erkannt. Was aber kann diese
Einheit anderes bedeuten, als das funktionelle Zusammengehören, Auf-
einanderhinweisen und -angewiesensein eben jener einzelnen Eindrücke
und Anschauungsmaterialien? Die Einheit der Elemente ist doch
nichts auſserhalb der Elemente selbst, sondern die in ihnen selbst ver-
harrende, nur von ihnen dargestellte Form ihres Zusammenseins.
Wenn ich den Gegenstand Zucker dadurch als solchen erkenne, daſs
ich die durch mein Bewuſstsein gleitenden Eindrücke: weiſs, hart, süſs,
kristallinisch etc. in eine Einheit zusammenfüge, so heiſst das, daſs
ich diese Anschauungsinhalte als aneinander gebunden vorstelle, daſs,
unter diesen gegebenen Bedingungen, ein Zusammenhalt, d. h. eine
Wechselwirkung unter ihnen besteht, daſs der eine an dieser Stelle
und in diesem Zusammenhang da ist, weil der andere es ist, und so
wechselseitig. Wie die Einheit des sozialen Körpers oder der soziale
Körper als Einheit nur die gegenseitig ausgeübten Attraktions- und
Kohäsionskräfte seiner Individuen bedeutet, ein rein dynamisches Ver-
hältnis unter diesen, so ist die Einheit des einzelnen Objekts, in deren
geistiger Realisierung seine Erkenntnis besteht, nichts als eine Wechsel-
wirkung unter den Elementen seiner Anschauung. Auch in dem, was
man die „Wahrheit“ eines Kunstwerkes nennt, dürfte das Verhältnis
seiner Elemente untereinander sehr viel bedeutsamer sein, gegenüber
dem Verhältnis zu seinem Objekt, als man sich klarzumachen pflegt.
Sehen wir einmal vom Porträt ab, bei dem wegen des rein individuellen
Vorwurfs das Problem sich kompliziert, so wird man von kleineren
Bestandstücken aus Werken bildender wie redender Kunst weder den
Eindruck der Wahrheit noch den der Unwahrheit empfangen, sie
stehen, so weit sie isoliert sind, noch jenseits dieser Kategorie; oder
von der anderen Seite angesehen: in Hinsicht der Ansatzelemente, von
denen aus das Kunstwerk weitergebildet wird, ist der Künstler frei;
erst wenn er einen Charakter, einen Stil, ein Farben- oder Form-
element, einen Stimmungston gewählt hat, ist der Zuwachs der weiteren
Teile dadurch präjudiziert. Sie müssen jetzt die Erwartungen er-
5*
[68] füllen, die die zuerst auftretenden erregt haben. Diese mögen so
phantastisch, willkürlich, irreal sein, wie sie wollen; sobald ihre Fort-
setzungen sich zu ihnen harmonisch, zusammenhängend, weiterführend ver-
halten, wird das Ganze den Eindruck der „inneren Wahrheit“ erzeugen,
gleichviel ob irgend ein einzelner Teil desselben sich mit einer ihm
äuſseren Realität deckt und damit dem Anspruch auf „Wahrheit“ im
gewöhnlichen und substanziellen Sinne genügt oder nicht. Die Wahr-
heit des Kunstwerkes bedeutet, daſs es als Ganzes das Versprechen
einlöst, das ein Teil seiner uns gleichsam freiwillig gegeben hat —
und zwar jeder beliebige, da eben die Gegenseitigkeit des Sich-
entsprechens jedem einzelnen die Qualität der Wahrheit verschafft.
Auch in der besonderen Nüance des Künstlerischen ist also Wahrheit
ein Relationsbegriff, sie realisiert sich als ein Verhältnis der Elemente
des Kunstwerkes untereinander, und nicht als eine starre Gleichheit
zwischen jedem derselben und einem ihm äuſseren Objekt, das seine
absolute Norm bilde.


Von anderer Seite her auf dasselbe Ziel zuschreitend, kann man
den Relativismus in Hinsicht der Erkenntnisprinzipien so formulieren:
daſs die konstitutiven, das Wesen der Dinge ein- für allemal aus-
drückenden Grundsätze in regulative übergehen, die nur Augenpunkte
für das fortschreitende Erkennen sind. Grade die letzten und höchsten
Abstraktionen, Vereinfachungen oder Zusammenfassungen des Denkens
müssen den dogmatischen Anspruch aufgeben, das Erkennen ab-
zuschlieſsen — und der subjektive Abschluſs desselben würde doch
seinen Sinn und sein Recht nur an der objektiven Gültigkeit seines
Inhaltes haben. An die Stelle der Behauptung: so und so verhalten
sich die Dinge — hat in Hinsicht der äuſsersten und allgemeinsten
Ansichten vielmehr die zu treten: unser Erkennen hat so zu ver-
fahren, als ob sich die Dinge so und so verhielten. Damit ist die
Möglichkeit gegeben, Art und Weg unseres Erkennens sein wirkliches
Verhältnis zur Welt sehr adäquat ausdrücken zu lassen. Der Viel-
heit unserer Wesensseiten sowie der abhülfesuchenden Einseitigkeit
jedes einzelnen begrifflichen Ausdrucks für unsere Beziehung zu den
Dingen entspricht und entspringt es, daſs kein derartiger Ausdruck
allgemein und auf die Dauer befriedigt, vielmehr historisch seine Er-
gänzung durch eine gegenteilige Behauptung zu finden pflegt; wodurch
in unzähligen Einzelnen ein unsicheres Hin- und Herpendeln, ein
widerspruchsvolles Gemenge oder eine Abneigung gegen umfassende
Grundsätze überhaupt erzeugt wird. Wenn nun die konstitutiven Be-
hauptungen, die das Wesen der Dinge festlegen wollen, in heuristische
verwandelt werden, die nur unsere Erkenntniswege durch Feststellung
[69] idealer Zielpunkte bestimmen wollen, so gestattet dies offenbar eine
gleichzeitige Gültigkeit entgegengesetzter Prinzipien; jetzt, wo ihre
Bedeutung nur in den Wegen zu ihnen liegt, kann man diese ab-
wechselnd begehen, und sich dabei doch so wenig widersprechen, wie
man sich etwa mit dem Wechsel zwischen induktiver und deduktiver
Methode widerspricht. Erst durch diese Auflösung dogmatischer Starr-
heiten in die lebendigen, flieſsenden Prozesse des Erkennens wird die
wirkliche Einheit desselben hergestellt, indem seine letzten Prinzipien
nicht mehr in der Form des gegenseitigen Sich-Ausschlieſsens, sondern
des Aufeinander-Angewiesenseins, gegenseitigen Sich-Hervorrufens
und Sich-Ergänzens praktisch werden. So bewegt sich z. B. die Ent-
wicklung des metaphysischen Weltbildes zwischen der Einheit
und der Vielheit der absoluten, alle Einzelanschauung begründen-
den Wirklichkeit. Unser Denken ist so angelegt, daſs es nach jedem
von beiden wie nach einem definitiven Abschluſs streben muſs, ohne doch
mit einem von beiden abschlieſsen zu können. Erst wenn alle Diffe-
renzen und Vielheiten der Dinge in einen Inbegriff versöhnt sind,
findet der intellektuell-gefühlsmäſsige Einheitstrieb seine Ruhe. Allein
sobald diese Einheit erreicht ist, wie in der Substanz Spinozas, zeigt
sich, daſs man mit ihr für das Verständnis der Welt nichts anfangen
kann, daſs sie mindestens eines zweiten Prinzips bedarf, um befruchtet
zu werden. Der Monismus treibt über sich hinaus zum Dualismus oder
Pluralismus, nach dessen Setzung aber wieder das Bedürfnis nach Ein-
heit zu wirken beginnt; so daſs die Entwicklung der Philosophie wie
die des individuellen Denkens von der Vielheit an die Einheit und
von der Einheit an die Vielheit gewiesen wird. Die Geschichte des
Denkens zeigt es als vergeblich, einen dieser Standpunkte als den
definitiven gewinnen zu wollen; die Struktur unserer Vernunft in ihrem
Verhältnis zum Objekt beansprucht vielmehr die Gleichberechtigung
beider und erreicht sie, indem sie die monistische Forderung in das
Prinzip gestaltet: jede Vielheit soweit wie möglich zu vereinheitlichen,
d. h. so, als ob wir am absoluten Monismus endigen sollten, — und
die pluralistische: bei keiner Einheit Halt zu machen, sondern jeder
gegenüber nach noch einfacheren Elementen und erzeugenden Kräftepaaren
zu forschen, d. h. so, als ob das Endergebnis ein pluralistisches sein
sollte. So nimmt die Verwandlung der Dogmatik in Heuristik dem
Zirkel zwischen den höchsten und entgegengesetzten Weltprinzipien
seine Bedenklichkeit und rechtfertigt den Relativismus, der jedem von
diesen nur in der Wechselwirkung mit dem anderen einen genügenden
Sinn und eine umfassende Anwendbarkeit zuspricht.


Diese Form des Aufeinander-Angewiesenseins der Denkrichtungen
[70] ist nicht etwa auf die höchsten Allgemeinheiten beschränkt. Sucht man
das Verständnis der Gegenwart in politischen, sozialen, religiösen und
sonstigen Kulturhinsichten, so wird es nur auf historischem Wege zu
gewinnen sein, also durch Erkenntnis und Verständnis der Vergangen-
heit. Diese Vergangenheit selbst aber, von der uns nur Fragmente,
stumme Zeugen und mehr oder weniger unzuverlässige Berichte und
Traditionen überkommen sind, wird uns doch nur aus den Erfahrungen
unmittelbarer Gegenwart heraus deutbar und lebendig. Wie viele
Umbildungen und Quantitätsänderungen auch dazu erforderlich seien,
jedenfalls ist die Gegenwart, die uns der unentbehrliche Schlüssel für
die Vergangenheit ist, doch nur durch diese selbst verständlich, und
die Vergangenheit, die allein uns die Gegenwart verstehen läſst, ohne
die Anschauungen und Fühlbarkeiten eben dieser Gegenwart überhaupt
nicht zugängig. Alle historischen Bilder erzeugen sich in dieser
Gegenseitigkeit der Deutungselemente, von denen keines das andere
zur Ruhe kommen läſst: das abschlieſsende Begreifen ist in die Un-
endlichkeit hinaus verlegt, da jeder in der einen Reihe erreichte Punkt
uns zu seinem Verständnis an die andere verweist. Ähnlich verhält es
sich mit der psychologischen Erkenntnis. Jeder uns gegenüberstehende
Mensch ist für die unmittelbare Erfahrung nur ein lauterzeugender
und gestikulierender Automat; daſs hinter dieser Wahrnehmbarkeit
eine Seele steckt und welches die Vorgänge in ihr sind, können wir
ganz allein nach der Analogie mit unserem eigenen Innern erschlieſsen,
das das einzige uns unmittelbar bekannte seelische Wesen ist. Anderer-
seits wird die Kenntnis des Ich nur an der Kenntnis der Anderen
groſs, ja die fundamentale Zerfällung des Ich in einen beobachtenden
und einen beobachteten Teil kommt nur nach Analogie des Verhält-
nisses zwischen dem Ich und anderen Persönlichkeiten zustande. An
den Wesen auſser uns, die wir nur durch die Seelenkenntnis unser
selbst deuten können, muſs sich demnach eben diese Kenntnis selbst
orientieren. So ist das Wissen um die seelischen Dinge ein Wechsel-
spiel zwischen dem Ich und dem Du, jedes weist von sich aus auf
das andere — gleichsam ein stetes Auswechseln und Tauschen der
Elemente gegeneinander, in dem sich die Wahrheit nicht weniger als
der wirtschaftliche Wert erzeugt.


Ich füge hier nur noch zwei Beispiele an, eines sehr spezieller,
das andere sehr allgemeiner Art, in denen die Relativität, d. h. die
Gegenseitigkeit, in der sich Erkenntnisnormen ihre Bedeutung zu-
erteilen, entschiedener in die Form des Nacheinander, der Alternierung,
auseinandergezogen wird. Die inhaltliche Zusammengehörigkeit von
Begriffen und tiefgelegenen Elementen des Weltbildes stellt sich häufig
[71] als ein derartiger Rhythmus wechselseitigen Sichablösens dar. So läſst
sich innerhalb der ökonomischen Wissenschaft das Verhältnis zwischen
der historischen und der auf allgemeine Gesetze ausgehenden Methode
auffassen. Gewiſs ist jeder wirtschaftliche Vorgang nur aus einer be-
sonderen historisch-psychologischen Konstellation verständlich her-
zuleiten. Allein solche Herleitung geschieht immer unter der Voraus-
setzung bestimmter, gesetzmäſsiger Zusammenhänge; wenn wir nicht
oberhalb des einzelnen Falles allgemeine Verhältnisse, durchgängige
Triebe, regelmäſsige Wirkungsreihen zum Grunde legten, so würde es
gar keine historische Ableitung geben können, vielmehr das Ganze in
ein Chaos atomisierter Vorkommnisse auseinanderfallen. Nun kann
man aber weiterhin zugeben, daſs jene allgemeinen Gesetzmäſsigkeiten,
die die Verbindung zwischen dem vorliegenden Zustand oder Ereignis
und seinen Bedingungen zu knüpfen ermöglichen, auch ihrerseits von
höheren Gesetzen abhängen, so daſs sie selbst als nur historische Kom-
binationen gelten dürfen; zeitlich weiter zurückliegende Ereignisse und
Kräfte haben die Dinge um und in uns in Formen gebracht, die, jetzt
als allgemein und überhistorisch gültig erscheinend, die zufälligen
Elemente der späteren Zeit zu deren besonderen Erscheinungen ge-
stalten. Während also diese beiden Methoden, dogmatisch festgelegt
und jede für sich die objektive Wahrheit beanspruchend, in einen
unversöhnlichen Konflikt und gegenseitige Negation geraten, wird ihnen
so in der Form der Alternierung ein organisches Ineinander ermöglicht:
jede wird in ein heuristisches Prinzip verwandelt, d. h. von jeder
verlangt, daſs sie an jedem Punkte ihrer eigenen Anwendung ihre
höherinstanzliche Begründung in der anderen suche. Nicht anders steht
es mit dem allerallgemeinsten Gegensatz innerhalb unseres Er-
kennens: dem zwischen Apriori und Erfahrung. Daſs alle Erfahrung
auſser ihren sinnlich-rezeptiven Elementen gewisse Formen zeigen
muſs, die der Seele innewohnen und durch die sie jenes Gegebene
überhaupt zu Erkenntnissen gestaltet — das wissen wir seit Kant.
Dieses, gleichsam von uns mitgebrachte Apriori muſs deshalb für alle
möglichen Erkenntnisse absolut gelten und ist allem Wechsel und aller
Korrigierbarkeit der Erfahrung, als sinnlich und zufällig entstandener,
entzogen. Aber der Sicherheit, daſs es derartige Normen geben muſs,
entspricht keine ebenso groſse, welche denn es sind. Vieles, was eine
Zeit für apriori gehalten hat, ist von einer späteren als empirisches
und historisches Gebilde erkannt worden. Wenn also einerseits jeder
vorliegenden Erscheinung gegenüber die Aufgabe besteht, in ihr über
ihren sinnlich gegebenen Inhalt hinweg die dauernden apriorischen
Normen zu suchen, von denen sie geformt ist — so steht dem die
[72] Maxime gegenüber: jedem einzelnen Apriori gegenüber (darum aber
keineswegs dem Apriori überhaupt gegenüber!) die genetische Zurück-
führung auf Erfahrung zu versuchen.


Dieses wechselwirkende Sich-Tragen und Aufeinander-Angewiesen-
sein der Methoden ist etwas völlig anderes als die billige Kompromiſs-
weisheit der Mischung und des Halb- und Halbtums der Prinzipien,
wobei der Verlust des einen immer gröſser als der Gewinn des anderen
zu sein pflegt; hier handelt es sich vielmehr darum, jeder Seite des
Gegensatzpaares eine nicht zu begrenzende Wirksamkeit zu eröffnen.
Und wenngleich jede dieser Methoden immer etwas Subjektives bleibt,
so scheinen sie doch durch jene Relativität ihrer Anwendung grade die
objektive Bedeutung der Dinge angemessen auszudrücken. Sie fügen sich
damit dem allgemeinen Prinzip ein, das unsere Untersuchungen über den
Wert leitete: Elemente, deren jedes inhaltlich subjektiv ist, können
in der Form ihrer gegenseitigen Beziehung das gewinnen oder dar-
stellen, was wir Objektivität nennen. So sahen wir schon oben, wie
bloſse Sinnesempfindungen dadurch, daſs sie aneinander haften, für uns
den Gegenstand bezeichnen oder zu stande bringen. So entsteht die
Persönlichkeit — ein so festes Gebilde, daſs man ihm eine besondere
Seelensubstanz unterlegte — durch die gegenseitigen Assoziationen
und Apperzeptionen, die unter den einzelnen Vorstellungen stattfinden;
diese, verflieſsende und subjektive Vorgänge, erzeugen durch ihre
Wechselbeziehungen, was in keiner von ihnen für sich allein liegt, die
Persönlichkeit als objektives Element der theoretischen und praktischen
Welt. So erwächst das objektive Recht, indem die subjektiven Inter-
essen und Kräfte der Einzelnen sich ausgleichen, sich gegenseitig ihre
Stellung und ihr Maſs bestimmen, durch den Austausch an Ansprüchen
und Beschränkungen die objektive Form der Balanzierung und Ge-
rechtigkeit gewinnen. So kristallisierte aus den Einzelbegehrungen
der Subjekte der objektive wirtschaftliche Wert aus, weil die Form der
Gleichheit und des Austausches zur Verfügung stand, und diese Re-
lationen eine Sachlichkeit und Übersubjektivität haben konnten, die
jenen Elementen als einzelnen fehlte. So also mögen jene Methoden
des Erkennens nur subjektive und heuristische sein; aber dadurch,
daſs jede an der anderen ihre Ergänzung und eben durch diese ihre
Legitimierung findet, nähern sie sich — wenngleich in einem unend-
lichen Prozeſs des Sich-gegenseitig-Hervorrufens — dem Ideale der
objektiven Wahrheit.


Es verwirklicht sich also das Wahrheit-bedeutende Verhältnis der
Vorstellungen entweder als ein Aufbau ins Unendliche, weil wir selbst
bei prinzipiell zugegebener Fundamentierung der Erkenntnis auf nicht
[73] mehr relative Wahrheiten nie wissen können, ob wir denn wirklich an
dieser sachlich letzten Instanz angelangt sind, von jeder erreichten
also wieder auf den Weg zu einer noch allgemeineren und tieferen
gewiesen werden; oder die Wahrheit besteht in einem Gegenseitigkeits-
verhältnis innerhalb eben desselben Vorstellungskomplexes, und ihre
Beweisbarkeit ist eine wechselseitige. Daſs sich diese Gegenseitigkeit
des Bewahrheitens dem Blicke für gewöhnlich verbirgt, geschieht aus
keinem anderen Grunde, als aus dem auch die Gegenseitigkeit der
Schwere nicht unmittelbar bemerkt wird. Da nämlich in jedem ge-
gebnen Augenblicke die ungeheure Mehrzahl unserer Vorstellungen un-
angezweifelt hingenommen wird und in ihm die Untersuchung auf
Wahrsein nur eine einzelne zu treffen pflegt, so wird die Entscheidung
über dasselbe nach der Harmonie oder dem Widerspruch mit dem be-
reits vorhandenen, als gesichert vorausgesetzten Gesamtkomplex unserer
Vorstellungen getroffen — während ein anderes Mal irgend eine Vor-
stellung aus diesem Komplex fraglich werden und die jetzt fragliche
zu der über sie entscheidenden Majorität gehören mag. Das ungeheure
quantitative Miſsverhältnis zwischen der aktuell grade fraglichen und
der aktuell als gesichert geltenden Masse der Vorstellungen verschleiert
das Gegenseitigkeitsverhältnis hier ebenso, wie das entsprechende be-
wirkte, daſs man so lange nur die Anziehungskraft der Erde für den
Apfel, aber nicht die des Apfels für die Erde bemerkte. Und wie in-
folgedessen ein Körper die Schwere als eine selbständige Qualität
seiner zu haben schien, weil nur die eine Seite des Verhältnisses kon-
statierbar war, so mag die Wahrheit als eine den Einzelvorstellungen
an und für sich eigne Bestimmtheit gelten, weil die Gegenseitigkeit
in der Bedingtheit der Elemente, in der die Wahrheit besteht, bei der
verschwindenden Gröſse des einzelnen gegenüber der Masse der — im
Augenblick nicht fraglichen — Vorstellungen überhaupt unmerkbar
wird. — Die „Relativität der Wahrheit“ in dem Sinne, daſs all unser
Wissen Stückwerk und keines unverbesserbar sei, wird oft mit einer
Emphase verkündet, die mit ihrer allseitigen Unbestrittenheit in einem
sonderbaren Miſsverhältnis steht. Was wir hier unter jenem Begriffe
verstehen, ist ersichtlich etwas ganz anderes: die Relativität ist nicht
eine abschwächende Zusatzbestimmung zu einem im übrigen selbstän-
digen Wahrheitsbegriff, sondern ist das Wesen der Wahrheit selbst,
ist die Art, auf die Vorstellungen zu Wahrheiten werden, wie sie die
Art ist, auf die Begehrungsobjekte zu Werten werden. Sie bedeutet
nicht, wie in jener trivialen Verwendung, einen Abzug an der Wahr-
heit, von der man eigentlich ihrem Begriffe nach mehr erwarten könnte,
sondern grade umgekehrt die positive Erfüllung und Gültigkeit ihres
[74] Begriffes. Dort gilt die Wahrheit, trotzdem sie relativ ist, hier grade,
weil sie es ist.


Ich begnüge mich hier, das relativistische Prinzip beispielsweise
für einige allgemeine Fragen des Erkennens überhaupt ausgeführt zu
haben — nicht für die Inhalte desselben, sondern für die Form, in
der diese uns Wahrheit werden. Man hat vielfach die relativistische An-
schauung als eine Herabsetzung des Wertes, der Zuverlässigkeit und Be-
deutsamkeit der Dinge empfunden, wobei übersehen wird, daſs nur das
naive Festhalten irgend eines Absoluten, das ja grade in Frage gestellt
ist, dem Relativen diese Stellung zuweisen könnte. Eher liegt es in
Wirklichkeit umgekehrt: durch die ins Unendliche hin fortgesetzte
Auflösung jedes starren Fürsichseins in Wechselwirkungen nähern wir
uns überhaupt erst jener funktionellen Einheit aller Weltelemente,
in der die Bedeutsamkeit eines jeden auf jedes andere überstrahlt.
Darum steht der Relativismus auch seinem extremen Gegensatz, dem
Spinozismus mit seiner allumfassenden substantia sive Deus, näher
als man glauben möchte. Dieses Absolute, das keinen anderen In-
halt hat als den Allgemeinbegriff des Seins überhaupt, schlieſst dem-
nach in seine Einheit alles ein, was überhaupt ist. Die einzelnen
Dinge können nun allerdings kein Sein für sich mehr haben, wenn
alles Sein seiner Realität nach schon in jene göttliche Substanz ebenso
vereinheitlicht worden ist, wie es seinem abstrakten Begriff nach,
eben als Seiendes überhaupt, eine Einheit bildet. Alle singulären
Beständigkeiten und Substanzialitäten, alle Absolutheiten zweiter Ord-
nung sind nun so vollständig in jene eine aufgegangen, daſs man direkt
sagen kann: in einem Monismus, wie dem Spinozischen, sind die sämt-
lichen Inhalte des Weltbildes zu Relativitäten geworden. Die um-
fassende Substanz, das allein übrig gebliebene Absolute, kann nun,
ohne daſs die Wirklichkeiten inhaltlich alteriert würden, auſser Betracht
gesetzt werden — die Expropriateurin wird expropriiert, wie Marx
einen formal gleichen Prozeſs beschreibt — und es bleibt thatsächlich die
relativistische Aufgelöstheit der Dinge in Beziehungen und Prozesse
übrig. Dies also mag als Hinweisung auf einen philosophischen Stand-
punkt genügen, auf dem die Mannigfaltigkeit der Dinge eine letzte
Einheit der Betrachtung zu gewinnen vermag, und die die oben ge-
gebene Deutung des wirtschaftlichen Wertes in den weitesten Zu-
sammenhang einordnet. Indem der Grundzug aller erkennbaren Exi-
stenz, das Aufeinander-Angewiesensein und die Wechselwirkung alles
Daseienden den ökonomischen Wert aufnimmt und seiner Materie dieses
Lebensprinzip erteilt, wird nun erst das innere Wesen des Geldes
verständlich. Denn in ihm hat der Wert der Dinge, als ihre wirt-
[75] schaftliche Wechselwirkung verstanden, seinen reinsten Ausdruck und
Gipfel gefunden.


Welches auch der — keineswegs feststehende — geschichtliche
Ursprung des Geldes gewesen sein möge, das eine ist jedenfalls von
vornherein sicher, daſs es nicht plötzlich als ein fertiges, seinen reinen
Begriff repräsentierendes Element in die Wirtschaft eingetreten sein,
sondern sich nur aus vorher bestehenden Werten entwickelt haben
kann, und zwar derart, daſs die Geldqualität, die jedem Objekte, so-
weit es überhaupt tauschbar ist, in irgend einem Maſse eigen ist, sich
an einem einzelnen in höherem Maſse herausgestellt hat, und es die
Funktion des Geldes zunächst noch sozusagen in Personalunion mit
seiner bisherigen Wertbedeutung ausgeübt hat. Ob das Geld diese
genetische Verbindung mit einem Werte, der nicht Geld ist, je voll-
ständig gelöst hat oder lösen kann, haben wir im nächsten Kapitel zu
untersuchen. Es hat jedenfalls unendliche Irrungen veranlaſst, daſs
man Wesen und Bedeutung des Geldes nicht von den Bestimmtheiten
derjenigen Werte begrifflich gesondert hat, an denen es sich, als Steige-
rung einer Qualität derselben, heraufgebildet hat. Wir aber betrachten
es hier zunächst ohne jede Rücksicht auf den Stoff, der sein substan-
zieller Träger ist; denn gewisse Eigenschaften, die ihm vermittels
dieses beigesellt sind, reihen das Geld noch demjenigen Kreise von
Gütern ein, dem es als Geld gegenübergestellt ist. Schon auf den
ersten Blick bildet das Geld gleichsam eine Partei, und die Gesamt-
heit der mit ihm bezahlten Güter die andere, so daſs, wenn sein reines
Wesen in Frage steht, man es wirklich bloſs als Geld und in Los-
lösung von allen ihm sekundären Bestimmungen behandeln muſs, die es
dieser ihm gegenüberstehenden Partei doch wieder koordinieren.


In diesem Sinne findet man das Geld als „abstrakten Vermögens-
wert“ definiert; als sichtbarer Gegenstand ist es der Körper, mit dem
der von den wertvollen Gegenständen selbst abstrahierte wirtschaftliche
Wert sich bekleidet hat, dem Wortlaut vergleichbar, der zwar ein
akustisch-physiologisches Vorkommnis ist, seine ganze Bedeutung für
uns aber nur in der inneren Vorstellung hat, die er trägt oder sym-
bolisiert. Wenn nun der wirtschaftliche Wert der Objekte in dem
gegenseitigen Verhältnis besteht, das sie, als tauschbare, eingehen, so
ist das Geld also der zur Selbständigkeit gelangte Ausdruck dieses
Verhältnisses; es ist die Darstellung des abstrakten Vermögenswertes,
indem aus dem wirtschaftlichen Verhältnis, d. h. der Tauschbarkeit,
der Gegenstände die Thatsache dieses Verhältnisses abstrahiert, her-
ausdifferenziert wird und ihm gegenüber eine begriffliche — und ihrer-
seits an ein sichtbares Symbol geknüpfte — Existenz gewinnt. Es ist
[76] die Sonderverwirklichung dessen, was den Gegenständen als wirtschaft-
lichen gemeinsam ist — im Sinne der Scholastik könnte man es so-
wohl als universale ante rem wie in re wie post rem bezeichnen —,
und deshalb äuſsert die allgemeine Not des Menschenlebens sich in
keinem äuſseren Symbol so vollständig wie in der beständigen Geldnot,
die die meisten Menschen bedrückt. Der Geldpreis einer Ware bedeutet
das Maſs der Tauschbarkeit, das zwischen ihr und der Gesamtheit der
übrigen Waren besteht. Nimmt man das Geld in jenem reinen Sinne,
der von allen Folgen seiner konkreten Darstellung unabhängig ist, so
bedeutet die Änderung des Geldpreises, daſs das Tauschverhältnis
zwischen der einzelnen Ware und der Gesamtheit der übrigen sich
ändert. Wenn ein Warenquantum A seinen Preis von einer Mark auf
zwei steigert, während alle anderen Waren B C D E den ihrigen be-
halten, so bedeutet dies eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen
A und B C D E, die man auch so ausdrücken könnte, daſs diese
letzteren im Preise gefallen sind, während A den seinigen behalten
hat. Nur die gröſsere Einfachheit des Ausdrucks läſst uns die erstere
Vorstellungsweise vorziehen, gerade wie wir bei der Lageveränderung
eines Körpers gegen sein Umgebungsbild sagen, er habe sich z. B.
von Osten nach Westen bewegt, während die thatsächliche Erscheinung
sich genau so zutreffend als Bewegung der gesamten Umgebung (den
Zuschauer einbegriffen) von Westen nach Osten, bei Ruhelage jenes
einen Körpers, beschreiben läſst. Wie die Lage eines Körpers ihm
nicht als eine Bestimmtheit seiner für sich allein, sondern nur als ein
Verhältnis zu anderen zukommt, so daſs bei jeder Änderung derselben
ebenso gut diese anderen wie jener selbst als das thätige oder als das
passive Subjekt bezeichnet werden kann — so läſst sich jede Wert-
änderung von A innerhalb des wirtschaftlichen Kosmos, da sein Wert
selbst nur in dem Verhältnis zu diesem besteht, gleichmäſsig und nur
unbequemer als Änderung von B C D E bezeichnen. Diese Relativität,
wie sie im Naturaltausch unmittelbar praktisch wird, kristallisiert nun
zu der Ausdrückbarkeit des Wertes in Geld. Auf welche Weise das
geschehen kann, ist Sache späterer Untersuchung. Der Satz: A ist
eine Mark wert, hat aus A alles hinweggeläutert, was nicht wirtschaft-
lich, d. h. nicht Tauschbeziehung zu B C D E ist; diese Mark, als Wert
betrachtet, ist die von ihrem Träger gelöste Funktion des A in seinem
Verhältnis zu den übrigen Objekten des Wirtschaftskreises. Alles,
was A an und für sich, und aus dieser bloſsen Beziehung heraus-
tretend, sein mag, ist hier völlig gleichgültig; jedes A1 oder A2, das
von jenem qualitativ abweicht, ist, insofern es ebenfalls eine Mark gilt,
ihm gleich, weil, oder genauer: indem es zu B C D E dasselbe Verhält-
[77] nis quantitativ bestimmten Austausches hat. Geld ist das „Geltende“
schlechthin, und wirtschaftliches Gelten bedeutet etwas gelten, d. h.
gegen etwas anderes vertauschbar zu sein. Alle anderen Dinge haben
einen bestimmten Inhalt und gelten deshalb; das Geld umgekehrt hat
seinen Inhalt davon, daſs es gilt, es ist das zur Substanz erstarrte
Gelten, das Gelten der Dinge ohne die Dinge selbst. Indem es so
das Sublimat der Relativität der Dinge ist, scheint es selbst dieser
entzogen zu sein — wie die Normen der Wirklichkeit nicht derselben
Relativität unterliegen, die die Wirklichkeit beherrschen, und zwar nicht
trotzdem, sondern grade weil ihr Inhalt die zu selbständiger Leben-
digkeit, Bedeutung und Haltbarkeit aufgewachsenen Verhältnisse zwi-
schen den Dingen sind. Alles Sein ist gesetzmäſsig, aber eben des-
halb sind die Gesetze, denen es unterliegt, nicht selbst wieder gesetz-
mäſsig: man würde sich im Zirkel bewegen, wenn man ein Naturgesetz
des Inhalts annähme, daſs es Naturgesetze geben müsse — wobei ich
freilich dahingestellt lasse, ob dieser Zirkel nicht etwa dennoch als
legitimer besteht, weil er zu den fundamentalen Bewegungen des Den-
kens gehöre, die in sich selbst zurück- oder auf einen im Unendlichen
liegenden Zielpunkt hingehen. So sind die Normen — mag man sie
mit Plato und Schopenhauer die Ideen, mit den Stoikern die Logoi,
mit Kant das Apriori, mit Hegel die Stufen der Vernunftentwicklung
nennen —, nichts als die Arten und Formen der Relativitäten selbst,
die sich zwischen den Einzelheiten der Wirklichkeit, sie gestaltend,
entwickeln. Eben deshalb können sie als das Absolute auftreten, da
sie freilich selbst nicht relativ, sondern die Relativität selbst sind.
Auf dieser Grundlage wird es verständlich, daſs das Geld, als der ab-
strakte Vermögenswert, nichts anderes ausdrückt, als die Relativität der
Dinge, die eben den Wert ausmacht, und doch zugleich als der
ruhende Pol den ewigen Bewegungen, Schwankungen, Ausgleichungen
derselben gegenübersteht. Insofern es das letztere nicht thut, wirkt
es eben nicht mehr seinem reinen Begriffe nach, sondern als Einzel-
objekt, das allen anderen koordiniert ist.


Aus dieser Doppelheit seiner Rollen — auſserhalb und innerhalb der
Reihen der konkreten Werte — gehen, wie gesagt, unzählige Schwierig-
keiten in der praktischen Behandlung des Geldes und noch mehr Un-
klarheiten und Widersprüche der Geldtheorien hervor. Insoweit es
das Wertverhältnis der Güter untereinander ausdrückt, sie miſst und aus-
tauschen hilft, tritt es zu der Welt der direkt nutzbaren Güter als eine
Macht ganz anderer Provenienz hinzu, sei es als schematischer Maſsstab
jenseits aller Greifbarkeiten, sei es als Tauschmittel, das sich zwischen
diese letzteren aber nur schiebt, wie der Lichtäther zwischen die Pon-
[78] derabilien. Damit es aber diese Dienste leisten kann, die auf seiner
Stellung auſserhalb aller sonstigen Güter beruhen, ist es anfänglich,
und dadurch, daſs es sie leistet, ist es schlieſslich selbst ein konkreter
oder singulärer Wert. Hiermit steigt es in die Verkettungen und Be-
dingungen der Reihe hinab, der es doch zugleich gegenübersteht: es
wird von Angebot und Nachfrage in seinem Werte abhängig, seine
Produktionskosten üben einen (wenngleich minimalen) Einfluſs auf
diesen aus, es tritt in verschiedenwertigen Qualitäten auf etc. Die
Verzinsung ist ein Ausdruck dieses Wertes, der ihm als Träger seiner
Funktionen zukommt. Oder von anderem Standpunkt her angesehen:
die Doppelrolle des Geldes ist, daſs es einerseits die Wertverhältnisse
der austauschenden Waren untereinander miſst, andererseits aber selbst
in den Austausch mit ihnen eintritt und so selbst eine zu messende
Gröſse darstellt; und zwar miſst es sich wiederum einerseits an den
Gütern, die seine Gegenwerte bilden, andererseits am Gelde selbst;
denn nicht nur wird das Geld selbst mit Geld bezahlt, was das reine
Geldgeschäft und die zinsbare Anleihe ausdrücken, sondern das Geld
des einen Landes wird, wie die Valutaverschiebungen zeigen, zum
Wertmesser für das Geld des anderen. Das Geld gehört also zu den-
jenigen normierenden Vorstellungen, die sich selbst unter die Norm
beugen, die sie selbst sind. Alle solche Fälle ergeben Verwicklungen
und Kreisbewegungen des Denkens: der Kreter, der alle Kreter als
Lügner bezeichnet und so unter sein eigenes Axiom gehörend seine
eigene Aussage Lügen straft; der Pessimist, der die ganze Welt schlecht
nennt, so daſs seine eigene Theorie es auch sein muſs; der Skeptiker,
der wegen der grundsätzlichen Leugnung aller Wahrheit auch die des
Skeptizismus selbst nicht aufrecht erhalten kann etc. So steht das
Geld als Maſsstab und Tauschmittel über den wertvollen Dingen und,
weil diese Dienste ursprünglich einen wertvollen Träger fordern und
dann ihrem Träger selbst einen Wert verleihen, reiht es sich zwischen
jene Dinge und unter die Normen ein, die von ihm selbst ausgehen.


Da nun das schlieſslich Gewertete nicht das Geld, der bloſse Wert-
ausdruck, sondern die Gegenstände sind, so bedeutet Preisänderung eine
Verschiebung ihrer Verhältnisse untereinander; das Geld selbst — immer
nach dieser reinen Funktion seiner betrachtet — hat sich nicht ver-
schoben, sondern sein Mehr oder Weniger ist jene Verschiebung selbst,
von ihren Trägern differenziert und zu selbständigem Ausdrucke ge-
formt. Diese Stellung des Geldes ist offenbar dasselbe, was, als innere
Qualität angesehen, seine Qualitätlosigkeit oder Unindividualität genannt
wird. Indem es zwischen den individuell bestimmten Dingen, in inhalt-
lich gleichem Verhältnis zu jedem derselben steht, muſs es an sich
[79] selbst völlig indifferent sein. Auch hier stellt sich das Geld nur als
die höchste Entwicklungsstufe innerhalb einer kontinuierlichen Reihe
dar, eine der logisch difficilen, für unser Weltbild aber äuſserst be-
deutsamen, in denen ein Glied, obgleich durchaus nach der Formel der
Reihe und als Äuſserung ihrer inneren Kräfte gebildet, dennoch zugleich
aus ihr heraustritt, als ergänzende oder beherrschende oder ihr gegen-
über parteibildende Potenz. Den Ausgangspunkt der Reihe bilden die
ganz unersetzlichen Werte, deren Eigenart freilich grade durch eine
Analogie zu der Geldausgleichung leicht verwischt wird. Für das
Meiste, was wir besitzen, gäbe es einen Ersatz, wenigstens im weitesten
Sinne, so daſs der Gesamtwert unserer Existenz derselbe bliebe, wenn
wir das eine verlören und dafür das andere gewönnen: die eudämo-
nistische Summe läſst sich durch sehr verschiedene Elemente auf der
gleichen Höhe halten. Allein diese Austauschbarkeit versagt gewissen
Dingen gegenüber, und zwar — worauf es hier ankommt — nicht nur
wegen des Glücksmaſses, das uns kein anderer Besitz in gleicher Höhe
gewähren könnte, sondern weil das Wertgefühl sich grade an diese
individuelle Gestaltung, nicht aber an das Glücksgefühl, das ihr mit
anderen gemeinsam ist, geheftet hat. Nur ein irriger Begriffsrealismus,
der mit dem allgemeinen Begriff als mit dem vollgültigen Vertreter
der einzelnen Wirklichkeit operiert, läſst uns glauben, daſs wir die
Werte der Dinge durch Reduktion auf einen allgemeinen Wertnenner
empfinden, durch Hinleitung auf ein Wertzentrum, in dem sie sich nur
als quantitativ höhere oder niedere, in letzter Instanz aber gleichartige
darstellten. Wir werten vielmehr das Individuelle oft genug, weil wir
eben gerade dies wollen und nichts anderes, dem wir vielleicht das-
selbe oder ein höheres Quantum von Glückswert für uns zugeben.
Feinere Empfindungsweisen unterscheiden sehr genau das Maſs von
Glücksgefühl, das der bestimmte Besitz uns bereitet, durch das er aber
mit anderen vergleichbar und vertauschbar wird, von seinen spezifischen,
jenseits seiner eudämonistischen Folgen liegenden Bestimmtheiten, durch
die er uns gleichfalls wertvoll und insofern nun völlig unersetzlich sein
kann. Dies tritt mit einer leichten Modifikation, aber doch sehr be-
zeichnend hervor, wenn persönliche Affektionen oder Erlebnisse einen an
sich häufigen und fungibeln Gegenstand für uns mit Unersetzlichkeit
ausgestattet haben. Über den Verlust eines solchen kann uns unter
keinen Umständen ein ganz gleiches Exemplar derselben Gattung
trösten — sondern viel eher vermag dies ein Gut, das völlig anderen
Qualitäts- und Gefühlskomplexen angehört, das an jenes überhaupt
nicht erinnert und jede Vergleichung mit ihm ablehnt! Diese Indivi-
dualform des Wertes wird in demselben Maſse negiert, in dem die
[80] Objekte tauschbar werden, so daſs das Geld, der Träger und Ausdruck
der Tauschbarkeit als solcher, das unindividuellste Gebilde unserer
praktischen Welt ist. Insoweit die Dinge gegen Geld vertauscht
werden — nicht ebenso im Naturaltausch! — haben sie an dieser
Unindividualität Teil und man kann den Mangel jenes spezifischen
Wertes an einem Dinge nicht schärfer ausdrücken, als daſs man seine
Stelle durch sein Geldäquivalent ausfüllen läſst, ohne eine Lücke zu
empfinden. Das Geld ist nicht nur der absolut fungible Gegenstand,
von dem also jedes Quantum durch beliebig andere Stücke ununter-
scheidbar ersetzt werden kann, sondern es ist sozusagen die Fungibili-
tät der Dinge in Person. Dies sind die beiden Pole, zwischen denen
alle Werte überhaupt stehen: einerseits das schlechthin Individuelle,
dessen Bedeutung für uns nicht in irgend einem allgemeinen, in irgend
einem anderen Objekt gleichfalls darstellbaren Wertquantum liegt, und
dessen Stelle innerhalb unseres Wertsystems durch nichts anderes aus-
füllbar ist, andererseits das schlechthin Fungible; zwischen beiden
bewegen sich die Dinge in verschiedenen Graden der Ersetzbarkeit,
bestimmt danach, in welchem Maſse sie überhaupt ersetzbar sind, und
danach, durch eine wie groſse Mannigfaltigkeit anderer Objekte sie es
sind. Man kann es auch so darstellen, daſs man an jedem Dinge die
Seite seiner Unersetzlichkeit und die seiner Ersetzlichkeit unterscheidet.
Von den meisten Dingen wird man sagen dürfen — worüber uns frei-
lich von der einen Seite die Flüchtigkeit des praktischen Verkehrs,
von der entgegengesetzten her Beschränktheit und Eigensinn oft
täuschen — daſs jeder Gegenstand an beiden Bestimmtheiten Teil hat;
selbst das für Geld Käufliche und durch Geld Ersetzbare dürfte bei
genauerem Hinfühlen oft doch Sachqualitäten haben, deren Wertnuance
durch keinen anderen Besitz völlig ersetzt werden kann. Erst die
Grenzen unserer praktischen Welt werden durch die Erscheinungen
bezeichnet, in denen je die eine dieser Bestimmtheiten unendlich klein
ist: auf der einen Seite die an Zahl äuſserst geringen Werte, von
denen die Erhaltung unseres Ich in seiner individuellen Integrität ab-
hängt, bei denen also eine Tauschbarkeit nicht in Frage steht, auf der
anderen das Geld — die aus den Dingen heraus abstrahierte Tausch-
barkeit ihrer — dessen absolute Unindividualität daran hängt, daſs es
das Verhältnis zwischen Individuellerem ausspricht und zwar das-
jenige, das bei endlosem Wechsel dieses immer dasselbe bleibt.


Jener Sinn des Geldes, den Relationen der Wirtschaftsobjekte
gegenüberzustehen, grade weil es nichts ist, als die Körper gewordene
Relation selbst, äuſsert sich empirisch als Wertkonstanz, die ersicht-
lich an seiner Fungibilität und Qualitätlosigkeit hängt, und in der man
[81] eine der hervorstechendsten und zweckmäſsigsten Eigenschaften des
Geldes zu erblicken pflegt. Die Länge der wirtschaftlichen Aktions-
reihen, ohne die es zu der Kontinuität, den organischen Zusammenhängen,
der inneren Fruchtbarkeit der Wirtschaft nicht gekommen wäre, hängt
von der Stabilität des Geldwertes ab, weil diese allein weitausschauende Be-
rechnungen, vielgliedrige Unternehmungen, langsichtige Kredite möglich
macht. So lange man nun die Preisschwankungen eines einzelnen Ob-
jekts im Auge hat, ist es nicht bestimmbar, ob der Wert des letzteren
sich verändert und der des Geldes stabil bleibt, oder ob es etwa um-
gekehrt ist; eine Konstanz des Geldwertes ergiebt sich erst als objek-
tive Thatsache, sobald den Preiserhöhungen einer Ware oder eines
Warengebietes Preissenkungen anderer korrespondieren. Eine allgemeine
Erhöhung sämtlicher Warenpreise würde Erniedrigung des Geldwertes
bedeuten; sobald jene stattfindet, ist also die Konstanz des Geldwertes
durchbrochen. Möglich ist dies überhaupt nur dadurch, daſs das Geld
über seinen reinen Funktionscharakter als Ausdruck des Wertverhält-
nisses konkreter Dinge hinaus gewisse Qualitäten enthält, die es speziali-
sieren, zu einem Marktgegenstand machen, es bestimmten Konjunkturen,
Quantitätsbestimmungen, Eigenbewegungen unterwerfen, also es aus seiner
absoluten Stellung, die es als Ausdruck der Relationen hat, in die
einer Relativität hineindrängen, so daſs es, kurz gesagt, nicht mehr
Relation ist, sondern Relationen hat. Nur in dem Maſse, in dem
das Geld, seinem reinen Wesen treu, dem allen entzogen ist, besitzt
es Wertkonstanz, die also daran gebunden ist, daſs Preisschwankungen
nicht Änderungen seiner Beziehung zu den Dingen, sondern nur sich
ändernde Beziehungen der Dinge untereinander bedeuten; und diese
wiederum involvieren, daſs der Erhöhung des einen eine Erniedrigung
eines anderen korrespondiert. Soweit das Geld also die ihm wesent-
liche Eigenschaft der Wertstabilität wirklich besitzt, verdankt es sie
seiner Aufgabe, die wirtschaftlichen Relationen der Dinge, oder: die
Relationen, durch die die Dinge zu wirtschaftlich wertvollen werden,
in sich in reiner Abstraktheit — durch sein bloſses Quantum — aus-
zudrücken, ohne selbst in sie einzutreten. Deshalb ist auch die
Funktion des Geldes eine um so dringlichere, je umfänglicher und
lebhafter die Änderungen der wirtschaftlichen Werte erfolgen. Wo
die Werte der Waren sehr entschieden und dauernd fixiert sind, liegt
es nahe, sie in natura auszutauschen. Das Geld entspricht dem Zu-
stand des Wechsels ihrer gegenseitigen Wertverhältnisse, weil es für
jede Änderung derselben den absolut zutreffenden und schmiegsamen
Ausdruck darbietet. Daſs der wirtschaftliche Wert eines Dinges in
dem nach allen Seiten hin bestimmten Austauschverhältnis zu allen
Simmel, Philosophie des Geldes. 6
[82] anderen Dingen besteht, wird ersichtlich durch die Variabilität dieser
Verhältnisse am fühlbarsten, da jede partielle Verschiebung weitere
Ausgleichsbewegungen zu fordern pflegt und so die Relativität innerhalb
des Ganzen immer von neuem bewuſst macht. Indem das Geld nichts
als der Ausdruck dieser Relativität ist, verstehen wir die anderwärts
hervorgehobene Thatsache, daſs Geldbedarf mit dem Schwanken der
Preise, Naturaltausch mit ihrer Fixiertheit in gewissem Zusammen-
hange stehen.


Der so bestimmte reine Sinn des Geldes tritt ersichtlich sowohl
theoretisch wie praktisch erst mit ausgebildeter Geldwirtschaft klarer
hervor; der Träger, an dem dieser Sinn sich erst in allmählicher Ent-
wicklung darstellt, hält das Geld ursprünglich noch in der Reihe der
Objekte selbst zurück, deren bloſses Verhältnis es eigentlich zu sym-
bolisieren bestimmt ist. Für die mittelalterliche Theorie ist der Wert
etwas Objektives: sie verlangt vom Verkäufer, er solle den „gerechten“
Preis für seine Ware fordern, und sucht diesen gelegentlich durch Preis-
taxen zu fixieren; jenseits der Verhältnisse von Käufer und Verkäufer
haftete dem Dinge an und für sich sein Wert als eine Eigenschaft
seiner isolierten Natur an, mit der es in den Tauschakt eintrat. Diese
Vorstellung vom Werte — dem substanzial-absolutistischen Weltbild
der Epoche entsprechend — liegt bei naturalwirtschaftlichen Verhält-
nissen besonders nahe. Ein Stück Land für geleistete Dienste, eine Ziege
für ein paar Schuhe, ein Kleinod für zwanzig Seelenmessen — das waren
Dinge, an die sich gewisse Intensitäten des Wertgefühles so unmittelbar
knüpften, daſs ihre Werte als objektiv einander entsprechend erscheinen
konnten. Je unmittelbarer der Tausch stattfindet und in je einfacheren
Verhältnissen — so daſs nicht erst eine Vielheit vergleichender Be-
ziehungen dem Objekt seine Stellung zuweist — desto eher kann der
Wert als eine eigene Bestimmtheit des Objektes erscheinen. Die ein-
deutige Sicherheit, mit der man so den Austausch vollzog, spiegelte
sich in der Vorstellung, daſs sie durch eine objektive Qualität der
Dinge selbst hervorgebracht würde. Erst die Einstellung des einzelnen
Objekts in eine vielgliedrige Produktion und nach allen Seiten hin aus-
greifende Tauschbewegungen legt es nahe, seine wirtschaftliche Be-
deutung in seiner Beziehung zu anderen Objekten, und so wechsel-
seitig zu suchen; dies aber fällt mit der Ausbreitung der Geldwirtschaft
zusammen. Daſs der Sinn des wirtschaftlichen Objektes als solchen
in dieser Relativität besteht und daſs es der Sinn des Geldes ist, sich
immer reiner zum Ausdruck dieser Relativität zu machen — dies
beides wird erst in Wechselwirkung dem Bewuſstsein näher gebracht.
Das Mittelalter nahm eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Ob-
[83] jekte und dem Geldpreis an, d. h. eine, die auf dem an sich seien-
den Wert jedes von ihnen beruhte und die deshalb zu einer ob-
jektiven „Richtigkeit“ gebracht werden konnte und also auch sollte.
Der Irrtum dieser substanzialistischen Anschauung ist methodisch derselbe,
wie wenn man zwischen einem Individuum und dem Inhalte irgend
eines Rechtes einen unmittelbaren Zusammenhang behaupten wollte,
derart, daſs das Wesen jenes Menschen, wie es an und für sich und
ohne weitere Rücksicht auf auſser ihm Liegendes ist, auf diese Kom-
petenz einen „gerechten“ Anspruch hätte — wie es etwa in der
individualistischen Vorstellung der „Menschenrechte“ geschehen ist.
In Wirklichkeit ist Recht doch nur ein Verhältnis von Menschen
untereinander und vollzieht sich nur an den Interessen, Objekten
oder Machtvollkommenheiten, die wir einen Rechtsinhalt, „ein Recht“
im engeren Sinne nennen und die an und für sich überhaupt keine
angebbare, ihnen selbst anzusehende „gerechte“ oder „ungerechte“ Be-
ziehung zu einem Individuum haben. Erst wenn jenes Verhältnis be-
steht und sich zu Normen gefestigt hat, können diese von sich aus,
einen einzelnen Menschen und einen einzelnen Inhalt gleichsam zu-
sammen ergreifend, die Verfügungsgewalt jenes über diesen als eine
gerechte charakterisieren. So kann es allerdings einen gerechten Geld-
preis für eine Ware geben; aber nur als Ausdruck eines bestimmten,
nach allen Seiten hin ausgeglichenen Tauschverhältnisses zwischen
dieser und allen anderen Waren, nicht aber als Folge des inhaltlichen
Wesens der Waren für sich und der Geldsumme für sich, die sich so
vielmehr ganz beziehungslos, jenseits von gerecht und ungerecht gegen-
überstehen.


Daſs die Bedeutung des Geldes, die wirtschaftliche Relativität der
Objekte in sich darzustellen — wovon seine praktischen Funktionen
abzweigen —, nicht als fertige Wirklichkeit dasteht, sondern wie alle
historischen Gebilde seine Erscheinung erst allmählich zu der Reinheit
des Begriffes aufläutert, den wir als seinen Beruf und seine Stellung
gleichsam im Reiche der Ideen denken — das findet sein Gegenstück
darin, daſs man von allen Waren sagen konnte, sie seien in gewissem
Sinne Geld. Jeder Gegenstand b, der gegen a und von seinem nun-
mehrigen Besitzer gegen c vertauscht wird, spielt insofern, jenseits
seiner Dingqualitäten, die Rolle des Geldes: es ist der Ausdruck der
Thatsache, daſs b, a und c gegeneinander vertauschbar sind und des
Maſses, in dem sie es sind. Dies geschieht mit unzähligen Gegen-
ständen und thatsächlich sehen wir, je weiter wir in der Kultur-
entwicklung zurückgehen, eine um so gröſsere Zahl ganz verschieden-
artiger Objekte die Funktion des Geldes in vollkommnerer oder
6*
[84] rudimentärerer Art ausüben. So lange die Gegenstände noch in
natura aneinander gemessen, bezw. gegeneinander ausgetauscht werden,
befinden sich ihre subjektiven und ihre wirtschaftlich-objektiven
Qualitäten, ihre absolute und ihre relative Bedeutung noch in un-
geschiedenem Zustande; sie hören in demselben Maſse auf, Geld zu
sein oder sein zu können, in dem das Geld aufhört, Gebrauchsware
zu sein. Das Geld wird immer mehr zu einem Ausdrucke des wirt-
schaftlichen Wertes, weil dieser selbst nichts ist, als die Relativität
der Dinge als untereinander tauschbarer, diese Relativität aber ihrer-
seits an den zum Geld werdenden Objekten mehr und mehr Herr
über deren sonstige Qualitäten wird, bis sie schlieſslich nichts anderes
als die substanzgewordene Relativität selbst sind.


Wir sahen früher, daſs erst die Relativität den Wert der Objekte
im objektiven Sinne schafft, weil erst durch sie die Dinge in eine
Distanz vom Subjekt gestellt werden. Auch für diese beiden Be-
stimmungen ist das Geld Gipfel und Verkörperung, damit ihren Zu-
sammenhang aufs neue beweisend. Indem das Geld niemals unmittel-
bar genossen werden kann (die später zu behandelnden Ausnahmen
negieren sein eigentliches Wesen!), entzieht es sich selbst jeder sub-
jektiven Beziehung; das Jenseits des Subjekts, das der wirtschaftliche
Verkehr überhaupt darstellt, ist in ihm vergegenständlicht, und es
hat deshalb auch von allen Inhalten desselben die sachlichsten Usancen,
die logischsten, bloſs mathematischen Normen, die absolute Fremdheit
allem Persönlichen gegenüber in sich ausgebildet. Weil es bloſs das
Mittel für die eigentlich assimilierbaren Objekte ist, steht es seinem
inneren Wesen nach in einer nicht aufzuhebenden Distanz zu dem
begehrenden und genieſsenden Ich; und insofern es das unentbehrliche
Mittel ist, das sich zwischen dieses und die Objekte schiebt, rückt es
auch die letzteren in eine Distanz von uns; es hebt zwar diese selbst
wieder auf, aber indem es dies thut, und jene dem subjektiven Ver-
brauch übermittelt, entzieht es sie eben dem objektiv wirtschaftlichen
Kosmos. Der Abstand, der das Subjektive und das Objektive aus ihrer
ursprünglichen Einheit voneinandergetrieben hat, ist im Geld sozusagen
körperhaft geworden — während andrerseits sein Sinn ist, getreu der
oben behandelten Korrelation von Distanz und Nähe, uns das sonst
Unerreichbare nahe zu bringen. Die Tauschbarkeit, durch die es
überhaupt erst wirtschaftliche Werte giebt, indem sie durch dieselbe
ihr objektives Füreinandersein erhalten, und die doch die Entfernung
des Ausgetauschten und die Annäherung des Eingetauschten in einem
Akt zusammenschlieſst, hat in dem Gelde nicht nur ihr technisch
[85] vollendetstes Mittel, sondern eine eigne, konkrete, alle Bedeutungen
jener in sich sammelnde Existenz gewonnen.


Dies ist die philosophische Bedeutung des Geldes: daſs es inner-
halb der praktischen Welt die entschiedenste Sichtbarkeit, die deut-
lichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins ist, nach der
die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit
der Verhältnisse, in denen sie schweben, ihr Sein und Sosein aus-
macht.


Es gehört zu den Grundthatsachen der seelischen Welt, daſs wir
Verhältnisse zwischen mehreren Elementen des Daseins in besonderen
Gebilden verkörpern; diese sind freilich auch substanzielle Wesen für
sich, aber ihre Bedeutung für uns haben sie nur als Sichtbarkeit
eines Verhältnisses, das in loserer oder engerer Weise an sie gebunden
ist. So ist der Ehering, aber auch jeder Brief, jedes Pfand, wie
jede Beamtenuniform Symbol oder Träger einer sittlichen oder intellek-
tuellen, einer juristischen oder politischen Beziehung zwischen Menschen,
ja, jeder sakramentale Gegenstand das substanziierte Verhältnis
zwischen dem Menschen und seinem Gott; die Telegraphendrähte, die
die Länder verbinden, sind nicht weniger als die militärischen Waffen,
die ihre Entzweiung ausdrücken, derartige Substanzen, die kaum eine
Bedeutung für den Einzelmenschen als solchen, sondern einen Sinn
nur in den Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen
haben, die in ihnen kristallisiert sind. Gewiſs kann die Vorstellung
der Beziehung oder des Verhältnisses schon als eine Abstraktion gelten,
insofern nur die Elemente real sind, deren wechselseitig bewirkte
Zustände wir so zu Sonderbegriffen zusammenfassen; erst die meta-
physische Vertiefung, die das Erkennen in seiner empirischen Richtung,
aber über seine empirischen Grenzen hinaus verfolgt, mag auch diese
Zweiheit aufheben, indem sie überhaupt keine substanziellen Elemente
mehr bestehen läſst, sondern jedes derselben in Wechselwirkungen
und Prozesse auflöst, deren Träger demselben Schicksal unterworfen
werden. Das praktische Bewuſstsein aber hat die Form gefunden,
um die Vorgänge der Beziehung oder der Wechselwirkung, in der die
Wirklichkeit verläuft, mit der substanziellen Existenz zu vereinigen,
in die die Praxis eben die abstrakte Beziehung als solche kleiden
muſs. Jene Projizierung bloſser Verhältnisse auf Sondergebilde ist
eine der groſsen Leistungen des Geistes, indem in ihr der Geist zwar
verkörpert wird, aber nur um das Körperhafte zum Gefäſs des Geistigen
zu machen und diesem damit eine vollere und lebendigere Wirksamkeit
zu gewähren. Mit dem Gelde hat die Fähigkeit zu solchen Bildungen
ihren höchsten Triumph gefeiert. Denn die reinste Wechselwirkung
[86] hat in ihm die reinste Darstellung gefunden, es ist die Greifbarkeit
des Abstraktesten, das Einzelgebilde, das am meisten seinen Sinn in
der Übereinzelheit hat; und so der adäquate Ausdruck für das Ver-
hältnis des Menschen zur Welt, die dieser immer nur in einem Kon-
kreten und Singulären ergreifen kann, die er aber doch nur wirklich
ergreift, wenn dieses ihm zum Körper des lebendigen, geistigen
Prozesses wird, der alles Einzelne ineinander verwebt und so erst
aus ihm die Wirklichkeit schafft. Diese Bedeutung seiner würde sich
nicht ändern, auch wenn die Gegenstände der Wirtschaft die Relativität
ihres Wertes nicht von vornherein, sondern erst als ein Entwicklungs-
ziel besäſsen. Denn den Begriff, mit dem wir das Wesen einer Er-
scheinung definieren, können wir häufig gar nicht aus ihr selbst, sondern
nur aus einer vorgeschritteneren und reineren schöpfen. Das Wesen der
Sprache werden wir nicht den ersten Stammellauten des Kindes ent-
nehmen; an einer Definition des tierischen Lebens wird es uns nicht
irre machen, wenn sie an den Übergangswesen von der Pflanze her
[n]ur sehr unvollkommen verwirklicht ist; erst an den höchsten Er-
scheinungen des Seelenlebens erkennen wir oft den Sinn seiner nie-
deren, trotzdem wir ihn an den letzteren selbst vielleicht gar nicht
nachweisen können; ja, der reine Begriff einer Erscheinungsreihe
ist oft ein Ideal, das in ihr selbst nirgends restlos verwirklicht ist,
aber dennoch dadurch, daſs sie ihm zustrebt, ihren Sinn und Gehalt
gültig deutet. So ist die Bedeutung des Geldes: die Relativität der
begehrten Dinge, durch die sie zu wirtschaftlichen Werten werden,
in sich darzustellen — dadurch nicht verneint, daſs es noch andere,
jene herabsetzende und verundeutlichende Seiten besitzt. Insofern diese
an ihm wirken, ist es eben nicht Geld. Wenn der wirtschaftliche
Wert in dem Tauschverhältnis von Objekten gemäſs unserer subjektiven
Reaktion auf sie besteht, so entwickelt sich eben ihre wirtschaftliche
Relativität erst allmählich aus ihrer anderweitigen Bedeutung und
kann in ihrem Gesamtbilde, oder auch Gesamtwerte, nie völlig
über diese Herr werden. Der Wert, der den Dingen durch ihre
Tauschbarkeit zuwächst, bezw. diese Metamorphose ihres Wertes,
durch die er zu einem wirtschaftlichen wird, tritt zwar mit der exten-
siven und intensiven Steigerung der Wirtschaft immer reiner und
mächtiger an den Dingen hervor — eine Thatsache, die Marx als das
Ausgeschaltetwerden des Gebrauchswertes zu Gunsten des Tauschwertes
in der warenproduzierenden Gesellschaft ausdrückt — aber diese
Entwicklung scheint nie zu ihrer Vollendung kommen zu können.
Nur das Geld, seinem reinen Begriff nach, hat diesen äuſsersten Punkt
erreicht, es ist nichts als die reine Form der Tauschbarkeit, es ver-
[87] körpert das Element oder die Funktion an den Dingen, durch die sie
wirtschaftliche sind, die aber nicht ihre Totalität, wohl aber die seine
ausmacht. Inwieweit nun die historische Verwirklichung des Geldes
diese Idee seiner darstellt, und ob es nicht in jener noch mit einem
Teil seines Wesens nach einem anderen Zentrum gravitiert — sollen
die Untersuchungen des nächsten Kapitels klarstellen.


[[88]]

Zweites Kapitel.
Der Substanzwert des Geldes.


I.


Die Diskussion über das Wesen des Geldes wird allenthalben
von der Frage durchzogen: ob das Geld, um seine Dienste des Messens,
Tauschens, Darstellens von Werten zu leisten, selbst ein Wert sei und
sein müsse, oder ob es für diese genüge, wenn es, ohne eigenen Sub-
stanzwert, ein bloſses Zeichen und Symbol wäre, wie eine Rechenmarke,
die Werte vertritt, ohne ihnen wesensgleich zu sein. Die ganze sach-
liche und historische Erörterung dieser, in die letzten Tiefen der Geld-
und Wertlehre hinunterreichenden Frage würde sich erübrigen, wenn
ein oft hervorgehobener logischer Grund sie von vornherein entschiede.
Ein Meſsmittel, so sagt man, muſs von derselben Art sein, wie der
Gegenstand, den es miſst: ein Maſs für Längen muſs lang sein, ein
Maſs für Gewichte muſs schwer sein, ein Maſs für Rauminhalte muſs
räumlich ausgedehnt sein. Ein Maſs für Werte muſs deshalb wertvoll
sein. So beziehungslos zwei Dinge, die ich aneinander messe, auch in
allen ihren sonstigen Bestimmungen sein mögen — in Hinsicht derjenigen
Qualität, in der ich sie vergleiche, müssen sie übereinstimmen. Alle
quantitative und zahlenmäſsige Gleichheit oder Ungleichheit, die ich
zwischen zwei Objekten aussage, wäre sinnlos, wenn sie nicht die rela-
tiven Quantitäten einer und derselben Qualität beträfe. Ja,
diese Übereinstimmung in der Qualität darf nicht einmal eine allzu
allgemeine sein; man kann z. B. die Schönheit einer Architektur nicht
der Schönheit eines Menschen gleich oder ungleich groſs setzen, ob-
gleich in beiden doch die einheitliche Qualität „Schönheit“ ist, sondern
nur die speziellen architektonischen oder die speziellen menschlichen
Schönheiten ergeben untereinander die Möglichkeit eines Vergleichs.
Wenn man aber doch eine Vergleichbarkeit, bei völligem Mangel jeder
[89] gemeinsamen Eigenschaft, in der Reaktion erblicken wollte, die das
empfindende Subjekt an die Gegenstände knüpft; wenn die Schönheit
des Gebäudes und die Schönheit des Menschen vergleichbar sein
sollen nach dem Maſs von Beglückung, das wir bei der Betrachtung
des einen und der des anderen empfinden: so würde auch hier, unter
abweichendem Scheine, eine Gleichheit von Qualitäten ausgesprochen
sein. Denn die Gleichheit der Wirkung, an demselben Subjekt
hervortretend
, bedeutet unmittelbar die Gleichheit der Objekte in
der hier fraglichen Beziehung Zwei völlig verschiedene Er-
scheinungen, die demselben Subjekt die gleiche Freude bereiten, haben
unter aller ihrer Verschiedenheit eine Gleichheit der Kraft oder des
Verhältnisses zu jenem Subjekt, wie ein Windstoſs und eine mensch-
liche Hand, wenn sie beide einen Baumzweig brechen, unter aller Un-
vergleichbarkeit ihrer Qualitäten, dennoch eine Gleichheit der Energie
beweisen. So mag der Geldstoff und alles, dessen Wert man mit ihm
miſst, einander noch so unähnlich sein, aber in dem Punkte, daſs beide
Wert haben, müssen sie übereinstimmen; und selbst wenn der Wert
überhaupt nichts anderes ist, als ein subjektives Fühlen, mit dem wir
auf die Eindrücke der Dinge antworten, so muſs wenigstens diejenige —
wenngleich nicht isolierbare — Qualität, durch welche sie überhaupt
sozusagen auf den Wertsinn der Menschen wirken, bei beiden dieselbe
sein. So soll wegen der Thatsache, daſs es mit Werten verglichen
wird, d. h. in eine quantitative Gleichung mit ihnen eintritt, das Geld
die Wertqualität nicht entbehren können.


Dieser Überlegungsreihe stelle ich eine andere mit abweichendem
Resultate gegenüber. Wir können allerdings in dem obigen Beispiel die
Kraft des Windes, der den Baumzweig bricht, mit der der Hand, die
dasselbe thut, nur insofern vergleichen, als diese Kraft in beiden quali-
tativ gleich vorhanden ist. Allein wir können die Kraft des Windes
auch an der Dicke des Zweiges messen, den er geknickt hat. Zwar
drückt der geknickte Zweig nicht an und für sich schon das Energie-
quantum des Windes in demselben Sinne aus, wie der Kraftaufwand
der Hand es ausdrücken mag; allein das Stärkeverhältnis zwischen
zwei Windstöſsen und damit die relative Stärke des einzelnen ist wohl
daran zu messen, daſs der eine einen Zweig zerbrochen hat, den der
andere noch nicht verletzen konnte. Und ganz entscheidend scheint
mir das folgende Beispiel. Die ungleichartigsten Objekte, die wir
überhaupt kennen, die Pole des Weltbildes, die aufeinander zu redu-
zieren weder der Metaphysik noch der Naturwissenschaft gelungen ist —
sind materielle Bewegungen und Bewuſstseinserscheinungen. Die reine
Extensität der einen, die reine Intensität der anderen haben bisher
[90] keinen Punkt entdecken lassen, der allgemein überzeugend als ihre
Einheit gälte. Dennoch kann der Psychophysiker nach den Ände-
rungen der äuſseren Bewegungen, die als Reize unsere Sinnesapparate
treffen, die relativen Stärkeänderungen der bewuſsten Empfindungen
messen. Indem also zwischen den Quanten des einen und denen des
anderen Faktors ein konstantes Verhältnis besteht, bestimmen
die Gröſsen des einen die relativen Gröſsen des anderen, ohne daſs
irgend eine qualitative Beziehung oder Gleichheit zwischen ihnen zu
existieren braucht. Damit ist das logische Prinzip durchbrochen, das
die Fähigkeit des Geldes, Werte zu messen, von der Thatsache seines
eigenen Wertes abhängig zu machen schien. Das ist freilich richtig:
vergleichen kann man die Quanten verschiedener Objekte nur, wenn
sie von einer und derselben Qualität sind; wo also das Messen nur
durch unmittelbare Gleichung zwischen zwei Quanten geschehen
kann, da setzt es Qualitätsgleichheit voraus. Wo aber eine Änderung,
eine Differenz oder das Verhältnis je zweier Quanten gemessen werden
soll, da genügt es, daſs die Proportionen der messenden Substanzen
sich in denen der gemessenen spiegeln, um diese völlig zu bestimmen,
ohne daſs zwischen den Substanzen selbst irgend eine Wesensgleichheit
zu bestehen brauchte. Es lassen sich also nicht zwei Dinge gleich
setzen, die qualitativ verschieden sind, wohl aber zwei Proportionen
zwischen je zwei qualitativ verschiedenen Dingen. Die beiden Objekte
m und n mögen in irgend einer Beziehung stehen, die aber absolut
nicht die der Qualitätsgleichheit ist, so daſs unmittelbar keine von ihnen
zum Maſsstab für die andere dienen kann; die zwischen ihnen be-
stehende Beziehung mag die der Ursache und Wirkung, oder der Symbolik,
oder des gemeinsamen Verhältnisses zu einem dritten oder was sonst
sein. Es sei nun das Objekt a gegeben, von dem ich weiſs, daſs es
¼ m ist; es sei ferner das Objekt b gegeben, von dem man nur
weiſs, daſs es irgend ein Teilquantum von n ist. Wenn nun eine
Beziehung zwischen a und b entsteht, welche der zwischen m und n
entspricht, so folgt daraus, daſs b gleich ¼ n sein muſs. Trotz aller
Qualitätsungleichheit und Unmöglichkeit eines direkten Vergleiches
zwischen a und b ist es so doch möglich, die Quantität des einen
nach der des anderen zu bestimmen. So besteht z. B. zwischen einem
gewissen Quantum von Speisen und dem momentanen Nahrungsbedürf-
nis, zu dessen völliger Stillung es ausreichen würde, gewiſs kein
Gleichungsverhältnis; allein wenn so viel Speisen gegeben sind, daſs
gerade die Hälfte jenes Bedürfnisses dadurch befriedigt wird, so kann
ich demnach unmittelbar bestimmen, daſs dieses verfügbare Quantum
gleich der Hälfte jenes ersteren ist. Unter solchen Umständen genügt
[91] also das Bestehen eines Gesamtverhältnisses, um die Quanten der
Glieder aneinander zu messen. Wenn es nun möglich ist, das Messen
der Objekte am Gelde als ein nach diesem Schema erfolgendes anzusehen,
so ist die direkte Vergleichbarkeit beider und damit die logische Forde-
rung des Wertcharakters des Geldes selbst insoweit hinfällig.


Um von dieser gleichfalls nur logischen Möglichkeit zur Wirklich-
keit zu kommen, setzen wir nur ein ganz allgemeines Maſsverhältnis
zwischen Güterquantum und Geldquantum voraus, wie es sich in dem
freilich oft verdeckten und an Ausnahmen reichen Zusammenhange
zwischen wachsendem Geldvorrat und steigenden Preisen, wachsendem
Gütervorrat und sinkenden Preisen zeigt. Wir bilden danach, alle
nähere Bestimmung vorbehalten, die Begriffe eines Gesamtwarenvorrates
und eines Gesamtgeldvorrates und eines Abhängigkeitsverhältnisses
zwischen ihnen.


Jede einzelne Ware ist nun ein bestimmter Teil jenes verfügbaren
Gesamtwarenquantums; nennen wir das letztere a, so ist jene etwa
1/m a; der Preis, den sie bedingt, ist der entsprechende Teil jenes
Gesamtgeldquantums, so daſs er, wenn wir dieses b nennen, gleich 1/m b
ist. Kennten wir also die Gröſsen a und b, und wüſsten wir, einen
wie groſsen Teil der verkäuflichen Werte überhaupt ein bestimmter
Gegenstand ausmacht, so wüſsten wir auch seinen Geldpreis, und um-
gekehrt. Ganz unabhängig davon also, ob das Geld und jenes wert-
volle Objekt irgend eine qualitative Gleichheit haben, gleichgültig
also dagegen, ob das erstere selbst ein Wert ist oder
nicht
, kann die bestimmte Geldsumme den Wert des Gegenstandes
bestimmen oder messen. — Man muſs hierbei immer den vollständigen
Relativitätscharakter des Messens im Auge behalten. Absolute Quanten,
welche einander äquivalent gesetzt werden, messen sich damit in einem
ganz anderen Sinne, als die hier fraglichen Teilquanten. Wenn etwa
vorausgesetzt würde, daſs die Gesamtsumme des Geldes — unter be-
stimmten Restriktionen — den Gegenwert für die Gesamtsumme der
Verkaufsgegenstände bildete, so brauchte man dies noch nicht als ein
Messen des einen am anderen anzuerkennen. Es ist eben nur das
Verhältnis beider zu dem wertsetzenden Menschen und seinen prakti-
schen Zwecken, das sie untereinander in eine Beziehung von Äquivalenz
setzt. Wie stark die Tendenz ist, Geld überhaupt und Ware über-
haupt ohne weiteres als einander entsprechend zu behandeln, zeigt
eine Erscheinung wie die folgende, die an mehr als einer Stelle auf-
getreten ist. Wenn ein roherer Stamm eine naturale Tauscheinheit
hat und in Verkehr mit einem höher entwickelten, Metallgeld be-
sitzenden Nachbar tritt, so wird häufig die naturale Einheit
[92] als gleichwertig der Münzeinheit dieses letzteren be-
handelt
. So setzten die alten Iren, als sie in Beziehung zu den
Römern traten, ihre Werteinheit, die Kuh, gleich einer Unze Silber;
die wilden Bergstämme in Annam, die nur Naturaltausch treiben, haben
den Büffel als Grundwert, und bei ihrem Verkehr mit den kultivierteren
Bewohnern der Ebene wird die Werteinheit dieser, eine Silberstange
von bestimmter Gröſse, gleich einem Büffel gewertet. Derselbe Grund-
zug ist bei einem wilden Volksstamm nahe Laos wirksam: diese treiben
nur Tauschhandel, ihre Einheit ist die eiserne Hacke. Aber sie waschen
Fluſsgold aus, das sie den Nachbarstämmen verkaufen und das der
einzige Gegenstand ist, den sie wägen. Dazu haben sie kein anderes
Mittel als das Maiskorn; und nun verkaufen sie je ein Maiskorn Gold
für je eine Hacke! Da die Wareneinheit des Naturaltausches ebenso
die Wertidee des ganzen Objektskreises versinnlicht oder vertritt, wie
die Geldeinheit die des Münzkomplexes, so ist diese Formulierung:
Eins gegen Eins — nur die naiv ausgedrückte Äquivalenz der fraglichen
Gesamtheiten. Man darf wohl annehmen, daſs das Verhältnis der Ein-
heiten als mindestens symbolische Darstellung des Verhältnisses der
Ganzheiten empfunden wird.


Liegt nun aber einmal die Äquivalenz der letzteren gleichsam als
wirksames, wenn auch nicht gewuſstes Apriori zum Grunde, so stellt sich
über dessen subjektiver Zufälligkeit eine objektive Proportion zwischen
den Teilquanten her. Denn nun ist wirklich etwas da, was auf beiden
Seiten das genau gleiche ist: nämlich der Bruch zwischen jeder der
beiden vorliegenden Teilgröſsen und dem absoluten Quantum, zu dem
die einzelne gehört. Vollkommene Ausgeglichenheit aller Verschiebungen
und zufälligen Ungleichmäſsigkeiten in der Preisbildung vorausgesetzt,
würde sich in dem Bezirke des Geld-Waren-Tausches jede Ware zu
ihrem Preis verhalten, wie alle momentan ökonomisch wirksamen
Waren zu allem momentan wirksamen Geld. Ob dieses letztere mit
dem anderen eine begriffliche, qualitative Verwandtschaft hat, ist hier-
bei völlig irrelevant. Wenn eine Ware also 20 m kostet, so ist dies 1/m
des Geldvorrats überhaupt; d. h. sie ist an Wert 1/m des Gütervor-
rats überhaupt. Durch diese Vermittlung hindurch können 20 m sie
völlig messen, obgleich sie generell von ihr völlig verschieden sind;
wobei immer wieder betont werden muſs, daſs die Voraussetzung einer
einfachen Beziehung zwischen allen Waren und allem Geld eine ganz
vorläufige, rohe und schematische ist. Daſs die Ware und ihr Maſsstab
gleichen Wesens sein müssen, wäre eine richtige Forderung, wenn man
eine einzelne Ware unmittelbar einem Geldwert gleich zu setzen hätte.
Aber man hat ja bloſs für Zwecke des Tausches und der Wertbestimmung
[93] das Verhältnis verschiedener (bezw. aller) Waren zu einander (also
das Resultat der Division der einzelnen durch alle anderen) zu be-
stimmen und der Geldsumme, d. h. dem entsprechenden Bruchteil des
wirksamen Geldvorrates gleichzusetzen; und dazu bedarf es nur irgend
einer numerisch bestimmbaren Gröſse. Wenn sich die Ware n zu der
Summe A aller verkäuflichen Waren verhält, wie a Geldeinheiten zu
der Summe B aller vorhandenen Geldeinheiten: so ist der ökonomische
Wert von n ausgedrückt durch a/B. Daſs man dies meistens nicht so
vorstellt, liegt daran, daſs B ebenso wie A ganz selbstverständlich sind —
weil ihre Wandlungen nicht leicht in unsere Wahrnehmung treten —
und deshalb in ihrer Funktion als Nenner gar nicht besonders bewuſst
werden; was uns im einzelnen Falle interessiert, sind ausschlieſslich
die Zähler n und a. Daher konnte die Vorstellung entstehen, daſs n
und a sich an und für sich, unmittelbar und absolut entsprächen, wozu
sie allerdings gleichen Wesens sein müſsten. Daſs jener allgemeine,
das Verhältnis überhaupt begründende Faktor in Vergessenheit geriete,
bezw. nur thatsächlich, aber nicht bewuſst wirkte, wäre ein Beispiel
für einen der durchgreifendsten Züge der menschlichen Natur. Die
beschränkte Aufnahmefähigkeit unseres Bewuſstseins einerseits, die
kraftsparende Zweckmäſsigkeit seiner Verwendung andrerseits bewirkt,
daſs von den unzähligen Seiten und Bestimmungen eines Interessen-
objekts immer nur eine geringe Zahl wirklich beachtet werden. Den
verschiedenen Gesichtspunkten, von denen die Auswahl und Rangierung
der bewuſst werdenden Momente ausgeht, entspricht es, daſs diese
letzteren in eine systematische Stufenfolge gegliedert werden können;
dieselbe beginnt damit, daſs von einer Reihe von Erscheinungen nur
dasjenige, was ihnen allen gemeinsam ist, beachtet wird, an jeder nur
die Grundlage, die sie mit den anderen teilt, ins Bewuſstsein tritt; das
entgegengesetzte Endglied der Skala bezeichnet es, wenn an jeder Er-
scheinung grade nur das zum Bewuſstsein kommt, was sie von jeder
anderen unterscheidet, das absolut Individuelle, während das Allgemeine
und Fundamentale unter der Schwelle des Bewuſstseins bleibt. Zwischen
diesen beiden Extremen bewegen sich in den mannigfaltigsten Ab-
stufungen die Punkte, an welche sich, als an Seiten der Gesamt-
erscheinungen, das höchste Bewuſstsein heftet. Ganz durchschnittlich
kann man nun sagen, daſs theoretische Interessen das Bewuſstsein mehr
auf die Gemeinsamkeiten, praktische mehr auf die Individualität der
Dinge hinweisen werden. Dem metaphysisch interessierten Denker
verschwinden oft genug die individuellen Differenzen der Dinge als
unwesentlich, bis er etwa an so allgemeinen Vorstellungen wie Sein
oder Werden haften bleibt, die allen Dingen schlechthin gemeinsam
[94] sind. Umgekehrt verlangt das praktische Leben allenthalben, an den
uns angehenden Menschen und Verhältnissen die Unterschiede, Eigen-
heiten, Nuancen mit schärfstem Bewuſstsein aufzufassen, während die
allgemein menschlichen Eigenschaften oder die gemeinsame Grundlage
aller der fraglichen Verhältnisse als selbstverständlich keiner besonderen
Aufmerksamkeit bedarf, ja selbst eine solche sie sich oft nur mühsam
klar machen kann. Innerhalb des Familienlebens z. B. bauen sich die
Verhältnisse der Mitglieder untereinander bewuſsterweise auf der Er-
fahrung derjenigen persönlichen Qualitäten auf, durch welche sich jeder
allen anderen gegenüber unterscheidet, während der allgemeine Familien-
charakter gar kein Gegenstand besonderer Beachtung für die an ihm
Teilhabenden zu sein pflegt, so wenig, daſs oft nur Fernerstehende
denselben überhaupt zu charakterisieren vermögen. Das verhindert aber
nicht, daſs diese allgemeine und unbewuſste Grundlage dennoch psychisch
wirksam wird. Die individuellen Eigenschaften der Familienmitglieder
werden thatsächlich sehr verschiedene Verhältnisse unter ihnen hervor-
rufen, je nach dem allgemeinen Charakter und Ton, der in der ganzen
Familie herrscht; erst dieser giebt doch den freilich unbeachteten
Untergrund ab, auf dem jene ihre eindeutig bestimmten Folgen ent-
falten können. Ganz dasselbe gilt für weitere Kreise. So sehr alle
Verhältnisse zwischen Menschen überhaupt auf den besonderen Be-
dingungen beruhen, die jeder Einzelne hinzubringt, so kommen sie
doch in ihrer bestimmten Art thatsächlich nur dadurch zustande, daſs
auſser ihnen gewisse ganz allgemein-menschliche Thatsachen und Vor-
aussetzungen selbstverständlich vorhanden sind und gleichsam den
Generalnenner bilden, zu dem jene individuellen Differenzen als die
bestimmenden Zähler treten und erst so die Totalität des Verhältnisses
erzeugen. Ganz dasselbe psychologische Verhältnis könnte nun bezüg-
lich der Geldpreise obwalten. Die Gleichsetzung zwischen dem Werte
einer Ware und dem Werte einer Geldsumme bedeutet keine Gleichung
zwischen einfachen Faktoren, sondern eine Proportion, d. h. die Gleich-
heit zweier Brüche, deren Nenner einerseits die Summe aller Waren,
andrerseits die Summe alles Geldes — beides natürlich noch erheb-
licher Determinationen bedürftig — eines bestimmten Wirtschaftskreises
ist. Als Gleichung kommt sie dadurch zustande, daſs diese beiden
Summen aus praktischen Gründen a priori als einander äquivalent ge-
setzt werden; oder genauer: das praktische Verhältnis, in dem wir
beide Kategorien handhaben, spiegelt sich im theoretischen Bewuſstsein
in der Form einer Äquivalenz. Allein da dies die allgemeine Be-
gründung aller Gleichungen zwischen einzelnen Waren und einzelnen
Preisen ist, so kommt sie nicht zum Bewuſstsein, sondern bildet zu
[95] jenen allein interessierenden und deshalb allein bewuſsten Einzelgliedern
den unbewuſst mitwirkenden Faktor, ohne den jene überhaupt nicht
die Möglichkeit einer Beziehung hätten. Die ungeheure Wichtigkeit
jener absoluten und fundamentalen Gleichung würde ihre Unbewuſstheit
so wenig unwahrscheinlich, ja eigentlich gerade so wahrscheinlich
machen, wie es entsprechend in den angeführten Analogien der
Fall ist. —


Gewiſs würde unter Voraussetzung eines an sich wertlosen Geldes
der einzelne Geldpreis ganz beziehungslos neben der Ware stehen, deren
Wert er ausdrücken soll, wenn sich die Betrachtung auf diese beiden
Momente beschränkte; man würde nicht wissen, woraufhin das eine
Objekt einen um ein ganz Bestimmtes höheren oder niederen Preis
bedingen sollte, als ein anderes. Sobald aber, als absolute Voraus-
setzung dieser ganzen Relation, die Summe alles Verkäuflichen der
Summe alles Geldes — in einem nachher zu erörternden Sinn der
„Summe“ — äquivalent gesetzt wird, ergiebt sich die Preisbestimmt-
heit jeder einzelnen Ware einfach als der Bruch zwischen ihrem
Wert und jenem Totalwert, der sich als der Bruch zwischen ihrem
Preis und dem Gesamtgeldquantum wiederholt. Dies enthält, worauf
ich nochmals hinweise, keineswegs den Zirkel: daſs die Fähigkeit
einer bestimmten Geldsumme, den Wert einer einzelnen Ware zu
messen, auf das Gleichungsverhältnis alles Geldes mit allen Waren
gegründet wird, dieses selbst ja aber schon die Meſsbarkeit des
einen am anderen voraussetze; die Frage, ob jede Messung eine
Wesensgleichheit zwischen dem Objekt und dem Maſsstab fordere,
würde so freilich den konkreten Fall nicht mehr treffen, um aber
an der Voraussetzung desselben ungelöst haften zu bleiben. That-
sächlich indes ist eine Messung relativer Quanten daraufhin mög-
lich, daſs ihre absoluten Quanten in irgend einem Verhältnis stehen,
welches nicht Messung oder Gleichheit zu sein braucht. Gewiſs besteht
zwischen der Dicke eines Eisenrohres und einer bestimmten Wasser-
kraft keine Gleichheit und Messungsmöglichkeit; allein wenn beide
integrierende Teile eines mechanischen Systems mit einem bestimmten
Krafteffekt bilden, so kann ich, wenn eine gewisse Modifikation dieses
letzteren gegeben ist, unter Umständen an der mir bekannt werdenden
Änderung der Wasserkraft genau ermessen, welches der Durchmesser
des in dem System verwendeten Rohres ist. So mögen Waren über-
haupt und Geld überhaupt aneinander nicht meſsbar sein; es würde
genügen, daſs sie beide für das Leben des Menschen eine gewisse
Rolle innerhalb seines praktischen Zwecksystems spielen, damit die
quantitative Modifikation des einen den Index für die des anderen ab-
[96] gäbe. Zu dieser Reduzierung der Bedeutung jedes Geldquantums als
solchen auf einen Bruch, der es noch ganz dahingestellt sein läſst, von
welcher absoluten Gröſse er diesen bestimmten Teil ausmacht, ist
es nicht ohne Beziehung, daſs die Römer ihre Münzen — mit einer
besonders begründeten Ausnahme — nicht nach der absoluten, sondern
der relativen Schwere benannten. So bedeutet as nur ein Ganzes aus
12 Teilen, das ebensogut auf die Erbschaft wie auf die Maſse oder
Gewichte beziehbar ist und ebenso für das Pfund wie für jeden be-
liebigen Teil desselben gesetzt werden kann. Und daſs hier bloſs die
Relativität des Maſses bewuſst und wirksam ist, wird auch durch die
Hypothese nicht alteriert, nach der das as vor Urzeiten eine Kupfer-
stange von absolut bestimmtem Gewicht bedeutet habe.


Jetzt muſs die schon angedeutete Restriktion an dem Begriff des
Gesamtgeldquantums etwas genauer vollzogen werden. Daſs man nicht
einfach sagen kann, es gäbe so viel kaufendes Geld, wie es kaufbare
Ware giebt, liegt nicht etwa an der unermeſslichen Quantitätsdifferenz,
die zwischen allen aufgehäuften Waren auf der einen Seite und allem
aufgehäuften Geld auf der anderen bestünde. Denn da es keinen ge-
meinsamen Maſsstab für beide, wie für qualitativ gleichgeartete Dinge,
giebt, so besteht zwischen ihnen überhaupt kein unmittelbares Mehr
oder Weniger; und da kein Warenquantum von sich aus eine sachliche
Beziehung zu einem bestimmten Geldquantum hat, vielmehr jede be-
liebige Geldsumme prinzipiell jedem beliebigen Warenwerte äquivalent
gesetzt werden könnte, so ergiebt ein direkter Vergleich jener beiden
überhaupt keinen Schluſs. Die Unverhältnismäſsigkeit zwischen der
Totalität des Geldes und der der Waren, als Nenner jener wert-
ausdrückenden Brüche, ruht vielmehr auf der Thatsache, daſs der Geld-
vorrat als ganzer sich viel schneller umsetzt als der Warenwert als
ganzer. Denn niemand läſst, soweit er es vermeiden kann, erheblichere
Geldsummen still liegen, und man kann es thatsächlich fast immer ver-
meiden; kein Kaufmann aber entgeht dem, daſs beträchtliche Teile
seines Vorrates lange liegen, ehe sie verkauft werden. Diese Differenz
des Umsatztempos wird noch viel gröſser, wenn man diejenigen Objekte
einrechnet, die sich nicht zum Verkaufe anbieten, trotzdem aber ge-
legentlich und für ein verführerisches Gebot verkäuflich sind. Legt
man also die wirklich gezahlten Preise für die einzelnen Waren zum
Grunde und fragt nach dem Geldquantum, das daraufhin zum Ankauf
des gesamten Vorrats erforderlich wäre, so sieht man allerdings, daſs
dasselbe den thatsächlichen Geldvorrat unermeſslich übersteigt. Von
diesem Gesichtspunkt aus muſs man sagen, daſs es sehr viel weniger
Geld als Waren giebt und daſs der Bruch zwischen der Ware und
[97] ihrem Preise durchaus nicht dem zwischen allen Waren und allem
Gelde gleich, sondern, wie sich leicht aus dem vorhergehenden ergiebt,
erheblich kleiner als dieser ist. Auf zwei Wegen aber läſst sich
dennoch unsere grundlegende Proportion retten. Man könnte nämlich,
erstens, als das in sie eintretende Gesamtwarenquantum dasjenige an-
sehen, das sich in aktueller Verkaufsbewegung befindet. Aristotelisch
zu reden, ist die unverkaufte Ware nur eine Ware „der Möglichkeit
nach“, sie wird zur Ware „der Wirklichkeit nach“ erst in dem Moment
ihres Verkauftwerdens. Wie das Geld erst in dem Augenblick, wo es
kauft, d. h. die Funktion des Geldes übt, wirklich Geld ist, so ent-
sprechend die Ware erst, wenn sie verkauft wird; vorher ist sie Ver-
kaufsobjekt nur vermöge und innerhalb einer ideellen Antizipation.
Von diesem Standpunkt aus ist es ein ganz selbstverständlicher, ja
identischer Satz, daſs es so viel Geld giebt, wie es Verkaufsobjekte
giebt — wobei natürlich unter Geld auch alle durch den Kredit und
Giroverkehr ermöglichten Geldsubstitute einbegriffen sind. Nun sind
zwar die momentan ruhenden Waren keineswegs wirtschaftlich unwirk-
sam, und das wirtschaftliche Leben wäre unermeſslich verändert, wenn
auf einmal der Warenvorrat so restlos in die Bewegung jedes Momentes
einginge, wie der Geldvorrat es thut. Allein genauer betrachtet scheint
mir der ruhende Warenvorrat nur nach drei Seiten hin auf die wirk-
lichen Geldkäufe zu wirken: auf das Tempo des Geldumlaufs, auf die
Beschaffung der Geldstoffe oder -äquivalente, auf das Verhältnis der
Geldausgaben zu den Reserven. Aber diese Momente haben auf die
aktuellen Umsätze schon ihre Wirkung geübt, unter ihrem Einfluſs
hat sich das empirische Verhältnis zwischen Ware und Preis gebildet,
und sie verhindern also gar nicht, in jener fundamentalen Proportion
das Gesamtwarenquantum als dasjenige zu verstehen, das sich aus den
in jedem gegebenen Moment wirklich geschehenden Käufen zusammen-
setzt. Das kann aber, zweitens, auch als Folge der Thatsache an-
erkannt werden, daſs dasselbe Geldquantum, weil es nicht wie die
Waren konsumiert wird, eine unbegrenzte Zahl von Umsätzen ver-
mittelt und die Geringfügigkeit seiner Gesamtsumme im Verhältnis zu
der der Waren, die in jedem isolierten Augenblick besteht, durch die
Schnelligkeit seiner Zirkulation ausgleicht. An einigen Höhepunkten
des Geldwesens wird es ganz unmittelbar anschaulich, eine wie ver-
schwindend geringe Rolle die Geldsubstanz in den durch sie vermittelten
Wertausgleichen spielt: im Jahre 1890 hat die französische Bank auf
Kontokorrent das 135 fache des thatsächlich darauf eingezahlten Geldes
umgesetzt (54 Milliarden auf 400 Millionen frcs.), ja, die deutsche
Reichsbank das 190fache. Innerhalb der funktionierenden Geldsummen,
Simmel, Philosophie des Geldes. 7
[98] auf die hin die Geldpreisbestimmung der Waren erfolgt, wird die Geld-
summe gegenüber dem, was durch ihr Funktionieren aus ihr wird, eine
verschwindende Gröſse. Man kann deshalb zwar nicht von einem
einzelnen Augenblick, wohl aber von einer bestimmt ausgedehnten
Periode sagen, daſs das Totalquantum des in ihr umgesetzten Geldes
der Totalsumme der in ihr verkäuflich gewesenen Objekte entspräche.
Der Einzelne macht doch auch seine Ausgaben, bewilligt insbesondere
die Preise für gröſsere Anschaffungen nicht von ihrem Verhältnis zu
seinem momentanen Geldbestand aus, sondern im Verhältnis zu seinen
Gesamteinnahmen innerhalb einer längeren Periode. So mag in unserer
Proportion der Geldbruch seine Gleichheit mit dem Warenbruch da-
durch gewinnen, daſs sein Nenner nicht das substanziell vorhandene
Geldquantum, sondern ein durch die Zahl der Umsätze in einer gewissen
Periode zu bestimmendes Vielfaches desselben enthält. Von diesen
Gesichtspunkten aus läſst sich die Antinomie zwischen den überhaupt
vorhandenen und den aktuellen Waren als Gegenwerten des Geldes
lösen und die Behauptung aufrecht halten, daſs zwischen der Gesamt-
summe der Waren und der des Geldes in einem geschlossenen Wirt-
schaftskreise keine prinzipielle Disproportion herrschen kann — so sehr
man über das richtige Verhältnis zwischen einer einzelnen Ware und
einem einzelnen Preise streiten mag, so viel Schwankungen und Dis-
proportionalitäten entstehen mögen, wenn eine bestimmte Gröſse der
fraglichen Brüche psychologisch fest geworden und daneben durch objek-
tive Verschiebungen eine andere richtig geworden ist, so sehr nament-
lich eine rasche Steigerung des Verkehrs einen zeitweiligen Mangel
an Umsatzmitteln fühlbar machen mag. Die Metallimporte und -exporte,
die aus einem Mangel bezw. einem Überfluſs von Geld in dem betreffen-
den Lande im Verhältnis zu seinen Warenwerten hervorgehen, sind nur
Ausgleichungen innerhalb eines Wirtschaftskreises, dessen Provinzen
die beteiligten Länder bilden, und bedeuten, daſs das allgemeine, in
diesem Wirtschaftskreise jetzt wirkliche Verhältnis zwischen beiden
aus der Verschiebung, die es in einem einzelnen Teile erlitten hat,
wieder hergestellt wird. Unter diesen Annahmen würde die Frage,
ob ein Preis angemessen ist oder nicht, sich unmittelbar aus den beiden
Vorfragen beantworten: erstens, welche Summe von Geld und welche
Summe von Verkaufsobjekten momentan wirksam sind, und zweitens,
welchen Teil des letzteren Quantums das jetzt in Rede stehende Objekt
ausmacht. Die letztere ist die eigentlich entscheidende, und die
Gleichung zwischen dem Objektbruch und dem Geldbruch kann eine
objektiv und berechenbar wahre oder falsche sein, während es sich bei
der zwischen den Objekten überhaupt und dem Geld überhaupt nur um
[99] Zweckmäſsigkeit oder Unzweckmäſsigkeit, nicht aber um Wahrheit im
Sinne einer logischen Erweislichkeit handeln kann. Dieses Verhältnis der
Totalitäten zu einander hat gewissermaſsen die Bedeutung eines Axioms,
das gar nicht in demselben Sinne wahr ist, wie die einzelnen Sätze,
die sich auf dasselbe gründen; nur diese sind beweisbar, während jenes
auf nichts hinweisen kann, von dem es sich logisch herleite. Eine
methodische Norm von groſser Bedeutsamkeit kommt hier zur Geltung,
für die ich ein Beispiel aus einer ganz anderen Kategorie von Werten
anführen will. Die Grundbehauptung des Pessimismus ist, daſs die
Gesamtheit des Seins einen erheblichen Überschuſs der Leiden über
die Freuden aufweise; die Welt der Lebewesen, als eine Einheit be-
trachtet, oder auch der Durchschnitt derselben, empfinde sehr viel mehr
Schmerz als Lust. Eine solche Behauptung ist nun von vornherein
unmöglich. Denn sie setzt voraus, daſs man Lust und Schmerz, wie
qualitativ gleiche Gröſsen mit entgegengesetztem Vorzeichen, unmittel-
bar gegeneinander abwägen und aufrechnen könne. Das kann man aber
in Wirklichkeit nicht, da es keinen gemeinsamen Maſsstab für sie giebt.
Keinem Quantum Leid kann es an und für sich anempfunden werden,
ein wie groſses Quantum Freude dazu gehört, um es aufzuwiegen.
Wie kommt es, daſs dennoch solche Abmessungen in einem fort statt-
finden, daſs wir sowohl in den Angelegenheiten des Tages, wie in dem
Zusammenhang der Schicksale, wie in der Gesamtheit des Einzellebens
das Urteil fällen, das Freudenmaſs sei hinter dem Maſs der Schmerzen
zurückgeblieben, oder habe es überschritten? Das ist nicht anders
möglich, als daſs die Erfahrung des Lebens uns — genauer oder un-
genauer — darüber belehrt, wie Glück und Unglück thatsächlich ver-
teilt sind, wieviel Leid im Durchschnitt hingenommen werden muſs,
um ein gewisses Lustquantum damit zu erkaufen, und wieviel von beiden
das typische Menschenlos aufweist. Erst wenn hierüber irgend eine
Vorstellung besteht, wie unbewuſst und unbestimmt auch immer, kann man
sagen, daſs in einem einzelnen Falle ein Genuſs zu teuer, d. h. mit
einem groſsen Leidquantum — erkauft ist, oder daſs ein einzelnes
Menschenschicksal einen Überschuſs von Schmerzen über seine Freuden
zeige. Jener Durchschnitt selbst ist aber nicht „unverhältnismäſsig“,
weil er vielmehr dasjenige ist, woran sich das Verhältnis der Empfin-
dungen im einzelnen Falle erst als ein angemessenes oder unangemessenes
bestimmt — so wenig wie man sagen kann, der Durchschnitt der
Menschen wäre groſs oder klein, da dieser Durchschnitt ja erst den
Maſsstab abgiebt, an dem der einzelne Mensch — als welcher allein
groſs oder klein sein kann — sich miſst; ebenso, wie man nur sehr
miſsverständlich sagen kann, daſs „die Zeit“ schnell oder langsam ver-
7*
[100] ginge — das Vergehen der Zeit vielmehr, d. h. das als Durchschnitt
erfahrene und empfundene Tempo der Ereignisse überhaupt ist die
messende Gröſse, an der sich die Schnelligkeit oder Langsamkeit der
einzelnen Zeitabschnitte ergiebt, ohne daſs dieser Durchschnitt selbst
schnell oder langsam wäre. So also ist die Behauptung des Pessimis-
mus, daſs der Durchschnitt des Menschenlebens mehr Leid als Lust
aufweise, ebenso methodisch unmöglich wie der des Optimismus, daſs
er mehr Lust als Leid einschlieſse; das Empfundenwerden der Gesamt-
quanten von Lust und Leid (oder, anders ausgedrückt, ihres auf das
Individuum oder die Zeitperiode entfallenden Durchschnitts) ist das
Urphänomen, dessen Seiten nicht miteinander verglichen werden können,
weil es dazu eines auſserhalb beider gelegenen und sie gleichmäſsig
umfassenden Maſsstabes bedürfte.


Der Typus des Erkennens, um den es sich hier handelt, dürfte
so hinreichend charakterisiert sein. Innerhalb der angeführten und
mancher anderen Gebiete sind die primären, sie bildenden Elemente
an sich unvergleichbar, weil sie von verschiedener Qualität sind, also
nicht aneinander oder an einem dritten gemessen werden können.
Nun aber bildet die Thatsache, daſs das eine Element eben in diesem,
das andere in jenem Maſse vorhanden ist, ihrerseits den Maſsstab für
die Beurteilung des singulären und partiellen Falles, Ereignisses,
Problemes, in dem beiderlei Elemente mitwirken. Indem die Elemente
des einzelnen Vorkommnisses die Proportion der Gesamtquanten wieder-
holen, haben sie das „richtige“, d. h. das normale, durchschnittliche,
typische Verhältnis, während die Abweichung davon als „Übergewicht“
des einen Elementes, als „Unverhältnismäſsigkeit“ erscheint. An und
für sich besitzen natürlich diese Elemente der Einzelfälle so wenig ein
Verhältnis von Richtigkeit oder Falschheit, Gleichheit oder Ungleich-
heit, wie ihre Gesamtheiten es haben; sie gewinnen es vielmehr erst
dadurch, daſs die Maſse der Gesamtquanten das Absolute bilden, nach
dem das Einzelne, als das Relative, geschätzt wird; das Absolute selbst
aber unterliegt nicht den Bestimmungen der Vergleichbarkeit, die es
seinerseits dem Relativen ermöglicht. — Diesem Typus könnte nun
das Verhältnis zwischen dem Verkaufsobjekt und seinem Geldpreis an-
gehören. Vielleicht haben beide inhaltlich gar nichts miteinander
gemeinsam, sind qualitativ so ungleich, daſs sie quantitativ unvergleich-
bar sind. Allein da nun einmal alles Verkäufliche und alles Geld
zusammen einen ökonomischen Kosmos ausmachen, so könnte der Preis
einer Ware der „entsprechende“ sein, wenn er denjenigen Teil des
wirksamen Gesamtgeldquantums darstellt, den die Ware von dem wirk-
samen Gesamtwarenquantum ausmacht. Nicht der gleiche „Wert“ in
[101] der Ware und der bestimmten Geldsumme braucht ihre gegenseitige
Verhältnismäſsigkeit zu begründen; der Geldpreis braucht vielmehr keinen
Wert überhaupt oder wenigstens keinen Wert in demselben Sinne zu
enthalten, sondern nur denselben Bruch mit allem Geld überhaupt zu
bilden, den die Ware mit allen Warenwerten überhaupt bildet. — Auch
der Verlauf der Individualwirtschaft zeigt, wie abhängig der Geldpreis
einer Ware von dem Verhältnis dieser zu einer Warengesamtheit ist.
Man sagt: wir bringen ein Geldopfer — das uns an sich beschwerlich
ist — nur wenn wir einen angemessenen Gegenwert erhalten. Jede
Ersparnis an jenem Opfer wird als ein positiver Gewinn gerechnet.
Allein sie ist ein Gewinn nur dadurch, daſs sie ermöglicht, dasselbe
Opfer bei einer anderen Gelegenheit zu bringen. Wüſste ich mit dem
Geld sonst nichts anzufangen, so würde ich meinen ganzen Geldbesitz
ohne weiteres für das eine Objekt, für das er gefordert würde, hin-
geben. Die Angemessenheit des Preises bedeutet also nur, daſs ich —
als Durchschnittswesen — nachdem ich ihn bezahlt habe, noch so viel
übrig behalten muſs, um die übrigen gleichfalls begehrten Dinge zu
kaufen. Der Aufwand für jeden einzelnen Gegenstand muſs sich
danach richten, daſs ich noch andere Gegenstände auſser ihm kaufen
will. Wenn jedermann seine privaten Ausgaben so reguliert, daſs sein
Aufwand für jede Warengattung seinem Gesamteinkommen proportioniert
ist, so bedeutet dies, daſs sein Aufwand für das Einzelne sich zu seinem
Aufwand für das Ganze der Wirtschaft verhält, wie sich die Bedeutung
des beschafften Einzelobjekts zu der der zu beschaffenden Gesamtheit
der ihm wünschbaren und zugängigen Objekte verhält. Und dieses
Schema der Individualwirtschaft ist offenbar nicht nur eine Analogie
der Wirtschaft überhaupt, sondern aus seiner durchgängigen Anwendung
muſs die Festsetzung der Durchschnittspreise hervorgehen: die fort-
währenden subjektiven Abwägungen müssen als Niederschlag das objek-
tive Verhältnis zwischen Ware und Preis erzeugen, das also ebenso
von der Proportion zwischen dem wirksamen Gesamtwarenvorrat und
dem Gesamtgeldquantum abhängt, wie — alle Modifikationen vor-
behalten — von der Proportion zwischen den Gesamtbedürfnissen
des Einzelnen und seinem dafür verfügbaren Gesamtgeldeinkommen.


Die ganze bisherige Deduktion berührte in keiner Weise die Frage,
ob das Geld in Wirklichkeit ein Wert ist oder nicht; sondern nur daſs
seine Funktion, Werte zu messen, ihm den Charakter eines Eigen-
wertes nicht aufzwingt, galt es zu beweisen. Aber diese bloſse Mög-
lichkeit macht doch den Weg für die Erkenntnis nicht nur seines
wirklichen Entwicklungsganges, sondern vor allem seines innerlichen
Wesens frei. — Auf den primitiven Wirtschaftsstufen treten allenthalben
[102] Gebrauchswerte als Geld auf: Vieh, Salz, Sklaven, Tabak, Felle u. s. w.
Auf welche Weise sich das Geld auch entwickelt habe, am Anfang muſs
es jedenfalls ein Wert gewesen sein, der unmittelbar als solcher em-
pfunden wurde. Daſs man die wertvollsten Dinge gegen einen be-
druckten Zettel fortgiebt, ist erst bei einer sehr groſsen Ausdehnung
und Zuverlässigkeit der Zweckreihen möglich, die es sicher macht, daſs
das unmittelbar Wertlose uns weiterhin zu Werten verhilft. So kann
man logische Schluſsreihen, die auf durchaus bündige Schluſssätze führen,
durch an sich unmögliche oder widerspruchsvolle Glieder hindurch-
leiten — aber doch nur, wenn das Denken seiner Richtung und Richtig-
keit ganz sicher ist; ein primitives, noch schwankendes Denken würde
an einem solchen Punkte sofort seine Direktion und sein Ziel ver-
lieren und muſs deshalb seine Funktionen an Sätzen ausüben, von
denen jeder für sich möglichst konkret und von greifbarer Richtigkeit
ist — freilich um den Preis der Beweglichkeit des Denkens und der
Weite seiner Ziele. Entsprechend steigert die Durchführung der Wert-
reihen durch das Wertlose ihre Ausdehnung und Zweckmäſsigkeit ganz
auſserordentlich, kann sich aber erst bei einer gewachsenen Intellektua-
lität der Einzelnen und stetigen Organisation der Gruppe verwirklichen.
Niemand wird so thöricht sein, einen Wert gegen etwas wegzugeben,
was er unmittelbar überhaupt nicht verwenden kann, wenn er nicht
sicher ist, dieses Etwas mittelbar wieder in Werte umsetzen zu können.
Es ist also nicht anders denkbar, als daſs der Tausch ursprünglich ein
Naturaltausch, d. h. ein zwischen unmittelbaren Werten erfolgender
gewesen ist. Man nimmt an, daſs Objekte, welche grade wegen ihrer
allgemeinen Erwünschtheit besonders häufig eingetauscht wurden und
kursierten, also besonders häufig mit anderen Gegenständen dem Werte
nach gemessen wurden, psychologisch am ehesten zu allgemeinen Wert-
maſsen auswachsen konnten. In scheinbar entschiedenem Gegensatz
gegen das eben gewonnene Resultat, nach dem das Geld an und für
sich kein Wert zu sein braucht, sehen wir hier, daſs zunächst grade
das Notwendigste und Wertvollste dazu neigt, zum Geld zu werden.
Das Notwendigste verstehe ich hier keineswegs im physiologischen
Sinn; vielmehr kann z. B. das Schmuckbedürfnis die herrschende Rolle
unter den empfundenen „Notwendigkeiten“ spielen; wie wir denn auch
thatsächlich von Naturvölkern hören, daſs der Schmuck ihres Körpers,
bezw. die dazu verwendeten Gegenstände, ihnen wertvoller ist als alle
die Dinge, die wir uns als viel dringlicher notwendig vorstellen. Da
die Notwendigkeit der Dinge für uns immer nur ein Accent ist, den
unser Gefühl ihren an sich ganz gleichberechtigten — richtiger: an
sich überhaupt nicht „berechtigten“ — Inhalten erteilt, und der aus-
[103] schlieſslich von den Zwecken abhängt, die wir uns setzen — so ist von
vornherein in keiner Weise auszumachen, welches denn nun jene
unmittelbar dringlichen und den Geldcharakter anzunehmen geneigten
Werte eigentlich sind; nur daſs sich der letztere ursprünglich an solche
geknüpft hat, die durch ihre empfundene Notwendigkeit eine besondere
Häufigkeit des Austausches gegen die Mannigfaltigkeit anderer Dinge
aufwiesen, scheint mir eine unumgängliche Annahme. Weder als
Tauschmittel noch als Wertmesser hätte es entstehen können, wenn es
nicht seinem Stoffe nach als unmittelbar wertvoll empfunden
worden wäre.


Vergleichen wir damit den jetzigen Zustand, so ist unzweifelhaft,
daſs das Geld für uns nicht mehr deshalb wertvoll ist, weil sein Stoff
als unmittelbar notwendig, als ein unentbehrlicher Wert vorgestellt
würde. Kein Mensch europäischer Kultur findet heute ein Geldstück
wertvoll, weil sich ein Schmuckgegenstand daraus herstellen lieſse. Und
schon deshalb kann der heutige Geldwert nicht auf seinen Metall-
wert zurückgehen, weil das Edelmetall jetzt in viel zu groſsen Quanti-
täten vorhanden ist, um bloſs zu Schmuck- und technischen Zwecken
noch lohnende Verwendung zu finden. Denkt man sich, wie es in der
Konsequenz der Metallwerttheorie liegt, einen solchen Übergang als
vollzogen, so würde dies eine derartige Plethora von Gegenständen aus
Edelmetall erzeugen, daſs der Wert derselben auf ein Minimum sinken
müſste. Daſs man das Geld also auf seine mögliche Umsetzung in
sonstige Metallobjekte wertet, ist grade nur unter der Bedingung
möglich, daſs diese Umsetzung nicht oder nur in ganz verschwindendem
Maſse erfolge. So sehr also auch am Anfang der Entwicklung, d. h.
bei einem sehr geringen Bestande von Edelmetallen, ihre Verwendung
als Schmuck ihren Geldwert bestimmt haben möge, so verschwindet
diese Beziehung doch in dem Maſse ihrer gesteigerten Produktion.
Diese Entwicklung wird noch dadurch unterstützt, daſs der primitive
Mensch, wie ich hervorhob, es zwar für eine vitale Notwendigkeit hält,
sich in einer bestimmten Weise zu schmücken, daſs aber die spätere
Ausbildung der Wertskalen dieses Interesse thatsächlich in die Kate-
gorie des „Entbehrlichen“ oder „Überflüssigen“ einreiht. Der Schmuck
spielt im modernen Kulturleben absolut nicht mehr die soziale Rolle,
die wir mit Staunen in den ethnologischen, aber auch noch in mittel-
alterlichen Berichten finden. Auch dieser Umstand muſs dazu dienen,
die Bedeutung des Geldes, die es seinem Material verdankt, herab-
zudrücken. Man kann sagen, daſs der Wert des Geldes immer mehr
von seinem terminus a quo auf seinen terminus ad quem übergeht,
und daſs so das Metallgeld, in Bezug auf die psychologische Vergleich-
[104] gültigung seines Materialwertes, mit dem Papiergeld auf einer Stufe
steht. Man darf die materiale Wertlosigkeit dieses letzteren nicht des-
halb als irrelevant erklären, weil es nur eine Anweisung auf Metall
wäre. Dagegen spricht schon die Thatsache, daſs selbst ein völlig
ungedecktes Papiergeld doch immer als Geld gewertet wird. Denn
wenn man auch auf den politischen Zwang hinweisen wollte, der allein
solchem Papiergeld seinen Kurs verschaffte, so heiſst das ja grade,
daſs andere Gründe als der der unmittelbaren und materialen Ver-
wertung einem bestimmten Stoff den Geldwert verleihen können und
jetzt thatsächlich verleihen. Der steigende Ersatz des baren Metall-
geldes durch Papiergeld und die mannigfaltigen Formen des Kredits
wirken unvermeidlich auf den Charakter jenes selbst zurück — un-
gefähr wie im Persönlichen jemand, der sich fortwährend durch Andere
vertreten läſst, schlieſslich keine andere Schätzung erfährt, als die seinen
Vertretern gebührende. Zu je ausgedehnteren und mannigfaltigeren
Diensten das Geld berufen ist und je schneller das einzelne Quantum
zirkuliert, desto mehr muſs sein Funktionswert über seinen Substanz-
wert hinauswachsen. Der modern entwickelte Verkehr strebt offenbar
dahin, das Geld als substanziellen Wertträger mehr und mehr aus-
zuschalten, und er muſs dahin streben, weil auch die gesteigertste Edel-
metallproduktion nicht ausreichen würde, alle Umsätze in bar zu
begleichen. Der Giroverkehr einerseits, der internationale Wechsel-
versand andrerseits sind nur hervortretende Punkte dieser allgemeinen
Tendenz, deren schon frühe und charakteristische Erscheinungen der
letzte Abschnitt dieses Kapitels behandeln wird.


Im ganzen wird, je primitiver die wirtschaftlichen Vorstellungen
sind, um so mehr auch das Messen ein sinnlich-unmittelbares Verhältnis
zwischen den verglichenen Werten voraussetzen. Die eben geschilderte
Auffassung: daſs die Wertgleichung zwischen einer Ware und einer Geld-
summe die Gleichheit des Bruches bedeute, welcher zwischen diesen
beiden als Zählern und den ökonomisch in Betracht kommenden Gesamt-
quanten aller Waren und alles Geldes als Nennern bestehe — ist offen-
bar der Thatsache nach überall wirksam, weil sie erst die eine Objekt-
art wirklich zum Gelde macht; allein da das Geld als solches eben nur
allmählich entsteht, wird auch dieser Modus sich aus dem primitiveren
einer unmittelbaren Vergleichung der auszutauschenden Objekte ent-
wickeln. Die niedrigste Stufe bezeichnet vielleicht ein Fall, der von
den neu-britannischen Inseln gemeldet wird. Die Eingeborenen be-
nutzen dort als Geld schnurweise aufgereihte Kaurimuscheln, welche sie
Dewarra nennen. Dies Geld wird nach Längenmaſsen: Armlängen u. s. w.
zum Einkauf verwandt; für Fische wird in der Regel so viel in De-
[105] warra gegeben, wie sie selbst lang sind
. Auch sonst wird aus
dem Gebiet des Kaurigeldes gelegentlich gemeldet, der Typus des Kaufes
sei, daſs das gleiche Maſs zweier Waren als wertgleich gelte: ein Maſs
Getreide z. B. gilt das gleiche Maſs Kaurimuscheln. Hier hat offenbar
die Unmittelbarkeit in der Äquivalenz von Ware und Preis ihren voll-
ständigsten und einfachsten Ausdruck erlangt, der gegenüber eine Wert-
vergleichung, die nicht auf quantitative Kongruenz hinausläuft, schon
einen höheren geistigen Prozeſs darstellt. Ein Rudiment jener naiven
Gleichwertung gleicher Quanten liegt in der Erscheinung, die Mungo
Park im 18. Jahrhundert von einigen westafrikanischen Stämmen
berichtet. Dort habe Eisengeld in Stangenform als Geld kursiert und
zur Bezeichnung der Warenquanten gedient, so daſs man ein bestimmtes
Maſs Tabak oder Rum je eine Stange Tabak, eine Stange Rum genannt
habe. Hier hat sich das Bedürfnis, Wertgleichheit als Quantitäts-
gleichheit anzusehen — offenbar ein starker, sinnlich eindrucksvoller
Anhalt primitiver Wertbildung — in den sprachlichen Ausdruck ge-
flüchtet. Bei sehr verschiedenem Aussehen gehören doch der gleichen
prinzipiellen Empfindung einige andere Erscheinungen an. Von der
Stadt Olbia am Dnjepr, einer milesischen Kolonie, sind uns alte Bronze-
münzen erhalten, welche die Gestalt von Fischen haben, mit Aufschriften,
welche wahrscheinlich Thunfisch und Fischkorb bedeuten. Nun wird
angenommen, daſs jenes Fischervolk ursprünglich den Thunfisch als
Tauscheinheit benutzte und es — vielleicht wegen des Verkehrs mit
tieferstehenden Nachbarstämmen — bei Einführung der Münze nötig
fand, den Wert je eines Thunfisches in einer Münze darzustellen, die
durch die Gleichheit ihrer Form diese Gleichwertigkeit und Ersetzbar-
keit unmittelbar versinnlichte — während man an anderen Stellen,
weniger nachdrücklich und doch auf das äuſserliche Sichentsprechen
nicht verzichtend, auf die Münze nur das Bild des Gegenstandes (Ochse,
Fisch, Axt) prägte, der in der Tauschepoche die Grundeinheit bildete
und dessen Wert eben die Münze darstellte. Dasselbe Grundgefühl
herrscht, wenn der Zend-Avesta vorschreibt, der Arzt solle als Honorar
für die Heilung eines Hausbesitzers den Wert eines schlechten Ochsen
fordern, für die eines Dorfvorstandes den Wert eines mittelguten, für
die eines Stadtherrn den Wert eines hochwertigen, für die eines Provinz-
statthalters den Wert eines Viergespanns; dagegen käme ihm für die
Heilung der Frau eines Hausbesitzers eine Eselin an Wert zu, für
die Frau eines Dorfvorstandes eine Kuh, für die Frau eines Stadtherrn
eine Stute, für die Frau eines Statthalters ein weibliches Kamel. Die
Gleichheit des Geschlechtes am Leistungsobjekt und am Leistungs-
entgelt bezeugt auch hier die Neigung, die Äquivalenz von Wert und
[106] Gegenwert auf eine unmittelbar äuſserliche Gleichheit zu gründen.
Ebenso verhält es sich mit der Thatsache, daſs das Geld am Anfang
seiner Entwicklung aus Stücken von groſser und schwerer Quantität
zu bestehen pflegte: Felle, Vieh, Kupfer, Bronze; oder aus sehr massen-
haften, wie das Kaurigeld. Es wirkt hier noch die Tendenz der Bauern-
regel: viel hilft viel — für die ein natürliches und erst durch eine
feinere und reflektierende Empirie widerlegbares Gefühl spricht. Auch
von Edelmetallgeld finden wir die gröſsten Münzen fast ausschlieſslich
bei Völkern von unausgebildeter oder naturalwirtschaftlicher Kultur:
als die gröſsten Goldstücke gelten der Lool der Anamiten, der 880 Mk.
wert ist, der japanische Obang (220 Mk.), der Benta der Aschantis;
auch hat Anam eine Silbermünze im Werte von 60 Mk. Aus dem-
selben Gefühl von der Bedeutung des Quantums heraus bleibt das
Prägerecht der gröſsten Münzen oft den obersten Machthabern vor-
behalten, während die kleineren (auch von dem gleichen Metall!) von
niederen Instanzen geschlagen werden: so prägte der Groſskönig von
Persien das Groſsgeld, die Satrapen aber die goldene Kleinmünze, vom
Viertel abwärts. Der Charakter erheblicher Quantität ist sogar nicht
nur primitiven Metallgeldformen, sondern auch den Geldarten, die diesen
vorangehen, manchmal eigen: die Slaven, welche in dem 1. Jahr-
hundert unserer Zeitrechnung zwischen Saale und Elbe saſsen und ein
auſserordentlich rohes Naturvolk waren, bedienten sich als Geldes
leinener Tücher; die Kaufkraft eines solchen betrug 100 Hühner, oder
Weizen für 10 Mann auf 1 Monat! Und selbst innerhalb des aus-
gebildeteren Geldwesens ist bemerkbar, wie die Geldbegriffe von immer
geringeren Metallwerten erfüllt werden. Der mittelalterliche Gulden war
eine Goldmünze im Wert eines Dukaten — der heutige zählt 100 Kupfer-
kreuzer; der ehemalige Groschen war eine dicke (grossus) Silbermünze;
die ehemalige Mark betrug ein Pfund Silber, das Pfund Sterling war 70 Mk.
wert. In primitiven, naturalwirtschaftlichen Verhältnissen wird der Geld-
verkehr überhaupt nicht die kleinen Bedürfnisse des Tages, sondern
nur relativ gröſsere und wertvollere Objekte betroffen haben, und ihnen
gegenüber wird die Neigung zur Symmetrie, die allen unausgebildeten
Kulturen eigen ist, auch den Geldtausch beherrscht und für äuſserlich
Groſses auch ein äuſserlich groſses Wertzeichen gefordert haben:
daſs die äuſserste quantitative Ungleichheit der Erscheinungen den-
noch eine Gleichheit der Kraft, der Bedeutung, des Wertes gestattet,
pflegt erst von höheren Bildungsstufen eingesehen zu werden. Wo eine
Praxis auf das Vollziehen von Gleichungen gestellt ist, da wird zuerst
eine möglichst anschauliche Unmittelbarkeit des Gleichseins verlangt,
wie die quantitative Mächtigkeit des primitiven Geldes es im Verhältnis
[107] zu ihren Gegenwerten zeigt. Die Abstraktion, die später ein kleines
Metallstückchen als Äquivalent irgend eines umfänglichsten Objektes
anerkennt, steigert sich, in der gleichen Richtung, auf das Ziel hin, daſs
die eine Seite der Wertgleichung gar nicht mehr als Wert an und für
sich, sondern nur noch als abstrakter Ausdruck für den Wert der
anderen funktioniere. Daher ist denn auch die Meſsfunktion des Geldes,
die von vornherein am wenigsten an die Materialität seines Substrates
geknüpft ist, durch die Veränderungen der modernen Wirtschaft am
wenigsten alteriert worden.


Ein Maſsverhältnis zwischen zwei Gröſsen nicht mehr durch
unmittelbares Aneinanderhalten herzustellen, sondern daraufhin, daſs
jede derselben zu je einer anderen Gröſse ein Verhältnis hat und diese
beiden Verhältnisse einander gleich oder ungleich sind — das ist
einer der gröſsten Fortschritte, die die Menschheit gemacht hat, die
Entdeckung einer neuen Welt aus dem Material der alten. Zwei
Leistungen ganz verschiedener Höhe bieten sich dar — sie werden
vergleichbar, da sie im Verhältnis zu dem Kraftmaſs, das jeder der
Leistenden einzusetzen hatte, die gleiche Willensanspannung und Hin-
gebung zeigen; zwei Schicksale stehen auf der Skala des Glücks weit
voneinander ab — aber sie gewinnen sogleich eine meſsbare Beziehung,
wenn man jedes auf das Maſs des Verdienstes hin ansieht, durch das sein
Träger seiner würdig oder unwürdig ist. Zwei Bewegungen, die völlig ver-
schiedene Geschwindigkeit haben, gewinnen eine Zusammengehörigkeit
und Gleichheit, sobald wir beobachten, daſs die Beschleunigung, die jede
von ihnen im Verhältnis zu ihrem Anfangsstadium erfährt, bei bei-
den die gleiche ist. Nicht nur für unser Gefühl spinnt sich eine
Art von Zusammengehörigkeit zwischen zwei Elementen, die zwar in
ihrer substanziellen Unmittelbarkeit einander fremd, deren Verhältnisse
zu einem dritten und vierten Element aber die gleichen sind; sondern
eben damit wird das eine zu einem Faktor für die Ausrechenbarkeit
des anderen. Und nun weiter ausgreifend: so unvergleichbar zwei
Personen in ihren angebbaren Eigenschaften sein mögen, so stiften
Beziehungen zu einem je dritten Menschen doch eine Gleichheit zwischen
ihnen; sobald die erste die gleiche Liebe oder Haſs, Herrschaft oder
Unterworfenheit einer dritten gegenüber zeigt, wie die zweite einer vierten
gegenüber, so haben diese Relationen hier der Fremdheit des Fürsich-
seins jener eine tiefe und wesentliche Gleichheit untergebaut. Endlich
ein letztes Beispiel. Die Vollendung verschiedenartiger Kunstwerke
würden wir nicht miteinander vergleichen können, ihre Werte würden
sich nicht in den Zusammenhang einer Stufenleiter ordnen, wenn nicht
jedes zu dem eigentümlichen Ideale seiner Art ein bestimmtes Ver-
[108] hältnis hätte. Aus dem Problem, dem Material, der Stilart jedes Kunst-
werkes wächst uns eine Norm heraus, und zu ihr hat seine Wirklich-
keit eine fühlbare Relation von Nähe oder Abstand, die offenbar bei
der gröſsten Mannigfaltigkeit der Werke die gleiche oder vergleichbare
sein kann. Durch diese mögliche Gleichheit solcher Relation erst wird
aus den einzelnen, an sich einander ganz fremden Werken eine ästhe-
tische Welt, eine genau gefügte Ordnung, ein ideelles Zusammengehören
dem Werte nach. Und dies erstreckt sich nicht nur auf den Kosmos der
Kunst, sondern daſs überhaupt aus dem Stoff unserer isolierten
Schätzungen eine Gesamtheit gleicher oder abgestufter Bedeutsamkeiten
erwächst, daſs auch das Disharmonische nur über der Forderung einer
einheitlichen Ordnung und inneren Beziehung der Werte untereinander
als solches empfunden wird — diesen wesentlichen Zug verdankt unser
Weltbild allenthalben unserer Fähigkeit, nicht nur je zwei Dinge,
sondern auch die Verhältnisse je zweier zu je zwei anderen gegen-
einander abzuwägen und in der Einheit eines Gleichheits- oder
Ähnlichkeitsurteils zusammenzufassen. Das Geld, als Produkt dieser
fundamentalen Kraft oder Form unseres Innern, ist nicht nur deren
weitestes Beispiel, sondern sozusagen garnichts anderes, als die reine
Verkörperung derselben. Denn das Geld kann das im Tausch zu
realisierende Wertverhältnis der Dinge zu einander doch nur so aus-
drücken, daſs das Verhältnis der singulären Summe zu einem irgendwie
gewonnenen Nenner dasselbe ist, das zwischen der ihr entsprechenden
Ware und der Totalität der für den Austausch in Frage kommenden
Waren besteht. Das Geld ist seinem Wesen nach nicht ein wertvoller
Gegenstand, dessen Teile untereinander oder zum Ganzen zufällig
dieselbe Proportion hätten wie andere Werte untereinander; sondern
es erschöpft seinen Sinn darin, das Wertverhältnis eben dieser anderen
Objekte zu einander auszudrücken, was ihm mit Hülfe jener Fähigkeit des
ausgebildeten Geistes gelingt: die Relationen der Dinge auch da gleich-
zusetzen, wo die Dinge selbst keine Gleichheit oder Ähnlichkeit be-
sitzen. Da diese Fähigkeit sich aber erst allmählich aus der primitiveren
entwickelt, die Gleichheit oder Ähnlichkeit zweier Objekte unmittel-
bar
zu beurteilen und auszudrücken, so entstehen die oben berührten
Erscheinungen, in denen man auch das Geld in eine unmittelbare Be-
ziehung dieser Art zu seinen Gegenwerten zu bringen suchte.


Innerhalb der modernen Wirtschaft setzt der fragliche Übergang
z. B. an das Merkantilsystem an. Das Bestreben der Regierungen,
möglichst viel bares Geld ins Land zu bekommen, wurde zwar auch
noch von dem Prinzip: viel hilft viel — geleitet; allein der schlieſs-
liche Zweck, zu dem es helfen sollte, war doch schon die funktionelle
[109] Belebung der Industrie und des Marktes. Der Fortschritt darüber
hinaus bestand in der Einsicht, daſs die diesem Zwecke dienstbaren
Werte der substanziellen Geldform nicht bedürften, vielmehr das un-
mittelbare Produkt der Arbeit schon als solches den entscheidenden
Wert darstellte. Das verhält sich ungefähr wie mit den Zielen früherer
Politik: nur möglichst viel Land zu gewinnen und es mit möglichst
viel Menschen zu „peuplieren“: bis tief in das 18. Jahrhundert hinein
fiel es kaum einem Staatsmann ein, daſs die eigentliche nationale Gröſse
anders als durch den Gewinn von Land gefördert werden könnte. Die
Berechtigung solcher Ziele unter gewissen historischen Umständen hat
doch die Einsicht nicht verhindert, daſs all diese substanzielle Fülle
nur als Grundlage dynamischer Entwicklungen bedeutsam ist, daſs
diese letzteren aber schlieſslich nur eine sehr begrenzte Unterlage
jener Art fordern. Es hat sich gezeigt, daſs für die Steigerung der
Produktion und des Reichtums die physische Gegenwart des Geld-
äquivalents immer entbehrlicher wird und daſs, selbst wenn das „viele“
Geld nicht mehr um seinethalben, sondern um bestimmter funktioneller
Zwecke willen erstrebt wird, diese gleichsam in freischwebenden
Prozessen, unter Ausschaltung jenes erreicht werden können — wie
insbesondere der moderne internationale Warenaustausch erweist. Die
Bedeutung des Geldes, die relativen Werte der Waren auszudrücken,
ist nach unseren obigen Ausführungen von einem an ihm bestehenden
Eigenwert ganz unabhängig; wie es für eine Skala zur Messung von
Raumgröſsen gleichgültig ist, ob sie aus Eisen, Holz oder Glas besteht,
weil nur das Verhältnis ihrer Teile zu einander, bezw. zu einer dritten
Gröſse, in Betracht kommt — so hat die Skala, die das Geld für die
Bestimmung von Werten darbietet, mit dem Charakter seiner Substanz
nichts zu thun. In dieser seiner ideellen Bedeutung als Maſsstab und
Ausdruck für den Wert von Waren ist es ganz ungeändert geblieben,
während es als Zwischenware, Wertaufbewahrungs- und Werttransport-
mittel seinen Charakter teils geändert hat, teils noch weiter zu ändern
im Begriff steht: aus der Form der Unmittelbarkeit und Substanzialiät,
in der es diese Obliegenheiten zuerst erfüllte, geht es in die ideelle
über, d. h. es übt seine Wirkungen als bloſse Idee, welche sich an
irgend ein vertretendes Symbol knüpft.


Hiermit scheint sich die Entwicklung des Geldes in eine tief-
gelegene Kulturtendenz einzuordnen. Man kann die verschiedenen
Kulturschichten danach charakterisieren, inwieweit und an welchen
Punkten sie zu den Gegenständen ihrer Interessen ein unmittelbares
Verhältnis haben, und wo andrerseits sie sich der Vermittelung von
Symbolen bedienen. Ob z. B. die religiösen Bedürfnisse durch sym-
[110] bolische Dienste und Formeln erfüllt werden oder durch ein unmittel-
bares Sich-Hinwenden des Individuums zu seinem Gott; ob die Achtung
der Menschen für einander sich in einem festgesetzten, die gegenseitigen
Positionen durch bestimmte Zeremonien andeutenden Schematismus offen-
bart oder in der formfreien Höflichkeit, Ergebenheit und Respekt; ob
Käufe, Zusagen, Verträge durch einfache Verlautbarung ihres Inhaltes
vollzogen werden, oder ob sie durch ein äuſseres Symbol feierlicher
Handlungen erst legalisiert und zuverlässig gemacht werden; ob das
theoretische Erkennen sich unmittelbar an die sinnliche Wirklichkeit
wendet, oder sich mit der Vertretung derselben durch allgemeine Be-
griffe und metaphysische oder mythologische Sinnbilder zu thun macht —
das gehört zu den tiefgreifendsten Unterschieden der Lebensrichtungen.
Diese Unterschiede aber sind natürlich nicht starr; die innere Geschichte
der Menschheit zeigt vielmehr ein fortwährendes Auf- und Absteigen
zwischen ihnen; auf der einen Seite wächst die Symbolisierung der
Realitäten, zugleich aber werden, als Gegenbewegung, stetig Symbole
aufgelöst und auf ihr ursprüngliches Substrat reduziert. Ich führe ein
ganz singuläres Beispiel an. Die sexuellen Dinge standen schon lange
unter der Verhüllung durch Zucht und Scham, während die Worte,
die sie bezeichneten, noch völlig ungeniert gebraucht wurden; erst in
den letzten Jahrhunderten ist das Wort unter dieselben Kautelen ge-
stellt — das Symbol rückte in die Gefühlsbedeutung der Realität ein.
Nun aber bahnt sich in der allerneuesten Zeit wieder eine Lösung
dieser Verbindung an. Die naturalistische Kunstrichtung hat auf die
Undifferenziertheit und Unfreiheit des Empfindens hingewiesen, das an
das Wort, also an ein bloſses, zu künstlerischen Zwecken verwandtes
Symbol, dieselben Empfindungen knüpfe, wie an die Sache selbst; die
Darstellung des Unanständigen sei noch keine unanständige Darstellung,
und man müsse die Realitätsempfindungen von der symbolischen Welt
lösen, in der jede Kunst, auch die naturalistische, sich bewege. Viel-
leicht in Zusammenhang hiermit kommt eine allgemeine gröſsere Frei-
heit der gebildeten Stände im Besprechen heikler Objekte auf; wo
objektive und reine Gesinnung vorausgesetzt wird, ist mancherlei früher
Verbotenes auszusprechen erlaubt — die Schamempfindung ist eben
wieder ausschlieſslicher der Sache zugewandt und läſst das Wort, als
ein bloſses Symbol ihrer, wieder freier. So schwankt, auf den engsten
wie auf den weitesten Gebieten, das Verhältnis zwischen Realität und
Symbol, und man möchte fast glauben — so wenig solche Allgemein-
heiten ihre Beweislast auf sich nehmen können — daſs entweder jede
Kulturstufe (und schlieſslich jede Nation, jeder Kreis, jedes Individuum)
eine besondere Proportion zwischen symbolischer und unmittelbar rea-
[111] listischer Behandlung ihrer Interessen aufweist; oder daſs gerade diese
Proportion im Ganzen beharrt und nur die Gegenstände, an denen sie
sich darstellt, dem Wechsel unterliegen. Vielleicht aber kann man
sogar etwas spezieller bestimmen, daſs ein besonders augenfälliges
Hervortreten von Symbolik ebenso sehr primitiven und naiven, wie
sehr hochentwickelten und komplizierten Kulturzuständen eigen ist;
und daſs, auf die Objekte hin angesehen, die aufwärtsschreitende Ent-
wicklung uns auf dem Gebiete des Erkennens immer mehr von Sym-
bolen befreit, sie uns aber auf praktischen Gebieten immer notwendiger
macht. Gegenüber der nebelhaften Symbolistik mythologischer Welt-
anschauungen zeigt die moderne eine gar nicht vergleichliche Un-
mittelbarkeit im Ergreifen der Objekte; dagegen bringt die extensive
und intensive Häufung der Lebensmomente es mit sich, daſs wir viel
mehr mit Zusammenfassungen, Verdichtungen und Vertretungen ihrer
in symbolischer Form operieren müssen, als es in einfacheren und
engeren Verhältnissen nötig war: die Symbolik, die auf den niederen
Lebensstufen so oft Umweg und Kraftvergeudung ist, dient auf den
höheren grade einer die Dinge beherrschenden Zweckmäſsigkeit und
Kraftersparnis. Man mag hier etwa an die diplomatische Technik
denken, sowohl im internationalen wie im parteipolitischen Sinne.
Sicher ist es das Verhältnis der realen Machtquanten, das über den
Ausgang des Interessengegensatzes entscheidet. Aber diese messen sich
eben nicht mehr unmittelbar, d. h. in physischem Kampfe, aneinander,
sondern werden durch bloſse Vorstellungen vertreten. Hinter dem
Repräsentanten jeder Kollektivmacht steht in verdichteter potenzieller
Form die reale Kraft seiner Partei, und genau nach dem Maſse dieser
ist seine Stimme wirksam und kann sein Interesse sich durchsetzen.
Er selbst ist gleichsam das Symbol dieser Macht; die intellektuellen
Bewegungen zwischen den Repräsentanten der verschiedenen Macht-
gruppen symbolisieren den Verlauf, den der reale Kampf genommen
hätte, derart, daſs der Unterlegne sich in das Resultat jener genau so
fügt, als wäre er in diesem besiegt. Ich erinnere z. B. an die Ver-
handlungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern zur Vermeidung eines
drohenden Streikes. Hier pflegt jede Partei genau nur bis zu dem
Punkte nachzugeben, bis zu dem, ihrer Abschätzung der Kräfte nach,
auch der wirklich ausbrechende Streik sie zwingen würde. Man ver-
meidet die ultima ratio, indem man ihr Ergebnis in zusammenfassenden
Vorstellungen antizipiert. Wäre diese Vertretung und Messung der
realen Kräfte durch bloſse Vorstellungen immer mit Sicherheit möglich,
so könnte überhaupt jeder Kampf erspart werden. Jener utopische
Vorschlag: künftige Kriege durch eine Partie Schach zwischen den
[112] Feldherren zu entscheiden — ist deshalb so absurd, weil der Ausgang
einer Schachpartie gar keinen Anhalt dafür giebt, welches der Aus-
gang des Waffenkampfes gewesen wäre, und also diesen nicht mit
gültigem Erfolge versinnbildlichen und vertreten kann; wogegen etwa
ein Kriegsspiel, in dem alle Heeresmassen, alle Chancen, alle Intelli-
genz der Führung einen vollständigen symbolischen Ausdruck fände,
unter der unmöglichen Voraussetzung seiner Herstellbarkeit allerdings
den physischen Kampf unnötig machen könnte.


Die Fülle der Momente — der Kräfte, Substanzen und Ereig-
nisse —, mit denen das vorgeschrittene Leben zu arbeiten hat, drängt
auf eine Verdichtung desselben in umfassenden Symbolen, mit denen
man nun rechnet, sicher, daſs dasselbe Resultat sich ergiebt, als wenn
man mit der ganzen Breite der Einzelheiten operiert hätte; so daſs
das Resultat ohne weiteres für diese Einzelheiten gültig, auf sie an-
wendbar ist. Das muſs in dem Maſse möglicher werden, in dem die
Quantitätsbeziehungen der Dinge sich gleichsam selbständig machen.
Die fortschreitende Differenzierung unseres Vorstellens bringt es mit
sich, daſs die Frage des Wieviel eine gewisse psychologische Trennung
von der Frage des Was erfährt — so wunderlich dies auch in logi-
scher Hinsicht erscheint. In der Bildung der Zahlen geschieht dies
zuerst und am erfolgreichsten, indem aus den so und so vielen Dingen
das So und Soviel herausgehoben und zu eigenen Begriffen verselb-
ständigt wird. Je feststehender die Begriffe ihrem qualitativen Inhalt
nach werden, desto mehr richtet sich das Interesse auf ihre quantitativen
Verhältnisse, und schlieſslich hat man es für das Ideal des Erkennens
erklärt, alle qualitativen Bestimmtheiten der Wirklichkeit in rein
quantitative aufzulösen. Diese Aussonderung und Betonung der Quan-
tität erleichtert die symbolische Behandlung der Dinge: denn da die
inhaltlich verschiedensten doch eben in quantitativen Hinsichten über-
einstimmen können, so vermögen derartige Beziehungen, Bestimmtheiten,
Bewegungen des einen ein gültiges Bild für eben dieselben an einem
anderen abzugeben; einfachste Beispiele sind etwa die Rechenmarken,
die uns zahlenmäſsige Bestimmungen beliebiger Objekte beweisend ver-
anschaulichen, oder das Fensterthermometer, das uns das Mehr oder
Weniger zu erwartender Wärmeempfindungen in den Zahlen der Grade
anzeigt. Diese Ermöglichung von Symbolen durch die psychologische
Heraussonderung des Quantitativen aus den Dingen, die uns heute
freilich sehr selbstverständlich erscheint, ist eine Geistesthat von auſser-
ordentlichen Folgen. Auch die Möglichkeit des Geldes geht auf sie
zurück, insofern es, von aller Qualität des Wertes absehend, das reine
Quantum desselben in numerischer Form darstellt. Einen ganz bezeich-
[113] nenden Übergang von dem qualitativ bestimmbaren zu dem quantitativ
symbolischen Ausdruck bietet ein Bericht aus dem alten Ruſsland.
Dort hätten zuerst Marderfelle als Tauschmittel gegolten. Im Laufe
des Verkehrs aber hätte die Gröſse und die Schönheit der einzelnen
Felle allen Einfluſs auf ihre Tauschkraft verloren, jedes hätte schlecht-
weg nur für eines und jedem anderen gleiches gegolten. Die daraus
folgende alleinige Bedeutung ihrer Zahl hätte bewirkt, daſs, als der
Verkehr sich steigerte, man einfach die Zipfel der Felle als Geld ver-
wendete, bis schlieſslich Lederstückchen, die wahrscheinlich von der
Regierung gestempelt wurden, als Tauschmittel kursierten. Hier ist
es sehr deutlich, wie die Reduzierung auf den rein quantitativen Ge-
sichtspunkt die Symbolisierung des Wertes trägt, auf der erst die
ganz reine Verwirklichung des Geldes ruht.


Mit der Wirksamkeit solcher sekundären Symbole — wie man sie
im Unterschied gegen die primitive und unmittelbare Symbolistik naiver
Geisteszustände nennen kann — ist offenbar die Bedeutung des Intellekts
für die Lebensführung auſserordentlich gesteigert. Sobald das Leben
nicht mehr zwischen sinnlichen Einzelheiten verläuft, sondern sich durch
Abstraktionen, Durchschnitte, Zusammenfassungen bestimmen läſst, so
wird insbesondere in den Beziehungen der Menschen untereinander
der schnellere und genauere Vollzug der Abstraktionsprozesse einen
erheblichen Vorsprung verleihen. Wenn da, wo in roheren Zeiten die
öffentliche Ordnung nur durch physische Gewalt hergestellt werden
konnte, heute das bloſse Erscheinen eines Beamten dazu gehört; wenn
die bloſse Namensunterschrift uns äuſserlich und innerlich bedingungs-
los bindet; wenn unter feinfühligen Menschen ein leise andeutendes
Wort oder eine Miene hinreicht, ihr Verhältnis dauernd festzustellen,
das sich unter tieferstehenden erst auf lange Auseinandersetzungen
oder praktische Handlungsweisen hin ergiebt; wenn man uns durch eine
Berechnung auf dem Papiere zu Opfern bringen kann, die dem Unver-
ständigen nur durch die reale Einwirkung der betreffenden Faktoren
abgezwungen werden — so ist diese Bedeutung symbolischer Dinge
und Thaten offenbar nur bei sehr gesteigerter Intellektualität möglich,
nur bei dem Vorhandensein einer so selbständigen geistigen Kraft,
daſs sie des Eintretens unmittelbarer Einzelheiten nicht bedarf.


Ich habe dies ausgeführt, um die Einordnung des Geldes auch in
diese Strömung der Kultur einleuchtend zu machen. Das immer
wirkungsvoller werdende Prinzip der Ersparnis an Kräften und Sub-
stanzen führt zu immer ausgedehnterem Verfahren mit Vertretungen
und Symbolen, welche mit demjenigen, was sie vertreten, gar keine
inhaltliche Verwandtschaft haben; so daſs es durchaus in derselben
Simmel, Philosophie des Geldes. 8
[114] Richtung liegt, wenn die Operationen mit Werten sich an einem
Symbol vollziehen, das mehr und mehr die materiale Beziehung zu den
definitiven Realitäten seines Gebietes einbüſst und bloſs Symbol wird.
Diese Lebensform setzt nicht nur eine auſserordentliche Vermehrung
der psychischen Prozesse voraus — wie komplizierte psychologische
Vorbedingungen fordert etwa nur die Deckung von Banknoten durch
Barreserve! — sondern auch eine Erhöhung derselben, eine prinzi-
pielle Wendung der Kultur zur Intellektualität. Daſs das Leben im
wesentlichen auf den Intellekt gestellt ist und dieser als die praktisch
wertvollste unter unseren psychischen Energien gilt — das pflegt, wie
nachherige Überlegungen noch ausführlich zeigen werden, mit dem
Durchdringen der Geldwirtschaft Hand in Hand zu gehen; wie denn
auch innerhalb des Handelsgebietes, insbesondere wo reine Geld-
geschäfte in Frage stehen, zweifellos der Intellekt im Besitz der
Souveränetät ist. Die Steigerung der intellektuellen, abstrahierenden
Fähigkeiten charakterisiert die Zeit, in der das Geld immer mehr zum
reinen Symbol und gegen seinen Eigenwert gleichgültig wird.


[[115]]

II.


Bei alledem muſs festgehalten werden, daſs so nur eine Rich-
tung der Entwicklung
bestimmt wird, der Entwicklung, die
mit einem wirklichen Werte des Geldstoffes, allen anderen Werten
koordiniert, begonnen hat. Deshalb müssen einige naheliegende Vor-
stellungen widerlegt werden, die scheinbar mit der unsrigen von der
Wertlosigkeit der Geldsubstanz übereinstimmen, indem sie den Unter-
schied des Geldes gegen alle anderen Werte betonen und mit diesem
beweisen wollen, daſs das Geld prinzipiell kein Wert derselben Art
wie diese sein kann. Es wurde damit, wie so oft, in der Form der
Erstarrung und der Vorwegnahme festgelegt, was sich nur in unend-
licher Annäherung vollziehen kann. Aus der Abwehr des dogmatischen
Wertes des Geldes dürfen wir nicht in ein Dogma von seinem Nicht-
wert verfallen, zu dem die folgenden Vorstellungen verführen könnten.
Es scheint, als ob selbst das nutzbarste Objekt, um als Geld zu
funktionieren, auf seine Nützlichkeit verzichten müſste. Wenn z. B.
in Abessinien besonders zugeschnittene Stücke Steinsalz als Scheide-
münze kursieren, so sind sie doch eben Geld nur dadurch, daſs man
sie nicht als Salz gebraucht. An der Somaliküste zirkulierten früher
Stücke blauen Baumwollstoffes, jedes zwei Ellen groſs, als Geld; ein
so groſser Fortschritt im Sinne des Geldverkehrs dies auch gegenüber
dem Zeuggeld ist, das man beliebig zerschneidet und zusammensetzt,
so deutet diese Form des Gebrauchs doch eben die Tendenz an, auf
die Verwendung des Zeuges als Zeug zu verzichten. Der mögliche
Nutzen von Gold und Silber für technische und ästhetische Zwecke
kann solange nicht verwirklicht werden, wie sie als Geld zirkulieren;
und so mit allen Geldarten. Von den vielerlei Wirkungen, mit denen
die Geldstoffe in die menschlichen Zweckprovinzen hineinstrahlen,
müssen alle übrigen schweigen, wenn ihre Wirkung als Geld eintreten
soll. In dem Augenblick, in dem sie ihren sonstigen und Nützlich-
keitswert entfalten, sind sie der Zirkulation entzogen, sind sie nicht
mehr Geld. Alle anderen Werte mag man untereinander vergleichen
8*
[116] und sie nach dem Maſse ihres Nutzbarkeitsquantums austauschen, um
sich eben dieses zu eigen zu machen; aus dieser Reihe aber tritt das
Geld völlig heraus. Denn sobald man es in demselben Sinne ver-
wendete, wie den erhaltenen Gegenwert, würde es eben nicht mehr
Geld sein. Zu der besonderen Eignung der Edelmetalle als Geldstoffe
mag es beitragen, daſs sie besonders leicht aus jeder Formung zu
anderweitigem Zwecke in die Geldform zurückverwandelt werden
können; darum aber stehen sie doch in jedem gegebenen Augenblick
nicht weniger vor der Alternative, entweder Geld oder [Schmuckstück]
zu sein, anders ausgedrückt: entweder als Geld oder als Gebrauchs-
wert zu funktionieren. Scheinbar freilich wird grade dadurch das
Geld in die anderen Wertkategorien wieder eingestellt. Denn wenn
ich einen Meter Brennholz kaufe, so werte ich doch auch seine Sub-
stanz nur nach dem, was sie mir als Heizmaterial leistet, nicht aber
nach einer anderen, etwa auſserdem noch möglichen Verwendung. In
Wirklichkeit aber liegt es ganz anders. Wenn man behauptet, der
Wert des Geldes bestehe in dem Werte seiner Substanz, so heiſst das,
er liegt in denjenigen Seiten oder Kräften dieser Substanz, nach denen
oder mit denen es grade nicht Geld ist. Der Widersinn, den dies
zu enthalten scheint, weist darauf hin, daſs das Geld nicht notwendig
von Substanzen, die „an sich“, d. h. in anderweitigen Beziehungen,
wertvoll sind, getragen zu werden braucht, sondern daſs es genügt,
wenn grade nur die Fähigkeit, als Geld zu funktionieren, auf irgend
eine sonst irrelevante Substanz übertragen wird. Ob solcher Verzicht
auf alle diejenigen Wertfunktionen, auf die man den notwendigen
Wert der Geldsubstanz begründet hat, mit Recht auf die Möglichkeit
eines Geldes schlieſsen läſst, das von vornherein nur Geld und weiter
nichts sei — gilt es zu prüfen.


Es handelt sich hier um die äuſserst wichtige Erscheinung des
Objekts mit mehreren Funktionsmöglichkeiten, von denen nur die eine,
unter Ausschluſs der anderen, verwirklicht werden kann, und um die
Frage, wie eben diese verwirklichte in ihrer Bedeutung und ihrem
Werte durch das Zurücktreten der übrigen modifiziert wird. Um der
gesuchten Einsicht willen, die auf das Nebeneinander verschiedener
Möglichkeiten geht, darf man wohl hervorheben, wie das Nacheinander
mannigfaltiger Funktionen auf die schlieſslich die anderen überlebende
wirkt. Wenn der reuige Sünder einen höheren Wert für die sittliche
Weltordnung haben soll, als der Gerechte, der niemals gestrauchelt ist,
so zieht die sittliche Höhe jenes solche Bewertung doch nicht aus dem
Momente, in dem sie nun wirklich vorhanden ist — denn der ethische
Inhalt eben dieses Momentes ist ja vorausgesetztermaſsen von der Ver-
[117] fassung des von vornherein Gerechten nicht unterschieden — sondern
aus den vorangegangenen, sittlich anders gerichteten, und der That-
sache, daſs diese jetzt nicht mehr bestehen. Oder wenn nach starken
Hemmungen unserer Thätigkeit, äuſserlicher Erzwungenheit ihrer
Richtung wieder Freiheit und Selbstbestimmung eintritt, so knüpft sich
nun an unser Thun ein spezifisches Wohl- und Wertgefühl, das gar
nicht aus den einzelnen Inhalten derselben oder ihrem Erfolge quillt,
sondern ausschlieſslich daraus, daſs die Form der Abhängigkeit
beseitigt ist: genau dasselbe Thun würde, an eine ununterbrochene
Reihe unabhängiger Handlungen sich anschlieſsend, eben dieses Reizes
entbehren, der aus dem bloſsen Vorbeisein jener früheren Lebensform
quillt. Solcher Erfolg des Nichtseienden für das Seiende erscheint
etwas modifiziert und unserer speziellen Frage — bei aller inhaltlichen
Fremdheit — näher liegend in der Bedeutung, die das unmittelbare
Gefühlsleben für das lyrische oder musikalische Kunstwerk besitzt.
Denn so sehr Lyrik und Musik auf der Stärke der subjektiven inneren
Bewegungen aufgebaut sind, so verlangt ihr Charakter als Kunst doch,
daſs deren Unmittelbarkeit überwunden werde. Der Rohstoff des Ge-
fühls mit seiner Impulsivität, seiner personalen Beschränktheit, seiner
unausgeglichenen Zufälligkeit, bildet zwar die Voraussetzung des Kunst-
werkes, aber die Reinheit desselben verlangt eine Distanz gegen jenen,
eine Erlöstheit von ihm. Das ist ja der ganze Sinn der Kunst, für
den Schaffenden wie für den Genieſsenden, daſs sie uns über die Un-
mittelbarkeit des Verhältnisses zu uns selbst und zur Welt hinaus-
hebe, und ihr Wert hängt daran, daſs wir dies hinter uns gelassen
haben, daſs es als etwas wirkt, was nicht mehr da ist. Und wenn
man sagt, es sei doch eben das Nachhallen jenes autochthonen Ge-
fühles, jener ursprünglichsten Erregtheit der Seele, von dem der Reiz
des Kunstwerkes lebe, so wird damit grade zugegeben, daſs das Spe-
zifische
desselben nicht in demjenigen liegt, was der unmittelbaren
und der ästhetischen Form des Gefühlsinhalts gemeinsam ist, sondern
in dem neuen Ton, den die letztere insoweit erhält, als die erstere
verklungen ist. Und endlich der entschiedenste und allgemeinste Fall
dieses Typus, der wegen seiner tiefen Eingebettetheit in unsere funda-
mentalen Wertungen wenig beachtet wird. Es scheint mir nämlich,
als ob eine ungeheure Anzahl von Lebensinhalten, deren Reiz wir ge-
nieſsen, die Höhe desselben dem Umstande verdankt, daſs wir um
ihretwillen unzählige Chancen anderen Genieſsens und Uns-bewährens
unausgeschöpft lassen. Nicht nur in dem Aneinander-Vorübergehen
der Menschen, ihrem Auseinandergehen nach kurzer Berührung, ja in
der völligen Fremdheit gegen unzählige, denen wir und die uns ein
[118] Höchstes zu geben hätten — nicht nur an und für sich liegt darin
eine königliche Verschwendung, eine lässige Groſsartigkeit des Daseins,
sondern jenseits dieses Eigenwertes des Nichtgenieſsens strahlt von ihm
auch auf das, was wir nun wirklich besitzen, ein neuer, erhöhender,
konzentrierender Reiz hinüber. Daſs von den unzähligen Möglichkeiten
des Lebens grade diese zur Wirklichkeit geworden ist, verleiht ihr
einen sieghaften Ton, die Schatten der unerlösten, ungenossenen Fülle
des Lebens bilden ihr Triumphgeleit. Und so nicht nur in dem, was
wir genieſsen, sondern auch in dem, was wir thun. Plötzliche,
zwingende Anforderungen belehren uns oft, daſs wir Begabungen
und Kräfte für bisher fernliegendste Aufgaben besitzen, Energien, die
für immer latent geblieben wären, wenn nicht irgend eine zufällige
Not sie herausgelockt hätte. Das weist darauf hin, daſs in jedem
Menschen auſser den Kräften, die er bewährt, noch eine unbestimmte
Menge anderer Potenzen schlummern, daſs schlieſslich aus jedem vieles
andere hätte werden können, als thatsächlich geworden ist. Wenn
nun das Leben von diesen vielen Möglichkeiten nur eine sehr begrenzte
Anzahl zur Bewährung zuläſst, so erscheinen diese um so bedeutsamer
und kostbarer, je deutlicher wir empfinden, aus wie vielen sie die Aus-
wahl darstellen, wie viele Bethätigungsformen unentwickelt bleiben und
ihr Kraftquantum jenen überlassen müssen, damit sie zur Entfaltung
gelangen. Indem so eine Fülle an sich möglicher Bewährungen ge-
opfert wird, damit es zu einer bestimmten komme, stellt diese gleich-
sam den Extrakt eines sehr viel weiteren Umfangs von Lebensener-
gien dar und zieht aus der Versagtheit der Entwicklung dieser eine
Bedeutung und Pointiertheit, einen Ton von Erlesenheit und gesam-
melter Kraft, die sie, über die von ihr direkt erfüllte Provinz unseres
Wesens hinaus, zum Brennpunkt und Vertreter seines Gesamtumfanges
macht.


In diesen allgemeinen Typus der Wertbildung mag sich das Geld
zunächst einreihen. Es ist sicher richtig, daſs die sonstigen Werte des
Geldstoffes auſser Funktion treten müssen, damit dieser eben Geld
werde; allein der Wert, den er als solches besitzt, und der ihn als
solches funktionieren läſst, kann von denjenigen Verwertungsmöglich-
keiten bestimmt werden, auf die er verzichten muſs. Wie in allen
eben behandelten Fällen setzt sich der empfundene Wert der verwirk-
lichten Funktion aus ihrem positiven Inhalt und der mitwirkenden
Verneintheit jener anderen, über deren Opfer sie sich erhebt, zu-
sammen. Nicht daſs diese anderen Funktionen wirken, sondern daſs
sie nicht wirken, ist hier das Wirksame. Wenn dies den Wert eines
Objektes bestimmt, daſs um seinetwillen ein Opfer gebracht wird, so
[119] liegt der Wert der Geldsubstanz als solcher darin, daſs ihre gesamten
Verwendungsmöglichkeiten aufgeopfert werden müssen, damit sie Geld
sei. Diese Wertungsart muſs natürlich zweiseitig wirksam sein, d. h.
der Geldstoff muſs auch eine Werterhöhung seiner sonstigen Nutzbar-
keiten durch den Verzicht auf seine Verwertung als Geld erfahren.
Wenn der Wampum der Indianer aus Muschelschalen bestand, die als
Geld dienten, aber auch als Gürtel zum Schmuck getragen wurden,
so finden sich diese Funktionen offenbar in reiner Wechselwirkung:
auch die Bedeutung der Muscheln als Schmuck hat ganz sicher einen
besonderen Oberton von Vornehmheit dadurch erhalten, daſs man
um ihretwillen auf die unmittelbar mögliche Verwendung als Geld
verzichtete. Man kann diesen ganzen Typus als einen Fall des
Seltenheitswertes ansehen. Gewöhnlich wird derselbe nur so dargestellt,
daſs ein Objekt einem gewissen Bedürfnis entspricht, das an mehr In-
dividuen oder in stärkerer Intensität vorhanden ist, als das gegebene
Quantum des Objekts zu decken vermag. Wenn hier nun die ver-
schiedenen
Bedürfnisse, denen das gleiche Objekt dienen kann, um
dasselbe konkurrieren — sei es innerhalb desselben Individuums, sei
es zwischen mehreren Individuen — so gründet sich doch auch dieses
natürlich auf die Beschränktheit des Vorrats, die nicht gestattet, daſs
jedes dieser Bedürfnisse sein Genüge finde. Wenn der Verkehrswert
etwa des Getreides darauf zurückgeht, daſs nicht genug Getreide da
ist, um jeden Hunger ohne weiteres zu stillen, so der des Geldstoffes
darauf, daſs nicht genug davon vorhanden ist, um damit ausser dem
Bedürfnis nach Geld noch alle anderen auf ihn gerichteten zu befrie-
digen. So weit entfernt also, daſs der Verzicht auf anderweitige Ver-
wertung das Metall als Geld auf eine Wertstufe mit sonst völlig un-
verwertbaren Stoffen herabsetzte, sehen wir jetzt grade, daſs die mög-
lichen, aber unverwirklichten Verwertungen zu dem Wert, den es als
Geld hat, aufs erheblichste mitwirken.


Noch unmittelbarer als die so widerlegte Meinung von der Wert-
losigkeit des Geldstoffes will auch die folgende uns glauben machen,
daſs das Geld kein Wert sein kann. Denkt man sich nämlich eine
absolut mächtige Persönlichkeit, der innerhalb eines bestimmten Kreises
despotisches Verfügungsrecht über alles zustünde, worauf ihr Wunsch
sich richtet — wie man von Häuptlingen in der Südsee sagt, daſs sie
„nicht stehlen können“, weil ihnen von vornherein alles gehört —,
so würde ein solches Wesen niemals Veranlassung haben, sich auch
das Geld dieses Kreises anzueignen, da es ja alles dessen, was es für
Geld haben könnte, sich auch ohne dies unmittelbar bemächtigen darf.
Wäre das Geld ein Wert, der zu den sonst vorhandenen Werten hinzu-
[120] käme, so würde sich sein Wunsch darauf so gut wie auf diese anderen
richten können. Geschieht das nun in dem hier fingierten Fall ein-
leuchtender Weise nicht, so scheint zu folgen, daſs das Geld wirklich
nur eine reine Vertretung realer Werte ist, deren es deshalb nicht
mehr bedarf, sobald uns eben diese auch ohne jenes zugängig sind.
Dieser einfache Gedanke setzt indes voraus, was er beweisen will:
daſs das Geldsubstrat keinen eigenen, neben seiner Geldfunktion noch
gültigen Wert habe. Denn hätte es einen solchen, so könnte es auch
von jenem Machthaber begehrt werden, freilich nicht um seiner Be-
deutung als Geld, sondern um seines anderweitigen, nämlich substan-
ziellen Wertes willen. Fehlt dagegen dieser Wert von vornherein, so
braucht sein Fehlen nicht nochmals bewiesen zu werden. Über diese
logische Unzulänglichkeit hinaus macht aber der Fall allerdings die
eigentümliche Wertart des Geldes klar. Den Wert, den das Geld als
solches besitzt, hat es als Tauschmittel erworben; wo es also nichts
zu tauschen giebt, hat es auch keinen Wert. Denn ersichtlich steht
seine Bedeutung als Aufbewahrungs- und Transportmittel nicht in der-
selben Linie, sondern ist ein Derivat seiner Tauschfunktion, ohne
welche es jene anderen Funktionen niemals üben könnte, während sie
selbst von diesen unabhängig ist. So wenig für denjenigen, dem aus
irgend einem Grunde die für Geld erlangbaren Güter wertlos sind,
das Geld noch einen Wert hat, so wenig für denjenigen, der kein Geld
braucht, um jene zu erlangen. Kurz, das Geld ist Ausdruck und Mittel
der Beziehung, des Aufeinanderangewiesenseins der Menschen, ihrer
Relativität, die die Befriedigung der Wünsche des einen immer vom
anderen wechselseitig abhängen läſst; es findet also da keinen Platz,
wo gar keine Relativität stattfindet — sei es, weil man von den
Menschen überhaupt nichts mehr begehrt, sei es, weil man in absoluter
Höhe über ihnen — also gleichsam in keiner Relation zu ihnen —
steht und die Befriedigung jedes Begehrens ohne Gegenleistung er-
langen kann.


Wäre das Geld völlig auf diesen Wert reduziert und hätte es jede
Koordination mit den Dingen, die an und für sich wertvoll sind, ab-
gestreift, so würde es damit im Ökonomischen jene höchst merkwürdige
Vorstellung verwirklichen, die der platonischen Ideenlehre zum Grunde
liegt. Die tiefe Unbefriedigung an der erfahrbaren Welt, an die wir
dennoch gefesselt sind, bewog Plato, ein überempirisches, über Raum
und Zeit erhabenes Reich der Ideen anzunehmen, das das eigentliche,
in sich befriedigte, absolute Wesen der Dinge in sich enthielte. Zu
dessen Gunsten wurde die irdische Wirklichkeit einerseits von allem
wahrhaften Sein und aller Bedeutung entleert; andrerseits aber strahlte
[121] doch von diesen etwas auf sie zurück, wenigstens als blasser Schatten
jenes leuchtenden Reiches des Absoluten hatte sie teil an ihm und
gewann auf diesem Umwege schlieſslich doch noch eine Bedeutsamkeit,
die ihr an und für sich versagt war. Dieses Verhältnis findet nun
thatsächlich eine Wiederholung oder Bestätigung im Gebiete der Werte.
Die Wirklichkeit der Dinge, wie sie vor dem bloſs erkennenden Geiste
steht, weiſs — so stellten wir am Anfang dieser Untersuchungen fest —
nichts von Werten; sie rollt in jener gleichgültigen Gesetzmäſsigkeit
ab, die so oft das Edelste vernichtet und das Niedrigste konserviert,
weil sie eben nicht nach Rangordnungen, Interessen und Werten ver-
fährt. Dieses natürliche objektive Sein unterstellen wir nun einer
Hierarchie der Werte, wir schaffen eine Gliederung innerhalb seiner
nach gut und schlecht, edel und gering, kostbar und wertlos — eine
Gliederung, von der jenes Sein selbst in seiner greifbaren Wirklich-
keit gar nicht berührt wird, von der ihm aber doch alle Bedeutung
kommt, die es für uns haben kann und die wir, bei aller Klarheit
über ihren menschlichen Ursprung, doch in vollem Gegensatz zu aller
bloſsen Laune und subjektivem Belieben empfinden. Der Wert der
Dinge — der ethische wie der eudämonistische, der religiöse wie der
ästhetische —, schwebt über ihnen, wie die platonischen Ideen über
der Welt: wesensfremd und eigentlich unberührbar, ein nach eigenen
inneren Normen verwaltetes Reich, das aber doch jenem anderen sein
Relief und seine Farben zuteilt. Der ökonomische Wert entsteht nun
in Ableitung von jenen primären, unmittelbar empfundenen Werten,
indem die Gegenstände derselben, insoweit sie austauschbar sind, gegen
einander abgewogen werden. Innerhalb dieses Gebietes aber, gleich-
viel wie es sich konstituiert hat, nimmt der ökonomische Wert dieselbe
eigenartige Stellung zu den einzelnen Objekten ein, die dem Wert
überhaupt zukommt: es ist eine Welt für sich, die die Konkretheit der
Objekte nach eigenen, in diesen selbst nicht gelegenen Normen gliedert
und rangiert; die Dinge, nach ihrem ökonomischen Werte geordnet
und verzweigt, bilden einen ganz anderen Kosmos, als ihre natur-
gesetzliche, unmittelbare Realität es thut. Wenn das Geld nun wirk-
lich nichts wäre, als der Ausdruck für den Wert der Dinge auſser ihm,
so würde es sich zu diesen verhalten wie die Idee, die sich Plato ja
auch substanziell, als metaphysisches Wesen vorstellt, zu der empirischen
Wirklichkeit. Seine Bewegungen: Ausgleichungen, Häufungen, Ab-
flüsse — würden unmittelbar die Wertverhältnisse der Dinge darstellen.
Die Welt der Werte, die über der wirklichen Welt, scheinbar zu-
sammenhangslos und doch so unbedingt beherrschend, schwebt, würde
im Geld die „reine Form“ ihrer Darstellung gefunden haben. Und
[122] wie Plato die Wirklichkeit, aus deren Beobachtung und Sublimierung
die Ideen zustande gekommen sind, dann doch als eine bloſse Ab-
spiegelung eben dieser deutet, so erscheinen die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse, Abstufungen und Fluktuationen der konkreten Dinge als
Derivat ihres eigenen Derivates: nämlich als Vertretungen und Schatten
der Bedeutung, die ihren Geldäquivalenten zukommt. Keine andere
Gattung von Werten befindet sich in dieser Hinsicht in einer günstigeren
Lage, als es die ökonomischen Werte thun. Wenn sich der religiöse
Wert in Priestern und Kirchen, der ethisch-soziale in den Verwaltern
und sichtbaren Institutionen der Staatsgewalt, der Erkenntniswert in
den Normen der Logik verkörpert, so steht keines von diesen los-
gelöster über den konkreten wertvollen Gegenständen oder Vorgängen,
keines ist mehr der bloſs abstrakte Träger des Wertes und nichts
weiter, kaum in einem geht die Gesamtheit der fraglichen Wertprovinz
in so treuer Abspiegelung auf.


Dieser Charakter des reinen Symbols der ökonomischen Werte ist
das Ideal, dem die Entwicklung des Geldes zustrebt, ohne ihn je
völlig zu erreichen. Es steht ursprünglich — das muſs unbedingt fest-
gehalten werden — in einer Reihe mit allen anderen Wertobjekten,
und sein konkreter Substanzwert tritt in Abwägung gegen diese. Mit
dem steigenden Bedürfnis nach Tauschmitteln und Wertmaſsstäben
wird es immer mehr aus einem Gliede von Wertgleichungen zu dem
Ausdruck derselben, und insofern von dem Werte seines Substrates
immer unabhängiger. Dennoch kann es einen Rest von substanziellem
Werte nicht abstreifen, und zwar nicht eigentlich aus inneren, aus
seinem Wesen folgenden Gründen, sondern wegen gewisser Unvoll-
kommenheiten der ökonomischen Technik. Die eine betrifft das Geld
als Tauschmittel. Der Ersatz des Eigenwertes des Geldes durch eine
bloſs symbolische Bedeutung kann, wie wir gesehen haben, daraufhin
erfolgen, daſs die Proportion zwischen der einzelnen Ware und dem
augenblicklich ökonomisch wirksamen Gesamtwarenquantum unter be-
stimmten Modifikationen gleich ist derjenigen zwischen einer Geld-
summe und dem augenblicklich ökonomisch wirksamen Gesamtgeld-
quantum; daſs die Nenner dieser Brüche nur praktisch, aber nicht
bewuſst wirksam sind, da nicht sie, sondern nur die wechselnden Zähler
von realem, den wirklichen Verkehr bestimmendem Interesse sind; und
daſs deshalb in diesem Verkehr eine unmittelbare Gleichung zwischen
der Ware und der Geldsumme stattzufinden scheint, die freilich auf
einer ganz anderen Basis ruht, als die primäre Gleichung zwischen
dem Objekt und dem Substanzwert des Geldes, welche letztere all-
mählich in jene übergeht. Wenn diese Entwicklung selbst zugegeben
[123] wird, so stehen doch jedenfalls die aus den betreffenden Gesamtwert-
summen bestehenden Faktoren zwischen äuſserst schwankenden Grenzen,
der instinktiv gewonnene Überschlag, in dem sie wirken, kann immer
nur ein sehr ungenauer sein. Vielleicht ist dies ein Grund, weshalb
auf eine unmittelbare Wertausgleichung zwischen Waren und Geld
nicht völlig verzichtet werden kann. Das Stückchen eigenen, materialen
Wertes, das im Geld steckt, ist der Halt und die Ergänzung, deren
wir bedürfen, weil unsere Erkenntnis zu der genauen Bestimmung jener
Proportion nicht ausreicht, bei der allerdings eine Wesensgleichheit
zwischen dem Gemessenen und dem Maſse, d. h. ein Eigenwert des
Geldes, sich erübrigen würde. So lange aber empfunden wird und an
der Praxis des Wirtschaftens sich zeigt, daſs die dieses bedingende
Proportion keine Genauigkeit besitzen kann, bedarf das Messen noch
einer gewissen qualitativen Einheit des Wertmaſsstabes mit den Werten
selbst. Es ist vielleicht nicht uninteressant, sich einen entsprechenden
Fall aus der ästhetischen Verwertung der Edelmetalle klar zu machen.
Von der Londoner Ausstellung von 1851 berichtete ein Kenner über
den Unterschied englischer und indischer Gold- und Silberarbeiten: bei
den englischen scheine der Fabrikant sich bemüht zu haben, eine
möglichst groſse Menge Metalls in ein Minimum von Formung hinein-
zupressen; bei den indischen aber sei „das Emaillieren, Tauschieren,
Durchbrechen u. s. w. so zur Anwendung gebracht, daſs auf das geringst
mögliche Metallquantum die gröſstmögliche Menge vollendet geschickter
Arbeit kommt“. Dennoch ist es für die ästhetische Bedeutung auch
dieser letzteren sicher nicht gleichgültig, daſs das wenige Metall, in
dem sich die Formen ausdrücken, eben doch Edelmetall ist. Auch
hier ist die Form, d. h. das bloſse Verhältnis der Substanzteile zu
einander, über die Substanz und ihren Eigenwert Herr geworden. Aber
wenn das auch so weit getrieben werden mag, daſs die Metallmasse nur noch
verschwindenden Wert hat, so muſs dieses Minimum, damit der Gegen-
stand im höchsten Maſse schmücke und ästhetisch erfreue, immerhin
noch ein edler Stoff sein. Sein eigentlicher Materialwert steht hier
freilich nicht mehr in Frage, sondern nur dies, daſs überhaupt nur der
edelste Stoff der adäquate Träger für ein vollendetes formales Ver-
hältnis der Teile ist.


Es liegt übrigens auf der Hand, daſs jene Zurückführung des
Materialwertes beim Geld auf ein Ergänzungs- und Festigungsprinzip
gegenüber den nicht hinreichend zu sichernden bloſsen Relationen nur
eine Deutung von Prozessen ist, die völlig unterhalb des Bewuſstseins
der Wirtschaftenden selbst vorgehen. Die wirtschaftlichen Wechsel-
wirkungen verlaufen eben überhaupt in so wunderbarer Zweckmäſsig-
[124] keit, in so fein organisiertem Ineinandergreifen unzähliger Elemente,
daſs man einen überschauenden, nach überindividueller Weisheit
schaltenden Geist als Lenker derselben annehmen müſste, wenn man
nicht auf die unbewuſste Zweckmäſsigkeit des menschlichen Gattungs-
lebens zurückgreifen wollte. Bewuſstes Wollen und Voraussehen des
Einzelnen würde nicht ausreichen, das wirtschaftliche Getriebe in der-
jenigen Harmonie zu halten, die es neben all’ seinen furchtbaren
Dissonanzen und Unzulänglichkeiten aufweist; es müssen vielmehr
unbewuſste Erfahrungen und Berechnungen angenommen werden, die
sich im geschichtlichen Verlauf der Wirtschaft summieren und den-
selben regulieren. Immerhin darf man nicht vergessen, daſs unbewuſste
Vorstellungen keine zulängliche Erklärung, sondern nur ein Hülfs-
ausdruck sind, der sich eigentlich auf einem Trugschluſs aufbaut.
Gewisse Handlungen und Gedanken entspringen in uns auf Grund be-
stimmter Vorstellungen, Schluſsreihen u. s. w. Sobald nun aber jene
ohne diese Antezedentien in uns auftauchen, so schlieſsen wir, daſs
eben dieselben, nur in unbewuſster Form, dennoch dagewesen wären.
Dies aber ist zweifellos logisch unberechtigt. Die bloſs negative That-
sache, daſs wir uns in diesem Falle keiner begründenden Vorstellungen
bewuſst sind, drehen wir unter der Hand in die positive um, daſs
unbewuſste Vorstellungen vorhanden sind. Thatsächlich wissen wir
über solche, ein psychisches Resultat ohne begründende Bewuſst-
seinsvorgänge darbietende Vorgänge gar nichts Näheres, und die
unbewuſsten Vorstellungen, Erfahrungen, Schlüsse sind nur der Aus-
druck dafür, daſs jene so verlaufen, als ob bewuſste Motive und Ideen
ihnen zum Grunde lägen. Dem Erklärungstrieb bleibt aber vorläufig
nichts übrig als diese aufzusuchen und als — unbewuſst — wirkende
Ursachen zu behandeln, so sehr sie ein bloſses Symbol des wirklichen
Verlaufes sind. Bei dem jetzigen Stande des Wissens ist es unvermeid-
lich und deshalb legitim, die Wertbildungen, ihre Fixierungen und
Fluktuierungen als unbewuſste Vorgänge nach den Normen und Formen
der bewuſsten Vernunft zu deuten.


Die zweite Veranlassung dazu, das Geld nicht in seinem Symbol-
charakter völlig aufgehen zu lassen, liegt mehr nach seiner Bedeutung
als Element des Verkehrs hin. So sehr die Tauschfunktionen des
Geldes, abstrakt betrachtet, durch ein bloſses Zeichengeld erfüllt
werden könnten, so würde doch keine menschliche Macht es mit den
hinreichenden Garantien gegen die dann naheliegenden Miſsbräuche
umgeben können. Die Tausch- wie die Meſsfunktion jedes Geldes
ist offenbar an eine bestimmte Begrenzung seiner Quantität, an seine
„Seltenheit“, wie man zu sagen pflegt, gebunden. Gilt nämlich jene
[125] Proportion zwischen dem Einzelquantum und dem Gesamtquantum von
Waren und Geld, so scheint sie freilich bei jeder beliebigen Ver-
mehrung des letzteren unverändert und mit gleicher Bedeutung für die
Preisbildung weiterbestehen zu können. Der Geldbruch zeigte dann
nur bei der Vergröſserung des Nenners auch die proportionale Ver-
gröſserung des Zählers, ohne seinen Wert zu ändern. Allein that-
sächlich findet bei sehr erheblicher Geldvermehrung diese Proportio-
nalität der Änderung nicht statt. Während vielmehr in Wirklichkeit
der Nenner des Geldbruches sich sehr vergröſsert, bleibt zunächst, und
bis alle Verkehrsverhältnisse sich der neuen Grundlage angepaſst haben,
der Zähler derselbe. Der Preis also, der aus der absoluten Gröſse
des letzteren besteht, ist vorläufig ungeändert, während er relativ,
d. h. während der Geldbruch, viel kleiner wird. Infolgedessen ist der
Besitzer der neuen Geldmassen, zunächst also etwa die Regierung, in
einer auſserordentlich begünstigten Lage allen Warenverkäufern gegen-
über, worauf dann unvermeidlich Reaktionen voll schwerster Er-
schütterungen des Verkehrs eintreten müssen, und zwar besonders von
dem Augenblick an, wo die Einnahmen der Regierung selbst in dem
entwerteten Gelde eingehen. Die Ausgleichung, d. h. der Zähler des
Geldbruches — der Preis der Waren — hebt sich natürlich erst
dann proportional, wenn der übermäſsige Geldvorrat der Regierung
im wesentlichen ausgegeben ist. Sie findet sich also den erhöhten
Preisen ihrer Bedürfnisse wieder mit einem gesenkten Geldvorrat
gegenüber, eine Situation, in der die Versuchung, ihr durch eine neue
Emission von Geld zu begegnen, meist unwiderstehlich ist und das
Spiel von neuem beginnen läſst. Ich führe dies nur als Typus der
zahlreichen und so oft behandelten Miſserfolge willkürlicher Papiergeld-
emissionen an. Solche liegen aber verführerisch nahe, sobald nicht
eine feste Bindung des Geldes an eine Substanz da ist, deren Ver-
mehrung eine begrenzte ist. Ja, eine äusserlich gegenteilige Er-
scheinung beweist dies um so entschiedener. Im 16. Jahrhundert
schlug ein französischer Staatsmann vor, man solle doch künftig das
Silber nicht mehr als Geld verwenden, sondern die Münzen aus Eisen
prägen — und zwar von dem Gesichtspunkt aus, daſs die Massen-
einfuhr des Silbers aus Amerika diesem Metall seine Seltenheit raubte.
Nähme man dagegen ein Metall, das ausschlieſslich durch die staat-
liche Prägung überhaupt einen Wert erhält, so läge darin eine gröſsere
Garantie für die erforderliche Eingeschränktheit des Geldquantums;
während, wenn jeder Besitzer von Silber damit unmittelbar auch Geld
habe, es an jeder Grenze für seine Masse fehle. Dieser merkwürdige
Vorschlag zeigt also ein sehr klares Gefühl dafür, daſs Edelmetall nicht
[126] als solches der geeignete Geldstoff ist, sondern nur insofern es der
Geldherstellung die unentbehrliche Grenze steckt; so daſs, wenn es
dies zu thun aufhört, irgend ein anderes Substrat, zu dessen Ein-
geschränktheit man gröſseres Vertrauen hat, an seine Stelle zu treten
hat — wie es denn überhaupt nur bestimmte funktionelle Qualitäten
der Edelmetalle sind, die ihnen den Vorzug als Zirkulationsmittel ver-
schaffen, und, wenn diese ihnen einmal aus irgend einem Grunde
fehlen, ein anderes in diesen Hinsichten besser qualifiziertes Umlaufs-
mittel an ihre Stelle tritt: in Genua trieb im Jahre 1673 eingestandener-
maſsen die elende Beschaffenheit und unberechenbare Verschiedenheit
der einströmenden Münzen dazu, den Verkehr auf Wechsel und An-
weisungen zu basieren. Wir wissen heute nun freilich, daſs nur die
Edelmetalle, oder sogar nur das Gold die Garantie für die erforder-
lichen Qualitäten, insbesondere für die Quantitätsbeschränkung giebt,
und daſs Papiergeld der Gefahr des Miſsbrauchs durch willkürliche
Vermehrung nur durch ganz bestimmte Bindungen an Metallwert ent-
geht, die entweder durch Gesetz oder durch die Wirtschaft selbst
fixiert sind. Wie wirksam die Zweckmäſsigkeit dieser Einschränkung
ist — so daſs sie sogar über den primären individuellen Nutzen völlig
Herr werden kann — zeigt z. B. die folgende Erscheinung. Während
des Bürgerkrieges in den Vereinigten Staaten war in den westlichen
Staaten die Zirkulation des Papiergeldes — der Greenbacks — that-
sächlich ausgeschlossen; obgleich sie gesetzliches Zahlungsmittel waren,
wagte niemand, ein in Gold empfangenes Darlehen in ihnen zurück-
zuzahlen, wobei er einen Gewinn von 150 % gemacht hätte. Ähnlich
ging es sogar anfangs des 18. Jahrhunderts mit Schatzbons, die die
französische Regierung in groſser Geldnot ausgab. Obgleich sie durch
Gesetz bestimmte, daſs von jeder Zahlung ein Viertel in diesen Bons
geleistet werden dürfe, so fielen sie dennoch sehr bald auf einen ganz
geringen Bruchteil ihres Nominalwertes. Solche Fälle beweisen, wie
sehr die Gesetze des Verkehrs selbst die Bedeutung des Metallgeldes
konservieren. Und zwar können sie das keineswegs nur nach dem
Typus der angeführten Beispiele. Als die Bank von England zwischen
1796 und 1819 ihre Noten nicht mehr einlöste, betrug schlieſslich die
Entwertung derselben gegen Gold nur 3—5 %; aber die Warenpreise
erhöhten sich infolgedessen um 20—50 %! Und wo ein Zwangskurs
ausschlieſslich Papier und Scheidemünze im Verkehr läſst, sind die
schwersten Schädigungen nur dadurch zu vermeiden, daſs das Agio
für längere Perioden immer nur minimale Schwankungen zeigt, was
eben seinerseits nur durch genaue Eingrenzung der Papiergeld-
emissionen möglich ist. Diese unentbehrliche regulierende Bedeutung
[127] aber hat das Gold und hatte früher auch das Silber nicht wegen seiner
Wertgleichheit mit den Gegenständen, deren Austausch es vermittelt,
sondern wegen seiner relativen Seltenheit, die die Überschwemmung
des Marktes mit Geld und damit die fortwährende Zerstörung der-
jenigen Proportion verhindert, auf der die Äquivalenz einer Ware mit
einem bestimmten Geldquantum beruht. Und zwar findet die Zer-
störung dieser Proportion von beiden Seiten her statt. Die über-
mäſsige Geldvermehrung erzeugt im Volke einen Pessimismus und
Argwohn, infolgedessen man soweit wie möglich des Geldes zu ent-
raten und auf Naturaltausch oder Obligation zurückzugreifen sucht.
Indem dies die Nachfrage nach Geld vermindert, sinkt für das kur-
sierende der Wert, der eben in der Nachfrage liegt. Da nun
die geldemittierende Instanz dieser Wertverringerung durch ge-
steigerte Vermehrung entgegenarbeiten wird, so müssen Angebot
und Nachfrage immer weiter auseinanderklaffen und der circulus
vitiosus der angedeuteten Gegenwirkungen den Wert solchen Geldes
immer tiefer senken. Auch kann das Miſstrauen gegen die durch die
staatliche Prägung erzeugte Wertung des Geldsubstrats — gegenüber
der Zuverlässigkeit des reinen Metallwertes — die Form annehmen,
daſs in der späteren römischen Republik die Münze eigentlich nur im
Detailverkehr zirkulierte, der Groſsverkehr dagegen sich überwiegend
des Geldes nach Gewicht bediente; nur so glaubte er gegen politische
Krisen, Parteiinteressen und Regierungseinflüsse gesichert zu sein.


Nach alledem scheint es freilich, als wären die Unzuträglichkeiten
einer durch nichts begrenzten Geldvermehrung nicht eigentlich ihr
selbst, sondern nur der Art ihrer Verteilung zuzuschreiben. Nur weil
das aus dem Nichts geschaffene Geld sich zunächst in einer Hand
befindet und sich von da aus in ungleichmäſsiger und unzweckmäſsiger
Weise verbreitet, entstehen jene Erschütterungen, Hypertrophien und
Stockungen; sie scheinen vermeidlich, wenn man einen Modus fände,
der die Geldmassen entweder gleichmäſsig oder nach einem bestimmten
Gerechtigkeitsprinzip zur Verteilung brächte. So ist behauptet worden,
daſs wenn plötzlich jeder Engländer in seiner Tasche das Geld ver-
doppelt fände, dadurch zwar eine entsprechende Erhöhung aller Preise
eintreten, dieselbe aber niemandem einen Vorteil bringen würde; der
ganze Unterschied wäre, daſs man die Pfunde, Schillinge und Pence
in höheren Ziffern zu rechnen hätte. Damit würde nicht nur der
Einwand gegen das Zeichengeld fortfallen, sondern nun würde der
Vorteil der Geldvermehrung hervortreten, der sich auf die empirische
Thatsache gründe, daſs mehr Geld immer auch mehr Verkehr, Behagen,
Macht und Kultur bedeutet habe.


[128]

So wenig nun die Erörterung dieser, auf ganz unrealisierbaren
Voraussetzungen ruhenden Konstruktionen um ihrer selbst willen lohnt,
so führt sie doch über die Erkenntnis realer Verhältnisse, die es be-
wirken, daſs die allmähliche Auflösung des Substanzwertes des Geldes
niemals ihren Endpunkt völlig erreichen kann. — Nehmen wir jenen
idealen Zustand als gegeben an, in dem die Vermehrung des Geldes
wirklich die gleichmäſsige Erhöhung jedes individuellen Besitzes be-
wirkt habe, so widerspricht die eine Folgerung: daſs alles beim Alten
bleibt, da alle Preise gleichmäſsig in die Höhe gingen — der anderen,
die der Vermehrung des Geldes eine Belebung und Erhöhung des ge-
samten Verkehrs zuschreibt. Denn die Vorstellung liegt zwar ver-
lockend nahe: die Verhältnisse der Individuen untereinander, d. h. die
soziale Position eines jeden zwischen dem darüber und dem darunter
Stehenden würden in diesem Falle ungeändert bleiben; dagegen die
objektiven Kulturgüter würden in lebhafterer, intensiverer und exten-
siverer Weise produziert werden, so daſs schlieſslich die Lebens-
inhalte und -genüsse jedes Einzelnen, absolut genommen, mit dem
sozialen Gesamtniveau gestiegen wären, ohne daſs sich in den Reich-
tums- oder Armutsverhältnissen ebendesselben, die sich nur durch
seine Relation zu anderen bestimmen, etwas geändert hätte. Man
könnte darauf hinweisen, daſs die moderne geldwirtschaftliche Kultur
schon jetzt eine Reihe von Gütern — öffentliche Einrichtungen,
Bildungsmöglichkeiten, Unterhaltsmittel u. s. w. — dem Armen zu-
gängig gemacht hat, die früher sogar der Reiche entbehren muſste,
ohne daſs dadurch die relative Stellung beider zu gunsten des ersteren
verschoben wäre. Diese Möglichkeit: daſs die proportional ausgeteilte
Geldvermehrung die objektive Kultur, also auch den Kulturinhalt des
einzelnen Lebens, absolut genommen, vermehre, während die Verhält-
nisse der Individuen untereinander ungeändert bleiben — ist an sich
gewiſs der Erörterung wert. Sieht man aber genau zu, so ist jener
sachliche Erfolg doch gar nicht anders zu realisieren, als daſs die
Geldvermehrung — wenigstens zunächst — vermittelst einer ungleich-
mäſsigen
Verteilung wirkt. Das Geld, ein ausschlieſslich soziologisches,
in Beschränkung auf ein Individuum ganz sinnloses Gebilde, kann
irgend eine Veränderung gegen einen gegebenen Status nur als Ver-
änderung der Verhältnisse der Individuen untereinander bewirken.
Die gesteigerte Lebhaftigkeit und Intensität des Verkehrs, die einer
Geldplethora folgt, geht darauf zurück, daſs mit ihr die Sehnsucht
der Individuen nach mehr Geld gesteigert wird. Der Wunsch, von
dem Geld der Anderen möglichst viel in die eigene Tasche zu leiten,
ist zwar ein chronischer, er wird aber offenbar nur dann akut genug,
[129] um den Einzelnen zu besonderer Kraftanspannung und Emsigkeit zu
führen, wenn diesem sein Minderbesitz anderen gegenüber besonders
scharf und dringend ins Bewuſstsein tritt; in welchem Sinne man sagt:
les affaires — c’est l’argent des autres. Wenn die Voraussetzung
jener Theorie einträte: daſs die Vermehrung des Geldquantums die
Relationen der Menschen zu einander und der Warenpreise zu ein-
ander völlig ungeändert lieſse, so würde es zu solcher Anstachelung
der Arbeitsenergien nicht kommen. Auch wird jene zauberhafte Ver-
doppelung der Geldquanten nur dann keine Veränderung der Relationen
mit sich bringen, wenn sie nicht auf eine bestehende Verschiedenheit
der Besitze trifft. Denn die Verdoppelung z. B. dreier Einkommen
von 1000, 10000 und 100000 Mark verschiebt auch das Verhältnis
ihrer Besitzer gegen den vorigen Stand sehr erheblich, da für die
zweiten 1000 etc. Mark doch nicht bloſs das Doppelte der für die
ersten 1000 etc. Mark beschafften Dinge gekauft wird. Es würde viel-
mehr auf der einen Seite etwa nur zu einer Verbesserung der Nahrung,
auf der zweiten zu einer Verfeinerung der ästhetischen Kultur, auf
der dritten zu gröſseren Spekulationswagnissen kommen. Unter der
Voraussetzung vorangängiger absoluter Gleichheit würden allerdings die
subjektiven Niveaus ungeändert bleiben, aber auch das objektive —
während anderenfalls dieses letztere in unberechenbarer Weise alteriert
würde und jedenfalls jenen gerühmten Aufschwung nur dann zeigen
würde, wenn die Unterschiede im Besitz der Einzelnen entschiedener
als vorher bestehen oder empfunden werden.


Noch näher aber an unser Ziel reichen die Überlegungen heran,
die sich an die sachliche Seite jener Theorie knüpfen: daſs die Ver-
doppelung jedes Geldbesitzes deshalb alles ungeändert lieſse, weil damit
sogleich auch für alle Warenpreise gleichmäſsige Verdoppelung ein-
treten würde. Allein diese Begründung ist irrig und übersieht eine
eigentümliche, tief einschneidende Bestimmtheit des Geldes, die man
seinen relativen Elastizitätsmangel nennen könnte: sie besteht darin,
daſs ein neues, innerhalb eines Wirtschaftskreises verteiltes Geld-
quantum die Preise nicht nach ihren bisher bestehenden
Proportionen
erhöht, sondern neue Preisverhältnisse zwischen ihnen
schafft, und zwar auch ohne daſs die Macht individueller Interessenten
diese Verschiebung bewirkt. Sie beruht vielmehr auf den Folgen der
Thatsache, daſs der Geldpreis einer Ware, trotz seiner Relativität und
seiner inneren Zusammenhangslosigkeit mit der Ware, dennoch bei
längerem Bestehen eine gewisse Festigkeit annimmt und daraufhin
als das sachlich angemessene Äquivalent erscheint. Wenn der Preis
eines Gegenstandes lange Zeit hindurch sich auf einem bestimmten
Simmel, Philosophie des Geldes. 9
[130] Durchschnittsniveau innerhalb bestimmter Schwankungsgrenzen gehalten
hat, so pflegt er diese Höhe auf Grund einer Änderung des Geld-
wertes nicht zu verlassen, ohne irgend einen Widerstand zu leisten.
Die Assoziation — nach Begriffen wie nach Interessen — zwischen
dem Gegenstand und seinem Preise ist psychologisch so fest geworden,
daſs weder der Verkäufer dessen Sinken, noch der Käufer dessen
Steigen mit jener Leichtigkeit zugeben, die selbstverständlich sein
müſste, wenn der Ausgleich zwischen Geldwert und Warenwert wirk-
lich durch denselben hemmungslosen Mechanismus erfolgte, durch den
das Thermometer je nach der Lufttemperatur steigt oder sinkt, ohne
die Genauigkeit der Proportion zwischen Ursache und Wirkung durch
eine Verschiedenheit des Widerstandes zu stören, den es der einen
Bewegung mehr als der anderen entgegensetze. Auch wenn man
plötzlich noch einmal soviel Geld in der Tasche hat, als kurz vorher,
ist man doch nicht geneigt, nun ebenso plötzlich für jede Ware das
Doppelte wie vorher aufzuwenden; man wird allerdings vielleicht, im
Übermut des neuen Besitzes, dessen Bedeutung man unvermeidlich
nicht nach dem neuen, sondern nach dem von früher gewohnten Maſs-
stab schätzt, nach dem Preise überhaupt nicht fragen. Allein das
Überschreiten des jetzt angemessenen zeigt nicht weniger als das
Dahinter-Zurückbleiben, daſs von einer proportionalen Regulierung der
Preise wenigstens in der ersten Zeit der Geldplethora nicht die Rede
sein kann, daſs in diese Regulierung vielmehr die festgewordene
Assoziation zwischen der Ware und dem gewohnten Preis-Spielraum
immerzu ablenkend eingreift. Ferner wird sich die Nachfrage nach
den Waren bei einer, wenn auch alle Wirtschaftenden gleichmäſsig
treffenden, Herab- oder Heraufsetzung ihres Geldbesitzes sehr ver-
schieben. Im ersteren Falle werden z. B. bisher ziemlich gleichmäſsig
verkäufliche Objekte bis zu einem gewissen Maſs des Umfanges oder der
Überflüssigkeit noch für die Hälfte des Preises abzusetzen sein, jenseits
jener Grenze aber überhaupt keinen Abnehmer mehr finden. Andrer-
seits im Falle allseitiger Geldvermehrung, wird eine stürmische Nach-
frage nach Gütern entstehen, die für die breiten Massen das bisherige
Ziel ihrer Wünsche waren, also denjenigen, die unmittelbar oberhalb
des Niveaus ihrer bisherigen Lebenshaltung liegen; weder für die
primitivsten Bedürfnisse — deren Verbrauchsmenge physiologisch be-
grenzt ist — noch für die feinsten und höchsten — die immer nur
für kleine, sehr langsam vergröſserbare Kreise von Bedeutung sind —
würde sich die Nachfrage erheblich steigern. Die Preiserhöhung würde
also jene mittleren Güter in extremer Weise treffen, auf Kosten der
anderen, in ihren Preisen relativ verharrenden; von einer proportio-
[131] nalen Verteilung des Geldzuflusses auf alle Preise könnte nicht die
Rede sein. Prinzipiell ausgedrückt: die Lehre von der Gleichgültig-
keit des absoluten Quantums vorhandenen Geldes, die sich auf die
Relativität der Preise stützt, ist deshalb unrichtig, weil diese Relativität
in der praktischen Preisbildung nicht vollständig besteht, sondern von
einer psychologischen Verfestigung und Verabsolutierung der Preise
in Hinsicht bestimmter Waren fortwährend durchbrochen wird.


Nun wird man vielleicht diesen Bedenken gegen die Harmlosig-
keit der durch keine äuſsere Schranke begrenzten Geldvermehrung
entgegenhalten, daſs sie doch nur die Übergangszeiten zwischen je
zwei Anpassungen des Preisniveaus beträfen. Ihre Voraussetzung ist
ja gerade, daſs der ganze Prozeſs von einer nach den Quantitäts-
verhältnissen von Waren und Geld bestimmten Proportionalität der
Preise ausgeht. Eben diese muſs doch aber auch auf einem anderen
Niveau herstellbar sein, und so gut, wie die Schwankungen, die jener
früheren vorausgingen, einmal beseitigt worden sind, können es auch
die später entstehenden. Jene Bedenken gelten nur der Veränderung
des Zustandes, aber nicht dem veränderten Zustand, den man nicht
für die Unausgeglichenheiten, Erschütterungen und Schwierigkeiten
des Überganges zu ihm verantwortlich machen dürfe. Es läſst sich
allerdings kein Quantum von Umlaufsmitteln denken, an das nicht
schlieſslich eine vollkommene Anpassung stattfinden könnte, d. h. bei
dem nicht der Geldpreis einer Ware die Proportion zwischen ihrem
Werte und dem des in Frage kommenden Gesamtwarenquantums ge-
recht ausdrückte; so daſs die beliebige Vermehrung des Geldes diese
Proportion nicht dauernd zu stören vermöchte. — Dies ist ganz
richtig. Allein es beweist dennoch nicht, daſs die Entfernung jeder
inneren Schranke der Geldvermehrung innerhalb der Unzulänglichkeit
menschlicher Verhältnisse möglich wäre. Denn sie würde ja gerade
jenen Übergangszustand, dessen Schwankungen und Schwierigkeiten
zugegeben sind, in Permanenz erklären und würde es zu der An-
gepaſstheit, die prinzipiell freilich für jedes Quantum von Geld er-
reichbar ist, niemals kommen lassen.


Man könnte diese Erörterungen so zusammenfassen: das Geld erfüllt
seine Dienste am besten, wenn es nicht bloſs Geld ist, d. h. nicht
bloſs die Wertseite der Dinge in reiner Abstraktion darstellt. Denn
daſs die Edelmetalle zum Schmuck und zu technischen Zwecken ver-
wendbar sind, ist zwar auch wertvoll, aber doch als primäre Thatsache
von der sekundären: daſs sie infolge jener wertvoll sind — durchaus
begrifflich zu unterscheiden; während das Geld an seinem Wertsein
seine erste und einzige Bestimmung hat. Aber eben die Realisierung
9*
[132] dieses begrifflich Geforderten, der Übergang der Geldfunktion an ein
reines Zeichengeld, ihre völlige Lösung von jedem, die Geldquantität
einschränkenden Substanzwert ist technisch unthunlich — während doch
der Fortschritt der Entwicklung so erfolgt, als ob sie an diesem
Punkte münden sollte. Das ist so wenig ein Widerspruch, daſs viel-
mehr eine unübersehbare Anzahl von Entwicklungen nach demselben
Schema vor sich gehen: sie nähern sich einem bestimmten Zielpunkte,
werden durch denselben unzweideutig in ihrer Richtung bestimmt —
würden aber bei wirklicher Erreichung desselben grade die Qualitäten
einbüſsen, die sie durch das Streben zu ihm erhalten haben. Eine
eminent geldwirtschaftliche Erscheinung mag das zunächst beleuchten,
die zugleich an individuellen Verhältnissen eine Analogie für die Folgen
unbegrenzter Geldvermehrung beibringt. Das Streben des Einzelnen,
immer mehr Geld zu verdienen, ist von der gröſsten sozial-ökonomischen
Bedeutung. Indem der Börsenkaufmann möglichst groſse Gewinne zu
machen sucht, schafft er die Lebhaftigkeit des Verkehrs, die gegen-
seitige Deckung von Angebot und Nachfrage, die Einbeziehung aller
sonst sterilen Werte in den ökonomischen Kreislauf. Allein die
Realisierung sehr hoher Börsengewinne ist in der Regel nur bei un-
mäſsigem Schwanken der Kurse und Überwiegen des rein spekulativen
Elementes zu erzielen. Durch dieses aber wird Produktion und Konsumtion
der Waren, auf denen doch das soziale Interesse letzter Instanz beruht,
teils hypertrophisch angeregt, teils vernachlässigt, jedenfalls aus der-
jenigen Entwicklung herausgedrängt, die den eigenen inneren Be-
dingungen und den realen Bedürfnissen entspricht. Hier ist es also
das ganz spezifische Wesen des Geldes, auf dem sich die Divergenz
des individuellen vom sozialen Interesse aufbaut, nachdem beide bis
zu einem bestimmten Punkte zusammengegangen sind. Nur indem sich
der Wert der Dinge von den Dingen selbst gelöst und eine Eigen-
existenz an einem besonderen Substrat gewonnen hat, kann dieses
Interessen, Bewegungen und Normen an sich ausbilden, die sich ge-
legentlich denen der damit symbolisierten Objekte ganz entgegen-
gesetzt verhalten. Das privatwirtschaftliche Bestreben, das sich an
das Geld knüpft, kann das sozialwirtschaftliche, schlieſslich an die zu
produzierenden und zu konsumierenden Güter gebundene, so lange
fördern, wie es sozusagen bloſs Bestreben bleibt — während die schlieſs-
liche Erreichtheit seines Zwecks die des sozialen unterbinden kann. —
Am häufigsten und entschiedensten wird sich dieser Typus an Fällen
verwirklichen, wo Impulse des Gefühls ein absolutes Ziel erstreben,
ohne sich darüber klar zu sein, daſs sich alle erhoffte Befriedigung
nur an die relative Annäherung an dieses knüpft, um bei restloser
[133] Erreichung vielleicht sogar in ihr Gegenteil umzuschlagen. Ich er-
innere an die Liebe, die durch den Wunsch nach innigster und
dauernder Vereinigung ihren Inhalt und ihre Färbung erhält, um nur
allzuoft, wenn jene erreicht ist, dieses beides zu verlieren; an politische
Ideale, die dem Leben ganzer Generationen seine Kraft, seinen
geistig-sittlichen Schwung verleihen, aber nach ihrer Realisierung durch
diese Bewegungen durchaus keinen idealen Zustand, sondern einen
solchen von Erstarrung, Philistrosität und praktischem Materialismus
hervorrufen; an die Sehnsucht nach Ruhe und Ungestörtheit des Lebens,
die seinen Mühen und Arbeiten das Ziel giebt, um grade nachdem
sie gewonnen ist, so oft in innere Leere und Unbefriedigung aus-
zugehen. Ja es ist schon eine Trivialität geworden, daſs selbst
das Glücksgefühl, obgleich ein absolutes Ziel unserer Bestrebungen,
doch zu bloſser Langeweile werden müſste, wenn es wirklich als
ewige Seligkeit realisiert würde; obgleich also unser Wille nur so
verläuft, als ob er an diesen Zustand münden sollte, so würde derselbe
als erreichter ihn selbst dementieren und erst der Zusatz seines ge-
flohenen Gegensatzes, des Leidens, kann ihm seinen Sinn erhalten.
Näher kann man diesen Entwicklungstypus so beschreiben. Die
zweckmäſsige Wirksamkeit bestimmter, vielleicht aller Elemente des
Lebens ist davon abhängig, daſs neben ihnen entgegengesetzt gerichtete
bestehen. Die Proportion, in der ein jedes und sein Gegenteil ge-
eignet zusammenwirken, ist natürlich eine veränderliche, und zwar
manchmal in dem Sinne veränderlich, daſs das eine Element stetig zu-
nimmt, das andere stetig abnimmt; die Richtung der Entwicklung ist
also eine solche, als ob sie auf völlige Verdrängung des einen durch
das andere hinzielte. Allein in dem Augenblick, in dem dies ein-
träte und jeder Beisatz des zweiten Elementes völlig verschwände,
wäre auch die Wirksamkeit und der Sinn des ersteren lahmgelegt.
Das tritt etwa bei dem Gegensatz der individualistischen und
der sozialistischen Gesellschaftstendenz ein. Es giebt historische
Epochen, in denen z. B. die letztere die Entwicklung der Zu-
stände beherrscht, und zwar nicht nur in Wirklichkeit, sondern
auch als Folge idealer Gesinnungen und als Ausdruck einer fort-
schreitenden, der Vollkommenheit sich nähernden Gesellschaftsverfassung.
Wenn nun aber die Parteipolitik einer solchen Zeit schlieſst: da jeder
Fortschritt jetzt auf einem Anwachsen des sozialistischen Elementes
beruht, so wird das vollkommenste Herrschen desselben der fort-
geschrittenste und ideale Zustand sein — so übersieht sie, daſs jener
ganze Erfolg von Maſsregeln sozialistischer Tendenz daran gebunden
ist, daſs sie in eine im übrigen noch individualistische Wirtschafts-
[134] ordnung hineingebracht werden. Alle durch ihre relative Zunahme
bedingten Fortschritte gestatten gar nicht den Schluſs, daſs ihr absolutes
Sich-Durchsetzen einen weiteren Fortschritt darstellen würde. Ganz
entsprechend geht es in den Perioden des steigenden Individualismus.
Die Bedeutung der von ihm geleiteten Maſsregeln ist daran gebunden,
daſs noch immer Institutionen zentralistischen und sozialisierenden
Charakters vorhanden sind, die zwar mehr und mehr herabgedrückt
werden können, deren völliges Verschwinden aber auch jene zu sehr
unerwarteten und von ihren bisherigen sehr verschiedenen Erfolgen
führen würde. Ähnlich verhält es sich in den künstlerischen Ent-
wicklungen mit den naturalistischen und den stilisierenden Bestrebungen.
Jeder gegebene Moment der Kunstentwicklung ist eine Mischung aus
bloſser Abspiegelung der Wirklichkeit und subjektiver Umbildung der-
selben. Nun mag, vom Standpunkt des Realismus aus, die Kunst
durch fortwährendes Wachsen des objektiven Elementes sich immer
vollkommener entwickeln. Allein in dem Augenblick, wo dies den
alleinigen Inhalt des Kunstwerkes bildete, würde das bis dahin immer
gesteigerte Interesse plötzlich in Gleichgültigkeit umschlagen, weil das
Kunstwerk dann sich von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden
und die Bedeutung seiner Sonderexistenz einbüſsen würde. Andrer-
seits muſs die Steigerung des verallgemeinernden und idealisierenden
Momentes, so sehr es eine Zeitlang die Kunst veredeln mag, an einen
Punkt kommen, wo die Ausscheidung jeder individualistischen Zu-
fälligkeit ihr die Beziehung zur Wirklichkeit überhaupt nehmen muſs,
die jene idealistische Bewegung grade in immer reinerer und voll-
kommenerer Form darstellen sollte. Kurz, eine Reihe der wichtigsten Ent-
wicklungen vollziehen sich nach dem Schema: daſs das immer steigende
Übergewicht eines Elementes einen gewissen Erfolg immer steigert,
ohne daſs doch die absolute Herrschaft jenes und völlige Eliminierung
des entgegengesetzten diesen Erfolg nun auch auf seine absolute Höhe
höbe; umgekehrt würde jene ihn sogar seines bisher innegehaltenen
Charakters berauben. — Nach solchen Analogien mag sich das
Verhältnis zwischen dem substanziellen Eigenwert des Geldes und seinem
bloſs funktionellen und symbolischen Wesen entwickeln: immer mehr
ersetzt das zweite den ersteren, während irgend ein Maſs dieses ersteren
noch immer vorhanden sein muſs, weil bei absoluter Vollendung dieser
Entwicklung auch der Funktions- und Symbolcharakter des Geldes
seinen Halt und seine zweckmäſsige Bedeutung einbüſsen würde.


Es handelt sich aber hiermit nicht nur um eine formale Analogie
innerlich verschiedener Entwicklungen, sondern um die Einheit des
tieferen Lebenssinnes, der sich in dieser äuſseren Gleichheit verwirk-
[135] licht. Mit der Vielheit der Elemente und Tendenzen, als deren In-
einander und Durcheinander das Leben sich vorfindet, scheinen wir
praktisch nur so auszukommen, daſs wir unser Verhalten auf jedem
Gebiet und in jeder Periode von einem einheitlichen und einseitigen
Prinzip absolut regieren lassen. Auf diesem Wege aber holt jene
Mannigfaltigkeit des Wirklichen uns ’immer wieder ein und verwebt
unsere subjektive Bestrebung mit allen gegensätzlichen Faktoren zu
einem empirischen Dasein, in dem das Ideal überhaupt erst in die
Wirklichkeit eintreten kann; das bedeutet durchaus keine Dementierung
jenes, vielmehr ist das Leben auf solche absolute Bestrebungen
als Elemente seiner eingerichtet, wie die physikalische Welt auf Be-
wegungen, die, ungestört sich selbst überlassen, zu Unausdenkbarem
führen würden, aber nun, mit hemmenden Gegenwirkungen zusammen-
stoſsend, gerade das vernunftmäſsige Naturgeschehen ergeben. Und
wenn die praktische Welt so zustande kommt, daſs unser Wollen eine
Richtung ins Ungemessene verfolgt und erst durch Abbiegungen und
Zurückbiegungen gleichsam zu dem Aggregatzustand des Wirklichen
gelangt, so hat auch hier das praktische Gebilde das theoretische vor-
geformt: auch unsere Begriffe von den Dingen bilden wir unzählige
Male so, daſs die Erfahrung sie in dieser Reinheit und Absolutheit
überhaupt nicht zeigen, sondern daſs erst Abschwächung und Ein-
schränkung durch entgegengesetzt gerichtete ihnen eine empirische Form
geben kann. Darum aber sind jene Begriffe nicht etwa verwerflich;
sondern grade durch dies eigentümliche, exaggerierende und wieder
reduzierende Verfahren an Begriffen und Maximen kommt das unserer
Erkenntnis beschiedene Weltbild zustande. Die Formel, mit der unsere
Seele zu der ihr unmittelbar nicht zugängigen Einheit der Dinge gleich-
sam nachträglich, nachbildend, ein Verhältnis gewinnt, ist, im Prakti-
schen wie im Theoretischen, ein primäres Zusehr, Zuhoch, Zurein, dem
zurückdämmende Gegensätze die Consistenz und den Umfang der Wirk-
lichkeit wie der Wahrheit eintragen. So bleibt der reine Begriff des
Geldes: als der bloſse, jedem Eigenwert fremde Ausdruck des gegen-
seitig gemessenen Wertes der Dinge — völlig gerechtfertigt, obgleich
die historische Wirklichkeit immer nur als Herabsetzung dieses Begriffes
vermittels des entgegengesetzten, des Eigenwertbegriffes des Geldes,
auftritt. Unser Intellekt kann nun einmal das Maſs der Realität nur
als Einschränkung reiner Begriffe ergreifen und begreifen, die sich,
wie sie auch von der Wirklichkeit abweichen, durch den Dienst legi-
timieren, den sie der Deutung dieser leisten.


[[136]]

III.


Es handelt sich jetzt um die historische Ausgestaltung des prin-
zipiell Konstruierten. Wesen und Bedeutung des Geldes treten nach
ihren groſsen kulturphilosophischen Zusammenhängen an den Bewegungen
hervor, die es auf seinen reinen Begriff zu und von seiner Fesselung
an bestimmte Substanzen abführen — so wenig dieser Weg das Ziel
erreichen kann, das ihm die Richtung giebt. Hiermit erst schlieſst sich
das Geld der allgemeinen Entwicklung an, die auf jedem Gebiet und in
jedem Sinn das Substanzielle in freischwebende Prozesse aufzulösen
strebt; und zwar gewinnt das Geld diesen Anschluſs in jeder überhaupt
möglichen Form: einerseits als ein Bestandteil jener umfassenden Ent-
wicklung, andrerseits, wegen seines eigentümlichen Verhältnisses zu
den konkreten Werten, als Symbol derselben; einerseits ferner als
Wirkung der von jener Entwicklung regulierten Kulturströmungen,
andrerseits als von sich aus wirksame Ursache derselben. Dieser
Zusammenhang interessiert uns hier in derjenigen Richtung, in der er
die Gestaltung des Geldes als die Folge der Verfassungen und der
Bedürfnisse menschlichen Zusammenlebens bewirkt. Jene Einschränkung
also, daſs es sich um einen nicht zu vollendenden Weg handelt, ein
für allemal vorbehalten, behandle ich nun die Funktionsbedeutung des
Geldes und ihr Steigen bis zur Verdeckung seiner Substanzbedeutung.


Auf die letzten Grundlagen hin angesehen, ist die so bezeichnete
Auflösung des Geldbegriffes viel weniger radikal, als es scheint. Denn
genau genommen ist auch der Substanzwert des Geldes nichts als ein
Funktionswert. So sehr man die Edelmetalle als bloſse Substanzen
schätzen mag, so schätzt man sie doch etwa nur, weil sie schmücken,
auszeichnen, technisch verwendbar sind, ästhetische Freude gewähren
u. ähnl. — also, weil sie gewisse Funktionen ausüben; niemals kann ihr
Wert in ihrem in sich ruhenden Sein bestehen, sondern immer nur in dem,
was sie leisten; ihre Substanz, wie die aller praktischen Dinge, ist uns
rein als solche und abgesehen von dem, was sie leistet, das gleichgültigste
von der Welt. Von der Mehrzahl der Objekte kann man sagen: sie
[137] sind nicht wertvoll, sondern sie werden es — denn dazu müssen sie
fortwährend aus sich heraus und in Wechselwirkung mit anderen
treten; es sind nur Wirkungen ihrer, an die sich ein Wertgefühl
knüpft. Denn selbst wenn eine ästhetische Stimmung die Edelmetalle
jenen objektiven Werten zurechnete, durch deren bloſses Dasein, jen-
seits alles Anerkannt- und Genossenwerdens, die Welt an und für sich
wertvoller und bedeutsamer wird — so würden sie doch mit diesem
Werte keinesfalls in die Wirtschaft eintreten. Hier vielmehr bleibt
aller Wert an ihre Leistung geheftet, und es ist eine bloſs willkürliche
und den wahren Sachverhalt verhüllende Ausdrucksweise, daſs sie einen
Substanzwert besäſsen, der von ihren Leistungen als Geld prinzipiell
geschieden wäre; denn jener Substanzwert der Metalle ist gleichfalls
Funktionswert, nur nicht der ihrer Funktionen als Geld. Alle Werte
des Edelmetalls vielmehr bilden eine Reihe, die nichts anderes ist als
eine Reihe von Funktionen. Dies verbirgt sich natürlich der Erkennt-
nis um so mehr, je weniger lebhaft diese Funktionen in der Wirklich-
keit sind. Die ganzen Bedenken des Mittelalters gegen das Zinsen-
nehmen gehen darauf zurück, daſs das Geld viel starrer, substanzieller,
den Dingen geschlossener gegenüberstehend erschien und war, als in
der Neuzeit, in der es vielmehr dynamisch, flieſsend, sich anschmiegend
wirkt und erscheint. Die Adoption der Aristotelischen Lehre: es sei
unnatürlich, daſs Geld Geld gebäre, und die Verurteilung des Zinses
als Diebstahls, da ja das zurückerstattete Kapital schon so viel sei
wie das entliehene; die Begründung eben desselben durch Alexander
von Hales: daſs das Geld sich doch durch den Gebrauch nicht abnütze
und daſs es nicht, wie die Objekte eines Mietsvertrages, dem Gläubiger
einen Nutzen abwerfe; die Lehre des hl. Thomas, daſs beim Geld,
weil es von vornherein zum Weggeben bestimmt sei, Gebrauch und
Verbrauch zusammenfielen und man deshalb jenen nicht, wie etwa bei
einem Wohnhaus, gesondert verkaufen könne — all diese Lehren zeigen,
wie starr, den Fluktuationen des Lebens unverbunden, wie wenig als
Produktivkraft das Geld erschien. Die thatsächliche Geringfügigkeit
seiner Wirkungen verdeckte seinen funktionellen Charakter überhaupt.
Das ist aber dasselbe Grundgefühl dem Gelde gegenüber, das sein
Wesen an eine Metallsubstanz als solche gefesselt meint. Auch diese
Meinung stellt es, wie das Mittelalter, den Bewegungen der wirtschaft-
lichen Objekte als ein ens per se gegenüber, statt es in sie einzube-
ziehen und zu erkennen, daſs es, welches auch sein Träger sei, als
Geld nicht sowohl eine Funktion hat, als eine Funktion ist.


Zu jener oberflächlichen Anschauung hat wohl das alte Schema
mitgewirkt, das die Erscheinungen durchgehends in Substanzen und
[138] Accidenzen teilen lieſs. Gewiſs war dies historisch von unermeſslicher
Bedeutung; daſs man jede Erscheinung in einen substanziellen Kern
und relative, bewegliche Äuſserungsweisen und Eigenschaften zerlegte,
war eine erste Orientierung, ein erster fester Leitfaden durch die
rätselhafte Formlosigkeit der Dinge, ein Gestalten und Unterwerfen
ihrer unter eine durchgehende, unserem Geiste adäquate Kategorie;
die bloſs sinnlichen Unterschiede des ersten Anblicks gewinnen so eine
Organisation und Bestimmtheit des gegenseitigen Verhältnisses. Es
ist aber das Wesen solcher Formen, wie der sozialen Organisationen,
unter dem Anschein und dem Anspruch ewiger Dauer zu bestehen. Wie
es deshalb bei der Vernichtung einer Gesellschaftsverfassung zu Gunsten
einer anderen scheint, als ob es mit aller Ordnung und Verfassung über-
haupt vorbei wäre, so ruft die Umbildung der intellektuellen Ordnungen
den gleichen Eindruck hervor: die objektive Festigkeit, wie das subjek-
tive Verständnis der Welt scheint zerbrochen, wenn eine Kategorie fällt,
die bisher gleichsam zu dem Rückgrat des Weltbildes gehörte. Der Geld-
wert wird aber der Reduktion auf einen Funktionswert so wenig wider-
stehen können, wie das Licht, die Wärme und das Leben ihren be-
sonderen substanziellen Charakter bewahren und sich der Auflösung
in Bewegungsarten entziehen konnten.


Ich beobachte nun zunächst gewisse Strukturverhältnisse des Wirt-
schaftskreises.


In welchem Maſse es von diesen, und nicht von der Substanz des
Geldes abhängt, inwieweit es wirklich Geld ist, d. h. als Geld wirkt, —
das mag aus einem negativen, an eine prinzipielle Überlegung anzu-
knüpfenden Beispiel hervorgehen. Wir bemerken, daſs in Verhältnissen
zwischen zwei Menschen die äuſsere Form selten der genau angepaſste
Ausdruck ihres inneren Intensitätsmaſses ist; und zwar pflegt sich die
Inadäquatheit beider so darzustellen, daſs sich die inneren Beziehungen
kontinuierlich, die äuſseren aber sprungweise entwickeln. Wenn also
selbst zu einem gegebenen Zeitpunkt beide einander entsprechen, so
beharren die letzteren in ihrer einmal gewonnenen Form, während die
ersteren sich steigern. Von einem gewissen Grade ab erfolgt nun ein
plötzliches Wachstum jener, das — und hier liegt nun das Charakte-
ristische — in der Regel nicht bei dem Punkte Halt macht, der dem
gleichzeitigen inneren Verhältnis entspricht, sondern über diesen
hinaus eine noch vorgeschrittenere Innerlichkeit antizipiert. So wird
z. B. das Du zwischen Freunden, das als der endliche Ausdruck einer
schon lange bestehenden Zuneigung auftritt, doch in der ersten Zeit
oft noch als ein wenig exaggeriert empfunden und schafft mit einem
Schlage eine äuſsere Intimität, der die ganz entsprechende innere erst
[139] in einiger Zeit nachzukommen pflegt. Sie kommt ihr aber manchmal
auch nicht nach, und so gehen manche Verhältnisse darüber zu Grunde,
daſs ihre Form, obgleich durch ihre Innerlichkeit bis zu einem gewissen
Grade berechtigt, von dieser nicht völlig eingeholt werden kann. Etwas
Entsprechendes findet auch im Unpersönlichen statt. Kräfte des sozialen
Lebens, die auf ihren Ausdruck in bestimmten Konstellationen von
Recht, Austauschformen, Herrschaftsverhältnissen etc. hindrängen, finden
denselben oft lange nicht, weil die einmal erlangten Formen dieser
Gebiete leicht erstarren. Tritt nun die innerlich erforderte äuſsere
Änderung dennoch ein, so erfolgt sie oft in einem Maſse, für das die
innerlichen Kräfte doch noch nicht ganz reif sind und dessen nachträg-
liche Legitimierung nicht immer gelingt. So ist die Geldwirtschaft manch-
mal aufgekommen. Nachdem die allgemeinen Wirtschaftsverhältnisse
schon lange auf sie hindrängten, tritt sie dann in Erscheinungen so ge-
waltigen Umfanges hervor, daſs nun wieder jene ihr nicht ganz genügen;
dann können solche Erscheinungen ein tragisches Ende finden, wenn die
Entwicklung der inneren ökonomischen Kräfte die Form, die sie vor-
weggenommen hat, nicht schnell genug einholen. Das war die Situation,
in der die Fugger, ja alle die groſsen oberdeutschen Bankiers des
16. Jahrhunderts, zu Grunde gingen. Ihre Geldgeschäfte, vollkommen
den Transaktionen moderner Weltbankiers vergleichbar, fielen in eine
Zeit, die zwar der naturalwirtschaftlichen Enge des Mittelalters ent-
wachsen war, aber doch noch nicht die Kommunikationen, Sicherheiten
und Usancen besaſs, die das notwendige Korrelat solcher Geschäfte
sind. Die allgemeinen Verhältnisse lagen noch nicht so, daſs man
Auſsenstände in Spanien und bei regierenden Herren ohne weiteres
hätte einziehen können. Die neuen geldwirtschaftlichen Formen ver-
leiteten Anton Fugger, sie weit über das Maſs zu spannen, in dem sie
der adäquate Ausdruck der damaligen realen Verfassung Europas ge-
wesen wären. Den Schuldnern jener Finanzmächte ging es aus dem-
selben Grunde nicht besser. Die spanische Finanznot des 16. Jahr-
hunderts entstand dadurch, daſs das Geld zwar in Spanien oft genug
vorhanden war, aber nicht dort, wo es groſsenteils gebraucht wurde,
in den Niederlanden. Dadurch entstanden Schwierigkeiten, Verzöge-
rungen, Kosten, die zum Ruin der spanischen Finanzen sehr viel bei-
trugen. Bei anderen lokalen Bedingungen stellt sich auch sofort eine
ganz andere Funktionierung des Geldes ein: die Niederlande ihrerseits
hatten in ihrem Kriege gegen Spanien den ungeheuren Vorteil, daſs
ihr Geld ebenda, wo es war, auch seine Verwendung fand. In den
Händen der Niederländer war es wirklich erst „Geld“, weil es hier
ungehindert funktionieren konnte — obgleich sie, auch relativ, sehr
[140] viel weniger Geldsubstanz besaſsen als Spanien, und ihre Existenz auf
den Kredit gestellt war. Je günstiger die lokalen Bedingungen der
Geldfunktion sind, mit desto weniger Substanz können sie ausgeübt
werden, so daſs man paradoxerweise sagen kann: je mehr es wirklich
Geld (seiner wesentlichen Bedeutung nach) ist, desto weniger braucht
es Geld (seiner Substanz nach) zu sein.


Neben dem Einfluſs lokaler Bedingungen ist es nun weiterhin die
Festigkeit und Zuverlässigkeit der sozialen Wechselwirkungen, gleich-
sam die Konsistenz des Wirtschaftskreises, die die Auflösung der Geld-
substanz vorbereitet. Das zeigt sich etwa gelegentlich der Thatsache,
daſs das Geld eine immer steigende Anzahl von Wirkungen hervor-
bringt, während es selbst ruht. Die manchmal auftretende Vorstellung,
daſs die ökonomische Bedeutung des Geldes das Produkt aus seinem
Werte und der Häufigkeit seiner Umsetzungen in einer gegebenen
Zeit wäre, übersieht die mächtigen Wirkungen, die das Geld durch
bloſse Hoffnung und Furcht, durch Begierde und Besorgnis, die sich
mit ihm verbinden, übt; es strahlt diese auch ökonomisch so bedeut-
samen Affekte aus, wie Himmel und Hölle sie ausstrahlen: als bloſse
Idee. Die reine Vorstellung des Vorhandenseins oder des Mangels
von Geld an einer bestimmten Stelle wirkt anspannend oder lähmend,
und die Goldreserven in den Kellern der Banken, die deren Noten
decken, beweisen handgreiflich, wie das Geld in seiner rein psycho-
logischen Vertretung volle Wirkungen zustande bringt; hier ist es
wirklich als der „unbewegte Beweger“ zu bezeichnen. Nun liegt es
auf der Hand, daſs diese Wirkung des Geldes als bloſser Potenzialität
von der Feinheit und Sicherheit der wirtschaftlichen Organisation über-
haupt abhängt. Wo die sozialen Verbindungen locker, sporadisch,
träge sind, da wird nicht nur bloſs gegen bar verkauft, sondern auch
das ruhende Geld findet nicht die vielen psychologischen Kanäle, durch
die hin es wirken kann. Hierhin gehört auch die Doppelexistenz
des ausgeliehenen Geldes: einmal in der ideellen aber doch höchst
bedeutungsvollen Form des Auſsenstandes, und auſserdem als Realität
in der Hand des Schuldners. Als Forderung gehört es in den Ver-
mögensbestand des Gläubigers und ist, obgleich es gar nicht an dieser
Stelle vorhanden ist, doch an ihr äuſserst wirksam; andrerseits, ob-
gleich dieser Wert sich gar nicht in dem Vermögen des Entleihers be-
findet, so kann er doch mit ihm dieselben wirtschaftlichen Wirkungen
üben, als ob das der Fall wäre. So wird durch das Ausleihen des
Geldes seine Wirksamkeit in zwei Teile zerlegt und damit der Ertrag
seiner wirtschaftlichen Energie auſserordentlich gesteigert. Aber die
intellektuelle Abstraktion, die diese Zerlegung bewirkt, kann ihre Er-
[141] folge eben nur unter einer so gefesteten und verfeinerten Gesellschafts-
verfassung üben, daſs man in ihr überhaupt mit relativer Sicherheit
Geld ausleihen und wirtschaftliche Aktionen auf jene Teilfunktionen
seiner gründen kann. Wie es einer gewissen Extensität und Inten-
sität der sozialen Beziehungen bedarf, um Geld überhaupt wirksam
werden zu lassen — vorher unterscheidet es sich nicht von anderen
Tauschwaren — so einer sehr verstärkten, um seine Wirkungen zu
vergeistigen. An diesen gesteigerten Erscheinungen dokumentiert sich
besonders durchsichtig, wie wenig das Geld seinem innersten Wesen
nach an die Körperhaftigkeit seines Substrates gebunden ist; da es
nun aber ganz und gar eine soziologische Erscheinung ist, eine Form
der Wechselwirkung unter den Menschen, so tritt seine Art um so
reiner hervor, je kondensierter, zuverlässiger, leichter ansprechend die
sozialen Verbindungen sind. Ja, bis in alle Äuſserlichkeiten der Geld-
form hinein wirkt die allgemeine Festigkeit und Sicherheit der Ver-
kehrskultur. Daſs ein so feiner und leicht zerstörbarer Stoff wie Papier
zum Träger höchsten Geldwertes wird, ist nur in einem so fest und
eng organisierten und gegenseitigen Schutz garantierenden Kulturkreise
möglich, daſs eine Reihe elementarer Gefahren für dasselbe — sowohl
äuſserer wie namentlich psychologischer Natur — ausgeschlossen sind;
bezeichnender Weise hat deshalb das Mittelalter ziemlich häufig Leder-
geld verwendet. Wenn das Papiergeld wegen seines gleichsam un-
substanziellen Wesens die vorschreitende Auflösung des Geldwertes in
bloſsen Funktionswert bezeichnet, so mag das Ledergeld eine Vorstufe
dazu symbolisieren: von den Qualitäten, die das substanzielle Geld
charakterisieren, hat das Ledergeld wenigstens die der relativen Un-
zerstörbarkeit noch bewahrt und kann sie erst bei einer bestimmten
vorgeschrittenen Struktur der individuellen und sozialen Verhältnisse
abgeben.


Die Praxis und die Theorie der Geldpolitik scheint ebenso
den Entwicklungsgang von der Substanzbedeutung des Geldes zur
Funktionsbedeutung, wie die Abhängigkeit desselben von diesen sozio-
logischen Zuständen zu bestätigen. Man könnte den Fiskalismus des
Mittelalters und den Merkantilismus als materialistische Geldpolitik
bezeichnen. Wie der Materialismus den Geist mit seinen Äuſserungen
und seinem Werte der Materie einordnet, so meinten jene Standpunkte
das Wesen und die Bewegungskraft des staatlich-wirtschaftlichen Lebens
an die Geldsubstanz gebunden. Es besteht aber zwischen ihnen der-
selbe Unterschied wie zwischen der rohen und der feineren Form des
Materialismus. Jene behauptet, daſs die Vorstellung selbst etwas
materielles wäre und das Gehirn Gedanken absondere, wie die Drüsen
[142] ihre Flüssigkeit, wie die Leber die Galle. Diese: die Vorstellung sei
nicht selbst materiell, aber eine Bewegungsform des Materiellen, der Ge-
danke bestehe wie Licht, Wärme, Elektrizität, in einer besonderen Art
von Schwingungen körperlicher Teile. Diesem Unterschiede der intellek-
tuellen Standpunkte entspricht es, wenn einerseits der Fiskalismus das
Interesse der Regierung darein verlegt, möglichst viel bares Geld zur
unmittelbaren Verwendung der Fürsten oder für die Staatszwecke her-
auszuschlagen, andrerseits der Merkantilismus zwar auch auf das bare
Geld einen Hauptwert legt, aber nicht um es substanziell herauszu-
ziehen, sondern um die wirtschaftlichen Bewegungen des Landes funk-
tionell zu beleben. Innerhalb dieser materialistischen Richtungen der
Geldpolitik selbst, die noch ganz tief in der Vorstellung steckten, daſs
die Geldsubstanz der Wert an und für sich wäre, — macht sich also
doch schon die Wendung von der grob äuſserlichen zu der funktio-
nellen Bedeutung dieser Substanz geltend. Dem entspricht die po-
litische Verfassung der fraglichen Perioden. Der Fürst da, wo die
mittelalterliche fiskalische Verfassung herrschte, in einem bloſs äuſser-
lichen Verhältnis zu seinem Lande, oft in einem völlig unorga-
nischen, durch Erheiratung oder Eroberung hergestellten, so daſs es
sich in der Tendenz, nur möglichst viel Geld aus dem Lande zu
ziehen, völlig adäquat ausdrückte — wovon der häufige Verkauf
ganzer Territorien gegen Geld der konsequente Abschluſs war; indem
das starre, bloſs substanzielle Geldinteresse Herrscher und Beherrschte
verband, zeigte es, wie unverbunden sie waren. Für dieses soziologi-
sche Verhältnis zwischen den beiden Parteien ist die im Mittelalter so
häufige Münzpolitik der Herrscher, die in einer fortwährenden Ver-
schlechterung der Münze bestand, die nächstliegende Technik; nur bei
einem völlig unorganischen Zusammen sind derartige Politiken möglich,
die auf der Seite des einen allen Nutzen, auf der der anderen allen
Schaden lassen. Die Freude am baren Gelde, die den Orientalen an-
geboren scheint, hat man auf den Fiskalismus der Fürsten zurückgeführt,
die das Münzregal als Steuerquelle benutzen, ohne sich um die Folgen
der Valutaverschlechterung zu sorgen: das notwendige Gegenstück dazu
sei die Leidenschaft des Unterthanen für die Aufhäufung von barem
Gold und Silber. Der aufkommende zentralistisch-despotische Staat
bedeutete ein viel engeres und lebendigeres Verhältnis zwischen den
politischen Faktoren: die Vorstellung ihrer organischen Einheit bildet
das Gemeinsame der Fürstenideale, vom l’état c’est moi bis zum Könige
als dem ersten Diener seines Volkes. Wenn nun auch hier das Inter-
esse der Regierung noch an dem Hereinbringen möglichst reichlicher
Geldsubstanz haftet, so entspricht es doch der regeren Wechselwirkung
[143] zwischen Haupt und Gliedern des Staatskörpers, der Belebtheit der
Staatsexistenz als solcher, daſs nicht mehr in dem substanziellen Be-
sitze, sondern in der Fruchtbarkeit des Geldes für das Gedeihen der
Industrie etc. der Endzweck seines Erwerbes gesucht wurde. Als dann
die liberalen Tendenzen das staatliche Leben zu immer freierem Fluſs,
immer ungehemmterer Geschmeidigkeit, immer labilerem Gleichgewicht
der Elemente führten, war die materielle Grundlage für die Theorie
Adam Smiths gegeben: daſs Gold und Silber bloſse Werkzeuge sind,
nicht anders als Kochgeräte, und daſs ihr Import an und für sich so
wenig den Wohlstand der Länder steigere, wie man durch die Vermehrung
der Kochgeräte schon mehr zu essen habe. Haben sich schlieſslich die
alten substanziellen Ordnungen soweit aufgelöst, um anarchistische
Ideale zu ermöglichen, so wird in ihnen begreiflicherweise auch diese
Richtung der Geldtheorie ihr Extrem erreichen. Proudhon, der alle
festen Staatsgebilde beseitigen und die freie unmittelbare Wechselwirkung
der Individuen als die einzig richtige Form des sozialen Lebens an-
erkennen will, bekämpft den Gebrauch des Geldes überhaupt; denn
in ihm sieht er ein genaues Analogon jener Herrschaftsgebilde, die aus
den Individuen ihre lebendige Wechselwirkung heraussaugen und in
sich kristallisieren. Es müsse daher die Tauschbarkeit der Werte
ohne Dazwischenkunft des Geldes begründet werden, ebenso wie die
Regierung der Gesellschaft durch alle Bürger ohne Dazwischenkunft
des Königs; und wie man jedem Bürger das Stimmrecht gegeben habe,
so müsse jede Ware an und für sich und ohne Vermittlung des Geldes
zum Wertrepräsentanten werden. — Mit der Ansicht Adam Smiths ist
die Richtung auf die hier vertretene Geldtheorie eingeschlagen, die man
im Gegensatz zu den materialistischen, als spiritualistische (vielleicht als
erkenntnistheoretische) bezeichnen kann. Denn während jene die Wert-
bedeutung der lebendigen wirtschaftlichen Vorgänge in eine Substanz
setzen, wird hier umgekehrt aller Wert der Substanz in Funktionen
gesetzt. So erklärt der Materialismus: der Geist ist Materie, der Spiri-
tualismus: die Materie ist Geist. Der eine Standpunkt läſst die Be-
wegung zur Substanz erstarren, der andere löst die Substanz in Be-
wegung auf. Wenn uns die eine Annahme als Irrtum erscheint, so
war derselbe, wie wir einsehen, kein zufälliger, sondern der angemessene
theoretische Ausdruck eines thatsächlichen soziologischen Zustandes, der
erst durch reale Mächte überwunden werden muſste, ehe sein theore-
tisches Gegenbild durch theoretische überwunden werden konnte.


Der weitere Zusammenhang, in den sich der soziologische Charakter
des Geldes einstellt, ist dieser. Als den Ausgangspunkt aller sozialen
Gestaltung können wir uns nur die Wechselwirkung von Person zu
[144] Person vorstellen. Gleichviel wie die in Dunkel gehüllten historischen
Anfänge des gesellschaftlichen Lebens wirklich gestaltet waren — seine
genetische und systematische Betrachtung muſs diese einfachste und
unmittelbarste Beziehung zum Grunde legen, von der wir doch schlieſslich
auch heute noch unzählige gesellschaftliche Neubildungen ausgehen sehen.
Die weitere Entwicklung ersetzt nun diese Unmittelbarkeit der wechsel-
wirkenden Kräfte durch die Schaffung höherer überpersönlicher Gebilde,
die als gesonderte Träger eben jener Kräfte auftreten und die Be-
ziehungen der Individuen untereinander durch sich hindurchleiten und
vermitteln. Diese Gebilde bieten sich in den verschiedensten Er-
scheinungsarten dar: in greifbarer Realität wie als bloſse Ideen und
Phantasieprodukte, als weitverzweigte Organisationen wie in der Ver-
körperung durch Einzelpersonen. So bildeten sich aus den Erforderlich-
keiten und Usancen, die sich im Verkehr der Gruppengenossen zunächst
von Fall zu Fall entwickeln und sich schlieſslich fixieren, die objek-
tiven Gesetze der Sitte, des Rechts, der Moral — ideale Erzeugnisse
des menschlichen Vorstellens und Wertens, die nun für unser Denken
ganz jenseits des einzelnen Wollens und Handelns stehen, gleichsam
als dessen losgelöste „reine Formen“. So verkörpert sich, diesen
Prozeſs fortsetzend, das Staatsgesetz in dem Richterstand und der ganzen
Verwaltungshierarchie; so die zusammenhaltende Kraft einer politischen
Partei in dem Parteivorstand und der parlamentarischen Vertretung;
so verlegt sich die Kohäsion eines Regimentes in seine Fahne, einer
mystischen Vereinigung in ihren Gral u. s. w. Es werden also die
Wechselwirkungen unter den interessierten Elementen selbst, die die
soziale Einheit erzeugen, dadurch ersetzt, daſs jedes dieser Elemente
für sich zu dem darüber oder dazwischen geschobenen Organe in Be-
ziehung tritt. In diese Kategorie substanzgewordener Sozialfunktionen
gehört das Geld. Die Funktion des Tausches, eine unmittelbare
Wechselwirkung unter Individuen, ist mit ihm zu einem für sich be-
stehenden Gebilde kristallisiert. Der Austausch der Arbeitsprodukte
oder des sonst aus irgend einer Quelle her Besessenen, ist offenbar eine
der reinsten und primitivsten Formen menschlicher Vergesellschaftung;
und zwar nicht so, daſs die „Gesellschaft“ schon perfekt wäre, und
dann käme es zu Tauschakten innerhalb ihrer; sondern der Tausch
selbst ist eine der Funktionen, die aus dem bloſsen Nebeneinander der
Individuen ihre innerliche Verknüpfung, die Gesellschaft, zustande
bringen; denn die Gesellschaft ist nicht eine absolute Einheit, die erst
dasein müſste, damit alle die einzelnen Beziehungen ihrer Mitglieder:
Über- und Unterordnung, Kohäsion, Nachahmungen, Arbeitsteilung,
Tausch, gleichgerichtete Angriffe und Verteidigungen, religiöse Gemein-
[145] schaft, Parteibildung und viele andere in ihr als dem Träger oder
Rahmen jener entstünden. Sondern Gesellschaft ist nichts als die
Zusammenfassung oder der allgemeine Name für die Gesamtheit dieser
speziellen Wechselbeziehungen. Die einzelne freilich kann ausscheiden,
und es bleibt noch immer „Gesellschaft“ übrig — aber nur, wenn nach
Wegfall der einen noch eine hinreichend groſse Anzahl anderer in
kraft bleiben; fielen sie fort, so würde es auch keine Gesellschaft mehr
geben: grade wie die Lebenseinheit eines organischen Körpers noch
damit weiter bestehen kann, daſs eine oder die andere seiner Funktionen,
d. h. der Wechselbeziehungen zwischen seinen Teilen aufhört, aber nicht
mehr damit, daſs sie alle aufhören — weil „Leben“ nichts anderes ist
als die Summe solcher, unter den Atomen eines Körpers wechselseitig
ausgeübten Kräfte. Fast ist es deshalb noch ein zweideutiger Aus-
druck, daſs der Tausch Vergesellschaftung bewirke; er ist vielmehr
eine Vergesellschaftung, eine jener Beziehungen, deren Bestehen eine
Summe von Individuen zu einer sozialen Gruppe macht, weil „Gesell-
schaft“ mit der Summe dieser Beziehungen identisch ist.


Die oft hervorgehobenen Unbequemlichkeiten und Unzulänglich-
keiten des Naturaltausches nun sind durchaus denen vergleichbar, die
sich bei anderen sozialen Wechselwirkungen einstellen, so lange sie sich
noch in dem Stadium der Unmittelbarkeit befinden: wenn alle Regierungs-
maſsregeln von der Gesamtheit der Bürger beraten und gebilligt werden
müssen; wenn der Schutz der Gruppe nach auſsen noch durch den
primitiven Waffendienst jedes Gruppenangehörigen bewerkstelligt wird;
wenn die Verwaltung der Gerechtigkeit noch auf dem unmittelbaren
Urteilsspruch der Gemeinde beruht — so ergeben sich daraus bei
wachsender Extensität und Komplikation der Gruppe alle jene Unzweck-
mäſsigkeiten, Behinderungen und Lockerungen, die einerseits auf die
Abgabe dieser Funktionen an besondere arbeitsteilige Organe, andrer-
seits auf die Kreierung vertretender und zusammenhaltender Ideale und
Symbole hindrängen. Die Tauschfunktion führt thatsächlich zu Bildungen
von beiderlei Art: einerseits zum Stande der Händler, andrerseits
zum Geld. Der Händler ist der differenzierte Träger der sonst zwischen
den Produzenten unmittelbar ausgeübten Tauschfunktionen, statt der
einfachen Wechselbeziehungen unter diesen tritt die Beziehung ein,
welche jeder derselben für sich zum Händler hat, wie die unmittelbare
Kontrole und Kohäsion der Gruppengenossen durch die gemeinsame
Beziehung zu den Regierungsorganen ersetzt wird. Und nun kann man,
genauere Erkenntnis vorbereitend, sagen: wie der Händler zwischen
den tauschenden Subjekten steht, grade so steht das Geld zwischen
den Tauschobjekten. Statt daſs deren Äquivalenz unmittelbar wirksam
Simmel, Philosophie des Geldes. 10
[146] wird und ihre Bewegungen in sich beschlossen sein läſst, tritt nun jedes
von ihnen für sich in ein Gleichungs- und Austauschverhältnis zum Geld.
Wie der Händler die verkörperte Funktion des Austausches ist, so das Geld
die verkörperte Funktion des Ausgetauschtwerdens: es ist, wie wir früher
sahen, das zur Substanz gewordene bloſse Verhältnis der Dinge zu ein-
ander, wie es in ihrer wirtschaftlichen Bewegung zum Ausdruck kommt.
So steht es schlieſslich jenseits der einzelnen Dinge, deren jedes zu ihm in
Beziehung steht, als ein nach eigenen Normen organisiertes Reich, das
eben doch nur die Objektivation der ursprünglich unter jenen einzelnen
Dingen selbst geschehenen Ausgleichs- und Austauschbewegungen ist.
Allein dies ist, wie gesagt, nur eine vorbereitende Ansicht. Denn
schlieſslich sind es doch nicht die Dinge, sondern die Menschen, die
diese Prozesse vollziehen, und die Verhältnisse zwischen jenen sind
auf dem hier fraglichen Gebiete doch Verhältnisse zwischen diesen.
Was der Tausch unter Individuen als Aktion ist, das ist das Geld in
konkret gewordener, für sich bestehender, gleichsam erstarrter Form,
in demselben Sinne, wie die Regierung das gegenseitige Sichinordnung-
halten der Gruppenmitglieder, wie das Palladium oder die Lade ihre
Kohäsion, wie der Kriegerstand ihr Sichverteidigen darstellt. Alles
dies sind gleichmäſsig Fälle jenes weitesten Typus: daſs aus primären
Erscheinungen, Substanzen, Vorgängen eine einzelne Seite, die nur an
und mit ihnen existiert, wie die Eigenschaft an ihrer Substanz und
die Thätigkeit an ihrem Subjekt, dennoch von ihnen gelöst wird, indem
sie sich mit einem eigenen Körper bekleidet: die Abstraktion wird eben
dadurch vollzogen, daſs sie zu einem konkreten Gebilde kristallisiert.
Auſserhalb des Tausches ist das Geld so wenig etwas, wie Regimenter
und Fahnen auſserhalb der gemeinsamen Angriffe und Verteidigungen
oder wie Priester und Tempel auſserhalb der gemeinsamen Religiosität.
Die Doppelnatur des Geldes: zwar eine sehr konkrete und als solche
geschätzte Substanz zu sein und doch seinen Sinn nur in der völligen
Auflösung in Bewegung und Funktion zu besitzen — gründet sich
darauf, daſs es nur in der Hypostasierung, gleichsam in der Fleisch-
werdung einer reinen Funktion, des Tausches unter Menschen, besteht.


Die Entwicklungen des Geldstoffes bringen seinen soziologischen
Charakter zu immer vollkommnerem Ausdruck. Die primitiven Tausch-
mittel, wie Salz, Vieh, Tabak, Getreide, sind ihrer Verwendung nach
von dem reinen Individualinteresse bestimmt, solipsistisch, d. h. sie
werden schlieſslich von einem Einzelnen konsumiert, ohne daſs in
diesem Augenblick andere noch ein Interesse daran hätten. Das Edel-
metall dagegen weist durch seine Bedeutung als Schmuck auf die
Beziehung zwischen den Individuen hin; man schmückt sich für
[147]Andere. Der Schmuck ist ein soziales Bedürfnis und die Edel-
metalle eignen sich eben durch ihren Glanz ganz besonders dazu, die
Augen auf sich zu ziehen. Darum sind bestimmte Schmuckarten auch
bestimmten sozialen Positionen vorbehalten; so war im mittelalterlichen
Frankreich das Tragen von Goldschmuck allen unter einem gewissen
Range Stehenden verboten. Dadurch, daſs der Schmuck seine ganze
Bedeutung in den psychologischen Vorgängen hat, die er auſserhalb
seines Trägers in anderen erregt, unterscheidet sich das Edelmetall
durchaus von jenen ursprünglicheren, sozusagen zentripetalen Tausch-
mitteln. Der Tausch als das reinste soziologische Vorkommnis, d. h.
als die vollständigste Wechselwirkung, findet den entsprechenden Träger
in der Substanz des Schmuckes, der alle Bedeutung für seinen Be-
sitzer nur mittelbar, nämlich als Beziehung zu anderen Menschen,
aufweist.


Wenn diese Verkörperung der Tauschaktion in einem besonderen
Gebilde sich nun technisch so vollzieht, daſs jedes Objekt, statt un-
mittelbar gegen ein anderes, zunächst gegen jenes eingetauscht wird,
so ist nun die Frage: welches ist, näher angesehen, das dem ent-
sprechende Verhalten der hinter den Objekten stehenden Menschen? —
denn das gemeinsame Verhalten zum Händler, so sehr es Ursache und
Wirkung des Geldverkehrs ist, konnte hierfür doch nur als Gleichnis
dienen. Nun scheint es mir klar: das Fundament und der sozio-
logische Träger jenes Verhältnisses zwischen den Objekten und dem
Gelde ist das Verhältnis der wirtschaftenden Individuen zu der Zentral-
macht, die das Geld ausgiebt oder garantiert. Den Dienst, als absolute
Zwischeninstanz über allen Einzelprodukten zu stehen, leistet das Geld
erst, wenn die Prägung es über den bloſsen Charakter als Metall-
quantum — von naturaleren Geldarten nicht zu reden — hinaus-
gehoben hat. Jene Abstraktion des Tauschprozesses aus den einzelnen
realen Tauschen und ihre Verkörperung in einem objektiven Sonder-
gebilde kann erst eintreten, wenn der Tausch etwas anderes
geworden ist als ein privater Vorgang zwischen zwei Individuen, der
völlig in den individuellen Aktionen und Gegenaktionen dieser be-
schlossen liegt. Dies andere und weitere wird er, indem der Tausch-
wert, den die eine Partei giebt, seine Bedeutung für die zweite nicht
unmittelbar, sondern als bloſse Anweisung auf andere, definitive Werte
enthält — eine Anweisung, deren Realisierung von der Gesamtheit
des Wirtschaftskreises oder von der Regierung als der Vertretung des-
selben abhängt. Indem der Naturaltausch durch den Geldkauf ersetzt
wird, tritt zwischen die beiden Parteien eine dritte Instanz: die soziale
Gesamtheit, die für das Geld einen entsprechenden Realwert zur Ver-
10*
[148] fügung stellt. Der Drehpunkt der Wechselwirkung jener beiden rückt
damit weiter fort, er entfernt sich aus der unmittelbaren Verbindungs-
linie zwischen ihnen und verlegt sich in das Verhältnis, das jeder von
ihnen als Geldinteressent zu dem Wirtschaftskreise hat, der das Geld
acceptiert und dies durch die Prägung seitens seiner höchsten Vertretung
dokumentiert. Hierauf beruht der Kern von Wahrheit in der Theorie,
daſs alles Geld nur eine Anweisung auf die Gesellschaft ist; es er-
scheint gleichsam als ein Wechsel, in dem der Name des Bezogenen
nicht ausgefüllt ist, oder auch: in dem die Prägung die Stelle des
Acceptes vertritt. Wenn man gegen die Lehre, die auch im Metall-
gelde einen Kredit finden will, eingewendet hat, daſs der Kredit doch
eine Verbindlichkeit begründe, die Metallgeldzahlung aber jede Ver-
bindlichkeit löse, so ist übersehen, daſs, was für den Einzelnen Lösung
ist, für die Gesamtheit Bindung sein kann. Die Solvierung jeder
privaten Verbindlichkeit durch Geld bedeutet eben, daſs jetzt die Ge-
samtheit diese Verpflichtung gegen den Berechtigten übernimmt. Die
Verbindlichkeit aus einer naturalen Leistung ist doch nur auf zweierlei
Weise aus der Welt zu schaffen: entweder durch direkte Gegen-
leistung oder durch Anweisung auf eine solche. Letztere hat der
Geldbesitzer in der Hand, und indem er sie an denjenigen, der vor-
geleistet hat, übergiebt, weist er ihn an einen vorläufig anonymen
Produzenten, der auf Grund seiner Zugehörigkeit zu dem betreffenden
Wirtschaftskreise jene erforderte Leistung gegen eben dieses Geld auf
sich nimmt. Der Unterschied zwischen dem gedeckten und dem un-
gedeckten Papiergeld, den man in Beziehung zu dem Kreditcharakter
des Geldes gesetzt hat, ist dabei ganz irrelevant. Man hat gemeint,
nur uneinlösbares Papier sei wirklich Geld (papier-monnaie), wogegen
einlösbares nur eine Anweisung auf Geld sei (monnaie de papier); da-
gegen ist nun wieder geltend gemacht, daſs dieser Unterschied keine
Bedeutung für den Verkehr zwischen Käufer und Verkäufer habe,
denn in diesem funktioniere auch das gedeckte Papier nicht als Zahlungs-
versprechen, sondern als definitive Zahlung, im Unterschiede etwa gegen
den Check, der auch zwischen Käufer und Verkäufer nur ein Ver-
sprechen sei. Diese ganze Fragestellung dringt nicht zu dem sozio-
logischen Sachverhalt hinunter; für diesen ist kein Zweifel, daſs auch
das Metallgeld ein Versprechen ist und daſs es sich insofern von dem
Check nur durch die Gröſse des Kreises unterscheidet, der dessen
Einlösung verbürgt. Das gemeinsame Verhältnis von Käufer und Ver-
käufer zu einem sozialen Kreise — der Anspruch jenes an eine in
diesem Kreise zu prästierende Leistung und das Vertrauen des anderen,
daſs dieser Anspruch honoriert werden wird — ist die soziologische
[149] Konstellation, in der sich der Geldverkehr im Gegensatz zum Natural-
verkehr vollzieht.


Thatsächlich stecken in dem Metallgeld, das man als den absoluten
Gegensatz des Kreditgeldes aufzufassen pflegt, zwei in eigentümlicher
Weise verschlungene Kreditvoraussetzungen. Zunächst ist innerhalb
des täglichen Verkehrs die Prüfung der Münze auf ihr Schrot und
Korn nur ausnahmsweise thunlich. Ohne ein Vertrauen des Publikums
zu der emittierenden Regierung oder, gegebenen Falls, zu denjenigen
Personen, die den Realwert der Münze gegenüber ihrem Nominalwert
festzustellen imstande sind, kann es auch zu einem Bargeldverkehr
nicht kommen. Die Aufschrift der Malteser Münzen: non aes sed
fides — bezeichnet ganz vortrefflich den integrierenden Zusatz des
Glaubens, ohne den die noch so vollwichtige Münze ihre Funktion in
den weitaus meisten Fällen nicht ausüben kann. Grade die Mannig-
faltigkeit, oft Entgegengesetztheit der Gründe für die Acceptierung des
Geldstücks zeigt, daſs nicht deren objektive Beweiskraft das Wesentliche
ist: in einigen Gegenden von Afrika muſs der Maria-Theresia-Thaler
weiſs und rein sein, in anderen grade fettig und schmutzig, damit
man ihn als echt annehme! Es muſs aber zweitens der Glaube vor-
handen sein, daſs das Geld, das man jetzt einnimmt, auch zu dem
gleichen Wert wieder auszugeben ist. Auch hier ist das Unentbehr-
liche und Entscheidende: non aes sed fides — das Vertrauen zu dem
Wirtschaftskreise, daſs er uns das fortgegebene Wertquantum für den
dafür erhaltenen Interimswert, die Münze, ohne Schaden wieder er-
setzen werde. Ohne so nach zwei Seiten hin Kredit zu geben, kann
niemand sich der Münze bedienen; dieser doppelte Glaube erst ver-
leiht der schmutzigen, vielleicht kaum erkennbaren Münze das be-
stimmte Wertmaſs. Wie ohne den Glauben der Menschen aneinander
überhaupt die Gesellschaft auseinanderfallen würde, — denn wie wenige
Verhältnisse gründen sich wirklich nur auf das, was der eine beweisbar
vom anderen weiſs, wie wenige würden irgend eine Zeitlang dauern, wenn
der Glaube nicht ebenso stark und oft stärker wäre als verstandesmäſsige
Beweise und sogar als der Augenschein! — so würde ohne ihn der
Geldverkehr zusammenbrechen. Dieser Glaube ist indes in einer be-
stimmten Weise nüanciert. Die Behauptung, jedes Geld sei eigentlich
Kreditgeld, da sein Wert auf dem Glauben des Empfängers beruhe,
für das Tauschinstrument eine gewisse Menge Waren zu bekommen —
ist noch nicht vollständig aufklärend. Denn auf derartigem Glauben
beruht nicht nur die Geldwirtschaft, sondern jede Wirtschaft überhaupt.
Wenn der Landwirt nicht glaubte, daſs das Feld in diesem Jahre so
gut wie in früheren Früchte tragen wird, so würde er nicht säen;
[150] wenn der Händler nicht glaubte, daſs das Publikum seine Waren be-
gehren wird, so würde er sie nicht anschaffen u. s. w. Diese Art des
Glaubens ist nichts als ein abgeschwächtes induktives Wissen. Allein
in dem Fall des Kredites, des Vertrauens auf jemanden, kommt zu
diesem noch ein weiteres, schwer zu beschreibendes Moment hinzu,
das am reinsten in dem religiösen Glauben verkörpert ist. Wenn man
sagt, man glaube an Gott, so ist das nicht nur eine unvollkommene
Stufe des Wissens von ihm, sondern ein überhaupt nicht in der
Richtung des Wissens liegender Gemütszustand, einerseits freilich weniger,
andrerseits aber mehr als dieses. Es ist eine sehr feine und tiefe
Wendung der Sprache, daſs man „an jemanden glaubt“ — ohne daſs
weiter hinzugesetzt oder auch nur deutlich dabei gedacht würde, was
man denn eigentlich von ihm glaube. Es ist eben das Gefühl, daſs
zwischen unserer Idee von einem Wesen und diesem Wesen selbst
von vornherein ein Zusammenhang, eine Einheitlichkeit da sei, eine
gewisse Konsistenz der Vorstellung von ihm, eine Sicherheit und
Widerstandslosigkeit in der Hingabe des Ich an diese Vorstellung, die
wohl auf angebbare Gründe hin entsteht, aber nicht aus ihnen besteht.
Auch der wirtschaftliche Kredit enthält in vielen Fällen ein Element
dieses übertheoretischen Glaubens, und nicht weniger thut dies jenes
Vertrauen auf die Allgemeinheit, daſs sie uns für die symbolischen
Zeichen, für die wir die Produkte unserer Arbeit hingegeben haben,
die konkreten Gegenwerte gewähren wird. Das ist wie gesagt in sehr
hohem Maſse ein einfacher Induktionsschluſs, aber es enthält darüber
hinaus noch einen Zusatz jenes sozial-psychologischen, dem religiösen
verwandten „Glaubens“. Das Gefühl der persönlichen Sicherheit, das
der Geldbesitz gewährt, ist vielleicht die konzentrierteste und zu-
gespitzteste Form und Äuſserung des Vertrauens auf die staatlich-
gesellschaftliche Organisation und Ordnung. Die Subjektivität dieses
Vorganges ist gleichsam die höhere Potenz derjenigen, die den Metall-
wert überhaupt schafft: wenn dieser letztere schon vorausgesetzt ist, so
wird er nun durch jenen zweiseitigen Glauben erst für den Geldverkehr
praktisch. Es zeigt sich deshalb auch hier, daſs die Entwicklung vom
Substanzgeld zum Kreditgeld weniger radikal ist, als es scheint, weil
das Kreditgeld als Evolution, Verselbständigung, Herauslösung der-
jenigen Kreditmomente zu deuten ist, die schon in dem Substanzgeld
in entscheidender Weise vorhanden sind.


Die Garantie für die Weiterverwertbarkeit des Geldes, in der das
Verhältnis der Kontrahenten zu der Gesamtgruppe beschlossen ist, hat
indes eine eigenartige Form. Abstrakt angesehen, ist sie nämlich gar
nicht vorhanden, da der Geldbesitzer niemanden zwingen kann, ihm
[151] für Geld, selbst für das unzweifelhaft gute, etwas zu liefern; was sich
denn auch in Fällen von Boykottierung durchaus fühlbar gemacht hat.
Nur bei schon bestehenden Verpflichtungen kann der Berechtigte
gezwungen werden, die Verpflichtung, welcher Art sie auch sei, durch
Geld solvieren zu lassen — und auch das nicht einmal in allen Gesetz-
gebungen. Diese Möglichkeit, daſs der im Geld liegende Anspruch
doch auch nicht erfüllt würde, bestätigt den Charakter des Geldes als
eines bloſsen Kredites; denn das ist doch das Wesen des Kredites,
daſs der Wahrscheinlichkeitsbruch seiner Realisierung niemals gleich
eins wird, so sehr er sich dem auch nähern mag. Thatsächlich ist der
Einzelne also frei, sein Produkt oder seinen sonstigen Besitz dem Geld-
besitzer hinzugeben oder nicht — während die Gesamtheit allerdings
diesem gegenüber verpflichtet ist. Diese Verteilung von Freiheit und Ge-
bundenheit, so paradox sie ist, dient doch nicht selten als Erkenntnis-
kategorie. So haben z. B. Verteidiger der „statistischen Gesetze“ be-
hauptet, die Gesellschaft müſste zwar unter bestimmten Bedingungen
naturgesetzlich eine bestimmte Anzahl von Morden, Diebstählen, un-
ehelichen Geburten hervorbringen; der Einzelne aber sei dadurch nicht
zu einem bezüglichen Verhalten genötigt, er vielmehr sei frei, moralisch
oder unmoralisch zu handeln; das statistische Gesetz bestimme nicht,
daſs grade dieser Bestimmte derartige Thaten zu vollbringen habe,
sondern nur, daſs das Ganze, dem er angehört, ein prädestiniertes
Quantum derselben produzieren müsse. Oder wir hören auch: die
Gesamtheit der Gesellschaft oder der Gattung habe ihre festgesetzte
Rolle in dem göttlichen Weltplan, in der Entwicklung des Seins zu
den letzten transszendenten Zwecken zu spielen; die einzelnen Träger
derselben aber seien irrelevant, sie hätten die Freiheit, gleichsam die
Gesamtleistung unter sich zu verteilen, und der Einzelne könne sich
dem auch entziehen, ohne daſs jener Gesamtleistung Abbruch geschehe.
Endlich ist hervorgehoben, daſs die Aktionen einer Gruppe immer
durch den naturgesetzlichen Zug ihrer Interessen schwankungslos be-
stimmt seien, wie die Materienmassen durch die Gravitation; das Indi-
viduum dagegen sei von Theorien und Konflikten beirrt, es stehe
zwischen vielen Möglichkeiten, unter denen es richtig oder irrtümlich
wählen könne — im Unterschiede von den jeder Freiheit entbehren-
den, weil von schwankungslosen Instinkten und Zweckmäſsigkeiten
geleiteten Kollektivhandlungen. Wieviel richtiges und falsches an diesen
Vorstellungen ist, steht hier nicht zur Untersuchung, sondern nur darauf
ist hinzuweisen, wie auch sonst dieses Schema eines Verhältnisses
zwischen Allgemeinheit und Individuum gilt: jene als nezessitiert und
dieses als frei vorzustellen, die Gebundenheit jener durch die Freiheit
[152] dieses zu mildern, die Freiheit dieses durch die Gebundenheit jener
zu begrenzen und in eine Bestimmtheit des Gesamterfolges einzustellen.
Die Garantie für die Weiterverwertbarkeit des Geldes, die der Herrscher
oder Vertreter der Gesamtheit durch die Prägung des Metallstücks oder
den Aufdruck auf das Papier übernimmt, ist die Eskomptierung der
ungeheuren Wahrscheinlichkeit, daſs jeder Einzelne, trotz seiner Freiheit
das Geld zurückzuweisen, es nehmen wird.


Dies sind die Zusammenhänge, aus denen heraus bemerkt worden
ist, daſs, je gröſser ein Kreis ist, in dem ein Geld gelten soll, die
Währung um so höherwertiger sein muſs. Innerhalb einer Gruppe
von lokaler Begrenztheit mag ein minderwertiges Geld zirkulieren.
So schon in der primitivsten Kultur: in Darfur zirkulieren inner-
halb jedes Distrikts lokale Tauschmittel: Hacken, Tabak, Baum-
wollknäule u. s. w.; die höhere Währung aber ist allen gemeinsam:
der Bekleidungsstoff, das Rind, der Sklave. Es kommt vor, daſs das
Papiergeld eines Staates sogar provinziell beschränkt ist: in der Türkei
wurden 1853 Noten ausgegeben, die nur in Konstantinopel gelten
sollten. Ganz kleine und eng liierte Gesellschaften verständigen sich
gelegentlich darüber, irgend ein beliebiges Symbol — bis zur Spiel-
marke — als Geld anzusehen. Die Erweiterung der Handelsbeziehungen
aber verlangt hochwertiges Geld, schon weil die notwendigen Versen-
dungen desselben auf weite Strecken die Konzentration seines Wertes
auf einen möglichst geringen Umfang zweckmäſsig machen; so daſs
ebenso die historischen Weltreiche wie die Handelsstaaten mit weit-
ausgreifenden Verkehrskreisen immer zu einem Geld von relativ hohem
Substanzwert hingedrängt worden sind. Hierfür wird von gewissen
Erscheinungen auch der Beweis aus dem Gegenteil geliefert. Der
wesentliche Vorteil der mittelalterlichen Münzprivilegien bestand darin,
daſs der Münzherr in seinem Gebiete jederzeit neue Pfennige schlagen
und den Umtausch aller alten oder fremden, die zu Handelsgeschäften
in dies Gebiet kamen, gegen die neuen erzwingen konnte; er profitierte
also bei jeder Verschlechterung seiner Münze die Differenz zwischen
ihr und der eingetauschten besseren. Allein wie sich zeigte, war dieser
Nutzen dadurch bedingt, daſs der Bezirk des Münzherrn ein relativ
groſser war. Für ganz kleine Bezirke lohnte sich das Münzprivileg
nicht, weil der Markt für ihre Münzen ein zu beschränkter war, so daſs
bei dem unsäglichen Leichtsinn, mit dem man jedem Kloster und jeder
kleinen Stadt ein Prägerecht verlieh, das Münzunheil in Deutschland
noch viel ärger geworden wäre, wenn nicht der Nutzen der Münzver-
schlechterung an eine gewisse Gröſse des Bezirks gebunden wäre.
Grade also, weil der gröſsere Kreis seiner sozialwirtschaftlichen Struktur
[153] nach ein gutes Geld verlangt, ist der Vorteil an einem aufgezwungenen
schlechten eben nur in ihm nennenswert groſs. Positiv erwies sich
dies nun weiterhin, indem das Anwachsen des europäischen Verkehrs
im 14. Jahrhundert die Einführung des Guldens als allgemeiner Ein-
heit des Münzsystems und die Verdrängung der Silberwährung durch
Goldwährung bewirkte. Schillinge und Pfennige waren nun Scheide-
münze, die jedes Ländchen und Städtchen für seinen Verkehr und so
wertlos, wie es wollte, prägen konnte. Deshalb betraf auch die Ver-
leihung des Münzrechtes im Mittelalter zunächst nur silberne Münzen;
das Recht, Goldmünzen zu schlagen, bedurfte besonderer Gestattung,
die wohl nur der Regierung eines gröſseren Territoriums gegeben
wurde. Es ist für diese Korrelation äuſserst bezeichnend, daſs der
letzte Rest der römischen Weltherrschaft, der dem Hofe von Byzanz
— bis zum 6. Jahrhundert — verblieb, das ausschlieſsliche Recht war,
Goldmünzen zu schlagen. Und endlich wird sie dadurch bestätigt,
daſs unter den Fällen der oben erwähnten lokalen Beschränktheit für
die Papiergeldzirkulation innerhalb des ausgebenden Staates selbst,
auch dieser vorkommt: in Frankreich gab es einmal Noten, welche
überall, nur nicht in Hafenstädten, also nicht an den Punkten
des weitausstrahlenden Verkehrs, gelten sollten. Ganz allgemein muſs,
sobald der Kreis sich erweitert, auch dem Fremden und den Bezugs-
ländern die Währung annehmbar und verführerisch gemacht werden.
Mit der Vergröſserung des Wirtschaftskreises geht nun — ceteris pa-
ribus — Lockerung desselben Hand in Hand; die gegenseitige Einsicht
in die Verhältnisse wird unvollkommner, das Vertrauen bedingter, die
Vollstreckbarkeit der Ansprüche unsicherer. Unter solchen Umständen
wird niemand Ware liefern, wenn das Geld, mit dem er bezahlt wird,
nur in dem Kreise des Abnehmers mit Sicherheit verwendbar ist,
während dies in anderen zweifelhaft ist. Er wird also ein Geld ver-
langen, das an sich wertvoll ist, d. h. überall acceptiert wird. Die
Steigerung des Substanzwertes des Geldes bedeutet die Vergröſserung
des Kreises von Subjekten, in dem seine allgemeine Anerkennung ge-
sichert ist, während in einem engeren Kreise seine Weiterverwertbar-
keit sich auf besondere soziale, rechtliche, personale Garantien und
Verknüpfungen hin ergeben kann. Setzen wir voraus, daſs die Weiter-
verwertbarkeit des Geldes das Motiv seiner Annahme ist, so bildet sein
Substanzwert gleichsam das Pfand dafür, das auf Null sinken kann,
wenn die Verwertbarkeit durch andre Mittel gesichert ist, und um so
höher steigen muſs, je gröſser das Risiko ihrer ist. Nun aber bewirkt die
wachsende wirtschaftliche Kultur, daſs der sehr vergröſserte, schlieſslich
internationale Kreis in dieser Hinsicht die Züge erhält, die ursprüng-
[154] lich nur geschlossene Gruppen charakterisierten: die wirtschaftlichen
und rechtlichen Bindungen überwinden die räumliche Trennung immer
gründlicher und wirken ebenso sicher, exakt und berechenbar in die
Ferne, wie früher nur in die Nähe. In dem Maſse, in dem das ge-
schieht, kann jenes Pfand, d. h. der Eigenwert des Geldes herunter-
gehen. Die selbst Anhängern des Bimetallismus geläufige Vorstellung,
daſs derselbe nur bei internationaler Einführung möglich sei, liegt
innerhalb dieser Erwägung. Wie weit wir auch von der vollständigen
Enge und Zuverlässigkeit des Zusammenhanges — sowohl innerhalb
der einzelnen Nationen wie der Nationen untereinander — noch ent-
fernt sein mögen, so geht doch die Entwicklung zweifellos auf ihn zu:
die durch Gesetze, Usancen und Interessen immer wachsende Verbin-
dung und Vereinheitlichung immer gröſserer Kreise ist die Grundlage
dafür, daſs der Substanzwert des Geldes immer geringer werden und
immer vollständiger durch seinen Funktionswert ersetzt werden kann.


Bezeichnenderweise führt jene räumlich weite Erstreckung der
Handelsbeziehungen, die, wie oben erwähnt, die Substanzwertigkeit
des Tauschmittels steigerte, in der modernen Kultur grade auf völlige
Eliminierung eben derselben: auf die interlokale und internationale
Ausgleichung durch Giro und durch Wechselversand. Auch innerhalb
einzelner Interessenprovinzen des Geldes wird die Entwicklung von
dieser Form beherrscht. Die Steuerleistung z. B. wird jetzt über-
wiegend nach dem Einkommen, aber nicht nach dem Besitz gefordert.
In Preuſsen ist ein reicher Bankier, der die letzten Jahre mit Ge-
schäftsverlust gearbeitet hat, steuerfrei bis auf die geringe, und auch
erst kürzlich eingeführte Vermögenssteuer. Also nicht einmal der
Geldbesitz, sondern erst das Erträgnis seines Arbeitens, das Geld aus
dem Gelde, entscheidet über die Pflichten, und, insoweit die Wahl-
rechte von der Steuerleistung abhängen, auch über die Rechte gegen-
über der Allgemeinheit. In welcher Richtung die allgemeine Entwick-
lung des Geldes damit festgelegt ist, zeigt ein Blick auf die Rolle des
Geldkapitals im alten Rom. Wie dasselbe auf unproduktivem Wege
erworben war — durch Kriege, Tribute, Wechselgeschäfte — so war
es auch für den Borger nicht zur Produktion, sondern nur zur Kon-
sumtion bestimmt. Dabei konnten auch die Zinsen ersichtlich nicht
als die natürlichen Früchte des Kapitals gelten, und daher das unklare
und unorganische Verhältnis zwischen beiden, das sich in den weit in
das Christentum hineinerstreckten Zinsschwierigkeiten zeigte und erst
durch Begriff und Thatsache des produktiven Kapitals sachlich regu-
liert und organisiert wurde. Jenes ist also der äuſserste Gegensatz zu
dem jetzigen Zustand, in dem das Kapital seine Bedeutung nicht mehr
[155] an dem, was es an und für sich ist, besitzt, sondern an dem, was es
leistet: seine Entwicklung hat es aus einem starren, der Produktion
innerlich fremden Elemente in lebendige Funktion in und an derselben
übergeführt. — Sehen wir nun noch einmal auf die Garantierung des
Geldes als seinen Lebensnerv zurück, so verliert sie natürlich in dem
Maſse an Bündigkeit, in dem das objektive, die Gesamtheit vertretende
Gebilde nur beschränkte Abteilungen derselben oder ihre Interessen
nur unvollständig repräsentiert. So ist z. B. auch eine Privatbank ein
relativ objektives überpersönliches Wesen, das sich zwischen den Ver-
kehr individueller Interessenten schiebt. Dieser soziologische Charakter
ihrer befähigt sie allerdings zur Ausgabe von Geld, allein sobald
nicht staatliche Aufsicht die Garantie auf das wirklich allgemeine
Zentralgebilde überträgt, wird die bloſse Partialität des in ihr objek-
tivierten Bezirkes sich in der Unvollkommenheit des „Geld“ charakters
ihrer Noten zeigen. Die Miſsstände der nordamerikanischen Papier-
geldwirtschaft entstammten zum Teil der Meinung, die Münze sei zwar
Staatssache, die Herstellung von Papiergeld aber komme den Privat-
banken zu und der Staat habe sich nicht hineinzumischen. Man über-
sah dabei die bloſse Relativität des Unterschiedes zwischen Metall- und
Papiergeld, daſs beide, insofern sie eben Geld sind, nur in einer Sub-
stanziierung der Tauschfunktion durch gemeinsames Verhältnis der In-
teressenten zu einem objektiven Organe bestehen, und daſs das Geld
seine Funktion nur insoweit üben, d. h. nur insoweit die unmittel-
baren Werte vertreten kann, als jenes emittierende Organ wirklich den
Interessenkreis in sich vertritt oder zum Ausdruck bringt. Deshalb
suchen die Münzen lokaler Machthaber auch manchmal wenigstens den
Anschein der Zugehörigkeit zu einem umfassenden Gebilde zu gewinnen.
Noch Jahrhunderte nach dem Tode Philipps und Alexanders wurden
an den verschiedensten Plätzen Münzen mit ihren Namen und Stempeln
geprägt — formell königliche, materiell städtische Münzen. Die auf-
wärts gehende Entwicklung strebt in Wirklichkeit auf eine Vergröſse-
rung — und, was hier unmittelbar dazu gehört, auf eine Zentralisie-
rung — der Organe und Potenzen, die die Geldwerte garantieren.
Es ist für diese Richtung sehr bezeichnend, daſs die Schatzanweisungen,
die die Staaten vor dem 18. Jahrhundert ausgaben, gewöhnlich auf
einzelne Einkünfte der Krone basiert und durch sie gewährleistet
waren. Erst die englischen exchequer bills des 18. Jahrhunderts waren
Anweisungen auf sämtliche Staatseinnahmen; sie hatten also keine von
besonderen Umständen abhängige und besonders zu untersuchende
Bonität, sondern diese bestand nur noch in dem allgemeinen Zutrauen
in die Zahlungsfähigkeit des Staates überhaupt. Hierin zeigt sich die
[156] groſse zentralisierende Tendenz der Neuzeit, die ihrer gleichzeitig in-
dividualisierenden in keiner Weise widerspricht: beides sind vielmehr
die Seiten eines Prozesses, einer schärferen Differenzierung, einer
neuen Zusammenfassung der der Gesellschaft und der dem eignen
Subjekt zugewendeten Seiten der Persönlichkeit. Die Entwicklung
läutert aus dem Wesen des Geldes alle individualistisch vereinzelnden
Elemente heraus und macht die zentralisierten Kräfte des weitesten
sozialen Kreises zu seinen Trägern. Die abstrakte Vermögensform des
Geldes trägt diese Entwicklung ebenso dem Personalkredit wie dem
Staatskredit ein. Die Fürsten als Personen besaſsen noch im 15. und An-
fangs des 16. Jahrhunderts im ganzen wenig Kredit; nicht nach ihrer
eignen Kreditwürdigkeit, sondern nach dem Wert der Bürgschaften und
Pfänder wurde gefragt. Der Personalkredit beruht darauf, daſs man
annimmt: wie auch die Objekte wechseln mögen, die den Besitz des
Schuldners bilden, die Wertsumme seines Besitzes wird immer für die
bestimmte Schuld gut sein. Erst wenn das Vermögen jemandes als
Wert überhaupt, d. h. in Geld taxiert ist, kann er als Person einen
dauernden Kredit haben; sonst muſs dieser von dem wechselnden Ob-
jektbesitze abhängen. Es erscheint als ein Übergang von dieser letzteren
Stufe zu der heutigen, daſs noch im 18. Jahrhundert die meisten
Schulden auf bestimmte Summen bestimmter Münzsorten lauteten. Es
war also der Begriff des abstrakten, von jeder Spezialform gelösten
Wertes noch nicht völlig wirksam geworden — jenes Wertes, hinter
dem nicht mehr eine sachliche Bestimmtheit, sondern nur noch der
Staat oder die Einzelpersönlichkeit als Garanten stehe.


Die Hauptsache aber ist, daſs die Bedeutung des Metalls für das
Geldwesen immer mehr hinter die Sicherung seines funktionellen
Wertes durch die Organisation des Gemeinwesens zurücktritt. Denn
das Metall ist eben ursprünglich immer Privatbesitz und darum können
die öffentlichen Interessen und Kräfte nie absolut Herr darüber werden.
Man kann sagen, daſs das Geld immer mehr eine öffentliche Einrich-
tung in immer strengerem Sinne des Wortes wird: es besteht mehr
und mehr aus dem, was die öffentliche Macht, die öffentlichen Insti-
tutionen, die von der Gesamtheit getragenen Verkehrsarten und Garan-
tien daraus machen und wozu sie es legitimieren. Es ist deshalb be-
zeichnend, daſs in früheren Epochen das Geld gleichsam noch nicht
allein, auf seiner abstrakten Funktion, stehen kann; das Geldgeschäft
lehnt sich entweder an spezifische Betriebe oder an die technische
Herstellung der Münze oder an den Handel mit Edelmetallen an. So
waren es in Wien anfangs des 13. Jahrhunderts die flämischen Tuch-
färber, die regelmässige Wechselgeschäfte besorgten, wie in England
[157] und teilweise auch in Deutschland die Goldschmiede. Der Münzwechsel,
der im Mittelalter überhaupt erst den Geldverkehr trug (da in jedem
Orte prinzipiell nur in seiner Lokalmünze gezahlt werden durfte), war
ursprünglich das Privileg der Münze selbst, der „Münzer Hausgenossen“.
Erst als später die Städte die Münze erwarben, wurde das Wechsel-
geschäft und der Edelmetall-Handel von der Münze getrennt. Die Funk-
tion der Münze ist also zunächst, gleichsam durch Personalunion, an
ihren Stoff gebunden; sobald die öffentliche Gewalt für sie garantiert,
wird sie von den sonst mit ihr liierten Beziehungen unabhängig, der
Wechsel und der Handel mit ihrem Material steht jedem frei, und
zwar grade in dem Maſse, in dem ihre Funktion als Geld überindivi-
duell gesicherter wird. Die wachsende Entpersonalisierung des Geldes,
sein immer engeres Verhältnis zu dem zentralisierten gröſsten Sozial-
kreise steht in genauer und wirksamer Beziehung zu der Accentuierung
seiner Funktionen in ihrer Selbständigkeit gegenüber dem Metallwert.
Es ist die Sicherheit des Geldes, auf der sein Wert ruht und als
deren Träger die politische Zentralgewalt allmählich durch die unmittel-
bare Bedeutung des Metalls, sie verdrängend, hindurchwächst. Hier liegt
eine Analogie zu einer wenig beachteten Nüance des Wertempfindens
vor. Sobald der Wert eines Objektes darauf beruht, daſs es uns ein
anderes zugängig macht, so ist sein Wert durch die beiden Koeffi-
zienten bestimmt: den inhaltlichen Wert dessen, was es uns ver-
mittelt, und die Sicherheit, mit der ihm diese Vermittlung gelingt; die
Erniedrigung des einen Koeffizienten kann, bis zu einer gewissen
Grenze, den Gesamtwert ungeändert lassen, wenn ihr eine Erhöhung
des andern entspricht. So ist die Bedeutung einer Erkenntnis für
uns gleich dem Produkt aus ihrer Sicherheit und der Wichtigkeit ihres
Inhaltes. In den Naturwissenschaften pflegt der erstere, in den Geistes-
wissenschaften der letztere Koeffizient zu überwiegen, wodurch dann
prinzipiell eine Gleichheit ihres Gesamtwertes möglich ist; nur wenn
man, wie Aristoteles, an der Sicherheit des Wissens nicht zweifelt, kann
man seinen Wert ausschlieſslich von dem seines Objekts abhängen
lassen. So ist der Wert eines Lotterielooses ein Produkt aus der
Wahrscheinlichkeit, daſs es gezogen wird, und der Höhe des eventuellen
Gewinnes, so der Wert jedes beliebigen Handelns gleich dem Produkt
aus der Wahrscheinlichkeit, daſs es seinen Zweck erreicht und der
Wichtigkeit dieses Zwecks, so der Wert eines Rentenpapiers zusammen-
gesetzt aus der Sicherheit für das Kapital und der Höhe der Verzinsung.
Nun verhält sich das Geld zwar nicht genau ebenso, denn seiner
steigenden Sicherheit entspricht keine Wertminderung der Objekte,
deren Erlangung es sichert; aber die Analogie gilt doch so weit, daſs
[158] mit der steigenden Sicherung seiner Verwertbarkeit sein andrer Wert-
koeffizient, der innere Metallwert, unbestimmt weit sinken kann, ohne
seinen Gesamtwert zu alterieren. Andrerseits ergiebt sich unmittel-
bar als Ursache wie als Wirkung der soziologischen Stellung des Geldes,
daſs es die Beziehungen zwischen der Zentralgewalt der Gruppe und
ihren einzelnen Elementen zahlreicher, stärker und enger machen muſs,
weil eben jetzt die Beziehungen dieser Elemente untereinander gleich-
sam durch jenes hindurchgeleitet werden. So haben schon die Karo-
linger ein deutliches Bestreben, den Natural- oder Viehtausch durch
Geldwirtschaft zu verdrängen. Sie verordnen oft, die Münzen dürften
nicht zurückgewiesen werden und bestrafen ihre Nichtannahme hart.
Das Münzrecht war ausschlieſslich Königsrecht und so bedeutete das
Durchsetzen des Verkehrs in Münze die Erstreckung der königlichen
Macht dahin, wo früher rein privater, persönlicher Verkehrsmodus be-
stand. Es ist ganz in dem gleichen Sinne, wenn die römischen Gold-
und Silbermünzen seit Augustus ausschlieſslich im Namen und Auftrag
des Kaisers geprägt wurden, wogegen das Recht, Scheidemünze aus-
zugeben, einerseits dem Senat, andrerseits den Kommunalverbänden
verblieb; und es verallgemeinert diesen Zusammenhang nur, daſs groſse
Fürsten so oft auch gewaltige Münzsysteme geschaffen haben: Darius I.,
Alexander d. Gr., Augustus, Diokletian bis zu Napoleon I. Die ganze
Technik, durch die in naturalwirtschaftlichen Zeiten eine groſse soziale
Macht bestehen kann, weist sie darauf hin, sich selbst zu genügen,
sich — wie es z. B. von den Groſsgrundherrschaften seit den Mero-
vingern gilt — zum Staat im Staate zu machen; wogegen entsprechende
Machtgebilde in der Geldwirtschaft grade im Anschluſs an die Staats-
organisation erwachsen sind und sich erhalten haben. Der moderne
zentralistische Staat wurde deshalb auch an dem ungeheuren Auf-
schwung der Geldwirtschaft groſs, den die beginnende Neuzeit aus der
Erschlieſsung der amerikanischen Metallvorräte gewann. Die Selbst-
genügsamkeit feudaler Verhältnisse wurde zerstört, indem sich in jede
Transaktion die auf die Zentralgewalt hinweisende, die Beziehungen
der Kontrahenten über sich hinausweisende Münze schob: so daſs man
diese Macht des Geldes, die Einzelnen mehr an die Krone zu drängen,
enger an sie zu binden, als den tieferen Sinn des Merkantilsystems
angesprochen hat. Andrerseits gilt die Thatsache, daſs die deutschen
Kaiser sich dieses Zentralisierungsmittel von den Territorialherren ent-
reiſsen lieſsen, als einer der wesentlichen Gründe für die Zersplitte-
rung des Reiches — während die französischen und englischen Könige
des 13. und 14. Jahrhunderts die Einheit ihrer Reiche mit Hülfe
der geldwirtschaftlichen Bewegung gründeten. Als das russische
[159] Reich im Ganzen schon als ein unteilbares galt, stattete Iwan III.
doch seine jüngeren Söhne noch mit Landesteilen aus, in denen
sie souverän schalten konnten und für die er der Zentralgewalt
auſser der höheren Gerichtsbarkeit nur das Münzrecht vorbehielt.
Ja, die lockere Sphäre, die, aus den Handelsbeziehungen eines Landes
bestehend, es jenseits seiner politischen Grenzen umgiebt, gewinnt
auſserordentlich an Ausdehnung und Konsistenz, sobald das Landes-
geld durch seine Solidität allenthalben gültig wird und so alle Punkte
dieses Kreises mit dem Ursprungsland verbindet und immer wieder
auf dasselbe zurückweist. So verlieh der Kurs des englischen Sove-
reigns in Portugal und Brasilien dem englischen Handel ein groſses
Prestige und hielt die in diese Länder ausstrahlenden Handelsbeziehungen
einheitlich zusammen. In Deutschland war der Gang der, daſs bald
nach der Karolingerzeit der König einzelnen Personen und Stiften das
Prägerecht verlieh, wobei er indes noch selbst Schrot, Korn und Form
der Münzen bestimmte. Aber schon vor dem 12. Jahrhundert dürfen
die so Beliehenen Münzfuſs und Stempel beliebig festsetzen und also
so viel Profit, wie sie wollen, dabei herausschlagen. So geht die
Lösung des Münzwesens von der Zentralgewalt und die Verschlechte-
rung der Münze Hand in Hand: d. h. das Geld ist um so weniger
wirklich Geld, je weniger der gröſste soziologische Kreis bezw. dessen
Zentralorgan es garantiert. Die Rückläufigkeit dieses Zusammenhanges
bestätigt ihn nur: die Verelendung des Geldes wirkte ihrerseits auf
die Auflösung und den Auseinanderfall des gröſsten Kreises, auf dessen
Einheit es angewiesen gewesen wäre. Ja sogar eine rein formale und
symbolische Beziehung mag in diesen Erscheinungen irgendwie mit-
gewirkt haben. Zu den wesentlichen Charakterzügen von Gold und
Silber gehört ihre relative Unzerstörbarkeit, in deren Konsequenz ihr
Gesamtquantum lange Perioden hindurch fast stetig bleibt, weil jedes
durch Schürfung hinzukommende Quantum im Verhältnis zu dem be-
reits vorhandenen nur minimal ist. Während die Mehrzahl aller an-
deren Objekte verbraucht wird, in ewigem Flusse verschwindet und
sich wieder ersetzt, bleibt das Geld in seiner fast unbegrenzten Dauer-
haftigkeit von diesem Wechsel der individuellen Dinge unberührt.
Damit aber erhebt es sich über diese, wie die objektive Gruppenein-
heit über die Fluktuation der Persönlichkeiten. Denn das eben ist
ja die charakteristische Lebensform jener konkret gewordenen Ab-
straktionen der Gruppenfunktionen, daſs sie jenseits der einzelnen
Verwirklichungen dieser stehen, ruhende Gebilde in der Flucht der
individuellen vorüberflieſsenden Erscheinungen, die gleichsam in sie
aufgenommen, von ihnen geformt und wieder entlassen werden: das
[160] ist die Unsterblichkeit des Königs, die jenseits seiner zufälligen Per-
sönlichkeit, seiner einzelnen Maſsregeln, der wechselnden Schicksale
seiner Gruppe steht und für die die relative Ewigkeit der Münze, die
sein Bild trägt, sowohl als Symbol wie als Beweis wirkt. Die Ge-
schäfte mit Fürsten waren es, die im 16. Jahrhundert überhaupt erst
das reine Geldgeschäft groſsen Stiles schufen; der Verkehr mit dem
Fürsten, den es bewirkte, lieſs den bis dahin damit verbundenen Waren-
handel als etwas Plebejisches erscheinen, über das sich der Geldkauf-
mann in einer Analogie zu königlicher Würde erhob. So mag auch
der Haſs der Sozialisten gegen das Geldwesen nicht nur der diesem
zugeschriebenen privatwirtschaftlichen Übermacht des Kapitalisten über
den Arbeiter gelten, sondern auch ihren antimonarchischen Instinkten
entspringen; denn so wenig die Objektivierung der Gruppengesamtheit,
deren das Geld bedarf, in monarchischer Form geschehen muſs, so hat
doch in der neueren Geschichte grade diese Form aufs kräftigste der
Einschiebung der Zentralgewalt in die wirtschaftlichen Funktionen der
Gruppe gedient. Auch die festen Residenzen der Fürsten, die die
Zentralisation so sehr fördern, sind erst bei Geldsteuern möglich; den
nicht transportabeln Naturalsteuern entspricht das Herumziehen des
Hofes, der sie überall in natura verzehrt. Es ist durchaus in diesem
Sinn, wenn moderne Steuerpolitik vielfach dahin strebt, den Kommunen
die Realsteuern zu überlassen, den Staat aber auf Einkommensteuer
zu stellen. Indem die Steuerforderung der Zentralgewalt sich auf das
reine Geldeinkommen der Einzelnen richtet, erfaſst sie grade das-
jenige Besitzobjekt, zu dem sie von vornherein das engste Verhältnis
hat. Die Ausbildung des Beamtenwesens mit seiner engen Beziehung
zum Geldwesen ist insofern nur ein Symptom dieser zentralistischen
Entwicklung; das Beamtentum des Lehenswesens ist ein dezentrali-
siertes, der räumlich ferne Landbesitz des Belehnten führt sein In-
teresse von der Zentralstelle ab, während die immer von neuem er-
folgende Geldentlohnung ihn zu dieser hinführt, seine Abhängigkeit
von dieser immer von neuem eindringlich macht. Deshalb war die
Pforte bei ihrer ständigen Münzverschlechterung doch Anfang des
Jahrhunderts einmal genötigt, für ihre Beamten und Offiziere doppelt
schwere Münzen schlagen zu lassen, weil es grade den eigentlichen
Staatsfunktionären gegenüber eines wirklich gültigen Geldes bedurfte.
Darum war die ungeheure Vermehrung und Verfeinerung des Be-
amtentums erst bei der Geldwirtschaft möglich; sie ist aber nichts als
eines der Symptome der Beziehung, die zwischen dem Geld und der
Objektivierung des Gruppenzusammenhanges zu einem besonderen zen-
tralen Gebilde besteht. Bei den Griechen wurde diese ursprünglich
[161] nicht von einer staatlichen, sondern von der religiösen Einheit getragen.
Alles hellenische Geld war einmal sakral, ebenso von der Priesterschaft
ausgegangen, wie die andern allgemein gültigen Maſsbegriffe: Gewichte,
Umfangsmaſse, Zeiteinteilungen. Und diese Priesterschaft repräsentierte
zugleich die Verbandseinheit der Landschaften, die ältesten Verbände
ruhten durchaus auf religiöser Grundlage, die manchmal für relativ weite
Gebiete die einzige blieb. Die Heiligtümer hatten eine überpartikula-
ristische, zentralisierende Bedeutung, und diese war es, die das Geld,
das Symbol der gemeinsamen Gottheit auf sich tragend, zum Ausdruck
brachte. Die religiös-soziale Einheit, die im Tempel kristallisiert war,
wurde in dem Gelde, das er ausgab, gleichsam wieder flüssig und gab
diesem ein Fundament und eine Funktion, weit über die Metallbedeu-
tung des individuellen Stückes hinaus. Von diesen soziologischen Kon-
stellationen getragen und sie tragend, realisiert sich die steigende Be-
deutung der Geldfunktionen auf Kosten der Geldsubstanz. Einige
Beispiele und Überlegungen mögen diesen Prozeſs verdeutlichen, und
zwar knüpfe ich dieselben, unter den vielen, seinen Inhalt bildenden
Diensten des Geldes, an die folgenden: an die Erleichterung des Ver-
kehrs, an die Beständigkeit des Wertmaſsstabes, an die Mobilisierung
der Werte und die Beschleunigung ihrer Zirkulation, an ihre Konden-
sierung und möglichst kompendiöse Form.


Einleitenderweise möchte ich hervorheben, daſs grade die oben
erwähnten, von den Fürsten begangenen Münzverschlechterungen durch
die ungeheure Übervorteilung der Massen den Funktionswert des Geldes
seinem Metallwert gegenüber aufs schärfste beleuchten. Was die Unter-
thanen bewog, die verschlechterte Münze zu acceptieren und für sie
die an Metall bessere hinzugeben, war doch eben, daſs jene den Ver-
kehrszweck des Geldes erfüllte. Was die Münzherren herausschlugen,
war das ungebührlich gesteigerte Äquivalent für den Funktionswert
des Geldes, um dessentwillen die Unterthanen in den Münztausch
d. h. in die Aufopferung seines Metallwertes willigen muſsten. Allein
dies ist nur das ganz allgemeine Phänomen, als dessen spezifische Zu-
spitzung es erscheint, daſs das Geld, das durch seine Form dem Ver-
kehr im allgemeinen besser dient, als ein anderes, nicht nur bei
gleichem Substanzgehalt diesem überlegen ist; sondern es kann da-
durch seine eigene Substanzbedeutung so weit wie in dem folgenden
Fall überflügeln. Als im Jahre 1621 durch die niederdeutsche Münz-
verschlechterung der Wert des Reichsthalers auf 48—54 Schillinge ge-
stiegen war, erlieſsen die Obrigkeiten von Holstein, Pommern, Lübeck,
Hamburg und anderen, ein gemeinsames Münzedikt, wonach der Thaler
von einem gewissen Zeitpunkt an nur 40 Schillinge gelten sollte. Ob-
Simmel, Philosophie des Geldes. 11
[162] gleich dies allgemein als richtig und heilsam beurteilt und acceptiert
wurde, galt der Thaler doch weiterhin wegen der leichteren Ver-
teilung und Rechnung
noch lange 48 Schillinge. Es ist auf einer
viel höheren und komplizierten Stufe dasselbe, wenn die Börsen jetzt
bei Rentenpapieren, die in gröſseren und kleineren Abschnitten aus-
gegeben sind, die letzteren etwas höher zu notieren pflegen, als die
ersteren, weil jene mehr gesucht sind und dem kleineren Ver-
kehr besser dienen — obgleich der Wert pro rata der genau gleiche
ist. Ja im Jahre 1749 erklärte ein Komitee für Münzzwecke in den
amerikanischen Kolonien: in Ländern mit unausgebildeter Wirtschaft,
die mehr konsumieren als produzieren, müsse das Geld immer schlechter
sein als das ihrer reicheren Nachbarn, weil es sonst unvermeidlich
diesen zuflösse. Dieser Fall ist also die Steigerung und Aufgipfelung
der spezifischen Thatsache des vorhererwähnten, in dem die Eignung
einer bestimmten Geldform zu Berechnungen und Ausgleichungen dieser
Form einen Wert verschafft, der absichtlich weit über den sachlich
gültigen gehoben wird. Die funktionelle Zweckmäſsigkeit des Geldes
ist hier über seinen Substanzwert bis zur Umkehrung seiner Bedeutung
hinausgewachsen. Hierhin gehören, als Beweise für die Überwucherung
des Metallwertes durch den Funktionswert, alle die Fälle, in denen
das völlig minderwertige Kleingeld dem Edelmetall gegenüber einen
manchmal unglaublichen Preis behauptet hat. Das kommt z. B. in
Goldgräberdistrikten vor, wo die gewonnenen Reichtümer einen leb-
haften Verkehr erzeugen, ohne daſs man in ihnen doch das Tausch-
mittel für die kleineren Bedürfnisse des Tages hätte. So war unter
den Goldgräbern in Brasilien am Ende des 17. Jahrhunderts eine Not
um kleine Münze ausgebrochen, die der König von Portugal benutzte,
um Silbergeld gegen ein ungeheures Agio in Gold hinüberzuschaffen.
Später ist es auch in Kalifornien wie in Australien vorgekommen, daſs
die Goldgräber, um nur Kleingeld zu haben, seinen 2 bis 16 fachen
Metallwert dafür in Gold bezahlt haben. Die ärgsten Erscheinungen
dieser Art bietet der jetzige — ganz neuerdings, wie man sagt, in
der Reform begriffene — Münzzustand in der Türkei. Dort existiert
weder Nickel- noch Kupfergeld, sondern als Kleingeld nur jammer-
volle Silberlegierungen: Altiliks, Beschliks und Metalliques, die alle in
einer für den Verkehr völlig unzureichenden Masse vorhanden sind.
Die Folge davon ist, daſs diese Münzen, deren nominellen Wert die
Regierung selbst 1880 um ungefähr die Hälfte herabsetzte, diesen fast
unverändert behalten haben und gegen Gold gar kein nennenswertes
Disagio machen, ja die Metalliques, die für das schlechteste in der
ganzen Welt kursierende Geldzeichen gehalten werden, stehen zeit-
[163] weise über pari gegen Gold! Grade dies ist äuſserst bezeichnend:
die geringste Münze ist eben für den Verkehr die wichtigste und wird
ausschlieſslich nach dieser Wichtigkeit gewertet — weshalb denn auch
allenthalben die kleinen Münzen die ersten Objekte der Münz-
verschlechterung sind. Der Preis der Metalliques enthält das Para-
doxon, daſs ein Geld um so wertvoller sein kann, je wertloser es ist —
weil grade seine substanzielle Wertlosigkeit es zu gewissen funktio-
nellen Diensten geschickt macht, die seinen Wert nun fast unbegrenzt
heben können.


Das gesteigerte Bewuſstsein und die gesteigerte Thatsächlichkeit
der Funktionsbedeutung des Geldes ermöglichte auch den Einwand
gegen die Silberwährung: was man vom Geld fordere, sei zuerst und
unbedingt Bequemlichkeit und Handlichkeit. Man könne zwar ein
Nahrungsmittel beibehalten, wenn sein Gebrauch auch viele Unbequem-
lichkeiten mit sich bringt, sobald es nur nahrhaft und wohlschmeckend
sei, auch ein unbequemes Kleidungsstück, weil es schön oder warm
ist. Aber ein unbequemes Geld sei wie ein ungenieſsbares Nahrungs-
mittel oder ein untragbares Kleidungsstück. Denn der oberste Zweck
des Geldes sei die Bequemlichkeit des Güteraustausches. Der Unter-
schied gegen die hier verglichenen Güter beruht eben darauf, daſs das
Geld weniger Nebenqualitäten neben seiner Hauptqualität hat und
haben darf, als andere Güter. Da es das absolute Abstraktum über
allen konkreten Gütern ist, so wird es von jeder Qualität, die auſser-
halb seiner reinen Bestimmung liegt, ungebührlich belastet und ab-
gelenkt.


Daſs die Steigerung oder Herabsetzung einer Funktion des Geldes
seinen Wert unabhängig von seinem Substanzwert erhöhen oder er-
niedrigen könne — gilt selbst für denjenigen Schätzungsgrund seiner,
der besonders eng mit seinem Substanzwert verbunden scheint: für
seine Wertbeständigkeit. Die römischen Kaiser besaſsen, wie schon
erwähnt, das ausschlieſsliche Recht der Gold- und Silberprägung,
während die Kupfermünzen, d. h. das Kreditgeld, vom Senat und im
Orient von den Städten geschlagen wurden. Das bildete von vorn-
herein eine gewisse Garantie dagegen, daſs der Kaiser das Land mit
substanzwertloser Scheidemünze überschwemmte. Der Erfolg war
schlieſslich nur der, daſs die Kaiser sich an die ihnen freistehende
Verschlechterung des Silbers hielten, von der dann auch der bodenlose
Verfall des römischen Münzwesens ausging. Daraus entstand nun eine
merkwürdige Umkehrung der Wertverhältnisse: das Silber sank durch
seine Verschlechterung zur Kreditmünze herab, während das Kupfer
dadurch, daſs es sich ziemlich unverändert behauptet hatte, wieder in
11*
[164] höherem Maſse den Charakter der Wertmünze erhielt. Die Eigen-
schaft der Wertbeständigkeit also ist hier imstande, durch ihre rela-
tive Höhe oder Erniedrigung die bisherigen Charaktere der Metallsub-
stanzen als Geldwertträger völlig umzukehren. In diesem Sinne des
Hinausragens des Stabilitätswertes über den Substanzwert hat man jetzt
hervorgehoben, daſs der Übergang eines Notenlandes zur Goldwährung
keineswegs die Wiederaufnahme der Barzahlungen mit sich bringen
müſste. In einem Lande wie Österreich etwa, dessen Noten kein
Disagio gegen Silber mehr machen, wäre schon durch den Übergang
zur bloſsen Goldrechnung der entscheidende Vorteil der Goldwährung,
nämlich die Stabilisierung des Geldwertes, gewonnen: die Funktion
der Substanz, auf die es ankommt, wäre so ganz ohne die Substanz
selbst erreichbar. Und neuerdings hat das Interesse an der Beständig-
keit des Geldwertes sogar zu der Forderung geführt, die metallische
Deckung der Noten überhaupt abzuschaffen. Denn sobald diese be-
stände, wäre für die verschiedenen Länder eine Gemeinsamkeit des
Systems geschaffen, die den inneren Verkehr eines jeden all den
Schwankungen in den politischen und wirtschaftlichen Schicksalen der
anderen unterwirft! Ein ungedecktes Papiergeld biete durch seine
Exportunfähigkeit nicht nur den Vorteil, überhaupt im Lande zu bleiben
und für alle Unternehmungen daselbst bereit zu sein, sondern vor allem
eine vollständige Wertbeständigkeit. So angreifbar diese Theorie ist,
so zeigt ihre bloſse Möglichkeit doch jene psychologische Lösung des
Geldbegriffes von dem Substanzbegriff und seine wachsende Erfüllung
durch die Vorstellung seiner funktionellen Dienste. Übrigens unter-
liegen alle derartigen Funktionen des Geldes ersichtlich den Be-
dingungen, unter denen seine allgemeine Auflösung in Funktionen
steht: daſs sie in jedem gegebenen Augenblick nur unvollkommen
gelten und ihre Begriffe ein im Unendlichen liegendes Entwicklungs-
ziel bezeichnen. Schon dadurch, daſs die Werte, die es messen und
deren gegenseitiges Verhältnis es ausdrücken soll, etwas bloſs Psycho-
logisches sind, wird ihm die Beständigkeit der Raum- oder Gewichts-
maſse versagt.


Indes rechnet die Praxis mit dieser Wertbeständigkeit als mit
einer Thatsache angesichts der Frage, wie man sich bei der Wieder-
erstattung eines Gelddarlehns zu verhalten habe, wenn inzwischen der
Wert des Geldes sich geändert hat. Geschieht das etwa durch Sinken
des Geldwertes überhaupt, so daſs die gleiche Summe bei der Rück-
gabe weniger wert ist, so wird dies von den Gesetzen nicht in Betracht
gezogen; die identische Geldsumme gilt ohne weiteres als der iden-
tische Wert. Wo die Münze sich selbst verschlechtert, sei es durch
[165] Legierung, sei es durch Änderung des Münzfuſses, entscheiden die Ge-
setze bald so, daſs die, nach dem neuen Münzfuſs, entsprechende Summe,
bald das gleiche Quantum Feingehalt, bald rein mechanisch der Nenn-
wert der Schuld zu erstatten sei. Im ganzen also überwiegt die Vor-
stellung, daſs das Geld seinen Wert unverändert behalte. Nun ist
diese Stabilität zwar auch an Naturalgegenständen, bei deren Ausleihe
sie niemand bezweifelt, eine Fiktion: ein Zentner Kartoffeln, den man
sich im Frühjahr leiht, um ihn später in natura wiederzugeben, kann
dann viel mehr oder viel weniger wert sein. Allein hier kann man
sich auf die unmittelbare Bedeutung des Gegenstandes zurückziehen:
während der Tauschwert der Kartoffeln schwanken mag, bleibt ihr
Sättigungs- und Nährwert genau der gleiche. Da nun aber das Geld
keinen derartigen, sondern ausschlieſslich Tauschwert hat, so ist die
Voraussetzung seiner Stabilität eine um so auffallendere. Die Ent-
wicklung wird zweckmäſsigerweise dahin streben, diese praktisch not-
wendige Fiktion mehr und mehr zu bewahrheiten. Schon vom Edel-
metallgeld hat man hervorgehoben, daſs seine Beziehung zum Schmuck
seiner Wertstabilität diene: denn da das Schmuckbedürfnis sehr elastisch
sei, so nehme es bei Vermehrung des Metallvorrates sogleich ein
gröſseres Quantum desselben auf und verhindere dadurch einen zu
starken Druck auf seinen Wert, während bei steigendem Bedürfnis
nach Geld die Schmuckvorräte als Reservoir dienen, aus dem das er-
forderliche Quantum zu entnehmen und die Preiserhöhung zu begrenzen
sei. In der Fortsetzung dieser Tendenz aber scheint das Ziel zu liegen,
die Geldsubstanz überhaupt auszuschalten. Denn selbst eine so ge-
eignete wie das Edelmetall kann nicht ganz den Schwankungen ent-
zogen werden, die aus seinen eigenen Bedingungen des Bedarfs, der
Produktion, der Verarbeitung etc. hervorgehen und die bis zu einem ge-
wissen Grade mit seinem Dienste als Tauschmittel und Ausdruck der
relativen Warenwerte nichts zu thun haben. Die vollständige Sta-
bilität des Geldes wäre erst erreichbar, wenn es überhaupt nichts mehr
für sich wäre, sondern nur der reine Ausdruck des Wertverhältnisses
zwischen den konkreten Gütern. Damit wäre es in eine Ruhelage ge-
kommen, die sich durch die Schwankungen der Güter so wenig ver-
ändert, wie der Meterstab durch die Verschiedenheit der realen Gröſsen,
die er miſst. Dann wäre auch der Wert, der ihm durch das Leisten
dieses Dienstes zukäme, auf ein Maximum von Stabilität gelangt, weil
so das Verhältnis von Angebot und Nachfrage sich viel genauer regu-
lieren lieſse als bei seiner Abhängigkeit von einer Substanz, deren
Quantum unserem Willen nur unvollkommen unterliegt. Damit ist
freilich nicht geleugnet, daſs unter bestimmten historischen und psy-
[166] chologischen Umständen die Bindung an das Metall dem Gelde noch
eine gröſsere Stabilität garantieren könnte, als die Lösung von ihm
— wie ich es oben selbst behauptet habe. So mag — um an die
dort gegebenen Analogien anzuknüpfen — die tiefste und sublimste
Liebe diejenige sein, die nur zwischen Seelen, unter völliger Ausschal-
tung jedes Erdenrestes, besteht — allein so lange diese nicht erreich-
bar ist, wird sich ein Maximum von Liebesempfindung grade da zeigen,
wo die rein seelische Beziehung einen Zusatz und Vermittlung durch
sinnliche Nähe und Anziehung erhält; so mag das Paradies das Wunder-
versprechen seiner Seligkeit darin erfüllen, daſs das Bewuſstsein der-
selben keines Sichabhebens von entgegengesetzten Empfindungen be-
darf — so lange wir aber Menschen sind, können allein sonst vor-
handene leidvolle, indifferente oder herabgesetzte Gefühlszustände uns
ein positives Glück, als Unterschiedsempfindung, eintragen. Wenn
also auch in einer idealen Sozialverfassung ein ganz substanzloses
Geld das absolut zweckmäſsige Tauschmittel ist, so kann doch bis da-
hin seine relativ höchste Zweckmäſsigkeit grade von seiner Bindung
an eine Substanz bedingt sein. Dieser letztere Umstand bedeutet also
keine Ablenkung des unendlichen Weges, der zur Auflösung des Geldes
in einen bloſs symbolischen Träger seiner reinen Funktion führt.


Der Primat des Funktionswertes vor dem Substanzwert des Geldes
bietet auch eine Formulierung für einen sehr merkwürdigen Vorgang
aus den amerikanischen und englischen Papiergeldperioden. Es stellte
sich nämlich damals heraus, daſs die Preise der Waren viel mehr und
rascher stiegen als das Goldagio. Das letztere scheint also gar nicht
das Maſs anzugeben, in dem das Papier entwertet ist. Als Grund da-
für hören wir: sobald Papiergeld auftrete, würde die Nachfrage nach
Gold geringer und das senke seinen Preis. Allein dies kann doch
höchstens für den Anfang einer solchen Periode gelten und muſs auf-
hören, sobald das billiger gewordene Gold in das Ausland geflossen ist.
Mir scheint vielmehr der Zusammenhang der: da das Wesentliche am
Geld sein Tauschdienst ist, so ist der Nominalwert, mit dem er ihn
vollzieht, etwas Sekundäres. Das Verhältnis seines Nominals zu dem
Güterwert ist also relativ verschiebbar. Sobald sein Wert aber gegen
irgend ein anderes Geld gemessen wird, das doch auch nur Funktions-
dienste leisten kann, so zeigt sich sogleich die Wesensgleichheit mit
diesem. Da Geld eben Geld bleibt, so lange es diese Dienste leistet
und sie selbst bei sehr verschiedenen inneren Beschaffenheiten an-
nähernd gleich leisten kann, so ergiebt es eine geringere Reibung und
ist der zweckmäſsigere Ausdruck der sachlichen Beziehung, wenn
die Warenpreise erheblich höher beziffert werden, als daſs die Geld-
[167] sorten gegen einander erheblich verschoben werden. Dies ist natürlich
ein Verhältnis, das von sehr vielen anders gerichteten Kräften und
Erwägungen überdeckt werden kann, so daſs die Erscheinungen auch
umgekehrt verlaufen können; was aber nicht beweist, daſs es sie da,
wo Gegeninstanzen fehlen, nicht beherrsche. Und selbst, wo solche
bestehen, möchte es irgendwie wirksam sein; denn auch bei sehr — gegen
Gold — entwertetem Papier scheint die Kaufkraft desselben den
Waren gegenüber noch schneller zu sinken als dem Golde gegenüber. —
Ein anderes Stadium des Scheidungsprozesses zwischen dem Funktions-
und dem inneren Wert des Geldes zeigen die Fälle, wo für die Schätzung
der Werte als Maſsstab ein Geld angewandt wird, in dem die that-
sächlichen Zahlungen gar nicht erfolgen. Den Tauschdienst, von dem
ich eben sprach, kann das Geld nicht leisten, ohne zugleich Maſsdienste
zu leisten; wohl aber zeigen sich die letzteren in gewisser Hinsicht von
jenem unabhängig. Im alten Ägypten wurden die Preise nach dem Uten,
einem Stück gewundenen Kupferdrahts, bestimmt, während die Zahlungen
in den verschiedensten Bedarfsartikeln erfolgten. Im Mittelalter wird
vielfach der Geldpreis festgesetzt, während der Käufer ihn zahlen darf,
in quo potuerit. An vielen Stellen Afrikas wird heute der Güter-
austausch nach einer, manchmal recht komplizierten, Geld-Valuta voll-
zogen, aber das Geld selbst ist meistens nicht vorhanden. Die Geschäfte
der auſserordentlich wichtigen Genueser Wechselmessen des 16. Jahrhun-
derts wurden nach der Werteinheit des Markenskudo (scudo de’ marchi)
abgewickelt. Diese war in keiner existierenden Münze ausgedrückt,
war vielmehr rein imaginär: 100 Skudi galten soviel wie 99 der besten
Goldskudi. Alle Verpflichtungen waren auf Markenskudi gestellt, wo-
durch die Meſswährung, eben wegen ihrer Idealität, eine vollkommen
feste, aller Schwankung und Zerfahrenheit der Prägungen entzogene
war. Auch die indische Kompagnie hat, um der Verschlechterung, dem
Verschleiſs und der Fälschung der indischen Münze zu begegnen, den
rupee current eingeführt: eine überhaupt nicht geprägte Münze, die
einem gewissen Quantum Silber entsprach und nur den Maſsstab
bildete, an dem der Wert der wirklichen, deteriorierten Münzen fest-
gestellt wurde. Diese gewannen nun durch ein solches festes ideelles
Maſs auch für sich einen festen relativen Wert. Damit war fast schon
der Zustand erreicht, den ein Theoretiker von Anfang des 19. Jahr-
hunderts vor Augen hat. Indem er alles gemünzte, oder in anderer
Form den Verkehr vermittelnde Geld für eine Anweisung auf tausch-
bare Güter erklärt, kommt er schlieſslich zu einer Negation aller
Realität des Geldes: er stellt dem Gelde im eigentlichen Sinne die
Münze gegenüber und erklärt nur die letztere für jene „Anweisung“,
[168] die nur nach dem Geld berechnet wäre, während das Geld selbst
nur der ideale Maſsstab für alle Vermögenswerte wäre. Hier ist
also das Prinzip des Markenskudo zu einer allgemeinen Theorie ge-
worden, das Geld ist so sehr zu einer reinen Form und Verhältnis-
begriff idealisiert, daſs es überhaupt mit keiner greifbaren Wirklich-
keit mehr identisch ist, sondern zu dieser sich nur noch verhält, wie
das abstrakte Gesetz zu einem empirischen Fall. In den oben an-
geführten Vorkommnissen hat die Funktion des Wertmessers sich von
dem substanziellen Träger gelöst: die Rechenmünze tritt wie in einen
absichtlichen Gegensatz zu der Metallmünze, um ihre Stellung jenseits
dieser festzulegen. In der hier fraglichen Beziehung thut das ideale
Geld dieselben Dienste wie das gute Geld, denn auch dieses ist hier
eben gutes nur wegen seiner Funktion: der Sicherheit der Wert-
abmessungen
, die sich mit Hülfe seiner vollziehen.


Dies führt nun weiter auf die Vertretung des Geldwertes durch
Äquivalente, insoweit diese die Mobilisierung der Werte als einen
der wesentlichen Dienste des Geldes hervortreten lassen. Je mehr
die Bedeutung des Geldes als Tauschmittel, Wertmaſs, Aufbewahrungs-
mittel etc. aus ihrer ursprünglichen Geringfügigkeit zum Übergewicht
über seinen sogenannten Substanzwert aufwächst, desto mehr Geld
kann auch in anderer als grade in Metallform in der Welt zirkulieren.
Und dieselbe Entwicklung, die von der eingeschränkten Starrheit und
substanziellen Festgelegtheit des Geldes zu diesen Vertretungen führt,
macht sich auch weiterhin innerhalb dieser selbst geltend. So etwa in
der Entwicklung von dem von Person zu Person lautenden Schuld-
schein zu dem Inhaberpapier. Die Stufen dieser Entwicklung sind
noch zu verfolgen. Die Klausel des Schuldanerkenntnisses, daſs der
Inhaber desselben und nicht nur der eigentliche Ausleiher zur Ein-
ziehung berechtigt sei, kommt zwar schon im Mittelalter vor; aber
nicht um seinen Wert zu übertragen, sondern um die Einziehung durch
einen Vertreter des Gläubigers zu erleichtern. Diese bloſs formale
Mobilisierung des Papiers wurde eine mehr thatsächliche in dem fran-
zösischen billet en blanc, das an der Lyoner Börse kursierte. Dasselbe
wies seiner Fassung nach noch auf einen individuellen Schuldner an,
dessen Name freilich nicht ausgefüllt war; wurde ein solcher indes
an die leere Stelle eingefügt, so war nun der Gläubiger individuell
bestimmt. Der eigentliche Handelsverkehr mit reinen Inhaberpapieren
begann im 16. Jahrhundert in Antwerpen; wir wissen, daſs anfänglich
denselben, wenn sie ohne besondere Zession in Zahlung gegeben waren,
oft die Einlösung am Verfallstage verweigert wurde, so daſs eine kaiser-
liche Verordnung ihre prinzipielle Gültigkeit feststellen muſste. Hier
[169] haben wir eine sehr deutliche Stufenfolge. Der fragliche Wert ist
durch den individuell bestimmten Schuldschein sozusagen zwischen
Gläubiger und Schuldner festgeklemmt; er gewinnt seine erste Beweg-
lichkeit, indem er wenigstens von einem Anderen eingezogen werden
kann, wenngleich für Rechnung des ursprünglichen Gläubigers; dies
erweitert sich, indem das Blankopapier die personale Bestimmtheit
des Gläubigers zwar nicht aufhebt, aber doch beliebig hinausschiebt,
bis schlieſslich in dem reinen Inhaberpapier, das wie eine Münze von
Hand zu Hand gehen kann, der Wert völlig mobilisiert ist. Dies er-
scheint als der Revers oder die gleichsam subjektive Wendung der
oben an den staatlichen Schatzassignationen beobachteten Entwicklung.
Indem dieselben statt auf einzelne bestimmte Kroneinkünfte schlieſslich
auf die Staatseinkünfte überhaupt lauteten, verloren sie nach der Seite
des Schuldners hin ihre individuelle Fixiertheit, gingen aus ihrer sub-
stanziellen Eingeschränktheit in die Bewegungen der allgemeinen Staats-
wirtschaft über und wurden, schon weil die Prüfung ihrer besonderen
Qualität jetzt wegfiel, unendlich viel beweglichere Träger des Wertes,
den sie darstellten.


Die Mobilisierung der Werte ist eine der Bedingungen oder
Seiten der allgemeinen Zirkulationsbeschleunigung derselben, an der
sich nun auch unmittelbar das Verhältnis von Substanz und Funktion
des Geldes entwickelt. Gegenüber einer einseitigen Auffassung des
Verhältnisses zwischen Geld und Geldsurrogaten hat man hervorgehoben,
daſs diese letzteren — Checks, Wechsel, Warrants, Giro — das Geld
nicht verdrängen, sondern nur zu schnellerer Umsetzung veranlassen.
Diese Funktionen grade der Vertretungen des Geldes zeigt sich recht
daran, daſs die Noten von ihren groſsen und also schwerer beweglichen
Werten zu immer geringeren herabsteigen: bis 1759 gab die eng-
lische Bank keine kleineren Noten aus als zu 20 Pfund, die Bank von
Frankreich bis 1848 nur solche von 500 frcs. Indem jene Surrogate
an die Stelle der Barzahlung treten, ersparen sie es dem Einzelnen
zwar, einen gröſseren Geldbestand in seiner Kasse zu halten; allein
der Vorteil davon liegt doch nur darin, daſs das so frei werdende
Geld anderwärts bezw. bei der Checkbank arbeiten kann. Was er-
spart wird, ist also nicht eigentlich das Geld, sondern nur sein passives
Daliegen als Kassenbestand. So ist auch sonst zu beobachten, daſs
Kredit- und Bargeld sich keineswegs nur einfach gegenseitig ersetzen,
sondern daſs eines das andere grade in lebhaftere Bewegung bringt.
Wenn das meiste bare Geld am Markte ist, steigt auch oft die
Kreditwirtschaft ins Taumelhafte und bis zu pathologischen Erschei-
nungen: so im 16. Jahrhundert, das an die groſsen Metallimporte die
[170] gröſsten und unsolidesten Kredite knüpfte, bis zu dem Gründungsfieber
der 5-Milliardenzeit in Deutschland. Daſs so Geld und Kredit ihre
Bedeutung gegenseitig steigern, bedeutet nur ihr Berufensein zu dem-
selben funktionellen Dienst; so daſs, wenn er an der Entwicklung des
einen stärker hervortritt, auch das andere zu der gleichen Lebhaftig-
keit der Bewegung veranlaſst wird. Dies widerspricht also gar nicht
der anderen Relation zwischen ihnen, wonach der Kredit das bare
Geld überflüssig macht: so hören wir, daſs in England schon 1838
trotz der ungeheuer gestiegenen Produktion weniger bares Geld vor-
handen gewesen sei als 50 Jahre früher, ja in Frankreich weniger als
vor der Revolution. Zwischen zwei Erscheinungen, die demselben
Grundmotiv entsprieſsen, ist dieses Doppelverhältnis: sich einerseits
gegenseitig zu steigern, sich andrerseits zu verdrängen und zu er-
setzen — durchaus begreiflich und keineswegs selten. Ich erinnere
daran, wie das Fundamentalgefühl der Liebe sich sinnlich und geistig
äuſsern kann und zwar derart, daſs diese Erscheinungsweisen sich
gegenseitig stärken, aber auch so, daſs eine von ihnen die andere aus-
zuschlieſsen strebt, und daſs oft grade ein Wechselspiel zwischen diesen
beiden Möglichkeiten das Grundgefühl am tiefsten und lebendigsten
verwirklicht; ich erinnere daran, wie die verschiedenen Bethätigungen
des Erkenntnistriebes, sowohl wenn sie sich gegenseitig hervorrufen, wie
wenn sie sich gegenseitig verdrängen, gleichmäſsig die Einheit des
grundlegenden Interesses bekunden; endlich, die politischen Energien
in einer Gruppe verdichten sich je nach Naturell und Milieu der
Einzelnen zu divergenten Parteien, aber sie zeigen ihr Kraftmaſs
ebenso in der Leidenschaft des Kampfes zwischen diesen, wie darin,
daſs das Interesse des Ganzen sie gelegentlich zu gemeinsamer Aktion
zu vereinheitlichen im stande ist. So weist die Bedeutung des Kredits:
einerseits mit der Bargeldzirkulation in einem Verhältnis gegenseitiger
Anregung zu stehen, andrerseits dieselbe zu ersetzen, nur auf die Ein-
heit des Dienstes hin, den beide zu leisten haben.


An die Stelle der Vermehrung der Geldsubstanz, die durch die Stei-
gerung des Umsatzes erfordert scheint, tritt immer mehr die Vermehrung
seiner Umlaufsgeschwindigkeit. Ich führte früher an, daſs schon
im Jahre 1890 die französische Bank auf Kontokorrent das 135 fache
der thatsächlich darauf eingezahlten Gelder umgesetzt hat (54 Mil-
liarden auf 400 Millionen Francs), die deutsche Reichsbank sogar das
190 fache. Man macht sich im allgemeinen selten klar, mit wie un-
glaublich wenig Substanz das Geld seine Dienste leistet. Die auf-
fällige Erscheinung, daſs bei Ausbruch eines Krieges oder sonstiger
Katastrophen das Geld verschwindet, als ob es in die Erde gesunken
[171] wäre, bedeutet doch nur die Stockung der Zirkulation, die durch die
Ängstlichkeit des Einzelnen, sich auch nur momentan von seinem Gelde
zu trennen, veranlaſst oder verstärkt ist. In normalen Zeiten läſst die
Schnelligkeit der Zirkulation seine Substanz viel ausgedehnter er-
scheinen, als sie in Wirklichkeit ist — wie ein glühendes Fünkchen,
das im Dunkeln rasch im Kreise bewegt wird, als ein ganzer glühender
Kreis erscheint, — um in dem Augenblick, wo seine Bewegung auf-
hört, sofort wieder in seine substanzielle Minimität zusammenzuschmelzen.
Am heftigsten tritt dies bei einem schlechten Gelde auf. Denn das
Geld gehört in jene Kategorie von Erscheinungen, deren Wirksam-
keit sich bei regulärer Form und Verlauf in angebbaren Grenzen und
determiniertem Umfang hält, während sie bei Ablenkungen und Ver-
schlimmerungen einen unübersehbaren und kaum begrenzten Schaden
anrichten. Die Typen dafür sind die Mächte des Wassers und des
Feuers. Da das gute Geld nicht mit so vielen Nebenwirkungen be-
lastet ist wie das schlechte und deshalb nicht so viel Erwägungen,
Vorsicht und sekundäre Maſsregeln bei seiner Benutzung verlangt, so
kann es leichter und flüssiger als dieses kursieren. In je präziserer
Form es die Dienste des bloſsen Geldes leistet, desto geringer braucht
also seine Substanz zu sein, desto leichter ist sie durch seine Bewegung
zu ersetzen. Auch kann die Vermehrung der Umsätze statt durch eine
Vermehrung der kursierenden Geldsubstanz durch Verkleinerung der
Stücke erzielt werden. Die Entwicklung der Münze geht im all-
gemeinen von groſsen zu kleinen Stücken und ich erwähne aus der-
selben hier des bezeichnenden Falles: in England war lange Zeit der
Farthing (gleich 0,12 gr Silber) das geringste Münzstück; erst von
1843 an wurden halbe Farthings geschlagen. Bis dahin waren also
alle Werte, die unter ein Farthing galten, vom Geldverkehr aus-
geschlossen, und für alle, die zwischen zwei ganzen Zahlen von Farthing
standen, der Verkehr erschwert. Ein Reisender erzählt aus Abessinien
(1882), wie auſserordentlich es den Handel behindere, daſs nur eine
ganz bestimmte Münze, der Maria-Theresia-Thaler von 1780, anerkannt
werde, das Kleingeld aber so gut wie ganz fehle. Wenn jemand also
für einen halben Thaler Gerste kaufen wolle, so müsse er für den
Rest des Geldes irgend sonstige Gegenstände in Kauf nehmen. Wo-
gegen aus Bornu in den sechziger Jahren von einem besonders leichten
Verkehr berichtet wird, da der Wert jenes Thalers in c. 4000 Kauri-
muscheln zerlegt sei und der Arme deshalb ein Geld für die kleinsten
Warenmengen besitze. Freilich hat die Verkleinerung der Münze
die Folge, daſs nicht mehr so viel umsonst geleistet wird, das
Leihen und Aushelfen, das in primitiven Verhältnissen Regel ist, fällt
[172] fort, sobald für den allerkleinsten Dienst ein Geldäquivalent zur Ver-
fügung steht und eben deshalb auch gefordert wird. Aber jene Hin-
gabe ohne Äquivalent, die zuerst soziale Notwendigkeit, dann mora-
lische Pflicht oder freie Freundlichkeit ist, bedeutet noch keine eigent-
liche und entwicklungsfähige Wirtschaft, so wenig wie umgekehrt der
Raub. Zu dieser wird die Hingabe erst mit der Objektivation des
Verkehrs und seiner Gegenstände. Jenes subjektive Verfahren ist
sicher von hohem, auch ökonomischem Werte — aber es setzt der
Wirtschaft sehr enge Grenzen; und diese können erst durch die Maſs-
regeln gesprengt werden, die freilich jene Werte unmittelbar ver-
nichten und zu denen die Einführung möglichst kleiner Münze gehört.
Die Verflüchtigung des Geldstoffes sozusagen in Atome hebt den Ver-
kehr auſserordentlich; indem sie das Tempo der Geldumsätze beschleu-
nigt, vermehrt sie ihre Zahl; d. h. also, die bestimmte Art, in der das
Geld funktioniert, ist im stande, die quantitativen Mehrungen seiner
Substanz zu ersetzen.


Auch haben nun endlich gewisse Leistungen des Geldes von vorn-
herein einen Sinn, der dem Wesen einer Substanz heterogen ist. Es
gehört zu den Funktionen des Geldes, die ökonomische Bedeutung der
Dinge in der ihm eigenen Sprache nicht nur überhaupt darzustellen,
sondern zu kondensieren. In der Einheit der Geldsumme, mit der ein
Gegenstand bezahlt wird, verdichten sich ebenso die Werte aller, viel-
leicht durch einen langen Zeitraum hin erstreckten Momente seiner
Nutznieſsung, wie die Sonderwerte seiner räumlich auseinanderliegen-
den Teile, wie die Werte aller vorbereitenden und in ihm mündenden
Kräfte und Substanzen. Ein Geldpreis, aus wie vielen Münzeinheiten
er auch bestehe, wirkt doch als eine Einheit; dank der völligen Un-
unterscheidbarkeit seiner Teile, die seinen Sinn ausschlieſslich in seiner
quantitativen Höhe bestehen läſst, bilden diese Teile eine so völlige
Einheit, wie sie auf praktischem Gebiet sonst kaum besteht. Wenn
man selbst von einem hochwertigen und vielverzweigten Objekt, etwa
einem Landgut, sagt, es gelte eine halbe Million Mark, so wird durch
diese Summe, auf wie viele einzelne Voraussetzungen und Erwägungen
sie sich auch fundamentiere, doch der Wert des Gutes in einen ganz
einheitlichen Begriff zusammengezogen, nicht anders, als wenn man
eine auch in sich einheitliche Sache durch einen in sich einheitlichen
Münzbegriff schätzt, also etwa: eine Arbeitsstunde gelte eine Mark.
Man könnte dies höchstens mit der Einheit des Begriffes vergleichen,
der das Wesentliche einer Anzahl individueller Gestaltungen zusammen-
schlieſst; wenn ich z. B. den Allgemeinbegriff Baum bilde, so liegen
die Merkmale desselben, die ich aus ihren sehr verschiedenartigen
[173] Verwirklichungen an den einzelnen Bäumen heraus abstrahiere, nicht
mehr nebeneinander, sondern durchdringen sich zu einer einheitlichen
Wesenheit. Wie es der tiefere Sinn des Begriffes ist, nicht ein bloſses
Zusammen von Merkmalen zu sein, sondern die ideale Einheit, in der
diese Merkmale trotz aller ihrer Verschiedenheiten sich begegnen, und
in die sie sich einschmelzen — so läſst der Geldpreis alle vielfache
und extensiv-ökonomische Bedeutung des Objekts in eine gleichsam
unausgedehnte Einheit konvergieren. Es scheint zwar, als ob jener
Charakter reiner Quantität dies grade verhindern müſste: niemals
könne eine Mark mit einer zweiten eine solche Einheit bilden wie die
Elemente eines organischen Körpers oder einer sozialen Vereinigung,
die Verschlingung ineinander fehle ihnen, sie blieben ewig an die
Form des Nebeneinander gebunden. Allein dies gilt thatsächlich nicht
für den Fall, daſs die Geldsumme den Wert eines Objektes aus-
drückt. Eine halbe Million Mark sind an und für sich freilich ein
bloſs additionales Konglomerat zusammenhangsloser Einheiten; dagegen
als Wert eines Landgutes sind sie das einheitliche Symbol, Ausdruck
oder Äquivalent seiner Werthöhe und so wenig ein bloſses Nebenein-
ander einzelner Markeinheiten, wie, wenn man die Lufttemperatur mit
20° bezeichnet, damit nicht eine Summe von 20 einzelnen Graden,
sondern vielmehr ein in sich völlig einheitlicher Wärmezustand ge-
meint ist. Da der Wert eines Objektes schlieſslich auf ein Gefühl,
also auf eine rein intensive Erscheinung zurückgeht, so gewinnt das
rein quantitative Auſsereinander der Geldsumme als Wertausdruck für
ein Objekt den Charakter einer intensiven Einheit. Dies entspricht
der erwähnten Leistung des Geldes, Werte zu kondensieren; mit dieser
schlieſst es sich den groſsen Kulturmächten an, deren Wesen es ist,
überall in einem kleinsten Punkt die gröſste Kraft zu sammeln und
vermöge der Form der Konzentrierung der Energien die passiven und
aktiven Widerstände gegen unsere Zwecke zu überwinden. Hier ist
vor allem an die Maschine zu erinnern und zwar nicht nur nach der
auf der Hand liegenden Seite, daſs sie die Naturkräfte in konzen-
trierter Weise in die Bahnen uns erwünschter Bethätigung lenkt;
sondern auch nach der hin, daſs jede Verbesserung der Maschine und
Erhöhung ihrer Geschwindigkeit den Arbeiter zu erhöhter Intensi-
fikation seines Krafteinsatzes zwingt. Das eben ist der Grund, wes-
halb Fortschritt der maschinellen Technik und Verkürzung der Arbeits-
zeit so oft Hand in Hand gehen kann und muſs: weil die verbesserte
Maschinerie nicht nur die Naturkräfte, sondern auch die Menschen-
kräfte in zusammengedrängterer, gleichsam porenloserer Form in den
Dienst unserer Zwecke stellt. Ich sehe die gleiche Kulturtendenz sich
[174] an der Herrschaft des Naturgesetzes innerhalb unseres Weltbildes ver-
wirklichen: gegenüber dem Haften an der einzelnen Erscheinung, der
Zufälligkeit und der Isoliertheit primärer Empirie, ist das Naturgesetz
eine ungeheure Kondensierung des Erkennens; es faſst in eine kurze
Formel die Erscheinungsart und Bewegung endloser Einzelfälle zu-
sammen, der Geist komprimiert mit ihm die räumliche und zeitliche
Extensität des Geschehens in eine überschaubare Systematik, in der so-
zusagen die ganze Welt latent enthalten ist. An einem ganz anderen
Pol der Erscheinungen zeigt die Ablösung der Handwaffen durch die
Feuerwaffen dieselbe Entwicklungsform. Im Pulver liegt die enorme
Kraftverdichtung, die mit einem Minimum von Muskelleistung eine un-
mittelbar gar nicht erzielbare Extensität der Wirkung entfesselt. Ja
vielleicht ist die Wichtigkeit und die Differenzierung der Persönlich-
keit innerhalb der historischen Bewegung, die an die Stelle der Gentil-,
Familien-, Genossenschaftsorganisationen tritt, dem gleichen Prinzip
unterthan. Indem die bewegenden Kräfte von immer individualisier-
teren, äuſserlich enger begrenzten Trägern ausstrahlen, erscheinen sie
komprimierter als vorher, die Schicksalsfaktoren, die bei enger Ein-
schmelzung des Einzelnen in seine Gruppe durch diese hin verteilt
sind, konzentrieren sich jetzt in ihm selbst; das Selbstbestimmungs-
recht des modernen Menschen hätte zweckmäſsigerweise nicht auf-
kommen können, wenn nicht in der engen Form personaler Existenz
ein sehr gestiegenes Quantum von Wirkungsmöglichkeiten zusammen-
gebunden wäre. Und dem widerstreitet es durchaus nicht, daſs zugleich
die Funktionen jener engen Gemeinschaften zum groſsen Teil an den
so viel extensiveren Groſsstaat übergegangen sind. Denn auf die wirk-
lichen Leistungen angesehen, ist die Lebensform des modernen Staates
mit seiner Beamtenorganisation, seinen Machtmitteln, seiner Zentrali-
sierung, eine unendlich viel intensivere, als die der kleinen und primi-
tiven Gemeinwesen. Der moderne Staat beruht auf einem ungeheuren
Zusammennehmen, Ineinanderflechten und Vereinheitlichen aller politi-
schen Kräfte; so daſs man direkt sagen kann: gegenüber den Kraft-
verschwendungen, die die Zerfällung einer Nation in jene selbständigen,
in sich zentralisierten Gemeinwesen von geringster Extensität bewirkt,
stellt sowohl die freie und differenzierte Persönlichkeit, wie andrer-
seits der moderne Groſsstaat ein unvergleichliches Zusammennehmen
der Kräfte dar; die sozialen Spannkräfte sind hiermit in eine der-
artig kompendiöse Form gebracht, daſs jeder einzelnen Aufforderung
gegenüber mit einem Minimum von neuem Energieaufwand ein Maxi-
mum von Leistung erzielt werden kann. Es ist nun interessant zu
sehen, wie das Geld sich nicht nur diesen Beispielen der historischen
[175] Tendenz auf Kraftverdichtung anschlieſst, indem es die Werte der
Dinge auf die kürzeste und komprimierteste Weise ausdrückt, sondern
dies auch noch so bestätigt, daſs es zu vielen jener gleich gerichteten,
aber ganz anderen Gebieten zugehörigen Beispiele ein direktes Ver-
hältnis hat. In der Epoche der aufkommenden Feuerwaffen wurde
pecunia nervus belli, das Pulver entwand dem Ritter und dem Bürger
die Waffe und drückte sie dem Söldner in die Hand, machte ihren
Besitz und ihre Benutzung also zum Privileg der Geldbesitzer. Wie
eng das Aufkommen und die Fortschritte der Maschinentechnik mit
dem Geldwesen verbunden sind, bedarf keines Nachweises. Dagegen
werde ich später einen solchen dafür zu führen haben, daſs jene Ent-
wicklung der primären Gruppenbildung zur Befreiung der Individualität
einerseits und die Erweiterung zum Groſsstaat andrerseits die innigste
innere Beziehung zu dem Aufkommen der Geldwirtschaft hat. So
sehen wir die Kulturtendenz der Kondensierung der Kräfte in vielerlei
direkten und vermittelten Zusammenhängen mit der Geldform der Werte.
Alle jene indirekten Bedeutungen seiner für die anderweitigen Seiten
des Kulturprozesses hängen an seiner wesentlichen Leistung, daſs der
ökonomische Wert der Dinge mit ihm den gedrängtesten Ausdruck
und eine Vertretung von absoluter Intensität gewonnen hat. Wenn
man hergebrachterweise unter die Hauptdienste des Geldes rechnet,
daſs es Wertaufbewahrungs- und Werttransportmittel ist, so sind dies
nur die groben und sekundären Erscheinungen jener grundlegenden
Funktion. Sie aber hat ersichtlich gar keine innere Beziehung zu dem
Gebundensein des Geldes an eine Substanz, ja an ihr tritt am empfind-
barsten hervor, daſs das Wesentliche des Geldes Vorstellungen sind,
die, weit über die eigne Bedeutung seines Trägers hinaus, in ihm in-
vestiert sind. Je gröſser die Rolle des Geldes als Wertkondensator
wird — und das wird sie nicht durch Wertsteigerung seines einzelnen
Quantums, sondern durch die Erstreckung dieser seiner Funktion auf
immer mehr Objekte, durch die Verdichtung immer verschiedenartigerer
Werte in seiner Form — desto weiter wird es von der notwendigen
Bindung an eine Substanz fortrücken; denn in ihrer mechanischen Immer-
gleichheit und Starrheit muſs diese der Fülle, dem Wechsel, der
Mannigfaltigkeit der Werte immer inadäquater werden, die auf ihre
Vorstellung projiziert und in ihr kondensiert werden.


Man könnte dies als eine steigende Vergeistigung des Geldes be-
zeichnen. Denn das Wesen des Geistes ist, der Vielheit die Form
der Einheit zu gewähren. In der sinnlichen Wirklichkeit ist alles
nebeneinander, im Geist allein giebt es ein Ineinander. Vermittels
des Begriffes gehen dessen Merkmale, vermittels des Urteils gehen Subjekt
[176] und Prädikat in eine Einheit ein, zu der es in der Unmittelbarkeit des
Anschaulichen gar keine Analogie giebt. Der Organismus, als die Brücke
von der Materie zum Geist, ist freilich ein Ansatz dazu, die Wechsel-
wirkung schlingt seine Elemente ineinander, er ist ein fortwährendes
Streben nach einer ihm unerreichbaren vollkommenen Einheit. Erst
im Geiste wird die Wechselwirkung der Elemente ein wirkliches Sich-
durchdringen. Den Werten bereitet die Wechselwirkung im Tausche
diese geistige Einheit. Darum kann das Geld, die Abstraktion der
Wechselwirkung, an allem Räumlich-Substanziellen nur ein Symbol
finden, denn das sinnliche Nebeneinander desselben widerstrebt seinem
Wesen. Erst in dem Maſs, in dem die Substanz zurücktritt, wird das
Geld wirklich Geld, d. h. wird es zu jenem wirklichen Ineinander und
Einheitspunkte wechselwirkender Wertelemente, der nur die That des
Geistes sein kann.


Wenn so die Leistungen des Geldes sich teils neben seiner Sub-
stanz teils unabhängig von ihrem Quantum vollziehen können, und
wenn deshalb sein Wert sinken muſs — so bedeutet dies durchaus nicht,
daſs der Wert des Geldes überhaupt, sondern nur daſs der des ein-
zelnen konkreten Geldquantums herabgesetzt ist. Beides fällt so wenig
zusammen, daſs man gradezu sagen kann: je weniger das einzelne
Geldquantum wert ist, desto wertvoller ist das Geld überhaupt. Denn
nur dadurch, daſs das Geld so billig, jede bestimmte Summe seiner so
viel wertloser geworden ist, kann es diejenige allgemeine Verbreitung,
rasche Zirkulation, überall hindringende Verwendbarkeit gewinnen, die
ihm seine jetzige Rolle sichert. Innerhalb des Individuums spielt sich
dasselbe Verhältnis zwischen den einzelnen Geldquanten und ihrer
Totalität ab. Grade diejenigen Personen, die sich vom Geld, wenn
es eine einzelne Ausgabe betrifft, am leichtesten und verschwende-
rischsten trennen, pflegen vom Gelde überhaupt am abhängigsten zu
sein. Auch dies ist eine der Bedeutungen der Redensart, daſs man
das Geld nur verachten könne, wenn man sehr viel hätte. In ruhigen
Zeiten und Orten, mit ökonomisch langsamerem Lebenstempo, wo
das Geld viel länger an einer Stelle liegt, wird sein einzelnes Quan-
tum viel höher gewertet als in der ökonomischen Jagd der groſs-
städtischen Gegenwart. Die schnelle Zirkulation erzeugt eine Gewohn-
heit des Weggebens und Wiedereinbekommens, macht jedes einzelne
Quantum psychologisch gleichgültiger und wertloser, während es als
Geld überhaupt — da das Geldgeschäft den Einzelnen hier viel inten-
siver und extensiver berührt als in jenem unbewegteren Dasein —
immer gröſsere Bedeutung gewinnt. Es handelt sich hier um den sehr
weit erstreckten Typus: daſs der Wert eines Ganzen sich in demselben
[177] Verhältnis hebt, in dem der seiner individuellen Teile sinkt. Ich er-
innere daran, daſs Maſs und Bedeutung einer sozialen Gruppe oft um
so höher steigt, je geringer das Leben und die Interessen ihrer Mit-
glieder als Individuen eingeschätzt werden; daſs die objektive Kultur, Viel-
seitigkeit und Lebendigkeit ihrer sachlichen Inhalte ihren höchsten Grad
durch eine Arbeitsteilung erreichen, die den einzelnen Träger und An-
teilhaber dieser Kultur oft in eintöniges Spezialistentum, Beschränktheit
und Verkümmerung bannt: das Ganze ist um so vollkommener und
harmonischer, je weniger der Einzelne noch ein harmonisches Ganzes
ist. Dieselbe Form stellt sich auch sachlich dar. Der besondere Reiz
und die Vollendung gewisser Gedichte besteht darin, daſs die einzelnen
Worte durchaus keinen selbständigen Sinn, auſser dem, der dem be-
herrschenden Gefühl oder dem Kunstzweck des Ganzen dient, psycho-
logisch mit anklingen lassen, daſs der Gesamtkreis der Assoziationen,
der die eigne Bedeutung des Wortes ausmacht, ganz zurücktritt, und
nur die dem Zentrum des Gedichtes zugewandten für das Bewuſstsein be-
leuchtet sind; so daſs das Ganze in demselben Maſse kunstvollendeter
ist, in dem seine Elemente ihre individuelle, für sich seiende Bedeu-
tung einbüſsen. Und endlich ein ganz äuſserlicher Fall. Der Her-
stellungs- wie der Kunstwert eines Mosaikbildes ist um so höher, je
kleiner seine einzelnen Steinchen sind; die Farben des Ganzen sind
die treffendsten und nüanciertesten, wenn der einzelne Bestandteil eine
möglichst geringfügige, einfache und für sich bedeutungslose Farben-
fläche darbietet. Es ist also ein im Gebiete der Wertungen keines-
wegs unerhörter Fall, daſs die Werte des Ganzen und die seiner Teile
sich in umgekehrter Proportionalität zu einander entwickeln; und zwar
nicht durch ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen, sondern
durch direkte Verursachung: daſs jede einzelne angebbare Geldsumme
jetzt weniger wert ist als vor Jahrhunderten, ist die unmittelbare Bedingung
für die ungeheuer gesteigerte Bedeutung des Geldes. Und diese Be-
dingung hängt ihrerseits wieder von dem Steigen des Funktionswertes
des Geldes auf Kosten seines Substanzwertes ab. Das zeigt sich nicht
nur am Geld im allgemeinen, sondern auch an den einzelnen davon
abzweigenden Erscheinungen: der Zinsfuſs stand auſserordentlich hoch,
so lange es teils wegen der kirchlichen Wucherlehre, teils wegen der
naturalwirtschaftlichen Verhältnisse überhaupt wenig verzinsliche Dar-
lehen gab; eine je gröſsere Bedeutung der Zins im wirtschaftlichen
Leben erhielt, desto geringer wurde er.


Und auch von dem allerprinzipiellsten Standpunkte aus wäre es
das schwerste Miſsverständnis der Entwicklung von der Substanz zur
Leistung, wenn man sie auf ein „Wertlos“-werden des Geldes deutete,
Simmel, Philosophie des Geldes. 12
[178] und als sei ihm damit ungefähr so viel genommen wie einem Menschen
mit der Seele — nämlich alles. Diese Auffassung geht schon deshalb
an der Hauptsache vorbei, weil die Funktionen, in die das Geld sich
auflöst, selbst wertvolle sind, wodurch ihm ein Wert zuwächst, der
beim Metallgeld ein additioneller, beim Zeichengeld der einzige ist;
so sicher aber ist er ein reeller Wert, wie die Lokomotive durch das
Ausüben ihrer Transportfunktionen einen Wert hat, der mehr ist als
der Wert ihres Materials. Freilich kann es zunächst die Geldfunk-
tionen ausüben, weil es ein Wert ist; dann aber wird es ein Wert,
weil es sie übt. Den Wert des Geldes in seinen Substanzwert setzen,
heiſst den Wert der Lokomotive in den ihres Eisengewichts, etwa noch
um den darin steckenden Arbeitswert erhöht, setzen. Aber grade diese
Analogie scheint die Annahme eines besonderen, aus der Funktion er-
wachsenden Wertes zu widerlegen. Der Preis einer Lokomotive — wir
brauchen in diesem Zusammenhange nicht zwischen Wert und Preis
zu unterscheiden — besteht allerdings aus Materialwert + Formwert
d. h. + Wert der darin investierten Arbeitskraft. Daſs die Loko-
motive wie das Geld den Austausch von Objekten bewirkt, das sei
zwar die Veranlassung, sie überhaupt zu werten, davon hänge aber das
Maſs dieser Wertung keineswegs ab — wie auch sonst die Nützlich-
keit unzähliger Objekte bewirke, daſs sie überhaupt einen Marktpreis
haben, die Höhe dieses aber von ganz anderen Momenten bestimmt
werde; die Nützlichkeit gebe bei solchen Objekten allenfalls eine
Grenze an, über die der Preis nicht steigen darf, aber sie könne hier
seine positive Gröſse nicht erzeugen. Gilt dieser Vergleich, so scheint
der Wert des Geldes doch wieder von seinen Funktionen auf seine
Substanz zurückgewiesen zu werden. Allein an einem entscheidenden
Punkte gilt er eben nicht. Daſs eine Lokomotive nur nach ihrem
Materialwert und Formungswert bezahlt wird, hängt ausschlieſslich
daran, daſs jeder Beliebige Lokomotiven bauen darf, und deshalb die
Idee, ohne die Material + Arbeitskraft niemals eine Lokomotive er-
geben würden, keinen Einfluſs auf die Preisbildung besitzt. Sobald es
ein Patent auf Lokomotiven gäbe, würde sich in dem sehr erhöhten
Preise, den man für sie bewilligte, der Wert zeigen, den sie über die
Summe von Materialwert und Arbeitswert hinaus besitzen; sobald die
Idee Gemeingut ist, haben ihre Verwirklichungen insoweit keine „Selten-
heit“, und erst diese würde ihrer Funktionsbedeutung einen besonderen
Ausdruck im Preise verschaffen. Nun aber besteht am Gelde etwas, was
dem Patente entspricht: das Prägerecht der Regierungen, das jeden Un-
legitimierten die Idee des Geldes zu verwirklichen hindert; auf diesem
Monopol der Regierung ruht die „Seltenheit“ des Geldes entweder teil-
[179] weise, wenn es aus Edelmetall besteht, oder völlig, wenn es Papier
oder Scheidemünze ist. Ein chinesisches Gesetz drückt im ersteren
Falle das Monopol der Regierung dadurch mit charakteristischer Schärfe
aus, daſs es den Falschmünzer, der aus echtem Metall münzt, schwerer
bestraft als den, der es aus minderwertigem thut: weil, so wird dies
begründet, er grade damit in unziemlichere Konkurrenz mit der Re-
gierung träte und in ihre Prärogative tiefer eingriffe, als im letzteren
Fall! Wenn jeder Beliebige Geld prägen könnte, so würde sein
Wert allerdings auf Materialwert und Formwert sinken, — womit
denn jenes Monopol mit seinen Vorteilen hinwegfiele. Deshalb ist
von ethnologischer Seite bemerkt worden, daſs, wo jeder selbst Geld
beliebig herstellen kann, wie beim Muschelgeld, die Machtstellung der
Reichen und der Häuptlinge sehr leicht erschüttert wird. Umgekehrt
hat an dem Privileg des Staates für die Herstellung des Geldes jeder
Geldbesitzer pro rata teil — wie der Käufer eines patentierten Gegen-
standes an dem Patent des Erfinders. Vermöge des der Zentralgewalt
vorbehaltenen Prägerechts, das dem Geld die stete Möglichkeit, wirk-
lich als Geld zu funktionieren, garantiert — gewinnen diese Funk-
tionen nun ihrerseits die Möglichkeit, dem Material- und Formwert
des Geldes ein weiteres wirksames Wertquantum hinzuzufügen, oder,
wo jene fortfallen, ihm überhaupt einen Wert zu verschaffen. Sehr
bezeichnend ist hierfür eine Norm des römischen Rechts, schon aus
der republikanischen Zeit. Seit der Einführung der geprägten Münze
statt des gewogenen Kupfergeldes haben die Römer darauf gehalten,
daſs dieselbe rechtlich für ihren konventionellen Wert acceptiert werde,
gleichviel, ob ihr Effektivwert damit stimmte oder nicht. Diese Un-
abhängigkeit vom Metall aber fordert sogleich die Zusatzbestimmung:
Geld sei überhaupt nur eben diese Münze, jede andre sei bloſse
Ware; nur bei Forderung auf jene kann man mit der strengen Geld-
schuldklage vorgehen, alle sonstigen Geldschulden sind, wie Waren-
schulden, nur auf den wirklichen, also durch ihr Nominal als Geld
nicht beeinfluſsten Wert (quanti ea res est) einzuklagen. Das heiſst
also, der Wert des anderen Geldes war nicht Geldwert, sondern Stoff-
wert, weil man der legalen Münze die Funktion des Geldes vorbehielt.
Eben dadurch erhielt sie den Wert, den die andern Münzen nur durch
ihren Gehalt erreichen konnten, und rechtfertigte es, daſs sie unabhängig
von ihrem inneren Werte galt. Wie ein Litermaſs wirtschaftlichen
Wert hat, nicht weil es Material und Form enthält — denn wenn es
nicht durch diese zu einem auſserhalb ihrer liegenden Zwecke ver-
wendbar wäre, so würde kein Mensch ihm nachfragen — sondern weil
es die Funktion des Messens zweckmäſsig erfüllt, so hat auch das Geld
12*
[180] seinen Wert im Dienst des Messens und den anderen, die es leistet.
Nur daſs man diesen auch wieder nur in Geld mit hinreichender All-
gemeinheit ausdrücken kann, verhindert, dies so ohne weiteres zu er-
kennen wie bei dem Litermaſs, dessen Wert man in etwas anderem,
als es selbst ist, ausdrückt. Die Dienste des Geldes bilden seinen
„Gebrauchswert“, der doch in seinem „Tauschwert“ irgendwie zum
Ausdruck kommen muſs. Die Substanztheorie des Geldes wehrt sich
gegen die doch unvermeidliche Erkenntnistendenz, die Bedeutung der
Dinge aus ihrem terminus a quo in ihren terminus ad quem zu ver-
legen: nicht was das Geld ist, sondern wozu es ist, verleiht ihm seinen
Wert, so daſs, wenn auch ein ursprünglicher Wert des Geldes es zu
seinen Funktionen disponiert hat, es seinen Wert dann durch die Aus-
übung dieser Funktionen erhält und damit auf höherer Stufe zurück-
gewinnt, was es auf niederer aufgegeben hat.


Wenn nun in den oben geschilderten Entwicklungen das Geld
einem Punkte zustrebt, wo es, zum reinen Symbol geworden, ganz in
seinen Tausch- und Meſszweck aufginge, so zeigen mannigfache Paral-
lelen die allgemeine geistesgeschichtliche Tendenz, die es in jene Rich-
tung führt. Das Interesse, das wir primärer und unbefangener Weise
an den Erscheinungen nehmen, pflegt dieselbe als ungeschiedene Ganze
zu umfassen: wie sie uns als Einheit von Form und Inhalt entgegen-
treten, so knüpft sich unser Wertgefühl auch an ihre Form, weil sie
die Form dieses Inhalts, an ihren Inhalt, weil er der Inhalt dieser Form
ist. Auf höheren Stufen sondern sich diese Elemente und es wenden
sich besondere Schätzungsweisen an die Funktion als bloſse Form. Die
Mannigfaltigkeit des Inhalts, die von dieser getragen wird, erscheint
ihr gegenüber oft irrelevant. So schätzen wir z. B. die religiöse
Stimmung, unter Gleichgültigkeit gegen ihren dogmatischen Inhalt.
Daſs diese bestimmte Erhebung, Spannung und Versöhnung der Seele
überhaupt vorhanden sei, die, als ein Allgemeines, die unendliche Ver-
schiedenheit der historischen Glaubensinhalte trägt, das empfinden wir
als wertvoll. So flöſst uns die Kraftbewährung als solche oft einen
Respekt ein, den wir ihren Ergebnissen versagen müssen. So wendet
sich das verfeinerte ästhetische Interesse immer mehr dem zu, was am
Kunstwerk bloſs Kunst ist, der Kunstform im weitesten Sinne, unter
wachsender Gleichgültigkeit gegen seine Materie, d. h. gegen seinen
Vorwurf und gegen die ursprünglichen Gefühle, in deren Sublimierung
und Objektivierung erst die eigentlich ästhetische Funktion, in Pro-
duktion wie Konsumtion, verläuft. So empfinden wir die Erkenntnis
als wertvoll, rein als die formale Funktion des Geistes, die Welt in
sich zu spiegeln und insoweit gleichgültig dagegen, ob die Gegenstände
[181] und Resultate des Erkennens erfreuliche oder unerfreuliche, verwert-
bare oder rein ideelle sind. Diese Differenzierung der Wertgefühle
hat nun eine weitere bemerkenswerte Seite. Die ganze Entwicklung
des modernen naturalistischen Geistes geht auf die Entthronung der
Allgemeinbegriffe und die Betonung des Einzelnen als des allein legi-
timen Vorstellungsinhaltes. In der Theorie wie in der Praxis des
Lebens wird das Allgemeine als bloſs Abstraktes behandelt, das seine
Bedeutung nur an seinem Stoffe, d. h. an greifbaren Einzelheiten
finden kann; indem man sich über diese erhebt, glaubt man ins Leere
zu fallen. Dennoch aber ist das Gefühl für die Bedeutsamkeit des
Allgemeinen, das einst in Plato seinen Höhepunkt erreichte, nicht
verschwunden und eine völlig befriedigende Stellung zur Welt würden
wir erst gewinnen, wenn jeder Punkt unseres Bildes von ihr die stoff-
liche Realität des Singulären mit der Tiefe und Weite des Formal-All-
gemeinen versöhnte. So ist der Historismus und die soziale Welt-
anschauung ein Versuch, das Allgemeine zu bejahen und doch seine
Abstraktheit zu verneinen: ein Erheben über das Einzelne, ein Ab-
leiten des Einzelnen aus einem Allgemeinen, das doch volle und ge-
diegne Wirklichkeit besitzt. In dieser Richtung liegt nun auch jene
Wertung der Funktion, in ihrer Sonderung vom Inhalte. Die Funktion
ist das Allgemeine gegenüber dem speziellen Zweck, dem sie dient:
das religiöse Gefühl ist das Allgemeine gegenüber seinem Glaubens-
inhalte, das Erkennen das Allgemeine gegenüber seinen einzelnen Objekten,
jede Kraft überhaupt das Allgemeine gegenüber den speziellen Aufgaben,
zu deren Mannigfaltigkeit sie sich als die immer gleiche verhält — gleich-
sam eine Form und Fassung, die die verschiedenartigsten Stoffe auf-
nimmt. An dieser Entwicklungstendenz scheint das Geld teilzunehmen,
wenn das daran geknüpfte Wertgefühl sich von seinem Stoffe un-
abhängig macht und auf seine Funktion übergeht, die ein Allgemeines
und doch kein Abstraktes ist. Die Schätzung, welche anfangs den
in bestimmter Weise funktionierenden Stoff als Einheit betraf, differen-
ziert sich, und während das Edelmetall als solches immer weiter ge-
schätzt wird, gewinnt nun auch seine Funktion, die jedem ihrer stoff-
lichen Träger gegenüber ein Überindividuelles ist, eine besondere und
selbständige Wertung. Daſs das Geld Tausche vermittelt und Werte
miſst, ist gleichsam die Form, in der es für uns existiert; indem das
Metall diese Form annimmt, wird es Geld — wie Vorstellungen über
das Überirdische zur Religion werden, indem die religiöse Gefühls-
funktion sie aufnimmt, und wie der Marmorblock zum Kunstwerk wird,
wenn die künstlerische Produktivität ihm die Form verleiht, die nichts
anderes als eben diese Funktion in räumlichem Festgewordensein ist.
[182] Die Verfeinerung des Wertempfindens löst dies ursprüngliche Inein-
ander und läſst die Form oder Funktion sich zu einem selbständigen
Werte für uns entwickeln. Gewiſs muſs auch dieser Wert des Geldes
einen Träger haben; aber das Entscheidende ist, daſs er nicht mehr
aus seinem Träger quillt, sondern umgekehrt der Träger das ganz
Sekundäre ist, auf dessen an sich seiende Beschaffenheit es nur noch
aus technischen, jenseits des Wertempfindens liegenden Gründen an-
kommt.


[[183]]

Drittes Kapitel.
Das Geld in den Zweckreihen.


I.


Der groſse Gegensatz aller Geistesgeschichte: ob man die Inhalte
der Wirklichkeit von ihren Ursachen oder von ihren Folgen aus an-
sieht und zu begreifen sucht — der Gegensatz der kausalen und der
teleologischen Denkrichtung — findet sein Urbild an einem Unter-
schiede innerhalb unserer praktischen Motivationen. Das Gefühl, das
wir Trieb nennen, erscheint als an einen physiologischen Vorgang ge-
bunden, in dem gespannte Energien auf ihre Lösung drängen; indem
jene sich in ein Thun umsetzen, endet der Trieb; wenn er wirklich
ein bloſser Trieb ist, so ist er „befriedigt“, sobald er durch das Thun
sozusagen sich selbst los geworden ist. Diesem gradlinigen Kausal-
vorgange, der sich im Bewuſstsein als das primitivste Triebgefühl
spiegelt, stehen diejenigen Aktionen gegenüber, deren Ursache, soweit
sie sich als Bewuſstseinsinhalt kundgiebt, in der Vorstellung ihres Er-
folges besteht. Wir empfinden uns hier gleichsam nicht von hinten
getrieben, sondern von vorn gezogen. Das Befriedigungsgefühl tritt
infolgedessen hier nicht durch das bloſse Thun ein, in dem der Trieb
sich auslebt, sondern erst durch den Erfolg, den das Thun hervorruft.
Wenn etwa eine ziellose innere Unruhe uns zu einer heftigen Be-
wegung treibt, so liegt ein Fall der ersten Kategorie vor; der zweiten,
wenn wir uns die gleiche Motion machen, um einen bestimmten
hygienischen Zweck damit zu erreichen; das Essen ausschlieſslich aus
Hunger gehört in die erste, das Essen ohne Hunger, nur um des
kulinarischen Genusses willen, in die zweite Kategorie; die Sexual-
funktion im Sinne des Tieres ausgeübt, in die erste, die in der Hoff-
nung eines bestimmten Genusses gesuchte in die zweite. Dieser Unter-
schied scheint mir nun nach zwei Seiten hin wesentlich zu sein. So-
[184] bald wir aus bloſsem Triebe heraus, also im engeren Sinne rein kausal
bestimmt handeln, so besteht zwischen der psychischen Verfassung, die
als Ursache des Handelns auftritt, und dem Resultat, in das sie ausläuft,
keinerlei inhaltliche Gleichheit. Der Zustand, dessen Energien uns in
Bewegung setzen, hat insofern zu der Handlung und ihrem Erfolge so
wenig qualitative Beziehungen wie der Wind zu dem Fall der Frucht,
die er vom Baum schüttelt. Wo dagegen die Vorstellung des Erfolges
als Veranlassung gefühlt wird, da decken sich Ursache und Wirkung
ihrem begrifflichen oder anschaubaren Inhalte nach. Die Ursache der
Aktion ist indes auch in diesem Falle die reale Kraft der Vorstellung
bezw. ihres physischen Korrelats, die die wissenschaftliche Analyse von
ihrem Gedankeninhalt durchaus getrennt halten muſs. Denn dieser In-
halt, die sachliche Idee des Handelns oder Geschehens, ist an und für
sich absolut kraftlos, sie hat nur eine begriffliche Gültigkeit und kann
nur insoweit in der Wirklichkeit sein, als sie der Inhalt einer realen
Energie wird: sowie die Gerechtigkeit oder die Sittlichkeit als Ideen
niemals eine Wirksamkeit in der Geschichte üben, dies vielmehr erst
können, wenn sie von konkreten Mächten als Inhalt des Kraftmaſses
derselben aufgenommen werden. Der Kompetenzstreit zwischen Kausalität
und Teleologie innerhalb unseres Handelns schlichtet sich also so:
indem der Erfolg seinem Inhalte nach, in der Form psychischer Wirk-
samkeit da ist, bevor er sich in die der objektiven Sichtbarkeit kleidet,
wird der Strenge der Kausalverbindung nicht der geringste Abbruch
gethan; denn für diese kommen die Inhalte nur, wenn sie Energien
geworden sind, in Betracht, und insofern sind Ursache und Erfolg
durchaus geschieden, während die Identität, die die ideellen Inhalte
beider zeigen, wiederum mit der realen Verursachung überhaupt nichts
zu thun hat.


Von tieferer Bedeutung für die jetzige Aufgabe ist die andere
Differenz, durch die sich das triebhafte und das vom Zweck geleitete
Wollen gegeneinander charakterisieren. Sobald unser Handeln nur
kausal (im engeren Sinne) bestimmt wird, ist der ganze Vorgang mit
der Umsetzung der drängenden Energien in subjektive Bewegung be-
endet; das Gefühl der Spannung, des Getriebenwerdens ist gehoben,
sobald die Aktion als Folge des Triebes eingetreten ist. Der Trieb
lebt sich in der ihm natürlichen Fortsetzung in Bewegung vollständig
aus; so daſs der gesamte Vorgang innerhalb des Subjekts beschlossen
bleibt. Ganz anders verläuft der Prozeſs, der durch das Bewuſstsein
des Zweckes geleitet ist. Dieser geht zunächst auf einen bestimmten
objektiven Erfolg des Thuns und erreicht seinen Abschluſs durch die
Reaktion dieses auf das Subjekt bezw. des Subjekts auf ihn. Die
[185] prinzipielle Bedeutung des Zweckhandelns liegt also in der Wechsel-
wirkung, die es zwischen dem Subjekt und dem Objekt stiftet. Indem
schon die bloſse Thatsache unserer Existenz uns in diese Wechsel-
wirkung verwebt, hebt das zweckbestimmte Handeln sie in die Inner-
lichkeit des Geistes. Durch eben dies stellt sich unser Verhältnis zur
Welt gleichsam als eine Kurve dar, die vom Subjekt aus auf das Ob-
jekt geht, es in sich einbezieht und wieder zum Subjekt zurückkehrt.
Und während freilich jede zufällige und mechanische Berührung mit
den Dingen äuſserlich dasselbe Schema zeigt, wird es als Zweckhandeln
von der Einheit des Bewuſstseins durchströmt und zusammengehalten.
Als Naturwesen betrachtet sind wir in fortwährender Wechselwirkung
mit dem natürlichen Dasein um uns herum, aber in völliger Koordination
mit diesem; erst im Zweckhandeln differenziert sich das Ich als Persön-
lichkeit von den Naturelementen auſserhalb (und innerhalb) seiner.
Oder, anders angesehen: erst auf der Grundlage solcher Scheidung
eines persönlich wollenden Geistes und der rein kausal betrachteten
Natur ist jene Einheit höherer Stufe zwischen beiden möglich, die sich
in der Zweckkurve ausdrückt.


Das ist nun nicht so gemeint, als ob der eigentliche Zweck jedes
Zweckhandelns im handelnden Subjekt selbst liegen müſste, als ob der
Grund, um dessentwillen irgend ein Objektives verwirklicht wird, immer
in dem Gefühle bestünde, das es rückwirkend in uns erregt. Wenn
dies in den eigentlich egoistischen Handlungen stattfindet, stehen da-
neben doch unzählige, in denen jene Inhaltsgleichheit zwischen Motiv
und Erfolg nur den Erfolg im Sinne des Objekts, des auſser-subjektiven
Geschehens betrifft; unzählige Male nimmt die innere Energie, aus der
unser Handeln hervorgeht, ihrer Bewuſstseinsseite nach nur ihren sach-
lichen Erfolg in sich auf und läſst die auf uns selbst zurückkehrende
Weiterwirkung desselben ganz auſserhalb des teleologischen Prozesses.
Zwar, wenn nicht der Erfolg unseres Thuns schlieſslich ein Gefühl in
uns auslöste, so würde von seiner Vorstellung nicht die bewegende
Kraft ausgehen, die ihn zu verwirklichen strebt. Allein dieses unentbehr-
liche End glied des Handelns ist darum noch nicht sein End zweck;
unser teleologisch bestimmtes Wollen macht vielmehr sehr oft an seinem
sachlichen Erfolge halt und fragt bewuſst nicht über diesen hinaus.
Suchen wir also die Formel des Zweckprozesses in seinem Gegensatz
zu dem kausal-triebhaften — wobei dahingestellt bleibt, ob dieser
Gegensatz etwa nur ein solcher der Betrachtungsweise, sozusagen ein
methodologischer ist — so ist es die, daſs das Zweckhandeln die be-
wuſste Verflechtung unserer subjektiven Energien mit einem objektiven
Dasein bedeutet, und daſs diese Verflechtung in einem doppelten Aus-
[186] greifen der Wirklichkeit in das Subjekt hinein besteht: einmal in der
Antizipation ihres Inhaltes in der Form der subjektiven Absicht und
zweitens in der Rückwirksamkeit ihrer Realisierung in der Form eines
subjektiven Gefühls. Aus diesen Bestimmungen entwickelt sich die
Rolle des Zwecks im Lebenssystem.


Es geht zunächst daraus hervor, daſs sogenannte unmittelbare
Zwecke einen Widerspruch gegen den Begriff des Zweckes selbst be-
deuten. Wenn der Zweck eine Modifikation innerhalb des objektiven
Seins bedeutet, so kann dieselbe doch nur durch ein Thun realisiert
werden, welches die innere Zwecksetzung mit dem ihr äuſseren Dasein
vermittelt; unser Handeln ist die Brücke, über welche der Zweckinhalt
aus seiner psychischen Form in die Wirklichkeitsform übergeht. Der
Zweck ist seinem Wesen nach an die Thatsache des Mittels gebunden.
Hierdurch unterscheidet er sich einerseits vom bloſsen Mechanismus —
und seinem psychischen Korrelat, dem Trieb —, in dem die Energien
jedes Momentes sich in dem unmittelbar folgenden vollständig ent-
laden, ohne über diesen hinaus auf einen nächsten zu weisen; welcher
nächste vielmehr nur von dem unmittelbar vorhergehenden ressortiert.
Die Formel des Zweckes ist dreigliedrig, die des Mechanismus nur
zweigliedrig. Andrerseits unterscheidet sich der Zweck durch sein An-
gewiesensein auf das Mittel auch von demjenigen Handeln, das man
sich als das göttliche denken mag. Für die Macht eines Gottes kann
unmöglich ein zeitliches oder sachliches Intervall zwischen dem Willens-
gedanken und seiner Verwirklichung bestehen. Das menschliche
Handeln, zwischen diese beiden Momente eingeschoben, ist nicht als
das Überwinden von Hemmungen, die für einen Gott nicht bestehen
können; wenn wir ihn nicht nach dem Bilde irdischer Unvollkommen-
heit denken, so muſs sein Wille unmittelbar als solcher schon Realität
des Gewollten sein. Von einem Endzweck, den Gott mit der Welt
hätte, kann man nur in einem sehr modifizierten Sinne reden, nämlich
als dem zeitlich letzten Zustand, der ihre Schicksale abschlieſst. Ver-
hielte sich aber für den göttlichen Ratschluſs jener zu diesen vorher-
gehenden, wie sich ein menschlicher Zweck zu seinen Mitteln verhält:
nämlich als das allein Wertvolle und Gewollte — so wäre nicht ab-
zusehen, weshalb Gott ihn nicht unmittelbar und mit Übergehung jener
wertlosen und hemmenden Zwischenstadien sollte herbeigeführt haben;
denn er bedarf doch nicht der technischen Mittel, wie wir, die wir der
selbständigen Welt mit sehr beschränkter, auf Kompromisse mit ihren
Hemmungen und auf Allmählichkeit des Durchsetzens angewiesenen
Kräften gegenüberstehen. Oder anders ausgedrückt: für Gott kann es
keinen Zweck geben, weil es für ihn keine Mittel giebt.


[187]

Aus dieser Gegenüberstellung wird die eigentliche Bedeutung des
oben Betonten ersichtlich, daſs der Zweck eine Wechselwirkung zwischen
dem persönlich wollenden Ich und der ihm äuſseren Natur bedeutet.
Der Mechanismus, der zwischen dem Willen und seiner Befriedigung
steht, ist einerseits Verbindung, andrerseits aber auch Trennung beider.
Er bedeutet die Unmöglichkeit für den Willen, aus sich selbst heraus
zu seiner Befriedigung zu gelangen, er stellt die Hemmung dar, die
er überwindet. Zweckmäſsigkeit ist also ihrem Wesen nach ein relativer
Begriff, weil sie immer das an sich Zweckfremde voraussetzt, in dessen
Umformung sie besteht. Wenn es dieser letzteren nicht bedürfte, der
Wille vielmehr als solcher schon seine Erfüllung in sich trüge, so käme
es gar nicht zu einer Zwecksetzung. Das eigene Thun, in das der
zweckbestimmte Wille sich fortsetzt, ist der erste Fall, an dem wir
dieses Doppelcharakters des Mittels inne werden: an ihm fühlen wir
ganz nahe den Widerstand des auſserseelischen Seins unser selbst
und die dirigierende Energie, die ihn überwindet — eines am anderen
bewuſstwerdend und sein spezifisches Wesen gewinnend. Wenn nun
das Thun den äuſseren Gegenstand des Zweckes nicht unmittelbar er-
zeugen kann, sondern dazu erst ein anderes äuſseres Ereignis einleiten
muſs, das seinerseits das erwünschte Resultat bewirkt, so ist das da-
zwischengeschobene Geschehen unserem eigenen Handeln hier wesens-
gleich: beides ist gleichmäſsig Mechanismus, aber beides auch gleich-
mäſsig vom Geist zum Geiste führender Mechanismus; beides setzt sich
kontinuierlich an einander an, um die Kurve zu bilden, deren Anfangs-
und Endpunkte in der Seele liegen; die durchschnittliche Gliederzahl
dieser Kurve innerhalb eines bestimmten Lebensstiles zeigt nun die
Kenntnis und Beherrschung der Natur wie die Weite und Verfeinerung
der Lebensführung an. Und hier setzen die gesellschaftlichen Kom-
plikationen an, die in der Schaffung des Geldes gipfeln.


Zunächst ist folgender Zusammenhang klar. Wenn ein Zweck D
erreicht und dazu eine Kette mechanischer Vorgänge A B C produziert
werden soll, derart, daſs B durch A, C durch B und D erst durch C
veranlaſst wird, so ist diese in ihrem Inhalt und ihrer Richtung durch D
bestimmte Reihe von der Erkenntnis des Kausalzusammenhanges zwischen
ihren Gliedern abhängig. Wenn ich nicht schon wüſste, daſs C imstande
ist, D hervorzurufen, B ebenso C u. s. w., so würde ich mit meinem
Verlangen nach D ganz hülflos dastehen. Niemals kann also eine
teleologische Kette erwachsen, ohne daſs die umgekehrt gerichteten,
kausalen Verbindungen ihrer Glieder bekannt wären. Der Zweck
vergilt dies, indem er gewöhnlich seinerseits die psychologische An-
regung giebt, überhaupt nach kausalen Zusammenhängen zu forschen.
[188] Die teleologische Kette findet also ihre inhaltliche, logische Möglich-
keit in der kausalen, diese aber ihr Interesse, d. h. ihre regelmäſsige
psychologische Möglichkeit in dem Wollen eines Zwecks. Die so be-
zeichnete Wechselwirkung, die, ganz allgemein gesprochen, das Ver-
hältnis von Theorie und Praxis bedeutet, hat ersichtlich zur Folge,
daſs die Vertiefung des kausalen Bewuſstseins mit der des teleologischen
Hand in Hand geht. Die Länge der Zweckreihen hängt von der Länge
der Kausalreihen ab; und andrerseits, der Besitz der Mittel erzeugt
unzählige Male nicht nur die Verwirklichung, sondern erst den Ge-
danken des Zwecks.


Um diese Verwebung des natürlichen und des geistigen Seins in
ihrer Bedeutung einzusehen, muſs man sich das scheinbar Selbst-
verständliche vor Augen halten, daſs wir mit vielgliedrigen Reihen von
Mitteln mehr und wesentlichere Zwecke erreichen können als mit kurzen.
Der primitive Mensch, dessen Kenntnis der natürlichen Ursächlichkeiten
sehr beschränkt ist, ist dadurch in seinen Zwecksetzungen ebenso be-
schränkt. Die Zweckkurve wird bei ihm als Mittelglieder kaum mehr
als das eigene physische Thun und die unmittelbare Einwirkung auf
je ein Objekt enthalten; wenn nun von diesem nicht die erhoffte Rück-
wirkung auf ihn erfolgt, so wird die Einschiebung einer magischen In-
stanz, von der er durch irgend ein Beeinflussen die Bewirkung des
gewünschten Erfolges erhofft, doch weniger als Verlängerung der teleo-
logischen Reihe, denn als Beweis für die Unthunlichkeit derselben
erscheinen. Wo jene kurze Reihe also nicht ausreicht, wird er ent-
weder auf den Wunsch verzichten, oder, unendlich häufiger, ihn über-
haupt nicht ausbilden. Die Verlängerung der Reihe bedeutet, daſs das
Subjekt die Kräfte der Objekte in steigendem Maſse für sich arbeiten
läſst. Je mehr die primitiven Bedürfnisse schon befriedigt sind, desto
mehr Glieder pflegt die teleologische Reihe zu fordern, und erst einer
sehr verfeinerten Kausalerkenntnis gelingt dann manchmal die Reduktion
der Gliederzahl, indem sie unmittelbarere Zusammenhänge, kürzere
Wege innerhalb der natürlichen Ordnung der Dinge entdeckt. Dies
kann sich bis zu einer Umkehrung des natürlichen Verhältnisses
steigern: in relativ primitiven Zeiten werden die einfachen Lebens-
bedürfnisse noch durch einfache Zweckreihen beschafft, während es
für die höheren und differenzierten vielgliedriger Umwege bedarf; die
vorgeschrittene technische Kultur dagegen pflegt grade für die letzteren
relativ einfachere, direktere Herstellungsarten zu besitzen, wogegen die
Gewinnung der fundamentalen Erfordernisse des Lebens auf immer
gröſsere Schwierigkeiten stöſst, die durch immer kompliziertere Mittel
überwunden werden müssen. Die Kulturentwicklung geht, mit einem
[189] Wort, auf Verlängerung der teleologischen Reihen für das sachlich Nahe-
liegende und Verkürzung derselben für das sachlich Fernliegende.
Und hier tritt der äuſserst wichtige Begriff des Werkzeugs in unsere
Erwägung des Zweckhandelns ein. Die primäre Form jener teleo-
logischen Kurve ist doch die, daſs unser Thun ein äuſseres Objekt zu
Reaktionen veranlaſst, die, gemäſs der eigenen Natur desselben ver-
laufend, an den Punkt der erwünschten Einwirkung auf uns gelangen.
Das Werkzeug bedeutet nun die Einschiebung einer Instanz zwischen
dem Subjekt und diesem Objekt, die nicht nur zeitlich-räumlich, sondern
auch inhaltlich eine Mittelstellung zwischen ihnen einnimmt. Denn es
ist einerseits zwar ein äuſseres Objekt von bloſs mechanischer Wirk-
samkeit, andrerseits aber auch eins, auf das nicht nur, sondern mit
dem — wie mit der Hand — gewirkt wird. Das Werkzeug ist das
potenzierte Mittel, denn seine Form und sein Dasein ist schon durch
den Zweck bestimmt, während bei dem primären teleologischen
Prozeſs die natürlichen Existenzen erst nachträglich in den Dienst
des Zweckes gestellt werden. Wer einen Samen in die Erde steckt,
um später die Frucht des Gewächses zu genieſsen, statt sich mit der
wild wachsenden zu begnügen, handelt teleologisch, aber die Erscheinung
des Zweckes mündet an der Grenze seiner Hand; wenn aber bei dieser
Gelegenheit Hacke und Spaten verwendet werden, so ist der Punkt,
von dem an die natürlichen Prozesse sich selbst überlassen sind, weiter
hinausgeschoben, das subjektiv bestimmte Moment ist dem objektiven
gegenüber verlängert. Mit dem Werkzeug fügen wir der Zweckreihe
allerdings ein neues Glied freiwillig zu, damit aber nur beweisend,
daſs keineswegs jeder Weg in dem Maſse der kürzere ist, in dem er
der gradere ist. Das Werkzeug ist der Typus dessen, was man in der
Auſsenwelt unser Geschöpf nennen könnte, indem es, gleichsam an dem
einen Ende, ganz von unseren Kräften geformt wird und am andern
ganz in unsere Zwecke eingeht; grade dadurch, daſs es selbst nicht
Zweck ist, fehlt ihm jene relative Selbständigkeit, die der Zweck be-
sitzt, sei es, daſs er uns als absoluter Wert an sich selbst gelte, sei es,
daſs wir von ihm eine Wirkung auf uns erwarten: es ist das Mittel
schlechthin. Das Werkzeug-Prinzip ist nun keineswegs nur an Physischem
wirksam. Vielmehr dort, wo das Interesse nicht unmittelbar der
materiellen Produktion gilt, sondern geistige Bedingungen und Seiten
derselben oder überhaupt immaterielle Geschehnisse in Frage stehen,
gewinnt das Werkzeug eigentlich eine noch reinere Form, insofern es
nun wirklich ganz das Geschöpf unseres Willens ist und sich nicht mit
der Besonderheit und inneren Zweckfremdheit einer Materie abzufinden
hat. Den ausgeprägtesten Typus bilden hier vielleicht die sozialen
[190] Institutionen, durch deren Benutzung der Einzelne Zwecke erreichen
kann, zu denen sein bloſs persönliches Können niemals zureichen würde.
Ganz abgesehen von dem Allerallgemeinsten: daſs das Teilhaben am
Staat durch den äuſseren Schutz, den er gewährt, überhaupt die Be-
dingung für die Mehrzahl individueller Zweckhandlungen ist — so ver-
schaffen etwa die besonderen Einrichtungen des Zivilrechts dem Wollen
des Einzelnen Realisierungsmöglichkeiten, die ihm sonst völlig versagt
blieben. Indem sein Wille den Umweg über die Rechtsform des Ver-
trags, des Testaments, der Adoption u. s. w. einschlägt, benutzt er ein
von der Allgemeinheit hergestelltes Werkzeug, das seine eigene Kraft
vervielfältigt, ihre Wirkungslinien verlängert, ihre Resultate sichert.
Aus den Wechselwirkungen der Vielen entstehen, indem das Zufällige
sich gegenseitig abschleift und die Gleichmäſsigkeit der Interessen eine
Summierung der Beiträge gestattet, objektive Einrichtungen, die gleich-
sam die Zentralstation für unzählige teleologische Kurven der Individuen
bilden und diesen ein völlig zweckmäſsiges Werkzeug für die Er-
streckung derselben auf sonst Unerreichbares bieten. So verhält es
sich auch mit dem kirchlichen Kultus: er ist ein von der Gesamtheit
der Kirche bereitetes, die für dieselbe typischen Empfindungen
objektivierendes Werkzeug — gewiſs ein Umweg für die innen und
oben gelegenen Endziele der Religiosität, aber der Umweg über ein
Werkzeug, das, im Unterschiede von allen materiellen Werkzeugen,
sein ganzes Wesen darin hat, bloſs Werkzeug zu jenen Zielen zu
sein, die das Individuum für sich allein, d. h. auf direktem Wege,
nicht glaubt gewinnen zu können.


Und damit ist endlich der Punkt erreicht, an dem das Geld in
den Verwebungen der Zwecke seinen Platz findet. Ich muſs mit All-
bekanntem beginnen. Beruht aller wirtschaftliche Verkehr darauf, daſs
ich etwas haben will, was sich zur Zeit im Besitze eines anderen be-
findet, und daſs er es mir überläſst, wenn ich ihm dafür etwas über-
lasse, was ich besitze und er haben will: so liegt auf der Hand, daſs
das letztgenannte Glied dieses zweiseitigen Prozesses sich nicht immer
einstellen wird, wenn das erste auftaucht; unzähligemal werde ich den
Gegenstand a begehren, der sich im Besitz von A befindet, während
der Gegenstand oder die Leistung b, die ich gern dafür hingäbe, für
A völlig reizlos ist; oder aber die gegenseitig angebotenen Güter werden
wohl beiderseitig begehrt, allein über die Quanta, in denen sie sich
gegenseitig entsprechen, läſst sich durch unmittelbares Aneinander-
halten eine Einigung nicht erzielen. Deshalb ist es für die höchst-
mögliche Erreichung unserer Zwecke von gröſstem Werte, daſs ein
Mittelglied in die Kette der Zwecke eingefügt werde, in welches ich b
[191] jederzeit umsetzen und das sich seinerseits ebenso in a umsetzen kann —
ungefähr wie jede beliebige Kraft, des fallenden Wassers, der erhitzten
Gase, der windgetriebenen Mühlenflügel, wenn sie in die Dynamo-
maschine geleitet ist, mittels dieser in jede beliebige gewünschte Kraft-
form umgesetzt werden kann. Wie meine Gedanken die Form der
allgemein verstandenen Sprache annehmen müssen, um auf diesem Um-
wege meine praktischen Zwecke zu fördern, so muſs mein Thun oder
Haben in die Form des Geldwertes eingehen, um meinem weiter-
gehenden Wollen zu dienen. Das Geld ist die reinste Form des Werk-
zeugs, und zwar von der oben bezeichneten Art: es ist eine soziale
Institution, in die der Einzelne sein Thun oder Haben einmünden
läſst, um durch diesen Durchgangspunkt hindurch Ziele zu erreichen,
die seiner auf sie direkt gerichteten Bemühung unzugängig wären. Die
Thatsache, daſs jedermann unmittelbar mit ihm arbeitet, läſst seinen
Werkzeugcharakter noch deutlicher hervortreten, als es in den vorhin
erwähnten Typen geschieht — obgleich das Geld ja sein Wesen und
seine Wirksamkeit nicht in dem Stück, das ich in der Hand habe, er-
schöpft, sondern dieselben an der sozialen Organisation und den über-
subjektiven Normen hat, die es, über seine materielle Begrenztheit,
Geringfügigkeit und Starrheit hinaus, eben zum Werkzeug unbegrenzt
mannigfaltiger und weitreichender Zwecke werden lassen. Für die
Gebilde des Staates und des Kultus war bezeichnend, daſs sie, aus-
schlieſslich aus geistigen Kräften gebildet und zu keinem Kompromiſs
mit der Eigengesetzlichkeit äuſserer Materie gezwungen, ihren Zweck
in der Ganzheit ihres Wesens restlos ausdrückten. Aber sie stehen
dabei ihren spezifischen Zwecken so nahe, daſs sie eigentlich schon in
sie hinabreichen, und daſs das Gefühl sich oft gegen ihre Werkzeugs-
qualität — nach dem sie an sich selbst wertlose, durch den dahinter-
stehenden Willen jedesmal erst zu belebende Mittel wären — sträubt
und sie für sittliche Endwerte erklärt. Das Geld steht einer solchen
Verdunklung seines Mittelscharakters sehr fern. Im Unterschied gegen
jene Institutionen hat es inhaltlich gar keine Beziehungen zu dem
einzelnen Zweck, zu dessen Erlangung es uns verhilft. Es steht völlig
indifferent über den Objekten, da es von ihnen noch durch das Mo-
ment des Tausches geschieden ist: denn was das Geld als Ganzes ver-
mittelt, das ist ja nicht der Besitz des Objekts, sondern der Austausch
der Objekte untereinander. Das Geld in seinen reinsten Formen ist
das absolute Mittel, indem es einerseits völlige teleologische Bestimmt-
heit besitzt und jede aus anders gearteten Reihen stammende abweist,
andrerseits sich aber auch dem Zweck gegenüber auf das reine Mittel-
und Werkzeugsein beschränkt, durch keinen Einzelzweck in seinem
[192] Wesen präjudiziert wird und sich der Zweckreihe als völlig indifferenten
Durchgangspunkt darbietet. Es ist vielleicht der entschiedenste Be-
weis und Ausdruck dafür, daſs der Mensch das „werkzeugmachende
Tier“ ist, was freilich damit zusammenfällt, daſs er das „zwecksetzende“
Tier ist. Die Idee des Mittels bezeichnet überhaupt die Weltstellung
des Menschen: er ist nicht wie das Tier an den Mechanismus des
Trieblebens und die Unmittelbarkeit von Wollen und Genieſsen ge-
bunden, er hat aber auch nicht die unmittelbare Macht — wie wir sie
an einem Gotte denken — daſs sein Wille schon an und für sich Ver-
wirklichung des Gewollten sei. Er steht in der Mitte zwischen beiden,
indem er zwar weit über den Augenblick hinaus wollen, aber dieses
Wollen nur auf dem Umweg über eine gegliederte teleologische Reihe
verwirklichen kann. Wenn für Plato die Liebe ein mittlerer Zustand
zwischen Haben und Nicht-Haben ist, so ist sie in der subjektiven
Innerlichkeit dasselbe, was das Mittel im Objektiven und Äuſserlichen
ist. Und wie für den Menschen, den immer strebenden, niemals
dauernd befriedigten, immer erst werdenden die Liebe in jenem Sinne
der eigentlich menschliche Zustand ist, so ist nach der anderen Seite
hin das Mittel und seine gesteigerte Form, das Werkzeug, das Symbol
des Typus Mensch: es zeigt oder enthält die ganze Gröſse des mensch-
lichen Willens, zugleich aber die Form, die ihn begrenzt. Die prak-
tische Notwendigkeit, den Zweck um eine dazwischen gestellte Mittelreihe
weit von uns abzurücken, hat vielleicht die ganze Vorstellung der Zu-
kunft erst hervorgebracht — wie die Fähigkeit des Gedächtnisses die
Vergangenheit — und damit dem Lebensgefühl des Menschen seine
Form: auf der Wasserscheide zwischen Vergangenheit und Zukunft zu
stehen, seine Ausdehnung und seine Beschränkung, gegeben. Im Geld
aber hat das Mittel seine reinste Wirklichkeit erhalten, es ist dasjenige
konkrete Mittel, das sich mit dem abstrakten Begriffe desselben ohne
Abzug deckt: es ist das Mittel schlechthin. Und darin, daſs es als
solches die praktische Stellung des Menschen — den man, mit etwas
paradoxer Kürze, das indirekte Wesen nennen könnte — zu seinen
Willensinhalten, seine Macht und Ohnmacht ihnen gegenüber verkörpert,
aufgipfelt, sublimiert — darin liegt die ungeheure Bedeutung des Geldes
für das Verständnis der Grundmotive des Lebens. Nach dieser, von
ihm zu der Ganzheit des Lebens hingehenden Richtung betrachte ich
es aber hier nur so weit, als dieselbe die umgekehrte, die vorläufig
unser Zweck ist, gangbar macht: das Wesen des Geldes aus den inneren
und äuſseren Verhältnissen zu erkennen, die in ihm ihren Ausdruck,
ihr Mittel oder ihre Folge gewinnen. Von den Bestimmungen, zu
denen sich die bisherige Feststellung seiner entfaltet, schlieſse ich eine
[193] sogleich hier an, weil sie mit besonderer Unmittelbarkeit zeigt, in wie
praktische Wirklichkeiten sich jener abstrakte Charakter des Geldes
umsetzt.


Ich habe oben erwähnt, daſs keineswegs immer nur ein bereits
feststehender Zweck die Vorstellung und Beschaffung der Mittel be-
dingt, daſs vielmehr die Verfügung über Substanzen und Kräfte uns
oft genug erst dazu anregt, uns gewisse, durch sie vermittelbare Zwecke
zu setzen: nachdem der Zweck den Gedanken des Mittels geschaffen
hat, schafft das Mittel den Gedanken des Zwecks. In dem Werk-
zeug
, das ich als die gesteigertste Art des Mittels bezeichnete, wird
dies Verhältnis in eine zwar oft modifizierte, aber dafür gleichsam
chronische Form übergeführt. Während das Mittel in seiner gewöhn-
lichen und einfachen Gestalt sich an der Realisierung des Zwecks völlig
ausgelebt hat, seine Kraft und sein Interesse als Mittel nach geleistetem
Dienste einbüſst, ist es das Wesen des Werkzeugs, über seine einzelne
Anwendung hinaus zu beharren, oder: zu einer im voraus überhaupt
nicht feststellbaren Anzahl von Diensten berufen zu sein. Dies gilt
nicht nur für tausend Fälle der täglichen Praxis, wofür es keines Bei-
spiels bedarf, sondern auch in sehr komplizierten; wie oft sind mili-
tärische Organisationen, ausschlieſslich zu Werkzeugen äuſserer Macht-
entfaltung bestimmt, in den Dienst innerpolitischer Zwecke der Dynastie
gestellt worden, die denen ihres Ursprungs völlig entgegengesetzt
waren, vor allem: wie oft wächst ein Verhältnis zwischen Menschen,
das zu bestimmten Einzelzwecken gestiftet wurde, zum Träger sehr viel
weitergehender, ganz anders charakterisierter Inhalte aus; so daſs man
wohl sagen kann, jede dauernde Organisation zwischen Menschen —
familiärer, wirtschaftlicher, religiöser, politischer, geselliger Art — hat
die Tendenz, sich Zwecke anzubilden, zu denen sie von vorn-
herein nicht bestimmt war. Nun liegt einerseits auf der Hand, daſs
ein Werkzeug — ceteris paribus — um so bedeutsamer und wertvoller
sein wird, zu einer je gröſseren Anzahl von Zwecken es eventuell
dienen kann, ein je gröſserer Kreis von Möglichkeiten seine Wirklich-
keit umgiebt; andrerseits, daſs das Werkzeug in eben demselben Maſs
an sich indifferenter, farbloser, allem einzelnen gegenüber objektiver
werden und in weiterer Distanz von jedem besonderen Zweckinhalt
stehen muſs. Indem das Geld als das Mittel schlechthin die letztere
Bedingung in vollkommenem Maſse erfüllt, gewinnt es aus dem ersteren
Gesichtspunkt eine sehr gesteigerte Wichtigkeit. Man kann das zu-
nächst so formulieren, daſs der Wert des einzelnen Geldquantums über
den Wert jedes einzelnen bestimmten Gegenstandes hinausragt, der
dafür einzutauschen ist: denn es gewährt die Chance, statt dieses
Simmel, Philosophie des Geldes. 13
[194] Gegenstandes irgend einen andern aus einem unbegrenzt groſsen Kreise
zu wählen. Freilich kann es schlieſslich nur für einen verwandt
werden; aber die Möglichkeit der Wahl ist ein Vorteil, der im Werte
des Geldes eskomptiert werden muſs. Indem das Geld überhaupt
keine Beziehung zu irgend einem einzelnen Zweck hat, gewinnt
es eine solche zu der Gesamtheit der Zwecke. Es ist dasjenige
Werkzeug, in dem die Möglichkeit der nicht vorausgesehenen Ver-
wendungen auf ihr Maximum gekommen ist und das dadurch den maxi-
malen, auf diese Weise überhaupt erreichbaren Wert gewonnen hat.
Die bloſse Möglichkeit unbegrenzter Verwendung, die das Geld
wegen des absoluten Mangels an eigenem Inhalt nicht sowohl hat als
ist, spricht sich positiv darin aus, daſs es nicht ruhen mag, sondern
wie von sich aus fortwährend zum Verwendetwerden drängt. Wie für
wortarme Sprachen, z. B. die französische, grade die Notwendigkeit,
vielerlei verschiedenes mit demselben Ausdruck zu bezeichnen, eine
besondere Fülle von Anspielungen, Beziehungen, psychologischen Ober-
tönen ermöglicht, und man so sagen kann, ihr Reichtum bestünde grade
in ihrer Armut, — so bewirkt die innere Bedeutungsleere des Geldes
die Fülle seiner praktischen Bedeutungen, ja, drängt dahin, die be-
griffliche Unendlichkeit seines Bedeutungskreises mit fortwährenden
Neubildungen zu erfüllen, der bloſsen Form, die es darstellt, immer
neue Inhalte einzubilden, da sie für keinen ein Haltepunkt, sondern
für jeden nur ein Durchgang ist. Schlieſslich sind alle mannigfaltigsten
Waren nur gegen den einen Wert: Geld — das Geld aber gegen alle
Mannigfaltigkeit der Waren umzusetzen. Gegenüber der Arbeit nimmt
dies die besondere Form an, daſs das Geldkapital fast immer von einer
Verwendung auf eine andere — höchstens mit einem gewissen Ver-
lust, oft aber mit Gewinn — übertragen werden kann, die Arbeit aber
fast niemals, und zwar um so weniger, je höher sie sich über die
unqualifizierte erhebt. Der Arbeiter kann seine Kunst und Geschick-
lichkeit so gut wie nie aus seinem Gewerbe herausziehen und in einem
andern investieren. In Bezug auf Wahlfreiheit und ihre Vorteile steht
er also dem Geldbesitzer ebenso benachteiligt gegenüber wie der
Warenhändler. Deshalb ist der Wert einer gegebenen Geldsumme
gleich dem Werte jedes einzelnen Objekts, dessen Äquivalent sie bildet,
plus dem Werte der Wahlfreiheit zwischen unbestimmt vielen der-
artigen Objekten — ein plus, für das es innerhalb des Waren- oder
Arbeitskreises kaum annähernde Analogien giebt.


Das so entstehende Wertplus des Geldes erscheint tiefer begründet
und höher gesteigert, wenn man die Entscheidung erwägt, zu welcher
diese Wahlchance sich in Wirklichkeit zuspitzt. Man hat hervor-
[195] gehoben, daſs ein mehrfach verwendbares, quantitativ aber nur zu
einer seiner möglichen Verwendungen hinreichendes Gut nach dem
Interesse geschätzt würde, das der Besitzer an der wichtigsten Ver-
wendung hat; die Herbeiführung aller anderen, minder wichtigen Ver-
wendungen gelte als unwirtschaftlich und unvernünftig. Wie also eine
Gütermasse, die zu allen ihr möglichen Verwendungen zureicht oder
mehr als zureicht — wo also das Gut um seine Verwendungen kon-
kurriert — nach dem Maſse der wertlosesten derselben geschätzt wird,
so wird hier, wo die Verwendungen um das Gut konkurrieren, die
wertvollste derselben zum Wertmaſsstab für jenes Gut. Nirgends aber
kann dies vollständiger und wirkungsvoller hervortreten als am Geld.
Denn da es zu jeglicher wirtschaftlichen Beschaffung verwendbar ist,
so kann man mit jeder gegebenen Summe das subjektiv bedeutendste
aller im Augenblick in Frage kommenden Bedürfnisse decken. Die
Wahl, die es bietet, ist nicht wie bei allen anderen Gütern spezifisch
begrenzt, und bei der Grenzenlosigkeit des menschlichen Wollens, kon-
kurriert immer eine Vielzahl möglicher Verwendungen um jedes dispo-
nible Geldquantum; so daſs, da die Entscheidung doch vernünftigerweise
immer das je begehrteste Gut treffen wird, die Schätzung des Geldes
in jedem gegebnen Moment gleich der des wichtigsten, momentan em-
pfundenen Interesses sein muſs. Ein Holzvorrat oder eine Baustelle,
die nur zu einer unter verschiedenen erwünschten Verwendungen zu-
reichen, und die deshalb nach der wertvollsten unter diesen geschätzt
werden, können dennoch in ihrer Bedeutung nicht über die sozusagen
provinzielle Beschränktheit ihres ganzen Gebietes hinausgehen; das
Geld aber ist von dieser frei und sein Wert entspricht deshalb dem
höchsten überhaupt vorhandenen Interesse, das mit der verfügbaren
Summe ihrem Quantum nach zu decken ist.


Nun betrifft ferner diese Wahlchance, die das Geld als abstraktes
Mittel besitzt, nicht nur die gleichzeitig angebotenen Waren, sondern
auch die Zeitpunkte, in denen es verwendet werden kann. Der Wert
eines Gutes bestimmt sich keineswegs nur an der realen Bedeutung,
die es im Augenblick seiner Verwendung entfaltet. Vielmehr, die
gröſsere oder geringere Freiheit der Wahl, wann man diesen Augen-
blick eintreten lassen will, stellt einen Koeffizienten dar, der die
Schätzung des Gutes seiner inhaltlichen Bedeutung nach sehr erheblich
steigern oder senken kann. War das oben Besprochene die Chance,
die aus einem groſsen Kreise nebeneinander liegender Verwendungs-
möglichkeiten hervorging, so die jetzige diejenige, die aus den nach-
einander
liegenden folgt. Dasjenige Gut ist — alles übrige gleich-
gesetzt — das wertvollere, das ich sogleich verwenden kann, aber
13*
[196] nicht sogleich verwenden muſs. Die Reihe der konkreten Güter ent-
faltet sich zwischen den beiden, ihren Wert modifizierenden und mannig-
faltigst abgestuften Extremen: im Falle des einen kann das Gut zwar
jetzt, aber nicht später, im Falle des anderen zwar später, aber nicht
jetzt genossen werden. Wenn also z. B. im Sommer eben gefangene
Fische gegen ein erst im Winter zu tragendes Fell eingetauscht werden,
so wird der Wert der ersteren dadurch gehoben, daſs ich sie sogleich
konsumieren kann, während der des letzteren darunter leidet, daſs der
Aufschub seiner Benutzung allen Chancen der Beschädigung, des Ver-
lustes, der Entwertung Raum giebt; andrerseits wird der erstere herab-
gesetzt, weil der Gegenstand schon morgen verdorben ist, der letztere
gesteigert, weil er eine hinausschiebbare Verwendung gewährt. Je
mehr nun ein als Tauschmittel benutztes Objekt die beiden wert-
steigernden Momente in sich vereinigt, desto mehr Geldqualität besitzt
es: denn das Geld als reines Mittel überhaupt stellt ihre höchsterreich-
bare Synthese dar; weil es keine konkrete, seine Verwendung prä-
judizierende Eigenschaft besitzt, sondern nur das Werkzeug zur Er-
langung konkreter Werte ist, so ist die Freiheit seiner Verwendung
ebenso groſs in Bezug auf die Zeitmomente, in denen, wie auf die
Gegenstände, für die es ausgegeben wird.


Aus diesem besonderen Wert des Geldes, der seiner völligen Be-
ziehungslosigkeit zu allen Besonderungen von Dingen und Zeitmomenten,
der völligen Ablehnung jedes eigenen Zweckes, der Abstraktheit seines
Mittelscharakters entstammt — flieſst das Übergewicht dessen, der das
Geld giebt, über denjenigen, der die Ware giebt. Die Ausnahmen hier-
von: Verweigerungen des Verkaufs aus affektiven Wertungen, bei
Boykottierungen, Ringbildungen u. s. w. — entstehen, wenn die für
Geld begehrten Dingwerte der individuellen Sachlage nach durchaus
nicht durch andere ersetzbar sind. Dann freilich fällt die Wahlchance,
die das dafür offerierte Geld seinem jetzigen Besitzer bietet, fort — und
damit dessen Sondervorteil — weil eben statt der Wahl eine eindeutige
Bestimmtheit des Willens besteht. Im allgemeinen aber genieſst der
Geldbesitzer jene zweiseitige Freiheit, und für das Aufgeben derselben
zu gunsten des Warenbesitzers wird er ein besonderes Äquivalent fordern.
Dies tritt z. B. an dem wirtschafts-psychologisch sehr interessanten
Prinzip der „Zugabe“ hervor. Beim Einkauf von wäg- und meſsbaren
Waren erwartet man, der Kaufmann werde „gut messen“, d. h. wenig-
stens einen Teilstrich darüber geben; was auch fast durchgängig ge-
schieht. Es kommt hier freilich dazu, daſs beim Messen der Waren
ein Irrtum näher liegt als beim Zählen des Geldes. Allein das
Charakteristische ist, daſs der Geldgeber die Macht hat, die Deutung
[197] dieser Chance, die doch an sich für beide Parteien die gleich günstige
oder ungünstige ist, nach der ihm vorteilhaftesten Seite zu erzwingen.
Und wo eine „Zugabe“ von seiten des Geldgebers geschieht: gewisse
Formen des Trinkgeldes, etwa bei der Bezahlung des Kellners oder
des Droschkenkutschers — da drückt sich das Übergewicht des Geld-
gebers in der sozialen Bevorzugtheit aus, die die Voraussetzung des
Trinkgeldes ist. Wie alle Erscheinungen des Geldwesens, ist auch
diese keine innerhalb des Lebenssystems isolierte, sondern bringt gleich-
falls einen Grundzug desselben nur zur reinsten und zugleich äuſser-
lichsten Erscheinung: den nämlich, daſs in jedem Verhältnis derjenige
im Vorteil ist, dem weniger an dem Inhalt der Beziehung liegt. So
ausgesprochen erscheint dies als ganz paradox, denn grade um so
intensiveres Verlangen uns zu einem Besitz oder einem Verhältnis
zieht, desto tiefer und leidenschaftlicher ist doch auch sein Genuſs —
da ja die erwartete Höhe dieses die Stärke des Wollens bestimmt!
Aber grade dies Einzuräumende bewirkt und rechtfertigt den Vorteil
des weniger stark Begehrenden. Denn es ist in der Ordnung, daſs
dieser, der von dem Verhältnis weniger hat als der andere, durch irgend
welche Konzessionen seitens des letzteren dafür entschädigt wird. Das
macht sich schon in den feinsten und intimsten Beziehungen geltend.
In jedem auf Liebe gestellten Verhältnis ist der weniger Liebende,
äuſserlich genommen, im Vorteil; denn der andere verzichtet von vorn-
herein mehr auf die Ausnutzung des Verhältnisses, ist der Opfer-
willigere, der für das gröſsere Maſs seiner Befriedigungen auch ein
gröſseres Maſs von Hingebungen bietet. So stellt sich doch eine Ge-
rechtigkeit her: weil das Maſs des Begehrens dem Maſs der Beglückung
entspricht, ist es in der Ordnung, daſs die Gestaltung des Verhältnisses
dem weniger Begehrenden irgend einen Sondervorteil einräume — den
er auch in der Regel erzwingen kann, weil er der Abwartende, Reser-
vierte, seine Bedingungen Stellende ist. Der Vorteil des Geldgebers
ist deshalb kein schlechthin ungerechter: da in der Waren-Geld-Trans-
aktion er der weniger Begehrende zu sein pflegt, so kommt die Aus-
gleichung beider Seiten grade dadurch zustande, daſs der intensiver
Begehrende ihm einen Vorteil über die objektive Äquivalenz der Tausch-
werte hinaus einräumt. Wobei schlieſslich auch zu bedenken ist, daſs
er den Vorteil nicht genieſst, weil er das Geld hat, sondern weil er
es fortgiebt.


Der Vorteil, den das Geld aus seiner Gelöstheit von allen spezi-
fischen Inhalten und Bewegungen der Wirtschaft zieht, äuſsert sich
noch in andern Erscheinungsreihen, deren Typus es ist, daſs bei noch
so starken und ruinösen Erschütterungen der Wirtschaft die eigent-
[198] lichen Geldleute unverändert, ja in erhöhtem Maſse zu profitieren
pflegen. So viele Zusammenbrüche und Existenzvernichtungen die
Folge sowohl der Preisstürze wie der besinnungslosen Haussen auf
dem Warenmarkte sein mögen — die Erfahrung hat als die Regel ge-
zeigt, daſs die groſsen Bankiers aus diesen entgegengesetzten Gefahren
für Verkäufer oder Käufer, Gläubiger oder Schuldner ihren gleich-
mäſsigen Gewinn ziehen. Das Geld, als das völlig indifferente Werk-
zeug der ökonomischen Bewegung, läſst sich seine Dienste bei jeder
Richtung und jedem Tempo derselben bezahlen. Für diese Freiheit
muſs es freilich auch seine Steuer entrichten: die Parteilosigkeit
des Geldes bewirkt, daſs an den Geldgeber leicht Ansprüche von
verschiedenen, einander feindseligen Seiten gestellt werden und er
leichter in den Verdacht des Verrates gerät, als irgend jemand, der
mit qualitativ bestimmten Werten operiert. Im Beginn der Neuzeit,
als die groſsen Geldmächte der Fugger, der Welser, der Florentiner
und Genuesen in die politischen Entscheidungen eintraten, insbesondere
in den gewaltigen Kampf der habsburgischen und der französischen
Macht um die europäische Hegemonie, wurden sie von jeder Partei
mit stetem Miſstrauen betrachtet, selbst von derjenigen, der sie un-
geheure Summen geliehen hatten. Der Geldleute war man eben nie
sicher, das bloſse Geldgeschäft legte sie nie auch nur für den nächsten
Augenblick unzweideutig fest, und der Gegner, dessen Bekämpfung sie
soeben unterstützt hatten, sah darin gar kein Hindernis, nun seiner-
seits mit Forderungen oder Anerbietungen an sie heranzutreten. Das
Geld hat jene sehr positive Eigenschaft, die man mit dem negativen Be-
griffe der Charakterlosigkeit bezeichnet. Dem Menschen, den wir cha-
rakterlos nennen, ist es wesentlich, nicht durch die innere und in-
haltliche Dignität von Personen, Dingen, Gedanken sich bestimmen zu
lassen, sondern durch die quantitative Macht, mit der das Einzelne ihn
beeindruckt, vergewaltigt zu werden. So ist es der von allen spezi-
fischen Inhalten gelöste und in reiner Quantität bestehende Charakter
des Geldes, der ihm und den nur nach ihm gravitierenden Menschen
die Färbung der Charakterlosigkeit einträgt — die fast logisch not-
wendige Schattenseite jener Vorteile des Geldgeschäftes und der spezi-
fischen Höherwertung des Geldes gegenüber qualitativen Werten. Dieses
Übergewicht des Geldes drückt sich zunächst in der angeführten Er-
fahrung aus, daſs der Verkäufer interessierter und beeiferter ist als
der Käufer. Denn es verwirklicht sich hier eine für unser ganzes
Verhalten zu den Dingen äuſserst bedeutsame Form: daſs von zwei
Wertklassen, die einander gegenüberstehen und als Ganze betrachtet
werden, die erste der zweiten entschieden überlegen ist, daſs aber der
[199] einzelne Inhalt oder Exemplar der zweiten einem entsprechenden der
ersten gegenüber den Vorzug hat. So würden wir, vor die Wahl
zwischen der Gesamtheit aller materiellen und aller idealen Güter gestellt,
uns wohl für die ersteren entscheiden müssen, weil der Verzicht auf
sie das Leben überhaupt, mitsamt seinen idealen Inhalten, verneinen
würde; während wir nicht schwanken mögen, jedes einzelne heraus-
gegriffene materielle Gut für irgend ein ideales dahinzugeben. So sind
wir in unseren Beziehungen zu verschiedenen Menschen gar nicht im
Zweifel, wie viel wertvoller und unentbehrlicher, als Ganzes empfunden,
uns die eine als die andere ist; dennoch in den einzelnen Momenten
und Seiten des Verhältnisses mag uns das als Ganzes wertlosere das
erfreulichere und bestechendere sein. So also verhält es sich zwischen
dem Geld und den konkreten Wertobjekten: die Wahl zwischen der Ge-
samtheit der letzteren und der des ersteren würde sogleich dessen innere
Wertlosigkeit offenbaren, da wir dann bloſs ein Mittel, aber keinen
Zweck, dem es diene, mehr hätten; dagegen, das einzelne Geldquan-
tum gegen das einzelne Warenquantum gehalten, wird der Austausch
des letzteren gegen das erstere in der Regel mit sehr viel gröſserer Inten-
sität als der umgekehrte begehrt. Auch besteht dieses Verhältnis
nicht nur zwischen den Gegenständen überhaupt und dem Gelde über-
haupt, sondern auch zwischen diesem und einzelnen Warenkategorien.
Die einzelne Stecknadel ist fast wertlos, Stecknadeln überhaupt aber
sind fast unentbehrlich und „gar nicht mit Geld aufzuwiegen“. Un-
zählige Warenarten verhalten sich so: die Möglichkeit, für Geld das
einzelne Exemplar ohne weiteres zu beschaffen, entwertet dasselbe prin-
zipiell dem Gelde gegenüber, das Geld erscheint als die herrschende
Macht, die über den Gegenstand verfügt; dagegen die Warenart als
Ganze ist in ihrer Bedeutung für uns mit Geld ganz inkommensurabel
und hat ihm gegenüber jenen selbständigen Wert, den die leichte
Wiederbeschaffbarkeit des singulären Exemplars so oft für unser Be-
wuſstsein überdeckt. Da das praktisch ökonomische Interesse sich aber-
fast ausschlieſslich an das einzelne Stück heftet, so hat
die Geldwirtschaft es wirklich zustande gebracht, daſs unser Wertgefühl
den Dingen gegenüber sein Maſs an ihrem Geldwert zu finden pflegt.
Das aber steht ersichtlich in Wechselwirkung mit jenem überwiegen-
den Interesse, das Geld statt des Gegenstandes in Händen zu haben.


Und das läuft schlieſslich in eine allgemeine Erscheinung aus,
die man das Superadditum des Reichtums nennen und dem unearned
profit der Bodenrente vergleichen könnte. Der Reiche genieſst Vor-
teile, noch über den Genuſs desjenigen hinaus, was er sich für sein
Geld konkret beschaffen kann. Der Kaufmann handelt mit ihm solider
[200] und billiger als mit dem Armen, jedermann, auch der gar nichts
von seinem Reichtum profitiert
, begegnet ihm zuvorkommen-
der, als dem Armen, es schwebt eine ideale Sphäre fragloser Bevor-
zugtheit um ihn. Allenthalben kann man beobachten, wie dem Käufer
der kostspieligeren Warengattung, dem Benutzer der höheren Eisen-
bahnklasse etc. allerhand kleine Bevorzugungen eingeräumt werden;
mit dem von ihm bezahlten Sachwert haben diese eigentlich so wenig
zu thun, wie das freundlichere Lächeln, mit dem der Kaufmann die
teurere Ware verkauft, mit dieser, sondern sie bilden eine Gratisbeilage,
die nur dem Konsumenten des Billigeren versagt bleibt, ohne daſs er
doch — und das ist gewissermaſsen das härteste dabei — über sach-
liche Übervorteilung zu klagen berechtigt wäre. Ja sogar als eine Art
moralischen Verdienstes gilt der Reichtum; was sich nicht nur in dem
Begriff der Respectability oder in der populären Bezeichnung wohl-
habender Leute als „anständiger“ ausdrückt, sondern auch in der
Korrelaterscheinung: daſs der Arme behandelt wird, als hätte er sich
etwas zu schulden kommen lassen, daſs man den Bettler im Zorne
davonjagt, daſs auch gutmütige Personen sich zu einer selbstverständ-
lichen Überlegenheit über den Armen legitimiert glauben. Zu direkt
perversen Erscheinungen kann sich das Superadditum des Reichtums
steigern: der praktische Idealismus, etwa äuſserlich unbelohnter wissen-
schaftlicher Arbeit, wird für gewöhnlich an einem reichen Manne mit
gröſserem Respekt betrachtet, als ethisch hervorragender verehrt, als
an einem armseligen Schulmeister! Dieser Wucherzins des Reichtums,
diese Vorteile, die er seinem Besitzer zuwachsen läſst, ohne daſs dieser
etwas dafür aufzuwenden hätte, ist an die Geldform der Werte ge-
knüpft. Denn alles dies ist offenbar Ausdruck oder Reflex jener un-
begrenzten Freiheit der Verwendung, die das Geld allen anderen Werten
gegenüber auszeichnet. Hierdurch kommt zustande, daſs der Reiche
nicht nur durch das wirkt, was er thut, sondern auch durch das, was
er thun könnte: weit über das hinaus, was er nun wirklich mit seinem
Einkommen beschafft, und was andere davon profitieren, wird das Ver-
mögen von einem Umkreis zahlloser Verwendungsmöglichkeiten um-
geben, wie von einem Astralleib, der sich über seinen konkreten
Umfang hinausstreckt: darauf weist unzweideutig hin, daſs die
Sprache erheblichere Geldmittel als „Vermögen“ — d. h. als das
Können, das Imstandesein schlechthin — bezeichnet. Alle diese Mög-
lichkeiten, von denen freilich nur ein ganz geringer Teil Wirklichkeit
werden kann, werden dennoch psychologisch saldiert, sie gerinnen zu
dem Eindruck einer nicht genau bestimmbaren, jede Festlegung ihres
erreichbaren Erfolges ablehnenden Macht, und zwar in um so um-
[201] fänglicherer und eindrucksvollerer Art, je beweglicher das Vermögen,
je leichter es zu jedem möglichen Zweck verfügbar ist, d. h. also, je
vollständiger jeder Vermögensbestand Geld oder in Geld umsetzbar
ist und je reiner das Geld selbst zum Werkzeug und Durchgangs-
punkt ohne jede eigene teleologische Qualifikation wird. Die reine
Potentialität, die das Geld darstellt, insofern es bloſs Mittel ist, ver-
dichtet sich zu einer einheitlichen Macht- und Bedeutungsvorstellung,
die auch als konkrete Macht und Bedeutung zu gunsten des Geld-
besitzers wirksam wird — ungefähr wie dem Reize eines Kunstwerkes
nicht nur sein Inhalt und die mit sachlicher Notwendigkeit damit ver-
bundenen seelischen Reaktionen zugerechnet werden, sondern all die zu-
fälligen, individuellen, indirekten Gefühlskombinationen, die es, hier
so und dort anders, anklingen läſst und deren unbestimmte Summe
doch erst das Ganze seines Wertes und seiner Bedeutsamkeit für uns
umschreibt.


In dem Wesen dieses Superadditums, wenn es so richtig gedeutet
ist, liegt es, daſs es um so stärker hervortreten muſs, je vollständiger
jene Chance und Wahlfreiheit seiner Verwendung vermöge der Ge-
samtlage seines Besitzers realisierbar wird. Dies ist am wenigsten bei
dem Armen der Fall: denn dessen Geldeinkommen ist, weil es nur
für die Notdurft des Lebens ausreicht, von vorn herein determiniert
und läſst der Auswahl unter seinen Verwendungsmöglichkeiten nur
einen verschwindend kleinen Spielraum. Derselbe erweitert sich mit
steigendem Einkommen, so daſs jeder Teil des letzteren das Super-
additum in dem Maſs erwirbt, in dem er von den zur Befriedigung
des Notdürftigen, Generellen und Vorherbestimmten erforderlichen Teilen
absteht; d. h. also, jeder zu der bereits bestehenden Einnahme hinzu-
kommende Teil besitzt einen höheren Zusatz jenes Superadditums — natür-
lich unterhalb einer sehr hoch gelegenen Grenze, oberhalb welcher
jeder Einkommensteil in dieser Hinsicht gleichmäſsig qualifiziert ist.
An diesem Punkte kann man die fragliche Erscheinung in einer spe-
ziellen Konsequenz ergreifen und zwar auf Grund einer, wie mir scheint,
auch sonst folgenreichen Überlegung. Viele Güter sind in solcher
Masse vorhanden, daſs sie von den zahlungsfähigsten Elementen der
Gesellschaft nicht konsumiert werden können, sondern, um überhaupt
abgesetzt zu werden, auch den ärmeren und ärmsten Schichten an-
geboten werden müssen. Deshalb können diese Waren nicht teurer
sein, als diese Schichten im äuſsersten Falle zahlen können. Dies
könnte man als Gesetz der konsumtiven Preisbegrenzung bezeichnen:
eine Ware kann niemals teurer sein, als die unbemitteltste soziale
Schicht noch bezahlen kann, der sie wegen ihrer vorhandenen Menge
[202] noch angeboten werden muſs. Man könnte hierin eine Wendung der
Grenznutzentheorie aus dem Individuellen in das Soziale erblicken:
statt des niedrigsten Bedürfnisses, das noch mit einer Ware gedeckt
werden kann, wird hier das Bedürfnis des Niedrigsten für die Preis-
gestaltung maſsgebend. Diese Thatsache bedeutet einen ungeheuren
Vorteil für den Wohlhabenden. Denn dadurch stehen auch ihm nun
grade die unentbehrlichsten Güter zu einem weit niedrigeren Preise
zur Verfügung, als er dafür erlegen würde, wenn man es ihm nur ab-
verlangte; dadurch, daſs der Arme die einfachen Lebensmittel kaufen
muſs, macht er sie für den Reichen billig. Wenn dieser selbst einen
proportional ebenso groſsen Teil seines Einkommens an die primärsten
Bedürfnisse (Nahrung, Wohnung, Kleidung) wenden müſste, wie der
Arme, so würde er noch immer, absolut genommen, mehr für Luxus-
wünsche übrig behalten als dieser. Allein er hat dazu noch den
additionellen Vorteil, daſs er seine nötigsten Bedürfnisse mit einem
relativ viel kleineren Teil seines Einkommens decken kann. Mit dem
darüber hinausreichenden nun hat er die Wahlfreiheit in der Verwen-
dung des Geldes, die ihn zum Gegenstand jener, sein thatsächliches
ökonomisches Können überragenden Achtung und Bevorzugung macht.
Die Geldmittel des Armen sind nicht von dieser Sphäre unbegrenzter
Möglichkeiten umgeben, weil sie von vornherein ganz unmittelbar und
zweifellos in sehr bestimmte Zwecke und Werte einmünden. In seiner
Hand sind sie also gar nicht in demselben reinen und abstrakten Sinne
„Mittel“, wie in der des Reichen, weil der Zweck schon sogleich in
sie hineinreicht, sie färbt und dirigiert, weshalb denn auch unsere
Sprache sehr feinfühlig erst den mit erheblichen Geldmitteln Aus-
gestatteten überhaupt als „bemittelt“ bezeichnet. Die mit diesen ver-
bundene Freiheit führt noch nach anderen Seiten hin zu einem Super-
additum. Wo öffentliche Funktionäre nicht besoldet werden, ist der
Erfolg der, daſs nur wohlhabende Leute führende Stellen bekleiden
können; so muſste etwa der General des achäischen Bundes nicht
weniger als — wenigstens bis vor kurzem — ein englisches Parla-
mentsmitglied ein wohlhabender Mann sein, und so bildet sich in
Ländern, die ihre Beamten sehr niedrig bezahlen, oft eine völlige
Plutokratie, eine Art Erblichkeit der hohen Ämter in wenigen Familien
heraus. Während die Unbesoldetheit der Stellungen das Geldinteresse
von dem Interesse des Dienstes scheint lösen zu sollen, wird so grade
die Beamtenstellung mit allen Ehren, Macht und Chancen, die sie
bietet, zu einem Annex des Reichtums. Und daſs sich dies an die
Geldform desselben knüpft, liegt nahe, weil nur diese wegen ihrer
teleologischen Indifferenz der Persönlichkeit die ganz freie Disposition
[203] über ihre Zeit, Aufenthaltsort und Bethätigungsrichtung läſst. Wenn
der Reichtum, wie wir oben sahen, an sich schon Ehrungen erwirbt
und, den Doppelsinn des „Verdienstes“ miſsbrauchend, sich einer Art
moralischer Schätzung erfreut, so verdichtet sich dies bei unbesoldeten
Staatsfunktionen zu dem, dem Armen unerreichbaren, Machtbesitz der
führenden Ämter. Und mit diesen ist nun wieder das weitere Super-
additum des Ruhmes patriotischer Aufopferung verbunden, der sicher
oft verdient ist, aber auch auf ganz andere als ethische Motive hin
dem bloſsen Geldbesitz sozusagen auf rein technischem Wege zu Ge-
bote steht. Mehr nach innen gewandt ist ein weiteres Superadditum,
das sich oberhalb der oben bezeichneten Grenze einstellt. Bei einem
sie überschreitenden Vermögen spielt die Frage, was ein begehrter
Gegenstand kostet, in vielen Fällen überhaupt keine Rolle mehr. Das
besagt viel mehr und tieferes, als der gewöhnliche Sprachgebrauch mit
diesem Ausdruck verbindet. So lange nämlich das Einkommen noch
in der angedeuteten Weise irgendwie für bestimmte Verwendungen
festgelegt ist, ist jede Ausgabe unvermeidlich mit dem Gedanken der
für sie erforderten Geldaufwendung belastet; für die Mehrzahl der
Menschen schiebt sich zwischen Wunsch und Befriedigung noch die
Frage: was kostet es? und bewirkt eine gewisse Materialisierung der
Dinge, die für den wirklichen Geldaristokraten ausgeschaltet ist. Wer
Geld über ein bestimmtes Maſs hinaus besitzt, gewinnt damit noch den
zusätzlichen Vorteil, es verachten zu können. Die Lebensführung, die
nach dem Geldwert der Dinge überhaupt nicht zu fragen braucht, hat
einen auſserordentlichen ästhetischen Reiz, sie braucht sich über Er-
werbungen nur nach sachlichen, ausschlieſslich von dem Inhalt und
der Bedeutung der Objekte abhängigen Gesichtspunkten zu entscheiden.
In so vielen Erscheinungen die Herrschaft des Geldes auch die Eigen-
artigkeit der Dinge und deren Bewuſstsein herabsetzen mag, so sind
doch auch die anderen unverkennbar, in denen das Geld diese steigert:
die Qualitäten der Objekte treten vielleicht um so individueller hervor,
je mehr das ihnen gemeinsame, der Wert, auf ein auſser ihnen
stehendes Gebilde projiziert und in ihm lokalisiert ist. Indem nun
jene Lebensführung nach dem Geld nicht fragt, entgeht sie den Ab-
lenkungen und den Schatten, die der rein sachlichen Qualität und
Wertung der Dinge durch die dieser innerlich ganz fremde Beziehung
auf ihren Geldpreis kommen. Wo also selbst der etwas weniger Be-
mittelte denselben Gegenstand kaufen kann, wie der ganz Reiche, ge-
nieſst dieser noch das psychologische Superadditum einer Leichtigkeit,
Unmittelbarkeit, Unabgelenktheit des Erwerbes und Genusses, die
jenem durch die vor- und mittönende Geldopferfrage getrübt wird.
[204] Wenn wir nachher sehen werden, daſs die Blasiertheit grade umgekehrt
die Abstumpfung gegen die Besonderheiten und sachlichen Reize der
Dinge zum Schatten des Geldreichtums macht, so ist dies kein Beweis
gegen jenen Zusammenhang, sondern nur einer für das Wesen des
Geldes: durch seine Entfernung von jeder eigenen Bestimmtheit die
völlig entgegengesetzt verlaufenden Fäden des inneren und äuſseren
Lebens aufzunehmen und jedem in der ihm eigenen Richtung ein
Werkzeug entschiedenerer Herausbildung und Darstellung zu sein. Darin
liegt die unvergleichliche Bedeutung des Geldes für die Entwicklungs-
geschichte des praktischen Geistes; mit ihm ist die bisher äuſserste
Verminderung der Besonderheit und Einseitigkeit aller empirischen
Gebilde erreicht. Was man die Tragik der menschlichen Begriffs-
bildung nennen könnte: daſs der höhere Begriff die Weite, mit der er
eine wachsende Anzahl von Einzelheiten umfaſst, mit wachsender Leere
an Inhalt bezahlen muſs, gewinnt im Geld sein vollkommenes prak-
tisches Gegenbild, d. h. die Daseinsform, deren Seiten Allgemeingültig-
keit und Inhaltlosigkeit sind, ist im Geld zu einer realen Macht ge-
worden, deren Verhältnis zu aller Entgegengesetztheit der Verkehrs-
objekte und ihrer seelischen Umgebungen gleichmäſsig als Dienen wie
als Herrschen zu deuten ist. Das Superadditum des Geldbesitzes ist
nichts als eine einzelne Erscheinung dieses, man möchte sagen, meta-
physischen Wesens des Geldes, daſs es über jede Einzelverwendung
seiner hinausreicht und, weil es das absolute Mittel ist, die Möglich-
keit aller Werte als den Wert aller Möglichkeiten zur Geltung bringt.


Aus dem Wirkungsbereich dieses Verhältnisses will ich nur noch
eine zweite Reihe herausheben. Die über alle spezifischen Zwecke
erhabene Mittelsbedeutung des Geldes hat zur Folge, daſs es das In-
teressenzentrum und die eigentliche Domäne solcher Individuen und
Klassen wird, deren soziale Stellung sie von vielerlei persönlichen und
spezifischen Zielen ausschlieſst. Daſs den römischen Freigelassenen die
volle bürgerliche Stellung mit allen ihren Chancen fehlte, bewirkte es,
daſs sie sich mit Vorliebe auf das Geldgeschäft warfen. In der Türkei
sind die Armenier, ein oft verfolgter und verachteter Volksstamm, viel-
fach die Händler und Geldleute — grade wie es in Spanien unter ähn-
lichen Verhältnissen die Moriskos waren. In Indien sind diese Er-
scheinungen häufig: einerseits sind die sozial sehr zurückgedrängten
und sonst mit scheuer Zurückhaltung auftretenden Parsen meistens
Wechsler oder Bankiers, andrerseits, in manchen Teilen Südindiens,
sind die Geldgeschäfte und Reichtümer in den Händen der Tschettis,
einer Mischkaste, die wegen mangelnder Kastenreinheit ein sehr ge-
ringes Ansehen hat. So warfen sich die Hugenotten in ihrer ex-
[205] ponierten und eingeengten Stellung mit gröſster Intensität auf den
Gelderwerb, wie die Quäker in England. Vom Gelderwerb als solchem
kann man, weil eben alle möglichen Wege gleichmäſsig zu ihm führen,
am wenigsten jemanden prinzipiell ausschlieſsen. Vom reinen Geld-
geschäft deshalb nicht, weil es weniger technische Vorbedingungen be-
darf, als jeder andere Erwerb und sich deshalb leichter der Kontrolle
und dem Eingriff entzieht, und zudem, weil der Geldbedürftige in
der Regel in einer Notlage ist, in der er schlieſslich auch die sonst
verachtetste Persönlichkeit und den sonst gemiedensten Schlupfwinkel
aufsucht. Und weil der in irgend einem Sinne Rechtlose grade vom
Gebiet der bloſsen Geldinteressen nicht fernzuhalten ist, entsteht
zwischen beiden Bestimmungen eine Assoziation, die in mehrfachen
Richtungen wirksam wird: so droht einerseits dem bloſsen Geldmenschen
leicht eine soziale Deklassierung, deren Fühlbarkeit er oft nur durch
seine Macht und Unentbehrlichkeit entgeht, und so wurde andrerseits
den fahrenden Leuten des Mittelalters, die allenthalben schlechtes Recht
hatten, doch in Geldsachen unparteilich Recht gemessen. Eben der-
selbe Erfolg muſs eintreten, wenn die Ausschlieſsung sozialer Elemente
von den Rechten und Genüssen der Vollbürger nicht mehr durch ju-
ristische oder ihnen sonst oktroyierte Bestimmungen, sondern durch
freiwilligen Verzicht ihrerseits geschieht. Als die Quäker schon die
volle politische Gleichberechtigung hatten, schlossen sie sich selbst von
den Interessen der Anderen aus: sie schwuren nicht, konnten also
keine öffentlichen Ämter übernehmen, sie verschmähten alles, was mit
dem Schmuck des Lebens zusammenhängt, sogar den Sport, sie muſsten
sogar den Landbau aufgeben, weil sie den Kirchenzehnten verweigerten.
So waren sie, um überhaupt noch ein äuſseres Lebensinteresse zu
haben, auf das Geld hingewiesen, als auf das einzige, zu dem sie sich
den Zugang nicht versperrt hatten. Ganz entsprechend hat man über
das herrenhuterische Leben bemerkt, daſs ihm aller ideale Gehalt von
Wissenschaften, Künsten, heiterer Geselligkeit fehle und so neben dem
religiösen Interesse nur noch die nackte Erwerbslust als praktischen
Impuls bestehen lasse. Die Betriebsamkeit und Habsucht vieler Herren-
huter und Pietisten sei deshalb kein Anzeichen von Heuchelei, sondern
von einem kranken, vor den Kulturinteressen flüchtigen Christentum, von
einer Frömmigkeit, die nichts irdisch Hohes neben sich duldet, sondern
eher noch ein irdisch Niedriges. Macht jene nicht zu raubende Mög-
lichkeit schon das Geldgeschäft zur ultima ratio sozial benachteiligter
und bedrückter Elemente, so wirkt für sie positiv noch die Macht des
Geldes, Stellungen, Einfluſs, Genüsse noch da zu gewinnen, wo man
von gewissen direkten Mitteln des sozialen Ranges: der Beamten-
[206] qualität, bestimmten, ihnen vorenthaltenen Berufen, der Persönlichkeits-
entfaltung ausgeschlossen ist. Denn weil das Geld zwar bloſses Mittel,
dieses aber auch in absolutem Maſse ist, und so jede Präjudizierung
durch irgend eine sachliche Bestimmtheit ablehnt, so ist es ebenso der
unbedingte terminus a quo zu allem hin, wie es der unbedingte ter-
minus ad quem von allem her ist. Darum treten ganz entsprechende
Erscheinungen auf, wo kein Ausschluſs einer Gruppenabteilung von
den Zweckreihen der anderen vorliegt, sondern die gleiche teleologische
Formung sich auf die ganze Gruppe erstreckt. Von den Spartanern,
denen alle eigentlich ökonomischen Interessen untersagt waren, wird
doch eine auffallende Geldiger berichtet. Es scheint, daſs die Leiden-
schaft nach einem persönlichen Besitz, dessen Verteilung die lykur-
gische Verfassung unpraktisch geordnet hatte, grade da herausbrach,
wo er am wenigsten spezifischen Charakter trug und seine Einschränkung
also am undurchführbarsten war. Auch wird erwähnt, daſs in Bezug
auf den realen Genuſs des Besitzes in Sparta lange kein Unterschied
zwischen Arm und Reich war, daſs die Reichen nicht besser lebten
als die Armen: um so mehr muſste sich die Pleonexie auf den bloſsen
Besitz des Geldes werfen! Auf ganz andere Momente hin ist die
gleiche Grundkonstellation wirksam, wenn ein Fragment des Ephoros
besagt, Ägina wäre deshalb ein solcher Haupthandelsplatz geworden,
weil die Unfruchtbarkeit des Bodens die Einwohner auf den Handel hin-
gewiesen hätte — und Ägina war die erste Stelle im eigentlichen Hellas,
wo überhaupt Geldmünzen geprägt wurden! Weil das Geld der ge-
meinsame Schnittpunkt der Zweckreihen ist, die von jedem Punkt der
ökonomischen Welt zu jedem anderen laufen, so nimmt es Jeder von
Jedem. Zu der Zeit, als der Fluch der „Unehrlichkeit“ am schwersten
auf bestimmten Berufen lastete, nahm man dennoch Geld sogar vom
Henker, wenngleich man möglichst einen Ehrlichen suchte, von dem
man es zuerst anfassen lieſs! Von der Einsicht in diese alles über-
windende Macht aus verteidigte Macaulay die Emanzipation der Juden
damit, daſs es ein Widersinn wäre, ihnen die politischen Rechte vor-
zuenthalten, da sie vermöge ihres Geldes die Substanz derselben doch
besäſsen. Sie könnten Wähler kaufen, Könige lenken, als Gläubiger
ihre Schuldner beherrschen, so daſs politische Rechte nichts als die
formale Vollendung von dem wären, was sie schon hätten. Um ihnen
das politische Recht wirklich zu nehmen, müſste man sie ermorden
und berauben; lieſse man ihnen aber ihr Geld, so we may take away
the shadow, but we must leave them the substance — ein für die teleo-
logische Drehung des Geldbegriffes höchst charakteristischer Ausdruck;
denn rein inhaltlich möchte man die soziale, politische, personale Po-
[207] sition doch als einen realen und substanziellen Wert, das Geld aber,
die an sich leere Symbolisierung anderweitiger Werte, als den bloſsen
Schatten bezeichnen!


Es braucht nicht betont zu werden, daſs jene ganze Korrelation
zwischen Zentralität des Geldinteresses und sozialer Gedrücktheit an
den Juden ihr umfänglichstes Beispiel hat. Ich will deshalb in Hin-
sicht ihrer nur zwei Gesichtspunkte bezeichnen, als für die hier frag-
liche Wesensbedeutung des Geldes besonders erheblich. Weil der
Reichtum der Juden in Geld bestand, waren sie ein so besonders ge-
suchtes und fruchtbares Ausbeutungsobjekt; denn kein anderer Besitz
läſst sich so schnell, einfach und verlustlos mit Beschlag belegen. Wie
man die wirtschaftlichen Güter in Hinsicht ihres Erwerbes durch Arbeit
in eine Skala gröſserer oder geringerer Zweckmäſsigkeit reihen kann,
so in Hinsicht ihres Erwerbes durch Raub. Wenn man jemandem
sein Land fortnimmt, so kann man den Vorteil davon — auſser wenn
man es eben gleich wieder in Geld umsetzt — nicht ohne weiteres
realisieren, Zeit, Mühe, Aufwendungen werden erfordert. Praktischer
verhalten sich natürlich schon Mobilien, so viele hier wirksame Unterschiede
auch unter ihnen bestehen: im mittelalterlichen England war z. B. die
Wolle in dieser Hinsicht das zweckmäſsigste, sie war a sort of circulating
medium, in dem das Parlament den Königen Auflagen bewilligte, und
an das diese sich zuerst hielten, wenn sie von den Kaufleuten Geld er-
pressen wollten. Das Geld bildet den äuſsersten Punkt dieser Skala.
Derselbe von aller spezifischen Bedingtheit gelöste Charakter, der das
Geld den Juden in ihrer Pariastellung zum geeignetsten und am
wenigsten versagbaren Erwerbszwecke machte, lieſs es auch zum ge-
eignetsten und unmittelbarsten Anreiz werden, sie auszuplündern. Es
ist durchaus kein Gegenbeweis, sondern zeigt die auf Grund eben
dieser Züge dem Gelde zuwachsende Macht nur von der anderen
Seite, wenn wir von den mittelalterlichen Judenaustreibungen hören,
in einigen Städten seien es die reichen Juden, in anderen aber grade
die armen gewesen, auf die sich die Verfolgung richtete.


Die Beziehung der Juden zum Geldwesen äuſsert sich weiterhin
in einer soziologischen Konstellation, die jenen Charakter des Geldes
ebenso zum Ausdruck bringt. Die Rolle, die der Fremde innerhalb
der sozialen Gruppe spielt, weist ihn von vornherein auf die durch Geld
vermittelten Beziehungen zu ihr an, zunächst wegen der Transportfähig-
keit und der über die Gruppengrenzen hinausreichenden Verwertbarkeit
des Geldes. Die Relation zwischen dem Geldwesen und dem Fremden
als solchen kündigt sich schon in einer Erscheinung bei einigen Natur-
völkern an. Das Geld besteht dort aus Zeichen, die von auswärts
[208] eingeführt
werden; so daſs es z. B. auf den Salomoinseln wie in Ibo
am Niger eine Art Industrie ist, aus Muscheln oder sonst Geldzeichen
herzustellen, die nicht am Herstellungsort selbst, sondern in benach-
barten Gegenden, wohin sie exportiert werden, als Geld kursieren.
Das erinnert an die Mode, die so oft grade wenn sie von auſsen im-
portiert ist, besonders geschätzt und mächtig ist. Geld und Mode sind
Ausgestaltungen sozialer Wechselwirkungen, und es scheint, als ob die
Sozialelemente manchmal wie die Augenachsen am besten auf einen
nicht zu nahe gelegenen Punkt konvergierten. Der Fremde als Person
aber ist aus demselben Grunde, der das Geld dem sozial Entrechteten
so wertvoll macht, dafür vor allem interessiert: weil es ihm Chancen
gewährt, die dem Vollberechtigten, bezw. dem Einheimischen auf
spezielleren, sachlichen Wegen und durch persönliche Beziehungen zu-
gängig sind; es wird betont, daſs die Fremden es waren, die vor dem
babylonischen Tempel den einheimischen Mädchen das Geld in den
Schooſs warfen, für das diese sich prostituierten. Der Zusammenhang
zwischen der soziologischen Bedeutung des Fremden und der des
Geldes hat aber noch eine weitere Vermittlung. Das reine Geld-
geschäft ist nämlich ersichtlich etwas sekundäres; das zentrale Geld-
interesse äuſsert sich vielmehr zunächst und hauptsächlich im Handel.
Aus sehr triftigen Gründen ist aber der Händler, am Anfang der wirt-
schaftlichen Bewegungen, ein Fremder. So lange die Wirtschaftskreise
noch kleine sind und keine raffinierte Arbeitsteilung besitzen, genügt
unmittelbarer Tausch oder Kauf zu der erforderlichen Verteilung; des
Händlers bedarf es erst für das Herbeischaffen der in der Ferne pro-
duzierten Güter. Nun aber zeigt sich die Entschiedenheit dieses Ver-
hältnisses auch sofort an seiner Umkehrbarkeit: nicht nur der Händler
ist ein Fremder, sondern auch der Fremde ist dazu disponiert, ein
Händler zu werden. Das tritt hervor, sobald der Fremde nicht nur
vorübergehend anwesend ist, sondern sich niederläſst und dauernden
Erwerb innerhalb der Gruppe sucht. So lag, daſs die Juden ein
Handelsvolk wurden, auſser an ihrer Unterdrückung, auch an ihrer
Zerstreuung durch alle Länder. Erst während des letzten babylonischen
Exils wurden die Juden in die Geldgeschäfte eingeweiht, die ihnen
bis dahin unbekannt gewesen waren; und nun wird sogleich hervor-
gehoben, es seien besonders die Juden der Diaspora gewesen, die
sich diesem Beruf in gröſserer Anzahl widmeten. Zersprengte Leute,
in mehr oder weniger geschlossene Kulturkreise hineindringend, können
schwer Wurzel schlagen, eine freie Stelle in der Produktion finden
und sind deshalb zunächst auf den Zwischenhandel angewiesen, der
viel elastischer ist als die Urproduktion selbst, dessen Spielraum durch
[209] bloſs formale Kombinationen fast unbegrenzt zu erweitern ist und der
deshalb von auſsen kommende, nicht von der Wurzel her in die Gruppe
hineingewachsene Elemente am ehesten aufnehmen kann. Der tiefe
Zug der jüdischen Geistigkeit: sich viel mehr in logisch-formalen Kom-
binationen als in inhaltlich schöpferischer Produktion zu bewegen,
muſs mit dieser wirtschaftsgeschichtlichen Situation in Wechselwirkung
stehen. Daſs der Jude ein Fremder war, ohne organische Verbindung
mit seiner Wirtschaftsgruppe, das wies ihn auf den Handel und seine
Sublimierung im reinen Geldgeschäft hin. Mit einer sehr merkwürdigen
Einsicht in die Lage der Juden gestattete ihnen ein Statut von Osna-
brück um 1300 ausnahmsweise wöchentlich einen Pfennig von der
Mark Zinsen zu nehmen, also jährlich 36 1/9 %, während sonst höchstens
10 % genommen wurden. Dieser Zusammenhang gilt aber nicht nur
für die Juden, sondern er ist so tief im Wesen des Handels und des
Geldes begründet, daſs er eine Reihe anderer Erscheinungen nicht
weniger beherrscht. Ich erwähne hier nur einige neuzeitliche. Die
Weltbörsen des 16. Jahrhunderts, Lyon und Antwerpen, erhielten ihr
Gepräge durch die Fremden, und zwar auf Grund der fast unbeschränkten
Handelsfreiheit, die der fremde Kaufmann grade an diesen Plätzen
genoſs. Und das steht wieder mit dem Geldverkehrscharakter
dieser Plätze in Zusammenhang: Geldwirtschaft und Handelsfreiheit
haben tiefe innere Beziehungen, wie oft diese auch durch histo-
rische Zufälligkeiten und irrige Regierungsmaximen verdunkelt sein
mögen. Die geldgeschäftliche Rolle des Fremden zeigt so recht ihre
Verknüpfung. Die finanzielle Bedeutung mancher florentiner Familien,
in der Medizeerepoche, beruhte grade darauf, daſs sie von den Medi-
zeern verbannt oder ihrer politischen Macht beraubt und infolgedessen
darauf angewiesen waren, durch Geldgeschäfte in der Fremde — da
sie in der Fremde eben keine anderen treiben konnten — von neuem
zu Kraft und Bedeutung zu gelangen. Es ist der Betrachtung nicht
unwert, wie daneben herlaufende, scheinbar entgegengesetzte Erschei-
nungen, genau angesehen, eben dasselbe Verhältnis erweisen. Als
Antwerpen im 16. Jahrhundert der unbestrittene Welthandelsplatz war,
ruhte seine Bedeutung auf den Fremden, den Italienern, Spaniern,
Portugiesen, Engländern, Oberdeutschen, die sich dort niedergelassen
hatten und ihre Waren umsetzten. Die eingeborenen Antwerpener
spielten bei dem Warenhandel eine sehr geringe Rolle und waren
hauptsächlich als Kommissionäre und im Geldgeschäft als Bankiers
thätig. In dieser internationalen und durch die Interessen des Welt-
handels vereinheitlichten Gesellschaft spielte eben der Eingeborene
die Rolle, die sonst vielfach der Fremde spielt: das Entscheidende ist
Simmel, Philosophie des Geldes. 14
[210] hier das soziologische Verhältnis zwischen einer groſsen Gruppe und
einzelnen, ihr fremd gegenüberstehenden Individuen; diese werden
eben durch die Beziehungslosigkeit zu den konkreteren Interessen auf
das Geldgeschäft mit jenen hingewiesen. Gewiſs wird in den meisten
Fällen dieses Verhältnis sich zwischen Eingeborenen und Fremden
herstellen; wo aber, wie in Antwerpen, die Fremden die groſse zu-
sammenhängende Gruppe und die Eingeborenen die dazwischen ver-
sprengte Minorität bilden, da zeigt sich an dem Ergebnis, daſs die
gleiche soziologische Ursache die gleiche Folge hat, während die Frage,
welches der Elemente grade an der Lokalität eingeboren und welches
fremd ist, an sich hierfür bedeutungslos ist. Weit über die sozusagen
privaten Gründe hinaus, aus denen der einzelne Fremde innerhalb einer
Gruppe zum Handel und zuhöchst zum Geldhandel designiert scheint,
begegnen uns die ersten groſsen Transaktionen der neuzeitlichen
Bankiers, im 16. Jahrhundert, als durchaus im Ausland sich abspielend.
Das Geld ist von der lokalen Beschränktheit der meisten teleologischen
Reihen emanzipiert, weil es das Mittelglied von jedem beliebigen Aus-
gangspunkt zu jedem beliebigen Endpunkt ist; und wenn, so möchte
man fast sagen, jedes Element des historischen Seins diejenige Wirkungs-
form sucht, in der es sein Spezifisches, die grade ihm eigentümliche
Stärke am reinsten ausdrücken kann, so drängt dieses früheste moderne
Groſskapital, wie in dem Expansionsstreben jugendlichen Übermutes, zu
einer Verwendung, in der ihm seine raumüberspringende Macht, seine
Überall-Verwendbarkeit, seine Parteilosigkeit zum stärksten Bewuſst-
sein kam. Der Haſs des Volkes auf die groſsen Finanzhäuser hing
wesentlich damit zusammen, daſs ihre Besitzer und meistens auch ihre
Vertreter Fremde zu sein pflegten: es war der Haſs des nationalen
Empfindens gegen das Internationale, der Einseitigkeit, die sich ihres
spezifischen Wertes bewuſst ist, und sich dabei von einer indifferenten,
charakterlosen Macht vergewaltigt fühlt, deren Wesen ihr im Fremden
als solchem personifiziert wurde. Dazu kam, diese Tendenz des Geldes
gleichsam objektivierend, daſs die ungeheure Ausdehnung der Geld-
geschäfte damals den unendlichen Kriegen entstammte, zwischen dem
Kaiser und dem französischen König, den Religionskriegen in den
Niederlanden, Deutschland und Frankreich u. s. w. Der Krieg, der
unmittelbar nur reine unproduktive Bewegung ist, bemächtigte sich der
Geldmittel vollständig und bewirkte eine völlige Überwucherung des
soliden Warenhandels — der stets mehr lokal gebunden ist — durch
den Geldhandel. Ja, der Weg des Groſskapitals ins Ausland wurde
auf diesem Umwege direkt landesverräterisch. Die französischen Könige
haben lange mit Hülfe von florentiner Bankiers Krieg gegen Italien geführt,
[211] sie haben Lothringen und später Elsaſs unter dem Beistand deutschen
Geldes vom deutschen Reich losreiſsen können, die Spanier haben sich
der italienischen Geldmächte bedienen dürfen, um Italien zu be-
herrschen. Erst das 17. Jahrhundert hat in Frankreich, England,
Spanien diesem Umherflattern des Geldkapitals, in dem es die Los-
gebundenheit seines reinen Mittelscharakters offenbarte, ein Ende zu
machen und das Kapitalbedürfnis der Regierungen im eigenen Lande zu
decken gestrebt. Und wenn die Finanz der modernsten Zeit wieder
in vieler Hinsicht international geworden ist, so hat dies doch ganz
andere Bedeutung: „Fremde“ in jenem alten Sinne giebt es eben
heute nicht mehr, die Handelsverbindungen, ihre Usancen und ihr Recht
haben aus ganz entfernten Ländern einen immer mehr sich vereinheit-
lichenden Organismus gebildet. Das Geld hat den Charakter, der es ehe-
mals zur Domäne des Fremden machte, nicht verloren, sondern sogar
durch die Vermehrung und Variierung der in ihm gekreuzten teleo-
logischen Reihen immer mehr ins Abstrakte und Farblose gesteigert.
Der Gegensatz, der in dieser Hinsicht zwischen den Einheimischen und
den Fremden bestand, ist nur deshalb fortgefallen, weil die einst von
ihm getragene Geldform des Verkehrs die Gesamtheit des Wirtschafts-
kreises ergriffen hat. Wie in einem Miniaturbild zusammengedrängt
erscheint mir die Bedeutung des Fremden für das Geldwesen in dem
Rate, den ich einmal geben hörte: man solle mit zwei Menschen nie-
mals Geldgeschäfte machen, mit dem Freunde und mit dem Feinde.
Die indifferente Objektivität des Geldgeschäftes tritt in dem einen
Fall in einen fast niemals ganz zu glättenden Konflikt mit der Perso-
nalität des Verhältnisses, in dem anderen giebt eben derselbe Umstand
feindseligen Absichten weiten Spielraum, in tiefem Zusammenhange
damit, daſs unsere geldwirtschaftlichen Rechtsformen nirgends präzise
genug sind, um böswillige Schädigung mit Sicherheit auszuschlieſsen.
Der indizierte Partner für das Geldgeschäft — in dem, wie man mit
Recht gesagt hat, die Gemütlichkeit aufhört — ist die uns innerlich
völlig indifferente, weder für noch gegen uns engagierte Persönlichkeit.


14*
[[212]]

II.


In dem Vorhergehenden ist eine Thatsache des Wertgefühls voraus-
gesetzt worden, deren Selbstverständlichkeit für uns leicht über ihre
Bedeutsamkeit hinwegtäuschen kann. Das Geld ist uns wertvoll, weil
es das Mittel zur Erlangung von Werten ist; aber ebenso gut könnte
man doch sagen: obgleich es nur das Mittel dazu ist. Denn logisch
notwendig erscheint es keineswegs, daſs der Ton des Wertes, der auf
den Endzwecken unseres Handelns ruht, sich auch auf die Mittel über-
trage, die an sich und ohne Einstellung in die teleologische Reihe
völlig wertfremd wären. Daſs diese Wertübertragung, auf Grund rein
äuſserer Zusammenhänge, stattfindet, ordnet sich in eine sehr allgemeine
Form unserer geistigen Bewegungen ein, die man die psychologische
Expansion der Qualitäten benennen könnte. Wenn nämlich eine sachliche
Reihe von Gegenständen, Kräften, Geschehnissen ein Glied enthält,
das bestimmte subjektive Reaktionen in uns auslöst: Lust oder Unlust,
Liebe oder Haſs, positive oder negative Wertgefühle — so scheint uns
dieser Wert nicht nur auf seinem unmittelbaren Träger zu haften,
sondern wir lassen auch die andern, an sich nicht ebenso ausgezeich-
neten Glieder der Reihe an ihm teilhaben: dies ist keineswegs nur bei
teleologischen Reihen der Fall, deren Endglied seine Bedeutung auf
alle Ursachen seiner Verwirklichung ausstrahlt, sondern auch bei anders
laufenden Verknüpfungen der Elemente: alle Mitglieder einer Familie
partizipieren an der Ehrung oder Degradierung eines einzelnen von
ihnen; die unbedeutendsten Produkte eines groſsen Dichters genieſsen,
weil andere bedeutend sind, eine ihnen an sich nicht zukommende
Schätzung; Neigung oder Haſs des Einzelnen, aus politischer Partei-
stellung entsprungen, erstreckt sich auf diejenigen Punkte der Partei-
programme, denen an und für sich er gleichgültig oder mit entgegen-
gesetzten Gefühlen gegenüberstehen würde; die Liebe zu einem
Menschen, von dem sympathischen Gefühl für eine seiner Wesensseiten
ausgehend, umfaſst schlieſslich seine Gesamtpersönlichkeit und damit
vielerlei Eigenschaften und Äuſserungen mit der gleichen Leidenschaft,
[213] auf die diese ohne solchen Zusammenhang keinen Anspruch erheben
würden. Kurz, wo nur immer Mehrheiten von Menschen und Dingen
sich durch irgend welche Verknüpfung als Einheiten darbieten, flieſst
das Wertgefühl, das ein einzelnes Element hervorruft, gleichsam durch
die zusammenhaltende Wurzel des Systems hindurch auch auf die andern
über, die an sich jenem Gefühle fremd sind. Grade weil die Wert-
gefühle nichts mit der Struktur der Dinge selbst zu thun, sondern ihr
unüberschreitbares Gebiet jenseits dieser haben, halten sie sich nicht
streng an ihre logischen Begrenzungen, sondern entfalten sich mit einer
gewissen Freiheit über die objektiv gerechtfertigten Beziehungen zu
den Dingen hinaus. Wenn es an sich etwas irrationales hat, daſs die
relativen Höhepunkte des Seelenlebens ihre benachbarten, an sich aber
nicht in jene Qualitäten hinaufreichenden Momente färben, so offenbart
es dennoch den ganzen beglückenden Reichtum der Seele, ihr von innen
her bestimmtes Bedürfnis, die einmal empfundenen Bedeutsamkeiten
und Werte auch nach dem vollen Maſse ihrer inneren Resonanz an
den Dingen auszuleben, ohne ängstlich nach dem Rechtsgrund zu fragen,
nach dem jedes seinen Anteil beanspruchen könnte.


Die rationellste und einleuchtendste von allen Formen solcher Ex-
pansion der Qualitäten ist sicher die der Zweckreihe. Sachlich aller-
dings erscheint auch diese nicht unbedingt notwendig; denn die Be-
deutung, die das an sich gleichgültige Mittel dadurch erhält, daſs es
einen wertvollen Zweck verwirklicht, brauchte keineswegs in einem
darauf übertragenen Werte zu bestehen, sondern könnte eine eigen-
artige Kategorie sein, die auf die auſserordentliche Häufigkeit und
Wichtigkeit dieser Konfiguration hin wohl hätte entstehen können.
Allein thatsächlich hat nun einmal die psychologische Expansion die
Wertqualität ergriffen und nur den Unterschied bestehen lassen, nach
dem man den Wert des Endzwecks als absoluten, den der Mittel als
relativen bezeichnen kann. Absolut — in dem hier fraglichen, prak-
tischen Sinne — ist der Wert der Dinge, an denen ein Willensprozeſs
definitiv Halt macht. Dieses Haltmachen braucht natürlich keine
zeitlich ausgedehnte Fermate zu sein, sondern nur der Abschluſs
einer Innervationsreihe, so daſs, wenn diese sich in dem Befriedigungs-
gefühl ausgelebt hat, das Weiterleben des Wollens sich in neuen Inner-
vationen kundgeben muſs. Relativ wertvoll dagegen ist ein Objekt,
wenn das Fühlen seiner als eines Wertes dadurch bedingt ist, daſs
seine Verwirklichung die eines absoluten Wertes bedingt; es zeigt seine
Relativität darin, daſs es seinen Wert in dem Augenblick einbüſst, in
dem ein andres Mittel zu demselben Zweck als das wirksamere oder
erreichbarere erkannt wird. Mit dem oben behandelten Gegensatz des
[214] objektiven und des subjektiven Wertes fällt der des absoluten und
relativen so wenig zusammen, daſs sowohl innerhalb der subjektiven
wie der objektiven Wertsetzungen der letztere Gegensatz sich entfalten
kann. — Ich habe hier die Begriffe des Wertes und des Zweckes ziemlich
ungeschieden gebraucht; thatsächlich sind beide in diesem Zusammen-
hange nur verschiedene Seiten einer und derselben Erscheinung: die
Sachvorstellung, die nach ihrer theoretisch-gefühlsmäſsigen Bedeutung
ein Wert ist, ist nach ihrer praktisch-willensmäſsigen ein Zweck.


Die seelischen Energien nun, die die eine und die andere Art der
Werte und Zwecke setzen, sind sehr verschiedener Natur. Die Kre-
ierung eines Endzwecks ist unter allen Umständen nur durch eine
spontane Willensthat möglich, während einem Mittel sein relativer Wert
ebenso unbedingt nur vermittels theoretischer Erkenntnis zuerkannt
werden kann. Die Setzung des Zieles erfolgt aus dem Charakter, der
Stimmung, dem Interesse; den Weg aber schreibt uns die Natur der
Dinge vor; die Formel, die über so viele Lebensverhältnisse mächtig
ist: daſs das Erste uns freisteht und wir beim Zweiten Knechte sind,
gilt deshalb nirgends ausgedehnter als auf dem teleologischen Gebiet.
Allein diese Entgegengesetztheit, in der sich das sehr mannigfaltige
Verhältnis unserer inneren Kräfte zum objektiven Sein offenbart, ver-
hindert keineswegs, daſs einer und derselbe Inhalt aus der einen
Kategorie in die andere übertrete. Grade die Spontaneität der End-
zwecksetzung, zusammen mit der Thatsache, daſs die Mittel psycho-
logisch an dem Werte ihres Zieles teilhaben, ermöglicht die Erscheinung,
daſs das Mittel für unser Bewuſstsein völlig den Charakter eines
definitiven, für sich befriedigenden Wertes annehmen kann. Obgleich
dies nur durch die Unabhängigkeit der letzten Willensinstanz in uns
von aller verstandesmäſsigen logischen Begründung möglich ist, so kann
die Thatsache selbst, so sehr sie der Zweckmäſsigkeit zuwiderzulaufen
scheint, derselben dennoch dienen. Es ist nämlich keineswegs aus-
gemacht, kann vielmehr nur bei ganz flüchtigem Hinsehen gelten, daſs
wir unsere Zwecke am besten erreichen, wenn sie uns am klarsten als
solche bewuſst sind. Um dies einzusehen, müssen wir den Begriff des
unbewuſsten Zweckes diskutieren. So schwierig und unvollkommen er
ist — die damit ausgedrückte Thatsache: daſs unser Handeln in der ge-
nauesten Anpassung an gewisse Endziele verläuft und ohne irgend
welche Wirksamkeit derselben völlig unverständlich ist, während in
unserem Bewuſstsein von dieser Wirksamkeit nichts zu finden ist —
diese Thatsache wiederholt sich so unendlich oft und so unsere ganze
Daseinsart bestimmend, daſs wir eine besondere Bezeichnung für sie
gar nicht entbehren können. Wir müſsten sie nur mit dem Ausdruck
[215] des unbewuſsten Zweckes nicht erklärt, sondern nur benannt haben
wollen. Das Problem wird durchsichtiger, wenn wir uns das Selbst-
verständliche immer vor Augen halten, daſs unser Handeln nie durch
einen Zweck als durch etwas, was sein wird, verursacht wird, sondern
immer nur durch ihn als eine physisch-psychische Energie, die vor
dem Handeln besteht. Darauf hin läſst sich nun der folgende
Sachverhalt vermuten. Unsere gesamten Bethätigungen werden einer-
seits durch zentrale, aus unserem innerlichsten Ich entspringende Kräfte,
andrerseits durch die Zufälligkeiten von Sinneseindrücken, Launen,
äuſseren Anregungen und Bedingtheiten gelenkt, und zwar in sehr
mannigfaltigen Mischungen beider. Unser Handeln ist in demselben
Maſs zweckmäſsiger, in dem der erstere Faktor überwiegt, in dem die
aus dem geistigen Ich im engeren Sinne stammenden Energien alles
mannigfaltig Gegebene in ihre eigene Richtung lenken. Wenn ein
erhebliches Quantum gespannter Energie in uns einheitlich gesammelt
ist, derart, daſs ihre allmähliche Entladung eben jene unentwegte,
alles Äuſserliche von dem Ausgangspunkt her beherrschende Richtung
einhält — eine Konstellation, die sich formal identisch auch an neben-
sächlichen und verwerflichen Interessen verwirklicht — so heiſst diese
reale, physisch-psychische Potentialität, wenn sie sich im begrifflichen
Bewuſstsein spiegelt, eben Zweck. Gewiſs werden dennoch die äuſser-
lichen Faktoren diese Entwicklung oft genug unterbrechen und ab-
biegen; aber darum verbleibt doch Sinn und Bedeutung jenes inneren
Kraftzustandes in der prinzipiellen Fähigkeit, die sonst gegebnen
Inhalte seiner Entwicklungsperiode nach der eigenen Linie eben
dieser zu bestimmen. Wenn nun der Zweck als Bewuſstseinsvorgang
der seelische Reflex der so bezeichneten Energiespannung ist, so ist
klar, wieso er, bei der thatsächlichen weiteren Entwicklung derselben,
als bewuſster fortfallen kann: denn eben sein reales Fundament ist
ja in der Auflösung begriffen, es setzt sich allmählich in wirkliche
Aktionen um und lebt nur noch in seinen Wirkungen fort. Und ob-
gleich, nach der Struktur unseres Gedächtnisses, die einmal entstandene
Zweckvorstellung, jene reale Grundlage überlebend, im Bewuſstsein
weiterbestehen kann, so ist dies doch für die Aktionen, die von ihr
durchdrungen und gelenkt erscheinen, nicht erforderlich. Vielmehr,
wenn diese Konstruktion richtig ist, so bedarf es, damit wir in teleo-
logischen Reihen handeln, nur des Vorhanden-Gewesenseins jener
Energieeinheit, also der einmaligen Existenz des Zweckes überhaupt.
Was an ihm wirkliche Kraft war, lebt sich in dem daraufhin ein-
tretenden Handeln aus, dieses bleibt von seinem Ausgangspunkt, dem
[216] Zwecke, gelenkt, gleichviel ob dieser als fortbestehender Bewuſstseins-
inhalt die praktische Reihe noch länger begleitet oder nicht.


Nun ist aber weiterhin klar, daſs, wenn das Bewuſstsein des
Zweckes lebendig bleibt, es nichts rein ideelles, sondern auch seinerseits
ein Prozeſs ist, der organische Kraft und Bewuſstseinsintensität ver-
braucht. Die allgemeine Lebenszweckmäſsigkeit wird also dahin streben,
ihn auszuschalten, da er ja zu der teleologischen Lenkung unseres
Handelns prinzipiell (von allen Komplikationen und Ablenkungen ab-
gesehen) nicht mehr nötig ist. Und dies scheint nun endlich die Er-
fahrungsthatsache durchsichtig zu machen: daſs das Endglied unserer
praktischen Reihen, nur durch die Mittel realisierbar, um so sicherer
von diesen hervorgebracht wird, je vollständiger unsere Kräfte auf die
Hervorbringung der Mittel gerichtet und konzentriert sind. Eben
diese Herstellung der Mittel ist die eigentlich praktische Aufgabe; je
gründlicher sie gelöst ist, desto mehr wird der Endzweck der Willens-
bemühung entraten können und sich als der mechanische Erfolg des
Mittels einstellen. Dadurch, daſs der Endzweck immerzu im Bewuſst-
sein ist, wird eine bestimmte Summe von Kraft verbraucht, die der
Arbeit an den Mitteln entzogen wird. Das praktisch Zweckmäſsigste
ist also die volle Konzentrierung unserer Energien auf die nächst zu
verwirklichende Stufe der Zweckreihe; d. h., man kann für den
Endzweck nichts Besseres thun, als das Mittel zu ihm so zu be-
handeln, als wäre es er selbst. Die Verteilung der psychologischen
Accente, deren es mangels unbeschränkt verfügbarer Kräfte bedarf,
folgt also durchaus nicht der logischen Gliederung: während für
diese das Mittel etwas völlig Gleichgültiges ist und alle Betonung
auf dem Zweck liegt, verlangt die praktische Zweckmäſsigkeit die
direkte psychologische Umkehrung dieses Verhältnisses. Was die
Menschheit dieser scheinbar so irrationellen Thatsache verdankt, ist
nicht auszusagen. Wir würden wahrscheinlich über die primitivsten
Zwecksetzungen nie hinausgekommen sein, wenn unser Bewuſstsein
immer an diesen hängen und so für den Bau mannigfaltigerer Mittel
nur unvollkommen frei sein würde; oder wir würden eine unerträg-
liche und lähmende Zersplitterung erfahren, wenn wir bei der Arbeit
an jedem untergeordneten Mittel die ganze Reihe darüber gebauter
weiterer Mittel mit dem schlieſslichen Endzweck fortwährend im Be-
wuſstsein haben müſsten; wir würden endlich für die Aufgabe des
Augenblicks oft überhaupt weder Kraft noch Lust haben, wenn wir
uns ihre Minimität gegenüber den letzten Zeilen immer mit logischer
Gerechtigkeit vor Augen hielten und nicht alle Kräfte, die dem Bewuſst-
sein überhaupt entsprechen, gesammelt in den Dienst des vorläufig
[217] Notwendigen stellten. — Es liegt auf der Hand, daſs diese Metem-
psychose des Endzwecks um so häufiger und gründlicher stattfinden
muſs, je komplizierter die Technik des Lebens wird. Mit steigendem
Wettbewerbe und steigender Arbeitsteilung werden die Zwecke des
Lebens immer schwerer zu erreichen, d. h. es bedarf für sie eines
immer höheren Unterbaues von Mitteln. Ein ungeheurer Prozentsatz
der Kulturmenschen bleibt ihr Leben lang in dem Interesse an der
Technik, in jedem Sinne des Wortes, befangen; die Bedingungen, die
die Verwirklichung ihrer Endabsichten tragen, beanspruchen ihre Auf-
merksamkeit, konzentrieren ihre Kräfte derart auf sich, daſs jene
wirklichen Ziele dem Bewuſstsein völlig entschwinden, ja, oft genug
schlieſslich in Abrede gestellt werden. Das wird durch den Umstand
begünstigt, daſs in kulturell ausgebildeten Verhältnissen das Individuum
schon in ein sehr vielgliedriges teleologisches System hineingeboren
wird (z. B. in Hinsicht äuſserer Sitten, nach deren Ursprung als Be-
dingungen sozialer Zwecke niemand mehr fragt, die vielmehr als kate-
gorische Imperative gelten), daſs er in die Mitarbeit an längst fest-
stehenden Zwecken hineinwächst, daſs sogar seine individuellen Ziele
ihm vielfach als selbstverständliche aus der umgebenden Atmosphäre
entgegenkommen und mehr in seinem thatsächlichen Sein und Sich-
Entwickeln als in deutlichem Bewuſstsein zur Geltung gelangen. Alle
diese Umstände helfen dazu, die Endziele nicht nur des Lebens über-
haupt, sondern auch innerhalb des Lebens nur unvollständig über die
Schwelle des Bewuſstseins steigen zu lassen und die ganze Zuspitzung
desselben auf die praktische Aufgabe, die Realisierung der Mittel, zu
richten.


Es bedarf wohl keines besonderen Nachweises, daſs diese Vor-
datierung des Endzwecks an keiner Mittelinstanz des Lebens in solchem
Umfange und so radikal stattfindet als am Geld. Niemals ist ein Ob-
jekt, das seinen Wert ausschlieſslich seiner Mittlerqualität, seiner Um-
setzbarkeit in definitive Werte verdankt, so gründlich und rückhaltlos
zu einer psychologischen Absolutheit des Wertes, einem das praktische
Bewuſstsein ganz ausfüllenden Endzweck aufgewachsen. Auch wird
diese abschlieſsende Begehrtheit des Geldes grade in dem Maſse steigen
müssen, in dem es immer reineren Mittelscharakter annimmt. Denn
dieser bedeutet, daſs der Kreis der für Geld beschaffbaren Gegenstände
sich immer weiter ausdehnt, daſs die Dinge sich immer widerstands-
loser der Macht des Geldes ergeben, daſs es selbst immer qualitätloser,
aber eben deshalb jeder Qualität der Dinge gegenüber gleich mächtig
wird. Seine wachsende Bedeutung hängt daran, daſs alles, was nicht
bloſs Mittel ist, aus ihm herausgeläutert wird, weil erst so die Reibungen
[218] mit den spezifischen Charakteren der Objekte hinwegfallen. Indem sein
Wert als Mittel steigt, steigt sein Wert als Mittel, und zwar so
hoch, daſs es als Wert schlechthin gilt und das Zweckbewuſstsein an
ihm definitiv Halt macht.


Der Umfang, in dem dies geschieht, hängt von der groſsen Wen-
dung des wirtschaftlichen Interesses von der Urproduktion zum industri-
ellen Betrieb ab. Die neuere Zeit und etwa das klassische Griechen-
tum nehmen dem Gelde gegenüber hauptsächlich daraufhin so ver-
schiedene Stellungen ein, weil es damals nur der Konsumtion, jetzt
aber wesentlich auch der Produktion dient. Dieser Unterschied ist von
der äuſsersten Wichtigkeit für die teleologische Rolle des Geldes, das
sich auch hier als der treue Index der Wirtschaft überhaupt zeigt:
denn auch das allgemeine ökonomische Interesse war damals viel mehr
der Konsumtion als der Produktion zugewandt; die letztere war eben
hauptsächlich agrarischer Art und deren einfache und traditionell fest-
stehende Technik fordert keine so erhebliche Aufwendung wirtschaft-
lichen Bewuſstseins wie die fortwährend variierende Industrie und läſst
dieses deshalb sich mehr auf die andere Seite der Wirtschaft, die
Konsumtion, richten. Die Entwicklung der Arbeit überhaupt zeigt dies
Schema; bei den Naturvölkern ist sie fast nur eine solche, die um des
unmittelbar folgenden Verbrauches willen geschieht, nicht um des Be-
sitzes willen, der die Staffel zu weiterem Erwerbe abgäbe, weshalb
denn auch die als sozialistisch zu bezeichnenden Bestrebungen und
Ideale des Altertums wohl auf eine Organisierung der Konsumtion,
aber nicht der produktiven Arbeit gehen; so daſs sich hierin Platos
Idealstaat ohne weiteres mit der athenischen Demokratie begegnet, zu
deren Bekämpfung er grade bestimmt war. Eine Stelle bei Aristoteles
beleuchtet dies besonders scharf. Sobald für die politischen Funktionen
ein Sold eingeführt wird, so bewirke dies in der Demokratie ein Über-
gewicht der Armen über die Reichen. Denn jene seien durch
Privatgeschäfte weniger in Anspruch genommen als
diese
und haben deshalb mehr Zeit, ihre öffentlichen Rechte aus-
zuüben, was sie denn auch um des Soldes willen thun. Es ist hier
also schlechthin selbstverständlich, daſs die Armen die Beschäftigungs-
loseren sind. Ist dies aber, im Gegensatz zu späteren Zeiten, nichts
Zufälliges, sondern ein prinzipiell in jener Wirtschaftsform Begründetes,
so folgt, daſs das Interesse der Massen eben nur darauf gehen konnte,
unmittelbar zu leben zu haben: eine soziale Struktur, die die Arbeits-
losigkeit der Armen voraussetzt, muſs im wesentlichen ein konsumtives
statt ein produktives Interesse haben. Die sittlichen Vorschriften, die
sich bei den Griechen über das ökonomische Gebiet finden, betreffen
[219] fast ausschlieſslich das Ausgeben, aber nicht den Erwerb des Reich-
tums — freilich schon deshalb, weil an die numerisch weit überragenden
Urproduzenten, die Sklaven, sich überhaupt kein soziales oder ethisches
Interesse knüpfte. Nur jenes, nicht dieses gebe, wie Aristoteles meint,
Gelegenheit zur Entfaltung positiver Sittlichkeit. Das harmoniert völlig
mit seiner und Platos Meinung über das Geld, in dem beide nur
ein notwendiges Übel erblicken. Denn wo die Wertbetonung aus-
schlieſslich auf der Konsumtion liegt, enthüllt das Geld seinen in-
differenten und leeren Charakter besonders deutlich, weil es mit dem
Endzweck der Wirtschaft unmittelbar kon
iert wird; als Produktions-
mittel rückt es von jenem weiter ab, es wird rings von anderen Mitteln
umgeben, gegen die gehalten es eine ganz andere relative Bedeutung
besitzt. Dieser Unterschied in dem Sinne des Geldes geht auf die
letzten Entscheidungen in dem Geiste der Epochen zurück. Das Be-
wuſstseins-Übergewicht des konsumtiven Interesses über das produktive
ging, wie eben erwähnt, von dem Vorwiegen agrarischer Produktion
aus und der Grundbesitz, die relativ unverlierbare und durch das Ge-
setz geschützteste Substanz, war der einzige, der dem Griechen das
Beharren und die Einheit seines Lebensgefühls gewährleisten konnte.
Darin war der Grieche doch noch Orientale, daſs er sich die Kontinuität
des Lebens nicht anders vorstellen konnte, denn als die Ausfüllung der
Zeitreihe mit festen und beharrenden Inhalten: das war das Haften am
Substanzbegriff, das die ganze griechische Philosophie charakterisiert.
Völlig entgegengesetzt ist die moderne Anschauung, die die Einheit
und den Zusammenhang des Lebens in dem Kräftespiel und der gesetz-
lichen Aufeinanderfolge der inhaltlich abwechslungsvollsten Momente
erblickt. Die ganze Mannigfaltigkeit und Bewegtheit unseres Lebens
hebt uns nicht das Gefühl seiner Einheit auf — wenigstens prinzipiell
nicht, sondern nur in Fällen, die wir selbst als Abirrungen oder Un-
zulänglichkeiten empfinden — ja grade von jener wird es getragen, zu
stärkstem Bewuſstsein gebracht. Aber diese dynamische Einheit war
den Griechen fremd; derselbe Grundzug, der ihre ästhetischen Ideale
in den Formen der Architektur und der Plastik gipfeln lieſs, der ihre
Weltanschauung zu der Begrenztheit und Abrundung des Kosmos und
zur Perhorreszierung der Unendlichkeit führte — eben dieser lieſs sie
die Kontinuität des Daseins nur als eine substanzielle anerkennen, die
sich an den Grundbesitz anlehnt und an ihm verwirklicht, wie jene
moderne am Geld mit seiner flieſsenden, sich stets aus sich heraus-
setzenden, die Gleichheit des Wesens neben der höchsten und ab-
wechselndsten Mannigfaltigkeit der Äquivalente darstellenden Natur.
Dazu kam, um das eigentliche, auf das Geld basierte Handelsgeschäft
[220] bei den Griechen zu diskreditieren, daſs dasselbe immer etwas Lang-
sichtiges hat und mit der Berechenbarkeit der Zukunft operiert; ihnen
aber erschien die Zukunft prinzipiell als etwas Unberechenbares, die
Hoffnung auf sie als etwas äuſserst Trügerisches, ja Vermessenes, durch
das man den Zorn der Götter herausfordern konnte. All diese inneren
und äuſseren Momente der Lebensgestaltung sind so wechselwirkende,
daſs man kaum eines als das zeitlich fundamentale, unbedingt ver-
anlassende bezeichnen kann. Der Charakter einer agrarischen Wirt-
schaft, mit ihrer Zuverlässigkeit, mit ihrer geringen und wenig variabeln
Zahl der Mittelglieder, mit ihrem Betonen der Konsumtion gegenüber
der Produktion einerseits, die auf die Substanzialität der Dinge ge-
richtete Sinnesart, die Scheu vor allem Unberechenbaren, bloſs Labilen
und Dynamischen andrerseits sind doch wohl nur verschiedenartige,
durch das Medium differenzierter Interessen gebrochene Strahlen einer
einheitlichen historischen Grundbeschaffenheit, die wir freilich mit
unserem auf das Zerlegen angelegten Verstande nicht unmittelbar greifen
und benennen können — oder sie gehören jenen Bildungen an, zwischen
denen die Frage nach der Priorität überhaupt falsch gestellt ist, weil
ihr Wesen von vornherein in der Wechselwirkung besteht, eins sich
auf das andere und das andere auf das eine und so ins Unendliche
aufbaut, in einem Zirkel, der für die Einzelheiten des Erkennens fehler-
haft, für seine grundlegenden Momente aber wesentlich und unvermeid-
lich ist. Wie sich das nun aber auch deuten lasse, die Thatsache war,
daſs bei den Griechen Mittel und Zwecke der Wirtschaft nicht so weit
auseinandertraten wie später, daſs die ersteren deshalb nicht dasselbe
psychologische Eigenleben gewannen wie später, und daſs das Geld nicht
so selbstverständlich und ohne innere Widerstände zu finden, zu einem
selbständigen Werte aufwuchs.


Die Bedeutung des Geldes, das gröſste und vollendetste Beispiel
für die psychologische Steigerung der Mittel zu Zwecken zu sein —
tritt erst in ihr volles Licht, wenn das Verhältnis zwischen Mittel und
Endzweck noch näher beleuchtet wird. Ich habe vorhin schon eine
Reihe von Veranlassungen erwähnt, die die wirklichen Ziele unseres
Handelns vor uns selbst verbergen, so daſs unser Wollen in Wirklich-
keit auf ganz andere hingeht, als es uns selbst scheint. Wenn
es aber so durchaus legitim ist, über die Zwecke innerhalb unseres
Bewuſstseins hinaus nach weiteren zu fragen — wo liegt die Grenze
für dieses Hinausfragen? Wenn überhaupt einmal die teleologische
Reihe nicht mit ihrem letzten momentan bewuſsten Gliede abschlieſst,
ist dann nicht der Weg für ihren Weiterbau ins Unendliche eröffnet,
ist es nicht geradezu erforderlich, uns mit keinem gegebenen Endzweck,
[221] auf den unser Handeln führe, zu begnügen, sondern für jeden eine
noch weitere Begründung in einem noch darüber gelegenen zu suchen?
Es tritt hinzu, daſs kein erreichter Gewinn oder Zustand jene endgültige
Befriedigung gewährt, die mit dem Begriff eines Endzwecks logisch ver-
bunden ist, daſs vielmehr jeder erreichte Punkt eigentlich nur als Durch-
gangsstadium zu einem darüber hinaus liegenden Definitivum empfunden
wird — im Gebiete des Sinnlichen, weil dieses in ununterbrochenem
Fluſs ist, der an jedes Genieſsen ein neues Bedürfen kontinuierlich
ansetzt, im Gebiet des Idealen, weil die Forderungen desselben durch
keine empirische Wirklichkeit gedeckt werden. Nimmt man dies
alles zusammen, so scheint das, was wir den Endzweck nennen, über
den teleologischen Reihen zu schweben, zu diesen sich verhaltend wie
der Horizont zu den irdischen Wegen, die immer auf ihn zugehen,
aber ihn nach der längsten Wanderung nicht näher als an ihrem Be-
ginn vor sich haben. Das will nicht besagen, daſs der Endzweck etwa
nur unerreichbar, sondern daſs er eine überhaupt nicht mit einem
Inhalt zu erfüllende Vorstellungsform ist. Die teleologischen Reihen,
soweit sie sich überhaupt auf irdisch Realisierbares richten, kommen
nicht nur ihrer Verwirklichung, sondern schon ihrer inneren Struktur
nach nicht zum Stehen, und statt des festen Punktes, den eine
jede derselben in ihrem Endzweck zu besitzen schien, bietet sich
dieser grade nur als das heuristische, regulative Prinzip dar: daſs
man kein einzelnes Willensziel für das letzte ansehe, sondern jedem
die Möglichkeit offen halte, die Stufe zu einem höheren zu werden.
Der Endzweck ist sozusagen nur eine Funktion oder eine Forderung;
als Begriff angesehen ist er nichts als die Verdichtung der Thatsache,
die er zunächst grade aufzuheben schien: daſs der Weg des mensch-
lichen Wollens und Wertens ins Unendliche führt und kein auf ihm
erreichter Punkt sich dagegen wehren kann, so sehr er gleichsam von
vorn gesehen als Definitivum erschien, von rückwärts gesehen als bloſses
Mittel zu gelten. Damit rückt jenes Aufsteigen der Mittel zu der
Würde des Endzwecks in eine viel weniger irrationelle Kategorie. Für
den einzelnen Fall zwar ist die Irrationalität nicht wegzuräumen, aber
die Gesamtheit der teleologischen Reihen trägt ein anderes Wesen als
die beschränkten Abschnitte: daſs die Mittel zu Zwecken werden, recht-
fertigt sich dadurch, daſs im letzten Grunde auch die Zwecke nur
Mittel sind. In den endlosen Reihen möglicher Wollungen, sich ent-
wickelnder Handlungen und Befriedigungen ergreifen wir fast willkür-
lich ein Moment, um es zum Endzweck zu designieren, zu dem alles
Vorhergehende nur Mittel sei, während ein objektiver Beobachter oder
wir selbst später die eigentlich wirksamen und gültigen Zwecke weit
[222] darüber hinaus verlegen müssen, ohne daſs auch diese gegen das gleiche
Schicksal gesichert wären. An diesem Punkt der äuſsersten Spannung
zwischen der Relativität unserer Bestrebungen und der Absolutheit der
Endzweckidee tritt das Geld wieder bedeutsam hervor. Indem es einer-
seits Ausdruck und Äquivalent des Wertes der Dinge ist, andrerseits
aber doch reines Mittel und indifferentes Durchgangsstadium, symboli-
siert es treffend das eben Ausgemachte: daſs auch die erstrebten und
empfundenen Werte sich schlieſslich als Mittel und Vorläufigkeiten ent-
hüllen. Und indem das sublimierteste Mittel des Lebens für unendlich
viele Menschen der sublimierteste Zweck des Lebens wird, bildet es den
unzweideutigsten Beleg dafür, daſs es nur auf den Standpunkt ankommt,
ob man ein teleologisches Moment als Mittel oder als Zweck gelten
lassen will — einen Beleg, dessen extreme Entschiedenheit die These
mit der Restlosigkeit eines Schulbeispiels deckt.


Wenngleich es nun keine Zeit gegeben hat, in der die Individuen
nicht gierig nach Geld gewesen wären, so kann man doch wohl sagen,
daſs die maximale Zuspitzung und Ausbreitung dieses Verlangens in
die Zeiten fällt, in denen ebenso die anspruchslosere Befriedigung an
den einzelnen Lebensinteressen wie die Erhebung zu dem Religiös-
Absoluten, als dem Endzweck des Daseins, ihre Kraft verloren hat;
denn weit über die innere Verfassung des Einzelnen hinaus ist in der
Gegenwart — wie in der Verfallszeit Griechenlands und Roms — der
Gesamtaspekt des Lebens, die Beziehungen der Menschen untereinander,
die objektive Kultur durch das Geldinteresse gefärbt, und zwar am
meisten grade an den Punkten, wo jene Rückbildungen früher be-
friedigender Zwecke die stärksten sind: in den Groſsstädten. Für den
modernen Menschen, insbesondere den Groſsstädter, ist das Geldbedürf-
nis kein periodisch auftretendes mehr, wie in einfachen und ländlichen
Verhältnissen. Schleiermacher hat vom Christentum hervorgehoben,
daſs es zuerst die Frömmigkeit, das Verlangen nach Gott zu einer
dauernden Verfassung der Seele gemacht habe, während frühere
Glaubensformen die religiöse Stimmung an bestimmte Zeiten und Orte
geknüpft haben — worüber sich historisch übrigens streiten läſst.
Dadurch würde auch die Religion an jener merkwürdigen Thatsache
der menschlichen Entwicklung teilnehmen: daſs die primitivere Form
von vielerlei Äuſserungen und Bedürfnissen die rhythmische ist, ihre
späteren Stadien aber durch Auflösung ihrer Rhythmik und gleich-
mäſsigere Verteilung ihrer, durch Abflachen ihrer Hebungen und Sen-
kungen bezeichnet werden. Eine groſse Reihe von Erscheinungen, die
ein späteres Kapitel im Zusammenhange behandeln wird, zeigt den
Typus, den Schleiermacher von der Religion hervorhebt: daſs ihre
[223] höchste Entwicklung das Bedürfnis nach ihr von der Bindung an
bestimmte Zeiten gelöst und es zu einem beharrenden Zustand gemacht
habe — eben den Typus, den auch die Geldwirtschaft aufweist; denn
das Bedürfnis nach Geld ist jetzt nicht mehr an bestimmte Veran-
lassungen und Regelmäſsigkeiten geknüpft (waren doch noch vor drei
bis vier Jahrhunderten gröſsere Geldsummen auſserhalb der regel-
mäſsigen Wechselmessen kaum beschaffbar!) — sondern ist eben die
dauernde Verfassung und Notwendigkeit des Lebens.


Es kann als eine Ironie der historischen Entwicklung erscheinen,
daſs, wie ich hervorhob, in dem Augenblick, wo die inhaltlich be-
friedigenden und abschlieſsenden Lebenszwecke hinwegfallen, grade
derjenige Wert, der ausschlieſslich ein Mittel und weiter nichts ist, an
ihre Stelle hineinwächst und sich mit ihrer Form bekleidet. Allein in
Wirklichkeit hat das Geld als das absolute Mittel und dadurch als der
Einheitspunkt unzähliger Zweckreihen, in seiner psychologischen Form
bedeutsame Beziehungen grade zu der Gottesvorstellung, die freilich
die Psychologie nur aufdecken kann, weil es ihr Privilegium ist, keine
Blasphemien begehen zu können. Der Gottesgedanke hat sein tieferes
Wesen darin, daſs alle Mannigfaltigkeiten und Gegensätze der Welt
in ihm zur Einheit gelangen, daſs er nach dem schönen Worte des
Nikolaus von Kusa die Coincidentia oppositorum ist. Aus dieser Idee,
daſs alle Fremdheiten und Unversöhntheiten des Seins in ihm ihre
Einheit und Ausgleichung finden, stammt der Friede, die Sicherheit,
der allumfassende Reichtum des Gefühls, das mit der Vorstellung
Gottes und daſs wir ihn haben, mitschwebt. Unzweifelhaft haben die
Empfindungen, die das Geld erregt, auf ihrem Gebiete eine psycho-
logische Ähnlichkeit mit diesen. Indem das Geld immer mehr zum
absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt
es sich in abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der
Objekte, es wird zu dem Zentrum, in dem die entgegengesetztesten,
fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren;
damit gewährt thatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne,
jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips,
uns dieses Einzelne und Niedrigere in jedem Augenblicke gewähren,
sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können. Hat man doch
die besondere Eignung und das Interesse der Juden für das Geldwesen
in Beziehung zu ihrer „monotheistischen Schulung“ gesetzt; ein Volks-
naturell, seit Jahrtausenden daran gewöhnt, zu einem einheitlichen
höchsten Wesen aufzublicken, an ihm — insbesondere da es nur eine
sehr relative Transszendenz besaſs — den Ziel- und Schnittpunkt aller
einzelnen Interessen zu haben, muſs auch auf dem wirtschaftlichen Gebiete
[224] sich vorzugsweise dem Wert hingeben, der sich als die zusammenfassende
Einheit und der Punkt gemeinsamer Zuspitzung aller Zweckreihen
darbietet. Auch widerspricht die wilde Jagd nach dem Gelde, die
Leidenschaftlichkeit, die es im Gegensatz zu anderen zentralen Werten,
z. B. dem Grundbesitz, dem wirtschaftlichen, ja dem Leben überhaupt
mitteilt, durchaus nicht der abschlieſsenden Beruhigung, in der die
Wirkung des Geldes sich der religiösen Stimmung nähert. Denn nicht
nur, daſs die ganze Aufregung und Anspannung im Kampfe um das
Geld die Bedingung für die selige Ruhe im Besitz des Erkämpften
bildet; sondern jene Meeresstille der Seele, die die religiösen Güter
gewähren, jenes Gefühl, im Einheitspunkte des Daseins zu stehen,
erreicht doch seinen höchsten Bewuſstseinswert erst als Preis des
Suchens und Ringens nach Gott. Und wenn Augustin vom Geschäfts-
leben sagt: Merito dictum negotium, quia negat otium, quod malum
est neque quaerit veram quietem quae est Deus — so gilt dies mit
Recht von der Geschäftigkeit, die, Erwerbsmittel an Erwerbsmittel
knüpfend, zu dem Endziel des Geldgewinnes aufsteigt; es gilt aber
nicht von diesem Endziel selbst, das eben nicht mehr negotium,
sondern die Mündung desselben ist. Die Feindseligkeit, mit der die
religiöse und kirchliche Gesinnung oft dem Geldwesen gegenübersteht,
mag auch auf den Instinkt für diese psychologische Formähnlichkeit
zwischen der höchsten wirtschaftlichen und der höchsten kosmischen
Einheit zurückgehen und auf die erfahrene Gefährlichkeit der Kon-
kurrenz, die grade das Geldinteresse dem religiösen Interesse bereitet —
eine Gefährlichkeit, die sich nicht nur, wo die Substanz des Lebens
eine ökonomische, sondern auch wo sie eine religiöse ist, gezeigt hat.
In der kanonistischen Verwerfung des Zinses spricht sich die Per-
horreszierung des Geldes überhaupt aus, denn der Zins macht das Geld-
geschäft in seiner abstrakten Reinheit aus. Das Zinsprinzip als solches
enthält für sich noch nicht das volle Maſs der Sündhaftigkeit — hat
man diese doch im Mittelalter vielfach zu vermeiden geglaubt, wenn
man den Zins in Waren statt in Geld abstatten lieſs! — sondern daſs
es eben der Zins des Geldes war, so daſs man mit der Abschaffung
jenes das Geldwesen überhaupt an seiner Wurzel zu treffen meinte.
Das Geld thut sich eben gar zu leicht als Endzweck auf, es schlieſst
bei gar zu vielen die teleologischen Reihen endgültig ab und leistet
ihnen ein Maſs von einheitlichem Zusammenschluſs der Interessen, von
abstrakter Höhe, von Suveränität über den Einzelheiten des Lebens,
das ihnen das Bedürfnis abschwächt, die Steigerung eben dieser Genug-
thuungen in der religiösen Instanz zu suchen. Aus all diesen Zu-
sammenhängen heraus sind also doch mehr als die auf der Hand
[225] liegenden Vergleichungspunkte wirksam, wenn Hans Sachs schon einen
Vertreter der allgemeinen Meinung den Schluſs ziehen läſst: Gelt ist
auff erden der irdisch got. Der ganze Umfang derselben geht auf das
Grundmotiv für die Stellung des Geldes zurück: daſs es das absolute
Mittel ist, das eben dadurch zu der psychologischen Bedeutung eines
absoluten Zweckes aufsteigt. Auf dem Boden der Weltanschauung,
die diese Untersuchungen vertreten, kann man mit einer schon be-
stehenden Formel sagen, das einzig Absolute sei die Relativität der
Dinge; und davon ist das Geld das stärkste und unmittelbarste Sym-
bol. Denn es ist die Relativität der Wirtschaftswerte in Substanz, es
ist die Bedeutung jedes einzelnen, die es als Mittel für den Erwerb
eines anderen hat — aber wirklich diese bloſse Bedeutung als
Mittel, losgelöst von ihrem singulären konkreten Träger. Aber eben
deshalb kann es psychologisch zu einem absoluten Werte werden, weil
es nicht die Auflösung in Relatives zu fürchten hat, derentwegen so
viele, von vornherein substanzielle Werte den Anspruch auf Absolutheit
nicht aufrechterhalten konnten. In dem Maſse, in dem das Absolute
des Daseins (von dem ideellen Sinn der Dinge rede ich hier nicht)
sich in Bewegung, Beziehung, Entwicklung auflöst, treten für unsere
Wertbedürfnisse diese an die Stelle jenes. Das Gebiet der Wirtschaft
hat in dem psychologisch absoluten Wertcharakter des Geldes den
Typus dieser Entwicklung restlos exemplifiziert — wobei, wie popu-
lären Miſsverständnissen gegenüber bemerkt werden mag, mit der
formellen Gleichheit der Entwicklungen auf allen Gebieten durchaus
nicht die Gleichheit ihrer Erfreulichkeit behauptet werden soll. —


Wenn der Endzweckcharakter des Geldes in einem Individuum
diejenige Intensität übersteigt, in der er der angemessene Ausdruck
für die Wirtschaftskultur seines Kreises ist, so entstehen die Erschei-
nungen der Geldgier und des Geizes. Ich betone ausdrücklich die
Abhängigkeit dieser Begriffe von den jeweiligen Wirtschaftsverhältnissen,
weil eben dasselbe absolute Maſs von Leidenschaft im Erwerben und
im Festhalten des Geldes bei einer gewissen Bedeutung des Geldes
durchaus normal und adäquat sein, bei einer andern aber jenen hyper-
trophischen Kategorien angehören mag. Im allgemeinen wird die
Grenze für den Beginn der eigentlichen Geldgier bei sehr entwickelter
und lebhafter Geldwirtschaft sehr hoch liegen, auf primitiveren Stufen
aber verhältnismäſsig tief, während es sich mit dem Geiz umgekehrt
verhält: wer in engen und wenig geldwirtschaftlich bewegten Verhält-
nissen als sparsam und rationell in Geldausgaben gilt, wird in den
groſsen Verhältnissen des schnellen Umsatzes, des leichten Verdienens
und Ausgebens bereits als geizig erscheinen. Schon daran zeigt sich,
Simmel, Philosophie des Geldes. 15
[226] was später noch deutlicher werden wird, daſs Geldgier und Geiz keines-
wegs zusammenfallende Erscheinungen sind, wenn sie auch die gleiche
Grundlage, die Wertung des Geldes als absoluten Zweckes, teilen.
Beide stellen, wie alle vom Geld ressortierenden Erscheinungen, nur
besondere Ausbildungsstufen von Tendenzen dar, deren niedere oder
höhere Staffeln auch an anderweitigen Inhalten sichtbar werden. Beide
zeigen sich konkreten Objekten gegenüber und ohne Beziehung auf
deren Geldwert an der psychologisch sehr merkwürdigen Sammelsucht
jener Persönlichkeiten, die das Volk den Hamstern vergleicht: Menschen,
die kostbare Sammlungen jeglicher Art aufspeichern, ohne von den
Gegenständen selbst einen Genuſs zu ziehen, ja oft sogar, ohne sich über-
haupt noch weiter um sie zu kümmern. Nicht der subjektive Reflex des
Habens, um dessentwillen sonst erworben und besessen wird, trägt hier den
Wert, sondern die ganz objektive, von keinen persönlichen Konsequenzen
begleitete Thatsache, daſs diese Dinge eben in ihrem Besitze sind, ist
für solche Persönlichkeiten wertvoll. Diese Erscheinung, die in ein-
geschränkter und weniger extremer Form sehr häufig ist, pflegt einfach
als Egoismus behandelt zu werden, mit dessen gewöhnlichen Formen
sie allerdings die negative Seite teilt, den Ausschluſs aller Anderen von
dem eigenen Besitz; dennoch unterscheidet sie sich von diesen durch
eine Nüance, die auf folgendem Umweg darzustellen ist.


Es muſs immer wieder hervorgehoben werden, daſs der Gegensatz
von Egoismus und Altruismus die Motivierungen unseres Handelns
keineswegs vollständig umfaſst. Wir haben thatsächlich auch ein ob-
jektives
Interesse daran, daſs gewisse Ereignisse oder Dinge wirklich
oder nicht wirklich werden, und zwar völlig ohne Rücksicht auf irgend
welche, ein Subjekt treffenden Folgen derselben. Es ist uns wichtig,
daſs in der Welt eine Harmonie, eine Ordnung nach Ideen, eine Be-
deutsamkeit — die keineswegs in die üblichen Schemata des Ethischen
oder Ästhetischen hineinzupassen braucht — herrsche, und wir fühlen
uns zur Mitwirkung dazu aufgefordert, ohne doch immer danach zu
fragen, ob dies irgend einer Persönlichkeit, dem Ich oder einem Du,
zur Freude oder Förderung gereicht. Auf dem religiösen Gebiet kommen
die drei Motivierungen in einer Weise zusammen, die die Stellung der
hier fraglichen besonders durchsichtig macht. Die Erfüllung religiöser
Gebote kann aus rein egoistischen Gründen geschehen, sei es in ganz
grober Weise aus Furcht oder Hoffnung, sei es, etwas feiner, um des
guten Gewissens oder des inneren Befriedigungsgefühles willen, das
diese Erfüllung mit sich bringt. Sie kann ferner altruistischen Wesens
sein: die Liebe zu Gott, die Hingabe des Herzens an ihn läſst
uns seinen Geboten gehorchen, wie wir die Wünsche eines geliebten
[227] Menschen erfüllen, weil seine Freude und Genugthuung unser höchster
Lebenswert ist. Endlich aber kann uns dazu ein Gefühl für den ob-
jektiven Wert einer Weltordnung bewegen, in der der Wille des
höchsten Prinzips sich widerstandslos in dem Willen aller einzelnen
Elemente fortsetzt, das sachliche Verhältnis zwischen Gott und uns
kann diesen Gehorsam als seinen adäquaten Ausdruck oder seine
innerlich notwendige Folge von uns fordern, ohne daſs irgend ein Er-
folg für uns selbst oder eine Freude und Zufriedenheit Gottes in diese
Motivation einträte. So macht in vielerlei Fällen das Zweckbewuſstsein
an einer objektiven Wirklichkeit Halt und entlehnt deren Wert nicht
erst aus subjektiven Reflexen ihrer. Ich lasse jede psychologische oder
erkenntnistheoretische Deutung dieser, jenseits des Persönlichen stehenden
Motivierung hier dahingestellt; jedenfalls ist sie eine psychologische
Thatsache, die nun mit den Zweckreihen persönlicher Färbung die
mannigfaltigsten Kombinationen eingeht. Der Sammler, der seine Kost-
barkeiten Anderen verschlieſst und sie selbst gar nicht genieſst, aber ihren
Besitz dennoch auf das eifersüchtigste hütet und wertet, färbt all seinen
Egoismus durch einen Beisatz jener übersubjektiven Wertungsweise.
Im ganzen ist es doch der Sinn des Besitzes, genossen zu werden,
und wir stellen ihm nicht nur die Objekte gegenüber, an denen man,
wie an den Sternen, Freude hat, ohne sie zu begehren, sondern auch
diejenigen, deren Wert man von aller subjektiven Freude prinzipiell
unabhängig macht, wie die Schönheit, Ordnung und Bedeutsamkeit des
Kosmos als etwas des Genossenwerdens unbedürftiges und dennoch in
seinem Werte beharrendes erscheint. In dem Fall jener Besitzsüchtigen
liegt nun eine mittlere oder Mischerscheinung vor: es bedarf hier schon
des Besitzes, aber dieser schreitet nicht zu seinem regulären subjektiven
Erfolge vor, sondern wird auch ohne diesen als etwas wertvolles, als
ein des Erstrebens würdiges Ziel empfunden. Nicht die Qualität der
Sache ist hier der eigentliche Träger des Wertes; sondern, so unent-
behrlich sie ist und so sehr sie das Maſs des Wertes bestimmt — das
eigentlich Motivierende ist die Thatsache ihres Besessenwerdens, die
Form des Verhältnisses, in dem das Subjekt zu ihr steht. Daſs diese
Form — die freilich nur an einem Inhalt wirklich werden kann —,
daſs dieser Besitz des Subjekts als rein objektive Thatsache da ist,
das ist das Wertvolle, an dem die teleologische Reihe Halt macht.


In sehr eigentümlicher Weise zeigt sich die Verabsolutierung eines
ökonomischen Wertes, das Abbrechen der teleologischen Reihe, bevor
sie zum Subjekt zurückgekehrt ist, an einer gewissen Bedeutung des
Grundbesitzes, die sich mit seiner eigentlich ökonomischen Bedeutung
in mannigfaltiger Weise — oft freilich nur wie ein Oberton mit-
15*
[228] schwebend — mischt. So sicher nämlich der Grundbesitz kein Wert
geworden wäre, wenn er nicht dem Eigentümer subjektive Nutzerfolge
einbrächte, so erschöpft sich doch sein Wert nicht völlig in diesen an-
gebbaren Wertfaktoren: in dem Ertrage, in der gröſseren Sicherheit
des Immobiliarbesitzes, in der sozialen Macht, die er verleiht etc.
Sondern darüber hinaus verbindet sich mit ihm vielfach ein gewisser-
maſsen idealer Wert und die Empfindung, es sei an sich wertvoll, daſs
der Mensch dieses Herrschaftsverhältnis zum Boden habe, daſs er zu der
Grundlage menschlicher Existenz überhaupt eine so enge und sie gleich-
sam in das Ich hineinziehende Beziehung besitze. Der Grundbesitz hat
und verleiht so eine gewisse Dignität, die ihn vor allen andern Besitz-
arten selbst dann auszeichnet, wenn der Nutzerfolg dieser für den
Besitzer ein gleicher oder auch gröſserer ist, so daſs er oft genug
unter Opfern festgehalten worden ist, wie man sie in ähnlicher Weise
nur für ein objektives Ideal bringt. Es steckt also in der Bedeutung
des Grundbesitzes ein Element absoluten Wertes, die Vorstellung be-
gleitet ihn — oder hat ihn wenigstens begleitet —, es sei eben wert-
voll, Grundbesitzer zu sein, und selbst dann, wenn dieser Wert weder
in einem Nutzen, noch sogar in einem deutlichen subjektiven Bewuſst-
sein zum Ausdruck komme. So kann die Bindung an den Grundbesitz
eine religiöse Färbung annehmen, der sie sich z. B. in der besten Zeit
Griechenlands näherte. Die Veräuſserung des Grundbesitzes erschien
als ein Vergehen nicht nur gegen die Kinder, sondern auch gegen die
Ahnen, da sie die Familienkontinuität unterbrach; ja, grade auch der
Umstand, daſs er nicht leicht vermehrbar war, begünstigte seine Funktion
als Träger der überindividuellen, religiös geheiligten Familieneinheit.
Insbesondere aber im Mittelalter hatte der Grundbesitz viel mehr den
Rang eines absoluten Wertes, als er ihn jetzt hat; denn wenn er auch
selbstverständlich zunächst um seines Ertrages und des Genusses des-
selben willen gesucht und insofern ein relativer Wert war, so hatte er
an und für sich doch gegenüber seiner Rolle in der Geldwirtschaft eine
eigenartige Bedeutung, weil er nicht immerzu in Geld umgesetzt und
nach Geld taxiert wurde. Er hatte sozusagen kein Äquivalent, die
Wertreihe, in der er stand, schloſs mit ihm ab. Mobilien mochte man
gegeneinander vertauschen, der immobile Besitz war, cum grano salis,
etwas unvergleichliches, der Wert schlechthin, der unbewegte Grund,
über dem sich die eigentliche ökonomische Bewegung erst vollzog, und
der an sich jenseits dieser stand. So war es doch wohl nicht nur das
ökonomisch-relativistische Interesse, aus dem die Kirche ihn sich anzu-
eignen strebte: soll doch Anfangs des 14. Jahrhunderts fast die Hälfte
des englischen Grundes und Bodens und zur Zeit Philipps II. mehr
[229] als die Hälfte des spanischen in den Händen des Klerus gewesen sein —
wie noch jetzt im Kirchenstaat Tibet zwei Drittel aller produktiven
Ländereien dem Klerus gehören! Wie die Kirche dem mittelalter-
lichen Leben die festen, scheinbar für die Ewigkeit gegründeten Normen
seines Verlaufes gab, so muſste es im realen wie im symbolischen
Sinn angemessen scheinen, daſs sie auch jenen fundamentierenden
Wert aller Werte in ihrer Hand umschloſs. Die Unveräuſserlichkeit
des kirchlichen Grundbesitzes war nur die bewuſste und gesetzmäſsige
Festlegung dieses inneren Charakters seiner. Sie dokumentierte nur,
daſs die Wertbewegung hier an ihren Endpunkt gekommen, daſs hier
das Äuſserste und Definitive im ökonomischen Gebiet erreicht war.
Kann man so die Tote Hand mit der Höhle des Löwen vergleichen,
in die alle Fuſsspuren hinein-, aus der aber keine herausführen, so
ist sie doch auch ein Symbol der allumfassenden Absolutheit und der
Ewigkeit des Prinzips, auf dem die Kirche sich gründete.


Dieses Auswachsen von Gütern zu einem Endzweck, dessen ab-
soluter Wert also über die bloſse Nutznieſsung hinausreicht, findet in
jenen pathologischen Ausartungen des Geldinteresses, dem Geiz und
der Geldgier, seinen reinsten und entschiedensten Fall, ja denjenigen,
der die andern Fälle desselben Typus mehr und mehr in sich hinein-
zieht. Denn sogar schon solche Güter, die an sich gar nicht ökonomischer
Natur sind, läſst das zum Endzweck gewordene Geld nicht als ihm
koordinierte, definitive Werte bestehen; es genügt ihm nicht, sich neben
Weisheit und Kunst, neben personale Bedeutung und Stärke, ja neben
Schönheit und Liebe als ein weiterer Endzweck des Lebens aufzustellen,
sondern indem es dies thut, gewinnt es die Kraft, jene anderen zu
Mitteln für sich herabzudrücken. Um wieviel mehr wird diese Um-
ordnung bei eigentlich ökonomischen Gütern stattfinden, deren un-
bedingtes Festhalten, als seien sie unvergleichliche Werte, thöricht er-
scheinen muſs, sobald man sie jederzeit für Geld wiederhaben kann,
und vor allem: sobald die restlose Ausdrückbarkeit ihres Wertes in
Geld sie ihrer individuellen und auſserhalb der reinen indifferenten
Wirtschaft stehenden Bedeutung beraubt hat. Der abstrakte Charakter
des Geldes, die Entfernung, in der es sich an und für sich von jedem
Einzelgenuſs hält, begünstigen eine objektive Freude an ihm, das Be-
wuſstsein eines Wertes, der über alle einzelne und persönliche Nutz-
nieſsung weit hinübergreift. Wenn das Geld zunächst nicht mehr in
dem Sinne Zweck ist, wie irgend ein sonstiges Werkzeug, nämlich um
seiner Erfolge willen, sondern dem Geldgierigen als Endzweck gilt,
so ist es nun weiter nicht einmal in dem Sinne Endzweck, wie ein
Genuſs es ist, sondern für den Geizigen hält es sich jenseits dieser
[230] persönlichen Sphäre, es ist ihm ein Gegenstand scheuer Achtung, der
für ihn selbst tabu ist. Der Geizige liebt das Geld, wie man einen
sehr verehrten Menschen liebt, in dessen bloſsem Dasein und darin,
daſs wir ihn wissen und unser Mit-ihm-sein empfinden, schon Selig-
keit liegt, auch ohne daſs unser Verhältnis zu ihm in die Einzelheit
konkreten Genieſsens einginge. Indem der Geizige von vornherein
und bewuſsterweise darauf verzichtet, das Geld als Mittel zu irgend
welchen Genüssen zu benutzen, stellt er es zu seiner Subjektivität
in eine brückenlose Distanz, die er dennoch durch das Bewuſstsein
seines Besitzes immerfort zu überwinden sucht.


Bewirkt so der Mittelscharakter des Geldes, daſs es als die ab-
strakte Form von Genüssen, die man dennoch nicht genieſst, auftritt,
so hat die Schätzung seines Besitzes, insoweit es unausgegeben bewahrt
wird, eine Färbung von Sachlichkeit, es umkleidet sich mit jenem feinen
Reize der Resignation, der alle objektiven Endzwecke begleitet und
die Positivität und Negativität des Genieſsens in eine einzigartige und
mit Worten nicht weiter ausdrückbare Einheit zusammenschlieſst. Beide
Momente erreichen im Geize ihre äuſserste Spannung gegen einander,
weil das Geld als das absolute Mittel auf unbegrenzte Möglichkeiten
des Genieſsens hinaussieht und zugleich als das absolute Mittel in
seinem unausgenützten Besitz den Genuſs noch völlig unangerührt läſst.
Nach dieser Seite hin fällt die Bedeutung des Geldes mit der der
Macht zusammen; wie diese ist es ein bloſses Können, das die Reize
einer nur subjektiv antizipierbaren Zukunft in der Form einer objektiv
vorhandenen Gegenwart sammelt. Thatsächlich enthält die Vorstellung
der „Möglichkeit“ zwei, in der Regel nicht hinreichend auseinander-
gehaltene Motive. Wenn man irgend etwas zu „können“ behauptet,
so bedeutet dies keineswegs nur die gedankliche Vorwegnahme eines
zukünftigen Geschehens, sondern einen schon jetzt wirklichen Zustand
von Spannkräften, physischen oder psychischen Koordinationen, be-
stimmt gerichteten Lagerungen vorhandener Elemente; wer klavier-
spielen „kann“, unterscheidet sich, auch wenn er es nicht thut, von
jemandem, der es nicht kann, keineswegs nur in einem zukünftigen
Momente, wo er es thun wird, dieser aber nicht, sondern schon in dem
gegenwärtigen durch eine ganz konkrete, gegenwärtige Verfassung
seiner Nerven und Muskeln. Dieser Zustand des Könnens, der an
sich gar nichts von Zukunft enthält, führt aber nun, zweitens, zu der
Wirklichkeit des „Gekonnten“ nur durch das Zusammentreffen mit
gewissen weiteren Bedingungen, deren Eintreten wir nicht ebenso gewiſs
vorherwissen. Dieses Unsicherheitsmoment und jenes Gefühl oder
Wissen einer jetzt schon aktuellen Kraft oder Zustandes, bilden die
[231] Elemente des Könnens, und zwar in quantitativ sehr mannigfaltigen
Mischungen, anhebend etwa von dem: ich kann klavierspielen — wo
das Moment des Wirklichen sehr überwiegt und die Unsicherheit über
die auſserdem erforderlichen Bedingungen minimal ist, bis zu dem:
der nächste Wurf kann alle Neun sein — wo die gegebenen und be-
kannten zuständlichen Bedingungen im Augenblick völlig in der Minder-
zahl sind gegenüber den für jenen Erfolg noch auſserdem erforder-
lichen, aber völlig unsicheren Momenten. Hier stellt nun das Können,
das im Gelde gleichsam geronnen und Substanz geworden ist, eine
ganz einzigartige Kombination dar. Was man an ihm wirklich be-
sitzt, ist, in seiner Beschränkung auf den Augenblick des Besitzes,
gleich Null; das Entscheidende dafür, daſs es sich zu wertvollen Er-
gebnissen entwickle, liegt vielmehr ganz auſserhalb seiner. Aber die
Sicherheit, daſs dieses Anderweitige auch wirklich im richtigen Momente
dasein werde, ist ungeheuer groſs. Während in der Regel das im
„Können“ enthaltene Maſs von Festigkeit und Unzweideutigkeit in dem
gegenwärtig Vorhandenen und Thatsächlichen liegt, alles Künftige aber
unsicher ist, ist dem Gelde gegenüber diese letztere Unsicherheit völlig
verschwunden, dagegen aber ist das schon Gegenwärtige, aktuell Be-
sessene als solches völlig belanglos. Dadurch ist der spezifische
Ton des Könnens an ihm auf das äuſserste zugespitzt: es ist wirk-
lich bloſses Können, im Sinne einer Zukunft, an der das Gegenwärtige,
das wir in der Hand haben, allein seine Bedeutung hat; aber es ist
auch wirkliches Können im Sinne völliger Gewiſsheit über die Reali-
sierbarkeit solcher Zukunft.


Die Sicherheit der Befriedigung steigert sich hier noch durch
die Besonderheit des Verhältnisses zwischen Wunsch und Erfüllung,
die das Geld gegenüber den übrigen Gegenständen unseres Interesses
besitzt. Die subjektiven Folgen eines erreichten Wunsches bilden
keineswegs immer das genaue Komplement des Entbehrungszustandes,
der ihn entstehen lieſs. Das Entbehren eines Gegenstandes ist nicht
wie ein Loch, das sein Besitz genau ausfüllte, so daſs nun alles
wäre wie vor dem Wunsch. So stellt es freilich Schopenhauer dar,
für den deshalb alle Beglückung nur etwas Negatives ist, nur die
Beseitigung des Schmerzzustandes, den die Entbehrung uns bereitet
hat. Wenn man aber das Glück als etwas positives gelten läſst, so
ist doch die Erreichung unserer Wünsche nicht nur das Aufheben
eines negativen Zustandes durch den genau entsprechenden positiven,
vermehrt um ein mitschwebendes Glücksgefühl. Vielmehr, das Ver-
hältnis des Wunsches zu seiner Erfüllung ist ein unendlich mannig-
faltiges, weil der Wunsch fast nie alle Seiten des Gegenstandes, d. h.
[232] seiner Wirkung auf uns berücksichtigt. An seiner Wirklichkeit
haben wir fast niemals das, was er uns unter der Kategorie der
Möglichkeit, des Habenwollens bedeutete. Die triviale Weisheit hat
recht, daſs der Besitz des Gewollten uns in der Regel enttäuscht,
und zwar nach der guten wie nach der schlimmen Seite, wie
auch so, daſs das Anderssein des Habens nur als ein thatsächliches,
aber von keinem Gefühl begleitetes bewuſst wird. Das Geld indes
nimmt hier eine Sonderstellung ein. Einerseits treibt es freilich jene
Inkommensurabilität zwischen dem Wunsch und seinem Objekt auf den
Gipfel. Die Bestrebung, die sich zunächst auf das Geld gerichtet hat,
findet an ihm nur ein ganz bestimmungsloses Etwas, von dem ein Be-
gehren, so lange es rationell ist, absolut nicht befriedigt werden
kann, und das sich seinem völlig leeren Wesen nach jedem eigent-
lichen Verhältnis zu uns entzieht; wenn es also nicht sofort darüber
hinaus zu einem konkreten Ziel schreitet, so muſs es in eine tötliche
Enttäuschung auslaufen; wie sie denn auch unzählige Male da eintritt,
wo der leidenschaftlich und als fraglose Beglückung ersehnte Geldreich-
tum sich nach seiner Erreichung als das enthüllt, was er wirklich ist:
als ein bloſses Mittel, dessen Hinaufschraubung zu einem Endzweck
seine Erreichung nicht überstehen konnte. Während hier also die
fürchterlichste Diskrepanz zwischen Wunsch und Erfüllung besteht,
findet genau das Umgekehrte statt, sobald der psychologische Endzweck-
charakter des Geldes sich für die Dauer gefestigt hat und die Geld-
gier also ein chronischer Zustand geworden ist. In diesem Fall näm-
lich, wo die begehrte Sache überhaupt nichts gewähren soll als ihren
Besitz, und wo diese Beschränkung des Wunsches nicht nur eine vor-
übergehende Selbsttäuschung ist, da ist auch jeder Enttäuschung vor-
gebeugt. Alle Dinge, die wir sonst zu besitzen begehren, sollen uns
doch mit ihrem Besitz etwas leisten und in der unzulänglichen Vor-
berechnung dieser Leistung liegt die ganze, oft tragische, oft humo-
ristische Inkommensurabilität zwischen Wunsch und Erfüllung, von
der ich eben sprach. Das Geld aber soll dem Geizhals von vornherein
nichts über seinen bloſsen Besitz hinaus leisten. Das Geld als solches
kennen wir genauer, als wir irgend einen Gegenstand sonst kennen;
weil nämlich überhaupt nichts an ihm zu kennen ist, so kann es uns
auch nichts verbergen. Als absolut qualitätloses Ding kann es nicht,
was doch sonst das armseligste Objekt kann: Überraschungen oder
Enttäuschungen in seinem Schoſse bergen. Wer also wirklich und
definitiv nur Geld will, ist vor diesen absolut sicher. Die allgemeine
menschliche Unzulänglichkeit, daſs das Gewonnene anders aussieht als
das Ersehnte, erreicht einerseits ihren Gipfel in der Geldgier, sobald
[233] diese das Zweckbewuſstsein nur in illusionärer und nicht haltbarer
Weise erfüllt; sie ist aber andrerseits völlig ausgelöscht, sobald der
Wille wirklich definitiv am Geldbesitz Halt macht. Wenn man die
menschlichen Lose in das Schema der Verhältnisse zwischen dem
Wunsch und seinem Gegenstand fassen will, so muſs man sagen, daſs
je nach dem Haltpunkt der Zweckreihe das Geld zwar der inadä-
quateste, aber auch der adäquateste Gegenstand unseres Begehrens ist.


Übrigens muſs der Machtcharakter des Geldes, auf den ich jetzt
noch einmal komme, fast am fühlbarsten, wenigstens am unheim-
lichsten da hervortreten, wo die Geldwirtschaft noch nicht vollkommen
durchgedrungen und selbstverständlich ist, sondern wo das Geld seine
zwingende Macht an Verhältnissen zeigt, die ihm, ihrer eigentlichen
Struktur nach, nicht von selbst gehorchen. Daſs grade in der höchst
ausgebildeten Kultur das Geld seinen Machthöhepunkt erreicht zu haben
scheint, liegt daran, daſs in ihr freilich unendlich viele, früher über-
haupt unbekannte Objekte ihm zur Verfügung stehen; aber sie sind
von vornherein auf den Gehorsam gegen das Geld angelegt, es kommt
nicht zu jener Reibung, die die ganze Art und Wertungsweise natu-
ralerer Verhältnisse dem ihnen heterogenen Geldwesen entgegensetzen,
und deren Überwindung erst das Bewuſstsein der Macht besonders
zuspitzen muſs. Wie das Geld der Wert der Werte ist, so nennt
ein Kenner des indischen Lebens den indischen Dorfbankier, den
Geldleiher: the man of all men in the village; sein indischer
Name bedeute: the great man! Es wird hervorgehoben, daſs, als im
13. Jahrhundert zuerst wieder gröſsere Kapitalvermögen aufkamen, das
Kapital ein Machtmittel war, das der Masse des Volkes noch unbekannt
war und zu dessen Wirkung deshalb noch der psychologische Zuschlag
des Unerhörten und sozusagen Überempirischen trat. Ganz abgesehen
davon, daſs Kirche und Volk damals das Geldgeschäft überhaupt ver-
werflich fanden — zu dem kirchlichen Grundsatz: mercator seine pecca-
mine vix esse potest, bekannte sich sogar ein Kölner Patrizier des
13. Jahrhunderts — muſste die Ausnutzung einer so mystischen und
unberechenbaren Macht, wie das Kapital war, als etwas sittlich bedenk-
liches, als ein vergewaltigender Miſsbrauch erscheinen. Und wie so
oft irrige Vorurteile den davon Betroffenen in ihre Bewahrheitung
hineintreiben, so verfielen die handelsaristokratischen Geschlechter dieser
Zeit thatsächlich dem gewissenlosen Miſsbrauch ihrer Macht, dessen
Art und Umfang eben durch die Neuheit des Geldkapitals und die
Frische seines Eindrucks auf ganz anders konstruierte Verhältnisse
möglich war. Damit hängt es zusammen, daſs das niedere Volk — vom
Mittelalter an bis in das 19. Jahrhundert hinein — sich die Ent-
[234] stehung groſser Vermögen als mit nicht ganz rechten Dingen zu-
gegangen und ihre Besitzer als etwas unheimliche Persönlichkeiten zu
denken pflegt: über den Ursprung des Vermögens der Grimaldi,
der Medici, der Rothschild waren die ärgsten Schauermärchen ver-
breitet, und zwar nicht nur im Sinne moralischer Zweideutigkeit,
sondern in abergläubischer Weise, als wäre eine dämonische Macht
im Spiel.


Indem die auseinandergesetzte Art des im Geld verkörperten
Könnens ihm ein sublimiertes Machtgefühl grade vor seinem Aus-
gegebenwerden zuwachsen läſst — der „fruchtbare Moment“ ist in
ihm gleichsam zum Stehen gekommen —, ist der Geiz eine Gestal-
tung des Willens zur Macht und zwar, den Charakter des Geldes als
des absoluten Mittels beleuchtend, so, daſs die Macht wirklich nur
Macht bleibt und sich nicht in ihre Ausübungen und deren Genuſs
umsetzt. Dies ist ein wichtiges Erklärungsmoment für den Geiz des
hohen Lebensalters. Gewiſs ist diese Tendenz als Fürsorge für die
nächste Generation zweckmäſsig — so wenig dieses Motiv grade dem
Geizhals bewuſst zu sein pflegt, der vielmehr, je älter er wird, um so
weniger an die Trennung von seinen Schätzen denken mag. Subjek-
tiv ist vielmehr wohl der Umstand wesentlich, daſs im Alter einerseits
die sinnlichen Seiten des Lebens ihren Reiz oder die Möglichkeit des
Genossenwerdens verlieren, andrerseits die Ideale durch Enttäuschungen
und Mangel an Schwung ihre erregende Kraft einbüſsen; so bleibt als
letztes Willensziel und Lebensreiz oft nur noch die Macht übrig, die
sich zum Teil in der Neigung des Alters, zu tyrannisieren, offenbart,
und darin, daſs Personen höherer Stellungen im Alter oft eine krank-
hafte Sucht nach „Einfluſs“ zeigen; zum Teil aber im Geize, für den
eben dieselbe abstrakte „Macht“ sich im Geldbesitz verkörpert. Ich
halte es für einen Irrtum, wenn man sich jeden Geizigen mit der
Ausmalung aller ihm zur Verfügung stehenden Genüsse, all der reiz-
vollen Verwendungsmöglichkeiten des Geldes beschäftigt denkt. Die
reinste Form des Geizes ist vielmehr die, in der der Wille wirklich
nicht über das Geld hinausgeht, es auch nicht einmal im spielenden
Gedanken als Mittel für Anderes behandelt, sondern die Macht, die es
grade als nicht ausgegebenes repräsentiert, als definitiven und absolut
befriedigenden Wert empfindet. Für den Geizigen liegen alle sonstigen
Güter in der Peripherie des Daseins und von jedem derselben führt
ein eindeutig gerichteter Radius seinem Zentrum, dem Gelde, zu, und
es hieſse das ganze spezifische Lust- und Machtgefühl verkennen, wenn
man diese Richtung umdrehen und sie von ihrem Endpunkt auch
nur innerlich wieder auf die Peripherie zurückleiten wollte. Denn
[235] indem die Macht, die in jenem Zentrum ruht, in das Genieſsen
konkreter Dinge umgesetzt würde, ginge sie als Macht verloren.
Unser Wesen ist auf die Zweiheit von Herrschen und Dienen an-
gelegt und wir schaffen uns Beziehungen und Gebilde, die beiden
einander ergänzenden Trieben in mannigfaltigsten Mischungen genug-
thun. Im Gegensatz zu der Macht, die das Geld verleiht, erscheint
das Unwürdige des Geizes von einem Dichter des 15. Jahrhunderts
erschöpfend ausgedrückt: wer dem Geld dient, der sei „seines Knechtes
Knecht“. Thatsächlich enthält der Geiz, indem er uns vor einem
gleichgültigen Mittel wie vor einem höchsten Zwecke knieen läſst, die
sublimierteste, man könnte sagen: karrikierte Form inneren Unter-
worfenseins, wie ihn auf der anderen Seite das sublimierteste Macht-
gefühl trägt. Das Geld zeigt auch hier sein Wesen, unseren anta-
gonistischen Strebungen ein gleichmäſsig entschiedenstes und reinstes
Sichdarstellen zu gewähren. In ihm hat sich der Geist das Gebilde
der gröſsten Spannweite geschaffen, das, gleichsam als reine Energie
wirkend, die Pole jenes um so weiter auseinander treibt, je einheit-
licher — d. h., als bloſses Geld, jede Sonderbestimmtheit ablehnend —
es selbst sich darstellt.


Es ist nun für die Herrschaft, die das Geld über die allgemeine
Denkart gewonnen hat, sehr bezeichnend, daſs man eine Reihe von
Erscheinungen als Geiz — im Sinne des Geldgeizes — zu bezeichnen
pflegt, die in Wirklichkeit das genaue Gegenteil desselben sind. Es
handelt sich um die Menschen, die ein abgebranntes Streichholz noch-
mals benutzen, leere Briefseiten sorgfältig abreiſsen, kein Stückchen
Bindfaden wegwerfen und auf jede verlorene Stecknadel eine Mühe
des Suchens verwenden. Man nennt solche Personen geizig, weil man
sich gewöhnt hat, den Geldpreis der Dinge ganz unbefangen als ihren
Wert anzusehen. Thatsächlich aber denken sie nicht an den Geld-
wert jener Objekte, die Stärke ihres Gefühls gilt grade dem sach-
lichen
Wert derselben, auf den ihr Geldwert gar keine irgend pro-
portionierte Hinweisung giebt. Wenigstens in sehr vielen Fällen sind
es durchaus nicht die Bruchteile eines Pfennigs, um deren Rettung es
sich für jene Sparsamen handelt; grade sie sind von der Rücksicht
auf das Geld, durch das die Objekte ohne weiteres wieder beschaffbar
sind, oft genug unabhängig und werten eben bloſs die Sache selbst.
In diese Kategorie gehören auch die sonderbaren, aber nicht allzu
seltenen Menschen, die ohne Bedenken hundert Mark, aber nur mit
wahrer Selbstüberwindung einen Bogen Papier aus ihrem Schreibvorrat
oder Ähnliches verschenken. Hier liegt also das direkte Gegenteil des
Geizes vor: dem Geizigen sind die Dinge grade gleichgültig,
[236] — auſser insoweit sie Geldwert darstellen — weil das Geld sie
ihres Endzweckcharakters beraubt hat, während das Verhalten jener
ganz sinnlos wäre, wenn es durch den Geldwert der Dinge
bestimmt wäre; freilich kann es durch das völlige Auſseracht-
lassen desselben auch wieder unvernünftig werden. Sie vergessen über
den Zweck das Mittel, das ihn jederzeit wieder erreichbar macht,
während der Geizige über das Mittel den Zweck vergiſst, der jenem
allein Bedeutung giebt. Es begegnen ferner Erscheinungen, die
in der äuſseren Form mit jenen sachlichen Sparsamkeiten überein-
stimmend, durch ihre innere Diskrepanz gegen sie den teleologischen
Charakter des Geldes weiter klären helfen. Viele „sparsame“ Menschen
halten darauf, daſs alles, was einmal bezahlt ist, auch konsumiert
werde. Und zwar keineswegs nur dann, wenn damit eine andernfalls
erforderliche Ausgabe erspart würde; sondern Luxusgenüssen gegenüber,
von denen man sich inzwischen überzeugt hat, daſs sie keine Ge-
nüsse sind; der Zweck ist nun einmal verfehlt, aber um diese Ver-
fehlung zu realisieren, bringt man ein weiteres Opfer; denn der Typus
dieser Erscheinungen ist: „Lieber den Magen verrenkt als dem Wirt
einen Kreuzer geschenkt.“ Die Konsumtion des Gegenstandes ist nach
der Voraussetzung indifferent oder schlimmer als indifferent; ihr Motiv
kann also nicht sein, daſs der Gegenstand nicht umkommen soll; denn
er ist umgekommen, indem die Genuſsseite seiner, die seine Bedeutung
für das Subjekt bildete, in Wegfall gekommen ist. Es wird in Wirk-
lichkeit also gar nicht derjenige Gegenstand konsumiert, auf den die
Absicht gerichtet war, sondern ein andrer, dem die motivierende Eigen-
schaft grade fehlt. Das Motiv kann demnach nur dies sein, daſs mit der
Konsumierung wenigstens die Geldaufwendung ihr Äquivalent gefunden
hat. Das Geld ist so zu seinem nächsten Zwecke gekommen und damit
ist eine Beruhigung des Gefühls und ein Höhepunkt der teleologischen
Reihe erreicht, neben der die Verfehlung ihres subjektiven Endzwecks,
als eine Sache für sich und jene Befriedigung nicht herabsetzend,
steht. Diese banale und inhaltlich uninteressante Erscheinung offen-
bart so eine ganz eigenartige teleologische Konstellation des Geldwertes.
Obgleich sie nicht an sehr erheblichen Objekten hervorzutreten pflegt
und deshalb etwas Kleinbürgerliches und Unscheinbares hat, ist sie
doch vielleicht der extremste Ausdruck für die Überwucherung der
wirklichen Endzwecke durch die Mittelinstanz des Geldes; denn es fällt
hierbei nicht nur, wie auch beim Geize, der eigentliche Sinn alles
Wirtschaftens weg, sondern auch noch der Reiz der Macht und der
Möglichkeiten, der bei jenem den zu nichts verwendeten Geldbesitz
schmückte: das Objekt, aus dem alles, was irgendwie Sinn und Zweck
[237] seiner Konsumtion sein könnte, hinweggefallen ist, wird unter Unbequem-
lichkeiten und Schädlichkeiten konsumiert, bloſs weil das dafür aus-
gegebene Geld ihm einen absoluten Wert verliehen hat. Der Zweck-
prozeſs ist hier also nicht nur an der Geldinstanz erstarrt, sondern er
wird noch darüber hinaus sozusagen rückläufig und pervers, indem die
an sich nicht-zweckmäſsige Wertung durch direkt unzweckmäſsiges Ver-
fahren realisiert wird.


Die Stellung des Geldes, insoweit sie seinen Charakter über das
bloſse Mittlertum hinaus zu einem selbständigen Interesse steigert, will
ich nun noch nach zwei negativen Instanzen hin verfolgen. Die Ver-
schwendung
ist nach mehr als einer Richtung dem Geize verwandter
als die Entgegengesetztheit ihrer Erscheinungen zu verraten scheint.
Es ist hier zu bemerken, daſs in Zeiten naturaler Wirtschaft die geizige
Konservierung der Werte mit deren Natur, mit der sehr begrenzten
Aufhebbarkeit der landwirtschaftlichen Produkte nicht vereinbar ist.
Wo daher deren Umsetzung in das unbegrenzt aufhebbare Geld nicht
thunlich oder wenigstens nicht selbstverständlich ist, findet man selten
ein eigentlich geiziges Aufhäufen derselben; wo Bodenprodukte un-
mittelbar gewonnen und konsumiert werden, besteht meistens eine ge-
wisse Liberalität, besonders etwa Gästen und Bedürftigen gegenüber,
wie sie das zum Sammeln viel mehr einladende Geld weniger nahe
legt; so daſs Petrus Martyr die Kakaosäcke rühmt, die den alten Mexi-
kanern als Geld dienten, weil sie nicht lange aufgehäuft und verborgen
aufbewahrt werden konnten und also keinen Geiz gestatteten. Ganz
entsprechend beschränken naturale Verhältnisse die Möglichkeit und
den Reiz der Verschwendung. Die verschwenderische Konsumtion und
leichtsinnige Vergeudung innerhalb derselben haben doch, abgesehen
von sinnloser Zerstörung, an der Aufnahmefähigkeit des eigenen und
fremder Subjekte ihre Grenze. Die Hauptsache aber ist, daſs die Ver-
schwendung des Geldes überhaupt einen ganz anderen Sinn, eine ganz
neue Nüance gegenüber der Verschwendung konkreter Gegenstände
enthält: die letztere bedeutet, daſs der Wert für die vernünftigen
Zweckreihen des Individuums schlechthin vernichtet ist, die erstere,
daſs er in unzweckmäſsiger Weise in andere Werte umgesetzt ist. Der
Typus des Verschwenders in der Geldwirtschaft und derjenige, der
allein eine geldphilosophisch bedeutsame Erscheinung bietet, ist nicht
jemand, der das Geld in natura sinnlos verschenkt, sondern der es zu
sinnlosen bezw. seinen Verhältnissen nicht angemessenen Käufen ver-
wendet. Die Lust am Verschwenden, die genau von der Lust etwa an
dem flüchtigen Genuſs der Gegenstände, an dem damit verbundenen
Protzentum, an dem anregenden Wechsel zwischen Erwerb und Ver-
[238] brauch der Objekte zu unterscheiden ist, die also die reine Funktion
des Verschwendens, ohne Rücksicht auf ihren substanziellen Inhalt und
ihre Begleiterscheinungen betrifft — heftet sich also an den Moment
des Geldausgebens für irgend welche Gegenstände; der Reiz dieses
Momentes überdeckt beim Verschwender die sachgemäſse Schätzung
des Geldes einerseits, der Gegenstände andrerseits. Hiermit wird die
Stellung des Verschwenders der Zweckreihe gegenüber deutlich bezeichnet.
Wenn das Endglied derselben der Genuſs aus dem Besitz des Objekts
ist, so ist ihre erste uns hier wesentliche Mittelstufe, daſs man das
Geld besitze, die zweite, daſs man es für den Gegenstand ausgebe.
Für den Geizigen nun wächst jene erste zu einem für sich lustvollen
Selbstzweck aus, für den Verschwender die zweite. Das Geld ist für
ihn kaum weniger wesentlich als für jenen, nur nicht in der Form des
Habens, sondern in der des Ausgebens. Sein Wertgefühl baut sich in
dem Augenblick des Überganges des Geldes in andere Wertformen an
und zwar mit solcher Intensität, daſs er sich den Genuſs dieses Augen-
blicks um den Preis erkauft, alle definitiveren Werte damit zu ver-
geuden.


Es ist deshalb sehr deutlich zu beobachten, daſs die Gleichgültig-
keit gegen den Geldwert, der das Wesen und den Reiz der Ver-
schwendung ausmacht, dies eben doch nur dadurch kann, daſs dieser
Wert als etwas Empfundenes und Geschätztes vorausgesetzt wird. Denn
offenbar würde das Wegwerfen des Indifferenten selbst etwas ganz
Indifferentes sein. Für die wahnsinnigen Verschwendungen des ancien
régime ist der folgende Fall typisch: als der Prinz Conti einen
4—5000 Francs werten Diamanten, den er einer Dame geschickt hatte,
von ihr zurückerhielt, lieſs er denselben zerstoſsen und benutzte ihn
als Streusand für ein Billet, das er der Dame über die Angelegenheit
schrieb. Dieser Erzählung fügt Taine die Bemerkung über die da-
malige Anschauungsweise hinzu: on est d’autant plus un homme du
monde que l’on est moins un homme d’argent. Allein hierin lag doch
eine Selbsttäuschung. Denn grade das bewuſste und betonte negative
Verhalten zum Gelde hat, wie durch einen dialektischen Prozeſs, das
gegenteilige zur Grundlage, aus der allein jenem irgend ein Sinn und
Reiz kommen kann. Dasselbe ist auch bei jenen, in Groſsstädten hier
und da bestehenden Geschäften der Fall, die gegenüber den durch
Billigkeit wirkenden, grade umgekehrt mit einer gewissen prahlerischen
Selbstgefälligkeit betonen, daſs sie die höchsten Preise haben. Sie
sprechen damit die Anwartschaft auf das beste Publikum aus, das nicht
nach dem Preise fragt. Nun ist aber das Bemerkenswerte dabei, daſs
sie nicht sowohl die Hauptsache — die Sache — accentuieren, sondern
[239] dieses negative Korrelat, daſs es auf den Preis nicht ankommt, und
dadurch unbewuſsterweise doch wieder den Geldpunkt, wenn auch mit
umgekehrtem Vorzeichen, in den Vordergrund des Interesses rücken.
Wegen ihrer engen Beziehung zum Gelde gewinnt die Verschwendungs-
sucht so leicht einen ungeheueren Beschleunigungszuwachs und raubt
dem davon Befallenen alle vernünftigen Maſsstäbe: weil die Regulierung
fehlt, die durch das Maſs der Aufnahmefähigkeit konkreten Objekten
gegenüber gegeben ist.


Das ist die genau gleiche Maſslosigkeit, die die geizige Geldgier
charakterisiert: die bloſse Möglichkeit, die sie statt des Genusses der
Wirklichkeiten sucht, geht an und für sich ins Unendliche und findet
nicht wie diese, äuſsere und innere Gründe ihrer Einschränkung. Wo
der Habsucht die ganz positiven, von auſsen kommenden Fixierungen
und Haltpunkte fehlen, pflegt sie sich ganz formlos und mit wachsender
Beschleunigung zu ergieſsen. Das ist der Grund der besonderen Maſs-
losigkeit und Erbitterung der Erbschaftsstreitigkeiten. Weil hier keine
Arbeit oder sachlich begründete Abmessung den Anspruch des Einzelnen
festlegt, ist a priori keiner geneigt, den Anspruch des anderen an-
zuerkennen, so daſs dem eignen jede Hemmung fehlt und jeder Eingriff
in denselben als ein ganz besonders grundloses Unrecht empfunden
wird. Diese innere Beziehungslosigkeit zwischen dem Wunsche und
irgend einem Maſse seines Objekts, die bei der Erbschaftsstreitigkeit
aus der personalen Struktur des Erbverhältnisses hervorgeht, entstammt
bei der Geldgier der Struktur des Objekts. Sehr bezeichnend scheint
mir für die Prinzipienlosigkeit, der diese letztere Raum giebt und die
die Ansprüche gar keinen Grund zu ihrer Beschränkung finden läſst,
ein Braunschweiger Münzaufstand von 1499. Die Obrigkeit wollte,
daſs künftig allein die gute Münze gelten sollte, neben der bisher die
schlechte bestanden hatte. Und nun revoltierten dieselben Menschen,
welche für ihre Produkte und auf ihre Löhne nur gute Pfennige nehmen
wollten, in gewaltthätiger Weise, weil man ihre Zahlungen in schlechter
Münze nicht mehr acceptierte! Grade dies häufige Nebeneinander von
guter und schlechter Münze giebt der inneren Maſslosigkeit der Geld-
sucht — der gegenüber auch die intensivsten sonstigen Leidenschaften
immer etwas psychologisch Lokalisiertes haben — die reichsten Mög-
lichkeiten. Sogar aus China wissen wir von Revolutionen, weil die Re-
gierung in schlechtem Gelde zahlte, ihre Steuern aber in gutem ein-
forderte. Ich möchte rein hypothetisch annehmen, daſs diese Ten-
denz zur Maſslosigkeit, die in dem bloſsen Geldinteresse als solchem
liegt, auch die verborgene Wurzel der eigentümlichen, an den Börsen
festgestellten Erscheinung bildet: daſs die kleinen Getreidespekulanten,
[240] die Outsiders, fast ausnahmslos à la hausse gehen. Ich glaube, daſs
die logisch zwar unleugbare, für die Praxis aber ganz irrelevante That-
sache: daſs der Gewinn bei der Baissespekulation überhaupt eine Grenze
hat, bei der Hausse aber nicht — den psychologischen Anreiz für diese
Seite bewirkt. Während die groſsen Getreidespekulanten, für die die
wirkliche Lieferung des Objekts in Frage kommt, die Chancen nach
beiden Seiten hin berechnen, ist der reinen Geldspekulation, wie das
Differenzgeschäft sie darstellt, die Richtung adäquat, die formell ins
Grenzenlose geht. Eben diese Richtung, die die innere Bewegungs-
form des Geldinteresses ausmacht, liegt als das Schema der folgenden
Thatsache noch näher. Die deutsche Landwirtschaft hat in der Periode
von 1830—80 dauernd steigende Erträge geliefert. Dadurch entstand
die Vorstellung, dies sei ein ins unendliche gehender Prozeſs; so daſs
die Güter nicht mehr nach dem Preise gekauft wurden, der dem momen-
tanen Ertrage, sondern der dem künftig zu erwartenden, nach der bisher
beobachteten Proportion gesteigerten entsprach — der Grund der jetzigen
Notlage der Landwirtschaft. Es ist die Geldform des Ertrages, die die
Wertvorstellung so auf die schiefe Ebene lockt; wo er nur als „Ge-
brauchswert“, nur seinem unmittelbaren konkreten Quantum nach in
Frage kommt, findet die Idee seiner Steigerung eher eine besonnene
Grenze, während die Möglichkeit und Antizipation des Geldwertes ins
unendliche geht. Hierauf gründet sich das Wesen von Geiz und Ver-
schwendung, weil sie beide prinzipiell die Wertbemessung ablehnen,
die allein der Zweckreihe Halt und Grenze gewähren kann, nämlich
die an dem abschlieſsenden Genusse der Objekte. Indem der eigent-
liche Verschwender — der nicht mit dem Epikureer und dem bloſs
Leichtsinnigen zu verwechseln ist, so sehr in der individuellen Er-
scheinung all diese Elemente sich mischen mögen — gegen das Ob-
jekt, wenn es einmal in seinem Besitz ist, gleichgültig wird, ist sein
Genieſsen mit dem Fluche behaftet, nie Rast und Dauer zu finden;
der Augenblick seines Eintritts enthält zugleich seine Aufhebung in
sich, sein Leben hat dieselbe dämonische Formel wie das des Geizigen:
daſs jeder erreichte Moment den Durst nach seiner Steigerung weckt,
der aber nie gelöscht werden kann; denn die ganze Bewegung sucht
die Befriedigung, wie sie aus einem Endzweck flieſst, innerhalb einer
Kategorie, die sich ja von vornherein den Zweck versagt und sich auf
das Mittel und den vordefinitiven Moment beschränkt hat. Der Geizige
ist der abstraktere von beiden; sein Zweckbewuſstsein macht in noch
gröſserer Distanz vor dem Endzweck Halt; der Verschwender geht
immerhin noch näher an die Dinge heran, er verläſst die auf das
rationelle Ziel gerichtete Bewegung an einer späteren Station, um sich
[241] an ihr, als sei sie selbst das Endziel, anzubauen. Einerseits diese
formale Gleichheit bei vollständiger Entgegengesetztheit des sichtbaren
Erfolges, andrerseits das Fehlen eines regulierenden substanziellen
Zweckes, das bei der gleichmäſsigen Sinnlosigkeit beider Tendenzen
ein launenhaftes Spiel zwischen ihnen nahe legt — erklärt es, daſs
Geiz und Verschwendung sich oft an derselben Persönlichkeit finden,
sei es in Verteilung auf verschiedene Interessenprovinzen, sei es in
Zusammenhang mit wechselnden Lebensstimmungen; Kontraktion und
Expansion derselben drücken sich in Geiz und Verschwendung, wie
in derselben, nur jedesmal mit anderem Vorzeichen versehenen Be-
wegung aus.


Beiderlei Bedeutungen des Geldes für unseren Willen gehen auf
die Synthese zweier Bestimmungen zurück, die sich im Geld vollzieht.
So dringlich und allgemein nämlich auch Nahrung und Kleidung be-
gehrt werden, so ist das Verlangen nach ihnen doch naturgemäſs be-
grenzt; grade von dem Notwendigen und deshalb zunächst mit der
gröſsten Intensität Begehrten kann es genug geben. Der Bedarf
nach Luxusgütern ist dagegen unserer Natur nach unbegrenzt: das An-
gebot wird hier niemals die Nachfrage übersteigen; z. B. also haben
die Edelmetalle, insoweit sie Schmuckmaterial sind, eine innere Un-
beschränktheit der Verwendung, die die Folge ihrer primären Über-
flüssigkeit ist. Je näher die Werte an dem Lebenszentrum stehen, je
mehr sie Bedingung der unmittelbaren Selbsterhaltung sind, desto
stärker ist zwar ihr unmittelbares Begehrtwerden, aber desto be-
grenzter ist eben dieses in quantitativer Hinsicht, desto eher gelangt
man ihnen gegenüber an einen Sättigungspunkt. Umgekehrt dagegen,
je weiter sie von jener primären Dringlichkeit abstehen, desto weniger
findet ihre Begehrtheit ihr Maſs an einem natürlichen Bedürfnis, und
jedes gewährte Quantum läſst dieselbe ziemlich unverändert fortleben.
Zwischen diesen Polen also bewegt sich die Skala unserer Bedürfnisse;
sie sind entweder von unmittelbarer Intensität, aber dann doch natur-
gemäſs begrenzt — oder sie sind Luxusbedürfnisse, die für die
mangelnde Notwendigkeit eine grenzenlose Möglichkeit ihrer Ver-
wendung eintauschen. Während nun die Mehrzahl der Kultur-
güter sich in einer gewissen Mischung dieser Extreme bewegt, so daſs
der Annäherung an das eine die Entfernung vom andern entspricht,
vereinigt das Geld die Höhepunkte beider. Denn indem es sowohl die
unentbehrlichsten wie die entbehrlichsten Lebensbedürfnisse zu be-
friedigen dient, gesellt es der intensiven Dringlichkeit des Verlangens
seine extensive Unbegrenztheit zu. Es trägt an sich selbst die Struktur
des Luxusbedürfnisses, indem es jede Begehrungsgrenze ablehnt — die
Simmel, Philosophie des Geldes. 16
[242] nur durch die Beziehungen bestimmter Quantitäten zu unserer Auf-
nahmefähigkeit möglich wären —, aber es braucht diese Schranken-
losigkeit des Begehrens nicht durch jenen Abstand von dem unmittel-
baren Bedürfen auszugleichen, wie es die Edelmetalle als Schmuckmaterial
müssen, da es das Korrelat auch der unmittelbarsten Lebensnotdurft
geworden ist. Geiz und Verschwendung stellen diesen merkwürdig
kombinierten Begehrungscharakter des Geldes gleichsam abgelöst dar,
es ist für sie in sein reines Begehrtwerden aufgegangen; sie zeigen
nach der schlimmen Seite hin, was wir auch nach der guten am
Geld beobachten: daſs es den Durchmesser des Kreises erweitert, in
dem unsere antagonistischen psychischen Bewegungen schwingen. Nur
daſs der Geiz in gleichsam substanzieller Erstarrung zeigt, was die
Verschwendung in der Form des Flieſsens und der Expansion offenbart.


Nach einer anderen Dimension hin, als die Verschwendung
es thut, steht der Geldgier und dem Geize eine zweite negative Er-
scheinung gegenüber: die Armut als definitiver Wert, als für sich be-
friedigender Lebenszweck. Das Auswachsen eines Gliedes der Zweck-
reihe zu absoluter Bedeutung hat sich hier in eine ganz andere Richtung
derselben verpflanzt als beim Geiz und der Verschwendung; denn
während diese bei den Mitteln zu Endzwecken stehen blieben,
verharrt die Armut bei dem Ausbleiben der Mittel oder rückt in den
hinter dem Endzweck liegenden Teil, insoweit sie sich als der
Erfolg abgelaufener Zweckreihen einstellt. Ähnlich wie jene beiden
tritt Armut in ihrer reinsten und spezifischen Erscheinung nur bei
irgend einem Maſse von Geldwirtschaft auf. In naturalen Verhält-
nissen, die noch nicht geldwirtschaftlich bestimmt sind, so lange also
die Bodenprodukte noch nicht als bloſse Waren, d. h. unmittelbar als
Geldwerte figurieren, kommt es nicht so leicht zu absoluter Bedürftig-
keit Einzelner: noch bis in die letzte Zeit hinein hat man sich in
Ruſsland gerühmt, daſs die wenig geldwirtschaftlich entwickelten Be-
zirke daselbst keine persönliche Armut kennten. Als allgemeine Er-
scheinung liegt das nicht nur an der leichteren Zugängigkeit des un-
mittelbar Nötigen, zu dem es nicht erst der Beschaffung des Geldmittels
bedarf, sondern auch daran, daſs die humanen und sympathischen Ge-
fühle der Armut gegenüber in jenen Verhältnissen leichter erweckt
werden, als wenn das, was dem Armen fehlt und womit man ihm helfen
soll, gar nicht das ihm unmittelbar Nötige ist. Das Mitgefühl hat in
reinen Geldverhältnissen erst einen Umweg zu machen, ehe es auf den
Punkt seines eigentlichen Interesses kommt. Auf diesem Umwege er-
lahmt es oft. Dem entspricht es, daſs grade praktisch hilfreiche und
mitleidige Menschen dem Armen lieber mit Nahrung und Kleidung als
[243] mit Geld zu Hülfe kommen. Sobald die Armut als sittliches Ideal
auftaucht, ist es deshalb auch der Besitz an Geld, den sie als die
schlimmste Versuchung, als das eigentliche Übel verabscheut.


Wo das Heil der Seele als Endzweck empfunden wird, da er-
scheint zu ihm die Armut in manchen Doktrinen als ein ganz posi-
tives und unerläſsliches Mittel, das sich aus dieser Stellung dann zu
der Würde eines durch sich selbst bedeutungsvollen und gültigen
Wertes erhebt. Das kann auf verschiedenen Staffeln der Zweckreihen
und von verschiedenen Motiven aus geschehen. Zunächst wird
die bloſse Gleichgültigkeit gegen alles irdische Genieſsen und Inter-
essiertsein dahin führen. Von der Seele, die zum Höchsten aufstrebt,
fällt dieser Ballast wie von selbst ab, ohne daſs es eines besonders
darauf gerichteten Willens bedürfte. So mögen sich vielfach die ersten
Christen verhalten haben: nicht direkt feindselig und aggressiv den
Gütern der Sichtbarkeit gegenüber, sondern einfach ohne Beziehung
zu ihnen, wie zu Dingen, für deren Wahrnehmung man kein Organ
besitzt. Deshalb ist der — äuſserst sporadische — Kommunismus des
Urchristentums den Bestrebungen des modernen Kommunismus im
tiefsten Wesen entgegengesetzt: jener aus der Gleichgültigkeit gegen
die irdischen Güter, dieser grade der allerstärksten Wertung der-
selben entsprungen. Eine Mischform beider liegt auch zeitlich zwischen
ihnen: die sozialistisch-revolutionären Bewegungen am Ende des Mittel-
alters waren zwar durchaus begehrlicher Natur, aber doch wurden
sie teilweise von asketischen Strömungen, mit ihrem Ideal völliger Be-
dürfnislosigkeit, genährt. In Hinsicht auf das Geld freilich müssen
diese letzteren aus dem bloſsen Jenseits der materiellen Interessen
herabsteigen und entschiedenere und positivere Formen annehmen, da
man auf dem Wege auch zum Unentbehrlichsten ihm immerwährend
begegnet und da der Erwerb seiner mehr Aufmerksamkeit und Willens-
beschäftigung fordert, als die daraufhin erfolgende Beschaffung des
Unterhaltes selbst. Wer gegen diesen so abgestumpft sein sollte, daſs
er wie jener Kirchenvater Wagenschmiere für Butter aſs, ohne es zu
merken, kann dennoch, wenn er in einer Zeit des Geldverkehrs überhaupt
existieren will, für den Erwerb auch der bescheidensten Summe sein
Bewuſstsein nicht in derselben Weise ablenken lassen. Deshalb wird,
wo prinzipiell nur Gleichgültigkeit gegen alles Äuſsere herrscht, diese
grade dem Gelde gegenüber leicht in wirklichen Haſs übergehen.
Darauf wirkt zweitens der versucherische Charakter des Geldes noch
entschiedener ein. Weil es in jedem Augenblick zur Verwendung
bereit ist, ist es der schlimmste Fallstrick der schwachen Stunden,
und da es alles zu beschaffen dient, so bietet es der Seele das ihr je-
16*
[244] weilig Verführerischste dar; und alles dies ist von um so unheim-
licherer Gefährlichkeit, als das Geld, so lange es wirklich bloſs als
Geld in unseren Händen ist, das indifferenteste und unschuldigste Ding
von der Welt ist. So wird es für asketische Empfindungsweisen das
richtige Symbol des Teufels, der uns in der Maske der Harmlosigkeit
und Unbefangenheit verführt; so daſs dem Teufel wie dem Gelde
gegenüber die einzige Sicherung im absoluten Fernhalten liegt, in der
Ablehnung jeglicher Beziehung, wie ungefährlich sie auch scheine. In
der frühesten Gemeinde Buddhas ist dies zum prinzipiellen Ausdruck
gekommen. Der Mönch, der in die Gemeinde eintritt, giebt eben da-
mit seinen Besitz überhaupt auf, wie er seine Familienbeziehungen
und seine Gattin aufgiebt, und darf, gelegentliche Ausnahmen ab-
gerechnet, nichts weiteres als die kleinen Gegenstände des täglichen
Bedarfs besitzen, und auch diese eigentlich nur, wenn sie ihm als Al-
mosen zuflieſsen. Wie fundamental diese Bestimmung war, zeigt der
Name, mit dem sich die Mönche bezeichneten: die Gemeinde der
Bettler. Indem sie täglich erbettelten — und nicht einmal durch aus-
gesprochene Bitten, sondern das Almosen stillschweigend erwartend —
was sie täglich bedurften, war die Bindung an jegliches Eigentum so-
weit gelöst, wie es überhaupt möglich war. Wie es bei gewissen ara-
bischen Nomadenstämmen durch Gesetz verboten war, Getreide zu
säen, ein Haus zu bauen und Ähnliches, damit keine Verführung zur
Seſshaftigkeit den Einzelnen den Lebensbedingungen des Stammes
untreu mache, so galt dasselbe in innerlicher Wendung von den bud-
dhistischen Mönchen. Sie, die sich den Vögeln vergleichen, die nichts
mit sich tragen, als die Flügel, wohin sie auch fliegen, dürfen kein
Ackerland, kein Vieh, keine Sklaven zum Geschenk nehmen. Am
strengsten ist nun dies Verbot in Bezug auf Gold und Silber. Der
Wohlthäter, der den Mönchen ein Geldgeschenk zugedacht hat, darf
es nicht ihnen geben, sondern einem Handwerker oder Händler, der
dann den Mönchen dafür die Naturalien liefert, die sie annehmen
dürfen. Hat aber dennoch ein Bruder Gold oder Silber angenommen,
so muſs er vor der Gemeinde Buſse thun und das Geld wird, wenn
ein gutgesonnener Laie in der Nähe ist, diesem zum Einkauf von
Lebensmitteln gegeben; selbst darf kein Mönch dies besorgen. Ist
aber keiner gleich zur Hand, so wird das Geld einem Mönch zum
Fortwerfen überliefert und zwar einem, „der frei ist von Begehren,
frei ist von Haſs, frei von Verblendung“ — und der so die Garantie
giebt, daſs er es auch wirklich wegwirft. Hier ist — wenn auch mit
der eigentümlichen anämischen Gedämpftheit dieser gleichsam in einem
Gedanken erstarrten Seelen — das Geld zu einem Gegenstand der
[245] Furcht und des Abscheus, die Armut zu einem eifersüchtig gehüteten
Besitz, zu einem kostbaren Stück in dem Wertinventar dieses, aller
Vielheit und Interessiertheit der Welt abgewandten Daseins geworden.


Die innere Formung, die sich zum absoluten Werte der Armut
aufgipfelt, wird nun mit reinster Entschiedenheit und unvergleichlicher
Leidenschaft von den ersten Franziskanermönchen dargestellt. Hier gilt
es nicht nur eine Reaktion gegen jene furchtbare Verweltlichung der
italienischen Kirche des 12. und 13. Jahrhunderts, die in der Simonie
ihren gedrängtesten Ausdruck gefunden hatte: auf Geld war alles ge-
stellt und für Geld alles zu haben, von der Papstwahl bis zur Ein-
setzung des armseligsten Landpfarrers, von der groſsartigsten Kloster-
gründung bis zum Aussprechen der Formel, durch die Florentiner
Priester den Wein, in dem Mäuse ertrunken waren, wieder sühnten
und genieſsbar machten! Die Reformbewegung hiergegen, die seit
dem fünften Jahrhundert nie völlig unterbrochen war, hatte freilich schon
sonst die Armut als die ideale Forderung für den Geistlichen laut
werden lassen, weil damit der Verweltlichung der Kirche so Wurzel
wie Krone abgeschnitten wäre. Allein zu einem selbständigen Werte
oder zu einem Korrelat der tiefsten inneren Bedürfnisse wurde die
Armut doch erst bei den Franziskanern. Von der ersten Zeit des
Ordens sagt ein Spezialhistoriker: „In der Armut hatte die gente po-
verella Sicherheit, Liebe und Freiheit gefunden: was Wunder, daſs
alles Dichten und Trachten der neuen Apostel einzig der Bewahrung
dieses köstlichen Schatzes galt. Ihre Verehrung kannte keine Grenzen;
mit der vollen Glut bräutlicher Liebe warben sie täglich aufs neue
um die Freundin ihres Herzens.“ Die Armut wurde hier zu einem
positiven Besitz, der einerseits gleichsam den Erwerb der höchsten
Güter vermittelte, ihnen gegenüber das leistete, was das Geld den
irdischen Verächtlichkeiten gegenüber; wie dieses war sie das Reservoir,
in das die praktischen Wertreihen mündeten und aus dem sie sich
wieder nährten. Andrerseits aber war die Armut schon ganz unmittel-
bar eine Seite oder ein Ausdruck davon, daſs dem Entsagenden die
Welt in einem höheren, dem höchsten Sinne gehörte; er war eigent-
lich kein Entsagender, sondern in der Armut besaſs er den reinsten,
feinsten Extrakt der Dinge, wie der Geizige ihn im Geld besitzt.
Wie die buddhistischen Mönche sagten: „In hoher Freude leben wir,
die wir nichts besitzen; Fröhlichkeit ist unsere Speise, wie den Göttern
des Lichtreichs“ — so charakterisierte man die Franziskaner als nihil
habentes, omnia possidentes. Die Armut hat hier ihr asketisches
Wesen verloren: die inneren Güter, zu deren Gewinn sie die negative
Bedingung bildete, sind zu ihr selbst herabgestiegen, der Verzicht auf
[246] das Mittel, das der Welt sonst als der volle Repräsentant ihrer End-
zwecke gilt, hat die gleiche Steigerung zu einem definitiven Werte er-
fahren. Die ungeheure und ausgreifende Macht des Prozesses, durch
den das Geld aus seiner Mittlerstellung zu der Bedeutung eines Ab-
soluten aufsteigt, kann durch nichts ein schärferes Licht erhalten als
dadurch, daſs die Verneinung seines Sinnes sich zu der gleichen Form
steigert.


Den Kreis dieser Erscheinungen, die das Wesen des Geldes durch
seine Reflexe beleuchten und durchsichtig machen sollen, schlieſse ich
mit zwei, auf den Höhen der Geldkultur fast endemischen Vorkomm-
nissen: dem Zynismus und der Blasiertheit — beides Ergebnisse
der Reduktion auf den Mittelwert des Geldes, die sich die spezifischen
Werte des Lebens gefallen lassen müssen; sie bilden gleichsam den
Revers der Erscheinungen von Geiz und Geldgier, indem jene Reduk-
tion sich an diesen in dem Aufwachsen eines neuen Endwertes, an
Zynismus und Blasiertheit aber in dem Herabsetzen aller alten offen-
bart. In ihnen vollendet sich die Negativität der teleologischen Reihen,
die das Geld schon in der Verschwendung und der Lust an der Ar-
mut zustande gebracht hat — sie vollendet sich, indem sie jetzt nicht
nur die Einzelheit der Werte, die bloſs im Gelde kristallisiert sind,
sondern die Thatsache der Werte überhaupt ergreift. So wenig das,
was wir heute Zynismus nennen, der fundamentalen Gesinnung nach
etwas mit der griechischen Lebensphilosophie, von der sein Name
stammt, zu thun hat, so besteht doch eine, wenn auch sozusagen per-
verse Beziehung zwischen beiden. Der antike Zynismus hatte ein ganz
positives Lebensideal: die unbedingte Seelenstärke und sittliche Frei-
heit des Individuums. Dies war ihm ein so unbedingter Wert, daſs
ihm gegenüber alle Unterschiede sonst anerkannter Werte zunichte
wurden: ob jemand Herr oder Sklave ist, ob er seine Bedürfnisse
auf ästhetische oder unästhetische Weise befriedigt, ob er ein Vater-
land hat oder keins, ob er die Familienpflichten erfüllt oder nicht
— das sei für den Weisen völlig gleichgültig und zwar nicht nur im
Vergleich
mit jenem absoluten Werte, sondern in dieser Gleichgültig-
keit offenbare sich grade dessen Vorhandensein. Für die jetzt als
zynisch bezeichnete Gesinnung scheint es mir entscheidend, daſs auch
für sie keine Höhendifferenzen der Werte bestehen, und das im all-
gemeinen Hochgewertete seine einzige Bedeutung darin hat, auf
das Niveau des Niedrigsten herabgezogen zu werden — daſs aber der
positive und ideelle sittliche Endzweck dieser Nivellierung weggefallen
ist. Was für jene paradoxen Abkömmlinge sokratischer Lebensweisheit
ein Mittel oder ein sekundäres Ergebnis war, ist hier das Zentrum ge-
[247] worden und hat sich dadurch in seiner Bedeutung völlig geändert.
Der Zyniker — nun immer in dem jetzigen Sinne — offenbart sein
Wesen am deutlichsten im Gegensatz zu dem sanguinischen Enthu-
siasten. Während bei diesem die Kurve der Wertbewegung von unten
nach oben geht und auch niedere Werte zu der Bedeutung der höheren
zu heben strebt, ist sie beim Zyniker umgekehrt gerichtet: sein Lebens-
gefühl ist erst adäquat ausgedrückt, wenn er die Niedrigkeit auch der
höchsten Werte, den Illusionismus der Wertunterschiede theoretisch
und praktisch erwiesen hat. Dieser Stimmung kann nichts wirksamer
entgegenkommen, als die Fähigkeit des Geldes, die höchsten wie die
niedrigsten Werte gleichmäſsig auf eine Wertform zu reduzieren und
sie dadurch, um so verschiedene Arten und Maſse derselben es sich auch
handeln mag, auf dasselbe prinzipielle Niveau zu bringen. Auf keinem
andern generellen Gebiete findet der Zyniker eine so triumphierende
Rechtfertigung, als hier, wo die feinsten, idealsten, persönlichsten Güter
nicht nur für jeden, der das nötige Geld hat, verfügbar sind, sondern,
noch viel bezeichnender, dem Würdigsten versagt bleiben, wenn er
mittellos ist, und wo die Bewegungen des Geldes die unsinnigsten
Kombinationen zwischen den personalen und den Sachwerten bewirken.
Die Pflanzstätten des Zynismus sind deshalb die Plätze des groſsen,
namentlich des Börsenverkehrs, wo das Geld in Massen vorhanden ist
und leicht den Besitzer wechselt. Je mehr hier das Geld selbst zum
alleinigen Interessenzentrum wird, je mehr man Ehre und Überzeugungen,
Talent und Tugend, Schönheit und das Heil der Seele dagegen eingesetzt
sieht, eine um so spöttischere und frivolere Stimmung wird diesen
höheren Lebensgütern gegenüber entstehen, die für dasselbe Wertquale
feil sind wie die Güter des Wochenmarkts, und so schlieſslich auch
einen „Marktpreis“ erhalten. Der Begriff des Marktpreises für Werte,
die ihrem Wesen nach jede Schätzung auſser der an ihren eigenen
Kategorien und Idealen ablehnen, ist die vollendete Objektivirung dessen,
was der Zynismus in subjektivem Reflex darstellt.


Die andere Bedeutung der Nivellierung, die nicht sowohl die Ver-
schiedenwertigkeit, als die Verschiedenartigkeit der Dinge trifft — in-
dem die zentrale Stellung des Geldes das Interesse an das ihnen
Gemeinsame, im Gegensatz zu ihrer individuellen Ausbildungshöhe,
heftet — findet ihren personalen Ausdruck in der Blasiertheit. Während
der Zyniker sich durch das Wertgebiet doch noch zu einer Reaktion
bewegen läſst, wenn auch in dem perversen Sinn, daſs er in der Be-
wegung der Werte von oben nach unten einen Lebensreiz findet, ist
der Blasierte, seinem — freilich nie ganz realisierten — Begriffe nach,
den Unterschieden des Wertempfindens überhaupt abgestorben, er fühlt
[248] alle Dinge in einer gleichmäſsig matten und grauen Tönung, nicht
wert, sich dadurch zu einer Reaktion, insbesondere des Willens,
aufregen zu lassen. Die entscheidende Nüance ist hier also nicht die
Entwertung der Dinge überhaupt, sondern die Indifferenz gegen ihre
spezifischen Unterschiede, da aus diesen grade die ganze Lebhaftigkeit
des Fühlens und Wollens quillt, die sich dem Blasierten versagt. Über
wen erst einmal die Thatsache, daſs man alle möglichen Mannigfaltig-
keiten des Lebens für eben dieselbe Geldsumme haben kann, innerlich
Macht gewonnen hat, der muſs eben blasiert werden. In der Regel
gelten erschöpfende Genüsse als die Ursache der Blasiertheit, und mit
Recht, indem die allzustarken Reize schlieſslich alle Reaktionsfähigkeit
aus den Nerven herauspumpen. Allein damit ist der Kreis der Bla-
siertheitserscheinungen noch nicht abgeschlossen. Die Reize der Dinge
nämlich sind keineswegs nur die Ursachen der praktischen Bethäti-
gungen zu ihrem Gewinne, sondern auch umgekehrt, Art und Maſs
der praktisch erforderten Bemühung um sie bestimmen oft ihrerseits
grade die Tiefe und Lebhaftigkeit ihres Reizes für uns. Alle Indivi-
dualisierungen des Strebens, alle Verschlingungen der Wege, alle be-
sonderen Anforderungen, die der Erwerb des Gegenstandes stellt,
werden auf ihn selbst als Besonderheiten seines Wesens und seines
Verhältnisses zu uns übertragen, werden als Reize in ihm investiert;
umgekehrt, auf je mechanischere und in sich gleichgültigere Weise der
Erwerb des Gegenstandes gelingt, desto farb- und interesseloser er-
scheint er selbst — wie eben allenthalben nicht nur das Ziel den
Weg, sondern auch der Weg das Ziel bestimmt. Deshalb muſs der
immer gleiche, keinem Gegenstande eine besondere Art der Beschaffung
vorbehaltende Erwerb für Geld seine Objekte vergleichgültigen, und
zwar offenbar um so gründlicher, je mehr der Reichtum diese prak-
tische Reduktion der Wertunterschiede auf immer mehr Gegenstände
erstreckt. So lange wir nicht in der Lage sind, die Dinge zu kaufen,
wirken sie noch mit ihren ganzen, ihren Besonderheiten entsprechenden
Reizen auf uns; sobald wir sie, vermöge unseres Geldbesitzes, ganz
selbstverständlich auf jede Anregung hin erwerben, verblassen jene
Reize nicht nur auf Grund des Besitzes und Genusses selbst, sondern
auch wegen des indifferenten, ihren spezifischen Wert verlöschenden
Weges zu ihrem Erwerb. Dieser Einfluſs ist natürlich im einzelnen
Fall unmerklich klein. In dem Verhältnis aber, das der Reiche zu
den für Geld erwerbbaren Objekten hat, ja, vielleicht schon in der
Gesamtfärbung, die der öffentliche Geist jetzt diesen Objekten allent-
halben erteilt, ist er zu einer sehr merkbaren Gröſse angehäuft. So
sind Zynismus und Blasiertheit nur die Antworten zweier verschiedener,
[249] manchmal auch gradweise gemischter Naturelle auf die gleiche Thatsache:
bei zynischer Disposition erregt die Erfahrung, wie vieles für Geld zu
haben ist, und der Induktionsschluſs, daſs schlieſslich Alles und Alle käuf-
lich sind, ein positives Lustgefühl, während für den zur Blasiertheit Neigen-
den eben dasselbe Bild der Wirklichkeit ihr die letzten Möglichkeiten
raubt, ihm zum Reize zu werden. Während deshalb der Zyniker seine
innere Lage in der Regel gar nicht abzuändern wünscht, ist dies beim
Blasierten doch oft genug der Fall: das Gattungsmäſsige in ihm
verlangt nach den Lebensreizen, die seine individuelle Verfassung
ihm unfühlbar macht. Daher die Begierde der Gegenwart nach An-
und Aufregungen, nach extremen Eindrücken, nach der gröſsten Rasch-
heit ihres Wechsels — einer jener typischen Versuche, den Gefahren
oder Leiden einer Situation durch quantitative Exaggerierung ihres In-
haltes abzuhelfen; wodurch freilich eine augenblickliche Ablenkung
von ihrer sachlichen Bedeutung, nach kurzem aber das alte Verhältnis,
jetzt erschwert durch das gestiegene Maſs seiner Elemente, eintritt.
Wesentlicher aber ist, daſs die moderne Wertung des „Anregenden“
als solchen an Eindrücken, Beziehungen, Belehrungen — ohne daſs man
zu betonen für nötig hielte, wozu es uns denn anrege — auch nur
jenes charakteristische Befangensein in den Mitteln verrät: man be-
gnügt sich mit diesem Vorstadium der eigentlichen Wertproduktion.
Da nun die Sucht nach bloſsen Anregungen als solchen die Folge
der überhandnehmenden Blasiertheit ist, der die natürliche Erregbar-
keit mehr und mehr schwindet, und da diese ihrerseits aus der Geld-
wirtschaft, mit ihrer Entfärbung aller spezifischen Werte durch einen
bloſsen Mittelwert, entspringt — so haben wir hier einen der in-
teressanten Fälle, in denen die Krankheit dem Heilmittel ihre eigne
Form mitgeteilt hat. Die Geldkultur bedeutet ein solches Befangen-
sein des Lebens in seinen Mitteln, daſs auch die Erlösung aus seinen
Mündigkeiten wie selbstverständlich in einem bloſsen, seine Endbedeutung
verschweigenden Mittel: in der Thatsache des „Anregenden“ schlecht-
hin — gesucht wird.


[[250]]

III.


Ich habe oben einmal erwähnt, daſs Geldgier und Geiz, so sehr
sie in der Mehrzahl der Fälle vereinigt auftreten, dennoch begrifflich
und psychologisch genau zu unterscheiden sind. Und thatsächlich giebt
es auch Erscheinungen, die sie in Sonderung zeigen; das Tempo des
Weges zum Gelde hin zeigt vielfach eine völlige Unabhängigkeit von
dem des Weges vom Gelde weg, und zwar keineswegs nur da, wo
Geldgier und Geiz im engeren Sinne in Frage stehen, sondern schon auf den
Stufen, auf denen die inneren Bewegungen noch nicht die Grenze des
Normalen überschritten haben. Das wird hauptsächlich durch jene illegi-
time Höhersetzung des Geldes in der Zweckreihe bewirkt, die, weil sie
kein sachliches Maſs in sich hat, ihre Bedeutung vielfach ändert, so daſs
das Geld, solange es noch zu gewinnen ist, ganz andre Wertgefühle
weckt, als wenn es sich um seine Weggabe für weitere Objekte handelt.
Die Spannung des Wertgefühls dem Gelde gegenüber, die den Weg
zu ihm begleitete, läſst mit seiner Erreichtheit nach, was man so aus-
gedrückt hat, daſs die meisten Menschen als Konsumenten das Gesetz
der Wirtschaftlichkeit nicht so genau beobachten, wie sie es als
erwerbende Geschäftsleute thun. Aus dieser Erfahrung heraus, daſs
wir im Erwerben strenger, exakter, weniger leichtsinnig sind, als im
Ausgeben, stammt vielleicht eine Bestimmung des altjüdischen Rechtes.
Nach ihm hat im allgemeinen bei Geldstreitigkeiten stets der Ver-
klagte
zu schwören. Nur dem Krämer wird an einer Stelle im
Talmud ausnahmsweise zugestanden, den betreffenden Vermerk seines
Ladenbuches zu beschwören. In gewissen Verhältnissen tritt jener
Wechsel von Kontraktion und Remission der Geldwertung an Fürsten
hervor, die, wie Ludwig XI. und viele andre, im Eintreiben ihrer Ein-
künfte von äuſserster Strenge, im Ausgeben derselben aber durchaus
liberal sind. Im groſsen und ganzen wird indessen eine Proportion
zwischen dem Tempo des Erwerbens und dem des Ausgebens nicht zu
leugnen sein. Deshalb giebt niemand das Geld leichter und leicht-
[251] sinniger aus als der Spieler, der Goldgräber und die Demi-Monde;
und die ruinöse Finanzwirtschaft Spaniens seit Karl V. hat man auf
die relative Arbeitslosigkeit geschoben, mit der die Edelmetalle Amerikas
den Spaniern anheimfielen. Jenes: „wie gewonnen, so zerronnen“
weist nicht nur auf die objektive Struktur der Wirtschaft hin, die
allerdings die Sicherheit des Erworbenen nur als Preis einer gewissen
Solidität des Erwerbes zu setzen pflegt: die Berufe des besonders
leichten und schnellen Erwerbes enthalten in ihren objektiven Um-
ständen auch schon die Kanäle, durch die das Erworbene wieder ab-
zuflieſsen die natürliche Tendenz und Chance hat. Seine wirksamere
Begründung aber hat das Sprüchwort in der psychologischen Verfassung;
je schneller die teleologische Reihe bis zum Punkte des Geldgewinnes
abläuft, desto weniger Gefühle von Kraftaufwand und Bedeutsamkeit
sind in ihm summiert, desto oberflächlicher und deshalb leichter lösbar
haftet er also im Wertzentrum, desto eher also lassen wir es wieder
aus der Hand. Wenn aber auch so der aufwärts und der abwärts
führende Abschnitt der Reihe einen gemeinsamen Charakter gröſserer
oder geringerer Spannung tragen, so bleibt doch zwischen ihnen selbst
die Differenz, daſs das Geld, solange es noch nicht gewonnen ist,
den Wert eines Endzwecks besitzt, den es zu verlieren pflegt, sobald
es nun wirklich gewonnen und in seinem bloſsen Mittelscharakter —
wo der Geiz dies nicht verhindert — empfunden ist.


Ich habe diesen Wendepunkt zwischen den beiden Abschnitten
der teleologischen Reihe hervorgehoben, weil an ihm ein äuſserst
wesentlicher Zug des Geldes eine sehr entschiedene Sichtbarkeit
erreicht. Solange nämlich das Geld als nächstes und einziges Strebens-
ziel das Bewuſstsein erfüllt, hat es für dieses gewissermaſsen noch eine
Qualität. Wir wüſsten zwar nicht recht zu sagen, was für eine,
allein die Interessiertheit des Willens, die Konzentrierung der Gedanken
darauf, die Lebhaftigkeit der daran geknüpften Hoffnungen und Be-
wegungen strahlen es mit einer Wärme an, die ihm selbst sozusagen
einen farbigen Schimmer leiht und uns den Begriff des Geldes über-
haupt, noch abgesehen von der Frage nach dem Wieviel, bedeutsam
macht. So entwickeln sich alle unsere praktischen Wünsche: solange
sie unerreicht vor uns stehen, reizt uns das ganze Genus als solches,
so daſs wir uns sogar oft genug der Täuschung hingeben, irgend ein
noch so geringfügiges Maſs desselben, insofern es eben nur diese Sache
ist, diesen Begriff darstellt, werde uns dauernd befriedigen. Unsere
Begehrung geht zunächst auf das Objekt seinem qualitativen Charakter
nach, und das Interesse an der Quantität, in der jene Bestimmtheit sich
darstellt, macht in der Regel seine Wichtigkeit erst geltend, wenn die
[252] Qualität schon in irgend einem Maſse verwirklicht und empfunden ist.
Diese typische Entwicklung unserer Interessen ergreift das Geld in
einer besonders modifizierten Weise. Da es nichts ist, als das an sich
gleichgültige Mittel zu konkreten und grenzenlos mannigfaltigen Zwecken,
so ist allerdings seine Quantität die einzige, vernünftigerweise uns
wichtige Bestimmtheit seiner; ihm gegenüber steht die Frage nicht
nach dem Was und Wie, sondern nach dem Wieviel. Dieses Wesen
oder diese Wesenlosigkeit des Geldes tritt aber wie gesagt in voller
psychologischer Reinheit in der Regel erst hervor, wenn es erlangt ist;
nun, bei dem Umsatz in definitive Werte, macht sich erst ganz geltend,
wie über die Bedeutung des Geldes, d. h. über seine Mittlerkraft,
ausschlieſslich sein Quantum entscheidet. Bevor die teleologische Reihe
an diesen Punkt gelangt und insoweit das Geld ein bloſser Gegenstand
des Verlangens ist, tritt vermöge der Gefühlsbetonung, die ihm als
einem allgemeinen Begriff gilt, sein reiner Quantitätscharakter vor seinem
generellen und gewissermaſsen qualitativ empfundenen Wesen zurück —
ein Verhältnis, das beim Geize chronisch wird, weil er die teleologische
Reihe nicht über diesen kritischen Punkt hinausgelangen läſst, so daſs
der Geizige allerdings an das Geld dauernd Gefühle wie an ein Wesen
von qualitativen und spezifischen Reizen knüpft. Die Beschränkung
des Geldinteresses aber auf die Frage des Wieviel, anders ausgedrückt:
daſs seine Qualität ausschlieſslich in seiner Quantität
besteht
, hat vielerlei für uns wichtige Folgen.


Zunächst die, daſs die Quantitätsunterschiede des Geldbesitzes für
den Besitzer die erheblichsten qualitativen Unterschiede bedeuten. Das
ist eine so triviale Thatsache der Erfahrung, daſs ihre Hervorhebung
sinnlos wäre, wenn nicht immer wieder die Versuchung wirkte, den
reinen Quantitätscharakter des Geldes grade umgekehrt auszulegen,
seine Bedeutungen und Wirksamkeiten mechanisch, die höheren durch
Multiplikation der niederen, vorzustellen. Ich will zunächst einen ganz
äuſserlichen Fall als Beweis dafür erwähnen, wie tief eingreifend nach
der Seite qualitativer Folgen hin quantitative Unterschiede in den
Kondensierungen des Geldes sind. Die Ausgabe kleiner Banknoten
hat einen ganz anderen Charakter, als die groſser. Die kleinen Leute,
die hauptsächlich die Inhaber der kleinen Note sind, sind nicht so
leicht imstande, sie zur Einlösung zu präsentieren, wie die Besitzer
groſser Noten, während andrerseits, wenn einmal eine Panik ausbricht,
sie ungestümer und besinnungsloser auf Rückzahlung drängen, oder
ihre Noten à tout prix fortgeben. In derselben Beweisrichtung wirkt
die folgende, mehr prinzipielle Überlegung.


Alle Geldaufwendungen zu Erwerbszwecken zerfallen in zwei
[253] Kategorien: mit Risiko und ohne Risiko. Abstrakt betrachtet sind
zwar in jeder einzelnen beide Formen enthalten, wenn man etwa vom
reinen Hazardspiel absieht; denn auch die wildeste sonstige Speku-
lation muſs zwar mit einer sehr starken Entwertung, aber doch nicht
der Nullifizierung des Spekulationsobjektes rechnen, während andrer-
seits auch das solideste Erwerbsgeschäft immer irgend einen Risikozusatz
birgt. Praktisch aber kann in sehr vielen Fällen der letztere einfach
als unendlich kleine Gröſse vernachlässigt werden, so daſs man von jedem
Geschäft sagen kann, es sei mit ihm entweder nichts riskiert, oder ein
bestimmter Teil des Anlagekapitals, bezw. des Vermögens des Subjekts
stehe auf dem Spiele. Nun scheint es vernünftig, die Gröſse dieses
eventuell verlierbaren Einsatzes durch die beiden objektiven Faktoren
bestimmen zu lassen: den Wahrscheinlichkeitsbruch des Verlustes und
die Höhe des eventuellen Gewinnes. Es ist offenbar irrationell, 100 M.
an ein Geschäft zu wagen, bei dem die Verlustchance = ½ ist und
der höchstmögliche Gewinn 25 M. beträgt; es scheint aber unter allen
Umständen rationell, unter den gleichen Bedingungen 20 M. zu wagen.
Allein diese objektive Berechnung reicht thatsächlich nicht aus, die
Vernunft oder Unvernunft in dem Risiko einer bestimmten Summe
auszumachen. Es tritt vielmehr noch ein personaler Faktor hinzu:
innerhalb jeder ökonomischen Lage giebt es einen gewissen Bruchteil
des Besitzes, der vernünftigerweise überhaupt nicht riskiert werden darf,
gleichgültig, eine wie hohe und wie wahrscheinliche Gewinnchance
dafür einzutauschen wäre. Jenes verzweifelte Aufs-Spiel-Setzen des
Letzten, das damit begründet zu werden pflegt, daſs man „nichts mehr
zu verlieren habe“, zeigt durch diese Begründung, daſs man auf Ratio-
nalität des Verfahrens ausdrücklich verzichtet habe. Setzt man eine
solche aber voraus, so tritt die Frage nach der objektiven Wahrschein-
lichkeit des Gelingens einer Spekulation erst jenseits eines bestimmten
Teilstriches innerhalb jedes Vermögens in ihr Recht. Das Quantum
unterhalb dieser Grenze darf vernünftiger Weise auch nicht um eine
groſse zu gewinnende Summe und bei einer sehr geringen Verlust-
wahrscheinlichkeit aufs Spiel gesetzt werden, so daſs diese objektiven,
sonst das Recht des Risikos begründenden Faktoren hier ganz gleich-
gültig werden. Die Geldform der Werte verführt leicht zu einem
Verkennen dieser wirtschaftlichen Forderung, weil sie jene in sehr
kleine Abschnitte zerlegt und dadurch auch den Minderbegüterten in
ein Risiko hineinlockt, in das er prinzipiell nicht eintreten dürfte.
Dies hat sich z. B. äuſserst charakteristisch an den Goldaktien über ein
Pfund Wert gezeigt, die die Minengesellschaften Transvaals und West-
australiens ausgegeben haben. Durch ihren relativ sehr geringen Be-
[254] trag und die sehr groſse Gewinnchance ist diese Aktie in Kreise ge-
drungen, die sonst der Börsenspekulation völlig fern bleiben muſsten;
einigermaſsen ähnlich verhält es sich mit der italienischen Lotterie,
während die moderne Aktiengesetzgebung vieler Staaten dieser Gefahr
für den Volkswohlstand durch die Festsetzung eines ziemlich hohen
Minimums für den Nennwert jeder zu emittierenden Aktie zu begegnen
sucht. Wenn ein spekulativer Wert, Unternehmen, Anleihe etc. in sehr
kleinen Anteilen angeboten wird, so täuscht die objektive Geringfügig-
keit derselben, d. h. ihre Geringfügigkeit im Verhältnis zu dem Ge-
samtbetrage leicht darüber, daſs sie subjektiv, d. h. im Verhältnis zu
dem Vermögen des Erstehers, recht bedeutend sind. Und die weitere
Thatsache, daſs mit einer objektiv so kleinen Summe überhaupt ein
spekulativer Gewinn zu machen ist, läſst manchen vergessen, daſs seine
Verhältnisse ihm nicht das Risiko dieser Summe erlauben. Das
Tragische dabei ist, daſs Leute, deren Einkommen nur das Existenz-
minimum gewährt und die deshalb überhaupt nichts riskieren dürften,
solchen Versuchungen grade am stärksten unterworfen sind. Ersichtlich
liegt nun jene Grenze innerhalb des Einkommens oder Vermögens, von
der an das Risiko wirtschaftlich zu rechtfertigen ist, um so niedriger,
d. h. sie läſst einen um so gröſseren Teil für spekulative Zwecke frei,
je besser die Persönlichkeit situiert ist — und zwar nicht nur einen
absolut gröſseren, was sich von selbst versteht, sondern auch einen
relativ, d. h. im Verhältnis zum Gesamteinkommen gröſseren. Auch
besteht diese Differenz nicht etwa nur zwischen ganz hohen und ganz
tiefen pekuniären Lagen, sondern schon geringe Differenzen derselben
können unter übrigens gleichen Umständen die Rechtfertigung differenter
Risikoquoten merkbar machen. Dies ist nicht nur ein weiterer Beitrag
zu dem oben behandelten Superadditum des Reichtums — denn offen-
bar hat ein Vermögen um so gröſsere Chance, sich zu vermehren, ein
je gröſserer Teil davon ohne Erschütterung der ökonomischen Existenz
des Besitzers spekulativ angelegt werden kann — sondern es zeigt auch,
wie das Geld durch die bloſsen Unterschiede seiner Quantität einen
ganz verschiedenen qualitativen Charakter annimmt und das wirt-
schaftliche Geldwesen qualitativ ganz verschiedenen Formen unter-
stellt. Die ganze äuſsere, ja innere Bedeutung einer Geldsumme ist
eine andre, je nachdem sie unterhalb oder oberhalb jenes Teilstriches
steht; welches von beiden aber der Fall ist, hängt ausschlieſslich davon
ab, mit welchem Quantum sonst vorhandenen Geldbesitzes zusammen
sie das Vermögen des Besitzers ausmacht. Mit dem Wechsel seines
Quantums gewinnt es völlig neue Qualitäten.


Dies ordnet sich schlieſslich einer sehr allgemeinen Form des Ver-
[255] haltens der Dinge ein, die ihre auffälligste Erfüllung auf psycho-
logischem Gebiet findet. Es handelt sich darum, daſs quantitative
Steigerungen von Erscheinungen, die als Ursachen wirken, nicht immer
die gleichmäſsige, entsprechende Steigerung ihrer Folgen hervorrufen.
Vielmehr, derjenige Stärkezuwachs der Ursache, der einen bestimmten
Zuwachs der Folge veranlaſste, kann auf höheren Stufen derselben Skala
nicht mehr zu dem gleichen zureichen, sondern es wird bei absolut
gesteigerten Maſsen einer sehr gesteigerten Einwirkung bedürfen, um
nur den gleichen Effekt zu erzielen. Ich erinnere etwa an die
häufige Erscheinung, daſs Betriebsmittel, die auf einem neu erschlossenen
Erwerbsgebiet ein bestimmtes Erträgnis geben, später sehr vermehrt
werden müssen, um eben dasselbe zu erzielen; oder an die Wirkung
von Medikamenten, die sich anfangs durch eine geringe Erhöhung der
Dosierung erheblich steigern läſst, während spätere, objektiv gleiche
Vermehrungen nur sehr verminderte Wirkungen ausüben; oder an die
Beglückung, die in beengten Vermögensverhältnissen ein Gewinn her-
vorruft, nach dessen kontinuierlicher Fortsetzung schlieſslich dem gleichen
Gewinnquantum gar keine Glücksreaktion mehr entspricht. Das häufigst
behandelte Beispiel betrifft die sogenannte Schwelle des Bewuſstseins:
äuſsere Reize, die unsere Nerven treffen, sind unterhalb einer gewissen
Stärke überhaupt nicht merkbar; mit Erreichung derselben lösen sie
plötzlich Empfindungen aus, ihre bloſs quantitative Steigerung schlägt
in eine Wirkung von äuſserst qualitativer Bestimmtheit um; in mancherlei
Fällen aber erreicht die Steigerung auch wieder in Bezug auf diese
Wirkung eine obere Grenze, so daſs die einfache Fortsetzung der Reiz-
verstärkung über diese hinaus die Empfindung wieder verschwinden
läſst. Hiermit ist schon auf die zugespitzteste Form jener Diskrepanz
zwischen Ursache und Wirkung hingewiesen, die durch die bloſs quanti-
tative Steigerung der ersteren veranlaſst wird: auf das direkte Um-
springen der Wirkung in ihr Gegenteil. An dem obigen Beispiel der
Medikamente findet auch dies statt: insbesondere durch homöopathische
Versuche steht es fest, daſs durch rein quantitative Abänderungen der
Dosierung bei einem und demselben Patienten eine direkte Gegensätz-
lichkeit der Wirkungen erzielt werden kann; auch bei Elektrisationen
ist beobachtet, daſs häufigere Wiederholungen den Erfolg in sein Gegen-
teil und wieder in das Gegenteil des Gegenteiles umschlagen lieſsen.
Daſs fast alle lustbringenden Sinnesreize durch bloſse Häufung und
Verstärkung nach einer anfänglichen Hebung des Lustgefühles zu einer
Aufhebung desselben und zu positiven Schmerzen führen können, ist
eine alltägliche Erfahrung von groſser und typischer Bedeutung. End-
lich zeigt sich die Inkommensurabilität zwischen dem objektiven, ver-
[256] anlassenden Reize und der subjektiven Empfindung, die er auslöst,
auch in folgender Weise. Sehr niedrige ökonomische Werte, die aber
zweifellos Werte sind, regen uns dennoch oft nicht zu demjenigen Ver-
halten an, das sonst dem ökonomischen Wert als solchem entspricht.
Es giebt geldwerte Objekte, deren Geldwert vielfach überhaupt nicht
gerechnet wird, gar nicht als Faktor in die Operation mit ihnen ein-
tritt, z. B. Postmarken. Man mutet fremden Leuten, von denen man
sonst nicht für einen Pfennig Wert verlangen dürfte oder würde, Ant-
wort auf Anfragen zu, an denen sie selbst gar kein Interesse haben,
und das Hinzufügen der Antwortmarke wird man einem Gleichstehenden
gegenüber kaum wagen. Auch wer sonst mit Groschen überlegt spar-
sam umgeht, pflegt an eine Briefmarke oder auch einen Straſsenbahngroschen
weniger Sparsamkeitsbedenken zu knüpfen, als an vieles anderes Gleich-
wertiges. Es scheint eine freilich nach dem Vermögen und dem Tempera-
ment des Subjekts sehr verschieden liegende Schwelle des öko-
nomischen Bewuſstseins
zu geben, derart, daſs ökonomische Reize,
welche unterhalb derselben bleiben, gar nicht als ökonomische empfunden
werden. Dies ist wohl eine Erscheinung, die allen höheren Gebieten
gemeinsam ist. Denn diese entstehen doch, indem sonst schon vor-
handene und merkbare Elemente zu einer neuen Form zusammengehen
und dadurch zu einer Bedeutung erhoben werden, die sie bisher nicht
kannten: so werden die Dinge zu Gegenständen des Rechts, des ästhe-
tischen Genusses, der philosophischen Betrachtung — Dinge, deren
längst bekanntem Inhalt so eine neue Seite zuwächst. Dazu aber, daſs
dies geschieht, wird in vielen Fällen ein bestimmtes Quantum solcher
Elemente vorausgesetzt; bleiben sie unterhalb desselben, so steigen sie
nicht zu den höheren und relativ schwer reizbaren Schichten des Be-
wuſstseins auf, in denen jene Kategorien wohnen. So mögen z. B.
gewisse Farben oder Farbenkombinationen mit voller Deutlichkeit wahr-
genommen werden — aber ein ästhetisches Gefallen erregen sie doch
nicht, wenn die von ihnen eingenommenen Flächen nicht eine erheblichere
Ausdehnung haben; vorher sind es einfache Thatsächlichkeiten, die
zwar die Schwelle des sinnlichen Bewuſstseins, aber nicht die des
ästhetischen überschreiten. Noch höher hinauf vielleicht liegt die
Schwelle des philosophischen Bewuſstseins. Dieselben Erscheinungen,
die in minimer Quantität zu den verflieſsenden Gleichgültigkeiten des
Tages gehören, in etwas höherer vielleicht ästhetische Aufmerksamkeit
auf sich ziehen, können in gewaltigen und erregenden Dimensionen
zu Gegenständen philosophischer oder religiöser Reflexion werden. Ähn-
lich hat auch das Gefühl des Tragischen eine Quantitätsschwelle.
Vielerlei Widersprüche, Unzulänglichkeiten, Enttäuschungen, die als
[257] Einzelheiten täglichen Lebens gleichgültig sind oder sogar einen humo-
ristischen Zug haben, gewinnen ein tragisches nnd tief beängstigendes
Wesen, sobald wir ihre ungeheure Verbreitung, die Unvermeidlichkeit
ihrer Wiederholung, die Färbung nicht nur dieses, sondern jedes Tages
durch sie uns zum Bewuſstsein bringen. Auf dem Gebiete des Rechts
wird die Thatsache der Schwelle durch das Prinzip: minima non curat
praetor — markiert. Der Diebstahl einer Stecknadel ist etwas quantitativ
zu geringfügiges — so entschieden er qualitativ und für das logische
Bewuſstsein eben doch Diebstahl ist — um den komplizierten psycho-
logischen Mechanismus des Rechtsbewuſstseins in Bewegung zu setzen:
auch dieses hat also eine Schwelle, so daſs unterhalb derselben ver-
bleibende Reizungen, obgleich sie andere Bewuſstseinsprovinzen sehr
wohl erregen mögen, keinerlei psychisch-juridische Reaktion — ganz
abgesehen von der staatlichen — wecken. Aus der Thatsache, daſs
auch das ökonomische Bewuſstsein mit einer spezifischen Schwelle
ausgestattet ist, erklärt sich die allgemeine Neigung, statt einer
einmaligen gröſseren Aufwendung lieber eine fortlaufende Reihe klei-
nerer zu machen, deren einzelne man „nicht merkt“. Wenn daher
schon Pufendorf dem Fürsten vorschlägt, er solle lieber auf viele Gegen-
stände je eine geringe Steuer legen, statt auf einen einzigen eine hohe,
da das Volk sich sehr schwer vom Gelde trenne (fort dur à la desserre
sei), so macht diese Begründung ihren Angelpunkt gar nicht namhaft;
denn das Geld hergeben muſs das Volk in der einen Form so gut wie
in der andern; nur daſs die einzelne Hergabe in der einen unterhalb
der Schwelle des ökonomischen Bewuſstseins bleibt und so die einzelne
hergegebene Summe nicht ebenso in die Kategorie des wirtschaftlichen
Rechnens, Empfindens, Reagierens aufsteigt — grade wie zwei Gewichte,
deren jedes unterhalb der Schwelle des Druckbewuſstseins bleibt, nach-
einander auf die Hand gelegt, gar keine Empfindung auslösen, dies
aber sogleich thun, wenn sie gleichzeitig wirken.


Läſst sich dies als ein passiver Widerstand an unseren einfachen
oder komplizierteren Empfindungen denken, nach dessen Überwin-
dung sie den Einfluſs erst dem Bewuſstsein übermitteln, so kann
nun dieser Widerstand auch ein aktiverer werden. Man kann sich
vorstellen, unsere aufnehmenden physisch-psychischen Organe be-
fänden sich in jedem gegebenen Moment in einem Zustand von
Bewegtheit bestimmter Richtung und Stärke, so daſs die Wirkung
eines eintretenden Reizes von dem Verhältnis abhängt, das die von
ihm ausgehende innere Bewegung zu jener vorgefundenen besitzt: sie
kann sich dieser gleichgerichtet einordnen, so daſs sie ungehemmte Aus-
breitungsmöglichkeit gewinnt, sie kann ihr auch zuwiderlaufen, so daſs
Simmel, Philosophie des Geldes. 17
[258] sie in ihrer Wirkung ganz oder teilweise aufgehoben wird und so-
zusagen das empfindende Organ erst nach Überwindung eines positiven
Widerstandes in der ihr eigenen Richtung zu bewegen vermag. Das
durch diese Vorstellung bezeichnete Verhalten begegnet nun der weiteren
Thatsache, die wir als Unterschiedsempfindlichkeit bezeichnen: wir be-
sitzen in der Empfindung kein Maſs für absolute, sondern nur für
relative Gröſsen, d. h. nur durch den Unterschied einer Empfindung
von der andern können wir jeder ein Maſs bestimmen. Diese Er-
fahrung — deren Modifikationen hier auſser acht bleiben können und
die für uns nur soweit, wie auch ihre Kritiker sie zugeben, zu gelten
braucht — ist ersichtlich das Fundament der ganzen oben besprochenen
Erscheinungsreihe. Denn wenn — so hat man dies an einem ein-
fachsten Beispiel ausgedrückt — eine Bewegung im Tastnerven von der
Stärke 1 um ⅓ zugenommen hat, so ist dies das nämliche, als wenn
eine Bewegung von der Stärke 2 um ⅔ zugenommen hätte. Die That-
sache also, daſs wir die gleiche Reaktion an den relativ gleichen
Unterschied von dem gegebnen Empfindungszustand knüpfen, bewirkt es,
daſs die objektiv gleichen Reize sehr verschiedene subjektive Folgen
haben. Je weiter die Empfindung, die ein neuer Reiz fordert, von der
vorgefundenen Verfassung des Empfindens abweicht, als desto stärker
und merklicher wird sie zum Bewuſstsein kommen. Dies kreuzt sich
nun, wie erwähnt, mit der Thatsache, daſs der Reiz oft erst eine,
seiner Richtung entgegenstehende Stimmung unserer physisch-psychischen
Organe zu überwinden hat, ehe er sich für unser Bewuſstsein geltend
machen kann. Denn während gemäſs jener Unterschiedsempfindlichkeit
der Reiz um so merklicher ist, je weiter er von dem vorhergehenden
Zustand absteht, so ist er nach dem andern Prinzip — bis zu einer
gewissen Grenze — um so unmerklicher, je differenter seine Richtung
von der der bestehenden inneren Bewegungen ist. Das hängt mit der
Beobachtung zusammen, daſs Empfindungen bei gleichbleibendem Reize
eine gewisse, wenn auch sehr kurze Zeit brauchen, ehe sie auf ihre
Höhe gelangen. Während die erstere Erscheinungsreihe auf die That-
sache der Ermüdung zurückgeht — der Nerv antwortet auf den zweiten
gleichartigen Reiz eben nicht mehr mit gleicher Energie, weil er durch
den ersten ermüdet ist — zeigt die letztere, daſs sich die Ermüdung
keineswegs unmittelbar an die Reizreaktion anschlieſst, sondern daſs
zunächst diese Reaktion sich bei unverändertem Reize wie aus sich
selber akkumuliert — vielleicht aus dem angeführten Grunde, daſs erst
ein Widerstand der perzipierenden Organe überwunden werden muſs,
ehe der Reiz die Höhe erreicht, von der er freilich durch die nun
eintretende Ermüdung wieder herabsinkt. Dieser Dualismus der Wir-
[259] kungen tritt auch an komplizierten Erscheinungen sehr deutlich hervor.
Eine Veranlassung zu Freude z. B., in das Leben eines im ganzen un-
glücklichen Individuums eintretend, wird von demselben mit einer
leidenschaftlichen Reaktion, unverbrauchten eudämonistischen Energien,
stärkstem Sich-Abheben gegen den dunkeln Hintergrund seiner sonstigen
Existenz empfunden werden; andrerseits aber bemerken wir, daſs auch
zur Freude eine gewisse Gewöhnung gehört, daſs der Glücksreiz gar
nicht recht aufgenommen wird, wenn die Seele sich schon an fort-
während entgegengesetzte Erfahrungen angepaſst hat. Insbesondere
feinere Lebensreize prallen zunächst wirkungslos von einem inneren,
durch Not und Leid bestimmten Lebensrhythmus ab und die Stärke
ihres Empfundenwerdens, die grade der Gegensatz zu diesem voraus-
setzen lieſs, stellt sich erst nach längerer Summierung der eudämo-
nistischen Momente ein. Wenn diese nun andauert und die gesamte
Verfassung der Seele schlieſslich in die ihr entsprechende Rhythmik
oder Struktur übergeführt hat, so wird das Reizquantum, zu dessen
voller Perzeption es damals nicht kam, derselben auch jetzt, und zwar
aus der grade entgegengesetzten Konstellation heraus, entbehren: weil
jetzt eine derartige eudämonistische Gewöhnung eingetreten ist, daſs
der zur Merklichkeit erforderte Unterschied mangelt. Diese Antinomie
äuſsert ihre groſse teleologische Bedeutung auch im wirtschaftlichen
Leben; die Unterschiedsempfindlichkeit treibt uns aus jedem gegebenen
Zustand zum Erwerb neuer Güter, zur Produktion neuer Genieſsbar
keiten; die Begrenzung der Unterschiedsempfindlichkeit durch den zu
überwindenden passiven oder aktiven Widerstand der bestehenden
organischen Verfassung zwingt uns, diese neue Richtung auch mit an-
dauernderer Energie zu verfolgen und den Gewinn der Güter bis zu
erheblicherer Quantität fortzusetzen. Dieser Steigerung aber setzt die
Unterschiedsempfindlichkeit wieder ihre obere Grenze, indem die Ge-
wöhnung an diesen bestimmten Reiz ihn abschwächt und schlieſslich
den Zuwachs nicht mehr empfinden läſst, sondern zu qualitativ neuen
forttreibt. In derselben Weise wie hier die Steigerung der Objekt-
Quanten, gleichmäſsig fortschreitend, eine Alternierung innerer Folgen
bewirkt, können die Geldwerte der Dinge durch ihre einfache Er-
höhung zu einem Umschlagen der Begehrungen ihnen gegenüber führen.
Zunächst wird ein Gegenstand, der gar nichts oder nur ein Minimum
kostet, sehr oft eben deshalb überhaupt nicht gewertet und begehrt;
sobald sein Preis steigt, entsteht dann auch seine Begehrenswürdigkeit
und hebt sich eine Weile mit jenem bis zu einem äuſsersten Reiz-
punkte. Wird dann der Preis noch immer weiter gesteigert, so daſs
die Erwerbung für den Betreffenden auſser Frage tritt, so wird das
17*
[260] erste Stadium dieses Verzichts vielleicht die gröſste Leidenschaft des
Verlangens zeigen, dann aber wird eine Anpassung an ihn, eine Nieder-
kämpfung der unnützen Sehnsucht eintreten, ja, nach dem Typus der
„sauren Trauben“ eine direkte Aversion gegen das doch nicht Erreich-
bare. Auf sehr vielen Gebieten knüpft sich ein solcher Wechsel des
positiven und negativen Verhaltens an die quantitative Änderung der
ökonomischen Forderung. Der Steuerdruck, der auf dem russischen
Bauern lastet, wird als Ursache seiner schlechten, primitiven und wenig
intensiven Wirtschaft angegeben: der Fleiſs lohne sich für ihn nicht,
da er doch nichts übrig behalte als das nackte Leben. Offenbar würde
ein etwas geringerer Druck, der ihm bei sehr fleiſsiger Arbeit einen
Gewinn lieſse, ihn grade zu möglichst intensiver Bewirtschaftung ver-
anlassen; sänken aber die Abgaben noch mehr, so würde er vielleicht
wieder zu seiner früheren Trägheit zurückkehren, wenn er nun schon
mit dieser einen Ertrag hätte, der allen Bedürfnissen seines Kultur-
niveaus genügte. Oder ein anderes Beispiel: wenn eine Klasse oder ein
Individuum zu niedriger Lebenshaltung gezwungen ist und deshalb nur
rohe und gemeine Freuden und Erholungen kennt, so führt ein etwas
erhöhtes Einkommen nur dazu, diese Genüsse häufiger und ausgedehnter
zu suchen; wird es nun aber sehr erheblich höher, so steigen die An-
sprüche an den Genuſs in eine generell andere Sphäre. Wo z. B. die
Schnapsflasche die Hauptfreude bildet, werden erhöhte Löhne zu ge-
steigertem Schnapsgebrauch führen; werden sie aber noch weiter und
bedeutend erhöht, so wird sich das Bedürfnis nach ganz anderen Kate-
gorien von Genüssen einstellen. Endlich kommt es hier zu einer aller
Analyse spottenden Komplikation durch den Umstand, daſs die Be-
wuſstseinsschwellen für die verschiedenen Lust- und Schmerzgefühle
offenbar ganz verschieden hoch liegen. Auf physiologischem Gebiet
zunächst haben neuere Untersuchungen den immensen Unterschied der
Schmerzempfindlichkeit ergeben, der zwischen den Nerven verschiedener
Körperteile besteht und für einige das Sechshundertfache des Schwellen-
wertes anderer aufweist, und zwar charakteristischerweise so, daſs der
Schwellenwert für die Druckempfindlichkeit eben derselben Stellen
gar kein konstantes Verhältnis zu jenem besitzt. Nun ist es allerdings
äuſserst miſslich, die Schwellenwerte für verschiedenartige höhere und
nicht-sinnliche Gefühle zu vergleichen, weil ihre veranlassenden Mo-
mente ganz heterogen und nicht so nach ihren Quanten zu vergleichen
sind wie mechanische oder elektrische Reize der Sinnesnerven. Trotz-
dem hiermit jede Messung ausgeschlossen erscheint, wird man die un-
gleichmäſsige Reizbarkeit auch der höheren Gefühlsprovinzen zugeben
und damit — da die bisher fraglichen Lebenssituationen immer eine
[261] Vielheit solcher betreffen — die ungeheuere und für die Theorie un-
durchdringliche Mannigfaltigkeit der Verhältnisse zwischen äuſseren
Bedingungen und innerer Gefühlsfolge.


Grade die durch den Geldbesitz bestimmten Gefühlsschicksale
mögen allein einen annähernden Einblick in diese Schwellenwerte und
Proportionalitäten gestatten. Denn das Geld wirkt als Reiz auf alle
möglichen Gefühle und kann das, weil sein qualitätloser, unspezifischer
Charakter es von jedem in eine so groſse Entfernung stellt, daſs es zu
allen eine Art gleichmäſsigen Verhältnisses gewinnt; freilich wird dies
Verhältnis nur selten ein unmittelbares sein, sondern vermittelnder Ob-
jekte bedürfen, die nach einer Seite hin unspezifisch sind — insoweit
sie nämlich für Geld zu haben sind — nach der andern Seite hin aber
spezifisch, indem sie bestimmte Gefühle auslösen. Dadurch, daſs wir
am Geld die Genuſswerte der damit beschaffbaren spezifischen Objekte
vorempfinden, daſs der Reiz derselben auf das Geld übertragen und
von ihm vertreten wird — haben wir am Geld den einzigen Gegen-
stand, in bezug auf den die Schwellenwerte der einzelnen Genuſs-
empfindlichkeiten eine Art von Vergleichbarkeit erhalten. Der Grund,
der hier dennoch ein gegenseitiges Messen auszuschlieſsen scheint, liegt
auf der Hand: die auſserordentliche Verschiedenheit in den Geldwerten
derjenigen Dinge, die auf den verschiedenen Gebieten das als gleich
beurteilte Genuſsquantum erzeugen. Wenn die Genuſsschwelle in der
aufsteigenden Geldreihe für einen Gourmand, einen Büchersammler,
einen Sportsman ganz verschiedene Höhe zeigt, so liegt dies nicht
daran, daſs die hierbei ins Spiel kommenden Genuſsenergien verschieden
reizbar wären, sondern daſs die Gegenstände, die sie in gleichem Maſse
reizen, sehr verschieden teure sind. Dennoch meine ich, daſs bei ver-
breiteteren und weniger individuell zugespitzten Interessen und inner-
halb engerer Grenzen dieser variable Wert sich einer Konstanten
nähert. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, die Ausgleichung
der Produktionschancen auf weiten Gebieten, die gehäuften Erfahrungen
über den wirklichen eudämonistischen Wert der Produkte — müssen
schlieſslich auf eine, ganz ungefähre, Proportionalität zwischen Geldpreis
und Genuſshöhe auf den Gebieten der typischen Begehrungen hinführen.
Auch scheint es, als ob gewisse historische Umstände eine solche
ausgleichende Entwicklung andeuteten. Soweit wir die ökonomischen
Verhältnisse der früheren palästinischen Juden kennen, frappieren sie
durch auſserordentliche Billigkeit gewisser Artikel und enorme Preise
für andere. Das Verhältnis zu den jetzigen Preisen ist ein so
schwankendes, nicht auf einen rationalen Ausdruck zu bringendes, daſs
man nicht sagen kann (und vielleicht von keiner Periode des Alter-
[262] tums), der allgemeine Geldwert sei um so und so viel anders als
der jetzige gewesen. Denn es hat einen solchen damals überhaupt
nicht gegeben. Diese Erscheinung will man durch die ökonomische
Kluft zwischen Reichen und Armen erklären, die durch keine Ambitionen
der letzteren in Bezug auf Lebenshaltung verringert wurde: die unteren
Stände seien eben von einer sehr groſsen und stabilen Genügsamkeit
gewesen, so daſs gewisse Waren von ihnen prinzipiell nicht begehrt
wurden; es hätten sich also zwei ganz verschiedene Geldpreisstandards
herausgebildet: für das, was die Armen bezahlen konnten und wollten,
und das, was die Domäne der Reichen war, denen es auf das Geld
nicht ankam; das sei vielleicht bei allen älteren Völkern mehr oder
weniger der Fall gewesen. Im Anschluſs daran wird nun betont, daſs
gemäſs den sozialen Anschauungen der neueren Zeit die mittleren Stände
es in Bezug auf Kleidung, Nahrung, Bequemlichkeiten, Vergnügungen
den höheren gleichthun wollen und die niederen den mittleren. Dies
erst habe die Möglichkeit eines einheitlichen und allgemeinen Geld-
wertes ergeben. Wenn hieran etwas Wahres ist, so bedeutet es, daſs
auch von dieser Seite her die Gleichheit der Geldsummen sich der
Gleichheit eudämonistischer Erfolge nähere — was vielleicht auch durch
die auf der Hand liegenden Thatsachen begründet wird, die man in
die Formel fassen könnte: es ist der Weg der steigenden Kultur, das
ursprünglich Billige zu verteuern und das ursprünglich Teuere zu ver-
billigen.


So dürfte auf diesem schwierigsten Gebiete der Schwellen-
erscheinungen das Geld das einzige Objekt sein, an dem die mannig-
faltigen Reizbarkeiten einen irgend annähernd gemeinsamen Ausdruck
finden, da sie alle, durch die Käuflichkeit ihrer spezifischen Erreger
und durch die psychologische Vertretung ihres Wertes durch Geld, zu
ihm in einem der Art nach gleichen Verhältnis stehen. Auſserdem
aber weisen gewisse Vorkommnisse auf eine ganz unmittelbare
Bedeutung hin, die das Geld für die Schwelle des ökonomischen Be-
wuſstseins hat, und zwar derart, daſs das Bewuſstsein überhaupt erst
auf einen geldmäſsigen Reiz hin als spezifisch ökonomisches reagiert.
Spieſsbürgerliche Engherzigkeit lehnt die Zumutung altruistischer Hin-
gabe eines Objekts oft mit der Begründung ab, der Gegenstand habe
doch Geld gekostet — dies wird wirklich als rechtfertigende Be-
gründung
dafür empfunden, daſs man hier nach dem hart egoistischen
Prinzip bloſser Ökonomie verfahre! Ebenso suchen thörichte Eltern
ihre Kinder von mutwilligen Zerstörungen dadurch zurückzuhalten, daſs
sie betonen, die Dinge hätten doch Geld gekostet! Statt den Kindern
den Wert der Objekte selbst klar zu machen, beginnen sie die öko-
[263] nomische Reaktion erst auf die Vorstellung des aufgewendeten Geldes
hin. In sehr bezeichnender Weise tritt dies bei zwei äuſserlich ganz
entgegengesetzten Erscheinungen hervor. Geschenke werden von vielen
Seiten erst als voll gerechnet, wenn der Schenker Geld dafür aus-
gegeben hat; zu schenken, was man selbst besitzt, erscheint als schäbig,
illegitim, unzureichend. Nur bei ganz feinsinnigen und hochstehenden
Menschen begegnet es, daſs sie ein Geschenk am höchsten schätzen,
das der andere selbst besessen hat. Das Bewuſstsein, daſs der Geber
ein Opfer für ihn gebracht hat, tritt also bei dem Beschenkten erst ein,
wenn dieses Opfer in Geldform gebracht ist. Andrerseits wirkt doch
grade ein Geldgeschenk in höheren Kreisen direkt deklassierend, und
auch dienende Personen, Kutscher, Boten u. s. w. sind oft weit er-
kenntlicher für eine Zigarre als für ein Trinkgeld, das vielleicht den
Wert von drei Zigarren hat. Hier ist das Entscheidende, daſs die
Gabe eben nicht als ökonomische wirken darf oder daſs wenigstens
das Zurücktretenlassen ihres ökonomischen Charakters als besondere
Kordialität wirkt. In dem ersteren wie in diesen Fällen reizt also
der Wert erst in der Geldform das Bewuſstsein als ökonomisches
und je nach den Empfindungen, die dies weiterhin auslöst, wird das
gleiche Verfahren erwünscht oder perhorresziert sein. In eine so
kontinuierliche Reihe die ausgebildete Geldwirtschaft die wirtschaft-
lichen Objekte fügen mag — zwischen diesen und dem Geld selbst
schafft sie (was Warengeld-Epochen weniger thun werden) einen so
generellen Unterschied, daſs das Entstehen einer grade nur auf den
Geldwert reagierenden Bewuſstseinsschwelle durchaus erklärlich wird.


Sehr durchsichtig ist die Bedeutung des Geldes bei den früher
besprochenen Schwellen- und Unterschiedserscheinungen, die auf allen
Gebieten der ökonomischen (und anderweitigen) Werte festzustellen
sind und für deren Typus die durch das Geld bestimmten Verhält-
nisse hier nur eine besonders reine und gesteigerte Form geben.
Das ist zunächst die Folge der Qualitätlosigkeit des Geldes, die es
völlig ausschlieſst, daſs ein Quantum desselben die Wirkungen, die es
im Unterschiede gegen ein anderes ausübt, irgend welchen inneren
spezifischen Eigenschaften verdanke. Wo sonst eine in einheitlicher
Richtung aufsteigende Ursachenreihe in ihren verschiedenen Stadien
alternierende Unterschiede ihrer Wirkungen hervorruft, da werden in
der Regel nur ganz besondere Vorsichtsmaſsregeln des Erkennens uns
sicher machen, daſs der höhere Abschnitt jener Ursachenreihe an und
für sich dem tieferen ununterscheidbar gleich ist und die Verschieden-
heit seines Erfolges wirklich nur seinem Hinzukommen zu diesem
verdankt. Beim Geld steht das von vornherein und seiner Natur nach
[264] fest. Die zweiten tausend Mark Einkommen, die etwa das Leben eines
Handwerkers qualitativ ganz umgestalten und ihm völlig neue Inhalte
geben, sind den ersten mit gröſserer Sicherheit ununterscheidbar gleich,
als es selbst die Quantitäten von Stoffen sind, durch deren allmählich
summierte Einwirkung auf unsere Nerven man im psychologischen La-
boratorium die Schwellenwerte für unsere Sinnesempfindungen feststellt.
Die Korrelation zwischen quantitativer Verschiedenheit der Ursache und
qualitativer Verschiedenheit der Wirkung muſs da am klarsten werden,
wo die Ursache überhaupt keine Qualität besitzt und alles, was man,
als Reflex ihrer Wirkungen, ihre Qualität nennen könnte, ausschlieſslich
in den Unterschieden ihres Wieviel besteht, das durch die Einheit der
besitzenden Persönlichkeit selbst zu einer Einheit zusammengeht.


Ein anderer Grund, der die Erscheinungen der Bewuſstseinsschwelle
in besonders merkbare Beziehung zum Geld setzt, ist dieser. Das Be-
stehen und die Summierung von Ursachen, deren eigentlich proportionale
Wirkung ausbleibt, um erst oberhalb einer gewissen Grenze einzutreten,
wird um so ausgedehnter sein und diese Grenze um so höher hinauf-
rücken lassen, je unbewegter, in sich stabiler das ganze System ist, in
dem der Vorgang sich abspielt: so kann man bekanntlich Wasser bis
erheblich unter den Nullpunkt abkühlen, ohne daſs es gefriert, wenn
man es nur vor jeder Bewegung bewahrt, während die leiseste Er-
schütterung es sofort zu Eis werden läſst; so kann man die Hand in
allmählich erhitztem Wasser halten, weit über den sonst erträglichen
Grad hinaus, wenn man nur jede Bewegung ihrer oder des Wassers
vermeiden kann; so rufen, auf höheren und komplizierten Gebieten,
vielerlei Einflüsse und Verhältnisse die ihnen entsprechende Gefühls-
reaktion erst dann hervor, wenn unser ganzes Wesen, vielleicht von
einem ganz andern Punkte her, aufgerüttelt wird; sowohl der Besitz
von Werten wie die Entbehrung derselben oder die Unwürdigkeit ge-
wisser Situationen können lange bestehen und sich sogar allmählich
steigern, ehe wir uns der Bedeutung davon bewuſst werden; es muſs
erst ein Anstoſs erfolgen, der die inneren Elemente sich gleichsam an-
einander reiben läſst, so daſs wir uns ihrer wirklichen Stärke grade
an ihren jetzt erst bemerkten Relationen oder Unterschieden gegen
alle andern bewuſst werden. Ja, Gefühle wie Liebe und Haſs können
lange in uns leben und gleichsam unterirdisch sich akkumulieren und
gewisse verkleidete Wirkungen üben, bis irgend ein Anstoſs, meistens
eine Unterbrechung der äuſseren Regelmäſsigkeit der Beziehungen, jene
Gefühle in das Bewuſstsein hinein explodieren läſst und ihnen nun erst
die ihnen zukommende Ausbreitung und Folgenreichtum verschafft.
Nach demselben Typus verlaufen auch soziale Entwicklungen. Sinn-
[265] losigkeiten und Miſsbräuche schleichen sich nicht nur in einmal kon-
solidierte Verfassungen ein, sondern sie häufen und steigern sich unter-
halb der Schwelle des sozialen Bewuſstseins, oft bis zu einem Grade,
dessen Ertragenwerden man von dem Augenblick an nicht mehr be-
greift, in dem ein allgemeines Aufräumen, oft auf ganz andersartige
Anregungen hin, jene Miſsstände zum Bewuſstsein gebracht hat. Oft
sind es bekanntlich erst die Erschütterungen durch einen äuſseren Krieg,
die die Widersprüche und eingerotteten Schäden eines Staates offenbar
machen. Dies begründet z. B. die schon sonst hervorgehobene Be-
obachtung, daſs sehr krasse soziale Unterschiede, unversöhnliche Höhen-
abstände der Klassen von einander in der Regel mit sozialem Frieden
Hand in Hand gehen. Der Ruf nach ausgleichenden Reformen oder
Revolutionen pflegt sich erst zu erheben, wenn die Starrheit der Klassen-
schranken sich gemildert hat und lebhaftere Bewegungen innerhalb der
Gesellschaft gewisse vermittelnde und Übergangserscheinungen, eine
Seh- und Vergleichungsnähe zwischen den Ständen erzeugt haben.
Sobald das nun geschehen ist, tritt den unteren Klassen ihre Unter-
drücktheit, den oberen teils die sittliche Verantwortung dafür, teils der
Trieb, ihren Besitzstand zu verteidigen, ins Bewuſstsein, und der soziale
Friede ist unterbrochen. Innerhalb der Geldwirtschaft nun ist die Be-
wegtheit des Lebenssystems, durch die das Bewuſstsein zu Unterschieds-
und Schwellenempfindungen gereizt wird, eine ganz besonders ver-
breitete und lebhafte. Die Fixierung von Verhältnissen, die den
gesteigerten Veranlassungen zu Bewuſstseinsreaktionen diese Folge vor-
enthält, wird bei ihrer Begründung auf Geld immerzu unterbrochen,
weil alle solche etwas Labiles und der Ruhelage Widerstrebendes haben,
und zwar insbesondere weil das Geld keine sachliche Beziehung zu
Persönlichkeiten hat und nicht wie eine Rangstufe oder eine De-
klassierung, wie ein Beruf oder ein moralischer Wert, eine Gefühls-
beziehung oder eine Thätigkeit, gleichsam an jene anwächst. Alle auf
solche Lebensinhalte gegründeten Verhältnisse haben wegen der rela-
tiven Festigkeit, mit der sie den Personen zugehören, eine Art von
Stabilität und setzen dem Einfluſs abändernder Elemente eine gewisse
Trägheit entgegen, die erst bei einer erheblichen Summierung jener
ihnen die ganz proportionierte Folge verschafft. Das Geld dagegen, das
wegen seiner Qualitätlosigkeit auch zu keiner qualitativ bestimmten
Persönlichkeit als solcher eine Beziehung hat, gleitet ohne innere Wider-
stände von der einen ab und zur andern hin, so daſs die darauf ge-
gründeten Verhältnisse und Zustände jeder Veranlassung zu Änderungen
leicht und adäquat nachgeben, oder, unser jetziges Interesse ge-
nauer ausdrückend: daſs die Summierungserscheinungen des Geldes,
[266] die den Charakter bloſser Quantität am reinsten an sich darstellen,
zugleich am häufigsten und deutlichsten ihre Wirkungen auf die in-
haltliche Bestimmtheit des Lebens fühlbar machen werden. Die
am Geld so häufig auftretenden Schwellenerscheinungen machen aber
nur die Gesamtbestimmung seiner deutlicher, zu der jenes Superaddi-
tum gehörte, ja, dieses ist im Grunde nur eine einzelne aus den
so charakterisierten Erscheinungen. Denn es sagt doch aus, daſs die
Bedeutung von mehr Geld nicht nur in einem proportionalen Vielfachen
der Bedeutung von weniger Geld besteht, sondern daſs dieser Bedeutungs-
unterschied, trotz der rein quantitativen Änderung seines Substrates,
ein Umschlagen in qualitativ neue, ja entgegengesetzte Folgeerschei-
nungen darbietet.


Diese Thatsache hat eine zwar selbstverständliche, aber der Er-
örterung dennoch bedürftige Voraussetzung. Man kann jene selbst
doch so ausdrücken: jede Geldsumme hat, auf eine Mehrheit von
Personen verteilt, eine andere qualitative Bedeutung, als wenn sie sich
in einer Hand befindet. Die Einheit der Persönlichkeit ist also das
Korrelat oder die Bedingung für alle Quantitätsunterschiede des Be-
sitzes und ihre Bedeutung; das Vermögen juristischer Personen steht
ersichtlich wegen der Einheitlichkeit seiner Verwaltung in der hier
fraglichen funktionellen Hinsicht auf derselben Stufe. Auch wo man
von einem Volksvermögen spricht, ist das nur möglich, insofern man
das Volk als ein einheitliches besitzendes Subjekt denkt, bezw. die auf
die einzelnen Bürger verteilten Besitze durch die Wechselwirkung, die
sie innerhalb der nationalen Wirtschaft eingehen, als so einheitlich
vorstellt, wie das Vermögen eines Individuums durch solche Wechsel-
wirkungen (Einteilung, Rücksichten der Einzelaufwendung auf das
Ganze, Balance zwischen Einnahme und Ausgabe u. s. w.) zu einer
praktischen Einheit zusammengeht. Das Geld, als ein nur seiner Quan-
tität nach bedeutsamer Wert, tritt an sich in einem extensiven Neben-
einander auf, so daſs jede Summe, um eine zu sein, um als Einheit
zu wirken, eines ihr äuſserlichen Prinzips bedarf, das die einzelnen
Teilquanten in Zusammenhang und Wechselwirkung, kurz, in eine
Einheit zwingt. Wie die einzelnen Vorstellungsinhalte dadurch das
Bild einer Welt ergeben, daſs sie sich in einer persönlichen Bewuſst-
seinseinheit zusammenfinden, und wie eben dadurch die Summe der
Weltelemente mehr als eine bloſse Summe wird, jeder Teil und das
Ganze eine neue Bedeutung über das bloſse Nebeneinander hinaus er-
hält: so wirkt die Einheit des persönlichen Besitzers auf das Geld
und verleiht dem durch sie zusammengehaltenen Quantum erst jene
Möglichkeit, sein Mehr oder Weniger in qualitative Bedeutung um-
[267] zusetzen. Der Erkenntniswert hiervon wird vielleicht im Anschluſs
an eine Bestimmung der Grenznutzentheorie deutlicher. Man kann
dieselbe doch etwa folgendermaſsen kurz zusammenfassen. Jegliches
Teilquantum eines Gütervorrates hat den Wert des am niedrigsten
bewerteten, d. h. zur entbehrlichsten Nutzung verwandten Teiles. Denn
wenn ein beliebiger Teil verloren ginge, so würde man doch mit dem
Rest alle wichtigeren Bedürfnisse decken und nur das unwichtigste un-
gedeckt lassen; welcher Teil also auch entbehrt werden müſste, es
wäre der unwichtigste. Der Wert eines Gütervorrates ist also nicht
bestimmt durch den Nutzen, den man thatsächlich aus ihm zieht, d. h.
nicht durch die Summe der sehr verschieden hohen Nutzungen seiner
einzelnen Bestandteile, sondern durch den Nutzen des am wenigsten
nutzbaren Teiles, multipliziert mit der Anzahl solcher gleich groſsen
Teile überhaupt. Von dieser Theorie wird nun ganz allgemein eine
Ausnahme zugegeben, nämlich da, wo eine Summe von Gütern eine
Einheit bildet und als solche einen gewissen Nutzeffekt entfaltet, der
nicht gleich der Summe der Nutzungen ihrer einzelnen Teile ist. Es
habe z. B., so hören wir, der Bestand eines Waldes einen Einfluſs auf
Klima und Witterung, damit auf die Bodenfruchtbarkeit, die Gesund-
heit der Bewohner, die Beständigkeit eines Teiles des Volksreich-
tums u. s. w., kurz, er habe als ganzer einen Wert, von dem kein
noch so geringer Bruchteil gerechnet werde, wenn man den Nutzen
des einzelnen Baumes anschlüge. So sei auch der Wert einer Armee
nicht nach dem Grenznutzen des einzelnen Soldaten, der eines Flusses
nicht nach dem Grenznutzen der einzelnen Wassertropfen zu beurteilen.
Der hiermit gezeichnete Unterschied ist auch derjenige, der für das
Vermögen eines Individuums gilt. Eine Million, im Besitz eines
Menschen, verschafft ihm nicht nur ein Ansehen und eine soziale
Qualifikation, die etwas ganz anderes ist, als das tausendmalige Viel-
fache der entsprechenden Bedeutung eines Besitzers von tausend Mark;
sondern, diese subjektive Folge begründend, ist der objektive wirtschaft-
liche Wert einer Million nicht aus dem Grenznutzen etwa ihrer tausend
Teile zu tausend Mark zu berechnen, sondern bildet eine darüber
stehende Einheit, wie der Wert eines einheitlich handelnden Lebewesens
über dem seiner einzelnen Glieder. Ich habe im vorigen Kapitel aus-
geführt, daſs der Geldpreis eines Gegenstandes, aus wievielen Münzein-
heiten er auch bestehe, dennoch als eine Einheit wirke: eine Million Mark,
sagte ich, seien zwar an und für sich ein bloſs additionales Konglo-
merat zusammenhangsloser Einheiten; dagegen als Wert etwa eines Land-
gutes seien sie das einheitliche Symbol, Ausdruck oder Äquivalent
seiner Werthöhe und absolut nicht ein bloſses Nebeneinander einzelner
[268] Werteinheiten. Diese sachliche Bestimmung findet hier nun ihr per-
sonales Korrelat: die Beziehung auf die Einheit einer Person ver-
wirklicht die Quantität des Geldes als Qualität, seiner Extensität als
Intensität, die aus dem bloſs summierenden Nebeneinander seiner Be-
standteile nicht erzielbar wäre.


Vielleicht läſst sich das auch so ausdrücken. Das Geld, als das
rein arithmetische Zusammen von Werteinheiten, kann als absolut
formlos bezeichnet werden. Formlosigkeit und reiner Quantitätscharakter
sind eines und dasselbe; insofern Dinge auf ihre Quantität angesehen
werden, wird von ihrer Form abgesehen. Deshalb ist das Geld als
solches der fürchterlichste Formzerstörer: denn welche Formungen
der Dinge a, b und c auch der Grund sein mögen, daſs sie alle den
Preis m kosten, so wirkt die Unterschiedenheit derselben, also die
spezifische Form eines jeden, in den so fixierten Wert ihrer nicht mehr
hinein, sie ist in dem m, das nun a, b und c gleichmäſsig vertritt,
untergegangen und macht innerhalb der wirtschaftlichen Schätzung gar
keine Bestimmtheit dieser mehr aus. Sobald das Interesse auf den
Geldwert der Dinge reduziert ist, wird ihre Form, so sehr sie diesen
Wert veranlaſst haben mag, so gleichgültig, wie sie es für ihr Gewicht
ist. In dieser Richtung liegt auch der Materialismus der modernen
Zeit, der selbst in seiner theoretischen Bedeutung irgend eine Wurzel-
gemeinschaft mit ihrer Geldwirtschaft haben muſs: die Materie als
solche ist das schlechthin Formlose, das Widerspiel aller Form, und
wenn sie als das alleinige Prinzip der Wirklichkeit gilt, so ist an
dieser ungefähr der gleiche Prozeſs vollzogen, wie ihn die Reduktion
auf den Geldwert an den Gegenständen unseres praktischen Interesses
zuwege bringt. Hier liegt der tiefste Grund für die Feindseligkeit
zwischen der ästhetischen Tendenz und den Geldinteressen. Jene geht
so sehr auf die bloſse Form, daſs man bekanntlich den eigentlich
ästhetischen Wert z. B. aller bildenden Künste in die Zeichnung ge-
setzt hat, die als reine Form sich in jedem beliebigen stofflichen
Quantum unverändert ausdrücken könne. Das ist nun zwar als Irr-
tum zugegeben, ja, noch viel weitergehend, als es bisher anerkannt ist,
wird man sagen müssen, daſs die absolute Gröſse, in der eine Kunst-
form sich darstellt, ihre ästhetische Bedeutung aufs erheblichste be-
einflusse, und daſs diese letztere durch jede kleinste Änderung der
quantitativen Maſse, bei absoluter Formgleichheit, sogleich modifiziert
werde. Aber darum bleibt doch der ästhetische Wert der Dinge nicht
weniger auf ihrer Form, d. h. auf dem Verhältnis ihrer Elemente zu
einander, haften, wenngleich wir jetzt wissen, daſs der Charakter und
die Wirkung dieser Form durch das Quantum, an dem sie wirklich
[269] wird, sehr wesentlich mitbestimmt wird. Es bleibt immer der unver-
söhnliche Antagonismus der Betonung: ob man die Dinge nach dem
Wert ihrer Form oder nach dem Wieviel ihres Wertes fragt, sobald
dieser Wert ein bloſs quantitativer, alle Qualität durch eine bloſse
Summe gleichartiger Einheiten ersetzender ist.


Man kann sogar direkt sagen, daſs, jemehr der Wert eines
Dinges in seiner Form beruht, sein Wieviel um so gleichgültiger wird.
Wenn die gröſsten Kunstwerke, die wir besitzen, etwa der delphische
Wagenlenker und der Praxitelische Hermes, der Frühling von Botti-
celli und die Mona Lisa, die Aurora Michelangelos und die Himmlische
und Irdische Liebe — in tausend völlig ununterscheidbaren Exemplaren
existierten, so wäre das zwar für das Glück der Menschheit ein groſser
Unterschied, aber der ideale, objektiv ästhetische, oder wenn man will:
kunstgeschichtliche Wert wäre dadurch absolut nicht über denjenigen
Grad hinaus gesteigert, den das eine, jetzt vorhandene Exemplar dar-
stellt. Anders ist es schon mit kunstgewerblichen Gegenständen, bei
denen die ästhetische Form eine völlige Einheit mit dem praktischen
Gebrauchszweck bildet, so daſs oft sogar die vollendetste Herausarbei-
tung dieses letzteren als der eigentliche ästhetische Reiz wirkt. Hier
ist es für den ganzen so geschaffenen Wert wesentlich, daſs der Gegen-
stand auch gebraucht werde, und deshalb wächst seine ideale Be-
deutung mit seiner Verbreitung: in dem Maſse, in dem das Objekt
auſser seiner Form noch anderen Wertelementen Reiz giebt, wird auch
das Wievielmal seiner Verwirklichung wichtig. Das ist auch der tiefste
Zusammenhang zwischen der ethischen Werttheorie Nietzsches und der
ästhetischen Stimmung seines Wesens: der Rang einer Gesellschaft
bestimmt sich ihm nach der überhaupt in ihr erreichten Höhe der
Werte, wie einsam sie auch sei, nicht aber nach dem Verbreitungsmaſs
von schätzbaren Qualitäten — wie der Rang einer Kunstepoche nicht
von der Höhe und dem Quantum guter Durchschnittsleistungen, sondern
nur von der Höhe der höchsten Leistungen abhängt. So neigt der
Utilitarier, dem es allein auf die ganz greifbaren Ergebnisse des Han-
delns ankommt, zum Sozialismus, mit seiner Betonung der Vielen und
der Verbreitung erwünschter Lebensmomente, während der idealistische
Ethiker, dem die — mehr oder weniger ästhetisch ausdrückbare —
Form des Thuns am Herzen liegt, eher Individualist ist oder wenigstens,
wie Kant, die Autonomie des Einzelnen vor allem betont. So ist es
doch auch auf dem Gebiet des subjektiven Glückes. Von den äuſsersten
Aufgipfelungen des Lebensgefühles, die gleichsam für das Ich seine
vollste Ausprägung in dem Stoff des Daseins bedeuten, empfinden wir
oft, daſs sie sich gar nicht zu wiederholen brauchen. Dies einmal
[270] genossen zu haben, giebt dem Leben einen Wert, der durch das Noch-
Einmal ebendesselben durchaus nicht verhältnismäſsig gesteigert wird.
Grade solche Augenblicke, in denen das Leben ganz individuelle Zu-
spitzung geworden ist und den Widerstand der Materie — im weitesten
Sinne — seinem Fühlen und Wollen völlig unterworfen hat, bringen
eine Atmosphäre mit sich, die man als Seitenstück der Zeitlosigkeit,
der species aeternitatis bezeichnen könnte: eine Erhebung über die
Zahl, wie dort über die Zeit. Und wie ein Naturgesetz seine Be-
deutung für Charakter und Zusammenhang der Welt nicht von der
Zahl seiner Verwirklichungsfälle entlehnt, sondern von der Thatsache,
daſs es überhaupt da ist, daſs es, und kein anderes, gilt — so haben
die Momente der höchsten Erhebung des Ich ihren Sinn für unser
Leben darin, daſs sie überhaupt einmal da waren, ohne daſs eine
Wiederholung, die ihrem Inhalt nichts hinzufügte, diesen Sinn ver-
mehren könnte. Kurz, allenthalben macht die Zuspitzung der Wert-
gefühle auf die Form gegen ihre Quantitätsmomente gleichgültiger,
während ihre Formlosigkeit grade auf diese als wert-entscheidende
hinweist. —


Solange noch nicht so grenzenlos viele Zweckreihen sich im Geld
schneiden, wie auf den Höhen der geldwirtschaftlichen Kultur, und noch
nicht fortwährendes Zerbröckeln und Wieder-Summieren jede Eigen-
struktur seiner atomisiert und in absolute Flexibilität übergeführt hat —
begegnen Erscheinungen, in denen das Geld noch spezifische Form
zeigt. Das ist da der Fall, wo eine höhere Summe nicht durch
addierte kleinere ersetzt werden kann. Ansätze dazu zeigt schon der
Naturaltauschverkehr: bei manchen Völkern darf etwa Vieh nur
gegen Eisen und Zeuge, nicht aber gegen — sonst tauschwert-
vollen — Tabak vertauscht werden. Anderwärts, z. B. auf der Insel
Yap, haben die auſserordentlich mannigfaltigen Geldsorten (Knochen,
Perlmutterschalen, Steine, Glasstücke u. s. w.) eine Rangordnung.
Trotzdem nämlich feststeht, ein wie Vielfaches der niederen Geldsorten
die höheren gelten, so dürfen doch gewisse wertvollere Dinge, wie
Boote oder Häuser, nicht etwa mit entsprechend vielen niederen Geld-
stücken, sondern müssen mit einer für jedes Objekt bestimmten, im
Range hochstehenden Geldsorte bezahlt werden. Für den Kauf von
Frauen finden wir gleichfalls diese Beschränkung auf eine bestimmte Geld-
qualität, die nicht durch eine Quantität anderer ersetzbar ist, in Gültig-
keit. Und auch in umgekehrter Richtung gilt eben dieselbe: an
einigen Stellen wird das Gold nie verwendet, um gröſsere Quanten
geringerer Waren, sondern ausschlieſslich um besonders kostbare Dinge
einzukaufen. Dieser Erscheinungskreis entspricht nicht etwa der Be-
[271] stimmung unserer Goldwährung, nach der Zahlungen oberhalb einer
gewissen Höhe in Gold verlangt werden können, während man für
niedere anderes Metall nehmen muſs; der prinzipielle und technische
Unterschied zwischen Wertmünze und Scheidemünze, auf den dies
zurückgeht, scheint für jene Usance nicht zu bestehen, sondern die
Geldsorten scheinen eine einheitliche Reihe zu bilden, in der nur die
höheren Glieder ihren quantitativen Inhalt zu einem besonderen, quan-
titativ nicht ausdrückbaren Formwert zusammenschlieſsen. Dies ist
ein vortreffliches Mittel, der Trivialisierung der Geldfunktion vor-
zubeugen, die die unvermeidliche Folge des bloſsen Quantitätscharakters
ist, und ihr den sakralen Charakter zu erhalten, den sie anfänglich so
oft trägt. Aber es ist auch der Hinweis, daſs solche Form- oder
Qualitätsbedeutungen des Geldes einer Primitivepoche angehören, in
der es eben noch nicht bloſs Geld, sondern auſserdem noch etwas ist.
Sehr viel schwächer, gleichsam verhallend, klingt dieser Ton noch in
spärlichen Erscheinungen der höchsten Entwicklungsstufen mit. So muſs
etwa die folgende ursprünglich auf eine Formbedeutung des Geldes
zurückgehen: das französische Volk sagt lieber 20 Sous statt 1 Fr., lieber
pièce de cent sous statt 5 Fr.-Stück u. s. w.; auch kann man nicht
gut: halber Frank sagen, sondern drückt diese Summe durch Sous oder
Centimes aus. Die gleiche Summe scheint also, in dieser Form vor-
gestellt, einigermaſsen andere Gefühlsreaktionen zu wecken, als in
anderer. Es ist auch sonst schon bemerkt, daſs das mit niederen Werten
rechnende Volk bestimmte Gröſsen lieber durch Addition von unten
her als durch Teilung von oben her bezeichnet. Die Summe, die aus
der Vervielfältigung der vertrauten Einheit hervorgegangen ist, scheint
nicht nur ihre Bedeutung überschaubarer und vernehmlicher auszudrücken,
sondern dieses subjektive Moment objektiviert sich in ein Gefühl, als
sei die Summe, so ausgedrückt, auch an sich etwas gröſseres und volleres,
als wenn sie sich in andern Faktoren darstellt. Unterschiede in dieser
Art waren in Norddeutschland zu beobachten, als an die Stelle der
Thaler die Markrechnung trat. In der Übergangszeit waren „drei-
hundert Mark“ vielfach von ganz andern psychischen Obertönen
begleitet als „hundert Thaler“, die neue Form, in der der identische
Inhalt sich ausdrückte, erschien umfänglicher, reichlicher als die
andere, diese dagegen als konziser, bestimmter in sich geschlossen.
Dieser Art also sind die Erscheinungen, in denen die in allen andern
Dingen so wesentliche Form sich am Gelde wenigstens andeutet und
die ihm sonst eigene unbedingte Identität der Summe, welche Form
man ihr auch leihen mag, einigermaſsen unterbricht.


Was man im übrigen und im allgemeinen am Gelde dennoch als
[272] Form bezeichnen könnte, kommt ihm aus der Einheit der Persönlich-
keit, die das Nebeneinander der Teile eines Vermögensbesitzes in ein
Miteinander und eine Einheit verwandelt. Deshalb hat auch ein Ver-
mögen, namentlich ein erheblicheres, nicht die ästhetische Miſslichkeit
des Geldes im allgemeinen. Und zwar liegt das nicht nur an den ästhe-
tischen Möglichkeiten, die der Reichtum gewährt; sondern teils neben
diesen, teils sie fundamentierend, besteht das Bild eines Vermögens als
die Form, die das Geld durch seine Beziehung zu einem persönlichen
Zentrum gewinnt, die es von der abstrakten Vorstellung des Geldes über-
haupt scheidet und ihren Charakter als Form durch den Unterschied
einer solchen Vermögenseinheit gegen die gleiche, aber auf viele Per-
sonen verteilte Summe deutlich aufzeigt. Wie sehr die Personalität des
Besitzes seine Formbestimmtheit als solche trägt und betont, zeigt sich
keineswegs nur am Geld. Die Hufe des altgermanischen Vollfreien war
ein unteilbarer Besitz, weil sie mit seiner Mitgliedschaft in der Mark-
genossenschaft solidarisch war, der Besitz floſs aus der Person und
hatte deshalb die gleiche Qualität der Einheit und Unteilbarkeit. Und
wenn man über den englischen Grundbesitz im Mittelalter vermutet
hat, daſs völlige Gleichheit der Lose immer auf unfreien Besitz, auf
eine rationelle Landverteilung an Hintersassen seitens eines Herrn An-
weisung gäbe, — so wäre es doch auch hier die einheitliche Persön-
lichkeit, wenngleich die unindividuelle und unfreie, die dem Besitz
seine Umschriebenheit und Formbestimmtheit verleiht. Die Verding-
lichung des Besitzes, seine Lösung von der Person bedeutete zugleich
einerseits die Möglichkeit, die Landstücke Vieler in einer Hand zu
vereinigen, andrerseits das einzelne beliebig zu zerschlagen. Mit der
Personalität des Landbesitzes ging ebenso die Festigkeit wie die
Wichtigkeit seiner Form verloren, er wurde ein Flieſsendes, dessen
Formung von Moment zu Moment durch sachliche Verhältnisse (in die
natürlich fortwährend personale eingehen) aufgelöst und wieder gebildet
wird, während die Solidarität des Besitzes mit der Person denselben
mit der von innen kommenden Formeinheit des Ich durchdrungen
hatte. — Das Leben früherer Zeiten erscheint viel mehr an fest ge-
gebene Einheiten gebunden, was ja nichts anderes bedeutet, als die
hervorgehobene Rhythmik desselben, die die moderne Zeit in ein be-
liebig abteilbares Kontinuum auflöst. Die Inhalte des Lebens — wie
sie mehr und mehr durch das absolut kontinuierliche, unrhythmische,
von sich aus jeder festumschriebenen Form fremde Geld ausdrückbar
sind — werden gleichsam in so kleine Teile zerlegt, ihre abgerundeten
Totalitäten so zerschlagen, daſs jede beliebige Synthese und Formung
aus ihnen möglich ist. Damit erst ist das Material für den modernen
[273] Individualismus und die Fülle seiner Erzeugnisse geschaffen. Ersicht-
lich leistet die Persönlichkeit, mit dem so gestalteten, oder eigentlich
nicht gestalteten Stoffe neue Lebenseinheiten schaffend, eben dasselbe
mit gröſserer Selbständigkeit und Variabilität, was sie in dem früheren
Falle in enger Solidarität mit stofflichen Einheiten geleistet hatte.


Durch sein so charakterisiertes Wesen wird das Geld innerhalb
der historisch-psychologischen Gebiete der vollendetste Repräsentant
einer Erkenntnistendenz der modernen Wissenschaft überhaupt: der
Reduktion qualitativer Bestimmungen auf quantitative. Hier denkt man
zunächst an die Schwebungen indifferenter Medien, die wir als die
objektive Veranlassung unserer Farben- und Tonempfindungen kennen.
Rein quantitative Unterschiede der Oszillationen entscheiden darüber, ob
wir so qualitativ Unterschiedenes wie grün oder violett sehen, oder wie
das Contra-A oder das fünfgestrichene C hören. Innerhalb der objektiven
Wirklichkeit, von der nur Fragmente, zufällig und zusammenhangslos, in
unser Bewuſstsein hineinwirken, ist alles nach Maſs und Zahl geordnet,
und den qualitativen Verschiedenheiten unserer subjektiven Reaktionen
entsprechen quantitative ihrer sachlichen Gegenbilder. Vielleicht sind
all die unendlichen Verschiedenheiten der Körper, die in ihren chemi-
schen Beziehungen hervortreten, nur verschiedene Schwingungen eines
und desselben Grundstoffes. So weit die mathematische Naturwissenschaft
dringt, hat sie das Bestreben, unter Voraussetzung gewisser gegebener
Stoffe, Konstellationen, Bewegungsursachen die Strukturen und Ent-
wicklungen durch bloſse Maſsformeln auszudrücken. In anderer Form
und Anwendung ist dieselbe Grundtendenz in all den Fällen wirksam,
wo man frühere Annahmen eigenartiger Kräfte und Bildungen auf die
Massenwirkung auch sonst bekannter, unspezifischer Elemente zurück-
geführt hat: so in Bezug auf die Bildung der Erdoberfläche, deren
Gestalt man statt aus plötzlichen und unvergleichbaren Katastrophen
jetzt vielmehr aus den langsam summierten, unmerklich kleinen, aber
in unermeſslicher Vielheit sich äuſsernden Wirkungen herleitet, die die
fortwährend beobachtbaren Kräfte des Wassers, der Luft, der Pflanzen-
decke, der Wärme und Kälte ausüben. Innerhalb der historischen
Wissenschaften ist dieselbe Gesinnung bemerkbar: Sprache, Künste,
Institutionen, Kulturgüter jeder Art erscheinen als das Resultat un-
zähliger minimaler Beiträge, das Wunder ihres Entstehens wird nicht
durch die Qualität heroischer Einzelpersönlichkeiten, sondern durch
die Quantität der zusammengeströmten und verdichteten Aktivitäten
der ganzen historischen Gruppe erklärt; als die Objekte der Ge-
schichtsforschung erscheinen mehr die kleinen, alltäglichen Vorgänge
des geistigen, kulturellen, politischen Lebens, die durch ihre Summierung
Simmel, Philosophie des Geldes. 18
[274] das historische Dasein in seiner Breite und seinen Entwicklungen
schaffen, als die spezifisch individuellen Thaten der Führer; und
wo eine Prominenz und qualitative Unvergleichlichkeit Einzelner
dennoch vorliegt, da wird sie als eine besonders glückliche Vererbung
gedeutet, d. h. als eine solche, die ein möglichst groſses Quantum
angehäufter Energien und Errungenschaften der Gattung einschlieſst und
ausdrückt. Ja selbst innerhalb einer ganz individualistischen Ethik wird
diese ebenso zur Weltanschauung gesteigerte wie in die Innerlichkeit
des Gemütes hinabsteigende demokratische Tendenz mächtig; denn es
begegnet die Behauptung, daſs die höchsten Werte in dem alltäglichen
Dasein und jedem seiner Momente, aber nicht in dem Heroischen,
Katastrophenhaften, den hinausragenden Thaten und Erlebnissen liegen,
als welche immer etwas Zufälliges und Äuſserliches hätten; mögen wir
alle groſsen Leidenschaften und unerhörten Aufschwünge durchkosten —
ihr Ertrag sei doch nur, was sie für die stillen, namenlosen, gleich-
mäſsigen Stunden zurücklassen, in denen allein das wirkliche und ganze
Ich lebt. Endlich, die empiristische Neigung, die, trotz aller entgegen-
gesetzten Erscheinungen und aller berechtigten Kritik, dennoch das
Ganze der modernen Zeit am durchgehendsten charakterisiert und hier
ihre innerste Form- und Gesinnungsverbindung mit der modernen Demo-
kratie offenbart, setzt die möglichst hohe Zahl von Beobachtungen an
die Stelle der einzelnen, divinatorischen oder rationalen Idee, sie er-
setzt das qualitative Wesen dieser durch die Quantität der zusammen-
gebrachten Einzelfälle; und dieser methodischen Absicht entspricht ganz
der psychologische Sensualismus, der die sublimsten und abstraktesten
Gebilde und Fähigkeiten unserer Vernunft für eine bloſse Häufung
und Steigerung der alltäglichsten sinnlichen Elemente erklärt. Die
Beispiele lieſsen sich leicht vermehren, die das wachsende Übergewicht
der Kategorie der Quantität über die der Qualität zeigen, oder genauer:
die Tendenz, diese in jene aufzulösen, die Elemente immer mehr ins
Eigenschaftslose zu rücken, ihnen selbst etwa nur noch bestimmte Be-
wegungsformen zu lassen und alles Spezifische, Individuelle, qualitativ
Bestimmte als das Mehr oder Weniger, das Gröſser oder Kleiner, das
Weiter oder Enger, das Häufiger oder Seltener jener an sich farblosen,
eigentlich nur noch der numerischen Bestimmtheit zugängigen Ele-
mente und Bewuſstheiten zu erklären — mag diese Tendenz auch mit
irdischen Mitteln ihr Ziel nie absolut erreichen können. Das Interesse
an dem Wieviel, so sehr es einen angebbaren realen Sinn nur in der
Verbindung mit dem Was und Wie besitzt und für sich allein nur
eine Abstraktion darstellt, gehört zu den Grundlagen unseres geistigen
Wesens, es ist der Einschlag in den Zettel der Qualitätsinteressen;
[275] wenn also auch beide zusammen erst ein Gewebe ergeben und deshalb
die ausschlieſsliche Betonung des einen logisch nicht zu rechtfertigen
ist, so ist sie doch psychologisch eine der groſsen Differenzierungen
der Perioden, der Individuen, der Seelenprovinzen. Was Nietzsche
von allen sozialistischen Wertungen scheidet, kann sich nicht schärfer
als darin zeichnen, daſs ihm ausschlieſslich die Qualität der Mensch-
heit eine Bedeutung besitzt, so daſs nur das eine jeweilige höchste
Exemplar über den Wert der Epoche entscheidet, während für den
Sozialismus grade nur das Verbreitungsmaſs erwünschter Zustände
und Werte in Frage kommt.


Die oben angeführten Beispiele der modernen Quantitätstendenz
zeigen ersichtlich zwei Typen: erstens, die objektiven Substanzen und
Ereignisse, die den qualitativ unterschiedenen subjektiven Vorstellungen
zum Grunde liegen, sind ihrerseits nur quantitativ unterschieden;
zweitens, auch im Objektiven erzeugt die bloſse Häufung der Elemente
oder Kräfte Erscheinungen, deren Charakter sich von den quantitativ
anders bedingten spezifisch und nach Wertgesichtspunkten unterscheidet.
Nach beiden Richtungen hin erscheint das Geld als Beispiel, Ausdruck
oder Symbol der modernen Betonung des Quantitätsmomentes. Die
Thatsache, daſs immer mehr Dinge für Geld zu haben sind, sowie die
damit solidarische, daſs es zum zentralen und absoluten Wert aus-
wächst, hat zur Folge, daſs die Dinge schlieſslich nur noch so weit
gelten, wie sie Geld kosten, und daſs die Wertqualität, mit der wir
sie empfinden, nur als eine Funktion des Mehr oder Weniger ihres
Geldpreises erscheint. Unmittelbar hat dieses Mehr oder Weniger
die doppelte Folge: im Subjekt die entgegengesetztesten Gefühle,
das tiefste Leid und die höchste Beseligung samt allen Mittel-
gliedern zwischen diesen Polen hervorzurufen, wie es seitens Anderer
in die nicht weniger reiche Skala zwischen verächtlicher Gleichgültig-
keit und kniebeugender Verehrung einzustellen. Und andrerseits, im
Objektiven, bewirkt das Anwachsen seiner Quantität überhaupt wie
seine Akkumulierung in einzelnen Händen eine Steigerung der sach-
lichen Kultur, eine Herstellung von Produkten, Genieſsbarkeiten und
Lebensformen, von deren Qualitäten bei geringeren oder anders ver-
teilten Geldquantitäten gar nicht die Rede hätte sein können. Ja,
man möchte sogar jene Quantitätstendenz am Geld radikaler verwirk-
licht meinen als auf irgend einem andern, diesseits der Metaphysik
liegenden Gebiete. Denn wo immer wir qualitative Thatsächlichkeiten
auf quantitative Verhältnisse zurückgliedern, bleiben die Elemente —
physischer, personaler, psychischer Art —, deren Mehr oder Weniger
den besonderen Erfolg entscheidet, an sich selbst doch in irgend einem
18*
[276] Maſse qualitativ charakterisiert; man mag diese Bestimmtheit immer
weiter zurückschieben, so daſs die gestern noch unauflösliche Qualität
des Elements heute ihrerseits als eine Modifikation nach Maſs und Zahl
erkennbar wird; dieser Prozeſs aber geht ins unendliche und läſst in
jedem gegebenen Augenblick noch eine qualitative Bestimmtheit der Ele-
mente bestehen, um deren Wieviel es sich handelt. Nur der Meta-
physik mag die Konstruktion absolut eigenschaftsloser Wesenheiten
gelingen, die nach rein arithmetischen Verhältnissen zusammengeordnet
und bewegt das Spiel der Welt erzeugen. Im Gebiet der Erscheinungen
aber erreicht nur das Geld diese Freiheit von allem Wie, diese alleinige
Bestimmtheit nach dem Wieviel. Während wir nirgends das reine Sein
oder die reine Energie ergreifen können, um aus ihren quantitativen
Modifikationen die Besonderheit der Erscheinungen hervorgehen zu
lassen, vielmehr zu allen spezifischen Dingen ihre Elemente und Ur-
sachen schon irgend eine Beziehung (wenngleich nicht immer Ähnlich-
keit) haben — ist das Geld von den entsprechenden Beziehungen zu
dem, was darüber und dadurch wird, völlig gelöst; der reine ökonomische
Wert hat einen Körper gewonnen, aus dessen Quantitätsverhältnissen
nun alle möglichen eigenartigen Gebilde hervorgehen, ohne daſs er etwas
anderes als eben seine Quantität dafür einzusetzen hätte. So erreicht
auch hier eine der groſsen Tendenzen des Lebens — die Reduktion
der Qualität auf die Quantität — im Geld ihre äuſserste und allein
restlose Darstellung; auch hier erscheint es als der Höhepunkt einer
geistesgeschichtlichen Entwicklungsreihe, der die Richtung derselben
erst unzweideutig festlegt.


[[277]]

Synthetischer Teil.


[[278]][[279]]

Viertes Kapitel.
Die individuelle Freiheit.


I.


Man kann die Entwicklung jedes menschlichen Schicksals von dem
Gesichtspunkte aus darstellen, daſs es in einer ununterbrochenen Ab-
wechslung von Bindung und Lösung, von Verpflichtung und Freiheit ver-
läuft. Dieser erste Überschlag indes stellt eine Scheidung dar, deren
Schroffheit die nähere Betrachtung mildert. Was wir nämlich als Freiheit
empfinden, ist thatsächlich oft nur ein Wechsel der Verpflichtungen; indem
sich an die Stelle der bisher getragenen eine neue schiebt, empfinden
wir vor allen Dingen den Fortfall jenes alten Druckes, und weil wir von
ihm frei werden, scheinen wir im ersten Augenblick überhaupt frei zu
sein — bis die neue Pflicht, die wir zuerst gleichsam mit bisher ge-
schonten und deshalb besonders kräftigen Muskelgruppen tragen, mit
der allmählichen Ermüdung derselben ihr Gewicht geltend macht und
nun der Befreiungsprozeſs ebenso an sie ansetzt, wie er vorher in ihr
gemündet hatte. Dieses Schema vollzieht sich nicht an allen Bin-
dungen mit quantitativer Gleichheit: es giebt vielmehr gewisse, mit
welchen der Ton der Freiheit länger, intensiver, bewuſster, verbunden
ist als mit anderen; manche Leistungen, die nicht weniger streng ge-
fordert werden als andere und im ganzen die Kräfte der Persönlich-
keit nicht weniger beanspruchen, scheinen dennoch dieser ein besonders
groſses Maſs von Freiheit zu gewähren. Der Unterschied der Ver-
pflichtungen, der diesen Unterschied der damit verträglichen Freiheit
zur Folge hat, weist folgenden Typus auf. Jeder Verpflichtung, die
nicht einer bloſsen Idee gegenüber besteht, entspricht das Forderungs-
recht eines Anderen: weshalb denn die Moralphilosophie allenthalben
die sittliche Freiheit mit denjenigen Verpflichtungen identifiziert,
[280] die ein ideeller oder gesellschaftlicher Imperativ oder die das eigne Ich
uns auferlegt. Der Anspruch des Anderen kann das persönliche Thun und
Leisten des Verpflichteten zum Inhalt haben; oder er kann wenigstens
das unmittelbare Ergebnis der persönlichen Arbeit betreffen; oder es
kann sich endlich bloſs um ein bestimmtes Objekt handeln, auf dessen
Genuſs der Berechtigte Anspruch hat, während er auf den Weg, auf
dem der Verpflichtete dasselbe beschafft, keinen Einfluſs mehr besitzt.
Diese Skala ist zugleich die der Freiheitsgrade, die mit der Leistung
zusammen bestehen. Gewiſs werden im ganzen alle Verpflichtungen
durch das persönliche Thun des Subjektes solviert; allein es ist ein
groſser Unterschied, ob das Recht des Berechtigten sich unmittelbar
auf die leistende Persönlichkeit erstreckt, oder nur auf das Produkt
ihrer Arbeit; oder endlich auf das Produkt an und für sich, gleichviel
durch welche Arbeit und ob überhaupt durch eigene, der Verpflichtete
dazu gekommen ist. Selbst bei objektiv gleich groſsen Vorteilen des
Berechtigten wird der erste dieser Fälle die Freiheit des Verpflichteten
völlig binden, der zweite ihr schon etwas gröſseren, der dritte sehr
erheblichen Spielraum gewähren. Das extremste Beispiel des ersten
Falles ist die Sklaverei; hier betrifft die Verpflichtung überhaupt nicht
eine irgendwie objektiv bestimmte Leistung, sondern den Leistenden
selbst; sie umschlieſst die Bethätigung aller überhaupt vorhandenen
Spannkräfte des Subjektes. Wenn in modernen Verhältnissen der-
artige Pflichten, welche die Leistungskraft überhaupt, aber nicht das
objektiv bestimmte Resultat derselben betreffen — wie bei gewissen
Arbeiterkategorien, Beamten, Dienstboten — dennoch der Freiheit
keine allzu groſse Gewalt anthun, so folgt dies entweder aus der zeit-
lichen Beschränkung der Leistungsperioden oder aus der Möglichkeit
der Wahl zwischen den Personen, denen man sich verpflichten will,
oder aus der Gröſse der Gegenleistung, die den Verpflichteten sich
doch zugleich als einen Berechtigten fühlen läſst. Auf jener Stufe be-
finden sich ferner die Hörigen, solange sie schlechthin und mit ihrer
gesamten Arbeitskraft dem Herrnhofe angehören, beziehungsweise so-
lange ihre Dienste „ungemessen“ sind. Der Übergang zur zweiten
vollzieht sich, indem die Dienste zeitlich beschränkt werden (womit
nicht gesagt sein soll, daſs diese Stufe historisch immer die spätere
war; im Gegenteil, die Verschlechterung der bäuerlichen Freiheit führt
sehr oft von dem zweiten zum ersten Verhältnis). Vollständig wird
diese zweite Stufe erreicht, wenn anstatt der bestimmten Arbeitszeit
und Kraft ein bestimmtes Arbeitsprodukt verlangt wird: wenn also der
herrschaftliche Unterthan einen festgesetzten Teil der Bodenerträge oder
eine Anzahl von Hühnern, Kälbern, Schweinen schuldig ist. Innerhalb
[281] dieser Stufe ist nun die Graduierung zu beobachten: daſs der herr-
schaftliche Unterthan entweder einen aliquoten Teil der Bodenerträge
— etwa die zehnte Korngarbe — abzuliefern hat, oder ein ein für
allemal fixiertes Quantum an Getreide, Vieh, Honig u. s. w. Obgleich
der letztere Modus unter Umständen der härtere und schwierigere sein
kann, so läſst er doch andrerseits dem Verpflichteten auch wieder
gröſsere individuelle Freiheit, denn er macht den Grundherrn gleich-
gültiger gegen die Wirtschaftsart des Bauern: wenn er nur soviel pro-
duziert, daſs jene bestimmte Abgabe herauskommt, so hat jener kein
Interesse an dem Gesamtertrage, was bei der aliquoten Abgabe sehr
erheblich der Fall ist und zu Beaufsichtigungen, Zwangsmaſsregeln,
Bedrängungen führen muſs. Die Fixierung der Abgaben auf ein ab-
solutes statt eines relativen Quantums ist schon eine Übergangserschei-
nung, die auf die Geldablösung hinweist. Freilich könnte prinzipiell
betrachtet auf dieser ganzen Stufe schon vollständige Freiheit und
Lösung der Persönlichkeit als solcher aus dem Pflichtverhältnisse ge-
geben sein; denn dem Berechtigten kommt es nur darauf an, daſs er
die bestimmte objektive Abgabe erhält, der Pflichtige mag sie her-
nehmen, wo er will. Allein thatsächlich kann er sie bei dieser Wirt-
schaftsführung nirgends hernehmen als aus der eigenen Arbeit, und
auf dieser Grundlage ist auch das Verhältnis errichtet. Die Bethäti-
gung der Persönlichkeit war durch ihre Verpflichtungen eindeutig be-
stimmt. Und dies ist der allgemeine Typus, wo nur immer in der
Naturalwirtschaft Leistung zu Gegenleistung verpflichtet: Leistung und
Persönlichkeit tritt allerdings bald soweit auseinander, daſs der Ver-
pflichtete prinzipiell das Recht haben würde, seine Persönlichkeit ganz
aus der Leistung zurückzuziehen und diese rein objektiv, etwa durch
die Arbeit eines anderen hergestellt, zu prästieren. Aber in Wirk-
lichkeit schlieſst die ökonomische Verfassung dies so gut wie aus, und
durch das schuldige Produkt hindurch und in ihm bleibt das Subjekt
selbst verpflichtet, die persönliche Kraft in einer bestimmten Richtung
gebunden. Wie sehr immerhin das Prinzip der Sachlichkeit gegen-
über dem der Persönlichkeit eine Wendung zur Freiheit bedeutet,
zeigt z. B. die im 13. Jahrhundert sehr vorschreitende Lehnsfähigkeit
der Ministerialen. Durch diese nämlich wurde ihre bisher persönliche
Abhängigkeit in eine bloſs dingliche verwandelt und sie dadurch in
allen anderen als Lehnsangelegenheiten unter das Landrecht, d. h. in
die Freiheit, gestellt. Es ist genau in demselben Sinn, wenn begabte
Persönlichkeiten, die zur Lohnarbeit genötigt sind, es heutzutage vor-
ziehen, einer Aktiengesellschaft mit ihrem streng objektiven Betriebe,
als einem Einzelunternehmer zu dienen; oder wenn der Dienstboten-
[282] mangel daher entsteht, daſs die Mädchen die Fabrikarbeit dem Dienst
bei einer Herrschaft vorziehen, in dem sie zwar materiell besser ge-
stellt sind, aber sich in der Unterordnung unter subjektive Persön-
lichkeiten weniger frei fühlen. — Die dritte Stufe, bei der aus dem
Produkt die Persönlichkeit wirklich ausgeschieden ist und der Anspruch
sich gar nicht mehr in diese hineinerstreckt, wird mit der Ablösung der
Naturalabgabe durch die Geldabgabe erreicht. Man hat es deshalb ge-
wissermaſsen als eine magna charta der persönlichen Freiheit im Ge-
biete des Privatrechts bezeichnet, wenn das klassische römische Recht
bestimmte, jeder beliebige Vermögensanspruch dürfe bei Verweigerung
seiner Naturalerfüllung in Geld solviert werden; das ist also das Recht,
jede persönliche Verpflichtung mit Geld abzukaufen. Der Grundherr,
der ein Quantum Bier oder Geflügel oder Honig von seinem Bauern
fordern darf, legt dadurch die Thätigkeit desselben in einer bestimmten
Richtung fest; sobald er nur Geldzins erhebt, ist der Bauer insoweit
völlig frei, ob er Bienenzucht, Viehzucht oder was sonst treiben will.
Die Verfasser des Domesday Survey wählten charakteristischer Weise
für die Bauern, die ihre Frohnden durch regelmäſsige Geldleistungen
ersetzten, Ausdrücke, die bezeichnen sollten, daſs sie weder ganz frei,
noch ganz unterthan wären. Nur an den Namen der Geldzinse haftete
noch lange ihr Ursprung aus Naturallieferungen: es wurden Küchen-
steuer, Faſs-Pfennige, Herbergsgelder (statt der Beherbergung der um-
herreisenden Herren und ihrer Beamten), Honig-Pfennige u. s. w. er-
hoben. Als Übergangsstufe tritt oft ein, daſs die ursprüngliche Natural-
abgabe in Geld taxiert und dieser Betrag als stellvertretend für sie
gefordert wurde. Diese vermittelnde Erscheinung findet sich auch
in Verhältnissen, die von dem hier behandelten Beispiel weit ab-
liegen: in Japan wurden noch 1877 alle Zinsen und Steuern ent-
weder in Reis bezahlt oder in Reis kalkuliert und in Geld
bezahlt
. Damit wird wenigstens die Identität des Wertquantums der
Pflicht noch betont, während sie schon jede durch Inhaltsbestimmtheit
bewirkte persönliche Bindung abgestreift hat. Wenn das ius primae
noctis wirklich irgendwo bestanden hat, so nimmt es seine Entwicklung
über analoge Stufen; jenes Recht des Grundherrn hatte das Ganze
der verpflichteten Persönlichkeit, die Hingabe ihres zentralsten Habens
oder vielmehr Seins zum Inhalt gehabt: dies wäre der Preis gewesen, um
den er der Unterthanin das Recht zur Eheschlieſsung einräumte. Die
nächste Stufe ist, daſs er dieses Recht — das er jederzeit noch ver-
sagen kann — gegen Zahlung einer Geldsumme giebt; die dritte,
daſs sein Einspruchsrecht überhaupt fortfällt, daſs der Unterthan viel-
mehr frei ist, sich zu verheiraten, sobald er dem Herrn eine fest-
[283] gesetzte Summe: Brautgeld, Ehegeld, Frauengeld oder ähnliches zahlt.
Die Befreiung der Persönlichkeit wird also auf der zweiten Stufe zwar
schon auf Geld gestellt, aber doch nicht ausschlieſslich, indem immer-
hin noch die Einwilligung des Grundherrn gewonnen werden muſste,
die man nicht erzwingen konnte. Das Verhältnis wird erst vollständig
entpersonalisiert, wenn gar kein anderes Moment als das der Geld-
zahlung darüber entscheidet. Höher kann die persönliche Freiheit vor
dem Wegfall jedes bezüglichen Rechtes des Grundherrn nicht steigen,
als wenn die Verpflichtung des Unterthanen in eine Geldabgabe ver-
wandelt ist, die der Grundherr annehmen muſs. Deshalb hat denn
auch vielfach die Verringerung und die schlieſslich völlige Ablösung
der bäuerlichen Dienste und Lieferungen ihren Weg über ihre Um-
wandlung in Geldbezüge genommen. Dieser Zusammenhang zwischen
Geldleistung und Befreiung kann unter Umständen von dem Berech-
tigten als so wirksam vorgestellt werden, daſs er selbst das lebhafteste
Interesse an barem Gelde übertönt. Die Umwandlung der bäuerlichen
Frohnden und Naturallieferungen in Geldzinse hatte in Deutschland
seit dem 12. Jahrhundert begonnen; und grade dadurch wurde sie
unterbrochen, daſs der Kapitalismus im 14. und 15. Jahrhundert auch
die Grundherren ansteckte. Denn sie erkannten, daſs die naturalen
Leistungen auſserordentlich viel dehnbarer und willkürlich vermehr-
barer waren als die Geldzinsungen, an deren quantitativer, zahlen-
mäſsiger Bestimmtheit nicht mehr zu rühren war. Dieser Vorteil der
Naturalleistungen erschien ihnen groſs genug, um ihre Habgier grade
in dem Augenblick daran festhalten zu lassen, in dem im übrigen die
Geldinteressen bei ihnen herrschend wurden. Es ist eben dieser Grund,
aus dem man überhaupt den Bauer nicht will zu Geld kommen
lassen. Der englische Hintersasse durfte ganz allgemein kein Stück
Vieh ohne besondere Erlaubnis seines Lords verkaufen. Denn durch
den Viehverkauf bekam er Geld in die Hand, mit dem er anderswo
Land erwerben und sich den Verpflichtungen gegen seinen bisherigen
Herrn entziehen konnte. — Der äuſserste Grad des Befreiungsprozesses
wird durch eine Entwicklung innerhalb der Geldabgabe selbst erreicht:
indem statt des periodischen Zinses eine einmalige Kapitalzahlung er-
folgt. Wenngleich der objektive Wert in beiden Formen der iden-
tische sein mag, so ist doch der Reflex auf das Subjekt ein ganz ver-
schiedener. Die einzelne Zinszahlung läſst zwar, wie hervorgehoben,
dem Pflichtigen völlige Freiheit in Bezug auf das eigene Thun, wenn
er nur das erforderliche Geld erwirbt; allein die Regelmäſsigkeit der
Abgaben zwingt dieses Thun in ein bestimmtes, ihm von einer fremden
Macht aufgedrungenes Schema, und so wird denn erst mit der Kapi-
[284] talisierung der Abgaben diejenige Form jeglicher Verpflichtungen er-
reicht, die zugleich der gröſsten persönlichen Freiheit entspricht. Erst
mit der Kapitalzahlung ist die Verpflichtung restlos in Geldleistung
übergegangen, während die Zinszahlung durch ihre regelmäſsige Perio-
dizität noch ein wenigstens formelles Element von Gebundenheit über
das bloſse Wertquantum hinaus enthält. Dieser Unterschied tritt etwa
so hervor: im 13. Jahrhundert und noch später votierte das englische
Parlament öfters, daſs die Shires eine bestimmte Anzahl von Soldaten
oder Arbeitern für den König zu liefern hätten; regelmäſsig aber lösten
die Repräsentanten-Versammlungen der Shires die Gewähr von Menschen
gegen eine Geldleistung ab. So viel personale Freiheit damit aber
auch gerettet war — es unterscheidet sich doch wesentlich von jenen
Rechten und Freiheiten, die das englische Volk seinen Königen durch
einmalige Geldvotierungen abkaufte. Wenn derjenige, der das Kapital
erhält, damit all den Unsicherheiten enthoben ist, denen er bei ein-
zelnen Zinsungen unterliegt, so ist das entsprechende Äquivalent dafür
auf der Seite des Leistenden, daſs seine Freiheit nun aus der labilen
Form, die sie bei immer wiederholter Zinsung aufweist, in die stabile
übergeht. Die Freiheit des englischen Volkes seinen Königen gegen-
über beruht zum Teil darauf, daſs es sich durch Kapitalzahlungen ein
für allemal in Bezug auf bestimmte Rechte mit ihnen auseinandersetzte:
pro hac concessione, sagt z. B. eine Urkunde Heinrichs III., dederunt
nobis quintam decimam partem omnium mobilium suorum. Nicht trotz-
dem, sondern grade weil eine solche Handelschaft um die Freiheiten
des Volkes einen etwas brutalen, äuſserlichen, mechanischen Charakter
trägt, bedeutet sie ein reinliches Sichabfinden miteinander, den völligsten
Gegensatz gegen die Empfindung des Königs, daſs sich „kein Blatt
Papier zwischen ihn und sein Volk drängen sollte“ — aber eben des-
halb auch eine radikale Beseitigung aller der Imponderabilien gemüt-
vollerer Beziehungen, die bei einem weniger geldgeschäftsmäſsigen Er-
werb von Freiheiten oft die Handhabe bieten, sie zurückzunehmen
oder illusorisch zu machen. Ein gutes Beispiel der stufenweisen Ent-
wicklung, in der die Geldablösung der Naturalleistung die Befreiung
des Individuums trägt, vollzieht sich an der Verpflichtung der Unter-
thanen, Bürger und Hintersassen, ihre Landesherren, bezw. Beamte,
Schirmvögte, Gerichtsherren bei ihren Reisen zu beherbergen und zu
verpflegen. Diese Last stammte aus dem alten Königsdienste und er-
langte im Mittelalter eine sehr bedeutende Ausdehnung. Es ist der
erste Schritt zur Sachlichkeit und Unpersönlichkeit dieser Verpflich-
tung, wenn dieselbe genau umgrenzt wird; so finden wir schon früh
genau vorgeschrieben, wieviele Ritter und Knechte beherbergt werden
[285] müssen, wieviele Pferde und Hunde mitgebracht werden dürfen, wie-
viel Brot, Wein, Fleisch, Schüsseln, Tischtücher u. s. w. zu liefern
sind. Immerhin, sobald unmittelbar Beherbergung und Atzung statt-
fand, muſsten einerseits die Grenzen der Leistungen leicht ins Schwanken
geraten, andrerseits trugen sie entschieden den Charakter der persön-
lichen Beziehung. Dem gegenüber ist es die entwickeltere Stufe, wenn
wir hören, daſs bloſse Lieferungen von Naturalien ohne Berherbergung
stattfanden; dabei konnten die Abmessungen des Quantums viel ge-
nauer sein, als wenn die Personen beherbergt und satt gemacht werden
sollten. So heiſst es, der Graf von Rieseck sollte eine bestimmte Ab-
gabe Korn erhalten: „Davon sul man syme gesinde brot backen, wan er in
dem Dorf zu Crotzenburg ist, off daz er die arme lüde in dem
dorff nit furter besweren oder schedigen solle
.“ Diese
Entwicklung führt weiter dahin, daſs feste Geldleistungen gelegentlich
der Anwesenheit der hohen Herren bei ihren Reisen und Gerichts-
sitzungen stipuliert werden. Und endlich wird auch das hierin noch
liegende variable und personale Moment beseitigt, indem diese
Leistungen in ständige Abgaben übergeführt werden, die als Atz-
geld, Herrentaggeld, Reisigvogtgeld, auch dann erhoben wurden, als
die alten Amtsreisen der Richter u. s. w. durch ganz andere Organi-
sationen ersetzt wurden. Das war der Weg, auf dem die Leistungen
solcher Art schlieſslich ganz fortfielen und in der allgemeinen Steuer-
leistung der Unterthanen aufgingen, der sozusagen jede spezifische
Formung fehlt und die deshalb das Korrelat der persönlichen Freiheit
der Neuzeit ist.


In solchen Fällen von Ablösung der naturalen Leistungen durch
Geldzahlungen pflegt der Vorteil auf beiden Seiten zu sein. Dies ist
eine sehr merkwürdige und zur Einstellung in gröſsere Zusammen-
hänge auffordernde Thatsache. Wenn man von der Vorstellung aus-
geht, daſs das zum Genuſs verfügbare Güterquantum ein begrenztes
ist; daſs es den vorhandenen Ansprüchen nicht genügt; daſs endlich
„die Welt weggegeben ist“, das heiſst, daſs im allgemeinen jedes Gut
seinen Besitzer hat — so folgt daraus, daſs, was dem Einen gegeben
wird, dem Anderen genommen werden muſs. Zieht man hier nun alle
die Fälle ab, in denen dies ersichtlich nicht gilt, so bleiben doch
immer noch unzählig viele, in denen die Bedürfnisbefriedigung des
Einen nur auf Kosten des Anderen erfolgen kann. Wollte man dies
als das oder ein Charakteristikum oder Fundament unseres Wirt-
schaftens ansehen, so würde es sich in alle jene Weltanschauungen ein-
ordnen, die überhaupt das Quantum der der Menschheit beschiedenen
Werte — der Sittlichkeit, des Glückes, der Erkenntnis — für ein
[286] seiner oder ihrer Natur nach unveränderliches halten, so daſs nur die
Formen und die Träger desselben wechseln können. Schopenhauer
neigt sich der Annahme zu, daſs jedem Menschen sein Maſs von Leiden
und Freuden von vornherein bestimmt ist; es könne weder überfüllt
werden noch leer bleiben, und alle äuſseren Umstände, auf die wir
unser Befinden zu schieben pflegen, stellten nur einen Unterschied in
der Art und Form, jenes unveränderliche Lust- und Leid-Quantum zu
empfinden, dar. Erweitert man diese individualistische Vorstellung
auf die menschliche Gesamtheit, so erscheint all unser Glücksstreben,
die Entwicklung aller Verhältnisse, aller Kampf um Haben und Sein
als ein bloſses Hin- und Herschieben von Werten, deren Gesamtsumme
dadurch nicht verändert werden kann, so daſs aller Wechsel in der Ver-
teilung nur die fundamentale Erscheinung bedeutet, daſs der Eine jetzt
besitzt, was der Andere — freiwillig oder nicht — weggegeben hat.
Diese Erhaltung der Werte entspricht ersichtlich einer pessimistisch-
quietistischen Weltansicht; denn je weniger man uns im stande glaubt,
wirklich neue Werte hervorzubringen, um so wichtiger ist es, daſs auch
keiner wirklich verloren gehe. In paradoxer Konsequenz lehrt das die
in Indien verbreitete Vorstellung, daſs, wenn man einen heiligen As-
keten zu Falle bringe, sein Verdienst auf den Versucher übergehe!


Aber auch direkt gegenteilige Erscheinungen sind zu beachten.
Mit allen jenen Gemütsverhältnissen, deren Glück nicht nur in dem
Gewinnen, sondern ebenso in dem eigenen Sichhingeben liegt und wo
jeder wechselseitig und gleichmäſsig durch den anderen bereichert wird,
erwächst ein Wert, dessen Genuſs nicht durch die Entbehrung einer
Gegenpartei erkauft wird. Ebenso wenig bedeutet die Mitteilung in-
tellektueller Güter, daſs dem Einen genommen werden muſs, was der
Andere genieſsen soll; wenigstens kann nur eine an das Pathologische
streifende Empfindungssubtilität sich wirklich beraubt fühlen, wenn
irgend ein objektiver geistiger Inhalt nicht mehr unser ausschlieſsliches
Eigentum ist, sondern von anderen nachgedacht wird. Im ganzen
kann man vom geistigen Besitz, wenigstens soweit er sich nicht in
ökonomischen fortsetzt, sagen, daſs er nicht auf Kosten eines anderen
gewonnen wird, weil er nicht aus einem Vorrat genommen wird,
sondern selbst bei aller Gegebenheit seines Inhaltes doch schlieſslich
aus dem eigenen Bewuſstsein des Erwerbers erzeugt werden muſs.
Diese Versöhnung der Interessen, die hier aus der Natur des Objektes
hervorgeht, gilt es nun offenbar auch auf denjenigen ökonomischen Ge-
bieten herzustellen, wo die Konkurrenz um die Befriedigung des ein-
zelnen Bedürfnisses jeden nur auf Kosten eines anderen bereichert.
Es giebt nun zwei Typen von Mitteln, um diesen Zustand in jenen
[287] vollkommneren überzuführen: das nächstliegende ist die Ablenkung
des Kampfes gegen den Mitmenschen in den Kampf gegen die Natur.
In dem Maſse, in dem man weitere Substanzen und Kräfte aus dem
noch unokkupierten Vorrat der Natur in die menschlichen Nutz-
nieſsungen hineinzieht, werden die bereits okkupierten von der Kon-
kurrenz um sie entlastet. Die Sätze von der Erhaltung des Stoffes
und der Energie gelten glücklicherweise nur für das absolute Ganze
der Natur, nicht aber für denjenigen Ausschnitt derselben, den das
menschliche Zweckhandeln für sich designiert; dies relative Ganze
ist allerdings ins unbestimmte vermehrbar, indem wir immer mehr
Stoffe und Kräfte in die für uns zweckmäſsige Form bringen, gleich-
sam annektieren können. Selbst aus demjenigen, was seinem Umfange
nach bereits okkupiert ist, lehrt uns fortschreitende Technik immer
weitere Nutzungen gewinnen: der Übergang von der extensiven zur
intensiven Wirtschaft vollzieht sich keineswegs nur auf dem Gebiete
der Bodenkultur, sondern an jeder Substanz, die in immer feinere
Teile zu immer spezielleren Nutzungen zerlegt, oder deren latente
Kräfte immer vollständiger entbunden werden. Die so nach ver-
schiedenen Dimensionen gehende Ausdehnung des menschlichen Macht-
gebietes, die es zur Unwahrheit macht, daſs die Welt weggegeben ist,
und die die Bedürfnisbefriedigung nicht erst an einen Raub irgend
welcher Art knüpft — könnte man den substanziellen Fortschritt der
Kultur nennen. Neben diesem steht nun, zweitens, was man als den
funktionellen Fortschritt bezeichnen dürfte. Bei diesem handelt es
sich darum, für den Besitzwechsel bestimmter gegebener Objekte die
Formen zu finden, welche denselben für beide Parteien vorteilhaft
machen: zu einer solchen Form kann es ursprünglich nur dann ge-
kommen sein, wenn der erste Besitzer die physische Macht besaſs, den
von Anderen begehrten Gegenstand fest zu halten, bis ihm ein ent-
sprechender Gegenvorteil geboten wurde, denn andernfalls würde ihm
der Gegenstand einfach weggenommen werden. Der Raub, vielleicht
das Geschenk erscheint als die primitivste Stufe des Besitzwechsels,
auf der also der Vorteil noch ganz auf der einen, die Last ganz
auf der anderen Seite ruht. Wenn sich über dieser nun die
Stufe des Tausches als Form des Besitzwechsels erhebt, zunächst
wie gesagt als bloſse Folge der gleichen Macht der Parteien, so ist
dies einer der ungeheuersten Fortschritte, die die Menschheit über-
haupt machen konnte. Angesichts der bloſsen Gradunterschiede, die
nach so vielen Seiten hin zwischen den Menschen und den niederen
Tieren bestehen, hat man bekanntlich oft versucht, die spezifische
Differenz festzustellen, die den Menschen unverkennbar und eindeutig
[288] von der übrigen Tierreihe abscheidet: als das politische Tier, das
werkzeugmachende Tier, das zwecksetzende Tier, das hierarchische
Tier, ja — seitens eines ernsthaften Philosophen — als das vom Gröſsen-
wahn befallene Tier hat man ihn definiert. Vielleicht kann man
dieser Reihe hinzufügen, der Mensch sei das tauschende Tier; und
das ist freilich nur eine Seite oder Form der ganz allgemeinen Charak-
teristik, in der das spezifische Wesen des Menschen zu bestehen scheint:
der Mensch ist das objektive Tier. Nirgends in der Tierwelt finden
wir auch nur Ansätze zu demjenigen, was man Objektivität nennt, der
Betrachtung und Behandlung der Dinge, die sich jenseits des subjek-
tiven Fühlens und Wollens stellt. Gegenüber dem einfachen Weg-
nehmen oder der Schenkung, in denen sich der rein subjektive Impuls
auslebt, setzt der Tausch, wie wir früher sahen, eine objektive Ab-
schätzung, Überlegung, gegenseitige Anerkennung, eine Reserve des
unmittelbar subjektiven Begehrens voraus. Daſs diese ursprünglich
keine freiwillige, sondern durch die Machtgleichheit der anderen Partei
erzwungene sein mag, ist dafür ohne Belang; denn das Entscheidende,
spezifisch Menschliche ist eben, daſs die Machtgleichheit nicht zum
gegenseitigen Raub und Kampf, sondern zu dem abwägenden Tausch
führt, in dem das einseitige und persönliche Haben und Habenwollen
in eine objektive, aus und über der Wechselwirkung der Subjekte sich
erhebende Gesamtaktion eingeht. Der Tausch, der uns als etwas ganz
Selbstverständliches erscheint, ist das erste und in seiner Einfachheit
wahrhaft wunderbare Mittel, mit dem Besitzwechsel die Gerechtigkeit
zu verbinden; indem der Nehmende zugleich Gebender ist, verschwindet
die bloſse Einseitigkeit des Vorteils, die den Besitzwechsel unter der
Herrschaft eines rein impulsiven Egoismus oder Altruismus charak-
terisiert; welche letztere übrigens keineswegs immer die zeitlich erste
Stufe der Entwicklung ausmacht.


Allein die bloſse Gerechtigkeit, die der Tausch bewirkt, ist doch
nur etwas Formales und Relatives: der eine soll nicht mehr und nicht
weniger haben als der andere. Darüber hinaus aber bewirkt er eine
Vermehrung der absoluten Summe empfundener Werte. Indem jeder
nur in den Tausch giebt, was ihm relativ überflüssig ist, und in den
Tausch nimmt, was ihm relativ nötig ist, gelingt es durch ihn, die zu
jedem gegebenen Zeitpunkt der Natur abgewonnenen Werte zu immer
höherer Verwertung zu bringen. Angenommen, die Welt wäre wirk-
lich „weggegeben“ und alles Thun bestünde wirklich in einem bloſsen
Hin- und Herschieben innerhalb eines objektiv unveränderlichen Wert-
quantums, so bewirkte dennoch die Form des Tausches gleichsam ein
interzellulares Wachstum der Werte. Die objektiv gleiche Wertsumme
[289] geht durch die zweckmäſsigere Verteilung, die der Tausch bewirkt, in
eine subjektiv gröſsere, in ein höheres Maſs empfundener Nutzungen
über. Das ist die groſse kulturelle Aufgabe bei jeder Neuverteilung
von Rechten und Pflichten, die doch immer einen Austausch enthält;
selbst bei scheinbar ganz einseitiger Verlegung des Vorteils wird ein
wirklich soziales Verfahren sie nicht vernachlässigen. So war es z. B.
bei der Bauernbefreiung des 18. und 19. Jahrhunderts die Aufgabe,
die Herrschaften nicht einfach das verlieren zu lassen, was die Bauern
gewinnen sollten, sondern einen Verteilungsmodus von Besitz und Rechten
zu finden, der zugleich die Totalsumme der Nutzungen vergröſserte.


Hier sind es nun zwei Eigenschaften des Geldes, die nach dieser
Richtung hin den Tausch von Waren oder Leistungen gegen dasselbe
als den vollkommensten erscheinen lassen: seine Teilbarkeit und seine
unbeschränkte Verwertbarkeit. Die erstere bewirkt, daſs überhaupt
eine objektive Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung statt-
finden kann. Naturale Objekte lassen sich in ihrem Werte selten so
bestimmen und abstufen, daſs ihr Austausch von jeder der beiden Par-
teien als ein völlig gerechter anerkannt werden muſs; erst das Geld,
weil es selbst nichts anderes ist als die Darstellung des Wertes
anderer Objekte und weil es fast unbegrenzt zu teilen und zu
summieren ist, ermöglicht wenigstens prinzipiell die genaue Gleichheit
der Tauschwerte. Allein mit dieser wird, wie ich hervorhob, erst die
erste Stufe der von der Einseitigkeit des Besitzwechsels aufwärts
führenden Entwicklung erreicht. Die zweite erhebt sich über der That-
sache, daſs der Naturaltausch selten beiden Teilen gleichmäſsig er-
wünschte Objekte zuführen bezw. sie von gleichmäſsig überflüssigen
befreien wird. In der Regel wird der lebhaftere Wunsch auf Seiten
des einen sein und der andere entweder nur gezwungen oder gegen
ein unverhältnismäſsig hohes Entgelt auf den Tausch eingehen. Beim
Tausch von Leistungen für Geld dagegen erhält der Eine den Gegen-
stand, den er ganz speziell braucht; der Andere etwas, was jeder ganz
allgemein braucht. Vermöge seiner unbeschränkten Verwertbarkeit und
daraus folgenden jederzeitigen Erwünschtheit kann es — wenigstens
prinzipiell — jeden Tausch zu einem solchen machen, der beiden
Teilen gleichmäſsig vorteilhaft ist: der Eine, der das naturale Objekt
nimmt, thut es sicher nur, weil er jetzt grade dessen bedarf; der
Andere, der das Geld nimmt, bedarf dessen ebenso grade jetzt, weil er
seiner überhaupt in jedem Augenblick bedarf. Damit ermöglicht der
Tausch um Geld beiden Parteien eine Erhöhung ihres Befriedigungs-
niveaus, während bei naturalem Tausch sehr häufig nur die eine das
spezifische Interesse am Erwerben oder Loswerden des Objekts haben
Simmel, Philosophie des Geldes. 19
[290] wird. So ist er die bisher vollendetste Form für die Lösung des
groſsen Kulturproblems, das sich über den einseitigen Vorteil des
Besitzwechsels hinweg erhebt: das objektiv gegebene Wertquantum durch
bloſsen Wechsel seiner Träger zu einem höheren Quantum subjektiv
empfundener Werte zu gestalten. Dies ist, neben dem ursprünglichen
Schaffen der Werte, für die soziale Zweckmäſsigkeit offenbar die Auf-
gabe schlechthin, der von ihr zu lösende Teil der allgemein mensch-
lichen: durch die Form, die man den Lebensinhalten giebt, ein Maxi-
mum des in ihnen latenten Wertes zu entbinden. Die Fälle, in denen
wir das Geld dieser Aufgabe dienen sehen, zeigen also die technische
Rolle, die das Geld daraufhin spielt, daſs der Tausch die wesentliche
soziale Art ist, jene Aufgabe zu lösen, und daſs der Tausch selbst im
Gelde Körper geworden ist.


Grade nach der Seite der Freiheit im Sinne der Entlastung des
Individuums zeigen auch sekundäre Erscheinungen der Geldwirtschaft
diese Doppelseitigkeit ihrer Vorteile. Der gewöhnliche Warentausch,
bei dem die Ware unmittelbar besichtigt und übergeben wird, ver-
pflichtet den Käufer in seinem Interesse zu einer sehr genauen und
sachkundigen Prüfung derselben, weil der Verkäufer, sobald er zu
solcher die Gelegenheit gegeben hat, jede spätere Reklamation abweisen
kann. Entwickelt sich der Handel dahin weiter, daſs nach Proben
gekauft wird, so geht die Last auf den Verkäufer über; er ist nicht
nur für die genaue Übereinstimmung der Lieferung mit der Probe ver-
antwortlich, sondern von jedem Irrtum, der ihm etwa zu seinen Un-
gunsten in der Qualität der Probe begegnet ist, wird natürlich der
Käufer rücksichtslos profitieren. Das Geschäft an unseren heutigen
Produktenbörsen hat nun eine Form, die beide Teile von diesen Ver-
antwortlichkeiten entlastet, indem es nicht nach Probe, sondern nach
einem ein für allemal festgestellten, allgemein gültigen Standard er-
folgt. Nun ist der Käufer nicht mehr an vorherige Prüfung des Ganzen
oder der Probe mit all ihren Irrtums-Chancen gebunden, während auch
der Verkäufer nicht mehr nach der individuellen, relativ zufälligen und
allerhand Gefahren für ihn einschlieſsenden Probe zu liefern hat; beide
wissen jetzt vielmehr genau, wenn sie über eine bestimmt benannte
Qualität von Weizen oder Petroleum abschlieſsen, daſs sie an eine
objektiv fixierte, jenseits aller persönlichen Unsicherheiten und Un-
zulänglichkeiten stehende Norm der Ware gebunden sind. So ist also
auf dem Gipfel der Geldwirtschaft ein Handelsmodus möglich geworden,
der, durch die Überführung des subjektiven Fundaments des Geschäfts
in ein objektives, beiden Parteien ihre Verantwortlichkeiten erleichtert
und dem Vorteil der einen keinerlei Nachteil der andern gegenüber-
[291] stellt. Eine genaue Parallele dazu zeigt das Kreditgeschäft. Im Mittel-
alter war es sehr schwierig, die Kreditwürdigkeit des einzelnen Kauf-
manns zu ermitteln, wodurch dieser selbst ebenso wie der Geldgeber
in ihren Aktionen gehemmt und herabgesetzt wurden. Erst an den
Börsen des 16. Jahrhunderts, besonders Lyons und Antwerpens, kam
es dahin, daſs die Wechsel gewisser Häuser von vornherein als gut
galten, es entstand der Begriff einer nicht abgestuften Kreditwürdigkeit
schlechthin, die die Obligation zu einem objektiven, fungibeln, von der
persönlichen Abwägung der Kreditwürdigkeit unabhängigen Werte
machten; die Häuser mochten sonst noch recht verschieden qualifiziert
sein, für ihre Verpflichtungen aber waren sie gut, und damit wurden
diese, für den sachlichen Zweck genügend, von den sonstigen individu-
ellen Bestimmtheiten gelöst. Wie allenthalben die Börse das Geld-
wesen zu seiner reinsten Form steigert, so hat sie hier durch Kreierung
des allgemeinen und sachlichen Begriffes des „Gutseins“ in typischer
Weise eine Entlastung nach einer Seite hin geschaffen, der keine Be-
lastung nach der andern gegenübersteht, sondern durch Überführung
individuell schwankender Taxierungen in eine objektiv gültige Qualität
sowohl dem Kreditgeber wie dem Kreditnehmer gleichmäſsige Er-
leichterungen gewährt.


Die Bedeutung der Geldwirtschaft für die individuelle Freiheit
vertieft sich nun, wenn wir nach der Form fragen, welche die bei ihr
noch fortbestehenden Abhängigkeitsverhältnisse eigentlich haben; sie
ermöglicht nicht nur, wie nach dem bisherigen, eine Lösung, sondern
eine besondere Art der gegenseitigen Abhängigkeit, die einem gleich-
zeitigen Maximum von Freiheit Raum giebt. Zunächst stiftet sie, äuſser-
lich angesehen, eine Reihe sonst ungekannter Bindungen. Seit in den
Boden, um ihm das erforderliche Früchtequantum abzugewinnen, ein
erhebliches Betriebskapital versenkt werden muſs, das meistens nur
durch hypothekarische Beleihung aufkommt; seit die Geräte nicht mehr
unmittelbar aus den Rohstoffen, sondern auf dem Wege über so und
so viele Vorbearbeitungen hergestellt werden; seit der Arbeiter im
wesentlichen mit Produktionsmitteln arbeitet, die ihm selbst nicht ge-
hören — hat die Abhängigkeit von dritten Personen ganz neue Gebiete
ergriffen. Von je mehr sachlichen Bedingungen vermöge der kompli-
zierteren Technik das Thun und Sein der Menschen abhängig wird,
von desto mehr Personen muſs es notwendig abhängig werden. Allein
diese Personen erhalten ihre Bedeutung für das Subjekt ausschlieſslich
als Träger jener Funktionen, Besitzer jener Kapitalien, Vermittler
jener Arbeitsbedingungen; was sie auſserdem als Personen sind, steht
in dieser Hinsicht gar nicht in Frage.


19*
[292]

Diese allgemeine Thatsache, deren Bedeutung das folgende dar-
zustellen hat, hat die Entwicklung zur Voraussetzung, durch die die
Person überhaupt zur bestimmten Persönlichkeit wird. Dies geschieht
offenbar erst dadurch, daſs eine Mehrzahl von Qualitäten, Charakter-
zügen, Kräften sich in ihr zusammenfinden. Sie ist freilich relative
Einheit, aber diese Einheit wird doch nur wirklich und wirksam, indem
sie verschiedene Bestimmungen vereinheitlicht. Wie der physische
Organismus darin sein Wesen hat, daſs er aus einer Vielheit materieller
Teile die Einheit des Lebensprozesses bildet, so beruht auch die innere
persönliche Einheit des Menschen auf der Wechselwirkung und dem
Zusammenhang vielfacher Elemente und Bestimmungen. Jedes einzelne
derselben, isoliert betrachtet, trägt objektiven Charakter, d. h. es ist
an und für sich noch nichts eigentlich Persönliches. Weder Schönheit
noch Häſslichkeit, weder das physische noch das intellektuelle Kraft-
maſs, weder die Berufsthätigkeit noch zufällige Neigungen, noch all die
anderen unzähligen Züge des Menschlichen legen als vereinzelte eine
Persönlichkeit unzweideutig fest; denn jede von ihnen kann mit be-
liebigen anderen, einander ganz entgegengesetzten Eigenschaften ver-
bunden sein und sich als die immer gleiche in dem Bilde unbegrenzt
vieler Persönlichkeiten finden. Erst indem mehrere von ihnen sich
gleichsam in einem Brennpunkt treffen und aneinander haften, bilden
sie eine Persönlichkeit, welche nun ihrerseits zurückwirkend jeden
einzelnen Zug als einen persönlich-subjektiven charakterisiert. Nicht
daſs er dieses oder jenes ist, macht den Menschen zu der unverwechsel-
baren Persönlichkeit, sondern daſs er dieses und jenes ist. Die rätsel-
hafte Einheit der Seele ist unserem Vorstellen nicht unmittelbar zu-
gängig, sondern nur, wenn sie sich in eine Vielheit von Strahlen
gebrochen hat, durch deren Synthese sie dann erst wieder als diese
eine und bestimmte bezeichenbar wird.


Die so bedingte Personalität nun wird in den geldwirtschaftlichen
Verhältnissen fast gänzlich aufgelöst. Der Lieferant, der Geldgeber,
der Arbeiter, von denen man abhängig ist, wirken gar nicht als
Persönlichkeiten, weil sie in das Verhältnis nur nach der je einen
Seite eintreten, daſs sie Waren liefern, Geld geben, Arbeit leisten, und
anderweitige Bestimmtheiten ihrer gar nicht in Betracht kommen, deren
Hinzutreten zu jenen doch allein ihnen die persönliche Färbung ver-
leihen würde; womit natürlich nur der absolute Endpunkt der sich
jetzt vollziehenden, aber an vielen Punkten noch unvollendeten
Entwicklung bezeichnet wird — denn die Abhängigkeiten der Menschen
von einander sind thatsächlich heute noch nicht völlig objektiviert, die
persönlichen Momente noch nicht vollkommen ausgeschlossen. Die
[293] allgemeine Tendenz aber geht zweifellos dahin, das Subjekt zwar von
den Leistungen immer mehrer Menschen abhängig, von den dahinter
stehenden Persönlichkeiten als solchen aber immer unabhängiger zu
machen. Beide Erscheinungen hängen in der Wurzel zusammen, bilden
die sich gegenseitig bedingenden Seiten eines und desselben Vorgangs:
die moderne Arbeitsteilung läſst ebenso die Zahl der Abhängigkeiten
wachsen, wie sie die Persönlichkeiten hinter ihren Funktionen zum Ver-
schwinden bringt, weil sie eben nur eine Seite derselben wirken läſst,
unter Zurücktreten aller anderen, deren Zusammen erst eine Persön-
lichkeit ergäbe. Die soziale Gestaltung, die sich bei restloser Aus-
führung dieser Tendenz einstellen müſste, würde eine entschiedene
formale Beziehung zum Sozialismus, mindestens zu einem extremen
Staatssozialismus aufweisen. Denn für diesen handelt es sich zu äuſserst
darum, jedes sozial zu berücksichtigende Thun in eine objektive
Funktion zu verwandeln; wie heute schon der Beamte eine „Stellung“
einnimmt, die objektiv präformiert ist und nur ganz bestimmte
einzelne Seiten oder Energien der Persönlichkeit in sich aufnimmt, so
würde sich in einem absolut durchgeführten Staatssozialismus über der Welt
der Persönlichkeiten gleichsam eine Welt objektiver Formen des sozial
wirksamen Thuns erheben, welche den Kräften jener nur ganz genau und
sachlich bestimmte Äuſserungen gestattet und vorschreibt; diese Welt ver-
hielte sich zu der ersteren etwa wie die geometrische Figur zu den empiri-
schen Körpern. Die subjektiven Tendenzen und das Ganze der Persönlich-
keiten könnten sich dann nicht anders in äuſseres Thun umsetzen, als
in der Beschränkung auf eine der einseitigen Funktionsweisen, in welche
die notwendige gesellschaftliche Gesamtaktion zerlegt, fixiert, objektiviert
ist. Die Qualifizierung des Thuns der Persönlichkeit wäre damit von
dieser als dem terminus a quo völlig auf die sachliche Zweckmäſsigkeit,
den terminus ad quem, übergegangen; und die Formen des menschlichen
Thuns stünden dann über der vollen psychologischen Wirklichkeit des
Menschen, wie das Reich der platonischen Ideen über der realen Welt.
Ansätze zu einer solchen Gestaltung sind, wie gesagt, vielfach vor-
handen, oft genug hat sich die arbeitsteilige Funktion als ein selb-
ständiges ideelles Gebilde ihren Trägern gegenübergestellt, so daſs
diese, nicht mehr von einander individuell unterschieden, nun gleichsam
nur durch sie hindurch passieren, ohne in dieser fest umschriebenen
Einzelforderung das Ganze ihrer Persönlichkeit unterbringen zu können
oder zu dürfen; die Persönlichkeit ist vielmehr als bloſser Träger einer
Funktion oder einer Stellung so gleichgültig, wie die des Gastes in
einem Hotelzimmer. In einer nach dieser Richtung hin ganz vollendeten
Gesellschaftsverfassung würde der Einzelne unendlich abhängig sein;
[294] die einseitige Bestimmtheit der ihm zugewiesenen Leistung würde ihn
auf die Ergänzung durch den Komplex aller anderen anweisen, und die
Befriedigung der Bedürfnisse würde nur sehr unvollkommen aus dem
eigensten Können des Individuums, sondern würde aus einer ihm
gleichsam gegenüberstehenden, rein sachlichen Gesichtspunkten folgenden
Arbeitsorganisation hervorgehen. Wenn es je einen seiner Grundidee
adäquaten Staatssozialismus geben könnte, so würde er diese Differen-
zierung der Lebensform ausprägen.


Die Geldwirtschaft aber zeichnet die Skizze derselben auf dem
Gebiet der privaten Interessen, indem das Geld einerseits durch seine
unendliche Biegsamkeit und Teilbarkeit jene Vielheit ökonomischer
Abhängigkeiten ermöglicht, andrerseits durch sein indifferentes und
objektives Wesen die Entfernung des personalen Elementes aus den Be-
ziehungen zwischen Menschen begünstigt. Mit dem modernen Kultur-
menschen verglichen ist der Angehörige irgend einer alten oder primi-
tiven Wirtschaft nur von einem Minimum von Menschen abhängig; nicht
nur ist der Kreis unserer Bedürfnisse ein sehr erheblich weiterer,
sondern selbst die elementaren Notwendigkeiten, die uns mit jenen
gemeinsam sind (Nahrung, Kleidung, Obdach), können wir nur mit
Hilfe eines viel gröſseren Apparates und durch viel mehr Hände
hindurch befriedigen; und nicht nur verlangt die Spezialisierung unserer
Thätigkeit einen unendlich ausgedehnteren Kreis andrer Produzenten,
mit denen wir die Produkte austauschen, sondern die unmittelbare
Thätigkeit selbst ist auf eine wachsende Zahl von Vorarbeiten, Hilfs-
kräften, Halbprodukten angewiesen. Nun aber war der relativ ganz
enge Kreis, von dem der Mensch einer wenig oder gar nicht ent-
wickelten Geldwirtschaft abhängig war, dafür viel mehr personal fest-
gelegt. Es waren diese bestimmten, persönlich bekannten, gleichsam
unauswechselbaren Menschen, mit denen der altgermanische Bauer oder
der indianische Gentilgenosse, der Angehörige der slavischen oder der
indischen Hauskommunion, ja vielfach noch der mittelalterliche Mensch
in wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen stand; um je wenigere
auf einander angewiesene Funktionen es sich handelt, um so beharrender
und bedeutsamer waren ihre Träger. Von wie vielen „Lieferanten“
allein ist dagegen der geldwirtschaftliche Mensch abhängig! Aber von
dem einzelnen, bestimmten derselben ist er unvergleichlich unabhängiger
und wechselt leicht und beliebig oft mit ihm. Wir brauchen noch
jetzt nur die Lebensverhältnisse in einer kleinen Stadt mit denen einer
groſsen zu vergleichen, um diese Entwicklung zwar herabgesetzt, aber
doch noch unverkennbar vor uns zu haben. Während der Mensch der
früheren Stufe die geringere Anzahl seiner Abhängigkeiten mit der
[295] Enge persönlicher Beziehung, oft persönlicher Unersetzbarkeit der-
selben bezahlen muſste, werden wir für die Vielheit unserer Abhängig-
keiten durch die Gleichgültigkeit gegen die dahinter stehenden Per-
sonen und die Freiheit des Wechsels mit ihnen entschädigt. Und wenn
wir durch die Kompliziertheit unserer Bedürfnisse einerseits, die
Spezialisiertheit unserer Fähigkeiten andrerseits von dem Ganzen der
Gesellschaft sehr viel abhängiger sind als der primitive Mensch, der
sich allenfalls mit seiner ganz engen isolierten Gruppe durchs Leben
schlagen konnte — so sind wir dafür von jedem bestimmten Ele-
mente dieser Gesellschaft auſserordentlich unabhängig, weil seine Be-
deutung für uns in die einseitige Sachlichkeit seiner Leistung über-
gegangen ist, die deshalb viel leichter auch von so und so viel anderen
und persönlich verschiedenen Menschen produziert werden kann, mit
denen uns nichts als das in Geld restlos ausdrückbare Interesse ver-
bindet.


Dies ist nun die günstigste Lage, um innere Unabhängigkeit, das
Gefühl individuellen Fürsichseins, zustande zu bringen. Denn der
bloſsen Isolierung Anderen gegenüber gelingt die positive, hiermit ge-
meinte Verfassung noch nicht; rein logisch formuliert: die Unabhängig-
keit ist noch etwas Anderes als die bloſse Nicht-Abhängigkeit — wie
etwa Unsterblichkeit noch etwas Anderes ist als Nicht-Sterblichkeit;
denn nicht sterblich ist auch der Stein oder das Metall, die man doch
nicht unsterblich nennen dürfte. Ist doch schon an der andern Be-
deutung des Isoliertseins, der Einsamkeit, der Anschein reiner Negativität
ein irriger. Auch diese, wenn sie eine psychologische Wirksamkeit
und Betonung hat, meint keineswegs nur die Abwesenheit jeder Gesell-
schaft, sondern grade ihr ideelles und dann erst verneintes Dasein; sie
ist eine Fernwirkung der Gesellschaft, die positive Bestimmung des
Individuums durch negative Vergesellschaftung. Falls die bloſse Iso-
lierung schon nicht eine direkte Sehnsucht nach Anderen, eine Ab-
hängigkeit des Gefühls erzeugt, so stellt sie den Menschen überhaupt
jenseits der ganzen Frage von Abhängigkeit oder Freiheit und läſst die
thatsächlich genossene Freiheit zu keinem Bewuſstseinswert kommen,
weil ihr der Gegensatz, die Reibung, Versuchung, Nähe des Unter-
schiedes fehlt. Wenn die Entwicklung der Individualität, die Über-
zeugung, mit allem einzelnen Wollen und Fühlen den Kern unseres
Ich zu entfalten, als Freiheit gelten soll, so tritt sie unter diese Kate-
gorie nicht als bloſse Beziehungslosigkeit, sondern grade als eine ganz
bestimmte Beziehung zu Andern. Diese Andern müssen zunächst doch
dasein und empfunden werden, damit sie einem gleichgültig sein
können. Die individuelle Freiheit ist keine rein innere Beschaffenheit
[296] eines isolierten Subjekts, sondern eine Korrelationserscheinung, die
ihren Sinn verliert, wenn kein Gegenpart da ist. Wenn jedes Ver-
hältnis zwischen Menschen aus Elementen der Annäherung und Ele-
menten der Distanz besteht, so ist Unabhängigkeit eines, in dem die
letzteren zwar ein Maximum geworden, die ersteren aber so wenig ganz
verschwunden sein können, wie aus der Vorstellung des Linken die
des Rechten. Die Frage ist jetzt nur, welches die günstigste konkrete
Gestaltung beider Elemente ist, um die Unabhängigkeit, sowohl als
objektive Thatsache wie im subjektiven Bewuſstsein, hervorzubringen.
Eine solche scheint nun gegeben, wenn zwar ausgedehnte Beziehungen
zu anderen Menschen da sind, aus denen aber alle Elemente eigentlich
individueller Natur entfernt sind; Einflüsse, welche indes gegenseitig
ganz anonym ausgeübt werden; Bestimmungen ohne Rücksicht darauf,
wen sie treffen. Die Ursache wie die Wirkung derartiger objektiver
Abhängigkeiten, bei denen das Subjekt als solches frei ist, liegt
in der Auswechselbarkeit der Personen: in dem freiwilligen oder
durch die Struktur des Verhältnisses bewirkten Wechsel der Subjekte
offenbart sich jene Gleichgültigkeit des subjektiven Momentes der Ab-
hängigkeit, die das Gefühl der Freiheit trägt. Ich erinnere an die
Erfahrung, mit der ich dies Kapitel begann: daſs der Wechsel der
Verpflichtungen sehr oft von uns als Freiheit empfunden wird; es ist
dieselbe Verhältnisform zwischen Bindungen und Freiheit, die sich hier
nur in die einzelne Bindung hinein fortsetzt. Ein primitives Beispiel
giebt die charakteristische Differenz des mittelalterlichen Vasallen vom
Unfreien: jener konnte den Herrn wechseln, während dieser unwandel-
bar an einen einzigen gefesselt war. Das bedeutete, selbst wenn das
Maſs der Bindung dem Herrn gegenüber, an sich betrachtet, das gleiche
gewesen wäre, für den einen ein unvergleichlich höheres Maſs von
Selbständigkeit als für den anderen. Nicht die Bindung überhaupt,
sondern die an einen individuell bestimmten Herrn, ist der eigentliche
Gegenpol der Freiheit. Noch das moderne Dienstbotenverhältnis ist
dadurch bezeichnet, daſs die Herrschaft zwar nach den Zeugnissen und
dem persönlichen Eindruck den Dienstboten auswählt, dieser aber zu
einer entsprechenden Wahl seinerseits weder Möglichkeit noch Kriterien
besitzt. Erst in der allerneuesten Zeit hat die Knappheit der Dienst-
boten in den gröſseren Städten ihnen hier und da die Chance gewährt,
angebotene Stellen aus imponderabeln Gründen ablehnen zu können.
Von beiden Seiten wird dies als ein gewaltiger Schritt zur Unabhängig-
keit des Dienstboten empfunden, selbst wenn der schlieſslich an-
genommene Dienst ihn, seinen thatsächlichen Anforderungen nach, nicht
weniger umfänglich als früher bindet. Darum ist es, die gleiche Form
[297] auf ein völlig anderes Gebiet übertragen, doch auch nur die Karikatur
einer prinzipiell richtigen Empfindung, wenn eine wiedertäuferische
Sekte die Vielzahl der angetrauten Frauen und ihren häufigen Wechsel
damit rechtfertigte, daſs grade so die innere Abhängigkeit von dem
weiblichen Prinzip gebrochen würde. Unsere Gesamtlage setzt sich in
jedem Augenblick aus einem Maſs von Bindung und einem Maſs von
Freiheit zusammen — innerhalb der einzelnen Lebensprovinz oft so,
daſs das eine sich mehr an ihrem Inhalt, das andere mehr an ihrer
Form verwirklicht. Die Fesselung, die ein bestimmtes Interesse uns
auferlegt, empfinden wir sogleich durch Freiheit gemildert, wenn wir
sie gleichsam lokal umlagern können, d. h. ohne Herabsetzung des
Abhängigkeitsquantums die sachlichen, idealen oder personalen Instanzen
selbst auswählen können, denen gegenüber dies letztere sich verwirk-
licht. In dem Lohnarbeitertum der Geldwirtschaft kommt eine formal
gleiche Entwicklung auf. Sieht man auf die Härte und Erzwungen-
heit der Arbeit, so scheint es, als wären die Lohnarbeiter nur um-
gekleidete Sklaven. Wir werden nachher sehen, wie die Thatsache,
daſs sie die Sklaven des objektiven Produktionsprozesses sind, als
Übergang zu ihrer Befreiung gedeutet werden kann; die subjektive
Seite davon aber ist, daſs das Dienstverhältnis zu dem einzelnen Unter-
nehmer früheren Arbeitsformen gegenüber ein unvergleichlich viel
lockreres ist. Gewiſs ist der Arbeiter an die Arbeit gefesselt wie der
Bauer an die Scholle, allein die Häufigkeit, mit der die Geldwirtschaft
die Unternehmer austauscht, und die vielfache Möglichkeit der Wahl
und des Wechsels derselben, die die Form des Geldlohnes dem Ar-
beiter gewährt, geben diesem doch eine ganz neue Freiheit innerhalb
seiner Gebundenheit. Der Sklave konnte selbst dann den Herrn nicht
wechseln, wenn er bereit war, sehr viel schlechtere Lebensbedingungen
auf sich zu nehmen — was der Lohnarbeiter in jedem Augenblick
kann; indem so der Druck der unwiderruflichen Abhängigkeit von dem
individuell bestimmten Herrn in Wegfall kommt, ist, bei aller sach-
lichen Bindung, doch der Weg zu einer personalen Freiheit beschritten.
Diese beginnende Freiheit anzuerkennen, darf uns ihre häufige Einfluſs-
losigkeit auf die materielle Lage des Arbeiters nicht verhindern. Denn
hier wie auf andern Gebieten besteht zwischen Freiheit und eudä-
monistischer Hebung keineswegs der notwendige Zusammenhang, den
die Wünsche, die Theorien und die Agitationen ohne weiteres voraus-
zusetzen pflegen. Vor allem wirkt nach dieser Richtung, daſs der
Freiheit des Arbeiters auch eine Freiheit des Arbeitgebers entspricht,
die bei gebundneren Arbeitsformen nicht bestand. Der Sklavenhalter
wie der Gutsherr hat das persönliche Interesse, seine Sklaven oder
[298] seine frohnpflichtigen Bauern in gutem und leistungsfähigem Stande zu
halten: sein Recht über sie wird um seines eignen Vorteils willen zur
Pflicht — was für den Kapitalisten dem Lohnarbeiter gegenüber ent-
weder nicht der Fall ist oder wo es dies doch ist, nicht eingesehen zu
werden pflegt. Die Befreiung des Arbeiters muſs sozusagen auch mit
einer Befreiung des Arbeitgebers, d. h. mit dem Wegfall der Fürsorge,
die der Unfreie genoſs, bezahlt werden. Die Härte oder Unsicherheit
seiner momentanen Lage ist also grade ein Beweis für den Befreiungs-
prozeſs, der mit der Aufhebung der individuell festgelegten Abhängig-
keit beginnt. Freiheit im sozialen Sinne ist, ebenso wie Unfreiheit,
ein Verhältnis zwischen Menschen. Die Entwicklung von dieser zu
jener geht so vor sich, daſs das Verhältnis zunächst aus der Form der
Stabilität und Unveränderlichkeit in die der Labilität und des Personen-
tausches übergeht. Ist Freiheit die Unabhängigkeit von dem Willen
Andrer überhaupt, so beginnt sie mit der Unabhängigkeit von dem
Willen bestimmter Andrer. Nicht abhängig ist der einsame Siedler
im germanischen oder amerikanischen Walde; unabhängig, im positiven
Sinne des Wortes, ist der moderne Groſsstadtmensch, der zwar unzähliger
Lieferanten, Arbeiter und Mitarbeiter bedarf und ohne diese ganz hilflos
wäre, aber mit ihnen nur in absolut sachlicher und nur durch das
Geld vermittelter Verbindung steht, so daſs er nicht von irgend einem
einzelnen als diesem bestimmten abhängt, sondern nur von der objek-
tiven, geldwerten Leistung, die so von ganz beliebigen und wechselnden
Persönlichkeiten getragen werden kann. Indem nun die bloſse Geld-
beziehung den Einzelnen sehr eng an die Gruppe als — sozusagen
abstraktes — Ganzes bindet, und zwar schon, weil gemäſs unseren
früheren Ausführungen das Geld der Repräsentant der abstrakten
Gruppenkräfte ist, wiederholt das Verhältnis des einzelnen Menschen
zu den andern nur dasjenige, das er vermöge des Geldes auch zu den
Dingen hat. Durch die rapide Vermehrung der Warenvorräte einer-
seits, durch die eigentümliche Herabsetzung und Verlust an Betonung,
die die Dinge in der Geldwirtschaft erfahren, andrerseits, wird der
einzelne Gegenstand gleichgültiger, oft fast wertlos. Dagegen be-
hält die ganze Gattung eben dieser Gegenstände nicht nur ihre Be-
deutung, sondern mit steigender Kultur werden wir immer mehr von
den Objekten und von immer mehr Objekten abhängig; so ist, wie uns
schon früher wichtig wurde, die einzelne Stecknadel so gut wie wert-
los, aber ohne Stecknadeln überhaupt kann der moderne Kulturmensch
nicht mehr auskommen. Und nach derselben Norm entwickelt sich
endlich die Bedeutung des Geldes selbst: die ungeheure Verbilligung
des Geldes macht das einzelne Geldquantum immer wertloser und
[299] irrelevanter, aber die Rolle des Geldes überhaupt wird immer mächtiger
und umfassender. In all diesen Erscheinungen werden innerhalb der
Geldwirtschaft die Objekte in ihrer Einzelheit und Individualität für
uns immer gleichgültiger, wesenloser, auswechselbarer, während die
sachliche Funktion, die die ganze Gattung übt, uns immer wichtiger
wird, uns immer abhängiger macht.


Und wenn wir die Bedeutung betrachten, die die Natur als Ganzes
und höchster Allgemeinbegriff für den neuzeitlichen Menschen besitzt —
sowohl im Sinne der abstrakten Gesetzmäſsigkeit wie des metaphysischen
Fühlens der Welt, während er sich gegen die Umgebungseinzelheiten
der Natur unendlich viel fremder und unabhängiger verhält als der
Mensch früherer Epochen — so werden wir als das groſse Schema der
Neuzeit wohl aussprechen können, daſs sie den Menschen immer ab-
hängiger von Ganzheiten und Allheiten und immer unabhängiger von
Einzelheiten macht, wogegen das Spezialistentum des Forschers kein
Einwand ist, da dies uns ja grade zur Herrschaft über die Natur in
Einzelheiten verhilft, ohne daſs die Last ihres Gesamtproblems uns
darum weniger drückte, die vielmehr mit jenen Erleichterungen im
einzelnen erst recht aufgewachsen ist. Dies ist die Verteilungsform,
zu der die unserem Wesen eigene Gesamtproportion von Bindungs- und
Freiheitsquanten jetzt strebt und die auf sehr vielen Gebieten ihren
Träger in der Geldwirtschaft findet.


Und diese Entwicklung reiht sich nun wieder in ein noch all-
gemeineres Schema ein, das für auſserordentlich viele Inhalte und Be-
ziehungen des Menschlichen gilt. In ungeschiedener Einheit des Sach-
lichen und des Persönlichen pflegen diese ursprünglich aufzutreten.
Nicht als ob, wie wir es heute empfinden, die Inhalte des Lebens:
Eigentum und Arbeit, Pflicht und Erkenntnis, soziale Stellung und
Religion — irgend ein Fürsichsein, eine reale oder begriffliche Selb-
ständigkeit besäſsen und dann erst, von der Persönlichkeit aufgenommen,
jene enge und solidarische Verbindung mit ihr eingingen. Vielmehr,
der primäre Zustand ist eine völlige Einheit, eine ungebrochene In-
differenz, die überhaupt noch jenseits des Gegensatzes persönlicher und
sachlicher Seiten des Lebens steht. So weiſs z. B. das Vorstellungs-
leben auf seinen niedrigen Stufen gar nicht zwischen objektiver, logischer
Wahrheit und subjektiven, nur psychologischen Gebilden zu unter-
scheiden: dem Kinde und dem Naturmenschen gilt das psychologische
Gebilde des Augenblicks, das Phantasma, der subjektiv erzeugte Ein-
druck ohne weiteres als Wirklichkeit; das Wort und die Sache, das
Symbol und das Symbolisierte, der Name und die Person fallen ihm
zusammen, wie unzählige Thatsachen der Ethnologie und der Kinder-
[300] psychologie beweisen. Und zwar ist nicht dies der Vorgang, daſs zwei
an sich getrennte Reihen irrtümlich verschmelzen und sich verwirren;
sondern die Zweiheit besteht überhaupt noch nicht, weder abstrakt noch
in thatsächlicher Anwendung, die Vorstellungsinhalte treten von vorn-
herein als völlig einheitliche Gebilde auf, deren Einheit nicht in einem
Zusammengehen jener Gegensätze, sondern in der Unberührtheit durch
den Gegensatz überhaupt besteht. So entwickeln sich Lebensinhalte,
wie die vorhin genannten, unmittelbar in personaler Form; die Be-
tonung des Ich einerseits, der Sache andrerseits geht erst als Erfolg
eines langen, niemals ganz abzuschlieſsenden Differenzierungsprozesses
aus der ursprünglichen naiven Einheitsform hervor. Dieses Heraus-
bilden der Persönlichkeit aus dem Indifferenzzustande der Lebens-
inhalte, der nach der andern Seite hin die Objektivität der Dinge
aus sich hervortreibt, ist nun zugleich der Entstehungsprozeſs der
Freiheit. Was wir Freiheit nennen, steht mit dem Prinzip der
Persönlichkeit im engsten Zusammenhang, in so engem, daſs die
Moralphilosophie oft genug beide Begriffe als identisch proklamiert
hat. Jene Einheit psychischer Elemente, jenes Zusammengeführtsein
ihrer wie in einem Punkt, jene feste Umschriebenheit und Unver-
wechselbarkeit des Wesens, die wir eben Persönlichkeit nennen — be-
deutet doch die Unabhängigkeit und den Abschluſs allem Äuſseren
gegenüber, die Entwicklung ausschlieſslich nach den Gesetzen des
eigenen Wesens, die wir Freiheit nennen. In beiden Begriffen liegt
gleichmäſsig die Betonung eines letzten und tiefsten Punktes in unserem
Wesen, der sich allem Dinglichen, Äuſseren, Sinnlichen — sowohl auſser-
halb wie innerhalb unserer eigenen Natur — gegenüberstellt, beides
sind nur zwei Ausdrücke für die eine Thatsache, daſs hier dem natür-
lichen, kontinuierlichen, sachlich bestimmten Sein ein Gegenpart ent-
standen ist, der seine Besonderung nicht nur in dem Anspruch auf eine
Ausnahmestellung diesen gegenüber, sondern ebenso in dem Ringen
nach einer Versöhnung mit ihnen zeigt. Wenn nun die Vorstellung der
Persönlichkeit, als Gegenstück und Korrelat zu der der Sachlich-
keit, im gleichen Maſse wie diese erwachsen muſs, so wird nun aus
diesem Zusammenhang klar, daſs eine strengere Ausbildung der Sach-
lichkeitsbegriffe mit einer ebensolchen der individuellen Freiheit Hand
in Hand geht. So sehen wir die eigentümliche Parallelbewegung
der letzten drei Jahrhunderte: daſs einerseits die Naturgesetzlichkeit,
die sachliche Ordnung der Dinge, die objektive Notwendigkeit des
Geschehens immer klarer und exakter hervortritt, und auf der andern
Seite die Betonung der unabhängigen Individualität, der persönlichen
Freiheit, des Fürsichseins gegenüber allen äuſseren und Naturgewalten
[301] eine immer schärfere und kräftigere wird. Auch die ästhetische Be-
wegung der neueren Zeit setzt mit dem gleichen Doppelcharakter ein:
der Naturalismus der van Eycks und des Quattrocento ist zugleich
ein Herausarbeiten des Individuellsten in den Erscheinungen, das
gleichzeitige Auftauchen der Satire, der Biographie, des Dramas in
ihren ersten Formen trägt ebenso naturalistischen Stil, wie es auf das
Individuum als solches angelegt ist — das geschah, beiläufig bemerkt,
in der Zeit, in der die Geldwirtschaft ihre sozialen Folgen merkbar
zu entfalten begann. Hat doch auch schon der Höhepunkt des Griechen-
tums ein recht objektives, dem naturgesetzlichen nahes Bild der Welt
als die eine Seite seiner Lebensanschauung hervorgebracht, deren andere
Seite die volle innere Freiheit und Aufsichselbst-Gestelltheit der Per-
sönlichkeit bildete; und soweit bei den Griechen eine Unvollkommen-
heit in der theoretischen Ausbildung des Freiheits- und Ichbegriffes
bestand, entsprach ihr das gleiche Manko in der Strenge der natur-
gesetzlichen Theorien. Welche Schwierigkeiten auch die Metaphysik
in dem Verhältnis zwischen der objektiven Bestimmtheit der Dinge
und der subjektiven Freiheit des Individuums finde: als Kulturinhalte
gehen ihre Ausbildungen einander parallel und die Vertiefungen des
einen scheinen, um das Gleichgewicht des inneren Lebens zu retten,
die des anderen zu fordern.


Und hier mündet diese allgemeine Betrachtung in unser engeres
Gebiet ein. Auch die Wirtschaft beginnt mit einer Ungeschiedenheit
der personalen und der sachlichen Seite der Leistung. Die Indifferenz
spaltet sich erst allmählich zum Gegensatz, aus der Produktion, dem
Produkte, dem Umsatz tritt das personale Element mehr und mehr
zurück. Dieser Prozeſs aber entbindet die individuelle Freiheit. Wie
wir eben sahen, daſs diese sich in dem Maſse entfaltet, in dem die
Natur für uns objektiver, sachlicher, eigen-gesetzmäſsiger wird —
so steigert sie sich mit der Objektivierung und Entpersonalisierung des
wirtschaftlichen Kosmos. So wenig in der wirtschaftlichen Einsamkeit
einer unsozialen Existenz das positive Gefühl der individuellen Un-
abhängigkeit erwächst, so wenig in einem Weltbild, das von der Ge-
setzmäſsigkeit und der strengen Objektivität der Natur noch nichts
weiſs; erst an diesem Gegensatz kommt, wie an jenem, das Gefühl
einer eigentümlichen Kraft und eines eigentümlichen Wertes des Für-
sichseins zustande. Ja auch für das Verhältnis zur Natur scheint es,
als ob in der Isolierung der Primitivwirtschaft — also in der Periode
der Unkenntnis der Naturgesetzlichkeit im heutigen Sinne — eine um
so stärkere Unfreiheit durch die abergläubische Auffassung der Natur
geherrscht habe. Erst indem die Wirtschaft sich zu ihrer vollen Aus-
[302] dehnung, Komplikation, innerlichen Wechselwirksamkeiten entwickelt,
entsteht jene Abhängigkeit der Menschen untereinander, die durch die
Ausschaltung des persönlichen Elementes den Einzelnen stärker auf
sich zurückweist und seine Freiheit zu positiverem Bewuſstsein bringt,
als die gänzliche Beziehungslosigkeit es vermöchte. Das Geld ist der
absolut geeignete Träger eines derartigen Verhältnisses; denn es schafft
zwar Beziehungen zwischen Menschen, aber es läſst die Menschen
auſserhalb derselben, es ist das genaue Äquivalent für sachliche
Leistungen, aber ein sehr inadäquates für das Individuelle und Perso-
nale in ihnen: die Enge der sachlichen Abhängigkeiten, die es stiftet,
ist für das unterschiedsempfindliche Bewuſstsein der Hintergrund, von
dem sich die aus ihnen herausdifferenzierte Persönlichkeit und ihre
Freiheit erst deutlich abhebt.


[[303]]

II.


Unter den Bewegungen des Lebens, insbesondere soweit sie sich
an äuſsere Gegenstände heften, pflegt man entweder das Erwerben oder
das Genieſsen der letzteren zu verstehen. Das Besitzen ihrer erscheint
dagegen nicht als Bewegung, sondern als ein ruhender, gleichsam sub-
stanzieller Zustand, zu jenen anderen sich verhaltend, wie das Sein
zum Werden. Im Gegensatz dazu glaube ich, daſs man auch das
Besitzen als ein Thun bezeichnen muſs, wenn man die ganze Tiefe
und Breite seiner Bedeutung ergreifen will. Es ist eine falsche Ge-
wöhnung, den Besitz als etwas passiv Hingenommenes zu betrachten,
als das unbedingt nachgiebige Objekt, das, soweit es eben Besitz
ist, keine Bethätigung unsererseits mehr erfordert. Nur in das Reich
des Ethischen, das heiſst der frommen Wünsche, hat sich jene im
Reiche des Seins verkannte Thatsache geflüchtet, wenn wir es als Er-
mahnung
hören, daſs wir erwerben sollen, was wir besitzen wollen,
daſs jeder Besitz zugleich Pflicht sei, daſs man mit seinem Pfunde
wuchern solle u. s. w. Höchstens giebt man zu, daſs man mit dem
Besitze weiterhin etwas anzufangen habe, allein an und für sich sei
er etwas Ruhendes, sei er der Endpunkt, vielleicht auch der Ausgangs-
punkt einer Aktion, aber nicht selbst Aktion. Sieht man näher zu,
so zeigt sich dieser passivistische Eigentumsbegriff als eine Fiktion;
was in gewissen primitiveren Verhältnissen besonders nachdrücklich
hervortritt. Im alten Nord-Peru und ebenso im alten Mexiko war die
Bearbeitung der — jährlich aufgeteilten — Felder eine gemeinsame;
der Ertrag aber war individueller Besitz. Nicht nur aber durfte nie-
mand seinen Anteil verkaufen oder verschenken, sondern, wenn er frei-
willig verreiste und nicht zur Bebauung seines Feldes zurückkehrte, so
ging er seines Anteils überhaupt verlustig. Ganz ebenso bedeutete in
den alten deutschen Marken der Besitz eines Stückes Land für sich
selbst noch nicht, daſs man auch wirklicher Markgenosse war: dazu
muſste man den Besitz auch wirklich selbst bebauen, muſste, wie es
in den Weistümern heiſst, dort selbst Wasser und Weide genieſsen und
[304] seinen eignen Rauch haben. Der Besitz, der nicht irgend ein Thun ist,
ist eine bloſse Abstraktion: der Besitz als der Indifferenzpunkt zwischen
der Bewegung, die zu ihm hin, und der Bewegung, die über ihn fort-
führt, schrumpft auf Null zusammen; jener ruhende Eigentumsbegriff
ist nichts als das in latenten Zustand übergeführte aktive Genieſsen
oder Behandeln des Objektes und die Garantie dafür, daſs man es
jederzeit genieſsen oder etwas mit ihm thun kann. Das Kind will
jeden Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit erregt, „haben“, man soll
ihn ihm „schenken“. Das bedeutet aber nur, daſs es im Augenblick
etwas damit anfangen, oft nur es genau besehen und betasten will.
Ebenso wenig hat der Eigentumsbegriff niederer Völker die Dauer, ja, die
prinzipielle Ewigkeit des unsrigen zum Kennzeichen, er enthält nur
eine momentane Beziehung von Genuſs und Aktion mit dem Dinge,
das oft im nächsten Augenblick mit der gröſsten Gleichgültigkeit ver-
schenkt oder verloren wird. So ist der Besitz in seiner ursprünglichen
Form vielmehr labil als stabil. Jede höhere Besitzform entwickelt
sich daraus als bloſs graduelle Steigerung der Dauer, Sicherheit, Stetig-
keit der Beziehung zu dem Dinge, die bloſse Momentaneität derselben
verwandelt sich in eine beharrende Möglichkeit, in jedem Augenblick
auf sie zurückzugreifen, ohne daſs doch der Inhalt und die Reali-
sierung derselben anderes oder mehr als eine Reihenfolge einzelner
Vornahmen oder Fruktifizierungen bedeutete. Die Vorstellung, als sei
der Besitz etwas qualitativ Neues und Substanzielles gegenüber den
einzelnen Verfügungsakten über die Dinge, gehört in jene Kategorie
typischer Irrtümer, die z. B. in der Geschichte des Kausalitätsbegriffes
so wichtig geworden ist. Nachdem Hume darauf aufmerksam gemacht
hatte, daſs jene sachlich notwendige Verbindung, die wir als Ursache
und Wirkung bezeichnen, niemals konstatierbar sei, daſs das erfahr-
bare Wirkliche daran vielmehr nur die zeitliche Folge zweier Ereig-
nisse sei, schien nachher Kant die Festigkeit unseres Weltbildes durch
den Nachweis zu retten, daſs die bloſse sinnliche Wahrnehmung einer
zeitlichen Folge noch gar nicht Erfahrung sei, diese vielmehr auch in
dem Sinn des Empiristen eine wirkliche Objektivität und Notwendig-
keit des kausalen Erfolgens voraussetze. Mit anderen Worten, während
dort die Erkenntnis auf bloſs subjektive und einzelne Eindrücke be-
schränkt werden sollte, wurde hier die objektive Gültigkeit unseres
Wissens nachgewiesen, die sich ganz über den einzelnen Fall und
über das einzelne vorstellende Subjekt erhebt — grade wie sich
das Eigentum jenseits der einzelnen Nutznieſsung stellt. Es handelt
sich hier um eine Anwendung eben derselben Kategorie, durch die
wir im ersten Kapitel das Wesen des objektiven Wertes festzu-
[305] stellen suchten. Oberhalb der einzelnen Inhalte unseres Bewuſstseins:
der Vorstellungen, Willens-Impulse, Gefühle, steht ein Bezirk von
Objekten, mit deren Bewuſstsein der Gedanke mitschwebt, sie hätten
eine dauernde, sachliche, jenseits aller Singularität und Zufällig-
keit ihres Vorgestelltwerdens stehende Gültigkeit. Die beharrende
Substanz der Dinge und die gesetzmäſsige Ordnung ihrer Schicksale,
der beständige Charakter der Menschen und die Normen der Sittlich-
keit, die Forderungen des Rechtes und der religiöse Sinn des Welt-
ganzen — alles dies hat eine sozusagen ideelle Existenz und Gültig-
keit, die sprachlich nicht anders zu bezeichnen ist als durch die Un-
abhängigkeit von den einzelnen Vorgängen, in denen jene Substanz
und Gesetzlichkeit sich darstellt oder in denen jenen Forderungen und
Normen genügt oder nicht genügt wird. Wie wir den beharrenden
Charakter einer Person von den einzelnen Handlungen unterscheiden,
in denen er sich ausprägt oder die ihm auch widersprechen, so besteht
etwa der sittliche Imperativ in ganz ungebrochener Würde, ob ihm
im Empirischen gehorcht wird oder nicht; wie der geometrische Satz
gilt, unabhängig von den einzelnen Figuren, die ihn genau oder un-
genau repräsentieren, so bestehen die Stoffe und Kräfte des Weltganzen,
gleichviel welche Teile davon das menschliche Vorstellen abwechselnd
für sich herauslöst. An jener früheren Stelle nun sahen wir, daſs
diese Kategorie, die weder als Sein noch als Vorgestelltwerden, sondern
als ein Eigenartiges jenseits dieser gedacht werden muſs — aus sich
selbst heraustretend eine Zweiheit von Bedeutungen gewinnt: sie ver-
festigt sich einerseits zur Metaphysik, indem das übersinguläre Moment
ihrer als transszendente, absolute Bestimmung des Daseins erscheint;
sie dient andrerseits als Regel oder Typus der einzelnen empirischen
Vorkommnisse, gleichsam als Garantie dafür, daſs diese immer in einer
bestimmten Weise verlaufen.


Gewiſs muſs die Erkenntnistheorie das ewige Naturgesetz von
der zeitlichen Summe seiner Verwirklichungen unterscheiden; allein
ich sehe nicht ein, was es innerhalb der Praxis des Erkennens
noch auſser der Bestimmung jeder überhaupt je eintretenden einzelnen
Verwirklichung leisten soll. Gewiſs ist der objektive Gegenstand im
gleichen Sinn zu unterscheiden von den subjektiven Wahrnehmungen,
in denen er sich darstellt; allein seine Bedeutung besteht doch nur
darin, jede überhaupt mögliche Wahrnehmung seiner eindeutig zu be-
stimmen; gewiſs steht die sittliche Norm jenseits der einzelnen Hand-
lungen, auf die sie positive oder negative Anwendung findet, aber sie
hat doch nur den Sinn, jeder dergleichen Handlung ihren Wert zu
bestimmen, und wenn es überhaupt keine Einzelhandlungen gäbe noch
Simmel, Philosophie des Geldes. 20
[306] geben könnte, mit denen sie sich berührt, so würde ihre reale Be-
deutung gleich Null sein. Kurz, wovon die Kategorie jener Substanzen
und Werte sich allerdings generell unterscheidet, ist jeder Einzelfall
als solcher und die noch so groſse relative Summe der Einzelfälle; ihre
absolute Summe aber ist ihr restloses Äquivalent, sie sind, von
ihrem metaphysischen Sinne abgesehen, nur der abgekürzte Ausdruck
für die Totalität der einzelnen Ereignisse, Vorstellungen, Aktionen.
Und daran darf man sich nicht durch die Thatsache irre machen lassen,
daſs allerdings keine empirische Reihe von Einzelheiten — als welche
immer unvollständig und relativ ist — die Inhalte jener Kategorien
deckt oder erschöpft.


Dies ist nun die Formel, in die der Eigentumsbegriff sich ein-
stellt. Gewiſs ist das Eigentum begrifflich und juristisch von den ein-
zelnen Rechten und Nutznieſsungen an der Sache zu unterscheiden.
Und was jemand mit seinem Eigentum vornehmen wird, läſst sich nie-
mals von vornherein so bestimmen, daſs man sagen könnte: diese
Summe von Aktion und Genuſs decke sich mit seinem Eigentum an
der Sache. Allein die Gesamtheit der überhaupt möglichen und je
wirklichen Benutzung deckt sich doch damit. So sehr sich die iura
in re aliena von dem Eigentum unterscheiden mögen, so ist doch in-
haltlich zwischen beiden nur ein gradueller Unterschied: in etwas
Anderem als einer Summe von Rechten über das Objekt kann kein
Eigentum bestehen; selbst ein so einheitlich und geschlossen erscheinen-
der Besitz wie der römische Prinzipat ist rechtshistorisch der Eintritt
in eine Reihe auf verschiedene Weise erworbener Ämter, grade wie, daſs
der Gutsherr den unterthänigen Bauern als „Eigentum“ besaſs, doch
nur die Summiertheit einzelner, allmählich angewachsener Rechte über
ihn bedeutete. Nur daſs das Eigentum nicht eine relative, sondern
prinzipiell die absolute Summe der Rechte an der Sache ausdrückt
und garantiert. Eben deshalb hat das Eigentum als Wirklichkeit, wenn
auch nicht als begriffliche Abstraktion, die Aktion des Eigentümers
zum notwendigen Korrelat. Nur in der ideellen Nachwirkung der
Prozesse, die zu ihm führten, und in der ideellen Vorwegnahme künf-
tigen Genieſsens oder Verwertens besteht der ruhende Besitz; zieht
man diese Erscheinungen, die man fälschlich für nur begleitende an-
zusehen pflegt, von ihm ab, so bleibt nichts von ihm übrig.


Nun aber sind die wechselnden Arten dieser subjektiven Bewegung,
die Besitz heiſst, in irgend einem Maſse von der Eigenart des Objekts
abhängig, an dem sie sich vollzieht; das Geld aber ist dasjenige Be-
sitzobjekt, bei dem diese Abhängigkeit die geringste ist. Erwerb
und Fruktifizierung von Besitzobjekten, die nicht Geld sind, ist von
[307] bestimmten Kräften, spezifischen Eigenschaften und Bemühungen ab-
hängig. Daraus ergiebt sich aber unmittelbar, daſs umgekehrt auch
der eigenartige Besitz auf die Qualität und Bethätigung des Besitzers
Einfluſs üben muſs. Wer ein Landgut oder eine Fabrik besitzt, so-
weit er den Betrieb nicht Anderen überläſst und ausschlieſslich Renten-
empfänger ist; wer als zentrales Besitzstück eine Gemäldegalerie oder
einen Rennstall besitzt, der ist in seinem Sein nicht mehr vollkommen
frei; und das bedeutet nicht nur, daſs seine Zeit in einem bestimmten
Maſs und Art beansprucht ist, sondern vor allem, daſs eine bestimmte
Qualifikation seiner dazu vorausgesetzt wird. Der spezifische Sachbesitz
enthält gleichsam eine rückwärtsgewendete Prädestination; der Besitz von
Verschiedenem ist ein verschiedenes Besitzen, sobald nicht nur der juris-
tische Sinn des Eigentums in Frage steht. Der Besitz eines besonders
charakterisierten Objektes, der mehr als jenen abstrakten Eigentumsbegriff
bedeuten will, ist nichts, was jeder Persönlichkeit ohne weiteres und
wie von auſsen angeheftet werden könnte; er besteht vielmehr aus
einer Wechselwirkung zwischen den Kräften oder Qualitäten des Sub-
jekts und denen des Objekts, und diese Wechselwirkung kann nur bei
einem bestimmten Verhältnis beider, das heiſst, bei einer bestimmten
Qualifikation auch des Subjektes entstehen. Es ist nur der Revers
dieser Überlegung, daſs die Wirkung des Besitzes auf den Besitzer
diesen bestimmt. Wie der Besitz besonderer Objekte umsomehr ein
echter und aktiver ist, je entschiedener und unzweideutiger das
Subjekt dafür veranlagt ist, so umgekehrt: je gründlicher und
eindringlicher der Besitz wirklich besessen, das heiſst fruchtbar ge-
macht und genossen wird, um so entschiednere und determinierendere
Wirkungen wird er auf das innere und das äuſsere Wesen des Sub-
jekts ausüben. So geht eine Kette vom Sein zum Haben und vom
Haben zurück zum Sein. Die Marxische Frage, ob das Bewuſstsein
der Menschen ihr Sein oder ihr Sein ihr Bewuſstsein bestimme, findet
für ein Teilgebiet hier ihre Antwort: denn unter das Sein im Sinne
von Marx gehört das Haben der Menschen. Diese eigentümliche Ver-
bindung aber, vermittels deren der Mensch durch eine spezifische An-
lage auf einen bestimmten Besitz hingewiesen, durch diesen Besitz
aber andrerseits in seinem Wesen bestimmt wird, ist straffer oder
loser je nach dem Objekt, das ihren Drehpunkt bildet. Bei Gegen-
ständen von rein ästhetischer Bedeutung, ökonomischen Werten von
sehr arbeitsteiliger Bestimmtheit, Objekten von schwieriger Zugängig-
keit und Verwertbarkeit wird jene Verbindung eine sehr stringente
sein, und sie wird sich durch die Skala immer geringerer spezifischer
20*
[308] Bestimmtheit der Objekte hindurch mehr und mehr lockern, bis sie
schlieſslich beim Gelde ganz auseinanderzufallen scheint.


Die Unabhängigkeit des Seins vom Haben und des Habens vom
Sein, die das Geld zuwege bringt, zeigt sich zunächst an seinem Er-
werb. Denn vermöge des abstrakten Wesens des Geldes münden alle
möglichen Anlagen und Bethätigungen in ihm. Wie alle Wege nach
Rom führen — indem Rom als die oberhalb jedes lokalen Interesses
gelegene und im Hintergrunde jeder Einzelaktion stehende Instanz ge-
dacht wird — so führen alle ökonomischen Wege auf Geld; es ist
mindestens das immer gleiche Nebenprodukt aller noch so ungleichen
Produktionen. Das Geld hat die Eigentümlichkeit, daſs es durch die
Tüchtigkeit in der Behandlung anderer Dinge erworben wird. Viel
Bodenfrüchte werden durch die Tüchtigkeit des Landwirts, viel Stiefel
durch den Fleiſs des Schuhmachers gewonnen, viel Geld aber durch
die Tüchtigkeit in jedweder besonderen Thätigkeit. Zu seinem
Gewinn bedarf es deshalb nicht jener speziellen Anlagen, die den
Erwerb anderer Objekte sonst an das Sein des Subjekts knüpft. Es
giebt allerdings Persönlichkeiten, die für die Behandlung der Geldseite
alles Verkehrs besondere Begabung zeigen; allein da der Erfolg des
wirtschaftlichen Verkehrs überhaupt sich jetzt in Geld ausdrückt, so
wird sehr häufig allgemeine kaufmännische Beanlagung sich als
Talent zum Geldverdienen darstellen. Umgekehrt aber wird die
oben vorgetragene Deutung grade dadurch bestärkt, daſs gewisse
Persönlichkeiten durch ihren Mangel an Verständnis für alles Geld-
wesen auffallen. Daſs derartige Personen sich so charakteristisch ab-
heben — ganz anders als solche, die etwa kein Talent für Landwirt-
schaft oder für litterarische oder für technische Aufgaben haben —
beweist grade, daſs der Gewinn von Geld an einen viel weiteren Kreis
von Qualitäten appelliert als der jedes anderen Wertes.


Andrerseits mag sich eine entsprechende Ausnahme auf den
höchsten Höhen der Geldwirtschaft beobachten lassen. An den Trans-
aktionen des groſsen Finanziers oder Spekulanten kann der Kenner
vielleicht die „Hand“ der bestimmten Persönlichkeit erkennen, einen
eigenen Stil und Rhythmus, der die Unternehmungen des einen von
denen des anderen charakteristisch unterscheidet. Allein hier kommt
erstens in Betracht, was noch an anderen Erscheinungen nachzuweisen
sein wird, daſs der bloſse Quantitätscharakter des Geldes bei auſser-
ordentlich hohen Summen allerdings einer Nüance von qualitativer
Eigenheit Platz macht. Die Indifferenz, Abgeschliffenheit und Bana-
lität, die das Los des fortwährend kursierenden Geldes bilden, reichen
nicht in gleichem Maſse an die seltenen und auffälligen Konzentrierungen
[309] ungeheurer Geldmittel in einer einzigen Hand heran. Als das Wesent-
liche kommt hier hinzu, daſs das Geld überhaupt in spezifischen „Geld-
geschäften“ ein ganz besonderes Wesen annimmt, das heiſst, wenn es
nicht als Tauschmittel in Bezug auf andere Objekte, sondern als zen-
traler Inhalt, als für jetzt nicht über sich hinausweisendes Objekt der
Transaktion fungiert. In dem reinen zweiseitigen Finanzgeschäft ist
das Geld nicht nur in dem Sinne Selbstzweck, daſs es ein zu einem
solchen ausgewachsenes Mittel wäre, sondern es ist von vornherein das
auf nichts anderes hinweisende Interessenzentrum, das also auch ganz
eigene Normen ausbildet, gleichsam ganz autochthone Qualitäten ent-
faltet und eine nur von diesen abhängige Technik erzeugt. Unter
diesen Umständen, wo es wirklich eine eigene Färbung und eigentüm-
liche Qualifikation besitzt, kann sich in der Gebarung mit ihm viel
eher eine Persönlichkeit ausdrücken, als wenn es das in sich farblose
Mittel zu schlieſslich anders gearteten Zwecken ist. Vor allem: es ge-
langt in diesem Falle, wie erwähnt, zu einer ganz eigenartigen und
thatsächlich sehr ausgebildeten Technik; und allenthalben ermöglicht
nur eine solche den individuellen Stil der Persönlichkeit. Nur wo die
Erscheinungen einer bestimmten Kategorie in solcher Fülle und inneren
Abgeschlossenheit auftreten, daſs eine besondere Technik zu ihrer Be-
wältigung erwächst, wird das Material eben durch diese so geschmeidig
und bildsam, daſs der Einzelne in der Handhabung desselben einen
eigenen Stil zum Ausdruck bringen kann.


Die besonderen Bedingungen dieser Fälle, in denen zwischen dem
Geld und der Persönlichkeit ein spezifisches Verhältnis aufwächst,
lassen nicht zu, dieselben als Widerlegungen seiner behaupteten Funktion:
Haben und Sein von einander zu trennen — aufzufassen. Diese Funk-
tion stellt sich nun, insbesondere von der Seite der Verwendung her,
noch folgendermaſsen dar. Wir hatten gesehen: was das Eigentum
von der momentanen Nutznieſsung unterscheidet, ist die Garantie da-
für, daſs die Nutznieſsung in jedem Augenblick und nach jeder Rich-
tung hin erfolgen kann. Die Thatsache des Eigentums einer Sache
ist gleich der vollständigen Summe alles Benutzens und Genieſsens
ihrer. Die Form, in der diese Thatsache in jedem einzelnen Augen-
blick uns gegenwärtig wird, ist eben die Gewährleistung aller künf-
tigen Nutznieſsungen, die Sicherheit, daſs kein Anderer ohne den Willen
des Eigentümers dieses Objekt wird benutzen und genieſsen können.
Solche Sicherheit nun wird in einem vorrechtlichen Zustande — ebenso
natürlich in denjenigen Sphären kultivierter Zustände, die keiner
direkten rechtlichen Regelung unterliegen — nur durch die Kraft
des Eigentümers, sein Eigentum zu schützen, gegeben. Sobald diese
[310] erlahmt, kann er Andere nicht mehr von dem Genuſs seines bis-
herigen Eigentums ausschlieſsen, und dieses wird ohne weiteres an
einen Anderen übergehen und ihm so lange verbleiben, wie seine Kraft
ausreicht, ihm die Ausschlieſslichkeit der Nutzungen des Objekts zu
garantieren. Im rechtlichen Zustande bedarf es dieser persönlichen
Kraft nicht mehr, indem die Gesamtheit dem Eigentümer den dauern-
den Besitz seines Eigentums und die Ausschlieſsung aller Anderen
davon sichert. Eigentum, so könnte man in diesem Falle sagen, sei
die sozial garantierte Potenzialität der vollständigen Nutznieſsungen
eines Objekts. Dieser Eigentumsbegriff nun erfährt gewissermaſsen
eine Steigerung, sobald er sich am Gelde verwirklicht. Denn indem
jemand Geld besitzt, ist ihm durch die Verfassung des Gemeinwesens
nicht nur der Besitz desselben, sondern eben damit der Besitz sehr
vieler anderer Dinge zugesichert. Wenn jedes Eigentum an einer
Sache nur die Möglichkeit derjenigen bestimmten Nutznieſsung be-
deutet, die die Natur dieser Sache gestattet, so bedeutet Eigentum an
Geld die Möglichkeit der Nutznieſsung unbestimmt vieler Sachen. In
Bezug auf alles andere kann die öffentliche Ordnung dem Besitzer
nichts anderes gewährleisten, als was die besondere Art des Objekts
mit sich bringt: dem Landeigentümer, daſs niemand auſser ihm von
seinem Felde Früchte gewinnen darf, daſs er allein es bebauen oder
brachliegen lassen darf, dem Waldbesitzer, daſs er das Holz schlagen
und das Wild jagen darf u. s. w.; indem sie aber Geld prägt, garan-
tiert sie damit dem Besitzer desselben, daſs er für sein Geld Getreide,
Holz, Wild u. s. w. sich aneignen kann. Das Geld erzeugt so eine
höhere Potenz des allgemeinen Eigentumsbegriffes; eine solche, in der
schon durch die Rechtsverfassung der spezifische Charakter jedes
sonstigen Sachbesitzes aufgelöst und das geldbesitzende Individuum
einer Unendlichkeit von Objekten gegenübergestellt wird, deren Ge-
nuſs ihm gleichmäſsig durch die öffentliche Ordnung garantiert ist: es
bestimmt also von sich aus nicht seine weitere Ausnutzung und Frukti-
fizierung, wie einseitig bestimmte Objekte es thun. Vom Geldbesitz
gilt absolut nicht, was man von Staaten gesagt hat: daſs sie nur durch
dieselben Mittel erhalten werden, durch die sie gegründet sind — was
doch von so vielen anderen Besitzen, namentlich geistigen, aber auch
sogar von vielfachem durch Geld erworbenem Besitz gilt, der ausschlieſs-
lich durch dasselbe Interesse an der Sache erhalten werden kann, das
zu seinem Erwerbe führte. Die völlige Unabhängigkeit des Geldes von
seiner Genesis, sein eminent unhistorischer Charakter spiegelt sich
nach vorwärts in der absoluten Unbestimmtheit seiner Verwendung.
Durch die eine, allein mögliche Art verwendet und genossen zu werden,
[311] übt jeder sonstige Gegenstand eine Sonderwirkung auf den Besitzer
aus; dem Gelde fehlt diese insoweit, als es eben die Brücke zu
einem ganz unbegrenzten Kreis subjektiver Reaktionen bildet. Darum
empfinden wir als ganz unbegründet und verschroben eine Vorstellung
ihres Verbundenseins, wie sie das kirchliche Zinsverbot erzeugte: ein
Kaufmann, sogar noch im 16. Jahrhundert, sah es zwar für eine Sünde
an, mit eigenem Gelde zu wuchern, aber nicht, es mit fremdem, ge-
borgtem zu thun. Dieser Unterschied scheint allerdings nur dann
möglich zu sein, wenn es überhaupt eine innere ethische Beziehung
zwischen dem Geld und der Persönlichkeit giebt. Aber die Unmög-
lichkeit, ihn nachzuempfinden, beweist den Mangel dieser Beziehung.
Und wo eine solche dennoch stattfindet, da knüpft sie sich eben nicht
an das Geld überhaupt, sondern nur an Unterschiede seiner Quantität.
Gewiſs wird die Wirkung auch anderer Besitztümer auf den Besitzer
und seine Wirkung auf jene eine verschiedene sein je nach ihrem in
Frage kommenden Quantum; z. B. beim Grund und Boden der Unter-
schied zwischen bäuerlichem und Groſs-Grundbesitz. Es bleibt aber
selbst hier eine gewisse Gleichheit der Interessen und erforderten Be-
anlagung, durch welche sich die Qualität des Besitzes als das Band
zwischen dem Haben und dem Sein des Besitzers erweist. Wo aber
zwischen dem Menschen und dem Geld besitz eine bestimmende Ver-
bindung besteht, da ist es eben die reine Quantität des Geldes, die
als charakteristische Ursache oder Folge auftritt; während bei anderen
Besitzen grade die bloſse Qualität schon mit gewissen personalen Ur-
sachen oder Folgen verbunden zu sein pflegt. So giebt etwa erst der
Besitz eines ganz enormen Geldvermögens dem Leben von sich aus eine
bestimmende Richtung, der sich der Reiche allerdings schwer entziehen
kann. Es sind nur ganz spärliche und diffizile Erscheinungen, die sonst
die Persönlichkeit in einem unmittelbaren Verhältnis zum Gelde zeigen.
Man pflegt z. B. zu sagen, in jedem Menschen stecke ein Geiziger und
ein Verschwender; das bedeutet, daſs von der rein durchschnittlichen Art,
mit der ein Kulturkreis sein Einkommen verwendet, jedes Individuum
sowohl nach oben wie nach unten abweicht; fast unvermeidlich aller-
dings muſs es dem Einzelnen von seinem subjektiven Empfinden der
Werte aus scheinen, als ob jeder Andere für bestimmte Dinge zu viel
oder zu wenig ausgäbe. Der auf der Hand liegende Grund: die Ver-
schiedenheit in der Schätzung der konkreten, mit Geld zu bezahlenden
Dinge, ist nicht der einzige; neben ihm steht vielmehr die individuelle
Art, wie sich der Einzelne zum Gelde als solchem stellt: ob jemand
leicht ein erheblicheres Geld auf einmal aufwendet oder ob er vieler-
lei kleinere Ausgaben zu machen vorzieht; ob der Gewinn einer
[312] gröſseren Summe ihn zur Verschwendung oder grade zu doppelter
Sparsamkeit anregt; ob er beim Geldausgeben leicht auf die schiefe
Ebene gerät und jede Ausgabe die nächste psychologisch erleichtert,
oder ob jede gleichsam eine innere Obstruktion hinterläſst, so daſs
selbst die gerechtfertigte Ausgabe jetzt nur zögernd erfolgt. Das alles
sind individuelle Differenzen, die in die Tiefen der Persönlichkeit
hinabreichen, aber erst innerhalb der Geldwirtschaft so prägnant oder
überhaupt in die Erscheinung treten. Indes ist doch auch hier das
Material für diese Äuſserung die bloſse Quantität; diese ganzen, für
das Individuum so bezeichnenden Unterschiede der Geldgebarung
kommen doch auf solche des Mehr oder Weniger hinaus, ganz im
Gegensatz zu den Unterschieden zwischen den Persönlichkeiten, die
sich in ihrem sonstigen Verfahren mit Dingen und Menschen finden.
Im allgemeinen wird es also dabei bleiben, daſs jeder andere Besitz
viel bestimmtere Forderungen an das Individuum stellt und viel be-
stimmtere Wirkungen auf dasselbe ausübt, somit als eine Determination
oder Fesselung desselben erscheint; erst der Geldbesitz giebt, wenigstens
unterhalb einer sehr hoch gesteckten und sehr selten erreichten Grenze,
nach beiden Seiten hin volle Freiheit.


Darum hat auch erst die Geldwirtschaft die Herausbildung der-
jenigen Berufsklassen ermöglicht, deren Thätigkeit sich inhaltlich ganz
jenseits jeder wirtschaftlichen Beziehung stellt — die der spezifisch
geistigen Thätigkeiten, der Lehrer und Litteraten, der Künstler und
Ärzte, der Gelehrten und Regierungsbeamten. So lange Naturalwirt-
schaft herrscht, erlangen diese überhaupt nur geringen Umfang und
nur auf der Basis des Groſsgrundbesitzes, weshalb denn auch im Mittel-
alter die Kirche und, nach manchen Seiten hin, das Rittertum das
geistige Leben trugen. Die bezeichnete Kategorie von Menschen er-
hält ihren Rang durch die Strenge der Frage, von der der ganze Wert
ihrer Persönlichkeiten abhängt: ob sie sich oder ob sie die Sache
suchen. Wo die erwerbende Thätigkeit prinzipiell kein Motiv auſser-
halb des Erwerbes selbst einzusetzen hat, fällt dieses Kriterium ganz
fort und wird höchstens durch die Alternative zwischen rücksichtslosem
Egoismus und anständiger Gesinnung — die aber hier wesentlich pro-
hibitiv wirkt — ersetzt. Das Eigentümliche ist, daſs das Geld, ob-
gleich, oder vielmehr weil es der sublimierteste Wirtschaftswert ist,
uns von der wirtschaftlichen Seite der Dinge am vollständigsten erlösen
kann — freilich um den Preis, uns den Bethätigungen, die ihren Sinn
nicht in ihrem wirtschaftlichen Erfolge haben, mit jener unerbittlichen
Frage gegenüberzustellen. Wie aber die der höheren Entwicklung
eigne Differenzierung der Lebenselemente allenthalben bewirkt, daſs
[313] sie als verselbständigte dann wiederum neue Synthesen bilden, so zeigt
sich schon hier das später Auszuführende, daſs die geldmäſsige Fremd-
heit zwischen dem Besitz und dem Kern der Persönlichkeit doch einer
neuen Bedeutung des einen für das andere Raum giebt.


Denn das Wirken des Künstlers, des Beamten, des Predigers, des
Lehrers, des Forschers miſst sich, seinem sachlichen Inhalt nach, zwar
an einem objektiven Ideale und schafft nach der an diesem festgestellten
Höhe die subjektive Befriedigung des Leistenden. Neben dem aber
steht der wirtschaftliche Erfolg jener Thätigkeiten, der bekanntlich
nicht immer eine stetige Funktion des sachlichen oder idealen ist.
Und jener kann sich nicht nur bei den niedrigsten Naturen so in den
Vordergrund drängen, daſs er den anderen zu einem Mittel degra-
diert; sondern selbst für feinere und der Sache lebende Menschen
kann in dem Gelingen der Leistung nach der ökonomischen Seite
hin ein Trost, Ersatz, Rettung für die gefühlte Unzulänglichkeit nach
der Seite des Haupterfolges hin liegen; zum mindesten etwas wie
ein Ausruhen und eine momentane Verpflanzung des Interesses, die
der Hauptsache schlieſslich gewachsene Kräfte zuführt. Viel schwieriger,
klippenreicher ist das Los dessen, der mit seiner Leistung nicht zu-
gleich Geld verdient, sondern diese ausschlieſslich an der Sache und
ihren inneren Anforderungen messen darf. Ihm fehlt jene wohlthätige
Ableitung und Tröstung durch den Gedanken, wenigstens im wirtschaft-
lichen Sinne das Seinige gethan und die Anerkennung dafür empfangen
zu haben; er sieht sich ganz anders als jener vor ein: Alles oder
Nichts — gestellt und muſs über sich selbst nach einem Gesetzbuch
richten, das keine mildernden Umstände kennt. So gleicht sich die
Begünstigung derer aus, die darum beneidet werden, daſs sie „nicht
aufs Geld zu sehen brauchen“, nur der Sache leben können. Sie müssen
das damit bezahlen, daſs über den Wert ihres Thuns jetzt nur ein
einziger Erfolg entscheidet, bei dessen Verfehlen sie nicht den wie
auch geringen Trost haben, daſs wenigstens ein greifbarer Nebenerfolg
geglückt ist. Daſs dieses grade in der Form des verdienten Geldes auf-
tritt, erleichtert ihm auſserordentlich das Gewinnen solcher Bedeutung.
Es wird darin erstens in der unzweideutigsten Form ausgewiesen,
daſs die Leistung, trotz ihres Zurückbleibens hinter dem eignen oder
dem sachlichen Endwerte, doch für andere Menschen etwas wert sein
muſs; ferner macht die Struktur des Geldes es so besonders ge-
eignet, als relativ befriedigender Ersatz für einen ausgebliebenen
idealen Haupterfolg zu funktionieren, weil es durch seine Greifbarkeit
und nüchtern quantitative Bestimmtheit einen gewissen Halt und psy-
chische Erlösung gegenüber dem Schwanken und Flieſsen qualitativer
[314] Lebenswerte gewährt, insbesondere wenn diese sich erst im Zustande
des Erobertwerdens befinden; endlich wird durch die völlige innere
Fremdheit des Geldes gegen die idealen Werte einer Verwirrung des
Wertempfindens, die für feinere Naturen höchst beängstigend sein
müſste, vorgebeugt, die beiden Erfolge bleiben in unbedingter Getrennt-
heit bestehen, der eine kann wohl einmal eine gewisse innere Be-
deutung erlangen, wenn die des anderen versagt, aber sich doch nicht
mit dieser mischen. So gelingt es dem Gelde, nachdem es durch die
Scheidung von Haben und Sein die rein geistigen Berufe geschaffen
hat, durch neue Synthese des Differenzierten, die Produktion rein
geistiger Werte sozusagen nicht nur auf der absoluten, sondern auch
auf den relativen Stufen — dort, wo man der Unbedingtheit jener
Entscheidung nicht gewachsen ist — zu tragen.


Eben durch jene fundamentale Scheidung hilft die Geldwirtschaft
einen der Betrachtung nicht unwerten Begriff der Freiheit zu verwirk-
lichen. Die Unfreiheit des Menschen ist damit, daſs er von äuſseren
Mächten abhängig ist, doch erst ganz oberflächlich bezeichnet. Diese
äuſsere Abhängigkeit findet ihr Gegenbild in jenen inneren Verhält-
nissen, die ein Interesse oder ein Thun der Seele mit andern so eng
verflechten, daſs die selbständige Bewegung und Entwicklung desselben
verhindert wird. Die Unfreiheit nach auſsen hin setzt sich sehr oft
derart in das Innere fort; sie verleiht einer psychischen Provinz oder
Energie eine überwuchernde Betonung, so daſs diese sich in die Ent-
wicklung andrer gleichsam hineinmischt und das freie Sich-Selbst-Ge-
hören derselben stört. Diese Konstellation kann natürlich auch auf
andere Ursachen als die einer äuſseren Bindung hin eintreten. Wenn
die Moralphilosophie die sittliche Freiheit als die Unabhängigkeit der
Vernunft von den sinnlich-egoistischen Impulsen zu definieren pflegt,
so ist dies doch nur ein einseitiger Fall des ganz allgemeinen Ideals
der Freiheit, das in der gesonderten Entfaltung, dem unabhängigen
Sich-Ausleben einer Seelen-Energie allen andern gegenüber besteht;
auch die Sinnlichkeit ist „frei“, wenn sie mit den Normen der Ver-
nunft nicht mehr verbunden, also nicht mehr durch sie gebunden ist,
das Denken ist frei, wenn es nur seinen eignen, ihm innerlichen Mo-
tiven folgt und sich von den Verknüpfungen mit Gefühlen und Wollungen
gelöst hat, die es auf einen Weg, der nicht sein eigner ist, mitziehen
wollen. So kann man Freiheit in diesem Sinne als innere Arbeits-
teilung definieren, als eine gegenseitige Lösung und Differenzierung der
Triebe, Interessen, Fähigkeiten. Der Mensch ist als ganzer frei,
innerhalb dessen jede einzelne Energie ausschlieſslich ihren eigenen
Zwecken und Normen gemäſs sich entwickelt und auslebt. Darin ist
[315] die Freiheit im gewöhnlichen Sinne, als Unabhängigkeit von äuſseren
Mächten, einbegriffen. Denn die Unfreiheit, die wir durch solche er-
leiden, bedeutet, genau angesehen, nichts Anderes, als daſs die für sie
in Bewegung gesetzte innere Kraft, die zu einem oktroyierten Zweck
engagierte Seelenprovinz andere Energien und Interessen in eine Rich-
tung mit hineinzieht, die diese, sich selbst überlassen, nicht nehmen
würden. Eine uns aufgezwungene Arbeit würden wir nicht als Un-
freiheit empfinden, wenn sie uns nicht an anderweitigem Thun oder
Genieſsen hinderte; eine uns auferlegte Entbehrung niemals als Un-
freiheit, wenn sie nicht andere, normale oder erwünschte Empfindungs-
Energien abböge oder unterdrückte. Jener alte Satz, daſs Freiheit
bedeutet, der eignen Natur gemäſs zu leben, ist nur der zusammen-
fassende und abstrakte Ausdruck für das, was hier in konkreter Einzel-
heit gemeint ist; da der Mensch aus einer Anzahl von Qualitäten,
Kräften und Impulsen besteht, so bedeutet Freiheit die Selbständigkeit
und nur dem eignen Lebensgesetz folgende Entfaltung jedes derselben.


Nun kann diese Lösung der einzelnen psychischen Reihen von
gegenseitiger Beeinflussung niemals eine absolute werden; sie findet
vielmehr ihre Grenze an den thatsächlichen und unentbehrlichen psy-
chischen Zusammenhängen, vermöge deren der Mensch schlieſslich in
aller Mannigfaltigkeit seines Seins und Thuns als eine relative Einheit
erscheint. Die vollständige Differenziertheit oder Freiheit einer inneren
Reihe ist ein unvollziehbarer Begriff. Die Formel des in dieser Hin-
sicht Erreichbaren dürfte die sein, daſs die Verschlingungen und Bin-
dungen immer weniger die einzelnen Punkte der Reihen betreffen;
wo eine Reihe mit einem andern psychischen Gebiet unvermeidlich
verbunden ist, wird sie ihre selbständigste Ausbildung erreichen, wenn
sie mit diesem Gebiet nur im allgemeinen, nicht aber mit seinen
Elementen ganz im einzelnen verbunden ist. Während z. B. die
Intelligenz im engen Zusammenhang mit dem Willen steht, derart, daſs
ihre gröſsten Vertiefungen und Leistungen nur bei der energischsten
Lebendigkeit des letzteren zustande kommen — wird das Denken so-
gleich von seinen eignen Normen, von der Unabhängigkeit seiner
inneren Folgerichtigkeit abgebogen, sobald der Wille, der es treibt,
eine spezifische Färbung, einen speziellen Inhalt besitzt. Die Intelli-
genz bedarf durchaus der Verschmelzung mit der allgemeinen Lebens-
energie; je mehr sie aber mit besonderen Ausgestaltungen der letzteren:
religiösen, politischen, sinnlichen u. s. w. verschmilzt, um so mehr
kommt sie in Gefahr, ihre eigene Wesensrichtung nicht mehr un-
abhängig entwickeln zu können. So ist die künstlerische Produktion
in Stadien besonderer Verfeinerung und Vergeistigung an ein höheres
[316] Maſs intellektueller Ausbildung gebunden; aber nur dann wird sie dies
ausnützen, ja ertragen können, wenn es nicht spezialistisch zugespitzt
ist, sondern seinen Umfang und seine Vertiefungen nur auf allgemeineren
Gebieten entfaltet; andernfalls wird die Selbständigkeit und rein künst-
lerische Motivierung der Produktion Abbiegungen und Beengungen er-
fahren. So wird das Gefühl der Liebe freilich die genaueste Kenntnis
der geliebten Person zur Ursache wie zur Wirkung oder zur Begleit-
erscheinung haben können; dennoch wird die Steigerung des Gefühls
zu seiner Höhe und sein Verbleiben auf ihr leicht dadurch gehindert,
daſs das Bewuſstsein sich mit einseitiger Zuspitzung auf irgend eine
einzelne Eigenschaft des Anderen richtet; vielmehr, nur wenn das all-
gemeine Bild desselben, wie unter Ausgleich alles Einzelnen und Ein-
seitigen, was man von ihm weiſs, das Bewuſstsein über ihn ausmacht,
ist es eine Grundlage, auf der das liebende Gefühl seine Kraft und
Innigkeit am ungestörtesten und gleichsam nur auf sich selber hörend
entfalten kann. So scheint allenthalben die unvermeidliche Verschmelzung
der psychischen Energien die freie, nur der eignen Norm folgende
Entwicklung der einzelnen nur dann nicht zu behindern, wenn sie nicht
mit einer spezialisierten Seite oder Ausbildungsstadium der andern,
sondern mit dem ganz Allgemeinen derselben verbunden ist; nur so
scheint die Distanz zwischen beiden herstellbar, die je der einen von
ihnen eine differenzierte Entfaltung ermöglicht.


Diesem Typus gehört wohl auch der Fall an, der uns hier be-
schäftigt. Die rein geistigen Reihen der psychischen Prozesse sind von
denen, die die ökonomischen Interessen tragen, nicht völlig zu trennen;
der fundamentale Charakter der letzteren verhindert das zwar nicht im
einzelnen und in Ausnahmefällen, wohl aber in den durchgängigen
Zusammenhängen des individuellen und sozialen Lebens. Wenn dies
nun schon die absolute Ungestörtheit und Freiheit der bloſs geistigen
Arbeit einschränkt, so wird es das doch um so weniger thun, je weniger
die Bindung ein speziell bestimmtes ökonomisches Objekt betrifft. Wenn
es gelingt, die ökonomische Interessenreihe in dieser Hinsicht nur auf
das ganz Allgemeine ihrer zu stellen, so gewinnt die geistige Reihe
eine Distanz von ihr, die sie, bei der Zuspitzung jener auf ein spezi-
fisches und deshalb spezifische Aufmerksamkeit erforderndes Objekt,
nicht einhalten könnte. Die nach dieser Richtung geeignetste Besitzart
war lange Zeit hindurch, wie erwähnt, der Grundbesitz. Die Art seines
Betriebes, die unmittelbare Verwendbarkeit seiner Produkte einerseits,
die gleichmäſsige Absetzbarkeit derselben andrerseits gestattete der
intellektuellen Energie eine relative Differenziertheit und Ungestörtheit;
aber erst die Geldwirtschaft vermochte dies so zu steigern, daſs jemand
[317] nun bloſs geistiger Arbeiter und sozusagen weiter nichts sein konnte.
Das Geld ist so sehr nur wirtschaftlicher Wert überhaupt, es steht von
jeder ökonomischen Einzelheit soweit ab, daſs es, innerhalb der psycho-
logischen Zusammenhänge, der rein geistigen Bethätigung die meiste
Freiheit läſst; die Ablenkung dieser wird so ein Minimum, die Differen-
zierung zwischen den inneren Reihen, die man auch hier als Sein und
Haben bezeichnen kann, wird ein Maximum, so daſs jene völlige Kon-
zentration des Bewuſstseins auf die immateriellen Interessen, jenes
arbeitsteilige Sich-Selbst-Gehören der Intellektualität möglich wird, das
sich in der Entstehung der oben genannten Klassen der bloſs geistigen
Produktion ausspricht. Man hat die geistige Blüte von Florenz, gegen-
über den doch auch reichen und mit Talenten gesegneten Genua und
Venedig, teilweise dem Umstande zugeschrieben, daſs diese beiden
während des Mittelalters wesentlich Warenhändler, die Florentiner aber
schon seit dem 13. Jahrhundert hauptsächlich als Bankiers reich ge-
worden waren. Die Natur dieses Erwerbes fordere weniger Einzel-
arbeit, und so habe sie ihnen mehr Freiheit für die Ausbildung höherer
Interessen gelassen! — Eine Erscheinung, die auf den ersten Blick
dieser befreienden Wirksamkeit des Geldes entgegengesetzt ist, weil
sie es immer enger an die Person herandrängt, hat schlieſslich dennoch
den gleichen Sinn: die Entwicklung der direkten Steuer. In den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war dieselbe allenthalben an
das Objekt geknüpft: der Grund und Boden, Gebäude, Gewerbe, der
Besitz jeder Art trug die Steuer, gleichviel in welchen persönlichen
Verhältnissen sich der Besitzer oder Gewerbetreibende befand, ob er
verschuldet war, ob er wirklich den normalen Ertrag herauswirtschaftete.
Zur Individualität als solcher verhält sich diese Steuerform nicht viel
adäquater als die Kopfsteuer, die freilich von allen bekannten Steuer-
formen die unpersönlichste ist; denn selbst die Realsteuer trifft doch
eben den Besitzer des Objekts, der durch diesen Besitz irgendwie
individuell bestimmt und von andern, die keinen genau gleichen zu
eigen haben, unterschieden ist. Der Objektsteuer, die zwar nicht in
der Zeitfolge, aber doch sozusagen systematisch die zweite, dem Perso-
nalismus zustrebende Stufe bildet, folgte nun historisch die Klassen-
steuer. Hier gab allerdings auch noch nicht das wirkliche individuelle
Einkommen des Bürgers das Fundament ab, sondern es wurden nach
den hauptsächlichsten sozialen und ökonomischen Unterschieden groſse
Klassen gebildet, in deren weiter Grenze der Einzelne, aber immerhin
doch nach seiner sozialen und wirtschaftlichen Gesamtlage, eingestellt
wurde. Erst die heutige Staatssteuer faſst das genaue personale Ein-
kommen, so daſs alles einzelne Objektive zu einem bloſsen Element
[318] und für sich nichts entscheidenden Material herabgesetzt ist. Genau
angesehen ist dieses mit steigender Geldwirtschaft immer präzisere An-
schmiegen der Steuer an die persönliche Situation eine steigende Frei-
heit der Person. Denn es gehört zu jener Differenzierungsform der
Lebensreihen, durch die jede einzelne, streng innerhalb ihres eignen
Gebietes verbleibend, auch jede andere möglichst sich selbst gehören
läſst. Grade das objektivste Prinzip, die Kopfsteuer, durchschneidet
am rücksichtslosesten die persönliche Verschiedenheit der Verhältnisse,
und auch jede andere Steuer, die nicht eine genaue Funktion des
individuellen Einkommens ist, greift, da sie doch von diesem entrichtet
werden muſs, über ihr eigentliches Gebiet hinaus und in andere ein,
in die sie genau genommen nicht gehört. Es wiederholt sich nur, wie
so oft, zwischen den Elementen der Wirtschaft derselbe Prozeſs, den
wir zwischen den wirtschaftlichen und den übrigen Lebenselementen
beobachteten. Dieser Zusammenhang ist wirksam, wenn man im 18. Jahr-
hundert schon beim ersten Aufdämmern der liberalen Ideen verlangte,
die Steuer solle das Existenzminimum des Einzelnen freilassen, und
dieses Existenzminimum bei den verschiedenen Ständen verschieden an-
setzte: auch hier also die Tendenz, daſs die Steuer sich zunächst
negativ, in dem, was sie verschonte, den besonderen Verhältnissen an-
schmiege und die rein personale Existenz ganz unangegriffen lasse.
Und wenn neuerdings Vermögenssteuern diese Entwicklung wieder
etwas umbiegen, indem sie von Geld- und Sachwerten, gleichgültig
gegen deren Einkommensertrag, erfordert werden, so geht dies eben
von sozialen Gesichtspunkten aus, denen das Interesse an der individu-
ellen Freiheit als solches fernliegt. So zeigen positive wie negative
Instanzen, daſs mit der steigenden Bedeutung des Geldes auch der
Schatten des Besitzes, die Steuer, sich in immer differenzierterer Weise
in der ihr genau zukommenden Reihe lokalisiert und eben durch das
biegsame Anschmiegen an dieselbe den andern, der Totalität des wirt-
schaftlichen und sonstigen Seins, möglichste Freiheit läſst.


Indem man diese Entwicklung der Steuer nach ihren allgemeinen
Grundlagen fragt, offenbart sich das Eingehen derselben auf die indi-
viduellste ökonomische Lage als jener durchgehenden Korrelation zu-
gehörig, die die vollendetste Objektivität grade aus der vollendetsten
Berücksichtigung des Subjektiven gewinnt. Ich zeige nun, wie das
Geld die technische Möglichkeit für die Herstellung dieser Korrelation
in gewissen sozialen Grundverhältnissen gewährt. Ich hatte mehrfach
die mittelalterliche Theorie hervorgehoben, die jeder Ware einen ge-
rechten, d. h. sachlich angemessenen, in der arithmetischen Gleichheit
von Geldwert und Sachwert bestehenden Preis zusprach und denselben
[319] gegen Erhöhungen wie Herabdrückungen gesetzlich festzulegen suchte.
Was dabei herauskam, muſste doch im schlechten Sinne subjektiv sein:
willkürliche, unzulängliche, die momentane Konstellation zu Fesseln
künftiger Bewegung festschmiedende Wertsetzungen. Statt durch so
unmittelbare Gleichsetzung näherte man sich vielmehr der inhaltlich
gerechten Angemessenheit der Preise erst, als man die Gesamtlage der
Wirtschaft, die mannigfaltigen Kräfte von Angebot und Nachfrage, die
fluktuierende Produktivität der Menschen und der Dinge als Be-
stimmungsgründe der Preise erkannt hat. Obgleich dies nun eine die
Individuen bindende Festlegung der Preise ausschloſs und die Be-
rechnung der immerfort wechselnden Situation den Einzelnen überlassen
muſste, so wurde doch hiermit die Preisgestaltung durch viel mehr
thatsächlich wirksame Momente bestimmt und war seitdem eine objektiv
angemessenere und gerechtere. Diese Entwicklung läſst sich nun noch
vervollkommnet denken. Ein viel weitergehendes Gerechtigkeitsideal
würde die Preise gestalten, wenn nicht nur die Komplikationen und
Wandlungen der objektiven Momente, sondern auch die persönliche
Vermögenslage des Konsumenten ihre Höhe mitbestimmten. Die Ver-
hältnisse der Individuen sind doch auch objektive Thatsachen, die für
den einzelnen Kaufvollzug sehr bedeutsam sind, aber jetzt in der Preis-
gestaltung prinzipiell gar nicht zum Ausdruck kommen. Daſs man es
dennoch gelegentlich beobachten kann, nimmt der Idee ihre erste
Paradoxität. Unter den Erscheinungen, die ich oben als das Super-
additum des Reichtums zusammenfaſste, begegnete es uns in einer frei-
lich sehr outrierten Weise: der Arme bezahlte die gleiche Ware teurer
als der Reiche. Allein vielfach liegt es doch auch umgekehrt: oft
versteht der Unbemittelte allerdings seine Bedürfnisse billiger und doch
nicht schlechter zu befriedigen als jener. Mit einer gewissen Betonung
tritt die Preisregulierung nach den Verhältnissen des Konsumenten bei
dem Ärztehonorar auf; es ist innerhalb bestimmter Grenzen legitim,
daſs der Patient den Arzt „nach seinen Verhältnissen“ bezahlt. Dies
ist freilich dadurch besonders gerechtfertigt, daſs der Kranke sich in
einer Zwangslage befindet; er muſs den Arzt haben und dieser muſs
sich deshalb von vornherein auf ungleiche Entgelte für gleiche Leistungen
einrichten. In solcher Zwangslage aber befindet sich auch der Bürger
dem Staate gegenüber, dessen Dienste er nicht entbehren, ja selbst,
wenn er wollte, nicht abweisen kann. Deshalb ist es in der Ordnung,
daſs der Staat von dem Armen ein geringeres Entgelt für seine Dienste,
geringere Steuern nimmt, und zwar nicht nur, weil er dem Reicheren
gröſseren Nutzen gewährt als diesem. Diese äuſserliche Objektivität
in der Ausgleichung von Dienst und Gegendienst ist längst als un-
[320] zutreffend erkannt und an ihre Stelle das Prinzip der Leistungsfähig-
keit getreten. Die neue Gleichung ist nicht weniger objektiv als die
alte, nur daſs sie die personalen Verhältnisse als ihre Elemente in sich
aufgenommen hat; ja, sie hat eine viel angemessenere Objektivität,
weil das Ausschalten der wirtschaftlichen Gesamtlage des Individuums
aus der Preisgestaltung — insbesondere wo es sich um Unentbehrlich-
keiten handelt — dieser letzteren etwas Willkürliches und die Sachlage
nicht genau Treffendes verleiht. Dies Prinzip liegt nun weiteren Vor-
schlägen zu Grunde: so dem noch später zu behandelnden, daſs das
Gesetz Geldstrafen nicht nach absoluten Höhen, sondern nach Ein-
kommensquoten fixiere; oder daſs die Höhe des Streitobjekts, von der
an die Anrufung der höchsten Gerichtsinstanz zulässig ist, nicht mehr,
wie bisher, eine absolute Summe, sondern ein bestimmter Teil vom
Jahreseinkommen des Beschwerdeführers sei. Ja, man hat neuerdings
das System der ungleichen, den Kaufmitteln der Konsumenten ent-
sprechenden Preise zum Allheilmittel der Sozialpolitik erklärt, das die
Vorteile des Sozialismus ohne seine Nachteile gewähren würde. Hier
interessiert uns nicht die Richtigkeit, sondern nur die Thatsache dieses
Vorschlags, der einen eigenartigen Abschluſs der wirtschaftlichen Ver-
kehrsentwicklung markiert. Mit rein subjektiv-personalen Besitzwechseln
sahen wir diese beginnen: mit dem Geschenk und dem Raub. Der
Tausch, der statt der Menschen die Dinge untereinander in Relation
setzt, schafft damit die Stufe der Objektivität. Diese ist zunächst eine
formalistisch-starre, indem sie entweder durch feststehende naturalistische
Tauschquanten oder gesetzliche Preistaxen verwirklicht und so bei aller
objektiven Form doch inhaltlich ganz subjektiv-zufällig ist. Der freiere
Handelsverkehr der Neuzeit erweiterte diese Sachlichkeit, indem er alle
variabeln und der zufälligen Sachlage entspringenden Momente in die
Preisbestimmung aufnahm: die Objektivität des Verkehrs wurde elastischer
und dadurch ausgreifender. Jener Vorschlag endlich sucht auch noch
die individuellsten Momente zu objektivieren: die wirtschaftliche Lage
des einzelnen Käufers soll den Preis des Gegenstandes modifizieren
können, dessen er bedarf. Das wäre das Gegenstück oder wenigstens
die Ergänzung zur Kostentheorie; diese behauptet: der Preis hängt
von den Bedingungen der Produktion ab; jene: er soll von den Be-
dingungen der Konsumtion abhängen oder wenigstens diesen gemäſs
variiert werden. Blieben bei einem Zustand der letzteren Art die
Interessen des Produzenten gewahrt — was logisch nicht ausgeschlossen,
wenn auch utopisch ist —, so würde nun wirklich der Preis bei jedem
Kauf alle individuellen Verhältnisse, die ihm zu Grunde liegen, adä-
quat ausdrücken; alles Subjektive wäre zu einem objektiv-legalen
[321] Moment der Preisgestaltung geworden. Diese Entwicklung ginge etwa der
eines philosophischen Weltbildes parallel, das alle ursprünglichen ob-
jektiven Gegebenheiten als subjektive Gebilde erkennte: aber eben durch
diese absolute Zurückführung auf das Ich verliehe es ihnen erst die
Einheit, Zusammenhang, Greifbarkeit, die den eigentlichen Sinn und
Wert dessen, was wir die Objektivität nennen, ausmacht. Wie hier
das Subjekt über seinen Gegensatz zum Objekt hinauswäre, weil es
dieses völlig in sich aufgenommen und aufgehoben hat, so ist es in
jenem Falle dadurch überwunden, daſs das objektive Verhalten alles Sub-
jektive in sich eingezogen hat, ohne einen Rückstand zu lassen, an
dem der Gegensatz noch weiter leben könnte.


Für unseren Zusammenhang handelt es sich darum, daſs diese
Idealbildung und die fragmentarischen Annäherungen der Wirklichkeit
an sie durch den Geldbegriff ermöglicht werden. Die Gesamtheit der
wirtschaftlichen Situationsmomente wird erst dann restlos für die Preis-
bestimmung verwendet werden können, wenn für sie alle ein gleich-
mäſsiger Wertausdruck besteht. Erst die Reduktion auf einen gemein-
samen Nenner stiftet die Einheit zwischen allen Elementen der indi-
viduellen Lagen, die ihre Zusammenwirksamkeit, nach gerechten Maſsen,
zu der Bestimmung der Preise gestattet. Es ist die groſsartige Leistung
des Geldes, durch die Nivellierung des Mannigfaltigsten grade jeder
individuellen Komplikation die angemessenste Ausprägung und Wirk-
samkeit zu ermöglichen — als müſsten alle spezifischen Formen erst
in das allen gemeinsame Urelement zurückgebildet werden, um die
völlige Freiheit zu individueller Neugestaltung zu gewähren; diese
Leistung ist die Voraussetzung für einen Entwicklungsgang, der aus
den Preisen der Dinge alles Starre, die Einzelsituation Vergewaltigende
hinwegläutern will und dies mit einer gewissen Vehemenz in dem
Sozialprinzip der ungleichen Preise ausdrückt — die aber im Ver-
hältnis zu der Lage der Konsumenten grade relative Gleichheit haben
und damit die subjektiven Bedingungen, durch die Totalität ihres Ein-
bezogenseins, nach einem Prinzip von völliger Objektivität formen.


Die frühere Formulierung, in die auch diese Entwicklung ein-
zustellen ist: daſs das Geld Haben und Sein gegeneinander verselb-
ständigt — läſst das Geld doch nur einen Prozeſs am entschiedensten
ausdrücken und vergleichsweise abschlieſsen, der sich schon auf andern
Stufen des geschichtlichen Lebens vollzieht. So lange die Gentilverfassung
bestand, war ohne weiteres eine unerschütterte Verbindung des Ein-
zelnen mit dem Grund und Boden gegeben. Denn die Gens war einer-
seits die Obereigentümerin des Bodens und schmolz andrerseits den
Einzelnen völlig in ihre Interessen ein; sie bildete so das Band, das
Simmel, Philosophie des Geldes. 21
[322] sein Sein mit seinem Haben, das allerdings noch kein individualistisches
war, verband. Die darauf folgende Verwandlung des Bodens in Privat-
eigentum, so sehr sie grade Person und Besitz zu verbinden schien,
löste dennoch jenen prinzipiellen Zusammenhang zwischen ihnen, indem
nun jede beliebige Aktion mit dem Besitz möglich wurde. Die ein-
dringende Geldwirtschaft hat zuerst in den mittelalterlichen Städten
bewirkt, daſs man den Boden belasten, Renten auf ihn aufnehmen
konnte, ohne daſs die Person des Besitzers dadurch betroffen und in
ihrer sozialen Stellung herabgesetzt worden wäre. Die Geldwirtschaft
trieb den Boden und den Eigentümer als Person so weit auseinander,
daſs eine Beschränkung des vollen Eigen, wie sie in der Hypothek lag,
nicht mehr wie früher als eine Deteriorierung des Eigentümers em-
pfunden wurde. Die Hypothezierung und der Verkauf für Geld waren
nur die äuſsersten und allerdings erst durch das Geld möglichen Folgen
jener Trennung zwischen der Person und dem Grund und Boden; be-
gonnen
aber hatte dieser Prozeſs schon vor dem Gelde und mit dem
Augenblick, als die Gentilverfassung sich löste. Ähnlich liegt es mit
der späteren Entwicklung, die die patriarchalische Verfassung in den
Rechtsstaat mit Gleichberechtigung aller Bürger vor dem Gesetz über-
führte. Auch sie bedeutet eine Lösung des Seins vom Haben und des
Habens vom Sein: die Stellung wird nicht mehr durch den Landbesitz
bestimmt, der Besitz andrerseits nicht mehr durch die Zugehörigkeit
zu der adligen Klasse. Eine ganze Anzahl von gesellschaftlichen Be-
wegungen drängt auf dieses Resultat: die Schwächung des Adels durch
den quantitativen Zuwachs der unteren Stände, die Arbeitsteilung in
diesen, die einerseits eine Art Aristokratie unter ihnen erzeugt, andrer-
seits sie dem Landadel unentbehrlicher macht, die gröſsere Bewegungs-
freiheit der nicht an den Grundbesitz gebundenen Stände u. s. w.
All diese Kräfte muſsten z. B. am Ende des „griechischen Mittelalters“
wirksam werden, als zudem Seehandel und Kolonialbewegung sich ent-
wickelt und Athen seit dem 7. Jahrhundert die wirtschaftliche Ober-
hand gewinnt; indem nun die Geldwirtschaft hinzukommt, vollendet
sie nur diesen Prozeſs; der Grundbesitzer bedarf nun gleichfalls des
Geldes, um mit den reichen Emporkömmlingen in einer Reihe zu
bleiben, das Geld, als Hypothek, als Erlös der Produkte oder gar des
Landes selbst schiebt sich zwischen ihn und seinen Besitz, und indem
es ihn so von der qualitativen Bestimmtheit dieses unabhängiger macht,
eben damit auch dem Besitz seine personale Färbung nimmt, bewirkt
es zugleich eine wachsende Gleichberechtigung zwischen ihm und den
andern Ständen. Das Prinzip des gleichen Rechtes für alle, wie es in
den griechischen Demokratien schlieſslich herrschend wurde, spricht so
[323] die Lösung jener besonderen Bestimmtheit aus, die sonst vom Haben
auf das Sein und umgekehrt ausstrahlte; aber auch hier stellt sich die
Geldwirtschaft nur dar als der mächtigste, gleichsam als der bewuſsteste
Faktor und Ausdruck einer auf viel breiterer Basis angelegten Be-
wegung. Und in den germanischen Verhältnissen sehen wir für die
älteste Zeit, daſs der Landbesitz nicht ein unabhängiges Objekt betraf,
sondern die Folge der persönlichen Zugehörigkeit des Einzelnen zu
seiner Markgemeinde war. Das Land war nicht an und für sich ein
derart qualifiziertes Objekt, daſs mit seinem Besitz sich nun das Indi-
viduum seine Bedeutungen und Folgen angeeignet hätte: sondern weil
die Persönlichkeit diese bestimmte Bedeutung hatte, wurde ein be-
stimmter Landbesitz an sie geknüpft. Diese personale Bindung aber
war schon im 10. Jahrhundert verschwunden, und an ihre Stelle war
eine Selbständigkeit des Grundes und Bodens getreten, die man fast
als eine Personifikation desselben bezeichnen könnte. Damit war die
Tendenz eingeleitet, ihn zu zerschlagen und in alle Ruhelosigkeit des
wirtschaftlichen Lebens hineinzuziehen; und als diese Tendenz schlieſs-
lich ihre Grenze an der von seinem Wesen untrennbaren Stabilität
fand, trat das Geld, das der Persönlichkeit fremdeste Wirtschaftsobjekt,
an seine Stelle. Aber es war doch eben nur die geeignetste Substanz
für den restlosen Ausdruck jener Trennung zwischen Sein und Haben,
die sich schon vorher an den Verhältnissen des Bodenbesitzes aus-
zuprägen begonnen hatte. Endlich zeigt das 13. Jahrhundert dieselbe
Erscheinung von der andern Seite her und am andern Ende der sozialen
Leiter. Diese Zeit hat die bäuerliche Freiheit auf einen sehr hohen
Stand gehoben, wesentlich im deutschen Osten, dessen Kolonisation
mit freien Bauern geschah, und zwar in engem Zusammenhange mit
der damals relativ hoch ausgebildeten Geldwirtschaft. Nach kurzer
Zeit indessen erfolgte ein Umschwung: die Grundherrschaft breitete
sich aus, insbesondere im Osten der Elbe, und strebte mit Erfolg dahin,
den Bauer an die Scholle zu binden; zugleich aber wurden die geld-
wirtschaftlichen wieder durch naturalwirtschaftliche Verhältnisse ver-
drängt. Die Fesselung des Bauern an seine ökonomische Stellung,
seines Seins an sein Haben, geht hier dem Sinken der Geldwirtschaft
parallel. Und wenn dies letztere Phänomen auch als Ursache des
ersteren angesprochen worden ist, so ist es doch sicher nur die hervor-
stechendste des ganzen Komplexes von Ursachen, die damals zur Bil-
dung der Grundherrschaften führten. Wenn das Geld an und für sich,
als Besitzobjekt betrachtet, gleichsam durch eine Isolierschicht vom Sein
des Besitzenden getrennt ist, so stellt es in der historischen Beziehung
zwischen Haben und Sein das entschiedenste und entscheidendste, ich
21*
[324] möchte sagen symptomatischste unter den Momenten dar, die den welt-
geschichtlichen Wechsel zwischen Kontraktion und Lockerung jener
Beziehung veranlassen. —


Wenn also Freiheit den Sinn hat, Sein und Haben von einander
unabhängig zu machen, und wenn der Geldbesitz die Bestimmtheit des
einen durch das andere am entschiedensten lockert und durchbricht —
so steht dem ein anderer und positiverer Begriff ihrer gegenüber, der
das Sein und das Haben auf einer andern Stufe wiederum enger ver-
bindet, darum aber nicht weniger im Geld seine entschiedenste Ver-
wirklichung findet. Ich knüpfe an die obige Bestimmung an, daſs der
Besitz nicht, wie es oberflächlich scheint, ein passives Aufnehmen von
Objekten ist, sondern ein Thun an und mit ihnen. Nichts anderes
kann der Besitz, auch der umfassendste und unbeschränkteste, mit den
Dingen thun, als den Willen des Ich an ihnen ausprägen: denn das
eben heiſst eine Sache besitzen, daſs sie meinem Willen keinen Wider-
stand entgegensetzt, daſs er sich ihr gegenüber durchsetzen kann: und
wenn ich von einem Menschen sage, daſs ich ihn „besitze“, so bedeutet
dies, daſs er meinem Willen nachgiebt, daſs natürliche Harmonie oder
suggestive Vergewaltigung mein Sein und Wollen sich gleichsam an
ihm fortsetzen lassen. Wie mein Körper deshalb mein ist und in
höherem Maſse „mein“ als jedes andere Objekt, weil er unmittelbarer
und vollständiger als jedes andere meinen psychischen Impulsen ge-
horcht, und diese sich relativ vollständig in ihm ausdrücken: so ist
jedes Ding in demselben Maſse mein, in dem dies von ihm gilt. Daſs
man mit einer Sache „machen kann, was man will“, das ist nicht erst
eine Folge des Besitzens, sondern das eben heiſst es sie zu besitzen. So
wird das Ich von seinem gesamten „Besitz“ wie von einem Bereich um-
geben, in dem seine Tendenzen und Charakterzüge sichtbare Wirklich-
keit gewinnen, er bildet eine Erweiterung des Ich, das nur das Zentrum
ist, von dem aus Fulgurationen in die Dinge hineingehen; und die
Dinge sind eben mein, wenn sie sich dem Recht und der Kraft meines
Ich ergeben, sie nach seinem Willen zu gestalten. Diese enge Be-
ziehung zum Ich, die den Besitz gleichsam als dessen Sphäre und Aus-
druck erscheinen läſst, knüpft sich keineswegs nur an ihn, soweit er
dauert und behalten wird. Es stimmt vielmehr mit unserer Vorstellung
vom Besitz als einer Summe von Aktionen durchaus überein, daſs grade
das Fortgeben von Werten, sei es im Tausch, sei es als Geschenk,
eine gewisse Steigerung des Persönlichkeitsgefühls mit sich führen
kann — den Reiz, der mit der Selbstentäuſserung, Selbstopferung ver-
bunden ist und der auf dem Umwege über eine Verminderung eine
Erhöhung des Selbst bedeutet. Oft empfindet man erst im Fortgeben
[325] den Besitz, ganz wie man ein Körperelement am energischsten im Mo-
ment der Exstirpation fühlt. Der Reiz des Habens spitzt sich im
Augenblick des Fortgebens so stark zu — schmerzlich oder genieſsend —
wie es ohne diesen Preis nie stattfindet. Dieser Augenblick ist —
genau wie der des Gewinnens — ein eminent „fruchtbarer Moment“,
das Können der Persönlichkeit, das der Besitz darstellt, erscheint in
dieser äuſsersten Verfügung über ihn am fühlbarsten aufgegipfelt —
wie es mit einer gewissen Modifikation auch in der Wollust des Zer-
störens geschieht. Wenn deshalb von den arabischen Beduinen be-
richtet wird, daſs bei ihnen Betteln, Schenken und Plündern Wechsel-
begriffe und notwendig zusammenhängende Handlungen sind, so beweist
dies, insbesondere in Anbetracht des stark individualistischen Charakters
jener Stämme, wie alle diese verschiedenen Aktionen mit dem Besitz
doch nur mit verschiedenen Vorzeichen und nach verschiedenen Rich-
tungen hin einen und denselben Sinn und Grundwert aller Besitzobjekte
aussprechen: daſs die Persönlichkeit sich in ihnen auslebt, ausprägt,
ausbreitet. So ist das Entscheidende für das Verständnis des Besitzes,
daſs die scharfe Grenzsetzung zwischen ihm und dem Ich, zwischen
dem Inneren und dem Äuſseren als eine ganz oberflächliche erkannt
und für eine tiefere Betrachtung verflüssigt werde. Einerseits liegt die
ganze Bedeutung des Besitzes darin, gewisse Gefühle und Impulse in
der Seele auszulösen, andrerseits erstreckt sich die Sphäre des Ich
über diese „äuſseren“ Objekte und in sie hinein, wie sich in der Be-
wegung des Violinbogens oder des Pinsels doch der Vorgang in der
Seele des Geigers oder des Malers kontinuierlich fortsetzt. Wie jedes
äuſsere Objekt als Besitz sinnlos wäre, wenn es nicht zu einem psy-
chischen Wert würde, so würde das Ich gleichsam ausdehnungslos in
einen Punkt zusammenfallen, wenn es nicht äuſsere Objekte um sich
herum hätte, die seine Tendenzen, Kraft und individuelle Art an sich
ausprägen lassen, weil sie ihm gehorchen, d. h. gehören. Es ist mir
auch deshalb wahrscheinlich, daſs die Entwicklung des Privateigentums
nicht grade die Arbeitsprodukte als solche am ehesten und intensivsten
ergriffen habe, sondern die Arbeitswerkzeuge, einschlieſslich der
Waffen. Denn grade die Werkzeuge funktionieren am unmittelbarsten
als Verlängerungen der Körperglieder, erst an ihrem Endpunkt pflegt
der Widerstand der Dinge gegen unsere Impulse empfunden zu werden;
so ist das Aktivitätsmoment an ihrem Besitze gröſser als an ander-
weitigem und sie werden deshalb nächst dem Körper am gründlichsten
in das Ich einbezogen.


Man könnte sagen, das Erwerben von Besitz sei gleichsam ein
Wachstum der Persönlichkeit über das Maſs des Individuums hinaus —
[326] wie man die Zeugung als ein solches Wachstum bezeichnet hat. In
diesem wie in jenem Falle dehnt sich die individuelle Sphäre über
die Grenze hinaus, die sie ursprünglich bezeichnete, das Ich setzt sich
jenseits seines unmittelbaren Umfanges fort und erstreckt sich in ein
Auſser-Sich, das dennoch im weiteren Sinne „sein“ ist. Bei einigen
malaiischen Stämmen gehören dem Vater nur diejenigen Kinder, welche
nach Bezahlung des Brautpreises geboren werden, während die vor-
her — aber zweifellos in derselben Ehe — geborenen der Familie der
Mutter gehören. Der Grund dieser Bestimmung ist natürlich der rein
äuſserliche: daſs die Kinder Wertgegenstände darstellen, die man durch
die Verheiratung der Tochter an den Mann fortgiebt, an die man sich
aber hält, bis der Preis für die Mutter selbst bezahlt ist. Dennoch
offenbart sie jene tief gelegene Beziehung zwischen dem Besitz und der
Proliferation. Der Mann hat gleichsam die Wahl, ob er seine Macht-
sphäre durch den Besitz seiner Kinder oder durch Einbehalten der
schuldigen Vermögensstücke erweitern will. In den Veden heiſst es
über die frühesten brahmanischen Mönche: „Sie lassen davon ab, nach
Söhnen zu trachten und nach Habe zu trachten. Denn was das
Trachten nach Söhnen ist, das ist auch das Trachten
nach Habe
. Trachten ist das Eine wie das Andere.“ Dies will frei-
lich an sich noch nicht die Identität beider Bestrebungen ihrem Inhalte
nach aussagen: aber das Bezeichnende ist doch, daſs grade sie als Bei-
spiele gewählt sind, um die Identität alles Strebens zu beweisen. In
der Erzeugung von Seinesgleichen setzt sich das Ich ebenso über seine
ursprüngliche Beschränkung auf sich selbst fort, wie wenn es, in der
Verfügung über Besitz, diesem die Form seines Willens einprägt.
Dieser Begriff des Besitzes als einer bloſsen Erweiterung der Persön-
lichkeit erfährt keine Widerlegung, sondern grade eine tiefere Be-
stätigung durch die Fälle, in denen das Persönlichkeitsgefühl gleichsam
den Zentralpunkt des Ich verlassen und sich auf jene umgebenden
Schichten, den Besitz, übertragen hat — grade wie die Deutung der
Proliferation und Familienbildung als Expansion des Ich dadurch nicht
gestört wird, daſs die direkten Ichinteressen schlieſslich hinter die
Interessen der Kinder zurücktreten können. Im mittelalterlichen Eng-
land galt es als das Zeichen unfreier Stellung, wenn man nicht ohne
die Einwilligung des Lords eine Tochter verheiraten und einen Ochsen
verkaufen durfte. Ja, wer dazu ohne weiteres berechtigt war, wurde
sogar oft als frei angesehen, auch wenn er persönliche Frohndienste
zu leisten hatte. Daſs das Ichgefühl so seine unmittelbaren Grenzen über-
schritten und sich in Objekten, die es doch nur mittelbar berühren, an-
gesiedelt hat, beweist grade, wie sehr der Besitz als solcher nichts an-
[327] deres bedeutet, als daſs die Persönlichkeit sich in jene hinein er-
streckt und in der Herrschaft über sie ihre Ausdehnungssphäre gewinnt.


Dies hat nun mannigfache Folgen für das Verständnis der Besitz-
arten. Wenn Freiheit bedeutet, daſs der Wille sich ungehindert ver-
wirklichen kann, so scheinen wir also um so freier zu sein, je mehr
wir besitzen; denn das hatten wir als den Sinn des Besitzens erkannt,
daſs wir mit seinem Inhalt „machen können, was wir wollen“; mit dem
Besitz eines Anderen oder demjenigen, was sich überhaupt dem Be-
sessenwerden entzieht, haben wir keine „Freiheit“ mehr, zu schalten,
wie wir wollen: darum hat, genau im Sinn unserer Auffassung der Frei-
heit, die lateinische und lange Zeit auch die deutsche Sprache mit
dem Wort Freiheit die Bedeutung des Vorrechts, der besonderen Be-
günstigung verbunden. Die Freiheit findet nun ihre Grenze an der
Beschaffenheit des besessenen Objektes selbst. Das wird schon dem-
jenigen Objekt gegenüber sehr fühlbar, das wir doch am unbeschränk-
testen zu besitzen glauben, unserem Körper. Auch er giebt den psy-
chischen Impulsen nur innerhalb der eigenen Gesetze seiner Konsti-
tution nach, und gewisse Bewegungen und Leistungen kann unser Wille
nicht mit irgend welchem Erfolge von ihm verlangen. Und so mit
allen anderen Objekten. Die Freiheit meines Willens gegenüber einem
Stück Holz, das ich besitze, geht freilich so weit, daſs ich allerlei Ge-
räte daraus schnitzen kann; aber sie erlahmt, sobald ich solche davon
herstellen will, die die Biegsamkeit des Gummis oder die Härte des
Steins verlangen. Was unser Wille mit dem Dinge machen kann, gleicht
doch schlieſslich nur dem, was der Künstler seinem Instrumente ent-
locken kann. So tief sein Fühlen und Können sich auch in das In-
strument einbohren mögen und so wenig die Grenze, bis zu der er es
sich unterwerfen kann, auch vorherzubestimmen sei: irgendwo muſs sie
liegen; von irgend einem Punkt an gestattet seine Struktur keine
weitere Nachgiebigkeit gegen die Seele; das ist der Punkt, von dem
an die Dinge uns nicht mehr „gehören“.


Im Groſsen und Ganzen ist der Wille unseren Lebensbedingungen
so angepaſst, daſs er von den Dingen nicht verlangt, was sie nicht
leisten können, daſs die Beschränkung unserer Freiheit durch die
eigenen Gesetze des Besitzes ihnen gegenüber nicht zu positiver Empfin-
dung gelangt; dennoch lieſse sich eine Skala der Objekte aufstellen,
von der Frage aus, wie weit das Wollen sich im allgemeinen ihrer be-
mächtigen kann und von wo an sie diesem nicht mehr durchdringbar
sind, wie weit sie also wirklich „besessen“ werden können. Die
äuſserste Stufe einer solchen Skala würde das Geld darstellen. Hier
ist jenes Ungewinnbare, das die Objekte gleichsam für sich reservieren
[328] und das sich auch einem noch so unumschränkten Besitz ihrer versagt,
völlig verschwunden. Es fehlt ihm ganz jene eigene Struktur, durch
die die anderen, bestimmt qualifizierten Dinge, so sehr wir sie auch
im juristischen Sinne besitzen mögen, sich unserem Willen verweigern,
es fügt sich mit unterschiedsloser Leichtigkeit jeder Form und jedem
Zweck, den dieser in ihm ausprägen will; nur aus den Dingen, die
hinter ihm stehen, mögen uns Hemmnisse quellen; es selbst giebt jeder
Direktive, auf welches Objekt, auf welches Maſs der Verteilung, auf
welches Tempo des Hingebens oder Reservierens immer, gleichmäſsig
nach. So gewährt es denn dem Ich die entschiedenste und restloseste
Art, sich in ein Objekt hinein auszuleben — freilich innerhalb der
Grenzen, die es dem durch seine Qualitätlosigkeit steckt, die so aber
eben bloſs negative sind und nicht wie bei allen anderen Objekten aus
seiner positiven Natur hervorgehen. Alles, was es ist und hat, giebt
es vorbehaltlos dem menschlichen Willen hin, es wird völlig von diesem
aufgesogen, und wenn es ihm nicht mehr leistet, als der Fall ist, so
liegt jenseits dieser Grenze nicht wie bei allen anderen Objekten ein
vorbehaltener und unnachgiebiger Teil seiner Existenz, sondern schlecht-
hin nichts.


Den reinsten und gesteigertsten Ausdruck findet diese wie so viele
andere Wesensfolgen des Geldes an der Börse, in der die Geldwirt-
schaft ebenso zu einem selbständigen Gebilde kristallisiert ist, wie die
politische Organisation im Staate. Die Kursschwankungen nämlich
zeigen vielfach subjektiv-psychologische Motivierungen, wie sie in dieser
Kraſsheit und dieser Unabhängigkeit von aller objektiven Begründung
ganz unvergleichlich sind. Zwar wäre es oberflächlich dafür anzuführen,
daſs den Kursbewegungen nur selten reale Veränderungen in der Güte
des einzelnen, das Papier fundierenden Objektes genau entsprechen.
Denn diese Güte, in ihrer Bedeutung für den Markt, besteht doch
nicht bloſs in den inneren Qualitäten des Staates oder der Brauerei,
des Bergwerkes oder der Bank, sondern in dem Verhältnis derselben
zu den gesamten sonstigen Inhalten des Marktes und ihrer Lage. Es
entbehrt deshalb nicht der sachlichen Begründung, wenn z. B. groſse
Insolvenzen in Argentinien den Kurs der chinesischen Rente drücken,
obgleich die Sicherheit derselben so wenig durch jenes Ereignis, wie
durch eines auf dem Monde alteriert wird. Denn die Wertbedeutung
jener hängt, bei aller äuſseren Ungeändertheit, doch von der Gesamt-
lage des Marktes ab, deren Erschütterung von irgend einem Punkte
her z. B. die Weiterverwertung jener Erträgnisse ungünstiger gestalten
kann. Jenseits dieser, wenn auch die Synthese des Einzelobjekts mit
andern voraussetzenden, so doch objektiven Verursachung der Kurs-
[329] änderungen steht aber diejenige, die von der Spekulation selbst aus-
geht: denn diese Wetten über den künftigen Kursstand eines Papiers
haben auf diesen Kursstand selbst den erheblichsten
Einfluſs
. Sobald z. B. eine mächtige Finanzgruppe aus Gründen, die
mit der Qualität des Papiers gar nichts zu thun haben, sich in ihm
engagiert, so treibt dies den Kurs desselben in die Höhe; umgekehrt
ist auch die Baissepartei im stande, durch bloſse Börsenmanöver den
Kurs eines Papiers fast beliebig zu senken. Hier erscheint also der
reale Wert des Objekts als der bloſse, an sich irrelevante Untergrund,
über dem sich die Bewegung des Marktwertes erhebt, weil sie sich
doch an irgend eine Substanz, richtiger: an irgend einen Namen
knüpfen muſs; die Proportion zwischen dem sachlichen und schlieſs-
lichen Wert des Objekts und seiner Vertretung durch das Börsenpapier
hat jede Stetigkeit verloren. Hier also zeigt sich die unbedingte Nach-
giebigkeit der Wertform, die die Dinge mit dem Geld gewonnen haben
und die sie von ihrer sachlichen Grundlage ganz gelöst hat; jetzt folgt
der Wert relativ widerstandslos den psychologischen Impulsen der
Laune, der Habsucht, der unbegründeten Meinungen und zwar in um
so auffälligerer Weise, als doch reale Verhältnisse da sind, welche
durchaus treffende Maſsstäbe der Bewertung bilden könnten. Aber
seiner eigenen Wurzel und Substanz gegenüber hat der zu einem Geld-
gebilde gewordene Wert sich verselbständigt, um sich nun subjektiven
Energien vorbehaltlos auszuliefern. Hier, wo die Wette selbst den
Gegenstand der Wette in seinem Schicksal zu bestimmen vermag, und
zwar in Unabhängigkeit von vorhandenen sachlichen Gründen, hat die
Durchdringbarkeit und Bildsamkeit der Geldform der Werte durch
die Subjektivität in ihrem engsten Sinne den triumphierendsten Aus-
druck gefunden.


Nach alledem ist die Ausdehnung des Ich, die der Geldbesitz be-
deutet, eine sehr eigenartige — in gewissem Sinne die vollständigste,
die uns von einem Objekt überhaupt kommen kann, in anderem grade
die beschränkteste, weil seine Nachgiebigkeit doch schlieſslich nur die
eines absolut flüssigen Körpers ist, der freilich jegliche Form annimmt,
keine aber sozusagen in sich selbst ausprägt, sondern jede Bestimmt-
heit derselben erst von dem umschlieſsenden Körper erhält. Aus dieser
Konstellation erklären sich psychologische Thatsachen des folgenden
Typus. Jemand sagte mir, er hätte das Bedürfnis, alle Dinge, die
ihm sehr gefallen, zu kaufen, wenn auch nicht für sich und um sie
zu besitzen; es käme ihm nur darauf an, seinem Gefallen an den
Dingen damit einen aktiven Ausdruck zu geben, sie durch sich durch-
gehen zu lassen und ihnen so irgendwie den Stempel seiner Persön-
[330] lichkeit aufzudrücken. Hier ermöglicht also das Geld eine ganz eigen-
artige Expansion der Persönlichkeit, sie sucht sich nicht mit dem Besitz
der Dinge selbst zu schmücken, die Herrschaft über diese ist ihr gleich-
gültig; es genügt ihr vielmehr jene momentane Macht über sie, und während
es scheint, als ob dieses Sich-Fernhalten von jeder qualitativen Beziehung
zu ihnen der Persönlichkeit gar keine Erweiterung und Befriedigung ge-
währen könne, wird doch grade der Aktus des Kaufens als eine solche
empfunden, weil die Dinge ihrer Geldseite nach sozusagen absolut ge-
horsam sind; wegen der Vollständigkeit, mit der das Geld und die
Dinge als Geldwerte dem Impulse der Persönlichkeit gehorchen, wird
diese schon durch ein Symbol derjenigen Herrschaft über sie befriedigt,
die sonst nur in dem wirklichen Besitze liegt. Der Genuſs dieser
bloſsen Symbolik des Genusses kann sich nahe an das Pathologische
hin verirren, wie in dem folgenden Falle, den ein französischer Ro-
mancier offenbar der Wirklichkeit nacherzählt. Gewissen Pariser Bo-
hême-Kreisen habe ein Engländer angehört, dessen Lebensgenuſs darin
bestand, daſs er die tollsten Orgien mitmachte, nie aber selbst etwas
genoſs, sondern immer nur für alle bezahlte; er tauchte auf, sprach
nichts, that nichts, bezahlte alles und verschwand. Die eine Seite der
fraglichen Vorgänge, das Bezahlen, muſs für das Gefühl dieses Mannes
zu ihrem Ganzen geworden sein. Es ist wohl anzunehmen, daſs hier
eine jener perversen Befriedigungen vorliegt, von denen neuerdings in
der Sexual-Pathologie häufig die Rede ist; der gewöhnlichen Ver-
schwendungssucht gegenüber, die auch an der Vorstufe des Besitzens
und Genieſsens, dem bloſsen Geldausgeben, Halt macht, ist das Ver-
fahren jenes Mannes deshalb so besonders auffällig, weil die Genüsse,
die hier durch ihr Äquivalent vertreten werden, ihm so sehr nahe-
tretende und unmittelbar verführerische sind. — Das Fernbleiben von
dem positiven Haben und Ausschöpfen der Dinge einerseits, die That-
sache andrerseits, daſs schon ihr bloſser Kauf als ein Verhältnis zwischen
der Persönlichkeit und ihnen und als eine persönliche Befriedigung
empfunden wird, erklärt sich aus der Expansion, die die bloſse Funktion
des Geldaufwandes der Persönlichkeit gewährt. Trotz oder wegen
seiner eigenen absoluten Nachgiebigkeit baut das Geld eine Brücke
zwischen dem so empfindenden Menschen und den Dingen, über die
hinschreitend die Seele den Reiz ihres Besitzes auch dann empfindet,
wenn sie zu diesem selbst gar nicht gelangt.


Dieses Verhältnis bildet ferner eine Seite der sehr komplexen und
oben schon wichtig gewordenen Erscheinung des Geizes. Indem der
Geizige in dem Besitz des Geldes seine Seligkeit findet, ohne zum Er-
werb und Genuſs einzelner Gegenstände vorzuschreiten, muſs sein
[331] Machtgefühl tiefer und wertvoller sein, als alle Herrschaft über be-
stimmt qualifizierte Dinge ihm sein könnte. Denn jeder Besitz eines
solchen, so sahen wir, hat seine Schranke in sich. Die begierige Seele,
die restlose Befriedigung trinken und das Letzte, Innerste, Absolute
der Dinge mit sich durchdringen will, erfährt von ihnen schmerzlichste
Zurückweisungen, sie sind und bleiben etwas für sich, was ihrer völligen
Einschmelzung in die Sphäre des Ich Widerstand leistet und so grade
den leidenschaftlichsten Besitz in Unbefriedigung ausklingen läſst. Der
Besitz des Geldes ist von diesem geheimen Widerspruch alles sonstigen
Habens frei. Um den Preis, an die Dinge selbst nicht heran-
zukommen und auf alle spezifischen, an Einzelnes geknüpften Freuden
zu verzichten, kann das Geld ein Herrschaftsgefühl gewähren, das aber
weit genug von den eigentlich empfindbaren Objekten absteht, um sich
an den Schranken des Besitzens ihrer nicht zu stoſsen. Das Geld allein
besitzen wir ganz und ohne Reserve, es allein geht völlig in der
Funktion auf, die wir mit ihm vornehmen. So müssen die Freuden
des Geizigen den ästhetischen ähnlich sein. Denn auch diese stellen
sich jenseits der undurchdringlichen Realität der Welt und halten sich
an ihren Schein und Schimmer, der dem Geiste völlig durchdring-
lich ist, wie er ohne Rückstand in ihn eingeht. Indes sind auch hier
die an das Geld geknüpften Erscheinungen nur die reinsten und durch-
sichtigsten Stufen einer Reihe, die das gleiche Prinzip auch an anderen
Inhalten verwirklicht. Ich lernte einen Mann kennen, der, nicht mehr
ganz jung, Familienvater, in guten Verhältnissen, seine gesamte Zeit
damit ausfüllte, alle möglichen Dinge zu lernen, Sprachen, ohne sie
je praktisch anzuwenden, vollendet tanzen, ohne es auszuüben, Fertig-
keiten jeder Art, ohne einen Gebrauch von ihnen zu machen oder auch
nur machen zu wollen. Dies ist vollkommen der Typus des Geiz-
halses: die Befriedigung an der voll besessenen Potenzialität, die nie-
mals an ihre Aktualisierung denkt. Aber auch hier muſs deshalb der
dem Ästhetischen verwandte Reiz vorhanden sein: die Beherrschung
gleichsam der reinen Form und Idee der Dinge oder des Handelns,
der gegenüber jedes Vorschreiten zur Wirklichkeit durch deren un-
vermeidliche Hindernisse, Rückstöſse, Unzulänglichkeiten nur ein
Herabsteigen sein könnte, und das Gefühl, die Objekte durch das
Können absolut zu beherrschen, einschränken müſste. Die ästhe-
tische Betrachtung — die als bloſse Funktion jeglichem Gegenstande
gegenüber möglich und dem „Schönen“ gegenüber nur besonders
leicht ist — beseitigt am gründlichsten die Schranke zwischen dem
Ich und den Objekten; sie läſst die Vorstellung der letzteren so leicht,
mühelos, harmonisch abrollen, als ob sie von den Wesensgesetzen des
[332] ersteren allein bestimmt wären. Daher das Gefühl der Befreiung, das
die ästhetische Stimmung mit sich führt, die Erlösung von dem dumpfen
Druck der Dinge, die Expansion des Ich mit all seiner Freude und
Freiheit in die Dinge hinein, von deren Realität es sonst vergewaltigt
wurde. Das muſs die psychologische Färbung der Freude am bloſsen
Geldbesitz sein. Die eigentümliche Verdichtung, Abstraktion, Anti-
zipation des Sachbesitzes, die er bedeutet, läſst dem Bewuſstsein eben
jenen freien Spielraum, jenes ahnungsvolle Sicherstrecken durch ein
widerstandsloses Medium hindurch, jenes In-Sich-Einziehen aller Mög-
lichkeiten, ohne Vergewaltigungen und Dementierungen durch die Wirk-
lichkeit — wie es alles dem ästhetischen Genieſsen eigen ist. Und
wenn man die Schönheit als une promesse de bonheur definiert
hat, so weist auch dies auf die psychologische Formgleichheit
zwischen dem ästhetischen Reiz und dem des Geldes hin; denn
worin anders kann dieser letztere bestehen als in dem Versprechen
der Freuden, die uns das Geld vermitteln soll? — Es giebt
übrigens Versuche, jenen Reiz des noch ungeformten Wertes mit dem
Reiz der Formung zu vereinigen: das ist eine der Bedeutungen des
Schmuckes und der Pretiosen. Der Besitzer davon erscheint als Re-
präsentant und Herr einer, unter Umständen sehr hohen, Wertsumme,
die gleichsam eine verdichtete Macht in seiner Hand darstellt, während
andrerseits die absolute Flüssigkeit und bloſse Potenzialität, die diese
Bedeutung sonst bedingt, doch zu einer gewissen Formbestimmtheit
und spezifischen Qualität geronnen ist. Besonders schlagend tritt dieser
Vereinigungsversuch im folgenden hervor: in Indien war es bis jetzt
üblich, Geld in Form von Schmucksachen aufzubewahren, bezw. zu
sparen: d. h., man lieſs die Rupien einschmelzen, zu Schmuck ver-
arbeiten (was nur einen sehr geringen Wertverlust erzeugte) und the-
saurierte diesen, um ihn im Notfall wieder als Silber auszugeben.
Offenbar wirkt der Wert so zugleich kondensierter und qualitätenreicher.
Diese Vereinigung läſst ihn, indem er so selbst eigenartiger und seine
atomistische Struktur aufgehoben ist, gewissermaſsen der Persönlichkeit
enger zugehörig erscheinen; so sehr ist dies der Fall, daſs die fürst-
lichen Thesaurierungen von Edelmetallen in Gerätform seit Salomons
Zeiten von dem trügerischen Glauben getragen wurden, in dieser Form
sei der Schatz am engsten der Familie verbunden und vor den Griffen
der Feinde am gesichertsten. Die unmittelbare Verwendung der Münzen
als Schmuck hat vielfach den Sinn, daſs man das Vermögen fortwährend
an sich, also unter Aufsicht, haben will. Der Schmuck, der eine Be-
strahlung der Persönlichkeit ist, wirkt als eine Ausstrahlung derselben,
und darum ist es wesentlich, daſs er etwas Wertvolles ist: der
[333] ideale wie jener praktische Sinn seiner erheben sich auf seiner
engen Zugehörigkeit zum Ich. Für den Orient ist hervorgehoben,
die Bedingung alles Reichtums sei, daſs man ihn flüchten könne, so-
zusagen also ihn dem Besitzer und seinen Schicksalen absolut folgsam
mache. Andrerseits aber enthält auch schon die Freude am Geldbesitz
zweifellos ein idealistisches Moment, dessen Hervorhebung nur deshalb
paradox erscheint, weil einerseits die Mittel, zu ihm zu gelangen, an
solchen Momenten meistens Mangel leiden, und weil andrerseits diese
Freude in dem Augenblick, wo sie als Äuſserung aus dem Subjekt
heraustritt, dies gleichfalls in ganz anderer als idealistischer Form zu
thun pflegt; das darf aber nicht die Thatsache verdecken, daſs die
Freude am Geldbesitz bloſs als solchem eine der abstraktesten, von
aller sinnlichen Unmittelbarkeit entferntesten, am ausschlieſslichsten
durch einen Prozeſs des Denkens und der Phantasie vermittelten ist.
So gleicht sie der Freude am Siege, die bei manchen Naturen so stark
ist, daſs sie gar nicht darnach fragen, was sie denn eigentlich durch
den Sieg gewinnen.


Diese eigentümliche Art, in der der Geldbesitz die Erweiterung
der Persönlichkeit, wie sie in jedem Besitz liegt, darstellt, findet eine
Bestätigung oder Ergänzung in der folgenden Überlegung. Jede Sphäre
von Objekten, die ich mit meiner Persönlichkeit erfülle, indem sie
meinen Willen sich in ihr ausprägen läſst, fand ihre Grenze an den
eigenen Gesetzen der Dinge, die mein Wille nicht brechen kann.
Allein diese Grenze setzt nicht nur der passive Widerstand der Ob-
jekte, sondern, von der anderen Seite her, die Beschränktheit in der
Expansionsfähigkeit des Subjekts. Der Kreis der Objekte, die dem
Willen gehorchen, kann so groſs sein, daſs das Ich seinerseits nicht
mehr im stande ist, ihn zu erfüllen. Wenn wir sagen, daſs Besitz so
viel ist als Freiheit, wenn meine Freiheit, das Sich-Durchsetzen meines
Willens, sich nach dem Quantum des mir Gehörenden steigert, so ge-
schieht dies thatsächlich nur bis zu einer gewissen Grenze, von der
an das Ich seine potenzielle Herrschaft über die Dinge nicht mehr
verwirklichen und genieſsen kann. Die Habgier kann natürlich über
diesen Punkt hinausführen, aber sie offenbart ihre Sinnlosigkeit in der
Unbefriedigung, die selbst ihrer Erfüllung eigen ist, ja in der gelegent-
lichen Bindung und Beengung, mit der das Übermaſs des Besitzes in
das Gegenteil seines eigentlichen Charakters und Zweckes umschlägt.
Das ergiebt Erscheinungen, wie die des unfruchtbaren Besitzes, weil
die Thätigkeit des Besitzers nicht ausreicht, ihn zu befruchten; des
Despoten, der es müde wird, über Sklaven zu herrschen, weil an der
unbedingten Unterwerfung unter seinen Willen auch der Wille zur
[334] Macht endet und ihm der Reibungswiderstand fehlt, an dem er sich
seiner erst eigentlich bewuſst wird; des Eigentümers, der weder Zeit
noch Kraft für den Genuſs seines Eigentums übrig hat, weil dessen
Verwaltung und Fruktifizierung beide bis zu ihrer äuſsersten Grenze
verbraucht. Die Objekte unterscheiden sich nun an der Frage, welches
Quantum von Persönlichkeit sie gleichsam absorbieren, d. h., von
welchem Maſse an ihr Besitz sinnlos wird, weil nur bis zu diesem noch
das Ich im stande ist, ihn mit sich zu erfüllen. Auch hier nimmt das
Geld eine besondere Stellung ein. Man kann sagen, daſs zu seiner
Verwaltung, Beherrschung, Genuſs weniger Persönlichkeit eingesetzt zu
werden braucht, als anderen Besitzobjekten gegenüber, und daſs des-
halb das Maſs des Besitzes, das man wirklich erfüllen und zur wirt-
schaftlichen Persönlichkeits-Sphäre machen kann, ein gröſseres ist, als
bei anderen Besitzformen.


Abgesehen sogar von dem wirklichen Genieſsen ist in der Regel
schon die Begierde nach allen anderen Dingen durch die Aufnahme-
fähigkeit des Subjektes begrenzt, so wenig die Grenzen beider auch
zusammenfallen und in so weitem Kreise die erstere auch die letztere
umgeben mag. Das Geld allein enthält — wie früher schon ein
anderer Zusammenhang ergab — jenes innere Maſs nicht, das sich
schlieſslich auch als Begrenzung der Begierde nach dem Objekt
geltend macht. Alles dies ist natürlich um so mehr der Fall, je mehr
das Geld wirklich bloſses „Geld“ ist, d. h. reines Tauschmittel ohne
unmittelbar zu genieſsenden Eigenwert. So lange als Geld noch Vieh,
Eſswaren, Sklaven u. s. w., also eigentlich Konsumwaren, fungieren,
bedeutet sein Besitz weniger, daſs er ausgedehnte Kaufkraft, als reiche
Fülle des eigenen Konsumierens verleiht. Hierin sind sozusagen zwei
verschiedene Formeln für die Ausdehnung der Persönlichkeit nahe-
gelegt. In dem primitiveren, naturalwirtschaftlichen Fall besteht sie
in dem Sich-Aneignen der Objekte durch unmittelbaren Genuſs, man
könnte sagen: das Ich dehnt sich von seinem Zentrum her kontinu-
ierlich aus — während mittels des abstrakten Metallgeldes oder gar des
Kredites diese näheren Stufen gleichgültig und übersprungen werden.
Im Gegensatz zu dem „reichen“ Manne der Naturalwirtschaft kann
der moderne Reiche das bescheidenste, eingeschränkteste, im unmittel-
baren Sinne genuſsloseste Leben führen; man kann z. B. auf kuli-
narischem Gebiet, wie ich glaube, als Folge der vorschreitenden Geld-
wirtschaft die zweiseitige Entwicklungstendenz feststellen, daſs die
Reichen immer einfacher essen — von Festlichkeiten abgesehen —
und der Mittelstand immer besser — wenigstens in den Städten. Durch
die Fernwirkungen des Geldes kann das Ich seine Macht, seinen
[335] Genuſs, seinen Willen an entferntesten Objekten ausleben, indem es
die nächstgelegenen Schichten vernachlässigt und übergeht, die jener
primitivere Reichtum ihm allein zur Verfügung stellt. Die Expan-
sionsfähigkeit des Subjektes, die durch seine Natur selbst beschränkt
ist, zeigt dem bloſsen Gelde gegenüber eine gröſsere Weite und Frei-
heit als an jedem anderen Besitz. So ist der Unterschied gegen die
vorige Überlegung der: dort war es der eigene Charakter der Dinge
selbst, an dem sich die Expansion des Ich brach; hier ist es die eigene
Beschränkung der Persönlichkeitskräfte, die selbst bei völliger Nach-
giebigkeit der Dinge von einem gewissen Besitzquantum dieser an er-
lahmen muſs, eine Erscheinung, die, wie sich zeigte, am spätesten ein-
tritt, wenn der Besitz nicht die Form spezifischer Objekte, sondern die
des Geldes aufweist.


[[336]]

III.


Innerhalb der Geistesgeschichte begegnet uns eine Entwicklung,
die, so einfach ihr Schema ist, durch ihre umfassende und tiefgreifende
Verwirklichung zu den bedeutsamsten Formen der geistigen Realität
gehört. Wir finden nämlich gewisse Gebiete zuerst von je einem
Charakterzuge uneingeschränkt beherrscht; die Entwicklung zerspaltet
die Einheitlichkeit des einzelnen in mehrere Teilgebiete, von welchen
nun eines den Charakter des Ganzen im engeren Sinne und im Gegen-
satz gegen die andern Teile repräsentiert. Oder, anders ausgedrückt:
bei allem relativen Gegensatz zweier Elemente eines Ganzen können
doch beide den Charakter des einen von ihnen, aber in absoluter Form,
gemeinsam tragen. So könnte z. B. der moralphilosophische Egoismus
recht haben, daſs wir überhaupt nicht anders als im eignen Interesse
und um persönlicher Lust willen handeln können. Dann aber müſste
weiterhin zwischen einem Egoismus im engeren und einem im weiteren
Sinne unterschieden werden; wer seinen Egoismus an dem Wohlergehen
Andrer, etwa unter Aufopferung des eignen Lebens, befriedigt, den
würden wir zweifellos weiter einen Altruisten nennen und ihn von dem-
jenigen unterscheiden, dessen Handeln nur auf Schädigung und Unter-
drückung Andrer geht; diesen müssen wir als den Egoisten schlechthin
bezeichnen, so sehr der Egoismus, in seiner absoluten und weitesten
Bedeutung, sich mit jedem Handeln als solchem deckend, auch jenen
ersteren einschlieſsen mag. — Ferner: die erkenntnistheoretische Lehre,
daſs alles Erkennen ein rein subjektiver, ausschlieſslich im Ich ver-
laufender und vom Ich bestimmter Prozeſs ist, mag ihre Richtigkeit
haben; dennoch unterscheiden wir nun solche Vorstellungen, die objektiv
wahr sind, von den nur subjektiv, durch Phantasie, Willkür, Sinnes-
täuschung erzeugten — wenngleich, absolut genommen, auch jene ob-
jektiveren Erkenntnisse bloſs subjektiver Provenienz sein mögen. Die
Entwicklung geht auf immer gründlichere, bewuſstere Scheidung zwischen
den objektiven und den subjektiven Vorstellungen, die sich ursprüng-
lich in einem unklaren psychologischen Indifferenzzustand bewegten.
[337] An dem Verhältnis des Menschen zu seinem Besitz scheint sich diese
Fortschrittsform zu wiederholen. Prinzipiell angesehen ist jeder Besitz
eine Erweiterung des Ich, eine Erscheinung innerhalb des subjektiven
Lebens, und sein ganzer Sinn besteht in dem Bewuſstseins- bezw. Ge-
fühlsreflex, den die durch ihn bezeichnete Beziehung zu den Dingen
in der Seele auslöst. In dem gleichen Sinne ist alles, was mit den
Besitzgegenständen geschieht, eine Funktion des Subjekts, das sich selbst,
seinen Willen, sein Gefühl, seine Denkart in sie ausströmt und an ihnen
ausprägt. Historisch indes stellt sich, worauf ich schon früher hin-
deutete, diese absolute Bedeutung des praktischen Besitzes, grade wie
die des intellektuellen Besitzes, zunächst in einem Indifferenzzustand
dar, der das Ich und die Dinge verschmilzt und jenseits des Gegen-
satzes zwischen beiden steht. Die altgermanische Verfassung, die den
Besitz unmittelbar an die Person knüpfte, der spätere Feudalismus,
der umgekehrt die Person an den Besitz band; die enge Verbindung
mit der Gruppe überhaupt, die jedes Mitglied a priori in seine öko-
nomische Stellung hineinwachsen läſst; die Erblichkeit der Berufe,
durch welche Thätigkeit und Position einerseits, die familiäre Persön-
lichkeit andrerseits zu Wechselbegriffen werden; jede ständische oder
zunftartige Verfassung der Gesellschaft, die ein organisches Verweben
der Persönlichkeit mit ihrem ökonomischen Sein und Haben bedingt —
dies alles sind Zustände von Undifferenziertheit zwischen Besitz und
Person; ihre ökonomischen Inhalte oder Funktionen und diejenigen,
welche das Ich im engeren Sinne ausmachen, stehen in sehr unmittel-
barer gegenseitiger Bedingtheit, und, wie das Denken des primitiven
Menschen keine gesonderten Kategorien für die bloſs subjektive Ein-
bildung und die objektiv wahre Vorstellung besitzt, so unterscheidet
seine Praxis auch nicht klar zwischen der eignen Gesetzmäſsigkeit der
Dinge (wo er diese anerkennt, nimmt sie leicht wieder die per-
sonifizierende Gestalt eines göttlichen Prinzips an) und der nach
innen konzentrierten, von dem Äuſseren unabhängigen Persönlichkeit.
Die Entwicklung über dieses Stadium hinaus besteht nun in der
Sonderung jener Elemente. Alle höhere wirtschaftliche Technik be-
ruht auf einer Verselbständigung der ökonomischen Prozesse: sie werden
von der Unmittelbarkeit der personalen Interessen gelöst, sie funktio-
nieren, als ob sie Selbstzwecke wären, ihr mechanischer Ablauf wird
immer weniger von den Unregelmäſsigkeiten und Unberechenbarkeiten
des personalen Elementes gekreuzt. Und auf der andern Seite differen-
ziert sich eben dieses zu wachsender Selbständigkeit, das Individuum
erhält eine Ausbildungsfähigkeit, die zwar nicht von seiner ökonomischen
Lage überhaupt, wohl aber von den apriorischen Bestimmtheiten der-
Simmel, Philosophie des Geldes. 22
[338] selben immer unabhängiger wird. Bei dieser sondernden Entwicklung
der objektiven und der subjektiven Momente der Lebenspraxis bleibt
natürlich die oben bezeichnete Thatsache unbewuſst, daſs im letzten
Grunde und absolut genommen, die Gesamtheit dieser Praxis doch nur
menschlich-subjektiver Natur ist: die Einrichtung einer Maschine oder
einer Fabrik, so sehr sie den Gesetzen der Sache gemäſs ist, wird
doch schlieſslich auch von den persönlichen Zwecken, von der subjek-
tiven Denkfähigkeit des Menschen umfaſst. Aber dieser allgemeine
und absolute Charakter hat sich im relativen Sinne auf eines der
Elemente konzentriert, in die das Ganze des Gebietes auseinander-
gegangen ist.


Wenn wir die Rolle des Geldes in diesem Differenzierungsprozeſs
untersuchen, so fällt zunächst auf, daſs derselbe sich an die räumliche
Entfernung zwischen dem Subjekt und seinem Besitz knüpft. Der
Aktieninhaber, der mit der Geschäftsführung der Gesellschaft absolut
nichts zu thun hat; der Staatsgläubiger, der das ihm verschuldete Land
nie betreten hat; der Groſsgrundbesitzer, der seine Ländereien in
Pacht ausgethan hat — sie alle überlassen ihre Besitzquanten einem
rein technischen Betriebe, dessen Früchte sie allerdings ernten, mit
dem an und für sich sie aber gar nichts zu schaffen haben. Und das
eben ist ausschlieſslich durch das Geld möglich. Erst wenn der Ertrag
des Betriebes eine Form annimmt, in der er ohne weiteres an jeden
Punkt übertragbar ist, gewährt er, durch die Entfernung zwischen Besitz
und Besitzer, beiden jenes hohe Maſs von Unabhängigkeit, sozusagen
von Eigenbewegung: dem einen die Möglichkeit, ausschlieſslich nach
den inneren Anforderungen der Sache betrieben zu werden, dem andern
die Möglichkeit, sein Leben ohne Rücksicht auf die spezifischen An-
forderungen seines Besitzes einzurichten. Die Fernwirkung des Geldes
gestattet dem Besitz und dem Besitzer so weit auseinanderzutreten,
daſs jedes seinen eignen Gesetzen ganz anders folgen kann, als da der
Besitz noch in unmittelbarer Wechselwirkung mit der Person stand,
jedes ökonomische Engagement zugleich ein persönliches war, jede
Wendung in der persönlichen Direktive oder Stellung zugleich eine
solche innerhalb der ökonomischen Interessen bedeutete. So äuſsert
sich die Solidarität zwischen Person und Besitz bei sehr vielen Natur-
völkern aller Erdteile darin, daſs der letztere, soweit er ganz indivi-
duell, erobert oder erarbeitet ist, mit dem Besitzenden ins Grab geht.
Es liegt auf der Hand, wie sehr hierdurch auch die objektive Kultur
hintangehalten wird, deren Fortschritt grade auf dem Weiterbauen auf
ererbten Produkten ruht. Erst durch die Vererbung erstreckt sich der
Besitz über die Grenze des Individuums hinaus und beginnt, eine sach-
[339] liche und für sich entwickelbare Existenz zu führen. Für jenes per-
sonale, dem Eigner gleichsam angewachsene Wesen des Besitzes ist es
bezeichnend, daſs im frühgermanischen Recht jede Schenkung im Falle
der Undankbarkeit des Beschenkten und in einigen andern Fällen
widerrufbar war. Weniges zeigt so scharf den ganz personalen Cha-
rakter jener frühen Besitzformen: eine rein individuell-ethische Be-
ziehung zwischen Schenker und Beschenktem hat eine unmittelbare
rechtlich-ökonomische Folge. Schon äuſserlich widerstrebt die Geld-
wirtschaft der hiermit ausgedrückten Empfindungsweise; das naturale
Geschenk kann wirklich in natura zurückgegeben werden, das Geld-
geschenk aber, nach ganz kurzer Zeit, nicht mehr als „dasselbe“, sondern
nur dem gleichen Werte nach. Damit ist die Beziehung geschwächt
oder vernichtet, die für das Gefühl noch zwischen dem naturalen Ge-
schenk und seinem Geber fortbestehen und die Rückforderbarkeit be-
gründen mochte; die Geldform des Geschenks entfernt und entfremdet
es ihm sehr viel definitiver. Wegen dieses Auseinandertreibens von
Sache und Person sind auch Zeitalter der ausgebildetsten und ganz
objektiv gewordenen Technik zugleich solche der individualisiertesten
und subjektivsten Persönlichkeiten: der Beginn der römischen Kaiser-
zeit und die letzten 100—150 Jahre sind beides Zeiten intensivster
Geldwirtschaft. Der technisch verfeinerte Charakter der Rechtsbegriffe
stellt sich gleichfalls erst als Korrelat jenes abstrakten Individualismus
her, der mit der Geldwirtschaft Hand in Hand geht. Bevor, zugleich
mit dieser, das römische Recht in Deutschland rezipiert wurde, kannte
das deutsche Recht keine Stellvertretung in Rechtssachen, nicht die
Institution der juristischen Person, nicht das Eigentum als Gegenstand
freier individueller Willkür, sondern nur als Träger von Rechten und
Pflichten. Ein mit solchen Begriffen arbeitendes Recht ist nicht mehr
möglich, wo das Individuum sich von der Verschmelzung mit beson-
deren Bestimmtheiten des Besitzes, der sozialen Position, der mate-
rialen Inhalte des Seins gelöst hat und jenes völlig freie und auf sich
gestellte, aber von allen speziellen Daseinstendenzen begrifflich ge-
schiedene Wesen geworden ist, das allein in die Geldwirtschaft hinein-
gehört und so jene Lebensinteressen, als rein sachlich gewordene, der
logisch-abstrakten römischen Rechtstechnik überlassen kann. Das Ver-
hältnis zwischen dem Grund und Boden und dem Besitzer hat in
Deutschland die Stadien durchgemacht, daſs zuerst der Grundbesitz
aus der personalen Stellung in der Gemeinde geflossen war, und dann
umgekehrt die Person durch ihren Besitz bestimmt war, bis schlieſslich
die Verselbständigung des Grundbesitzes einen ganz andern Sinn an-
nimmt, einen solchen, in dem sie gleichsam am anderen Ende die Per-
22*
[340] sönlichkeit als völlig selbständige hervortreten läſst. In der Urzeit
hatte die Personalität die dinglichen Beziehungen überdeckt und ver-
schlungen, in der Patrimonialzeit diese umgekehrt jene. Die Geld-
wirtschaft differenziert beides, Sachlichkeit bezw. Besitz und Persönlich-
keit werden gegeneinander selbständig. Die Aufgipfelung, die dieser
formale Prozeſs am Gelde selbst erlebt, kann nicht schärfer als durch
den Ausdruck der ausgebildetsten Geldwirtschaft bezeichnet werden:
daſs das Geld „arbeitet“, d. h. seine Funktionen nach Kräften und
Normen übt, die mit denen seiner Besitzer keineswegs identisch, sondern
von diesen relativ unabhängig sind. Wenn Freiheit bedeutet, nur den
Gesetzen des eignen Wesens zu gehorchen, so giebt die durch die Geld-
form des Ertrages ermöglichte Entfernung zwischen Besitz und Besitzer
beiden eine sonst unerhörte Freiheit: die Arbeitsteilung zwischen der Sub-
jektivität und den Normen der Sache wird eine vollkommene, jedes hat
nun seine Aufgaben, wie sie sich aus seinem Wesen ergeben, für sich
zu lösen, in Freiheit von der Bedingtheit durch das ihm innerlich
fremde andere.


Diese Differenzierung durch das Geld und diese individuelle Freiheit
durch die Differenzierung betrifft aber nicht nur den Rentenempfänger;
das Arbeitsverhältnis entwickelt Ansätze, freilich schwerer erkennbare,
in der gleichen Richtung. Die ökonomische Organisation der früheren
Jahrhunderte, jetzt die zurückgebliebenen Formen derselben, Hand-
werk und Kleinhandel, ruhen auf dem Verhältnis persönlicher Unter-
ordnung des Gesellen unter den Meister, des Angestellten unter den
Ladenbesitzer u. s. w. Auf diesen Stufen vollzieht sich die Wirtschaft
durch ein Zusammenwirken von Faktoren, das durchaus persönlich-
unmittelbarer Natur ist und in jedem einzelnen Fall im Geiste der
leitenden Persönlichkeit und mit Unterordnung der übrigen unter deren
Subjektivität verläuft. Dieses Verhältnis nimmt einen andern Charakter
an durch das steigende Übergewicht der objektiven und technischen
Elemente über die personalen. Der Leiter der Produktion und der
niedrigere Arbeiter, der Direktor und der Verkäufer im groſsen Magazin,
sind nun gleichmäſsig einem objektiven Zweck unterthan, und erst
innerhalb dieses gemeinsamen Verhältnisses besteht die Unterordnung
fort als technische Notwendigkeit, in der die Anforderungen der Sache,
der Produktion als eines objektiven Prozesses zum Ausdruck kommen.
Wenn nun auch dieses Verhältnis nach manchen persönlich sehr empfind-
lichen Seiten für den Arbeiter härter sein mag als das frühere, so
enthält es doch ein Element der Freiheit, indem seine Unterordnung
nicht mehr subjektiv-personaler, sondern technischer Natur ist. Zu-
nächst wird klar, daſs schon jene prinzipielle Befreiung, die im Über-
[341] gang der Unterordnung in die objektive Form liegt, aufs engste an
die unbedingtere Wirksamkeit des Geldprinzips gebunden ist. Solange
das Lohnarbeitsverhältnis als ein Mietsvertrag angesehen wird, enthält
es wesentlich ein Moment der Unterordnung des Arbeiters unter den
Unternehmer: denn der arbeitende Mensch wird gemietet, wie es
heute noch am schroffsten bei unseren Dienstboten ausgebildet ist, wo
wirklich der Mensch mit dem ganzen, sachlich gar nicht genau um-
schriebenen Komplex seiner Kräfte gemietet wird und so als ganze
Person in das Verhältnis der Unfreiheit und Unterordnung unter einen
andern Menschen eintritt. Sobald der Arbeitsvertrag aber, die Geld-
wirtschaftlichkeit in ihre letzten Konsequenzen verfolgend, als Kauf
der Ware Arbeit auftritt, so handelt es sich um die Hingabe einer
völlig objektiven Leistung, die, wie man es formuliert hat, als Faktor
in den kooperativen Prozeſs eingestellt wird und in diesem sich mit
der Leistung des Unternehmers, ihr gewissermaſsen koordiniert, zu-
sammenfindet. Das gewachsene Selbstgefühl des modernen Arbeiters
muſs damit zusammenhängen: er empfindet sich nicht mehr als Person
unterthänig, sondern giebt nur eine genau festgestellte — und zwar auf
Grund des Geldäquivalentes so genau festgestellte — Leistung hin, die
die Persönlichkeit als solche grade um so mehr freiläſst, je sachlicher,
unpersönlicher, technischer sie selbst und der von ihr getragene Betrieb
ist. Für den Betriebsleiter selbst zeitigt die durchgedrungene Geld-
wirtschaft das gleiche Resultat von der Seite her, daſs er nun seine
Produkte für den Markt herstellt, d. h. für gänzlich unbekannte
und gleichgültige Konsumenten, die nur durch das Medium des Geldes
mit ihm zu thun haben. Dadurch wird die Leistung in einer Weise
objektiviert, die die individuelle Persönlichkeit viel weniger in sie ver-
flicht und von ihr abhängig macht, als da noch lokale und persönliche
Rücksichten auf den bestimmten Abnehmer — insbesondere wenn man
mit ihm im naturalen Austauschverhältnis stand — die Arbeit beein-
fluſsten. Die Entwicklung des oben berührten Dienstbotenverhältnisses
zu persönlicher Freiheit nimmt ihren Weg ebenso über die vergröſserte
Wirkung des Geldes. Jene persönliche Bindung, die sich in den „un-
gemessenen“ Diensten des Dienstboten ausspricht, knüpft sich wesent-
lich an die Hausgenossenschaft desselben. Daraus, daſs er im Hause
der Herrschaft wohnt und beköstigt, gelegentlich auch bekleidet wird,
ergiebt es sich unvermeidlich, daſs sein Quantum von Diensten sachlich
unbestimmt ist und ebenso den wechselnden Ansprüchen der Hausvor-
kommnisse folgt, wie er sich überhaupt der Hausordnung fügen muſs.
Nun scheint die Entwicklung allmählich dahin zu gehen, daſs die
häuslichen Dienste mehr und mehr auſserhalb wohnenden Personen
[342] arbeitsteilig übertragen werden, so daſs diese nur ganz bestimmtes zu
leisten haben und ausschlieſslich mit Geld abgelohnt werden. Die Auf-
lösung der naturalwirtschaftlichen Hausgemeinschaft würde damit einer-
seits zu einer objektiven Fixierung und einem mehr technischen Cha-
rakter der Dienste führen, in unmittelbarer Konsequenz davon aber zu
einer völligen Unabhängigkeit und Auf-sich-selbst-Stehen der leisten-
den Person.


Wenn die Entwicklung des Arbeitsverhältnisses in dieser durch
das Geld ermöglichten Linie fortschreitet, so erreicht sie vielleicht die
Aufhebung gewisser Übel, die man grade der modernen Geldwirtschaft
zum besonderen Vorwurf gemacht hat. Das Motiv des Anarchismus
liegt in der Perhorreszierung der Über- und Unterordnung zwischen
den Menschen, und wenn innerhalb des Sozialismus dieses sozusagen
formale Motiv durch mehr materiale ersetzt wird, so gehört es doch
auch zu seinen Grundtendenzen, die Unterschiede der menschlichen
Lagen zu beseitigen, durch welche der eine ohne weiteres befehlen
kann, der andere ohne weiteres gehorchen muſs. So sehr für die
Denkweisen, denen das Maſs der Freiheit zugleich das Maſs alles
sozial Notwendigen ist, die Beseitigung von Über- und Unterordnung
eine durch sich selbst begründete Forderung ist, so wäre doch die auf
Über- und Unterordnung ruhende Gesellschaftsordnung an und für
sich nicht schlechter als eine Verfassung völliger Gleichheit, wenn
nicht mit jener Gefühle von Unterdrückung, Leid, Entwürdigung ver-
bunden wären. Würden jene Theorien psychologische Klarheit über
sich selbst besitzen, so müſsten sie einsehen, daſs die Gleichstellung
der Individuen ihnen gar nicht das absolute Ideal, gar nicht der kate-
gorische Imperativ ist, sondern das bloſse Mittel, um gewisse Leid-
gefühle zu beseitigen, gewisse Befriedigungsgefühle zu erzeugen; wobei
nur von jenen abstrakten Idealisten abgesehen wird, für die die Gleich-
heit ein formal-absoluter und selbst um den Preis aller möglichen in-
haltlichen Nachteile, ja, des Pereat mundus erforderter Wert ist. Wo
aber eine Forderung ihre Bedeutung nicht in sich, sondern von ihren
Folgen zu Lehen trägt, da ist es prinzipiell stets möglich, sie durch
eine andere zu ersetzen: denn die gleiche Folge kann durch sehr ver-
schiedene Ursachen hervorgerufen werden. Diese Möglichkeit ist im
vorliegenden Falle deshalb sehr wichtig, weil alle bisherige Erfahrung
gezeigt hat, welches ganz unentbehrliche Organisationsmittel die Über-
und Unterordnung ist, und daſs mit ihr eine der fruchtbarsten Formen
der gesellschaftlichen Produktion verschwände. Die Aufgabe ist also,
die Über- und Unterordnung, soweit sie diese Folgen hat, beizubehalten
und zugleich jene psychologischen Folgen, um derentwillen sie per-
[343] horresziert wird, zu beseitigen. Diesem Ziele nähert man sich offen-
bar in dem Maſse, in welchem alle Über- und Unterordnung eine bloſs
technische Organisationsform wird, deren rein objektiver Charakter gar
keine subjektiven Empfindungen mehr hervorruft. Es kommt darauf
an, die Sache und die Person so zu scheiden, daſs die Erfordernisse
der ersteren, welche Stelle im gesellschaftlichen Produktions- oder
Zirkulationsprozesse sie auch der letzteren anweisen, die Individualität,
die Freiheit, das innerste Lebensgefühl derselben ganz unberührt lassen.
Eine Seite dieser Verfassung ist innerhalb eines Standes schon verwirk-
licht — im Offiziersstand. Die blinde Subordination unter den Vor-
gesetzten wird hier nicht als Entwürdigung empfunden, weil sie nichts
als das technisch unumgängliche Erfordernis für die militärischen Zwecke
ist, denen auch jeder Vorgesetzte selbst in nicht weniger strenger, aber
auch nicht weniger objektiver Weise unterworfen ist. Die persönliche
Ehre und Würde steht ganz jenseits dieser Über- und Unterordnung,
diese haftet sozusagen nur der Uniform an und ist nur eine Bedingung
der Sache, von der kein Reflex auf die Person fällt. In anderer Wen-
dung tritt diese Differenzierungserscheinung bei rein geistigen Beschäf-
tigungen auf. Zu allen Zeiten hat es Persönlichkeiten gegeben, die
sich bei völliger Untergeordnetheit und Abhängigkeit der äuſseren
Lebensstellung absolute geistige Freiheit und individuelle Produktivität
gewahrt haben, insbesondere allerdings in Zeiten, wo sehr festgewordene
soziale Ordnungen durch einströmende Bildungsinteressen gekreuzt
werden und jene bestehen bleiben, während diese ganz neue innere
Rangierungen und Kategorien schaffen — wie etwa in der Epoche des
Humanismus und in der letzten Zeit des ancien régime. Es lieſse sich
nun denken, daſs, was in diesen Fällen ganz einseitig ausgebildet ist,
zur sozialen Organisationsform überhaupt würde. Über- und Unter-
ordnung in allen möglichen Gestalten ist jetzt die technische Bedingung
für die Gesellschaft, ihre Zwecke zu erreichen; allein sie wirft einen
Reflex auch auf die innerliche Bedeutung des Menschen, auf die Frei-
heit seiner Ausbildung, auf sein rein menschliches Verhältnis zu an-
deren Individuen. Indem diese Verquickung gelöst, alles Oben-
und Untenstehen, alles Befehlen und Gehorchen eine bloſs äuſserliche
Verfassungstechnik würde, welche auf die individuelle Stellung und Ent-
wicklung in allem übrigen weder Licht noch Schatten werfen kann,
würden alle jene Leidgefühle schwinden, um derentwillen man heute,
wo das Äuſserliche und bloſs Zweckmäſsige der sozialen Hierarchie noch
mit dem Persönlich-Subjektiven des Individuums allzueng assoziiert ist,
nach einer Beseitigung jener Hierarchie überhaupt rufen kann. Man
würde durch diese Objektivierung des Leistens und seiner organisato-
[344] rischen Bedingungen alle technischen Vorteile der letzteren behalten und
ihre Benachteiligungen der Subjektivität und Freiheit vermeiden, auf
die sich heute der Anarchismus und teilweise der Sozialismus gründet.
Das aber ist die Richtung der Kultur, die, wie wir oben sahen, die
Geldwirtschaft anbahnt. Die Trennung des Arbeiters von seinem Ar-
beitsmittel, die als Besitzfrage für den Knotenpunkt des sozialen
Elends gilt, würde sich in einem anderen Sinne grade als eine Erlösung
zeigen: wenn sie die personale Differenzierung des Arbeiters als
Menschen von den rein sachlichen Bedingungen bedeutete, in die die
Technik der Produktion ihn stellt. So würde das Geld eine jener
nicht seltenen Entwicklungen vollziehen, in denen die Bedeutung eines
Elementes direkt in ihr Gegenteil umschlägt, sobald sie aus ihrer ur-
sprünglichen beschränkten Wirksamkeit sich zu einer durchgehenden,
konsequenten, überall hindringenden entfaltet hat. Indem das Geld
gleichsam einen Keil zwischen die Person und die Sache treibt, zer-
reiſst es zunächst wohlthätige und stützende Verbindungen, leitet aber
doch jene Verselbständigung beider gegeneinander ein, in der jedes
von beiden seine volle, befriedigende, von dem andern ungestörte
Entwicklung finden kann.


Wo die Arbeitsverfassung, bezw. das allgemeine soziale Verhältnis
aus der personalen in die sachliche Form — und, parallel damit, aus
der naturalwirtschaftlichen in die geldwirtschaftliche — übergeht, finden
wir zunächst oder partiell eine Verschlechterung in der Stellung des
Untergeordneten. Die Entlohnung des Arbeiters in Naturalien hat, gegen-
über dem Geldlohn, neben all ihren Gefahren sicher manche Vorteile.
Denn die Geldleistung bezahlt ihre gröſsere äuſsere Bestimmtheit, sozusagen
ihre logische Präzision mit der gröſseren Unsicherheit ihres schlieſs-
lichen Wertquantums. Brot und Wohnung haben für den Arbeiter
einen, man möchte sagen, absoluten Wert, der als solcher zu allen Zeiten
derselbe ist; die Wertschwankungen, denen nichts empirisches sich ent-
ziehen kann, fallen hier dem Arbeitgeber zur Last, der sie dadurch
für den Arbeiter ausgleicht. Der gleiche Geldlohn dagegen kann
heute etwas völlig anderes bedeuten als vor einem Jahre, er verteilt
die Chancen der Schwankungen zwischen Geber und Empfänger. Allein
diese Unsicherheit und Ungleichmäſsigkeit, die oft genug recht empfind-
lich sein mag, ist doch das unvermeidliche Korrelat der Freiheit. Die
Art, auf die die Freiheit sich darstellt, ist Unregelmäſsigkeit, Un-
berechenbarkeit, Asymmetrie; weshalb denn — wie später noch ausführ-
lich zu erörtern ist — freiheitliche politische Verfassungen, wie die
englische, durch ihre inneren Anomalien, ihren Mangel an Planmäſsig-
keit und systematischem Aufbau charakterisiert sind, während des-
[345] potischer Zwang allenthalben auf symmetrische Strukturen, Gleich-
förmigkeit der Elemente, Vermeidung alles Rhapsodischen ausgeht. Die
Schwankungen der Preise, unter denen der Geldlohn empfangende Ar-
beiter ganz anders als der in Naturalien entlohnte leidet, haben so
einen tiefen Zusammenhang mit der Lebensform der Freiheit, die dem
Geldlohn ebenso entspricht, wie die Naturalentlohnung der Lebensform
der Gebundenheit. Gemäſs der Regel, die weit über die Politik hinaus
gilt: wo eine Freiheit ist, da ist auch eine Steuer — zahlt der Arbeiter
in den Unsicherheiten des Geldlohnes die Steuer für die durch diesen
bewirkte oder angebahnte Freiheit. — Ganz Entsprechendes nehmen
wir wahr, wo umgekehrt die Leistungen des sozial Tieferstehenden
aus der naturalen in die Geldform übergehen. Die Naturalleistung
schafft ein gemütlicheres Verhältnis zwischen dem Berechtigten und dem
Verpflichteten. In dem Korn, dem Geflügel, dem Wein, die der Grund-
holde in den Herrenhof liefert, steckt unmittelbar seine Arbeitskraft,
es sind gleichsam Stücke von ihm, die sich von seiner Vergangenheit
und seinem Interesse noch nicht völlig gelöst haben; und entsprechend
werden sie unmittelbar von dem Empfänger genossen, er hat ein In-
teresse an ihrer Qualität und sie gehen sozusagen ebenso in ihn per-
sönlich ein, wie sie von jenem persönlich ausgehen. Es wird damit
also eine viel engere Verbindung zwischen Berechtigtem und Ver-
pflichtetem hergestellt, als durch die Geldleistung, in der die perso-
nalen Momente von beiden Seiten her verschwinden. Deshalb hören
wir, daſs im frühen mittelalterlichen Deutschland durchaus die Sitte
herrschte, die Leistungen der Hörigen durch kleine Gefälligkeiten zu
mildern; allenthalben erhielten sie bei der Entrichtung der Abgaben
eine kleine Gegengabe, mindestens Speise und Trank. Diese wohl-
wollende, sozusagen anmutige Behandlung der Verpflichteten hat sich
in dem Maſse verloren, in dem an die Stelle der Naturalleistungen
mehr und mehr Geldleistungen und an die Stelle der unter ihren
Grundholden lebenden Grund- und Landesherren die härteren Beamten
traten. Denn diese Einsetzung der Beamten bedeutete die Objektivie-
rung des Betriebes: der Beamte leitete ihn nach den unpersönlichen
Anforderungen der Technik, die ein möglichst groſses objektives Er-
trägnis liefern sollte. Er stand mit derselben entpersonalisierenden
Wirkung zwischen dem Hörigen und dem Herrn, wie sich das Geld
zwischen die Leistung des einen und den Genuſs des andern schob,
eine trennende Selbständigkeit der Mittelinstanz, die sich auch darin
zeigte, daſs die Verwandlung der Naturalfronen in Geldzinsung dem
Gutsverwalter ganz neue Gelegenheiten zu Unredlichkeiten gegenüber
dem fernen Herrn gab. So sehr der Bauer von dem Persönlichkeits-
[346] charakter des Verhältnisses profitiert und nach dieser Seite hin unter
seiner Versachlichung und Zugeldesetzung zunächst leiden mag, so war
dieses doch, wie ich oben auseinandersetzte, der unumgängliche Weg,
der zur Aufhebung der Leistungen der Hörigen überhaupt führte.


Neben der skizzierten Phänomenenreihe, welche auf dieses Endziel
hinaussieht, steht eine andere, die auf den ersten Blick die genau ent-
gegengesetzte Konsequenz zeigt. Es scheint z. B., als ob der Stück-
lohn dem bisher charakterisierten Fortschritt der Geldkultur mehr
entspräche, als der Stundenlohn. Denn der letztere steht dem In-
dienstnehmen des ganzen Menschen, mit seinen gesamten, aber nicht
sicher bestimmbaren Kräften, viel näher, als der Stücklohn, wo die
einzelne, genau bestimmte, aus dem Menschen völlig herausobjektivierte
Leistung vergolten wird. Dennoch ist augenblicklich der Stundenlohn
dem Arbeiter günstiger, grade weil sich die Entlohnung hier nicht mit
derselben Strenge wie beim Stücklohn nur nach der vollbrachten
Leistung richtet, sie bleibt dieselbe, auch wenn Pausen, Verlang-
samungen, Versehen, ihr Resultat irgendwie alterieren. So erscheint
der Stundenlohn menschenwürdiger, weil er ein gröſseres Vertrauen
voraussetzt, und er giebt innerhalb der Arbeit doch etwas mehr that-
sächliche Freiheit, als der Stücklohn, trotzdem (oder hier vielmehr:
weil) der Mensch als ganzer in das Arbeitsverhältnis eintritt und so
die Unbarmherzigkeit des rein objektiven Maſsstabes gemildert wird.
Die Steigerung dieses Verhältnisses ist in der „Anstellung“ zu er-
blicken, in der die einzelne Leistung noch viel weniger den unmittel-
baren Maſsstab der Entlohnung abgiebt, sondern die Summe derselben,
die Chance aller dazwischentretenden menschlichen Unzulänglichkeiten
einschlieſsend, bezahlt wird. Am deutlichsten wird dies bei der Stellung
des höheren Staatsbeamten, dessen Gehalt überhaupt keine quantitative
Beziehung zu seinen einzelnen Leistungen mehr hat, sondern ihm nur
die standesgemäſse Lebenshaltung ermöglichen soll. Als kürzlich auf
einen Gerichtsbeschluſs hin einem preuſsischen Beamten, der durch
eigenes schweres Verschulden längere Zeit an seiner Funktionierung
verhindert war, ein Teil seines Gehaltes für diese Zeit einbehalten
wurde, hob das Reichsgericht das Urteil auf: denn das Gehalt eines
Beamten sei keine pro rata geltende Gegenleistung für seine Dienste,
sondern eine „Rente“, welche dazu bestimmt sei, ihm die Mittel zu
seinem, dem Amte entsprechenden standesgemäſsen Unterhalt zu geben.
Hier wird die Entlohnung also prinzipiell grade auf das personale
Element unter Ausschluſs einer genauen objektiven Äquivalenz ge-
richtet. Freilich sind diese Gehälter immer auf längere Perioden
hinaus festgelegt, und bei dem Schwanken des Geldwertes in diesen
[347] wird grade durch die Stabilität des Einkommens die Stabilität der
Lebenshaltung verhindert, während die Bezahlung der Einzelleistung
viel leichter den Veränderungen des Geldwertes folgt. Allein das ent-
kräftet meine Deutung dieses Verhältnisses so wenig, daſs es vielmehr
die Unabhängigkeit des persönlichen Elementes von dem ökonomischen,
auf die es ankommt, erst recht hervorhebt. Daſs die Honorierung
hier nur ganz im allgemeinen erfolgt und sich nicht den ein-
zelnen Wechselfällen der ökonomischen Entwicklung anschmiegt, be-
deutet ja grade die Absonderung der Persönlichkeit als eines Ganzen
von der Einzelheit ökonomisch bewertbarer Leistungen; und der
stabile Gehalt verhält sich zu der wechselnden Höhe seiner Einzelver-
wertungen, wie die ganze Persönlichkeit zu der unvermeidlich wechseln-
den Qualität ihrer einzelnen Leistungen. — Die äuſserste, wenngleich
nicht immer als solche erkennbare Stufe dieser Phänomenenreihe liegt
in der Honorierung jener idealen Funktionen, deren Inkommensura-
bilität mit irgendwelchen Geldsummen jede „angemessene“ Bezahlung
illusorisch macht. Die Bedeutung der Bezahlung kann hier nur sein,
daſs man das Entsprechende beiträgt, um dem Leistenden die an-
gemessene Lebenshaltung zu ermöglichen, nicht aber, daſs sie und die
Leistung sich sachlich entsprächen. Deshalb wird dem Portraitmaler
das Honorar gleichmäſsig bezahlt, ob das Bild ganz gelungen ist oder
nicht, dem Konzertgeber das Eintrittsgeld, auch wenn er nachher
schlecht spielt, dem Arzt seine Taxe, ob der Patient geheilt wird oder
stirbt — während auf niedrigeren Gebieten das Ob und Wieviel der
Zahlung viel direkter und genauer von dem Ausfall der Leistung ab-
hängt. Wie sehr der sachliche Zusammenhang zwischen der Leistung
und dem Äquivalent hier durchbrochen ist, lehrt auf den ersten Blick
das Miſsverhältnis ihrer Quantitäten. Wer für ein Gemälde, Theater,
Belehrung noch einmal so viel Geld aufwendet, als für andere, und in
beiden Fällen angemessen gezahlt zu haben glaubt, kann doch nicht
sagen: dieses Bild ist genau noch einmal so schön wie das andere,
diese Belehrung genau doppelt so tief und wahr wie die andere. Und
selbst, wenn man die Bezahlung jenseits der objektiven Schätzung und
auf die verschiedenen Quanten des subjektiven Genusses stellen wollte,
würde man, auf je höhere Gebiete man kommt, um so weniger die
genauen Verhältnisse zwischen jenen behaupten wollen, auf die die
Geldäquivalente logische Anweisung geben. Schlieſslich tritt die
völlige Beziehungslosigkeit des Entlohnungsquantums zu der Leistung
etwa am schärfsten hervor, wenn man für das Spiel eines Musik-
virtuosen, das uns zu den höchsten Stufen der in uns entwickelbaren
Empfindungen gehoben hat, ein paar Mark bezahlt. Einen Sinn er-
[348] hält ein derartiges Äquivalent nur von dem Standpunkt aus, daſs es
sich überhaupt gar nicht mit der einzelnen Leistung dem Werte nach
decken, sondern nur zu demjenigen Unterhalt des Künstlers beitragen
soll, der ein geeignetes Fundament für seine Leistung bildet. So scheint
also grade bei den höchsten Produktionen die Entwicklung umzubiegen:
das Geldäquivalent gilt nicht mehr der einzelnen Leistung, unter Be-
ziehungslosigkeit zu der dahinterstehenden Person, sondern grade dieser
Person als Ganzem, unter Beziehungslosigkeit zu ihrer einzelnen Leistung.


Sieht man aber näher zu, so strebt diese Erscheinungsreihe doch
demselben Punkte zu, wie jene andere, die ihr Ideal in der reinen
Sachlichkeit der ökonomischen Stellung fand. Beide münden gleich-
mäſsig an einer völligen gegenseitigen Verselbständigung der ökono-
mischen Leistung und der Persönlichkeit. Denn nichts anderes be-
deutet es, wenn der Beamte oder der Künstler nicht für seine ein-
zelne Leistung honoriert wird, sondern wenn es der Sinn seines Hono-
rars ist, ihm eine gewisse persönliche Lebenshaltung zu ermöglichen.
Allerdings ist hier, im Gegensatz zu der früheren Reihe, das Persön-
liche mit dem Ökonomischen in Verbindung gesetzt; aber doch so, daſs
innerhalb des Komplexes der Persönlichkeit selbst die Leistungen, für
welche allerdings im letzten Grunde das Äquivalent gegeben wird, sich
grade sehr scharf gegen die Gesamtpersönlichkeit, als die Grundlage
jener Leistungen, absetzen. Die Befreiung der Persönlichkeit, die in
ihrer Differenzierung von der objektiven Leistung liegt, wird in gleicher
Weise vollzogen: ob nun von der wachsenden Objektivierung der
Leistung ausgehend, die schlieſslich für sich allein in die ökonomische
Zirkulation eintritt und die Persönlichkeit ganz drauſsen läſst — oder
anhebend von der Honorierung bezw. Unterhaltung der Persönlichkeit
als ganzer, aus der dann die einzelne Leistung ohne direktes und
singuläres ökonomisches Äquivalent hervorgeht. In beiden Fällen wird
die Persönlichkeit von dem Zwange befreit, den ihre unmittelbare
ökonomische Verkettung mit der einzelnen objektiven Leistung ihr
auferlegt.


Nun erscheint freilich die zu zweit behandelte Reihe weniger
geldwirtschaftlich bedingt als die erste. Wo die gegenseitige Verselb-
ständigung zwischen Person und Leistung von der Betonung der letzteren
ausgeht, muſs das Geld eine gröſsere Rolle spielen, als wo umgekehrt
die Persönlichkeit sozusagen das aktive Element in dem Prozesse ist,
sich von der Leistung zu sondern; denn das Geld hat vermöge seines
unpersönlichen Charakters und seiner unbedingten Nachgiebigkeit eine
besonders starke Wahlverwandtschaft zu der einzelnen Leistung als
solcher und eine besondere Kraft, sie hervorzuheben: wogegen jene
[349] Höhe und Sicherheit der Lebenshaltung, mit der der Persönlichkeit
als ganzer das Äquivalent für ihre Bewährungen geboten wird, eben-
sogut auch in den primitiveren Wirtschaftsformen, durch Belehnung
mit einem Stück Land oder mit Regalien irgendwelcher Art eintreten
konnte. Die spezifische Bedeutung des Geldes innerhalb dieser Reihe
geht nicht von der Seite des Empfangenden, sondern des Gebenden
aus. Denn es ermöglicht, jenes Gesamtäquivalent für das Lebenswerk
eines Arbeitenden aus den Beiträgen vieler zusammenzusetzen,
mögen dies nun die Eintrittsgelder von Konzertbesuchern sein, oder
die Aufwendungen der Bücherkäufer, oder die Steuern der Bürger,
aus denen die Beamtengehälter gezahlt werden. Das tritt recht an
dem Zusammenhang hervor, den die Geldwirtschaft ersichtlich mit dem
Aufkommen mechanischer Reproduktionen hat. Sobald der Buchdruck
erfunden ist, wird für das elendeste Machwerk derselbe Bogenpreis be-
zahlt wie für die erhabenste Dichtung, sobald es Photographien
giebt, ist eine solche der Bella di Tiziano nicht teurer als die
einer Chansonettensängerin, sobald mechanische Herstellungsweisen von
Geräten bestehen, ist eines im edelsten Stil nicht kostbarer als manches
im geschmacklosesten. Wenn der Schöpfer des einen mehr Geld ver-
dient, als der des anderen, so bewirkt dies nur die gröſsere An-
zahl derer
, von denen jeder für das Produkt dennoch nur ebenso
viel zahlt, wie jeder Abnehmer des anderen. Liegt hierin schon an
und für sich der demokratische Charakter des Geldes, gegenüber den
Ausstattungen der zu honorierenden Persönlichkeiten durch Einzel-
personen in den Formen des Feudalismus oder des Mäzenatentums, so
dient diese Anonymität des Geldgebers, im Gegensatz zu den genannten
anderen Formen, sicherlich der subjektiven Unabhängigkeit und freien
Entwicklung der die Leistung anbietenden Person. Insbesondere das
Überhandnehmen der mechanischen Reproduktionsweisen mit jener
Folge, den Geldpreis von der Qualität unabhängig zu machen, zer-
schneidet das Band, das die spezifische Bezahlung für die spezifische
Leistung zwischen Abnehmern und Produzenten geknüpft hatte. So
thut in dem Differenzierungsprozesse zwischen Person und Leistung
das Geld seinen Dienst für die Unabhängigkeit des Leistenden schlieſs-
lich ebenso, wenn die Lösung jener ehemals verschmolzenen Elemente
von der Verselbständigung der Person, wie wenn sie von der Verselb-
ständigung der Leistung anhob.


Sehen wir hier auf den Anfang dieser Überlegungen zurück, so
zeigt sich der ganze beschriebene Sonderungsprozeſs zwischen der
Person und der Sache im genauen Sinne doch als eine Differenzierung
innerhalb der ersteren: es sind die verschiedenen Interessen und Be-
[350] thätigungssphären der Persönlichkeit, die durch die Geldwirtschaft ihre
relative Selbständigkeit erhalten. Wenn ich sagte, daſs das Geld die
ökonomische Leistung aus dem Ganzen der Persönlichkeit herauslöst,
so bleibt, absolut genommen, jene doch immer ein Teil der Persönlich-
keit, diese andrerseits bedeutet jetzt nicht mehr ihr absolutes Ganze,
sondern nur noch die Summe derjenigen psychischen Inhalte und Ener-
gien, die nach Aussonderung der ökonomischen übrig bleiben. So kann
man die Wirkung des Geldes als eine Atomisierung der Einzelpersön-
lichkeit bezeichnen, als eine innerhalb ihrer vor sich gehende Indivi-
dualisierung. Dies ist doch aber nur eine in das Individuum hinein
fortgesetzte Tendenz der ganzen Gesellschaft: wie das Geld auf die
Elemente des Einzelwesens, so wirkt es vor allem auf die Elemente
der Gesellschaft, auf die Individuen. Dieser der Thatsache nach oft
betonte Erfolg der Geldwirtschaft heftet sich zunächst daran, daſs das
Geld eine Anweisung auf die Leistungen anderer ist. Während in
vorgeldwirtschaftlichen Zeiten der Einzelne unmittelbar auf seine Gruppe
angewiesen war und der Austausch der Dienste jeden eng mit der
Gesamtheit verband, trägt nun jeder seinen Anspruch auf die Leistungen
von Anderen in verdichteter, potenzieller Form mit sich herum. Er
hat die Wahl, wann und wo er ihn geltend machen will, und löst
damit die Unmittelbarkeit der Beziehungen, die die frühere Austauschs-
form gestiftet hatte. Diese äuſserst bedeutsame Kraft des Geldes, dem
Individuum eine neue Selbständigkeit den unmittelbaren Gruppen-
interessen gegenüber zu verleihen, äuſsert sich keineswegs nur gelegent-
lich des fundamentalen Gegensatzes zwischen Natural- und Geldwirt-
schaft, sondern auch innerhalb der letzteren. Gegen Ende des 16. Jahr-
hunderts schrieb der italienische Publizist Botero: „Wir haben in
Italien zwei blühende Republiken, Venedig und Genua. Die Vene-
tianer, welche sich mit reellem Warenhandel beschäftigen, sind zwar
als Privatleute nur mäſsig reich geworden, haben aber dafür ihren
Staat auſserordentlich groſs und reich gemacht. Die Genuesen da-
gegen haben sich ganz dem Geldgeschäft ergeben und hierdurch ihren
Privatbesitz sehr vermehrt, während ihr Staatswesen verarmt ist.“ In-
dem die Interessen auf das Geld gestellt werden und soweit der Besitz
in Geld besteht, muſs der Einzelne die Tendenz und das Gefühl einer
selbständigeren Bedeutung dem sozialen Ganzen gegenüber bekommen,
er verhält sich zu diesem nun wie Macht zu Macht, weil er frei ist,
sich seine Geschäftsbeziehungen und Kooperationen überall, wo er will,
zu suchen; das Warengeschäft dagegen, selbst wenn es sich räumlich
so weit erstreckt wie das der Venetianer, muſs vielmehr Mitwirkende
und Angestellte im nächsten Kreise suchen, seine umständlichere und
[351] substanziellere Technik legt ihm überhaupt lokale Bedingungen auf,
von denen das Geldgeschäft frei ist. Noch entschiedener tritt dies
natürlich an dem Unterschied zwischen Grund- und Geldbesitz hervor.
Es beweist die Tiefe dieses soziologischen Zusammenhanges, daſs man
hundert Jahre nach jener Äuſserung Boteros grade an sie die Betrach-
tung geknüpft hat, welche Gefahr es für den Staat wäre, wenn das
Hauptvermögen der herrschenden Klasse aus Mobiliarbesitz besteht,
den man in Zeiten der öffentlichen Not in Sicherheit bringen kann,
während die Grundbesitzer durch ihr Interesse unlösbar mit dem Vater-
lande verbunden sind. In England ist das steigende Übergewicht des
industriellen Reichtums über den in Grundbesitz angelegten dafür ver-
antwortlich gemacht worden, daſs das kommunal-soziale Interesse der
obersten Klasse sich verloren hat. Das alte self-government ruhte auf
der persönlichen Staatsthätigkeit der letzteren, die jetzt immer mehr
direkten Staatsorganen Platz macht. Die bloſse Geldsteuer, mit der
man sich jetzt abfindet, dokumentiert den Zusammenhang, der zwischen
der gewachsenen Geldmäſsigkeit aller Verhältnisse und dem Niedergang
jener alten Sozialverpflichtungen stattfindet.


Nun macht das Geld nicht nur die Beziehung des Einzelnen zur
Gruppe überhaupt zu einer viel unabhängigeren, sondern der Inhalt
der speziellen Assoziationen und das Verhältnis der Teilnehmer zu
ihnen unterliegt einem ganz neuen Differenzierungsprozeſs. Die mittel-
alterliche Korporation schloſs den ganzen Menschen in sich ein: eine
Zunft der Tuchmacher war nicht eine Assoziation von Individuen,
welche die bloſsen Interessen der Tuchmacherei pflegte, sondern eine
Lebensgemeinschaft in fachlicher, geselliger, religiöser, politischer und
vielen sonstigen Hinsichten. Um so sachliche Interessen sich eine
solche Assoziation auch gruppieren mochte, sie lebte doch ganz un-
mittelbar in ihren Mitgliedern und diese gingen restlos in ihr auf. Im
Gegensatz zu dieser Einheitsform hat nun die Geldwirtschaft unzählige
Assoziationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geld-
beiträge verlangen oder auf ein bloſses Geldinteresse hinausgehen: zu-
höchst die Aktiengesellschaft, bei der der Vereinigungspunkt der Teil-
haber ausschlieſslich in dem Interesse an der Dividende liegt; so aus-
schlieſslich, daſs es wohl jedem Einzelnen ganz gleichgültig ist, was
die Gesellschaft denn eigentlich produziert. Die sachliche Zusammen-
hangslosigkeit des Subjekts mit dem Objekt, an dem es ein bloſses
Geldinteresse hat, spiegelt sich in seiner personalen Zusammenhangs-
losigkeit mit den anderen Subjekten, mit denen ihn ein ausschlieſs-
liches Geldinteresse verbindet. Hiermit ist nun eine der wirkungs-
vollsten kulturellen Formungen gegeben: die Möglichkeit des Indivi-
[352] duums, sich an Assoziationen zu beteiligen, deren objektiven Zweck es
fördern oder genieſsen will, ohne daſs für die Persönlichkeit im übrigen
die Verbindung irgend eine Bindung mit sich brächte. Das Geld hat
es bewirkt, daſs man sich mit Anderen vereinigen kann, ohne etwas
von der persönlichen Freiheit und Reserve aufgeben zu brauchen. Das
ist der fundamentale, unsäglich bedeutungsvolle Unterschied gegen die
mittelalterliche Einungsform, die zwischen dem Menschen als Menschen
und dem Menschen als Mitglied einer Vereinigung nicht unterschied;
sie zog das gesamtwirtschaftliche wie das religiöse, das politische wie
das familiäre Interesse gleichmäſsig in ihren Kreis. Die dauernde
Vereinigung kennt in jenem urwüchsigen Stadium noch nicht die Form
des bloſsen „Beitrages“, am wenigsten die Herstellung ihrer ganzen
Substanz aus solchen und aus „beschränkten Haftungen“. Wie man
wohl im groſsen und ganzen und mit den bei so allgemeinen Be-
hauptungen nötigen Reserven sagen kann, daſs die Verhältnisse der
Menschen untereinander früher entschiedenere waren, weniger durch
Vermittlungen, Mischungen, Vorbehalte undeutlich gewordene, daſs es
weniger problematische und „halbe“ Verhältnisse gab: so stand die
Beziehung des Einzelnen zur Assoziation viel mehr unter dem Zeichen
des Ganz oder Garnicht, sie duldete nicht eine Zerlegbarkeit, durch
die ein bloſses Partikelchen der im übrigen unabhängigen Persönlich-
keit in sie hinein gegeben werden kann und die in der Hingabe und
Entnahme von Geld als dem einzigen assoziativen Bande ihre absolute
Vollendung findet. Und dies gilt nicht nur für Einzelne, sondern auch
für Kollektivindividuen. Die Geldform des Gemeininteresses gewährt
auch Vereinigungen die Möglichkeit zu einer höheren Einheit zu-
sammenzutreten, ohne daſs die einzelne auf ihre Unabhängigkeit
und Sonderart zu verzichten braucht. Nach 1848 bildeten sich in
Frankreich Syndikate von Arbeiter-Assoziationen desselben Gewerkes,
derart, daſs jede ihren unteilbaren Fonds an dieses Syndikat ablieferte
und so eine unteilbare gemeinsame Kasse zustande kam. Diese sollte
namentlich Engros-Einkäufe ermöglichen, Darlehen gewähren u. s. w.
Die Syndikate hatten aber durchaus nicht den Zweck, die teilhaben-
den Assoziationen zu einer einzigen zu vereinigen, sondern jede sollte
ihre besondere Organisation beibehalten. Dieser Fall ist deshalb so
bezeichnend, weil die Arbeiter damals in einer wahren Leidenschaft
der Assoziationsbildung befangen waren. Lehnten sie nun die hier
so naheliegende Verschmelzung ausdrücklich ab, so müssen sie besonders
starke Gründe für gegenseitige Reserve gehabt haben — und fanden
dabei die Möglichkeit, die dennoch vorhandene Einheit ihrer Interessen
in jener Gemeinsamkeit des bloſsen Geldbesitzes wirksam werden
[353] zu lassen. Ja auf Grund dieser vollen subjektiven Freiheit, die die
bloſse Geldbeteiligung den Mitgliedern der Assoziation läſst, sind ge-
wisse Vereinigungen überhaupt erst möglich geworden. Der Gustav-
Adolf-Verein, jene groſse Gemeinschaft zur Unterstützung bedürftiger
evangelischer Gemeinden, hätte gar nicht zur Existenz und Wirksam-
keit kommen können, wenn nicht der Charakter (oder vielmehr die
Charakterlosigkeit) der Geldbeiträge die konfessionellen Unterschiede
der Beitragenden verwischt hätte. Zu keiner andern Einungsform
wären Lutheraner, Reformierte, Unierte zu bewegen gewesen. Dasselbe
gilt, wenn das gemeinsame Geldinteresse sozusagen ein passives wird.
Der englische Klerus bildete bis ziemlich tief in das Mittelalter hinein
durchaus keine Einheit; insbesondere gehörten die Bischöfe, als Feu-
dalherren, zu den Lords, in sozialer und politischer Absonderung von
dem niederen Klerus. Dies fand namentlich so lange statt, als nur der
Grundbesitz, an dem letzterer nicht teil hatte, besteuert wurde. So-
bald aber besondere Besteuerungen des gesamten geistlichen Ein-
kommens aufkamen, war durch Opposition dagegen oder durch Be-
willigung ein gemeinsames Interesse für den ganzen Stand geschaffen,
das der beste Kenner jener Zeit für eins der Hauptbindemittel hält, die
überhaupt den Klerus erst als einheitlichen Stand schufen. Schon die
Anfänge der Geldwirtschaft zeitigen Entwicklungen der wirtschaftlichen
Vereinigung aus demselben Grundmotiv heraus. Die Vermehrung und
vermehrte Bedeutung des Kapitals erzeugte vom 14. Jahrhundert an
das Bedürfnis, dasselbe in der Familie ungeteilt zu erhalten. Denn
indem die Anteile aller Erben einheitlich zusammenblieben, übten sie
weit reichere Wirkungen zu gunsten eines jeden, als er bei ihrer
Zersplitterung erreichen konnte. Es begann also in Deutschland der
Eintritt aller Erben in die ungeteilte Erbschaft und der Weiterbestand
des alten Geschäfts zu gesamter Hand. Daran knüpften sich nun
zwei Konsequenzen. Es entstand innerhalb der Familie die Trennung
von Hauswirtschaft und Geschäft, so daſs Familienmitglieder mit ge-
trennter Hauswirtschaft und separatem Vermögen doch Teilhaber der
einen ungeteilten „Firma“ bleiben konnten; während die Bedeutung
des Geldkapitals die alte Familienwirtschaft überhaupt gesprengt hatte,
schuf es nun doch über dieser Trennung eine neue Vereinigung, in
deren reine Sachlichkeit die von den eigentlichen Privatinteressen ge-
lösten, ausschlieſslichen Vermögensinteressen eingingen. Und zweitens
wurde diese Vereinigungsform nun auch von solchen nachgeahmt, welche
nicht einmal in einer ursprünglichen Familienbeziehung standen; nach-
dem einmal aus der Hauswirtschaft sich das „Geschäft“ herausgelöst
hatte, wurde es auch von Nichtverwandten als Vereinigungsform der
Simmel, Philosophie des Geldes. 23
[354] bloſsen arbeitenden Kapitalien gewählt, so daſs schon Anfangs des
15. Jahrhunderts die offene Handelsgesellschaft gebräuchlich wird. Zu
einer reinen Vermögensgenossenschaft, d. h. einer solchen, in der das
gemeinsam besessene Vermögen sich zu einer selbständigen, jenseits
der Einzelanteile stehenden Einheit und Rechtspersönlichkeit objekti-
viert hat und der Teilhaber nur mit einem bestimmten Teile seines
Vermögens und sonst absolut nicht mit seiner Person beteiligt ist —
ist es erst seit dem Durchdringen der Geldwirtschaft gekommen. Das
Geld allein konnte solche Gemeinsamkeiten zu stande bringen, die das
einzelne Mitglied absolut nicht präjudizieren: es hat den Zweck-
verband zu seinen reinen Formen entwickelt, jene Organisationsart, die
sozusagen das Unpersönliche an den Individuen zu einer Aktion ver-
einigt und uns die bisher einzige Möglichkeit gelehrt hat, wie sich
Personen unter absoluter Reserve alles Persönlichen und Spezifischen
vereinigen können. — Die zersetzende und isolierende Wirkung des
Geldes ist nicht nur ganz im allgemeinen Bedingung und Korrelat
dieser versöhnenden und verbindenden; sondern in einzelnen histo-
rischen Verhältnissen übt das Geld zugleich die auflösende und die
vereinigende Wirkung. So z. B. im Familienleben, dessen organische
Einheit und Enge einerseits durch die Folgen der Geldwirtschaft zer-
stört worden ist, während man andrerseits grade unter Anerkennung
hiervon hervorgehoben hat, daſs die Familie fast nichts mehr sei als
eine Organisation der Erbfolge. Wenn unter mehreren Interessen,
die die Vereinigung eines Kreises ausmachen, das eine auf alle
anderen zerstörend wirkt, so wird natürlich dieses selbst die anderen
überleben und schlieſslich noch die einzige Verbindung zwischen den
Elementen darstellen, deren sonstige Zusammenhänge es zernagt hat.
Nicht nur auf Grund seines immanenten Charakters, sondern grade weil
es auf so viele andere Verbindungsarten der Menschen destruktiv wirkt,
sehen wir das Geld den Zusammenhang zwischen sonst ganz zusammen-
hangslosen Elementen herstellen. Und es giebt heute vielleicht keine
Assoziation von Menschen mehr, die nicht, als Ganzes, irgend ein Geld-
interesse einschlösse, und sei es nur die Saalmiete einer religiösen
Korporation.


Durch den Charakter des Zweckverbandes aber, den das Einungs-
leben deshalb mehr und mehr annimmt, wird es mehr und mehr ent-
seelt; die ganze Herzlosigkeit des Geldes spiegelt sich so in der sozialen
Kultur, die von ihm bestimmt wird. Vielleicht, daſs die Kraft des
sozialistischen Ideals zum Teil einer Reaktion auf diese entstammt;
denn indem es dem Geldwesen den Krieg erklärt, will es die Iso-
lierung des Individuums seiner Gruppe gegenüber, wie sie in der Form
[355] des Zweckverbandes verkörpert ist, aufheben und appelliert zugleich
an alle innigen und enthusiastischen Gefühle für die Gruppe, die sich
in dem Einzelnen erwecken lassen. Freilich ist der Sozialismus auf
eine Rationalisierung des Lebens gerichtet, auf die Beherrschung seiner
zufälligen und einzigartigen Elemente durch die Gesetzmäſsigkeiten und
Berechnungen des Verstandes; allein zugleich ist er den dumpfen
kommunistischen Instinkten wahlverwandt, die als Erbschaft längst ver-
schollener Zeiten noch in den abgelegneren Winkeln der Seelen ruhen.
In dieser Zweiheit von Motivierungen, deren psychische Standorte ein-
ander polar entgegengesetzt sind, und die ihn einerseits als das äuſserste
Entwicklungsprodukt der rationalistischen Geldwirtschaft, andrerseits als
die Verkörperung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens
zeigen, liegt wohl die Eigenart seiner Anziehungskraft: er ist Rationa-
lismus und Reaktion auf den Rationalismus. Der Sozialismus hat an der
alten Gentilverfassung mit ihrer kommunistischen Gleichheit sein be-
geisterndes Ideal gefunden, während das Geldwesen das Individuum
auf sich rückwärts konzentriert und ihm als Objekte der persönlichen
und Gemütshingabe einerseits nur die allerengsten individuellen Be-
ziehungen, wie Familie und Freundschaft, andrerseits nur den weitesten
Kreis, etwa des Vaterlandes oder der Menschheit überhaupt, übrig ge-
lassen hat — beides soziale Bildungen, die sich, wenn auch aus ver-
schiedenen Gründen, der objektiven Vereinigung zu isolierten Zwecken
völlig fremd gegenüberstellen. Hier wird nun eine der umfassendsten
und tiefgreifendsten soziologischen Normen wirksam. Zu den wenigen
Regeln nämlich, die man mit annähernder Allgemeinheit für die Form
der sozialen Entwicklung aufstellen kann, gehört wohl diese: daſs die
Erweiterung einer Gruppe Hand in Hand geht mit der Individuali-
sierung und Verselbständigung ihrer einzelnen Mitglieder. Die Evo-
lution der Gesellschaften pflegt mit einer relativ kleinen Gruppe zu
beginnen, welche ihre Elemente in strenger Bindung und Gleichartig-
keit hält, und zu einer relativ groſsen vorzuschreiten, die ihren Ele-
menten Freiheit, Fürsichsein, gegenseitige Differenzierung gewährt.
Die Geschichte der Familienformen wie die der Religionsgemeinden,
die Entwicklung der Wirtschaftsgenossenschaften wie die der politischen
Parteien zeigt allenthalben diesen Typus. Die Bedeutung des Geldes
für die Entwicklung der Individualität steht deshalb in engstem Zu-
sammenhange mit der, die es für die Vergröſserung der sozialen Gruppen
besitzt. Für diese letztere bedarf es hier keines ausführlichen Beweises
mehr: die Wechselwirkung zwischen der Geldwirtschaft und der Gröſse
des Wirtschaftskreises habe ich früher aufgezeigt. Je mehr Menschen
mit einander in Beziehung treten, desto abstrakter und allgemein-
23*
[356] gültiger muſs ihr Tauschmittel sein; und umgekehrt, ist erst einmal
ein solches geschaffen, so gestattet es eine Verständigung auf sonst un-
zugängliche Entfernungen hin, eine Einbeziehung der allermannigfal-
tigsten Persönlichkeiten in die gleiche Aktion, eine Wechselwirkung
und damit Vereinheitlichung von Menschen, die wegen ihres räum-
lichen, sozialen, personalen und sonstigen Interessenabstandes in gar
keine andere Gruppierung zu bringen wären.


Ich will nur auf eine etwas abseitsliegende Verwirklichung der
Korrelation zwischen Geldwirtschaft, Individualisierung und Vergröſse-
rung des sozialen Kreises hinweisen. Ob der Sieger eines Wettbewerbes
durch einen Ehrenpreis oder einen Geldpreis ausgezeichnet wird, ist
innerlich ein groſser Unterschied. Mit dem Geldpreis ist er abgefunden,
er hat seinen Lohn dahin; der Ehrenpreis wirkt weiter, er giebt der
ganzen Persönlichkeit ein Relief (das natürlich unter gewissen Um-
ständen, aber nicht dem Grundgedanken nach, auch zu dem Geldpreise
noch hinzutreten kann): der Geldpreis bezieht sich auf die Leistung,
der Ehrenpreis auf den Leistenden. Nun aber ist eine Ehrung in
dem letzteren Sinne nur innerhalb eines relativ kleinen Kreises mög-
lich. Schon diejenige Ehre, die gar keine Auszeichnung des Indivi-
duums bedeutet, entsteht nur innerhalb einer kleineren Gruppe, welche
durch die bestimmt umschriebene Ehrenhaftigkeit ihrer Mitglieder sich
gegen ihre Umgebung geschlossen, kräftig, unangreifbar erhält: so die
Offiziersehre, die Kaufmannsehre, die Familienehre, ja sogar die oft
hervorgehobene Spitzbubenehre. Jede Ehre ist ursprünglich Standes-
oder Klassenehre und die allgemein menschliche oder ganz individuelle
Ehre enthält nur diejenigen Anforderungen an den Einzelnen, in denen
alle kleineren Gruppen innerhalb einer gröſseren übereinstimmen.
Die Ehre nun, welche ihren Träger nicht Anderen einordnen, sondern
unter ihnen hervorheben soll, bedarf nicht weniger einer gewissen
Enge und Solidarität des Kreises; der Name des olympischen Siegers
hallte durch das ganze, kleine und in diesem Interesse eng zusammen-
gehörige Griechenland. Der Geldpreis trägt den egoistischen Charakter,
den sehr groſse Kreise ihren Individuen nahelegen; den unegoistischen,
der der Solidarität des kleineren entspricht, symbolisiert es aufs schönste,
daſs der goldene Kranz, den der athenische Rat der 500 für gute
Amtsführung erhielt, alsdann in einem Tempel aufbewahrt wurde. Inner-
halb kleinerer und geschlossener Interessenkreise, z. B. bei einigen
Sportangelegenheiten, Industriefächern u. s. w. ist noch jetzt der Ehren-
preis völlig gerechtfertigt. In dem Maſse aber, in dem die Ein-
schränkung und Homogeneität des Kreises einer Weite und gegen-
seitigen Fremdheit seiner Elemente Platz macht, muſs an die Stelle des
[357] Ehrenpreises, der auf die Mitwirkung der gesamten Gruppe rechnet,
der Geldpreis treten, der die abschlieſsende, über sich nicht hinaus-
weisende Anerkennung der Leistung darstellt. Die Vergröſserung des
sozialen Kreises fordert so den Übergang zum geldmäſsigen Ausdruck
des Verdienstes, weil sie unweigerlich die Atomisierung eben dieses
Kreises bedeutet; die Unmöglichkeit, die gleiche Stimmung in der-
selben Weise, wie es bei einem kleinen Kreise möglich ist, durch
einen groſsen fortzupflanzen, macht die Belohnung durch ein Mittel
notwendig, bei dem der zu Belohnende nicht mehr auf eine Überein-
stimmung und Bereitwilligkeit der ganzen Gruppe angewiesen ist.


Man kann in diesem Zusammenhang betonen, daſs die Beziehung
des Geldes zur Ausdehnung der sozialen Gruppe eine ebenso enge ist,
wie nach unseren früheren Ausmachungen zur Objektivierung der Lebens-
in halte. Dieser Parallelismus ist kein zufälliger. Was wir die objek-
tive Bedeutung der Dinge nennen, das ist in praktischer Hinsicht
ihre Gültigkeit für einen gröſsten Kreis von Subjekten; indem sie aus
ihrer ersten Bindung an das Einzelsubjekt oder einen kleinen Kreis, aus
der Zufälligkeit subjektiver Deutung herauswachsen, wird die Vor-
stellung oder Gestaltung ihrer eine für immer weitere Kreise gültige
und bedeutsame (auch wenn die Hindernisse der Lage es zu dieser
Anerkennung durch die Gesamtheit in Wirklichkeit nicht kommen
lassen), und eben damit erreichen sie, was wir ihre objektive Wahr-
heit oder ihre sachlich angemessene Gestaltung nennen — so sehr
die ideelle Gültigkeit, auf die die letzteren Begriffe hindeuten, in
ihrem Fürsichsein alle Beziehung auf Anerkannt- oder Nicht-An-
erkanntwerden ablehnen mag. Die Bedeutung des Geldes nach
beiden Seiten hin bestätigt die Enge dieser Korrelation, die sich auf
vielerlei speziellen Gebieten geltend macht. Das Handelsrecht des
deutschen Mittelalters war ursprünglich nur das Genossenschaftsrecht
der einzelnen Kaufmannskollegien gewesen. Es bildete sich zu einem
gemeinen Rechte unter der universalistischen Vorstellung, daſs der ge-
samte Kaufmannsstand des Reiches, ja, der Welt eigentlich eine groſse
Gilde bilde. Und damit entwickelte sich das gemeine Recht des Han-
delsstandes zu einem gemeinen Recht der Handelsgeschäfte. Hier
tritt sehr klar hervor, wie das Recht, indem es von einem engeren zu
einem absolut weiten Kreise vorschreitet, sich überhaupt von der Be-
ziehung auf bloſse Personen löst und zu einem Rechte der objektiven
Transaktionen wird. Und eben dieselbe Entwicklung war es, die von
einer immer gründlicheren Durchführung des Geldverkehres ebenso ge-
tragen wurde, wie sie andrerseits diese trug.


Schon die technische Schwierigkeit, die Werte der Naturalwirtschaft
[358] auf weithin zu transportieren, muſs diese auf relative Kleinheit der ein-
zelnen Wirtschaftskreise beschränken, während das Geld grade durch
seine absolute Beweglichkeit das Band bildet, das die gröſste Ausdehnung
des Kreises mit der Verselbständigung der Persönlichkeiten verbindet.
Der vermittelnde Begriff für diese Korrelation zwischen dem Geld einer-
seits und der Vergröſserung des Kreises wie der Differenzierung der Indi-
viduen andrerseits ist oft das Privateigentum überhaupt. Der kleine und
naturalwirtschaftliche Kreis neigt zu Gemeineigentum. Jede Vergröſserung
desselben drängt auf Aussonderung der Anteile: bei sehr gewachsener
Zahl von Genossen wird die Verwaltungstechnik des Gemeinbesitzes so
kompliziert und konfliktsreich, die Entstehungswahrscheinlichkeit unver-
träglicher oder über die kommunistische Enge hinausdrängender Indivi-
duen wächst so sehr, die dem Gemeinbesitz widerstrebende Arbeits-
teilung und Intensität der Ausnutzung wird zu einer solchen Notwendig-
keit, daſs man den Privatbesitz als eine direkte Folge der quantitativen
Mehrung der Gruppe bezeichnen kann. Eine irländische Handschrift des
12. Jahrhunderts berichtet, daſs die Aufteilungen des Bodens wegen
der zu groſs gewordenen Zahl der Familien stattfanden; und in Ruſs-
land, wo sich der Übergang vom Gesamt- zum Sondereigentum noch
beobachtbar vollzieht, ist es ganz deutlich, daſs die bloſse Vermehrung
der Bevölkerung ihn trägt oder beschleunigt. Das Geld aber ist ersicht-
lich das geeignetste Substrat der privaten und persönlichen Besitzform.
Die gesonderte Verteilung, die Fixierung der Vermögensrechte, die
Realisierung der einzelnen Ansprüche ist erst durch das Geld ohne
weiteres möglich geworden. Darum wehrt sich aber das Geld auch —
und dies ist die Kehrseite eben derselben Thatsache — gegen gewisse
kollektivistische Verfügungen, die sich innerhalb der Naturalwirtschaft
von selbst ergeben. Im Mittelalter galt die Theorie, daſs eine Geld-
leistung nur von demjenigen zu fordern wäre, der sie persönlich ver-
sprochen hätte; die Mitglieder der Stände, die in der bewilligenden
Versammlung nicht gegenwärtig waren, versagten deshalb oft die
Leistung. Anfangs des 13. Jahrhunderts steht es in England noch
nicht formell fest, daſs der Beschluſs des Supreme Council der
Ständevertretung alle Unterthanen in Sachen der Besteuerung
auch gegen den Willen des Einzelnen binden solle. Und als in
Deutschland am Ende des Mittelalters die Landstände vielfach dem
Landesherrn gegenüber eine als Einheit wirkende Körperschaft bildeten
und ihre Aktionen nicht die summierten Aktionen von Einzelnen,
sondern solche der Gesamtheit der Stände waren, da erhielt sich doch
die erstere Vorstellung noch am längsten bei der Steuerbewilligung;
hier schien am längsten die Gesamtheit nur die Summe der Einzelnen
[359] zu vertreten, so daſs jeder Einzelne sich dem gemeinsamen Beschluſs
entziehen konnte. Das gleiche Motiv macht sich unter sehr veränderten
Umständen geltend, indem bei zunehmender Zentralisation der Staats-
verwaltung dennoch den lokalen Verbänden eine relative Freiheit der
Finanzgebarung gelassen wird. Die deutsche Gesetzgebung der letzten
Jahrzehnte z. B. scheint dahin zu neigen, die sozialen, politischen,
ethischen Aufgaben der Kommunen als solcher einzuengen und sie zu
lokalen Organen des Regierungswillens herabzudrücken; wogegen man
ihnen innerhalb der Vermögensverwaltung erhebliche Autonomie ein-
räumt. Es ist in demselben Sinn, wenn man es als den Hauptnachteil
der Geldstrafe hervorgehoben hat, daſs das Geld im Besitze des Staates
lange nicht so wirtschaftlich fruchtbar zu machen ist, wie es in den
Händen des Individuums wäre. Deshalb ist es schon eine technische
Zweckmäſsigkeit in Bezug auf die Geldgebarung, demjenigen eine
gewisse Freiheit zu lassen, den man in allen übrigen Beziehungen
beschränkt — eine etwas verkleidete praktische Folge und Wendung
der Schwierigkeit, der die kollektivistische Verfügung über Geld be-
gegnet.


Eine solche Schwierigkeit besteht nämlich trotz der Eignung des
Geldes, das zusammenhaltende Interesse für Vereinigungen sonst un-
vereinbarer Individuen abzugeben. Beides geht schlieſslich auf eine
und dieselbe Wirkung seiner zurück: Sonderung und gegenseitige
Unabhängigkeit den Elementen zu gewähren, die vorher in ursprüng-
licher Lebenseinheit bestanden haben. Diese Zersetzung trifft einer-
seits die Einzelpersönlichkeiten und ermöglicht dadurch, daſs sich ihre
gleichartigen Interessen, wie unabhängig von dem Divergenten und Un-
versöhnlichen an ihnen, zu einem Kollektivgebilde zusammenthun. Sie
trifft aber auch andrerseits die Gemeinschaften und erschwert den nun
scharf differenzierten Individuen die innere und äuſsere Vergemein-
samung. Das Schema dieses Widerspruchs, weit über diesen Fall
hinausgreifend, durchzieht das ganze gesellschaftliche Leben. Es stammt
daher, daſs das Individuum einerseits ein bloſses Element und Glied
der sozialen Einheit ist, andrerseits aber doch selbst ein Ganzes, dessen
Elemente eine relativ geschlossene Einheit bilden. Die Rolle, die ihm
als bloſsem Organ zukommt, wird deshalb häufig mit derjenigen kolli-
dieren, die es als ganzer und eigner Organismus spielen kann oder
will. Derselbe Einfluſs, der das aus Individuen zusammengegliederte
soziale Ganze trifft und auſserdem das Individuum als ein Ganzes
selbst, löst an beiden formal gleiche Wirkungen aus, die eben des-
halb, da das Individuum jene zwei völlig heterogenen Bedeutungen
repräsentiert, oft genug in inhaltliche Gegensätze auslaufen. Darum
[360] ist es zwar ein praktischer, aber durchaus kein logischer, theoretisch
unauflösbarer Widerspruch, daſs das Geld, an der Gesellschaft ebenso
wie an den Einzelnen auf Differenzierung der Elemente wirkend, in
der einen Hinsicht Erschwerung, in der anderen Erleichterung eben-
desselben Geschehens mit sich bringt. Die angedeutete Erschwerung
der kollektivistischen Verfügung über Geld hängt nun, ganz im all-
gemeinen, so zusammen. Jeder andere Besitz weist, wie oben betont
wurde, durch seine technischen Bedingungen auf eine gewisse Art
seiner Verwendung hin, die Freiheit der Disposition über ihn hat ver-
möge dieser eine sachliche Schranke. Wogegen der Verwendung des
Geldes eine solche völlig fehlt, also die gemeinsame Disposition Mehrerer
darüber den dissentierenden Tendenzen einen weitesten Spielraum
giebt. Damit aber setzt sich die Geldwirtschaft in entschiedenen
Gegensatz gegen die Lebensbedingungen der kleinen Wirtschaftskreise,
die so vielfach grade auf gemeinsame Dispositionen, einheitliche Maſs-
regeln angewiesen sind. Man kann, freilich mit sehr starker Ver-
kürzung, sagen, daſs der kleine Kreis sich durch Gleichheit und Ein-
heitlichkeit, der groſse durch Individualisierung und Arbeitsteilung erhält.
Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaft-
lichen Wechselwirkungen eines relativ groſsen Kreises herstellt, indem
es andrerseits durch seinen bloſsen Quantitätscharakter den genauesten
mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes indivi-
dueller Leistung, jeder personalen Tendenz gestattet, vollendet es im
Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen
der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.


Die Beziehung des Geldes zum Privateigentum und damit zur
freien Ausbildung der Persönlichkeit heftet sich, wie gesagt, vor allem
an seine Beweglichkeit und wird deshalb an seinem Gegensatz, dem
Besitz des Bodens, besonders durchsichtig. Das Grundeigentum strebt
in zwei Richtungen über die Bindung an das Individuum hinaus:
gleichsam nach der Breitendimension, indem es sich mehr als alles
andere zum Kollektivvermögen einer Gruppe eignet, nach der Tiefen-
dimension, indem es das vorzüglichste Objekt der Vererbung ist. Wenn
das Gesamteigen der primitiven Gruppe aus Grundstücken besteht, so
führt die Entwicklung wiederum in zwei hauptsächlichen Richtungen
darüber hinaus. Zunächst dadurch, daſs die Nahrung aus einem Besitz
beweglicheren Charakters gewonnen wird; sobald dies geschieht, ist
auch sogleich das Sondereigen da. Bei Nomadenvölkern finden wir
durchgehends, daſs das Land zwar Gemeingut der Sippe ist und den
einzelnen Familien nur zur Benutzung angewiesen wird; allein das
Vieh ist überall Privateigentum dieser einzelnen Familien. Die noma-
[361] dische Sippe ist, so viel wir wissen, in Bezug auf den Herdenbesitz
niemals kommunistisch gewesen. Thatsächlich sind auch sonst in vielen
Gesellschaften die Mobilien schon Sondereigentum gewesen, als der
Boden noch lange Gemeinbesitz war. Andrerseits knüpft sich die Ent-
stehung des Privateigens an diejenigen Thätigkeiten, welche nicht des
Grundes und Bodens als Materiales bedürfen. In dem Rechte der
indischen Geschlechtsgenossenschaft entsteht der Gedanke, daſs das-
jenige, was nicht vermittels des Familienvermögens — das eben vor-
züglich aus Grundstücken gebildet ist — erworben wird, auch nicht in
dieses zu flieſsen habe. Der Erwerb einer persönlichen Geschicklich-
keit also, wie das Erlernen eines Handwerks, wird als das hauptsäch-
liche Mittel zum Gewinn eines Sondergutes und zur Selbständigkeit
der Persönlichkeit genannt. Der Handwerker, der seine Geschicklich-
keit überallhin mit sich nimmt, hat eben in ihr jenes bewegliche Gut,
das, grade wie in andrer Weise der Viehbesitz, den Einzelnen von
dem Bodenbesitz mit seinem Kollektivcharakter loslöste. Endlich: die
Überführung der gemeinwirtschaftlichen Lebensform in eine individua-
listische ist ein zweckmäſsiges Mittel, um bei sich auflösender Natural-
wirtschaft die bisher auf sie gegründete Genossenschaft so weit wie
möglich zu konservieren. Bis zum 13. Jahrhundert bestand das Ver-
mögen der kirchlichen Genossenschaften wesentlich in Grundbesitz, und
ihre Geschäftsführung beruhte auf dem Prinzip der Gemeinwirtschaft.
Das Sinken der naturalwirtschaftlichen Erträge schuf ihr seitdem groſse
Not; aber eben die zur Herrschaft gelangende Geldwirtschaft, die dies
verschuldete, bot zugleich ein gewisses Heilmittel. Man zerschlug
nämlich die Einnahmen der Stifter und sogar der Klöster mehr oder
weniger weitgehend in einzelne Gehälter, Pfründen, und konnte nun
mehrere derselben aus ganz getrennten Orten vermöge der Geldform
des Ertrages einer einzigen Person zusprechen. Dadurch war es mög-
lich, bei sinkenden Gesamteinnahmen doch wenigstens das Einkommen
der führenden und repräsentierenden Persönlichkeiten der Genossen-
schaften auf gleicher Höhe zu halten — so sehr dies auf Kosten der
niederen Kleriker geschah, die nun ihrerseits als Mietlinge den
Dienst an der Gemeinde versahen. Dieser Vorgang zeigt sehr deutlich,
wie die zurücktretende Bedeutung des Bodens selbst so eng auf
Zusammenschluſs und Einheit angelegte Gruppen, wie die kirchlichen,
aus der kollektivistischen Lebensform in die individualistische hinein-
treibt und wie die eindringende Geldwirtschaft ebensowohl Ursache
als — durch die Zerlegung und Mobilisierung der Grundstücke — das
Mittel dieses Prozesses bildet. Daſs heute grade der Bauer als der
entschiedenste Gegner sozialistischer Bestrebungen gilt, hat wohl
[362] zunächst den Grund, daſs er in zweckmäſsiger Anpassung an die
Technik seines Betriebes äuſserst konservativ ist: da nun einmal
individuelles Eigentum besteht, so hält er an demselben ebenso fest,
wie er vor Jahrhunderten an der gemeinen Mark, ja noch vor viel
kürzerer Zeit wenigstens an der Gemengelage festgehalten hat. Auch
hat der moderne Sozialismus ein Hauptmotiv, das jener alten Kollek-
tivität des Grundbesitzes als etwas völlig Heterogenes gegenübersteht
und ihn der innersten Lebensrichtung des Landwirts völlig entfremdet:
die restlose Beherrschung der Produktion durch den Verstand, den
Willen, die organisierende Berechnung des Menschen. Die Verfassung
der Fabrik und die Konstruktion der Maschine stellt dem Industrie-
arbeiter täglich vor Augen, daſs zweckmäſsige Bewegungen und
Wirkungen mit absoluter Zuverlässigkeit zustande gebracht, persön-
liche und aus dem Innern der Dinge hervorbrechende Störungen völlig
vermieden werden können. Diese Erreichung der Zwecke vermöge
eines durchsichtigen und dirigierbaren Mechanismus arbeitet einem
sozialen Ideal vor, das die Gesamtheit mit dem souveränen Rationa-
lismus der Maschine, unter Ausschaltung aller privaten Impulse,
organisieren will. Dagegen sind die Arbeit des Bauern und ihre
Erfolge von ebenso unbeeinfluſsbaren wie unberechenbaren Kräften
abhängig, seine Gedanken gehen auf die Gunst eines nicht zu rationali-
sierenden Faktors und auf das jeweilige Ausnutzen irregulärer Be-
dingungen. So bilden sich seine Ideale dem sozialistischen entgegen-
gesetzt, das nicht die Gunst, sondern das Ausschalten aller Zufälligkeit
und eine Organisation der Lebenselemente anstrebt, die, was bei den
bäuerlichen Interessen gar nicht in Frage kommt, jedes derselben berechen-
bar macht. Jene absolute Beherrschung der Gesamtproduktion durch
Verstand und Willen ist technisch freilich nur bei absoluter Zentrali-
sierung der Produktionsmittel — in der Hand der „Gesellschaft“ —
möglich, aber es liegt auf der Hand, wie weit die alte naturalwirt-
schaftliche Kollektivität in ihrem Kern und Sinn von dieser sozia-
listischen absteht, deren Idee sich deshalb auch grade über der geldwirt-
schaftlichsten und mobilisiertesten Eigentumsgestaltung erheben konnte
— so sehr, wie ich oben erwähnte, jener primitive Kommunismus als
Instinkt und nebelhaftes Ideal zu den Triebkräften des Sozialismus
beisteuern mag.


Historisch besteht jedenfalls die Korrelation zwischen Natural-
wirtschaft und Kollektivität, der auf der anderen Seite die zwischen
Mobilisierung des Besitzes und Individualisierung desselben entspricht.
Deshalb trägt in enger Beziehung zu seinem Charakter als Kollektiv-
gut der Boden auch einen besonderen Charakter als Erbgut. Wenn
[363] wir die Familienverfassungen in ihren wirtschaftlichen Gestaltungen
verfolgen, so sehen wir oft, daſs der Unterschied des Erbgutes gegen
das selbsterworbene Gut sich mit dem des unbeweglichen gegen das
bewegliche Vermögen deckt. In den nordwestlichen Distrikten von
Indien ist es ein und dasselbe Wort (jalm), das einerseits das Recht
der Erstgeburt, andrerseits, im engeren Sinne, das Eigentum an Grund
und Boden bedeutet. Umgekehrt kann das mobile Gut einen so engen
Zusammenhang mit der Persönlichkeit haben, daſs bei ganz primitiven
und armseligen Völkern die Erbschaften an solchen Dingen überhaupt
nicht angetreten, sondern, wie aus den verschiedensten Weltgegenden
mitgeteilt wird, die Gebrauchsgegenstände des Toten vernichtet werden.
Gewiſs sind hierzu mystische Vorstellungen wirksam: als ob der Geist
des Verstorbenen durch diese Gegenstände angelockt und rückkehrend
allerlei Schaden anrichten würde. Allein das beweist ja grade die
enge Verbindung, die zwischen jenen und der Persönlichkeit besteht,
so daſs der Aberglaube durch sie seine spezielle Form erhält! Von
den Nikobaren wird berichtet, daſs es dort als Unrecht gilt, einen
Verwandten zu beerben, und deshalb seine Hinterlassenschaft zerstört
wird — ausgenommen Bäume und Häuser. Diese tragen den Charakter
des immobilen Besitzes, so daſs ihre Verbindung mit dem Individuum
eine lockrere ist und sie zum Übergang auf andere geeigneter sind.
Daher nun auch die enge Beziehung, die der Grundbesitz grade zu
der auf das Prinzip der Erblichkeit gegründeten Aristokratie hat. Ich
erinnere an das früher Erwähnte, wie sehr das aristokratische Prinzip
der Familienkontinuität im alten Griechenland in religiös ge-
festeter Wechselwirkung mit der zentralen Stellung des Grundbesitzes
stand: die Veräuſserung des Grundbesitzes war nicht nur eine Pflicht-
verletzung gegen die Kinder, sondern, in noch betonterem Maſse, den
Ahnen gegenüber! Man hat ferner hervorgehoben, daſs, wo die könig-
lichen Lehen rein naturalwirtschaftlicher Natur waren, wie im frühen
mittelalterlichen Deutschland — während in Ländern, die der Geld-
wirtschaft etwas näher standen, Lehensverhältnisse leicht auf andere
als dingliche Benefizien gegründet werden konnten — sie auf aristo-
kratischen Charakter der ganzen Institution hinwirkten. Das Erb-
prinzip aber steht im groſsen und ganzen im Gegensatz zum Individual-
prinzip. Es bindet den Einzelnen in die Reihe der nacheinander
lebenden Personen, wie das Kollektivprinzip ihn in die der neben-
einander lebenden bindet; so garantiert auch im Biologischen die
Vererbung die Gleichheit der Generationen. An der Schranke des
Vererbungsprinzips macht die wirtschaftliche Individualisierung Halt.
Im 13. und 14. Jahrhundert hatte sich zwar die deutsche Einzel-
[364] familie wirtschaftlich vom „Geschlecht“ emanzipiert und trat als selb-
ständiges Vermögenssubjekt auf. Aber damit war auch die Differen-
zierung beendet. Weder der Hausvater, noch Frau oder Kinder hatten
scharf bestimmte individuelle Rechte an das Vermögen; es verblieb als
Stock der Familiengenerationen. Die einzelnen Familienglieder waren
nach dieser Richtung hin noch nicht individualisiert. Die Heraus-
bildung der wirtschaftlichen Individualität beginnt hier also an dem
Punkte, wo der Erbgang endet: an der Einzelfamilie, und hört dort
wieder auf, wo er noch herrscht: innerhalb der Einzelfamilie; erst
wo, wie in der Neuzeit, die Vererbung wesentlich bewegliches Ver-
mögen betrifft, wird dieser Inhalt ihrer mit seinen individualistischen
Konsequenzen freilich Herr über ihr formal anti-individualistisches
Wesen. Ja selbst die Forderungen der Praxis können dieses oft nicht
überwinden, wo es an dem Charakter des Grundbesitzes seine Stütze
findet. Es könnte nämlich mancher Schattenseite unseres bäuerlichen
Erbrechts in einzelnen Fällen abgeholfen werden, wenn die Bauern
testierten. Allein das thun sie sehr selten. Das Testament ist zu
individuell gegenüber der Intestaterbfolge. Die Verfügung über den
Besitz nach ganz persönlichem, von der Üblichkeit und Allgemeinheit
abweichendem Belieben ist ein zu starker Anspruch an die Differenziert-
heit des Bauern. So dokumentiert sich überall die Immobilität des
Besitzes, mag sie mit seiner Kollektivität oder seiner Erblichkeit ver-
bunden sein, als das Hemmnis, dessen Zurückweichen einen proportio-
nalen Fortschritt der Differenzierung und persönlichen Freiheit ge-
stattet. Insofern das Geld das beweglichste unter allen Gütern ist,
muſs es den Gipfel dieser Tendenz darstellen und ist nun auch
thatsächlich derjenige Besitz, der die Lösung des Individuums von den
vereinheitlichenden Bindungen, wie sie von anderen Besitzobjekten aus-
strahlen, am entschiedensten bewirkt.


[[365]]

Fünftes Kapitel.
Das Geldäquivalent personaler Werte.


I.


Die Bedeutung des Geldes im System der Wertschätzungen ist an
der Entwicklung der Geldstrafe meſsbar. Zuerst tritt uns auf diesem
Gebiet, als seine auffälligste Erscheinung, die Sühnung des Totschlags
durch Geldzahlung entgegen — eine in primitiven Kulturen so häufige
Thatsache, daſs sich, wenigstens für ihre einfache und direkte Form,
einzelne Beispiele erübrigen. Weniger beachtet indes als ihre Häufig-
keit ist die Intensität, mit der der Zusammenhang von Wert des
Menschen und Geldwert oft die rechtlichen Vorstellungen beherrscht.
Im ältesten angelsächsischen England war auch für die Tötung des
Königs nur ein Wergeld festgesetzt; ein Gesetz bestimmte es auf
2700 sh. Nun war eine solche Summe für die damaligen Verhältnisse
ganz imaginär und überhaupt nicht aufzutreiben. Ihre reale Bedeutung
war, daſs, um sie einigermaſsen gut zu machen, der Mörder und seine
ganze Verwandtschaft in Sklaverei verkauft werden muſsten, wenn
nicht auch dann noch, wie ein Interpret jenes Gesetzes sagt, die
Differenz so groſs blieb, daſs sie — als bloſse Geldschuld! — nur durch
den Tod ausgeglichen werden konnte. Erst auf dem Umwege über
die Geldstrafe also hielt man sich an die Persönlichkeit, jene erscheint
als der ideale Maſsstab, an dem man die Gröſse des Verbrechens aus-
drückt. Wenn innerhalb desselben Kulturkreises zur Zeit der sieben
Königreiche das typische Wergeld für den gewöhnlichen Freeman
200 sh. betrug und das für andere Stände nach Bruchteilen
oder Vielfachen dieser Norm
gerechnet wurde, so offenbart dies
nur in anderer Weise, eine wie rein quantitative Vorstellung vom
Werte des Menschen das Geld ermöglicht hatte. Von eben dieser aus
[366] begegnet noch zur Zeit der Magna Charta die Behauptung, Ritter,
Baron und Graf verhielten sich zu einander wie Schilling, Mark und
Pfund — da dies die Proportion ihrer Lehensgefälle sei; eine Vor-
stellung, die um so bezeichnender ist, als die Begründung thatsächlich
ganz ungenau war; denn sie beweist die Tendenz, den Wert des
Menschen auf einen geldmäſsigen Ausdruck zu bringen, als eine so
kräftige, daſs sie sich selbst um den Preis einer sachlichen Unan-
gemessenheit verwirklicht. Von ihr aus wird aber nicht nur das Geld
zum Maſs für den Menschen, sondern auch der Mensch zum Maſs für
das Geld. Die Summe, die für die Tötung eines Menschen gezahlt
werden muſs, begegnet uns hier und da als monetarische Einheit.
Nach Grimm bedeutet das Perfektum skillan soviel wie: ich habe
getötet oder verwundet; daher dann: ich bin buſspflichtig geworden.
Nun war thatsächlich der Solidus der einfache Strafsatz, nach dem in
den Volksrechten die Buſsen berechnet wurden. Man hat deshalb in
der Konsequenz jener Bedeutung von skillan angenommen, daſs das
Wort „Schilling“ die Bedeutung von „Strafsimplum“ hätte. Der Wert
des Menschen erscheint hier also als Einteilungsgrund des Geldsystems,
als Bestimmungsgrund des Geldwertes. Dieselbe Bedeutung des Geldes
tritt auch da hervor, wo die Geldstrafe nicht nur für Mord, sondern
für Vergehen überhaupt in Frage kommt. Im merovingischen Zeit-
alter wurde der Solidus nicht mehr wie bisher zu 40, sondern nur zu
12 Denaren gerechnet. Und zwar wird als Grund dafür vermutet: es
sollten damals die nach Solidi bestimmten Geldstrafen herabgesetzt
werden, und hierzu sei angeordnet, es sollen überall, wo ein Solidus
bestimmt sei, nicht mehr 40, sondern nur 12 Denare bezahlt werden.
Es habe sich daraus der Strafsolidus zu 12 Denaren gebildet, der
schlieſslich der allgemein herrschende geworden sei. Und von den
Palauinseln wird berichtet, daſs dort jede Art von Bezahlung schlecht-
hin Strafgeld heiſst. Es giebt hier also nicht mehr die Bestimmtheit
der Münze die Skala her, an der die relative Schwere des Vergehens
sich miſst; sondern umgekehrt, die Taxierung des Vergehens schafft
einen Maſsstab für die Festsetzung der Geldwerte.


Dieser Vorstellungsweise — so weit sie sich auf die Mordsühne
bezieht — liegt ein Gefühl von prinzipieller Erheblichkeit zum Grunde.
Da das ganze Wesen des Geldes auf der Quantität beruht, Geld an
und für sich ohne Bestimmtheit seines Wieviel ein völlig leerer Begriff
ist, so ist es von gröſster Bedeutung und ganz unerläſslich, daſs jedes
Geldsystem eine Einheit besitzt, als deren Vielfaches oder deren Teil
sich jeder einzelne Geldwert ergiebt. Diese ursprüngliche Bestimmt-
heit, ohne die es überhaupt zu keinem Geldwesen kommen konnte,
[367] und die sich dann technisch zum „Münzfuſs“ verfeinert, ist gleichsam
die absolute Grundlage der quantitativen Relationen, in denen der
Geldverkehr verläuft. Nun wäre freilich, rein begrifflich angesehen,
die Gröſse dieser Einheit ganz gleichgültig, denn wie sie auch sei,
durch Division oder Multiplikation lassen sich alle erforderlichen
Gröſsen aus ihr herstellen; über ihre Festsetzung werden denn auch
wirklich, namentlich in späterer Zeit, nur teils historisch-politische,
teils münztechnische Gründe entscheiden. Dennoch wird dasjenige
Geldquantum, das einem als der Maſsstab aller anderen vor Augen
steht, sobald von Geld geredet wird, und sozusagen der Repräsentant
des Geldes überhaupt ist — das wird wenigstens ursprünglich auch
zu irgend einem zentralen Wertgefühl des Menschen in Beziehung
stehen müssen, als Äquivalent für irgend ein im Vordergrund des
Bewuſstseins stehendes Objekt oder Leistung kreiert werden. Woraus
sich übrigens die oft bemerkte Thatsache erklärt, daſs in Ländern mit
hoher Münzeinheit die Lebenshaltung teurer ist als in solchen mit
minderer — also, ceteris paribus, in Dollarländern teurer als in Mark-
ländern, in Markländern teurer als in Frankländern. Vielerlei Lebens-
bedürfnisse scheinen eben diese Einheit, bezw. bestimmte Vielfache der-
selben zu kosten, gleichviel welches deren absolute Gröſse ist. Die
Münzeinheit innerhalb eines sozialen Kreises, so irrelevant sie vermöge
ihrer beliebigen Teilung und Multiplizierung zu sein scheint, hat
dennoch, sowohl als Folge wie als Ursache, sehr tiefe Beziehungen zu
dem ökonomisch ausdeutbaren Typus der Lebenswerte überhaupt. Es
war noch ein Erfolg dieses Zusammenhanges, daſs die erste französische
Konstitution von 1791 als Wertmesser den Tagelohn annahm. Jeder
vollberechtigte Bürger muſste eine direkte Steuer von mindestens
3 Journées de travail zahlen, um Wähler zu sein, bedurfte es eines
Einkommens von 150—200 Journées. So ist die werttheoretische
Meinung aufgetaucht, die Tagesexigenz, also dasjenige, was für
den Menschen den unumgänglichsten Wert hat, sei der absolute
Wertmesser, dem gegenüber die edlen Metalle und alles Geld über-
haupt als Ware im Preise steigen oder fallen. Und in derselben
Richtung, als die Werteinheit ein zentrales und durch ein wesent-
liches menschliches Interesse umgrenztes Objekt zu setzen, liegt der
Vorschlag eines „Arbeitsgeldes“, dessen Grundeinheit gleich dem
Arbeitswerte einer Stunde oder eines Tages sei. Demgegenüber möchte
man es als einen nur quantitativen Unterschied bezeichnen, wenn das
Äquivalent für den ganzen Menschen, das Wergeld, als das charakte-
ristische Geldquantum überhaupt hervortritt.


Der Ursprung des Wergeldes ist offenbar rein utilitarisch, und
[368] wenn schon nicht rein privatrechtlich, so doch jenem Indifferenzzustand
privaten und öffentlichen Rechtes zugehörig, mit dem allenthalben die
soziale Entwicklung beginnt. Der Stamm, die Gens, die Familie
forderte einen Ersatz für den ökonomischen Verlust, den der Tod
eines Mitglieds für sie bedeutete, und lieſs sich damit für die impulsiv
naheliegende Blutrache abfinden. Diese Umwandlung fixiert sich
schlieſslich in Fällen, wo die Blutrache, die sie ablösen sollen, selbst
unmöglich wäre: bei den Goajiro-Indianern muſs jemand, der sich
selbst zufällig verletzt, der eigenen Familie einen Ersatz leisten, weil
er das Blut der Familie vergossen hat. Sehr charakteristisch bezeichnet
bei einigen Malaienvölkern das Wort für Blutgeld zugleich: auf-
stehen, sich aufrichten. Es gilt also die Vorstellung, daſs mit dem er-
legten Blutgeld der Erschlagene für die Seinigen wieder aufersteht,
daſs die Lücke, die sein Tod gerissen hat, nun ausgefüllt ist. Allein
ganz abgesehen davon, daſs neben der Zahlung an die Verwandten,
wenigstens bei den Germanen, schon sehr früh auch eine besondere
Buſse für die Störung des Gemeinfriedens zu erlegen war, so enthielt
jener privatökonomische Ursprung des Wergeldes von vornherein ein
objektiv-überindividuelles Element, indem seine Höhe durch Sitte oder
Gesetz fixiert war, wenn auch für die verschiedenen Stände sehr ver-
schieden hoch. So war jedem Menschen sein Wert von der Geburt
an bestimmt, ganz gleichgültig, welchen Wert er dann in Wirklichkeit
für seine Angehörigen repräsentierte. Damit wurde also nicht nur
gleichsam der Mensch als Substanz im Unterschied von der Summe
seiner konkreten Leistungen gewertet, sondern die Vorstellung ein-
geleitet, daſs er an sich und nicht nur für andere so und so viel wert
sei. Eine bezeichnende Übergangserscheinung von der subjektiv-ökono-
mischen zu einer objektiven Wertung ist die folgende. Im jüdischen
Reiche etwa des dritten Jahrhunderts war der Normalpreis eines
Sklaven 50, der einer Sklavin 30 Schekel (ca. 45 bezw. 27 Mark).
Als Schadenersatz für die Tötung eines Sklaven oder einer Sklavin
muſste man dennoch durchweg 30 Sela (ca. 73 Mark) geben, da man
hierfür den pentateuchischen Ansatz von 30 Schekel festhielt und
darin irrtümlich 30 Sela erblickte. Man hielt sich also nicht an die
ganz sicher feststellbare wirtschaftliche Gröſse des zugefügten Schadens,
sondern an eine aus ganz anderen als wirtschaftlichen Quellen
stammende Bestimmung, die mit jener in einem auffallenden Gegen-
satz stand. So war damit zwar noch nicht die Vorstellung begründet,
daſs dieser Sklave einen ganz bestimmten Wert, abgesehen von seiner
Nützlichkeit für seinen Besitzer, hatte. Allein der Unterschied zwischen
seinem Preise, der diese Nützlichkeit ausdrückte, und dem Sühnegeld
[369] für seine Tötung — wenn auch durch ein theologisches Miſsverständnis
hervorgerufen — wies doch darauf hin, daſs eine ökonomische Wert-
bestimmtheit des Menschen aus einer objektiven Ordnung hervorgehen
konnte, die seine Wertung aus der bloſsen privaten Nützlichkeit für
den Berechtigten durchbrach. Dieser Übergang wird in dem Maſse
erleichtert und bezeichnet, in dem das Wergeld eine rein staat-
liche Institution wird. Es kommt grade im äuſseren Gegensatz zu dem
eben erwähnten Fall vor, daſs nur der Freie Wergeld hat, der Un-
freie aber überhaupt nicht. Im florentiner Gebiet finden wir während
des Mittelalters eine reiche Abstufung von Hörigen als coloni, sedentes,
quilini, inquilini, adscripticii, censiti u. s. w. — deren Bindungen wahr-
scheinlich im umgekehrten Verhältnis ihres Wergeldes zunahmen, so
daſs für die gänzlich Unfreien überhaupt kein Wergeld mehr bestand.
Noch im 13. Jahrhundert wurde dieses an sich damals längst veraltete
und rein formell gewordene Kriterium z. B. vor Gericht festgestellt,
um die Bedeutung der Zeugenaussagen danach zu rangieren. Vom indivi-
dualistischen Nützlichkeitsstandpunkte aus müſste umgekehrt das Wergeld
um so entschiedener festgehalten werden, je mehr jemand das Eigen-
tum eines Dritten ist. Daſs es anders geschah, und daſs jene Ordnung
als Symbol für das Gewicht der persönlichen Aussage funktionierte,
das zeigt den Punkt an, auf dem das Wergeld zum Ausdruck des
objektiven Persönlichkeitswertes geworden war.


In der Entwicklung, die so von einer bloſs utilitarischen zu einer
sachlichen Preisschätzung des Menschen aufstieg, macht sich ein sehr
allgemeiner Modus des Denkens geltend. Wenn alle Subjekte von
einem Objekt einen und denselben Eindruck empfangen, so scheint
das nicht anders erklärbar, als daſs das Objekt eben diese bestimmte
Qualität, den Inhalt jenes Eindrucks an sich besitze; ganz verschiedene
Eindrücke mögen in ihrer Verschiedenheit aus den aufnehmenden Sub-
jekten stammen, ihre Gleichheit aber kann, wenn man den unwahr-
scheinlichsten Zufall ausschlieſsen will, nur daher stammen, daſs sich
das so qualifizierte Objekt in den Geistern spiegelt — zugegeben selbst,
daſs dies nur ein symbolischer und tieferer Ergänzung bedürftiger Aus-
druck ist. Innerhalb der Wertsetzung wiederholt sich dieser Vorgang.
Wenn dasselbe Objekt in verschiedenen Fällen und von verschiedenen
Personen verschieden gewertet wird, so wird die ganze Schätzung seiner
als ein subjektiver Prozeſs erscheinen, der infolgedessen je nach den
persönlichen Umständen und Dispositionen verschieden ausfallen muſs.
Wird es indes von verschiedenen Personen immer genau gleich ge-
schätzt, so scheint der Schluſs unvermeidlich, daſs es ebenso viel wert
ist. Wenn also etwa die Angehörigen der Erschlagenen ganz ver-
Simmel, Philosophie des Geldes. 24
[370] schiedene Wergelder für sie forderten, war es klar, daſs sie damit
ihren persönlichen Verlust deckten; sobald aber die Höhe des Wer-
geldes für den bestimmten Stand ein für allemal festgesetzt und dieses bei
den verschiedensten Personen und in den verschiedensten Fällen immer
gleich geleistet wurde, so muſste sich daraufhin die Vorstellung aus-
bilden, der Mann sei eben an und für sich so und so viel wert. Diese
Gleichgültigkeit gegen personale Unterschiede läſst den Wert des
Menschen überhaupt nicht mehr in demjenigen bestehen, was andere
Subjekte an ihm besitzen und verlieren, sie läſst ihn gleichsam als
einen objektiven, in Geld ausdrückbaren, auf ihn selbst zurückströmen.
Die im Interesse des sozialen Friedens und zur Vermeidung endloser
Zwistigkeiten getroffene Fixierung des Wergeldes erscheint so als die
psychologische Ursache, die die ursprünglich subjektiv-utilitarische
Wertung des Menschenlebens in die objektive Vorstellung überführte,
der Mensch habe eben diesen bestimmten Wert.


Dieser kulturhistorisch so eminent wichtige Gedanke, daſs die
Totalität eines Menschen mit Geld aufzuwiegen sei, findet sich that-
sächlich nur in zwei oder drei Erscheinungen verwirklicht: eben im
Blutgeld und in der Sklaverei, vielleicht auch in der Kaufehe, auf die
ich nachher eingehe. Man könnte die ungeheure Differenz der An-
schauungsweisen, die uns die Möglichkeit der Sklaverei und des Blut-
geldes heute so fern rückt, nach rein ökonomischen Begriffen dennoch
als eine bloſs graduelle, quantitative bezeichnen. Denn im Sklaven
wird doch nur die Summe derjenigen Arbeitsleistungen mit Geld be-
zahlt, die wir in ihrer Vereinzelung auch heute nur mit Geld bezahlen.
Das Äquivalent für das ausgegebene Geld ist heute wie damals die
Arbeit des Menschen; nur daſs sie damals in Bausch und Bogen er-
worben wurde und jetzt von Fall zu Fall, und daſs sie nicht dem
Arbeitenden, sondern einem anderen bezahlt wurde — von den Fällen
freiwilligen Sich-Verkaufens in die Sklaverei abgesehen. Und in Hin-
sicht des Blutgeldes widerspricht es auch heute unseren Gefühlen nicht,
daſs eine Geldbuſse auf geringere Verletzungen gesetzt wird, seien es
solche körperlicher oder innerer Art, wie Ehrenkränkungen oder Bruch
des Eheversprechens. Noch neuerdings werden Delikte bis zu recht
erheblicher Schwere in einigen Strafgesetzgebungen nur mit Geld ge-
sühnt: so im Staate New-York, in den Niederlanden, im modernen
Japan. Auf dem bloſs ökonomischen Standpunkte verharrend, kann
man die Tötung des Menschen als eine bloſs graduelle Steigerung
solcher partieller Lahmlegungen und Herabsetzungen seiner Energien
und Bewährungen ansehen, wie man ja auch physiologisch den Tod als
eine Steigerung und Verbreiterung von Prozessen bezeichnet hat, die
[371] in niedrigem oder auf gewisse Körperprovinzen beschränktem Grade
auch am „lebenden“ Organismus stattfinden.


Allein diese ökonomische Betrachtungsart ist nicht die geltende.
Thatsächlich ruht die ganze vom Christentum beherrschte Entwicklung
der Lebenswerte auf der Idee, daſs der Mensch einen absoluten
Wert besitzt; jenseits aller Einzelheiten, aller Relativitäten, aller be-
sonderen Kräfte und Äuſserungen seines empirischen Wesens steht
eben „der Mensch“, als etwas einheitliches und unteilbares, dessen
Wert mit irgend einem quantitativen Maſsstab überhaupt nicht ab-
gewogen und deshalb auch nicht mit einem bloſsen Mehr oder Weniger
eines anderen Wertes aufgewogen werden kann. Das ist der Grund-
gedanke, der das ideelle Fundament des Blutgeldes wie der Sklaverei
verneint, weil diese den ganzen und absoluten Menschen in ein Gleichungs-
verhältnis mit einem relativen und bloſs quantitativ bestimmbaren
Werte, dem Geld, bringen. Daſs es zu dieser Aufgipfelung des Menschen-
wertes kam, ist wie gesagt dem Christentum gutzuschreiben, dessen
Gesinnung freilich einerseits in mancherlei Ansätzen antizipiert worden
ist, wie die historische Entwicklung dieser Konsequenz andrerseits
lange auf sich warten lieſs; denn die Kirche hat die Sklaverei keines-
wegs so energisch bekämpft, wie sie wohl verpflichtet gewesen wäre,
und hat (allerdings um des öffentlichen Friedens willen und um Blut-
vergieſsen zu vermeiden) die Sühnung des Mordes durch Wergeld
gradezu gefordert. Daſs dennoch die Enthebung des Menschenwertes
aus jeder bloſsen Relation, jeder nur quantitativ bestimmten Reihe in
der Denkrichtung des Christentums liegt, hängt so zusammen. Was
jede höhere Kultur von den niederen scheidet, ist sowohl die Viel-
fachheit wie die Länge der teleologischen Reihen. Die Bedürfnisse des
rohen Menschen sind gering an Zahl, und wenn sie überhaupt erreicht
werden, gelingt es durch eine relativ kurze Kette von Mitteln.
Steigende Kultur vermehrt nicht nur die Wünsche und Bestrebungen
der Menschen, sondern sie führt den Aufbau der Mittel zu jedem
einzelnen dieser Zwecke immer höher, und fordert schon für das bloſse
Mittel oft einen vielgliedrigen Mechanismus ineinandergreifender Vor-
bedingungen. Auf Grund dieses Verhältnisses wird sich die abstrakte
Vorstellung von Zweck und Mittel erst in einer höheren Kultur er-
heben; erst in ihr wird wegen der Fülle der Zweckreihen, die eine
Vereinheitlichung suchen, wegen des immer weiteren Hinausrückens der
eigentlichen Zwecke an eine immer längere Kette von Mitteln — die
Frage nach dem absoluten Endzweck, der diesem ganzen Treiben Ver-
nunft und Weihe gäbe, nach dem Wozu des Wozu auftauchen. Dazu
kommt, daſs das Leben und Handeln des Kulturmenschen sich durch
24*
[372] eine ungeheure Anzahl von Zwecksystemen hindurchbewegt, von deren
jedem es nur einen geringen Teil beherrschen, ja nur übersehen kann,
und daſs so gegenüber der Einfachheit primitiven Daseins eine be-
ängstigende Differenziertheit der Lebenselemente entsteht; der Gedanke
eines Endzwecks, in dem alles dies wieder seine Versöhnung fände,
dessen es aber bei undifferenzierten Verhältnissen und Menschen gar
nicht bedarf, ist der Frieden und die Erlösung in der Zersplitterung
und dem fragmentarischen Charakter der Kultur. Und mit je weiteren
qualitativen Differenzen die Elemente der Existenz auseinanderliegen,
in desto abstrakterer Höhe über jedem muſs ersichtlich der Endzweck
stehen, der das Leben als Einheit zu empfinden ermöglicht; nach dem
die Sehnsucht nun keineswegs immer in bewuſster Formulierung zu
bestehen braucht, sondern auch, nicht weniger stark, als ein dumpfer
Trieb, Sehnsucht, Unbefriedigtheit der Massen. Am Beginn unserer
Zeitrechnung war offenbar die griechisch-römische Kultur auf diesen
Punkt gekommen. Das Leben war ein so vielgliedriges und lang-
sichtiges Zweckgewebe geworden, daſs sich als sein Destillat und focus
imaginarius mit ungeheurer Gewalt das Gefühl erhob: wo liegt nun
der definitive Zweck dieses Ganzen, der endgültige Abschluſs, der
sich nicht mehr wie alles, was wir sonst erstreben, schlieſslich als
bloſses Mittel enthüllt? Der resignierte oder grollende Pessimismus
jener Zeit, ihr besinnungsloses Genieſsen, das freilich in seinem Augen-
blicksdasein einen nicht über sich hinausfragenden Zweck fand, auf
der einen Seite, ihre mystisch-asketischen Tendenzen auf der anderen —
sie sind der Ausdruck jenes dunklen Suchens nach einem abschlieſsen-
den Sinn des Lebens, jener Angst um den Endzweck der ganzen
Mannigfaltigkeit und Mühsal seines Apparates von Mitteln. Diesem
Bedürfnis nun brachte das Christentum eine strahlende Erfüllung.
Zum erstenmal in der abendländischen Geschichte wurde hier den
Massen ein wirklicher Endzweck des Lebens geboten, ein absoluter
Wert des Seins, jenseits alles Einzelnen, Fragmentarischen, Widersinnigen
der empirischen Welt: das Heil der Seele und das Reich Gottes.
Nun war für jede Seele Platz in Gottes Hause, und indem sie der
Träger ihres ewigen Heils war, wurde jede einzelne, die unschein-
barste und niedrigste wie die des Helden und Weisen, unendlich
wertvoll. Durch ihre Beziehung zu dem einen Gott strahlte alle Be-
deutung, alle Absolutheit, alle Jenseitigkeit seiner auf sie zurück: so
war sie durch den ungeheuren Machtspruch, der ihr ein ewiges Schick-
sal und eine grenzenlose Bedeutung verkündete, mit einem Schlage
allem bloſs Relativen, jedem bloſsen Mehr oder Weniger der Würdigung
enthoben. Nun hat freilich der Endzweck, an den das Christentum
[373] den absoluten Wert der Seele band, eine eigentümliche Entwicklung
erfahren. Wie nämlich jedes Bedürfnis durch die Gewohnheit seiner
Befriedigung fester wird, so hat das Christentum durch das so lange
andauernde Bewuſstsein eines absoluten Endzweckes das Bedürfnis da-
nach auſserordentlich fest einwurzeln lassen, so daſs es denjenigen
Seelen, denen gegenüber es jetzt versagt, das leere Sehnen nach einem
definitiven Zweck des ganzen Daseins als seine Erbschaft hinterlassen
hat: das Bedürfnis hat seine Erfüllung überlebt. Indem die Schopen-
hauersche Metaphysik als die Substanz des Daseins den Willen ver-
kündete — der notwendig unerfüllt bleiben muſs, weil er, als das
Absolute, nichts auſser sich hat, an dem er sich befriedige, sondern
immer und überall nur sich selbst ergreifen kann — ist sie aus-
schlieſslich der Ausdruck dieser Lage der Kultur, die das heftigste
Bedürfnis nach einem absoluten Endzweck überkommen, aber dessen
überzeugenden Inhalt verloren hat. Die Schwächung des religiösen
Empfindens und gleichzeitig das so lebhaft wiedererwachte Bedürfnis
nach einem solchen sind das Korrelat der Thatsache, daſs dem
modernen Menschen der Endzweck abhanden gekommen ist. Aber
was dessen Vorstellung für die Wertung der Menschenseele geleistet
hat, ist nicht zugleich verloren gegangen und zählt zu den Aktiven
jener Erbschaft. Indem das Christentum die Menschenseele für das
Gefäſs der göttlichen Gnade erklärte, wurde sie für alle irdischen
Maſsstäbe völlig inkommensurabel und blieb es; und so fern und fremd
diese Bestimmung eigentlich für den empirischen Menschen mit seinen
irdischen Schicksalen ist, so wenig kann doch eine Rückwirkung ihrer
da ausbleiben, wo der ganze Mensch in Frage steht; sein einzelnes
Schicksal mag gleichgültig sein, die absolute Summe derselben kann
es doch nicht bleiben. In unmittelbarer Weise hat freilich schon das
jüdische Gesetz die religiöse Bedeutung des Menschen gegen seinen
Verkauf als Sklaven aufgerufen. Wenn ein Israelit sich wegen Ver-
armung einem Stammesgenossen in die Sklaverei verkaufen muſs, so
soll dieser — so befiehlt Jahve — ihn wie einen Lohnarbeiter halten
und nicht wie einen Sklaven, „denn meine Knechte sind sie,
die ich aus Ägypten weggeführt habe, sie dürfen nicht verkauft
werden, wie man Sklaven verkauft“.


Der Wert der Persönlichkeit aber, der sie durch diese Vermitt-
lung hindurch aller Vergleichbarkeit mit dem rein quantitativen Maſs-
stab des Geldes entrückt, kann zwei wohl auseinander zu haltende
Bedeutungen haben; er kann den Menschen als Menschen überhaupt,
und er kann den Menschen als dieses bestimmte Individuum betreffen.
Sagte man etwa, die menschliche Persönlichkeit besitze den höchsten
[374] Seltenheitswert, weil sie kein irgend vertretbares Gut, sondern in ihrer
Bedeutung schlechthin unersetzbar sei — so bleibt die Frage, gegen
welche anderen Werte man sie auf diese Weise isoliere. Tragen die
Qualitäten des Menschen seinen Wert, so bezieht sich jene Selten-
heit, — da sie bei jedem andere sind — auf den einzelnen Menschen
gegenüber allen anderen. Diese Anschauung, die teilweise dem Alter-
tum und dem modernsten Individualismus eigen ist, führt unvermeid-
lich auf eine Abstufung innerhalb der Menschenwelt, und nur in dem
Maſs, in dem die Träger der niedrigsten Werte sich noch mit denen
der höchsten berühren, haben jene an der Absolutheit des Wertes
dieser Teil; daher wiederholt sich die klassische Überzeugung von der
Berechtigung der Sklaverei bei einigen der neuesten Individualisten.
Ganz anders das Christentum, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts
(einschlieſslich Rousseau und Kant) und der ethische Sozialismus. Für
diese Standpunkte ruht der Wert in dem Menschen, bloſs weil er ein
Mensch ist, es bezieht sich also der Seltenheitswert auf die Menschen-
seele überhaupt gegenüber dem, was nicht Seele ist; in Bezug auf den
entscheidenden, den absoluten Wert ist hier jeder Mensch jedem anderen
gleich. Das ist also der abstrakte Individualismus — abstrakt, weil
er den ganzen Wert, die ganze absolute Bedeutung an den Allgemein-
begriff Mensch heftet und ihn erst von diesem auf das einzelne Exemplar
der Gattung überleitet. Ihm gegenüber hat das 19. Jahrhundert, seit
den Romantikern, den Begriff des Individualismus mit einem ganz
andern Inhalt erfüllt; während der Gegensatz, aus dem das Individuum
als solches seine spezifische Bedeutung zog, im 18. Jahrhundert die
staatliche, kirchliche, gesellschaftliche, zünftige Kollektivität und Bindung
war, so daſs das Ideal in dem freien Fürsichsein der Einzelnen be-
stand — ist der Sinn des späteren Individualismus der Unterschied
zwischen den Einzelnen, ihre quantitative Besonderung gegeneinander.
An der ersteren Anschauungsweise, auf deren Boden die „Menschen-
würde“ und die „Menschenrechte“ gewachsen sind, markiert sich am
entschiedensten die Entwicklung, die jeden Verkauf eines Menschen
für Geld und die Sühnung seiner Tötung durch Geld innerlich un-
möglich macht — eine Entwicklung, deren Anfänge da liegen müssen,
wo die kollektivistischen Bande der frühesten Sozialformen sich lockern,
wo das Individuum sich aus der Interessenverschmelzung mit seinen
Gruppengenossen heraushebt und sein Fürsichsein betont.


Die Entwicklung der Mordsühne, die ich verfolgte, mündete an dem
Punkte, wo aus dem Ersatz des den Hinterbliebenen wirklich geschehenen
Schadens durch die soziale Fixierung desselben hindurch sich die Vor-
stellung entwickelt hat, daſs der Mensch, der Angehörige dieses bestimmten
[375] Standes, dieses bestimmte Wergeld wert wäre. Hier setzt nun die weitere
Evolution an, infolge deren die Sühneleistung des Verbrechers nicht als
eine Entschädigung für den von ihm vernichteten Wert, sondern als
Strafe auftritt, und zwar nun nicht nur für den Mord, sondern auch
für andere schwere Vergehen. Alle Strafe, als ein unter der Idee der
Zweckmäſsigkeit zugefügter Schmerz, kann, soviel ich sehe, nur zwei
Ausgangspunkte haben: das Schutzbedürfnis der Gesellschaft und die
Entschädigungspflicht für den oder die Beschädigten. Denn wenn man
die Strafe auf den Rachetrieb zurückgeführt hat, so scheint mir dieser
selbst noch der Erklärung bedürftig, und sie darin zu finden, daſs das
Schutzbedürfnis die Menschen zwingt, den Schädiger unschädlich zu
machen, was eben oft nur durch Schmerzzufügung oder Tötung ge-
schehen kann — und daſs diese Nützlichkeit und Notwendigkeit zu
einem eigenen Triebe ausgewachsen ist: die Beschädigung des Be-
schädigers, ursprünglich ein bloſses Mittel, sich vor weiterer Schädi-
gung zu schützen, hat ein selbständiges Lustgefühl, einen von seinen
utilitarischen Wurzeln gelösten Trieb für sich erworben. Der Ursprung
der Strafe aus der Rache würde also schlieſslich auch nur auf den
Schutztrieb zurückgehen. Grade dieses macht es auch erklärlich, daſs
sehr zivilisierte Zeiten auf den Mord völlige Unschädlichmachung des
Thäters, rohere aber eine gelinde Abfindung setzen. Denn heute
werden im ganzen doch Morde nur von völlig zuchtlosen und moralisch
depravierten Individuen begangen, in roheren oder heroischeren Zeiten
aber auch von ganz anders qualifizierten, deren Überlegenheit und Thatkraft
die Gesellschaft zu konservieren alles Interesse hatte. Es ist also die
Wesensverschiedenheit der Mörder auf den verschiedenen historischen
Stufen, auf die hin die soziale Selbsterhaltung einmal auf Vernichtung,
ein anderes Mal auf eine den Thäter selbst konservierende Sühne
hindrängt. Hier interessiert uns indes nur der andere Ursprung der
Strafe, aus der Entschädigungspflicht. Solange oder insoweit die
Konsequenz einer schädigenden Handlung für den Thäter selbst von
dem Beschädigten vollzogen wird, so wird sie — abgesehen von jenen
Abwehr- und Racheimpulsen — sich auf eine Schadloshaltung dieses
letzteren beschränken; ihn wird der subjektive Zustand des Thäters
nicht interessieren, seine Reaktion wird durch die Nützlichkeit für ihn
selbst, nicht durch eine Rücksicht auf jenen bestimmt werden. Das
ändert sich, sobald eine objektive Macht, wie der Staat oder die Kirche,
die Sühne der Missethat übernimmt. Weil nun nicht mehr die Schädi-
gung des Beschädigten als persönliches Ereignis, sondern dieselbe als
Störung des öffentlichen Friedens oder als Verletzung eines ethisch-
religiösen Gesetzes das Motiv der Reaktion bildet, so wird der Zu-
[376] stand, den diese in dem Missethäter hervorruft, ihr definitiver Zweck,
während er vorher für denjenigen, der nur seine Entschädigung suchte,
ein gleichgültiges Accidenz gewesen war; so daſs man erst jetzt von
Strafe im eigentlichen Sinne sprechen kann. Jetzt handelt es sich
darum, das Subjekt selbst zu treffen, und alle Buſse als äuſserliches
Geschehen ist das bloſse Mittel dazu. Die Geldstrafe hat so einen
ganz andern Sinn als jener frühere Geldersatz für Verwundungen
und Tötungen; sie soll nicht den angerichteten Schaden ausgleichen,
sondern dem Thäter ein Schmerz sein, weshalb sie denn auch in
modernen Rechten, im Falle der Unbeitreibbarkeit, durch Freiheits-
strafe ersetzt wird, welche dem Staate nicht nur kein Geld bringt,
sondern ihn noch erhebliches kostet. Indem die Geldstrafe so nur um
ihres subjektiven Reflexes willen gehandhabt wird, mit dem der Misse-
thäter sie empfindet, kann sie allerdings einen dem Geld als solchem
fremden, individuellen Zug erhalten. Dieser dokumentiert sich in
einigen Eigenschaften, die die Geldstrafe vor anderen Strafen voraus
hat: in ihrer groſsen Abstufbarkeit, in ihrer eventuellen völligen
Widerruflichkeit, endlich darin, daſs sie nicht wie die Freiheitsstrafen
oder gar wie die Verstümmelungsstrafen früherer Zeiten die Arbeits-
kraft des Delinquenten lahmlegt oder herabsetzt, sondern sie umgekehrt
wegen des Ersatzes des Dahingegebenen grade anstachelt. Dieses
personale Moment, das der Geldstrafe zuwächst, wenn sie nicht mehr
äuſserlicher Ersatz, sondern subjektive Schmerzzufügung sein soll, reicht
indes nicht sehr tief hinab. Das zeigt sich z. B. schon darin, daſs
heutzutage die Verurteilung zur höchsten Geldstrafe die gesellschaft-
liche Position des Betroffenen nicht entfernt so herabsetzt, wie die zur
geringsten Gefängnisstrafe; nur wo das Persönlichkeitsgefühl überhaupt
noch nicht sehr stark entwickelt ist, wie in der russischen Bauern-
schaft, konnte es vorkommen, daſs vom Missethäter selbst die Prügel-
strafe jeder Geldstrafe vorgezogen wird. Ferner zeigt sich die
Schwäche des personalen Momentes in der Geldstrafe, wie sie wenigstens
bis jetzt gehandhabt wird, darin, daſs ihre prinzipielle Abstufbarkeit
der wirklichen Individualität der Verhältnisse keineswegs folgt. Das
Gesetz pflegt, wo es Geldstrafe setzt, dieselbe nach oben wie nach
unten zu begrenzen; es ist aber kein Zweifel, daſs selbst das Mindest-
maſs für den ganz Armen eine härtere Strafe bedeutet, als das Höchst-
maſs für den ganz Reichen; während jener wegen einer Mark Strafe
vielleicht einen Tag hungern muſs, werden die paar Tausend Mark,
zu denen dieser höchstens verurteilt werden kann, ihm nicht die
geringste Entbehrung auferlegen, so daſs der subjektive Strafzweck dort
übertrieben, hier überhaupt nicht durch die Geldstrafe erreicht wird.
[377] Man hat deshalb eine wirkungsvollere Individualisierung durch den
Vorschlag erreichen wollen, das Gesetz solle überhaupt nicht bestimmte
Summen als Strafgrenzen fixieren, sondern prozentuale Quoten vom
Einkommen des Schuldigen. Dagegen wird indes richtig eingewendet,
daſs die Strafe einer ganz geringfügigen Übertretung für einen viel-
fachen Millionär dann viele Tausende betragen müſste, was zweifellos
als sachlich unangemessen empfunden wird. Dieser innere Wider-
spruch des Versuches, zu einer wirklichen Individualisierung der Geld-
strafe zu gelangen, der bei sehr stark differenzierten Vermögens-
verhältnissen unvermeidlich scheint, beweist wiederum, wieviel geringer
deren subjektive Angemessenheit bei einer hoch entwickelten (d. h.
sehr krasse Differenzen enthaltenden) ökonomischen Kultur ist, als in
primitiveren, also nivellierteren Verhältnissen. Insbesondere aber muſs
die Geldstrafe sich schlieſslich da als ganz unzutreffend erweisen, wo
überhaupt nur die allerinnerlichsten Beziehungen des Menschen in
Frage stehen: bei der Kirchenbuſse, die vom 7. Jahrhundert an durch
Geld ersetzt werden konnte. Die Kirche hatte einen groſsen Teil der
Strafrechtspflege übernommen, die eigentlich dem Staate zufiel, und der
umherreisende Bischof als Richter strafte die Sünder vom Gesichts-
punkte der verletzten göttlichen Ordnung aus, so daſs ihre sittliche
Besserung, die Umkehr der Seele auf dem Sündenwege, das eigent-
liche Absehen war, von jener tiefstgelegenen und wirksamsten Tendenz
der religiösen Moral aus: daſs die definitive sittliche Pflicht des
Menschen in dem Gewinn des eigenen Heils bestehe — während die
weltliche Moral ihr letztes Ziel grade aus dem Ich heraus in den
Anderen und seine Zustände verlegt. Von diesem Gesichtspunkt der
Verinnerlichung und Subjektivierung der Strafe aus wurden selbst
Vergehen wie Mord und Meineid mit Fastenbuſse bestraft. Diese
kirchlichen Strafen aber konnten, wie gesagt, sehr bald durch Geld-
zahlung abgelöst werden. Daſs dies im Lauf der Zeit als eine ganz
unzulängliche und unzutreffende Buſse empfunden wurde, ist kein
Zeichen gegen, sondern für die gewachsene Bedeutung des Geldes;
grade weil es jetzt so sehr viel mehr Dinge aufwiegt und dadurch um
so farb- und charakterloser ist, kann es nicht zur Ausgleichung in
ganz besonderen und ausnahmsweisen Beziehungen dienen, in denen
das Innerste und Wesentliche der Persönlichkeit getroffen werden soll;
und nicht trotzdem man so gut wie alles für Geld haben kann, sondern
grade weil man das kann, hörte es auf, die sittlich-religiösen An-
forderungen, auf denen die Kirchenbuſse ruhte, zu begleichen. Die
steigende Wertung der Menschenseele, mit ihrer Unvergleichbarkeit
und Individualisiertheit, trifft auf die entgegengesetzte Richtung in der
[378] Entwicklung des Geldes, wodurch der Erfolg jener für die Aufhebung
der Geldbuſsen beschleunigt und gesichert wird. Den Charakter
kühler Gleichgültigkeit, völliger Abstraktheit gegenüber allen spezi-
fischen Werten erhält das Geld doch erst in dem Maſs, in dem es
zum Äquivalent für immer mehr und mehr Gegenstände und für immer
verschiedenartigere wird. So lange es erstens überhaupt noch nicht so
viel Gegenstände giebt, die eventuell um Geld erworben werden
könnten, und so lange zweitens von den vorhandenen ökonomischen
Werten ein wesentlicher Teil dem Geldkauf entzogen ist (wie es sehr
lange Perioden hindurch z. B. der Grundbesitz ist) — so lange hat
das Geld selbst noch einen mehr spezifischen Charakter, es steht noch
nicht so indifferent über den Parteien; sogar das direkt entgegen-
gesetzte Wesen, sakrale Würde, der Accent eines Ausnahmewertes kann
ihm in primitiven Verhältnissen zukommen. Ich erinnere an die früher
angeführten strengen Normen, die gewisse Geldsorten ausschlieſslich
für wichtige oder feierliche Transaktionen bestimmte, besonders aber
an einen Bericht aus dem Karolinenarchipel. Die Insulaner, heiſst es,
bedürften für den Lebensunterhalt keines Geldes, denn alle seien Selbst-
produzenten. Dennoch spiele das Geld die Hauptrolle, denn der Er-
werb einer Frau, die Zugehörigkeit zu dem staatlichen Verband, die
politische Bedeutung der Gemeinde hänge ausschlieſslich von dem
Geldbesitz ab. Aus solchen Verhältnissen heraus verstehen wir, wes-
halb das Geld nicht so gemein ist wie bei uns, wo es grade die
niedrigsten Bedürfnisse unmittelbarer als jene höheren deckt. Ja, die
bloſs quantitative Thatsache, daſs es überhaupt noch nicht so viel Geld
giebt und es einem nicht immerfort durch die Finger geht, läſst es
in den Perioden der Eigenbedarfs-Produktion zu jener herabsetzenden
Selbstverständlichkeit und Abgeschliffenheit seiner nicht kommen, so
daſs es sich also eher dazu eignet, als befriedigender Ausgleich für
einzigartige Objekte, wie das Menschenleben ist, zu dienen; die vor-
schreitende Differenzierung der Menschen und die ebenso vorschreitende
Indifferenz des Geldes begegnen sich, um die Sühnung des Mordes
und schwerer Vergehen überhaupt durch Geld unmöglich zu machen.


Es ist interessant, daſs das Gefühl für diese innere Inadäquat-
heit des Geldes sehr früh anklingt. Während schon in der ältesten
jüdischen Geschichte Geld als Zahlmittel für Frauen und für Buſsen
auftritt, müssen doch die Abgaben an den Tempel immer in natura
geliefert werden. So muſs z. B. derjenige, der wegen der weiten Ent-
fernung vom Heiligtume seinen Zehnten in Geld mitbringt, an Ort und
Stelle diesen wieder in Waren umsetzen, und dem entspricht es, daſs
in Delos, dem altgeweihten Heiligtum, ganz besonders lange nach dem
[379] Ochsen als offizieller Münzeinheit gerechnet wurde. Derselbe Sinn
beherrscht die altisraelitische Bestimmung, daſs gestohlene Haustiere
doppelt ersetzt werden müssen, aber wenn sie nicht mehr in natura
vorhanden waren, und deshalb Geldzahlung an ihre Stelle trat, dieselbe
den vier- bis fünffachen Wert derselben darstellen muſste: nur eine
ganz unverhältnismäſsig erhöhte Geldbuſse konnte die Naturalbuſse ver-
treten. Als in Italien das Viehgeld schon längst durch Metallgeld er-
setzt war, wurden doch die Geldstrafen bis in die späteste Zeit hinein
wenigstens formell noch nach Vieh berechnet. Und nachdem bei den
Tschechen das Vieh am Anfang unserer Zeitrechnung Zahlmittel ge-
wesen war, diente es noch lange nachher als Benennung für die Mord-
buſse. Es gehört derselben Erscheinungsreihe an, wenn bei den kali-
fornischen Indianern das Muschelgeld, nachdem es schon aus dem Ver-
kehr verdrängt war, doch noch die Gabe blieb, die man den Toten
für die Jagdgründe des Jenseits ins Grab legte. In diesen Bestimmungen
ist es die religiöse Färbung der Buſse oder Zahlung überhaupt, die in
ihrem archaistischen Wesen schon auf dieser Stufe das kurrente Geld als
etwas ihrer Weihe unangemessenes empfinden läſst; so daſs sie auf der-
selben Deklassierung des Geldes mündet, wie jene geschilderte Gegen-
bewegung, die auf der späteren Stufe den Wert des Menschen und
den Wert des Geldes immer weiter auseinandertreibt und so einen der
wichtigsten Entwicklungsmomente in der Bedeutung des Geldes herbei-
führt. Hier will ich nur noch eine Erscheinung dieser Richtung be-
tonen: die mittelalterlichen Zinsverbote ruhen auf der Voraussetzung,
daſs das Geld keine Ware sei; im Gegensatz zu einer solchen sei es
nicht selbst fruchtbar oder produktiv, und es sei deshalb sündhaft, sich
für seine Benutzung wie für die einer Ware eine Vergütung zahlen zu
lassen. Dieselben Epochen aber fanden es gelegentlich nicht im ge-
ringsten gottlos, einen Menschen als Ware zu behandeln. Vergleicht
man dies mit den praktischen und theoretischen Vorstellungen der
modernen Zeit, so mag diese Gegenüberstellung klar machen, wie die
Begriffe des Geldes und des Menschen sich mit weiter vorschreitender
Entwicklung nach direkt entgegengesetzten Richtungen bewegen —
deren Entgegengesetztheit eben dieselbe bleibt, ob sie sich, in Bezug
auf ein einzelnes Problem, aufeinander zu oder voneinander weg ent-
wickeln.


Dem Abrücken des Persönlichkeitswertes vom Geldwert, der sich
in dem Herabsinken der Geldstrafe zum niedrigsten Strafquale aus-
spricht, steht indes selbst nun wieder eine Gegenbewegung gegenüber.
Die rechtlich vergeltende Reaktion auf Unrecht und Schädigungen näm-
lich, die einer dem anderen anthut, beschränkt sich mehr und mehr
[380] auf diejenigen Fälle, in denen das Interesse des Geschädigten in Geld
ausdrückbar ist. Dies wird, wenn wir die Reihe der Kulturstadien
überblicken, bei einer ganz tiefen Stufe weniger der Fall sein, als bei
einer etwas höheren; hier aber wieder mehr als auf einer noch
höheren. Dies liegt etwa da besonders deutlich vor, wo städtische
Verhältnisse gegenüber ländlichen dem Geld erhebliche Wichtigkeit
zuwachsen lassen, während das Gesamtniveau beider ein relativ nie-
driges ist: so besteht im jetzigen Arabien die Blutrache unter den
Wüstenbewohnern, während in den Städten Wergeld gezahlt wird. In
dem wirtschaftlich interessierteren städtischen Leben liegt es eben
näher, die Bedeutung eines Menschen durch eine Geldsumme zu inter-
pretieren. Wie sehr sich das nun dahin zuspitzt, grade der im Geld-
wert abzumessenden Beschädigung einen besonderen Anspruch auf straf-
rechtliche Sühne zuzubilligen, das tritt jetzt besonders deutlich an dem
Begriff des Betruges hervor, den erst eine durchgehends auf Geld ge-
stellte Ordnung des Lebens ganz eindeutig zu fixieren gestattete. Das
deutsche Strafgesetzbuch läſst nämlich als strafwürdigen Betrug nur
gelten, wenn jemand die Vorspiegelung falscher Thatsachen „in der
Absicht, sich oder einem Anderen einen rechtswidrigen Vorteil zu ver-
schaffen“ begeht. Die Untersuchung der anderen Fälle, in denen dies
Gesetzbuch betrügerische Vorspiegelungen bestraft, ergiebt nur noch
zwei, höchstens drei, in denen die individuelle Schädigung des Be-
trogenen den Grund der Bestrafung ausmacht: die Verführung eines
Mädchens unter der Vorspiegelung der Ehe, die Herbeiführung des
Eheschlusses unter betrügerischem Verschweigen von Ehehindernissen,
die wissentlich falsche Denunziation. Prüft man die übrigen Fälle, in
denen betrügerische Vorgaben mit Strafe bedroht werden, so zeigen sie
sich als solche, in denen kein individuelles, sondern prinzipiell nur das
staatliche Interesse geschädigt wird: Meineid, Wahlfälschungen, falsche
Entschuldigungen bei Schöffen, Zeugen und Geschworenen, Angaben
falscher Namen und Titel zuständigen Beamten gegenüber
u. s. w., ja selbst in diesem Fall des staatlichen Interesses wird die
Strafe überhaupt oder ihre Höhe oft daran geknüpft, daſs ein ökono-
misches Interesse den Thäter bestimmt hat. So wird die Fälschung
von Pässen, Dienstbüchern etc. mit dem Zusatz unter Strafe gestellt,
daſs sie „zum Zwecke des besseren Fortkommens“ geschehe; so wird,
ganz besonders charakteristisch, die Fälschung des Personenstandes
(Kindesunterschiebung etc.) mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft,
aber, „wenn die Handlung in gewinnsüchtiger Absicht begangen wurde“,
mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Wie nun eine Kindesunterschiebung
zweifellos aus sehr viel unsittlicheren und verbrecherischeren Motiven
[381] als aus Gewinnsucht geschehen kann und so der schlimmere Verbrecher
bloſs, weil er kein Geldinteresse hatte, eine relativ groſse Milde der
Bestrafung erfährt —, so ist es auch im allgemeinen kein Zweifel,
daſs unzählige betrügerische Vorspiegelungen das Glück, die Ehre und
alle Güter von Menschen überhaupt vernichten können, ohne Strafe zu
finden, es sei denn, daſs der Betrüger dabei einen „Vermögensvorteil“
gesucht hat. Indem das Vermögensinteresse so von vornherein in den
Begriff des Betruges hineingelegt ist, wird zwar für die Kriminal-
praxis jene Einfachheit und Klarheit gewonnen, die der Reduktion auf
Geld allenthalben eigen ist — aber um den Preis, das Rechtsgefühl
sehr unbefriedigt zu lassen. Aus dem ganzen Umkreis der Beschädi-
gungen, die jemand durch Betrug erleiden kann, wird grade nur die
in Geld ausdrückbare zu strafrechtlicher Verfolgung herausgehoben und
dadurch als diejenige bezeichnet, die allein eine Sühne vom Stand-
punkt der gesellschaftlichen Ordnung aus fordere. Da die Absicht des
Gesetzes doch sein muſs, alle betrügerische Vernichtung personaler
Werte zu bestrafen, so kann es nur von der Voraussetzung ausgehen,
daſs alle auf diese Art zerstörbaren Werte ein Geldäquivalent besitzen.
Es kommt hier also die Idee des Wergeldes, wenngleich in rudimentärer
Form, wieder zur Geltung. Wenn dieser Idee gemäſs eine Vernichtung
personalen Wertes durch Hingabe von Geld an den Beschädigten aus-
geglichen werden konnte, so war die Voraussetzung, daſs dieser Wert
eben auf Geld reduzierbar ist. Das moderne Strafrecht lehnt freilich
die Konsequenz ab, daſs die betrügerische Schädigung durch Geld-
hingabe des Thäters an den Beschädigten hinreichend gesühnt sei;
aber an dem Objekte der That läſst sie die Vorstellung haften, daſs
jeder durch Betrug entreiſsbare Wert sich in einer Geldsumme müsse
darstellen lassen.


Hat das Bedürfnis nach möglichster Unzweideutigkeit der Rechts-
norm zu dieser ganz ungeheuerlichen Beschränkung der gegen Betrug
zu schützenden personalen Werte auf die in Geld auszudrückenden ge-
führt, und die anderen zu quantités négligeables herabgedrückt — so
führt eben dasselbe zu entsprechenden Bestimmungen des Zivilrechts.
Wortbruch und Chikane, durch die jemand in die ärgsten Unannehm-
lichkeiten und Verluste verwickelt wird, berechtigen ihn nach deutschem
Recht zu keinerlei Anspruch an den Schädiger, wenn er nicht im
stande ist, den Geldwert der erlittenen Schädigung nachzuweisen.
Ich nenne nur einige von Juristen selbst hervorgehobene Fälle: der
Mieter, dem sein Hauswirt den Garten trotz seines kontraktlichen Mit-
benutzungsrechtes verschlieſst, der Reisende, dem der Hotelier das
schriftlich zugesagte Unterkommen verweigert, der Schulvorsteher, bei
[382] dem der engagierte Lehrer kontraktbrüchig wird, ohne daſs er im
stande wäre, gleich Ersatz für ihn zu beschaffen — alle diese Personen
werden, obgleich ihr Recht auf Schadensersatz sonnenklar ist, diesen
Anspruch nicht erheben können, weil ihr Schaden sich nicht einer be-
stimmten Geldsumme gleichsetzen läſst. Wer wollte das Geldäquivalent
jener inneren und äuſseren Unannehmlichkeiten und Beeinträchtigungen
auf Heller und Pfennig nachweisen? Gelingt aber dieser Nachweis
nicht, so sind die fraglichen Beschädigungen für den Richter eben
auch quantités négligeables, sie existieren für ihn nicht. In einer un-
geheueren Zahl von Lebensbeziehungen ist der Geschädigte schlechthin
rechtlos, er hat weder die moralische Genugthuung, den Schädiger
strafrechtlich verfolgt zu sehen, noch die ökonomische, einen Ersatz
für seine Einbuſsen und Ärgernisse von ihm zu erlangen. Da nun
aber, wie nochmals betont werden muſs, die Präsumtion des Rechtes
doch ist, alle Güter der Individuen gegen unrechtmäſsige Beschädigung
zu sichern; da diese Sicherung jetzt, wie sich ergiebt, eine groſse
Summe von Gütern, sobald ihr Wert nicht in Geld substanziiert werden
kann, nicht umfaſst; so folgt als Voraussetzung dieser ganzen Rechts-
anschauung, daſs alle personalen Güter ein Geldäquivalent besitzen, —
abgesehen natürlich von der Unverletztheit des Körpers und, in einigen
Beziehungen, der Ehre —, die das Recht gleichfalls garantiert. Die
auſserordentliche Vereinfachung und Vereinheitlichung des Rechts-
systems, die diese Reduktion auf das Geldinteresse mit sich bringt,
im Verein mit dessen thatsächlicher Herrschaft, hat so zu der Fiktion
seiner Alleinherrschaft geführt, ganz entsprechend der auch auf anderen
Gebieten merkwürdigen praktischen Gleichgültigkeit gegen die nicht
in Geld ausdrückbaren, wenngleich theoretisch als die höchsten an-
erkannten Werte.


Es ist interessant zu beobachten, wie entgegengesetzt sich das
römische Recht, in seiner mittleren Periode, in dieser Hinsicht verhält.
Die Geldkondemnation, die dasselbe im Zivilprozeſs statuierte, war eine
Buſse, die über den Wert des Objektes hinaus an den Beschädigten
entrichtet wurde, um denselben für die besondere Hinterlist oder Bos-
heit zu entschädigen, unter der der Beklagte ihn hatte leiden lassen.
Das böswillig abgeleugnete Depositum, die vom Vormund vorenthaltenen
Mündelgelder und ähnliches wurden nicht einfach ersetzt, sondern
auſserdem war der Richter und unter Umständen der Kläger berechtigt,
einen Schadensersatz festzusetzen — nicht für den objektiven, einer
bestimmten Geldsumme unmittelbar äquivalenten Schaden, sondern für
die böswillige Verletzung der persönlichen Rechtssphäre überhaupt.
Es wird hier also einerseits empfunden: die persönlichen Werte, die
[383] das Recht zu schützen hat, sind nicht durch den Geldwert ihres Ob-
jektes begrenzt, sondern ihre Verletzung fordert eine über diesen
hinausgehende Buſse; zugleich aber ist diese Buſse nun wieder durch
die Hingabe einer bestimmten Geldsumme geleistet: die jenseits des
objektiven Geldinteresses erlittene Schädigung wird doch durch Geld
ausgeglichen. Das Geld spielt hier also einerseits eine geringere, aber
andrerseits eine gröſsere Rolle als in dem gegenwärtigen Zustand.
Eben deshalb zeigt dieser gegenwärtige Zustand doch eine Kombination
der beiden typischen Richtungen, in die die wachsende Kultur die
Entwicklung des Geldes treibt: sie verleiht ihm einerseits eine Wichtig-
keit, durch die es gleichsam zur Weltseele des sachlichen Interessen-
kosmos wird und, den so erhaltenen Anstoſs über seine zukommende
Grenze fortsetzend, auch die personalen Werte überwuchert; sie ent-
fernt es doch aber andrerseits von diesen, macht seine Bedeutung mit
der alles eigentlich Persönlichen immer unvergleichbarer und unterdrückt
eher die Geltendmachung personaler Werte, als daſs sie ihnen ein so
inadäquates Äquivalent zuspräche. Die Unbefriedigtheit des unmittel-
baren Rechtsgefühles, durch die das momentane Resultat des Zusammen-
wirkens dieser Motive hinter jenem römischen Zustand zurücksteht, darf
doch die Erkenntnis nicht verhindern, daſs es sich hier wirklich um
die Kombination weiter vorgeschrittener Kulturtendenzen handelt, die
freilich die Entgegengesetztheit und Unversöhnlichkeit ihrer Richtungen
in der Unzulänglichkeit und dem Tiefstande mancher Erscheinungen
zeigen, in denen sie beide gleichzeitig zu Worte kommen. —


Die Evolution des früheren Zustandes, in dem der ganze Mensch
durch Geld aufgewogen wurde, findet einige Analogien in einer spe-
zielleren, die sich an den Kauf der Frauen für Geld knüpfte. Die
Kaufehe, ihre auſserordentliche Häufigkeit in der Vergangenheit vor-
geschrittener Völker und in der Gegenwart weniger zivilisierter, die
Fülle ihrer Variationen und Formen sind bekannt genug. Es handelt
sich hier nur um die Rückschlüsse, welche diese Thatsachen auf das
Wesen der gekauften Werte gestatten. Das Gefühl von Entwürdigung,
das der Kauf einer Person für Geld oder Geldeswert im modernen
Menschen hervorbringt, ist in seiner Beziehung auf frühere historische
Verhältnisse nicht immer gerechtfertigt. Wir sahen: so lange einer-
seits die Persönlichkeit noch mehr in den Gattungstypus eingesenkt
ist, andrerseits der Geldwert noch nicht zu völliger Farblosigkeit ver-
allgemeinert ist, stehen sozusagen beide sich näher, und die persönliche
Würde der alten Germanen hat sicher nicht darunter gelitten, daſs
das Wergeld ihren Wert in Geld ausdrücken lieſs. Entsprechend liegt
die Sache beim Frauenkauf. Die ethnologischen Thatsachen zeigen
[384] nämlich, daſs der Frauenkauf sich keineswegs nur oder vorzugsweise
auf den niedrigsten Stufen der Kulturentwicklung findet. Einer der
besten Kenner dieses Gebietes stellt fest, daſs die unzivilisierten
Völker, die die Kaufehe nicht kennen, meistens auſserordentlich rohe
Rassen sind. So erniedrigend der Kauf der Frau in höheren Verhält-
nissen erscheint, so erhöhend kann er in niedrigen wirken, und zwar
aus zwei Ursachen. Zunächst findet der Frauenkauf niemals, soviel
wir wissen, nach Art der individualistischen Wirtschaft statt. Strenge
Formen und Formeln, Berücksichtigung der Familieninteressen, genaue
Konventionen über Art und Höhe der Zahlung binden ihn selbst bei
recht tiefstehenden Völkern. Die ganze Art seines Vollzuges trägt
ausgesprochen sozialen Charakter: ich erwähne nur, daſs der Bräutigam
vielfach berechtigt ist, von jedem Stammesgenossen einen Beitrag zum
Brautpreise zu fordern, und daſs dieser selbst oft in dem Geschlechte
der Braut verteilt wird. Diese ganze geschäftsmäſsige und unindividuelle
Behandlung der Eheangelegenheit erscheint uns freilich herabsetzend.
Dennoch ist die Organisation derselben, wie sie im Frauenkauf
vorliegt, ein ungeheurer Fortschritt gegenüber etwa den roheren Zu-
ständen der Raubehe oder den ganz primären Sexualverhältnissen, die
zwar wahrscheinlich nicht in völliger Promiskuität, aber ebenso wahr-
scheinlich auch ohne jenen festen normierenden Halt verliefen, den
der sozial geregelte Kauf darbietet. Die Entwicklung der Menschheit
gelangt immer wieder zu Stadien, wo die Unterdrückung der Indivi-
dualität der unausbleibliche Durchgangspunkt für ihre spätere freie
Entfaltung, wo die bloſse Äuſserlichkeit der Lebensbestimmungen die
Schule der Innerlichkeit wird, wo die vergewaltigende Formung eine
Aufsammlung der Kräfte bewirkt, die später alle persönliche Eigenart
tragen. Von dem Ideal der vollentwickelten Individualität aus er-
scheinen solche Perioden allerdings roh und würdelos, aber sie legen
nicht nur die positiven Keime der späteren Höherentwicklung, sondern
sie sind auch an und für sich schon Erweisungen des Geistes in seiner
organisierenden Herrschaft über den Rohstoff fluktuierender Impulse,
Bethätigungen der spezifisch menschlichen Zweckmäſsigkeit, die sich
die Normen des Lebens — wie brutal, äuſserlich, ja stupid auch
immer — eben doch selbst giebt, statt sie von bloſsen Naturgewalten
zu empfangen. Es giebt heute extreme Individualisten, welche dennoch
praktische Anhänger des Sozialismus sind, weil sie diesen als die un-
entbehrliche Vorbereitung und, wenn auch noch so harte, Schule für
einen geläuterten und gerechten Individualismus ansehen. So ist jene
relativ feste Ordnung und äuſserliche Schematik der Kaufehe ein erster,
sehr gewaltsamer, sehr unindividueller Versuch gewesen, die Ehe-
[385] verhältnisse sozusagen auf einen bestimmten Ausdruck zu bringen, der
für rohe Stufen ebenso angemessen war wie individuellere Eheformen
für höher entwickelte. Diese Bedeutung für den sozialen Zusammen-
halt zeigt schon der Frauentausch, den man, als Naturaltausch, eine
Vorstufe des Frauenkaufes nennen könnte. Bei den australischen
Narinyeri findet die eigentliche, legale Eheschlieſsung durch Austausch
der Schwestern der Männer statt. Wenn statt dessen ein Mädchen
mit ihrem Auserwählten davonläuft, so gilt sie nicht nur als sozial
minderwertig, sondern sie verliert auch den Anspruch auf Schutz, den
ihr im andern Fall die Horde schuldet, in der sie geboren ist. Damit
kommt die soziale Bedeutung dieser so eminent unindividuellen Art
der Eheschlieſsung zu klarem Ausdruck. Die Horde schützt das Mäd-
chen nicht mehr, bricht ihre Beziehungen zu ihm ab, weil sie keinen
Gegenwert für dasselbe erhalten hat.


Hiermit ist der Übergang zu dem zweiten kulturell erhöhenden
Motiv der Kaufehe gegeben. Grade daſs die Frauen ein nutzbarer
Besitzgegenstand sind, daſs Opfer zu ihrem Erwerbe gebracht sind,
läſst sie schlieſslich als wertvoll erscheinen. Überall, so hat man ge-
sagt, erzeugt der Besitz Liebe zum Besitz. Man bringt nicht nur
Opfer für das, was man gern hat, sondern auch umgekehrt: man liebt
das, wofür man Opfer gebracht hat. Wenn die Mutterliebe der Grund
unzähliger Aufopferungen für die Kinder ist, so sind doch auch die
Mühen und Sorgen, die die Mutter für das Kind auf sich nimmt, ein
Band, das sie immer fester an dieses knüpft; woraus man versteht, daſs
grade kranke oder sonst zu kurz gekommene Kinder, die die auf-
opferndste Hingabe seitens der Mutter fordern, oft am leidenschaft-
lichsten von ihr geliebt werden. Die Kirche hat sich nie gescheut,
die schwersten Opfer um der Liebe zu Gott willen zu verlangen, weil
sie wohl wuſste, daſs wir um so fester und inniger an ein Prinzip ge-
bunden sind, je gröſsere Opfer wir dafür gebracht, ein je gröſseres
Kapital wir sozusagen darin investiert haben. So sehr der Frauen-
kauf also unmittelbar auch die Unterdrückung, die Ausbeutung, den
Sachencharakter der Frau zum Ausdruck brachte, so hat sie durch ihn
doch erstens für ihre elterliche Gruppe, der sie den Kaufpreis ein-
trug, und zweitens für den Mann an Wert gewonnen, für den sie ein
relativ hohes Opfer repräsentierte und der sie deshalb im eigenen In-
teresse schonend behandeln muſste. Für vorgeschrittene Begriffe ist
diese Behandlung noch immer elend genug, ja die übrigen entwürdigen-
den Momente, die den Frauenkauf begleiten, können jenes Bessere
so weit paralysieren, daſs die Stellung der Frau die jammervollste und
sklavenhafteste wird. Aber darum bleibt es nicht minder wahr, daſs
Simmel, Philosophie des Geldes. 25
[386] der Frauenkauf es zu sinnenfälligem und eindringlichem Ausdruck ge-
bracht hat: die Frauen sind etwas wert — und zwar in dem psycho-
logischen Zusammenhange, daſs man nicht nur für sie bezahlt, weil sie
etwas wert sind, sondern daſs sie etwas wert sind, weil man für sie be-
zahlt hat. Deshalb ist es verständlich, wenn bei gewissen amerika-
nischen Stämmen das Fortgeben eines Mädchens ohne Preis als eine
starke Herabminderung ihrer und ihrer ganzen Familie angesehen wird,
so daſs selbst ihre Kinder für nichts Besseres als Bastarde gehalten
werden.


Und wenn der Frauenkauf auch immer eine polygamische Ten-
denz und schon insoweit eine Deklassierung der Frauen einschlieſst,
so steckt andrerseits doch grade die Notwendigkeit des Geldaufwandes
jenen Neigungen meistenteils eine Grenze. Von dem heidnischen
Dänenkönig Frotho wird berichtet, er habe den besiegten Ruthenen
durch Gesetz jede andere Ehe, als die durch Kauf der Weiber ge-
schlossene, verboten; damit habe er den herrschenden laxen Sitten
einen Riegel vorschieben wollen, da er in dem Kaufe eine Bürgschaft
der Beständigkeit erblickt habe. Auf dem Umwege also, daſs er die
polygynischen Instinkte, denen er prinzipiell nahesteht, dennoch not-
gedrungen zurückdämmt, muſs der Kauf zu einer Höherschätzung
der einen Frau, die man besitzt, führen. Denn, wie es entsprechend
die Folge des unmittelbaren Kostenaufwandes ist: die Beständig-
keit ist nicht nur die Folge der Schätzung der Frau, sondern
auch umgekehrt diese letztere die Folge einer auf irgend anderem
Wege hervorgebrachten Beständigkeit. Es ist dabei von gröſster
Wichtigkeit, daſs die Verschiedenheit der Preise — sowohl der sozial
fixierten, wie der durch individuellen Handel zustande kommenden —
zum Ausdruck bringt, daſs die Frauen an Wert verschieden sind.
Von den Kafferfrauen wird berichtet, daſs sie ihr Verkauftwerden durch-
aus nicht als Entwürdigung empfinden, das Mädchen sei im Gegenteile
stolz darauf und je mehr Ochsen oder Kühe sie gekostet hat, um so
mehr halte sie sich wert. Man wird vielfach bemerken, daſs eine
Kategorie von Objekten ein entschiedeneres Wertbewuſstsein dann er-
wirbt, wenn jedes einzelne besonders gewertet werden muſs und starke
Unterschiede des Preises die Thatsache des Wertes immer neu und
scharf empfinden lassen; während allerdings auf anderen Wertungs-
stufen, wie sich gelegentlich des Wergeldes ergab, grade die Gleich-
heit
der Entschädigung die objektive Bedeutung des Gegenwertes auf-
wachsen läſst. So enthält der Frauenkauf ein erstes, freilich äuſserst
rohes Mittel, den individuellen Wert der einzelnen Frau und — ver-
möge jener psychologischen Regel der Werte — auch den Wert der
[387] Frauen überhaupt hervortreten zu lassen. Ja sogar wo die Frau als
Sklavin gekauft wird, ist ein stärkeres Variieren ihres Preises wahr-
scheinlich als beim männlichen Sklaven. Dieser, der bloſs Arbeitstier
ist, hat bei gleichem Alter dauernd ungefähr den gleichen konventio-
nellen Preis (im alten Griechenland und in Irland = drei Kühen),
während die Sklavin, da sie auch noch spezifischeren Zwecken als
denen der Arbeit dient, je nach ihren persönlichen Reizen an Wert
wechselt — obgleich man sich den Einfluſs dieses ästhetischen Um-
standes bei primitiven Völkern nicht sehr groſs vorstellen darf. Jeden-
falls ist auch innerhalb des Frauenkaufes offenbar diejenige Stufe die
niedrigste, wo der Preis durch Herkommen für alle gleichmäſsig fixiert
ist, wie bei einigen Afrikanern.


Was sich in diesem Falle mit äuſserster Entschiedenheit geltend
macht: daſs die Frau als bloſses Genus behandelt wird, als ein un-
persönliches Objekt — das ist nun freilich selbst bei allen oben er-
wähnten Einschränkungen das Kennzeichen der Kaufehe. Darum wird
von einer Reihe von Völkerschaften, besonders in Indien, der Frauenkauf
als etwas Schimpfliches betrachtet, und anderwärts findet er zwar statt,
aber man scheut den Namen und bezeichnet den Preis als ein freiwilliges
Geschenk an die Brauteltern. Der Unterschied eigentlichen Geldes
gegen Leistungen anderer Art macht sich hier sehr geltend. Von den
Lappländern wird berichtet, daſs sie ihre Töchter zwar gegen Geschenke
hingeben, es aber für nicht anständig erklären, Geld für sie zu nehmen.
Zieht man die übrigen sehr komplizierten Bedingungen in Betracht,
von denen die Stellung der Frauen abhängt, so scheint es, als ob der
eigentliche Geldkauf sie viel tiefer herabdrücke, als die Hingabe gegen
Geschenke oder gegen persönliche Dienstleistungen des Werbers für
die Eltern der Braut. In dem Geschenke steckt wegen der gröſseren
Unbestimmtheit seines Wertes und der — selbst bei sozialer Kon-
vention darüber — individuelleren Freiheit seiner Auswahl etwas Per-
sönlicheres, als in der dahingegebenen Geldsumme mit ihrer unbarm-
herzigen Objektivität. Zudem baut das Geschenk die Brücke zu jener
vorgeschrittneren und zur Mitgift überführenden Form, bei der die
Geschenke des Werbers durch Geschenke seitens der Brauteltern er-
widert werden. Damit ist prinzipiell die Unbedingtheit der Verfügung
über die Frau gebrochen, denn der Wert, den der Mann angenommen
hat, schlieſst eine gewisse Verpflichtung in sich; er ist jetzt nicht mehr
der allein Vorleistende und ein Forderungsrecht liegt auch auf der
anderen Seite. Es ist ferner behauptet worden, daſs der Erwerb der
Frauen durch Arbeitsleistungen eine höhere Eheform darstelle als die
durch direkten Kauf. Es scheint indes, daſs dieselbe die ältere und
25*
[388] unkultiviertere sei, was freilich nicht hindern würde, daſs sie mit einer
besseren Behandlung der Frauen verbunden ist. Denn überhaupt hat
grade die vorgeschrittnere und geldmäſsige Wirtschaft die Lage dieser
wie der Schwächeren überhaupt vielfach verschlimmert. Unter den
jetzigen Naturvölkern finden wir beide Formen manchmal bei einem
und demselben nebeneinander. Diese letztere Thatsache beweist, daſs
ein wesentlicher Unterschied für die Behandlung der Frauen nicht
besteht, wenngleich im groſsen und ganzen das Einsetzen eines so
persönlichen Wertes, wie die Dienstleistung ist, den Erwerb der Frau
doch in ganz anderer Weise über den eines Sklaven stellen muſs, wie
ihr Kauf für Geld oder substanziellen Geldeswert. Nun gilt auch hier
das allenthalben Hervorzuhebende: daſs die Herabdrückung und Ent-
würdigung menschlichen Wertes durch solches Erkauftwerden eine
geringere wird, wenn die Kaufsummen sehr groſs sind. Denn in sehr
hohen Summen besitzt der Geldeswert eine Seltenheit, die ihn indivi-
dueller, unverwechselbarer färbt und ihn dadurch zum Äquivalent per-
sonaler Werte geeigneter macht. Bei den Griechen der heroischen
Zeit finden sich Geschenke des Bräutigams an den Vater der Braut
— die freilich keinen eigentlichen Kauf darzustellen scheinen — während
die Stellung der Frauen eine ganz besonders gute ist. Allein es wird
hervorgehoben, daſs diese Gaben relativ sehr erhebliche waren.
So herabsetzend es wirkt, wenn entweder die Innerlichkeit oder die
Totalität des Menschen gegen Geld eingesetzt wird, so kann doch, wie
spätere Beispiele noch stärker beweisen werden, eine ungewöhnliche
Höhe der ins Spiel kommenden Summen eine Art Ausgleichung, ins-
besondere in Rücksicht der sozialen Stellung des Betreffenden, schaffen.
So hören wir, daſs Eduard II. und III. ihre Freunde als Geiseln für
die Rückzahlung ihrer Schulden fortgaben und 1340 sollte sogar der
Erzbischof von Canterbury als Pfand — nicht als Bürge — für die
Schulden des Königs nach Brabant verschickt werden. Die Gröſse der
Summen, um die es sich hier handelte, wehrte von vornherein die
Deklassierung ab, die durch ein derartiges Einsetzen von Personen um
Geld auf diese, wenn es sich um Lappalien gehandelt hätte, gefallen
wäre.


Der Übergang von dem Prinzip der Kaufehe, das wohl bei der
Mehrzahl der Völker irgendwann geherrscht hat, zu dem entgegen-
gesetzten: dem Prinzip der Mitgift, ist wahrscheinlich, wie angedeutet,
so zustande gekommen, daſs die Gaben des Bräutigams seitens der
Eltern an die Braut weiter gegeben wurden, der man damit eine ge-
wisse ökonomische Selbständigkeit sichern wollte; die Ausstattung der
Frau durch die Eltern blieb dann bestehen und entwickelte sich weiter,
[389] auch nachdem ihr Ursprung, die vom Manne gezahlte Kaufsumme, in
Wegfall gekommen war. Es interessiert hier nicht, diese sehr un-
genau bekannte Evolution zu verfolgen. Aber man kann doch wohl
behaupten, daſs die Verallgemeinerung der Mitgift mit der steigenden
Geldwirtschaft beginnt. Das mag so zusammenhängen. In den roheren
Zuständen, wo der Frauenkauf herrscht, ist die Frau nicht nur ein
Arbeitstier — das ist sie meistenteils auch noch später — sondern
ihre Arbeit ist noch nicht in dem spezifischen Sinne „häuslich“, wie
die der Frau in der Geldwirtschaft, die wesentlich die Konsumtion des
männlichen Erwerbes innerhalb des Hauses zu leiten hat. So weit ist
in jenen Epochen die Arbeitsteilung noch nicht vorgeschritten, die
Frau beteiligt sich unmittelbarer an der Produktion und stellt deshalb
für ihren Besitzer einen viel greifbareren wirtschaftlichen Wert dar
als später — auch schon, weil in diesen Verhältnissen die Kinder
direkten wirtschaftlichen Wert für den Vater besitzen, während sie in
höheren oft eine wirtschaftliche Last sind. Der ursprüngliche Besitzer,
der Vater oder der Stamm, hat keinen Grund, diesen Wert einem An-
deren ohne Entgelt zu überlassen. Auf dieser Stufe erwirbt die Frau
nicht nur ihren eigenen Unterhalt, sondern der Mann kann ihren Kauf-
preis aus ihrer Arbeit unmittelbar herausschlagen. Das ändert sich,
sobald die Wirtschaft ihren familienhaften Charakter und der Konsum
seine Beschränkung auf die Eigenproduktion verliert. Damit scheiden
sich die ökonomischen Interessen, vom Hause aus betrachtet, in
eine zentrifugale und eine zentripetale Richtung. Die Produktion für
den Markt und die Hauswirtschaft beginnen ihre Gegensätze, durch
das Geld ermöglichte, zu entfalten und damit die schärfere Arbeitsteilung
zwischen den Geschlechtern einzuleiten. Aus sehr naheliegenden Ur-
sachen fällt der Frau die nach innen, dem Manne die nach auſsen ge-
wandte Thätigkeit zu und die erstere wird mehr und mehr eine Ver-
waltung und Verwendung der Erträgnisse der letzteren. Damit ver-
liert der wirtschaftliche Wert der Frau sozusagen seine Substanzialität
und Sinnenfälligkeit, sie erscheint jetzt als die Unterhaltene, die von
der Arbeit des Mannes lebt. Es fällt also nicht nur der Grund fort,
einen Preis für sie zu fordern und zu bewilligen, sondern sie ist
— wenigstens für die gröbere Betrachtungsweise — eine Last, die der
Mann auf sich nimmt und die er zu versorgen hat. So ist das Fun-
dament für die Mitgift geschaffen, die sich demzufolge immer um-
fassender ausbilden muſs, je mehr die Thätigkeitssphären von Mann
und Frau sich in dem angegebenen Sinne scheiden. Unter einem Volke
wie den Juden, bei denen auf Grund eines unruhigeren Tempera-
mentes und anderer Ursachen die Männer sehr beweglich und, als
[390] notwendiges Korrelat dazu, die Frauen strenger auf das Haus an-
gewiesen waren, finden wir die Mitgift als gesetzliche Vorschrift sogar
schon vor ausgebildeter Geldwirtschaft, die sonst ihrerseits auf das
gleiche Resultat führt. Sie erst ermöglicht der Produktion jene ob-
jektive Technik, jene Ausbreitung, jenen Beziehungsreichtum und zu-
gleich jene arbeitsteilige Einseitigkeit, durch welche der frühere In-
differenzzustand von häuslichen Interessen und Erwerbsinteressen ge-
spalten und ein besonderer Träger für diese, ein besonderer für jene
verlangt wird. Wer das eine und das andere sein soll, kann zwischen
Mann und Frau nicht zweifelhaft sein; und ebensowenig, daſs damit
der Brautpreis, für den der Mann die Produktivkraft der Frau ge-
kauft hat, der Mitgift Platz machen muſs, die ihn für den Unterhalt
der nicht produzierenden Frau entschädigt oder die der Frau eine
Unabhängigkeit und Sicherheit neben dem erwerbenden Manne ge-
während soll.


Durch diesen engen Zusammenhang, den die Mitgift bei der Geld-
wirtschaft mit der ganzen Konstitution des Ehelebens hat — sei es
um den Mann, sei es um die Frau zu sichern — ist es verständlich,
daſs schlieſslich sowohl in Griechenland wie in Rom die Mitgift zum
Kennzeichen der legitimen Gattin wurde, in ihrem Gegensatz zur Kon-
kubine, die keine weiteren Anspruch an den Mann hat, so daſs dieser
weder für einen solchen entschädigt, noch sie selber für den Fall der
Nichterfüllung desselben sichergestellt zu werden braucht. Und dies
leitet zur Prostitution über, die die Bedeutung des Geldes für das
Verhältnis der Geschlechter wieder in ein neues Licht stellt. Während
alle gelegentlich des Eheschlusses erfolgenden Gaben des Mannes für
die Frau oder an die Frau selbst — so auch die Morgengabe und
das pretium virginitatis — ebenso gut als Natural- wie als Geld-
geschenk auftreten können und auftreten, entspricht der unehelichen
Hingabe, für die überhaupt ein Preis gezahlt wird, in der Regel die
Geldform desselben. Nur die Transaktion um Geld trägt jenen Cha-
rakter einer ganz momentanen Beziehung, die keine Spuren hinterläſst,
wie er der Prostitution eigen ist. Mit der Hingabe von Geld hat man
sich vollständiger aus der Beziehung gelöst, sich radikaler mit ihr ab-
gefunden, als mit der Hingabe irgend eines qualifizierten Gegenstandes,
an dem durch seinen Inhalt, seine Wahl, seine Benützung leichter ein
Hauch der gebenden Persönlichkeit haften bleibt. Der momentan auf-
gegipfelten und ebenso momentan verlöschenden Begierde, der die
Prostitution dient, ist allein das Geldäquivalent angemessen, das zu
nichts verbindet und prinzipiell in jedem Augenblick zur Hand ist und
in jedem Augenblick willkommen ist. Für ein Verhältnis zwischen
[391] Menschen, das seinem Wesen nach auf Dauer und innere Wahrheit der
verbindenden Kräfte angelegt ist — wie das wirkliche Liebesverhältnis,
so schnell es auch abgebrochen werde — ist das Geld niemals der adä-
quate Mittler; für den käuflichen Genuſs, der jede über den Augenblick
und über den ausschlieſslich sinnlichen Trieb hinausgehende Beziehung
ablehnt, leistet das Geld, das sich mit seiner Hingabe absolut von der
Persönlichkeit löst und jede weitere Konsequenz am gründlichsten ab-
schneidet, den sachlich und symbolisch vollkommensten Dienst — in-
dem man mit Geld bezahlt hat, ist man mit jeder Sache am gründ-
lichsten fertig, so gründlich, wie mit der Prostituierten nach erlangter
Befriedigung. Dadurch, daſs die Beziehung der Geschlechter inner-
halb der Prostitution ganz unzweideutig auf den sinnlichen Akt be-
schränkt ist, wird sie auf ihren rein gattungsmäſsigen Inhalt herab-
gesetzt; sie besteht in demjenigen, was jedes Exemplar der Gattung
leisten und empfinden kann und worin sich die sonst entgegengesetztesten
Persönlichkeiten begegnen und alle individuellen Differenzen aufgehoben
erscheinen. Das ökonomische Seitenstück für diese Art von Beziehungen
ist deshalb das Geld, das gleichfalls, jenseits aller individuellen Be-
stimmtheit stehend, gleichsam den Gattungstypus der ökonomischen
Werte bedeutet, die Darstellung dessen, was allen einzelnen Werten
gemein ist. So empfindet man auch umgekehrt am Wesen des Geldes
selbst etwas vom Wesen der Prostitution. Die Indifferenz, in der es
sich jeder Verwendung darbietet, die Treulosigkeit, mit der es sich
von jedem Subjekt löst, weil es mit keinem eigentlich verbunden
war, die jede Herzensbeziehung ausschlieſsende Sachlichkeit, die
ihm als reinem Mittel eignet — alles dies stiftet eine verhängnis-
volle Analogie zwischen ihm und der Prostitution. Wenn Kant als
Moralgebot aufstellt, man solle niemals einen Menschen als bloſses
Mittel gebrauchen, sondern ihn jederzeit zugleich als Zweck an-
erkennen und behandeln — so zeigt die Prostitution das absolut
entgegengesetzte Verhalten, und zwar auf beiden beteiligten
Seiten
. So ist sie von allen Verhältnissen der Menschen unterein-
ander vielleicht der prägnanteste Fall einer gegenseitigen Herabdrückung
zum bloſsen Mittel; und dies mag das stärkste und tiefste Moment sein,
das sie in so enge historische Verbindung mit der Geldwirtschaft,
der Wirtschaft mit „Mitteln“ im striktesten Sinne, setzt.


Hierauf gründet es sich, daſs die fürchterliche, in der Prostitution
liegende Entwürdigung in ihrem Geldäquivalent den schärfsten Aus-
druck findet. Sicherlich bezeichnet es den Tiefpunkt der Menschen-
würde, wenn eine Frau das Intimste und Persönlichste, das nur aus
einem ganz individuellen Impuls geopfert und nur mit der gleichen
[392] personalen Hingabe des Mannes aufgewogen werden dürfte, grade um
einer so ganz unpersönlichen, rein äuſserlich-sachlichen Vergeltung
willen dahingiebt. Wir empfinden hier die völligste und peinlichste
Unangemessenheit zwischen Leistung und Gegenleistung; oder vielmehr,
das eben ist die Erniedrigung durch die Prostitution, daſs sie den
persönlichsten und auf die gröſste Reserve angewiesenen Besitz der Frau
so herabsetzt, daſs der allerneutralste, allem Persönlichen fernste Wert
als angemessenes Äquivalent für ihn empfunden wird. Diese Charak-
terisiertheit der Prostitution durch die Geldentlohnung trifft indes auf
einige gegenteilige Überlegungen, die erörtert werden müssen, um jene
Bedeutung des Geldes ganz scharf hervortreten zu lassen.


Der ganz personale, intim-individuelle Charakter, den die
sexuelle Hingabe der Frau tragen soll, scheint mit der oben betonten
Thatsache nicht recht übereinzustimmen, daſs die bloſs sinnliche Be-
ziehung zwischen den Geschlechtern rein generellen Wesens sei, daſs
in ihr, als dem absolut Allgemeinen, und uns sogar mit dem Tierreich
Gemeinsamen, grade alle Personalität und individuelle Innerlichkeit
ausgelöscht wäre. Wenn die Männer so sehr geneigt sind, über die
Frauen „im Plural“ zu sprechen, über sie in Bausch und Bogen und
alle gleichsam in einen Topf werfend zu urteilen, so ist allerdings einer
der Gründe dafür sicherlich auch der, daſs dasjenige, was insbesondere
die Männer von roherer Sinnlichkeit an den Frauen interessiert,
eben dasselbe bei den Frauen aller Rangstufen ist. So scheint es
ausgeschlossen, grade in dieser Funktion einen eigentlichen Persön-
lichkeitswert zu finden; alle anderen von ähnlicher Allgemeinheit:
Essen und Trinken, die regulären physiologischen, ja psychologischen
Thätigkeiten, der Trieb der Selbsterhaltung und die typisch-logischen
Funktionen, werden niemals mit der Persönlichkeit als solcher in soli-
darische Verbindung gesetzt, niemals empfindet man, daſs jemand grade
in der Ausübung oder Darbietung dessen, was ihm mit allen Anderen
ununterscheidbar gemeinsam ist, sein Innerstes, Wesentliches, Um-
fassendstes äuſsere oder fortgebe. Dennoch liegt bei der geschlecht-
lichen Hingabe der Frau diese Anomalie unleugbar vor: dieser ganz
generelle, für alle Schichten des Menschlichen gleichmäſsige Akt wird
thatsächlich — wenigstens für die Frau — zugleich als ein allerper-
sönlichster, ihr Innerliches einschlieſsender empfunden. Dies kann
verständlich werden, wenn man sich der Meinung anschlieſst, daſs die
Frauen überhaupt noch tiefer in den Gattungstypus eingesenkt sind
als die Männer, von denen sich der Einzelne differenzierter und in-
dividualisierter aus jenem heraushebt. Daraus würde zunächst folgen,
daſs bei der Frau das Gattungsmäſsige und das Persönliche eher zu-
[393] sammenfallen kann. Hängen die Frauen wirklich noch enger und tiefer
als der Mann mit dem dunkeln Urgrund der Natur zusammen, so
wurzelt ihr Wesentlichstes und Persönlichstes eben auch noch kräftiger
in jenen natürlichsten, allgemeinsten, die Einheit der Art garantieren-
den Funktionen. Und es folgt weiter, daſs jene Einheitlichkeit des
weiblichen Geschlechts, die das, was allen gemeinsam ist, weniger
scharf von dem, was jede für sich ist, unterscheidet — daſs diese sich
in der gröſseren Einheitlichkeit des Wesens jeder einzelnen Frau für
sich spiegeln muſs. Die Erfahrung scheint zu bestätigen, daſs die
einzelnen Kräfte, Qualitäten, Impulse der Frau psychologisch unmittel-
barer und enger zusammenhängen, als beim Manne, dessen Wesens-
seiten selbständiger ausgebildet sind, so daſs Entwicklung und Schicksal
jeder einzelnen von dem jeder anderen relativ unabhängig sind. Das
Wesen der Frau aber lebt — so kann man wenigstens die allgemeine
Meinung über sie zusammenfassen — viel mehr unter dem Zeichen
des Alles oder Nichts, ihre Neigungen und Bethätigungen stehen in
engeren Assoziationen, und es gelingt leichter bei ihnen als bei Männern,
die Gesamtheit des Wesens mit allen seinen Gefühlen, Wollungen,
Gedanken von einem Punkte aus aufzuregen. Wenn sich dies so
verhält, so liegt eine gewisse Berechtigung in der Voraussetzung, daſs
die Frau mit dieser einen zentralen Funktion, mit der Hingabe dieses
einen Teiles ihres Ich, wirklich ihre ganze Person vollständiger und
unreservierter dahingegeben habe, als der differenziertere Mann es bei
der gleichen Gelegenheit thut. Schon auf harmloseren Stufen des Ver-
hältnisses zwischen Mann und Frau macht sich dieser Unterschied
seiner Bedeutung für beide geltend; sogar Naturvölker normieren die
Buſsen, welche der Bräutigam, bezw. die Braut bei einseitiger Auf-
hebung des Verlöbnisses zu zahlen haben, für beide verschieden, und
zwar so, daſs z. B. bei den Bakaks diese fünf Gulden, jener aber zehn
zu zahlen hat, bei den Bewohnern von Bengkulen der kontraktbrüchige
Bräutigam vierzig, die Braut nur zehn Gulden. Die Bedeutung und
die Folgen, welche die Gesellschaft an die sinnliche Beziehung zwischen
Mann und Weib knüpft, stehen dementsprechend auch unter der Vor-
aussetzung, daſs die Frau ihr ganzes Ich, mit der Gesamtheit seiner
Werte, jener dagegen nur einen Teil seiner Persönlichkeit in den
Tausch gegeben habe. Sie spricht deshalb einem Mädchen, das sich
einmal vergangen hat, die „Ehre“ schlechthin ab, sie verurteilt den
Ehebruch der Frau viel härter als den des Mannes, von dem man an-
zunehmen scheint, daſs sich eine gelegentliche, rein sinnliche Extravaganz
noch mit der Treue gegen seine Frau in allem Innerlichen und Wesent-
lichen wenigstens vertragen könne, sie deklassiert die Prostituierte
[394] ganz unrettbar, während der schlimmste Wüstling sich noch immer
gleichsam an den übrigen Seiten seiner Persönlichkeit aus dem
Sumpfe herausziehen und jegliche soziale Stellung erobern kann. In
den rein sinnlichen Akt also, um den es sich bei der Prostitution
handelt, setzt der Mann nur ein Minimum seines Ich, die Frau aber
ein Maximum ein — freilich nicht in dem einzelnen Fall, wohl aber
in allen Fällen zusammengenommen; ein Verhältnis, aus dem sowohl
das Zuhältertum wie die als häufig angegebenen Fälle der lesbischen
Liebe unter den Prostituierten verständlich werden: weil die Pro-
stituierte aus ihren Beziehungen zu Männern, in welche diese niemals
als wirkliche und ganze Menschen eintreten, eine fürchterliche Leere
und Unbefriedigtheit davontragen muſs, sucht sie eine Ergänzung durch
jene Verhältnisse, an denen doch wenigstens noch einige sonstige Seiten
des Menschen beteiligt sind. Weder der Gedanke also, daſs der Ge-
schlechtsakt etwas Generelles und Unpersönliches wäre, noch die That-
sache, daſs der Mann an demselben, äuſserlich betrachtet, ebenso be-
teiligt ist wie die Frau, kann das behauptete Verhältnis umstoſsen:
daſs der Einsatz der Frau ein unendlich persönlicherer, wesentlicherer,
das Ich umfassenderer ist, als der des Mannes, und daſs das Geld-
äquivalent dafür also das denkbar Ungeeignetste und Unangemessenste
ist, dessen Geben und Annehmen die tiefste Herabdrückung der Per-
sönlichkeit der Frau bedeutet. — Das Entwürdigende der Prostitution
für die Frau liegt an und für sich noch nicht in ihrem polyandrischen
Charakter, noch nicht darin, daſs sie sich vielen Männern hingiebt;
eigentliche Polyandrie verschafft sogar der Frau oft ein entschiedenes
Übergewicht, z. B. bei der relativ hochstehenden Gruppe der Nairs in
Indien. Allein das hier Wesentliche ist nicht, daſs die Prostitution
Polyandrie, sondern daſs sie Polygynie bedeutet. Diese eben setzt
allenthalben den Eigenwert der Frau unvergleichlich herab: sie ver-
liert den Seltenheitswert. Äuſserlich angesehen, vereinigt die Prosti-
tution ja polyandrische mit polygynischen Verhältnissen. Allein der
Vorsprung, den allenthalben derjenige, der das Geld giebt, vor dem-
jenigen hat, der die Ware giebt, bewirkt es, daſs nur die letzteren,
die dem Manne ein ungeheures Übergewicht verleihen, der Prosti-
tution den Charakter bestimmen. Auch in Verhältnissen, die mit
Prostitution nicht das geringste zu thun haben, pflegen Frauen es als
peinlich und entwürdigend zu empfinden, Geld von ihren Lieb-
habern anzunehmen, während dieses Gefühl sich oft auf gegenständ-
liche Geschenke nicht erstreckt; wogegen es ihnen selbst Vergnügen
und Genugthuung ist, jenen ihrerseits Geld zu geben; man sagte von
Marlborough, der Grund seiner Erfolge bei Frauen sei gewesen, daſs
[395] er Geld von ihnen angenommen habe. Die eben hervorgehobene Über-
legenheit dessen, der das Geld giebt, über den, der es nimmt, eine
Überlegenheit, die sich im Falle der Prostitution zu dem fürchter-
lichsten sozialen Abstand erweitert, bereitet in diesem umgekehrten
Falle der Frau die Genugthuung, denjenigen von sich abhängig zu
sehen, zu dem sie sonst aufzublicken gewohnt ist.


Nun aber begegnet uns die auffällige Thatsache, daſs in vielen
primitiveren Kulturen die Prostitution gar nicht als entwürdigend oder
deklassierend empfunden wird. Es wird ebenso aus dem alten Asien
berichtet, daſs sich die Mädchen aller Klassen prostituierten, um eine
Aussteuer oder eine Darbringung an den Tempelschatz zu erwerben,
wie wir jetzt von gewissen Negerstämmen dieselbe Sitte um des ersteren
Zweckes willen hören. Die Mädchen, zu denen in diesem Falle oft
auch die Fürstentöchter gehören, verlieren weder in der öffentlichen
Achtung, noch wird ihr späteres eheliches Leben dadurch in irgend
einer Weise präjudiziert. Dieser tiefe Unterschied gegen unsere
Empfindungsweise bedeutet, daſs die beiden Faktoren: weibliche Sexual-
ehre und Geld — in prinzipiell verschiedenen Verhältnissen stehen
müssen. Markiert sich die Stellung der Prostitution bei uns an dem
unüberbrückbaren Abstand, der völligen Inkommensurabilität zwischen
jenen beiden Werten, so müssen dieselben in Verhältnissen, die eine
ganz andere Ansicht von der Prostitution zeitigen, näher aneinander
gerückt sein. Dies entspricht den Resultaten, zu denen die Entwicklung
des Wergeldes, der Geldbuſse für die Tötung eines Menschen, geführt
hat. Die steigende Wertung der Menschenseele und die sinkende
Wertung des Geldes begegneten sich, um das Wergeld unmöglich zu
machen. Ebenderselbe Kulturprozeſs der Differenzierung, der dem
Individuum eine besondere Betonung, eine relative Unvergleichbarkeit
und Unaufwiegbarkeit verschafft, macht das Geld zum Maſsstab und
Äquivalent so entgegengesetzter Objekte, daſs seine dadurch entstehende
Indifferenz und Objektivität es zum Ausgleich personaler Werte immer
ungeeigneter erscheinen läſst. Jene Unverhältnismäſsigkeit zwischen
Ware und Preis, die der Prostitution in unserer Kultur ihren Charakter
giebt, besteht in niederen noch nicht im gleichen Maſse. Wenn Reisende
von sehr vielen rohen Stämmen berichten, daſs die Frauen eine auf-
fallende körperliche, oft auch geistige Ähnlichkeit mit den Männern
zeigen, so fehlt ihnen eben jene Differenzierung, die der höher kulti-
vierten Frau und ihrer Sexualehre selbst dann einen nicht mit Geld
aufzuwiegenden Wert verleiht, wenn sie im Vergleich mit den
Männern desselben Kreises
als weniger differenziert und tiefer
im Gattungstypus wurzelnd erscheint. Die Beurteilung der Prostitution
[396] zeigt so genau dieselbe Entwicklung, die man an der Kirchenbuſse und
am Blutgeld beobachten kann: die Totalität des Menschen wie seine
inneren Werte sind in primitiven Epochen relativ unindividuellen
Charakters, das Geld dagegen wegen seiner Seltenheit und geringen
Verwendung relativ individueller. Indem die Entwicklung beides aus-
einandertreibt, macht sie das Aufwiegen des einen durch das andere
entweder unmöglich oder, wo es doch weiter besteht, wie in der
Prostitution, führt es zu einer furchtbaren Herabdrückung des Persön-
lichkeitswertes. —


Von dem weiten Komplex von Erwägungen über die „Geld-
heirat“, die sich dem anschlieſsen, scheinen mir die drei folgenden
für die hier behandelte Bedeutungsentwicklung des Geldes wichtig.
Heiraten, bei denen die ökonomischen Motive die allein wesentlichen
sind, hat es nicht nur zu jeder Zeit und auf jeder Kulturstufe ge-
geben, sondern sie sind grade in primitiveren Gruppen und Verhält-
nissen ganz besonders häufig, so daſs sie in solchen keinerlei Anstoſs
zu erregen pflegen. Die Herabsetzung der persönlichen Würde, die
heute mit jeder nicht aus individueller Neigung geschlossenen Ehe
gegeben ist — so daſs die schamhafte Verhüllung des ökonomischen
Motives als Anstandspflicht erscheint — wird in jenen einfacheren Kultur-
verhältnissen nicht empfunden. Der Grund dieser Entwicklung ist offen
bar der, daſs die steigende Individualisierung es immer widerspruchs-
voller und unwürdiger macht, rein individuelle Verhältnisse aus anderen
als rein individuellen Gründen einzugehen. In einer Gesellschaft mit
relativ undifferenzierten Elementen mag es ebenso relativ gleichgültig
sein, welches Paar sich zusammenthut — gleichgültig nicht nur für
das Zusammenleben der Gatten selbst, sondern auch für die Nach-
kommenschaft; denn wo im ganzen die Konstitutionen, der Gesundheits-
zustand, das Temperament, die inneren und äuſseren Lebensformen und
-richtungen in der Gruppe übereinstimmen, da wird das Geraten der
Nachkommenschaft nicht von einer so diffizilen Auswahl des zu einander
passenden und einander ergänzenden Elternpaares abhängen, wie in
einer hoch differenzierten Gesellschaft. Deshalb ist es in jener durchaus
natürlich und zweckmäſsig, die Ehewahl noch durch andere Gründe,
als solche rein individueller Herzensneigung bestimmen zu lassen.
Wohl aber sollten solche in einer stark individualisierten Gesellschaft
den Ausschlag geben, in der das Zueinanderpassen je zweier Individuen
immer seltener wird: die abnehmende Heiratsfrequenz, die sich allent-
halben in sehr verfeinerten Kulturverhältnissen findet, ist sicher teil-
weise dadurch veranlaſst, daſs äuſserst differenzierte Menschen über-
haupt schwer die völlig sympathische Ergänzung ihrer selbst finden.
[397] Nun aber besitzen wir für diese absolut kein anderes Kriterium und
Zeichen als die gegenseitige instinktive Zuneigung. Da das bloſs per-
sönliche Glück ein Interesse ist, das schlieſslich die Ehegatten mit
sich allein auszumachen haben, so wäre zu jener streng durchgeführten
offiziellen Erheuchelung des erotischen Motives keine zwingende Ver-
anlassung, wenn die jetzige Gesellschaft nicht wegen des Geratens der
Nachkommenschaft eigentlich auf der Alleinherrschaft dieses Motives
bestehen müſste. Denn so häufig dasselbe auch täuschen mag — und
zwar besonders in höheren Verhältnissen, deren Komplikationen grade die
reinsten Instinkte sich oft nicht gewachsen zeigen — und so sehr ein
gedeihlicher Ausgang noch anderweitige Bedingungen dazu erfordert,
so ist es in seinem Erfolge für die Züchtung jedenfalls dem durch den
Geldbesitz gegebenen Auswahlsmomente unendlich überlegen, ja ihm
gegenüber das schlechthin und einzig richtige. Die Geldheirat schafft
direkt den Zustand der Panmixie — der auswahllosen, ohne Rücksicht
auf die individuellen Qualitäten stattfindenden Paarung — den die
Biologie als die Veranlassung der unmittelbarsten und verderblichsten
Entartung der Gattungen nachgewiesen hat. In der Geldheirat wird
die Vereinigung des Paares durch ein Moment bestimmt, das mit der
Rassenzweckmäſsigkeit absolut nichts zu thun hat — grade wie die
Rücksicht auf Geld auch die eigentlich zusammengehörigen Paare oft
genug auseinander hält — und man muſs sie in demselben Maſse als
ein Degenerationsmoment betrachten, in dem die entschiedenere
Differenziertheit der Individuen grade die Auswahl nach individuellem
Zusammenpassen immer wichtiger macht. Es ist also auch in diesem
Fall nichts anderes, als die gestiegene Individualisiertheit innerhalb
der Gesellschaft, die das Geld zu einem immer ungeeigneteren Ver-
mittler rein individueller Beziehungen macht.


Zweitens. Es wiederholt sich hier, in sehr veränderter Form, die Be-
obachtung über die Prostitution: daſs sie zwar ebenso Polyandrie wie
Polygynie ist, daſs aber durch die soziale Übermacht des Mannes aus-
schlieſslich die Folgen des polygynischen, also die Frau deklassierenden
Momentes in ihr wirksam werden. Es scheint nämlich, als müſste die
Geldheirat, als eine chronische Prostituierung, den durch das Geld
bewogenen Teil, ob das nun der Mann oder die Frau ist, immer
gleichmäſsig innerlich entwürdigen. Allein normalerweise ist das nicht
der Fall. Indem die Frau sich verheiratet, giebt sie allermeistens in
dieses Verhältnis die Gesamtheit ihrer Interessen und Energien hin,
sie setzt ihre Persönlichkeit, Zentrum und Peripherie, restlos ein;
während nicht nur die Sitte auch dem verheirateten Manne eine viel
gröſsere Bewegungsfreiheit einräumt, sondern er den wesentlichen Teil
[398] seiner Persönlicheit, den der Beruf okkupiert, von vornherein nicht
in die eheliche Beziehung hineingiebt. Wie das Verhältnis der Ge-
schlechter in unserer Kultur nun einmal liegt, verkauft der Mann,
der um des Geldes willen heiratet, nicht so viel von sich, wie die
Frau, die es aus demselben Grunde thut. Da sie mehr dem Manne
gehört als er ihr, so ist es für sie verhängnisvoller, ohne Liebe in
die Ehe zu treten. Ich möchte deshalb glauben — hier muſs die
psychologische Konstruktion an die Stelle hinreichender Empirie
treten — daſs die Geldheirat ihre tragischsten Folgen im wesentlichen,
und besonders, wenn feinere Naturen in Frage kommen, da entwickelt,
wo die Frau die gekaufte ist. Hier wie in sehr vielen anderen
Fällen zeigt es sich als die Eigentümlichkeit der durch Geld ge-
stifteten Beziehungen, daſs ein eventuelles Übergewicht der einen
Partei zu seiner gründlichsten Ausnützung, ja Steigerung neigt. Von
vornherein ist dies freilich die Tendenz jeglichen Verhältnisses dieser
Art. Die Stellung des primus inter pares wird sehr leicht die eines
primus schlechthin, der einmal gewonnene Vorsprung, auf welchem
Gebiete immer, bildet die Stufe zu einem weiteren, den Abstand
steigernden, der Gewinn begünstigter Sonderstellungen ist oft um so
leichter, je höher man schon steht; kurz, Überlegenheitsverhältnisse
pflegen sich in wachsenden Proportionen zu entwickeln, und die
„Akkumulation des Kapitals“ als eines Machtmittels ist nur ein
einzelner Fall einer sehr umfassenden Norm, die auch auf allen mög-
lichen, nicht-ökonomischen Machtgebieten gilt. Nun enthalten diese
aber vielfach gewisse Kautelen und Gegengewichte, welche jener
lawinenhaften Entwicklung der Überlegenheiten Schranken setzen; so
die Sitte, die Pietät, das Recht, die mit der inneren Natur der
Interessengebiete gegebenen Grenzen für die Expansion der Macht.
Das Geld aber, mit seiner unbedingten Nachgiebigkeit und Qualität-
losigkeit, ist am wenigsten geeignet, einer solchen Tendenz Einhalt zu
thun. Wo ein Verhältnis, in dem Übergewicht und Vorteil von vorn-
herein auf der einen Seite ist, von einem Geldinteresse ausgeht, wird
es deshalb unter übrigens gleichen Umständen sich viel weitgehender,
radikaler, einschneidender in seiner Richtung weiterentfalten können,
als wenn andere Motive, sachlich bestimmter und bestimmender Art,
ihm zugrunde liegen.


Drittens. Der Charakter der Geldheirat tritt sehr deutlich gelegentlich
einer ganz partikularen Erscheinung: der Heiratsannonce, hervor. Daſs
die Heiratsannonce eine so sehr geringe und auf die mittlere Gesell-
schaftsschicht beschränkte Anwendung findet, könnte verwunderlich und
bedauerlich erscheinen. Denn bei aller hervorgehobenen Individuali-
[399] sierung der modernen Persönlichkeiten und der daraus hervorgehenden
Schwierigkeit der Gattenwahl giebt es doch wohl noch für jeden noch
so differenzierten Menschen einen entsprechenden des anderen Ge-
schlechtes, mit dem er sich ergänzt, an dem er den „richtigen“ Gatten
fände. Die ganze Schwierigkeit liegt nur darin, daſs die so gleichsam
für einander Prädestinierten sich nicht zusammenfinden. Die Sinnlosig-
keit von Menschenschicksalen kann sich nicht tragischer zeigen, als in
der Ehelosigkeit oder den unglücklichen Ehen zweier einander fremder
Menschen, die sich nur hätten kennen zu lernen brauchen, um an-
einander jedes mögliche Glück zu gewinnen. Kein Zweifel, daſs die
vollendete Ausbildung der Heiratsannonce das blinde Geratewohl dieser
Verhältnisse rationalisieren könnte, wie die Annonce überhaupt dadurch
einer der gröſsten Kulturträger ist, daſs sie dem Einzelnen eine un-
endlich höhere Chance adäquater Bedürfnisbefriedigung verschafft, als
wenn er auf die Zufälligkeit des direkten Auffindens der Objekte an-
gewiesen wäre. Grade die gesteigerte Individualisierung der Bedürf-
nisse macht die Annonce, als Erweiterung des Kreises von Angeboten,
durchaus erforderlich. Wenn dennoch grade in den Schichten der
differenzierteren Persönlichkeiten, die prinzipiell am meisten auf die
Heiratsannonce angewiesen scheinen, dieselbe gar nicht in Frage
kommt, so muſs diese Perhorreszierung einen ganz positiven Grund
haben. Verfolgt man nun die thatsächlich erscheinenden Heirats-
annoncen, so sieht man, daſs darin die Vermögensverhältnisse der
Suchenden oder Gesuchten den eigentlichen, wenn auch manchmal
verhüllten Zentralpunkt des Interesses bilden. Und das ist sehr be-
greiflich. Alle andern Qualitäten der Persönlichkeit nämlich lassen
sich in einer Annonce nicht mit irgendwelcher genauen oder über-
zeugenden Bestimmtheit angeben. Weder die äuſsere Erscheinung,
noch der Charakter, weder das Maſs von Liebenswürdigkeit, noch von
Intellekt können leicht so beschrieben werden, daſs ein unzweideutiges
und individuelles Interesse erregendes Bild entsteht. Das Einzige,
was in allen Fällen mit völliger Sicherheit bezeichnet werden kann,
ist der Geldbesitz der Personen, und es ist ein unvermeidlicher Zug
des menschlichen Vorstellens, unter mehreren Bestimmungen eines Ob-
jektes diejenige, welche mit der gröſsten Genauigkeit und Bestimmtheit
anzugeben oder zu erkennen ist, auch für die sachlich erste und wesent-
lichste gelten zu lassen. Dieser eigentümliche, sozusagen methodo-
logische Vorzug des Geldbesitzes macht die Heiratsannonce grade für
diejenigen Stände, welche ihrer eigentlich am dringendsten bedürften,
dadurch unmöglich, daſs er ihr das Eingeständnis des bloſsen Geld-
interesses aufprägt.


[400]

Es macht sich übrigens für die Prostitution auch die Erscheinung
geltend, daſs das Geld über eine gewisse Quantität hinaus seine
Würdelosigkeit und Unfähigkeit, individuelle Werte aufzuwiegen, ver-
liert. Der Abscheu, den die moderne „gute“ Gesellschaft vor der
Prostituierten hegt, ist um so entschiedener, je elender und ärmlicher
diese ist, und mindert sich mit der Höhe des Preises, um welchen sie
sich verkauft, bis sie schlieſslich die Schauspielerin, von der jeder-
mann weiſs, daſs sie von einem Millionär ausgehalten wird, oft genug
in ihre Salons aufnimmt; während ein solches Frauenzimmer vielleicht
viel blutsaugerischer, betrügerischer, innerlich verkommener ist, als
manche Straſsendirne. Hierzu wirkt schon die allgemeine That-
sache, daſs man die groſsen Diebe laufen läſst und die kleinen
hängt, und daſs der groſse Erfolg als solcher, relativ unabhängig von
seinem Gebiet und Inhalt, einen gewissen Respekt erzeugt. Allein das
Wesentliche und der tiefere Grund ist doch, daſs der Verkaufspreis
durch seine exorbitante Höhe dem Verkaufsobjekte die Herabdrückung
erspart, die ihm sonst die Thatsache des Verkauftwerdens überhaupt
bereitet. Zola spricht in einer seiner Schilderungen aus dem zweiten
Kaiserreich von der Frau eines hochgestellten Mannes, die bekannter-
maſsen für 100—200000 Francs zu haben war. Er erzählt in dieser
Episode, der sicher eine historische Thatsache zugrunde liegt, daſs diese
Frau nicht nur selbst in den vornehmsten Kreisen verkehrte, sondern
daſs es ein besonderes Renommee in der „Gesellschaft“ verschafft habe,
als ihr Geliebter bekannt zu sein. Die Kurtisane, die sich für einen
sehr hohen Preis verkauft, erhält damit „Seltenheitswert“ — denn
nicht nur werden die Dinge hoch bezahlt, die Seltenheitswert besitzen,
sondern auch umgekehrt erhalten ihn diejenigen Objekte, die aus irgend
einem sonstigen Grunde, sei es auch nur aus einer Laune der Mode,
einen hohen Preis erzielen. Wie viele andere Gegenstände, ist auch
die Gunst mancher Kurtisane nur deshalb sehr geschätzt und von
vielen gesucht worden, weil sie den Mut hatte, ganz ungewöhnliche
Preise zu fordern. — Von einer entsprechenden Grundlage muſs die
englische Rechtsprechung ausgehen, wenn sie dem Ehemann einer ver-
führten Frau eine Geldentschädigung zuspricht. Es giebt nichts, was
unserem Gefühl mehr widerspräche, als dieses Verfahren, das den Ehe-
mann zum Zuhälter seiner Frau herabdrückt. Allein diese Buſsen sind
auſserordentlich boch; ich weiſs von einem Fall, in dem die Frau
mit mehreren Männern Verhältnisse angeknüpft hatte, und jeder der-
selben zu einer Entschädigung von 50000 Mark an den Ehemann ver-
urteilt wurde. Es scheint, daſs man auch hier durch die Höhe der
Summe die Niedrigkeit des Prinzips, einen derartigen Wert überhaupt
[401] durch Geld aufwiegen zu lassen, ausgleichen, ja daſs man in sehr naiver
Weise durch die Höhe der Summe grade den Respekt vor dem Ehemann,
je nach seiner sozialen Stellung, ausdrücken wollte: wenigstens wirft der
Verfasser der Juniusbriefe einem Richter heftig vor, daſs er in einem
solchen Prozeſs, der einen Prinzen und eine Lordsgemahlin betraf, bei
der Entschädigung den Rang des verletzten Gemahls ganz auſser acht
gelassen habe! —


Dieser Gesichtspunkt zeigt seine Bedeutung am auffälligsten bei
dem „Kauf“ eines Menschen im sprachgebräuchlichsten Sinn dieses
Wortes: bei der Bestechung. Zu der Erörterung derselben, in ihrer
spezifisch geldmäſsigen Form, gehe ich jetzt über. Schon der Dieb-
stahl oder der Betrug um kleine Summen ist, nach der herrschenden
sozialen Moral, um vieles verächtlicher als der Diebstahl groſser. Das
hat in gewissem Sinne seine Berechtigung, nämlich wenn es sich um
Personen in relativ guter ökonomischer Lage handelt. Dann schlieſst
man nämlich, daſs die Seele, die nicht einmal einer so kleinen Ver-
suchung widerstehen kann, eine besonders elende und schwache sein
muſs, während einer sehr erheblichen zu unterliegen, immerhin auch
einer stärkeren begegnen möchte! Entsprechend gilt das Bestochen-
werden — der Verkauf der Pflicht oder der Überzeugung — als um
so gemeiner, durch eine je kleinere Summe es geschieht. So wird die
Bestechung thatsächlich als ein Kauf der Persönlichkeit empfunden,
die danach rangiert, ob sie überhaupt „unbezahlbar“ ist, ob sie teuer
oder ob sie billig fortgegeben wird. Die soziale Schätzung erscheint
hier in ihrer Richtigkeit dadurch garantiert, daſs sie nur der Reflex
der Eigenschätzung des Subjektes ist. Aus dieser Beziehung der Be-
stechung zur ganzen Persönlichkeit stammt jene eigentümliche Würde,
die der Bestechliche zu bewahren oder wenigstens zu markieren pflegt,
und die entweder als Unzugänglichkeit für kleine Summen auftritt,
oder, wo nicht einmal diese besteht, als eine gewisse Grandezza, eine
Strenge und Überlegenheit des Benehmens, die den Geber in die
Rolle eines Empfangenden herabzudrücken scheint. Dieses äuſsere
Gebaren soll die Persönlichkeit als eine unangreifbare, in ihrem
Werte gefestete darstellen, und so sehr es eine Komödie ist, wirft es
doch, insbesondere da die andere Partei wie durch eine still-
schweigende Konvention darauf einzutreten pflegt, einen gewissen
Reflex nach innen und schützt den Bestechlichen vor jener Selbst-
vernichtung und Selbstentwertung, die dem Einsatz seines Persönlich-
keitswertes für eine Geldsumme sonst folgen müſste. Bei den alten
Juden und jetzt noch oft im Orient findet Kauf und Verkauf unter
der Höflichkeitsformel statt, daſs der Käufer den Gegenstand als Ge-
Simmel, Philosophie des Geldes. 26
[402] schenk annehmen möge. Also sogar bei so legitimen Transaktionen
scheint es, als ob die eigentümliche Würde des Orientalen auf ein
Verstecken des eigentlichen Geldinteresses hinwirkte.


Das derartige Verhalten des Bestechlichen und die ganze That-
sache der Bestechlichkeit überhaupt wird durch nichts so erleichtert
und ausgedehnt, als durch die Geldform derselben. Ganz prin-
zipiell ermöglicht das Geld eine Heimlichkeit, Unsichtbarkeit, Laut-
losigkeit des Besitzwechsels, wie keine andere Wertform. Seine
Komprimierbarkeit gestattet, mit einem Stück Papier, das man
in die Hand jemandes gleiten läſst, ihn zum reichen Manne zu
machen; seine Formlosigkeit und Abstraktheit gestattet, es in den
mannigfaltigsten und entferntesten Werten anzulegen und es dadurch
dem Auge der nächsten Umgebung ganz zu entziehen; seine Anonymität
und Farblosigkeit macht die Quelle unerkennbar, aus der es dem
jetzigen Besitzer geflossen ist: es trägt kein Ursprungszeugnis an sich,
wie, klarer oder verhüllter, so viele konkrete Besitzgegenstände es thun.
Während die Ausdrückbarkeit aller Werte in Geld dem Wirtschaften-
den selbst die klarste und unverhüllteste Einsicht in den Stand seines
Besitzes ermöglicht, erlaubt sie Anderen gegenüber eine Verstecktheit
und Unkenntlichkeit des Besitzes und der Transaktionen, wie die
Formen des extensiven Eigentums sie niemals zulieſsen. Darin liegt
nun freilich eine groſse Gefahr für diejenigen, welche Ansprüche und
Interessen an einer Wirtschaftsführung haben, ohne sie selbst und un-
mittelbar kontrollieren oder beeinflussen zu können. Wenn die
modernen Rechte die Öffentlichkeit für die Finanzgebarungen der
Staaten wie der Aktiengesellschaften vorschreiben, so haben die Ge-
fahren, die man so vermeiden will, einen ihrer wesentlichen Quell-
punkte in der Geldform des Wirtschaftens, in der ihr eigenen Leichtig-
keit des Verheimlichens, des irreführenden Ansatzes, der illegitimen
Verwendung — Bedenklichkeiten für alle Auſsenstehenden, aber daran
Interessierten, die nur durch prinzipielle Offenheit der Geschäfts-
führung einigermaſsen zu paralysieren sind. Innerhalb und vermittels
der Geldverhältnisse offenbart sich so eine allgemeine kulturelle
Differenzierung: das Öffentliche wird immer öffentlicher, das Private
immer privater. Früheren und engeren Kreisen liegt diese Sonderung
ferner; in ihnen können sich die privaten Verhältnisse des Einzelnen
nicht so verbergen, sich nicht so gegen das Hineinsehen und Sich-Ein-
mischen Anderer schützen, wie der Stil des modernen Lebens es ge-
stattet, andrerseits ist in solchen Kreisen den Trägern der öffent-
lichen Interessen eine mystische Autorität und Verschleierung eher und
zweckmäſsigererweise eigen als in weiten Kreisen, wo ihnen schon
[403] durch die Ausdehnung ihres Herrschaftsbezirkes, durch die Objektivität
ihrer Technik, durch ihre Distanz von jeder Einzelperson die Kraft
und Würde zuwächst, die sie die Öffentlichkeit ihres Gebarens ver-
tragen läſst. So verlieren die Politik, die Verwaltung, das Gericht in
demselben Maſse ihre Heimlichkeit und Unzugänglichkeit, in dem das
Individuum die Möglichkeit immer vollständigeren Sich-Zurückziehens
und Abschlusses seiner Privatangelegenheiten gegen alle Drauſsen-
stehenden gewinnt; man braucht nur die englische Geschichte mit der
deutschen zu vergleichen, oder die Kulturgeschichte der letzten zwei
Jahrhunderte in groſsen Zügen zu durchlaufen, um diese Korrelation
zu erkennen. Ja, auch auf religiösem Gebiet ist dieser Differenzierungs-
prozeſs, und zwar durch die Reformation, hervorgetreten. Während die
katholische Kirche ihre Autorität in eine mystische, in absoluter Höhe
über dem Gläubigen thronende Form hüllt, die diesem jedes Fragen,
jede Kritik, jede Mitwirkung verweigert, gestattet sie ihm doch
seinerseits kein ungestörtes religiöses Fürsichsein, sondern macht sich
zur Mitwisserin und überall eingreifenden Instanz seiner religiösen
Verhältnisse. Die Reformation nun gab der kirchlichen Organisation
umgekehrt Öffentlichkeit, Zugängigkeit, Kontrollierbarkeit und lehnte
prinzipiell alle Verschleierung und Verbarrikadierung vor den Augen
des einzelnen Gläubigen ab. Dieser hingegen gewann zugleich eine
viel ungestörtere Freiheit der religiösen Innerlichkeit, sein Verhältnis
zu seinem Gott wurde ein privates, das er nur mit sich selbst ab-
zumachen hatte.


Und nun kommen wir von der Privatheit und Heimlichkeit, die
den ökonomischen Verhältnissen, in Übereinstimmung mit den all-
gemeinen Kulturtendenzen, durch die Geldwirtschaft zu eigen wird, zu
dem Verkauf des Menschen: der Bestechung zurück, welche in der
Geldwirtschaft, eben durch jene Eigenschaften derselben, ihre höchste
Ausbildung erlangt. Eine Bestechung durch ein Stück Land oder eine
Viehherde ist nicht nur vor den Augen der Umgebung nicht zu ver-
heimlichen, sondern auch der Bestochene selbst kann sich nicht so
scheinbar ignorierend, als ob gar nichts geschehen wäre, dagegen ver-
halten, wie die oben charakterisierte repräsentative Würde der Be-
stechlichkeit es mit sich bringt. Mit Geld dagegen kann man jemanden
sozusagen hinter seinem eigenen Rücken bestechen, er braucht sich
nichts davon wissen zu machen, weil es ihm eben nicht spezifisch und
persönlich anhaftet. Die Heimlichkeit, die ungestörte Repräsentation,
die Intaktheit aller sonstigen Lebensbeziehungen kann bei der Be-
stechung durch Geld noch vollständiger bestehen, als selbst bei der
Bestechung durch Frauengunst. Denn so völlig und restlos diese sich
26*
[404] in ihrem Momente erschöpfen mag, so daſs, äuſserlich betrachtet, von
ihr noch weniger, als von einem Geldgeschenk, an der Persönlichkeit
haften bleibt — so ist diese Spurlosigkeit doch insbesondere nach der
Seite der inneren Konsequenzen nicht dieselbe wie bei der Bestechung
durch Geld; denn das Bezeichnende für diese ist, daſs mit dem ge-
gebenen und genommenen Geld insoweit jegliche Beziehung zwischen
den handelnden Personen zu Ende ist, während in jenem Fall an die
Stelle der momentanen Gefühlserregung viel eher Aversion, Reue oder
Haſs als bloſse Gleichgültigkeit zu treten pflegt. Solcher Vorteil der
Geldbestechung wird freilich naturgemäſs dadurch aufgewogen, daſs,
wenn die Verheimlichung nicht gelingt, sie die stärkste Deklassierung
des Betreffenden mit sich bringt. Auch hier ist die Parallele mit dem
Diebstahl bezeichnend. Dienstboten stehlen sehr viel seltener, d. h.
nur bei sehr viel gröſserer moralischer Verkommenheit, Geld, als Eſs-
waren, oder eine sonstige Kleinigkeit. Die Erfahrungen an manchen
zeigen, daſs sie davor zurückschrecken, denselben Wert in Geld zu
stehlen, den sie sich als eine Flasche Wein oder weiblichen Putz-
gegenstand mit ziemlich ruhigem Gewissen aneignen. Von dem ganz
entsprechenden Standpunkt aus läſst unser Strafgesetzbuch die Ent-
wendung geringer Mengen von Eſs- und Genuſswaren zum alsbaldigen
Verbrauch nur als eine ganz leichte Übertretung gelten, während es
den Diebstahl der gleichwertigen Geldsumme unter Umständen recht
streng ahndet. Es wird offenbar vorausgesetzt, daſs bei einem
momentanen Bedürfnis die Aneignungsmöglichkeit seines unmittelbaren
Gegenstandes einen so starken Anreiz bildet, daſs ihm zu unterliegen
etwas allzumenschliches ist, um hart bestraft zu werden. Je ent-
fernter das Objekt von dieser unmittelbaren Funktion ist, auf einem
je längeren Umweg erst es das Bedürfnis befriedigen kann, um so
schwächer wirkt der Reiz und eine um so stärkere Immoralität beweist
es, ihm nachzugeben. Deshalb ist nach dem Erkenntnis eines höchsten
Gerichtshofes z. B. Feuerungsmaterial nicht unter die Genuſsmittel zu
rechnen und der Diebstahl desselben nimmt an der Straferleichterung
für den Diebstahl solcher nicht teil. Zweifellos ist unter Umständen
Feuerung ein ebenso dringendes Bedürfnis und für die Selbsterhaltung
ebenso erforderlich wie Brot. Allein seine Verwendung ist doch eine
mittelbarere als die des Brotes, sie hat gleichsam mehr Zwischenstationen
und man kann deshalb annehmen, daſs ihm gegenüber der in Ver-
suchung Befindliche mehr Zeit zur Besinnung hat, die ihm die sinn-
liche Unmittelbarkeit des Reizes nicht läſst. Von solcher Gegenwärtigkeit
des Genieſsens steht das Geld am weitesten ab, das Bedürfnis knüpft
sich immer nur an das, was hinter ihm steht, so daſs die von ihm
[405] ausstrahlende Versuchung sozusagen nicht als Naturtrieb auftritt und
nicht die Kraft eines solchen als Entschuldigung des Unterliegens mit
sich trägt. Deshalb erscheint, wie der Diebstahl von Geld, so die Be-
stechlichkeit durch Geld gegenüber der durch einen momentan zu
genieſsenden Wert, als das Zeichen der raffinierteren und gründlicher
verdorbenen sittlichen Beschaffenheit, so daſs die Heimlichkeit, die
das Geldwesen ermöglicht, als eine Art von Schutzvorrichtung für
das Subjekt wirkt. Indem sie immerhin einen Tribut an das Scham-
gefühl darstellt, gehört sie zu einem verbreiteten Typus: daſs ein
unsittliches Verhalten sich einen Beisatz sittlicher Elemente angliedert,
nicht um sein Unsittlichkeitsquantum herabzusetzen, sondern grade um
es realisieren zu können. Freilich zeigt sich auch hier, wie die Ver-
hältnisse des Geldes von einer gewissen Quantitätsgrenze an ihren
qualitativen Charakter wechseln. Es giebt gigantische Bestechungen,
die, jene Schutzvorrichtung ebenso zweckmäſsig abändernd, auf die
Heimlichkeit in demselben Maſse zu gunsten eines gleichsam offiziellen
Charakters verzichten, in dem sie sie eben ihres Umfanges wegen tech-
nisch gar nicht aufrecht erhalten könnten. In den zwanzig Jahren
zwischen der Zuerteilung der legislativen und administrativen Selb-
ständigkeit an Irland und der Union mit England war den englischen
Ministern das eigentlich unlösbare Problem gestellt, zwei verschiedene
Staaten mit einer einheitlichen Politik zu leiten und zwei selbständige
Legislaturen fortwährend in Harmonie zu erhalten. Sie fanden die
Lösung in fortwährender Bestechung: alle die mannigfaltigen Ten-
denzen des irischen Parlaments wurden einfach dadurch, daſs man die
Stimmen kaufte, in die erwünschte Einheit gebunden. So konnte von
Robert Walpole einer seiner wärmsten Verehrer sagen: „Er war selbst
völlig unbestechlich; aber um seine politischen Absichten, weise und
gerecht wie sie waren, zu erreichen, war er bereit ein ganzes Unter-
haus zu bestechen, und wäre nicht davor zurückgeschreckt, ein ganzes
Volk zu bestechen.“ Ja, wie schon das reinste, seiner Sittlichkeit sich
bewuſste Gewissen des Bestechenden sogar mit der leidenschaftlichsten
Verdammung der Bestechlichkeit zusammenbestehen kann, lehrt die
Äuſserung eines Florentiner Bischofs auf dem Höhepunkt des mittel-
alterlichen Kampfes gegen die Simonie: er möchte den päpstlichen
Stuhl erkaufen, und wenn er ihn tausend Pfund kosten sollte, nur um
die verfluchten Simonisten austreiben zu können! Und wie es grade
der Riesenmaſsstab von Geldsummen ist, der der Bestechung — ähn-
lich wie der Prostitution — das Brandmal der Schamlosigkeit und des-
halb das der Heimlichkeit erspart, findet vielleicht sein schlagendstes
Beispiel daran: das gröſste Finanzgeschäft der beginnenden Neuzeit
[406] war die Aufbringung der Mittel, die Karl V. zu den für seine Kaiser-
wahl nötigen Bestechungen brauchte!


In allem hier Erörterten handelte es sich um den Verkauf von
Werten, die zwar personaler, aber doch nicht subjektiver Natur sind,
durch deren Bewahrung die Persönlichkeit — im Gegensatz zu den
Werten subjektiven Genieſsens — einen objektiven Wert an sich selbst
empfindet. Daſs der Komplex der Lebenskräfte, den man in die Ehe
hineingiebt, dabei der Richtung des eignen Instinktes folge; daſs die
Frau sich nur da ganz hingebe, wo der Mann dies mit gleichwertigen
Empfindungen erwidert; daſs Worte und Thaten der folgsame Aus-
druck von Überzeugungen und Verpflichtungen sind — dies alles bedeutet
nicht sowohl einen Wert, den wir haben, als einen, der wir sind. In-
dem man alles dies für Geld aufgiebt, hat man sein Sein gegen ein
Haben ausgetauscht. Gewiſs sind beide Begriffe aufeinander zurück-
führbar. Denn alle Inhalte unseres Seins bieten sich uns als Besitz
jenes an sich ganz inhaltlosen, rein formalen Zentrums in uns, das wir
als unser gleichsam punktuelles Ich und als das habende Subjekt,
gegenüber all seinen Qualitäten, Interessen, Gefühlen, als gehabten
Objekten, empfinden; und andrerseits ist Besitz, wie wir sahen, ein
Ausdehnen unserer Machtsphäre, ein Verfügenkönnen über Objekte, die
eben damit in den Umkreis unseres Ich hineingezogen werden. Das
Ich, unser Wollen und Fühlen, setzt sich in die Dinge hinein fort, die
es besitzt: von der einen Seite gesehen hat es auch sein Innerlichstes,
insoweit es nur ein einzelner, angebbarer Inhalt ist, doch schon
auſser sich, als ein objektives, seinem Zentralpunkt erst zugehöriges
Haben, von der anderen her hat es auch sein Äuſserlichstes, insoweit es
wirklich sein Besitz ist, in sich; indem es die Dinge hat, sind sie
Kompetenzen seines Seins, das ohne jedes einzelne dieser ein anderes
wäre. Logisch und psychologisch betrachtet ist es also willkür-
lich, zwischen Sein und Haben einen Grenzstrich zu ziehen. Wenn
wir diesen dennoch als sachlich berechtigt empfinden, so ist es, weil
Sein und Haben, auf ihren Unterschied hin angesehen, keine theo-
retisch-objektiven, sondern Wertbegriffe sind. Es ist eine bestimmte
Wertart und Wertmaſs, die wir unseren Lebensinhalten zusprechen,
wenn wir sie als unser Sein, eine andere, wenn wir sie als unser Haben
bezeichnen. Denn deutet man von diesen Inhalten diejenigen, welche
dem rätselhaften Ich-Mittelpunkt nahe liegen, als unser Sein, die
entfernteren als unser Haben, so ist ihre Rangierung auf dieser — jede
scharfe Abgrenzung offenbar ausschlieſsenden — Reihe doch nur durch
die Verschiedenheit der Wertgefühle herstellbar, von denen die einen
und die anderen begleitet werden. Wenn wir in jenen Verkäufen das,
[407] was wir fortgeben, unserem Sein, und das, was wir bekommen, unserem
Haben zurechnen, so ist das nur ein indirekter Ausdruck dafür, daſs
wir ein intensiveres, dauernderes, den ganzen Umkreis des Lebens
berührendes Wertgefühl für ein unmittelbareres, dringlicheres,
momentaneres vertauschen.


Ist nun der Verkauf personaler Werte eine Herabminderung des
in diesem Sinn bestimmten Seins, das direkte Gegenteil des „Aufsich-
haltens“, so kann man ein Persönlichkeitsideal nennen, an dem jene
Verhaltungsweisen am entschiedensten meſsbar werden: die Vornehm-
heit — und zwar deshalb so entschieden, weil dieser Wert für das
Geldwesen überhaupt das radikalste Kriterium bedeutet; so daſs, an
ihm gemessen, Prostitution, Geldheirat, Bestechung die outrierten Zu-
spitzungen in einer Reihe sind, die schon mit den legitimsten Formen
des Geldverkehrs beginnt. Bei der Darstellung dieses Sachverhaltes
handelt es sich hier im wesentlichen nur noch um solche personale
Werte, die sich in der Gestalt von sachlichen darbieten; zunächst
aber um die Bestimmung des Vornehmheitsbegriffes selbst.


Die übliche Aufteilung unserer objektiven Schätzungsnormen in
logische, ethische und ästhetische ist, auf unser wirkliches Urteilen hin
angesehen, ganz unvollständig. Wir schätzen etwa, um ein sehr augen-
scheinliches Beispiel zu nennen, die scharfe Ausbildung der Individualität,
die bloſse Thatsache, daſs eine Seele eine eigenartige, in sich ge-
schlossene Form und Kraft besitzt; die Unvergleichbarkeit und Un-
verwechselbarkeit, mit der eine Person gleichsam nur ihre eigne Idee
darstellt, empfinden wir als wertvoll, und zwar oft im Gegensatz zu
der ethischen und ästhetischen Minderwertigkeit des Inhaltes solcher
Erscheinung. Aber nicht um bloſse Vervollständigung jenes Systems
handelt es sich, sondern darum, daſs das systematische Abschlieſsen
als solches hier ebenso irrig ist, wie bei den fünf Sinnen oder den
zwölf Kantischen Verstandeskategorien. Die Entwicklung unserer Art
bildet fortwährend neue Möglichkeiten, die Welt sinnlich und intellek-
tuell aufzunehmen und ebenso fortwährend neue Kategorien, sie zu
werten. Und wie wir so stetig neue wirksame Ideale formen, so bringt
vertiefteres Bewuſstsein immer weitere ans Licht, die bisher schon
wirksame, aber unbewuſste waren. Ich glaube nun, daſs unter den
Wertgefühlen, mit denen wir auf die Erscheinungen reagieren, sich
auch eines findet, das man nur als die Wertung der „Vornehmheit“
bezeichnen kann. Diese Kategorie zeigt ihre Selbständigkeit darin,
daſs sie sich den sonst verschiedenartigsten und verschiedenwertigsten
Erscheinungen gegenüber einstellt. Gesinnungen wie Kunstwerke, Ab-
stammung wie litterarischen Stil, einen bestimmt ausgebildeten Ge-
[408] schmack ebenso wie die ihm zusagenden Gegenstände, ein Benehmen
auf der Höhe gesellschaftlicher Kultur wie ein Tier edler Rasse —
alles dies können wir als „vornehm“ bezeichnen; und wenn auch ge-
wisse Beziehungen dieses Wertes zu denen der Sittlichkeit und der
Schönheit stattfinden, so bleibt er doch immer auf sich ruhen, da der
gleiche Grad seiner mit den allermannigfaltigsten ethischen und ästhe-
tischen Stufen vereint auftritt. Der soziale Sinn der Vornehmheit:
die exzeptionelle Stellung gegenüber einer Majorität, der Abschluſs der
Einzelerscheinung in ihrem autonomen Bezirk, der durch das Eindringen
irgend eines heterogenen Elementes sofort zerstört wäre — giebt
offenbar den Typus für alle Anwendungen ihres Begriffes. Eine ganz
besondere Art des Unterschiedes zwischen den Wesen bildet den
äuſseren Träger des Vornehmheitswertes: der Unterschied betont hier
einerseits den positiven Ausschluſs des Verwechseltwerdens, der Re-
duktion auf einen gleichen Nenner, des „Sichgemeinmachens“; andrer-
seits darf er doch nicht so hervortreten, um das Vornehme aus
seinem Sich-selbst-genügen, seiner Reserve und inneren Geschlossen-
heit herauszulocken und sein Wesen in eine Relation zu Anderen,
und sei es auch nur die Relation des Unterschiedes, zu verlegen.
Die Vornehmheit repräsentiert in soziologischer — und von da auf
alle ihre Anwendungen übertragener — Hinsicht eine ganz einzig-
artige Kombination von Unterschiedsgefühlen, die auf Vergleichung
beruhen, und stolzem Ablehnen jeder Vergleichung überhaupt. Als
ein völlig erschöpfendes Beispiel erscheint es mir, daſs das Haus
der Lords nicht nur von jedem seiner Mitglieder als sein einziger
Richter anerkannt wird, sondern im Jahre 1330 die Zumutung aus-
drücklich ablehnt, über andere Leute als die peers zu Gericht zu
sitzen, — so daſs also sogar ein Machtverhältnis zu Personen auſser-
halb des eigenen Ranges als Degradation erscheint!


Je mehr nun das Geld die Interessen beherrscht und von sich
aus Menschen und Dinge in Bewegung setzt, je mehr die letzteren um
seinetwillen hergestellt und nur nach ihm geschätzt werden, desto
weniger kann der so beschriebene Wert der Vornehmheit seine Ver-
wirklichung an Menschen und Dingen finden. Mannigfache geschicht-
liche Erscheinungen legen diese negative Verbindung nahe. Die alten
Aristokratien Ägyptens und Indiens perhorreszierten den Seeverkehr
und hielten ihn mit der Reinheit der Kasten für unverträglich. Das
Meer ist eine Vermittlung wie das Geld, es ist das ins Geographische
gewandte Tauschmittel, gleichsam in sich völlig farblos und deshalb
wie das Geld dem Ineinanderübergehen des Verschiedenartigsten dienst-
bar. Seeverkehr und Geldverkehr stehen in enger historischer Ver-
[409] bindung, die Reserve und scharf geformte Abgeschlossenheit der Aristo-
kratie muſs von beiden her ein Abschleifen und Nivellieren fürchten.
Deshalb war auch dem venetianischen Adel zur guten Zeit der Aristo-
kratie aller eigene Handel untersagt, und erst 1784 wurden die Adligen
durch ein Gesetz ermächtigt, unter eigenem Namen Handel zu treiben.
Vorher konnten sie dies nur als stille Teilnehmer an den Geschäften
der cittadini, also nur wie aus der Ferne und unter einer Maske.
Und schon zu Beginn der Neuzeit empfand man in England, daſs die
Reichtumsunterschiede, die in der Stadt galten, durchaus keine so ent-
schieden abgeschlossene Aristokratie schaffen konnten, wie die auf dem
Lande geltenden Standesgrenzen. Der ärmste Lehrling konnte die
höchste Zukunft erhoffen, wo diese nur im Geldbesitz lag, während
eine völlig unbiegsame Linie die Landaristokratie von dem yeoman
schied. Die unendliche quantitative Abstufbarkeit des Geldbesitzes
läſst die Stufen ineinander übergehen und verwischt die Formbestimmt-
heit der vornehmen Klassen, die ohne Festigkeit der Grenzen nicht be-
stehen kann.


Dem Vornehmheitsideal ist wie dem ästhetischen, von dem ich
dies schon früher hervorhob, die Gleichgültigkeit gegen das Wieviel
eigen. Vor dem abgeschlossenen Insichruhen des Wertes, den es dem
an ihm teilhabenden Wesen gewährt, tritt die Quantitätsfrage ganz
zurück; die rein qualitative Bedeutung, die jenes Ideal meint, wird
dadurch verhältnismäſsig wenig gehoben, daſs mehr Exemplare auf
diese Höhe gelangen. Das Entscheidende ist, daſs sie dem Dasein
überhaupt gelungen ist, und für sich allein der vollgültige Repräsen-
tant davon zu sein, verleiht dem vornehmen — ob menschlichen,
ob untermenschlichen — Wesen seine spezifische Natur. In dem
Augenblick aber, in dem die Dinge auf ihren Geldwert hin an-
gesehen und gewertet sind, rücken sie aus dem Bereich dieser Kate-
gorie fort, ihre Wertqualität ist in ihrem Wertquantum unter-
gegangen und jenes Sich-selbst-gehören — das geschilderte Doppel-
verhältnis zu Anderen und zu sich selbst —, das wir von einem ge-
wissen Grade an als Vornehmheit empfinden, hat seine Basis verloren.
Das Wesen der Prostitution, das wir am Gelde erkannten, teilt sich
den Gegenständen mit, die nur noch als seine Äquivalente funktionieren,
ja, diesen vielleicht in noch fühlbarerem Maſse, weil sie mehr zu ver-
lieren haben, als das Geld es von vornherein hat. Jener äuſserste
Gegensatz der Vornehmheitskategorie, das Sich-gemein-machen mit
Anderen, wird zum typischen Verhältnis der Dinge in der Geldwirt-
schaft, weil sie durch das Geld, wie durch eine Zentralstation, mit
einander verbunden sind, alle mit gleicher spezifischer Schwere in dem
[410] fortwährend bewegten Geldstrom schwimmen, und so, alle in derselben
Ebene liegend, sich nur durch die Gröſse der Stücke unterscheiden,
die sie von dieser decken.


Hier macht sich unvermeidlich die tragische Folge jeder Ni-
vellierung geltend: daſs sie das Hohe mehr herunterzieht, als sie das
Niedrige erhöhen kann. Bei dem Verhältnis von Personen unter-
einander liegt das auf der Hand. Wo ein seelischer Bezirk, insbesondere
intellektueller Art, sich bildet, auf dem eine Mehrzahl von Menschen
Verständigung und Gemeinsamkeit findet — da muſs derselbe dem
Niveau des Tiefststehenden erheblich näher liegen als dem des Höchst-
stehenden. Denn immer ist es eher möglich, daſs dieser herunter-,
als daſs jener heraufsteige. Der Umkreis von Gedanken, Kenntnissen,
Willenskräften, Gefühlsnüancen, den die unvollkommenere Persönlich-
keit mitbringt, wird völlig von dem gedeckt, der der vollkommeneren
eigen ist, aber nicht umgekehrt; jener also ist beiden gemeinsam,
dieser nicht; so daſs, gewisse Ausnahmen vorbehalten, der Boden ge-
meinsamer Interessen und Aktionen von den besseren und den niederen
Elementen nur unter Verzicht der ersteren auf ihre individuellen Vor-
züge wird innegehalten werden können. Zu diesem Resultat führt
auch die weitere Thatsache, daſs selbst für gleichmäſsig hochstehende
Persönlichkeiten das Niveau ihrer Gemeinsamkeit nicht so hoch liegen
wird, wie das jedes Einzelnen für sich. Denn grade die höchsten Aus-
bildungen, die jedem eigen sein mögen, pflegen nach ganz verschiedenen
Seiten differenziert zu sein und begegnen sich nur auf jenem tieferen
generellen Niveau, über das hinweg die individuellen und gleich be-
deutsamen Potenzen oft bis zur Unmöglichkeit jeder Verständigung
überhaupt auseinanderführen. Was den Menschen gemeinsam ist —
nach der biologischen Seite hin: die ältesten und deshalb sichersten
Vererbungen — ist im allgemeinen das gröbere, undifferenzierte, un-
geistigere Element ihres Wesens.


Dieses typische Verhältnis, durch das die Lebensinhalte ihre Ge-
meinsamkeit, ihre Dienste zur Verständigung und Einheitlichkeit, mit
ihrer relativen Niedrigkeit bezahlen müssen; durch das der Einzelne,
auf dies Gemeinsame sich reduzierend, auf seine individuelle Werthöhe
verzichten muſs, sei es, weil der andere tiefer steht als er, sei es, weil
dieser, obgleich ebenso hoch entwickelt, seine Höhe nach einer anderen
Richtung hin hat, — dieses Verhältnis zeigt seine Form an Dingen
nicht weniger als an Personen. Nur daſs, was in diesem Fall ein
Prozeſs an Wirklichkeiten ist, in jenem nicht eigentlich an den Dingen
selbst, sondern an den Wertvorstellungen von ihnen vorgeht. Die That-
sache, daſs der feinste und aparteste Gegenstand ebenso für Geld zu
[411] haben ist, wie der banalste und roheste, stiftet eine Beziehung zwischen
ihnen, die ihrem qualitativen Inhalt fern liegt und die gelegentlich
dem ersteren eine Trivialisierung und eine Abflachung der spezifischen
Schätzung eintragen kann, während der zweite überhaupt nichts zu ver-
lieren hat, aber auch nichts gewinnen kann. Daſs der eine viel und
der andere wenig Geld kostet, kann dies nicht immer ausgleichen,
namentlich nicht bei generellen, über die Einzelvergleichung sich er-
hebenden Wertungen, und ebensowenig gelingt dies dem nicht abzu-
leugnenden psychologischen Vorkommnis, daſs grade an der Gemein-
samkeit des Geldnenners die individuellen Differenzen der Objekte sich
um so schärfer abheben. Die herabstimmende Wirkung des Geld-
äquivalents tritt unzweideutig hervor, sobald man mit einem schönen
und eigenartigen, aber käuflichen Objekt ein an sich ungefähr gleich
bedeutsames vergleicht, das aber für Geld nicht zu haben ist; dieses
hat von vornherein für unser Gefühl eine Reserve, ein Auf-sich-ruhen,
ein Recht, nur an dem sachlichen Ideal seiner selbst gemessen zu
werden, kurz: eine Vornehmheit, die dem anderen versagt bleibt.
Der Zug in seinem Bilde, daſs es für Geld zu haben ist, ist auch
für das Beste und Erlesenste ein locus minoris resistentiae, an dem
es sich der Zudringlichkeit des untergeordneten, das gleichsam eine
Berührung mit ihm sucht, nicht erwehren kann. Denn so sehr das
Geld, weil es für sich nichts ist, durch diese Möglichkeit ein ungeheures
Wertplus gewinnt, so erleiden umgekehrt unter sich gleichwertige, aber
verschiedenartige Objekte durch ihre — wenn auch mittelbare oder
ideelle — Austauschbarkeit eine Herabsetzung der Bedeutung ihrer
Individualität. Immerhin ist dies wohl auch das tiefer gelegene Motiv,
aus dem wir gewisse Dinge etwas verächtlich als „gangbare Münze“
charakterisieren: Redensarten, Modi des Benehmens, musikalische
Phrasen u. s. w. Hierbei erscheint nun nicht die Gangbarkeit allein
als der Vergleichungspunkt, der die Münze, das gangbarste Objekt
überhaupt, als seinen Ausdruck herzuruft. Manchmal mindestens kommt
noch das Austauschmoment hinzu. Es nimmt es gewissermaſsen
jeder an und giebt es wieder aus, ohne ein individuelles Interesse am
Inhalt — wie beim Gelde. Auch hat es jeder in der Tasche, in Reserve,
es bedarf keiner Umformung, um in jeder Situation seinen Dienst zu
thun. Indem es, gegeben oder empfangen, zu dem Einzelnen in Be-
ziehung tritt, erhält es doch keine individuelle Färbung oder Hinzu-
fügung, es geht nicht, wie andre Inhalte des Redens oder Thuns, in
den Stil der Persönlichkeit ein, sondern geht unalteriert durch diese
hindurch, wie Geld durch ein Portemonnaie. Die Nivellierung er-
scheint als Ursache wie als Wirkung der Austauschbarkeit der Dinge —
[412] wie gewisse Worte ohne weiteres ausgetauscht werden können, weil sie
trivial sind, und trivial werden, weil man sie ohne weiteres auszu-
tauschen pflegt. Die Lieblosigkeit und Frivolität, durch die sich die
Behandlung der Gegenstände in der Gegenwart so sehr von früheren
Zeiten unterscheidet, geht sicher zum Teil auf die gegenseitige Ent-
individualisierung und Abflachung, auf Grund des gemeinsamen Geld-
wertniveaus, zurück.


Die im Gelde ausgedrückte Tauschbarkeit aber muſs unvermeid-
lich eine Rückwirkung auf die Beschaffenheit der Waren selbst haben,
bezw. mit ihr in Wechselwirkung stehen. Die Herabsetzung des In-
teresses für die Individualität der Waren führt zu einer Herabsetzung
dieser Individualität selbst. Wenn die beiden Seiten der Ware als
solcher ihre Qualität und ihr Preis sind, so scheint es allerdings logisch
unmöglich, daſs das Interesse nur an einer dieser Seiten hafte: denn
die Billigkeit ist ein leeres Wort, wenn sie nicht Niedrigkeit des Preises
für eine relativ hohe Qualität bedeutet, und die Höhe der Qualität
ist ein ökonomischer Reiz nur dann, wenn ihr ein irgend angemessener
Preis entspricht. Dennoch ist jenes begrifflich Unmögliche psychologisch
wirklich und wirksam; das Interesse für die eine Seite kann so steigen,
daſs das logisch erforderte Gegenstück derselben ganz herabsinkt. Der
Typus für den einen dieser Fälle ist der „Fünfzig-Pfennig-Bazar“.
In ihm hat das Wertungsprinzip der modernen Geldwirtschaft seinen
restlosen Ausdruck gefunden. Als das Zentrum des Interesses ist jetzt
nicht mehr die Ware, sondern ihr Preis konstituiert — ein Prinzip,
das früheren Zeiten nicht nur schamlos erschienen, sondern innerlich
ganz unmöglich gewesen wäre. Es ist mit Recht darauf aufmerksam
gemacht worden, daſs die mittelalterliche Stadt trotz aller Fortschritte,
die sie verkörperte, doch noch der ausgedehnten Kapitalwirtschaft er-
mangelte, und daſs dies der Grund gewesen sei, das Ideal der Wirt-
schaft nicht sowohl in der Ausdehnung (die nur durch Billigkeit mög-
lich ist), als vielmehr in der Güte des Gebotenen zu suchen. Daher
die groſsen Leistungen des Kunstgewerbes, die rigorose Überwachung
der Produktion, die strenge Lebensmittelpolizei u. s. w. Das eben ist
der eine äuſserste Pol der Reihe, deren anderen das Schlagwort:
„billig und schlecht“ bezeichnet, — eine Synthese, die nur dadurch
möglich ist, daſs das Bewuſstsein durch die Billigkeit hypnotisiert ist
und auſser ihr überhaupt nichts wahrnimmt. Das Nivellement der
Objekte auf die Ebene des Geldes setzt zuerst das subjektive Interesse
an ihrer eigenartigen Höhe und Beschaffenheit herab und, als weitere
Folge, diese letztere selbst; die Produktion der billigen Schundware
ist gleichsam die Rache der Objekte dafür, daſs sie sich durch ein
[413] bloſses indifferentes Mittel aus dem Brennpunkte des Interesses
muſsten verdrängen lassen.


Durch alles dies ist nun wohl hinreichend deutlich geworden, in
wie radikalem Gegensatz das Geldwesen und seine Folgen zu den vor-
hin skizzierten Vornehmheitswerten stehen. Das Geldwesen zerstört
am gründlichsten jenes Aufsichhalten, das die vornehme Persönlichkeit
charakterisiert und das von gewissen Objekten und ihrem Gewertet-
werden aufgenommen wird; es drängt den Dingen einen auſser ihrer
selbst liegenden Maſsstab auf, wie grade die Vornehmheit ihn ablehnt;
indem es die Dinge in eine Reihe, in der bloſs Quantitätsunterschiede
gelten, einstellt, raubt es ihnen einerseits die absolute Differenz und
Distanz des einen vom andern, andrerseits das Recht, jedes Verhält-
nis überhaupt, jede Qualifikation durch die wie auch ausfallende Ver-
gleichung mit andern abzulehnen — also die beiden Bestimmungen, deren
Vereinigung das eigentümliche Ideal der Vornehmheit schafft. Die
Steigerung personaler Werte, die dieses Ideal bezeichnet, erscheint also
selbst in seiner Projizierung in Dinge hinein so weit aufgehoben,
wie die Wirksamkeit des Geldes reicht, das die Dinge in jedem
Sinne des Wortes „gemein“ macht und sie damit schon dem Sprach-
gebrauch nach in den absoluten Gegensatz zum Vornehmen stellt.
Gegen diesen Begriff gehalten tritt nun erst an der ganzen Breite
käuflicher Lebensinhalte die Wirkung des Geldes hervor, die die Pro-
stitution, die Geldheirat und die Bestechung in personal zugespitzter
Form gezeigt haben.


[[414]]

II.


In dem Kapitel über individuelle Freiheit haben wir festgestellt,
wie sehr die Umwandlung von naturalen Verpflichtungen in Geld-
leistungen dem Vorteil beider Parteien dienen kann, welche Steigerung
seiner Freiheit und Würde insbesondere der Verpflichtete daraus zieht.
Diese Bedeutung des Geldes für die personalen Werte muſs nun aber
durch eine Entwicklungsreihe von entgegengesetzter Richtung ergänzt
werden.


Der günstige Erfolg jener Umwandlung hängt daran, daſs der
Verpflichtete bisher eine persönliche Kraft und individuelle Bestimmt-
heit in das Verhältnis eingesetzt hat, ohne ein entsprechendes Äqui-
valent zu erhalten. Was ihm die andere Partei bot, war rein sach-
licher Natur; die Rechte, die er aus dem Verhältnis zog, waren relativ
unpersönliche, die Pflichten, die es ihm auferlegte, ganz persönliche.
Indem nun die Form der Geldleistung seine Pflichten entpersonalisierte,
glich sich diese Unverhältnismäſsigkeit aus. Ein ganz andrer Erfolg
aber wird eintreten, wenn der Verpflichtete nicht mit einer sachlichen
Gegenleistung glatt abgefunden wird, sondern wenn ihm aus dem Ver-
hältnis ein Recht, ein Einfluſs, eine personale Bedeutsamkeit zuwächst,
und zwar grade, weil er diese bestimmte personale Leistung in dasselbe
hineingiebt. Dann muſs die durch die Geldform zu bewirkende Ob-
jektivierung der Beziehung ebenso ungünstig wirken, wie vorher günstig.
Die Herabdrückung der Bundesgenossen Athens in eine direkte, gröſsere
oder geringere Abhängigkeit begann damit, daſs ihr Tribut an Schiffen
und Kriegsmannschaften in bloſse Geldabgaben verwandelt wurde.
Diese scheinbare Befreiung von ihrer mehr personalen Verpflichtung
enthielt eben den Verzicht auf eigene politische Bethätigung, auf die
Bedeutung, die man nur auf den Einsatz einer spezifischen Leistung,
auf die Entfaltung realer Kräfte hin beanspruchen darf. In jener
Pflicht waren doch unmittelbar Rechte enthalten: die von ihnen selbst
gelieferte Kriegsmacht konnte nicht so gegen ihre eignen Interessen
verwandt werden, wie es mit dem von ihnen gelieferten Geld möglich
[415] war. Die Naturallieferung besteht, kantisch zu reden, aus der Pflicht
als ihrer Form und dem speziellen Inhalt und Gegenstand als ihrer
Materie. Diese Materie kann nun für sich gewisse Nebenwirkungen
haben; sie kann z. B. als Arbeit der fronpflichtigen Bauern die Per-
sönlichkeit und Bewegungsfreiheit derselben arg beschränken, sie kann
aber auch als naturaler Beitrag zu den kriegerischen Unternehmungen
einer Vormacht diese zu einer gewissen Rücksicht auf die Beitragenden
zwingen. Während die Pflicht als solche in beiden Fällen die gleiche
ist, wird die Materie, deren Form sie bildet, sie in dem einen Fall
für den Verpflichteten schwer, in dem anderen relativ günstig gestalten.
Wenn nun Geldzahlung an die Stelle dieser naturalen Leistungen tritt,
wird das materielle Moment eigentlich ausgeschaltet, es verliert jede
folgenreiche Qualität, so daſs sozusagen nur die reine ökonomische
Pflicht in der abstraktesten Verwirklichung, die sie überhaupt finden
kann, zurückbleibt. Diese Reduktion ihrer wird deshalb in dem ersten
der obigen Fälle das Fortfallen einer Erschwerung, in dem zweiten
das einer Erleichterung bedeuten, und der Leistende wird also in
diesem ebenso herabgedrückt werden, wie er in jenem erhoben wurde.
Wir finden deshalb die Umwandlung der personalen Dienstpflicht in eine
Geldzahlung öfters als eine bewuſste Politik, durch die die Macht-
stellung der Verpflichteten heruntergesetzt werden soll, z. B. bei
Heinrich II. von England, der es einführte, daſs die Ritter, anstatt
ihm in die kontinentalen Kriege zu folgen, ihre Dienste mit Geld ab-
lösen konnten. Viele mögen darauf eingetreten sein, weil es im Augen-
blick als eine Erleichterung und Befreiung des einzelnen erschien.
Thatsächlich indes bewirkte es eine Entwaffnung der Feudalpartei,
die der König am meisten zu fürchten hatte und zwar grade wegen
derjenigen kriegerischen Qualitäten, auf die er selbst bis dahin an-
gewiesen war. Da bei der Mannschaftsgestellung seitens der Bezirke
und Städte kein derartiges individuelles Element mitwirkte, so hatte für
sie sich uns oben das Umgekehrte ergeben: der Gewinn von Frei-
heit durch die Geldablösung jener Verpflichtung. Was uns all diese
Erscheinungen hier so wichtig macht, ist, daſs man aus ihnen den
Zusammenhang ganz fundamentaler Lebensgefühle mit ganz äuſser-
lichen Thatsachen ablesen kann. Darum ist [auch] hier die Erkenntnis
wesentlich, daſs die Bestimmungen, die das Geld jene Zusammenhänge
vermitteln lassen, an ihm zwar am reinsten und prägnantesten, aber
doch nicht an ihm allein hervortreten. Die historischen Konstellationen,
die innerlich von diesem Sinne getragen werden, lassen sich in eine
aufsteigende Reihe ordnen, in der jedes Glied, je nach den sonstigen
Verhältnissen der Elemente, ebenso deren Freiheit wie deren Unter-
[416] drückung Raum giebt. Von der rein personalen Beziehung liegt das
auf der Hand: diese stellt sich sowohl als die Härte der persönlichen
Unterworfenheit unter eine Person wie als die Würde freier Ver-
einigung dar. Beides ändert sich, sobald das Richtung gebende Element
unpersönlichen Charakter trägt — sei es, daſs diese Unpersönlichkeit
die dingliche eines äuſseren Objekts, sei es, daſs sie die einer Mehr-
heit von Personen sei, in der die Subjektivität der einzelnen ver-
schwindet. Das vorige Kapitel hat uns gezeigt, wie der Übergang
hierzu als Befreiung wirkt, wie oft der Mensch die Unterworfen-
heit unter eine unpersönliche Kollektivität oder eine rein sach-
liche Organisation der unter eine Persönlichkeit vorzieht. Hier will
ich nur erwähnen, daſs sowohl Sklaven wie Fronbauern es relativ
leicht zu haben pflegten, wenn sie dem Staate zugehörten, daſs die
Angestellten in den modernen Magazinen von ganz unpersönlicher
Betriebsart in der Regel besser situiert sind, als in den kleinen Ge-
schäften, wo der Besitzer persönlich sie ausbeutet. Umgekehrt, wo
von der einen Seite sehr personale Werte eingesetzt werden, wird die
Umbildung der anderen in unpersönliche Formen als Unwürdigkeit
und Unfreiheit empfunden. Die aristokratische freie Hingebung bis
zu den äuſsersten Opfern hat oft genug einem Gefühl von Demütigung
und Deklassierung Platz gemacht, sobald ihr zwar viel geringere Opfer,
aber als objektiv gesetzliche Pflicht zugemutet wurden. Noch im
16. Jahrhundert erfuhren die Fürsten in Frankreich, Deutschland,
Schottland und den Niederlanden oft erheblichen Widerstand, wenn
sie durch gelehrte Substitute oder Verwaltungskörper regieren lieſsen.
Der Befehl wurde als etwas Persönliches empfunden, dem man auch
nur aus persönlicher Hingebung Gehorsam leisten wollte, während es
einem unindividuellen Kollegium gegenüber nur Unterwerfung schlecht-
hin gab. Das äuſserste Glied dieser Reihe bilden die auf das Geld,
als das sachlichste aller praktischen Gebilde, gestellten Verhältnisse:
je nach dem Ausgangspunkt und Inhalt hat sich uns die Geldleistung
als der Träger der völligen Freiheit wie der völligen Unterdrückung
gezeigt. Deshalb finden wir sie auch gelegentlich mit groſser Ent-
schiedenheit versagt. Als Peter IV. von Arragonien einmal die arrago-
nesischen Stände um eine Geldgewährung anging, erwiderten sie ihm,
das wäre doch bisher nicht üblich gewesen; seine christlichen Unter-
thanen seien bereit, ihm mit ihrer Person zu dienen, aber Geld zu
geben sei nur Sache der Juden und Mauren. So weit es in ihrer
Macht steht, lassen sich deshalb die Verpflichteten die Umwandlung
des personalen Dienstes in Geldabgaben nur dann gefallen, wenn die
Beibehaltung jenes für sie nicht die Bedeutung einer Teilnahme an
[417] der Machtsphäre der Berechtigten hat; so daſs die verschiedenen Kreise
derselben Gruppe sich nach diesem Gesichtspunkte manchmal scharf
scheiden. Die Territorialherren im mittelalterlichen Deutschland, die
zur Aushebung von Gemeinfreien und Hörigen zum Kriegsdienst be-
rechtigt waren, erhoben später vielfach eine Steuer an Stelle dessen.
Die Grundherren aber blieben von dieser frei, weil sie den Roſs-
dienst selbst leisteten, also „mit ihrem Blute dienten“. Woher denn
die alte Rechtsregel entsprang: „der Bauer verdient sein Gut mit dem
Sack, der Ritter mit dem Pferd“. Wenn der moderne Staat wieder
den persönlichen Kriegsdienst der Unterthanen eingeführt hat, statt
daſs der Fürst nur Steuern erhebt und dafür ein Söldnerheer mietet,
so ist dieser Ersatz der Geldablösung durch unmittelbaren Dienst der
adäquate Ausdruck für die wieder gewachsene politische Bedeutung des
einzelnen Bürgers. Wenn man deshalb gesagt hat, daſs das allgemeine
Stimmrecht das Korrelat der allgemeinen Dienstpflicht sei, so ist dies
schon aus dem Verhältnis der Geldleistung zur personalen Leistung
begründbar.


Daſs despotische Tendenzen so zur Reduktion aller Verpflichtungen
auf Geldleistungen streben, läſst sich aus sehr prinzipiellen Zusammen-
hängen herleiten. Der Begriff des Zwanges wird meistens in ganz un-
genauer und schlaffer Weise angewendet. Man pflegt zu sagen, daſs
jemand „gezwungen“ sei, den zu seinem Handeln die Androhung oder
Befürchtung einer sehr schmerzlichen Konsequenz für den Unterlassens-
fall, einer Strafe, eines Verlustes u. s. w. bestimme. Thatsächlich liegt
in allen solchen Fällen ein wirklicher Zwang niemals vor; denn wenn
jemand gewillt ist, jene Konsequenzen auf sich zu nehmen, so steht
ihm das Unterlassen der Handlung, die damit erzwungen werden soll,
völlig frei. Wirklicher Zwang ist ausschlieſslich der, der unmittelbar
durch physische Gewalt oder durch Suggestion ausgeübt wird. Z. B.
meine Unterschrift zu geben, kann ich nur so wirklich gezwungen
werden, daſs jemand mit überlegener Kraft meine Hand ergreift und
die Schriftzüge mit ihr ausführt, oder etwa so, daſs er es mir in der
Hypnose suggeriert; aber keine Todesdrohung kann mich dazu
zwingen. Es ist deshalb ganz ungenau, wenn man vom Staate sagt,
er erzwinge die Befolgung seiner Gesetze. Er kann thatsächlich nie-
manden dazu zwingen, seiner Militärpflicht zu genügen oder das Leben
und Eigentum andrer zu achten oder ein Zeugnis abzulegen, sobald
der Betreffende nur bereit ist, es auf die Strafen für die Gesetzes-
verletzung ankommen zu lassen; was der Staat in diesem Falle er-
zwingen kann, ist nur, daſs der Sünder diese Strafen erdulde. Nur in
Hinsicht auf eine einzige Gesetzeskategorie ist der Zwang zur positiven
Simmel, Philosophie des Geldes. 27
[418] Erfüllung möglich: auf die Steuerpflicht. Die Erfüllung derselben
(wie die der geldwerten privatrechtlichen Verpflichtungen) kann aller-
dings im strengsten Sinne des Wortes erzwungen werden, indem dem
Pflichtigen der betreffende Wert mit Gewalt abgenommen wird. Und
zwar erstreckt sich dieser Zwang wirklich nur auf Geldleistung, nicht
einmal auf ökonomische Leistungen irgend einer anderen Art. Wenn
jemand zu einer bestimmten Naturallieferung verpflichtet ist, so kann
er grade dies Bestimmte, wenn er es eben unter keinen Umständen
produzieren will, zu liefern niemals wirklich gezwungen werden; wohl
aber kann irgend etwas anderes, was er besitzt, ihm weggenommen und
zu Gelde gemacht werden. Denn jedes solche Objekt hat Geldwert und
kann in dieser, wenn auch vielleicht in keiner einzigen anderen Be-
ziehung für jenes eintreten. Die despotische Verfassung, die die Un-
bedingtheit des Zwanges den Unterthanen gegenüber erstrebt, wird
deshalb am zweckmäſsigsten von ihnen gleich von vornherein nur Geld-
leistungen verlangen. Der Geldforderung gegenüber giebt es über-
haupt denjenigen Widerstand nicht, den die Unmöglichkeit, ander-
weitige Leistungen absolut zu erzwingen, gelegentlich des Anspruchs
auf solche erzeugen mag. Es ist deshalb von innerlicher und äuſser-
licher Nützlichkeit, ein Quantum von Forderungen, denen gegenüber
jegliche Art von Widerstand zu befürchten ist, auf bloſses Geld zu
reduzieren. Vielleicht ist dies einer der tiefgelegenen Gründe, wes-
halb wir im allgemeinen das despotische Regime oft mit einer Be-
günstigung der Geldwirtschaft verbunden sehen (die italienischen
Despotien z. B. hatten die durchgängige Tendenz, die Domänen zu
veräuſsern), und weshalb das Merkantilsystem mit seiner gesteigerten
Wertung des Geldes in der Zeit der unumschränktesten Fürstenmacht
ins Leben gerufen wurde. So ist von allen Forderungen die auf Geld
gerichtete diejenige, deren Erfüllung am wenigsten in den guten Willen
des Verpflichteten gestellt ist. Ihr gegenüber erlahmt die Freiheit, die
allen anderen gegenüber besteht und deren Beweis und Bewährung
nur davon abhängt, was man dafür auf sich zu nehmen willens ist.
Auch widerspricht dem durchaus nicht die anderweitig so sehr hervor-
zuhebende Thatsache, daſs die Umwandlung der Naturalleistung in
Geldleistung eine Befreiung des Individuums zu bedeuten pflegt. Denn
der kluge Despotismus wird immer diejenige Form für seine Forde-
rung wählen, welche dem Unterthanen möglichste Freiheit in seinen
rein individuellen Beziehungen
läſst. Die furchtbaren
Tyrannien der italienischen Renaissance sind doch zugleich die Pflanz-
stätten der vollkommensten und freiesten Ausbildung des Individuums
in seinen idealen und Privatinteressen geworden, und zu allen Zeiten —
[419] vom römischen Kaisertum bis zu Napoleon III. — hat der politische
Despotismus in einem ausschweifenden privaten Libertinismus seine
Ergänzung gefunden. Der Despotismus wird um seines eignen Vor-
teils willen seine Forderungen auf dasjenige beschränken, was ihm
wesentlich ist, und Maſs und Art desselben dadurch erträglich machen,
daſs er in allem übrigen möglichst groſse Freiheit giebt. Die Forde-
rung der Geldleistung vereinigt beide Gesichtspunkte in der denkbar
zweckmäſsigsten Weise: die Freiheit, die sie nach der rein privaten
Seite hin gestattet, verhindert absolut nicht die Entrechtung nach der
politischen, die sie so oft vollbracht hat.


Neben diesem Typus von Fällen, in denen der Geldablösung
grade eine Herabdrückung des Verpflichteten entspricht, steht eine
zweite Ergänzung der im vorigen Kapitel gewonnenen Resultate. Wir
haben gesehen, welchen Fortschritt es für den Fronbauern bedeutete,
wenn er seine Dienste durch Geldzinsung ablösen konnte. Der ent-
gegengesetzte Erfolg tritt nun für ihn ein, sobald die Umsetzung des
Verhältnisses in Geldform von der anderen Seite her geschieht, d. h. sobald
der Grundherr ihm das Stück Land abkauft, das er bisher zu besseren
oder schlechteren Rechten besessen hat. Die Verbote, die im vorigen
Jahrhundert und bis tief in dieses hinein auf dem Gebiet des alten
Deutschen Reiches gegen das Auskaufen der Bauern ergehen, haben
zwar wesentlich fiskalische und ganz allgemeine agrarpolitische Gründe;
allein gelegentlich scheint doch das Gefühl mitgewirkt zu haben, daſs
dem Bauern ein Unrecht damit geschieht, wenn man ihm sein Land
selbst gegen volle Entschädigung in Geld abnimmt. Man mag freilich
die Umsetzung eines Besitzstückes in Geld zunächst als eine Befreiung
empfinden. Mit Hülfe des Geldes können wir den Wert des Objektes
in jede beliebige Form gieſsen, während er vorher in diese eine ge-
bannt war; mit dem Gelde in der Tasche sind wir frei, während uns
vorher der Gegenstand von den Bedingungen seiner Konservierung
und Fruktifizierung abhängig machte. Die Verpflichtung gegen die
Sache scheint sich so von der gegen eine Person gar nicht prinzipiell
zu unterscheiden, denn nicht weniger streng bestimmt jene als diese
unser Thun und Lassen, wenn wir die empfindlichsten Folgen ver-
meiden wollen: erst die Reduktion des ganzen Verhältnisses auf Geld —
mögen wir es nun in einem Fall nehmen, im anderen geben — löst
uns aus den Determinationen, die uns von einem Auſser-Uns gekommen
sind. So geben die häufigen Zugeldesetzungen des Bauern im vorigen
Jahrhundert ihm zwar eine momentane Freiheit. Allein sie nehmen
ihm das Unbezahlbare, das der Freiheit erst ihren Wert giebt: das
zuverlässige Objekt persönlicher Bethätigung. In dem Lande steckte
27*
[420] für den Bauern noch etwas ganz anderes als der bloſse Vermögenswert:
es war für ihn die Möglichkeit nützlichen Wirkens, ein Zentrum der
Interessen, ein Richtung gebender Lebensinhalt, den er verlor, sobald
er statt des Bodens nur seinen Wert in Geld besaſs. Grade die Re-
duktion seines Landbesitzes auf dessen bloſsen Geldwert stöſst ihn auf
den Weg des Proletariertums. Eine andere Stufe der Agrarverhältnisse
zeigt die gleiche Entwicklungsform. Auf Bauerngütern z. B. in Olden-
burg herrscht vielfach noch das Heuermannsverhältnis; der Heuermann
ist verpflichtet, dem Bauern eine bestimmte Anzahl von Tagen im
Jahre Arbeit zu leisten, und zwar für einen geringeren Lohn als den
der freien Tagelöhner; dafür erhält er vom Bauern Wohnung, Land-
pacht, Fuhren u. s. w. zu einem billigeren Preise als dem ortsüblichen.
Es ist also, wenigstens partiell, ein Austausch von Naturalwerten. Von
diesem Verhältnis nun wird berichtet, es charakterisiere sich durch die
soziale Gleichstellung zwischen dem Bauern und dem Heuerling: dieser
habe nicht das Gefühl, ein durch seine weniger vermögende Lage zur
Lohnarbeit gezwungener Mann zu sein; zugleich aber, daſs die vor-
dringende Geldwirtschaft dieses Verhältnis zerstöre, und daſs die Um-
wandlung des naturalen Tausches der Dienste in eine glatte Bezahlung
dieser den Heuermann deklassiere — wenngleich er auf diese Weise
doch eine gewisse Freiheit des Schaltens mit seinem Arbeitsertrag
gegenüber der Gebundenheit an vorherbestimmte naturale Empfänge
gewinnen müſste. Dasselbe Gebiet zeigt dieselbe Entwicklung noch an
einer anderen Stelle. So lange die Drescher auf den Gütern durch
einen bestimmten Anteil am Erdrusch gelohnt wurden, hatten sie ein
lebhaftes persönliches Interesse am Gedeihen der Wirtschaft des Herrn.
Die Dreschmaschine verdrängte diese Löhnungsart, und der dafür ein-
geführte Geldlohn läſst es zu jenem persönlichen Bande zwischen Herrn
und Arbeiter nicht kommen, aus dem der letztere ein Selbstgefühl und
einen sittlichen Halt, ganz anders als aus dem erhöhten Geldeinkommen,
gezogen hatte.


Damit zeigt sich an der Bedeutung, welche das Geld für den Ge-
winn individueller Freiheit hat, eine sehr folgenreiche Bestimmung des
Freiheitsbegriffes. Die Freiheit scheint zunächst bloſs negativen Cha-
rakter zu tragen; nur im Gegensatz zu einer Bindung hat sie ihren
Sinn, sie ist immer Freiheit von etwas und erfüllt ihren Begriff, indem
sie die Abwesenheit von Hindernissen ausspricht. Allein in dieser
negativen Bedeutung verharrt sie nicht; sie wäre ohne Sinn und Wert,
wenn das Abstreifen der Bindung nicht sogleich durch einen Zuwachs
an Besitz oder Macht ergänzt würde: wenn sie Freiheit von etwas ist,
so ist sie doch zugleich Freiheit zu etwas. Erscheinungen der mannig-
[421] faltigsten Gebiete bestätigen das. Wo im politischen Leben eine Partei
Freiheit verlangt oder erlangt, da handelt es sich eigentlich gar nicht
um die Freiheit selbst, sondern um diejenigen positiven Gewinne,
Machtsteigerungen, Ausbreitungen, die ihr bisher verschlossen waren.
Die „Freiheit“, die die französische Revolution dem dritten Stande
verschaffte, hatte ihre Bedeutung darin, daſs ein vierter Stand da war,
bezw. sich entwickelte, den jener nun „frei“ für sich arbeiten lassen
konnte. Die Freiheit der Kirche bedeutet unmittelbar die Ausdehnung
ihrer Machtsphäre; nach der Seite ihrer „Lehrfreiheit“ z. B., daſs der
Staat Bürger erhält, welche von ihr geprägt sind und unter ihrer
Suggestion stehen. An die Befreiung des unterthänigen Bauern schloſs
sich in ganz Europa unmittelbar das Bestreben, ihn auch zum Eigen-
tümer seiner Scholle zu machen. Wo wirklich der rein negative Sinn
der Freiheit wirksam wird, da gilt sie deshalb als Unvollkommenheit
und Herabsetzung. Giordano Bruno, in seiner Begeisterung für das
einheitlich-gesetzmäſsige Leben des Kosmos, hält die Freiheit des Willens
für einen Mangel, so daſs nur der Mensch in seiner Unvollkommenheit
sie besäſse, Gott aber allein Notwendigkeit zukäme. Und nach diesem
ganz abstrakten ein ganz konkretes Beispiel: das Land der preuſsischen
Kossäten befand sich auſserhalb der Flur, auf der die Bauernäcker im
Gemenge lagen. Da diese letzteren nur nach gemeinsamer Regel be-
arbeitet werden konnten, so hat der Kossät viel mehr individuelle
Freiheit; allein er steht auſserhalb des Verbandes, er hat nicht die
positive Freiheit, in Flursachen mit zu beschlieſsen, sondern nur die
negative, durch keinen Beschluſs gebunden zu sein. Und dies be-
gründet es, daſs der Kossät es selbst bei bedeutendem Besitz nur zu
einer gedrückten und wenig angesehenen Stellung bringt. Die Frei-
heit ist eben an sich eine leere Form, die erst mit und an einer
Steigerung anderweitiger Lebensinhalte wirksam, lebendig, wertvoll
wird. Wenn wir die Vorgänge, durch welche Freiheit gewonnen wird,
zergliedern, so bemerken wir stets neben ihrer formalen, den reinen
Begriff der Freiheit darstellenden Seite, eine materiell bestimmte,
welche aber, indem sie jene zu positiver Bedeutung ergänzt, zugleich
ihrerseits eine gewisse Beschränkung enthält, eine Direktive, was nun
mit der Freiheit positiv anzufangen wäre. Es würden sich nun alle
Akte, mit denen Freiheit gewonnen wird, in eine Skala gliedern lassen,
von dem Gesichtspunkt aus: wie erheblich ihr materialer Inhalt und
Gewinn ist, im Verhältnis zu ihrem formalen und negativen Momente
der Befreiung von bisherigen Bindungen. Bei dem jungen Manne,
z. B., der, aus dem Zwange der Schule entlassen, in die studentische
Freiheit eintritt, ist das letztere Moment das betontere, und die neue
[422] Substanz des Lebens und Strebens, die dessen positive Seite bildet,
zunächst sehr unbestimmt und vieldeutig; so daſs der Student, weil die
bloſse Freiheit etwas ganz leeres und eigentlich unerträgliches ist, sich
im Komment freiwillig einen Zwang stärkster Art erzeugt. Ganz anders
liegt das Verhältnis bei einem Kaufmann, der von einer lästigen Handels-
beschränkung befreit wird; hier ist das neue Thun, um dessentwillen
jene Befreiung wertvoll ist, seinem Inhalt und seiner Direktive nach
sehr bestimmt, er bleibt gar nicht bei der bloſsen Freiheit stehen,
sondern weiſs sofort, wozu er sie unvermeidlich zu benutzen hat. Bei
einem Mädchen, die aus der einengenden Ordnung des Elternhauses
heraustritt, um sich eine ökonomische Selbständigkeit zu gründen, hat
die Freiheit einen ganz andern positiven Sinn nach Quantität und
Qualität, als wenn sie „gefreit“ wird und die Führung eines eigenen
Hauses sich an jene Befreiung als ihr Wesen und Zweck anschlieſst.
Kurz jeder Befreiungsakt zeigt eine besondere Proportion zwischen der
Betonung und Ausdehnung des damit überwundenen Zustandes und der
des damit gewonnenen. Würde man eine solche Reihe je nach dem
allmählich steigenden Übergewicht des einen Momentes über das andere
wirklich konstruieren können, so würde die durch den Geldverkauf
eines Objekts gewonnene Freiheit an einem Endpunkt derselben
stehen — wenigstens dann, wenn das Objekt bisher den Lebensinhalt
nach sich bestimmt hat. Wer sein Landgut gegen ein Haus in der
Stadt vertauscht, der ist damit allerdings von den Mühseligkeiten und
Sorgen der Landwirtschaft befreit; aber diese Freiheit bedeutet, daſs
er sich sogleich den Aufgaben und Chancen des städtischen Grund-
besitzes zu widmen hat. Verkauft er aber sein Gut gegen Geld, so
ist er nun wirklich frei, das negative Moment der Befreiung von den
bisherigen Lasten ist das überwiegende, seine neu geschaffene Situation
als Geldbesitzer enthält nur ein Minimum bestimmter Direktiven für
die Zukunft. In der Befreiung vom Zwange des Objekts durch den
Geldverkauf ist das positive Moment derselben auf seinen Grenzwert
hinabgesunken; das Geld hat die Aufgabe gelöst, die Freiheit des
Menschen nahezu in ihrem rein negativen Sinne zu verwirklichen.


So ordnet sich die ungeheure Gefahr, die die Zugeldesetzung für
den Bauern bedeutete, einem allgemeinen System der menschlichen
Freiheit ein. Allerdings war es Freiheit, was er gewann; aber nur
Freiheit von etwas, nicht Freiheit zu etwas; allerdings scheinbar Frei-
heit zu allem — weil sie eben bloſs negativ war —, thatsächlich aber
eben deshalb ohne jede Direktive, ohne jeden bestimmten und be-
stimmenden Inhalt und deshalb zu jener Leerheit und Haltlosigkeit
disponierend, die jedem zufälligen, launenhaften, verführerischen Impuls
[423] Ausbreitung ohne Widerstand gestattete — entsprechend dem Schicksal
des ungefesteten Menschen, der seine Götter dahingegeben hat und
dessen so gewonnene „Freiheit“ nur den Raum giebt, jeden beliebigen
Augenblickswert zum Götzen aufwachsen zu lassen. Nicht anders er-
geht es manchem Kaufmann, für den, von den Sorgen und Arbeiten
seines Geschäftes belastet, der Verkauf desselben das ersehnteste Ziel
ist. Wenn er dann aber endlich, mit dem Erlös dafür in der Hand,
wirklich „frei“ ist, so stellt sich oft genug jene typische Langeweile,
Lebenszwecklosigkeit, innere Unruhe des Rentiers ein, die ihn zu den
wunderlichsten und aller inneren und äuſseren Zweckmäſsigkeit zu-
widerlaufendsten Beschäftigungsversuchen treibt, um nur seiner „Frei-
heit“ einen substanziellen Inhalt einzubauen. Ganz so verhält es sich
vielfach mit dem Beamten, der nur möglichst rasch eine Stufe er-
reichen will, deren Pension ihm ein „freies“ Leben ermöglicht. So
erscheint uns mitten in den Qualen und Ängsten der Welt oft der
Zustand bloſser Ruhe als das absolute Ideal, bis der Genuſs derselben
uns sehr bald belehrt, daſs die Ruhe vor bestimmten Dingen nur wert-
voll, ja, nur erträglich ist, wenn sie zugleich die Ruhe zu bestimmten
Dingen ist. Während sowohl der ausgekaufte Bauer wie der Rentier
gewordene Kaufmann oder der pensionierte Beamte ihre Persönlichkeit
aus dem Zwange befreit zu haben scheinen, den die spezifischen Be-
dingungen ihrer Besitztümer oder Positionen ihnen anthaten, ist — in
den hier vorausgesetzten Fällen — thatsächlich das Umgekehrte ein-
getreten: sie haben die positiven Inhalte ihres Ich für das Geld dahin-
gegeben, das ihnen keine ebensolchen gewährt. Sehr bezeichnend er-
zählt ein französischer Reisender von den griechischen Bäuerinnen, die
Stickereien fabrizieren und auſserordentlich an ihren sehr mühseligen
Arbeiten hängen: elles les donnent, elles les reprennent, elles regar-
dent l’argent, puis leur ouvrage, puis l’argent; l’argent finit toujours
par avoir raison, et elles s’en vont désolées de se voir si riches. Weil
die Freiheit, die das Geld giebt, nur eine potenzielle, formale, negative
ist, so bedeutet sein Eintausch gegen positive Lebensinhalte — wenn
sich nicht sogleich andere von anderen Seiten her an die leergewordene
Stelle schieben — den Verkauf von Persönlichkeitswerten. Ganz ent-
sprechend dem Verhalten der griechischen Bäuerinnen berichten die
Ethnologen von der auſserordentlichen Schwierigkeit, bei Naturvölkern
Gebrauchsgegenstände zu erstehen. Denn jeder derselben trägt — so
hat man dies begründet — nach Ursprung und Bestimmung aus-
gesprochen individuelles Gepräge; die ungeheure Mühe, die auf Her-
stellung und Ausschmückung des Objekts verwendet wird, und sein
Verbleiben im persönlichen Gebrauch läſst es zu einem Bestandstück
[424] der Person selbst werden, von dem sich zu trennen, einem der Art
nach gleichen Widerstand begegnet, wie von einem Körpergliede; so
daſs statt der Expansion des Ich — die die unendlichen „Möglich-
keiten“ des Geldbesitzes ebenso lockend wie undeutlich versprechen —
eine Kontraktion desselben eintritt. Die Klarheit hierüber ist nicht
ohne Belang für das Verständnis unserer Zeit. Seit es überhaupt Geld
giebt, ist, im groſsen und ganzen, jedermann geneigter zu verkaufen
als zu kaufen. Mit steigender Geldwirtschaft wird diese Geneigtheit
immer stärker und ergreift immer mehr von denjenigen Objekten,
welche gar nicht zum Verkauf hergestellt sind, sondern den Charakter
ruhenden Besitzes tragen und vielmehr bestimmt scheinen, die Persön-
lichkeit an sich zu knüpfen, als sich in raschem Wechsel von ihr zu
lösen: Geschäfte und Betriebe, Kunstwerke und Sammlungen, Grund-
besitz, Rechte und Positionen allerhand Art. Indem alles dies immer
kürzere Zeit in einer Hand bleibt, die Persönlichkeit immer schneller
und öfter aus der spezifischen Bedingtheit solchen Besitzes heraustritt,
wird freilich ein auſserordentliches Gesamtmaſs von Freiheit verwirk-
licht; allein weil nur das Geld mit seiner Unbestimmtheit und inneren
Direktionslosigkeit die nächste Seite dieser Befreiungsvorgänge ist, so
bleiben sie bei der Thatsache der Entwurzelung stehen und leiten oft
genug zu keinem neuen Wurzelschlagen über. Ja, indem jene Besitze
bei sehr rapidem Geldverkehr überhaupt nicht mehr unter der Ka-
tegorie eines definitiven Lebensinhaltes angesehen werden, so kommt
es von vornherein nicht zu jener innerlichen Bindung, Verschmelzung,
Hingabe, die der Persönlichkeit zwar eindeutig determinierende Grenzen,
aber zugleich Halt und Inhalt giebt. So erklärt es sich, daſs unsere
Zeit, die, als ganze betrachtet, sicher mehr Freiheit besitzt als irgend
eine frühere, dieser Freiheit doch so wenig froh wird. Das Geld er-
möglicht nicht nur, uns von den Bindungen Anderen gegenüber, sondern
von denen, die aus unserem eigenen Besitz quellen, loszukaufen; es
befreit uns nicht nur, indem wir es geben, sondern auch, indem wir
es nehmen. So gewinnen fortwährende Befreiungsprozesse einen auſser-
ordentlich breiten Raum im modernen Leben, auch an diesem Punkte
den tieferen Zusammenhang der Geldwirtschaft mit den Tendenzen des
Liberalismus enthüllend, freilich auch einen der Gründe aufweisend,
weshalb die Freiheit des Liberalismus so manche Haltlosigkeit, Wirrnis
und Unbefriedigung erzeugt hat.


Indem so viele Dinge aber, fortwährend durch Geld abgelöst, ihre
Richtung gebende Bedeutung für uns verlieren, findet diese Ver-
änderung unserer Beziehung zu ihnen eine praktische Reaktion.
Wenn sich jene geldwirtschaftliche Unsicherheit und Treulosigkeit
[425] gegenüber den spezifischen Besitzen in dem so sehr modernen Ge-
fühle rächt: daſs die Hoffnung der Befriedigung, die sich an ein
Erlangtes knüpft, im nächsten Augenblick schon darüber hinauswächst,
daſs der Kern und Sinn des Lebens uns immer von neuem aus der
Hand gleitet — so entspricht dem eine tiefe Sehnsucht, den Dingen
eine neue Bedeutsamkeit, einen tieferen Sinn, einen Eigenwert zu ver-
leihen. Die Leichtigkeit im Gewinn und Verlust der Besitze, die
Flüchtigkeit ihres Bestandes, Genossenwerdens und Wechselns, kurz:
die Folgen und Korrelationen des Geldes haben sie ausgehöhlt und
vergleichgültigt. Aber die lebhaften Erregungen in der Kunst, das Suchen
nach neuen Stilen, nach Stil überhaupt, der Symbolismus, ja, die
Theosophie, sind Symptome für das Verlangen nach einer neuen, tiefer
empfindbaren Bedeutung der Dinge — sei es, daſs jedes für sich wert-
vollere, seelenvollere Betonung erhalte, sei es, daſs es diese durch die
Stiftung eines Zusammenhanges, durch die Erlösung aus ihrer Atomi-
sierung gewinne. Wenn der moderne Mensch frei ist — frei, weil er
alles verkaufen, und frei, weil er alles kaufen kann — so sucht er
nun in problematischen Velleitäten an den Objekten selber diejenige
Kraft, Festigkeit, seelische Einheit, die er selbst durch das vermöge
des Geldes veränderte Verhältnis zu ihnen verloren hat. Wenn wir
früher sahen, daſs durch das Geld der Mensch sich aus dem Befangen-
sein in den Dingen erlöst, so ist andrerseits der Inhalt seines Ich,
Richtung und Bestimmtheit desselben doch mit konkreten Besitztümern
soweit solidarisch, daſs das fortwährende Verkaufen und Wechseln
derselben, ja, die bloſse Thatsache der Verkaufsmöglichkeit oft genug
einen Verkauf und eine Entwurzelung personaler Werte bedeutet.


Daſs der Geldwert der Dinge nicht restlos das ersetzt, was wir
an ihnen selbst besitzen, daſs sie Seiten haben, die nicht in Geld aus-
drückbar sind — darüber will die Geldwirtschaft mehr und mehr
hinwegtäuschen. Wo es dennoch nicht zu verkennen ist, daſs die in
Geld erfolgende Schätzung und Hingabe sie der abschleifenden Ba-
nalität des täglichen Verkehrs nicht entziehen kann, da sucht man
wenigstens manchmal eine Geldform dafür, die von der alltäglichen
weit absteht. Die älteste italische Münze war das Kupferstück ohne
bestimmte Form, das deshalb nicht gezählt, sondern gewogen wurde.
Und nun wurde bis in die Kaiserzeit hinein, bei einem unvergleichlich
verfeinerten Geldwesen, dieses formlose Kupferstück sowohl zu religiösen
Spenden, wie als juristisches Symbol mit Vorliebe verwendet. Daſs
der neben dem Geldwert liegende Wert der Dinge sich dennoch An-
erkennung erzwingt, liegt besonders nahe, wenn nicht eine Substanz,
sondern eine persönlich ausgeübte Funktion verkauft wird, und wenn
[426] diese nicht nur in ihrer äuſserlichen Verwirklichung, sondern auch
ihrem Inhalte nach individuellen Charakter trägt. Die folgende Er-
scheinungsreihe mag das klar machen. Wo Geld und Leistungen aus-
getauscht werden, da beansprucht zwar der Geldgeber nur das festgestellte
Objekt, die sachlich umschriebene Leistung. Der sachlich Leistende da-
gegen verlangt, wünscht wenigstens, in vielen Fällen noch etwas mehr
auſser dem Gelde. Wer in ein Konzert geht, ist zufrieden, wenn er für
sein Geld die erwarteten Stücke in erwarteter Vollendung hört; der
Künstler ist aber mit dem Gelde nicht zufrieden, er verlangt auch Beifall.
Wer sich malen läſst, ist befriedigt, wenn er das hinreichend gelungene
Porträt in Händen hat; der Maler aber nicht, wenn er den verabredeten
Preis in Händen hat, sondern erst, wenn ihm noch dazu subjektive An-
erkennung und übersubjektiver Ruhm zu teil wird. Der Minister ver-
langt nicht nur den Gehalt, sondern auch den Dank des Fürsten und
der Nation, der Lehrer und der Geistliche nicht nur ihre Bezüge,
sondern auch Pietät und Anhänglichkeit, ja, der bessere Kaufmann
will nicht nur Geld für seine Ware, sondern auch, daſs der Käufer
zufrieden sei — und das keineswegs immer nur, damit er wieder-
komme. Kurz, sehr viele Leistende beanspruchen auſser dem Gelde,
das sie objektiv als das zureichende Äquivalent ihrer Leistung an-
erkennen, doch noch eine persönliche Anerkennung, irgend ein sub-
jektives Bezeigen des Bezahlers, das jenseits seiner verabredeten
Geldleistung steht und diese für das Gefühl des Empfangenden erst
zur vollen Äquivalenz mit seiner Leistung ergänzt. Hier haben wir
das genaue Gegenstück der Erscheinung, die ich im dritten Kapitel
als das Superadditum des Geldbesitzes beschrieb. Dort wuchs dem
Geldgebenden auſser dem präzisen Gegenwert seiner Aufwendung noch
ein Mehr aus dem über jeden einzelnen Objektwert hinausgreifenden
Charakter des Geldes zu. Aber eben seinem Wesen, das am meisten
von allen empirischen Dingen, mit Jakob Böhme zu reden, Wurf und
Gegenwurf miteinander verbindet, entspricht diese Ausgleichung: personale
Darbietungen, die grade über ihr Geldäquivalent hinaus noch ein Plus
fordern. Und wie dort nach der Seite des Geldes, so drückt sich hier
nach der Seite der Leistung der Anspruch über den direkten Austausch
hinaus in einer Sphäre aus, die die Persönlichkeit als der geometrische
Ort ihrer Ansprüche umgiebt und jenseits jedes einzelnen von diesen
besteht. Der Saldo, der auf diese Weise bei dem Austausch von Geld
und personaler Leistung zu gunsten der letzteren bleibt, kann so sehr
als das Überwiegende empfunden werden, daſs die Annahme eines
Geldäquivalentes schon die Leistung und damit die Person herabzu-
setzen scheint: als würde, was man an Geld erhält, jenem idealen
[427] Lohne abgeschrieben, von dem man sich doch keinen Abzug gefallen
lassen will; so wissen wir von Lord Byron, daſs er manche Verleger-
honorare nur mit den peinlichsten Empfindungen angenommen hat.
Gegenüber allen aus dem Kern der Persönlichkeit quellenden Be-
thätigungen ist es eine oberflächliche, die wirkliche Gefühlsweise gar
nicht treffende Vorstellung, daſs man „seinen Lohn dahin haben“ könne.
Kann man etwa die Aufopferungen der Liebe durch irgend ein Thun,
selbst ein gleich wertvolles, aus gleich starkem Gefühle flieſsendes,
völlig vergelten? Es bleibt immer ein Verpflichtungsverhältnis des
Ganzen der Persönlichkeiten bestehen, das vielleicht gegenseitig ist,
aber sich der Aufrechnung auch durch die Gegenseitigkeit prinzipiell
entzieht. Ebensowenig kann ein Vergehen, soweit es innerlicher Natur
ist, durch die Strafe so gesühnt werden, als ob es nun ungeschehen
wäre, wie etwa der äuſserlich angerichtete Schaden es kann. Wenn
der Schuldige nach erduldeter Strafe eine völlige Entsündigung fühlt,
so entsteht dies nicht aus einem Quittsein mit der Sünde durch die
gezahlte Strafe, sondern aus einer durch diese bewirkten innerlichen
Umwandlung, die die Wurzel der Sünde zerstört. Die bloſse Strafe
aber zeigt ihre Unfähigkeit, die Missethat wirklich zu begleichen, in
dem weiterwirkenden Miſstrauen und der Deklassierung, die der Sünder
trotz ihrer noch erfährt. Was ich früher ausführte: daſs es zwischen
qualitativ verschiedenen Elementen keine unmittelbare Äquivalenz wie
zwischen Aktiven und Passiven eines Kontokorrents geben könne —
das gewinnt seine gründlichste Bewährung an den Werten, in denen
sich die individuelle Persönlichkeit verkörpert, und wird in dem Maſse
ungültiger, in dem die Werte von dieser Wurzel gelöst, selbständig-
dinglichen Charakter annehmen, sich so ins unendliche dem Geld
nähernd, das der schlechthin inkommensurablen Persönlichkeit gegen-
über das schlechthin Kommensurable, weil das absolut Sachliche ist.
Es hat einerseits etwas grauenhaftes, sich die tiefe gegenseitige Un-
angemessenheit der Dinge, Leistungen, psychischen Werte vorzustellen,
die wir immerfort wie wirkliche Äquivalente gegeneinander einsetzen;
andrerseits giebt grade diese Unvergleichbarkeit von Lebenselementen,
ihr Recht, von keinem angebbaren Äquivalent genau gedeckt zu werden,
dem Leben doch einen unersetzlichen Reiz und Reichtum. Daſs die
personalen Werte durch das Geld, für das sie dargeboten werden, gar
nicht ausgeglichen werden, mag einerseits der Grund von unzähligen
Ungerechtigkeiten und tragischen Situationen sein; aber andrerseits er-
hebt sich doch grade daran das Bewuſstsein von dem Werte des Per-
sönlichen, der Stolz des individuellen Lebensinhaltes, sich durch keine
Steigerung bloſs quantitativer Werte aufgewogen zu wissen. Diese
[428] Inadäquatheit wird — wie wir es schon so oft als typisch erkannten —
bei sehr hohen Summen als Gegenwerten gemildert, weil diese ihrerseits
von jenem Superadditum umschwebt werden, von phantastischen, über
die Zahlbestimmtheit hinausgreifenden Möglichkeiten, die, in ihrer Art,
der in die Einzelleistung hineingegebenen und doch über jede Einzel-
leistung hinausreichenden Persönlichkeit korrespondieren. Deshalb mag
man gewisse Objekte oder Leistungen für sehr vieles Geld wohl hin-
geben; aber, wenn dies nicht erlangbar ist, so verschenkt man sie
lieber, als daſs man wenig Geld dafür nehme. Denn nur dies, aber
nicht jenes deklassiert sie.


Nun ist weder das Hinausragen der Leistung über ihr Geld-
äquivalent immer von merkbarer Gröſse, noch, wenn es dies ist, immer
so zum Ausdruck zu bringen, wie in den angeführten Fällen des
Künstlers und des Arztes, des Beamten und des Gelehrten. Wenn die
Leistung sehr unindividuell ist und die Persönlichkeit sich mit ihr nicht
aus dem Durchschnitt heraushebt, wie etwa bei dem ungelernten Ar-
beiter, so fehlt der Punkt der Inkommensurabilität, das Hineinwachsen
der mit nichts vergleichbaren Persönlichkeit in das Werk, die sich
immer nur in einer irgendwie singularen Qualität zu erkennen geben
kann. Andrerseits, ob der Leistende eine Begleichung jenes Saldo auf
die angegebenen Arten erlangt, hängt im Prinzip davon ab, ob seine
soziale Stellung ihm überhaupt derartige ideale Anerkennungen zu-
gängig macht; wo sie wegen seiner allgemeinen Untergeordnetheit aus-
bleiben, erscheint er natürlich um so herabgewürdigter, je persönlicheres
er für Geld und nur für Geld zu geben gezwungen ist. So wurden
die mittelalterlichen Spielleute verachtet mit der gelegentlichen Be-
gründung, daſs sie auf Bestellung Lustiges wie Trauriges sängen, ihre
persönlichen Empfindungen damit prostituierten, daſs sie „Geld für
Ehre nahmen“. Um die Ausschlieſsung jenes idealen Lohnes aufrecht-
zuerhalten, war es deshalb durchaus konsequent, daſs man sie wenig-
stens in Bezug auf den ökonomischen Lohn auch streng gewissenhaft
behandelte: obgleich die Spielleute allenthalben schlechtes Recht hatten,
so wurde ihnen doch, wie ich schon erwähnte, grade in Bezug auf Hab
und Gut unparteilich Recht gemessen. Wo der eigentlich personale Wert
schlechthin gegen Geld, ohne eine darüber hinausgehende ideelle Ent-
schädigung, fortgegeben werden muſs, da findet dann eine Lockerung,
gleichsam ein Substanzverlust des individuellen Lebens statt. Das Gefühl
der Thatsache, daſs im Geldverkehr personale Werte für einen inadä-
quaten Gegenwert ausgetauscht werden, ist sicher einer der Gründe, aus
denen in Kreisen von wirklich vornehmer und stolzer Gesinnung der
Geldverkehr so oft perhorresziert und sein Gegenpol, die Landwirtschaft,
[429] als das allein geziemende gepriesen worden ist. So z. B. bei den Adligen
der schottischen Hochlande, die bis zum vorigen Jahrhundert ein ganz iso-
liertes und rein autochthones Dasein führten, das aber ganz unter dem
Ideal der denkbar höchsten persönlichen Freiheit stand. Denn so sehr
das Geld diese fördern kann, wenn erst einmal ein eng gesponnener
Verkehr die Menschen in sich verwebt und eingeschlungen hat, so stark
muſs man doch vom Standpunkt einer freien, auf sich gestellten und
sich selbst genügenden Existenz aus empfinden, daſs der Austausch von
Besitz und Leistungen gegen Geld das Leben entpersonalisiert. Wenn
die subjektiven und die objektiven Seiten des Lebens sich erst ge-
sondert haben, so kann freilich die Entpersonalisierung, die letzteren
immer entschiedener ergreifend, der reinen Herausarbeitung der ersteren
dienen; bei einer primitiveren und einheitlicheren Existenz muſs es
umgekehrt als eine Unverhältnismäſsigkeit und ein Verlust gelten, wenn
Besitz und Leistung, bisher nur persönlich genossen oder persönlich
gewährt, bloſs zum Element eines Geldverkehrs und zum Gegenstand
seiner objektiven Gesetzmäſsigkeiten werden. Bei dem Übergange der
mittelalterlichen Grundherrschaft des Ritters zu der modernen Land-
wirtschaft ist zu konstatieren, daſs seine Standesbegriffe sich zwar da-
hin erweitern: auſser der Kriegsthätigkeit sei doch auch Erwerbsthätig-
keit für ihn zulässig — aber dies sei eben nur der Betrieb der eigenen
Güter; ein Erwerb, dessen Eigenart ihn nun den Kaufmann, den
Händler womöglich noch mehr verachten läſst, als es vor seiner Wen-
dung zum Ökonomischen der Fall war. Das spezifische Gefühl der
Würdelosigkeit des Geldverkehrs tritt hier grade deshalb so schroff
hervor, weil die beiden Wirtschaftsarten jetzt nahe aneinander gerückt
sind. Es ist eine der durchgehendsten soziologischen Erscheinungen,
daſs der Gegensatz zwischen zwei Elementen nie stärker hervortritt,
als wenn derselbe sich von einem gemeinsamen Boden aus entwickelt:
Sekten der gleichen Religion pflegen sich intensiver zu hassen als ganz
verschiedene Religionsgemeinschaften, die Feindschaften kleiner benach-
barter Stadtstaaten waren, die ganze bekannte Geschichte hindurch,
leidenschaftlicher als die groſser Staaten mit ihren räumlich und sach-
lich getrennten Interessengebieten, ja, man hat behauptet, daſs der
glühendste Haſs, den es giebt, der zwischen Blutsverwandten wäre.
Diese Steigerung des Antagonismus, der sich gleichsam von dem Hinter-
grund einer Gemeinsamkeit abhebt, scheint in manchen Fällen dann
ein Maximum zu erreichen, wenn die Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit
in der Zunahme begriffen ist und damit die Gefahr droht, daſs der
Unterschied und Gegensatz überhaupt verwischt werde, an dessen Be-
stand wenigstens eine der Parteien lebhaft interessiert ist. Je mehr
[430] ein tiefer- und ein höherstehendes Element sich einander nähern, desto
energischer wird das letztere die noch bestehenden Differenzpunkte
betonen, desto höher sie werten. So entsteht der leidenschaftliche und
aggressive Klassenhaſs nicht dann, wenn die Klassen noch durch un-
überbrückbare Klüfte geschieden sind, sondern erst in dem Augenblick, wo
die niedere Klasse sich schon etwas erhoben hat, die höhere einen Teil
ihres Prestige verloren hat und ein Nivellement ihrer diskutiert werden
kann. So empfand der Grundherr in seinem Umwandlungsprozeſs in den
wirtschaftstreibenden Gutsbesitzer eine gesteigerte Notwendigkeit, sich
von dem geldwirtschaftenden Kaufmann abzuscheiden. Er trieb Wirt-
schaft, aber zunächst doch nur für den eigenen Bedarf, er gab doch
nicht sein Eigen für Geld hin; und wenn er das that, so war es doch
schlieſslich nur das Produkt, er stellte sich doch nicht, wie der Kauf-
mann, mit der Unmittelbarkeit persönlicher Leistung in den Dienst
des Geldgebers; wie es von einem ähnlichen Motiv aus — wenngleich
unter dem wesentlichen Mitwirken anderer — dem spartanischen Voll-
bürger zwar gestattet war, Land zu besitzen, aber nicht es selbst zu
bebauen. Jenen Unterschied gegen andere Verkäufer zu betonen, war
im Interesse der aristokratischen Stellung deshalb so wichtig, weil das
Geldgeschäft demokratisch nivellierend wirkt; insbesondere wenn der
sozial Höherstehende der Geldnehmer, der Tieferstehende der Empfänger
der sachlichen Leistung ist, macht es die Parteien leicht miteinander
„gemein“. Deshalb empfindet der Aristokrat das Geldgeschäft als de-
klassierend, während der Bauer, wenn er statt seiner Naturalleistungen
dem Herrn in Geld zinst, dadurch ein Aufsteigen erfährt.


Das zeigt sich also auch an dem Geldverkauf personaler Werte
als das Unvergleichliche des Geldes, daſs es allen Entgegengesetztheiten
historisch-psychologischer Möglichkeiten sich leihend, mit seiner eigenen
Unentschiedenheit und Inhaltlosigkeit doch alle jene zu äuſserster Ent-
schiedenheit ausbildet. In der so gesteigerten praktischen Welt erscheint
das Geld, die verkörperte Relativität der Dinge, gleichsam als das Ab-
solute, das alles Relative mit seinen Gegensätzen umschlieſst und trägt.


[[431]]

III.


Die Bedeutung des Geldäquivalents der Arbeit ist auf diesen
Seiten so oft direkt und indirekt berührt, daſs ich hier nur noch eine
darauf bezügliche Prinzipienfrage abhandeln möchte: ob die Arbeit
selbst etwa der Wert schlechthin ist, der also das Wertmoment in
allen ökonomischen Einzelheiten ebenso in concreto bildet, wie das-
selbe in abstracto durch das Geld ausgedrückt wird. Die Bemühungen,
die Gesamtheit der wirtschaftlichen Werte aus einer einzigen Quelle
abzuleiten und auf einen einzigen Ausdruck zu reduzieren — auf die
Arbeit, die Kosten, den Nutzen u. s. w. — wären sicher nicht auf-
getreten, wenn nicht die Umsetzbarkeit aller jener Werte in Geld auf
eine Einheit ihres Wesens hingedeutet und als Pfand für deren Er-
kennbarkeit gedient hätte. Der Begriff des „Arbeitsgeldes“, der in sozia-
listischen Plänen auftaucht, drückt diesen Zusammenhang aus. Geleistete
Arbeit als der allein wertbildende Faktor giebt danach allein das Recht,
die Arbeitsprodukte Anderer zu beanspruchen, und dafür weiſs man
eben keine andere Form, als daſs man die Symbole und Anerkenntnisse
eines bestimmten Arbeitsquantums als Geld bezeichnet. Das Geld muſs
also selbst da als Einheitsform der Werte konserviert werden, wo seine
augenblickliche Beschaffenheit verworfen wird, weil deren Eigenleben
es hindere, der adäquate Ausdruck der fundamentalen Wertpotenz zu
sein. Wenn man selbst neben der Arbeit noch die Natur als Wert-
bildner zuläſst, da doch auch das aus ihr entnommene Material der
Arbeit Wert besitzt, und so, wie man sagte, die Arbeit zwar der Vater,
die Erde aber die Mutter des Reichtums ist — so muſs der sozia-
listische Gedankengang dennoch am Arbeitsgeld münden; denn da die
Schätze der Natur nicht mehr Privateigentum, sondern die gemeinsame,
jedem a priori in gleicher Weise zugängige Grundlage des Wirtschaftens
überhaupt sein sollen, so ist dasjenige, was jeder in den Tausch zu
geben hat, schlieſslich doch nur seine Arbeit. Er kann freilich, wenn
er mit Hülfe dieser ein wertvolles Naturprodukt eingetauscht hat und
dieses weiter vertauscht, dessen Stoffwert mit in Rechnung stellen;
[432] aber die Werthöhe desselben ist doch nur genau gleich dem Werte
seiner Arbeit, für die er es erworben hat, und diese bildet also für
das fragliche Naturprodukt das Maſs seines Tauschwertes. Wenn die
Arbeit so die letzte Instanz ist, auf die alle Wertbestimmung der Ob-
jekte zurückzugehen hat, so ist es eine Unangemessenheit und ein
Umweg, sie ihrerseits erst an einem Objekte von fremder Provenienz,
wie das Geld es ist, zu messen; vielmehr müſste man dann allerdings
eine Möglichkeit suchen, die Arbeitseinheit ganz rein und unmittelbar
in einem Symbol auszudrücken, das als Tausch- und Meſsmittel, als
Geld, fungierte.


Ohne von den angedeuteten Vereinheitlichungen des Wertes eine
als die allein legitime zu verkünden, möchte ich die Arbeitstheorie
wenigstens für die philosophisch interessanteste halten. In der Arbeit
gewinnen die Körperlichkeit und die Geistigkeit des Menschen, sein
Intellekt und sein Wille eine Einheitlichkeit, die diesen Potenzen ver-
sagt bleibt, solange man sie gleichsam in ruhendem Nebeneinander be-
trachtet; die Arbeit ist der einheitliche Strom, in dem sie sich wie
Quellflüsse mischen, die Geschiedenheit ihres Wesens in der Un-
geschiedenheit des Produktes auslöschend. Wäre sie wirklich der alleinige
Träger des Wertes, so würde der letztere damit in den letzten Ein-
heitspunkt unserer praktischen Natur eingesenkt, und dieser würde sich
den adäquatesten Ausdruck, den er in der äuſseren Realität finden
kann, erwählt haben. Im Hinblick auf diese Bedeutung der Arbeit
erscheint es mir eine untergeordnete Frage, ob man nicht der Arbeit
daraufhin den Wert abzusprechen habe, daſs sie doch vielmehr die
Werte erst erzeuge — wie die Maschine, die einen Stoff bearbeitet,
doch die Form nicht selbst besitzt, die sie diesem erteilt. Grade wenn
man nur den Produkten menschlicher Arbeit Wert zuspreche, könne
nicht sie selbst — die eine physiologische Funktion ist —, sondern
nur die Arbeitskraft Wert haben. Denn diese allerdings werde vom
Menschen erzeugt, nämlich durch die Unterhaltsmittel, die ihrerseits
menschlicher Arbeit entstammen. Daſs sie sich dann in wirkliche
Arbeit umsetzt, fordert ersichtlich nicht wiederum Arbeit, bedeutet
also selbst keinen Wert; dieser vielmehr haftet nun erst wieder an
den von solcher Arbeit bedingten Produkten. Ich halte dies indes
für eine im wesentlichen terminologische Angelegenheit. Denn da die
Arbeitskraft sicher kein Wert wäre, wenn sie latent bliebe und sich
nicht in wirkliches Arbeiten umsetzte, sondern erst in diesem wert-
bildend wirkt, so kann man für alle Zwecke der Berechnung und des
Ausdrucks die Arbeit für die Arbeitskraft einsetzen. Das wird auch
nicht durch die Überlegung geändert, daſs die als Nahrung konsu-
[433] mierten Werte nicht Arbeit, sondern nur Arbeitskraft erzeugen und
deshalb nur diese, als Trägerin jener aufgenommenen Werte, selbst
ein Wert sein könne. Die Nahrungsmittel können schon deshalb nicht
die zulängliche Ursache des vom Menschen verwirklichten Wertes sein,
weil dieser letztere den in den ersteren investierten übersteigt, da es
andernfalls nie zu einer Wertvermehrung kommen könnte. Die Schei-
dung zwischen Arbeitskraft und Arbeit ist nur für die Zwecke des Sozia-
lismus wichtig, weil sie die Theorie anschaulich macht, daſs der Arbeiter
nur einen Teil der Werte erhält, die er erzeugt. Seine Arbeit produ-
ziert mehr Werte, als in seiner Arbeitskraft, in Form der Unterhalts-
mittel, investiert sind; indem der Unternehmer die ganze Arbeitskraft
um den Wert der letzteren kauft, profitiert er das ganze Mehr, um
welches die schlieſslichen Arbeitsprodukte diesen Wert überragen.
Aber selbst von diesem Standpunkt aus scheint mir, man könnte, statt
der Arbeitskraft die Arbeit als Wert bezeichnend, innerhalb der letzteren
die Quanten gegeneinander abgrenzen, deren Werte einerseits als Lohn
zum Arbeiter zurückkehren, andrerseits den Gewinn des Unternehmers
ausmachen. Ich gehe hierauf also nicht weiter ein, sondern untersuche
im folgenden nur die nähere Bestimmung, unter welcher uns die Ar-
beitstheorie des Wertes so häufig entgegentritt: sie sucht einen Arbeits-
begriff, der für Muskelarbeit und geistige Arbeit gleichmäſsig gilt, und
mündet dabei thatsächlich auf der Muskelarbeit, als dem primären
Werte oder Wertproduzenten, der als Maſs jeglicher Arbeit überhaupt
zu gelten habe. Es wäre irrig, hierin nur proletarischen Trotz und
prinzipielle Entwürdigung geistiger Leistungen zu sehen. Vielmehr
wirken dazu tiefere und verwickeltere Ursachen.


Von dem Anteil des Geistes an der Arbeit ist zunächst behauptet
worden, daſs er kein „Aufwand“ sei, er fordere keinen Ersatz wegen
Abnutzung und erhöhe deshalb die Kosten des Produktes nicht; so
daſs als Begründerin des Tauschwertes nur die Muskelarbeit übrig
bleibe. Wenn man dem gegenüber hervorgehoben hat, daſs auch die
geistige Kraft erschöpfbar sei und ganz ebenso wie die körperliche
durch Ernährung erhalten und ersetzt werden müſste, so ist dabei das
Moment von Wahrheit übersehen, das jener Theorie, wenn auch nur
als instinktives Gefühl, zum Grunde liegen mag. Der Anteil des Geistes
an einem Arbeitsprodukt bedeutet nämlich zwei scharf zu unter-
scheidende Seiten desselben. Wenn ein Tischler einen Stuhl nach
einem längst bekannten Modell herstellt, so geht das freilich nicht
ohne einen Aufwand psychischer Thätigkeit ab, die Hand muſs vom
Bewuſstsein geleitet werden. Allein dies ist keineswegs die ganze in
dem Stuhl investierte Geistigkeit. Er wäre auch nicht herstellbar
Simmel, Philosophie des Geldes. 28
[434] ohne die geistige Thätigkeit desjenigen, der, vielleicht vor Generationen,
das Modell dazu ersonnen hat; auch die hiermit verbrauchte psychische
Kraft bildet eine praktische Bedingung dieses Stuhles. Nun aber be-
steht der Inhalt dieses zweiten geistigen Prozesses in einer Form weiter,
in der er keinen psychischen Kraftaufwand mehr involviert: als Tra-
dition, objektiv gewordener Gedanke, den jeder aufnehmen und nach-
denken kann. In dieser Form wirkt er im Produktionsprozeſs des
jetzigen Tischlers, bildet den Inhalt der aktuellen geistigen Funktion,
die freilich von dessen subjektiver Kraft getragen und vollzogen werden
muſs, und geht vermöge dieser letzteren in das Produkt, als dessen
Form, ein. Nun sind die zweierlei psychischen Bethätigungen, von
denen ich erst sprach, ganz sicher der Abnutzung und der Notwendig-
keit eines physiologischen Ersatzes unterworfen: sowohl die des Tisch-
lers wie die des Erfinders des Stuhles. Aber das dritte geistige Mo-
ment, das offenbar für das jetzige Zustandekommen des Stuhles ent-
scheidend wichtig ist, ist allerdings dem Verbrauchtwerden enthoben,
und nach der Idee dieses Stuhles mögen tausende von Exemplaren ge-
arbeitet werden, sie selbst leidet dadurch keine Abnutzung, fordert
keine Restaurierung und vermehrt also allerdings, obgleich sie den
formgebenden, sachlich-geistigen Gehalt jedes einzelnen Stuhles dieser
Art bildet, die Kosten desselben nicht. Unterscheidet man also mit
der erforderlichen Schärfe zwischen dem objektiv-geistigen Inhalt in
einem Produkt und der subjektiven geistigen Funktion, die nach der
Norm jenes Inhaltes das Produkt herstellt, so sieht man das relative
Recht jener Behauptung, daſs der Geist nichts koste; freilich auch ihr
relatives Unrecht, weil diese unentgeltliche und unvernutzbare Idee
des Dinges sich nicht von selbst in Produkten verwirklicht, sondern
nur vermittels eines Intellekts, dessen jetziges, jener Idee gemäſses
Funktionieren organische Kraft fordert und zu dem Kostenwert des
Produkts aus denselben Gründen beiträgt, wie die Muskelleistung es
thut — wenngleich der durch einen so präformierten Inhalt gelenkte psy-
chische Aufwand natürlich ein viel geringerer ist, als wenn er zugleich
den Inhalt originell aufzubringen hat. Die Differenz zwischen beiden
ist die Gratis-Leistung des Geistes. Und dieses ideell-inhaltliche Mo-
ment ist es, das den geistigen Besitz nach zwei Seiten hin so völlig
von dem ökonomischen unterscheidet: er kann einem einerseits viel
gründlicher, andrerseits viel weniger genommen werden, als dieser.
Der einmal ausgesprochene Gedanke ist durch keine Macht der Welt
wieder einzufangen, sein Inhalt ist unwiderruflich öffentliches Eigen-
tum Aller, die die psychische Kraft, ihn nachzudenken, aufwenden. Des-
halb aber kann er einem auch, wenn dies einmal geschehen ist, durch
[435] keine Macht der Welt wieder geraubt werden, der einmal gedachte
Gedanke bleibt, als immer wieder reproduzierbarer Inhalt, der Persön-
lichkeit so unentreiſsbar verbunden, wie es im Ökonomischen gar keine
Analogie findet. Indem sich der geistige Prozeſs aus seinem Inhalt,
der diese über-ökonomische Bedeutung hat, und dem psychologischen
Prozeſs als solchem zusammensetzt, handelt es sich hier ersichtlich nur um
den letzteren, um die Frage, welche Rolle der seelische Kraftverbrauch
in der Wertbildung noch neben der Muskelarbeit spiele.


Daſs die Bedeutung der geistigen Arbeit auf die der physischen
reduziert werde, ist schlieſslich nur eine Seite der ganz allgemeinen
Tendenz, eine Einheit des Arbeitsbegriffes herzustellen. Das Gemein-
same aller mannigfaltigen Arten der Arbeit — einer viel weiteren
und abgestufteren Mannigfaltigkeit, als der bloſse Gegensatz zwischen
physischer und psychischer Arbeit zeigt — gilt es aufzufinden.
Damit wäre theoretisch wie praktisch auſserordentlich viel gewonnen,
soviel wie entsprechend mit der Thatsache des Geldes; man hätte
nun die generelle, qualitative Einheit, auf Grund deren alle Wert-
verhältnisse zwischen den Ergebnissen menschlicher Thätigkeit rein
quantitativ, durch ein bloſses Mehr oder Weniger, auszudrücken
wären. Auf allen Gebieten hat dies den wesentlichen Fortschritt der
Erkenntnis bedeutet: daſs die qualitative Abwägung der Objekte gegen
einander, die immer eine relativ unsichere und unexakte bleibt, in
die allein unzweideutige quantitative übergeführt wird, indem eine
durchgängige innere Einheit an ihnen festgestellt wird und diese nun,
als überall dieselbe und selbstverständliche, in der Berechnung der
relativen Bedeutungen der Einzelheiten keine Berücksichtigung mehr
verlangt. Auf sozialistischer Seite ist dies offenbar eine bloſse Fort-
setzung und Konsequenz der Bestrebung, alle Werte überhaupt auf
ökonomische, als ihren Ausgangspunkt und ihre Substanz zurückzuführen.
Und auf dieser Bestrebung muſste sie unvermeidlich münden, wenn sie
ihre Nivellierungstendenz zu Ende dachte. Denn auf dem Gebiete
des Ökonomischen kann man allenfalls eine Gleichheit der Individuen
als möglich denken; auf allen anderen: intellektuellen, gefühlsmäſsigen,
charakterologischen, ästhetischen, ethischen u. s. w. würde das Nivelle-
ment, selbst nur das der „Arbeitsmittel“, von vornherein aussichtslos
sein. Will man es dennoch unternehmen, so bleibt nichts übrig, als
diese Interessen und Qualitäten irgendwie auf jene, die allein eine
annähernde Gleichmäſsigkeit der Verteilung gestatten, zu reduzieren.
Ich weiſs wohl, daſs der heutige wissenschaftliche Sozialismus die mecha-
nisch-kommunistische Gleichmacherei von sich weist und nur eine
Gleichheit der Arbeitsbedingungen herstellen will, von der aus die
28*
[436] Verschiedenheit der Begabung, Kraft und Bemühung auch zu einer
Verschiedenheit der Stellung und des Genusses führen soll. Allein dem
heutigen Zustand gegenüber, in dem Erbrecht, Klassenunterschiede,
Akkumulation des Kapitals und alle möglichen Chancen der Kon-
junktur weit gröſsere als den individuellen Bethätigungsunterschieden
entsprechende Abstände erzeugen — würde jenes nicht nur thatsächlich
eine wesentliche Ausgleichung in jeder Hinsicht bedeuten, sondern
die Ausgleichung auch der Besitz- und Genuſsmomente scheint mir
auch heute noch für die Massen das eigentlich wirksame Agitations-
mittel zu sein. Wenn der historische Materialismus zum wissenschaft-
lichen Beweisgrund der sozialistischen Lehre gemacht worden ist, so
geht hier, wie so oft, der systematische Aufbau den umgekehrten Weg
wie der schöpferische Gedankengang, und man hat nicht aus dem un-
abhängig festgestellten historischen Materialismus die sozialistische
Theorie logisch gefolgert, sondern die praktisch feststehende sozia-
listisch-kommunistische Tendenz hat sich erst nachträglich den für sie
allein möglichen Unterbau geschaffen, die ökonomischen Interessen als
den Quellpunkt und Generalnenner aller anderen zu deklarieren. Ist
dies aber einmal geschehen, so muſs sich die gleiche Tendenz in das
Gebiet des Ökonomischen selbst fortsetzen und die Mannigfaltigkeit
seiner Inhalte auf eine Einheit bringen, die über alles individuelle
Leisten die Möglichkeit einer Gleichheit und äuſserlich nachweisbaren
Gerechtigkeit stellt.


Denn die Behauptung, der Wert aller wertvollen Objekte bestehe
in der Arbeit, die sie gekostet haben, genügt für diesen Zweck noch
nicht. Damit könnte sich nämlich noch immer die qualitative Ver-
schiedenheit der Arbeit vereinigen, derart, daſs ein geringeres Quantum
höherer Arbeit einen gleichen oder höheren Wert bildete, wie ein erheb-
liches von niederer Arbeit. Hierdurch aber wäre eine ganz andere als die
beabsichtigte Wertskala eingeführt. Die entscheidenden Eigenschaften
der Feinheit, Geistigkeit, Schwierigkeit würden zwar auch dann immer
noch mit und an der Arbeit produziert, realisierten sich nur als Attri-
bute ihrer; allein das Wertmoment ruhte nun doch nicht mehr auf
der Arbeit als Arbeit, sondern auf der nach einem ganz selbständigen
Prinzip aufgebauten Ordnung der Qualitäten, als deren irrelevanter
Träger die Arbeit erscheint. Damit wäre die Arbeitstheorie in das-
selbe Dilemma gebracht, dem die moralphilosophische Lehre unterlegen
ist, daſs die Produktion von Glücksgefühlen der absolute ethische Wert
sei. Ist nämlich die Handlung wirklich in dem Maſse sittlich, in dem
sie Glück zur Folge hat, so bedeutet es eine Durchbrechung des
Prinzips und die Einführung neuer definitiver Wertmomente, wenn das
[437] reinere, geistigere, vornehmere Glück als das wertvollere gepriesen
wird. Denn dann wäre der Fall möglich, daſs ein solches Glück, wenn-
gleich quantitativ, d. h. als bloſses Glück, geringer als ein niedriges,
sinnliches, selbstisches, dennoch diesem gegenüber das sittlich erstrebens-
wertere wäre. Die ethische Glückseligkeitstheorie ist deshalb nur dann
konsequent, wenn alle ethischen Unterschiede sinnlichen und geistigen,
epikureischen und asketischen, egoistischen und mitfühlenden Glücks
im letzten Grunde, alle Begleit- und Folgeerscheinungen eingerechnet,
bloſse Maſsunterschiede einer und derselben, qualitativ immer gleichen
Glücksart sind. Ebenso muſs die konsequente Arbeitstheorie es
durchführen können, daſs alle die unzweideutig empfundenen und
nicht wegzudisputierenden Wertunterschiede zwischen zwei Leistungen,
die als Arbeit extensiv und intensiv gleich erscheinen, im letzten
Grunde nur bedeuten, daſs in der einen mehr Arbeit verdichtet ist,
als in der anderen, daſs nur der erste und flüchtige Blick sie für
gleiche Arbeitsquanten hält, der tiefer dringende aber ein thatsächliches
Mehr oder Weniger von Arbeit als den Grund ihres Mehr oder Weniger
von Wert entdeckt.


Thatsächlich ist diese Deutung nicht so unzulänglich, wie sie zu-
erst scheint. Man muſs nur den Begriff der Arbeit weit genug fassen.
Betrachtet man die Arbeit zunächst in der Beschränkung auf ihren in-
dividuellen Träger, so liegt auf der Hand, daſs in jedem irgend
„höheren“ Arbeitsprodukt keineswegs nur diejenige Arbeitssumme in-
vestiert ist, die unmittelbar auf eben diese Leistung verwendet worden
ist. Die ganzen vorhergegangenen Mühen vielmehr, ohne die die
jetzige, relativ leichtere Herstellung unmöglich wäre, müssen in sie, als
für sie erforderliche Arbeit, pro rata eingerechnet werden. Gewiſs ist
die „Arbeit“ des Musikvirtuosen an einem Konzertabend oft im Ver-
hältnis zu ihrer ökonomischen und idealen Einschätzung eine geringe;
ganz anders aber steht es, wenn man die Mühen und die Dauer der
Vorbereitung als Bedingung der unmittelbaren Leistung dem Arbeits-
quantum derselben hinzurechnet. Und so bedeutet auch in unzähligen
anderen Fällen höhere Arbeit eine Form von mehr Arbeit; nur daſs
diese nicht in der sinnlichen Wahrnehmbarkeit momentaner Anstrengung,
sondern in der Kondensation und Aufspeicherung vorangegangener
und die jetzige Leistung bedingender Anstrengungen gelegen ist: in
der spielenden Leichtigkeit, mit der der Meister seine Aufgaben löst,
kann unendlich viel mehr Arbeitsmühe verkörpert sein, als in dem
Schweiſs, den der Stümper schon um eines sehr viel niederen Ergeb-
nisses willen vergieſsen muſs. Nun aber kann diese Deutung der
Qualitätsunterschiede der Arbeit als quantitativer sich über die bloſs
[438] persönlichen Vorbedingungen hinauserstrecken. Denn diese reichen
offenbar nicht aus, um diejenigen Eigenschaften der Arbeit in der an-
gegebenen Weise zu reduzieren, die ihre Höhe durch eine angeborene
Begabung oder durch die Gunst dargebotener objektiver Vorbedingungen
gewinnen. Hier muſs man sich einer Vererbungshypothese bedienen,
die freilich hier wie überall, wo sie insbesondere erworbene Eigen-
schaften einbezieht, nur eine ganz allgemeine Denkmöglichkeit dar-
bietet. Wollen wir die verbreitete Erklärung des Instinkts acceptieren,
daſs er aus den aufgehäuften Erfahrungen der Vorfahren besteht, die
zu bestimmten zweckmäſsigen Nerven- und Muskelkoordinationen ge-
führt haben und in dieser Form den Nachkommen vererbt sind, der-
art, daſs bei diesen die zweckmäſsige Bewegung auf den entsprechen-
den Nervenreiz hin rein mechanisch und ohne eigner Erfahrung und
Einübung zu bedürfen, erfolgt — wenn wir dies acceptieren wollen,
so kann man die angeborene spezielle Begabung als einen besonders
günstigen Fall des Instinkts betrachten. Nämlich als denjenigen, in
dem die Summierung solcher physisch verdichteten Erfahrungen ganz
besonders entschieden nach einer Richtung hin und in einer solchen
Lagerung der Elemente erfolgt ist, daſs schon der leisesten Anregung ein
fruchtbares Spiel bedeutsamer und zweckmäſsiger Funktionen antwortet.
Daſs das Genie so viel weniger zu lernen braucht, wie der gewöhn-
liche Mensch zu der gleichartigen Leistung, daſs es Dinge weiſs, die es
nicht erfahren hat — dieses Wunder scheint auf eine ausnahmsweise
reiche und leicht ansprechende Koordination vererbter Energien hin-
zuweisen. Wenn man die hiermit angedeutete Vererbungsreihe weit
genug zurückgliedert und sich klar macht, daſs alle Erfahrungen und
Fertigkeiten innerhalb derselben nur durch wirkliches Arbeiten und
Ausüben gewonnen und weitergebildet werden konnten, so erscheint
auch die individuelle Besonderheit der genialen Leistung als das kon-
densierte Resultat der Arbeit von Generationen. Der besonders „be-
gabte“ Mensch wäre demnach derjenige, in dem ein Maximum von
Arbeit seiner Vorfahren in latenter und zur Weiterverwertung dispo-
nierter Form aufgehäuft ist; so daſs der höhere Wert, den die Arbeit
eines solchen durch ihre Qualität besitzt, im letzten Grunde auch auf
ein quantitatives Mehr von Arbeit zurückgeht, das er freilich nicht persön-
lich zu leisten brauchte, sondern dem er nur durch die Eigenart seiner
Organisation das Weiterwirken ermöglicht. Die Leistung wäre dann,
die gleiche aktuelle Arbeitsmühe der Subjekte vorausgesetzt, in dem
Maſse eine verschieden hohe, in dem die Struktur ihres psychisch-phy-
sischen Systems eine verschieden groſse und mit verschiedener Leichtig-
keit wirkende Summe erarbeiteter Erfahrungen und Geschicklichkeiten
[439] der Vorfahren in sich birgt. Und wenn man die Wertgröſse der
Leistungen, statt durch das Quantum der erforderlichen Arbeit, in der
gleichen Tendenz durch die zu ihrer Herstellung „gesellschaftlich not-
wendige Arbeitszeit“ ausgedrückt hat, so entzieht sich auch dies nicht
der gleichen Deutung: der höhere Wert der durch besondere Begabung
getragenen Leistungen bedeutete dann, daſs die Gesellschaft immer eine
gewisse längere Zeit hindurch leben und wirken muſs, ehe sie wieder
ein Genie hervorbringt; sie braucht den längeren Zeitraum, der den
Wert der Leistung bedingt, in diesem Falle nicht zu deren unmittel-
barer Produktion, sondern zur Produktion der — eben nur in relativ
längeren Zwischenräumen auftretenden — Produzenten solcher Leistungen.


Die gleiche Reduktion kann auch in objektiver Wendung erfolgen.
Die Höherwertung des Arbeitsergebnisses bei gleicher subjektiver An-
strengung findet nicht nur als Erfolg eines persönlichen Talentes statt;
sondern es giebt bestimmte Kategorien von Arbeiten, die von vorn-
herein einen höheren Wert als andere repräsentieren, so daſs die ein-
zelne Leistung innerhalb jener weder gröſsere Mühe noch gröſsere Be-
gabung als die innerhalb anderer zu enthalten braucht, um dennoch
einen höheren Rang einzunehmen. Wir wissen sehr wohl, daſs un-
zählige Arbeiten in den „höheren Berufen“ an das Subjekt keinerlei
höhere Ansprüche stellen, als solche in den „niederen“; daſs
die Arbeiter in Bergwerken und Fabriken oft eine Umsicht, Ent-
sagungsfähigkeit, Todesverachtung besitzen müssen, die den subjektiven
Wert ihrer Leistung weit über den vieler Beamten- oder Gelehrten-
berufe erhebt; daſs die Leistung eines Akrobaten oder Jongleurs genau
dieselbe Geduld, Geschicklichkeit und Begabung fordert, wie die
manches Klaviervirtuosen, der seine manuelle Fertigkeit durch keinen
Beisatz seelischer Vertiefung adelt. Und doch pflegt nicht nur die
eine Kategorie von Arbeiten der anderen gegenüber thatsächlich viel
höher entlohnt zu werden, sondern auch ein sozial vorurteilsloses
Schätzungsgefühl wird in vielen Fällen denselben Weg gehen. Bei
vollem Bewuſstsein der gleichen oder höheren subjektiven Arbeit, die
das eine Produkt erfordert, wird man dem andern dennoch einen
höheren Rang und Wert zusprechen, so daſs es hier wenigstens scheint,
als ob andere Momente als die des Arbeitsmaſses seine Schätzung be-
stimmten. Doch ist dieser Schein nicht unüberwindlich. Man kann
nämlich die Arbeitsleistungen höherer Kulturen in eine Stufenreihe
von dem Gesichtspunkt aus einstellen, welches Quantum Arbeit bereits
in den objektiven, technischen Vorbedingungen aufgehäuft ist, auf
Grund deren die einzelne Arbeit überhaupt möglich ist. Damit es
überhaupt höhere Stellungen in einer Beamtenhierarchie gebe, muſs
[440] erstens eine unübersehbare Arbeit in der Verwaltung und der all-
gemeinen Kultur bereits geliefert sein, deren Geist und Ergebnis sich
zu der Möglichkeit und Notwendigkeit solcher Stellungen verdichtet;
und zweitens setzt jede einzelne Thätigkeit höherer Funktionäre die
Vorarbeit vieler subalterner voraus, die sich in ihr konzentrieren; so
daſs die Qualität solcher Arbeit wirklich nur durch ein sehr hohes
Quantum bereits geleisteter und in sie eingehender Arbeit zustande
kommt Ja, gegenüber der „unqualifizierten“ beruht alle quali-
fizierte Arbeit als solche keineswegs nur auf der höheren Ausbildung
des Arbeiters, sondern ebenso auch auf der höheren und komplizierteren
Struktur der objektiven Arbeitsbedingungen, des Materials und der
historisch-technischen Organisation. Damit auch der mittelmäſsigste
Klavierspieler möglich sei, bedarf es einer so alten und breiten
Tradition, eines so unübersehbaren über-subjektiven Bestandes tech-
nischer und artistischer Arbeitsprodukte, daſs allerdings diese in sie
eingegangenen Schätze seine Arbeit weit über die vielleicht subjektiv
viel erheblichere des Seiltänzers oder Taschenspielers erheben. Und
so im allgemeinen: was wir als die höheren Leistungen schätzen, nur
nach der Kategorie des Berufes und ohne daſs personale Momente ihre
Höhe bewirkten, das sind diejenigen, die in dem Aufbau der Kultur
die relativ abschlieſsenden, am meisten von langer Hand vorbereiteten
sind, die ein Maximum von Arbeit Vor- und Mitlebender als ihre tech-
nische Bedingung in sich aufnehmen — so ungerecht es auch sei, aus
diesem, durch ganz überpersönliche Ursachen entstandenen Wert der
objektiven Arbeitsleistung für den zufälligen Träger derselben eine
besonders hohe Entlohnung oder Schätzung herzuleiten. Auch wird
dieser Maſsstab selbstverständlich nicht genau innegehalten. Wertungen
von Leistungen und Produkten, die durch ihn begründet sind, werden
auf andere, dieses Rechtsgrundes entbehrende, übertragen: sei es wegen
äuſserlich-formeller Ähnlichkeit, sei es wegen historischer Verknüpfung
mit jenen, sei es, weil die Inhaber der betreffenden Berufe eine aus
anderer Quelle flieſsende, soziale Macht zur Steigerung ihrer Schätzung
benutzen. Ohne solche, aus der Komplikation des historischen Lebens
folgende Zufälligkeiten abzurechnen, läſst sich aber überhaupt kein
einziger prinzipieller Zusammenhang in sozialen Dingen behaupten.
Im groſsen und ganzen kann, wie mir scheint, die Deutung aufrecht
erhalten werden: daſs die verschiedene Wertung der Leistungsquali-
täten, bei Gleichheit der subjektiven Arbeitsmühe, dennoch der Ver-
schiedenheit der Arbeitsquanten entspricht, die in vermittelter Form
in den betreffenden Leistungen enthalten sind. So erst wäre der
Gewinn für die theoretische Vereinheitlichung der ökonomischen
[441] Werte, auf den die Arbeitstheorie ausging, in vorläufige Sicherheit
gebracht.


Damit ist aber nur der allgemeine Begriff der Arbeit maſsgebend
geworden und die Theorie beruht insoweit auf einer sehr künstlichen
Abstraktion. Man könnte ihr vorwerfen, sie baue sich auf dem typi-
schen Irrtum auf, daſs die Arbeit zunächst und fundamental Arbeit
überhaupt wäre, und dann erst, gewissermaſsen als Bestimmungen
zweiten Grades, ihre spezifischen Eigenschaften dazu träten, um sie zu
dieser bestimmten zu machen. Als ob diejenigen Eigenschaften, auf
die hin wir ein Handeln als Arbeit überhaupt bezeichnen, nicht mit
seinen übrigen Bestimmungen eine vollkommene Einheit bildeten, als
ob jene Scheidung und Rangordnung nicht auf einem ganz willkürlich
gesetzten Grenzstrich beruhte! Grade als ob der Mensch erst Mensch
überhaupt wäre, und dann, in realer Scheidung davon, erst das be-
stimmte Individuum! Freilich ist auch dieser Irrtum begangen und
zur Grundlage sozialer Theorien gemacht worden. Der Arbeitsbegriff,
mit dem die ganze vorhergehende Erörterung rechnet, ist eigentlich
nur negativ bestimmt: als dasjenige, was übrig bleibt, wenn man von
allen Arten des Arbeitens alles wegläſst, was sie von einander unter-
scheidet. Allein, was hier thatsächlich übrig bleibt, entspricht keines-
wegs, wie eine verlockende Analogie nahelegen könnte, dem physi-
kalischen Begriff der Energie, die in quantitativer Unveränderlichkeit
bald als Wärme, bald als Elektrizität, bald als mechanische Bewegung
auftreten kann; hier ist allerdings ein mathematischer Ausdruck mög-
lich, der das Gemeinsame aller dieser spezifischen Erscheinungen und
sie als Äuſserungen dieser einen Grundthatsache darstellt. Menschliche
Arbeit aber, ganz im allgemeinen, gestattet keine derartig abstrakte,
aber doch bestimmte Formulierung. Die Behauptung, daſs alle Arbeit
schlechthin Arbeit und nichts anderes wäre, bedeutet, als Grundlage
für die Gleichwertigkeit derselben, etwas genau so Ungreifbares, ab-
strakt Leeres, wie jene Theorie: jeder Mensch sei eben Mensch und
deshalb seien alle gleichwertig und zu den gleichen Rechten und
Pflichten qualifiziert. Soll der Begriff der Arbeit also, dem in seiner
bisher angenommenen Allgemeinheit mehr ein dunkles Gefühl als ein
fester Inhalt seine Bedeutung geben konnte, eine solche wirklich er-
halten, so bedarf es einer näheren Präzision des realen Vorganges, den
man unter ihm verstehen kann.


Als dieses letzte, konkrete Element ist, worauf ich jetzt zurück-
komme, die Muskelarbeit behauptet worden; und wir fragen nach dem
Rechte dieser Behauptung, nachdem wir ihren Beweis aus der Kosten-
losigkeit der geistigen Arbeit oben in seiner Gültigkeit beschränkt
[442] haben. Ich will nun von vornherein gestehen: ich halte es nicht für
schlechthin ausgeschlossen, daſs einmal das mechanische Äquivalent
auch der psychischen Thätigkeit gefunden werde. Freilich, die Be-
deutung
ihres Inhaltes, seine sachlich bestimmte Stelle in den
logischen, ethischen, ästhetischen Zusammenhängen steht absolut jen-
seits aller physischen Bewegungen, ungefähr wie die Bedeutung eines
Wortes jenseits seines physiologisch-akustischen Sprachlautes steht.
Aber die Kraft, die der Organismus für das Denken dieses Inhaltes
als Gehirnvorgang aufwenden muſs, ist prinzipiell ebenso berechenbar
wie die für eine Muskelleistung erforderliche. Sollte dies eines Tages
gelingen, so könnte man allerdings das Kraftmaſs einer bestimmten
Muskelleistung zur Maſseinheit machen, nach der auch der psychische
Kraftverbrauch bestimmt wird, und die psychische Arbeit wäre nach
dem, was daran wirklich Arbeit ist, auf gleichem Fuſse mit der
Muskelarbeit zu behandeln, ihre Produkte würden in eine bloſs quantita-
tive Wertabwägung mit denen der letzteren eintreten. Dies ist natür-
lich eine wissenschaftliche Utopie, die nur darthun kann, daſs die
Reduktion aller wirtschaftlich anrechenbaren Arbeit auf Muskelarbeit
selbst für einen keineswegs dogmatisch-materialistischen Standpunkt
nicht den prinzipiellen Widersinn zu enthalten braucht, mit dem der
Dualismus von Geistigkeit und Körperlichkeit diesen Versuch zu
schlagen schien.


In etwas konkreterer Weise scheint sich die folgende Vorstellung
dem gleichen Ziele zu nähern. Ich gehe davon aus, daſs unsere Unter-
haltsmittel durch physische Arbeit produziert werden. Zwar ist keine
Arbeit rein physisch, jede Handarbeit wird erst durch das irgendwie
mitwirkende Bewuſstsein zu einer zweckmäſsigen Leistung, so daſs auch
diejenige, die der höheren geistigen Arbeit ihre Bedingungen bereitet,
selbst schon einen Beisatz seelischer Art enthält. Allein diese
psychische Leistung des Handarbeiters wird doch ihrerseits erst wieder
durch Unterhaltsmittel ermöglicht; und zwar werden, je niedriger der
Arbeiter steht, d. h. je geringfügiger das seelische Element seiner
Arbeit im Verhältnis zu der Muskelleistung ist, auch seine Unterhalts-
mittel (im weitesten Sinne) durch Arbeit von wesentlich physischem
Charakter hergestellt werden — mit einer der modernsten Zeit an-
gehörigen und im letzten Kapitel zu behandelnden Ausnahme. Da
sich dies Verhältnis nun an je zwei Arbeiterkategorien wiederholt, so
ergiebt dies eine unendliche Reihe, aus welcher die psychische Arbeit
zwar nie verschwinden kann, in der sie aber immer weiter zurück-
geschoben wird. So ruhen die Unterhaltsmittel auch der höchsten
Arbeiterkategorien auf einer Reihe von Arbeiten, in denen der
[443] psychische Beisatz jedes Gliedes durch ein Glied von reiner physischem
Wesen getragen wird, so daſs jener sich auf der letzten Stufe dem
Grenzwert Null nähert. Es läſst sich also denken, daſs prinzipiell alle
äuſseren Bedingungen der geistigen Arbeit in Muskelarbeitsgröſsen aus-
drückbar sind. Könnte man nun die alte Theorie vom Kostenwert
gelten lassen, so würde der Wert der geistigen Arbeit, insofern er den
Kosten ihrer Produktion gleich ist, dem Werte gewisser Muskel-
leistungen gleich sein. Und nun wäre diese Theorie vielleicht in einer
Modifikation haltbar: der Wert eines Produkts ist zwar nicht seinen
Kosten gleichzusetzen, wohl aber könnten sich die Werte zweier Pro-
dukte zu einander verhalten, wie die ihrer Entstehungsbedingungen.
Eine Psyche, durch Unterhaltsmittel ernährt und angeregt, wird Produkte
hergeben, die den Wert jener von ihr verbrauchten Bedingungen um
ein Vielfaches übersteigen mögen; darum könnte aber doch das Wert-
verhältnis je zweier Bedingungskomplexe gleich dem je zweier Produkte
sein — wie die Werte zweier Bodenerzeugnisse, von denen jedes ein
Vielfaches seines Samens ist, sich so verhalten können wie die Werte
der Samen zu einander; denn der werterhöhende Faktor könnte, für
den Durchschnitt der Menschen, eine Konstante sein. Wenn alle diese
Voraussetzungen zuträfen, so wäre damit die Reduktion der geistigen
Arbeiten auf physische in dem Sinne vollbracht, daſs man zwar nicht
die absolute, aber die relative Wertbedeutung jeder der ersteren durch
bestimmte Verhältnisse der letzteren ausdrücken könnte.


Nun erscheint aber der Gedanke, daſs die Werthöhen der geistigen
Leistung sich proportional den Werten der Unterhaltsmittel verhalten
sollten, völlig paradox, ja unsinnig. Dennoch lohnt es, die Punkte
aufzusuchen, in denen sich die Wirklichkeit ihm wenigstens nähert,
weil diese tief in die inneren und kulturellen Beziehungen geistiger
Werte zu ihren wirtschaftlichen Bedingungen und Äquivalenten hinab-
reichen. Wir haben uns wohl vorzustellen, daſs im Gehirn, als dem Gipfel-
punkt der organischen Entwicklung, ein sehr groſses Maſs von Spann-
kräften aufgespeichert liegt. Das Gehirn ist offenbar im stande, eine
groſse Kraftsumme abzugeben, woraus sich u. a. die erstaunliche
Leistungsfähigkeit schwacher Muskeln erklärt, die sie auf psychische
Reize hin entfalten können. Auch die groſse Erschöpfung des ganzen
Organismus nach geistigen Arbeiten oder Alterationen weist darauf hin,
daſs die psychische Thätigkeit, von der Seite ihres physischen Korre-
lats her angesehn, sehr viel organische Kraft verbraucht. Der Ersatz
dieser Kraft ist nun nicht nur durch ein bloſses Mehr derjenigen
Unterhaltsmittel, die der Muskelarbeiter braucht, zu erzielen; denn die
Aufnahmefähigkeit des Körpers ist in Hinsicht auf das Quantum von
[444] Ernährung ziemlich eng begrenzt und bei überwiegend geistiger Arbeit
eher herunter als heraufgesetzt. Deshalb kann der Kraftersatz ebenso
wie die erforderliche nervöse Anregung bei geistiger Arbeit in der
Regel nur durch eine Konzentrierung, Verfeinerung, individuelle An-
gepaſstheit des Lebensunterhaltes und der allgemeinen Lebensbedingungen
geleistet werden. Zwei kulturhistorisch bedeutsame Momente werden
hier wichtig. Unsere täglichen Nahrungsmittel sind in einer Periode
erwählt und ausgebildet worden, in der die übrigen Lebensbedingungen
von den heutigen der intellektuellen Stände sehr abwichen, in der
Muskelarbeit und frische Luft gegenüber der Nervenanspannung und
der sitzenden Lebensweise dominierten. Die zahllosen, direkten und
indirekten Verdauungskrankheiten einerseits, das hastige Suchen nach
konzentrierten und leicht assimilierbaren Nährmitteln andrerseits ver-
künden, daſs die Anpassung zwischen unserer körperlichen Verfassung
und unseren Nahrungsstoffen in weitem Umfang unterbrochen ist. Aus
dieser ganz allgemeinen Beobachtung ist ersichtlich, mit wie groſsem
Rechte für Menschen sehr differenzierter Berufe auch differenzierte
Ernährung gefordert wird und daſs es nicht nur Sache der Zungen-
kultur, sondern der Volksgesundheit ist, dem höchstentwickelten Ar-
beiter die Mittel zu einer übernormalen, verfeinerten und durch
persönliche Ansprüche bestimmten Ernährung zu gewähren. Wesent-
licher aber und zugleich verborgener ist der Umstand, daſs die
geistige Arbeit ihre Vorbedingungen weit mehr in die Gesamtheit
des Lebens hinein erstreckt und von einer viel weiteren Peripherie
mittelbarer Beziehungen umgeben ist, als die körperliche. Die Um-
setzung der körperlichen Kraft in Arbeit kann sozusagen unmittel-
bar geschehen, während die geistigen Spannkräfte ihre volle Arbeit
im allgemeinen nur leisten können, wenn, weit über ihr unmittel-
bar-aktuelles Milieu hinaus, das ganze komplizierte System der körper-
lich-geistigen Stimmungen, Eindrücke, Anregungen sich in einer
bestimmten Organisiertheit, Tönung, Proportion von Ruhe und Bewegt-
heit befindet. Selbst unter denjenigen, die Geistes- und Muskelarbeit
prinzipiell nivellieren wollen, ist es deshalb schon ein trivialer Satz,
daſs die höhere Entlohnung des geistigen Arbeiters durch die physio-
logischen Bedingungen seiner Thätigkeit gerechtfertigt werde.


In diesem Zusammenhang wird verständlich, daſs der moderne
geistige Mensch so viel mehr von seinem Milieu abhängig zu sein
scheint, als der frühere Mensch, und zwar nicht in dem Sinn, daſs er
bildsamer, qualitativ bestimmbarer ist, sondern grade so, daſs die Ent-
wicklung seiner spezifischen Kräfte, seiner innerlichen Produktivität,
seiner persönlichen Eigenart nicht ohne besonders günstige, ihm in-
[445] dividuell angepaſste Lebensbedingungen möglich ist. Die unglaublich
bescheidenen Verhältnisse, unter denen früher oft ein höchstes geistiges
Leben sich entfaltete, wären für die überwiegende Mehrzahl der heutigen
geistigen Arbeiter von vornherein erdrückend, diese würden in ihnen
nicht die Begünstigungen und Anregungen finden, die sie — manch-
mal jeder anders als der andre — grade für ihre individuelle Pro-
duktion brauchen. Das kann jedem Epikureismus völlig fern liegen,
und geht, als reale Bedingung der Leistung, vielleicht einerseits aus der
gewachsenen Reizbarkeit und Schwäche des Nervensystems, andrerseits
aus der zugespitzten Individualisiertheit hervor, die auf jene einfachen,
d. h. typisch-generellen Lebensreize nicht reagieren kann, sondern sich
nur auf entsprechend individualisierte hin entfaltet. Wenn die neueste
Zeit die historische Milieu-Theorie aufs entschiedenste durchgeführt
hat, so dürften wohl auch hier reale Verhältnisse durch ihre Exagge-
rierung eines Elementes uns den Blick für dessen Wirksamkeit auch
auf Stufen seiner geringeren Entwicklung geöffnet haben — grade wie
die in Wirklichkeit gestiegene Bedeutung der Massen im 19. Jahr-
hundert erst die Veranlassung geworden ist, sich ihrer Bedeutung auch
in allen früheren Epochen wissenschaftlich bewuſst zu werden. Inso-
weit diese Verhältnisse gelten, besteht also wirklich eine gewisse
Proportion zwischen den Werten, die wir konsumieren, und denen,
die wir produzieren, d. h. die letzteren, als geistige Leistungen, sind
Funktionen der Muskelleistungen, die in den ersteren substanziiert
sind.


Allein diese mögliche Reduktion geistiger auf Muskelarbeits-
werte findet von verschiedenen Seiten her eine sehr frühe Grenze.
Jene Proportion ist nämlich zunächst nicht umkehrbar. Zu be-
stimmten Leistungen gehören allerdings sehr erhebliche personale
Aufwendungen, aber diese ihrerseits erzeugen keineswegs überall
jene Leistungen: der Unbegabte, in noch so günstige und verfeinerte
Lebensbedingungen versetzt, wird dennoch niemals dasjenige leisten,
wozu ebendieselben den Begabten anregen. Die Reihe der Pro-
dukte könnte also nur dann eine stetige Funktion der Reihe der
Aufwendungen sein, wenn die letzteren genau im Verhältnis der natür-
lichen personalen Begabungen erfolgten. Allein das Unmögliche selbst
angenommen, daſs die letzteren sich exakt feststellen lieſsen und eine
ideale Anpassung, nach dieser Feststellung die Unterhaltsmittel genau
bemessend, die Leistungshöhen zum Index der letzteren machen wollte,
so würde dies Unternehmen seine Grenze immer an der Ungleich-
mäſsigkeit der Unterhaltsbedingungen finden, die selbst zwischen den
zu gleichen Leistungen qualifizierten Persönlichkeiten besteht. Hier
[446] liegt eines der groſsen Hemmnisse sozialer Gerechtigkeit. So sicher
nämlich im allgemeinen die höhere, geistige Leistung auch höhere
Lebensbedingungen fordert, so sind doch die menschlichen Beanlagungen
grade in den Ansprüchen, die die Entfaltung ihrer höchsten Kräfte
stellt, äuſserst ungleichmäſsig. Von zwei Naturen, die zu der objektiv
gleichen Leistung befähigt sind, wird die eine zur Verwirklichung
dieser Möglichkeit ein — der Höhe nach — ganz andres Milieu, ganz
andre materielle Vorbedingungen, ganz andre Anregungen nötig haben,
als die zweite. Diese Thatsache, die zwischen den Idealen der Gleich-
heit, der Gerechtigkeit und der Maximisierung der Leistungen eine
unversöhnliche Disharmonie stiftet, ist noch keineswegs genügend be-
achtet. Die Verschiedenheit unserer physisch-psychischen Strukturen,
der Verhältnisse zwischen zweckmäſsigen und hemmenden Energien,
der Wechselwirkungen zwischen Intellekt und Willenscharakter be-
wirkt, daſs die Leistung, als Produkt der Persönlichkeit und ihrer
Lebensbedingungen, in der ersteren einen höchst inkonstanten Faktor
findet; so daſs, um das gleiche Resultat zu ergeben, auch der andere
Faktor entsprechend groſse Variierungen erleiden muſs. Und zwar
scheint es, als ob diese Abweichungen der Naturelle in Bezug auf die
Verwirklichungsbedingungen ihrer inneren Möglichkeiten um so erheb-
lichere wären, je höher, komplizierter und geistiger das Leistungs-
gebiet ist. Die Personen, die überhaupt die Muskelkraft zu einer
bestimmten Arbeit haben, werden für deren Ausführung so ziemlich
der gleichen Ernährung und allgemeinen Lebenshaltung bedürfen;
wo aber führende, gelehrte, künstlerische Thätigkeiten in Frage stehen,
wird die oben bezeichnete Verschiedenheit zwischen denen, die schlieſs-
lich alle das gleiche leisten könnten, bedeutsam hervortreten.


Die persönliche Begabung ist so variabler Art, daſs die gleichen
äuſseren Umstände, auf sie einwirkend, die allerverschiedensten
Endresultate zeitigen und dadurch bei dem Vergleich von Individuum
mit Individuum jede Wertproportion zwischen den materiellen Unter-
haltsbedingungen und den darauf gebauten psychischen Leistungen
völlig illusorisch wird. Nur wo groſse historische Epochen oder ganze
Bevölkerungsklassen in ihrem Durchschnitt mit einander verglichen
werden, mögen die relativen Höhen der physisch beschaffbaren Be-
dingungen dasselbe Verhältnis wie die der psychischen Leistungen
zeigen. So kann man z. B. beobachten, daſs bei sehr niedrigen
Preisen der notwendigen Nahrungsmittel die Kultur im ganzen nur
langsam fortschreitet, also die Luxusartikel, in denen eine erheblichere
geistige Arbeit investiert ist, auſserordentlich teuer sind; wogegen die
Preiserhöhung jener ersteren mit einer Preiserniedrigung und weiteren
[447] Verbreitung der letzteren Hand in Hand zu gehen pflegt. Für niedere
Kulturen ist es charakteristisch, daſs der unentbehrliche Unterhalt sehr
billig, die höhere Lebenshaltung dagegen sehr teuer ist, wie etwa noch
jetzt in Ruſsland im Verhältnis zu Zentraleuropa. Die Billigkeit von
Brot, Fleisch und Wohnung läſst es einerseits zu dem Druck nicht
kommen, der den Arbeiter zur Erkämpfung höherer Löhne zwingt, die
Teuerung der Luxusartikel andrerseits rückt ihm diese ganz auſser
Sehweite und verhindert ihre Ausbreitung. Erst die Verteurung des
ursprünglich Billigen und die Verbilligung des ursprünglich Teuren
— deren Zusammenhang ich schon oben hervorhob — bedeutet und
bewirkt ein Aufsteigen der geistigen Bethätigungen. Unter all der
ungeheuren Inkommensurabilität im einzelnen verraten diese Propor-
tionen dennoch eine allgemeine, in jenen Einzelheiten dennoch wirk-
same Beziehung von physischer und psychischer Arbeit, die das Wert-
maſs der letzteren durch die erstere auszudrücken wohl gestatten würde,
wenn ihre Wirksamkeit nicht durch die soviel stärkere der indivi-
duellen Begabungsunterschiede übertönt würde.


Endlich giebt es einen dritten Standpunkt, von dem aus die Re-
duktion alles Arbeitswertes auf den Wert der Muskelarbeit ihres
rohen und plebejischen Charakters entkleidet wird. Sehen wir näm-
lich genauer zu, woraufhin denn eigentlich die Muskelarbeit als Wert
und Aufwand gilt, so ergiebt sich, daſs dies gar nicht die rein phy-
sische Kraftleistung ist. Ich meine damit nicht das schon Erwähnte,
daſs diese überhaupt ohne eine gewisse intellektuelle Dirigierung ganz
nutzlos für die menschlichen Zwecke wäre, in welcher Hinsicht aber
das psychische Element ein bloſser Wertbeisatz bleibt; der eigentliche
Wert könnte dabei doch immer in dem rein Physischen bestehen, nur
daſs dasselbe, um die erforderliche Richtung zu bekommen, jenes Zu-
satzes bedürfte. Ich meine vielmehr, daſs die physische Arbeit ihren
ganzen Ton von Wert und Kostbarkeit nur durch den Aufwand von
psychischer Energie erhält, der sie trägt. Wenn jede Arbeit, äuſser-
lich angesehen, das Überwinden von Hemmnissen bedeutet, die Formung
einer Materie, die dieser Formung nicht ohne weiteres gehorcht,
sondern ihr zunächst Widerstand entgegensetzt — so zeigt die Innen-
seite der Arbeit dieselbe Gestalt. Die Arbeit ist eben Mühe, Last,
Schwierigkeit; so daſs, wo sie das nicht ist, betont zu werden pflegt,
daſs sie eben keine eigentliche Arbeit ist. Sie besteht, auf ihre Ge-
fühlsbedeutung hin angesehen, in der fortwährenden Überwindung der
Impulse zu Trägheit, Genuſs, Erleichterung des Lebens — wobei es
irrelevant ist, daſs diese Impulse, wenn man sich ihnen wirklich un-
unterbrochen hingäbe, das Leben gleichfalls zu einer Last machen
[448] würden; denn die Last der Nichtarbeit wird nur in den seltensten
Ausnahmefällen empfunden, die der Arbeit aber nur in eben solchen
nicht empfunden. Niemand pflegt daher Leid und Mühe der Arbeit
auf sich zu nehmen, ohne etwas dafür zu haben. Was an der Arbeit
eigentlich vergolten wird, der Rechtstitel, auf den hin man eine Ver-
geltung für sie fordert, ist der psychische Kraftaufwand, dessen es
zum Aufsichnehmen und Überwinden der inneren Hemmungs- und
Unlustgefühle bedarf.


Die Sprache deutet diesen Sachverhalt gut an, indem sie den
äuſserlich-ökonomischen ebenso wie den innerlich-moralischen Ertrag
unseres Thuns gleichmäſsig als Verdienst bezeichnet. Denn auch im
letzteren Sinne tritt dieses doch erst ein, wenn der sittliche Impuls
Hemmnisse der Versuchung, des Egoismus, der Sinnlichkeit überwunden
hat, nicht, wenn die sittliche Handlung aus einem ganz selbstverständ-
lichen, die Möglichkeit des Gegenteils von vornherein ausschlieſsenden
Triebe quillt; so daſs, um den sittlichen Musterbildern nicht das
sittliche Verdienst absprechen zu müssen, die Mythenbildung der
Völker allenthalben ihre Religionsstifter eine „Versuchung“ besiegen
läſst und Tertullian sogar den Ruhm Gottes für gröſser hält, si labo-
ravit
. Wie sich der eigentlich moralische Wert an das überwundene
Hemmnis entgegengesetzter Impulse knüpft, so der ökonomische.
Wenn der Mensch seine Arbeit leistete, wie die Blume ihr Blühen
oder der Vogel sein Singen, so würde sich kein entgeltbarer Wert
mit ihr verknüpfen. Dieser liegt also nicht in ihrer äuſseren Er-
scheinung, in dem sichtbaren Thun und Erfolg, sondern auch bei der
Muskelarbeit in dem Willensaufwand, den Gefühlsreflexen, kurz, in
den seelischen Bedingungen. Damit gewinnen wir die Ergänzung für
die an das andere Ende der wirtschaftlichen Reihen sich anschlieſsende
fundamentale Erkenntnis: daſs aller Wert und alle Bedeutung der
Gegenstände und ihres Besitzes in den Gefühlen liegt, die sie hervor-
rufen, daſs das Haben ihrer als ein bloſs äuſserliches Verhältnis gleich-
gültig und sinnlos wäre, wenn sich nicht innere Zustände, Affekte der
Lust, der Erhöhung und Erweiterung des Ich, daran schlössen. So
wird die Sichtbarkeit wirtschaftlicher Güter von beiden Seiten — des
Leistenden wie des Genieſsenden — her durch psychische Vorgänge
begrenzt, die allein es begründen, daſs für die einzelne Leistung ein
Gegenwert gefordert wie gewährt wird. Ebenso unwesentlich und be-
ziehungslos, wie uns ein Besitzgegenstand ist, der nicht in eine psychische
Erregung übergeht, wäre uns das eigne Thun, wenn es nicht aus einem
inneren empfundenen Zustande hervorginge, dessen Unlust und Opfer-
gefühl allein die Forderung eines Entgeltes und deren Maſs in sich
[449] trägt. In Hinsicht des Wertes kann man deshalb sagen, Muskelarbeit
sei psychische Arbeit. Als Ausnahme hiervon könnten nur diejenigen
Arbeiten gelten, die der Mensch als Konkurrent der Maschine oder
des Tieres vollbringt; denn obwohl sich auch diese in Bezug auf die
innere Bemühung und psychische Kraftaufwendung wie alle anderen
verhalten, so hat doch der, zu dessen Gunsten sie vollbracht werden,
keine Veranlassung, für diese innere Leistung etwas zu vergüten, da
der ihm allein wichtige äuſsere Effekt auch durch eine rein phy-
sische Potenz erreichbar ist und die kostspieligere Produktion nirgends
vergolten wird, sobald eine billigere möglich ist. Aber mit einem
ganz kleinen Schritt tiefer ist vielleicht auch diese Ausnahme in die
Allbefaſstheit des Äuſserlichen durch das Seelische zurückzuführen.
Was an den Leistungen einer Maschine oder eines Tieres vergolten
wird, ist doch die menschliche Leistung, die in Erfindung, Herstellung
und Dirigierung der Maschine, in der Aufzucht und Abrichtung des
Tieres steckt; so daſs man sagen kann: jene menschlichen Arbeiten
werden nicht wie diese physisch-untermenschlichen vergolten, sondern,
umgekehrt, diese werden gleichfalls mittelbar als psychisch-mensch-
liche gewertet. Dies wäre nur eine ins Praktische hineinreichende
Fortsetzung der Theorie, daſs wir auch den Mechanismus der un-
belebten Natur schlieſslich nach den Kraft- und Anstrengungsgefühlen
deuten, die unsere Bewegungen begleiten. Wenn wir unser eignes
Wesen der allgemeinen Naturordnung einfügen, um es in ihrem
Zusammenhange zu verstehen, so ist dies nur so möglich, daſs wir zu-
vor die Formen, Impulse und Gefühle unserer Geistigkeit in die all-
gemeine Natur hineintragen, das „Unterlegen“ und das „Auslegen“
unvermeidlich in einen Akt verbindend. Wenn wir, dies Verhältnis
zur Welt auf unsere praktische Frage ausdehnend, an der Leistung
untermenschlicher Kräfte nur die Leistung menschlicher durch Gegen-
leistung aufwiegen, so fällt damit in der hier fraglichen Hinsicht der
prinzipielle Grenzstrich zwischen denjenigen menschlichen Arbeiten,
deren Entgelt sich auf ihr psychisches Fundament stützt, und denen,
die wegen der Gleichheit ihres Effektes mit rein äuſserlich-mechanischen
diese Begründung ihres Entgeltes abzulehnen schienen. Man kann
also jetzt ganz allgemein behaupten, daſs nach der Seite des auf-
zuwiegenden Wertes hin der Unterschied zwischen geistiger und Muskel-
arbeit nicht der zwischen psychischer und materieller Natur sei, daſs
vielmehr auch bei der letzteren schlieſslich nur auf die Innenseite der
Arbeit, auf die Unlust der Anstrengung, auf das Aufgebot an Willens-
kraft hin das Entgelt gefordert werde. Freilich ist diese Geistigkeit,
die gleichsam das Ding-an-sich hinter der Erscheinung der Arbeit ist
Simmel, Philosophie des Geldes. 29
[450] und den Binnenwert derselben bildet, keine intellektuelle, sondern
besteht in Gefühl und Willen; woraus dann folgt, daſs derselbe dem
der geistigen Arbeit nicht koordiniert ist, sondern auch diesen funda-
mentiert. Denn auch an ihm bringt ursprünglich nicht der objektive
Inhalt des geistigen Prozesses, sein von der Persönlichkeit gelöstes
Resultat, die Forderung des Entgelts hervor, sondern die subjektive,
vom Willen geleitete Funktion, die ihn trägt, die Arbeitsmühe, der
Energieaufwand, dessen es für die Produktion jenes geistigen Inhaltes
bedarf. Indem so der Quellpunkt des Wertes nicht nur von seiten
des Aufnehmenden, sondern auch des Leistenden her sich als ein
Thun der Seele enthüllt, erhalten Muskelarbeit und „geistige“ Arbeit
einen gemeinsamen, — man könnte sagen: moralischen — wert-
begründenden Unterbau, durch den die Reduktion des Arbeitswertes
überhaupt auf Muskelarbeitswert ihr banausisches und brutal materia-
listisches Aussehn verliert. Das verhält sich ungefähr wie mit dem
theoretischen Materialismus, der ein ganz neues und ernsthafter dis-
kutables Wesen bekommt, wenn man betont, daſs doch auch die Materie
eine Vorstellung ist, kein Wesen, das, im absoluten Sinne auſser
uns, der Seele entgegengesetzt ist, sondern in seiner Erkennbarkeit
durchaus bestimmt von den Formen und Voraussetzungen unserer geistigen
Organisation. Von diesem Standpunkt, auf dem die Wesensverschieden-
heit körperlicher und geistiger Erscheinungen statt der absoluten eine
relative wird, ist das Verlangen, die Erklärung für die im engeren
Sinn geistigen in der Reduktion auf die körperlichen zu suchen, sehr
viel weniger unerträglich. Hier, wie in dem Falle des praktischen
Wertes, muſs das Äuſsere nur aus seiner Starrheit, Isolierung und
Gegensätzlichkeit gegen das Innere erlöst werden, damit es sich als
einfachsten Ausdruck und Maſseinheit für die höheren „geistigen“
Thatsachen aufthun könne. Diese Reduktion mag gelingen oder nicht;
aber mit ihrer Behauptung vertragen sich nun wenigstens prinzipiell
die Forderungen der Methode und der fundamentalen Wertsetzungen.


Diese Ausführungen können nicht sowohl erweisen, daſs das
Äquivalent für die Arbeit sich ausschlieſslich an das Quantum der
Muskelthätigkeit knüpft, als gewisse Bedenken beseitigen, die man
dieser Verbindung vorzuhalten pflegt. Dennoch findet sie eine Schwierig-
keit, die mir unüberwindlich scheint, und zwar die von dem ganz
trivialen Einwand ausgehende, daſs es doch auch wertlose, überflüssige
Arbeit gebe. Denn die Widerlegung, unter der Arbeit als dem funda-
mentalen Werte verstehe man natürlich nur die zweckmäſsige, durch
ihr Ergebnis gerechtfertigte Arbeit, enthält ein Zugeständnis, das der
ganzen Theorie verderblich ist. Wenn es nämlich wertvolle und wert-
[451] lose Arbeit giebt, so giebt es zweifellos auch Zwischenstufen, geleistete
Arbeitsquanten, welche einige, aber nicht lauter Elemente von Zweck
und Wert enthalten; der Wert des Produktes also, der der Voraus-
setzung nach durch die in ihm investierte Arbeit bestimmt wird, ist
ein gröſserer oder geringerer, je nach der Zweckmäſsigkeit dieser Ar-
beit. Das bedeutet: der Wert der Arbeit miſst sich nicht an ihrem
Quantum, sondern an der Nützlichkeit ihres Ergebnisses! Und hier
hilft nicht mehr die oben bezüglich der Qualität der Arbeit versuchte
Methode: die höhere, feinere, geistigere Arbeit bedeute eben der
niedrigeren gegenüber mehr Arbeit, eine Häufung und Verdichtung
eben derselben allgemeinen „Arbeit“, von der die grobe und unqualifi-
zierte Arbeit nur gleichsam eine gröſsere Verdünnung, eine niedrigere
Potenz darstelle. Denn dieser Unterschied der Arbeit war ein innerer,
der die Nützlichkeitsfrage noch ganz beiseite lieſs, indem die Nützlich-
keit als der fraglichen Arbeit in immer gleichem Maſse einwohnend
dabei vorausgesetzt wurde: die Arbeit des Straſsenkehrers ist für diese
Überlegung nicht weniger „nützlich“ als die des Violinspielers, und
ihre geringere Schätzung stammt aus der inneren Quantität ihrer als
bloſser Arbeit, aus der geringeren Kondensiertheit der Arbeitsenergien
in ihr. Nun aber zeigt sich, daſs diese Voraussetzung eine zu ein-
fache war und daſs die Verschiedenheit der äuſseren Nützlichkeit nicht
gestattet, die Wertungsunterschiede der Arbeit von ihren bloſs inneren
Bestimmungen abhängen zu lassen. Wenn man die unnütze Arbeit
oder richtiger: die Nützlichkeitsunterschiede der Arbeit aus der Welt
schaffen und bewirken könnte, daſs die Arbeit genau in demselben
Maſse mehr oder weniger nützlich sei, in dem sie mehr oder weniger
konzentriert, kraftverbrauchend, mit einem Wort: mehr oder weniger
Arbeitsquantität ist — so wäre damit zwar noch nicht die Muskelarbeit
als der einzige Wertbildner erwiesen; wohl aber könnte dann die
Arbeit überhaupt als Wertmaſs der Objekte gelten, da dann deren
andrer Faktor, die Nützlichkeit, immer derselbe wäre, also die Wert-
relationen nicht mehr alterierte. Allein die Nützlichkeitsunterschiede
bestehen eben, und es ist ein Trugschluſs, wenn das ethisch vielleicht
begründbare Postulat: aller Wert ist Arbeit — in den Satz umgekehrt
wird: alle Arbeit ist Wert, d. h. gleicher Wert.


Hier zeigt sich nun der tiefe Zusammenhang der Arbeitswert-
theorie mit dem Sozialismus; denn dieser erstrebt thatsächlich eine
Verfassung der Gesellschaft, in der der Nützlichkeitswert der
Objekte, im Verhältnis zu der darauf verwendeten
Arbeitszeit, eine Konstante
bildet. Im dritten Bande des
„Kapital“ führt Marx aus: die Bedingung alles Werts, auch bei der
29*
[452] Arbeitstheorie, sei der Gebrauchswert; allein das bedeute, daſs auf
jedes Produkt grade so viel Teile der gesellschaftlichen Gesamtarbeits-
zeit verwendet werden, wie im Verhältnis zu seiner Nützlichkeits-
bedeutung auf dasselbe kommen. Es wird also sozusagen ein qualitativ
einheitlicher Gesamtbedarf der Gesellschaft vorgestellt — dem Motto
der Arbeitstheorie, Arbeit sei eben Arbeit und als solche gleichwertig,
entspricht hier das weitere, Bedürfnis sei eben Bedürfnis und als
solches gleich wichtig — und die Nützlichkeitsgleichheit aller Arbeiten
wird nun erzielt, indem in jeder Produktionssphäre nur so viel Arbeit
geleistet wird, daſs genau der von ihr umschriebene Teil jenes Be-
darfes gedeckt wird. Unter dieser Voraussetzung wäre freilich keine
Arbeit weniger nützlich als die andere. Denn wenn man z. B. heute
Klavierspielen für eine weniger nützliche Arbeit als Lokomotiven-
Bauen hält, so liegt das nur daran, daſs mehr Zeit darauf verwandt
wird, als dem wirklichen Bedürfnis danach entspricht. Wäre es auf
das hiermit bezeichnete Maſs eingeschränkt, so wäre es genau so wertvoll
wie Lokomotiven-Bauen — grade wie auch das letztere unnützlicher
würde, wenn man mehr Zeit darauf verwendete, d. h. mehr Lokomo-
tiven baute, als Bedarf danach ist. Mit anderen Worten: es giebt
prinzipiell gar keine Gebrauchswertunterschiede; denn wenn ein
Produkt momentan weniger Gebrauchswert hat als ein anderes (also
die auf jenes verwandte Arbeit wertloser ist, als die dem letzteren
geltende), so kann man einfach die Arbeit an seiner Kategorie, d. h.
die Quantität seiner Produktion, so lange herabsetzen, bis das darauf
gerichtete Bedürfnis ebenso stark ist, wie das auf den andern Gegen-
stand gerichtete, d. h. bis die „industrielle Reservearmee“ völlig ver-
schwunden ist. Nur unter dieser Bedingung kann die Arbeit das Wert-
maſs der Produkte getreu ausdrücken.


Das Wesen des Geldes ist seine unbedingte Fungibilität, die innere
Gleichartigkeit, die jedes Stück durch jedes, nach rein quantitativen
Abwägungen, ersetzbar macht. Damit es ein Arbeitsgeld gebe, muſs
der Arbeit diese Fungibilität verschafft werden, und dies kann nur
auf die geschilderte Weise geschehen: daſs ihr der immer gleiche
Nützlichkeitsgrad verschafft wird, und dies wiederum ist nur durch
Reduktion der Arbeit für jede Produktionsgattung auf dasjenige Maſs
erzielbar, bei dem der Bedarf nach ihr genau so groſs ist wie der
nach jeder andern. Dabei würde natürlich die thatsächliche Arbeits-
stunde noch immer höher oder tiefer bewertet werden können; aber
jetzt wäre man sicher, daſs der höhere Wert, aus der höheren Nütz-
lichkeit des Produktes abgeleitet, ein proportional konzentrierteres
Arbeitsquantum pro Stunde anzeigt; oder umgekehrt: daſs, sobald auf
[453] die Konzentrierung der Arbeit hin der Stunde ein höherer Wert zu-
gesprochen wird, sie auch ein höheres Nützlichkeitsquantum enthält.
Dies aber setzt ersichtlich eine völlig rationalisierte und providenzielle
Wirtschaftsordnung voraus, in der jede Arbeit planmäſsig, unter abso-
luter Kenntnis des Bedarfs und des Arbeitserfordernisses für jedes Pro-
dukt erfolgt — also eine solche, wie sie der Sozialismus erstrebt. Die
Annäherung an diesen völlig utopischen Zustand scheint nur so tech-
nisch möglich zu sein, daſs überhaupt nur das unmittelbar Unentbehr-
liche, das ganz indiskutabel zum Leben Gehörige produziert wird;
denn wo ausschlieſslich dies der Fall ist, ist allerdings jede Arbeit
genau so nötig und nützlich wie die andere. Sobald man dagegen in
die höheren Gebiete aufsteigt, auf denen einerseits Bedarf und Nütz-
lichkeitsschätzung unvermeidlich individueller, andrerseits die Intensi-
täten der Arbeit schwerer festzustellen sind, wird keine Regulierung
der Produktionsquanten bewirken können, daſs das Verhältnis zwischen
Bedarf und aufgewandter Arbeit überall das gleiche ist. So ver-
schlingen sich an diesen Punkten alle Fäden der Erwägungen über
den Sozialismus; an ihm wird klar, daſs die Kulturgefährdung seitens
des Arbeitsgeldes keineswegs eine so unmittelbare ist, wie man meistens
urteilt; vielmehr, daſs sie aus der technischen Schwierigkeit stammt,
die Nützlichkeit der Dinge, als ihren Wertungsgrund, im Verhältnis
zur Arbeit, als ihrem Wertträger, konstant zu erhalten — eine Schwierig-
keit, die sich im Verhältnis der Kulturhöhe der Produkte steigert, und
deren Vermeidung nun freilich die Produktion zu den primitivsten, un-
entbehrlichsten, durchschnittlichsten Objekten herabsenken müſste.


Dieses Ergebnis des Arbeitsgeldes beleuchtet nun aufs schärfste
das Wesen des Geldprinzips überhaupt. Die Bedeutung des Geldes
ist, daſs es eine Einheit des Wertes ist, die sich in die Vielheit der
Werte kleidet; sonst würden die Quantitätsunterschiede des einheit-
lichen Geldes nicht als den Qualitätsunterschieden der Dinge äquivalent
empfunden werden. Dadurch geschieht nun freilich diesen oft genug
unrecht, wird namentlich den personalen Werten eine Gewalt an-
gethan, die ihr Wesen verlöscht. Von dieser Verfassung des Geldes
strebt das Arbeitsgeld hinweg, es will dem Gelde einen zwar immer
noch abstrakten, aber doch dem konkreten Leben näherliegenden
Begriff unterbauen; mit ihm soll ein eminent personaler, ja, man
könnte sagen, der personale Wert zum Maſsstab der Werte über-
haupt werden. Und nun zeigt sich, daſs es, weil es doch nun
einmal die Eigenschaften alles Geldes besitzen soll: die Einheitlich-
keit, die Fungibilität, die nirgends versagende Geltung — grade der
Differenzierung und personalen Ausbildung der Lebensinhalte bedroh-
[454] licher wäre, als das bisherige Geld! Wenn es die unvergleichliche
Kraft des Geldes ist, sich um einer Folge willen der entgegengesetzten
nicht zu entziehen, wenn wir es einerseits der Herabdrückung, andrer-
seits der oft sogar exaggerierten Steigerung personaler Differenziertheit
dienen sehen, so raubt ihm der Versuch, es konkreter, wenngleich
noch immer äuſserst allgemein zu gestalten, seine Stellung sozusagen
über den Parteien, und stellt es auf die eine Seite der Alternative, mit
Ausschluſs der andern. So sehr man am Arbeitsgeld die Tendenz, das
Geld den personalen Werten wieder näher zu rücken, anerkennen muſs,
so erweist jener Erfolg doch grade, wie eng die Fremdheit gegen
diese mit seinem Wesen verbunden ist.


[[455]]

Sechstes Kapitel.
Der Stil des Lebens.


I.


In diesen Untersuchungen ist öfters erwähnt worden, daſs die
seelische Energie, die die spezifischen Erscheinungen der Geldwirt-
schaft trägt, der Verstand ist, im Gegensatz zu derjenigen, die man
im allgemeinen als Gefühl oder Gemüt bezeichnet und die in dem
Leben der nicht geldwirtschaftlich bestimmten Perioden und Interessen-
provinzen vorzugsweise zu Worte kommen. Dies ist zunächst die Folge
des Mittelscharakters des Geldes. Alle Mittel als solche bedeuten, daſs
die Verhältnisse und Verkettungen der Wirklichkeit in unseren Willens-
prozeſs aufgenommen werden. Sie sind nur durch ein objektives
Bild thatsächlicher Kausalverknüpfungen möglich, und offenbar würde
ein Geist, welcher die Gesamtheit dieser fehlerlos überschaute,
für jeden Zweck von jedem Ausgangspunkt aus die geeignetsten
Mittel geistig beherrschen. Aber dieser Intellekt, der die vollendete
Möglichkeit der Mittel in sich bärge, würde darum noch nicht die
geringste Wirklichkeit eines solchen produzieren, weil dazu die Setzung
eines Zweckes gehört, im Verhältnis zu dem jene realen Energien
und Verbindungen erst die Bedeutung von Mitteln erhalten und der
seinerseits erst durch eine Willensthat kreiert werden kann. So wenig
in der objektiven Welt, wenn kein Wille zu ihr hinzutritt, etwas
Zweck ist, so wenig in der Intellektualität, die doch nur eine voll-
kommenere oder unvollkommenere Darstellung des Weltinhaltes ist.
Und vom Willen hat man richtig gesagt, aber meistens falsch ver-
standen, daſs er blind ist. Er ist es nämlich nicht in demselben Sinne,
wie Hödhr oder der geblendete Cyklop, die aufs geratewohl losstürmen; er
wirkt nichts Unvernünftiges, im Sinne des Wertbegriffes Vernunft, sondern
[456] er kann überhaupt nichts wirken, wenn er nicht irgend einen Inhalt er-
hält, der niemals in ihm selbst liegt; denn er ist nichts andres als eine
der psychologischen Formen (wie das Sein, das Sollen, das Hoffen
u. s. w.), in denen Inhalte in uns leben, eine der — wahrscheinlich
in begleitenden Muskel- oder sonstigen Gefühlen psychisch realisierten —
Kategorien, in die wir den an sich bloſs ideellen Gehalt der Welt
fassen, damit er für uns eine praktische Bedeutung gewinne. So wenig
also der Wille — der bloſse, zu einer gewissen Selbständigkeit ge-
steigerte Name dieser Form — von sich aus irgend einen bestimmten
Inhalt erkürt, so wenig geht aus dem bloſsen Bewuſstsein der Welt-
inhalte, also aus der Intellektualität, irgend eine Zwecksetzung hervor.
Vielmehr, zu der völligen Indifferenz derselben und aus ihr selbst
nicht berechenbar tritt an irgend einem Punkte die Betonung des
Willens auf. Ist dies erst einmal geschehen, so findet freilich rein
logisch und durch die theoretische Sachlichkeit bestimmt, die Überleitung
des Willens auf andre, mit jenem ersten kausal verbundne Vorstellungen
statt, die nun als „Mittel“ zu jenem Endzweck gelten.


Überall, wo der Intellekt uns führt, sind wir schlechthin abhängig,
denn er führt uns nur durch die sachlichen Zusammenhänge der Dinge, er
ist die Vermittlung, durch die das Wollen sich dem selbständigen Sein
anpaſst. Ja, die reine Intelligenz, als Träger der sachlich-logischen
Wahrheiten, schafft uns nur Bedingungen, nur Ideelles, nur Eventuali-
täten; daſs mit alledem ein objektiv Wahres gewonnen sei, daſs
überhaupt ein erster Ausgangspunkt ergriffen werde, der alles übrige
zu beweisen gestattet — das kann der bloſse Intellekt nicht zu stande
bringen, sondern dazu bedarf es einer Spontaneität, eines unmittelbaren
Gefühles, eines Willens zum Axiom. Mag man das so ausdrücken,
daſs alles Wissen sich nur auf einen ursprünglichen Glauben aufbauen
kann, oder daſs jedes Fürwahrhalten ein Willensentschluſs ist, oder
daſs das Bejahen oder Verneinen von Behauptungen schlieſslich durch
ein Wertgefühl geschieht, das die eine begleitet und sich der andern
versagt — so bedeuten alle diese Auslegungen, daſs der Intellekt,
seinen reinen Inhalten nach, in der Luft schwebt und die Festigkeit
seines Ausgangspunktes, seiner Bedeutung, seines Zieles von einer
andern seelischen Energie her erwartet. Ihn erfüllt ein Spiel objek-
tiver Erscheinungen und Zusammenhänge, während unser eigentliches
Sein, das auch ihm Bedeutung und Kraft über die bloſse Idealität
seiner Inhalte hinaus verleiht, nicht in diesen, sondern in den Funk-
tionen
der Seele, in ihren unmittelbaren Bewegungen und Kraft-
äuſserungen lebt. Fassen wir den Begriff der Mittelberechnung in voller
Schärfe, so sind wir, in ihr verweilend, rein theoretische, absolut
[457] nicht-praktische Wesen. Das Wollen begleitet die Reihe unserer Über-
legungen nur wie ein Orgelpunkt oder wie die allgemeine Voraus-
setzung eines Gebietes, in dessen Einzelheiten und Verhältnisse sie
nicht eingreift, in das aber erst sie Leben und Wirklichkeit ein-
strömen läſst.


Die Intellektualität, als der subjektive Repräsentant der objektiven
Weltordnung, entwickelt sich also proportional mit der Anzahl und
Reihenlänge der Mittel, die den Inhalt unserer Thätigkeit bilden. Da
nun jedes Mittel als solches völlig indifferent ist, so knüpfen sich alle
Gefühlswerte im Praktischen an die Zwecke, an die Haltepunkte des
Handelns, deren Erreichtheit nicht mehr in die Aktivität, sondern nur
in die Rezeptivität unserer Seele ausstrahlt. Je mehr solcher End-
stationen unser praktisches Leben enthält, desto stärker wird sich also
die Gefühlsfunktion gegenüber der Intellektfunktion bethätigen. Die
Impulsivität und Hingegebenheit an den Affekt, die von Naturvölkern
so vielfach berichtet wird, hängt sicher mit der Kürze ihrer teleo-
logischen Reihen zusammen. Ihre Lebensarbeit hat nicht die Kohäsion
der Elemente, die in höheren Kulturen durch den einheitlich das
Leben durchziehenden „Beruf“ geschaffen wird, sondern besteht aus
einfachen Interessenreihen, die, wenn sie ihr Ziel überhaupt erreichen,
es mit relativ wenig Mitteln thun; wozu besonders viel die Unmittel-
barkeit der Bemühung um den Nahrungserwerb beiträgt, die dann in
höheren Verhältnissen fast durchgehends vielgliedrigen Zweckreihen
Platz macht. Unter diesen Umständen ist Vorstellung und Genuſs von
Endzwecken ein relativ häufiger, das Bewuſstsein der sachlichen Ver-
knüpfungen und der Wirklichkeit, die Intellektualität, tritt seltener in
Funktion, als die Gefühlsbegleitungen, die sowohl die unmittelbare
Vorstellung wie den realen Eintritt der Endzwecke charakterisieren.
Noch das Mittelalter hatte durch die ausgedehnte Produktion für den
Selbstbedarf, durch die Art des Handwerksbetriebes, durch die Viel-
fachheit und Enge der Einungen, vor allem durch die Kirche eine
viel gröſsere Zahl definitiver Befriedigungspunkte des Zweckhandelns,
als die Gegenwart, in der die Umwege und Vorbereitungen zu solchen
ins Endlose wachsen, wo der Zweck der Stunde so viel häufiger über
die Stunde hinaus, ja, über den Gesichtskreis des Individuums hinaus-
liegt. Diese Verlängerung der Reihen bringt das Geld zunächst da-
durch zu stande, daſs es ein gemeinsames, zentrales Interesse über
sonst auseinanderliegenden schafft und sie dadurch in Verbindung
bringt, so daſs die eine zur Vorbereitung der anderen, ihr sachlich
ganz fremden, werden kann (indem z. B. der Geldertrag der einen
und damit sie als Ganzes zum Unternehmen der andern dient). Das
[458] Wesentliche aber ist die allgemeine, nach ihrem Zustandekommen
bereits früher besprochene Thatsache, daſs das Geld allenthalben als
Zweck empfunden wird und damit auſserordentlich viele Dinge, die
eigentlich den Charakter des Selbstzwecks haben, zu bloſsen Mitteln
herabdrückt. Indem nun aber das Geld selbst überall und zu allem
Mittel ist, werden dadurch die Inhalte des Daseins in einen ungeheuren
teleologischen Zusammenhang eingestellt, in dem keiner der erste und
keiner der letzte ist. Und da das Geld alle Dinge mit unbarm-
herziger Objektivität miſst und ihr Wertmaſs, das sich so herausstellt,
ihre Verbindungen bestimmt — so ergiebt sich ein Gewebe sachlicher
und persönlicher Lebensinhalte, das sich an ununterbrochener Verknüpft-
heit und strenger Kausalität dem naturgesetzlichen Kosmos nähert und
von dem alles durchflutenden Geldwert so zusammengehalten wird, wie
die Natur von der alles belebenden Energie, die sich ebenso wie jener
in tausend Formen kleidet, aber durch die Gleichmäſsigkeit ihres eigent-
lichen Wesens und die Rückverwandelbarkeit jeder ihrer Umsetzungen
jedes mit jedem in Verbindung setzt und jedes zur Bedingung eines
jeden macht. Wie nun aus der Auffassung der natürlichen Prozesse
alle Gefühlsbetonungen verschwunden und durch die eine objektive
Intelligenz ersetzt worden sind, so scheiden die Gegenstände und Ver-
knüpfungen unserer praktischen Welt, indem sie mehr und mehr zu-
sammenhängende Reihen bilden, die Einmischungen des Gefühles aus,
die sich nur an teleologischen Endpunkten einstellen, und sind nur
noch Objekte der Intelligenz, die wir an der Hand dieser benutzen,
wie wir die Ursächlichkeiten der materiellen Natur benutzen. Die
steigende Verwandlung aller Lebensbestandteile in Mittel, die gegen-
seitige Verbindung der sonst mit selbstgenügsamen Zwecken ab-
geschlossenen Reihen zu einem Komplex relativer Elemente ist nicht
nur das praktische Gegenbild der wachsenden Kausalerkenntnis der
Natur und der Verwandlung des Absoluten in ihr in Bewegungen und
Relativitäten; sondern, da alle Struktur von Mitteln nur eine von vor-
wärts betrachtete Kausalverbindung ist, so wird damit auch die prak-
tische Welt mehr und mehr zu einem Problem für die Intelligenz;
oder vielleicht genauer: die vorstellungsmäſsigen Elemente des Handelns
wachsen objektiv und subjektiv zu berechenbaren, rationalen Ver-
bindungen zusammen und schalten dadurch die gefühlsmäſsigen Be-
tonungen und Entscheidungen mehr und mehr aus, die sich nur an die
Cäsuren des Lebensverlaufes, an die Endzwecke in ihm, anschlieſsen.


Diese Beziehung zwischen der Bedeutung des Intellekts und der
des Geldes für das Leben läſst die Epochen oder Interessengebiete,
wo beides herrscht, zunächst negativ bestimmen: durch eine gewisse
[459] Charakterlosigkeit. Wenn Charakter immer bedeutet, daſs Personen
oder Dinge auf eine individuelle Daseinsart, im Unterschiede und unter
Ausschluſs von allen anderen, entschieden festgelegt sind, so weiſs der
Intellekt als solcher davon nichts: denn er ist der indifferente Spiegel
der Wirklichkeit, in der alle Elemente gleichberechtigt sind, weil ihr
Recht hier in nichts anderem als in ihrem Wirklichsein besteht. Ge-
wiſs sind auch die Intellektualitäten der Menschen charakteristisch
unterschieden; allein genau angesehen, sind dies entweder Unterschiede
des Grades: Tiefe oder Oberflächlichkeit, Weite oder Beschränktheit —
oder solche, die durch den Beisatz andrer Seelenenergien, des Fühlens
oder Wollens, entstehen. Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach,
ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich
erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden
Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist er-
sichtlich auch die Charakterlosigkeit des Geldes. Wie es an und für
sich der mechanische Reflex der Wertverhältnisse der Dinge ist und
allen Parteien sich gleichmäſsig darbietet, so sind innerhalb des Geld-
geschäftes alle Personen gleichwertig, nicht, weil jede, sondern weil
keine etwas wert ist, sondern nur das Geld. Die Charakterlosigkeit
aber des Intellekts wie des Geldes pflegt über diesen reinen, negativen
Sinn hinauszuwachsen. Wir verlangen von allen Dingen — viel-
leicht nicht immer mit sachlichem Recht — Bestimmtheit des Cha-
rakters und verdenken es dem rein theoretischen Menschen, daſs sein
Alles-Verstehen ihn bewegt, alles zu verzeihen — eine Objektivi-
tät, die wohl einem Gotte, aber niemals einem Menschen zukäme, der
sich damit in offenbaren Widerspruch sowohl gegen die Hinweisungen
seiner Natur wie gegen seine Rolle in der Gesellschaft setze. So ver-
denken wir es der Geldwirtschaft, daſs sie ihren zentralen Wert der
elendesten Machination als ein völlig nachgiebiges Werkzeug zur Ver-
fügung stellt; denn dadurch, daſs sie es der hochsinnigsten Unter-
nehmung nicht weniger leiht, wird dies nicht gut gemacht, sondern
grade nur das völlig zufällige Verhältnis zwischen der Reihe der Geld-
operationen und der unserer höheren Wertbegriffe, die Sinnlosigkeit
des einen, wenn man es am anderen miſst, in das hellste Licht ge-
stellt. Die eigentümliche Abflachung des Gefühlslebens, die man der
Jetztzeit gegenüber der einseitigen Stärke und Schroffheit früherer
Epochen nachsagt; die Leichtigkeit intellektueller Verständigung, die
selbst zwischen Menschen divergentester Natur und Position besteht —
während selbst eine intellektuell so überragende und theoretisch so inter-
essierte Persönlichkeit wie Dante noch sagt, gewissen theoretischen Gegnern
dürfe man nicht mit Gründen, sondern nur mit dem Messer antworten;
[460] die Tendenz zur Versöhnlichkeit, aus der Gleichgültigkeit gegen die
Grundfragen des Innenlebens quellend, die man zuhöchst als die nach
dem Heil der Seele bezeichnen kann und die nicht durch den Verstand
zu entscheiden sind — bis zu der Idee des Weltfriedens, die besonders
in den liberalen Kreisen, den historischen Trägern des Intellektualis-
mus und des Geldverkehrs gepflegt wird: alles dies entspringt als
positive Folge jenem negativen Zuge der Charakterlosigkeit. Die
Heftigkeit der modernen Wirtschaftskämpfe, in denen kein Pardon ge-
geben wird, ist nur eine scheinbare Gegeninstanz, da sie durch das
unmittelbare Interesse am Gelde selbst entfesselt werden. Denn nicht
nur, daſs diese in einer objektiven Sphäre vor sich gehen, in der die
Persönlichkeit nicht sowohl als Charakter, sondern als Träger einer
bestimmten sachlichen Wirtschaftspotenz wichtig ist und wo der tod-
feindliche Konkurrent von heute der Kartellgenosse von morgen ist;
sondern vor allem: die Bestimmungen, die ein Gebiet innerhalb seiner
erzeugt, können durchaus denen heterogen sein, die es auſserhalb seiner
gelegenen, aber von ihm beeinfluſsten, mitteilt. So kann eine Religion
innerhalb ihrer Anhänger und ihrer Lehre die Friedfertigkeit selbst
und doch sowohl den Ketzern wie den ihr benachbarten Lebensmächten
gegenüber äuſserst streitbar und grausam sein; so kann ein Mensch in
Anderen Gefühle und Gedanken hervorrufen, die seinen eigenen Lebens-
inhalten völlig heterogen sind, so daſs er giebt, was er selbst nicht hat;
so mag eine Kunstrichtung ihrer eigenen Überzeugung und artistischen
Idee nach völlig naturalistisch sein, in dem Verhältnis der Unmittel-
barkeit und bloſsen Reproduktion zur Natur stehend, während die
Thatsache, daſs es überhaupt eine so treue Hingabe an die Erscheinung
des Wirklichen und eine künstlerische Bemühung um ihre Abspiegelung
giebt, im System des Lebens ein absolut ideales Moment ist und sich,
im Vergleich zu dessen anderen Bestandteilen, weit über alle natura-
listische Wirklichkeit hinaushebt. So wenig die Schärfe theoretisch-
logischer Kontroversen hindert, daſs die Intellektualität doch ein Prinzip
der Versöhnlichkeit ist — denn sobald der Streit aus dem Gegensatz
der Gefühle oder der Wollungen oder der unbeweisbaren, nur gefühls-
mäſsig anerkennbaren Axiome in die theoretische Diskussion über-
gegangen ist, muſs er prinzipiell beigelegt werden können —, so wenig
hindern die Interessenkämpfe in der Geldwirtschaft, daſs diese doch
ein Prinzip der Indifferenz ist, die Gegnerschaften aus dem eigentlich
Persönlichen heraushebt und ihnen einen Boden bietet, auf dem schlieſs-
lich immer eine Verständigung möglich ist. Gewiſs hat die rein ver-
standesmäſsige Behandlung der Menschen und Dinge etwas Grausames;
aber sie hat dies nicht als positiven Impuls, sondern als einfache Un-
[461] berührtheit ihrer bloſs logischen Konsequenz durch Rücksichten, Gut-
mütigkeit, Zartheiten; weshalb denn auch entsprechend der rein geld-
mäſsig interessierte Mensch es gar nicht zu begreifen pflegt, wenn man
ihm Grausamkeit und Brutalität vorwirft, da er sich einer bloſsen Folge-
richtigkeit und reinen Sachlichkeit seines Verfahrens, ohne irgend einen
bösen Willen, bewuſst ist. Bei alledem ist festzuhalten, daſs es sich
nur um das Geld als Form der Wirtschaftsbewegungen handelt, denen
darum doch aus anderweitigen, inhaltlichen Motiven noch ganz davon
abweichende Züge kommen können. Man kann dieses Jenseits der
Charakterbestimmtheiten, in das das Leben, unbeschadet aller sonstigen,
gegensatzverschärfenden Folgen der Intellektualität und der Geldwirt-
schaft, durch sie gestellt wird, als Objektivität des Lebensstiles be-
zeichnen. Dies ist nicht ein Zug, der sich der Intelligenz hinzugesellte,
sondern er ist ihr Wesen selbst; sie ist die einzige dem Menschen
zugängige Art, auf die er zu den Dingen ein nicht durch die Zufällig-
keit des Subjektes bestimmtes Verhältnis gewinnen kann. Angenommen
selbst, daſs die gesamte objektive Wirklichkeit durch die Funktionen
unseres Geistes bestimmt ist, so nennen wir eben diejenigen Funktionen
die intelligenten, durch die sie uns als die objektive, im spezifischen Sinne
des Wortes, erscheint, so sehr die Intelligenz selbst auch durch ander-
weitige Kräfte belebt und dirigiert sei. Das glänzendste Beispiel für
diese Zusammenhänge ist Spinoza: ein objektivstes Verhalten zur Welt,
jeder einzelne Akt der Innerlichkeit als ein harmonisches Weiterklingen
der Notwendigkeiten des allgemeinen Daseins gefordert, den Unberechen-
barkeiten der Individualität nirgends gestattet, die logisch-mathematische
Struktur der Welteinheit zu durchbrechen; die Funktion, die dieses
Weltbild und seine Normen trägt, die rein intellektuelle, auf das bloſse
Verstehen der Dinge ist diese Weltanschauung selbst subjektiv auf-
gebaut und es reicht zur Erfüllung ihrer Forderungen aus; diese In-
tellektualität selbst aber allerdings auf ein tief religiöses Fühlen ge-
gründet, auf eine völlig über-theoretische Beziehung zum Grunde der
Dinge, die nur nie in das Einzelne des in sich geschlossenen intellek-
tuellen Prozesses eingreift. Im groſsen zeigt das indische Volk die-
selbe Verbindung. Von den ältesten wie in den modernen Zeiten wird
berichtet, daſs zwischen den kämpfenden Heeren indischer Staaten der
Landmann ruhig sein Feld bebauen könne, ohne von einer feindlichen
Partei belästigt zu werden; denn er sei „der gemeinsame Wohlthäter
von Freund und Feind“. Offenbar ist dies ein äuſserstes Maſs ob-
jektiver Behandlung der praktischen Dinge: die als natürlich er-
scheinenden subjektiven Impulse sind völlig zu gunsten einer nur der
sachlichen Bedeutung der Elemente entsprechenden Praxis ausgeschaltet,
[462] die Differenzierung des Verhaltens folgt nur noch einer objektiven An-
gemessenheit statt denen der persönlichen Leidenschaft. Aber dieses
Volk war auch völlig intellektualistisch gestimmt: an scharfer Logik,
grüblerischer Tiefe der Weltkonstruktion, ja, einer kahlen Verstandes-
mäſsigkeit selbst seiner gigantischsten Phantasien wie seiner gesteigert-
sten ethischen Ideale war es in alten Zeiten allen anderen ebenso über-
legen, wie es an ausstrahlender Wärme des eigentlichen Gemütslebens
und an Willenskraft hinter sehr vielen zurückstand; es war ein bloſser
Zuschauer und logischer Konstrukteur des Weltlaufs geworden — aber
daſs es das geworden war, das ruhte dennoch auf letzten Entschei-
dungen des Gefühles, auf einer Unermeſslichkeit des Leidens, die zu
einem metaphysisch-religiösen Fühlen seiner kosmischen Notwendigkeit
auswuchs, weil der Einzelne mit ihm weder innerhalb der Gefühls-
provinz selbst, noch durch die Ableitungen einer energischen Lebens-
praxis fertig werden konnte.


Eben diese Objektivität der Lebensverfassung geht auch von deren
Beziehung zum Gelde aus. Ich habe in früherem Zusammenhang
darauf hingewiesen, eine wie groſse Erhebung über die ursprüngliche
undifferenzierte Subjektivität des Menschen schon der Handel darstellt.
Noch heute giebt es Völker in Afrika und Mikronesien, die keinen
anderen Besitzwechsel als in den Formen des Raubes und des Ge-
schenkes kennen. Wie dem höheren Menschen neben und über den
subjektivistischen Antrieben von Egoismus und Altruismus — in deren
Alternative die Ethik leider noch die menschlichen Motivierungen
einzusperren pflegt — objektive Interessen erwachsen, ein Hin-
gegebensein oder Verpflichtetsein, das gar nicht mit Verhältnissen von
Subjekten, sondern mit sachlichen Angemessenheiten und Idealen zu
thun hat: so entwickelt sich, jenseits der egoistischen Impulsivität des
Raubes und der nicht geringeren altruistischen des Geschenkes, der
Besitzwechsel nach der Norm objektiver Richtigkeit und Gerechtigkeit,
der Tausch. Das Geld aber stellt das Moment der Objektivität der
Tauschhandlungen gleichsam in reiner Abgelöstheit und selbständiger
Verkörperung dar, da es von allen einseitigen Qualifikationen der
tauschbaren Einzeldinge frei ist und deshalb von sich aus zu keiner
wirtschaftlichen Subjektivität ein entschiedneres Verhältnis hat als zu
einer anderen — grade wie das theoretische Gesetz die für sich seiende
Objektivität des Naturgeschehens darstellt, der gegenüber jeder einzelne,
von jenem bestimmte Fall als zufällig — das Seitenstück zu dem Sub-
jektiven im Menschlichen — erscheint. Daſs dennoch die verschiedenen
Persönlichkeiten grade zum Gelde die verschiedensten inneren Be-
ziehungen haben, beweist grade seine Jenseitigkeit von jeder sub-
[463] jektiven Einzelheit; es teilt diese mit den anderen groſsen historischen
Potenzen, die weiten Seen gleichen, aus denen man von jeder Seite
her und alles das schöpfen kann, was das mitgebrachte Gefäſs nach
Form und Umfang gestattet. Die Objektivität des gegenseitigen Ver-
haltens der Menschen — die freilich nur eine Formung eines ur-
sprünglich von subjektiven Energien gelieferten Materiales ist, aber
eine von schlieſslich selbständigem Bestande und Normgebung — ge-
winnt an den rein geldwirtschaftlichen Interessen ihre restloseste Aus-
prägung. Was gegen Geld fortgegeben wird, gelangt an denjenigen,
der das meiste dafür giebt, gleichgültig, was und wer er sonst sei; wo
andere Äquivalente ins Spiel kommen, wo man um Ehre, um Dienst-
leistung, um Dankbarkeit sich eines Besitzes entäuſsert, sieht man sich
die Beschaffenheit der Person an, der man giebt. Und umgekehrt, wo
ich selbst um Geld kaufe, ist es mir gleichgültig, von wem ich das
kaufe, was mir erwünscht und den Preis wert ist; wo man aber um
den Preis der Dienstleistung, der persönlichen Verpflichtung in inner-
licher und äuſserlicher Beziehung erwirbt, da prüft man genau, mit
wem man zu thun hat, weil wir nichts anderes von uns als grade nur
Geld jedem Beliebigen geben mögen. Die Bemerkung auf den Kassen-
scheinen, daſs der Wert derselben dem Einlieferer „ohne Legitimations-
prüfung“ ausgezahlt wird, ist bezeichnend für die absolute Objektivität,
mit der in Geldsachen verfahren wird. Auf ihrem Gebiete findet sich
selbst bei einem sehr viel leidenschaftlicheren Volke als den Indern
doch ein Gegenstück zu jener Exemtion des Ackerbauers von den
kriegerischen Bewegungen: bei einigen Indianern darf der Händler
unbehelligt durch Stämme ziehen und Handel treiben, die mit dem
seinigen auf dem Kriegsfuſs stehen! Das Geld stellt Handlungen und
Verhältnisse des Menschen so auſserhalb des Menschen als Subjektes,
wie das Seelenleben, soweit es rein intellektuell ist, aus der persön-
lichen Subjektivität in die Sphäre der Sachlichkeit, die es nun ab-
spiegelt, eintritt.


Diese Begründung der Korrelation zwischen Intellektualität und
geldmäſsiger Wirtschaft auf die charakterologische Unbestimmtheit und
Objektivität, die beiden gemeinsam wären, begegnet nun aber einer sehr
entschiedenen Gegeninstanz. Neben der unpersönlichen Sachlichkeit
nämlich, die der Intelligenz ihren Inhalten nach eigen ist, steht eine
äuſserst enge Beziehung, die sie grade zur Individualität und zum
ganzen Prinzip des Individualismus besitzt; das Geld seinerseits, so
sehr es die impulsiv-subjektivistischen Verfahrungsweisen in überper-
sönliche und sachlich normierte überführt, ist dennoch die Pflanzstätte
des wirtschaftlichen Individualismus und Egoismus. Hier liegen also
[464] offenbar Mehrdeutigkeiten und Verschlingungen der Begriffe vor, die
klar auseinandergelegt werden müssen, um den durch sie bezeichenbaren
Lebensstil zu verstehen. Jene Doppelrolle, die sowohl der Intellekt
wie das Geld spielen, wird begreiflich, sobald man ihren Inhalt, den
Sachgehalt ihres Wesens, von der Funktion unterscheidet, die diesen
trägt, bezw. von der Verwendung, die von ihm gemacht wird. In dem
ersteren Sinne hat der Intellekt einen nivellierten, ja, man möchte
sagen: kommunistischen Charakter. Zunächst, weil es das Wesen seiner
Inhalte ist, daſs sie allgemein mitteilbar sind und daſs, ihre Richtig-
keit vorausgesetzt, jeder hinreichend vorgebildete Geist sich von ihnen
muſs überzeugen lassen können — wozu es auf den Gebieten des Willens
und des Gefühles gar kein Analogon giebt. Auf diesen hängt jede
Übertragung der gleichen inneren Konstellation von der mitgebrachten
und jedem Zwange nur bedingt nachgiebigen Verfassung der indi-
viduellen Seele ab; ihr gegenüber giebt es keine Beweise, wie
sie dem Intellekt, wenigstens prinzipiell, zu Gebote stehen, um die
gleiche Überzeugung durch die Gesamtheit der Geister zu verbreiten.
Die Belehrbarkeit, die ihm allein eigen ist, bedeutet, daſs man sich
auf einem mit Allen gemeinsamen Niveau befindet. Dazu kommt,
daſs die Inhalte der Intelligenz, von ganz zufälligen Komplikationen
abgesehen, die eifersüchtige Ausschlieſslichkeit nicht kennen, die die
praktischen Lebensinhalte so oft besitzen. Gewisse Gefühle, z. B. die
aus dem Verhältnis zwischen einem Ich und einem Du quellenden, würden
ihr Wesen und ihren Wert völlig verlieren, wenn eine Mehrzahl sie
genau so teilen dürfte; gewissen Willenszielen ist es unbedingt wesent-
lich, daſs Andere von ihnen, sowohl dem Erstreben wie dem Erreichen
nach, ausgeschlossen sind. Theoretische Vorstellungen dagegen gleichen,
wie man wohl gesagt hat, der Fackel, deren Licht darum nicht ge-
ringer wird, daſs beliebig viele andere an ihr entzündet werden; indem
die potenzielle Unendlichkeit ihrer Verbreitung gar keinen Einfluſs auf
ihre Bedeutung hat, entzieht sie sie mehr als alle sonstigen Lebens-
inhalte dem Privatbesitz. Endlich bieten sie sich durch die Fixierung,
über die sie verfügen, in einer Art dar, die von der Aufnahme ihres
Inhaltes alle individuellen Zufälligkeiten, wenigstens prinzipiell, aus-
schlieſst. Wir haben gar keine Möglichkeit, Gefühlsbewegungen und
Willensenergien in so restloser und unzweideutiger Weise niederzu-
legen, daſs jeder in jedem Augenblick darauf zurückgreifen und an
der Hand des objektiven Gebildes den gleichen inneren Vorgang immer
wieder erzeugen kann — wozu wir allein intellektuellen Inhalten gegen-
über in der in Begriffen und ihrer logischen Verknüpfung sich be-
wegenden Sprache ein zulängliches, von der individuellen Disposition
[465] relativ unabhängiges Mittel besitzen. Nach ganz anderer Richtung aber
entwickelt sich nun die Bedeutung des Intellekts, sobald die realen ge-
schichtlichen Kräfte mit jenen abstrakten Sachlichkeiten und Möglich-
keiten seines Inhaltes zu schalten beginnen. Zunächst ist es grade die
Allgemeingültigkeit des Intellektuellen und seine daraus folgende Ein-
dringlichkeit und Unwiderstehlichkeit, die es zu einer furchtbaren Waffe
der irgend hervorragenderen Intelligenzen macht. Gegen einen über-
legenen Willen können wenigstens die nicht suggestiblen Naturen sich
wehren; einer überlegenen Logik aber kann man sich nur durch ein
eigensinniges: Ich will nicht — entziehen, womit man sich denn doch
als den schwächeren bekennt. Es kommt hinzu, daſs zwar die groſsen
Entscheidungen zwischen den Menschen von den überintellektuellen
Energien ausgehen, der tägliche Kampf um das Sein und Haben aber
durch das einzusetzende Maſs von Klugheit entschieden zu werden
pflegt. Die Macht der gröſseren Intelligenz beruht grade auf dem
kommunistischen Charakter ihrer Qualität: weil sie inhaltlich das All-
gemeingültige und überall Wirksame und Anerkannte ist, giebt schon
das bloſse Quantum ihrer, das jemandem durch seine Anlage zugängig
ist, ihm einen unbedingteren Vorsprung, als ein qualitativ individuellerer
Besitz es könnte, der eben wegen seiner Individualität nicht überall
verwendbar ist und nicht ebenso an jedem Punkte der praktischen
Welt irgend ein Herrschaftsgebiet findet. Hier wie sonst ist es grade
der Boden des gleichen Rechtes für alle, der die individuellen Unter-
schiede zur vollen Entwicklung und Ausnutzung bringt. Grade weil
die bloſs verstandesmäſsige, auf die unbegründbaren Betonungen des
Wollens und Fühlens verzichtende Vorstellung und Ordnung der mensch-
lichen Verhältnisse keinen a priori gegebenen Unterschied zwischen
den Individuen kennt, hat sie ebensowenig Grund, dem a posteriori
hervortretenden irgend etwas von der Ausdehnung abzuschneiden, zu
der er von sich aus gelangen kann — was durch den sozialen Pflicht-
willen wie durch die Gefühle von Liebe und Mitleid so oft geschieht.
Darum ist die rationalistische Weltauffassung — die, unparteiisch wie
das Geld, auch das sozialistische Lebensbild genährt hat — die Schule
des neuzeitlichen Egoismus und des rücksichtslosen Durchsetzens der
Individualität geworden. Für die gewöhnliche — nicht grade vertiefte —
Anschauung ist das Ich im Praktischen nicht weniger als im Theore-
tischen die selbstverständliche Grundlage und das unvermeidlich erste
Interesse; alle Motive der Selbstlosigkeit erscheinen nicht als ebenso
natürliche und autochthone, sondern als nachträgliche und gleichsam
künstlich angepflanzte. Der Erfolg davon ist, daſs das Handeln im
selbstischen Interesse als das eigentlich und einfach „logische“ gilt.
Simmel, Philosophie des Geldes. 30
[466] Alle Hingabe und Aufopferung scheint aus den irrationalen Kräften
des Gefühls und Willens zu flieſsen, so daſs die bloſsen Verstandes-
menschen dieselbe als einen Beweis mangelnder Klugheit zu ironi-
sieren oder als den Umweg eines versteckten Egoismus zu denunzieren
pflegen. Gewiſs ist dies schon deshalb irrig, weil auch der egoistische
Wille eben Wille ist, so gut wie der altruistische, und so wenig wie
dieser aus dem bloſsen verstandesmäſsigen Denken herausgepreſst
werden kann; dieses vielmehr kann, wie wir sahen, immer nur die
Mittel, für das eine wie für das andere, an die Hand geben, es steht
dem praktischen Zweck, der diese auswählt und verwirklicht, völlig
indifferent gegenüber. Allein da jene Verbindung der reinen Intellek-
tualität mit dem praktischen Egoismus nun einmal eine verbreitete
Vorstellung ist, so wird sie wohl, wenn auch nicht mit der angeblichen
logischen Unmittelbarkeit, so doch auf irgend welchen psychologischen
Umwegen irgend eine Wirklichkeit haben. Aber nicht nur der eigent-
lich ethische Egoismus, sondern auch der soziale Individualismus er-
scheint als das notwendige Korrelat der Intellektualität. Aller Kollek-
tivismus, der eine neue Lebenseinheit aus und über den Individuen
schafft, scheint dem nüchternen Verstande etwas Mystisches, ihm Un-
durchdringliches zu enthalten, sobald er es eben nicht in die bloſse
Summe der Individuen auflösen kann — wie die Lebenseinheit des
Organismus, soweit er ihn nicht als Mechanismus der Teile verstehen
kann. Darum ist mit dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der sich
zur Revolution aufgipfelte, ein strenger Individualismus verbunden, und
erst die Opposition gegen den ersteren, die von Herder über die Ro-
mantik führte, hat mit der Anerkennung der überintellektuellen Ge-
fühlspotenzen des Lebens auch die überindividuellen Kollektivitäten
als Einheiten und historische Wirklichkeiten anerkannt. Die All-
gemeingültigkeit der Intellektualität ihren Inhalten nach wirkt, indem
sie für jede individuelle Intelligenz gilt, auf eine Atomisierung der
Gesellschaft hin, sowohl vermittels ihrer wie von ihr aus gesehen er-
scheint jeder als ein in sich geschlossenes Element neben jedem anderen,
ohne daſs diese abstrakte Allgemeinheit irgendwie in die konkrete über-
ginge, in der der Einzelne erst mit den anderen zusammen eine Ein-
heit bildete. Endlich hat die innere Zugängigkeit und Nach-Denkbar-
keit theoretischer Erkenntnisse, die sich niemandem so prinzipiell ver-
sagen können, wie gewisse Gefühle und Wollungen es thun, eine Kehr-
seite, die ihr praktisches Resultat direkt umkehrt. Zunächst bewirkt
grade die allgemeine Zugängigkeit, daſs Umstände ganz jenseits der
personalen Qualifikation über die thatsächliche Ausnutzung derselben
entscheiden: was zu dem ungeheuren Übergewicht des unintelligen-
[467] testen „Gebildeten“ über den klügsten Proletarier führt. Die schein-
bare Gleichheit, mit der sich der Bildungsstoff jedem bietet, der ihn er-
greifen will, ist in der Wirklichkeit ein blutiger Hohn, grade wie andere
Freiheiten liberalistischer Doktrinen, die den Einzelnen freilich an dem
Gewinn von Gütern jeder Art nicht hindern, aber übersehen, daſs nur
der durch irgend welche Umstände schon Begünstigte die Möglichkeit
besitzt, sie sich anzueignen. Da nun die Inhalte der Bildung — trotz
oder wegen ihres allgemeinen Sich-Darbietens — schlieſslich nur durch
individuelle Aktivität angeeignet werden, so erzeugen sie die unan-
greifbarste, weil ungreifbarste Aristokratie, einen Unterschied zwischen
Hoch und Niedrig, der nicht wie ein ökonomisch-sozialer durch ein
Dekret oder eine Revolution auszulöschen ist, und auch nicht durch
den guten Willen der Betreffenden; Jesus konnte dem reichen Jüng-
ling wohl sagen: Schenke deinen Besitz den Armen, aber nicht: Gieb
deine Bildung den Niederen. Es giebt keinen Vorzug, der dem Tiefer-
stehenden so unheimlich erschiene, dem gegenüber er sich so innerlich
zurückgesetzt und wehrlos fühlte, wie der Vorzug der Bildung; wes-
halb denn Bestrebungen, die auf die praktische Gleichheit ausgingen,
so oft und in so vielen Variationen die intellektuelle Bildung per-
horreszierten: von Buddha, den Zynikern, dem Christentum in gewissen
seiner Erscheinungen an bis zu Robespierres: nous n’avons pas besoin
de savants. Wozu das sehr Wesentliche kommt, daſs die Fixierung
der Erkenntnisse durch Sprache und Schrift — abstrakt betrachtet, ein
Träger ihres kommunistischen Wesens — eine Anhäufung und nament-
lich Verdichtung derselben ermöglicht, die die Kluft zwischen Hoch
und Niedrig in dieser Hinsicht sich stetig erweitern läſst. Der in-
tellektuell beanlagte oder materiell sorgenfreiere Mensch wird um so
mehr Chancen haben, über die Masse hinauszuragen, je gröſser und
zusammengedrängter der vorliegende Bildungsstoff ist. Wie dem Prole-
tarier heute mancherlei früher versagte Komforts und Kulturgenüsse zu-
gängig sind, zugleich aber — besonders wenn wir mehrere Jahr-
hunderte und Jahrtausende zurücksehen — die Kluft zwischen seiner
Lebenshaltung und der der höheren Stände doch viel gröſser geworden
ist: so bringt die allgemeine Erhöhung des Erkenntnisniveaus durch-
aus keine allgemeine Nivellierung, sondern das Gegenteil davon hervor.


Ich habe dies so ausführlich erörtert, weil die Gegensätzlichkeit
des Sinnes, die der Begriff der Intellektualität zeigt, am Geld ihre
genaue Analogie findet. Dem Verständnis des Geldes dient so nicht
nur seine Wechselwirkung mit der Intellektualität, durch die ihre
Formen sich gegenseitig anähnlichen, sondern vielleicht auch der damit
gegebene Hinweis auf ein tiefer gelegenes, ihnen gemeinsames Prinzip,
30*
[468] das die Gleichheit ihrer Entwicklung trägt — etwa jene fundamentale
Beschaffenheit oder Stimmung der historischen Elemente, die, indem
sie die Formung derselben bewirkt, ihren Stil ausmacht. Wie sehr
nun das Geld auf der Basis seiner prinzipiellen All-Zugänglichkeit und
Objektivität dennoch der Umbildung der Individualität und Subjektivität
dient; wie grade seine Immer- und Allgleichheit, sein qualitativ kommu-
nistischer Charakter bewirkt, daſs jeder quantitative Unterschied so-
gleich zu qualitativen Differenzen führt — ist in den vorangehenden
Kapiteln beschrieben. Es zeigt sich aber auch hier in der mit keinem
anderen Kulturfaktor vergleichbaren Ausbreitung seiner Macht, die die
entgegengesetztesten Lebenstendenzen zu gleichen Rechten trägt, als
die Verdichtung der rein formalen Kulturenergie, die jedem beliebigen
Inhalt zugesetzt werden kann, um ihn in seiner eigenen Richtung zu
steigern und zu immer reinerer Darstellung zu bringen. Ich hebe des-
halb nur einige spezielle Analogien mit der Intellektualität hervor, des
Inhalts, daſs die Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit seines ab-
strakten, sachlichen Wesens, sobald es auf seine Funktion und Ver-
wendung ankommt, in den Dienst des Egoismus und der Differenzierung
tritt. Der Charakter des Rationellen und Logischen, der sich am
Egoismus herausstellte, haftet auch an der vollen und rücksichtslosen
Ausnutzung des Geldbesitzes. Wir haben früher als das Bezeichnende
des Geldes andern Besitzen gegenüber festgestellt, daſs es keinerlei
Hinweis auf irgend eine bestimmte Verwendungsart und ebendeshalb
keinerlei Hemmung in sich schlieſst, durch die ihm die eine Ver-
wendung ferner oder schwieriger wäre als die andere; in jede, grade
fragliche, geht es restlos auf, ohne daſs ein Verhältnis seiner Qualität
zu der der realen Objekte spezifisch fördernd oder abbiegend wirkte —
darin den logischen Formen selbst vergleichbar, die sich jedem be-
liebigen Inhalt, seiner Entwicklung oder Kombination gleichmäſsig dar-
bieten und eben dadurch freilich dem sachlich Unsinnigsten und Ver-
derblichsten dieselbe Chance der Darstellung und formalen Richtigkeit
wie dem Wertvollsten gewähren; und nicht weniger den Schematen
des Rechtes analog, dem es oft genug an Schutzvorrichtungen dagegen
fehlt, das schwerste materielle Unrecht mit unangreifbarer formaler
Gerechtigkeit auszustatten. Diese absolute Möglichkeit, die Kräfte des
Geldes bis aufs Letzte auszunutzen, erscheint nun nicht nur als Recht-
fertigung, sondern sozusagen als logisch-begriffliche Notwendigkeit, es
auch wirklich zu thun. Da es in sich weder Direktiven noch Hem-
mungen enthält, so folgt es dem je stärksten subjektiven Impuls, der
auf den Gebieten der Geldverwendung überhaupt der egoistische zu
sein pflegt. Jene Hemmungsvorstellungen: daſs an einem bestimmten
[469] Gelde „Blut klebt“ oder ein Fluch haftet, sind Sentimentalitäten, die
mit der wachsenden Indifferenz des Geldes — indem es also immer
mehr bloſs Geld wird — ihre Bedeutung ganz einbüſsen. Die rein
negative Bestimmung, daſs keinerlei Rücksicht sachlicher oder ethischer
Art, wie sie sich aus andern Besitzarten ergiebt, die Verwendung des
Geldes bestimmt, wächst ohne weiteres zur Rücksichtslosigkeit als
einer ganz positiven Verhaltungsart aus. Seine Nachgiebigkeit, die
aus seinem völligen Gelöstsein von singulären Interessen, Ursprüngen
und Beziehungen folgt, enthält als anscheinend logische Konsequenz
die Aufforderung, uns in den von ihm beherrschten Lebensprovinzen
keinerlei Zwang anzuthun. An seiner absoluten Sachlichkeit, die grade
aus dem Ausschluſs jeder einseitigen Sachlichkeit hervorgeht, findet
der Egoismus reinen Tisch vor, wie er ihn auch an der bloſsen In-
tellektualität fand — aus keinem anderen Grunde, als weil diese Trieb-
feder die logisch einfachste und nächstliegende ist, so daſs die rein
formalen und indifferenten Lebensmächte an ihr ihre erste, gleichsam
natürliche und wahlverwandte Erfüllung finden.


Es ist nicht nur, wie ich es oben berührte, die Rechtsform über-
haupt, die sich mit der reinen Intellektualität und dem Geldverkehr
darin trifft, daſs sie sich alle dem sachlich und sittlich perversesten In-
halte nicht entziehen; sondern es ist vor allem das Prinzip der Rechts-
gleichheit, in dem diese Diskrepanz zwischen der Form und dem
realen Inhalt gipfelt. Alle drei: das Recht, die Intellektualität,
das Geld, sind durch die Gleichgültigkeit gegen individuelle Eigen-
heit charakterisiert; alle drei ziehen aus der konkreten Ganzheit
der Lebensbewegungen einen abstrakten, allgemeinen Faktor heraus,
der sich nach eigenen und selbständigen Normen entwickelt und von
diesen aus in jene Gesamtheit der Interessen des Daseins eingreift
und sie nach sich bestimmt. Indem alle drei also Inhalten, gegen die
sie ihrem Wesen nach gleichgültig sind, Formen und Richtungen vor-
zuschreiben mächtig sind, bringen sie unvermeidlich die Widersprüche,
die uns hier beschäftigen, in die Totalität des Lebens hinein. Wo die
Gleichheit die formalen Fundamente der Beziehungen zwischen Menschen
ergreift, wird sie zum Mittel, ihre individuellen Ungleichheiten zum
schärfsten und folgenreichsten Ausdruck zu bringen, der Egoismus hat
sich, indem er die Schranken der formalen Gleichheit einhält, mit
inneren und äuſseren Hemmungen abgefunden und besitzt nun grade
in der Allgemeingültigkeit jener Bestimmungen eine Waffe, die, weil
sie jedem dient, auch gegen jeden dient. Die Formen der Rechts-
gleichheit bezeichnen den Typus hierfür, den einerseits die Intellek-
tualität in ihrer oben geschilderten Bedeutung, andrerseits das Geld
[470] wiederholt: seine allgemeine Zugängigkeit und Gültigkeit, sein poten-
zieller Kommunismus beseitigt sowohl für die Oben- wie für die Unten-
wie für die Gleichstehenden gewisse Schranken, die aus der apri-
orischen, standesmäſsigen Abgrenzung der Besitzarten gefolgt waren.
So lange der Grundbesitz und die Berufe in den Händen bestimmter
Klassen waren, brachten sie Verpflichtungen gegen die Tieferstehen-
den, Solidaritäten der Genossen, selbstverständliche Begehrlichkeits-
grenzen der Ausgeschlossenen mit sich, zu denen für einen „aufgeklärten“
Rationalismus kein Grund mehr vorliegt, sobald jeder Besitz in einen
Wert überführbar ist, von dessen unbegrenzter Erwerbung niemand
prinzipiell fernzuhalten ist — womit natürlich die Frage nach der
Gesamt- Zu- oder Abnahme des Egoismus im Lauf der Geschichte
keineswegs entschieden ist.


Endlich erwähne ich das äuſserst Charakteristische, daſs auch jene
Aufhäufung intellektueller Errungenschaften, die dem irgendwie Be-
günstigten einen unverhältnismäſsigen und rapid wachsenden Vorsprung
gönnt, in den Akkumulierungen des Geldkapitals ihre Analogie findet.
Die Struktur der geldwirtschaftlichen Verhältnisse, die Art, wie das
Geld Renten und Gewinn erzielt, bringt es mit sich, daſs es von einer
gewissen Höhe ab sich wie von selbst vermehrt, ohne durch verhältnis-
mäſsige Arbeit des Besitzers befruchtet zu werden. Dies entspricht
der Struktur der Erkenntnisse in der Kulturwelt, die von einem bestimmten
Punkte an einen immer geringeren Selbsterwerb des Einzelnen fordern,
weil sich die Wissensinhalte in verdichteter und mit ihrer gröſseren
Höhe immer konzentrierterer Form darbieten. Auf den Höhen der
Bildung fordert jeder weitere Schritt oft im Verhältnis zu dem Tempo
der Erwerbungen niederer Stufen ebenso viel weniger Mühe, wie er
einen höheren Erkenntnisertrag liefert. Wie die Objektivität des
Geldes ihm schlieſslich ein von personalen Energien relativ unabhängiges
„Arbeiten“ gestattet, dessen sich aufhäufende Erträge wie automatisch
zu weiteren Aufhäufungen in steigenden Proportionen führen — so
bewirkt das Objektivwerden der Erkenntnisse, die Lösung der Resul-
tate der Intelligenz von dem Prozesse der letzteren selbst, daſs diese
Resultate sich zu verdichteten Abstraktionen aufhäufen, und daſs man
sie, wenn man nur schon hoch genug steht, wie Früchte pflücken kann,
die ihren Reifeprozeſs ohne unser Zuthun vollzogen haben.


Als Erfolg von alledem wird das Geld, das seinem immanenten
Wesen und seinen begrifflichen Bestimmungen nach ein absolut demo-
kratisches, nivelliertes, jede individuelle Sonderbeziehung ausschlieſsen-
des Gebilde ist, grade von den auf allgemeine Gleichheit ausgehenden
Bestrebungen aufs entschiedenste verworfen — die gleiche Konsequenz
[471] aus den gleichen Voraussetzungen, wie wir sie der Intellektualität
gegenüber beobachten konnten. Die Allgemeinheit im logisch-inhalt-
lichen Sinne und die im sozial-praktischen Sinne fallen in diesen
beiden Provinzen auseinander. In anderem gehen sie oft genug
zusammen: so ist es das Wesen der Kunst, in ihrem Inhalt die
typisch-allgemeinen Züge der Erscheinungen darzustellen, damit aber
auch an die typischen Seelenregungen der Gattung in uns zu
appellieren, ihren prinzipiellen Anspruch auf allgemeine subjektive
Anerkennung auf die Ausschaltung alles Zufällig-Individuellen in
ihrem Objekte zu gründen. So erheben sich die Gebilde der Reli-
gion ihrem Begriff nach über alle Besonderheit irdischer Gestaltung
zum Absolut-Allgemeinen und gewinnen eben dadurch die Beziehung
zu dem Allgemeinsten und alle Individuen Verbindenden in der
Menschenwelt; sie erlösen uns von dem bloſs Individuellen in uns,
indem sie dieses durch die All-Einheit ihres Inhalts auf die fundamen-
talen, als die gemeinsamen Wurzeln alles Menschlichen empfundenen
Züge zurückführen. Ebenso verhält sich die Moral im Sinne Kants.
Die Handlungsweise, welche eine logische Verallgemeinerung verträgt,
ohne mit sich selbst in Widerspruch zu geraten, sei zugleich sittliches,
für jeden Menschen ohne Ansehn der Person gültiges Gebot, das Kri-
terium: daſs man sich die praktische Maxime als Naturgesetz denken
könne, also ihre begriffliche, objektive Allgemeinheit, entscheidet über
die Allgemeinheit für alle Subjekte, die sie als moralische Forderung
besitzt. Im Gegensatz zu diesen Gebilden scheint das moderne Leben
an anderen grade eine Spannung zwischen der sachlich-inhaltlichen und
der praktisch-personalen Allgemeinheit aufwachsen zu lassen. Gewisse
Elemente gewinnen immer gröſsere Allgemeinheit ihres Inhalts, ihre
Bedeutung wird über immer mehr Einzelheiten und Beziehungen
mächtig, ihr Begriff schlieſst, unmittelbar oder mittelbar, einen immer
gröſseren Teil der Wirklichkeit ein; so das Recht, die Prozesse und
Ergebnisse der Intellektualität, das Geld. Hand in Hand damit geht
aber die Zuspitzung derselben zu subjektiv differenzierten Lebens-
gestaltungen, die Ausnutzung ihrer ausgreifenden, allen Interessenstoff
ergreifenden Bedeutung für die Praxis des Egoismus, die erschöpfende
Entwicklung personaler Unterschiede an diesem nivellierten, allgemein
zugängigen und gültigen, und deshalb jedem Sonderwillen gegenüber
widerstandslosen Material. Die Wirrnis und das Gefühl geheimen
Selbstwiderspruches, das den Stil der Gegenwart an so vielen Punkten
charakterisiert, wird zum Teil auf dieser Unausgeglichenheit und
Gegenbewegung beruhen, die zwischen dem Sachgehalt, der objek-
tiven Bedeutung jener Gebiete und ihrer personalen Verwendung
[472] und Ausgestaltung in Hinsicht auf Allgemeinheit und Gleichheit be-
steht. —


Ich komme in dem Stilbilde der Gegenwart auf einen letzten
Zug, dessen Rationalistik den Einfluſs des Geldwesens sichtbar macht.
Die geistigen Funktionen, mit deren Hülfe sich die Neuzeit der Welt
gegenüber abfindet und ihre inneren — individuellen und sozialen —
Beziehungen regelt, kann man groſsenteils als rechnende bezeichnen.
Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein groſses Rechenexempel zu
begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in
einem System von Zahlen aufzufangen, und Kant glaubt in der Natur-
lehre nur soviel eigentliche Wissenschaft zu finden, wie in ihr Mathe-
matik angewandt werden kann. Aber nicht nur die körperliche Welt
gilt es mit Wägen und Messen geistig zu bezwingen; den Wert des
Lebens selbst wollen Pessimismus wie Optimismus durch ein gegen-
seitiges Aufrechnen von Lust und Leid festsetzen, der zahlenmäſsigen
Fixierung beider Faktoren mindestens als ihrem Ideal zustrebend.
In derselben Richtung liegt die vielfache Bestimmung des öffentlichen
Lebens durch Majoritätsbeschlüsse. Die Majorisierung des Einzelnen
durch die Thatsache, daſs andere, von vornherein doch nur gleich-
berechtigte, anderer Meinung sind, ist keineswegs so selbstverständlich,
wie sie uns heute erscheint; alte germanische Rechte kennen sie nicht:
wer dem Beschluſs der Gemeinde nicht zustimmt, ist auch nicht durch
ihn gebunden; im Stammesrat der Irokesen, in den aragonesischen Cortes
bis ins 16. Jahrhundert hinein, im polnischen Reichstag und andern
Gemeinschaften gab es keine Überstimmung; der nicht einstimmige
Beschluſs war ungültig. Das Prinzip, daſs die Minorität sich zu fügen
hat, bedeutet, daſs der absolute oder qualitative Wert der individuellen
Stimme auf eine Einheit von rein quantitativer Bedeutung reduziert
ist. Die demokratische Nivellierung, der jeder für einen und keiner
für mehr als einen gilt, ist das Korrelat oder die Voraussetzung dieses
rechnenden Verfahrens, in dem das arithmetische Mehr oder Weniger
unbenannter Einheiten die innere Wirklichkeit einer Gruppe ausdrückt
und ihre äuſsere lenkt. Dieses messende, wägende, rechnerisch exakte
Wesen der Neuzeit ist die reinste Ausgestaltung ihres Intellektualismus,
der freilich auch hier über der abstrakten Gleichheit die selbstsüch-
tigste Besonderung der Elemente wachsen läſst: denn mit feiner in-
stinktiver Einsicht versteht die Sprache unter einem „berechneten“
Menschen schlechthin einen, der im egoistischen Sinne berechnet
ist. Grade wie bei der Verwendung von „verständig“ oder „vernünftig“,
wird hier der scheinbar ganz unparteiische Formalismus des Begriffes
[473] in seiner Disposition, sich grade mit einem bestimmten einseitigen In-
halt zu erfüllen, durchschaut.


Der hiermit charakterisierte zeitpsychologische Zug, der sich in so ent-
schiedenen Gegensatz zu dem mehr impulsiven, auf das Ganze gehen-
den, gefühlsmäſsigen Wesen früherer Epochen stellt, scheint mir in
enger kausaler Verbindung mit der Geldwirtschaft zu stehen. Sie be-
wirkt von sich aus die Notwendigkeit fortwährender mathematischer
Operationen im täglichen Verkehre. Das Leben vieler Menschen wird
von solchem Bestimmen, Abwägen, Rechnen, Reduzieren qualitativer
Werte auf quantitative ausgefüllt. Eine viel gröſsere Genauigkeit und
Grenzbestimmtheit muſste in die Lebensinhalte durch das Eindringen
der Geldschätzung kommen, die jeden Wert bis in seine Pfennigdiffe-
renzen hinein bestimmen und spezifizieren lehrte. Wo die Dinge in
ihrem unmittelbaren Verhältnisse zu einander gedacht werden — also
nicht auf ihren Generalnenner Geld reduziert sind — da findet viel
mehr Abrundung, Setzen von Einheit gegen Einheit statt. Die Exakt-
heit, Schärfe, Genauigkeit in den ökonomischen Beziehungen des
Lebens, die natürlich auch seine anderweitigen Inhalte abfärbt, hält
mit der Ausbreitung des Geldwesens Schritt — freilich nicht zur För-
derung des groſsen Stiles in der Lebensführung. Erst die Geldwirt-
schaft hat in das praktische Leben — und wer weiſs, ob nicht auch
in das theoretische — das Ideal zahlenmäſsiger Berechenbarkeit ge-
bracht. Auch von dieser Wirkung aus gesehen stellt sich das Geld-
wesen als bloſse Steigerung und Sublimierung des wirtschaftlichen
Wesens überhaupt dar. Über die Handelsgeschäfte zwischen dem eng-
lischen Volke und seinen Königen, in denen jenes, besonders im 13.
und 14. Jahrhundert, diesen allerhand Rechte und Freiheiten abkaufte,
bemerkt ein Historiker: „Dies ermöglichte für schwierige Fragen, die
in der Theorie unlösbar waren, eine praktische Entscheidung. Der
König hat Rechte als Herr seines Volkes, das Volk hat Rechte als
freie Männer und als Stände des Reiches, das der König personifiziert.
Die Feststellung der Rechte eines jeden, prinzipiell äuſserst schwer,
wurde in der Praxis leicht, sobald sie auf eine Frage von Kauf und
Verkauf zurückgeführt war.“ Das heiſst also, sobald ein qualitatives
Verhältnis praktischer Elemente ganz von derjenigen Bedeutung seiner
repräsentiert wird, die seine Behandlung als Handelsgeschäft zuläſst,
gewinnt es eine Genauigkeit und Fixierungsmöglichkeit, die seinem
direkten, den ganzen Umfang seiner Qualitäten einschlieſsenden Aus-
druck versagt bleibt. Hierzu bedarf es nun noch nicht unbedingt des
Geldes, da derartige Transaktionen auch oft durch Hingabe naturaler
Werte, z. B. von Wolle, abgeschlossen wurden. Es ist aber offenbar,
[474] daſs, was hier das Handelsgeschäft überhaupt für die Präzisierung der
Werte und Ansprüche leistete, durch das Geld in sehr viel schärferer
und exakterer Weise geleistet werden kann. Auch nach dieser Seite
hin darf man vielleicht sagen, daſs sich das Geldgeschäft zum Handels-
geschäft überhaupt verhält, wie dieses zu der sonstigen, vor dem Tausch
bestehenden Bestimmtheit oder Verhältnis der Dinge; es drückt sozu-
sagen das reine Geschäft an der geschäftsmäſsigen Behandlung der
letzteren aus, wie die Kunst den Reiz der reizvollen Dinge darstellt.
Und indem nun das abstrakte Gebilde, das den aus den Dingen
herausgezogenen Wert ihrer ausmacht, die Form arithmetischer Genauig-
keit und damit die unbedingte rationale Bestimmtheit besitzt, muſs
dieser Charakter auf die Dinge selbst zurückstrahlen. Wenn es wahr
ist, daſs die jeweilige Kunst allmählich die Art bestimmt, wie wir die
Natur sehen, wenn die spontane und subjektive Abstraktion aus der
Wirklichkeit, die der Künstler vollzieht, das scheinbar so unmittelbare
sinnliche Bild derselben für unser Bewuſstsein formt — so wird wohl
der Überbau der Geldrelationen über der qualitativen Wirklichkeit in
noch viel eingreifenderer Weise das innere Bild derselben nach seinen
Formen bestimmen. Durch das rechnerische Wesen des Geldes ist in
das Verhältnis der Lebenselemente eine Präzision, eine Sicherheit in
der Bestimmung von Gleichheiten und Ungleichheiten, eine Unzwei-
deutigkeit in Verabredungen und Ausmachungen gekommen — wie sie
auf äuſserlichem Gebiet durch die allgemeine Verbreitung der Taschen-
uhren bewirkt wird. Die Bestimmung der abstrakten Zeit durch die
Uhren wie die des abstrakten Wertes durch das Geld geben ein Schema
feinster und sicherster Einteilungen und Messungen, das, die Inhalte
des Lebens in sich aufnehmend, diesen wenigstens für die praktisch-
äuſserliche Behandlung eine sonst unerreichbare Durchsichtigkeit und
Berechenbarkeit verleiht. Die rechnende Intellektualität, die in diesen
Formen lebt, mag von ihnen wiederum einen Teil der Kräfte beziehen,
mit denen sie das moderne Leben beherrscht. Wie in einen Brenn-
punkt werden alle diese Beziehungen durch die negative Instanz ge-
sammelt, daſs der Typus von Geistern, welche der ökonomischen Be-
trachtung und Begründung der menschlichen Dinge am fernsten und
feindlichsten gegenüberstehen würden: Goethe, Carlyle, Nietzsche — zu-
gleich einerseits prinzipiell anti-intellektualistisch gestimmt sind, und
andrerseits jene rechnerisch-exakte Naturdeutung völlig ablehnen, die
wir als das theoretische Gegenbild des Geldwesens erkannten.


[[475]]

II.


Wenn wir die Verfeinerungen, die vergeistigten Formen des
Lebens, die Ergebnisse der inneren und äuſseren Arbeit an ihm als
Kultur bezeichnen, so ordnen wir diese Werte damit in eine Blick-
richtung, in der sie durch ihre eigene und sachliche Bedeutung noch
nicht ohne weiteres stehen. Inhalte der Kultur sind sie uns, insofern
wir sie als gesteigerte Entfaltungen natürlicher Keime und Tendenzen
ansehen, gesteigert über das Maſs der Entwicklung, Fülle und Differen-
zierung hinaus, das ihrer bloſsen Natur erreichbar wäre. Eine natur-
gegebene Energie oder Hinweisung — die freilich nur da sein muſs,
um hinter der wirklichen Entwicklung zurückzubleiben — bildet die
Voraussetzung für den Begriff der Kultur. Denn von diesem aus ge-
sehen sind die Werte des Lebens eben kultivierte Natur, sie haben
hier nicht die isolierte Bedeutung, die sich gleichsam von oben her an
dem Ideal des Glücks, der Intelligenz, der Schönheit miſst, sondern
sie erscheinen als Entwicklungen einer Grundlage, die wir Natur
nennen und deren Kräfte und Ideengehalt sie überschreiten, insofern
sie eben Kultur sind. Wenn deshalb ein veredeltes Gartenobst und
eine Statue gleichermaſsen Kulturprodukte sind, so deutet die Sprache
doch dieses Verhältnis sehr fein an, indem sie jenen Obstbaum selbst
„kultiviert“ nennt, während der rohe Marmorblock keineswegs zu
Statuen „kultiviert“ ist. Denn in dem ersteren Falle nimmt man eine
natürliche Triebkraft und Angelegtheit des Baumes in der Richtung
jener Früchte an, die durch intelligente Beeinflussung über ihre natür-
liche Grenze hinausgetrieben ist, während wir in dem Marmorblock
keine entsprechende Tendenz auf die Statue hin voraussetzen; die in
ihr verwirklichte Kultur bedeutet die Erhöhung und Verfeinerung ge-
wisser menschlicher Energien, deren ursprüngliche Äuſserungen wir als
„natürliche“ bezeichnen.


Nun scheint es zunächst selbstverständlich, daſs unpersönliche
Dinge nur gleichnisweise als kultiviert zu bezeichnen sind. Denn
jene durch Willen und Intellekt bewirkte Entfaltung des Gegebenen
[476] über die Grenze seines bloſs natürlichen Sich-Auslebens hinaus lassen
wir doch schlieſslich nur uns selbst oder solchen Dingen zukommen,
deren Entwicklungen sich an unsere Impulse anschlieſsen und rück-
wirkend unsere Gefühle anregen. Die materiellen Kulturgüter: Möbel
und Kulturpflanzen, Kunstwerke und Maschinen, Geräte und Bücher,
in denen natürliche Stoffe zu ihnen zwar möglichen, durch ihre eignen
Kräfte aber nie verwirklichten Formen entwickelt werden, sind unser
eigenes, durch Ideen entfaltetes Wollen und Fühlen, das die Entwick-
lungsmöglichkeiten der Dinge, soweit sie auf seinem Wege liegen, in
sich einbezieht; und das verhält sich nicht anders als mit der Kultur,
die das Verhältnis des Menschen zu anderen und zu sich selbst formt:
Sprache, Sitte, Religion, Recht. Insofern diese Werte als kulturell an-
gesehen werden, unterscheiden wir sie von den Ausbildungsstufen
der in ihnen lebendigen Energien, die sie sozusagen von sich
aus erreichen können und die für den Kultivierungsprozeſs ebenso
nur Material sind, wie Holz und Metall, Pflanzen und Elektri-
zität. Indem wir die Dinge kultivieren, d. h. ihr Wertmaſs über
das durch ihren natürlichen Mechanismus uns geleistete hinaus stei-
gern, kultivieren wir uns selbst: es ist der gleiche, von uns aus-
gehende und in uns zurückkehrende Werterhöhungsprozeſs, der die
Natur auſser uns oder die Natur in uns ergreift. Die bildende Kunst
zeigt diesen Kulturbegriff am reinsten, weil in der gröſsten Spannung
der Gegensätze. Denn hier scheint zunächst die Formung des Gegen-
standes sich jener Einfügung in den Prozeſs unserer Subjektivität
völlig zu entziehen. Das Kunstwerk deutet uns doch grade den Sinn
der Erscheinung selbst, liege ihm dieser nun in der Gestaltung der
Räumlichkeit oder in den Beziehungen der Farben oder in der Seelen-
haftigkeit, die so in wie hinter dem Sichtbaren lebt. Immer aber gilt
es, den Dingen ihre Bedeutung und ihr Geheimnis abzuhören, um
es in reinerer oder deutlicherer Gestalt, als zu der ihre natürliche
Entwicklung es gebracht hat, darzustellen — nicht aber im Sinne che-
mischer oder physikalischer Technologie, die die Gesetzlichkeiten der
Dinge erkundet, um sie in unsere auſserhalb ihrer gelegenen Zweck-
reihen einzustellen; vielmehr der artistische Prozeſs ist abgeschlossen,
sobald er den Gegenstand zu dessen eigenster Bedeutung entwickelt
hat. Thatsächlich ist hiermit dem bloſs artistischen Ideal auch genügt,
denn für dieses ist die Vollendung des Kunstwerkes als solchen ein
objektiver Wert, völlig unabhängig von seinem Erfolge für unser sub-
jektives Fühlen: das Stichwort des l’art pour l’art bezeichnet treffend
die Selbstgenügsamkeit der rein künstlerischen Tendenz. Anders aber
vom Standpunkte des Kulturideals. Das Wesentliche dieses ist eben, daſs
[477] es die Eigenwertigkeit der ästhetischen, wissenschaftlichen, sittlichen,
eudämonistischen, ja der religiösen Leistung aufhebt, um sie alle als
Elemente oder Bausteine in die Entwicklung des menschlichen Wesens
über seinen Naturzustand hinaus einzufügen; oder genauer: sie sind
die Wegstrecken, die diese Entwicklung durchläuft. Freilich muſs
sie sich in jedem Augenblick auf einer dieser Strecken befinden; sie
kann niemals ohne einen Inhalt rein formell und an sich selbst ver-
laufen; allein darum ist sie mit diesem Inhalt noch nicht identisch.
Die Kulturinhalte bestehen aus jenen Gebilden, deren jedes einem auto-
nomen Ideal untersteht, nun aber betrachtet unter dem Blickpunkt der von
ihnen getragenen und durch sie hindurchbewegten Entwicklung unserer
Kräfte über das Maſs hinaus, das wir als das bloſs natürliche ansehen.
Indem der Mensch die Objekte kultiviert, schafft er sie sich zum Bilde:
insofern die transnaturale Entfaltung ihrer Energien als Kulturprozeſs
gilt, ist sie nur die Sichtbarkeit oder der Körper für die gleiche Ent-
faltung unserer Energien.


Dieser Erörterung des allgemeinen Kulturbegriffs stelle ich nun ein
besonderes Verhältnis innerhalb der gegenwärtigen Kultur gegenüber.
Vergleicht man dieselbe etwa mit der Zeit vor hundert Jahren, so
kann man — viele individuelle Ausnahmen vorbehalten — doch wohl
sagen: die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben,
Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik,
der Kunst — sind unsäglich kultiviert, aber die Kultur der Individuen,
wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Ver-
hältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen. Dies ist ein
keines Einzelbeweises bedürftiges Verhältnis. Ich hebe darum nur
weniges hervor. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten haben sich,
im Deutschen wie im Französischen, seit hundert Jahren auſserordent-
lich bereichert und nüanciert; nicht nur die Sprache Goethes ist uns
geschenkt, sondern es ist noch eine groſse Anzahl von Feinheiten, Ab-
tönungen, Individualisierungen des Ausdrucks hinzugekommen. Dennoch,
wenn man das Sprechen und Schreiben der Einzelnen betrachtet, so wird
es als ganzes immer inkorrekter, würdeloser und trivialer. Und in-
haltlich: der Gesichtskreis, aus dem die Konversation ihre Gegenstände
schöpft, hat sich objektiv, durch die vorgeschrittene Theorie und Praxis,
in derselben Zeit erheblich erweitert; und doch scheint es, als ob die
Unterhaltung, die gesellschaftliche wie auch die intimere und briefliche,
jetzt viel flacher, uninteressanter und weniger ernsthaft wäre als am
Ende des 18. Jahrhunderts. In diese Kategorie gehört es, daſs die
Maschine so viel geistvoller geworden ist als der Arbeiter. Wieviele
Arbeiter, sogar unterhalb der eigentlichen Groſsindustrie, könnten denn
[478] heute die Maschine, an der sie zu thun haben, d. h. den in der Ma-
schine investierten Geist verstehen? Nicht anders liegt es in der mili-
tärischen Kultur. Was der einzelne Soldat zu leisten hat, ist im
wesentlichen seit lange unverändert geblieben, ja, in manchem durch
die moderne Art der Kriegführung herabgesetzt. Dagegen sind nicht
nur die materiellen Werkzeuge derselben, sondern vor allem die jen-
seits aller Individuen stehende Organisation des Heeres unerhört ver-
feinert und zu einem wahren Triumph objektiver Kultur geworden.
Und auf das Gebiet des rein Geistigen hinsehend — so operieren auch
die kenntnisreichsten und nachdenkendsten Menschen mit einer immer
wachsenden Zahl von Vorstellungen, Begriffen, Sätzen, deren genauen
Sinn und Inhalt sie nur ganz unvollständig kennen. Die ungeheure
Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet, ja er-
zwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene
Gefäſse von Hand zu Hand gehen, ohne daſs der thatsächlich darin ver-
dichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete.
Wie unser äuſseres Leben von immer mehr Gegenständen umgeben
wird, deren objektiven, in ihrem Produktionsprozeſs aufgewandten Geist
wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und Ver-
kehrsleben von symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine
umfassende Geistigkeit aufgespeichert ist — während der individuelle
Geist davon nur ein Minimum auszunutzen pflegt. Diese Diskrepanz
zwischen der objektiv gewordenen und der subjektiven Kultur scheint
sich stetig zu erweitern. Täglich und von allen Seiten her wird der
Schatz jener vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend
und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der in-
dividuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung erweitern.


Wie erklärt sich nun diese Erscheinung? Wenn alle Kultur der
Dinge, wie wir sahen, nur eine Kultur der Menschen ist, so daſs nur
wir uns ausbilden, indem wir die Dinge ausbilden — was bedeutet
jene Entwicklung, Ausgestaltung, Vergeistigung der Objekte, die sich
wie aus deren eigenen Kräften und Normen heraus vollzieht und
ohne daſs sich einzelne Seelen darin oder daran entsprechend ent-
falteten? Hierin liegt eine Steigerung des rätselhaften Verhältnisses
vor, das überhaupt zwischen dem Leben und den Lebensprodukten der
Gesellschaft einerseits und den fragmentarischen Daseinsinhalten der
Individuen andrerseits besteht. In Sprache und Sitte, politischer Ver-
fassung und Religionslehren, Litteratur und Technik ist die Arbeit un-
zähliger Generationen niedergelegt, als gegenständlich gewordener Geist,
von dem jeder nimmt, so viel wie er will oder kann, den aber über-
haupt kein Einzelner ausschöpfen könnte; zwischen dem Maſs dieses
[479] Schatzes und dem des davon Genommenen bestehen die mannigfaltigsten
und zufälligsten Verhältnisse, und die Geringfügigkeit oder Irratio-
nalität der individuellen Anteile läſst den Gehalt und die Würde jenes
Gattungsbesitzes so unberührt, wie irgend ein körperliches Sein es von
seinem einzelnen Wahrgenommen- oder Nichtwahrgenommenwerden bleibt.
Wie sich der Inhalt und die Bedeutung eines vorliegenden Buches als solche
indifferent zu seinem groſsen oder kleinen, verstehenden oder verständ-
nislosen Leserkreise verhält, so steht auch jedes sonstige Kulturprodukt
dem Kulturkreise gegenüber, zwar bereit, von jedem ergriffen zu werden,
für diese Bereitheit aber immer nur eine sporadische Aufnahme findend.
Diese verdichtete Geistesarbeit der Kulturgemeinschaft verhält sich
also zu ihrer Lebendigkeit in den individuellen Geistern wie die weite
Fülle der Möglichkeit zu der Begrenzung der Wirklichkeit. Das Ver-
ständnis der Daseinsart solcher objektiven Geistesinhalte fordert ihre
Einstellung in eine eigenartige Organisation unserer weltauffassenden
Kategorien. Innerhalb dieser wird dann auch das diskrepante Ver-
hältnis der objektiven und der subjektiven Kultur, das unser eigentliches
Problem bildet, seine Stelle finden.


Wenn der Platonische Mythus die Seele in ihrer Präexistenz das
reine Wesen, die absolute Bedeutung der Dinge schauen läſst, so daſs
ihr späteres Wissen nur eine Erinnerung an jene Wahrheit sei, die
gelegentlich sinnlicher Anregungen in ihr auftauche — so ist das
nächste Motiv dafür freilich die Ratlosigkeit, wo denn unsere Erkennt-
nisse herstammen mögen, wenn man ihnen, wie Plato es thut, den
Ursprung aus der Erfahrung verweigert. Allein über diese Gelegen-
heitsursache ihrer Entstehung hinweg ist in jener metaphysischen
Spekulation ein erkenntnistheoretisches Verhalten unserer Seele tief-
sinnig angedeutet. Mögen wir nämlich unser Erkennen als eine un-
mittelbare Wirkung äuſserer Gegenstände ansehen, oder als einen rein
inneren Vorgang, innerhalb dessen alles Auſsen eine immanente Form
oder Verhältnis seelischer Elemente ist — immer empfinden wir unser
Denken, insoweit es uns für wahr gilt, als die Erfüllung einer sach-
lichen Forderung, als das Nachzeichnen einer ideellen Vorzeichnung.
Selbst wenn eine genaue Abspiegelung der Dinge, wie sie an sich sind,
unser Vorstellen ausmachte, so würde die Einheit, Richtigkeit und
Vollendung, der sich die Erkenntnis, ein Stück nach dem andern er-
obernd, ins unendliche nähert, doch nicht den Gegenständen selbst
zukommen. Vielmehr, das Ideal unseres Erkennens würde immer nur
ihr Inhalt in der Form des Vorstellens sein, denn auch der
äuſserste Realismus will nicht die Dinge, sondern die Erkenntnis der Dinge
gewinnen. Wenn wir die Summe von Bruchstücken, die in jedem ge-
[480] gebenen Augenblick unseren Wissensschatz ausmacht, also im Hinblick
auf die Entwicklung bezeichnen, zu der dieser strebt und an der sich
jedes gegenwärtige Stadium in seiner Bedeutung miſst — so können
wir das auch nur durch die Voraussetzung, die jener Platonischen
Lehre zum Grunde liegt: daſs es ein ideales Reich der theoretischen
Werte, des vollendeten intellektuellen Sinnes und Zusammenhanges
giebt, das weder mit den Objekten zusammenfällt — da diese ja eben
erst seine Objekte sind — noch mit dem jeweilig erreichten, psycho-
logisch wirklichen Erkennen. Dieses letztere vielmehr bringt sich erst
allmählich und immer unvollkommen mit jenem, das alle überhaupt mög-
liche Wahrheit einschlieſst, zur Deckung, es ist wahr in dem Maſse, in
dem ihm das gelingt. Die Grundthatsache dieses Gefühles: daſs unser Er-
kennen in jedem Augenblick der Teil eines nur ideell vorhandenen, aber
uns zur psychischen Verwirklichung dargebotenen und sie fordernden
Komplexes der Erkenntnisse ist — diese scheint für Plato bestanden zu
haben; nur daſs er sie als einen Abfall des wirklichen Erkennens von
dem einstigen Besitz dieser Totalität ausdrückte, als ein Nicht-Mehr,
was wir heute als ein Noch-Nicht auffassen müssen. Das Verhältnis
selbst aber kann offenbar bei beiden Deutungen — wie sich ja die
identische Summe sowohl durch Subtraktion von Höherem, wie durch
Addition von Niedrigerem herstellen läſst — als das ganz gleich ge-
fühlte zum Grunde liegen. Die eigentümliche Daseinsart dieses Er-
kenntnisideals, das unseren wirklichen Erkenntnissen als Norm oder
Totalität gegenübersteht, ist dieselbe, wie sie der Gesamtheit sittlicher
Werte und Vorschriften, gegenüber dem thatsächlichen Handeln der In-
dividuen, zukommt. Hier, auf dem ethischen Gebiet, ist uns das Be-
wuſstsein geläufiger, daſs unser Thun eine in sich gültige Norm voll-
ständiger oder mangelhafter verwirklicht. Diese Norm — welche
übrigens ihrem Inhalte nach für jeden Menschen und für jede Epoche
seines Lebens verschieden sein mag — ist weder in Raum und Zeit
auffindbar, noch fällt sie mit dem ethischen Bewuſstsein zusammen,
das sich vielmehr als von ihr abhängig empfindet. Und so ist dies
schlieſslich die Formel unseres Lebens überhaupt, von der banalen
Praxis des Tages bis zu den höchsten Gipfeln der Geistigkeit: in allem
Wirken haben wir eine Norm, einen Maſsstab, eine ideell vorgebildete
Totalität über uns, die eben durch dies Wirken in die Form der
Realität übergeführt wird — womit nicht nur das Einfache und All-
gemeine gemeint ist, daſs jedes Wollen durch irgend ein Ideal gelenkt
wird. Sondern es steht ein bestimmter, mehr oder weniger deutlicher
Charakter unseres Handelns in Frage, der sich nur so ausdrücken läſst,
daſs wir mit diesem Handeln, gleichviel ob es seinem Werte nach etwa
[481] sehr kontra-ideal ist, eine irgendwie vorgezeichnete Möglichkeit, gleich-
sam ein ideelles Programm erfüllen. Unsere praktische Existenz, un-
zulänglich und fragmentarisch, wie sie ist, erhält eine gewisse Bedeut-
samkeit und Zusammenhang dadurch, daſs sie sozusagen die Teilver-
wirklichung einer Ganzheit ist. Unser Handeln, ja unser gesamtes
Sein, schönes wie häſsliches, rechtes wie irrendes, groſses wie kleinliches
erscheint einem Schatze von Möglichkeiten entnommen, derart, daſs
es sich in jedem Augenblick zu seinem ideell bestimmten Inhalt ver-
hält, wie das konkrete Einzelding zu seinem Begriff, der sein inneres
Gesetz und logisches Wesen ausspricht, ohne in der Bedeutung dieses
Inhalts von dem Ob, Wie und Wieoft seiner Verwirklichungen ab-
hängig zu sein. Wir können uns das Erkennen gar nicht anders denken,
als daſs es diejenigen Vorstellungen innerhalb des Bewuſstseins ver-
wirkliche, die an der grade fraglichen Stelle sozusagen darauf ge-
wartet haben. Daſs wir unsere Erkenntnisse notwendige nennen, d. h.
daſs sie ihrem Inhalte nach nur in einer Weise dasein können, das
ist doch nur ein andrer Ausdruck für die Bewuſstseinsthatsache, daſs
wir sie als psychische Realisierungen jenes ideell bereits feststehenden
Inhaltes empfinden. Diese eine Weise bedeutet keineswegs, daſs es
für alle Mannigfaltigkeit der Geister nur eine Wahrheit giebt. Viel-
mehr: wenn auf der einen Seite ein bestimmt angelegter Intellekt, auf
der anderen eine bestimmte Objektivität gegeben ist, so ist damit das-
jenige, was grade für diesen Geist „Wahrheit“ ist, sachlich präformiert,
wie es das Resultat einer Rechnung ist, wenn ihre Faktoren gegeben
sind; bei jeder Änderung der mitgebrachten geistigen Struktur ändert
sich der Inhalt dieser Wahrheit, ohne darum weniger objektiv und
unabhängig von allem in diesem Geiste erfolgenden Bewuſstwerden
festzustehen. Die ganze unverbrüchliche Anweisung, die wir be-
stimmten Wissensthatsachen entnehmen, daſs nun auch bestimmte
andere angenommen werden müssen, bedeutet die Gelegenheitsur-
sache, die jenes Wesen unserer Erkenntnisse sichtbar macht: jede
einzelne dieser das Bewuſstwerden von etwas, das innerhalb des
sachlich determinierten Zusammenhanges der Erkenntnisinhalte bereits
gültig und festgelegt ist. Von der psychologischen Seite endlich an-
gesehen, gehört dies zu der Theorie, nach der alles Fürwahrhalten ein
gewisses Gefühl ist, das Vorstellungsinhalte begleitet; was wir be-
weisen nennen, ist nichts als die Herbeiführung einer psychologischen
Konstellation, auf die hin jenes Gefühl eintritt. Kein sinnliches Wahr-
nehmen oder logisches Folgen ist unmittelbar die Überzeugung von
einer Wirklichkeit; sondern dies sind nur Bedingungen, die das über-
theoretische Gefühl der Bejahung, der Zustimmung, oder wie man
Simmel, Philosophie des Geldes. 31
[482] dieses eigentlich unbeschreibliche Wirklichkeitsgefühl nennen mag, her-
vorrufen. Dieses bildet das psychologische Vehikel zwischen den beiden
erkenntnistheoretischen Kategorien: dem gültigen, durch seinen inneren
Zusammenhang getragenen, jedem Element seine Stelle anweisenden
inhaltlichen Sinn der Dinge und unserem Vorstellen ihrer, das ihre
Wirklichkeit innerhalb eines Subjekts bedeutet.


Dieses allgemeine und grundlegende Verhältnis findet nun in dem
zwischen dem vergegenständlichten Geist und Kultur und dem indivi-
duellen Subjekt eine Analogie in engeren Maſsen. Wie wir unsere
Lebensinhalte, erkenntnistheoretisch betrachtet, einem Reiche des sach-
lich Geltenden entnehmen, so beziehen wir, historisch angesehen, ihren
überwiegenden Teil aus jenem Vorrat aufgespeicherter Geistesarbeit
der Gattung; auch hier liegen präformierte Inhalte vor, der Verwirk-
lichung in individuellen Geistern sich darbietend, aber auch jenseits
solcher ihre Bestimmtheit festhaltend, die doch auch hier keineswegs
die eines materiellen Gegenstandes ist; denn selbst wenn der Geist an
Materien gebunden ist, wie in Geräten, Kunstwerken, Büchern, so fällt
er doch nie mit dem zusammen, was an diesen Dingen sinnlich wahr-
nehmbar ist. Er wohnt ihnen in einer nicht weiter definierbaren
potenziellen Form ein, aus der heraus ihn das individuelle Bewuſst-
sein aktualisieren kann. Die objektive Kultur ist die historische Dar-
stellung oder — vollkommenere oder unvollkommenere — Verdichtung
jener sachlich gültigen Wahrheit, von der unsere Erkenntnis eine Nach-
zeichnung ist. Wenn wir sagen dürfen, das Gravitationsgesetz habe
gegolten, bevor Newton es aussprach, so ruht das Gesetz als solches
doch nicht in den realen Materienmassen, da es nur die Art bedeutet,
in der sich deren Verhältnisse in einem bestimmt organisierten Geist
darstellen, und da die Gültigkeit dieses Gesetzes gar nicht davon ab-
hängt, daſs es in der Wirklichkeit Materie giebt. Insofern also liegt
es weder in den objektiven Dingen selbst, noch in den subjektiven
Geistern, sondern in jener Sphäre des objektiven Geistes, von der unser
Wahrheitsbewuſstsein einen Abschnitt nach dem andern zur Wirklich-
keit in ihm verdichtet. Wenn dies nun aber an dem fraglichen Ge-
setze durch Newton vollbracht ist, so ist es in den objektiven histo-
rischen Geist eingerückt und seine ideelle Bedeutung innerhalb dieses
ist nun wieder von seiner Wiederholung in einzelnen Individuen prin-
zipiell unabhängig.


Indem wir diese Kategorie des objektiven Geistes als der histo-
rischen Darstellung des gültigen Geistesgehaltes der Dinge überhaupt
gewinnen, zeigt sich, wieso der Kulturprozeſs, den wir als eine sub-
jektive Entwicklung erkannten — die Kultur der Dinge als eine Kultur
[483] der Menschen — sich von seinem Inhalt trennen kann; dieser Inhalt
nimmt, in jene Kategorie tretend, gleichsam einen anderen Aggregat-
zustand an, und damit ist die prinzipielle Grundlage für die Erschei-
nung geschaffen, die uns als gesonderte Entwicklung der sachlichen
und der personalen Kultur entgegentrat. Mit der Vergegenständlichung
des Geistes ist die Form gewonnen, die ein Konservieren und Auf-
häufen der Bewuſstseinsarbeit gestattet; sie ist die bedeutsamste und
folgenreichste unter den historischen Kategorien der Menschheit. Denn
sie macht zur geschichtlichen Thatsache, was als biologische so zweifel-
haft ist: die Vererbung des Erworbenen. Wenn man es als den
Vorzug des Menschen den Tieren gegenüber bezeichnet hat, daſs er
Erbe und nicht bloſs Nachkomme wäre, so ist die Vergegenständlichung
des Geistes in Worten und Werken, Organisationen und Traditionen
der Träger dieser Unterscheidung, die dem Menschen erst seine Welt,
ja: eine Welt schenkt.


Ist dieser objektive Geist der geschichtlichen Gesellschaft nun ihr
Kulturinhalt im weitesten Sinne, so miſst sich die praktische Kultur-
bedeutung seiner einzelnen Bestandteile dennoch an dem Umfang, in
dem sie zu Entwicklungsmomenten der Individuen werden. Denn an-
genommen, jene Entdeckung Newtons stünde nur in einem Buch, von
dem niemand weiſs, so wäre sie zwar immer noch objektiv gewordener
Geist und ein potenzieller Besitz der Gesellschaft, aber kein Kulturwert
mehr. Da dieser extreme Fall in unzähligen Abstufungen auftreten
kann, so ergiebt sich unmittelbar, daſs in einer gröſseren Gesellschaft
immer nur ein gewisser Teil der objektiven Kulturwerte zu subjektiven
werden wird. Betrachtet man die Gesellschaft als ein Ganzes, d. h.
ordnet man die in ihr überhaupt objektiv werdende Geistigkeit in
einen zeitlich-sachlichen Komplex, so ist die gesamte Kulturentwick-
lung, für die man so einen einheitlichen Träger fingiert hat, reicher
an Inhalten, als die jedes ihrer Elemente. Denn die Leistung jedes
Elementes steigt in jenen Gesamtbesitz auf, aber dieser nicht zu jedem
Element hinab. Der ganze Stil des Lebens einer Gemeinschaft hängt
von dem Verhältnis ab, in dem die objektiv gewordne Kultur zu der
Kultur der Subjekte steht. Auf die Bedeutung der numerischen Be-
stimmtheiten habe ich schon hingedeutet. In einem kleinen Kreise von
niedriger Kultur wird jenes Verhältnis nahezu eines der Deckung sein,
die objektiven Kulturmöglichkeiten werden die subjektiven Kulturwirk-
lichkeiten nicht weit überragen. Eine Steigerung des Kulturniveaus
— insbesondere wenn es mit einer Vergröſserung des Kreises gleichzeitig
ist — wird das Auseinanderfallen beider begünstigen: es war die
unvergleichliche Situation Athens in seiner Blütezeit, daſs es bei all
31*
[484] seiner Kulturhöhe grade dies — auſser etwa in Bezug auf die höchsten
philosophischen Bewegungen — zu vermeiden wuſste. Aber die Gröſse
des Kreises macht an und für sich das Auseinandertreten des subjek-
tiven und des objektiven Faktors noch nicht verständlich. Es gilt
vielmehr jetzt die konkreten wirkenden Ursachen der letzteren Er-
scheinung aufzusuchen.


Will man diese und die Stärke ihres gegenwärtigen Auftretens in
einen Begriff konzentrieren, so ist dieser: Arbeitsteilung; und zwar so-
wohl nach ihrer Bedeutung innerhalb der Produktion wie der Konsumtion.
In ersterer Hinsicht ist oft genug hervorgehoben worden, wie die
Vollendung des Produkts auf Kosten der Entwicklung des Produzenten
zustande kommt. Die Steigerung der physisch-psychischen Energien
und Geschicklichkeiten, die sich bei einseitiger Thätigkeit einstellt,
pflegt für die einheitliche Gesamtpersönlichkeit wenig Nutzen abzu-
werfen: sie läſst diese sogar vielfach verkümmern, indem sie ihr ein für
die harmonische Gestaltung des Ich unentbehrliches Kraftquantum ent-
saugt, oder sie entwickelt sich in andern Fällen wenigstens wie in
Abschnürung von dem Kern der Persönlichkeit, als eine Provinz mit
uneingeschränkter Autonomie, deren Erträge nicht der Zentralstelle zu-
flieſsen. Die Erfahrung scheint zu zeigen, daſs die innere Ganzheit
des Ich sich im wesentlichen in Wechselwirkung mit der Geschlossen-
heit und Abrundung der Lebensaufgabe herstellt.


Wie uns die Einheit eines Objekts überhaupt so zustande kommt,
daſs wir die Art, wie wir unser „Ich“ fühlen, in das Objekt hinein-
tragen, es nach unserem Bilde formen, in welchem die Vielheit der
Bestimmungen zu der Einheit des „Ich“ zusammenwächst — so wirkt,
im psychologisch-praktischen Sinne, die Einheit des Objekts, das wir
schaffen, und ihr Mangel auf die entsprechende Formung unserer Per-
sönlichkeit. Wo unsere Kraft nicht ein Ganzes hervorbringt, an dem
sie sich nach der ihr eigentümlichen Einheit ausleben kann, da fehlt
es an der eigentlichen Beziehung zwischen beiden, die inneren Ten-
denzen der Leistung ziehen sie zu den anderweitigen, mit ihr erst
eine Totalität bildenden Leistungen Anderer, auf den Produzenten aber
weist sie nicht zurück. Infolge solcher, bei groſser Spezialisierung ein-
tretenden Inadäquatheit zwischen der Existenzform des Arbeiters und
der seines Produktes löst sich das letztere so sehr leicht und gründ-
lich von dem ersteren ab, sein Sinn strömt ihm nicht von dessen
Seele zu, sondern von seinem Zusammenhang mit anderswoher stammen-
den Produkten, es fehlt ihm wegen seines fragmentarischen Charakters
das Wesen der Seelenhaftigkeit, das sonst dem Arbeitsprodukt, sobald
es ganz als Werk eines Menschen erscheint, so leicht angefühlt wird.
[485] So kann es seine Bedeutsamkeit weder als Spiegelung einer Subjek-
tivität noch in dem Reflex suchen, den es als Ausdruck der schaffen-
den Seele in diese zurückwirft, sondern kann sie ausschlieſslich als
objektive Leistung, in seiner Wendung vom Subjekt weg, finden.
Dieser Zusammenhang zeigt sich nicht minder an seinem äuſsersten
Gegensatz, dem Kunstwerk. Dessen Wesen widerstrebt völlig jene
Aufteilung der Arbeit an eine Mehrzahl von Arbeitern, deren keiner
für sich ein Ganzes leiste. Das Kunstwerk ist unter allem Menschen-
werk die geschlossenste Einheit, die sich selbst genügendste Totalität
— selbst den Staat nicht ausgenommen. Denn so sehr dieser, unter
besonderen Umständen, mit sich selbst auskommen mag, so saugt er
doch seine Elemente nicht so vollständig in sich ein, daſs nicht ein
jedes noch ein Sonderleben mit Sonderinteressen führte: immer nur
mit einem Teile der Persönlichkeit, deren andere sich anderen Zentren
zuwenden, sind wir dem Staate verwachsen. Die Kunst dagegen be-
läſst keinem aufgenommenen Element eine Bedeutung auſserhalb des
Rahmens, in den sie es einstellt, das einzelne Kunstwerk vernichtet
den Vielsinn der Worte und der Töne, der Farben und der Formen,
um nur ihre ihm zugewandte Seite für das Bewuſstsein bestehen zu
lassen. Diese Geschlossenheit des Kunstwerks aber bedeutet, daſs eine
subjektive Seeleneinheit in ihm zum Ausdruck kommt; das Kunstwerk
fordert nur einen Menschen, diesen aber ganz und seiner zentralsten
Innerlichkeit nach: es vergilt dies dadurch, daſs seine Form ihm der
reinste Spiegel und Ausdruck des Subjekts zu sein gestattet. Die
völlige Ablehnung der Arbeitsteilung ist so Ursache wie Symptom des
Zusammenhanges, der zwischen der in sich fertigen Totalität des
Werkes und der seelischen Einheit besteht. Umgekehrt, wo jene
herrscht, bewirkt sie eine Inkommensurabilität der Leistung mit dem
Leistenden, dieser erblickt sich nicht mehr in seinem Thun, das eine
allem Persönlich-Seelischen so unähnliche Form darbietet und nur als
eine ganz einseitig ausgebildete Partialität unseres Wesens erscheint,
gleichgültig gegen die einheitliche Ganzheit desselben. Die stark
arbeitsteilige, mit dem Bewuſstsein dieses Charakters vollbrachte Leistung
drängt also schon von sich aus in die Kategorie der Objektivität, die
Betrachtung und Wirkung ihrer als einer rein sachlichen und ano-
nymen wird für den Arbeitenden selbst immer plausibler, der sie nicht
mehr in die Wurzel seines Gesamtlebenssystems hinabreichen fühlt.


Ich erwähnte eben, daſs das sehr spezialisierte Produkt sich schon
seinem Begriffe nach anderen zuwendet, im Zusammenhange mit denen
es erst seine eigene Bedeutung findet. Darin liegt also, daſs die Ein-
heit, die das vollendete Werk besitzt und die wir an seinen einzelnen
[486] arbeitsteiligen Elementen vermiſsten, nur in dem Zusammen aller
Elemente besteht, das schlechthin objektiv ist. Denn die aus dem per-
sonalen Subjekt quellende Einheit ist dem Gesamtwerke, zu dem die
Subjekte nur die Einzelbeiträge leisten, versagt. Wie einzelne Quali-
täten und Energien, rein sachlich bestimmt und jede in den verschie-
denartigsten Kombinationen auffindbar, durch ihr Verschmelzen und
Wechselwirken die rätselhafte Einheit der Individualseele ergeben, so
stellt sich umgekehrt aus der Summe differenzierter personaler Leistungen
oft ein Ganzes her, das als Ganzes objektiver Natur ist. Auch hier
bindet das Geheimnis der Form die Elemente zu einer Einheit zu-
sammen, deren Wesen von dem der einzelnen Elemente selbst völlig
verschieden ist. Das gilt nicht weniger für wissenschaftliche wie für
staatliche wie für industrielle Leistungen. So sehr jedes Teilquantum
einer jeden von diesen einem Subjekt entstammt, so liegt seine Fähig-
keit, als Teil eines Ganzen zu wirken, doch über diese subjektive
Genesis hinaus, und sobald deshalb jene Fähigkeit verwirklicht ist, ver-
schwindet insoweit die Hinweisung auf die Subjektivität. Man kann
sagen: je vollständiger ein Ganzes aus subjektiven Beiträgen den Teil
in sich einsaugt, je mehr es der Charakter jedes Teiles ist, wirklich
nur als Teil dieses Ganzen zu gelten und zu wirken, desto objektiver
ist das Ganze, desto mehr lebt es ein Leben jenseits aller Subjekte,
die es produzierten.


Endlich wirkt der Prozeſs, den man als Trennung des Arbeiters
von seinem Arbeitsmittel bezeichnet und der doch auch eine Arbeitsteilung
ist, ersichtlich im gleichen Sinn. Indem es jetzt die Funktion des Kapi-
talisten ist, die Arbeitsmittel zu erwerben, zu organisieren, auszuteilen,
haben diese letzteren für den Arbeiter eine ganz andere Objektivität, als
sie für denjenigen haben müssen, der am eigenen Material und mit eigenen
Werkzeugen arbeitet. Diese kapitalistische Differenzierung trennt die
subjektiven und die objektiven Bedingungen der Arbeit gründlich von
einander — eine Trennung, zu der, als beide noch in einer Hand ver-
einigt waren, gar keine psychologische Veranlassung vorlag. Indem die
Arbeit selbst und ihr unmittelbarer Gegenstand verschiedenen Per-
sonen zugehören, muſs sich für das Bewuſstsein des Arbeiters der ob-
jektive Charakter dieser Gegenstände auſserordentlich scharf betonen,
um so schärfer, als die Arbeit und ihre Materie doch andrerseits wieder
eine Einheit sind und so grade ihr nahes Aneinander ihre jetzigen
Gegenrichtungen am fühlbarsten machen muſs. Und das findet seine
Fortsetzung und Gegenbild darin, daſs auſser dem Arbeitsmittel auch
noch die Arbeit selbst sich von dem Arbeiter trennt: denn dies ist die
Bedeutung der Erscheinung, die man damit bezeichnet, daſs die Arbeits-
[487] kraft eine Ware geworden ist. Wo der Arbeiter an eigenem Material
schafft, verbleibt seine Arbeit innerhalb des Umkreises seiner Persön-
lichkeit, und erst das vollendete Werk verläſst denselben beim Ver-
kauf. Mangels der Möglichkeit indes, seine Arbeit in dieser Weise
zu verwerten, stellt er sie für einen Marktpreis in die Verfügung eines
Anderen, trennt sich also von ihr von dem Augenblick an, wo sie ihre
Quelle verläſst. Daſs sie nun Charakter, Bewertungsweise, Entwick-
lungsschicksale mit allen Waren überhaupt teilt, das bedeutet eben,
daſs sie dem Arbeiter selbst gegenüber etwas Objektives geworden ist,
etwas, das er nicht nur nicht mehr ist, sondern eigentlich auch nicht
mehr hat. Denn sobald eine potenzielle Arbeitsmenge sich in wirk-
liches Arbeiten umsetzt, gehört nicht mehr sie, sondern ihr Geldäqui-
valent ihm, während sie selbst einem Anderen oder genauer: einer ob-
jektiven Arbeitsorganisation zugehört. Das Ware-Werden der Arbeit ist
also auch nur eine Seite des weitausgreifenden Differenzierungsprozesses,
der aus der Persönlichkeit ihre einzelnen Inhalte herauslöst, um sie
ihr als Objekte, mit selbständiger Bestimmtheit und Bewegung, gegen-
überzustellen. Schlieſslich zeigt sich das Ergebnis dieses Schicksals der
Arbeitsmittel und Arbeitskraft an ihrem Produkt. Daſs das Arbeits-
produkt der kapitalistischen Epoche ein Objekt mit entschiedenem
Fürsichsein, eigenen Bewegungsgesetzen, dem herstellenden Subjekt
selbst fremdem Charakter ist, wird da zur eindringlichsten Vorstellung
werden, wo der Arbeiter genötigt ist, sein eigenes Arbeitsprodukt, wenn
er es haben will, zu kaufen. — Dies ist nun ein allgemeines Schema
der Entwicklung, das weit über den Lohnarbeiter hinaus gilt. Die un-
geheure Arbeitsteilung z. B. in der Wissenschaft bewirkt es, daſs nur
äuſserst wenige Forscher sich die Vorbedingungen ihrer Arbeit selbst
beschaffen können; unzählige Thatsachen und Methoden muſs man ein-
fach als objektives Material von auſsen aufnehmen, ein geistiges
Eigentum Anderer, an dem sich die eigene Arbeit vollzieht. Ich er
innere für das Gebiet der Technik daran, daſs noch am Anfang des
Jahrhunderts, als insbesondere in der Textil- und Eisenindustrie die
groſsartigsten Erfindungen rasch aufeinander folgten, die Erfinder nicht
nur die Maschinen, die sie ersannen, eigenhändig und ohne Beihülfe
anderer Maschinen herstellen, sondern meistens noch vorher die dazu
erforderlichen Werkzeuge selbst ausdenken und anfertigen muſsten.
Den jetzigen Zustand in der Wissenschaft kann man als eine Trennung
des Arbeiters von seinen Arbeitsmitteln im weiteren Sinne bezeichnen,
und jedenfalls in dem hier fraglichen. Denn in dem eigentlichen
Prozeſs der wissenschaftlichen Produktion scheidet sich nun doch
ein dem Produzenten gegenüber objektives Material von dem sub-
[488] jektiven Prozeſs seiner Arbeit. Je undifferenzierter der Wissen-
schaftsbetrieb noch war, je mehr der Forscher alle Voraussetzungen
und Materialien seiner Arbeit persönlich erarbeiten muſste, desto
weniger bestand für ihn der Gegensatz seiner subjektiven Leistung und
einer Welt objektiv feststehender wissenschaftlicher Gegebenheiten.
Und auch hier erstreckt sich dieser in das Produkt der Arbeit hinein:
auch das Ergebnis selbst, so sehr es als solches die Frucht subjektiven
Bemühens ist, muſs um so eher in die Kategorie einer objektiven, von
dem Produzenten unabhängigen Thatsache aufsteigen, je mehr Arbeits-
produkte Anderer schon von vornherein in ihm zusammengebracht und
wirksam sind. Darum sehen wir auch, daſs in der Wissenschaft der
geringsten Arbeitsteilung, der Philosophie — insbesondere in ihrem
metaphysischen Sinne — einerseits das aufgenommene objektive Material
eine durchaus sekundäre Rolle spielt, andrerseits das Produkt sich
am wenigsten von seinem subjektiven Ursprung gelöst hat und ganz als
Leistung dieser einen Persönlichkeit auftritt.


Wenn so die Arbeitsteilung — die ich hier in ihrem weitesten
Sinne, die Produktionsteilung wie die Arbeitszerlegung wie die Speziali-
sation einschlieſsend verstehe — die schaffende Persönlichkeit von dem
geschaffenen Werk abtrennt und dies letztere eine objektive Selb-
ständigkeit gewinnen läſst, so stellt sich Verwandtes in dem Verhältnis
der arbeitsteiligen Produktion zum Konsumenten ein. Hier handelt
es sich um die Herleitung innerer Folgen aus allbekannten äuſseren
Thatsachen. Die Kundenarbeit, die das mittelalterliche Handwerk be-
herrschte und erst im letzten Jahrhundert ihren rapidesten Rückgang
erfahren hat, belieſs dem Konsumenten ein persönliches Verhältnis zur
Ware: da sie speziell für ihn bereitet war, sozusagen eine Wechsel-
wirkung zwischen ihm und dem Produzenten darstellte, so gehörte sie,
in einigermaſsen ähnlicher Weise wie diesem, innerlich auch ihm zu.
Wie man den schneidenden Gegensatz von Subjekt und Objekt
in der Theorie dadurch versöhnt hat, daſs man dieses in jenem als
seine Vorstellung bestehen lieſs, so kommt der gleiche Gegensatz in
der Praxis nicht zur Entfaltung, solange das Objekt entweder nur
durch ein Subjekt, oder um eines Subjektes willen entsteht. Indem
die Arbeitsteilung die Kundenproduktion zerstört — schon weil der
Abnehmer sich wohl mit einem Produzenten, aber nicht mit einem
Dutzend Teilarbeiter in Verbindung setzen kann — verschwindet die
subjektive Färbung des Produkts auch nach der Seite des Konsumenten
hin, denn es entsteht nun unabhängig von ihm, die Ware ist nun eine
objektive Gegebenheit, an die er von auſsen herantritt und die ihr
Dasein und Sosein ihm gleichsam als etwas Autonomes gegenüberstellt.
[489] Der Unterschied z. B. zwischen dem modernen, auf die äuſserste
Spezialisierung gebauten Kleidermagazin und der Arbeit des Schneiders,
den man ins Haus nahm, charakterisiert aufs schärfste die gewachsene
Objektivität des wirtschaftlichen Kosmos, seine überpersönliche Selb-
ständigkeit im Verhältnis zum konsumierenden Subjekt, mit dem er
ursprünglich verwachsen war.


Mit dieser dem Abnehmer gegenüber bestehenden Autonomie der
Produktion hängt eine Erscheinung der Arbeitsteilung zusammen, die
jetzt ebenso alltäglich, wie in ihrer Bedeutung wenig erkannt ist. Von
den früheren Gestaltungen der Produktion her herrscht im ganzen die
einfache Vorstellung, daſs die niederen Schichten der Gesellschaft für
die höheren arbeiten; daſs die Pflanzen vom Boden, die Tiere von
den Pflanzen, der Mensch von den Tieren lebt, das wiederhole sich,
mit moralischem Recht oder Unrecht, im Bau der Gesellschaft: je höher
die Individuen sozial und geistig stehen, desto mehr gründet sich ihre
Existenz auf der Arbeit der tieferstehenden, die sie ihrerseits nicht
mit Arbeit für diese, sondern nur mit Geld vergelten. Diese Vor-
stellung ist nun ganz unzutreffend, seit die Bedürfnisse der unteren
Massen durch den Groſsbetrieb gedeckt werden, der unzählige wissen-
schaftliche, technische, organisatorische Energien oberster Stufen in
seinen Dienst gestellt hat. Der groſse Chemiker, der in seinem La-
boratorium über Darstellung der Teerfarben sinnt, arbeitet für die
Bäuerin, die beim Krämer sich das bunteste Halstuch aussucht; wenn
der Groſskaufmann in weltumspannenden Spekulationen amerikanisches
Getreide in Deutschland importiert, so ist er der Diener des ärmsten
Proletariers; der Betrieb einer Baumwollspinnerei, in der Intelligenzen
hohen Ranges thätig sind, ist von Abnehmern in der tiefsten sozialen
Schicht abhängig. Diese Rückläufigkeit der Dienste, in der die nie-
deren Klassen die Arbeit der höheren für sich kaufen, liegt jetzt schon
in unzählbaren, unser ganzes Kulturleben bestimmenden Beispielen vor.
Möglich aber ist diese Erscheinung nur durch die Objektivierung, die
die Produktion sowohl dem produzierenden wie dem konsumierenden
Subjekt gegenüber ergriffen hat und durch die sie jenseits der sozialen
oder sonstigen Unterschiede dieser beiden steht. Dies Indienstnehmen
der höchsten Kulturproduzenten seitens der niedrigststehenden Kon-
sumenten bedeutet eben, daſs kein Verhältnis zwischen ihnen besteht,
sondern daſs ein Objekt zwischen sie geschoben ist, an dessen einer
Seite gleichsam die Einen arbeiten, während die Anderen von der an-
deren her es konsumieren, und das Beide trennt, indem es sie ver-
bindet. Die Grundthatsache selbst ist ersichtlich eine Arbeitsteilung:
die Technik der Produktion ist so spezialisiert, daſs die Handhabung
[490] ihrer verschiedenen Teile nicht nur an immer mehr, sondern auch an
immer verschiedenere Personen übergeht — bis es eben schlieſslich
dahin kommt, daſs ein Teil der Arbeit an den niedrigsten Bedürfnis-
artikeln von den höchststehenden Individuen geleistet wird, grade wie
umgekehrt, in ganz entsprechender Objektivierung, die maschinentech-
nische Arbeitszerlegung bewirkt, daſs an den raffiniertesten Produkten
der höchsten Kultur die rohesten Hände mitarbeiten (man denke etwa
an eine heutige Druckerei im Unterschied gegen die Herstellung der
Bücher vor Erfindung der Buchdruckerkunst!). An dieser Umkehrung
des für typisch geltenden Verhältnisses zwischen oberen und tieferen
Gesellschaftsschichten tritt also aufs klarste heraus: die Arbeitsteilung
bewirkt, daſs jene für diese arbeiten, die Form aber, in der dies allein
geschehen kann, ist das völlige Objektivwerden der Produktionsleistung
selbst, sowohl den einen wie den anderen als Subjekten gegenüber.
Jene Umkehrung ist nichts als eine äuſserste Konsequenz des Zu-
sammenhanges, der zwischen der Arbeitsteilung und der Objektivierung
der Kulturinhalte besteht.


Hat bis hierher die Arbeitsteilung als eine Spezialisierung der
persönlichen Thätigkeiten gegolten, so wirkt die Spezialisierung,
der Gegenstände selbst nicht weniger dazu, sie in jene Distanz zu
den Subjekten zu stellen, die als Selbständigkeit des Objekts er-
scheint, als Unfähigkeit des Subjekts, jenes sich zu assimilieren und
seinem eigenen Rhythmus zu unterwerfen. Dies gilt zunächst für die
Arbeitsmittel. Je mehr diese differenziert, aus einer Vielheit speziali-
sierter Teile zusammengesetzt sind, desto weniger kann die Persön-
lichkeit des Arbeitenden sich durch sie hindurch ausdrücken, desto
weniger ist seine Hand im Produkte zu erkennen. Die Werkzeuge,
mit denen die Kunst arbeitet, sind relativ ganz undifferenziert und
geben deshalb der Persönlichkeit den weitesten Spielraum, sich mittels
ihrer zu entfalten; sie stellen sich ihr nicht gegenüber wie die in-
dustrielle Maschine, die durch ihre spezialistische Komplikation selbst
gleichsam die Form personaler Festigkeit und Umschriebenheit hat, so
daſs der Arbeiter sie nicht mehr wie jene, an sich unbestimmteren, mit
seiner Persönlichkeit durchdringen kann. Die Werkzeuge des Bild-
hauers sind seit Jahrtausenden nicht aus ihrer völligen Unspezialisiert-
heit heraus weiter entwickelt worden, und wo dies bei einem Kunst-
mittel allerdings und so entschieden geschehen ist wie bei dem Klavier,
da ist sein Charakter auch ein sehr objektiver, einer der schon viel
zu viel für sich ist und deshalb dem Ausdruck der Subjektivität eine viel
härtere Schranke setzt als z. B. die an sich technisch viel weniger differen-
zierte Geige. Der automatische Charakter der modernen Maschine ist
[491] der Erfolg einer weit getriebenen Zerlegung und Spezialisierung von
Stoffen und Kräften, grade wie der gleiche Charakter einer ausgebil-
deten Staatsverwaltung sich nur auf Grund einer raffinierten Arbeits-
teilung unter ihren Trägern erheben kann. Indem die Maschine aber
zur Totalität wird, einen immer gröſseren Teil der Arbeit auf sich
nimmt, steht sie ebenso dem Arbeiter als eine autonome Macht gegen-
über, wie er ihr gegenüber nicht als individualisierte Persönlichkeit,
sondern nur als Ausführer einer sachlich vorgeschriebenen Leistung
wirkt. Man vergleiche etwa den Arbeiter in der Schuhfabrik mit dem
Kundenschuhmacher, um zu sehen, wie sehr die Spezialisierung des
Werkzeugs die Wirksamkeit der persönlichen Qualitäten, hoch-
wie minderwertiger, lähmt und Objekt und Subjekt als von ein-
ander ihrem Wesen nach unabhängige Potenzen sich entwickeln läſst.
Während das undifferenzierte Werkzeug wirklich eine bloſse Fort-
setzung des Arms ist, steigt überhaupt erst das spezialisierte in die
reine Kategorie des Objekts auf. In sehr bezeichnender und auf der
Hand liegender Weise vollzieht sich dieser Prozeſs auch an den Kriegs-
werkzeugen; seinen Gipfel bildet dann das spezialisierteste und als
Maschine vollkommenste, das Kriegsschiff: an ihm ist die Objektivie-
rung so weit vorgeschritten, daſs in einem modernen Seekrieg über-
haupt kaum noch ein andrer Faktor entscheidet als das bloſse Zahlen-
verhältnis der Schiffe gleicher Qualität!


Der Objektivierungsprozeſs der Kulturinhalte, der, von der Speziali-
sation dieser getragen, zwischen dem Subjekt und seinen Geschöpfen
eine immer wachsende Fremdheit stiftet, steigt nun endlich in die
Intimitäten des täglichen Lebens hinunter. Die Wohnungseinrichtungen,
die Gegenstände, die uns zu Gebrauch und Zierde umgeben, waren
noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, von den Bedürf-
nissen der unteren bis zu denen der Schichten der höchsten Bil-
dung hinauf, von relativ groſser Einfachheit und Dauerhaftigkeit. Hier-
durch entstand jenes „Verwachsen“ der Persönlichkeiten mit Gegen-
ständen ihrer Umgebung, das der jüngeren Generation heute als eine
Wunderlichkeit der Groſseltern erscheint. Diesen Zustand hat die Diffe-
renzierung der Objekte nach drei verschiedenen Dimensionen hin,
und immer mit dem gleichen Erfolge unterbrochen. Zunächst ist es
schon die bloſse Vielheit sehr spezifisch gestalteter Gegenstände, die
ein enges, sozusagen persönliches Verhältnis zu den einzelnen er-
schwert: wenige und einfache Gerätschaften sind der Persönlichkeit
leichter assimilierbar. während eine Fülle von Mannigfaltigkeiten dem
Ich gegenüber gleichsam Partei bildet; das findet seinen Ausdruck
in der Klage der Hausfrauen, daſs die Pflege der Wohnungs-
[492] ausstattung einen förmlichen Fetischdienst fordere, und in dem ge-
legentlich hervorbrechenden Haſs tieferer und ernsterer Naturen gegen
die zahllosen Einzelheiten, mit denen wir unser Leben behängen. Der
erstere Fall ist deshalb kulturell so bezeichnend, weil die sorgende
und erhaltende Thätigkeit der Hausfrau früher umfänglicher und an-
strengender war als jetzt. Allein zu jenem Gefühl der Unfreiheit den
Objekten gegenüber kam es nicht, weil sie der Persönlichkeit enger
verbunden waren. Die wenigeren, undifferenzierteren Gegenstände
konnte diese eher mit sich durchdringen, sie setzten ihr nicht die
Selbständigkeit entgegen wie ein Haufe spezialisierter Dinge. Diese
erst, wenn wir ihnen dienen sollen, empfinden wir als eine feindliche
Macht. Wie Freiheit nichts negatives ist, sondern die positive Er-
streckung des Ich über ihm nachgebende Objekte, so ist umgekehrt
Objekt für uns nur dasjenige, woran unsere Freiheit erlahmt, d. h.
wozu wir in Beziehung stehen, ohne es doch unserem Ich assimilieren
zu können. Das Gefühl, von den Äuſserlichkeiten erdrückt zu werden,
mit denen das moderne Leben uns umgiebt, ist nicht nur die Folge,
sondern auch die Ursache davon, daſs sie uns als autonome Objekte
gegenübertreten. Das Peinliche ist, daſs diese vielfachen, umdrängen-
den Dinge uns im Grunde eben gleichgültig sind, und zwar aus den
spezifisch geldwirtschaftlichen Gründen der unpersönlichen Genesis und
der leichten Ersetzbarkeit. Daſs die Groſsindustrie den sozialistischen
Gedanken nährt, beruht nicht nur auf den Verhältnissen ihrer Arbeiter,
sondern auch auf der objektiven Beschaffenheit ihrer Produkte: der
moderne Mensch ist von lauter so unpersönlichen Dingen umgeben,
daſs ihm die Vorstellung einer überhaupt anti-individuellen Lebensord-
nung immer näher kommen muſs — freilich auch die Opposition dagegen.
Die Kulturobjekte erwachsen immer mehr zu einer in sich zusammen-
hängenden Welt, die an immer wenigeren Punkten auf die subjektive
Seele mit ihrem Wollen und Fühlen hinuntergreift. Und dieser Zu-
sammenhang wird von einer gewissen Selbstbeweglichkeit der Objekte
getragen. Man hat hervorgehoben, daſs der Kaufmann, der Hand-
werker, der Gelehrte heute weit weniger beweglich ist, als etwa in der
Reformationszeit. Materielle wie geistige Objekte bewegen sich jetzt
eben selbständig, ohne personalen Träger oder Transporteur. Dinge
und Menschen sind auseinandergetreten. Der Gedanke, die Arbeits-
mühe, die Geschicklichkeit haben durch ihre steigende Investierung in
objektiven Gebilden, Büchern und Waren, die Möglichkeit einer Eigen-
bewegung erhalten, für die der moderne Fortschritt in Transport-
mitteln nur die Verwirklichung oder der Ausdruck ist. Durch ihre
eigene impersonale Beweglichkeit erst vollendet sich die Differenzie-
[493] rung der Objekte vom Menschen zu selbstgenugsamem Zusammenschluſs.
Das restlose Beispiel für diesen mechanischen Charakter der modernen
Wirtschaft ist der Warenautomat; mit ihm wird nun auch aus dem
Detailverkauf, in dem noch am längsten der Umsatz durch Beziehung von
Person zu Person getragen worden ist, die menschliche Vermittlung
völlig ausgeschaltet und das Geldäquivalent maschinenartig in die
Ware umgesetzt. Auf anderer Stufe wird dasselbe Prinzip auch schon
in dem Fünfzig-Pfennig-Bazar und ähnlichen Geschäften wirksam, in
denen der wirtschaftspsychologische Prozeſs nicht von der Ware zum
Preise, sondern vom Preise zur Ware geht. Denn hier werden durch
die apriorische Preisgleichheit sämtlicher Gegenstände vielerlei Über-
legungen und Abwägungen des Käufers, vielerlei Bemühungen und
Explikationen des Verkäufers wegfallen und so der wirtschaftliche Akt
seine personalen Instanzen sehr schnell und gegen sie indifferent
durchlaufen.


Auf den gleichen Erfolg wie diese Differenzierung im Neben-
einander, führt die im Nacheinander. Der Wechsel der Mode unter-
bricht jenen inneren Aneignungs- und Einwurzelungsprozeſs zwischen
Subjekt und Objekt, der es zur Diskrepanz beider nicht kommen läſst.
Die Mode ist eines jener gesellschaftlichen Gebilde, die den Reiz von
Unterschied und Abwechslung mit dem von Gleichheit und Zusammen-
schluſs in einer besonderen Proportion vereinen. Jede Mode ist ihrem
Wesen nach Klassenmode, d. h. sie bezeichnet jedesmal eine Gesell-
schaftsschicht, die sich durch die Gleichheit ihrer Erscheinung ebenso-
wohl nach innen einheitlich zusammenschlieſst, wie nach auſsen gegen
andere Stände abschlieſst. Sobald nun die untere Schicht, die es der
oberen nachzuthun sucht, ihrerseits die neue Mode aufgenommen hat,
wird sie von der letzteren verlassen und eine neue kreiert. Deshalb
hat es freilich wohl überall Moden gegeben, wo soziale Unterschiede
sich einen Ausdruck in der Sichtbarkeit gesucht haben. Allein die
soziale Bewegung seit hundert Jahren hat ihr ein ganz besonderes
Tempo verliehen. Und zwar einerseits durch das Flüssigwerden der
klassenmäſsigen Schranken und das vielfache individuelle, manchmal
auch ganze Gruppen umfassende Aufsteigen von einer Schicht in die
höhere, andrerseits durch die Vorherrschaft des dritten Standes. Der
erstere Umstand bewirkt, daſs die Moden der in dieser Hinsicht führen-
den Schichten äuſserst schnell wechseln müssen, denn das Nachdrängen
der unteren, das der bestehenden Mode ihren Sinn und Reiz raubt,
erfolgt jetzt sehr bald. Das zweite Moment wird dadurch wirksam,
daſs der Mittelstand und die städtische Bevölkerung, im Gegensatz zu
dem Konservativismus der höchsten und der bäurischen Stände, der der
[494] eigentlichen Variabilität ist. Unruhige, nach Abwechslung drängende
Klassen und Individuen finden in der Mode, der Wechsel- und Gegen-
satzform des Lebens, das Tempo ihrer eignen psychischen Bewegungen
wieder. Wenn die heutigen Moden lange nicht so extravagant und
kostspielig sind, wie die früherer Jahrhunderte, dafür aber sehr viel
kürzere Lebensdauer haben, so liegt dies daran, daſs sie viel weitere
Kreise in ihren Bann ziehen, daſs es den Tieferstehenden jetzt sehr
viel leichter gemacht werden muſs, sie sich anzueignen, und daſs ihr
eigentlicher Sitz der wohlhabende Bürgerstand geworden ist. Der Er-
folg dieses Umsichgreifens der Mode, sowohl in Hinsicht der Breite wie
ihres Tempos, ist, daſs sie als eine selbständige Bewegung erscheint,
als eine objektive, durch eigne Kräfte entwickelte Macht, die ihren
Weg unabhängig von jedem Einzelnen geht. So lange die Moden —
und es handelt sich hier keineswegs nur um Kleidermoden — noch
relativ längere Zeit dauerten und relativ enge Kreise zusammenhielten,
mochte es zu einem sozusagen persönlichen Verhältnis zwischen dem
Subjekt und den einzelnen Inhalten der Mode kommen. Die Schnellig-
keit ihres Wechsels — also ihre Differenzierung im Nacheinander —
und der Umfang ihrer Verbreitung lösen diesen Konnex, und wie es
mit manchen anderen sozialen Palladien in der Neuzeit geht, so auch
hier: die Mode ist weniger auf den Einzelnen, der Einzelne weniger
auf die Mode angewiesen, ihre Inhalte entwickeln sich wie eine
evolutionistische Welt für sich.


Wenn so die Differenzierung allverbreiteter Kulturinhalte nach
den formalen Seiten des Neben- und Nacheinander sie zu einer
selbständigen Objektivität zu gestalten hilft, so will ich nun, drittens,
von den inhaltlich in diesem Sinne wirksamen Momenten ein ein-
zelnes anführen. Ich meine die Vielheit der Stile, mit denen die
täglich anschaubaren Objekte uns entgegentreten — vom Häuserbau
bis zu Buchausstattungen, von Bildwerken bis zu Gartenanlagen und
Zimmereinrichtungen, in denen Renaissance und Japonismus, Barock
und Empire, Prärafaelitentum und realistische Zweckmäſsigkeit sich
nebeneinander anbauen. Dies ist der Erfolg der Ausbreitung unseres
historischen Wissens, welche nun wieder in Wechselwirkung mit jener
hervorgehobenen Variabilität des modernen Menschen steht. Zu allem
historischen Verständnis gehört eine Biegsamkeit der Seele, eine Fähig-
keit, sich in die von dem eignen Zustand abweichendsten seelischen
Verfassungen hineinzufühlen und sie in sich nachzuformen — denn
alle Geschichte, mag sie noch so sehr von Sichtbarkeiten handeln, hat
Sinn und Verstandenwerden nur als Geschichte zum Grunde liegender
Interessen, Gefühle, Strebungen: selbst der historische Materialismus
[495] ist nichts als eine psychologische Hypothese. Damit einem der Inhalt
der Geschichte zum Eigentum werde, bedarf es deshalb einer Bildsamkeit,
Nachbildsamkeit der auffassenden Seele, einer innerlichen Sublimierung
der Variabilität. Die historisierenden Neigungen unseres Jahrhunderts,
seine unvergleichliche Fähigkeit, das Fernliegendste — im zeitlichen
wie im räumlichen Sinne — zu reproduzieren und lebendig zu machen,
ist nur die Innenseite der allgemeinen Steigerung seiner Anpassungs-
fähigkeit und ausgreifenden Beweglichkeit. Daher die verwirrende
Mannigfaltigkeit der Stile, die von unserer Kultur aufgenommen,
dargestellt, nachgefühlt werden. Wenn nun jeder Stil wie eine Sprache
für sich ist, die besondere Laute, besondere Flexionen, eine besondere
Syntax hat, um das Leben auszudrücken, so tritt er unserem Bewuſst-
sein offenbar so lange nicht als eine autonome Potenz, die ein eignes
Leben lebt, entgegen, als wir nur einen einzigen Stil kennen, in dem
wir uns und unsere Umgebung gestalten. Niemand empfindet an seiner
Muttersprache, solange er sie unbefangen redet, eine objektive Gesetz-
mäſsigkeit, an die er sich wie an ein Jenseits seines Subjekts zu
wenden hat, um von ihr die nach unabhängigen Normen geprägte
Ausdrucksmöglichkeit für seine Innerlichkeit zu entlehnen. Vielmehr,
Ausgedrücktes und Ausdruck sind in diesem Fall unmittelbar eines,
und als ein selbständiges, uns gegenüberstehendes Sein empfinden wir
nicht nur die Muttersprache, sondern die Sprache überhaupt erst, wenn
wir fremde Sprachen kennen lernen. So werden Menschen eines ganz
einheitlichen, ihr ganzes Leben umschlieſsenden Stiles denselben auch
in fragloser Einheit mit den Inhalten desselben vorstellen. Da
sich alles, was sie bilden oder anschauen, ganz selbstverständlich in
ihm ausdrückt, so liegt gar keine psychologische Veranlassung vor, ihn
von den Stoffen dieses Bildens und Anschauens gedanklich zu trennen
und als ein Gebilde eigner Provenienz dem Ich gegenüber zu stellen.
Erst eine Mehrheit der gebotenen Stile wird den einzelnen von seinem
Inhalt lösen, derart, daſs seiner Selbständigkeit und von uns un-
abhängigen Bedeutsamkeit unsere Freiheit, ihn oder einen anderen zu
wählen, gegenübersteht. Durch die Differenzierung der Stile wird
jeder einzelne und damit der Stil überhaupt zu etwas objektivem,
dessen Gültigkeit vom Subjekte und dessen Interessen, Wirksamkeiten,
Gefallen oder Miſsfallen unabhängig ist. Daſs die sämtlichen An-
schauungsinhalte unseres Kulturlebens in eine Vielheit von Stilen aus-
einandergegangen sind, löst jenes ursprüngliche Verhältnis zu ihnen,
in dem Subjekt und Objekt noch gleichsam ungeschieden ruhen, und
stellt uns einer Welt nach eignen Normen entwickelter Ausdrucks-
möglichkeiten, der Formen, das Leben überhaupt auszudrücken, gegen-
[496] über, so daſs eben diese Formen einerseits und unser Subjekt andrer-
seits wie zwei Parteien sind, zwischen denen ein rein zufälliges Ver-
hältnis von Berührungen, Harmonien und Disharmonien herrscht.


Dies ist also ungefähr der Umkreis, in dem Arbeitsteilung und
Spezialisation, persönlichen wie sachlichen Sinnes, den groſsen Ob-
jektivationsprozeſs der modernsten Kultur tragen. Aus all diesen Er-
scheinungen setzt sich das Gesamtbild zusammen, in dem der Kultur-
inhalt immer mehr und immer gewuſster objektiver Geist wird,
gegenüber nicht nur denen, die ihn aufnehmen, sondern auch denen, die
ihn produzieren. In dem Maſs, in dem diese Objektivation vorschreitet,
wird die wunderliche Erscheinung begreiflicher, von der wir aus-
gingen: daſs die kulturelle Steigerung der Individuen hinter der der
Dinge — greifbarer wie funktioneller wie geistiger — merkbar zurück-
bleiben kann.


Daſs gelegentlich auch das Umgekehrte stattfindet, beweist die
gleiche gegenseitige Verselbständigung beider Formen des Geistes. In
etwas versteckter und umgebildeter Art liegt dies etwa in folgender
Erscheinung. Die bäuerliche Wirtschaft scheint in Norddeutschland
nur bei einer Art Anerbenrecht auf die Dauer erhaltbar, d. h. nur
dann, wenn einer der Erben den Hof übernimmt und die Miterben
mit geringeren Quoten abfindet, als sie nach dem Verkaufswert des-
selben bekommen würden. Bei der Berechnung nach dem letzteren —
der momentan den Ertragswert weit übersteigt — wird der Hof bei
der Abfindung derart mit Hypotheken überlastet, daſs nur ein ganz
minderwertiger Betrieb möglich bleibt. Dennoch fordert das moderne,
individualistische Rechtsbewuſstsein diese mechanische, geldmäſsige
Gleichberechtigung aller Erben und giebt nicht einem einzelnen Kinde
den Vorteil, der doch zugleich die Bedingung für den objektiv voll-
kommenen Betrieb wäre. Zweifellos sind hierdurch oft Kultur-
erhöhungen einzelner Subjekte erreicht worden, um den Preis, daſs die
Kultur des Objekts relativ zurückgeblieben ist. Mit groſser Entschiedenheit
tritt eine derartige Diskrepanz an eigentlichen sozialen Institutionen auf,
deren Evolution ein schwerfälligeres und konservativeres Tempo zeigt,
als die der Individuen. Unter dieses Schema gehören die Fälle, die
dahin zusammengefaſst worden sind, daſs die Produktionsverhältnisse,
nachdem sie eine bestimmte Epoche über bestanden haben, von den
Produktionskräften, die sie selbst entwickelten, überflügelt werden, so
daſs sie den letzteren keinen adäquaten Ausdruck und Verwendung
mehr gestatten. Diese Kräfte sind zum groſsen Teil personalen
Wesens: was die Persönlichkeiten zu leisten fähig oder zu wollen
berechtigt sind, findet keinen Platz mehr in den objektiven Formen
[497] der Betriebe. Die erforderliche Umänderung dieser erfolgt immer erst,
wenn die dahin drängenden Momente sich zu Massen angehäuft haben;
bis dahin bleibt die sachliche Organisierung der Produktion hinter
der Entwicklung der individuellen wirtschaftlichen Energien zurück.
Nach diesem Schema verlaufen viele Veranlassungen zur Frauen-
bewegung. Die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben
auſserordentlich viele hauswirtschaftliche Thätigkeiten, die früher den
Frauen oblagen, auſserhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger
und zweckmäſsiger hergestellt werden. Dadurch ist nun sehr vielen
Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive Lebensinhalt genommen,
ohne daſs so rasch sich andere Thätigkeiten und Ziele an die leer-
gewordne Stelle eingeschoben hätten; die vielfache „Unbefriedigtheit“
der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer Kräfte, die zurück-
schlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung bewirken, ihr teils
gesundes, teils krankhaftes Suchen nach Bewährungen auſserhalb des
Hauses — ist der Erfolg davon, daſs die Technik in ihrer Objektivität
einen eignen und schnelleren Gang genommen hat, als die Entwick-
lungsmöglichkeiten der Personen. Aus einem entsprechenden Ver-
hältnis soll der vielfach unbefriedigende Charakter moderner Ehen
folgen. Die festgewordenen, die Individuen zwingenden Formen und
Lebensgewohnheiten der Ehe stünden einer persönlichen Entwicklung
der Kontrahenten, insbesondere der der Frau gegenüber, die weit
über jene hinausgewachsen sei. Die Individuen wären jetzt auf eine
Freiheit, ein Verständnis, eine Gleichheit der Rechte und Ausbildungen
angelegt, für die das eheliche Leben, wie es nun einmal traditionell
und objektiv gefestigt ist, keinen rechten Raum gebe. Der objektive
Geist der Ehe, so könnte man dies formulieren, sei hinter den sub-
jektiven Geistern an Entwicklung zurückgeblieben. Nicht anders das
Recht: von gewissen Grundthatsachen aus logisch entwickelt, in
einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen
Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen
empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber
jene Starrheit, durch die es sich schlieſslich wie eine ewige Krank-
heit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohlthat zur Plage wird. So-
bald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen
kristallisiert haben und diese arbeitsteilig durch eine, von den Gläubigen
gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion nicht
besser. Behält man diese relative Selbständigkeit des Lebens im Auge,
mit der die objektiv gewordenen Kulturgebilde, der Niederschlag der
geschichtlichen Elementarbewegungen, den Subjekten gegenüberstehen,
so dürfte die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte viel von
Simmel, Philosophie des Geldes. 32
[498] ihrer Ratlosigkeit verlieren. Daſs sich Beweis und Gegenbeweis mit
gleicher Plausibilität an jede Beantwortung derselben knüpfen läſst, liegt
vielleicht oft daran, daſs beide gar nicht denselben Gegenstand haben.
So kann man z. B. mit demselben Recht den Fortschritt wie die Un-
veränderlichkeit in der sittlichen Verfassung behaupten, wenn man
einmal auf die festgewordenen Prinzipien, die Organisationen, die in
das Bewuſstsein der Gesamtheit aufgestiegenen Imperative hinsieht,
das andre Mal auf das Verhältnis der Einzelpersonen zu diesen objek-
tiven Idealen, die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit, mit der sich
das Subjekt in sittlicher Hinsicht benimmt. Fortschritte und Stagna-
tion können so unmittelbar nebeneinander liegen, und zwar nicht nur
in verschiednen Provinzen des geschichtlichen Lebens, sondern in einer
und derselben, je nachdem man die Evolution der Subjekte oder die
der Gebilde ins Auge faſst, die zwar aus den Beiträgen der Individuen
entstanden sind, aber ein eignes, objektiv geistiges Leben gewonnen
haben.


Nun sich neben die Möglichkeit, daſs die Entwicklung des objek-
tiven Geistes die des subjektiven überhole, die entgegengesetzte gestellt
hat, blicke ich noch einmal auf die Bedeutung der Arbeitsteilung für
die Bildung der ersteren zurück. Jene doppelte Möglichkeit ergiebt
sich, kurz zusammengefaſst, auf folgende Weise. Daſs der in Pro-
duktionen irgendwelcher Art vergegenständlichte Geist dem einzelnen
Individuum überlegen ist, liegt an der Komplikation der Herstellungs-
weisen, die auſserordentlich viel historische und sachliche Bedingungen,
Vor- und Mitarbeiter voraussetzen. Dadurch kann das Produkt Energien,
Qualitäten, Steigerungen in sich sammeln, die ganz auſserhalb des
einzelnen Produzenten liegen. Dies aber wird insbesondere in der
spezifisch modernen Technik als Folge der Arbeitsteilung auftreten.
Solange das Produkt im wesentlichen von einem einzelnen Produzenten
oder durch eine wenig spezialisierte Kooperation hergestellt wurde,
konnte der in ihm objektivierte Gehalt an Geist und Kraft den der
Subjekte nicht erheblich übersteigen. Erst eine raffinierte Arbeits-
teilung macht das einzelne Produkt zur Sammelstelle von Kräften, die
aus einer sehr groſsen Anzahl von Individuen auserlesen sind; so daſs
es, als Einheit betrachtet und mit irgendwelchem Einzelindividuum ver-
glichen, dieses jedenfalls nach einer ganzen Reihe von Seiten hin über-
ragen muſs; und diese Aufhäufung von Eigenschaften und Vollkommen-
heiten an dem Objekt, das ihre Synthese bildet, geht ins unbegrenzte,
während der Ausbau der Individualitäten für jeden gegebenen Zeit-
abschnitt an der Naturbestimmtheit derselben eine unverrückbare
Schranke findet. Aber wenn die Thatsache, daſs das objektive Werk
[499] einzelne Seiten sehr vieler Persönlichkeiten in sich einsaugt, ihm so
eine objektiv überragende Entwicklungsmöglichkeit gewährt, so versagt
sie ihm doch auch Vollkommenheiten, die sich grade nur durch die
Synthese der Energien in einem Subjekt verwirklichen. Der
Staat und zwar insbesondere der moderne ist hier das umfassendste
Beispiel. Wenn nämlich der Rationalismus es als logisch widerspruchs-
voll gebrandmarkt hat, daſs der Monarch, der doch nur ein einzelner
Mensch sei, über eine ungeheure Anzahl andrer Menschen herrsche, so
ist dabei übersehen, daſs die letzteren, insofern sie eben diesen Staat
unter dem Monarchen bilden, gar nicht in demselben Sinn „Menschen“
sind, wie dieser es ist. Sie geben vielmehr nur einen gewissen Bruch-
teil ihres Seins und ihrer Kräfte in den Staat hinein, mit anderen
reichen sie in andere Kreise, die Gesamtheit ihrer Persönlichkeit wird
überhaupt von keinem erfaſst. Diese aber setzt der Monarch in das
Verhältnis ein, und also mehr als jeder einzelne seiner Unterthanen
für sich. Solange freilich das Regiment in dem Sinne unumschränkt
ist, daſs der Herrscher unmittelbar über die Personen in dem ganzen
Umfang ihres Seins verfügen kann, mag jene Unverhältnismäſsigkeit
bestehen. Der moderne Rechtsstaat dagegen grenzt den Bezirk genau
ab, mit dem die Personen in die Staatssphäre hineinfallen, er diffe-
renziert jene, um aus gewissen ausgesonderten Elementen ihrer sich
selbst zu bilden. Je entschiedner diese Differenzierung ist, als ein desto
objektiveres, von der Form individueller Seelenhaftigkeit gelöstes Ge-
bilde steht der Staat dem Individuum gegenüber. Daſs er so eine
Synthese aus den differenzierten Elementen der Subjekte ist, macht
ihn ersichtlich ebenso zu einem unter-persönlichen, wie zu einem über-
persönlichen Wesen. Wie mit dem Staat aber verhält es sich mit
allen Gebilden des objektiven Geistes, die durch Zusammenfügung
differenzierter individueller Leistungen entstehen. Denn so sehr diese
an sachlich geistigem Gehalt und Entwickelbarkeit desselben jeden
individuellen Intellekt übertreffen, so empfinden wir sie doch in dem-
selben Maſs, in dem die Differenziertheit und Anzahl der arbeits-
teiligen Elemente zunimmt, als bloſsen Mechanismus, dem die Seele
fehlt. Aufs deutlichste tritt hier der Unterschied hervor, den man als
den von Geist und Seele bezeichnen kann. Geist ist der objektive
Inhalt dessen, was innerhalb der Seele in lebendiger Funktion bewuſst
wird; Seele ist gleichsam die Form, in der der Geist, d. h. der logisch-
sachliche Inhalt des Denkens, für uns lebt. Der Geist in diesem Sinne
ist deshalb nicht an die Gestaltung zur Einheit gebunden, ohne die
es keine Seele giebt. Es ist, als ob die geistigen Inhalte irgendwie
verstreut da wären und erst die Seele führte sie in sich einheitlich
32*
[500] zusammen, ungefähr wie die unlebendigen Stoffe in den Organismus
und die Einheit seines Lebens einbezogen werden. Darin liegt die
Gröſse wie die Grenze der Seele gegenüber den einzelnen, in ihrer
selbständigen Gültigkeit und sachlichen Bedeutsamkeit betrachteten
Inhalten ihres Bewuſstseins. In so leuchtender Vollkommenheit und
restlosem Sich-Selbst-Genügen auch Plato das Reich der Ideen zeichnen
mag, die doch nichts anderes sind, als die von aller Zufälligkeit des
Vorgestelltwerdens gelösten Sachinhalte des Denkens, und so unvoll-
kommen, bedingt und dämmernd ihm die Seele des Menschen mit ihrer
blassen, verwischten, kaum erhaschten Abspiegelung jener reinen Be-
deutsamkeiten erscheinen mag — für uns ist jene plastische Klarheit
und logische Formbestimmtheit nicht der einzige Wertmaſsstab der
Ideale und Wirklichkeiten. Uns ist die Form persönlicher Ein-
heit, zu der das Bewuſstsein den objektiven geistigen Sinn der Dinge
zusammenführt, von unvergleichlichem Wert: hier erst gewinnen sie
die Reibung aneinander, die Leben und Kraft ist, hier entwickeln sich
erst jene dunklen Wärmestrahlen des Gemütes, für die die klare Per-
fektion rein sachlich bestimmter Ideen keinen Platz und kein Herz
hat. So aber verhält es sich auch mit dem Geiste, der durch Ver-
gegenständlichung unserer Intelligenz sich der Seele als Objekt gegen-
überstellt. Und zwar wächst der Abstand zwischen beiden offenbar in
demselben Maſse, in dem der Gegenstand durch das arbeitsteilige Zu-
sammenwirken einer wachsenden Anzahl von Persönlichkeiten ent-
steht; denn in eben diesem Maſs wird es unmöglich, in das Werk die
Einheit der Persönlichkeit hineinzuarbeiten, hineinzuleben, an welche
sich für uns grade der Wert, die Wärme, die Eigenart der Seele
knüpft. Daſs dem objektiven Geist durch die moderne Differenziert-
heit seines Zustandekommens eben diese Form der Seelenhaftigkeit
fehlt — in engem Zusammenhang mit dem mechanischen Wesen
unserer Kulturprodukte — das mag der letzte Grund der Feindselig-
keit sein, mit der sehr individualistische und vertiefte Naturen jetzt
so häufig dem „Fortschritt der Kultur“ gegenüberstehen. Und zwar
um so mehr, als diese, durch die Arbeitsteilung bestimmte Entwicklung
der objektiven Kultur eine Seite oder Folge der allgemeinen Er-
scheinung ist, die man so auszudrücken pflegt: daſs das Bedeutende
in der gegenwärtigen Epoche nicht mehr durch die Individuen, sondern
durch die Massen geschehe. Die Arbeitsteilung bewirkt in der That,
daſs der einzelne Gegenstand schon ein Produkt der Masse ist; die,
unsere Arbeitsorganisation bestimmende, Zerlegung der Individuen in
ihre einzelnen Energien und die Zusammenführung des so Herausdiffe-
renzierten zu einem objektiven Kulturprodukt hat zur Folge, daſs in
[501] diesem einzelnen um so weniger Seele ist, je mehr Seelen an seiner
Herstellung beteiligt waren. Die Pracht und Gröſse der modernen
Kultur zeigt so einige Analogie mit jenem strahlenden Ideenreiche
Platos, in dem der objektive Geist der Dinge in makelloser Voll-
endung wirklich ist, dem aber die Werte der eigentlichen, nicht in
Sachlichkeiten auflösbaren Persönlichkeit fehlen — ein Mangel, den
alles Bewuſstsein des fragmentarischen, irrationalen, ephemeren Cha-
rakters der letzteren nicht unfühlbar machen kann. Ja, die personale
Seelenhaftigkeit besitzt als bloſse Form einen spezifischen Wert,
der sich neben aller Minderwertigkeit und Kontraidealität ihres Inhalts
behauptet; sie bleibt als eine eigentümliche Bedeutsamkeit des Daseins,
all seiner Objektivität gegenüber, selbst in den Fällen bestehen, von
denen wir ausgingen und in denen die individuell-subjektive Kultur
einen positiven Rückschritt zeigt, während die objektive fortschreitet.


Der Dualismus der Werte, der sich so in der Kulturentwicklung
offenbart, setzt sich also an eine und dieselbe Thatsache an: die Zer-
legung und Spezialisation der seelischen wie der sachlichen Erschei-
nungen ist gleichsam der Drehpunkt, um den sich beiderlei Werte
bewegen. Die Differenzierung treibt die subjektive und die objek-
tive Kultur immer weiter auseinander, derart indes, daſs in dieser
Gegenbewegung die letztere als das eigentlich bewegte Element er-
scheint, während die erstere eine erheblichere Stabilität besitzt; aber
indem jene Bewegung gleichzeitig nach zwei Richtungen geht — in
der oben angenommenen Bezeichnungsweise: auf Steigerung des Geistes
und Verminderung der Seele — ändert das subjektive Element, selbst
wenn es ganz ungeändert bliebe, doch seine relative Stellung zu
jenem und erscheint einerseits tiefer, andrerseits höher gerückt. —


Für jede Kulturgemeinschaft ist offenbar das Verhältnis, in dem
ihr objektiv gewordener Geist und seine Entwicklung zu den subjektiven
Geistern steht, von äuſserster Bedeutsamkeit, und zwar grade nach der
Seite ihres Lebensstiles hin: denn wenn der Stil eine Form ist, in der
eine beliebige Verschiedenheit von Inhalten sich gleichmäſsig ausdrückt,
so kann doch sicher die Relation zwischen objektivem und subjektivem
Geist in Bezug auf Quantität, Höhenmaſs, Entwicklungstempo bei sehr
verschiedenen Inhalten des kulturellen Geistes dennoch die gleiche
sein. Grade die allgemeine Art, wie das Leben sich abspielt, der
Rahmen, den die soziale Kultur den Impulsen des Individuums dar-
bietet, wird durch Fragen wie diese umschrieben: ob der Einzelne sein
Innenleben in Nähe oder in Fremdheit zu der objektiven Kultur-
bewegung seiner Zeit weiſs, ob er diese als eine überlegene, von der
er gleichsam nur den Saum des Gewandes berühren kann, empfindet,
[502] oder seinen personalen Wert allem verdinglichten Geiste überlegen;
ob innerhalb seines eigenen Geisteslebens die objektiven, historisch
gegebenen Elemente eine Macht eigener Gesetzmäſsigkeit sind, so daſs
diese und der eigentliche Kern seiner Persönlichkeit sich wie un-
abhängig voneinander entwickeln, oder ob die Seele sozusagen Herr
im eigenen Hause ist oder wenigstens zwischen ihrem innersten Leben
und dem, was sie als impersonale Inhalte in dasselbe aufnehmen muſs,
eine Harmonie in Bezug auf Höhe, Sinn und Rhythmus annehmen
kann. Diese abstrakten Formulierungen zeichnen doch das Schema
für unzählige konkrete Interessen und Stimmungen des Tages und des
Lebens und damit also das Maſs, in dem die Beziehungen zwischen
objektiver und subjektiver Kultur den Stil des Daseins bestimmen.


Wurde nun die gegenwärtige Gestaltung dieses Verhältnisses von
der Arbeitsteilung getragen, so ist sie auch ein Abkömmling der Geld-
wirtschaft. Und zwar einmal, weil die Zerlegung der Produktion in
sehr viele Teilleistungen eine mit absoluter Genauigkeit und Zuver-
lässigkeit funktionierende Organisation fordert, wie sie, seit dem Auf-
hören der Sklavenarbeit, nur bei Geldentlohnung der Arbeiter her-
stellbar ist. Jede anders vermittelte Beziehung zwischen Unternehmer
und Arbeiter würde unberechenbarere Elemente enthalten, teils weil
naturaleres Entgelt nicht so einfach beschaffbar und genau bestimmbar
ist, teils weil nur das reine Geldverhältnis den bloſs sachlichen und auto-
matischen Charakter hat, ohne den sehr differenzierte und komplizierte
Organisationen nicht auskommen. Und dann, weil der wesentliche Ent-
stehungsgrund des Geldes überhaupt in dem Maſse wirksamer wird, in dem
die Produktion sich mehr spezialisiert. Denn es handelt sich doch im
wirtschaftlichen Verkehr darum, daſs der eine fortgiebt, was der andere
begehrt, wenn dieser andere dem ersteren dasselbe thut. Jene Sitten-
regel: den Menschen zu thun, wovon man wünscht, daſs sie es einem
thun — findet das umfassendste Beispiel ihrer formalen Verwirk-
lichung an der Wirtschaft. Wenn nun ein Produzent für den Gegen-
stand A, den er in Tausch geben will, auch einen Abnehmer bereit
findet, so wird der Gegenstand B, den dieser letztere dagegen zu
geben im stande ist, jenem häufig gar nicht erwünscht sein. Daſs so
die Verschiedenheit der Begehrungen zwischen zwei Personen nicht
immer mit der Verschiedenheit der Produkte zusammenfällt, die sie
beide anzubieten haben, fordert bekanntlich die Einschiebung eines
Tauschmittels; so daſs, wenn die Besitzer von A und von B sich nicht
über unmittelbaren Tausch einigen können, der erstere sein A gegen
Geld fortgiebt, für das er sich nun das ihm erwünschte C verschaffen
kann, während der Besitzer von B das Geld für den Kauf von A da-
[503] durch beschafft, daſs er mit seinem B einem Dritten gegenüber ebenso
verfährt. Da es also die Verschiedenheit der Produkte, bezw.
der auf sie gerichteten Begehrungen ist, um derentwillen es überhaupt
zum Geld kommt, so wird seine Rolle ersichtlich um so gröſser und
unentbehrlicher werden, je verschiedenartigere Gegenstände der Ver-
kehr einschlieſst; oder, von der andern Seite gesehen: zu einer er-
heblichen Spezifikation der Leistungen kann es überhaupt erst kommen,
wenn man nicht mehr auf unmittelbaren Austausch angewiesen ist.
Die Chance, daſs der Abnehmer eines Produkts seinerseits grade ein
Objekt anzubieten habe, das jenem Produzenten genehm ist, sinkt in
dem Maſse, in dem die Spezifizierung der Produkte und die der mensch-
lichen Wünsche steigt. Es ist nach dieser Richtung hin also gar kein
neu eintretendes Moment, das die moderne Differenzierung an die
Alleinherrschaft des Geldes knüpft; sondern die Verbindung zwischen
beiden Kulturwerten findet schon in der Tiefe ihrer Wurzeln statt,
und daſs die Verhältnisse der Spezialisation, die ich schilderte, durch
ihre Wechselwirkung mit der Geldwirtschaft eine völlige historische
Einheit mit ihr bilden — das ist nur die graduelle Steigerung einer
mit dem Wesen beider gegebenen Synthese.


Durch diese Vermittlung hindurch knüpft sich also der Stil des
Lebens, insoweit er von dem Verhältnis zwischen objektiver und sub-
jektiver Kultur abhängig ist, an den Geldverkehr. Und zwar wird
hierbei das Wesen des letzteren völlig durch den Umstand enthüllt,
daſs er sowohl das Übergewicht des objektiven Geistes über den sub-
jektiven, wie auch die Reserve, unabhängige Steigerung und Eigen-
entwicklung des letzteren trägt. Beides nicht nur, weil die Differen-
zierung innerhalb der Produktion vom Geld abhängt und diese zugleich
die Differenzierung der Produktion von der Persönlichkeit bewirkt,
sondern auch durch direktere Beziehung. Was die Kultur der Dinge
zu einer so überlegnen Macht gegenüber der der Einzelpersonen werden
läſst, das ist die Einheit und autonome Geschlossenheit, zu der jene
in der Neuzeit aufgewachsen ist. Die Produktion, mit ihrer Technik
und ihren Ergebnissen, erscheint wie ein Kosmos mit festen, sozusagen
logischen Bestimmtheiten und Entwicklungen, der dem Individuum
gegenübersteht, wie das Schicksal es der Unstätheit und Unregel-
mäſsigkeit unseres Willens thut. Dieses formale Sich-selbst-gehören,
dieser innere Zwang, der die Kulturinhalte zu einem Gegenbild des
Naturzusammenhanges einigt, wird erst durch das Geld wirklich: das
Geld funktioniert einerseits als das Gelenk-System dieses Organismus;
es macht seine Elemente gegeneinander verschiebbar, stellt ein Verhält-
nis gegenseitiger Abhängigkeit und Fortsetzbarkeit aller Impulse
[504] zwischen ihnen her. Es ist andrerseits dem Blut zu vergleichen, dessen
kontinuierliche Strömung alle Verästelungen der Glieder durchdringt,
und, alle gleichmäſsig ernährend, die Einheit ihrer Funktionen trägt.
Und was das zweite betrifft: so ermöglicht das Geld, indem es zwischen
den Menschen und die Dinge tritt, jenem eine sozusagen abstrakte
Existenz, ein Freisein von unmittelbaren Rücksichten auf die Dinge und
von unmittelbarer Beziehung zu ihnen, ohne das es zu gewissen Ent-
wicklungschancen unserer Innerlichkeit nicht käme; wenn der moderne
Mensch unter günstigen Umständen eine Reserve des Subjektiven, eine
Heimlichkeit und Abgeschlossenheit des persönlichsten Seins erringt,
die etwas von dem religiösen Lebensstil früherer Zeiten ersetzt, so
wird das dadurch bedingt, daſs das Geld uns in immer steigendem
Maſs die unmittelbaren Berührungen mit den Dingen erspart, während
es uns doch zugleich ihre Beherrschung und die Auswahl des uns
Zusagenden unendlich erleichtert.


Und deshalb mögen diese Gegenrichtungen, da sie nun einmal
eingeschlagen sind, auch einem Ideal absolut reinlicher Scheidung zu-
streben: in dem aller Sachgehalt des Lebens immer sachlicher und
unpersönlicher wird, damit der nicht zu verdinglichende Rest desselben
um so persönlicher, ein um so unbestreitbareres Eigen des Ich werde.
Ein bezeichnender Einzelfall dieser Bewegung ist die Schreibmaschine;
das Schreiben, ein äuſserlich-sachliches Thun, das doch in jedem Fall
eine charakteristisch-individuelle Form trägt, wirft diese letztere nun
zu gunsten mechanischer Gleichförmigkeit ab. Damit ist aber nach
der anderen Seite hin das Doppelte erreicht: einmal wirkt nun
das Geschriebne seinem reinen Inhalte nach, ohne aus seiner Anschau-
lichkeit Unterstützung oder Störung zu ziehen, und dann entfällt der
Verrat des Persönlichsten, den die Handschrift so oft begeht und zwar
vermöge der äuſserlichsten und gleichgültigsten Mitteilungen nicht
weniger als bei den intimsten. So sozialisierend also auch alle der-
artigen Mechanisierungen wirken, so steigern sie doch das verbleibende
Privateigentum des geistigen Ich zu um so eifersüchtigerer Ausschlieſs-
lichkeit. Freilich ist diese Vertreibung der subjektiven Seelenhaftig-
keit aus allem Äuſserlichen dem ästhetischen Lebensideal ebenso feind-
lich, wie sie dem der reinen Innerlichkeit günstig sein kann — eine
Kombination, die ebenso die Verzweiflung rein ästhetisch gestimmter
Persönlichkeiten an der Gegenwart erklärt, wie die leise Spannung,
die zwischen derartigen Seelen und solchen, die nur auf das innere
Heil gerichtet sind, jetzt in gleichsam unterirdischeren Formen —
ganz anderen als zur Zeit Savonarolas — aufwächst. Indem das Geld
ebenso Symbol wie Ursache der Vergleichgültigung und Veräuſser-
[505] lichung alles dessen ist, was sich überhaupt vergleichgültigen und ver-
äuſserlichen läſst, wird es doch auch zum Thorhüter des Innerlichsten,
das sich nun in eigensten Grenzen ausbauen kann.


Inwieweit dies nun freilich zu jener Verfeinerung, Besonderheit
und Verinnerlichung des Subjekts führt, oder wo es umgekehrt die
unterworfenen Objekte grade durch die Leichtigkeit ihrer Erlangung
zu Herrschern über den Menschen werden läſst — das hängt nicht
mehr vom Gelde, sondern eben vom Menschen ab. Die Geldwirt-
schaft zeigt sich auch hier in ihrer formalen Beziehung zu sozia-
listischen Zuständen: denn die Erlösung von dem individuellen Kampf
ums Dasein, die Sicherung der niedrigeren und die leichte Zu-
gängigkeit der höheren Wirtschaftswerte dürfte gleichfalls die differen-
zierende Wirkung üben, daſs ein gewisser Bruchteil der Gesellschaft
sich in eine bisher unerhörte und von allen Gedanken an das Irdische
entfernteste Höhe der Geistigkeit erhebt, während ein andrer Bruch-
teil grade in einen ebenso unerhörten praktischen Materialismus ver-
sänke.


Im groſsen und ganzen wird das Geld wohl am wirksamsten an
denjenigen Seiten unseres Lebens, deren Stil durch das Übergewicht
der objektiven Kultur über die subjektive bestimmt wird. Daſs es
aber auch den umgekehrten Fall zu stützen sich nicht weigert, das
stellt Art und Umfang seiner historischen Macht in das hellste Licht.
Man könnte es höchstens nach mancher Richtung hin der Sprache ver-
gleichen, die sich ebenfalls den divergentesten Richtungen des Denkens
und Fühlens unterstützend, verdeutlichend, herausarbeitend leiht. Es
gehört zu jenen Gewalten, deren Eigenart grade in dem Mangel an
Eigenart besteht, die aber dennoch das Leben sehr verschieden färben
können, weil das bloſs Formale, Funktionelle, Quantitative, das sie
hervorbringen, auf qualitativ bestimmte Lebensinhalte und -richtungen
trifft und diese zur weiteren Zeugung qualitativ neuer Bildungen be-
stimmt. Seine Bedeutung für den Stil des Lebens wird dadurch,
daſs es beiden möglichen Verhältnissen zwischen dem objektiven
und dem subjektiven Geist zur Steigerung und Reife hilft, nicht auf-
gehoben, sondern gesteigert, nicht widerlegt, sondern erwiesen.


[[506]]

III.


Man macht sich selten klar, in welchem Umfang unsere Vor-
stellungen von den seelischen Prozessen bloſs symbolische Bedeutung
besitzen. Die primitive Not des Lebens hat uns gezwungen, die räum-
liche Auſsenwelt zum ersten Objekt unserer Aufmerksamkeit zu machen;
für ihre Inhalte und Verhältnisse gelten deshalb zunächst die Be-
griffe, durch die wir ein beobachtetes Dasein auſserhalb des be-
obachtenden Subjekts vorstellen; sie ist der Typus des Objekts über-
haupt und ihren Formen muſs sich jede Vorstellung fügen, die für uns
Objekt werden soll. Diese Forderung ergreift die Seele selbst, die
sich zum Gegenstand ihrer eignen Beobachtung macht. Vorher freilich
scheint sich noch die Beobachtung des Du einzustellen, ersichtlich
eines der dringendsten Erfordernisse des Gemeinschaftslebens und der
individuellen Selbstbehauptung. Allein da wir die Seele des Anderen
niemals unmittelbar beobachten können, da er unserer Wahrnehmung
niemals mehr, als Eindrücke äuſserer Sinne gewährt, so ist alle
psychologische Kenntnis seiner ausschlieſslich eine Hineindeutung von
Bewuſstseinsvorgängen, die wir in unserer Seele wahrnehmen und auf jenen
übertragen, wenn physische Eindrücke von ihm her uns dazu anregen —
so wenig diese Übertragung, ausschlieſslich für ihren Zielpunkt inter-
essiert, sich von ihrem Ausgangspunkt Rechenschaft ablegen mag. So-
bald die Seele sich selbst zum Objekt ihres Vorstellens macht, kann
sie es nur unter dem Bilde räumlicher Vorgänge. Wenn wir von Vor-
stellungen sprechen und ihrer Verbindung, von ihrem Aufsteigen in
das Bewuſstsein und ihrem Sinken unter die Schwelle desselben, von
inneren Neigungen und Widerständen, von der Stimmung mit ihren
Erhebungen und Tiefständen, so ist jeder dieser und unzähliger Aus-
drücke des gleichen Gebietes ersichtlich äuſserlichen Wahrnehmbar-
keiten entnommen. Wir mögen davon durchdrungen sein, daſs die
Gesetzlichkeit unseres Seelenlebens völlig anderen Wesens ist, als die
eines äuſseren Mechanismus — vor allem, weil jenem die feste Um-
schriebenheit und sichere Wiedererkennbarkeit der einzelnen Elemente
[507] fehlt — so stellen wir uns doch unvermeidlich die „Vorstellungen“
als eine Art Wesen vor, die miteinander in die mechanischen Be-
ziehungen des Verbindens und Trennens, des Hebens und Herab-
drückens treten. Wir sind dabei überzeugt — und die Praxis giebt
uns Recht — daſs diese, nach dem Typus anschaulicher Vorgänge
geschehende Deutung des Inneren die Wirklichkeit dieses letzteren
gültig vertritt, grade wie dem Astronomen die Rechnung auf dem
Papiere die Bewegungen der Gestirne so erfolgreich repräsentiert, daſs
das Resultat jener durchaus das Bild darstellt, das von dem Resultat
der realen Kräfte bewahrheitet wird.


Dieses Verhältnis aber wird nun auch rückläufig gültig, als
Deutung des äuſseren Geschehens nach den Inhalten des Innenlebens.
Ich meine hier nicht, daſs ja auch jenes von vorn herein nur eine
Welt von Vorstellungen ist, sondern, nachdem einmal auf dieser oder
einer andern erkenntnistheoretischen Basis ein relatives Auſsen einem rela-
tiven Innern gegenübergestellt ist, dienen die spezifischen Erscheinungen
des letzteren dazu, das erstere zu einem verständlichen Bilde zu ge-
stalten. So kommt wohl der einheitliche Gegenstand aus der Summe
seiner Eigenschaften, die er uns doch nur darbietet, nur so zu stande,
daſs wir ihm die Einheitsform unseres Ich leihen, an der allein wir
erfahren, wie eine Fülle von Bestimmungen und Schicksalen an einer
beharrenden Einheit haften kann. Nicht anders dürfte es sich, wie
man oft betont hat, mit der Kraft und der Ursächlichkeit äuſserer
Dinge verhalten: die Gefühle der physisch-psychischen Spannung,
des Impulses, der Willenshandlung projizieren wir in die Dinge
hinein, und wenn wir hinter ihre unmittelbare Wahrnehmbarkeit
jene deutenden Kategorien setzen, so orientieren wir uns eben in
ihnen nach den Gefühlserfahrungen unserer Innerlichkeit. Und so
stöſst man vielleicht, sobald man unter jener ersten Symbolisierung des
Inneren durch das Körperhafte eine tiefere Schicht aufgräbt, auf den
entgegengesetzten Zusammenhang. Wenn wir einen seelischen Vor-
gang als Verbindung von Vorstellungen bezeichnen, so war dies aller-
dings eine Erkenntnis seiner nach räumlichen Kategorien; aber diese
Kategorie der Verbindung selbst hat vielleicht ihren Sinn und ihre
Bedeutung in einem bloſs innerlichen, gar nicht anschaulichen Vorgang.
Was wir als in der Auſsenwelt verbunden, d. h. doch, irgendwie ver-
einheitlicht und in einander seiend, bezeichnen, bleibt doch in der
Auſsenwelt ewig nebeneinander, und mit seinem Verbundensein meinen
wir etwas, was nur aus unserem Inneren, allem Äuſseren unvergleich-
bar, in die Dinge hineingefühlt werden kann: jenes also das Symbol
für das, was uns an diesen nicht festzustellen und unmittelbar über-
[508] haupt nicht auszudrücken ist. So besteht ein Relativismus, gleichsam
ein unendlicher Prozeſs zwischen dem Inneren und dem Äuſseren: eines
als das Symbol des anderen dieses zur Vorstellbarkeit und Darstell-
barkeit bringend, keines das erste, keines das zweite, sondern in ihrem
Aufeinander-Angewiesensein die Einheit ihres, d. h. unseres Wesens
verwirklichend.


Dieser gegenseitigen symbolisierenden Deutung sind die seelischen
und die körperhaften Daseinsinhalte um so unbedenklicher zugängig,
je einfacher sie sind. Bei den einfachen Prozessen der Verbindung,
Verschmelzung, Reproduktion der Vorstellungen können wir noch
einigermaſsen die Idee einer allgemeinen Formgesetzlichkeit festhalten,
die der inneren wie der äuſseren Welt ein analoges Verhalten vor-
schreibt und so die eine zur Stellvertretung der anderen geeignet
macht. Bei komplizierteren und eigenartigeren seelischen Gebilden
wird die Bezeichnung nach Analogien der räumlichen Anschaulichkeit
immer diffiziler; immer dringender ist sie auf die Anwendbarkeit in
einer Vielheit von Fällen angewiesen, um nicht zufällig und spielerisch
zu erscheinen und um eine feste, wenn auch nur symbolische Be-
ziehung zu der seelischen Wirklichkeit zu besitzen. Und von sich
selbst ausgehend wird diese letztere den Weg in die Dinge, deren
Sinn und Bedeutung nach sich interpretierend, um so schwerer und
unsichrer finden, je spezieller oder zusammengesetzter die Vorgänge auf
beiden Seiten sind; denn um so unwahrscheinlicher und schwerer her-
ausfühlbar wird jene geheimnisvolle Formgleichheit innerer und äuſserer
Erscheinungen, die der Seele eine Brücke von den einen in die andern
baut. — Hiermit sollen Erwägungen eingeleitet werden, die eine Reihe
mannigfaltiger innerer Kulturerscheinungen zusammenfassen und dadurch,
daſs diese alle die Deutung nach je einer und derselben anschaulichen
Analogie gestatten, einleuchtend machen sollen, daſs sie alle einem und
demselben Stil des Lebens angehören.


Eines der häufigsten Bilder, unter denen man sich die Organisation
der Lebensinhalte deutlich zu machen pflegt, ist ihre Anordnung
zu einem Kreise, in dessen Zentrum das eigentliche Ich steht. Es
giebt einen Modus des Verhältnisses zwischen diesem Ich und den
Dingen, Menschen, Ideen, Interessen, den wir nur als Distanz
zwischen beiden bezeichnen können. Was uns zum Objekt wird, das
kann, inhaltlich ungeändert bleibend, nahe an das Zentrum heran- oder
bis zur Peripherie unseres Blick- und Interessenkreises abrücken; aber
dies bewirkt nicht etwa, daſs unser inneres Verhältnis zu diesem Ob-
jekt sich ändre, sondern umgekehrt, wir können gewisse Verhältnisse
des Ich zu seinen Inhalten nur durch das anschauliche Symbol einer
[509] bestimmten oder sich ändernden Distanz zwischen beiden be-
zeichnen
. Es ist von vornherein schon ein symbolischer Ausdruck
für einen an sich unsagbaren Sachverhalt, wenn wir unser inneres
Dasein in ein zentrales Ich und darumgelagerte Inhalte scheiden; und
angesichts der ungeheuren Unterschiede der sinnlich-äuſserlichen Ein-
drücke von den Dingen je nach ihrem Abstand von unseren Organen —
Unterschiede nicht nur der Deutlichkeit, sondern der Qualität und des
ganzen Charakters der empfangenen Bilder — liegt es nahe, jene
Symbolisierung dahin auszudehnen, daſs die Verschiedenheit auch der
innerlichsten Verhältnisse zu den Dingen als Verschiedenheit der
Distanz zu ihnen gedeutet werde.


Von den Erscheinungen, die von hier aus gesehen eine ein-
heitliche Reihe bilden, hebe ich zunächst die künstlerischen hervor.
Die innere Bedeutsamkeit der Kunststile läſst sich als eine Folge
der verschiedenen Distanz auslegen, die sie zwischen uns und
den Dingen herstellen. Alle Kunst verändert die Blickweite, in die
wir uns ursprünglich und natürlich zu der Wirklichkeit stellen. Sie
bringt sie uns einerseits näher, zu ihrem eigentlichen und innersten
Sinn setzt sie uns in ein unmittelbareres Verhältnis, hinter der kühlen
Fremdheit der Auſsenwelt verrät sie uns die Beseeltheit des Seins,
durch die es uns verwandt und verständlich ist. Daneben aber stiftet
jede Kunst eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge, sie
läſst die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier
zwischen uns und sie, gleich dem feinen bläulichen Duft, der sich um
ferne Berge legt. An beide Seiten dieses Gegensatzes knüpfen sich
gleich starke Reize; die Spannung zwischen ihnen, ihre Verteilung
auf die Mannigfaltigkeit der Ansprüche an das Kunstwerk, giebt jedem
Kunststil sein eigenes Gepräge. Ja, die bloſse Thatsache des Stiles
ist an sich schon einer der bedeutsamsten Fälle von Distanzierung.
Der Stil in der Äuſserung unserer inneren Vorgänge besagt, daſs diese
nicht mehr unmittelbar hervorsprudeln, sondern in dem Augenblick
ihres Offenbarwerdens ein Gewand umthun. Der Stil, als generelle
Formung des Individuellen, ist für dieses eine Hülle, die eine Schranke
und Distanzierung gegen den andern, der die Äuſserung aufnimmt,
errichtet. Diesem Lebensprinzip aller Kunst: uns den Dingen da-
durch näher zu bringen, daſs sie uns in eine Distanz von ihnen
stellt — entzieht sich auch die naturalistische Kunst nicht, deren Sinn
doch ausschlieſslich auf Überwindung der Distanz zwischen uns und
der Wirklichkeit gerichtet scheint. Denn nur eine Selbsttäuschung
kann den Naturalismus verkennen lassen, daſs auch er ein Stil ist,
d. h. daſs auch er die Unmittelbarkeit des Eindrucks von ganz be-
[510] stimmten Voraussetzungen und Forderungen her gliedert und um-
bildet — unwiderleglich durch die kunstgeschichtliche Entwicklung
bewiesen, in der alles das, was eine Epoche für das wörtlich treue und
genau realistische Bild der Wirklichkeit hielt, durch eine spätere als
vorurteilsvoll und verfälscht erkannt worden ist, während sie nun
erst die Dinge, wie sie wirklich sind, darstelle. Der künstlerische
Realismus verfällt demselben Fehler wie der wissenschaftliche, wenn
er meint, ohne ein Apriori auszukommen, ohne eine Form, die, aus
den Anlagen und Bedürfnissen unserer Natur quellend, der sinnlichen
Wirklichkeit Gewandung oder Umgestaltung zuwachsen läſst. Diese
Umformung, die sie auf dem Wege in unser Bewuſstsein erleidet, ist
zwar eine Schranke zwischen uns und ihrem unmittelbaren Sein, aber
zugleich die Bedingung, sie vorzustellen und darzustellen. Ja, in
gewissem Sinn mag der Naturalismus eine ganz besondere Distanzie-
rung den Dingen gegenüber bewirken, wenn wir nämlich auf die Vor-
liebe achten, mit der er seine Gegenstände im allertäglichsten Leben,
im Niedrigen und Banalen sucht. Denn da er eben zweifellos auch
eine Stilisierung ist, so wird diese um so fühlbarer, an je näherem,
roherem, irdischerem Materiale sie sich vollzieht; und bei dieser Diffe-
renz von Kunstform und Inhalt wird die erstere in ihrem Abstand
von der Wirklichkeit viel früher wirksam werden, als wenn sie an
einem Materiale zustande kommt, das schon von sich aus ihrem Sinne
näher steht.


Im ganzen nun geht das ästhetische Interesse der letzten Zeit
auf Vergröſserung der durch das Kunstwerden der Dinge geschaffnen
Distanz gegen sie. Ich erinnere an den ungeheuren Reiz, den zeitlich
und räumlich weit entfernte Kunststile für das Kunstgefühl der Gegen-
wart besitzen. Das Entfernte erregt sehr viele, lebhaft auf- und ab-
schwingende Vorstellungen und genügt damit unserem vielseitigen
Anregungsbedürfnis; doch klingt jede dieser fremden und fernen Vor-
stellungen wegen ihrer Beziehungslosigkeit zu unseren persönlichsten
und unmittelbaren Interessen nur leise an und mutet deshalb ge-
schwächten Nerven nur eine behagliche Anregung zu. Was wir den
„historischen Geist“ in unserer Zeit nennen, ist vielleicht nicht nur
eine begünstigende Veranlassung dieser Erscheinung, sondern quillt mit
ihr aus der gleichen Ursache. Und wechselwirkend macht er, mit der
Fülle der inneren Beziehungen, die er uns zu räumlich und zeitlich
weit abstehenden Interessen gewährt, uns immer empfindlicher gegen
die Chocs und Wirrnisse, die uns aus der unmittelbaren Nähe und
Berührung mit Menschen und Dingen kommen. Die Flucht in das
Nicht-Gegenwärtige wird erleichtert, verlustloser, gewissermaſsen legiti-
[511] miert, wenn sie zu der Vorstellung und dem Genuſs konkreter Wirk-
lichkeiten führt — die aber eben weit entfernte, nur ganz mittelbar
zu fühlende sind. Daher nun auch der jetzt so lebhaft empfundene
Reiz des Fragmentes, der bloſsen Andeutung, des Aphorismus, des
Symbols, der unentwickelten Kunststile. Alle diese Formen, die in
allen Künsten heimisch sind, stellen uns in eine Distanz von dem
Ganzen und Vollen der Dinge, sie sprechen zu uns „wie aus der
Ferne“, die Wirklichkeit giebt sich in ihnen nicht mit gerader Sicher-
heit, sondern mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen. Das äuſserste
Raffinement unseres litterarischen Stiles vermeidet die direkte Bezeich-
nung der Objekte, streift mit dem Worte nur eine abgelegene Ecke
ihrer, faſst statt der Dinge nur die Schleier, die um die Dinge sind. Am
entschiedensten beweisen wohl die symbolistischen Neigungen in bilden-
den und redenden Künsten eben dieses. Hier wird die Distanz, die die
Kunst schon als solche zwischen uns und die Dinge stellt, noch um eine
Station erweitert, indem die Vorstellungen, die den Inhalt des schlieſslich
zu erregenden Seelenvorganges bilden, in dem Kunstwerke selbst über-
haupt kein sinnliches Gegenbild mehr haben, sondern erst durch Wahr-
nehmbarkeiten ganz anderen Inhaltes zum Anklingen gebracht werden.
In alledem zeigt sich ein Zug des Empfindens wirksam, dessen patho-
logische Ausartung die sogenannte „Berührungsangst“ ist: die Furcht,
in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, ein Resultat
der Hyperästhesie, der jede unmittelbare und energische Berührung
ein Schmerz ist. Daher äuſsert sich auch die Feinsinnigkeit, Geistig-
keit, differenzierte Empfindlichkeit so überwiegend vieler moderner
Menschen im negativen Geschmack, d. h. in der leichten Verletzbar-
keit durch Nicht-Zusagendes, in dem bestimmten Ausschlieſsen des
Unsympathischen, in der Repulsion durch Vieles, ja oft durch das
Meiste des gebotenen Kreises von Reizen, während der positive Ge-
schmack, das energische Ja-Sagen, das freudige und rückhaltlose Er-
greifen des Gefallenden, kurz die aktiv aneignenden Energien groſse
Fehlbeträge aufweisen.


Es erstreckt sich aber jene innere Tendenz, die wir unter dem
Symbol der Distanz betrachten, weit über das ästhetische Gebiet hinaus.
So muſs der philosophische Materialismus, der die Wirklichkeit unmittel-
bar zu fassen glaubte, auch heute wieder vor subjektivistischen oder
neu-kantischen Theorien zurückweichen, die die Dinge erst durch das
Medium der Seele brechen oder destillieren lassen, ehe sie sie zu Er-
kenntnissen werden lassen. Der Subjektivismus der neueren Zeit hat
dasselbe Grundmotiv, von dem uns die Kunst getragen schien: ein
innigeres und wahreres Verhältnis zu den Dingen dadurch zu ge-
[512] winnen, daſs wir, uns in uns selbst zurückziehend, von ihnen abrücken,
oder die immer bestehende Distanz gegen sie nun bewuſst anerkennen.
Und wenn dieser Subjektivismus unvermeidlicher Weise mit dem
stärkeren Selbstbewuſstsein unserer Innerlichkeit diese auch häufiger
betonen und besprechen läſst, so ist doch andrerseits mit ihm eine
neue, tiefere, bewuſstere Scham verbunden, eine zarte Scheu, das
Letzte auszusprechen oder auch einem Verhältnis die naturalistische
Form zu geben, die sein innerstes Fundament fortwährend sichtbar
machte. Und auf weiteren wissenschaftlichen Gebieten: innerhalb der
ethischen Überlegungen tritt die platte Nützlichkeit als Wertmaſsstab
des Wollens immer weiter zurück, man sieht, daſs dieser Charakter
des Handelns eben nur dessen Beziehung zu dem Allernächstliegen-
den betrifft und daſs es deshalb seine eigentümliche Direktive, die
es über seine bloſse Technik als Mittel heraushebe, von höher auf-
blickenden, oft religiösen, der sinnlichen Unmittelbarkeit kaum ver-
wandten Prinzipien erhalten muſs. Endlich: über der spezialistischen
Detailarbeit erhebt sich von allen Seiten her der Ruf nach Zusammen-
fassung und Verallgemeinerung, also nach einer überschauenden
Distanz von allen konkreten Einzelheiten, nach einem Fernbild, in
dem alle Unruhe des Nahewirkenden aufgehoben und das bisher nur
Greifbare nun auch begreifbar würde.


Diese Tendenz würde vielleicht nicht so wirksam und merkbar sein,
wenn ihr nicht die entgegengesetzte zur Seite ginge. Das geistige
Verhältnis zur Welt, das die moderne Wissenschaft stiftet, ist that-
sächlich nach beiden Seiten hin auszudeuten. Gewiſs sind schon allein
durch Mikroskop und Teleskop unendliche Distanzen zwischen uns
und den Dingen überwunden worden; aber sie sind doch für das Be-
wuſstsein erst in dem Augenblick entstanden, in dem es sie auch
überwand. Nimmt man hinzu, daſs jedes gelöste Rätsel mehr als ein
neues aufgiebt und das Näher-herankommen an die Dinge uns sehr
oft erst zeigt, wie fern sie uns noch sind — so muſs man sagen: die
Zeiten der Mythologie, der ganz allgemeinen und oberflächlichen Kennt-
nisse, der Anthropomorphisierung der Natur lassen in subjektiver
Hinsicht, nach der Seite des Gefühls und des, wie immer irrigen,
Glaubens, eine geringere Distanz zwischen Menschen und Dingen be-
stehen, als die jetzige. Alle raffinierten Methoden, durch die wir in
das Innere der Natur eindringen, ersetzen doch nur sehr langsam und
stückweise ihre innig vertraute Nähe, die die Götter Griechenlands,
die Deutung der Welt nach menschlichen Impulsen und Gefühlen, die
Lenkung ihrer durch einen persönlich eingreifenden Gott, ihre teleo-
logische Einstellung auf das Wohl des Menschen, der Seele gewährt
[513] haben. Wir können das also zunächst so bezeichnen, daſs die Entwick-
lung auf eine Überwindung der Distanz in relativ äuſserlicher Hinsicht,
auf Vergröſserung derselben in innerlicher Hinsicht ginge. Hier kann
das Recht dieses symbolischen Ausdrucks sich wieder an seiner An-
wendbarkeit auf einen ganz anderen Inhalt zeigen. Die Verhältnisse
des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im
ganzen so, daſs er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den
ferneren mehr zu nähern. Die wachsende Lockerung des Familien-
zusammenhanges, das Gefühl unerträglicher Enge im Gebundensein an
den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung oft ebenso tragisch ver-
läuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität, die sich
grade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt — diese
ganze Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Be-
ziehungen zu dem Fernsten, mit dem Interessiert-sein für weit Ent-
legenes, mit der Gedankengemeinschaft mit Kreisen, deren Verbindungen
alle räumliche Nähe ersetzen. Das Gesamtbild aus alledem bedeutet
doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen,
ein Distanzverringern in den mehr äuſserlichen. Wie die kulturelle
Entwicklung bewirkt, daſs das früher unbewuſst und instinktiv Ge-
schehende später mit klarer Rechenschaft und zerlegendem Bewuſstsein
geschieht, während andrerseits vieles, wozu es sonst angespannter Auf-
merksamkeit und bewuſster Mühe bedurfte, zu mechanischer Gewöh-
nung und instinktmäſsiger Selbstverständlichkeit wird — so wird hier,
entsprechend, das Entferntere näher, um den Preis, die Distanz zum
Näheren zu erweitern.


Der Umfang und die Intensität der Rolle, die das Geld in diesem
Doppelprozeſs spielt, ist zunächst als Überwindung der Distanz
sichtbar. Es bedarf keiner Ausführung, daſs allein die Übersetzung
der Werte in die Geldform jene Interessenverknüpfungen ermöglicht,
die nach dem räumlichen Abstand der Interessenten überhaupt nicht
mehr fragen; erst durch sie kann, um ein Beispiel aus hunderten zu
nennen, ein deutscher Kapitalist, aber auch ein deutscher Arbeiter an
einem spanischen Ministerwechsel, an dem Ertrage afrikanischer Gold-
felder, an dem Ausgange einer südamerikanischen Revolution real be-
teiligt sein. Bedeutsamer aber erscheint mir das Geld als Träger der
entgegengesetzten Tendenz. Jene Lockerung des Familienzusammen-
hanges geht doch von der wirtschaftlichen Sonder-Interessiertheit der
einzelnen Mitglieder aus, die nur in der Geldwirtschaft möglich ist.
Sie bewirkt vor allem, daſs die Existenz auf die ganz individuelle
Begabung gestellt werden kann; denn nur die Geldform des Äqui-
valents gestattet die Verwertung sehr spezialisierter Leistungen, die
Simmel, Philosophie des Geldes. 33
[514] ohne diese Umsetzung in einen allgemeinen Wert kaum zu gegen-
seitigem Austausch gelangen könnten. Indem sie nun weiter auch die
individuelle Anknüpfung nach auſsen erleichtert, den Eintritt in fremde
Kreise, die nur nach der geldwerten Leistung oder dem Geldbeitrag
ihrer Mitglieder fragen, — formt sie die Familie zum äuſsersten Gegen-
satz der Struktur, die der mehr kollektive Besitz, insbesondere als Grund-
eigentum, ihr verlieh. Dieser schuf eine Solidarität der Interessen, die
sich soziologisch als eine Kontinuität im Zusammenhang der Familien-
mitglieder darstellte, während die Geldwirtschaft diesen eine gegenseitige
Distanzierung ermöglicht, ja sogar aufdrängt. Über das Familien-
leben hinaus ruhen gewisse weitere Formen des modernen Daseins
grade auf der Distanzierung durch den Geldverkehr. Denn er legt
eine Barriere zwischen die Personen, indem immer nur der Eine von
zwei Kontrahenten das bekommt, was er eigentlich will, was seine
spezifischen Empfindungen auslöst, während der andre, der zunächst
nur Geld bekommen hat, eben jenes erst bei einem Dritten suchen
muſs. Daſs jeder von beiden mit einer ganz andern Art von Inter-
esse an die Transaktion herangeht, fügt dem Antagonismus, den schon
die Entgegengesetztheit der Interessen von vornherein bewirkt, eine
neue Fremdheit hinzu. In demselben Sinne wirkt die früher be-
handelte Thatsache, daſs das Geld eine durchgängige Objektivierung
des Verkehrs mit sich bringt, ein Ausschalten aller personalen Färbung
und Richtung — im Verein mit der andern, daſs die Zahl der auf
Geld gestellten Verhältnisse stetig zunimmt und die Bedeutung des
Menschen für den Menschen mehr und mehr, wenn auch oft in sehr
versteckter Form, auf geldmäſsige Interessen zurückgeht. Auf diese
Weise entsteht wie gesagt eine innre Schranke zwischen den Menschen,
die aber allein die moderne Lebensform möglich macht. Denn das
Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des groſs-
städtischen Verkehrs wären ohne jene psychologische Distanzierung
einfach unerträglich. Daſs man sich mit einer so ungeheuren Zahl von
Menschen so nahe auf den Leib rückt, wie die jetzige Stadtkultur mit
ihrem kommerziellen, fachlichen, geselligen Verkehr es bewirkt, würde
den modernen sensibeln und nervösen Menschen völlig verzweifeln
lassen, wenn nicht jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine
innere Grenze und Reserve mit sich brächte. Die entweder offenbare
oder in tausend Gestalten verkleidete Geldhaftigkeit der Beziehungen
schiebt eine unsichtbare, funktionelle Distanz zwischen die Menschen,
die ein innerer Schutz und Ausgleichung gegen die allzugedrängte Nähe
und Reibung unseres Kulturlebens ist.


Die gleiche Funktion des Geldes für den Lebensstil steigt nun
[515] noch tiefer in das Einzelsubjekt selbst hinab, als Distanzierung nicht
gegen andre Personen, sondern gegen die Sachgehalte des Lebens.
Schon daſs ein Vermögen heute aus Produktionsmitteln, statt wie in
primitiven Epochen aus Konsumtionsmitteln besteht, ist eine enorme
Distanzierung. Wie sich in die Herstellung der Kulturobjekte selbst
immer mehr und mehr Stationen einschieben — indem das Produkt
immer weiter vom Rohstoff abliegt —, so stellt die jetzige Art des
Vermögensbesitzes den Eigentümer technisch und infolgedessen auch
innerlich in eine viel weitere Entfernung von dem definitiven Zwecke
alles Vermögens, als zu den Zeiten, wo Vermögen nur die Fülle un-
mittelbarer Konsumtionsmöglichkeiten bedeutete. Auf dem Gebiet der
Produktion wird der gleiche innere Erfolg durch die Arbeitsteilung
begünstigt, die durch das Geldwesen wechselwirkend bedingt ist. Je
weniger jeder Einzelne ein Ganzes schafft, desto durchgehender er-
scheint sein Thun als bloſses Vorstadium, desto weiter scheint die
Quelle seiner Wirksamkeiten von deren Mündung, dem Sinn und Zweck
der Arbeit, abgerückt. Und nun unmittelbar: wie sich das Geld
zwischen Mensch und Mensch schiebt, so zwischen Mensch und Ware.
Seit der Geldwirtschaft stehen uns die Gegenstände des wirtschaftlichen
Verkehrs nicht mehr unmittelbar gegenüber, unser Interesse an ihnen
wird erst durch das Medium des Geldes gebrochen, ihre eigne sach-
liche Bedeutung rückt dem Bewuſstsein ferner, weil ihr Geldwert diese
aus ihrer Stelle in unseren Interessenzusammenhängen mehr oder
weniger herausdrängt. Erinnern wir uns der früheren Ausmachungen,
wie oft das Zweckbewuſstsein auf der Stufe des Geldes halt macht, so
zeigt sich, daſs das Geld uns mit der Vergröſserung seiner Rolle in
immer weitere psychische Distanz zu den Objekten stellt, oft in eine
solche, daſs ihr qualitatives Wesen uns davor ganz auſser Sehweite
rückt und die innere Berührung mit ihrem vollen, eignen Sein durch-
brochen wird. Und das gilt nicht nur für die Kulturobjekte. Unser
ganzes Leben wird durch die Entfernung auch von der Natur gefärbt, die
das geldwirtschaftliche und das davon abhängige städtische Leben er-
zwingt. Allerdings wird vielleicht erst durch sie die eigentlich ästhe-
tische und romantische Empfindung der Natur möglich. Wer es nicht
anders kennt, als in unmittelbarer Berührung mit der Natur zu leben,
der mag ihre Reize wohl subjektiv genieſsen, aber ihm fehlt die
Distanz zu ihr, aus der allein ein eigentlich ästhetisches Betrachten
ihrer möglich ist und durch die auſserdem jene stille Trauer, jenes
Gefühl sehnsüchtigen Fremdseins und verlorener Paradiese entsteht,
wie sie das romantische Naturgefühl charakterisieren. Wenn der
moderne Mensch seine höchsten Naturgenüsse in den Schneeregionen
33*
[516] der Alpen und an der Nordsee zu finden pflegt, so ist das wohl nicht
allein durch das gesteigerte Aufregungsbedürfnis zu erklären; sondern
auch so, daſs diese unzugängige, uns eigentlich zurückstoſsende Welt
die äuſserste Steigerung und Stilisierung dessen darstellt, was uns
Natur überhaupt noch ist: ein seelisches Fernbild, das selbst in den
Augenblicken körperlicher Nähe wie ein innerlich Unerreichbares, ein
nie ganz eingelöstes Versprechen vor uns steht und selbst unsere leiden-
schaftlichste Hingabe mit einer leisen Abwehr und Fremdheit erwidert.
Daſs erst die moderne Zeit die Landschaftsmalerei ausgebildet hat —
die, als Kunst, nur in einem Abstand vom Objekte und im Bruch der
natürlichen Einheit mit ihm leben kann — und daſs auch erst sie das
romantische Naturgefühl kennt, das sind die Folgen jener Distanzierung
von der Natur, jener eigentlich abstrakten Existenz, zu der das auf
die Geldwirtschaft gebaute Stadtleben uns gebracht hat. Und dem
widerspricht nicht, daſs grade der Geldbesitz uns die Flucht in die
Natur gestattet. Denn grade daſs sie für den Stadtmenschen nur
unter dieser Bedingung zu genieſsen ist, das schiebt — in wie vielen
Umsetzungen und bloſsen Nachklängen auch immer — zwischen ihn
und sie jene Instanz ein, die nur verbindet, indem sie zugleich trennt.


In weiterem Maſse tritt diese Bedeutung des Geldwesens an
seiner Steigerung, dem Kredite, hervor. Der Kredit spannt die Vor-
stellungsreihen noch mehr und mit einem entschiedneren Bewuſstsein
ihrer unverkürzlichen Weite aus, als die Zwischeninstanz des baren
Geldes es für sich thut. Der Drehpunkt des Verhältnisses zwischen
Kreditgeber und Kreditnehmer ist gleichsam aus der gradlinigen Ver-
bindung ihrer hinaus und in einer weiten Distanz von ihnen festgelegt:
die Thätigkeit des Einzelnen wie der Verkehr bekommt dadurch den Cha-
rakter der Langsichtigkeit und den der gesteigerten Symbolik. Indem
der Wechsel oder überhaupt der Begriff der Geldschuld die Werte
weit abliegender Objekte vertritt, verdichtet er sie ebenso in sich, wie
der Blick über eine räumliche Entfernung hin die Inhalte der Strecke
in perspektivischer Verkürzung zusammendrängt. Und wie uns das
Geld von den Dingen entfernt, aber auch — in diesen gegensätzlichen
Wirkungen seine spezifische Indifferenz zeigend — sie uns näher
bringt, so hat die Kreditanweisung ein doppeltes Verhältnis zu unserem
Vermögensbestande. Vom Checkverkehr ist einerseits hervorgehoben
worden, daſs er ein Palliativmittel gegen Verschwendungen bilde;
manche Individuen lieſsen sich angesichts ihres Kassenbarbestandes
leichter zu unnützen Ausgaben verleiten, als wenn sie denselben im
Depot eines Dritten haben und erst durch eine Anweisung darüber
verfügen müssen. Andrerseits aber scheint mir die Versuchung zum
[517] Leichtsinn grade besonders verführerisch, wenn man das viele weg-
zugebende Geld nicht vor sich sieht, sondern nur mit einem Federzug
darüber verfügt. Die Form des Checkverkehrs rückt uns einerseits
durch den mehrgliedrigen Mechanismus zwischen uns und dem Gelde,
den wir immer erst in Bewegung zu setzen haben, von diesem ab,
andrerseits aber erleichtert sie uns die Aktion damit, nicht nur wegen
der technischen Bequemlichkeit, sondern auch psychologisch, weil das
bare Geld uns seinen Wert sinnlicher vor Augen stellt und uns damit
die Trennung von ihm erschwert.


Von den derartigen Bedeutungen des Kreditcharakters des Ver-
kehrs greife ich nur eine heraus, welche zwar nicht durchgehend, aber
sehr bezeichnend ist. Ein Reisender erzählt, ein englischer Kaufmann
habe ihm einmal definiert: „ein gewöhnlicher Mann ist, wer Waren gegen
bare Zahlung kauft, ein Gentleman der, dem ich Kredit gebe und der
mich alle sechs Monate mit einem Check bezahlt“. Hier ist zunächst
die Grundempfindung bemerkenswert: daſs nicht ein Gentleman voraus-
gesetzt wird, der dann als solcher Kredit erhält, sondern daſs der-
jenige, der Kredit beansprucht, eben ein Gentleman ist. Daſs so der
Kreditverkehr als der vornehmere erscheint, geht wohl auf zweierlei
Empfindungsrichtungen zurück. Zunächst darauf, daſs er Vertrauen
fordert. Es ist das Wesen der Vornehmheit, ihre Gesinnung und deren
Wert nicht sowohl vorzudemonstrieren, als den Glauben daran ein-
fach vorauszusetzen — weshalb denn auch, entsprechend, alles osten-
tative Hervorkehren des Reichtums so spezifisch unvornehm ist. Gewiſs
enthält jedes Vertrauen eine Gefahr; der vornehme Mensch verlangt,
daſs man im Verkehr mit ihm diese Gefahr auf sich nehme, und zwar
mit der Nüance, daſs er, in der absoluten Sicherheit über sich selbst,
dies gar nicht als eine Gefahr anerkennt und deshalb sozusagen
keine Risikoprämie dafür gewährt: das drückt das Schillersche Epi-
gramm so aus, daſs adlige Naturen nicht mit dem, was sie thun,
sondern nur mit dem, was sie sind, zahlen. Es ist begreiflich, wie
die bare, Zug um Zug erfolgende Zahlung für jenen Kaufmann etwas
kleinbürgerliches hatte, sie rückt die Momente der wirtschaftlichen Reihe
in ängstliche Enge zusammen, während der Kredit eine Distanz zwischen
ihnen ausspannt, die er vermittels des Vertrauens beherrscht. Es
ist allenthalben das Schema höherer Entwicklungsstufen, daſs das ur-
sprüngliche Aneinander und die unmittelbare Einheit der Elemente
aufgelöst wird, damit sie, verselbständigt und von einander abgerückt,
nun in eine neue, geistigere, umfassendere Synthese vereinheitlicht
werden. Im Kreditverkehr wird statt der Unmittelbarkeit der Wert-
ausgleichung eine Distanz gesetzt, deren Pole durch den Glauben zu-
[518] sammengehalten werden; wie Religiosität um so höher steht, eine je
unermeſslichere Distanz sie — im Gegensatz zu allem Anthropomor-
phismus und allen sinnlichen Erweisen — zwischen Gott und der Einzel-
seele bestehen läſst, um grade damit das äuſserste Maſs des Glaubens
hervorzurufen, das jene Distanz überbrücke. Daſs bei dem gröſseren
Verkehr innerhalb der Kaufmannschaft das Vornehmheitsmoment beim
Kredite nicht mehr fühlbar wird, liegt daran, daſs er hier eine un-
persönliche Organisation geworden ist und das Vertrauen den eigent-
lich persönlichen Charakter — ohne den die Kategorie der Vornehm-
heit nicht anwendbar ist — verloren hat: der Kredit ist eine tech-
nische Verkehrsform ohne, oder mit sehr herabgestimmten, psycho-
logischen Obertönen geworden. — Und zweitens: jene Aufhäufung der
kleinen Schulden bis zu der schlieſslichen Bezahlung mit dem Check
bewirkt eine gewisse Reserve des Abnehmers gegenüber dem Kauf-
mann, die fortwährende und unmittelbare Wechselwirkung, die bei
jedesmaligem barem Bezahlen eintritt, wird aufgehoben, die Lieferung
des Kaufmanns hat, äuſserlich angesehen, sozusagen ästhetisch, die
Form eines Tributes, einer Darbringung an einen Mächtigen, die dieser,
wenigstens in dem einzelnen Falle, ohne Gegenleistung hinnimmt. Indem
nun auch am Ende der Kreditperiode die Auszahlung nicht von Person
zu Person erfolgt, sondern auch durch ein Kreditpapier, durch die
Anweisung auf das gleichsam objektive Depot bei der Checkbank, wird
diese Reserve des Subjekts fortgesetzt und so von allen Seiten her die
Distanz zwischen dem „Gentleman“ und dem Krämer betont, die den
Begriff des ersteren entstehen läſst und für die diese Art des Ver-
kehrs allerdings der adäquate Ausdruck ist.


Ich begnüge mich mit diesem singulären Beispiel für die distan-
zierende Wirkung des Kredites auf den Lebensstil und schildere nur
noch einen sehr allgemeinen, auf die Bedeutung des Geldes zurückweisen-
den Zug des letzteren. Durch die moderne Zeit, insbesondere, wie es
scheint, durch die neueste, geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung,
ungelöstem Drängen — als sollte die Hauptsache erst kommen, das
Definitive, der eigentliche Sinn und Zentralpunkt des Lebens und der
Dinge. Dies hängt ersichtlich von dem hier oft hervorgehobenen Über-
gewicht ab, das mit gewachsener Kultur die Mittel über die Zwecke
des Lebens gewinnen. Neben dem Gelde ist hierfür vielleicht der
Militarismus das schlagendste Beispiel. Das stehende Heer ist bloſse
Vorbereitung, latente Energie, Eventualität, deren Definitivum und
Zweck nicht nur jetzt verhältnismäſsig selten eintritt, sondern auch mit
allen Kräften zu vermeiden gesucht wird; ja, die äuſserste Anspannung
der militärischen Kräfte wird als das einzige Mittel gepriesen, ihre
[519] eigene Entladung zu verhindern. An diesem teleologischen Gewebe
haben wir also den Widerspruch der Übertönung des Zwecks durch
das Mittel zu absoluter Höhe gehoben: indem der wachsenden
Bedeutung des Mittels eine grade in demselben Maſs wachsende
Perhorreszierung und Verneinung seines Zwecks entspricht. Und
dieses Gebilde durchdringt das Volksleben mehr und mehr, greift in
den weitesten Umkreis personaler, innerpolitischer und Produktions-
Verhältnisse ein, giebt gewissen Altersstufen und gewissen sozialen
Kreisen direkt und indirekt ihre Färbung! Weniger kraſs, aber ge-
fährlicher und schleichender tritt diese Richtung auf das Illusorisch-
Werden der Endzwecke vermittels der Fortschritte und der Bewertung
der Technik auf. Wenn die Leistungen derselben in Wirklich-
keit zu demjenigen, worauf es im Leben eigentlich und schlieſslich an-
kommt, eben doch höchstens im Verhältnis von Mittel oder Werkzeug,
sehr oft aber in gar keinem stehen — so hebe ich von den mancherlei
Veranlassungen, diese Rolle der Technik zu verkennen, nur die Groſs-
artigkeit hervor, zu der sie sich in sich entwickelt hat. Es ist einer
der verbreitetsten und fast unvermeidlichen menschlichen Züge, daſs
die Höhe, Gröſse und Vollendung, welche ein Gebiet innerhalb
seiner Grenzen unter den ihm eignen Voraussetzungen erlangt hat,
mit der Bedeutsamkeit dieses Gebietes als ganzen verwechselt wird;
der Reichtum und die Vollkommenheit der einzelnen Teile, das Maſs,
in dem das Gebiet sich seinem eignen, immanenten Ideale nähert, gilt
gar zu leicht als Wert und Würde desselben überhaupt und in seinem
Verhältnis zu den andern Lebensinhalten. Die Erkenntnis, daſs etwas
in seinem Genre und gemessen an den Forderungen seines Typus sehr
hervorragend sei, während dieses Genre und Typus selbst weniges und
niedriges bedeute — diese Erkenntnis setzt in jedem einzelnen Falle ein
sehr geschärftes Denken und differenziertes Wertempfinden voraus.
Wie häufig unterliegen wir der Versuchung, die Bedeutung der eignen
Leistung dadurch zu exaggerieren, daſs wir der ganzen Provinz, der
sie angehört, übertriebene Bedeutung beilegen! — indem wir ihre
relative Höhe auf jenes Ganze überflieſsen lassen und sie dadurch zu
einer absoluten steigern. Wie oft verleitet der Besitz einer hervor-
ragenden Einzelheit irgend einer Wertart — von den Gegenständen
der Sammelmanien anfangend bis zu den spezialistischen Kenntnissen
eines wissenschaftlichen Sondergebietes — dazu, eben diese Wertart
als ganze im Zusammenhange des Wertkosmos so hoch zu schätzen,
wie jene Einzelheit es innerhalb ihrer verdient! Es ist, im Grunde
genommen, immer der alte metaphysische Fehler: die Bestimmungen,
welche die Elemente eines Ganzen untereinander, also relativer Weise,
[520] aufzeigen, auf das Ganze zu übertragen — der Fehler, aus dem heraus
z. B. die Forderung ursächlicher Begründung, die für alle Teile der
Welt und für deren Verhältnis untereinander gilt, auch dem Ganzen
der Welt gegenüber erhoben wird. Den Enthusiasten für die mo-
derne Technik würde es wahrscheinlich sehr wunderlich vorkommen,
daſs ihr inneres Verhalten demselben Formfehler unterliegen soll, wie
das der spekulierenden Metaphysiker. Und doch ist es so: die rela-
tive
Höhe, welche die technischen Fortschritte der Gegenwart gegen-
über den früheren Zuständen und unter vorausgesetzter Anerkennung
gewisser Ziele erreicht haben, wächst ihnen zu einer absoluten Be-
deutung dieser Ziele und also jener Fortschritte aus. Gewiſs haben
wir jetzt statt der Thranlampen Acetylen und elektrisches Licht; allein
der Enthusiasmus über die Fortschritte der Beleuchtung vergiſst manch-
mal, daſs das Wesentliche doch nicht sie, sondern dasjenige ist, was
sie besser sichtbar macht; der förmliche Rausch, in den die Triumphe
von Telegraphie und Telephonie die Menschen versetzt haben, läſst sie
oft übersehen, daſs es doch wohl auf den Wert dessen ankommt, was
man mitzuteilen hat, und daſs dem gegenüber die Schnelligkeit oder
Langsamkeit des Beförderungsmittels sehr oft eine Angelegenheit ist,
die ihren jetzigen Rang nur durch Usurpation erlangen konnte. Und
so auf unzähligen Gebieten.


Dieses Übergewicht der Mittel über die Zwecke findet seine Zu-
sammenfassung und Aufgipfelung in der Thatsache, daſs die Peripherie
des Lebens, die Dinge auſserhalb seiner Geistigkeit zu Herren über sein
Zentrum geworden sind, über uns selbst. Es ist schon richtig, daſs wir
die Natur damit beherrschen, daſs wir ihr dienen; aber in dem herkömm-
lichen Sinne doch nur für die Auſsenwerke des Lebens richtig. Sehen
wir auf dessen Ganzheit und Tiefe, so kostet jenes Verfügenkönnen
über die äuſsere Natur, das die Technik uns einträgt, den Preis, in
ihr befangen zu sein und auf die Zentrierung des Lebens in der Geistig-
keit zu verzichten. Die Illusionen dieses Gebietes zeichnen sich deut-
lich an den Ausdrücken, die ihm dienen und mit denen eine auf ihre
Objektivität und Mythenfreiheit stolze Anschauungsweise das direkte
Gegenteil dieser Vorzüge verrät. Daſs wir die Natur besiegen oder
beherrschen, ist ein ganz kindlicher Begriff, da er irgend einen Wider-
stand, ein teleologisches Moment in der Natur selbst voraussetzt, eine
Feindseligkeit gegen uns, da sie doch nur gleichgültig ist, und alle
ihre Dienstbarkeit ihre eigene Gesetzmäſsigkeit nicht abbiegt, während
alle Vorstellungen von Herrschaft und Gehorsam, Sieg und Unterworfen-
sein nur darin ihren Sinn haben, daſs ein entgegenstehender Wille
gebrochen ist. Dies ist freilich nur das Gegenstück zu der Ausdrucks-
[521] weise, daſs die Wirksamkeit der Naturgesetze den Dingen einen un-
entrinnbaren Zwang auferlege. Denn zunächst wirken Naturgesetze
überhaupt nicht, da sie nur die Formeln für die allein möglichen Wirk-
samkeiten: der einzelnen Stoffe und Energien, sind. Die Naivität einer
miſsverstandenen Naturwissenschaftlichkeit: als ob die Naturgesetze als
reale Mächte die Wirklichkeit lenkten, wie ein Herrscher sein Reich,
steht insofern auf einem Blatt mit der unmittelbaren Lenkung der
irdischen Dinge durch den Finger Gottes. Und nicht weniger irre-
führend ist der vorgebliche Zwang, das Müssen, dem das Natur-
geschehen unterliegen soll. Unter diesen Kategorien empfindet nur die
menschliche Seele das Gebundensein an Gesetze, weil solchem in ihr
Regungen entgegenstehen, die uns in andere Richtungen führen
möchten. Das natürliche Geschehen als solches aber steht ganz jen-
seits der Alternative von Freiheit und Zwang, und mit dem „Müssen“
wird in das einfache Sein der Dinge ein Dualismus hineingefühlt, der
nur für bewuſste Seelen einen Sinn hat. Wären dies alles auch nur
Fragen des Ausdrucks, so leitet dieser doch alle oberflächlicher Denken-
den auf anthropomorphistische Irrwege und zeigt, daſs die mythologische
Denkweise auch noch innerhalb der naturwissenschaftlichen Weltanschau-
ung ein Unterkommen findet. Jener Begriff einer Herrschaft des
Menschen über die Natur erleichtert die selbstschmeichlerische Ver-
blendung über unser Verhältnis zu ihr, die doch selbst auf dem Boden
dieses Gleichnisses nicht unvermeidlich wäre. Der äuſserlichen Ob-
jektivität und Sichtbarkeit nach ist allerdings die wachsende Herrschaft
auf der Seite des Menschen; aber damit ist noch gar nicht entschieden,
daſs der subjektive Reflex, die nach innen schlagende Bedeutung dieser
historischen Thatsache nicht im entgegengesetzten Sinn verlaufen könne.
Man lasse sich nicht durch das ungeheure Maſs von Intelligenz beirren,
vermöge dessen die theoretischen Grundlagen jener Technik hervor-
gebracht sind und das allerdings den Traum Platos: die Wissenschaft
zur Herrscherin des Lebens zu machen, — zu verwirklichen scheint.
Aber die Fäden, an denen die Technik die Kräfte und Stoffe der
Natur in unser Leben hineinzieht, sind ebenso viele Fesseln, die uns
binden und uns unendlich Vieles unentbehrlich machen, was doch für
die Hauptsache des Lebens gar sehr entbehrt werden könnte, ja müſste.
Wenn man schon auf dem Gebiet der Produktion behauptet, daſs die
Maschine, die den Menschen doch die Sklavenarbeit an der Natur ab-
nehmen sollte, sie zu Sklaven eben an der Maschine selbst herab-
gedrückt hat, — so gilt es für feinere und umfassendere innerliche
Beziehungen erst recht: der Satz, daſs wir die Natur beherrschen, in-
dem wir ihr dienen, hat den fürchterlichen Revers, daſs wir ihr dienen,
[522] indem wir sie beherrschen. Wie wir einerseits die Sklaven des Pro-
duktionsprozesses geworden sind, so andrerseits die Sklaven der Pro-
dukte: d. h., was uns die Natur vermöge der Technik von auſsen
liefert, ist durch tausend Gewöhnungen, tausend Zerstreuungen, tausend
Bedürfnisse äuſserlicher Art über das Sich-Selbst-Gehören, über die
geistige Zentripetalität des Lebens Herr geworden. Damit hat das Domi-
nieren der Mittel nicht nur einzelne Zwecke, sondern den Sitz der Zwecke
überhaupt ergriffen, den Punkt, in dem alle Zwecke zusammenlaufen, weil
sie, soweit sie wirklich Endzwecke sind, nur aus ihm entspringen
können. So ist der Mensch gleichsam aus sich selbst entfernt, zwischen
ihn und sein Eigentlichstes, Wesentlichstes, hat sich eine Unübersteig-
lichkeit von Mittelbarkeiten, technischen Errungenschaften, Fähigkeiten,
Genieſsbarkeiten geschoben.


Solcher Betonung der Mittelinstanzen des Lebens, gegenüber seinem
zentralen und definitiven Sinne, wüſste ich übrigens keine Zeit, der
dies ganz fremd gewesen wäre, entgegenzustellen. Vielmehr, da der
Mensch ganz auf die Kategorie von Zweck und Mittel gestellt ist, so
ist es wohl sein dauerndes Verhängnis, sich in einem Widerstreit der
Ansprüche zu bewegen, die der Zweck unmittelbar, und die die Mittel
stellen; das Mittel enthält immer die innere Schwierigkeit, für sich
Kraft und Bewuſstsein zu verbrauchen, die eigentlich nicht ihm, sondern
einem andern gelten. Aber es ist ja gar nicht der Sinn des Lebens, die
Dauer versöhnter Zustände, nach der es strebt, auch wirklich zu erlangen.
Es mag sogar für die Schwungkraft unserer Innerlichkeit grade darauf
ankommen, jenen Widerspruch lebendig zu erhalten, und an seiner
Heftigkeit, an dem Überwiegen der einen oder der anderen Seite, an
der psychologischen Form, in der jede von beiden auftritt, dürften
sich die Lebensstile mit am charakteristischsten unterscheiden. Für
die Gegenwart, in der das Vorwiegen der Technik ersichtlich ein Über-
wiegen des klaren, intelligenten Bewuſstseins — als Ursache wie als
Folge — bedeutet, habe ich hervorgehoben, daſs die Geistigkeit und
Sammlung der Seele, von der lauten Pracht des naturwissenschaftlich-
technischen Zeitalters übertäubt, sich als ein dumpfes Gefühl von
Spannung und unorientierter Sehnsucht rächt; als ein Gefühl, als läge
der ganze Sinn unserer Existenz in einer so weiten Ferne, daſs wir
ihn gar nicht bestimmt lokalisieren können und so immer in Gefahr
sind, uns von ihm fort, statt auf ihn hin zu bewegen — und dann wieder,
als läge er vor unseren Augen, mit einem Ausstrecken der Hand würden
wir ihn greifen, wenn nicht immer grade ein Minimum von Mut, von
Kraft oder von innerer Sicherheit uns fehlte. Ich glaube, daſs diese
heimliche Unruhe, dies ratlose Drängen unter der Schwelle des Be-
[523] wuſstseins, das den modernen Menschen vom Sozialismus zu Nietzsche,
von Böcklin zum Impressionismus, von Hegel zu Schopenhauer und
wieder zurück jagt — nicht nur der äuſseren Hast und Aufgeregtheit
des modernen Lebens entstammt, sondern daſs umgekehrt diese vielfach
der Ausdruck, die Erscheinung, die Entladung jenes innersten Zustandes
ist. Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu,
in immer neuen Anregungen, Sensationen, äuſseren Aktivitäten eine
momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seiner-
seits in die wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult
der Groſsstadt, bald als Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Kon-
kurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Ge-
bieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen
offenbart. Die Bedeutung des Geldes für diese Verfassung des Lebens
ergiebt sich als einfacher Schluſs aus den Prämissen, die alle Er-
örterungen dieses Buches festgestellt haben. Es genügt also die bloſse
Erwähnung seiner Doppelrolle: das Geld steht einmal in einer Reihe
mit all den Mitteln und Werkzeugen der Kultur, die sich vor die
innerlichen und Endzwecke schieben und diese schlieſslich überdecken
und verdrängen. Bei ihm tritt, teils wegen der Leidenschaft seines
Begehrtwerdens, teils wegen seines Eingreifens in alle möglichen Zweck-
prozesse, teils wegen seiner eignen Leerheit und bloſsen Durchgangs-
charakters die Sinnlosigkeit und die Folgen jener teleologischen Ver-
schiebung am auffälligsten hervor; allein insofern ist es doch nur die
graduell höchste all jener Erscheinungen, es übt die Funktion der
Distanzierung zwischen uns und unseren Zwecken nur reiner und rast-
loser als die anderen technischen Mittelinstanzen, aber prinzipiell in
keiner anderen Weise; auch hier zeigt es sich als nichts Isoliertes,
sondern nur als der vollkommenste Ausdruck von Tendenzen, die sich
auch unterhalb seiner in einer Skala von Erscheinungen darstellen.
Nach einer andern Richtung freilich stellt sich das Geld jenseits dieser
ganzen Reihe, indem es nämlich vielfach der Träger ist, durch den
die einzelnen, jene Umbildung erfahrenden Zweckreihen ihrerseits erst
zustande kommen. Es durchflicht dieselben als Mittel der Mittel, als
die allgemeinste Technik des äuſsern Lebens, ohne die die einzelnen
Techniken unserer Kultur unentstanden geblieben wären. Also auch
nach dieser Wirkungsrichtung hin zeigt es die Doppelheit seiner Funk-
tionen, durch deren Vereinigung es die Form der gröſsten und tiefsten
Lebenspotenzen überhaupt wiederholt: daſs es einerseits in den Reihen
der Existenz als ein Gleiches oder allenfalls ein Erstes unter Gleichen
steht, und daſs es andrerseits über ihnen steht, als zusammenfassende,
alles Einzelne tragende und durchdringende Macht. So ist die Religion
[524] eine Macht im Leben, neben seinen andern Interessen und oft gegen
sie, einer der Faktoren, deren Gesamtheit das Leben ausmacht, und
andrerseits die Einheit und der Träger des ganzen Daseins selbst
— einerseits ein Glied des Lebensorganismus, andrerseits diesem gegen-
überstehend, indem sie ihn in der Selbstgenugsamkeit ihrer Höhe
und Innerlichkeit ausdrückt. — —


Ich komme nun zu einer zweiten Stilbestimmtheit des Lebens,
die nicht, wie die Distanzierung, durch eine räumliche, sondern durch
eine zeitliche Analogie bezeichnet wird; und zwar, da die Zeit inneres
und äuſseres Geschehen gleichmäſsig umfaſst, wird die Wirklichkeit
damit unmittelbarer und mit geringerer Inanspruchnahme der Symbolik
als in dem früheren Falle charakterisiert. Es handelt sich um den
Rhythmus, in dem die Lebensinhalte auftreten und zurücktreten, um
die Frage, inwieweit die verschiedenen Kulturepochen überhaupt die
Rhythmik in dem Abrollen derselben begünstigen oder zerstören, und
ob das Geld nicht nur in seinen eigenen Bewegungen daran teil hat,
sondern auch jenes Herrschen oder Sinken der Periodik des Lebens
von sich aus beeinfluſst. Zunächst begegnen eine Reihe von Erschei-
nungen, die in früheren Entwicklungsstadien rhythmisch, in späteren
aber kontinuierlich oder unregelmäſsig verlaufen. Vielleicht die auf-
fallendste: der Mensch hat keine bestimmte Paarungszeit mehr, wie
sie fast bei allen Tieren besteht, bei denen sich sexuelle Erregtheit
und Gleichgültigkeit scharf gegeneinander absetzen; unkultivierte
Völker weisen mindestens noch Reste dieser Periodik auf. Die Ver-
schiedenheit in der Brunstzeit der Tiere hängt wesentlich daran, daſs
die Geburten zu derjenigen Jahreszeit erfolgen müssen, in der Nahrungs-
und klimatische Verhältnisse für das Aufbringen der Jungen am gün-
stigsten sind; thatsächlich werden auch bei einigen der sehr rohen Austral-
neger, die keine Haustiere haben und deshalb regelmäſsigen Hungers-
nöten unterliegen, nur zu einer bestimmten Zeit des Jahres Kinder
geboren. Der Kulturmensch hat sich durch seine Verfügung über
Nahrung und Wetterschutz hiervon unabhängig gemacht, so daſs er in
dieser Hinsicht seinen individuellen Impulsen und nicht mehr allgemein,
also notwendig rhythmisch, bestimmten, folgt: die oben genannten Gegen-
sätze der Sexualität sind bei ihm in ein mehr oder weniger fluktuierendes
Kontinuum übergegangen. Immerhin ist festgestellt, daſs die noch beobacht-
bare Periodizität des Geburten-Maximums und -Minimums in wesent-
lich Ackerbau treibenden Gegenden entschiedener ist als in indust-
riellen, auf dem Lande entschiedener als in Städten. Weiter: das
Kind unterliegt einem unbezwinglichen Rhythmus von Schlafen und
Wachen, von Bethätigungslust und Abgespanntheit, und annähernd ist
[525] das auch noch in ländlichen Verhältnissen zu beobachten — während
für den Stadtmenschen diese Regelmäſsigkeiten der Bedürfnisse (nicht
nur ihrer Befriedigungen!) längst durchbrochen ist. Und wenn es wahr
ist, daſs die Frauen die undifferenziertere, der Natur noch unmittel-
barer verbundene Stufe des Menschlichen bezeichnen, so könnte die
Periodik, die ihrem physiologischen Leben einwohnt, als Bestätigung
dafür dienen. Wo der Mensch noch unmittelbar von der Ernte oder
dem Jagdertrag, weiterhin von dem Eintreffen des umherziehenden
Händlers oder von dem periodischen Markte abhängig ist, da muſs sich
das Leben nach sehr vielen Richtungen hin in einem Rhythmus von
Expansion und Kontraktion bewegen. Für manche Hirtenvölker, die
sogar schon höher stehen wie jene Australneger, z. B. manche Afri-
kaner, bedeuten die Zeiten, in denen es an Weideland fehlt, doch eine
jährlich wiederkehrende halbe Hungersnot. Und selbst wo nicht eine
eigentliche Periodik vorliegt, da zeigt doch die primitive Wirtschaft
für den Selbstbedarf in Bezug auf die Konsumtion wenigstens jenes
wesentliche Moment ihrer: das unvermittelte Überspringen der Gegen-
sätze ineinander, von Mangel zu Überfluſs, von Überfluſs zu Mangel.
Wie sehr die Kultur hier Ausgleichung bedeutet, ist ersichtlich. Nicht
nur sorgt sie dafür, daſs das ganze Jahr über alle erforderlichen
Lebensmittel in ungefähr gleichem Quantum angeboten werden, sondern
vermöge des Geldes setzt sie auch die verschwenderische Kon-
sumtion herab: denn jetzt kann der zeitweilige Überfluſs zu Gelde ge-
macht und sein Genuſs dadurch gleichmäſsig und kontinuierlich über
das ganze Jahr verteilt werden. Ich erwähne hier endlich, ganz jen-
seits aller Wirtschaft und nur als charakteristisches Symbol dieser Ent-
wicklung, daſs auch in der Musik das rhythmische Element das zuerst
ausgeprägte und grade auf ihren primitivsten Stufen äuſserst hervor-
tretende ist. Ein Missionar ist in Aschanti bei der wirren Disharmonie
der dortigen Musik von dem wunderbaren Takthalten der Musiker
überrascht, die chinesische Theatermusik in Kalifornien soll, obgleich
ein ohrenzerreiſsender unmelodischer Lärm, doch strenge Taktmäſsig-
keit besitzen, von den Festen der Wintunindianer erzählt ein Reisen-
der: „Dann kommen auch Gesänge, in denen jeder Indianer seine
eigenen Gefühle ausdrückt, wobei sie seltsamerweise vollkommen
Takt miteinander halten.“ Tiefer hinabsteigend: gewisse Insekten
bringen einen Laut zur Bezauberung der Weibchen hervor, der in
einem und demselben, scharf rhythmisch wiederholten Ton besteht
— im Unterschied gegen die höher entwickelten Vögel, in deren
Liebesgesang die Rhythmik ganz hinter die Melodie zurücktritt. Und
auf den höchsten Stufen der Musik wird bemerkt, daſs neuerdings die
[526] Entwicklung vom Rhythmischen ganz abzuweichen scheine, nicht nur
bei Wagner, sondern auch bei gewissen Gegnern von ihm, die in ihren
Texten dem Rhythmischen aus dem Wege gehen und den Korinther-
brief und den Prediger Salomonis komponieren; der scharfe Wechsel
von Hebung und Senkung macht ausgeglichneren oder unregelmäſsigeren
Formen Platz. Sehen wir von dieser Analogie wieder auf das wirt-
schaftliche und allgemeine Kulturleben zurück, so scheint dasselbe von
einer allgemeinen Vergleichmäſsigung ergriffen, seit man für Geld alles
zu jeder Zeit kaufen kann und deshalb die Regungen und Reizungen des
Individuums sich an keinen Rhythmus mehr zu halten brauchen, der,
von der Möglichkeit ihrer Befriedigung aus, sie einer trans-individuellen
Periodizität unterwürfe. Und wenn die Kritiker der jetzigen Wirt-
schaftsordnung grade ihr den regelmäſsigen Wechsel zwischen Über-
produktion und Krisen vorwerfen, so wollen sie damit doch grade das
noch Unvollkommene an ihr bezeichnen, das in eine Kontinuität der
Produktion wie des Absatzes überzuführen sei. Ich erinnere an die Aus-
dehnung des Transportwesens, das von der Periodizität der Fahrpost zu
den zwischen den wichtigsten Punkten fast ununterbrochen laufenden
Verbindungen und bis zum Telegraphen und Telephon fortschreitet, die
die Kommunikation überhaupt nicht mehr an eine Zeitbestimmtheit
binden; an die Verbesserung der künstlichen Beleuchtung, die den
Wechsel von Tag und Nacht mit seinen, das Leben rhythmisierenden
Folgen immer gründlicher paralysiert; an die gedruckte Litteratur, die
uns, unabhängig von dem eignen organischen Wechsel des Denkprozesses
zwischen Anspannungen und Pausen, in jedem Momente, wo wir es grade
wünschen, mit Gedanken und Anregungen versorgt. Kurz, wenn die
Kultur, wie man zu sagen pflegt, nicht nur den Raum, sondern auch
die Zeit überwindet, so bedeutet dies, daſs die Bestimmtheit zeitlicher
Abteilungen nicht mehr das zwingende Schema für unser Thun und
Genieſsen bildet, sondern daſs dieses nur noch von dem Verhältnis
zwischen unserem Wollen und Können und den rein sachlichen Be-
dingungen ihrer Bethätigung abhängt. Also: die generell dargebotenen
Bedingungen sind vom Rhythmus befreit, sind ausgeglichener, um der
Individualität Freiheit und mögliche Unregelmäſsigkeit zu verschaffen;
in diese Differenzierung sind die Elemente von Gleichmäſsigkeit und
Verschiedenheit, die im Rhythmus vereint sind, auseinandergegangen.


Es wäre indes ganz irrig, die Entwicklung des Lebensstiles in die
verführerisch einfache Formel zu bannen, daſs er von der Rhythmik
seiner Inhalte zu einer von jedem Schema unabhängigen Bewährung
derselben weiterschritte. Dies gilt vielmehr nur für bestimmte Abschnitte
der Entwicklung, deren Ganzes tiefere und verwickeltere Nachzeich-
[527] nungen fordert. Ich untersuche deshalb zunächst die psychologisch-
historische Bedeutung jener Rhythmik, wobei ich ihr rein physiologisch
veranlaſstes Auftreten, das nur die Periodik der äuſseren Natur wieder-
holt, auſser acht lasse.


Man kann den Rhythmus als die auf die Zeit übertragene Symmetrie
bezeichnen, wie die Symmetrie als Rhythmus im Raum. Wenn man
rhythmische Bewegungen in Linien zeichnet, so werden diese symme-
trisch; und umgekehrt: die Betrachtung des Symmetrischen ist ein
rhythmisches Vorstellen. Beides sind nur verschiedne Formen des-
selben Grundmotives. Wie in den Künsten des Ohres der Rhythmus,
so ist in denen des Auges die Symmetrie der Anfang aller Gestaltung
des Materiales. Um überhaupt in die Dinge Idee, Sinn, Harmonie zu
bringen, muſs man sie zunächst symmetrisch gestalten, die Teile des
Ganzen untereinander ausgleichen, sie ebenmäſsig um einen Mittel-
punkt herum ordnen. Die formgebende Macht des Menschen gegen-
über der Zufälligkeit und Wirrnis der bloſs natürlichen Gestaltung
wird damit auf die schnellste, sichtbarste und unmittelbarste Art ver-
sinnlicht. Die Symmetrie ist der erste Kraftbeweis des Rationalismus,
mit dem er uns von der Sinnlosigkeit der Dinge und ihrem einfachen
Hinnehmen erlöst. Deshalb sind auch die Sprachen unkultivierter
Völker oft viel symmetrischer gebaut, als die Kultursprachen, und
sogar die soziale Struktur zeigt z. B. in den „Hundertschaften“, die
das Organisationsprinzip der verschiedensten Völker niederer Stufe
bilden, die symmetrische Einteilung als einen ersten Versuch der
Intelligenz, die Massen in eine überschaubare und lenkbare Form zu
bringen. Die symmetrische Anordnung ist wie gesagt durchaus
rationalistischen Wesens, sie erleichtert die Beherrschung des Vielen
und der Vielen von einem Punkte aus. Die Anstöſse setzen sich
länger, widerstandsloser, berechenbarer durch ein symmetrisch an-
geordnetes Medium fort, als wenn der innere Bau und die Grenzen
der Teile unregelmäſsig und fluktuierend sind. Wenn Dinge und
Menschen unter das Joch des Systems gebeugt — d. h. symmetrisch
angeordnet — sind, so wird der Verstand am schnellsten mit ihnen
fertig. Daher hat sowohl der Despotismus wie der Sozialismus be-
sonders starke Neigungen zu symmetrischen Konstruktionen der Ge-
sellschaft, beide, weil es sich für sie um eine starke Zentralisierung
der letzteren handelt, um derentwillen die Individualität der Elemente,
die Ungleichmäſsigkeit ihrer Formen und Verhältnisse zur Symmetrie
nivelliert werden muſs. Das tritt rein äuſserlich darin hervor, daſs
sozialistische Utopien die lokalen Einzelheiten ihrer Idealstädte oder
-staaten immer nach dem Prinzip der Symmetrie konstruieren: ent-
[528] weder in Kreisform oder in quadratischer Form werden die Ort-
schaften oder Gebäude angeordnet. In Campanellas Sonnenstaat ist
der Plan der Reichshauptstadt mathematisch abgezirkelt, ebenso wie
die Tageseinteilung der Bürger und die Abstufung ihrer Rechte und
Pflichten. Rabelais’ Orden der Thelemiten lehrt, in Opposition zu
Morus, einen so absoluten Individualismus, daſs es in diesem Utopien
keine Uhr geben darf, sondern alles nach Bedürfnis und Gelegenheit
geschehen soll; aber der Stil der unbedingten Ausgerechnetheit und
Rationalisierung des Lebens verlockt ihn doch, die Gebäulichkeiten
seines Idealstaates genau symmetrisch anzuordnen: ein Riesenbau in
Form eines Sechsecks, in jeder Ecke ein Turm, sechzig Schritt im
Durchmesser. Dieser allgemeine Zug sozialistischer Pläne zeugt nur
in roher Form für die tiefe Anziehungskraft, die der Gedanke der
harmonischen, innerlich ausgeglichenen, allen Widerstand der irratio-
nalen Individualität überwindenden Organisation des menschlichen
Thuns ausübt. Die symmetrisch-rhythmische Gestaltung bietet sich
so als die erste und einfachste dar, mit der der Verstand den Stoff
des Lebens gleichsam stilisiert, beherrschbar und assimilierbar macht,
als das erste Schema, vermöge dessen er sich in die Dinge hinein-
bilden kann. Aber eben damit ist auch die Grenze für Sinn und
Recht dieses Lebensstiles angedeutet. Denn nach zwei Seiten hin
wirkt er vergewaltigend: einmal auf das Subjekt, dessen Impulse und
Bedürfnisse doch nicht in prästabilierter, sondern jedesmal nur glück-
lich-zufälliger Harmonie mit jenem feststehenden Schema auftreten;
und nicht weniger der äuſseren Wirklichkeit gegenüber, deren Kräfte
und Verhältnisse zu uns sich nur gewaltsam in einen so ein-
fachen Rahmen fassen lassen. Alle Gewaltthätigkeiten und Inadäquat-
heiten, die die Systematik gegenüber der Wirklichkeit mit sich bringt,
kommen auch der Rhythmisierung und Symmetrie in der Gestaltung
der Lebensinhalte zu. Wie es am Einzelmenschen zwar eine erhebliche
Kraft verrät, wenn er Personen und Dinge sich assimiliert, indem er
ihnen die Form und das Gesetz seines Wesens aufzwingt, wie aber
der noch gröſsere Mensch den Dingen in ihrer Eigenart gerecht wird
und sie grade mit dieser und gemäſs ihrer in den Kreis seiner Zwecke
und seiner Macht hineinzieht — so ist es zwar schon eine Höhe des
Menschlichen, die theoretische und praktische Welt in ein Schema von
uns aus zu zwingen; gröſser aber ist es, die eignen Gesetze und Forde-
rungen der Dinge anerkennend und ihnen folgsam, sie erst so in
unser Wesen und Wirken einzubauen. Denn das beweist nicht nur
eine sehr viel gröſsere Expansionsfähigkeit und Bildsamkeit des letzteren,
sondern es kann auch den Reichtum und die Möglichkeiten der Dinge
[529] viel gründlicher ausschöpfen. Deshalb sehen wir zwar auf manchen
Gebieten den Rhythmus als das spätere, das rationalistisch-systema-
tische Prinzip als die nicht zu überwindende Entwicklungsstufe, andere
aber lassen diese der Gestaltung von Fall zu Fall Platz machen und
lösen die Vorbestimmtheit des mitgebrachten Schemas in die wechseln-
den Ansprüche der Sache selbst auf. So sehen wir z. B. daſs erst in
höheren Kulturverhältnissen die Einrichtung regelmäſsiger Mahlzeiten
den Tag im allgemeinen rhythmisch gliedert; eine Mehrzahl fester
täglicher Mahlzeiten scheint bei keinem Naturvolk vorzukommen. Im
Gegensatz dazu haben wir freilich schon oben bemerkt, daſs in Bezug
auf das Ganze der Ernährung Naturvölker oft einen regelmäſsigen
Rhythmus von Entbehrungsperioden und Zeiten schwelgerischen Verjubelns
haben, den die höhere Wirtschaftstechnik völlig abgelegt hat. Allein
jene Gleichmäſsigkeit täglicher Mahlzeiten erreicht ihre groſse Stabilität
zwar auf sehr hohen, vielleicht aber doch nicht auf den allerhöchsten
Stufen der sozialen und geistigen Skala. In der obersten Gesell-
schaftsschicht erleidet dieselbe durch den Beruf, die Geselligkeit und
komplizierte Rücksichten vielerlei Art wieder manchen Abbruch, und
zu eben demselben werden den Künstler und den Gelehrten die
wechselnden Anforderungen der Sache wie der Stimmungen des Tages
veranlassen. Dies weist schon darauf hin, wie sehr der Rhythmus der
Mahlzeiten — und sein Gegenteil — dem der Arbeit entspricht. Auch
hier lassen verschiedne Reihen ganz verschiedne Verhältnisse erkennen.
Der Naturmensch arbeitet genau so unregelmäſsig, wie er iſst. Auf
gewaltige Kraftanstrengungen, zu denen die zufällige Not oder Laune
ihn treibt, folgen Zeiten absoluter Faulheit, beides ganz zufällig und
prinziplos abwechselnd. Wahrscheinlich mit Recht hat man, wenigstens
für die nördlicheren Länder, mit dem pflugmäſsigen Ackerbau erst
eine feste Ordnung der Thätigkeiten, einen sinnvollen Rhythmus von
Anspannung und Abspannung der Kräfte beginnen lassen. Diese
Rhythmik erreicht ihren äuſsersten Grad etwa bei der höheren Fabrik-
arbeit und bei der Arbeit in Bureaus jeder Art. Auf den Gipfeln der
kulturellen Thätigkeit, der wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen,
kommerziellen, pflegt sie wieder stark herabzusinken; so daſs sogar, wenn
wir etwa von einem Schriftsteller hören, daſs er täglich zu gleicher
Minute die Feder in die Hand nimmt und sie zu gleicher wieder fortlegt,
dieser stationäre Rhythmus der Produktion uns gegen ihre Inspiration
und innere Bedeutung miſstrauisch macht. Aber auch innerhalb des
Lohnarbeitertums führt die Entwicklung, wenn auch aus ganz andern
Motiven, zu Ungleichmäſsigkeit und Unberechenbarkeit als der späteren
Stufe. Bei dem Aufkommen der englischen Groſsindustrie litten die
Simmel, Philosophie des Geldes. 34
[530] Arbeiter auſserordentlich darunter, daſs jede Absatzstockung den Be-
trieb eines Groſsunternehmens viel mehr störte, als sie den vieler
kleiner gestört hatte, schon weil die Zunft die Verluste zu teilen
pflegte. Früher hatten die Meister in schlechten Zeiten auf Vorrat
gearbeitet, jetzt wurden die Arbeiter einfach entlassen; früher waren
die Löhne jahrweise durch die Obrigkeit fixiert worden, jetzt führte
jeder Preisabschlag zu ihrer Herabsetzung. Unter diesen Umständen,
so wird berichtet, zogen viele Arbeiter vor, unter dem alten System
weiterzuarbeiten, statt die höheren Löhne des neuen mit der gröſseren
Unregelmäſsigkeit der Beschäftigung überhaupt zu bezahlen. So hat
allenthalben der Kapitalismus und die wirtschaftliche Individualisierung,
mindestens strichweise, die Arbeit als Ganzes — darum auch meist
ihre Inhalte! — zu etwas viel Unsichrerem gemacht, viel zufälligeren
Konstellationen unterworfen, als sie zur Zeit der Zünfte bestanden, wo
die gröſsere Stabilität der Arbeitsbedingungen doch auch den sonstigen
Lebensinhalten des Tages und Jahres einen viel festeren Rhythmus
verlieh. Und was die Gestaltung des Arbeitsinhaltes betrifft, so haben
neuere Untersuchungen nachgewiesen, daſs derselbe früher, insbesondre
bei dem primitiven Zusammenarbeiten und der allenthalben vor-
kommenden Gesangbegleitung, einen überwiegend rhythmischen Cha-
rakter besessen, denselben aber nachher, mit der Vervollkommnung
der Werkzeuge und der Individualisierung der Arbeit, wieder ein-
gebüſst habe. Nun enthält zwar grade der moderne Fabrikbetrieb
wieder stark rhythmische Elemente; allein soweit sie den Arbeiter
an die Strenge gleichmäſsig wiederholter Bewegungen binden, haben
sie eine ganz andre subjektive Bedeutung, als jene alte Arbeitsrhythmik,
da sie sich nicht den inneren Forderungen physiologisch-psychologischer
Energetik, sondern denen einer rücksichtslos objektiven, maschinellen
Technik anpassen.


Die Entwicklung des Geldwesens folgt dem gleichen Schema. Es
zeigt gewisse rhythmische Erscheinungen als eine Art Mittelstufe: aus
der chaotischen Zufälligkeit, in der sein erstes Auftreten sich bewegt
haben muſs, gelangt es zu jenen, die doch immerhin ein Prinzip und
eine sinnvolle Gestaltung aufzeigen, bis es auf weiterer Stufe eine
Kontinuität des Sich-Darbietens gewinnt, mit der es sich allen sach-
lichen und persönlichen Notwendigkeiten, frei von dem Zwange eines
rhythmischen und in höherem Sinn doch zufälligen Schemas, an-
schmiegt. Es genügt für unseren Zweck, den Übergang von der
zweiten zur dritten Stufe an einigen Beispielen zu zeigen. Noch im
16. Jahrhundert war es selbst an einem Platz so groſsartigen Geld-
verkehrs wie Antwerpen fast unmöglich, auſserhalb der regelmäſsigen
[531] Wechselmessen eine erheblichere Geldsumme aufzutreiben; die Ver-
breitung dieser Möglichkeit auf jeden beliebigen Augenblick, in dem
der Einzelne Geld bedarf, bezeichnet den Übergang zu der vollen Ent-
wicklung der Geldwirtschaft. Immerhin ist es für die Fluktuation
zwischen rhythmischer und unrhythmischer Gestaltung des Geldwesens
und für das Empfinden derselben bezeichnend, daſs von den an die
mittelalterliche Zeitbeschränktheit Gewöhnten der Antwerpener Verkehr
eine „unaufhörliche Messe“ genannt wurde. Ferner: solange der
einzelne Geschäftsmann alle Zahlungen unmittelbar aus seiner Kasse
leistet, bezw. in dieselbe einnimmt, muſs er zu den Zeiten, wo regel-
mäſsig gröſsere Summen fällig werden, einen erheblichen Barbestand
beschaffen und andrerseits in den Zeiten überwiegender Eingänge die-
selben sogleich zweckmäſsig unterzubringen wissen. Die Konzentrierung
des Geldverkehrs in den groſsen Banken enthebt ihn dieses periodischen
Zwanges zur Aufhäufung und Drainierung; denn nun werden, indem
er und seine Geschäftsfreunde mit derselben Girobank arbeiten, Aktiva
und Passiva einfach durch buchmäſsige Übertragung saldiert, so daſs
der Kaufmann nur noch eines relativ geringfügigen und immer gleich-
bleibenden Kassenbestandes für die täglichen Ausgaben bedarf, während
die Bank selbst, weil die Ein- und Ausgänge von den verschiednen
Seiten sich im ganzen paralysieren, einen relativ viel kleineren Bar-
bestand, als sonst der individuelle Kaufmann, zu halten braucht. End-
lich ein letztes Beispiel. Der mehr oder weniger periodische Wechsel
von Not und Plethora in Zeiten unentwickelter Geldkultur bewirkt
einen entsprechend periodischen Wechsel des Zinsfuſses zwischen groſser
Billigkeit und schwindelhafter Höhe. Die Vervollkommnung der Geld-
wirtschaft hat nun diese Schwankungen derartig ausgeglichen, daſs der
Zinsfuſs, mit früheren Zeiten verglichen, kaum noch aus seiner Stabi-
lität weicht und daſs eine Änderung des englischen Bankdiskonts um
ein Prozent schon als ein Ereignis von groſser Bedeutsamkeit gilt;
wodurch denn der Einzelne in seinen Dispositionen auſserordentlich
beweglicher und von der Bedingtheit durch Schwankungen befreit wird,
die oberhalb seiner liegen und deren Rhythmus die Erfordernisse seines
eignen Geschäftsgebarens in eine ihnen oft genug widerstrebende
Formung zwang.


Die Gestaltungen, die der Rhythmus oder sein Gegenteil den Da-
seinsinhalten verleiht, verlassen nun aber ihre Form als wechselnde
Stadien einer Entwicklung und bieten sich im Zugleich dar. Das
Lebensprinzip, das man mit dem Symbol des Rhythmisch-Symmetrischen,
und dasjenige, das man als das individualistisch-spontane bezeichnen
kann, sind die Formulierungen tiefster Wesensrichtungen, deren Gegen-
34*
[532] satz nicht immer, wie in den bisherigen Beispielen, durch Einstellung
in Entwicklungsgänge versöhnbar ist, sondern die dauernden Cha-
raktere von Individuen und Gruppen abschlieſsend bezeichnet. Die
systematische Lebensform ist nicht nur, wie ich schon hervorhob, die
Technik zentralistischer Tendenzen, mögen sie despotischer oder
sozialistischer Art sein, sondern sie gewinnt auſserdem einen Reiz für
sich: die innere Ausgeglichenheit und äuſsere Geschlossenheit, die
Harmonie der Teile und Berechenbarkeit ihrer Schicksale verleiht
allen symmetrisch-systematischen Organisationen eine Anziehung, deren
Wirkungen weit über alle Politik hinaus an unzähligen öffentlichen und
privaten Interessen gestaltende Macht übt. Mit ihr sollen die indivi-
duellen Zufälligkeiten des Daseins eine Einheit und Durchsichtigkeit er-
halten, die sie zum Kunstwerk macht. Es handelt sich um den gleichen
ästhetischen Reiz, wie ihn die Maschine auszuüben vermag. Die ab-
solute Zweckmäſsigkeit und Zuverlässigkeit der Bewegungen, die
äuſserste Verminderung der Widerstände und Reibungen, das harmo-
nische Ineinandergreifen der kleinsten und der gröſsten Bestandteile:
das verleiht der Maschine selbst bei oberflächlicher Betrachtung eine
eigenartige Schönheit, die die Organisation einer Fabrik in erweitertem
Maſse wiederholt und die der sozialistische Staat im allerweitesten wieder-
holen soll. Aber diesem Reize liegt, wie allem Ästhetischen, eine letzt-
instanzliche Richtung und Bedeutsamkeit des Lebens zum Grunde,
eine elementare Beschaffenheit der Seele, von der auch die ästhetische
Anziehung oder Bewährung nur eine Erscheinung an äuſserem Stoffe
ist; wir haben jene nicht eigentlich, wie wir ihre Ausgestaltungen im
Material des Lebens: ästhetische, sittliche, soziale, intellektuelle, eudä-
monistische, haben, sondern wir sind sie. Diese äuſsersten Ent-
scheidungen der menschlichen Naturen sind mit Worten nicht zu be-
zeichnen, sondern sie sind nur aus jenen einzelnen Darstellungen ihrer
als deren letzte Triebkräfte und Direktiven herauszufühlen. Darum
ist der Reiz der entgegengesetzten Lebensform ebenso indiskutabel, in
dessen Empfinden sich die aristokratischen und die individualistischen
Tendenzen — in welcher Provinz unserer Interessen sie auch auf-
treten mögen — begegnen. Die historischen Aristokratien vermeiden
gern die Systematik, die generelle Formung, die den Einzelnen in ein
ihm äuſseres Schema einstellt, jedes Gebilde — politischer, sozialer,
sachlicher, personaler Art — soll sich, gemäſs der echt aristokratischen
Empfindung, als eigenartiges in sich zusammenschlieſsen und bewähren.
Der aristokratische Liberalismus des englischen Lebens findet deshalb in
der Asymmetrie, in der Befreiung des individuellen Falles von der
Präjudizierung durch sein Pendant, den typischsten und gleichsam
[533] organischsten Ausdruck seiner innersten Motive. Ganz direkt hebt
Macaulay, der begeisterte Liberale, dies als die eigentliche Stärke des
englischen Verfassungslebens hervor. „Wir denken“, so sagt er, „gar
nicht an die Symmetrie, aber sehr an die Zweckmäſsigkeit; wir ent-
fernen niemals eine Anomalie, bloſs weil sie eine Anomalie ist; wir
stellen keine Normen von weiterem Umfang auf, als es der besondere
Fall, um den es sich grade handelt, erfordert. Das sind die Regeln,
die im ganzen, vom König Johann bis zur Königin Viktoria, die Er-
wägungen unserer 250 Parlamente geleitet haben.“ Hier wird also
das Ideal der Symmetrie und logischen Abrundung, die allem Einzelnen
von einem Punkte aus seinen Sinn giebt, zu gunsten jenes anderen
verworfen, das jedes Element sich nach seinen eignen Bedingungen
unabhängig ausleben und so natürlich das Ganze eine regellose und
ungleichartige Erscheinung darbieten läſst. Und es ist ersichtlich,
wie tief in die persönlichen Lebensstile dieser Gegensatz heruntersteigt,
Auf der einen Seite die Systematisierung des Lebens: seine einzelnen
Provinzen harmonisch um einen Mittelpunkt geordnet, alle Interessen
sorgfältig abgestuft und jeder Inhalt eines solchen nur soweit zugelassen,
wie das ganze System es vorzeichnet; die einzelnen Bethätigungen
regelmäſsig abwechselnd, zwischen Aktivitäten und Pausen ein fest-
gestellter Turnus, kurz im Nebeneinander wie im Nacheinander eine
Rhythmik, die weder der unberechenbaren Fluktuation der Bedürf-
nisse, Kraftentladungen und Stimmungen, noch dem Zufall äuſserer
Anregungen, Situationen und Chancen Rechnung trägt — dafür aber
eine Existenzform eintauscht, die ihrer selbst dadurch völlig sicher
ist, daſs sie überhaupt nichts in das Leben hineinzulassen strebt, was
ihr nicht gemäſs ist oder was sie nicht zu ihrem System passend um-
arbeiten kann. Auf der anderen Seite: die Formung des Lebens von
Fall zu Fall, die innere Gegebenheit jedes Augenblickes mit den
koinzidierenden Gegebenheiten der Auſsenwelt in das möglichst günstige
Verhältnis gesetzt, eine ununterbrochne Bereitheit zum Empfinden und
Handeln zugleich mit einem steten Hinhören auf das Eigenleben der Dinge,
um ihren Darbietungen und Forderungen, wann immer sie eintreten
gerecht zu werden. Damit ist freilich die Berechenbarkeit und sichere
Abgewogenheit des Lebens preisgegeben, sein Stil im engeren Sinne,
das Leben wird nicht von Ideen beherrscht, die in ihrer Anwendung
auf sein Material sich immer zu einer Systematik und festen Rhyth-
mik ausbreiten, sondern von seinen individuellen Elementen aus wird es
gestaltet, unbekümmert um die Symmetrie seines Gesamtbildes, die
hier nur als Zwang, aber nicht als Reiz empfunden würde. — Es ist
das Wesen der Symmetrie, daſs jedes Element eines Ganzen nur mit
[534] und in der Rücksicht auf ein anderes und auf ein gemeinsames Zentrum
seine Stellung, sein Recht, seinen Sinn erhält; wogegen, sobald jedes
Element nur sich selbst gehorcht und sich nur um seiner selbst willen
und aus sich selbst entwickelt, das Ganze unvermeidlich unsymmetrisch
und zufällig ausfallen wird. Grade angesichts seines ästhetischen Re-
flexes zeigt dieser Widerstreit sich als das grundlegende Motiv aller
Prozesse, die zwischen einem sozialen Ganzen — politischer, religiöser,
familiärer, wirtschaftlicher, geselliger und sonstiger Art — und seinen
Individuen spielen. Das Individuum begehrt, ein geschlossenes Ganzes
zu sein, eine Gestaltung mit eignem Zentrum, von dem aus alle Ele-
mente seines Seins und Thuns einen einheitlichen, auf einander be-
züglichen Sinn erhalten. Soll dagegen das überindividuelle Ganze in sich
abgerundet sein, soll es mit selbstgenugsamer Bedeutsamkeit eine eigne
objektive Idee verwirklichen — so kann es jene Abrundung seiner
Glieder nicht zulassen: man kann keinen Baum aus Bäumen erwachsen
lassen, sondern nur aus Zellen, kein Gemälde aus Gemälden, sondern aus
Pinselstrichen, deren keiner für sich Fertigkeit, Eigenleben, ästhetischen
Sinn besitzt. Die Totalität des Ganzen — so sehr sie nur in gewissen
Aktionen Einzelner, ja vielleicht innerhalb jedes Einzelnen praktische
Wirklichkeit gewinnt — steht in einem ewigen Kampfe gegen die
Totalität des Individuums. Das ästhetische Bild desselben ist deshalb
so besonders nachdrücklich, weil sich grade der Reiz der Schönheit
immer nur an ein Ganzes knüpft — habe es unmittelbare, habe es
durch Phantasie ergänzte Anschaulichkeit, wie das Fragment; es ist
der ganze Sinn der Kunst, aus dem zufälligen Bruchstück der Wirk-
lichkeit, dessen Unselbständigkeit durch tausend Fäden mit dieser ver-
bunden ist, eine in sich ruhende Totalität, einen jedes Auſserhalb-
seiner unbedürftigen Mikrokosmos zu gestalten. Der typische Konflikt
zwischen dem Individuum und dem überindividuellen Sein ist darstell-
bar als das unvereinbare Streben beider, zu einem ästhetisch be-
friedigenden Bilde zu werden.


Das Geld scheint zunächst nur der Ausprägung einer dieser
Gegensatzformen zu dienen. Denn es selbst ist absolut formlos, es
enthält in sich nicht den geringsten Hinweis auf eine regelmäſsige
Hebung und Senkung der Lebensinhalte, es bietet sich jeden Augen-
blick mit der gleichen Frische und Wirksamkeit dar, es nivelliert
durch seine Fernwirkungen wie durch seine Reduktion der Dinge auf
ein und dasselbe Wertmaſs unzählige Schwankungen, gegenseitige Ab-
lösungen von Distanz und Annäherung, Hebung und Senkung, die
dem Individuum sonst allgemeingültige Abwechslungen in seinen Be-
thätigungs- und Empfindungsmöglichkeiten auferlegten. Es ist sehr be-
[535] zeichnend, daſs man das kursierende Geld flüssig nennt: wie einer
Flüssigkeit fehlen ihm die inneren Grenzen, und nimmt es die äuſseren
widerstandslos von der festen Fassung an, die sich ihm jeweilig bietet.
So ist es das durchgreifendste, weil für sich völlig indifferente Mittel
für die Überführung eines uns überindividuell zwingenden Rhythmus
von Lebensbedingungen in eine Ausgeglichenheit und Schwankungs-
losigkeit derselben, die unseren persönlichen Kräften und Interessen
eine freiere, einerseits individuellere, andrerseits reiner sachliche Be-
währung gestattet. Dennoch: grade dieses an sich wesenlose Wesen
des Geldes ermöglicht, daſs es sich auch der Systematik und Rhyth-
mik des Lebens leihe, wo das Entwicklungsstadium der Verhältnisse
oder die Tendenz der Persönlichkeit darauf hin drängt. Während
wir gesehen haben, daſs zwischen liberaler Verfassung und Geldwirt-
schaft eine enge Korrelation besteht, war doch nicht weniger bemerk-
bar, daſs der Despotismus im Gelde eine unvergleichlich zweckmäſsige
Technik findet, ein Mittel, die räumlich fernsten Punkte seiner Herr-
schaft an sich zu binden, die bei Naturalwirtschaft immer zu Ab-
schnürung und Verselbständigung neigen. Und während die indi-
vidualistische Sozialform Englands an der Ausbildung des Geldwesens
groſs geworden ist, zeigt sich dasselbe nicht nur in dem Sinn als
Vorläufer sozialistischer Formen, daſs es durch einen dialektischen
Prozeſs in diese als in seine Negation umschlage, sondern ganz direkt
geben, wie wir an manchen Stellen sahen, spezifisch geldwirtschaftliche
Verhältnisse die Skizze oder den Typus der vom Sozialismus er-
strebten ab.


Hier ordnet sich das Geld einer uns schon früher wichtig gewordnen
Kategorie von Lebensmächten ein, deren sehr eigenartiges Schema es ist,
daſs sie ihrem Wesen und ursprünglichen Sinne nach sich über die
Gegensätze erheben, in die die betreffende Interessenprovinz aus-
einandergeht, als die ungeteilte Indifferenz derselben jenseits ihrer
stehen — dann oder zugleich aber in den Gegensatz der Einzel-
heiten hinuntersteigen: sie werden Partei, wo sie eben Unbeteiligte
oder Richter gewesen waren. So zunächst die Religion — die der
Mensch braucht, um die Entzweiung zwischen seinen Bedürfnissen und
deren Befriedigung, zwischen seinem Sollen und seiner Praxis, zwischen
seinem Idealbild der Welt und der Wirklichkeit zu versöhnen. Hat
er sie aber einmal geschaffen, so bleibt sie nicht in der Höhe, die sie
in ihren höchsten Augenblicken erreicht, sondern steigt selbst auf den
Kampfplatz hinunter, wird eine Seite im Dualismus des Daseins, den
sie eben noch in sich vereinheitlichte. Die Religion steht einerseits
dem, was wir als unser ganzes Leben empfinden, als äquivalente Macht
[536] gegenüber, sie ist eine Totalität jenseits aller Relativitäten unserer
sonstigen Menschlichkeit; und andrerseits steht sie doch wieder im
Leben, als eines seiner Elemente und erst in der Wechselwirkung mit
allen andern die Ganzheit desselben ausmachend. So ist sie ein ganzer
Organismus und zugleich ein Glied, ein Teil des Daseins und zugleich
das Dasein selbst auf einer höheren, verinnerlichten Stufe. Die
gleiche Form zeigt das Verhalten des Staates. Sicher ist es dessen
Sinn, über den Parteien und den Konflikten ihrer Interessen zu stehen,
und dieser abstrakten Höhe verdankt er seine Macht, seine Unberühr-
barkeit, seine Stellung als letzte Instanz der Gesellschaft. Mit alledem
nun ausgerüstet, pflegt er dennoch in jenen Streit der partikularen
Gesellschaftsmächte einzutreten, die Partei der einen gegen gewisse
andere zu ergreifen, die, obgleich von ihm in seinem weiteren Sinne
mitumfaſst, ihm in seinem engeren Sinne wie Macht zu Macht gegen-
überstehen. Das ist die Doppelstellung oberster Instanzen, die sich
innerhalb der Metaphysik wiederholt, wenn sie etwa der Gesamtheit des
Seins geistiges Wesen zuschreibt, das Absolute, das alle Erscheinungen
trägt oder ausmacht, für eine geistige Substanz erklärt. Aber dieses
Absolute muſs sie zugleich als ein Relatives anerkennen. Denn in der
Wirklichkeit steht dem Geiste nicht nur eine Körperlichkeit gegen-
über, so daſs er in diesem Gegensatz erst sein eignes Wesen findet,
sondern es begegnen geistige Erscheinungen unterwertiger Art, Böses,
Träges, Feindseliges; und eine derartige Metaphysik wird solches nicht als
dem Geiste zugehörig betrachten, der ihr die absolute Substanz des
Seins ist. Sondern dieser wird als Partei, Ausgleichung, spezifischer
Wert allem ungeistigen und unvollkommnen Sein entgegengestellt, das
er doch andrerseits, da er das Absolute ist, soeben noch mitumfaſst hat.
Am durchgreifendsten wird diese Doppelexistenz am Begriff des Ich
wirksam. Das Ich, dessen Vorstellung die Welt ist, steht jedem
einzelnen Inhalt derselben in gleich beherrschender Höhe gegenüber,
jenseits aller Qualitäten, Unterschiede und Konflikte, die nur inner-
halb
seiner, sozusagen als Privatangelegenheiten seiner Inhalte unter-
einander, stattfinden. Aber unser thatsächliches Lebensgefühl läſst das
Ich nicht in dieser Höhe stehen, es identifiziert es mit gewissen seiner
Inhalte mehr als mit andern — grade wie die Religiosität Gott an
bestimmten Stellen besonders eingreifen sieht, während er doch an
allen andern nicht weniger wirksam sein müſste —, das Ich wird zu
einem einzelnen Inhalte seiner selbst, es differenziert sich, freundlich
oder feindlich, sich hoch oder niedrig abmessend, gegen die übrige
Welt und ihre Partikularitäten, während der Sinn seiner es doch ober-
halb aller dieser gestellt hatte. Dies also ist der Formtypus, in dem
[537] das Verhältnis des Geldes zu seinem Herrschaftsgebiete sich mit jenen,
inhaltlich ihm so fremden Mächten begegnet. Auch sein Wesen liegt
in der abstrakten Höhe, mit der es sich über alle Einzelinteressen und
Stilgestaltungen des Lebens erhebt; es gewinnt seine Bedeutung in und
aus den Bewegungen, den Konflikten, den Ausgleichungen aller dieser,
ein parteiloses Allgemeines, das in sich nicht den geringsten Anhalts-
punkt für oder gegen den Dienst eines spezifischen Interesses enthält.
Und nun, ausgerüstet mit all der unvergleichlichen Fernwirksamkeit,
Konzentriertheit der Kraft, Überall-Eindringlichkeit, wie sie grade
die Folge seiner Entfernung von allem Partikularen und Einseitigen
ist, begiebt es sich in den Dienst der partikularen Begehrung oder
Lebensgestaltung. Und hier tritt, innerhalb der betonten allgemeinen
Gleichheit mit Gebilden wie Religion, Staat, metaphysischer Geistig-
keit des Seins — ein merkwürdiger Unterschied gegen diese hervor.
Sie alle, wenn sie sich auf das Niveau der singulären Interessen
und Standpunkte hinabbegeben, treten im Konflikt je zweier entschieden
auf die Seite des einen, dem Gegner aber entgegen; sie verbünden oder
identifizieren sich mit einer der spezifischen Differenzen, deren In-
differenz sie darstellten, und schlieſsen nun die je andre von sich aus.
Das Geld aber stellt sich fast jeder Tendenz in dem Umkreis, für den
es gilt, gleichmäſsig zur Verfügung, es lebt jedenfalls nicht in der Form
des Antagonismus gegen anderes, die jene andern Mächte annehmen,
sobald sie sich aus ihrem allgemeinen Sinne in einen partikularen um-
setzen. Das Geld bewahrt wirklich das Umfassende, das seinen all-
gemeinen Sinn ausmacht, auch in der Gleichmäſsigkeit, mit der es sich
den Gegensatzpaaren leiht, wenn sie auseinandertretend ihr allgemeines
Verhältnis zum Gelde für die Ausgestaltung ihrer Unterschiede und das
Ausfechten ihrer Konflikte benutzen. Die Objektivität des Geldes ist
praktisch kein Jenseits der Gegensätze, das dann nur von einem dieser
illegitim gegen den andern ausgenutzt würde; sondern diese Objek-
tivität bedeutet von vornherein den Dienst beider Seiten des Gegen-
satzes.


Aber damit fällt das Geld nicht etwa in die breite Kategorie,
der die Luft angehört, die die sonst Unterschiedensten doch unterschieds-
los atmen, oder die Waffen, deren Gleichartigkeit sich nicht der Benutzung
durch alle Parteien verweigert. Das Geld ist zwar das umfassendste
Beispiel auch für diese Thatsache: daſs auch die radikalsten Unter-
schiede und Gegnerschaften in der Menschenwelt immer noch für
Gleichheiten und Gemeinsamkeiten Raum geben — aber es ist doch
noch mehr. Jener Typus unparteiischer Dinge bleibt den inneren
Tendenzen, denen sie dienen, etwas schlechthin Äuſserliches. Dagegen,
[538] so fremd das Geld auch seinem abstrakten Wesen nach allen Inner-
lichkeiten und Qualitäten gegenübersteht, so zeigt es, als der öko-
nomische Extrakt des Wertkosmos in dessen ganzer Ausdehnung, doch
sehr häufig die geheimnisvolle Fähigkeit, dem ganz spezifischen
Wesen und Tendenz jeder von zwei entgegengesetzten Einseitigkeiten
zu dienen; die eine entnimmt dem allgemeinen Wertreservoir, das es dar-
stellt, grade die Kräfte, die Ausdrucksmittel, die Verbindungs- oder
Verselbständigungsmöglichkeiten, die ihrer Eigenart angepaſst sind,
während es der inhaltlich entgegengesetzten nicht weniger biegsame und
schmiegsame, nicht weniger grade ihrer Innerlichkeit entgegenkommende
Hülfen bietet. Das ist die Bedeutung des Geldes für den Stil des
Lebens, daſs es grade vermöge seines Jenseits aller Einseitigkeit einer
jeden solchen wie ein eigenes Glied ihrer zuwachsen kann. Es ist
das Symbol, im Engen und Empirischen, der unsagbaren Einheit des
Seins, aus der der Welt in ihrer ganzen Breite und all ihrem Unter-
schiede ihre Energie und Wirklichkeit strömt. Denn so wird die
Metaphysik sich doch wohl die an sich unerkennbare Struktur der
Dinge subjektiv deutend auseinanderlegen müssen: daſs die Inhalte der
Welt, einen bloſs geistigen Zusammenhang bildend, in bloſser Ideellität
bestehen und nun — natürlich nicht in zeitlichem Prozeſs — über sie
das Sein kommt; wie man es ausgedrückt hat: daſs das Was sein Daſs
gewinnt. Niemand wüſste zu sagen, was dieses Sein denn eigentlich
ist, das den wirklichen Gegenstand von dem qualitativ ununterschie-
denen, aber bloſs gültigen, bloſs logischen Sachgehalt unterscheidet.
Und dieses Sein, so leer und abstrakt sein reiner Begriff ist, erscheint
als der warme Strom des Lebens, der sich in die Schemata der Ding-
begriffe ergieſst, der sie gleichsam aufblühen und ihr Wesen entfalten
läſst, gleichviel wie unterschieden oder einander feindselig ihr Inhalt und
ihr Verhalten sei. Aber es ist ihnen doch nichts äuſserliches oder fremdes,
sondern ihr eigenes Wesen ist es, das das Sein aufnimmt und in wirk-
same Wirklichkeit entwickelt. Dieser Kraft des Seins nähert sich von
allem Äuſserlich-Praktischen — für das jede Analogie mit dem Absoluten
immer nur unvollständig gelten kann — das Geld am meisten. Wie jene
steht es seinem Begriffe nach ganz auſserhalb der Dinge und deshalb gegen
ihre Unterschiede völlig gleichgültig, so daſs jedes einzelne es ganz in
sich aufnehmen und mit ihm grade sein spezifisches Wesen zur voll-
kommensten Darstellung und Wirksamkeit bringen kann. Seine Be-
deutung für die Entwicklung der Lebensstile, die man als den rhyth-
mischen und den individuell-sachlichen bezeichnen kann, habe ich deshalb
herausgehoben, weil die unvergleichliche Tiefe ihres Gegensatzes den
Typus dieser Wirksamkeit des Geldes sehr rein hervorleuchten läſst. — —


[539]

Endlich giebt es eine dritte Beeinflussung, durch die das Geld
den Inhalten des Lebens ihre Form und Ordnung bestimmen hilft; sie
betrifft das Tempo des Verlaufs derselben, in dem sich die verschie-
denen historischen Epochen, die Zonen der gleichzeitigen Welt, die
Individuen desselben Kreises unterscheiden. Unsere innere Welt ist
gleichsam nach zwei Dimensionen ausgedehnt, deren Maſse über das
Lebenstempo bestimmen. Je tiefer die Unterschiede zwischen den
Vorstellungsinhalten — selbst bei gleicher Zahl der Vorstellungen —
in einer Zeiteinheit sind, desto mehr lebt man, eine desto gröſsere
Lebensstrecke gleichsam wird zurückgelegt. Was wir als das Tempo
des Lebens empfinden, ist das Produkt aus der Summe und der Tiefe
seiner Veränderungen. Die Bedeutung, die dem Gelde für die Her-
stellung des Lebenstempos einer gegebenen Epoche zukommt, mag zu-
nächst aus den Folgen hervorleuchten, die eben die Veränderung
der Geldverhältnisse für die Veränderung jenes Tempos aufweisen.


Man hat behauptet, daſs die Vermehrung des Geldquantums, sei
es durch Metallimporte, oder durch Verschlechterung des Geldes, durch
positive Handelsbilanzen oder durch Papiergeldausgabe, den inneren
Status des Landes ganz ungeändert lassen müſste. Denn wenn man
von den wenigen Personen absehe, deren Einkommen in nicht ver-
mehrbaren festen Bezügen besteht, so sei zwar bei Geldvermehrung
jede Ware oder Leistung mehr Geld wert, als vorher, allein da jeder-
mann sowohl Konsument wie Produzent sei, so nehme er als letzterer
nur soviel mehr ein, wie er als ersterer mehr ausgebe, und alles bleibe
beim Alten. Selbst wenn eine solche proportionale Preissteigerung der
objektive Effekt der Geldvermehrung wäre, so würde sie dennoch sehr
wesentliche psychologische Veränderungserscheinungen mit sich bringen.
Man entschlieſst sich nicht leicht, einen über dem bisherigen und ge-
wohnten liegenden Preis für eine Ware anzulegen, selbst wenn das
eigene Einkommen inzwischen gestiegen ist; und man läſst sich andrer-
seits durch gewachsenes Einkommen leicht zu allerhand Aufwendungen
bestimmen, ohne zu bedenken, daſs jenes Plus durch die Preissteige-
rung der täglichen Bedürfnisse ausgeglichen wird. Die bloſse Ver-
mehrung des Geldquantums, das man auf einmal in der Hand hat,
vermehrt, ganz unabhängig von allen Überlegungen ihrer bloſsen Rela-
tivität, die Versuchung zum Geldausgeben und bewirkt damit einen
gesteigerten Warenumsatz, also eine Vermehrung, Beschleunigung und
Vermannigfaltigung der ökonomischen Vorstellungen. Jener Grundzug
unseres Wesens: das Relative psychologisch zum Absoluten auswachsen
zu lassen — nimmt der Beziehung zwischen einem Objekte und einem
bestimmten Geldquantum ihren flieſsenden Charakter und verfestigt sie
[540] zu sachlicher, dauernder Angemessenheit. Dadurch entsteht nun, so-
bald das eine Glied des Verhältnisses sich ändert, eine Erschütterung
und Desorientierung. Die Alterierung in den Aktiven und den Passiven
gleicht sich in ihren psychologischen Wirkungen keineswegs unmittel-
bar aus, von jeder Seite her wird das Bewuſstsein der ökonomischen
Prozesse in der bisherigen Stetigkeit seines Verlaufs unterbrochen, der
Unterschied gegen den vorigen Stand macht sich auf jeder gesondert
geltend. Solange die neue Anpassung nicht vollzogen ist, wird
die gleichmäſsige Vermehrung des Geldes zu fortwährenden Differenz-
gefühlen und psychischen Chocs Veranlassung geben, so die Unter-
schiede, das Sich-Gegeneinander-Absetzen innerhalb der ablaufenden
Vorstellungen vertiefen und damit das Tempo des Lebens beschleu-
nigen. Deshalb ist es mindestens miſsverständlich, wenn man aus der
steigenden Bewegung der Einkommen auf eine „Konsolidierung der
Gesellschaft“ geschlossen hat. Grade vermöge der Vermehrung des Geld-
einkommens ergreift die unteren Stände eine Erregtheit, die, je nach
dem Parteistandpunkt, als Begehrlichkeit und Neuerungssucht, oder als
gesunde Entwicklung und Schwungkraft gedeutet wird, aber bei gröſserer
Stabilität des Einkommens und der Preise — die zugleich Stabilität
der sozialen Abstände bedeutet — jedenfalls ausbleibt.


Die beschleunigenden Wirkungen der Geldvermehrung auf den
Ablauf der ökonomisch-psychischen Prozesse verraten sich am ehesten
in den Entwicklungen schlechten Papiergeldes — grade wie manche
Seiten der normalen Physiologie durch pathologische und Entartungs-
fälle ihre hellste Beleuchtung empfangen. Der unorganische und un-
fundamentierte Geldzufluſs bewirkt zunächst ein sprunghaftes und der
inneren Regulierung entbehrendes Steigen aller Preise. Die erste Geld-
plethora reicht aber immer nur aus, um den Ansprüchen gewisser
Warenkategorien zu genügen. Deshalb zieht jede Ausgabe von un-
solidem Papiergeld die zweite nach sich, und die zweite noch weitere.
„Jeder Vorwand — so wird über Rhode-Island vom Anfang des 18. Jahr-
hunderts berichtet — diente zu weiterer Vermehrung der Noten. Und
wenn das Papiergeld alle Münze aus dem Lande getrieben hatte, war
die Knappheit des Silbers ein neuer Grund weiterer Emissionen.“
Das ist das Tragische solcher Operationen, daſs die zweite Emission
nötig ist, um den Ansprüchen zu genügen, die aus der ersten folgen.
Das wird sich um so umfassender geltend machen, je mehr das Geld
selbst das unmittelbare Zentrum der Bewegungen ist: die Preisrevo-
lutionen infolge von Papiergeldüberschwemmungen führen zu Speku-
lationen, die zu ihrer Abwicklung immer gewachsene Geldvorräte er-
fordern. Man kann sagen, daſs die Tempo-Beschleunigung des sozialen
[541] Lebens durch Geldvermehrung am sichtbarsten da eintreten wird, wo
es sich um Geld seiner reinen Funktionsbedeutung nach, ohne irgend
einen Substanzwert, handelt; die Steigerung des gesamten ökonomischen
Tempos findet hier gleichsam noch in einer höheren Potenz statt, weil
sie jetzt sogar rein immanent beginnt, d. h. sich in erster Instanz in
der Beschleunigung der Geldfabrikation selbst offenbart. Es ist für
diesen Zusammenhang beweisend, wenn in Ländern, deren wirtschaft-
liches Tempo überhaupt ein rapides ist, das Papiergeld jenem An-
wachsen seiner Quantität ganz besonders schnell unterliegt. Über
Nord-Amerika sagt ein genauer Kenner in dieser Beziehung: „Man
kann nicht erwarten, daſs ein Volk, so ungeduldig gegenüber kleinen
Gewinnen, so durchdrungen davon, daſs sich Reichtum aus Nichts oder
wenigstens aus sehr wenig machen läſst — sich die Selbstbeschrän-
kungen auferlegen wird, die in England oder Deutschland die Gefahren
der Papiergeldemissionen auf ein Minimum reduzieren.“ Die Be-
schleunigung des Lebenstempos durch die Papiergeldvermehrungen liegt
aber insbesondere in den Umwälzungen des Besitzes, die von ihnen
ausgehen. So geschah es sehr sichtbar in der nordamerikanischen Papier-
geldwirtschaft bis zum Unabhängigkeitskriege. Das massenhaft fabri-
zierte Geld, das am Anfang noch zu höherem Wert kursiert hatte, er-
litt die fürchterlichsten Einbuſsen. Dadurch konnte heute arm sein,
wer gestern noch reich war; und umgekehrt, wer dauernde Werte für
geliehenes Geld erworben hatte, zahlte seine Schuld in inzwischen ent-
wertetem Gelde zurück und wurde dadurch reich. Dies machte es
nicht nur zum dringenden Interesse eines jeden, seine wirtschaftlichen
Operationen mit gröſster Beschleunigung abzuwickeln, Abschlüsse auf
lange Sicht zu vermeiden und rasch zugreifen zu lernen — sondern
jene Besitzschwankungen erzeugten auch die fortwährenden Unter-
schiedsempfindungen, die plötzlichen Risse und Erschütterungen inner-
halb des ökonomischen Weltbildes, die sich in alle möglichen anderen
Provinzen des Lebens fortpflanzen und so als wachsende Intensität
seines Verlaufes oder Steigerung seines Tempos empfunden werden.
Daſs nachher die Krisis das wirtschaftliche Leben in demselben Ver-
hältnis retardiert und erstarren läſst, beweist grade die spezifische Be-
deutung des Geldes für sein Tempo. Auch hier entspricht seine Rolle
für den objektiven Verlauf der Wirtschaft der des Vermittlers für die
subjektive Seite derselben: denn es ist mit Recht bemerkt worden,
daſs die Vermehrung der Tauschmittel über das Bedürfnis hinaus den
Tausch verlangsamt, grade wie die Vermehrung der Makler zwar bis
zu einem gewissen Punkte verkehrserleichternd, über diesen hinaus
aber verkehrserschwerend wirke. Ganz prinzipiell angesehen, ist das
[542] Geld freilich um so beweglicher, je schlechter es ist, denn jeder wird
es so schnell wie möglich loszuwerden suchen. Der naheliegende
Einwurf: daſs zu einem Handel doch zwei gehören und daſs die Leich-
tigkeit des Weggebens schlechten Geldes durch die Bedenklichkeit, es
anzunehmen, paralysiert werde — ist nicht ganz zutreffend, weil
schlechtes Geld immerhin besser ist als gar keines (was man entsprechend
von schlechter Ware nicht immer sagen kann). Von der Abneigung
des Warenbesitzers gegen das schlechte Geld muſs also seine Neigung
für Geld überhaupt abgezogen werden; so daſs die Neigung des Käufers
und die Abneigung des Verkäufers, das schlechte Geld gegen Ware
zu tauschen, sich nicht ganz die Wage halten, sondern die letztere,
als die schwächere, die durch die erstere nahegelegte Zirkulations-
beschleunigung nicht entsprechend hemmen kann. Andrerseits wird
der Besitzer eines schlechten oder nur unter bestimmten Umständen
wertvollen Geldes an der Aufrechthaltung des Zustandes, unter dem
sein Besitz Wert hat, lebhaft interessiert sein. Als die fürstlichen
Schulden von der Mitte des 16. Jahrhunderts an so gestiegen waren,
daſs es allenthalben Staatsbankerotte gab, und in Frankreich das Mittel
der Rentenverkäufe bis zum Extrem ausgenutzt wurde, hob man zur
Verteidigung derselben — denn sie waren auſserordentlich unsicher —
hervor, daſs dadurch die Anhänglichkeit der Bürger als Rentenbesitzer
an den König und ihr Interesse, ihn zu erhalten, sehr gestärkt würden.
Es ist bezeichnend, daſs das Wort Partisan ursprünglich einen Geld-
mann bezeichnet, der an einer Anleihe der Krone (parti) beteiligt
war, dann aber durch die Interessensolidarität zwischen solchen Bankiers
und dem Finanzminister, unter Mazarin und Fouquet, die Bedeutung:
unbedingter Anhänger — erhielt und seitdem behielt. Grade bei gröſster
Unsolidität des französischen Finanzwesens also fand dies statt, während
bei der Besserung unter Sully die Partisans in den Hintergrund ge-
treten waren. Und später betonte Mirabeau bei Einführung der Assig-
naten, daſs überall, wo ein Stück davon sich befände, auch der Wunsch
nach der Beständigkeit ihres Kredites bestehen müſste: Vous comp-
terez un défenseur nécessaire à vos mesures, un créancier interessé à
vos succès. So schafft ein derartiges Geld eine besondere Parteiung,
und, auf dem Grunde einer neuen Beharrungstendenz, eine neue Leb-
haftigkeit der Gegensätze. —


Solche Erfolge der vermehrten Umlaufsmittel treten nun aber that-
sächlich in um so höherem Maſse ein, als die bisherige Voraussetzung:
daſs die Verbilligung des Geldes jeden als Konsumenten und Produ-
zenten gleichmäſsig trifft — eine viel zu einfache ist. In Wirklichkeit
ergeben sich viel kompliziertere und bewegtere Erscheinungen. Zu-
[543] nächst objektiv: die Geldvermehrung bewirkt anfänglich nur die Ver-
teuerung einiger Waren und läſst die anderen vorerst auf dem alten
Niveau. Man hat gemeint feststellen zu können, daſs es eine bestimmte
und langsame Reihenfolge war, in der die Preise der europäischen
Waren seit dem 16. Jahrhundert, infolge des einströmenden amerika-
nischen Metalles, gestiegen sind. Die Geldmehrung innerhalb eines
Landes trifft zunächst immer nur bestimmte Kreise, die den Strom ab-
fangen. Es werden also in erster Linie diejenigen Waren im Preise
steigen, um welche nur die Angehörigen dieses Kreises konkurrieren,
während andere Waren, deren Preis durch die groſse Masse bestimmt
wird, noch unverändert billig bleiben. Das allmähliche Eindringen der
Geldvermehrung in weitere Kreise führt zu Ausgleichungsbestrebungen,
das bisherige Preisverhältnis de. Waren untereinander wird aus seiner
Beständigkeit geworfen, das Budget des einzelnen Hauses muſs durch
die Ungleichmäſsigkeit, mit der die Höhen der einzelnen Posten sich
ändern, Störungen und Verschiebungen erfahren — kurz, die That-
sache, daſs jede Geldvermehrung in einem Wirtschaftskreise die Preise
der Waren ungleichmäſsig beeinfluſst, muſs eine erregende Wirkung
auf den Vorstellungsverlauf der wirtschaftenden Personen ausüben,
fortwährende Differenzempfindungen, Unterbrechungen der gewohnten
Proportionen, Forderung von Ausgleichungsversuchen zur Folge haben.
Offenbar wird dieser — teils beschleunigende, teils lähmende — Ein-
fluſs nicht nur von der Ungleichmäſsigkeit der Preise, sondern auch
von der Ungleichmäſsigkeit innerhalb der Geldwerte selbst ausgehen:
das heiſst also, nicht nur von einem definitiv verschlechterten, sondern
ebenso, oder vielleicht noch mehr, von einem in seinem Werte fort-
während schwankenden Gelde. Über die Zeit vor der groſsen eng-
lischen Münzumprägung von 1570 wird berichtet: „Wären alle Schillinge
auf den Wert von groats herabgesetzt worden, so hätte sich der Ver-
kehr verhältnismäſsig leicht daran anpassen können. Was aber jede
Zahlung zu einer Kontroverse machte, das war, daſs ein Schilling
12 Pence wert war, ein anderer 10, ein dritter 8, 6, ja 4!“


Den Ungleichheitserscheinungen im Preise der Waren entspricht
es, daſs von einer Änderung des Geldstandes gewisse Personen und
Berufe in ganz besonderer Weise profitieren, gewisse andere ganz be-
sonders leiden. In früheren Zeiten traf dies vor allem den Bauern.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde der englische Bauer, un-
wissend und hülflos, wie er war, förmlich zerquetscht zwischen den
Leuten, die ihm Geld zu zahlen hatten und es nur nach dem Nenn-
wert thaten, und denen, die von ihm Geld zu bekommen hatten und
es nach Gewicht forderten. Ebenso war es später in Indien bei jeder
[544] neuen Verdünnung des Geldes: wenn der Landmann seine Ernte ver-
kaufte, wuſste er nie, ob das erhaltene Geld ihm dienen würde, wenn
er nachher seine Hypothekenzinsen zu zahlen hatte. Man hat längst
beobachtet, daſs eine allgemeine Erhöhung der Preise sich dem Ar-
beitslohn am spätesten mitteilt. Je widerstandsloser eine wirtschaft-
liche Schicht ist, desto langsamer und spärlicher sickert die Geldver-
mehrung zu ihr durch, ja sie gelangt häufig erst dann als Einnahme-
steigerung zu ihr, wenn sie sich in den Konsumartikeln dieser Schicht
schon lange als Preiserhöhung geltend gemacht hat. Dadurch ent-
stehen Chocs und Erregungen vielerlei Art, die aufgetretenen Diffe-
renzen zwischen den Schichten fordern fortwährende Anspannung des
Bewuſstseins, weil, vermöge des neuen Umstandes der vermehrten Um-
laufsmittel, zur Bewahrung des status quo ante — sowohl was das Ver-
hältnis der Schichten zu einander, wie was die Lebenshaltung der ein-
zelnen betrifft — jetzt nicht mehr konservatives oder defensives Be-
harren, sondern positiver Kampf und Eroberung erforderlich ist. Dies
ist eine wesentliche Ursache, aus der jede Vermehrung des Geldquan-
tums so anregend auf das Tempo des sozialen Lebens wirkt: weil sie
über die bereits bestehenden Unterschiede hinaus neue schafft, Spal-
tungen, bis hinein in das Budget der Einzelfamilie, an denen das Be-
wuſstsein fortwährende Beschleunigungen und Vertiefungen seines Ver-
laufes finden muſs. Es liegt übrigens auf der Hand, daſs ein erheb-
licher Geldabfluſs ähnliche Erscheinungen, nur gleichsam mit um-
gekehrtem Vorzeichen, hervorrufen muſs. Darin aber zeigt sich das
enge Verhältnis des Geldes zu dem Tempo des Lebens, daſs ebenso
seine Vermehrung wie seine Verminderung, durch ihre ungleichmäſsige
Ausbreitung, jene Differenzerscheinungen ergeben, die sich psychisch
als Unterbrechungen, Anreizungen, Zusammendrängungen des Vor-
stellungsverlaufes spiegeln.


Abgesehen nun von diesen Folgen der Veränderungen des Geld-
bestandes, die das Tempo des Lebens gleichsam als eine Funktion der
Veränderungen jenes erscheinen lassen, tritt die Zusammendrängung der
Lebensinhalte noch in einer anderen Folge des Geldverkehrs hervor.
Es ist diesem nämlich eigentümlich, daſs er zur Konzentration an ver-
hältnismäſsig wenigen Plätzen drängt. In Bezug auf lokale Diffusion
kann man eine Skala der ökonomischen Objekte aufstellen, von der
ich hier nur ganz im Rohen einige der charakteristischsten Stufen an-
deute. Sie beginnt mit dem Ackerbau, dessen Natur jeder Zusammen-
rückung seiner Gebietsteile widersteht; er schlieſst sich unabwendbar
dem ursprünglichen Auſsereinander des Raumes an. Die industrielle
Produktion ist schon komprimierbarer: der Fabrikbetrieb stellt eine räum-
[545] liche Kondensierung gegenüber dem Handwerk und der Hausindustrie
dar, das moderne Industriezentrum ist ein gewerblicher Mikrokosmos, in
den jede in der Welt vorhandene Gattung von Rohstoffen strömt und
zu Formen gestaltet wird, deren Ursprünge weltweit auseinanderliegen.
Das äusserste Glied dieser Stufenleiter bilden die Geldgeschäfte. Das
Geld steht vermöge der Abstraktheit seiner Form jenseits aller be-
stimmten Beziehungen zum Raum: es kann seine Wirkungen in die
weitesten Fernen erstrecken, ja es ist gewissermaſsen in jedem Augen-
blick der Mittelpunkt eines Kreises potenzieller Wirkungen; aber es
gestattet auch umgekehrt, die gröſste Wertsumme in die kleinste Form
zusammenzudrängen — bis zu dem 10 Millionen-Dollar-Check, den
Jay Gould einmal ausstellte. Der Komprimierbarkeit der Werte ver-
möge des Geldes, und des Geldes vermöge seiner immer abstrakteren
Formen entspricht nun die der Geldgeschäfte. In dem Maſs, in dem
die Wirtschaft eines Landes mehr und mehr auf Geld gestellt wird,
schreitet die Konzentrierung seiner Finanzaktionen in groſsen Knoten-
punkten des Geldverkehrs vor. Von jeher war die Stadt im Unter-
schied vom Lande der Sitz der Geldwirtschaft; dies Verhältnis wieder-
holt sich zwischen Klein- und Groſsstädten, so daſs ein englischer
Historiker sagen konnte, London habe, in seiner ganzen Geschichte,
niemals als das Herz von England gehandelt, manchmal als sein Ge-
hirn, aber immer als sein Geldbeutel; und schon am Ende der römi-
schen Republik heiſst es, jeder Pfennig, der in Gallien ausgegeben
werde, gehe durch die Bücher der Finanziers in Rom. An dieser
Zentripetalkraft der Finanz hängt das Interesse beider Parteien: der
Geldnehmer, weil sie wegen der Konkurrenz der zusammenströmen-
den Kapitalien billig borgen (in Rom stand der Zinsfuſs halb so hoch
als sonst durchschnittlich im Altertum), der Geldgeber, weil sie das
Geld zwar nicht so hoch, wie an isolierten Punkten, ausleihen, aber
des Wichtigeren sicher sind, jederzeit überhaupt Verwendung dafür zu
finden; weshalb man denn auch bemerkt hat, daſs Kontraktionen des
Geldmarktes im Zentrum desselben immer schneller überwunden werden,
als an den verschiedenen Punkten seiner Peripherie. Der tiefere
Grund für die Bildung von Finanzzentren liegt offenbar in dem Rela-
tivitätscharakter des Geldes: weil es einerseits nur die Wertverhält-
nisse der Waren untereinander ausdrückt, weil andrerseits jedes be-
bestimmte Quantum seiner einen weniger unmittelbar festzustellenden
Wert besitzt, als das irgend einer anderen Ware, sondern mehr als
jede andere ausschlieſslich durch Vergleichung mit dem angebotenen
Gesamtquantum überhaupt eine Bedeutung erhält — so wird seine
maximale Konzentrierung auf einen Punkt, das fortwährende Gegen-
Simmel, Philosophie des Geldes. 35
[546] einanderhalten möglichst groſser Summen, die Ausgleichung eines über-
wiegenden Teiles von Angebot und Nachfrage überhaupt, zu seiner
gröſsten Wertbestimmtheit und Verwendbarkeit führen. Ein Scheffel
Getreide hat eine gewisse Bedeutung an jedem noch so isolierten Platze,
so groſse Unterschiede auch sein Geldpreis aufweise. Ein Geldquan-
tum aber hat seine Bedeutung nur im Zusammentreffen mit anderen
Werten; mit je mehren es zusammentrifft, um so sicherer und ge-
rechter erlangt es jene; deshalb drängt nicht nur „alles nach Golde“
— die Menschen wie die Dinge — sondern das Geld drängt auch
seinerseits nach „Allem“, es sucht sich mit anderem Gelde, mit allen
möglichen Werten und ihren Besitzern zusammenzubringen. Und der
gleiche Zusammenhang in umgekehrter Richtung: der Konflux vieler
Menschen erzeugt ein besonders starkes Bedürfnis nach Geld. In
Deutschland entstand eine hauptsächliche Nachfrage nach Geld durch
die Jahrmärkte, die die Territorialherren einrichteten, um an Münz-
tausch und Warenzoll zu profitieren. Durch diese zwangsweise Kon-
zentrierung des Handelsverkehrs eines gröſseren Territoriums an einem
Punkte wurde Kauflust und Umsatz sehr gesteigert, der Gebrauch des
Geldes wurde erst dadurch zur allgemeinen Notwendigkeit. Wo nur
immer viele Menschen zusammenkommen, wird Geld verhältnismäſsig
stärker erfordert werden. Denn wegen seiner an sich indifferenten
Natur ist es die geeignetste Brücke und Verständigungsmittel zwischen
vielen und verschiedenen Persönlichkeiten; je mehre es sind, desto spär-
licher werden die Gebiete, auf denen andere als Geldinteressen die
Basis ihres Verkehrs bilden können.


Aus all diesem ergiebt sich, in wie hohem Maſse das Geld die
Steigerung des Lebenstempos bezeichnet, wie es sich an der Zahl und
Mannigfaltigkeit der einströmenden und einander ablösenden Eindrücke
und Anregungen miſst. Die Tendenz des Geldes, zusammenzuflieſsen
und sich, wenn auch nicht in der Hand eines Einzelnen, so doch in
lokal eng begrenzten Zentren zu akkumulieren, die Interessen der In-
dividuen und damit sie selbst an solchen zusammenzuführen, sie auf
einem gemeinsamen Boden in Berührung zu bringen, und so — wie
es auch in der von ihm dargestellten Wertform liegt — das Mannig-
faltigste in den kleinsten Umfang zu konzentrieren — diese Tendenz
und Fähigkeit des Geldes hat den psychischen Erfolg, die Buntheit und
Fülle des Lebens, das heiſst also sein Tempo zu steigern. Schon sonst ist
der Zusammenhang davon betont worden, daſs mit dem aufkommenden
Kapitalismus in Deutschland — als im 15. Jahrhundert einerseits der Welt-
handel, andrerseits die Finanzzentren mit dem raschen Umsatz billigen
Geldes entstanden — zuerst der moderne Begriff der Zeit durchdrang, als
[547] eines durch Brauchbarkeit und Knappheit bestimmten Wertes. Damals
begannen die Turmuhren die Viertelstunden zu schlagen, und Sebastian
Franck, der mit am frühsten, wenn auch mit am pessimistischsten, die
revolutionierende Bedeutung des Geldes eingesehen hat, nennt auch
zuerst die Zeit ein teures Gut. Das entschiedenste Symbol für diese
ganzen Korrelationen ist die Börse. Hier haben die ökonomischen
Werte und Interessen, vollständig auf ihren Geldausdruck reduziert,
ihre und ihrer Träger engste lokale Vereinigung erreicht, um damit
ihre rascheste Ausgleichung, Verteilung, Abwägung zu gewinnen.
Diese doppelte Kondensiertheit: der Werte in die Geldform und des
Geldverkehrs in die Börsenform — ermöglicht es, daſs die Werte in
der kürzesten Zeit durch die gröſste Zahl von Händen hindurchgejagt
werden: an der New-Yorker Börse wird jährlich der fünffache Betrag
der Baumwollernte in Spekulationen in Baumwolle umgesetzt, und schon
1887 verkaufte diese Börse fünfzigmal das Erträgnis des Jahres in
Petroleum: die Häufigkeit der Umsätze steigt in dem Maſse, in dem
der Kurs eines Wertes schwankt — ja, die Kursschwankungen waren
es, die im 16. Jahrhundert überhaupt erst ein regelmäſsiges Börsen-
geschäft in den „Königsbriefen“, den fürstlichen Schuldverschreibungen,
entwickelten. Denn mit ihnen, die von dem wechselnden Kredit z. B.
der französischen Krone ausgingen, war ein ganz anderer Anstoſs zu
Kauf und Verkauf gegeben, als bei Stabilität des Wertes bestanden
hatte. Die Möglichkeit, die das Geld gewährt, jeden Schätzungswechsel
unbedingt nachgiebig auszudrücken, muſs diesen selbst unendlich steigern,
ja vielfach erzeugen. Und davon ist es nun sowohl Ursache wie Wir-
kung, daſs die Börse, das Zentrum des Geldverkehrs und gleichsam der
geometrische Ort all jener Schätzungswechsel, zugleich der Punkt der
gröſsten konstitutionellen Aufgeregtheit des Wirtschaftslebens ist: ihr
sanguinisch-cholerisches Schwanken zwischen Optimismus und Pessi-
mismus, ihre nervöse Reaktion auf Ponderabilien und Imponderabilien,
die Schnelligkeit, mit der jedes den Stand verändernde Moment er-
griffen, aber auch wieder vor dem nächsten vergessen wird — alles
dies stellt eine extreme Steigerung des Lebenstempos dar, eine fieber-
hafte Bewegtheit und Zusammendrängung seiner Modifikationen, in der
der spezifische Einfluſs des Geldes auf den Ablauf des psychischen
Lebens seine auffälligste Sichtbarkeit gewinnt.


Endlich muſs die Geschwindigkeit, die der Zirkulation des Geldes
gegenüber der aller anderen Objekte eigen ist, das allgemeine
Lebenstempo unmittelbar und in demselben Maſse steigern, in dem das
Geld das allgemeine Interessenzentrum wird. Die Rundheit der
Münzen, infolge deren sie „rollen müssen“, symbolisiert den Rhythmus
35*
[548] der Bewegung, die das Geld dem Verkehr mitteilt: selbst wo die Münze
ursprünglich eckig war, muſs der Gebrauch zunächst die Ecken ab-
geschliffen und sie der Rundung angenähert haben; physikalische Not-
wendigkeiten haben so der Intensität des Verkehrs die ihm dienlichste
Werkzeugsform verschafft. Vor hundert Jahren gab es in den Nil-
ländern sogar vielfach Kugelgeld, aus Glas, Holz, Achat — durch die
Verschiedenheit der Stoffe beweisend, daſs seine Form der Grund der
ihm nachgesagten Beliebtheit war. So ist es doch mehr als ein zu-
fälliges Zusammentreffen der Bezeichnungen, wenn ganzen Geldsummen
gegenüber das Prinzip der „Abrundung“ auftaucht und zwar erst mit
steigender Geldwirtschaft. Die Abrundung ist ein relativ moderner
Begriff. Die primitivste Form der Anweisungen auf das englische
Schatzamt waren Kerbhölzer, die auf ganz beliebige, ungleichmäſsige
Beträge lauteten und vielfach als Geld kursierten. Erst im 18. Jahr-
hundert wurden sie durch indossable Papierscheine ersetzt, welche be-
stimmte runde Beträge von 5 Pfund aufwärts darstellten. Es ist
überhaupt auffällig, wie wenig man früher, selbst bei groſsen Beträgen,
auf Abrundung sah. Fälle wie die, daſs die Fugger 1530 für den
Kaiser Ferdinand 275333 fl. und 20 kr. auszuzahlen übernahmen und
daſs ihnen 1577 Kaiser Maximilian II. 220674 fl. schuldete, sind nicht
selten. Die Entwicklung des Aktienwesens geht denselben Gang. Das
Aktienkapital der Ostindischen Kompanie in den Niederlanden lieſs
sich im 17. Jahrhundert in ganz beliebig groſse Stücke zerlegen. Erst
die Beschleunigung des Verkehrs brachte es dahin, daſs schlieſslich
eine feste Einheit von 500 Pfund Vlämisch der allein gehandelte Teil-
betrag und „eine Aktie“ schlechthin wurde. Noch heute sind es die
Plätze des gröſseren Geldverkehrs, in denen auch der Kleinhandel sich
nach runden Summen vollzieht, während die Preise an abgelegenen
Orten dem Groſsstädter merkwürdig wenig abgerundet vorkommen.
Die schon oben hervorgehobne Entwicklung von unbehülflich groſsen
zu zerkleinerten Münz- und Anweisungswerten hat offenbar dieselbe
Bedeutung für die Steigerung des Verkehrstempos wie die Abrundung,
was schon die physikalische Analogie nahelegt. Das Bedürfnis, das
Geld klein zu machen, steigt mit der Raschheit des Verkehrs über-
haupt, und es ist für diese Zusammenhänge von Bedeutung, daſs eine
Note der englischen Bank 1844 durchschnittlich nach ihrer Ausgabe
57 Tage lief, bevor sie zur Einlösung präsentiert wurde, 1871 dagegen
nur 37 Tage! Vergleicht man etwa die Zirkulationsfähigkeit von
Grund und Boden mit der des Geldes, so erhellt unmittelbar der Unter-
schied des Lebenstempos zwischen Zeiten, wo jener und wo dieses den
Angelpunkt der ökonomischen Bewegungen ausmachte. Man denke
[549] z. B. an den Charakter der Steuerleistungen in Hinsicht auf äuſsere
und innere Schwankungen, je nachdem sie von dem einen oder von
dem anderen Objekt erhoben werden. Im angelsächsischen und nor-
mannischen England galten alle Auflagen ausschlieſslich dem Land-
besitz; im 12. Jahrhundert schritt man dazu, Pachtzinse und Vieh-
besitz zu belasten; bald nachher wurden bestimmte Teile des beweg-
lichen Eigentums (der 4., 7., 13. Teil) als Steuer erhoben. So wurden
die Steuerobjekte immer beweglicher, bis schlieſslich das Geldeinkommen
als das eigentliche Fundament der Besteuerung auftritt. Damit erhält
diese einen bis dahin unerhörten Grad von Beweglichkeit und Nüan-
zierung und bewirkt, bei gröſserer Sicherheit des Gesamterträgnisses,
doch eine sehr viel gröſsere Variabilität und jährliche Schwankung in
der Leistung des Einzelnen. — Aus dieser unmittelbaren Bedeutung
und Betonung vom Boden oder vom Geld für das Tempo des Lebens
erklärt sich einerseits der groſse Wert, den sehr konservative Völker
auf den Ackerbau legen. Die Chinesen sind überzeugt, daſs nur dieser
die Ruhe und Beständigkeit der Staaten sichert, und wohl aus diesem
Zusammenhange heraus haben sie auf den Verkauf von Ländereien
einen ungeheuren Stempel gesetzt; so daſs die meisten Landkäufe dort
nur privatim und unter Verzicht auf die grundbuchliche Eintragung
vollzogen werden. Wo dennoch jene durch das Geld getragene Be-
schleunigung des wirtschaftlichen Lebens sich durchgesetzt hat, da
sucht sie nun, andrereits, die ihr widerstrebende Form des Grund-
besitzes dennoch nach sich zu rhythmisieren. Im vorigen Jahrhundert
gab der pennsylvanische Staat Hypotheken auf Privatländereien und
lieſs die einzelnen Abschnitte derselben als Papiergeld kursieren:
Franklin schrieb darüber, diese Scheine seien in Wirklichkeit ge-
münztes Land
. Entsprechend ist bei uns von konservativer Seite
hervorgehoben worden, daſs die Hypothekengesetzgebung der letzten
Jahrzehnte auf eine Verflüssigung des Grundbesitzes hinarbeite und
diesen in eine Art Papiergeld verwandle, das man in beliebig vielen
Anteilscheinen weggeben könne; so daſs, wie auch Waldeck sich aus-
drückte, der Grundbesitz nur dazusein scheine, um subhastiert zu werden.
Bezeichnend genug mobilisiert das moderne Leben seine Inhalte auch
im äuſserlichsten Sinne und an manchen Punkten auſserhalb der all-
bekannten. Das Mittelalter und noch die Renaissance hatte das, was
uns jetzt „Mobilien“ in engster Bedeutung sind, wenig im Gebrauch.
Schränke, Kredenzen, Sitzbänke waren in die Täfelung eingebaut,
Tische und Stühle so schwer, daſs sie oft unbeweglich waren, die
kleinen, hin und her zu schiebenden Einrichtungsgegenstände fehlten
fast ganz. Seitdem erst sind die Möbel gleichsam mobil geworden wie
[550] das Kapital. Und endlich exemplifiziere ich diese Macht der geld-
wirtschaftlichen Bewegung, die übrigen Lebensinhalte ihrem Tempo zu
unterwerfen, an einer Rechtsbestimmung. Es ist ein alter juristischer
Grundsatz, daſs ein Gegenstand, der seinem rechtmäſsigen Eigentümer
entfremdet worden ist, diesem unter allen Umständen zurückgegeben
werden muſs, selbst wenn der augenblickliche Besitzer ihn ehrlich erworben
hat. Nur in Bezug auf Geld gilt dies nicht: nach römischem wie
nach modernen Rechten darf eine gestohlene Geldsumme, sobald sie
von einer dritten Person gutgläubig erworben ist, dieser nicht wieder
zu Gunsten des Bestohlenen abgenommen werden. Ersichtlich wird
diese Ausnahme durch die Praxis des Geschäftsverkehrs gefordert, der
ohne dieselbe auſserordentlich erschwert, beunruhigt, unterbrochen sein
würde. Nun hat man aber neuerdings diesen Erlaſs der Restitution
auch auf alle übrigen Objekte ausgedehnt, soweit sie im Bereich des
Handelsgesetzbuches stehen. Das bedeutet also: die Zirkulations-
beschleunigung im Warenverkehr nähert jede Ware dem Charakter
des bloſsen Geldes an, läſst sie nur als Geldwert funktionieren und
unterwirft sie deshalb nur den Bestimmungen, welche das Geld zum
Zweck der Leichtigkeit seines Verkehrs fordern muſs! —


Wenn man den Beitrag zur Bestimmung des Lebenstempos charak-
terisieren will, den das Geld durch seinen eigenen Charakter und
abgesehen von seinen zuerst besprochenen technischen Folgen liefert,
so könnte man es mit folgender Überlegung. Die genauere Analyse
des Beharrungs- und Veränderungsbegriffes zeigt einen doppelten
Gegensatz in der Art, wie er sich verwirklicht. Sehen wir die Welt
auf ihre Substanz hin an, so münden wir leicht auf der Idee eines
ἓν καὶ πᾶν, eines unveränderlichen Seins, das durch den Ausschluſs
jeder Vermehrung oder Verminderung den Dingen den Charakter eines
absoluten Beharrens erteilt. Sieht man andrerseits auf die Formung
dieser Substanz, so ist in ihr die Beharrung absolut aufgehoben, unauf-
hörlich setzt sich eine Form in die andere um und die Welt bietet
das Schauspiel eines Perpetuum mobile. Dies ist der kosmologische,
oft genug ins Metaphysische hinaus gedeutete Doppelaspekt des
Seienden. Innerhalb einer tiefer gelegenen Empirie indes verteilt sich
der Gegensatz zwischen Beharrung und Bewegung in anderer Weise.
Wenn wir nämlich das Weltbild, wie es sich unmittelbar darbietet,
betrachten, so sind es gerade gewisse Formen, die eine Zeit hin-
durch beharren, während die realen Elemente, die sie zusammensetzen,
in fortwährender Bewegung befindlich sind. So beharrt der Regen-
bogen bei fortwährender Lageveränderung der Wasserteilchen, die
organische Form bei stetem Austausch der sie erbauenden Stoffe, ja,
[551] an jedem unorganischen Ding, das eine Weile als solches besteht,
beharrt doch nur das Verhältnis und die Wechselwirkung seiner
kleinsten Teile, während diese selbst in unaufhörlichen molekularen
Bewegungen, unserem Auge entzogen, begriffen sind. Hier ist also die
Realität selbst in rastlosem Flusse, und während wir diesen, sozusagen
wegen mangelnder Sehschärfe, nicht unmittelbar konstatieren können,
verfestigen sich die Formen und Konstellationen der Bewegungen zu
der Erscheinung des dauernden Objektes.


Neben diesen beiden Gegensätzen in der Anwendung des Be-
harrungs- und Bewegungsbegriffes auf die vorgestellte Welt steht ein
dritter. Die Beharrung kann nämlich einen Sinn haben, der sie jen-
seits jeder noch so ausgedehnten Zeitdauer stellt. Der einfachste, aber
für uns hier zureichende Fall derselben ist das Naturgesetz. Die
Gültigkeit des Naturgesetzes beruht darin, daſs aus einer gewissen
Konstellation von Elementen eine bestimmte Wirkung sachlich not-
wendig erfolgt. Diese Notwendigkeit ist also ganz unabhängig davon,
wann ihre Bedingungen sich in der Wirklichkeit einmal einstellen;
einmal oder millionenmal, jetzt oder in hunderttausend Jahren; die
Gültigkeit des Gesetzes ist eine ewige im Sinne der Zeitlosigkeit; es
schlieſst seinem Wesen und Begriffe nach jegliche Veränderung oder
Bewegung von sich aus. Dafür ist es hier unwesentlich, daſs wir
keinem einzelnen Naturgesetz diese unbedingte Gültigkeit mit un-
bedingter Sicherheit zusprechen dürfen: und zwar nicht nur wegen
der unvermeidlichen Korrigierbarkeit unseres Erkennens überhaupt, das
die oft wiederholte, aber zufällige Kombination der Erscheinungen
durch kein unfehlbares Kriterium von dem wirklichen gesetzlichen
Zusammenhang unterscheiden kann; sondern vor allem, weil jedes
Naturgesetz doch nur für eine bestimmte geistige Verfassung gilt,
während für eine andre eine abweichende Formulierung desselben
Sachverhaltes Wahrheit bedeuten würde. Da nun aber der mensch-
liche Geist einer, wie auch langsamen und unmerkbaren Entwicklung
unterliegt, so kann es kein, in einem gegebnen Augenblick gültiges
Gesetz geben, das der Umwandlung im Laufe der Zeiten entzogen
wäre. Allein dieser Wechsel betrifft nur den jeweils erkennbaren
Inhalt der Naturgesetzlichkeit, nicht den Sinn und Begriff derselben;
die Idee des Gesetzes, die über jeder einzelnen ihrer unvollkommenen
Verwirklichungen steht, aus der diese aber doch ihr ganzes Recht und
Bedeutung ziehen — beruht in jenem Jenseits aller Bewegung, jenem
Gelten, das von allen Gegebenheiten, weil sie veränderlich sind, un-
abhängig ist. Zu dieser eigentümlichen absoluten Form des Beharrens
muſs es ein Seitenstück in einer entsprechenden Form der Bewegung
[552] geben. Wie sich das Beharren über jede noch so weite Zeitstrecke
hinaus steigern läſst, bis in der ewigen Gültigkeit des Naturgesetzes
oder der mathematischen Formel jede Beziehung auf einen bestimmten
Zeitmoment schlechthin ausgelöscht ist: so läſst sich die Veränderung
und Bewegung als eine so absolute denken, daſs überhaupt ein be-
stimmtes Zeitmaſs derselben nicht mehr besteht; geht alle Bewegung
zwischen einem Hier und einem Dort vor sich, so ist bei dieser ab-
soluten Veränderung — der species aeternitatis mit umgekehrtem
Vorzeichen — das Hier vollkommen verschwunden. Haben jene
zeitlosen Objekte ihre Gültigkeit in der Form des Beharrens, so
diese in der Form des Übergangs, der Nicht-Dauer. Es ist mir
nun kein Zweifel, daſs auch dieses Gegensatzpaar weit genug ist,
um ein Weltbild darein zu fassen. Wenn man, einerseits, alle Ge-
setze kennte, die die Wirklichkeit beherrschen, so würde diese
letztere durch den Komplex jener thatsächlich auf ihren absoluten
Gehalt, ihre zeitlos ewige Bedeutung zurückgeführt sein — wenngleich
sich die Wirklichkeit selbst daraus noch nicht konstruieren lieſse, weil
das Gesetz als solches, seinem ideellen Inhalt nach, sich gegen jeden
einzelnen Fall seiner Verwirklichung ganz gleichgültig verhält. Grade
weil aber der Inhalt der Wirklichkeit restlos in den Gesetzen auf-
geht, die unaufhörlich Wirkungen aus Ursachen hervortreiben und,
was soeben Wirkung war, im gleichen Augenblick schon als Ursache
wirken lassen — grade deshalb kann man nun, andrerseits, die
Wirklichkeit, die konkrete, historische, erfahrbare Erscheinung der
Welt in jenem absoluten Flusse erblicken, auf den Heraklits sym-
bolische Äuſserungen hindeuten. Bringt man das Weltbild auf diesen
Gegensatz, so ist alles überhaupt Dauernde, über den Moment Hinaus-
weisende aus der Wirklichkeit herausgezogen und in jenem ideellen
Reich der bloſsen Gesetze gesammelt; in der Wirklichkeit selbst
dauern die Dinge überhaupt keine Zeit, durch die Rastlosigkeit, mit
der sie sich in jedem Moment der Anwendung eines Gesetzes darbieten,
wird jede Form schon im Augenblick ihres Entstehens wieder auf-
gelöst, sie lebt sozusagen nur in ihrem Zerstörtwerden, jede Verfestigung
ihrer zu dauernden — wenn auch noch so kurz dauernden — Dingen
ist eine unvollkommene Auffassung, die den Bewegungen der Wirklich-
keit nicht in deren eigenem Tempo zu folgen vermag. So ist es das
schlechthin Dauernde und das schlechthin Nicht-Dauernde, in die und
deren Einheit das Ganze des Seins ohne Rest aufgeht.


Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt nun giebt es
sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld. Die Bedeutung des
Geldes liegt darin, daſs es fortgegeben wird; sobald es ruht, ist es
[553] nicht mehr Geld seinem spezifischen Wert und Bedeutung nach. Die
Wirkung, die es unter Umständen im ruhenden Zustand ausübt, be-
steht in einer Antizipation seiner Weiterbewegung. Es ist nichts als
der Träger einer Bewegung, in dem eben alles, was nicht Bewegung
ist, völlig ausgelöscht ist, es ist sozusagen actus purus; es lebt in
kontinuierlicher Selbstentäuſserung aus jedem gegebenen Punkt heraus
und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Für-
sichseins.


Aber vielleicht bietet es jener entgegengesetzten Art, die Wirk-
lichkeit zu formulieren, sich nicht weniger als Symbol dar. Das
einzelne Geldquantum freilich ist seinem Wesen nach in unablässiger
Bewegung; aber grade nur, weil der von ihm dargestellte Wert sich
zu den einzelnen Wertgegenständen verhält, wie das allgemeine Gesetz
zu den konkreten Gestaltungen, in denen es sich verwirklicht. Wenn
das Gesetz, selbst jenseits aller Bewegungen stehend, doch deren Form
und Grund darstellt, so ist der abstrakte Vermögenswert, der nicht in
Einzelwerte auseinandergegangen ist und als dessen Träger das Geld
subsistiert, gleichsam die Seele und Bestimmung der wirtschaft-
lichen Bewegungen. Während es als greifbare Einzelheit das flüchtigste
Ding der äuſserlich-praktischen Welt ist, ist es seinem Inhalte nach
das beständigste, es steht als der Indifferenz- und Ausgleichungspunkt
zwischen all ihren sonstigen Inhalten, sein ideeller Sinn ist, wie der
des Gesetzes, allen Dingen ihr Maſs zu geben, ohne sich selbst an
ihnen zu messen, ein Sinn, dessen totale Realisierung freilich erst
einer unendlichen Entwicklung gelänge. Es drückt das Verhältnis aus,
das zwischen den wirtschaftlichen Gütern besteht und bleibt der Strö-
mung dieser gegenüber so stabil, wie eine Zahlenproportion es gegen-
über den vielfachen und wechselnden Gegenständen thut, deren Ver-
hältnis sie angiebt, und wie die Formel des Gravitationsgesetzes gegen-
über den Materienmassen und ihren unendlich mannigfaltigen Be-
wegungen. Wie der allgemeine Begriff, in seiner logischen Gültigkeit
von der Zahl und Modifikation seiner Verwirklichungen unabhängig,
sozusagen das Gesetz eben dieser angiebt, so ist das Geld — d. h.
derjenige innere Sinn, durch den das einzelne Metall- oder Papier-
stück zum Gelde wird — der Allgemeinbegriff der Dinge, insofern sie
wirtschaftlich sind. Sie brauchen nicht wirtschaftlich zu sein; wenn
sie es aber sollen, so können sie es nur so, daſs sie sich dem Gesetz
des Wert-werdens fügen, das im Gelde verdichtet ist.


Die Beobachtung, daſs dieses eine Gebilde an jenen beiden Grund-
formen, die Wirklichkeit auszudrücken, gleichmäſsig teil hat, giebt
auf ihren Zusammenhang Anweisung: ihr Sinn ist thatsächlich ein
[554] relativer, d. h. jede findet ihre logische und psychologische Möglich-
keit, die Welt zu deuten, an der anderen. Nur weil die Realität sich
in absoluter Bewegtheit befindet, hat es einen Sinn, ihr gegenüber das
ideelle System zeitlos gültiger Gesetzlichkeiten zu behaupten; um-
gekehrt: nur weil diese bestehen, ist jener Strom des Daseins über-
haupt bezeichenbar und greifbar, statt in ein unqualifizierbares Chaos
auseinanderzufallen. Die allgemeine Relativität der Welt, auf den
ersten Blick nur auf der einen Seite dieses Gegensatzes heimisch, zieht
in Wirklichkeit auch die andere in sich ein und zeigt sich als
Herrscherin, wo sie eben nur Partei zu sein schien — wie das Geld
über seine Bedeutung als einzelner Wirtschaftswert die höhere baut:
den abstrakten Wirtschaftswert überhaupt darzustellen, und beide
Funktionen in unlösliche Korrelation, in der keine die erste ist, ver-
schlingt.


Indem hier nun ein Gebilde der historischen Welt das sachliche
Verhalten der Dinge symbolisiert, stiftet es zwischen jener und diesem
eine besondere Verbindung. Je mehr das Leben der Gesellschaft
ein geldwirtschaftliches wird, desto wirksamer und deutlicher prägt
sich in dem bewuſsten Leben der relativistische Charakter des Seins
aus, da das Geld nichts anderes ist als die in einem Sondergebilde
verkörperte Relativität der wirtschaftlichen Gegenstände, die ihren
Wert bedeutet. Und wie die absolutistische Weltansicht eine bestimmte
intellektuelle Entwicklungsstufe darstellte, in Korrelation mit der ent-
sprechenden praktischen, ökonomischen, gefühlsmäſsigen Gestaltung der
menschlichen Dinge, — so scheint die relativistische das augenblickliche
Anpassungsverhältnis unseres Intellekts auszudrücken oder, vielleicht
richtiger: zu sein, bestätigt durch das Gegenbild des sozialen und des
subjektiven Lebens, das in dem Gelde ebenso den real wirksamen
Träger wie das abspiegelnde Symbol seiner Formen und Bewegungen
gefunden hat.

Appendix A

Pierer’sche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.

[[556]][[557]][[558]][[559]][[555]]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Philosophie des Geldes. Philosophie des Geldes. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn76.0